Killy Literaturlexikon: Band 12 Vo – Z
 9783110220391, 9783110220384

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Killy Literaturlexikon

Band 12

Killy Literaturlexikon Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes 2., vollständig überarbeitete Auflage Herausgegeben von Wilhelm Kühlmann in Verbindung mit Achim Aurnhammer, Jürgen Egyptien, Karina Kellermann, Steffen Martus, Reimund B. Sdzuj Band 12 Vo – Z

De Gruyter

Die erste Auflage erschien unter dem Titel Literatur Lexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache im Bertelsmann Lexikon Verlag, Gütersloh/München, herausgegeben von Walther Killy unter Mitarbeit von Hans Fromm, Franz Josef Görtz, Gerhard Köpf, Wilhelm Kühlmann, Gisela Lindemann, Volker Meid, Nicolette Mout, Roger Paulin, Christoph Perels, Ferdinand Schmatz, Wilhelm Totok und Peter Utz. Die in diesem Lexikon gewählten Schreibweisen folgen dem Werk „WAHRIG – Die deutsche Rechtschreibung“ sowie den Empfehlungen der WAHRIG-Redaktion. Weitere Informationen unter www.wahrig.de Redaktion: Christine Henschel (Leitung) und Bruno Jahn Redaktionsschluss: 30. Juni 2011

ISBN 978-3-11-022038-4 e-ISBN 978-3-11-022039-1 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.  für die 1. Auflage by Bertelsmann Lexikon Verlag GmbH, Gütersloh/München 1988 – 1993 Alle Rechte vorbehalten  für die 2. Auflage 2011 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Laufen Satz: Process Media Consult, GmbH Druck: Hubert & Co., Göttingen 1 Gedruckt auf säurefreiem Papier * Printed in Germany www.degruyter.com

Verfasserinnen und Verfasser der Beiträge dieses Bandes Norbert Abels Kurt Adel Norman Ächtler Claus Altmayer Alfred Anger Thomas Anz Carmen Asshoff Ilse Auer Achim Aurnhammer Susanne Bach Hans-Jürgen Bachorski Martina Backes Änne Bäumer András F. Balogh Heiner Barz Stefan Bauer Günter Baumann Erika Becker Sabina Becker Hans-Joachim Behr Maria Behre Arnd Beise Jill Bepler Clemens Bergstedt Rüdiger Bernhardt Toni Bernhart Claus-Ulrich Bielefeld Dietrich Blaufuß Herbert Blume Holger Böning Peter Boerner Gerhard Bolaender Manfred Bosch Angelika Brauchle Georg Braungart Thomas Brechenmacher Dieter Breuer Erich Brinkmann Horst Brunner Friedhelm Brusniak Dörthe Buchhester Walter Buckl Rolf Bulang

Hans Peter Buohler Christina Burck Karl Heinz Burmeister Nathanael Busch Gabriele Busch-Salmen Ursula Cadenbach Rémy Charbon Eva Chrambach Elisabeth Chvojka Silvana Cimenti Gion Condrau Bernhard Coppel Sibylle Cramer Holger Dainat Walter Delabar Heinrich Detering Christoph Deupmann Martin Disselkamp Ingeborg Dorchenas Reinhard Düchting Burckhard Dücker Klaus Düwel Alfred Ebenbauer Thomas Eder Jürgen Egyptien Andrea Ehlert Martin Ehrenfeuchter Heidrun Ehrke-Rotermund Jost Eickmeyer Norbert Eke Stefan Elit Elmar Elling Karl Esselborn Gabriele Ewenz Michael Farin Christoph Fasbender Eckhard Faul Jörg-Ulrich Fechner Edith Feistner Rita Felka Bernhard Fetz Cornelia Fischer Beate Frakele

Verfasserinnen und Verfasser der Beiträge dieses Bandes Konrad Franke Jutta Freund Christophe Fricker Jochen Fried Cornelia Fritsch Hartmut Fröschle Waldemar Fromm Kurt Gärtner Klaus Garber Karl-Markus Gauß Eva-Maria Gebert Michael Geiger Nicola Gess Ingeborg Glier Dirk Göttsche Walter Grab Jürgen Grambow Meinrad M. Grewenig Wolfgang Griep Klaus Grubmüller Hans-Jürgen Günther Detlef Haberland Julei M. Habisreutinger Wilhelm Haefs Claudia Händl Günter Häntzschel Hiltrud Häntzschel Lutz Hagestedt Gerhard Hahn Christiane Hansen Wolfgang Harms Winfried Hartkopf Volker Hartmann Jan-Christoph Hauschild Jens Haustein Richard Heckner Boris Heczko Ludger Heid Manfred Heiderich Horst Heidtmann Joachim Heinzle Ernst Hellgardt Nikolaus Henkel Hans Martin Hennig Doris Herdin Stefan Hermes Peter Heßelmann Klaudia Hilgers Norbert Hinske Achim Hölter Winfried Hönes Stefan Höppner Heinz Holeczek Christoph Huber

Gangolf Hübinger Hans-Otto Hügel Reinhold Hülsewiesche Adrian Hummel Julia Ilgner Ferdinand van Ingen Joanna Jablkowska Volker Jacobshagen Andrea Jäger Bruno Jahn Harald Jakobs Herbert Jaumann Franz-Ulrich Jestädt Ulrich Joost Renate Jürgensen Winfred Kaminski Carolina Kapraun Elke Kasper Ursula von Keitz Friedhelm Kemp Dirk Kemper Uwe-K. Ketelsen Christian Kiening Ulrike Kienzle André Kischel Werner Klän Erich Kleinschmidt Hanna Klessinger Jacob Klingner Kathrin Klohs Margaret Klopfle Devinney Arnulf Knafl Fritz Peter Knapp Manfred Knedlik Katharina Knüppel Sven Koch Jörg Köhler Peter König Sabine Koloch Henk J. Koning Katrin Korch Gisela Kornrumpf Hans Christian Kosler Fritz Krafft Franziska Kraft Thomas Kramer Robert Krause Hannes Krauss Helmut K. Krausse Matthias Kremp Astrid Kube Primus-Heinz Kucher Wilhelm Kühlmann Hartmut Kugler /

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VII Walther Kummerow Uli Kutter Susanne Lange Peter Langemeyer Ingo Langenbach Corinna Laude Hartmut Laufhütte Elisabeth Lebensaft Gerald Leitner M. Rainer Lepsius Stephan Lesker Ulrike Leuschner Virginia L. Lewis Klaus Ley Sandra Linden Joachim Linder Charles Linsmayer Richard Littlejohns Matthias Löwe Dieter Lohmeier Raffaele Louis Cornelius Ludwig Janine Ludwig Matthias Luserke Ulrich Maché Bettina Mähler Barbara Mahlmann-Bauer Klaus Manger Anastasia Manola Hanspeter Marti Matías Martínez Arno Matschiner Michael Matzigkeit Volker Meid Albert Meier Andreas Meier Ute Mennecke-Haustein Otto Merk Dieter Mertens Mirjam Meuser Dietrich Meyer Annette Meyhöfer Alain Michel Wolfgang Mieder Zygmunt Mielczarek Rita Mielke York-Gothart Mix Paul Mog Jan Mohr Markus Mollitor Jean Mondot Josef Morlo Elfriede Moser-Rath Angelika Müller

Verfasserinnen und Verfasser der Beiträge dieses Bandes Dominik Müller Mario Müller Wolf-Dieter Müller-Jahncke Gunnar Müller-Waldeck Martin Mulsow Bernd Naumann Birgit Nehren Sven Neufert Volker Neuhaus Bernd Neumann Gunther Nickel Reiner Niehoff Yvonne Nilges Sonia Nowoselsky-Müller August Obermayer Herbert Ohrlinger Walter Olma Ernst Osterkamp Michael Ott Norbert H. Ott Johannes G. Pankau Sven Papcke Walter Pape Georg Patzer Ina Ulrike Paul Leigh T. I. Penman Dietmar Peil Dana Pfeiferová Kristina Pfoser-Schewig Ulrike Pichler Ewa Pietrzak Roland Pietsch Thomas Pittrof Hans Pörnbacher Barbara Pogonowska Evelyne Polt-Heinzl Hans Poser Bernd Prätorius Gesine von Prittwitz Patrick Ramponi Jürgen Rathje O. F. Raum Werner Raupp Robert Rduch Peter Reichel Wolfgang Reichmann Pia Reinacher Heimo Reinitzer Luigi Reitani Stephan Resch Johannes Rettelbach Matthias Richter Ulfert Ricklefs Oliver Riedel

Verfasserinnen und Verfasser der Beiträge dieses Bandes Hannelore Rodlauer Bernd Roeck Werner Röcke Dirk Rose Erwin Rotermund Andreas Roth Holger Runow Walter Ruprechter Johannes Sachslehner Eda Sagarra Carola Samlowsky Jutta Sandstede Hans Sarkowicz Ingrid Sattel Bernardini Uta Schäfer-Richter Christoph Schanze Frieder Schanze Elisabeth Schawerda Michael Scheffel Michael Schilling Wolfgang Schimpf Albert von Schirnding Christine Schmidjell Susanna Schmidt Hansgeorg Schmidt-Bergmann Sabine Schmolinsky Joachim Schneider Ronald Schneider Rainer Schönhaar Rudolf Scholz Angela Schrameier Birgit Schreiber Hermann Schreiber Alexander Schüller Sonja Schüller Erhard Schütz Hans J. Schütz Joachim Schulte Gerhard Schulz Johannes Schulz Thomas B. Schumann Gudrun Schury Christian Schwarz Reimund B. Sdzuj Felix Seewöster Wolfgang Seibel Edith Seidl Rita Seuß Reinhart Siegert Friedhelm Sikora Kai Sina Rudolf Smend Johann Sonnleitner Hermann Sottong

Stephan Speicher Björn Spiekermann Carlos Spoerhase Guido Stefani Hartmut Steinecke Hajo Steinert Annette Steinsiek Annemarie Stoltenberg Alfred Strasser Gottfried Strasser Christoph Strohm Peter Strohschneider Gerhard Stumpf Robert Stupperich Andreas Sturies Ernst-Friedrich Suhr Anette Syndikus Christian Teissl Oliver Tekolf Joachim Telle Reinhard Tenberg Hellmut Thomke Erich Tremmel Walter Uka Elke Ukena-Best Peter Utz Tilman Venzl Albrecht Viertel Hartmut Vinçon Dominica Volkert Gisela Vollmann-Profe Hartmut Vollmer Karin Vorderstemann E. Theodor Voss Fritz Wahrenburg Bernhard Walcher Gabriela Walde Ian Wallace Armin A. Wallas Jürgen P. Wallmann Hartmut Walravens Christian Walter Klaus-Peter Walter Peter Wapnewski Ernst Weber Walter Weber Paul Weinig Christoph Weiß Ulrike Wels Franziska Wenzel Ursula Weyrer Heiner Widdig Stefan Wieczorek Hermann Wiegand

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IX Reiner Wild Ulla Williams Werner Williams-Krapp Christoph Willmitzer Antje Wittstock Uwe Wittstock Alois Wolf Gerhard Wolf

Verfasserinnen und Verfasser der Beiträge dieses Bandes Jürgen Wolf Siegfried Wollgast Dieter Wuttke Birgit Zacke Helmut Zäh Harro Zimmermann Thomas Zwenger

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Die Realisierung der vorliegenden Neuausgabe des Killy Literaturlexikons wäre nicht möglich gewesen ohne eine Vielzahl von Helfern, die diejenigen Artikel, deren Textbestand unberührt bleiben konnte, hinsichtlich der Primär- und Sekundärliteratur aktualisiert haben. Diese Aufgabe konnte im Einzelfall recht mühevoll sein, wenn es sich um Autoren mit geläufigen Namen oder um stark beachtete Wissenschaftler anderer Fachgebiete handelte, bei denen die für ein Literaturlexikon relevanten Schriften zu ermitteln waren. Selbst in den wenigen Fällen, wo der Artikel im neuen Killy Literaturlexikon mit demjenigen der Erstauflage bibliografisch identisch ist, hat eine gründliche Recherche stattgefunden. Diese umfangreiche redaktionelle Arbeit konnte sich aus prinzipiellen Gründen nicht in einer namentlich gezeichneten Ko-Autorschaft niederschlagen. Die Herausgeber möchten den Abschluss des Lexikonprojekts daher zum Anlass nehmen, all diesen Helfern, von denen einzelne mehrere hundert Artikel bearbeitet haben, sehr herzlich für ihre nicht selten aufwändige bibliografische Recherche an dieser Stelle namentlich zu danken. Es sind dies: Rosa Bartz, Hans Peter Buohler, Jens Burkert, Philipp Gresser, Kathrin Klohs, Alex Kurzke, Raffaele Louis, Alexander Schüller, Lea Sienknecht

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Vocabularius Sancti Galli, um 790 in Murbach geschrieben. – Althochdeutschlateinisches Glossar.

Vögtlin

grund der angelsächs. Missionstätigkeit verständlich wird. Ausgaben: Elias v. Steinmeyer u. Eduard Sievers: Die ahd. Glossen. Bd. 3, Bln. 1895, S. 1–8. Bd. 4, 1898, S. 459 ff. Literatur: Georg Baesecke: Der V. S. G. in der angelsächs. Mission. Halle 1933. – Herbert Thoma: Glossen. In: RL 1 (1958), S. 579–589, bes. S. 584 f. – Bernhard Bischoff: Paläograph. Fragen dt. Denkmäler der Karolingerzeit. In: Frühmittelalterl. Studien 5 (1971), S. 101–134, bes. S. 118. – Rolf Bergmann: Die ahd. Glossenüberlieferung des 8. Jh. Gött. 1983, bes. S. 36. – Wolfgang Haubrichs: Die Angelsachsen u. die german. Stämme des Kontinents im frühen MA. [...]. In: Roinséas Ni Chatháin u. Michael Richter (Hg.): Irland u. die Christenheit. Stgt. 1987, S. 387–412, bes. S. 390 ff. – Heinz Mettke: Zum Kasseler Cod. 48 24 u. zur Herleitung des V. S. G. In: Althochdeutsch. Bd. 1. Hg. R. Bergmann u. a. Heidelb. 1987, S. 500–507. – Ders.: V. S. G. In: VL. Ernst Hellgardt / Red.

V. S. G. wird ein etwa 450 Worte umfassendes ahd.-lat. Glossar genannt, das in der Handschrift 913 der St. Galler Stiftsbibliothek enthalten ist. Man dachte sich die aus minderwertigem Pergament bestehende winzige Gebrauchshandschrift als eine Art persönl. Notizbuch des hl. Gallus († um 650), doch steht das über 100 Jahre nach Gallus entstandene Büchlein weder zu ihm noch zum St. Galler Kloster in unmittelbarer Beziehung. Paläografisch ließ sich nur ausmachen, dass es von einem in angelsächs. Tradition arbeitenden festländ. Schreiber, vermutlich in Deutschland, geschrieben wurde. Es handelt sich um »eine Art Diarium, in dem allerhand Lesefrüchte neben Schulaufzeichnungen gesammelt und auch leergebliebene Plätzchen ausgestopft wurden« (Baesecke). Vögtlin, Adolf, * 25.2.1861 Brugg/Kt. Der den Schluss bildende Vocabularius besteht Aargau, † 7.4.1947 Bern. – Erzähler, aus einem nach Sachgruppen geordneten Übersetzer, Journalist. Glossar, aus den Fragmenten eines alphabetischen Glossars u. drittens aus Glossen zu V. studierte in Genf, Basel u. Straßburg Litedem Werk De laudibus virginum des engl. Bi- ratur u. Philosophie u. war nach der Promoschofs Aldhelm (um 640–709). Alle drei Teile tion zum Dr. phil. Gymnasial- bzw. Semizeigen Beziehungen zum altengl. Bildungs- narlehrer in Basel, Küsnacht u. Zürich. Bis wesen u. zur frühen altengl. Glossografie. So 1936 redigierte er auch die Zeitschrift »Am häuslichen Herd« u. übersetzte Werke der dokumentiert auch dieser Teil der Handengl., frz. u. ital. Literatur. Sein eigenes, von schrift die Wirksamkeit der angelsächs. MisC. F. Meyer warm begrüßtes Debüt als Autor sion des 8. Jh. in Deutschland. Das Sachglosgab er mit der kulturgeschichtl. Novelle sar insbes. geht über altengl. Vorlagen zurück Meister Hansjakob, der Chorstuhlschnitzer von auf die Hermeneumata pseudodositeana, ein Wettingen (Lpz. 1891). Bemerkenswert ist griechisch-lat. Schulwörterbuch des 3. Jh., auch sein Roman Das neue Gewissen (ebd. das von zweien der Begründer des altengl. 1897), der den Deutsch-Französischen Krieg Bildungswesens, Theodor von Canterbury von 1870/71 u. die dadurch bei den Bewoh(† 690) u. Hadrian von Canterbury († 709), für nern eines kleinen Dorfs hervorgerufenen den Gebrauch ihrer Schule bearbeitet wurde. Gewissensnöte zum Gegenstand hat. Am erIn der Nachbarschaft des Vocubularius enthält folgreichsten war V. mit dem Roman Heinrich die Handschrift einige altengl. Glossen zu Manesses Abenteuer und Schicksale (ebd. 1910), Tier- u. Vogelnamen mit gelegentl. ahd. der als eine Art moderner »Simplicissimus« Glossen. Sie dokumentieren den innerhalb aufzeigt, wie ein Stiefkind der Gesellschaft der ahd. Glossografie ungewöhnl. Fall, dass durch Ehrlichkeit u. Zielstrebigkeit Karriere nicht das Latein den Rang der Ausgangs- macht. Mit Werken wie Simujah die Königsfrau sprache einnimmt, sondern das Althoch- (Bern 1924), der Geschichte einer europäischdeutsche, u. bilden ein singuläres Zeugnis für asiat. Mischehe in Sumatra, oder dem im die Aneignung des Deutschen durch einen Ersten Weltkrieg in Arosa angesiedelten InAngelsachsen, wie sie nur vor dem Hinter- terniertenroman Vittanova (Frauenfeld 1930)

Voelkner

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näherte sich V. dann allerdings bei aller moralisch-missionarischen Tendenz dem Bereich der reinen Unterhaltungsliteratur.

Literatur: Brigitte Birnbaum: V. In: trajekt 6. Rostock 1972. Jürgen Grambow † / Red.

Charles Linsmayer

Völlger, Winfried, * 5.11.1947 Halle/Saale. – Verfasser von Romanen u. KinderbüVoelkner, Benno, * 3.9.1900 Danzig, chern. † 21.1.1974 Schwerin. – Romancier, Er- V., gelernter Fotograf, nahm nach Armeezeit zähler. u. nachgeholtem Abitur in Halle 1968 ein V. stammte aus einer sog. klassenbewussten Arbeiterfamilie. Er war Klempner, Bergmann, Maurer, Kellner, Taxifahrer, Artist u. hatte als Soldat am Ersten Weltkrieg teilgenommen. V. nahm im Arbeiterbataillon Karl Liebknecht an der Niederschlagung des Kapp-Putsches teil u. war danach zu einem Wanderleben gezwungen, das ihn nach Skandinavien, in die Niederlande u. schließlich in die USA führte. 1945 leitete er Evakuierungstrecks aus Danzig nach Mecklenburg. V. gehörte zum Typ des gebildeten, redl. Altkommunisten. Nach 1945 übernahm er polit. Funktionen in der DDR; seit 1950 arbeitete er als freier Schriftsteller. Am bekanntesten wurde V. mit seinen chronikal. Dorfromanen Die Leute von Karvenbruch (Schwerin 1955; nach einem Szenarium von Brigitte Birnbaum; auch verfilmt) u. Die Bauern von Karvenbruch (Bln./DDR 1959). In seinem gelegentlich durch krasse Naturalismen schockierenden histor. Roman aus dem Bauernkrieg, Jakob Ow (entstanden 1938. Schwerin 1951), ist der Protagonist ein »Entrechteter, der seinen Unterdrücker besiegt« (Birnbaum). In dem Roman Die Schande (Rostock 1965) behandelt V. die Züchtung »arischen« Nachwuchses in der nationalsozialistischen Organisation »Lebensborn«. Der Erzählband Zinneck und Lulu (Schwerin 1954) wurde zu einem »Dauerbrenner« in der Publikumsgunst. V. erhielt 1957 den Nationalpreis der DDR, 1960 den Literaturpreis der Einheitsgewerkschaft FDGB, 1957 u. 1960 den Fritz-ReuterPreis des Bezirks Schwerin. Weitere Werke: Leben um Leben. Lpz. 1937 (R.). – Die drei Gerechten. Ebd. 1939 (R.). – Die Tage werden heller. Schwerin 1952 (R.). – Die Liebe der Gerda Hellstedt. Bln./DDR 1957 (R.). – Das Tal des zornigen Baches. Ebd. 1957 (R.). – Die Bauern u. die Herren v. Oertzen. Schwerin 1960 (E.).

Mathematikstudium auf, das er abbrach. Seit 1973 lebte er als freier Schriftsteller u. Regisseur in Halle. 1986 u. 1987 unternahm er Reisen nach Paris u. Südfrankreich. Der entschiedene Pazifist engagierte sich seit 1989 zunehmend politisch, war in der Bürgerbewegung aktiv u. wurde im Mai 1990 zum Stadtverordneten von Halle (Bündnis 90) gewählt, verließ die Stadtverordnetenversammlung jedoch, weil er sich in seiner polit. Arbeit behindert sah. 1992 wurde er Honorardozent bei Creativity for the Future Worldwide (Leipzig) u. übernahm Lehraufträge an der Fachhochschule Merseburg. Seit 1994 widmet sich V. vorwiegend bildnerischen Arbeiten. Personalausstellungen fanden u. a. in Halle, Rom, Katlenburg u. Halberstadt statt. 1996 war er Stadtschreiber von Halle/S., 1997 Ehrengast der Villa Massimo in Rom u. 2000 Stipendiat der Cranach-Höfe zu Wittenberg. V. wohnt seit 1993 in Schleberoda bei Freyburg/Unstrut. Seine Bücher erreichten eine Auflage von ca. 1 Million. V. trat zuerst mit Kinderbüchern hervor (Ija, der Esel von der blauen Wiese. Bln./DDR 1976. Das Konzert. Ebd. 1977. Theater mit Zwecke. Ebd. 1978) u. schrieb Stücke für das Puppentheater u. den Rundfunk. 1981 erschien der erste Roman, Verwirrspiel (Rostock), die »frisierte Biographie« eines Studenten, der nach dem Freitod seiner Freundin sein Leben überdenkt. Erzählt wird nicht chronologisch, sondern in Varianten u. experimentell erörterten Biografien. Das WindhahnSyndrom (ebd. 1983), dem das Kinderbuch Der Windhahn (Bln./DDR 1982) ergänzend u. erklärend zugeordnet ist, beschreibt die rätselhafte Krankheit einer Frau; aus Erinnerungen des erzählenden Arztes bildet sich mosaikartig ein eigenwilliges Schicksal. Der Roman stellt die zunehmende Begrenztheit der Wirklichkeit einer unbegrenzten, jedoch be-

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drohl. Erfahrung gegenüber, zeigt deren Unvereinbarkeit mit der Erziehung u. deren Gefahren für den Einzelnen. Nach diesem Roman galt V. als »ein Sprecher seiner selbstbewußten und unheldischen, kritischen und eigenwilligen Schriftsteller-Generation« (Christel Berger). Die Essaysammlung Offene Schlösser (Rostock 1987) gibt Auskunft über V.s Schreiben, sein Engagement für Kinderliteratur u. das Märchen (das er auch bei Aitmatow u. Hemingway aufspürt). Die autobiografisch geprägte Ich-Erzählung Partitur eines verlorenen Sieges (ebd. 1989) setzt thematisch die früheren Romane fort. In dem bereits 1987 abgeschlossenen Roman Wehrpflicht (ebd. 1990) verfolgt der Sohn in protokollartigen Aufzeichnungen die Biografie des Vaters, der 1968 unter nie geklärten Umständen im Grenzgebiet der CˇSSR ums Leben kam. V. bezieht aber auch andere brisante Fragen ein, wie den Missbrauch psychiatr. Gutachten bei Wahlen u. die geistige Entmündigung Armeeangehöriger, u. a. im Kriminalhörspiel Creutzer (MDR 1993). Weitere Werke: Eine Stadt stromab. Bln./DDR 1982. – Entfernung. Ess.s 1986–90. Freising 1991. – Hörspiele: Die fliegenden Pferde v. Habis-Bat. Bln./ DDR 1978. – Kinderbücher: Wachse Bäumchen wachse. Halle 1981. – Der Zauberfalter. Ebd. 1981. – Der Honigtopf (zus. mit Wolfgang Würfel). Ebd. 1984. – Die weiße Katze. Ebd. 1988. – Römische Skizzen. Halle 1997. – Herbst in Halle. Zeitzeugnisse zur sanften Revolution in Halle 89/90. Halle 1999. Literatur: W. V. In: Lit. im Chemiebezirk Halle. Halle 1981. – Christel Berger: Generationserfahrung. In: SuF 36 (1984), H. 4, S. 870–875 (zu ›Das Windhahn-Syndrom‹). – Karin Hirdina: W. V. ›Das Windhahnsyndrom‹. In: DDR-Lit. ’83 im Gespräch. Hg. Siegfried Rönisch. Bln./Weimar 1984, S. 184–189. Rüdiger Bernhardt

Vogel, Alois, * 1.1.1922 Wien, † 2.4.2005 Pulkau/Niederösterreich. – Lyriker, Erzähler, Romancier, Herausgeber u. Essayist. Als zweiter Sohn eines Buchhalters, dem es nicht möglich war, ein Studium zu finanzieren, absolvierte V. eine Lehre als Feinmechaniker, besuchte Abendkurse an Wiener Volksbildungsheimen u. begann nach der

Vogel

Teilnahme am Zweiten Weltkrieg ein Studium der Malerei an der Wiener Akademie der bildenden Künste. Nach Ausübung verschiedener Brotberufe war er ab 1960 als freier Schriftsteller tätig. Die ersten Gedichte V.s erschienen in den Zeitschriften »Neue Wege« u. »Wort in der Zeit«, die ersten Erzählungen 1954 u. 1956 in der von Hans Weigel herausgegebenen Anthologie Stimmen der Gegenwart (Wien). An seinem ersten Roman, Das andere Gesicht (Wien 1959), wurden v. a. die surrealistischen Qualitäten u. die Nähe zu Kafka hervorgehoben. Mit Jahr und Tag Pohanka (Wien 1964) legte V. einen Roman aus dem Wiener Arbeitermilieu vor, der sich v. a. mit der »unbewältigten Gegenwart« beschäftigt. Mit den Romanen Schlagschatten (Wien 1977. Dunedin 1988) u. Totale Verdunkelung (Wien 1980) leistete V. einen wichtigen Beitrag zur literar. Vergangenheitsbewältigung in Österreich. Im Roman Das blaue Haus (Wien 1992) befasst er sich mit dem Flüchtlingsproblem, das Österreich nach dem Aufstand in Ungarn 1956 zu bewältigen hatte. In der Lyrik zeigen sich V.s intimes Verhältnis zur Natur wie auch seine Hellhörigkeit für polit. u. soziale Gegebenheiten u. seine stete Anteilnahme an der Befindlichkeit des Menschen. Trotz verschiedener Stilexperimente u. seiner Reaktion auf das jeweils vorherrschende geistige u. ästhetische Umfeld bewahrte V. immer seine künstlerische Eigenart. Weitere Werke: Werkausg. [Bd. 1:] Hg. Helmut Peschina. Wien/Mchn. 1998. Bde. 2–5: Hg. August Obermayer u. Wendelin Schmidt-Dengler. Wien/ Ffm. 1999–2002. – Im Gesang der Zikaden. Wien 1964 (L.). – Zwischen Unkraut u. blühenden Bäumen. Ebd. 1964 (L.). – Lampe im Nebel. Haiku. Bad Goisern 1967. – Vorläufige Grabungsergebnisse. Drei Texte. Wien/Mchn. 1970. – Sprechen u. Hören. Mchn. 1971 (L.). – Im Auge das Wissen. Ebd. 1971 (L.). – Landnahme. Baden 1979 (L.). – Das Fischgericht. Wien/Mchn. 1982 (E.en). – Die Sehne durchgezogen. Bovenden 1983 (L.). – Beobachtungen am Manhartsberg. St. Pölten 1985 (L.). – Pulkauer Aufzeichnungen. Ebd. 1986 (P.). – Erosionsspuren. Baden 1987 (L.). – Thaya, die Rauschende. Gedichte u. Text. Kautzen 1988. – Zeitstaub. Baden 1990 (L.). – Nordöstl. Triptychon. St. Pölten 1991 (L.). – Römische Gesänge. Stazione Termini. Baden bei Wien 1993. – Vom austriak. Ringelspiel u. dem

Vogel prosperierenden Weltuntergang. Aufzeichnungen. St. Pölten 1996. – Von Thanatos Gärten. Baden bei Wien 1997 (L.). – Ausgew. Gedichte. Hg. H. Peschina. Wien 2001. – Fundstücke in einer alten Kommode auf meinem Speicher. Ein Trauergesang in sechs Strophen. Horn 2002 (L.). – Im Morgengrauen. Zehn Gesänge. Horn 2003 (L.). – Fährten legen. Horn 2004 (L.). – Schattenwelten. Horn 2008 (L.) Literatur: Der Dichter A. V. Schriftenreihe des Niederösterr. Kulturforums. Schwechat 1987. – Gerhard Winkler (Hg.): A. V. 80. St. Pölten 2001. – Ewa Mikulska-Frindo: Die literar. Auseinandersetzung mit der österr. Vergangenheit. A. V.s Romane ›Schlagschatten‹ u. ›Totale Verdunkelung‹. Dunedin 2006. – Helmut Peschina (Hg.): a. v. schriftsteller. symposion. dokumentation. Wien 2006. August Obermayer

Vogel, Jacob, * 1584 Kornwestheim, † nach 1630 Stößen bei Weißenfels. – Wundarzt, Dichter.

4 Weitere Werke: Kurtze Wandersregel. Das ist, nützliche Lehr, u. christlicher Unterricht: Wie ein jeder ehrl. Handwercks Mann [...] in der Gottesfurcht [...] sich verhalten [...] solle [...]. Gera 1616. – Diogenischer Lasterbeller. Das ist: Politische Beschreibung derer Laster [...]. Jena 1616. – Wandersregeln für Handwercks-Leute [...]. Stößen 1618. – Schiff- u. LandApoteck [...]. Lpz. 1621. – Bautzensturm [...]. Lpz. 1622. – Poetisches Reißgespräch mit Jüden, Türcken, Heiden, Arrianern, Photinianern, Calvinisten, Papisten, Widertäufern u. andern Secten [...]: Von der H. Dreyfaltigkeit: Ewiger Vorsehung u. Gnadenwahl: Christi Person u. Ampt [...]. Jena 1624. – Heroischer Heldenblick, des großmühtigen streitbaren Marggraff Dietrichs [...]. Jena 1624. Internet-Ed. in: SUB Gött. – Ungrische Schlacht. Das ist: Poetische Beschreibung der gewaltigen [...] Schlacht: welche Keyser Heinrich der Erste [...] gehalten. Jena 1626. – Jesu Christi Kindheit u. Jugend [...]. Lpz. 1630. Literatur: Bibliografie: VD 17. – Weitere Titel: Ferdinand Eichler: ›Kein Seeligr Tod ist in der Welt‹. In: Vjs. für Litteratur-Gesch. 2 (1889), S. 246–264. – Ders.: J. V. In: ADB. – Gustav Roethe: J. V.s Lied ›Kein seeligr Tod [...]‹. In: Sitzungsber.e der Preuß. Akademie der Wiss.en. Bln. 1914. – P. Brugger: J. V.s Komödie ›Bautzensturm‹. In: Bautzener Gesch., H. 3 (1917), S. 42–57. – J. V. u. sein Stammbuch. In: 25 Jahre Städt. Museum Weißenfels. Bln. 1935. – Heiduk/Neumeister, S. 255 f., 484 f. – Flood, Poets Laureate, Bd. 4, S. 2170–2172. Astrid Kube / Red.

Der Pfarrerssohn besuchte 1594 die Schule in Esslingen, anschließend die Lateinschule in Cannstatt. Nach einer Italienreise (1602) arbeitete V. als Wundarzt in Stößen. Am 1.3.1622 wurde er zum Poeta laureatus gekrönt. V.s letzte überlieferte Schrift ist auf 1630 datiert. V.s literar. Werk umfasst religiös-moralische Schriften, histor. Komödien u. Gedichte sowie eine Arzneimittellehre. V. dichtete Vogel, Johannes, * 5.9.1589 Nürnberg, überwiegend in achtsilbigen stumpfen † 8.3.1663 Nürnberg. – Schulmann, LyriReimpaaren, wobei er sich an Hans Sachs u. ker. dessen silbenzählendem Prinzip orientierte. Das Œuvre zeichnet sich durch zuweilen V., Sohn eines Nürnberger Rotgießers, studrast. Charakteristiken (Erster Theil der Wan- dierte mit städt. Stipendien in Altdorf (Imdersregeln [...]. 3 Tle., Jena 1618. Internet-Ed. matrikulation am 6.3.1604, Alumnus 1610, in: SUB Gött.) u. gute szen. Situationsbe- Bakkalaureat 1611, vgl. dazu Georgius schreibungen (Clausensturm: Das ist: Poetische Queccius: Decanus Collegii Philosophici in AcaAgierung der heroischen Helden Thaten Churfürst demia Altdorphina [...]. Altdorf 1611. InternetMauritij [...] (Anno 1552) [...]. Lpz. 1622) aus. Ed. in: VD 17, Einblatt-Dr.), Jena (ImmatriBefremdend wirkt V.s Neigung zum Lehr- kulation 1607, erneut 1614) u. Wittenberg (ab haften wie auch zur Glorifizierung der eige- 24.10.1614). Er gehörte zum Kreis der Sozinen Person (Poetischer Adler [...]. Jena 1623. nianer. Durch Valentin Schmalz (Smalcius) Internet-Ed. in: SUB Gött.). Sein Kriegslied wurde er in Meseritz förmlich in die unitari»Kein seeligr Tod ist in der Welt« – die letzte sche Gemeinde aufgenommen. V. hielt sich in Strophe eines seinem Epos Ungrische Schlacht Wittenberg auf (er schickte von dort seine (Jena 1626. Internet-Ed. in: ULB Sachsen- Professio fidei plenior nach Nürnberg; Ed. in: Anhalt) beigegebenen Liedes – fand im 19. Jh. Zeltner, S. 1071–1112), als 1615 der Altdorfer Aufnahme in viele Commersbücher. Antitrinitarismus (vertreten u. a. durch Ernst

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Soner † 1612, Johann Crell, Martin Ruarus u. Joachim Peuschel) aufgedeckt wurde. Auf Veranlassung des Nürnberger Magistrats erfolgte dort seine Verhaftung u. Überstellung nach Altdorf (vgl. Schreiben des Nürnberger Rats v. 21.2.1616 an Kurfürst Johann Georg I., abgedr. bei Wollgast, S. 378). Am 25.1.1617 schwor er mit einer Oratio de vera et aeterna Jesu Christi divinitate vor der versammelten Semiuniversitas Altdorf der Sekte ab (in: Photinismus a Johanne Vogelio et Joachimo Peuschelio [...] publicae retractatus [...]. Nürnb. 1617. Edit. altera corr., 1617). 1621 wurde er Rektor von St. Aegidien in Nürnberg, 1634 von St. Sebald. In seinen Psalmen u. geistl. Liedern bewegt sich V. in den traditionellen Bahnen Nürnberger Frömmigkeit, obwohl er, als Anhänger Opitz’, auch poetische Ziele verfolgte – nach Wetzel (S. 337) hat ihn der Nürnberger Jurist u. kaiserl. Hofpfalzgraf Johann Gabler zum Dichter gekrönt. Die Zwölff Psalmen Davids (Nürnb. 1628. Internet-Ed. in: SUB Gött.) wurden u. d. T. Die Psalmen Davids, sampt andern heyligen Gesängen erweitert (ebd. 1638) u. für den Band Psalmen, geistliche Lieder und Haus-gesänge (Nürnb. 1653) nochmals ergänzt. Neben kleineren Gelegenheitsgedichten verdient noch der Geburt-Gesang (o. O. u. J. [ca. 1650]) einiges Interesse. Ein mit originellen Emblemen ausgestatteter, an den Werken von Georg Aemilius (1554) u. Caspar Scheidt (1557) orientierter Totentanz sind die Icones mortis [...]. Vorbildungen deß Todtes, in sechtzig Figuren (ebd. 1648); ähnlich aufgebaut sind die Meditationes emblematicae de restaurata pace Germaniae. Sinnebilder (Ffm. 1649). Das Nürnberger Gesangbuch von 1677 nahm fünf Lieder V.s auf. Weitere Werke: Historia S. Johannis Baptistae, carmine descripta [...]. Nürnb. 1611. – Disputatio VII. de messia, probans contra Iudaeos Iesum Christum Dominum nostrum esse verum Messiam. Präses: Jacob Martini; Respondent: J. V. Wittenberg 1615. – Apex arboris regiae [...]. Nürnb. 1632. Internet-Ed. in: VD 17 (Einblatt-Dr.). – Augustanae Confessionis articuli XXI. in thesi et antithesi cum abusibus VII. Versibus quaternis comprehensi. Nürnb. 1654. Internet-Ed. in: SUB Gött. – AndachtUbung aus den sonn- fest- u. feyrtägl. Evangelien [...]. Nürnb. 1661. – Andacht-Ubung auß den sonn-

Vogel fest- u. feyrtägl. Episteln [...]. Nürnb. 1661. – V.s Stammbuch (1613–32) befindet sich in der HAAB Weimar (Stb. 175). Ausgaben: Fischer/Tümpel 3, S. 189–202. – Textprobe in: Das dt. Gedicht. 1600–1700. Hg. Christian Wagenknecht. Bd. 4, Gütersloh 1969, S. 171. – Icones mortis [Nürnb. 1648]. Mit lat. u. dt. Versen v. Georg Philipp Harsdörffer. Nachdr. hg. v. Gerhard Dünnhaupt. Stgt. 1998; vgl. dazu Rez. v. Italo Michele Battafarano in: Morgen-Glantz 10 (2000), S. 381–383. Literatur: Bibliografie: VD 17. – Weitere Titel: Wolfgang Gundling: Oratio funebris. In obitum [...] Johannis Vogelii [...]. Altdorf 1663. – Johann Caspar Wetzel: Hymnopoeographia [...]. 4 Tle., Herrnstadt 1719–28, Tl. 3, S. 337–343. – Gustav Georg Zeltner: Historia Crypto-Socinismi Altorfinae [...]. Lpz. 1729. 1744. Internet-Ed. in: CAMENA (Abt. CERA), mit Ed.en S. 445–452, 889–911, 1071–1112. – Georg Andreas Will: Nürnbergisches Gelehrten-Lexicon [...]. 4. Tl., Nürnb./Altdorf 1758. Nachdr. Neustadt an der Aisch 1997, S. 114–117. – L.: J. V. In: ADB. – Klaus-Peter Ewald: Engagierte Dichtung im 17. Jh. [...]. Stgt. 1975. – Angelika Reich: Übersetzungsprinzipien in den [...] Gesamtpsaltern des 16. u. 17. Jh. Diss. Regensb. 1977, bes. S. 281 ff. – Heiduk/Neumeister, S. 112, 256, 485. – DBA. – Siegfried Wollgast: Philosophie in Dtschld. zwischen Reformation u. Aufklärung 1550–1650. Bln. 21993, S. 369, 376–381. – Die dt. Akademie des 17. Jh. Fruchtbringende Gesellschaft. Hg. Martin Bircher u. Klaus Conermann. Reihe II, Abt. C, Bd. 2, Tüb. 1997, Register. – Wolfgang Mährle: Academia Norica. Wissenschaft u. Bildung an der Nürnberger Hohen Schule in Altdorf (1575–1623). Stgt. 2000, S. 501 f. – Joseph M. Sullivan: The emblem book as political propaganda. J. V.’s ›Meditationes emblematicae de restaurata pace Germaniae of 1649‹. In: Explorations in Renaissance Culture 27 (2001), S. 61–88. – Flood, Poets Laureate, Bd. 4, S. 2172–2174. Ferdinand van Ingen / Reimund B. Sdzuj

Vogel, Traugott, * 27.2.1894 Zürich, † 31.1.1975 Zürich. – Erzähler, Essayist, Kinderbuchautor, Herausgeber. Der Sohn eines Gärtners studierte nach der Matura in Zürich, Genf u. Berlin Literatur, übte zeitlebens jedoch in Zürich den Beruf eines Volksschullehrers aus. Dieser Tätigkeit verdankten in der Schweiz viel gelesene, einfühlsame Jugendbücher wie Die Spiegelknöpfler

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(2 Bde., Aarau 1932 u. 1934. Neuaufl. 1942), mage an die literar. Freunde u. Erinnerung an Der Engelkrieg (Zürich 1940) oder Der rote den eigenen Lebensweg in einem ist V.s letzFindling (Aarau 1955) ihr Entstehen. V.s Ro- tes Buch, Leben und Schreiben. Achtzig reiche mane u. Erzählungen für Erwachsene be- magere Jahre (Zürich 1975. Nachwort von Hans handeln zumeist den Gegensatz zwischen Rudolf Hilty). 1948 erhielt V. den Literatureiner noch überschaubaren, bäuerlich-ländl. preis der Stadt Zürich. Charles Linsmayer Vergangenheit u. einer komplex-verwirrenden, die Selbstfindung des Menschen verVogeler, Heinrich, auch: H. Vogelerhindernden, städtisch-industriellen GegenWorpswede, * 12.12.1872 Bremen, † 14.6. wart. Dies ist auch Thema seiner Romane 1942 Kasachstan; Grabstein (seit 1985) Unsereiner (Lpz. 1924) u. Anna Foor (Zürich Kornejewka/Kasachstan. – Lyriker, Essay1944), fand jedoch seine überzeugendste Geist; Zeichner, Buchkünstler, Maler, Arstaltung in Leben im Grund oder Wehtage der chitekt. Herzen (ebd. 1938), dem melanchol. Heimatroman um einen Bauernhof am Zürcher Der Kaufmannssohn V., der zuerst als JuStadtrand. Zumindest als polit. Zeitroman gendstilkünstler bekannt wurde, wandte sich bemerkenswert ist Der blinde Seher (Lpz. 1930). in seiner zweiten Lebenshälfte dem Agit-Prop Aufschlußreich für V.s Leben u. Denken sind zu, lebte seit 1931 in der UdSSR u. wurde im auch die wehmütigen Bekenntnisse eines Leh- Sept. 1941 nach dem Einmarsch der dt. rers. Die verlorene Einfalt (Dietikon 1964). V., Truppen aus Moskau nach Kasachstan deder sich im Essay Vaterland und Muttersprache portiert, wo er unter ärml. Umständen starb. (Zürich 1944) sowie im Rahmen des Bundes Nach dem Besuch der Kunstakademie »Schwyzerdütsch« entschieden für die Er- Düsseldorf 1890–1893 übersiedelte V. in die haltung des Dialekts einsetzte, publizierte Künstlersiedlung Worpswede, kaufte 1895 mit Erfolg auch Mundartbücher wie den auf mit dem väterl. Erbe den »Barkenhoff«, der einer Radioserie basierenden Zyklus De ein Mittelpunkt kultureller ZusammenkünfBaschti bin Soldate (ebd. 1942) u. die dreibän- te wurde (Otto Modersohn, Paula Moderdigen Gschichten us em Züripiet: De Läbesbaum sohn-Becker, Rilke [erste Begegnung 1898 in (ebd. 1941), Täilti Liebi (ebd. 1961) u. Hüt und Florenz], Carl u. Gerhart Hauptmann, Dehfrüener (ebd. 1966). Im Band Schwizer Schna- mel, Heymel, R. A. Schröder u. Eugen Diebelweid (Aarau 1938) sammelte er Dialekt- derichs). Neben dem reichen bildnerischen u. proben aus allen Schweizer Kantonen. architektonischen ist sein buchkünstlerisches V. war nicht nur mit seinem eigenen Werk hervorzuheben: Beeinflusst von den Schaffen, sondern auch als Förderer von engl. Bestrebungen zur Erneuerung des Schriftstellerkollegen bedeutsam. Als Berater Buchwesens u. dem Ziel einer künstlerischen u. Bittgänger bei Ämtern u. Stiftungen un- Einheit des Buchs (Letter, Satzspiegel, Illusterstützte er Ludwig Hohl, Paul Adolf Bren- tration, Einband), schuf V. um 1900 für »Die ner, Rudolf Utzinger, Lisa Tetzner u. vor al- Insel«, für Verlage wie Insel u. Diederichs lem Albin Zollinger (vgl.: Briefe an einen ornamentalen Buchschmuck. In den teilweise Freund. Albin Zollinger an Traugott Vogel. St. apokryphen Erinnerungen (Hg. Erich Weinert. Gallen 1955). Ein Zeitdokument erster Ord- Bln./DDR 1952) beurteilt V. jene Jahre der nung ist zudem V.s Korrespondenz mit dem »Buchzierden« kritisch als »rein formale ganz anders ambitionierten Meinrad Inglin wirklichkeitsfremde Phantasiekunst«, die (Meinrad Inglin: Die Briefwechsel mit T. V. und von den »drohenden sozialen Fragen« abEmil Staiger. Hg. Felix R. Hangartner. Zürich lenkte. Das Bändchen mit Liebesgedichten an 1992). Als gezielte Autorenförderung können seine Braut Martha Schröder (DIR. Lpz. 1899), auch die 77 Hefte der Reihe »Der Bogen« mit der er 1901–1923 verheiratet war, gilt mit gelten, die V. 1950–1964 im St. Galler seinen Zeichnungen u. Vignetten u. der von Tschudy Verlag herausgab u. in welchen die V. gezeichneten Schrift als Beispiel reiner Namen von ganz jungen Schweizer Autoren Jugendstillyrik. Jenes Ziel einer gesamtvielfach zum ersten Mal erschienen. Hom- künstlerischen Durchdringung aller Lebens-

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bereiche, die auch sozialreformerische Bestrebungen umfasste, führte V. nach freiwilligem Kriegsdienst (1914–1918) zum Engagement im Bremer Arbeiter- und Soldatenrat u. 1919 zur Gründung einer »Siedlungszelle kommunistischer und syndikalistischer Kriegsbeschädigter und Hand- und Kopfarbeiter« (Das neue Leben. Hann. 1919). Nach dem Scheitern der Kommune 1923 wurde V. Mitgl. der KPD, bereiste Russland (Reise durch Rußland. Dresden [1925]) u. trat als Propagandist des »neuen Menschen« auf. 1925–1931 hielt sich V. in Berlin auf, bereiste die Schweiz u. wieder Russland, wohin er 1931 nach einer Einladung der sowjetischen Regierung endgültig übersiedelte. Er war 1923–1928 mit Sonja Marchlewskaja verheiratet, arbeitete als Bauzeichner in Moskau, als agrarwissenschaftl. Berater in Taschkent u. erhielt Malaufträge für ethnografische Museen. Seine Landschaftsskizzen u. Zeichnungen arbeitender Menschen im Stil des sozialistischen Realismus tragen, so V.s Schwiegersohn Gustav Regler, den »Rauhreif der ideologischen Verpflichtung«. Während in Westdeutschland vor allem V.s Frühwerk Beachtung fand u. das Spätwerk als »Propagandakunst« abgewertet wurde, wurde in der DDR sein Spätwerk als realistische Kunst gewürdigt. Weitere Werke: Das Neue Leben. Ausgew. Schr.en zur proletar. Revolution u. Kunst. Hg. u. eingel. v. Dietger Pforte. Darmst./Neuwied 1972 (mit Bibliogr.). – Fontana Martina. Vollst. Faks.Druck der v. Fritz Jordi u. H. V. 1931/32 in Ronco s. Ancona hg. Halbmonatsztschr. Hg. D. Pforte. Gießen 1981. – Werden. Erinnerungen. Mit Lebenszeugnissen aus den Jahren 1923–1942. Hg. Joachim Priewe u. Paul-Gerhard Wenzlaff. Fischerhude 1989. – Das graph. Werk. Bearb. u. hg. v. HansHerman Rief. Lilienthal 1993. – An den Frühling. Zehn Radierungen. Nachdr. der Bilder aus der Mappe 1899/1901. Mit Gedichten v. H. V. Hg. Hans-Joachim Simm. Ffm./Lpz. 2007. – Aufsätze: Das Wesen des Kommunismus. Der Weltfriede. Bremen/Worpswede 1918. – Ein offener Brief zum Frieden unter den Menschen. Bremen 1919. – Peter Kropotkin. Bln. 1919. – Über den Expressionismus der Liebe. Hann. 1919. – Siedlungswesen u. Arbeitsschule. Ebd. 1919. – Die Freiheit der Liebe. Hbg. [1920]. – Die Zukunft der ehemaligen Kriegsteilnehmer. Bln. 1920. – Proletkult. Hann.

Vogl 1920. – Die Arbeitsschule als Aufbauzelle der klassenlosen Gesellsch. Hbg. 1921. – Friede. Bremen 1922 (M., Aufsätze). – H. V. Zwischen Gotik u. Expressionismus-Debatte. Schr.en zur Kunst u. Gesch. Hg. u. eingel. v. Siegfried Bresler. Ebd. 2006. Literatur: Bibliografie: Bernd Stenzig: H. V. Eine Bibliogr. der Schr.en. Lilienthal 1994. – Weitere Titel: Heinrich Wiegand Petzet: Von Worpswede nach Moskau. H. V. Ein Künstler zwischen den Zeiten. Köln 1972. – Dietger Pforte: Soziale Phantasie u. konkrete Utopie [...]. In: Das Neue Leben. a. a. O., S. 7–44. – David Erlay: H. V. u. sein Barkenhoff. Künstler, Kinder, Kommunarden. Fischerhude 1979. – Karl Robert Schütze: H. V. – Worpswede. Leben u. architekton. Werk. Bln. 1980. – D. Erlay: V. Ein Maler u. seine Zeit. Fischerhude 1981. – Willem-Jan Pantus: H. V.s Gedichtband ›DIR‹ als Gesamtkunstwerk des Jugendstils. In: Aufsätze zur Lit. u. Kunst der Jahrhundertwende. Hg. Gerhard Kluge. Amsterd. 1984, S. 151–206. – Rainer Maria Rilke: H. V. Neuaufl. der 1902 erschienenen Ausg. Nachw. Bernd Stenzig. Lilienthal 1986. – Werner Hohmann: H. V. in der Sowjetunion 1931–42. Daten, Fakten, Dokumente. Fischerhude 1987. – Ilse Kleberger: Der eine u. der andere Traum. Die Lebensgesch. des H. V. Weinheim 1991. – Wulf D. Hund: H. V. Hamburger Werftarbeiter. Aus der Ästhetik des Widerstands. Ffm. 1992. – Siegfried Bresler: H. V. Reinb. 1996 (mit Bibliogr.). – Herbert Eichhorn u. Rena Noltenius: H. V. Von Worpswede nach Moskau. Ausstellungskat. Bietigheim-Bissingen 1997. – H. V. u. der Jugendstil. Hg. v. der Barkenhoff-Stiftung Worpswede, Cornelia Baumann u. Vera Losse. Mit Beiträgen v. Ludwig Harig u. a. Köln 1997. – Peter Elze: H. V. Buchgrafik. Das Werkverz. 1895–1935. Lilienthal/Worpswede 1997. – Theo Neteler: Der Buchkünstler H. V. Mit einer Bibliogr. Ascona u. a. 1998. – R. Noltenius: H. V. 1872–1942. Die Gemälde – ein Werkkat. Weimar 2000. – D. Erlay: Von Gold zu Rot. H. V.s Weg in eine andere Welt. Bremen 2004. – Bernd Küster: H. V. im Ersten Weltkrieg. Aus Anlaß der Ausstellung ›H.V. im Krieg – Arbeiten 1914–1918‹ im Landesmuseum Oldenburg 29.4. bis 12.9.2004. Ebd. 2004. – Siegfried Bresler: Auf den Spuren v. H. V. Ebd. 2009. Rita Seuß / Red.

Vogl, Johann Nepomuk, * 7.2.1802 Wien, † 16.11.1866 Wien; Grabstätte ebd., Zentralfriedhof. – Lyriker u. Erzähler. Dem Willen des Vaters gehorchend, verzichtete V. auf die Malerlaufbahn u. war 1819–1859 in der Kanzlei der niederösterr.

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Stände tätig. Er gehörte der Wiener Litera- Heldensage (ebd. 1851) sind. – Am polit. Leben tengruppe im »Silbernen Kaffeehaus« an u. nahm V. kaum teil. Die Deutschen Lieder, erwar Mittelpunkt einer Tafelrunde von schienen in Jena 1845, als ihm die dortige Künstlern. Namhafte Musiker wie Schubert Universität die Doktorwürde verlieh, u. vertonten seine Lieder; wiederholt waren die Schwarz, Roth, Gold (Wien 1848) sind mehr rhetorische Übung als glaubwürdiges ZeugNoten bereits der Erstausgabe beigefügt. Nach Dramenbearbeitungen »nach dem nis. Französischen«, einer Sammlung u. d. T. Weitere Werke: Volksmährchen. Wien 1837. – Fruchtkörner (1830) – nach Themen geordnete Klänge u. Lieder aus Ungarn. Ebd. 1839. – Die älSprüche – u. dem Österreichischen Wunderhorn testen Volksmärchen der Russen. Ebd. 1841. – Aus (1834), der ersten von V.s Anthologien, ge- dem alten Wien. Ebd. 1865. Literatur: August Schmidt: J. N. V. als Mensch wann sein Werk Breite durch die Herausgabe von Taschenbüchern (»Frauenlob«, »Mins- u. Dichter. Wien 1868. – Eugen Probst: J. N. V. In: trel«, »Thalia«) u. Kalendern, unter denen V.s Jb. Grillparzer-Gesellsch. 12 (1902), S. 165–174. – »Österreichischer Volkskalender« der erfolg- Rudolf J. Binder: J. N. V. u. die österr. Ballade. Prag 1907. – I. Fried: Ein österr. Biedermeier-Dichter u. reichste war (bis 1905 unter seinem Namen). die südslaw. Volksdichtung. In: Studia slavica 20 Die Buchtitel bezeichnen z. T. die Gattung – (1974), S. 115–126. Kurt Adel † Lyrische Blätter (1836), Erzählungen eines Großmütterchens (1840), Balladen, Romanzen, Sagen und Legenden (1846) –, z. T. das Thema: KarVogler, Georg Joseph, auch: Abt oder Abbé thäusernelken (1845), Soldatenlieder (1849. Alle V., * 15.6.1749 Pleichach bei Würzburg, Wien). † 6.5.1814 Darmstadt. – MusiktheoretiV. gehört der österr. Romantik an; volksker. tümlich, vaterländisch, zu Sage u. Legende geneigt, zum Düsteren u. Grausamen, sodass Schon während seiner Studien am von Jesuivom Stoff her das Interesse geweckt wird, das ten geführten Gymnasium in Würzburg fiel der künstlerischen Form oft versagt bleiben V. als Klavier- u. Orgelvirtuose auf. Als Mamuss. Denn Kehrreime, Wiederholungen, gister artium immatrikulierte er sich 1767 am Füllwörter wahren das Additionsprinzip Würzburger Juridikum u. wechselte 1768 auch in den Elementen der Dichtung; er- zum Theologiestudium nach Bamberg, von zwungene Rhythmen u. Reime zeigen die wo aus er an den Hof des Kurfürsten Karl Nachlässigkeit, alltäglich geläufige Wortfol- Theodor nach Mannheim ging. Dieser ergen die Flachheit dieser vielfach nach be- nannte ihn 1770 zum kurfürstl. Almosenier liebten Formen u. Gedichten gestalteten u. Hofkaplan, gewährte ihm 1773 ein ItaliMassenproduktion. enstipendium u. beförderte ihn nach der Die Fünfhundert Schnadahüpfln (Wien 1852) Rückkehr (1775) zum zweiten Kapellmeister etwa sind als Lesestoff kaum, in Gemein- u. Geistlichen Rat. Aus V.s prakt. Tätigkeit schaft am Wirtshaustisch gesungen durchaus erwuchs sein erstes theoret. Werk (Tonwissenerträglich. In der Änderung des Lebensstils schaft und Tonsetzkunst. Mannh. 1776. Neudr. nach der Revolution von 1848, neuen The- Hildesh. 1970), das neben einer mathematimen u. höheren Anforderungen an die Kunst sierten Harmonielehre zum ersten Mal eine liegen wohl die Hauptgründe für V.s rasch von bloßer Empirie unabhängige Systematik verblassenden Ruhm. Sein Verdienst war ne- melod. Periodik bot. Da es unter dem stilisben leichter Unterhaltung die Pflege u. Ver- tischen Einfluss der Mannheimer Deutschen breitung der vaterländ. Ballade u. die eben- Gesellschaft litt, erregte es die Kritik der falls wesentlich auf Hormayrs Literaturpoli- Berliner Aufklärer um Nicolai in der »Litetik beruhende Vermittlung slaw. Volkslitera- ratur- und Theaterzeitung« (29.8.1778, Nr. tur: eine nicht dem Geiste der Quellen treue, 31): »Die Pedanterie des Verfassers, alle aus sondern in das österr. Biedermeierliche wan- fremder Sprache entlehnten und allgemein delnde Vermittlung, deren eindrucksvoller angenommenen Kunstworte zu verdeutschen Gipfel die Gesänge Marko Kraljevits. Serbische gibt dem ganzen Werk ein gar komisches

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Aussehen [...]« (nach Schafhäutl, S. 12). Mo- Über Sprach- und Gesangsautomaten (Ffm. 1810) zart, der sich 1777 um eine Anstellung in aus. Mannheim bemühte, empfahl das Buch seiWeitere Werke: Stimmbildungskunst. Mannh. nes am Hof geschätzten Konkurrenten »mehr 1776. – Betrachtungen der Mannheimer Tonschuzum Rechnen-lernen, als zum Componiren« le. 3 Bde., ebd. 1778–80. Neudr. Hildesh. 1974. – (Brief vom 13.11.1777. Nach Mozart: Briefe Kuhrpfälz. Tonschule. Mannh. 1778. – Entwurf und Aufzeichnungen. Bd. 2, Kassel u. a. 1962, eines neuen Wörterbuchs für die Tonkunst. Ffm. 1780. – Data zur Akustik. Lpz. 1801. – ZergliedeS. 119). rung der 32 Orgelpräludien. Mchn. 1806. – Dt. Seit 1780 unternahm V. ausgedehnte Kon- Kirchenmusik. Ebd. 1808. – System für den Fuzerttourneen u. stellte sein musiktheoret. genbau. Darmst. 1811. – Über Choral- u. KirchenWerk sowohl der Académie des Sciences in gesänge. Mchn. 1813. Paris als auch 1783 der Londoner Royal SoLiteratur: J[osef] Fröhlich: Biogr. des [...] G. J. ciety vor. Seine Konzerte hinterließen stets V. Würzb. 1845. – Ernst Pasqué: Abt V. als Tonnachhaltigen Eindruck, wie noch Robert künstler, Lehrer u. Priester. Darmst. 1884. – Karl Brownings Gedicht Abt Vogler (in: Dramatis Emil vom Schafhäutl: Abt G. J. V. Sein Leben, Personae. London 1864) dokumentiert. 1784 Charakter u. musikal. System. Augsb. 1888. – berief ihn König Gustav III. als Kapellmeister Helmut Kreitz: Abbé G. J. V. als Musiktheoretiker. Diss. Saarbr. 1957. – David James Britton: Abbé G. u. Prinzenerzieher nach Stockholm, von wo J. V. His Life and his theories on Organ Design. aus V. große Reisen durch Russland sowie Diss. Rochester 1973. – Jane R. Stevens: G. J. V. and über Portugal u. Nordafrika nach Griechen- the ›Second Theme‹ in Sonata Form. Some 18thland unternahm, um seine These über in century perceptions of musical contrast. In: The Volksliedern bewahrte Urmelodien alter Journal of Musicology 2 (1983), S. 278–304. – Floyd Choräle zu verifizieren. Seine Forschungser- K. u. Margaret G. Grave: In praise of harmony. The gebnisse, die ihn zum »geistigen Vater der teachings of Abbé G. J. V. Lincoln/London 1987. – vergleichenden Musikwissenschaft« (Reck- Armin Raab: G. J. V. In: Bautz. – Christina Wagner: Abbé V. in Darmstadt. Letzte Station auf der Lenagel) machten, fixierte V. in seinem Choralbensreise eines Geistlichen, eines Musikers, eines System (Kopenhagen 1800). Er praktizierte sie Lehrers u. Forschers [Ausstellungskat.]. Darmst. in seinen Polymelos-Variationen. 1999. – Bärbel Pelker: G. J. V. (1749–1814). Mate1805 verließ V. Schweden, wo er für die von rialien zu Leben u. Werk unter besonderer Beihm gegründete »Tonschule« eine eigene rücksichtigung der pfalz-bayer. Dienstjahre. Ffm. Harmonielehre (1794) verfasst hatte, die er u. a. 2003. – Thomas Betzwieser u. Silke Leopold 1802 verbessert u. d. T. Handbuch zur Harmo- (Hg.): Abbé V. Ein Mannheimer im europ. Kontext. nielehre und für den Generalbass nach den Ffm. u. a. 2003. – Rüdiger Thomsen-Fürst: G. J. V. In: MGG 2. Aufl. Bd. 17 (Personenteil). – Uwe Pape Grundsätzen der Mannheimer Tonschule [...] (Hg.): G. J. V. [...]. Bln. 2007. (Prag) herausgab. Nach Aufenthalten in Andreas Meier / Red. München u. Wien, wo 1803 Carl Maria von Weber sein Schüler wurde u. er 1804 mit Beethoven für Schikaneders Theater an der Vogler, Thomas Didymus, auch: AucupaWien arbeitete, ließ er sich 1807 als Kapell- rius, Auceps, Ornithoteras, Myropola, meister in Darmstadt nieder. Dort entstanden * um 1480/1485 (?) Straßburg oder Oberseine musikal. Analysen (Utile dulci. Voglers ehnheim (Obernai)/Unterelsass, † 4.3. belehrende musikalische Herausgaben. Mchn. 1532 Spitalkloster Stephansfeld bei 1808), deren auf die moderne musikwissen- Brumath/Unterelsass. – Humanist, lateischaftlich systemat. Forschung vorauswei- nischer Dichter. sende Methodik 1810 Meyerbeer u. erneut V., Sohn des Straßburger Apothekers (d.i. Weber bei ihm studierten. Seine ihn im Alter myropola) Lux Vogler, begegnet erstmals finanziell ruinierenden Experimente als Or- 1499 als jugendl. Verfasser von Versen im gelbauer wertete er in den Schriften Das Sim- Schülerkreis Wimpfelings. Er lieh seinem plifications System des schwedischen Pensionärs Abt Lehrer poetische Unterstützung in den FehVogler (München, Staatsarchiv, GR 981/3) u. den gegen Daniel Zanckenried, Thomas

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Murner u. Jakob Locher. V. studierte Theologie u. wurde Priester u. später Straßburger Domvikar; 1511 erscheint er in Freiburg/Br. als Lizentiat der Rechte, 1512 (1511?) als Poeta laureatus. Wimpfeling u. Erasmus lobten V. als christl. Poeten u. druckten Einzelnes. Bis 1529 ist V. häufiger als mehr oder minder gewichtiger poetischer Beiträger, gelegentlich als Herausgeber von Druckwerken (z.B. P. Terentius Afer: Comoediae cum brevi vocabulorum difficilium enarratione pro puerulis a Tho. Aucupario condita. Straßb. 1511) fassbar. Sein bedeutendstes Gedicht wurde durch den Fund eines undatierten, notierten u. in seiner Verbindung von Bild u. Text annähernd emblematisch strukturierten Einblattdruckes ([Augsb.: Sigmund Grimm 1526]) 1988 durch Vera Sack bekannt gemacht. Es ist ein an Ps. 46 anknüpfendes lat. Gebet bzw. Lied, das 1526 von dem in Augsburg als altgläubiger Prediger wirkenden Othmar Nachtgall (Luscinius), dem Musiker u. Straßburger Freund V.s, verbreitet wurde u. das Luther wohl vorlag, als er kurz darauf »Ein feste Burg« dichtete. Literatur: Bibliografien: François Ritter: Répertoire bibliographique des livres imprimés en Alsace au 16me siècle de la Bibliothèque Nationale et Universitaire de Strasbourg. 4 Bde., Straßb. 1934–57, Register (unter Aucuparius). – VD 16. – Weitere Titel: Charles Schmidt: Histoire littéraire de l’Alsace [...]. 2 Bde., Paris 1879. Nachdr. Hildesh. 1966, Bd. 2, S. 149–154, 407 u. Register. – Ellinger, Bd. 1, S. 107, 384 f. – Harry Gerber: T. Aucuparius. In: NDB. – Miriam U. Chrisman u. Thomas B. Deutscher: T. V. In: Contemporaries. – André Marcel Burg: Aucuparius. In: NDBA, Lfg. 1, S. 71. – Vera Sack: ›Glauben‹ im Zeitalter des Glaubenskampfes. Freib. i. Br. 1988. – Jakob Wimpfeling: Briefw. Hg. Otto Herding u. Dieter Mertens. Bd. 2, Mchn. 1990, Register. – Albert Schirrmeister: Triumph des Dichters [...]. Köln 2003, S. 240, 269. – Flood, Poets Laureate, Bd. 4, S. 2174 f. Dieter Mertens / Red.

Vogt, (August Christoph) Karl, * 5.7.1817 Gießen, † 5.5.1895 Genf. – Naturforscher; Publizist. V., erstes von neun Kindern des Medizinprofessors Wilhelm Vogt u. seiner Frau Luise, geb. Follen, begann nach dem Abitur in Gießen 1833 mit dem Studium der Medizin,

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wechselte aber 1835 in Liebigs chem. Laboratorium, wo er mit den neuen naturwissenschaftl. Methoden vertraut wurde. 1836 – sein Vater war aus polit. Gründen seines Lehrstuhls enthoben worden – musste auch V. außer Landes gehen, setzte sein unterbrochenes Medizinstudium in Bern fort (Promotion 1839) u. widmete sich dann in Neuchâtel unter Anleitung von Alexander Agassiz geolog. u. paläontolog. Studien. Zu dieser Zeit lernte er Herwegh, Bakunin u. Alexander Herzen kennen, denen er freundschaftlich verbunden blieb. 1844–1846 hörte V. an der Sorbonne u. an der Bergwerksschule in Paris Vorlesungen u. unternahm Forschungsreisen an die Atlantik- u. Mittelmeerküste. In seiner Vaterstadt auf Betreiben Liebigs u. Humboldts zum Professor der Zoologie berufen, nahm er seine Lehrverpflichtungen aber nur von Ostern 1847 bis zum Ausbruch der 48erUnruhen wahr, da er sogleich in das Vorparlament berufen wurde. Als Mitgl. der Nationalversammlung der Frankfurter Paulskirche war er einer der Wortführer der demokratischen Linken. V. siedelte mit dem Rumpfparlament nach Stuttgart über, wurde in die »Reichsregentschaft« gewählt u. sah sich zur erneuten Flucht in die Schweiz gezwungen. 1852 erhielt er in Genf den Lehrstuhl der Geologie, später erweitert um Zoologie. Von 1856 bis 1881 war er Mitgl. des Eidgenössischen Ständerats bzw. der Schweizer Nationalrats. 1854 entfachte V. – neben Ludwig Büchner u. Jacob Moleschott, etwa mit den populärwissenschaftl., mehrfach übersetzten Physiologischen Briefen (2 Bde., Braunschw. 1846. 41879), radikaler Vertreter des dt. Materialismus – mit der gegen den Physiologen Rudolph Wagner gerichteten Broschüre Köhlerglaube und Wissenschaft (Gießen) den sog. Materialismusstreit. Hier findet sich sein berühmt-berüchtigter Satz, »daß die Gedanken etwa in demselben Verhältnis zum Gehirn stehen, wie die Galle zu der Leber oder der Urin zu den Nieren«. Weitere Werke: Lehrbuch der Geologie u. Petrefactenkunde. 2 Bde., Braunschw. 1846. 41879. – Ocean u. Mittelmeer. Reisebriefe. Ffm. 1848. – Bilder aus dem Tierleben. Ebd. 1852. – Vorlesungen über den Menschen. Gießen 1863. – Aus meinem Leben. Stgt. 1895.

11 Literatur: Hermann Misteli: C. V. Seine Entwicklung vom angehenden naturwiss. Materialisten zum idealen Politiker der Paulskirche, 1817–49. Zürich 1938. – Werner Bröker: Polit. Motive naturwiss. Argumentation gegen Religion u. Kirche im 19. Jh. dargestellt am ›Materialisten‹ K. V. (1817–1895). Münster 1973. – Martin Schneider: C. V. In: Bautz. – Burkhard Sanner: C. V. als Naturwissenschaftler. In: Mitt.en des Oberhess. Geschichtsvereins Gießen 79 (1994), S. 231–292. – Helmut Berding: C. V. (1817–1895). Der polit. Lebensweg eines liberalen Demokraten. In: Reich, Regionen u. Europa in MA u. Neuzeit. FS Peter Moraw. Hg. Paul-Joachim Heinig. Bln. 2000, S. 479–496. – Christoph Kockerbeck: Zur Stellung der Reisebriefe ›Ocean u. Mittelmeer‹ (1848) im Werk des Zoologen, Geologen, Volksbildners u. Politikers C. V. (1817–1895). In: Medizinhistor. Journal 39 (2004), S. 243–264. – Ders.: Carl Christoph V. In: Lexikon der bedeutenden Naturwissenschaftler. Hg. Dieter Hoffmann u. a. Bd. 3, Mchn./Heidelb. 2004, S. 397 f. – Goedeke Forts., S. 478–485 (Werkverz.). Roland Pietsch / Red.

Vogt, (Johann) Nicolaus, auch: Niklas V., * 5.12.1756 Mainz, † 19.3.1836 Frankfurt/M.; Grabstätte: Johannisberg bei Rüdesheim, Kirche. – Historiker u. Bibliothekar. Als Sohn eines Stadtrats u. einer Bürgerstochter wurde V. zunächst von Privatlehrern, später am jesuitischen Gymnasium ausgebildet, bevor er seit 1772 an der Mainzer Universität Jura, Philosophie u. Geschichte studierte. Nach seiner Promotion wurde er 1782 zum Professor der Geschichte an der Alma Mater Moguntina ernannt (1784 o. Prof.); zu seinen Hörern zählte der nachmalige österr. Staatskanzler Metternich. V. geriet in die Wirren der Französischen Revolution u. ging – als 1792 die »Mainzer Republik« ausgerufen wurde – mit seiner just geehelichten Frau Eva Margarete Pfeiffenbring ins Schweizer Exil, wo er bei Lavater u. a. Fichte kennenlernte. Hoffnungen, wieder in Mainz Fuß zu fassen, zerschlugen sich, so dass V. dem kurfürstl. Hof nach Aschaffenburg folgte, wo er als Bibliothekar (Nachfolger Wilhelm Heinses) u. Galerieinspektor, 1804 auch als Direktor der Kunstschulen tätig war. Hier entstand das System des Gleichgewichts und der Gerechtigkeit (2 Bde., Ffm. 1802), das auf einer

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Schrift seiner Professorenzeit basiert. Darin deutet V. in optimistischer Sicht Gleichgewicht u. Gerechtigkeit als dynam. Kräfte der geschichtl. Entwicklung, mit deren Hilfe die göttlich implementierte u. verloren gegangene Harmonie wiederhergestellt werden könne. 1804 reiste V. als Legationsrat im Gefolge Karl Theodor von Dalbergs nach Paris, ging mit ihm nach Frankfurt/M. u. war dort als Legationsrat u. Schulkurator tätig. V. zählte zu den Bewunderern Napoleons, da sich in ihm der aufgeklärte Absolutismus personifiziere, u. trat als Theoretiker des Rheinbundes für ein einheitl. Europa ein (vgl. [Hg.] Europäische Staats-Relationen. Ffm. 1804–1809 u. Die deutsche Nation und ihre Schicksale. Ffm. 1810). 1808 war V. einer der Begründer des nach frz. Vorbild der Akademie errichteten »Museums« in Frankfurt/M.; 1816 wurde er Senator, 1831 Schöffe. Zu V.s veröffentlichtem Œuvre, das auf rund 10.000 Seiten geschätzt wird, zählen neben geschichtsphilosophischen Entwürfen v. a. lokal- u. landesgeschichtl. Werke patriotischen Grundtenors, so etwa der Abriß einer Geschichte von Mainz (Ffm. 1792), die Ansichten des Rheins (Ffm. 1804), Die Ruinen am Rhein (Ffm. 1809) oder auch die Rheinischen Geschichten und Sagen (3 Bde., Ffm. 1817; Bd. 4, o. O. 1833. Ffm. 1836). Mit diesen Schriften zählt V. zu den Gründervätern der polit. Rheinromantik. Weitere Werke: System der allg. Weltgeschichte. Mainz 1785. – Ueber die Europ. Republik. 5 Bde., Ffm. 1787–92. – Gustav Adolph, König in Schweden als Nachtrag zur europ. Republik. Ffm./ Mainz 1790. – (Hg.) Rheinisches Archiv für Gesch. u. Litteratur. Mainz/Wiesb. 1810–14. – Die europ. Staats- u. Kirchengrundsätze in dem Geiste unsrer Zeit dargestellt. Mainz 1818. – Teilnachlass: Stadtarchiv Mainz. Literatur: F[ranz] J[osef] K[arl] Scheppler: Biogr. des Herrn Niklas V. o. O. u. J. [ca. 1815]. – Magdalene Herrmann: Niklas V., ein Historiker der Mainzer Univ. aus der 2. Hälfte des 18. Jh. Gießen 1917. – Hermann Josef Peters: Niklas V. u. das rhein. Geistesleben 1792–1836. Ein Beitr. zur Gesch. des polit. u. histor. Denkens am Mittelrhein. Mainz 1962. – Steven A[llen] Stargardter: Niklas V., 1756–1836. A personality of the late German enlightenment and early romantic movement. New York u. a. 1991. – Ursula Berg: Niklas V.

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(1756–1836). Weltsicht u. polit. Ordnungsvorstellungen zwischen Aufklärung u. Romantik. Stgt. 1992. – Helmut Mathy: N. V. [...]: zwischen rhein. Patriotismus u. europ. Gleichgewicht. In: Goethe: ›Die Belagerung von Mainz 1793‹. Ursachen u. Auswirkungen (Ausstellungskat.). Hg. Horst Reber. Mainz 1993, S. 361–372. – Ders.: Zwei unveröffentlichte Manuskripte aus der Jugendzeit v. N. V. In: Mainzer Ztschr. 87/88. 1992/93 (1995), S. 307–323. – Heinz Duchhardt: N. V. u. Gustav II. Adolf. In: Wege der Neuzeit. FS Heinz Schilling. Hg. Stefan Ehrenpreis. Bln. 2007, S. 521–531. Hans Peter Buohler

Vogt, Walter, * 31.7.1927 Zürich, † 21.9. 1988 Muri/Kt. Bern. – Erzähler, Theateru. Hörspielautor. Nach dem Medizinstudium in Bern, Montpellier u. Wien war V. Assistenzarzt in einer psychiatr. Klinik u. Röntgenarzt im Berner Tiefenauspital. Danach absolvierte er eine Ausbildung zum Psychiater u. war als Facharzt mit eigener Praxis in Muri bei Bern tätig. Im Frühjahr 1972 unternahm V. in Begleitung eines Freundes eine Reise nach Marokko. 1974 machte er wegen seines Drogenkonsums eine Entziehungskur. 1978 hielt er sich für ein Semester als Gastdozent an der University of Southern California in Los Angeles auf. V. war Mitbegründer u. 1976–1980 Präsident der Gruppe Olten. Er wirkte auch als Vorstandsmitglied im P.E.N.-Zentrum der dt. Schweiz. V. interessierte sich für Ornithologie u. schenkte ebenso große Aufmerksamkeit dem AT. Seine Werke liegen in poln., ital. u. frz. Übersetzung vor. V. erhielt den Literaturpreis der Stadt Bern (1973, 1985), den Buchpreis der Stadt Bern (1980), den Großen Literaturpreis des Kantons Bern (1986) u. den Rauriser Literaturpreis (1986). V. gehört – neben Otto F. Walter, Peter Bichsel, Hugo Loetscher, Adolf Muschg – zu den Schriftstellern, die den sog. zweiten Durchbruch in der Schweizer Literatur der 1960er Jahre, eine generationsbedingte Einladung zum krit., gattungsfreien Diskurs über die helvet. Vergangenheit u. Gegenwart, in die Wege leiteten. Unter seinen Zeitgenossen war er durch die enge, autobiografisch geprägte Verknüpfung von Krankheit u. Wahnsinn, einem bei ihm stets wiederkeh-

renden Thema, Ausnahmefall. V. trat an die Öffentlichkeit mit dem Erzählband Husten. Wahrscheinliche und unwahrscheinliche Geschichten (Zürich 1965), der seinen Verfasser bekannt machte. Die Titelerzählung, eine Art Gleichnis, lässt die Hustenanfälle des Protagonisten als verborgenen Ausbruch aus der bisherigen Lebensweise erscheinen. In Wüthrich. Selbstgespräch eines sterbenden Arztes (Zürich 1966), V.s bedeutendstem Roman, in dem sich – gemessen an seinem Erstling – Akzente verlagern, tritt ein kranker Medizinprofessor, Chefarzt einer Klinik, mit einem Mal in den Schatten des Todes. Ein beachtenswerter Aspekt dieses Werks ist der seelenlose, sarkastisch gesehene Klinikalltag; das Augenmerk des Verfassers gilt auch der Beziehung zwischen Arzt u. Patient, die insofern ebenbürtig sind, als sie beide gleichermaßen als hilfsbedürftig erscheinen. Der Blick des Autors fällt auf die satirisch gezeichnete Ärzteschaft mit ihren hierarchie- u. prestigeorientierten Funktionsmechanismen. V. bezieht einen spött. Standpunkt zum Erzählten; mit Husten u. Wüthrich wird in seiner Prosa dem gesellschaftskrit. Sarkasmus ein Weg eröffnet. In seinem zweiten Roman Melancholie. Die Erlebnisse des Amateur-Kriminalisten Beno von Stürler (Zürich 1967) wird eine in Krimiform abgefasste Satire auf die Berner Patrizier mit psychiatr. Klinik im Hintergrund manifest. In seinem anderen Kurzrroman Der Vogel auf dem Tisch. Der Buchhandlungsgehilfe Johannes Lips will ein erwerbstätiges Leben führen (Bern 1968) ist eine Irrenanstalt Schauplatz der Handlung u. Metapher der Welt. Die von Wahnvorstellungen geplagte Hauptfigur wähnt von Vögeln verfolgt zu sein; Ergebnis der voranschreitenden Destruktion ihrer Persönlichkeit ist Selbstmord. Ironie u. Satire sind jedoch nun keine tragenden Ausdrucksmittel mehr, denn Der Vogel auf dem Tisch folgt dem Prinzip einer individuellen, sensibel strukturierten Leidensgeschichte. Im Gesamtwerk V.s kommt auch dem Roman Der Wiesbadener Kongress (Zürich 1972) ein gewichtiger Standort zu. In ein scharfes Visier werden diesmal forschende Psychiater genommen. V. liefert eine groteske Darstellung von Scheinautoritäten, das Bild der Forschung als zynisches, materiell orientiertes

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Treiben; wissenschaftliches, entsprechende Aspekte u. Kriterien voraussetzendes Ethos ist in diesem Umfeld völlig gegenstandslos. In die Nähe von V.s bisheriger Prosa rückt mit seiner Aussage u. Dramaturgie Schizogorsk (Zürich 1977), ein Roman, dessen poetolog. Ansätze im Krimi u. polit. Satire wurzeln. Erzählt wird hier ein einfacher Sachverhalt: Ein hoher Offizier trägt sich mit der Absicht, einer Gemeinde seines eigenen Landes den Krieg zu erklären, da sie gegen ein Atomkraftwerkprojekt opponiert. Aus der Sicht eines Psychotherapeuten wird die Berner im kollektiven Wahnsinn, in geistiger Verwirrung befangene Prominenz mit äußerst negativer Konnotation belegt, u. die Schweiz selbst erscheint als ein sich schizophren gebendes Weltmodell. Es schwingt hier ein Ton mit, der seine Analogie in Gerold Späths Bildern von der Bürgerlichkeit findet. Eine Wende im Schaffen V.s markieren zwei vom Autor selbst als Romane bezeichnete Prosawerke mit stark persönl. Beiklang: Vergessen und Erinnern (Zürich/Köln 1980), ein Drogenbericht, sowie dessen tagebuchartige Fortsetzung Altern (Zürich/Köln 1981). Es liegt im Wesen dieser Texte, dass der Berichtende, Arzt u. Patient zgl., in der Darstellung seiner Sucht u. narkot. Erfahrung, seiner Entziehungskur mit allen ihren Symptomen u. Folgen, in der Schilderung des körperl. u. psych. Versagens schonungslos ist. Die beiden Werke sind ein Versuch, das Schreiben als existenzielle Sinnsuche, als Therapie u. literar. Kommentar zu betrachten. Beachtung verdienen auch V.s tabufrei u. provokant gedachte Werke zum Thema Verlockung homosexueller Liebe u. Eingeständnis geschlechtl. Transgression: die Erzählungen Maskenzwang (Zürich/Köln 1985), das Aids-Stück Die Betroffenen (Urauff. Zürich 1988; ersch. Zürich/Frauenfeld 1993) u. der Roman Das Fort am Meer (Zürich/Frauenfeld 1993; Bd. 5 der Werkausgabe). Weitere Werke: Ausgabe: Werkausgabe. Hg. Charles Cornu, Doris Halter u. Kurt Salchli. 10 Bde., Zürich/Frauenfeld 1991–97. – Einzeltitel: alle irrenhäuser sind gelb. Zehn Gedichte. Bern 1967. – Schizophrenie der Kunst u. andere Reden. Zürich 1971 (Ess.s). – Die Talpi kommen. Ein Miniroman für kluge Kinder. Bern 1971. – Mein Sinai-Trip.

Vogt Eine Laienpredigt. Zürich 1972. – Spiele der Macht. Basel 1972. – Pilatus u. Faust. Zwei Monologe. Bern 1972. – Acclimate. Musik v. Michael Vogt. Bern 1972 (Sprechplatte). – Klartext. Zürich 1973 (L.). – Der Irre u. sein Arzt. Zürich 1974 (E.en). – Briefe aus Marokko. Vorwort v. Fritz Meerwein. Zürich 1974. – Die roten Tiere v. Tsavo. Zürich 1976 (E.en). – Booms Ende. Zürich 1979 (E.en). – Erzählungen. Hg. Ingeborg Quaas. Bln./DDR 1983. – Metamorphosen. Zürich/Köln 1984 (P.). – Du bist dein Weg. Meditationen. Melsbach/Neuwied 1986. – Dröx. Zeichnungen u. ein Werkbericht v. W. V. Mit einer Vernissage v. Albert Hofmann u. 21 Texten v. Leo Navratil. Bern 1987. – Der Garten der Frau des Mannes, der Noah hieß. Ausgew. E.en 1965–1987. Hg. D. Halter. Mit einem Vorw. v. Kurt Marti. Zürich/Köln 1987. – Spiegelungen. Ffm./Lpz. 1991 (Gesch.n). – Theaterstücke: Aimez-vous Gotthelf ? Urauff. Bern 1966. – Höhenluft. Urauff. Zürich 1966. – Die Königin des Emmentals. Urauff. Zürich 1967. – Der große Traum der Dame v. Pioch-Badet. Urauff. Zürich 1968. – Spiele der Macht. Urauff. Bern 1971. – Faust X. Urauff. Solothurn 1972. – Typhos. Urauff. Bern 1973. – Die Betroffenen. Urauff. Zürich 1988. – Pilatus u. andere Masken. Urauff. Wabern bei Bern 1992. – Der Anruf. Urauff. Zürich 1993. – Hörspiele: Vier Dialoge. Radio DRS 1969. – Inquisition. Radio DRS 1972. – Weihnachten mit Herz. Radio DRS 1972. – Amos. Der Prophet u. sein Gott. Sprechstück. Radio DRS 1979. – Jesaia. Sprechstück. Radio DRS 1981. – Die Betroffenen. SFB 1990. – Fernsehspiele (alle Fernsehen DRS): Spiele der Macht. 1970. – Pilatus vor dem schweigenden Christus. 1974. – Erben. 1976. – Die Inquisition. 1977. Literatur: Armin Ari Engel: W. V. als Erzähler. Diss. Bern 1986. – Charles Linsmayer: Literaturszene Schweiz. 157 Kurzporträts v. Rousseau bis Gertrud Leutenegger. Zürich 1989. – Sibille Tröml: Von den Schwierigkeiten des ›Unsagbaren‹. W. V.s ›Altern‹ u. Christoph Geisers ›Wüstenfahrt‹. In: ABNG 40 (1997), S. 187–201. – Marc Aeschbacher: Vom Stummsein zur Vielsprachigkeit. Vierzig Jahre Lit. aus der dt. Schweiz (1958–1998). 2., überarb. Aufl. Bern 1998. – Valentin Herzog: W. V. In: LGL. – Bennett I. Enowitch: Eros and Thanatos. A psycho-literary investigation of W. V.’s life and works. Oxford 2005. – Bruno H. Weder: W. V. In: KLG. – Barbara Pogonowska: Drogenerfahrung, Wahnsinn u. Krankheit in der Lit. Der Fall W. V. Bielsko-Bial/a 2007. Zygmunt Mielczarek

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Voigt, Johanna, geb. Ambrosius, * 3.8. 1854 Gut Langwethen/Ostpreußen, † 27.2.1939 Königsberg. – Lyrikerin. Nach ärml. Kindheit u. Schulbesuch nur bis zum elften Lebensjahr brachte 1874 die Heirat mit dem Bauern Voigt außer dem Ortswechsel nach Groß-Wersmeninken bei Tilsit keine Veränderung des arbeitsreichen Landlebens. Erst die Herausgabe der unter ihrem Mädchennamen erschienenen Gedichte durch Karl Weiß (Johanna Ambrosius, eine deutsche Volksdichterin. Preßburg 1895. Gedichte, zweiter Teil. Königsb. 1897) führte neben Anerkennung durch Hermann Sudermann u. einer Audienz bei der Kaiserin auch zu bescheidenem finanziellen Erfolg. Nach dem Tod ihres Mannes lebte V. seit 1900 bei ihrem Sohn in Königsberg. V.s Gedichte sind unbeholfene, von der Landschaft u. der Not des Alltags inspirierte epigonale Goldschnittlyrik u. heute in ihrer schlichten Naivität von unfreiwilliger Komik. In den 1930er Jahren wurde ihre »tiefe Verbundenheit mit der ostpreußischen Scholle« (Fritz Kudnig) gerühmt, u. noch heute genießt die Dichterin des Ostpreußenliedes Mein Heimatland bescheidenen Nachruhm. Literatur: Carl Lange: J. Ambrosius. In: Ostdt. Monatshefte 19,9 (1935/36), S. 541–550. – Fritz Kudnig: Die ostpreuß. Volksdichterin J. Ambrosius. In: ebd. 20,3 (1939/40), S. 185–187. Rolf Bulang

Voigt, Johannes, * 27.8.1786 Bettenhausen/Thüringen, † 23.9.1863 Königsberg. – Historiker.

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Staatsarchivs in Königsberg. Den Schwerpunkt seiner Forschung verlegte er hier ganz auf das Feld der älteren preuß. Provinzialgeschichte, der er mit seiner Geschichte Preußens von den ältesten Zeiten bis zum Untergange der Herrschaft des deutschen Ordens (9 Bde., Königsb. 1827–39) ein bis heute »unentbehrliches Quellenwerk« (Maschke) schuf. Bei allen Verdiensten V.s um die Geschichte der preuß. Ordensprovinz, v. a. durch seine Art des Rückgriffs auf die Quellen, ist seine Geschichtsauffassung doch noch tief der Romantik verhaftet u. im Prinzip vorhistoristisch, was sein Werk im Zuge der Entwicklung der krit. Methode bald in Vergessenheit geraten ließ. Weitere Werke: Gesch. Marienburgs, der Stadt u. des Haupthauses des dt. Ritter-Ordens in Preußen. Königsb. 1824. – Codex diplomaticus prussicus. 6 Bde., ebd. 1836–61. – Hdb. der Gesch. Preußens bis zur Zeit der Reformation. 3 Bde., ebd. 1841–43. – Abriß einer Autobiogr. In: Blicke in das [...] Leben der Stadt Nürnberg im 16. Jh. Bln. 1862. Literatur: Karl Lohmeyer: V.-Bibliogr. In: Altpreuß. Monatsschr. 35 (1898), S. 296–308. – Ders.: J. V. In: ADB. – Erich Maschke: J. V. als Geschichtsschreiber Altpreußens. In: Altpreuß. Forsch.en 5 (1928), S. 93–135. – Max Lehnerdt: Aus J. V.s ersten Königsberger Jahren. Königsb. 1929. – Heinrich Ritter v. Srbik: Geist u. Gesch. Bd. 1, Mchn./Salzb. 1950, S. 224. – Sven Ekdahl: Eine v. J. V. veranlaßte Abschriftensammlung v. DeutschOrdens-Archivalien im Staatl. Histor. Archiv Litauens. In: Preuß. Landesgesch. FS Bernhart Jähnig. Hg. Udo Arnold. Marburg 2001, S. 597–601. – Walter Uloth: Zum 220. Geburtstag v. Prof. Dr. J. V. (1786–1863). In: Mitt.en aus dem Biosphärenreservat Rhön 11 (2006), S. 48–50. Thomas Brechenmacher / Red.

Der Sohn eines Dorfchirurgen u. Barbiers studierte seit 1806 in Jena Theologie, wandte Voigt, Voith, Valentin, * 1487/88 Chemsich jedoch unter dem Einfluss Heinrich Lunitz, † nach 1558 Magdeburg. – Dichter dens der Geschichte zu. 1815 trat V. als Privon Dramen, Spruchgedichten u. Meisvatdozent in Halle mit Hildebrand als Papst terliedern. 2 Gregor VII. und sein Zeitalter (Weimar 1846) hervor. Dieser Versuch eines protestantischen V. ist 1507 als Student in Wittenberg, 1541 als Historikers, dem Leben u. Wirken eines mit- Steuereinnehmer in Magdeburg nachgewietelalterl. Papstes aus den Quellen heraus ohne sen; letztes bekanntes Datum ist 1558, das konfessionelle Polemik gerecht zu werden, Jahr des Abschlusses seiner großen, kalligraverhalf V. zu überregionaler Bekanntheit. fisch gestalteten Meisterliederhandschrift Von 1817 bis zu seinem Tod wirkte er als (Universitätsbibliothek Jena, El. fol. 100), die Professor der Mittleren u. Neueren Ge- er Kurfürst Johann Friedrich II. von Sachsen schichte sowie als Direktor des geheimen u. dessen beiden Brüdern widmete. Von V.

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Voigt-Diederichs

stammen zwei Dramen – Esther (Magdeb. riation, Derivation, Imitatio. Untersuchungen zu 1537) u. Ein [...] Spiel, von dem [...] Menschen den Tönen der Sangspruchdichter u. Meistersinger. (ebd. 1538) –, die in die Reihe der Magde- Tüb. 1993, Register. – RSM 1 (zur Hs.) u. 12 (mit burger Schuldramen der Zeit gehören, ferner weiterer Lit.). – Claudia Schmidt: Nur (poetisches) Mittel zum Zweck? Die Sachsengenealogie des einige Spruchgedichte u. eine LiedersammMagdeburger Meistersängers V. V. In: Parthenolung, Geistliche Ringeltentze. Aus der heiligen polis. Jb. für Kultur- u. Stadtgesch. Magdeburgs 1 Schrifft, vor die Jugent (ebd. 1550), die er her- (2007/08), S. 225–238. Horst Brunner / Red. ausgegeben u. größtenteils verfasst hat. Sein Hauptwerk, die Meisterliedersammlung, enthält insg. 351 zwischen 1535 u. 1558 Voigt-Diederichs, Helene, eigentl.: H. von ihm gedichtete u. nur hier überlieferte Diederichs, geb. Voigt, * 26.5.1875 Gut Lieder; lediglich ein einziges weiteres Lied Marienhoff bei Eckernförde, † 3.12.1961 V.s ist in anderen Handschriften enthalten. Jena. – Erzählerin, Lyrikerin. Der größte Teil der Lieder ist zyklisch ange- V., fünftes Kind eines Gutsbesitzers, wurde ordnet: Genealogie der Herzöge von Sachsen von Hauslehrern unterrichtet. Reisen führten (3 Lieder), Genesisversifikation (73 Lieder), sie nach Hamburg, Berlin, Königsberg u. die Sonn- u. Feiertagsevangelien durch das 1897 nach Italien, wo sie den Verleger Eugen Kirchenjahr (110 Lieder), der Psalter (150 Diederichs kennenlernte, den sie 1898 heiraLieder). Von besonderer Bedeutung ist der tete. Im Anschluss an ihre Scheidung 1911 Melodieteil der Handschrift, der insg. 73 unternahm V. zahlreiche weitere AuslandsMelodieaufzeichnungen von Meistertönen reisen. enthält; es handelt sich dabei um die umNach zwei Jugendbüchern legte V. 1898 fangreichste Sammlung von Meistersinger- den Erzählband Schleswig-Holsteiner Landsleute melodien des 16. Jh. vor Adam Puschmans (Lpz.) vor, in dem sie das Leben der Menschen ihrer niederdt. Heimat schilderte. Im MittelSingebuch (1584/88). Die Vorrede zu V.s Handschrift enthält ein punkt ihrer zahlreichen Romane stehen Lob der Musik u. des Meistergesangs u. gibt Frauenfiguren, die durch ein gottesfürchtiges eine umfangreiche Liste von Meistersingern, u. aufopferungsvolles Dasein zum Glück deren Quelle Kataloglieder der Nürnberger finden. Zu den erfolgreichsten Büchern zähMeistersinger Konrad Nachtigall († 1484/85) len Dreiviertel Stund vor Tag. Roman aus dem u. Hans Sachs sind. Diesem ist die Lieddich- niedersächsischen Volksleben (Jena 1905) – von tung V.s, mit dem eine bis in das 17. Jh. rei- Detlev von Liliencron im selben Jahr mit dem chende kleine Reihe von Magdeburger Meis- niedersächs. Kulturpreis ausgezeichnet –, tersingern (Matz Bauer, Franz u. Hans Kal- Regine. Erzählung für junge Menschen (Köln förder) beginnt, stark verpflichtet. Einen 1923. Revision der Novelle Regine Vosgerau. Lpz. 1901) u. Auf Marienhoff. Vom Leben und von Liedton hat V. nicht erfunden. Weiteres Werk: Der Welt Gattung Von der Welt der Wärme einer Mutter (Jena 1925). V.’ Romane u. Erzählungen sind trotz ihrer lauff, u. Obentheür damit sie umb gaeth für u. für nüchternen Sprache sentimental u. verklären [...]. o. O. 1538. Ausgaben: Dramen v. Ackermann u. Voith. Hg. das traditionelle Familienleben. Sie zählten Hugo Holstein. Tüb. 1884. – H. Brunner: Dichter während der NS- u. noch in der Nachkriegsohne Werk. In: Überlieferungsgeschichtl. Ed.en u. zeit zur viel gelesenen, häufig rezensierten u. Studien zur dt. Lit. des MA. Hg. Konrad Kunze u. a. oft wiederaufgelegten Frauen- u. HeimatliTüb. 1989, S. 1–31 (Vorrede). – Spiel vom Men- teratur. V.’ nach 1945 entstandene Romane u. schen. In: Dt. Dramen v. Hans Sachs bis Arthur die Lyrik fanden dagegen kaum Beachtung. Schnitzler. Hg. Markus Finkbeiner. Ffm. 2005 (CDROM). Literatur: Bibliografie: VD 16. – Weitere Titel: Hugo Holstein: Valten Voith. In: ADB. – Wolfgang F. Michael: Das dt. Drama der Reformationszeit. Bern 1984, S. 60–62. – Johannes Rettelbach: Va-

Weitere Werke: Abendrot. Aus dem schleswigschen Volksleben. Lpz. 1899 (E.en). – Unterstrom. Ebd. 1901 (L.). – Vorfrühling. Ebd. 1906 (N.n). – Die Balsaminen. Wiesb. 1906 (E.en). – Aus Kinderland. Jena 1907. – Nur ein Gleichnis. Ebd. 1909. – Wandertage in England. Mchn 1912. – Wir

Voigtländer in der Heimat. Bilder aus der Kriegszeit. Heilbr. 1916. – Luise. Mchn. 1916 (E.). – Zwischen Himmel u. Steinen. Pyrenäenfahrt mit Esel u. Schlafsack. Ebd. 1919. – Mann u. Frau. Jena 1922 (N.n). – Schleswig-Holsteiner Blut. Ebd. 1926 (E.en). – Ring um Roderich. Ebd. 1929 (R.). – Der grüne Papagei. Gesch.n v. Kindern. Ebd. 1934. – Aber der Wald lebt. Ebd. 1935 (E.). – Gast in Siebenbürgen. Ebd. 1936. – Das Verlöbnis. Ebd. 1942 (R.). – Strauß im Fenster. Ebd. 1944. – Der Zaubertrank. Ebd. 1948. – Die Bernsteinkette. Düsseld. 1951 (E.en). – Waage des Lebens. Ebd. 1952, Rudolstadt 1953 (R.). – Hermann Hesse, H. V.-D. Zwei Autorenporträts in Briefen. Düsseld. 1971. Literatur: Albert Soergel: Dichtung u. Dichter der Zeit. Lpz. 21912, S. 758–762. – Heinz Rautenberg: H. V.-D. In: BLSHL, Bd. 2, S. 242–244. Bettina Mähler / Red.

Voigtländer, Gabriel, * um 1596 Reideburg bei Halle, begraben am 26.1.1643 Nykøbing/Dänemark. – Liederdichter, Musiker.

16 Ausgaben: Ausw. in: Das dt. Gedicht. 1600–1700. Hg. Christian Wagenknecht. Bd. 4, Gütersloh 1969, S. 126–128. – Søren Terkelsen: Astree Siunge-Choer. Første Snees, 1648. De danske viser med deres tyske forlæg af G. V. og Johann Rist. Hg. Erik Sønderholm u. a. Neumünster 1976. – Erster Theil Allerhand Oden u. Lieder. Sorø 1642. Nachdr. Hildesh. 2004. – Ausw. in: Gedichte des Barock. Hg. Ulrich Maché u. Volker Meid. Stgt. 2005, S. 100–104. Literatur: Rochus v. Liliencron: G. V. In: ADB. – Kurt Fischer: G. V., ein Dichter u. Musiker des 17. Jh. Lpz. 1910. – Heiduk/Neumeister, S. 113, 256, 485 f. – Heinrich Wilhelm Schwab: Zur Liedkunst G. V.s. In: Weltl. u. Geistl. Lied des Barock [...]. Hg. D. Lohmeier. Stockholm u. a. 1979, S. 183–207. – Dansk Biografisk Leksikon. 3. Aufl., Bd. 15, Kopenhagen 1984, S. 671 f. (mit Lit.). – Mara R. Wade: Triumphus nuptialis danicus. German court culture and Denmark. The ›Great Wedding‹ of 1634. Wiesb. 1996, Register. – Dies.: Performance, publication, piracy. G. V.s ›Erster Theil Allerhand Oden u. Lieder ...‹ (1642). In: Musik u. Szene. FS Werner Braun. Hg. Bernhard R. Appel u. a. Saarbr. 2001, 539–548. – Anthony John Harper: German secular song-books of the mid-seventeenth century [...]. Aldershot 2003. – Werner Braun: Thöne u. Melodeyen, Arien u. Canzonetten [...]. Tüb. 2004, Register. – Die dt. Akademie des 17. Jh. Fruchtbringende Gesellschaft. Hg. Klaus Conermann. Reihe I, Abt. A, Bd. 4, Tüb. 2006, Register. – Martin Loeser: G. V. In: MGG, Bd. 17 (Pers.), Sp. 191–193.

V. wurde 1626 als Stadt- u. Feldtrompeter in Lübeck angestellt, wohin er anscheinend mit dem Heer Wallensteins gekommen war. 1633–1635 stand er im Dienst des Herzogs von Schleswig-Holstein-Gottorf; danach war er wohl ständig in Hamburg. 1639 ging er als Kammermusikus, Feld- u. Hoftrompeter an den Hof des dän. Thronfolgers Christian (V.) Dieter Lohmeier / Red. in Nykøbing auf der Insel Falster. Sein Hauptwerk ist die Sammlung Erster Volckamer, Johann Georg, * 9.6.1616 Theil allerhand Oden unnd Lieder (Sorø 1642), Nürnberg, † 17.5.1693 Nürnberg. – Arzt, die mehrfach nachgedruckt wurde (Lübeck Naturforscher, Gelegenheitsdichter. 1647. 1650. Goslar 1651. Ratzeburg 1664), aber wegen V.s frühem Tod keine Fortset- Nach dem Besuch der Schulen bei St. Lorenz zung erlebte. Sie nimmt in der Geschichte des u. St. Egidien in Nürnberg studierte der dt. Lieds eine bedeutende Stellung ein, da sie Kaufmannssohn zunächst in Altdorf (Immamoderne Melodien aus den musikalisch füh- trikulation am 24.9.1633) u. seit Sommer renden europ. Ländern mit lebenslustigen, 1634 in Jena. 1638 hielt er sich während einer vielfach spött. Texten versah. Diese mussten Italienreise längere Zeit als Bibliothekar in ohne gelehrten mytholog. oder schäferl. Ap- Padua auf. Vor seiner medizinischen Dokparat auskommen, da V., wie er in der Vor- torpromotion in Altdorf am 2.5.1643 (seine rede entschuldigend angab, »nicht studiert« Inauguraldissertation De febri ephemera hatte hatte, genügten aber in ihrem Versbau den er bereits am 28.6.1641 verteidigt) unterdurch die Barocklyrik gesetzten Ansprüchen. nahm V. 1642 Reisen nach Rom, Marseille u. Das erklärt die Verbreitung der Texte in Paris. 1646 wurde er als »Helianthus« das Norddeutschland u. ihre Nachwirkung in elfte Mitgl. des Pegnesischen Blumenordens. V., einer der führenden Naturforscher seiner Skandinavien. Zeit, war Gründer der Nürnberger Societas Medica u. seit 1676 Mitgl. der Schweinfurter

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Volkelt

Leopoldina Academia Naturae Curiosorum, Fruchtbringende Gesellschaft. Hg. Martin Bircher hielt in seinem Privathaus gelehrte Zirkel ab u. Klaus Conermann. Reihe II, Abt. C, Bd. 2, Tüb. u. führte einen ausgedehnten Briefwechsel. 1997, Register. – Uwe Müller: Die Leopoldina unEr starb als hoch angesehener kaiserl. Rat u. ter den Präsidenten Bausch, Fehr u. V. (1652–1693). In: 350 Jahre Leopoldina. Anspruch u. Wirklichkeit Leibarzt. [...]. Hg. Benno Parthier u. a. Halle/S. 2002, Neben kleineren Beiträgen in Gelegen- S. 45–93. – Jürgensen, S. 156–167 u. Register. heitsschriften der Pegnitzschäfer, Gedichten Renate Jürgensen / Red. in Harsdörffers Frauenzimmer-Gesprächspielen u. Johann Helwigs Nymphe Noris verfasste V. eine lat. Übersetzung von Antonio Colmene- Volkelt, Johann Gottlieb, * 3.12.1721 ro de Ledesmas Abhandlung über die Scho- Lauban, † 12.1.1795 Liegnitz. – Übersetkolade (Chocolata Inda [...]. Nürnb. 1644). zer, Verfasser poetologischer u. minera1666 gab er Valerius Cordus’ Dispensatorium logischer Schriften. (ebd.) heraus. Sein eigenes Dispensatorium Noribergense von 1676 blieb ungedruckt (Hs. StB. Der Sohn eines Handwerksmeisters bezog Nürnberg, Will I. 1372–20). V. redigierte (seit 1741 die Universität Leipzig, wo er in breit 1676) die »Ephemerides« der Leopoldina, in gefächertem Studium u. a. bei Gottsched die der er selbst zahlreiche Abhandlungen zur Kenntnisse für seine spätere »polyhistoriMathematik, Optik, Mechanik u. Medizin sche« Publizistik erwarb. Nach Studienabschluss (Magister der Philosophie) u. Tätigveröffentlichte. keit als Hauslehrer wurde V. 1751 zum KonWeitere Werke: Opobalsami orientalis in theriaces confectionem Romae revocati examen [...]. rektor der »vereinigten Königl. und StadtNürnb. 1644. – Apollo tetratechne¯s serenissimus schulen zu Liegnitz« berufen. V. trat zunächst als Herausgeber u. Beiträprinceps ac heros [...] Raymundus, Sac. Rom. Imperii comes de Montecucoli [...] ab inclita Academia ger Moralischer Wochenschriften wie »Der Naturae-Curiosorum protector electus [...]. Ebd. Zeitvertreiber« (1745) oder »Der Freund« 1678. – Epistola de stomacho [...]. Altdorf 1682. – (1761) u. als Verfasser zahlreicher SchulproHerausgeber: Marco Aurelio Severino: Zootomia gramme in Erscheinung. Primär für didakt. Democritaea [...]. Nürnb. 1645. – Collegium ana- Zwecke gedacht sind auch seine dramenpotomicum [...]. Hanau 1654. Ffm. 21668. – Prospero etolog. Programme, u. a. Von einigen Regeln der Parisio: Rariora Magnae Graeciae numismata [...]. theatralischen Dichtkunst (Liegnitz 1755) u. Von Nürnb. 1683. dem Nutzen und Ergötzen der theatralischen Literatur: Bibliografie: VD 17. – Weitere Titel: Dichtkunst [...] (ebd. 1765). Mehrfach überAndreas Ungelenk: Die Glaubens-Freud in Gott, setzte V. empfindsame »Prüfungsromane« gibt Trost in Noth u. Tod [...]. Nürnb. 1694 (Leiaus dem Französischen, so Fanny, eine englische chenpredigt). – Georg Caspar Kirchmaier: Pro gloria et memoria Volckameriana, funebris oratio [...]. Geschichte [...] (Breslau/Lpz. 1776; anonym) o. O. 1694. – Georg Andreas Will: Nürnbergisches oder Pauline und Suzette [...] (ebd. 1780), zuGelehrten-Lexicon [...]. 4. Tl., Nürnb./Altdorf meist nach Vorlagen von Baculard d’Arnaud. 1758. Nachdr. Neustadt an der Aisch 1997, In den späteren Lebensjahren widmete sich V. S. 121–125. – Günther: J. G. V. In: ADB. – S. Gün- stärker seinen bergbauhistor. u. mineralog. ther: Der Nürnberger Naturforscher J. G. V. d.Ä. In: Studien, deren Ergebnisse er in einer Reihe Altes u. Neues aus dem Pegnes. Blumenorden 3 monograf. Abhandlungen festhielt (z. B. Pro(1897), S. 141–161. – Guido v. Volckamer: Genea- gramm vom Silber [...]. Liegnitz 1780; anonym). logie der [...] Gelehrtenfamilie V. Mchn. 1904. – Seine historisch orientierten Darstellungen Hans Kirste: J. G. V. [...]. In: Jahresber. des Vereins Gesammlete Nachrichten von Schlesischen Bergfür Gesch. der Stadt Nürnberg 49 (1926), S. 36 f. – werken (Breslau/Lpz. 1775) u. Nachrichten von Heinz Gossmann: Das Collegium Pharmaceuticum den schlesischen Mineralien (ebd. 1775) wies die Norimbergense [...]. Ffm. 1966. – DBA. – Estermann/Bürger, Bd. 1, S. 1216 f. – Renate Jürgensen: zeitgenöss. Fachkritik als veraltet u. kompiUtile cum dulci [...]. Die Blütezeit des Pegnes. latorisch zurück. Blumenordens in Nürnberg 1644 bis 1744. Wiesb. 1994, Register. – Die dt. Akademie des 17. Jh.

Weitere Werke: Kurze Anweisung zur teutschen Verskunst. Liegnitz 1761. – Kurze Erdbe-

Volkelt schreibung zum Gebrauch der Landcharten für die Jugend [...]. Breslau/Lpz. 1775. Josef Morlo

Volkelt, Johannes, * 21.7.1848 Lipnik/Galizien, † 8.5.1930 Leipzig; Grabstätte: ebd., Südfriedhof. – Philosoph.

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Traum-Phantasie. Stgt. 1875) artikuliert zgl. die Krise der bürgerl. Welt um 1900. Weitere Werke: Selbstzeugnisse: Mein philosoph. Entwicklungsgang. In: Die dt. Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen. Hg. Raymund Schmidt. Bd. 1, Lpz. 1921, S. 201–228. – Systemat. Selbstdarstellung. In: Dt. systemat. Philosophie nach ihren Gestaltern. Hg. Hermann Schwarz. Bd. 1, Bln. 1933, S. 3–56. – Über Literatur: Zur Einf. in Jean Pauls Gedankenwelt. Lpz. 1923. – Die Stimmung in Grillparzers Tragödien. Grillparzer als moderner Dichter [1888]. In: Franz Grillparzer. Hg. Helmut Bachmaier. Ffm. 1991, S. 37–48. Literatur: Maximilian Ahrem: Das Problem des Tragischen bei Theodor Lipps u. J. V. Diss. Bonn 1909. – Paul Barth (Hg.): FS J. V. zum 70. Geburtstag. Mchn. 1918. – Willi Schuster (Hg.): Zwischen Philosophie u. Kunst. J. V. zum 100. Lehrsemester. Eine Sammelschrift. Lpz. 1926. – Felix Krueger: Nekrolog auf J. V. Lpz. 1930. – Fritz Beinroth: Untersuchungen zur Einfühlungsästhetik bei Eduard v. Hartmann, Theodor Lipps u. J. V. Ein Beitr. zur Rezeption musikal. Werke. Diss. Halle 1970. Mikrofiche-Ausg. Lpz. 2001. – Thomas Neumann: Gewißheit u. Skepsis. Untersuchungen zur Philosophie J. V.s. Amsterd. 1978. – Harald Schwaetzer: Subjektivistischer Transsubjektivismus [Einl.]. In: J. V.: Erfahrung u. Denken. Nachdr. hg. v. H. S. Hildesh. u.a. 2002, S. IX ff. – J. V. In: Professorenkatalog der Univ. Leipzig/catalogus professorum lipsiensis, unter www.uni-leipzig.de (Zugriff 16.6.2011). – Harald Seubert: J. V. In: Ostdt. Biogr. – Persönlichkeiten des histor. dt. Ostens, unter www.ostdeutsche-biographie.de (Zugriff 16.6.2011). Kathrin Klohs

»Er führt ein Denkerleben im deutschen Sinne und ringt nach Lösung der höchsten Weltprobleme«, urteilte der Zeitgenosse Rudolf Steiner (in: Deutsche Presse 51, 1887). V., Sohn tief gläubiger Protestanten, studierte seit 1867 Philosophie an den Universitäten Heidelberg, Jena u. Wien u. wurde 1871 mit der Arbeit Pantheismus und Individualismus im System Spinozas in Heidelberg promoviert. Auf krisenhafte Jahre philosophischer Orientierung folgten 1876 die Habilitation (bei Rudolf Eucken über den Symbol-Begriff in der neuesten Aesthetik) u. eine Privatdozentur an der Universität Jena. Professuren für Philosophie hatte V. wiederum in Jena (seit 1879) sowie – nach der Eheschließung mit Meta Seeliger am 15.9.1879 – in Basel (seit 1883), Würzburg (seit 1889) u. Leipzig (seit 1894) inne. Die Auseinandersetzung mit Hegel als Student, die Wiederaufnahme der Kant-Studien als Privatdozent, die Antworten auf Husserl im Spätwerk, die Überschau Nietzsches im Alter führten V. immer wieder auf seine zentralen Arbeitsgebiete: zum einen die Erkenntnistheorie (u. a. Immanuel Kants Erkenntnistheorie in ihren Grundprinzipien analysiert. Lpz. 1879. Erfahrung und Denken. Hbg. Volkmann, Volckmann, Johann Jacob, 1886. 1924. Nachdr. hg. von Harald Schwaet* 17.3.1732 Hamburg, † 21.7.1803 zer. Hildesh. u. a. 2002. Die Quellen der Zschortau bei Leipzig. – Reiseschriftstelmenschlichen Gewißheit. Mchn. 1906. Nachdr. ler u. Übersetzer. hg. von Esther von Krosigk. Saarbr. 2007. Gewißheit und Wahrheit. Mchn. 1918. 1930), Der Sohn eines privatisierenden Gelehrten zum anderen die Ästhetik (u. a. Ästhetische studierte in Leipzig u. Göttingen Jura, MaZeitfragen. Mchn. 1895. Ästhetik des Tragischen. thematik u. Sprachen, bevor er sich auf eine Mchn. 1897 u. ö., zuletzt 1923. System der Äs- ausgedehnte Kavalierstour begab, die ihn thetik. 3 Bde., Mchn. 1905–14. 1925–27. Das zunächst für eineinhalb Jahre nach Italien ästhetische Bewußtsein. Prinzipienfragen der Äs- führte. 1758 schloss V. in Rom Freundschaft thetik. Mchn. 1920. Nachdr. hg. v. E. von mit Winckelmann u. Mengs, deren ästhetiKrosigk Saarbr. 2007), die für ihn gleicher- sche Auffassungen er übernahm. Über Orlémaßen im solipsistisch gefassten Bewusst- ans, wo er 1759 zum Dr. jur. promoviert seinsakt gründen. V.s Teilhabe am Diskurs wurde, ging er für 19 Monate nach Paris, des Nicht-Bewussten, Traumartigen (Das Un- bereiste dann vier Monate lang die frz. Probewusste und der Pessimismus. Bln. 1873. Die vinz u. kehrte schließlich über die Nieder-

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lande, England u. Spanien nach Deutschland Volkmann, Richard von (seit 1885), auch: zurück. Er ließ sich in Leipzig nieder u. ent- R. Leander, * 17.8.1830 Leipzig, † 28.11. faltete im Umkreis von Weiße eine umfang- 1889 Jena. – Mediziner; Erzähler, Lyriker. reiche literar. Tätigkeit, die sich – von den Reiseführern abgesehen – insbes. auf die V. entstammte einer alten Gelehrtenfamilie: Übersetzung von Reiseliteratur sowie von Sein Urgroßvater war Johann Jacob Volkkunstgeschichtl., ökonomischen u. politisch- mann, der Vater, Alfred Wilhelm Volkmann, histor. Werken der frz., engl., dän. u. ital. war ein bekannter Physiologe, die Mutter Aufklärung erstreckte. 1764 erwarb er die kam aus der Familie des Musikverlegers HaRittergüter Zschortau u. Biesen bei Leipzig, ertel, zu deren Freundeskreis die Schumanns die er jedoch nur vorübergehend selbst be- gehörten. Nach Besuch der Fürstenschule in Grimma studierte V. 1850–1854 Medizin in wirtschaftete. V.s erfolgreichstes Werk sind die Historisch- Halle, Gießen, Leipzig u. Berlin (Habilitation kritischen Nachrichten von Italien (3 Bde., Lpz. in Halle 1857). 1858 heiratete er Anne 1770/71. 21777/78). Mit dieser durch eigene Schlechtendal, Tochter eines Hallenser BotaAnschauung erweiterten Kompilation aus frz. nikprofessors. 1863 wurde V. zum a. o. Prof., u. engl. Reiseführern, die aufklärerische Ge- 1867 zum o. Prof. u. Direktor der chirurgisellschaftskritik mit klassizistischen Ge- schen Klinik in Halle berufen. Im Deutschschmacksurteilen verband, schuf V. den wir- Französischen Krieg 1870/71 konsultierender kungsvollsten dt. Italienführer des späten 18. Generalarzt des vierten Armeekorps, war V. Jh., der u. a. die Reiseerlebnisse von Lessing, während der Belagerung von Paris u. der Niederschlagung der Commune auf Schloss Goethe u. Moritz beeinflusste. Soisy einquartiert. Hier schrieb er die TräuWeitere Werke: Leben der berühmtesten Mahler, aus dem Frz. des Hrn. Ant. Jos. Dezalliere mereien an französischen Kaminen. Zunächst als d’Argenville, übers. mit Anmerkungen. 4 Tle., Lpz. Feldpostbrief an seine Kinder gerichtet, er1767/68. – Joachim v. Sandrart: Teutsche Akademie schienen sie pseudonym in Leipzig 1871. Die [...] verbessert. 8 Bde., Nürnb. 1768–75. – Knud Erfahrungen aus Kriegs- u. Nachkriegszeit Leems Nachrichten v. den Lappen in Finmarken, machten V. zum Vorkämpfer der Listerschen aus dem Dän. übers. Lpz. 1771. – Carl Denina: antisept. Wundbehandlung in Deutschland. Staatsveränderungen v. Italien. Aus dem Ital. übers. 1872 war er Mitbegründer der Deutschen 3 Bde., ebd. 1771–73. – Neues geograph. HandleGesellschaft für Chirurgie. xikon. Ebd. 1778. – Neueste Reisen durch England. Der international renommierte u. in der 4 Bde., ebd. 1781/82. – Neueste Reisen durch die Bismarck-Ära hochgeehrte Chirurg, zgl. Vereinigten Niederlande. Ebd. 1783. – Neueste Reisen durch Schottland u. Ireland. Ebd. 1784. – Wegbereiter der modernen Orthopädie, desNeueste Reisen durch Spanien. 2 Tle., ebd. 1785. – sen erfolgreichstes literar. Werk, die TräumeNeueste Reisen durch Frankreich. 3 Bde., ebd. reien (341907), eng mit den Erfahrungen der 1787/88. Einigungskriege verknüpft war, erfüllte exLiteratur: Hamberger/Meusel 7, S. 252–255 akt jenes bis 1914 wirksame gesellschaftl. (mit Schriftenverz.). – Max Mendheim: J. J. V. In: Ideal vom Reserveoffizier mit akadem. Titel ADB. – Heinrich Krohn: J. J. V.: Goethes Reise- u. nobilitiertem Rang. Die genaue Lektüre führer in Italien. In: Börsenblatt für den Dt. seiner Märchen erweist ihn allerdings als Buchhandel 160 (1993), 103/104, Beilage Aus dem hochkultivierten, graziösen Erzähler, der Antiquariat Nr. 12/1993, S. A 449–A 455. – Linda dem martial. Nationalpathos der Gründerzeit Maria Pütter: Reisen durchs Museum. Bildungserlebnisse dt. Schriftsteller in Italien (1770–1830). gerade nicht zuzurechnen ist. In die Gattung des dt. Kunstmärchens hat er einen unverHildesh. 1998. Albert Meier / Red. wechselbaren Stil der sublimen Sentimentalität eingebracht, der sich ausgewogen zwischen Ironie u. kunstvoller Einfachheit bewegt. Weitere Werke: Aus der Burschenzeit. Halle 1876. – Gedichte. Ebd. 1878. 31884. – Kleine

Vollmann

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Gesch.n. Ebd. 1884. 21888. – Alte u. neue Troubadourlieder. Lpz. 1889.

Postl): Ralph Doughby’s Esq. Brautfahrt. Mit einem Ess. v. W. G. Sebald. Ffm. 2006.

Literatur: E. Gurlt: R. v. V. In: ADB. – Fedor Krause: Zur Erinnerung an R. v. V. Bln. 1890. – Simone Trieder: R. v. V.-Leander. Chirurg u. Literat. Halle/S. 2006. – Goedeke Forts.

Gerhard Bolaender / Günter Baumann

Vollmoeller, Karl Gustav, * 7.5.1878 Stuttgart, † 18.10.1948 Los Angeles; Grabstätte: Familiengrab auf dem StuttVollmann, Rolf (Walter Bruno), * 3.6.1934 garter Pragfriedhof. – Dramatiker, Übersetzer, Lyriker, Drehbuchautor. Treptow/Rega. – Erzähler u. Essayist. Ernst-Friedrich Suhr / Red.

Seit dem Studium der Philosophie, Theologie u. Germanistik lebt V. als freier Schriftsteller, Rezensent, u. a. für »Die Zeit«, u. Herausgeber in Tübingen. 1992 erhielt er den Literaturpreis der Stadt Stuttgart. V. verknüpft in seinen Büchern die Biografie histor. Figuren mit eigenen Erfahrungen. Blieb er in seiner ersten, mehrfach aufgelegten Jean-Paul-Biografie Das Tolle neben dem Schönen (Tüb. 1975. Neuausg. Ffm. 1996) noch eng an Person u. Werk seines Helden, so öffnete er sein Verfahren in den folgenden Essays für eigene poetische Ziele. Die Briefnovelle Winter-Wanderschaft (Tüb. 1977) beschreibt Nietzsches Winteraufenthalte in Italien u. Südfrankreich anhand einer eigenen Reise; Im Lande Kolderups unter den Laubengängen der Eider (ebd. 1988) folgt den Spuren von Arno Schmidt u. Jules Verne. Mit seinem Shakespeare-Handbuch Shakespeares Arche. Ein Alphabet von Mord und Schönheit (Nördlingen 1988. Gekürzte Ausg. u. d. T. Who’s who bei Shakespeare. Mchn. 1995) legte V. ein alphabetisches Lexikon vor, in dem er unter jedem Stichwort Figuren u. Motive aus Shakespeares Dramen poetisch verknüpft. Die Gabe, Literaturkritik u. subjektive Wertung auf hohem Niveau zusammenzubringen, wird in dem monumentalen »Roman-Verführer« Die wunderbaren Falschmünzer (2 Bde., Ffm. 1997) u. im Roman-Navigator (ebd. 1998) spürbar, für die V. anderthalb Jahrhunderte Romangeschichte seit 1800 lustvoll aufgearbeitet hat. Weitere Werke: Die Reise um die Welt. Darwin nachgereist. Briefe an die Kinder daheim. Weinheim/Basel 1980. Neuaufl. Mchn./Wien 2002 (Kinderbuch). – Akazie u. Orion. Streifzüge durch die Romanlandschaften Claude Simons. Köln 2004. – Herausgeber: Christoph Martin Wieland: Gesch. des Agathon. Zürich 2001. – Charles Sealsfield (d.i. Karl

Als Sohn eines vermögenden Textilfabrikanten u. Kunstliebhabers wuchs V. in Stuttgart ohne finanzielle Sorgen auf u. besuchte das dortige humanistische Karls-Gymnasium, wo er 1896 das Abitur bestand. Im selben Jahr suchte V. brieflich Kontakt zu Stefan George, der mehrere Gedichte V.s u. 1901 auch einen Teil des neoromant. Versdramas Catherina Gräfin von Armagnac und ihre beiden Liebhaber (Bln. 1903) in den »Blättern für die Kunst« veröffentlichte. Obgleich V.s literar. Verbindung mit dem George-Kreis bald endete, hinterließ George einen tiefen, lebenslangen Eindruck auf V., wie das 1942 verfasste Gedicht »Praeceptor Germaniae« zeigt. Sein Studium der Klassischen Philologie u. Archäologie in Paris, Berlin, Athen u. Bonn schloss V. 1901 mit einer Dissertation über Griechische Kammergräber mit Totenbetten (Bonn) ab. 1902 erschien V.s einzige Gedichtsammlung Parcival. Die frühen Gärten (Mailand/Bln. 1903), die unter dem Eindruck von George u. Hofmannsthal, den »zwei einzigen Dichter[n] unserer Tage« (V.) steht u. entstehungsgeschichtlich bis 1894, dem Todesjahr von V.s Mutter, zurückreicht. Ab 1904 u. bis zu seinem Tod lebte V. überwiegend im Ausland, v. a. in Italien (u. a. seit 1919 im Sterbehaus Richard Wagners in Venedig), in der Schweiz u. seit den 1930er Jahren auch in den USA (New York, später Los Angeles). 1906 arbeitete V. erstmals mit Max Reinhardt zusammen, der ihn förderte, inszenierte u. recht früh auch verfilmte; vor allem V.s religiös-myst. Pantomime Das Mirakel (Bln. 1912), die unter der Regie Reinhardts u. mit der Musik Engelbert Humperdincks zunächst 1911 in London, nach anderen europ. Stationen schließlich u. a. auf einer sechsjährigen Tournee in den USA gezeigt wurde, war

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ein Welterfolg. Der Stoff stammte aus dem Tüb. 1957, S. 21–27. – Ines R. Braver: V. Ein Beitr. christlich-lat. MA mit Anklängen an Gott- zum Verständnis des Dichters. Diss. New York fried Kellers Die Jungfrau und die Nonne u. 1961. – Klaus G. Just: Ästhetizismus u. techn. Welt. Zur Lyrik V.s. In: ZfdPh 82 (1963), S. 211–231. – Maurice Maeterlincks Sœur Béatrice. Theodor Karst: ›Der Tag wird kommen‹. Über den V. begeisterte sich für moderne Technik u. Frieden in Gedichten v. V. u. Christoph Meckel. In: konstruierte Flugzeuge sowie Automobile. Er Brückenschlag. Von anderen lernen – miteinander übersetzte den Flugroman Vielleicht, vielleicht handeln. Hg. Ingelore Oomen-Welke. Stgt. 1994, auch nicht (Lpz. 1910) seines Freundes Ga- S. 287–296. – Gregory D. Kershner: K. G. V. In: Dt. briele d’Annunzio u. veröffentlichte 1911 ein Exillit. 4,3, S. 1914–1921. – Regina Weber: K. G. V. eigenes Flugdrama über Wieland, den Schmied In: Dt. Exillit. 3,4, S. 273–304. – Frederik D. Tun(Lpz.), wobei er die Handlung ins moderne nat: K. V. Dichter u. Kulturmanager. Eine Biogr. London verlegte. Ebenso zeugt die 1914 ver- [Hbg.] 2008. – Hans Peter Buohler: Der Briefw. fasste Novelle Die Geliebte (Mchn. 1919), bei zwischen K. G. V. u. Hugo v. Hofmannsthal. In: der es sich um einen vollendet schönen Hofmannsthal-Jb. 18 (2010), S. 105–137. – Ders.: K. G. V. In: Stefan George u. sein Kreis. Hg. Achim Flugzeugrotor handelt, von V.s TechnikbeAurnhammer u. a. (in Vorb.). Hans Peter Buohler geisterung. 1913 heiratete V. die Schauspielerin Norina Gilli, die unter dem Künstlernamen Maria Volmar, nach den Handschriften auch: Carmi auftrat; die Ehe wurde zwischen 1916 Volemar, Volgmar, Soleman, Wolckman, u. 1920 geschieden. 1914/15–1918 war V. als Yoseph. – Alemannischer Dichter des sog. Kriegsberichterstatter tätig; in den 1920er Steinbuches, Mitte 13. Jh. Jahren, in denen er eine mehrjährige Liebschaft mit Ruth Landshoff(-Yorck) hatte, wird Der 1008 Verse umfassende Lapidarius des ihm u. a. die Entdeckung der Schauspielerin nicht näher identifizierbaren Autors aus der Marlene Dietrich zugeschrieben. Dietrich Mitte des 13. Jh. ist in bisher 18 Handschrifwurde zum Star in Josef von Sternbergs ten bekannt. Er wurde 1498 in Erfurt, zuvor Blauem Engel, an dessen Drehbuch V. mitge- wohl schon zwischen 1492 u. 1495 gedruckt. wirkt hatte. Er folgte Sternberg in die USA u. Seine Quellen sind nicht ermittelt. Eine Datierung ist indirekt möglich: Emwar in Hollywood tätig. Nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wurde der lungenkranke pört registriert V. Stimmen, welche behaupV. zweimal interniert; 1948 reiste er noch ten, »daz ein geverwet glas sî alsô nütze und einmal nach Europa. Ein Romangroßprojekt, alsô guot« wie echte Steine (vv. 6 f.). Darin das nur in einer gekürzten engl. Fassung lässt sich unschwer eine Anspielung auf ein vorliegt (The Last Miracle. New York 1949), Gedicht des Strickers (nach 1236) erkennen, sowie eine Ausgabe seiner Gedichte blieben in dem dieser den Glauben an Wunderkräfte der Edelsteine verspottete. Nach V. sei es aber unvollendet. Weitere Werke: Assüs, Fitne u. Sumurud. Bln. für niemanden eine Sünde, »der den ze tôde 1904 (Trag.). – Der dt. Graf. Bln. 1906 (Kom.). – slüege« (v. 14), der so despektierlich über Onkelchen hat geträumt. Mchn./Lpz. 1918 (Kom.). Steinmagie rede. – Gedichte. Eine Ausw. Hg. u. mit einem Nachw. Auf diese Invektive im Proömium folgt vers. v. Herbert Steiner. Marbach 1960. – Überset- eine Charakterisierung der Eigenschaften der zungen: Gabriele d’Annunzio: Francesca da Rimini. zwölf Steine im Brustschild des HohenpriesTrag. in Versen. Bln. 1903. – Des Aischylos Oresteia. ters Aaron nach Ex 28,17–20 u. 39,10–13 (vv. Bln. 1908. – Carlo Gozzi: Turandot. Chinesisches 55–283), worauf 26 weitere benannte (vv. Märchenspiel. Bln. 1911. – Molière: George Dandin oder Der beschämte Ehemann. Lpz. 1912. – Nach- 284–716) sowie diverse namenlose Steine (vv. 717–770) behandelt werden, bevor es um lass: u. a. DLA Marbach. Gemmenbilder u. ihre magische Wirkung Literatur: Leonhard Adelt: V. oder Der Flieger u. die Dichtung. In: Ders.: Studie zu sechs Dich- geht (vv. 771–998) u. im Epilog erneut tern. Konstanz 1917, S. 71–86. – Arnold Berg- Steinkraft-Kritiker verwünscht werden (vv. straesser: V.s späte Gedichte. In: Robert Boehrin- 999–1008). V. enthält sich jegl. allegor. Ausger. Eine Freundesgabe. Hg. Erich Boehringer u. a. deutung u. akzentuiert ausschließlich die den

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Steinen verliehenen Zauberkräfte. So sei der sorgen. Mit Klugheit befreit er sich von der Saphir tauglich als Arznei; »der rehte stein vermeintl. Mutter; die Geschichte endet im magnât« bringe eine Ehefrau, unter ihr Gelächter des Kaisers, der ihn entschädigt. Kopfkissen gelegt, im Schlaf zum Verrat ihrer Nur ein motivverwandtes frz. fabliau (Du Neigungen – eine im MA populäre Treue- prestre qui eut mere a force) ist bekannt, das alprobe. lerdings nicht V.s Quelle ist. Seine Erzählung Ein Weiterwirken des Steinbuches bis ins ist in zwei der größten Sammelhandschriften späte 16. Jh. zeigt sich bei dem Wittenberger mittelalterlicher dt. Versdichtungen (sowie Paracelsisten Andreas Jeßner, der 14 Stein- einer Abschrift der einen Handschrift) überKapitel V.s in seiner Kunstkammer darin man liefert. findet Theophrastische Geheimnüß von 1595 in Ausgaben: Von der alten Mutter. Hg. Moriz Prosa bearbeitete. Die Ursache dafür, dass V.s Haupt. In: ZfdA 6 (1848), S. 497–503. – Diu alte Werk von der neueren Forschung stark ver- muoter. In: Gesammtabenteuer. Hg. Friedrich nachlässigt wird, dürfte zwar kaum darin Heinrich v. der Hagen. Bd. 1, Stgt./Tüb. 1850 liegen, dass man in ihm noch heute »alles voll (Neudr. 1961), S. 85–100, XCV f. Literatur: Hedda Ragotzky: V. In: VL. des crassesten Aberglaubens« (Karl Goedeke Sabine Schmolinsky / Red. 1884) fände, wohl aber darin, dass es oft noch immer als poetisch dürftig u. allenfalls kulturhistorisch interessant gilt. Volz, Melchior ! Acontius, Melchior Ausgaben: Das Steinbuch. Hg. Hans Lambel. Heilbr. 1877 (dazu Rez. v. Ernst Martin in: AfdA 5, 1879, S. 224 f.). Literatur: W. Uhl: V. In: ADB (Lit.). – E. Brodführer: Der Wernigeröder Lapidarius. In: ZfdPh 46 (1915), S. 255–268. – Gerhard Eis: Andreas Jeßner über Edelsteine [1595]. In: Sudhoffs Archiv 34 (1941), S. 68–76. – F. N. L. Poynter: The Editio Princeps of V.’s Steinbuch? An Unrecorded Incunable. In: ebd. 44 (1960), S. 21–24. – Wolfram Kleist: Eine neue Hs. v. V.s Steinbuch. In: ZfdA 103 (1974), S. 185–192. – William C. Crossgrove: V. In: VL u.VL (Nachträge u. Korrekturen). – Christa Baufeld: Zur Rezeption von V.s Steinbuch in der Greifswalder Hs. 88 Ms 875. In: Magister et amicus. FS Kurt Gärtner. Hg. Vaclav Bok u. Frank Shaw. Wien 2003, S. 709–745. Walter Buckl / Red.

Volrat. – Verfasser einer Verserzählung, 13. Jh. Die mhd. Reimpaarerzählung von der alten Mutter u. Kaiser Friedrich ist in zwei Fassungen von 424 bzw. 244 Versen erhalten, deren kürzere V. als Dichter nennt; den Reimen zufolge schrieb er mitteldeutsch. Eine taub u. blind gewordene alte Adlige aus Schwaben klagt vor Kaiser Friedrich in Nürnberg ihren Sohn an, zu verschwenderisch zu leben. Im Gedränge des Gerichtssaals hängt der junge Ritter seine Mutter einem ihm ähnl. Ritter an, der trotz aller Widerrede verurteilt wird, besser für die Klägerin zu

Vom Rechte ! Rechte, Vom Vomelius, Cyprianus, eigentl.: Sjoerd Stapert, * 1515 Wommels/Friesland, † 5.3.1578 Speyer. – Dichter, Schulmann u. Jurist. In einem umfangreichen Gebet bittet V., so (u. »Frisius«) nach seinem Geburtsort genannt, Gott um Beilegung der weltl. Zeitunruhen (Ode ad Deum pro tranquillando orbis statu; in sapph. Strophen); in solchen Jahren war er auf niederländ. Schulen (Gouda, Haarlem, Groningen), studierte Jurisprudenz u. a. in Wittenberg, Erfurt u. Köln (1545 Magister artium), lehrte zwischen den Studienjahren in Magdeburg u. Braunschweig u. wurde Konrektor am Archigymnasium Dortmund. Seit 1546/47 wirkte V. als Regens des Contubernium philosophicum u. Procurator generalis fisci an der erzbischöfl. Kurie in Mainz, erwarb den juristischen Doktorgrad, wurde von Kaiser Karl V. geadelt (a Stapert) u. zum Comes Palatinus ernannt u. arbeitete von 1563 bis zu seinem Tod am Reichskammergericht in Speyer. Ein Liber miscellaneorum erschien 1543 in Straßburg; drei Bücher Sylvae 1540 in Erfurt, ein viertes 1547 in Mainz – sprechende Dokumente der »Geschichte [...] des Schreibens bei Gelegenheit«.

23 Literatur: Bibliografie: VD 16. – Weitere Titel: A. Döring: Johann Lambach u. das Gymnasium zu Dortmund v. 1543–82. Bln. 1875, bes. S. 53 ff., 124. – Ders.: C. V. In: ADB. – Wumkes: C. V. In. Nieuw Nederlandsch Biografisch Woordenboek. Tl. 9 (1933), S. 1226 f. Reinhard Düchting / Red.

Von der Siebenzahl ! Siebenzahl, Von der Vorauer Novelle. – Alemannische Reimpaarerzählung aus der ersten Hälfte des 13. Jh.

Vorauer Sündenklage

tion wird eine niveauvolle, bildkräftige u. leidenschaftl. Darstellung zweier ringender Existenzen, die, stilistisch an Gottfried von Straßburg geschult, Fall u. Rettung des Menschen exemplarisch veranschaulicht. Ausgaben: Schönbach (s. Literatur). Tl. 1, S. 43–75 (›Relationen‹). Tl. 2, S. 42–68 (V. N.). – Die V. N. u. die Reuner Relationen. In Abb. hg. v. Hans Gröchenig. Göpp. 1981. Literatur: Anton E. Schönbach: Studien zur Erzählungslit. des MA. Tl. 1: Die Reuner Relationen. Tl. 2: Die V. N. Wien 1898/99. – Friedrich Ohly: Der Verfluchte u. der Erwählte. Opladen 1976, S. 60–65. – Klaus Zatloukal: Die V. N. In: Euph. 72 (1978), S. 240–259. – Jean-Claude Schmitt: Die Wiederkehr der Toten. Stgt. 1995. – K. Zatloukal: V. N. In: VL. Christian Kiening

Die Vorauer Sammelhandschrift 412 überliefert 649 Verse einer Geschichte um Verführung, Verlust u. Bewahrung des Seelenheils, die sich in Grundzügen bis auf Gregor den Großen u. in der Konstellation auf Wilhelm Vorauer Sündenklage. – Anonym übervon Malmesbury zurückführen lässt. Zuliefertes Reimpaargedicht des 12. Jh. grunde liegt dem dt. Text ein lat. Prosamirakel, das in den wohl Ende des 12. Jh. ent- Die V. S. ist benannt nach der sie allein vollstandenen Reuner Relationen ebenfalls in ei- ständig überliefernden großen Sammelnem steir. Kloster überliefert ist. handschrift frühmhd. Denkmäler, dem VoZwei schon früh ins Kloster gegebene rauer Codex 276 (vv. 1–13 auch in einer Jünglinge fliehen das geistl. Leben u. ver- Handschrift des Zisterzienserklosters Zwettl). schreiben sich der teufl. Nekromantie. Als Die fortgeschrittene Reimtechnik des aus einer der beiden von einer schreckl. epilep- Österreich stammenden Gedichts (rund 50 sieartigen Krankheit befallen wird, versucht Prozent reine Reime, rund 40 Prozent Assoder andere vergeblich seine Seele zu retten; nanzen, häufige Reimbrechung) machen eine der Kranke verzweifelt u. stirbt mit dem Entstehung nach der Jahrhundertmitte Versprechen, dem Freund nach 30 Tagen zu (1150–1160) wahrscheinlich. Die 858 Verse erscheinen u. von seinem Zustand zu berich- umfassende V. S. setzt mit einem lat. zitierten ten. Der Überlebende mutiert daraufhin zum Psalmvers (Psalm 50,17) ein u. formuliert im reuigen Sünder, er wird als gleichsam neu- Anschluss daran die Bitte um göttl. Beistand geborener Phönix »unz an daz himelische für das geplante Werk. Auf diesen prologartor« emporgetragen; die Begegnung mit dem tigen Anruf folgt ein rund 300 Verse umfasaus der Hölle erscheinenden Freund ist in der sendes Marienlob, das die Mitwirkung der Handschrift nicht mehr enthalten. Die lat. Gottesmutter am Erlösungsgeschehen herRelation stellt dieses Geschehen vor den Hin- vorhebt. Maria wird als Fürsprecherin getergrund von Ordensgegensätzen (der urspr. priesen, deren Vermittlung sich auch der Cluniazenser wird schließlich Zisterzienser) Autor immer wieder anempfiehlt. Den Mitu. der spätaugustin. Prädestinationslehre (ei- telteil nimmt das eigentl. Sündenbekenntnis ner ist zum Heil, einer zum Unheil be- ein. Es beginnt mit einer Anrufung Christi u. stimmt). Die V. N. hingegen betont die der Klage über die Verführbarkeit der Mengrundsätzl. Willensfreiheit der Jünglinge, schen; hierauf bekennt der Autor in Anlehden negativen Einfluss des Erziehers, dessen nung an Psalm 129,1 seine eigene Sündhafharscher Behandlung die beiden entfliehen, tigkeit, indem er sich aller nur erdenkl. Veru. die erst stufenweise erfolgende Initiation fehlungen anklagt. Es folgt die Bitte um in die Zauberkunst. Aus der gelehrten, mit Sündenvergebung – unter Berufung auf früBibel- u. Väterzitaten durchsetzten Disputa- here Gnadenerweise Gottes (Maria Aegyp-

Vordtriede

tiaca, Drei Jünglinge, Susanna). Im Schlussteil erbittet der Autor Glaubensstärke, um in künftigen Gefährdungen standhaft zu bleiben. Dem lat. Beginn korrespondiert der letzte Vers: Das Gedicht endet mit der Schlusswendung der liturg. Oration. Als literar. Typus hat die V. S. ihren nächsten Verwandten in der Millstätter Sündenklage. Vergleicht man sie mit diesem etwa eine Generation älteren Werk, so erweist sich die V. S. – außer in größerer sprachl. u. metr. Gewandtheit – vor allem in zwei Punkten als das »modernere« Gedicht: in der nachdrückl. Hervorhebung der Gottesmutter u. in dem Bemühen, über eine bloße Auflistung von Einzelsünden hinaus zur Formulierung eines glaubhaften, subjektiv nachvollziehbaren Sündenbewusstseins zu gelangen. Beide Veränderungen sind Reflexe eines Wandels in der Frömmigkeitshaltung, eines Wandels, der in der Folge diesen Typ der literar. Sündenklage selbst obsolet werden ließ. Ausgaben: Karl Konrad Polheim (Hg.): Die dt. Gedichte der Vorauer Hs. Graz 1958, S. 125–128 (Faks.). – Friedrich Maurer (Hg.): Die religiösen Dichtungen des 11. u. 12. Jh. Bd. 3, Tüb. 1970, S. 98–123. – Albert Waag u. Werner Schröder (Hg.): Kleinere dt. Gedichte des 11. u. 12. Jh. Bd. 2, ebd. 1972, S. 196–222. Literatur: Werner Schröder: V. S. In: VL. Gisela Vollmann-Profe / Red.

Vordtriede, Werner, auch: Werner Stoutz, Werner Salasin, * 18.3.1915 Bielefeld, † 25.9.1985 Izmir/Türkei. – Romancier, Essayist, Literaturwissenschaftler u. Übersetzer. V. wuchs seit dem sechsten Lebensjahr bei seiner schon früh geschiedenen Mutter, der sozialdemokratischen Journalistin Käthe Vordtriede, in Freiburg i. Br. auf, emigrierte nach dem Abitur 1933 in die Schweiz u. studierte an der Universität Zürich Philologie. Bereits als Schüler fasziniert von Stefan George, kam er 1934, erst nach dessen Tod, in engen Kontakt mit dem George-Kreis; sein Leben lang setzte er sich emphatisch für den Dichter ein. 1938 ging er, aus einer seit Langem stark assimilierten jüd. Familie stammend, sich selbst aber nicht zu seinen jüd.

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Wurzeln bekennend, ins amerikan. Exil (Das verlassene Haus. Tagebuch aus dem amerikanischen Exil 1938–1947. Mchn. 1975. Neuausg. Lengwil 2002). In seiner 1944 der Northwestern University vorgelegten Dissertation untersuchte er die Konzeption des Dichters in den Werken Georges u. Stéphane Mallarmés. 1947–1961 war V. Professor an der University of Wisconsin in Madison, wo er ganz dem überlieferten George-Bild entsprechend keine eigene Wohnung hatte u. ein Zimmer des Universitätsclubs bewohnte, wenn er nicht auf ausgedehnten Europareisen war. Unter vielen Exilanten in der amerikan. Universitätsgermanistik war George zwar weiterhin präsent, und V. hatte durchaus Einfluss in dem Fach, aber die Möglichkeiten waren für ihn doch recht begrenzt, dem Dichter unmittelbar bei den amerikan. Studenten Verbreitung zu verschaffen. Ein wichtiges Ergebnis seiner Forschungen während seiner Zeit in den USA war das Buch Novalis und die französischen Symbolisten. Zur Entstehungsgeschichte des dichterischen Symbols (Stgt. 1963). 1962 erhielt V. einen Ruf an die Universität München u. kehrte nach Deutschland zurück. Nach seiner Emeritierung 1976 veröffentlichte V. drei Romane, die eine intellektuell anspruchsvolle Lektüre mit zahlreichen literatur- u. kulturgeschichtl. Anspielungen sind, bei virtuoser, komplexer Konstruktion. Sie haben bisher keine breitere Anerkennung gefunden. In Geheimnisse an der Lummer (Wien 1979) verbringt ein amerikan. Professor für mittelalterl. Geschichte dt. Herkunft ein freies Jahr in einer kleinen romant. Stadt seiner Heimat. Geheimnisvolle Doppelgängererlebnisse ermöglichen ihm zweimal, in eine andere Existenz zu schlüpfen, womit er seine Selbsterkenntnis erweitern oder einfach seine Identität austauschen will. Einmal nimmt er das Leben eines Malers auf, an dessen plötzl. Tod er beteiligt ist. Dann übernimmt er die Rolle eines Architekten, in der er eine Art Tagebuch eines jungen, angehenden Wissenschaftlers aus dem Englischen übersetzt, das dieser kurz vor seiner Emigration nach Amerika verfasst hat. Thematisiert wird auch die eigene Betroffenheit des Professors bei dieser Lektüre. Vorstellung

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u. Realität verwischen u. spiegeln sich immer wieder, wobei die Farbenblindheit ein zentrales Motiv ist. Ulrichs Ulrich oder Vorbereitungen zum Untergang (Mchn. 1982) handelt von dem heranwachsenden Ulrich, der nicht angepasst-erwachsen werden will u. sich schreibend einen Ulrich erfindet, wobei in den verschiedenartigen Geschichten u. Romanpassagen die Erzählebenen des Buches immer wieder verwirrend ineinander verschwimmen. Weitere Werke: Der Nekromant. Text für eine Oper. Mchn. 1968. – Der Innenseiter. Mchn. 1981 (R.). Literatur: Weimar am Pazifik. Literar. Wege zwischen den Kontinenten. FS W. V. zum 70. Geburtstag. Hg. Dieter Borchmeyer u. Till Heimeran. Tüb. 1985 (mit Bibliogr. u. zwei Aufsätzen zu Romanen V.s). – Regina Weber: W. V. Nachlaßbericht. In: JbDSG 32 (1988), S. 406–422. – Gesa Schönermark: Telemachs Wandlung. W. V. Eine wissenschaftshistor. Biogr. Mchn. 1995. – R. Weber: Der emigrierte Germanist als ›Führer‹ zur dt. Dichtung? W. V. im Exil. In: Exilforsch. Ein Internat. Jb. Bd. 13, 1995 (Kulturtransfer im Exil), S. 137–165. – G. Schönermak: W. V. In: IGL. Walter Olma

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Mitgl. der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz. Bekannt wurde V. vor allem durch die erste umfassende Biografie seines langjährigen Freundes Heinrich Böll (Der andere Deutsche. Heinrich Böll. Köln 2000). Er verfasste auch Monografien über Günter Grass (Reinb. 1986. Überarb. u. erw. Neuausg. Ebd. 2002) u. Peter Weiss (Mchn. 1981). In Das Elend der Aufklärung. Über ein Dilemma in Deutschland (Darmst./ Neuwied 1984) gibt V. einen Überblick über Problemlagen der Epoche u. bejaht in Verteidigung des Gedichts. Eine Polemik und ein Vorschlag (Gött. 1990) die Wichtigkeit lyr. Schreibens. Weitere Werke: Die Welt u. die Wörter. Über neue Lit. Neuwied/Bln. 1968 (Ess.s). – Helmut Heissenbüttel, H. V.: Briefw. über Lit. Ebd. 1969. – Heinrich Böll, H. V.: Weil die Stadt so fremd geworden ist ... Gespräche. Bornheim-Merten 1985. – Akust. Spielformen. Von der Hörspielmusik zur Radiokunst. Der Karl-Sczuka-Preis 1955–1999 (zus. mit Hermann Naber u. Hans Burkhard Schlichting). Baden-Baden 2000. Literatur: Helmut Heißenbüttel: Integer u. vorbildlich. Laudatio auf H. V. In: Dt. Akademie für Sprache u. Dichtung, Darmstadt. Jb. 1986, S. 169–171. – Westf. Autorenlex. 4.

Stephan Lesker Vormweg, Heinrich, * 20.3.1928 Geisweid bei Siegen, † 9.7.2004 Köln. – Literaturkritiker u. Essayist. Voß, Abraham (Sophus), * 12.2.1785 Eutin, † 13.11.1847 Düsseldorf; Grabstätte: Der in einer Arbeiterfamilie aufgewachsene ebd., Alter Golzheimer Friedhof. – PhiV. studierte seit 1948 Germanistik, Philosolologe, Übersetzer, Herausgeber.

phie u. Psychologie in Bonn, wo er 1955 mit der Arbeit Die Romane Christoph Martin Wielands. Zeitmorphologische Reihenuntersuchung promoviert wurde. Nach einer Tätigkeit als Dramaturg am Bonner Contra-Kreis-Theater wurde er Redakteur, dann Feuilletonchef der »Deutschen Zeitung«. Seit 1963 arbeitete V. als freier Autor v. a. für die »Süddeutsche Zeitung« u. den WDR. 1975–1998 war er Juror der Bestenlieste des Südwestfunks u. 1969–2002 Juror (1985–1998 Juryvoristzender) des vom Südwestfunk/Südwestrundfunk gestifteten Karl-Sczuka-Preises. 1980 war V. Honorary Professor des German Departement der University of Warwick, Coventry; 1986 erhielt er den Johann-Heinrich-Merck-Preis für Kritik und Essay der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung Darmstadt. Er war

Der jüngste Sohn von Johann Heinrich u. Ernestine Voß kam 1802 mit den Eltern nach Jena, wurde nach dem Studium der Philologie in Jena u. Heidelberg 1810 Gymnasialprofessor in Rudolstadt u. 1821 in Kreuznach. Zu Lebzeiten seines Bruders Heinrich u. seines Vaters übersetzte V., zunächst gemeinsam mit Ersterem (3 Bde., Tüb. 1810–15), später mit beiden (9 Bde., Lpz. 1818–29), Shakespeares Dramen (von ihm u. a.: Maß für Maß, Antonius und Kleopatra, Troilus und Cressida). Vorrang vor den eigenen Schriften hatte dann über Jahre hin die Herausgeberschaft der hinterlassenen Schriften von Bruder (Aeschylos, übers. von Heinrich Voß [erg. von Johann Heinrich Voß]. Heidelb.

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1826) u. Vater (Bd. 2 der Antisymbolik. Stgt. 1826. Kritische Blätter. 2 Bde., ebd. 1828/29. Propertius Werke. Deutsch. Braunschw. 1830. Sämtliche poetische Werke. Lpz. 1835. 21850. Anmerkungen und Randglossen zu Griechen und Römern. Ebd. 1838), v. a. aber die Veröffentlichung umfangreicher Bestände von Briefen beider (Briefe von Johann Heinrich Voß. 3 Bde., Halberst. 1829–32. Lpz. 21840. Briefe von Heinrich Voß. 3 Bde., Heidelb. 1834–38). Weitere Werke: Abh. über einige Stellen des Horaz. Schulprogramm Kreuznach 1827. – Freie Nachbildung einiger Metamorphosen des Ovid. Mainz 1844. – Deutschlands Dichterinnen in chronolog. Folge. Düsseld. 1847. Literatur: Detlev Lorenz Lübker u. Hans Schröder: Lexikon der Schleswig-Holstein-Lauenburg. u. Eutin. Schriftsteller. Altona 1829. Nachtragsbd. v. Eduard Alberti. Kiel 1868. E. Theodor Voss

Voß, (Marie Christiane Henriette) Ernestine, geb. Boie, * 31.1.1756 Meldorf/Holstein, † 10.3.1834 Heidelberg; Grabstätte: ebd., Bergfriedhof. – Verfasserin von Gedichten, Aufsätzen, Memoiren u. Briefen. Die Frau von Johann Heinrich Voß u. jüngste Schwester Heinrich Christian Boies stammte aus einer seit der Reformation bekannten Dithmarscher Pfarrersfamilie. Ihr Vater, Johann Friedrich Boie, gilt als Urbild des aufgeklärten Pfarrers von Grünau in Voß’ Idylle Luise. – Seit 1774 mit Voß bekannt, heiratete sie ihn 1777 u. teilte von da an seine Lebensstationen (1777: Wandsbek; 1778: Otterndorf; 1782: Eutin; 1802: Jena; 1805: Heidelberg). Von fünf Söhnen – darunter Heinrich u. Abraham Voß – erreichten vier das Erwachsenenalter. Literarisch bedeutsam sind bes. V.’ Briefe an einen weiten Personenkreis (über die Familie hinaus u. a. an Bernhard Rudolf Abeken, Rebecca Claudius, Christian Hieronymus Esmarch, Gleim, Helene Jacobi, Johann Martin Miller, Barthold Niebuhr, Christian Adolf Overbeck, Jean Paul, Karoline Richter, Charlotte Schiller), in denen gelebtes Leben aus wichtigen Jahrzehnten dt. Geistesgeschichte ins Wort gefunden hat (Druckorte siehe bei Goedeke 4,1, S. 1079; dazu noch:

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Vossische Hausidylle. Briefe von Ernestine Voß an Heinrich Christian und Sara Boie. 1794–1820. Hg. Ludwig Bäte. Bremen 1925). Gleiche Anschaulichkeit u. menschl. Wärme sind ihren Erinnerungen an das gemeinsame Leben mit Johann Heinrich Voß eigen (zuerst in Bdn. 2 u. 3,1.2 der Briefe von Voß. Hg. Abraham Voß. Halberst. 1829–32. Teilnachdr. in: Deutsche National-Literatur 49, 1887. Auch in: L. Bäte: Johann Heinrich Voß. Mitteilungen aus seinem Leben. Gött. 1923. Der erste, ungekürzte Teil des Originalmanuskripts bei Dierk Puls: Neuentdeckte Quellen zu Johann Heinrich Voß’ Jugend- und Verlobungszeit. In: Nordelbingen 21, 1953, S. 149–160), ebenso ihren postum gedruckten Aufsätzen u. Gelegenheitsgedichten (Aufsätze von Ernestine Voß. Düsseld. 1837. 31854). Hier findet sich u. a. das Gedicht An Goethe, der sich noch Jahre später (siehe Eckermann, 7.10.1827) an die Jenaer Gemeinsamkeiten, u. a. an ihre Gartenlust, erinnert. Unvergesslich für jedem Leser ihrer Lebenserinnerungen sind die genauen Augenblicksbilder von Begegnungen mit Lessing, Goethe, Schiller u. anderen. Weitere Werke: Aus dem Leben v. Heinrich Voß (zus. mit Abraham Voß). In: Briefe v. Heinrich Voß. Bd. 3,1, Heidelb. 1838. – Gedichte. In: Abraham Voß: Deutschlands Dichterinnen in chronolog. Folge. Düsseld. 1847, S. 150–154. Literatur: Wilhelm Herbst: Johann Heinrich Voß. Bde. I u. II, 1.2, Lpz. 1872 u. 1876, passim. – Hans-Heinrich Laß: E. V. Diss. Kiel 1930. – Elisabeth Friedrich: Die deutschsprachigen Schriftstellerinnen. Stgt. 1981, S. 323 (Bibliogr.). – Günter Häntzschel: Zur Kultur- u. Mentalitätsgesch. des späten 18. Jh.: Der Briefw. zwischen J. H. Voß u. Ernestine Boie. In: Freiheit durch Aufklärung. J. H. Voß [-Tagung in Lauenburg/Elbe]. Hg. Wolfgang Beutin u. Klaus Lüders. Ffm. u. a. 1995, S. 121–141. – Dagny Stemper: Das Leben der schleswig-holstein. Schriftstellerin E. V. (1756–1834). Eine Analyse zu Biogr. u. Werk auf der Grundlage ihres autobiogr. Nachlasses. Ebd. 2006. E. Theodor Voss

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Voß, Johann Heinrich, * 20.2.1751 Sommersdorf/Mecklenburg, † 29.3.1826 Heidelberg; Grabstätte: ebd., Bergfriedhof. – Lyriker, Idyllendichter, Übersetzer, Philologe. Der nachmalige Homer-Übersetzer, polem. Idylliker u. Spätaufklärer V. wurde geboren als Enkel eines freigelassenen Leibeigenen u. Sohn eines durch den Siebenjährigen Krieg verarmten Gastwirts u. Zollverwalters, der als Schulmeister starb. Nach dem Besuch der Stadtschule in Penzlin u. der Lateinschule in Neubrandenburg zwang V. die Armut, 1769–1772 eine Hofmeisterstelle auf dem von Oertzen’schen Gut in Ankershagen anzunehmen, unter extrem demütigenden Bedingungen, die seinen lebenslangen Adelshass, seinen Freiheitsdrang u. die Schärfe seines krit. Einspruchs erklären. Beim Überleben halfen in diesen Jahren die alte u. neue Literatur (Hesiod u. Homer bzw. Hagedorn, Uz, Kleist, Geßner, Gleim, Ramler, Klopstock) u. die Freundschaft mit dem poetisch produktiven Pastor Ernst Theodor Johann Brückner in Groß-Vielen. Den Weg ins Freie zeigte ihm der Herausgeber des »Göttinger Musenalmanachs«, sein späterer Schwager Heinrich Christian Boie, der ihn in Erwiderung auf eingesandte Gedichte zum Studium nach Göttingen einlud u. ihn unterstützte. Von Ostern 1772 an hörte V. zunächst Theologie, dann aber ausschließlich Philologie, v. a. bei Christian Gottlob Heyne. Im Vordergrund stand schließlich der von literar. Produktion begleitete freundschaftl. Umgang mit Boie, Hölty, Bürger, Miller, den Brüdern Stolberg, Leisewitz, Cramer, Overbeck u. anderen, der in der bekannten Gründung des Göttinger Hain gipfelte. Für V. persönlich bes. wichtig war seine Reise im Frühjahr u. Sommer 1774, auf der er in Hamburg mit Klopstock zusammentraf u. sich in Flensburg mit Ernestine Boie verlobte. Gegenüber den viel beschriebenen Vorgängen im Hain bis heute unterschätzt ist V.’ Aufenthalt in Wandsbek, der neben dem Umgang mit Claudius auch den Kontakt mit ständig oder zeitweilig in Hamburg anwesenden wichtigen Zeitgenossen ermöglichte, u. a. mit

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Klopstock, Lessing, Campe, Bode, Carl Philipp Emanuel Bach. Inzwischen hatte Boie mit der Überlassung des Musenalmanachs an V. diesem die erste finanzielle Grundlage verschafft u. damit auch die Heirat mit seiner Schwester Ernestine Boie (17.7.1777) ermöglicht. Die Verhältnisse geboten nach einem weiteren Jahr in Wandsbek im Sommer 1778 die Annahme der Stelle des Rektors an der Lateinschule in Otterndorf an der Unterelbe, Schauplatz erster berufl. Erfolge in einem relativ freien Gemeinwesen, aber auch schwerer gesundheitl. Schäden der Familie (Marschfieber). Den Ausweg verschaffte diesmal der inzwischen in Eutin lebende Hainbundfreund Friedrich Leopold Stolberg, der V.’ Anstellung als Rektor der dortigen Lateinschule betrieb. 20 Jahre lang (1782–1802) sollte die kleine Residenzstadt für V. Ruhepunkt sein mit Haus, Garten, Familie, Natur, berufl. Identität u. inzwischen auch literar. Statur; gleichwohl fühlte er sich immer wieder angebunden »wie ein Hund an der Kette« (an Brückner, 20.7.1784). Gravierend war schließlich das Verhältnis zu Stolberg, das sich bei der verschiedenen Reaktion der Freunde auf 1789 mit den Jahren zur Leidensgeschichte beider auswuchs, die sich nach der 1800 erfolgten Konversion Stolbergs noch einmal dramatisch vertiefte, jedenfalls aber bei V.’ Wunsch mitspielte, Eutin zu verlassen. 1802 übersiedelten V. u. Ernestine Voß nach Jena, dem Studienort der Söhne Heinrich u. Wilhelm, u. traten damit für zwei Jahre in den Bannkreis der Weimaraner, häufig besucht u. mit Aufmerksamkeit bedacht v. a. durch Goethe, dessen Versuche, V. in seiner Nähe zu halten, konträr zu V.’ Verhandlungen mit der damaligen Reformuniversität Würzburg standen. Auf Betreiben des Karlsruher Architekten Weinbrenner erfolgte unterdessen das Angebot einer SinekureProfessur an der Heidelberger Universität, dem V. nicht widerstehen konnte. Diese letzte Phase in V.’ Leben (1805–1826) ist gekennzeichnet zum einen durch die Erfüllung langer Sehnsucht nach südlicheren Umgebungen, zum andern aber durch das bald gespannte Verhältnis zur Universitätsszene, in

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der inzwischen die Romantik den Ton angab u. in der V., zunehmend gereizt, die Wende des Zeitgeistes bekämpfte, dabei allerdings mit Gegnern zu tun hatte (den Kollegen Creuzer u. Görres, den Studenten Arnim u. Brentano), die den Wind der Literaturgeschichte im Rücken hatten. Bemerkenswert ist V.’ polit. Orientierung in dieser Phase, seine Indifferenz gegenüber den Befreiungskriegen, sein Engagement für den griech. Befreiungskampf u. seine Kontakte zur frühen badischen Demokratiebewegung. Dem Autor V. gegenüber kommt die Nachwelt bis heute nicht los von der seit dem frühen 19. Jh. eingeübten Verwunderung über die vermeintl. Unvereinbarkeit des geruhsamen Idyllikers mit dem zornigen Polemiker, dem zu allem die säkulare Leistung der Übersetzung Homers für die Deutschen zuzuschreiben ist. Solcher Betrachtungsweise zerfällt das immense Lebenswerk V.’ in drei durch relativ wenige Titel gekennzeichnete Hauptkomplexe. Ungeachtet einer lebenslangen, heute weitgehend vergessenen, in der Rezension von 1804 insg. von Goethe gewürdigten lyr. Produktion – Oden, Elegien u. Lieder, viele vertont von Johann Abraham Peter Schulz (dazu: Briefwechsel Schulz/V. Kassel 1960) – haben im Vordergrund der Aufmerksamkeit v. a. die Idyllen Der siebzigste Geburtstag (zuerst im »Vossischen Musenalmanach« für 1781) u. Luise. Ein ländliches Gedicht in drei Idyllen (Königsb. 1795. Zuerst im »Vossischen Musenalmanach« für 1783 u. 1784 bzw. im »Teutschen Merkur«, 1784; zahlreiche spätere Fassungen, bes. 1807 u. 1823) gestanden, die – von ihrer Wirkung auf Goethes Hermann und Dorothea bzw. auf das frühe 19. Jh. her – als verbindl. Muster der vermeintlich beruhigten, bürgerl. Spielart der V.schen Idylle angesehen worden sind. Als unvereinbar damit gelten wiederum die der Sturm-und-DrangBewegung zugutegehaltenen frühen Idyllen mit der erklärten Absicht, zur Aufhebung der Leibeigenschaft auf adligen Gütern beizutragen: Die Leibeigenen (zuerst in: Der Gesellschafter, 1775) u. Die Freigelassenen (zuerst im »Vossischen Musenalmanach« für 1776). Dass die dritte Leibeigenen-Idylle – Die Erleichterten – erst im Jahr 1800 geschrieben

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wurde (zuerst in: Idyllen. 1801), wäre Grund genug, die vermeintlich beruhigten Idyllen der Zwischenzeit anders zu lesen, nämlich im Kontext von V.’ Engagement für die Französische Revolution, dies zumal in den für V. gar nicht stillen 1790er Jahren, in denen die zeitl. Nähe etwa der Luise (1795) zu Texten wie dem Hymnus an die Freiheit. Nach der Melodie der Marseillaise (1792) den komplementären Charakter polit. u. idyll. Dichtung bei V. anzeigt. Hier erweist gar eine antifeudale Satire wie Junker Cord. Ein Gegenstück zu Virgils Pollio [der vierten Ekloge] (zuerst im »Vossischen Musenalmanach« für 1794) unmissverständlich die traditionell gattungseigene (1795/96 auch von Schiller erörterte) innere Beziehung von Satire u. Idylle. Als eigener Komplex gelten zweitens die Polemiken. Die Differenz der »unfriedfertigen« Polemik V.’ zum milden Frieden seiner Idyllendichtung verringert sich in dem Maße, als sich bei V. die Idyllen selbst als polemisch herausstellen u. zudem die großen Polemiken des älteren V. – mit Ausnahme vielleicht der als Selbstbehauptung gegenüber der mächtigen Göttinger Lehrergestalt zu verstehenden Auseinandersetzung mit Heyne (Mythologische Briefe. 2 Bde., Königsb. 1794. 2. Aufl. hg. von Barthold Niebuhr. 3 Bde., Stgt. 1827) – den am Vorbild Lessing orientierten Einspruch gegen Verletzungen aufklärerischer Normen erkennen lassen: zum einen als Reaktion auf die erst im reaktionären Milieu nach 1815 so recht zum Politikum gewordene, aber schon früh als Verrat empfundene Konversion Stolbergs die Schrift Wie ward Fritz Stolberg zum Unfreien? (zuerst in: Sophronizon, 1819. Neudr. hg. von Klaus Manger. Heidelb. 1984), von der Heinrich Heine 1836 sagte, so unrecht habe V., bedenke man den seitherigen Gang der Geschichte, wohl doch nicht gehabt; zum andern als Auseinandersetzung mit dem Mythenforscher Friedrich Creuzer (Antisymbolik. 2 Bde., Stgt. 1824 u. 1826), die ihren Sinn darin hat, die Eigenständigkeit der griech. Mythologie – damit den Maßstab des seit Winckelmann systemkritisch gewendeten u. so für V. verbindl. Antikebezugs – zu behaupten gegenüber dem Versuch, sie aus Gegebenheiten des alten Orient herzuleiten u. damit zu relativieren.

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Im dritten Themenkomplex, den Übersetzungen, gilt Homers Odüßee (Hbg. 1781. Neuausg. von Michael Bernays. Stgt. 1881; in neuer Fassung zus. mit der ersten Übersetzung der Ilias. Altona 1793; beide dann in zahlreichen Überarbeitungen bis 1821) als das Hauptwerk. Demgegenüber lange unterschätzt, jedoch in V.’ innerem System ebenso wichtig sind die nicht zufällig in den Revolutionsjahren erschienenen Übersetzungen Vergils, an denen V. evident gemacht hat, wie politisch antike Texte gelesen werden können (Landbau. Eutin, Hbg. 1789. Vierte Ekloge. Altona 1795. Zehn erlesene Idyllen. Ebd. 1797. Aeneis. Braunschw. 1799). Offenbar wollte V. schließlich die »ganze Antike« ins Deutsche bringen: Ovids Verwandlungen (ebd. 1798), Horaz (Heidelb. 1802), Hesiod (ebd. 1806), Theokrit, Bion u. Moschus (Tüb. 1808), Tibull u. Lygdamus (ebd. 1810), Aristophanes (Braunschw. 1821), Hymne an Demeter (Heidelb. 1826), Properz (Braunschw. 1830). – V.’ unablässiger Bemühung, v. a. seine Homer-Übersetzungen von Auflage zu Auflage zu verbessern, entspricht ein gleicher Vorgang bei den Idyllen, insbes. bei Luise, den man oft getadelt hat als Unrecht gegenüber der Frische des ersten Wurfs, den man aber auch – in Gestalt des »Immer-GriechischerWerdens« seiner Texte – als Absage an die kurrente Sprache der herrschenden Praxis u. als Versuch der Humanisierung in der uneigentlichen, Gewohnheit brechenden Form verstehen könnte, dass selbst der NichtGriechisch-Sprechende teilhaben kann am »Vorschein« des Griechischen u. selbst (nord-)deutsche Realität sich im griechischen Ton gesungen erlebt. Weitere Werke: Werkausgaben: Gedichte I. Hbg. 1785. – Gedichte II. Königsb. 1795. – Idyllen. Ebd. 1801. Neudr. Hg. E. Theodor Voss. Heidelb. 1968. – Sämtl. Gedichte. 6 Bde., Königsb. 1802. Neudr. Bern 1969. – Sämtl. poet. Werke. Hg. Abraham Voß. Lpz. 1835. – Der Göttinger Dichterbund. Tl. 1: J. H. V. Hg. August Sauer. Bln./Stgt. 1887 (= Dt. Nationallit. Bd. 49). – J. H. V. Ausgew. Werke. Hg. Adrian Hummel. Gött. 1996. – Die kleinen Idyllen. Mit einer Einf. zum Verständnis der Idyllen u. einem Nachw. hg. v. Klaus Langenfeld. Stgt. 2004. – Einzeltitel: Zeitmessung der dt. Sprache. Königsb. 1802. – Übersetzungen: Thomas Blackwell: Untersuchung über Homers Leben u. Schr.en. Lpz. 1776.

Voß – Des Grafen v. Shaftesbury Philosoph. Werke (zus. mit Hölty). Bd. 1, ebd. 1776. Nachdr. der Ausg. Lpz. 1779: Eschborn 1993. – Die tausend u. eine Nacht, arab. Erzählungen [...]. Aus dem Frz. [des Ant. Galland] übersezt v. J. H. V. 6 Bde., Bremen 1781–85. Neudr. ausgew. Texte hg. v. Ernst-Peter Wieckenberg. Mchn. 2011. – Shakespeares Schauspiele (zus. mit Abraham u. Heinrich Voß). Lpz./ Stgt. 1818–29. – Homer: Ilias. Text der Ausg. letzter Hand v. 1821. Mit einem Nachw. v. Ernst Heitsch u. Günter Häntzschel. Stgt. 2010. – Homer: Odyssee. Text der Ausg. letzter Hand v. 1821. Mit einem Nachw. v. E. Heitsch u. G. Häntzschel. Stgt. 2010. – Briefe und Materialien: Jürgen Behrens: J. H. V. u. Friedrich Leopold Graf zu Stolberg. Neun bisher unveröffentlichte Briefe. In: JbFDH 1965, S. 49 ff. – Paul Kahl: Der Briefw. zwischen J. H. V. u. Adolf Friedrich Brückner; erhaltene Bruchstücke [...]. In: Vossische Nachrichten 8 (2005), S. 25–40. – August Wilhelm Schlegel: Rezension zu ›Homers Werke‹, von J. H. V., 1793. In: Dokumente zur Theorie der Übers. antiker Lit. in Dtschld. seit 1800. Ausgew., eingel. u. mit Anmerkungen vers. v. Josefine Kitzbichler. Bln./New York 2009, S. 3–38. – Der Briefw. zwischen Johann Martin Miller u. J. H. V. / The correspondence between Johann Martin Miller and J. H. V. Hg. Manfred v. Stosch. Unter Verwendung von Vorarbeiten von Alain Faure. Bln./New York 2010. Literatur: Goedeke 4,1, S. 1056–1079. – Franz Muncker: J. H. V. In: ADB. – Wilhelm Herbst: J. H. V. 3 Tle., Lpz. 1872–76. Neudr. Bern 1970. – Karl Kuhlmann: V. als Kritiker u. Gelehrter in seinen Beziehungen zu Lessing. Straßb. 1914. – Walter Müller-Seidel: Goethes Verhältnis zu J. H. V. (1805–15). In: Goethe in Heidelberg. Heidelb. 1949, S. 240–263. – Helmut J. Schneider: Bürgerl. Idylle. Studien zu einer literar. Gattung des 18. Jh. am Beispiel v. J. H. V. Diss. Bonn 1975. – E. Theodor Voss: Arkadien u. Grünau. J. H. V. u. das innere System seines Idyllenwerkes. In: Europ. Bukolik u. Georgik. Hg. Klaus Garber. Darmst. 1976, S. 391–431. – H. J. Schneider: J. H. V. In: Dt. Dichter des 18. Jh. Hg. Benno v. Wiese. Bln. 1977, S. 782–815. – Günter Häntzschel: J. H. V. Seine Homer-Übers. als sprachschöpfer. Leistung. Mchn. 1977. – Volker Riedel (Hg.): Beiträge zu Werk u. Wirkung v. J. H. V. [Tagung Penzlin 1987]. Neubrandenburg 1989. – Klaus Berthel u. Roland Bärwinkel: ›Lernt ihr erst fühlen in diesem Frühling ...‹. Die Heidelberger Romantiker u. ihre Fehde mit J. H. V. u. dem Stuttgarter ›Morgenblatt für gebildete Stände‹ (1806–1810) [...]. In: Histor. Bestände der Herzogin-Anna-Amalia-Bibl. zu Weimar. Beiträge zu ihrer Gesch. u. Erschließung. Red. Konrad

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Kratzsch u. Siegfried Seifert. Mchn. u.a. 1992, S. 139–168. – Lesley M. Drewing: The V. Shakespeare translation. An assessment of the contribution made by J. H. V. and his sons to the theory and practice of Shakespeare translation in Germany. Diss. Durham Univ. 1993. Dt. Eutin 1999. – Vossische Nachrichten. Mitt.en der Johann-HeinrichVoß-Gesellsch. e.V. 1 (1994) ff. – Wolfgang Beutin u. Klaus Lüders (Hg.): Freiheit durch Aufklärung. J. H. V. [...] [Tagung Lauenburg/Elbe 1993]. Ffm. u. a. 1995. – Franz Baudach u. G. Häntzschel (Hg.): J. H. V. [...] [Tagung Eutin 1994]. Eutin 1997. – Andrea Rudolph (Hg.): J. H. V. Kulturräume in Dichtung u. Wirkung [Tagung Penzlin 1997]. Dettelbach 1999. – F. Baudach u. Ute Pott: ›Ein Mann wie Voss ...‹ [Ausstellungskatalog]. Bremen 2001. – Siegfried Heuer: J. H. V. u. seine mecklenburg. Heimat. Penzlin 2001. – Anneliese Claus-Schulze: J. H. V.’ Streit mit den Heidelberger Romantikern. Eine bemerkenswerte Episode aus dem Leben des gebürtigen mecklenburg. Dichters u. Übersetzers [...]. Bützow 2001. – Christina Prauss: Werkverz. J. H. V. In: J. H. V. 1751–1826. Idylle, Polemik u. Wohllaut. Hg. Elmar Mittler u. Inka Tappenbeck. Gött. 2001, S. 9–134. – ›Dir ... danke die Welt nicht, aber die Nachwelt‹. Vorträge zu J. H. V. in seinem 250. Geburtsjahr u. 175. Todesjahr [...]. Hg. Stadt Penzlin. Penzlin 2001. – Hartwig Surbier: Glanzlichter u. Schaumkrönchen. Von den Nachwirkungen eines Klassikers [...]. In: ZfG (2002), 1, S. 137–141. – Ernst-Peter Wieckenberg: J. H. V. u. ›Tausend u. eine Nacht‹. Würzb. 2002. – Mal/gorzata Kubisiak: J. H. V. u. sein Verhältnis zur Frz. Revolution. In: Engagement, Debatten, Skandale. Deutschsprachige Autoren als Zeitgenossen. Hg. Joanna Jabl/kowska u. Mal/gorzata Pól/rola. Lódz´ 2002, S. 33–46. – Adrian Hummel: Stilisierte Welten. J. H. V. u. Ernestine Voß in ihren Briefen. In: Lichtenberg-Jb. 2002 (2003), S. 82–105. – A. Hummel: Odüßee 1781: J. H. V. zwischen homer. Altertümern u. bürgerl. Gesellschaftsutopie. In: Odysseen 2001: Fahrten, Passagen, Wanderungen. Hg. Walter Erhart. Mchn. 2003, S. 51–70. – Dieter Lohmeier: J. H. V. – ein polit. Dichter? In: Ders.: Die weltliterar. Provinz. Studien zur Kulturgesch. Schleswig-Holsteins um 1800. Hg. Heinrich Detering. Heide 2005, S. 149–163. – F. Baudach: Die Freundschaft zwischen J. H. V. u. Johann Wilhelm Ludwig Gleim. In: Rituale der Freundschaft. Hg. Klaus Manger u. Ute Pott. Heidelb. 2006, S. 131–146. – Stefan Elit: Der späte Klopstock u. J. H. V. Ein Spannungsverhältnis, poetologisch betrachtet. In: Wort u. Schrift – das Werk Friedrich Gottlieb Klopstocks. Hg. Kevin Hilliard. Tüb. u.a. 2008, S. 209–220. – Heidi Ritter: ›So ist [...] der Weg zu verfolgen den uns Voß in seiner Luise so /

schön gezeigt hat‹. Goethe, J. H. V. u. das homer. Epos. In: Aufklärung u. Weimarer Klassik im Dialog [...]. Hg. Andre Rudolph u. Ernst Stöckmann. Tüb. 2009, S. 147–158. E. Theodor Voss

Voß, (Johann) Heinrich d.J., * 29.10.1779 Otterndorf/Niederelbe, † 20.10.1822 Heidelberg; Grabstätte: ebd., Bergfriedhof. – Philologe, Übersetzer u. Herausgeber, Verfasser von Gedichten. Der zweite Sohn von Johann Heinrich u. Ernestine Voß studierte 1799/1800 in Halle, 1801–1804 in Jena (zunächst Theologie, dann hauptsächlich Philologie) u. a. bei Friedrich August Wolf u. Schelling, war 1804–1806 Professor am Weimarer Gymnasium u. wurde 1807 a. o., 1809 o. Prof. für Philologie in Heidelberg. Über der Tatsache, dass V. stets als Parteigänger seines Vaters hervortrat, die eigenen Arbeiten weitgehend denen des Vaters zu- u. unterordnete u. seine Karriere dem Ruf u. Einfluss des Vaters verdankte, wird leicht übersehen, dass er seinen eigenen Lebensausdruck zu finden wusste, der z. T. die Sprache seiner »romantischen« Altersgenossen war: Über die Briefberichte von tägl. Gesprächen mit dem kranken Schiller sowie mit Goethe hinaus (Goethe und Schiller im persönlichen Gespräch [...]. Hg. Georg Berlit. Stgt. 1895) erweisen die in einzelnen Teilen hinreißenden Briefwechsel mit Freunden, bes. mit Jean Paul (Hg. Abraham Voß. Heidelb. 1833. Jean Paul: Akademieausg., Abt. 3, Bde. 7 u. 8), dazu mit Karl Wilhelm Ferdinand Solger (in: Archiv für Literaturgeschichte 11, 1882, S. 94–141) u. mit Bernhard Rudolf Abeken, Fouqué, Christian Niemeyer, Christian von Truchseß (siehe bei D. W. Schumann), sein trotz jahrelanger Krankheit bewahrtes sprachl. u. imaginatives Vermögen, nicht zuletzt sein Genie der Freundschaft (siehe auch Eduard Berend: Jean Pauls Persönlichkeit. Mchn./Lpz. 1913, S. 122 ff. über die von V. u. Hegel veranlasste Heidelberger Ehrenpromotion Jean Pauls). Bemerkenswert ist V.’ Weihnachtsbrief von 1817 an Jean Paul: Walter Benjamin, der diesen Brief in seine Sammlung Deutsche Menschen (Luzern 1936, S. 39 ff.) aufnahm, hat darin das Element ge-

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heimer Selbstbehauptung gegenüber dem Vater bemerkt, den V. schließlich zur Mitarbeit an seiner Shakespeare-Übersetzung hatte gewinnen können, die zunächst mit Abraham Voß (1810–1815), dann mit Vater u. Bruder (1819–1829) unternommen wurde (darin von V. unter anderem: Macbeth; Othello; König Lear; Cymbeline; Wintermärchen; König Heinrich IV., 1 u. 2). Während seiner letzten Krankheit übersetzte V. Gedichte Byrons. – Gedichte im Cotta’schen »Morgenblatt« von 1808 u. 1809, Rezensionen, philolog. Arbeiten über Aeschylos, Theokrit u. Aristophanes, Erläuterungen zur Aristophanes-Übersetzung des Vaters, v. a. aber seine Aeschylos-Übersetzung (Heidelberg 1826; postum) müssen dazu genannt werden. Weitere Werke: Briefe v. H. V. Hg. Abraham Voß. 3 Bde., Heidelb. 1833–38. Literatur: Manfred Koschlig: Goethes Anteil an der Sophokles-Rezension des jungen V. In: Goethe 13 (1951), S. 218–229. – Arno Schmidt: Fouqué u. einige seiner Zeitgenossen. Karlsr. 1958, passim. – Detlev W. Schumann: H. V. [...]. Mit unveröffentl. Briefen. In: Jb. des Wiener Goethe-Vereins 84/85 (1981/81), S. 215–273 (Lit.). E. Theodor Voss

Voß, Julius (Johann Joachim) von, * 24.8. 1768 Brandenburg, † 1.11.1832 Berlin. – Militär- u. Unterhaltungsschriftsteller. Der Sohn eines hohen Offiziers trat bereits mit 14 Jahren (1782) in die preuß. Armee ein. Spöttische Epigramme u. unerbetene Reformvorschläge zu Fragen der Heeresorganisation verhinderten freilich V.’ berufl. Aufstieg, bis die demonstrative Missachtung seiner im Polenfeldzug 1794 erworbenen Verdienste schließlich sein gern bewilligtes Abschiedsgesuch (1798) provozierte. V. entschied sich für die Existenz eines freien Schriftstellers: Allerdings schadeten persönl. alkoholische u. sexuelle Exzesse seinem Ruf u. Einkommen mindestens ebensosehr wie unbekümmerte Frivolitäten oder ein fröhlich inszenierter Sexualakt auf den imaginären Bühnen seiner Lesedramen (Die Sauvgarde. In: Gemälde von Berlin [...]) u. humoristischen Romane (Die Flitterwochen. Bln. 1818). Plötzliche Metamorphosen seines literar. Habitus u. die unverhohlene Gegnerschaft zu idealis-

Voß

tischen Kunstkonzeptionen (Gemälde von Berlin im Winter 1806/07. Bln. 1808), romantisierendem Nationalpathos oder ideologisierender Turnerei taten ein Übriges: Die vom kgl. Hof erwogene Gründung eines Berliner Volkstheaters unter seiner Direktion zerschlug sich. Von 1798 bis zu seinem Tod (bei einer Choleraepidemie) lebte V. unter kärgl. Bedingungen u. dauerndem Produktionszwang (etwa 200 Titel) in Berlin. V.’ rastlose Tätigkeit als Militärschriftsteller (Anleitung zu einer sublimen Kriegskunst. 1808; mit Autobiogr. S. 241–422. Feld-Taschenbuch für junge Freiwillige. 1813), Unterhaltungsromancier (Kleine Romane. 10 Bde., 1811–15. Die Schildbürger. 1823) u. Modedramatiker (Lustspiele. 9 Bde., 1807–18. Faust. 1823. Neuausg. 1890. Neue Lustspiele. 7 Bde., 1823–27. Alle Bln.) gestattete in den seltensten Fällen eine literar. Durchdringung des Stoffs. Dennoch präsentierte V. den ersten dt. Rumänienroman (Begebenheiten eines jungen Theologen [...]. Ebd. 1826) oder die Utopie eines friedenstiftenden Völkerbundes (Ini. Ein Roman aus dem ein und zwanzigsten Jahrhundert. Ebd. 1810. Neuausg. hg. u. kommentiert von Ulrich Blode. Oberhaid 2008). Darüber hinaus darf V. als interessantester Judendarsteller der Zeit gelten: Der entidealisierten Lebenstüchtigkeit jüd. Randexistenz unverkennbar zugetan, konfrontiert er diese wiederholt durch effizienten Einsatz jidd. Sprache oder (vermeintlich) jüd. Charakterzüge mit der Kunstschwelgerei lebensferner Intellektuellenkreise (Der travestirte Nathan der Weise. Ebd. 1804. Neuausg. mit Vorwort u. Bibliographie von Leif Ludwig Albertsen. Ffm. 1985. Jüdische Romantik und Wahrheit. Bln. 1817). Außerdem profilierte sich V. durch seine den Dialekt u. die Eigenheiten des Kleinbürgertums karikierenden Lustspiele als früher Vertreter des Berliner Lokalstücks (Der Strahlower Fischzug. Ebd. 1821): Humoristische Begabung u. »semirealistische Aktualitätsmanier« (Albertsen) erheben ihn zum bedeutenden Seismografen virulenter Zeitströmungen von hoher literaturhistor. Relevanz. Literatur: Bibliografie: Goedeke 5 u. 15. – Weitere Titel: Johannes Hahn: J. v. V. Bln. 1910. – Leif Ludwig Albertsen: Die Eintagslit. in der Goethe-

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zeit. Bern 1975. – Klaus-Henning Schröder: Die dt. fiktive Rumänien-Lit. des 19. Jh. In: Rumän.-dt. Interferenzen. Hg. Klaus Heitmann. Heidelb. 1986, S. 43–58. – Beate Orland: Nicht nur Stereotypen [...]. In: Conditio Judaica. Hg. Hans Otto Horch u. a. Bd. 1, Tüb. 1988, S. 187–199. – Thomas Stauder: Komisierende Tasso-Rezeption in J. v. V.’ Rinaldo u. Armida. In: Torquato Tasso in Dtschld. Seine Wirkung in Lit., Kunst u. Musik seit der Mitte des 18. Jh. Hg. Achim Aurnhammer. Bln./ New York 1995, S. 489–507. – Conrad Wiedemann: J. v. V. Großstadttheater im Off. In: Der gesellschaftl. Wandel um 1800 u. das Berliner Nationaltheater. Hg. Klaus Gerlach unter Mitarb. v. René Sternke. Hann. 2009, S. 121–138. Adrian Hummel / Red.

schmack verfallen. Als spektakuläre Verwandlungs- u. Rachegeschichten kritisieren die Tragödien Alexandra (Lpz. 1886) u. Eva (ebd. 1889) die Unterdrückung der Frau, Savonarola (Wien 1878) u. Pater Modestus (Lpz. 1883) die Macht der Kirche, Schuldig! (ebd. 1892) die Blindheit der Justiz. Geprägt vom »Drang, alles auf die Spitze zu treiben« (Goldmann), u. von »angespannter Lust an der Vergeblichkeit« (Weil) sind die Italienromane Michael Cibula (Stgt. 1887), Dahiel der Konvertit (3 Bde., ebd. 1888), Villa Falconieri (2 Bde., ebd. 1896) u. Das Modell (Bln. 1915).

Voss, Richard, * 2.9.1851 Neugrape bei Pyritz, † 10.6.1918 Berchtesgaden; Grabstätte: ebd. – Erzähler u. Dramatiker.

Literatur: Karl Goldmann: R. V. Ein literar. Charakterbild. Bln. 1890. – Hans Thiergärtner: Der Romanschriftsteller R. V. u. sein Italienerlebnis. Diss. Ffm. 1936. – Marianne Weil: Zwei Menschen v. R. V. In: Wehrwolf u. Biene Maja. Der dt. Bücherschrank zwischen den Kriegen. Hg. M. Weil. Bln. 1986, S. 240–252, 300–302. – Christiane Baumann: R. V. (1851–1918). Leben – Wirken – Nachlaß. In: JbDSG 37 (1993), S. 463–485. – Manfred Feulner: R. V. in Berchtesgaden. Berchtesgaden 1998. – Goedeke Forts., S. 507–520 (Werkverz.). Dirk Göttsche / Red.

Weitere Werke: Aus einem phantast. Leben. Erinnerungen. Stgt. 1920. – Ausgew. Werke. 4 Bde., ebd. 1922.

Der Sohn eines pommerschen Gutsbesitzers brach die Ausbildung zum Landwirt bei Kriegsbeginn 1870 ab u. studierte in Jena u. München Philosophie, Literatur- u. Kunstwissenschaft. Seine Kriegserlebnisse als Johanniter in den Visionen eines deutschen Patrioten (Zürich 1874) machten ihn bekannt. In den 1880er Jahren avancierte V. zu einem der erfolgreichsten dt. Dramatiker, bevor er sich Vossler, Karl, * 6.9.1872 Hohenheim, in den 1890er Jahren der erzählenden Prosa † 18.5.1949 München. – Romanist. zuwandte. V. lebte abwechselnd in Wien u. Berlin, dann in Berchtesgaden u. in Frascati V. studierte an den Universitäten Heidelberg, bei Rom (1877–1902); 1884 erhielt er den Straßburg, Genf u. Rom Deutsche u. RomaEhrentitel eines Bibliothekars auf der Wart- nische Philologie. Nach der Promotion 1897 burg; 1888/89 war er bei Krafft-Ebing in u. der Habilitation 1900 war er seit 1902 in psychiatr. Behandlung. Heidelberg u. von 1909 an in Würzburg Kulturkritischer Pessimismus, Byronismus Professor; 1911 wurde er nach München beu. epigonale Italienbegeisterung prägen V.’ rufen. 1939 zog er sich unter dem Zwang der umfangreiches Werk, das in seiner stereoty- polit. Verhältnisse aus der Lehre zurück. pen Formensprache pathet. Historismus u. Angeregt vom ital. Philosophen Benedetto trivialer Neuromantik verhaftet blieb. Wi- Croce, mit dem er zeitlebens korrespondierte derstand gegen den Zeitgeist intendieren die (Briefwechsel Benedetto Croce – K. V. Übertragen Scherben, gesammelt vom müden Manne (Zürich u. eingel. v. Otto Vossler. Bln. 1955), widmete 1878. Erw. 1882), während die Geschichts- sich V. nach ersten literaturwissenschaftl. dramen Die Patricierin (Ffm. 1881) u. Luigia Arbeiten seit 1900 der Sprachtheorie. In der Sanfelice (ebd. 1882) – ausgezeichnet mit dem 1904 in Heidelberg erschienenen Schrift PoRäuber-Jubiläumspreis am Schillertag der sitivismus und Idealismus in der SprachwissenStadt Mannheim – u. der Erfolgsroman um schaft formulierte er die Position der von ihm Leidenschaft u. Entsagung, Zwei Menschen begründeten »idealistischen Neuphilologie«. (Stgt. 1911. 951986. Verfilmt 1930), in der V. berief sich mit Croce auf die von GiamSucht nach großen Worten dem Zeitge- battista Vico u. Wilhelm von Humboldt ver-

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tretene Sprachauffassung, nach der die Sprache Schöpfung (»energeia«) ist u. nicht – wie bei den Junggrammatikern, die mit ihrer mechanistischen Sprachbetrachtung das späte 19. Jh. beherrscht hatten – Produkt (»ergon«). Anstelle einer positivistischen Sprachwissenschaft, die sich um allgemeine Lautgesetze bemüht, geht der Idealismus von der Intuition u. dem Individuellen aus, um so zur Erklärung von Sprache als Schöpfung und Entwicklung (ebd. 1905) zu gelangen. V.s sprachphilosophische Überlegungen finden sich zusammengefasst in den Gesammelten Aufsätzen (Mchn. 1923) u. in Geist und Kultur der Sprache (Heidelb. 1925). Somit ist die Sprachwissenschaft für V. wesentlich Stilistik u. Gegenstand der Ästhetik. Jede sprachl. Hervorbringung interessiert v. a. als individuelle Schöpfung, die dem Geschmack des Sprechenden entspringt; die Frage nach dem System der Sprache bleibt marginal. Wenn daher die Formen des Sprechens weitgehend als Ergebnis individueller Entscheidungen begriffen werden, kann sich die Erforschung der Sprache u. ihrer Geschichte mit dem Studium des Menschen u. seiner Entwicklung verbinden; sie ist Teil der Kultur- u. Geistesgeschichte. Sprach- u. Literaturwissenschaft gewinnen so eine neue gemeinsame Grundlage. In der großen Arbeit Frankreichs Kultur im Spiegel seiner Sprachentwicklung (Heidelb. 1913. U. d. T. Frankreichs Kultur und Sprache. Geschichte der französischen Schriftsprache von den Anfängen bis zur Gegenwart. 41929) führte V. seine These des Zusammenhangs von Sprache, Mentalität u. Kultur exemplarisch aus. Das Werk sucht die histor. Veränderungen der frz. Schriftsprache mit den Wandlungen des Zeitgeists, also der sozialen, kulturellen u. geistigen Lage in Frankreich, zu erklären. Zu den wichtigsten seiner zahlreichen Arbeiten, die v. a. die großen romanischen Literaturen behandeln, zählen La Fontaine und sein Fabelwerk (Heidelb. 1919), Leopardi (Mchn. 1923), Jean Racine (ebd. 1926) u. Lope de Vega und sein Zeitalter (ebd. 1932). Bekannt geblieben ist V.s Übersetzung von Dantes Göttlicher Komödie, die 1942 in Zürich erschien. Eine Auswahl von V.s Schriften bietet der von

Vossler

Hugo Friedrich herausgegebene Aufsatzband Die romanische Welt (Mchn. 1965). Mit seinen Vorstellungen, die auf ganzheitl. Erkennen u. Fühlen ausgerichtet waren, verfolgte V. auch kulturtherapeutische Absichten. Sein Einfluss, der bis in die späten 1940er Jahre anhielt, war von Anfang an problematisch. Schon früh bestand – v. a. bei seinen über die »Wesensart« der Völker spekulierenden Schülern u. Anhängern – die Gefahr, in nationalpsycholog. Mystizismus abzugleiten. Die wissenschaftsgeschichtl. Bedeutung V.s beruht darauf, dass er im Rahmen seiner neuen Stilistik die sprachwissenschaftl. Analyse von literar. Texten anregte u. kulturhistor. Betrachtungen der Sprache vorantrieb. Weitere Werke: Peire Cardinal. Ein Satiriker aus dem Zeitalter der Albigenserkriege. Mchn. 1916. – Luis de León. Ebd. 1946. – Die Dichtungsformen der Romanen. Stgt. 1951. – Spanien u. Europa. Mchn. 1952. – Briefe: Und wirst erfahren wie das Brot der Fremde so salzig schmeckt. Erich Auerbachs Briefe an K. V. 1926–1948. Hg. Martin Vialon. Warmbrunn 2007. Literatur: Bibliografie: Theodor Ostermann u. Hans Rheinfelder: Bibliogr. der Schriften K. V.s 1897–1951. Mit einem Nachruf auf K. V. Mchn. u. a. 1951. – Weitere Titel: Victor Klemperer u. a. (Hg.): Idealist. Neuphilologie. FS für K. V. Heidelb. 1922. – Giacomo Devoto: V. u. Croce. Ein Kapitel aus der Sprachwiss. Mchn. 1968. – Gisela Schneider: K. V. Bemerkungen zum sprachwiss. Idealismus. In: In Memoriam Friedrich Diez. Hg. HansJosef Niederehe u. a. Amsterd. 1976. – Heidi Aschenberg: Idealist. Philologie u. Textanalyse. Tüb. 1984. – Reinhard Klesczewski: K. V. u. die Theorie v. der Sprache als Spiegel der Kulturentwicklung. In: Kulturwandel im Spiegel des Sprachwandels. Hg. Karl-Egon Lönne. Tüb. u. a. 1995, S. 161–172. – Klaus Bochmann: Sprache u. Kultur bei K. V. In: Grenzgänge 3 (1996), H. 6, S. 110–121. – Jürgen Trabant: Geist u. Kultur in der Sprachgesch. Zur Erinnerung an K. V. (1872–1949). In: Beiträge zur Gesch. der Sprachwiss. 10 (2000), H. 2, S. 253–270. – Hans Ulrich Gumbrecht: Vom Leben u. Sterben der großen Romanisten. K. V., Ernst Robert Curtius, Leo Spitzer, Erich Auerbach, Werner Krauss. Mchn. 2002. – Alice Tomus: Der neue dt. Sprachbegriff. Zur Wiederbelebung der Sprachphilosophie in der ersten Hälfte des 20. Jh. Ffm. 2004. – Dirk Werle: V. gegen Gundolf. Eine Kontroverse über die

Voswinckel Ruhmesgesch. In: George-Jb. 8 (2010–2011), S. 103–127. Klaus Ley / Red.

Voswinckel, Klaus, * 23.5.1943 Hamburg. – Erzähler, Drehbuchautor u. Filmemacher.

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zeugung heraus hat sich V. seit vielen Jahren der kulturellen Vermittlung gewidmet. Für seine Leistungen auf diesem Gebiet wurde er 2000 mit dem Wilhelm-Hausenstein-Preis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste ausgezeichnet. Das Zusammenspiel zwischen dem Selbst u. dem Fremden prägt auch V.s bisheriges Romanwerk. Bereits sein 1979 erschienener Erstling Lapidu. Die Geschichte einer Reise (Aarau u. a.), der ihm 1980 den Literaturpreis der Stadt München eintrug, enthält die für alle seine Romane charakterist. Themen: die Sehnsucht nach dem Süden (Italien), die Reise, die ins Ungewisse führt u. sich zur Suche nach neuer Identität verdichtet. Damit verknüpft werden in Sonntag, Paris (ebd. 1985) Reflexionen über europ. Geschichte u. Kultur. Die genannten Themen u. Motive V.s sind merklich an goethezeitl. u. romant. Initiationsromane angelehnt, ebenso wie die Aufspaltung des Ichs in mehrere Teilidentitäten oder die Einschübe lyr. Passagen. V.s vierter Roman, Stein und Meer (ebd. 1989), schließt an Lapidu an u. zeichnet sich ebenso wie seine anderen Romane durch eine poetisch verdichtete Sprache, atmosphärisch genaue Schilderungen u. den Aufbau zykl. Zeitstrukturen aus.

Der in München lebende V. studierte Germanistik u. Philosophie u. wurde 1974 mit einer Arbeit über Paul Celan (Verweigerte Poetisierung der Welt. Versuch einer Deutung. Heidelb.) promoviert. Seit Ende der siebziger Jahre arbeitet er als Filmemacher u. Drehbuchautor (Kreutzer. Zus. mit Klaus Emmerich. 1978; Dokumentarfilme aus Italien, Ghana u. Sibirien; Porträts zeitgenöss. Komponisten). Seine Reiseberichte u. Geschichten aus fremden Ländern erzählen wichtige autobiogr. Erinnerungen weiter u. vertiefen die Einsichten, die V. während der Arbeit an seinen Filmprojekten gewonnen hat. So folgte der 2001 gesendeten Dokumentation Der göttliche Trommler. Eine Reise nach Ghana eine Sammlung von Ghana-Notizen mit dem Titel Die Nacht der Trommeln (Weitra 2009). Das Buch soll bewusst machen, wie wenig verlässlich die vermeintl. Gewissheiten über den schwarzen Kontinent sind. Dazu konfrontiert V. diese mit eigenen Erfahrungen, die eine andere Perspektive auf Ghana u. seine MenWeitere Werke: Das Buch aus der Ebene. Aarau schen eröffnen. Das Verfahren soll die Leser u.a. 1981 (R.). – Jerusalem. Eine Reise in die Schrift. zu der Erkenntnis führen, dass sich die Be- Wien 1991 (Ess.). – Helen. Mediterrane Botschafschäftigung mit einem Afrika jenseits aller ten. Weitra [1999] (R.). – Der unsichtbare Körper. Klischees u. Vorurteile ganz besonders lohnt. Tonda-Tgb. Weitra 2006. Hermann Sottong / Alexander Schüller Denn erst durch eine Begegnung mit dem Fremden erkenne der Mensch, dass sämtl. Orte auf dieser Erde nicht schon an sich real Vries, Berend, Bernhard, de, * 31.12.1883 seien, sondern dass sie ihre Faktizität erst als Emden, † 25.11.1959 Emden; Grabstätte: »Kreuzungspunkte von Erwartung, Geheimebd., Friedhof der Neuen Kirche. – Lyrinis und Bedeutung« erhielten. Auch mit Itaker, Erzähler, Essayist. lien hat sich V. in beiden Medien auseinandergesetzt, zuletzt in der Erzählsammlung Der Sohn eines Schiffskapitäns u. einer BauApulische Geschichten (Weitra 2002). Am An- erntochter aus der Marsch war Telegrafenbefang steht hier der programmat. Text Vom amter in Emden. Aus gesundheitl. Gründen Reisen; er bringt V.s Grundüberzeugung sehr frühzeitig in den Ruhestand versetzt, lebte V. anschaulich zur Geltung. Beim Reisen kom- als freier Schriftsteller u. schrieb Aufsätze für me es auf den unmittelbaren Kontakt mit der Zeitschriften u. Zeitungen sowie RundfunkUmgebung an: Es gelte, das Andere mit einer beiträge zur niederdt. Bewegung. »feineren, empfindsameren Schicht seiner In seinen Gedichten u. Erzählungen schilselbst« zu berühren, gleichsam als sei »eine derte V. Menschen u. Landschaft seiner ostAußenhaut aufgeplatzt«. Aus dieser Über- fries. Heimat u. die Seefahrt – auch auf nie-

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derdeutsch, wie in den Gedichten u. Balladen Schipp ahoi (Hbg. 1932) u. Dat Schipp ›Mannigfual‹ (Aurich 1953) sowie den Erzählungen De Fahrt na’t Witte Aland (Hbg. 1958). Einige seiner Texte wurden in Nebel über dem Wattenmeer und andere Seegeschichten (Köln 1955) als Schullektüre zusammengestellt. Weitere Werke: Marsch u. Meer. Bremen/Wilhelmshaven 1920 (L.). – Die Meerorgel. Ebd. 1921 (L.). – Borkum. Ein Inselfrühling. Ebd. 1922 (P., L.). – Jahreskreis. Aurich 1926 (L.). – Braunsegelschimmern. Hbg. 1934 (L., E.en). – Der Pfingstbusch der Bark Confidentia. See- u. Strandgesch.n. Ebd. 1934. – Das Logbuch des Ostindienfahrers. Prag/Bln./Lpz. 1943. Mit Anmerkungen v. K.-H. Wiechers. Leer 1996. – Im Kastell zu Antwerpen. Künstleranekdoten. Wolfshagen-Scharbeutz 1955. Literatur: Reinhold W. Feldmann: B. d. V. Ein fast vergessener Dichter u. Schriftsteller. In: Ostfreesland. Kalender für Ostfriesland. Norden 2008, S. 96–101. Walter Olma / Red.

Vring, Georg von der, * 30.12.1889 Brake/ Oldenburg, tot aufgefunden 1.3.1968 München; Grabstätte: Hammelwarden bei Brake, Friedhof. – Lyriker, Prosaautor, Übersetzer, Maler. V. ist heute nur noch einem kleinen Kreis von Kennern als einer der maßgebl. dt. Naturlyriker der 1930er bis 1950er Jahre vertraut. Von Thomas Mann, Günter Eich, Peter Suhrkamp, Georg Britting u. Rudolf Alexander Schröder einst hochgeschätzt, hat er nach 1945 den Anschluss an die literar. Entwicklung verloren. Seither gilt er als naturlyr. Traditionalist. V. wuchs im Oldenburgischen als Sohn kleinbürgerl. Eltern auf. Er besuchte zunächst die Bürgerschule, dann das Oldenburger Lehrerseminar. Einige Jahre war er Zeichenlehrer in der Nähe von Jever, dann ging er zum Kunststudium nach Berlin. Kurz nach dem Examen zum Kriegsdienst eingezogen u. als »guter Soldat wider Willen« schwer verwundet, geriet er in amerikan. Gefangenschaft. Seine antimilitaristische Haltung dokumentiert der erste dt. Antikriegsroman Soldat Suhren (Zürich 1927. Neudr. Mchn. 1980), ein Bekenntnis zur Achtung der Menschen u. Völker. Soldat Suhren, dem noch die Antikriegsromane Camp

Vring

Lafayette (Bremen 1929), Der Wettlauf mit der Rose (Stgt. 1932) u. Magda Gött (Mchn. 1948) folgten, ermöglichte es V., als freier Schriftsteller u. Maler sein Auskommen zu finden: von 1927 an zunächst im Tessin u. in Wien, dann in Stuttgart u. in Schorndorf, seit 1951 schließlich in München. Während des »Dritten Reichs« zog sich V. in die innere Emigration zurück u. soll Beziehungen zu konservativen Widerstandskreisen gehabt haben. 1939 wurde er als Oberleutnant wieder zum Kriegsdienst eingezogen; 1943 wurde er entlassen (Dumpfe Trommel, schlag an! Soldatenlieder. Hbg. 1939). V. hat ein rund 20-bändiges Erzählwerk hinterlassen: Unterhaltungs- u. Abenteuerromane, Erzählungen, Novellen, die histor. u. autobiogr. Themen behandeln. Mit Wehmut kehrte er immer wieder ins heimatl. Weserland zurück. Entscheidend aber wurde seit Beginn der 1940er Jahre das lyr. Werk. Nicht nur ist V. als Anthologist u. Übersetzer von William Blake, Verlaine, Maurois, Keats, Shelley, Whitman u. Maupassant hervorgetreten, sondern hat auch einen eigenen Lyrikton gefunden. In den 1947 in München erschienenen Versen für Minette, in Kleiner Faden blau (Hbg. 1954) u. Der Schwan (Mchn. 1961) publizierte V. Gedichte voll stilisierter Anmut u. Güte. Zurückschreckend vor der modernen Welt, die das faschistische Inferno heraufgebracht hatte, u. gänzlich abgewandt von einer sich zeitkritisch gebenden neueren Literatur, kehrte er zur klassisch-romantischen Liedtradition zurück. Die Hoffnung auf das Gute in der Welt, Liebe u. Todesahnung, Abschied u. Wiedersehen, Blumengärten, Regen, Sonne, Windesrauschen, auch kosm. Panoramen, eingebunden in grüblerisch-verklärende Liedweisen: das sind die immer wiederkehrenden Themen des schwermütigen Alterswerks. Weitere Werke: Romane und Erzählungen: Der Zeuge. Piesteritz bei Halle 1927. – Adrian Dehls. Bln. 1928 (R.). – Station Marotta. Bremen 1931. – Einfache Menschen. Oldenb. 1933. – Der Schritt über die Schwelle. Lpz. 1933 (N.n). – Schwarzer Jäger Johanna. Bln. 1934. – Die Geniusmuschel. Breslau 1935 (R.). – Die Spur im Hafen. Bln. 1936. – Die Werfthäuser v. Rodewarden. Oldenb. 1937 (R.). – Der Büchsenspanner des Herzogs. Ebd. 1937. –

Vrkljan Der Goldhelm oder das Vermächtnis v. Grandcoeur. Ebd. 1938. – Die span. Hochzeit. Bln. 1938 (R.). – Die kaukas. Flöte. Stgt. 1939 (R.). – Junge Liebe. Gütersloh 1942. – Der ferne Sohn. Mchn. 1942 (E.). – Die Umworbenen. Ebd. 1944 (E.). – Die Brosche Griechenland. Bad Wörishofen 1948 (N.). – Das Meisterschiff. Gütersloh 1949 (R.). – Und wenn du willst, vergiß. Mchn. 1950 (R.). – Die Wege tausendundein. Hbg. 1955. Neuaufl. Oldenb. 2001. – Gesch.n aus einer Nuß. Mchn. 1959. – König Harlekin. 1966. – Lyrik: Südergast. Jever in Oldenb. 1925. – Verse. Bremen 1930. – Garten der Kindheit. Hbg. 1937. – Oktoberrose. Mchn. 1942 (Ges. G.e). – Die Lieder des G. v. d. V. 1906–56. Ebd. 1956. – Der Mann am Fenster. Ebd. 1964. – Gesang im Schnee. Ebd. 1967. – Gedichte u. Lieder. Ebd. 1979. – Die Gedichte. Gesamtausg. Nachw. v. Christoph Meckel. Ebenhausen 1989. – Nachgelassene Gedichte. Hg. Christiane Peter u. Kristian Wachinger. Ebd. 1991. – Aus Briefen u. Gedichten v. G. v. d. V. (1889–1968) u. Therese v. d. V. (1894–1927). Jaderberg 1996. Literatur: G. v. d. V. 1889–1968. Mit einem Vorw. v. Curt Hohoff. Bamberg 1971 (Kat.). – Hein Bredendiek: G. v. d. V. In: Niedersächs. Lebensbilder 7 (1971), S. 330–344. – Karl Dachs (Hg.): G. v. d. V. Mchn. 1971. – Sigrid Bock: Wer dem Teufel den kleinen Finger reicht ... G. v. d. V.: ›Der Goldhelm oder das Vermächtnis des Grandcoeur‹. In: Erfahrung Nazideutschland. Romane in Dtschld. 1933–1945. Hg. dies. u. Manfred Hahn. Bln./DDR, Weimar 1987, S. 335–383. – Uwe Meiners: G. v. d. V. 1889–1968. Eine Ausstellung zum 100. Geburtstag des Dichters u. Malers. Jever 1989. – Thomas Metz: Im Schleier verregneter Garten? Schorndorf 1990. – Jens Aden: Die Lyrik G. v. d. V.s. Themen, Formen, Traditionen, frühe Rezeption. Eine Monogr. über das lyr. Werk des Schriftstellers u. Malers (1889–1968). Ffm. u. a. 1993. – Dirk Dasenbrock: G. v. d. V. Vier Leben in Dtschld. Vechta 1997. – Peter Hamm: Der letzte Meister des Liedes. G. v. d. V. In: Ders.: Aus der Gegengesch. Lobreden u. Liebeserklärungen. Mchn. u. a. 1997, S. 48–57. – Jörg Michael Henneberg (Hg.): G. v. d. V. Ein Expressionist in Jever. Begleitbd. zur Ausstellung im Schloßmuseum Jever. Oldenb. 1998. – Stefanie Stockhorst: Artikulationsmöglichkeiten v. Kriegsgegnerschaft im pazifist. Roman der Weimarer Republik. Zum Problem der heiml. Affirmation bei G. v. d. V. u. Erich Maria Remarque. In: Jb. zur Kultur u. Lit. der Weimarer Republik 12 (2008), S. 177–202. Harro Zimmermann / Red.

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Vrkljan, Irena, verh. Meyer-Wehlack, * 21.8.1930 Belgrad. – Lyrikerin, Erzählerin, Hör- u. Fernsehspielautorin, Essayistin. Mit ihrer Familie floh V. 1941 nach Zagreb, wo sie seit 1949 Archäologie studierte u. Kulturredakteurin beim Fernsehen war. Das 1966 an der Film- u. Fernsehakademie in West-Berlin begonnene Regiestudium schloss sie 1969 ab. V. wurde in Kroatien u. a. mit dem Vladimir Nazor-Preis für das Lebenswerk (2005) ausgezeichnet. Von 1967 an entstanden in gemeinsamer Arbeit mit Benno Meyer-Wehlack zahlreiche Hörspiele (Ihre Pauline Golisch. SDR/SR 1974. Die Sonne des fremden Himmels. SDR/SFB 1977. Beide Stgt. 1978; mit einem autobiogr. Nachwort) u. Fernsehspiele (Ein Vogel bin ich nicht. SDR 1971. Revidierte Fassung u. d. T. Modderkrebse. Stück über einen Bau. Bln. 1971). Nur eine kleine Auswahl ihrer zahlreichen Gedichte erschien bisher in dt. Sprache (Stationen. Bln. 1981). In ihren Romanen (Svila, sˇ kare. Zagreb 1984. Dt.: Tochter zwischen Süd und West. Ffm./Bln./Wien 1982. Neuausg. u. d. T. Seide, Schere. Klagenf. 2008. Berlinski rukopis. Zagreb 1988. Dt.: Schattenberlin. Aufzeichnungen einer Fremden. Graz/Wien 1990) thematisiert V., die ihre Werke selbst übersetzt, ihren eigenen Werdegang als Frau zwischen zwei Sprachen u. Kulturen. In Marina ili o biografiji (Zagreb 1986. Dt.: Marina, im Gegenlicht. Graz/Wien 1988) setzt sie die Biografien dreier Frauen, die der Dichterin Marina Zwetajewa, der Schauspielerin Dora u. ihre eigene, zueinander in Beziehung. Derselben Form des erinnernden Erzählens gehört das Buch über Dora (ebd. 1992. U. d. T. Dora. Zagreb 1991) an, das von »Dora im Exil ihrer Lebensunfähigkeit« handelt. Vor roter Wand 1991–1993 (Graz/Wien 1994) beschäftigt sich mit dem Krieg in Jugoslawien und mit der Kunst angesichts dieses Krieges. Zusammen mit ihrem Ehemann Benno Meyer-Wehlack hat V. aus dem Kroatischen u. Serbischen Theaterstücke, Hörspiele u. Romane übersetzt, u. a. den »Jahrhundertroman« Bel tempo (Bln. 1998) von Bora C´osic´. Weitere Werke: Das blaue Rad. Stück mit Musik für Kinder u. a. (zus. mit Benno Meyer-Weh-

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37 lack). Bln. 1975. – Das Bild. 1976 (Hörsp.). – Der Johannesbrotbaum. 1979 (Hörsp.). – Sirovay Träume (zus. mit B. Meyer-Wehlack). WDR 2004 (Hörsp.). Literatur: Celia Hawkesworth: I. V.: ›Marina, or About Biography‹. In: The Slavonic and East European Review 69 (1991), 2, S. 221–231. – Dies.: Silk, Scissors, Garden, Ashes: the autobiographical writings of I. V. and Danilo Kisˇ. In: Literature and politics in Eastern Europe. Hg. dies. New York 1992, S. 83–92. – Andrea Zlatar: Formen autobiogr. Erzählens in der zeitgenöss. kroat. Lit. (mit besonderer Berücksichtigung der Prosa v. I. V. u. Slavenka Drakulic´). In: Diskurs der Schwelle. Aspekte der kroat. Gegenwartslit. Hg. Dagmar Burkhart u. Vladimir Biti. Ffm. u. a. 1996, S. 169–187. Bruno Jahn

Vuilleumier, John Fred, * 1.12.1893 Basel, † 23.8.1976 Riehen bei Basel. – Erzähler, Dramatiker.

tragisch begreift u. Leben u. Tod sich ihm häufig verwischen – vgl. etwa den Roman Tropische Rhapsodie (Zürich 1954) –, sind seine Texte oft von einer gelösten, humorvollen Heiterkeit u. einer intensiven, gesellschaftl. Zwänge durchbrechenden Sinnlichkeit geprägt. Als gelungenstes Beispiel hierfür erscheint der Roman Die dreizehn Liebhaber der Jeannette Jobert (ebd. 1943), die ebenso freizügig wie fantasievoll beschriebene éducation sentimentale einer jungen Jurassierin, die für die damalige Durchhalteliteratur der schweizerischen geistigen Landesverteidigung untypisch ist. V. erhielt 1960, als er mit seinem Stück Palazzo Albizzi (in engl. Übers. London 1959, Urauff. London, 25.1.1969) in England Triumphe feierte, den Literaturpreis der Stadt Basel. Weitere Werke: Steven Madigan. Zürich 1941 (R.). – Irving Potter. Ebd. 1946 (R.). – Die vom Berg. Ebd. 1947 (R.). – Sträfling Nummer 9696. Basel 1956. – Der ovale Spiegel u. a. Skizzen. Breitenbach 1967. – Der letzte Tunnel. Olten 1970 (R.). – Variationen in Moll. Zürich 1975 (E.en).

Der Sohn eines aus dem französischsprachigen Schweizer Jura stammenden Industriellen studierte an den Universitäten Basel, Genf, Berlin u. Zürich Jurisprudenz (Dr. jur. Literatur: Charles Linsmayer: J. F. V. In: Ders.: 1918), verschmähte jedoch eine bürgerl. Literaturszene Schweiz. Zürich 1989, S. 200 f. Karriere u. wandte sich engagiert gegen eine Charles Linsmayer »Justiz der Repressalien«. So ließ V. sich, um die Welt der Gefängnisse kennen zu lernen, in Portsmouth u. New York freiwillig ins Vulpius, Christian August, auch: AnshelZuchthaus sperren u. machte seine Erlebnisse mo Marcello Thuring, Tirso de Milano, dann in der Romantrilogie Cantor im Kaleido* 23.1.1762 Weimar, † 26.6.1827 Weimar. skop (Wien 1930), Der Strom (Zürich 1936) u. – Erzähler, Dramatiker, Verfasser u. BeSie irren, Herr Staatsanwalt (ebd. 1937) auf bearbeiter von Opern- u. Operettentexten, wegende Weise literarisch fruchtbar. Immer Lyriker; Bibliothekar. steht in seinen Werken, die er während langer Reisen u. Aufenthalte u. a. in Paris u. New Der Sohn eines Amtsarchivars studierte York schrieb, der Außenseiter, der »outlaw«, 1782–1788 mit einem Stipendium des weiim Mittelpunkt. So spannend u. abenteuer- marischen Herzogs Carl August Rechtswislich V. zu erzählen weiß, so wenig reduziert senschaft in Jena u. Erlangen u. war geer das Dargestellte jedoch auf die oberfläch- zwungen, seine schon früh vorhandene liche, sinnlich erfahrbare Welt. Bereits in schriftstellerische Neigung auch finanziell seinem Erstling, den Novellen Carl Christophs umzumünzen. Nach einem – nicht eindeutig grüne Fassade (Aarau 1927), aber auch im au- belegbaren – Abbruch des Studiums auftobiogr. Roman Hilli, Hildebrand und ER (Wien grund von Geldmangel nach dem Tod des 1932), v. a. aber im groß angelegten Roman Vaters arbeitete er in zwei Sekretärstellen u. Muramur (Bern 1951), steht das mystische, bei kargem Unterhalt als unabhängiger Ausurreale Element des großen »ER« oder der tor. 1789 vermittelte ihm sein späterer eigentlichen, die Realität überragenden u. Schwager Goethe, der sich schon vor der Itaerfüllenden »vierten Dimension« im Vorder- lienreise seiner angenommen hatte, eine Angrund. Obwohl V. das Dasein im Grunde stellung beim Verleger Göschen in Leipzig.

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1790 kam V. zurück nach Weimar, wo er zunächst für den Theaterprinzipal Belomo, seit 1791 dann für den neuen Theaterleiter Goethe persönlich am Theater arbeitete u. dort für Bearbeitungen u. Übersetzungen zuständig war, für die er einzeln bezahlt wurde. 1797 wurde er – nachdem auch hier Goethe veranwortlich wurde – Registrator an der herzogl. Bibliothek, arbeitete aber weiterhin auch für das Theater. V. stieg 1800 zum Bibliothekssekretär, 1805 zum Bibliothekar auf, übernahm die Aufsicht über die herzogl. Münzsammlung u. wurde schließlich großherzogl. Rat u. Ritter des weißen Falkenordens (1816). In Jena war er 1802 mit der Eingliederung einer umfangreichen privaten Bibliothek in die dortige Universitätsbibliothek betraut u. erhielt in diesem Zusammenhang auf eigenen Antrag dort den Doktor der Philosophie (1803); eine Dissertation ist nicht erhalten oder nie angefertigt worden. Trotz der Anstellung hatte V. ständig Geldsorgen, Bewerbungen auf andere Stellen scheiterten; bis zu seiner Pensionierung 1826 war er an der Bibliothek zu Weimar. Er nahm zwar am öffentl. Leben in Weimar teil, wurde aber – ähnlich wie seine Schwester Christiane von Goethe – von der Weimaraner Gesellschaft nicht als eigentlich zugehörig betrachtet, was wohl an seiner belasteten Familiengeschichte (der alkoholkranke Vater hatte als Beamter eine Unterschlagung begangen), dem Fehlen einer adligen, bürgerl. oder akadem. Reputation u. an seiner Existenz als »Unterhaltungsschriftsteller« lag. Obwohl tatsächlich selbst einer anderen Art des Schreibens verpflichtet als Schiller oder Goethe, engagierte sich V. in der ästhetischen Auseinandersetzung seiner Zeit auf deren Seite u. gegen Schriftsteller wie August von Kotzebue, wobei er – in seiner Tätigkeit als Rezensent – allerdings viel stärker als Goethe oder Schiller den Unterhaltungswert von Literatur in Anschlag brachte. Von den beiden von ihm hochverehrten Dichterfürsten wurde er allerdings als Schriftsteller kaum wahroder ernstgenommen. Ein äußerst produktiver Schriftsteller, der sich geschickt dem Zeitgeschmack anpasste, zeichnete sich V. vor allem als Autor von Liebes- u. Abenteuerromane aus, die mit ef-

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fektvollen Schauerelementen untermischt sind. Charakteristisch dafür ist Aurora. Ein romantisches Gemälde der Vorzeit (2 Bde., Lpz. 1794/95. 31800) mit Themen, Motiven u. Erzählstrukturen, die sich im Gesamtwerk wiederholen: der Held (schon hier eine Rinaldo-Figur) als hilfloses Werkzeug eines mächtigen Geheimbundes, Staats- u. Hofintrigen, Geisterapparat u. Geisterbeschwörung, Verwechslungen u. Doppelgängermotiv, Antiklerikalismus u. episodenhafte Erzählweise. V. bediente sich dabei weniger eigener Erfahrungen, die er kaum hatte, als vielmehr aus seinem reichen Lektüreschatz als Bibliothekar. Nicht selten wurde ihm von Kritikern – nicht zuletzt von Schiller – der Hang zur Anhäufung von Bildungsverweisen u. Belegstellen vorgeworfen. V.’ größter Erfolg u. die Basis seines Nachruhms war Rinaldo Rinaldini, der Räuberhauptmann. Eine romantische Geschichte unseres Jahrhunderts in 3 Theilen oder 9 Büchern (Lpz. 1799). Dem launenhaften u. unzuverlässigen Protagonisten begegnen viele mysteriöse Liebes- u. Kriegsabenteuer, die das Publikum offenbar begeisterten. V. wertete den Erfolg des Romans aus, indem er ein Schauspiel gleichen Titels (Rudolstadt 1800) u. Romane mit lautähnl. Titeln veröffentlichte, z. B. Ferrandino (2 Bde., Lpz. 1800). Dieser wurde dem Rinaldo in einer neuen Auflage als Erweiterung angehängt (6 Bde., ebd. 1799–1801. Neudr. mit einem Vorw. von Hans-Friedrich Foltin. Hildesh. 1974). Noch 1821 brachte V. eine weitere Fortsetzung heraus: Lionardo Monte-Bello, oder der Carbonari Bund (2 Bde., Lpz.), die in die umgearbeitete Fassung des Rinaldo von 1823 einging. Bis 1858 durchlief der Roman insg. acht Auflagen. Mindestens 35 fremdsprachige Ausgaben erschienen im 19. Jh., u. weitere Bearbeitungen, Neuauflagen u. Nachdrucke reichen bis in die jüngste Gegenwart. Bei der zeitgenöss. Literaturkritik kamen V.’ Werke weniger gut an; meist liest man hier Verrisse, nur vereinzelt auch positive Urteile. In seiner Kurzprosa befasste sich V. gezielter u. überzeugender mit den Themen Liebe u. Abenteuer (z. B. Romantische Wälder. Lpz. 1796). In der Nachfolge von Leonhard Wächter wandte er sich Legenden- u. Sagen-

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material zu (Thüringische Sagen und Volksmährchen. 2 Bde., Erfurt 1822). Diesem Gebiet widmete er sich auch als Herausgeber: »Curiositäten der physisch-litterarisch-artistischhistorischen Vor und Mitwelt« (10 Bde., Weimar 1811–25) u. »Die Vorzeit. Ein Journal für Geschichte, Dichtung, Kunst und Literatur des Vor und Mittelalters« (Erfurt 1817–20). Unter V.’ etwa 45 Bühnenwerken befindet sich neben zahlreichen Opern- u. Operettenbearbeitungen, u. a. etwa eine bis ins 20. Jh. gebräuchliche Figaro-Übersetzung u. eine Bearbeitung von Emanuel Schikaneders Zauberflöte, eine Original-Ritteroperette: Der Schleyer (Lpz. 1789). Seine Theaterstücke reichen von kurzen Possen u. Lustspielen wie Die Männer der Republik (ebd. 1788) bis zu fünfaktigen Geschichtsdramen wie Karl der Zwölfte (Rudolstadt 1800) u. einer Nachahmung der Räuber (Das Geheimniß. Lpz. 1800). V. veröffentlichte auch einige Gedichtsammlungen, war Herausgeber des Journals »Janus« u. Mitarbeiter an zahlreichen Publikationen, u. a. der »Bibliothek der Romane«, dem »Weimarischen Magazin« u. den »Annalen des Theaters«. Weitere Werke: Sommer-, Tags-, Nachts- u. abenteuerl. Romane. 2 Bde., Erfurt 1788. – Zauberromane. 2 Bde., Hbg. 1790/91. – Szenen in Paris. Lpz. 1791/92. – Neue Szenen in Paris. Ebd. 1792/93. – Romant. Gesch.n der Vorzeit. 10 Bde., ebd. 1792–98. – Die Saal-Nixe. Eine Sage der Vorzeit. Ebd. 1795. – Glorioso der große Teufel. 3 Bde., Rudolstadt 1800. – Sebastiano der Verkannte. Bln. 1801. – Orlando Orlandini. Rudolstadt 1802. – Der Maltheser. Lpz. 1804. – Frau Holda Waldina, die wilde Jägerin. Rudolstadt 1805. – Lucindora die Zauberin. Erzählung aus den Zeiten der Mediceer. Lpz. 1810. Neudr. mit Vorw. v. Hans-Friedrich Foltin. Hildesh. 1973. – Handwörterbuch der Mythologie der dt., verwandten, benachbarten u. nord. Völker. Lpz. 1827. Neudr. Wiesb. 1985. – Eine Korrespondenz zur Kulturgesch. der Goethezeit. Hg. Andreas Meier. 2 Bde., Bln. 2003. – Glossarium für das Achtzehnte Jh. Mit einem Nachw. hg. v. Alexander Kosˇ enina. Laatzen 2003. – Mozarts Zauberflöte u. ihre Dichter. Schikaneder, V., Goethe, Zuccalmaglio. Faksimiles u. Editionen v. Textbuch, Bearb.en u. Forts.en der Mozart-Oper. Hg. Werner Wunderlich. Anif 2007. Literatur: Wolfgang Vulpius u. Alfred Bergmann: Bibliogr. der selbständig ersch. Werke v. C. A. V. In: Jb. der Slg. Kippenberg 6 (1927),

Vulteius S. 65–127. 10 (1935), S. 311–315. – Horst Kunze: Rinaldo Rinaldini u. die Nachdrucker. Ein Beitr. zur Gesch. des Nachdrucks. In: Börsenblatt für den Dt. Buchhandel 104 (1937), S. 830 f. – Siegfried Scheibe: Zur ersten Ausg. des Rinaldo Rinaldini. In: Goethe 22 (1960), S. 298–300. – Wolfgang Vulpius: Goethes Schwager u. Schriftstellerkollege C. A. V. In: Goethe-Almanach auf das Jahr 1967. Bln./ Weimar 1966, S. 219–242. – Hans Widmann: Die Beschimpfung der Reutlinger Nachdrucker durch C. A. V. Mit einem Rückblick auf die württemberg. Verordnungen zum Nachdr. In: AGB 14 (1973/74), Sp. 1537–1588. – Jörn Göres: Der Bühnenprospekt zur ›Saal-Nixe‹. In: GoetheJb 91 (1974), S. 158–165. – Lieselotte Blumenthal: Schillers Urteil über ein unbekanntes Theaterstück [i. e. ›Karl XII .‹ v. V.]. In: JbDSG 21 (1977), S. 1–20. – Ingeborg H. Solbrig: Briefw. zwischen C. A. V. u. Joseph v. Hammer-Purgstall aus dem Jahr 1820. In: GoetheJb 22 (Tokio 1980), S. 35–39. – Rainer Jeglin: ›Die Welt der Ritterbücher war meine Lieblingswelt‹. Anmerkungen zu Rinaldo Rinaldini u. seinem Einfluß auf Karl May. In: Jb. der Karl-May-Gesellsch. 12 (1982), S. 170–184. – Manfred Heiderich: The German Novel of 1800. Bern 1982, S. 131–139. – Roberto Simanowski: Die Verwaltung des Abenteuers. Massenkultur um 1800 am Beispiel C. A. V. Gött. 1998. – Manuela Jahrmärker: Das Wiener Singspiel im protestant. Norden. V.’ ZauberflötenVersion für die Weimarer Hofbühne. In: Österr. Oper oder Oper in Österr.? Die Libretto-Problematik. Hg. Pierre Béhar u. Herbert Schneider. Hildesh. u. a. 2005, S. 104–132. – Inka Daum: Ein Pfuscher u. eingefleischter Dilettant? C. A. V. im Spiegel der Dilettantismus-Debatte um 1800. In: Dilettantismus um 1800. Hg. Stefan Blechschmitt u. Andrea Heinz. Heidelb. 2007, S. 125–139. Manfred Heiderich / Oliver Tekolf

Vulteius, Justus, eigentl.: J. Will, * 1529 Wetter über Marburg, † 31.3.1575 Marburg. – Schulmann, Neulateiner. V. studierte mit seinem älteren Bruder Johannes auf mehreren reformatorischen Hohen Schulen Westeuropas (u. a. Straßburg um Bucer u. Sturm, Wittenberg um Melanchthon, Basel um Myconius u. Oporinus, Genf um Calvin) u. kehrte als Rektor der Lateinschule ins heimatl. Wetter zurück (u. »brachte die Schule daselbst in einen solchen Flor, daß man sie damals Academiola Wetterana nannte«, Strieder, S. 349); 1560 wurde er Pädagogiarch am Institut u. 1572 Hebraist

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an der Universität Marburg. Die Varia historia des Aelian u. die Stratagemata des Polyaen übersetzte V. ins Lateinische (Basel 1548 u. 1550); seine Poematum libri V (postum Marburg 1612) gab sein berühmter Sohn, der Jurist Hermann Vulteius, heraus: einige Graeca, kirchenpolit. Epigrammatik, Epithalamia u. Epitaphia, merkwürdige Personalia (um Schule, Familie u. Heimat). Die poetische Leistung des V. bleibt zu prüfen; noch scheint er vergessen: Gruter nahm 1612 in die Delitiae poetarum Germanorum (Bd. 6, Ffm. 1612, S. 1050–1057) von ihm nur Totenklage u. Epitaphium für seinen Landgrafen Philipp von Hessen († 1567) auf, Schnur in die Lateinischen Gedichte deutscher Humanisten (Stgt. 1966, S. 404 ff.) zwei andere poetische Proben. Literatur: Friedrich Wilhelm Strieder: Grundlage zu einer Hess. Gelehrten- u. SchriftstellerGesch. 16. Marburg 1812, S. 349–351. – J. Pistor: J. V. In: ADB. – Franz Gundlach: Catalogus professorum Academiae Marburgensis. Marburg 1927, S. 9. – Ellinger 2, S. 249–254. Reinhard Düchting

Vyoral, Johannes A(lfred), auch: Hannes V.* 10.5.1953 Eichkogelsiedlung/Niederösterreich. – Lyriker, Erzähler, Essayist. V., seit 1976 freier Schriftsteller, war nach einer Ausbildung zum Masseur Entwicklungshelfer in Indien u. übernahm Lehraufträge an österr. Universitäten. Zu seiner regen kulturpolit. Tätigkeit zählt die Organisation des Ersten österreichischen Schriftstellerkongresses 1981 in Wien; 1982–1991 war er (gemeinsam mit Gerhard Ruiss) Geschäfts-

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führer der »IG Autoren«. Zusammen mit Ruiss gab er mehrere Publikationen zur literatur- u. medienpolit. Situation in Österreich heraus. V., seit 1999 Vorstandsmitglied des Literaturkreises »Podium« (Schloss Neulengbach) u. Redaktionsmitglied der gleichnamigen Zeitschrift, lebt in Wien u. im Burgenland. In seinen Gedichten thematisiert V. Erfahrungen in einer entfremdeten, entsolidarisierten Gesellschaft (80% Fett. Mein Leben mit Mayonnaise. Wien 1989; mit Holzschnitten von Anton Manabe) u. zeigt das Absurde des Alltäglichen auf. nimm liebe vom abschied im herbst (Baden bei Wien 1991), eine Gedichtsammlung (1988–1990), ist von einer melanchol. Grundhaltung geprägt. Harmonie, Ruhe u. Optimismus verströmen die während mehrerer Sommer im burgenländ. Seewinkel entstandenen Gedichte: »und unsere liebe wird den sprossenkohl erklimmen / auf einer flocke fliegen / auf und davon / es wird schon« (sommer auf dem ausgeruhten land. gedichte aus dem seewinkel. 1998–2002. Baden bei Wien 2003). Weitere Werke: steile bussarde weiche möwen (zus. mit Nils Jensen: Ballon aus Blei). Wien 1985 (L.). – großer afrikanischer himmel. Ebd. 1991 (L.; mit Tuschzeichnungen v. Hans Kienesberger). – hasard oder die künstlichkeit der parklandschaft. Wien 1992. – in der farbe des fehlenden körpers. Mit Tuschzeichnungen v. H. Kienesberger. Wien 1994 (L.). – ostrakoi. Mit 9 Offsetlithographien v. Günther Wieland. Horn 2003 (L.). – aus der wildnis. Wien 2005 (L.). – nur jetzt genau so. Mit Zeichnungen v. G. Wieland. Gösing/Wagram 2008 (L.). Bruno Jahn

W Waagen, Gustav Friedrich, * 11.2.1794 Hamburg, † 15.7.1868 Kopenhagen. – Kunsthistoriker. Der Sohn eines Hamburger Kunstmalers u. einer Schwägerin Ludwig Tiecks studierte seit 1812 Philosophie u. Geschichte in Breslau u. Heidelberg. Seit 1813 nahm er im preuß. Heer an den »Befreiungskriegen« teil. Nach einem Aufenthalt in München zog W. 1823 nach Berlin, wo er sich an den Vorarbeiten zur Gründung eines neuen Museums beteiligte. 1830 wurde er durch Vermittlung Carl Friedrich von Rumohrs zum ersten Direktor der Berliner Galerie ernannt; 1844 erhielt er einen Ruf als Professor für Kunstgeschichte an die dortige Universität. Die Biografie W.s ist durch seine zahlreichen Kunstreisen bestimmt, die ihn v. a. nach Großbritannien, aber auch mehrfach nach Italien u. Frankreich sowie nach Russland führten. Im Auftrag der Berliner Galerie unternommen, dienten sie einerseits Erwerbungszwecken, andererseits entstanden in ihrem Gefolge auch die meisten der Publikationen W.s. Dabei galt sein bes. Interesse den z. T. nur schwer zugängl. engl. Privatsammlungen u. ihren Beständen an mittelalterl. Miniaturmalerei, die er als erster systematisch beschrieb u. katalogisierte. Der größte Teil seiner Veröffentlichungen enthält Inventare der besuchten Sammlungen, die in Briefform oder im Rahmen von Reisebeschreibungen aneinandergereiht werden (Kunstwerke und Künstler in England und Paris. 3 Bde., Bln. 1837–39. Erw. engl. Ausg. u. d. T. Treasures of Art in Great Britain. 3 Bde., London 1854. Nachdr. Ebd. 1970. Supplementband Galleries and Cabinets of Art in Great Britain. Ebd. 1857. Nachdr. Ebd. 1970).

Die große Bedeutung W.s für die Kunstgeschichte liegt jedoch v. a. in seinem Bemühen um eine method. Neuorientierung, so v. a. in Über Hubert und Johann van Eyck (Breslau 1822). Die Malerei der Brüder van Eyck ist in der romant. Kunstliteratur des beginnenden 19. Jh. ein viel diskutiertes Thema. Noch für Friedrich Schlegel, Sulpiz Boisserée u. Goethe ist deren sog. »altdeutsche« Malweise das Ergebnis eines radikalen Bruchs mit der Tradition: Die neue Schule entsteht plötzlich ohne stilistische Vorläufer u. ist allenfalls durch die Persönlichkeit u. die Genialität der Brüder erklärbar. W. ist der erste Kunsthistoriker, der ihr Entstehen unter Berücksichtigung der allg. polit. Verhältnisse in den Niederlanden des 14. Jh. (v. a. des wirtschaftl. Erstarkens des städt. Bürgertums) zu erklären versucht. Bereits fünf Jahre vor dem Erscheinen der Italienischen Forschungen Rumohrs wendet W. hier die historisch-krit. Methode der Geschichtswissenschaften auf kunsthistor. Phänomene an. Weite Verbreitung fand sein Handbuch der deutschen und niederländischen Malerschulen (2 Bde., Stgt. 1862). Weitere Werke: Kunstwerke u. Künstler in Dtschld. 2 Bde., Lpz. 1843 u. 1845. – Die Gemäldeslg.en in der kaiserl. Eremitage zu St. Petersburg [...]. Mchn. 1864. – Die vornehmsten Kunstdenkmäler in Wien. 2 Tle., Wien 1866/67. – Kleine Schr.en. Hg. Alfred Woltmann. Stgt. 1875. Literatur: Bibliografie: Jürgen Zimmer: Bibliogr. G. F. W. In: Jb. der Berliner Museen 37 (1995), S. 75–91. – Weitere Titel: Hermann Arthur Lier: G. F. W. In: ADB. – Gabriele Bickendorf: Der Beginn der Kunstgeschichtsschreibung unter dem Paradigma ›Geschichte‹. Worms 1985. – Wilhelm Waetzoldt: Dt. Kunsthistoriker. 2 Bde., Bln. 31986. – Wolfgang Beyrodt: Kunstreisen durch England. Anmerkungen zu J. D. Passavant u. G. F. W. In: Ztschr. des dt. Vereins für Kunstwiss. 46 (1992), S. 55–58. – Irene Geismeier: G. F. W. Museumsdirektor in der

Waberer preuss. Hauptstadt. In: Jb. der Berliner Museen 37 (1995), S. 7–21. – G. Bickendorf: G. F. W. u. der Historismus in der Kunstgesch. In: ebd., S. 23–32. – Boris Aswarischtsch: G. F. W. in Rußland. In: ebd., S. 61–73. – Roland Berbig: ›Der Typus eines Geschichten-Machers‹. G. F. W. u. Theodor Fontane in England. In: Exilanten u. andere Deutsche in Fontanes London. Hg. Peter Alter. Stg. 1996, S. 120–141. – Florian Illies: G. F. W., Prinz Albert u. die Manchester Art Treasures Exhibition v. 1857. In: Künstlerische Beziehungen zwischen England u. Dtschld. in der viktorian. Epoche. Hg. Franz Bosbach u. a. Mchn. 1998, S. 129–144. – Ders.: Bemerkungen zur preuß. Kunstpolitik. Das Beispiel G. F. W. In: Preuß. Stile. Ein Staat als Kunststück. Hg. Patrick Bahners u. Gerd Roellecke. Stgt. 2001, S. 180–189. – Bernhard Ridderbos: From W. to Friedländer. In: Early Netherlandish Paintings. Rediscovery, Reception and Research. Hg. ders., Anne van Buren u. Henk van Veen. Amsterd. 2005, S. 218–251. – Peter Betthausen: G. F. W. In: MKunsthistL. – G. Bickendorf: Die ›Berliner Schule‹: Carl Friedrich v. Rumohr (1785–1843), G. F. W. (1794–1868), Karl Schnaase (1798–1875) u. Franz Kugler (1808–1858). In: Klassiker der Kunstgesch. Bd. 1: Von Winckelmann bis Warburg. Mchn. 2007, S. 46–61. Andreas Sturies / Red.

Waberer, Keto von, * 24.2.1942 Augsburg. – Prosaautorin, Publizistin, Übersetzerin. W.s schriftstellerische Anfänge beziehen Thematik u. Bildlichkeit aus dem Spannungsfeld zweier gegensätzl. Kulturkreise. Als Tochter einer Deutschen u. eines bolivian. Architekten erlebte sie die Kindheit in Kriegsu. Nachkriegszeit in Süddeutschland u. Österreich. W. studierte Architektur in München u. Mexiko City, lebte u. arbeitete als Architektin in den USA u. später mit ihrer Familie in Mexiko. Nach der Rückkehr nach Deutschland war sie als Architektin, Galeristin u. Journalistin tätig. Sie lebt heute als freie Schriftstellerin in München. W. schreibt auch Essays u. Glossen für Zeitungen u. Rundfunk sowie Fernsehdrehbücher. Nach einer Gastdozentur an der Universität-GH Essen im Jahr 1995 nimmt sie seit dem Wintersemester 1998/99 einen Lehrauftrag für Creative Writing an der Hochschule für Film und Fernsehen in München wahr. W. ist auch als Übersetzerin aus dem Englischen u. Spanischen hervorgetreten. Für ihre Leistungen

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erhielt die Autorin den Montblanc Literaturpreis (1991), den Schwabinger Kunstpreis (1993), den Ernst-Hoferichter-Preis (1995) u. den Literaturpreis der Stadt München (2011). W. debütierte mit dem Erzählband Der Mann aus dem See (Köln 1983), der die Kritik von ihrem erzählerischen Können überzeugt hat. In ihrem Erstling wird die inhaltl. Bandbreite ihres Schaffens nachgezeichnet: Liebe, Erotik, Sexualität, die Erfahrung des Fremden, die Doppelbödigkeit des scheinbar banalen Alltags. W. verarbeitet oft ihre eigenen Erfahrungen u. Erlebnisse u. hat eine Vorliebe für Liebesgeschichten aller Art. Sie distanziert sich aber von einer Festlegung auf Frauenliteratur. W.s literar. Sprache kennzeichnet eine Affinität zu Ausdrucksformen der bildenden Kunst. Die große Erzählung Heuschreckenhügel (ebd. 1984) spielt in Mexiko u. thematisiert den vernichtenden Zusammenstoß naiver europ. Mitleidsmentalität mit dem als bedrohendem Faszinosum erfahrenen Fremden. Familiengeschichte als Frauengeschichte, die das Politische nur ahnen lässt, erzählt der Roman Blaue Wasser für eine Schlacht (ebd. 1987): Drei Generationen von Frauen sind in einem Gefühlsnetz von Zärtlichkeit u. Heuchelei, von Liebe, Verschleierung u. Verstörung aneinander gebunden. W.s Liebesgeschichten (Der Schattenfreund. Ebd. 1988. Fischwinter. Ebd. 1990) leben von dem Interesse der Autorin für das, was Menschen sich im Namen der Liebe antun. Sie lassen sich – nichts beschönigend – ein auf ein weites Spektrum zumeist weibl. Erfahrungen, auf verborgene erot. Wünsche wie auf den Mut zum utop. Glückswagnis. Nicht der verblüffende Plot bestimmt die Struktur dieser Geschichten, sondern der Sog, der die Personen durch eine Begegnung in Gefühlsschwingungen versetzt, sie abheben lässt von der Wirklichkeit u. sie als Gewachsene in ihren Alltag entlässt. Um ihr großes Thema Liebe kreisen W.s weitere Erzählbände: Das Weiß im Auge des Feindes (ebd. 1999) u. Die Mysterien eines Feinkostladens (ebd. 2000). W.s Bestseller Schwester (Bln. 2002) ist ein stark autobiografisch geprägtes Buch, in dem die Autorin den Tod ihrer fünf Jahre älteren Schwester betrauert u. eine problemat. Geschwisterbeziehung dar-

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stellt. In den zerstörerischen Konkurrenz- Meimberg: K. v. W. In: LGL. – Manfred Durzak: kampf verwickelte Mädchen wetteifern um Vorurteile u. Stereotypen in interkulturellen die Aufmerksamkeit ihrer unreifen Eltern. Kurzgesch.n der Gegenwart. In: Differenzen? InMit der Rekonstruktion problemat. Famili- terkulturelle Probleme u. Möglichkeiten in Sprache, Lit. u. Kultur. Hg. Ernest W. B. Hess-Lüttich enverhältnisse schreibt sich das Werk in die u.a. Ffm. 2009, S. 209–217. Tradition der krit. Mütter-Väter-GeschwisterHiltrud Häntzschel / Barbara Pogonowska Bücher ein, die seit Ausgang der 70er u. im Verlauf der 80er Jahre des 20. Jh. den literar. Wache, Karl, * 26.4.1887 Wien, † 30.4. Markt beherrschten. Auf ihre frühen Erleb1973 Wien. – Lyriker, Erzähler, Dramatinisse greift W. auch im Buch Seltsame Vögel ker; Literaturhistoriker. fliegen vorbei (ebd. 2011) zurück. Aus der Perspektive eines aufgeweckten u. lebenshung- W., dessen Großvater Leibarzt der Kaiserin rigen Mädchens wird hier von einer Kindheit Karolina Augusta war, studierte Philosophie in den Nachkriegsjahren erzählt. Magie u. in Wien u. versuchte sich dann als Beiträger Entzauberung treffen in diesem Bericht auf- von Zeitungen u. literar. Zeitschriften (u. a. einander. Da gibt es einen von allen bewun- der »Muskete«). Nach dem Ersten Weltkrieg, derten Vater, eine musisch begabte Mutter u. aus dem er als hochdekorierter verwundeter idyllisches Landleben, aber auch Ehebruch, Offizier zurückkehrte, trat er als Beamter in eine rivalisierende Schwester u. eine im Krieg die Wiener Universitätsbibliothek ein. W.s frühe Novellen (Agnes Ingwersen. Wien zerstörte Stadt. Das heranwachsende Mädchen sieht, was Erwachsene vor ihm am 1923) fanden keine Beachtung. Erfolgreicher liebsten zu verheimlichen trachten, u. kostet war der Roman Roland [...] (ebd. 1923. Neues aus, selbst rebellisch zu sein. In dem Er- aufl. u. d. T. Roland. 4 Bücher von des karolingizählband Umarmungen (ebd. 2007) liefert W. schen Helden Minne und Mannestreue, Kampf, zwölf pessimistisch anmutende Liebesge- Ausgang und Verklärung. Salzb./Wien/Lpz. schichten, welche die Unmöglichkeit von 1939) – eine »deutsches Heldentum in Not und Tod« beschwörende Neufassung des aldauerhafter Beziehung thematisieren. W. versucht sich auch als Kinderbuchauto- ten Sagenstoffs. Als Anhänger großdt. Gerin (Simon. Die Abenteuer eines Tapirs. Ffm. dankenguts nahm W., befreundet mit Robert 1998. Die Kuh aus dem Meer und andere Ge- Hohlbaum, gegen Ende der 1920er Jahre innerhalb der »nationalen« Autoren eine fühschichten aus dem Zauberland. Mchn. 2011). rende Position ein: im Rahmen des »KampfWeitere Werke: Die heiml. Wut der Pflanzen. Köln 1985 (E.en). – Böse Menschen. Mchn. 1993 bundes für deutsche Kultur« u. nach dessen (E.en). – Vom Glück, eine Leberwurst zu lieben u. Verbot 1933 als »Fachberater für Büchereiandere kulinar. Glossen. Köln 1996. – Teresas wesen« in der illegalen NS-Landesleitung. Mit der Herausgabe der repräsentativen AnGarten. Ffm. 2002 (E.en). Literatur: Hiltrud Häntzschel: Vom Lieben u. thologie Deutscher Geist in Österreich (Wien Wehtun. In: Lit. in Bayern (1988), H. 14, S. 24 f. – 1933) konnte er seine Rolle als IntegrationsMechthild Borries u. Hans Hunfeld (Hg.): K. v. W. figur der Rechten festigen; sein literaturhisMchn. 1992. – Werner Jung: Aus den dunklen tor. Querschnitt Der österreichische Roman seit Kammern der Seele. Interview. In: Juni (1994), H. dem Neubarock (Lpz. 1930) wurde zu einem 21, S. 106–112. – Ders.: Schlimmer als alles andere seinerzeit viel benützten Nachschlagewerk. sind die Dinge, die man nicht getan hat. In: ebd., Nach Kriegsende aus dem BibliotheksS. 134–137. – Klaus Bednarz u. Gisela Marx (Hg.): dienst entlassen u. 1946 auf die Liste der Von Autoren u. Büchern. Gespräche mit Schrift»gesperrten Autoren und Bücher« gesetzt, stellern. Hbg. 1997, S. 157–163. – C. R.: Liebe endet im Desaster. In: Lit. in Bayern (2001), H. 63, widmete sich W. der kulturhistor. Essayistik: S. 48–50. – W. Jung: K. v. W. In: KLG. – Lutz Ha- Die Viennensia-Bände Wiener Miniaturen gestedt: ›Königsbraut‹ u. ›Gartenfreuden‹. Erot. (Krems 1958), Wiener Potpourri (ebd. 1960) u. Erzählen bei K. v. W. u. E. T. A. Hoffmann. In: Jahrmarkt der Wiener Literatur (Wien 1966) Lustfallen. Erot. Schreiben v. Frauen. Hg. Christina Kalkuhl. Bielef. 2003, S. 89–102. – Marianne Ott-

Wachenhusen

verschafften ihm spät noch einige Popularität. Weitere Werke: Meine Welt. Wien 1918 (N.). – Die Künste. Ihr Wesen u. Werden. Ebd. 1919 (Ess.). – Welt u. Seele. Ebd. 1919 (Skizzen). – Der böse Heinzelmann. Traum, Märchen oder Spuk? Mit zwei Federzeichnungen v. Alfred Kubin. Heidelb. 1932 (M.). – Goethe. Festgabe zum hundertsten Todestag des Dichters. Wien 1932. – Licht u. Schwere, Farben u. Töne. Wien/Lpz./Zürich 1934 (L.). – Das Sanatorium. Wien 1935 (Lustsp.). – Die Dichtung des Gaues Niederdonau. St. Pölten 1944 (Ess.). – Der Ring des Lebens. Zeit u. Tage. Wien 1951 (L.) – Baucis u. Philemon. Ebd. 1954 (Kom.). – Was euch gefällt. Neue Gedichte. Ebd. 1962. – Die Götter warten in Wien. Ebd. 1964 (Kom.). – Wechselstrom der Liebe. Krems 1967 (R.). – Dichterbildnisse aus Alt- u. Neu-Wien. Wien 1969 (Ess.). – Umsturz im Olymp. Utop.-satir. Roman. Ebd. 1971. Johannes Sachslehner / Red.

Wachenhusen, Hans, * 10.1.1822 Trier, † 23.3.1898 Marburg. – Reise- u. Unterhaltungsschriftsteller; Kriegsberichterstatter.

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derster Linie, zuletzt für die »Kölner Zeitung« – wie er Tagebücher Vom österreichischen (Bln. 1866) bzw. Vom französischen Kriegsschauplatz (ebd. 1871) ablieferte. Im Zivilleben schilderte er u. a. Das neue Paris (Lpz. 1855) u. Die Frauen des Kaiserreichs (Bln. 1858. 71872); daneben stehen Reise- u. Stadtfeuilletons u. a. zu Spanien, Ägypten u. zur Weltausstellung – als Paris 1867 u. Pariser Photographien im Berliner Verlag des von ihm 1857–1872 herausgegebenen illustrierten Familienblatts »Der Hausfreund« veröffentlicht. Von seiner Reiselust profitierten auch W.s zahlreiche Romane (z. B. Rom und Sahara. Bln. 1858). Der Tendenzroman Rouge et Noir (Bln. 1864, mehrere Aufl.n u. dramatisiert von Paul Iné in: Die dt. Schaubühne 9, 1868, S. 1–44) gegen die öffentlich geduldete Spielleidenschaft brachte W. »in widrige Beziehung mit der löblichen Polizei in einem gewissen Badeorte eines gewissen deutschen Kleinstaates« (in: Blätter für die literarische Unterhaltung, 1864) u. begründete zgl. seinen Ruhm als sensationell-abenteuerl. Erzähler mit Blick für soziale Missstände. Er hinderte den Hofrat W. jedoch nicht, sich nach seiner Heirat seit 1872 in Wiesbaden niederzulassen.

Der Sohn eines preuß. Offiziers stammte aus einem kath. Elternhaus. Er lernte zunächst bei seinem Onkel u. Vormund in Wismar Buchhändler, gab den Beruf aber nach kurzer Literatur: Rudolf K. Unbescheid: ›Solche WeiZeit auf, um auf Reisen zu gehen. Nach ten des Orients bereisen‹. Hugo Zöller u. H. W. u. mehreren Fahrten in den Norden (Schweden, die ›Kölnische Zeitung‹. In: Magazin für AbenteuFinnland, Lappland, Russland, Nordamerika) er-, Reise- u. Unterhaltungslit. 1989, H. 62, begleitete W. 1853 als Korrespondent der S. 17–29. Hans-Otto Hügel / Red. Augsburger »Allgemeinen Zeitung« die türk. Truppen im Krim-Krieg. Nach deren Marsch Wachler, (Johann Friedrich) Ludwig, auf Silistria (1854) fuhr er allein die Donau * 15.4.1767 Gotha, † 4.4.1838 Breslau. – abwärts u. entging als vermeintl. Spion nur Theologe, Historiker, Literaturhistoriker. knapp dem Tod. Seine überarbeiteten Kriegstagebücher brachte er u. d. T. Ein Besuch W., Sohn eines Geheimen Regierungsrats, im türkischen Lager u. Von Widdin nach Stambul studierte in Jena (1784) u. Göttingen (1786) (beide Lpz. 1855) heraus. Den Friedens- Theologie u. Philologie, wurde 1788 in Rinschluss erlebte er – nachdem er vor Sebasto- teln promoviert u. übernahm dort vorüberpol schwer erkrankt war – in Paris (mit Un- gehend ohne Gehalt eine außerordentl. Proterbrechungen bis 1872 Zentrum seines Le- fessur. Seine Laufbahn als (u. a. von Jacob bens). Grimm, Savigny, Laube) gerühmter akadem. In der Folge fehlte W. bei keinem europ. Lehrer begann 1794, nach vierjähriger TäKrieg. Das Tagebuch vom italienischen Kriegs- tigkeit als Rektor am Gymnasium in Herford, schauplatz (Bln. 1859) u. Freischaren und Roya- mit dem Ruf auf den dritten theolog. (evang.listen (ebd. 1861) handeln vom ital. Eini- luth.) Lehrstuhl in Rinteln (seit 1797 auch gungskrieg. Vor den Düppeler Schanzen (Bln. Professor für Geschichte; Jan. 1801 Dr. theol. 1864) berichtete W. ebenso – immer in vor- h.c.). Zum Wintersemester 1801/1802 wurde

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W. an die Universität Marburg berufen, wo er höchsten Ziel aller Kunst erklärten (II, 307), v. a. Geschichte u. Literaturgeschichte las. betrachtete W. die Literaturhistorie als In1815 folgte er – wohl auch aus polit. Motiven strument der Selbstbegegnung u. Erziehung – einem Ruf nach Breslau. W. hatte sich für der dt. Nation, wobei der Leitbegriff die Nationalbewegung engagiert (Ernste Worte »Teutschheit« sowohl Geschichtstelos wie der Vaterlandsliebe. [Marburg/L.] Nov. 1813. Wertnorm verkörperte. Worte vaterländischer Hofnung. Ebd. Febr. 1814) Weitere Werke: Versuch einer Würdigung der u. stand der einsetzenden Restaurierung in Lehre von der Rechtfertigung. Rinteln 1801. – Hessen unter Wilhelm I. kritisch gegenüber. Aphorismen über die Universitäten u. ihr VerhältIn Breslau übte er neben seiner Lehrtätigkeit niß zum Staate [...]. Marburg 1802. – Teutschlands auch die Ämter eines Konsistorial- u. Schul- Zukunft in der Gegenwart. Breslau 1817. – Freyrats aus. 1830/31 war er Rektor der Univer- müthige Worte über die allerneueste dt. Lit. Breslau 1817–19 (weitere Folgen in der Literaturbeilage sität. Seit 1824 bemühte er sich als Leiter der des ›Morgenblatts für gebildete Stände‹, 1819–22). Staats- u. Universitätsbibliothek – wie schon – Die Pariser Bluthochzeit. Lpz. 1826. Repr. Saarbr. in Marburg – um deren Verbesserung u. Er- 2007. – Dr. L. W.’s biogr. Aufsätze. Lpz. 1835 weiterung. (Vermischte Schr.en. Tl. 1). W.s ohne große Resonanz gebliebene Literatur: Max Wachler: L. W. In: Lebensbilder theolog. Werke (u. a. Betrachtungen über das aus Kurhessen u. Waldeck. Bd. 4. Hg. Ingeborg Christenthum nach Rousseauischen Grundsätzen. Schnack. Marburg 1950, S. 404–415. – Klaus WeiLemgo 1792. Prolegomena zu einer christlichen mar: Gesch. der dt. Literaturwiss. bis zum Ende des Religionslehre. Zerbst 1801) entstanden in 19. Jh. Mchn. 1989. – Jürgen Fohrmann: Das ProRinteln, seine histor. Schriften (Grundriß der jekt der Literaturgesch. Entstehung u. Scheitern Geschichte der älteren, mittleren und neueren Zeit. einer nationalen Poesiegeschichtsschreibung zwiMarburg 1806) vornehmlich in Marburg u. schen Humanismus u. Deutschem Kaiserreich. Stgt. 1989. – Matthias Wolfes: J. F. L. W. In: Bautz Breslau. Zwischen 1797 u. 1823 gab er die 21 (2003), S. 1513–1519. – Robert Löffler: Pädagowichtigste theolog. Zeitschrift der Zeit, die gik, Politik, Wiss. Der Historiker L. W. (1767–1838) »Neuen theologischen Annalen und theolo- in seiner Zeit. Ffm. 2011. Ernst Weber gischen Nachrichten«, heraus. Sowohl der Grundriß einer Encyklopädie der theologischen Wissenschaften (Lemgo 1795) als auch die GeWachter, Johann Georg, * 7.3.1673 Memschichte der historischen Forschung und Kunst mingen, † 7.11.1757 Leipzig. – Sprach(Gött. 1812–20) u. das Lehrbuch der Geschichte historiker, philosophischer Schriftsteller. 6 (Breslau 1816. 1838) zeigen W.s Neigung, das Wissen des jeweiligen Fachs hand- u. Der Sproß einer schwäb. Pfarrersfamilie stulehrbuchartig aufzubereiten sowie dessen dierte 1689–1693 Theologie u. Philosophie in Geschichte zu reflektieren. – Dies gilt auch Tübingen. Weil er sich für das Predigtamt für seine literaturhistor. Arbeiten, das Hand- nicht geeignet fühlte, setzte er seine Studien buch der allgemeinen Geschichte der literärischen in Leipzig, Berlin u. Halle fort, wo er u. a. Cultur (Ffm. 1804/05. 2., umgearbeitete Aufl. Thomasius hörte. 1697 immatrikulierte er u.d.T. Handbuch der Geschichte der Litteratur sich in Frankfurt/O. Eine kleine Schrift zur Ffm. 1822–24. 3., erneut umgearbeitete Aufl. aktuellen Frage der Vereinigung der zwei Lpz. 1833) oder das Lehrbuch der Litteraturge- protestantischen Kirchen (Dissertatio amica de schichte (ebd. 1827. 21830). W. steht am An- haeresi circa mensas. Amsterd. 1699) trug ihm fang eines literaturhistor. Positivismus, der ein kurfürstl. Stipendium ein, mit dessen histor. u. Wertaussagen äquivalent setzte u. Hilfe er 1698/99 eine Reise in die Niederlande damit Ideologisierungsprozessen Vorschub unternahm. Aus der dortigen Beschäftigung leistete. Sein Interesse an literar. Texten be- mit den Werken Spinozas u. der jüngeren schränkte sich auf die Gesinnung des Autors. jüd. Kabbalistik ging seine heute wohl beWie die Vorlesungen über die Geschichte der teut- kannteste Schrift hervor: Der Spinozismus im schen Nationallitteratur (Ffm. 1818/19. Lpz. Jüdenthumb (Amsterd. 1699. Neudr. hg. v. 2 1834) belegen, die das »Vaterländische« zum Winfried Schröder. Stgt.-Bad Cannstatt

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1994). Darin bemüht sich W. um den Nachweis, dass Spinozas Pantheismus nicht, wie damals weithin angenommen wurde, im Cartesianismus, sondern in der jüd. Kabbala angelegt sei, während umgekehrt die Kabbala ein pantheistisches Gottesbild vertrete. Der daraus resultierende Atheismusvorwurf war gegenüber Spinozas Philosophie keineswegs ungewöhnlich, hinsichtlich des Judentums jedoch überraschend u. ausnehmend aggressiv. Dementsprechend wurde die Schrift in ihrer negativen Stoßrichtung besonders von der antijüd. Polemik rezipiert. Dagegen konnte auch W.s Ablehnung von Spinozas vermeintlich deterministischer Naturrechtslehre im dritten Teil der Streitschrift nicht verhindern, dass sie von den Zeitgenossen mehr wie ein Kompendium aufgenommen u. als solches weithin verwendet wurde. Ihre Wirkung reichte bis in den Pantheismusstreit der Spätaufklärung u. macht sie somit zu einem »der einflußreichsten Bücher, die in den ersten hundert Jahren nach Erscheinen der ›Opera Posthuma‹ über Spinoza geschrieben worden sind« (W. Schröder, ebd., S. 23). In seiner Abwehr des Pantheismus trat W. indes nicht als Verteidiger des Christentums auf. Er bezog vielmehr den Standpunkt einer natürl. Religion, welche die Erkennbarkeit aller heilsnotwendigen Wahrheiten durch die menschl. Vernunft voraussetzte. Blieb dieser heterodoxe Zug in der Spinozismus-Schrift noch unbemerkt, so trat er in zwei Schriften der folgenden Jahre deutlich zutage (Origines juris naturalis. Bln. 1704. Elucidarius cabbalisticus. o. O. 1706). Ohne ersichtl. Grund zeigte sich W. darin nun als Anhänger Spinozas, dem er inzwischen die Übereinstimmung mit den Grundsätzen der natürl. Religion u. denjenigen eines stoizistischen Naturrechts attestierte. Die gleichzeitig einsetzende öffentl. Wahrnehmung Spinozas als ›princeps atheorum‹ sorgte dafür, dass W. als Spinozist ins Visier der theolog. Polemik geriet. Damit war ihm der Weg zum philosophischen Diskurs ebenso verbaut wie die akadem. Karriere. Schon 1702 war die angestrebte Berufung an die Universität Duisburg, vermutlich aus personalpolit. Gründen, gescheitert. Ersatzweise wurde ihm eine kurfürstl. Pension gewährt. Daran war die Aufgabe geknüpft, In-

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schriften u. Wahlsprüche (Devisen) für besondere Ereignisse bei Hof zu verfassen (z.B. Symbolische Deutung der Königlichen Aloe Zu Cöpenick / Zum Preiß des Königl[ichen] Hauses in heroischen Devisen verfaßet. Cölln 1712). Gottsched nennt W. in seiner Critischen Dichtkunst (VII, 10) als Beispiel für gelungene Sinnbilder. In den folgenden Jahren entstanden weitere Arbeiten zur Religionsphilosophie u. -geschichte, die jedoch allesamt ungedruckt blieben. (Ein 1729 übermitteltes Angebot zur Veröffentlichung schlug W., vermutlich mit Blick auf die inzwischen verschärft geführte Freidenkerdebatte, aus.) Nach der Streichung der Pension durch den Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. verließ W. 1722 Berlin u. übernahm nach einigen Wanderjahren seit 1726 die Verwaltung der Münzsammlung an der Leipziger Ratsbibliothek. Er unterhielt Verbindungen zum Gottsched-Kreis u. veröffentlichte kleinere philolog. Studien, u. a. in Gottscheds Beyträgen zur Critischen Historie der deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit u. in der Zeitschrift der Berliner Akademie der Wissenschaften (»Miscellania berolinensia«), der er seit 1730 als Mitgl. angehörte. Große Verdienste u. dauerhaftes Ansehen erwarb sich W. durch sein Glossarium Germanicum (Lpz. 1737; ein kürzerer Vorabdruck erschien 1727 unter dem gleichen Titel), ein umfassendes sprachgeschichtl. Handbuch des Deutschen, zu dessen dankbaren Benutzern u. a. Klopstock, Wieland u. Herder gehörten. Religionsgeschichte u. Philologie fanden zusammen in W.s Alterswerk zur Entstehung der Buchstaben u. Zahlzeichen (Naturae et scripturae concordia. Lpz./Kopenhagen 1752). Hier konnte W. noch einmal an seine früheren Überzeugungen anknüpfen, indem er, im Rahmen sprach- u. schriftgeschichtl. Analysen, die jüd. u. die christl. Religion in die Nachfolge einer alle Hochkulturen durchziehenden Weisheitslehre stellte. In dieser ›Sapientia prisca‹ ging für ihn auch jene natürl. Religion auf, die er erst als Gegner, dann als Anhänger Spinozas vertreten hatte. Überlieferungen mündl. Gespräche, u. a. durch den pietistischen Hermetiker u. ›Schwabenvater‹ Friedrich Christoph Oetinger, belegen dar-

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über hinaus, dass W. zeit seines Lebens Spinozist geblieben ist. Weitere Werke: De primordiis Christianae religionis. Elucidarius cabbalisticus [u. a.]. Dokumente. Mit einer Einl. hg. v. Winfried Schröder. Stgt.-Bad Cannstatt 1995 (Lit.). Literatur: Gershom Scholem: Die W.sche Kontroverse über den Spinozismus u. ihre Folgen. In: Spinoza in der Frühzeit seiner religiösen Wirkung. Hg. Karlfried Gründer u. Wilhelm SchmidtBiggemann. Heidelb. 1984, S. 15–25. – Winfried Schröder: Spinoza in der dt. Frühaufklärung. Würzb. 1987. – Detlef Döring: J. G. W. in Leipzig u. die Entstehung seines ›Glossarium Etymologicum‹. In: Fata Libellorum. FS Franzjosef Pensel. Hg. Rudolf Bentzinger u. a. Göpp. 1999, S. 29–63. Björn Spiekermann

Wackenroder, Wilhelm Heinrich, * 13.7. 1773 Berlin, † 13.2.1798 Berlin; Grabstätte: ebd., Friedhof der Jerusalems- u. Freien Kirche. – Kunsttheoretiker, Erzähler, Philologe. Kindheit u. Erziehung W.s, dessen Vater in Berlin zum ersten Justizbürgermeister aufstieg, standen im Zeichen des Nützlichkeitsdenkens der Berliner Spätaufklärung. Von etwa 1786 bis 1792 besuchte er das von Gedike geleitete Friedrichswerdersche Gymnasium u. schloss Freundschaft mit seinem Mitschüler Tieck. Seit 1789 hörte W. in Berlin Vorlesungen über Kulturgeschichte der Antike bei Moritz. Sein literar. Geschmack, der sich zunächst an Werken der Empfindsamkeit u. an Ramlers klassizistischer Lyrik gebildet hatte, wandte sich 1792 dem Pathos des jungen Schiller zu. Musikunterricht erhielt W. bei Karl Friedrich Fasch, bedeutender aber war der persönl. Verkehr mit Reichardt. Den Sommer 1793 verbrachte W. als Student der Rechte mit Tieck in Erlangen, wo er entscheidende Impulse für seine Kunstauffassung empfing: die »altdeutsche« Kunst u. Architektur Nürnbergs, die kath. Kultur v. a. Bambergs u. die Gemäldesammlung in Pommersfelden, bes. eine vermeintl. Raffael’sche Madonna. 1793/94 studierte er zwei Semester in Göttingen, wo Fiorillo ihn mit Vasaris Künstlerbiografien bekannt machte. Die christlich inspirierte Malerei der Renaissance erlangte jetzt für W. gleiche Bedeutung

wie die von Winckelmanns Ästhetik vermittelte Kunst der Antike. 1794 lernte er auch Eschenburg kennen, mit dem er später in Schriftverkehr stand. Nach Berlin zurückgekehrt, wurde W. 1797 Referendar am Kammergericht. Bald darauf starb er an Typhus. 1795, spätestens im Frühjahr 1796, entstanden die Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders, die zur Herbstmesse 1796 (auf 1797 vordatiert) anonym in Berlin erschienen. Man darf W. als den Hauptverfasser betrachten, Tieck trug nur wenige Abschnitte bei u. griff editorisch ein. Es handelt sich um eine Reihe von kurzen Künstlerviten u. Kunstmeditationen, in denen eine frühromant. Ästhetik in bewusst naiver Form verkündet wird. Dabei wird durch die Maske des fiktiven Klosterbruders, also des weltfernen Kunstenthusiasten, die bewusste Abwendung von der mechanistischen Kunstauffassung der Aufklärung betont. In der Künstlernovelle Joseph Berglinger, welche die Sammlung beschließt, geht der begeisterte Musiker an der Spannung zwischen sich u. einer philiströsen Gesellschaft zugrunde. Diesem problematisch modernen Künstler stehen die hagiografisch dargestellten Künstler der Dürer-Zeit bzw. der Renaissance in den früheren Abschnitten des Buchs als musterhafte Vorbilder gegenüber. Als »Kunstheilige« verkörpern sie in ihrem schlichten u. frommen Lebenswandel, dessen Züge z. T. auf histor. Quellen wie Vasari basieren, z. T. aber auch frei erfunden sind, eine noch heile Geborgenheit in der Gemeinschaft. Sie erfüllen alle – Dürer wie auch Michelangelo, die Brüder Carracci u. »der göttliche Raffael« – einen sakralen Auftrag, indem sie ihren Mitmenschen Einblicke in das Transzendente vermitteln. Die künstlerische Begeisterung habe den Charakter einer religiösen Offenbarung u. sei durchaus irrational. Dem vollendeten Kunstwerk sei daher tiefe Ehrfurcht angemessen, während alle »zergliedernde«, d.h. analytische Kritik einer Profanierung gleichkomme. Jedem echten Kunstprodukt, aus welcher Periode u. welchem Weltteil es immer herrühren mag, gebühre, da es Göttliches in sich berge, eine einfühlende u. andächtige Betrachtung nach seinen eigenen Kriterien. Aus demselben Grund sei die Kunst

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des MA gleichrangig mit derjenigen des klass. Altertums. Einen ähnl. Relativismus vertreten W. u. Tieck in den wohl 1797 entstandenen Phantasien über die Kunst (Hbg. 1799), nur steht hier die Musik im Vordergrund, u. es wird größeres Gewicht auf die Gefährdung des Künstlers durch seine eigene Sendung gelegt. Die in diesen beiden Schriften vorgetragene »Kunstandacht« bestimmt auch weitgehend Tiecks Roman Franz Sternbalds Wanderungen (1798), zu dem W. zumindest einige Gedanken beisteuerte, wenn nicht einzelne Passagen des ersten Teils. Obgleich diese Begeisterung für die religiöse Kunst der Renaissance sich Goethes vernichtendes Urteil über das »klosterbrudrisirende, sternbaldisirende Unwesen« zuzog, war sie doch seit 1810 der Ausgangspunkt für die Malerei der Nazarener, die sich ausdrücklich auf W. beriefen. Schon im Winter 1792/93 hatte W. bei Erduin Julius Koch in Berlin eine Vorlesung über mittelalterl. dt. Literatur gehört. Seinem philolog. Interesse ging er in Göttingen intensiv nach, einmal durch die Lektüre der älteren Literaturgeschichte, zum anderen durch Aufspüren von Handschriften. In diesem Zusammenhang schrieb er 1793 einen fragmentar. Aufsatz über die Dramen des Hans Sachs u. machte sich Notizen über dessen Sprache. Seine vielen philologischen bzw. bibliografischen Recherchen wurden seit 1795 in die zweite Ausgabe von Kochs Compendium der deutschen Literatur-Geschichte aufgenommen. W. hinterließ des Weiteren einige wenige Gedichte u. eine 1796 publizierte Übersetzung eines Ritter- u. Schauerromans von Richard Warner, Das Kloster Netley, die 1799 in Carl August Nicolais unautorisierter Ausgabe von Tiecks Sämmtlichen Werken abgedruckt wurde. Die Reiseberichte, die W. 1793 während seines Aufenthalts in Franken an seine Eltern richtete, gehen über die informativ gehaltenen Reisebeschreibungen eines Friedrich Nicolai hinaus u. verraten bereits die romant. Lust am Landschaftserlebnis. Von großem kulturgeschichtl. Wert ist schließlich sein Briefwechsel mit Tieck, als dieser 1792/93 in Halle u. Göttingen studierte: Hier stehen zwei junge Intellektuelle im Spannungsfeld zwischen Empfindsamkeit

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u. Aufklärung, zgl. zwischen Aufklärung u. Frühromantik. Ausgaben: Historisch-kritische Ausgabe: Sämtl. Werke u. Briefe. Hg. Richard Littlejohns u. Silvio Vietta. 2 Bde., Heidelb. 1991. – Teilausgaben: Werke u. Briefe. Bln. 1938. Neuaufl. Heidelb. 1967. – Werke. Hg. Markus Schwering. Wilhelmshaven 2007. – Nachdrucke: Phantasien über die Kunst. Hg. Wolfgang Nehring. Stgt. 1994. – Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders. Hg. Martin Bollacher. Stgt. 2009. Literatur: Bibliografie: Martin Bollacher: W. u. die Kunstauffassung der Frühromantik. Darmst. 1983. – Biografisches: Bonaventura Tecchi: W. H. W. Bad Homburg 1962 (ital. 1934). – Werner Kohlschmidt: Der junge Tieck u. W. In: Die dt. Romantik. Hg. Hans Steffen. Gött. 1967, S. 30–44. – Siegfried Sudhof: W. H. W. In: Dt. Dichter der Romantik. Hg. Benno v. Wiese. Bln. 1971, S. 86–110. – Richard Littlejohns: W.-Studien. Ffm. 1987. – Elmar Hertrich: Wer war W.? In: Aurora 48 (1988), S. 131–148. – Briefwechsel: Oscar Fambach: Zum Briefw. W. H. W.s mit Ludwig Tieck. In: JbFDH (1968), S. 257–282. – Silvio Vietta: Ein unbekannter Brief W. H. W. In: JbFDH (1993), S. 169–182. – Einflüsse: Alexander Gillies: W.’s apprenticeship to literature: his teachers and their influence. In: FS H. G. Fiedler. Oxford 1938, S. 187–216. – Hans J. Schrimpf: W. H. W. u. Karl Philipp Moritz. Ein Beitr. zur frühromant. Selbstkritik. In: ZfdPh 83 (1964), S. 385–409. – S. Vietta: Die Raffael-Rezeption in der literar. Frühromantik: W. H. W. u. sein akadem. Lehrer Johann Dominicus Fiorillo. In: FS Hans-Joachim Mähl. Tüb. 1988, S. 221–241. – Kevin F. Yee: Aesthetic homosociality in W. and Tieck. New York u.a. 2000. – Gum-Sook Peak: Frühromant. Geschichtsbewußtsein. Untersuchungen zu W. H. W., Friedrich v. Hardenberg (Novalis) u. Friedrich Schlegel. Mikrofiche-Ausg. 2001. – Quellen: Paul Koldewey: W. u. sein Einfluß auf Tieck. Lpz. 1904. – Ernst Dessauer: W.s ›Herzensergießungen‹ in ihrem Verhältnis zu Vasari. 2 Bde., Bln. 1906/1907. – S. Vietta u. Dirk Kemper: W. H. W. im Spiegel der Quellenforsch. u. Editionsgesch. Lamspringe 1993. – Verfasserfrage: Richard Alewyn: W.s Anteil. In: GR 19 (1944), S. 48–58. – W. Kohlschmidt: Bemerkungen zu W.s u. Tiecks Anteil an den ›Phantasien‹. In: FS Walter Henzen. Bern 1965, S. 89–99. – ›Herzensergießungen‹ und ›Phantasien‹ und weitere Titel: Oskar Walzel: Die Sprache der Kunst. In: GoetheJb 1 (1914), S. 3–62. – Ladislao Mittner: Galatea. Die Romantisierung der ital. Renaissancekunst u. -dichtung in der dt. Frühromantik. In: DVjs 27 (1953), S. 555–581. – Gerhard Fricke: Bemerkungen zu W.s Religion der

49 Kunst. In: Ders.: Studien u. Interpretationen. Ffm. 1956, S. 186–213. – E. Hertrich: Joseph Berglinger. Eine Studie zu W.s Musiker-Dichtung. Bln. 1969. – Rolf Wiecker: Kunstkritik bei W. Zu Polemik u. Methode des Klosterbruders in den ›Herzensergießungen‹. In: Text u. Kontext 4 (1976), S. 41–94. – M. Bollacher: W. H. W.: ›Herzensergießungen‹. In: Romane u. Erzählungen der dt. Romantik. Hg. Paul Michael Lützeler. Stgt. 1981, S. 34–57. – D. Kemper: Sprache der Dichtung: W. H. W. im Kontext der Spätaufklärung. Stgt. u.a. 1993. – Ders.: Poeta philologus: Philologie u. Dichtung bei W. In: DVjs 68 (1994), S. 99–133. – Katrin Jurzig: Mittelalterrezeption in W.s ›Herzensergießungen‹. Taunusstein 2000. – Birgit Tautz: W.s ›Ein wunderbares morgenländisches Mährchen von einem nackten Heiligen‹. Autopoiesis of world, rhetoric of ›the Orient‹. In: Monatshefte 95 (2003), S. 59–75. – R. Littlejohns: Iniquitous innocence: The ambiguity of music in the ›Phantasien über die Kunst‹ (1799). In: Music and literature in German romanticism. Hg. Siobhán Donovan. Rochester u.a. 2004, S. 1–11. – Kunst: Heinz Lippuner: W., Tieck u. die bildende Kunst. Zürich 1965. – Rose Kahnt: Die Bedeutung der bildenden Kunst u. der Musik bei W. H. W. Marburg 1969. – Paul Gerhard Klussmann: Andachtsbilder. W.s ästhet. Glaubenserfahrung [...]. In: FS Friedrich Kienecker. Heidelb. 1980, S. 69–95. – Michael Gamper: Der Weg durchs Bild hindurch: W. u. die Gemäldebeschreibung des 18. Jh. In: Aurora 55 (1995), S. 43–66. – Alexandra Pontzen: Künstler ohne Werk: Modelle negativer Produktionsästhetik in der Künstlerliteratur v. W. bis Heiner Müller. Bln. 2000. – Ulrich Barth: Ästhetisierung der Religion – Sakralisierung der Kunst: W.s Theorie der Kunstandacht. In: Protestantismus u. dt. Lit. Hg. Jan Rohls. Gött. 2004, S. 167–195. – Roberta Bussa: W.: l’autore, l’opera, lestetica. Turin 2009. – Musik: Ulrich Tadday: ›– und ziehe mich still in das Land der Musik, als in das Land des Glaubens, zurück‹. Zu den pietist. Grundlagen der Musikanschauungen W. H. W.s. In: Archiv für Musikwiss. 56 (1999), S. 101–109. – ›Seelenaccente‹ – ›Ohrenphysiognomik‹. Zur Musikanschauung E.T.A. Hoffmanns, Heinses u. W.s. Hg. Werner Keil u.a. Hildesh. u.a. 2000. – Alexandra Kertz-Welzel: Die Transzendenz der Gefühle. Beziehungen zwischen Musik u. Gefühl bei W./Tieck u. die Musikästhetik der Romantik. St. Ingbert 2001. – Colin Benert: Joseph Berglinger’s musical crucifixion. Harmony, alterity, and the theater of the passions in the writings of W. H. W. In: DVjs 78 (2004), S. 20–54. – Uwe Schweikert: ›Musik ist Dichtkunst‹: Poetik des Musikalischen bei W. u. Tieck. In: Romantik u.

Wacker von Wackenfels Exil. Hg. Claudia Christophersen. Würzb. 2004, S. 55–67. Richard Littlejohns / Red.

Wacker von Wackenfels, Wackerus, Wackherius, a Wackenfels, Wackerfels, Johann Matthäus, * 1550 Konstanz, † 7.9.1619 Wien. – Humanist, Jurist u. kaiserlicher Rat. Aus reformierter schlesisch-österr. Familie, studierte W. vor allem Jurisprudenz in Straßburg u. Genf, wo Theodor Beza ihn dem kalvinistischen Glaubensgenossen u. Mediziner Johannes Crato von Krafftheim (1519–1585) in Wien empfahl. Dort hatte er Kontakt zum humanistischen Kreis um Hubert Languet u. war auf Empfehlung Cratos als Hofmeister in verschiedenen Häusern tätig. 1574 reiste er nach Italien. In Padua erwarb er 1575 den Dr. jur., u. seit 1576 begleitete er, wiederum durch Vermittlung seines Gönners Crato, Niklas von Rhediger aus der führenden Patrizierfamilie Breslaus, den Neffen des Thomas von Rhediger, auf seiner gelehrten Kavalierstour nach Frankreich u. über längere Aufenthalte in Süddeutschland (bes. am Reichskammergericht in Speyer) nach Italien bis Neapel u. 1580 zurück nach Breslau. Dort ließ sich W. dauerhaft nieder u. fand zunächst eine Anstellung beim kaiserl. Kammergericht. 1580 heiratete er Sophie von Poley aus Breslau († 1592), u. nach deren Tod 1595 in Neiße die Katholikin Katharina Troilo, die Schwester eines Domherrn u. Schwägerin der ersten Frau Sophie (dazu Conrads, 2 2006). 1591 wurde er zum Rat der schles. Kammer u. Stellvertreter des Kaisers beim Landtag ernannt. Er war Mitgl. des berühmten Breslauer Humanistenkreises aus meist protestantischen bzw. (krypto-)kalvinistischen Gelehrten um Jakob Monau u. Crato von Krafftheim, den Rhedigers, Kaspar Cunrad u. Nikolaus Henel, Andreas Dudith u. Kaspar von Dornau, Valens Acidalius u. den Arzt u. Dichter Daniel Rindfleisch (Bucretius), wie Cunrad später auch Gönner des jungen Martin Opitz, der das Magdalenengymnasium besuchte u. bei Rindfleisch Hauslehrer war. Trotz seines reformierten Bekenntnisses wurde W. mit diplomatischen Missionen im Dienste des Kaisers betraut; er

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war Berater des kath. Bischofs von Neiße, Andreas von Jerin. Um dem Bischof Konflikte zu ersparen u. aus Überdruss am innerprotestantischen Streit konvertierte er 1592 zum kath. Bekenntnis, ohne seine Beziehungen zu den reformierten Freunden aufzugeben, ein unter Gelehrten in dieser Zeit vielfach üblicher, als konventionell zu verstehender Konfessionswechsel. 1594 vom Kaiser geadelt, amtierte er seit 1597 am Kaiserhof in Prag als kaiserl. Rat Rudolfs II. u. Mitgl. des Reichshofrats. Neben dem Privatsekretär Barvitius, einem der vielen Niederländer in Prag, war er der engste Berater des Kaisers in allen Rechtsfragen. Sein Haus lag auf der Kleinseite direkt unter dem Schloss. Er beherrschte mehrere Sprachen, besaß eine reiche Bibliothek, war über die neuesten Erkenntnisse in den Wissenschaften unterrichtet, z. B. über Galileis Entdeckungen, die er Kepler mitteilte, u. hielt sich wiederholt in diplomatischer Mission auch in Breslau u. im Ausland auf, etwa in Warschau oder 1598 beim Papst in Rom, wohin er wegen der strittigen Nachfolge des verstorbenen Breslauer Bischofs Jerin gereist war, in Begleitung des jungen Juristen Kaspar Schoppe (Scioppius, 1576–1649), dessen kurz zuvor in Prag erfolgte Konversion zum kath. Bekenntnis auf W. zurückgehen soll. W. war der wichtigste Vermittler des Hofes zu den vielen Gelehrten u. Künstlern, Poeten u. Musikern, die der Kaiser um sich versammelt hatte (während er an der Universität kaum interessiert war), sowie auch zu den Gelehrten außerhalb (besonders in Schlesien, Heidelberg u. den Niederlanden). Besonders eng war das Verhältnis zum Hofmathematiker Johann Kepler, 1604 Pate seines dritten Sohnes, zu dem Historiker Melchior Goldast, der über die Prager Verhältnisse ein aufschlussreiches Tagebuch geführt hat (Ed. 1931), u. dem Kupferstecher Ägidius Sadeler († 1629), dem Lehrer von Sandrart, der sein Porträt gestochen hat (in: Trunz, 1992, Abb. 7). Im jahrelangen Konflikt des Kaisers mit dem Bruder, Erzherzog Matthias, führte W. das Protokoll u. stand auf der Seite Rudolfs; bei der Geldnot des Hofes musste er dem Kaiser aus eigenen Mitteln Geld leihen. 1616 wurde er von Kaiser Matthias, für den er weiter als Gesandter tätig

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war, zum Comes palatinus ernannt. Während des böhm. Aufstands 1618 flüchtete er auf das Gut seiner Frau bei Neiße u. ging dann mit dem Kaiser nach Wien, wo er starb. Es fehlt eine Biografie, u. das Meiste weiß man aus Briefen anderer, aus Dedikationen u. aus W.s umfangreicher Korrespondenz, von der wie von den diplomatisch-juristischen Voten keine Sammlung existiert u. nur wenig im Druck überliefert ist. W. hinterließ neulat. Kasualpoesie. Er war bekannt mit Poeten wie Elizabeth Jane Weston (Westonia, seit 1597 in Prag, 1601 Dichterkrönung, † 1612, Porträt in Trunz, 1992, Abb. 13), für die er ein Trauercarmen verfasst hat, Kaspar Cunrad, den Heidelbergern Paul Melissus Schede u. Janus Gruter sowie dem Tübinger Nikodemus Frischlin. Die Tochter Maria Helena, die 1607 mit zehn Jahren starb, galt bereits als künftige »femina docta«, wie manche gelehrte Frauen der Renaissancezeit, die bis ins 18. Jh. als Wunderwesen gerühmt u. keineswegs missachtet wurden. Viele haben ihm ihre Bücher gewidmet, besonders Kepler u. a. sein utop. Somnium sive astronomia lunaris (gedr. 1630 im Jahr seines Todes) sowie Abraham Ortelius seine ›Karte von Utopia‹ (1595), deren Entstehung u. Druck der an Utopica immer Interessierte W. auch initiiert haben soll. Werke: Votum in: Warhaffter Abdruck der Stadt Braunschweig Instrumenti protestationis [...] in nichtiger Achtssachen des [...] Herrn Heinrich Julij [...] Hertzogen zu Braunschweig u. Lüneburg [...]. Braunschw. 1611. – Votum. An civitatis petitiones, an vero ducis sint attendendae? vel quid omnino judicandum vel statuendum. Ebd. 1611. – Vota aulica super illustrissima ducum Saxoniae controversia de iure praecedentiae in dignitate et successione. [...] Accessit Tractatus de maioratu [...]. Item Discursus, de iure repraesentationis in primogenitura Imperii Germanici [...]. Ffm. 1619. Ausgaben und Werke zeitgenössischer Autoren: Abraham Ortelius: VTOPIÆ Typus, ex narratione Raphaelis Hythlodaei, descriptione D. Thomas Mori, delineatione Abrahami Ortelij [...]. Antwerpen 1595. – Elisabetha Joanna Westonia: Poemata. Hg. Georg Martin v. Baldhoven. Frankf./ O. 1602. – Dies.: Parthenicôn. Hg. G. M. v. Baldhoven. Prag 1606 (meist Widmungsgedichte; lib. III, Anhang: Catalogus doctarum virginum et faeminarum, darunter: Helena Maria Wackeriana). –

51 Janus Gruter: Delitiae poetarum Germanorum hujus superiorisque aevi illustrium. 6 Tle., Ffm./Paris 1612 (Kasualgedichte v. W.). – Briefe [...] an J. M. W. v. W. Hg. G. Biermann. In: Programm des [...] ev. Gymnasiums in Teschen [...]. Teschen 1860. – Melchior Goldast: Das Prager Tagebuch. Hg. Heinz Schecker. Bremen 1931. – Elizabeth Jane Weston: Collected writings. Hg. u. übers. v. Donald Cheney u. Brenda M. Hosington. Toronto 2000. Literatur: Franz Christoph Khevenhüller: Annales Ferdinandei [...]. 12 Bde., Lpz. 1721–26. – Zedler. – Joseph v. Hammer-Purgstall: Khlesls, des Cardinals, Directors des geheimen Cabinetes Kaisers Mathias, Leben. 4 Bde., Wien 1847–51, hier Bd. 2, S. 209 ff., 299 ff., 304 ff.; Bd. 3, passim. – Johann Franz Albert Gillet: Crato v. Crafftheim u. seine Freunde. 2 Bde., Ffm. 1860/61. – Theodor Lindner: J. M. W. v. W. In: Zeitschr. des Vereins für Gesch. u. Alterthum Schlesiens 8 (1867), S. 319–351. – Quellen zur Gesch. des geistigen Lebens in Dtschld. während des 17. Jh. Nach Hss. Hg. Alexander Reifferscheidt. Bd. 1, Heilbronn 1889 [Nachweise v. Gedichten u. Briefen]. – Colmar Grünhagen: J. M. W. v. W. In: ADB. – Max Hippe: Christoph Köler, ein schles. Dichter des 17. Jh. Breslau 1902. – Herta Hajny: M. Goldast u. sein Prager Tagebuch. In: Prager Jb., H. 2 (1943), S. 88–92. – Robert John Weston Evans: Rudolf II and his World. A study in intellectual history 1576–1612. Oxford (zuerst 1973). 21984, S. 154–157. – Ders.: The making of the Habsburg monarchy, 1550–1700. An interpretation. Oxford 1979 u. ö. – Enchiridion renatae poesis latinae in Bohemia et Moravia cultae. Hg. Josef Hejnic u. Jan Martínek. Bd. 5, Prag 1982, S. 431. – Manfred P. Fleischer: Späthumanismus in Schlesien. Ausgew. Aufsätze. Mchn. 1984. – Karl Vocelka: Rudolf II. u. seine Zeit. Wien u. a. 1985. – Prag um 1600. Kunst u. Kultur am Hofe Rudolfs II. Kat. der Ausstellung Kulturstiftung Ruhr, Essen, Villa Hügel. Bd. 1, Freren 1988. –Erich Trunz: Wiss. u. Kunst im Kreise Rudolfs II. 1576–1612. Neumünster 1992, bes. S. 22–26, Lit. S. 139 f. (mit Nachweisen v. Gedichten u. Briefen; enth. auch Porträt W.s [Abb. 7], Kupferst. v. Aegidius Sadeler, 1614). – Louise Schleiner: Tudor and Stuart women writers. Bloomington 1994. – Robert Seidel: Späthumanismus in Schlesien. Caspar Dornau (1577–1631). Tüb. 1994, bes. S. 166, 169 ff., 461 ff. – Béatrice NicolierDe Weck: Hubert Languet (1518–1581). Un réseau politique international de Melanchthon à Guillaume d’Orange. Genf 1995. – Frank-Rutger Hausmann: Zwischen Autobiogr. u. Biogr. Jugend u. Ausbildung des [...] Kaspar Schoppe (1576–1649). Würzb. 1995. – Marianne E. H. Ni-

Wackwitz colette Mout: Die polit. Theorie in der Bildung der Eliten: Die Lipsius-Rezeption in Böhmen u. in Ungarn. In: Ständefreiheit u. Staatsgestaltung in Ostmitteleuropa. Übernationale Gemeinsamkeiten in der polit. Kultur vom 16.-18. Jh. Hg. Joachim Bahlcke u. a. Lpz. 1996, S. 243–264. – Rudolf II and Prague. The Court and the City. Hg. Elisˇ ka Fucˇiková. London u. a. 1997 (Kat.). – Jan Papy: Manus manum lavat. Die Briefkontakte zwischen Kaspar Schoppe u. Justus Lipsius als Quelle für die Kenntnis der sozialen Verhältnisse in der Respublica litteraria. In: Kaspar Schoppe (1576–1649). Hg. Herbert Jaumann. Ffm. 1998, S. 276–297. – Konversionen im MA u. in der Frühneuzeit. Hg. Friedrich Niewöhner u. Fidel Rädle. Hildesh. u. a. 1999. – Wolfgang Schibel: Westonia poetria laureata. Rolle, Schicksal, Text. In: Lat. Lyrik der Frühen Neuzeit. Hg. Beate Czapla u. a. Tüb. 2003, S. 278–304 (enth.: Elegie auf den Tod der Mutter, 1606, lat.-dt.). – Norbert Conrads: Der Aufstieg der Familie Troilo. Zum kulturellen Profil des kath. Adels in Schlesien zwischen Späthumanismus u. Gegenreformation. In: Zeitenwenden. Herrschaft, Selbstbehauptung u. Integration zwischen Reformation u. Liberalismus. FS Arno Herzig. Hg. Jörg Deventer u. a. Münster u. a. 22006, S. 279–310. – Flood, Poets Laureate, Bd. 4, S. 2239 ff. (Elizabeth J. Weston). – Konversion u. Konfession in der Frühen Neuzeit. Hg. Ute Lotz-Heumann u. a. Gütersloh 2007. – Christoph Becker: Giordano Bruno, die Spuren des Ketzers. Ein Beitrag zur Lit.-, Wiss.- u. Gelehrtengesch. um 1600. 3 Bde., Stgt. 2007 (über Bruno in Prag). – Matthias Langensteiner: J. M. W. v. W. In: Schles. Lebensbilder. Bd. 9, Insingen 2007, S. 145–151. – Peter H. Marshall: The mercurial emperor. The magic circle of Rudolf II in Renaissance Prague. London 2007. – Ruth Kohlndorfer-Fries: Diplomatie u. Gelehrtenrepublik. Die Kontakte des frz. Gesandten Jacques Bongars (1554–1612). Tüb. 2009. Herbert Jaumann

Wackwitz, Stephan, * 20.1.1952 Stuttgart. – Erzähler, Essayist u. Literaturwissenschaftler. W. studierte Germanistik u. Geschichte in München u. Stuttgart, wo er 1980 mit einer Dissertation über Hölderlins Elegien promoviert wurde (Trauer und Utopie um 1800. Studien zu Hölderlins Elegienwerk. Stgt. 1982). Anschließend arbeitete er als Deutschlektor in London u. an verschiedenen Orten für das Goethe-Institut. Daneben publizierte er weiter wissenschaftl. Texte (insbes. Friedrich Höl-

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derlin. Stgt. 1985. 2., überarb. u. erg. Aufl. Avenue. Spaziergänge durch das Letzte Jahrhundert Stgt./Weimar 1997), Literaturrezensionen (ebd. 2010) kehren zur essayistischen Aussowie Essays (u. a. in »Lettre international«, einandersetzung mit Kulturgeschichte u. »Merkur«, »taz« u. »Frankfurter Rund- globalisierter Gegenwart zurück. schau«). Nach Stationen in Frankfurt/M., Literatur: Thomas Kraft: S. W. In: LGL. – New Delhi u. Tokio übernahm W. 1999 die Friederike Eigler: Gedächtnis der kulturellen u. Leitung des Goethe-Instituts in Krakau, ging familiären Archive: ›Ein unsichtbares Land‹ v. S. W. 2006 nach Bratislava u. wurde 2007 Pro- In: Dies.: Gedächtnis u. Gesch. in Generationengrammleiter des Goethe-Instituts in New romanen seit der Wende. Bln. 2005, S. 185–225. – York City. Die Erfahrungen langjähriger Aleida Assmann: Gesch. im Gedächtnis. Von der individuellen Erfahrung zur öffentl. Inszenierung. Aufenthalte in verschiedenen Kulturkreisen Mchn. 2007, S. 81–90. – Matthias Fiedler: Das flossen in sein essayistisches u. erzählerisches Schweigen der Männer. Geschichte als FamilienWerk ebenso ein wie die Auseinandersetzung gesch. in autobiogr. Texten v. Dagmar Leupold, S. mit Traditionen europ. Literatur- u. Geistes- W. u. Uwe Timm. In: WB 53 (2007), H. 1, S. 5–16. – geschichte. Helmut Schmitz: Family, Heritage, and German Eine erste Essaysammlung W.’ erschien Wartime Suffering in Hanns-Josef Ortheil, S. W., u. d. T. Tokyo. Beim Näherkommen durch die Thomas Medicus, Dagmar Leupold, and Uwe Straßen (Zürich 1994); weitere folgten 1997 Timm. In: Germans as Victims in the Literary Fic(Kleine Reisen. Gött.) u. 2002 (Selbsterniedrigung tion of the Berlin Republic. Hg. Stuart Taberner u. durch Spazierengehen. Ffm.). Die erste selbst- Karina Berger. Rochester/N.Y. 2009, S. 70–85. Michael Ott ständige Prosaveröffentlichung, Walkers Gleichung. Eine deutsche Erzählung aus den Tropen (Gött. 1996) ist eine in einer kleinen trop. Wader, Hannes, eigentl.: Hans-Eckhard Hauptstadt angesiedelte Satire auf den dt. Wader, * 23.6.1942 Gadderbaum bei BieKulturbetrieb. Im selben Jahr erhielt W. den lefeld. – Liedermacher. Förderpreis zum Heimito von Doderer-Preis. Der kurze Roman Die Wahrheit über Sancho Der aus einer Arbeiterfamilie stammende W. Pansa (Mchn. 1999) schildert aus der Per- machte nach dem Besuch der Volksschule spektive des 81-jährigen Ich-Erzählers eine eine Lehre als Dekorateur u. studierte krisenhafte Begebenheit in dessen Jugend, 1963–1968 Grafik in Bielefeld u. Berlin. In kurz vor der Flucht der jüd. Familie ins Exil. den ersten, von 1965 an geschriebenen LieDie Themen der Erinnerung u. Traumatisie- dern gab sich W. als studentischer Bohemien rung u. die Perspektive von Fremdheit u. u. Großstadtnomade, dann fand er für einige Emigration sind auch bestimmend für spä- Zeit in der DKP polit. Heimat u. Identität. tere Texte W.’: Ein unsichtbares Land. Famili- Seine Liebeslieder u. Songs zu Friedens-, enroman (Ffm. 2003) rekonstruiert die Le- Drogen- u. Umweltproblemen sowie seine bensgeschichte von W.’ Großvater aus dessen histor. Balladen lehnen sich musikalisch an autobiogr. Texten, durch Reisen u. Fotogra- angloamerikan. Stile u. Formen an. Erzähfien u. entwirft daraus unter Einbeziehung lende Lieder (»talking blues«) haben oft den des Autors W. einen Generationenroman. Im Umfang von Kurzgeschichten. 1982 wirkte Zentrum von Neue Menschen. Bildungsroman W. in dem Film Leuchtturm des Chaos über den (Ffm. 2005) steht die krit. Auseinanderset- US-Schauspieler Sterling Hayden mit. Er zung mit dem eigenen polit. Engagement in nahm auch Brecht-Songs, Volks- u. Arbeitereiner marxistischen Studentengruppe. Die lieder u. plattdt. Weisen auf, vertonte GeUntertitel »Familienroman« u. »Bildungsro- dichte von Nietzsche u. Eichendorff, interman« signalisieren den reflektierten u. iron. pretierte Bellmann- u. Schubert-Lieder u. las Umgang mit Konzepten literar. u. psycho- Werke von Kurt Kusenberg. Seit 1999 eranalyt. Identitätskonstruktion, den die er- schienen mehrere retrospektive Song-Komzählerisch vielfach gebrochenen Romanessays pilationen. auch formal spiegeln. Die jüngsten Bände Weitere Werke: Daß nichts bleibt, wie es war. Osterweiterung. Zwölf Reisen (Ffm. 2008) u. Fifth Dortm. 1984 (Texte mit Noten). – H.-W.-Lieder-

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53 buch. Hg. Beate Dapper. Ffm. 1999. – Lieder 2000–2005. Dortm. 2006 (Melodien mit Text). Literatur: Westf. Autorenlex. 4. Klaus-Peter Walter

Waechter, F.[riedrich] K.[arl], * 3.11.1937 Danzig, † 16.9.2005 Frankfurt/M. – Grafiker u. Zeichner, Dramatiker, Erzähler u. Übersetzer. W., Sohn eines Lehrers, wuchs in Tiegenhof in Danzig auf, bevor die Familie im Winter 1944/45 via Ostsee u. Warnemünde nach Sahms (Schleswig-Holstein) flüchtete. Auf der Lauenburgischen Gelehrtenschule Ratzeburg erwies sich W., dessen Vater im Krieg geblieben war, als zeichnerische Begabung. Noch vor dem Abitur wechselte er an die Kunstschule Alsterdamm (Hamburg), um Gebrauchsgrafik zu studieren. Schon während seiner Tätigkeit für die Freiburger Werbeagentur Obanex zeichnete W. Anfang der 1960er Jahre Cartoons für die Zeitschrift »Twen«: »Formaler Anreger« war, neben Wilhelm Busch, v. a. Saul Steinberg, der, so W., »wunderbar frei« sei »vom Mief der deutschen Illustriertenkarikaturisten.« 1962 trat W. in Frankfurt in die Redaktion der Satirezeitschrift »pardon« ein, deren Titelfigur, ein grüßendes Teufelchen mit Hut, er schuf. Gemeinsam mit Robert Gernhardt und F. W. Bernstein (d. i. Fritz Weigle) gestaltete er seit 1964 die Komik-Doppelseite Welt im Spiegel; sein monatlich erscheinender Cartoon Jochen u. die ›gezeichnete Kolumne‹ Aus dem Tierreich trugen wesentlich zum Erfolg der Zeitschrift bei. Gerühmt wird W. insbes. für seine Co-Autorschaft bei der fiktiven Künstlermonografie Die Wahrheit über Arnold Hau (Ffm. 1966). 1979 gehörte der mittlerweile freischaffende Künstler zu den Gründern des Satiremagazins »Titanic«: »Wir leben davon«, so sein Credo, »daß auch das Dümmste, Banalste, Schrägste, Abseitigste, Rätselhafteste, Abgedroschenste, Geschmackloseste auf den Tisch darf.« Spätestens seit dieser Zeit ging W. zunehmend eigene Wege. Seit 1966 schuf er mehr als 40 Bücher u. 80 Theaterstücke (überwiegend Mini- oder Monodramen), Singspiele u. Opernlibretti, von

denen zwischen 1975 u. 2007 ca. 30 uraufgeführt wurden. In vielen Fällen handelt es sich um Adaptionen oder Kontrafakturen klassischer (Hamlet) oder populärer Stoffe bzw. Erzählfunktionen (der Märchen- u. Zirkuswelt, der Kinder- u. Jugendliteratur, aber auch eigener Themen, »Träume« u. Texte), die W. »in Form zu gießen« suchte, um »Persönliches gegen diese blöden, uninteressanten Trends der Zeit zu setzen«. W.s »Erzähltheater« stellt dabei hohe Anforderungen an den Schauspieler, der mitunter dreißig oder mehr Rollen ›erzählen‹ u. ›spielen‹ muss, appelliert aber auch an die »Imaginationskraft der Zuschauer« (M. Klötzer). Nachhaltig konnte sich sein »Bilderbogen« Der Teufel mit den drei goldenen Haaren (Urauff. 1981, nach den Brüdern Grimm) auf den Spielplänen etablieren, der von einem Knecht erzählt, »dem es mit Mut und List gelingt, armen Bauern zu helfen und die Prinzessin zu heiraten«. Frankensteins Monster (1993, Urauff. 2002) variiert einen ›Trivialmythos‹ der Moderne als den Leidensweg einer künstlich geschaffenen, hässlichen, nach Liebe dürstenden Kreatur. W.s Sammlung Die letzten Dinge (Ffm. 1992; als Hörbuch 2004) enthält »77 Stücke in 7 Kapiteln, je Kapitel 11«, darunter Sketche, Singspiele, Versdramen u. Theatermärchen, Clownerien u. »szenische Cartoons«. Seine intellektuelle Beweglichkeit u. Unabhängigkeit nutzte W., der in der Kinderladenbewegung aktiv war, bereits 1973 für die »Kinderrollenspiele« Brülle ich zum Fenster raus (Weinheim/Basel), ein Textbuch »für Kinder mit schwer erziehbaren Eltern« (H.-J. Gelberg). Sein Bilderreigen Wir können noch viel zusammen machen (Mchn. 1973; 1975 ausgezeichnet mit dem Deutschen Jugendbuchpreis) erweitert, ebenso wie sein Theaterstück Kiebich und Dutz (Zürich 1979), kreativ die Möglichkeiten des Kindertheaters. Der emanzipatorische Anti-Struwwelpeter (Ffm. 1970) mit dem sprechenden Untertitel »listige Geschichten und knallige Bilder« adaptiert u. transformiert, ähnlich wie das ›Puppenspiel‹ Prinz Hamlet (Urauff. 2000) u. das Märchendrama Die Eisprinzessin (1990), klass. Stoffe. In der Shakespeare-Adaption überreden Caspar u. Bär ihren verstummten Spiel-

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gefährten, Prinz Hamlet, seiner Trauer u. seiner Sehnsucht nach Ophelia mit einem Theaterstück Ausdruck zu verleihen, in dem sie selbst die Rolle des Königs u. der Königin übernehmen wollen. Das feinsinnige Bilderbuch zum Stück mit seinen originalen Shakespeare-Dialogen kollagiert W.-Zeichnungen vor fotografisch reproduzierten Buch- u. Kunstwelten. Neben Experimenten mit der Illustration ist auch »harter Stoff« (F. W. Bernstein) in W.s Werk vielfach belegt: So erzählt Der rote Wolf (Zürich 1998) von Krieg u. Vertreibung (ausgezeichnet 1999 mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis); in der »Katzengeschichte« Da bin ich (Zürich 1997) überlebt der namenlose Protagonist Not u. Tod: »Da komme ich zu mir und bin noch am Leben, der Einzige in einem Totenschiff.« Den »Mozart des Cartoons« (F. W. Bernstein) charakterisieren neben seinem Sprachwitz (Fühlmäuse. Weinheim/Basel 1981) die »meisterhaft eingesetzten Materialien« (R. Gernhardt), eine »makellose Eleganz im Linienfluß«, »Pointen von gewagtester Drastik« sowie eine »apollinische Heiterkeit« (H. Traxler): Der »überbordende Reichtum« u. sein »technisches, dramaturgisches Repertoire« sind schlicht »atemberaubend« (F. W. Bernstein). Davon zeugen die Illustrationen zu A. S. Neill (Die grüne Wolke, 1970), den Brüdern Grimm (Der kluge Knecht, 1972), Hartmut Lange (Die Rätselgeschichten, 1973), Christine Nöstlinger (Der gefrorene Prinz, 1990) oder George Orwell (Farm der Tiere, 1995). Spätestens seit seinen Cartoon-Bänden Wahrscheinlich guckt wieder kein Schwein (Zürich 1978), Männer auf verlorenem Posten (Zürich 1983) u. Glückliche Stunde (o. O. [Zürich] 1986) gilt W. als Meister der komischen Graphik, die er virtuos und »frech« handhabt, um, ähnlich wie Tomi Ungerer, Geschmacks- u. Sexualtabus zu brechen. Herausragende Sammelbände u. Kataloge wie Mich wundert, daß ich fröhlich bin (Zürich 1991) u. der Auswahlband Alles klar? Die besten Cartoons (Zürich 2006; ausgew. von Daniel Keel u. Daniel Kampa) belegen ebenso wie die – schlicht Waechter (Zürich 2002) genannte – Werkschau zum 65. Geburtstag u. die zahlreichen Ausstellungen u. Würdigungen: W. zeichnet »für alle, die mal fünf wa-

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ren, noch Erinnerungen daran haben und gern neunundneunzig werden wollen«. W. erhielt zahlreiche Preise u. Auszeichnungen, u. a. 1971 die Buxtehuder Bulle (für die Illustrationen zu Die grüne Wolke), 1975 den Deutschen Jugendbuchpreis, 1980 den Premio Europeo (für Die Reise), 1983 den Brüder-Grimm-Preis des Landes Berlin (für Kiebich und Dutz), 1989 den Herzog-Ring des Kunstvereins Wolfenbüttel, 1993 den Hessischen Kulturpreis, 1995 den e. o. plauen Preis, 2003 den Alex-Wedding-Preis der Berliner Akademie der Künste u. Binding-Kulturpreis (zus. mit Robert Gernhardt, F. W. Bernstein u. a.). Weitere Werke: Ich bin der Größte. Album für Dickhäuter. Ffm. 1966. – Der kleine Zweckermann. Ffm. 1969. – Die Kronenklauer (zus. mit Bernd Eilert). Reinb. 1972. – Tischlein deck dich u. Knüppel aus dem Sack. Ein neues Märchen. Reinb. 1972. – So dumm waren die Hebräer. Hbg. 1973. – Drei Wandgesch.n. Weinheim 1974. – Das Ungeheuer-Spiel. Reinb. 1975. – Opa Huckes MitmachKabinett. Weinheim 1976. – Die Bremer Stadtmusikanten. Ffm. 1977. – Die Bauern im Brunnen. Zürich 1978. – Spiele. Spiele für viele zum Mitmachen. Weinheim 1979. – Welt im Spiegel. WimS 1964–1976. Ffm. 1979. – Die Reise. Eine schrecklich schöne Bildergesch. Zürich 1980. – Pustekuchen. Mit Materialien zusammengestellt v. Jörg Ehni. Stgt. 1980. – Es lebe die Freiheit. Zürich 1981. – Wer kommt mit auf die Lofoten? Hbg. 1981. – Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Dtschld. Hbg. 1982. – Nur den Kopf nicht hängen lassen u. andere Bildergesch.n. Zürich 1983. – Schule mit Clowns. Ausflug mit Clowns. Zwei Stücke. Ffm. 1985. – Fahr’n wir mit der Eisenbahn. Bilder & Spiele für draußen u. drinnen. Weinheim 1986. – Die Mondtücher. Ein Märchen. Zürich 1988. – Der Traum der Bergfrösche. Cartoons. Bln. 1989. – Der Schweinehirtentraum. Ffm. 1991. – F. K. Waechters Erzähltheater. Ffm. 1997. – Mein 1. Glas Bier. Zürich 1998. – Irdische Liebe. Ein Theaterstück aus dem 9. Jh. für 4 Schauspieler u. 2 Schauspielerinnen. Ffm. 1999. – Der Kleine im Glaspott. Zürich 1999. – Die Gesch. vom albernen Hans. Zürich 2000. – Der Frosch u. das Mädchen. Ein kurzer Roman über die längste Gesch. der Welt. Zürich 2000. – Steinhauers Fuß. Zürich 2001. – Die Schöpfung. Zürich 2002. – Der Affe des Strandfotografen. Zürich 2004. – Vollmond. Zürich 2005. – Kaspar Hauser oder Unter Menschen (zus. mit Martin Zels). 2005. – Im Wunderland der Triebe.

55 CD. Mchn. 2006. – Die Filme der Gruppe Arnold Hau. 1970–81. Ffm. 2008. Literatur: Martin Selge: Produktive Rezeption. Überlegungen zur ›Mitmach-Literatur‹ F. K. W.s. In: DU (1977), H. 2, S. 118–130. – Maximilian Nutz: Die Macht des Faktischen u. die Utopie. Zur Rezeption ›emanzipatorischer‹ Märchen am Beispiel v. F. K. W.s ›Tischlein deck dich und Knüppel aus dem Sack‹. In: Diskussion Deutsch (1979), H. 47/48, S. 397–410. – Andreas Verstappen: W.s Erzählungen. Bildergesch.n vom 15. Jh. bis zur Gegenwart. Köln 1990. – Oliver Maria Schmitt: Die schärfsten Kritiker der Elche. Die Neue Frankfurter Schule in Wort u. Strich u. Bild. Ffm. u.a. 2001. – Andrea Naica-Loebell: F. K. W. In: LGL. – Reinbert Tabbert: Von einem, dem der Witz zum Traum geriet. Der Zeichner u. Stückeschreiber F. K. W. In: Scheidewege 37 (2007), S. 375–395. – F. W. Bernstein: Der einzig Magische. In: Frankfurter Rundschau, Nr. 221, 22. 9. 2007. – Gerhard Fischer: ›Der fliegende Robert‹. Subversive Bilder u. Texte v. Jean-Baptiste Regnault, Hans Magnus Enzensberger, F. K. W., Eckart u. Rainer Hachfeld u. Heinrich Hoffmann. In: Struwwelpost 14 (2008), S. 6–16. – Catherine Beck: F. K. W. In: KLG. Lutz Hagestedt

Wächter, (Georg Philipp Ludwig) Leonhard, auch: Haining der Harfner, Veit Weber, * 25.11.1762 Uelzen, † 11.2.1837 Hamburg. – Verfasser historischer Romane u. Schriften. Als der Sohn eines Hamburger Diakons 21jährig die Universität Göttingen bezog, um Theologie zu studieren, konnte er bereits die ersten poetischen Versuche vorzeigen, zumeist dramat. Skizzen, von denen er später Rudolf von Erlachs Tod [...] (in: Mecklenburgisches Museum, 1786, 1. Stück) u. Liebe stärker, als der Tod (in: Beyträge zum Theater [...], 1785, 1. Stück) in Druck gab. Der Genius loci, so scheint es, hat seine weitere literar. Laufbahn entscheidend geprägt: In Göttingen konnte sich rasch sein Interesse an mittelalterl. Kultur u. Geschichte entwickeln, dessen Ertrag in die Aufsatzreihe Ueber das Gute und Böse des Mittelalters (in: Journal aller Journale, 1787) einging. Hier traf er Bürger, u. hier wurden erstmals die Ideale »teutscher Biederkeit« besungen, die er später seinen Rittergestalten unterlegte. Neben kleineren Stücken wie dem Einakter Rezensentenkitzel

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(in: Annalen des Theaters, H. 2, 1788), einer satir. Komödie auf Literaturbetrieb u. poetischen Dilettantismus, entstand hier auch der erste, Bürger gewidmete, Band seiner Sagen der Vorzeit. Die Begeisterung für die Französische Revolution, das Vorbild Veit Webers, eines »Sängers und Freyheitskämpfers« des 15. Jh., u. nicht zuletzt eine persönl. Krise führten W. 1792 zur Truppe des Girondistengenerals Dumouriez. Als Hauptmann in einem Reiterregiment wurde er bei Jemappes verwundet. Seine Auseinandersetzung mit der Revolution dokumentiert sein teils authentischer, teils fiktionaler Nachtbothe [...] (Bln. 1793), in dem er in überaus scharfer Form die frz. Emigranten angriff, deren konspirative Aktivitäten er für die revolutionären Fehlentwicklungen verantwortlich machte. Anschließend betätigte er sich in Hamburg an einem privaten Unterrichts- u. Erziehungsinstitut, dessen Leitung er 1814 übernahm. Zu seinem publizistischen Engagement zeigte W. während der frz. Besetzung Hamburgs in einer Bürgermiliz erneut auch aktiven Einsatz. Die Ideale bürgerl. Freiheit u. Rechtlichkeit, Themen bereits seines Wilhelm Tell, eines eher rhetorischen Dramas in Jambenform (ebd. 1804), wurden nunmehr, so in den antinapoleon. Schriften Für Freiheit und Recht [...] (Hbg. 1815) u. Deutschen Knaben. Ulrich von Hutten (ebd. o. J.), immer stärker von nationalistischem Pathos übertönt. Zuletzt Privatgelehrter u. Bibliotheksgehilfe, nahm W. die mit der szen. Chronik Die Gründung der Bürgerfreyheit Hamburgs (ebd. 1794) begonnenen lokalhistor. Studien wieder auf (Historischer Nachlaß. Hg. Christian Friedrich Wurm. 2 Bde., ebd. 1837/38). Mit seinen Sagen der Vorzeit (7 Bde., Bln. 1787–98) gilt W. als »Vater des Ritterromans«. In ausdrückl. Verzicht auf historischfaktische Sujets entwarf W. eine reich kolorierte mittelalterl. Welt, deren »Wortkargheit und Thatenfülle« er der diagnostizierten »Verzärtelung und Empfindelei« der Gegenwart entgegenhielt. Requisiten u. stereotype Motivik sind bereits im Eröffnungstitel, dem Dialogroman Männerschwur und Weibertreue, ausgebildet. »Weiberlist« oder »Mönchstücke« – Letztere führt in Müller des Schwarzthals

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(Bd. 2, 1788) sogar zum Untergang eines Rittergeschlechts – fordern den nach Idealen der Aufklärung stilisierten Protagonisten heraus. Die Wirkung liegt dabei nicht nur in der Handlungsgewissheit der Selbsthelfergestalten mit ihrer Bereitschaft zur buchstäblich schlagkräftigen Aktion, mit denen sich der Leser identifizieren konnte. Zusätzlich berührte W. mit der Frage nach der Tragfähigkeit gesellschaftl. u. familiärer Bindungen vordergründig aktuelle Themen des spätaufklärerischen Skeptizismus, gegen den er immer wieder, wie z. B. in den Erzählungen Das Ritterwort u. Der Harfner (Bd. 1), das ritterl. Ethos persönl. Loyalität beschwor. In der zeitgenöss. Kritik, u. a. bei Johann Gottwerth Müller, stießen die ersten Bände der Sagen auf begeisterte Zustimmung (Bde. 1–3, 21790). Insbesondere wurde W.s altfränk., derb-kräftige Sprache als Gegengewicht zur empfindsamen »Blümeley« gewürdigt. Die Breitenwirkung bezeugt eine Fülle von »Seitenstücken«, Nachahmungen, Übersetzungen u. musikal. Dramatisierungen. Der wertungsgeschichtl. Umschwung begann bereits mit der Trivialisierung des Genres vor 1800 u. setzte sich mit der ScottRezeption fort. Weitere Werke: Die Betfahrt des Bruders Gramsalbus. Bln. 1793. – Der Wilddieb. In: Berlinisches Archiv [...], Aug. 1796. – Die Angeber [...]. In: ebd., Mai 1797. – Jugendunterhaltungen. Hbg. 1827.

scheint. Die Gewalt des Alltäglichen versprachlicht W. mittels eines verknappten Stils, in dem sich realistische u. symbolische Elemente mischen. Dem Roman Anna’s Häuser (Wien 1978) folgte Verhärtung der Puppenhaut. Kleine Prosa aus 10 Jahren (ebd. 1983; Nachw. von Reinhard Priessnitz) sowie eine Reihe von Hörspielen: Für Eine Geschichte vom Fräulein Helene (ORF 1983) wurde sie 1983 mit dem Friedrich-Torberg-Hörspielpreis ausgezeichnet. Cassette an Ella (ORF 1988), die Reflexionen der Mutter eines rauschgiftsüchtigen Sohnes, erhielt den Villacher Hörspielpreis 1988. W.s bislang erfolgreichste Theaterarbeit ist das Ehedrama Ich hab’ dich, du hast mich (Urauff. Wien 1980). Im Roman Kopftheater (Klagenf. 2010) greift W. das Rollenspiel der Theaterwelt auf u. lässt ihre Protagonistin, das Denken u. Schreiben durchquerend, in verschiedene Rollen schlüpfen. W. hat sich zudem um den Erhalt alemann. Mundart u. ihre anspruchsvolle Übertragung ins Hochdeutsche verdient gemacht (z. B. Und i dr Mitti s Salz. Hg. von Hans Haid u. mit einem Nachw. von Marie-The´ re` se Kerschbaumer. Innsbr. u. a. 2008). Weitere Werke: Um mich herum. Feldkirch 1971 (L.). – Die Fenster der Lilly Bohatty. ORF 1979 (Fernsehsp.). – Blick durch den Spiegel. Wien 1991. (R.) – Zwischen den Bildern. Ebd. 1993. – (Hg.): Schreibrituale (zus. mit Batya Horn). Ebd. 2004 (Anth.). Bernhard Fetz / Sonja Schüller

Literatur: Walther Pantenius: Das MA in L. W.s (Veit Webers) Romanen [...]. Lpz. 1904.

Wälti, Christian, * 27.7.1819 Kreuchtal bei Josef Morlo Burgdorf/Kt. Bern, † 1862 Pittsburgh/ USA. – Lyriker, Dramatiker, Erzähler.

Wäger, Elisabeth, auch: Wäger-Häusle, * 9.10.1942 Rankweil/Vorarlberg. – Lyrikerin, Dramatikerin, Roman- u. Hörspielautorin, Mundartschriftstellerin. Nach dreijährigem Parisaufenthalt u. Engagement für eine freiere Kulturszene im provinziellen Vorarlberg Anfang der 1970er Jahre übersiedelte W. 1979 nach Wien, wo sie als Dramaturgin der Wiener Festwochen tätig war. In ihren literar. Arbeiten geht es um die Identitätsfindung von Frauen, deren Lebensraum durch Herkunft, Rollenzuschreibung u. die Rituale häusl. Lebens eingeschränkt er-

Bis 1844 wirkte W. als Volksschullehrer in Bern. Wegen einer Hetzrede auf dem Basler Schützenfest aus dem Schuldienst entlassen, nahm er am zweiten Freischarenzug (März 1845) u. am Sonderbundskrieg teil. Später wanderte er in die USA aus. W.s Lyrik (Alpenklänge und Lawinendonner. Aarau/Thun 1844. Sturmvogel und Nachtigall. Bern 1850) ist vom schwungvollen Pathos u. der Freiheitsmetaphorik Herweghs u. Freiligraths geprägt, bezieht sich thematisch jedoch auf konkrete Schweizer Verhältnisse. Sein Drama Dr. Steiger’s Befreiung oder die Jesuiten in Luzern (ebd. 1847) gestaltet eine

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Episode aus dem zweiten Freischarenzug, Die Todesstunde des Apostaten (auch u. d. T. Der Apostat. Zofingen 1848; anonym) rechnet mit einem kath.-konservativen Politiker (Constantin Siegwart-Müller) ab. Die vor W.s Hinwendung zur Agitationsliteratur erschienenen Erzählungen u. Sagen Blumen aus den Alpen (Bd. 1, Bern 1841. Bd. 2, Baden 1843) bezeugen das in der ersten Hälfte des 19. Jh. erwachende Interesse an (dichterisch bearbeiteten) volkstüml. Überlieferungen. Rémy Charbon

Wagenbach, Klaus(-Josef), * 11.7.1930 Berlin. – Verleger u. Essayist. Der Sohn eines sozial engagierten kath.-liberalen Politikers absolvierte 1949–1951 beim Suhrkamp u. S. Fischer Verlag eine Buchhändlerlehre. Schon in dieser Zeit verstand sich W. als Teil der nicht-konformistischen Linken u. der entstehenden neuen Literaturszene; seit 1949 nahm er an den Tagungen der Gruppe 47 teil. Das Studium der Germanistik, Kunstgeschichte u. Archäologie 1951–1957 in Frankfurt/M. u. München schloss er mit der Dissertation Franz Kafka. Eine Biographie seiner Jugend (Bern 1958. Neuausg. Bln. 2006) ab. Die Kafka-Rezeption u. die Kafka-Forschung förderte er durch die Veröffentlichung von Ausgaben, Studien u. Materialien (Franz Kafka in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinb. 1964. Franz Kafka. Bilder aus seinem Leben. Bln. 1983. Erw. 1989. Erw. 2008. Kafkas Prag. Bln. 1994. Kafkas Fabriken. Zus. mit Hans-Gerd Koch. Marbach 2002). Nach einer Tätigkeit beim Modernen Buch-Club Darmstadt setzte sich W. seit 1960 als Lektor im S. Fischer Verlag für junge westdt. Autoren (Anthologie Das Atelier. Ffm. 1961) u. die DDR-Literatur ein. Nachdem er wegen seines Protests gegen die Verhaftung des DDR-Verlegers Günter Hofé während der Frankfurter Buchmesse 1964 entlassen worden war, gründete W. im selben Jahr den Verlag Klaus Wagenbach in Berlin, der sich als Alternativprojekt verstand u. sich »um die Verbreitung einer Art von Kultur und Politik« bemühte, »die sich nicht gerade in der allgemeinen Zustimmung suhlt« (Eintritt frei. Beiträge zur öffentlichen

Meinung. Darmst. 1982). Gefördert von namhaften Autoren wie Ingeborg Bachmann, Günter Grass u. Hans Werner Richter, die durch die Überlassung von Manuskripten den Start ermöglichten, trug W. mit der Reihe der »Quarthefte«, von 1968 an mit dem Jahrbuch »Tintenfisch« (hg. zusammen mit Michael Krüger) u. Anthologien (Lesebuch. Deutsche Literatur zwischen 1945 und 1959. Bln. 1980. Vaterland, Muttersprache. Deutsche Schriftsteller und ihr Staat seit 1945. Bln. 1980. Erw. Neuausg. Bln. 1994) maßgeblich zur Verbreitung dt. Gegenwartsliteratur aus West u. Ost bei (Johannes Bobrowski, Christoph Meckel, Wolf Biermann, Erich Fried, Peter Rühmkorf). In den späten 1960er u. in den 1970er Jahren wurde der Verlag zu einem Diskussionsforum der Außerparlamentarischen Opposition (Ulrike Meinhof, Rudi Dutschke), die Reihe »Wagenbachs Taschenbücherei« (1975 ff.) u. die Zeitschrift »Freibeuter« (1979 ff.) brachten wichtige Texte zur Selbstverständigung der undogmat. Linken. Neben zahlreichen staatl. Eingriffen u. gerichtl. Auseinandersetzungen bedrohten interne Konflikte (Abspaltung des Rotbuch Verlags 1975) die Existenz des Verlags. Es gelang W. jedoch, Lebendigkeit u. Anspruch seines Programms zu erhalten, in den 1980er Jahren durch die Aufnahme von Autoren der klass. Moderne (Georg Simmel) u. aktueller Texte zur Kunst- u. Kulturgeschichte. Der Verlag profilierte sich zudem als Ort der ital. Literatur. Seit 2002 leitet Susanne Schüssler den Verlag. Der Sammelband Die Freiheit des Verlegers. Erinnerungen, Festreden, Seitenhiebe (Hg. S. Schüssler. Bln. 2010) zeigt W. als schlagfertigen Essayisten u. sensiblen Porträtisten (E. Fried, S. Hermlin, J. Bobrowski, G. B. Fuchs u. a.); aus den wieder aufgelegten u. aktuellen Essays entsteht auch eine bundesdt. Kulturgeschichte en miniature. W. wurde für sein verlegerisches Engagement mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet; die Universität Urbino verlieh ihm 2006 die Ehrendoktorwürde. Weitere Werke: Herausgeber: Lesebuch. Dt. Lit. der sechziger Jahre. Bln. 1969. – Karnickel, Karnickel. Hdb. für das allg. Kaninchenwesen anläßlich hundertfacher Vermehrung der Taschenbücherei.

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Bln. 1983. – Fintentisch. Ein Almanach. Bln. 1984. – Das schwarze Brett. Ein Lesebuch mit Gesch.n, Bildern u. Gedichten dem Publikum dargebracht anläßlich des 25. Geburtstags des Verlages v. K. W. Bln. 1989. – Nach Italien! Bln. 2000. – Warum so verlegen? Bln. 2004. – 100 Gedichte aus der DDR (zus. mit Christoph Buchwald). Bln. 2009.

Weitere Werke: Über den Feldzug der Preußen gegen die Nordarmee der Neufranken im Jahre 1793 [...]. Stendal 1795. – Über die Pfalz am Rhein u. deren Nachbarschaft [...]. 2 Bde., Brandenburg 1795. Neudr. Histor. Verein der Pfalz, Ortsgruppe Limburgerhof 1979. – Reise durch den Harz u. die Hessischen Lande [...]. Braunschw. 1797.

Literatur: Martin Lüdke: Warum ist die Banane krumm? Ein Lob des Spätaufklärers K. W., der nie mit seinem Lachen allein sein wollte. In: HugoBall-Almanach 24 (2000), S. 7–19. – Fiammetta Balestracci: K. W. u. die ital. Lit. in der BR Dtschld. 1964–1989. In: Jb. Int. Germ. 38 (2006), H. 1, S. 59–80. Johannes G. Pankau / Stefan Wieczorek

Literatur: Erich Schneider: S. C. W. In: Jb. des Instituts für Dt. Gesch. 6 (1977), S. 81–130.

Wagener, Samuel Christoph, * 11.4.1763 Sandau (im Magdeburgischen), † 12.1. 1845 Potsdam. – Verfasser von Reisebriefen u. Aufklärungsschriften, Erzähler. Der Sohn eines Steuereinnehmers studierte 1780–1784 Theologie in Halle. Anschließend fand W. eine Stelle als Lehrer in Wilsleben u. wurde 1790 luth. Feldprediger beim preuß. Leibkarabinier-Regiment zu Rathenow. 1801 erhielt er eine Pfarrstelle in Altenplathow bei Genthin, stieg zum Schulinspektor auf u. wurde 1817 Superintendent der 2. Burgschen Diözese. W. stand der Berliner Aufklärung nahe u. arbeitete auch an Nicolais »Allgemeiner deutscher Bibliothek« mit. Seine mehr als 30 Werke, die u. a. pädagog. Aufklärungsschriften, (kunst-)histor. Abhandlungen, Handbücher, Erzählungen (z. B. Die Gespenster [...]. 4 Tle., Bln. 1797–1800) u. ein polit. Journal (»Patriotisches Archiv für Deutschland«, 1799–1802) umfassen, fanden bei der zeitgenöss. Literaturkritik »eine bemerkenswerte Resonanz« (Schneider). Insbesondere sind die vier Sammlungen von Reisebriefen (z. B. Briefe eines Feldpredigers auf dem Marsch nach und in Schlesien 1790. Stendal 1791) hervorzuheben, die W. während seiner Zeit als Feldprediger verfasste u. anonym publizierte. Im Mittelpunkt der Reiseberichte steht im Unterschied zu vergleichbaren Texten der Revolutionszeit (Forster, Laukhard, Reichardt etc.) weniger die polit. Analyse als das allgemeinere Interesse an Kultur, Landschaft u. zivilisator. Fortschritt, wobei sozialkrit. Ansätze nicht fehlen.

Christoph Weiß / Red.

Wagenfeld, Karl, * 5.4.1869 Lüdinghausen, † 19.12.1939 Münster; Grabstätte: ebd., Zentralfriedhof. – Westfälischer Heimatdichter. Der neben Augustin Wibbelt u. Ferdinand Krüger bekannteste niederdt. Dichter westfäl. Mundart war Lehrer, seit 1899 in Münster. W. beobachtete westfäl. Brauchtum u. sammelte Sprichwörter u. Redensarten (Volksmund. Essen 1911). Seine literar. Produktion – Gedichte, Erzählungen, Prosaskizzen, Possen u. Dramen  begann 1897. Alle seine Werke handeln von der bäuerl. Welt; sie versuchen, Heimat- u. Glaubensverlust entgegenzuwirken. Der Einakter Dat Gewitter (Münster 1912. Urauff. ebd. 1913) zeigt in der Form des analyt. Dramas die Folgen der Treulosigkeit einer Bäuerin, durch die ihre Kinder in den Freitod getrieben werden. In seinen religiösen Dichtungen verbindet W. bibl. mit volkstüml. u. mytholog. Elementen. Die Versdichtung Daud un Düwel (»Tod und Teufel«. Münster 1912) zeigt in der Rahmenhandlung den Teufel als Erschaffer u. Ratgeber des Todes; die Binnenhandlung versinnbildlicht die sieben Todsünden an Alltagssituationen. Unter dem Eindruck des Weltkriegs entstand das Versepos De Antichrist (Warendorf 1916): Der Antichrist gewinnt als falscher Christus die Seelen der Menschen. Gott lässt darum die Welt untergehen, u. Christus führt das Strafgericht durch. Das 1921 in Warendorf erschienene Drama Luzifer (Urauff. Bln. 1921) thematisiert den Kampf zwischen Christus u. dem Höllenfürsten um den verführbaren Menschen. Ungewöhnlich ist der wuchtige, expressionistische Sprachduktus dieses Textes, der mit der Wiederkehr Christi ein zeittypisches Motiv aufnimmt. – Der deutschna-

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tional gesinnte Katholik W. gehörte zu den Gründern der westfäl. Heimatbundbewegung (Zeitschrift »Heimatblätter der Roten Erde«, seit 1919). Weitere Werke: Ausgabe: Ges. Werke. Hg. Friedrich Castelle u. a. Bde. 1 u. 2, Münster 1956. Bd. 3, ebd. 1983. – Sipp, sapp, Sunne. Namens un Lüh. Volkskundliches aus seinen Schr.en mit Bräuchen, Tänzen, Liedern zu Bauernhochzeit u. Schützenfest. Hg. H. Demming. Münster 1992. – Einzeltitel: Dat Gaap-Pulver (Das Gähnpulver). Ebd. 1913 (Märchensp.). – Krieg. Weltbrand. Kriegsgedichte. Beide Bocholt 1915. – Hatt giegen hatt (Hart gegen hart). Hbg. 1917 (Bauerndrama). Literatur: Volkstum u. Heimat. K. W. zum 60. Geburtstag. Münster 1929. – K. W. Eine Festg. zur Vollendung seines 70. Lebensjahres. Ebd. 1939 (chronolog. Werkbibliogr. S. 25–64). – U. Bichel: K. W. Gedanken u. Gedenken zu seinem 120. Geburtstag am 5. April 1989 u. zu seinem 50. Todestag am 19. Dez. 1989. In: Jb. der Wibbelt-Gesellsch. 6 (1990), S. 7–22. – H. Mühl: ›Sölwst Geist nich un Suohn nich!‹ Augustin Wibbelts Bedenken zu einer Textstelle in K. W.s ›De Antichrist‹. In ebd., S. 23–33. – H. Taubken: ›Lieber Bruder in Apoll!‹ Zu den Korrespondenzen zwischen Augustin Wibbelt u. K. W. In ebd. 10 (1994) S. 51–66. – R. Schepper: Wunschdenken, Selbst- u. Weltverständnis bei W. u. Wibbelt. Eine textvergleichende Skizze. In: Schr.en zur Wibbelt-Forsch. 2 (1996), S. 96–100. – P. Gabriel: Ein altes Mühlentor, von Efeu umsponnen. Kindheit u. Jugend des westfäl. Heimatdichters K. W. in Drensteinfurt. In: Unser Westfalen 1996, S. 87 f. – Westf. Autorenlex. 3. Richard Heckner / Red.

Wagenseil, Christian Jakob, auch: Simon Ratzeberger der Jüngste, * 23.11.1756 Kaufbeuren, † 8.1.1839 Augsburg. – Volksschriftsteller. W. kam 1773 an das Ulmer Gymnasium u. studierte 1775–1778 Jurisprudenz in Göttingen, wo er in eine Freimaurerloge eintrat. 1782 wurde er in Kaufbeuren Gerichtsvikar, 1789 Stadtgerichtsaktuar, 1794 Kanzleidirektor. Als höherer Beamter setzte sich W. für die Verbesserung des Schulunterrichts u. für die Volksbildung ein. 1804 wurde er Stadtkommissar u. Polizeidirektor in Kempten, 1817 Regierungsrat des Oberdonaukreises in Augsburg.

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Zu den heute vergessenen Dichtungen W.s zählen die Frühwerke Schildheim (Gotha 1779), ein Roman, u. Ehrlichkeit und Liebe (ebd. 1779), ein ländl. Schauspiel. Mit der Herausgabe des »Gemeinnützigen Wochenblatts für Bürger« (Kaufbeuren 1781–86) nahm W. erstmals die für ihn wichtige Aufgabe als Volkserzieher wahr. Die Lebensbeschreibungen berühmter Personen in den Historischen Unterhaltungen für die Jugend (4 Bde., Augsb. 1781–83) sollten bei den jungen Lesern das histor. Interesse wecken. Im Versuch einer Geschichte der Stadt Augsburg (5 Bde., ebd. 1819–22) ging es W. um eine zusammenhängende Stadtgeschichte in Kompendienform, um ein »Hand- und Hausbuch für alle Stände«. Die Biografie Ulrich von Hutten [...] (Nürnb. 1823) ist das Ergebnis von W.s jahrzehntelanger Beschäftigung mit dem Humanisten. W. bemühte sich darin um krit. Distanz zu Hutten, obwohl ihn dieser stark in seinen Bann zog (Teilausgabe schon Lpz. 1783). Mit der Edition des »Literarischen Almanachs« (Bde. 1–4, Lpz. 1827–30. Bde. 5 u. 6, Mchn. 1831/32. Werkverz. in Bd. 6, S. 269–283) setzte W. seine Tätigkeit als Volksschriftsteller fort. Im fünften Jahrgang befindet sich sein einst berühmtes Lied eines Landmannes mit der auch von ihm komponierten Melodie. Hier wird, dem aufklärerischen Topos gemäß, das einfache Landleben, die Hütte, gepriesen, der Palast mit seinem Überfluss hingegen scharf verurteilt. W. gehört zu den vergessenen, aber wichtigen Repräsentanten der dt. Volksaufklärung. Weitere Werke: Der beschämte Geizige. Kaufbeuren 1786 (Schausp.). – Histor. Tgb. über die zu Kaufbeuren erlebten Begebenheiten während des frz.-dt. Reichskrieges v. 1791–1801. Ebd. 1802. – Kurzgefaßte Gesch. der Reformation [...]. Nördlingen 1817. – Prälat v. Schmid zu Ulm, nach seinem Leben [...]. Augsb. 1828. Literatur: Wilhelm Kreutz: Die Deutschen u. Ulrich v. Hutten. Mchn. 1984, S. 74 f. u. ö. – Christian Strobel: C. J. W. (1756–1839). Aufklärung in regionaler Gebundenheit. In: Zwischen Zettelkasten u. Internet. FS Susanne Koppel. Hg. Meinhard Knigge unter Mitwirkung v. Renate Lempart u. Detlef Gerd Stechern. Eutin 2005, S. 51–61. Hanspeter Marti / Red.

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Wagenseil, Johann Christoph, Curiosus Alethophilus, * 26.11.1633 Nürnberg, † 9.10.1705 Altdorf. – Jurist, Orientalist (Hebraist) u. Polyhistor. Die Kaufmannsfamilie der Eltern übersiedelte im Jahr nach W.s Geburt nach Stockholm; deshalb wurde der Sohn zuerst in Schweden durch Hauslehrer u. nach der Rückkehr der Familie um 1645 im Schwedisch-Pommerschen Greifswald u. in Rostock u. schließlich am Ägidiengymnasium in Nürnberg erzogen. Seit 1649 studierte W. in Altdorf die Artes mit dem Ziel der Jurisprudenz u. erwarb dort nach vier Jahren möglicherweise einen ersten Abschluss (vgl. die Nürnberger Declamatio, 1653). Zwischen 1654 u. 1667 führten ihn ungewöhnlich ausgedehnte Bildungsreisen in mehrere Länder u. an verschiedene Universitäten Europas bis nach Nordafrika, wo er sich meist als Hauslehrer u. Begleiter von Studierenden aus Familien des bayerischen u. österr. Adels immer wieder auch länger aufhalten konnte, zunächst in Wien, Bratislava, Prag u. Straßburg, dann mehrere Jahre in Padua, Florenz u. Rom sowie in Paris. Von Frankreich aus reiste er nach Spanien u. Marokko. Die letzte Station war ein ausgedehnter Aufenthalt in den Niederlanden, bes. in Amsterdam, einem der Zentren der intellektuellen Kultur der Juden Mitteleuropas – früher u. a. des Menasseh ben Israel, in den 1660er Jahren bes. des radikalen Messianismus von Shabbatai Zwi –, ehe er über England nach Nürnberg zurückkehrte. In allen diesen Städten lernte er Hebräisch u. betrieb Studien über die oriental. Sprachen u. Kulturen, mit denen er schon in Altdorf bei dem bekannten Hebraisten Theodor Hackspan begonnen hatte u. die er nun aus erster Hand innerhalb der jeweiligen Lebenswelt u. im Umgang mit den dortigen Gelehrten kennenlernte; mit ihnen blieb er vielfach auch später im briefl. Austausch. Man kann sagen, aus dem angehenden akadem. Juristen wurde ein Hebraist u. Kenner der Kultur u. Sprache des europ. Judentums, der »normalen jüdischen Kultur« (Blastenbrei, 2008) in ihrer lokalen u. regionalen Vielfalt, der seine Kenntnisse u. Einsichten mithin aus dem

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zeitgenöss. Erfahrungswissen u. nicht allein aus dem akadem. Literaturstudium schöpfte. Nach dem Erwerb des Dr. beider Rechte an der Universität Orléans wurde W. schon 1667 als Prof. der Jurisprudenz (Öffentliches Recht) u. Geschichte nach Altdorf berufen; 1697 kam das Kanonische Recht hinzu. Von 1674 bis zu seinem Tod aber vertrat er sein Hauptgebiet, die oriental. Sprachen (»linguae sacrae«), bes. die Hebraistik, in der Nachfolge bedeutender Vorgänger in Altdorf: zuerst des Konvertiten Julius Konrad Otto (eigentl. Naftali Margalit, 1603–1607), dem Elias Hutter (1608–1631), Daniel Schwenter (der Mitarbeiter Harsdörffers, 1631–1636) u. schließlich sein Lehrer Hackspan (bis 1674) folgten. Die zur Zeit W.s voll ausgebaute Universität Altdorf war 1580 durch kaiserl. Urkunde in den Status einer teilprivilegierten sog. »Semiuniversitas« erhoben worden. Nach Anfängen unter der Ägide von Joachim Camerarius († 1574) u. damit von Melanchthons Schulmodell wurde die Nürnbergische Hohe Schule 1575 zu einem ›Akademischen Gymnasium‹ (Gymnasium illustre) aufgewertet, das deutlich am Straßburger Modell von Johann Sturm orientiert war. Mit der Aufstockung von 1580 (auch diese nach dem Straßburger Vorbild) u. dem Promotionsrecht für die später sog. Philosophische Fakultät wurde die Gliederung nach vier Fakultäten u. der universitäre Vorlesungsbetrieb eingeführt, der die Einrichtung einer Reihe weiterer Lehrstühle u. die Berufung z. T. namhafter Gelehrter nach sich zog wie der Juristen Hugo Donellus (Doneau), Konrad Rittershausen, Obertus Giphanius (Hubert van Giffen) u. Scipio Gentilis u. der Mediziner Ernst Soner u. Caspar Hofmann. Das Lehrkonzept (u. a. die Wahl der Lehrbücher) war lange von der Konkurrenz zwischen Melanchthon u. dem Ramismus geprägt, d.h. auch: zwischen dem – wenngleich ›philippistischen‹ – luth. u. dem reformierten Bildungskonzept. Durch W.s vielfältige Publikationen u. europaweite Kontakte wurde Altdorf vollends zum bedeutendsten Standort der hebräischen Studien in Deutschland (neben Basel, maßgeblich in Westeuropa war Leiden). Während seiner Reisejahre hatte W. durch den Ankauf

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zahlreicher Manuskripte u. Bücher in verschiedenen Zentren der jüd. Buchkultur eine der bedeutendsten judaistischen Privatbibliotheken erworben, z. B. in Andalusien, im marokkan. Ceuta, in Prag, London u. 1666 in Amsterdam, wo in diesem Jahr viele Juden überzeugt waren, ihre Bücher nicht mehr zu benötigen, da sie nach Palästina reisten, um bei der Ankunft des Messias präsent zu sein, die nach der Prophetie des Shabbatai sozusagen täglich zu erwarten war. Wahrscheinlich ist W. schon in Amsterdam auch Christian Knorr von Rosenroth begegnet, dem späteren christl. Kabbalisten u. Bibliothekar des Pfalzgrafen Christian August in Sulzbach, also in der Nachbarschaft von Altdorf. Wie 1540/41 die Hebraisten Paulus Fagius u. Elijah Levita in der Reichsstadt Isny im Allgäu verfügte Knorr seit 1669 in Sulzbach über eine Druckerei für die Herstellung von Büchern in hebräischer Schrift (bis Mitte 19. Jh. in Betrieb); man verkehrte miteinander u. unterhielt einen Briefwechsel. Doch anders als Knorr u. andere von Theologie u. Philosophie herkommende Gelehrte wie der Konvertit Paulus Ricius oder Guillaume Postel († 1581) u. Johannes Pistorius Niddanus (vgl. dessen lat. Textsammlung Ars cabbalistica. Basel 1587) richteten sich W.s juristische, religionspolit. u. ›kulturelle‹ Interessen nicht auf die Kabbala, die bei christl. Theologen verschiedener Konfession als »theologisch höchst anschlußfähig« galt (Kilcher, 2009b), sondern auf Talmud, Mischna u. andere Teile der außer- u. nachbibl., ›rabbinischen‹ Überlieferung religionsgesetzl. u. polem. Inhalts – ein erheblich riskanteres Interesse, da der Talmud seit den Verbrennungsurteilen im 13. Jh., dem Judenbücherstreit um Reuchlin usw. als extrem blasphemisch galt. Den ersten Schritt zu einer Rehabilitierung des Talmud tat W. mit der lat. Übersetzung des Mischna-Traktats Sota über den Ehebruch, den er 1674 zusammen mit dem Kommentar En Jacob u. einem eigenen Kommentar herausgab. Pionier (nach Elijah Levita im 16. Jh.) war W. auch auf dem Gebiet der jidd. Philologie; die Belehrung der jüdisch-teutschen Redund Schreibart (1699) enthält ein jidd.-dt. Wörterbuch sowie eine Einführung in das

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Jiddische u. eine Sammlung von Werken der jidd. Literatur. W.s Philosemitismus (dazu grundlegend Schoeps, 1952) zeigt dessen Widersprüchlichkeit auf eine exemplarische Weise, einschließlich erster Ansätze zu chiliastischen Erlösungsschemata, die später auf innerweltl. Fortschrittskonzepte der humanistischen Geschichtsphilosophie zuliefen u. in der Aufklärung zur Enttheologisierung führten. W. teilte das christozentr. Interesse an der auf Konversion u. Assimilation angelegten Judenmission, das aller älteren Judaistik inhärent ist. Aber er trat – auch eben darum – für ein Höchstmaß an Sach- u. Textkenntnis ein, für Gewaltfreiheit, Verzicht auf Polemik sowie für Vorurteilskritik (u. a. der RitualmordLegende) u. die Verbesserung des Umgangs mit den Juden u. ihrer sozialen Integration – fast möchte man von ›Empathie‹ sprechen. Seine Hauptschrift, Tela ignea satanae (1681), enthält drast. Dokumente der antichristl. Kontroversliteratur aus der eigenen Sammlung, zu deren unbefangenem Studium u. Widerlegung er jedoch beitragen möchte, während das letzte Buch Hofnung der Erlösung Israelis von 1707 (mit Assonanz an den berühmten Titel The Hope of Israel des Menasseh ben Israel von 1650) acht Beiträge über wechselseitige Legenden u. Vorwürfe enthält, die zuerst in zwei Teilen noch zu seinen Lebzeiten erschienen sind (Benachrichtigungen. 1705). In diesem Werk ist nun die Perspektive der zeitnahen »Erlösung« zentral, mit der W. den gewöhnlich einseitigen Christozentrismus hinter sich lässt: »Die Hochschätzung der Juden mit Blick auf ihre Bekehrung hatte für W. einen heilsökonomischen, gar chiliastischen Kern« (Kilcher, 2009b). Gewiss ist auch dieses Erlösungskonzept noch vom Christentum her gedacht. Die Judenbekehrung gehört zum christl. Heilsplan der Aufrichtung eines kommenden Reiches Christi, aber – hier liegt die Differenz – dieser Heilsplan zielt auf eine »gemeinsame Erlösung von Judentum und Christentum« (Kilcher, ebd.), das eine nicht ohne das andere. Einflüsse kommen wahrscheinlich vom Amsterdamer u. engl. Messianismus her (Menasseh, Petrus Serrarius, der Shabbatianismus u. a.), vom apokalyptisch geprägten Frühpietismus

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des Ehepaars Petersen sowie auch Speners, in dem die endzeitl. Bekehrung der Juden von Bedeutung ist (bes. im Rückgriff auf die prophezeite Massenbekehrung der Juden als Apokalypsezeichen); W.s enge Beziehungen zu Frankreich machen auch eine Berührung durch den philosemitischen Messianismus Postels wahrscheinlich, u. dass er Isaac La Peyrères Verkündung eines zweiten Messias kannte, der in Kürze aus Frankreich nach Palästina ziehen werde (Du rappel des juifs. 1643. Praeadamitae. 1665), geht aus seinem letzten Buch hervor. Von den übrigen Werken W.s wurde die Schrift über die Meister-Singer (»phonasci«) im Anhang zu einem Buch über die Freie Reichsstadt Nürnberg (1697) aus Ignoranz u./ oder Ressentiment immer wieder gegen die Gelehrsamkeit des Hebraisten W. ausgespielt (vgl. den Art. des Germanisten Edward Schröder in der ADB); über dem Kuriosum der kleinen Schrift vom ›Nürnberger Trichter‹ (Ad Johannem Fechtium [...] de infundibuli sui occasione. 1693) wird die viel wichtigere Abhandlung über die Ritualmordlegende im gleichen Band meist ebenso übersehen wie die Bemerkung über den Erwerb jüd. Bücher in Amsterdam, die in der Pera librorum juvenilium, der ›Büchermappe für die Jugend‹, versteckt ist (Bd. 2, S. 128), einer unerhört reichhaltigen historia litteraria specialis in fünf Bänden (Altdorf 1695), die z. B. eine ganze (Harsdörffer verpflichtete) dt. Poetik in sieben Kapiteln enthält (Bd. 1, S. 677–774: »Praecepta de Poesi Germanica. Von der Teutschen Dicht- und Reimkunst«). Die Auswertung der Pera ist noch nicht geleistet. Erziehungsschriften wie diese reich kommentierte u. mit kleinen Abhandlungen durchsetzte Bibliografie, das Buch Von Erziehung eines jungen Printzen (1690), das historisch-genealog. u. herald. Werk über den venezian. Adel (Der adriatische Löw. 1704) oder der Brief über den ›Hydraspis‹ (1690), ein von ihm erfundenes Gerät zur Rettung aus Seenot, das er am kaiserl. Hof in Wien vorstellen durfte, zeigen W. in der Polyhistorenrolle des »nützlichen Gelehrten«, der sich statt auf Antik-Antiquarisches auf techn. Inventionen u. außerakad., ›lebensweltlich‹-regionale Themen richtet (wie Leibniz, Erhard Weigel,

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Ehrenfried Walther von Tschirnhaus oder Johann Joachim Becher), u. werfen noch einmal ein treffendes Licht auf die Eigenart dieses ungewöhnl. Philologen u. gelehrten Philosemiten sowie auf den ihm gebührenden Platz in der Geschichte der europ. Gelehrtenkultur. Weitere Werke: Verba L. Iunii Bruti ad senatum populumque romanum [...]. Per modum declamationis proposita et in incluto Noricorum Athenaeo recitata. Altdorf 1653. – Disputationum circularium juris publici prima (-septima) [...]. J. C. W. (Präses); Ernst Julius Persius u. a. (Respondenten). Altdorf 1672–76. – Sota. Hoc est: Liber Mischnicus de uxore adulterii suspecta una cum libri En Jacob excerptis gemarae versione latina, et commentario perpetuo [...] illustrata [...]. Altdorf 1674. – Tela ignea Satanae. Hoc est: Arcani, et horribiles Judaeorum adversus Christum deum et christianam religionem libri anekdotoi. [...] Additae sunt Latinae interpretationes, et duplex confutatio [...]. 2 Bde., Altdorf/Nürnb./Ffm. 1681. Nachdr. Farnborough 1970. – Exercitatio juris publici de romanis pontificibus ex Germanorum gente creatis. J. C. W. (Präs.); Christian Marschalch v. Bieberstein (Resp.). Altdorf 1683. – (Pseud.) Curiosus Alethophilus: Tractatus politico historicus, moribus, ritibus ac ceremoniis in aulis regum et principum legationibus congressibus et conventibus magnatum, usitatis [...]. Cosmopolis (Den Haag) 1687. – Exercitationes sex varii argumenti. Nürnb./Altdorf 1687. 1697. 1719. – Von Erziehung eines jungen Printzen, der vor allen Studiren einen Abscheu hat, daß er dennoch gelehrt u. geschickt werde [...]. Lpz. (1690; Widmung an Kaiser Leopold I.). 1705. Internet-Ed. in: UB Kiel. – De hydraspide sua, sive, adversus extrema pericula aquarum munimento ac praesidio, ad Petrum Valckenierum [...] epistola [...]. Nürnb./Altdorf 1690. – De re monetali veterum Romanorum dissertatio. J. C. W. (Präs.); Philipp Jakob Reichart (Resp.). Altdorf 1691. – Ad Johannem Fechtium [...] de infundibuli sui occasione, consilio, et instituto, dissertatio epistolica [über den ›Nürnberger Trichter‹]. In qua, adversus Dialogistam, etiam asseritur Hydraspis. Simul fit praeparatio, Judicii Sanguinis, in quo, palam, levato velo, disceptabitur, ardua, pol! et momentosa causa, num Judaei cum Christianorum sanguine faciant mysteria? Ebd. 1693. – De Sacri Romani Imperii libera civitate Noribergensi commentatio. Accedit, de Germaniae phonascorum Von der Meister-Singer, origine, praestantia, utilitate, et institutis sermone vernaculo liber. / Buch von der Meister-Singer holdseligen Kunst Anfang, Fortübung, Nutzbarkeiten, u. Lehr-

63 Sätzen [...]. Ebd. 1697 (mit Notenbeispielen). Nachdr. hg. v. Horst Brunner. Göpp. 1975. – Belehrung der jüdisch-teutschen Red- u. Schreibart. Durch welche, alle so des wahren teutschen Lesens kundig, für sich selbsten, innerhalb wenig Stunden, zu sothaner Wissenschafft gelangen können [...]. Königsb. 1699. – Hoffnung von der großen solennen u. fast allgemeinen Jüden-Bekehrung [...] (= Vorrede zu): Friedrich Albrecht Christiani: Der Jüden Glaube u. Aberglaube [...]. Hg. Christian Reineccius. Lpz. 1705 (Christiani war Judaeus conversus). – Der adriatische Löw, das ist: Kurtze Anzeigung, von des durchleuchtigen venetianischen Adels gesammter Geschlechter Ursprung, Aufnahm, wie auch deren angebornen Stamm-Wappen [...]. Altdorf 1704. – Benachrichtigungen wegen einiger die Judenschafft angehenden wichtigen Sachen. 2 Tle., Lpz. 1705. – Hofnung der Erlösung Israelis, oder klarer Beweiß der annoch bevorstehenden, u., wie es scheinet, allgemach-herannahenden grossen Jüden-Bekehrung, sammt unvorgreifflichen Gedancken, wie solche nächst Verleihung göttlicher Hülffe zu befördern [...]. Nürnb./ Altdorf 1707 (d. i. die 2., erw. Ausg. der ›Benachrichtigungen‹. Lpz. 1705). Ausgaben: Sammlung Wagenseil. Hg. Hartmut Bobzin u. Hermann Süß. Erlangen 1996 (= Kat. u. vollst. Bestand v. W.s Bibl.: 580 Titel von zus. 180.000 S. auf 1847 Microfiches). Literatur: Bibliografie: VD 17. – Weitere Titel: Gottfried Polycarp Müller: Das letzte Collegium des Herrn J. C. W. [...]. Altdorf 1705. – Gabriel Wagenseil: Letzte kindl. Liebes-Pflicht [...]. Königsb. 1705. – Zedler, Bd. 52 (1747). – Hamaxoschoenomnema sive Memoria Wagenseiliana cultus et officii supremi causa celebrata a patronis, collegis, fautoribus, auditoribus, filia, filio, generoque [...]. Altdorf 1709 (22 Epicedien, Elegien u. a.). – Heinrich Graetz: Gesch. der Juden v. den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Bd. 10, Lpz. 1868, S. 302 ff. – Ludwig Geiger: Das Studium der hebräischen Sprache in Dtschld. Breslau 1870. – Edward Schröder: J. C. W. In: ADB. – Magnus Weinberg: Die hebräischen Druckereien in Sulzbach. (Ihre Gesch.; ihre Drucke; ihr Personal). In: Jb. der Jüd.-Literar. Gesellsch. 1 (1903), S. 19–202; Verbesserungen u. Ergänzungen in: ebd. 15 (1923) S. 125–155. 21 (1930) S. 319–370. – Herbert Thompson: Wagner and W. London 1927. – Bernard D. Weinryb: Historisches u. Kulturhistorisches aus W.s hebräischem Briefw. In: Monatsschr. für Gesch. u. Wiss. des Judentums 83 (1939), S. 325–341. – An hebreisch-jid. Korespondenz zwischen Profesor W. un Jidn (Zuschteier zu der jid. Kultur-Gesch. im 17ten Jorhundert). In: Gedank u.

Wagenseil Leben 2 (1944), S. 109–119. – Hans-Joachim Schoeps: Philosemitismus im Barock. Tüb. 1952. – Julius Pirson: J. C. W. u. Jean Chapelain. Die Univ. Altdorf im Dienste Colberts. In: Gedächtnisschrift für Adalbert Hämel. 1885–1952. Hg. vom Roman. Seminar der Univ. Würzburg. Würzb. 1953, S. 197–222. – Harry Zohn u. M. C. Davis: J. C. W., Polymath. In: Monatshefte 46 (1954), S. 35–39. – Encyclopaedia Judaica. Bd. 16, Jerusalem 1971, S. 239 f. (Bibliogr.). – Friedrich Dickmann: Das Judenmissionsprogramm J. C. W.s. In: Neue Ztschr. für systemat. Theologie u. Religionsphilosophie 16 (1974), S. 75–92. – Horst Brunner: Einl. In: J. C. W.: ›Buch v. der Meister-Singer Holdseligen Kunst‹. Göpp. 1975, S. 1–25. – Stephen H. Garrin: J. C. W.’s ›Belehrung der teutsch-hebräischen Red- u. Schreibart‹: A Significant Contribution to Yiddish Scholarship. In: Michigan Germanic Studies 9 (1983), S. 33–44. – Martin Friedrich: Zwischen Abwehr u. Bekehrung. Die Stellung der dt. evang. Theologie zum Judentum im 17. Jh. Tüb. 1988. – HKJL, Bd. 2, Sp. 941–961 u. Register. – Gerhard Aring: Wage du zu irren u. zu träumen. Juden u. Christen unterwegs. Lpz./Köln 1992, S. 12 ff. (Bibliogr.). – Gershom Scholem: Shabbatai Zwi. Der myst. Messias. Ffm. 1992. – Hartmut Bobzin: Hebraistik im Zeitalter der Philologia Sacra am Beispiel der Univ. Altdorf. In: Syntax u. Text. St. Ottilien 1993, S. 151–169. – Wolfram Kinzig: Philosemitismus. Zur Gesch. u. historiograph. Verwendung des Begriffs. In: ZKG 105 (1994), S. 202–228. – Allison P. Coudert: Christl. Hebraisten des 17. Jh.: Philosemiten oder Antisemiten? Zu Johann Jacob Schudt, J. C. W. u. Franciscus Mercurius van Helmont. In: Morgen-Glantz 6 (1996), S. 99–132. – Andreas Kilcher: Die Sprachtheorie der Kabbala als ästhet. Paradigma. Zur Konstruktion einer ästhet. Kabbala seit der frühen Neuzeit. Stgt. 1998. – Hans Recknagel: Die Nürnberg. Univ. Altdorf u. ihre großen Gelehrten. o. O. [Altdorf] 1998, S. 134–141. – Gerhard Aring: J. C. W. In: Bautz. – Volker Wappmann: Juden, Quäker, Pietisten. Die Irenik des Sulzbacher Kreises (1651–1708). In: Union, Konversion, Toleranz [...]. Hg. Heinz Duchhardt. Mainz 2000, S. 119–138. – Wanda G. Klee: Peut-on écrire en allemand? Madeleine de Scudéry et J. C. W, un entretien sur la langue allemande. In: Mademeine de Scudéry. Une femme de lettres au XVIIe siècle. Hg. Delphine Denis. Arras 2002, S. 105–120. – H. Bobzin: Der Altdorfer Gelehrte J. C. W. u. seine Bibl. In: Reuchlin u. seine Erben. Hg. Peter Schäfer u. Irna Wandery. Sigmaringen 2002, S. 77–95. – Ders.: Judenfeind oder Judenfreund? Der Altdorfer Gelehrte J. C. W. In: Jüd. Leben in Franken. Hg. Gunnar Och u. H. Bobzin. Würzb. 2002, S. 33–51. – Ritualmord. Legenden in der

Waggerl europ. Gesch. Hg. Susanna Buttaroni u. Stanisl/aw Musial/. Wien u. a. 2002. – Christl. Kabbala. Hg. Wilhelm Schmidt-Biggemann. Sigmaringen 2003. – Peter Blastenbrei: J. C. W. u. seine Stellung zum Judentum. Erlangen 2004 (Verz. v. W.s Briefen S. 102–118). – Elke Witmer-Goßner: Habent sua fata libelli. Vom Leben u. Sterben der Sulzbacher Hofbibl. In: ›Die Mitten im Winter gründende Pfaltz‹. 350 Jahre Wittelsbacher Fürstentum PfalzSulzbach. Sulzbach-Rosenberg 2006, S. 223–228. – P. Blastenbrei: Pionier zwischen Theologie u. früher Aufklärung: J. C. W. In: Leibniz u. das Judentum. Hg. Daniel J. Cook u. a. Stgt. 2008, S. 251–260. – Ittai J. Tamari: Sulzbach, eine der bedeutendsten hebräischen Druckereien Europas. In: Die Juden in der Oberpfalz. Hg. Michael Brenner u. Renate Höpfinger. Mchn. 2009, S. 53–68. – A. B. Kilcher: Kabbala in Sulzbach. In: ebd., S. 69–86 [2009a]. – Ders.: Philologie u. Theologie des Philosemitismus im Barock. J. C. W. u. die christl. Verteidigung des jüd. Buches. In: MorgenGlantz 19 (2009), S. 201–234 [2009b]. – Ders. u. Philipp Theisohn: Jüd. Gelehrsamkeit in Europa u. das Judentum im europ. Gelehrtendiskurs. In: Diskurse der Gelehrtenkultur in der Frühen Neuzeit. Ein Hdb. Hg. Herbert Jaumann. Bln./New York 2011, S. 667–713. Herbert Jaumann

Waggerl, Karl Heinrich, * 10.12.1897 Badgastein, † 4.11.1973 Schwarzach im Pongau; Grabstätte: Wagrain, Bezirk St. Johann im Pongau. – Erzähler. Bittere Armut prägte die Kindheit W.s, der bereits als Schuljunge dem Gelderwerb nachgehen musste, als sein Vater, ein Zimmermann, arbeitslos geworden war. Er besuchte in Salzburg das Lehrerseminar, nahm am Ersten Weltkrieg teil u. geriet in ital. Kriegsgefangenschaft. 1924 gab W. im Selbstverlag die Aphorismen heraus. Seine frühen Erzählungen, die nur in Zeitungen u. Zeitschriften erschienen, handeln von Außenseiterschicksalen u. stellen die sozialen Gegebenheiten pessimistisch u. schonungslos dar. Dagegen ist W.s Bauern- u. Siedlerroman Brot (Lpz. 1930) in vieler Hinsicht Hamsuns Segen der Erde verpflichtet u. machte W. einem breiten Publikum bekannt: Simon Röck, der »Mann im Triumph, ein König David in seiner Glorie«, zieht in die Einöde u. baut sich einen Hof auf. Bei dieser Landnahme wird von sozialen, polit. u. öko-

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nomischen Zusammenhängen abstrahiert u. eine archaisch anmutende, »natürliche« u. patriarchal. Welt vorgestellt, in welcher der Mensch sich in einer scheinbar ewigen, unveränderl. Ordnung aufgehoben weiß, deren Kontinuität durch den Kreislauf der Natur noch unterstrichen wird. Wie negativ sich jegl. Veränderung der gesellschaftl. u. natürl. Ordnung auswirkt u. durch die Natur zuschanden gemacht wird, demonstriert W. in seinem zweiten Roman, Schweres Blut (Lpz. 1932): Der Sägewerksbesitzer Blas, wie der Bauer Simon ein vitalistischer Übermensch, scheitert beim Bau eines Wehrs; die Arbeiter, von einem kriminellen Gewerkschafter angestiftet, streiken, eine Hochwasserkatastrophe vernichtet den unvollendeten Bau. Blas erkennt, dass er die ihm gesetzten Grenzen überschritten hat; er verpachtet das Sägewerk u. wird Bauer. Die komplexen ökonomischen Zusammenhänge werden aus einer naiven, nahezu infantilen Perspektive gedeutet. Diese konservativen ideolog. Implikationen wurden nicht nur vom autoritären Ständestaat (W. erhielt 1934 den ersten Österreichischen Staatspreis für Literatur), sondern auch vom »Dritten Reich«, wo er immer wieder auf den Förderungslisten erschien, honoriert. W. war Mitgl. des Bundes deutscher Schriftsteller Österreichs, hatte den »Anschluss« begeistert begrüßt, wurde 1938 Mitgl. der NSDAP, 1939 Landesobmann für Schriftsteller im Gau Salzburg u. 1940 Bürgermeister von Wagrain. Für seine Haltung nach dem »Anschluss« erntete W. massive Kritik; er bestritt aber, wissentlich Mitgl. irgendeiner Parteiorganisation gewesen zu sein. Seine späteren Texte enthalten sich meist expliziter ideolog. Botschaften, u. damit stand ihrem ungeheuren Erfolg (etwa in Buchgemeinschaftsausgaben) nichts im Wege. Weitere Werke: Das Wiesenbuch. Lpz. 1932. – Das Jahr des Herrn. Ebd. 1933. – Du u. Angela. Ebd. 1934 (E.en). – Mütter. Ebd. 1935 (R.). – Wagrainer Tgb. Ebd. 1936. – Kalendergesch.n. Ebd. 1937. – Fröhl. Armut. Salzb. 1948. – Wagrainer Geschichtenbuch. Ebd. 1950. – Heiteres Herbarium. Blumen u. Verse. Ebd. 1950. – Und es begab sich ... Inwendige Gesch.n um das Kind v. Bethlehem. Ebd. 1953. – Liebe Dinge. Miniaturen. Ebd. 1956. – Kleine Münze. Ebd. 1957. – Wanderung u. Heim-

65 kehr. Hbg. 1959. – Ein Mensch wie ich. Salzb. 1963. – Kraut u. Unkraut. Ebd. 1968. – Briefe. Eine Ausw. Ebd. 1976. – Das W.-Lesebuch. Ebd. 1984. – Sämtl. Werke. 2 Bde., Salzb. 1997. – Sämtl. Weihnachtserzählungen. Ebd. 2009. Literatur: Rudolf Bayr: K. H. W. Der Dichter u. sein Werk. Salzb. 1947. – Martha Willinger: K. H. W. – ein 60er. Wien 1957. – Lutz Besch (Hg.): K. H. W. genauer betrachtet. Salzb. 1967. – Kleine Bibliogr. der Werke K. H. W.s. Zum 70. Geburtstag des Dichters. Ebd. 1967. – Gerhard Schweizer: Bauernroman u. Faschismus. Zur Ideologiekritik einer literar. Gattung. Tüb. 1976. – Friedbert Aspetsberger: Lit. u. Politik in den 30er Jahren. Josef Wenter u. K. H. W. In: Österr. Lit. seit den 20er Jahren. Hg. ders. Wien 1979, S. 5–26. – Karl Springenschmid: Servus Heiner! Erinnerungen an K. H. W. Mchn. 1979. – F. Aspetsberger: Literar. Leben im Austrofaschismus. Königst./Taunus 1980. – Gerhart Schinke: K. H. W. Mensch u. Werk. Mchn. 1985. – Otto Amann: Das andere Gesicht. Studien zur frühen Erzählprosa v. K. H. W. Diss. Innsbr. 1983. – Karl Müller: K. H. W. (1897–1973). Ein Fallbeispiel. In: Zäsuren ohne Folgen. Das lange Leben der literar. Antimoderne Österreichs seit den 30er Jahren. Salzb. 1990, S. 66–164. – Sabine Kößling u. Jörg Sobotka: ›Unordnung ist ihm verhaßt, alles Fremde u. Abenteuerliche‹. Über K. H. W. u. sein Werk. In: Dichtung im Dritten Reich. Zur Lit. in Dtschld. 1933–1945. Hg. Christiane Caemmerer. Opladen 1996, S. 119–134. – Laurenz Krisch: Der Bad Gasteiner K. H. W. FS anläßlich seines 100. Geburtstages 1997. Bad Gastein 1996. – K. Müller: K. H. W. Eine Biogr. mit Bildern, Texten u. Dokumenten. Salzb. u. a. 1997. – Ernst Pichler. K. H. W. Eine Biogr. Innsbr. 1997. – K. Müller (Hg.): ›Nichts Komplizierteres heutzutage als ein einfacher Mensch‹. Beiträge des Internat. K.-H.-W.Symposion 1997. Salzb. 1999. – Ders.: ›Wir sind eben Bestien, die sich gegenseitig in Schach halten‹ – ›Das Leben ist ein Prozeß, den man verliert‹. K. H. W. u. Thomas Bernhard im Vergleich. In: ThomasBernhard-Jb. (2003), S. 13–33. Johann Sonnleitner / Red.

Wagner, Achim, * 17.7.1967 Coburg. – Lyriker, Erzähler, Librettist. W. studierte verschiedene Fachrichtungen in Würzburg. 1992–1996 war er dort als freier Lektor u. Korrektor tätig u. pflegte seit 1993 zahlreiche Kooperationen mit Fotografen, Malern u. Komponisten. Seit 1996 lebt er in Köln. 1997–1999 arbeitete er als Dramaturg bei freien Musiktheaterproduktionen u. war

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1998–2000 Leiter des Projekts »Endstation«, in dem es um Literaturveranstaltungen, Musiktheater u. Bildende Kunst in Bahnhöfen ging. Er organisierte mehrere Literatentreffen u. Lesereihen, z.B. »parasiten« im »ARTheater« der Parasitenpresse Köln, arbeitete für Literaturzeitschriften (u. a. »Surrogat – Zeitschrift für surrealistische Kunst und Literatur«) u. wirkte bei verschiedenen Literaturgruppen u. Autoreninitiativen mit wie der 2001 von ihm mitbegründeten »Rheinischen Brigade«. 1999 u. 2002 hielt sich W. längere Zeit in Havanna auf, wo er auch auftrat. 2003 nahm er am Lyrikerzirkel »Die Freuden des jungen Konverter« teil u. war Gastmoderator beim »lauter niemand literaturlabor« in Berlin. Im Rahmen der Veranstaltung »Dance 2004« war er Dramaturg für die Tanzoper Traumtext in München. 2005 gründete er zusammen mit Adrian Kasnitz u. Enno Stahl die Lesebühne am Brüsseler Platz in Köln. W. schreibt v. a. Lyrik, die von prosaischer Natur ist. Häufig behandelt er das Thema der körperl. Liebe. In seinem Lyrikband vor einer ankunft (Riemerling bei Mchn. 2006) nimmt er – in der Rolle des kühlen u. distanzierten Beobachters – den Leser auf eine literar. Reise mit, um Deutschland sprachlich zu vermessen. Dabei fängt er scheinbar im Vorübergehen das Unscheinbare ein. Es handelt sich um Bilder, teils melancholisch, teils abstoßend: ein Selbstporträt mit Zigarette, die Silhouette einer Frau oder das Erbrechen in den Rhein. Das Ziel der Reise wird nicht erreicht, vielmehr kommt es W. auf das Verweilen an u. auf das Schärfen des Blicks für das Schöne im Alltäglichen. Sprachlich gekonnt erzeugt er beim Leser ein Schwebegefühl; eine mögliche, aber nicht angestrebte Ankunft verliert hingegen an Bedeutung. W. wurde 2005 für den Peter-Huchel-Preis nominiert. 2006 erhielt er ein Stipendium der Stadt München für das Künstlerhaus Villa Waldberta, 2009 das Istanbul-Stipendium der Kunststiftung NRW. Weitere Werke: blinder fisch. Super 8 roman. Köln. 1998. – niemandem dieser tag. Köln. 2000 (L.). – Kubanische Tage. Ein Roman aus/in Havanna. Wien 2001. – Wasser Fluchten. Köln 2006 (P.).

Wagner Literatur: Enno Stahl (Hg.): Das Kölner Autoren-Lexikon. Bd. 2, Köln 2002. Ingo Langenbach

66 S. 197–227 (mit Bibliogr.). – Norbert Ely: ›Der schöne, sanfte Ton seiner Sprache, die edle freie Bildung seines Geistes [...]‹. A. W., der geheime Lehrmeister des jungen Richard. In: Programmhefte der Bayreuther Festspiele 22 (1985), S. 31–42. Peter Langemeyer

Wagner, (Gottlob Heinrich) Adolf, auch: Ralph Nym, * 15.11.1774 Leipzig, † 1.8. 1835 Gut Hohenthal in Großstädteln bei Leipzig. – Philologe, Übersetzer, HerausWagner, Bernd, * 30.5.1948 Wurzen. – geber u. Schriftsteller. Verfasser von Prosa u. Lyrik, Journalist. Nach theolog. u. philolog. Studien in Leipzig ging W. 1798 nach Jena, wo er Vorlesungen Fichtes besuchte, kehrte 1799 zurück u. ließ sich als Privatgelehrter nieder. Er war mit Kanne, Falk – dessen Auserlesene Werke (3 Bde., Lpz. 1819) er herausgab – u. Apel befreundet u. hatte Umgang mit Schiller, Tieck, Hoffmann u. korrespondierte mit Fouqué (Briefwechsel. Hg. Hans von Wolzogen. In: Der Wächter 7, 1924, S. 81–118). 1824 heiratete er Christiane Wendt, die später als Erzählerin hervortrat. W.s bedeutendste Arbeiten betreffen die Vermittlung fremdsprachiger Literatur, zu deren Erschließung u. Verbreitung er durch Texteditionen, Übersetzungen, Nachdichtungen u. Interpretationen beitrug. Aus Anlass der Herausgabe einer kommentierten Sammlung der Hauptwerke Dantes, Petrarcas, Ariosts u. Tassos (Il Parnasso Italiano [...]. Lpz. 1826) erhielt er 1827 von der Universität Marburg den Ehrendoktor. Er veröffentlichte auch die erste Ausgabe der gesammelten Schriften Giordano Brunos (Opere [...]. 2 Bde., ebd. 1830). W.s poetische Versuche (u. a. Theater. Lpz./Altenburg 1816) haben seine Zeit allerdings nicht überdauert. Großen Einfluss hatte W. auf seinen Neffen Richard, der sich in seiner Autobiografie dankbar der vielfältigen Anregungen erinnerte, die er von dem ›gelehrten Freigeist‹ empfangen habe (Mein Leben). W. vermittelte ihm die Dichtungen der Romantiker u. – mit der Streitschrift Theater und Publicum (Lpz. 1826) – einen Überblick über die Geschichte des abendländ. Dramas u. Theaters.

Weitere Werke: Zwei Epochen der modernen Poesie [...]. Lpz. 1806. – (Hg.): Robert Burns: Complete Works [...]. Ebd. 1835. Literatur: Goedeke 6. – C(arl) Fr(iedrich) Glasenapp: A. W., der Oheim Richard Wagner’s. Ein Lebensbild [...]. In: Bayreuther Bl. 8 (1885),

W. wuchs in Sachsen auf, arbeitete als Rohbaumonteur in Mecklenburg. 1966 machte er sein Abitur u. begann ein Lehrerstudium an der Pädagogischen Hochschule Erfurt. Seit 1970 arbeitete er als Kunst- u. Deutschlehrer in Schmachtenhagen (Mark Brandenburg). 1973 absolvierte er seinen zweijährigen Grundwehrdienst. 1977 schied er aus dem Lehrerberuf aus u. lebte als freier Autor in Ost-Berlin. 1985 stellte er einen Antrag auf Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR u. siedelte nach West-Berlin über. W.s erste Prosabände, die noch im Ostberliner Aufbau Verlag erschienen, lassen einen Schriftsteller erkennen, der literar. Motive früherer Jahrhunderte verwendet, sich aber auch an Problemen der unmittelbaren Gegenwart orientiert. Er entwirft Szenen aus dem Leben Grabbes (G. in B. Bln./Weimar 1979) oder lässt sich von Daniel Defoes Beschreibung der Londoner Pest im Jahr 1665 leiten, um so zu aktuellen Fragestellungen zu finden (Das Treffen. Ebd. 1976). In alltägl. Geschichten ergründet W. die Gefühlslage seiner Generation. Das Verhältnis seiner Figuren zur sozialistischen Gesellschaft ist nicht durchgängig frei von ernsten Konflikten. Der Buchtitel Reise im Kopf (ebd. 1984) weist auf ein Grundproblem u. somit auf ein wesentl. Motiv in W.s Prosa hin: Reales Reisen ist sowohl dem Autor als auch dessen Figuren nur beschränkt möglich. In der Literaturkritik der DDR stieß der lyrische, um ein minutiöses Registrieren der alltägl. Umwelt bemühte Stil wegen des Fehlens der »sozialen Determination des Menschen in der literarischen Darstellung« (Berliner Zeitung, 24.12.1977) auf Kritik. In der Titelgeschichte der ersten in der BR Deutschland verlegten Prosasammlung Ich will nicht nach Österreich (Darmst. 1987) wan-

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dert der Ich-Erzähler von Böhmen nach 2003) beschreibt. In Rapid City findet er z. B. Mähren u. wird von österr. Grenzbeamten drei Originalsegmente der Berliner Mauer u. beobachtet u. verfolgt. Nach dem Gedicht- im Stammesgebiet der Dakota reflektiert W. band Mein zu großes Auge (ebd. 1988), der Texte über die DDR als Reservat u. darüber, dass aus der Zeit von 1970 bis 1988 enthält u. alle Sachsen seit Karl May »nebenberuflich kaum einen neuen Ton in die um Alltags- Indianer« seien. Seit 2001 verstärkte W. seine journalistiwahrnehmung bemühte dt. Gegenwartslyrik brachte, erschien der autobiografisch u. es- sche Tätigkeit. Er schreibt für die großen dt. sayistisch angelegte Band Die Wut im Koffer. Zeitungen u. das polit. Kulturmagazin »CiKalamazonische Reden 1–9 (Bln. 1991). Darin cero«. Als er nach einer Erkrankung seit 2005 reflektiert W. selbstkritisch seinen Fortgang Hartz IV bezieht, verfasst er zusammen mit aus der DDR vor der Wende u. geht auch auf seiner Tochter Luise Wagner Berlin für Arme. die Gründe des Zusammenbruchs der DDR Ein Stadtführer für Lebenskünstler (Bln. 2008). ein. Das Buch ist Klagelied u. Abrechnung Weitere Werke: Das Hemd des Glücklichen. zugleich. W. gehört zu den dt. Intellektuel- Urauff. Theater der Freundschaft Bln./DDR 1972 len, die den Untergang des realen Sozialis- (D.). – Robbi Blanks u. Theo Holzschuhs Meerfahrt. mus, nicht aber das Ende der sozialistischen Bln. 1980. – Das neue Lumpengesindel. Bln. 1981. – ›Der Griff ins Leere‹. 13 Versuche. Bln. 1988. – Idee für zwangsläufig hielten. Für seinen opulenten Wenderoman Paradies Uwe Kolbe, Lothar Trolle u. B. W. (Hg.): Mikado oder Der Kaiser ist nackt. Selbstverlegte Lit. in der (Bln. 1997) erhielt W. ein Stipendium des DDR. Darmst. 1988. – Revolutionspark. DeutschDeutschen Literaturfonds. Die Geräuschar- landradio Bremen 1998 (Hörsp.). – Schattenmorelchivarin Judith Mehlhorn bricht nach dem le. Bln. 1999 (E.en). – Hel. Mit Holzschnitten v. Fall der Mauer auf, um ›Altzehnland‹ ken- Peter Herrmann. Bln. 2005 (E.). nenzulernen. Mehlhorn ist ein Stasi-Opfer. Literatur: Dietrich Grohnert: Erprobt sich in Mit Überdosen von Cortison hat man die vielen Genres. B. W. In: Deutsch als Fremdsprache rheumakranke Kritikerin lahmgelegt. In sie- 20 (1983), Sonderh., S. 45–51. – Alexander v. Borben Nächten erzählt sie ihrem ehemaligen mann: Die Dinge, die Menschen – Auge u. Herz. Zu Kommilitonen William von ihren Erlebnis- Gedichten v. B. W. u. Robert Schindel. In: die horen sen. Doch nicht nur ihre Fahrt durch die 34 (1989), H. 153, S. 10–18. – Heinz Blumensath: BR Deutschland zu Wohngemeinschaften, Gespräch mit B. W. In: Glossen 6 (1999), o. P. – Schrottplätzen u. Hamburger Villen, sondern Christine Cosentino: B. W.s ›Paradies‹. Ironischutop. Dimensionen in der Post-Wende-Lit. In: Seauch ihr Erzählen ist eine »rasante Reise«. minar 36 (2000), H. 4, S. 436–451. – Dies.: ProNicht umsonst warnt William vor dem Geis- grammiertes Schweigen oder schwellender Redeteszustand der Protagonistin, denn Judith ist strom? Zur Authentizität des Schreibens in B. W.s nicht nur auf Cortison-Entzug, sie ist auch Roman ›Club Oblomow‹. In: GNR 32 (2001), H. 2, eine moderne »Simplicissima« (Cosentino). S. 120–126. – Dorothea v. Törne: ›Wie ich nach Damit ist ihre Identität als Schelmenfigur Chihuahua kam‹ v. B. W. In: NDL 51 (2003), H. 550, benannt, die sich unter der Narrenkappe jede S. 138–140. – Hans Christoph Buch: B. W. In: LGL. erdenkl. Freiheit nimmt. Genauso üppig wie – Oliver Geisler: Textreisen u. Reisetexte. B. W.s Figur u. Erzähltes sind die literar. Traditio- Poetik der Bewegung. In: Dt.-dt. Literaturexil. Hg. nen, in die sich dieser Roman stellt. Er erin- Walter Schmitz u. Jörg Bernig. Dresden 2009, S. 668–689. – Monika Hohbein-Deegen: Reisen nert u. a. an die Trobadora Beatriz von Irmtraud zum Ich. Ostdt. Identitätssuche in Texten der Morgner, seine Aufteilung in Vigilien an die neunziger Jahre. Oxford u. a. 2010. Nachtwachen des Bonaventura und den GoldHajo Steinert / Elke Kasper nen Topf von E.T.A. Hoffmann. Nach dem Erscheinen der Literatursatire Wagner, Christian, * 5.8.1835 WarmClub Oblomow (Bln. 1999) erhielt W. eine bronn, † 15.2.1918 Warmbronn; GrabEinladung an die University of Kentucky, stätte: ebd., Friedhof. – Lyriker, Erzähler. Lexington. Daran schloss sich eine eigenwillige Reise durch Nordamerika u. Mexiko an, Der Sohn eines Schreiners u. Nebenerwerbsdie W. in Wie ich nach Chihuahua kam (Gött. landwirts arbeitete auf dem verschuldeten

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elterl. Hof mit, übernahm nach dem Tod des Vaters 1866 die Landwirtschaft u. führte sie in bescheidenem Rahmen weiter. Im Winter arbeitete W. als Tagelöhner u. Holzfäller (1871–1885). 1870 starb seine erste Frau, 1892 auch seine zweite; aus beiden Ehen gingen je vier Kinder hervor, von denen die aus erster Ehe schon im Säuglingsalter starben. Nach verstreut publizierten Prosatexten u. Gedichten kam 1885 W.s erstes Buch heraus, Märchenerzähler, Bramine und Seher (Stgt.), eine Sammlung von Lyrik mit verbindenden Prosakommentaren unter dem Obertitel Sonntagsgänge. In der Folge erschienen noch zwei Fortsetzungen (1885–90. Neudr. 3 Tle., Kirchheim/Teck 1976). Weitere Sammlungen von Gedichten u. epischen Dichtungen publizierte er u. d. T. Weihegeschenke (Stgt. 1893), Neue Dichtungen. Oswald und Klara. Herbstblumen (Heilbr. 1897), Ein Blumenstrauß (Schwäbisch-Hall 1906. 61913. Neudr. Magstadt 1967) u. Späte Garben (Mchn. 1909. Neudr. im Band Weihegeschenke zusammen mit den Neuen Dichtungen. Kirchheim/Teck 1981). Einen späten Erfolg erzielte W. mit dem 1913 in München erschienenen Auswahlband Gedichte, den Hermann Hesse herausgab u. mit einem werbenden Vorwort versah (Neuausgabe mit Nachwort von Peter Handke. Ffm. 1980) sowie mit der autobiogr. Sammlung von Geschichten aus seiner Jugend, Eigenbrötler (Stgt. 1915. 51918. Neudr. Kirchheim/Teck 1976. 2005). W., ein literar. Solitär jenseits der Zentren der literar. Moderne, ein ›Lebensreformer‹ jenseits der »Lebensreformbewegung der Jahrhundertwende« (P. Sprengel), wurde schon früh von einem Theoretiker der Moderne wie Michael Georg Conrad positiv rezensiert, von Julius Hart gar als »deutscher Tolstoi« gefeiert u. von Gustav Landauer als Persönlichkeit einer anarchischen Gegenkultur wahrgenommen. Die späte Wiederentdeckung W.s seit Mitte der 1970er Jahre verdankte sich zunächst außerliterar. Kriterien u. war geprägt vom Bild des frühen Umweltu. Tierschützers mit franziskan. wie heidn. Zügen. Zwar angeregt von Buddhismus u. Brahmanismus, aber eigenständig entwickelt, stehen im Mittelpunkt seines Denkens die Lehren des Atomismus u. der Seelen-

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wanderung. W. predigte seine ökolog., gegenanthropozentr. Botschaft von der »möglichsten Schonung alles Lebendigen« in Zeitungsartikeln u. Vorträgen sowie programmatisch, in der Form eines Katechismus, in der lyr. u. epischen Dichtung Neuer Glaube (Stgt. u. a. 1894. Neudr. Kirchheim/Teck 1980). Auch zahlreiche Gedichte zeugen von W.s Lebens- u. Naturkonzeption. Trotz gedankl. Eigenständigkeit erheben sie sich allerdings nur selten über das Niveau der epigonalen bildungsbürgerl. Poesie des 19. Jh. (W. Kraft). Aus der Fülle durchschnittl. Texte ragen aber einige genialische Gedichte heraus, etwa Syringen, Ostersamstag, Zitronenfalter, Blühender Kirschbaum u. Spätes Erwachen, »schöne Zufälle« (Handke). In sehr unterschiedlichen, intuitiv gestalteten Formen von der Elegie bis zur Ode artikulieren sich eine bemerkenswerte Sensibilität u. Sinnlichkeit, womit die Einheit von Mensch u. Natur beschworen wird – in den schönsten Gedichten nicht als bloßes »Naturevangelium«. Das persönl. Leid ist als lebensprägende Verlusterfahrung konstitutiv für W.s lyr. Sprechen geworden. Mit seinen gelungensten Gedichten erscheint W. als bedeutender Nachfahre romant. u. nachromant. Lyriker wie Byron u. Lenau sowie von Mörike u. Uhland. Seit den 1930er Jahren hat seine Lyrik immer wieder positive Resonanz gefunden, u. a. bei Albrecht Goes, Werner Kraft, Georg von der Vring, Hermann Lenz, Werner Dürrson, Stephan Hermlin, Peter Handke, Peter Härtling, Johannes Kühn u. Wulf Kirsten. – 1972 wurde die ChristianWagner-Gesellschaft zum Andenken an den Dichter gegründet; 1990 stiftete die Gesellschaft den Christian-Wagner-Preis (für Lyrik), der seit 1992 (an Richard Leising) alle zwei Jahre verliehen wird. Weitere Werke: Ausgaben: Ges. Dichtungen. Hg. Otto Güntter. Stgt. 1918. – Dichtungen. Hg. Wilhelm Rutz. 2 Bde., ebd. 1927/28. – Blühender Kirschbaum. Gedichte u. Prosa. Hg. Albrecht Goes. Mchn. 1940 u.ö. – Gedichte. Hg. Ulrich Keicher. Stgt./Aalen 1973. Erw. Stgt. 21981. – Blühender Kirschbaum. Gedichte. Hg. Jürgen Schweier. Kirchheim 1995. – Schauspiele. Hg. Harald Hepfer. Warmbronn 1998. – Doch Wort u. Tat muß zusammenstimmen. C. W. – Eine Welt v. Namenlo-

69 sen. 2 Bde.: Das dichter. Werk / Lebenszeugnisse u. Rezeption. Hg. U. Keicher. Gött. 2003. – Briefeditionen: C. W. – Hermann Hesse. Ein Briefw. 1909–15. Marbach 1977. – Magnus Schwantje. Ein Briefw. 1902–1917. Hg. H. Hepfer u. J. Schweier. Warmbronn 2002. – Der Autor u. sein Biograf. C. W. – Richard Weltrich. Ein Briefw. (1886–1912). Kommentierte Ausw. mit diplomat. Umschrift u. CD-Ed. Hg. Ulrich Wilhelm Weiser u. H. Hepfer. Leonberg 2011. – Einzeltitel: Aus meinem Leben. Leonberg-Warmbronn 1985 (Autobiogr.). – H. Hepfer (Hg.): Nachlese zu Leben u. Schaffen C. Ws. (1835–1918). Eine Dokumentation des Nachlasses im C.-W.-Archiv in Warmbronn. Warmbronn 2006. – Schaffe selbst dir einen Rosenhag. Zum 175. Geburtstag hg. v. H. Hepfer. Ebd. 2010 (Unveröffentlichte Gedichte). – Aus der Heimat. Ein Schwabenbuch v. C. W. Zum 175. Geburtstag neu hg. v. H. Hepfer. Ebd. 2010. Literatur: Richard Weltrich: C. W. Stgt. 1898. – Werner Kraft: C. W. In: Ders.: Wort u. Gedanke. Bern/Mchn. 1959, S. 230–250. – C. W. aus Warmbronn. Eine Chronik. Bearb. v. Huguette Hermann u. Friedrich Pfäfflin. Marbach 1977. – Jahresschr.en der C.-W.-Gesellsch. Warmbronn 1978 ff. – Der Dichter C. W. Bearb. v. Harald Hepfer u. F. Pfäfflin. Marbach 1983 (mit Primärbibliogr.). – H. Hepfer u. a. (Hg.): Es gibt Sonnen genug. Kirchheim/Teck 1985. – Rainer Moritz: Sich an Ewigkeiten erinnern. Hermann Lenz u. C. W. Warmbronn o. J. [1992]. – Wulf Kirsten: Vorw. In: C. W.: Eine Welt von Namenlosen (2003), S. 9–17. – Burckhard Dücker: ›Doch Wort u. Tat muss zusammenstimmen‹. Kulturtransfer u. Ritualisierung des Authentischen in der Lit. zu Beginn des 20. Jh. am Beispiel C. W.s. In: Übergänge u. Verflechtungen. Kulturelle Transfers in Eruopa. Hg. Gregor Kokorz u. Helga Mitterbauer. Bern 2004, S. 329–359. – Edith Hanke: Leo N. Tolstoi u. C. W. In: Aufbrüche, Seitenpfade, Abwege. Suchbewegungen u. Subkulturen im 20. Jh. Würzb. 2004, S. 71–80. – Der Dichter C. W. zum 170. Geburtstag am 5. Aug. 2005. Kat. der ständigen Ausstellung im C.-W.-Haus, Warmbronn. Hg. H. Hepfer. Warmbronn 2005. – Peter Härtling: C. W.s Zukunft – unsere Vergangenheit? Festvortrag zur wiss. Tagung der C.-W.-Gesellsch.: Die Wiederentdeckung eines Autors. Warmbronn 2007. – B. Dücker u. H. Hepfer (Hg.): Wiederentdeckung eines Autors. C. W. in der literar. Moderne um 1900. Gött. 2008. – B. Dücker: Landschaft als Erinnerungs- u. Erfahrungsraum bei C. W. Zur Funktion v. Natur als kultureller Erweiterungswelt um 1900. In: Estudios Filológicos Alemanes 15 (2008), S. 485–500. – Karl Kollmann: C. W., der Visionär aus dem Umfeld der ›Lebensreform‹ um

Wagner 1900. In: ebd., S. 501–512. – B. Dücker: ›Wohin nun anders als nach Italien?‹ Zu C. W.s Italienreisen um 1900. Ein Beitr. zur Literaturgesch. der Jahrhundertwende. Warmbronn 2010. Wilhelm Haefs

Wagner, Cosima, geb. de Flavigny, * 24.12.1837 Bellagio/Comer See, † 1.4. 1930 Bayreuth; Grabstätte: ebd., Garten von Haus Wahnfried. – Brief- u. Tagebuchautorin. Die Tochter von Franz Liszt u. der Schriftstellerin Marie Gräfin d’Agoult heiratete 1857 den Dirigenten Hans von Bülow, mit dem sie zwei Töchter hatte (Daniela u. Blandine). Durch den leidenschaftl. Einsatz Bülows für das Werk Richard Wagners ergaben sich noch im selben Jahr Kontakte zu dem Musikdramatiker. In den nächsten Jahren entwickelte sich eine zunächst geheime Liebesbeziehung. 1868 zog W. endgültig zu Wagner nach Tribschen am Vierwaldstätter See, wo 1869 ihr Sohn Siegfried zur Welt kam (weitere gemeinsame Kinder: Isolde, geb. 1865, u. Eva, geb. 1867). Sie erledigte zu einem großen Teil Wagners umfangreiche Korrespondenz; er diktierte ihr seine Autobiografie Mein Leben. 1870, nach der Scheidung von Bülow, wurde sie mit Richard Wagner in Luzern getraut. Die folgenden Jahre waren bestimmt von der Planung u. Realisierung der Bayreuther Festspiele (1872 Übersiedlung nach Bayreuth u. Grundsteinlegung des Festspielhauses, 1876 erste Aufführungen, 1874 Umzug ins Haus Wahnfried). Ein unschätzbares Quellenwerk sind W.s seit 1869 entstandene Tagebücher (Hg. Martin Gregor-Dellin u. Dietrich Mack. 2 Bde., Mchn. 1976/77. Revidiert 4 Bde., 1982), in denen sie nicht nur Einzelheiten von Wagners Tagesablauf, seine privaten Äußerungen zu aktuellen polit., philosophischen u. künstlerischen Fragen sowie den Entstehungsprozess des Spätwerks beschrieb, sondern darüber hinaus ein Panorama der geistigen u. kulturellen Entwicklung des wilhelmin. Kaiserreichs entwarf. Mit Wagners Tod brechen die Tagebuchaufzeichnungen ab. W. übernahm die Leitung der Bayreuther Festspiele (bis 1906) u.

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verwaltete das Wagner’sche Erbe; der Bayreuther Kreis um W. u. Hans von Wolzogen, Herausgeber der noch von Wagner begründeten »Bayreuther Blätter«, entwickelte sich unter ihrem Einfluss zu einer zunehmend deutschnationalen u. antisemitisch orientierten Strömung innerhalb der Kulturreformbewegung. W.s umfangreiche Korrespondenz mit ihrer Familie, mit Künstlern, Politikern u. Intellektuellen (Das zweite Leben. Hg. D. Mack. Mchn. 1980) zeigt sie als intelligente u. selbstbewusste Frau, die nicht allein die schwierige Aufgabe der künstlerischen u. finanziellen Leitung des stets gefährdeten Bayreuther Unternehmens meisterte, sondern darüber hinaus die wesentl. kulturellen Strömungen des späten 19. u. beginnenden 20. Jh. durchlebt u. reflektiert hat. Weitere Werke: Graf Gobineau. Ein Erinnerungsblatt aus Wahnfried. Stgt. 1907. – Franz Liszt. Ein Gedenkblatt v. seiner Tochter. Mchn. 1911. – Briefwechsel: C. W. u. Houston Stewart Chamberlain im Briefw. 1888–1908. Lpz. 1934. – Die Briefe C. W.s an Friedrich Nietzsche. 2 Tle., Weimar 1938 u. 1941. – C. W./Richard Strauss. Ein Briefw. Tutzing 1978. – C. W./Ludwig II. v. Bayern. Briefe. Mchn. 2004. Literatur: Richard Graf du Moulin Eckart: C. W. 2 Bde., Mchn. 1931. – Martin Gregor-Dellin: Die Tagebücher C. W.s. In: NDH 23 (1976), S. 715–748. – George R. Marek: C. W. Bayreuth 1982. – Franz Wilhelm Beidler: C. W.-Liszt. Der Weg zum Wagner-Mythos. Bielef. 1997. – Oliver Hilmes: Herrin des Hügels. Das Leben der C. W. Mchn. 2007. Ulrike Kienzle

Wagner, (Johann) Ernst, * 2.2.1769 Roßdorf/Rhön, † 25.2.1812 Meiningen. – Erzähler. Der Pfarrerssohn W. studierte Jura in Jena, wurde dann Privatsekretär eines Gutsherrn in seiner Heimat u. erhielt 1804, nach dem Beginn seiner schriftstellerischen Arbeit, auf Vermittlung Jean Pauls das Amt eines Kabinettsekretärs bei Herzog Georg von Meiningen. Grundthema der Romane W.s ist ein nach sozialer Harmonie strebendes bürgerl. Leben in einer vom Adel beherrschten Gesellschaft. W.s erster Roman, Willibalds Ansichten des Le-

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bens (2 Bde., Meiningen/Hildburghausen 1804), erzählt die Lösung von Konflikten in einer Familie des gehobenen Bürgertums; Adlige mischen sich huldvoll darunter. Das Vorbild von Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre ist erkennbar. Neben Goethe standen Franz Sternbalds Wanderungen von Tieck Modell für W.s Künstlerroman Die reisenden Maler (2 Bde., Lpz. 1806). Trotz vieler Gespräche u. Erörterungen über die Kunst zeigt das Buch v. a. den sozialen Frieden, wenn sich die bürgerl. Künstler am Ende als verkappte oder verlorene Adlige herausstellen, sodass aus den angesponnenen Liebesverhältnissen keine Mesalliancen werden. Die Absage an frühere Ideale von romant. Universalität formuliert schließlich W.s Roman Ferdinand Miller (Tüb. 1809), der unter dem Einfluss von Fichtes Reden an die deutsche Nation geschrieben wurde u. den bürgerl. Intellektuellen auf den Weg zum dt. Landschuldirektor leitet. Der Übergang vom Epigonentum zur Trivialität ist überall in W.s Romanen spürbar. Weitere Werke: Die reisenden Maler. Lpz. 1801 (Lustsp.). – Willibalds neue Ansichten des Lebens. Gießen 1807. – Reisen aus der Fremde in die Heimath. 2 Bde., Hildburghausen 1808/1809. – Isidora. Tüb. 1812 (R.). – Sämmtl. Schr.en. Hg. Friedrich Mosengeil. 12 Bde. in 6 Bdn., Lpz. 1827/ 28. 31854–56. – Adolf Maria Svoboda (Hg.): J. E. W. (1769–1812), der (fast) vergessene Dichter des Herzogtums Sachsen-Meiningen. Ein Lesebuch. Bad Liebenstein 2001. Literatur: Ludwig Fränkel: J. E. W. In: ADB. – Karl Weber: J. E. W. Diss. Erlangen 1924. – Georg Neumann: E. W.s Romandichtung. Diss. Lpz. 1924. – Adolf Svoboda: E. W. – ein vergessener Dichter aus Roßdorf. In: Palmbaum. Literar. Journal aus Thüringen 6 (1998), H. 1, S. 118–129. – Ders.: E. W. (1769–1812). Biogr. u. werkgeschichtl. Studie über einen in Vergessenheit geratenen Dichter des Herzogtums Sachsen-Meiningen. In: Südthüringer Forsch.en 30 (1999), S. 60–86. – Ders.: Jean Paul u. E. W. Zwei dt. Dichter. In: Rhönwacht 2007, H. 1, S. 19 f. Gerhard Schulz / Red.

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Wagner, Friedrich Wilhelm, * 16.8.1892 Hennweiler bei Kirn an der Nahe, † 22.6. 1931 Schömberg/Schwarzwald; Grabstätte: Bad Kreuznach. – Lyriker.

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gen eines Jakob van Hoddis oder Alfred Lichtenstein. Um sie so »schlackenlos« zu machen, wie es ein zeitgenöss. Rezensent rühmte, hat W. sie oft über Jahre hinweg immer wieder überarbeitet.

Nach der Schulzeit in Bad Kreuznach ging der Ausgabe: Jungfraun platzen männertoll. AusLehrersohn W. 1911 zum Studium an die gew. Gedichte. Hg. Wilfried Ihrig. Mchn. 1989. Universität in München, führte aber bereits Literatur: Hubert Portz: Wenn die Seele glüht nach einem Jahr ein unstetes Bohemeleben; u. friert. Conrad Felixmüller – Lotte Wahlen – F. W. abwechselnd hielt er sich in Berlin, Paris, W. Landau 2010. Eckhard Faul / Red. Zürich u. München auf. 1916 wurde er in der Verwaltung seiner Heimatstadt kriegsverpflichtet. 1919/20 gab W. gemeinsam mit Wagner, Gabriel, auch: Realis de Vienna, Christof Spengemann in Hannover die literar. * um 1660 Quedlinburg, † nach 1718. – Zeitschrift »Der Zweemann« (H.e 1–3) her- Philosoph, Literärhistoriker. aus. Knapp 30-jährig verzichtete er – auch auf Ihn zu den großen Unruhigen in der GeDruck der Familie – auf eine weitere schrift- schichte der Philosophie in Deutschland zu stellerische Tätigkeit u. arbeitete bis zu sei- zählen, ist fast eine Untertreibung. Er trieb nem frühen Tod als Bankangestellter in Bad die Konflikte, die für seine Zeit typisch waKreuznach. ren, weiter auf die Spitze als andere. Der W.s frühe Lyrikbände Aus der Enge (Groß- schroffe Ton, den er in seinen Publikationen Lichterfelde 1911) u. Der Weg des Einsamen – fast durchweg Streitschriften – anschlug, (Mchn. 1912) stehen in impressionistischer u. war auch in seiner Epoche schwerer Auseinneuromant. Tradition u. sind geprägt von andersetzungen unerhört. Nur in Umrissen Melancholie u. Resignation. Wie sein Freund sind Biografie u. Werk fassbar. W. hat seine Gottfried Kölwel gehörte W. zum Kreis um Schriften anonym oder pseudonym veröfdie Berliner Zeitschrift »Charon«, wandte fentlicht. Auch sekundäre Quellen geben nur sich aber wie Kölwel noch vor 1914 dem Ex- spärlich Auskunft. Welche Schriften ihm zupressionismus zu. W.s Gedichte erschienen in zuordnen sind, kann nicht in jedem Fall mit expressionistischen Zeitschriften (»Die Akti- letzter Gewissheit geklärt werden. Von einion«, »Wiecker Bote«, »Neue Jugend«), aber gen seiner Veröffentlichungen, die er selbst, auch in schweizerischen Publikationsorganen zuweilen seine Zeitgenossen, erwähnen, fehlt (»Die Ähre«, »Wissen und Leben«). Gegen jede Spur – erst recht von unpublizierten Kriegsende legte er einen Teil dieser Lyrik in Projekten. Buchform vor (Untergang. Bad Kreuznach W. hat in Leipzig studiert (Bakkalaureat u. 1918). Magister 1689), vielleicht auch an anderen W. erkrankte jung an Tuberkulose u. war Universitäten. Mit Thomasius war er perbis zu seinem Tod morphiumsüchtig. Die sönlich bekannt. 1691 trat er mit den DiscurErfahrungen in Heilanstalten u. Nervenkli- sus & Dubia in Christiani Thomasii Introductioniken verarbeitete er 1920 in dem Zyklus Ir- nem ad Philosophiam Aulicam (Regensb. [d. i. renhaus (Hann. Neudr. mit einem Nachwort Frankfurt/O.?]) pseudonym an die Öffentvon Wilfried Ihrig. Bln. 1990). Im selben Jahr lichkeit. Es folgten Aufenthalte, z. T. vorerschien auch W.s letztes Buch, Jungfraun übergehende Anstellungen, u. a. in Halle, platzen männertoll (Hann. 1920. Neudr. mit Berlin, Wien, Hamburg, beim Grafen von einem Nachwort von W. Ihrig. Siegen 1986), Schaumburg-Lippe in Bückeburg, an der Grotesken, die von einer starken Häufung Wolfenbütteler Bibliothek, in Hannover, Errhythm. Assonanzen u. Alliterationen be- langen, Aschersleben u. Kassel. In Hamburg stimmt sind u. einen letzten Höhepunkt der scheint sich W., wie viele mittellose Gelehrte, schon im Frühexpressionismus entwickelten als Autor eines Journals versucht zu haben, Reihungsstil-Lyrik darstellen. W.s Gedichte doch die nicht mehr nachweisbare »Versind noch knapper u. prägnanter als diejeni- nunfft-Uebung« (1696) wurde noch im selben

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Jahr verboten. Leibniz, der schon durch die Discursus auf W. aufmerksam geworden war, bat um ein Exemplar u. eröffnete damit einen Briefwechsel, der bis 1708 reicht. Vieles von dem, was wir über W. sicher wissen, verdanken wir dieser Korrespondenz. Der Göttinger Polyhistor Christoph August Heumann berichtet, W. habe ihn 1717 oder 1718 aufgesucht, »in gar jämmerlicher Gestalt«. Dies ist die letzte Nachricht, die wir von W.s Leben besitzen. Gegen Metaphysik u. aristotelisch-scholastische Logik, auch auf Kosten der Theologie, propagiert W. den Vorrang von Natur- u. Realdisziplinen – Mathematik, Physik u. Staatswissenschaften – u. will die Philosophie auf die Grundlage durch die Vernunft geleiteten empirischen, gegebenenfalls experimentellen Erkenntnisgewinns gestellt sehen. Sein eigentl. Bezugsfeld bildet die Reihe berühmter Naturgelehrter der Frühen Neuzeit. Im Hintergrund steht eine mechanistische Vorstellung von der Natur, ähnlich derjenigen, die man bei Descartes antrifft. Seinen eigenen Bekenntnissen zufolge steht W. jedoch v. a. dem philosophischen Realismus von Tschirnhaus nahe. Mit seinem polem. Temperament, dem der satir. Ton nicht zu Gebote stand, verbiss W. sich v. a. in das Werk des Thomasius. Er nennt ihn den »Sokrates der Deutschen«, aber zgl. sei er als »Geistermacher« »gefährlicher als ein neuer Meßias«. »Durch das Geistermachen [werden] die Leute der fünff Sinnen beraubt / zu Unvernunft und Aberglauben gebracht« (Prüfung des Versuchs vom Wesen des Geistes / den Christian Thomas [...] an den Tag gegeben. o. O. 1707, Vorrede). Der andere Schwerpunkt von W.s Schreiben liegt im leidenschaftl. Eintreten für die Geltung gelehrter Errungenschaften der Deutschen. Diesen Zweck verfolgt auch sein Aufruf zu einer Reform der Berliner Akademie der Wissenschaften – der Vorschlag an di Königl. Weltw. Gesellschaft in Berlin (o. O. u. J.). W. fordert einen dt. Nationalstolz, wendet sich gegen die allgemeine Hochschätzung frz. Kulturleistungen, die er erneut prominent durch Thomasius vertreten sieht, u. beteiligt sich an Tendenzen der Sprachreinigung. Das Pseud. verweist außer auf den »Realismus«

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auf Wien u. die durch den Kaiser verkörperte Reichseinheit, in der W. im Anschluss an Pufendorf das Alternativkonzept zur territorialen Zersplitterung Deutschlands sieht. Als einer der wenigen späteren Leser würdigt Herder W. in der Rolle des Patrioten. Für Herder gehörte er zu jener »Gesellschaft unserer Unsichtbaren«, deren Wiedererweckung die Deutschen sich schuldig seien: »Dieser unbekannte Gabriel Wagner [...] ist in mehreren Urteilen seiner Zeit so mächtig vorgeschritten, daß man es bewundert, wie sehr die Stimme der Wahrheit oft aufgehalten werden könne, wie langsam die Zeit schleiche« (Humanitätsbriefe 4, 1794). Wohl seit 1693 arbeitete W. an einer Prüfung des Europischen Verstands durch die Weltweise Geschicht, vermutlich einer Wissenschaftsgeschichte in der Art von Thomas Sprats History of the Royal Society, die mit Geschichten der Gelehrsamkeit nach dem Muster von Morhof, Reimmann, Struve u. a. konkurrieren sollte. Die Prüfung des Europischen Verstands ist nie erschienen, weil sich – W.s eigenen Angaben zufolge – kein Verlag für das Werk fand, u. muss als verloren gelten. Ein indirektes Zeugnis über die Prüfung des Europischen Verstands ist die Nachricht von Realis de Vienna Prüfung des Europischen Verstandes durch di Weltweise Geschicht, die 1715 anonym gedruckt u. möglicherweise von W. selbst verfasst wurde. Weitere Werke: J. C. W.: Responsum philosophicum ad Christ. Thomasii questionem de definitione substantiae. 1693. – Quaerimoniae artium illiberalium. 1694 (beide nicht mehr nachweisbar). – F. M. v. G.: Antwort auff Jucundi de Laboribus Unverschämtheit, die er wider Realem de Vienna vorbringt. Oeringen 1710. – Meditatio de gravitatis et cohaesionis causa. In: Academiae Caesareo-Leopoldinae Naturae Curiosorvm Ephemerides. Frankf./Lpz. 1712, S. 239 f. – D. W. a. W. Anmerckungen / über D. Buddens Allgemeines Historisches Wörterbuch / herausgegeben von einem den der Kauff gereuet. Frankf. 1711 (zugeschrieben). – Geheimstube oder Velleden-Blätter (nicht publiziert u. nicht nachweisbar). – Gottfried Stiehler (Hg.): Materialisten der Leibniz-Zeit. Bln./DDR 1966, Einl. u. S. 115–173 (Textausw.). – Siegfried Wollgast (Hg.): G. W. (1660–1717). Ausgew. Schr.en u. Dokumente. Stgt.-Bad Cannstatt 1997. – Martin Disselkamp (Hg.): Nachricht v. ›Realis de

73 Vienna‹ Prüfung des Europischen Verstandes durch di Weltweise Geschicht. Heidelb. 2005. Literatur: Zedler 52. – Jakob Friedrich Reimmann: Versuch einer Einl. in die Historiam literariam derer Teutschen IV. Halle 1713. – Heinze: G. W. In: ADB. – Gottfried Stiehler: G. W. (Realis de Vienna). In: Beiträge zur Gesch. des vormarxist. Materialismus. Hg. ders. Bln./DDR 1961, S. 63–123. – Ferner die Einl.en zu den genannten Ausgaben. Herbert Jaumann / Martin Disselkamp

Wagner, Gottlieb Friedrich, * 3.11.1774 Reusten/Württemberg, † 14.2.1839 Maichingen bei Böblingen. – Schwäbischer Mundartdichter, Erzieher, Politiker.

Wagner Weitere Werke: Madame Justitia im Guckkasten [...]. Heilbr./Rothenb. o. d. T. 1826. – Die Repräsentanten-Wahl zu Dipplisburg. Ebd. 1826. – Debatten auf dem Rathause zu Schwabenheim über die Errichtung einer Hilfskasse. Ebd. 1826. – Es giebt doch noch eine Hochzeit. Ebd. 1827. Literatur: Hermann Fischer: Beiträge zur Litteraturgesch. Schwabens. Tüb. 1891, S. 226–229. – August Holder: Gesch. der schwäb. Dialektdichtung. Heilbr. 1896. Neudr. Kirchheim/Teck 1975, S. 104–110, 124, 189 f. – Rudolf Krauß: Schwäb. Litteraturgesch. 2 Bde., Tüb. 1897 u. 1899. – Eugen Lutz: G. F. W. Schulmeister, Politiker, Mundartdichter. Ein Beitr. zur lokalen Literaturgesch. sowie zur Volks- u. Landeskunde Württembergs im Anfang des 19. Jh. Ebd. 1965. Rainer Schönhaar †

Nach dem Tod seines Vaters, eines DorfWagner, Heinrich, * 26.11.1747 Kassel, schulmeisters, übernahm W. 1793 dessen † Jan. 1814 Hungen oder Braunfels/HesLehramt; 1796 wurde er Schulmeister des sen. – Lyriker. wohlhabenden Ortes Maichingen. Auch in sozialen u. polit. Belangen engagiert, wurde W., Sohn eines Garnisonarztes, erwarb 1772 er 1818 dort zum Schultheißen gewählt. Eher in Marburg/Lahn das Lizentiat für Jura. 1777 in volkserzieherischer als in künstlerischer ging er für zwei Jahre als Hofmeister nach Absicht verarbeitete er seine Erfahrungen in Amsterdam, kehrte nach Marburg zurück u. zehn anonym veröffentlichten Dialektstü- ließ sich zuletzt in Hungen als Advokat niecken von der Schulmeister-Wahl zu Blindheim der. oder Ist das Volk mündig? (Tüb. 1824; mit Seine polem. Natur brachte W. in der liteWorterklärungen u. Sprachhinweisen ab rar. Welt in Verruf. Die »Allgemeine deutsche 2 1824) samt einer Fortsetzung Ernennung und Bibliothek« bezeichnete ihn als »Stinkfliege« Heyrath des Schulmeisters zu Blindheim (ebd. (36, S. 100), u. Heinrich Leopold Wagner 1825) bis zu der postum von seinem Sohn verwahrte sich in den »Frankfurter gelehrten vollendeten Schultheißenwahl zu Blindheim Anzeigen« dagegen, mit dem »niederträch(ebd. 1840). Dramaturgisch oft umständlich, tigen Namensvetter« verwechselt zu werden will W. dabei, im Vorgriff auf Realismus u. (1774, S. 834). Ursache des Verdikts war W.s sogar Naturalismus, »keine idealische, son- Reaktion auf die Kritik der »Allgemeinen dern eine wirkliche« u. »treue Zeichnung deutschen Bibliothek« (16, S. 292–298) an nach der Natur und dem Leben« bieten seinem Buch Q. Horatii Flacci carmina collatione (Vorwort zu Der Handstreich bis auf Spitz und scriptorum graecorum illustrata (Halle/Magdeb. Knopf, oder: Der Bauernstolz. Heilbr./Rothenb. 1770. Ergänzung 1771), das ohne die Vorrede o. d. T. 1827). So gelangen ihm mundartlich von Klotz wertlos sei. In seinen (negativ repralle, sprachlich genau abgetönte Figuren zensierten) Vermischten Gedichten (Ffm. 1774) von den Dorfhonoratioren bis zur Unter- übte W. an Nicolai u. a. »pöbelhaft« (in: Alschicht. Neben sonstigen Stücken mit Satiren manach der deutschen Musen, 1775, S. 73) auf Wahlen, Hochzeiten u. öffentl. Untersu- Rache, die er in den Liedern für die Söhne der chungen oder Debatten schrieb W. einen Dummheit (Moropolis, recte Marburg 1774) Band Volks-Gedichte im schwäbischen Dialecte fortsetzte. W., der mehrere Werke auf Latein (Tüb. 1824) mit zwei weiteren Verslustspie- schrieb, auch zu polit. Vorgängen Stellung len. Mit Recht gilt er als Begründer des nahm, z.B. im Essai sur le neuvième Electorat schwäb. Mundart- u. Lokaltheaters. Seine (Marburg 1784) zur Kurwürdigkeit Hessens, Stücke wurden bis ins frühe 20. Jh. für die hat nach den Poetischen Kleinigkeiten (ebd. Bühne bearbeitet. 1775) nur noch wenig geschrieben. Die

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meisten seiner Gedichte veröffentlichte er in dem 1777 u. 1780/81 von ihm betreuten »Frankfurter Musenalmanach«. Ob W. tatsächlich die Neueste Sammlung von Theater Stücken (5 Bde., Ffm. 1776–78) herausgegeben hat (Goedeke 4,1, S. 773), ließ sich nicht verifizieren. Weitere Werke: Elogium Friderici Magni. o. O. 1787. – Ode ad Napoleon Bonapartem. Ffm. 1803. Literatur: Reinhart Meyer: Bibliographia dramatica et dramaticorum 1, 3. Tüb. 1986, S. 1253–1255. Ernst Weber

Wagner, Heinrich Leopold, * 19.2.1747 Straßburg, † 4.3.1779 Frankfurt/M. – Dramatiker. Als erstes von sieben Kindern des Handelsmannes u. Bürgers in Straßburg, Heinrich Leopold Wagner, u. seiner Ehefrau Catharina Salome, geb. Steinbach, verbrachte W. Kindheit u. Jugend in seiner Heimatstadt; dort nahm er dann das Studium der Rechte auf. Dank seiner Zugehörigkeit zum Salzmann’schen Mittagstisch wurde er mit Goethe, Lenz u. Jung-Stilling bekannt. Ohne Abschluss des Studiums erhielt W. eine erste Anstellung als Hofmeister der Söhne des Präsidenten Hieronymus Max von Günderode in Saarbrücken (1773/74). Mit dem Sturz seines Arbeitgebers bei Hofe verlor W. diese Absicherung. Nach einem Aufenthalt in Gießen lebte er seit Frühjahr 1775 in Frankfurt, wo er sich mit Privatstunden u. literar. Arbeiten, u. a. für die »Frankfurter gelehrten Anzeigen«, über Wasser hielt. Hier schaltete er sich mit der anonymen Farce Prometheus Deukalion und seine Recensenten, 1775 in mehreren Drucken mit unterschiedl. fingierten Druckangaben verbreitet, in die Auseinandersetzungen der zeitgenöss. Kritik um Goethes Leiden des jungen Werthers ein. W.s Verteidigung des Romans führte dazu, dass Goethe die Verfasserschaft an der Farce zugeschrieben wurde. In den »Frankfurter gelehrten Anzeigen« vom 21.4.1775, daneben auch als Einzeldruck, machte Goethe den wahren Verfasser öffentlich bekannt. Im Frühjahr 1776 schloss W. in Mannheim Freundschaft mit dem jungen Maler Müller. Das Gastspiel der Schauspieltruppe von Abel

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Seyler begleitete W. 1777 mit gedruckten Beschreibungen der in Frankfurt/M. aufgeführten Stücke. Von Goethe übernahm er den Auftrag, die antiklassizist. Dramentheorie des Louis Sébastien Mercier ins Deutsche zu übersetzen. Gleichzeitig schrieb er sein Trauerspiel Die Kindermörderinn, das sich im Motivbereich mit Goethes Faust I berührt. Nach Abschluss des Werks kehrte W. im Sommer 1776 nach Straßburg zurück, war dort erneut in Kontakt mit dem Salzmann’schen Kreis u. wurde nun zum Dr. jur. promoviert. Am 21.9.1776 leistete W. in Frankfurt den Advokateneid u. heiratete am 7.10.1776 die 17 Jahre ältere Witwe Theodora Magdalena, geb. Frieß, verw. Müller. Auf einer erneuten Reise nach Straßburg war W. im Mai 1777 zu Gast in Emmendingen bei Goethes Schwager, Johann Georg Schlosser, u. dessen Frau Cornelia. Flüchtige Bekanntschaften oder Begegnungen verbanden W. auch mit Claudius, Sprickmann, Johann Martin Miller, Merck u. Wieland. In den Frankfurter Jahren war er mit Klinger u. dem Schauspieler Gustav Friedrich Wilhelm Großmann eng befreundet. Knapp ein Jahr nach dem frühen Tod seiner Frau starb W. mit erst 32 Jahren an Tuberkulose. Als Literat nahm W. alle bewegenden Anregungen seiner Zeit auf u. verwandte sie in produktiver Abwandlung. In seinen Anfängen, in Straßburg seit 1770, übersetzte er Montesquieu u. nutzte seine Kenntnisse der antiken Literatur. W.s frühe Lyrik ist blass: Sei es die Romanze Phaeton (Saarbr. 1774. Neudr. mit einem Nachw. hg. von Christoph Weiß. St. Ingbert 1990), die dem regierenden Grafen von Nassau-Saarbrücken gewidmet ist, sei es die dem Hessen-Darmstädtischen Hof zugeeigneten Anlassgedichte, die in Almanachen gedruckt wurden – W. war eher um eine feste Anstellung bemüht als um eine eigene Aussage, auch wenn die neuere Forschung hier bereits Anklänge einer Kritik an der Willkür spätabsolutistischer Herrschaft veranschlagen möchte. Die Confiskablen Erzählungen (Wien, recte Gießen 1774) wollten wie die Werke Wielands u. Friedrich Heinrich Jacobis auf dem Index verbotener Bücher stehen. Sie folgen in Stil u. Gattung den

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poetischen Fabeln u. Erzählungen Lessings u. Gellerts oder auch der rokokohaften Frivolität Rosts. Mit der Farce Prometheus Deukalion und seine Recensenten stellte sich W. auf die Seite Goethes u. der Stürmer u. Dränger; er forderte die Kritiker des Werther-Romans heraus, die er im Mittel karikaturistischer Überspitzung als holzschnitthafte Tiergestalten nach Art des Bestiariums verspottete. Lyrische Beiträge zum »Almanach der deutschen Musen« für 1775 u. 1776 greifen den Stil Bürgers auf. W.s Beziehung zu Goethe dokumentiert auch Merciers Neuer Versuch über die Schauspielkunst (Lpz. 1776. Neudr. mit einem Nachw. von Peter Pfaff. Heidelb. 1967. Erstdruck des Originals: Amsterd. 1773); Goethe gab die Übersetzung an W. ab u. steuerte mehrere Beiträge zum Anhang Aus Goethes Brieftasche bei. Die von Mercier in der Nachfolge Diderots geleistete Kritik am klassizistischen Drama des »grand siècle« tritt für ein nichthöfisches, alle sozialen Schichten ansprechendes Schauspiel ein, das zwischen Tragödie u. Komödie liegt. Das verfochtene moralische Prinzip, das nur eine Einheit des Interesses fordert, veranschaulicht zgl. wesentl. Züge der Dramenpoetik des Sturm und Drang. Ähnlich war die Haltung W.s auch in seinem Fragment gebliebenen Roman Leben und Tod Sebastian Silligs (Ffm./Lpz. 1776. Neudr. mit einem Nachw. hg. von Gerhard Sauder u. Christoph Weiß. St. Ingbert 1991), der sich an den »Mittelmann«, die breite bürgerl. Mittelschicht, wandte u., unter Einschluss von Elementen des elsäss. Dialekts, Sternes Erzähltechnik der Abschweifungen aufnimmt u. mit rousseauistischem Ethos verknüpft. Ganz im Sinne des Sturm und Drang lehnte W. in seinem satir. Einakter Voltaire am Abend seiner Apotheose (Ffm./Lpz. 1778. Neuausg. hg. von Bernhard Seuffert. Heilbr. 1881. Davon Neudr. Nendeln 1968) sowohl literarisch den Autor als auch ethisch den Menschen Voltaire ab. Für die gegenläufige Shakespeare-Begeisterung zeugt W.s Macbeth-Übersetzung (Ffm. 1779), die er für die Seyler’sche Truppe anfertigte, welcher auch die lobenden u. zumeist nur den Inhalt referierenden Briefe die Seylerische Schauspielergesellschaft und ihre Vorstellungen zu Frankfurt am Mayn betreffend (ebd.

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1777) gelten. Neben weiteren Übersetzungen von Mercier u. Maximilian Joseph Graf von Lamberg oder kleineren Arbeiten bilden vorab zwei Schauspiele die Hauptleistung W.s. Die Reue nach der That (ebd. 1775) gestaltet den Stoff einer Ehe jenseits der Standesschranken als bürgerl. Trauerspiel u. nimmt dabei Züge aus Romeo und Julia, Werther u. Minna von Barnhelm auf. Die Kindermörderinn ein Trauerspiel (Lpz. 1776) bietet bühnengerecht mit auffällig wenigen Szenenwechseln, bei deutl. Lokalisierung in Straßburg u. durch gelungene sinnl. Veranschaulichung ein Beispiel für das Zeitthema der verführten Unschuld. In lebendig detailgetreuem Milieu der Handwerker u. des Soldatenstands zeigt W.s konsequentes Intrigenstück die auch sprachlich gestalteten Gegensätze der konkurrierenden sozialen Schichten u. scheut nicht vor einer Bordellszene u. dem Kindesmord auf der Bühne zurück. In radikaler Weise verficht W.s Trauerspiel hier die sozial-eth. Forderungen der bürgerl. Mittelschicht. Eine platt bereinigende Umarbeitung von Karl Gotthelf Lessing (Bln. 1777) wurde immer noch in Berlin für eine Aufführung durch die Döbbelin’sche Truppe verboten. Nur am Rande des dt. Sprachgebiets, in Preßburg, kam das urspr. Stück im Juli 1777 auf die Bühne. W. selbst verkehrte den aufklärerisch-sozialeth. Anspruch des Trauerspiels in ein bürgerlichsentimentales Lehrstück, als er es zu Evchen Humbrecht oder Ihr Mütter merkts Euch! (Ffm. 1779) umarbeitete. Besonders die gelungene Gestalt des Metzgermeisters Humbrecht wirkte in Schillers Kabale und Liebe (Musikus Miller) u. in Hebbels Maria Magdalena (Meister Anton) nach. Im Sinne der sozialistischen Utopie bearbeitete Peter Hacks 1963 Die Kindermörderin zu einem kommunistischen u. pathet. Lust- u. Trauerspiel. – W.s literar. Tätigkeit, die erst 1775 durch seinen Anschluss an die Stürmer u. Dränger ihren Mittelpunkt gewonnen hatte, wurde durch den frühen Tod jäh beendet. Vielerlei Pläne u. Vorarbeiten vernichtete W. in den letzten Tagen. So bildet er ein Beispiel für den jugendl. Sturm und Drang ohne die weitere Entwicklung zu einer gerundeten Reife.

Wagner Weitere Werke: Ausgabe: Ges. Werke in 5 Bdn. Hg. Leopold Hirschberg. Potsdam 1923. Ersch. nur Bd. 1: Dramen I (Prometheus, Deukalion u. seine Recensenten; Der Wohlthätige Unbekannte; Die Reue nach der That; Der Schubkarn des Eßighändlers). – Neudrucke: Die Kindermörderin. Hg. Erich Schmidt. Heilbr. 1883. Neudr. Nendeln 1968. – Die Kindermörderin. Hg. Jörg-Ulrich Fechner. Stgt. 1969 u. ö. (im Anhang: Auszüge aus der Bearb. v. Karl Gotthelf Lessing [1777] u. der Umarbeitung v. H. L. W. [1779] sowie Dokumente zur Wirkungsgesch.). Literatur: Werkverzeichnis: Ernst Schulte-Strathaus: Bibliogr. der Originalausg.n dt. Dichtung im Zeitalter Goethes. Mchn./Lpz. 1913, S. 165–182. – Weitere Titel: Erich Schmidt: H. L. W., Goethes Jugendgenosse. Jena 1875. 2., völlig umgearb. Ausg. ebd. 1879. – Ders.: Nachträge zu H. L. W. In: ZfdA 19 (1876), S. 372–385. – Johannes Froitzheim: Goethe u. H. L. W. Straßb. 1889. – Elisabeth Genton: ›Prometheus, Deukalion u. seine Recensenten‹. Eine umstrittene Literatursatire der Geniezeit. In: Revue d’Allemagne 3 (1971), S. 236–254. – Edward McInnes: Social Insight and Tragic Feeling in W.’s ›Die Kindermörderin‹. In: New German Studies 4 (1976), S. 27–38. – Dieter Mayer: Vater u. Tochter. Anmerkungen zu einem Motiv im dt. Drama der Vorklassik. In: Lit. für Leser (1980), S. 135–147. – E. Genton: La vie et les opinions de H. L. W. Ffm./Bern/Cirencester 1981. – D. Mayer: H. L. W.s Trauersp. ›Die Kindermörderin‹ u. die Dramentheorie des Louis Sébastien Mercier. In: Lit. für Leser (1981), S. 79–92. – Barbara Mabee: Die Kindesmörderin in den Fesseln der bürgerl. Moral: W.s Evchen u. Goethes Gretchen. In: Women in German 3 (1986), S. 29–45. – Friedrich Voit: ›Ein Roman für allerley Leser‹? Zu H. L. W.s Romanfragment ›Leben u. Tod Sebastian Silligs‹. In: Seminar 26 (1990), S. 1–15. – Wolfgang Wittkowski: H. L. W. u. Lessing. In: Erbepflege in Kamenz 12/13 (1992/93), S. 37–56. – Martha Kaarsberg Wallach: Emilia u. ihre Schwestern. Das seltsame Verschwinden der Mutter u. die geopferte Tochter: Lessing ›Emilia Galotti‹, Lenz ›Hofmeister‹, ›Soldaten‹, W. ›Kindermörderin‹, Schiller ›Kabale u. Liebe‹, Goethe ›Faust‹, ›Egmont‹. In: Mütter – Töchter – Frauen. Weiblichkeitsbilder in der Lit. Hg. Helga Kraft u. Elke Liebs. Stgt./Weimar 1993, S. 53–72. – W. Wittkowski: Plädoyer für die Dramen H. L. W.s. In: LitJb 35 (1994), S. 151–180. – Matthias Luserke: H. L. W.: ›Die Kindermörderin‹. In: Dramen des Sturm u. Drang. Stgt. 1997, S. 161–196. – Bruce Duncan: Lovers, Parricides, and Highwaymen. Aspects of Sturm u. Drang Drama. Rochester, N. Y. u. a. 1999. – Maximilian

76 Bergengruen: Das neue Recht u. der neue Körper. W.s ›Kindermörderin‹ zwischen Anthropologie u. Rechtstheorie. In: Die Grenzen des Menschen. Anthropologie u. Ästhetik um 1800. Hg. v. M. B. Würzb. 2001, S. 37–49. – Ursula Hassel: Familie als Drama. Studien zu einer Thematik im bürgerl. Trauerspiel, Wiener Volkstheater u. krit. Volksstück. Bielef. 2002. – Franziska Herboth: Satiren des Sturm u. Drang. Innenansichten des literar. Feldes zwischen 1770 u. 1780. Hann. 2002. – Christine Künzel: Dramen hinter den Kulissen. Anmerkungen zur Repräsentation sexueller Gewalt bei Lenz, W. u. Lessing. In: ›Die Wunde Lenz‹. J. M. R. Lenz. Leben, Werk u. Rezeption. Hg. Inge Stephan u. Hans G. Winter. Bern 2003, S. 339–353. – Martina Schönenborn: Tugend u. Autonomie. Die literar. Modellierung der Tochterfigur im Trauerspiel des 18. Jh. Gött. 2004. – Hannes Fricke: Das hört nicht auf. Trauma, Lit. u. Empathie. Gött. 2004. – Katrin Heyer: Sexuelle Obsessionen. Die Darstellung der Geschlechterverhältnisse in ausgewählten Dramen v. Goethe bis Büchner. Marburg 2005. – Yvonne-Patricia Alefeld: Texte u. Affekte. Zur Inszenierung der Leidenschaften in H. L. W.s ›Die Kindermörderin‹. In: Von der Liebe u. anderen schreckl. Dingen. FS Hans-Georg Pott. Hg. dies. Bielef. 2007, S. 163–188. Jörg-Ulrich Fechner

Wagner, Jan, * 18.10.1971 Hamburg. – Lyriker, Übersetzer. In Hamburg geboren u. in Ahrensburg (Schleswig-Holstein) aufgewachsen, begann W. in Hamburg das Studium der Anglistik, das er – nach einem Aufenthalt in Dublin – in Berlin abschloss, wo er seit 1995 lebt. Sein vielseitiges Schaffen, das bereits mit Literaturpreisen (u. a. Anna-Seghers-Preis, 2004; Ernst-Meister-Preis, 2005; Friedrich-Hölderlin-Preis 2011) u. Stipendien (u. a. Preußische Seehandlung, 2006; Casa Baldi, Rom, 2007) prämiert wurde, weist vier Schwerpunkte auf. An erster Stelle ist seine Arbeit als Herausgeber zu nennen: Noch während seines Studiums begann W. gemeinsam mit Thomas Girst mit der Publikation einer an Marcel Duchamps Konzept der »boîte-en-valise« orientierten Literaturschachtel Die Aussenseite des Elementes (1995–2003). W. hat darüber hinaus gemeinsam mit Björn Kuhligk zwei weitbeachtete Anthologien zur Gegenwartslyrik (Lyrik von JETZT. Bln. 2003. Lyrik von

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JETZTzwei. Ebd. 2008) herausgebracht. Diese sante Traditionsbezüge finden sich auch in publizistische Tätigkeit wird – zweitens – Der Wald im Zimmer. Eine Harzreise (Bln. 2007), von literaturkrit. Arbeiten flankiert, die so- einer mit Björn Kuhligk gemeinsam verfasswohl in umfangreichen Lyrikrezensionen für ten Hommage an Heinrich Heine, die einige die »Frankfurter Rundschau« (u. a. zu Cze- Gedichte Heines weiterdichtet – ein Verfahsl/aw Mil/osz, Adam Zagajewski, Walt Whit- ren, das sich u. a. auch in dem an Günter Eich man, Gertrude Stein, Les Murray, Anna Lou- anschließenden Gedicht störtebeker (in: Gueriisa Karsch, Gertrud Kolmar) als auch in an- ckes Sperling) findet. Insgesamt zeichnen sich W.s Gedichte, die spruchsvollen poetolog. Reflexionen (Hirn und Leierkasten. Parallele Leben: Von Benn zu nicht selten auch eine poetolog. Dimension Williams und zurück. In: Text + Kritik. H. 44: aufweisen (marsyas. In: Probebohrung im HimGottfried Benn, 32006, S. 96–107. Vom Pud- mel; von einer scholle im weddellmeer. In: Gueriding. Formen junger Lyrik. In: Text + Kritik. H. ckes Sperling), durch hohe Verdichtung u. 171: Junge Lyrik, 2006, S. 52–67) ihren Aus- Konzentration aus, der häufig auf engstem druck finden. An dritter Stelle ist seine kon- Raum die imaginative Evokation eines erintinuierl. Übersetzertätigkeit zu nennen: W. nerten Geräuschs, Geschmacks, Gefühls oder hat englischsprachige Lyrik, u. a. von Charles Farbeindrucks gelingt – ein gutes Beispiel Simic (Grübelei im Rinnstein. Mchn./Wien dafür ist (quittenpastete) in Achtzehn Pasteten. In 2000), James Tate (Der falsche Weg nach Hause. jüngerer Zeit wurden einige von W.s DichBln. 2004) u. Matthew Sweeney (Rosa Milch. tungen ins Englische übersetzt (»Atlanta Review«, »Literary Imagination«, »PN ReBln. 2008), ins Deutsche übertragen. Im Zentrum seines bisherigen Werks steht view«). W.s jüngste Gedichte werden in loser als vierter Schwerpunkt die eigene Lyrik, die Reihenfolge u. a. im Feuilleton der »Frankmit der Veröffentlichung der drei Gedicht- furter Allgemeinen Zeitung« publiziert. bände Probebohrung im Himmel (Bln. 2001), Literatur: Thomas Steinfeld: Laudatio auf J. W. Guerickes Sperling (ebd. 2004) u. Achtzehn Pas- In: Argonautenschiff. Jb. der Anna-Seghers-Geteten (ebd. 2007) in der überregionalen Lite- sellsch. 14 (2005), S. 25–28. – Markus Fauser: Naraturkritik bisher große Beachtung fand. Im turwiss. aus dem Ausstellungskat. J. W.s ›Guerickes ersten Band enthaltene Gedichte wie nature Sperling‹ u. die wissenschaftsjournalist. Lyrik. In: morte oder gaststuben in der provinz machen ZfG N. F. 19 (2009), H. 1, S. 146–160. Carlos Spoerhase bereits deutlich, dass W. ein Meister der lyr. Gattung der Bildbeschreibung ist. Bei den beschriebenen Bildern handelt es sich z.T. um Wagner, Johann Christian, * 23.6.1747 bekannte Gemälde von Velázquez (velazquez’ Pößneck/Orla, † 14.6.1825 Hildburghau›die hoffräulein‹, 1656. In: Probebohrung im sen. – Kirchenlieddichter. Himmel), de La Tour (›der falschspieler mit dem Der herzoglich Sächsische Konsistorial- u. karo-as‹. In: Guerickes Sperling) oder Joseph Regierungsrat u. spätere Erste Vizepräsident Wright of Derby (guerickes sperling. In: ebd.); der Landesregierung in Hildburghausen bedie Bildbeschreibungen gelten aber auch Fo- arbeitete für das Neue Hildburghausische Getografien u. Buchmalereien – z.B. das Stun- sangbuch für die kirchliche und häusliche Andacht denbuch des Duc de Berry in (le poirat berri- (Hildburghausen 1807) 17 Lieder u. verfasste chon) in Achtzehn Pasteten – oder haben still- 74 eigene, wirkungslos gebliebene Gesänge gestellte u. ›gerahmte‹ Reiseeindrücke zum in Schiller’scher Diktion, u. a. Laßt uns den Gegenstand (u. a. Litauen, Italien, Griechen- Herrlichen erheben u. Vollbracht ist nun die heil’ge land, USA). Die szen. Miniaturen u. lyr. Feier. Ihm zugeschrieben werden die anonym Stillleben, die W. entwirft, zeichnen sich erschienenen Giebelreden oder Zimmermannsweiterhin durch den spielerisch-souveränen sprüche, nebst zwei Briefen (ebd. 1822). Umgang mit einem breiten lyr. FormspekLiteratur: Koch 6, S. 260. – Goedeke 7, S. 270. trum aus, wie die Villanellen, Sestinen, Heimo Reinitzer Couplets, Sonette oder der Sonettzyklus görlitz (in: Guerickes Sperling) belegen. Interes-

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Wagner, Johannes, Hanns, latinisiert: Ioannes Carpentarius, * 18.10.1520 Bremgarten/Kanton Aargau, † 1.9.1590 Solothurn. – Dramatiker, Verfasser von Gelegenheitslyrik.

78 Mauritius- u. St. Ursenspiel. Hg. Heinrich Biermann. Bern 1980. – Hanns W. alias Ioannes Carpentarius. Sämtl. Werke. Hg. Rolf Max Kully. 3 Bde., Bern 1981/82. Literatur: Heinrich Biermann: Die deutschsprachigen Legendenspiele des späten MA u. der frühen Neuzeit. Köln 1977, S. 57–118. – R. M. Kully: Das Leben des lat. Schulmeisters u. Dramatikers Hanns W. Bern 1981. – Ders.: Hanns W. u. das Solothurner ›Festspiel‹ vom Jahre 1581. In: Jb. für Solothurner Gesch. 55 (1982), S. 109–128. – Ders.: Der Epilog u. sein Sprecher im Sankt Ursenspiel v. 1581. In: Mittelalterl. Schauspiel. FS Hansjürgen Linke. Hg. Ulrich Mehler u. a. Amsterd. 1994, S. 241–256. – Ders.: Hanns W. In: HLS (2004). Elke Ukena-Best / Red.

W. war der Neffe des Solothurner Stiftspredigers u. Dramatikers Johannes Aal, auf dessen Veranlassung er sich 1538 an der Artistenfakultät der Universität Freiburg i. Br. immatrikulierte u. Schüler Glareans wurde (Bakkalaureat 1539, Magisterpromotion 1542). 1543–1558 u. 1561–1585 war W. als Lateinschulmeister am St. Ursenstift in Solothurn tätig; ab 1560 erhielt er auch das Amt des Stiftsorganisten. 1546 wurde ihm das Bürgerrecht verliehen; 1548 heiratete er Elisabeth Brunner. Regionale Popularität er- Wagner, (Wilhelm) Richard, * 22.5.1813 langte W. als Inszenator öffentl. Theaterauf- Leipzig, † 13.2.1883 Venedig; Grabstätte: führungen in lat. u. dt. Sprache u. als Ver- Bayreuth, Garten von Haus Wahnfried. – fasser religiös-histor. Dramen im Sinne der Komponist, Dichter, Essayist. kath. Restauration. Das letzte von neun Kindern des Polizei-AkNeben dem fragmentar. fünften Akt eines tuarius Friedrich Wagner (* 1770) u. der JoStephanis-Spiels (gemäß Acta Apostolorum 6 hanna Rosine, geb. Paetz, verlor fünf Monate u. 7) sind die Spielbücher des 1561 zur Fast- nach der Geburt den Vater – u. der Schaunacht aufgeführten Dreikönigsspiels u. des Ge- spieler u. Maler Ludwig Geyer nahm sich der schichtsdramas Aristotimus tyrannus (nach Witwe u. auch liebevoll der Kinder an. Auch Plutarch) von 1575 sowie des St. Mauritius- und er starb früh (1821). Das Schicksal der VaterSt. Ursenspiels (nach der Legende des Eucheri- losigkeit wurde zu einem leitenden Motiv der us aus dem 5. Jh.) als Autografen erhalten. Helden in W.s Werk: für Tristan, für SiegDas Doppeldrama über das Martyrium der mund u. Sieglinde, für Siegfried, für Parsifal von Mauritius angeführten thebäischen Le- – u. auch in das Wesen etwa Elsas (im Lohengion in Agaunum (Wallis) u. das Mirakelge- grin) oder Walthers von Stolzing (Meistersinger) schehen um die beiden nach Solothurn ge- spielt es hinein. flüchteten Legionäre Ursus u. Victor hatte W. W. war kein Mozart, eher ein Genie, das nach der Vorlage des sog. Älteren Ursenspiels sich all seine Leistung hat mühsam abringen von 1539 zu einem umfangreichen zweitägi- müssen, Schritt für Schritt lernend u. erfahgen Schauspiel erweitert. Während vom Ur- rend. Als Musikstudent bezog er 1831 die sus-Teil ein Konzept bereits aus dem Jahr Universität Leipzig, gab sich freilich mehr 1575 existiert, ist vom Mauritius-Teil nur die studentischen Albernheiten hin als der ArReinschrift innerhalb des Gesamttextes von beit. Beim Thomas-Kantor Weinling aber 1581 erhalten. Anlass der spektakulären lernte er das Tönesetzen nach der Kunst der Freilichtaufführung zu Ehren des Kirchen- Meister. Der Sänger Albert Wagner holte den patrons am 27./28.8.1581 war die Jahrhun- jüngeren Bruder 1833 nach Würzburg; dort dertfeier der Aufnahme Solothurns in die wurde W. zum »Choreinstudierer« bestellt u. Eidgenossenschaft. W.s Lyrik ist im Wesent- machte sich an die Komposition seiner ersten lichen Kunstübung in lat. Sprache u. antikem Oper, Die Feen (postum uraufgeführt 1888 in München). Im Sommer 1834 engagierte ihn Versmaß. Ausgaben: Das Solothurner Dreikönigsspiel des eine Operntruppe als Dirigenten nach MagJ. W. Hg. Norbert King. In: Jb. für Solothurner deburg, wo er in Liebe zu der jungen kapriGesch. 49 (1976), S. 45–83. – J. W. Solothurner St. ziösen Schauspielerin Minna Planer ent-

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brannte. Er reiste ihr nach, die inzwischen ein Engagement in Königsberg angetreten hatte; am 24.11.1836 heirateten sie. Damals haben sie sich wohl leidvoll geliebt – später dann haben sie nur noch aneinander gelitten. Über Königsberg führte der Weg weiter nach Riga, u. von dort flüchtete das Paar vor seinen Gläubigern auf abenteuerl. Weise über Norwegen u. London nach Frankreich. Die sturmwütenden Elemente dieser Seereise sollten später das Orchester des Holländers aufwühlen. Die zweieinhalb Jahre in Paris (Sept. 1839 bis April 1842) waren Jahre der Hoffnungen u. der Enttäuschungen, der hochstrebenden Bemühungen u. ihrer Erfolglosigkeit, letztlich der Entbehrung, des Hungers, der Kälte, der Demütigung bis an die Grenze der Zerstörung. W. hat diese Not den Franzosen wohl nie vergessen können – u. auch die reizvollen u. protektionsbereiten Bekanntschaften mit dem berühmten Meyerbeer, mit Heine, mit dem alten Freund Laube u. anderen lebensfrohen u. -leidenden Künstlergenossen waren kein rettender Trost. W. schlug sich durch mit entwürdigenden Brotarbeiten, u. Minna hielt das Hungern u. Frieren durch u. zu ihm. Schon in Magdeburg hatte W. eine zweite Oper komponiert, Shakespeares Maß für Maß im Kopf: Das Liebesverbot. Sie ging nach der zweiten Aufführung unter. In Paris aber vollendete er im Herbst 1840 seinen Rienzi (Dresden 1840. Text nach dem Roman von Bulwer-Lytton), Dresden übernahm die Uraufführung; der 20.10.1842 wurde zu einem der größten öffentl. Triumphe in W.s Leben u. legte den Grundstein seines Ruhms. »Meyerbeers größte Oper«, so hat man das Prunkstück genannt – der Rienzi repräsentiert jene Art von effektvoller u. veräußerlichter Operntradition, deren Widerlegung u. Überwindung das Lebenswerk W.s sein wird. Wenige Monate später dirigierte er in Dresden jene Oper, mit der »der eigentliche Wagner« einsetzt: den Fliegenden Holländer (Dresden 1841). Der Erfolg des Werks, das er in Paris entworfen, gedichtet u. komponiert hat, war matt. Das Publikum wollte nicht von den ersten beunruhigend-großartigen Anzeichen des Neuen irritiert, sondern durch

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das Wiedererleben des glanzvollen Alten bestätigt werden. Vier Wochen später war W. – endlich, aber vorübergehend – ein etablierter Mann: Er wurde am 2.2.1843 zum kgl. sächs. Hofkapellmeister ernannt, er lebte, er reiste, er las u. arbeitete rastlos – wie sein ganzes Leben lang – mit abenteuerl. Vehemenz. W. las die alte dt. Literatur u. Darstellungen der german. Mythologie, frühe Entwürfe späterer Werke skizzierend. Der Uraufführung seines Tannhäuser (ebd. 1845) indes, dessen Stoff er noch aus Paris mitgebracht hatte, versagte (am 19.10.1845) das Dresdener Publikum wiederum seine Gunst. Das Revolutionsjahr 1848: W. – ruhelos auf der Suche nach neuen Welten – räsonierte, agitierte, publizierte zugunsten der republikan. Ideen u. Unternehmungen u. schloss zgl. die Partitur seiner letzten »romantischen Oper« ab, des Lohengrin (als Manuskript gedr. Weimar 1850). Sein Dresdener Kollege u. revolutionärer Freund August Röckel machte ihn mit dem Anarchisten Bakunin bekannt, was mit der Beteiligung an den Dresdener Kämpfen im Mai 1849 auf der Seite der Aufständischen gegen die sächs. u. preuß. Truppen endete. Dem steckbrieflich gesuchten Kapellmeister gelingt – Helfer ist, wie später noch häufig, Franz Liszt – die Flucht in die Schweiz. Die Jahre des Schweizer Exils (1849–1858) waren auch solche des intensiven theoret. Publizierens. Es entstanden die bedeutenden programmat. Schriften Das Kunstwerk der Zukunft (Lpz. 1849), Eine Mitteilung an meine Freunde (ebd. 1851), Oper und Drama (3 Bde., ebd. 1852) u.v.a. (darunter auch das Pamphlet Das Judentum in der Musik. 1850). Hier dekretiert er, was man freilich wohl auch deduktiv seinem Werk hätte entnehmen können: Seine Kunst will nicht fortsetzen, was »Oper« bisher vermochte, nicht brillieren in den Kunststücken der tradierten Singoper romanischen Zuschnitts. W. will nicht mehr u. nicht weniger als »das rein Menschliche«; er findet es im Mythos u. im Geiste Beethovens u. Shakespeares. Der Darstellung sollen alle Künste dienstbar gemacht werden: Wort u. Melodie, Instrumentation, Motivik, Tanz, Gestus u. Malerei. Das Ensemble des Gesamtkunstwerks versteht alles Bühnenge-

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schehen als »ersichtlich gewordene Taten der Musik« – ein »demokratisch« verstandenes Konzept, das über die szen. Aufführung die Kunst u. das Volk, den Künstler u. die Gesellschaft versöhnend zusammenführt u. vereint. Zürich indessen war alles andere als lediglich Theorie. W., ständig von finanziellen Sorgen gepeinigt, abgeschnitten von Heimat u. Herkunft, gesundheitlich gefährdet u. aus Geldnot immer wieder die lästigsten Aufgaben übernehmend, sich außerdem ständig durch Auslandsreisen unterbrechend, produzierte dort seine großen Werke oder doch deren Voraussetzungen: Rheingold, Walküre, Siegfried (bis zum Ende des zweiten Aufzugs). Und – vor allem – jenes Drama, das Eingeweihten wie Nietzsche als das größte Ereignis des Musiktheaters gilt u. das die Entwicklung der späteren Musik in solchem Maße beeinflusste, dass man hier vom »Beginn der musikalischen Moderne« gesprochen hat: Tristan und Isolde (Lpz. 1859), höchste u. tiefste Steigerung der romant. Nachtsehnsucht als letzter Bewusstseinserhellung u. des romant. Todesdrangs als letzter Lebensgewissheit. Schon in Dresden hatte der Nibelungenstoff W. gefesselt, hatte er erste Textentwürfe zu Papier gebracht. Im Krebsgang, von Siegfrieds Tod (der späteren Götterdämmerung) nach vorne (d. h. »zurück«) fortschreitend, entstand nun der Text des Siegfried, der Walküre, des Rheingolds. 1853 erschien die Dichtung der Tetralogie als Privatdruck; W. begann mit der Kompositionsarbeit u. trieb sie bis zum Aug. 1857 voran. Im zweiten Akt des Siegfried brach er ab; seinen Helden, wie er an Liszt schrieb, unter der Linde allein lassend. Denn eben zu jenem Zeitpunkt beschäftigte ihn ein anderes Sujet; er dichtete einen anderen Text u. begann wenige Wochen später, ihn in Musik zu setzen. Was war geschehen? 1852 hat W. Mathilde Wesendonck kennen gelernt, sie war damals 23 Jahre alt (er war 39) u. verheiratet mit dem reichen Seidenkaufmann Otto Wesendonck. Eine weitere Bedingung des Tristan aber hieß Schopenhauer. Durch ihn lernte W. den ruchlosen Lebenstrieb als Quelle aller Übel des Daseins erkennen, lernte die Verneinung dieses Willens als Transzendierung (u. also

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Überwindung) der materiellen Existenz begreifen. Liebe, die sich auf dieser Welt nicht erfüllen kann, weil sie das Maß dieser Welt überschreitet, erfährt ihre Unendlichkeit, ihre Ewigkeit durch Sprengung der Grenzen dieser Welt. Die Verneinung des Lebenswillens als Verewigung des Liebeswillens: das ist der Kern der Tragödie von Tristan und Isolde, die W., sie bewusst nach innen zurücknehmend, karg »eine Handlung« nennt u. deren Handlungsgerüst er Gottfrieds von Straßburg unvollendetem Epos (um 1200) verdankt. Otto Wesendonck, die schwärmerische Verehrung seiner jungen Frau für den genialen Meister wohlwollend tolerierend, ja sie bis zu gewissem Grade teilend, stellt den Wagners das Gartenhaus als »Asyl« neben seiner herrschaftl. Villa zur Verfügung (im Zürcher Stadtteil Enge). Der freundschaftlich-gesellschaftl. u. gesellige Kontakt, die musikal. Abende, die Gespräche u. Spaziergänge, die gemeinsamen Lesungen (v. a. Calderóns höf. Sphäre kam im Tristan zur Geltung) wirken befruchtend. W.s Liebe zu Mathilde Wesendonck hingegen durfte nicht sein. Die Verhältnisse wurden schwierig, die Beziehungen litten unter ihnen. Nach anderthalb Jahren, im Aug. 1858, verließ W. sein »Asyl«, Mathilde, ihre gemeinsame Wirklichkeit u. ihre gemeinsamen Träume. Er verließ aber auch Minna u. ihre gemeinsame Ehe. In Venedig, im Palazzo Giustiniani, wurde der zweite Akt des Tristan vollendet, die inbrünstigste Verklärung der Liebesvereinigung, die je in der Kunst dargestellt wurde. Und 1859 in Luzern dann der dritte. Die nun folgenden vier Jahre waren solche der Irrungen, Wirrungen, fiebriger Unruhe, waren Jahre des reisenden Konzert-Dirigenten (sie führten bis nach Petersburg u. Moskau), waren Jahre der ermutigenden Anerkennung u. der ruinierenden Geldnöte. Paris – dort hielt er sich mit Unterbrechungen 1860–1862 auf – wurde zum Ort seiner größten Niederlage. Die sog. »Pariser Fassung« des Tannhäuser ging nach drei Vorstellungen unter im skandalisierenden Protesttumult einer mondänen Gegen-Claque. In Paris entstand auch der Text der Meistersinger (als Manuskript gedr. Mainz 1862).

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Das aber war die unmittelbare Folge eines flüchtigen Zusammentreffens mit den Wesendoncks im nebligen Venedig des Nov. 1861. W. begriff mit Hilfe des Wiedersehens, dass, wo die Tristan-Isolde-Lösung verwehrt war, nur die der tapfer-resignierenden Entsagung rettend sein konnte. Nicht ist die Welt um der Liebe willen zu überwinden, sondern die Liebe um der Welt willen. Hans Sachs, der Evchen liebt, entsagt dieser Liebe zugunsten der Kunst. Im winterl. Paris entstanden die Verse von Fliederduft u. Wahn, von Meisterdünkel u. Meisterschaft u. altfränk. Prügellust (1861/62). Dann ging es an die Komposition. Seit dem Juli 1860 war der polit. Revolutionär amnestiert, W. durfte wieder dt. Boden betreten (nur den seiner Heimat Sachsen nicht, bis zum März 1862). Vorübergehend ließ er sich am Rhein nieder, in der Hoffnung auf Hilfe durch seinen neuen Verleger Schott. Minna kam dazu – das war der kurze u. traurige Schlussakt ihrer Ehe. Auch sein begeisterter Schüler u. Freund Hans von Bülow, Pianist u. Dirigent, besuchte ihn, begleitet von seiner jungen Frau Cosima. Bei einem Besuch in Berlin schworen W. u. Cosima – während einer Fahrt in der Equipage –, »sich einzig gegenseitig anzugehören« (28.11.1863). Dann wohnte er, üppig von Samt u. Seide umgeben u. also auch von Schulden, in Penzing bei Wien. Um der Schuldhaft zu entgehen, floh er – wieder einmal. Und war nun wirklich am Ende. Für dieses Leben, dieses Werk schien niemand mehr einen Heller geben zu wollen. Da geschah eine Art Wunder. Im März 1864 hatte, 18-jährig, Ludwig II. den bayerischen Königsthron bestiegen. Am 3. Mai ließ er in Stuttgart dem vergötterten Künstler Ring u. Porträt überreichen – u. seine Huld. Der Künstler an der Seite des Königs. Ein schönes Bild. Ein Traumbild. Ludwigs grenzenlose Schwarmliebe zu W. hat dessen Werk gerettet, hat seine Vollendung u. Präsentation als Festspiel ermöglicht – aber um den Preis der großen menschl. Lüge, des peinvollen Maskenspiels. W. u. seine Geliebte Cosima führen vor ihrem fürstl. Mäzen die Farce bürgerlich-hochmoralischer Wohlanständigkeit auf. Man tat als

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ob. Das konnte nicht gut gehen. Es schlug sich nieder in verzweifelten Selbstanklagen u. tiefen seel. Verwerfungen. Und da W.s Werk beherrscht ist von dem einen einzigen großen Thema der Erlösungsbedürftigkeit des Menschen u. der Möglichkeit seiner Erlösung, wird man in ihm auch so etwas wie den Versuch der Tilgung der großen Lebensschuld sehen dürfen. Vorerst freilich ging es herrlich zu. Der König bezahlte W.s Schulden, schenkte ihm eine Wohnung, Geld u. vertraul. Umgang. W. machte sich daran, inspiriert von der neuen Sphäre, seinen Siegfried zu vollenden (in dem auch Ludwig sich – wie in Lohengrin – wiedererkennen will). Am 10.6.1865 erlebte dann endlich der Tristan seine Uraufführung – sie wurde zu einem großen Erfolg. Dirigent war Hans von Bülow. Einen Monat zuvor hat Cosima von Bülow W.s erstes Kind zur Welt gebracht, Isolde. Die ungewöhnl. Form der materiellen Verwöhnung des Künstlers durch den Fürsten, mehr noch die provozierende Haltung W.s u. seine üppig-unkonventionelle Lebensführung sowie seine unbedachten Ansätze, Ludwig auch politisch zu lenken: all dieses musste Hof u. Residenz gegen den exotischen Günstling aufreizen – u. tat es in solchem Maße, dass der König W.s (zeitweilige) Verbannung verfügte. Eine komfortable Verbannung; sie wurde königlich ausstaffiert, erst in Genf, dann in Tribschen bei Luzern, u. Cosima teilte sie. W. beendete im Herbst 1867 die Meistersinger-Partitur, die zur dt. Festoper schlechthin wurde – was nur möglich war, weil man die individuelle Tragödie ignorierte, man den ironisch-tragischen Untergrund verkannte, die Weltabkehr u. illusionslose Melancholie des Poeten u. Schusters Hans Sachs nicht hören wollte u. nicht die tiefe Schmerzlichkeit des Entsagungsprozesses, die den Mann der Kunst widmen lässt, was er lieber Evchen gewidmet hätte: nämlich sich selbst. Der Sachs des tiefsinnigen Wahn-Monologs zu Beginn des dritten Aufzugs kann nicht der Sachs der Festwiese zum Ende desselben sein. Welcher von beiden aber ist der rechte? Am 21.6.1868 fand die Uraufführung statt, wieder dirigierte Bülow, u. der Beifallssturm war unge-

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heuer. Der Komponist – ein sensationeller Vorgang – nahm den Applaus neben dem Herrscher in dessen Loge entgegen. Dann wieder Tribschen: W. vollendete den Siegfried, begann die Götterdämmerung u. empfing im Mai 1869 den ersten von (bis 1872) 22 Besuchen des Professors Friedrich Nietzsche aus Basel, des einzigen Freundes, der – obwohl 31 Jahre jünger – ihm an Größe des Denkens, der gestalterischen Kraft des Empfindens u. der Maßlosigkeit des Wollens ebenbürtig war. Sie beide waren Gipfel u. Vollendung der künstlerisch-gedankl. Substanz ihres Jahrhunderts. Nietzsche hat W. erkannt; W. jedoch hat in Nietzsche v. a. den bedeutenden Bewunderer seiner Kunst, dann den Abtrünnigen gesehen. Bülow ließ sich von Cosima scheiden, wenige Wochen später (am 25.8.1870) wurden W. u. Cosima in Luzern getraut. Ihr Sohn Siegfried ist im Juni zur Welt gekommen; dem Glück über seine, des erflehten Erben Geburt ist die Vollendung der Siegfried-Partitur gewidmet, ebenso das kammermusikal. Orchester-Stück des Siegfried-Idylls. Das ist nun wieder ein Mirakel: dass es einem Künstler gelingt, in seiner Zeit ein Volk dazu zu bewegen, ihm seinen Tempel, den Tempel zur Ausstellung seines Werks, zu bauen. Am 22.5.1872 wurde der Grundstein gelegt zu dem Festspielhaus Bayreuth. W. war nun 60, u. sein gewaltiges Unternehmen geriet alsbald ins Stocken. Wieder half Ludwig, kreditierte 100.000 Taler. Und am 28.2.1874 bezog W. das Geschenk seines Königs, sein Haus: »Hier, wo mein Wähnen Frieden fand / Wahnfried / sei dieses Haus von mir benannt.« Am 21.11.1874 war mit dem letzten Takt der Götterdämmerung der Ring des Nibelungen geschlossen: das Werk von 26 Jahren, in ungeheurer Konsequenz vom ersten Entwurf bis zum letzten Akkord durchgeführt, zwar technisch nicht aus einem Guss, doch künstlerisch aus einem großen Gedanken. Am 13.8.1876: »Vollendet das ewige Werk«, die Festspiele waren eröffnet, Kaiser u. Könige erwiesen, ein säkularer Akt, dem Künstler ihre Reverenz. Der gesellschaftl. Erfolg war groß, der künstlerische bescheiden, der finanzielle desaströs: ein Defizit von 148.000 Goldmark. Wieder

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sprang der König ein – u. sicherte sich bis zur Tilgung des Darlehens die Aufführungsrechte des Parsifal (auf die er später dann doch verzichtete). Den Text zu seinem mystisch-erotisch-asketischen »Bühnenweihfestspiel«, das ihn als Plan über nahezu vier Jahrzehnte hin beschäftigt hatte, dichtete W. im Frühjahr nach den ersten Festspielen. Er dachte dabei an die letzte Passion seines Lebens, an Judith Gautier, an die so heiml. wie leidenschaftl. Begegnungen in jenen späten Sommerwochen. Er feierte Entsagung, um deren Gegenstand zu feiern. Er geißelte Sinnlichkeit, indem er ihr die betörendsten Töne u. Farben verlieh, die Blumenmädchen u. Kundry in eine hocherot. Aura hüllte. Im Jan. 1882 war die Partitur abgeschlossen. Am 26.7.1882 wurden die zweiten Festspiele mit der Uraufführung des Parsifal eröffnet, ein Jude dirigierte das von christlich-kath. Ritualen geprägte mystisch-widerspruchsvolle Werk: Hermann Levi. Nach 16 Aufführungen war alles zu Ende, W. u. seine Familie brachen auf nach Venedig, bezogen eine Wohnung im Palazzo Vendramin-Calergi. Liszt, der treueste Freund u. Schwiegervater, kam zu Besuch. Es ging W. nicht gut, das Herz machte schmerzlich Schwierigkeiten – aber er war voller Pläne: die nächsten Festspiele, Gedanken an Symphonien, u. »er schuldet der Welt noch den Tannhäuser«. Am 13.2.1883 mittags, schreibend an dem Aufsatz Über das Weibliche im Menschlichen, starb er. »Liebe – Tragik«, das waren seine letzten Worte. Weitere Werke: Musikalische Gesamtausgabe: Sämtl. Werke. Begründet v. Carl Dahlhaus. Hg. Egon Voss. 69 Teilbde. Mainz 1968 ff. – Literarische Gesamtausgabe: Ges. Schriften u. Dichtungen. 9 Bde., Lpz. 1871–73. Bd. 10, 1883. 6. Aufl. erw. u. d. T. Sämtl. Schriften u. Dichtungen. Volks-Ausg. 16 Bde., Lpz. 1911–14. – Briefe: Sämtl. Briefe. Hg. Gertrud Strobel, Werner Wolf u.a. Lpz. 1967 ff. – Tagebücher: Das braune Buch. Tagebuchaufzeichnungen 1865–82. Hg. Joachim Bergfeld. Zürich/ Freib. i. Br. 1985. 21988. – Cosima Wagner: Die Tagebücher 1869–83. Hg. Martin Gregor-Dellin u. Dietrich Mack. 2 Bde., Mchn./Zürich 1976/77. 2 1982. Literatur: Bibliografien, Lexika, Werk- und Briefeverzeichnis: Herbert Barth (Hg.): Internat. W.-Bi-

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83 bliogr. 1945–66. 3 Bde., Bayreuth 1955–68. – Martin Gregor-Dellin u. Michael v. Soden: R. W. Leben, Werk, Wirkung (Lexikon). Düsseld./Wien 1983. – John Deathridge, Martin Geck u. Egon Voss (Hg.): W.-Werk-Verz. (WWV). Mainz 1986. – HansJoachim Bauer: R.-W.-Lexikon. Bergisch Gladbach 1988. – Werner Breig, Martin Dürrer u. Andreas Mielke (Hg.): W.-Briefe-Verz. (WBV). Wiesb. 1998. – Gesamtdarstellungen: Ernst Bloch: Geist der Utopie. Mchn. 1918. – Theodor W. Adorno: Versuch über W. Ffm./Bln. 1952. – Hans Mayer: R. W.s geistige Entwicklung. Düsseld./Hbg. 1954. – Carl Dahlhaus: R. W.s Musikdramen. Velber 1971. – Peter Wapnewski: Der traurige Gott. R. W. in seinen Helden. Mchn. 1978. – Dieter Borchmeyer: Das Theater R. W.s. Stgt. 1982. – Ulrich Müller u. P. Wapnewski (Hg.): R.-W.-Hdb. Stgt. 1986. – D. Borchmeyer: R. W. Ahasvers Wandlungen. Ffm. 2002. – Udo Bermbach: Blühendes Leid. Politik u. Gesellsch. in R. W.s Musikdramen. Stgt./Weimar 2003. – Biografisches: Carl Friedrich Glasenapp: R. W.s Leben u. Wirken. Kassel/Lpz. 1876/77. 3., rev. u. erw. Aufl. u. d. T. Das Leben R. W.s. 1894–1911. – Ernest Newman: The Life of R. W. 4 Bde., New York 1933–47. – Curt v. Westernhagen: W. Zürich 1968. – Robert W. Gutman: R. W. Mchn. 1970. – M. Gregor-Dellin: W.-Chronik. Mchn. 1972. – M. Geck: R. W. Reinb. 2004. – Wirkungen: Helmut Kirchmeyer: Situationsgesch. der Musikkritik u. des musikal. Pressewesens in Dtschld. [...]. Tl. 4: Das zeitgenöss. W.-Bild. 3 Bde., Regensb. 1968–72. – Erwin Koppen: Dekadenter Wagnerismus. Studien zur europ. Lit. des Fin de siècle. Bln. 1973. – Hartmut Zelinsky: R. W. – ein dt. Thema. Eine Dokumentation zur Wirkungsgesch. R. W.s 1876–1976. Bln./Wien 1976. – Hans Rudolf Vaget (Hg.): Im Schatten W.s. Thomas Mann über R. W. Ffm. 1999. – D. Borchmeyer, Ami Maayani u. Susanne Vill (Hg.): R. W. u. die Juden. Stgt./Weimar 2000. – Saul Friedländer u. Jörn Rüsen (Hg.): R. W. im Dritten Reich. Mchn. 2000. – Einzelne Werke: P. Wapnewski: Tristan der Held R. W.s. Bln. 1982. – Ulrike Kienzle: Das Weltüberwindungswerk. W.s ›Parsifal‹. Laaber 1992. – Jens Malte Fischer: R. W.s ›Das Judentum in der Musik‹. Eine krit. Dokumentation. Ffm. 2000. – Wagner aus literaturwissenschaftlicher und formgeschichtlicher Sicht: M. GregorDellin: W. u. kein Ende. R. W. im Spiegel v. Thomas Manns Prosawerk. Bayreuth 1958. – Klaus Kropfinger: W. u. Beethoven. Untersuchungen zur Beethoven-Rezeption R. W.s. Regensb. 1975. – Danielle Buschinger: Das MA R. W.s. Würzb. 2007. – Yvonne Nilges: R. W.s Shakespeare. Würzb. 2007. Peter Wapnewski / Yvonne Nilges

Wagner, Richard, * 10.4.1952 Lowrin/Rumänien. – Erzähler, Romanautor, Essayist u. Lyriker. Nach unbehelligten, naturverbundenen Kinderjahren im Dorf Perjamosch (rumän. Periam in der Provinz Banat), an die Reminiszenzen in seiner Lyrik u. Prosa später erscheinen sollten, studierte W. in Timis¸ oara/ Temeswar auf Lehramt Germanistik u. Rumänistik. Zunächst als Deutschlehrer tätig, wechselte er 1978 zum Journalismus. Bis zu seiner Entlassung aus polit. Gründen (1983) arbeitete W. bei mehreren Zeitungen. 1987 zog er mit seiner damaligen Ehefrau Herta Müller nach West-Berlin, wo er auch heute noch lebt u. als freischaffender Autor arbeitet. In den 1970er Jahren einer der meistveröffentlichten Autoren in der rumäniendt. Presse, wurde W. bekannt als Wortführer der Aktionsgruppe Banat (1972–1975). Die Gruppe setzte sich gleichermaßen ab von der innerhalb der rumäniendt. Literatur fortwirkenden Proletkult-Tradition der 1950er Jahre wie vom formalen Avantgardismus der 1960er Jahre. Nach ihrem erzwungenen Ende suchte W. den krit. Impetus seiner frühen, an Brecht geschulten Dichtung in einer subjektiv gefärbten Schreibweise zu bewahren. An die Stelle der pointierten u. nüchternen Formensprache in Klartext (Bukarest 1973) trat von nun an eine die Möglichkeiten der Sprache kritisch reflektierende Dichtung, die gesellschaftl. Vorgänge im Spiegel individueller Wahrnehmungs- u. (Selbst-)Erfahrungsweisen bündelt. W.s Erzählungen Ausreiseantrag (Darmst. 1988), Begrüßungsgeld (Ffm. 1989) u. Die Muren von Wien (ebd. 1990) thematisieren die Erfahrungen des polit. u. geografischen Heimatverlusts in einem fremd gebliebenen neuen Zuhause. In dieser Phase der Verunsicherung – sowohl vor als auch nach seiner Übersiedlung in die BR Deutschland – lud W. seine Lyrik vorwiegend mit Symbolen voll; unmittelbar nach der Auswanderung veröffentlichte er Texte, die ihre Wurzeln in der sozialistischen Lebensrealität rumän. Prägung hatten, aber die kommunistische Zensur wegen der Systemkritik nicht passiert hätten. Ein weiterer Charakterzug seiner Lyrikproduktion in der Übergangszeit ist die

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Präsenz der Erinnerung an kommunistische Verfolgungsszenerien: »Das Telephon läutet, / du hebst sofort ab. / Du sagst deinen Namen, / und du hörst deutlich, / wie am anderen Ende / der Hörer aufgelegt wird. / Ja, der Tag hat angefangen.« (Morgen. In: Schwarze Kreide. Gedichte. Ffm. 1991, S. 38). Nach dieser Phase der Verunsicherung u. Ängste – gestärkt auch von den gesellschaftl., kulturellen u. polit. Änderungen durch u. nach der Wende in seinem ursprüngl. Heimatland Rumänien – wurde W. zu einem literar. Kulturvermittler zwischen Deutschland u. Südosteuropa, der die kulturellen Unterschiede u. Ähnlichkeiten zum Thema seines literar. Schaffens machte. Stets von einem Willen nach Verständigung, Erklärung, genauer Beschreibung, Abbau der Stereotypen u. schonungsloser Kritik geleitet, suchte W. nach Formen, die dieser selbstgewählten Sendung entsprachen. So fand er am Anfang der 1990er Jahre zum Roman u. zum Essay, die ihm Platz für die Auseinandersetzung mit der bundesdt. u. rumän., aber auch banatschwäb. Kulturtraditionen, Interferenzen u. Geschichtsbetrachtungen boten. In einer Reihe von Romanen, deren zentrale Figuren Frauen sind (In der Hand der Frauen. Stgt. 1995. Lisas geheimes Buch. Ebd. 1996. Im Grunde sind wir alle Sieger. Ebd. 1998. Miss Bukarest. Bln 2001. Das reiche Mädchen. Ebd. 2007. Belüge mich. Ebd. 2011), entwirft W. Szenerien jener ostmitteleurop. Gesellschaften – geortet von den neuen Bundesländern/DDR bis hin zum Balkan, in Serbien –, die verzweifelt nach eigener Identität, Wohlstand u. Selbstständigkeit suchen u. diese immer nur am Rande oder außerhalb eines moralischen Lebens finden können. Die Vergangenheit – gerade weil die Missstände, verursacht durch Korruption, durch Terror des Sozialismus u. durch das Wüten des Nationalsozialismus, nicht aufgearbeitet u. überwunden worden sind – holt die Protagonisten immer wieder ein u. zwingt sie zur Prostitution, zum Verbrechen u. ins selbstgenügsame Scheitern. Das zweite Gebiet der kulturellen Auseinandersetzungen von W. bilden die Essays, die auf den Verlust der europ., an der Aufklärung u. Klassik geschulten Werte hinweisen. Der

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Autor kritisiert das naive Gutmenschentum, die linksutop. Denkmodelle, die 68er-Generation u. schlägt ganz pessimistische Töne an, die den Untergang Deutschlands durch andere Religionen u. durch die Einwanderer ankündigen: »Über uns ist jetzt nicht mehr die hohe Decke, sondern ein schmaler Mond. Der Horizont öffnet sich und stellt sich uns entgegen. Für einen Augenblick ist es uns, als könnten wir ihn entziffern, als sollten wir es« (Der deutsche Horizont. Vom Schicksal eines guten Landes. Bln. 2006, S. 389). Mit ähnl. Wucht zieht W. auch gegen die Stereotypen über Rumänien u. den Balkan ins Feld; er versucht diese Region mit ideengeschichtl., histor. u. soziolog. Schriften an Mitteleuropa anzugliedern. Er deutet u. beschreibt die kulturellen Differenzen u. weckt damit Sympathie für die Region; auch deshalb ist W. ins Rumänische u. Ungarische übersetzt worden. In diesen Ländern erntet er Erfolg; in Deutschland stehen ihm manche Kritiker skeptisch gegenüber, obwohl der Tenor der Rezensionen zu seinen Büchern eigentlich positiv ist, wovon Preise wie der Neue deutsche Literaturpreis (2000) u. der Georg Dehio-Buchpreis (2008) zeugen. Weitere Werke: die invasion der uhren. Bukarest 1977 (L.). – Hotel California I. Ebd. 1980 (L.). – Der Anfang einer Gesch. Cluj-Napoca 1980 (P.). – Hotel California II. Bukarest 1981 (L.). – Gegenlicht. Temeswar 1983 (L.). – Das Auge des Feuilletons. Cluj-Napoca 1984 (P.). – Rostregen. Darmst./ Neuwied 1986 (L.). – Sonderweg Rumänien. Bln. 1991 (Sozialhistor. Studie). – Mythendämmerung. Einwürfe eines Mitteleuropäers. Bln. 1993 (Ess.s). – Der leere Himmel. Reise in das Innere des Balkan. Bln. 2003. (Ess.s). – Habseligkeiten. Bln. 2004 (R.). – Es reicht. Gegen den Ausverkauf unserer Werte. Bln. 2008. (Ess.s). Literatur: Peter Motzan: Die rumäniendt. Lyrik nach 1944. Cluj-Napoca 1980. – Emmerich Reichrath (Hg.): Reflexe 2. Aufsätze, Rez.en u. Interviews zur dt. Lit. in Rumänien. Ebd. 1984, S. 174–181 u. 184–188. – William Totok: Die Zwänge der Erinnerung. Aufzeichnungen aus Rumänien. Hbg. 1988. – Norbert Eke: ›Niemand ist des anderen Sprache‹. Zur deutschsprachigen Lit. Rumäniens. In: Südostdt. Vierteljahresbl. 39 (1990), 2, S. 103–118. – Anita Zumpe: Langue et identité dans l’œuvre de R. W. In: Germanica 17 (1995), S. 51–78. – René Kegelmann: ›An den

85 Grenzen des Nichts, dieser Sprache ...‹. Zur Situation rumäniendt. Lit. der achtziger Jahre in der BR Dtschld. Bielef. 1995, S. 15–59. – ›Ich stelle meine Herkunft nicht aus‹. Stefan Sienerth im Gespräch mit R. W. In: ›Daß ich in diesen Raum hineingeboren wurde ...‹. Gespräche mit dt. Schriftstellern aus Südosteuropa. Mchn. 1997, S. 305–319. – Gerhardt Csejka: R. W. In: KLG. – Peter Stenberg: R. W. In: LGL. – Roxana Nubert: Zur Darstellung der Weiblichkeit in der rumäniendt. Gegenwartslit. Mit besonderer Berücksichtigung v. R. W. In: Transcarpathica 3–4 (2008), S. 235–254. – David Rock: ›Things we possess‹: The Past Lives on in the Present. Recent Fiction by Romanian-German Writer R. W. In: The Essence and the Margin. National Identities and Collective Memories in Contemporary European Culture Hg. Laura Rorato u. Anna Saunders Amsterd. u.a. 2009, S. 135–150. – András F. Balogh: Studien zur dt. Lit. Südosteuropas. Cluj-Napoca/Klausenburg u. Heidelb. 22010, S. 201–214. Norbert Eke / András F. Balogh

Wagner, Sylvester, * 31.12.1807 Hendorf bei Salzburg, † 10.10.1865 Hendorf bei Salzburg. – Lyriker. W. studierte nach Abbruch eines Theologiestudiums in Wien Chirurgie u. Astronomie; danach hatte er eine Aushilfsstelle an der Wiener Sternwarte inne. Mit mehreren eigenen Beiträgen v. a. über spezielle Wiener Typen war er wichtigster Mitarbeiter bei dem von Stifter herausgegebenen Sammelband Wien und die Wiener in Bildern aus dem Leben (Pest 1844). Beeinflusst von seinem Jugendfreund u. Vorbild Franz Stelzhamer schrieb W. Salzburgá Bauern-Gsángá (Wien 1847. 2., mit dem Nachlass vermehrte Aufl. hg. von Hermann F. Wagner. Salzb. 1901), eine Sammlung von Stimmungsbildern aus dem Dorfleben, Jägergeschichten u. Schnadahüpfeln, sangbaren Vierzeilern oft satir. Inhalts, in salzburgischer Mundart. W. gehörte zu den Revolutionären des Jahres 1848, flüchtete jedoch nach der Niederschlagung der Wiener Oktoberrevolution u. lebte im Verborgenen in Hendorf, wo er nach der Amnestierung als Gemeindeschreiber in ärml. Verhältnissen, unterstützt von Stelzhamer u. anderen Gönnern, sein Unterkommen fand. Literatur: Heinrich Dieter: Der Salzburgische Dichter S. W. Salzb. 1897. Richard Heckner

Wagnerbuch von 1593

Wagnerbuch von 1593. Das W. (eigentl. Ander theil D. Johan Fausti Historien) ist die Fortsetzung der Historia von D. Johann Fausten (1587). In seinem Mittelpunkt steht die Lebensgeschichte von Christoph Wagner, einem unehelich geborenen Bettlerjungen, der von Faust aufgenommen u. in der Schwarzen Kunst unterrichtet wird. Nach Fausts Tod praktiziert Wagner als Arzt; unkluges Verhalten führt jedoch zu wirtschaftl. Ruin u. gesellschaftl. Abstieg. Mit dem Teufelspakt versucht Wagner daher (erfolglos), neben Erkenntnis v. a. Reichtum u. soziale Reputation zu gewinnen. Insofern ist das W. in mehrfacher Hinsicht Exempeldichtung: Es zeigt die Folgen religiösen u. weltl. Fehlverhaltens. Bei dem Verfassernamen Friedrich Schotus (auch: Scotus) handelt es sich vermutlich um ein Pseudonym. Weitere Werke des Autors sind unbekannt, Dokumente aus seinem Leben liegen nicht vor. Zudem fehlen im W. Widmungen sowie Angaben zu Erscheinungsort u. Verleger, die eine Identifizierung des Autors erleichtern könnten. Mehrere Auflagen u. Übersetzungen ließen das W. einige Jahre lang zu einem erfolgreichen Buch werden. Intensiver beschäftigt sich die Forschung erst seit den 1980er Jahren mit dem W. Forschungsschwerpunkte lagen u. a. auf der Darstellung Amerikas, dem Zusammenhang von Magie u. Moral sowie dem Vergleich des W. mit der Historia von 1587. Ausgabe: Das W. v. 1593. Hg. Günther Mahal u. Martin Ehrenfeuchter. Bd. 1: Faksimiledruck. Bd. 2: Zeilenkomm., Nachw. u. Register. Tüb./Basel 2005. Literatur: Gerhild Scholz Williams: Magie u. Moral: Faust u. Wagner. In: Daphnis 19 (1990), S. 3–23. – Albrecht Classen: Die Entdeckung Amerikas in der dt. Lit. des 16. Jh.: Der Fall ›W.‹. In: GLL 47 (1994), S. 1–13. – Martin Ehrenfeuchter: ›Es ward Wagner zu wissen getan ...‹. Wissen u. Wissensvermittlung im ›W.‹ v. 1593. In: Als das wissend die meister wol. Beiträge zur Darstellung u. Vermittlung v. Wissen in Fachlit. u. Dichtung des MA u. der frühen Neuzeit. Hg. ders. u. Thomas Ehlen. Ffm. u. a. 2000, S. 347–368. – A. Classen: New Knowledge, Disturbing and Attractive. The ›Faustbuch‹ and the ›W.‹ as Witnesses of the Early Modern Paradigm Shift. In: Daphnis 35 (2006),

Die Wahrheit

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S. 515–535. – M. Ehrenfeuchter: ›Das ich bey jederman in grossem ansehen sey‹ – Ein Exempel gesellschaftl. Scheiterns im W. v. 1593. In: Faust-Jb. 3 (2007/2008), S. 191–207. – Barbara MahlmannBauer: Magie u. Wiss.en im W. (1593). In: Religion u. Naturwiss.en im 16. u. 17. Jh. Hg. Kaspar v. Greyerz u. a. Gütersloh 2010, S. 141–185.

Ausgaben: Albert Waag (Hg.): Kleinere dt. Gedichte des XI. u. XII. Jh. Halle 21916, Nr. XI (Kommentar). – Erich Henschel u. Ulrich Pretzel (Hg.): Die kleineren Denkmäler der Vorauer Hs. Tüb. 1963, Nr. 3. – A. Waag u. Werner Schröder (Hg.): Kleinere dt. Gedichte des 11. u. 12. Jh. Bd. 2, Tüb. 1972, Nr. XI (Lit.).

Martin Ehrenfeuchter

Literatur: Julius Schwietering: Singen u. Sagen. Diss. Gött. 1908, S. 12 f., 35.– Dieter Kartschoke: Gesch. der dt. Lit. im frühen MA. Mchn. 1990, S. 370. – Gisela Vollmann-Profe: Wiederbeginn volkssprachiger Schriftlichkeit im hohen MA [...]. (Gesch. der dt. Lit. v. den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit. Bd. 1. Tl. 2). Tüb. 21994, S. 126–128. – Edgar Papp: D. W. In: VL. Ernst Hellgardt / Red.

Die Wahrheit. – Geistliches Lehr- u. Mahngedicht, 183 Verse, bairisch, um 1150.

Der in seiner Berechtigung umstrittene Titel ist aus Vers 151 abgeleitet: »Daz liet heizet diu warheit.« Die Übersetzung muss historisch korrekt wohl lauten: »Das Lied nennt, Waiblinger, Wilhelm (Friedrich), * 21.11. das heißt sagt die Wahrheit.« Demnach ist 1804 Heilbronn, † 17.1.1830 Rom; Grabhier die Wahrheit als Gegenstand des Gestätte: ebd., protestantischer Friedhof. – dichts bezeichnet u. die Bezeichnung »Lied« Erzähler, Lyriker, Dramatiker. für die literar. Typenzugehörigkeit des Textes gegeben. Einleitend bittet der Dichter W. war der erste Sohn eines Kammersekretärs Gott um Inspiration u. nennt sein Thema: die bei der Heilbronner Landvogtei u. einer Ungewissheit der Rückkehr aus dem Exil Pfarrerstochter. 1806–1817 lebte die Familie (»ellende«) dieser Welt in die Heimat des in Stuttgart, dann in Reutlingen. Frühreif, verlorenen Paradieses. Dann skizziert er die geistig hochinteressiert, fantasievoll, sinnAlternative »Himmel – Hölle« u. preist die lich, in Freundschafts- u. Liebesverhältnissen Heilstaten Jesu: Geburt, Jordantaufe, Passion stürmisch (vgl. seine Erinnerungen aus der u. Höllenfahrt u. gibt ihre Unwiederholbar- Kindheit. In: Dresdener »Abendzeitung«, keit zu bedenken. Mit Geburt u. Passion ist 1829), hatte W. als Schüler des Stuttgarter den Menschen Liebe u. Leid gewährt. Den Obergymnasiums (1820–1822) enge BezieWidersinn, dass er auch Leidiges lobe, löst der hungen zu Dichter-, Künstler- u. SchauspieDichter mit der Bemerkung auf, dass sein lerkreisen: zu Schwab (seinem Lehrer in AltPassionslob den Leuten nur den Teufel ver- philologie), Uhland, Matthisson, Haug u. leide: Mit den Entbehrungen der Weltabkehr Weisser, dem Bildhauer Dannecker u. den begeht man in der Passionsnachfolge den Kunstsammlern Boisserée. Die 1821–1826 Himmelsweg. Es gilt, die kurze Zeit des Le- geführten Tagebücher (partiell hg. von Herbert bens zu nützen u. die schreckl. Folgen eines Meyer. Stgt. 1956), in ihrer schonungslosen plötzl. Todes zu meiden, der dem Sünder die Offenheit u. stilistischen Vielfalt ein aufGelegenheit zur Umkehr in der Buße nimmt. schlussreiches Dokument, informieren über Der Dichter warnt vor der Sünde der Ver- W.s unermüdliche, weitgespannte Lektüre zweiflung u. mahnt zum Vertrauen in die der Weltliteratur (Goethe wurde nun HauptGnade Gottes bei rechter Reue u. Buße. Als vorbild), seine Sprachstudien (antike SpraKatechet erinnert er mit Anklängen an Credo chen, Englisch, Italienisch), seinen kompleu. Paternoster an die Größe des Schöpfergot- xen Charakter u. seine zahlreichen, meist tes u. die Gotteskindschaft des Menschen. – unausgeführten dichterischen Pläne. Das Der Stil des Gedichts ist predigtnah, reich an 1822 entstandene Blankversdrama Liebe und Zwillingsformeln u. plastisch in der Anwen- Haß, worin er seine unglückl. Liebe zu Phildung von Sprichwörtern (»dem Tauben har- ippine Heim u. sein gespanntes Verhältnis zu fen, dem Blinden winken«) u. im Gebrauch den Stuttgarter Verwandten verarbeitet, ertraditioneller, aber auch ungewöhnl. Bilder. schien erst 1914 (Hg. André Fauconnet. Lpz./

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Bln.). Ende Okt. 1822 begann W. sein Philologie- u. Theologiestudium am Tübinger Stift; er verkehrte häufig mit dem geisteskranken Hölderlin u. wurde sein erster Biograf (Friedrich Hölderlins Leben, Dichtung und Wahnsinn. Stgt. 1831). Der empathet. Bericht über Hölderlins »trauriges Leben« trug entscheidend zum späteren Kult des wahnsinnigen Dichters bei. Von Hölderlins Hyperion begeistert, schrieb W. den überschwengl. Briefroman Phaeton (ebd. 1823). W.s romant. Korrektur des Phaethon-Mythos macht in einem »mythenkontaminierenden Verfahren« (Christiane Hansen: Rezeption des PhaethonMythos. Unveröff. Diss. Freiburg; ersch. 2012) das Scheitern eines Künstlers u. dessen aussichtslose Vatersuche zum Sinnbild des zeitgenöss. Epigonentums. Unter dem Eindruck des griech. Freiheitskampfes u. des Schicksals Byrons entstanden die Lieder der Griechen (ebd. 1823) u. einige Versepen (Vier Erzählungen aus der Geschichte des jetzigen Griechenlands. Ludwigsburg 1826). Im Stift schloss W. einen Freundschaftsbund mit Mörike u. Ludwig Bauer. Wegen seiner die bürgerlich u. pietistisch-religiös geprägte Umwelt schockierenden Offenheit u. durch anderes rufschädigendes Verhalten (etwa sein skandalumwittertes Liebesverhältnis zu Julie Michaelis, der Schwester eines jüd. Professors) wurde W. im Sept. 1826 vom Stift verwiesen. Das Michaelis-Erlebnis verarbeitete er in dem düsteren u. satir. Roman Olura, der Vampyr (Erstdr. Stgt. 1986), der das Arsenal romant. Themen wie Somnambulismus, Magnetismus, Vampirismus u. Identitätskrisen aufgreift, aber zgl. eine Fülle von musiktheatral. Exkursen (zu Mozarts Don Giovanni u. Zauberflöte) sowie literatursatir. Exkursen enthält (v. a. gegen Clauren). Romantiksatire enthält auch die Schrift Drei Tage in der Unterwelt (ebd. 1826). Mit einem kleinen Stipendium des Cotta Verlags trat der Italien-Enthusiast (er hatte schon 1823 u. 1824 Norditalien bereist) im Okt. 1826 seine Reise nach Rom an, wo er ein Hungerleben als freier Schriftsteller führte (vgl. die selbstiron. Erzählung Das Abenteuer der Sohle). Er publizierte Gedichte, Erzählungen u. Reiseberichte u. a. in Cottas »Morgenblatt« (1826–1828), Müllners »Mitternachtsblatt« (1826), dem »Gesellschafter« (1828 bis

Waiblinger

1830), der »Zeitung für die elegante Welt« (1828) u. den »Alpenrosen« (1827–1829), v. a. aber in Hells Dresdener »Abendzeitung« (1827–1830). Fasziniert nicht nur von den Spuren der Antike, den Kunstwerken der Renaissance- u. Barockzeit u. der Landschaft, sondern auch vom ital. Volksleben (vgl. z. B. Die heilige Woche. Charaktergemälde aus Rom), berichtete W. über seine röm. Erlebnisse u. Beobachtungen u. seine Reisen in die Umgebung (Latium, Sabinerland, Olevano, Abruzzen) sowie nach Neapel u. Sizilien u. a. im Lyrikband Blüten der Muse aus Rom (Bln. 1829) sowie im Taschenbuch aus Italien und Griechenland (Bln. 1828/29). W.s Landschaftsdichtungen, teils in antikisierenden Distichen wie die hundert Bilder aus Neapel, teils in romanischen Reimstrophen wie die Lieder aus Capri, zählen zu den bedeutendsten deutschsprachigen Italiendichtungen des 19. Jh. In ihnen spiegelt sich W.s Zerrissenheit, der immer wieder die Antikenbegeisterung mit der sozialen Gegenwart kontrastiert (»Daß ich zu stolz nicht werde, mich nicht in Elysium glaube, | Stimmt mich bei jeglichen Schritt wieder ein Bettler herab« [Bilder aus Neapel, Nr. 45]). Auch W.s dialogischer Liederzyklus Lieder der Nazarena, der die Liebe zu der Dorfschönen Nazarena Silei während seines Aufenthalts in Olevano Roman (Erinnerungstafel dort) poetisiert, berührt in seiner interkulturellen Zweistimmigkeit. Von seinen Erzählungen – Das Blumenfest, Francesco Spina, Die Briten in Rom – ist am einprägsamsten die Letzte, mit ihrem Spott über engl. Touristen u. die dt. Malerkolonie der Nazarener. Das Märchen von der blauen Grotte steht in der Tradition des romant. Kunstmärchens. Als einzige Frucht seiner jahrelangen Bemühungen um das Drama erschien 1829 Anna Bullen. Königin von England (Stgt.), das er gründlich umgearbeitet hatte, nachdem es vom Hoftheater wegen Überlänge u. anstößiger Stellen zurückgewiesen worden war. Betreut von seiner röm. Lebensgefährtin Nena Carlenzo, starb W., vom Klima Roms u. körperl. Raubbau geschwächt, 25-jährig. Die Bedeutung W.s, eines der genialischen Unvollendeten der dt. Literatur, liegt weniger in seiner formenreichen, gewandten Lyrik als in seiner Reiseprosa; in den ital. Volks- u.

Walahfrid Strabo

Landschaftsschilderungen mit ihrem unbestechl. Blick u. ihrer farbigen u. plast. Detailgenauigkeit erschließt er Neuland u. stößt zu einem frührealistischen Stil durch. Ausgaben: Ges. Werke. Hg. Hermann v. Canitz. 9 Bde., Hbg. 1839/40. Ebd. 21842. – Werke u. Briefe. Hg. Hans Königer. 6 Bde., Stgt. 1980–88.– Phaethon. Jubiläums-Ausg. zum 200. Geb. Hg. Werner Hiller. Wolfenb. 2004. – Erzählungen u. Briefe. Hg. Monique Cantré. Tüb. 2011. – Mit Eduard Mörike: Eine poet. Jugend in Briefen, Tagebüchern u. Gedichten. Hg. Heinz Schlaffer. Stgt. 1994. – Von Eduard Mörike: Bearb. v. Gedichten W. W.s. Werke u. Briefe. Bd. 9, Tl. 1. Hg. Hans-Ulrich Simon. Stgt. 1995. Literatur: Bibliografie: Lampros Mygdales: W.W.-Bibliogr. Heilbr. 1976. Ergänzungen in: Suevica 4 (1987). – Weitere Titel: Karl Frey: W. W. Aarau 1904. – Hermann Behne: W. W. Weimar 1948. – Lawrence S. Thompson: W. W. in Italy. Chapel Hill 1953. – Hans-Ulrich Simon (Bearb.): W. W. Marbach Marbach 1979. – Heinz Brüggemann: Magische Bilderfülle in kaleidoskop. Sicht. W. W.: ›Der Carneval‹. In: Ders.: ›Aber schickt keinen Poeten nach London!‹ Reinb. 1985, S. 64–71. – Hal Rennert: Zu W. W.s Gedicht ›Der Kirchhof‹: durch Rezeption zur Interpr. In: Studien zur dt. Lit. v. der Romantik bis Heine. Hg. Hartmut Steinecke. Bln. 1988, S. 85–100. – H.-U. Simon: W. W. u. das Königl. Hof-Theater Stuttgart. In: ›O Fürstin der Heimath! Glükliches Stutgard‹. Hg. Christoph Jamme u.a. Stgt. 1988, S. 227–258. – Paul Derks: Wie Plato u. seine Stella sich liebten. Hölderlins ›Hyperion‹ u. W.s ›Phaeton‹. In: Ders.: Die Schande der heiligen Päderastie. Bln. 1990, S. 393–409. – Michael Dischinger: W. W.s ›Poetische Existenz‹. Münster/Hbg. 1991. – Hartmut Fröschle: W. W. als Völkerpsychologe. In: Suevica 7 (1993), S. 69–80. – ›O Kraft, o Kraft, du sollst mir nicht gebändigt werden ...‹. Zum Abschluß der hist.-krit. Ausg. der Werke, Briefe u. Tagebücher W. W.s. Hg. Günther Emig. Heilbr. 1994. – Teresa Seruya: W. W. e Hölderlin: aspectos literários duma relação. In: Runa 22 (1994), S. 115–129. – Wilhelm Kühlmann: Der Epigone als Genie: W. W.s ›Akademische Jahre‹. In: Ders.: Literar. Miniaturen. Hg. Hermann Wiegand. Heidelb. 1996, S. 34–37. – Leonie Fuhrmann: Epigonalität u. Originalität: zur Identitätsproblematik im Werk W. W.s. Diss. Heidelb. 2000. – Burckhard Dücker: ›Warum bin ich kein Goethe?‹ Formen literar. Selbstinszenierung bei W. W. In: Euph. 96 (2002), S. 171–192. – Ralf Oldenburg: W. W. Lit. u. bürgerl. Existenz. Osnabr. 2002. – Ders.: ›Ich spreche bildlich [...]‹. W. W.s Kunst-Sprache in Alltag u. Dichtung. In: Franz Kafka, Heinrich v.

88 Kleist, Richard Strauss, [...]. Hg. Fausto Cercignani. Milano 2002, S. 75–107. – Lee Byron Jennings: An early German Vampire tale: W. W.s ›Olura‹. In: In dem milden u. glückl. Schwaben u. in der Neuen Welt. Hg. Reinhard Breymayer. Stgt. 2004, S. 295–306. – Carsten Gerhard: W. W.s Reiseberichte aus Italien: Wahrnehmung, Darstellung, Zwecke. Bln. 2006 (Online-Ressource). – Norbert Miller: Die Verschollenen: zum röm. Aufenthalt Maler Müllers u. W. W.s. In: Rom – Europa. Hg. Paolo Chiarini. Würzb. 2006, S. 173–222 (zuerst in: Studi germanici 42 [2004], S. 7–64). – Stefan Andressohn: W. W. u. die bildende Kunst. Ffm. u.a. 2007. – Hans Königer: W. W.: ein Proteus der dt. Lit. Zum 200. Geburtstag des Dichters. In: Hölderlin: Sprache u. Raum. Hg. Valérie Lawitschka. Tüb. 2008, S. 266–291. Hartmut Fröschle / Achim Aurnhammer

Walahfrid Strabo, auch: Strabus, ›der Schielende‹, * 808 oder 809 Schwaben, † 18.8.849 bei der Überquerung der Loire. – Mittellateinischer Theologe, Gelehrter u. Dichter. Aus einer unbedeutenden Familie stammend, war W. Klosterschüler auf der Reichenau, zeitweise zusammen mit Gottschalk dem Sachsen, dem er auch später freundschaftlich verbunden blieb (vgl. carmen 18). Während des zweijährigen Studienaufenthalts in Fulda bei Hrabanus Maurus (seit 826 oder 827) vertiefte W. zwar seine theolog. Kenntnisse – er bearbeitete nach Hrabans Vorträgen dessen Kommentare zum Pentateuch u. zu einem Abschnitt aus Isidors Etymologiae (mit ahd. Übersetzungen) –, doch fühlte er sich als »verhasster Fremdling«; er sehnte sich nach seiner Klostergemeinschaft, wie er es im »Lob der Reichenau« (Metrum Saphicum, carmen 75), seinem persönlichsten Gedicht, darstellt. 829 wurde W. in Aachen Erzieher des Kaisersohns Karl; 838 belohnte ihn Ludwig der Fromme († 840) mit der Abtswürde der Reichenau, was jedoch auf den Widerstand der Mönche stieß. Der Kampf zwischen den Kaisersöhnen Lothar, Ludwig u. Karl trieb W. 840 ins Exil nach Speyer. Im Loyalitätsbekenntnis »an Kaiser Lothar« (carmen 76) vergleicht er sein Unglück u. a. mit dem Ovids. Zwei Jahre später söhnte er sich mit Ludwig dem Deutschen aus u. konnte sein

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Amt antreten. W. ertrank während einer Gesandtschaftsreise an den Hof Karls des Kahlen. Im MA wirkte W. vor allem mit seinen theolog. u. hagiografischen Schriften weiter. Neben dem Psalmenkommentar, einer Bearbeitung Augustins u. Cassiodors, waren bes. die exegetischen Werke sowie ein liturg. Handbuch verbreitet. In Letzterem (abgeschlossen 840–842) untersucht W. – mit ungewöhnlich klarem Blick für die Historizität der Quellentexte – »Ursprung und Verbreitung« (De exordiis et incrementis) kirchlicher Einrichtungen u. Rituale. Seine weitgespannten Interessen zeigt auch das Vademecum, eine nicht edierte Handschrift W.s, in die er seit seiner Jugend u. a. Beobachtungen zu Grammatik u. Metrik, zu bemerkenswerten Ereignissen, Medizin (mit ahd. Glossen) u. Landwirtschaft eingetragen hat. Den Ruhm W.s seit den Humanisten begründete sein poetisches Werk. Schon mit 17 Jahren stellt er die Jenseitsvision seines Lehrers Wetti († 824) theologisch reflektiert in Hexametern dar u. ordnet sie in die Geschichte des Klosters ein. Im Gegensatz zu späteren Autoren sind bei W. nicht Schreckensbilder wichtig, sondern Warnungen vor Habgier u. Amtsmissbrauch sowie Mahnungen zum gemeinschaftl. Fürbittgebet. Gewidmet ist die Visio Wettini (825) W.s Lehrer u. Freund Grimald, mittlerweile Kapellan am Karolingerhof. Dass sich W. immer wieder von Ereignissen der Gegenwart anregen lässt, wird bes. in den lyr. u. epigrammat. Gedichten deutlich, aber auch im originellen Panegyrikus auf die kaiserl. Familie (De imagine Tetrici, 829), der er das verfehlte Herrschaftsverständnis Theoderichs gegenüberstellt. Wegen der Auseinandersetzungen um die Reichseinheit fanden W.s literar. Bestrebungen weder am Hof noch bei den Adressaten der zahlreichen Briefgedichte größere Resonanz. Ein zeitgenöss. Zeugnis seiner Wertschätzung als Dichter ist der Auftrag des St. Galler Abtes Gozbert, zwei Prosa-Viten der dortigen Heiligen, Gallus und Otmar, neu zu fassen (zwischen 833 u. 838). Bis heute steht eine umfassende Würdigung aus; eine Gesamtausgabe fehlt. Im Kontext der sog. ›karolingischen Renais-

Walahfrid Strabo

sance‹ allerdings erscheinen W.s Ausdruckskraft, sein kreativer, eigenständiger Umgang mit Vorlagen, bes. aber mit der antiken Literatur außergewöhnlich. Waren Vergil, Horaz u. Ovid für W. stets die wichtigsten sprachl. u. metr. Vorbilder gewesen, so gewinnt Vergil im sog. Hortulus (nach 824) auch inhaltl. Bedeutung: In dem Lehrgedicht über die Heilpflanzen des Klostergärtners rühmt W. dessen Arbeit »aus eigener Erfahrung« als bes. Form der »vita tranquilla«. Seit den 1920er Jahren wurde es – wie das »Lob der Reichenau« – u. a. in bibliophilen Ausgaben einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Ausgaben: Exegetische und liturgische Schriften: Ausw. aus dem Pentateuch-Kommentar. In: PL 114, Sp. 795–850 (nur zu Lv; Komm. zu Gn, Ex, Nm, Dt sind nicht ediert). – Georg Baesecke: Hrabans Isidorglossierung, W. S. u. das ahd. Schrifttum. In: ZfdA 58 (1921), S. 241–279 (Ausg. S. 264–273). – Ausw. aus dem Psalmenkommentar. In: PL 114, Sp. 752–794 (nur zu Ps 1–20). – Libellus de exordiis et incrementis. In: MGH Capitularia reg. Franc. II, S. 473–516 (www.dmgh.de, unter ›Leges‹). – Dass. Hg. Alice L. Harting-Correa. Leiden u. a. 1996 (mit Einl., engl. Übers. u. Komm.). – Hermann Knittel: Ein Frühwerk v. W. S. ›De subversione Hierusalem‹. In: Mlat. Jb. 41 (2006), S. 357–400 (Predigt). – Hagiografie: Vita S. Galli. In: MGH SS rer. Merov. IV, S. 280–337 (www.dmgh.de, unter ›Scriptores‹). – Vita S. Otmari. In: MGH SS II, S. 41–47 (www.dmgh.de, unter ›Scriptores in folio‹). – Johannes Duft: St. Otmar. Die Quellen zu seinem Leben. Zürich u. a. 1959, S. 22–38 (Teilübers.). – Versdichtungen, Gesamtausgabe: Hg. Ernst Dümmler. Bln. 1884 (MGH Poetae 2), S. 259–423 (www.dmgh.de, unter ›Antiquitates‹). – Versdichtungen mit Übersetzung: Visio Wettini. Hg. Hermann Knittel. Sigmaringen 1986. 22004 (mit Heitos Prosafassung). – Zwei Legenden. Hg. Mechthild Pörnbacher. Sigmaringen 1997 (Vita Blaithmaic, Vita Mammae monachi). – Lob der Reichenau. Alemannisch v. Bruno Epple. Friedrichshafen 2000. 2 2001 (zus. mit Walter Berschin: Über W. S. u. sein ›Metrum saphicum‹). – De cultura hortorum (Hortulus). Hg. Hans-Dieter Stoffler. Sigmaringen 1978. Darmst. 21996. Stgt. 62000. – Dass. Hg. Otto Schönberger. Stgt. 2002. – Dass. Hg. W. Berschin. Heidelb. 2007 (Pflanzenbilder v. Claudia Erbar). Literatur: Bernhard Bischoff: Eine Sammelhs. W. S.s (Cod. Sangall. 878). In: Ders.: Mittelalterl. Studien 2. Stgt. 1967, S. 34–51 (Faks. der Hs. unter www.cesg.unifr.ch). – Franz Brunhölzl: Gesch. der lat. Lit. des MA 1. Mchn. 1975. 21996, S. 345–358

Walasser (http://daten.digitale-sammlungen.de/0004/ bsb00049324/image_353 ff.). – Alf Önnerfors: Zu W. S. In: Ders.: Mediaevalia. Ffm. 1977, S. 58–201 (u. a. zum Psalmenkomm. u. zum dichter. Werk). – Arno Borst: Mönche am Bodensee 610–1525. Sigmaringen 1978. 21985, S. 48–66. – Walter Berschin: Eremus u. Insula. Wiesb. 1987. 22005, bes. S. 47–62, 133–148 (Lit.). – Karl Langosch u. Benedikt K. Vollmann: W. S. In: VL. Anette Syndikus

Walasser, Adam, * um 1520 Ulm, † 1581. – Katholischer Volksschriftsteller, Übersetzer.

90 Ausgaben: Internet-Ed. etlicher Werke in: VD 16. – Auswahl in: Bayer. Bibl. Hg. Hans Pörnbacher. Bd. 2, Mchn. 1986, S. 6–8, 1122, 1300, 1341. Literatur: Bibliografien: Klaiber, S. 297–300. – Frank-Rutger Hausmann: Bibliogr. der dt. Übers.en aus dem Italienischen v. den Anfängen bis 1730. Bd. 1, Tüb. 1992, Nr. 0586, 0587. – VD 16. – Weitere Titel: Wilhelm Bäumker: A. W. In: ADB. – Karl v. Reinhardstöttner: Volksschriftsteller der Gegenreformation in Altbayern. In: Forsch.en zur Kultur u. Litteraturgesch. Bayerns. Hg. ders. Bd. 2, Mchn./Lpz. 1894. – Friedrich Zoepfl: A. W. Ein Dillinger Laientheologe des 16. Jh. In: Jb. des histor. Vereins Dillingen 72 (1970), S. 7–43. – Walter Behrendt: Übers.en u. Bearb.en des Pseudo-Bernhardus-Briefs ›De cura rei familiaris‹ im 16. Jh. (Joachim Humel, Johannes Spangenberg, A. W.). In: Leuvense Bijdragen 83 (1994), S. 343–362. – Ekkart Sauser: A. W. In: Bautz. – Kai Bremer: Religionsstreitigkeiten. Volkssprachl. Kontroversen zwischen altgläubigen u. evang. Theologen im 16. Jh. Tüb. 2005, S. 52–55. Gottfried Strasser / Red.

W. kam 1551 nach Dillingen. Aus seiner Biografie sind außerdem nur Aufenthalte im Benediktinerkloster am Tegernsee in den Jahren 1573/74 u. 1577/78 nachweisbar. Sein literar. Schaffen stellte W. ganz in den Dienst der kath. Sache. Dabei stehen die Bearbeitung u. volksgerechte Aufbereitung überlieferten Gedankenguts im Vordergrund. Besonderes Verdienst erwarb er sich um das Kirchenlied. Seine Sammlungen (Ein edel Waldau, Max, eigentl.: Richard Georg Kleinat der Seelen [...]. Dillingen 1561 u. ö. Ca- Spiller von Hauenschild, * 24.3.1822 tholische Teutsche und Lateinische Gesang. Te- (nach eigenen Angaben 25.3.1825) Bresgernsee 1574. 21577. 31581) sollten eine Ant- lau, † 20.1.1855 Tscheidt bei Bauerwitz/ wort auf die Bearbeitung lat. Hymnen durch Oberschlesien. – Erzähler, Lyriker; Kupdie Protestanten sein. Eigenständigkeit be- ferstecher. weist er v. a. in seinen polem. Schriften, die in der Tradition der Gesprächsliteratur u. der W. studierte seit Herbst 1844 in Breslau Jura, Reimbüchlein stehen (Von dem Antichrist [...]. Geschichte, Philosophie u. Literatur. 1845 Dillingen 1560. Der Teutschen Spiegel [...]. Dil- wechselte er nach Bonn, 1846 nach Heidellingen 1563). Unter Berufung auf Revertiten berg, wo er in nur vier Semestern summa cum wie Martin Eysengrein u. Kaspar Franckh laude zum Dr. phil. promoviert wurde u. sein versucht er die Richtigkeit der kath. Lehre ganz dem Wunderhorn-Ton Brentanos vernachzuweisen (Schildt des Catholischen Glaubens pflichtetes Elfenmärchen (Heidelb. 1847) unter [...]. Dillingen 1569) u. wendet sich v. a. gegen dem von nun an beibehaltenen Pseud. pudie Schriftauslegung der Protestanten. Bear- blizierte. Während einer Grand Tour d’Eubeitungen u. Übersetzungen machen den rope entstand seine fortschrittlich-liberalem Großteil von W.s Erbauungsschrifttum aus, Denken verpflichtete Gedichtsammlung das den Lehrgehalt in einfacher dt. Sprache Blätter im Winde (Paris 1847. Lpz. 1848). Eine vermitteln soll. Sein literar. Spektrum reicht kunsthistor. Habilitation scheiterte am Einhier vom Trostbüchlein (Kunst wol zusterben. spruch seiner Familie, auf deren Wunsch er Ebd. 1569) bis zum Katechismus (Die geistlich noch ein einjähriges Studium der Agrarwissenschaft an der landwirtschaftl. Akademie in Layenschul [...]. Ingolst. 1577). Proskau absolvierte. Hier entstand sein Weitere Werke: Passional. Die gantz Histori v. zweiter Gedichtband Canzone (Lpz. 1848), dem heiligsten leyden Jesu Christi [...]. Dillingen 1566 u. ö. – Von dem grossen gemainen Laster der dem nach der wegen der Märzunruhen 1848 Nachreder u. Verleumbder. Ein christliche verma- notwendigen Rückkehr auf das Familiengut nung [...]. Dillingen 1570. – Helm des Hayls [...]. bei Tscheidt weitere Gedichte (O diese Zeit. Kanzone. Hbg. 1850) folgten. Einzige RemiIngolst. 1571.

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niszenz seiner künstlerischen Begabung sind wenige erhaltene Buchillustrationen u. a. für Heines Der Doktor Faust. Ein Tanzpoem (Hbg. 1851). Für Heines Verlag Hoffmann und Campe hielt W. die unmittelbaren Zeitereignisse in zwei anonym veröffentlichten, doch viel beachteten, teils autobiogr. Romanen fest: Nach der Natur. Lebende Bilder aus der Zeit (1847–48) (3 Bde.: 1847 Tyrol; 1847–48 In OberSchlesien; 1848 In Baden. Hbg. 1850. 2., gänzlich umgearbeitete Aufl. 1851) u. Aus der Junkerwelt (2 Bde., ebd. 1850/51), deren Lokalkolorit u. ungefärbte Schilderung der z. T. rohen schles. Wirklichkeit W. als Vorläufer des Naturalismus auszeichnen. In der epischen Dichtung Cordula. Graubündner Sage (ebd. 1851. 2., gänzlich umgearb. Aufl. 1855), die stofflich durch Zschokkes Klassische Stellen der Schweiz (Karlsr./Lpz. 1836) angeregt wurde, gestaltete er in Form volkstüml. Knittelverse erneut freiheitlich-emanzipator. Gedanken. Daneben publizierte W. noch das bibl. Epos Rahab (Hbg. 1855) sowie Übersetzungen. Literatur: Ludwig Fränkel: Richard Georg Spiller v. Hauenschild. In: ADB. – Robert Prutz: Die dt. Lit. der Gegenwart 1848–58. Bd. 2, Lpz. 1860, S. 115–134. – Rudolf v. Gottschall: Ein vergessener Dichter. In: Nord u. Süd 2 (1891), S. 68–80, 160–178. – Albin Lenhard: Poeta doctus u. Jongleur dazu – Zur Erinnerung an M. W. In: Schlesien 20 (1975), S. 80–90. – Agata Wons: Ein wenig bekannter M. W. In: Zeszyty Eichendorffa 2003, 3, S. 26–37. – Urszula Kawalec: Zum Polenbild im Werk v. M. W. In: Wrocl/aw – Berlin. Germanistischer Brückenschlag im dt.-poln. Dialog. Bd. 3. Hg. Bernd Balzer u. Wojciech Kunicki. Wrocl/aw/Dresden 2006, S. 21–30. Andreas Meier / Red.

Waldeck, Heinrich Suso, eigentl.: Augustin Popp, * 3.10.1873 Wscherau/Egerland, † 4.9.1943 St. Veith/Oberösterreich. – Lyriker, Erzähler. Nach dem Besuch der Gymnasien in Pilsen u. Komotau arbeitete W. zunächst als Bankbeamter in Dresden u. trat 1896 in Mautern/ Niederösterreich in den Redemptoristenorden ein, den er als Kaplan 1904 aus gesundheitl. Gründen verließ. Nach schweren psych. Krisen arbeitete er erst nach dem Ersten

Waldeck

Weltkrieg wieder als Religionslehrer u. trat 1924 in den Ruhestand. Nach dem Erscheinen seiner Antlitzgedichte (Wien 1926) bildete sich um W. der Freundeskreis »Leo-Gesellschaft«, dem u. a. Paula von Preradovic´, Richard Billinger u. Friedrich Schreyvogl angehörten. 1937 erhielt der Sprecher der »Geistlichen Stunde« der RAVAG den Großen Staatspreis für Literatur. Nach dem »Anschluss« zog sich W. in ein Kloster in Oberösterreich zurück. Während die Nähe zur christl. Dichtung in seinen späten Gedichten (wie Abendsegen. In: Gesammelte Werke, Bd. 1, S. 114) das an den Mystiker Heinrich Seuse erinnernde Pseudonym rechtfertigt, zeichnen sich die Antlitzgedichte durch das Moment der Negativität des Kosmos aus, die aber in der Form aufgehoben wird: »Selig die Dichter, die nachwirkend die Welt, / Auch dem Häßlichen Festgewand erfinden.« Dieses ästhetische Konzept des Hässlichen schließt an die Tradition des frz. Symbolismus u. des Expressionismus an, dem v. a. seine frühen Gedichte verpflichtet sind. Die im Abschnitt Das böse Dorf zusammengefassten Gedichte beschwören eingangs häufig die ländl. Idylle, die sich dem lyr. Subjekt in einen Ort des Schreckens verwandelt; die Natur wird nur in ihrem phys. Verfall, der Mensch in seiner selbstzerstörerischen Gewalt erfahren. Weitere Werke: Lumpen u. Liebende. Innsbr. 1930 (R.). – Hildemichel. Luzern 1933 (E.). – Die milde Stunde. Wien 1933 (L). – Das Weihnachtsherz. Ebd. 1933. – Weihnacht beim Waldschneider. Ein Märchensp. für Kinder. Ebd. 1936. – Marguerite. Ebd. 1947 (E.). – Ges. Werke. Hg. Franz S. Brenner. Bd. 1: Dichtungen. Innsbr. 1948. – Psalm zu Gott Geist. Ausw. aus dem Werk. Hg. Kurt Adel. Wien 1998. Literatur: Rudolf List: Der Meister der ›Antlitzgedichte‹. Wien 1933. – Willibald A. Wolkenhauser: H. S. W. Studie seines lyr. Werkes. Diss. Wien 1938. – Paul Wimmer: H. S. W. In: Wort in der Zeit 4 (1958), S. 1–10. – Klaus Zelewitz: Der religiöse Hintergrund im lyr. Werk H. S. W.s. Diss. Salzb. 1970. – Ders.: Die religiöse Umfunktionierung expressionist. Bilder. Bemerkungen zur Lyrik H. S. W.s. In: ÖGL 14 (1970), F. 1, S. 35–50. – Kurt Adel: H. S. W., ›Lumpen u. Liebende‹. In: Adalbert Stifter-Institut des Landes Oberösterr., Vierteljahrsschr. 22 (1973), S. 115–119. – Aldemar Schiff-

Walden

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korn: Immer beschaut sich Gott in mir – H. S. W. – Zeugnis eines Lebens. Linz 1980. – Adalbert Schmidt: Der Lyriker H. S. W. In: Sudetenland 35 (1993), Nr. 4, S. 339–352. – K. Adel: Der Nachl. v. H. S. W. Vorber. zu seiner Bearb. In: Biblos 43 (1994), Nr. 3–4, S. 227–234. Johann Sonnleitner / Red.

Walden, Herwarth, eigentl.: Georg Lewin, * 16.9.1878 Berlin, † 31.10.1941 Saratow/ Wolga. – Schriftsteller, Verleger, Kunsthändler, Musiker, Komponist. W. war der Herausgeber der berühmten Zeitschrift »Der Sturm« (Bln. 1910–32). Sie bildete zwischen 1910 u. 1920 neben Franz Pfemferts Zeitschrift »Die Aktion« das publizistische Zentrum der damals jüngsten Literatur u. Kunst in Deutschland. Der Sohn eines Geheimen Sanitätsrats studierte bei dem Liszt-Schüler Conrad Ansorge Klavier, Komposition u. Musik. Für hervorragendes Klavierspiel erhielt er 1887 das Stipendium der Franz-Liszt-Stiftung. Über Ansorge erhielt W. Zugang zum Berliner Kreis um Richard Dehmel, wo er Moeller van den Bruck, Theodor Däubler u. Stanisl/aw Przybyszewski kennen lernte. 1901 heiratete er Else Lasker-Schüler (Scheidung 1911), die ihm seinen Namen »Herwarth Walden« gab. 1907 wurde W. Geschäftsführer des von ihm gegründeten Berliner Vereins für Kunst, in dem viele später berühmt gewordene Schriftsteller zum ersten Mal aus ihren Werken lesen konnten. Daneben war er Redakteur mehrerer Theaterzeitschriften u. Herausgeber von 46 Opern-Wegweisern (Bln. 1908–10) u. der Einführung in die Symphonien und Tondichtungen von Richard Strauss (ebd. 1908). Angeregt u. unterstützt von Karl Kraus, mit dem er seit Juni 1909 einen intensiven Briefwechsel führte u. für den er im Aug. 1909 das Berliner Bureau des Verlags »Die Fackel« einrichtete, gründete W. 1910 die »Wochenschrift für Kultur und Künste« (4/1913 ff. als Halbmonats-, 1916 ff. als Monatsschrift) »Der Sturm«. Sie war sein Lebenswerk u. stellte viele andere Begabungen W.s in den Schatten. W. repräsentierte auch als Person das Programm des alle Künste umfassenden Expressionis-

mus auf ideale Weise. Er musizierte u. komponierte, schrieb Gedichte, Dramen u. Romane, Essays, Manifeste u. Kritiken. Doch v. a. war er ein so befähigter wie besessener Organisator mit wachem Gespür für junge, förderungswürdige Dichter u. Künstler. So war »Der Sturm« für ihn u. seine Freunde nicht nur eine Zeitschrift, sondern das organisatorische Zentrum u. publizistische Forum für viele Aktivitäten. 1912 eröffnete W. die lange Reihe seiner Kunstausstellungen in Berlin mit den Arbeiten des Blauen Reiters, 1913 initiierte er die erste Futuristenausstellung in Deutschland u. den für die Geschichte der modernen dt. Kunst so bedeutsamen Ersten Deutschen Herbstsalon. Neben den »Sturm«-Ausstellungen u. der »Sturm-Galerie« existierten bald ein Buchverlag »Der Sturm«, eine »Sturm-Kunstschule«, die Veranstaltungsreihe der »Sturm-Abende« u. der Theaterverlag »Sturmbühne«, außerdem das gesellschaftl. Ereignis der alljährl. »Sturm«Bälle. Im Buchverlag Der Sturm veröffentlichte W. auch die eigenen Werke: Mitten im Weltkrieg erschien Das Buch der Menschenliebe (1916). W. widmete diesen Roman über die weibl. Emanzipation seiner zweiten Frau, der schwed. Malerin Nell Roslund, die ihm seit ihrer Heirat 1912 den Ankauf seiner bedeutenden Gemäldesammlung ermöglichte. 1918 erschienen die Romane Die Härte der Menschenliebe u. Die Härte der Weltenliebe u. mehrere kurze Dramen, Tragödien u. »Komitragödien«: Menschen; Glaube; Sünde; Trieb; Die Beiden. Ein Spiel mit dem Tode; Erste Liebe; Letzte Liebe. W.s literar. Praxis blieb der Literatur des Naturalismus u. der Jahrhundertwende verbunden, war weit konventioneller als die von den Regeln der Grammatik, vom logischen Sinn u. der empir. Wirklichkeit befreite Wortkunst, die er u. seine Mitarbeiter, von denen er viele während des Weltkriegs verlor, im »Sturm« der Jahre 1914–1918 formulierten. W. stand mit den eigenen Werken ganz im Schatten jener, denen er zu Publizität verhalf, etwa Gottfried Benn, Alfred Döblin, Albert Ehrenstein, August Stramm, Kurt Schwitters oder Oskar Kokoschka.

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Waldinger

Literatur: Walther Gebhardt: Das Sturm-ArW.s Zeitschrift präsentierte sich während des Ersten Weltkriegs apolitisch. Hinweise chiv H. W.s. In: JbDSG 2 (1958), S. 348–365. – Nell auf das Kriegsgeschehen finden sich hier sel- Walden: H. W.: Ein Lebensbild. Bln. 1963. – Kurt ten. Regelmäßig erschienen aber Nachrufe Möses: Lit. u. die ›große Abstraktion‹. Kunsttheorien, Poetik u. ›abstrakte Dichtung‹ im ›Sturm‹. auf gefallene Dichter u. Mitarbeiter. Dass W. Erlangen 1983. – Malcolm Stanley Jones: ›Der selbst während des Krieges für die dt. Regie- Sturm‹. Columbia 1984. – Volker Pirsich: Der rung arbeitete, dass er u. etliche Mitarbeiter Sturm. Herzberg 1985. – Peter Sprengel: Von der des »Sturm«-Kreises Materialien für dt. Aus- Baukunst zur Wortkunst. Sachlichkeit u. Expreslandspropaganda in Zeitungen u. Zeitschrif- sionismus im Sturm. In: DVjs 64 (1990), ten Skandinaviens u. den Niederlanden lie- S. 680–706. – Maurice Godé: H. W.s Werdegang ferte u. dass er im Rahmen seiner Auslands- von der ›autonomen Kunst‹ zum Kommunismus. aufenthalte als Informant für das Auswärtige In: EG 46 (1991), S. 335–347. – Kate Winskell: The Amt tätig war, wurde trotz etlicher Hinweise Art of Propaganda. H. W. and ›Der Sturm‹, in älteren Publikationen von der Forschung 1914–1919. In: Art History 18 (1995), Nr. 3, S. 315–344. – George C. Avery (Hg.): Feinde in sehr zögernd wahrgenommen. Scharen. Ein wahres Vergnügen dazusein. Karl In den 1920er Jahren engagierte sich W. Kraus – H. W. Briefw. 1909–1912. Gött. 2002. – zunehmend für die Sowjetunion; »Der Hubert van den Berg: ›... wir müssen mit und Sturm« verlor seine Bedeutung als Wegbe- durch Deutschland in unserer Kunst weiterkomreiter avantgardistischer Kunst u. Literatur u. men‹. Jacoba van Heemskerck u. das geheimdienstl. wurde zum polit. Propagandablatt. 1932 Nachrichtenbüro ›Der Sturm‹. In: ›Laboratorium verließ W. Deutschland – nach einer letzten, Vielseitigkeit‹. Zur Lit. der Weimarer Republik. Hg. bedeutenden Ausstellung sowjetischer Su- Petra Josting u. Walter Fähnders. Bielef. 2005, prematisten in Dresden u. Leipzig –, arbeitete S. 67–87. – Petra Jenny Vock: ›Der Sturm muß in Moskau als Sprachlehrer, gab für den dt. brausen in dieser toten Welt‹. H. W.s ›Sturm‹ u. die Lyriker des ›Sturm‹-Kreises in der Zeit des Ersten Staatsverlag in Engels Schulausgaben russ. u. Weltkriegs. Kunstprogrammatik u. Kriegslyrik eidt. Dichter heraus u. schrieb Glossen u. Re- ner expressionist. Ztschr. im Kontext. Trier 2006. – zensionen für die Moskauer Exilzeitschriften Robert Hodonyi: H. W.s ›Sturm‹ u. die Architektur. »Das Wort« u. »Internationale Literatur«. Im Eine Analyse zur Konvergenz der Künste in der »Wort« erschien 1938 u. d. T. Vulgär-Expres- Berliner Moderne. Bielef. 2010. Thomas Anz sionismus sein wichtiger Beitrag zur Expressionismusdebatte, der noch einmal den ExWaldinger, Ernst, * 16.10.1896 Wien, pressionismus zu definieren u. beschreiben † 1.2.1970 New York. – Lyriker, Essayist suchte, die Avantgarde gegen den Präfau. Übersetzer. schismus-Verdacht in Schutz nahm u. zum »aktiven Teil der Volksfront« deklarierte. W., Sohn eines kleinen Gewerbetreibenden Während der stalinistischen Säuberungsak- aus orthodoxer jüd. Familie, wurde als Soldat tionen wurde W. am 13.3.1941 im Moskauer im Ersten Weltkrieg schwer verwundet u. Hotel Metropol verhaftet; er starb nach sie- studierte seit 1917 in Wien Kunstgeschichte ben Monaten Dunkelhaft. u. Germanistik (Dr. phil. 1921). Seit 1924 Weitere Werke (Erscheinungsort jeweils Bln.): publizierend, hatte W. früh Kontakt zur SoEinblick in die Kunst. Expressionismus, Futuris- zialdemokratie. 1938 emigrierte er nach New mus, Kubismus. 1917 (Ess.). – Kind. 1918 (Trag.). – York, wo er 1941–1946 als Bibliothekar, Die neue Malerei. 1919 (Ess.). – Herausgeber: Die Warenhausangestellter u. im amerikan. Futuristen. 1912 (Ausstellungskat.). – Erster Dt. Kriegsministerium tätig war u. mit Bertolt Herbstsalon. 1913 (Ausstellungskat.). – Expressio- Brecht, Oskar Maria Graf u. anderen den nismus. Die Kunstwende. 1918. – Sturm-Bühne. Aurora Verlag gründete. 1947–1965 lehrte er 1918/19 (Anth.). – Der Durchbruch. 1931 (Ztschr.). als Professor für dt. Sprache u. Literatur am – Expressionistische Dichtungen vom Weltkrieg bis zur Gegenwart (zus. mit Peter A. Silbermann). Skidmore College in Saratoga Springs/N. Y. Der Würdigungspreis der Stadt Wien für 1932. Dichtung 1960 u. das Österreichische Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst 1961 wa-

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ren späte Ehrungen für den bis heute wenig W. (1896–1970). In: Exilforsch. 21 (2001), Nr. 1, S. 24–34. – H. F. Pfanner: ›hierzuland doch nur als bekannten Autor. W.s Generalthemen, das Erlebnis zweier Gast?‹ Das Amerikaerlebnis des E. W. In: Echo des Weltkriege u. die erzwungene Emigration, Exils. Das Werk emigrierter österr. Schriftsteller. Hg. J. Thunecke. Wuppertal 2006, S. 34–43. – Sigeben seinen Gedichten eine schmerzvollgurd Paul Scheichl: Kontrapräsentische Erinneernste Prägung. Die von Karl Kraus’ Sprach- rung im Exil. E. W.s Sonett ›Der Piaristenplatz‹. In: ethos u. Josef Weinhebers klassizistischem Transcarpathica 3–4 (2008), S. 86–99. Formideal geprägte Gedankenlyrik in Die Ursula Weyrer / Red. Kuppel (Wien 1934; Julius-Reich-Preis 1934) u. Der Gemmenschneider (ebd. 1937) versteht Waldis, Burkhard, * um 1490/95 Allensich als Protest gegen den Humanitätsverlust dorf/Werra, † 1556/57 Abterode. – in der von Zivilisationsschäden u. faschistiMönch, Handwerker, Pfarrer, Dichter. schem Terror beherrschten Zeit. In den Exilgedichten Die kühlen Bauernstuben (New York W. stammt aus einer begüterten Allendorfer 1946. Wien 1946. Bln./DDR 1949) u. Zwischen Familie. Die Zeugnisse aus seinem GeburtsHudson und Donau (Wien 1958) überwiegen ort, der im Dreißigjährigen Krieg vollständig der realistische Ton u. einfache poetische niedergebrannt wurde, sind spärlich; seit Mittel. Die Trennung von der Heimat verar- dem 18. Jh. wurden sie unkritisch um beitet W. in Erinnerungsbildern von österr. scheinbar biogr. Daten aus seiner FabeldichLandschaften u. autobiogr. Szenen aus der tung ergänzt. Ein Hermann Waldis, wohl sein Wiener Vorstadt, kontrastiert mit sozialkrit. Vater, ist als Rat u. Kämmerer der Stadt beImpressionen aus der Neuen Welt. W. über- zeugt. Das erste Lebenszeugnis zeigt W. als setzte auch aus dem Sanskrit, Ungarischen u. Franziskaner in Riga: Von seinem Orden wurde er im Juli 1523 als Begleiter auf eine Amerikanischen. Weitere Werke: Musik für diese Zeit. Mchn. Mission geschickt, welche die Hilfe des 1946 (Lyrikausw.). – Glück u. Geduld. New York Papstes gegen reformatorischen Widerstand 1952 (L.). – Gesang vor dem Abgrund. Graz/Wien in Riga erlangen sollte. Wohl im Sommer 1961 (Teilslg.). – Ich kann mit meinem Menschen- 1524 heimkehrend, wurde W. von der Stadt bruder sprechen. Wien 1965 (L.). – Noch vor dem als Verräter inhaftiert, da die erfolglose Misjüngsten Tag. Ausgew. Gedichte u. Ess.s. Hg. u. mit sion verraten worden war. W. kam bald wieeinem Nachw. v. Karl-Markus Gauß. Salzb. 1990. der frei, indem er die Mönchskutte ablegte. Literatur: Alexander Kallos: E. W. Defender of Er wurde Zinngießer u. wohl durch Heirat Literary Tradition. In: GQ 44 (1972), S. 93–103. – Rigaer Bürger; 1529 ist er als Geschäftsträger Robert Kauf: E. W. im Exil. In: LuK 11 (1976), H. von Riga am Reichskammergericht in Speyer 108, S. 474–489. – Johann Holzner: Das Verbezeugt. Daneben begegnet er auch als schwinden der Aurora: Die Lyrik E. W.s u. ihre Münzgutachter. Weihnachten 1536 geriet er Rezeption in Österr. In: Kulturelle Wechselbeziehungen im Exil – Exile across Cultures. Hg. Hel- in die Gefangenschaft des Deutschen Ordens, mut F. Pfanner. Bonn 1986, S. 202–213. – Harry weil er in Pläne verwickelt war, das Erzstift Zohn: The Austro-American Jewish poet E. W. In: Riga zu säkularisieren; jahrelang musste er Identity and Ethos. FS Sol Liptzin. New York 1986, Verhöre u. wohl auch Foltern ertragen. Erst S. 253–266. – Hans J. Schütz: E. W. In: Ders.: ›Ein 1540 kehrte er nach Vermittlung seiner Brüdt. Dichter bin ich einst gewesen‹. Mchn. 1988, der u. des Landgrafen Philipp von Hessen in S. 286–290, 331 f. – R. Kauf: E. W. In: Dt. Exillit. seine Heimat zurück u. trat in die Dienste des 2.1, S. 985–996. – J. Holzner: Friedensbilder der Landgrafen. 1541 studierte er bei Luther in österr. Exillit. Über Stefan Zweig, Vicki Baum, E. Wittenberg Theologie; 1544 wurde er Pfarrer W. u. Theodor Kramer. In: Zagreber germanist. in Abterode bei Allendorf u. heiratete eine Beiträge 4 (1995), S. 35–60. – Silvia Schlenstedt: Heimat im Gedicht des Verbannten. Über Theodor Pfarrerswitwe. Literarisch trat W. zunächst mit dem in Kramer mit einem Seitenblick auf E. W. In: Chronist seiner Zeit – Theodor Kramer. Hg. Herbert niederdt. Reimpaarversen verfassten Spiel Staud u. Jörg Thunecke. Klagenf. 2000, S. 187–198. Parabell vam vorlorn Szohn hervor (aufgeführt – Christian Teissl: Ein ›Heimatdichter‹ im Exil. E. Riga 1527. Druck o. O. 1527. Hg. Gustav

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Milchsack. 1881. Arnold E. Berger 1935, S. 114–220). Es soll den unzüchtigen Fastnachtspielen eine »geistliche Fastnacht« entgegenstellen. Die Parabelhandlung wird begleitet von gottesdienstl. Elementen, die das Fest für den heimkehrenden Sohn als Allegorie der Abendmahlsfeier erkennbar machen. Mehrere exegetische Bearbeitungen des bibl. Stoffs (Nikolaus Meder, Michael Stiefel) könnten W. als Anregung gedient haben. W. integriert Elemente der mittelalterlich-allegor. Auslegung in seine Interpretation im Sinn der reformatorischen Rechtfertigungslehre, die ein »Aktor« in Kommentaren übernimmt. In zwei antithetisch gebauten Akten werden Sünde u. Verderben (I: Wirtshausszene nach Vorbild der röm. Komödie) sowie die Bekehrung des Protagonisten (II) dargestellt, während gegenläufig die Gesetzestreue des älteren Sohns zum Entschluss, Mönch zu werden, u. damit zum Verlassen des Vaters (= Gott) führt. Er wird abschließend als »Pharisäer« dem »Zöllner« (= bekehrter Hurenwirt) nach Lk 18 gegenübergestellt, um so auch das Publikum zum Evangelium zu bekehren. – Das bedeutende Stück, die erste von rund 20 dramat. Bearbeitungen des Stoffs im 16. Jh., blieb literarisch wirkungslos. Im Dienst der religiös-polit. Publizistik des hess. Landgrafen verfasste W. 1542 anlässlich der schmalkald. Eroberung Wolfenbüttels vier Streitgedichte gegen den braunschweigischen Herzog, den er in geschickter Anspielung auf heraldische, antik-mythologische, sagenhafte, biblische u. volksliedhafte Motive als gottlosen Tyrannen schmäht (Hg. Friedrich Koldewey. 1883). 1543 erscheint die gegen die röm. Kirche gerichtete satir. Schrift Eine wahrhaftige Historie von zwei Mäusen (Hg. Kurz. 1862, Bd. 2, S. 310–320); angehängt sind ihr drei Fabeln, die später in W.’ Fabelsammlung Esopus eingehen. Im Auftrag des Landgrafen übersetzte W. auch das satirische Regnum Papisticum von Thomas Naogeorgus (Das Päpstisch Reich. 1555). Die dem Meistergesang nahestehende stroph. Versifizierung des gesamten Psalters, laut Vorrede begonnen als Trost in der Rigaer Gefangenschaft, ist die früheste vollständige Psalterbearbeitung durch einen einzigen Au-

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tor u. gilt wegen der Vielfalt der Strophenformen u. Beweglichkeit des sprachl. Ausdrucks als die bedeutendste in der ersten Hälfte des 16. Jh. Die Lieder lehnen sich teils eng an den Wortlaut der Lutherbibel an, wie Luther dies für Versifizierungen der Psalmen gefordert hatte. Daneben verdeutlicht W. in dichterisch frei gestalteten Passagen die aktuelle reformatorische Bedeutung der bibl. Aussage (Der Psalter, In Newe Gesangs weise, vnd künstliche Reimen gebracht. Ffm. 1553. Teile hg. von Philipp Wackernagel, Bd. 3, Nr. 741–791, S. 647–682). Wohl im Auftrag des Buchdruckers Christian Egenolff überarbeitete W. Maximilians Ritterroman Tewerdanck zu einer Art Fürstenspiegel (Ffm. 1553. 1563. 1589. 1596). Auch der Anstoß für die Summarien vber die gantz Bibel (1556), eine Übersetzung von Rudolf Walthers Argumenta in Sacra Biblia, geht möglicherweise auf Egenolff zurück. W.’ Esopus (Ffm. 1548. 1555. 1557. o. J. 1565. 1584. Hg. Heinrich Kurz. 1862. Julius Tittmann. 1882. Ludger Lieb, Jan Mohr u. Herfried Vögel. 2011) ist mit vier Büchern zu je 100 Fabeln die umfangreichste Fabelsammlung des 16. Jh. In den ersten drei Büchern fasst W. die Fabeln der lat. Sammlung des Martin Dorpius in Reimpaarverse. Das letzte Hundert präsentiert »neue Fabeln«; sie sind z.T. nach humanistischen Fabel- (Steinhöwel, Camerarius) u. Schwankautoren (Pauli, Bebel, Poggio Bracciolini) erzählt; einige Stücke scheinen auch auf mündlich Überliefertes u. selbst Erlebtes zurückzugehen. Vor allem im vierten Teil ist der Esopus geprägt von einem anschaul. Erzählen u. zum Teil derben Humor. Gegenüber der sonst allgemein-moralischen Auslegung tritt in ihm die satir. Darstellung des altgläubigen Buß-, Mönchs- u. Klerikerwesens in den Vordergrund. Besonders die Franziskaner werden zum Ziel bitteren Spotts. Das ein breites Spektrum an Gattungen u. geistlichweltl. Themen umfassende Werk des gewandten, über eine bildkräftige Sprache verfügenden W. demonstriert die Vielseitigkeit der Literatur des 16. Jh. Im Gefolge Gellerts, der mehrere der Fabeln bearbeitete, erwachte um die Mitte des 18. Jh. ein zunächst biogr., dann philologisch-kulturge-

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schichtl. Interesse an W. Herder sah in der spruchhaften Qualität des Esopus die Wesensart ›des Deutschen‹ repräsentiert; noch die Philologie des späten 19. Jh. u. nicht zuletzt die Bearbeiter des Grimm’schen Deutschen Wörterbuchs nahmen W. als ›Stimme aus dem Volk‹ wahr. Weiteres Werk: Ursprung u. Herkumen der zwölff ersten alten König u. Fürsten Deutscher Nation. Nürnb. 1543. Ausgabe: Esopus. 400 Fabeln u. Erzählungen nach der Erstausg. v. 1548. Hg. Ludger Lieb, Jan Mohr u. Herfried Vögel. 2 Tle. ( mit Komm.), Bln./ New York 2011. Literatur: Goedeke 2, S. 447–453 (Werkverz.). – Gustav Milchsack: B. W. Halle 1881. – Max Horn: Der Psalter des B. W. Ebd. 1911. – Leonid Arbusow: Die Einf. der Reformation in Liv-, Est- u. Kurland. Lpz. 1921. Neudr. Aalen 1964. – Arnold E. Berger: Die Schaubühne im Dienste der Reformation 1 (1935), S. 114–220 (Text des ›Verlorenen Sohnes‹, Einf. u. Anmerkungen). – John Lancaster Riordan: The Status of the B. W. Studies. In: Modern Language Quarterly 2 (1941), S. 279–292. – Barbara Könneker: Die dt. Lit. der Reformationszeit. Mchn. 1975, S. 157–165. – Peter Macardle: Levels of Reality and their Manipulation in W.’s ›Parabell vam vorlorn Szohn‹. In: MLR 82 (1987), S. 648–661. – Angelika Reich: B. W. In: Füssel, Dt. Dichter, S. 377–388. – Ludger Lieb: Erzählen an den Grenzen der Fabel. Studien zum ›Esopus‹ des B. W. Ffm. u. a. 1996 (mit Werkverz. u. umfangreicher, z.T. komm. Bibliogr.). – Ders.: Zur Ed. sämtl. Schr.en des B. W. In: Editionsdesiderate zur Frühen Neuzeit. Beiträge zur Tagung der Kommission für die Ed. v. Texten der Frühen Neuzeit. Hg. Hans-Gert Roloff. Amsterd. 1997, S. 37–50. – Johannes Klaus Kipf: Cluoge geschichten. Humanistische Fazetienlit. im dt. Sprachraum. Stgt. 2010, S. 485–501. – Jan Mohr: Gnomologie u. Histörchen. Zur Rezeption von B. W.s ›Esopus‹ im 18. Jh. In: Die europ. Fabel des 18. Jh. zwischen Pragmatik u. Autonomisierung. Hg. Dirk Rose (in Vorb.). Ute Mennecke-Haustein / Jan Mohr

Waldmüller, Ferdinand Georg, * 15.1. 1793 Wien, † 23.8.1865 Hinterbühl bei Mödling; Grabstätte: Wien, Matzleinsdorfer Friedhof. – Zeichner, Maler; Kunsttheoretiker. W.s Malerei erfuhr im Umkreis des Wiener Fin de siècle Wiederentdeckung u. Neubewertung. Heute gilt sie gerade wegen W.s

kunsttheoret. Forderung nach einem Studium in der Natur, das W. in seinen späten, unverstandenen Jahren konsequent beherzigte, als bedeutender Beitrag zur »Moderne vor der Moderne«. Nach dem Besuch (seit 1807) der Wiener k. k. Akademie der Bildenden Künste wurde der Sohn eines Haushofmeisters 1811 Zeichenlehrer in Agram (heute: Zagreb) u. 1814 Theaterdekorationsmaler in Baden bei Wien. Von der Unzulänglichkeit des akadem. Formalismus überzeugt, übertrug er 1819 das »Naturstudium« von der Landschaftsmalerei auf das Porträt. Protegiert von Metternich, wurde W. 1835 akadem. Rat u. 1839 erster Kustos der Gemäldesammlung der Akademie. Seine Streitschrift Das Bedürfnis eines zweckmäßigen Unterrichts in der Malerei und der plastischen Kunst (Wien 1846. 21847; mit Selbstbiografie), in der er das Naturstudium als alleinige Ausbildungsbasis postulierte, führte zum Eklat (1850 Untersagung des Privatunterrichts). Trotz finanzieller Probleme erlangte W. mit den großen Wienerwaldbildern bald internat. Anerkennung. Die Andeutungen zur Belebung der vaterländischen bildenden Kunst (ebd. 1857), die in der Forderung nach Auflösung aller Akademien u. der angeschlossenen Gemäldegalerien gipfeln, führten zu seiner Suspendierung (Rehabilitierung erst 1864). Literatur: Bruno Grimschitz: F. G. W. Leben u. Werk. Wien 1943. – Maria Buchsbaum: F. G. W. Salzb. 1976. – Klaus Albrecht Schröder: F. G. W. Mchn. 1990. – Hans Bisanz: F. G. W. zum 200. Geburtstag (Ausstellungskat.). Wien 1993. – Sabine Grabner: F. G. W. (Ausstellungskat.). Salzb. 1993. – Rupert Feuchtmüller: F. G. W. Leben. Schriften. Werke. Wien/Mchn. 1996. – Heinz Mlnarik (Red.): F. G. W. (Ausstellungskat.). Wien 1997. – Maria Rennhofer: F. G. W. 1793–1865. Leben u. Werk. Wien 1997. – Martin Suppan u. Cornelia Cabuk: F. G. W. [...]. Wien 1999. – Agnes Husslein-Arco (Hg.): F. G. W. 1793–1865 (Ausstellungskat.). Wien 2009. Meinrad M. Grewenig / Red.

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Waldseemüller, Martin, Waltzemüller Hylacomylus, Ilacomilus, * ca. 1470 Wolfenweiler (heute: Schallstadt-Wolfenweiler, Kr. Breisgau-Hochschwarzwald), † 16.3. 1520 Saint-Dié-des-Vosges. – Kosmograf, Kartograf, Humanist u. Buchdrucker. Der Sohn eines Metzgers studierte etwa seit 1490 im nahegelegenen Freiburg i. Br. die mathemat. Fächer u. konzentrierte sich auf Kosmografie sowie Geografie u. Kartografie, die eng mit der in dieser Zeit viel beachteten Astronomie verknüpft waren. Sein wichtigster Lehrer war in Freiburg neben Wimpfeling der wenig ältere Gregor Reisch († 1525), ein gelehrter Kartäusermönch, Verfasser des berühmten enzyklopäd. Lehrbuchs der Artistenfächer, Margarita philosophica (Freib. 1503. Basel 1517. Nachdr. Düsseld. 1973), zu dem auch W. beigetragen haben soll. Von Freiburg datiert auch die Bekanntschaft mit dem Elsässer Matthias Ringmann (1482–1511), der im Humanistenzentrum Schlettstadt zur Schule gegangen war, im Anschluss an Freiburg auch in Paris studierte u. in Straßburger Verlagen tätig war. W. lebte seit 1505 in Saint-Dié (Sanctus Deodatus), der Residenzstadt des Herzogtums Lothringen am westl. Rand der Vogesen. Er verkehrte in dem vom dortigen Kloster u. dem Hof des Herzogs René II. geförderten Kreis der Humanisten um den herzogl. Sekretär Gauthier Lud u. unterrichtete am Gymnasium Vosagense. Seit 1507 war auch Ringmann in Saint-Dié, wo auch er am Gymnasium (Latein) unterrichtete wie kurz zuvor in Colmar. Das Hauptwerk W.s ging aus der engen Kooperation mit Ringmann hervor. Es ist ein kosmografisches Projekt, das aus drei Teilen besteht: 1. Universalis cosmographia: ein Modell der Welt (des Kosmos) von 1507 in Form eines Erdglobus u. von Globussegmenten, die zu einer Karte zusammengefügt sind – »tam in solido quam in plano«, heißt es im Titel: in fester Form (Globus) wie auch als Karte. Das Werk ist im Auftrag des Herzogs René II. entstanden, der sich mit guten Kontakten zu europ. Höfen für das damals neueste u. brisanteste kosmografische Wissen u. dessen angemessener Darstellung auf dem neuestem Stand der Astronomie interessierte. Die auf

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einen Holzstich zurückgehende Karte besteht aus zwölf gleichen rechteckigen Feldern u. misst im entfalteten Zustand 1,38 x 2,48 m. Sie fußt bereits auf der wenige Jahre zuvor von zwei Nürnberger Mathematikern entwickelten sog. Stab-Werner-Projektion, einer flächengetreuen Kegelprojektion mit gekrümmten Meridianen, u. zeigt die übliche herzförmige Dreiergruppe der bekannten Kontinente Africa-Europa-Asia u. am linken (westlichen) Rand wie eine schmale, langgestreckte Insel die neu entdeckte Landmasse des vierten Kontinents, die W. u. Ringmann als erste nach Amerigo, dem Vornamen Vespuccis, »AMERICA« nennen, analog zu den weibl. Namen der alten Erdteile, oder auch zu verstehen als Adjektiv: Terra America, ›das Amerigo-Land‹. Vespucci († 1512) war an der Küste bes. des südl. Teils (Brasilien) entlanggesegelt u. hatte sie ausführlich beschrieben. Er galt, wie auch für W., um diese Zeit noch häufig als der Entdecker der Neuen Welt. Andererseits war W. bereits der Ansicht, dass es sich um einen neuen Erdteil handle (nicht um westind. Inseln, wie man mit Kolumbus noch lange glaubte). Nach Ringmanns Tod widerrief W. seine Namensgebung u. nannte den neuen Kontinent schon in dem Druck seiner Karte von 1513 wieder »Terra incognita«, was jedoch die Durchsetzung des neuen Namens nicht mehr verhinderte. 2. Cosmographiae introductio: die wohl im Wesentlichen von Matthias Ringmann verfasste Begleitschrift (vgl. Lehmann, 2010), die ebenfalls 1507 in Saint-Dié zum erstenmal gedruckt wurde, 15 Jahre nach Kolumbus’ erster Entdeckungsfahrt, mit astronomischen, kosmografischen u. geografischen Grundlageninformationen, fußend auf der Kosmografie des Ptolemäus, gefolgt von Versen (Distichen) von M. Ringmann (Ps. Philesius Vogesigena). 3., als Teil von 2.: Quatuor Americi Vesputii navigationes: die lat. Übersetzung der frz. Version des Berichts von vier Seereisen des Amerigo Vespucci aus den Jahren vor u. um 1500, sonst bekannt u. d. T. Mundus novus (zuerst gedr. 1503/04). Die Carta itineraria Europae ist die erste gedruckte Reise- u. Wanderkarte Europas. Sie wurde noch um 1510 begonnen u. Jahre später (1520) veröffentlicht; schon 1511 war

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ein wiederum noch von Ringmann verfasster Begleittext erschienen, die Instructio manductionem in cartam itinerariam praestans. Die Karte stellt in ›gesüdeter‹ Darstellung (d. h. Süden ist oben) die um das Mittelmeer herum gruppierten Länder Europas dar, mit allen Wappen der zum Reich des eben gewählten Karl V. gehörigen Länder. Die Weltkarte W.s wurde mehrfach kopiert, u. von ehemals etwa 1000 existiert heute nur noch ein Exemplar. Ursprünglich im Besitz des Nürnberger Astronomen Johann Schöner, wurde es 1901 im Familienbesitz der Grafen zu Waldburg-Wolfegg in Oberschwaben wiederentdeckt, welche die Karte schließlich im Jahre 2001 für angeblich 10 Millionen US-Dollar an die Library of Congress in Washington D. C. verkauften. Dort ist »The 1507 Waldseemueller World Map« seit 2007 unter aufwändigen Sicherheitsvorkehrungen für die Öffentlichkeit zugänglich: als die, wenngleich auf einem Irrtum beruhende, Geburtsurkunde Amerikas. Werke: Matthias Ringmann u. M. W.: Cosmographiae introductio, cum quibusdam geometriae ac astronomiae principiis ad eam rem necessariis: Insuper quatuor Americi Vespucij navigationes. Universalis cosmographiae descriptio tam in solido quam plano, eis etiam insertis quae Ptholomaeo ignota a nuperis reperta sunt. [Widmung an Kaiser Maximilian I.] Saint-Dié 1507. Straßb. 1509. 1511. 1513. Hg. Peter Apian. Ingolst. 1533. Nachdr. Stgt. 1964 u. ö. – M. W. u. M. Ringmann: Instructio manductionem prestans in cartam itinerariam Martini Hilacomili [...]. Straßb. 1511. – (Ilacomilus): Carta marina. Straßb. 1516 u. ö. – Carta itineraria Europae. Straßb. 1520 u. ö. Ausgaben: Die älteste Karte mit dem Namen Amerika aus dem Jahre 1507 u. die ›Carta Marina‹ aus dem Jahre 1516 des M. W. (Ilacomilus). Hg. Josef Fischer u. Franz R. v. Wieser. Innsbr. 1903. Amsterd. 1968. – The ›Cosmographiæ introductio‹ of M. W. in Facsimile, followed by the four voyages of Amerigo Vespucci, with their translation into English, to which are added W.’s two world maps of 1507. New York 1907. – Die ›Cosmographiae Introductio‹ (1510). Hg. F. R. v. Wieser. Straßb. 1907. – Carta itineraria Europae. Straßb. 1520. Nachdr. hg. v. K. H. Meine. Bonn-Bad Godesberg 1971. – La Fortune d’un nom: ›America‹. Le baptême du Nouveau Monde à Saint-Dié-des-Vosges. ›Cosmographiae introductio‹, suivi des Lettres d’Amerigo Vespucci. Hg. A. Ronsin. Montréal 1991. – The

98 naming of America. M. W.s 1507 world map and the ›Cosmographiae Introductio‹. Featuring a new translation and commentary by John W. Hessler. London 2008. Literatur: Jakob Franck: M. Hylocomylus. In: ADB. – John Parker: Antilia and America. A description of the 1424 Nautical Chart and the W. Globe Map of 1507 in the James Ford Bell Collection at the University of Minnesota. Minneapolis 1955. – Franz Laubenberger: Ringmann oder W.? Eine krit. Untersuchung über den Urheber des Namens Amerika. In: Archiv für wiss. Geographie 13 (1959), S. 163–179. – Meret Petrzilka: Die Karten des Laurent Fries v. 1530 u. 1531 u. ihre Vorlage, die ›Carta Marina‹ aus dem Jahre 1516 v. M. W. Diss. Zürich 1970. – DSB. – E. Harris: The W. World Map. A typographic appraisal. In: Imago Mundi 37 (1985), S. 30–53. – Stefan Zweig: Amerigo. Die Gesch. eines histor. Irrtums. Ffm. 1991 (zuerst Stockholm 1944). – America, das frühe Bild der Neuen Welt. Globensegmente v. M. W. Hg. Hans Wolff. Mchn. 1992 (Kat.). – Petra Gabriel: Der Kartograph. Ffm. 2006 (R.). – Neue Welt & Altes Wissen. Wie Amerika zu seinem Namen kam. Hg. Susanne Asche u. a. Offenb. 2006 (Begleitbd. zur Ausstellung). – Horst Pietschmann: Bemerkungen zur ›Jubiläumshistoriographie‹ am Beispiel ›500 Jahre M. W. u. der Name Amerika‹. In: Jb. für Gesch. Lateinamerikas 44 (2007), S. 367–389. – Florian Borchmeyer: Die Ordnung des Unbekannten. Von der Erfindung der neuen Welt. Bln. 2009. – Alicia Mayer: América en la cartografía a 500 años del mapa de M. W. México 2010. – Chet A. VanDuzer: A northern refuge of the monstrous races. Asia on W.s 1516 ›Carta Marina‹. In: Imago mundi 62 (2010), S. 221–231. – Martin Lehmann: Die ›Cosmographiae Introductio‹ Matthias Ringmanns u. die Weltkarte M. W.s aus dem Jahre 1507. Ein Meilenstein frühneuzeitl. Kartographie. Mchn. 2010. Herbert Jaumann

Waldstein, Wilhelm, * 9.11.1897 Wiener Neustadt, † 22.7.1974 Altaussee; Grabstätte: Wiener Neustadt, Stadtfriedhof. – Lyriker, Erzähler, Essayist; Komponist. 1920 schloss W. das Studium der Deutschen Philologie an der Universität Wien mit einer Dissertation über Die Entwicklung der künstlerischen Reformpläne Richard Wagners [...] (Bln. 1920) ab. Die Diktatur des Nationalsozialismus trieb den Gymnasiallehrer u. Künstler W. in die Isolation: 1938 wurde ihm die Lehrbefugnis entzogen, 1939 erhielt er von

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der Reichsmusikkammer, 1940 von der Reichsschrifttumskammer Berufsverbot. Nach 1945 leitete er die Abteilung für allgemeine Kunstangelegenheiten im Bundesministerium für Unterricht. Die musikal. Begabung W.s, die er in zahlreichen Kompositionen unter Beweis stellte, wird auch in seinen Gedichten deutlich: Formal freie Lieder stehen neben Sonetten u. anderen strengen Formen. Zeitkritischen Themen wendet sich W. in der Prosa zu. Der Roman Zwischenreich (Wien 1968) thematisiert die von Ideologie- u. Parteienkämpfen dominierte Phase der Ersten Republik in Österreich u. zeigt den unpolit. Menschen als Opfer der mechanisierten, entmenschlichten Macht. Weitere Werke: Lied eines Menschen. Wien 1938 (L.). – Die goldene Blume. Ebd. 1948 (Nachdichtung aus dem Japanischen). – Pole der Menschheit. Dichtungen aus den Jahren 1938–1945. Ebd. 1949 (L. u. Epigramme). – Kunst u. Ethos. Salzb. 1954 (Ess.s). – Waage des Lebens. Gedichte u. Epigramme 1946–1956. Graz. 1956. – Frühe Schatten. Wien 1963 (autobiogr. P.). – Erscheinungen u. Zeichen. Ebd. 1964 (Ess.s). – Hans Gál. Eine Studie. Ebd. 1965. – Brennspiegel. Buch der Epigramme. Innsbr. 1967. – Herbstpastorale. Wien 1967 (L.). – Das gerettete Erbe. Aus einer Jugend im alten Österr. Salzb. 1970. – Bild u. Widerbild. Ebd. 1972 (E.en). Gerald Leitner / Red.

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hafte Charakter der bürgerl. Existenz, aber ebenso das erfolglose Aufbegehren dagegen waren auch in den späteren Werken der sozial außerordentlich aufgeschlossenen, feinfühligen Autorin immer wieder ein zentrales Thema: im Roman Das Haus ›Zum großen Kefig‹ (ebd. 1913), in ihrem erfolgreichsten Buch, dem ergreifenden Frauenroman Eine Seele (Bern 1917), u. in ihrem letzten publizierten Roman, Das Schicksalsjahr (Frauenfeld 1949). Eher humorvoll, wenn auch nicht weniger präzis gestaltete W. das charakterist. Denken u. Verhalten der bürgerlich-behäbigen Schweiz auch in jenem Erzählzyklus, der schon im Titel von Kellers Seldwyla Abstand nimmt: den Nüchterdinger Geschichten (1944 als Band 71 der »Neuen Schweizer Bibliothek« in Zürich erschienen). Nicht nur thematisch, auch formal hob sich W.s kultivierte, formvollendete Erzählkunst von den Tendenzen zeitgenöss. Schweizer Literatur ab, was sich v. a. auch in den kürzeren Erzählungen u. Novellen der Bände Leiden (Frauenfeld 1917), Der unnütze Mensch (Bern 1921) u. Die silberne Glocke (ebd. 1937) zeigt. Als eine der wenigen Dramatikerinnen ihrer Zeit gelang es W. mit religiös bestimmten Stücken wie Familie (ebd. 1919), Der Künstler (ebd. 1919) oder Merlins Geburt (Basel 1934), von den großen Bühnen in Bern u. Basel gespielt zu werden.

Charles Linsmayer Waldstetter, Ruth, eigentl.: Martha Behrens-Geering, * 12.11.1882 Basel, † 27.3. 1952 Arlesheim/Kt. Basel-Land. – Erzäh- Waldt, Gustav, * 6.2.1883 Darmstadt, lerin, Dramatikerin. † 6.12.1959 Darmstadt. – Lyriker, Epiker, Romancier.

Nach Matura u. Sprachstudien in Basel, Edinburgh u. Berlin erwarb W. ein Diplom als Sprachlehrerin u. arbeitete in diesem Beruf in England u. in Bern, ehe sie nach der Scheidung von ihrem Mann, dem Schriftsteller Eduard Behrens (1922), nach Basel zurückkehrte u. dort bzw. zuletzt in Arlesheim als freie Journalistin (vor allem auch Theaterkritik) u. Schriftstellerin lebte. Literarisch debütierte sie mit dem Roman Die Wahl (Bln. 1910), der Geschichte einer allzu frühen Heirat, die der bürgerl. Konvention wegen jede spätere, vielleicht glücklichere Wahl ausschließt, obwohl das Zusammenleben der Eheleute zu einem quälenden Gefangenendasein wird. Der repressiv-kerker-

W. war Lehrer in Offenbach u. Worms, nach einer Beurlaubung 1919–1921, die er malend u. schreibend am Bodensee verbrachte, seit 1922 in Bad Nauheim. Nach 1934 zog er sich vom Schuldienst zurück, hielt sich zeitweise als Gast bei Hermann Hesse in Montagnola auf, ehe er 1937 endgültig vom Dienst suspendiert wurde. Nach dem Krieg unterrichtete W. noch einmal an der Aufbauschule in Traisa. W.s Werk ist Dokument einer Geisteshaltung, die sich angesichts des techn. Fortschritts, der Industrialisierung u. Verstädterung u. angesichts des heraufziehenden Faschismus auf das Naturerlebnis u. in die Welt

Wallenrodt

der Mythen u. Sagen zurückzieht, um darin die Scherben einer »zerbrochenen Welt« zu kultivieren. Immer wieder in Frage gestellt durch die Verneinung des Willens zum Leben, wie sie Schopenhauer u. der durch ihn vermittelte Buddhismus lehrte, ringen sich W.s Figuren zu einer christl. Lebensbejahung durch, die sich im Einklang mit Kreatur u. Kosmos weiß. Sie kulminiert in der Nachschöpfung des Kunstwerks, das als Alternative zum dämonischen Willen zur Macht gesehen wird. Führte W. in dem Lyrikband Begegnung und Ausschau (Gettenbach 1936) noch Klage über menschl. Einsamkeit, die weder in der Natur noch in der Liebe Erlösung finde, bekennt sich der Titelheld in Laurin (ebd. 1934. Büdingen 21949), einer freien Neuschöpfung des mhd. Heldenlieds in Heptametern, zum Liebesverzicht, um der Aufrechterhaltung menschl. Ordnung willen. Das abschließende Einswerden mit Gottes Schöpfung im Moment des Todes wird in dem Epos Arion (Mainz 1937) wieder aufgegriffen. In dem Roman Versunkene Wege (Lpz. 1940), der mit Heidelberg-Aufenthalt u. Italienreise an dt. Bildungserlebnis anschließt, versagen sich zwei Liebende dem bürgerl. Glück einer Ehe, um ihrer Kunst die Treue zu halten. Weitere Werke: Tagzeiten. Darmst. 1909 (L.). – Die gemischte Symphonie. Gettenbach 1938 (E.en). – Schloß Seeheim. Ebd. 1939 (Elegie). – Das Sternbild. Ebd. 1941 (L.). – Die Reise nach Rückwärts. Ebd. 1943 (R.). – Melusine. Ebd. 1944 (ep. Dichtung). – Die Rückkehr. Ebd. 1958 (L.). Michael Geiger

Wallenrodt, Johanne Isabelle Eleonore von, geb. Freiin von Koppy, * 28.2.1740 Uhlstädt, † 11.10.1819 Lampersdorf/ Schlesien. – Romanschriftstellerin. W.s schriftstellerisches Selbstverständnis fußte auf ihrem ständigen Bemühen um Existenzsicherung. Die Tochter eines hochverschuldeten Gutsbesitzers heiratete 1762 den preuß. Rittmeister Gottfried Ernst von Wallenrodt, geriet aber, als ihr Mann 1776 starb, mit ihren fünf Kindern in zunehmend beengte Verhältnisse. Nach einer Sammlung Vermischter Gedichte (Bln. 1789) publizierte sie,

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meist anonym, Romane mit histor. u. zeitgenöss. Sujets. Diese verbinden Unterhaltungsansprüche mit vordergründiger Tugenddidaxe, so am auffälligsten Prinz Hassan der Hochherzige, bestraft durch Rache und glücklich durch Liebe. Eine morgenländische Urkunde (Lpz. 1796), in dem W. durch die Verwandlung des Titelhelden in einen Wüstling ausgreifende erot. Szenen in einen moralisierenden Rahmen integriert. Mit ihrem einzigen Drama, der sechsaktigen Räuber-Fortsetzung Karl Moor und seine Genossen nach der Abschiedszene beim alten Thurm. Ein Gemälde erhabner Menschennatur als Seitenstück zum Rinaldo Rinaldini (Mainz/Hbg. 1801), schließt sie an Christian August Vulpius’ Erfolgsroman an. Verschiedentlich enthalten ihre Romane auch polit. Stellungnahmen, so wesentlich Theophrastus Gradmann, einer von den seltnen Erdensöhnen. Ein Roman für Denker und Edle (Lpz. 1794), wo am Beispiel einer landgräfl. Gutswirtschaft das Ideal einer Adelsregierung entwickelt wird. Die aristokratische Utopie führt W. in ihrem anonymen Was fordert Pflicht und Vortheil der Deutschen? Sendschreiben an den Adel und die Ordensritter der deutschen Länder (o. O. 1794) aus, revidiert jedoch später dessen radikal antirevolutionäre Position. W.s Autobiografie Das Leben der Frau von Wallenrodt in Briefen an einen Freund. Ein Beitrag zur Seelenkunde und Weltkenntniß (Lpz./Rostock 1797) reflektiert die Bedingungen einer scheiternden Biografie, erörtert aber auch die Situation einer Berufsautorin im ausgehenden 18. Jh. In der zeitgenöss. Kritik wurden W.s Werke meist als sensationslüstern u. trivial verurteilt; erst im späten 20. Jh. fand die Autorin auch literaturwiss. Beachtung. Weitere Werke: Die drey Spinnrocken oder Bertha v. Salza u. Hermann v. Tüngen. Aus dem 12ten Jh. Lpz. 1793. – Wie sich das fügt! oder die Begebenheiten zweier guten Familien, in dem Zeitraum v. 1780–1784, in Dialogen, Briefen u. verbindenden Erzählungen. Lpz. 1793. – Fantasien meiner schlaflosen Nächte, geschrieben für fühlende Herzen u. Leidende. Halberstadt 1794. – Heinrich Roberts Begebenheiten aus den Jahren 1740–80. Lpz. 1794. – Emma v. Ruppin. Eine Gesch. voll Leiden, Freuden u. Wunder, aus dem 14ten Jh. Lpz. 1794. – Beschäftigungen meiner

101 Feierstunden. Für Leser jeder Gattung. Breslau 1795. – Egonen u. Schnaken, beobachtet auf einer Reise. Lpz. 1796 (wieder u.d.T. Diogenes des Zweyten Beleuchtungen der Menschheit mit der Laterne bey Tage, oder wunderbare Reise in die Gemächer der Thorheit. Wien/St. Petersburg 1800). – Geistererscheinungen u. Weissagungen: bes. für unsere Zeiten merkwürdig. Lpz. 1796. – Adolph u. Sidonie v. Wappenkron. Halle 1796/97. – Goldfritzel, oder des Muttersöhnchens Fritz Nickel Schnitzers Leben u. Thaten v. ihm selbst erzählt. Gera 1797. – Empfindungen des Geistes in Gedichten der Fr. v. W. Bln. 1797. – Begebenheiten des Ritters Wolfram v. Veldigk. Ein Beitr. zur Gesch. der Mönchsintriguen vormaliger Zeiten. Bln. 1798. 1819. – Der kleine Ritter. Geistergesch. aus den grauesten Zeiten des Alterthums. Mainz 1799. – Fritz, der Mann wie er nicht sey sollte oder die Folgen einer übeln Erziehung. Ein unterhaltender Roman v. ihm selbst erzählt. Gera 1800. – Versuch einer Biogr. der Frau Gräfin v. Lichtenau, einer berühmten Dame des vorigen Jh. Zürich/ Lindau 1800 (Autorschaft fragwürdig). Literatur: Max Mendheim: J. I. E. v. W. In: ADB. – Christine Touaillon: Der dt. Frauenroman des 18. Jh. Wien/Lpz. 1919, S. 313–323. – Rose Scholl: Nachw. In: J. I. E. v. W.: Prinz Hassan der Hochherzige [...]. Münster 1989, S. 140–145. – Eva Kammler: Zwischen Professionalisierung u. Dilettantismus. Romane u. ihre Autorinnen um 1800. Opladen 1992, S. 141–154. – Anita Runge: Nachw. In: J. I. E. v. W.: Das Leben der Fr. v. W. [...]. Hildesh. u. a. 1992, S. 677–732. – Dies. u. Helga Gallas: Romane u. Erzählungen dt. Schriftstellerinnen um 1800. Eine Bibliogr. Stgt./Weimar 1993, S. 166–171. – Mechthilde Vahsen: Die Politisierung des weibl. Subjekts. Dt. Romanautorinnen u. die Frz. Revolution (1790–1820). Bln. 2000, S. 73–88. – Angelika Epple: Empfindsame Geschichtsschreibung. Eine Geschlechtergesch. der Historiographie zwischen Aufklärung u. Historismus. Köln u. a. 2003, S. 167–189. Christiane Hansen

Wallisch, Friedrich, * 31.5.1890 MährischWeißkirchen, † 7.2.1969 Wien. – Erzähler, Dramatiker, Lyriker. W. war im Ersten Weltkrieg Militärarzt, später zeitweise Journalist u. Schauspieler. Erste Dramen (Das verborgene Feuer. Wien 1918; vier Einakter. Sensation. Zus. mit Carl Zeska. Ebd. [1920]. Opium. Die letzte Nacht. Ebd. 1920) lassen den Einfluss des Naturalismus erkennen; in seinem epischen Werk wandte sich W.

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einem Realismus zu, der die Retrospektive bevorzugt. Mit seinen teils über große Zeiträume angelegten Romanen (Der König. Leinfelden 1954. Das Prantnerhaus. Wien 1953) vermochte er, sprachlich elegant u. in einer handlungsreichen Darstellung, das Österreich der Habsburgermonarchie wiedererstehen zu lassen. Weitere Werke: Der Adler des Skanderbeg. Albanische Briefe aus dem Frühjahr 1914. Wien 1914. – Die Pforte zum Orient. Unser Friedenswerk in Serbien. Innsbr. 1917. – Narrenspiegel der Liebe. Lpz. [1918] (zwölf E.en). – Der rote Bart. Wien 1921 (N.). – Die Flammenfrau. Donauwörth 1922 (R.). – Genius Lump. Ebd. 1922 (R.). – Die Gewalt. Ein Frauenschicksal aus höf. Zeit. Ebd. 1925. – Der Atem des Balkans. Vom Leben u. Sterben des Balkanmenschen. Lpz. 1928. – Neuland Albanien. Stgt. 1931. – Die Rosenburse. Histor. Novellen aus der Ostmark. Donauwörth 1944. Wien 1946. – Vier Wochen Bad Ammer. Klagenf. 1948 (R.). – Der Schmuck der Wiedstett. Salzb. 1952 (R.). – Egon Caesar Conte Corti. Die Wahrheit spricht das Urteil. Biogr. Graz/Wien 1957. – Spiegel der Zeiten. Würzb. 1957. – Diese Tage der Freude. Ein lyr. Lebenskreis. Wien 1957. – Die Nichte des Alkalden. Heitere Novellen. Krems 1958. – Die Gesch.n vom weisen Kadi. Wien u. a. 1961. – Wilhelm v. Tegetthoff. Wien/Mchn. 1964. – Dschungel. Klagenf. 1966 (R.). – Seewind um die Ohren. Gesch.n v. Schiffen, Schiffern u. Landratten. Preetz/Holstein 1969. Felix Seewöster / Red.

Wallner, Michael, * 1958 Graz. – Schauspieler, Opern- u. Schauspielregisseur, Roman- u. Drehbuchautor. Nach dem Studium der Regie u. Schauspielkunst am Max-Reinhardt-Seminar in Wien arbeitete W. als Schauspieler am Wiener Burgtheater u. am Schillertheater in Berlin, ehe er selbst als Opern- u. Schauspielregisseur u. a. in Hamburg, Wien, Bern, Düsseldorf u. Saarbrücken inszenierte. 1994 erhielt er die Kainz-Medaille für seine Inszenierung des Stückes Krieg von Rainald Goetz. Im Jahr 2000 legte W. seinen ersten Roman Manhattan fliegt (Lpz.) vor, für den er 2001 mit dem Phantastik-Preis der Stadt Wetzlar ausgezeichnet wurde. Nach Cliehms Begabung (Ffm. 2000) folgten bis 2010 acht weitere Romanveröffentlichungen, womit W. sich einen Ruf als ausgesprochen produktiver

Walloth

Schriftsteller erwarb. Sein 2005 auf der Frankfurter Buchmesse vorgestellter Historienroman April in Paris (Mchn. 2006) galt als aussichtsreichste dt. Neuerscheinung des Jahres u. wurde binnen kürzester Zeit in viele Sprachen übersetzt u. auf vier Kontinenten verkauft. Die Mehrzahl der Kritiker verriss das Werk jedoch überwiegend als einen »Roman über einen Opportunisten«, das ein »opportunistisches Rührstück« (Stephan Maus in: stern, H. 16, 12.4.2006) geworden sei. Das Liebesdrama thematisiert die Beziehung eines schöngeistigen dt. Dolmetschers, der in Diensten der SS steht, zu einer scheinbar fragilen Französin, welche der Résistance im besetzten Paris angehört. Die irritierenden Grenzgänge der Protagonisten zwischen Freiheit u. Desillusion, Aufbruch u. Ohnmacht u. die ungewöhnliche, weil mitunter an Max Frisch erinnernde lakonischknappe Sprache sowie deren Unvereinbarkeit mit den komplexen Zeit- u. Handlungsstrukturen, bilden das charakteristische poetolog. Tableau von W.s Romanen. Diese lassen sich in zwei Hauptkategorien gliedern: Jugend- u. Erwachsenenliteratur, wobei zu Ersterer u. a. der Zukunfts-Ökothriller Die Zeit des Skorpions (Mchn. 2008) u. der Vampirroman Blutherz (Mchn. 2009), zu Letzterer die bereits genannten zählen. W. lebt in Berlin u. in Italien. Weitere Werke: Haut. Lpz. 2002 (R.). – Finale. Bln. 2003 (R.). – Zwischen den Gezeiten. Mchn. 2007 (R.). – Die russ. Affäre. Mchn. 2009 (R.). – Blutjäger. Mchn. 2010 (R.). Albrecht Viertel

Walloth, Wilhelm, * 6.10.1854 Darmstadt, † 8.7.1932 München. – Erzähler, Dramatiker, Lyriker. W.s Vater, Oberbereiter am großherzogl. Marstall in Darmstadt, starb wie die Mutter früh; der Sohn wuchs in einer Pflegefamilie auf, wo sein malerisches Talent gefördert wurde. Der kränkl. Schüler musste zahlreiche Genesungsreisen machen. Ebenso wie an der Universität Heidelberg (Philosophie) blieb er auch am Polytechnikum Darmstadt ohne Abschluss; allerdings förderte hier Roquette seine literar. Pläne. Eduard von Hartmann war sein Briefpartner. Lebensskeptizismus

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prägte W. von Beginn an. In seinem Werk spiegelt dies die Vorliebe für dekadente Sujets. Das reiche Erbteil ermöglichte es W., seine literar. Neigungen berufsmäßig zu verfolgen. Er begann mit romantisierenden Gedichten (Lpz. 1882). Als erster histor. Roman erschien 1833 Das Schatzhaus des Königs (3 Bde.) bei dem Leipziger Naturalistenverleger Wilhelm Friedrich. W. lernte auch die frühnaturalistischen Literaten kennen; im Jahr der Gründung ihres Organs »Die Gesellschaft« kam sein Roman Oktavia (ebd. 1885) auf den Markt. Damit setzte W. sich deutlich vom so genannten Professorenroman ab: Er erprobte, ohne lehrhafte Absicht im Sinn des Historismus, eine realistische Darstellungstechnik auch im archäolog. Roman u. behandelte seinen Stoff, die Ehe Neros, in betont psycholog. Motivierung. Unter dem Einfluss der modernen realistischen Strömung schrieb er nun auch Erzählwerke mit Stoffen aus der Gegenwart, nicht ohne mit Tiberius (2 Bde., ebd. 1889) nochmals eine poetisch ausgewogene Seelenstudie einer histor. Persönlichkeit vorzulegen. Aber auch in den Gegenwartsromanen steht nicht das Soziale, sondern der patholog. Charakter im Vordergrund. Lebensschwache Künstler sind ein durchgehendes Motiv; Selbsterlebtes fließt überall ein. Der Dämon des Neides (Lpz. 1889) wurde beschlagnahmt u. W. im sog. Leipziger Realistenprozess 1890 zusammen mit Alberti u. dem Verleger Friedrich wegen Verbreitung unzüchtiger Schriften verurteilt, was bei W. eine Nervenkrise auslöste. Nach Friedrichs Konkurs u. anderen Ereignissen – man brachte W. in Zusammenhang mit dem Freitod eines Verehrers, der unter dem Pseud. G. Ludwigs eine Studie über W. verfasst hatte (Lpz. 1891) – entschloss er sich 1896 zur Übersiedlung nach München, da ihm die bürgerl. Enge Darmstadts unerträglich wurde. Dort verlegte sich W. auf die Produktion – nie aufgeführter – konventioneller Dramen. Flüchtig eilte er von Entwurf zu Entwurf; Theosophie u. Spiritismus wurden bevorzugte Themen. Der größte Teil dieser Texte ging verloren. Zuletzt vermachte W. einen Teil seiner Manuskripte, darunter den Mün-

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chener Roman Die Millionenerbin, der Stadtbibliothek München, 1931 auch seine Tagebücher in 49 Bänden u. d. T. Lebensrätsel eines Wiedergeborenen. Weitere Werke (Erscheinungsort, wenn nicht anders angegeben: Lpz.): Paris, der Mime. 1886 (R.). – Seelenräthsel. 1886 (R.). – Aus der Praxis. 1887 (R.). – Am Starnberger See. 1888 (E.). – Der Gladiator. 1888 (R.). – Dramen. 1888 (enthält: Gräfin Pusterla. Johann v. Schwaben. Marino Falieri). – Ovid. 1890 (R.). – Ges. Gedichte. 1890. – Neue Dramen. 1891 (enthält: Semiramis. Das Opfer. Alboin). – Ein Liebespaar. 1892 (R.). – Es fiel ein Reif ...! 1893 (R.). – Narren der Liebe. 1894 (N.n). – Im Banne der Hypnose. Jena 1897 (R.). – Ein Sonderling. 1901 (R.). – Eros. 1906 (R.). – Im Schatten des Todes. Jugenheim 1909 (R.). – Der neue Heiland. Ebd. 1909 (R.). – W.-Museum. Hg. Erdmann G. Christaller. Ebd. 1911 (L.). Literatur: Erhard Wendelberger: Das ep. Werk W. W.s. Diss. Mchn. 1953. – Michaela Rustwurm: Der röm. Kaiser Nero im Spiegel des dt. histor. Romans. Diss. Innsbr. 2005. Gerhard Stumpf / Red.

Wallraff, (Hans) Günter, * 1.10.1942 Burscheid bei Köln. – Verfasser von Enthüllungsreportagen, Dramatiker. Der Sohn eines Fließbandarbeiters absolvierte nach der Mittleren Reife eine Buchhändlerlehre. Als Kriegsdienstverweigerer musste W. bei der Bundeswehr ein psychiatr. Gutachten über sich erstellen lassen, woraufhin er als dienstunfähig entlassen wurde. Ein krit. Tagebuch dieser Zeit (1963) erschien 1970 in einem Sammelband: Von einem der auszog und das Fürchten lernte (Mchn.). Ausgangspunkt für W.s gesellschaftskrit. Engagement sind nicht politisch-soziolog. Theoriegebäude, sondern die unmittelbare Erfahrung der Arbeitswelt: W. arbeitete Mitte der 1960er Jahre in verschiedenen Industriebetrieben u. berichtete darüber unter Pseud. in der Zeitung der IG-Metall. Ein für Personalbüros erstellter warnender Steckbrief initiierte W.s Methoden der Tarnung, die er – je berühmter er wurde – immer mehr perfektionieren musste, um seine teilnehmenden Recherchen durchführen zu können. Aufgrund dieser Rollenspiele wurde er häufig mit juristischer Gegenwehr (z. B. wegen

Amtsanmaßung) konfrontiert. Neben der geschickten dramaturgischen Präsentation seiner Beobachtungen, Schilderungen u. einmontierten Dokumente machte diese gelegentlich sensationelle Dimension seiner Reportagen sicherlich einen Großteil ihres breiten Erfolgs, auch bei Arbeitern, aus: Der recherchierende, erlebende, mitbetroffene Autor ist als handelnde Person mitgestaltet u. bietet eine Erlebnisperspektive. Nach den frühen Industriereportagen ›Wir brauchen Dich‹. Als Arbeiter in deutschen Industriebetrieben (Mchn. 1966) erschienen 13 unerwünschte Reportagen (Köln 1969) u. Neue Reportagen, Untersuchungen und Lehrbeispiele (ebd. 1972). Mit seinen leicht lesbaren Texten verfolgt W. keinerlei literar. Ambitionen. Seine realistischen, zunächst objektiven, später auch parteil. Reportagen über Missstände sind agitierende Dokumentationsliteratur, die zu Veränderungen führen soll. Lange stand W. literar. Kunstwerken sehr skeptisch gegenüber; später gestand er ihnen jedoch indirekte Mitwirkung an Veränderung gesellschaftl. Zustände zu, z. B. in Mein Lesebuch (Ffm. 1984). W.s Reportagen boten auch Stoff für Hörspiele u. Filme. Darüber hinaus versuchte er sich als Dramatiker, etwa mit der szen. Dokumentation Nachspiele (Urauff. Recklinghausen 1968. Buchausg. Ffm. 1968), einer Auftragsarbeit zum Art. 1 des Grundgesetzes, oder mit Szenen aus seiner Biografie, Von einem der auszog (zus. mit Roland Gall. Urauff. Tüb. 1974). W. arbeitete als Redakteur, u. a. bei »Pardon« u. »konkret«, wurde dann freier Schriftsteller u. lebt in Köln u. in den Niederlanden. 1970 war er Mitbegründer des »Werkkreises Literatur der Arbeitswelt«. W. wurde auch im Ausland politisch aktiv: 1974 geriet er nach einer spektakulären Demonstration in Haft der griech. Militärjunta, u. 1976 trug er zur Aufdeckung der Putschpläne Spinolas in Portugal bei: Aufdeckung einer Verschwörung. Die Spinola-Aktion (Köln 1976). 1977 schlich sich W. bei der hannoverischen Redaktion der »Bild-Zeitung« als Redakteur ein, um die journalistischen Praktiken der größten dt. Boulevardzeitung zu entlarven: Der Aufmacher. Der Mann, der bei ›Bild‹ Hans Esser war (ebd. 1977). Das Buch schlug hohe

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publizistische Wellen u. war ein großer Ver- W. hatte incognito in einem Kölner Callkaufserfolg. Geradezu einmalig war die Auf- Center gearbeitet u. dessen zweifelhaftes lagenhöhe seines Buchs Ganz unten (ebd. Vorgehen bei Werbeanrufen beschrieben. Es 1985): Schon Ende 1985 war es in Deutsch- folgten u. a. eine Reportage über seine Arbeit land mit 1,6 Mio. Exemplaren verbreitet. als Niedriglöhner in einer Brötchenfabrik Insgesamt wurden schließlich von der (2008) u. seine Erfahrungen als Obdachloser deutschsprachigen Ausgabe über 4 Mio. Ex- in der Winterkälte (2009), mit weiteren Reemplare verkauft; das Buch wurde in ca. 30 portagen auch veröffentlicht als Aus der schöSprachen übersetzt u. auch verfilmt. Der rie- nen neuen Welt. Expeditionen ins Landesinnere sige Erfolg sowie Plagiatsvorwürfe brachten (Köln 2009). Das Buch kam bereits in Frankdem multimedial und z. T. unter Mithilfe reich, Spanien, Schweden, den Niederlanden Anderer arbeitenden Autor Kritik, auch von u. Dänemark heraus. Gesinnungsgenossen, u. ließen die DiskussiWeitere Werke: Ihr da oben – wir da unten on um seine Methoden erneut aufleben. Un- (zus. mit Bernt Engelmann). Köln 1973. – Zeugen bezweifelbar jedoch bleibt das Verdienst, der Anklage. Die ›Bild‹-Beschreibung wird fortgeGrauzonen der Arbeitswelt breit bekannt setzt. Ebd. 1979. – Wallraff war da. Ein Lesebuch. Gött. 1989. – Mein Tagebuch aus der Bundeswehr. gemacht zu haben. Danach publizierte W. bis 2007 kaum Köln 1992. – Enthüllungen. Gött. 1994. – Ich – der andere. Reportagen aus vier Jahrzehnten. Köln noch, fühlte sich psychisch u. körperlich 2002. ausgebrannt, wobei ein Rückenleiden ihm Literatur: Ulla Hahn u. Michael Töteberg: G. stark zu schaffen machte. Dazu geriet er in W. Mchn. 1979. – Christian Linder (Hg.): In Sachen das in diesen Jahren sehr dominante Thema W. Von den Industriereportagen bis ›Ganz unten‹. der Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit: Ber.e, Analysen, Meinungen u. Dokumente. Köln Teile der Medien versuchten mehrfach, ihn 1986. – Bodo Rollka: Die Reise ins Souterrain. als Informellen Mitarbeiter der DDR-Staats- Notizen zur Strategie des aufklärer. Erfolgs: Eusicherheit darzustellen, als sein Name in gène Sues ›Geheimnis von Paris‹ u. G. W.s ›Ganz Stasi-Unterlagen auftauchte. Tatsächlich unten‹. Bln. 1987. – Gail Elizabeth Wise: Ali in hatte er um 1968–1971 Treffen mit einem Wunderland. German representations of foreign Kulturredakteur aus der DDR, der Stasi-Mit- workers. Ann Arbor, MI 1998. – Lothar Romain u. arbeiter war, sowie wiederholt in DDR-Ar- Michael Töteberg: G. W. In: KLG. – Willi Jasper: G. W. In: LGL. – Ina Braun: G. W. interkulturell gechiven Akten über NS-Täter eingesehen. Die lesen. Nordhausen 2006. – Dies.: G. W. Leben – Stasi hatte wohl auch versucht, W. zu in- Werk – Wirken – Methode. Würzb. 2007. – Jürgen strumentalisieren, führte ihn jedenfalls eine Gottschlich: Der Mann, der G. W. ist. Eine Biogr. Zeitlang in ihren Unterlagen als »IM Wag- Köln 2007. Walter Olma ner«. W. bestritt vehement, wissentlich mit der Stasi zu tun gehabt zu haben, räumte aber eine gewisse Naivität u. Arglosigkeit beim Walser, Alissa, auch: Fanny Gold, * 24.1. Umgang mit offiziellen DDR-Pressemitar1961 Friedrichshafen/Bodensee. – Malebeitern ein. Gegen die Behauptungen in der rin, Übersetzerin, Erzählerin, Dramati»Welt«, er sei Stasi-IM gewesen, obsiegte W. kerin. juristisch endgültig u. vollständig im Januar 2006: Das Gericht urteilte, die Zeitung habe Die drittälteste der vier Töchter Martin Walfür ihre Behauptung keinen Wahrheitsbeweis sers studierte 1981–1986 Malerei in New erbringen können; dieser ergebe sich nicht York u. Wien u. war als Malerin mit einer aus den vorgelegten Dokumenten u. Unter- Reihe von Ausstellungen erfolgreich, bevor lagen. sie mit dem Schreiben u. Übersetzen begann. Nach rund 20 Jahren trat W. mit Rollenre- Ihr Eintritt in die Gegenwartsliteratur war portagen für das »Zeit«-Magazin wieder als spektakulär: Am 27.6.1992 las die damals 31Schriftsteller an die Öffentlichkeit. Das Heft Jährige auf dem 16. Klagenfurter Literaturvom 24.5.2007 übertitelte die Reportage W.s wettbewerb ihre Erzählung Geschenkt, eine mit riesigen Lettern: Günter Wallraff ist zurück. auf subtile Weise mit dem Inzestmotiv

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spielende Tochter-Vater-Geschichte, u. gewann damit auf Anhieb den Ingeborg-Bachmann-Preis. Das lebhafte Medienecho, das diese Preisverleihung begleitete, war wesentlich mitbestimmt durch die autobiogr. Bezüge, die in den schmalen Prosatext hineingelesen wurden. W.s literar. Debüt wies bereits alle wesentl. Merkmale ihrer späteren literar. Arbeiten auf: Die themat. Fixierung auf die Sexualität der Frau, auf Rollenzwänge u. Ausbruchsversuche, eine distanzierte, unterkühlte Erzählperspektive u. eine unverwechselbar eigenständige Sprache, deren suggestive Wirkung aus dem Spannungsverhältnis von lakon. Notatstil u. untergründig spürbarer Emotionalität erwächst. In dem zwei Jahre nach dem Klagenfurter Debüt erschienenen Erzählungsband Dies ist nicht meine ganze Geschichte (Reinb. 1994) ist Geschenkt eine von zehn motivisch eng miteinander verwobenen Erzählungen, die mit dem für W. typischen literar. Minimalismus unterschiedl. Erfahrungen des Scheiterns weibl. Selbstverwirklichung ausleuchten: ein »Reigen« von Liebesbegegnungen, die – statt in menschl. Nähe zu münden – nur die Erfahrung der elementaren Fremdheit zwischen den Geschlechtern vermitteln. Der sechs Jahre später erschienene zweite Band mit Erzählungen, Die kleinere Hälfte der Welt (Reinb. 2000), schließt in Thematik u. Erzählstil fast nahtlos an den ersten an, setzt mit der Titelerzählung aber einen iron. Kontrapunkt zu Geschenkt. Der Tochter-VaterGeschichte von 1992 stellt sie jetzt eine Tochter-Mutter-Geschichte gegenüber: Die Ich-Erzählerin beschwört den Sommer ihrer ersten Liebeserfahrung wieder herauf, der zgl. ein Sommer des Betrugs war. Denn ihr Liebhaber, an den sie ihre Unschuld verlor (»Ich bin sie gern los geworden. Ich konnte es kaum erwarten«), war zuvor u. zgl. der Liebhaber ihrer Mutter. Die übrigen sechs Erzählungen des Bandes, motivisch wiederum eng miteinander verzahnt, variieren das Thema desillusionierender erot. Erfahrungen der erwachsenen Frau. Den Eindruck authent. Erfahrungen u. autobiogr. Rückbezüge, den diese Erzählungen fast durchgängig suggerieren, weist die Autorin allerdings zurück u. als bewusste Kunstabsicht aus: »Ich

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bin nicht das Ich, das aus meinen Büchern spricht« (Der Spiegel 26 [2000], S. 212 f.). Zehn Jahre danach erschien W.s erster Roman Am Anfang war die Nacht Musik (Mchn./ Zürich 2010), an dem sie 2006–2009 konzentriert gearbeitet hatte u. der von der literar. Kritik überwiegend sehr positiv aufgenommen wurde. Vordergründig zeichnet W. hier ein eindringl. Porträt des berühmten u. zgl. als Scharlatan geschmähten Arztes Franz Anton Mesmer (1734–1815) am Beispiel seines wohl aufsehenerregendsten Falles, über den er selbst ein Buch geschrieben hatte: der Behandlung der damals berühmten blinden Pianistin Maria Theresia Paradis in Wien. Allerdings ging es W. dabei im Kern nicht um einen histor. Roman, »der vergangene Epochen wieder aufleben lässt«; sie wollte vielmehr »Konstellationen« ausleuchten, »die nach wie vor Gültigkeit besitzen – das ElternTochter-Verhältnis, das Verhältnis zwischen Arzt und Patient« bzw. zwischen »dem Magier und dem Mädchen« (so in einem Interview in. buchjournal.de, 11.3.2010). So weit weg Stoff u. Gestaltung des Romans zunächst von den Erzählungen zu liegen scheinen, so eng schließt sich der Roman doch in seiner Erzählweise, seiner Sprache u. in seinen wichtigsten themat. Bezügen an die beiden Erzählungsbände an. Denn auch bei dem charismat. Arzt u. der blinden Pianistin geht es um eine subtile erot. Annäherung (W. spricht sogar von »Durchdringung«) u. zgl. um die Befreiung aus Konventionen, um Selbstbehauptung u. Selbstpreisgabe. Seine innere Spannung u. suggestive Wirkung erhält der Roman erst aus der Gegenläufigkeit von lakon. Berichtstil in Er-Form u. der zwischen beiden Protagonisten alternierenden Innenperspektive, von – manchmal fast schmerzhaft – genauer Beschreibung äußerer Abläufe u. der Aussparung entscheidender innerer Vorgänge u. Motive. Der Roman spielt eine ganze Reihe von Themen u. Motiven durch, deren kompositor. Vernetzung allerdings bislang von Literaturkritik u. Literaturwissenschaft erst unzureichend aufgearbeitet wurde. Dazu gehören allem voran der eigenständige Erkenntniswert der Intuition, aber auch das »Scheitern des Gefühls am Verstand«, die Überwindung gesellschaftl.

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Rollenzwänge als Voraussetzung einer Annäherung der Geschlechter u. der Gegensatz von Musik u. Tageswelt, von Kunst u. rationaler Weltsicht. Zu erwähnen sind abschließend auch die seit 1996 gelegentlich publizierten Theaterstücke W.s, die es bis heute allerdings meist nur auf kleinere Studiobühnen schafften, sowie ihr vergleichsweise umfangreiches übersetzerisches Werk, in dessen Mittelpunkt die amerikan. Schriftstellerin Sylvia Plath (1932–1963) steht. Eine besondere Hervorhebung verdienen hier die Übersetzung der Tagebücher (Ffm. 1997) u. die Neuübersetzung der Gedichte Plaths in der restaurierten Urfassung von 2004 (Ariel. Ffm. 2008). Von den großen Themen Sylvia Plaths, von denen sich W. zweifellos angezogen fühlte – der Rolle der Frau in der Gesellschaft, der Identitätssuche u. der vergebl. Ausbruchsversuche, der übermächtigen Vaterfigur u. der »Glaswand« zwischen dem Ich u. dem Leben – fällt noch einmal erhellendes Licht auf ihr eigenes literar. Werk. Weitere Werke: Traumhochzeit. Eine Gesch. u. Bilder. Ffm. 1990 (unter Pseud.). – Das Entzücken. Theaterstück. Reinb. 1996 (Urauff. 2000, Winkelwiese; szen. Lesung Berlin 1998). – Graue Briefe. Eine Wohnung findet man wieder. Uhldingen 1997 (E.en). – Was zählt. In: Zukunft! Zukunft? Tübinger Poetik Vorlesung. Hg. Jürgen Wertheimer. Tüb. 2000, S. 99–112. – Einhundert Millionen Jahre Porn. In: Warum nicht würfeln? Gestaltungsmöglichkeiten zu Beginn des 21. Jh. 4 Theaterstücke v. Helmut Krausser u. a. Ffm. 2003, S. 147–204. – Immer ich. Mchn./Zürich 2011 (E.). Literatur: Sigrid Löffler: Bei Walsers. In: Dies.: Kritiken, Portraits, Glossen. Wien 1995, S. 113–119. – Hellmuth Opitz: A. W. In: LGL. Ronald Schneider

Walser, Johanna, * 3.4.1957 Ulm. – Prosaautorin u. Übersetzerin. W.s schmales literar. Werk besteht aus Prosaminiaturen, die sich der psychologisch differenzierten, bildstarken Beschreibung eines sich selbst problemat. Daseins widmen. Mit ihrem Schweben zwischen ›authentischer‹ Nähe u. formaler Distanz erscheinen W.s Texte oft als literar. Exerzitien der Selbsterforschung u. -behauptung im Medium der

Literatur: »Kunst gibt einem die Möglichkeit, jede Realität, auch die Schlimmste, noch irgendwie in den Griff zu bekommen« (Ulrike Niederhofer in: Südkurier, 1.6.2010). Die themat. Subjektivität wird durch eine Ästhetisierung gebrochen, die sich im Wechsel von Erzählformen, Perspektiven, Stilen u. Stilzitaten (z. B. Kafka, Robert Walser) manifestiert. Neben eigenen Prosaveröffentlichungen ist W. – meist zusammen mit ihrem Vater Martin Walser – als Übersetzerin engl. u. frz. Dramen- u. Erzähltexte hervorgetreten, übertrug illustrierte Kinderbücher u. verfasste poetische Kurztexte zu den Bildbänden Bodensee. Die vier Jahreszeiten (mit Photographien von Hella Wolff-Seybold. Konstanz 1997) u. Am Wasser (zus. mit M. Walser. Mit Bildern von Quint Buchholz. Zürich 2000). W. debütierte als 25-jährige Studentin (Germanistik u. Philosophie) mit dem Erzählband Vor dem Leben stehend (Ffm. 1982), für den sie den Luise-Rinser-Preis erhielt. Die 81 zwischen erster u. dritter Person wechselnden Momentaufnahmen u. Reflexionen entwerfen das Bild einer tief verunsicherten Existenz zwischen intensiver Lebenssehnsucht u. Verzicht. Die zentrale Figur Lisa (oder L.) wird vier Jahre später zur Protagonistin der »Erzählung« Die Unterwerfung (Ffm. 1986) sowie z. T. auch der folgenden Erzählbände Wetterleuchten (Ffm. 1991) u. Versuch, da zu sein (Ffm. 1998). Ihre in Situationsschilderungen, sprachl. Bildern u. aphorist. Zuspitzungen umkreiste »Seinsschwäche« (Lisa ist »süchtig danach, nicht in Betracht zu kommen«) offenbart eine umfassende Fremdbestimmtheit, die das Subjekt im Versuch der Befreiung in den Schutzraum einer handlungs-ohnmächtigen, randständigen Identität zurückdrängt. Der existenzielle »Schmerz« wird in der Fantasie abgeleitet oder kunstreligiös sublimiert, wobei die lyr. Bildlichkeit die Nähe zum Kitschigen nicht immer scheut: »Den Schmerz nahm sie dann wie eine Hostie« (Die Unterwerfung, S. 122) Bei der eindringl., wortschöpferischen u. zu lyr. Bildhaftigkeit u. Musikalität tendierenden Reflexion subjektiver Befindlichkeiten handelt es sich um Beispiele einer meist positiv aufgenommenen, aber mitunter auch kritisch gewerteten »Innerlichkeitsprosa«

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(Ursula Homann). Insbesondere ihre letzten Texte experimentieren jedoch mit neuen Themen u. sprachspielerisch-iron. Möglichkeiten. W. wurde 1986 mit dem Westermanns Phoenix-Preis (für Die Unterwerfung) ausgezeichnet u. erhielt mehrere Stipendien: Berlin-Stipendium (1981), Villa-Massimo-Stipendium (1993), Stipendium der Villa Aurora (1997). Weitere Werke: Übersetzungen: Molière: Der eingebildete Kranke (zus. mit Martin Walser). Ffm. 1987. – Jean-Christian Knaff: Manhattan (zus. mit M. Walser). Mchn. 1993. – Ders.: Adam Elefant. Ein Bilderbuch (zus. mit M. Walser). Mchn. 1994. – Margaret Wise Brown u. Irene Goede: Der kleine Indianer (zus. mit M. Walser). Freib. i. Br. u. a. 1994. – Harold Pinter: Die Zwerge (zus. mit M. Walser). Reinb. 1994. – Oscar Wilde: Märchen zwischen Tag u. Traum. Mit Bildern v. Patrick James Lynch. Bln. 1994. – Chris Van Allsburg: Die süßeste Feige. Ein Bilderbuch (zus. mit M. Walser). Ravensburg 1995. – David Almond: Zeit des Mondes (zus. mit M. Walser). Ravensburg 1999. – Marianne Curley: Im Kreis des Feuers. Mchn./Wien 2001. – Colin Thompson: Wenn Sally fliegt (zus. mit M. Walser). o. O. [Ravensburg] 2001. Literatur: Christel Berger: Ein Glaspalast aus hohen u. leisen Tönen. J. W.: ›Vor dem Leben stehend‹, ›Die Unterwerfung‹ u. ›Wetterleuchten‹. In: NDL 40 (1990), H. 8, S. 139–141. – Peter Hamm: Von der Überlegenheit des Unterlegenseins. J. W.s Buch ›Die Unterwerfung‹. In: Ders.: Der Wille zur Ohnmacht. Mchn. 1992, S. 257–264. – Sigrid Löffler: Bei Walsers. In: Dies.: Kritiken, Portraits, Glossen. Wien 1995, S. 113–119. – Thomas Kraft: J. W. In: LGL. – Barbara Lersch-Schumacher: J. W. In: KLG. Christoph Deupmann

Walser, Martin (Johannes), * 24.3.1927 Wasserburg/Bodensee. – Romancier, Erzähler, Dramatiker, Essayist. W.s Eltern besaßen einen Gasthof in Wasserburg. Der Vater betrieb nebenbei einen Kohlenhandel, den der Sohn mit elf Jahren, nach dem Tod des Vaters, weiterführen musste. W. lernte, wie er später sagte, das »Konkurrenzdenken auch auf der untersten Ebene hassen«. Seine Kindheit war geprägt vom Katholizismus der Mutter u. von tiefer eigener Unsicherheit. Er besuchte die Oberschule in Lindau, wurde 1943 als Flakhelfer eingezogen u. machte 1946 das Abitur. Im

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selben Jahr begann er das Studium der Literaturwissenschaft, Philosophie u. Geschichte an der Philosophisch-Theologischen Hochschule in Regensburg, das er von 1948 an in Tübingen fortsetzte. Die Zeit seiner Kindheit u. Jugend in Wasserburg – es war genau die Zeit des Nationalsozialismus – beschrieb W. 1998 im autobiogr. Roman Ein springender Brunnen (Ffm. 1998). 1951 wurde er bei Friedrich Beißner mit der Beschreibung einer Form. Versuch über die epische Dichtung Franz Kafkas (Tüb. 1952) promoviert. Während seines Studiums schrieb W. Kabaretttexte u. war Schauspieler beim Ensemble des Tübinger Studententheaters. 1950 heiratete er Katharina Neuner-Jehle, die wie W. aus einer Gastwirtsfamilie stammt. W. arbeitete beim SDR als Reporter, dann als Hörspielregisseur. Eine Anekdote erzählt von einer Tagung der Gruppe 47 im Okt. 1951, die vom SDR aufgezeichnet wurde. Hans Werner Richter fragte den jungen Mann im Übertragungswagen, wie es denn liefe, u. W. antwortete: »Technisch einwandfrei, aber was da gelesen wird, das kann ich besser.« 1953 zur Gruppe 47 eingeladen, wurde W. wegen seines epigonalen Verhältnisses zu Franz Kafka verrissen. Er hat einige Jahre gebraucht, um Kafka aus seinem Arbeitszimmer zu vertreiben. 1955 wurde er mit dem Preis der Gruppe 47 für die Erzählung Templones Ende (in: Ein Flugzeug über dem Haus und andere Geschichten. Ffm. 1955, S. 124–150) ausgezeichnet; neben weiteren Preisen u. Ehrungen erhielt er 1981 den Georg-Büchner-Preis, 1987 das Bundesverdienstkreuz u. 1998 den Friedenspreis des deutschen Buchhandels. W., der sich immer wieder poetologisch äußert, ging häufig auf Lesetournee u. nahm mehrere Poetikdozenturen wahr, seit den 1970er Jahren auch in den USA. W.s erster Roman, Ehen in Philippsburg (Ffm. 1957), beschreibt die Karrieregesellschaft in einer süddt. Großstadt. W. benutzte dazu – wie in den 1950er Jahren üblich – die Form des Entwicklungsromans. Der Sarkasmus W.s zielte nicht, wie etwa bei Grass, auf traditionelle literar. Formen, sondern auf seine Figuren, in den späteren Romanen gemildert durch die wachsende Sympathie W.s mit seinen devoten Mittelstandshelden. Anselm

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Kristlein heißt der Antiheld des Romans Halbzeit (ebd. 1960. Zur Trilogie erweitert mit: Das Einhorn. Ebd. 1966. Der Sturz. Ebd. 1973). Kristlein versucht, unentwegt quasselnd, eine Art Gesellschaftsmimikry. Er will Karriere machen u. scheitert. Der Roman ist eine spött. Bestandsaufnahme der bundesrepublikan. Gesellschaft der 1950er Jahre. Gesellschaftskritische Züge tragen auch W.s Dramen. Als Dramatiker wirkte er v. a. in der Zeit seines linken polit. Engagements, in den 1960er Jahren. Um Anpassung u. gesellschaftl. Fortkommen, doch auch um die Auseinandersetzung mit der Zeit des Nationalsozialismus u. der Adenauer-Ära geht es in W.s Theaterstück Eiche und Angora. Eine deutsche Chronik (Ffm. 1962. Rev. Fassung. Ebd. 1963). Der Knecht Alois soll in dem tragikom. Stück mustergültig dressiert werden, wird zum Außenseiter u. in eine Anstalt abgeschoben. Das Drama Der Schwarze Schwan (Ffm. 1964. Rev. Fassung. Ebd. 1965) befasst sich mit Verdrängungsmechanismen sowie mit dem Problem der übertragbaren, kollektiven Schuld, von der sich auch Kinder der Naziverbrecher nicht befreien können. In dem Stück Die Zimmerschlacht (zus. mit Der Abstecher. Ebd. 1967) karikierte W. das Rollenverhalten in einer Ehe. Dr. Felix Fürst, Erdkundelehrer, versucht seiner Mannesrolle gerecht zu werden u. meint, seine Frau vermisse das Parfüm der Grausamkeit an ihm. Die Zimmerschlacht war so erfolgreich, dass W. 1968 von den Einnahmen ein Haus in Nußdorf bei Überlingen kaufen konnte (»Villa Zimmerschlacht«). Die übrigen Stücke W.s wurden zumeist nur an Provinzbühnen aufgeführt. Sie stehen unter dem Einfluss Brechts, kommen mit feststehenden Charakteren aus u. sind eher Lesedramen denn bühnentaugl. Stücke. In der ersten Hälfte der 1970er Jahre näherte sich W. der DKP. Dieser Phase entsprang der bekenntnishaft linke Kurzroman Die Gallistl’sche Krankheit (Ffm. 1972). W. begann nach den Verrissen, die er für dieses Werk einstecken musste, u. nach seiner Distanzierung von der DKP nach einem neuen Modus für sein Schaffen zu suchen. Charakteristisch für diese Phase ist die Hinwendung zum kleinbürgerl. Helden, der im Gegensatz

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zu Anselm Kristlein den gesellschaftl. Erfolg meidet u. sich in sein Privatleben zurückzieht. Der ›Sturz‹ dieses Helden darf folglich viel weicher sein als Kristleins Sturz. Die erste typische Figur aus der Phase des Schaffens nach der ›ideologischen‹ Krise der Gallistl’schen Krankheit ist Franz Horn aus dem Roman Jenseits der Liebe (Ffm. 1976), der später in Brief an Lord Liszt (Ffm. 1982) noch einmal kreiert wird. Horn entspricht dem Heldentypus, den W. in seiner Ironie-Poetik (Selbstbewußtsein und Ironie. Frankfurter Vorlesungen. Ffm. 1981) entwirft. Er ist Versager, der ein »Ja zu dem Nein [sagt], das die Verhältnisse zu ihm sagen«. Die Protagonisten vieler Werke W.s sind am Bodensee zu Hause u. sind nicht fähig, sich von der Landschaft, den Menschen, dem Dialekt für längere Zeit zu trennen. W.s mit den Jahren zunehmende Annäherung an die Bodenseegegend, an die enge Welt der Provinz, in der er seine Kindheit u. Jugend verbrachte u. in der er auch heute noch seinen Wohnsitz hat, beginnt in seinem Schaffen verhältnismäßig früh, bereits Anfang der sechziger Jahre. Die alemann. Heimat des Autors hat sich mit den Jahren als ein geistiges Zentrum seines Schaffens herauskristallisiert. Er widmete seiner Region mehrere Aufsätze; die meisten sind in zwei Bänden gesammelt – Heimatlob. Ein Bodensee-Buch (zus. mit André Ficus. Friedrichshafen 1978) u. Heilige Brocken. Aufsätze, Prosa, Gedichte (Weingarten 1986). Vor allem hier, im Alemannischen, leben W.s Versager-Helden: Kleinbürger, die vor den Gefahren der äußeren (auch der kapitalistischen) Welt fliehen. Zu den »Bodenseeromanen« gehören neben den bereits genannten Jenseits der Liebe u. Brief an Lord Liszt auch Seelenarbeit (Ffm. 1979), Das Schwanenhaus (Ffm. 1980), Jagd (Ffm. 1988), schließlich auch die Novelle Ein fliehendes Pferd (Ffm. 1978), die W. – nicht zuletzt dank einer positiven Besprechung von Marcel Reich-Ranicki – zu einem erneuten schriftstellerischen Durchbruch verhalf. Mit dem Doppelblick auf zwei Protagonisten, die beide der Metapher des fliehenden Pferdes zugeordnet werden können, bietet das Werk eine Vertiefung von W.s Heldenkonzeption. Die Novelle

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erzählt von Studienfreunden, die sich zufällig am Bodensee treffen. Klaus Buch ist ein jugendlich wirkender Freiberufler, Helmut Halm ein Lehrer, der Geselligkeit meidet u. sich älter gibt als er ist. Es stellt sich heraus, dass beide den Frustrationen des Alltags nicht gewachsen sind. Ähnlich wie Helden in einigen anderen Prosawerken W.s findet Helmut Zuflucht u. Therapie bei seiner Frau: in seiner kleinbürgerl. Identität. Auch die späteren Romane u. Erzählungen W.s sind psychologisch orientiert. In seitenlangen (inneren) Monologen u. minuziösen psycholog. Beschreibungen soll das »zerdepperte Ich« (W.) durch eine Art Identitätsstiftung therapiert werden. Wie Tilmann Moser über Brief an Lord Liszt schreibt, ist dies meist die »Selbsttherapie einer schweren narzißtischen Störung«, der Abstieg in eine Privathölle. W. neigt dazu, die Formulierung einer Misere für einen Sieg zu halten. Seine Helden arrangieren sich mit ihren Entsagungen, aber sie sind auch Stehaufmännchen, die das Leben mit »Schönheitsgewichten auswiegen« wollen u. die Lust am Pessimismus als etwas Verrücktes enttarnen. W.s Helden schämen sich unentwegt kleinster Vergehen u. entwickeln Schuldgefühle, die ihnen schließlich über den Kopf wachsen, bis sie sich einfach totstellen möchten. In Brandung (Ffm. 1985) wird vom Gastsemester Helmut Halms, des Helden aus Ein fliehendes Pferd, in Amerika erzählt. Dort verliebt er sich in eine 30 Jahre jüngere Studentin, die von seinen Gefühlen allerdings nichts erfährt. Als Halm bereits in Deutschland zurück ist, kommt diese Studentin ums Leben – indirekt durch Halms Verschulden. Er erzählt – wie die Helden W.s dies oft tun – die Geschichte seines nicht zustande gekommenen Seitensprungs – ausgerechnet seiner Frau. In dem Roman Die Verteidigung der Kindheit (Ffm. 1991) lässt W. seinen Helden Alfred Dorn das Leben als Erwachsener verweigern, denn: »Leben – das war eine Zusammenstellung von Aufgaben, die ihm nicht lagen.« Die Handlung spielt diesmal nicht am Bodensee. Nicht W.s Heimat, sondern die trag. Episoden der dt. Geschichte bilden den Hintergrund für Alfred Dorns Leben: Die Brennpunkte sind die Zer-

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störung Dresdens u. der Bau der Berliner Mauer. Seit den 1980er Jahren beginnt sich W. zunehmend für das Nationale zu interessieren. Er problematisiert die dt. Teilung als eine histor. Katastrophe, die überwindbar ist. In der erzählenden Prosa kommt dieses neue Motiv in der Novelle Dorle und Wolf (Ffm. 1987) erstmals zum Ausdruck. In dem publizistischen u. essayistischen Werk, das W. seit dem Ende der 1950er Jahre als engagierten Autor ausweist, wird seit der Wende der 1970er u. 1980er Jahre das »Nationalgefühl« zum wichtigsten Leitmotiv der Reden u. Aufsätze. W.s auf das Gefühl u. die empir. Erfahrung bauende Geschichtsauffassung korrespondiert mit seinem Anspruch auf individuellen Gebrauch von polit. Begriffen u. deren emotionale Interpretation. So sind auch die Reaktionen auf seine DeutschlandTexte emotional: entweder stark bejahend oder stark ablehnend. Die wichtigsten Statements zu diesem Thema enthalten die Bergen-Enkheim-Rede Über den Leser – soviel man in einem Festzelt darüber sagen soll (1977), die Aufsätze Händedruck mit Gespenstern u. Auschwitz und kein Ende (beide 1979), Deutsche Gedanken über französisches Glück (1980) u. die sog. Deutschland-Rede, die W. am 30.10.1988 in den Münchner Kammerspielen gehalten hat u. die heftige Proteste gegen W.s Argumente für die Vereinigung Deutschlands hervorrief. Zu den wichtigsten Texten der DeutschlandPublizistik nach 1990 gehören die Rede zur Verleihung des Ricarda-Huch-Preises (1990) u. d. T. Vormittag eines Schriftstellers u. die ursprünglich im »Spiegel« veröffentlichten Artikel Deutsche Sorgen (1993) u. Über freie und unfreie Rede (1994) sowie eine Reihe von kürzeren Beiträgen, die Mitte der achtziger Jahre in der »Weltwoche« erschienen. Die Deutschland-Publizistik wurde zuerst in dem Band Über Deutschland reden (Ffm. 1988. Erw. Neuaufl. 1989) zusammengestellt, dann – entschieden erweitert, auch um belletristische Texte – in dem Band Deutsche Sorgen (Ffm. 1997). Im neuen Jahrtausend erschienen sowohl neue Sammlungen (z. B. Ich vertraue. Querfeldein. Ffm. 2000. Die Verwaltung des Nichts. Reinb. 2004) als auch – ergänzt durch neue Texte – Bände mit den wichtigsten Es-

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says, Reden u. Artikeln aus vier Jahrzehnten (z. B. Aus dem Wortschatz unserer Kämpfe. Prosa, Aufsätze, Gedichte. Ffm. 2002). Den Höhepunkt von W.s nationalem Engagement bildet ohne Zweifel die Friedenspreisrede in der Frankfurter Paulskirche (Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede, 11.10.1998). Sie provozierte eine lange Kontroverse, die als W.-Bubis-Debatte in die Geschichte dt. Nachkriegsdebatten einging. Ignatz Bubis, der damalige Vorsitzende des Zentralrats der Juden, warf W. geistige Brandstiftung vor; zum Stein des Anstoßes sind W.s Strategie des Wegschauens sowie seine aggressiven u. militanten Formulierungen geworden, die sich gegen die Instrumentalisierung des Gedächtnisses richteten. Die Debatte war ohne Zweifel die wichtigste Auseinandersetzung mit der jüngsten dt. Geschichte seit dem Historikerstreit. Sie fand noch 2002 eine Fortsetzung, als W.s Erzählung Tod eines Kritikers (Ffm.) erschien. Sie richtete sich indirekt gegen W.s jahrelangen Kritiker-Widersacher, Marcel Reich-Ranicki. Frank Schirrmachers (er war 1998 in der Paulskirche W.s Laudator) Antisemitismus-Vorwurf provozierte erneut eine Diskussion über die Instrumentalisierung der Shoah u. polit. Korrektheit, die verbietet, Bürger jüd. Abstammung zu kritisieren. Seit dieser Zeit scheint W. auf direkte Stellungnahmen zu tagespolit. oder auch histor. Problemen zu verzichten. Seine letzten Romane befassen sich mit Liebesproblemen alternder Menschen – wie stellenweise bereits in früheren Werken (z. B. Brandung oder Ohne einander. Ffm. 1993). In Der Lebenslauf der Liebe (Ffm. 2001) macht er erstmals eine Frau zur Heldin, u. in Ein liebender Mann (Reinb. 2008) erzählt er über die Gefühle eines alten Mannes zu einer jungen Frau; Goethes Liebe zu Ulrike von Levetzow lieferte den Stoff. Weitere Werke: Werke in zwölf Bdn. Hg. Helmuth Kiesel unter Mitwirkung v. Frank Barsch. Ffm. 1997. – Ich habe ein Wunschpotential. Gespräche mit M. W. Hg. Rainer Weiss. Ffm. 1998. – Leben u. Schreiben. Tagebücher 1951–1962. Reinb. 2005. – Leben und Schreiben. Tagebücher 1963–1973. Reinb. 2007. – Leben u. Schreiben. Tagebücher 1974–1978. Reinb. 2010. – Muttersohn. Reinb. 2011 (R.).

110 Literatur: Matthias N. Lorenz: M. W. in Kritik u. Forschung. Eine Bibliogr. Bielef. 2002. – Heinz Ludwig Arnold (Hg.): M. W. Mchn. 1974 (Text + Kritik. H. 41/42). 2., erw. Aufl. Ebd. 1983 (mit Bibliogr.). 3., erw. Aufl. (Neufassung). Ebd. 2000 (mit Bibliogr.). – Anthony Edward Waine: M. W. The Development as Dramatist 1950–1970. Bonn 1978. – Klaus Siblewski (Hg.): M. W. Ffm. 1981 (mit Bibliogr.). – Georges Hartmeier: Die Wunsch- u. Erzählströme in M. W.s Kristlein-Trilogie. Bern 1983. – Tilmann Moser: Selbsttherapie einer schweren narzißt. Störung. M. W.s ›Brief an Lord Liszt‹. In: Ders.: Romane als Krankengesch.n. Über Handke, Meckel u. M. W. Ffm. 1985, S. 77–152. – Volker Hage: Schwächen in Siege verwandeln. M. W. In: Ders.: Alles erfunden. Porträts dt. u. amerikan. Autoren. Reinb. 1988, S. 289–314. – Martin Lüdke: M. W. In: Dt. Dichter. Hg. Gunter E. Grimm u. Frank Rainer Max. Bd. 8, Stgt. 1990, S. 350–365. – K. Siblewski (Hg.): M. W. Auskunft. 22 Gespräche aus 28 Jahren. Ffm. 1991. – Alexander Mathäs: Der Kalte Krieg in der dt. Literaturkritik. Der Fall M. W. New York u. a. 1992. – Helmut Peitsch: ›Antipoden‹ im ›Gewissen der Nation‹? Günter Grass’ u. M. W.s ›dt. Fragen‹. In: Dichter u. ihre Nation. Hg. Helmut Scheuer. Ffm. 1993, S. 459–489. – Eckhart Prahl: Das Konzept ›Heimat‹. Eine Studie zu deutschsprachigen Romanen der 70er Jahre unter besonderer Berücksichtigung der Werke M. W.s. Ffm. u. a. 1993. – Hans Wagener: Die Sekunde durchschauten Scheins. M. W.: ›Ein fliehendes Pferd‹ (1978). In: Dt. Novellen. Hg. Winfried Freund. Mchn. 1993, S. 279–289. – Heike Doane u. Gertrud Bauer Pickar (Hg.): Leseerfahrungen mit M. W. Neue Beiträge zu seinen Texten. Mchn. 1995. – Jürgen Bongartz: Der Heimatbegriff bei M. W. Diss. Köln 1996. – Georg Braungart: ›Ich habe nicht das Gefühl, daß ich mich bewegt hätte‹. M. W.s ›Wende‹ zwischen Heimatkunde u. Geschichtsgefühl. In: Zwei Wendezeiten. Blicke auf die dt. Lit. 1945 u. 1989. Hg. Walter Erhart u. Dirk Niefanger. Tüb. 1997, S. 93–114. – Gerald A. Fetz: M. W. Stgt./Weimar 1997. – Werner Brändle (Hg.): Identität u. Schreiben. Eine FS für M. W. Hildesh. u. a. 1997. – Frank Schirrmacher (Hg.): Die W.-Bubis-Debatte. Eine Dokumentation. Ffm. 1999. – Gerd Wiegel u. Johannes Klotz (Hg.): Geistige Brandstiftung? Die W.-Bubis-Debatte. Köln 1999. – Amir Eshel: Vom eigenen Gewissen. Die W.-BubisDebatte u. der Ort des Nationalsozialismus im Selbstbild der Bundesrepublik. In: DVjs 74 (2000), S. 333–360. – Joanna Jabl/kowska: Zwischen Heimat u. Nation. Das dt. Paradigma? Zu M. W. Tüb. 2001. – J. Klotz u. G. Wiegel (Hg.): Geistige Brandstiftung. Die neue Sprache der Berliner Republik. Bln. 2001. – Dieter Borchmeyer: M. W. u.

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111 die Öffentlichkeit. Von einem neuerdings erhobenen unvornehmen Ton im Umgang mit einem Schriftsteller. Ffm. 2001. – Martin Hielscher: M. W. In: LGL. – Elmar Nordmann: Erläuterungen zu M. W. ›Ein fliehendes Pferd‹. Hollfeld 32008. – M. N. Lorenz: ›Auschwitz drängt uns auf einen Fleck‹: Judendarstellung u. Auschwitzdiskurs bei M. W. Stgt./Weimar 2005. – Jörg Magenau: M. W. Eine Biogr. Reinb. 2005. Aktualisierte u. erw. Neuausg. Ebd. 2008. – Jan Badewien u. Hansgeorg SchmidtBergmann (Hg.): M. W. Lebens- u. Romanwelten. Karlsr. 2008. – K. Siblewski u. Michael Töteberg: M. W. In: KLG (mit Bibliogr.). – Kathrin Schödel: Literar. versus polit. Gedächtnis? M. W.s Friedenspreisrede u. sein Roman ›Ein springender Brunnen‹. Würzb. 2010. Annemarie Stoltenberg / Joanna Jabl/kowska

Walser, Robert (Otto), * 15.4.1878 Biel/Kt. Bern, † 25.12.1956 Herisau/Kt. Appenzell; Grabstätte: ebd. – Lyriker, Erzähler, Romancier, Verfasser von Dramoletten. W. stammte aus einer kleinbürgerl., kinderreichen Familie. Als Bankangestellter (»Commis«) schrieb er seine ersten Gedichte, die 1898 durch Joseph Victor Widmann publiziert wurden. Franz Blei führte W. in den Münchner Dichterkreis um »Die Insel« ein. 1904 erschien das erste Buch, Fritz Kochers Aufsätze (Lpz.). 1905 zog W. nach Berlin, wo er im Kreis seines Bruders Karl, der als Maler u. Bühnenbildner bei Max Reinhardt erfolgreich war u. im Literatenmilieu der Verleger Paul u. Bruno Cassirer verkehrte. Nun gelang der literar. Durchbruch mit den Romanen Geschwister Tanner (Bln. 1907), Der Gehülfe (ebd. 1908) u. Jakob von Gunten (ebd. 1909). Gestützt auf seine Bekanntheit bei Schriftstellern u. Verlegern, konnte W. die Prosastücke, die er in Zeitungen u. Zeitschriften publizierte, auch als selbstständige Sammlungen veröffentlichen: Aufsätze (Lpz. 1913), Geschichten, Kleine Dichtungen (beide ebd. 1914). 1913 kehrte W. nach Biel zurück. Eine stetige u. umfangreiche Produktion kleiner Prosa, sein »Prosastückligeschäft«, bildete die literar. u. materielle Existenzgrundlage, gesammelt in Der Spaziergang (Frauenfeld 1917), Prosastücke (Zürich 1917), Kleine Prosa (Bern 1917), Poetenleben (Frauenfeld 1918) u. Seeland (Zürich 1919). 1921 siedelte W. nach

Bern über. Den zunehmenden Absatzschwierigkeiten seiner Prosa u. persönl. Krisen antwortete W. mit einer Radikalisierung seines Stils u. einem neuen Schub von Kreativität. So entstanden neben seiner letzten publizierten Prosasammlung Die Rose (Bln. 1925) viele als Feuilletons veröffentlichte Prosastücke, Dialogszenen u. Gedichte, meist entworfen in einer äußerst verkleinerten Bleistiftschrift, den sog. »Mikrogrammen«. Sie enthalten auch den von W. nicht selbst publizierten Roman Der Räuber. W.s literar. Produktion setzte sich noch fort, nachdem er sich 1929 in die Obhut der Heilanstalt Waldau bei Bern begeben hatte. Erst als er 1933 gegen seinen Willen in der Heil- u. Pflegeanstalt Herisau interniert wurde, brach er seine Schreibtätigkeit ab. Aber noch die Gespräche, die sein Vormund Carl Seelig in den Jahren bis zu W.s Tod mit ihm führte (Wanderungen mit Robert Walser. St. Gallen 1957. Neuausg. Ffm. 1990), geben Einblick in die nie umnachtete Wachsamkeit, mit der W. seine Zeit kritisch u. ironisch kommentierte. W. starb am Weihnachtstag 1956 auf einem Spaziergang in der Nähe von Herisau. Erst Jahrzehnte nach diesem stillen Tod findet W. ein breiteres Publikum. Der Dachkammerpoet, als der W. sich selbst inszenierte, ist zurück in einer literar. Öffentlichkeit, die ihn schon zu Lebzeiten allmählich vergessen hatte. Aus dem Geheimtipp der Schriftstellergeneration um 1920 (Kafka, Brod, Musil, Benjamin, Hesse) u. einer Identifikationsfigur bes. in der neueren Schweizer Literatur ist ein Autor geworden, der wissenschaftlich intensiv ediert u. diskutiert wird. Seine weltweite Wirkung dokumentieren nun Übersetzungen in über 30 Sprachen. Die Gegenwart entdeckt in W.s Werk eine ungezügelte Spielfreude mit allen sprachl. Mustern u. literar. Gattungen. Seine antiideologische, unvoreingenommene, sinnl. Offenheit zur Welt verdankt sich auch einer permeablen Verwandlungsfähigkeit des Subjekts, das sich alles zum literar. Stoff macht, auch das eigene Leben. Ironisch spricht W. in den »Mikrogrammen« von der »Zerlesenheit meines literarisierenden Charakters«, der »durchlöchert« ist »von Selbsterlebtem«. Der Text wird dabei zur Bühne, auf der sich ein

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Subjekt zeigt, das kein ungeteiltes mehr sein kann. W.s Hauptwerk ist, Konsequenz seiner literar. Verwandlungskünste, das große »zerschnittene oder zertrennte Ich-Buch« seiner kleinen Prosa. In weit über 1000 Prosastücken verwandelt W.s wandernder Blick die Welt in ebenso viele sprachl. Ereignisse. Schon in Fritz Kochers Aufsätze wird aus der pädagog. Zwangsmaske des Schulaufsatzes W.s poetisches Prinzip: Wo das Thema gegeben ist, muss die Sprache gesucht werden. Der dargestellte Inhalt ist bloß der Absprungpunkt zu seiner Darstellung. Aus einer von außen diktierten Norm macht W. den Aufsatz zum Medium eines selbstbestimmten Sich-frei-Schreibens, vom Thema weg statt auf dieses zu. Die dargestellte Freiheit seiner wandernden Außenseiterfiguren, W.s liebster Gegenstand, wird dabei immer mehr zur Freiheit der Darstellung. »Freithema«, eines von Fritz Kochers Aufsatzthemen, ist die verborgene Überschrift über W.s Prosa. Ihre genuine Publikationsform wird bei W. das literar. Feuilleton, dessen Spielregeln er als einer der produktivsten Feuilletonisten seiner Zeit, tätig für deren wichtigste Zeitungen und Zeitschriften, sowohl bedient wie subvertiert. Sich-frei-Schreiben heißt bei W. auch Schön-Schreiben. W.s bestechend schöne Handschrift, die schon den Bankangestellten auszeichnete, verwandelt ihren Gegenstand in die ästhetische Bewegung der Schrift. Besonders in den extrem verkleinerten Schriftzügen der »Mikrogramm«-Entwürfe schafft sich W. im Rücken der Produktions- u. Publikationszwänge des Feuilletonbetriebs einen Freiraum, sein großes, geheimnisvolles »Bleistiftgebiet«. Erst dank der enormen Entzifferungsarbeit der Herausgeber ist dieser Raum eigenster, unerhörter Kreativität u. Experimentierfreude zugänglich geworden. Die Sprache darf sich hier in all ihren Registern austoben: »Was ich für ein vieltöniger Mensch bin, ein wahres Orchester.« Trotzdem schreibt W. sich nicht aus seiner Realität hinaus. Seine schwachen Helden gewinnen im Spiel des Textes eine nicht bloß ästhetische Stärke. Insbesondere seine drei Berliner Romane setzen, gerade durch die

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eigenwillige Perspektive ihrer machtlosen Helden, sozialkrit. Akzente. So bricht am Schluss des Anti-Bildungsromans Jakob von Gunten die Welt der Macht, das Institut Benjamenta, in sich zusammen, während der Held, als eine »Null« gleichzeitig nichts u. vollkommen, in neue Freiheiten aufbricht. Auch im Roman Der Gehülfe geht der Held unbeschadet, ja gestärkt aus dem Zusammenbruch einer dekadenten Ingenieursfamilie hervor. Diese Dialektik von Dienst u. Herrschaft möchten Die Geschwister Tanner in einer geschwisterl. Utopie überwinden; W. setzt hier der Hektik einer wuchernden Moderne die Gemessenheit einer naturverbundenen, ästhetischen Existenz entgegen. Simon Tanner, der Held, sagt von sich am Schluss: »Ich bin nichts als ein Horchender und Wartender, als solcher allerdings vollendet, denn ich habe es gelernt, zu träumen, während ich warte.« Radikaler unterläuft der späte Räuber-Roman alle herrschenden Dogmen. Der »Räuber« ist nicht bloß eine von W.s Außenseiterfiguren, die sich weigert, »sich der bürgerlichen Ordnung anzuschmiegen«. Er ist v. a. eine durch u. durch literar. Rolle. Im Doppelspiel zwischen der »Räuber«-Figur u. dem ihr zum Verwechseln ähnl. »Ich«-Erzähler werden alle Ketten erzählerischer Logik, in die ein Text seine Figuren einbindet, abgestreift. Frech u. konsequent macht sich der Räuber-Roman so unbrauchbar wie seine Hauptfigur. Seine spielerischen Raubzüge, die er in die Wirklichkeit unternimmt, bringen nichts ein, v. a. keine Moral: der RäuberRoman deklariert sich als »ein besonnenes Buch«, »aus dem absolut nicht gelernt werden kann«. In solch provokativem Umgang mit den Erwartungen seines Lesers setzte W. seine literar. Existenz aufs Spiel. Seine späten Texte überforderten den zeitgenössischen u. provozieren den heutigen Leser. Gerade weil sich W. dem realen Publikum immer mehr entfremdete, sucht die Prosa den Dialog mit einem fiktiven Leser, der nur im Text entsteht. Ein mündl. Erzählgestus, der sich ständig ironisch kommentiert, treibt die Texte voran, auch dort, wo ihnen der »Stoff« längst ausgegangen scheint. W. schreckt dabei auch

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nicht davor zurück, sich trivialliterar. Motive ironisch anzuverwandeln, denn »Märchen sind im Leben sowohl wie im Buchhandel ständig gesucht«. Noch ungeschützter als in seiner Prosa setzt sich W. in seiner späten Lyrik der Eigendynamik des sprachl. Gestaltungsprozesses aus. In der ersten lyr. Sammlung Gedichte (Bln. 1909), kongenial illustriert von Karl Walser, waren aus bescheidenen Anlässen u. mit sparsamen, diskret gesetzten sprachl. Mitteln kostbare, aber nie preziöse lyr. Miniaturen entstanden. Der Lyrik der Berner Jahre fehlt der formale Feinschliff. Sie zeigt W.s sprachl. Vitalität im Rohzustand, manchmal lautstark u. ungehobelt polternd, manchmal hintergründig u. intim-leise. W.s späte Lyrik balanciert am Abgrund zwischen sprachl. Trivialität u. sprachloser Trauer: »Ich will mich zwingen, / mir in all der Gestorbenheit ein Leben abzuringen.« Leben entsteht auf dem Papier, in der Bewegung der Texte. Am feinsten lässt sich dies aus W.s dialogischen Texten heraushören. Seine theatral. Grundbegabung wird hier ganz Sprache. Schon früh, in den Dramoletten Aschenbrödel u. Schneewittchen, »einem der tiefsinnigsten Gebilde der neueren Dichtung« (Walter Benjamin), hatte W. die fest gefügten Figurenkonstellationen der klass. Märchendichtungen durch das subtile Verschieben einzelner Sprachgewichte in neue, leise Bewegung gebracht. Sie tritt an die Stelle der verhärteten Moral des Märchenschlusses, tanzt über diesen hinaus, ohne ihn erneut zu harmonisieren. In den dialogischen Texten der »Mikrogramme« treibt W. dieses literar. Spiel weiter. Die ebenso simplen wie hintersinnigen Dialogfragmente suchen das Gegenteil der großen dramat. Konfrontation: Die Figuren »beleben« sich gegenseitig, indem sie einander »ein bisschen bespötteln«. Eine minimale Differenz zwischen den Figuren u. ein leichter Hauch aus dem Mund des Erzählers genügen, um die fragilen Mobiles dieser Kleinkunstwerke in ihre schwebende Bewegung zu versetzen. Diese Beweglichkeit bewahrt W.s Texten Leben u. Aktualität. Die Sicherheit, die sie dem Leser nehmen, geben sie ihm als »Bewegungsfreiheit« wieder zurück. W. schreibt die großen Welt-

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worte in seiner Kleinschrift nach. Im Mikrokosmos seiner Texte geraten ihre Widersprüche ins Tanzen, ihr falscher Ernst verwandelt sich in das krit. Vergnügen des Lesers: »Die Lebenswahrheit droht zwar mit dem Zeigefinger, aber hier siegt Leichtigkeit der Erfindung.« Ausgaben: Das Gesamtwerk. Hg. Jochen Greven. 13 Bde., Genf/Hbg. 1966–75. – Sämtl. Werke in Einzelausg.n. Hg. ders. 20 Bde., Ffm. 1985/86. – Aus dem Bleistiftgebiet. Hg. Bernhard Echte u. Werner Morlang. 6 Bde., Ffm. 1985–2000. – Feuer. Unbekannte Prosa u. Gedichte. Hg. B. Echte. Ffm. 2003. – Krit. Ausg. sämtl. Drucke u. Manuskripte (KWA). Hg. Wolfram Groddeck u. Barbara v. Reibnitz. Basel/Ffm. 2008 ff. Literatur: Bibliografie in: Katharina Kerr (Hg.): Über R. W. 3 Bde., Ffm. 1978. – Fortlaufende Bibliogr.: http://robertwalser.ch. – Biografisches: Robert Mächler: Das Leben R. W.s. Genf/Hbg. 1966. Neuausg. Ffm. 1992. – Catherine Sauvat: R. W. Paris 1989. – Walter Keutel: Röbu, Robertchen, das Walser. Zweiter Tod u. literar. Wiedergeburt v. R. W. Tüb. 1989. – Bernhard Echte u. Andreas Meier (Hg.): Die Brüder Karl u. R. W. Stäfa 1990. – Jochen Greven: R. W. – ein Außenseiter wird zum Klassiker. Konstanz 2003. – B. Echte: R. W. Sein Leben in Bildern u. Texten. Ffm. 2008. – Werner Morlang: R. W. in Bern. Bern 2009. – Weitere Titel: J. Greven: Existenz, Welt u. reines Sein im Werk R. W.s. Köln 1960. Neuausg. Mchn. 2009. – George C. Avery: Inquiry and Testament. Philadelphia 1968. – Dierk Rodewald: R. W.s Prosa. Bad Homburg 1970. – Martin Jürgens: R. W. Die Krise der Darstellbarkeit. Kronberg/Ts. 1973. – Dieter Borchmeyer: Dienst u. Herrschaft. Ein Versuch über R. W. Tüb. 1980. – Karl Wagner: Herr u. Knecht. R. W.s Roman ›Der Gehülfe‹. Wien 1980. – Paolo Chiarini u. Hans Dieter Zimmermann (Hg.): ›Immer dicht vor dem Sturze...‹. Zum Werk v. R. W. Ffm. 1987. – Tamara S. Evans: R. W.s Moderne. Bern/Stgt. 1989. – KlausMichael Hinz u. Thomas Horst (Hg.): R. W. Ffm. 1991 (mit Bibliogr.). – J. Greven: R. W. Figur am Rande, in wechselndem Licht. Ffm. 1992. – Peter Utz (Hg.): Wärmende Fremde. R. W. u. seine Übersetzer im Gespräch. Bern/Ffm. 1994. – Gonçalo Vilas-Boas (Hg.): Simposio R. W. Coimbra 1994. – P. Utz: Tanz auf den Rändern. R. W.s ›Jetztzeitstil‹. Ffm. 1998. – D. Borchmeyer (Hg.): R. W. u. die moderne Poetik. Ffm. 1999. – HeinzLudwig Arnold (Hg.): R. W. Mchn. 42004 (Text + Kritik. H. 12/12a). – Wolfram Groddeck, Reto Sorg, P. Utz u. Karl Wagner (Hg.): R. W.s ›Ferne Nähe‹. Neue Beiträge zur Forsch. Mchn. 2007. – Anna

Walser Fattori u. Margit Gigerl (Hg.): Bildersprache, Klangfiguren. Spielformen der Intermedialität bei R. W. Mchn. 2008. Peter Utz

Walser, Theresia, * 20.11.1967 Friedrichshafen/Bodensee. – Dramatikerin.

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von Motivzitaten auf, z.B. in Die Liste der letzten Dinge (Urauff. München 2006), in dem Helen u. Pia auf dem Scheiterhaufen »die Erde von [sich] entlasten« wollen. Wirtschaftsthemen behandeln Wandernutten (Urauff. Stuttgart 2004), Monsun im April (Urauff. Mannheim 2008) u. Herrenbestatter (Urauff. Mannheim 2009).

Nach ihrem Schulabschluss 1985 an der Waldorfschule Überlingen machte W., TochWeitere Werke: Theaterstücke: Kleine Zweifel. ter von Martin Walser, Schwester von Alissa Urauff. München 1997. – Das Restpaar. Urauff. u. Johanna Walser, von 1986 bis 1987 ein Stuttgart 1997. – Die Heldin von Potsdam. Urauff. Altenpflegepraktikum in Berlin, was auch Berlin 2001. – Die Geierwally. Nach dem gleicheine Grundlage für King Kongs Töchter (Urauff. namigen Roman v. Wilhelmine v. Hillern (zus. mit Zürich 1998) bildet. 1988–1990 studierte sie Karl-Heinz Ott). Urauff. Karlsruhe 2003. – Die ganze Welt (zus. mit K.-H. Ott). Urauff. Mannheim Gesang am Konservatorium Fribourg u. ab2010. – Buchausgaben der Stücke: Kleine Zweifel. Das solvierte 1990–1994 eine Schauspielausbil- Restpaar. Ffm. 1997. – King Kongs Töchter. Ffm. dung an der Hochschule für Musik und 1999. – So wild ist es in unseren Wäldern schon Schauspiel in Bern. Anschließend war sie lange nicht mehr. Ffm. 2000. – Die Heldin von zwei Jahre lang Ensemblemitglied des Jun- Potsdam. Ffm. 2001. – Wandernutten, Die Kriegsgen Theaters Göttingen. Eine Reflexion über berichterstatterin. Ffm. 2005. die Schauspielkunst ist Ein bisschen Ruhe vor Literatur: Carola v. Gradulewski: T. W. In: dem Sturm (Urauff. Mannheim 2006). W. lebt LGL. Toni Bernhart in Freiburg i. Br. Die Bühnenwirklichkeit entfaltet sich in Walter, Hans, * 17.1.1912 Brügg/Kt. Bern, W.s Stücken aus der Sprache, weniger aus der † 24.5.1992 Buchillon/Kt. Waadt. – Erszen. Behauptung einer erfahrungsweltl. zähler, Zeichner. oder sozialen Realität, weshalb Kritik u. Rezeption W. immer wieder als ›Sprachkünst- Nach der Schulzeit in Biel studierte W. an den lerin‹ bezeichnen u. auf ihre Sprachmächtig- Universitäten in München u. Berlin Germakeit hinweisen, die als Gegenentwurf zu ei- nistik u. Kunstgeschichte. Literarisch debünem postmodernen Neo-Realismus zu ver- tierte er mit dem eigenwilligen, außerhalb stehen sei. Sprache ist auch zentrales Thema aller Moden stehenden Erzählband Ein Beim satir. Stück Die Kriegsberichterstatterin schwörer seines Nichts (Bln. 1933). Obwohl er (Urauff. München 2005), das von der Be- sich damit einen Durchbruch zum Erfolg triebsfeier eines linguistischen Forschungs- verbaute, blieb W. auch in seinen späteren instituts erzählt, welches eine Sammlung von Werken der einmal gewählten, bedächtigzwei Milliarden Wörtern hortet. Dialoge formbewussten, am ehesten noch an Herkreisen in W.s Stücken oft um Ahnungen u. mann Lenz erinnernden Erzählweise treu, die Mutmaßungen, die Figurenrede ist anspie- ihre schönste Ausprägung in kürzeren, stimlungsreich, Namen sind sprechend, Zusam- mungsvoll-verspielten Texten wie den Ermenhänge oft nur angedeutet oder offen, so zählungen der Bände Das alte Fräulein (Bern z.B. in Morgen in Katar (Urauff. Kassel 2008), 1942), Kleiner Alltag (St. Gallen 1943), Im Vereinem Konversationsstück im Zug, in dem borgenen (ebd. 1950), Spiegelbilder (Zürich 1956) der Architekt Wüntrop sich »von Deutsch- oder Der blaue Fauteuil (ebd. 1972) fand u. land abgemeldet hat« u. in Katar den Louvre zumeist wehmütig eine untergegangene, bauen wird, oder in So wild ist es in unseren verlorene Welt evoziert. Viel zu wenig BeWäldern schon lange nicht mehr (Urauff. Mün- achtung fand auch W.s gesellschaftskrit. chen 2000), in dem es um Gewalt u. Lust u. Doppelroman Güter dieses Lebens (ebd. 1953) / den Schauder davor geht. Formal fallen in Mitläufer (ebd. 1977), der das gedankenlose W.s Stücken Wiederholungen von Figuren- Mitläufertum als gefährl. Zeitkrankheit entrede u. die oft komödiantische Verwendung larvt. W., der seit 1950 als freischaffender

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Autor u. Künstler in Buchillon/Kt. Waadt lebte, illustrierte viele seiner Bücher mit eigenen Zeichnungen u. setzte sich als Kunsthistoriker auch mit dem Schaffen seines Freundes Hans Gerber auseinander (Hans Gerber, der Mensch und sein Werk. Bern 1982). W.s Nachlass im Schweizerischen Literaturarchiv enthält eine ganz Reihe unveröffentlichter Werke. Charles Linsmayer

Walter, Otto F., * 5.6.1928 Aarau, † 24.9. 1994 Solothurn. – Erzähler, Romanautor, Dramatiker; Verlagsleiter. W., einziger Sohn eines Verlegers, wuchs zusammen mit acht Schwestern (darunter die Schriftstellerin Silja Walter) in Rickenbach/ Kt. Solothurn auf. Er besuchte die Gymnasien in Engelberg, Olten u. Schwyz. W. brach die Schule vorzeitig ab u. hatte nach einer Buchhändlerlehre in Zürich ab 1951 u. einem Druckereivolontariat in Köln 1956–1967 verschiedene Positionen im väterl. Walter Verlag in Olten inne, hauptsächlich als Leiter des literar. Programms, das er mit Schweizer Autoren wie Kurt Marti, Peter Bichsel u. Jörg Steiner zu einem viel beachteten Programm ausbaute. Nach dem Bruch mit der Verlagsleitung wegen der Publikation von Ernst Jandls laut und luise wechselte W. 1967 zum Luchterhand Verlag, wo er bis 1973 das literar. Programm leitete. 1973 kehrte er in die Schweiz zurück u. arbeitete zeitweilig als Berater für den Luchterhand Verlag. Seit 1982 war W. freier Schriftsteller u. lebte in Solothurn. Er war Mitgl. des dt. P.E.N.-Zentrums u. erhielt u. a. 1959 den Charles-Veillon-Preis u. 1980 den Literaturpreis des Südwestfunks. Der starke religiöse Einfluss der kath. Mutter, der autoritäre Vater, der zum Alkoholiker wurde, u. die Juralandschaft, in der W. aufgewachsen ist, haben sein literar. Werk geprägt. Nach kleineren Erzählungen (Einfahrt. In: Neue Zürcher Zeitung, 5.2.1956. Mittags müssen Mädchen schlafen. In: ebd., 23.9.1956) legte W. 1959 mit Der Stumme (Mchn.) seinen ersten, stark beachteten Roman vor. Das Thema der Sprachskepsis verbindet W. mit der Vater-Sohn-Problematik: Der stumme Hilfsarbeiter Ferro findet seine Sprache wieder, als er am Tod des gewalttä-

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tigen Vaters schuldig wird. W. arbeitet den archaisch-ödipalen Konflikt im ständigen Wechsel der Erzählebenen, der äußeren Handlung u. des inneren, verdrängten Geschehens, heraus. Im Roman Herr Tourel (ebd. 1962) dagegen ist die Sprache für den Protagonisten ein Akt der Selbstverteidigung u. Rechtfertigung des unlauteren Charakters u. der kriminellen Machenschaften. Der Roman spielt im fiktiven Schweizer Ort Jammers, am Fuß des Jura, Schauplatz vieler Werke W.s u. Mittelpunkt seines Romans Die ersten Unruhen. Ein Konzept (Reinb. 1972). In collageartig zusammengeschnittenen Erzählpartikeln sucht W. das objektive Bild einer Stadt wiederzugeben. Hinter der Fassade scheint aber ein vielstimmiges »Lebewesen« auf, das durchsetzt ist von Angst u. Gewalttätigkeit u. nicht frei ist von faschistoiden Mechanismen. Unter dem Einfluss der 68er-Bewegung hatte sich W.s polit. Selbstverständnis gewandelt. Sein Engagement in Selbstverwaltungen u. Basisbewegungen schlug sich auch in seinen Romanen nieder, v. a. in Die Verwilderung (ebd. 1977). Die Geschichte zeigt das Gegenspiel zwischen etablierten Bürgern in Jammers u. einer Kooperative junger Leute, die befreit von bürgerl. Zwängen leben. Die Impulse der 68er-Bewegung wirken, unterlegt mit resignativen Tönen, auch im Roman Wie wird Beton zu Gras. Fast eine Liebesgeschichte (ebd. 1979) weiter, der aus der Perspektive einer 18-Jährigen das Lebensgefühl der Jugendlichen spiegelt, die sich einer zubetonierten u. bedrohten Umwelt ausgeliefert sehen. Einen Familien- u. zgl. Zeitroman schrieb W. mit seinem Opus magnum Zeit des Fasans (ebd. 1988), in dem er die Geschichte der Industriellenfamilie Winter in Jammers u. die Schweizer Geschichte der 1930er bis 1950er Jahre übereinanderblendet. W. knüpft damit an Inglins Schweizerspiegel an, erzählt aber gebrochener, reflektierter, problembewusster u. erkundet die Beziehungen der Figuren untereinander – nach den Erfahrungen der modernen Erzähltechnik – mit den Mitteln der Psychoanalyse. Das komplizierte Gebilde aus histor. Dokumenten, Forschungsergebnissen (u. a. von Edgar Bonjour u. Georg Kreis zu General Guisan) u. fiktivem Material, aus Privatem u. Öffentlichem, Ver-

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gangenem u. Gegenwärtigem verknüpft W. trice Sandberg. Bln. 2010, S. 153–169. – Elsbeth zu einem gültigen Zeitbild. Der Held heißt Pulver: O. F. W. In: KLG. Pia Reinacher / Joanna Jabl/kowska Thom Winter, er ist Historiker, der ein Buch über den General Guisan schreibt. Während eines kurzen Besuchs in seinem Familienhaus Walter, Silja, eigentl.: Cécile Walter, Orin Jammers wird Thom mit Fakten aus seiner densname: Hedwig, * 23.4.1919 RickenFamiliegeschichte konfrontiert, die ihn bach bei Olten, † 31.1.2011 Kloster Fahr. zwingen, seine privaten Erinnerungen zu re– Lyrikerin, Prosaautorin, Verfasserin von vidieren u. auch über die Geschichte der Meditationen u. Mysterienspielen. Schweiz neu zu reflektieren. Was in W.s letztem Roman auffällt, ist die Fokussierung W. entstammte einer kath., kinderreichen auf die Schweizer Perspektive, die überra- Familie; ihr Vater war der Verleger Otto schend wenig Empathie für die Probleme Walter u. ihr Bruder der Schriftsteller Otto F. Walter. Sie besuchte das Lehrerinnenseminar Europas im Zweiten Weltkrieg entwickelt. Weitere Werke: Elio oder Eine fröhl. Gesellsch. in Menzingen u. nahm anschließend das Mchn. 1965. Urauff. Zürich 1965 (D.). – Die Katze. Studium der Literatur an der Universität In: Theater heute 8 (1967), H. 10, S. 54–64. Urauff. Freiburg/Schweiz auf. W. engagierte sich für Zürich 1967 (D.). – Das Staunen der Schlafwandler die Arbeit in der kath. Jugendbewegung der am Ende der Nacht. Reinb. 1983. – Gegenwort. Schweiz (Kongregationszentrale Zürich). Aufsätze, Reden, Begegnungen. Hg., mit einer 1948 trat sie in das Benediktinerinnenkloster Nachbemerkung u. einer Bibliogr. vers. v. Giaco Fahr (Unterengstringen bei Zürich) ein, wo Schiesser. Zürich 1988. – Auf der Suche nach der sie seitdem als Schwester Maria Hedwig lebte. Anderen Schweiz. Küsnacht/Zürich 1991. – FolFür ihr Schaffen erhielt sie mehrere Ausgendes: O. F. W. über die Kunst, die Mühe u. das Vergnügen, Bücher zu machen. Hg. Martin Zingg. zeichnungen: den Literaturpreis der Stadt Zürich (1967), den Preis der Schweizerischen Basel 1998. Literatur: Rolf Geißler: Fiktion als ›Spur der Schillerstiftung (1968, 1992), den Kunstpreis Hoffnung‹ – zu O. F. W.s Roman ›Die Verwilde- des Kantons Solothurn (1971) u. den Literarung‹. In: Ders.: Zeigen u. Erkennen. Mchn. 1979, turpreis Kulturstiftung der UBS (1999). Noch in den 1940er Jahren schrieb W. reS. 155–164. – Gerda Zeltner: O. F. W. In: Dies.: Das Ich ohne Gewähr. Gegenwartsautoren aus der ligiöse, für Jugendgruppen, kirchl. LaienSchweiz. Zürich/Ffm. 1980, S. 79–100. – Hermann bühnen gedachte Schauspiele (Dornröschen. Burger: Zur Poetik der Montage bei O. F. W. In: 1945. Das Fenster in der Zelle. 1947. Die Krone Merkur 35 (1981), S. 77–81. – Marc König: Die unserer lieben Frau im Stein. 1947. Das Spiel vom Spiegelung in O. F. W.s Werk. Untersuchung eines jungen Hirten. 1947. Das Wunder. 1947). Ihr Strukturmerkmals des modernen Romans. Bern erstes veröffentlichtes Werk, Die ersten Geu. a. 1991. – Martin Lüdke (Hg.): Der Ort einer dichte (Olten 1944), ein Lyrikband mit vielfaverlorenen Utopie. Essays zum Werk v. O. F. W. Reinb. 1993. – Patrick Heller: ›Ich bin der, der das cher themat. Identität, handelt in gereimten, schreibt‹. Gestaltete Mittelbarkeit in fünf Romanen liedhaft rhythmisierten Versen von Natur, der dt. Schweiz 1988–1993. Hermann Burger, Liebe, Tanz u. Dichtung (»Und Tanz wird ›Brenner‹; Lukas Hartmann, ›Die Seuche‹; Eveline Taumel und Taumel Gedicht«); dem poetiHasler, ›Die Wachsflügelfrau‹; Adolf Muschg, ›Der schen Ich ist die Welt sinnlich, in mitRote Ritter‹; O. F. W., ›Zeit des Fasans‹. Bern u. a. schwingender Heiterkeit gegeben. Ihre wei2002. – Heidi Rehn: O. F. W. In: LGL. – Dorota teren Texte sind stark von monast. Eigenart Sos´ nicka: Den Rhythmus der Zeit einfangen. Er- profiliert. Gemeint sind insbes. die Suche zählexperimente in der Deutschschweizer Gegennach Gott illustrierenden Erzählungen Die wartslit. unter besonderer Berücksichtigung der hereinbrechende Auferstehung (Zürich 1960) u. Werke von O. F. W., Gerold Späth u. Zsuzsanna / Gahse. Würzb. 2008. – Joanna Jablkowska: Zeit- Der Fisch und Bar Abbas (Zürich 1967) sowie Der gesch. als Rekonstruktion einer Familiengesch. Zu Tanz des Gehorsams oder Die Strohmatte (mit O. F. W.s ›Zeit des Fasans‹. In: Familienbilder als Bildern der Autorin. Zürich 1970), ein ProZeitbilder. Erzählte Zeitgesch.(n) bei Schweizer sawerk, in dem die jeweilige Station des Autoren vom 18. Jh. bis zur Gegenwart. Hg. Bea- geistigen Werdegangs einer bei aller

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Schreibautonomie der Klosterregel folgenden Nonne mit einigen Gedichten pointiert wird. Hierzu gehören auch Meditationen u. Mysterienspiele (Hol mich herein. Meditationen in der Messe. Zus. mit Karl Heinz Zeiß. Zürich 1973. Beim Fest des Christus. Zus. mit Ernst Hofmann. Freiburg 1975. 2., veränderte Aufl. u. d. T. Kommt zum Fest! Leutsdorf 1994. Die sieben durchsichtigen Tage. Schöpfungsbericht und Glaubenserfahrung. Zürich/Graz 1985). W. war überdies Autorin zahlreicher liturg. Texte (Kommunionpsalter. Für alle Sonn- und Festtage im Kirchenjahr. Freib. i. Br. 1985. Ich gehe mit Dir. Vom Abendmahl zur Auferstehung – der neue Kreuzweg. Freiburg/Schweiz 1991. Das Wort ist Brot geworden. Kommunionpsalter. Freib. i. Br. 1992) u. Gebete (Mein Gebetbuch. Gebete für Kinder. Frauenfeld 1982. Mein Gebetbuch. Gebete nicht nur für Kinder. Zürich 1988. Meine kleine Weihnachtsbibel. Mit Illustrationen v. Herbert Holzing. Freib. i. Br. 1987. Churer Marienbuch. Zus. mit Stefan Wey. Chur 1988). Abgesehen von religiöser Grundlinie u. didakt. Aussagekraft setzt W. auch in solchen Texten hohe sprachl. Standards. In dieser Schaffensphase war sie bemüht, »das Allerhöchste und Allerbeste, das es gibt: die reine Erkenntnis des Ganzen«, wie es in der Erzählung Der Fisch und Bar Abbas heißt, zu erfassen. Ihre Absicht geht dahin, in schlichtem Wort der Apotheose von Gottes Schöpfung zu entsprechen, »einen Ausdruck für das Absolute zu finden«, wie sich die Schriftstellerin in einem Gespräch mit Otto F. Walter (Eine Insel finden. Gespräch zwischen Otto F. Walter und Silja Walter. Moderiert von Philippe Dätwyler. Zürich 1983) äußert; in der Zeit des Klosterlebens steht sie im Bannkreis der Idealität göttl. Art u. plädiert für deren voraussetzungslose Schau. In der ehrfurchtsvollen Wahrnehmung der Gottheit, der Erfahrung von Mystik u. Gehorsam lässt sie jedoch auch das subjektiv wirksame Moment, das des Wankelmuts, zu Wort kommen; der asketisch-doktrinäre Habitus der Nonne, das Kloster als ein Ort von Isolation u. weltfremdem Verhalten ist nicht Ziel u. Zweck von W.s Darstellungen. Ein Beispiel für diese Position ist ihr einziger, nach moderner Art geschriebener Roman Die Schleuse oder Abteien aus Glas (Zürich 1972) mit

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einer merkwürdigen Protagonistin namens Alle, die, für sämtl. Nonnenklöster stehend, in ihrem Glaubenseifer Zweifel erlebt. In den gleichen Kontext reiht sich gewissermaßen auch das Mysterienspiel Feuerturm (Olten 1987) ein, das eine Kluft zwischen dem idealistischen Sein u. Sinnen des heiligen Klaus von Flüe u. der Umsetzung seiner Ideen in die Lebensrealität verdeutlicht. Ein Sonderrang kommt ebenfalls W.s autobiogr. Schriften zu, in denen die Autorin einmal den äußeren Rhythmus ihrer Lebensgeschichte akzentuiert (Das Kloster am Rande der Stadt. Zürich 1971 – ein Bild des benediktin. Alltags; Der Wolkenbaum. Meine Kindheit im alten Haus. Olten 1991 – eine Darstellung der eigenen Kindheitserinnerungen), ein andermal ihren kontemplativ-geistigen Wandel in den Mittelpunkt der Darstellung rückt (Das dreifarbene Meer. Meine Heilsgeschichte. Freiburg/Schweiz 2009). Weitere Werke: Gesammelte Spiele. Zürich 1963. – Das S. W. Weihnachtsbuch. Erzählungen, Spiele, Meditationen, Gedichte. Hg. Roswitha Plancherel-Walter. Olten 1989. – Voll singenden Feuers. Eine Ausw. aus ihren Werken. Zusammengestellt u. eingel. v. Elisabeth Antkowiak. Lpz. 1990. – Die Fähre legt sich hin am Strand. Ein Lesebuch. Hg. Klara Obermüller. Zürich/Hbg. 1999. – Gesamtausg. in 10 Bdn. Hg. Ulrike Wolitz. Freiburg 1999–2006. – Ich habe meine Insel gefunden. Geheimnis im Alltag. Freiburg/Schweiz 2006. – Er pflückte sie vom Lebensbaum. Ein benediktin. Tagebuch. Freiburg/Schweiz 2008. Literatur: Vreni Profos: Die Berufung zum monast. u. im monast. Leben im Werk v. S. W. Zürich 1974. – Jörg Heufer: Das Vaterbild als Kennzeichen literar. Weltdeutung. Köln 1975. – Toni Kramer: Der Mensch zwischen Individuum u. Kollektiv. Das Menschenbild im Werk S. W.s. Bonn 1977. – Max Röthlisberger: S. W.s Zeugnis. Bonn 1977. – Felix Hürlimann: Der Exodus in die Sonnenhochzeit oder Der metaphys. Prozess im Schaffen S. W.s. Genf 1979. – Andrea Köhler: ›dann springt auch der Gips über die Welt‹. Nonne u. Schriftstellerin: S. W. In: Allmende 28/29 (1990), S. 82–90. – Ulrike Wolitz: Der neue Mensch. Theolog. Grundlinien im Werk S. W.s. Freiburg/ Schweiz 1998. – Klara Obermüller: ›Es ruft über den Fluss ...‹. Nachw. In: S. W.: Die Fähre legt sich hin am Strand. Ein Lesebuch. Zürich/Hbg. 1999, S. 221–230. – Simon Peng-Keller (Hg.): Aufbruchsfreude u. Geistesgegenwart. Gestalten einer

Walters

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erneuerten christl. Spiritualität. Zürich 2007. – Eve Pormeister: Grenzgängerinnen. Gertrud Leutenegger u. die schreibende Nonne S. W. aus der Schweiz. Bln. 2010. Zygmunt Mielczarek

südosteurop. Gesch., Lit. u. Politik 19 (1998), S. 42–48. Christian Schwarz / Red.

Nach seiner Ausweisung aus der CˇSR kam W. 1946 nach Hessen, bald darauf nach Bayern, wo er das Realgymnasium in Schwabach absolvierte. Er studierte Germanistik, Anglistik u. Geschichte u. war anschließend Gymnasiallehrer in Bamberg u. Passau. Als Lyriker benutzte W. zum Teil Formen der klass. Moderne, zum Teil übte er in Anlehnung an Rühmkorf, Enzensberger u. Fried, wenngleich in sprachlich konventionellerer Form, Gesellschaftskritik als Sprachkritik (Kerbzeichen. Mchn. 1967), die auch seine Aphorismen (Wer abseits steht, wird zurückgepfiffen. Landshut 1973. Zungenschläge. Passau 1979. Wenn die Wörter Kopfstand machen. Ebd. 1981) kennzeichnet. In seinen Erzählungen Boschenkas große Reise (Heilbr. 1964) u. den Geschichten Mehr Respekt vor Radobschan (Ffm. 1972) thematisierte W. in einfacher Sprache Heimatverlust, wobei er seine Darstellung als Trauerarbeit u. als Beitrag zur Aussöhnung zwischen Deutschen u. Tschechen verstand.

Mehr als ein Dutzend Hinweise auf verlorene Handschriften eines W. finden sich in mittelalterl. Bibliothekskatalogen Flanderns, des Rheinlands, Lothringens, Frankreichs, Bayerns, Österreichs u. der Schweiz. Es ist nicht sicher, ob alle diese Hinweise auf das vorliegende Epos zu beziehen sind. Eine ähnl. geografische Streuung weisen die ein Dutzend zählenden erhaltenen Handschriften u. Fragmente auf, die seit dem 11., vielleicht sogar seit dem 10. Jh. einsetzen. Das Epos besteht aus 1456 (1455?) teilweise leoninisch gereimten Hexametern u. ist durch größere Initialen in Erzähleinheiten ungleicher Länge gegliedert, wobei die Handschriften nicht einheitlich verfahren. Nach einer Einleitung mit Lob auf die Hunnen wird von Attilas Zug nach Westen berichtet. Aus Furcht zahlen der fränk., burgundische u. aquitan. Herrscher vorweg Tribut u. stellen Geiseln: Gibicho, dessen Sohn Guntharius (Gunther) noch Kind ist, stellt Hagano (Hagen), Heiricus seine Tochter Hiltgund u. Alphere seinen mit Hiltgund verlobten Sohn Waltharius (Walther). Am Hof Attilas leben die Geiseln in Ehren, Hagen u. Walther machen Karriere als Krieger, Hiltgund erhält von der Königin Ospirin die Aufsicht über das Schatzhaus. Gunther kündigt nach dem Tod seines Vaters den Vertrag mit den Hunnen, was Hagen zur Flucht veranlasst. Das hunn. Herrscherpaar will Walther mittels Heirat im Lande halten. Er umgeht dies u. bereitet nach siegreicher Rückkehr aus einer Schlacht die Flucht vor. Ein Gelage macht die Hunnen trunken, dem Paar, mit Schätzen beladen, gelingt die Flucht. Ein Fährmann bringt es bei Worms über den Rhein u. erhält Fische statt Gold als Lohn. Die fremden Fische, in König Gunthers Küche gelangt, erregen Aufmerksamkeit. Der Fährmann berichtet u. erwähnt die Schätze, die das Paar, das inzwischen den Vogesen zueilt,

Waltharius, auch: Waltharius Manufortis, Waltherepos, Waltharilied. – MittelWalters, Hellmut, * 9.1.1930 Ober-Sekelateinisches Epos bzw. Epyllion des ran bei Pilsen, † 8.6.1985 Passau. – Er9./10. Jh. zähler, Lyriker, Aphoristiker, Essayist.

Weitere Werke: Grenzen der Utopie. Die Bedingungen des utop. Romans dargelegt an Franz Werfels ›Stern der Ungeborenen‹. Diss. Erlangen 1958. – Wind im Sieb. Freising 1964 (L.). – Pulsschläge. Regensb. 1965 (E.en). – Plädoyer für Wechselrahmen. Ebd. 1966 (R.). – Der Mann ohne Ausweis. Die Aufzeichnungen des Staatsanwalts Petroff in Sachen eines angebl. Jesus. Ffm. 1969. – So ein kleines Paradies. Heitere Gesch.n. Heilbr. 1972. – Farben u. Fraktur. Mchn. 1973 (L.). – Erzählungen aus Böhmen. 2 Bde., Passau 1979 u. 1980. – Dammbruch. Mchn. 1979 (R.). – In den Mauern deiner Zeit, Jerusalem oder kein starkes Stück. Landshut 1981 (E.). – Behelfsheime. Passau 1983 (L.). – Das wiederhergestellte Unglück. Landshut 1984. Literatur: Thomas Krause: Flucht u. Vertreibung aus den böhm. Ländern. Zur Bedeutung literar. Images in ausgew. Texten v. Josef Mühlberger, Ilse Tielsch u. H. W. In: Halbjahresschr. für

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mit sich führt. Hagen vermutet, dass es sich um seinen Freund Walther handele, Gunther, der Ansprüche auf die Schätze anmeldet, will den Flüchtigen nachreiten u. sie ihnen wegnehmen. Hagen rät ab, begleitet aber als Gunthers Vasall mit elf Kriegern den König. Es kommt zum Kampf, Hagen weigert sich zunächst, gegen den Freund anzutreten. Walther tötet im Einzelkampf alle elf Krieger, darunter Hagens Neffen. Hagen u. Gunther versöhnen sich, ziehen sich zurück, stellen am folgenden Tag Walther auf offenem Feld u. greifen ihn gleichzeitig an. Gunther verliert dabei ein Bein, Hagen sechs Backenzähne u. ein Auge, Walther die rechte Hand. Hiltgund versorgt die Verletzten u. serviert Wein, während Hagen u. Walther sarkast. Scherze über ihre Verletzungen machen. Walther setzt die Reise nach Aquitanien fort, heiratet u. herrscht glücklich 30 Jahre. Die Werkbezeichnung Waltharii poesis im Schlussvers weist auf ein größeres episches Werk hin – für Verfasserfrage, Gesamtdeutung u. literarhistor. Einordnung folgenreich. Ekkehard IV. (um 980–1060) von St. Gallen erwähnt in seiner Klostergeschichte (Casus Sancti Galli) im Kapitel 80 eine vita Waltharii manufortis, die Ekkehard I. (um 910–973) verfasst habe. Er selbst habe auf Anordnung des Mainzer Bischofs Aribo dieses Jugendwerk seines Vorgängers sprachlich überarbeitet. Der Terminus »vita« macht die Identifizierung dieses Werks mit dem vorliegenden Epos, dessen hohes Niveau kaum Ansatzpunkte für eine mögl. sprachl. Überarbeitung erkennen lässt, unwahrscheinlich. In den wichtigsten Handschriften ist eine Widmung aus 22 Hexametern vorangestellt, in der ein Geraldus das Epos einem Erzbischof Erchambald zur vergnügl. Lektüre empfiehlt. Der Hinweis in den Handschriften »incipit poesis Geraldi de Gualterio« könnte Geraldus auch als Dichter des Epos ausweisen. Ist er wirklich der Verfasser, so wäre in ihm ein bedeutender St. Galler Mönch u. Schulmann zu sehen, über den Ekkehard IV. an anderer Stelle berichtet. Das Epos wäre dann im 10. Jh. entstanden; der Empfänger des Exemplars könnte in jedem Fall der literaturfreudige u. selbst dichtende Straßburger Erzbischof Erchambald († 991) sein, der die

Waltharius

Erweiterung seiner Bibliothek betrieb. Gedichtet wurde das Epos für die lateinkundigen »fratres«. Der Stoff aber lag in volkssprachl., mündlich überlieferten epischen Kurzliedern u. Sagen vor, in denen freilich die Walthersage nur relativ schmal belegt ist: zwei altengl. Fragmente, zusammen etwa 60 Langverse; zwei oberdt. Fragmente (Graz, Wien), etwa 39 schlecht überlieferte Nibelungenstrophen umfassend, die auf ein mhd. Waltherepos schließen lassen; in dem aus dem Österreichischen stammenden Epos Biterolf und Dietleib taucht Walther auf; Anspielungen auf ihn finden sich auch sonst in der Dietrichsepik. Im Nordischen fehlen primäre Spuren der Walthersage, wenn man von einer mögl. Parallele zum Kampf zweier Freunde in der Laxdoelasaga absieht; hier der Kampf Walthers gegen Hagen, dort Kjartans gegen Bolli. Im Gegensatz zu anderen german. Sagen hat aber die Walthersage im lat. Schrifttum kräftige Spuren hinterlassen. In dem um 1023 entstandenen Lehrbuch Fecunda ratis spielt Egbert von Lüttich auf die Hosenepisode der Waltherlegende an. Die Chronik des oberital. Klosters Novalese (11. Jh.) erzählt ausführlich vom mönchischen Leben des ehemaligen Kriegers Walther, geht auch auf dessen martial. Vorgeschichte ein u. schöpft dabei aus dem lat. W. Das moniage-Thema stellt die Verbindung zum fränk. Südwesten u. den Chansons de geste her, ist doch das histor. Vorbild für den Krieger-Mönch in Wilhelm von Aquitanien († 812) zu sehen. Wahrscheinlich ist der bedeutende Krieger Gualter del Hum des altfrz. Rolandslieds mit Waltharius identisch. Dazu kommt noch eine poln. Chronik des 14. Jh. Der W. reiht sich ein die frühmittelalterl. literar. Bemühungen um das Heroische, sei es altes Erbe aus Sagen oder histor. Aktualität. Im Angelsächsischen geschah dies auf relativ problemlose Weise, sowohl was alte Sagen betrifft – im Beowulf oder im Finnsburgfragment – als auch Aktuelles, wie in der Battle of Brunanburh u. in der Battle of Maldon. Im galloromanisch-fränk. Raum gestalteten sich diese Bemühungen ungleich komplexer. In den 68 Langverszeilen des Hildebrandliedes aus dem Beginn des 9. Jh. geht es um den Versuch

Waltharius

einer Auseinandersetzung mit Sagenerbe aus der Dietrichtradition, im Ludwigslied um eine zeitgenöss. Reaktion auf eine Schlacht aus dem Jahr 881, worin in 120 endgereimten Kurzversen total heilsgeschichtlich vereinnahmtes Geschehen dargestellt wird. Und dann entstand in diesem Raum das umfangreiche lat. Hexameterepos W. Der Verfasser, ein Mönch, wendet sich an seine »fratres« mit einem Werk, das von german. Sagengestalten handelt. Jahrzehnte früher hatte sich der Mönch Alkuin an die Mönche des Klosters Lindisfarn gewandt u. sie getadelt, weil sie dem Vortrag des Heldenliedes über einen gewissen Ingeld zu lauschen pflegten. Der W.-Dichter hatte seinen »fratres« etwas Anderes zu bieten. Als gebildeter Literat griff er mittels konsequent eingesetzter Cento-Technik u. gravierenden Umdeutungen in die alten Sagen ein u. entzog ihnen die Grundlage. Im kollektiven Bewusstein konnten sie dadurch nicht ausgelöscht werden, doch erhielten sie einen völlig anderen Stellenwert, was ihnen offenbar den Weg ins Hochliterarische erschwert haben dürfte; dies sollte sich erst im 12. Jh. ändern. Die altröm. u. die frühchristl. Literatur bot sich dem belesenen Autor gleichsam als riesiges poetisches Ersatzteillager dar, aus dem man beliebig passende Verse entnehmen konnte. Mit diesem bloß dichtungstechn. Aspekt musste es aber nicht sein Bewenden haben. Geschickt platzierte Zitate konnten neue Perspektiven eröffnen. Der W.-Dichter machte reichlich Gebrauch davon u. ließ konsequent die alten Sagen in neuem Licht erscheinen. Dass der Autor sich die Mühe machte, fast 1500 wohl stilisierte Hexameter auf diesen Erzählstoff zu verwenden, bezeugt dessen Beliebtheit. Wie auch die beiden altengl. Waldere-Fragmente bezeugen, muss es eine Walthersage gegeben haben. Im Gegensatz zu den Einsätzen heldenepischer Dichtungen wie »ik gihorta dat seggen« oder vergleichbaren Eingängen im Beowulf oder den eddischen Liedern setzt der W. einen präzisen geografischen, histor. u. völkerkundl. Akzent u. distanziert sich damit von der Unbestimmtheit der alten Sagen. Im Nibelungenlied wird dann der ungleich präzisere Raumbezug einen wesentl. Beitrag dazu

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leisten, dass aus den alten Sagen das große Epos werden konnte. Was im W. dagegen auf diese präzise Fixierung folgt, macht die alten Sagen zum literar. Spielmaterial u. greift somit radikal in deren Substanz ein. Dass dies in einem umfassenderen epischen Rahmen geschah, lässt darauf schließen, dass der Dichter ahnte, es mit einem Erzählmaterial zu tun zu haben, dem seriöse epische Potenz innewohnte. Dem setzte er seine Version entgegen u. legte die Messlatte ganz hoch an mittels eines variierten Zitats aus dem 6. Buch von Vergils Aeneis, dem Epos schlechthin, stellte damit die alten Überlieferungen auf den Kopf u. weckte so Erwartungen. So erscheinen die Hunnen, angeführt von Attila, als non plus ultra an Macht, was der Dichter auch noch durch ein besonderes Zitat aus der Aeneis unterstreicht. So heißt es von ihnen: »foedera supplicibus donans sternensque rebelles« (v. 9) u. teilt ihnen eine über tausendjährige Herrschaft zu. Wie man schon lange bemerkt hat, geht es dabei um die Inanspruchnahme der verheißungsvollen Aufforderung des Anchises an seinen Sohn: »tu, regere imperio populos Romane memento [...] parcere subjectis et debellare superbos«. Was werden sich die »fratres« wohl gedacht haben bei dieser Deutung der Gottesgeißel, wo überdies Süddeutschland unter den Einfällen der Magyaren zu leiden hatte? Wenig später erfährt man, dass die Macht dieses übrigens gutmütigen Attila an der Kampfkraft Walthers hängt, u. schließlich hält sich dieser nun als ohnmächtig geschilderte Attila nach dem Riesenbesäufnis mit beiden Händen den brummenden Schädel, u. das Getümmel in seinen Eingeweiden kontrastiert mit der amica silentia des flüchtigen Walther u. seiner Begleiterin. Einen weiteren entscheidenden Eingriff in die Sagentradition leistete sich der Autor mit seiner penetranten Herabsetzung der Franken, festgemacht v. a. an König Gunther. Nun ist es eine Konstante in der Sagenentwicklung, dass Gunther als Burgunder figuriert, angefangen bei Prosper Aquitanus im 5. Jh.; die nordischen Quellen folgen bis hin zum Nibelungenlied, wo er zwar seine Schwächen zeigt, im Schlusskampf aber durchaus seinen Mann stellt. Im W. dagegen erscheint schon

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sein Vater als »rex pavidus«, was sich in seinem Sohn Gunther gesteigert fortsetzt: »rex infelix«, »demens«, »superbus«, »miser« u. »caecus« u. nicht nur das. Während er im nordischen Atlilied, das hier als treuer Zeuge der Überlieferung gelten kann, die heroische Hortverweigerung mit dem Leben bezahlt, ist er im Waltherepos der Goldgierige, der dann als Beinamputierter den Kampfplatz verlassen muss. Wie verhält sich das zum Karls- u. Frankenbild des Aachener Karlsepos, den Versen des Ermoldus Nigellus, zu Otfrids Evangelienbuch, zum Ludwigslied u. zu den sich konstituierenden Chansons de geste u. zu der trojanischen Herkunft der Franken, die für Hagen beansprucht wird (v. 28)? In der Schilderung der zwölf Einzelkämpfe entfaltet sich dann die Variationskunst des Dichters in voller Breite. Ausgangspunkt ist die alte Hortfrage u. heroische Hortverweigerung, Glanzstück des Alten Atliliedes u. noch im Nibelungenepos Höhepunkt u. markanter Doppelpunkt am Schluss, worin aber der Hort dem Schwert Sigfrids Platz machen muss. Im W. steht die Hortfrage unter dem moralischen Zeichen des Lasters der »avaricia« (v. 858), u. die Kampfschilderung öffnet hin zur Psychomachia des Prudentius. Der Dichter meidet jedoch ein schemat. Abhandeln der Laster, vielmehr unterscheidet sich jeder Kampf vom andern; besonders variationsreich ist die Schilderung der Wunden, die Walther seinen Gegnern zufügt. Der Dichter kann dabei ausgiebig auf die röm. Epik zurückgreifen. Die german. Überlieferung kennt dieses detaillierte Beschreiben der Wunden nicht, was auch noch für das Nibelungenlied gilt, anders die Chansons de geste, die da in der altröm. Tradition stehen. Eine zentrale Rolle spielt am Schluss der Dichtung die Vasallenthematik – nicht Teil der alten Sagen, wohl aber in Verbindung mit den sich konstituierenden Chansons de geste u. dann nicht minder dominant im Nibelungenlied. Der Autor scheute sich auch nicht, groteske Akzente in seinen Kampfschilderungen zu setzen, so im Versuch der Angreifer, mittels eines an einem Seil befestigten Dreizacks, der im Schild Walthers steckenbleibt, ihn niederzuwerfen. Selbst König Gunther beteiligt sich an diesem seltsamen Spektakel, das die

Waltharius

Angreifer aber nur maßlos ins Schwitzen bringt. Dass Walther durch einen feindl. Schwertstreich einige Haarlocken einbüßt, bringt das komische Thema der Kahlköpfigkeit ins Spiel. Das weist voraus auf das burleske Ende, wo dann die Gliedmaßen herumliegen, Hagens Auge in spätantiker epischer Manier noch im Sande blinzelt u. die ehemaligen Kämpfer ihre Witze reißen. Die Abwertung des Frankenkönigs setzt sich auch darin fort. Mit dieser abschließenden Sicht auf die Wunden der Beteiligten spielt der Verfasser das spätrömisch-manieristische Wühlen in grässl. Details – man denke an Lukian – ins Heitere hinüber u. erhärtet damit seine literar. Selbstständigkeit. Ausgaben: Waltharii Poesis. Hg. Hermann Althof. Tl. 1, Lpz. 1899. Tl. 2, 1905 (Komm.). – W. Hg. Karl Strecker. Dt. Übers. Peter Vossen. Bln. 1947. – W. Hg. K. Strecker. In: Die lat. Dichter des dt. MA. Bd. 6, Tl. 1, Weimar 1951, S. 185 (= MGH Poetae Latini 6,1). – Prolog des Geraldus zum W. In: ebd. Bd. 5, Bln. 1970, S. 405–408 (= MGH Poetae Latini 5). – W. übers. u. hg. v. Gregor Vogt-Spira mit einem Anhang ›Waldere‹ übers. v. Ursula Schaefer. Stgt. 1994. Literatur: Waldere. Testo e commento a cura di Ute Schwab. Messina 1967. – Emil Ploss (Hg.): W. u. Walthersage. Eine Dokumentation der Forschungen. Hildesh. 1969. – Karl Langosch: W. Die Dichtung u. die Forschung. Darmst. 1973. – Alois Wolf: Mittelalterl. Heldensagen zwischen Vergil, Prudentius u. raffinierter Klosterlit. Beobachtungen zum ›W.‹. In: Sprachkunst 7 (1976), S. 180–212. – Peter Dronke: W. – Gaiferos. In: Barbara et antiquissima carmina. Barcelona 1977, S. 29–79. – Alf Önnerfors: Die Verfasserschaft des W.-Epos aus sprachl. Sicht. Opladen 1979. – Dennis M. Kratz: Mocking Epic: W., Alexandreis and the Problem of Christian Heroism. Madrid 1980. – Rudolf Schieffer: Zu neuen Thesen über den ›W.‹. In: Dt. Archiv für Erforsch. des MA 36 (1980), S. 193–201. – Dieter Schaller: Ist der ›W.‹ frühkarolingisch? In: Mlat. Jb. 18 (1983), S. 63–84. – P. Dronke: W. and the ›vita Waltherii‹. In: PBB 106 (1984), S. 390–402. – Walter Berschin: Erkanbald v. Straßburg (965–991). In: Ztschr. für die Gesch. des Oberrheins 143 (1986), S. 1–20. – Mlat. Jb. 21, 1986 (enthält acht Aufsätze zum W.). – Franz Brunhölzl: Was ist der W.? Mchn. 1988 (Als Kuriosum der Forschung sei vermerkt, dass Brunhölzl im W. die »stümperhafte Übersetzung eines gotischen oder althochdeutschen Epos« sehen möchte!). – A. Önnerfors: Das W.-Epos. Probleme u. Hypothesen.

Walther von Klingen Lund 1988. – A. Wolf: Volkssprachl. Heldensagen u. lat. Mönchskultur. Grundsätzl. Überlegungen zum ›W.‹. In: Geistesleben am Bodensee im frühen MA. Freib. i. Br. 1989, S. 157–183. – Edoardo d’Angelo: Indagini sulla tecnica nell’essametro del W. Catania 1992. – Paul Klopsch: W. In: VL. – Victor Millet: German. Heldendichtung im MA. Bln. 2008, S. 105–121. Alois Wolf

Walther von Klingen, * um 1220, † 1.3. 1284 Basel. – Schweizer Minnesänger.

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einer Reihe von Urkunden zusammen mit W. bezeugten Personen, die bekannte Dichternamen tragen, mit den Minnesängern Ulrich von Winterstetten, Bruno von Hornberg, Heinrich von Tettingen u. Steinmar gesichert (vgl. Peters u. Schiendorfer 2003), noch lassen sich eindeutige stilistisch-themat. Bezüge zwischen den betroffenen Sängern erkennen, die über allg. Tendenzen im 13. Jh. hinausgehen. Ausgabe: Max Schiendorfer (Hg.): Die Schweizer Minnesänger. Bd. 1: Texte. Tüb. 1990, S. 34–42. Literatur: Karl Bartsch (Hg.): Die Schweizer Minnesänger. Frauenfeld 1886. Nachdr. Frauenfeld/Darmstadt 1964, S. LXXIX–LXXXVII. – Manfred Brauneck: Die Lieder Konrads v. Würzburg. Diss. Mchn. 1964, S. 59–63. – Thomas Cramer: Minnesang in der Stadt. In: Lit. – Publikum – histor. Kontext. Hg. Gert Kaiser. Bern u. a. 1977, S. 91–108. – Ursula Peters: Lit. in der Stadt. Tüb. 1983, S. 97–114, passim. – Manfred Eikelmann: Denkformen im Minnesang. Ebd. 1988 (Register). – Nico G. W. Unlandt: Influences romanes dans le minnesang allemand du treizième siècle tardif. In: ABäG 30 (1990), S. 71–75. – Barbara Weber: ŒuvreZusammensetzungen bei den Minnesängern des 13. Jh. Göpp. 1995 (Register S. 382). – Max Schiendorfer: W. v. K. In: VL. – Ders.: W. v. K.: Vorsitzender eines Basler Sängerkreises? Eine regionalgeschichtl. Fallstudie. In: ZfdPh 122 (2003), Sonderheft, S. 203–229. Claudia Händl

Man identifiziert den Sänger, unter dessen Namen die Große Heidelberger Liederhandschrift (C) acht Minnelieder (32 Strophen) überliefert, mit einem um 1220 geborenen Angehörigen des Thurgauer Freiherrengeschlechts von Altenklingen, Walther III. Dieser W., ein enger Vertrauter Rudolfs I. von Habsburg, ist in späteren Jahren als Stadtbürger zunächst in Straßburg u. dann in Basel belegt, wo er am 1.3.1284 starb. W.s konventionelle Klage-, Werbe- u. Preislieder – Lied 2–5 mit Natureingang – knüpfen formal u. thematisch an den traditionellen hohen Minnesang an. Die stollig gebauten Strophen sind durchweg dreiteilig angelegt; außer in 2, 6 u. 7 werden die Stollenreime im Abgesang wieder aufgenommen. Während in 1, 2, 3, 4 u. 6 die Fiktion einer individuellen Partnerin aufgebaut wird, in deren Dienst der Liebende steht, enthalten 5, Walther von Rheinau. – Verfasser eines 7 u. 8 allg. Frauenpreis. Marienlebens, letztes Viertel des 13. Jh. Die Anklänge v. a. an die Lieddichtung Gottfrieds von Neifen u. Ulrichs von Singen- W. nennt seinen Namen am Schluss seines berg brauchen nicht unbedingt auf persönl. Werks u. sagt von sich, dass er ein aus Kontakte zurückzugehen: v. a. Gottfrieds Bremgarten/Nordschweiz gebürtiger BerufsLieder nehmen früh stilistischen Vorbildcha- schreiber sei. Er ist wohl identisch mit einem rakter an. Auf – vielleicht indirekten – ro- gleichnamigen Zeugen in einer Schaffhaumanischen Einfluss weist Lied 4, das formal sener Urkunde von 1278. Auch sein Reimgeeinem Lied Conons de Béthune entspricht. brauch u. Wortschatz sind von alemann. BeViele Einzelzüge der Dichtung W.s fügen sich sonderheiten geprägt. in die der späten Minnelyrik eigene Tendenz W.s Werk (16.264 Reimpaarverse) umfasst zum Objektiv-Formelhaften. W.s adelig- den vollständigen Zyklus des Lebens der dilettierende Minnelieder sind, selbst wenn Gottesmutter, der mit der Geschichte ihrer sie, was eher unwahrscheinlich ist, in Straß- Eltern Joachim u. Anna, ihrer Geburt, Kindburg oder Basel entstanden sein sollten, kein heit u. Jugend beginnt; nach der Vermählung Zeugnis eines spezifisch städt. Literaturbe- mit Joseph bestimmen Geburt, Kindheit u. triebs. Problematisch bleibt der Versuch, ei- Jugend Jesu, dann sein öffentl. Wirken u. die nen literar. Kreis um W. zu konstruieren: Passion das Leben Marias; den Schlussteil des Weder ist die histor. Identifizierung der in Zyklus, in dem Maria wieder im Mittelpunkt

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steht, bildet der Bericht von ihrem Tod u. ihrer Himmelfahrt. Seiner Quelle, der Vita beatae Virginis Mariae et Salvatoris rhythmica, folgt W. so genau wie möglich. Er lässt wohl die Prosavorrede der Vita aus, behält aber ihre Einteilung in vier Bücher bei u. übernimmt ohne Umstellungen oder Kürzungen die manchmal nur aus wenigen Versen bestehenden Kapitel der Vita mitsamt ihren Überschriften. Die für die Vita charakteristischen gelehrten Glossen hat W. aber kaum benutzt. – W.s Stil ist wohl geprägt durch die Werke der höf. Epik, v. a. Konrads von Würzburg, sein Versbau ist allerdings nicht mehr streng geregelt, u. seine Reime weisen viele nur im Alemannischen seiner Zeit mögl. Formen auf. Die vier erhaltenen Handschriften u. Fragmente (alle 14. Jh.) stammen aus dem Südwesten; das Werk W.s scheint daher nur eine regional auf das Alemannische begrenzte Verbreitung gefunden zu haben. Gewirkt hat es auf die knapp 100 Jahre jüngere Bearbeitung derselben lat. Quelle durch seinen Landsmann Wernher den Schweizer. Ausgabe: Das Marienleben W.s v. R. Hg. Edit Perjus. Åbo 1949. Literatur: Adolf Hauffen: W. v. R., seine lat. Quelle u. sein dt. Vorbild. In: ZfdA 32 (1888), S. 337–373. – Max Päpke: Das Marienleben des Schweizers Wernher. Mit Nachträgen zu Vögtlins Ausg. der Vita Marie Rhythmica. Bln. 1913, S. 43–47. – Achim Masser: Bibel, Apokryphen u. Legenden. Geburt u. Kindheit Jesu in der religiösen Epik des MA. Ebd. 1969, S. 58–69. – Kurt Gärtner: W. v. R. In: VL. – Werner J. Hoffmann: W. v. R. In: Marienlexikon. Hg. Remigius Bäumer u. Leo Scheffczyk. Bd. 6, St. Ottilien 1994, S. 689 f. Kurt Gärtner

Walther von Speyer, * 967. – Verfasser einer Christophorusvita. Die von W. – 983 Subdiakonus am Dom zu Speyer u. vielleicht mit dem dortigen gleichnamigen Bischof (Regierungszeit 1004–1027) identisch – verfasste Vita et passio S. Christophori besteht in der ältesten Überlieferung aus einem Widmungsbrief in Prosa an drei Salzburger Kleriker, denen W. das Werk auf ihre Bitte hin übersendet, aus einem Versprolog (33 Hexameter) an W.s Lehrer, Bischof Bal-

Walther von Speyer

derich von Speyer (970–986), aus einer Verspräfatio an den Leser (122 Hexameter), aus den sechs Büchern der Verslegende (insg. 1546 Hexameter), aus einem Prosabrief an eine Quedlinburger Nonne Hazecha, einem Prosaprolog zur Prosafassung des Werks u. schließlich aus dieser selbst; zwei Balderich huldigende kleine Versgaben bilden den Beschluss. Das erste, als Libellus de studio poetae qui et Scolasticus betitelte Buch der Versfassung (251 Verse) ist von besonderem bildungsgeschichtl. Interesse, da es den Bildungsgang an der Domschule in Speyer zu W.s Zeit nachzeichnet. Leider ist es in einem äußerst schwülstigen, teilweise kaum verständl. Latein geschrieben. W. kam siebenjährig an die von dem in St. Gallen erzogenen Bischof Balderich geleitete Schule. Die ersten Schuljahre dienten der Unterweisung im Lesen u. Schreiben, im Psalter u. im liturg. Gesang. Es folgten vier Jahre Grammatikstudium, das v. a. in einem umfangreichen Lektürepensum der klass. u. nachklass. lat. Dichter bestand. Von den christl. Dichtern ist hier auffallenderweise kaum die Rede. In nur noch zwei Jahren wurde W. in der Rhetorik, der Dialektik u. den mathemat. Fächern des Quadriviums unterwiesen. Doch bezeichnet er selbst sein Studium als verkürzt. Vergleiche mit anderen Schulen lehren, dass ein etwa elf- bis zwölfjähriges Pensum normal war. Unmittelbar im Anschluss an seine Schulausbildung erhielt W. 981 von Balderich den Auftrag, den Christophorusstoff im Stil Ciceros u. Vergils in Vers u. Prosa zu gestalten. Der Dom zu Speyer besaß seit Längerem durch Vermittlung Erzbischof Brunos von Köln († 965) Reliquien des Heiligen. Nur wenige Vorläufer von W.s Bearbeitung der Legende lassen sich nachweisen. Doppelte Bearbeitungen geistl. Themen in Vers u. Prosa als »opera geminata« gibt es im FrühMA auch sonst nicht selten. Nach drei Jahren (983) legte W. das fertige Werk Balderich zur Kritik u. Verbesserung vor u. erhielt es mit Korrekturen u. Erläuterungen zurück. Schon vor längerer Zeit hatte Balderich den Auftrag zur Bearbeitung der Christophoruslegende bereits an die Quedlinburger Nonne Hazecha vergeben, deren Werk jedoch verlorenging.

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W. teilt Hazecha in dem erwähnten Brief mit, dass er seine von Balderich betreute Neubearbeitung für sie in Verwahrung halte. All diese Nachrichten über W. u. sein Werk sind in den genannten Widmungszuschriften erhalten oder lassen sich aus ihnen erschließen. Obwohl aus den Briefen W.s an Hazecha u. die drei Kleriker deutlich wird, dass für sein Werk ein gewisses Interesse vorhanden u. dass er um dessen Verbreitung bemüht war, lässt sich eine mittelalterl. Wirkungsgeschichte nur in sehr begrenztem Umfang nachweisen. Ausgaben: Die lat. Dichter des dt. MA. Bd. 5, Tle. 1 u. 2: Ottonenzeit. Hg. Karl Strecker. Bln. 1937. Nachdr. 1970, S. 1–79. – Peter Vossen: Der Libellus Scolasticus des W. v. S. Bln. 1962 (Text u. Übers.). Literatur: Karl Strecker, a. a. O. (Vorrede). – Peter Vossen, a. a. O. (umfangreiche Einl. u. reichhaltige Erläuterungen). – Günter Glauche: Schullektüre im MA. Mchn. 1970, S. 75–78. – Edith Feistner: Histor. Typologie der dt. Heiligenlegende des MA. Wiesb. 1995. – Paul Klopsch: W. v. S. In: VL. Ernst Hellgardt / Red.

Walther von der Vogelweide, * um 1170, † um 1230. – Minnesänger u. Sangspruchdichter. W. erlernte das »singen unde sagen« nach eigener Angabe (32,14) »ze Ôsterrîche«, am Hof des Babenberger Herzogs Friedrich I., musste aber 1198 nach dessen Tod unter Leopold VI. den Wiener Hof verlassen. Dieses Datum scheint für sein Lebenswerk bestimmend gewesen zu sein: Der zum Fahren Gezwungene, der sich seitdem an den Höfen u. bei den Hoftagen seiner Zeit um Auftrittsgelegenheit bemühen muss, nimmt in neuartiger, spannungsvoller Verbindung zur genuin höf. Kunst des Minnesangs die variablere Sangspruchdichtung in sein Repertoire auf u. entwickelt beide Gattungen in Wechselwirkung zu charakterist. Ausprägung. Sein Weg, den er mit Seine, Mur (Steiermark), Po u. Trave (31,13 f.), mit Elbe, Rhein u. ungarischer Grenze (56,38 f.) umschreibt, führte ihn nach Auskunft seiner Sangspruchdichtung an den kgl. Hof des Staufers Philipp (zwischen 1198 u. 1201), des Welfen Otto IV. (1212/13)

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u. in die Umgebung des Staufers Friedrich II. (vielleicht schon seit 1213); weiter an die größeren Adelshöfe der Zeit oder ins Gefolge ihrer reisenden Herren wie des Literaturförderers Landgraf Hermann von Thüringen (mindestens zweimal bis 1220), wo er Wolfram von Eschenbach, des Markgrafen Dietrich von Meißen (1212?), wo er Heinrich von Morungen kennengelernt haben könnte, des wahrscheinl. Nibelungenlied-Förderers Wolfger von Erla, Bischof von Passau, dann Patriarch von Aquileja (1203 u. ö.), der Herzöge Bernhard von Kärnten, Ludwig I. von Baiern (?) u. weiterer gelegentlich Genannter (z. B. 104,23) u. Ungenannter. Immer wieder (zwischen etwa 1203 u. 1219), doch vergebens angestrebtes Lebensziel (84,1) bleibt ihm das dauerhafte Wirken am Wiener/Klosterneuburger Hof, nach gängiger Rekonstruktion (anders Schweikle) Ort der Begegnung mit Reinmar dem Alten als Lehrer u. Streitpartner (Totenklage 82,24; 83,1). Das einzige sichere außerliterar. Lebenszeugnis, Bischof Wolfgers Ausgabenregister, zeigt W. in der Nähe Wiens u. der herzogl. Hochzeit. Der »cantor Waltherus« erhält am 12.11.1203 bei Zeiselmauer fünf Schillinge für einen Pelzrock. Die vergleichsweise hohe Entlohnung weist wohl eher auf die hochgeschätzte Kunstleistung (Curschmann) als auf gelehrtes Dichtertum u. ein festes Musikeramt in Passau (Heger) oder Gesandtentätigkeit im kgl. Auftrag (Hucker). Gelegentlicher Botendienst kann angenommen werden. Er hat W. nicht gehindert, sein Fahrendenleben als eine Zeit seltenen Glanzes u. häufigeren Elends darzustellen, bis er um 1220 Friedrich II. für ein Lehen danken kann (28,31); der Sangspruchdichter hatte für eine gesicherte Existenz u. gesellschaftl. Position neuen, hochgestimmten Minnesang versprochen (28,1). Die Topik der Selbstdarstellung (z. B. als gedemütigter »gast« in 31,23; 28,8 f. – vgl. schon MF 26,33; 27,6) mag den Blick auf seine konkreten, sicher wechselnden Lebensumstände behindern, zeigt aber um so deutlicher das auferlegte Rollenbild, unter dem auch dieser bedeutende Sänger zu agieren hatte. Der Geburtsstand W.s bleibt unsicher, scheint aber außer zu künstlerischen (28,2) auch zu moderaten gesellschaftl. Ansprüchen

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(63,3; 104,23; 104,7) u. zur Belehnungsfähigkeit berechtigt zu haben; vielleicht war W. ministerialer Herkunft oder ritterbürtig. Seine literar. Kenntnisse, die neben den volkssprachl. Gattungstraditionen lat. Hof- u. vagantische Liebesdichtung einschließen, Sprachkenntnisse u. ein vielfältiges Hintergrundwissen entstammen eher der Reiseerfahrung als schulmäßiger Bildung. Vor allem aus W.s Angabe, er habe etwa 40 Jahre lang Minnesang verfasst (66,27 f.), lässt sich eine ungefähre Lebensspanne von 1170–1230 errechnen. Sein Geburtsort bleibt umstritten: der Vogelweidhof im Südtiroler Grödnertal; Österreich, vielleicht Wien; Franken, vielleicht Würzburg, Feuchtwangen; Frankfurt/ M.? Oder ist »von der vogelweide« nicht Herkunfts-, sondern Künstlername nach dem Nistplatz der Vögel? W. soll nach der späten Nachricht (um 1350) seines Verehrers Michael de Leone im Kreuzgang des Würzburger Kollegiatsstiftes Neumünster begraben sein. Strophen W.s sind in über 30 Textzeugen, v. a. in den klass. Liederhandschriften des Südwestens um 1300 überliefert, in der Kleinen Heidelberger A (151 Strophen), der Weingartner B (112 Strophen), der Großen Heidelberger Liederhandschrift C (mit 447 Strophen, sieben doppelt, u. dem Leich umfangreichste W.-Sammlung, mit dem bekannten Autorenbild nach 8,4); sie haben diesen Überlieferungsraum jedoch zeitlich (vor Mitte 13. bis 15. Jh.), räumlich (Kärnten, Franken, Mittel-, Niederrhein bis Niederlande) u. typologisch weit überschritten. Hingewiesen sei auf die W.-Strophen in den Carmina Burana (M), in Michael de Leones Würzburger Hausbuch (E), der Kolmarer (Meisterlieder-)Handschrift (t), in der Möringer-Ballade (x.y.). Ältere Sammlungen (*AC, *BC, *EC) lassen sich im Umriss rekonstruieren. Singweisen sind mit unterschiedl. Authentizitätsgrad erhalten u. erschließbar, zu echten Texten unter W.s Namen nur für das Palästinalied (14,38) u. zwei Sangspruchtonfragmente (26,3; 18,15) im Münsterschen Fragment (F); weitere Hinweise sind v. a. aus den Neumen der Carmina Burana, der späteren Meistersingerüberlieferung u. aus dem vermuteten Kontrafakturverfahren zu gewinnen (z. B. für 110,13; 14,38; 39,11; 16,36). – W.s Name bleibt be-

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kannt von Gottfried (Tristan, vv. 4751 ff.) bis zu den späteren Meistersingern, die ihn unter ihre »Zwölf Alten Meister« rechneten; seinen Minnesang reflektieren Neidhart, Tannhäuser, Ulrich von Liechtenstein u. andere; seine Sangspruchdichtung wirkt unmittelbar auf Reinmar von Zweter u. Bruder Wernher u. weiter bis hin zum Marner u. Frauenlob. Minnesang: Da auch W. mit der Variation von inhaltl. u. formalen Schemata der Gattung arbeitet u. gerade für den Fahrenden mit unterschiedl. Ansprüchen einer wechselnden Hörerschaft zu rechnen ist, bleibt die Chronologie seiner Lieder äußerst unsicher. Der Lehr- u. frühen Wanderzeit rechnet man einfachere, konventionellere Lieder (wie 99,6; 112,35) mit Reinmar- (wie 120,16/MF 214,54), Morungen- (wie 112,17; 118,24) u. lat.-vagantischen Anklängen (wie 51,13; 39,1; 118,24) zu, wobei die Betonung des »fröide«Motivs (z. B. 109,1; 115,6) u. die Typenvielfalt bereits auf W.s Eigenart verweisen. Eine erste »Reinmarfehde« lässt sich deutlicher nur im Schachmattlied (111,23) greifen, in dem W., in einem Ton des Gegners (MF 59,1), pointiert dessen Kunstfehler (Überloben der Dame, Kussraub) anprangert (vielleicht noch 113,31; 53,25). Die Situation des Fahrenden, nicht frühes Nationalbewusstsein artikuliert das berühmte Preislied (56,14), in dem W. (1203?) als weit gereister Kenner höf. Kultur mit neuartigem Preis dt. Frauen u. Männer, gegen Trobadorschelte u. Reinmars stereotype Klagepose zielend, sich dem Wiener Hof zu neuer Anstellung als Minnesänger empfiehlt (mit Strophe 6 als Probe?) – vergeblich. W. hat in der Folgezeit kein geschlossenes neues »Minneprogramm« entwickelt; doch lassen sich in seinem vielfältigen Liedwerk nicht nur profilierende Akzente im Tradierten erkennen, sondern auch Verbindungslinien zwischen diesen ziehen. Gegen die bes. von Reinmar gepflegte Tendenz, Minne als unausweichl. Leid nicht erhörter, nicht erhörbarer Werbung zu bestimmen u. ihre Werte aus dem Trotzdem unentwegten Dienstes zu erschließen (MF 165,37; 163,5), setzt W. seine Definition von Minne als Beglückung (69,5), die sich aus dem liebenden Entgegenkommen auch der Partnerin, also aus der Gegenseitigkeit der Zuwendung u.

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Verpflichtung ergibt (69,11) u. daraus die erot. u. eth. Impulse der Minne freisetzt. Nicht jede Dame von Stand, »frouwe«, ist als solche bereits minnewürdig, sondern sie hat, wie der Werbende, die ihrer Minnerolle eingeschriebenen idealen Eigenschaften zu verwirklichen (62,26 ff.), »wîp« zu sein in diesem Sinne (48,38 ff.). In der Minnewahl ist von beiden Seiten die Unterscheidung zwischen »guot« u. »boese« zu treffen; dabei steht zgl. der eth. Zustand der Gesellschaft auf dem Spiel (58,35 ff.; 48,25 ff.). Frauenlob gilt nur noch der Würdigen, nicht mehr der »frouwe« schlechthin als fraglosem Idealbild (45,7 ff.). Diese Vorstellung, die hohe Minne konventioneller Art ermöglicht hatte, wird als Setzung u. Spielregel enthüllt, die mit dem Wirken des Sängers steht u. fällt (»sterbet si mich, sô ist si tôt«. 73,16). W.s Minnesang misst die Verwirklichung der Minnerollengehalte u. weitergehend den eth. Zustand einer Gesellschaft, die Minnesang für sich in Anspruch nimmt (48,12 ff.; 91,9 ff.; 72,31 ff.; 117,5 ff.). Aus dem Repräsentationsmedium Minnesang, das Rollen für die Selbstidentifizierung u. -darstellung der höf. Gesellschaft entwirft, wird eine Gattung, die »Tugendadel« neben dem »Geburtsadel« einfordert u. zu gesellschaftl. Geltung zu bringen sucht. In einem solchen Minnesang kann der Fahrende W. (»swie nider ich sî«. 66,37), der lebenslang um »werdekeit« bemüht war (66,33 ff.), sein eigenes Interesse vertreten u. zgl. zur Erneuerung der Gesellschaft (durch die tatsächl. »werden«. 67,3 ff.) aufrufen: greifbare Einwirkung der Gattungsperspektive (Lob u. Tadel) u. Darstellungsweise (z. B. »laus temporis acti«) der Sangspruchdichtung auf den Minnesang. Frauenwerbung u. -dienst ist für W. öfter als Bild für Hofwerbung u. -dienst interpretiert worden (u. a. Mohr). W. hat seine Vorstellungen in einer breiten Skala probierender Ansätze vorgetragen, die in der Einteilung »Gruppe des Preisliedes«, »Niedere Minne«, »Neuerliche/Neue hohe Minne« (von Kraus; nicht als aufeinanderfolgende Phasen gedacht) nur grob gebündelt sind. Er hat seine neuen Forderungen, deren Konsequenzen deutlich über weitere »Reinmarfehden« hinausreichen, im Anschluss an

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das Preislied (56,14) kritisch bis ultimativ gegenüber einer konventionellen »frouwe«-Figur u. anderen »überhêren« Damen (49,24) formuliert mit der Drohung, den einseitigen Dienst aufzukündigen u. um erwiderungsbereite Frauen zu werben (u. a. 69,1; 40,19; 47,36; 44,35; 100,3; 70,22; 52,23; 72,31). In den »Mädchenliedern« (heute meist statt »Niedere Minne«) stellt W. provokativ Partnerinnen ohne soziale Auszeichnung (mit vagantischen »puella«- u. Pastourellenanklängen) vor Augen, die zur beglückenden Gegenseitigkeit bereit sind (Under der linden. 39,11; Nement, frowe, disen cranz. 74,20; dazu vielleicht 50,19). Dem Vorwurf, er werbe »zuo nidere«, begegnet W. scharf mit dem Hinweis auf die »liebe« als Kraft, die wahre Schönheit schafft, geringen Besitz adelt u. zusammen mit der unverzichtbaren »triuwe« u. »staetekeit« im höchsten Grade minnewürdig macht (Herzeliebez vrowelîn. 49,25). In den Liedern einer »Neuen hohen Minne« garantiert wiederum eine »frouwe«-Partnerin unanfechtbar die Dimension von höf. Wert u. Ansehen, u. ihr liebendes Entgegenkommen als »friundîn« kann hoffnungsvoll angestrebt (63,8; 92,9; 43,9) u. in der Wunschvorstellung (»wân«) lockend vorweggenommen werden (62,6; 184,1; 61,32). Aller werdekeit (46,32), das W.s Schlüsselbegriffe enthält, ist gleichwohl eines seiner umstrittensten Lieder nach Deutung u. Zuordnung. Schon in diesen u. in meist als spät eingestuften Liedern betont W. zunehmend seine »hövescheit«, sein vorbildl. höf. Verhalten als »alte lêre« (65,12) u. rechnet mit dem »niuwen«, modischen Verfall von Minne (57,23; 116,33; 41,13), Minnesang (64,31 gegen Neidhart?) u. Lebenseinstellung (59,37) ab. W.s Minnesang zeichnet sich auch durch die Vielfalt der strophisch-metrisch-musikal. Formen, der Liedtypen u. Darstellungsweisen aus. Die stollige Strophe variiert zwischen schlichter Grundform (z. B. 117,29) u. sangspruchartiger Ausdehnung u. Selbstständigkeit (z. B. 47,36); dazu Taktzahlensymbolik, Refrain (39,11) u. Reimkunststück (75,25; 47,16). Das vorherrschende Ich-Reflexionslied kann als Preislied (56,14; 53,25; 45,37 mit expliziertem Natureingang) akzentuiert

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werden; es finden sich Frauenlied u. -strophe (113,31; 39,11; 111,32), Botenlied (112,35; 120,16/MF 214,34), Wechsel (111,22) u. Dialoglied (85,34; 70,22; 43,9); aus dem genre objectif ein Tagelied (88,9) u. Pastourellenelemente (39,11; 74,20). Der Meister der Publikumsbeherrschung (z. B. 69,1) verfügt im Minnesang wie in der Sangspruchdichtung über alle Mittel der Rhetorik u. eine außergewöhnl. Palette der Darstellungsweisen vom definierenden, argumentierenden Belehren u. listigen Überreden über das erot. enthüllende Verhüllen (39,11), Verulken (73,23), Verrätseln (44,11; 81,7) bis zur kabarettistischen Nummer (57,23; 34,4; 34,14). Sangspruchdichtung: W. hat sie gegenüber seinen Vorgängern (Herger, Spervogel) an das formale Niveau des Minnesangs herangeführt: stollige Liedstrophenformen, kunstvoll variiert (z. B. »gespaltene Weise« in 26,3), nun auch hier; statt eines einzigen autorbezogenen Tones 13 verschiedene Töne mit der Möglichkeit, die Strophen vielfältiger aufeinander (von liedhafter Dichte bis zu lockeren Reihen selbständiger Strophen) u. auf den Anlass (gespiegelt in Simrocks Tonnamen wie »Reichston«, »Wiener Hofton« etc.) zu beziehen, wobei mit variabler Strophenauswahl u. -folge je nach Auftrittsgelegenheit zu rechnen ist. Inhaltlich hat W. das Repertoire um die aktuell-polit. u. aktuell-höf. Thematik erweitert. Der Themenkreis Sänger-Gönner-Publikum ist, mit W.scher Fertigkeit, weitgehend mit tradierten Haltungen u. Motiven ausgeführt: Bitte um Aufnahme u. Auftrittsgelegenheit (z. B. 20,31; 28,1), Lob für Gewährung (z. B. 19,29; 26,33; 38,31; 35,7; 25,26), Schelte der geizigen Herren (z. B. 26,33; 104,23); daneben Bedenken, Zusagen könnten durch mangelnde »staete« (35,9; 104,33), Missverständnis (32,17), Intrige (32,27) oder unwürdige Konkurrenz (31,33; 80,27) gefährdet sein. Um die »milte« auf sich zu lenken, hat W. neben der materiellen Not v. a. die soziale Demütigung des »gast«-Seins betont (z. B. 31,25; 28,1; 28,31) u. ehrende Gaben bes. hervorgehoben (z. B. 80,35). Anders als seine Vorgänger aber legt er sein Verhältnis zu den »hêrren« auch darin fest, dass er ihnen u. sich die gemeinsame Verantwortung

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für »hövescheit« überträgt (20,4; 31,33; 32,7; 103,13; 103,29; 80,27) u. für die Sangspruchdichtung eine gefestigte höf. Funktion erstrebt, vielleicht im auffällig oft u. intensiv thematisierten Bereich höf. Beratung (z. B. 83,27; 28,21; 102,15) u. der Kinder- u. Jugendlehre (23,26; 24,3; 101,23; 87,1). – Allgemeine Lebenslehre (81,7; 79,17 bis 80,2) tritt bei W. hinter spezif., aktueller Hoflehre zurück, in der er nicht nur die Minne (81,31; 82,3; 102,1), sondern insbes. die Grundwerte u. -probleme der Zeit behandelt: das Verhältnis von »gotes hulde«, »êre« u. »guot«, wobei für den Fahrenden der Vorrang der beiden ersten Lebensziele außer Frage steht u. der selbstzweckhafte Umgang mit Besitz zum Anklagepunkt wird (20,16; 22,18; 22,33). Nicht dogmatisch oder spekulativ (10,1), sondern lebenspraktisch ausgerichtet sind W.s religiöse Sangsprüche: Reisesegen (24,18); Weckruf angesichts eschatolog. Zeichen (21,25); Mahnung, den Glauben beweisende Wirklichkeit werden zu lassen angesichts der Schöpfungs- u. Todesgleichheit von »kristen, juden unde heiden«, von »hêrre« u. »kneht« (22,3); Schuldbekenntnis, das die mangelnde Feindesliebe ausklammern möchte (26,3); Vortragseröffnung (78,24; 78,32), die zur Kreuzzugsthematik leitet (79,1; 79,9). Diese gehört wie die Kirchen- u. Papstkritik, die in der Klausnerrolle (34,24; 10,33) die wahre geistl. Aufgabe anmahnt, bereits in den polit. Sektor. In den polit. Strophen hat W. zu Grundproblemen der Zeit Stellung genommen: dem Thronstreit zwischen Staufern u. Welfen, der Auseinandersetzung zwischen Kaisertum u. Papsttum wie zwischen kgl. Zentral- u. fürstl. Partikulargewalt. Er ist ab 1198 für den Staufer Philipp mit Strophen eingetreten, die eine Friedens- u. Rechtsordnung als Rahmenbedingung für ird. u. ewiges Heil einfordern (Reichston 8,4–9,39) u. Legitimität mit der Symbolik der Throninsignien, religiöser Parallelen u. höf. Verhaltens beweisen (Philippston 18,29; 19,5). Wahrscheinlich 1212 begrüßt er Kaiser Otto IV., der gekrönt u. verbannt aus Italien zurückkehrt, versichert ihn der Ergebenheit der Fürsten (11,30), verpflichtet ihn heraldisch

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auf einen starken Frieden im Reich u., päpstl. Machtansprüche programmatisch aussparend, auf einen Kreuzzug (12,18; 12,6). Die Strophen für Friedrich II., wohl schon ab 1213/14, behandeln v. a. die Probleme mit Fürsten u. Papst, die um den versprochenen u. aufgeschobenen Kreuzzug des Kaisers (29,15; 10,9; 10,17; Engelschelte 79,1; 79,9) u. den Bann von 1227 (10,33; 10,25) entstanden sind. Wenn der Fahrende abwechselnd für die Staufer u. den Welfen, aber auch für das kgl. (z. B. 19,2 ff.) u. fürstliche Interesse (z. B. 17,11) spricht, darf das nicht als Standpunktlosigkeit gewertet werden. Schlüssel ist die »milte«, die Herrschertugend der Freigebigkeit, die W. für sich (z. B. 28,31) u. die Fürsten (z. B. 16,36; 17,11) einfordert als Legitimation für rechtmäßige, gute Herrschaft (ebd.) u. die als solche den Wechsel etwa von Otto zu Friedrich geradezu gebietet (26,23; 26,33). Unberührt davon bleibt die Idee vom Reich als oberster Ordnungsmacht, die sich auch in der durchgehenden Ablehnung päpstl. Ansprüche artikuliert. Für die Strophen gegen Papst (Innozenz III., Gregor IX.), die Papstkirche u. päpstl. Partei (z. B. 9,16; 11,6; 12,30; 11,18) bietet W. alle tradierten Anklagepunkte (wie Geldgier, Simonie, Lüge, Schwarze Kunst: z. B. 33,11; 33,1; 33,21) u. eine bis ins Kabarettistische gesteigerte Polemik auf (34,4; 34,14). Die polit. Stellungnahmen des Sangspruchdichters sind nur im Schutz polit. Parteien denkbar. Dass sie zu Gelegenheiten vorgebracht werden, bei denen Politisches größere Publizität erlangt (wie Kreuzzugsaufruf, Bannverkündigung, Hoftag, Wahl-, Krönungsversammlung, Festkrönung, Adventus) u. W. Argumente vorbringt, die ihn u. alle betreffen (v. a. »milte«, Verpflichtung auf höf. Werte, ird. u. ewiges Heil), lässt vermuten, dass in der polit. Sangspruchdichtung weniger der beauftragte offizielle Propagandist (am ehesten für 11,30–12,29) als vielmehr der Sänger auftritt, der in der geselligen Sphäre zusammen mit anderen auch pointierte polit. Strophen vorträgt. Weitere Themen u. Formen: W. hat die Prunkform des Leichs, eines Marienleichs (3,1), in seinem Repertoire, dazu drei Kreuzzugslieder (Palästinalied 14,38; 13,5; 76,22),

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in denen er mit Walther’scher Sprachkraft, aber eher konventionellen Argumenten aus Kreuzzugspredigt u. -dichtung zur »vart« aufruft. Neu in der dt. Lieddichtung ist das Thema des Alters als Stunde der Abrechnung mit Leben u. Welt. Das Leben ist vergänglich wie ein Traum, trägt die Elegie (124,1) in drei wuchtigen Langzeilenstrophen vor, erweitert um eine Klage über den Verfall der höf. »fröide« u. Sitte, mündend in den Aufruf zum Kreuzzug als ritterl. Verpflichtung u. Heilschance. In der Rückschau der Strophen 1 u. 2 des Alterstones (66,21) beansprucht er für sein literar. Werk, das er der Gesellschaft zu weiterem Gebrauch übereignet, liebende Anerkennung sowie für seine Lebenshaltung, das unbeirrte Streben nach »werdekeit«, einen Platz unter den »werden«, so sein Grundanliegen zusammenfassend: eine gefestigte Stellung seiner Kunst im höf. Leben u. »Tugendadel« als Prinzip gesellschaftl. Geltung. Im Vorausblick aber (Str. 3–5) auf die Vergänglichkeit des Weltlohns, die Ewigkeitsbedürfnisse der Seele u. die Auferstehung des Leibes erweist sich der Gesellschaftsdienst als vorläufig u. nur die Gottesliebe als »wâriu minne« den letzten Anforderungen gewachsen. Sein so oft genanntes u. betontes »ich« wird noch einmal zum eindringl. Demonstrations- u. Beweisfall für allgemeiner Gültiges; es artikuliert weniger ein bes. Selbstbewusstsein (Mundhenk) als die Notwendigkeit, auf sich aufmerksam machen zu müssen. Ausgaben: Die Gedichte W.s v. d. V. Hg. Karl Lachmann. 13., aufgrund der 10. v. Carl v. Kraus bearb. Ausg. neu hg. v. Hugo Kuhn. Bln. 1965. – W. v. d. V. Die gesamte Überlieferung der Texte u. Melodien. Hg. H. Brunner u. a. Göpp. 1977. – W. v. d. V. Leich, Lieder, Sangsprüche. 14., völlig neu bearb. Aufl. der Ausg. K. Lachmanns mit Beiträgen v. Thomas Bein u. Horst Brunner. Bln./New York 1996 (zitiert). – W. v. d. V. Werke. Hg. Günther Schweikle. Bd. 1: Spruchlyrik. Mhd./Nhd. Stgt. 3 2009. Bd. 2: Liedlyrik. Mhd./Nhd. Stgt. 1998. – W. v. d. V. Gedichte. Tl. 1: Der Spuchdichter. Auf der Grundlage der Ausg. v. Hermann Paul hg. v. Silvia Ranawake. Melodieanhang v. H. Brunner. Tüb. 1997. – Des Minnesangs Frühling 1 (zitiert MF). Literatur: Bibliografien: Manfred Günter Scholz: Bibliogr. zu W. v. d. V. Bln. 1969. – Ders.: W.-Bibliogr. 1968–2004. Ffm. 2005. – Kommentare: Carl

129 v. Kraus: W. v. d. V. Untersuchungen. Bln./Lpz. 1935. – Ausg. Schweikle, Ranawake (s.o.). – Forschungsstand in Aufsatz- und Vortragssammlungen: Siegfried Beyschlag (Hg.): W. v. d. V. Darmst. 1971. – Timothy McFarland u. Silvia Ranawake (Hg.): W. v. d. V. In: OGS 13 (1982), Sonderheft. – Jan-Dirk Müller u. Franz Josef Worstbrock (Hg.): W. v. d. V. Stgt. 1989. – Hans-Dieter Mück (Hg.): W. v. d. V. Ebd. 1989. – Thomas Bein (Hg.): W. v. d. V. Textkritik u. Edition. Bln./New York 1999. – Volker Mertens u. Ulrich Müller (Hg.): W. lesen. Interpr.en u. Überlegungen zu W. v. d. V. Göpp. 2001. – T. Bein (Hg.): W.-Studien. Bd. 1 ff. Ffm. 2002 ff. – Johannes Keller u. Lydia Miklautsch (Hg.): W. v. d. V. u. die Literaturtheorie. Neun Modellanalysen v. ›Nemt, frouwe, disen kranz‹. Stgt. 2008. – Gesamtdarstellungen: Konrad Burdach: Reinmar der Alte u. W. v. d. V. Lpz. 21928. Nachdr. Hildesh./New York 1976. – George Fenwick Jones: W. v. d. V. New York 1968. – Gerhard Hahn: W. v. d. V. Mchn. 21989. – T. Bein: W. v. d. V. Stgt. 1997. – Manfred Günther Scholz: W. v. d. V. Stgt. 22005. – Otfried Ehrismann: Einf. in das Werk W.s v. d. V. Darmst. 2008. – Horst Brunner u. a.: W. v. d. V. Epoche, Werk, Wirkung. Mchn. 22009. – Biografisches: Hedwig Heger: Das Lebenszeugnis W.s v. d. V. Die Reiserechnungen des Passauer Bischofs Wolfger v. Erla. Wien 1970. – Michael Curschmann: Waltherus cantor. In: OGS 6 (1971/72), S. 5–17. – Bernd Ulrich Hucker: Ein zweites Lebenszeugnis W.s? In: W. v. d. V. Hg. H.-D. Mück. Stgt. 1989, S. 1–30. – Günther Schweikle: W. u. Wien. In: ebd., S. 75–87. – Minnesang: Martha Mayo Hinman: Minne in a New Mode. W. and the Literary Tradition. In: DVjs 48 (1974), S. 249–263. – Roswitha Wisniewski: Werdekeit u. Hierarchie. Zur soziolog. Interpr. des Minnesangs. In: Strukturen u. Interpr.en. FS Blanka Horacek. Hg. Alfred Ebenbauer u. a. Wien/ Stgt. 1974, S. 340–379. – Wolfgang Mohr: Die vrouwe W.s v. d. V. In: ZfdPh 86 (1976), S. 1–70. – Hugo Kuhn: Herzeliebez vrowelin (W. 49,25). In: Medium aevum deutsch. Beiträge zur dt. Lit. des hohen u. späten MA. FS Kurt Ruh. Hg. Dietrich Huschenbett u. a. Tüb. 1979, S. 199–213. – Trude Ehlert: Konvention – Variation – Innovation. Ein struktureller Vergleich v. Liedern aus MF u. v. W. v. d. V. Bln. 1980. – Hans Günther Meyer: Die Strophenfolge u. ihre Gesetzmäßigkeiten im Minnelied W.s v. d. V. Königst./Taunus 1981. – Christa Ortmann: Die Kunst ebene zu werben [46,32]. In: PBB 103 (1981), S. 238–263. – Heinz Rupp: W.s Preislied – ein Preislied? [56,14]. In: Literaturwiss. u. Geistesgesch. FS Richard Brinkmann. Tüb. 1981, S. 23–44. – Achim Masser: Zu den sog. ›Mädchenliedern‹ W.s v. d. V. In: WWort 39 (1989), S. 3–15. – Ingrid Kasten: Der Begriff der ›herzeliebe‹ in den

Walther Liedern W.s. In: Mück (Hg.), S. 253–267. – Ingrid Bennewitz: ›vrowe/maget‹. Überlegungen zur Interpr. der sog. Mädchenlieder im Kontext v. W.s Minnesang-Konzeption. In: ebd., S. 237–252. – Heike Sievert: Studien zur Liebeslyrik W.s v. d. V. Göpp. 1990. – J.-D. Müller: W. v. d. V.: ›Ir reinen wîp, ir werden man‹. In: ZfdA 124 (1995), S. 1–25. – Sangspruchdichtung: Magdalena Heintz: Studien zur Religiosität W.s v. d. V. Ffm. 1968. – Hugo Moser (Hg.): Mhd. Spruchdichtung. Darmst. 1972 (bes. Beiträge v. Helmut Tervooren, Friedrich Maurer, Kurt Ruh). – A. Masser: Zu W.s Propagandastrophen im ersten Philippston [18,29; 19,5]. In: Studien zur dt. Lit. u. Sprache des MA. FS Hugo Moser. Hg. Werner Besch u. a. Bln. 1974, S. 49–59. – Theodor Nolte: Sänger des Reiches oder Lohndichter? W. v. d. V. u. die dt. Könige. In. Poetica 24 (1992), S. 317–340. – Peter Kern: Der Reichston – das erste polit. Lied W.s v. d. V.? In: ZfdPh 111 (1992), S. 344–362. – Matthias Nix: Untersuchungen zur Funktion der polit. Sangspruchdichtung W.s v. d. V. Göpp. 1993. – Weitere Themen, Formen: Karl Kurt Klein: Zum dichter. Spätwerk W.s v. d. V. In: Germanist. Abh.en. Innsbr. 1959, S. 59–109. – W. Mohr: Altersdichtung W.s v. d. V. In: Sprachkunst 2 (1971), S. 329–356. – Wolfgang Haubrichs: Grund u. Hintergrund in der Kreuzzugsdichtung [124,1; 14,38]. In: Philologie u. Geschichtswiss. Hg. H. Rupp. Heidelb. 1977, S. 12–62. – Christoph Cormeau: Minne u. Alter [66,21]. In: Mittelalterbilder aus neuer Perspektive. Hg. Ernstpeter Ruhe u. Rudolf Behrens. Mchn. 1985, S. 147–165. – Berndt Volkmann: Ouwê war sint verswunden. Die ›Elegie‹ W.s v. d. V. Untersuchungen, krit. Text, Kommentar. Göpp. 1987. – Franz Viktor Spechtler: Der Leich W.s. In: Mück (Hg.), S. 331–340. Gerhard Hahn

Walther, Walter, Balthasar, Baldassar, Baldasar, Baltazar, Baltasar, Balthazar, Paltzer, * um 1558 Glogau, † vor 16.12.1631 Paris. – Alchemist, Arzt, Dichter, im Namen von Jacob Böhme tätiger Publizist u. Theosoph. Nach Universitätsstudien an der Universität Frankfurt/O. (Immatrikulation 1579) fand W. seinen Weg nach Zerbst, wo er zwischen 1585 u. 1587 als Arzt oder Hauslehrer tätig war. Seine frühesten Werke sind lat. Gedichte gewesen, wie die Ode dicolos tetrastrophos, totum redemtionis opus, à Christo Seruatore nostro humano generi praestitum [...] (Zerbst 1585) oder die Trauer- u. Preisgedichte in Trostschrift

Walther

Weiland des Hochwirdigen [...] Fürst Johansen zu Anhalt, etc. [...] (Zerbst 1587) u. Coniugio doctissimi et hvmanissimi viri [...] (Görlitz 1587; Preisgedicht auf Francis Groschel u. Dorothea Peucer). 1587 befreundete sich W. mit dem den Görlitzer Mathematiker Bartholomäus Scultetus u. erhielt von ihm etliche magische, astrolog. u. paracels. Schriften, die er zwischen 1586 u. 1589 im schles. Harpersdorf (eine bekannte Zuflucht der Schwenkfelder) abschrieb. Eine der Abschriften befindet sich heute in der Stadtbibliothek Lübeck, eine weitere war vor 1945 in der Stadtbibliothek Breslau (ehemalige Cod. Rhed. 334) verzeichnet (Penman, 2010, S. 76–80; Sudhoff, 1898, S. 499–538; Goldammer, 1955, S. xxxv–xxxviii). Diese Schriften erweckten in ihm einen freilich unstillbaren Drang nach kabbalistischem u. magischem Wissen. Zwischen Juni 1597 u. Sommer 1599 unternahm W. eine Orientreise, angeblich auf der Suche nach »der wahren Kabbalah, Alchemie und Theosophie« (Franckenberg, 1651, S. 16). Bis Nov. 1597 reiste er als Mitgl. einer poln. diplomatischen Vertretung in die Wallachie u. nach Istanbul, dann setzte W. allein seinen Weg über Syrien, Arabien, Ägypten u. Zypern fort. Nach seiner Rückkehr ließ sich W. eine von ihm bereits in Tergowisch verfasste Biografie des wallachischen Woiwod Michael der Tapfere (1558–1601) drucken (Brevis et vera descriptio rerum ab illustrissimo, amplissimo et fortissimo militiae contra patriae suae Reique Publicae Christianae hostes Duce, ac Domino Domino Ion Michaële, Moldaviae Transalpinae sive Walachiae Palatino gestarum [...]. Görlitz 1599). In jüngster Zeit hat sich dieses mehrmals übersetzte u. nachgedruckte Werk W.s eine angesehene u. wohl unerwartete Stellung in der Historiografie Rumäniens erworben. Um 1606 lernte W. den aus Langensalza stammenden Schwärmer Esajas Stiefel kennen. Während er sich in unterschiedl. Orten aufhielt (Straßburg 1609, Glogau 1611, Torgau u. Leipzig 1616–1618), war W. als Publizist für Stiefels heterodoxe Lehre vom Perfektionismus tätig. 1617 aber begegnete er dem Görlitzer Schuster Jacob Böhme, der eine konkurrierende Theosophie verbreitete.

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Wohl um Böhmes Fähigkeiten zu testen, formulierte W. vierzig Fragen über die Natur der menschl. Seele u. bat ihn, sie zu beantworten. Damit veranlasste er Böhme zu einer seiner wichtigsten Schriften (Vierzig Fragen von der Seelen Urstand. Mehrere Ausgaben seit 1632 auf Lateinisch, Deutsch, Englisch u. Holländisch). Während ihrer intensiven Gespräche hatte W. auch kabbalistisches, alchemistisches u. paracels. Gedankengut an Böhme vermittelt u. den Inhalt mehrerer seiner Werke damit beeinflusst; deshalb hat Böhme W. als »einen liebhaber des Mysterii« gepriesen. Als neu gewonnener Anhänger Böhmes fing W. sofort an, die Lehre Stiefels zu bekämpfen. Gleichzeitig sorgte er für die Verbreitung der Schriften Böhmes überall in Sachsen, Anhalt, Thüringen u. Schlesien. Nach einer Reihe von Bestallungen (Dez. 1619 bis März 1620 als Hofchemiker zu Kurfürst Johann Georg I. in Dresden; Winter 1620 bis Frühling 1621 als Leibmedicus zu Fürst August von Anhalt-Plötzkau; danach bis Ende 1621 am Hof der bekannten StiefelAnhängerin Gräfin Erdmuthe Juliane von Gleichen in Ohrdruf, gleichfalls als Leibmedicus), befand sich W. Anfang 1622 in Lüneburg u. Lübeck. Dort traf er regelmässig mit Joachim Morsius u. Johann Angelus Werdenhagen zusammen, u. es gelang ihm, sie für Böhmes Theosophie zu gewinnen. Zusätzlich zu einer pseudo-paracels. Weissagung, trug W. auch zwei kurze Gedichte zu Morsius’ Magische Propheceyung Aureoli Philippi Theophrasti Paracelsi [...] (Philadelphia [Amsterd.?] 1625) bei. Kurz vor seinem Tod veranlasste er Werdenhagens lat. Übersetzung u. polit. Verwertung der vierzig Fragen Böhmes u. d. T. Yucologia vera I. B. T. XL Quæstionibus explicata, et rerum publicarum vero regimini: ac earum Maiestatico iuri applicata (Amsterd. 1632). Weitere Werke: Erfurt, BEvM, Ms. 21. – Lübeck, Stadtbibl., Ms. Math. 48 9 (Fremdtextkopien). – Lübeck, Stadtbibl., Ms. Hist. 48 25, S. 826–827 (Eintrag in Morsius’ Album Morsianum, [Lübeck?] 6.1.1623). – Wrocl/aw, Biblioteka Uniwersytecka, AKC 1975/263, 33r-51v (Fremdtextkopie eines Werkes Böhmes). – Preisgedicht auf Martin Nossler u. Jakob Ebert. In: Gratulationes in honorem [...]. Frankfurt/O. 1581. – Preisgedicht auf Nossler. In:

131 Gratulatoria in nvptias reverendi [...]. Frankfurt/O. 1582. Ausgaben (Ausgaben des von W. angeregten Buches Jakob Böhmes, ›Vierzig Fragen von der Seelen Urstand‹, werden hier nicht berücksichtigt): Brevis et vera descriptio [...]. 1599. Gekürzte Fassung in: Rerum memorabilium in Pannonia sub Turcarum Imperatoribus [...]. Hg. Nicholas Reusner. Ffm. 1603, S. 227–255. – Syndromus rerum Turcico-Pannonicarum [...]. Ffm. 1627, S. 227–255. – Rerum memorabilium in Pannonia sub Turcarum Imperatoribus [...]. Colocae 1770, S. 232–261. – Übersetzungen: Ins Englische: Richard Knolles: The Generall Historie of the Turkes [...]. London 1603, S. 1050–1053 (Ausschnitte). – Ins Rumänische: Scurta˘ s¸i adeva˘rata˘ descriere a fapteloru lui Ion Michaiu domnulu Tieri Romanesci [...]. In: A. Papiu Ilarianu: Tesauru de monumente istorice pentru Romania [...]. Bd. 1, Bukarest 1862, S. 1–74 (Übers. der Ausg. 1603 mit lat. Paralleltext). Auch in: Mihai Viteazul în cons¸ tiint¸ a europeana˘. Bd. 2: Cronicari s¸i istorici stra˘ini, secolele XVI–XVIII. Texte alese. Hg. Ion Ardeleanu u. a. Bukarest 1983, S. 250–286 (gekürzte u. modernisierte rumän. Fassung). – Scurta˘ s¸i descriere adeva˘rata˘ a faptelor sa˘vîrs¸ite de Io Mihai, domnul T¸a˘rii Românes¸ti [...] in: Dan Simonescu: Cronica lui Baltasar Walther despre Mihai Viteazul în raport cu cronicile interne contemporane. In: Studii s¸ i materiale de istorie medie 3 (1959), S. 7–99 (Übers. der Ausg. 1599 mit lat. Paralleltext). Auch in: Literatura româna˘ veche. Bd. 2: (1462–1647). Hg. G. Miha˘ila˘ u. Dan Zamfirescu. Bukarest 1969, S. 140–186. Literatur: Werdenhagen, Yucologia vera, 1632, S. 60, 62. – Abraham v. Franckenberg: Gründlicher u. wahrhafter Bericht von dem leben [...] Jacob Böhmens [...], [1651]. In: J. Böhme: Sämtl. Schr.en. Bd. 10, Stgt. 1961, S. 15 f. – Georg Gustav Fülleborn: B. W. aus Glogau, ein Schüler Jakob Boehmes. In: Schles. Provinzialbl. Lit. Beilage 20 (1794), S. 353–360. – Hermann Adolph Fechner: Jakob Böhme. Sein Leben u. seine Schriften. Görlitz 1857, S. 69–70. Auch in: Neues lausitz. Magazin 33 (1857), S. 313–446; 34 (1858), S. 27–138. – Karl Sudhoff: Kritik der Echtheit der Paracels. Schr.en. Tl. 2: Paracels. Hss. Bln. 1898, S. 499–538. – Richard Jecht: Die Lebensumstände Jakob Böhmes. In: Jakob Böhme. Gedenkgabe der Stadt Görlitz zu seinem 300jährigen Todestage. Görlitz 1924, S. 60–63. Auch in: Neues lausitz. Magazin 100 (1924), s. v. – Kurt Goldammer: Einleitendes [...]. In: Paracelsus: Sämtl. Werke. 2. Abt.: Theolog. u. religionsphilosoph. Schr.en. Bd. 4, Tl. 1, Stgt. 1955, S. xxxv–xxxviii. – Will-Erich Peuckert: Das Leben Jakob Böhmes. In: Jakob

Walther Böhme: Sämtl. Schr.en. Bd. 10, Stgt. 1961. S. 139 ff. – Erich Worbs: B. W. Ein Porträt aus dem schles. Frühbarock. In: Schlesien 11 (1966), S. 8–13. – Ernst-Heinz Lemper: Jakob Böhme. Leben u. Werke. Bln. 1973, s.v. – David Pingree: Picatrix. The Latin Version. London 1986, S. xxiv–xxvii. – Andrew Weeks: Boehme. An Intellectual Biography of the Seventeenth-Century Philosopher and Mystic. Albany 1991, s. v. – Carlos Gilly: Wege der Verbreitung v. Jacob Böhmes Schr.en in Dtschld. u. den Niederlanden. In: Jacob Böhmes Weg in die Welt. Hg. Theodor Harmsen. Amsterd. 2007, S. 71–98. – Ulman Weiß: Die Lebenswelten des Esajas Stiefel, oder vom Umgang mit Dissidenten. Stgt. 2007, s. v. – Leigh T. I. Penman: A Second Christian Rosencreutz? Jakob Böhme’s Disciple B. W. (1558–c.1630) and the Kabbalah. With a Bibliography of W.’s Printed Works. In: Western Esotericism. Hg. Tore Ahlbäck. Turku 2008, S. 154–172. – Ders.: ›Ein Liebhaber des Mysterii, und ein großer verwandter desselben.‹ Toward the Life of B. W.: Kabbalist, Alchemist and Wandering Paracelsian Physician. In: Sudhoffs Archiv 94 (2010), H. 1, S. 73–99. Leigh T. I. Penman

Walther, Joachim, * 6.10.1943 Chemnitz. – Erzähler, Hörspiel- u. Kinderbuchautor, Publizist u. Herausgeber. Nach dem Studium der Germanistik u. Kunstgeschichte in Ost-Berlin arbeitete der Sohn eines Beamten u. einer Kinderpflegerin als Lehrer. Seit 1968 Lektor beim Buchverlag Der Morgen in Ost-Berlin, wurde W. 1983 wegen Schwierigkeiten mit der Zensur zur Kündigung gezwungen. Seit 1976 war er bis zur Entlassung der gesamten Redaktion 1978 Redakteur der Literaturzeitschrift »Temperamente«. Er lebt heute als freier Schriftsteller in Grünheide bei Berlin. Nach den Romanen Sechs Tage Sylvester (Bln./DDR 1970) u. Zwischen zwei Nächten (ebd. 1972) gelang W. der Durchbruch zu einer breiten Öffentlichkeit erst 1975 mit dem Roman Ich bin nun mal kein Yogi (ebd.), der von einer auf eigene Erlebnisse zurückgreifenden Tramptour des 19-jährigen Norman Bilat durch Osteuropa u. von dessen Begegnung mit einer Holländerin erzählt. Als Szenarium für die DEFA geplant, entschloss sich W., als nach vier Jahren auch die dritte Fassung abgelehnt wurde, zur Publikation in Buchform. Aufgrund der großen Resonanz v. a. bei Ju-

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gendlichen wurde der Roman 1980 mit ähnl. 1990. Mit Hilfe von prominenten Kollegen, Publikumserfolg dann doch verfilmt (u. d. T. die sein Plädoyer für eine ehrl. Aufarbeitung Und nächstes Jahr am Balaton. Regie: Hermann der Vergangenheit unterstützten, sorgte er Zschoche), wobei der Grundton heiterer aus- für Aufsehen mit der Herausgabe des Bandes fiel als im Roman. Eine Bühnenversion, ent- Protokoll eines Tribunals. Die Ausschlüsse aus dem standen auf Wunsch des Deutschen Natio- DDR-Schriftstellerverband 1979 (Reinb. 1991), in naltheaters Weimar (Urauff. 1978), wurde an dem ein Tiefpunkt der DDR-Kultur- u. Liteweiteren Theatern der DDR nachgespielt. In raturpolitik zum ersten Mal dokumentiert seinem bislang wichtigsten, »historischen« wird. Fünf Jahre später legte er nach vierRoman Bewerbung bei Hofe (Bln./DDR 1982, jähriger Forschungsarbeit das wichtige, fast Bln. 1984) erzählt W. vom vergebl. Versuch 900 Seiten umfassende Standardwerk SicheJohann Christian Günthers, sich eine Stellung rungsbereich Literatur. Schriftsteller und Staatssials Hofdichter in Dresden zu sichern, ohne cherheit in der Deutschen Demokratischen Republik die geistige u. moralische Unabhängigkeit (Bln. 1996) vor. 2002 gründete er gemeinsam preiszugeben. Nicht die Hauptfigur Günther mit Ines Geipel das »Archiv unterdrückter ist der Erzähler, sondern die »Distanzfigur« Literatur in der DDR« und wurde MitherJohann von Besser, ein zwar talentierter, vom ausgeber der Edition »Die verschwiegene BiHofleben aber korrumpierter Dichter. Besser bliothek«, die ausgewählte Texte aus diesem u. Günther werden als archetypische, d. h. Archiv veröffentlicht. auch für die DDR relevante Modelle für das Weitere Werke: Das Verführerbüchlein. Bln./ Verhalten des Künstlers zur Macht einander DDR 1974 (E.). – Stadtlandschaft mit Freunden. gegenübergestellt. Im längeren Prosatext Ebd. 1978 (E.). – Ruhe bewahren. Mchn. 1980 Risse im Eis (Hbg. 1989, Rostock 1990) geht W. (E.en). – Riesling u. Zwerglinde. Bln./DDR 1986 auf die gesellschaftl. Spannungen u. Brüche (Kinderbuch). – Zwischen den Stühlen. Bln. 1987 ein, denen der Konflikt in der DDR zwischen (E.en). – Heldenleben. Bln./DDR 1988 (Satiren). – (Hg.): Meinetwegen Schmetterlinge. Ebd. 1973 angepasstem u. unangepasstem Verhalten (Interviews mit DDR-Schriftstellern). auch im privaten Bereich zugrunde liegt. Der Literatur: Andrew Hollis: Timelessness and the in wesentl. Aspekten autobiogr. Roman Game: Christa Wolf’s ›Juninachmittag‹ and J. W.’s Himmelsbrück (Halle 2009) erzählt die Ge- ›Wochenende im Grünen‹. In: New German Stuschichte einer großen Liebe, die sich dem dies 7 (1979), S. 145–167. – Frank Hörnigk: Nachw. Druck der für die DDR in ihrer Endphase In: J. W.: Doppelkopf. Hörspiele. Bln./DDR 1985, typischen gesellschaftl. u. polit. Probleme S. 163–171. – Martin Norman Watson: The Literary nicht gewachsen zeigt, nicht zuletzt aber an Presentation of ›Youth‹ in GDR Fiction: 1971–80. den menschl. Schwächen u. den hoch ge- Stgt. 1987, S. 298–313, 377–383. – Gerd Labroisse spannten Projektionen der Liebenden selbst u. Ian Wallace: J. W. In: DDR-Schriftsteller sprechen in der Zeit. Eine Dokumentation. Hg. dies. zugrunde geht. Für den Hörspielautor W. bietet die »inti- Amsterd./Atlanta, GA 1991, S. 159–171. – Gesina v. Prittwitz: J. W. In: KLG. – Matthias Schümann: J. me« Kunstform des Funkstücks Raum für die W. In: LGL. Ian Wallace nachschaffende Vorstellungskraft des Hörers. So suggeriert die Verengung der Herzkranzgefäße, die in Infarkt (1975. In: Ein Dorf auf Walther, Johann Gottfried, * 18.9.1684 dieser Erde. Randbewohner. Infarkt. Bln./DDR Erfurt, † 23.3.1748 Weimar. – Kompo1979) thematisiert wird, eine Verengung des nist, Musiktheoretiker u. Lexikograf. Lebens im Allgemeinen. Der positive Schluss wurde in der DDR nicht zur Kenntnis ge- W. wirkte 1702–1707 als Organist an der nommen, das Hörspiel dort nicht produziert. Thomaskirche in Erfurt, danach als Stadtor1991 erhielt Infarkt den Hörspielpreis des ganist in Weimar sowie als Musiklehrer des Funkhauses Berlin. Prinzen Johann Ernst. 1721 erhielt er den TiW. war stellvertretender Vorsitzender des tel eines Hofmusicus. Mit dem über die MutSchriftstellerverbands der DDR von März ter verwandten Johann Sebastian Bach pfleg1990 bis zur Auflösung des Verbands im Dez. te er in dessen Weimarer Zeit (1708–1714)

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freundschaftl. Beziehungen. Unter seinen v. J. G. W. [...]. In: Augsburger Jb. für Musikwiss. 3 Briefpartnern ist v. a. Heinrich Bokemeyer (1986), S. 161–207. – Alberto Basso: W. In: Diziohervorzuheben, mit dem er sich am inten- nario enciclopedico della musica e dei musicisti. Le sivsten austauschte. Die letzten Lebensjahr- Biografie. Bd. 8, Turin 1988, S. 390–392. – Konrad Küster: Bach als Mitarbeiter am ›Walther-Lexikon‹? zehnte W.s waren von Not u. Krankheit In: Bach-Jb. 77 (1991), S. 187–192. – Werner Braun: überschattet. Dt. Musiktheorie des 15. bis 17. Jh. Darmst. 1994, Als Komponist stand W. in der Tradition passim. – Christoph Grohmann: Kleine Werkschau. der norddt. Schule u. galt als »zweiter Pa- Orgelkompositionen zum Hymnus Veni creator chelbel« (Johann Mattheson). Während die spiritus (Samuel Scheidt [...], J. G. W. [...]). In: Mehrzahl seiner Vokalwerke verschollen ist, Musica sacra 117 (1997), S. 230–235. – Laurenz lassen die teilweise gedruckten Orgelchoral- Lütteken: Für Kenner, Liebhaber u. Anfänger bearbeitungen ein reiches Formenrepertoire ›dieser GOtt und den Menschen angenehmen und beliebten Kunst‹. J. G. W.s ›Musicalisches Lexicon‹. u. eine beachtenswerte kontrapunktische In: Das achtzehnte Jh. 22 (1998), S. 52–62. – Fertigkeit erkennen. W.s musikgeschichtl. Wolfgang Rathert: Zur Überlieferung der ›PraeBedeutung liegt in seinen theoret. u. lexikal. cepta der musicalischen Composition‹ v. J. G. W. In: Arbeiten, durch die er zu einer der bedeu- Ständige Konferenz Mitteldt. Barockmusik. Jb. tendsten Persönlichkeiten der dt. Musikge- 2000. Hg. Wilhelm Seidel. Eisenach 2001, S. 83–92. schichte der Bach-Zeit wurde. Mit seinen aus – Werner Breig: J. G. W. In: MGG, Bd. 17 (Pers.), einer musikal. Elementarlehre u. einer Kom- Sp. 450–455. Friedhelm Brusniak / Red. positionslehre (Musica Poetica) bestehenden Praecepta der Musicalischen Composition ([Wei- Walzel, Oskar (Franz), * 28.10.1864 Wien, mar] 1708. Hg. Peter Benary. Lpz. 1955) ver- † 29.12.1944 Bonn; Grabstätte: ebd., mittelte er ein konzentriertes Gesamtbild der Südfriedhof. – Literaturwissenschaftler. musiktheoret. Situation am Ende einer EpoDer Sohn eines Getreidegroßhändlers stuche. Das Musicalische Lexicon (Lpz. 1732. dierte in Wien bei Richard Heinzel, Erich Nachdr. hg. v. Richard Schaal. Kassel/Basel Schmidt u. Jacob Minor. 1887 promoviert 1953. 1993), das in Anlehnung an Brossards (Friedrich Schlegels Abhandlung über das Studium Dictionnaire de musique (1703) entstand, ist das der griechischen Poesie), unterrichtete W. als erste Musiklexikon in dt. Sprache u. das erste Hauslehrer Leopold von Andrian zu Werbiogr. Lexikon. Der Quellenwert der sorgfälburg, einen namhaften Vertreter des ›Jungen tig recherchierten musikbiogr. Artikel ist von Wien‹. Nach der Habilitation 1894 folgte W. hohem Rang; sie werden jedoch übertroffen 1897 einem Ruf nach Bern, 1907 wechselte er von den rund 3000 terminolog. Partien, die an die TH Dresden u. 1921 nach Bonn. Der »im Hinblick auf die Bedeutungsstufe der emeritierte W. musste nach dem Entzug der Begriffswörter für die Geschichte der musivenia legendi noch kurz vor seinem Tod erkalischen Terminologie bleibenden Wert be- leben, dass seine Frau nach Theresienstadt halten« (Eggebrecht). deportiert wurde, wo sie starb. Ausgaben: Ges. Werke für Orgel. Hg. Max SeifZahlreiche Anregungen aus anderen Wisfert. Lpz. 1906. – Briefe. Hg. Klaus Beckmann u. senschaften aufnehmend, wirkte W. als Hans-Joachim Schulze. Lpz. 1987. – Musicalisches wichtiger Anreger der Entwicklung seines Lexicon [...]. Studienausg. im Neusatz des Textes u. Fachs. Das gilt für die Romantikforschung der Noten. Hg. Friederike Ramm. Kassel 2001. (Deutsche Romantik. Lpz. 1908. 5. Aufl. in 2 Literatur: Johann Mattheson: Grundlage einer Bdn., 1923 u. 1926) wie für die bereits 1909 Ehren-Pforte. Hbg. 1740. – Max Seiffert: J. G. W. erhobene Forderung nach einer »synthetiIn: ADB. – Otto Brodde: J. G. W., Leben u. Werk. schen Literaturforschung« (Das WortkunstKassel 1937. – Hans H. Eggebrecht: W.s Musikal. Lexikon in seinen terminolog. Partien. In: Acta werk. Mittel seiner Erforschung. Ebd. 1926. Musicologica 29 (1957), S. 10–27. – Luigi F. Ta- Neudr. Heidelb. 1968, S. 3 ff.). Früh sah W. gliavini: J. G. W. trascrittore. In: Analecta Musi- die Differenzierung der geistesgeschichtl. Licologica 7 (1969), S. 112–119. – Friedhelm Brus- teraturbetrachtung in eine ideen- oder proniak: Wenig beachtete Quellen zum Musiklexikon blemgeschichtl. u. in eine stil- oder formty-

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polog. Richtung voraus. In den eigenen Ar- dam 1924 (mit Schriftenverz.). – Carl Enders: O. beiten rückten Fragen des künstlerischen W.s Persönlichkeit u. Werk. In: ZfdPh 75 (1956), Ausdrucks in den Vordergrund. So versuchte S. 186–199. – Hermann Bräuning-Oktavio: Hg. u. er in seinem Hauptwerk Gehalt und Gestalt im Mitarbeiter der Frankfurter Gelehrten Anzeigen 1772. Tüb. 1966, S. 525 f. u. Register. – Peter Salm: Kunstwerk des Dichters (in: Handbuch der LiteraDrei Richtungen der Literaturwiss. Scherer – W. – turwissenschaft. Potsdam 1923/24. Neudr. Staiger. Tüb. 1970. – Rainer Rosenberg: ›WechselDarmst. 1957) »eine Verknüpfung der Er- seitige Erhellung der Künste‹? Zu O. W.s stiltypogebnisse Diltheys und Wölfflins« (S. 15). log. Ansatz [...]. In: Stil. Gesch.n u. Funktionen Zwar könne das Kunstwerk »als Ganzes nur [...]. Hg. Hans Ulrich Gumbrecht u. a. Ffm. 1986, erlebt« (S. 18) werden, doch könne das Er- S. 269–280. – Hans-Harald Müller: Die Übertralebnis durch die gezielte Schulung der Fä- gung des Barockbegriffs v. der Kunstwiss. auf die higkeit »zu sehen« gesteigert werden. Auf Literaturwiss. u. ihre Konsequenzen bei Fritz Strich der Suche nach Begriffen für die Analyse u. O. W. In: Europ. Barock-Rezeption. Bd. 1. Hg. Klaus Garber. Wiesb. 1991, S. 85–112. – R. Rosendichterischen Schaffens (»eine höhere Ma- berg: Über den Erfolg des Barockbegriffs in der thematik der Gestalt«) wollte W. Kategorien Literaturgesch.: O. W. u. Fritz Strich. In: ebd., der Kunstgeschichte für die Literaturbe- S. 113–127 (Nachdr. 2003). – Klaus Naderer: O. W.s trachtung fruchtbar machen (Wechselseitige Ansatz einer neuen Literaturwiss. Mit einem biErhellung der Künste. In: Philosophische Vorträge. bliogr. Anhang. Bonn 1992. – Klaus Pezold: O. W.s Schweizer Jahrzehnt – Wirkungen u. NachwirBln. 1917). Neben Rudolf Hayms Die Romantische Schule kungen. In: Begegnungen der Zeiten. FS Helmut (mit einem bibliogr. Nachw. Bln. 31914) gab Richter. Hg. Regina Fasold u. a. Lpz. 1999, S. 337–349. – Walter Schmitz: O. W. (1864–1944). W. auch Wilhelm Scherers Geschichte der deutIn: Wissenschaftsgesch. der Germanistik in Porschen Literatur (ebd. 1917) neu heraus, ergänzt träts. Hg. Christoph König, Hans-Harald Müller u. um einen Anhang Die deutsche Literatur von Werner Röcke. Bln./New York 2000, S. 115–127. – Goethes Tod bis zur Gegenwart, aus dem die Peter Gossens: O. W. In: IGL. – Klaus Weimar: O. umfangreiche eigenständige Publikation Die W.s Selbstmißverständnisse. In: Mitt.en des Dt. deutsche Dichtung seit Goethes Tod (ebd. 1919. Germanistenverbandes 53 (2006), S. 40–58. Erw. 1920) hervorging. Für das von ihm Holger Dainat / Red. herausgegebene Handbuch der Literaturwissenschaft (Potsdam 1923 ff.) bearbeitete W. auch Wameshaft, Waineshaft (?), Erhart, letztes die Deutsche Dichtung von Gottsched bis zur Ge- Drittel 15. Jh. – Verfasser einer Minnegenwart (2 Bde., 1927 u. 1930). Nicht nur in allegorie u. einer Reisebeschreibung. diesen Literaturgeschichten zeigt sich W.s Am Ende der um 1470 in Königstein am Hof Engagement für die Gegenwartsliteratur, Graf Eberhards III. von Eppstein-Königstein namentlich den Expressionismus. W. stand († vor 1475) entstandenen Minnerede Liebe auch mit vielen Schriftstellern in freundund Glück nennt sich der Sprecher »ich schaftlich-briefl. Austausch (Albert Ehrendu8 mmer wameszhafft« (v. 289). Im 1477 im stein, Fritz von Unruh, Josef Winckler Auftrag des Mainzer Erzbischofs Diether von u.a.m.). Isenburg gedichteten Reisebericht HodoeporiWeitere Werke: Hebbelprobleme. Lpz. 1909. – con gibt der Autor zudem seinen Vornamen Vom Geistesleben des 18. u. 19. Jh. Ebd. 1911. Erw. an: Erhart Wameszhafft (v. 26 u. v. 2400). Der u. d. T. Vom Geistesleben alter u. neuer Zeit. Ebd. Name ist urkundlich nicht nachgewiesen, 1922. – Leben, Erleben u. Dichten. Ebd. 1912. – Ricarda Huch. Ebd. 1916. – Die Geistesströmungen gegebenenfalls auch reiner Künstlername. des 19. Jh. Ebd. 1924. – Romantisches. Bonn 1934. Die Frage nach W.s gesellschaftl. Stellung – Grenzen v. Poesie u. Unpoesie. Ffm. 1937. – (Berufsdichter? Hofbeamter?) ist nicht zu Wachstum u. Wandel. Bln. 1956. – (Hg.): Friedrich klären. Ebenso spekulativ bleibt die in älteren Schlegels Briefe an seinen Bruder August Wilhelm. Forschung vorgenommene Zuschreibung der Ebd. 1890. – Nachlass: ULB Bonn u. DLA Marbach. Warnung an hartherzige Frauen an W. Die unikal überlieferte Minnerede (230 Literatur: Vom Geiste neuer Literaturforsch. FS O. W. Hg. Julius Wahle u. Victor Klemperer. Pots- Verse) verbindet Personifikationsdichtung u.

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Allegorie. Der Sprecher begegnet auf einem – Silvia Schmitz: Die Pilgerreise Philipps d.Ä. in Spaziergang in amoener Landschaft fünf Prosa u. Vers, Unters. zum dokumentar. u. paneFrauengestalten, die sich als ›Liebe‹, ›Be- gyr. Charakter spätmittelalterl. Adelslit. Bln. 1990, ständigkeit‹, ›Hoffnung‹, ›Trost‹ u. ›Glück‹ bes. S. 219–314. – Dies.: W. In: VL. Jacob Klingner vorstellen u. ihm für seine bisherigen Dichtungen danken. Er wird Zeuge, wie ein Jüngling hinzutritt, sich über die unfreundl. Wander, Fred, eigentl.: Fritz Rosenblatt, Behandlung durch ›Frau Glück‹ beklagt u. * 5.1.1917 Wien, † 10.7.2006 Wien. – Erdann sein Herz entblößt: Es trägt eine Krone, zähler, Dramatiker, Jugendbuchautor. ist von Flammen u. Sonnenstrahlen umgeben, ihm entsprießt ein Vergissmeinnicht, W. wuchs in bescheidenen Verhältnissen als Blut tropft herab. ›Frau Liebe‹ legt dem Sohn ukrain. Juden auf, die kurz vor seiner Sprecher diese Details allegorisch als von ihr Geburt nach Wien gekommen waren. 1931 u. ihren Gefährtinnen verliehenen Attribute verließ er die Schule, brach später eine Lehre seiner Minnetugenden aus. Auf die Fürbitte in einem Möbelgeschäft ab, arbeitete in Gedes Sprechers erklärt ›Frau Glück‹, sie werde legenheitsjobs u. streifte schon als Jugendliden Jüngling nur unterstützen, wenn er sich cher durch Westeuropa. 1938 floh er vor den künftig in der Liebe verschwiegen u. vor- Nationalsozialisten über die Schweiz nach sichtig verhalte. Abschließend erklärt der Paris u. schließlich nach Südfrankreich. 1942 Sprecher, diese Lehre an alle jungen Lieben- wurde er – wie viele andere Juden – von dort nach Deutschland ausgeliefert, überlebte aber den weitergeben zu wollen. Im Hodoeporicon (240 Strophen zu je zehn im Unterschied zu den meisten seiner Leiachtsilbigen Reimpaaren; vier Handschriften) densgenossen Auschwitz u. Buchenwald. liegt eine Versifizierung des wohl von Sieg- Nach seiner Befreiung arbeitete er in Wien als fried von Gelnhausen stammenden Prosabe- Fotograf u. Journalist, schloss sich den Komrichtes Stede vnd tage reyse czu dem helgen grabe munisten an u. erhielt durch deren Vermittüber die 1433/34 unternommene Palästina- lung eine Einladung an das neu gegründete reise Philipps d.Ä. von Katzenelnbogen vor. Leipziger Literaturinstitut (später »LiteraW. übernimmt getreu die Details (Orts- u. turinstitut Johannes R. Becher«). 1956 sieZeitangaben, religiöse Bedeutung der be- delte er mit seiner österr. Frau Maxie in die suchten Orte, Strapazen der Reise, finanzielle DDR über, weil er sich dort als Schriftsteller Aufwendungen des Grafen) der Vorlage. Zu- ernst genommen fühlte u. ihm die gesellsätzlich stützt er sich nach eigener Aussage schaftl. Verhältnisse eine Nicht-Wiederhoauf mündl. Berichte des Grafen Philipp. W. lung des Er- und Überlebten zu garantieren reichert den Bericht mit ausführlicheren Er- schienen. Nach Maxies Tod (1977) blieb er klärungen der heilsgeschichtl. Zusammen- zunächst in der DDR, bevor er 1983 mit der hänge sowie mit Elementen an, welche die zweiten Ehefrau Susanne nach Wien zurückherrschaftslegitimierende u. panegyr. Funk- kehrte. W. schrieb polit. Abenteuerromane (Taifun tion des Werks steigern (rhetorischer Schmuck; breite Darstellung der »militia über den Inseln. Bln./DDR 1958. Bandidos. Ebd. christi« des Grafen; Blasonierung des Wap- 1963) u. Theaterstücke zu Gegenwartsproblemen (Josua läßt grüßen. Der Bungalow. Bln./ pens der Grafen von Katzenelnbogen). Weimar 1979), sein zentrales Thema u. Motiv Ausgaben: Adolf Bach: Eine Minneallegorie Eraber war das Überleben von Auschwitz. Exhard W.s [...]. In: Ders.: Germanistisch-histor. Studien. Bonn 1964, S. 450–456. – Ders.: E. Wa- plizit thematisiert wird das Lager nur in der meszhaffts Hodoeporicon [...]. In: ebd., Erzählung Der siebente Brunnen (Bln./Weimar 1970), aber auch seine Essays, Erzählungen, S. 410–440. Literatur: Adolf Bach, a. a. O., S. 391–456. – Romane u. Reisebücher handeln von Exil u. Tilo Brandis: Mhd., mittelniederdt. u. mittelnie- Ausgegrenztsein. Der siebente Brunnen gehört zu den einderländ. Minnereden. Mchn. 1968, Nr. 482. – Ingeborg Glier: Artes amandi. Ebd. 1971, S. 342–344. drucksvollsten Beispielen einer literar. Aus-

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einandersetzung mit dem Konzentrationsla- der in der Menge verschwindet. Vielleicht ist ger. In Episoden u. Geschichten wird der Er- auch das ein erfülltes Leben: die Welt in der mordeten gedacht u. zgl. demonstriert, wie Betrachtung zu erleben, die Freude am im Schatten der Verbrechen Poesie entsteht. Schauen.« In auswegloser Lage bleibt die Erzählkunst Weitere Werke: Reisebücher: Korsika – noch der Ort, an dem die Utopie überlebt. nicht entdeckt. Bln./DDR 1958. – Doppeltes AntIn W.s Exilerzählungen u. -romanen (Ein litz. Pariser Impressionen. Ebd. 1966. – Holland Zimmer in Paris. Bln./Weimar 1975. Hotel auf den ersten Blick. Lpz. 1972. – Provenzal. Reise Baalbek. Ebd. 1991) stehen nicht Flucht u. (zus. mit Maxie Wander). Ebd. 1978. Literatur: Michael Töteberg u. Georg WiegHeimatlosigkeit im Vordergrund, sondern die Neugier – auf andere Orte u. fremde haus: F. W. In: KLG. – Walter Grünzweig u. Ursula Menschen. Es scheint, als hätte W. dort ge- Seeber (Hg.): F. W. Leben u. Werk. Bonn 2005. Hannes Krauss funden, was er schon als Kind suchte, wenn er – lesend oder auf Bahnhöfen herumstehend – seinem niederdrückenden Alltag im jüd. Wander, Karl Friedrich Wilhelm, auch: Proletariat Wiens zu entfliehen suchte. In den N. R. Dove, * 27.12.1803 Fischbach bei Bildern vom Exil klingen utop. Sehnsüchte Hirschberg/Schlesien, † 4.6.1879 Quirl/ nach einer anderen, besseren Welt an. Riesengebirge. – Pädagoge, VolksaufkläAuch die einschlägigen Kapitel der Autorer, Sprichwortforscher. biografie (Das gute Leben. Mchn./Wien 1996. Neuausg. u. d. T. Das gute Leben oder Von der Sohn eines Dorfschneiders, begann W. nach Fröhlichkeit im Schrecken. Erinnerungen. Gött. kurzer Tischlerlehre 1818 als Schulpräparand 2006) zeichnen Bilder vom Leben der Emi- seine Lehrerlaufbahn, wozu er 1822–1824 am granten, die nichts beschönigen u. doch auch Lehrerseminar in Bunzlau die nötige AusbilSehnsüchte transportieren. Passagenweise dung erhielt. Von 1827 bis zu seiner Amtslesen sich diese Texte wie Reiseliteratur. Sie enthebung wegen revolutionär u. demokrafächern alternative Lebensperspektiven auf, tisch gesinnter Reden u. Schriften im Jahr exotische Gerüche u. Genüsse. Wenn die 1849 war er als Lehrer an der Stadtschule in Protagonisten durch die Straßen streifen, Hirschberg tätig. 1849–1852 gab er die Zeitwerden sie zu Erben (bzw. armen Verwand- schrift »Der pädagogische Wächter« heraus, ten) des Flaneurs. Oder – wie W. sich selbst in worin er die Positionen der fortschrittl. Lehder Erinnerung sah – zu unbeschwerten Va- rerschaft mit großem Engagement u. Mut gabunden. darlegte. Als liberal denkendem VolkspädW.s Texte sind nicht immer frei von stilis- agogen blieb dem »roten Wander« 1850 tischen Mängeln. Aber seine Themen sind schließlich nur die Ausreise nach Amerika. hochaktuell. Es geht um Toleranz u. um ge- Ein Jahr später kehrte er mit wichtigen lebte Multikulturalität. Das ›Ahasverische‹ Kenntnissen zurück, die er in seinem Aus(auf das sein Künstlername verweist) ist bei wanderungs-Katechismus (Glogau 1852. Neudr. ihm nicht Flucht, sondern Suche nach Glück: Bern 1988) vorlegte. Da die polit. Reaktion im guten Essen, bei den Frauen, im Süden, im ihm die Ausübung seines Berufs nicht geAustausch mit der Jugend u. nicht zuletzt im stattete, machte er 1852 zusammen mit seiner eigenen Kopf. Überlagert wird diese Suche Frau in Hermsdorf ein Gewürzgeschäft auf u. zwar von Erinnerungen – an Unterdrückung, setzte sich 1874 in Quirl zur Ruhe, um sich Verfolgung u. Tod –, aber die münden nicht völlig seinen Sprichwortstudien widmen zu in Hass, Verbitterung u. Abrechnungsgelüste, können. Im Laufe seines Lebens hat W. in sondern werden aufgehoben in einer Syn- unermüdl. Tätigkeit mehr als 50 selbststänthese aus Neugier u. Empathie. In einem dige pädagog. u. schulpolit. Schriften sowie unveröffentlichten Essay beschrieb W. eine zahlreiche Aufsätze u. Aufrufe in ZeitschrifGrunderfahrung seines Lebens so: »Niemand ten verfasst. Von ihm stammen aber auch die ist so aufgetan für Bilder und Zeichen wie der erste zusammenhängende Studie über Das Fremde, der Ausgestoßene, der Sonderling, Sprichwort (Hirschberg 1836. Neudr. Bern

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1983), ein als Tagebuch unter dem Pseudonym N. R. Dove verfasstes Politisches Sprichwörterbrevier (Lpz. 1872. Neudr. Bern 1990) sowie ein großes Deutsches Sprichwörter-Lexikon (5 Bde., Lpz. 1867–80. Neudr. Darmst. 1964. Zuletzt ebd. 2007. CD-ROM Bln. 2001. Zuletzt ebd. 2008). W. hat über 50 Jahre an diesem Lexikon gearbeitet, das bis heute als die vollständigste Sprichwörtersammlung aller Sprachen gilt. Weitere Werke: Der Satz in seiner Allseitigkeit, ein Lesebuch u. eine Sprachlehre. Hirschberg 1829. – Scheidemünze, oder neue dt. Sprichwörter. 2 Bde., Neiße 1831/32. – Christl. Glaubens- u. Sittenlehre in Sprichwörtern. Hirschberg 1836. – Abrahamisches Parömiakon. Breslau 1838. – Der Sprichwörtergarten. Ebd. 1838. – Vollst. Aufgabenschatz für Sprachlehrer in Volksschulen. 7 Bde., Bln. 1841–55. – Die Volksschule als Staatsanstalt. Lpz. 1842. – Die alte Volksschule u. die neue. Breslau 1848. – Taschenkatechismus für das Volk. Hirschberg 1849. Literatur: Bibliografien: Gotthold Krapp in: K. F. W. W., 1803–79. Hg. Ernst Eichler. Bln. 1954, S. 203–214. – Gerhard Hohendorf in: K. F. W. W. Der Kampf um die Schule. Bildungspolit. u. pädagog. Schr.en. Hg. ders. Bd. 1, Bln. 1979, S. 70–89. – Wolfgang Mieder (Hg.): K. F. W. W. Polit. Sprichwörterbrevier. Neudr. Bern 1990, S. XXXI–XXXVII. – Biografien: Otto Ruysch: Der ›Rote Wander‹. Hbg. 1892. – Karl Frei: K. F. W. W. Quirl 1903. – Fritz Thiele: Der ›rote Wander‹ u. seine Zeit. Darmst. 1953. – Franz Hofmann. K. F. W. W. Bln. 1961. – Weitere Titel: Rudolf Hoffmann: K. F. W. W. Eine Studie über den Zusammenhang v. Politik u. Pädagogik im 19. Jh. Langensalza 1929. – Günther Voigt: K. F. W. W. u. sein ›Polit. Sprichwörterbrevier‹. In: Dt. Jb. für Volkskunde 2 (1956), S. 80–90. – Annelies Herzog: K. F. W. W. als Sammler u. Bearbeiter des dt. Sprichwortschatzes. Diss. TH Dresden 1957. – Renate Kiessling: Der sozialkrit. Gehalt im Sprichwortschaffen v. K. F. W. W. In: Wiss. Ztschr. der Pädagog. Hochschule ›K. F. W. Wander‹ Dresden 7 (1973), S. 3–14. – G. Hohendorf: Einige Aspekte im Sprichwortschaffen K. F. W. W.s. In: ebd. 11 (1977), S. 11–17. – Klaus-Dieter Pilz: Wer war der Begründer der wiss. Sprichwörterforschung? Versuch einer Richtigstellung. In memoriam K. F. W. W. In: Muttersprache 89 (1979), S. 201–207. – Helmut Liebsch: Zur Erforschung u. Anwendung des Sprichwortes durch K. F. W. W. In: Linguist. Studien 56, Reihe A, (1979), S. 81–107. – W. Mieder: ›Gedanken sind zollfrei‹. Zu K. F. W. W.s ›Polit. Sprichwörterbrevier‹. In:

Wander Einheit in der Vielfalt. FS Peter Lang. Hg. Gisela Quast. Bern 1988, S. 326–342. – Hans-Manfred Militz: K. F. W. W. u. das roman. Sprichwort. In: Proverbium 13 (1996), S. 253–266. – Jürgen Schäfer: K. F. W. W.s Sprachbücher. Ein Beitr. zur Entwicklung des dt. Sprachunterrichts im 19. Jh. Ffm. u. a. 1999. – Dt. Sprichwörter-Lexikon. Bln. 2001 (Elektron. Ressource). – Helmut Neubach: K. F. F. W. Pädagoge, Schriftsteller. In: Ostdt. Gedenktage 2003/2004 (2005), S. 198–202. Wolfgang Mieder / Red.

Wander, Maxie, * 3.1.1933 Wien, † 20.11. 1977 Kleinmachnow bei Berlin/DDR. – Erzählerin, Dokumentaristin. W. stammte aus einer Wiener Arbeiterfamilie. Sie verließ die Schule vor dem Abitur u. lebte zunächst von Gelegenheitsarbeiten. Nach ihrer Heirat mit dem österr. Schriftsteller Fred Wander siedelte sie 1958 in die DDR über. Sie arbeitete bis zu ihrem frühen Tod als Fotografin, Drehbuchautorin u. Journalistin. Ihre erzählerischen Versuche, v. a. Kinderu. Kurzgeschichten, sind verstreut in Literaturzeitschriften u. Sammelbänden veröffentlicht. Auskunft über ihr Leben geben die beiden von Fred Wander postum herausgegebenen Bände Tagebücher und Briefe (Bln./ DDR 1979. U. d. T. Leben wär’ eine prima Alternative Darmst./Neuwied 1980. 251989. Ffm. 2009) u. Ein Leben ist nicht genug. Tagebuchaufzeichnungen und Briefe (ebd. 1990. Ffm. 2007). Es sind Dokumente einer sensiblen Wahrnehmung u. neugierigen Intelligenz, deren Nahsicht auf die Wirklichkeit die eigene Person einschließt. W.s Krebserkrankung löste einen Prozess der Selbstvergewisserung aus, den sie als intensivere Form des Lebens bezeichnete. Bekannt wurde W. mit Guten Morgen, Du Schöne. Protokolle nach Tonband (Bln./DDR 1977. U. d. T. Guten Morgen, Du Schöne. Frauen in der DDR. Protokolle. Mit einem Vorwort von Christa Wolf. Darmst./Neuwied 1979. 231988. Ffm. 2007). Die Selbstaussagen der 17 Frauen aller Altersklassen u. sozialen Schichten sind als Äußerungen zu Beruf, Familie, Partnerschaft, Glücksvorstellungen u. Sexualität lebendige Spiegelbilder des Lebens in der DDR. Sie bezeugen ein weibl. Bewusstsein, das auch gegen Anpassungszwänge den Anspruch auf

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eigene Formen der Selbstverwirklichung Reimann, Irmtraud Morgner. In: Dies.: Der Worte geltend macht. Die Protokolle zeigen eine Adernetz. Ess.s u. Reden. Ffm. 2006, S. 129–141. Sibylle Cramer / Red. Gesellschaft, die das Versprechen einer Gleichstellung der Geschlechter in der Praxis nicht einlösen konnte. Aber der gelassene u. Wandrey, Uwe, * 10.5.1939 Hamburg. – zgl. eigensinnige Tonfall der Frauen lässt ein Lyriker, Erzähler, Kinder- u. JugendSelbstvertrauen erkennen, das ihnen durch buchautor, Hörspielautor. die materielle Unabhängigkeit zuwuchs. Das Buch hat dank seiner offenen Auseinander- Der gelernte Schiffbauer studierte nach setzung mit allg. Problemen des gesellschaftl. Abendschulabitur u. ReserveoffiziersausbilLebens von Frauen auch im Westen eine dung Biologie, Philosophie, Geschichte u. Germanistik (Promotion über Das Motiv des starke Resonanz gefunden. Weitere Werke: Martine. In: Das Magazin Kriegs in der expressionistischen Lyrik. Hbg. (1968), H. 6, S. 31–33 (E.). – Provenzal. Reise (zus. 1972). Seit 1983 lebt W. als freier Schriftstelmit Fred Wander). Lpz. 1978. – Frank, die Dialektik ler u. Journalist in Hamburg u. auf der griech. u. das gewöhnl. Meerschwein. Ein Versuch aus den Insel Paros. Kinderprotokollen. In: Auskunft 2. Hg. Stefan Mit seinen frühen, im selbst gegründeten Heym. Mchn. 1978, S. 299–309. – Lob des Knob- Quer-Verlag erschienenen Gedichtbänden lauchs (zus. mit Fred Wander). In: Das Magazin (Reizreime. Hbg. 1966. Kampfreime. Ebd. 1968), (1978), H. 7, S. 24–30. – Erwachen. In: ebd. (1978), der von ihm herausgegebenen Anthologie H. 8, S. 6–8. – Fannie. In: ebd. (1978), H. 11, Stille Nacht allerseits! Ein garstiges Allerlei S. 28–30. – Sonntag im Bois-Vincennes. In: ebd. (Reinb. 1972) u. dem Erzählungsband Lehr(1979), H. 3, S. 6–8. – Eine Straßenbahn namens zeitgeschichten (Mchn. 1973) gehört W. zu den Emma. In: Jb. für Kinder. Bln./DDR 1980. gesellschaftskrit. Autoren der 68er-GeneratiLiteratur: Christa Wolf: Zum Tod v. M. W. In: Dies.: Die Dimension des Autors. Bln./DDR 1978, on, die eine realistische Schreibweise anDarmst./Neuwied 1987, S. 210–213. – Dies.: Be- strebten u. kollektive literar. Produktions- u. rührung. In: Dies.: Fortgesetzter Versuch. Aufsät- Vertriebsformen erprobten. Gesellschaftliche ze, Gespräche, Ess.s. Lpz. 1980, S. 280–290. U. d. T. Probleme (insbes. aus der Alltags- u. BerufsLesen u. Schreiben. Neue Slg. Darmst. 1980, welt) wollte W. anschaulich u. unterhaltsam S. 209–221. – Cordula Haux: M. W. In: KLG. – darstellen. In diesem Sinne arbeitete W. Michael Hametner: Selbstfindung [...]. In: NDL 36 1971–1981 als Jugendbuchautor (Alles gelogen. (1988). – Patricia Harbord: Beyond paper heroines. Reinb. 1975) u. als Herausgeber der rororoM. W.s ›Guten Morgen, du Schöne‹ and its recep- Reihen »rotfuchs« (seit 1972) u. »panther« tion in the GDR. In: Determined women. Studies in (seit 1979). Im gleichen Zeitraum publizierte the construction of female subject 1900–90. Hg. u. er Anthologien, in denen »öffentliche Uneingel. v. Jennifer Birkett u. Elizabeth Harvey. Basingstoke u. a. 1991, S. 146–172. – Chantal Oest- vernunft und private Resignation« die zenreicher-Mordiconi: M. W. ›Leben wär’ eine prima tralen Themen sind (Kein schöner Land. Alternative. Tagebücher u. Briefe‹, Fritz Zorn Deutschsprachige Autoren zur Lage der Nation. ›Mars‹. Zwei Schriftsteller u. ihre Auseinanderset- Ebd. 1979). Daneben schrieb er Hörspiele u. zung mit der todbringenden Krankheit. Luxem- Liedtexte. burg 1996. – Robert Gillett: Manipulating the W.s erster Roman, Auffällig ist immer die medium. M. W.s ›Guten Morgen, du Schöne‹ and Stille (Königst./Taunus 1979), ist eine realisthe concept of ›Protokollliteratur‹ in East and West. tische Schilderung des Bundeswehrmilieus In: Literature, markets and media in Germany and anhand der Geschichte eines skeptisch-neuAustria today. Hg. Arthur Williams u. Stuart Parks. gierigen Rekruten, der unbegründet in SaOxford 2000, S. 139–158. – Sabine Zurmühl: Das botageverdacht gerät u. »aus dem Tritt Leben, dieser Augenblick. Die Biogr. der M. W. Bln. 2001. 2., überarb. Aufl. Ebd. 2001. – Thomas Kraft: kommt«. In dem Roman Tagebuch eines ÜberM. W. In: LGL. – Elisabeth Moltmann-Wendel: Das läufers (Hbg. 1990) beschreibt W. die VerstöLeben lieben – mehr als den Himmel. Frauenpor- rungen eines Berufsaussteigers, der mit seiträts. Gütersloh 2005. – C. Wolf: ›Der ganze nen Tagebuchnotizen einen neuen, verfremmenschl. Entwurf‹: Inge Müller, M. W., Brigitte denden Blick auf die Kulturgeschichte zu

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lenken vermag. W. entwickelt dabei eine kunstvolle Prosa, bei der wissenschaftlichtechn. Diktionen mit konventionellen Erzählformen montiert werden, um die Vergewaltigung des Menschen durch einen globalen techn. Fortschritt zu verdeutlichen. Weitere Werke: Klein Erna auf Linkskurs. Hbg. 1970 (E.en). – Der Räuber Ratzeputz (zus. mit Hansjörg Langenfass). Reinb. 1977. – Der Zauberbäcker Balthasar. Hbg. 1981 (Kinderbuch). – Ein Gummibär hat’s schwer. Reinb. 1989 (Kinderbuch). – Traumvogel flieg (zus. mit Elisabeth Reuter). Hbg. 1991. – Gummibärs Glück. Ebd. 1992 (Kinderbuch). – Liebesfluchten. Was Frauen in den Süden zieht. Ebd. 1992. – Kraftwerk Sonne. Wie wir natürl. Energiequellen nutzen u. die Umwelt schützen. Reinb. 2003. – Herausgeber: Der Traumschrank. Geschichten u. Gedichte. Hbg. 1980. – Heilig abend zusammen. Ein garstiges Allerlei. Reinb. 1982 (E.en). Literatur: LKJL 3.

Walter Uka / Red.

Wangenheim, Gustav (von), auch: Hans Huss, * 18.2.1895 Wiesbaden, † 5.8.1975 Berlin/DDR. – Dramatiker, Regisseur, Schauspieler. W., Sohn des Schauspielers Eduard von Winterstein, war in den 1920er Jahren an der Entwicklung des Agit-Prop-Theaters beteiligt. Nach einer Schauspielausbildung bei Max Reinhardt u. Engagements am Wiener Burgtheater, in Darmstadt, Hamburg u. Berlin trat er 1918 in die USPD, 1922 in die KPD ein, brach mit dem bürgerl. Kunstbetrieb u. schloss sich der revolutionären Arbeiterbewegung an. W. war Mitarbeiter, später künstlerischer Leiter des »Arbeitertheaterbunds Deutschland« (ATBD). Für den »Zentralen Sprechchor der KPD«, der in den Programmen der Agit-Prop-Truppen bei Mai- u. Revolutionsfeiern u. Versammlungen auftrat u. mit deklamatorischen, satir. Versen eine Einheitsfront unter Führung der KPD propagierte, schrieb W. das Chorwerk Chor der Arbeit (1923). 1924 gründete W. in Berlin die »Barbusse-Truppe« (Tourneen), 1931 das Berufsschauspielerkollektiv »Truppe 1931«, für das er auch als Szenarist tätig war. Die Grundstruktur seiner Stücke besteht im »Umbau« einer Identifikationsfigur auf dem Weg der »szenischen Beweisführung«. Das

erste, erfolgreiche Stück Die Mausefalle (1931. Verändert u. d. T. Die Maus in der Falle. Bln./ SBZ 1947) ist eine politisch-musikal. Revue u. beschreibt den Weg des Buchhalters Fleißig vom Einzelkämpfer gegen wirtschaftl. Not zum politisch bewussten Klassenkämpfer. Da liegt der Hund begraben (1932) deckt die ideolog. Funktion von Begriffen wie Heimat, Volk, Ehre, Vaterland, Familie auf. 1933 emigrierte W. mit seiner Frau Inge über Paris in die Sowjetunion, wo er Stücke schrieb u. als Filmregisseur tätig war. Eine krit. Aufarbeitung von W.s polit. u. künstlerischen Positionen im Exil steht noch aus (vgl. Trapp 1983: »Preisgabe der künstlerischen Identität«). 1945 kehrte er nach Ost-Berlin zurück, war vorübergehend Intendant des Deutschen Theaters, seit 1946 Filmregisseur, Drehbuch- u. Bühnenautor (moralisierende »Wandlungsdramen«; z. B. für die FDJ: Du bist der Richtige. Bln./DDR 1950). Weitere Werke: Wer ist der Dümmste. 1932 (D.). – Helden im Keller. Urauff. zus. mit ›Agenten‹. Moskau 1934. Buchausg. Kiew/Charkow 1935. Abgedr. in: Stücke aus dem Exil. Hg. Hansjörg Schneider. Bln./DDR 1984, S. 11–42 (Einakter). – Olympisches Ziel. Moskau 1940 (E.). – Wir sind schon weiter. Urauff. Bln./DDR 1951 (D.). – Auch in Amerika. Schausp. in drei Akten. Bln. 1951. – An beiden Ufern der Spree. Urauff. Bln./DDR 1952 (D.). – Hier muß ein Mann ins Haus. Spanisches Lustsp. in vier Bildern nach einem Motiv v. Lope de Vega. Bln./DDR 1960. – Mit der Zeit werden wir fertig. Eine Studentenkomödie. Ebd. 1958. – Fährmann wohin? Erzählungen u. Novellen. Ebd. 1961. – Im Kampf geschrieben. Drama, Prosa, Lyrik. Ebd. 1962. – ›Da liegt der Hund begraben‹ u. a. Stücke aus dem Repertoire der Truppe 31. Reinb. 1974. Literatur: Ludwig Hoffmann u. Daniel Hoffmann-Ostwald: Dt. Arbeitertheater 1918–1933. Eine Dokumentation. Bln./DDR 1961. – Frithjof Trapp: G. v. W.s Einakter ›Helden im Keller‹ u. ›Agenten‹. In: Sammlung (1978), H. 1, S. 37–47. – L. Hoffmann (Hg.): Theater der Kollektive. Proletarisch-revolutionäre Berufstheater in Dtschld. 1928–33. Bln./DDR 1980. – F. Trapp: ›Ich empfehle, die ›Prawda‹ über die West-Ukraine nachzulesen‹ [...]. G. v. W.s Schausp. ›Die Stärkeren‹. In: Exilforsch. 1 (1983), S. 130–146. – Tim Evers u. Matthias Hausding: Wenn ihr v. unseren Schwächen sprecht: G.v.W. Bln. 2001. – Rainhard May u. Hendrick Jackson (Hg.): Filme für die Volksfront:

Wangenheim Erwin Piscator, G. v. W., Friedrich Wolf – antifaschist. Filmemacher im Exil. Ebd. 2001. – Michael David Richardson: Revolutionary theatre and the classical heritage. Inheritance and appropriation from Weimar to the GDR. New York 2007. Rita Seuß / Red.

Wangenheim, Inge(borg) von, geb. Franke, * 1.7.1912 Berlin, † 6.4.1993 Weimar. – Erzählerin, Publizistin.

140 der Musen. Halle 1971 (Ess.). – Die tickende Bratpfanne. Rudolstadt 1974 (Autobiogr.). – Von Zeit zu Zeit. Halle 1975 (Ess.). – Hamburgische Elegie. Eine lebenslängl. Beziehung. Ebd. 1977 (Ess.). – Die Entgleisung. Ebd. 1980 (R.). – Mit Leib u. Seele. Ausgew. Publizistik. Ebd. 1982. – Schauplätze. Rudolstadt 1983 (E.). – Weiterbildung. Halle 1983 (E.). – Station 5. Romanze einer Genesung. Halle/ Lpz. 1985. – Deutsch u. Gesch. Halle 1987 (R.). – Der goldene Turm. Eine Woche Paris. Rudolstadt 1988. – Auf Germanias Bärenfell. Ein Dtschld.-Ess. Aus dem Nachl. hg. u. mit einem Anhang vers. v. Dora Lattermann. Bucha bei Jena 2002. – Aus den Briefen an Hellmuth u. Eva Führer (1969–1989). Ausgew. v. Detlef Ignasiak. In: Palmbaum 10 (2002), H. 2, S. 29–37. – Die Entgleisung. Halle 2004.

W. schloss sich 1928 Erwin Piscators »Gruppe Junger Schauspieler« an, trat 1930 in die KPD ein u. war seit 1931 Mitgl. der Polittheatergruppe »Truppe 1931« ihres Ehemanns Gustav von Wangenheim. 1933 emigrierten beide in die UdSSR, wo W. sich in der BeweLiteratur: Sigurd Schmidt: I. v. W. In: Lit. der gung »Freies Deutschland« engagierte. Nach Dt. Demokrat. Republik. Hg. Hans Jürgen Geerdts. der Rückkehr aus dem Exil 1945 arbeitete sie Bd. 3, Bln./DDR 1987, S. 453–468, 625–628. – Jenszunächst vorrangig am Theater, war Mitbe- Fietje Dwars: I. v. W. Erzählerin u. Essayistin, gründerin des »Bundes deutsche Volksbüh- Schauspielerin u. Malerin. In: Palmbaum 10 (2002), ne« u. Herausgeberin der Zeitschrift »Die H. 2, S. 22–27. – Frithjof Trapp: I. v. W. Porträt einer Stalinistin. In: Jahrhundertschicksale. Frauen Volksbühne« (1947/48). Mit Mein Haus Vaterland (Bln./DDR 1950. im sowjet. Exil. Hg. Simone Barck, Anneke de 1976) u. Auf weitem Feld (ebd. 1954) zählt W. Rudder u. Beate Schmeichel-Falkenberg. Bln. 2003, S. 150–161. Carola Samlowsky / Red. zu den Wegbereitern der DDR-Memoirenliteratur. Ihre Romane schildern propagandistisch die Aufbaujahre des DDR-Sozialismus: Warbeck, Veit, * vor 1490 Schwäbisch Am Morgen ist der Tag ein Kind (ebd. 1957) Gmünd, † 4.6.1534 Wittenberg. – Überthematisiert die »konterrevolutionären« setzer des Romans von der schönen MaAufstände des 17. Juni 1953, Das Zimmer mit gelone. den offenen Augen (Halle 1965) schildert exemplarisch den Gesinnungswandel von W. stammte aus einer wohlhabenden PatriKleinbürgern, darunter auch einer ehemals zierfamilie in Schwäbisch Gmünd. Er stuüberzeugten Nationalsozialistin. Mit den dierte zunächst in Paris, ging 1514 zum JuStammtischgeschichten Die hypnotisierte Kell- rastudium nach Wittenberg, wandte sich aber nerin (Rudolstadt 1968) wendet sich W. hu- bald der Theologie zu u. wurde nach Abmoristischen Darstellungsformen (z. B. dem schluss des Studiums zum Priester geweiht; Schwank) zu; die Unterhaltungsromane Die am 30.9.1519 hielt er seinen ersten GottesProbe (Halle 1973) u. Spaal (Rudolstadt 1979) dienst. W. gehörte zum Schüler- u. Freundeskreis behandeln den Antagonismus der beiden dt. Staaten. Daneben veröffentlichte W. provo- Luthers u. hat sich insbes. an Georg Spalatin kative literaturtheoret. Essays, die jedoch angeschlossen, mit dem ihn eine lebenslange Grundlinien der DDR-Kulturpolitik ver- Freundschaft verband. Über Spalatin fand er pflichtet blieben (Die Geschichte und unsere Ge- auch Zugang zum kursächs. Hof, dem er mit schichten. 1966. Genosse Jemand und die Klassik. zahlreichen diplomatischen Missionen diente – wegen seiner Französischkenntnisse insbes. Halle 1981). zum frz. Hof. Seit 1523 gehörte er als Sekretär Weitere Werke: Einer Mutter Sohn. Bln./DDR 1958 (R.). – Prof. Hudebraach. Halle 1961 (R.). Als des Kurfürsten u. Hoflehrer des Prinzen JoDrama Urauff. 1964. – Reise ins Gestern. Ebd. 1967 hann Friedrich selbst zum Hof; 1532 wurde (Reportage). – Kalkutta liegt nicht am Ganges. er mit der Würde eines kurfürstl. Rats u. ViRudolstadt 1970 (Reportage). – Die Verschwörung zekanzlers betraut.

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An literar. Werken W.s ist lediglich eine Übersetzung des zwischen 1453 u. 1457 entstandenen frz. Magelonen-Romans (Ystoire du vaillant chevalier Pierrefilz du conte de proivence et de la belle Maguelone) bekannt. W. schrieb seine Übersetzung 1527; möglicherweise hat er sie dem Prinzen Johann Friedrich zur Hochzeit mit der Prinzessin Sibylle von Cleve-Berg am 2.6.1527 in Torgau überreicht. Diese handschriftl. Fassung ist erst 1535 postum von Spalatin in Augsburg zum Druck gebracht worden (Die Schön Magelona Ejn fast lustige und kurtzweylige Histori [...]), wurde dann aber bis ins 19. Jh. zu einem der beliebtesten, immer wieder nachgedruckten u. bearbeiteten ›Volksbücher‹. Der Stoff ist schon vor W. verschiedentlich bearbeitet worden. So stammt das anonym überlieferte Märe Der Busant noch aus dem frühen 14. Jh., wohingegen eine Übersetzung der ital. Novelle Filoconia und Eugenia (1475) durch einen gewissen Peter Wernher 1515 in Nürnberg im Druck erschienen ist. Sind diese beiden Stoffbearbeitungen dem Magelonen-Roman nur hinsichtlich ihrer Erzählstruktur, nicht aber in wichtigen Einzelheiten, wie z.B. den Namen der Helden, vergleichbar, steht eine weitere handschriftl. dt. Fassung aus dem frühen 16. Jh., die auf eine ital. Stoffüberlieferung zurückgehen soll (Degering), W.s Textfassung schon recht nahe. Das Erzählmodell der Schönen Magelone verbindet unterschiedl. Erzählformen, so v. a. die Bauform der Legende u. die des antiken Romans mit seiner charakterist. Erzählfolge von Liebesvereinigung u. Trennung der Liebenden, Prüfung u. Bewährung, erneuter Vereinigung u. Legitimation der urspr. illegitimen Liebe. Im Mittelpunkt des Romangeschehens stehen das heiml. Verlöbnis Peters von Provence u. Magelones von Neapel, ihre Flucht aus Neapel u. ihre Trennung; dann aber auch ihre Bereitschaft zu Dienst u. Unterwerfung, die Einsicht in die Notwendigkeit des Verzichts auf die unmittelbare Realisierung ihres Liebesglücks u. – auf dieser Grundlage die offizielle Vereinigung u. Erhöhung zum Herrscherpaar. Historisch bedeutsam ist die Inszenierung eines privaten Geschicks, das sich aus der Öffentlichkeit des Hofes ausgrenzt, schließlich aber doch in sie

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integriert wird. Hier werden Dimensionen eines Individualisierungsprozesses erkennbar, die im Verlauf der weiteren Romangeschichte immer deutlicher in den Vordergrund treten werden. Spalatin hat den Erstdruck der Schönen Magelone mit einer moralisch-didakt. Leseanleitung für Eltern u. Kinder versehen. In der weiteren Rezeptionsgeschichte trat dieser didakt. Aspekt immer weiter in den Hintergrund. Ausgaben: Die schöne Magelone, aus dem Frz. übers. v. V. W. 1527. Nach der Originalhs. hg. v. Johannes Bolte. Weimar 1894. – Pierre de Provence et la belle Maguelonne. Hg. Alphonse Biedermann. Paris/Halle 1913. – Die schöne Magelona. In der Fassung des Buchs der Liebe (1587). Hg. Hans-Gert Roloff. Stgt. 1969. – Die schön Magelona. Augsb. 1537. Nachdr. mit einem Nachw. v. Renate NollWiemann. Hildesh./New York 1975. – L’ystoire du vaillant chevalier Pierre filz du Conte de Provence et de la belle Maguelonne. Texte du Manuscrit S IV 2 de la Landesbibl. de Cobourg (XVème siècle). Hg. Régine Colliot. Aix-en-Provence/Paris 1977. – Magelone. In: Romane des 15. u. 16. Jh. Nach den Erstdrucken mit sämtl. Holzschnitten. Hg. JanDirk Müller. Ffm. 1990, S. 587–677 (Text) u. 1226–1260 (Komm.). Literatur: Bibliografien: Bodo Gotzkowsky: ›Volksbücher‹ [...]. Bibliogr. der dt. Drucke. Tl. 1: Drucke des 15. u. 16. Jh. Baden-Baden 1991, S. 93–104; Tl. 2: Drucke des 17. Jh. Ebd. 1994, S. 35–38, 200. – VD 16. – VD 17. – Weitere Titel: J. Bolte: V. W. In: ADB. – Infried Theiß: Die ›Schöne Magelona‹ u. ihre Leser. In: Euph. 73 (1979), S. 132–148. – Werner Röcke: Minne, Weltflucht u. Herrscherlegitimation. In: Germanistik [...]. Vorträge des Dt. Germanistentages 1984. Hg. Georg Stötzel. Tl. 2, Bln. u. a. 1985, S. 144–159. – V. W. u. die kurzweilige Historia v. der schönen Magelone [...]. Red. Stephan Opitz. Schwäbisch Gmünd 1985 (Ausstellungskat.). – Xenja v. Ertzdorff: Romane u. Novellen des 15. u. 16. Jh. in Dtschld. Darmst. 1989. – HKJL, Bd. 1, Register. – W. Röcke: Erzähltes Wissen. ›Loci communes‹ u. ›RomanenFreyheit‹ im ›Magelonen‹-Roman des SpätMA. In: Wissenslit. im MA u. in der frühen Neuzeit [...]. Hg. Horst Brunner u. a. Wiesb. 1993, S. 209–226. – Volker Mertens: Aspekte der Liebe. Ihre Semantik in den Prosaromanen ›Tristrant‹, ›Melusine‹, ›Magelone‹ u. ›Goldfaden‹. In: Personenbeziehungen in der mittelalterl. Lit. Hg. Helmut Brall u. a. Düsseld. 1994, S. 109–134. – Laure Abplanalp: Die ›schöne Magelone‹ im Kontext der Übersetzungs-

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theorie. In: Text im Kontext. Anleitung zur Lektüre dt. Texte der frühen Neuzeit. Hg. Alexander Schwarz u. a. Bern 1997, S. 13–22. – Angelika Lehmann-Benz: ›Sorgen‹ u. ›Versorgen‹. Zu Techniken des Selbst in Prosahistorien der frühen Neuzeit. In: Literalität u. Körperlichkeit. Hg. Günter Krause. Tüb. 1997, S. 73–89. – Armin Schulz: Poetik des Hybriden. Schema, Variation u. intertextuelle Kombination in der Minne- u. Aventiureepik [...]. Bln. 2000. – Laura Auteri: Bilder v. Arabern u. Türken im 16. Jh. ›Fortunatus‹ (1509), ›Schöne Magelone‹ (1527), ›Historia von D. Johann Fausten‹ (1587). In: Dt. Kultur u. Islam am Mittelmeer. Hg. dies. u. a. Göpp. 2005, S. 141–157. – Barbara Lafond-Kettlitz: De l’amour courtois à ›l’amour marié‹. Le roman allemand (1456–1555). Bern 2005. – Silke Winst: Die Topographie des Selbst. Zur Ausdifferenzierung v. Außen- u. Innenräumen in spätmittelalterl. Liebes- u. Reiseromanen. In: Grenze u. Grenzüberschreitung im MA. Hg. Ulrich Knefelkamp. Bln. 2007, S. 152–165. Werner Röcke / Red.

Warburg, Aby M. (Moritz), * 13.6.1866 Hamburg, † 26.10.1929 Hamburg. – Kunsthistorischer Kulturwissenschaftler. W. war der älteste Sohn von Charlotte Warburg, geb. Oppenheim, u. dem Hamburger jüd. Bankier Moritz M. Warburg. Schon als Jüngling von 13 Jahren entschied er sich, Kunsthistoriker zu werden. Er überließ daher die Führung der Warburg-Bank dem zweitgeborenen Bruder Max M. gegen das Versprechen, dass dieser ihm zeitlebens die Bücher kaufen würde, die er benötigte. Nach dem doppelten Abitur am Hamburger Realgymnasium u. am humanistischen Johanneum, an dem die Begegnung mit Lessings Laokoon zu einem entscheidenden Erlebnis wurde, begann er das Studium zum Wintersemester 1886/87. Die Stationen waren Bonn, München, Florenz, Straßburg, Berlin, Straßburg, wo er im Frühjahr 1892 mit dem Rigorosum die Promotion in Kunstgeschichte als Hauptfach sowie Archäologie u. Philosophie als Nebenfächern abschloss. Daneben hatte er Lehrveranstaltungen in den Fächern Religionswissenschaft u. Geschichte (Bonn) sowie in Psychologie (Berlin) besucht u. sich in München mit der damals modernen Kunst u. dem Museumsbetrieb auseinandergesetzt. Ein Brief an die Eltern offenbart das außer-

ordentliche wissenschaftl. Ethos des Studenten: in harter, quellenorientierter Arbeit den modisch-schwärmerischen bzw. rein formalstilistisch orientierten Ästhetizismus der Zeit im Umgang mit der Kunst abzulösen durch die Begründung einer strengen Kunstwissenschaft im transdisziplinären Kontext. Der Aufenthalt in Florenz 1888/89 brachte den Durchbruch. Unter der Leitung des Kunsthistorikers August Schmarsow hatten sich neun Studenten als »Kunsthistorisches Institut in Florenz« versammelt, um in Anschauung der berühmten Originale in Kontakt mit den dortigen quellensatten Archiven u. Bibliotheken zu forschen, ein Jahrzehnt bevor das eigentl. Institut offiziell begründet wurde. Dort fand W. das Thema zu seiner Dissertation Sandro Botticellis »Geburt der Venus« und »Frühling«. Eine Untersuchung über die Vorstellungen von der Antike in der italienischen Frührenaissance. Hubert Janitschek promovierte ihn damit Anfang März 1892 in Straßburg; Ende 1892 erschien die Arbeit zweifach im Druck, a) als Dissertationsdruck u. b) als Verlagsausgabe mit Druckdatum 1893 (Hbg./Lpz.). Das schmale Werk stellt nicht weniger als die Gründungsurkunde einer neuen Kunstwissenschaft dar. Es verwirklicht methodisch bereits die Ansprüche, die Erwin Panofsky 40 Jahre später an die moderne Ikonografie u. Ikonologie stellen wird. W. zeigt die Wege, auf denen das Kunstwerk bis in die Linie hinein – also formal-stilistisch u. nicht nur im Gehalt – als bewusste Auseinandersetzung des Künstlers in seiner spezif. Situation, d.h. als Audruck histor. Lebens, deutbar wird. Er eröffnet der Kunstgeschichte ferner eine neue Sicht auf die Antike u. auf die Funktion ihrer Rezeption in der Renaissance, indem er mit Nietzsche gegen Winckelmanns Sicht von der ›edlen Einfalt und stillen Größe‹ deren dionys. Seite wahrnimmt u. evident macht, dass Künstler der Frührenaissance antike Muster v. a. dann aufrufen, wenn es um die Darstellung dionysisch-bewegten Lebens geht. Florenz blieb W.s Lebensmittelpunkt bis 1903. Dort hatte er die aus einem christl. Elternhaus stammende Hamburger Künstlerin Mary Hertz (1866–1934) kennengelernt, die 1897 seine Frau wurde. Das Ehepaar hatte

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drei Kinder. W. hielt die Verbindungen zu Florenz u. insbes. zum 1897 gegründeten Kunsthistorischen Institut bis an sein Lebensende aufrecht, nannte er sich doch ›im Kern ein Florentiner‹. Seit 1904 wurde Hamburg zum ständigen Wohnsitz. Trotz dieses Ortswechsels kann man die ganze Spanne von 1893 bis 1918 als die zweite Phase in W.s Leben u. Schaffen bezeichnen. In der Gewissheit, einen neuen Schlüssel zum Zusammenhang von Kunst bzw. Bild u. Kultur gefunden zu haben, empfindet er ein starkes Sendungsbewusstsein, das ihn zu einer weit verzweigten öffentl. Wirksamkeit veranlasst. Er hält mit überwältigendem Erfolg Vorlesungen zur ital. Frührenaissance beim Hamburger Vorlesungswesen, spricht bei der Berliner kunsthistor. Gesellschaft, im Kunsthistorischen Institut in Florenz, bei den Internationalen Kunsthistorischen Kongressen, bei denen er auch organisatorisch maßgeblich tätig wird, sowie beim Hamburger Kongress der Philologen u. Schulmänner. Ausstellungen werden in Hamburg von ihm organisiert, internat. Historiker-Kongresse finden ihn als Teilnehmer u. ebenso der 1. Kongress für Aesthetik und allgemeine Kunstwissenschaft. Hamburg erlebt ihn in den verschiedensten Funktionen, nicht zuletzt als Befürworter der Einrichtung einer archäolog. Professur, der Gründung einer Universität sowie in vielen anderen Bereichen als einen energ. Kulturpolitiker. Als er einen Ruf an die Universität Halle abgelehnt hatte, verlieh ihm die Hansestadt 1912 den Titel Professor. 1895/96 nutzte er eine privat veranlasste AmerikaReise zu einer Expedition zu den Pueblo-Indianern, um Erkenntnisse über die Prägung von Symbolen zu gewinnen. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs u. der Übertritt Italiens zu den Gegnern des Deutschen Reiches erschütterten ihn zutiefst. Mit der Herausgabe einer Kriegsillustrierten hoffte er, Einfluss auf die ital. Politik nehmen zu können, u. mit der Einrichtung einer Kriegskartothek versuchte er, gleichsam mitleidend seine persönl. Anteilnahme am Weltgeschehen zu demonstrieren, eine Beanspruchung, die ihn nervlich mehr u. mehr an den Rand des Zusammenbruchs brachte. Seit 1902 baute er seine Bibliothek systematisch aus; schon

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1904 fasste er den Plan, ein Institut daraus zu machen; seit 1908 stellte er Assistenten ein, um den Plan zu forcieren. 1915 war die Verwirklichung soweit gediehen, dass er die Bibliothek als »Institut für Ausdruckskunde« u. »Institut für methodologische Grenzüberschreitung« Berliner Schülern Adolph Goldschmidts, darunter Erwin Panofsky, vorstellen konnte. Was W. damals »vergleichende Ikonologie« oder auch »kulturwissenschaftliche Ikonologie« nannte, bei der im kulturellen Kontext Wort u. Bild zusammengesehen u. alle Bildgattungen einbezogen werden, trägt heute den Namen Bildwissenschaft, u. Warburg wird mit Recht als deren Begründer bezeichnet. Zwischen 1894 u. 1918 sind sämtl., der Botticelli-Dissertation folgende, wegweisende Abhandlungen W.s entstanden. Allen gemeinsam ist die Frage nach der Bedeutung oder Funktion der Antike als einer Auseinandersetzung fordernden Macht in jeweiligen kulturellen Kontexten. Hier sei auf vier Beiträge Bezug genommen. In Dürer und die italienische Antike prägt W. für den Ausdruck leidenschaftl. Erregung den Begriff »Pathosformel«, über den inzwischen in z.T. verwirrender Vielfalt geschrieben worden ist. Er liefert damit einen Baustein zu seinem Lebensthema ›Austausch bildnerischer Kultur zwischen Norden und Süden‹ u. legt quasi den Grundstein zu seinem letzten Projekt, dem Fragment gebliebenen, berühmten Mnemosyne-Atlas. In der Abhandlung über Francesco Sassettis letztwillige Verfügung geht es W. darum, das Psychogramm eines bürgerl. Frührenaissance-Menschen vorzulegen, indem er unter Beiziehung des Testaments des Stifters zeigt, dass die Grabkapelle Sassettis in der Vereinigung von christl. u. antiken Elementen zwar keine stilistische Einheitlichkeit gewinnt, aber den perfekten Ausdruck der geistig-seel. Gestimmtheit des Auftraggebers widerspiegelt. D.h. das Wort des Testaments wird als Hilfmittel eingesetzt, um den visuellen Eindruck schlüssig zu deuten mit dem Ziel, Jacob Burckhardts Charakteristik des Renaissance-Menschen deutlich zu differenzieren. Mit dem Vortrag auf dem 10. Internationalen kunsthistorischen Kongress in Rom 1912 über Italienischen Kunst und inter-

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nazionale Astrologie im Palazzo Schifanoja zu Ferrara (Druck 1922) erwarb W. seinen größten öffentl. Triumph u. damit internat. Anerkennung. Abgesehen von der Entschlüsselung eines bis dahin für undeutbar gehaltenen ›Bilderrätsels‹ konnte er zeigen, dass Renaissance nicht nur Entdeckung des dionys. Elements der Bewegung, sondern auch Einbruch des antik-dämonischen Elements der Astrologie ist. Und er konnte den Blick auf den Nord-Süd-Austausch um den auf Wanderstraßen der Vermittlung vom Orient zum Okzident ergänzen. Dieser Untersuchung ließ er 1918 u. d. T. Heidnisch-antike Weissagung in Wort und Bild zu Luthers Zeiten (Heidelb. 1920) eine über »die Renaissance der dämonischen Antike im Zeitalter der deutschen Reformation« folgen, die er ausdrücklich religionswissenschaftlich verortet. Albrecht Dürer u. Martin Luther stellt er als Gestalten dar, die sich gegen den magischen Verknüpfungszwang wenden u. daher zu Wegbereitern der intellektuellen u. religiösen Befreiung des modernen Menschen werden. Sich selbst als Aufklärer »im Laboratorium kulturwissenschaftlicher Bildgeschichte« begreifend, wendet er das am spezif. Fall der Historie abgelesene Ergebnis ins Allgemeine u. formuliert daraus abschließend sein überzeitl. Aufklärungspostulat, das inzwischen zum geflügelten Wort geworden ist: »Athen will eben immer wieder neu aus Alexandrien zurückerobert sein.« Die dritte Lebensphase von 1918 bis 1924 ist dadurch gekennzeichnet, dass der national gesonnene W., veranlasst durch den verlorenen Krieg, in die größte Krise seines Lebens stürzte u. von den Dämonen heimgeholt wurde, denen er soeben noch mit wissenschaftl. Spürsinn u. genialer Sprachkraft die Fackel der Aufklärung entgegengehalten hatte. Manisch-depressiv musste er bis 1924 in Kliniken behandelt werden, davon die längste Zeit in der Heilanstallt »Bellevue« von Ludwig Binswanger in Kreuzlingen. Mit dem Vortrag Bilder aus dem Gebiet der PuebloIndianer in Nord-Amerika im April 1923 leitete W. selbst seine Heilung ein. Er knüpfte damit an die Expeditionserfahrungen an, die er 1895/96 bei den Indianern gemacht hatte. In der nicht von W. stammenden Redaktion mit

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dem Titel Schlangenritual ist der Vortrag inzwischen weltweit zu einem der meistgedruckten u. -interpretierten Texte W.s geworden. Während W.s Abwesenheit ist die nun Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg (K.B.W.) genannte Institution unter dem kommissarischen Leiter Fritz Saxl weitergeführt u. der Öffentlichkeit übergeben worden. Ernst Cassirer, Erwin Panofsky u. Edgar Wind gehörten zu den ersten prominenten Besuchern u. Nutzern, die zusammen mit Saxl erheblich dazu beitrugen, dass die K.B.W. noch in den Zwanzigern national u. international mit ihrem neuartigen transdisziplinären Programm, das sich in der Einrichtung selbst u. in den Reihen der nicht zuletzt von Panofsky angeregten »Vorträge« u. »Studien« manifestierte, große Beachtung fand. Mitte Aug. 1924 kehrte W. geheilt nach Hamburg zurück. Für seine vierte Lebens- u. Schaffensphase sollten ihm nur noch fünf Jahre vergönnt sein. Der 1922 von der Universität Hamburg zum Honorarprofessor für kulturwissenschaftl. Kunstgeschichte ernannte Gelehrte fand erstmals Gelegenheit, sein Programm u. seine Methodik in Universitätsseminaren an fortgeschrittene Studenten weiterzugeben. Den notwendig gewordenen Neubau der Bibliothek hat er 1925/ 26 geleitet u. dafür gesorgt, dass sich das Ergebnis in technisch-organisatorischer Hinsicht als das Modernste darbot, das damals möglich war. Legendär ist der Lesesaal mit seinem elipt. Oberlicht, W.s Polaritätsdenken spiegelnd. W., 1926 zum korrespondierenden Mitgl. der Göttinger Akademie der Wissenschaften berufen, brachte in jenen Jahren unermüdlich wissenschaftspolitisch-strateg. Interessen zur Geltung, z. B. bei Tagungen der Bibliothekare, der Amerikanisten u. der Orientalisten sowie bei der Vorbereitung des für 1930 vorgesehenen Hamburger ÄsthetikKongresses u. der ebenfalls erst 1930 in Hamburg verwirklichten Ausstellung zur Geschichte der Astronomie u. Astrologie. Zur Postwertzeichenreform konnte er 1927 dem Reichskanzler Gustav Stresemann seine Überlegungen vortragen; denn er sah in den Briefmarken mit Recht Bilderfahrzeuge des internat. Austausches von symbolischer Be-

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deutung. Das letzte Projekt, mit dem er sich seit 1926 beschäftigte, das in origineller Weise die Summe seiner Forschungen bringen sollte, war der Bilderatlas Mnemosyne. Das von W. auch »ikonologischer Atlas« genannte Werk ist unvollendet geblieben. Als umfangreiches Bilder-Tafelwerk mit einleitenden u. begleitenden Texten sollte es »von der überlebenden Prägekraft antiker Ausdruckswerte im europäischen Geisteshaushalt (Kulturkreis)« handeln. Den von der Antike geprägten Pathosformeln wäre darin gebührend Raum eingeräumt worden; das Werk hätte sich jedoch keineswegs darauf beschränkt. Während W. mit der Ausgestaltung nicht zuletzt mit Hilfe einer eigens dazu 1928/29 zusammen mit der Assistentin Gertrud Bing unternommenen Italien-Expedition rang, richtete sich sein Interesse bereits auf Giordano Bruno als Feld künftiger kunstphilosophischer Forschungen, die jedoch über ein Lektüreprogramm, Bücherkäufe u. erste Überlegungen nicht hinausgedeihen konnten. W.s Wirken hat im gesamten Wissenschaftskosmos des 20. u. begonnenen 21. Jh. ein enormes Anregungspotential entfaltet. Seit Jahren aber besteht eine zunehmende Tendenz, dass er, der Aufklärer, der Kämpfer um den »Denkraum der Besonnenheit«, als eine Art Fetisch oder Talisman in Anspruch genommen wird. Dem von wissenschaftl. Vernunft geleiteten Diskurs fällt somit eine besondere Verantwortung zu. Ausgaben: Gesamtausgabe der zu Lebzeiten gedruckten Werke: Die Erneuerung der heidn. Antike. Kulturwiss. Beiträge zur Gesch. der europ. Renaissance. Unter Mitarb. v. Fritz Rougemont hg. v. Gertrud Bing. 2 Bde., Lpz./Bln. 1932 (erschienen 1933). Nachdr. Nendeln/Liechtenstein 1969. Bln. 1998, mit Vorw. v. Horst Bredekamp u. Michael Diers. – Teilausgaben mit Zusätzen aus dem ungedruckten Nachlass: Ausgew. Schr.en u. Würdigungen. Hg. Dieter Wuttke. Baden-Baden 1979. 3., durchges. u. durch ein Nachw. erg. Aufl. 1992. – Werke in einem Bd. Auf der Grundlage der Manuskripte u. Handexemplare hg. u. komm. v. Martin Treml u. a. Ffm. 2010. – Ausgaben einzelner Werke u. a. (Ausw.): A. M. W.: Schlangenritual. Ein Reisebericht. Nachw. v. Ulrich Raulff. Bln. 1988. – Kosmopolis der Wiss. E. R. Curtius u. das Warburg Institute. Briefe u. andere Dokumente. Hg. D.

Warburg Wuttke. Baden-Baden 1989. – M. Diers: W. aus Briefen. Kommentare zu den Kopierbüchern der Jahre 1905–1918. Weinheim 1991 (Abdruck zahlreicher Briefe u. Faksimile v. A. W.: Arbeitende Bauern auf burgund. Teppichen. 1907). – A. M. W.: Bildersammlung zur Gesch. v. Sternglaube u. Sternkunde im Hamburger Planetarium. Hg. Uwe Fleckner u. a. Hbg. 1993. – Begleitmaterial zur Ausstellung ›A. M. W. Mnemosyne‹ [Hamburg 1994]. Hg. Marianne Koos u. a. Hbg. 1994 (63 Tafeln mit Bildern u. Texten in Kassette). – A. M. W./ Fritz Saxl: Die Indianer beschwören den Regen. Großes Fest bei den Pueblo Indianern (1926). Faks. in D. Wuttke: Dazwischen (s. u.), Bd. 2, S. 731–735. – Ausreiten der Ecken. Die A.-W.-Fritz-Saxl-Korrespondenz. [Hg.] Dorothea McEwan. Hbg. 1998. – A. W.: Der Bilderatlas Mnemosyne. Hg. Martin Warnke unter Mitarb. v. Claudia Brink. Bln. 2000. 3., erg. Aufl. 2008. – A. W.: Tagebuch der Kulturwissenschaftl. Bibl. Warburg. Mit Einträgen v. Gertrud Bing u. F. Saxl. Hg. Karen Michels u. Charlotte Schoell-Glass. Bln. 2000 (dazu: Björn Biester: Tagebuch der Kulturwissenschaftl. Bibl. Warburg 1926–1929. Annotiertes Sach-, Begriffsu. Ortsregister. Erlangen 2005). – ›Wanderstrassen der Kultur‹. Die A.-W.-Fritz-Saxl-Korrespondenz 1920 bis 1929. Hg. D. McEwan. Hbg. 2004. – Ludwig Binswanger u. A. W.: Die unendl. Heilung. A. W.s Krankengesch. Hg. Chantal Marazia u. Davide Stimilli. Zürich/Bln. 2007. – A. M. W.: ›Per monstra ad sphaeram‹. Sternglaube u. Bilddeutung. Vortrag in Gedenken an Franz Boll u. andere Schr.en 1923 bis 1925. Hg. D. Stimilli unter Mitarb. v. Claudia Wedepohl. Hbg. 2008. – A. W.: Symbolismus aufgefaßt als primäre Umfangsbestimmung. In: Symbol. Grundlagentexte aus Ästhetik, Poetik u. Kulturwiss. Hg. Frauke Berndt u. a. Ffm. 2009, S. 75–91. Literatur: Bibliografien: Dieter Wuttke: A. M. W.-Bibliogr. 1866 bis 1995. Werk u. Wirkung. Mit Annotationen. Baden-Baden 1998. – Björn Biester u. D. Wuttke: A. M. W.-Bibliogr. 1996 bis 2005. Mit Annotationen u. Nachträgen zur Bibliogr. 1866 bis 1995. Baden-Baden 2007. – Thomas Gilbhard: W. more bibliographico. In: Nouvelles de la Republique des Lettres 2008, II, S. 81–95. – Weitere Titel: Ernst H. Gombrich: A. W. An Intellectual Biography. With a memoir on the history of the Library by F. Saxl. London 1970 (dt. 1981 u. ö.). – D. Wuttke: A. M. W.s Methode als Anregung u. Aufgabe (1974). Gött. 1977. 4., erneut erw. Aufl. mit einem Briefw. zum Kunstverständnis. Wiesb. 1990. – Mnemosyne. Beiträge zum 50. Todestag v. A. M. W. Hg. Stephan Füssel. Gött. 1979. – Werner Hofmann, Georg Syamken u. Martin Warnke: Die Men-

Warburg schenrechte des Auges. Über A. W. Ffm. 1980. – Jan Bialostocki: A. M. W.s Botschaft: Kunstgesch. oder Kulturgesch. In: A.-M.-W.-Preis. Hbg. 1981, S. 25–43. – Martin Jesinghausen-Lauster: Die Suche nach der symbol. Form. Der Kreis um die Kulturwissenschaftl. Bibl. Warburg. Mit einem Geleitwort v. Gert Mattenklott. Baden-Baden 1985. – Salvatore Settis: W. continuatus. Descrizione di una biblioteca. In: Quaderni Storici 20 (1985), Nr. 58, S. 5–38. – Roland Kany: Die religionsgeschichtl. Forsch. an der Kulturwissenschaftl. Bibl. Warburg. Bamberg 1989. – M. Warnke: A. W. (1866–1929). In: Altmeister moderner Kunstgesch. Hg. Heinrich Dilly. Bln. 1990, S. 117–130. – A. W. Akten des internat. Symposions Hamburg 1990. Hg. Horst Bredekamp u. a. Weinheim 1991. – Porträt aus Büchern. Bibl. Warburg u. Warburg Institute. Hg. Michael Diers. Hbg. 1993. – Peter Schmidt: A. M. W. u. die Ikonologie. Mit einem Anhang unbekannter Quellen zur Gesch. der Internat. Gesellsch. für Ikonograph. Studien v. D. Wuttke. Wiesb. 2 1993. – Joachim Knape u. D. Wuttke: Mythos u. Kunst. In: TRE 23 (1994), S. 665–678. – Peter van Huisstede: Der Mnemosyne-Atlas. Ein Laboratorium der Bildgesch. In: A. M. W. ›Ekstatische Nymphe ... trauernder Flußgott‹. Porträt eines Gelehrten. Hg. Robert Galitz u. Brita Reimers. Hbg. 1995, S. 130–171. – Otto Gerhard Oexle: Memoria als Kultur. In: Memoria als Kultur. Hg. ders. Gött. 1995, S. 9–78. – P. Schmidt u. D. Wuttke: A. M. W. Sandro Botticellis ›Geburt der Venus‹ u. ›Frühling‹. In: Kindlers Lit. Lexikon. Tb.-Ausg. (= 2., verb. Aufl.). Bd. 17, Mchn. 1996, S. 416–418. – D. Wuttke: Dazwischen. Kulturwiss. auf W.s Spuren. 2 Bde., Baden-Baden 1996 (darin u. a. A. M. W. u. seine Bibl., 1966; Die Emigration der K.B.W. u. die Anfänge des Universitätsfaches Kunstgesch. in Großbritannien, 1984; A. M. W.s Kulturwiss., 1993/94; E. R. Curtius u. A. M. W., Erstdruck). – Hartmut Böhme: A. M. W. (1866–1929). In: Klassiker der Religionswiss. v. Friedrich Schleiermacher bis Mircea Eliade. Hg. Axel Michaels. Mchn. 1997, S. 133–156, 379–381. – Christiane Brosius: Kunst als Denkraum. Zum Bildungsbegriff v. A. W. Mit einem Vorw. v. Rainer Hering. Pfaffenweiler 1997. – Salvatore Settis: Pathos u. Ethos. Morphologie u. Funktion. In: Vorträge aus dem Warburg-Haus 1 (1997), S. 31–73. – Charlote Schoell-Glass: A. W. u. der Antisemitismus. Kulturwiss. als Geistespolitik. Ffm. 1998. – Ulrich Raulff: W. oder die Wiederholung. In: Ders.: Der unsichtbare Augenblick. Zeitkonzepte in der Gesch. Gött. 1999, S. 85–117. – Storia dell’arte e politica culturale intorno al 1900. La fondazione dell’ Istituto Germanico di Storia dell’Arte di Firenze. A cura di Max Seidel. Venezia 1999 (zu A. W. passim). – D. Wuttke: Die Belle

146 Époque u. der Fragebogen. Eine Trouvaille: Die Antworten A. M. W.s. 2., überarb. u. erg. Aufl. Bamberg 1999 (W.s Antworten auf den sog. ProustFragebogen). – B. Biester: Der innere Beruf zur Wiss.: Paul Ruben (1866–1943). Studien zur dt.jüd. Wissenschaftsgesch. Bln./Hbg. 2001 (zum Warburg-Kreis mit Briefedition u. zur WarburgBibl.). – Art history as cultural history. W.’s projects. Hg. Richard Woodfield. Amsterd. 2001. – Erwin Panofsky: Korrespondenz 1910 bis 1968. Hg. D. Wuttke. 5 Bde., Wiesb. 2001–2011 (zu W. passim). – Nicholas Mann: ›Denkenergetische Inversion‹: A. W. and Giordano Bruno. In: Publications of the English Goethe Society 72 (2003), S. 25–37. – U. Raulff: Wilde Energien. Vier Versuche zu A. W. Gött. 2003. – D. Wuttke: Über den Zusammenhang der Wiss.en u. Künste. Wiesb. 2003. – Carl Georg Heise: Persönl. Erinnerungen an A. W. Hg. u. komm. v. B. Biester u. Hans-Michael Schäfer. Wiesb. 2005. – H.-M. Schaefer: Die Kulturwissenschaftl. Bibl. Warburg. Gesch. u. Persönlichkeiten der Bibl. Warburg. 2., verb. Aufl. Bln. 2005. – Gottfried Korff: A. W. u. der ›Volkskundekongress‹ v. 1905. In: Ztschr. für Volkskunde 101 (2005), S. 1–29. – Dorothea McEwan: Der gute Bischof Nikolaus. A. W.s Interpr. der russ. Übers. v. ›Struwelpeter‹ u. die polit. Parodien von ›Struwelhitler – A Nazi Story Book‹ u. ›Schicklgrüber‹. In: Ztschr. für Volkskunde 102 (2006), S. 67–90. – Kasten 117. A. W. u. der Aberglaube im Ersten Weltkrieg. Hg. G. Korff. Tüb. 2007. – Karen Michels: A. W. im Bannkreis der Ideen. Hg. Christian Olearius. Mit einem Vorw. v. M. Warnke. Mchn. 2007. – Jost Philipp Klenner: Der Duce ist nicht aus Email. A. W., politisch? In: Ordnungen in der Krise. Zur polit. Kulturgesch. Deutschlands 1900–1933. Hg. Wolfgang Hardtwig. Mchn. 2007, S. 449–480. – D. Wuttke: Panofsky et W. L’Hercule á la croisée des chemins d’Erwin Panofsky: L’ouvrage et son importance pour l’histoire des sciences de l’art. In: Artibus et historiae 56 (2007), S. 47–72. – J. Knape: Gibt es Pathosformelm? Überlegungen zu einem Konzept v. A. M. W. In: Muster im Wandel. Zur Dynamik topischer Wissenordnungen in SpätMA u. Früher Neuzeit. Hg. Wolfgang Dickhut u. a. Gött. 2008, S. 115–137, 244–256. – A. W. e la cultura italiana. A cura di Claudia Cieri Via e Micol Forti. Milano 2009. – Christine Kreft: Adolph Goldschmidt u. A. M. W. Freundschaft u. kunstwiss. Engagement. Weimar 2010. – Kurt W. Forster: A. W. zur Einf. Hbg. 2011. Dieter Wuttke

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Warneck, Gustav, * 6.3.1834 Naumburg, † 26.12.1910 Halle/Saale. – Evangelischer Theologe, Missionswissenschaftler. Kurzzeitig als Nadlergeselle tätig, studierte W. in Halle Theologie (1855–1858), wobei ihn der pietistische Erweckungstheologe Friedrich August Tholuck beeinflusste. Anschließend wirkte er als Hauslehrer in Elberfeld (1858–1862) sowie als Hilfsprediger u. Archidiakonus in Dommitzsch bei Torgau (1863–1871), zwischenzeitlich auch als Feldprediger im Deutschen Krieg (1866); 1871 wurde er Lehrer u. Reiseprediger der Rheinischen Missionsgesellschaft, ehe er wiederum als Pfarrer in Rothenschirmbach bei Eisleben (1874–1896) amtierte. 1871 hatte er an der Jenenser Philosophischen Fakulät promoviert; 1883 wurde ihm in Halle die theolog. Ehrenpromotion zuteil. Dort übernahm er 1896 als Honorarprofessor die erste Professur für Missionswissenschaft in Deutschland (bis 1908), die er zu allg. Anerkennung führte. W.s erster großer missiolog. Beitrag ist die 1874 zusammen mit Theodor Christlieb u. Reinhold Grundemann begründete »Allgemeine Missions-Zeitschrift« (AMZ), die zum wissenschaftl. Organ der evang. Missionsbewegung wurde (bis 1923, fortgeführt als NAMZ, 1924–1939). Das zweite bedeutende Werk ist die Evangelische Missionslehre (5 Bde., Gotha 1892–1903. 21897–1905), die erste umfassende Darstellung des Missionswesens in seiner systematisch-theolog. Grundlegung u. seiner Praxis. Daneben steht der viel gelesene Abriß einer Geschichte der protestantischen Missionen (Lpz./Bln. 1882. 101913. Engl. 1882 u. ö. Schwed. 1884 u. ö.). Über die rege literar. Arbeit hinaus rief W. 1879 die Sächsische Missionskonferenz ins Leben, die zur Keimzelle der Deutschen Missionskonferenzen wurde. Besonders von pietistischen, mythisch-biblizistischen wie luth.-romant. u. »naturalistischen« Prämissen ausgehend u. die Missionstheologie des 19. Jh. zum Höhepunkt führend, konzentriert sich W.s Denken auf das heilsgeschichtlich-ekklesiolog. Missionsmotiv: auf die auf der Einzelbekehrung fußende Volkschristianisierung unter dem

Warneck

»Heidentum«. Diese realisiere sich in einem das Reich Gottes ausbreitenden göttl. »Erziehungsprozeß«, der nach den »Gesetzmäßigkeiten der Natur« verlaufe u. sein Ziel in der Errichtung selbstständiger, »im Volkstum wurzelnder Volkskirchen« finde. Diesen Prozess nicht zuletzt im Kolonialismus erkennend, ist der Hallenser Theologe auch von europ. Superioritätsgefühl u. rassistischen Vorstellungen geprägt. W. gilt als Begründer der evang. Missionswissenschaft, die er bis in die 30er Jahre des 20. Jh. weitgehend bestimmte; überdies hat er die Anfänge der von Joseph Schmidlin begründeten kath. Missionswissenschaft beeinflusst. Über Deutschlands Grenzen hinaus (bes. in Skandinavien) angesehen, wurde er auf Anregung des Schwedischen Missionsbundes für den literar. Nobelpreis 1910 vorgeschlagen. Weitere Werke: Die gegenseitigen Beziehungen zwischen der modernen Mission u. Cultur. Gütersloh 1879. Engl. 1882 u. ö. – Protestantische Beleuchtung der röm. Angriffe auf die evang. Heidenmission. 2 Bde., Gütersloh 1884/85. – Die Mission in der Schule. Gütersloh 1887. 151913. Niederländ. 1888. Schwed. 1894. – Anthologie: P. v. Zychlinski (Bearb.): Kerngedanken v. D. G. W. In: AMZ 38 (1911), Beibl., S. 29–36. – Werner Raupp (Hg.): Mission in Quellentexten. Erlangen/Bad Liebenzell 1990, S. 364–378 (Einl., Quellen, Lit.). Literatur: Bibliografien: Werner Raupp: G. W. In: Bautz. – Emil Strümpfel, in: AMZ 38 (1911), S. 231–236, 275–287. – Weitere Titel: Johannes Dürr: Sendende u. werdende Kirche in der Missionstheologie G. W.s. Basel 1947. – Pierre Lefebvre: La théologie missionaire de G. W. Diss. Löwen 1955/56. – Seppo A. Teinonen: Gustav Warneckin varhaisen lähetysteorian teologiset perusteet. Helsinki 1959. – Joachim Francke: Ausbreitungsmotive in der dt. evang. Missionstheologie bei G. W., M. Kähler u. E. Troeltsch. Diss. Halle 1962. – Hans Kasdorf: G. W.s missiolog. Erbe. Gießen/Basel 1990. – Dieter Becker u. Andreas Feldtkeller: Es begann in Halle ... Missionswiss. v. G. W. bis heute. Erlangen 1997. – Hanns Lessing: Missionarisches Wort u. kolonialer Raum. Studien zur Archäologie des christl. Universalanspruchs unter bes. Berücksichtigung der Missionstheologien v. E. Troeltsch, G. W. u. M. Kähler. Diss. Heidelb. 2006. – Dirk Griffioen: Christelijke zending en wereldgodsdiensten. De godsdiensttheologie van G. W., H.

Warnung an hartherzige Frauen Kraemer en J. E. L. Newbigin in context. Zoetermeer 2007. Werner Raupp

Warnung an hartherzige Frauen. – Minnerede des 15. Jh.

148 telniederdt. u. mittelniederländ. Minnereden. Mchn. 1968, Nr. 479. – Alfred Karnein: De Amore deutsch. Der Tractatus des Andreas Capellanus in der Übers. Johann Hartliebs. Mchn. 1970, S. 9–12. – Ingeborg Glier: Artes amandi. Mchn. 1971, S. 305–308. – Melitta Rheinheimer: Rhein. Minnereden. Göpp. 1975, S. 30 f. – A. Karnein: ›De amore‹ in volkssprachl. Lit. Heidelb. 1989, S. 252–254. – Frank Fürbeth: W. a. h. F. In: VL. – Ernst Erich Metzner: Architekton. u. literar. ›Frühestrenaissance‹ südlich des Untermains im kurpfälzisch-katzenelnbog. Kontext. In: Jb. Int. Germ. 39 (2007), H. 1, S. 113–150. Jacob Klingner

Die 1818 Reimpaarverse umfassende Minnerede besteht im Kern aus einer bearbeitenden Übersetzung des 5. Dialogs (›Loquitur nobilis nobili‹) aus Andreas Capellanus’ De amore (Buch I, 6). In diesem Dialog versucht ein Ritter, eine sich gegen die Liebe sträubende Dame von ihrem Verhalten abzubringen – zunächst mit einer allegor. Ausdeutung des Die Warnung. – Mittelalterliches religiöMinnepalastes, dann mit einer Erzählung von ses Lehrgedicht, Mitte 13. Jh. seiner Begegnung mit einem Zug der toten Frauen, angeführt von Frau Venus. Die Die nur fragmentarisch erhaltene, in ReimSchilderung der Qualen u. Erniedrigungen, paaren abgefasste Dichtung (3932 Verse, welche die hartherzigen Frauen – anders als Textverlust am Schluss) ist zusammen mit die vorbildlich u. tugendhaft Liebenden – in thematisch verwandten Texten in einer um Minnepalast wie im visionär geschauten Jen- 1300 entstandenen Handschrift überliefert seits zu erdulden haben, bewirkt einen Sin- (Wien, Cod. 2696). Sie wurde vermutlich in neswandel bei der Dame. Im Vergleich zu der Mitte des 13. Jh. geschaffen; eine geCapellanus sind die minnekasuistischen Pas- nauere Datierung ist bisher nicht überzeusagen teilweise gekürzt, narrative Elemente gend gelungen. Der unbekannte Verfasser, seiner Sprache u. Beschreibungen ausgebaut. Vor allem aber wird die Übersetzung in einer für die Min- nach im bairisch-österr. Raum beheimatet, nereden gattungstypischen Rahmung prä- war wohl nicht ein Geistlicher, sondern ein sentiert: Der Sprecher will das Streitgespräch frommer Laie. Er kennt sich gut in der Welt im Verborgenen belauscht haben, als er sich der adligen Herren aus, deren Verhalten er mit einer höf. Gesellschaft auf einer ›Brun- kritisch schildert, u. kommt immer wieder nenfahrt‹ befand. In Vorrede u. Epilog stili- auf höf. Verhältnisse zu sprechen. Er sei selsiert er sich zum Lehrer u. Warner u. kenn- ber der Welt verfallen gewesen, sagt er, u. erst zeichnet den in den Jahren nach 1460 (vgl. v. die Wahrnehmung des Todes habe ihn zur 66 f.) entstandenen Text als Auftragswerk ei- Besinnung gebracht. Gleichwohl stellt er in ner ungenannten Geliebten. Im Epilog nennt einer Zeitklage bedauernd fest, wahre höf. sich der anonyme Autor »armer Schoff thor« Gesittung sei vergangen, sie habe vor 24 (v. 1780). Versuche der Forschung, ihn mit Jahren geendet. Mit seinem Gedicht zielt er auf ein LaienErhard Wameshaft zu identifizieren, beruhen auf der gemeinsamen Überlieferung mit ei- publikum. Er predigt ihm die Nichtigkeit nem Werk Wameshafts im Königsteiner Lieder- alles Irdischen, das ohne Unterschied dem buch. Ähnlich spekulativ ist der jüngste Vor- Verderben anheimfällt, ruft zu einem gottschlag, die Autorschaft dem Wanderhuma- gefälligen Leben auf u. erteilt entsprechende nisten Samuel Karoch von Lichtenberg zu- Lehren, u. a. über »mâze«, »kiusche« u. »êre«. Das Werk lässt einen klaren Aufbau zuschreiben (vgl. Metzner 2007). Ausgabe: Alfred Karnein (Hg.): Des armen S. ›W. vermissen; es werden immer wieder dieselben Gedanken u. Motive umkreist u. so dem a. h. F.‹. Bln. 1979. Literatur: Adolf Bach, Eine Minneallegorie Publikum eindrücklich nahegebracht. Den Erhard Wameshafts (Waneshafts?) verfaßt um 1470 Schlussteil beherrscht die Mahnung zur Reue in Königstein im Taunus. In: Nassauische Annalen mit dem Hinweis auf das Jüngste Gericht u. 68 (1957), S. 272–283. – Tilo Brandis: Mhd., mit- die Passion Jesu.

149 Ausgaben: [Moriz] Haupt in: ZfdA 1 (1841), S. 438–537. Ergänzend dazu Karl Borinski in: ebd. 33 (1889), S. 402–412. – Leopold Weber: Die ›W.‹. Mchn. 1912. Literatur: Karl Borinski: Zur ›Warnunge‹. In: Germania 35 (1890), S. 286–302. – Anton Wallner: Die Entstehungszeit des mhd. Memento mori ›Die warnunge‹. Programm Laibach 1896. – Klaus Zatloukal: Zur ›Warnunge‹. In: Österr. Lit. zur Zeit der Babenberger. Hg. Alfred Ebenbauer u. a. Wien 1977, S. 278–296. – Christoph Huber: Die W. In: VL. Frieder Schanze / Red.

Warsinsky, Werner, * 6.8.1910 Barlo (heute zu Bocholt), † 24.6.1992 Münster/ Westfalen. – Romancier u. Lyriker.

Wartburgkrieg

schen Literaturpreis (gemeinsam mit Czesl/aw Mil/osz) erhielt, u. rühmte in seiner Laudatio den »ganz unvergleichlichen Ausdruck« u. die »überragende Suggestionskraft« des Romans: »Dieses Buch ist ein großer tragischer Wurf.« In den 1950er Jahren publizierte W. noch einige poetische u. essayistische Arbeiten in »Akzente«, »Texte und Zeichen«, »Sinn und Form«, zog sich dann aber vom Literaturbetrieb zurück. Das bibliophile Lyrikbändchen Lunatique (Privatdruck Wuppertal 1958) u. die Prosa Legenden vom Salz der Tränen (Dortm. 1970) fanden keine Resonanz. Heute sind Autor und Werk nahezu vergessen, Kimmerische Fahrt ist seit Langem nicht mehr über den Buchhandel beziehbar. Zahlreiche Werke W.s, ein zweiter Roman mit dem Arbeitstitel Gläserne Grenzen, Märchen u. streng geformte klassizistische Gedichte, sind noch unveröffentlicht. Sie befinden sich im Nachlass, den das Westfälische Literaturarchiv u. die Stadtund Landesbibliothek Dortmund verwalten.

Der Sohn eines Zollbeamten besuchte in Dortmund die Oberrealschule u. wurde Buchhändler. Zudem studierte er Operngesang u. war zeitweilig als Tenor am Dortmunder Stadttheater tätig. Nach der Teilnahme am Zweiten Weltkrieg arbeitete er zunächst im Hoch- u. Tiefbau, dann in einer Aluminiumfabrik u. war seit 1955 BibliotheLiteratur: Jürgen P. Wallmann: ›Ich habe das kar in Lünen. Nach der Pensionierung lebte er Anonyme immer sehr geschätzt‹. Ein Gespräch mit dem Schriftsteller W. W. (1910–1992). In: Lit. in in Münster. Sein weithin beachtetes Debüt gab W. mit Westfalen. Beiträge zur Forsch. 3. Hg. Walter dem Roman Kimmerische Fahrt (Ffm. 1953). Gödden. Paderb. 1995, S. 205–213. – Westf. AutoDer Ich-Erzähler Reinhard Niemann hat im renlex. 4. – Hugo Ernst Käufer: ›Sprache aus Erz u. Marmor würde mich entzücken‹ oder: ›KimmeriKrieg sein Gedächtnis verloren u. versucht sche Fahrt‹ in der Arbeitswelt. W. W. – ein vergesnach Kriegsende, die flüchtigen Erinne- sener Dortmunder Dichter? In: Kultur als Fenster rungspartikel ordnend, sein ›verlorenes Le- zu einem besseren Leben u. Arbeiten. FS Rainer ben‹ wiederzufinden. Die Introspektive führt Noltenius. Hg. Volker Zaib. Bielef. 2003, die Hauptfigur in ein Totenreich, in dem S. 301–308. – Raffaele Louis: Gleichnisse vom verBruchstücke der eigenen Vorkriegsidentität, lorenen Sinn. Georg Hensels ›Nachtfahrt‹, Jens Kriegserfahrungen u. Nachkriegserlebnisse, Rehns ›Feuer im Schnee‹, W. W.s ›Kimmerische Traum u. Realität artifiziell überblendet sind. Fahrt‹ u. Herbert Zands ›Letzte Ausfahrt‹. In: Der im Stil des magischen Realismus ver- Treibhaus. Jb. für die Lit. der 50er Jahre 3 (2007), fasste, vielschichtige Roman schließt mit S. 125–156. – 100 Jahre W. W. 1910–2010. Red.: Georg Almus. Lünen 2010. Briefen eines Dritten, die außenperspektiJürgen P. Wallmann † / Raffaele Louis visch enthüllen, dass Niemann bis zu seinem Tod nicht in der Nachkriegswirklichkeit angekommen ist, u. überführt das Schicksal der Wartburgkrieg. – Bezeichnung für mehtraumatisierten Figur so ins Exemplarische. rere sangspruchartige Streitgedichte in Die von der Kritik hoch gelobte Prosa zwei Tönen des 13. Jh. sowie für spätere (Zürcher »Weltwoche«: »Warsinsky ist ein Fortsetzungen u. Nachdichtungen. Dichter, der Deutschland wieder in den Vordergrund des literarischen Interesses ge- Die mittelalterl. Chronistik verbindet mit bracht hat«) wurde ins Japanische u. Franzö- diesen Texten die Vorstellung eines realen sische übersetzt. Gottfried Benn setzte durch, Sängerwettstreits am Thüringer Landgrafendass W. 1953 in Genf den ersten Europäi- hof, greift allerdings auf eine literar. Über-

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lieferung zurück, offenbar ohne jegl. Bewusstsein für Fiktionalität. Zum alten Kernbestand des Komplexes gehören ein Lobwettstreit um den besten Fürsten (Fürstenlob), ein Rätselwettstreit, der die Grenzen des Laienwissens prüft (Rätselspiel), ein Klagewettstreit, der mit einer Traumvision verknüpft ist (Totenfeier) u. ein Erzählwettstreit (Zabulons Buch). Diese Texte stehen auch deshalb zusammen, weil sie sich von anderen Dichtungen in den beiden Tönen durch das Personal unterscheiden: In unterschiedl. Zusammensetzung treten mit Biterolf, Reinmar von Zweter, dem Tugendhaften Schreiber, Walther von der Vogelweide u. Wolfram von Eschenbach fünf bekannte Dichter auf. Weiter gehört Heinrich von Ofterdingen dazu, ein ansonsten nicht bezeugter, aber möglicherweise realer Dichter, u. schließlich Klingsor, der als fiktive Figur in Analogie zum Clinschor aus dem Parzival Wolframs von Eschenbach profiliert ist. Fürstenlob (FL), Rätselspiel (RS) u. Zabulons Buch (ZB) folgen in der Manessischen Liederhandschrift C direkt aufeinander. Sie sind durch Beischriften szenisch gestaltet u. miteinander verknüpft. Die Aufführung ist vor dem Thüringer Landgrafenpaar gedacht. Das gesamte Textarrangement ist unter der Autorsigle Klingsors von Ungarn zusammengefasst u. wird von einer zweigeteilten Miniatur eröffnet, die im oberen Teil das thronende Fürstenpaar, darunter die streitenden Sänger zeigt. In der Jenaer Liederhandschrift J stehen FL u. RS zusammen, doch so, dass sich dem Rätselwettstreit drei Texte an- u. eingliedern, die nur ganz punktuell auf das Streitmotiv rekurrieren, grundsätzlich jedoch Mahnung, Kritik u. Lob am geistl. Stand thematisieren: Sprechen ohne Meinen (RSM 1Wartb/1/3), Aurons Pfennig (RSM 1Wartb/2/3) u. An Zeitgenossen (RSM 1Wartb/2/5–6). Zudem stehen dem FL mit Heinrich von Ofterdingen u. dem RS mit Wolfram die Namen der Tonerfinder voran, sodass, anders als in C, hier kein szen. Zusammenhang hergestellt wird. In der Kolmarer Meisterliederhandschrift k, dem dritten Hauptüberlieferungszeugen, haben die Kerntexte keinen Bezug mehr zueinander. Die jüngere Überlieferung bietet weitere nach Personal u. agonaler Anlage verwandte

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Texte, zu denen neben Rätseln nach Art des älteren RS (RSM 1Wartb/2/507) Der Meister Lob (RSM 1Wartb/2/504), Der Stubenkrieg (RSM 1Wartb/2/509) u. Der Sonrat (RSM 1Wartb/2/ 510) gehören, letztere offenbar der Versuch, den prinzipiell offenen Rätselstreit der älteren Überlieferung in ein meistersängerisches Milieu zu übertragen u. ihm ein versöhnl. Ende zu geben. Darüber hinaus haben sich Texte angelagert, die nur locker mit dem Komplex verknüpft sind, da sie zwar den Wettstreitgedanken, nicht aber das typische Personal aufweisen. Hierzu zählen der Hort von der Astronomie (RSM 1Wartb/2/502) u. Der helle krieg (RSM 1Wartb/2/501). Das Fürstenlob im Thüringer-Fürsten-Ton (RSM 1Wartb/1/1; der Tonname ist der ersten Strophe eingeschrieben u. zählt zu den frühesten Tönebenennungen) ist in der zweiten Hälfte des 13. Jh. entstanden u. in den Handschriften C, J u. k (sowie weiteren fragmentarischen Handschriften) mit leicht variierendem Strophenbestand überliefert. Es inszeniert einen Sängerwettstreit am Hof des Landgrafen Hermann von Thüringen, in dem Heinrich von Ofterdingen mit dem Lob des Herzogs von Österreich die Kontrahenten auf Leben u. Tod herausfordert. Walther von der Vogelweide, der Tugendhafte Schreiber, Biterolf u. die Schiedsrichter (»kieser«) Wolfram von Eschenbach u. Reinmar von Zweter setzen in immer neuer Form das Lob Hermanns von Thüringen dagegen. Heinrich von Ofterdingen wird durch eine Sprachlist (Metaphernfalle) Walthers zuletzt besiegt, doch die Landgräfin begnadigt ihn u. erlaubt, dass er Klingsor als seinen Vertreter herbeischaffen darf, um den Streit fortzusetzen. In C schließt hier der Rätselwettstreit zwischen Klingsor u. Wolfram an. Als Rätselspiel ist ein in Strophenbestand u. -reihung disparates Textkonglomerat im Schwarzen Ton bezeichnet (RSM 1Wartb/2/1 u. 2), dessen älteste Textpartien vor 1239 entstanden sein dürften. In C (mit 43 Strr.) u. in J (mit 67 Strr., Überlieferung lückenhaft durch Blattverluste) treten ›Dialogstücke‹ in z.T. lockerer Folge zu einem allegor. Rätselwettstreit zwischen Klingsor in der Rolle des Meisterpfaffen u. Wolfram als inspiriertem Laien zusammen. In C ist aufgrund höherer

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Strophenkohärenz u. szen. Beischriften ein deutlicherer Zusammenhang markiert, der jedoch – überlieferungsbedingt? – zum Ende hin aufgelöst ist. Das Lösen der Rätselaufgaben zeigt Wolfram in der Rolle des Geprüften, dennoch ist seine Position die des Überlegenen, da er Klingsors verschlüsseltes Wissen kompetent auszulegen versteht, ohne je die Grenzen des Laienwissens zu überschreiten. Das gegensätzl. Rollenprofil wird v. a. in der sog. Nasionszene durch die Unterordnung des schwarzmagischen Wissens unter den christl. Glauben geschärft: Der von Klingsor herbeizitierte Teufel soll Wolfram provozieren, die Grenzen des erlaubten Wissens zu überschreiten, woraufhin dieser die Auskunft verweigert u. sich bekreuzigt. – Zum alten Kernbestand des RS gehören: die Rätsel vom schlafenden Kind u. von den Königstöchtern (Allegorien für den sündhaften Menschen); das (unvollständige) Rätsel von verlockten Schafen; »Quater«-Rätsel u. »Nasionszene«; zudem schwer zu entschlüsselnde Szenen um Luzifer, »des wirtes maget« u. Artus, sowie das »Sündentanzrätsel«. J u. k überliefern ferner »Brandans Pfeiffer« u. das »Kreuzbaum«-Rätsel; allein J hat die sog. ›Krämer‹-Strophe (als eine Art Exposition), das »Jäger«-Rätsel, »Salomons Thron« u. »König in Ankulis«. Der anonyme strophische Lohengrin-Roman wird mit 32 Strophen des RS eröffnet, in deren Verlauf Wolfram gleichsam als Erzähler installiert wird. In k finden sich drei unzusammenhängende, z. T. überarbeitete RS-Passagen neben weiteren das Rätselwettstreitmotiv aufweisenden jüngeren Textstücken (s.o.). Zabulons Buch im Thüringer-Fürsten-Ton (RSM 1Wartb/1/2), entstanden wohl in den letzten Jahrzehnten des 13. Jh. u. später erweitert, ist ein Erzählwettstreit in der Rollenkonstellation des RS, der unvollständig abbrechend in C u. umfangreicher in k (dort u. d. T. der Oberkrieg) überliefert ist. Der Dialog zwischen Klingsor u. Wolfram ist, v. a. in k mit einem vorgeschalteten Rangstreit zweier Falken, zunächst auf Konkurrenz angelegt u. verhandelt anfangs kosmolog. Wissen. Dann jedoch geht er über in ein wechselseitiges, beinahe einvernehml. Erzählen: Vom heidnisch-jüd. Astronomen Zabulon, der die

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Menschwerdung Gottes voraussieht u. diese durch ein magisches Buch verhindern will, das er auf dem Magnetberg in einem Standbild-Automaten versteckt; von der Reise des Römers Vergilius (in k: Filius), der das Buch findet; von dessen Greifenflug, der Begegnung mit dem heiligen Brandan (der bereits im RS erwähnt wird) u. von der gemeinsamen Lektüre des Buches u. ihrer Rückreise. Ohne dass dies explizit erwähnt wird, ermöglicht der Transfer des Zauberbuchs ins Imperium die Menschwerdung Christi, die Zabulon gerade verhindern wollte. Eingeflochten sind vielfältige Abschweifungen u. Weiterungen, so z.B. heldenepische Motive um den Zwergenkönig Laurin, seinen Bruder Sinnels u. Dietrich von Bern im Feuerberg, oder die Erzählung vom Verbleib der Krone Luzifers. Durchgehendes Stilprinzip ist (viel stärker noch als in FL u. RS) eine assoziative Technik, die durch die Aufnahme einzelner Stichworte geprägt ist, sowie eine Erzählweise, die bewusst auf arkane Motivik u. dunkle Sprache zielt, womit wohl der Anschluss an wolframsche Erzählformen gesucht wird. Die thüring. Geschichtsschreibung des späteren MA (das anonyme Leben der heiligen Elisabeth, Johannes Rothes chronikal. Nachrichten, deren Basis die lat. Vita S. Elisabeth u. die verlorene Vita Ludovici bilden, Letztere rekonstruierbar aus der Cronica Reinhardsbrunnensis sowie der dt. Bearbeitung von Friedrich Köditz) berichtet vom Sängerstreit als einem histor. Faktum. In der frühen Neuzeit sind v. a. diese chronikal. Nachrichten bekannt. Die Vorstellung vom Sängerkrieg auf der Wartburg wirkt entscheidend auf meistersängerisches Selbstverständnis ein, auch wenn die Meisterlieder zumeist nur die Namen der Töne bzw. der vermuteten Tonerfinder (Heinrich von Ofterdingen, Klingsor) tradieren. Eine Ausnahme bildet Cyriacus Spangenbergs Gedicht Von der Musica und den Meistersängern, in dem der erste Teil des Stubenkriegs verarbeit ist. Johann Christoph Wagenseils Buch von der Meister-Singer Holdseliger Kunst greift auf Spangenberg u. die Chronistik zurück. Erst im 18. Jh. entdeckte man die alten Texte wieder, u. es begann eine breite wissenschaftl. wie auch literar. (Novalis, E.T.A. Hoffmann), musikal. (Wagners

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Tannhäuser) u. bildnerische Rezeption (Moritz von Schwind), die sich mit dem Nationalmythos Wartburg verbindet bzw. von ihm überlagert wird. Ausgaben: Der W. Hg. Karl Simrock. Stgt./ Augsb. 1858. – Der W. Hg. Tom A. Rompelman. Amsterd. 1939. – Johannes Siebert: Wolframs u. Klingsors Stubenkrieg zu Eisenach. In: PBB (Halle) 75 (1953), S. 365–390. – Günther Schweikle (Hg.): Parodie u. Polemik in mhd. Dichtung. Stgt. 1986, S. 105–142. – Eine moderne Ausgabe fehlt, vgl. aber folgende Entwürfe: Beate Kellner u. Peter Strohschneider: Wartburgkriege. Eine Projektbeschreibung. In: Dt. Texte des MA zwischen Handschriftennähe u. Rekonstruktion. Hg. Martin J. Schubert. Tüb. 2005, S. 173–202. – Burghart Wachinger: Überlegungen zu einer Neuausg. des W.s. Mit Editionsproben zum Rätselstreit. In: PBB 133 (2011), S. 57–99. Literatur: Thomas Cramer: Lohengrin. Ed. u. Untersuchungen. Mchn. 1971. – Hedda Ragotzky: Studien zur Wolfram-Rezeption. Stgt. 1971. – Burghart Wachinger: Sängerkrieg. Untersuchungen zur Spruchdichtung des 13. Jh. Mchn. 1973. – Ders: Der W. In: VL u. VL (Nachträge u. Korrekturen). – Ders.: Der Sängerstreit auf der Wartburg. Von der Maness. Hs. bis zu Moritz v. Schwind. Bln./ New York 2004. – RSM 5 (1991), S. 492–538. – Beate Kellner u. Peter Strohschneider: Die Geltung des Sanges. Überlegungen zum W. C. In: WolframStudien 15 (1998), S. 143–167. – Dies.: Poetik des Krieges. Eine Skizze zum W.-Komplex. In: Das fremde Schöne. Hg. Manuel Braun u. Christopher Young. Bln./New York 2007, S. 335–356. – P. Strohschneider: Der Oberkrieg. In: Text u. Kultur. Hg. Ursula Peters. Stgt./Weimar 2001, S. 482–505. – Stephan Müller: ›ioculatores Domini‹: Bettelmönche u. Spruchdichter in der W.-Episode ›Aurons Pfennig‹. Mit dem Text des Königsberger Rotulus u. der Kolmarer Liederhandschrift. In: Geltung der Lit. Hg. B. Kellner u. a. Bln. 2005, S. 63–90. – Franziska Wenzel: Textkohärenz u. Erzählprinzip. Beobachtungen zu narrativen Sangsprüchen an einem Beispiel aus dem W.Komplex. In: ZfdPh 124 (2005), S. 321–340. Franziska Wenzel / Holger Runow

Waser, Maria, * 15.10.1878 Herzogenbuchsee/Kt. Bern, † 19.1.1939 Zollikon/ Kt. Zürich; Grabstätte: Friedhof Zollikon. – Erzählerin, Essayistin, Redakteurin. Die Tochter des Landarztes Walther Krebs wuchs, wie sie in ihrem Roman Sinnbild des

Lebens (Stgt. 1936) aus der Verklärung des Alters heraus darstellt, in Herzogenbuchsee auf, besuchte seit 1894 – zunächst als einziges Mädchen! – das Berner Städtische Gymnasium u. studierte 1897–1901 in Lausanne u. Bern Geschichte u. Literaturwissenschaft. Nach der Promotion u. einem zweijährigen Italienaufenthalt war W. 1904–1919 in Zürich als Redakteurin der Kulturzeitschrift »Die Schweiz« tätig u. heiratete 1904 ihren Mitredakteur, den späteren Archäologieprofessor Otto Waser (1870–1952). Als »Schweiz«-Redakteurin übte W. im Sinne ihres Mentors, des konservativ orientierten Josef Viktor Widmann, bestimmenden u. fördernden Einfluss auf die zeitgenöss. Schweizer Literatur aus, bot aber auch Autoren wie Albin Zollinger oder Robert Walser erste Publikationsmöglichkeiten u. war trotz ihrer Vorliebe für die Welt der Antike eine begeisterte Verehrerin des zunächst heftig umstrittenen Ferdinand Hodler (vgl. dazu Wege zu Hodler. Zürich 1927). Mit ihrem eigenen literar. Erstling, dem histor. Frauen- u. Künstlerroman Die Geschichte der Anna Waser (Stgt. 1913), in dem das Leben einer Malerin aus dem 17. Jh. vergegenwärtigt wird, vermochte W. sich rasch einen guten Namen zu schaffen. Auf die histor. Novellen des Bandes Von der Liebe und dem Tod (ebd. 1919) – diejenige vom Jätvreni wurde W.s meistgelesener Text überhaupt – folgte der zweite Roman, Wir Narren von gestern (ebd. 1922), die Geschichte einer leidgeprüften Familie, vorgetragen von einem buckligen alten Mann. Stärker autobiografisch war der nächste Roman, Die Wende (ebd. 1929), den W. selbst als »rückhaltlos ehrlich« bezeichnete u. der eine Liebesbegegnung u. die dadurch hervorgerufene, durch Verzicht bewältigte Krise schildert. Auf die romanhafte Beschreibung ihrer Kinderheimat Herzogenbuchsee in Land unter Sternen (ebd. 1930) folgten Begegnung am Abend (ebd. 1933), die literar. Frucht der Freundschaft mit dem Gehirnforscher Constantin von Monakow, sowie der autobiogr. Roman Sinnbild des Lebens. W., die sich in Äußerungen wie Die Sendung der Frau (Bern 1928; Rede) auf diplomatisch kluge, aber bestimmte Weise für die gesellschaftl. Besserstellung der Frau ein-

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setzte u. sich mit dem viel beachteten Vortrag Wassermann, Jakob, * 10.3.1873 Fürth, Lebendiges Schweizertum (Zürich 1924) auch zur † 1.1.1934 Altaussee/Steiermark; GrabZukunft der Schweiz angesichts der faschis- stätte: ebd., Friedhof. – Erzähler, Essaytischen Bedrohung äußerte, erhielt im Dez. ist, Feuilletonist, Theaterkritiker, Dra1938, einen Monat vor ihrem Tod, als erste matiker. Frau den Literaturpreis der Stadt Zürich. Der Vater W.s, der jüd. Spielwarenfabrikant Weitere Werke: Nachklang. Texte aus dem Adolf Wassermann, musste sich, nachdem die Nachl. Hg. Otto Waser. Frauenfeld 1944. – Ges. Werke in 3 Bdn. Hg. Esther Gamper. Ebd. 1946–59. Fabrik abgebrannt war, als Versicherungs– Von der Liebe u. vom Leben. Eine illustrierte agent durchbringen. 1882 starb die Mutter Anth. Stäfa 1990. – Wo ich an ganz Grossem Lust Henriette, geb. Straub. Noch als Zögling der empfinde. Hg. Ricarda Gerosa. Bern/Wettingen Fürther Realschule veröffentlichte W. in der 2004. Beilage des »Fürther Tagblatts« den Anfang Literatur: Esther Gamper: Frühe Schatten, eines ersten Romans, was schwere Auseinanfrühes Leuchten. M. W.s Jugendjahre. Frauenfeld dersetzungen mit Vater u. Stiefmutter zur 1945. – Werner Günther: M. W. In: Dichter der Folge hatte. Eine Lehre bei seinem Onkel, neueren Schweiz. Bd. 1, Bern 1963. – Georg Küffer: dem Wiener Fächerfabrikanten Max Traub, M. W. Ebd. 1971. Charles Linsmayer brach er ab u. ging nach München, wo er sich erneut intensiv dem Schreiben widmete. Nach dem Militärdienst war W. VersicheWasserhun, Rudolf, * erste Hälfte des 17. rungsangestellter in Nürnberg; er kündigte Jh. – Lyriker. jedoch mit Erreichen der Volljährigkeit u. Das einzige Lebenszeichen W.s ist sein Kauffbegann ein unstetes u. entbehrungsreiches Fenster, Das ist: Newe poetische Inventiones (Hbg. Wanderleben. 1894 wurde er in München 1644. Internet-Ed. in: HAB Wolfenb.). Im Stil Sekretär von Ernst von Wolzogen, der W.s der neueren dt. Kunstdichtung bietet der literar. Begabung erkannte u. ihn dem Verschmale Oktavband eine Mischung ernster u. leger Albert Langen empfahl. Mit Melusine. scherzhafter Liebes-, Trink- u. Soldatenlieder, Ein Liebesroman (Mchn. 1896. Neuaufl. Amsreligiöser u. weltl. Erbauungslieder, die z.T. terd. 1935) erschien das erste Buch W.s, der mit Melodien versehen sind. In einem Valetnun als Lektor in die Redaktion des »SimLied verabschiedet W. in Hamburg einen plicissimus« eintrat (auch mit eigenen BeiLandsmann, der nach Pommern aufbricht – trägen). In den beinahe drei Jahren der Mitmöglicherweise eine biogr. Spur. Im Ton eher arbeit am »Simplicissimus« knüpfte W. Bebelehrend als spielerisch, äußert sich hier ein Späthumanist, dem es deutlich um die polit. kanntschaft mit Thomas Mann u. Rilke, v. a. Botschaft zu tun ist. So wird zum einen in aber mit Hofmannsthal, auf dessen Einlaeiner Sallust-Paraphrase das Soldatenleben dung er zum ersten Mal nach Altaussee fuhr, gepriesen, »Welches abkehret des Landes in jenes »Thal im steirischen Gebirge«, das Gefahr«, u. das Recht auf Verteidigung des ihm wie »ein Mensch zum Freund« wurde. Mit dem Roman Die Juden von Zirndorf Glaubens bekräftigt. Zugleich aber fordert W. in einem Loblied auf Ferdinand III. diesen (Mchn. 1897. Neubearb. Bln. 1906. Neudr. auf, friedenstiftend zu wirken: »Nimb dir hin Neustadt/Aisch 1987), der W. bei Kritik u. den Leib vnd Güter / Laß nur Gotte die Ge- Leserschaft den literar. Durchbruch brachte, müther / So hat mit dem Käyser gleich / Gott griff er am Beispiel der histor. Fürther Judengemeinde in die damals aktuelle Diskusein abgetheiltes Reich.« sion über jüd. Identität u. jüd. Wesen ein: Literatur: Otto Friedrich Gruppe: R. W. In: Ders.: Leben u. Werk dt. Dichter. Bd. 1, Mchn. Agathon Geyer, ein Prophet u. Erlöser, ver1864, S. 623–628. – Max v. Waldberg: R. W. In: lässt die Welt der starren Orthodoxie, findet ADB. – Anthony John Harper: German secular den Weg zu wahrer Menschlichkeit u. zeichsong-books of the mid-seventeenth century [...]. net so seinem Volk das notwendige allg. Aldershot 2003, S. 266–271 u. Register. Charakterziel vor. Seinem weibl. Pendant Bernd Prätorius / Red. begegnet Agathon Geyer dann in Die Ge-

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schichte der jungen Renate Fuchs (Erstdr. in: Neue Deutsche Rundschau, Jan. bis Juli 1900. Buchausg. Bln. 1900): Auf dem Totenbett erlebt er in der Umarmung mit der trotz Irrwegen innerlich rein gebliebenen Titelheldin letzte Erfüllung. Die psychologisch einfühlsam gestaltete Figur der Renate Fuchs begeisterte die Rezensenten, fand im konservativ-kath. Lager (Richard Schaukal) jedoch entschiedene Ablehnung – eine Polarität des Urteils, welche die W.-Rezeption späterer Zeit mitprägte. Seit Mai 1898 war W. als Theaterkorrespondent der »Frankfurter Zeitung« in Wien, wo er sich dem Kreis des »Jungen Wien« anschloss (Freundschaften mit Richard BeerHofmann u. Arthur Schnitzler). 1901 heiratete er Julie Speyer, der Ehe entstammen vier Kinder; Wohnsitz der Familie wird Grinzing. Von einem großangelegten Romanzyklus (Arbeitstitel: Der Stern aus Jakob) erschien, drastisch gekürzt u. umgearbeitet, nur der histor. Roman Alexander in Babylon (Bln. 1905), der die letzten Monate u. den Tod Alexanders des Großen behandelt. Wie der Novellenband Die Schwestern (ebd. 1906) wurde das an Flauberts Salammbô erinnernde Werk vom Publikum kaum beachtet, wohl aber W.s leidenschaftl. Auseinandersetzung mit dem »unerklärlichen Noch-immer-Existieren des Juden« im Essay Das Los der Juden (in: Die Neue Rundschau, Aug. 1904, S. 940–948), in dem er seine Hingabe an die Literatur als das Resultat seiner »Vereinzelung« als »moderner Jude« erklärt; »Heroldsund Verkündigungsdienst« (als Literat) biete entsprechend dazu die »schönste Form des Selbstvergessens«. Gesellschaftskritik reduziert sich vor dem Hintergrund dieser Position auf Appelle an metahistorische ethische Grundmuster u. individuelle Konfliktlösung: Die Probleme einer deskriptiv im Negativprofil erfassten Gesellschaft werden zu Bewährungsproben für die Protagonisten. W.s Humanismus gipfelt in der Formel »Das Menschenherz gegen die Welt«. Der Rückzug auf Innerlichkeit im histor. Roman Caspar Hauser oder Die Trägheit des Herzens (Stgt./Lpz. 1908), der das Scheitern der »zweiten Geburt« des berühmten Findlings an der Lieblosigkeit seiner Umgebung historisch getreu

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erzählt, machte W. endgültig zum Autor des dt. Bildungsbürgertums. Er selbst meinte, damit für »die Zukunft Seiendes« geschaffen zu haben, insbes. in der Gestaltung dt. Wesens. Unmittelbar vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs beendete W. sein erfolgreichstes Werk, den Roman Das Gänsemännchen (Bln. 1915. Erstdr. in: Der Neue Merkur, Sonderausg. 1930–1933 Gesamtaufl.: 291 Tsd.): ein »charakteristisches Stück bürgerlicher deutscher Geschichte, deutscher Zustände um 1900« (Wassermann). Anknüpfend an Jean Paul u. E. T. A. Hoffmann u. unter dem Eindruck intensiver Dostojewskij-Lektüre, führt W. eine Gesellschaft »ohne jeden Anstand, ohne humane Übereinkunft« vor, an der schließlich der Musiker Daniel Nothafft zerbricht. In seinen Träumen jedoch wächst dieser über sich hinaus, demaskiert »das ewige Kleinbürgertum in seiner Flachheit, Bösartigkeit« (Arthur Schnitzler). Seine Frau Julie hatte W. von einer Meldung als Freiwilliger abbringen können (vgl. den Aufsatz des vaterländisch gestimmten Dichters: Nationalgefühl. In: Neue Rundschau, H. 6, 1915, S. 757–772). 1915 lernte W. die Schriftstellerin Marta Stross, geb. Karlweis (1889–1965), kennen; eine Scheidung von Julie erfolgte erst nach jahrelangen Querelen u. Prozessen. 1919 übersiedeln Marta Karlweis u. W. nach Altaussee. Im selben Jahr erschien der während des Kriegs entstandene Roman Christian Wahnschaffe (2 Bde., Bln. 1919. Neubearb. Ausg. Bln. 1932. Verfilmt 1920), die Geschichte eines reichen jungen Mannes, der die Armut seinem Besitz vorzieht. Die Absage an die bürgerl. Welt des Vaters, an Besitz u. Erwerb weist auch sprachl. Affinitäten zum Expressionismus auf; Christian Wahnschaffe wird zur Identitätsfigur einer durch Krieg u. Umsturz desillusionierten Leserschaft, die auch die Hinwendung des Helden zur Arbeiterklasse, sein unter Einfluss eines russ. Revolutionärs entstandenes Sozialhilfeprogramm u. den Bruch mit den dekadenten Künstlern u. Intellektuellen der Vorkriegszeit akzeptiert. Der Konflikt zwischen Bourgeoisie u. Proletariat wandelt sich zu einem Konflikt des Protagonisten mit seinem moralischen Bewusstsein.

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Mit dem großen autobiogr. Essay Mein Weg als Deutscher und Jude (Bln. 1921. 20. Tsd. 1922. In: Deutscher und Jude. Reden und Schriften 1904–1933. Neuausg. von Rudolf Wolff. Bln. 1987) nahm W. noch einmal eine Standortbestimmung seines Schreibens vor: Er wollte zgl. Deutscher u. Jude sein, wusste aber um die Unmöglichkeit dieses Ziels: »Es ist vergeblich, für sie zu leben und für sie zu sterben. Sie sagen: Er ist ein Jude.« Der Plan zu einem großen Roman mit dem Titel Deutsches Inferno gedieh über Skizzen nicht hinaus; durchgehende Figur des Werkes sollte Ahasver, der ewige Jude, sein. In dem modernen Eheroman Laudin und die Seinen (Bln. 1925. Neuausg. Mchn. 1987), der am Beispiel eines verheirateten Wiener Scheidungsanwalts die Möglichkeit einer Auflösung der bürgerl. Ehe diskutiert, artikulierte W. erstmals jene »Lust an forensischen Dialogspielen« (Dierk Rodewald), die in seinem berühmtesten Roman, Der Fall Maurizius (Bln. 1928. Wien 1953. 1962. Neuausg. Mchn./Wien 1974), analytisch ein Spiegelbild der Zeit konstituiert. Knotenpunkt des Geschehens ist ein lange zurückliegender Mord u. ein damit verbundenes Fehlurteil, das Etzel Andergasts Vater, ein Staatsanwalt, provoziert hatte; mit schicksalhafter Konsequenz steuert dieses unsichtbare Zentrum der Handlung den Weg des Protagonisten u. verhilft der Gerechtigkeit zum Durchbruch. Der ungewöhnl. Erfolg des Buchs, aufgrund dessen W. sogar in eine Unterhaltung mit dem Leser über die Zukunft des Knaben Etzel (in: Neue Freie Presse, 26.5.–13.6.1929) eintrat, animierte ihn zur Fortsetzung (Etzel Andergast. Bln. 1931), die den Titelhelden als Studenten in Berlin vorführt, der seinen Freund u. »Meister«, den Arzt Joseph Kerkhoven, mit dessen Frau hintergeht, dann aber zur Mutter zurückkehrt. Mit dem postum erschienenen Roman Joseph Kerkhovens dritte Existenz (Amsterd. 1934. 3 Bde., Linz/Wien 1947/48) rundete W. den Stoff zur Trilogie; im Patienten Alexander Herzog, der von Kerkhoven dazu bewogen wird, seine Lebensgeschichte zu schreiben, zeichnete er eine deutlich autobiografisch geprägte Figur. Vor allem die Geschichte seiner ersten Ehe floss ein.

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1926 wurde W. in die Preußische Akademie der Künste aufgenommen; seine polit. Haltung in den letzten Jahren der Weimarer Republik ruhte noch immer auf einem individuellen Humanismus, der dem modernen, aggressiven polit. Handeln misstrauisch gegenüberstand, ja, im Essayband Lebensdienst. Gesammelte Studien, Erfahrungen und Reden aus drei Jahrzehnten (Lpz./Zürich 1923) näherte er sich den Positionen konservativer Kulturkritik u. der Antimoderne; »Höflichkeit des Herzens«, »Güte«, »Verbindlichkeit« sind seine Leitbilder. Diese Distanz zur aktuellen Entwicklung hin zum Faschismus drängte den inzwischen weltberühmten Autor in die Isolation. In den histor. Biografien Christoph Columbus (Bln. 1929) u. Bula Matari (ebd. 1932) gab er seiner Leidenschaft für Erobereru. Entdeckerschicksale nach, ein eskapistischer Zug tritt zutage. Kurz vor Hitlers Machtantritt, in einer Selbstschau am Ende des sechsten Jahrzehnts (in: Die Neue Rundschau, März 1933, S. 377–395), zog W. Bilanz: »Künstlerisch genommen [...], ist die einzige Genugtuung die, daß man die große Galerie der Menschenbilder um einige wenige vermehrt hat [...]; ethisch angesehen, ist das Ergebnis zum Verzweifeln.« – Dem Ausschluss aus der Akademie kam W. im März 1933 zuvor; seine Bücher wurden verboten. 1933 trat er noch dem Ehrenpräsidium des »Kulturbundes deutscher Juden« bei. Als einer der auflagenstärksten dt. Autoren der ersten Hälfte des 20. Jh. hat W. entscheidend zur Weltgeltung des dt. Romans beigetragen; dennoch geriet die Rezeption seines Werks nach 1945 ins Stocken. Erst die Beschäftigung mit seiner Biografie (jüdisch-dt. Problematik) führte zu verstärktem Interesse. Eine umfassende Zusammenschau von Leben u. Werk wurde von der Forschung allerdings noch nicht geleistet. – Ein Großteil v. W.s Nachlass befindet sich im DLA. Weitere Werke: Ausgaben: Ges. Werk (in Einzelausg.n). 11 Bde., Bln. 1924–31. – Tagebuch aus dem Winkel. Erzählungen u. Aufsätze aus dem Nachl. Amsterd. 1935. Neuausg. Mchn./Wien 1987. – Ges. Werke. 7 Bde., Basel 1944–48. – Deutscher u. Jude. Reden u. Schr.en 1904–33. Hg. u. mit einem Nachw. versehen v. Dierk Rodewald. Mit einem Geleitwort v. Hilde Spiel. Heidelb. 1984. – Einzel-

Wasserstein der Weisen titel: Die Schaffnerin. Die Mächtigen. Mchn. 1897 (N.n). – Schläfst Du, Mutter? Ruth. Ebd. 1897 (N.n). – Hockenjos oder Die Lügenkomödie. Ebd. 1898. – Der Moloch. Bln. 1903. Neubearb. ebd. 1921 (R.). – Der niegeküßte Mund. Hilperich. 2 Novellen. Mchn./Bln. 1903. – Die Kunst der Erzählung. Bln. 1904. Neuausg. Wien 1930 (Ess.). – Der Literat oder Mythos u. Persönlichkeit. Lpz. 1910 (Ess.). – Die Masken Erwin Reiners. Bln. 1910. Neuaufl. u. d. T. Die Lebensalter [...]. Ebd. 1929 (R.). – Faustina. Ein Gespräch über die Liebe. Ebd. 1912. – Die ungleichen Schalen. 5 Dramen. Ebd. 1912. – Der goldene Spiegel. Ebd. 1912 (E.). – Der Mann v. vierzig Jahren. Ebd. 1913. Neuaufl. ebd. 1929 (R.). – Dt. Charaktere u. Begebenheiten. 2 Bde., ebd. 1915. Wien 1924. – Was ist Besitz? Wien 1919 (Ess.). – Der Wendekreis. 4 Bde., Bln. 1920–24. – Imaginäre Brücken. Studien u. Aufsätze. Mchn. 1921. – Gestalt u. Humanität. 2 Reden. Ebd. 1924. – Der Aufruhr um den Junker Ernst. Bln. 1926 (E.). – Das Gold v. Caxamalca. Lpz. 1928. Neuausg. Stgt. 1973. – Hofmannsthal, der Freund. Bln. 1930 (Ess.). – Rede an die Jugend über das Leben im Geiste. Ebd. 1932 (Ess.). – Selbstbetrachtungen. Ebd. 1933. – Bekenntnisse u. Begegnungen. Porträts u. Skizzen zur Lit. u. Geistesgesch. Bamberg 1950. – Engelhart oder Die zwei Welten. Roman mit einem Nachw. v. Wolfdietrich Rasch. Mchn. 1973. – Briefe: Briefe an seine Braut u. Gattin Julie. 1900–29. Basel 1940. – ›Geliebtes Herz...‹. Briefe. Hg. August Beranek. Wien 1948. Literatur: Siegmund Bing: J. W. Leben u. Werk des Dichters. Bln. 1933. – Marta Karlweis: J. W., Bild, Kampf u. Werk. Amsterd. 1935. – Kaspar Schnetzler: Der Fall Maurizius. J. W.s Kunst des Erzählens. Bern 1968. – Heinrich Hofmann (Hg.): J. W. zum 100. Geburtstag, 1873–1973. Ausstellung der Staatsbibl. Nürnberg. Nürnb. 1973. – Stephen H. Garrin: The Concept of Justice in J. W.’s Trilogy. Bern u. a. 1979. – Antoine Rigaudiere: J. W. 1873–1934. L’homme et l’œuvre. 2 Bde., Metz 1981. – Dierk Rodewald (Hg.): J. W. 1873–1934. Ein Weg als Deutscher u. Jude. Lesebuch zu einer Ausstellung. Bonn 1984. – Hermann Greissinger: ›In die vierte Existenz vielleicht‹. Konzeption v. ›Leben‹ u. ›Nicht-Leben‹ im Werk v. J. W. u. in den Erzähltexten der frühen Moderne. Bern/Ffm. 1986. – Rudolf Wolff: J. W. Werk u. Wirkung. Bonn 1987. – Esther Schneider-Handschin: Das Bild des Bürgertums in J. W.s ›Andergast-Trilogie‹. Bern u. a. 1990. – Regina Schäfer: Plädoyer für Ganna. Männer u. Frauen in den Romanen J. W.s. Tüb. 1992. – Martin Neubauer: J. W. Ein Schriftsteller im Urteil seiner Zeitgenossen. Ffm. 1994. – Rudolf Koester: J. W. Bln. 1996. – Christa Joeris: Aspekte des Ju-

156 dentums im Werk J. W.s. Aachen 1996. – Barbara Ohm: J. W. u. Fürth. Roth 1998. – Heike Lindemann-Luiken: Es ist vergeblich ... Sie sagen: Er ist ein Jude. Die Auswirkungen des Antisemitismus im ausgehenden 19. u. beginnenden 20. Jh. auf Leben u. Werk J. W.s. Ffm. 2005. – Nicole Plöger: Ästhet – Ankläger – Verkünder. J. W.s literar. Anfänge (1890–1900). Würzb. 2007. – Daniela Eisenstein, Dirk Niefanger u. Gunnar Och (Hg.): J. W. Deutscher, Jude, Literat. Gött. 2007. – Thomas Kraft: J. W. Biogr. Mchn. 2008. – Beatrix Müller-Kampel: J. W. Eine biogr. Collage. Wien 2008. – Reiner Scheel: Literar. Justizkritik bei Feuchtwanger, Musil, W. u. A. Zweig. Essen 2008. Johannes Sachslehner / Nicola Gess

Wasserstein der Weisen. – Physikotheologische Sachschrift des 17. Jh. Eine mit Verstexten angereicherte Prosaschrift, die dem panazeenartigen ›Stein‹ der Alchemiker, einer aus ›coaguliertem Wasser‹ bestehenden Arkansubstanz, gewidmet ist. Das anonym publizierte Werk wird gewöhnlich dem Nürnberger Kupferstecher Johann Siebmacher (1561–1610) zugeschrieben, aber auch einem Ambrosius bzw. Johann Ambrosius Siebmacher, Valentin Weigel, Johann Baptist Grosschedel oder Ericus Pfeffer; alle diese Zuschreibungen entbehren Stichhaltigkeit. Man kannte Anfang des 17. Jh. einen Nürnberger ›philosophus und chymicus‹ Johann Siebmacher, doch kommt als Verfasser wohl eher noch der Nürnberger Pfarrer Wolfgang Siebmacher (gest. 1633) in Betracht (Paulus, 1994). Belehrt wird über den laborantischen Gewinn einer ›Universaltinctur‹, doch wird in Verschränkung des ›Buchs der Natur‹ mit der Hl. Schrift u. Analogisierung der arkanen Universalmedizin der Alchemiker mit dem ›himmlischen Eckstein‹ Jesu Christi eben nicht nur chem. Unterricht erteilt, sondern im Sog protestantischen Dissidentums auch theologisiert u. »der jrrdische Philosophische Stein« als eine »wahre Harmonia, Contrafactur, vnd Vorbild deß wahren geistlichen [...] Steins/ Jesu Christi« vorgestellt. Begünstigt von der Tatsache, dass Jacob Böhme 1622 in einem Sendbrief zu seiner Lektüre ermuntert hatte, fand der W. insbes. unter alchemisierenden Pietisten u. Theosophen des 17. u. 18.

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Jh. eine günstige Aufnahme. Dem Erstdruck S. 382 f. – Carlos Gilly: ›Theophrastia Sancta‹. Der (Wasserstein der Weysen. Ffm. 1619) folgten seit Paracelsimus als Religion im Streit mit den offizider Ausgabe Frankfurt/M. 1661 (Faks. Freib. ellen Kirchen. In: ebd., S. 425–488, hier S. 456 f. – i. Br. 1977) zahlreiche, auch unter den Titeln Valentin Weigel: Von der Betrachtung des Lebens Christi. Vom Leben Christi. Hg. Horst Pfefferl. Stgt. Das Güldne Vließ (Lpz. 1736. Nürnb. 1737 2002 (V. W., Sämtl. Schr.en. Bd. 7), S. XV. [Faks. Thalwil 2002]), Das allerhöchste [...] Joachim Telle Kleinod [...] der Weisen (Frankf./Lpz. 1755) u. Speculum philosophicum (o. O. u. J. [18. Jh.]) erschienene Drucke sowie auszügl. WiedergaWaterhouse, Peter, * 24.3.1956 Berlin. – ben in Sammelwerken (Hermetisches A.B.C. deVerfasser von Lyrik, Essays, Bühnenwerrer ächten Weisen [...] vom Stein der Weisen. Tl. 1, ken, genreüberschreitender Prosa, ÜberBln. 1778 [Faks. Schwarzenburg 1979], Nr. setzer. VIII-IX, S. 145–157; Magazin für die höhere Naturwissenschaft und Chemie. Tl. 2, Tüb. 1787, Als Sohn eines brit. Geheimdienstoffiziers u. S. 365–376). Es entstand eine wirkmächtige einer österr. Mutter verbrachte W. seine Übersetzung ins Lateinische (Hydrolithus So- Kindheit u. Jugend an verschiedenen Orten phicus seu Aquarium Sapientum. In: Musaeum (Berlin, Westfalen, Malaysia, Österreich), die hermeticum. Ffm. 1625, S. 101–194. U. d. T. mit der militärischen Tätigkeit des Vaters Musaeum hermeticum reformatum et amplificatum verbunden waren. Die Besonderheit eines auch Ffm. 1677/78. Faks. Mit einer Intro- Familienlebens, in dem der Vater oft für duction von Karl R. H. Frick. Graz 1970, lange Perioden einfach verschwand, hat v. a. S. 73–144. Frankf./Lpz. 1749. Auch in: Bi- nach dessen Tod nachhaltige Spuren im Werk bliotheca Chemica Curiosa. Hg. Jean Jacques W.s hinterlassen. W. begann nach dem Abitur Manget. Bd. 2, Genf 1702, S. 537–557; Faks. 1975 das Studium der Germanistik u. AnBologna 1977). Im Verein mit Übersetzungen glistik in Wien, das er 1984 mit einer Disins Englische (The Water-stone of the Wise men. sertation über Paul Celan bei Wendelin In: Paracelsus: Aurora, & Treasure of the Philo- Schmidt-Dengler abschloss. Sein Durchbruch sophers. Hg. J. H. London 1659, S. 77–229. The als Autor erfolgte 1986 mit dem zweiten GeSophic Hydrolith. In: The Hermetic Museum dichtband passim (Reinb.), dessen zentrale Restored and Enlarged. Übersetzt von einem rhetorische u. denkerische Figur der reversiAnonymus. Vorwort von Edward Arthur ble Vergleich ist: Elemente der Großstadt Waite. London 1893 u. ö. Faks. York Beach, werden mit Körperteilen gleichgesetzt, das Maine 1973 [u. ö.], S. 69–120), Französische Subjekt der Gedichte changiert ständig u. (La Pierre Aqueuse de Sagesse. Kap. 4. Übersetzt lässt keine Identifikation zu. Schon in diesem von Emmanuel d’Hooghvorst. In: Inconnue. Buch wie auch im folgenden Prosaband Bd. 11. 1955. La pierre aqueuse de sagesse ou SPRACHE TOD NACHT AUSSEN. GEDICHT l‘aquarium des sages. Übersetzt von Claude (ebd. 1989) kommt W. zu seiner eigentüml. Froidebise. Paris 1989) u. Italienische (Idrolito Sprache u. zu seinen Leitthemen. Der parasofico o L’acquario dei saggi. In: Tre trattati taktisch rhythmisch skandierte Duktus altedeschi di alchimia del XVII secolo. Übersetzt terniert iron. Fragen u. paradox anmutende und hg. von Paolo Lucarelli. Rom 2005, Definitionen, wobei die Semantik der Wörter S. 99–157) verhalf sie dem W. zu einer über immer wieder hinterfragt wird. Hauptanliedas dt. Sprachgebiet ausgreifenden u. in der gen W.s ist die Lesbarkeit der Welt nach der Esoterik der Moderne anhaltenden Geltung. Krise der modernen Subjektivität u. deren Anspruch einer systematisch allumfassenden Literatur: John Ferguson: Bibliotheca CheInterpretation. mica. Bd. 2, Glasgow 1906, S. 383–385, s.v. J. A. Auch wenn W.s Verwandtschaft mit den Siebmacher. – Julian Paulus: Alchemie u. Paracelsismus um 1600. Siebzig Porträts. In: Analecta Pa- Literaturkonzepten der Grazer Zeitschrift racelsica. Studien zum Nachleben Theophrast v. »manuskripte« u. der Wiener Avantgarde Hohenheims im dt. Kulturgebiet der frühen Neu- unleugbar ist, lässt sich sein Werk keiner bezeit. Hg. Joachim Telle. Stgt. 1994, S 335–406, hier stimmten Zeitströmung zuordnen. Bestim-

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mend wirkt auf ihn vielmehr die Überset- Literaturpreis der Stadt Wien u. 2011 den zertätigkeit aus dem Englischen (M. Ham- Ernst Jandl-Preis für Lyrik. burger, G. M. Hopkins) u. aus dem ItalieniWeitere Werke: MENZ. Gedichte. Graz 1984. – schen (A. Zanzotto, B. Marin), die enge Ver- Besitzlosigkeit Verzögerung Schweigen Anarchie. knüpfungen mit seinem eigenen Werk zeigt. Graz 1985. – Das Klarfeld Gedicht. Bln. 1988. – Der Übersetzung hat W. auch eine intensive Diese andere Seite der Welt / 3 Akte (zus. mit Reflexion als Sehnsucht nach einer Ursprache Margit Ulama). Graz/Wien 1989. – Kieselsteinplan. gewidmet. Er engagiert sich zudem als Or- Für die unsichtbare Universität. Mit Zeichnungen v. Johanes Zechner. Bln. 1990. – Verloren ohne ganisator von Übersetzertreffen u. als UniRettung. Salzb./Wien 1993. – E 71. Mitschrift aus versitätsdozent (u. a. in Wien). In einer Viel- Bihac´ u. Krajina. Ebd. 1996. – Im Genesis-Gelände. zahl von essayistischen Schriften (gesammelt Versuche über einige Gedichte v. Paul Celan u. u. a. im Band Die Geheimnislosigkeit. Ein Spazier- Andrea Zanzotto. Basel u. a. 1998. – Von herbstl. und Lesebuch. Salzb./Wien 1996) präzisiert W. Stille umgeben wird ein Stück gespielt. Basel u. a. seine Poetik der Erinnerung (als Kondensati- 2003. – Der Honigverkäufer im Palastgarten u. das on von erlebter Wirklichkeit u. Sondierung Auditorium Maximum. Salzb./Wien 2010 (E.). der Welt), die als ethische Aufgabe des DichLiteratur: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): P. W. ters betrachtet wird. Ein bedeutendes Mo- Mchn. 1998 (Text + Kritik. H. 137). – Michael ment in der Entwicklung W.s ist die Prosa Braun: P. W. In: LGL. – Maurizio Pirro: ›Glauben Blumen (Zweisprachig: dt./japanisch. Über- Sie mir das Wort Blume?‹ Productive Language setzt von Yukio Akehi und Atsushi Hirano. Scepticism and Skilful Questioning in the Work of P. W. In: Austrian Studies 12 (2004), S. 196–213. – Wien/Bozen 1993), die das Randgebiet Wiens Elke Kasper u. Enno Stahl: P. W. In: KLG. – Hedwig samt seinen Einkaufszentren als allegor. Wingler: Nachdenkend über Sprache als GegenLandschaft wahrnimmt. Die fünf kurzstroph. welt: P. W. ›(Krieg u. Welt)‹. In: manuskripte 46 Gedichtzyklen Prosperos Land (Salzb./Wien (2006), H. 174, S. 127–133. Luigi Reitani 2001) stellen grenzüberschreitende Reisen, auf denen Epiphanien einer in der industrialisierten Welt plötzlich aufleuchtenden Waterstradt, Berta, * 9.8.1907 Kattowitz/ Schönheit begegnen. Als Opus magnum W.s Schlesien, † 7.5.1990 Berlin; Grabstätte: kann das 2006 erschienene Prosawerk (Krieg ebd., Weißensee. – Hörspiel- u. Filmund Welt) (ebd.) gelten, das in zwanzig meist autorin, Erzählerin. autobiografisch geprägten Ausschnitten eine tiefe Auseinandersetzung mit der Figur des Die gelernte Stenotypistin, Tochter eines jüd. Vaters u. die Trauerarbeit um die verstorbene Kaufmanns, kam 1925 nach Berlin, wo sie die Frau artikuliert. Obwohl eine Handlung im Marxistische Arbeiterschule besuchte, Mitgl. engeren Sinne fehlt u. deshalb von einem des Bundes proletarisch-revolutionärer Roman nicht gesprochen werden kann, lassen Schriftsteller (BPRS) wurde u. 1931 in die sich in diesem Buch erzählerische Sequenzen KPD eintrat. Für die Arbeiterpresse entstanauffinden, die sich auf tradierte narrative den zahlreiche, meist verloren gegangene Muster (Heimkehr, Familie, Gastlichkeit) Satiren, Kurzgeschichten u. Gedichte, in debeziehen. Entscheidend wirkt jedenfalls die nen W. vor dem Nationalsozialismus warnte. Fähigkeit W.s, bei der Darstellung von Nach der Entlassung aus der »Schutzhaft« Landschaften einen assoziationsreichen Ge- 1933 emigrierte sie nach England; 1934 dächtnisraum zu eröffnen. kehrte sie zum illegalen Kampf im BPRS nach W. erhielt u. a. 1989 den »manuskripte«- Berlin zurück, wurde verhaftet u. zu zweiPreis, 1990 den Nicolas-Born-Preis, 1993 den einhalb Jahren Zuchthaus verurteilt. Preis der Stadt Münster für Europäische Nach 1945 setzte sich W. aktiv für den Poesie, 1994 den Christine Lavant-Lyrikpreis, Aufbau des kulturellen Lebens in der SBZ/ 1997 den Heimito-von-Doderer-Preis, 2002 DDR ein. Sie arbeitete beim Berliner Rundden Österreichischen Staatspreis für literari- funk u. leistete Kulturarbeit in den zerstörten sche Übersetzung, 2004 den H. C. Artmann- Betrieben. Von 1953 an lebte sie als freie Preis, 2007 den Erich-Fried-Preis, 2008 den Schriftstellerin in Berlin/Adlershof. In den

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Nachkriegsjahren entstanden Hörspiele u. Sendereihen (Familie Tulpe. 1952 ff.; 25-teilige Hörspielfolge), in denen Probleme des Aufbaus u. – auf meist humorvolle Weise – der Werktätigen, v. a. der Frauen u. Jugendlichen, gestaltet werden. Für den Film Die Buntkarierten (1949), der nach ihrem Hörspiel Während der Stromsperre (1946) entstand, erhielt W. 1949 den Nationalpreis der DDR. Der Film, der damals zu den gelungensten Produktionen der DEFA gehörte, erzählt die Geschichte einer Arbeiterfamilie von den 1920er Jahren bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Später schrieb sie v. a. Fernsehspiele, die häufig literar. Vorlagen hatten, z.B. Mathilde Möhring (1964; nach Fontane). Die in Ost u. West vergessene W., nach Günter Kunert eine »Tucholskysche Legierung von Herz mit Schnauze« (1974), arbeitete bis zu ihrem Tod an ihrer Biografie, die vermutlich nie erscheinen wird. Weitere Werke: Sind wir nicht alle Opfer des Faschismus? 1947 (Hörsp.). – Meine Töchter. 1949 (Hörsp.). – Achtung Kopfjäger. 1954 (Hörsp.). – Ehesache Lorenz. 1958 (Fernsehsp.). 1959 (Schausp.). – Nora. 1960 (Fernsehsp.). – Die Männer sind alle Verbrecher. 1967 (Kom.). – Alle Tage ist kein Alltag. Bln./DDR 1974 (E.). – Blick zurück u. wundre dich. Ebd. 1985 (Erzählausw.). Literatur: Günter Kunert: We like Berta. In: Liebes- u. a. Erklärungen. Schriftsteller über Schriftsteller. Hg. Annie Voigtländer. Mit Zeichnungen v. Harald Kretzschmar. Bln./Weimar 1974, S. 383–386. – Rainer Kerndl: Neugierig, respektlos u. sich selber treu. In: Neues Dtschld., 9.5.1990. Gesine von Prittwitz

Watt, Benedikt von, * 18.1.1569 St. Gallen, † 15./16.5.1616 Wöhrd bei Nürnberg. – Meistersinger. W., ein Großneffe des St. Galler Humanisten Vadian, ist seit 1589 in Nürnberg nachweisbar. Er lebte in großer Armut als Goldreißer in der Vorstadt Wöhrd. Neben Georg Hager, Hans Deisinger (1572–1617), Wolf Bauttner (1573–1634), Hans Winter (1591–1627) u. Ambrosius Metzger war W. der führende Vertreter der Spätblüte des Nürnberger Meistergesangs, die von etwa 1590 bis etwa 1630 dauerte; seit 1604 war er Merker, 1605–1611 führte er die Singschulprotokolle.

Seine insg. 990 erhaltenen geistl. u. weltl. Meisterlieder – nach Sachs u. Metzger war W. der produktivste Meisterlieddichter überhaupt – entstanden zwischen 1591 u. 1616; unter ihnen befinden sich auffällig viele Liedzyklen. W.s 25 Meistertöne, die meist Tiernamen tragen (Lange Bärenweise, Kamelweise, Gesprengte Tigertierweise, Büffelweise usw.) waren nur wenig verbreitet. Außer als Dichter profilierte W. sich als der nach Adam Puschman wichtigste Sammler von Meistertönen u. als alleiniger oder mitbeteiligter Schreiber zahlreicher bedeutender Meisterliedsammlungen. Deren Wert liegt v. a. auch darin, dass er den Texten oftmals sorgfältige Aufzeichnungen der Melodien beigab. Die wichtigsten Melodiehandschriften W.s sind in Berlin (SPBK, Mgf 24 u. 25), Nürnberg (StB, Will III. 784) u. Weimar (ZB, Q 576.I u. Fol. 421.) aufbewahrt. Ausgabe: Auswahl in: Meisterlieder des 16. bis 18. Jh. Hg. Eva Klesatschke u. Horst Brunner. Tüb. 1993, Nr. 55, 65, 66, 69. Literatur: Gustav Roethe: B. v. W. In: ADB. – Robert Staiger: B. v. W. [...]. Lpz. 1908. 1914. Nachdr. Lpz. 1973. – Dieter Merzbacher: Meistergesang in Nürnberg um 1600 [...]. Nürnb. 1987. – RSM, Bd. 1 (Hss.), Register; Bd. 2/1, S. 295–299 (Töne); Bd. 13, S. 11–291 (Verz. der Lieder mit Hinweisen auf Abdrucke u. weitere Lit.); Bd. 16 (Register). – Johannes Rettelbach: Variation, Derivation, Imitatio. Untersuchungen zu den Tönen der Sangspruchdichter u. Meistersinger. Tüb. 1993. – Reinhard Hahn: Meistersinger in Schlesien. In: Oberschles. Dichter u. Gelehrte vom Humanismus bis zum Barock. Hg. Gerhard Kosellek. Bielef. 2000, S. 75–102. – Horst Brunner: B. v. W. In: MGG 2. Aufl. Bd. 17 (Pers.), Sp. 495 f. Horst Brunner / Red.

Watzlik, Hans, * 16.12.1879 Unterhaid (Dolni Dvorˇ isˇ teˇ)/Südböhmen, † 24.11. 1948 Tremmelhausen bei Regensburg; Grabstätte: Regensburg, Oberer Katholischer Friedhof. – Erzähler, Lyriker. Der Sohn eines Postmeisters besuchte in Budweis die Schule sowie für zwei Jahre die Lehrerbildungsanstalt. Bis 1925 war er Volksschullehrer in Böhmen. Anschließend verdiente er sich seinen Lebensunterhalt als freier Schriftsteller. Schon 1917 wurde W.

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korrespondierendes, 1924 dann ordentl. Mitgl. der Deutschen Gesellschaft der Wissenschaften u. Künste für die Tschechoslowakische Republik. In seinen Werken vertrat er zunächst einen dezidiert deutschnationalen, antitschech. Standpunkt. Von den Soldaten des neuen tschechoslowak. Staates wurde er deshalb 1919 vorübergehend inhaftiert; über die zweite Auflage seines Romans O Böhmen! (zuerst Lpz. 1917) verhängte man zudem ein Buchvertriebsverbot in der CˇSR. Später, im Laufe der dreißiger Jahre, verstrickte sich W. immer mehr in die nazistische Bewegung. Der Antisemitismus gewann dabei allerdings weder in seinem Denken noch in seinen Schriften eine wesentl. Bedeutung. Bereits vor 1938 konnte W. einen großen Erfolg verbuchen: Sein histor. Roman über den Dreißigjährigen Krieg, Der Pfarrer von Dornloh (Lpz. 1930), erhielt 1931 den Tschechoslowakischen Staatspreis für deutsche Literatur. Die Kritik aus antifaschistischen Kreisen blieb nicht aus, zumal der Preis eigentlich die Verständigung der Nationalitäten innerhalb des Staates befördern sollte. Im Herbst 1938 flüchtete W., seit 1936 Amtsleiter der Sudetendeutschen Partei, unter dem Eindruck des Putsches der SDP nach Straubing; das »Münchener Abkommen« ließ ihn jedoch rasch in seine Heimat zurückkehren. Im »Dritten Reich« wurden W.s histor. Romane u. kulturgeschichtl. Novellen entschieden gefördert; ihre Auflagen waren beachtlich. Besonders erfolgreich wurden die von ihm herausgegebenen u. bearbeiteten Sagen u. Legenden aus dem Böhmerwald (z. B. Girliz und Amixel. Märchen von Sonne, Mond und Erde. Köln 1949). Vor allem der Stilzel, eine folkloristische Figur, hatte es W. angetan, ihm widmete er zwei Publikationen (Stilzel, der Kobold des Böhmerwaldes. Ein Volksbuch. Jena 1926. Der Stilzel und der Mühlknecht. Köln 1938.). Neuere Forschungen haben überzeugend nachgewiesen, dass sich W., entgegen seiner eigenen Darstellung, bereitwillig für die Sache der Nationalsozialisten vereinnahmen ließ. Regelmäßig veröffentlichte er im »Völkischen Beobachter«; 1933–1938 gab er zudem die dt.-völk. Zeitschrift »Der Ackermann aus Böhmen« (Karlsbad) heraus. Die Einglie-

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derung des Böhmerwaldes am 1.12.1938 begrüßte W. enthusiastisch; er schrieb darüber ein panegyr. Gedicht mit dem Titel Sudetenland an den Führer. Es kulminiert in einem vielfach zitierten Schlusshymnus, in dem das lyr. Kollektiv Hitler einen quasi göttl. Status zuerkennt: »O nimm uns, Führer! Wir sind dein.« An anderer Stelle, in einer Rede auf Adalbert Stifter aus dem Jahre 1939, pries W. Hitler als den »größten Staatsmann der Deutschen, den größten deutschen Willensmenschen«. Die Begeisterung für den »Führer« machte sich auch in W.s literar. Werken bemerkbar, etwa in dem Jugendbuch Roswitha oder Die Flucht aus Böhmen (Köln 1940). Aus der Titelfigur wird im Laufe des Romans eine glühende Anhängerin Adolf Hitlers, die ihrem Heilsbringer sogar persönlich begegnet. Das Buch stand seit 1940 dreimal auf den Empfehlungslisten der Reichsjugendführung. Nach 1938 integrierte sich W. auch politisch in das Regime: Auf Antrag vom 25.1.1939 wurde er, rückwirkend zum 1.11.1938, in die NSDAP aufgenommen. Noch im selben Jahr erhielt er zwei Preise, die seine hohe Anerkennung in NS-Deutschland dokumentieren u. ihm zgl. sein finanzielles Auskommen sicherten: zunächst den Eichendorff-Preis, dann, auf Antrag des Gauleiters der Bayrischen Ostmark, Fritz Wächtler, die Goethe-Medaille. W. war damit endgültig auf dem Höhepunkt seiner Karriere angelangt. Als öffentliche, hochgeachtete Person ließ er sich propagandistisch bestens funktionalisieren. So lud ihn 1940 Joseph Goebbels zu einem Truppenbesuch an die Westfront ein; weitere Reisen im Dienst des Reichspropagandaministeriums folgten. In wenigen Jahren hatte sich W. zu einem »offiziellen Repräsentanten des Nazi-Regimes« (V. Maidl) entwickelt. Nach dem Krieg kam es deswegen zum Prozess, u. W. verbrachte ein Jahr in Haft. W.s Œuvre umfasst eine breite Palette an formalen u. stilistischen Ausdrucksmöglichkeiten: Es finden sich Bücher mit Merkmalen des Grenzlandromans, zumeist bevölkert von stereotypen Charakteren, ebenso wie auf volkstümlich getrimmte Texte, angereichert mit Elementen aus Sage u. Legende; es finden sich überdies epigonale Künstlerromane,

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durchdrungen vom Geist der Romantik, u. nicht zuletzt Werke, die der Heimatliteratur zuzurechnen sind. Eine ähnl. Variabilität kennzeichnet W.s Sprache: Bisweilen, v. a. zu Beginn seines Schaffens, ist sie komplex, reich an Metaphern, voll von archaischen Wörtern u. zgl. von Neologismen; dann wiederum, seit den 1920er Jahren, erzählt W. syntaktisch reduzierter, volkstümlicher, in einer »waldschlichten Sprache«. Trotz allem blieb W. zeit seines Lebens, wenn auch mit Differenzierungen, auf ein einziges Thema beschränkt: die Heimat. Sein Schaffen ist, um es mit seinen eigenen Worten aus dem Jahr 1930 zu formulieren, »stark bestimmt von der Nachbarschaft eines fremden Volkes, der Tschechen, die sich in Besitz der urdeutschen Grenzgebiete Böhmens setzen wollen«. Der Grundgedanke seiner meisten Bücher sei deshalb, so W., die Rückeroberung der Heimat durch »Arbeit, Kampf, Liebe.« Geografisch sah sich W. an den Böhmerwald gebunden. Dieser gewann für ihn eine konkrete, identitätsstiftende Funktion u. war doch auch ein myth. Ort. Dabei ging es W. anfangs um eine nationale u. ethn. Wiedergeburt der Böhmerwalddeutschen, zuletzt hingegen um die Eingliederung des Böhmerwaldes ins Deutsche Reich. Seine Mission kam dem eigenen Empfinden nach an ihr Ziel, als 1938 die »sinnlose, widernatürliche Grenze« verschwand u. die »innigste und wunderbarste Mittelgebirgslandschaft Europas« wieder zum »mütterliche[n] Altreich« gehörte (Grüner deutscher Böhmerwald. Bayreuth 1940). Weitere Werke: Im Ring des Ossers. E.en aus der Vergangenheit des Böhmerwaldes. Lpz. 1913. – Der Alp. Ebd. 1914 (R.). – Von deutschböhm. Erde. Konstanz 1915. – Phönix. Lpz. 1916 (R.). – Die Abenteuer des Florian Regenbogner. Ein Traumbüchlein. Lpz. 1919. – Aus wilder Wurzel. Ebd. 1920 (R.). – Der flammende Garten. Reichenberg 1921 (L.). – Schloss Weltfern. Eine romant. Erzählung. Ebd. 1921. – Böhmerwald-Sagen. Budweis 1921. 2. Aufl. mit einem Nachw. v. Erich Hans. Mchn. 1984. – Fuxloh oder Die Taten u. Anschläge des Kasper Dullhäubel. Ein Schelmenroman. Lpz. 1922. – Die Reise nach Ringolay. Reichenberg 1923 (E.). – Das Sankt-Martini-Haus. Ein Nachsp. des armen Lebens. Ebd. 1924 (Schausp.). – Ungebeugtes Volk. Lpz. 1925 (E.en). – Ums Herrgottswort. Ebd. 1926 (R.). – Der wilde Eisengrien. Ein Gerücht

Watzlik aus den Riesenwäldern. Reichenberg 1927. Neuaufl. Grafenau 1998. – Ridibuz. Eine Lügenmäre. Köln 1927. – Das Glück v. Dürrnstauden. Lpz. 1927 (R.). – Dämmervolk. Spukhafte E.en. Ebd. 1928. – Das Fräulein v. Rauchegg. Lpz. 1929 (R.). – Faust im Böhmerwald u. zwei Legenden. Wiesb. 1930. – Deutsch-böhm. Heimat. Drei E.en. Ffm. 1930. – König Oswald u. sein Rabe. Mchn. 1930 (Jugendbuch). – Adlereinsam. E.en um Beethoven. Regensb. 1930. – Der Riese Burlebauz u. andere Märchen. Köln 1931. – Die Leturner Hütte. Bln. 1932 (R.). – Die romant. Reise des Herrn Carl Maria v. Weber. Lpz. 1932. – Der Teufel wildert. Ebd. 1933 (R.). – Erdmut. Eine wunderbare Kindheit. Reichenberg 1935. – Die Krönungsoper. Ein Mozartroman. Bln. 1935. – Der Rückzug der Dreihundert. Karlsbad/Lpz. 1936 (R.). – Die Försterei zu Hirschenried. Ein Kranz toller Gesch.n. Dresden 1936. – Die Buben v. der Geyerflur. Köln 1937 (Jugendbuch). – Balladen. Lpz. 1938. – ... ackert tiefer ins umstrittne Land. Karlsbad 1939 (L.). – Der Meister v. Regensburg. Ein Albrecht-Altdorfer-Roman. Lpz. 1940. – Sudetendt. Reden u. Aufrufe. Oberplan 1940. – Der Bärentobler. Ein grobian. Dorfbuch. Lpz. 1941. – Hinterwäldler. Ein fröhl. Buch v. Landstreichern, Wallfahrern, Altschulmeistern, Rebellen u. Riesen. Bayreuth 1941. – Ein Stegreifsommer. Karlsbad 1944 (R.). – Der Palmesel oder Die kleine Welthistoria v. Hirschau. Mchn. 1955. – Der Verwunschene. Aus dem Nachl. veröffentlicht. Ebd. 1957. Literatur: Karl Franz Leppa: H. W. Sein Leben u. sein Schaffen. Eger 1929. – Elfriede Fiedler: Der Böhmerwalddichter H. W., sein Leben u. ein Abriß seines Werkes. Diss. Wien 1950. – Viktor Karell (Hg.): H. W. Einf. in Leben u. Werk. Bad Homburg 1959. – H. W. 1879–1948. Kat. zur Gedächtnisausstellung. Mchn. 1973. – Gerhard Renner: Österr. Schriftsteller u. der Nationalsozialismus (1933–1940). ›Der Bund der dt. Schriftsteller Österreichs‹ u. der Aufbau der Reichsschrifttumskammer in der ›Ostmark‹. Ffm. 1986. – Elfriede Grabner: Das volkskundl. Böhmerwaldbild bei dem Dichter H. W. In: Stereotypvorstellungen im Alltagsleben. FS Georg R. Schroubek. Hg. Helge Gerndt. Mchn. 1988, S. 197–209. – Anton Schreiegg: Der Dichter H. W. an den Maler Alfred Kubin. In: Sudetenland 36 (1995), Nr. 1, S. 54–57. – Alena Kovárˇeková: H. W. ›Phönix‹ – der Ackermann aus Böhmen. In: Gute Nachbarn – schlechte Nachbarn. Hg. Elke Mehnert. Chemnitz 1999, S. 73–79. – Edgar Pscheidt: Der Nachl. v. H. W. In: Stifter-Jb. 13 (1999), S. 114 f. – Hans Schmitzer: H. W. Dichtung-Schicksal-Vermächtnis. In: Die Oberpfalz 88 (2000), Nr. 6, S. 353–360. – Christian Jäger: Mino-

Wawerzinek

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ritäre Lit.: das Konzept der kleinen Lit. Am Beispiel Prager u. Sudetendt. Werke. Wiesb. 2005. – Václav Maidl: Verhaltensmuster sudetendt. Autoren in den Jahren 1938 bis 1945. Am Beispiel v. Josef Blau u. H. W. In: Lit. unter dem Hakenkreuz. Böhmen u. Mähren 1938–1945. Hg. Walter Becher u. Ingeborg Fiala-Fürst. Fürth im Wald 2005, S. 164–182. – Walter Koschmal u. V. Maidl (Hg.): H. W. Ein Nazidichter? Wuppertal 2006 (mit Bibliogr.). Alexander Schüller

Wawerzinek, Peter, geb.: P. Runkel, * 28.9.1954 Rostock. – Prosaautor. W. wuchs in staatl. Heimen in Demmin u. Nienhagen auf, weil seine Mutter bei ihrem Weggang in die BR Deutschland 1956 ihre zwei Kinder in der DDR zurückließ; sie wurden in bedrohlich verwahrlostem Zustand aufgefunden. W. war ein schmächtiges, zurückgebliebenes Kind, das erst mit etwa sieben Jahren die Sprache als Medium des Selbstausdrucks entdeckte. Im Alter von zehn Jahren wurde er von einem Reriker Lehrerehepaar adoptiert. Er schloss die Erweiterte Oberschule in Bad Doberan ab u. machte nach dem Wehrdienst eine Lehre als Textilzeichner. 1978 zog er nach Ost-Berlin, um ein Studium an der Kunsthochschule in Weißensee zu beginnen, das er nach zwei Jahren abbrach. Er schlug sich u. a. als Briefträger, Kellner u. Totengräber durch u. zog als Stegreifpoet namens »Sc.Happy« (von seinem Spitznamen »Schappi« abgeleitet) umher. 1988 fand W. in Matthias BAADER Holst einen kongenialen Partner für spontane u. provokante Performances, mit denen sie durch die DDR tourten. Sie gerierten sich als enfants terribles der sog. Prenzlauer-BergSzene, der W. zugerechnet wurde, aber nicht ganz angehörte. Das Ende der DDR u. der Unfalltod BAADER Holsts 1990 beförderten bei W. eine Wendung zum ernsthaften Schreiben; er bearbeitete sein verstreutes Material u. publizierte in rascher Folge erste Bücher. Es war einmal... Parodien zur DDR-Literatur (Mit einem Comic von Bernd Fraedrich. Bln. 1990) ist eine Sammlung kürzester Pastiches zu 61 DDR-Autoren: 61 Varianten des Märchens vom Rotkäppchen umkreisen das Verhältnis der Intellektuellen zur Macht, poli-

tisch-ideologisch aufgeladen die Motive Verführung, Täuschung u. Verrat. Virtuos parodiert W. nicht nur den Stil, sondern auch die Weltanschauung des jeweiligen Autors. Der Roman NIX (Bln. 1990), das erste von mehreren autobiogr. Werken, behandelt die Künstler-Werdung des Ich-Erzählers – in Abgrenzung vom Vater – in tagebuchartigen Schnipseln u. mit experimenteller Sprachspielfreude. Der Folgeroman Moppel Schappiks Tätowierungen (Bln. 1991) führt dies fort, nimmt den Leser mit auf die Suche nach dem dissoziativen Protagonisten Schappik (oder Schappi?): »Ich schreibe auf mich zu, das heißt, ich schreibe mich weg.« Für den Roman erhielt W. beim Ingeborg-BachmannWettbewerb 1991 das Bertelsmann-Stipendium, im selben Jahr den Deutschen Kritikerpreis für Literatur. 1993 folgten ein Stipendium des Deutschen Literaturfonds u. der Hörspielpreis der Akademie der Künste Berlin. W. schien als einer der wenigen Autoren vom Prenzlauer Berg den Durchbruch im vereinten Deutschland zu schaffen. Mein Babylon (Bln. 1995) verhandelt scharfzüngig Aufstieg u. Fall eben dieses Stadtbezirks vom Ende der 1970er Jahre bis 1989. Da in der dritten Person Präteritum u. in indirekter Rede erzählt wird, tarnt sich der Text als Chronik oder Legende von der künstlerischen Opposition der DDR, um sie als Mythos zu dekuvrieren. Die Hauptfigur A. kritisiert die Möchtegern-Widerständler (»Integrierte Aufrührer«); seine Individuation vollzieht sich als Emanzipation von der Szene, während diese untergeht. Kritiker haben diese Loslösung auch bei W. u. hier eine Zäsur in seinem Werk diagnostiziert, weil seine Sprache poetisch-harmonischer, weniger avantgardistisch geworden sei. Zugleich blieb der Erfolg aus; es folgten wenig beachtete Bücher: Vielleicht kommt Peter noch vorbei (Lpz. 1997), wieder eine ›Schnipsel‹Jagd nach dem erzählenden Ich; Café Komplott. Eine glückliche Begebenheit (Bln. 1998, R.; als Hörsp. DLF 2008), eine Persiflage auf Protestkultur u. Politik im vereinten Deutschland; Das Meer an sich ist weniger (Hörbuch Bln. 1990. Hörsp. DLF 2000), eine Hommage an die See, u. Sperrzone reines Deutschland. Szenen einer Sommerreise (Bln.

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Wawra

2001, R.), eine Bestandsaufnahme trostloser mergut. Von Seefahrten u. Seereisen. Wien 2008 Nachwenderealität an der Ostseeküste. W. (Ess.s). – Das Desinteresse. Festschrift für einen Freund. Der Hallenser Dichter ›Matthias‹ BAADER zog sich zunehmend zurück. Seine Kindheit an der Ostsee (u. die meck- Holst. Hg. Moritz Götze u. Peter Lang. Halle/ S. 2010. lenburgische Mentalität) hatte W. bereits Literatur: Stefan Sprang: P. W. In: LGL. – Anheiter-poetisch in der Erzählung Das Kind das dreas Erb: P. W. In: KLG. – Ders. (Hg.): Von ich war (Bln. 1994. 3., veränderte Aufl. 2010) Mecklenburg zum Prenzlauer Berg. P. W. Essen eingefangen, das Verlassenwerden von der 2005. – Janine Ludwig u. Iris Thalhammer: ›In den Mutter darin allerdings ausgespart. Es steht Büchern Fadheit, Geschwätz‹. P. W.s Abrechnung im Zentrum des ungleich längeren u. mit dem Prenzlauer Berg der 1980er Jahre. In: Lit. schwermütigeren Romans Rabenliebe (Bln./ ohne Land? Schreibstrategien einer DDR-Lit. im Köln 2010), der eine einzige Wehklage des vereinten Dtschld. Hg. J. Ludwig u. Mirjam Meumutterlosen Kindes ist, ungeschützt auto- ser. Freib. i. Br. 2009, S. 237–254. Janine Ludwig biografisch, pathetisch, literar. Konventionen sprengend, eine Erinnerungstherapie. Der Wawra, Karl (Josef), * 27.7.1924 Wien, erste Teil, »Die Mutterfindung«, zeichnet † 5.3.2007 Wien. – Lyriker, Erzähler. W.s Heimkindheit nach, gescheiterte Adoptionsversuche, die Strenge der Adoptivmut- W. studierte nach dem Zweiten Weltkrieg am ter, die ungestillte Sehnsucht nach der Ra- Reinhardt-Seminar u. am Konservatorium benmutter. W. bedient sich disparater Stil- der Stadt Wien u. war mehrere Jahre als ebenen, flicht Gedichte, Volkslieder, Kinder- Schauspieler tätig, u. a. im Theater »Die Insel reime u. Zeitungsausschnitte über Kindes- in der Komödie« unter Leon Epp. Seit 1951 vernachlässigung ein, variiert ambivalente verdiente er seinen Lebensunterhalt als Inromant. Motive wie Schnee u. Nebel. Im dustrieangestellter in Wien. Profilieren konnte sich W. in der Nachzweiten Teil, »Da bist Du ja«, sucht er endlich kriegszeit mit schmalen, formal ausgefeilten als 50-Jähriger die Mutter auf u. findet eine gefühlskalte alte Frau vor. Das Buch wird Lyrikbändchen (Gärtchen in Moll. Illustriert zum dunklen Entwicklungsroman, zur Ab- von Wolfgang Hutter. Wien 1952. Der Stufenrechnung mit der herzlosen Mutter, zur spä- brunnen. Wien 1956). In den 1950er u. 1960er ten Rache u. zum späten Erfolg: Rabenliebe Jahren war W. in allen repräsentativen österr. erhielt 2010 den Ingeborg-Bachmann-Preis, Anthologien u. Literaturzeitschriften vertreden gleichnamigen Publikumspreis u. eine ten; um 1970 herum beendete er seine literar. Nominierung für den Deutschen Buchpreis Produktion. Geprägt durch seine religiöse Erziehung im Elternhaus u. den Besuch des (Shortlist). Piaristengymnasiums in Wien, entwirft er im Weitere Werke: Das Icho. Bln./DDR o. J. (MC). – ›Matthias‹ BAADER Holst (zus. mit M. BAADER Gedichtzyklus Die Boten jeder Stunde (Wien/ Holst). Lpz. Mai 1989 (Live-LP). – Briefe an die Ju- Mchn. 1962) 66 Engelsfiguren, die in bibl. gend des Jahres 2017 (zus. mit M. BAADER Holst). Tradition u. christl. Kunst wurzeln. Mit der Bln. 1990 (VHS-Video). – Die 6. Tonnenleerung. Novelle Quasi vom Himmel gefallen (Graz/Wien Bln. 1990. – Nix. Bln. 1990 (VHS-Video; als Hörsp. 1965) führt W. in der Doppelexistenz des SFB u. DS Kultur 1993). – Fallada ich zucke. Krit- Engels Sebastian als Wiener Geschäftsmann zeleien aus der Hochebene (zus. mit Klaus Zylla). seine Engelsauffassung des helfenden BotenBln. 1996 (Künstlerbuch; als Hörsp. SFB u. ORB tums weiter aus. 1998). – Berliner Zimmer oder Stadt im Kopf (zus. Die Figur des Engels ist nicht eigentlich mit Florian Günther). Bln. 1997 (Künstlerbuch). – christlich motiviert, vielmehr eine Metapher Oliv ist Arsen oder Pekinger Wüsteneien (zus. mit für die Poesie selbst. In einem Interview mit Klaus Bendler u. a.). Bln. 1998 (Künstlerbuch). – Skorbut (zus. mit Moritz Götze). Augsb. 1998 Viktor Suchy 1968 spricht er von des Engels (Künstlerbuch). – Der Galionsfigurenschnitzer »Zusammenhang nach allen Seiten« – zum Transzendenten wie zum (zus. mit Tim von Veh). Bln. 2000 (Künstlerbuch). – Göttlichen, Der Krieg ist doch verloren? (zus. mit Bodo Korsig). Menschlichen oder Unmenschlichen hin. Die Rheinbach 2001 (Künstlerbuch). – Mein Salzkam- Figur ermöglicht eine unverstellte, bisweilen

Weber

fantastische Perspektive, erprobt die Stellung zwischen Zeitlosigkeit u. Vergänglichkeit u. erlaubt einen Blick in die Seele der Dinge. W. will »die heimliche Bedeutung der Dinge«, die durch »Neonlicht« nicht sichtbarer wird, aufspüren, bewahren, formen. Dieser Anspruch steht im Kontrast zum Wissen um die Unberechenbarkeit u. Inkonsistenz aller Wahrnehmungen. W.s Moderne-Rezeption reicht vom Neusachlichen zur konkreten Poesie u. visueller Lyrik. Bei allem Experimentieren mit lyr. Formen hält er am Sinnbezug fest. Im Interview sagt W., er wolle in seinen Romanen die »menschliche Bewegung« zeigen – und nicht allein die Türme (Wien 1958, Prosadichtungen) verdienen die Charakterisierung als »magischer Realismus« (George Saiko). W.s autobiogr. Romane Kindern Eintritt verboten (Hbg. 1959. Mit dem Untertitel Im Labyrinth des Eros. Ffm./Hbg. 1961) u. Peter verläßt das Paradies (Graz/Wien 1961) thematisieren mit dem Paradiesverlust die existenzielle Ausgesetztheit u. Glückssehnsucht des Menschen. W. erhielt 1957 den Alma-Johanna-KoenigPreis u. 1961 den staatl. Förderungspreis für Lyrik. Er war Mitgl. des P.E.N.-Clubs u. der IG Autoren. Weitere Werke: Brigittes Probemonat. Wien/ Mchn. 1963 (Jugendbuch). – Die Auferstehung der Sonnenblume. Wien 1968 (L.). Literatur: Oskar Jan Tauschinski: Sechsundsechzig Engel zwischen Mond u. Erde. Gedanken über K. W. In: Wort in der Zeit 8 (1962), F. 1, S. 7–11. – Viktor Suchy: Der Dichter u. der Engel. In: K. W.: ›Quasi vom Himmel gefallen‹. a. a. O., S. 5–21. – (Dossier) K. W. (1924–2007). Verschwunden u. aufgefunden. Texte. Redaktion: Ursula A. Schneider u. Annette Steinsiek. In: LuK 45 (2010), H. 449/450, S. 52–80. – Nachlass: Forschungsinstitut Brenner-Archiv, Innsbruck. Christine Schmidjell / Annette Steinsiek

Weber, Alfred, * 30.7.1868 Erfurt, † 2.5. 1958 Heidelberg. – Soziologe, Kulturphilosoph. Der jüngere Bruder von Max Weber studierte Rechtswissenschaft u. Nationalökonomie in Bonn, Tübingen u. Berlin (Promotion 1895, Habilitation 1899). 1904 nach Prag berufen, widmete er sich dort volkswirtschaftl. Un-

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tersuchungen (Über den Standort der Industrien. Tüb. 1909. 21922). Seit 1907 in Heidelberg lehrend, fesselten ihn nun Fragen einer zeitgemäßen Kultursoziologie (Deutschland und die europäische Kulturkrise. Bln. 1924. Ideen zur Staats- und Kultursoziologie. Karlsr. 1927), welche die vorherrschende »Gesellschaftslehre« durch histor. Konstellationsanalysen ergänzen sollte. Seit sich W.s diagnost. Blick auf die polit. Krise der Epoche richtete u. eine in der Welt einzigartige »Rebarbarisierung« feststellte (Kulturgeschichte als Kultursoziologie. Leiden 1935. Erw. 31960), rückte das »Kulturschicksal der Menschheit« (Das Tragische und die Geschichte. Hbg. 1943) in den Mittelpunkt seiner Forschungen. Auf der Suche nach dem Sinn von Geschichte wurde die Kultursoziologie zur Kulturkritik (Abschied von der bisherigen Geschichte. Ebd. 1946). Dennoch nie kulturpessimistisch, suchte W. sozialtherapeutisch »die Spontaneität in der historischen Gebundenheit zu bewahren«. Eine menschenwürdige Zukunft angesichts der Entwicklung der modernen industriellen Gesellschaft verlange eine Versöhnung von Kultur u. Natur. Umwelt u. Anthropologie sahen sich daher im Werk W.s existentiell aufeinander verwiesen (Der dritte oder der vierte Mensch. Vom Sinn des geschichtlichen Daseins. Mchn. 1953). Weitere Werke: Religion u. Kultur. Jena 1912. – Gedanken zur dt. Sendung. Bln. 1915. – Die Not der geistigen Arbeiter. Mchn. 1923. – Die Krise des modernen Staatsgedankens in Europa. Stgt. 1925. – Das Ende der Demokratie? Bln. 1931. – Prinzipien der Geschichts- u. Kultursoziologie. Mchn. 1951. – Schriften u. Aufsätze 1867–1955. Ebd. 1956 (mit Bibliogr.). – A.-W.-Gesamtausg. Hg. Richard Bräu. Marburg 1997 ff. Literatur: Edgar Salin (Hg.): Synopsis. Festg. für A. W. Heidelb. 1948. – Victor Willi: Das Wesen der Kulturhöhe u. der Kulturkrise in der kultursoziolog. Sicht A. W.s. Köln 1953. – Salomon Wald: Gesch. u. Gegenwart im Denken A. W.s. Zürich 1964. – Roland Eckert: Zivilisation u. Gesellsch. Die Geschichtstheorie A. W.s. Tüb. 1970. – Eberhard Demm (Hg.): A. W. als Politiker u. Gelehrter. Stgt. 1986. – Hans G. Nutzinger: A. W. als Vertreter der inneren Emigration [...]. Heidelb. 1992. – Reinhard Blomert: Intellektuelle im Aufbruch [...]. Mchn./Wien 1999. – E. Demm: A. W. u. die Nationalsozialisten. In: Ztschr. für Geschichtswiss. 47

165 (1999), 3, S. 211–236. – Giovanna Sarti: A. W. Economia politica, sociologia della cultura e filosofia della storia. Florenz 1999. – E. Demm (Hg.): Geist u. Politik im 20. Jh. Ges. Aufsätze zu A. W. Ffm. u. a. 2000. – Ders. (Hg.): A. W. zum Gedächtnis. Selbstzeugnisse u. Erinnerungen v. Zeitgenossen. Ffm. 2000. – Ders. (Hg.): Soziologie, Politik u. Kultur. Von A. W. zur Frankfurter Schule. Ffm. u. a. 2003. – Ders.: Geist u. Politik – der Heidelberger Gelehrtenpolitiker A. W. 1868–1958 (Ausstellungskat.). Heidelb. u. a. 2003. Sven Papcke / Red.

Weber, Annemarie, eigentl.: A. Lorenzen, auch: Katja Henning, * 8.6.1918 Berlin, † 15.1.1991 Berlin. – Autorin von Romanen, Jugendbüchern u. Feuilletons.

Weber nach een amerikan. Knüller (zus. mit Peter Mayle). Hbg. 1977. – Rosa oder Armut schändet. Köln 1978 (R.). – Immer auf dem Sofa: Das familiäre Glück vom Biedermeier bis heute. Bln. 1982. – Charlottenburg. Ein Bezirk v. Berlin (zus. mit Arno Kiermeir). Ebd. 1984. Stephan Speicher

Weber, Beat, * 24.8.1947 Utzensdorf/Kt. Bern. – Lyriker, Erzähler, Hörspielautor. W. studierte Germanistik, Pädagogik u. Philosophie in Freiburg/Schweiz u. Zürich. 1973 wurde er bei Emil Staiger promoviert; seine Dissertation Die Kindsmörderin im deutschen Schrifttum von 1770–1795 (Bonn) erschien 1974. 1968 begann der Bewusstseinswandel, den der Lehrer, Schauspieler u. Heilpädagoge in seinen Romanen Ich & wir (Bern 1981) u. Durst (ebd. 1982) nachzeichnet. Die Protagonisten sind Lehrer, denen die Enge des Dorfes immer unerträglicher wird, die auf Reisen gehen, ihren Körper spüren lernen, sich politisch zu engagieren beginnen u. den Militärdienst verweigern (was sie ins Gefängnis bringt), sich als Künstler versuchen, schließlich in der Betreuung behinderter Kinder eine neue Aufgabe finden. Reflexionssplitter dieses Weges enthalten auch W.s Gedichtbände Halbfreiheit (ebd. 1974; darin bes. bemerkenswert ein Zyklus von Porträts behinderter Kinder), Notvorrat (Biel 1977) u. Wortsack (Bern 1980).

Die Tochter eines Wirtschaftsprüfers war Buchhändlerin u. schrieb seit Kriegsbeginn für Zeitschriften u. den Rundfunk Erzählungen u. Feuilletons (Seid gut zu den Frauen. Mchn. 1956. Ehret die Männer! Ebd. 1957). Der lockere Zusammenhang der einzelnen Geschichten in ihrem ersten Roman Korso (Hbg. 1961) verweist auf die literar. Anfänge der Autorin. Ihr bekanntestes Buch wurde der Roman Westend (ebd. 1966): Elsa Lewinsky, wie viele Hauptfiguren W.s mit autobiogr. Zügen ausgestattet, schlägt sich mutig u. geschickt durch die letzten Wochen des Zweiten Weltkriegs u. die erste Nachkriegszeit. Die Tage der sowjetischen Besetzung Berlins übersteht sie geduldig. Als die Engländer die Weitere Werke: Hörspiele (alle Radio DRS): Dr Macht im Westend übernehmen, weiß sie sich letscht Obe. 1974. – Chischte. 1975. – E normale als Dolmetscherin in einer Mischung aus Ma. 1977. – Gander. 1978. – D Anita chunnt. 1979. Anpassung u. Selbstbewahrung ihren Vorteil – Restaurant du Soleil. 1982. – Das Landschiff. zu sichern. Im Opportunismus der Deutschen 1983. – Ciao Carole! 1984. – Das Haus. 1986. Dominik Müller / Sonja Schüller wird bereits die Atmosphäre der 1950er Jahre erkennbar. Von der Kritik zustimmend aufgenommen, Weber, Beda, eigentl.: Johann Chrysanth blieb W.s Büchern der ganz große Publi- Weber, * 26.10.1798 Lienz i. Pustertal/ kumserfolg versagt, obwohl Witz u. sprachl. Tirol, † 28.2.1858 Frankfurt/M.; GrabGewandtheit ihre Lektüre außerordentlich stätte: ebd., Hauptfriedhof. – Verfasser von Werken zur Landeskunde Tirols; kaunterhaltsam machen. Weitere Werke: Roter Winter. Mchn. 1969. – Der große Sohn v. Wulkow. Ebd. 1972 (R.). – Ein Mädchen aus geordneten Verhältnissen. BadenBaden 1973 (R.). – Die jungen Götter. Mchn. 1974. – Mit Lazi unterwegs. Baden-Baden 1975 (R.). – Einladung nach Berlin. Mchn. u. a. 1976. – Wo bin ick’n eigentlich herjekommn? ’n uffkleandit Büldabuch for kleene Jören un ihre Ollen, jeschriem

tholischer Schriftsteller u. Publizist. Nach dem Besuch des Franziskanergymnasiums in Bozen, dem auf Wunsch des Vaters eine dreijährige Lehrzeit im Schusterhandwerk vorangegangen war, u. philosophischphilolog. Studien am Innsbrucker Lyzeum (1818–1820) trat der als ältestes Kind eines

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Kleingutbesitzers geborene W. 1820 in das nahe bei Burgeis im Oberinntal gelegene Benediktinerstift Marienberg ein, wo er nach einjährigem Noviziat am 21.10.1821 die einfachen Gelübde ablegte. Von einem zweiten Studienaufenthalt an der theolog. Schule in Innsbruck in seinem »Widerwillen gegen alle diese josephinischen Jämmerlichkeiten zur Knechtung des freien kirchlichen Lebens« (W.) bestärkt, wurde er im Herbst 1823 auf die bischöfl. Lehranstalt in Brixen geschickt. Dort ging er nebenher auf seinen Bergwanderungen botanischen Studien nach u. seine schon in Innsbruck begonnenen Arbeiten zur Kulturgeografie u. Landesgeschichte Tirols fort. Deren spätere Früchte waren neben einer Edition der Gedichte Oswalds von Wolkenstein. Mit Einleitung, Wortbuch und Varianten (Innsbr. 1847) vor allem Das Land Tirol. Mit einem Anhange. Vorarlberg. Ein Handbuch für Reisende (3 Bde., Innsbr. 1837/38), das daraus gewonnene einbändige Handbuch für Reisende in Tirol (Innsbr. 1842. 21858) sowie die Folge der Stadt- u. Landschaftsporträts Meran und seine Umgebungen oder das Burggrafenamt von Tirol. Für Einheimische und Fremde (Innsbr. 1838), Innsbruck. Ein historisch-topographisch-statistisches Gemälde dieser Stadt, nebst Ausflügen in die nahen Umgebungen. Ein Wegweiser für Einheimische und Fremde (Innsbr. 1838), Die Stadt Bozen und ihre Umgebungen (Bozen 1849) u. Das Thal Passeier und seine Bewohner. Mit besonderer Rücksicht auf Andreas Hofer und das Jahr 1809 (Innsbr. 1852). Mit diesen Handbüchern, die ihm die Mitgliedschaften der Akademie der Wissenschaften in Wien (1847) u. der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (1848) einbrachten, erschloss W. das Land Tirol dem aufkommenden Tourismus als neues Reiseziel u. erweiterte zgl. eine eher pragmatischzweckgebundene Tradition der älteren Apodemik durch Aufnahme historisch-politischer u. kulturhistorisch breit fundierter, jedoch stets gegenwartsbezogener Wissensbestände. Die Blüten der heiligen Liebe und Andacht. Gesammelt für Kenner und Liebhaber des inneren Lebens. Aus den Schriften der heiligen Giovanna Maria dalla Croce (Innsbr. 1845) sowie das 1877 in dritter Auflage erschienene Johanna Maria vom Kreuze (Giovanna Maria dalla Croce) und ihre

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Zeit. Ein Lebensgemälde aus dem siebenzehnten Jahrhundert (Regensb.; 1. Aufl. ebd. 1846) widmete W. der 1603 in Roveredo geborenen Klarissin, deren Seligsprechungsprozess er damit wieder anstoßen wollte. Die in den Worten ihres Lobredners Wolfgang Menzel in der Stimmung eines »frommen Beters, der von den schneeigen Alpen emporblickt zum dort näheren Himmel«, niedergeschriebenen Lieder aus Tirol (Stgt./Tüb. 1842) dürften hingegen eher als poetisch belangloses Nebenwerk gelten, das von den Zeitgenossen unterschiedlich, im Fall der ohne Namensnennung W.s erschienenen Vormärzlichen Lieder aus Tirol (Jena 1850) wegen einiger als unschicklich betrachteter Gedichte sogar mit scharfer Kritik aufgenommen wurde. In Brixen am 18.9.1824 zum Priester geweiht, trat W. nach einem weiteren Studium der Pastoraltheologie an der bischöfl. Lehranstalt in Trient im Juni 1825 als Kaplan seine erste Stelle in der Pfarre Burgeis im Vinschgau an, wirkte dann aber seit Aug. 1826 mit Ausnahme einer zweijährigen Kaplanstätigkeit in Passeier als Professor der Humanitätsklassen am Gymnasium der Benediktiner in Meran. 1848 wurde er für den Südtiroler Wahlkreis Meran in das Frankfurter Parlament gewählt, wo er im Kreis der Nationalliberalen um Heinrich von Gagern eine konservativ-großdt. Haltung vertrat. Aufschlussreiche Einblicke in diese Zeit gewähren einige der in W.s Charakterbildern (Ffm. 1853) gesammelten Aufsätze. Durch seine nicht nur von Katholiken viel besuchten Predigten im Dom u. in der Leonhardskirche der Frankfurter Bevölkerung bekanntgeworden, wurde W. nach seinem – als Reaktion auf die Wahl König Friedrich Wilhelms IV. von Preußen zum dt. Kaiser erfolgten – Austritt aus dem Parlament am 21. April vom Senat der Stadt einstimmig auf die vakante Stelle des Stadtpfarrers der Bartholomäusgemeinde gewählt u. dort am 24.8.1849 in sein Amt eingeführt, wozu ihn zuvor Papst Pius IX. von seinen Ordensgelübden dispensiert hatte. Hier wirkte W. bis zu seinem plötzl. Ableben in Predigt, Seelsorge, Jugenderziehung, Bildungsarbeit u. Armutsbekämpfung als unermüdlicher u. vielseitig tätiger Reformator des kath. Lebens

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in Frankfurt. Mit der Gründung des wö- posiums veranstaltet v. Südtiroler Kulturinstitut chentlich erscheinenden, bald über die Bis- [...]. Hg. Rainer Loose. Bozen 1993, S. 257–264. – tumsgrenzen hinaus bekannten »Frankfurter Ders.: B. W. – vor 150 Jahren gestorben. In: Studien Katholischen Kirchenblatts« (1853) sowie der u. Mitt.en zur Gesch. des Benediktinerordens u. seiner Zweige 119 (2008), S. 496–503. – Heinz auf überregionale Verbreitung zielenden, mit Wieser: Vor 150 Jahren starb P. B. W. In: Der seinem Tod jedoch eingegangenen polit. Ta- Schlern 82 (2008), S. 54 f. – Georg Hörwarter: B. W. geszeitung »Germania« (1855) wollte er be- – Tiroler Heimatforscher, Frankfurter Politiker u. wusst der zunehmenden Bedeutung der Ta- Seelsorger. In: Südtirol in Wort u. Bild 54 (2010), gespresse Rechnung tragen; es sei »Sache der S. 25 f. Thomas Pittrof Katholiken, sich diese Macht, diesen Einfluß nicht entwinden zu lassen« (W.). Die um eiWeber, Carl Maria, auch: Olaf, * 6.9.1890 nige ungedruckte Stücke vermehrte Auswahl Düsseldorf, † 15.8.1953 Prien/Chiemsee; der hier veröffentlichten Artikel in den CarGrabstätte: Marquartstein/Oberbayern, tons aus dem deutschen Kirchenleben (Mainz Katholischer Friedhof. – Lyriker, Essayist. 1858) stellen eine aus der Erfahrung des Frankfurter Großstadtseelsorgers geschrie- Der Sohn eines Lehrers wuchs im kath. Altbene Summe zur Berichtigung des Zeitgeists stadtmilieu Düsseldorfs auf. Während seiner dar u. dokumentieren die Gegenwehr eines Bonner Studienzeit 1912–1914 knüpfte W. kämpferischen Ultramontanisten gegen die als Vorsitzender der »Litterarischen Abteivon ihm beobachteten Liberalisierungs- u. lung der Freien Studentenschaft« mit ThoEntkirchlichungstendenzen einer unruhigen mas Mann u. Kurt Hiller lebenslange Verbindungen. Im Ersten Weltkrieg wurde er Übergangszeit. Weitere Werke: Übers.: Johannes Chrysosto- zum Pazifisten u. »politischen Dichter«; mus. Sechs Bücher vom Priesterthume. Innsbr. Hillers Idee von der umfassenden »Herr1833. – Denkbuch der Erbhuldigung in Tirol 1838. schaft des Geistes« warb ihn für dessen Kreis Innsbr. 1839. – Tirol u. die Reformation. In histor. »Bund zum Ziel«. Im Herbst 1919 schloss Bildern u. Fragmenten. Ein kath. Beitr. zur nähe- sich W. für mehrere Wochen der Wandervoren Charakterisirung der Folgen des dreißigjähri- gelbewegung an u. warb für Armin T. Wegen Krieges vom tirolischen Standpunkte aus. gners »Liga der Kriegsdienstgegner«. Im Mai Innsbr. 1841. – Predigten an’s Tirolervolk. Ffm. 1920 berief Wilhelm Vershofen W. als Leiter 1851. – Andreas Hofer u. das Jahr 1809, mit bes. des Vortragswesens zu den »Werkleuten auf Rücksicht auf Passeiers Theilnahme am Kampfe. Haus Nyland – Bund für schöpferische ArInnsbr. 1852. – Zur Reformationsgesch. der freien beit« nach Sonneberg/Thüringen; von Juni Reichsstadt Frankfurt a. M. Aus dem literar. Nachlasse [...]. Hg. u. erg. durch Inspektor J. Die- 1921 bis Frühsommer 1926 war er Lehrer für Deutsch u. Geschichte an der »Freien Schulfenbach. Ffm. 1895. Literatur: Wurzbach 53 (1886), S. 169–176. – gemeinde« in Wickersdorf bei Saalfeld. Diese Joseph E. Wackernell: B. W. 1798–1858 u. die ti- fünfjährige Tätigkeit u. die Zusammenarbeit rolische Lit. 1800–1846. Innsbr. 1903. – Franz mit dem Gründer der Reformschule, Gustav Schnabel: Dt. Gesch. im 19. Jh. Bd. 4, Freib. i. Br. Wyneken, bezeichnete der Ruhelose später als 2 1951, S. 251. – Martin Angerer: B. W. Eine typ. die schönste Zeit seines Lebens. Anschließend Seelsorgergestalt des 19. Jh. [...]. Innsbr./Mchn. holte W. sein Lehrerexamen nach u. schlug 1970 (Lit.). – Herbert Natale: B. W.s Briefe nach sich als Lehrer an Privatschulen in der ProSigmaringen 1843–1848. In: Archiv für Mittel- vinz durch. Auch nach seinem Eintritt in das rheinische Kirchengesch. 24 (1972), S. 277–304. – Landerziehungsheim Marquartstein 1937 Herman H. Schwedt: Die kath. Abgeordneten der blieb er ein Gegner des NS-Regimes. Mit der Paulskirche u. Frankfurt. In: ebd. 34 (1982), Verstaatlichung der Schule 1942 trat W. jeS. 143–166. – Adolf Leidlmair: B. W. u. die Landeskunde Tirols. In: B. W.: Die Stadt Bozen u. ihre doch in die NSDAP ein, um als Pazifist keinen Umgebungen. Faksimiledruck der 1849 erschiene- Kriegsdienst leisten zu müssen, sicherlich nen Ausg. Bozen 1987, S. VII–XI. – M. Angerer: B. auch, um seine Identität als Homosexueller W. als Seelsorger. In: Der Vinschgau u. seine zu schützen. 1945 wurde er entlassen, erNachbarräume. Vorträge des Landeskundl. Sym- reichte aber trotz prominenter Fürsprache

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keine Rehabilitierung. Da er über keine festen Weber, Carl Maria von, auch: Melos, SiEinkünfte mehr verfügte, erlag er, ausge- mon Knaster, * 18.11.1786 Eutin, † 5.6. hungert, schließlich einem Herzanfall. 1826 London; Grabstätte: Dresden, Alter W.s bekannteste Veröffentlichung, der Ly- Katholischer Friedhof. – Musiker, Komrikband Erwachen und Bestimmung, erschien ponist; Musikkritiker, Schriftsteller. 1919 als Band 66 der Reihe »Der jüngste Tag« (Lpz.). Geprägt durch das Kriegserlebnis u. Der berühmte romant. Musiker verfasste bedie Aufbruchstimmung der Nachkriegszeit, reits im Alter von 16 Jahren kleine Beiträge stehen diese Verse noch im Spannungsfeld für Ernst Ludwig Gerbers Neues Historischvon mitfühlendem u. tatheischendem Gestus. Biographisches Lexikon der Tonkunst (4 Bde., Lpz. Zwischen 1920 u. 1922 veröffentlichte die 1812–14). Zwischen 1810 u. 1820 entstand Zeitschrift »Der Leib« (Freideutscher Ju- sein Romanfragment Tonkünstlers Leben (posgendverlag) in Lauenburg einige seiner tum in: Hinterlassene Schriften von Carl Maria wichtigsten Texte (z.B. Befreiung. Eine Szene. von Weber. Hg. Theodor Hell. 3 Bde., Dresden/ 1920), nachdem sich in der nachrevolutionä- Lpz. 1828), das neben musiktheoret. Dialoren Phase die Euphorie für die menschheits- gen eine beißende Parodie des zeitgenöss. verändernden Ziele des Expressionismus bei Opernlebens bietet u. stilistisch Jean Paul u. den renommierten Verlagen gelegt hatte. E. T. A. Hoffmann folgt. Obwohl es Cotta, in Trotz kleinerer Publikationen u. gelegentl. dessen »Morgenblatt für gebildete Stände« Rundfunklesungen fand W. nach seinem am 1.8.1810 W.s kleine Reportage Baden-BaAusscheiden in Wickersdorf keinen Zugang den erschien, 1810 verlegen wollte, publimehr zum kulturellen Leben am Rhein. Als zierte W. zu Lebzeiten hieraus nur kurze eine Erzählung wegen der antimilitaristi- Auszüge (Fragment einer musikalischen Reise. In: schen Tendenz nur verstümmelt erschien, Morgenblatt für gebildete Stände, Nr. 309, zog er sich 1932 enttäuscht vom literar. Ge- 27.12.1809. Bruchstücke aus Tonkünstlers Leben. In: Die Muse. Bd. 1, Lpz. 1821, S. 49–72). schehen zurück. Weitere Werke: (Pseud. Olaf): Der bekränzte Ebenfalls humoristisch u. stark autobiograSilen. Hann. 1919 (L.). – An die künstler. Jugend fisch geprägt sind auch Der Schlammbeißer der Rheinlande! Köln 1919. – Lieder eines Zeitge- (entstanden 1818) u. das die gängigen nossen. Bonn 1920. – Bucht der Märtyrer u. Seli- Schicksalsdramen parodierende Bürgerliche gen. Potsdam 1921 (L.). – Läuterung oder Das Fest Familienmärchen (entstanden 1821). der Freude. Oldenb. 1921 (Tanzsp.). – Der ekstat. Sein musikkrit. Werk kulminiert in den Fluß. Rheinklänge ohne Romantik. Düsseld. 1919, knappen Operneinführungen Dramatisch-murecte 1921. sikalische Notizen (in: K. K. priv. Prager ZeiLiteratur: Michael Matzigkeit: C. M. W. – tung, 1815/16. Fortgeführt in: Dresdner Zwischen Selbstfindung u. Weltverlust. In: Ders.: Abendblatt, 1817–24). Das erst postum puLit. im Aufbruch. Düsseld. 1990, S. 109–121, blizierte schmale poetische Werk bietet neben 288 ff. – Ders.: C. M. W. – ein rhein. Expressionist. In: Die Moderne im Rheinland. Hg. Dieter Breuer. wenigen Übersetzungen vorwiegend GeleBonn 1994, S. 41–57. – Erwin In het Panhuis: C. M. genheitsgedichte: Huldigungen an seinen W. – Freundschaften u. pädagog. Eros. In: Ders.: Lehrer Johann Georg Vogler (Zu Voglers GeAnders als die Anderen. Schwule u. Lesben in Köln burtstag), Widmungsgedichte an Freunde u. u. Umgebung 1895–1918. Köln 2006, S. 118–123. Bekannte (Zu Bärmanns Namenstag) oder Michael Matzigkeit künstlerische Gegner (z. B. An den berühmten Variationen-Schmied G-K) sowie Trinksprüche (Der Braut bei Überreichung eines silbernen Punschlöffels). Ausgabe: Sämtl. Schr.en. Krit. Ausg. v. Georg Kaiser. Bln./Lpz. 1908. Literatur: Georg Kaiser: Beiträge zu einer Charakteristik C. M. v. W.s als Musikschriftsteller. Lpz. 1910. – Leopold Hirschberg: Reliquien-

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169 Schrein des Meisters C. M. v. W. Bln. 1926. – Hans Dünnebeil: Schrifttum über C. M. v. W. Ebd. 41957. – Martin Hürlimann (Hg.): C. M. v. W. in seinen Schr.en u. in zeitgenöss. Dokumenten. Zürich 1973. – Matthias S. Viertel: C. M. v. W. – Der ›künftige Schreiber einer Ästhetik‹. In: W. – Jenseits des ›Freischütz‹. Hg. Friedhelm Krummacher u. Heinrich W. Schwab. Kassel u. a. 1988, S. 167–175. – Joachim Veit: Der junge C. M. v. W. [...]. Mainz u. a. 1990. – Weberiana. Mitt.en der Internat. C.-M.-v.-W.-Gesellsch. Tutzing 1992 ff. – Weber-Studien in Verb. mit der C.-M.-v.-W.-Gesamtausg. Mainz u. a. 1993 ff. – Frank Heidlberger: C. M. v. W. u. Hector Berlioz. Studien zur frz. W.Rezeption. Tutzing 1994. – J. Veit u. Frank Ziegler (Hg.): C. M. v. W. in Darmstadt (Ausstellungskat). Tutzing 1997. – Josef Johannes Schmid: C. M. v. W. In: Bautz. – F. Heidlberger: C. M. v. W.s Klaviermusik im Kontext des 19. Jh. Tutzing 2001. – Gerhard Jaiser: C. M. v. W. als Schriftsteller [...]. Mainz u. a. 2001. – C. M. v. W. ›... wenn ich keine Oper unter den Fäusten habe ist mir nicht wohl‹ Eine Dokumentation zum Opernschaffen. Kat.: J. Veit, F. Ziegler. Wiesb. 2001. – Dagmar Beck u. F. Ziegler (Hg.): C. M. v. W. u. die Schauspielmusik seiner Zeit. Mainz u. a. 2003. – Michael Leinert: C. M. v. W. mit Selbstzeugnissen u. Bilddokumenten. Reinb. 52003. – Stephen C. Meyer: C. M. v. W. and the search for a German opera. Bloomington, Ind. u. a. 2003. – Bernd Oberhoff: C. M. v. W. Der Freischütz. Ein psychoanalyt. Opernführer. Gießen 2005. – Jürgen Kühnel, Ulrich Müller u. Oswald Panagl (Hg.): Die ›Schaubühne‹ in der Epoche des Freischütz [...]. Anif, Salzburg 2009. – Bernhard Sommer: C. M. v. W.: Abu Hassan (1810/1811). Ein Singspiel zwischen Klassik u. Romantik. Mchn. 2009 (Elektron. Ressource). – Markus Schroer: C. M. v. W.s Oberon. Münster 2010. Andreas Meier / Red.

Weber, Friedrich Wilhelm, * 25.12.1813 Alhausen bei (Bad) Driburg, † 5.4.1894 Nieheim/Wesrfalen; Grabstätte: ebd., Friedhof. – Lyriker, Versepiker. Schon als Gymnasiast in Paderborn begann W. zu dichten. Nach dem Abitur 1833 studierte er in Greifswald/Vorpommern u. Breslau Medizin. 1841–1867 praktizierte er als Arzt in Driburg; zudem war er 1856–1865 in den Sommermonaten in Bad Lippspringe bei Paderborn als Brunnenarzt tätig (Die Arminiusquelle zu Lippspringe. Paderb. 21863). Darüber hinaus legte er in diesen Jahren

Versübersetzungen vor, bes. aus dem Englischen (z. B. Tennyson) u. Schwedischen. Seit 1861 vertrat W. mehr als 30 Jahre lang seinen Heimatkreis als Zentrumsabgeordneter im Preußischen Landtag zu Berlin. 1867 siedelte er nach Nieheim über, wo er bis ins hohe Alter praktizierte. W.s dichterisches Werk entstand neben seiner berufl. Tätigkeit. Als Buch veröffentlicht wurden seine Gedichte (Paderb.) allerdings erstmals 1881. Sie reichen von lehrhafter Spruchdichtung bis zu längeren Balladen. Thematische Zentren bilden christl. Humanismus, Natur, alltägl. Lebenspraxis, Stoffe aus Geschichte u. Sage, die ostwestfäl. Heimat. Berühmt u. bis heute bekanntester Dichter Ostwestfalens wurde W. durch sein Versepos Dreizehnlinden (ebd. 1878). Das Werk wurde zum verbreiteten Hausbuch (1331906), v. a. in kath. Kreisen, u. gehörte bis etwa 1930 zum schul. Lektürekanon. Seitdem ging das Interesse an W. stark zurück. In dem um 822 im Nethegau (um Höxter) spielenden Epos geht es um die Abkehr des jungen Sachsen Elmar von der kriegerischen german. Religion u. seine Hinwendung zur Friedensbotschaft des echten Christentums. Der in fränkisch-sächs. Auseinandersetzungen verwundete Elmar erfährt seine körperl. u. auch geistige Heilung in der Geborgenheit des Klosters Dreizehnlinden (die Abtei Corvey kann hier mitgedacht werden); am Ende steht seine angestrebte Vermählung mit der fränk. Grafentochter Hildegunde. Weitere Werke: Marienblumen. Köln 1885 (L.). – Goliath. Paderb. 1892 (Versepos). – Herbstblätter. Ebd. 1895 (L.). – Ges. Dichtungen. 3 Bde., ebd. 1922. Literatur: Julius Schwering: F. W. W. Paderb. 1900. – Marie Speyer: F. W. W. u. die Romantik. Regensb. 1910. – Winfried Freund: F. W. W. Das literar. Profil einer Region. Paderb. 1989. – Franz Schüppen: F. W. W. Ebd. 1989. – Ders.: Westfäl. Poesie als europ. Geschichte. Erinnerung an F. W. W. (1813–1894). In: Jahres- u. Tagungsbericht der Görres-Gesellsch. 1994, S. 77–104. – Westf. Autorenlex. 2. – F. W. W. Arzt – Politiker – Dichter. Hg. v. der Vereinigung der Freunde des Dichters F. W. W. e.V. aus Anlaß des 100. Todesjahres. Paderb. 1994. – F. Schüppen: Region u. Tradition im Werk F. W. W.s. Zum mentalitätsgeschichtl. Ort des westfäl. Dichters. In: Lit. u. Regionalität. Hg. An-

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selm Maler. Ffm. u. a. 1997, S. 141–156. – Ders.: ›O Menschenherz, Du rätselhaftes Buch ...‹ Ein Blick auf F. W. W.s Weg als Arzt, Politiker u. Dichter. In: Lit. in Westfalen. Beiträge zur Forsch. 7 (2004), S. 273–296. – Rüdiger Bernhardt: Die Studentenakte des F. W. W. im Kontext der ›Demagogenriecherei‹ v. 1836. In: Studia niemcoznawcze 31 (2005), S. 129–142. – Wolfgang Rinschen: F. W. W.s ›Dreizehnlinden‹. Begierig gelesen – Begeistert besungen – Beinahe vergessen. Spurensuche in der Geschichte des Versepos. Paderb. 2007. Walter Olma

Weber, Karl Julius, * 16.4.1767 Langenburg/Hohenlohe, † 20.7.1832 Kupferzell/ Württemberg. – Enzyklopädischer Feuilletonist; Historiker u. Reiseschriftsteller. Der Sohn eines Rentbeamten besuchte die Lateinschule in Langenburg u. das Gymnasium in Öhringen u. studierte 1785–1788 in Erlangen Jurisprudenz. Nach dem Versuch, an der Universität Göttingen, wo er das Wohlwollen Pütters u. Schlözers erlangte, als Jurist Fuß zu fassen, nahm er eine Hauslehrerstelle bei einer Bankiersfamilie am Genfer See an, die er zu Reisen in die Schweiz u. nach Frankreich nutzte. 1792–1799 erlebte W. seine beste aktiv-öffentl. Zeit am Hof von Mergentheim als Privatsekretär des Reichsgrafen Christian von Erbach-Schönberg, Großmeister vom Deutschorden u. kurköllnischer Geheimrat. Besonders während des Rastatter Kongresses 1797–1799 bildete sich W. zum Weltmann u. gewann Einsicht in europ. Verhältnisse. Auf der Grundlage der reichen Bibliothek am Hof begann er seine histor. Studien. Nach dem Tod des Grafen wurde W. Regierungsrat im Odenwald, dann als Büdingenscher Hofrat Reisebegleiter des Erbgrafen. Nach dem Scheitern der Reise – der Zögling entfloh in Berlin – kämpfte W. zwei Jahre um eine Abfindung u. lebte, durch Undank verbittert u. vorübergehend gemütskrank, ab 1804 dauernd mit der Familie seines Schwagers, eines Hofbeamten, der an wechselnden Orten in Jagsthausen, Weikersheim (ab 1809), Künzelsau u. Kupferzell (ab 1830) ansässig wurde. In weltweiser Gelassenheit u. dauernder Schaffenskraft widmete W. die zweite Lebenshälfte der literar. Arbeit, mit Unterbrechung nur durch jährl. Reisen

bzw. Fußwanderungen u. a. nach Paris, Wien, Süddeutschland, Böhmen, Schlesien, in mitteldt. Städte u. an den Rhein, daneben durch Vertretung des Oberamts Künzelsau in der Ständekammer zu Stuttgart 1820–1824. W.s Werke erschienen zu Lebzeiten anonym. Autobiografisches findet sich verstreut im Œuvre u. in den differierenden Ausgaben (Demokritos, Bd. 1, S. 5–46 Fragment meines Lebens. 1802–04 u. Bd. 12, S. IX–XVIII). Von frz. Aufklärungsphilosophie, Wieland’schem Geist u. Traditionen des 18. Jh. geprägt, stand W. als isolierte, anachronist. Gestalt quer zur Restaurationsepoche. Dies zeigen schon die kompilatorischen »historischen« Werke zur Kultur- u. Sittengeschichte: Die religiöse Welt des MA erschien dem »Mann von Bildung und Welt« als Ausdruck geistiger Verirrung. W.s Interesse an der Geschichte, der Kuriositäten- u. Raritätenkammer menschl. Torheit, ist anthropologisch u. satirisch. Es gibt keine Zusammenhänge, nur mit enzyklopäd. Eifer aus entlegensten Quellenwerken zusammengesuchte sprechende Fakten u. anekdot. Exempel. W.s Bibliothek umfasste 11.000 gelesene Bände. Eine Chronique scandaleuse u. derbe Satire bietet Die Möncherey oder geschichtliche Darstellung der Kloster-Welt (3 in 4 Bdn., Stgt. 1819/ 20). Selbstbewusste Adelskritik, aber auch Sinn für die »sonderbare Mythologie des gothischen Mittelalters« zeigt Das Ritter-Wesen und die Templer, Johanniter und Marianer oder Deutsch-Ordens-Ritter insbesondere (3 Bde., ebd. 1822–24). Im Nachlasswerk (Vorrede 1828) Das Papstthum und die Päpste. Ein Nachlaß des Verfassers der Möncherey [...] (SW 1–3, ebd. 1834) bewundert W. die allein durch Ideen sich behauptende Universalmacht. Gegen den Strich gelesen sind diese Werke kulturgeschichtl. Kompendien von großem Reiz im Einzelnen. Zwei Hauptwerke sichern die bleibende Bedeutung W.s. Mit Deutschland, oder Briefe eines in Deutschland reisenden Deutschen (4 Bde., Stgt. 1826–28. 41855) schuf er das nach Nicolai vielseitigste u. geistreichste Reisebuch, ein kultur- u. sittengeschichtl. Zeitbild, unterhaltsam bei stupender Fülle des Wissenswerten u. Beobachteten. Am bekanntesten wurde W. mit Demokritos oder Hinterlassene

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Papiere eines lachenden Philosophen (6 Bde., ebd. aus Hohenlohe (1767–1832). Marbach/N. 1996. – 1832–36 [Erstausgabe schreibt Dymokritos; Katrin Baumgarten: Alte Jungfern versus SonderBd. 1 noch zu Lebzeiten]; verm. Aufl. 12 Bde., linge u. Hagestolze bei K. J. W. (1767–1832). In: ebd. 1837–40; erläuterte u. ergänzte Ausg., 6 Dies.: Hagestolz u. alte Jungfer. Entwicklung, Instrumentalisierung u. Fortleben v. Klischees u. Bde., Bln. 1890). In der Verbindung von Stereotypen über Unverheiratetgebliebene. MünsFeuilleton, themat. Essay u. enzyklopäd. Zi- ter u. a. 1997, S. 65–84. – Friedrich Wilhelm Kanttat- u. Stoffanhäufung bildet das Werk eine zenbach: K. J. W. als Satiriker. Die Grundzüge seieigene Gattung. »Der gute beobachtende ner Weltauffassung. In: Ztschr. für bayer. LandesKopf in der Welt spielt täglich die Rolle De- gesch. 62 (1999), S. 825–844. – Dieter Traupe: ›Die mocrits, denn er stößt täglich auf Abderiten« Franken haben einen Nationalstolz ...‹. Der Reise(Wekhrlin, S. 35). Demokrit u. die Abderiten schriftsteller K. J. W. u. seine vergnügl. ›Franken(Wieland) spielen auch eine Rolle in W.s Tour‹. Nürnb. 2004. Ulfert Ricklefs Huldigung des streitbaren Publizisten Wekhrlin (1739–1792): Der Geist Wilhelm Ludwig Weber, Marianne, geb. Schnitger, * 2.8. Wekhrlins, geschildert von Wekhrlin junior (ebd. 1870 Oerlinghausen, † 12.3.1954 Heidel1823). Demokritos, 1854–1888 in 12-bändiger berg. – Frauenrechtlerin, Rechtshistori5.–8. Titelauflage, wurde im höheren Bür- kerin. gertum viel gelesen, doch häufig als frivol, oberflächlich u. zynisch diffamiert. Tatsäch- Nach dem Tod der Mutter 1873 zog W. mit lich bietet das feuilletonistische Werk ein ihrem Vater, einem Landarzt, nach Lemgo, Kompendium der Weltweisheit: des lachen- wo sie bei Großmutter u. Tante wohnte. Dort den, satirischen, politischen, von anthropo- u. in Hannover erhielt sie eine v. a. musisch log. Neugier getriebenen u. positiv die Fülle ausgerichtete Schulbildung. 1892 zog W. zu der Erscheinungen registrierenden, dies- Max u. Helene Weber nach Berlin, Verwandseitsverhafteten »Philosophen«. Die Philoso- ten ihrer verstorbenen Mutter u. Eltern ihres phie des Nebeneinander u. der Pointe, das späteren Mannes, Max Weber (Heirat 1893). Anekdotische u. Feuilletonistische, die enzy- Das Ehepaar ließ sich nach Berlin u. Freiburg klopäd. Phänomenologie des Tatsächlichen 1897 in Heidelberg nieder, wo Max W. seine im humoristischen Rahmen der Narrensatire Professur antrat. Seit dem Aufenthalt in umgreifen in themat. Einzelkapiteln Welt u. Freiburg engagierte sich W. in der Frauenbewegung; 1919–1923 war sie Vorsitzende Anthropologie. des Bundes deutscher Frauenvereine. 1919 Die Nachlassbände SW 28–30 enthalten wurde sie als einzige Frau der Deutschen u. a. das kostbare Tagebuch Paris im Jahre 1806 Demokratischen Partei in die Badische Nau. andere Reisewerke (Italien, 1807/08; Holtionalversammlung gewählt u. setzte sich land, 1802; von Holland nach Berlin, 1802). dort bis zu ihrem Weggang nach München im Im Vermeiden des Fiktionalen zugunsten selben Jahr für die Gleichstellung der Gegeistreich krit. Sach- u. Gedankenprosa folgt schlechter im Gesetz ein, sodass es Frauen W. trotz der Verwurzelung im 18. Jh. einem z.B. ermöglicht wurde, öffentl. Ämter zu beZug der nachromant. Epoche. kleiden. Als Gasthörerin besuchte sie VeranWeitere Ausgabe: Sämmtl. Werke. 30 Bde., 2 staltungen an den Universitäten Freiburg u. Suppl.-H.e, Stgt. 1834–44. Heidelberg. 1921 wurde W. als erster Frau Literatur: Biografien: SW 1, S. I–LXXII. – NND von der Universität Heidelberg die juristische 10. – Allg. dt. Real-Encyklopädie für die gebildeten Ehrendoktorwürde verliehen. Stände. 8. Aufl. Bd. 12, Lpz. 1837, S. 107 f. (BrockZwischen den Eheleuten herrschte ein lehaus). – Goedeke 9. – Max Mendheim: K. J. W. In: bendiger Gedankenaustausch über die jeweiADB. – Weitere Titel: Ernst Ludwig: Die ästhet. Anligen Wirkfelder. W. nahm regen Anteil an schauungen in W.s ›Demokrit‹. Ein Beitr. zur Gesch. der Theorie des Lächerlichen. Gießen 1927. der Arbeit ihres Mannes, half ihm z.B. bei der – Vincent Joseph Dell’Orto: The Histories, Travels Niederschrift seiner Werke oder Korrekturand Essays of C. J. W. Diss. Baltimore 1971. – arbeiten u. ermöglichte es ihm, ungestört Martin Blümcke (Bearb.): K. J. W., der Demokrit seiner Arbeit nachzugehen, besonders auch in

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den schwierigen Zeiten seiner nervösen Erkrankung. Max wiederum bestärkte seine Frau immer wieder, ihr wissenschaftliches, aber auch ihr sozialpolit. Engagement zu verfolgen, u. stand ihr dabei hilfreich zur Seite. So wundert es nicht, dass sich in W.s Schriftzeugnissen immer auch sozioökonomische Schwerpunkte finden lassen, die sie von ähnl. Arbeiten des Fachs absetzten. W.s erstes Buch, Fichtes Sozialismus und sein Verhältnis zur Marxschen Doktrin, veröffentlichte W. 1900 (Tüb.), nachdem sie ohne Abitur nicht mehr die Möglichkeit hatte, im Gasthörerstudium eine Promotion anzustreben. Ihr 1907 erschienenes Hauptwerk, Ehefrau und Mutter in der Rechtsentwicklung (ebd.), zeigt deutlich die Einflüsse der Frauenbewegung: Vom explizit genannten prakt. Standpunkt der Frau aus verstand W. ihre Arbeit als eine Verbindung von Rechts- u. Kulturgeschichte. Es waren gerade die Themen der Frauenbewegung – Bildung der Frau, Mutterschaft u. Berufsmöglichkeiten, Stellung der Frau in Familie u. Gesellschaft –, die W. in ihren weiteren kleineren Veröffentlichungen immer wieder aufgriff u. mit emanzipatorischem Impetus auch reflektierte. 1913 erschien in der philosophischen Zeitschrift »Logos« als erster Artikel einer Frau ihr Aufsatz Die Frau und die objektive Kultur, in dem W. in Reaktion auf Aufsätze Georg Simmels die Natur der Frau als eigenständig u. der Natur des Mannes gleichberechtigt verteidigte. In den seit 1914 verfassten frauenpolit. Aufsätzen setzte sie sich immer wieder dezidiert für eine dem Mann ebenbürtige Stellung in Gesellschaft u. Politik ein (Frauenfragen und Frauengedanken. Ebd. 1919). Nach dem Tod ihres Mannes 1920 kümmerte sich W. um die Nachlassverwaltung, gab u. a. dessen Hauptwerk Wirtschaft und Gesellschaft (ebd. 1921) heraus u. verfasste zudem die viel beachtete Biografie Max Weber. Ein Lebensbild (ebd. 1926). Ihr eigenes Leben verarbeitete sie Jahre später in den beiden Büchern Erfülltes Leben (Heidelb. 1946) u. Lebenserinnerungen (Bremen 1948). W. befasste sich bis zum ihrem Tod mit den verschiedenen Themen der Frauenbewegung. Populär geworden ist in diesem Zusammenhang v. a. Die Frauen und die Liebe (Königstein/

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Lpz. 1935), worin sie zum einen Erziehungsfragen aufgreift, aber auch Stellung nimmt zu unterschiedl. Formen von Gemeinschaft, die Frauen wählen können: von der Ehe über die kameradschaftl. Weggemeinschaft bis hin zur karitativ ausgerichteten Wahlmutterschaft u. sozialen Funktionen. Damit distanzierte sich W. – wenn auch weniger rigoristisch – nochmals von Forderungen, die schon früher ebenfalls aus der Frauenbewegung hervorgegangen waren (vertreten z.B. von Else Jaffé oder Helene Stöcker) u. etwa für Frauen sexuelle Freiheit u. ein Recht auf außerehel. Mutterschaft enthielten. W. selbst hatte 1920 nach dem Suizid der jüngsten Schwester ihres Mannes deren vier Kinder aufgenommen u. sie 1927 adoptiert. Das Haus der W.s war ein beliebter Treffpunkt akadem. Geselligkeit; sonntägliche Vortragsveranstaltungen wurden nach dem Tod von Max Weber zu einer festen Einrichtung. Zum Bekannten- u. Freundeskreis W.s gehörten u. a. Gertrud Bäumer, Sophie u. Heinrich Rickert (als Betreuer ihrer Arbeit über Fichte), Ernst Troeltsch, Else Jaffé, Alice Salomon, Camilla Jellinek, Ludwig Curtius, Friedrich Gundolf, Kurt Hahn, Hans Gruhle, Karl Jaspers u. Peter Wust. Seit 1930 war W. Mitgl. des »Köngener Bundes«. Weitere Werke: Die Beteiligung der Frau an der Wiss. In: Die Frau 12 (1903/04), S. 1–7. – Beruf u. Ehe. In: Marie Stritt: Der internat. Frauenkongreß in Berlin. Bln. 1905. – Die Beteiligung der Frau am geistigen u. sittl. Wiederaufbau unseres Volkslebens. In: Die Frau 27 (1919/20), S. 257–267. – Persönl. Existenz u. überpersonale Verantwortung. Eine Betrachtung. In: Die Frau 40 (1932/33), S. 337–339. – Die Frauen u. die Liebe. Königst./ Lpz. 1935. – Wege einer Freundschaft. Briefw. Peter Wust – M. W. 1927–1939. Hg. Walter Theodor Cleve. Heidelb. 1951. – M.-W.-Institut (Hg.): Frauen auf der Flucht. Aus dem Nachl. v. Max u. Marianne W. Bielef. 2005. Literatur: Ute Gerhard: Unerhört. Die Gesch. der dt. Frauenbewegung. Reinb. 1990. – Tilman Allert: Max u. M. W. Die Gefährtenehe. In: Heidelberg im Schnittpunkt intellektueller Kreise. Hg. Hubert Treiber u. Karol Sauerland. Opladen 1995, S. 210–241. – Theresa Wobbe: M. W. (1870–1954). Ein anderes Labor der Moderne. In: Frauen in der Soziologie. Neun Porträts. Hg. Claudia Honegger

173 u. T. Wobbe. Mchn. 1998, S. 153–177. – Christa Krüger: Max u. M. W. Tag- u. Nachtansichten einer Ehe. Zürich/Mchn. 2001. – Bärbel Meurer (Hg.): M. W. Beiträge zu Werk u. Person. Tüb. 2004. – Dies.: M. W. Leben u. Werk. Ebd. 2010. Sonja Schüller

Weber, Max, * 21.4.1864 Erfurt, † 14.6. 1920 München; Grabstätte: Heidelberg, Bergfriedhof. – Rechtshistoriker, Nationalökonom, Religionswissenschaftler, Soziologe, politischer Publizist. W.s väterl. Familie entstammt dem Bielefelder reformierten Unternehmertum; mütterlicherseits erstreckt sich ein Zweig in die Frankfurter Kaufmannschaft. Das Elternhaus in Berlin wurde bestimmt durch die polit. Funktionen des Vaters, Max sen. (1836–1897), Stadtrat für das Bauwesen in Berlin, nationalliberaler Abgeordneter im preuß. Abgeordnetenhaus u. im Reichstag, sowie durch die starke Persönlichkeit der Mutter, Helene geb. Fallenstein (1844–1919), die in der Armenpflege der Stadt Charlottenburg arbeitete. Geprägt wurde W. auch durch die Verwandten seiner Mutter, die dem badischen Liberalismus angehörten. Protestantische bildungsbürgerl. Kulturideale, liberale Grundüberzeugungen, eine durch Renten aus wirtschaftsbürgerl. Vermögen gehobene Lebenshaltung u. die Orientierung am jungen dt. Nationalstaat bestimmten das kulturelle u. soziale Milieu, in dem W. aufwuchs. Sein Leben wurde wesentlich geprägt durch die Bindung an Marianne Schnitger (1870–1954), eine Cousine, die er 1893 heiratete, Autorin wissenschaftl. Bücher u. Publizistin im Dienst der Frauenbewegung; durch die enge, später zuweilen konfliktreiche Beziehung zu seinem Bruder Alfred (1868–1958) sowie die intime Freundschaft zu Else Jaffé, geb. von Richthofen (1874–1973). Das Studium der Rechtswissenschaft in Heidelberg, Berlin u. Göttingen beschloss W. 1889 mit dem Assessorexamen. Im gleichen Jahr promovierte er mit einer Dissertation Zur Geschichte der Handelsgesellschaften im Mittelalter (MWG I/1). 1891 folgte die Habilitation an der Universität Berlin für Handelsrecht und Römisches Staats- und Privatrecht mit einer

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Arbeit über Die römische Agrargeschichte in ihrer Bedeutung für das Staats- und Privatrecht (MWG I/2) u. 1893 die Ernennung zum a. o. Professor. Aus der Mitarbeit an der Enquete des Vereins für Socialpolitik von 1892 (Die Lage der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland; MWG I/3), an den Erhebungen des Evangelisch-sozialen Kongresses zur Landarbeiterfrage und an der Börsenenquetekommission gewann W. agrarpolit., sozialpolit. u. nationalökonomische Kompetenz (MWG I/4, I/5). 1894 wurde er als o. Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft nach Freiburg i. Br. berufen, 1897 auf den Lehrstuhl von Karl Knies in Heidelberg. Eine schwere Depression erfasste ihn 1898, die in den folgenden Jahren mehrfach zu völliger Arbeitsunfähigkeit führte, sodass er das Lehramt 1903 niederlegte. Seitdem lebte er als Privatgelehrter in Heidelberg. Er war seit 1904 Mitherausgeber des Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik im Tübinger Verlag J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), plante u. redigierte den Grundriß der Sozialökonomik (ebd. 1914 ff., darin sein unvollendetes Werk Wirtschaft und Gesellschaft 1921/22; MWG I/22–24), war Mitbegründer der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (1909) u. nahm teil an den Verhandlungen des Vereins für Socialpolitik. Nach Versuchen, polit. Einfluss zu gewinnen (1915–1919), übernahm er nach einer Gastprofessur in Wien 1918 einen Lehrstuhl für Gesellschaftswissenschaft, Wirtschaftsgeschichte u. Nationalökonomie in München. Werk u. Wirkung W.s sind ungewöhnlich weit gespannt. Seine Beiträge zur Methodologie der Kultur- u. Sozialwissenschaften, zur universalhistorisch vergleichenden Religionssoziologie, zur handlungstheoretisch orientierten Soziologie u. zur Analyse polit. Ordnungen haben eine noch andauernde internationale Rezeption u. Auseinandersetzung ausgelöst. Methodologisch wandte sich W. gegen geschichtsphilosophische Entwicklungslehren, gegen die Ontologisierung von Kollektivbegriffen u. gegen eine Vermischung von Wertbekenntnissen u. Tatsachenaussagen. Er setzte dem entgegen die historisch offene Konstellationsanalyse, die Verwendung nominaler Begriffe, die Konstruktion heurist. Modelle (»Idealtypen«) u.

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das Postulat der »Wertfreiheit«. Sein daraus folgendes Wissenschaftsverständnis formulierte W. insbes. in den Aufsätzen Die ›Objektivität‹ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis (1904), Der Sinn der ›Wertfreiheit‹ der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften (1917), beide abgedruckt in: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, u. in der Rede Wissenschaft als Beruf (1917; MWG I/17). Das Postulat der Werturteilsfreiheit leugnet nicht die Bedeutung von Werten als Gegenstand der Forschung, als Bezugspunkt für die Auswahl von Fragestellungen oder als Handlungsorientierung des Menschen, fordert aber die Trennung von wertender Sinngebung u. empirisch kontrollierter Tatsachenerkenntnis. Aus der Pluralität gegensätzl. u. nicht hierarchisierbarer Werte folgerte W. die Notwendigkeit selbstverantwortl. eth. Entscheidungen des handelnden Individuums. Bekannt wurde seine 1919 insbes. in Politik als Beruf (MWG I/17) ausgeführte Unterscheidung von »Verantwortungsethik« u. »Gesinnungsethik«. Die erste orientiert sich an den voraussehbaren Folgen des Handelns, die zweite an der Geltung eines Wertes an sich. Beide Handlungsmaximen stellen Prinzipien auf, die sich im Alltagshandeln vermischen. Auf der Ebene der gesellschaftl. Ordnung unterschied W. Wertsphären, die je nach der Art ihrer Institutionalisierung eigene Verhaltensorientierungen ausbilden. In der Zwischenbetrachtung (1915; MWG I/19) zu seinen Untersuchungen zur Wirtschaftsethik der Weltreligionen (Konfuzianismus u. Taoismus, Hinduismus u. Buddhismus, antikes Judentum; MWG I/19–21) unterschied W. zwischen der ökonomischen, polit., ästhetischen, erot. u. intellektuellen Sphäre. Die Bewertung der Welt und ihrer ausdifferenzierten und rationalisierten Lebenssphären erfolgt in den jeweiligen Kulturreligionen höchst unterschiedlich – darauf richtet sich W.s besonderes Interesse. Weltverneinende Religionen entwickeln Prinzipien der Lebensführung, die auf Weltflucht (Hinduismus, Buddhismus) oder Weltüberwindung (asketisches Mönchstum) zielen, weltbejahende Religionen entwickeln Prinzipien der Lebensführung, die sich auf Weltanpassung (Konfuzia-

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nismus), auf Schickung in die Welt (antikes Judentum) oder auf Weltbeherrschung (v. a. der innerweltlich asketische Protestantismus) richten. Für die ihn bewegende Frage nach den Gründen für die Sonderentwicklung des Okzidents verwies W. insbes. auf die Bedeutung der protestantischen Ethik der innerweltl. Berufsaskese. Ihr schrieb er eine wesentl. Bedeutung für die Ausdifferenzierung der ökonom. Wertsphäre u. ihrer fortschreitenden Rationalisierung im modernen Kapitalismus zu. Die berühmte Schrift Die protestantische Ethik und der ›Geist‹ des Kapitalismus (1904/05. Überarb. in: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, 1920) hat andauernde Diskussionen ausgelöst. Die sog. Kapitalismusthese W.s behauptet keine einseitige Kausalität zwischen protestantischer Ethik u. dem Kapitalismus, sie versucht aber, den Zusammenhang zwischen religiöser innerweltl. Askese, Berufsethik, Konsumverbot u. Investitionszwang herauszuarbeiten. In der radikalen Ablehnung der Magie in der eth. Vergeltungsreligion des antiken Judentums u. erneut im Protestantismus sah W. wesentl. Weichenstellungen für den Prozess der Rationalisierung des Okzidents, den er insbes. in der Entwicklung der Wissenschaft, des Kapitalismus, des Rechts, des modernen Anstaltsstaates, aber auch in der Musik untersuchte. Gegenkräfte sah er in der Irrationalität der Erotik, den immer wieder aufbrechenden Bestrebungen, die Trennung von Wertsphären zu überwinden, u. der Bereitschaft, charismat. Führern zu folgen. In seiner Herrschaftssoziologie in Wirtschaft und Gesellschaft (MWG I/22–4) entwickelte W. eine Typologie der Legitimationsformen von Herrschaft: Glauben an die Heiligkeit der Tradition, an die Rationalität gesetzter Ordnungen u. an das persönl. Charisma. Ihnen entsprechen je eigene Formen der Herrschaftsausübung u. -kontrolle: patrimoniale u. feudale, bürokratische sowie charismatisch personalisierte Herrschaft. Diese »Idealtypen« verknüpfen systematisch Elemente von Herrschaftsordnungen, die historisch in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen auftreten. W. betonte dabei die prinzipiellen Spannungen zwischen der formalen Rationalität der Verfahren u. der materiellen Ra-

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tionalität der Zielvorstellungen, zwischen der Mommsen u. Wolfgang Schwentker (Hg.): M. W. u. unpersönl. Regelbindung u. der charismat. seine Zeitgenossen. Gött. 1988. – Guenther Roth: Regeldurchbrechung in polit. Ordnungen. Max Webers dt.-engl. Familiengesch. 1800–1950. Aus diesem Ansatz heraus warb W. für eine Tüb. 2001. – Joachim Radkau: M. W. Die Leidenschaft des Denkens. Mchn. 2005. Verfassungsordnung, welche die gegensätzl. M. Rainer Lepsius / Gangolf Hübinger Prinzipien von Demokratie, Bürokratie u. persönlich zuschreibbarer Verantwortung verbinden u. aus den daraus entstehenden Weber, Peter, * 22.4.1968 Wattwil/Kanton Konflikten die Chance für die individuelle St. Gallen. – Romancier, Musiker. Freiheit eröffnen sollte, so insbes. 1918 in Parlament und Regierung im neugeordneten W. wuchs im Toggenburg auf, einem abgelegenen Tal im Ostschweizer Kanton Sankt Deutschland (MWG I/15). Als polit. Publizist versuchte W. im Ersten Gallen. Nach der Schulzeit zog er nach ZüWeltkrieg gegen den uneingeschränkten U- rich, wo er sich sowohl dem Schreiben als Bootkrieg, für einen Verständigungsfrieden, auch der Musik widmete. W. gehörte einer danach für einen ehrenvollen Friedensschluss Generation von Autoren an, die Anfang der u. die Aktivierung des dt. Bürgertums für die 1990er Jahre eine neue Schweizer Literatur Demokratie zu wirken. Er gehörte zu der begründen wollte, die sich sowohl gegen Minderheit dt. Gelehrter, die den demokra- konservative Tendenzen in der Kultur des tischen Verfassungsstaat der Weimarer Re- Landes wie auch gegen die wirkungsmächtipublik ohne Vorbehalte unterstützte, u. gen »Titanen« Max Frisch u. Friedrich Dürnahm Teil an den Beratungen zur Weimarer renmatt wandte. In dieser Eigenschaft war W. Reichsverfassung (MWG I/16). In einer »ent- 1992 Mitbegründer der Literaturvereinigung zauberten«, d. h. magisch entleerten Welt, »NETZ«. Neben seinen Prosatexten ist er an sah W. die bewusste Entscheidung zwischen einer Vielzahl von musikal. Projekten beteikonfligierenden Wertbeziehungen als die ligt, teils Umsetzungen seiner Prosa, teils Schicksalsfrage sowohl für die individuelle Free Jazz. W. wurde vielfach ausgezeichnet, Lebensführung als auch für die institutiona- u. a. mit dem Literaturförderpreis der Jürgenlisierten Ordnungen u. für das durch sie ge- Ponto-Stiftung (1993), dem Einzelwerkspreis der Schweizerischen Schillerstiftung (2000) u. prägte Menschenbild. dem Alemannischen Literaturpreis (2008). Ausgaben: Gesamtausg. Tüb. 1984 ff. (histor.W.s kunstvoller Debütroman Der Wetterkrit. Ausg., Abt. I. Schriften, Abt. II. Briefe, Abt. III., Vorlesungen). – Schriften, Briefe, Vorlesungen: macher erschien im Herbst 1993 während eiGes. Aufsätze zur Religionssoziologie. 3 Bde., ebd. ner Debatte über die Zukunft der jungen 1920/21. 7–91988. – Ges. Aufsätze zur Wissen- deutschsprachigen Literatur bei Suhrkamp u. schaftslehre. Ebd. 1922. 71988. – Wirtschaftsgesch. stieß sowohl beim Publikum wie auch bei Aus nachgelassenen Vorlesungen. Mchn./Lpz. Kritikern auf euphor. Resonanz. In diesem 1923. Bln. 31953. – Wirtschaft u. Gesellsch. Ebd. Roman, der in der Tradition des Schelmen1924. 51976. – Ges. Aufsätze zur Sozial- u. Wirt- romans wie des »magischen Realismus« laschaftsgesch. Tüb. 1924. 21988. – Ges. Aufsätze zur teinamerikan. Prägung steht, setzt sich der Soziologie u. Sozialpolitik. Ebd. 1924. 21988. – Ich-Erzähler Abraham August Abderhalden Jugendbriefe. Hg. Marianne Weber. Tüb. o. J. am Vorabend seines zwanzigsten Geburtstag [1936]. in den Keller des Elternhauses u. lässt trauLiteratur: Marianne Weber: M. W. Ein Le- ernd sein Leben im Toggenburg u. in Zürich 3 bensbild. Tüb. 1926. 1984. – Dieter Henrich: Die Revue passieren. Dazu gehören seine von Einheit der Wissenschaftslehre M. W.s. Ebd. 1952. auswärts stammenden (Adoptiv-)Eltern, sein – Wolfgang J. Mommsen: M. W. u. die dt. Politik 3 1890–1920. Ebd. 1959. 2004. – Eduard Baumgar- schwarzer Adoptivbruder mit dem Robinsonten: M. W. Werk u. Person. Ebd. 1964. – Dirk Namen Freitag, der vermutlich Selbstmord Käsler: Einf. in das Studium M. W.s. Mchn. 1979 begangen hat, u. seine Berufung zum Wetu.ö. (mit Bibliogr.). – Wolfgang Schluchter: Reli- termacher, die ihm während der Niedergion u. Lebensführung. 2 Bde., Ffm. 1988. – W. J. schrift seines Manuskriptes zu Bewusstsein

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kommt. Dem sprichwörtl. »Diskurs in der Enge« (Paul Nizon) kann Abderhalden nur durch den Umzug ins weltoffene Zürich entgehen. Der sprachmächtige, virtuose Text stellt seine beißende Kritik an der »amerikanisierten«, homogenisierten Gegenwart des Landes die myth. Vision einer »anderen« Schweiz entgegen. Diese liebevoll gezeichnete Vision ist mit sprachl. Helvetismen u. Bruchstücken des Toggenburger Dialekts angereichert. W.s Text möchte jedoch gerade nicht auf ein konservatives Idyll im Stil des 19. Jh. hinaus, sondern betreibt die ironisch gebrochene, »imaginäre Rückkehr in eine Kunstwelt, in einen künstlich geschaffenen, ästhetischen Mythos«. Zugleich wird Abderhaldens Tätigkeit des Wettermachers parallel zur Arbeit des Schriftstellers gesetzt; hinter den potenziell unabschließbaren Wetterbeschreibungen verbirgt sich immer auch eine Reflexion über Sprache u. Schreiben: »Es ist des Wettermachers Pflicht, gehörig abzuschweifen. Wettermachen heißt behaupten. Der Wettermacher ist Papier.« Relativiert wird Abderhaldens »unsägliche Geschichte« nicht nur dadurch, dass er sie am 1. April verfasst. In den grotesken Zügen seines Körpers – er wurde als stummer Zwitter mit zwei unterschiedl. Augenfarben geboren – erinnert er auch deutlich an Oskar Matzerath, den unzuverlässigen Ich-Erzähler in Günter Grass’ Blechtrommel. Zudem ist Der Wettermacher eine krit. Bestandsaufnahme der »großen Welt« aus der Perspektive eines Außenseiters – eine Eigenschaft, die W.s Debüt mit einem weiteren prominenten Text aus seiner engeren Heimat teilt: Ulrich Bräkers Lebensgeschichte und Natürliche Ebentheuer des Armen Mannes im Tockenburg (1789). Erst sechs Jahre später erschien W.s zweiter Roman, Silber und Salbader (Ffm. 1999), der insg. auf weit weniger Resonanz stieß. Hier geht es um die jungen Musiker Wendelin Selb, genannt Silber, u. Pina Vaser, die im fiktiven Schweizer Raschtal ein altes Bäderhotel übernehmen u. zu neuer Blüte führen. Wieder fügt der Roman heterogene Handlungsstränge zu einem dichten Geflecht von Verweisen zusammen; Beschreibungen der (diesmal erdachten) Schweizer Provinz stehen neben langen Exkursen zur Bäderkunde, in

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der sich der Exzentriker Wendelin zum Experten ausbildet, zum Tourismus, zur Geologie u. zur Musik. Bei der Literaturkritik erntete der R. negative Kritiken, nicht zuletzt wegen der inhaltl. u. strukturellen Ähnlichkeiten mit dem Erstling. Wohl auch deshalb ging der nächste Band, Bahnhofsprosa (Ffm. 2002), einen völlig anderen Weg. Das Buch enthält 24 kurze Prosastücke, meist in sich geschlossene, virtuose Einzelbetrachtungen. In ihrer Hermetik u. Sprachkraft erinnern sie an die »Denkbilder« Walter Benjamins sowie an Fernando Pessoas Buch der Unruhe; auch mit der Kurzprosa Robert Musils u. Elias Canettis wurden die Texte verglichen. Eine große Bahnhofshalle bildet dabei zwar den zentralen Schauplatz u. fungiert als Sprungbrett für die meisten Texte. Mitunter führen die Texte jedoch auch geradezu ins Surreale u. die linear erzählte Handlung löst sich in einer traumartigen Kette von Assoziationen auf. Im ersten u. im letzten Kapitel wird die Bahnhofshalle in einer Überblendung mit der Sixtinischen Kapelle zum metaphys. Ort übersteigert, u. der konkrete Ort gerät zur »Chiffre einer allumfassenden ›Bahnhofsexistenz‹« (Reto Sorg). Der Roman Die melodielosen Jahre (Ffm. 2007) widmet sich W.s zweitem großen Lebensthema neben der Literatur: der Musik. Der Schriftsteller u. Musiker Oliver reist kurz nach Ende des Kalten Krieges durch Europa. Während dieser Reise, die ihn u. a. nach Frankfurt, Prag u. Istanbul führt, reflektiert er das überall festzustellende Verschwinden von Melodie u. Rhythmus aus der populären Musik. Dabei sieht der Protagonist die Hinwendung zum elektron. Beat keineswegs nur kulturkritisch, sondern schreibt ihr primär befreiende Wirkung zu – allerdings gegenläufig zu den eigenen musikal. Vorlieben. Der Roman versteht sich damit zum einen als Zeitdiagnose; zum anderen sind Die melodielosen Jahre ein sprachmächtiger Reise- u. Künstlerroman. Literatur: Hans Georg v. Arburg: Verkehrte Welt. P. W.s Bahn(t)räume zwischen Historismus u. Hyperspace. In: Jenseits v. Frisch u. Dürrenmatt. Raumgestaltung in der gegenwärtigen Deutschschweizer Lit. Hg. Dariusz Komorowski. Würzb. 2009, S. 247–263. – Plinio Bachmann: Die Sprache

177 der verlorenen Heimat. Vier Schweizer Autoren der jüngsten Generation. In: Deutschsprachige Gegenwartslit. wider ihre Verächter. Hg. Christian Döring. Ffm. 1995, S. 246–270. – Sibylle Cramer: Das Toggenburger Testament. Auf den Bremer Förderpreisträger 1994 P. W. In: Sprache im techn. Zeitalter 32 (1994), S. 18–21. – Sabine Haupt: Exil bei Mater Helvetia. Myth. ›Regressionen‹ bei Hermann Burger, P. W. u. Tim Krohn. In: Partir de Suisse, revenir en Suisse. Von der Schweiz weg, in die Schweiz zurück. Hg. Gonçalo Vilas-Boas. Strasbourg 2003, S. 121–136. – Katrin Hillgruber: ›Der ich Liebe mache, indem ich Wetter mache‹. P. W., Landvermesser u. Quellenmehrer einer poet. Schweiz. In: aufgerissen. Zur Lit. der 90er. Hg. Thomas Kraft. Mchn. 2000, S. 163–175. – Beatrix Langner: Polit. Meterologie. P. W.: ›Der Wettermacher‹. In: NDL 42 (1994), H. 495, S. 170–172. – Robert Rduch: ›... kein echter Schweizer bin ich, sondern Wetterbrut‹. Zur Identitätsproblematik in den Romanen ›Der Wettermacher‹ u. ›Silber u. Salbader‹ v. P. W. In: Einheit versus Vielheit. Zum Problem der Identität in der deutschsprachigen Lit. . Hg. Grazyna Barbara Szewczyk. Katowice 2002, S. 217–229. – K. Hillgruber: P. W. In: LGL. – Reto Sorg: Der Rote Pfeil oder Die bewegte Nation. Vom literar. Mehrwert der Eisenbahn bei Peter Bichsel u. P. W. In: ZfG 17 (2007), S. 155–175. Stefan Höppner

Weber, Robert, * 5.8.1824 Rapperswil, † 7.12.1896 Basel. – Lyriker, Erzähler, Journalist, Herausgeber. Nach dem Besuch der Stadt- u. Sekundarschule Rapperswil studierte W. in Zürich Theologie, Philologie, Geschichte u. Philosophie. Mit einem Reisestipendium setzte er 1847 nach der Ordination sein Studium in Tübingen (bei Vischer), Halle u. Göttingen fort. Anschließend wirkte er als Vikar in mehreren Gemeinden, als Pfarrer in Rifferswil u. Zürich-Unterstrass. Mit Unterbrechung durch das Rektorat der Bezirksschule Seon (1867–1873) war W. danach journalistisch u. schriftstellerisch tätig (u. a. Mitbegründer der Monatsschrift »Die Schweiz«, Redakteur der »Berner Zeitung« 1860–1864, Feuilletonredakteur der »Basler Nachrichten« 1875 ff.). Sein erster, gemeinsam mit Gottfried Keller, Salomon Tobler u. Jakob Kübler verfasster Gedichtband Lieder des Kampfes (Winter-

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thur 1848) war ein radikales Pamphlet; spätere Bände (Gedichte. Zürich 1848. Neue Gedichte. Frick 1861. Wolken. Bern 1871) bleiben konventioneller Erlebnis- u. Gedankenlyrik verhaftet. In Erzählungen (Der Tag von Uster. In: Novellen, Erzählungen und Gedichte. 2 Bde., Bern 1864/65) u. erzählerisch verbrämten publizistischen Arbeiten (Todesglocken. Basel 2 1879) trat er für polit. u. soziale Reformen, humanitären Strafvollzug u. die Abschaffung der Todesstrafe ein. 1866/67 gab er die ersten drei Bände Die poetische Nationalliteratur der Schweiz (Glarus) heraus, die noch immer umfassendste Anthologie der Schweizer Literatur des 18. u. 19. Jh. Weite Verbreitung fand die von W. von 1878 bis zu seinem Tod redigierte illustrierte literarisch-polit. Monatszeitschrift »Helvetia«. Weitere Werke: Huttens Abschied. Zürich 1849 (L.). – Johanna d’Arc. Bern 1871 (histor. D.). – Schweizerische Dichter u. Redner des 18. u. 19. Jh. 3 Serien, Aarau 1883–90 (Nationalbibl.). – Herausgeber: Album vaterländ. Dichter auf Zürichs Bundesfeier. Zürich 1851 (Anth.). – Die Schweiz [...] im Spiegel der Dichtung. Basel/Lpz. 1880 (Anth.). Literatur: Jakob Senn: Ein Kind des Volkes. Zürich 1888. – Dora Rudolf: Konrad Meyer u. sein Freundeskreis. Diss. ebd. 1909, S. 72–76. – Walter Jucker: R. W. In: Jahrheft Verkehrsverein RütiTann 33 (1974), S. 66 f. Rémy Charbon

Weber, Werner, * 13.11.1919 Huttwil/Kt. Bern, 1.12.2005 Zürich. – Literaturkritiker u. Wissenschaftler, Feuilletonredakteur. Nach Volksschule u. Gymnasium in Winterthur studierte W. an der Universität Zürich Deutsche Sprache, Literatur u. Geschichte u. promovierte 1945 mit einer Dissertation über Die Terminologie des Weinbaus im Kanton Zürich, in der Nordostschweiz und im Bündner Rheintal (Frauenfeld 1949). Er schrieb in dieser Zeit auch Gedichte traditioneller Ausprägung (Unter Dach und Himmel. Erlenbach/Zürich 1942. Im Hof des Herbstes. Ebd. 1944). Nach kurzer Unterrichtstätigkeit war W. 1946–1973 Redakteur der »Neuen Zürcher Zeitung« im Ressort Literatur, Kunst u. Wissenschaft, seit 1951 Chef des Ressorts. Er entdeckte u. förderte Talente u. setzte sich

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mit seinem literaturkrit. Schaffen für so un- Wecker, Konstantin (Alexander), * 1.6. terschiedl. Autoren wie Dürrenmatt, Bichsel, 1947 München. – Musiker, Liedermacher, Marti, Vogt, Gerhard Meier, Federspiel u. E. Komponist, Schauspieler, Lyriker, RoY. Meyer ein. Berühmt wurde er durch seine mancier. literaturkrit. Aufsätze, die jeden Samstag erNach einem abgebrochenen Studium der schienen (Tagebuch eines Lesers. Zürich 1965) u. Musik, Philosophie u. Psychologie in Münein breites Spektrum literar. Strömungen chen präsentierte W., der früh Klavier- u. abdeckten. Dichterische Texte, so W., seien Gitarrenunterricht erhielt, seine selbst komForderungen, die zum genauen Hinschauen ponierten Lieder zunächst in Künstlerkneiu. Hinhören zwängen u. dem Leser Antworpen, arbeitete als Pianist u. Arrangeur in ten auf seine eigene Existenz gäben (FordeTonstudios u. übernahm gelegentlich Filmrungen. Bemerkungen und Aufsätze zur Literatur. rollen, insbes. in Erotikfilmen. 1973 erschien Zürich/Stgt. 1970). 1973 als o. Prof. für Lite- seine erste Schallplatte mit Sadopoetischen Geraturkritik auf den an der Universität Zürich sängen; es folgten mehrere Konzerttourneen eigens für ihn errichteten Lehrstuhl berufen, durch Deutschland, bald auch durch Europa. publizierte W. im Rahmen seiner literatur- Fortan veröffentlichte W. im Ein- bis Zweikrit. Seminare Arbeiten zur Schweizer Lite- jahresrhythmus neue Alben mit Songs u. ratur (Belege. Gedichte aus der deutschsprachigen Balladen, die sich zunehmend offensiver geSchweiz seit 1900. Zürich 1978. Helvetische gen den neuen Rechtsradikalismus einerseits Steckbriefe. 47 Schriftsteller aus der deutschen u. gegen alt gewordene linke Utopisten anSchweiz seit 1800. Ebd. 1981). Postum wurde dererseits wandten. 1980 siedelte W. kurzeine Auswahl seiner umfangreichen Korre- zeitig in die Toskana über. spondenz mit Dichtern, Wissenschaftlern u. Schriftstellerisch debütierte W., dem als Publizisten veröffentlicht, in der sich die Li- Musiker 1977 mit dem Album Genug ist nicht teraturgeschichte des gesamten deutschspra- genug (u. a. mit der Ballade vom erschlagenen chigen Kulturraumes in der zweiten Hälfte Willy) der Durchbruch gelang, mit ich will noch des 20. Jh. widerspiegelt (W. W. Briefwechsel des eine ganze Menge leben. Songs, Gedichte, Prosa Literaturkritikers aus sechs Jahrzehnten. Hg. (Graphiken von Markus Sing. Mchn. 1978. Thomas Feitknecht. Zürich 2009). Erw. 51979), um daraufhin zahlreiche GeWeitere Werke: Figuren u. Fahrten. Aufsätze dichtbände zu publizieren, in denen er u. a. zur Lit. Zürich 1956. – Zeit ohne Geld. Aufsätze zur die traditionellen Formen des Sonetts u. der Lit. Ebd. 1959. – Wiss. u. Gestaltung. Olten 1959 Elegie variierte, vielfach Erotik u. Sexualität, (Ess.s). – Regina Ullmann. St. Gallen 1962 (Ess.). – aber auch die Vergänglichkeit als Thema Über Alfred Andersch. Eine Rede. Zürich 1968. – aufgriff u. sich durch intertextuelle Verweise Zur Lit. der Welt. 40 Jahre Manesse Bibliothek (zus. in die Tradition Trakls, Benns, Brechts u. mit Walther Killy). Zürich 1985. – Ein Fremder Schwitters’ zu stellen suchte. Er vertonte findet die Schweiz. Eduard Osenbrüggen Heines Deutschland – ein Wintermärchen (2006) 1809–1879). Zürich 1986. – Kleinigkeiten für Rebekka. Zollikon-Zürich 1997. – Eden u. Elend. Fé- u. Goethes An den Mond (1999) u. komponierte lix Vallotton, Maler, Dichter, Kritiker. Zürich 1998. die Theatermusik zu dessen Faust I u. II – Sieh, das nennen wir ein Schwänchen. Zollikon- (Bremen 1985, Bad Hersfeld 2007) sowie zu Dramen Schillers u. Horváths (Wien 1988, Zürich 1999. Literatur: Verlust u. Ursprung. FS W. W. Mit Köln 1991, Wien 2009). Auch für verschiedeBeiträgen zum Thema ›Et in Arcadia ego‹. Hg. ne Musicals (u. a. Jim Knopf und Lukas der LoAngelika Maass u. Bernhard Heinser. Zürich 1989. komotivführer. Urauff. Cuxhaven 1999. Lud– Carole Staub Steiner: ›Alt‹ u. ›neu‹. Zur Grund- wig 2. Zus. mit Christopher Franke. Urauff. lage von W. W.s Literaturkritik. Bern u. a. 1993. – Füssen 2005), TV- u. Kinoproduktionen (u. a. Beatrice v. Matt: Wb. – Eine Ära der Literaturkritik. Schtonk! 1991), in denen W. zum Teil selbst als W. W. an der NZZ. In: Quarto. Ztschr. des Schauspieler mitwirkte, schrieb er Lieder. Schweizerischen Literaturarchivs 15/16 (2001), Wegen Kokainbesitzes im Nov. 1995 vorS. 159–162. Pia Reinacher / Robert Rduch übergehend verhaftet, wurde er im April

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2000 rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe auf unmögl. Wege, das Glück zu finden. Mchn. 2007. Bewährung verurteilt. W.s Überlegungen zur Tb.-Ausg. Ebd. 2009. – (Hg.): Stürmische Zeiten, persönl. Sucht, öffentl. Reaktionen auf seinen mein Schatz. Die schönsten dt. Liebesgedichte. Fall u. dem staatl. Umgang mit Rauschmit- Mchn./Zürich 2009. Tb.-Ausg. Ebd. 2010. Literatur: Inke Pinkert-Saeltzer: ›Immer noch telverstößen enthält der Band Es gibt kein Leben ohne Tod. Nachdenken über Glück, Abhängig- werden Hexen verbrannt.‹ Gesellschaftskritik in den Texten K. W.s. Bern u.a. 1990. – Arno Frank keit und eine andere Drogenpolitik (Köln 1999). Eser: K. W. – Der Himmel brennt. Bln. 1996. – Schilderungen eigenen Kokainkonsums bie- Günter Bauch: Alte Freunde. Jugenderlebnisse mit tet bereits der autobiogr. Roman Uferlos (Köln K. Bassum 1998 (R.). – Ders.: Schläft ein Lied in 1992. Erw. Tb.-Ausg. Mchn./Zürich 2009). allen Dingen. K. W. – Wie alles begann. Bassum Zu den sprachlich-stilistischen Merkmalen 2001. – Annette Blühdorn: Pop and poetry – pleavon W.s Texten gehören frivole u. obszöne sure and protest. Udo Lindenberg, K. W. and the Ausdrücke sowie Dia- u. Soziolekte, die oft tradition of German cabaret. Oxford u.a. 2003. – satirisch verwendet werden. Sein provozie- Dies.: K. W. Political songs between anarchy and rendes Werk, v. a. die lyr. Gesellschaftskritik, humanity. In: Protest song in East and West Germit der er gegen Rassismus, Spießbürgertum, many since the 1960s. Hg. David Robb. Rochester, NY 2007, S. 169–198. – Volker Mertens: Möglichkapitalistische Ausbeutung u. Umweltzerkeiten u. Grenzen einer aufführungsbezogenen störung opponiert u. sich für die Autonomie Interpr. des Minnesangs. K. W. singt Walthers des Individuums einsetzt, findet seit den ›Lindenlied‹? In: Lied u. populäre Kultur 54 (2009), 1990er Jahren auch literaturwissenschaftl. S. 63–88. Robert Krause Beachtung. W. erhielt verschiedene Auszeichnungen, u. a. den Deutschen Kleinkunstpreis (1977), Weckherlin, Georg Rodolf (Rudolf), den Südwestfunk-Liederpreis (1985, 1990, * 14.9.1584 (a. St.) Stuttgart, † 13.2.1653 1993), den Kurt-Tucholsky-Preis (1995) u. London. – Diplomat, englischer Beamter; den Erich-Fromm-Preis (2007, mit Eugen höfischer Dichter, Lyriker. Drewermann). Weitere Werke: Man muß den Flüssen trauen. Das fünfte Kind eines württembergischen Unordentl. Elegien. Mchn. 1980. – Und die Seele Hofbeamten wurde lutherisch erzogen, abnach außen kehren. Ketzerbriefe eines Süchtigen. solvierte 1593–1599 das Stuttgarter PädagoMchn. 1981. Köln 1993. – Lieder u. Gedichte. gium (Schwerpunkte: Latein-, Religions- u. Mchn. 1981. – K. W. im Gespräch mit Bernd Musikunterricht) u. setzte seine Ausbildung Schroeder. Mchn. 1983 (mit Discographie u. Bi- an der Universität Tübingen fort (Immatribliogr.). – Stilles Glück, trautes Heim. Neue Texte. kulation als stud. jur. am 24.4.1599). Hier Mchn. 1990. – Sage nein! Polit. Lieder 1977–1992. besuchte W. wahrscheinlich auch das ColleMit einem Vorw. v. Hanns Dieter Hüsch. Köln gium illustre, das ein Studium politicum u. 1993. – Schon Schweigen ist Betrug. Die kompletten Liedtexte. Vorw. v. Dieter Hildebrandt. Mit ei- Unterricht in den modernen Fremdsprachen nem Interview v. Georg Stein. Heidelb. 1994. Ak- anbot. Ohne formalen Studienabschluss trat tual. Neuaufl. Ebd. 2005. – Leben in Liedern. Das er Anfang 1606 in den württembergischen Programm. Lieder, Gedichte u. Gedachtes. Achim Staatsdienst ein u. hielt sich, mit diplomati1997. – Schmerzvoll lebendig. Die Gedichte schen Geschäften betraut, bis 1615 im Aus1963–1997. Köln 1998. – Liebeslieder. Augsb. land auf: in erster Linie in Frankreich 1999. – Politisch nicht correct. K. W. im Gespräch. (Mömpelgart [Montbéliard], Lyon, Orléans, Hg. Günter Bauch. Bassum 2001 (mit Discographie Paris), wo Heinrich IV. Ländereien an Würtu. Bibliogr.). – ›Diese Welt ist mir fremd.‹ K. W. im temberg verpfändet hatte, dann auch – zwiGespräch mit Gaby Dietzen. Bln. 2001. – Tobe, schen 1607 u. 1615 – insg. drei Jahre lang in zürne, misch dich ein! Widerreden u. Fürsprachen. Hg. Hans-Dieter Schütt. Bln. 2003. – Der Klang der England. In Dover lernte er Elizabeth Raungespielten Töne. Bln. 2004. Tb.-Ausg. Bln. 2006 worth kennen, die Tochter des Stadtschrei(R.). – Fliegen mit dir. Liebeslieder. Mit Zeich- bers, mit der er sich verlobte, bevor er im Mai nungen v. Johannes Hans A. Nikel. Ffm. 2007 (mit 1615 nach Stuttgart zurückkehrte. Seine einer CD). – Die Kunst des Scheiterns. Tausend Versuche, eine angemessene Stelle bei Hof zu

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finden, schlugen zunächst fehl. Erst nachdem seine Entwürfe für die Festlichkeiten anlässlich einer Prinzentaufe Beifall gefunden hatten u. er mit dem Auftrag betraut worden war, eine Beschreibung des Festes zu verfassen, wurde er mit einem ansehnl. Gehalt als Sekretär angestellt. Seiner Funktion nach war er wohl Hofpoet oder Hofhistoriograf. Damit stand seiner Heirat – am 13.9.1616 in Dover – u. der Gründung eines Hausstands in Stuttgart nichts mehr im Weg (1617 wurde ein Sohn, 1618 eine Tochter geboren). Nur ungern verließ W. seine Familie, um im Winter 1618/19 an einer Gesandtschaft nach Venedig teilzunehmen. Die polit. Entwicklung nach Ausbruch des Dreißigjährigen Kriegs gab der vorgezeichneten Hofkarriere W.s eine entscheidende Wendung. Ende 1619 ging er mit seiner Familie nach England (Dover, Canterbury u., wahrscheinlich seit 1626, Westminster). Obwohl es an entsprechenden Dokumenten fehlt, liegt die Vermutung nahe, dass W. zunächst im Auftrag seiner Regierung als eine Art Agent tätig war u. über die für die Sache der protestantischen Union so wichtige, aber angesichts der schwankenden Haltung König Jakobs I. unklare Haltung Englands berichten sollte. 1622 schied W. aus württembergischen Diensten aus – die Union war zerbrochen, Württemberg hatte sich die Neutralität gesichert – u. vertrat nun, so ist zu vermuten, pfälzisch-böhm. Interessen. Die protestantischen Belange behielt er auch dann weiter im Auge, als er 1626 als Sekretär des für auswärtige Angelegenheiten zuständigen Staatssekretärs in engl. Dienste wechselte. Zu seinen Verantwortlichkeiten gehörte der Nachrichtendienst, aber er war auch – in Vertretung des Staatssekretärs – als Bücherzensor tätig. 1630 ließ er sich mit seinen beiden Kindern in England einbürgern, doch als 1642 der Konflikt zwischen König Karl I. u. dem Parlament zum Bürgerkrieg führte, suchte W. einer Entscheidung auszuweichen, indem er sich um eine Anstellung bei verschiedenen protestantischen Mächten bewarb – ohne Erfolg. W. entschied sich 1643 aus seiner Gegnerschaft gegen die »Pfaffen« u. »Papisten« u. einer zunehmend hofkrit. Haltung heraus für das Parlament u. wurde 1644 zum Sekretär für auswärtige Angele-

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genheiten des neu gebildeten Committee of Both Kingdoms ernannt. Ein Jahr später starb seine Frau. Zwei Monate nach der Hinrichtung des Königs (30.1.1649) reichte W. seinen Rücktritt ein, wurde jedoch noch einmal 1652 für einige Monate als Assistent seines Nachfolgers, des erblindenden John Milton, in den Dienst zurückberufen. W.s literarhistor. Bedeutung besteht darin, dass er als erster den entschiedenen u., berücksichtigt man den geschichtl. Kontext, durchaus erfolgreichen Versuch unternahm, die dt. Literatur im Geist der nationalsprachl. Kunstdichtung der europ. Renaissance zu erneuern. Dabei knüpfte er an die Dichtung der Pléiade an u. – in geringerem Maß – an die der ital. Renaissance. Zunächst geschah dies in Auftragswerken für den Stuttgarter Hof, mit Entwürfen von festl. Aufzügen u. Ritterspielen mit eingefügten Gedichten, dokumentiert in repräsentativen Festbeschreibungen u. den aufwändigen Illustrationsbänden Esaias van Hulsens: Triumf NEwlich bey der F. kindtauf zu Stutgart gehalten (Stgt. 1616. Engl. Fassung W.s u. d. T. Triumphall Shews Set forth lately at Stutgart. Ebd. 1616), Kurtze Beschreibung / Deß Jüngstgehaltenen Frewden-Fests (Tüb. 1618), Beschreibung Und Abriß Deß jüngst gehaltnen F. Balleths (Stgt. 1618. Neudr. aller Texte u. Illustrationen in: Stuttgarter Hoffeste. Hg. Ludwig Krapf u. Christian Wagenknecht. 2 Bde., Tüb. 1979). Die lyr. Produktion, z.T. schon in den Festbeschreibungen gedruckt, folgte dann in den beiden Bänden der Oden und Gesänge (Stgt. 1618/19): höfisch-repräsentative Lob- u. Trauergedichte, religiöse Betrachtungen, aber auch am Ende der Bände Texte in mittlerer u. niedriger Stillage – Liebesgedichte, gesellige Lieder, Scherzgedichte. Am Anfang freilich steht richtungweisend eine Reihe pindarischer Oden, Ronsard verpflichtet, die mit ihren langen Satzbögen, ihrer Gleichnisu. Metaphernsprache u. ihrem schwungvollen Gestus den hohen rhetorischen Stil zum erstenmal in der neueren dt. Dichtung verwirklichen: Gedichte zum höheren Ruhm der fürstl. Gönner u. Auftraggeber u. zgl. patriotisch motivierte Versuche, »unserer sprach (deren die außländer ihre nohturft und rawheit / zwar ohn ursach / fürwerfen)

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reichtumb und schönheit khünlich zu vermehren«. Diese glänzenden Anfänge fanden keine Fortsetzung. Nach seiner Übersiedlung nach England dauerte es über 20 Jahre, ehe W. wieder als Dichter öffentlich hervortrat (Gaistliche und Weltliche Gedichte. Amsterd. 1641. Erw. 1648). In Deutschland war seine Leistung inzwischen fast vergessen, zumal sich seine an romanischen Vorbildern geschulten metr. Vorstellungen (Silbenzählung ohne regelmäßige Alternation) nicht durchsetzen konnten u. angesichts der Erfolge der Opitz’schen Reform u. ihrer metr. Prinzipien (Alternation bei Wahrung des »natürlichen« Wortakzents) bald als antiquiert galten. In den Ausgaben von 1641 u. 1648 passte W. daher seine Texte den Opitz’schen Regeln an, allerdings nicht ohne Kritik an der starren Alternationsregel u. ohne die für sein lyr. Werk charakteristische, von Herder gerühmte »überall lebendige, leichte Deklamation« aufzugeben. Obwohl die Gaistlichen und Weltlichen Gedichte auch die frühen Texte enthalten, unterscheidet sich ihr Charakter deutlich von dem der Oden u. Gesänge: Ausdruck auch der veränderten Schreibsituation des im Ausland lebenden, nun nicht mehr für höf. Repräsentationskunst zuständigen Dichters. So setzt er gleich zu Beginn der Sammlung neue Akzente mit den geistl. Gedichten, vornehmlich Psalmenparaphrasen, die – nicht für den Gemeindegesang bestimmt – die Kunstmittel der Renaissancepoesie zum Ausdruck persönl. Frömmigkeit gebrauchen. Die weltl. Gedichte zeigen eine größere Vielfalt der Themen u. Formen: Oden (die Spannweite reicht von der höf. Panegyrik der frühen Beispiele bis zur drast. Drunckenheit in Rabelais’schem Geist), Klage- u. Trauergedichte (darunter der große Trauerhymnus Des Grossen Gustav-Adolfen / etc. Ebenbild), petrarkistische »Buhlereyen«, Epigramme u. – poetischer Höhepunkt – kunstvolle u. anmutige Eclogen / oder Hürten Gedichte. Eine zentrale Stellung nehmen die seit der Übersiedlung nach England entstandenen polit. Gedichte ein, die in der dt. Dichtung des 17. Jh. ihresgleichen suchen. Bezugspunkt ist das – protestantische – »Teutsch-

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land«, für dessen Freiheit W. ebenso vehement eintritt wie er gegen seine Feinde – die »Lügen-Lig« u. die »Pfaffen« – polemisiert. W. war im Ausland zum aggressiven polit. Dichter u. Kommentator dt. Verhältnisse geworden: ein Patriot ohne Vaterland, dessen Texte gelegentlich auch den Eindruck erwecken, als sollten sie die isolierte Stellung u. die beschränkten Wirkungsmöglichkeiten ihres Verfassers durch ätzende Schärfe u. leidenschaftl. Schwung kompensieren. Die Resonanz der späten Sammlungen blieb gering, W.s Nachruhm im 17. Jh. eher bescheiden. Nur im Umkreis der Straßburger Aufrichtigen Tannengesellschaft spielte man W. als Vater der neueren dt. Dichtung gegen Opitz aus: diesem sei die »lesung« der Oden und Gesänge »nachmals [...] zur nachfolge / gar wol bekommen« (Rompler von Löwenhalt: Reim-getichte. Straßb. 1647). In Wirklichkeit jedoch wurde »der Weg, den Weckherlin angefangen hatte zu bahnen, [...] gar nicht betreten und wuchs daher gleichsam ganz zu« (A. W. Schlegel). Anstöße, der Leistung des von der Opitzschule Verdrängten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, gingen von Herder u. den Romantikern aus. Ausgaben: Gedichte. Hg. Hermann Fischer. 3 Bde., Tüb. 1894, 1895, 1907. Nachdr. Darmst. 1968. – Gedichte. Ausgew. u. hg. v. Christian Wagenknecht. Stgt. 1972. – Briefe, Nachlass: Leonard Forster: Sources for G. R. W.’s Life in England: The Correspondence. In: MLR 41 (1946), S. 186–195. – Ders: Dichterbriefe aus dem Barock (darin: Briefw. Opitz – W.). In: Euph. 47 (1953), S. 390–411. – Ders.: Ein Stammbuch G. R. W.s. In: Daphnis 6 (1977), S. 255–259. – Leo Miller. Mylius’ Baroque Letters to Milton and W. In: Acta Conventus NeoLatini Guelpherbytani. Ed. Stella P. Revard u. a. Binghamton, NY 1998, S. 233–244. Literatur: Bibliografien: Dünnhaupt, Bd. 6, S. 4172–4178. – Heiduk/Neumeister, S. 487 f. – Pyritz, S. 705–710. – Weitere Titel: Carl Philipp Conz: Nachrichten v. dem Leben u. den Schr.en R. W.s. Ludwigsburg 1803. – Hermann Fischer: G. R. W. In: ADB. – Max Eitle: Studien zu W.s ›Geistl. Gedichten‹. Diss. Tüb. 1911. – Hans Gaitanides: G. R. W.: Versuch einer physiognom. Stilanalyse. Diss. Mchn. 1936. – Leonard Forster: G. R. W. Zur Kenntnis seines Lebens in England. Basel 1944. – Adolf Beck: Über ein Gedicht v. G. R. W. In: JbDSG 6 (1962), S. 14–20. – Dámaso Alonso: Notas sobre la

Weckmann persona y el arte de G. R. W. In: Filología Moderna 7 (1967), S. 233–257. – Christian Wagenknecht: W. u. Opitz. Zur Metrik der dt. Renaissancepoesie. Mchn. 1971. – Silvia Weimar-Kluser: Die höf. Dichtung G. R. W.s. Bern/Ffm. 1971. – Ernst Ribbat: ›Tastend nach Autonomie‹. Zu G. R. W.s ›Geistl. u. Weltl. Gedichten‹. In: FS Günther Weydt. Bern/Mchn. 1972, S. 73–92. – L. Forster: Zu G. R. W. In: Ders.: Kleine Schr.en zur dt. Lit. im 17. Jh. Amsterd. 1977, S. 161–231. – Flora Kimmich: W., Petrarchism and the Renewal of Vernacular Poetry. In: Daphnis 7 (1978), S. 181–197. – Ingrid Laurien: ›Höf.‹ u. ›bürgerl.‹ Elemente in den ›Gaistl. u. weltl. Gedichten‹ G. R. W.s (1648). Stgt. 1981. – Volker Meid: Ein polit. Deutscher. Zu W.s Sonett ›An das Teutschland‹. In: Gedichte u. Interpr.en. Bd. 1: Renaissance u. Barock. Hg. ders. Ebd. 1982, S. 149–158. – E. Ribbat: G. R. W. In: Dt. Dichter des 17. Jh. Hg. Harald Steinhagen u. Benno v. Wiese. Bln. 1984, S. 74–89. – Dieter Breuer: G. R. W. In: Dt. Dichter. Bd. 2, Stgt. 1988, S. 119–127. – Annemarie Nilges: Imitation als Dialog. Die europ. Rezeption Ronsards in Renaissance u. Frühbarock. Heidelb. 1988, S. 165–177. – L. Forster: The W. Papers. In: The British Library Journal 19 (1993), S. 133–141. – Ders.: Zu fiktiven Katalogen u. zu G. R. W. In: Daß eine Nation die ander verstehen möge. FS Marian Szyrocki. Hg. Norbert Honsza u. Hans-Gert Roloff. Amsterd. 1988, S. 227–254. – Thomas Borgstedt: R. W.s ›Buhlereyen‹-Zyklus u. sein Vorbild bei Edmund Spencer. In: Arcadia 29 (1994), S. 240–266. – Volker Klotz: Ausgesprochene Unsagbarkeit. Barocke Preisgedichte auf schöne Augen, verfasst v. W. u. Zesen. In: Sprachkunst 31 (2000), S. 225–251. – Nicola Kaminski: Ex Bello Ars oder Ursprung der ›Deutschen Poeterey‹. Heidelb. 2004, S. 113–179. Volker Meid / Red.

Weckmann, André, * 30.11.1924 Steinbourg/Elsass. – Lyriker, Erzähler, Dramatiker, Hörspielautor, Essayist. Die siebziger u. achtziger Jahre waren produktive Jahre für die Literatur im Elsass: W. steht dafür als ein Beispiel. Im Heft 1 der Literaturzeitschrift »allmende«, das 1981 erschien, finden sich nicht nur Gedichte W.s, sondern auch sein Essay Elsass: Von der Selbstaufgabe zur Konvivialität? Hier konstatierte der Schriftsteller, Publizist u. Gymnasiallehrer die Fortschritte der Emanzipation des Elsass von Paris u. verweist auf die Sprachpolitik, die sich sukzessive dem Elsässischen öffnete – von den Kindergärten bis zu den Schulen.

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»Zuerst muss das Wort entgiftet werden, das verhunzte, pervertierte Wort.« Dichtung ist wesentl. Bestandteil der »Bewußtseinsfindung«, Literatur ist im Selbstverständnis W.s politisch. Der Sohn eines Dorfwirts besuchte das Gymnasium in Strasbourg, Besançon u. Saverne. W. teilte das Schicksal vieler seiner Landsleute; 1943 wurde er von der dt. Wehrmacht zwangseingezogen, an der Ostfront eingesetzt u. schwer verwundet. Er desertierte im Sept. 1944 u. konnte sich zu einer amerikan. Einheit retten. Nach Kriegsende studierte er in Strasbourg Philologie mit dem Hauptfach Deutsch u. wurde Lehrer. Von 1954 bis 1960 war er Kulturreferent der Préfecture du Bas-Rhin; anschließend wirkte er bis 1989 am Lyzeum von Strasbourg-Neudorf als Deutschlehrer u. als Herausgeber von Lehrheften (Regionale Sprachen und Kultur). Er publizierte Essays, Erzählungen u. Romane in frz. u. dt. Sprache. Seine ersten Lyrikbände Schang d sunn schint schun lang – lieder fer d’elsasser (Straßb. 1975), Haxschissdrumerum (Rothenburg o. d. T. 1976) u. Fremdi getter (Pfaffenweiler 1978) sind konsequent in »Elsässerditsch« geschrieben u. das in der Absicht, das Elsässische als Literatursprache auf einem hohen modernen ästhetischen Niveau zu etablieren. Programmatisch konstatierte er 1981: »Das Elsaß ist keine Region wie andere Regionen. Die Elsässer sind keine Minderheit wie andere Minderheiten. Das Elsaß ist weder Bretagne noch Südtirol. Das Elsaß ist ein deutsch-sprachiges Land, das französisch sein will. Das Elsaß ist eine französische Provinz, die deutschsprachig bleiben will.« Gegen die politisch gewollte Verdrängung des Elsässischen setzt W. auf die Bewahrung der sprachl. Identität; Literatur wurde nicht nur für ihn zur »Waffe«, zum Mittel einer ästhetischen Opposition gegen die Hegemonie des Französischen, die Zerstörung der Landschaft u. der Sprache – sein Poem Aliénation (Entfremdung) ist dafür nur ein Beispiel. Das Alemannische als grenzüberschreitende kulturelle Klammer wurde somit nicht allein gegen die Atompolitik Mitteleuropas mobilisiert, sondern auch als ein Element der Selbstbestimmung des Elsass u. einer konsequenten Politik der Zweisprachigkeit. W. spricht von

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Dialektik; dazu gehört auch, dass die inter- Gustav-Regler-Preis (1999) u. der Prix Euronat. Protestbewegungen sich der regionalen péen de Langue Régionale (2002). Identität vergewisserten u. die eigene Sprache Weitere Werke: Les nuits de Fastov. Paris/Colmar 1968. – Sechs Briefe aus Berlin. Freib. i. Br. u. a. zur Literatursprache werden ließen. »Aufklären, bloßlegen, was zur Entfrem- 1969. Erw. Neuausg. Eggingen 1990. – Gesch.n aus dung führt, überzeugen« – der »Platz des Soranien. Ein elsäss. Anti-Epos. Straßb. 1973. Schriftstellers ist mitten im Geschehen«, so Neuausg. Karlsr. 1977. – Fonse ou l’éducation alsacienne. Paris 1975. Neuausg. Straßb. 1983. – Die konstatiert W., der mehr als 50 Hörspiele u. Fahrt nach Wyhl. Eine elsäss. Irrfahrt. Straßb. 1977. einige Fernsehfilme produzierte sowie Thea- Neuausg. Kehl 1987. – Elsassischi Liturgie (zus. mit terstücke verfasste. Die polit. u. histor. Ge- François Arnold). Straßb. 1980. – Landluft. Pfafschichte des Elsass unter der wechselnden dt. fenweiler 1983 (L.). – Bluddi Hand. Straßb. 1983 u. frz. Herrschaft thematisierte W. auch in (L.). – Elsass. Heimat: Das sind wir. Mit Fotos v. seinen Romanen Wie die Würfel fallen. Ein Ro- Werner Richner. Freib. i. Br. 1987. – Äpfel am man aus dem Elsass (Kehl u. a. 1981) u. Odile Winterbaum. Gött. 1988 (L.). – Wie weit ists noch oder das magische Dreieck (ebd. 1986. Frz. Fas- bis Prag. Eine elsäss. Tragödie. [Straßb.] 1993. Urauff. Schiltigheim 1993. – Elsaß. Ein literar. sung u. d. T. La roue du paon. Straßb. 1988) Reisebegleiter. Mit farbigen Fotografien v. Pieter sowie in den Steinburger Balladen (Eggingen Jos van Limbergen. Hg. zus. mit Emma Guntz. 1997). Diese Texte zeigen aber auch, dass der Ffm./Lpz. 2001. – TamieHeimat. Blieskastel 2003 Optimismus, die eigene Identität bewahren (R.). – Schwarze Hornissen. Erzählungen aus dem zu können, schließlich verflogen ist u. die sonderbaren Land, das Elsass heißt. Ebd. 2005. – polit. frz. Beharrungskräfte erneut domi- Hör der Wind bricht alte Reiser. Weihnachtsernierten. Auch W. musste erfahren, dass zur zählungen. Merzig 2008. Literatur: Adrien Finck: Die elsäss. Dialektlit. Dialektik gehört, dass die beschleunigte Entwicklung seit den achtziger Jahren in al- seit 1948. In: Jb. Int. Germ. 19 (1987), S. 47–86. – len polit., gesellschaftl. u. technolog. Berei- Hans Peter Ecker: Dialekt als Waffe. Programmatik u. Praxis [...] des [...] A. W. In: GRM 39 (1989), chen zu einer Nivellierung der regionalen S. 99–108. – A. Finck: A. W. u. die Renaissance der Besonderheiten geführt hat. Zwar ist festzu- elsäss. Dialektpoesie. In: Ders.: ›Geistiges Elsäshalten, dass der Widerstand gegen die sertum‹. Beiträge zur dt.-frz. Kultur. Landau/Pfalz Atomkraft dreißig Jahre später durch den 1992, S. 77–90. – Ders.: Ein anderes Deutsch. A. Super-GAU in Fukushima eine Bestätigung W.s Situation in der dt. Gegenwartslit. In: allmengefunden hat, gleichzeitig jedoch haben sich de (1994), H. 42/43, S. 226–241. – Bernard Bach: die regionalen Energien, bezogen auf die Li- L’improbable reconquête de l’identité alsacienne teratur, verflüchtigt. Das gilt nicht für das dans l’œuvre d’A. W. In: Les littératures minoritaires de langue allemande après 1945. Hg. ders. Elsass allein, aber für diese Region aufgrund Lille 1995, S. 167–191. – A. Finck: A. W. In: KLG. – der histor. Verwerfungen u. der polit. Ab- Peter André Bloch: A. W. Sein poet. Kampf ums hängigkeiten im Besonderen – dies spiegelt Überleben der elsäss. Kultur. Mehrsprachigkeit als sich exemplarisch in dem umfangreichen Chance. In: Frontières, transferts, échanges transWerk W.s, der zu den bedeutendsten frontaliers et interculturels. Actes du XXXVIe Schriftstellern des Elsass zu zählen ist u. der Congrès de l’Association des Germanistes de noch in seinem resignativen Alterswerk sei- l’Enseignement Supérieur. Bern u. a. 2005, nen Anfängen treu geblieben ist. Davon zeu- S. 611–633. Hansgeorg Schmidt-Bergmann gen auch die zahlreichen Auszeichnungen, die ihm zugesprochen worden sind, darunter der Johann-Peter-Hebel-Preis des Landes Ba- Wedde, Johannes, * 15.1.1843 Uelzen, den-Württemberg (1976), der Prix Georges † 13.1.1890 Lübeck. – Lyriker, Kritiker u. Publizist. Holderith de l’Institut des Arts et Traditiones Populaires d’Alsace (1978), der Jacob-Burck- W., Sohn eines Tuchfabrikanten, lebte, von hardt-Preis (1986), die Carl-Zuckmayer-Me- Geburt an unter einer Rückgratverkrümdaille des Landes Rheinland-Pfalz (1990), der mung leidend, seit 1851 in Hamburg. In Badisch-Elsässische Kulturpreis (1998), der Heidelberg, Berlin u. Göttingen studierte er

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Germanistik u. Geschichte. Seit 1868 arbei- ler Eigenart durchzieht motivisch auch sein tete er als Privatlehrer. Seine Publikationen, umfangreiches Prosawerk. etwa die Gedichtbände Lilith, die Lösung des Weitere Werke: Ges. poet. Werke. 12 Bde., Bln. Welträthsels, ausgeplaudert durch den Jüngling von 1893–1935. – Gesch. der dt. Volksdichtung seit Sais (Hbg. 1867) u. Grüße des Werdenden (ebd. dem Ausgange des MA bis auf die Gegenwart. 2 1883), fanden nur geringe Beachtung. Grö- Wiesb. 1895. – Gesch. der Theater Deutschlands. 2 Bde., Bln. 1904–1906. ßere Wirkung erzielte er mit seinen TheaterLiteratur: M. Schmidt: O. W. Sein Leben u. kritiken (gesammelt u. d. T. Dramaturgische Spähne. Hamburgische Theaterberichte 1876–1879. seine Dichtungen. Bielef./Lpz. 1895. – Kosch. Peter Heßelmann Ebd. 1880) u. bes. durch die Herausgabe der sozialdemokratisch orientierten »Bürgerzeitung« (Hbg. 1881–87). Die das Verbot der Wedding, Alex, eigentl.: Grete Weiskopf, Zeitung begleitende Ausweisung ließ ihn mit geb. Margarete Bernheim, * 11.5.1905 seiner Familie nach Lübeck ziehen. Sein polit. Salzburg, † 15.3.1966 Saalfeld/Saale. – Engagement beansprucht heute mehr Inter- Kinder- u. Jugendbuchautorin, Herausgeberin. esse als sein Werk. Ausgabe: Ges. Werke. 2 Bde., Hbg. 1894. Literatur: Theodora Wedde: J. W. Hbg. 1891. – Johannes Müller: Der Sozialdemokrat J. W. als litterar. Größe. Ebd. 1901. Michael Farin

Weddigen, Friedrich Otto, * 9.2.1851 Minden, † 29.1.1940 Berlin. – Lyriker, Dramatiker, Erzähler, Literatur- u. Theaterhistoriker. Der aus einer westfäl. Bauernfamilie stammende W. studierte neuere Sprachen, Literatur, Ästhetik u. Geschichte in Halle, Straßburg u. Bonn. Nach der Promotion habilitierte er sich 1873 für neuere Literatur in Hannover. Zunächst im höheren Schuldienst in Schwerin tätig, unterrichtete er 1878–1888 als Gymnasiallehrer in Hamm, 1888–1893 in Wiesbaden. Seit 1893 im Ruhestand, lebte er von 1897 bis zu seinem Tod in Berlin. W. war ein sehr produktiver Autor, dessen vielgestaltiges Werk neben literar- u. theaterhistor. Studien Gedichte, Kinderlieder, Tragödien u. Komödien, Romane, Novellen, Erzählungen, Epen, Fabeln, Märchen, Sprüche u. Aphorismen umfasst. Wiederholt griff er in seiner Heimatdichtung auf Westfälisches zurück, z.B. in Von der roten Erde (Erfurt 1887) u. in Westfälische Dorf- und Stadtgeschichten (Erfurt 1887). Die vaterländ. Dramen, Festspiele u. Lieder spiegeln in ihrem nationalen Pathos ebenso wie die Kriegsgedichte den Patriotismus W.s wider. Die prägende Idee von der Wahrung regionaler u. nationa-

W., in kleinbürgerl. Milieu aufgewachsen, arbeitete zunächst als Warenhausangestellte, ging 1925 nach Berlin, trat im selben Jahr in die KPD u. 1928 den Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller ein u. heiratete den dt.-tschech. kommunistischen Schriftsteller F. C. Weiskopf. Unter einem programmatischen, nach den Zentren der Berliner Arbeiterbewegung (Alexanderplatz, »Roter« Wedding) gewählten Pseud. begann sie für Kinder zu schreiben. In Ede und Unku (Bln. 1931. Neuaufl. Bln. 2005) bekehrt der Arbeiterjunge Ede seinen sozialdemokratisch-reformistischen Vater zur aktiven Teilnahme am Klassenkampf. 1933 emigrierte W. nach Prag, wo Das Eismeer ruft (London 1936. Bln./SBZ 1948) entstand, ein Hohelied auf die internat. Solidarität: Eine Gruppe von Prager Arbeiterkindern versucht den im Eis treibenden Überlebenden eines sowjetischen Expeditionsschiffs Beistand zu leisten. W. will hier »kollektives Heldentum« gegen »Detektivunsinn« wie »romantischen Heroismus« setzen. Seit 1939 im Exil in den USA, begleitete sie 1949 ihren Mann (Botschafter der CˇSSR) nach Stockholm u. Peking. Seit 1953 lebte W. in der DDR, wo sie mit Büchern über den dt. Bauernkrieg (Die Fahne des Pfeiferhänsleins. Bln./SBZ 1948), über das neue, sozialistische China (Das eiserne Büffelchen. Bln./DDR 1952) hohe Auflagen erreichte. Als Wegbereiterin der DDR-Kinderliteratur viel geehrt, wurde

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dort postum 1968 einer der wichtigsten staatl. Kinderbuchpreise nach ihr benannt. Weitere Werke: Söldner ohne Sold. Bln./SBZ 1948. Ab der 2. Aufl. u. d. T. Das große Abenteuer des Kaspar Schmeck. Neuaufl. Bln. 2006 (R.). – Schatz der Erde u. weißer Schnee. Ebd. 1961. – Erinnerungen an einen Freund. Ein Gedenkbuch für F. C. Weiskopf. Ebd. 1963. – Hubert, das Flußpferd. Bln./DDR 1963. – Im Schatten des Baobab. Afrikan. Märchen. Ebd. 1965. – Aus vier Jahrzehnten. Erinnerungen, Aufsätze u. Fragmente. Hg. Günter Ebert. Ebd. 1975. – Herausgeber: F. C. Weiskopf. Ges. Werke 1–8. Bln./DDR 1960. Literatur: Günter Ebert: Moralische Erziehung durch Kunst [...]. In: Beiträge zur Kinder- u. Jugendlit., H. 7, Bln./DDR 1965, S. 51–70. – Hermine Scheibe: A. W.s künstler. u. Iiteraturtheoret. Beiträge zur Entwicklung der sozialist. dt. Kinderlit. Ebd. 1976. – Susanne Alge: A. W. (1905–1966). In: LuK 40 (2005), H. 397/398, S. 101–110. – Dieter Wrobel: Vergessene Texte der Moderne wiedergelesen. A. W. ›Ede u. Unku‹. In: Lit. im Unterricht 7 (2006), H. 1, S. 73–84. – Susanne Blumesberger u. Ernst Seibert (Hg.): A. W. (1905–1966) u. die proletar. Kinder- u. Jugendlit. Wien 2007. – D. Wrobel: Vergessene Texte der Moderne. Wiederentdeckungen für den Deutschunterricht. Trier 2010. Horst Heidtmann / Red.

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Bruder Friedrich August. Er lebte seit 1752 in Eutin, später in Kiel. 1753 wurde er Mitgl. der Deutschen Gesellschaft in Göttingen; da führte er schon den Hofratstitel. Der Krambambulist, sein berühmtestes Gedicht, ist rasch zum Volkslied geworden, wie Studentenliederbücher u. Jahrmarktsdrucke zeigen. Die Klassik dagegen nahm ihn gar nicht wahr; lediglich Lessing (Sämtliche Schriften. Bd. 1, Bln. 1886, S. 38) benutzte den Namen Koromandel – nur um des Metrums willen. Das zuerst als Einzeldruck (Danzig [recte: Halle] 1745) veröffentlichte Lob-Gedicht über die gebrannten Wasser im Lachß zu Danzig (Untertitel) erschien in W.s voluminöser Sammlung größtenteils munterer Gelegenheitspoesie, Nebenstündiger Zeitvertreib (Danzig 1747, S. 102). Ausgabe: Der Krambamulist. 3., verm. Aufl. Schwabach 1747. Internet-Ed. in: Dt. Lit. des 18. Jh. Online. Hg. Paul Raabe. Mchn. 2007. Literatur: Ludwig Fränkel: C. W. Wittekind. In: ADB. – Otto Deneke: Koromandel-W., der Dichter des Krambambuli-Liedes. Gött. 1922 (mit vollst. Abdr. des Krambambuli-Lieds, Drucküberlieferung u. Bibliogr.). – Herbert Zeman: Die dt. anakreont. Dichtung [...]. Stgt. 1972, S. 231. – Peter Krause: ›O alte Burschenherrlichkeit‹. Die Studenten u. ihr Brauchtum. Graz 1979. 51987. Ulrich Joost / Red.

Wedekind, Christoph Friedrich, * 15.4. 1709 Schloss Ricklingen bei Wunstorf, † 3.10.1777 Kiel. – Jurist, Gelegenheitsdichter. Wedekind, Frank, eigentl.: Benjamin Franklin W., auch: Hugo Frhr. von Lange blieben Identität, länger genaue Daten Trenck, Frank Querilinth, Cornelius dieses Vorfahren Frank Wedekinds im DunMine-Haha, Ahasver, Benjamin, Herkeln. Der Sohn des Pfarrers Justus Julius mann, Hieronymus Jobs, Kaspar Hauser, Wedekind u. der Anna Emerantia, geb. LanMüller von Bückeburg, Simplizissimus, ge, nannte sich lateinisch nach dem SachsenTschingiskhan, * 24.7.1864 Hannover, helden Wittekind(us), frz. Vittequin – seine † 9.3.1918 München; Grabstätte: ebd., dt. Gedichte zeichnete er mit Crescentius Waldfriedhof. – Dramatiker, Lyriker, ErKoromandel u. lüftete das Pseud. nur einmal zähler, Essayist. verstohlen. Nach Schulbesuch in Hildesheim u. Ilfeld studierte W. in Rinteln oder Jena u. wurde 1729 in Helmstedt zum Dr. jur. promoviert. Er bereiste dann Frankreich, Italien u. Süddeutschland vermutlich als Hofmeister, als der er 1735–1738 in Altdorf immatrikuliert war. Hernach um Anstellung in Regensburg (Reichstag) bemüht, fand er erst 1745 ein Amt als Regimentssekretär u. juristischer Berater beim Prinzen Georg Ludwig von Holstein-Gottorp, seit 1763 bei dessen

Seit 1872 wuchs W. auf dem von seinem Vater, einem Arzt, erworbenen Schloss Lenzburg in der Schweiz auf. Dort besuchte er die Bezirksschule u. anschließend das kantonale Gymnasium in Aarau. Ein beträchtl. Teil seiner Gedichte, an Goethes u. Heines Lyrik orientiert, entstand bereits in den 1880er Jahren, u. in die Kindertragödie Frühlings Erwachen (Zürich 1891) sind viele Reminiszenzen an seine Schulzeit eingearbeitet. Da sich

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W. während seines 1884 begonnenen Studiums in München statt mit der Jurisprudenz mit Kunst u. Literatur beschäftigte, kam es darüber zum Bruch mit dem Vater (1886). W. musste sein Studium aufgeben, konnte sich aber eine berufl. Stellung als Vorsteher des Reklamebüros bei Maggi in Kempttal bei Zürich verschaffen (1886/87). Durch gezielte Pressearbeit erfolgreich öffentl. Aufmerksamkeit zu erreichen, lernte er hier von Grund auf, wie seine literarisch inspirierten Reklame-Texte bezeugen (Pharus IV, 1992). Vertraut mit PR-Strategien, nutzte er diese später gekonnt nicht zuletzt in seinen Konflikten mit der Zensur (z.B. Sieben Fragen. An den Münchner Zensurbeirat. 1911). Als sich Vater u. Sohn auf die Fortsetzung des Jurastudiums für das Sommersemester 1888 in Zürich geeinigt hatten, der Vater aber bald darauf starb, entschied sich W., abgesichert durch seinen Anteil am väterl. Erbe, für eine Existenz als freier Schriftsteller. Über Kontakte zu Gerhart Hauptmann in Erkner hoffte er, Anschluss an die Berliner Literaturszene zu gewinnen. Nach einem an seiner amerikan. Staatsangehörigkeit scheiternden Versuch, sich 1889 auf Dauer in Berlin niederzulassen, wandte er sich wieder nach München, um schließlich Ende 1891 nach Paris aufzubrechen. In München hatte er bereits während seiner Studienzeit Michael Georg Conrad, den Herausgeber der Zeitschrift »Die Gesellschaft«, kennen gelernt u. war 1891 der von Conrad, Bierbaum u. Panizza begründeten Gesellschaft für modernes Leben beigetreten. Im Züricher literar. Zirkel Das junge Deutschland verkehrte er mit seinem Jugendfreund Karl Henckell, mit Mackay u. den Brüdern Carl u. Gerhart Hauptmann. Der wiederentdeckte Büchner spielte für das literar. Interesse dieses Kreises eine wichtige Rolle. Debattiert wurde über die jüngsten psychopatholog. Studien Jean-Martin Charcots, Krafft-Ebings u. Paolo Mantegazzas. In diese Epoche fiel auch W.s intensive Beschäftigung mit der Philosophie Nietzsches. Zuvor war er durch die mit der Familie bekannte philosophische Schriftstellerin Olga Plümacher in das Werk Schopenhauers eingeführt worden.

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Wie sehr neben seiner gymnasialen humanistischen Bildung, dokumentiert durch seine klugen u. fantasievollen Schulaufsätze (1882–84), seine philosophische Schulung die Entwicklung seiner Essayistik beförderte, ist an den zahlreichen Feuilletons nachvollziehbar, die W. während seiner Schriftstellerkarriere veröffentlichte. Dazu zählen vor allem: Der Witz und seine Sippe (Zürich 1887), die Zirkus-Aufsätze (Zürich 1887 u. 1888), Böcklin’s Helvetia (1891), Schriftsteller Ibsen (Zürich 1895), Der Goethe-Brunnen (Mchn. 1909), Schauspielkunst (Mchn. 1910), Heinrich von Kleist (Mchn. 1911), Über Erotik (Mchn. 1911), Weihnachtsgedanken (Bln. 1912), Deutschland bringt die Freiheit (Bln. 1914), Begegnung mit Josef Kainz (Bln. 1915) u. Herzens und Herweghs Liebestragödien (Wien 1916). Zahlreiche Reflexionen, Maximen, Aphorismen, Kritiken u. Repliken etc., aus dem Nachlass erschlossen, zeigen, wie umfangreich das politische, soziale u. künstlerische Themenspektrum war, das ihn als Autor interessierte. Schließlich ist an die Berliner (1889), Münchener (1889/90), Pariser u. Londoner Tagebücher (1892–94) sowie an die knappen tagebuchartigen Einträge in den Agenden (1904–1918) zu erinnern, die Information u. Aufschluss über W.s bewegtes Leben in den unterschiedlichsten Milieus seiner Zeit geben. Dem dt. Naturalismus stand W. kritisch gegenüber. Dem auf das Leben angewandten literar. Determinismus widersprach er im Namen eines emphat. Lebensbegriffs. Schon mit seinem dramat. Erstling Der Schnellmaler oder Kunst und Mammon. Große tragikomische Originalcharakterposse (Zürich 1889) versuchte er, Formen der Volksposse u. des Rührstücks mit denen der klass. Tragödie u. des naturalistischen Dramas zu verknüpfen, ohne sich jedoch auf einen unkünstlerischen Realismus einzulassen, den er mit seinem »Lustspiel in vier Aufzügen«, Kinder und Narren (1891. 1895 umgearbeitet zu Die junge Welt. Bln. 1897), heftig attackierte. Auch Frühlings Erwachen schrieb er in bewusstem Gegensatz zum dt. Naturalismus u. stellte unter Beweis, dass Lebenstragik weder von der Fallhöhe hochgestellter Personen noch von den Regeln klass. Dramatik, geschweige denn von der Vorschrift eines die Wirklichkeit kopierenden

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Realismus abhängig sei. Seine eigenen philosophischen u. ästhetischen Anschauungen stellte er dramatisch erstmals in seinem 1891/ 92 entstandenen »Schwank« Der Liebestrank (Mchn. 1899) vor. Was an W.s Dramaturgie als grotesk bezeichnet werden kann, lässt sich hier erstmals zusammenfassend charakterisieren. Zu den Momenten des Grotesken, der Übertreibung, der Karikatur gehört hier körperlich u. geistig Heterogenes: die Grimasse, die Fratze, geistige Widersprüche, der Kontrast zwischen Realem u. Idealem, die Diskrepanz zwischen Leben u. Bewusstsein, Maskerade, Täuschung u. Verstellung. Was W. nach Paris lockte, war statt der programmat. Enge regionaler Künstlerzirkel die Verheißung einer europ. Kunstszene, in welcher ein künstlerischer Avantgardismus gedieh, der sich selbst als subversiv-kulturell verstand u. die Nähe zu den zahlreichen Unterhaltungsangeboten der Hauptstadt des 19. Jh. suchte. Bezeichnend, dass W. zunächst mit einer Tanzpantomime, Die Flöhe oder Der Schmerzenstanz (entstanden 1892. Dt. u. frz. Fassung), in Paris Erfolg suchte u. dass er nach der Niederschrift (1892–94) der »Monstretragödie« Die Büchse der Pandora (historisch-kritische Ausg. der Urfassung Darmst. 1990) mit drei weiteren Tanzdichtungen strategisch auf seinen Durchbruch als Bühnenschriftsteller hinzuarbeiten dachte. Seine Schauertragödie musste er, genötigt durch seinen neuen Verleger Albert Langen, mit Rücksicht auf die Zensur in Teilen zu Der Erdgeist (Bln. 1895) ändern. 1898 wurde dieses Drama als erstes seiner Werke – wenig erfolgreich – uraufgeführt. Zwischen 1895 u. 1905, in der unruhigsten Zeit seines Lebens, wurden veröffentlicht: der Sammelband Die Fürstin Russalka (Mchn. 1897), der u. a. acht Erzählungen unter dem Titel »Seelenergüsse«, den Gedichtzyklus Die Jahreszeiten u. drei seiner vier Tanzpantomimen enthält; der Einakter Der Kammersänger (Paris/Mchn. 1899); die Dramen Der Marquis von Keith (Mchn. 1901. Urfassung u. d. T. Ein gefallener Teufel. Darmst. 1990), Die Büchse der Pandora, So ist das Leben (Mchn. 1902), Hidalla (ebd. 1904), Totentanz (ebd. 1905); der Fragment gebliebene Roman Mine Haha (ebd. 1903). W. lebte seit 1895 abwechselnd in

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Berlin, München, Zürich, Dresden u. Leipzig, wurde Mitautor des »Simplicissimus«, arbeitete als Dramaturg u. Schauspieler, floh 1898, wegen Majestätsbeleidigung dank eines Simpl-Gedichts gesucht, ins Ausland, stellte sich 1899 den dt. Polizeibehörden, wurde zu acht Monaten Gefängnis verurteilt, war literar. Mitarbeiter der Zeitschrift »Die Insel« u. schloss sich 1901 dem neu gegründeten Münchener Kabarett »Die Elf Scharfrichter« an, auf dessen Bühne er viele seiner Gedichte (Brigitte B., Der Tantenmörder, Das Lied vom armen Kind) nach eigener Komposition zur Gitarre vortrug. Er lernte Maximilian Harden kennen, fand in Walther Rathenau einen wichtigen Gesprächspartner u. literar. Berater, knüpfte Kontakte zu Werner Sombart, fand in Alfred Kerr einen verständnisvollen Kritiker seiner dramat. Werke u. stand in enger literar. Verbindung mit Karl Kraus, in dessen »Fackel« sein erstmals 1895 in der »Neuen Zürcher Zeitung« publizierter literar. Essay über Schriftsteller Ibsen. (›Baumeister Solneß‹), Gedichte u. der Einakter Totentanz (Tod und Teufel) erschienen. Kraus war es auch, der sich in Wien für eine Erstaufführung der Büchse der Pandora, als geschlossene Veranstaltung genehmigt, einsetzte. Lulu wurde von Tilly Newes gespielt, die W. 1906 heiratete. Als Theaterautor war W. zwar durch die gelungene Uraufführung des Kammersängers (Bln. 1899) bekannt geworden, die Uraufführung des Marquis (ebd. 1901) wurde jedoch zu einem Fiasko; erfolgreicher war die Berliner Inszenierung des Erdgeists 1902 mit Gertrud Eysoldt in der Hauptrolle. Erst die Uraufführung von Frühlings Erwachen in der Inszenierung von Max Reinhardt (1906) verschaffte W. den Durchbruch zu einem der meistgespielten Dramatiker der Vorkriegszeit. Als selbstständige Veröffentlichung erschienen seine Gedichte u. d. T. Die vier Jahreszeiten (Mchn. 1905). Dass W. als Lyriker provozierte, hat zum einen in der Wahl der Themen seine Ursache. Die Bekenntnisse des skrupellosen Tantenmörders (1897), der liebeshungrigen Ilse (1897) oder die grausige Moritat Der Lehrer von Mezzodur (1897) bezeugen dies ebenso wie das apodikt. Plädoyer für eine uneingeschränkte, von Schamgefühl be-

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freite Sexualität in Konfession (1904) oder die lyr. Attacken gegen die Zensur wie z.B. in Der Zoologe von Berlin (1905). Zum anderen beziehen seine Gedichte ihre provokante u. irritierende Wirkung aus der Verweigerung des ›rein Lyrischen‹ bzw. aus dem Verzicht, eine subjektive Gefühlswelt zur Sprache zu bringen. In den Balladen, den Rollen- u. den polit. Gedichten dominiert eine distanzierte Beobachtung. Die Vorgänge u. Inhalte werden oft humorvoll u. ironisch kommentiert u. Affekte u. Emotionen genüsslich grotesk überzeichnet, um dadurch auf ihre Haltlosigkeit aufmerksam zu machen. Eine große Anzahl seiner Gedichte vertonte W. u. trug sie auch selbst, sich mit der Laute begleitend, öffentlich vor. Pate für seine Kompositionen standen neben dem frz. Chanson der stilisierte Bänkelsang, das Volkslied, insbes. das erotische, u. das – anarchische – Tanzlied. Oft wurden im musikal. Parodieverfahren auch fremde Melodien übernommen, typisch für W.s musikal. Humor. Gleichfalls erschienen erstmals selbstständig seine gesammelten Erzählungen u. d. T. Feuerwerk (Mchn. 1906). Liebe u. Sexualität in den Geschlechterbeziehungen sind ihr gemeinsames Thema. Die erzählten Figuren werden in ihren sonderbaren Verhaltensweisen vorgestellt u. oft in Monologen u. Dialogen (z.B. Der Brand von Egliswyl oder Rabbi Esra) zum Räsonnieren gebracht. Was die Figuren über sich selbst nicht wissen bzw. nicht wissen können, wird jedoch von der ihnen übergeordneten Erzählinstanz nur gelegentlich angedeutet oder beiläufig rein sachbezogen kommentiert. So bleibt es den Lesern vorbehalten, sich selbst einen Reim auf das Erzählte zu machen. Erzähltechnisch favorisiert W. eine konstruktivistisch-spielerische Verfahrensweise. Realitätsfragmente, sei es aus Zeitungsberichten, biogr. oder autobiogr. Materialien stammend, sind durch eine Erzählweise miteinander verknüpft, die mit den Mitteln des Komischen, Ironischen u. Grotesken sowohl moral. als auch literar. Konventionen in Frage stellt. Dadurch unterscheiden sich W.s Erzählungen sowohl von einem platten, realitätsbezogenen naturalistischen Erzählen als auch von der Erzählliteratur der Dekadenz, die in ihrer Präferenz für

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diffuse Seelenzustände selbstgewiss den Untergang einer morbiden Welt beschwört. W.s utop. Roman, 1890 u. d. T. Eden begonnen, wurde nicht abgeschlossen, auch nicht dessen Fortsetzung, die Aufzeichnungen über Die große Liebe (1906/07). Aus dem Eden-Exposé ging jedoch eine als Fragment gekennzeichnete große Erzählung Mine-Haha (Mchn. 1903) hervor, mit ihrem Nebentitel als Schrift Über die körperliche Erziehung der jungen Mädchen angekündigt. Das Konzept nimmt Bezug sowohl auf klass. utop. Werke wie Platons Staat, Thomas Morus’ Utopia oder Campanellas Sonnenstaat als auch auf Erziehungsentwürfe der Aufklärung, allen voran auf J.-J. Rousseaus Émile u. auf Schriften der pädag. Reformbewegung des Philanthropismus. Niedergelegt in der Erzählung ist ein Ausschnitt aus der Lebensgeschichte Hidallas, der Haupterzählerin, raffiniert mehrfach gerahmt u. W.s erzähltechnisch ausgefeiltestes Prosawerk. Die Handlung umfasst zeitlich die Kindheitsjahre bis zum Eintritt in die Pubertät junger Mädchen, deren Ausbildung hauptsächlich auf Gymnastik, Tanz u. pantomim. Darstellung beruht. Thematisiert wird der krisenhafte Übergang in eine Welt der Erwachsenen, die nach Aussage der Erzählerin »weniger brutal eingerichtet sein könnte, als sie es in Wirklichkeit ist«. Seit 1906 widmete sich W. hauptsächlich seiner dramat. Produktion, wenn auch die Aufführung seiner Stücke immer wieder durch die wilhelmin. Zensur behindert wurde. Die Verbreitung der Erstfassung der Büchse der Pandora wurde durch gerichtl. Beschluss 1906 verboten u. die Restauflage eingestampft. Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs weigerten sich zahlreiche Bühnen, W.s Dramen zu spielen. Nacheinander erschienen bis zu dessen frühem Tod das »Sittengemälde« Musik (Mchn. 1908), der Einakter Die Zensur (Bln. 1908), die Literaturkomödie Oaha (ebd. 1908. U. d. T. Till Eulenspiegel. Mchn. 1916), die »Geisterbeschwörung« Der Stein der Weisen (Bln. 1909), die erst nach 1918 in Deutschland aufführbare Trilogie Schloß Wetterstein (Mchn. 1910), das »moderne Mysterium« Franziska (ebd. 1912), das »dramatische Gedicht« Simson oder Scham und Eifersucht (ebd. 1914), das von der Thea-

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terzensur verbotene »Historische Schauspiel« Bismarck (ebd. 1915) – eines der ersten Dokumentarstücke der dt. Literatur – u. 1917 das ebenfalls im Kaiserreich unaufführbare »dramatische Gedicht« Herakles (ebd.). Die späte Anerkennung des dramat. Frühwerks u. die distanzierte Einstellung den späteren Werken gegenüber haben die Rezeptionsgeschichte von W.s Werk geprägt u. lassen sich nicht nur auf die als provokativ empfundene Thematik seiner dramat. Werke, sondern auch auf deren unkonventionelle Form zurückführen. Erwartet wurde eine geschlossene bzw. in sich schlüssige Dramaturgie. Die dramat. Form der Stücke konstituiert sich jedoch durch eine Vielzahl konstruktiver, bewusst disparat montierter Formelemente. Mit der Technik der Montage u. Collage werden die Architektonik des geschlossenen Dramas u. die Realitätsgewissheit eines auf Empirie eingeschworenen Positivismus aufgebrochen. Zu den wichtigsten Formen des dramat. Spiels zählen: der Prolog, die situative Dramatik, der Tanz, die Nummer, das Tableau, die musikal. Einlage. Daneben werden tradit. Techniken der Charakter- u. Situationskomödie, der klass. Tragödie u. des naturalistischen Dramas ebenso wie Versatzstücke u. Figuren aus der Welt des Zirkus u. des Varietés übernommen. Spuren lebendiger Realität nachzugehen, die Atome zersprengter empir. u. metaphys. Realitäten zu benutzen, um Wirklichkeit ästhetisch zu rekonstruieren u. zu entziffern, ist Motiv dieser Dramaturgie. W.s Konstruktivismus ist eng allegor. Ausdruck verbunden. Begrifflichkeit ist in bildl. Reden eingeschlossen, ins Sinnliche über- u. versetzt, u. das Bezeichnete ans Begriffliche gekettet. Die Intention, traditionelle Bedeutungszusammenhänge zu stören u. zu zerstören, geht der Neukomposition von Bild u. Gedachtem voraus. W.s allegor. Stil ist durchsetzt von Sentenzen, weist auf Mythisches, Archaisches zurück u. auf Traumhaftes, Surreales hin, bildet Sprachminiaturen aus u. tendiert dazu, in ornamentalen Texturen aufzugehen. Nicht durch einen metaphys. Himmel über sich legitimiert, fungiert die allegor. Spielwirklichkeit seiner Dramen als krit. Instanz gegenüber empir. Realität.

Wedekind

Im Zentrum von W.s Dramen stehen tragikom. Figuren, die versuchen, aufrecht durchs Leben zu gehen, ohne zu stürzen. Sie sind dabei mit unterschiedl. Antriebskräften ausgestattet, denen sie zwanghaft, der Mechanik von Automaten entsprechend, folgen. Gemessen u. überprüft wird an ihnen die Dynamik u. Haltbarkeit dieser Kräfte. Gegeneinander abgewogen werden Altruismus u. Egoismus, ideelle u. kommerzielle Anteile der Kunst, Hetärismus gegen bürgerl. Ehe u. Familie, gesellschaftl. Rationalität gegen den Einspruch der Kunst. Die Metaphysik des Geistes wird durch eine Metaphysik des Fleisches ersetzt u. auf ihre Gültigkeit hin überprüft. Doch in der Niederlage der Helden u. Heldinnen erweisen sich auch die Gegenwerte zur traditionellen Metaphysik als fragwürdig. Im vergebl. Versuch, Identität zu bewahren, Lebensprinzipien treu zu bleiben, wird die endgültige Auflösung jegl. metaphys. Gewissheit greifbar. W.s Dramen bilden diesen Auflösungsprozess konsequent ab: formal durch die stetig fortschreitende Auflösung der klass. poetolog. Normen; inhaltlich durch die kontinuierl. Auflösung potentiell identitätsstiftender u. handlungsleitender Ideen. Von vielen Schriftstellern seiner Epoche hoch geschätzt – allen voran Bert Brecht, Heinrich Mann, Erich Mühsam, Georg Kaiser, Carl Sternheim –, erlebte W. in den frühen 1920er Jahren eine zweite Renaissance. Im »Dritten Reich« galt sein Werk als politisch unerwünscht. Die Restauflage seiner Lautenlieder (Mchn. 1920) wurde auf Geheiß der NS-Justiz eingestampft. Als BrettlliederSänger u. Bürgerschreck-Figur, als literar. Außenseiter oder als Vorläufer des Expressionismus abgetan, wurde der Autor nach 1945 erst nach u. nach, v. a. durch u. für die Bühne wiederentdeckt. Erst seit den 1960er Jahren hat die literaturwissenschaftl. Diskussion über W. als einen der wichtigsten Vertreter der klass. Moderne wieder an Bedeutung gewonnen. Ausgaben: Ges. Werke. 9 Bde., Mchn. 1912–21 (Bde. 1–6, 1912–14; Ausg. letzter Hand). – Ges. Briefe. Hg. Fritz Strich. Ebd. 1924. – Werke in 3 Bdn. Bln./Weimar 1969. – Die Tagebücher. Ffm. 1986. – Werke in 2 Bdn. Ffm. 1990. – Pharus IV:

Wedel F. W.s Maggi-Zeit. Reklamen. Reisebericht. Briefe. Darmst. 1992. – Werke. Krit. Stud. Ausg. in 8 Bdn. Darmst. 1994–2012. – Pharus V: F. W., Th. Mann, Heinrich Mann. Briefw. mit Maximilian Harden. Darmst. 1996. – Karl Kraus-F. W. Briefw. 1903–1917. Würzb. 2008. Literatur: Bibliografie: Robert A. Jones u. Leroy R. Shaw: F. W. A Bibliographic Handbook. 2 Bde., Mchn. 1996. – Biografien: Arthur Kutscher: F. W. Sein Leben u. seine Werke. 3 Bde., Mchn. 1922–31. – Günter Seehaus: F. W. Reinb. 1974. – Rolf Kieser: Benjamin Franklin W. Biogr. einer Jugend. Zürich 1990. – Anatol Regnier: F. W. Eine Männertragödie. Mchn. 2008. – Weitere Titel: Joachim Friedenthal (Hg.): Das Wedekindbuch. Mchn. 1914. – F. W. u. das Theater. Bln. 1915. – G. Seehaus: F. W. u. das Theater. Bln. 1964. – Friedrich Rothe: F. W.s Dramen. Jugendstil u. Lebensphilosophie. Stgt. 1968. – Audrone Barunas Willecke: F. W.’s Narrative Prose. Diss. Stanford 1972. – Gerd Witzke: Das epische Theater W.s u. Brechts. Diss. Tüb. 1972. – HansJochen Irmer: Der Theaterdichter F. W. Bln. 1975. – Silvia Bovenschen: Inszenierung der inszenierten Weiblichkeit: W.s ›Lulu‹ – paradigmatisch. In: Dies.: Die imaginierte Weiblichkeit. Ffm. 1979, S. 43–61. – Alfons Höger: F. W. Der Konstruktivismus als schöpfer. Methode. Königst./Taunus 1979. – Ders.: Hetärismus u. bürgerl. Gesellsch. im Frühwerk F. W.s. Mchn. 1981. – Charles Hugh Salvesen: Ambivalent Alliance: F. W. in Karl Kraus’s Periodical ›Die Fackel‹. Diss. Cambridge 1981. – Thomas Medicus: ›Die große Liebe‹. Ökonomie u. Konstruktion der Körper im Werk von F. W. Marburg 1982. – Michael Meyer: Theaterzensur in München 1900–18 [...] unter bes. Berücksichtigung F. W.s. Mchn. 1982. – Hartmut Vinçon: F. W. Stgt. 1987. – Pharus 1: F. W. – Texte. Interviews. Studien. Darmst. 1989. – Ruth Florack: Wedekinds ›Lulu‹. Zerrbild der Sinnlichkeit. Tüb. 1995. – Heinz Ludwig Arnold (Hg.): F. W. (Text + Kritik. H. 131/132). Mchn. 1996. – Sigrid Dreiseitel: ›Ich mache natürlich lebhaft Propaganda für ihn‹. Zur Bedeutung Heinrich Heines für das Frühwerk u. die literatur-polit. Positionen F.W.s. Würzb. 2000. – F. W. Freiburger Literaturpsycholog. Gespräche. Bd. 20. Würzb. 2001. – Kontinuität – Diskontinuität. Diskurse zu F. W.s literar. Produktion (1903–18). Würzb. 2001. – Caitríona Ní Dhubhghaill: Modern intersections of utopian imagination and gender discourse with special reference to texts by Hauptmann and W. Ph.D. Trinity College Dublin 2004. – Johannes Pankau: Sexualität u. Modernität. Studien zum dt. Drama des Fin de Siècle. Würzb. 2005. – Stefan Riedlinger: Aneignungen. F. W.s Nietzsche-Rezeption. Marburg 2005. – Katrin

190 Hafemann: Schamlose Tänze. Bewegungs-Szenen in F. W.s ›Lulu‹-Doppeltragödie u. ›Mine-Haha‹. Würzb. 2010. – H. Vinçon: Verschlüsselungen. Zur Konstruktion der Erzählung in ›Mine-Haha‹. In: WW 60 (2010), S. 349–395. Hartmut Vinçon

Wedel, Wedell, Joachim von, * 2.7.1552 Blumberg, † 1609. – Verfasser eines Hausbuchs. W. entstammte einem alten pommerschen Adelsgeschlecht. Sein Vater, Otto von Wedel, war zunächst Hofmeister Herzog Philipps I. von Pommern-Wolgast während dessen Erziehungsaufenthalts am Heidelberger Hof u. danach sein Oberhofmarschall. W. studierte seit dem 18.5.1568 an der Universität Greifswald u. später an der Universität Frankfurt/O. 1574 übernahm er das väterl. Gut Blumberg. Aus der 1576 geschlossenen Ehe mit Ilse von Arnim gingen neun Söhne u. sechs Töchter hervor. 1604 wurde W. ritterschaftl. Landrat. Neben einigen nicht erhaltenen Schriften verfasste er mit dem sog. Hausbuch eine Darstellung der wichtigsten Ereignisse, die zwischen 1500 u. 1606 in Pommern stattgefunden hatten u. berücksichtigte neben der familiären auch die gesamteurop. Perspektive. Das zitaten- u. anekdotenreiche Werk verdankt seine Entstehung der großen prakt. Bedeutung, die W. der Geschichte beimaß. W.s Hausbuch beruht im ersten Teil v. a. auf der Pomerania des Thomas Kantzow, gerade für das letzte Drittel des 16. Jh. jedoch auf seiner eigenen Wahrnehmung. Es stellt eine der wichtigsten Quellen zur pommerschen Geschichte dar. Das Hausbuch war für die eigene Familie bestimmt, die es »bei sich in geheim« halten sollte. W. untersagte explizit die Veröffentlichung, dennoch beeinflusste sein Hausbuch auch die spätere Geschichtsschreibung. Die Rezeption begann mit Paul Friedeborn (Historische Beschreibung der Stadt Alten-Stettin. 1613) u. Daniel Cramer (Großes Pommersches Kirchenchronikon. 1628). Die vorliegende Edition von 1883 ist vollständig, aber unkommentiert. Ausgabe: Julius Frhr. v. Bohlen Bohlendorff: Das Hausbuch des J. v. W. Bibl. des Litterar. Vereins in Stuttgart. Bd. 161 (1883).

191 Literatur: Wilhelm Böhmer: Übersicht der Allgemeinen Chroniken u. Gesch.n Pommerns seit Kantzow. In: Balt. Studien 3 (1835), S. 66–109, hier S. 90–92. – Leichenpredigten Herrn Johans Friedrichen, gehalten durch Jacobum Fabrum. In: Die Personalien u. Leichen-Processionen der Herzöge v. Pommern u. ihrer Angehörigen aus den Jahren 1560–1663. Ges. v. Ulrich Graf Behr Negendank Semlow u. Julius Frhr. v. Bohlen Bohlendorf. Halle 1869, S. 114–139, 138 Anm. 2. – Gottfried v. Bülow: J. v. W. In: ADB. – Josef Deutsch: Pommersche Geschichtsschreibung bis zum Dreißigjährigen Krieg. Vortrag, gehalten im Rügisch-Pommerschen Geschichtsverein zu Greifswald am 29. Jan. 1926. In: Pommersche Jbb. 23 (1926), S. 3–36, hier S. 30 f. – J. v. W.: Gesamtmatrikel u. Stammtafeln des Schlossgesessenen Geschlechts der Grafen u. Herren v. Wedel. Pyritz 41931 (Bln. 31919). Dörthe Buchhester

Weder, Heinz, * 20.8.1934 Berneck/Kt. St. Gallen, † 2.5.1993 Riggisberg/ Kt. Bern. – Lyriker, Erzähler, Journalist, Herausgeber.

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lenen. St. Gallen/Stgt. 1962) u. a. unter dem Einfluss seiner Frau Hannelise Hinderberger, der Übersetzerin zahlreicher symbolistischer Werke, zu einer an der klass. Moderne orientierten Erzählweise. In David Schelling und Sabine. Eine Liebesgeschichte (Zürich 1986) entwickelt der Tagträumer Schelling auf dem Bett liegend eine Geschichte, in der Realität u. Fiktion ineinander übergehen. Der von W.s Bruder Bruno H. Weder aus Publikationen u. dem Nachlass zusammengestellte Sammelband Traum aus schwarzen Krügen. Erzählungen und andere Prosa. Gedichte. Hörspiele. Essays (Frauenfeld 2000) dokumentiert nicht nur das breite Spektrum von W.s literarischem, sondern bietet mit einigen Aquarellen auch Beispiele seines künstlerischen Schaffens. Seit 1999 verleiht die Heinz und Hannelise Weder-Stiftung alle zwei Jahre den Heinz-Weder-Preis für angehende Lyriker. Weitere Werke: Klaus Tonau. M. e. Nachw. v. Traugott Vogel. St. Gallen 1958 (Pr.) – Kerbel u. Traum. Mchn. 1962 (L.). – Figur u. Asche. Bern 1965 (L.). – Der Makler. Hbg. 1966. Bern 1969 (R.). – Gegensätze. Ffm. 1970 (L.) – Wohnen ist, wenn man wohnt. Aphorismen. Bern 1974. – Anton Jakob Kellers gesammeltes Lachen. Rorschach 1976 (Feuill., Glossen, Aphorism.) – Veränderungen. Liebefeld-Bern 1977 (L.) – Brunke. Ein biogr. Experiment. Riggisberg 1983. – Herausgaben: Gegenwart u. Erinnerung. Eine Sammlung deutschschweizer Prosa. Bern 1961. – Eduard Korrodi: Aufsätze zur Schweizer Lit. Bern, Stgt. 1962. – Jean Cassou: Œuvre lyrique / Das lyr. Werk. 2 Bde., St. Gallen 1971. – Ulrich-Bräker-Lesebuch. Ffm. 1973. – Reise durch die Schweiz. Texte aus der Weltliteratur. Zürich 1991. – Johann Heinrich Pestalozzi: Fabeln. Zürich 1992.

Nach der Handelsmatura in St. Gallen arbeitete W. bei einer Bank in Genf, wo er sich mit Ludwig Hohl anfreundete, um den er sich editorisch verdient machte: L. H.: Wirklichkeiten (St. Gallen/Stgt. 1963), Briefe von Albin Zollinger an L. H. (Bern/Stgt. 1965). Als Herausgeber u. Journalist (NZZ, »Der Bund«, »Du«) hat sich W. vor allem um die Schweizer Literatur bemüht. W. absolvierte eine Buchhändlerlehre in Bern u. wurde dort 1973 Leiter des medizinischen Hans Huber Verlags. Von 1984 bis zu seinem Tod gab W. die Zeitschrift »Tantalus« heraus. W. lebte in Riggisberg/Kt. Bern. Pia Reinacher / Jürgen Egyptien Als Lyriker überzeugt W. mit sensibler Bildlichkeit zu den traditionellen Themen Natur, Jahreszeiten, Beziehungen, Kunst. Das Weerth, Georg (Ludwig), * 17.2.1822 Detexperimentelle »Arrangement für sieben mold, † 30.7.1856 Havanna/Kuba; GrabStimmen« am liebsten wäre ich Totengräber gestätte: ebd., Cementerio General. – Poliworden (Bern 1971) lässt in typografisch untischer Schriftsteller; Kaufmann. terschiedl. Anordnung histor. u. gegenwärtige Realitäten aufeinander prallen. Der Ge- Der Lyriker, Journalist, Romancier, Satiriker, dichtband Ansichten (ebd. 1972) handelt, aus- Reiseschriftsteller u. Kaufmann W. – von gehend von der Betrachtung kunsthistor. Friedrich Engels postum zum »ersten und Denkmäler, von der Vergänglichkeit. W.s bedeutendsten Dichter des deutschen ProleProsa entwickelte sich von autobiografisch tariats« (1883 im »Social-Demokrat«) ergespeister präziser Beobachtung (Kuhlmann. nannt –, war der dritte Sohn des lipp. GeneMit zwölf Zeichnungen von Max von Müh- ralsuperintendenten Ferdinand Weerth u.

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der evang. Pfarrerstochter Wilhelmine, geb. Burgmann. Kurz vor dem Tod des Vaters, 1836, verließ der Gymnasiast das Detmolder Leopoldinum aus finanziellen Gründen u. begann in der Kammgarnspinnerei Brink in Elberfeld eine dreieinhalbjährige Kaufmannslehre. Schon früh beschreibt W. – der zeittypischen Vision von Freihandel, grenzenloser Mobilität u. globaler Kommunikation gemäß – seinen Lebensplan: »das Steuer des Handels« zu ergreifen, »zum Höchsten« zu streben (Brief an den Bruder Wilhelm, 25.12.1837; SB 1, 109). Nachdem er, über Ferdinand Freiligrath u. den befreundeten Redakteur Hermann Püttmann, Anfang 1839 Zugang zum »Literaten-Kränzchen« in Barmen bekommen hatte, entdeckte er bald seine »große Liebhaberei an Literatur und schönen Büchern« (Brief an den Bruder Carl, 26.12.1839; SB 1,130). Die für W. typische ›Doppelexistenz‹, die Interferenz von Handel u. Poesie, zeigt sich schon hier. Familiäre Verbindungen ebneten ihm den Weg in die rheinische Textilindustrie – 1840–1842 war W. als Buchhalter der Firma Graf Meinertshagen in Köln, 1842/43 als Korrespondent u. Privatsekretär des Fabrikanten Friedrich aus’m Weerth in Bonn tätig –, u. er hörte dort Vorlesungen an der Universität (u. a. bei Loebell, A. W. Schlegel, Kinkel, Simrock). Beobachtungen u. Erfahrungen in diesem Kaufmannsmilieu begründeten den sarkast. Realismus seiner späteren Bürgerskizzen. Zunächst gingen wichtige literar. Anregungen für seine romantisch-humoristische Jugendlyrik (und auch für die Lektüre politisch-oppositioneller Dichtungen) von der Gruppe um Freiligrath, dem Kölner Karnevalsverein, Gottfried Kinkels »Maikäferbund« u. dem Dichterkreis um Karl Simrock in Bonn aus. Eine entscheidende Rolle als literar. Mentor übernahm seit 1838 Hermann Püttmann, der 1843, als Feuilletonchef der »Kölnischen Zeitung«, erste (rheinromantische) Gedichte (u. a. Die Schenke, An Köln, Der Wein ist nicht geraten) u. kleine autobiogr. Prosaarbeiten (Von Köln nach London u. Eine Schmetterlingsgeschichte) W.s veröffentlichte. Dieses literar. Debüt im auf Aktualität bezogenen Medium Zeitung bleibt charakteristisch für Schreibweise, Textstruk-

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tur u. Wirkungskonzept des literar. Œuvres W.s u. für seine Rezeptionsverkürzung: »Was in einer Stunde geschrieben wird, liest sich in zehn Minuten und wird noch schneller vergessen [...]« tröstet er in einem Brief vom 28.8.1844 seine Mutter, die seinen Text Eine fromme Familie im Feuilleton der »Kölnischen Zeitung« etwas ›unanständig‹ fand (in: SB 1, 267). W. verbrachte seine politisch-ökonomischen u. literar. Lehrjahre als Kontorist der Textilfirma Passavant im mittelengl. Bradford (Dez. 1843 bis April 1846). In Briefen an die Familie, Gedichten u. Reiseberichten, die unter den Serientiteln Englische Reisen (1844) u. Scherzhafte Reisen (1845) im Feuilleton der »Kölnischen Zeitung« erschienen, beschrieb er (neben kulturellen u. mentalen Unterschieden) sehr genau die soziale Not, gesellschaftl. Abgründe, ökolog. Folgen u. polit. Bewegungen der Industrialisierung in England. Zur Analyse u. literar. Dokumentation dieser neuen, frühkapitalistischen Realität trug wesentlich die Freundschaft (seit Frühjahr 1844) mit Friedrich Engels bei, dessen Studie über Die Lage der arbeitenden Klasse in England 1845 erschien; dieser regte ihn zum Studium von Werken der Philosophie u. Nationalökonomie an u. machte W. mit Karl Marx u. anderen Theoretikern des Frühsozialismus bekannt. W. bekennt seiner Mutter am 19.7.1845: »Ich gehöre zu den ›LumpenKommunisten‹, welche man so sehr mit Kot bewirft und deren einziges Verbrechen ist, daß sie für Arme und Unterdrückte zu Felde ziehen [...]« (SB 1, 320). Für W.s eigene Beobachtungen in den Slums, bei ChartistenMeetings u. in Streikversammlungen – literarisch verarbeitet in einem breiten Formenspektrum zwischen Poesie u. Prosa – öffneten sich nach dem Weberaufstand in Deutschland entstandene ›wahrsozialistische‹ Periodika: In Püttmanns Deutschem Bürgerbuch für 1845 wurden eines seiner geschichtsphilosophischen Gedichte, Die Industrie, u. die schon 1843 konzipierte Erzählung Die Armen in der Senne gedruckt. Moses Hess’ »Gesellschaftsspiegel« (1845/46) enthielt die als Beleg proletar. Ästhetik interpretierte poetische Skizze Das Blumenfest der englischen Arbeiter neben der Reportage Der Gesundheitszustand der Arbeiter in

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Bradford u. dem berühmten sozialkrit. Zyklus Lieder aus Lancashire, dem in Püttmanns Anthologie Album (1847) weitere Gedichte folgten. Püttmanns »Rheinische Jahrbücher zur gesellschaftlichen Reform« (1845/46) druckten u. a. seinen Bericht über Proletarier in England. W. arbeitete von April 1846 bis zur Februarrevolution 1848, von Brüssel aus, für die Bradforder Firma Emanuel & Son, als Handelsvertreter in Belgien, den Niederlanden u. in Frankreich. Seine literarisch produktivste Phase verbrachte der »Kaufmann und homme de lettres à la fois« dort (Brief an Wilhelm, 26.9.1847; SB 1, 431) in enger Beziehung v. a. zu Engels u. Marx – Brüssel war nach Paris das Zentrum der dt. Emigration des Vormärz –, mit denen er Ende Nov. 1847 zum 2. Kongress des neu gegründeten »Bundes der Kommunisten» nach London reiste, an dem er aber nicht offiziell teilnahm. Neben Beiträgen für die »Deutsche-Brüsseler-Zeitung« von 1847 (u. a. das Gedicht Die deutschen Verbannten in Brüssel u. der satir. Reisebericht An Bord des Glen Albyn) lieferte W. 1847/48 Englandkorrespondenzen für die von Georg Gottfried Gervinus in Heidelberg redigierte »Deutsche Zeitung« u. die »Kölnische Zeitung«, in der auch von Nov. bis Febr. die Kapitel 1–4 seiner Bourgeoissatire Humoristische Skizzen aus dem deutschen Handelsleben (Gesamttext erst in SW 2) erschienen u. deren Fortsetzung in den ersten Nummern von Marx’ »Neuer Rheinischer Zeitung« (Kap. 10–14, Anfang Juni 1848) den Fabrikanten Preiss in Revolutionsnöten vorführt. Wie bei diesem Werk hat W. in der Brüsseler Zeit versucht, seine Einzelpublikationen zu größeren Manuskripten zusammenzufassen, sie ideologisch zu profilieren u. stilistisch zu verändern: im Nov. 1846 eine Sammlung seiner Gedichte (zuerst 1956 in SW 1), bis 1848 die Skizzen aus dem sozialen und politischen Leben der Briten (zuerst 1957 in SW 3), für die er seine Englandfeuilletons u. -berichte neu bearbeitete. Außerdem ist ein Romanfragment (entstanden vermutlich 1843–46. Erstdruck in SW 2. Kritisch überprüft in VT 2) überliefert, das, als Konzept eines repräsentativen Gesellschaftsromans angelegt, Handlungsstränge u. Figuren aus dem verarmten Adel,

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Bürgertum u. Proletariat verbindet u. mit dem engl. Streikerfahrungen vermittelnden Eduard Martin erstmals einen Arbeiter zur Hauptfigur eines dt. Romans erhebt. Das Fragment ist interessant u. aufschlussreich gerade wegen seiner ideolog. u. stilistischen Widersprüche: Tendenzen zur Verklärung des Adels, Heroisierung des Proletariats u. die ideolog. Selbstüberwindung des Bürgertums durch die Hinwendung der Fabrikantensöhne zu den Töchtern u. Ideologemen jener Klassen signalisieren für das Gesamtkonzept romanhafte Lösungen u. spiegeln die Orientierungsprobleme der Gesellschaft wie auch W.s Mitte der 1840er Jahre. So bildet das ästhetisch-innovatorische Zentrum des Romans nicht sein Entwurf gesellschaftl. Totalität, sondern ein Genrerealismus, der in kleinen Formen mentale Folgen der Industrialisierung kapitalistischer Ausbeutung beschreibt: im Dialog ein Psychogramm des Fabrikanten Preiss, in Gesprächen während ihrer Mahlzeit die Lage seiner Arbeiter oder, als »sonderbares Tableau«, ihre Physiognomien während der Lohnauszahlung. Politisch außerordentlich wirksam hat W., im Namen der dort nicht vertretenen Arbeiter, deren Forderungen durch seine berühmte spontane Rede auf dem Freihandelskongreß in Brüssel (18.9.1847. In: SW 2 u. VT 1) öffentlich gemacht. Die Nachricht vom Ausbruch der Februarrevolution ließ W. von Rotterdam nach Paris eilen, wo er seit dem 28. Febr. die unmittelbaren Folgen der Ereignisse besichtigte (vgl. Ein Besuch in den Tuilerien. In: SW 4) u. am 5. u. 8. März an Großveranstaltungen dt. Demokraten (unter Georg Herweghs Führung) teilnahm. Seit Mitte März reiste er abwechselnd nach Brüssel, London u. Köln, wo er längere Zeit wohnte u. sich am Projekt eines »Organs der Demokratie«, der von Marx als Chefredakteur herausgegebenen »Neuen Rheinischen Zeitung« (1.6.1848 bis 19.5. 1849, NRhZ), als Leiter u. Hauptbeiträger des Feuilletons beteiligte. Neben Artikeln, die »unter dem Strich« Aktuelles aus dem polit. Teil der Zeitung kommentieren, v. a. die Vorgänge in der Frankfurter Nationalversammlung kritisch begleiten, können für W. folgende Schwerpunkte hervorgehoben werden: a) Satirische Darstellung der Reaktionen

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von Handels- u. Bildungsbürgertum auf die Revolution (neben den Humoristischen Skizzen drei Kapitel Aus dem Tagebuch eines Heulers. Dies u. die folgenden Artikel in: SW 4). b) Zeitungen als Medium u. Gegenstand polit. Kritik (Kriegserklärung der [...] Annoncen u. Blödsinn deutscher Zeitungen). c) Sprachlich verfremdende Glossierung des Kaiserangebots an Friedrich Wilhelm IV. im Stil altdt. Chroniken (Welche Römischen Keyser gekrönet seyen). d) Begründungsprobleme für das Ausbleiben der Revolution in England (Die Langeweile, der Spleen und die Seekrankheit u. W.s Leitartikel vom 7.3.1849). Folgenreich war für W., u. auch für die Zeitung, die Feuilletonserie Leben und Thaten des berühmten Ritters Schnapphahnski (in: NRhZ, Aug./Sept. 1848, Dez. 1848, Jan. 1849.): Der von ihm unter diesem (aus Heines Atta Troll entlehnten) Namen karikierte preuß. Paulskirchen-Abgeordnete Fürst Felix von Lichnowsky wurde am 18.9.1848 in Frankfurt/M. durch Aufständische ermordet. Über Köln wurde daraufhin am 26. Sept. der Belagerungszustand verhängt, die »NRhZ« zugleich suspendiert; sie konnte erst wieder am 12. Okt. erscheinen, u. a. mit W.s langem Gedicht: Kein schöner Ding ist auf der Welt, als seine Feinde zu beißen (bis 14. Okt.; in: SW 1). W. versuchte, eine Verleumdungsklage u. den Verdacht der Anstiftung zum Mord abzuwenden, indem er zunächst ab Dez. eine Fortsetzung der Schnapphahnski-Serie brachte u. das »ganze«, z. T. umgearbeitete u. entschärfte Werk bei Hoffmann und Campe publizierte (W.s einziges Buch: Hbg. 1849, das als erster dt. Feuilletonroman gilt. Auch in: SW 4) u. erklärte: Er habe mit seinem Antihelden, dessen Lebensstationen u. Liederlichkeiten für Insider (wie Varnhagen u. Willibald Alexis) leicht als die des Fürsten erkennbar waren, nicht eine Person, sondern eine ganze Gesellschaftsklasse persiflieren wollen. Nachdem die preuß. Regierung die Ausweisung bzw. Festnahme der gesamten Redaktion verfügt hatte, prognostiziert W. in der letzten, »roten« Nummer der Zeitung vom 19.5.1849 den künftigen Sieg des Proletariats aufgrund zweier histor. Kräfte: ökonomische Krisen in England (im Leitartikel Großbritannien) u. den revolutionären Elan

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der Frauen (Proklamation an die Frauen). Diese Artikel dokumentieren noch eine publizistische Kampfeslust, die zwei Jahre später, unter den Bedingungen des Nachmärz u. einer tiefen Identitätskrise W.s, erlischt. Nach verlorenem Prozess u. dreimonatiger Haft in Köln (bis Ende Mai 1850) unternahm W. ausgedehnte Reisen (Aug. 1850 bis Jan. 1851) durch Spanien u. Portugal. Briefe aus Hamburg, bes. die vom März bis Juni 1851 an Marx, Engels, Heine, Lassalle u. seinen Bruder Wilhelm gerichteten (SB 2, 583–611), zeigen das Ausmaß seiner inneren Zerrissenheit u. Lebenskrise: Er beklagt seine ›verfehlte Laufbahn‹, Unstetigkeit, Unruhe, den Verlust der Heiterkeit, leidet an Langeweile u. dem »Spleen«. Den Mentalitäts- u. Geschmackswandel sowie die Entpolitisierung der Leser im Nachmärz sieht er als Sieg auch der literar. Restauration. »Meine schriftstellerische Tätigkeit ging entschieden mit der ›Neuen Rheinischen Zeitung‹ zugrunde« schreibt er Marx am 28.4.1851 (SB 2, 600). »Jetzt schreiben! Wofür? Wenn die Weltgeschichte den Leuten die Hälse bricht, da ist die Feder überflüssig«, antwortet er Heinrich Heine am 10.6.1851 (SB 2, 609), u. prognostiziert der ›Alten Welt‹ den Niedergang in der großen »Völkerschlacht der Konkurrenz«, dem globalen Kampf um Ressourcen, Produktionssteigerung, Transportwege usw. als neue, rein ökonomisch determinierte Form der Revolution. Schon Anfang Mai 1851 setzte W. in einem Brief an Ferdinand Lassalle mit dem Satz »Der Handel ist für mich das weiteste Leben, die höchste Poesie« (SB 2, 606) neue Akzente in seiner Doppelexistenz. Seine Berufs- u. Lebensperspektive richtete sich nun auf die ›Neue Welt‹, die er vom Dez. 1852 bis Juni 1855 bereiste, in Mittel- u. Südamerika auf den Spuren Alexander von Humboldts, aber auch günstiger Rohstoffe, Absatzmärkte u. Waren. Lange, erst 1989 vollständig edierte Reisebriefe (in: SB 2), 47 davon an seine Mutter in Detmold adressiert u. durchnummeriert, beschreiben seine Eindrücke von dieser großartigen, exotischen »Werkstätte der Natur« (an Heine, 1.4.1855, SB 2, 883) u. von ganz anderen Formen menschl. Zivilisation. Es ist zu vermuten, dass solche Schil-

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derungen – für Alexander von Humboldt ist »naturbeschreibende Poesie« (Kosmos I, 1845, 50) ein »sehr moderner Zweig der Litteratur« (Kosmos II, 1847, 72) – gemeint sind, wenn er in einem Liebesbrief an die lange umworbene, ihn aber abweisende Betty Tendering noch 1855 ankündigt, binnen zehn Jahren ein Vermögen anzusammeln u. dann die »erste Liebhaberei meiner Jugend, die Literatur, wieder auf[zu]nehmen«; er werde dann, wenn »gewöhnlich Schriftsteller erlöschen«, mit großem Erfolg (u. nach wie vor als »Antiphilister«) »die Bühne« besteigen (Brief vom 2.10.1855, in: SB 2, 913). Neun Monate später, auf seiner zweiten Überseereise (seit Nov. 1855), starb W. auf Kuba an zerebraler Malaria. Die Wirkungsgeschichte des W.schen Œuvres stand unter ungünstigen Vorzeichen: Zahlreiche Nachdrucke in Periodika des Vormärz u. die Umarbeitung der Zeitschriftenbeiträge zu Buchmanuskripten (für seine »Überproduktion« suchte er im Brief an Kinkel vom 15.6.1847 [SB 1, 413] immer noch einen Markt) konnten nicht verhindern, dass seine quer zum traditionellen Kanon stehenden kleinen Formen, satirisch scharfen u. politisch suspekten Texte nach 1849 von neuen Literaturkonzepten verdrängt, v. a. aber »vergessen« wurden. W.s früher Tod, die Verfolgung oder das Exil politisch Oppositioneller im Nachmärz, die Euphorie der Reichsgründung, der sich viele Vormärzautoren anschlossen, u. die Sozialistengesetze haben bewirkt, dass seine verstreut publizierten Gedichte, Sozialreportagen, Korrespondenzen, Satiren u. Reiseberichte nicht mehr u. seine im Vormärz ungedruckten Manuskripte noch nicht rezipiert wurden. Friedrich Engels’ späte Würdigung W.s als wichtigster Dichter der dt. Arbeiterbewegung führte zwar zu vereinzelten Abdrucken u. Editionsplänen sozialdemokratischer Autoren oder Herausgeber, aber nicht zur Wiederentdeckung wie im Fall Büchner. Die gründl. Erforschung seines uneinheitl. Œuvres setzte publizistische Recherchen, einen erweiterten Literaturbegriff u. den Zugang zu noch vorhandenen Nachlässen voraus. Karl Weerth (wie vor ihm um 1910 Marie Weerth) konnte daraus sein »Lebensbild« von

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1930 entwickeln, u. ihm ist zu verdanken, dass die in Detmold befindl. Manuskripte u. Briefe 1928 dem Moskauer »Marx-EngelsInstitut« zur Kopie überlassen wurden u. das Textkorpus, dem Zugriff der Nationalsozialisten entzogen, an das Amsterdamer »Internationalen Institut für Sozialgeschichte« verkauft wurde u. so erhalten blieb. Die eigentl. Wirkungsgeschichte W.s begann in Deutschland erst mit der Zentenarausgabe von 1956/57, in welcher der größte Teil der verstreut gedruckten Texte, einige unveröffentlichte Manuskripte, das »Schnapphahnski«-Buch mit Varianten der »NRhZ« u. die Korrespondenz (ohne die Antwortbriefe der Mutter u. W.s Reisebriefe des Nachmärz) in der DDR durch Bruno Kaiser ediert wurden. Gleichwohl erschienen dort relativ wenige Beiträge zu W.: neben Kurzbiografien zur parteipolit. Orientierung v. a. anlässlich des 150. Geburtstags W.s (1972) Studien über das Romanfragment, seinen satir. Stil, das Feuilleton der »NRhZ«, soziale Lyrik aus England u. die Romantiktradition (teilweise gedruckt in den »Weimarer Beiträgen« 1972/73; gesammelt 1974 in G. W. Werk und Wirkung). Bahnbrechend für die W.-Forschung in der Bundesrepublik – nach dem Paradigmenwechsel von 1968 – war die Monografie von Florian Vaßen (1971), der zahlreiche Arbeiten zu Einzelaspekten folgten. Defizite der Edition Kaisers wurden entdeckt; dies führte zur nach den Handschriften herausgegebenen zweibändigen Werkauswahl Vergessene Texte von Jürgen-W. Goette u. a. (1975/76) sowie zu dessen Edition der Sämtlichen Briefe (2 Bde., 1989). Die von W.s ungewöhnl. Literaturkarriere ausgehende Faszination kann auch an Dissertationen von Auslandsgermanisten gemessen werden – in der Sowjetunion (Schiller, Dymschitz, Turajew u. a.) ebenso wie in westl. Ländern (Zemke, Itoh, Lavundi, Gobron, Pasinato usw.). Der von Bernd Füllner herausgegebene Sammelband Neue Studien (1988), darin v. a. sein Bericht über die W.-Forschung der Nachkriegszeit, wirkte als Startsignal für neue – nun gesamtdeutsche – Aktivitäten. Mit doppeltem Blick hat Rainer Rosenberg 1992 u. nochmals 2003 W.s Status in den dt.

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Literaturgeschichtsschreibungen skizziert u. sich skeptisch zum Wirkungsdefizit seiner Schriften geäußert. Die Beiträge der Detmolder Internationalen W.-Kolloquien von 1992, 1997 u. 2006, neue Textfunde in Archiven u. Zeitschriften (Melis u. a.), eine zunehmende Differenzierung der Themen (u. a. in Beiträgen für die Jahrbücher der »Grabbe-Gesellschaft« u. des »Forum Vormärz Forschung«), ferner Michael Vogts repräsentative Auswahl von Texten im Georg-Weerth-Lesebuch (1996), Bernd Füllners das Itinerar u. die Kontakte des Autors u. Handelsreisenden akribisch rekonstruierende Georg-Weerth-Chronik (2006), die Vorüberlegungen beider u. Florian Vaßens für eine neue, krit. Gesamtausgabe u. nicht zuletzt die überraschend lebhafte u. umfangreiche Präsenz auch seiner Texte auf Tonträgern u. im Internet lassen erwarten, dass W. doch noch – zwar nicht mit neuen, aber mit im Zeitalter der ›Globalisierung‹ u. entfesselter Kapitalströme neu zu entdeckenden Texten – erfolgreich die ›Bühne‹ der Nachwelt besteigen wird. Ausgaben: Sämtl. Werke (= SW). Hg. Bruno Kaiser. 5 Bde., Bln./DDR 1956/57. – Werke in zwei Bänden. Ausgew. u. eingel. v. B. Kaiser. Weimar 1963. – Ausgewählte Werke. Hg. B. Kaiser. Ffm. 1965. – Briefw. mit Betty Tendering. Hg. B. Kaiser. Bln./DDR 1972. – Vergessene Texte (= VT). Hg. Jürgen Wolfgang Goette u. a. 2 Bde., Köln 1975/76. – Sämtl. Briefe (= SB). Hg. J. W. Goette. 2 Bde., Ffm./New York 1989. – Neudrucke und Textsammlungen: Engl. Reisen. Hg. B. Kaiser. Bln./DDR 1954. – Fragment eines Romans. Vorgestellt v. Siegfried Unseld. Ffm. 1965. – Humoristische Skizzen aus dem dt. Handelsleben. Hg. J.-W. Goette. Stgt. 1971. – Leben u. Taten des berühmten Ritters Schnapphahnski. Mit einem Nachw. v. B. Kaiser. Bln./DDR 1972. – Gedichte. Hg. Winfried Hartkopf u.a. Stgt. 1976. – ›Nur unsereiner wandert mager durch sein Jahrhundert‹. Ein G.-W.-Lesebuch. Hg. u. komm. v. Michael Vogt. Bielef. 1996. – Leben u. Taten des berühmten Ritters Schnapphahnski. Nachw. Nils Folckers. Bln. 2006. Literatur: Bibliografien: Ernst Fleischhack: G. W.-Bibliogr. In: Lipp. Mitt.en aus Gesch. u. Landeskunde 41 (1972), S. 191–227. – Karl-Alexander Hellfaier: G. W. in seiner Zeit. Detmold 1981. – Ernst Fleischhack: Bibliogr. Nachträge. In: GrabbeJb. 1 (1982), S. 152–160; G.-W.-Bibliogr. durch versch. Bearbeiter in den folgenden Grabbe-Jbb. – W.-Bibliogr. seit 1998 jährl. im W.-Archiv der Lipp.

196 Landesbibl. (www.llb-detmold.de). – Michael Vogt: G. W. In: Westfäl. Autorenlex. 2 (1994), bes. S. 457–466. – Kosch 29 (2009), Sp. 85–90. – Biografien: Marie Weerth: G. W. 1822–1856. Ein Lebensbild [um 1910]. Hg. Bernd Füllner. Bielef. 2009. – Karl Weerth: G. W. Der Dichter des Proletariats. Ein Lebensbild. Lpz. 1930. – Uwe Zemke: G. W. 1822–1856. Ein Leben zwischen Lit., Politik u. Handel. Düsseld. 1989 [A Biography of G. W. Diss. Cambridge 1976]. – Monografien: Franz P. Schiller: G. W. Ein Beitr. zur Gesch. der dt. sozialist. Dichtung in der ersten Hälfte des neunzehnten Jh. Moskau 1932 (Rohübersetzung [aus dem Russischen] v. Paul Baron, überarb. v. Karl Weerth). – Horst Bunke: G. W. Ein Überblick über sein Leben u. Wirken. Frankf./O. 1956. – Wolfgang Böttger: Die Herausbildung des satir. Stils in den Prosawerken G. W.s. Diss. Lpz. 1962. – Sergej Vasil’evic Turaev: G. Veert i nemeckaja literatura revoljucii 1848 goda. Moskau 1963. – Wolfgang Georg Erich Meyer-Erlach: G. W.s novel ›Leben u. Taten des berühmten Ritters Schnapphahnski‹. Diss. Toronto 1971. – Florian Vaßen: G. W. Ein polit. Dichter des Vormärz u. der Revolution v. 1848/49. Stgt. 1971. – Burkhard Issel: Die Satire W.s u. ihre Rezeption durch die materialist. Literaturwiss. Mchn. 1974. – William S. Lavundi: Social classes and themes of true socialism: A study of G. W.’s pre-revolutionary works. Diss. Univ. of Massachusetts 1974. – Karl Hotz: G. W. Ungleichzeitigkeit u. Gleichzeitigkeit im literar. Vormärz. Stgt. 1976. – Christine Gobron: L’écrivain et journaliste littéraire G. W. Diss. Paris 1978. – El Hédi Attiche: Heines u. W.s Reiseberichte. Diss. Bln./DDR 1983. – Antonio Pasinato: G. W. Letteratura e comunismo nel Vormärz (1840–49). [Diss. Udine 1982] Padua 21985. – Wolfgang Büttner: Über polit. Tendenzen u. Entwicklungen in der Feuilletonlit. demokrat. Zeitungen der 40er Jahre des 19. Jh. Diss. Bln./DDR 1985. – Tagungen/Sammelbände: G. W. – Werk u. Wirkung. Hg. Akademie der Wiss.en der DDR. Bln./DDR 1974. – B. Füllner (Hg.): G. W. Neue Studien. Bielef. 1988. – G. W. (1822–1856). Referate des I. Internat. G.-W.-Colloquiums 1992. Hg. M. Vogt. Bielef. 1993. – G. W. u. das Feuilleton der ›Neuen Rheinischen Ztg.‹. Kolloquium zum 175. Geburtstag am 14./15. Febr. 1997 in Detmold. Hg. M. Vogt. Bielef. 1999. – B. Füllner: G.-W.-Chronik (1822–1856). Bielef. 2006. – G. W. u. die Satire im Vormärz. Referate des internat. Kolloquiums im 150. Todesjahr des Autors 16.-18. Juni 2006 in der Lipp. Landesbibl., Detmold. Hg. M. Vogt. Bielef. 2007. – Weitere Titel: Erich Kittel: G. W. In: Westfäl. Lebensbilder. Hg. Robert Stupperich. Bd. 10, Münster 1970, S. 142–171. – Tsutomu Itoh: G. W. als ein satir. Dichter. In: Germanistische Forsch. in

197 Mitteljapan, Nr. 4 (1966), S. 117–154. – E. Kittel: Zur Gedichtsammlung G. W.s. In: Westfalen. H.e für Gesch., Kunst u. Volkskunde 48 (1970), H. 1–4, S. 247–257. – Walter Dietze: G. W.s geistige Entwicklung u. künstler. Meisterschaft. In: Ders.: Reden, Vorträge, Ess.s. Lpz. 1972, S. 128–169. – Ludwig Krapf: Rezeption u. Rezeptionsverweigerung. Einige Überlegungen zur polit. Lyrik Georg Herweghs u. G. W.s. In: H.-D. Weber: Rezeptionsgesch. u. Wirkungsästhetik. Stgt. 1978, S. 83–100. – J. W. Goette: Kritik des Bürgertums. G. W.s ›Humoristische Skizzen aus dem dt. Handelsleben‹. In: Ders. u. a.: ›Kleine Leute‹. Ideologiekrit. Analysen zu Nestroy, W. u. Fallada. Ffm. u.a. 1979, S. 27–79. – L. Krapf: Zur polit. Satire G. W.s. Überlegungen zu den ›Humoristische Skizzen aus dem dt. Handelsleben‹. In: DU 31 (1979), H. 2, S. 95–106. – W. Büttner: Das Feuilleton der ›Neuen Rheinischen Ztg.‹. In: Jb. für Gesch. (Bln./DDR) 22 (1981), S. 7–50. – B. Füllner: G. W. – Dichter u. Politiker 1840 bis 1856. Ein Überblick über die Verbreitung der zu W.s Lebzeiten gedruckten Werke. In: Lipp. Mitt.en 51 (1982), S. 129–164. – Winfried Freund: › – ein bißchen Not stachelt in die Rippen ...‹. Zur Struktur u. Intention der ›Lieder aus Lancashire‹ v. G. W. In: Grabbe-Jb. 5 (1986), S. 83–91. – Ernst Weber: Zur Funktion der Volksliedelemente in G. W.s Gedichtzyklus ›Die Not‹ (1844/45). In: Jb. für Volksliedforschung 32 (1987), S. 39–63. – F. Vaßen: G. W.s England-Lit. Von den Zeitungsartikeln zum Buchprojekt ›Skizzen aus dem sozialen u. polit. Leben der Briten‹ (1843–1848). In: Grabbe-Jb. 7 (1988), S. 110–125. – Fritz Wahrenburg: G. W.s Londonbild im Kontext seiner industriellen Städtephysiognomien. In: Rom – Paris – London. Erfahrung u. Selbsterfahrung dt. Schriftsteller u. Künstler in den fremden Metropolen. Hg. Conrad Wiedemann. Stgt. 1988, S. 611–634. – Jo-Jacqueline Eckardt: G. W.: ›Humoristische Skizzen aus dem dt. Handelsleben‹. In: Dies.: Angriff, Rückzug u. Zuversicht. Satir. Erzählen bei Bonaventura, Jean Paul, E.T.A. Hoffmann, Heinrich Heine u. G. W. Bern u. a. 1989, S. 145–165. – W. Büttner: W.- u. Freiligrathpublikationen in der ›Deutschen-Brüsseler-Ztg.‹. In: Grabbe-Jb. 9 (1990), S. 135–148. – Karin u. B. Füllner: ›Das Feuilleton als Verbrecher‹. G. W.s Adelssatire ›Leben u. Thaten des berühmten Ritters Schnapphahnski‹. In: ›Stets wird die Wahrheit hadern mit dem Schönen‹. FS Manfred Windfuhr. Hg. Gertrude Cepl-Kaufmann u. a. Köln/Wien 1990, S. 235–247. – B. Füllner: › – Gern zög ich im Frühjahr einmal wieder in die patriot. Heimat, ...‹. G. W., ein Detmolder Kosmopolit. In: Lit. in Westfalen. Beiträge zur Forsch. Hg. Walter Gödden u. Winfried Woesler. Paderb. u.a. 1992, S. 145–159.

Weerth – Ders.: ›Es ist ein gutes Stück; ich glaube, dass es Euch Freude machen wird – lustig ist es wenigstens.‹ Zur Entstehung u. Überlieferung v. G. W.s ›Humoristische Skizzen aus dem dt. Handelsleben‹. In: Forum Vormärz Forsch. (= FVF)-Jb. 1995, S. 213–235. – B. Füllner u. M. Vogt: ›Ich laufe herum u. erkundige mich bei allen Gimpeln, wo ein Markt für meine Überproduktion‹. Überlegungen zu einer neuen Edition sämtl. Werke v. G. W. In: Lit. in Westfalen. Beiträge zur Forsch. 3. Hg. W. Gödden. Paderb. u.a. 1995, S. 281–287. – M. Vogt: ›Unsere Leser werden sich erinnern, dass wir den edlen Ritter in Spanien verließen.‹ Zur Lektüre des ersten dt. Feuilletonromans, G. W.s ›Leben u. Thaten des berühmten Ritters Schnapphahnski‹, in der ›Neuen Rheinischen Ztg.‹. In: FVF-Jb. 1995, S. 97–106. – Helen G. Morris-Keitel: The General, the Particular, and a Vision for Both. G. W.s ›Romanfragment‹. In: Dies.: Identity in Transition. The Images of Working-Class Women in Social Prose of the ›Vormärz‹ (1840–1848). New York u. a. 1995, S. 99–116. – B. Füllner: ›Voilà du courage! Voilà la vérité!‹. G. W.s Rede auf dem ›Congrès des Économistes de tous les Pays‹ in Brüssel am 18. Sept. 1847. In: FVF-Jb. 1996, S. 219–239. – Bodo Plachta: Das Feuilleton als Verbrecher! G. W.s ›Leben u. Thaten des berühmten Ritters Schnapphahnski‹ zwischen Quellendokumentation u. Quelleninterpr. In: Quelle – Text – Ed. [...] Hg. Anton Schwob u.a. Tüb. 1997, S. 235–242. – U. Zemke: G. W.s Juden-Bild. In: FVF-Jb. 1998, S. 141–163. – B. Füllner: ›Nur Unruhe! Unruhe! Sonst bin ich verloren.‹ G. W. u. die ›Göttin der Langeweile‹. In: Vormärz u. Klassik. Hg. Lothar Ehrlich u. a. Bielef. 1999, S. 181–197. – Rolf Hekker. Neues über die Überlieferungsgesch. des Nachlasses v. G. W. In: Grabbe-Jb. 17/18 (1998/99), S. 256–264. – Gert Vonhoff: ›Eine frische Literatur‹. G. W.s ›Skizzen aus dem sozialen u. polit. Leben der Briten‹. In: Mutual Exchanges. SheffieldMünster Colloquium I. Ed. by R. J. Kavanagh. Ffm. u. a. 1999, S. 80–95. – Bernd Balzer: Die meisten Schwellen tragen Schienen. Anmerkungen zu G. W., Gustav Freytag u. zur ›Epochenschwelle‹ v. 1848. In: Produktivität des Gegensätzlichen. Studien zur Lit. des 19. u. 20. Jh. FS Horst Denkler. Hg. Julia Bertschik u. a. Tüb. 2000, S. 3–17. – B. Füllner: G. W.s ›Leben u. Thaten des berühmten Ritters Schnapphahnski‹. Von der Journal- zur Buchfassung. In: FVF-Jb. 2000, S. 147–181. – Ders.: ›Mein Hauptstudium ist jetzt die Nationalökonomie ...‹. W.s List- u. Chaptal-Exzerpt. In: Lit. in Westfalen. Beiträge zur Forsch. 5. Hg. W. Gödden. Bielef. 2000, S. 19–35. – Susan Price u. U. Zemke: Fabrikbesitzer u. Industrieproletariat in den Romanen der Brontë-Schwestern u. den England-Auf-

Wegener sätzen G. W.s. In: FVF-Jb. 2000, S. 261–290. – B. Füllner: ›An den Früchten sollt ihr sie erkennen‹. Literar. Dialoge in. G. W.s Briefw. mit der Mutter (1843–1846). In: Briefkultur im Vormärz. [...]. Hg. ders. Bielef. 2001, S.123–152. – François Melis: ›Ja, das ist er, wie er leibte u. lebte; wie er auf der Rheinischen Zeitung am Redactionstische neben mir saß ...‹. Eine andere Sicht auf G. W.s Wirken für die ›Neue Rheinische Ztg.‹. In: Grabbe-Jb. 19/20 (2000/2001), S. 373–394. – B. Füllner: Planungen zu einer neuen G.-W.-Ausg. Bd. II: Prosa 1843 bis Mai 1848 – ein Zwischenbericht. In: Lit. in Westfalen. Beiträge zur Forsch. 6. Hg. W. Gödden. Bielef. 2002, S. 353–362. – Ders.: ›...nichts ist langweiliger u. uninteressanter als die Unschuld.‹ Der Prozeß gegen G. W. wegen Verleumdung des Fürsten Lichnowsky in ›Leben u. Thaten des berühmten Ritters Schnapphahnski‹. In: Literar. Fundstücke. Wiederentdeckungen u. Neuentdeckungen. FS Manfred Windfuhr. Hg. Ariane Neuhaus-Koch u. Gertrude Cepl-Kaufmann. Heidelb. 2002, S. 143–159. – B. Füllner u. F. Melis: ›Du hast dich bisher so freundlich für mich bezeugt ...‹. Zwei Briefe v. August Hermann Ewerbeck an G. W. aus dem Revolutionsjahr 1849. In: FVF-Jb. 2003, S. 299–351. – Gerd Gadek: Zur Rezeption G. W.s in Dtschld. Aus Anlass des Todes des Verlegers Siegfried Unseld. In: Grabbe-Jb. 22 (2003), S. 175–186. – Rainer Rosenberg: G. W. in der Literaturgeschichtsschreibung. In: Ders.: Verhandlungen des Literaturbegriffs. Studien zu Gesch. u. Theorie der Literaturwiss. Bln. 2003, S. 325–333 (vgl. W.-Colloquium 1992, S. 173–187.) – F. Vaßen: Rhein contra Themse. G. W.s Beziehung zur Romantik. In: Romantik u. Vormärz. Zur Archälogie literar. Kommunikation in der ersten Hälfte des 19. Jh. Bielef. 2003, S. 339–361. – F. Melis: G. W. in neuer Sicht: Großbritannien-Berichterstatter u. Feuilletonist der ›Neuen Rheinischen Ztg.‹. In: Grabbe-Jb. 23 (2004), S. 176–203. – Ders.: G. W. u. seine Beiträge für die Rubrik ›Belgien‹ in der ›Neuen Rheinischen Ztg.‹. In: ebd. 24 (2005), S. 182–210. – G. Gadek: G. W. aktuell. In: ebd. 25 (2006), S. 68–78. – Marie-Claire Hoock-Demarle: L’Europe des lettres. Résaux épistolaires et construction de l’espace européen. Paris 2008, bes. S. 346–360, 372–384. – F. Vaßen: ›Im Walde singen die Tiger ...‹ – G. W.s exotist. Reisebriefe aus Amerika. In: Grabbe-Jb. 26/ 27 (2007/2008), S. 183–204. Fritz Wahrenburg

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Wegener, Alfred, * 1.11.1880 Berlin, † Nov. 1930 Grönland. – Geowissenschaftler. W. entstammte einer brandenburgischen Pastorenfamilie. Er studierte Meteorologie u. Astronomie in Berlin, Heidelberg u. Innsbruck. Nach der Promotion zunächst als Meteorologe an der Forschungsanstalt Lindenberg tätig, wurde er 1909 Privatdozent für Meteorologie u. Astronomie in Marburg; 1919–1924 war er Abteilungsleiter an der Deutschen Seewarte u. Professor in Hamburg, danach bis zu seinem Tod o. Prof. der Geophysik u. Meteorologie in Graz. 1906–1908 u. 1912/13 nahm er an Grönlandexpeditionen teil u. leitete zwei weitere 1929 u. 1930/31. Als Meteorologe befasste sich W. mit Wolkenphysik, mit der Mechanik der Tromben u. der Deutung der Haloerscheinungen (Thermodynamik der Atmosphäre. Lpz. 1911. 41928). Astronomie u. Geologie verdanken ihm wichtige Beiträge, z. B. über Meteoriteneinschläge auf der Erde u. auf dem Mond (Die Entstehung der Mondkrater. Braunschw. 1931). Sein Hauptwerk, Die Entstehung der Kontinente und Ozeane (Braunschw. 1915. 41929. Nachdr. der 1. Aufl. mit handschriftl. Bemerkungen von A. W., Notizen u. Briefen sowie neu erstelltem Index. Nachdr. der 4. umgearb. Aufl. 1929 mit neu erstelltem Index. Bln./Stgt. 2005), fußt auf der fast zufällig geborenen Idee der Kontinentaldrift, die W. seit 1912 mit dem damals noch rudimentären Kenntnisstand der Geophysik u. mit geolog. Argumenten, aber auch mit wegweisenden Betrachtungen, z. B. zur Herkunft der Erdwärme, zu untermauern suchte. Mit seinem Schwiegervater Wladimir Köppen erarbeitete er in diesem Zusammenhang Die Klimate der geologischen Vorzeit (Bln. 1924) als eine weitere Stütze seiner Theorie der Kontinentalverschiebung. Diese wurde zu seinen Lebzeiten von der Fachwelt fast durchweg abgelehnt u. später lange Zeit nicht mehr diskutiert. Dank seines meisterhaften Darstellungsvermögens hatte W. aber das Interesse der Öffentlichkeit gewonnen, die auch seine Theorien überlieferte. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg führten revolutionäre Ergebnisse der Geophysik u. der Meeresforschung auf W.s mo-

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bilistisches Erdbild zurück, das in der heute weltweit anerkannten Theorie der Plattentektonik eine großartige Renaissance erlebte. Weitere Werke: Wind u. Wasserhosen in Europa. Braunschw. 1917. – Mit Motorboot u. Schlitten in Grönland. Bielef. u. a. 1930. – Wiss. Ergebnisse der dän. Expedition [...] quer über das Inlandeis v. Nordgrönland [...] (zus. mit Johann Peter Koch). Kopenhagen 1930. – A. W.s letzte Grönlandfahrt. Hg. Else Wegener. Lpz. 1932. 14 1943. – Vorlesungen zur Physik der Atmosphäre. Hg. Kurt Wegener. Lpz. 1935. – Tgb. eines Abenteurers. Mit Pferdeschlitten quer durch Grönland. Vorw. E. Wegener. Wiesb. 1961. – KontintentalVerschiebungen. Originalnotizen u. Literaturauszüge. Hg. Reinhard Krause. Bremerhaven 2005. Literatur: Else Wegener: A. W. Wiesb. 1960. – A. W. Leben u. Werk. Bln. 1980 (Kat.). – Alfred Körber: A. W. Lpz. 1980. – Gary P. McKenzie: A. W. The father of the continental drift. Madison 1986. – Martin Schwarzbach: A. W. u. die Drift der Kontinente. Stgt. 1990. – Hermann Günzel: A. W. u. sein meteorolog. Tgb. der Grönland-Expedition 1906–1908. Marburg 1991. – Klaus Rohrbach: A. W. Erforscher der wandernden Kontinente. Stgt. 1993. – Christine Reinke-Kunze: A. W. Polarforscher u. Entdecker der Kontinentaldrift. Basel/ Bonn/Bln. 1994. – Ulrich Wutzke: Durch die weiße Wüste. Leben u. Leistungen des Grönlandforschers u. Entdeckers der Kontintentaldrift A. W. Gotha 1997. – Lisa Yount: A. W. Creator of the continental drift theory. New York 2005. Volker Jacobshagen / Red.

Wegleiter, Christoph, * 22.4.1659 Nürnberg, † 16.8.1706 Altdorf. – Evangelischer Theologe, Dichter geistlicher Lieder, Gelegenheitsdichter. Nach dem Besuch des Egidien-Gymnasiums u. des Auditorium Publicum in Nürnberg nahm der Kaufmannssohn ein Studium in Altdorf auf (Deposition am 29.6.1672, Immatrikulation am 20.7.1676, Alumnus 1676–1679), wo er am 30.6.1680 für eine am 27. Sept. des Vorjahres unter dem Vorsitz von Johann Christoph Sturm verteidigte Dissertation über den Einfluss der Gestirne (Siderum influentia, h. e. efficacia in mundum hunc sublunarem. Altdorf 1679) den Magistergrad erwarb u. zugleich den Titel eines Poeta laureatus erhielt (vgl. dazu VD 17 125:016858Y u. VD 17 125:016861B). 1679 wurde er von S.

von Birken als »Irenian« in den Pegnesischen Blumenorden aufgenommen. Nach einem Besuch bei Philipp Jakob Spener in Frankfurt/ M. setzte W. seine theolog. Studien ab dem 4.12.1680 in Straßburg u. ab dem Sommer 1682 in Jena fort. Auf ausgedehnten Reisen nach Holland u. England lernte er Mennoniten, Sozinianer u. Anabaptisten kennen, die sein literar. Schaffen prägten. Nach Nürnberg zurückgekehrt, wurde er 1688 in Altdorf Professor der Theologie; 1697 verteidigte er die Dissertatio de serpente tentatore (Altdorf 1697) u. wurde damit zum Dr. theol. promoviert. Der größte Teil von W.s Werk sind geistl. Schriften, Predigten, Andachtsbücher, geistl. Gedichte u. Lieder in dt. Sprache, die in Nürnberger Gesangbücher aufgenommen wurden. An Gelegenheitsschriften der Pegnitzschäfer beteiligte er sich mit kleineren Beiträgen. 1690 verfasste W. im Auftrag des Rats eine Huldigungspredigt zur Krönung Josephs I. zum röm. König (Die Pflicht der Hohen Obrigkeiten [...]. Nürnb.). – Unveröffentlicht blieb eine Teilübersetzung (1685/86) von Miltons Paradise Lost (Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, Cod. m. germ. 40660); sie trägt den Titel ›Johann Miltons Verlustigtes Paradies‹ u. umfasst in paarig gereimten Alexandrinern die Verse 1–195 des 1. Buches. Weitere Werke: Oratio de palmariis seculi nostri inventis [...]. Altdorf 1679. – Exercitatio ad L. II. Cod. Theod. Tit. De fide catholica [...]. Nürnb. 1685. – Die überschwengl. Versöhnungs- u. Heiligungs-Krafft des [...] Leidens u. Sterbens des Messiae [...]. Altdorf 1697 (Kandidaturpredigt). – Christl. Danck-Predigt, für den [...] 1697. [...] unweit Zenta an der Theys herrlich bestrittenen Sieg [...]. Ebd. 1697. – Christus der fürtreffliche Lehrmeister in Anweisung zur Selbst-Verleugnung [...]. Nürnb. 1710 (evtl. verschollen). – Collegium Pastoralis. Hs.-Slg. Will, StB. Nürnberg. Ausgabe: Fischer/Tümpel 5, S. 132–139. Literatur: Bibliografie: VD 17. – Weitere Titel: Christoph Sonntag: Rares Exempel eines frommen [...] Irenaei [...]. Altdorf 1706 (Leichenpredigt). – Johann Caspar Wetzel: Hymnopoeographia [...]. 4 Tle., Herrnstadt 1719–28, Tl. 3, S. 370–374. – Georg Andreas Will: Nürnbergisches Gelehrten-Lexicon [...]. 4. Tl., Nürnb./Altdorf 1758. Nachdr. Neustadt an der Aisch 1997, S. 187–191. – Her-

Wegner mann Arthur Lier: C. W. In: ADB. – DBA. – Leopold Magon: Die drei ersten dt. Versuche einer Übers. v. Miltons ›Paradise Lost‹ [...]. In: Gedenkschrift für Ferdinand Josef Schneider (1879–1954). Hg. Karl Bischoff. Weimar 1956, S. 39–82 (mit Textprobe S. 81 f.). – Dieter Wölfel: Nürnberger Gesangbuchgesch. (1524–1791). Nürnb. 1971. – Renate Jürgensen: Utile cum dulci [...]. Die Blütezeit des Pegnes. Blumenordens in Nürnberg 1644 bis 1744. Wiesb. 1994, Register. – Jürgensen, S. 472–480 u. Register (mit Schr.en-Verz.). – Flood, Poets Laureate, Bd. 4, S. 2212 f. Renate Jürgensen / Red.

Wegner, Armin T(heophil), auch: Johannes Selbdritt, * 16.10.1886 Elberfeld (heute zu Wuppertal), † 17.5.1978 Rom. – Lyriker, Prosaist, Verfasser von Reisebüchern, Aufzeichnungen u. politischen Manifesten. Der Sohn eines preuß. Eisenbahnbaurats u. einer Frauenrechtlerin verlebte seine Jugend im Rheinland u. in Schlesien, entfloh dem Gymnasium u. wurde Landwirt. 1908 holte er das Abitur nach u. studierte Jura u. Volkswirtschaft in Breslau, Zürich, Paris u. Berlin (1914 Promotion zum Dr. iur. mit Der Streik im Strafrecht). Danach betätigte er sich eigener Aussage zufolge als »Ackerbauer, Hafenarbeiter [in Marseille], Schauspielschüler [bei Max Reinhardt], Hauslehrer, Redakteur, Volksredner, Liebhaber und Nichtstuer«. Im Ersten Weltkrieg war er Sanitätsoffizier in Polen u. in der Türkei u. wurde Zeuge des Massakers an den Armeniern, wogegen er in seinem Offenen Brief an den amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson protestierte. Seit 1918 suchte W. sein leidenschaftl. politisch-soziales Engagement durch Mitarbeit in Kurt Hillers »Politischem Rat geistiger Arbeiter« sowie der »Gruppe revolutionärer Pazifisten« u. durch die Mitbegründung des »Bundes der Kriegsdienstgegner« 1919 zu verwirklichen. In den 1920er Jahren unternahm er ausgedehnte, abenteuerl. Reisen in Europa, Asien u. Afrika; so durchquerte er 1929 mit einem Motorrad die Wüste Sinai. In dieser für W. produktivsten u. erfolgreichsten Zeit arbeitete er publizistisch, u. a. als Redakteur der Zeitschrift »Der neue Orient«, u. lebte als freier Schriftsteller mit seiner Frau, der Lyri-

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kerin u. Erzählerin Lola Landau, am Stechlinsee. Am 11.4.1933 protestierte W. in einem direkt an Hitler ins Braune Haus nach München geschickten Brief gegen die ersten Judenverfolgungen (Brief an Hitler. [Dt., Englisch, Französisch]. Mit einem Geleitw. v. Wolfgang Thierse. Wuppertal 2002): »Herr Reichskanzler! [...] als ein Deutscher, dem die Gabe der Rede nicht geschenkt wurde, um sich durch Schweigen zum Mitschuldigen zu machen, wenn sich sein Herz vor Entrüstung zusammenzieht, wende ich mich an Sie: Gebieten Sie diesem Treiben Einhalt! [...]«. Daraufhin wurde W. verhaftet, gefoltert u. in die Konzentrationslager Oranienburg, Börgermoor u. Lichtenburg verschleppt. 1934 konnte er nach England fliehen; 1936 emigrierte er nach Palästina u. 1937 nach Italien, wo er, zumeist in Rom u. auf Stromboli, bis zu seinem Tod lebte. 1938 wurde W. in Positano vorübergehend verhaftet; 1941–1943 unterrichtete er unter falschem Namen dt. Sprache u. Literatur an der Universität Padua. Literarisch verstummte er für Jahrzehnte, nachdem ihn die »Sprachlosigkeit aus Entsetzen« befallen hatte – ein tragisches Opfer nationalsozialistischer Verfolgung. Nach dem Zweiten Weltkrieg gar fälschlich totgesagt (Ricarda Huch hielt ihm eine Gedenkrede auf dem ersten Schriftstellerkongress in Berlin 1947), war er lange Zeit vergessen, »verschollen für ein Menschenalter«, wie er selber sagte. Erst in den 1970er Jahren wurde er wiederentdeckt u. begann er auch zaghaft wieder – vornehmlich eindringl. Alterslyrik – zu schreiben. Nach impressionistischen Anfängen wandte sich W. mit den Lyrikbänden Das Antlitz der Städte (Bln. 1917. Neuausg. Bln. 1989), entstanden 1909–1913, u. Die Straße mit den tausend Zielen (Dresden 1924), geschrieben 1909–1920, dem Expressionismus zu, den er durch visionär-ekstat., hymnisch-pathosdurchtränkte Stadtgedichte mit oft sozialkrit. Stoßrichtung bereicherte. Schon früh sah W. die Großstadt als landschaftszerstörenden Moloch u. Dämon (im Gedicht Der Zug der Häuser) u. erkannte die Gefahren von Konsumzwang u. Reklamesuggestion (Das Warenhaus). Später folgte er der Tendenz der

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1920er Jahre zur Neuen Sachlichkeit, indem er Reisebücher schrieb, u. a. über die »Pioniernationen« Russland u. Palästina: Fünf Finger über Dir (Stgt. 1930. Neuausg. Wuppertal 1979), Am Kreuzweg der Welten (Bln. 1930), Jagd durch das tausendjährige Land (ebd. 1932), Maschinen im Märchenland (ebd. 1932). Darin werden – mit glänzender Intuitions- u. Beobachtungsgabe sowie in assoziativer, bildmächtig-rhythmisierter Sprache – an einem jeweils konkreten Erlebnis- oder Ereignisbeispiel archetypische Grundmuster aus Historie u. Mythos, aus Gegenwart u. Vergangenheit deutlich. Außerdem veröffentlichte W. Erzählungen mit exotischem Kolorit sowie Reden u. Manifeste (Der Ankläger. Aufrufe zur Revolution. Ebd. 1921. Die Verbrechen der Stunde – die Verbrechen der Ewigkeit. Ebd. 1922. Neuausg. Hbg. 2000), in denen er sich gegen Kapitalismus, Krieg, die Paragrafen 175 u. 218 wandte sowie polit. u. soziale Missstände der Zeit, den Missbrauch staatl. Gewalt u. jegl. Form von Unterdrückung anprangerte. W. verkörperte eindrucksvoll den Prototyp des engagierten Autors, der unerschütterlich an die Macht des Wortes glaubte u. sein Schaffen – oftmals unter Gefährdung seines Lebens – in den Dienst von Frieden u. Freiheit, Menschlichkeit u. Gerechtigkeit stellte. Der Verbreitung u. Erforschung seines Werks widmet sich seit 2002 die A. T. W.-Gesellschaft; zusammen mit dem Wallstein-Verlag bereitet sie zurzeit eine Werkausgabe vor. Weitere Werke: Zwischen zwei Städten. Bln. 1909 (L.). – Gedichte in Prosa. Ebd. 1910. – Höre mich reden, Anna-Maria. Eine Rhapsodie. Ebd. 1912. – Der Weg ohne Heimkehr. Ein Martyrium in Briefen. Ebd. 1919. – Im Haus der Glückseligkeit. Aufzeichnungen aus der Türkei. Dresden 1920. – Der Knabe Hüssein. Türk. Novellen. Ebd. 1921. – Das Geständnis. Ebd. 1922 (R.). – Das Zelt. Aufzeichnungen, Briefe, Erzählungen aus der Türkei. Bln. 1926. – Wazif u. Ahif oder Die Frau mit den zwei Ehemännern. Türkische Kom. (zus. mit Lola Landau). Ebd. 1926. – Wie ich Stierkämpfer wurde. Ebd. 1928 (E.en). – Moni oder die Welt v. unten. Stgt./Bln./Lpz. 1929 (R.). – Die Silberspur. Ffm. 1952 (Reisebuch). – Fällst du, umarme auch die Erde [...]. Prosa, Lyrik, Dokumente. Wuppertal 1973. – Odyssee der Seele. Ausgew. Werke. Hg. Ronald Steckel. Ebd. 1976. Nachdr. Wuppertal

Wegner 2001. – Am Kreuzweg der Welten. Lyrik, Prosa, Briefe, Autobiographisches. Hg. u. Nachw. v. Ruth Greuner. Bln./DDR 1982. – A. W., Lola Landau: Abschied v. den sieben Wäldern. Die KZ-Briefe 1933/34. Aus dem Nachl. hg. v. Thomas Hartwig. Bln. 1999. Literatur: Hedwig Bieber: A. T. W. Bibliogr. Dortm. 1973. – Reinhard M. G. Nickisch: A. T. W. Ein Dichter gegen die Macht. Wuppertal 1982. – Johanna Wernicke-Rothmayer: A. T. W. Gesellschaftserfahrung u. literar. Werk. Ffm./Bern 1982. – Martin Rooney: Leben u. Werk A. T. W.s. Ffm. 1984. – R. M. G. Nickisch: Da verstummte ich ... In: Exilforsch. 2 (1984), S. 160–172. – Heide-Marie Wollmann: ›Nichts gegen die Nazis getan?‹ A. T. W.s Verhältnis zum Dritten Reich. In: ebd. 4 (1986), S. 291–306. – Martin Tamcke: A. T. W. u. die Armenier. Anspruch u. Wirklichkeit eines Augenzeugen. Hbg. 1996. – M. Rooney: A forgotten humanist. A. T. W. In: Journal of Genocide Research 2 (2000), S. 117–144. – Jörg Aufenanger: Jugend in Breslau. A. T. W. u. Günther Anders. Zwei dt. Wege. In: Zweiseelenstadt. Ein Else-Lasker-Schüler-Almanach. Hg. Hajo Jahn. Wuppertal 2004, S. 113–136. – Gunnar Müller-Waldeck: Verwehrte Heimkehr. Nachträge zu einem unheld. Helden A. T. W. In: NDL 52 (2004), H. 4, S. 77–90. – Laura Wilfinger: ›In keinem Augenblick hört die Beobachtung in mir auf‹. Die Lagerbücher v. A. T. W. Notate aus Oranienburg, Börgermoor u. Lichtenberg August bis Dezember 1933. In: Else-LaskerSchüler-Jb. zur klass. Moderne 4 (2009), S. 189–218. – Behrang Samsami: Die Entzauberung des Ostens. Zur Wahrnehmung u. Darstellung des Orients bei Hermann Hesse, A. T. W. u. Annemarie Schwarzenbach. Bielef. 2011. Thomas B. Schumann / Red.

Wegner, Bettina, * 4.11.1947 Berlin-Lichterfelde. – Liedersängerin. Zu Beginn der 1980er Jahre galt W., Tochter eines Journalisten u. einer Sachbearbeiterin, als eine der besten Liedersängerinnen der DDR u. als Repräsentantin des Lebensgefühls vieler engagierter Jugendlicher. W. wurde 1968 von der Schauspielschule exmatrikuliert, weil sie mit Flugblättern gegen den Truppeneinmarsch in die CˇSSR protestiert hatte. Zur »Bewährung« musste sie ein Jahr als Siebdruckerin in Treptow arbeiten. Sie holte das Abitur nach u. studierte Gesang. Als Mitunterzeichnerin der Protesterklärung ge-

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gen die Ausbürgerung Biermanns 1976 er- Wehl, Feodor, eigentl.: F. zu Wehlen, hielt sie Auftrittsverbot. * 19.2.1821 Gut Kunzendorf/Schlesien, Die Sammlung Wenn meine Lieder nicht mehr † 22.1.1890 Hamburg. – Lustspieldichter; stimmen (Reinb. 1979. LP 1980) mit Texten Redakteur. aus den Jahren 1963–1978 zeigt den erInfolge eines Unfalls musste W. seine militäzwungenen Desillusionierungsprozess W.s, rische Karriere abbrechen. Der Gutsbesitderen anfänglich kritisch-konstruktives Enzerssohn studierte in Berlin u. Jena Philosogagement zunehmend in Systemkritik umphie u. Literaturwissenschaft u. wurde nach schlug. Ihre Lieder gegen Opportunismus u. mehreren Reisen Redakteur der satir. ZeitResignation vereinen Elemente von Schlager, schrift »Berliner Wespen« (Bde. 1–5, Lpz. Volks- u. Kinderlied; sie verzichten auf ag1843. Bde. 6 u. 7, Bln. 1845). Nach kurzer gressive Töne u. Polemik. Mitunter jedoch Tätigkeit als Dramaturg am Theater in Magführt ihre Unmittelbarkeit auch zu naiven deburg redigierte er in Hamburg mehrere polit. Utopien (z.B. Hoffnung. In: Traurig bin Zeitungen meist radikal-liberaler Gesinnung, ich sowieso. Lieder und Gedichte. Ebd. 1982. LP wirkte an der Redaktion des Hamburger 1981). 1980 erhielten W. u. ihr damaliger »Telegraphen« mit u. gründete »Die deutEhemann, der Schriftsteller Klaus Schlesinsche Schaubühne«, eine Monatsschrift über ger, ein Dreijahresvisum zur Ausreise aus der das Theaterwesen, mit der er 1861 nach DDR. W. siedelte jedoch erst 1983, gezwunDresden übersiedelte, wo er gleichzeitig bis gen durch generelles Auftrittsverbot in der 1866 die Redaktion der gemäßigt-liberalen DDR, nach West-Berlin über. Nach 1990 ar»Konstitutionellen Zeitung« führte. Seit beitete sie häufig zusammen mit dem Lie1870 war er artistischer Direktor, von 1874 dermacher Karsten Troyke (z.B. Mein Bruder... bis zu seiner Pensionierung 1884 GeneralinJüdische Lieder. CD 2003). Am 23.12.2007 tendant des Stuttgarter Hoftheaters. 1886 spielte sie das letzte Konzert ihrer Abzog er nach Hamburg, wo er noch die Zeitschiedstournee (Die Abschiedstournee. 2 CDs schrift »Reform« mitredigierte. 2008.) W. war einer der bekanntesten LustspielWeitere Werke: Von Dtschld. nach Dtschld. ein dichter seiner Zeit. Stücke wie Der Teufel in Katzensprung. Lieder u. Gedichte. Reinb. 1986. – Berlin (Hbg. 1845) oder Alter schützt vor Torheit ›Als ich grade zwanzig war‹. Lieder u. Gedichte aus Ost u. West in Nachdichtungen. Ebd. 1986. – ›Es ist nicht (ebd. 1851) wurden oft inszeniert u. so wenig‹. Lieder, Texte, Noten. Gemünden 1991. – wirkten wegen ihrer anspruchslosen, leicht ›Im Niemandshaus hab ich ein Zimmer‹. Lieder u. eingehenden Komik. Er verfasste auch NoGedichte. Bln. 1997. – Langspielplatten / CDs: Sind so vellen, Erzählungen, Gedichte u. Deklamakleine Hände. 1978. – Weine nicht, aber schrei (zus. tionen. Seine Beiträge zum literar. Leben mit Konstantin Wecker). 1983. – Heimweh nach (Hamburgs Literaturleben im 18. Jahrhundert. Heimat. 1985. – Sie hat’s gewußt. 1992. – Wege. Lpz. 1856. Fünfzehn Jahre Stuttgarter Hoftheater1998. – Die Leute aus meiner Straße (zus. mit Inge Leitung. Hbg. 1886. Das junge Deutschland. Ebd. Heym). 2000. – Alles was ich wünsche. 2001. 1886) haben ebenso dokumentar. Wert wie Literatur: Andrea Jäger: Schriftsteller aus der seine Tagebuchaufzeichnungen aus den JahDDR. Ausbürgerungen u. Übersiedlungen v. 1961 ren 1863–1884: Zeit und Menschen (2 Bde., bis 1989. Bd. 1: Autorenlexikon. Ffm. 1995, Altona 1889). S. 609–612. – Volker Hammerschmidt, Andreas Oettel u. Stephan Naguschewski: B. W. In: KLG. Andrea Jäger

Weitere Werke: Der Unterrock in der Weltgesch. 3 Bde., Hbg. 1848–51. – Unheiml. Gesch.n. Dresden 1862. – Ges. dramat. Werke. 6 Bde., Lpz. 1864–85. – Dramaturg. Bausteine. Ges. Aufsätze. Hg. Eugen Kilian. Oldenb. 1891. Literatur: Ludwig Fränkel: F. (v.) W. In: ADB. Günter Häntzschel

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Wehle, Peter, * 9.5.1914 Wien, † 18.5.1986 Wien; Grabstätte: ebd., Zentralfriedhof. – Kabarettist.

Wehner Wien/Heidelb. 1980. – Singen Sie wienerisch? Eine satir. Liebeserklärung an das Wienerlied. Wien 1986. – Lauter Hauptstädte. Eine heitere Ortsnamenkunde v. Niederösterr. (zus. mit G. Bronner). St. Pölten/Wien 1987. Herbert Ohrlinger / Red.

W., der sich selbst als »Phäake und Epikuräer« bezeichnete, stammte aus bürgerlichliberaler Familie. Er besuchte das traditionsreiche Wiener Schottengymnasium, studierte Wehner, Josef Magnus, * 14.11.1891 Jura, verfasste eine Dissertation u. trat, mu- Bermbach/Rhön, † 14.12.1973 München; sikalisch ausgebildet, gemeinsam mit Karl- Grabstätte: ebd., Waldfriedhof. – Erzähheinz Albrecht als Pianist u. Kabarettist in ler, Dramatiker, Lyriker, Theaterkritiker. Revuen in Wien, Prag u. Teplitz-Schönau auf. Der streng religiös erzogene Lehrerssohn Einige seiner Sketche wurden von Karl Farkas verbrachte seine Kindheit in einem abgenachgespielt. Nach dem »Anschluss« Öster- schiedenen Rhöndorf u. besuchte das Gymreichs duldete man den keineswegs konfor- nasium in Fulda. In Jena u. München stumen W. kurze Zeit als Hauskomponist der dierte W. Germanistik u. Altphilologie; 1914 arisierten Revuebühne »Femina«. Nach dem zog er als Freiwilliger in den Krieg. Wieder in Zweiten Weltkrieg, den er als Dolmetscher München, arbeitete der dezidierte Gegner der relativ glimpflich überstanden hatte, war W. Weimarer Republik als Journalist u. schloss freier Mitarbeiter des Salzburger Landes- sich rechten, nationalistischen Kreisen an. theaters u. des Senders Rotweißrot, ehe er mit Nach einigen bis dahin erfolglosen BuchFred Kraus, Gunther Philipp u. Eva Leiter die veröffentlichungen erreichte W. 1930 den liauch in der BR Deutschland populäre Kaba- terar. Durchbruch mit Sieben vor Verdun. Ein rettgruppe »Die kleinen Vier« gründete. In Kriegsroman (Mchn. 1930), seinem größten lidieser Zeit, seit 1948, begann die bis zu W.s terar. Erfolg überhaupt. Verherrlichung des Tod dauernde Zusammenarbeit mit Gerhard Soldatentums, nationalistische, rassistische Bronner. Diese »Chansonproduktionsfirma« u. diffus religiöse Tendenzen bleiben auch (Der lachende Zweite. Wehle über Wehle. Wien/ für W.s weiteres Schaffen charakteristisch. Als Heidelb. 1983) hatte in Wien mit der »Mari- Parteigänger der Nationalsozialisten agierte etta-Bar« u. der »Fledermaus« zeitweise ihre er propagandistisch, etwa im Rundfunk: Beeigene Bühne u. wurde durch die Fernseh- kenntnis zur Zeit. Ansprachen an den deutschen sendungen Zeitventil u. Die große Glocke sowie Menschen (Köln 1940). W. arbeitete auch als Theaterkritiker (Vom Glanz und Leben deutscher durch etliche Radioproduktionen berühmt. 1974 wurde W. mit der sprachwissen- Bühne. Eine Münchner Dramaturgie. Aufsätze und schaftl. Dissertation Die Wiener Gaunersprache Kritiken 1933–1941. Hbg. 1944) u. brachte es (Wien/Mchn. 1977) ein zweites Mal promo- zum erfolgreichen Schulbuchautor. Nach viert. W., der mehrere Sprachen beherrschte, Kriegsende spielte W., der sich nun v. a. auf beschäftigte sich in der Folge mit volksety- Werke christl. Thematik verlegte, im literar. molog. Themen, die er humorvoll aufberei- Leben keine Rolle mehr. tete (Sprechen Sie ausländisch? Von Amor bis Zores. Weitere Werke: Der Weiler Gottes. Mchn. 1921 Wien 1982). Reinhard Tramontana nannte (Versepos). – Der blaue Berg. Die Gesch. einer Juihn einen »offenkundigen Geheimrat des gend. Ebd. 1922 (R.). – Die mächtigste Frau. eleganten Nackenbisses«, dessen »hinterfot- Phantastische Novellen. Pasing 1922. – Struensee. Mchn. 1925 (Biogr.). – Das Gewitter. Bln. 1926 (D.). zige Seelenlieder des Allzu-Wienerischen Es– Die Hochzeitskuh. Roman einer jungen Liebe. senzen der Zeitgeschichte« sind (Nachruf in: Mchn. 1928. – Das Hasenmaul. Ebd. 1930 (E.). – Profil, 26.5.1986). Langemarck. Ein Vermächtnis. Ebd. 1932 (Rede). – Weitere Werke: Klimbim (zus. mit Karl Farkas). Wien 1947 (Musikalische Kom.). – Die unruhige Kugel. Gezeichnet v. Rudolf Angerer (zus. mit Gerhard Bronner). Wien/Hann./Bern 1963. – Sprechen Sie wienerisch? Von Adaxl bis Zwutschkerl.

Das unsterbl. Reich. Ebd. 1933 (Reden, Aufsätze). – Die Wallfahrt nach Paris. Eine patriot. Phantasie. Bln. 1933. – Mein Leben. Ebd. 1934. – Albert Leo Schlageter. Lpz. 1934 (Biogr., Jugendbuch). – Hindenburg. Ebd. 1935 (Biogr., Jugendbuch). –

Wehren

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Geschichten aus der Rhön. Bln. 1935. – Hebbel. Stgt. 1938. – Als wir Rekruten waren. Hbg. 1938 (Autobiogr.). – Echnaton u. Nofretete. Eine Erzählung aus dem alten Ägypten. Lpz. 1940. – Erste Liebe. Roman aus der Jugendzeit. Hbg. 1941. – Das Land ohne Schatten. Tgb. einer griech. Reise. Mchn. 1943. – Blumengedichte. Baden-Baden 1950. – Der schwarze Kaiser. Mchn. 1951 (R.). – Der schwarze Räuber v. Haiti. Freib. i. Br. 1951 (E.). – Mohammed. Der Roman seines Lebens. Mchn. 1952. – Johannes der Täufer. Ein Mysterienspiel. Ebd. 1952. – Die schöne Lilofee. Ein Wassermärchen. Ebd. 1953. – Saul u. David. Ein Mysterienspiel. Ebd. 1954. – Das Fuldaer Bonifatiusspiel. Fulda 1954 (D.). – Das Rosenwunder. Spiel in einem Aufzug um die hl. Elisabeth v. Thüringen. Weinheim 1954. – Der Kondottiere Gottes. Ein Roman vom Leben des Hl. Johannes v. Capestrano. Heidelb. 1956. – Die aber ausharren bis zum Ende. Weinheim 1956 (D.). – Das goldene Kalb. Ebd. 1961. – Erde, purpurne Flamme. Heidelb. 1962 (L.). – Abt Sturmius v. Fulda. Fulda 1967 (D.).

Vergänglichkeit zeigt sich W.s Pessimismus. Der 1964 in Dülmen erschienene Lyrikband Aufstand der Disteln konfrontiert Schilderungen von fahlen Industrielandschaften mit Impressionen, die in der Kraft der Natur, sich zwischen »Schotter und Schienen« einen Lebensraum zu behaupten, Trost finden lassen. W. entging dabei nicht immer der Schrebergartenidylle, etwa in dem Gedicht Noch ist es gut, oder der Kurstadtatmosphäre, wie in Mein Bad Salziger Tagebuch (Bielef. 1972), dessen Gedichte die Versöhnung von Stadt u. Land feiern. In der schlichten u. spröden Erzählung von der Reise eines Ehepaars in die Heimat seiner Vorfahren u. an die Kultstätten seiner Namensheiligen in Steine aus einem Mosaik (Trier 1974) tritt das Naturerlebnis zugunsten einer Versenkung ins Gebet zurück, die von Gott allein noch Rettung u. Versöhnung erwartet.

Literatur: Joachim S. Hohmann: ›Pg. Wehner hat ein Interesse daran, als Nationalsozialist unbelastet dazustehen ...‹. Leben u. Werk des Kriegs- u. Heimatdichters J. M. W. Fulda 1988. – Jay W. Baird: J. M. W. and the dream of a new Reich. In: Ders.: Hitler’s War Poets. Literature And Politics In The Third Reich. Cambridge u. a. 2008, S. 66–95.

Weitere Werke: Im Wechsel zwischen Tag u. Jahr. Mchn. 1962 (L.). – Der Stern über Simonshof. Stolberg 1963 (N.). – Zikadenstunden. Iserlohn 1970 (L.). – Zwischen Lanzetten. Mchn. 1971 (L.). – Bad Salziger Frieden. Bad Salzig 1971.

Walter Olma / Red.

Wehren, Hans K(aspar), * 18.2.1921 Iserlohn, † 17.4.1988 Iserlohn. – Lyriker u. Erzähler. Der gelernte Kaufmann wurde 1939 Hilfsangestellter beim Finanzamt seiner Heimatstadt, war 1941–1945 Soldat an der Ostfront u. arbeitete von 1950 bis zu seiner Pensionierung als Finanzbeamter. W. war seit 1963 Mitgl. der Dortmunder Gruppe 61, seit 1970 der europ. Autorenvereinigung »Die Kogge«. W.s in zahlreichen Zeitschriften des In- u. Auslands verstreutes u. in einigen schmalen Publikationen zusammengefasstes Werk vertritt aus dezidiert christl. Grundhaltung das von der Gruppe 61 formulierte Programm einer »künstlerischen und literarischen Darstellung« der Arbeitswelt. Deren monotonem Takt u. Alltag wird die im Rhythmus des Jahreslaufs schwingende Natur als verlorene Heimat entgegengehalten. In der Vorliebe für Herbststimmungen u. der in ihr erlebten

Literatur: Gruppe 61. Arbeiterlit. – Lit. der Arbeitswelt? Mchn. 1971. Michael Geiger / Red.

Wehrli, Peter K(onrad), * 30.7.1939 Zürich. – Schriftsteller, Fernsehjournalist. W., Sohn des Schriftstellers Paul Wehrli, studierte Kunstgeschichte in Zürich u. Paris. Seit 1965 ist er Kulturredakteur beim Schweizer Fernsehen. W. wirkte auch als Redaktionsmitgl. der Literaturzeitschrift »orte« u. Vizepräsident des eurobrasilian. Kulturzentrums »Julia Mann« in Paraty, Rio de Janeiro. Zahlreiche Reisen führten ihn nach Albanien, Bulgarien, Jugoslawien, nach Afrika, Südamerika, in den Nahen u. Mittleren Osten bis nach Indien. W. erhielt die Anerkennungsgabe des Kantons Zürich (1972, 1992, 1999) sowie die der Stadt Zürich (1999, 2008). Die Anfänge von W.s Schaffen liegen in Reiseberichten u. Reportagen. Die Reisetexte Ankünfte (Zürich 1969) sind eine Dokumentation von seiner 1964 zusammen mit Elisabeth Mann-Borgese unternommenen Autofahrt von Zürich nach Indien. Albanien. Reise

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ins europäische China (Zürich 1971) ist dagegen eine Reportage, in der die Beschreibung des Alltags im kommunistischen Albanien mit literar. Blick angereichert wird; aus satirischgrotesker Perspektive erscheinen darin die Spuren der Kulturrevolution in Albanien. Aus dieser Zeit kommt W.s Mitarbeit an der einmaligen Anthologie Dieses Buch ist gratis. Texte zeitgenössischer Schweizer Schriftsteller (zus. mit Theo Ruff. Zürich 1971), die kostenlos u. unkonventionell, auf Straßen, in Kneipen u. öffentl. Verkehrsmitteln verteilt wurde. Seine Spitzenleistung, der ursprünglich die Fahrt im Orient-Express 1968 von Zürich nach Beirut zugrundeliegt, ist der Katalog der 134 wichtigsten Beobachtungen während einer langen Eisenbahnfahrt (Zürich 1978), der vier Jahre vor der dt. Buchausgabe in engl. Sprache u. d. T. Catalogue of the 134 most important observations during a long railway journey (La Paz-Cochabamba/Bolivien 1974) erschien. Dieses Buch wurde im Laufe der Zeit ergänzt, neu gestaltet u. hatte weitere Editionen: Katalog von Allem (Zürich 1975 ff.; fortlaufende Textsammlung im Ringordner mit Nachlieferungen), Zelluloid-Paradies. Beobachtungen auf dem Markt der Mythen (Zürich 1978), Alles von Allem (Zürich 1982; bibliophile Ausgabe mit Radierungen von Alan Frederick Sundberg), Der Schweizer Katalog (Zürich 1975; 16 Nummern aus dem Katalog von Allem mit Grafiken von Hugo Suter), Katalog von Allem (Mchn. 1999; 1111 Nummern aus 31 Jahren), O Catálogo Brasileiro (Recife 2000; zweisprachige Ausgabe portugiesisch/dt. mit Illustrationen von J. Borges. Die Luxusausgabe der portugies. Fassung mit den Originalholzschnitten von J. Borges erschien u. d. T. O Catálogo Pernambucano), Der Bibersteinsche Katalog (Solothurn 2002; 36 Nummern aus dem Katalog von Allem), Der lateinamerikanische Katalog – El Catálogo Latinoamericano (La Paz-Cochabamba/ Bolivien 2005; 111 Nummern aus dem Katalog von Allem, zweisprachig dt./span.), O Novo Catálogo Brasileiro – Der Neue Brasilianische Katalog (Pernambuco/Brasilien 2006; 148 Nummern aus dem Katalog von Allem, zweisprachig portugiesisch/dt., illustriert mit Holzschnitten von J. Borges) sowie eine erweiterte Neuausgabe als Katalog von Allem. Vom Anfang bis zum Neubeginn (Zürich 2008; 1697 Nummern

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aus 40 Jahren). Abgesehen von der jeweiligen Variante ist Katalog von Allem eine Flut von Beobachtungen assoziativer Struktur, ein nicht zu Ende gehendes Register von vorurteilsfreien Reiseeindrücken u. Reflexionen (dem Verfasser zufolge: »Die Ergänzung der Wirklichkeit durch das Bild und nicht die Ergänzung des Bildes durch die Wirklichkeit«). Das Schreiben ist für W. ein Unterwegssein, bei dem sich entscheidet, was dem Leser zu vermitteln ist. In numerierten Eintragungen ist jedoch mehr als nur eine Reisevermittlung festgehalten. Katalog von Allem gleicht einer jahrzehntelang geführten Kulturchronik der Gegenwart, die in mancher Hinsicht an Ludwig Hohls legendäre Notate u. Sentenzen erinnert. Dem Katalog hat W. auch den Stoff für eine zusammen mit dem Musiker Werner Haltinner erarbeitete Performance u. d. T. Alles von Allem (Zürich 1986; mit einer Schallplatte) entnommen. Eine beachtenswerte Edition von W.s Texten ist der Jahreskalender Mit Peter K. Wehrli durch das Jahr 2005 (Zürich 2004; 365 Nummern aus dem Katalog von Allem), in dem bestimmte Fragmente aus dem Katalog den Tagen zugeordnet sind, an denen sich das Dargestellte zugetragen hat. Nicht wegzudenken aus W.s Schaffen sind auch zahlreiche Fernsehbeiträge, in denen mit besonderer Vorliebe die Kunst- u. Literaturszene der Avantgarde präsentiert wird. Seine Filmporträts widmete W. u. a. Jean Tinguely, Walter Mehring, Marcel Janco, Blaise Cendrars, Bernhard Luginbühl, Robert Rauschenberg, Max Frisch, Hugo Loetscher u. Peter Bichsel. Weitere Werke: ›Donnerwetter, das bin ja ich!‹ Eine Gegenüberstellung von Masken an einem ländl. Maskenball u. ihren Trägern. Fotos v. Ruedi Staub. Egg 1973. – Tingeltangel. Zürich 1982 (E.). – Charivari oder Änderung vorbehalten. Ein Stück für Clowns. Urauff. Zürich 1984. – Eigentlich Xurumbambo. Ein Grundbuch. Zürich 1992. – Fernsehbeiträge (Ausw., alle DRS): Wenn Steine reden könnten. 1975. – Staatenlos im Nirgendwo. Begegnung mit Walter Mehring. 1979. – Dada lebt nicht nur, Dada blüht! Begegnung mit Marcel Janco. 1984. – Die Welt heisst Brasilien. Auf den Spuren v. Blaise Cendrars. 1985. – Beruf: Schriftsteller (zus. mit Max Frisch u. Otto F. Walter). 1986. – Zeichen von Allem. Die Bilderwelt Brasiliens.

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1995. – Wenn es die Literatur nicht gäbe ... Stichworte zu Max Frisch. 1998. – ... ein Leben Lang am Leben geblieben. Der Autor Hugo Loetscher. 1999. – Wenn es keine Geschichten mehr gäbe ... Stichwörter zu Peter Bichsel. 2001. – Das kleine Europa. Die Schweiz der Familie Mann. 2004. – Die ganze Welt anmalen! 1968 u. was bleibt. 2008. Literatur: Dieter Fringeli (Hg.): Gut zum Druck. Lit. der dt. Schweiz seit 1964. Zürich/Mchn. 1972. – Dieter Bachmann (Hg.): Fortschreiben. 98 Autoren der dt. Schweiz. Zürich/Mchn. 1977. Zygmunt Mielczarek

Weibel, Peter, * 5.3.1945 Odessa. – Künstler, Ausstellungskurator, Medientheoretiker.

Werke: Kritik der Kunst. Kunst der Kritik. Es says & I say. Wien/Mchn. 1973. – Mediendichtung. In: Protokolle (1982), H. 2, S. 1–190. – Der künstl. Wille. Medienoper. Ars Electronica. Linz 1984. – Im Bauch des Biestes. Logokultur. Wien 1987. – Die Beschleunigung der Bilder. In der Chronokratie. Bern 1987. Wabern/Karlsr. 22003. – Inszenierte Kunstgesch. Wien 1988 (Ausstellungskat.). – Gamma u. Amplitude. Medien- u. kunsttheoret. Schr.en. Hg., komm. u. mit einem Vorw. vers. v. Rolf Sachsse. Bln. 2004. – Herausgeber: wien bildkompendium wiener aktionismus u. film (zus. mit Valie Export). Ffm. 1970. – Erw. Fotografie. Wien 1981. – Jenseits der Erde. Kunst, Kommunikation, Gesellsch. im orbitalen Zeitalter. Wien 1987. – Vom Verschwinden der Ferne. Telekommunikation u. Kunst (zus. mit Edith Decker). Köln 1990. – Bildlicht (zus. mit Wolfgang Drechsler). Wien 1991. – Strategien des Scheins (zus. mit Florian Rötzer). Mchn. 1993. – Cyberspace (zus. mit F. Rötzer). Mchn. 1993. – Kontextkunst. The art of the 90’s. Köln 1994. – Der Pavillion der Medien. Eine neue Gleichung zwischen Kunst u. Architektur. Wien/ New York 1995. – Evolutionäre Symmetrietheorie. Selbstorganisation u. dynam. Systeme (zus. mit Werner Hahn). Stgt. 1996. – Inklusion : Exklusion. Probleme des Postkolonialismus u. der globalen Migration (zus. mit Slavoj Zˇizˇek). Wien 1997. – Kunst ohne Unikat. Edition Atelier 1985–1998. Köln 1998. – net_condition. art and global media (zus. mit Timothy Druckrey). Cambridge, Mass. 2000. – Das neue Menschenbild. Zur Konstruktion des Humanen. P. Sloterdijk, M. Houellebecq, A. Finkielkraut, P. W. Karlsr. 2000. – Iconoclash. Beyond the Image Wars in Science, Religion, and Art (zus. mit Bruno Latour). Cambridge, Mass. 2002. – Future Cinema. The Cinematic Imaginary After Film (zus. mit Jeffrey Shaw). Cambridge, Mass. 2003. – Making Things Public. Atmospheres of Democracy (mit B. Latour). Cambridge, Mass. 2005.

W. kam 1945 mit seinen Eltern über Polen nach Österreich u. wuchs in Ried/Oberösterreich auf. Er studierte Medizin, Logik u. Philosophie in Paris u. Wien u. wurde mit einer Arbeit über mathemat. Logik promoviert. In den 1960er Jahren nahm er am sog. Wiener Aktionismus teil, u. a. an der Aktion »Kunst und Revolution« an der Universität Wien, die auch ein juristisches Nachspiel hatte. W.s ausgedehnte künstlerische, wissenschaftl., kuratorische u. pädagog. Tätigkeit ist für eine Evolution der Kunst engagiert, die sich an den medialen Produktionsverhältnissen bemisst. Waren es am Anfang seines Schaffens Texte, Bilder, Videos, Filme, der Körper selbst, die in seinen gesellschaftskrit. Kunstaktionen zum Einsatz kamen, ist seine Produktion u. Reflexion nun v. a. durch den Computer u. das Internet geprägt. W., stets Walter Ruprechter mit dem aktuellsten Stand der Theorien u. Kunstentwicklungen vertraut, ist an viele Weichmann, Christian Friedrich, * 24.8. Stellen als Vermittler berufen worden: als 1698 (a. St.) Harburg, † 4.8.1770 WolfenLehrer an Hochschulen in Kanada, Wien, New büttel. – Publizist, Herausgeber, Lyriker. York u. Sydney, als Kurator großer Ausstellungen wie die Biennale in Venedig, deren W. zog mit seiner Familie 1701 nach WolKommissär für Österreich er 1993–1999 war, fenbüttel u. 1710 nach Braunschweig, wo sein oder als Leiter von avantgardistischen Vater, dem er die Grundlage seiner Bildung Kunstprojekten u. -institutionen wie die Ars verdankte, Rektor des Martinsgymnasiums electronica in Linz (1992–1995) oder das In- war. Zum Wintersemester 1716/17 immatristitut für Neue Medien in Frankfurt/M. kulierte er sich an der Universität Halle u. (1989–1994). Seit 1999 leitet W. das Zentrum studierte nacheinander Philologie u. Jura. für Kunst und Medientechnologie in Karls- Mitte 1720 wurde er in Glücksburg Hausruhe. lehrer bei Herzog Philipp Ernst zu Schleswig-

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Holstein. Wahrscheinlich 1721 ging er nach Hamburg, wo er (nachweislich seit 1722) bis 1725 die Redaktionsgeschäfte für die »Gelehrten Sachen« der »Staats- und Gelehrten Zeitungen des Hollsteinischen unpartheyischen Correspondenten« besorgte u. 1724–1726 als Mitgl. der ersten Hamburger Patriotischen Gesellschaft (mit zieml. Sicherheit) federführender Koordinator u. Redakteur des »Patrioten« war (Neuaufl. hg. von Michael Richey. 3 Bde., Hbg. 1728/29. 21737/ 38. 31747. 41765. Neudr. nach der Ausg. 1724–26 kritisch hg. von Wolfgang Martens. 3 Bde. u. ein Kommentarbd., Bln. 1969–84). Im April u. Mai 1728 hielt er sich mit den Mitgliedern der »Patriot«-Redaktionsgemeinschaft Johann Julius Surland, Conrad Widow u. John Thomas in London auf u. wurde von der Royal Society of London seinerseits zum Mitgl. ernannt. Als Baccalaureus jur. der Universität Oxford kehrte W. nach Deutschland zurück u. erhielt Ende 1728 eine Anstellung bei Herzog Ludwig Rudolf in Blankenburg. 1729 trat er als Rat in die Justizkanzlei des Fürstentums ein. Als Ludwig Rudolf 1731 regierender Herzog zu Braunschweig und Lüneburg wurde, zog W. in dessen nunmehrige Residenz Wolfenbüttel. Im Auftrag seines Förderers, des Premierministers Hieronymus von Münchhausen, war er auch mit diplomatischen Missionen betraut. 1731 wurde er Geheimsekretär in der fürstl. Geheimratsstube, (um) 1734 Hofrat u. unter Herzog Karl I. 1737 zusätzlich Rat im Konsistorium, dessen Vorsitz er schließlich übernahm. Nach dem Tod Münchhausens 1742 machte W. keine weitere Karriere. Als der Hof 1753 Braunschweig zur Residenz erhob, blieb W. als Hof- u. Konsistorialrat in Wolfenbüttel. Wohl verlieh ihm in Anerkennung seiner literar. Verdienste die Deutsche Gesellschaft zu Göttingen 1754 die Ehrenmitgliedschaft, aber aus dem Konsistorium wurde er 1765 entlassen; er erhielt danach den Titel eines Geheimen Justizrats, jedoch gibt es keine Belege für irgendeine öffentl. Tätigkeit W.s während seiner letzten Lebensjahre. Die meisten Veröffentlichungen W.s stammen aus seiner in Hamburg verbrachten Zeit. Hier gab er 1721 den ersten Band von Bro-

Weichmann

ckes’ Irdischem Vergnügen in GOTT heraus u. edierte 1724 auch dessen zweite Auflage ebenso wie Postels zwischen 1698 u. 1701/ 1702 entstandenen Grossen Wittekind (Hbg. 1724). W.s Vorrede zusammen mit zwei die Ausgabe ergänzenden Registern ist die zweitälteste biobibliogr. Arbeit über Postel u. noch immer eine der wichtigsten u. materialreichsten Beschreibungen von dessen Leben. Zwischen 1724 u. 1726 lieferte W. die meisten im »Patrioten« erschienenen Aufsätze. Nachweislich von ihm sind die Stücke Nr. 1, 11, 14, 21, 24, 26, 45, 52, 65, 66, 71, 88, 97, 99, 104, 105, 117, 120, 134, 142, 145, 146, 153, 154 u. 156. Beteiligt war er an Nr. 23, 42 u. 93. 1727 gab er in Hamburg sowohl den zweiten Band des Irdischen Vergnügens als auch die dritte Auflage von Brockes’ Verteutschtem Bethlehemitischen Kinder-Mord heraus. Seine größte Leistung jedoch bleibt die sechsbändige Gedichtsammlung Poesie der Nieder-Sachsen (Hbg. 1721–38). Er selbst veröffentlichte die ersten drei Bände (1721–26), die letzten drei (1732–38) übernahm Johann Peter Kohl. W. hatte diese Anthologie als poetisches Organ der vormaligen »Teutschübenden Gesellschaft« (1715–17) geschaffen, zu deren Mitgliedern damals die angesehensten jungen Dichter Hamburgs zählten, u. so einem Wunsch Johann Albert Fabricius’, Michael Richeys u. Brockes’ entsprochen. In ihr erschienen immer wieder Gedichte, die in jenem Kreis mehrfach diskutiert u. verbessert worden waren, sowie sprachwissenschaftl. Aufsätze aus den »Acta manuscripta« der Gesellschaft. Die Sammlung, in der von Esmarch bis zu Hagedorn u. Wilckens über 70 Dichter hauptsächlich aus dem Niedersächsischen Kreis vertreten sind, stand anfangs im Übergang zwischen Barock u. Klassizismus u. öffnete sich unter frz. u. engl. Einfluss in zunehmendem Maße dem Rationalismus. Unter dem Herausgeber W., der selbst mit 140 Titeln in ihr hervortrat, wurde sie für eine Reihe von Jahren die bedeutendste dt. Anthologie. In seinen eigenen Gedichten steht W. der Hamburger Opern- u. Kantatendichtung oft näher als den Vorstellungen Gottscheds, dessen Anhänger er doch war. Viele Motive aus dem »Patrioten« finden sich in poetischer

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Verkleidung wieder – am glaubwürdigsten, Weidenheim, Johannes, eigentl. Ladiswenn W. von der Zuneigung spricht, die er laus Jakob Johannes Schmidt, auch: Erfür die dt. Sprache empfindet. Was sie diesem nest Waldteufel, * 25.4.1918 Topola krit. u. kämpferischen Geist verdankt, zumal (Batschka, Serbien), † 8.6.2002 Bonn. – durch seine Arbeit am »Patrioten«, wurde Erzähler, Lyriker, Journalist, Übersetzer. vergessen. Nicht vergessen dagegen wurde sein Name, aber nur, weil man ihn mit einer W.s Familie stammte von pfälz. Kolonisten oft erwähnten, wenn auch nachträglich ne- ab, die zur Zeit Josephs II. in der Wojwodina gativ beurteilten Gedichtsammlung verband. angesiedelt wurden. Sein Vater war Kanzlist – W.s Bildnis, von Balthasar Denner gemalt, in der Zuckerfabrik von Neuwerbaß, wo er in befindet sich in der Bodleian Library in Ox- einer multikulturellen Umgebung aus Donauschwaben, Ungarn, Juden, Serben u. ford. Roma aufwuchs. Er erlernte drei Sprachen Ausgaben: Poesie der Nieder-Sachsen [...]. 6 Bde., Hbg. 1721–38. Nachdr. hg. v. Jürgen Stenzel. (deutsch, ungarisch, serbokroatisch) u. überMchn. 1980. – Dass. Ebd. 1725–38. Internet-Ed. in: setzte auch aus dem Serbokroatischen (u. a. Erih Kosˇ, Miodrag Bulatovicˇ). W. besuchte in UB Greifswald. Literatur: Hans Schröder: Lexikon der ham- Neuwerbaß die Schule u. in den späten burg. Schriftsteller. Bd. 7, Hbg. 1879, S. 592 f. – 1930er Jahren eine Lehrerbildungsanstalt. Paul Zimmermann: C. F. W. In: ADB. – Amadeus Mit seinem Mentor Adalbert K. Gauß gab er Schmidt-Temple: Studien zur Hamburger Lyrik 1938–1940 den »Schwäbischen Volkserziedes 18. Jh. Diss. Mchn. 1898, S. 18–36. – Bruno her« heraus, in dem er erste Gedichte, KurzMarkwardt: Gesch. der dt. Poetik. Bd. 1, Bln. geschichten u. Aufsätze veröffentlichte. 1938/ 3 1964, Register. – Robert Paul Bareikis: The Ger- 39 unterrichtete er an der dt. Schule in Belman Anthology from Opitz to the Göttingen Mugrad, wo er 1941 für den Besatzungssender senalmanach. Diss. Harvard (masch.). Cambridge/ Mass. 1965, S. 226–271. – Elger Blühm: C. F. W. dienstverpflichtet wurde. Mit seiner ZugeRedakteur des Schiffheker ›Correspondenten‹. In: hörigkeit zur Waffen-SS setzte sich W. Ztschr. des Vereins für Hamburgische Gesch. 53 selbstkritisch in dem Roman Mensch, was für (1967), S. 69–78. – R. P. Bareikis: Die dt. Lyrik- eine Zeit oder Eine Laus im deutschen Pelz (Mchn. slg.en des 18. Jh. In: Die deutschsprachige Anth. 1968) auseinander. In diesem Werk schuf er Hg. Joachim Bark u. Dietger Pforte. Bd. 2, Ffm. die als alter ego fungierende Figur des Simon 1969, S. 48–139, bes. S. 58–62. – Jörg Scheibe: Der Lazar Messer, den er auf dem Rückzug nach ›Patriot‹ u. sein Publikum. Göpp. 1973, S. 44, Deutschland desertieren lässt. Im Frühjahr 96–100. – C. F. W.s Poesie der Nieder-Sachsen 1945 kam W. als Vertriebener nach Deutsch(1721–1738). Nachweise u. Register. Hg. Christoph land u. nahm den Namen Weidenheim (von Perels, Jürgen Rathje u. Jürgen Stenzel. Wolfenb. 1983, bes. S. 173–185. – Hans-Georg Kemper: Dt. Werbaß [vrba], serbokroatisch für Weide) an. Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. 5/2, Tüb. 1991, Re- Er arbeitete zunächst als Holzfäller u. Lehrer gister. – Ralph Häfner: Götter im Exil. Frühneu- in der Lüneburger Heide, später in Stuttgart. zeitl. Dichtungsverständnis im Spannungsfeld Von 1980 bis zu seinem Tod lebte er in Bonn. christl. Apologetik u. philolog. Kritik [...]. Tüb. Dem Thema Vertreibung widmete sich W. 2003, Register. – Wolfgang Lent: C. F. W. In: in seinem Werk immer wieder, ohne je in irBraunschweigisches biogr. Lex. 8. bis 18. Jh. Hg. gendeine Nähe zu revanchistischen PositioHorst-Rüdiger Jarck u. a. Braunschw. 2006, S. 729 f. nen zu gelangen. In seinem Roman Treffpunkt – Italo M. Battafarano: Dell’arte di tradur poesia [...]. Bern 2006, Register. – Paul Raabe: Leserleben. jenseits der Schuld (Gütersloh 1956), der die Geschichten v. Fürsten, Sammlern, Gelehrten u. Ereignisse der Jahre 1944–1946 im Nordosten Jugoslawiens behandelt, beleuchtet W. anderen Lesern. Zürich 2008, S. 90–95. Jürgen Rathje / Red. die histor. Vorgänge aus drei Perspektiven. Kontrastiv sind die deutsche (donauschwäbiWeida, Marcus von ! Marcus von Weida sche) des Erzählers u. die nationalserbische seines ehemaligen Kommilitonen Marko angelegt; ausgleichend tritt als dritte Stimme die des jüd. KZ-Heimkehrers Horowitz hin-

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zu, der mit der Sensibilität des Opfers den Disput in einen größeren europ. Kontext stellt. Mit einem Fokus auf binnendt. Aspekte widmete sich W. dem Thema Vertreibung noch einmal in der Novelle Lebenslauf der Katharina D. (Freilassing o. J. [1963]. Neuausg. u. d. T. Pannonische Novelle. Salzb. 1991). Im Mittelpunkt dieses Textes steht die einfache Bäuerin Katharina Delhaes, die ihren Mann im Ersten u. einen ihrer beiden Söhne im Zweiten Weltkrieg verliert. Mit dem Flüchtlingstreck zieht sie Richtung »Reich« u. bleibt in Wien hängen. Dort findet sie ihren zweiten, sterbenskranken Sohn u. lebt mit ihm in ärml. Verhältnissen. Nach seinem Tod wird sie in ein Flüchtlingslager überstellt u. lebt verbittert einem einsamen Tod entgegen. Ihr ganzer Lebensweg ist eine einzige Anklage der Hybris des dt. Nationalismus, den sie für ihr privates Desaster u. für die europ. Katastrophe verantwortlich macht. W. debütierte mit der Erzählung Nichts als ein bißchen Musik (Hbg. 1947. Neufassung u. d. T. Nur ein bißchen Musik. Braunschw. 1959), die bereits in sein Lebensthema einführt. Geschildert werden die Erlebnisse einer »Zigeunerbande« – so der lokale Name für eine Roma-Kapelle –, die in einer Kleinstadt in Südosteuropa noch vor dem Zweiten Weltkrieg zur Unterhaltung in einem Gasthaus engagiert ist. In dem Ort leben die Angehörigen der verschiedenen Ethnien noch recht friedlich zusammen. W. schuf bald darauf in seinen Erzählungen den fiktiven Ort Maresi (Ein Sommerfest in Maresi. Heilbr. 1956), der, inmitten der weiten Tiefebene Pannoniens liegend, zum Schauplatz seiner melancholischen, aber nie sentimentalen Beschwörung einer lebendigen multikulturellen Vergangenheit wurde. Der Ortsname spielt auf die österr. Kaiserin Maria-Theresia an, welche die Erschließung des im 18. Jh. noch weitgehend versumpften Landstrichs initiierte. Maresi wird zum Schauplatz zahlreicher Texte W.s, wo die große Welt in der kleinen ihre Probe hält. W. nennt sie sein »kleines Welttheater«. In der Sammlung maresian. Erzählungen Lied vom Staub (Salzb. 1992) u. in dem späten Roman Heimkehr nach Maresi (Salzb. 1994) erzählt W. episodenreich von dem Maresi der Zwischenkriegszeit. Es

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sind v. a. die Originale aus allen sozialen Schichten u. allen Ethnien, die W.s Werk eine unverwechselbare Qualität verleihen. Sei es die tragische Geschichte des kultivierten Juden Siegmund Krips, der vor der ideolog. Vergiftung Maresis durch die Propaganda der »Deutschländer« in den Suizid flüchtet, sei es die anrührende Figur des außerhalb jeder sozialen Ordnung stehenden Schneggretz, der für einen Krug Wein auf Bestellung prügelt u. eines Tages einen ausgesetzten Säugling findet, was seine von Demütigungen verschüttete Menschlichkeit reaktiviert: W. verfügt über die erzählerische Gabe, Figuren auf plast. Weise zu erschaffen, die im Gedächtnis haften bleiben. Hinzu kommt das spezifische landschaftl. u. histor. Kolorit des Handlungsorts. Angefangen vom Wind u. vom Licht über die Häuser u. Kirchen bis zu den Gesten u. Kleidungsstücken der Menschen besitzt alles Individualität. In Heimkehr nach Maresi erfolgt eine doppelte histor. Vertiefung. Zum einen tritt die Gegenwart des nach vierzig Jahren erstmals wieder nach Maresi kommenden Ich-Erzählers hinzu, zum anderen führt ihn seine Wiederbegegnung mit dem Ort der Herkunft zu Reflexionen über die multiethn. Kulturgeschichte Pannoniens, die bis zu den Awaren zurückreicht. Autobiografische Erzählungen finden sich auch in dem Band Maresi. Eine Kindheit in einem donauschwäbischen Dorf (Reinb. 1999), dessen erste Kapitel sich mit Tagebucheinträgen des Simon Lazar Messer über die Teilnahme an einer Pressekonferenz abwechseln. In diesen Intermezzi tritt die Figur Theodora auf, der W. seinen letzten Roman (Theodora. Weilerswist 1998) widmete. In der Erzählgegenwart Ende der 1970er Jahre liegt Theodora als moribunde Krebspatientin in einem Bonner Krankenhaus u. erhält jeden Tag Besuch von Janosch. Die beiden haben sich bei einer Vietnamdemonstration knapp zehn Jahre zuvor kennengelernt u. sind, beide Außenseiter, ein Paar geworden. Theodora entstammt einer pommerschen Pfarrersfamilie, Janosch, der als Übersetzer u. Dolmetscher sein Geld verdient, trägt erkennbar autobiogr. Züge. Abwechselnd wird von ihren gemeinsamen Reisen nach Südosteuropa, wo

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Janosch ihr z. B. Belgrad oder Dubrovnik zeigt, u. von Theodoras Lebensstationen, die über Dresden u. Berlin nach Bonn geführt hat, erzählt. Am Ende stirbt Theodora. W. erhielt u. a. den Bertelsmann-Romanpreis (1954), den Übersetzerpreis des serb. P.E.N.-Zentrums (1974), die Ehrengabe der Deutschen Schillerstiftung Weimar (1991) u. den Andreas Gryphius-Ehrenpreis (1996). Weitere Werke: Kale-Megdan. Hbg. 1948 (R.). – Der verlorene Vater. Mchn. 1955 (E.). – Das türk. Vaterunser. Gütersloh 1955 (R.). – Maresiana. Eine erzähler. Suite. Stgt. 1960. – Morgens zwischen vier u. fünf. Stgt. 1958. Neuausg. mit Illustrationen v. Kurt Eichler. Bln./DDR 1963 (E.en). – Gelassen bleibt die Erde aufgetischt. Stgt. 1961 (L.). – (Pseud. Ernest Waldteufel) Schultage. Stgt. 1961 (R.). – ›Meine Betroffenheit ist kaum zu beschreiben ...‹. Ein Gespräch mit J. W. In: Südostdt. Vierteljahresbl. 41 (1992), S. 287–297. – Herausgabe: Dt. Stimmen 56. Neue Prosa u. Lyrik aus Ost u. West (zus. mit Marianne Bruns). Stgt. 1956. Literatur: Karl-Markus Gauß: Maresi als Zentrum der Welt. J. W. In: Ders.: Die Vernichtung Mitteleuropas. Klagenf./Salzb. 1991, S. 185–198. – Peter Motzan: ›Maresi – mein kleines Welttheater‹. Der donauschwäb. Erzähler J. W. wird wiederentdeckt. In: durch aubenteuer muess man wagen vil. FS Anton Schwob. Hg. Wernfried Hofmeister u. Bernd Steinbauer. Innsbr. 1997, S. 324–336. – Sándor Komáromi: Pannon. Lebenswelt. Abbild, Traumbild u. Sinnbild einer zerstörten Region im Werk v. J. W. In: Schriftsteller zwischen (zwei) Sprachen u. Kulturen. Hg. Antal Mádl u. Peter Motzan. Mchn. 1999, S. 253–267. – Gerhard Zeillinger: Lieber Anatol! Nachruf auf J. W. In: LuK 37 (2002), H. 365/366, S. 15–19. – Ders.: J. W. In: KLG. – Thomas Kraft: J. W. In: LGL. Jürgen Egyptien

Weidig, Friedrich Ludwig (Alexander), auch: Freimund Hesse, * 15.2.1791 Oberkleen, † 23.2.1837 Darmstadt; Grabstätte: ebd., Alter Friedhof. – Politischer Publizist u. Lyriker. Der Sohn eines Oberförsters war »stets ein streng rechtlicher, moralischer Mann [...] ein großer Freund des Volks, ein lebhafter Vertheidiger seiner Rechte« (Noellner, S. 306 f.). W. studierte Theologie in Gießen (1808–1811) u. wurde 1822 dort zum Dr. phil. promoviert. Seine Ernennung zum Konrektor der 2. Butzbacher Knabenschule

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im März 1812 (28.12.1826 zum Rektor) war zgl. der Beginn seiner – auch Fecht-, Turn- u. Gesangsübungen einbeziehenden – polit. Erziehungsarbeit unter Schülern. Er wollte sie zu »ächten deutschen Männern« heranziehen (Noellner, S. 313). Auch außerhalb der Schule war W. politisch aktiv. 1814 begründete er mit die ›Deutsche Gesellschaft‹ in Butzbach, richtete den 1. Turnplatz im Großherzogtum ein u. galt als »einer der wichtigsten Factoren zu Entwerfung und Verbreitung einer Verfassung für das Großherzogthum Hessen« (Brief August Follens, 2.3.1819, cit. Braun, S. 227). Sein Unterricht führte 1818/19 zu einer ersten behördl. Untersuchung wegen des Verdachts »der Jugendverführung zu unruhigen und staatsgefährlichen künftigen Bürgern« (Gutachten des preuß. Commisairs, cit. Braun, S. 249), die jedoch ergebnislos verlief. – Nach dem endgültigen Sieg über Napoleon bei Belle Alliance (W. war 1814/15 Batallionsadjudant der Butzbacher Landwehr) stellte W. mit den Liederbüchlein aller Teutschen (o. O. 1815. Reprint in: Büchner-Jb. 8, S. 157–208) eine nur scheinbar unzeitgemäße Anthologie mit 43 schon einmal gedruckten Liedern u. Gedichten der Befreiungskriege (u. a. Arndt, Körner, Schenkendorf) zusammen. Seine vielfältigen Eingriffe in die Texte lassen die polit. Intention erkennen. Zwar scheinen einige, auch von W. stammende Verse für die Wiederherstellung des Kaiserreichs zu werben – denn dieses würde die absolutistische Macht der dt. Fürsten beschneiden, ein Ziel, das W. auch später mit unterschiedl. Mitteln verfolgte –, doch letztlich richtete sich das Liederbüchlein gegen den von Justus Gruner unterstützten Plan des Hoffmann’schen Bundes, den dt. Nationalstaat unter Preußens Führung notfalls mit militärischen Mitteln herbeizuzwingen, was jedoch die absolutistische Herrschaft eines Einzelstaates perpetuiert hätte (s. auch W.s krit. Artikel: Preußen und die Constitution in: Beiträge zur Erörterung vaterländischer Angelegenheiten. Hg. Heinr. K. Hofmann. Darmst. 1831, Bd. 1, S. 290–292). Für W. aber stand der Wille des Volkes im Vordergrund, selbst über seine polit. Zukunft zu entscheiden (Über den polit. Gebrauch der

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Sammlung in der Restaurationszeit s. Weber: Programm, S. 149 ff.). Nach der Pariser Julirevolution 1830 wurde W. publizistisch aktiv »mit erhöhter Begeisterung für eine gährende Entwicklung der Zustände Europas« (Zeuner in: Wilhelm Schulz: Ein wichtiges Zeugnis von Carl Zeuner [...]. Belle Vue 1846, S. 42). Er schrieb Artikel für ›ausländische‹ liberale Blätter (u. a »Hanauer Zeitung«, »Deutsche Tribüne«, »Das konstitutionelle Deutschland«, »Der Freisinnige«). Nach den repressiven Bundesbeschlüssen Juni/Juli 1832 als Reaktion auf das Hambacher Fest radikalisierte sich W.s Handeln. Denn eine Änderung der Verhältnisse schien »auf gesetzlichem Wege« (Noellener, S. 321 u. 334) illusorisch. Zwar kämpfte er weiter für die Einhaltung der hess. Verfassung (s. auch W.s Flugschrift Nachricht an die Freunde des Herrn Apothekers Trapp. Febr. 1834). Die von ihm redigierte u. wohl z.T. selbst verfasste Flugschrift Leuchter und Beleuchter für Hessen oder Hessens Nothwehr (Darmstadt [Oppenheim]. Hg. Freimund Hesse. 1.–4. Bl. Jan.–März 1834, 5. Bl. Nov. 1834) behandelte konstitutionelle Fragen u. warb für die Wiederwahl demokratischer Abgeordneter des am 2.11.1833 aufgelösten Landtags. Er veranstaltete u. a. Feste (Butzbach 13.6.1832, Vilbel 14.12.1833), die sowohl dem Kontakt zwischen oberhess., kurhess. u. Frankfurter Demokraten als auch zwischen Bürgern u. Bauern dienten. Gleichwohl übernahm W. mehr u. mehr die Rolle des Impulse gebenden Organisators der revolutionären Oppositionsbewegung. An regionalen u. überregionalen Treffen zur Vorbereitung des Frankfurter Wachensturms nahm er selbst oder durch Vertraute teil (Frankfurt/M. zwischen Juli u. Okt. 1832, Petterweil 1832 u. 1833), wenngleich er später dessen Zeitpunkt für verfrüht hielt. Als Rektor beurlaubt, reiste er im Mai/Juni 1834 im Rhein-Main-Gebiet, um die nach dem Scheitern der Erhebung abgerissenen »Verbindungen aller revolutionären Elemente wieder anzuknüpfen« (Noellner, S. 427). Auf Einladung W.s fand am 3.7.1834 auf der Badenburg bei Lollar eine Versammlung der Demokraten beider Hessen statt, um einen geheimen ›Pressversion‹ für Volksagitation durch Flugschriften zu gründen. Zu-

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dem billigte man seine mehr adressatenbezogene Bearbeitung Büchner’schen Manuskripts der von ihm so betitelten Flugschrift Der Hessische Landbote (Darmstadt [Offenburg] im Juli 1834; 2., gering veränderte Aufl. ebd. [Marburg] im Nov. 1834. Paralleldruck zuletzt: Studienausgabe. Hg. Gerhard Schaub. Stgt. 1996). Diese nach August Becker einzige »für die unterste Volksklasse geschriebene« Flugschrift, »die zum Verständniß und Herz des Volks gelangt[e]« (Die Volksphilosophie unserer Tage. Neumünster 1843, S. 29), versuchte die Bauern für eine Revolution zu gewinnen mittels Veranschaulichung ihres »materiellen Elends« u. ihrer Rechtfertigung durch Bibelzitate. Die jüngste Forschung (Mayer, S. 183–287) hat ermittelt, dass W. den ersten Teil der Büchner’schen Fassung leicht modifizierte, im zweiten jedoch nur »einzelne Gedanken, Inhalte, Bilder« (ebd. S. 266) übernahm (zusammenfassend Schaub S. 194 ff.). Nach dem gescheiterten Frankfurter Wachensturm (3.4.1833) saß W. für 43 Tage (Mai/Juli) in Arrest, ohne dass man seine Rolle bei den revolutionären Aktivitäten erkannt hätte. Jedoch misstrauisch geworden, versetzte man ihn im Sept. 1834 auf eine Pfarrstelle in Obergleen bei Alsfeld. Aufgrund von Gerüchten über seinen angebl. Versuch, demokratisches Gedankengut zu verbreiten, ließ die Kirche ihn heimlich überwachen (s. H.-O. Schneider). Verhöraussagen von Mitgliedern konspirativer Zirkel führten zu seiner Verhaftung am 24.4.1835. Die unmenschl. Behandlung im geheimen Inquisitionsprozess durch den alkoholkranken Untersuchungsrichter Georgi trieb W. in den erst durch dessen unterlassene Hilfe vollendeten Selbstmord. Sein Tod löste ein starkes publizistisches Echo in der dt. u. schweizerischen Tagespresse aus (s. Zimmermann: Freiheit, S. 178 ff.) sowie behördl. Rechtfertigungsversuche (u. a. [Martin] Schäffer: Actenmäßige Darstellung der [...] hochverrätherischen [...] Unternehmungen. Darmst. 1839; Vortragsfassung nach dem Ms. in: Görisch/Mayer, S. 257–346). Wilhelm Schulz’ anonyme Schrift Der Tod des Pfarrers Dr. F. L. W. [...] (Zürich/Winterthur 1843. Reprint Lpz. 1975) führte erneut zu einer heftigen publizisti-

Weidig

schen Kontroverse (Referat der Publikationen 1843 u. 1844 in: Kritische Jbb. der dt. Rechtswissenschaft, 9. Jg., Lpz. 1845, S. 260–272; s. auch Mihm, 1928, S. 589 ff.), da er die bis dahin geheimen Akten des W.Prozesses nutzen konnte, welche die »Rechtswidrigkeit, Gemeingefährlichkeit und Barbarei des geheimen Inquisitionsprozesses« (Wilhelm Schulz/Karl Welcker: Geheime Inquisition, Censur u. Kabinetjustiz im verderblichen Bunde. Karlsr. 1845, S. XII) öffentlich machte. W.s tragisches Schicksal wurde zum entscheidenden Argument der Liberalen im Kampf um die Öffentlichkeit von Anklageverfahren. Über den Politiker W. hat man dessen schmales lyr. Œuvre nahezu vergessen. Neun seiner singbaren Gedichte nahm er anonym in das von ihm herausgegebene Teutsche Gesangbuch auf (Selbstverlag Darmst./Hanau 1831), eine Anthologie als verdeckt polit. Protest angesichts des Vorgehens des hess. Militärs gegen vermeintl. Aufständische im oberhess. Bauernaufstand (Sept. 1830, ›Blutbad von Södel‹). Zusammen mit 18 weiteren (u. drei Predigten) publizierte sie Karl Buchner erneut in den von ihm herausgegebenen Reliquien [...] (Mannh. 1838), ein Titel, der W. zum Märtyrer erhob. Die Gedichte Dr. F. L. W.s (Mannh. 1847) vervollständigten die veröffentlichte Lyrik W.s um weitere 19 Arbeiten, die meist in der Haft entstanden waren. Seine nicht immer stilsicheren Verse – sie kreisen im Wesentlichen (wie auch seine geistl. Gedichte) um das Thema ›Recht und Freiheit‹ – verkörpern eine bes. Variante der polit. Lyrik der Restaurationszeit. Mehr hessisch-patriotisch denn dt.-national u. zum Teil Denk- u. Bildvorstellungen älterer patriotischer Lyrik verpflichtet, kennzeichnen sie eine fast private, doch dialogisch strukturierte Sprechhaltung, die polit. Metaphorisierung der Natur, didakt. Ausdeutung, wobei W. meist von Wahrnehmung u. Wissen des Lesers ausgeht, sowie eine mittelbare christl. Legitimation der entworfenen polit. Utopie (ein einiges, rechtl. Zustände genießendes Deutschland; Einheit der drei Hessen; Liebe als Prinzip sozialen u. polit. Verhaltens; Hessen als Keimzelle der Umgestaltung Deutschlands). W. hat fast ganz darauf ver-

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zichtet, seine Verse in den polit. u. publizistischen Meinungs- u. Willenbildungsprozess einzubringen. Lyrik schien für ihn vornehmlich ein Medium der Vergegenwärtigung der eigenen Liebe zu Heimat u. Nation wie der Selbstvergewisserung sozialer u. polit. Werte gewesen zu sein. – W. war auch Thema in Literatur u. Film. Zuletzt die Titelgeschichte in Jörg Amann: Tod Weidigs. Acht Erzählungen (Mchn. 1989). Ausgabe: Ges. Schr.en. Hg. Hans-Joachim Müller. Darmst. 1987. Literatur: Karl Buchner: Totenschau: W., gest. den 23. Febr. 1837. In: Literar. u. krit. Bl. der Börsenhalle. [Hbg.] 1837, Nr. 1360–1362 (Mai), S. 494 ff. Erw. in: Reliquien. Mannh. 1838, S. 1–32. Erw. in: Die Männer des Volks. Bd. 7. Hg. Eduard Duller. Ffm. 1849, S. 3–64. – Friedrich Noellner: Actenmäßige Darlegung des wegen Hochverraths eingeleiteten Verfahrens gegen Pfarrer Dr. F. L. W. Darmstadt 1844. – L[eopold] Fr[iedrich] Ilse: Gesch. der polit. Untersuchungen. Ffm. 1860 (Reprint Hildesh. 1975). – Karl Mihm: Alexander F. L. W. Ein Beitr. zur Gesch. des vormärzl. Liberalismus. In: Archiv für hess. Gesch. u. Altertumskunde N. F. 15 (1928), S. 348–384, 574–608. – Thomas Michael Mayer: Büchner u. W. [...] Zur Textverteilung des ›Hessischen Landboten‹ In: Text u. Kritik. Sonderbd. Georg Büchner 1/2, 1979, S. 16–298 (21982). – Reinhard Görisch u. Thomas Michael Mayer (Hg.): Untersuchungsberichte zur republikan. Bewegung in Hessen 1831–1834. Ffm. 1982. – Harald Braun: Das polit. u. turner. Wirken v. F. L. W. 2., erg. u. durch Dokumente erw. Auflage. St. Augustin 1983. – Erich Zimmermann: Ärzte, Richter, Angeklagte. Die polit. Prozesse in Hessen-Darmstadt. In: Archiv für hess. Gesch. u. Altertumskunde N. F. 43 (1985), S. 271–350. – Ders.: Für Freiheit u. Recht. Darmst. 1987. – Ders.: Karl Buchners Nachrufe auf Büchner u. W. In: GeorgBüchner-Jb. 6 (1990), S. 296–302. – Magistrat der Stadt Butzbach (Hg.): F. L. W. Neue Beiträge [...]. Ffm. 1991. – Ernst Weber: ›Vaterlandsliebe‹. F. L. W.s polit. Lyrik. In: Das Wartburgfest u. die oppositionellen Bewegungen in Hessen. Hg. Burghard Dedner. Marburg 1994, S. 183–224. – Ders.: Ein antiabsolutist. Programm in Versen. F. L. W.s Liederbüchlein aller Teutschen (1815). In: GeorgBüchner-Jb. 8 (1994), S. 126–209. – Klaus Schmidt: F. L. W. u. die Theologie des ›Hessischen Landboten›. In: Sozialer Protestantismus im Vormärz. Hg. Martin Friedrich. Münster u.a. 2001, S. 155–164. – Hans-Otto Schneider: F. L. W. (1791–1837) als Pfarrer in Obergleen. In: Jb. der Hess. Kirchenge-

Weidner

213 schichtl. Vereinigung 58 (2007), S. 167–203. – Ders.: F. L. W. In: Bautz 28 (2007), Sp. 1551–1578. Ernst Weber

Weidmann, Paul, getauft (?) 26.3.1748 Wien, † 9.4.1801 Wien. – Dramatiker, Epiker.

Joseph von Sonnenfels degradiert. Seine zahlreichen Eingaben u. Denkschriften irritierten den Hof durch ihren demokratischen Tonfall. 1792 wurde W. in den vorläufigen Ruhestand versetzt, 1798 in subalterner Stellung reaktiviert. Weitere Werke: Pedro u. Ines. Wien 1771 (D.). – Anna Boulen. Ebd. 1771 (D.). – Der adeliche Tagelöhner. Ebd. 1780 (Singsp.). – Der Held im gemeinen Leben. Dessau/Lpz. 1783 (R.). – Der Almanach der Liebe. Ebd. 1783 (L.). – Moralische Erzählungen. Lpz. 1795.

W. u. sein jüngerer Bruder Josef, der später ein bekannter Schauspieler wurde, besuchten das Akademische Gymnasium; beide prägte die jesuitische Schulspieltradition. W. trat Literatur: Rudolf Payer v. Thurn: P. W., der 1767 in den Staatsdienst u. veröffentlichte Wiener Faust-Dichter des 18. Jh. In: Jb. Grillparzer seit 1771 Dramen, insg. mehr als 65. Gesellsch. 13 (1903), S. 1–74. – Kurt Adel: P. W. In: Klassizistisch aufgebaut, verbinden sie Jb. der Gesellsch. für Wiener Theaterforsch. 12 aufklärerisches Gedankengut u. aktuelle (1960), S. 127–178 (mit Bibliogr.). – Ders.: Faust, Zeitbezüge (Die Folter. Wien 1773. Der Fabri- der verlorene Sohn des Barockzeitalters. Untersukant. Ebd. 1789) mit der lebendigen Wiener chungen zu ›Johann Faust‹ v. W. In: Jb. des Wiener Theaterpraxis. Die Stoffe, breit gefächert, Goethe-Vereins N. F. 67 (1963), S. 40–65. – Werner reichen vom Exotischen (z. B. Hababah, oder die M. Bauer: Dichtungstheorie u. ErscheinungsforEifersucht im Serail. Ebd. 1772) über Histori- men des österr. Romans vom 18. zum 19. Jh. In: Die sches (v. a. Stephan Fädinger. Salzb. 1781; von österr. Lit. [...] 1750–1830. Hg. Herbert Zeman. Goethes Götz beeinflusst) bis hin zur Lokal- Tl. 2, Graz 1979, S. 623–652, bes. 639–645. – ˇ posse. Großen Erfolg hatte W. mit Sing- u. Frantisˇek Cerny´ : Die erste dt. Bearbeitung des Faust-Stoffes in der Form des ›regelmäßigen‹ Lustspielen (v. a. Der Bettelstudent. Ebd. 1776. Schauspiels [...]. In: Europ. Mythen der Neuzeit: Die schöne Wienerin. Ebd. 1776). Johann Faust Faust u. Don Juan. Hg. Peter Csobádi u. a. Bd. 2, (ebd. 1775), das erste dt. Kunstdrama des Anif, Salzburg 1993, S. 397–404. – Marcel A. IbiStoffs, hielt man zeitweilig für Lessings kunle: P. W. Sein Werk u. die histor. Situation. Werk; doch verdankt der Held seine Erlösung Diss. Salzb. 1993. Ulrike Leuschner / Red. hier weniger den Aufklärungsgedanken als vielmehr einem mild-kath. Wiener SpätbaWeidner, Johann Leonhard, auch: Grarock. tianus Leosthenes Salicetus, * 11.11.1588 W.s Habsburger-Epos Karlssieg (ebd. 1774) Ottersheim/Pfalz, † 5.2.1655 Heidelberg. feiert denn auch die Gegenreformation. In – Späthumanist, Schulmann, Dichter u. der als zweiter Teil beigegebenen Abhandlung Kompilator. von der Epopee betonte er in Anlehnung an Gottsched den staatstragenden Nutzen der W., Sohn eines reformierten Pfarrers in OtGattung; in diesen »moralischen Endzweck« tersheim, besuchte seit 1600 das Gymnasium (S. 6) aber könne ein genialer Dichter das u. spätestens seit 1608 die Universität zu Wunderbare zur Freude des Lesers sehr wohl Heidelberg, wo er mit Georg Michael Linintegrieren. gelsheim u. Julius Wilhelm Zincgref W., der sieben Sprachen beherrschte, chif- Freundschaft schloss. Früh zeigte sich eine frierte Diplomatenpost im Geheimen Kabi- Neigung zur lat. Dichtung u. zur Kompilanett des Kaisers. 1786 erschien Der Eroberer. torik, steuerte W. doch einzelne Sprichworte Eine poetische Phantasie in fünf Kaprizzen (Wien/ zum Florilegium Ethico-Politicum (Ffm. 1610/ Lpz.); wie der Untertitel vermuten lässt, 11) seines akadem. Lehrers Janus Gruter bei. schrieb W. hier vor der Zeit ein Stück romant. Seit 1612 als Lehrer am fürstl. Pädagogium in Dichtung. Diese formal virtuose, inhaltlich Neuhausen bei Worms angestellt, blieb W. heftige Satire gegen den Absolutismus kos- zeitlebens Schulmann, wurde aber von den tete ihn wohl seine anspruchsvolle Position; konfessionellen Umbrüchen in der Pfalz u. er wurde zum Dienst in der Hofkanzlei unter im Klevischen immer weiter nach Norden

Weier

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verschlagen: Elberfeld (1615–1619), Konrek- helm Crecelius: Die Anfänge des Schulwesens in tor in Montjoie (1619–1622) u. Düsseldorf Elberfeld. Tl. III. Programm Elberfeld 1886. – (1622), Rektor in Duisburg (1623–1636), Theodor Verweyen: Apophthegma u. Scherzrede. Konrektor in Nijmegen (1636–1648) u. Bad Homburg 1970, S. 127 f. – Hans-Henrik Krummacher: ›Laurea Doctoralis Julii Gulielmi Maastricht (1648–1650). Erst 1650 kehrte er Zincgrefii‹ (1620). Ein Heidelberger Gelegenheitsin die alte Heimat Heidelberg zurück, der er druck für J. W. Zincgref mit einem unbekannten literarisch stets verbunden geblieben war. Gedicht v. Martin Opitz. In: Opitz u. seine Welt. FS Bereits 1619 gab er die Triga Amico-Poetica George Schulz-Behrend. Hg. Barbara Becker-Can(Heidelb.) heraus, worin er eigene, Zincgrefs tarino u. Jörg-Ulrich Fechner. Amsterd./Altanta, u. des inzwischen verstorbenen G. M. Lin- GA 1990, S. 341–344. – T. Verweyen: Pluralisiegelsheims Kasualdichtungen als Dokument rung u. Autorität an der Schwelle zur Literaturreder Heidelberger Freundschaft sammelte. volution um 1600. In: Maske u. Mosaik. Poetik, Seit 1625 mit Anna Maria, der Cousine J. W. Sprache, Wissen im 16. Jh. Hg. Jan-Dirk Müller u. Jörg Robert. Bln./Münster 2007, S. 365 f. – Jost Zincgrefs verheiratet, avancierte er nach des- Eickmeyer: J. L. W. Freund, Biograf u. literar. Erbe sen Tod zu dessen Nachlassverwalter u. gab Julius Wilhelm Zincgrefs. In: Julius Wilhelm seine Der Teutschen scharpfsinnige kluge Sprüch (2 Zincgref u. der Heidelberger Späthumanismus. Zur Tle., 1626 u. 1631) in neuen Auflagen heraus, Blüte- u. Kampfzeit der calvinist. Kurpfalz. Hg. fügte, gestützt auf Zincgrefs Material u. ei- Wilhelm Kühlmann u. Hermann Wiegand. Ubgene Sammlungen, noch einen dritten Teil stadt-Weiher u. a. 2011, S. 471–512. Dietmar Peil / Jost Eickmeyer (Teutscher Nation APOPHTHEGMATVM dritter Theil. Leiden 1644) hinzu, dem er auch eine bis heute nur teilweise überholte Vita Zinc- Weier, Wey(r)er, Wier(us), Wierius, Johann, grefs beifügte. Um zwei weitere Teile ver- auch: Piscinarius, * zwischen 24.2.1515 u. mehrt, wurde diese Sammlung von Aussprü- 24.2.1516 Grave/Nordbrabant, † 24.2. chen, Inschriften u. Devisen oft nachgedruckt 1588 Tecklenburg. – Dämonologe u. Arzt. u. sogar ins Niederländische (Amsterd. 1669) übersetzt. Aus W.s Leben im konfessionellen Als Sohn eines wohlhabenden Patriziers beGrenzgebiet gehen seine teils anonym oder suchte W. die Lateinschulen zu ’s-Hertogenunter Pseudonym publizierten, scharf polem. bosch u. Löwen u. ging 1532/33 nach Bonn zu anti-kath. Schriften hervor, u. a. das Gedichte, Agrippa von Nettesheim, als dessen Schüler Apophthegmen u. gelehrten Kommentar er sich später bezeichnete. Das 1534 in Paris kombinierende Elixir Jesuiticum (1640. Stark aufgenommene Medizinstudium setzte er seit 1537 in Orléans fort; eine Promotion zum verm. 21645), das er zur Hundertjahrfeier der Dr. med. ist unwahrscheinlich. Seit 1545 Societas Jesu (1640) gegen dieselbe in Stelwirkte W. als Stadtarzt in Arnheim, wo er lung bringt. 1548 ein medizinisches Gutachten im Prozess Das mit dem von W. oft genutzten Verfasgegen einen Wahrsager erstellte. Von 1550 bis serkürzel J.L.W. erschienene Werk Magdebur1578 diente W. als Leibarzt des Herzogs gisches kurtzes Chronicon (Magdeb. 1672 u. ö.) Wilhelm III. von Jülich-Kleve-Berg; Nachfolwird ihm sicher fälschlich zugeschrieben. ger im Amt wurde sein Sohn Galenus Weier. Weitere Werke: Jubileum sive Speculum Je- Bei einem Besuch der gräfl. Familie in Tecksuiticum. o. O. 1644. – Hispanicae Dominationis lenburg verstarb W. u. wurde in der SchlossArcana. Leiden 1643. – Julius Wilhelm Zincgref: kirche beigesetzt (Gedenktafel). W.s ReligiTeutsche Apophtegmata, das ist Der Teutschen Scharfsinnige kluge Sprüche. Bd. 2. Tl. 3: Teut- onszugehörigkeit ist umstritten. W.s Werk De praestigiis daemonum et incanscher Nation Apophthegmatum aus allerhand tationibus ac veneficiis libri V (Basel 1563. 61583; Schriften, Mittheilungen anderer Leute, Täglicher anhör- und anmerckungen zusammengetragen zahlreiche Übersetzungen ins Engl., Frz. u. durch J. L. W. Hildesh. 2006 [Nachdr. der Ausg. Niederl.) greift die teufl. Magie u. das HeAmsterdam 1653]. xenwesen an. Während W. für die Magier die Literatur: Ludwig Fränkel: J. L. W. In: ADB. – Todesstrafe forderte, bezeichnete er die HeToepke II (1886), S. 240 (als ›Weisnerus‹). – Wil- xen als vom Teufel verführte Frauen, die der

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Weigand

Heilung bedürfen. Eine unautorisierte Über- Zur Interpr. eines kulturhistor. Phänomens. Hg. setzung Johann Fuglins u. d. T. Von Teufelsge- Hans de Waardt. Bielef. 2005, S. 89–105. Wolf-Dieter Müller-Jahncke spenst Hexen und Unholden (Basel 1656. Nachdr. Darmst. [um 1975]) bekämpfte W.; eine eigene Übersetzung W.s kam 1567 u. neuerWeigand, Wilhelm, * 13.3.1862 Gissiglich 1578 (Nachdr. Amsterd. 1967) ohne heim/Baden,, † 20.12.1949 München. – Druckortangabe auf den Markt. Gegen W.s Erzähler, Dramatiker, Lyriker, Essayist, Schrift De lamiis (Basel 1577. Ebd. 21582. Dt. Herausgeber. u. d. T. Von Teuffelsgespenst, Zauberern und Giftbereytern. Ffm. 1586), einen nur die Hexen W. absolvierte sein Studium der Philosophie, behandelnden Auszug aus De praestigiis dae- Kunstgeschichte u. Romanistik in Brüssel, monum, nahm Jean Bodin Stellung u. forder- Paris u. Berlin. Seit 1889 lebte er in München, te, die Hexen ebenso wie die Magier mit dem wo er 1896 in die staatl. Kommission zum Tode zu bestrafen. Von W.s wenig erforschten Ankauf moderner Kunst berufen wurde. W. medizinischen Schriften erlebte allein ein dt. machte Bekanntschaft mit Dehmel, WedeArtzney Buch (Ffm. 1580) zwei weitere Ausga- kind, Hartleben, Bierbaum u. pflegte Bezieben (1583. 1588. Nachdr. Tecklenburg 1988). hungen zum Leibl-Kreis. 1904 war er MitbeWeitere Werke: Medicarum Observationum gründer der »Süddeutschen Monatshefte«. rararum Liber I. Basel 1567. 21657. – De com- 1917 erhielt er den Professorentitel. W. hinmentitiis jejuniis. Ebd. 1577. – De irae morbo. Ebd. terließ ein in den verschiedenen Gattungen 1577. breites, thematisch u. stilistisch vielfältiges Ausgaben: Opera omnia. Amsterd. 1659. Ebd. Werk. Bei gleichzeitiger Absage an den 2 1660. – George Mora (Hg.): Johannes Wier. Wit- »blutrünstigen Stil des Naturalismus« steht ches, devils and doctors in the Renaissance – De es im Spannungsfeld von realistischer ErPraestigiis daemonum. Binghampton 1991. – Ben- zähltradition, neuromant. Tendenzen u. jamin G. Kohl u. Erik Midelfort (Hg.): On WitchElementen der Heimatkunst. craft. An Abridged Translation of Johann Weyer’s Die frühe Lyrik (Rügelieder. Mchn. 1892. In De Praestigiis Daemonum. Ashville 1998. – Interder Frühe. Bln. 1901. Der verschlossene Garten. net-Ed. mehrere Werke in: VD 16. Lpz. 1909) ist durch eine symbolhafte BilLiteratur: Bibliografie: VD 16. – Weitere Titel: 2 Carl Binz: Doctor J. Weyer. Bln. 1896. – Leonhard dersprache geprägt, in der die (religiösen) Dooren: Dr. J. Wier, Leven en Werken. Diss. Utrecht Existenzgefühle des Subjekts beschworen 1940. – J. J. Cobben: J. Wier. Zijn opvattingen over werden. Die Romane Die Frankenthaler (Lpz. 1889), bezetenheid, hekserij en magie. Assen 1966. – Ders.: Jan Wier, devils, witches and magic. Phil- Wendelins Heimkehr. Eine Erzählung aus der adelphia 1976. – Wolf-Dieter Müller-Jahncke: Fremdenlegion (Mchn. 1927), Die Rote Flut. Der Astrologisch-mag. Theorie u. Praxis in der Heil- Münchner Revolutions- und Rätespuk (ebd. 1933) kunde der frühen Neuzeit. Stgt. 1985. – H. C. Erik suchen die regionalen u. politisch-sozialen Midelfort: J. Weyer and the Transformation of the Aspekte zeitgenöss. Realität aufzuzeigen, Insanity Defense. In: The German People and the bleiben aber hinter ihrem Anspruch zurück. Reformation. Hg. Ronnie Po-Chia Hsia. Ithaca/ Aus dem novellistischen Werk ragen die London 1988, S. 234–262. – Marion Scheele: Vom Wirken des Teufels in der Welt. Eine Analyse des unter dem Einfluss der Philosophie NietzTeufelsbildes in De praestigiis daemonum von J. sches stehenden Künstlernovellen heraus. Weyer. Magisterarbeit FU Bln. 1996. – Michaela Zeittypisch – Spiegelbild einer morbiden, Valente: J. Wier agli albori della critica razionale krisenhaften Atmosphäre – zeigen sie die dell’occulto e del demoniaco nell’Europa del Cin- Dissonanz zwischen Kunst u. Leben. Die in quecento. Florenz 2003. – Renate S. Klinkert: Von dem Band Von festlichen Tischen (Bln./Lpz. Besessenen, Melancholikern u. Betrügern. J. We- 1918) erschienenen Novellen Ballade in Moll u. yers ›De praestigiis daemonum‹ u. die UnterscheiDie beiden Weltaugen sowie Der Messiaszüchter dung der Geister. In: Dämonische Besessenheit. (Mchn. 1914) beschreiben die Problematik des exzentrischen, kränkelnden KünstlerBohemiens: die Gefahr des reinen Ästheten-

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tums, die Gratwanderung zwischen Selbsterkenntnis u. -täuschung sowie die Wechselbeziehung von Lebensmüdigkeit, Resignation, Einsamkeit u. der Intensität des Erlebens in der Welt des Traums, der Fantasie u. des Pseudosakralen. Diese Novellen sind teils versteckte Autobiografien, die W. in Welt und Weg (Bonn 1940) als umfassende Dokumentation seines Münchner Künstlerlebens vorlegte. Weitere Werke: Ess.s. Mchn. 1891. – Der neue Adel. Ebd. 1893 (D.). – Friedrich Nietzsche. Ebd. 1893 (Ess.). – Sommer. Ebd. 1894 (L.). – Macht. Ebd. 1895 (D.). – Das Elend der Kritik. Ebd. 1895 (Ess.s). – Moderne Dramen. Ebd. 1900. – Lolo. Eine Künstlerkomödie. Ebd. 1904. – Novellen. 2 Bde., ebd. 1904 u. 1906. – Der Gürtel der Venus. Ebd. 1908 (D.). – Stendhal u. Balzac. Lpz. 1911. – Psyches Erwachen. Ebd. 1912 (D.). – Der Ring. Ebd. 1913 (N.). – Die Hexe. Ebd. 1920 (N.). – Der Ruf am Morgen. Tüb. 1941 (N.). – Venus in Kümmelburg. Halle 1942 (N.). Literatur: Wilhelm Holzamer: W. W. In: Das literar. Echo 5 (1902/1903), S. 156–158. – Hans Ueberschaer: W. W.s histor. Dramen. Diss. Breslau 1920. – Ernst Alker: W. W. In: Dichtung u. Volkstum 41 (1941), S. 486–495. – Willibald Reichwein: Das badische Frankenland im Spiegel seiner Dichter. In: Badische Heimat 35 (1955), 1, S. 61–73. – Hans Dieter Schmidt: Eine Grabkapelle als Dichterstätte. W. W. in Gissigheim. In: Carlheinz Gräter u. H. D. Schmidt: ›...muß in Dichters Lande gehen...‹. Dichterstätten in Franken. Mchn./Bad Windsheim 1989, S. 178–182. – C. Gräter: Franke mit Formwillen ohne Publikums-Fortune – zum 50. Todestag v. W. W. In: Frankenland 51 (1999), H. 6, S. 471–473. Gabriela Walde / Red.

Weigel, Erhard, * 16.12.1625 Weiden/ Oberpfalz, † 21.3.1699 Jena. – Mathematiker, Astronom, Pädagoge, Baumeister u. Erfinder. Der Sohn des Tuchmachers Michael Weigel besuchte die Schule im brandenburg-bayreuthischen Wunsiedel, wohin die protestantische Familie 1628 musste; wie Böhmen war auch die Oberpfalz nach der Niederlage des Winterkönigs (1620) zur Beute einer gewaltsamen Rekatholisierung geworden. Nach dem Besuch der Schulen in Wunsiedel u. dem Tod des Vaters 1636 war W. gezwungen, neben der Ausbildung am Gymnasium in Halle

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(1644–1648) als Schreiber bei dem Astronomen Bartholomäus Schimpfer zu arbeiten, wo er auch das astrolog. Handwerk lernte: Nativitäten zu erstellen, Prognostiken auszuarbeiten, Hauskalender, Wettervorhersagen u. allerlei Wahrsagereien zu verfassen. Weiter in die Praxis der angewandten Mathematik wurde er von dem Erzdiakon Jakob Elrode in Wunsiedel eingeführt. 1648 begann er mit dem Studium an der Leipziger Universität (dort 1652 Magister legens). Durch erfolgreichen Privatunterricht machte er sich früh bekannt, u. die Zusammenarbeit mit dem Kommandanten der Pleißenburg, dem gelehrten Obersten Basilius Tittel, vertiefte die philosophische u. prakt. Ausbildung, die weitgehend autodidaktisch war. Vielleicht wegen seines Profils als tüchtiger Lehrer u. viel versprechender Praktiker wurde W. schon 1653 auf den Lehrstuhl für Mathematik (Mathesis) in Jena berufen, wo er bis zu seinem Tod lehrte u. wiederholt als Dekan u. Rektor amtierte. Während der folgenden Jahrzehnte war es vornehmlich W. zu verdanken, dass Jena zeitweise zur Universität mit den meisten Studenten nach Leipzig aufrückte. W.s Fähigkeiten u. Aktivitäten waren außerordentlich vielseitig. Schon aufgrund der durch die Herkunft erzwungen autodidaktischen Ausbildung nahm seine Gelehrtenkarriere einen eigentüml. Verlauf, u. er lässt sich nur schwer den gewöhnl. Kategorien eines Polyhistors oder Universitätslehrers zuordnen. Diese in vieler Hinsicht ungewöhnl. Statur machte ihn anziehend für Studenten u. Gelehrte in ganz Deutschland. Er war der hochgeschätzte Lehrer von Samuel Pufendorf (1656) u. Leibniz (1663). Eine üble Nachrede, der auch Leibniz folgte, wollte wissen, Pufendorf habe seine Konzeption des Naturrechts einfach einer Vorlesung W.s entnommen. Bei Reimmann findet man die Bezeichnung des »Jenschen Archimedes«, u. nicht selten wurde er als »Tausendkünstler« bestaunt. Die Mathematik, u. damit auch die Astronomie, war Zentrum seines Denkens, aber trotz der mehr als 100 Publikationen war keine der Pioniergestalten der Neuen Wissenschaft so wenig nur Philosoph, Theoretiker u. schreibender Gelehrter wie W. Expe-

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riment u. prakt. Umsetzung waren das A u. O auch der abstraktesten seiner Reformideen. »Zudem ist stets zu beachten, daß Weigel sein Gesamtwerk pädagogisch aufgefaßt wissen will« (Hestermeyer, 1969). Philosophisch steht W. in der Tradition des protestantischen Aristotelismus. Man müsse den »echten« Aristoteles dem »WortGezänck« der Scholastik entgegensetzen, bei ihm finde man bereits die Logik auf das feste Fundament der Mathematik gestellt (Analysis aristotelica ex Euclide restituta, genuinum sciendi modum, et nativam restauratae philosophiae faciem per omnes disciplinas et facultates ichnographice depingens [...]. Jena 1658: ›eine in allen ihren Disziplinen aus ihrer ursprünglichen Gestalt erneuerte Philosophie‹). Die Syllogistik verglich er mit einer »zahnlosen Säge, welche immer an der Rinde bleibt« (De supputatione multitudinis [...]. E. W. [Präses]; Caspar Bussing [Respondent]. Jena. 1679). Die Mathematik nach dem axiomat. Modell des Euklid ist die einzige Wissenschaft, die wirkl. Wissen ermöglicht, als »Scientia generalis« ist Mathematik vollständiges Modell für alles Denken (Philosophia mathematica, theologia naturalis solida [...]. Jena 1693 [Widmung an die Royal Society, London]). Ebenso charakteristisch wie auch für die Zeitgenossen etwas merkwürdig ist die fundamentale Rolle, die W. dem Rechnen, der Rechenkunst (also der ›niederen Mathematik‹) zuschreibt, die für ihn so etwas wie eine ›prima philosophia‹ ist. Das Rechnen definiert geradezu das Wesen des Menschen; der Mensch ist für ihn gewissermaßen nicht ›Zo¯on politikón‹ oder ›Zo¯on lógon échon‹, sondern ›arithmetikón‹: »Nicht durch die Sprache unterscheidet sich der Mensch von den Tieren«, sondern durch die Fähigkeit zu Rechenoperationen (Grundmäßige Aufflösung des militar-Problematis, warum doch der Türck dem Christen nunmehr weichen müsse? Jena 1689). W. versteht die Rechenkunst in der Nachfolge des Raimundus Lullus als universelle »Ars inveniendi«. Sie ist für ihn das Gegenprinzip zur scholast. Begriffsanalyse, »der Natur gemäß« u. darum die sicherste Stütze auch der Theologie. Nur die Theologen selbst waren davon nicht erbaut, wie auch Vertreter anderer Disziplinen an der Universität, die sich gegen W.s Grenzüber-

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schreitungen zur Wehr setzten. Schon 1658 wurde von ihm eine verpflichtende Erklärung gefordert, dass er künftig »keine Collegia außer seiner Profession [...], sondern einig und allein der Matheseos Professioni« halte u. darauf achte, »daß kein Collega eines Ein- oder Vorgriffs sich zu beschweren haben solle.« Die »rechnende Ableitung« (Von der Würkung des Gemüths, die man das Rechnen heist. Jena 1684) dient der Analyse der Dinge, deren Verhältnis zueinander selbst von der Natur der Zahlenverhältnisse ist. Dies führt zu einer Zeichentheorie u. zur Idea matheseos universae cum speciminibus inventionum mathematicarum (Jena 1669. 1687; dt.: Mathematische KunstÜbungen [...]. Jena 1670, mit den Beschreibungen mehrerer techn. Erfindungen; Widmungsbrief für B. Tittel). Sein Bestreben, »das mysterium trinitatis aus den principiis geometricis zu demonstriren«, führte erneut zu einem Konflikt mit der Theologischen Fakultät, u. er wurde zum Widerruf genötigt. W. ging explizit auf die pythagoreische Zahlenmystik zurück u. gründete eine »Societas Pythagorea«. Auch die »Tugendlehre« (Ethik) fußt auf der »Rechnung« u. zumal der pythagoreischen Vierzahl als universellem Ordnungsprinzip (der »Tetraktik«, der er den Vorzug gibt gegenüber dem sonst in unserer Kultur bevorzugten triad. u. Trinitäts-Denken; vgl. das Werk über die »Tugendrechnung«: Aretologistica [...]. Nürnb. 1687, u. Tetractys, summum tum arithmeticae tum philosophiae discursivae compendium, artis magnae sciendi genuina radix. Jena 1673). Gleiches gilt von der Erziehungslehre, die W. nicht auf die drei Trivialfächer, sondern auf die disziplinäre Vierzahl des Quadriviums gründet (bes. Wienerischer Tugend-Spiegel [...]. Nürnb. 1687). Seine private »Kunst- u. Tugendschule«, für die er in Jena auf privatem Grund 1688 ein eigenes Gebäude errichtete, sucht Prinzipien jener ›realistischen‹ Pädagogik jenseits der humanistischen Wortwissenschaften zu verwirklichen, die Comenius nahestehen, mit dem ihn auch in seinem Streben nach einer »Scientia generalis« vieles verband. Seine Schule soll ohne Belohnung u. Strafe auskommen, allgemeine Schulversorgung, Gebührenfreiheit u. sogar eine Vorschulerziehung (Kindergärten) werden ins Auge gefasst.

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Zu den Attraktionen gehörte die in Jena in der unteren Johannisstraße 1667–1670 erbaute »Domus Weigeliana«, Wohnhaus des Professors u. architektonisch-physikalischastronomisches Lehrmodell in einem. Es wurde 1897/98 abgerissen. Der überlieferten Modellzeichnung nach war es, zusammen mit dem hohen Erdgeschoss, ein dreistöckiges, prächtiges Gebäude, dessen Dachgeschoss alleine wiederum drei Fensterreihen übereinander aufwies. Vom Keller bis zu einem quadrat. Türmchen mit Flachdach auf der Spitze des Daches verlief ein offener Schacht, um den eine Wendeltreppe gebaut war. Er konnte mit dunklen Tüchern verhängt werden, wodurch ein Lichtschacht entstand, durch den man auch bei Tage den Himmel beobachten konnte, eine Art architekton. Teleskop. In dem Schacht war auch eine Art Aufzug installiert, ein nach dem Prinzip des Flaschenzugs auf u. nieder schwebender Fahrkorb, den man bei Gelegenheit der Himmelsbeobachtung wohl beiseite stellen konnte. Das als berühmte Kuriosität bestaunte Haus beherbergte auch weitere »Inventionen« des Erfindergeistes des sächsisch-weimarischen Baudirektors W. (zu den Erfindungen bes. Neu-erfundener Hauß-Rath [...]. Jena o. J. [1672], u. Vorstellung der Kunst- und Handwercke [...]. Jena 1672). Zu den bleibenden Leistungen W.s gehört seine Arbeit für die »Kalendervereinigung« (u. Kalenderbereinigung), d. h. die Durchsetzung des astronomisch genaueren Gregorianischen Kalenders (seit 1582) auch in den protestantischen Territorien. Auch der reformierte Kalender war zunächst noch mit Kompromissen belastet, die erst im späteren 18. Jh. bereinigt wurden. W. legte seinen Plan zuerst im Speculum temporis civilis (Jena 1664) u. mehreren anderen Schriften dar. In den Kalender- u. Kometenschriften lässt sich auch seine zunehmende Distanzierung von allem astrolog. Aberglauben verfolgen. 1697 konnte er seine Vorschläge dem Reichstag zu Regensburg persönlich vortragen (Unmaßgebiger Vorschlag [...]. Regensb. 1697). Die formelle Verkündung des »Reichskalenders« Ende 1699 hat W. nicht mehr erlebt. Auch den Plan eines »Collegium Artis Consultorum«, einer Art Reichsbehörde für Patente sowie eine

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zentrale Aufsicht über das Kalenderwesen hatte er bei seinem Besuch in Regensburg vorgelegt. Nach W. sind ein Mondkrater u. der Orbit eines Asteroiden benannt. Die im Dez. 2003 in Jena gegründete E.-W.-Gesellschaft fördert die Erforschung von Leben u. Werk W.s im Kontext der Gelehrtenrepublik der Frühen Neuzeit. Weitere Werke: Diss. metaphysica prior: De existentia; Diss. metaphysica posterior: De modo existentiae, qui dicitur duratio. Lpz. 1652. – Commentatio astronomica de cometa novo qui sub finem anni 1652 [...] illuxit. Jena 1653. – Geoscopiae Selenitarum, hoc est Discursus astronomici de figura, magnitudine, luce, maculis, phasibus, eclipsibus et motibus telluris e luna spectatae. E. W. (Präs.); Heinrich Schomberg, Theophil Wild, Andreas G. Seiffart (Respp.). 3 Tle., Jena 1654. – Astronomiae pars sphaerica methodo euclidea conscripta. 3 Tle., Jena 1657. – Speculum uranicum aquilae romanae sacrum, das ist, Himmels Spiegel [...]. Jena 1661. – Augustissimo romanorum imperatori Leopoldo I. [...] hoc speculum uranico-romanum [...]. o. O. 1661 (Einblattdr.). Internet-Ed. in: VD 17. – De demonstratione aristotelico-euclidea. Tractatus rerum scibilium ichnographicam delineationem una complectens [...]. Lpz. 1662. – Speculum terrae, das ist, Erd-Spiegel [...]. Jena 1665. – Dissertationem politicam de ratione status [...] sisto Philipp Otto Gercken (Resp.); E. W. (Präs.). Jena 1667. – Synopsis jurisprudentiae mnemoneutica [...]. Ffm./Jena 1669. – Pancosmus aethereus et sublunaris [...]. Jena 1670. Dt.: Ober- u. Unter-Welt [...]. (Jena) 1670. – Wasser-Schatz, zur Rettung in Feuers-Gefahr [...]. Jena 1671. – Universi corporis pansophici prodromus de gradibus humanae cognitionis [...]. Jena 1672. – Tetractyn tetracty pythagoreae correspondentem, ut primum disceptationum suarum specimen [...] exponit Societas pythagorea [...]. Jena 1673. Internet-Ed. in: SLUB Dresden. – Universi corporis pansophici caput summum [...]. Jena 1673. – Bequeme Feld-Kutzsche, vornehmlich im Krieg [...] zu gebrauchen. Jena (1673). Internet-Ed. in: SLUB Dresden. – Arithmet. Beschreibung der Moral-Weißheit von Personen u. Sachen [...]. Jena 1674. – Pendulum ex tetracty deductum. E. W. (Präs.); Heinrich Christoph Ebel (Resp.). Jena 1674. – Cosmologia nucleum astronomiae et geographiae [...] tradens. Jena 2 1680 (zuerst 1671). – Himmels-Zeiger der Bedeutung aller Dinge dieser Welt [...]. Jena 1681. – Kurtzer Entwurff der [...] Kunst- u. Tugend-Lehr, vor Trivial u. Kinder-Schulen [...]. Jena 1682. – Unmaßgebiger Vorschlag die Zeit-Vereinigung auf das leichteste u. beständigste zu treffen. Regensb.

219 1697. Erw. ebd. 1699 durch: Rechenschafftl. Verzeichnüß des grossen Nutzens [...] von der Bestellung eines Collegii Artis Curiosorum [...]. – Kurtze Relation, wie die chaldäische Warsagerey in die Calender der Christen sich hat eingeflochten. Nürnb. 1698. Ausgaben: Ges. pädagog. Schr.en. Hg. Hermann Schüling. Gießen 1970. – Werke. 4 Bde. Hg. Thomas Behme. Stgt.-Bad Cannstatt 2003 ff. (in Bd. 1 Einl. des Hg.: E. W., Stationen seines Wirkens). – Internet-Ed. vieler Werke in: VD 17. Literatur: Bibliografien: In: Edmund Spieß: E. W. [...]. Lpz. 1881. – Wilhelm Hestermeyer: Originalarbeiten E. W.s. In: Ders.: Paedagogia mathematica. Paderb. 1969, S. 292–310. – Hermann Schüling: E. W. Gießen 1970. – Wilhelm Totok: Hdb. der Gesch. der Philosophie. Bd. 4, Ffm. 1981, S. 376–379. – VD 17. – Weitere Titel: Zedler, Bd. 54 (1747). – Friedrich Bartholomäi: E. W. In: Zeitschr. für Mathematik u. Physik 13, Suppl. (1868), S. 1–44. – Ders.: E. W. In: Zeitschr. für exacte Philosophie 9 (1871), S. 250–275. – August Israel: Die pädagog. Bestrebungen E. W.s. Zschopau 1884. – Peter Petersen: Gesch. der aristotel. Philosophie im protestant. Dtschld. Lpz. 1921. – Max Wundt: Die Philosophie an der Univ. Jena [...]. Jena 1932. – Herbert Schöffler: Dt. Geistesleben zwischen Reformation u. Aufklärung. Ffm. 1956. – Werner Mägdefrau: E. W.s Wirken in Jena [...]. In: Gesch. der Univ. Jena [...]. Hg. Max Steinmetz. Bd. 1, Jena 1958, S. 128–140. – Christa Schaper: Neue archival. Forsch.en zur Lebensgesch. v. Prof. E. W. In: Archiv für Gesch. v. Oberfranken 39 (1959), S. 97–140, 141–155 (W.-Schüler). – Wolfgang Röd: E. W.s Lehre von den entia moralia. In: Archiv für Gesch. der Philosophie 51 (1969), S. 58–84. – W. Hestermeyer: Paedagogia mathematica. Idee einer universellen Mathematik als Grundlage der Menschenbildung in der Didaktik E. W.s. Paderb. 1969 (mit Werkverz. u. Bibliogr.). – Eduard Winter: E. W.s Ausstrahlungskraft. In: Studia Leibnitiana 3 (1971), S. 1–5 (mit weiteren Beiträgen über W.). – Konrad Moll: Der junge Leibniz. Bd. 1: Der Anschluß an E. W.s Scientia generalis. Stgt. 1978. – Ders.: Eine unausgetragene Kontroverse zwischen G. W. Leibniz u. [...] E. W. In: Studia Leibnitiana, Suppl. 21 (1980), S. 112–125. – Ders.: Von E. W. zu Christiaan Huygens. In: Studia Leibnitiana 14 (1982), S. 56–72. – Hans Rainer Lindner: E. W.s ›Idea matheseos universae‹. In: Wiss. u. Verantwortung in der Gesch. Jena 1987, S. 28–33. – Ders.: Von W.s ›Idea matheseos universae‹ über Leibniz’ ›Lingua universalis‹ bis zu Freges ›Lingua characterica‹. Untersuchungen zur Entwicklung der Logik an der Univ. Jena. Habil.-Schr. Jena 1988. –

Weigel HKJL Bd. 2, Sp. 729–748 u. Register. – E. W., 1625 bis 1699. Barocker Erzvater der dt. Frühaufklärung. Hg. Reinhard E. Schielicke u. a. Thun/Ffm. 1999. – Ueberweg, 17. Jh. Bd. 4/2, S. 948–957. – Stefan Kratochwil: Ernst der Fromme u. E. W. In: Ernst der Fromme (1601–1675). Wiss. Beiträge u. Kat. zur Ausstellung Hg. Roswitha Jacobsen. Bucha b. Jena 2002, S. 249–260. – Johann Dorschner: E. W., ein Jenaer Universalgelehrter u. früher Erfinder techn. Geräte. In: Jenaer Jb. zur Technik- u. Industriegesch. 6 (2004), S. 9–31. – K. Moll: Das W.-Projekt. Versuch einer Rekonstruktion des Selbstverständnisses von E. W. In: Philosophia Mathematica. Die Philosophie im Werk von E. W. Hg. Stefan Kratochwil. Jena 2005, S. 65–102. – James G. O’Hara: ›Eine Schwebefahrt zu vielerleyen Nutzen in so mancherley Gestalt‹. Leibniz’s reaction to the pedagogical methods and to the school reform project of his former mathematics profesor E. W. (1625–1699). In: Einheit in der Vielheit. VIII. Internat. Leibniz-Kongress. Vorträge 2. Tl. Hg. Herbert Breger u. a. Hann. 2006, S. 737–742. – Stefan Samerski: Auf Comenius’ Schultern, nicht nur in der Pädagogik. E. W. u. seine europ. Konzeptionen. In: Comenius-Jb. 16/17 (2008/09), S. 72–91. – Kommunikation in der Frühen Neuzeit. Hg. Klaus-Dieter Herbst u. S. Kratochwil. Ffm. u. a. 2009 (Verz. der Briefe von u. an E. W.). – Peter Brachwitz u. Edith Koller: Resonanz auf Pluralisierung. Das ›Corpus Evangelicorum‹ als Autorität in konfessionellen Konflikten [auch über die Kalenderreform v. 1699/1700]. In: Pluralisierungen. Konzepte zur Erfassung der Frühen Neuzeit. Hg. Jan-Dirk Müller u. a. Bln./New York 2010. – E. W. u. die Theologie. Münster (in Vorb.). – Welterklärung in der zweiten Hälfte des 17. Jh. Wiesb. (in Vorb.). Herbert Jaumann

Weigel, Hans, * 29.5.1908 Wien, † 12.8. 1991 Maria Enzersdorf/Niederösterreich; Grabstätte: Wien, Zentralfriedhof. – Erzähler, Dramatiker, Essayist, Kabarettist, Theaterkritiker, Übersetzer. W. arbeitete nach der Matura als Volontär bei der Zeitschrift »Die literarische Welt« in Berlin (1927/28), war nach seiner Rückkehr nach Wien seit 1933 Kabarettist an der Kleinkunstbühne »Literatur am Naschmarkt« u. bearbeitete Opernlibretti (u. a. Ralph Benatzkys Axel an der Himmelstür. 1936). 1938 emigrierte er in die Schweiz, kam aber nach Kriegsende als einer der ersten Emigranten zurück u. wurde Mitarbeiter der

Weigel

konservativen Literaturzeitschrift »Der Turm«, veröffentlichte den in der Schweiz geschriebenen »utopischen Gegenwartsroman« Der grüne Stern (Wien 1946. 2008), in dem er die Absurdität der immer auf irrationalen Aspekten beruhenden Diktaturen verdeutlicht – im Roman ist es die ideolog. Grundlage der vegetar. Diät – u. brachte am 28.1.1946 sein Stück Barabbas oder Der fünfzigste Geburtstag (Wien 1946) an der »Studiobühne« in Wien zur Uraufführung. Darin erlebt ein Mann an seinem Geburtstag in loser Bildfolge sein bisheriges Leben als Mitläufer bei gesellschaftl. Veränderungen noch einmal, ein Leben der verpassten Gelegenheiten. 1946 begann W. auch seine einflussreiche Tätigkeit als Theaterkritiker in Wien (u. a. bei »Neues Österreich«, »Kurier«; vgl. die Sammlung Tausend und eine Premiere. Wiener Theater 1946–1961. Wien 1961. Erw. u. d. T. 1001 Premiere. Hymnen und Verrisse. 2 Bde., Graz/Wien/Köln 1983). Für die Schriftstellergeneration der Nachkriegszeit war W. Entdecker (u. a. von Ingeborg Bachmann u. Gerhard Fritsch) u. Förderer; die von ihm herausgegebene Anthologie Stimmen der Gegenwart (1951–1954) war ihr Publikationsforum. In seinen Essays (Flucht vor der Größe. Beiträge zur Erkenntnis und Selbsterkenntnis Österreichs. Wien 1960. 2008) versuchte W. eine eigenständige, sich von der deutschen unterscheidende Entwicklungslinie der österr. Literatur nachzuweisen, die ihre Wurzeln bei Johann Nestroy u. Karl Kraus hat. Er selbst verstand sich als Sprachkritiker in dieser Tradition (Die Leiden der jungen Wörter. Ein Antiwörterbuch. Zürich/Mchn. 1974). W. übersetzte auch Dramen Molières. Weitere Werke: Johann Nestroy. Velber bei Hann. 1967. – Karl Kraus oder Die Macht der Ohnmacht. Versuch eines Motivenberichts zur Erhellung eines vielfachen Lebenswerks. Wien/Ffm./ Zürich 1968 (Ess.). – Das Land der Deutschen mit der Seele suchend. Bericht über eine ambivalente Beziehung. Zürich/Mchn. 1978 (Ess.). – Ad absurdum. Satiren, Attacken, Parodien aus drei Jahrzehnten. Graz/Wien/Köln 1980. – Gerichtstag vor 49 Leuten. Rückblick auf das Wiener Kabarett der dreißiger Jahre. Ebd. 1981. – Das Schwarze sind die Buchstaben. Ein Buch über dieses Buch. Ebd. 1983.

220 – Nach wie vor Wörter. Literar. Zustimmungen, Ablehnungen, Irrtümer. Ebd. 1985 (ges. Literaturkritiken). – Man kann nicht ruhig darüber reden. Umkreisung eines fatalen Themas. Ebd. 1986. – Man derf schon. Kaleidoskop jüd. u. a. Witze. Ebd. 1987. – Das Abendbuch. Ebd. 1989. – Das Scheuklappensyndrom. Undisziplinierte Gedanken über Mitläufer u. nützl. Idioten. Ebd. 1990. – Spitzen, Splitter & Chansons. Ausgew. Texte. Hg. Elfriede Ott. Wien 2005. – Niemandsland. Ein autobiogr. Roman. Hg. E. Ott u. Veronika Silberbauer. Ebd. 2006. – In die weite Welt hinein. Erinnerungen eines krit. Patrioten Hg. Elke Vujica. St. Pölten 2008. Literatur: Elisabeth Pablé: H. W. Hauptberufl. Österreicher. In: LuK 3 (1966), H. 25, S. 304–308. – Ingo Baumann: Über Tendenzen antifaschist. Lit. in Österr. Analysen zur Kulturztschr. ›Plan‹ u. zu Romanen v. Ilse Aichinger, Hermann Broch, Gerhard Fritsch, Hans Lebert, George Saiko u. H. W. Diss. Wien 1982. – Kurt Klinger: Er hat ein ganzes Volk als Publikum. Laudatio auf H. W. In: LuK 18 (1983), H. 173/174, S. 158–163. – Sigrid SchmidBortenschlager: Die Etablierung eines literar. Paradigmas. H. W.s ›Stimmen der Gegenwart‹. In: Lit. in Österr. v. 1950–1965. Mürzzuschlag 1985, S. 38–51. – Walter Obermaier: H. W. Leben u. Werk. Zum 80. Geburtstag. Wiener Stadt- u. Landesbibl. Wien 1988. – Elfriede Ott: H. W. quergelesen. Graz/Wien/Köln 1994. – Dies. (Hg.): Das 1000jährige Kind. H. W. u. sein Österr. Ebd. 1996. – Elke Vujica (Hg.): Im Dialog mit H. W. Freunde u. Weggefährten erinnern sich. Ebd. 1998. – Jürgen Lütz: ›was bitter war u. dich wachhielt‹. Ingeborg Bachmann, H. W. u. Paul Celan. In: ›Displaced‹. Hg. Peter Goßens u. Marcus G. Patka. Ffm. 2001, S. 109–118. – Magdalena Sekulska: H. W. als Musikkritiker: kulturwiss., autobiogr. u. literar. Anspielungen in den Musikfeuilletons ›Apropos Musik‹ (1965). In: Der Hüter des Humanen. Hg. Edward Bial/ek. Dresden u. a. 2007, S. 203–215. – Daniela Strigl: H. W., Friedrich Torberg u. die Nachwelt. Krit. Bilanz eines Jubiläumsjahres. In: LuK 43 (2008), H. 429/430, S. 23–31. Alfred Strasser / Red.

Weigel, Valentin, * 7.8.1533 Großenhain/ Sachsen, † 10.6.1588 Zschopau/Sachsen. – Lutherischer Theologe u. Philosoph. W. entstammte wohl einer armen Familie; er besuchte 1548/49–1554 als Stipendiat die Fürstenschule in Meißen. 1554–1563 studierte er – auch als kurfürstl. Stipendiat – in Leipzig Theologie, aber auch Naturwissen-

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schaften. Sein Studium setzte er 1563–1567 in Wittenberg fort. Dort hat er möglicherweise auch schon gelehrt. Im Nov. 1567 wurde W. in das einträgl. Amt eines Pfarrers von Zschopau eingeführt, das er bis zu seinem Tod innehatte. Zu seinen Lebzeiten blieb W. unauffällig. Er unterschrieb die Konkordienformel (1577), publizierte fast nichts. Erst seit 1609 wurde eine Vielzahl seiner Traktate, Abhandlungen u. Predigten veröffentlicht; vielleicht kursierten sie schon zu seinen Lebzeiten in Abschriften. Sie wurden von den Kirchenbehörden u. zum Teil vom Staat mit erbittertem Hass verfolgt. Die Bezeichnung »Weigelianer« galt etwa ein halbes Jahrhundert als das Äußerste der Opposition gegen Staat u. Kirche; W.s Lehren wurden mit Thomas Müntzers Auffassungen verglichen. W. hatte Anhänger aus unterschiedlichsten Gesellschaftsschichten in fast allen protestantischen dt. Regionen; er wirkte prägend auf Jakob Böhme, die Ausformung der Rosenkreuzerideen u. auf spiritualistische bzw. apokalypt. Denker des 17. Jh. in Deutschland bis hin zum radikalen Pietismus. Auch Johann Arndt berief sich auf ihn. Die Weigelianer bildeten keine Organisation, sie blieben Einzelgänger. 1624 u. noch 1721 wurden W.s Schriften in Sachsen öffentlich verbrannt. Sie riefen auch eine umfangreiche Anti-Weigel-Literatur hervor; 1721 werden 36 Schriften gegen W. genannt. W.s Theologie u. seine Erkenntnislehre bewegen sich in den Bahnen des Neuplatonismus. Seine Bestreitung der menschl. Natur Christi fügt sich in eine im frühen Christentum beginnende häret. Entwicklungslinie ein. W. nahm vornehmlich Ideen des jungen Luther, des Paracelsus (bzw. paracelsistischer Schriften) u. der Mystik auf. Er schloss dabei an den radikalen Flügel der Reformation, bes. an Sebastian Franck an. In seiner Kirchen- Oder Hauspostille (Newenstatt 1617) u. seinem Dialogus de Christianismo (1618) stellt W. seine theolog., naturwissenschaftl. u. philosophischen Auffassungen konzentriert dar. Er fordert ein inneres Christentum; der Mensch tritt mit Gott direkt in Beziehung, der Vermittlung durch Priester u. Kirche bedarf es nicht. W. unter-

Weigel

scheidet inneren u. äußeren Menschen, inneren u. äußeren Christus. Das Äußere ist nahezu belanglos. Der Mensch ist ein Mikrokosmos, der alle Bestandteile des Makrokosmos in sich birgt. Gotteshäuser sind überflüssig, Gottes Tempel ist der Mensch selbst. Ein jeder Mensch kann Christus, d. h. vergottet werden, wenn er den alten Adam ablegt. Auch Christus, das Paradies u. die Hölle nehmen nicht irgendeinen Ort ein, sondern sind im Menschen, stehen allein im Geist. Das Mensch-Gott-Welt-Verhältnis ist nur über die coincidentia oppositorum begreifbar. Der Gülden Griff (Halle 1613) ist W.s erkenntnistheoret. Hauptwerk. W.s Erkenntnislehre, auf die Hugo von St. Viktor großen Einfluss hatte, betont die aktive Seite der Erkenntnis u. enthält Momente des Rationalismus. W. unterscheidet sinnl., vernünftige u. geistl. Erkenntnis. Die beiden Letzteren kommen nur dem Menschen zu; die geistl. Erkenntnis ist mit der Seele verbunden. Die Fähigkeit zum Urteil u. zur Erkenntnis hat jeder Mensch in sich. Der Mensch vermag auf ihn einwirkende Eindrücke der Außenwelt zu verarbeiten; dabei geht W. von der Existenz eingeborener Ideen aus. Zur Erkenntnis gehört das Sinnesorgan, der Gegenwurf (das Objekt) u. ein Medium zwischen Sinnesorgan u. Objekt. Das menschl. Erkenntnisstreben birgt die Möglichkeit des Irrtums in sich. Der Mensch kann den Irrtum überwinden u. das Nichtwissen ausschalten. Dazu besitzt er einen »Güldenen Griff«, ein inneres Organ. Auch Subjekt- u. Objektsphäre des Menschen sind für W. eine Einheit von Gegensätzen. W. lehnte die Kirchenspaltungen ab; er forderte religiöse Toleranz. Die weltl. Obrigkeit habe sich in kirchl. Angelegenheiten nicht einzumischen; Beichte, Abendmahl u. andere Sakramente seien ebenso wie theolog. Streitigkeiten überflüssig. Der Mensch besitzt für W. die Anlagen, selbst Gott werden zu können; christliche Obrigkeit ist ein Widerspruch in sich. Der Herrschaft der Kirchen u. der Geistlichkeit stellte W. die Selbstständigkeit des Subjekts in Glaubenssachen gegenüber. Er predigte einen leidenden Glauben, mit Müntzers Kreuzestheologie verwandt. Kirche sei stets Kirche der Armen; im

Weikard

Reich Gottes werde es keine ständ. Hierarchie, weder Priester noch Adlige noch Gelehrte geben. Vor Gott seien alle Menschen gleich. W. ist eine der Schlüsselfiguren im oppositionellen Denken in Deutschland zwischen Reformation u. Aufklärung. Eine genaue Untersuchung seiner Einflüsse auf Persönlichkeiten u. Gruppen des 17. Jh. sowie eine Darstellung des Verhältnisses des Weigelianismus zu den spiritualistischen Denkern zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges, zu Böhme u. zum radikalen Pietismus steht noch aus. Die Trennung der Pseudoweigeliana von den echten Schriften W.s ist wohl weitgehend abgeschlossen. Ausgaben: Sämtl. Schr.en. Hg. Will-Erich Peuckert u. Winfried Zeller. Lfg. 1–7, Stgt. 1962–78. – Ausgew. Werke. Hg. u. Einl. Siegfried Wollgast. Bln. 1977. Stgt. 1978. – Sämtl. Schr.en. Hg. u. Einl. Horst Pfefferl. 14 Bde., Stgt.-Bad Cannstatt 1996 ff., bisher ersch. Bd 2: De vita beata. De luce et caligine divina. Vom seligen Leben. 2009. Bd 3: Vom Gesetz oder Willen Gottes. Gnothi seauton. 1996. Bd. 4: Gebetbuch (Büchlein vom Gebet). Vom Gebet. Vom Beten u. Nichtbeten. 1999. Bd. 7: Von Betrachtung des Lebens Christi. Vom Leben Christi. De vita Christi. 2002. Bd. 8: Der güldene Griff. Kontroverse um den ›Güldenen Griff‹. Vom judicio des Menschen. 1997. Bd. 9: Seligmachende Erkenntnis Gottes. Unterricht Predigte. Bericht vom Glauben. 1997. Bd. 11: Informatorium. Natürl. Auslegung v. der Schöpfung. Vom Ursprung aller Dinge. Viererlei Auslegung v. der Schöpfung. 2007. Bd. 12, 1/2: Kirchen- oder Hauspostille. 2010. Literatur: Johann Gottlob Reichel: Vita, Fata et Scripta M. Valentini Weigelii ex genuinis monumentis comprobata atque a compluribus naevis ac lapsibus purgata [...]. Diss. Wittenb. 1721. – Julius Otto Opel: V. W. Lpz. 1864. – August Israel: M. V. W.s Leben u. Schr.en. Zschopau 1888. – Hans Maier: Der myst. Spiritualismus V. W.s. Gütersloh 1926. – Fritz Schiele: Zu den Schr.en V. W.s. In: ZKG 48, N. F. 11 (1929), S. 380–389. – Winfried Zeller: Die Schr.en V. W.s. Bln. 1940. – Gerhard Krodel: Die Anthropologie V. W.s. Phil. Diss. Erlangen 1948. – W. Zeller: Naturmystik u. spiritualist. Theologie bei V. W. In: Epochen der Naturmystik. Hg. Antoine Faivre u. Rolf Christian Zimmermann. Bln. 1979, S. 105–124. – Horst Pfefferl: V. W. u. Paracelsus. In: Salzburger Beiträge zur Paracelsusforsch. 26 (1988), S. 77–95. – Wilhelm Kühlmann: Paracelsismus u. Häresie. Zwei Briefe der Söhne V. W.s aus dem Jahre 1596. In: WBN 18

222 (1991), S. 24–33. – H. Pfefferl: Die Überlieferung der Schr.en V. W.s. Diss.-Teildruck Marburg 1991 (1992). – Siegfried Wollgast: Philosophie in Dtschld. zwischen Reformation u. Aufklärung 1550–1650. Bln. 21993, S. 499–600. – H. Pfefferl: Christoph Weickhart als Paracelsist. Zu Leben u. Persönlichkeit eines Kantors V. W.s. In: Analecta Paracelsica. Hg. Joachim Telle. Stgt. 1994, S. 407–423. – Ders.: Die Rezeption des paracels. Schrifttums bei V. W. Probleme ihrer Erforsch. am Beispiel der kompilator. Schrift ›Viererley Auslegung von der Schöpfung‹. In: Neue Beiträge zur Paracelsus-Forsch. Hg. Peter Dilg u. Hartmut Rudolph. Stgt. 1995, S. 151–168. – Gabriele Bosch: Reformatorisches Denken u. frühneuzeitl. Philosophieren. Eine vergleichende Studie zu Martin Luther u. V. W. Marburg 2000. – Andrew Weeks: V. W. (1533–1588). German Religious Dissenter, Speculative Theorist, and Avocate of Tolerance. Albany 2000. – Stephan Meyer-Oeser: Die V.-W.-Rezeption. In: Ueberweg. 17. Jh. Bd. 4/1, S. 18–23, 124 f. – H. Pfefferl: ›Omnia me Christi vita docere potest‹. Das spirituelle Programm der Leben-Christi-Thematik bei V. W. u. seine mögl. Quellen. In: Salzburger Beiträge zur Paracelsusforsch. 37 (2004), S. 60–75. – A. Weeks: V. W. and the Fourfold Interpretation of the Creation. An Obscure Compilation or W.s Crowning Attempt of Reconciliation of Nature and Spiritual Knowledge? In: Daphnis 34 (2005), S. 1–22. – H. Pfefferl: Religiöse Toleranz u. Friedensidee bei V. W. (1553–1588). In: Manuskripte. Thesen. Informationen 25 (2007), S. 24–46. – Freia Odermatt: Der Himmel in uns. Das Selbstverständnis des Seelsorgers V. W. (1553–1588). Bern 2008. – CP III (in Druck), Nr. 125 (Brief v. A. Behem an W.). Siegfried Wollgast

Weikard, Weickard, Melchior Adam, * 28.4. 1742 Römershag, † 25.7.1803 Bad Brückenau. – Arzt, Popularphilosoph. W. entstammte einer Brückenauer Handwerkerfamilie. Er besuchte seit 1753 das Hammelburger Gymnasium u. studierte 1758–1764 in Würzburg Medizin. Der Fuldaer Fürstbischof Heinrich von Bibra stellte W. als Amts- u. Brunnenarzt in Brückenau an, bevor er ihn 1770 als Leibarzt nach Fulda berief. 1784 folgte W. einem Ruf als Hofarzt nach St. Petersburg. Während seiner fünf russ. Jahre begleitete er die Zarin 1787 auch auf ihrer Krimreise, die er später in der Taurischen Reise der Kaiserin von Rußland Katharina II. (Koblenz, recte Ffm. 1799; anonym) be-

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Weil

schrieb. Nach seiner Rückkehr übte W. Weil, Grete, eigentl.: Margarete Elisabeth selbstständige ärztl. Tätigkeiten in Mainz, Jokisch, geb. Dispeker, * 18.7.1906 Egern/ Wien, Mannheim u. – seit 1794 – Heilbronn Obb., † 14.5.1999 Grünwald bei Münaus. Im Jahr seines Todes wurde er nochmals chen. – Erzählerin, Übersetzerin. nach Fulda an die Spitze des Medizinalkollegiums berufen. Sein wechselhaftes Leben Die Tochter eines jüd. Rechtsanwalts stuhat W. in drei Autobiografien beschrieben, dierte seit 1929 Germanistik in Frankfurt/M., von denen die Denkwürdigkeiten aus der Le- Berlin u. München, verbrachte 1931 ein bensgeschichte des Kaiserl. Russischen Etatsrath M. Gastsemester an der Sorbonne in Paris u. ließ A. Weikard (Ffm./Lpz. 1802) die ausführlichste sich nach dem Abbruch des Studiums (1933) zur Fotografin ausbilden. Im Dez. 1935 war. W.s frühes, mehrfach aufgelegtes Werk Der folgte sie ihrem Mann Edgar Weil, bis 1933 philosophische Arzt (4 Tle., Ffm. 1775–77) be- Dramaturg an den Münchner Kammerspiegründete seinen Ruf u. war richtungweisend len, in die Emigration nach Amsterdam. Der für weitere populärmedizinische Werke, in Versuch, nach der Kapitulation der Niederdenen er einen Mittelweg zwischen leichter lande 1940 zu fliehen, misslang. Edgar Weil Modelektüre u. neuartig psychologisieren- wurde 1941 verhaftet u. im Konzentrationsder, teils materialistischer Anschauung be- lager Mauthausen ermordet. 1938 übernahm schritt. Hier wie auch in seinen Autobiogra- W. das Fotoatelier »Edith Schlesinger«, das fien, frühen Kalenderbeiträgen u. Gelegen- sie vier Jahre lang führte, war dann im »Jüheitsschriften nahm W. stets den Standpunkt dischen Rat« tätig u. tauchte Ende Sept. 1943 des konsequenten Aufklärers ein, der jegl. in einem Haus an der Amsterdamer Prinsenreligiöse u. weltl. Konvention in Frage stellt, gracht unter, wo sie an einem Roman über die sodass er verschiedentlich mit der Zensur in Deportation, Der Weg zur Grenze, der ungeKonflikt geriet. Als Arzt war W. ein Verfech- druckt blieb, arbeitete u. das Puppenspiel Weihnachtslegende 1943 schrieb. 1947 kehrte sie ter der kurzlebigen Brown’schen Reizlehre. Weitere Werke: Vermischte medicin. Schr.en. 3 nach Deutschland zurück u. lebte mit ihrem Tle., Ffm. 1778–80. – Biogr. des Doktors M. A. W. Jugendfreund, dem Opernregisseur Walter v. Ihm selber hg. Bln./Stettin 1784. Neudr. hg. v. Jokisch, den sie 1960 heiratete, in Darmstadt, Franz-Ulrich Jestädt. Fulda 1988 (darin auch in Stuttgart, Berlin u. Hannover. W. erhielt die Auszügen die ›Denkwürdigkeiten‹). – Medicin. dt. pharmazeutische Fabrik der Familie Weil Fragmente u. Erinnerungen. Ffm. 1791. – Entwurf zurück. Seit 1955 in Frankfurt/M. ansässig, einer einfachern Arzneykunst, oder Erläuterung u. verfasste sie Beiträge für »das neue forum« Bestätigung der Brownschen Arzneylehre. Ffm. (Darmstadt) u. übersetzte für den Limes Ver1795. lag (Wiesbaden) aus dem Englischen u. Literatur: Kaspar Gartenhof: M. A. W. In: Amerikanischen. 1974 zog sie nach GrünMainfränk. Jb. für Gesch. u. Kunst 4 (1952), wald. S. 176–206. – Otto M. Schmitt: M. A. W. Arzt, Nach ihrer Rückkehr aus der Emigration Philosoph u. Aufklärer. Fulda 1970. – Markwart Michler: M. A. W. (1742–1803) u. sein Weg in den veröffentlichte W. Novellen, einen Roman Brownianismus. Halle/Saale 1995. – Winfried H. (Tramhalte Beethovenstraat. Wiesb. 1963. NeuWitzel: Arzt, Philosoph, Aufklärer [...]. In: Jb. des ausg. Zürich/Frauenfeld 1992) sowie Libretti Landkreises Fulda 24 (1997), S. 195–211. – Günther für Hans Werner Henze (Boulevard Solitude. Vogel: M. A. W. 1742–1803. Arzt u. Philosoph, Mainz 1951) u. Wolfgang Fortner (Die Witwe Freigeist, Aufklärer u. Wohltäter. In: Gesch. der von Ephesus. Ebd. [1952]). Aber erst mit Meine Stadt Fulda. Red. Wolfgang Hamberger. Bd. 1, Schwester Antigone (Zürich/Köln 1980) fand W. Fulda 2009, S. 749–752. ihr Thema u. ihre Sprache: Der Titel meint Franz-Ulrich Jestädt / Red. einerseits die Nähe zu Antigone, der eigensinnigen Gestalt der Treue u. des Widerstands, die ihre Unbedingtheit mit dem Leben bezahlt; andererseits bedeutet er die Identifikation mit Ismene, die zu schwach ist,

Weil

sich ihrer Schwester Antigone anzuschließen, u. anstelle des Märtyrertods das Leben wählt. Die erlebte Vergangenheit wird mit der polit. Situation der 1970er Jahre, die alt gewordene Ich-Erzählerin, eine Schriftstellerin, mit jugendl. Antigone-Figuren eines neuen Widerstands konfrontiert. Generationen (Zürich/Köln 1983) entfaltet, was in seinem Vorgänger angelegt u. angedeutet ist. Der Roman erzählt den Verlauf eines sozialen Experiments, auf das sich die Ich-Figur mit dem Leichtsinn der Verzweiflung eingelassen hat: Um dem Alleinsein zu entgehen, begibt sie sich in eine Wohngemeinschaft mit zwei Frauen, von denen die eine ihre Tochter, die andere ihre Enkelin sein könnte; das Experiment scheitert. Mit schonungsloser Genauigkeit beschreibt W. das schmerzhafte Abgleiten in die unaufhebbare Einsamkeit des Alters. An die Stelle der griech. Vergleichs- u. Kontrastfigur Antigone tritt in W.s Roman Der Brautpreis (Zürich/Frauenfeld 1988; Geschwister-Scholl-Preis 1988) eine Figur aus dem AT: Davids erste Frau, König Sauls Tochter Michal. Auch hier führt die Verknüpfung der persönl. Situation (»Ich, Grete...«) mit dem Leben der 3000 Jahre älteren Frau (»Ich, Michal...«) zu wechselseitiger Erhellung u. Verschärfung der dargestellten Problematik. In epischer Vergegenwärtigung von Michals Leiden an David wird die Möglichkeit der Identifikation der Erzählerin mit ihrer Heldin u. damit einer – freilich vielfach gebrochenen – jüd. Identität sichtbar. W.s Bücher entstanden unter dem Druck der Notwendigkeit, sich in Deutschland, »dem Land meiner Mörder, dem Land meiner Sprache«, einzubürgern u. sich dabei der eigenen von Vertreibung, Verfolgung u. Überleben u. schließlich auch durch das Altwerden gezeichneten Existenz zu vergewissern. Die Spannung zwischen einer zum Martyrium verurteilten absoluten Moralität u. der Parteinahme für die Vermenschlichung der Lebenswelt durchzieht das Werk, das sich jeder voreiligen Versöhnung versagt. W.s Autobiografie Leb ich denn, wenn andere leben (ebd. 1998) umfasst die Jahre bis zur ihrer Rückkehr nach Deutschland 1947.

224 Weitere Werke: Weihnachtslegende 1943. In: Das gefesselte Theater. Het tooneel in boeien. Het marionettentooneel der ›Hollandgruppe‹ speelt voor onderduikers. Uitgegeven door de Hollandgruppe Freies Deutschland. Amsterd. 1945, S. 5–25. Neudr. in: G. W.: Leb ich denn, wenn andere leben (s. o.), S. 195–227. – Ans Ende der Welt. Bln./DDR 1949. Wiesb. 1962 (E.). – Happy, sagte der Onkel. Ebd. 1968 (E.en). – Spätfolgen. Zürich/ Frauenfeld 1992 (E.en). – Erlebnis einer Reise. Drei Begegnungen. Zürich 1999. – Übersetzungen: David Walker: Schottisches Intermezzo. Wiesb. 1959. – Maude Hutchins: Noels Tgb. Ebd. 1960. – Lawrence Durrell: Groddeck. Ebd. 1961. – Thomas Buchanan: Das Einhorn. Ebd. 1963. – John Hawkes: Die Leimrute. Ebd. 1964. – Jeroen Brouwers: Versunkenes Rot. Zürich/Frauenfeld 1984. Literatur: Laureen Nussbaum u. Uwe Meyer: G. W.: unbequem, zum Denken zwingend. In: Frauen u. Exil. Zwischen Anpassung u. Selbstbehauptung. Hg. Claus-Dieter Krohn u. a. Mchn. 1993, S. 156–170. – Carl-Zuckmayer-Medaille des Landes Rheinland-Pfalz 1995. G. W. Eine Würdigung. Bearb. v. Thomas Daum u. Dieter Lamping. Kaiserslautern 1996. – U. Meyer: ›Neinsagen, die einzige unzerstörbare Freiheit‹. Das Werk der Schriftstellerin G. W. Ffm. u. a. 1996. – Carmen Giese: Das Ich im literar. Werk v. G. W. u. Klaus Mann. Zwei autobiogr. Gesamtkonzepte. Ffm. u. a. 1997. – Irmela v. der Lühe: ›Osten, das ist das Nichts‹. G. W.s Roman ›Tramhalte Beethovenstraat‹ (1963). In: ›Wechsel der Orte‹. Studien zum Wandel des literar. Geschichtsbewußtseins. FS Anke Bennholdt-Thomsen. Hg. dies. u. Anita Runge. Gött. 1997, S. 322–333. – Lisbeth Exner: Land meiner Mörder, Land meiner Sprache. Die Schriftstellerin G. W. Mchn. 1998. – Stephan Braese: G. W. In: MLdjL. – U. Meyer: G. W. In: KLG. – Franziska Meyer: Vom ›Ende der Welt‹. G. W.s Rückkehr zu dt. Lesern. In: Erfahrung nach dem Krieg. Autorinnen im Literaturbetrieb 1945–1950. BRD, DDR, Österr., Schweiz. Hg. Christiane Caemmerer u. a. Ffm. u. a. 2002, S. 37–55. – L. Exner: G. W. In: LGL. – Pascale R. Bos: German-Jewish Literature in the Wake of the Holocaust. G. W., Ruth Klüger, and the Politics of Address. New York/Basingstoke, Hampshire 2005. – Wenda Focke: Die zerbrechl. Welt der menschl. Angelegenheiten. Über Leben u. Alterswerk der europ. Schriftstellerinnen Ricarda Huch [...], G. W. Konstanz 2005, S. 285–302. – Gerhard Leyerzapf: ›Verhängnis Amsterdam‹. G. W.s Schicksal in ihrem Werk. In: Im Schatten der Literaturgesch. Autoren, die keiner mehr kennt? Plädoyer gegen das Vergessen. Hg. Jattie Enklaar u. Hans Ester unter

Weinert

225 Mitarb. v. Evelyne Tax. Amsterd./New York 2005, S. 287–298. – Hiltrud Häntzschel: Ein Puppenspiel mit dem Tod. G. W.: ›Weihnachtslegende 1943‹. In: ›Bretterwelten‹. Frauen auf, vor u. hinter der Bühne. Hg. Germaine Goetzinger u. Inge HansenSchaberg. Mchn. 2008, S. 147–163. – G. W. Mchn. 2009 (text + kritik. H. 182). – S. Braese: Die andere Erinnerung. Jüd. Autoren in der westdt. Nachkriegslit. Mchn. 2010. – Michelle Mattson: Mapping Morality in Postwar German Women’s Fiction. Christa Wolf, Ingeborg Drewitz, and G. W. Rochester, N.Y. 2010. Albert von Schirnding / Bruno Jahn

Weinbrenner, Friedrich, * 29.11.1766 Karlsruhe, † 1.3.1826 Karlsruhe; Grabstätte: ebd., Evangelische Stadtkirche (umgebettet). – Architekt.

Mit seiner Bauschule, aus der viele namhafte Architekten hervorgingen, seinem Architektonischen Lehrbuch (Stgt./Karlsr. 1810–25), jenem bedeutenden Werk klassizistischer Stiltheorie, u. weiteren Veröffentlichungen rückte W. ins Zentrum des dt. Geisteslebens. Zu seinen Freunden gehörten v. a. Goethe, Voß, Matthisson, Hebel u. Hauff. Auf Voß’ Veranlassung schrieb W. seit 1817 an einem Abriss meines Lebens, den Aloys Wilhelm Schreiber u. d. T. Denkwürdigkeiten aus seinem Leben, von ihm selbst geschrieben (Heidelb. 1829) herausgab. Weitere Werke: Ausgaben: Briefe u. Aufsätze. Hg. Arthur Valdenaire. Karlsr. 1926. – Gesamtedition in 9 Bdn. (geplant). Bd. 1: Die Theater F. W.s. Hg. Claudia Elbert. Ebd. 1988. – Einzeltitel: Aufsätze in: Morgenblatt, Jahrgänge 1807–13, Stgt. (z. B.: Über die neusten Aufgrabungen in dem Colosseum zu Rom, 1813). – Ideen zu einem teutschen National-Denkmal [...]. Karlsr. 1814. – Vorschlag zu einem Sieges-Denkmal [...]. Ffm./Lpz. 1817.

Der »romantische Klassizist« W., dessen Marktplatz in Karlsruhe als eines der letzten großen Werke der europ. Stadtbaukunst gilt, Literatur: Louis Katzenstein: F. W. In: ADB. – bildete sich autodidaktisch zum Architekten Max Koebel: F. W. Bln. 1920. – Arthur Valdenaire: aus. Nach Studienaufenthalten in Wien, F. W. Sein Leben u. seine Bauten. Karlsr. 21926. Dresden, Berlin u. Rom trat er 1797 als Bau- 3. Aufl. hg. v. Wulf Schirmer. Ebd. 1976. – David B. inspektor in badische Dienste. Anfängliche Brownlee: F. W. Architect of Karlsruhe. PhiladelSchwierigkeiten bei der Realisierung seiner phia 1968 (Kat.). – F. W. 1766–1826. Karlsr. 1977/ an der griechisch-röm. Antike ausgerichteten 78 (Kat.). 31987. – Klaus Lankheit: F. W. u. der Bauprojekte für Karlsruhe bewogen W., sein Denkmalskult um 1800. Basel/Stgt. 1979. – GottGlück als freier Architekt zu suchen. 1800 fried Leiber: Die barocke Stadtplanung u. die ersten ließ er sich endgültig in der badischen klassizist. Entwürfe Weinbrenners. Karlsr. 1996. – Hauptstadt nieder, wurde 1801 zum Groß- Ders.: F. W.s städtebaul. Schaffen für Karlsruhe. Karlsr. 1999. – Ulrich Maximilian Schumann: F. W. herzoglichen Baudirektor u. 1809 zum Italienerfahrung u. prakt. Ästhetik. In: Ztschr. für Oberbaudirektor ernannt. Kunstgesch. 68 (2005), S. 234–262. – Ders.: F. W. Neben den städtebaul. Aufgaben widmete Klassizismus u. ›prakt. Ästhetik‹. Bln. u. a. 2010. sich W. nun auch der Theaterarchitektur. Mit Ingrid Sattel Bernardini / Red. dem Bau des Karlsruher Hoftheaters u. seinem Buch Über Theater (Tüb. 1809) erwarb er Weinert, Erich, * 4.8.1890 Magdeburg, sich nicht nur bei Goethe den Ruf eines her† 20.4.1953 Berlin/DDR; Grabstätte: vorragenden Theaterfachmanns. Er wurde zu ebd., Grabesstätte der Sozialisten in zahlreichen Entwürfen u. Gutachten aufgeFriedrichsfelde. – Lyriker, Publizist, fordert. Auch in den von ihm erbauten KurÜbersetzer; Herausgeber. anlagen in Baden-Baden richtete er ein Theater ein (1822). In Berlin u. bes. in Italien W. wollte zuerst wie sein Vater Ingenieur hatte er sich mit dem antiken Theaterbau werden u. arbeitete 1905–1908 als Lehrling in beschäftigt u. die Schriften Vitruvs u. Plinius’ einer Maschinenfabrik, studierte dann jedoch des Älteren dazu studiert. Sein Theater nach in Magdeburg u. Berlin (1912 Staatsexamen antiker Form u. eine Rekonstruktion des be- als akadem. Zeichenlehrer). 1913 wurde er wegl. Theaters des Curio wurden in Karl zum Militärdienst einberufen u. erlebte den Ludwig Fernows Römischen Studien (Bd. 2, Ersten Weltkrieg als Soldat mit. Seit 1921 Zürich 1806) veröffentlicht. verfasste er satir. Zeitgedichte, die er in

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linksbürgerl. Kabaretts wie der Leipziger »Retorte« u. dem Berliner Künstlercafé »KüKa« vortrug. 1924 schloss er sich der KPD an (Eintritt 1929) u. trat seither v. a. vor Arbeiterpublikum auf. 1933 lebte W. zunächst in der Schweiz u. später in Frankreich im Exil; 1934/35 warb er auf einer Tournee im Saarland für die Nichteingliederung des Saargebiets ins »Dritte Reich«. Im Aug. 1935 ging W. nach Moskau; 1936–1939 war er Mitgl. der Internationalen Brigaden in Spanien, wo er Texte für Kampflieder u. Reportagen schrieb. Nach Moskau zurückgekehrt, widmete sich W. vorrangig der Übersetzertätigkeit u. übertrug u. a. lyr. Werke von Michail Lermontow u. Taras G. Schewtschenko ins Deutsche. Nach dem dt. Überfall auf die Sowjetunion versuchte er durch Aufrufe u. Gedichte, die er z. T. selbst in Lautsprecher an der Front sprach, Wehrmachtsoldaten vom verbrecherischen Charakter des Kriegs zu überzeugen. 1943 wurde W. Vorsitzender des »Nationalkomitees Freies Deutschland«. Im Jan. 1946 kehrte er nach Deutschland zurück u. übernahm in Ost-Berlin das Amt des Vizepräsidenten der Zentralverwaltung für Volksbildung. W., von der DDR-Regierung 1949 u. 1952 mit dem Nationalpreis ausgezeichnet, starb an Lungentuberkulose. In den satir. Zeitgedichten der 1920er Jahre attackierte W. den deutschnationalen Kleinbürger mit seinem Hang zur »Mondorgelmalzkaffeeromantik«, die reaktionären, mit den »Schwarzweißrotkohl« liebäugelnden Politiker, Junker, Militärs u. Industriellen sowie die rechten Sozialdemokraten, welche die »Hindenbürger« gewähren ließen. Bevorzugt verwendete W. Wortspiele, groteske Neologismen (»Kompromißgeburt«), parodistische Anklänge an Volkslieder u. Reime, die das hohle Pathos der Deutschnationalen entlarvten. Ihren Biss u. ihre sprachl. Pointiertheit verdanken sie nicht zuletzt der Tatsache, dass W. seine Gedichte selbst vor »seinem« proletarischen Publikum vortrug u. immer wieder an den Textstellen feilte, die nicht die gewünschte Wirkung hervorriefen. In den Gedichten u. Liedern, die direkt die Politik der Kommunisten propagierten, überwiegen dagegen pathetisch-agitatorische

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Töne, die sich in der Exilzeit verstärkten. Die nach 1933 illegal nach Deutschland eingeschleusten oder später für Flugblätter an der Ostfront verfassten Gedichte haben meist mahnenden u. beschwörenden Appellcharakter. Die parteioffiziellen Gedichte W.s aus der Nachkriegszeit erschöpfen sich in der konventionellen Rhetorik, die für dieses Genre kennzeichnend ist. Weitere Werke: Polit. Gedichte. Bln. 1928. – Rot Front. Kiew 1936 (L.). – An die dt. Soldaten. Moskau 1943 (L.). – Rufe in die Nacht. Gedichte aus der Fremde 1933–43. Bln./SBZ 1947. – Lieder um Stalin. Nachdichtungen aus Liedern der Sowjetvölker. Potsdam 1949. – Das Zwischenspiel. Dt. Revue v. 1918 bis 1933. Bln./DDR 1950. – Die Haimadaken u. a. Dichtungen v. Taras Schewtschenko. Nachdichtungen. Ebd. 1951. – Camaradas. Ein Spanienbuch. Ebd. 1951. – Memento Stalingrad. Ein Frontnotizbuch. Ebd. 1951. – Ges. Gedichte. Hg. Akademie der Künste der DDR. 6 Bde., Bln./Weimar 1970–76. – Das pasteurisierte Freudenhaus. Satir. Zeitgedichte. Ausw. Herbert Greiner-Mai. Bln./Weimar 1978. 21990. – Genauso hat es damals angefangen. Ein E.-W.-Lesebuch. Hg. Literaturbüro Sachsen-Anhalt. Halle/Saale 2004. Literatur: Dieter Posdzech: Zur Operativität der polit.-satir. Lyrik E. W.s. Diss. Rostock 1968. – Werner Preuß: E. W. Bln./DDR 1970. 91987. – Dieter Posdzech: Funktionsdominanzen der Antikriegslyrik Kurt Tucholskys, E. W.s u. Erich Kästners in den Jahren der Weimarer Republik. In: Anti-Kriegslit. zwischen den Kriegen (1919–1939) in Dtschld. u. Schweden. Hg. Helmut Müssener. Stockholm 1987, S. 61–80. – Sigurd Paul Scheichl: Gilm-Palimpseste: Heidi Pataki, E. W., Georg Trakl. Formen der Intertextualität. In: Mitt. aus dem Brenner-Archiv 10 (1991), S. 24–38. – Wolfgang U. Schütte: E. W. u. Hans Reimann. Zwei ungleiche Freunde. In: ›Halb erotisch – halb politisch‹. Hg. Stefanie Oswalt. Oldenb. 2000, S. 117–132. – Carola Tischler: Zwischen Nacht u. Tag. E. W.s sowjet. Exilzeit im DDR-Spielfilm der 70er Jahre. In: Jb. Exilforsch.: Film u. Fotografie 21 (2003), S. 155–169. – Birgit Herkula: E. W. In: Dies. u. Simone Trieder: Verboten, verschwiegen, verschwunden. Schriftstellerinnen u. Schriftsteller im Gebiet des heutigen Sachsen-Anhalt zur NS-Zeit. Halle 2008, S. 151–156. Boris Heczko / Red.

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Weingartner Liederhandschrift. – Bebilderte Sammlung von Minnesängern, ohne Melodien, etwa 1310/20. Der kleinformatige Band mit 156 Blättern (heute Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek, HB XIII 1) ist nach der Benediktinerabtei Weingarten benannt, wo er bis zur Säkularisation aufbewahrt wurde. Die Abtei erhielt die Handschrift 1613 von Marx Schultheiß († 1643) geschenkt, der in Konstanz bedeutende Ämter innehatte. In dieser Stadt dürfte die W. L. gegen oder um 1320 mit Miniaturen geschmückt worden sein; als Schreibort wird neben Konstanz neuerdings auch die Kanzlei der Grafen von Fürstenberg in Villingen erwogen (Schneider). Entstanden ist die W. L., während bereits an den Nachträgen zur Großen Heidelberger Liederhandschrift (C) gearbeitet wurde. Heinrich von Klingenberg († 1306), dessen Kompetenz in »wîse unde wort« Johannes Hadlaub anlässlich der Wahl zum Bischof von Konstanz (1293) rühmt, kommt als Auftraggeber nicht mehr in Frage. – Durch den Bodmer-Schüler Leonhard Meister wird die W. L. 1777 in die Forschung eingeführt. Christoph Heinrich Myller (Müller) druckt 1783, 1784 u. ca. 1785 nach Abschriften, die er Bodmer verdankt, in seiner Samlung deutscher Gedichte aus dem XII. XIII. und XIV. Iahrhundert die Minnelehre (Bd. 1, Lfg. 3: Der Got Amur) und mehrere Strophen ab (Bd. 2, Lfg. 3; Bd. 3, Lfg. [1]). 1816 veröffentlicht der Stuttgarter Bibliothekar Ferdinand Weckherlin die erste eingehende Beschreibung. Seit Karl Lachmanns Ausgabe der Gedichte Walthers von der Vogelweide (1827) trägt die Handschrift die Sigle B. Die W. L. umfasst noch nahezu 860 Strophen in 30 Corpora (S. 1–252) u. Reimpaardichtung (S. 253–305). Dem ersten Blick stellt sie sich als eine Sammlung von Minnesängern dar: Eröffnet wird sie – wie C – mit Bild u. Liedern Kaiser Heinrichs (VI.); es folgen 24 weitere Corpora, denen jeweils eine fast immer ganzseitige Miniatur vorangeht, als letzte die bekannte Darstellung Walthers (Nr. 25, S. 139). Die Autoren erscheinen als Einzelfigur oder zusammen mit ihrer Dame oder einem Boten u. häufig mit einer übergroßen leeren Schriftrolle als Attribut, das auf den

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Status ihrer Kunst zwischen Mündlichkeit u. Schriftlichkeit weist; die in den Rahmen integrierte Nennung von Name u. Stand wird meistens im Bild durch Wappenschild u. Helm mit Helmzier ergänzt. Im Stil verwandt sind die Weberfresken im Haus ›Zur Kunkel‹ in Konstanz (wohl erst kurz nach 1320, s. Bihrer 2007) u. Glasmalereien; dazu kommen zwei 1319 u. 1322 angefertigte Missalien (Sauer). Vor Nr. 26–28 u. 30 waren Bilder geplant; die freigehaltenen Seiten (177, 181, 205, 239) blieben leer, u. damit fehlen zgl. die Namen. Die Haupthand schrieb Nr. 26 noch ganz, Nr. 27 u. 28 zur Hälfte; anschließend war ein zweiter bzw. ein dritter Schreiber tätig; Letzterer trug auch Nr. 29 ein. Danach ist die Sammlung anscheinend in einem Zuge mit blauen u. roten Stropheninitialen versehen worden. Eine wenig jüngere vierte Hand steuerte Nr. 30 bei; hier wurden die Initialen nicht mehr ausgeführt. – Die äußere Zäsur nach Nr. 25 fällt fast zusammen mit einer inneren nach Nr. 26 (Wolfram von Eschenbach). In Nr. 1–26 (Textverlust in Nr. 21: Hiltbolt von Schwangau, nach S. 122, u. in Nr. 25: Walther, nach S. 160) dominieren Minnelied u. Kreuzlied aus »Minnesangs Frühling« u. der Zeit der Klassik bis etwa 1230; für die Phase der Adaptation romanischer Vorbilder durch Friedrich von Hausen u. andere ist B neben C nahezu die einzige Quelle. Die Leichdichtung ist gar nicht vertreten u. der Sangspruch, aber auch das genre objectif, v. a. das Tagelied, allenfalls am Rande (vielleicht stehen Walther u. Wolfram deshalb an später Stelle). Dieser Teil ist nicht etwa eine erst nach 1300 neu geschaffene retrospektive Minnesanganthologie; vielmehr geht er, wie die Gemeinsamkeiten mit C erweisen, über Zwischenglieder auf eine Vorstufe *BC zurück. Hinter *BC lassen die Fragmente der Budapester Liederhandschrift (Bu) eine noch frühere Stufe *BuBC (um oder vor 1250) erkennen. Der alten Sammlung bleibt die W. L. nach Bestand, Ausstattung, Bildthemen u. Wortlaut im Ganzen sicherlich näher als der große, breit u. systematisch sammelnde Codex C, der frühen Minnesang in modernisierter Gestalt präsentiert; doch darf die W. L.

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keinesfalls in jeder Hinsicht als »ursprünglicher« gelten. So wird etwa von der kunsthistor. Forschung die stilistische Modernität der Miniaturen betont. Die Beschränkung des Repertoires auf die vornehmsten Liedgenres ist möglicherweise erst das Ergebnis eines Auswahlprozesses auf dem Weg von *BuBC (*BC) zu *B; dabei könnte manches Autorcorpus reduziert u. mancher Sänger, z.B. der von Kürenberg, ausgeklammert worden sein. Mit Nr. 27–30 (rund 250 Strophen) erweitert die W. L. das Gattungsspektrum u. den zeitl. Horizont ihrer Vorlage entschieden u. nähert sich, ohne verwandte Quellen zu benutzen, im Gesamtaufbau C: Sie bringt ein Corpus von Neidhartiana mit der ältesten Abschrift eines Neidhart-Schwanks (›Faßschwank‹), die Lehrgedichte Winsbecke u. Winsbeckin, einen Lobgesang auf Maria (zweite Hälfte des 13. Jh.), den C in anderer Version Gottfried von Straßburg beilegt, u. Sangsprüche eines Zeitgenossen Frauenlobs, des Jungen Meißner. An die Stelle der Formenvielfalt tritt in Nr. 28–30 jeweils ein einziger Ton. Der Liedersammlung zugesellt ist eine kaum jüngere, reich rubrizierte Abschrift der umfängl., höfisch-ovidischen Minnelehre, die als Werk des um 1300 in Zürich tätigen Johann von Konstanz gilt, hier jedoch ohne Autornennung mit einer kurzen Minneklage schließt (Nr. 31a/b). Solch gemeinschaftl. Überlieferung von Minnesang u. Minnereden begegnet später oft. Eine frühe Spur der Wirkung der W. L. mag in den Liedzitaten der Moringer-Ballade fassbar sein. Randnotizen u. eine nachgetragene Strophe in Ton IV Reinmars von Brennenberg (S. 310) zeigen, dass die Handschrift auch im 15. Jh. noch in Gebrauch war. Ausgaben: Die W. L. Hg. Franz Pfeiffer u. Friedrich Fellner. Stgt. 1843 (Transkription u. Holzschnittnachbildungen der Miniaturen). – Die W. L. in Nachbildung. Hg. Karl Löffler. Ebd. 1927. – Die W. L. [I.] Vollfaks. [II.] Textbd. Ebd. 1969, S. 173 ff. (Transkription v. Otfrid Ehrismann). – Digitalisat: http://digital.wlb-stuttgart.de/purl/ bsz319421317. – Farbtafeln aller Bilder: Ingo F. Walther: Got. Buchmalerei. Minnesänger. Mchn. 1978 (ferner bei G. Spahr u. bei W. Irtenkauf 1983, s. Lit.).

228 Literatur (vgl. auch die Lit. zur Budapester u. zur Großen Heidelberger Liederhandschrift): Hermann Schneider: Eine mhd. Liederslg. als Kunstwerk. In: PBB 47 (1923), S. 225–260. – Ewald Jammers: Das Kgl. Liederbuch des dt. Minnesangs. Heidelb. 1965. – Gebhard Spahr: W. L. Ihre Gesch. u. ihre Miniaturen. Weißenhorn 1968. – Die W. L. [II.] Textbd. a. a. O. (mit Beiträgen v. Wolfgang Irtenkauf, Kurt Herbert Halbach, Renate Kroos). – Das Königsteiner Liederbuch. Hg. Paul Sappler. Mchn. 1970, S. 221, 226. – Hella Frühmorgen-Voss: Die W. L. In: Dies.: Text u. Illustration im MA. Ebd. 1975, S. 100–105. – Minnesangs Frühling 2, S. 40–42, 47 (Lit.). – George Fenwick Jones u. a.: Verskonkordanz zur W.-Stuttgarter L. Göpp. 1978. – W. Irtenkauf: Stauf. Minnesang. Die Konstanz-W. L. Beuron 1983. – Eberhard Nellmann: ›Zeizenmûre‹ im Nibelungenlied u. in der NeidhartTradition. Mit einer Ed. des Faßschwanks nach Hs. B. In: FS Siegfried Grosse. Hg. Werner Besch u. a. Göpp. 1984, S. 401–425. – W. Irtenkauf: Einige Beobachtungen zur ›W. L.‹. In: Litterae medii aevi. FS Johanne Autenrieth. Hg. Michael Borgolte u. Herrad Spilling. Sigmaringen 1988, S. 203–208. – Codex Manesse. Hg. Elmar Mittler u. Wilfried Werner. Heidelb. 21988, bes. S. 127–139 (Harald Drös), S. 234 ff. (Lothar Voetz), S. 341 ff. (Lieselotte E. Saurma-Jeltsch). – RSM 1, Tüb. 1994, S. 59–318: Handschriftenverz. Bearb. v. Frieder Schanze u. Eva Klesatschke, hier S. 257 f. – Franz-Josef Holznagel: Wege in die Schriftlichkeit. Untersuchungen u. Materialien zur Überlieferung der mhd. Lyrik. Tüb./Basel 1995, bes. S. 66–88, 121–139, 208–250, 335–343, 555–558. – Christine Sauer: Kat. der illuminierten Hss. der Württemberg. Landesbibl. Stuttgart. Bd. 3, Tl. 1. Stgt. 1996, S. 26 f., 34, 40 f., 59–62. – Albrecht Hausmann: Reinmar der Alte als Autor. Tüb./Basel 1999, S. 367 (Register). – Gisela Kornrumpf: ›W. L.‹. In: VL (Lit.). – A. Hausmann: Autor u. Text in der W. L. (B). Zu Möglichkeiten u. Grenzen der Interpr. v. Überlieferungsvarianz. In: Text u. Autor. Hg. Christiane Henkes u. a. Tüb. 2000, S. 33–52. – Gert Hübner: Lobblumen. Tüb./ Basel 2000, bes. S. 176–180 (›Alemann. Marienlob‹). – Ursula Peters: Ordnungsfunktion – Textillustration – Autorkonstruktion. Zu den Bildern der roman. u. dt. Liederhss. In: ZfdA 130 (2001), S. 392–430. – Wolfgang Achnitz: Rez. Die Minnelehre des Johann v. Konstanz. Hg. Dietrich Huschenbett. In: ZfdA 134 (2005), S. 99–109, bes. S. 102–104. – Andreas Bihrer: Der Konstanzer Bischofshof im 14. Jh. Ostfildern 2005, bes. S. 499–505. – Ders.: Adelig-höf. Bewußtsein am Stift St. Johann in Konstanz. Die Wandmalereien im Haus ›Zur Kunkel‹ u. ihr Auftraggeber. In: Funktion u. Form. Die mittelalterl. Stiftskirche

Weinheber

229 [...]. Hg. Sönke Lorenz u. a. Ebd. 2007, S. 187–220. – Katharina Boll: ›Alsô redete ein vrowe schoene‹. Untersuchungen zu Konstitution u. Funktion der Frauenrede im Minnesang des 12. Jh. Würzb. 2007, bes. S. 524–528. – Michael Curschmann: Wort – Bild – Text. Studien zur Medialität des Literarischen in HochMA u. früher Neuzeit. 2 Bde., BadenBaden 2007, bes. Bd. 1, S. 264 ff. (zuerst 1992). – Hanno Rüther: Der Mythos v. den Minnesängern. Zur Entstehung der Moringer-, Tannhäuser- u. Bremberger-Ballade. Köln u. a. 2007, bes. S. 99–106. – C. Henkes-Zin: Überlieferung u. Rezeption in der Großen Heidelberger Liederhs. (Codex Manesse). Diss. Aachen (2004), publiziert 12.02.2008, URL: http://darwin.bth.rwth-aachen.de/ opus3/volltexte/2008/2161/, bes. S. 49–76, 85–116, 124–168. – G. Kornrumpf: Vom Codex Manesse zur Kolmarer Liederhs. I. Tüb. 2008, bes. S. 14 ff., 36 ff. – U. Peters: Das Ich im Bild. Die Figur des Autors in volkssprachigen Bilderhss. des 13. bis 16. Jh. Köln u. a. 2008, bes. S. 30 ff. – Karin Schneider: Got. Schriften in dt. Sprache II. Wiesb. 2009, bes. S. 66–68. – Johannes Rettelbach: Reimwort- u. Tonschemakorrekturen bei Autoren aus der Frühzeit des Minnesangs. In: ZfdPh 129 (2010), S. 83–105. – Carolin Schuchert: Walther in A. Studien zum Corpusprofil u. zum Autorbild Walthers v. der Vogelweide in der Kleinen Heidelberger Liederhs. Ffm. 2010, bes. S. 118–121, 270–275. – Jacob Klingner: ›Gegenspiele‹. Zur Überlieferung v. Minnesang u. Minnerede in der ›W. L.‹. In: Wolfram-Studien 21 (im Druck).

»Heimgarten«, Avenarius’ »Kunstwart« u. während des Ersten Weltkriegs in den »Heimatgrüßen« für Frontsoldaten. 1921–1942 lebte das Ehepaar Weinhandl in Kiel, bis 1945 in Frankfurt/M., danach wieder in Graz. In der NS-Zeit trat W. in die NSDAP ein u. betätigte sich als Kulturreferentin der NSFrauenschaft Schleswig-Holstein, für deren »Feierstunden« sie die Folgen Mutter und Tochter (Kiel 1940) u. Straßburg und sein Münster (ebd. 1941) verfasste. Dieses deutl. Engagement entsprach dem irrationalen Slowenenhass in der gemischtsprachigen Südsteiermark ihrer Kindheit, einem z. T. pseudoreligiös motivierten Antisemitismus u. einer ihrer deutschnationalen Herkunft verpflichteten Ablehnung der polit. Linken, wie sie sich v. a. in dem Roman Moorsonne (Stgt. 1940) niederschlägt. Die Werke W.s sind angesiedelt in dem ideolog. Spannungsfeld zwischen Faschismus u. Religiosität einerseits u. dem geografischen Raum zwischen der Südsteiermark u. Schleswig-Holstein andererseits. Eine Fülle naturverbundener u. naturmyst. Texte W.s entstand in der Auseinandersetzung mit beiden Regionen, z. B. Die Steiermark. Eine Dichtung (Mchn. 1923) u. Schleswig-Holstein. Eine Landschaft in 7 Schöpfungstagen (Kiel 1928).

Gisela Kornrumpf

Weitere Werke: Prosa: Die Rutengängerin. Stgt. 1931 (R.). – Der Morgenvogel. Hann. 1932 (E.). – Martin u. Monika. Mödling 1951. – Ritter, Tod u. Teufel. Mödling/Kaldenkirchen 1954 (E.). – Wo der Wald sich lichtet. Graz 1960 (E.en). – Lyrik: Ges. Gedichte. Wien/Graz 1956. – Frühlicht, Traum u. Tag. Graz 1965. – Dramatische Texte: Kleine Bühne. 5 Theaterstücke für Kinder. Stgt. 1931. – Zwischen Mutter u. Kind. Bln. 1932. – Segen der Erde. ChorFeier. Lpz. 1937. – Religiöse Schriften: Der innere Tag. Stgt. 1929. – Beherztes Leben. Ebd. 1942. – Brennende Herzen. Lebensbilder großer Christen. Wien/Graz 1949. – Pädagogische Schrift: Erziehung u. Verschlossenheit. Langensalza 1922. Elisabeth Chvojka / Red.

Weinhandl, Margarete, geb. Glantschnigg, * 5.6.1880 Cilli/Südsteiermark (heute: Celje/Slowenien), † 28.9.1975 Graz. – Erzählerin, Lyrikerin.

1889 zog die Familie nach Marburg/Drau, wo W., gefördert von ihren gebildeten Eltern, ihre Neigung zu Musik u. Literatur entwickeln konnte u. die Lehrerinnenbildungsanstalt absolvierte; hier vollzog sich auch ihre Konversion zum Protestantismus als Teil ihrer Auseinandersetzung mit Glaubensfragen, die nahezu das gesamte Werk durchziehen. Die Erzählbände Und deine Wälder rauschen fort. Weinheber, Josef, * 9.3.1892 Wien-OttaKindheit in Untersteier (Graz 1942) u. Jugend im kring, † 8.4.1945 Kirchstetten/NiederWeinland (Mchn. 1962) beschreiben diese Zeit. österreich; Grabstätte: ebd., Friedhof Bis zu ihrer Heirat mit dem Philosophen Hinterholz. – Lyriker, Erzähler, Essayist. Ferdinand Weinhandl 1919 unterrichtete W. in Graz, hörte pädagog. u. philosophische Als vorehel. Kind der Weißnäherin Theresia Vorlesungen u. veröffentlichte in Roseggers Wykidal u. des Metzgers Johann Christian

Weinheber

Weinheber kam W. im Alter von sechs Jahren in ein Knabenerziehungshaus, nach dem frühen Tod des Vaters 1901 in das Hyrtl’sche Waisenhaus in Mödling, wo er 1903–1908 das Gymnasium besuchte. 1904 starb auch die Mutter; nach schulischen Schwierigkeiten verlor W. den Freiplatz am Gymnasium u. verdingte sich als Gehilfe in einer Brauerei u. in der Pferdefleischhauerei seiner Tante, später als Molkereiarbeiter, Bürohilfskraft, Kutscher u. Hauslehrer. 1911 trat W. in den Postdienst. Die als äußerst drückend empfundene soziale Deklassierung versuchte W. durch den Besuch einer Maturaschule u. intensive autodidaktische Studien der klass. Poetik wettzumachen. Seit 1924 lernte er auch Griechisch u. Latein, um antike Vorbilder im Original lesen zu können; in der Auffassung der Sprache als »Wirklichkeit des Geistigen«, als zu bearbeitenden Materials, wird ihm Karl Kraus zum großen Vorbild. Von Wildgans, Rilke, Dehmel u. Walt Whitman beeinflusst, schrieb W. seit 1912 Gedichte, insbes. für die von ihm mitbegründete »Ottakringer Kohorte« (»Lautensängerperiode«). Unter dem Eindruck des Weltkriegsgeschehens rückte jedoch sein humanistisches Engagement in den Mittelpunkt; die »geistige Höherentwicklung« der Menschheit im Ringen mit deren animal., triebhafter Natur wird zum themat. Substrat der frühen Gedichtzyklen (Der Gottsucher; Zwischen Tag und Traum; Der dunkle Weg), aber auch des expressionistischen Dramas Genie (in: Sämtliche Werke. Bd. 1/1, S. 201–275), in dem der autobiogr. Züge tragende Held auf dem Weg zur »geklärten Menschlichkeit« scheitert. Anima, seine Geliebte, sinkt zur Dirne herab u. verstärkt seine Schuldgefühle – ein Vorgang, in dem auch W.s persönl. Verhältnis zur Sprache Abbildung findet, ist diese doch für ihn selbst das Weibliche, die Frau in »ihrer ewigen Mutter-Herrlichkeit« schlechthin. W. entwickelt diese Metaphysik der Geschlechter (Geist = männlich, Sprache = weiblich) im Gefolge von Otto Weiningers Geschlecht und Charakter; die Versöhnung beider ist das Ziel von Sprachkunst. Private Veränderungen folgen durchaus W.s zwischen Hure u. Heiliger schwankendem Frauenbild: in seinem Verhältnis zu Emma Fröh-

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lich, die er 1919 heiratete (Scheidung 1920). Bereits 1918 trat er aus der kath. Kirche aus. 1919 wurde W. Mitarbeiter der »Muskete«, 1920 erschien sein erster Gedichtband Der einsame Mensch (Wien), der für die Befreiung des Individuums »im Brausen des Blutes«, in der Liebe u. im Erleben der Natur eintritt. Weiterhin entstanden jedoch auch humoristisch-melancholische, nicht selten dialektal geprägte Gedichte, die, mit E. Kästner vergleichbar, das Alltagsleben der Wiener Vorstädte porträtierten – so etwa 1926 die meisterhafte Ballade vom kleinen Mann (abgedruckt 1935 in der Sammlung Wien wörtlich). Allmählich rückte jedoch die Beschäftigung mit den formalen Möglichkeiten der Sprache, seiner »reinen« Geliebten, verstärkt durch Italienreisen (1925/26), in den Mittelpunkt. Die Heroen der Kulturgeschichte (darunter Schopenhauer u. Hölderlin) wurden zu Vorbildern, denen sich W. im angefochtenen Glauben an den »Geist« tief verbunden fühlte. Sein elitär anmutendes Sendungsbewusstsein (biologistischen Vorstellungen durchaus konträr) fand in Ideologemen des Austrofaschismus u. dann des Nationalsozialismus einige Anknüpfungspunkte. In einer aus dem »allgemeinen Verschweigen« seiner Leistung resultierenden »Kampfstellung« (»Wenn doch der Thomas Mann mein Onkel wäre! Dann käme ich gleich nach dem Stefan George!«) trat W., gleichsam als ›underdog‹ des Literaturbetriebs, schon 1931 in die NSDAP ein, um dem »Mißbrauch« seiner »Menschen- und Künstlerwürde« ein Ende zu setzen. Seit 1933 war er Leiter der Fachschaft für Schrifttum im »Kampfbund für deutsche Kultur«; daneben schuf er sich einen Freundeskreis »nationaler« Autoren wie Bruno Brehm, Mirko Jelusich u. Robert Hohlbaum, die ihm zum Durchbruch verhalfen (aus diesem Kreis der Erinnerungsband Bekenntnis zu Josef Weinheber. Salzb. 1950). Der Lyrikband Adel und Untergang (Wien 1934. Hbg. 1948. Kirchstetten 1995) brachte ihn mit einem Schlag in die vorderste Reihe der deutschsprachigen Lyriker. W.s Verkündigungspathos war freilich schon hier mit Todes- u. Untergangsfantasien durchzogen, auch mit dem Gefühl histor. Verspätung u. eines Abschieds vom Mythos des Abend-

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landes (so in den Sonetten an die Nacht, 1936, mit Berufung auf Michelangelo). Die Verzweiflung des Dichtersehers verschmolz mit endzeitl. Skepsis. Bewundert wurden bald W.s formale Meisterschaft im Umgang mit antiken bzw. klass. Versformen u. die Kompromisslosigkeit, mit der er sich der Erfüllung seines absolut gedachten Auftrags widmete, so in der Heroischen Trilogie u. in Das reine Gedicht. Thematisch blieben die Opfer- u. Prophetenrolle des Künstlers zentraler Aspekt. 1932 aus dem Postdienst ausgeschieden, siedelte W. 1934 zusammen mit seiner zweiten Frau ins niederösterr. Kirchstetten über. Mit dem Lyrikband Späte Krone (Mchn. 1936. Ebd. 1950. Hbg. 1953. St. Pölten/Wien 1991) konnte er erstmals in einem reichsdt. Verlag veröffentlichen. Obwohl W. 1934 die Zahlung der Mitgliedsbeiträge an die »Bewegung« einstellte, blieb er ein wesentl. Exponent der Nationalen u. zgl. wichtiger Verbindungsmann zu reichsdt. Stellen (Will Vesper). Doch auch der österr. Ständestaat reklamierte den nunmehr Berühmten für sich: 1936 erhielt er den Professorentitel, seine Gedichte – insbes. aus W.s populärstem Buch Wien wörtlich (Wien 1935. Mchn. 1938. Salzb. 1948. Zuletzt Wien 1973; z. T. im Wiener Dialekt geschrieben) – erfreuten sich bei vaterländ. Veranstaltungen großer Beliebtheit. Zum »Anschluss« 1938 revanchierte sich W. mit einem Hymnus auf die Heimkehr (in: Chronik des Wiener Goethe-Vereins 43, 1938); in der Folge lieferte er den NS-Granden Festlyrik auf Bestellung, noch immer überzeugt davon, dass die Partei sein hehres Kunstideal mittragen werde. Jenseits der Tagespolitik publizierte W. Zwischen Göttern und Dämonen (Mchn. 1938. Hbg. 1949. St. Pölten/ Wien 1991), 40 Oden, die dem heilen Dasein von Rilkes Sänger den heroisch kämpfenden Dichter gegenüberstellen, u. Kammermusik (Mchn. 1939. Hbg. 1950. St. Pölten/Wien 1994), meditativ-allegor. Variationen über Musikinstrumente in lyr. Strophen. Anfang der 1940er Jahre wuchsen jedoch Zweifel am eingeschlagenen Weg, dokumentiert in den Bekenntnisgedichten Hier ist das Wort (gesetzt für Langen/Müller 1944. Ersch. Salzb. 1947. Hbg. 1953. St. Pölten/Wien 1992). Die Er-

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kenntnis des Fehlverhaltens (»wie ich gut gewollt / und wie ich bös getan«) bewirkt jedoch keine Abkehr von seiner heroischen Metaphysik u. Opferrolle: In Vortragsreisen, Lesungen etc. blieb W. der repräsentative Autor des NS-Regimes; 1941 erhielt er den Grillparzer-Preis, 1942 wurde ihm das Ehrendoktorat der Universität Wien verliehen, u. noch im Sommersemester 1944 konnte er dort Vorlesungen Über Sprache abhalten. In der Entartung der öffentl. Sprache, des »gräßlichen Neudeutschen«, das zum »Bellen« verkommen sei, sah er 1943 (Brief an Sturm vom 9.10.1943) den Krieg »im Geistigen« als verloren an. Gleichwohl erneuerte er 1944 seine Mitgliedschaft in der NSDAP, mit der er schließlich konsequent seinen Weg zu Ende ging: Schwer erschüttert durch die Katastrophe des Kriegs, körperlich zerrüttet durch Schlaflosigkeit u. Depressionen, starb W. 1945 durch eine Überdosis Morphin. Eines seiner letzten Gedichte gipfelte in dem Bekenntnis: »Brechen die Mächte ein, / wirst du schon schuldig sein, / schuldig sein, / – und auch gerichtet!“ (Sämtliche Werke II, S. 614). Der aus Österreich ins engl. Exil vertriebene Dichter Theodor Kramer, W.s Jugendfreund, schrieb in Reaktion auf W.s Freitod bewegte, geradezu spektakuläre Abschieds- u. Klageverse (hier im Auszug; s. Strigl 2000; Kühlmann 2010): »Du warst in allem einer ihrer Besten, / erschrocken fühl ich heut mich dir verwandt [...]. /. Es füllte dich wie mich der gleiche Ekel / vor dem Geklüngel ohne innern Drang [...]. So zog es dich zu ihnen, die marschierten [...]. Ich hätte dich mit eigner Hand erschlagen, / doch unser keiner hatte die Geduld, / in deiner Sprache dir den Weg zu sagen: / dein Tod ist unsre, ist auch meine Schuld. [...].« Die Vielfalt u. nur dialektisch aufzulösende Zwiespältigkeit von W.s Lyrik – einerseits ihre, neben bewusst populären Versen u. Vorstadt-Couplets, bald dominierende erhabene Diktion, ihr permanenter, freilich oft melanchol. Rekurs auf Größe, Adel u. Heroismus, auf Vergeistigung, Schicksal, Abendland, Blut u. Volk, andererseits ihre politischpragmat. Dimension, die Anerkennung suchende u. genießende Reaktion auf die jeweilige histor. Situation – führten zu unter-

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schiedl. Rezeptionslinien. Während der Ständestaat W. bereitwillig zum Lesebuchautor avancieren ließ u. diese sich auf textimmanente Analyse stützende Lektüre auch in der Restaurationsphase der Zweiten Republik ihre punktuelle Fortsetzung fand, stand das Gesamtwerk W.s, des eingefleischten Vorstadt-Wieners, Österreichers, Abendländers, Austrofaschisten u. gleichzeitig deutschnationalen Reichsromantikers bald, allseitige Verlegenheit verursachend, quer zu den gängigen Wertungsmaximen. Erst die Anstrengungen der neueren germanistischen Forschung führten zu einem differenzierten W.-Bild. Probleme der Wertungen blieben u. bleiben virulent. W.s Prosatexte, so der autobiogr. Roman Das Waisenhaus (Wien 1924), wurden bisher wenig beachtet. W.s Nachlass befindet sich in der Österreichischen Nationalbibliothek. Detaillierte Informationen zu Werk u. Leben des Dichters bietet die Internetseite der Josef Weinheber-Gesellschaft. Weitere Werke: Ausgaben: Sämtl. Werke. Hg. Josef Nadler unter Mitwirkung v. Hedwig Weinheber. 5 Bde., Salzb. 1953–56. – Sämtl. Werke. Hg. Friedrich Jenaczek. Ebd. 1970–96 (kommentierte Neuausg.). – Einzeltitel: Von beiden Ufern. Wien 1923 (L.). – Boot in der Bucht. Ebd. 1926 (L.). – Vereinsamtes Herz. Ebd. 1935 (L.). – O Mensch gib acht! Mchn. 1937. Hbg. 1950. St. Pölten/Wien 1988. Graz 2006. – Selbstbildnis. Gedichte aus 20 Jahren. Mchn. 1937. – Dokumente des Herzens. Ebd. 1944. Hbg. 1953. St. Pölten/Wien 1988 (L.). – Über die Dichtkunst. Salzb. 1949 (Ess.). – Über alle Maßen aber liebte ich die Kunst. Hg. Friedrich Sacher. Ebd. 1952 (Lyrikausw.). – Briefe an [Martin] Sturm. Hg. u. eingel. v. Paul Zugorski. Hbg. 1955. – Das große Josef-Weinheber-Hausbuch. Wien 1995. Literatur: Josef Nadler u. Hedwig Weinheber: J. W. u. die Sprache. Wien 1950. 21955. – Edmund Finke: J. W. Der Mensch u. das Werk. Salzb. 1950. – J. Nadler: J. W. Gesch. seines Lebens u. seiner Dichtung. Ebd. 1952. – Harry Bergholz: J. W. Bibliogr. Bad Bocklet/Wien/Zürich 1953. – Fritz Feldner: J. W. Eine Dokumentation in Bild u. Wort. Salzb./Stgt. 1965. – Gerhard Renner: Österr. Schriftsteller u. der Nationalsozialismus. ›Der Bund der dt. Schriftsteller Österreichs‹ u. die Anfänge der Reichsschrifttumskammer in Österr. Diss. Wien 1981. – Albert Berger: Götter, Dämonen u. Irdisches. J. W.s dichter. Metaphysik. In: Österr. Lit. der 30er Jahre. Hg. Klaus Amann u. A. Berger. Ebd. 1985, S. 277–290. – Friedrich Jenaczek: J. W.

232 1892–1945. Ausstellung in der Österr. Nationalbibl., Heldenplatz 7. Dez. 1995 – 31. Jänner 1996. Kirchstetten 1995. – Walter Marinovic: Dt. Dichtung aus Österr.: Schönherr – W. – Waggerl. Wien 1997. – A. Berger: J. W. 1892–1945. Leben u. Werk – Leben im Werk. Salzb./Wien 1999. – Daniela Strigl: ›Erschrocken fühl ich heut mich dir verwandt‹. Theodor Kramer u. J. W. In: Chronist seiner Zeit. Theodor Kramer. Hg. Herbert Staud u. Jörg Thunecke. Klagenf. 2000, S. 255–274. – Christoph Fackelmann: Die Sprachkunst J. W.s u. ihre Leser. Annäherungen an die Werkgestalt in wirkungsgeschichtl. Perspektive. Wien/Münster 2005. – Ders. (Hg.): Literaturwiss. Jahresgabe der J. W.-Gesellsch. Ess.s – Interpr.en – Mitt.en aus der Forsch. Wien u. a. 2009. – Wilhelm Kühlmann: ›Schuldig sein u. auch gerichtet‹. Ein Versuch zum ›Fall‹ J. W. In: Die Schuldfrage. Untersuchungen zur geistigen Situation der Nachkriegszeit. Hg. Carsten Dutt. Heidelb. 2010, S. 191–197. – Georg Milzner: Zwischen Wartburg u. Wewelsburg. Dt. Geist u. Nationalsozialismus. Neustadt an der Orla 2011. Johannes Sachslehner / Robert Rduch / Wilhelm Kühlmann

Weininger, Otto, * 3.4.1880 Wien, † 4.10. 1903 Wien (Freitod); Grabstätte: ebd., Matzleinsdorfer Friedhof. – Philosoph u. Sexualanthropologe. Der Sohn eines assimilierten jüd. Goldschmieds erwarb sich schon früh eine universale Bildung, die er in der erweiterten Druckfassung seiner Dissertation, seinem Aufsehen erregenden Hauptwerk Geschlecht und Charakter (Wien/Lpz. 1903. Neudr. Mchn. 30 1980. Zuletzt ebd. 1997) ausbreitete. Wie Hofmannsthal im Brief des Lord Chandos (1902) übte W., der im Literatenmilieu Jung-Wiens verkehrte, heftige Kritik am kulturellen Werteverfall, repräsentiert von Ernst Machs Antimetaphysik, deren Zauber auch ihn verführt hatte. Ansetzend bei der menschl. Bisexualität, trat er in Konkurrenz zu Freud, dem Vorbild als Psychologen u. ersten Leser von Eros und Psyche (1901), der Urfassung von W.s Dissertation (Wien 1902). Aufbau u. Thematik entsprechen einer Anregung von W.s Lehrer Krafft-Ebing im Vorwort zur Psychopathia sexualis (1886), wonach »sowohl die empirische Psychologie als die Metaphysik der sexuellen Seite des menschlichen Daseins ein noch nahezu jungfräulicher wissen-

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schaftlicher Boden sind«. Die hier zum Aus- nism? The Historical Context of O. W.’s Critique of druck kommende, für das Zeitalter sympto- Modernity. In: German Politics and Society 14 mat. weltanschaul. Spaltung verdichtet sich (1996), 4, S. 83–98. – Franz Karl Stanzel: Der weibl. beispielhaft in W.s Person u. Werk. Von einer Mann. Eine rückläufige Spurensuche v. James Joyce zu O. W. Amsterd. 1997. – Chandak Sengoopta: O. platonisch gefärbten biolog. Psychologie der W. Sex, Science, and Self in Imperial Vienna. ChiGeschlechtsliebe ausgehend, entwarf W. im cago/London 2000. – Jeannette Strauss Almstad u. zweiten Teil eine idealistische, das männl. Matthias Wolfes: O. W. In: Bautz. – David S. Luft: Genie verherrlichende, von Kant, Schopen- Eros and inwardness in Vienna: W., Musil, Dodehauer, Nietzsche, ind. Mystik u. gnost. Leh- rer. Chicago 2003. – Andrea Kottow: Der kranke ren beeinflusste Ethik mit dem Ziel der Mann. Medizin u. Geschlecht in der Lit. um 1900. Emanzipation der Seele von der Physis. Seine Ffm./New York 2006. Hannelore Rodlauer / Red. frauen- wie judenfeindl. Theorien sicherten dem Werk einen spektakulären Erfolg. We- Weinsberg, Hermann von, * 3.1.1518 nige Monate nach Erscheinen der Erstausga- Köln, † nach dem 27.7.1597 Köln. – Verbe erschoss sich W. im Sterbehaus Beetho- fasser einer Chronik u. Autobiografie. vens, seines künstlerischen Idols. W.s Werk u. Persönlichkeit faszinierten W., Sohn eines Handelsgehilfen u. Ratsmitmehrere Generationen. Faschistischen Ideo- glieds, stammte aus einer Aufsteigerfamilie, logen lieferte sein mit »jüdischem Selbsthaß« die aus dem ländl. Pferdeknechtmilieu zur (Theodor Lessing) gepaarter theoret. männl. ratfähigen Familie emporgekommen war. Narzissmus willkommene Argumente. Seine Seit 1534 absolvierte er ein UniversitätsstuWerke wurden u. werden in zahlreiche Spra- dium, das er als Magister artium u. licentiatus chen übersetzt. Für ihre Wirkung stehen legum beendete, jedoch Zeit seines Lebens Namen wie Karl Kraus, Schönberg, Trakl, keinen juristischen Beruf ausübte. WennKafka, Broch, Musil, Canetti, Doderer, D. H. gleich er sich vergeblich um eine Pfründe Lawrence, Svevo, Wittgenstein u. Thomas bemühte, verschafften ihm vielfältige Berufe Bernhard. Die Verfilmung der Wiener Büh- u. Ämter in Köln, zwei Ehen mit vermögennenfassung von Weiningers Nacht des Israeli den Witwen, die kinderlos blieben, sowie diYoshua Sobol wurde bei den Berliner Film- verse Renten dennoch ein ausreichendes Einkommen. festspielen 1990 erstmals gezeigt. Von W. stammt eine umfassende FamiliWeitere Werke: Über die letzten Dinge. Wien/ enchronik (irrtümlich als Buch Weinsberg be10 Lpz. 1903. Neudr. Mchn. 1980. Zuletzt Nachdr. Saarbr. 2007. – Taschenbuch u. Briefe an einen zeichnet): Das Boich Weinsberch (verfasst bis Freund. Lpz./Wien 1919. Neudr. in: Geschlecht u. 1559, die Jahre vor 1518 enthaltend), die sich Charakter. Neuausg. Mchn. 1980 (Anhang). – Eros anschließenden drei Bände u. d. T. Gedenck u. Psyche. Studien u. Briefe 1899–1902. Hg., ein- Boich des Hermanni von Weinsberch: Liber Iuvengel. u. komm. v. Hannelore Rodlauer. Wien 1990. – tutis (seit 1560 geschrieben über die Jahre Krit. Online-Ausg. der Werke v. O. W. Bearb. v. 1518–1577), Liber Senectutis (fortlaufend geAllan Janik. Innsbr. 2007. schrieben zwischen 1578–1587) u. Liber Literatur: Jacques Le Rider u. Norbert Leser Decrepitudinis (Niederschriften der Jahre (Hg.): O. W. Werk u. Wirkung. Wien 1984. – J. Le 1588–1597). Rider: Der Fall O. W. Wurzeln des Antifeminismus W. entwirft darin eine Familiengeschichte u. Antisemitismus. Wien/Mchn. 1985 (mit Biblio- mit weitgehend fiktivem Charakter, wie z.B. gr.). – Allan Janik: Essays on Wittgenstein and W. eine Genealogie, die bis zu Karl dem Großen Amsterd. 1985. – Yoshua Sobol: Weiningers Nacht. zurückreicht u. in der die einzelnen »HausWien 1988 (Bühnentext; im Anhang Beiträge väter« mit tragenden Rollen in die Reichsgezahlreicher Autoren). – Ursula Heckmann: Das verfluchte Geschlecht. Motive der Philosophie O. schichte eingeordnet werden. Damit verfolgt W.s im Werk Georg Trakls. Ffm. u. a. 1992. – Nancy der Text ein genealog. Vorstellungsmodell A. Harrowitz u. Barbara Hyams (Hg.): Jews & von Ursprung u. Entstehung aus AbstamGender. Responses to O. W. Philadelphia 1995. – mung. Mit der Absicht, Memoria u. Ruhm Steven Beller: How Modern was Viennese Moder- des Hauses zu sichern – was nicht nur an der

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fehlenden legitimen bzw. direkten Nachkommenschaft scheiterte – stellt es ein prakt. Wissenskompendium über Verwandtschaftsu. Besitzverhältnisse dar. In seinen teils sehr langen Ausführungen zum eigenen Leben, in denen er akribisch Alltagsereignisse notiert u. über sich als ein bes. Individuum reflektiert, verliert sich W. mitunter im Individuellen, so dass der allgemeine u. überzeitl. Anspruch der Texte mitunter verlorengeht. Gerade dieser ausgesprochene Detailreichtum macht seine autobiogr. Chronik jedoch zu einem wichtigen (kulturhistorischen) Dokument der städt. Mittelschicht der frühen Neuzeit. Während die Texte zunächst unter histor. Aspekt als Darstellung der Geschichte Kölns u. Deutschlands im 16. Jh. gelesen wurden, erfolgt ihre Berücksichtigung nun auch unter dem Blickpunkt von Sprachgeschichte u. Sprachwissenschaft, im Kontext der Haus- u. Familienbuchschreibung, der Autobiografieu. Selbstzeugnisforschung sowie Fragestellungen der Alltags- u Mentalitätsgeschichte sowie den Gender-Studies. Ausgaben: Das Buch W. Bde. 1 u. 2 hg. v. Konstantin Höhlbaum. Lpz. 1886/87. Bde. 3 u. 4 hg. v. Friedrich Lau. Bonn 1897/98. Bd. 5 hg. v. Josef Stein. Ebd. 1926. [Nachdr. ebd. 2000] (Auswahlpubl., textkritisch nicht mehr zeitgemäß). – Johann Jakob Hässlin: Das Buch Weinsberg. Köln 51997 (populäre, sprachlich modernisierte u. den Textbestand stark verkürzende Ausgabe). – Die autobiogr. Aufzeichnungen W.s  Digitale Gesamtausg. Hg. Tobias Wulf in Zus. mit Manfred Groten u. Thomas Klein. URL: http://www.weinsberg.uni-bonn.de/Projekt/ Handschrift/Handschrift.htm, 21.5.2011. Literatur: Josef Stein: H. W. als Mensch u. Historiker. In: Jb. des Köln. Geschichtsvereins (1917), S. 109–169. – Clemens Lugowski: Die Form der Individualität im Roman. Bln. 1932. – Georg Misch: Gesch. der Autobiogr. Bd. IV,2. Ffm. 1949. – Rudolf Schützeichel: Zur Erforschung der Herkunftsnamen in spätmittelalterl. Quellen aus der Stadt Köln. In: Civitatum Communitas. Studien zum europ. Städtewesen. FS Heinz Stoob. Hg. Helmut Jäger u.a. Köln/Wien 1984, S. 148–157. – Robert Jütte: Household and Family Life in Late 16th Century Cologne: The Weinsberg Family. In: Sixteenth Century Journal 17 (1986), S. 165–182. – Wolfgang Herborn: H. v. W. In: Rhein. Lebensbilder 11 (Bonn 1988), S. 59–76. – R. Jütte: Aging and Body Images in the Sixteenth Century: H. W.’s Perception of the Aging Body. In: European History

234 Quarterly 18 (1988), S. 259–280. – Hans-Jürgen Bachorski: L’élément biographique dans les chroniques. In: Chroniques Nationales et Chroniques Universelles. Hg. Danielle Buschinger. Göpp. 1990, S. 7–16. – Gerhard Wolf: Autopoiesis u. Autopoesie. Zur Funktion des Autors in frühneuzeitl. Hauschroniken. In: Fragen nach dem Autor. Positionen u. Perspektiven. Hg. Felix Philipp Ingold u. Werner Wunderlich. Konstanz 1992, S. 61–71. – Stephan Pastenaci: Erzählform u. Persönlichkeitsdarstellung in deutschsprachigen Autobiogr.n des 16. Jh. Ein Beitr. zur histor. Psychologie. Trier 1993, S. 90–145. – Anette Völker-Rasor: Bilderpaare  Paarbilder. Die Ehe in Autobiogr.n des 16. Jh. Freib. 1993. – Wolfgang Herborn: Das Lachen im 16. Jh. Die Chronik des H. v. W. als Quelle für eine Gemütsäußerung. In: Rheinisch-westfäl. Ztschr. für Volkskunde 40 (1995), S. 9–30. – A. Völker-Rasor: ›Arbeitsam, obgleich etwas verschlafen ...‹ – Die Autobiogr. des 16. Jh. als Ego-Dokument. In: Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Gesch. Hg. Winfried Schulze. Bln 1996, S. 107–120. – Birgit Studt: Der Hausvater. Haus u. Gedächtnis bei H. v. W. In: Rhein. Vierteljahrsbl. 61 (1997), S. 135–160. – Gregor Rohmann: Der Lügner durchschaut die Wahrheit: Verwandtschaft, Status u. histor. Wissen bei H. v. W. In: Jb. des Köln. Geschichtsvereins 71 (2000), S. 43–76. – Walter Hoffmann: Der Kölner Chronist H. W. (1518–1597) u. seine ›Namengesetze‹: Ed. u. Komm. In: Raum, Zeit, Medium – Sprache u. ihre Determinanten. FS Hans Ramge. Hg. Gerd Richter, Jörg Riecke u. Britt-Marie Schuster. Darmst. 2000, S. 47–58. – Henning Tersch: Vielfalt der Formen. Selbstzeugnisse der Frühen Neuzeit als histor. Quellen. In: Vom Lebenslauf zur Biographie. Gesch., Quellen u. Probleme der histor. Biographik u. Autobiographik. Hg. Thomas Winkelbauer. Horn/Waidhofen 2000, S. 69–98. – Kaspar v. Greyerz, Hans Medick u. Patrice Veit (Hg.): Von der dargestellten Person zum erinnerten Ich. Europ. Selbstzeugnisse als histor. Quelle 1500–1800. Köln/ Weimar/Wien 2001, S. 3–31. – Gerd Schwerhoff: Verklärung u. Untergang des Hauses W. – eine gescheiterte Geltungsgesch., oder: Vom glückl. Überlieferungs-Zufall eines Ego-Dokuments aus dem 16. Jh. In: Kloster – Stadt – Region. FS Heinrich Rüthing. Hg. Johannes Altenberend. Bielef. 2002, S. 65–86. – Manfred Groten (Hg.): H. W. (1518–1597). Kölner Bürger u. Ratsherr. Studien zu Leben u. Werk. Köln 2005. – Walter Hoffmann: H. W. als Namenforscher? In: H. W. (1518–1597). Hg. Manfred Groten. Köln 2005, S. 275–292. – Robert Möller: Beobachtungen zu H. W.s ›gemischter‹ Sprache. In: ebd., S. 253–273. – Tobias Wulf: Auswahlbibliogr. H. W. u. seine Aufzeichnungen

235 als Gegenstand u. Quelle der histor. u. sprachwiss. Forschung. In: ebd., S. 293–300. – Tobias Wulf: Bestandsaufnahme u. Perspektiven der W.-Forschung. In: ebd., S. 35–57. – Peter Glasner: Ein geschrift zu ewiger gedechtnis. Das erinnernde Ich bei H. v. W. (1518–1597) in der Medialität v. Schrift u. Bild. In: Autorbilder. Zur Medialität lit. Kommunikation in MA u. Früher Neuzeit. Hg. Gerald Kapfhammer, Wolf-Dietrich Löhr u. Barbara Nitsche. Münster 2007, S. 285–319. – Gregor Rohmann: Mit seer grosser muhe und schreiben an ferre Ort. Wissensproduktion u. Wissensvernetzung in der deutschsprachigen Familienbuchschreibung des 16. Jh. In: Haus- u. Familienbücher in der städt. Gesellsch. des SpätMA u. der Frühen Neuzeit. Hg. B. Studt. Köln/Weimar/Wien 2007. – Antje Wittstock: Von eim Kemergin  minem studorio. Zur Darstellung v. ›Denkräumen‹ in humanist. Lit. In: Imaginäre Räume. Sektion B des internat. Kongresses ›Virtuelle Räume. Raumwahrnehmung u. Raumvorstellung im MA‹. Hg. Elisabeth Vavra. Wien 2007, S. 133–154. – G. Schwerhoff: Handlungswissen u. Wissensräume in der Stadt: das Beispiel des Kölner Ratsherren H. v. W. (1518–1597). In: Tradieren, Vermitteln, Anwenden. Hg. Jörg Rogge. Bln. 2008, S. 61–102. – Anne-Charlott Trepp: Zum Wandel v. Altersbildern u. Alterserfahrung im späten MA u. am Beginn der Frühen Neuzeit. In: Alterskulturen des MA u. der Frühen Neuzeit. Hg. E. Vavra. Wien 2008, S. 299–313. Antje Wittstock

Der Weinschwelg. – Anonymes Reimpaargedicht des 13. Jh. Das in zwei Fassungen überlieferte Reimpaargedicht (416 bzw. 202 Verse) ist nach der Mitte des 13. Jh. entstanden. Ein großer Trinker liefert darin ein Lob des Weins u. seiner eigenen Meisterschaft in 23 (Fassung A) mit steigender Trunkenheit immer überschwenglicher werdenden Lobpreisungen. Jeder Abschnitt endet in dem Refrain »dô huob er ûf unde tranc«, worauf ein neuer, noch größerer Trunk folgt. Die ersten sieben Abschnitte sind allein dem Lob des Weins gewidmet, der über allen anderen Freuden des Lebens steht; in den folgenden acht verherrlicht der Trinker den Wein in einer Art Zeremoniell, das als Parodie des Minnedienstes anzusehen ist; in den letzten acht Abschnitten, als der Wein schon Wirkung zeigt, erreicht das Gedicht seinen Höhe-

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punkt: der Meistertrinker hört eine »süeze stimme« in seinem Kopf, prahlt ungehemmt über die »Turniere« in den Universitätsstädten Europas, auf denen er seine Meisterschaft bewiesen habe, u. stellt seine Liebe zum Wein über die berühmter Liebespaare der höf. Dichtung. Schließlich schwelgt er in Allmachtsgefühlen; als sein Hemd zerreißt, panzert er sich u. trinkt weiter. Das Gedicht klingt mit der Refrainzeile aus. Das im Grenzbereich zwischen Märe u. Zechrede anzusiedelnde, kunstvoll gebaute Gedicht wurde wahrscheinlich von der lat. Vagantenlyrik beeinflusst. Als Parodie höf. Formen zeigt es Ähnlichkeiten mit der Bösen Frau; inhaltliche Parallelen zum Unbelehrbaren Zecher des Stricker sind zahlreich. Ausgaben: Ursula Schmid (Hg.): Codex Karlsruhe 408. Bern/Mchn. 1974, S. 441–446. – Hanns Fischer (Hg.): Der Stricker. Verserzählungen II. Mit einem Anhang: Der W. 4., rev. Aufl., hg. v. Johannes Janota. Tüb. 1997, S. 42–58. Literatur: Helmut de Boor: Die dt. Lit. im späten MA. Tl. 1, Mchn. 1962, S. 284–287. – Stephen L. Wailes: Wit in ›Der W.‹. In: GLL 27 (1973/ 74), S. 1–7. – Hans-Joachim Ziegeler: Erzählen im SpätMA. Mchn. 1985, S. 496 (Bibliogr.). – Burghart Wachinger: Der W. In: VL. Ulla Williams / Red.

Weinzettl, Franz, * 15.7.1955 Feldbach/ Steiermark. – Prosa- u. Lyrikautor. Nach dem Studium der Germanistik u. Geschichte an der Universität Graz begann W. Mitte der 1970er Jahre zu schreiben. Seine Mentoren waren Peter Handke u. Alfred Kolleritsch, über die er in den 1980er Jahren zur »Grazer Gruppe« stieß u. Kurzprosa in den Zeitschriften »manuskripte« u. »sterz« publizieren konnte. W., der seit 1997 auch als Psychotherapeut arbeitet, lebt in Graz Die 1983 veröffentlichte Erzählung Auf halber Höhe (Salzb./Wien. Um zwei Briefe Peter Handkes erw. Neuausg. Wien 2003) machte W. als sprachbewussten, genau beobachtenden Autor bekannt. Im Mittelpunkt steht ein verträumter Held, dessen Ich- u. Erwachsenwerden über das Zusammenführen von Eindrücken u. Erinnerungen geschildert wird. Die verhaltene Weltaneignung u. das spezif. Ausmessen landschaftl. Räume

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verleihen dieser Prosa einen Ton, der »von kunden u. erwandern darin Landschaften der sanftester Wahrheit« geradezu zittere (P. steir. Peripherie, deren Äußeres sie oft wie Handke). In ein dichtes Netz von Tagträumen durch eine Nebelwand in Abtönungen wahru. Projektionen führt die darauffolgende Ge- nehmen, über die sich Tagträume, Erinneschichte mit ihr (Salzb./Wien 1987), während rungen, Ängste u. Projektionen ausbreiten. der Band Der Jahreskreis der Anna Neuherz (ebd. Diese Prosa bewegt sich auf eine Poetik mi1988. Neuausg. Wien 2004) einem herbar. krokosm. Sehens zu, die mitunter unzeitgeProsakalender nahekommt, in dem Land- mäß wirkt, aber auch, etwa im Radiostück schaft, Natur u. Alltag zu oft humorigen Wer ich nicht bin, ein iron. Spiel mit Identitäten Synthesen finden. Die Erzählung Im Pappel- inszeniert. Als ungewöhnl. Liebesgeschichte versteht schatten, Liebste (Salzb./Wien 1990) handelt ebenfalls von einer ungewöhnl. Leidenschaft. sich Abseits, auf den Gleisen (ebd. 2008), ein Der schwärmerische Ich-Erzähler geht einem Erzählbericht in Tagebuchform, in dem ein koketten Mädchen »in die Falle«. Er ver- Mann drei Jahre hindurch eine von Auflasstrickt sich in eine pathologisch anmutende sung bedrohte Zugstrecke in der SüdoststeiBeziehung u. wird gleichzeitig auf Distanz ermark immer wieder befährt u. sich geragehalten. Je deutlicher dabei das Unglück der dezu einverleibt. Der Text besticht durch Figuren zu Tage tritt, desto stärker legt sich sprachl. Präzision; die ins Totale zielende eine genau vermessene Landschaft über das- Aufzeichnungsmaschinerie gleicht streckenselbe, um eine Art fluchtartigen Projektions- weise einem Filmapparat, zeigt hochriskanraum zu offerieren. Versagensangst u. ein- ten, aber glückenden Mut zur Langsamkeit u. dringl. Bilder von Rändern, die eine Poetik zur Einfachheit, ein grenzgängerisches Verdes Gehens u. Beobachtens skizzieren, sowie fahren, das W. mit ähnl. Begründung bereits das Sammeln unauffälliger, kleiner Dinge 2005 den Hermann Lenz-Preis eingetragen kennzeichnen die meist einzelgängerischen hat. Hauptfiguren in W.s Werk. Die irritierend Weitere Werke: Kreuzer. In: manuskripte 15 knappen Zeitungsnotizen über den tödl. Ar- (1975), H. 52, S. 79 f. – Alltag, Frau u. Poesie [u. drei beitsunfall des Vaters veranlassen Wagner weitere Gedichte]. In: ebd. 15 (1975), H. 53, S. 41 f. zwanzig Jahre danach in der Erzählung Zwi- – Angst. In: ebd. 20 (1980), H. 67, S. 85 f. – Die schen Nacht und Tag (Salzb./Wien 1997. Urauff. Verengung. In: ebd. 20 (1980), H. 69/70, S. 48 f. (E). Graz 2001) eine Spurensuche nach eben die- – [Gedichte]. In: ebd. 22 (1982), H. 75, S. 47. – Prag, Pécs, Budapest. Hg. Heinz Hartwig. Graz 1993. – ser Vaterfigur aufzunehmen. Auf einem Schreiben u. Lesen. Notizen. In: Lichtungen 25 mehrstündigen Gang zum Unfallort setzt der (2004), H. 97, S. 112–115. Protagonist aus Erinnerungen, ZwiegespräLiteratur: Walter Vogl: F. W.: Der Jahreskreis chen u. alten Fotografien das Bild seines früh der Anna Neuherz. In: LuK 24 (1989), H. 231/232, verlorenen Vaters neu zusammen, spürt offen S. 83 f. (Rez.). – Christiane Zintzen: Gestalten der gebliebenen Fragen nach, so z.B. dessen ver- Melancholie. F. W.s. ges. Kurzprosa. In: NZZ, 10.4. haltener Rebellion gegen das Schicksal, u. 2002. – Martin Droschke: Verrückte Aussöhnung. entdeckt dabei eine vielschichtige u. ambiva- F. W.s. ›Auf halber Höhe‹. In. LuK 39 (2004), H. lente Gestalt mit einem weit über ihren Bau- 385/386, S. 98 f. (Rez.). Primus-Heinz Kucher arbeiterstatus hinausreichenden Bildungsinteresse, mit Träumen, deren Erfüllung an den Weinzierl, (Albert) Franz Xaver, * 2.12. Sohn delegiert werden. 2001 wurde in der 1757 Großmehring bei Ingolstadt, † 12.6. Regie von E. M. Binder am »forum stadtpark 1833 Neustadt/Donau. – Übersetzer, Lytheater« die dramatisierte Fassung dieses riker; Geistlicher. Textes uraufgeführt. Kurztexte u. Lyrik, z.T. schon in Zeit- Nach Gymnasialjahren u. Studium in Ingolschriften publiziert, sowie unveröffentlichte stadt trat W. 1777 in das AugustinerchorStücke versammelt der Band Das Glück zwi- herrenstift Polling bei Weilheim ein. schendurch (Wien 2001). Um Unauffälligkeit 1781–1794 u. 1799–1803 unterrichtete er bemühte Einzelgänger u. Melancholiker er- Rhetorik u. alte Sprachen am Gymnasium in

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München. Von seinen pädagog. Idealen zeu- ›Der Skorpion‹. In: Queering the canon. Hg. gen W.s Schulbücher (Kurze griechische Sprach- Christoph Lorey u. John L. Plews. Columbia, SC lehre. Mchn. 1787) u. Reden (Über den Werth 1998, S. 207–221. Bettina Mähler / Red. und Zweck der Römersprache. Ebd. 1801. Über den neuen Schulplan [...]. Ebd. 1803). Weisbach, Reinhard, * 8.7.1933 WaldesW.s schriftstellerisches Werk ist bescheiden ruh bei Berlin, † 13.11.1978 Berlin/DDR. im Umfang, zeugt aber von Qualität u. rei– Literaturwissenschaftler u. Lyriker. chem Wissen. Hervorzuheben sind seine Übersetzungen der Fabeln des Phädrus in W., Sohn eines Angestellten, absolvierte nedeutschen Reimen (Mchn. 1797; mit an- ben seiner Tätigkeit als Lehrer (1951–1967) spruchsvoller theoret. Einleitung) u. die noch ein Fernstudium der Germanistik an der immer frisch wirkende Liedersammlung (ebd. Pädagogischen Hochschule Potsdam, das er 1798. 21799. Neudr. hg. von Ernst Witter- 1959 abschloss. Bis 1970 war er stellvertremann. Murnau 1980), die unter dem Einfluss tender Chefredakteur der »Weimarer Beiträder Anakreontik, des Göttinger Hains u. der ge«, danach Arbeitsgruppenleiter im ZenIdyllendichtung entstand u. von W. selbst mit tralinstitut für Literaturgeschichte der AkaMelodien versehen wurde. Nach der Säkula- demie der Wissenschaften in Ost-Berlin. 1966 risation (1803) ging W. in seine Heimat zu- promovierte W. mit einer Arbeit über Brechts rück u. wurde Stadtpfarrer von Neustadt/ frühe Lyrik zum Dr. phil., 1970 mit einer Schrift über Modellbildung in der AbiturDonau. Weitere Werke: Hirtenpflicht oder Blumen auf stufendidaktik zum Dr. paed. W. war von 1971 an Seminarleiter des das Grab des verklärten Franziskus Töpsl, Probstes in Polling. Mchn. 1796. – Rede über den Text: Ich Zentralen Poetenseminars der FDJ in Schwebin die Mutter der schönen Liebe [...]. Ebd. 1797. rin, einer Art Sommerkurs für LyrikschreiLiteratur: Richard van Dülmen: Propst Fran- bende. Ein ihm zum Gedenken gestifteter ziskus Töpsl u. das Augustiner-Chorherrenstift Preis (ab 1982 verliehen) unterstreicht W.s Polling. Kallmünz 1967. Hans Pörnbacher Bedeutung. Obwohl Ziehkind des staatl. Jugendverbands, gingen aus ihr auch in späteren Jahren immer wieder kritische u. in ihrer Weirauch, Anna Elisabet, auch: A. E. Dichtung ernstzunehmende Lyriker hervor. Ries(s), * 7.8.1887 Galatz/Rumänien, W. selbst trat mit Vagantendichtung an die † 21.12.1970 Berlin. – Schauspielerin; Öffentlichkeit, die nach Biermanns AufDramatikerin, Erzählerin. trittsverbot u. der Verhaftung anderer junger W. wurde als viertes Kind eines Bankiers u. Liedermacher objektiv auch Alibifunktion einer Schriftstellerin geboren, die nach dem erfüllte: Beispielcharakter hatten auch die Tod des Mannes u. der Söhne mit ihren zwei Köpenicker Flaschenpost (Bln./DDR 1965) u. die Töchtern nach Deutschland zog. 1904–1914 Gesänge für Barbara Ypsilon (u. d. T. Wort für arbeitete W. als Schauspielerin unter Max Wort. Ebd. 1971): W. besang »Föhrenwälder« Reinhardt am Deutschen Theater in Berlin. u. »märkische Asphaltchausseen« sowie die Ihr wichtigstes Werk, die Romantrilogie Der Liebe in kraftprotzendem Gestus, während er Skorpion (Bln. 1919–21. Maroldsweisach die Dichtergeneration der sog. Lyrikwelle 1992/93), schildert vorurteilslos das Leben (heute Sächsische Dichterschule) ihrer voreiner lesb. Frau u. war einer der wenigen li- geblich »gebügelten Sprache« wegen terar. Beiträge zum Thema weibl. Homose- schmähte: »O Säuseln samtener Seelen / Im xualität in dieser Zeit. Während der NS-Zeit mottenplundrigen Kleid / Wer tritt euch war W. Mitgl. der Reichsschrifttumskammer. denn auf die Kehlen / Daß ihr so schwach bei Neben ihrem Hauptwerk schrieb W. zahlrei- Stimme seid?« Stärker wohl durch persönl. Auftreten u. Ausstrahlung als durch sein lyr. che Unterhaltungsromane für Frauen. Literatur: Claudia Schoppmann: Der Skorpion. Werk wurde W. für die nachrückende GeneFrauenliebe in der Weimarer Republik. Bln. 1985. – ration wichtig, die in der Zeitschrift »TemNancy P. Nenno: Bildung and desire. A. E. W.’s peramente« ihr Forum fand. In der ästheti-

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schen u. literaturtheoret. Beurteilung der Generation der Lehrer, d. h. der aus dem Exil heimgekehrten Autoren, brachte W. es als einziger fertig, »seinem« Dichter, Hermlin, stalinistische Gedichte u. dogmat. Positionen in den 1950er Jahren vorzuhalten (in: Werner Mittenzwei [Hg.]: Positionen. Lpz. 1969). – 1972 erhielt W. die Erich-Weinert-Medaille der Nationalen Volksarmee. Weitere Werke: Herausgeber: Revolution u. Literatur (zus. mit Werner Mittenzwei). Lpz. 1971. – Sonderheft des ›Poesie-Album‹ über Poetenseminare. Bln./DDR 1972. Literatur: Hoch zu Roß ins Schloß. 15 Jahre Poetenbewegung der FDJ. Gedichte, kurze Prosa, Ber.e. Bln./DDR 1986, S. 230–233. Jürgen Grambow † / Red.

Weise, Christian, auch: Siegmund Gleichviel, Catharinus Civilis, * 30.4.1642 Zittau, † 21.10.1708 Zittau. – Schulmann, Rhetoriker, Poetologe, Dramatiker, Lyriker. Neben Christian Thomasius gilt W. als der zweite bedeutende Autor an der Schwelle zwischen Barock u. Frühaufklärung. Er war noch ganz der Tradition der polyhistorischen Gelehrsamkeit verpflichtet, zgl. aber setzte er das zu erwerbende Wissen in lebensprakt. Zusammenhänge u. erarbeitete eine Methode, nach der Lernen mehr war als bloße gedächtnismäßige Akkumulation. W. verband Prinzipien der protestantischen Tradition u. des höf. Absolutismus mit den Lebensbedingungen einer im Staats- u. Hofdienst aufsteigenden bürgerl. Beamtenschicht u. mit den Interessen einer sich etablierenden Kaufmannschaft. Sein Erziehungsziel war es, die Schüler auf pragmatisch-vernünftiges Handeln innerhalb der gesellschaftl. Verhältnisse vorzubereiten. Über seine literar. Werke u. über seine Anweisungen versuchte er, in der Unsicherheit einer Umbruchszeit orientierende Verhaltensprinzipien zu entwerfen, zu propagieren u. in prakt. Übungen zu befestigen. Für die Zeitgenossen stand dieses Programm unter dem Schlagwort des »Politischen«, das W. jedoch stets von einer christl. Lebensführung untermauert sehen wollte. Diesen Fragen widmete er ein diszi-

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pliniertes Arbeitsleben u. ein großes Œuvre: 167 Einzeldrucke (in z. T. mehreren Ausgaben oder Fassungen) sind heute bekannt. Darin zeigt sich W. weniger als ein origineller Denker, sondern eher als ein geschickter Popularisator. Er war einer der einflussreichsten Schriftsteller der frühneuzeitl. dt. Literatur: Seine Bücher waren allenthalben in Gebrauch, u. seine Schüler besetzten weithin die entscheidenden Stellen im frühaufklärerischen Schulwesen. Allerdings gerieten seine pragmat. Art u. seine praktisch-vernünftigen Literaturideale schnell in Verruf u. wurden bereits kurz nach der Jahrhundertwende von der nachfolgenden Generation als »Wasserpoesie« verschrieen. Seine Kritiker machten ihn zum trockenen Antipoden der »schwülstigen« Lohenstein u. Hoffmannswaldau; damit bestimmten sie auf zwei Jahrhunderte sein Bild. Erst die sozialhistor. Kulturgeschichtsschreibung seit den 1960er Jahren befreite ihn aus dieser Schablone. W., Sohn des Zittauer Gymnasiallehrers Elias Weise, wurde bereits in frühen Jahren vom Vater unterrichtet u. schon als Kind mit pädagog. Aufgaben betraut. 1660–1663 studierte W. in Leipzig Theologie; dort kam er auch mit der neuen Staatslehre in Berührung. Schnell erwarb er sich mit seiner geübten u. glatten Feder einen Ruf als Gelegenheitsdichter; vor allem die spielerischen Formen des Rollengedichts beherrschte er perfekt (gesammelt als Der grünen Jugend uberflüssige Gedancken. Amsterd., recte Nürnb. 1668). Seine (später geschriebenen) Kirchenlieder wurden sehr beliebt u. füllten lange Zeit die Gesangbücher. Nach seiner Magisterpromotion 1663 nahm W. in Leipzig die Lehrtätigkeit auf, wobei er sich auf pragmat. Fächer wie Rhetorik, Politik, Historie u. Poesie warf. Im Leipziger Klima einer vorsichtig modernisierten Humanistengelehrsamkeit legte W. frühe Fundamente zu seiner Konzeption vom »Politischen«; erste literar. Manuskripte entstanden in dieser Zeit (Die Triumphirende Keuschheit. Amsterd., recte Nürnb. 1668). Da die akadem. Karriere nicht gelingen wollte, trat W. 1668 eine Stelle als Sekretär beim Minister des Herzogs August von SachsenWeimar, Simon Philipp von Leiningen-Westerburg, in Halle an. Nach einem kurzen

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akadem. Zwischenspiel in Helmstedt wurde er 1670 Hofmeister beim Baron Gustav Adolf von der Schulenburg in Amfort/Magdeburg. Im selben Jahr wechselte W. als Professor an das Weißenfelser Gymnasium, eine »Ritterakademie«. Hier schrieb er u. a. seine verhaltenskrit. u. »politischen« Bücher. Noch am Ende seiner Weißenfelser Zeit gelang es ihm, seinen spezif. Ansatz herauszuarbeiten: die rhetorische Tradition seit der Antike mit zeitgenöss. Bedingungen, Themen u. Interessenlagen zu verknüpfen. 1678 erhielt W. die Rektorenstelle am Gymnasium seiner Heimatstadt, einer protestantischen Gelehrtenschule. Neben den traditionellen gelehrten u. rhetorischen Studien förderte er neue Realienfächer wie Historiografie oder Geografie, wodurch die Zittauer Schule auch für Schüler höherer Stände attraktiv wurde. Ca. seit den 1690er Jahren wandelt sich sein Erziehungsprogramm zunehmend vom »homo politicus« zum »politicus christianus«. Politik u. Gelehrsamkeit, so seine Maxime, sollten ihre Rechtfertigung aus den Grundsätzen einer christl. Lebensführung gewinnen. In seinen 30 Rektoratsjahren konzentrierte sich W. vor allem auf eine Verhaltenslehre, die er in lat. u. dt. Lehrbüchern, bes. aber in etwa 60 Theaterstücken u. entsprechenden Inszenierungen theoretisch darzulegen u. praktisch einzuüben bemüht war. Jedes Jahr zunächst zur Fastnacht, seit 1685 zum Martinsfest spielten die Schüler für die Honoratioren der Schule, Eltern u. externe Gäste je drei Stücke: ein geistl. (Bibel-)Stück, ein »politisches« Geschichtsstück u. ein Lustspiel. Die Unterbrechung der öffentl. Theateraufführungen während der 1690er Jahre u. die Konzentration auf Fragen der Ethik u. Tugendlehre in dieser Zeit zeigen die partielle Wandlung seines Erziehungskonzeptes, in dem Fragen der christl. Lebenspraxis immer wichtiger wurden. W. erwarb seiner Schule mit der spielerischen Einübung sozialen Wissens einen bemerkenswerten Ruf. Wegen seiner altersschwachen Augen musste er das Rektorat in seinem Todesjahr abgeben; Nachfolger wurde sein Schüler, der Laubaner Rektor Gottfried Hoffmann. W.s poetolog. Schrift Curiöse Gedancken Von Deutschen Versen ([Lpz.] 1692) repräsentiert

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exemplarisch die seit Opitz’ Tagen fortschreitende Tendenz zur Reduktion der Poetologie auf eine bloß praktisch-anleitende Verskunst. Dabei betonte W. die »klassizistischen« Momente der poetolog. Diskussion seiner Zeit: Er unterwarf auch die Poesie den Syntaxregeln der Prosa u. propagierte eine leicht zu entziffernde Bildlichkeit. Klarheit u. Verständlichkeit waren seine vornehmsten Stilideale. Das galt noch mehr für die Rhetorik, welcher er die Poesie am Ende unterordnete: Sie dient einerseits der sprachl. Vervollkommnung des Schreibers, andererseits seinem gesellschaftl. Fortkommen (Der Grünen Jugend Nothwendige Gedancken. Weißenfels 1675. Der Politische Redner. Lpz. 1677). Das (öffentliche) Reden ist in seine Anlässe eingebunden u. dient dazu, diese zu meistern. Dabei hatte W. bes. solche Praxisfelder im Auge, auf denen sich Schüler zu bewähren haben würden: das Ausbildungswesen, den Hof, den bürgerlich-öffentl. Raum, die Kanzel u. schließlich das Reden vor sozial höher Gestellten. Die Bedingungen des rednerischen Erfolgs waren ihm wichtiger als normgerechte Formerfüllung. In seinen satir., »politischen« Romanen (Die drey Haupt-Verderber In Teutschland. [Lpz.?] 1671. Die drey ärgsten Ertz-Narren. [Lpz.?] 1672. Der Politische Näscher. Lpz. 1678) zeigt sich W. zwar durch Grimmelshausen, Moscherosch oder Kindermann angeregt, aber er fußt doch – auf den Erziehungsoptimismus der Aufklärung quasi vorausgreifend – auf einem Glauben an die Verbesserung menschl. Handelns durch Einsicht. Die Welt wird als ein närr. Theater dargestellt, auf dem der Vernunft ein Platz geschaffen werden muss. Als »politisch« begreift W. in gewisser Anlehnung an Gracián u. Barclay »eine Klugheit das gemeine Wesen wol zu conserviren« u. sich durch Weltläufigkeit u. kluges Abschätzen eigener wie fremder Interessen einen Handlungsspielraum zu verschaffen. Dabei ist eine ganz wesentl. Forderung W.s, dass die Klugheit als eine »christliche Klugheit« mit den Maximen eines tugendhaften Lebens übereinzustimmen habe. W. ist allen Extremen abhold, er plädiert für das »Mittelmaaß«, die »galante Mediocrität« u. einen »popularen Stylus«. Die Romane sind ein-

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strängige (oft über das Reiseschema aufgebaute) Episodenromane, deren Figuren in einer allegor. Rahmenhandlung ihre moralische Beurteilung erfahren. In seinen eth. Schriften, die v. a. in den 1690er Jahren entstanden, formuliert Weise sein Ideal der christl. Klugheit, das bereits in den Romanen zentral war, weiter aus. Er kennzeichnet die philosophische Tugendlehre, die sich nur auf den durch den Sündenfall verfinsterten Verstand (natürliche Erkenntnis) bezieht, als unzureichend u. propagiert dagegen eine christl. Tugendlehre, die sich auf die heilige Schrift zu beziehen habe, da die Vernunft durch die göttl. Offenbarung gestützt werden müsse. In seiner Religiosität ist er zwar – wie viele seiner Zeitgenossen – von Philipp Jakob Spener beeinflusst, dem in den 1690er Jahren aufkommenden Pietismus gegenüber verhielt er sich jedoch ablehnend. Am bedeutendsten u. originellsten ist W. als Dramatiker. Über 50 Theaterstücke hat er verfasst. Die zahlreichen Vorreden, die er seinen Stücken im Druck beigab, bieten einen Querschnitt durch seine Dramentheorie. Ein essenzieller Bestandteil der Aufführungen ist die Musik, die von so bedeutenden Musikern wie Johann Kuhnau u. Johann Krieger stammt. Die Stücke sind als Spieltexte für seine Schüler geschrieben u. dienen pädagog. Zwecken. Wesentliche Gedanken bleiben dabei über seine gesamte Amtszeit hinweg gleich: Es geht ihm darum, die Schüler in der Affektenlehre zu unterweisen, galantes u. sicheres Auftreten zu üben, polit. Wissen u. christl. Tugendlehre zu vermitteln u. schließlich einen »oratorischen Nutzen« zu haben. Formal orientierte er sich am traditionellen fünfaktigen Dramentyp, aber er nutzte in wirkungsästhetischer Absicht auch Momente des Wandertheaters (wie die Figur des Pickelhering) u. der Commedia dell’arte (v. a. die lazzi). Dabei übertrug er das »politische« Klugheitsideal auch auf die Lebensverhältnisse der niederen Schichten, sodass es universellen Charakter bekam. Stücke wie Bäurischer Machiavellus (Dresden 1679), Masaniello (Zittau 1683), Der Verfolgte Lateiner (Lpz. 1696) u. Die ungleich und gleich gepaarte Liebes=Alliance (Görlitz 1708), geben Aus- oder

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gar Querschnitte durch die zeitgenöss. Gesellschaft. Die häufig sehr treffenden Milieuschilderungen dürfen freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier keine realistischen, sondern exemplarische Geschichten erzählt werden. Besonders in den späten Stücken aus der Zeit nach 1702 zeigt sich, dass nicht mehr das Modell des »politicus« für die Figuren Pate steht, sondern christlichmoralische Verhaltenslehren vermittelt werden sollen. Der (christliche) Exempelcharakter der Dramen zeigt W.s Orientierung an den traditionellen Formen des Schultheaters bzw. der Komödie. Indem er aber in der pädagog. Konzeption die Lebens- u. künftige Berufswelt seiner Schüler einschloss u. sie prakt. Rede- u. Argumentationstechniken einüben ließ, weist er auf aufklärerische Erziehungsansätze voraus. Ausgaben: Sämtl. Werke. Hg. John D. Lindberg. 25 Bde., Bln. 1971 ff. – Textnachdrucke: Die drei ärgsten Erznarren in der ganzen Welt. Hg. Wilhelm Braune. Halle 1878. – Ludwig Fulda (Hg.): Die Gegner der zweiten schles. Schule. Tl. 2, Bln. [1884]. – Der grünenden Jugend überflüssige Gedanken. Hg. Max v. Waldberg. Halle 1914. – Fritz Brüggemann (Hg.): Aus der Frühzeit der dt. Aufklärung. Lpz. 21938. – Bäur. Machiavellus. Hg. Werner Schubert. Bln. 1966. – Ein wunderl. Schausp. vom Niederländ. Bauer. Hg. Harald Burger. Stgt. 1969. – Vom verfolgten Lateiner. Hg. Uwe-K. Ketelsen. In: Komödie des Barock. Reinb. 1970. – Masaniello. Hg. Fritz Martini. Stgt. 1972. – Der gestürzte Markgraf v. Ancre. Neudr. Bern 1972. – Polit. Redner. Neudr. Kronberg/Taunus 1974. – Neu-Erleuterter Polit. Redner. Neudr. ebd. 1974. – Der Briefw. zwischen Bohuslav Balbín u. C. W. Lat.dt. Ausg. 1678–1688. Hg. Ludwig Richter. Stgt. 2010. Literatur: Bibliografien: Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 6, S. 4179–4250. – VD 17. – Weitere Titel: HKJL, Bd. 2, passim. – Estermann/Bürger, Tl. 1, S. 1265–1270; Tl. 2, S. 1435 f. – C. W. Dichter, Gelehrter, Pädagoge [...]. Hg. Peter Behnke u. Hans-Gert Roloff. Bern 1994 (S. 361–373: Verz. der älteren Forschungslit. bis 1994). – Detlef Döring: Inhalt u. Funktion des Geschichtsunterrichts bei C. W. In: Weißenfels als Ort literar. u. künstler. Kultur im Barockzeitalter. Amsterd. 1994, S. 261–293. – Dieter Pilling: Über die Erkenntnis Gottes aus dem ›Liecht der Natur‹. Religion u. Aufklärung im Werk C. W.s u. Christian Thomasius’. In: Begegnung der Zeiten. FS Helmut Richter. Hg. Regina Fasold,

241 Christine Giel u.a. Lpz. 1999, S. 31–36. – Friedrich Vollhardt: Selbstliebe u. Geselligkeit. Tüb. 2001, bes. S. 116–134. – Claus-Michael Ort: Medienwechsel u. Selbstreferenz. Tüb. 2003. – Anke Schmidt-Wächter: Die Reflexion kommunikativer Welt in Rede- u. Stillehrbüchern zwischen C. W. u. Johann Christoph Adelung. Ffm. 2004. – Melanie Hong: Europ. Orientierung in C. W.s histor. Dramen. In: Kulturelle Orientierung um 1700. Hg. Dirk Niefanger u.a. Tüb. 2004, S. 220–235. – Poet u. Praeceptor. Beiträge zum 2. Internat. C.-W.Symposium 2008. Hg. Peter Hesse. Dresden 2009. – W.s Geschenk. Hg. Marius Winzeler. Zittau 2009. Uwe-K. Ketelsen / Ulrike Wels

Weisenborn, Günther, auch: W. Bohr, Christian Munk, * 10.7.1902 Velbert, † 26.3.1969 West-Berlin. – Dramatiker, Erzähler, Drehbuch- u. Hörspielautor, Dramaturg. W. studierte Medizin, Theaterwissenschaften, Germanistik u. Philosophie an den Universitäten Köln u. Bonn. 1926/27 schrieb er bei Oskar Walzel eine Dissertation über Das Zwei-Helden-Drama als Strukturtyp in der deutschen Dramatik. Gleichzeitig war W. als Dramaturg u. Schauspieler an der Schauspielbühne Godesberg (1926/27) u. am Stadttheater Bonn (1927/28) tätig. Der Erfolg seines Antikriegsstücks U-Boot S 4 (Urauff. 16.10.1928 an der Berliner Volksbühne sowie in Stuttgart, Oldenburg u. Bonn) führte ihn 1929 nach Berlin, aber noch im selben Jahr wanderte W. nach Argentinien aus. Im Juli 1930 kehrte er nach Berlin zurück. 1931 erschien dort der Roman Barbaren. Roman einer studentischen Tafelrunde; im selben Jahr wurde das Zeitstück S.O.S. (späterer Titel: Die Arbeiter von Jersey) uraufgeführt. Zusammen mit Bertolt Brecht, Hanns Eisler u. Slatan Dudow dramatisierte W. 1931/32 Maxim Gorkis Roman Die Mutter. Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten wurden die Werke des der Neuen Sachlichkeit verpflichteten linksbürgerl. Dramatikers verboten. Die mit Richard Huelsenbeck verfasste Schmugglerkomödie Warum lacht Frau Balsam? musste nach der Premiere (16.3.1933) abgesetzt werden. W. durfte jedoch unter Aufsicht weiter publizieren u. wandte sich scheinbar unverfängl.

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Themen zu. 1934 veröffentlichte er unter dem Pseud. Christian Munk das in Zusammenarbeit mit Eberhard Keindorff (Pseud. Eberhard Foerster) geschriebene Schauspiel Die Neuberin, das allein in Berlin 265 Aufführungen erreichte u. 1937 verfilmt wurde. Während dieses Werk durchaus subversive Aussagen enthält, nähert sich der im Milieu der Nordseefischer spielende, 1941 ebenfalls verfilmte Roman Das Mädchen von Fanö (Bln. 1935) stark dem Männlichkeitsideal der völk. Dichtung an. 1937 emigrierte W. in die USA, wo er als Lokalreporter der »Deutschen Staatszeitung« arbeitete, kehrte jedoch im selben Jahr nach Deutschland zurück u. führte von nun an ein Doppelleben. Das Argentinien-Buch Die einsame Herde (Dresden 1937) gehörte zu den vom Propagandaministerium ausgewählten 100 besten Büchern des Jahres 1937. Der verdeckt oppositionelle, antikapitalistische Roman Die Furie (Bln. 1937) hatte ebenfalls Erfolg. Ab Sept. 1941 war W., der zudem Hörspiele schrieb u. an Filmdrehbüchern mitwirkte, Dramaturg am Schiller-Theater in Berlin. Als Kulturredakteur des Großdeutschen Rundfunks versorgte er die Widerstandsgruppe Schulze-Boysen/Harnack (»Rote Kapelle«) mit Informationen. Nach Enttarnung der Gruppe 1942 mit seiner Frau Joy (Margrit) verhaftet, wurde W. im Mai 1945 aus dem Zuchthaus Luckau/Niederlausitz befreit, wo er den größten Teil des Schauspiels Babel (ebd. 1946) geschrieben hatte. Bereits 1947 strengte er mit Greta Kuckhoff u. Adolf Grimme einen Prozess gegen den Chefankläger der Roten Kapelle, den ehemaligen Generalrichter Manfred Roeder, an, der jedoch verschleppt wurde. Für kurze Zeit war W. als Bürgermeister von Luckau tätig. Mit großem Engagement beteiligte er sich dann am Wiederaufbau des literar. Lebens. Bereits 1945 gründete er mit Karl-Heinz Martin das Hebbel-Theater in Berlin, an dem er bis 1948 als Chefdramaturg wirkte. 1946/47 zeichnete er auch als Mitherausgeber der satir. Zeitschrift »Ulenspiegel«. In Hamburg, wo er seit 1951 Chefdramaturg der Kammerspiele war, gründete er zusammen mit Hans Henny Jahnn, Erwin Piscator u. anderen ein »Dramaturgisches

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Weitere Werke: Traum u. Tarantel. Buch v. der Kollegium«; 1952 rief er die »Deutsche Akademie der darstellenden Künste« ins Leben. unruhigen Kreatur. Dresden 1938 (E.en). – Der W.s literar. Produktion nach 1945 galt zu- dritte Blick. Wien/Mchn./Basel 1956 (R.). – Auf nächst dem Gedenken an den dt. Widerstand Sand gebaut. Ebd. 1956 (R.). – Der Verfolger. Die Niederschrift des Daniel Brendel. Mchn./Wien/Baim »Dritten Reich«. Das 1946 uraufgeführte, sel 1961 (R.). – Der gespaltene Horizont. NiederEinflüsse Brechts verratende Stück Die Illega- schriften eines Außenseiters. Ebd. 1964. – Theater. len (Bln. 1946) wurde zu einem der meistge- Bde. 1–4, ebd. 1964–67. – G. W., Joy W.: Einmal spielten Werke der Nachkriegsdramatik. laß mich traurig sein. Briefe, Lieder, Kassiber 1948 erschien Memorial (ebd.), autobiogr. 1942–1943. Hg. Elisabeth Raabe. Zürich 1984. Skizzen, in denen Erlebnisse aus der Erw. Neuaufl. u.d.T. Wenn wir endlich frei sind. Zuchthauszeit (»Haftstücke«) mit solchen aus Briefe, Lieder, Kassiber 1942–1943. Mit einer Einl. der Zeit davor (»Weltstücke«) alternieren, v. Hermann Vinke. Zürich/Hbg. 2008. Literatur: Ilse Brauer u. Werner Kayser: G. W. 1953 der auf dokumentar. Material über den Widerstand fußende Bericht Der lautlose Auf- Eingel. v. Ingeborg Drewitz u. Walter Huder. Hbg. stand (Hbg.). Diese Werke können als Klassi- 1971 (= Hamburger Bibliogr.n 10). – Manfred ker einer literarisch-polit. Erinnerungskultur Hahn: Ein Linker im Widerstand. G. W.: ›Die Furie‹. In: Erfahrung Nazideutschland. Romane in in Deutschland gelten. Für das Drehbuch zu Dtschld. 1933–1945. Hg. ders. u. Sigrid Bock. Bln./ Falk Harnacks Film Der 20. Juli erhielt W. DDR, Weimar 1987, S. 231–297. – Lothar Köhn: 1956 den Bundesfilmpreis in Silber. Auf der Suche nach der Freiheit. G. W.s ›Memorial‹ In den 1960er Jahren nahm W. Stellung in (1947) im Kontext. In: Die Schuld der Worte. Hg. der Diskussion über die atomare Aufrüstung. Paul Gerhard Klussmann u. Heinrich Mohr. Bonn Er schloss damit an seine Göttinger Kantate 1988, S. 162–195. – Roswita Schwarz: Vom ex(Bln. 1958) an, eine szen. Darstellung des pressionist. Aufbruch zur Inneren Emigration. G. »Göttinger Appells« von 18 dt. Wissen- W.s weltanschaul. u. künstler. Entwicklung in der schaftlern gegen die geplante atomare Be- Weimarer Republik u. im ›Dritten Reich‹. Ffm. u. a. waffnung der Bundeswehr (1957), die 1958 1995. – Frank Overhoff (Hg.): G. W. zum 100. Geburtstag. Oberhausen 2002. – Manfred Demmer: von Erwin Piscator in Berlin uraufgeführt Spurensuche. Der antifaschist. Schriftsteller G. W. worden war. Neben den polit. Werken ent- Leverkusen 2004. – Nadine Willmann: G. W. Un standen Arbeiten didakt. u. unterhaltenden écrivain de la résistance allemande. Paris 2007. Charakters (Ballade vom Eulenspiegel, vom FeErwin Rotermund derle und von der dicken Pompanne. Hbg./Stgt. 1949. Drei ehrenwerte Herrn. Mchn. 1951. Zwei Weisflog, Carl, * 27.12.1770 Sagan, † 14.7. Engel steigen aus. Ebd. 1955). W.s Interesse am 1828 Warmbrunn. – Erzähler u. Novellist. chines. Theater zeigt sich in seiner antidekorativen, am Primat der Handlung u. der Der Sohn eines Schulrektors immatrikulierte Sprache orientierten »ortlosen Dramaturgie« sich nach dem Besuch des Gymnasiums zu u. in den Bearbeitungen altchines. Bühnen- Hirschberg 1790 in Königsberg; anfangs zum stücke (Fünfzehn Schnüre Geld. Mchn./Wien/ Theologiestudium bestimmt, wechselte W. Basel 1959. Das Glück der Konkubinen. Mchn. schon bald zur Rechtswissenschaft über u. 1965). hörte daneben Kant. Nach einer HauslehrerIn den 1950er u. 1960er Jahren unternahm stelle in Gumbinnen u. einer Tätigkeit als W. zahlreiche Vortragsreisen in europ. Me- Referendar in Tilsit u. Memel kehrte W. 1802 tropolen u. nach Asien. Von seiner Chinareise nach Schlesien zurück u. wurde Stadtrichter, (1961), bei der er als erster Westdeutscher mit 1827 Stadtgerichtsdirektor in seiner VaterMao Tse Tung sprach, zeugt das Reisenotiz- stadt. Abgesehen von kleineren Reisen in die buch Am Yangtse steht ein Riese auf (Mchn. schles. Bäder, hat er seine Heimat nicht mehr 1961). Obschon seine Werke in 18 Sprachen verlassen. übersetzt wurden u. eine Gesamtauflage von Im Sommer 1819 lernte W. auf einer Baüber eineinhalb Millionen Exemplaren er- dereise E. T. A. Hoffmann kennen u. wurde zielten, ist W. heute ein fast vergessener Au- hierdurch zum Schreiben (zahlloser) Erzähtor. lungen u. Novellen angeregt, die in direkter

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Anlehnung an das Œuvre seines großen Vorbilds entstanden sind: Themen wie Somnambulismus, Hypnose, Wahnsinn, Vampirismus u. Doppelgängerei vermochten immer wieder eine große Leserschaft zu fesseln. Starken Zuspruch fand W. bei den Dresdner Liederkreisdichtern, voran Theodor Hell, dem Redakteur der »Abendzeitung«, in der fast alle kleinen Werke W.s erstpubliziert wurden. Obwohl Meyrink mit einer Neuausgabe einiger Novellen W.s (Das große Los in etzlichen anmutigen Historien. Mchn. 1925) ein bescheidenes Comeback bewirkte, ist W. heute nur noch als Stofflieferant mit der amüsanten ersten Historie seines Erzählzyklus Das große Los (Dresden 1824) für Nestroys Lumpazivagabundus bekannt. Ausgabe: Phantasiestücke u. Historien. 12 Bde., Dresden 1824–29. Literatur: Henk J. Koning: C. W. (1770–1828). Ein schles. Biedermeierschriftsteller in den Spuren E.T.A. Hoffmanns. In: Schlesien 3 (1989), S. 146–161. – Ders.: C. W. u. Johann Nestroy. In: Nestroyana (1990), H. 3/4, S. 39–54. – Ders.: C. W. Ein Epigone E. T. A. Hoffmanns. In: E.-T.-A.Hoffmann-Jb. 2 (1994), S. 100–115. – Ders.: C. W. (1770–1828). Ein vergessener schles. Nachfolger E. T. A. Hoffmanns u. ein Stofflieferant Johann Nestroys. In: FS Adam Zielin´ski. Hg. Edward Bial/ek. Wrocl/aw 2004, S. 45–64. Henk J. Koning / Red.

Weishaupt, (Johann) Adam, * 6.2.1748 Ingolstadt, † 18.11.1830 Gotha. – Philosoph; Gründer des Illuminatenordens. Der Vater, Johann Georg Weishaupt, Jurist, aus Brilon/Westfalen stammend, war 1746 durch den Reformer u. eklekt. Wolffianer Johann Adam von Ickstatt an die Universität Ingolstadt berufen worden. Ickstatt wurde Taufpate von W. u. sein Mentor, als der Vater schon 1553 starb. Er prägte den frühreifen Schüler im Geiste des Rationalismus u. eines philanthropischen Eudämonismus; in seiner Bibliothek konnte W. die Autoren der frz. Aufklärung lesen. 1755–1762 war W. Schüler des Jesuitengymnasiums u. lernte dort die straffe Organisation des Ordens kennen, von der er später Elemente in seinen eigenen Orden übernahm. W. absolvierte 1764 glanzvoll das philosophische Universitätsbiennium u.

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studierte dann Jura im Umkreis von Peter von Ickstatt. 1768 wurde er promoviert; 1772 erhielt er auf Betreiben von J. A. von Ickstatt u. gegen den Widerstand der Fakultät ein Extraordinariat für Natur- u. Völkerrecht, 1773 das Ordinariat für kanonisches Recht in der Juristischen Fakultät. Er lehrte aber auch in der Philosophischen Fakultät Kirchengeschichte, Naturrecht (1775–1784), Moralphilosophie (1777–1784) u. Geschichte der Philosophie. Das Lehrbuch für praktische Philosophie von Johann Georg Feder bewegte ihn 1775, brachte ihn von der Metaphysik zu einer »practischen Denkungsart«, die auf die Verbesserung der menschl. Verhältnisse zielte. In diesem Sinne gründete W. am 1.5.1776 mit einigen Studenten den pseudo-freimaurerischen Geheimbund der »Perfektibilisten«, der später in »Illuminaten« umgetauft wurde. Der Orden zeichnete sich durch strenge Hierarchie u. Überwachungsmethoden aus; er bemühte sich, begabte u. potenziell einflussreiche Mitglieder anzuwerben, diese moralisch zu verbessern u. im Sinne der (radikalen) Aufklärung zu erziehen. W. blieb als sein Führer im Hintergrund. Die Strategie des Ordens war es, die Schaltstellen von Staat u. Verwaltung (Zensurbehörden, Reichskammergericht, Publizistik, Ministerien usw.) zu unterwandern, aber auch Freimaurerlogen zu benutzen, ohne dass diesen die Infiltrierung mit Illuminaten deutlich geworden wäre. Die Grade des Ordens wurden auf die freimaurerischen »aufgesetzt«. Besonders erfolgreich wurde das Vorgehen – nachdem sich der Geheimbund um 1780 in bayerischen Städten schon fest etabliert hatte – durch die Anwerbungen von Adolph Freiherr Knigge zur Zeit der Krise der dt. Freimaurerei (Wilhelmsbader Kongress 1782) u. danach. Der Orden breitete sich in wenigen Jahren bis auf über 1500 Mitglieder an ca. 90 Orten aus, mit Zentren in München, Frankfurt, Heidelberg, Mainz, Wetzlar, Göttingen, Gotha/Weimar, Wien u. Neuwied. Durch diese Ausdehnung hatte der Orden aber seine Kräfte überspannt, zentrifugale Tendenzen traten ein. Obwohl W. in der Kantkritik (Zweifel über die Kantischen Begriffe von Zeit und Raum, 1787; Über die Kantischen Anschauungen und Erscheinungen, 1788)

Weishaupt

mit den Empiristen Feder u. Meiners übereinstimmte, gab es etwa seit 1784 Differenzen zwischen W. und den Göttinger Illuminaten, denen W.s Entwürfe für die Anreden der obersten Illuminatengrade (1783/84) zu spekulativ waren. So hat W. im »Docetengrad« mit der Metempsychoselehre von Ch. Bonnet eine Alternative zu Kants Theorie (verstanden als ›subjektiven‹ Idealismus) entworfen, der er eine transsubjektive Objektivität entgegensetzen wollte, die durch die (hypothetische) Höherentwicklung der Seele nach dem Tod entsteht. Vieles von der angestrebten »Preud’hommie« für die Illuminatenmitglieder hat W. aus dem Verhältnis von relativistischem, skept. Subjektivismus u. Transsubjektivität erzielen wollen. Im »Philosophengrad« argumentiert W., angeregt von Herder, Iselin u. Boulanger, für eine Abschaffung der moralischen Problematik durch eine Geschichtsphilosophie, die eine Überwindung der Standpunktverhaftetheit ermöglicht. Hindernisse (einschließlich der Religion) tragen letztlich zum Fortschritt des Guten bei. 1783/84 kam es zu einem Bruch zwischen W. u. Knigge (den W. für zu theosophisch hielt), im Febr. 1785 wurden die Illuminaten in Bayern z.T. enttarnt u. verboten. W. floh am 16.2.1785 zunächst nach Nürnberg, dann weiter nach Regensburg, wo sein Status als Gothaischer Gesandter ihn schützte. 1786 beschleunigte sich der Abstieg des Illuminatenordens durch die entlarvende Publikation der Originalschriften. Für W. noch desaströser war der Nachtrag von weiteren Originalschriften (1787), in dem W. auch moralisch desavouiert wurde. Im Aug. 1787 floh er weiter nach Gotha, wo er für den Rest seines Lebens mit herzogl. Pension als Privatier lebte. In Gotha war W. allerdings in die neue Führung des Ordens (Johann Joachim Bode, Herzog Ernst II., Johann Martin zu Stolberg-Roßla, Carl Theoldor von Dahlberg) nicht mehr einbezogen; eine Berufung an die Universität Jena war schon 1785 gescheitert. W. entschied sich, an die Öffentlichkeit zu gehen (Vollständige Geschichte der Verfolgung der Illuminaten in Bayern [1786], Schilderung der Illuminaten [1786], Apologie der Illuminaten [1786], Das verbesserte System der Illuminaten [1787]) u. auch

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seine Entwürfe für die obersten Mysteriengrade als Teile seiner Bücher zu veröffentlichen (1786 die Anrede für den »Docetengrad« umgearbeitet als Ueber Materialismus und Idealismus; 1787 die für den »Philosophengrad« umgearbeitet als Teil der Apologie des Misvergnügens und Uebels). Weitere Bücher im Geist der Popularphilosophie folgten. Trotz der Rehabilitierung zahlreicher Ex-Illuminaten in Bayern nach dem Tod Karl Theodors (1799) blieb W. persona ingrata in Bayern. Von F. Schlichtegroll unterstützte Bemühungen um eine Berufung an die Akademie (1811) waren ebenso erfolglos wie W.s Versuche, der bayerischen Regierung als wirtschafts- u. außenpolit. Berater zu dienen (Über Staatsausgaben und Auflagen. Landshut 1820. Über das Besteuerungssystem. Ebd. 1820). W. bleibt eine umstrittene Figur: Als Gründer der Illuminaten wurde er zunächst ausgebootet, dann dämonisiert. Ob die Illuminaten letztlich revolutionär (Verschwörungstheorie über den Anstoß zur Französischen Revolution) oder nicht doch eher reformerisch zu deuten sind, ist kontrovers. Als Popularphilosoph wurde W. wenig rezipiert. Seine eigenwilligen Verbindungen von Radikalaufklärung u. an die Jesuiten angelehnter Disziplin u. Überwachung im Orden, von Empirismus u. metaphysischen bzw. geschichtsphilosophischen Spekulationen blieben, wenn auch interessant, so doch aporetisch. Weitere Werke: Pythagoras oder Betrachtungen über die geheime Welt- u. Regierungskunst. 2 Bde., Ffm. 1790–95. – Über Wahrheit u. Vollkommenheit. 3 Bde., Regensb. 1794. – Über die Selbsterkenntnis, ihre Hindernisse u. Vortheile. Ebd. 1794. – Ueber die Lehre v. den Gründen u. Ursachen aller Dinge. Ebd. 1794. – Die Leuchte des Diogenes, oder Prüfung unserer heutigen Moralität u. Aufklärung. Ebd. 1804. – Materialien zur Beförderung der Welt- u. Menschenkunde. Gotha 1810. – Grössere Mysterien. Erste Klasse. Philosophi. Weltweise / Höhere Mysterien: 2te Klasse. Doceten. In: Johann Joachim Christoph Bode: Journal v. einer Reise v. Weimar nach Frankreich im Jahr 1787. Hg. Hermann Schüttler. Neuried 1994, S. 361–414. – Die Korrespondenz des Illuminatenordens. Hg. Reinhard Markner, Monika Neugebauer-Wölk u. H. Schüttler. Bd 1: 1776–1781. Tüb. 2005.

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Literatur: Goedeke 4,1, S. 521–523. – Daniel Jacoby: A. W. In: ADB. – Ludwig Hammermayer: A. W. In: Biogr. Lex. LMU. – Richard van Dülmen: Der Geheimbund der Illuminaten. Darstellung, Analyse, Dokumentation. Stgt. 1975. – Geheime Gesellschaften. Hg. Peter Christian Ludz. Heidelb. 1979. – Hans-Jürgen Schings: Die Brüder des Marquis Posa. Schiller u. der Geheimbund der Illuminaten. Tüb. 1986. – Martin Mulsow: Vernünftige Metempsychosis. In: Aufklärung u. Esoterik. Hg. Monika Neugebauer-Wölk. Hbg. 1999, S. 211–273. – Jan Rachold: Die aufklärer. Vernunft im Spannungsfeld zwischen rationalistisch-metaphys. u. politisch-sozialer Deutung. Ffm. 1999, S. 233–294. – M. Mulsow: A. W. als Philosoph. In: Die Weimarer Klassik u. ihre Geheimbünde. Hg. Walter Müller-Seidel u. Wolfgang Riedel. Würzb. 2002, S. 27–66. Martin Mulsow

Kleinbürgern u. Bürgern, die sich, nach oft langen Entscheidungsprozessen, an die Seite des »kämpfenden Proletariats« stellen (Die Versuchung. Roman einer jungen Deutschen. Zürich 1937. U. d. T. Lissy oder Die Versuchung. Bln./DDR 1947. Verfilmt von Konrad Wolf u. d. T. Lissy. 1957). W.s Hauptwerk, die in der DDR populäre Romantrilogie Kinder ihrer Zeit (Bd. 1: Twilight on the Danube. New York 1946. Dt.: Abschied vom Frieden. Bln./DDR 1950. Bd. 2: Children of their time. New York 1948. Dt.: Inmitten des Stroms. Bln./DDR 1955. Bd. 3, Welt in Wehen, blieb Fragment. Verfilmt von der DEFA u. d. T. Abschied vom Frieden. 1977), berichtet anekdotenhaft, dabei kenntnisreich u. wirkungssicher, vom Leben der Familie des Prager Druckereibesitzers u. Verlegers Reither in der untergehenden Donaumonarchie.

Weiskopf, Franz Carl, * 3.4.1900 Prag, † 14.9.1955 Berlin/DDR. – Erzähler, Romancier, Publizist.

Weitere Werke: Ausgabe: Ges. Werke in 8 Bdn. Hg. Grete Weiskopf u. Stephan Hermlin unter Mitarb. v. Franziska Arndt. Bln./DDR 1960. – Einzeltitel: The Firing Squad. New York 1944. Dt.: Himmelfahrtskommando. Stockholm 1945. Bln./ SBZ 1947 (R.). – Unter fremden Himmeln. Ein Abriß der dt. Lit. im Exil 1933–47. Ebd. 1948. – Das Anekdotenbuch. Bln./DDR 1954. Erw. 1959. – Verteidigung der dt. Sprache. Ebd. 1955 (Aufsätze). – Vor einem neuen Tag. Kiel 1978. – Bodo Uhse, F. C. W.: Briefw. 1942–1948. Hg. Günter Caspar. Bln./ Weimar 1990. Literatur: Grete Weiskopf u. Stephan Hermlin unter Mitarb. v. Franziska Arndt (Hg.): Erinnerungen an einen Freund. Ein Gedenkbuch für F. C. W. Bln./DDR 1963. – F. Arndt: F. C. W. Lpz. 1965. – Irmfried Hiebel: F. C. W. – Schriftsteller u. Kritiker. In: Beiträge zur Gesch. der dt. Lit. im 20. Jh. Hg. Akademie der Künste der DDR. Bln./Weimar 1974. – Johann Heinrich Frömel: Ein Deutscher aus Böhmen. F. C. W. als Emigrant u. Kämpfer gegen den NS. In: Dt. Autoren des Ostens als Gegner u. Opfer des Nationalsozialismus. Hg. Frank-Lothar Kroll. Bln. 2000, S. 351–363. Konrad Franke / Red.

Der Sohn eines jüd.-dt. Bankbeamten u. einer tschech. Mutter studierte in Prag Germanistik u. Geschichte. Seit 1921 Mitgl. der kommunistischen Partei der Tschechoslowakei, stand W. mehrfach wegen »literarischen Hochverrats« vor Gericht. 1928–1933 war er Feuilletonchef der Zeitung »Berlin am Morgen«, 1933–1938 in Prag, später in Paris Chefredakteur der »Arbeiter-IllustriertenZeitung«. 1939 folgte er einer Einladung der American Writers League nach New York u. blieb dort im Exil. Nach dem Krieg im diplomatischen Dienst der CˇSR in Washington, Stockholm u. Peking, übersiedelte W. 1953 nach Ost-Berlin u. leitete, zusammen mit Willi Bredel, die Zeitschrift »Neue deutsche Literatur«. W. war verheiratet mit Grete Bernheim, die unter dem Pseud. Alex Wedding Kinder- u. Jugendbücher schrieb. Als Student schrieb W. Dramen u. Gedichte in expressionistischem Ton, denen ÜbersetWeismantel, Leo, * 10.6.1888 Obersinn/ zungen tschech. Lyrik, Erzählungen, ReporRhön, † 16.9.1964 Rodalben bei Pirmatagen u. Anekdoten folgten. 1931 erschien in sens. – Katholischer Schriftsteller, ReBerlin W.s erster, autobiografisch gefärbter formpädagoge u. Pazifist. Roman Das Slawenlied. Roman aus den letzten Tagen Österreichs und den ersten Jahren der Als letztes von sieben Kindern geboren, stuTschechoslowakei. An Balzac, Stendhal, Zola dierte der in seinen Schülerjahren tuberkugeschult, erzählt W. in fast allen seinen Ar- losekranke W., dessen Vater sich aus ärml. beiten unterhaltsam die Geschichte von Verhältnissen zum wohlhabenden Groß-

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kaufmann emporgearbeitet hatte, nach dem Besuch der Dorfschule u. des Gymnasiums in Münnerstadt seit 1908 Philologie u. Philosophie in Würzburg; 1914 wurde er mit einer von der Universität preisgekrönten geografischen Schrift über die Haßberge promoviert. 1915–1919 Lehrer an einer Handels- u. Realschule in Würzburg, danach u. a. für den kurzlebigen (1919–1922), dem Patmos-Bund (Franz Rosenzweig, Werner Picht u. a.) verbundenen Würzburger Patmos-Verlag tätig, ließ sich W. 1920 als freier Schriftsteller in Marktbreit/Main nieder. 1924–1928 gehörte er als parteiloser Abgeordneter der christlichsozialen Volkspartei Vitus Hellers dem Bayerischen Landtag an, wo er sich der überparteilichen »Freien Vereinigung« anschloss. 1928 eröffnete W. in Marktbreit die »Schule der Volkschaft«, ein »Forschungsinstitut für Volkskunde und Erziehungswesen«. Unter anderem aufgrund einer von W. im Auftrag des Reichsinnenministeriums 1930/31 durchgeführten industrie- u. sozialpädagog. Enquete im »Völkischen Beobachter« am 10.5.1933 als »Jude« u. »Systemblüte« verfemt, liquidierte W. 1936 sein Institut u. ließ sich in Würzburg erneut als freier Schriftsteller nieder. Überwacht, in seinen Publikations- u. Reisemöglichkeiten behindert – das 1935 erschienene Legendenbuch Wie der Heilige Geist das deutsche Volk erwählte (Freib. i. Br.) wurde kurz nach Erscheinen beschlagnahmt u. auf Weisung des Reichspropagandaministeriums eingestampft – u. im Zuge der Verhaftungswellen nach den Attentaten im Münchener Bürgerbräukeller u. dem 20. Juli 1944 zweimal inhaftiert (9.–15.11.1939 u. 24.8.–15.9.1944), rettete sich W. aus einem schweren seel. u. körperl. Zusammenbruch zurück ins heimatl. Obersinn, wo ihm nach Kriegsende die amerikan. Besatzungsbehörden das Amt des bayerischen Kultusministers anboten. W. lehnte ab, wirkte aber 1945–1947 als kommissarischer Schulrat im Landkreis Gemünden/Main, danach bis 1951 als Professor für Deutsch u. Kunsterziehung am Pädagogischen Institut in Fulda. Die »lebenslange Suche nach Kriterien des Humanen in apokalpytisch empfundener Zeit« (M. Stark), die W. als Angehörigen der expressionistischen Generation ausweist,

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prägte wie sein gesamtes Wirken in der Weimarer Republik auch sein polit. u. publizistisches Engagement seit den 1950er Jahren. Als »Pädagoge im gespaltenen Deutschland« (Hofmann) u. Mitinitiator des Wartburgkreises christlicher Schriftsteller (1953) unterhielt der Atomwaffengegner u. unbedingte Pazifist W. zahlreiche Kontakte in die DDR, deren Union-Verlag (Berlin) seit 1955 eine Reihe von Werken W.s einschließlich einer noch 1970 von F. Hofmann herausgegebenen Sammlung Menschenbildung an der Zeitenwende. Aus pädagogischen und bildungspolitischen Schriften verlegte. W. besuchte 1957 die Weltjugendfestspiele in Moskau, worüber er in seinem Tagebuch einer skandalösen Reise nach Moskau (Jugenheim a. d. B. 1959) berichtete, u. war 1961 Ehrengast auf dem V. Deutschen Schriftstellerkongress in Ostberlin. Diese Verständnisbereitschaft gegenüber dem Osten u. seine Gegnerschaft zur Wiederaufrüstung, die auch vor Kritik an der Stimme des Papstes. Gedanken zur christlichen Gewissenserforschung anläßlich der Weihnachtsbotschaft vom 23.12.1956 (in: Blätter für deutsche und internationale Politik. Sonderheft 1) nicht zurückscheute, rief eine publizistische Gegenbewegung hervor, die W. in der bundesdt. Nachkriegsöffentlichkeit wie im westdt. Katholizismus isolierte. Gleichwohl erfuhr er, der 1922 den Fastenrath-Preis der Stadt Köln erhalten hatte, auch im geteilten Deutschland Würdigungen von Werk u. Person: Seit 1948 Ehrenbürger seines Geburtsorts, erhielt W. 1950 die Willibald-Pirckheimer-Plakette der Stadt Nürnberg; 1963 folgten die Carl-vonOssietzky-Medaille, die Max-DauthendeyPlakette u. die Verleihung der Ehrendoktorwürde der Humboldt-Universität zu Berlin. Seit 1949 war W. Mitgl. der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt u. seit 1950 des P.E.N.-Zentrums der Bundesrepublik Deutschland. Das umfangreiche Œuvre W.s ist der Ausfluss der überströmenden Gestaltenfülle eines Eidetikers in Publikationsserien, Werkgruppen u. daraus abgeleitete oder zu ihnen hinführende Filiationen. Mit Maria Madlen, dessen Erstveröffentlichung 1917/18 in dem der Heimatkunst-Bewegung verpflichteten »Hochland« ihn erstmals dem kath. Publi-

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kum bekannt machte (Buchausgabe Kempten 1918), eröffnete W. die Reihe seiner volkstüml. Rhönromane. Zu ihnen gehören Das unheilige Haus (Kempten/Mchn. 1922. 8. Aufl. Bln. o. J.) u. die Trilogie um Das alte Dorf (Bln./ Nürnb. 1928), die mit den Folgebänden Die Geschichte des Hauses Herkommer (Nürnb. 1932) u. Das Sterben in den Gassen (Nürnb. 1933; sämtl. Bände neu strukturiert, Wien 1941, u. d. T. Das Jahr von Sparbrot, Die Leute von Sparbrot u. Tertullian Wolf. Die Geschichte eines Träumers, dies auch u. d. T. Tertullian Wolf. Die Geschichte des Pfarrherrn von Sparbrot. Neustadt a. d. Aisch 1986) vom »Leben und Sterben eines Volkes« (W.) durch den Einbruch von Kapitalismus u. Mechanisierung in die ländl. Welt erzählt. Erschienen die drei Einakter Die Reiter der Apokalypse anlässlich ihrer Uraufführung am Würzburger Stadttheater in erster Ausgabe noch im Privatdruck (Würzb./ Ffm. 1919), so leiteten Der Wächter unter dem Galgen (ebd. 1920), Der Totentanz. Ein Spiel vom Leben und Sterben unserer Tage (Ffm./Bln. 1921. 5 1924) u. Das Spiel vom Blute Luzifers (Ffm./Bln. 1922) die zahlreichen Beiträge W.s zur Jugend- u. Volksbühnenbewegung in der Weimarer Republik ein, etwa die von W. bearbeiteten Vaterländischen, Christlichen, HansSachs-, Pocci-, Märchen- u. Alte Volksbücher-Spiele (Ffm. 1925/26); und, noch 1933, Sonnenwendfeier des jungen Deutschland (Bln.-Charlottenburg), das im ersten Teil (»Weihespiel«) die Überwindung der german. Götterwelt durch die Seligpreisungen des Neuen Testaments feiert, im anschließenden »Mummenschanz« indes sowohl die Puppe eines »waschechte[n] Kapitalisten« als auch einen »Schubkarren schlechter Bücher«, Produkt der »Kuppler, Wechselfälscher, Heuchler, Schönredner, Schmierfinken, Irrlehrer gegen Glauben und Volk, gegen Kirche und Heimat« den Flammen übergibt, also eine Bücherverbrennung inszeniert. Den Volksspielen schließen sich die romanhaften Viten großer religiöser Gestalten an, denen sich W. verstärkt in der Zeit des Nationalsozialismus zuwandte. Diese Reihe religiöser Dichtungen ergänzte W. um die zeittypische Verlebendigung des Visionären u. Legendenhaften (Die goldene Legende für die Jugend von heute. 3 Bde., Würzb.

Weismantel

1947/48), u. eine Serie groß angelegter Künstlerbiografien über Dill Riemenschneider (Freib. i. Br. 1936, zuletzt 1949. Bln./DDR 1955. 61979), Leonardo da Vinci (Köln 1938. Bln./DDR 1963), Veit Stoß, Matthias Grünewald u. Albrecht Dürer; »die legendären Überlieferungen werden hier im Lichte historischer Tatsachenforschung betrachtet« (Gerth). Zahlreich sind schließlich die Veröffentlichungen W.s als lebenslang in der Werkkunstbewegung sowie der Pflege von Sprache u. Literatur engagierter musischer Erzieher (Der Geist als Sprache. Augsb./Köln 1927. Buch der Krippen. Augsb. 1930. Musische Erziehung. Hg., Stgt. 1950), Volks- u. Reformpädagoge (Die Schule der Lebensalter. Augsb. 1928. Ueber die geistesbiologischen Grundlagen des Lesegutes der Kinder und Jugendlichen. Augsb. o. J. [1931]. Vom Willen deutscher Kunsterziehung. Hg., Augsb. 1930), Bildungs- u. Kulturpolitiker (Bayern und die Wende der Bildung. Reden und Gegenreden. Würzb. 1926. Kampf um München als Kulturzentrum. Sechs Vorträge. Zus. mit Thomas Mann, Heinrich Mann u. a. Mchn. 1926) u. unbeirrbar katholischer, weniger im Weimarer Sozial-, als vielmehr im heimischen Volkskatholizismus wurzelnder Katholizismuskritiker (Der Katholizismus zwischen Absonderung und Volksgemeinschaft. Würzb. 1926). Die 1982 an seinem letzten Wohnort Seeheim-Jugenheim begründete u. dort ansässige L.-W.-Gesellschaft betreut das Gesamtwerk W.s; sein mehrere tausend Blätter umfassender literar. Nachlass liegt im Archiv der Akademie der Schönen Künste in Berlin. Weitere Werke: Die Bettler des lieben Gottes. Mchn./Kempten 1918. – Die Blumenlegende. Mchn. 21922. – Die Hexe. Mchn./Kempten 1923. – Musikanten u. Wallfahrer. Erzählungen aus eigenem u. fremdem Leben. Freib. i. Br. 1923. – Der Kurfürst. Ein Spiel vom Vaterland. Bln. 1925. – Schattenspielbuch. Schattenspiele des weltl. u. geistl. Jahres u. Anleitung zur Herstellung einer Schattenspielbühne u. zum Schattenspiel. Augsb. 1929. – Elisabeth. Nürnb. 1931. Lpz. 1957 (R.). – Rebellen in Herrgotts Namen. Bln. 1932. Neuaufl. u.d.T. ›Der Vorläufer‹. Recklinghausen 1941. – Maria. Nürnb. 1933. Würzb. 1947. – Gnade über Oberammergau. Freib. i. Br. 1934. Neuaufl. Gerabronn/Crailsheim 1984. – Die guten Werke des Herrn Vinzenz von Paul. Freib. i. Br. 1937. 41954.

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(R.). – Bauvolk am Dom. Ein Dt. Schicksalsbuch. Köln o. J. [1938]. Neuaufl. Augsb. 1948. – Die Sibylle. Die Gesch. einer Seherin. Visionen um den Bamberger Dom. Augsb. 1938. – Gericht über Veit Stoß, eines ehrsamen Rats heillos unruhigen Bürger. Mchn./Freib. i. Br. 1939. Bln./DDR 1962. Neuausg. Reinb. 1988. – Die Letzten von Sankt Klaren. Freib. i. Br. 1940. (R.). – Das Totenliebespaar. Mchn. 1940. 31948. – Der bunte Rock der Welt. Ebd. 1941. – Die höll. Trinität. Ebd. 1943. Bln./DDR 1966 (Grünewald-Trilogie). – Albrecht Dürers Brautfahrt in die Welt. Freib. i. Br./Mchn. 1950 (R.). – (Hg.): Stundenbuch der Dichter. 2 Bde., Wiesb. 1952. 31954. – Wilhelm Girnus, L. W., Herman Ley, Heinz Schmellenmeier: Humanismus heute? Essays. Bln./DDR 1961. – Totenklage über eine Stadt. Hg. v. der L.-W.-Gesellsch. Würzb. 1985. Literatur: Bibliografie: Hort Schurig (Bearb.): Findbuch des literar. Nachlasses v. L. W. (1888–1964). Bln./DDR 1981. – Weitere Titel: Ernst Iros: L. W. der Dichter u. Kulturpolitiker. Mchn. 1929. – Rudolf Reuter (Hg.): L. W. Leben u. Werk. Ein Buch des Dankes zu des Dichters 60. Geburtstag. Bln. 1948. – Franz Hofmann: L. W. – Erzieher aus christlich-humanist. Verantwortung. In: L. W.: Menschenbildung an der Zeitwende, S. 5–26. – Franz Gerth: L. W. Bln./DDR o. J. [1968]. – Arno Klönne: L. W. – ein fränk. Poet u. Pädagoge. In: Mainfränk. Jb. für Gesch. u. Kunst 37 (1985), S. 162–173. – Michael Stark: L. W. In: Fränk. Lebensbilder 12 (1986), S. 293–305. – L.-W.-Gesellschaft (Hg.): ›Aber die Schleichenden, die mag Gott nicht.‹ Der Dichter u. Volkserzieher L. W. FS zum 100. Geburtstag. Ffm. u. a. o. J. [1988]. – Robert Küppers: Der Pädagoge L. W. u. seine ›Schule der Volkschaft‹ (1928–1936). Ffm. u. a. 1992. Thomas Pittrof

Weiß, Emil Rudolf, * 12.10.1875 Lahr/Baden, † 9.11.1942 Meersburg/Bodensee. – Buchkünstler, Typograf, Maler; Lyriker. W. studierte an der Karlsruher Akademie Malerei u. war Schüler von Thoma u. dem Grafen Kalckreuth. Von Otto Julius Bierbaum auf die Buchkunst als Aufgabenfeld hingewiesen, trat W. 1895 in Verbindung zur Zeitschrift »Pan«, für die er zunächst floraljugendstilhaften Buchschmuck schuf. Als literar. Pendant entstanden in dieser Zeit Dichtungen (Elisabeth Eleanor. Florenz/ Lpz. 1896. Trübungen. Verse und Prosa in Auswahl. Lpz. 1897), die mit ihrem schwermütigen Symbolismus an Hofmannsthal u. Ver-

haeren erinnern u. zur Aufnahme einiger Gedichte von W. in die dritte Folge von Georges »Blättern für die Kunst« führten. 1907–1933 war W. Professor an den Vereinigten Staatsschulen für Bildende Kunst in Berlin; seine von der engl. Arts & Crafts-Bewegung übernommenen Ideen zielten gegen wilhelmin. Prunksucht. W. nahm sich dann die Buchkultur des Rokoko u. Klassizismus zum Vorbild, führte den Holzschnitt als Titel ein, wurde Hauskünstler des Tempel Verlags u. wirkte stilprägend bei Diederichs, S. Fischer u. dem Insel Verlag. Er war auch für die Drucke der Marées-Gesellschaft zuständig. Mit einer seiner zahlreichen Schrifttypen, der Weiß-Fraktur, schuf er eine mustergültig klare Reformfraktur. Seine Vielseitigkeit zeigte er auch als Porträtist u. Wandmaler. W. war mit der Bildhauerin Renée Sintenis verheiratet. Weitere Werke: Die blassen Cantilenen. Gedichte in Prosa. Florenz/Lpz. 1896. – Der Wanderer. Jena 1906 (L.). – Drei Monate in Spanien. Zeichnungen u. Aufzeichnungen eines Malers. Bln. 1931. – Künstler u. Buchkünstler gestern, heute u. morgen. Ffm. 1931. Literatur: Max Osborn: Dt. Buchkünstler der Gegenwart. E. R. W. In: Ztschr. für Bücherfreunde (1912/13), S. 135–159. – E. R. W. Zum 50. Geburtstag Lpz. 1925. – Barbara Stark: E. R. W. in Meersburg: ›Ich bin zuerst einmal Maler ...‹. Marbach am Neckar 2003. Oliver Riedel / Red.

Weiß, Ernst, * 28.8.1882 Brünn, † 14.6. 1940 Paris. – Erzähler, Übersetzer; Arzt. Der Sohn eines jüd. Textilhändlers verlor früh seinen Vater, besuchte die Gymnasien in Brünn, Leitmeritz u. Arnau u. legte 1902 die Matura in Brünn ab. In Prag u. Wien studierte W. Medizin, ließ sich nach seiner Promotion (Psychologische Streifzüge über Oscar Wilde. Lpz. 1908) in Bern u. Berlin zum Chirurgen ausbilden u. fand 1911 eine Anstellung in der chirurgischen Abteilung eines Wiener Spitals. Um eine Lungentuberkulose zu heilen, arbeitete er als Schiffsarzt beim österr. Lloyd u. reiste nach Indien u. Japan. Mit Kafka befreundet, mit dem er mehrere Reisen unternahm, war er an dem Treffen mit Felice Bauer im »Askanischen Hof« in Berlin 1913 betei-

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ligt, das zur Auflösung von Kafkas Verlobung führte. Bereits W.’ erster Roman, Die Galeere (Bln. 1913), wurde in expressionistischen Zeitschriften begeistert aufgenommen. Mit diagnost. Blick werden die Neurosen, die Depravation aller menschl. Beziehungen eines jungen morphiumsüchtigen Arztes im Wien der Jahrhundertwende geschildert, der sich auf selbstzerstörerische u. obsessive Weise auf seine Röntgenforschungen konzentriert u. vergeblich versucht, seine Gefühlskälte zu durchbrechen u. durch seine Frauenbeziehungen doch am Leben teilzuhaben. Noch während des Ersten Weltkriegs, an dem W. als Sanitäter teilnahm, erschien sein zweiter, von Kafka korrigierter Roman Der Kampf (ebd. 1916. U. d. T. Franziska. Ebd. 1919), der wiederum den Konflikt zwischen berufl. Karriere als Lebensersatz u. privaten Beziehungen einer Pianistin aus ärml. Verhältnissen thematisiert. W. reüssierte auch als Bühnenautor mit dem Revolutionsdrama Tanja (Bln. 1920), das 1919 in Prag mit großem Erfolg aufgeführt wurde, wobei seine langjährige Lebensgefährtin, die Schriftstellerin Rahel Sanzara, die Hauptrolle spielte. Zeittypisches expressionistisches Pathos charakterisiert W.’ Aufarbeitung der Kriegserfahrungen im Roman Mensch gegen Mensch (Mchn. 1919), in dem sich die Hauptfigur, ein psychisch labiler jüd. Arzt, mit seinem eigenen Maschinengewehr das Leben nimmt, u. den spannenden, mit großem psycholog. Einfühlungsvermögen geschriebenen Roman Tiere in Ketten (Bln. 1918) über die sexuelle Abhängigkeit einer Prostituierten, die nach zahlreichen Demütigungen ihren »Liebhaber« aus Eifersucht tötet. In späteren Überarbeitungen der frühen Romane ist das für den literar. Expressionismus typische Menschheitspathos geglättet; mit der Kriminalstudie über eine Giftmischerin Der Fall Vukobrankovics (ebd. 1924) näherte sich W. der Neuen Sachlichkeit. Der literar. Mode des historisch-biogr. Romans folgte er mit dem von Stefan Zweig begeistert rezensierten Balzac-Roman Männer in der Nacht (ebd. 1925), in dem der Mythos u. die Faszination durch Napoleon, die W. selbst geteilt haben dürfte, breiten Raum einnehmen. Für Boëtius von

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Orlamünde (ebd. 1928) erhielt W. beim Olympischen Kunstwettbewerb eine Silbermedaille u. 1930 den Adalbert-Stifter-Preis. Diese 1931 in Der Aristokrat (ebd.) umbenannte Internatsgeschichte stellt W.’ Beitrag zum habsburgischen Mythos dar. Standen in den frühen Romanen der Einbruch des Dämonischen in den Alltag u. die Macht des Unbewussten, die Determiniertheit der Figuren durch ihre Triebe u. Verbrechen im Zentrum, so dominieren in den späteren Texten die ambivalenten Beziehungen der Söhne zu ihren Vätern, die die Zuneigung ihrer Söhne meist kaum erwidern. 1933 übersiedelte W. von Berlin, wo er seit 1921 gelebt hatte, nach Prag, um seine kranke Mutter zu pflegen, u. ging nach ihrem Tod nach Paris ins Exil. Sein erstes Exilwerk, Der Gefängnisarzt oder Die Vaterlosen (Mährisch-Ostrau 1934), widmet den politischen u. ökonomischen Bedingungen der Nachkriegszeit, die den Aufstieg des Nationalsozialismus begünstigten, große Aufmerksamkeit u. geht in differenzierter Charakterisierung der psycholog. Disposition nach, die die »Vaterlosen« für die »Vaterfigur« Hitler so empfänglich machte. Trotz großer Produktivität u. Beiträgen in Exilzeitschriften war W. von Hilfskomitees u. begüterten Freunden abhängig. Als die Truppen der dt. Wehrmacht in Paris einmarschierten, nahm sich W. das Leben. Anna Seghers hat ihm in ihrem Emigrantenroman Transit in der Figur des Schriftstellers Weidel ein literar. Denkmal gesetzt. Erst aus dem Nachlass erschienen die 1937 entstandene Novelle Jarmila (Mit einem Nachw. von Peter Engel. Ffm. 1998) u. sein letzter Roman, Der Augenzeuge (Icking/Mchn. 1963. Ffm. 1999). Das Typoskript hatte W. zu einem literar. Wettbewerb der »American Guild for German Cultural Freedom« eingereicht. Der Ich-Erzähler, ein Arzt, heilt den Gefreiten A. H. in einem Feldlazarett von seiner durch Hysterie verursachten Blindheit, kann sich aber nur schwer dem Bann des späteren Massenredners entziehen. Die Gefahren des Nationalsozialismus erkennend, legt der »Augenzeuge« seine stets geübte Äquidistanz bei Konflikten ab u. engagiert sich politisch für die demokratische Partei. Der Verfolgung durch

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die Nationalsozialisten entzieht er sich durch Emigration. W.’ letzter Roman war zgl. sein erfolgreichster. Er wurde in das Programm mehrerer Buchgemeinschaften aufgenommen. Zahlreiche Werke von W. sind ins Englische, Französische, Spanische u. Italienische übersetzt worden, einige als Hörbücher verfügbar. Als produktiver u. souveräner Erzähler u. als ausgebildeter Arzt zeigte sich W. mehr an psychoanalyt. als an romanpoetolog. Theorien seiner Zeit interessiert. Die allzu starken Konzessionen an die jeweiligen literar. Trends u. die massive Wirkung von Otto Weiningers Geschlecht und Charakter bei der Gestaltung der Frauen v. a. in den frühen Texten mögen heute leicht befremdend wirken. Weitere Werke: Ausgabe: Ges. Werke. Hg. Peter Engel u. Volker Michels. 16 Bde., Ffm. 1982. – Einzeltitel: Nahar. Bln. 1922 (R.). – Die Feuerprobe. Ebd. 1923 (R.). – Atua. Drei E.en. Mchn. 1923. – Dämonenzug. Fünf E.en. Bln. 1928. – Das Unverlierbare. Essais. Ebd. 1928. – Georg Letham. Arzt u. Mörder. Wien 1931 (R.). – Der arme Verschwender. Amsterd. 1936 (R.). – Der Verführer. Zürich 1938 (R.). – Briefe an Leo Perutz. Hg. u. komm. v. P. Engel u. Hans-Harald Müller. In: MAL 21 (1988), Nr. 1, S. 27–59. Literatur: Bibliografie: Klaus-Peter Hinze: E. W. Bibliogr. der Primär- u. Sekundärlit. Hbg. 1977. – Weitere Titel: Dieter Lattmann: Posthume Wiederkehr. E. W. – Arzt u. Schriftsteller. In: Ders.: Zwischenrufe u. a. Texte. Mchn. 1967, S. 120–146. – Eduard Wondrák: Einiges über den Arzt u. Schriftsteller E. W. Icking/Mchn. 1968. – Wolfgang Wendler: E. W. In: Expressionismus als Lit. Bern 1969, S. 656–668. – Walter Doscocil: E. W. Ein Gedenkbuch zu seinem 90. Geburtstag. In: Bohemia 11 (1970), S. 418–432. – Wolfgang Dieter Elfe: Stiltendenzen im Werk v. E. W., unter bes. Berücksichtigung seines expressionist. Stils. Ffm. 1971. – Margarita Pazi: Franz Kafka u. E. W. In: MAL 6 (1973), Nr. 3/4, S. 52–92. – Dies.: Fünf Autoren des Prager Kreises. Ffm. 1978, S. 71–127. – Ulrike Längle: E. W. Vatermythos u. Zeitkritik. Die Exilromane am Beispiel des ›Armen Verschwenders‹. Innsbr. 1981. – Peter Engel (Hg.): E. W. Ffm. 1982. – E. W. Mchn. 1982 (text + kritik H. 76). – Edita Koch: E. W.’ Tod in Paris. In: Exil 2 (1982), S. 26–32. – Margherita Versan. E. W. Individualität zwischen Vernunft u. Irrationalismus. Ffm. 1984. – Franz Haas: Der Dichter v. der traurigen Gestalt. Zu Leben u. Werk v. E. W. Ebd. 1986. – Rita Mielke:

250 Das Böse als Krankheit. Entwurf einer neuen Ethik im Werk v. E. W. Ebd. 1986. – Frithjof Trapp: ›Der Augenzeuge‹. Ein Psychogramm der dt. Intellektuellen zwischen 1914 u. 1936. Ffm. u. a. 1986. – Thomas Delfmann: E. W. Existenzialist. Heldentum u. Mythos des Unabwendbaren. Münster 1989. – Sabine Adler: Vom ›Roman expérimental‹ zur Problematik des wiss. Experiments. Untersuchungen zum literar. Werk v. E. W. Ffm. u. a. 1990. – E. W. Seelenanalytiker u. Erzähler von europ. Rang. Hg. P. Engel. Bern u. a. 1992. – M. Pazi: E. W. Schicksal u. Werk eines jüd. mitteleurop. Autors in der ersten Hälfte des 20. Jh. Ffm. 1993. – Angela Steinke: Ontologie der Lieblosigkeit. Untersuchungen zum Verhältnis v. Mann u. Frau in der frühen Prosa v. E. W. Ffm. u. a. 1994. – Janusz Golec: Die Idee des ›menschlichsten Menschen‹. Untersuchungen zur Sexualität u. Macht im Werk v. E. W. Lublin 1994. – André Bucher: Repräsentation als Performanz. Studien zur Darstellungspraxis der literar. Moderne (Walter Serner, Robert Müller, Hermann Ungar, Joseph Roth u. E. W.). Mchn. 2004. – Tom Kindt: Unzuverlässisges Erzählen u. literar. Moderne. Eine Untersuchung der Romane v. E. W. Tüb. 2008 – Christiane Dätsch: Existenzproblematik u. Erzählstrategie. Studien zum parabol. Erzählen v. E. W. Tüb. 2009. Johann Sonnleitner / Jürgen Egyptien

Weiß, Ferdl, eigentl.: Ferdinand Weißheitinger, * 28.6.1883 Altötting, † 19.6. 1949 München; Grabstätte: MünchenSolln, Waldfriedhof. – Komiker, Volkssänger. Der musikalisch begabte W. wollte nach seiner Buchdruckerlehre Gesang studieren, wurde jedoch Komiker u. fand bereits 1906 ein Engagement am renommierten Münchner Platzl, dessen Direktor er 1921 wurde. Für seine Auftritte verfasste er zahllose Couplets u. Einakter, darunter so bekannte Nummern wie Das Sandsackl, Der Feldpostbrief, die Operettenparodie Das weiße Pferdl, das Spiel Der Dickschädl (Urauff. Mchn. 1930) u. Die Hinterhugldorfer Feuerwehr (1920). Viele seiner Couplets, wie Und unser Fähnelein ist weiß und blau (1920) oder Ein Wagen von der Linie acht (1946), sind auf Schallplatten überliefert. Im »Dritten Reich«, dem W. (obwohl zeitweise NSDAP-Mitglied) nicht huldigte, genoss er eine gewisse Narrenfreiheit. W. gehörte zu den besten u. bis heute unverges-

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senen Münchner Volkssängern; auf dem Münchner Viktualienmarkt erinnert ein Brunnendenkmal an ihn. Weitere Werke: Die kreutzfidele Harfe. Lustige Gesch.n u. Gesänge. Mchn. 1923. – Meine Vorträge. Mchn.-Solln 1928. – Guat troffa. Mchn. 1933. – Ich bin kein Intellektueller. Ebd. 1941. – O mei. Ebd. 1949. – W. F. erzählt sein Leben. Ebd. 1951. – Bayerische Schmankerln. Hg. Bertl Weiß. Ebd. 1982. Literatur: Josef Maria Lutz: Die Münchner Volkssänger. Nach einer Slg. v. Erwin Münz. Mchn. 1956. – Carl Conrad u. a.: W. F. als Komiker u. Mensch. In: Das Bayernland 70, H. 3 (1968), S. 1–31. – Sabine Sünwoldt: W. F. Eine weißblaue Karriere. Mchn. 1983. Hans Pörnbacher / Red.

Weiß, Konrad, * 1.5.1880 Rauenbretzingen bei Schwäbisch Hall, † 4.1.1940 München; Grabstätte: ebd., Nordfriedhof. – Lyriker, Erzähler, Essayist. W. war das erste von zehn Kindern eines Kleinbauern. Zum Priester bestimmt, studierte W. nach dem Abitur am kath. Internat in Ehingen Theologie in Tübingen, danach Germanistik u. Kunstgeschichte in München u. Freiburg i. Br. 1904–1920 war er Redaktionssekretär an der von Carl Muth gegründeten kath. Kulturzeitschrift »Hochland« in München, von 1920 bis zu seinem Tod Kunstreferent an den »Münchener Neuesten Nachrichten« (Teilsammlung der literatur- u. kunstkrit. Aufsätze bei Verbeek 1970/71). W.’ lyr. Produktion setzte erst spät, im Sommer 1914, ein u. erreichte nach der ersten Sammlung chronologisch geordneter Gedichte (Tantum dic verbo. Lpz. 1919) in den beiden Gedichtbänden Die cumäische Sibylle (Mchn. 1921) u. Das Herz des Wortes (Augsb. 1929) ihren Höhepunkt. Begleitende Versuche in spruchartig meditativer Prosa verbanden sich in den 1920er Jahren mit erzählerischen Elementen. Ergebnis waren zwei durchkomponierte Prosawerke: die »Vier Begegnungen« des Buchs Die Löwin (ebd. 1928. Neudr. hg. von Friedhelm Kemp. Ffm. 1985) u. das Triptychon Tantalus (Augsb. 1929). In den 1930er Jahren entstanden zwei dramat. Arbeiten in Versen, Das kaiserliche Liebesgespräch (in: Das Innere Reich 1, 1934,

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S. 439–463. Buchausg. Mchn. 1953) u. das Trauerspiel Konradin von Hohenstaufen (Lpz. 1938. Mchn. 21948), sowie, im Zusammenhang mit seiner journalistischen Arbeit, das Reisebuch Deutschlands Morgenspiegel (2 Bde., Mchn. 1950). In seiner politisch-geschichtsphilosophischen Denkschrift im Horizont der nationalsozialistischen Machtergreifung (Der christliche Epimetheus. Bln. 1933) verbinden sich existenzphilosophische, die heilstheolog. Konnotationen des Konservatismus umkreisende Meditationen über die Brüche u. Lücken der Geschichte mit der Ablehnung rassistischer, aber auch liberal-bildungsbürgerl. Vorstellungen. Dieses Werk (wie W.’ Œuvre generell) blieb für den Juristen u. Staatstheoretiker Carl Schmitt (beide kannten sich spätestens seit 1920) eine viel zitierte Autorität, wenngleich W. u. a. in einem denkwürdigen Gedicht (Justitia, 1933) Schmitt auf die sich anbahnende Barbarei aufmerksam machte (s. Kühlmann 2008). Die christlichen, oft marianischen Themen in W.’ Werk werden stets als eigene, oft vom Bewusstsein des ›Mangels‹ u. der Zerrissenheit geprägte innere Erfahrungen u. Begegnungen gestaltet. Der Ausdruckswille trägt nicht selten expressionistische Züge, in der Formenwahl zeigt sich eine Vorliebe für reich gegliederte Reimstrophen; hier erneuerte W. Vorbilder des MA u. der geistl. Dichtung des 19. Jh. (Brentano, Droste-Hülshoff). Fast durchgängig arbeitete W. mit Verweisen auf Werke der bildenden Kunst (Michelangelo, Grünewald, Corinth). Denn Bildende Kunst u. Architektur waren für W. neben der Dichtung (das »Bild« neben dem »Wort«) das wichtigste Zeugnis für die geschichtl. Glaubensformen des Christentums. Zeitlebens beschäftigte ihn die kultur- u. geschichtsmetaphys. Deutung älterer Bau- u. Bildwerke, von der frühen Romanik bis zum Barock; noch mehr aber ging es ihm um die Möglichkeiten einer christl. Kunst der Moderne, dies auch in der deutl. Abwehr neuromant. Kunsttheorien (Beuroner Schule). Wichtig war hier für ihn die Freundschaft mit dem Maler Karl Caspar, der zwischen 1919 u. 1929 zu seinen sämtl. Büchern (Umschlag-)Zeichnungen u. Lithografien lieferte. W. schrieb Gedichte zu seinen Bildern u. verteidigte ihn

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gegen Anfeindungen der Nazis (Briefe bei Kühlmann 2008). W. gilt als »dunkel« u. deshalb als schwer verständlich, gerade weil ihm eingängige Erbaulichkeit oder neoscholast. Weltdeutungen denkbar fern lagen: »Dichtung ist also jenes Wort, um welches die Seele nicht in ihre Mitte treten kann.« (aus W.’ Nachlass: Vom Wesen der Dichtung. In: Hochland 54, 1961/62, S. 41–44). Die Grade dieser Dunkelheit u. die Wege zu ihrer Erhellung ermisst nur ein geduldiges Lesen, dem W.’ oft eigenwillige intertextuelle u. intermediäre Bezüge auf die Kunst- u. Literaturtraditionen des Abendlandes u. der christl. Heilsgeschichte (Bibel, Brevier, Liturgie) nicht fremd sind. Für Kenner wie Friedhelm Kemp zählte W. zu den eigenständigsten u. bedeutendsten Lyrikern des 20. Jh. Die weitere Auswertung seiner Typoskripte u. Tagebücher (im DLA Marbach) bleibt ein Desiderat. Weitere Werke: Zum geschichtl. Gethsemane. Ges. Versuche. Mainz 1919. – Die kleine Schöpfung. Mchn. 1926. Lpz. 1937. Zuletzt Mchn. 1990. – Das gegenwärtige Problem der Gotik. Mit Nachgedanken über das bürgerl. Kunstproblem. Augsb. 1927. – Das Sinnreich der Erde. Lpz. 1939 (L.). – Prosadichtungen. Mchn. 1948. – Gedichte. Bd. 1–2. Mchn. 1948/49. – Harpyie. Mchn. 1953. – Die Gedichte aus der Tröstung der Philosophie des Boethius. Bln. 1956 (mit einem Nachw. v. Josef Piper). – Wanderer in den Zeiten. Süddt. Reisebilder. Mchn. 1958. Ebd. 1989. – Gedichte 1914–1939. Hg. Friedhelm Kemp. Mchn. 1961. – Ludo Verbeek (Hg.): Literatur- u. zeitkrit. Aufsätze. In: LitJb N. F. 11 (1970), S. 323–355; 12 (1971), S. 293–349. – Die eherne Schlange u. a. kleine Prosa. Hg. F. Kemp in Zus. mit Karl Neuwirth. Marbach 1990. – Eines Morgens Schnee. Gedichte. Hg. Norbert Hummel. Mchn. 2005. – Das unstillbare Herz. Ein Lesebuch. Hg. Timo Kölling. Hagen 2011.

252 Traum im Werk v. K. W. In: Stimmen der Zeit 1980, S. 395–404. – F. Kemp u. a. (Hg.): Der Dichter K. W. Marbach 1980. – ›und ganz aus Echo lebend ist mein Leben‹. Zum 100. Geburtstag des Dichters K. W. Hg. Wilhelm Nysssen. Köln 1983. – F. Kemp: Nachw. In: K. W.: Die Löwin. Ffm. 1985, S. 131–145. – Wilhelm Kühlmann: ›der eignen Unrast Qual‹. Sündenfall u. Prophetenfigur in der Lyrik v. K. W. In: Paradeigmata. Literar. Typologie des AT. Hg. Franz H. Link. Bln. 1989, Bd. 2, S. 395–404. – Helmut Kreuzer: Ein Blick auf K. W. u. seine Lyrik. In: Ders: West-Östl. Divan zum Utop. Kakanien. Hg. Annette Daigger u. a. Bern u. a. 1999, S. 165–185. – Botho Strauß: Eine nicht geheuere Begegnung. In: Die Zeit 26 (2003). – F. Kemp: Verkannte Dichter unter uns? Rudolf Borchardt u. K. W. Dokumente einer Begegnung 1921–1935. Mchn. 2006. – Michael Schneider: K. W. (1880–1940). Zum schöpfungs- u. geschichtstheolog. Ansatz im Werk des schwäb. Dichters. Köln 2007. – W. Kühlmann: Im Schatten des Leviathan. Carl Schmitt u. K. W. In: Moderne u. Antimoderne. Der Renouveau Catholique u. die dt. Lit. Hg. W. Kühlmann u. Roman Luckscheiter. Freib. i. Br. 2008, S. 257–306. – Heiko Christians: Und immer wieder nur das Wort. K. W.’ SonettZyklus ›Gesichte des Knechts auf Golgatha‹ u. der ›Geist der Liturgie‹. In: Euph. 102 (2008), S. 481–502. – Paul Bellebaum: Der Weg vom Bild zum Wort. Untersuchungen zur Lyrik v. K. W. Borchen 2009. – Jost Eickmeyer: Vom Scheitern u. von der Hoffnung. Facetten der Jona-Figur in der dt. Lyrik des 20. Jh. In: Der problemat. Prophet. Die bibl. Jona-Figur in Exegese, Lit. u. Bildender Kunst. Hg. Ulrich Heinen, W. Kühlmann u. Johann Anselm Steiger. Bln. 2011 (im Druck). Friedhelm Kemp † / Robert Rduch / Wilhelm Kühlmann

Weiß, Norbert, * 5.11.1949 Dresden. – Verfasser von Lyrik, erzählender Prosa, Essays u. Sachtexten zur Literaturgeschichte; Herausgeber. Literatur: Friedhelm Kemp: Der Dichter K. W.

In: Wort u. Wahrheit 4 (1949), S. 280–292. – Gerhard Ruf: Das dichter. Geschichtsbild bei K. W. Diss. Freib. i. Br. 1952. – F. Kemp: K. W. Ein Vortrag. In: Gestalt u. Gedanke 2 (1953), S. 42–54. – Carl Franz Müller: K. W. Dichter u. Denker des ›Geschichtl. Gethsemane‹. Diss. Freib./Schweiz 1965. – Ludo Verbeeck: K. W. Weltbild u. Dichtung. Eine Untersuchung nach dem inneren Zusammenhang der ersten Schaffensperiode. Tüb. 1970. – Hans Peter Holl: Bild u. Wort. Studien zu K. W. Bln. 1979. – Lorenz Wachinger: Dichtung u.

Das Lebens- u. Schaffenszentrum von W. liegt im sächs. Dresden. Hier legte er nach der Lehre als Bibliothekstechniker das Abitur an der Abendoberschule ab. Als Bauarbeiter, Drucker, Telegrammbote u. Buchverkäufer sammelte er Erfahrungen, die er auch literarisch nutzt. Auf das Pädagogikstudium in Zwickau, das er wegen »unsozialistschen Verhaltens« nur extern abschließen durfte, folgte ein dreijähriges Studium am Litera-

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turinstitut »Johannes R. Becher« in Leipzig. Nach langjähriger Lehrertätigkeit wandte sich W. freiberuflich der literarisch-publizistischen Arbeit zu. In seinem ersten Gedichtband Reich und Fluchtwege der Delphine (Ffm. 1991) dominieren Momentaufnahmen u. Befindlichkeitsprotokolle mit häufigem Dresden-Bezug. Prägnanz u. bildhafte Konkretheit dieser Texte kennzeichnen auch die lyr. Stenogramme Von den Hügeln herab (Dresden 1994) u. Herbstreise (Dresden 2001) sowie den vielstimmigen Ungarn-Zyklus Nahe Mohatsch. Eine Spätsommerreise (Bordenau 2008). Vorstadtgeschichten sind in Fersengeld (Dresden 1999. 32004) u. Mein kurzes Leben als Eilzusteller (Dresden 2003) versammelt – Erzählminiaturen von atmosphär. Dichte, die pointiert u. detailgenau den Lebensalltag im Realen Sozialismus der DDR thematisieren. Beispiele, die das kontinuierl. Interesse an der dresdnerisch-sächsischen Kultur- u. Literaturtradition bezeugen, sind das Lexikon Dichter, Denker, Literaten aus sechs Jahrhunderten in Dresden (Dresden 1999), Dichterhäuser um Dresden (beide zus. mit Jens Wonneberger. Bln. 2004) u. Sächsische populäre Irrtümer (zus. mit Wolfgang Stumph. Bln. 2007). Seit 1999 gibt W. die Literaturzeitschrift »Signum« heraus. Rudolf Scholz

Weiss, Pantaleon ! Candidus, Pantaleon Weiss, Peter, auch: Sinclair, * 8.11.1916 Nowawes (heute zu Potsdam), † 10.5.1982 Stockholm. – Maler, Illustrator, Filmemacher, Romancier, Erzähler, Dramatiker, Essayist, Übersetzer. Der Sohn einer dt. Schauspielerin u. eines tschechoslowak. Textilkaufmanns wuchs in Bremen (1919–1929) u. Berlin (1930–1934) auf. Da der Vater jüd. Herkunft war, emigrierte die Familie nach dem Regierungsantritt der NSDAP. Die Exilstationen waren London (1935/36), das böhm. Warnsdorf (1937/38) u. Alingsås in Schweden (seit 1939). Seit 1932 wollte W. Künstler werden u. belegte Zeichen-, Mal- u. Fotografiekurse. 1937 erhielt er einen Platz an der Prager Kunstakademie; das Studium wurde jedoch

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durch die dt. Annexion des Sudetenlands u. die Emigration der Familie nach Schweden abgebrochen. Seit 1940 lebte W. überwiegend in Stockholm, bald schon integriert in die schwed. Avantgardekunstszene. In den 1950er Jahren erlahmte sein Interesse für malerische Ausdrucksformen. An deren Stelle traten literar. Versuche im Stil der schwed. »Fyrtiotalisten«, Collagen u. filmische Studien. 1949–1958 unterrichtete W. an der Stockholmer Högskola Kunst u. Kunstgeschichte sowie Theorie u. Praxis des Films. Zwischen 1952 u. 1960 entstanden 14 abgeschlossene Filme, die teilweise zu den interessantesten schwed. Experimental- u. Dokumentarfilmen der 1950er Jahre gehören. Außer in Avantgardezirkeln wurden diese Arbeiten jedoch kaum wahrgenommen. Insofern besiegelte es die Hinwendung zur Literatur, dass der »Mikro-Roman« Der Schatten des Körpers des Kutschers (Ffm. 1960) in Deutschland beachtl. Erfolg hatte, den W. mit den rasch folgenden Erzählbänden Abschied von den Eltern (Ffm. 1961), Fluchtpunkt (Ffm. 1962) u. Das Gespräch der drei Gehenden (Ffm. 1963) ausbauen konnte. Während W. in den 1940er und 1950er Jahren abwechselnd auf schwedisch u. deutsch schrieb, bewog ihn die in Schweden ausgebliebene Resonanz auf seine Bücher im dt. Sprachraum, künstlerisch zur Sprache seiner Kindheit zurückzukehren. International berühmt wurde W. durch sein 1964 uraufgeführtes Marat-Drama. Seither lebte er als freier Schriftsteller in Stockholm. In seinen verbleibenden knapp zwei Lebensjahrzehnten entstand ein außerordentlich vielseitiges Werk, das W. als sensiblen Formkünstler wie als politisch engagierten Zeitgenossen auswies. W. erhielt zahlreiche Preise, darunter den Charles-Veillon-Preis (Lausanne 1963), den Lessing-Preis (Hamburg 1965), den Heinrich-Mann-Preis (Berlin/DDR 1966), den Carl-Albert-Anderson-Preis (Stockholm 1967), den Thomas-Dehler-Preis (Bonn 1978), den Kölner Literaturpreis (1981), den Bremer Literaturpreis, den schwed. Theaterkritikerpreis u. den Georg Büchner-Preis (alle drei 1982). W. hat von Anfang an gemalt u. geschrieben, allerdings dominierte die Malerei bis

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Ende der 1940er Jahre. Nach tastenden Anfängen in der Malerei (bis 1934) folgte eine altmeisterlich geprägte Phase (1934–1941), danach der Versuch, den Anschluss an die künstlerische Moderne (wieder) zu finden (1941–1946), u. zuletzt eine Phase der Reduktion des malerischen Ausdrucks (nach 1947). Vorherrschende Themen der frühen Malerei sind Isolation, Verfolgung u. Ausgeliefertsein, Einsamkeit u. Tod; positiv konnotierte Szenen (Liebe, Geburt, Tanz, Jahrmarkt, Selbstvergessenheit) sind vergleichsweise selten. Die Bilder sind Ausdruck eines von W. existenziell empfundenen Außenseitertums, das auch seine literar. Arbeiten bis Ende der 1950er Jahre prägte. Der altmeisterl. Malerei entsprach während der 1930er Jahre in den literar. Versuchen ein romantisierender Ton à la Hermann Hesse. Viele Themen der späteren Bücher klingen in diesen Jugendarbeiten (Erzählungen, Tagebücher, Gedichte, lyr. Prosa) schon an. In den 1940er u. 1950er Jahren machte sich literarisch, auch unter dem Eindruck der schwed. Avantgardekünstler (»Fyrtiotalisten«), das Vorbild Kafkas geltend. Hinzu kamen die Einflüsse der Surrealisten u. Existenzialisten. In der Malerei experimentierte W. mit Ausdrucksmitteln der klass. Moderne u. bewegte sich in Richtung einer konstruktivistischen Metamalerei. Um 1960 kulminierte diese Entwicklung in einem bedeutenden Collagenwerk. Als W. das Medium selbst zum Problem wurde u. er die Schwelle zu einer materialästhetisch fundierten Bildkunst erreicht hatte, gab er sie als primäres Ausdrucksmittel allerdings auf. In den 1950er Jahren stand das Medium Film im Mittelpunkt seines Interesses. Eine filmgeschichtl. Pioniertat war W.’ subjektive Geschichte des nonkonformistischen Films seit den Anfängen unter dem Titel Avantgardefilm (Stockholm 1956. Dt. Ffm. 1995). Zwischen 1952 u. 1960 drehte W. selbst Filme, erst experimentelle Studien, dann auch dokumentarische Auftragsarbeiten. Der experimentelle Spielfilm Hägringen (1959) nach der eigenen Erzählung Dokument I (Stockholm 1949. Dt. Ffm. 1980) ist das kinematografische Hauptwerk; Kritiker verglichen W. damals mit Ingmar Bergman oder Jean Coc-

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teau. Der einzige Ausflug ins kommerzielle Filmgeschäft, Svenska Flickor i Paris (1960/61), wurde ein Flop. Die literar. Arbeiten dieser Zeit, vom Drama Rotundan (1948/50; dt. 1963) über die Erzählung Duellen (1951. Stockholm 1953. Dt. Ffm. 1972) bis zu Abschied von den Eltern (1961), stehen unter dem Einfluss der Psychoanalyse. Zugleich experimentierte W. mit grotesken Stilformen (der Kurzroman Der Schatten des Körpers des Kutschers, 1952/60. Die Versicherung, 1952/66. Nacht mit Gästen, 1963. Wie dem Herrn Mockinpott das Leiden ausgetrieben wurde, 1963/68) sowie mit realistischen Erzählkonzepten (Situationen. 1956. Dt. Die Situation. Ffm. 2000. Fluchtpunkt. Ffm. 1962). Alles zusammen vermochte W. in dem Theaterstück Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats (1963/65) fruchtbar zu machen, das ein Welterfolg wurde (verfilmt 1966 von Peter Brook); es führt nicht nur ein geschichtl. Ereignis, sondern die subjektive Inszenierung dieses Ereignisses vor u. macht damit dessen mehrfache Virulenz einsichtig. W. verhandelte in dem Stück die Frage nach persönl. Selbstverständnis u. polit. Aufgabe eines Künstlers mit doppelter Stoßrichtung gegen Gefängnisse des Innern u. Äußern; er präformierte damit Diskussionen der Neuen Linken nach 1968. W. führte diese Debatten in seinen Schriftstellerstücken Trotzki im Exil (1969) u. Hölderlin (1971/73) fort. Mitte der 1960er Jahre brachte W. auf der Folie von Dantes Divina Commedia die damaligen polit. Konflikte auf die Bühne: Zunächst mit der Dramatisierung des 1. Frankfurter Auschwitz-Prozesses (Die Ermittlung, 1965), in der es um die individuellen u. gesellschaftl. Voraussetzungen des Holocaust sowie die Möglichkeit seiner Aufarbeitung geht u. die bis dato die anspruchsvollste künstlerische Bearbeitung des Themas in der deutschsprachigen Literatur blieb. Vorbereitet wurde das Stück durch das erst 2003 (Ffm.) gedruckte Stück Inferno (1964), das W.’ Erfahrungen in einer verdrängungswütigen Nachkriegsgesellschaft verarbeitete. Umstritten war seine Ansicht, dass der Holocaust kein singuläres Ereignis sei, sondern vergleichbar mit anderen Formen des Völkermords u. der Unterdrückung.

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Die Diagnose, dass der Holocaust eine extreme Form der Ausbeutung von Menschen durch Menschen war, lenkte die Aufmerksamkeit auf andere, damals aktuelle Erscheinungen des Konflikts: die Befreiungskämpfe in der so genannten Dritten Welt, aufgerollt in den Stücken Gesang vom Lusitanischen Popanz (1965/67), der Mechanismen des Kolonialismus am Beispiel der damals portugies. Kolonie Angola untersuchte, u. dem Drama Viet Nam Diskurs (1968), der die zweitausendjährige Geschichte der Unterdrückung Indochinas zum Thema hat u. den imperialistischen Charakter des von den USA gegen Vietnam geführten Kriegs aufdeckte. Diese seinerzeit viel diskutierten Stücke sind in formaler Hinsicht immer noch eine kaum wahrgenommene Herausforderung. W. bekannte sich 1965 zu »den Richtlinien des Sozialismus«, trat jedoch stets für die im Ostblock verfolgten Dissidenten ein. Mit Trotzki im Exil (1969) wollte er Denkverbote innerhalb der sozialistischen Bewegungen durchbrechen. Mit diesem häufig unterschätzten Stück setzte W. sich zwischen alle Stühle; im Osten wurde er als Revisionist, im Westen als Dogmatiker gescholten. Die massive Ablehnung erlebte er als »Niederlage«, die zu einem Herzinfarkt (1970) führte. In der Zeit danach wandte sich W. wieder verstärkt den zuvor »als romantisch, utopisch, subjektivistisch« diffamierten »Regionen der Zwecklosigkeit« zu, als deren Ausdruck der »Traum« firmierte, dessen ganz eigene Realität ihn schon vor 1965 stark beschäftigt hatte. Hauptprojekt der 1970er Jahre war der dreibändige Roman Die Ästhetik des Widerstands (Ffm. 1975–81), der auf fast tausend Seiten die Geschichte u. Niederlage des sozialistischen Widerstands gegen den internat. Faschismus erzählt. Ineinander verschränkt thematisiert der Roman die Geschichte der Arbeiterbewegung zwischen 1918 u. 1945 u. des Widerstands der Unterdrückten von jeher, sowie die Bedingungen u. Wirkungsmöglichkeiten von Kunst. Die Verschränkung ästhetischer u. polit. Erfahrung ist Bedingung des verhaltenen Optimismus, der trotz der Niederlage der europ. Arbeiterbewegung diesem Erinnerungsopus eignet. Mit der Ästhetik des Widerstands versuchte W.

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die Geschichte des antifaschistischen Widerstands aus dem »dichten Gewebe lügenhafter Geschichtsschreibung« westl. wie östl. Provenienz zu befreien, u. zugleich die subjektive Wahrheit, die vergebl. Hoffnungen u. die Leiden der beteiligten Frauen u. Männer zu bewahren. Gegen eine einseitig histor. u. polit. Lesart, die um 1980 die Rezeption des Romans beherrschte, empfahl W. noch kurz vor seinem Tod, auch die psycholog. Entwicklungslinien ernst zu nehmen u. den Roman nicht zuletzt vom »Element des Traums« her zu lesen. Psychologische Wahrhaftigkeit, Kunst u. Politik mittels einer Poetik des Traums zusammenzubringen, versuchte W. auch in seinen letzten Theaterstücken: Der Prozeß (1975), eine Dramatisierung von Kafkas Roman, u. das daran thematisch anknüpfende, aber thematisch frei stehende Stück Der neue Prozeß (1982). Das zuletzt genannte Stück ist eine Bestandsaufnahme des kapitalistischen Gesellschaftssystems am Ende des 20. Jh. u. der Möglichkeit von Künstlern, darin noch verändernd wirken zu können. In Zeiten der Globalisierung erscheint das Stück noch aktueller als zur Entstehungszeit; nach Marat/ Sade u. dem Lusitanischen Popanz ist es daher das dritte Stück, das ins Arabische übersetzt wurde. Das literar. Werk von W. ist insg. von einer zunehmenden Integration objektiver u. subjektiver Schreibintentionen geprägt. Kennzeichnend dafür ist die stets wache Verantwortung gegenüber dem künstlerischen Bewusstsein wie gegenüber der histor. Wirklichkeit. »Ohne daß wir propagandistisch zu sein brauchen, müssen wir im Auge behalten, daß unsre Arbeit zur Klärung und nicht zur Verdunklung der Verhältnisse beizutragen hat«, schrieb W. 1973. Dies gelang ihm auf eine so unaufdringl. Weise, wie sonst kaum einem anderen engagierten Schriftsteller. Weitere Werke: Från ö till ö. Stockholm 1947. Dt. Ffm. 1984 (P). – De besegrade. 1948. Dt. 1985 (P). – Notizen zum kulturellen Leben der Demokrat. Republik Viet Nam. Ffm. 1968 (P). – Ber. über die Angriffe der US-Luftwaffe u. -Marine gegen die Demokrat. Republik Viet Nam [...]. Ffm. 1968 (Ess.). – Rapporte. 2 Bde., Ffm. 1968–71 (Ess.s). – Rekonvaleszenz [1970/72]. Ffm. 1991 (P). – Notiz-

Weiss bücher 1971–1980. Ffm. 1981. – Notizbücher 1960–1971. Ffm. 1982. – Landskapen i drömmarna. 1991 (P). – Briefe an Hermann Levin Goldschmidt u. Robert Jungk 1938–1980. Hg. Beat Mazenauer. Lpz. 1992. – Das Kopenhagener Journal [1960]. Krit. Ausg. Hg. Rainer Gerlach u. Jürgen Schutte. Ffm. 2006. – Briefw. mit Siegfried Unseld. Hg. R. Gerlach. Ffm. 2007. – ›Füreinander sind wir Chiffren‹. Das Pariser Manuskript [1950]. Hg., übers. u. komm. v. Axel Schmolke. Bln. 2008 (P). – Hermann Hesse – P. W.: ›Verehrter großer Zauberer‹. Briefw. 1937–1962. Hg. Beat Mazenauer u. Volker Michels. Ffm. 2009. – Briefw. mit Manfred Haiduk 1965–1982. Hg. R. Gerlach u. J. Schutte. St. Ingbert. 2010. – Briefe an Henriette Itta Blumenthal. Hg. Angela Abmeier u. Hannes Bajohr. Bln. 2011. – Übersetzungen: Stig Dagerman: Der Verurteilte. 1948. – August Strindberg: Fräulein Julie. 1961. – Ders.: Ein Traumspiel. 1963. – Ders.: Der Vater. 1979. – Malerei: Per Drougge (Hg.): P. W. Måleri, collage, teckning 1933–1960. Södertälje 1976. – Peter Spielmann (Hg.): Der Maler P. W. Bilder, Zeichnungen, Collagen, Filme. Bochum 1980. Bln. 1982. – Raimund Hoffmann: P. W. . Malerei, Zeichnungen, Collagen. Bln. 1984. – Filme: Studie I: Uppvaknandet. 1952. – Studie II: Hallucinationer. 1952. – Studie III. 1953. – Studie IV: Frigörelse. 1954. – Studie V: Växelspel. 1955. – The Studio of Dr. Faust/Ateljéinteriör. 1956. – Ansikten i skugga. 1956. – Ingenting ovanligt. 1957. – Enligt lag. 1957. – Ungt rådslag. 1958. – Vad ska vi göra nu då? 1958. – Bag de ens facader. 1960. – Svenska flickor i Paris. 1960/61. – Hauke Lange-Fuchs (Red.): P. W. und der Film. Eine Dokumentation. Lübeck 1986. Ausgaben: Werke in sechs Bänden. Hg. Gunilla Palmstierna-Weiss. Ffm. 1991. – Die Notizbücher. Krit. Gesamtausg. Hg. Jürgen Schutte. 2006. Literatur: Henning Rischbieter: P. W. Velber 1967. 21974. – Manfred Haiduk: Der Dramatiker P. W. Bln. 1969. 21977. – Volker Canaris (Hg.): Über P. W. Ffm. 1970. 51981. – Otto F. Best: P. W. Bern 1971. – Heinz Ludwig Arnold (Hg.): P. W. Mchn. 1973. 21982. – Heinrich Vormweg: P. W. Mchn. 1981. – Karl-Heinz Götze u. a. (Hg.): Die Ästhetik des Widerstands lesen. Bln. 1981. – Rolf D. Krause: Der Faschismus als Theorie u. Erfahrung. Ffm. 1982. – Alexander Stephan (Hg.): Die Ästhetik des Widerstands. Ffm. 1983. – Rainer Gerlach (Hg.): P. W. Ffm. 1984. – Ders. u. a. (Hg.): P. W. im Gespräch. Ffm. 1986. – Genia Schulz: Die Ästhetik des Widerstands. Stgt. 1986. – Maria C. Schmitt: P. W., ›Die Ästhetik des Widerstands‹. St. Ingbert 1986. 2 1990. – Norbert Krenzlin (Hg.): Ästhetik des Widerstands. Bln. 1987. – Rudolf Wolff (Hg.): P. W.

256 Bonn 1987. – Jochen Vogt: P. W. Reinb. 1987. – Hans Höller (Hg.): Hinter jedem Wort die Gefahr des Verstummens. Stgt. 1988. – Burkhardt Lindner: Im Inferno. Ffm. 1988. – Volker Lilienthal: Literaturkritik als polit. Lektüre. Bln. 1988. – Alfons Söllner: P. W. u. die Deutschen. Opladen 1988. – Stephan Meyer: Kunst als Widerstand. Tüb. 1989. – Michael Hofmann: Ästhetische Erfahrung in der histor. Krise. Bonn 1990. – Andreas Huber: Mythos u. Utopie. Heidelb. 1990. – Jürgen Garbers u. a. (Hg.): Ästhetik Revolte Widerstand. Jena 1990. – IPWG (Hg.): Ästhetik Revolte Widerstand. Erg.-Bd. Luzern 1990. – Ulrike Zimmermann: Die dramat. Bearbeitung v. Kafkas ›Prozeß‹ durch P. W. Ffm. 1990. – Gunilla Palmstierna-Weiss u. a. (Hg.): P. W. Ffm. 1991. – Jost Müller: Lit. u. Politik bei P. W. Wiesb. 1991. – Christian Bommert: P. W. u. der Surrealismus. Opladen 1991. – Kunibert Erbel: Sprachlose Körper u. körperlose Sprache. St. Ingbert 1991. – Franz Rieping: Reflexives Engagement. Ffm. 1991. – M. Hofmann (Hg.): Lit., Ästhetik, Gesch. St. Ingbert 1992. – Robert Cohen: P. W. in seiner Zeit. Stgt. 1992. – Karl-Josef Müller: Haltlose Reflexionen. Würzb. 1992. – Peter Hanenberg: Vom Nutzen u. Nachteil der Historie für das Schreiben. Bln. 1993. – Jens-Fietje Dwars u. a. (Hg.): Widerstand wahrnehmen. Köln 1993. – Jens Birkmeyer: Bilder des Schreckens. Wiesb. 1994. – Stefan Howald: P. W. zur Einf. Hbg. 1994. – Irene Heidelberger-Leonard (Hg.): P. W. Opladen 1994. – Alexander Honold u. a. (Hg.): Die Bilderwelt des P. W. Hbg. 1995. – Juliane Kuhn: Wir setzen unser Exil fort. St. Ingbert 1995. – K.-H. Götze: Poetik des Abgrunds u. Kunst des Widerstands. Opladen 1995. – Arnd Beise u. a.: P. W., ›Marat/Sade‹. Stgt. 1995. – Annie Borguignon: Der Schriftsteller P. W. u. Schweden. St. Ingbert 1997. – Andrea Heyde: Unterwerfung u. Aufruhr. Bln. 1997. – Ulrich Engel: Umgrenzte Leere. Münster 1998. – Martin Rector u. a. (Hg.): P. W.’ Dramen. Opladen 1999. – Stefan Schwöbel: Autonomie u. Auftrag. Ffm. 1999. – Berthold Brunner: Der Herakles/Stahlmann-Komplex in P. W.’ ›Ästhetik des Widerstands‹. St. Ingbert 1999. – Matthias Köberle: Dt. Habitus bei P. W. Würzb. 1999. – Jost Hermand u. a. (Hg.): Rethinking P. W. New York 2000. 22001. – Christoph Weiß: Auschwitz in der geteilten Welt. 2 Bde., St. Ingbert 2000. – Marita Meyer: Eine Ermittlung. St. Ingbert 2000. – A. Beise: P. W. Stgt. 2002. – Florian Radvan: P. W., ›Abschied von den Eltern‹. Mchn. 2003. – Günter Schütz: P. W. u. Paris. St. Ingbert 2004. – R. Gerlach: Die Bedeutung des Suhrkamp-Verlags für das Werk v. P. W. St. Ingbert 2005. – Peter van Suntum: Die Ästhetik des Erhabenen u. die Repräsentation des Leidens im Werk v. P. W. Ann Arbor 2005. – Axel Schmolke:

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257 Das fortwährende Wirken v. einer Situation zur andern. St. Ingbert 2006. – Yannick Müllender: P. W.’ ›Divina Commedia‹-Projekt. St. Ingbert 2007. – J.-F. Dwars: Und dennoch Hoffnung. Bln. 2007. – Yannik Müllender u. a. (Hg.): P. W. Grenzgänger zwischen den Künsten. Ffm 2007. – A. Beise u. a. (Hg.): Diese bebende, kühne, zähe Hoffnung. St. Ingbert 2008. – Margrid Bircken u. a. (Hg.): Ein Riss geht durch den Autor. Bielef. 2009. – Anja Schnabel: Nicht ein Tag, an dem ich nicht an den Tod denke. St. Ingbert 2010. – Ana Margarida Abrantes: Meaning and Mind. A cognitive approach to P. W.’ prose work. Ffm. 2010. – Periodikum: P. W. Jb. für Lit., Kunst u. Politik im 20. u. 21. Jh. Begr. v. M. Rector u. J. Vogt, hg. v. A. Beise u. M. Hofmann. Opladen 1.1992–7.1998; St. Ingbert 8.1999 ff. Arnd Beise

Weiße, Weisse, Christian Felix, auch: C. F. Weisse, * 28.1.1726 Annaberg, † 16.12. 1804 Leipzig. – Dramatiker, Kinderbuchautor, Librettist, Lyriker, Übersetzer, Redakteur. W. stammte aus einer Gelehrtenfamilie; nach dem Besuch des Gymnasiums in Altenburg studierte er seit 1745 in Leipzig Theologie u. Philologie, später Rechtswissenschaft. In den ersten Studienjahren war er eng mit Lessing befreundet; freundschaftliche Beziehungen mit Rabener, Gellert, später mit Ewald von Kleist u. Ramler schlossen sich an. Nach dem Studium war W. einige Jahre Hofmeister. Von einer Parisreise zurückgekehrt, übernahm er 1759 die Redaktion der »Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste« (12 Bde., Lpz. 1757–65. Neudr. 6 Bde., Hildesh. 1979), die unter seiner bis 1788 dauernden Leitung zu einer sehr angesehenen Zeitschrift wurde (seit 1765 »Neue Bibliothek der Wissenschaften und schönen Künste«). 1761 wurde W. Kreissteuereinnehmer in Leipzig. W.s literar. Produktion begann im freundschaftl. Wettstreit mit Lessing. Der anakreont. Mode folgend, orientiert an den antiken Vorbildern, an der zeitgenöss. frz. u. engl. Lyrik, derjenigen Gleims u. insbes. Hagedorns, schrieben beide scherzhafte Verserzählungen, Epigramme, Lieder, lyr. »Kleinigkeiten« (wie Lessing seine 1751 erschienene Sammlung dieser Gedichte nannte), die

in verschiedenen Zeitschriften gedruckt wurden. Eine Buchausgabe, in die W. auch später entstandene Gedichte gleicher Art aufnahm, erschien 1758 u. d. T. Scherzhafte Lieder (Lpz. Neudr. Stgt. 1965). Der Band war ein Erfolg, wurde mehrfach aufgelegt u. auch nachgedruckt. Stark von Gleim beeinflusst sind die Gedichte in W.s Amazonenliedern (Lpz. 1760). 1772 veröffentlichte W. seine Gedichte in einer dreibändigen Sammelausgabe (Kleine lyrische Gedichte. Ebd.). W.s Beherrschung der verschiedenen »Töne« der Rokokolyrik wurde von den Zeitgenossen hoch gelobt; seine Gedichte sind in den Lyrikanthologien der Zeit stark vertreten u. waren überaus populär. Auch W.s umfangreiches dramat. Schaffen begann im Wettstreit mit Lessing. Für die Schauspieltruppe Caroline Neubers übersetzten beide aus dem Englischen u. Französischen u. versuchten sich mit eigenen Stücken; seit 1750 war W. Theaterdichter für die Schauspieltruppe Gottfried Hermann Kochs in Leipzig, für die er auch weiterhin Übersetzungen sowie Nachdichtungen lieferte. Wie seine Lyrik ist auch W.s Dramatik den gängigen Mustern der Zeit verpflichtet. Er schrieb dem klassizistischen frz. Modell verpflichtete Tragödien wie etwa das von Lessing scharf kritisierte Drama Richard der Dritte (Lpz. 1765), orientierte sich aber auch an engl. Vorbildern; die Tragödien Die Befreiung von Theben (ebd. 1764) u. Atreus und Thyestes (ebd. 1766) sind die ersten deutschsprachigen Dramen in fünfhebigen Jamben. Romeo und Julie (ebd. 1768), eine Shakespeare-Adaption, ist in Prosa verfasst u. auch inhaltlich dem bürgerl. Trauerspiel angenähert. Große Resonanz beim Publikum fand W. vor allem mit seinen Lustspielen. Mit hohem dramaturg. Können nutzte er, Anregungen des frz. Théâtre italien aufnehmend, die eingespielten Formen der Charakterkomödie; satirische, der »sächs. Typenkomödie« verpflichtete Lustspiele wie Die Poeten nach der Mode (ebd. 1756) stehen neben »rührenden Lustspielen«. Zu seinen erfolgreichsten Komödien gehörte Amalia (ebd. 1768), die zunächst als bürgerl. Trauerspiel konzipiert war, u. Die Freundschaft auf der Probe (ebd. 1767), in der W. in der Figur des Indianermädchens Corally

Weiße

das modische Motiv der »edlen Wilden« aufgriff. Seine zumeist auch in Einzelausgaben veröffentlichten Dramen hat W. in mehreren Sammelbänden zusammengefasst (Beytrag zum Deutschen Theater. 5 Bde., ebd. 1759–68. Trauerspiele. 5 Bde., ebd. 1776–80. Lustspiele. 3 Bde., ebd. 1783). Auch wenn W. an den zukunftsträchtigen Entwicklungen des dt. Theaters seiner Zeit nur wenig Anteil hatte, so ist in seinen Lustspielen doch zunehmend die Tendenz zur psycholog. Gestaltung der Figuren zu bemerken, die sich damit vom Typ zum stärker individualisierten Charakter wandeln; darin haben seine Komödien die Entwicklung zum später so beliebten Familienschauspiel mit vorbereitet. V. Anfang an u. gleichfalls erfolgreich betätigte sich W. auch auf dem Gebiet des Singspiels, zunächst v. a. mit Übersetzungen u. Nachdichtungen frz. u. engl. Vorlagen. Literatur- u. musikgeschichtlich bedeutsam wurde die Zusammenarbeit mit dem damals hochgeschätzten Komponisten Johann Adam Hiller seit den 1760er Jahren, in denen W. auch dazu überging, eigene Libretti zu schreiben. Mit ihren Singspielen leisteten W. u. Hiller einen entscheidenden Beitrag zur Ausbildung der Gattung ›Singspiel‹, die zeitgenössisch zumeist als Operette bezeichnet wurde; W. nannte seine Singspiele – so auch in der zunächst zwei, dann drei Bände umfassenden Sammelausgabe – Komische Opern (Lpz. 1768–71). Mit dem Titel des 1768 uraufgeführten Singspiels Die Liebe auf dem Lande (ebd. 1767) sind Grundthema u. Handlungsort bezeichnet. Dabei mischt sich die Verklärung des Landlebens – »es herrscht gewissermaßen immer Feiertagsstimmung« (Hinck) – mit der Tendenz zu wirklichkeitsnäherer Handlung. Deren Spannung ergibt sich zumeist aus der allerdings stets glücklich aufgelösten Bedrohung der idyllischen Harmonie; in der Gegenüberstellung v. ländl. Natur u. adlig geprägter Stadt- u. Hofkultur wird auch die soziale Realität der ständ. Gesellschaft auf die Bühne gebracht. So sind die Singspiele W.s u. Hillers in ihrer empfindsamen Idealisierung des Landlebens auch ein »Ausdruck bürgerlichen Selbstbewußtseins« (Koch). Nicht zuletzt deshalb waren sie überaus beliebt; besonders erfolgreich war

258

das 1772 in Weimar uraufgeführte Singspiel Die Jagd (Lpz. 1772). Zum großen Erfolg trugen aber v. a. die textlich wie musikalisch eingängigen Arien, Lieder u. Couplets bei; einige wurden zu »Schlagern« – so z. B. das aus dem Singspiel Die verwandelten Weiber oder Der Teufel ist los (ebd. 1766. Eine erste Fassung bereits ebd. 1751) stammende Ohne Lieb und ohne Wein, / Was wär’ unser Leben, das eines der beliebtesten Lieder der Zeit war. In seinen späteren Jahren wandte sich W. vor allem der Kinderliteratur zu. 1767 veröffentlichte er Kleine Lieder für Kinder (Lpz.), die in ihrer moralisch-didakt. Ausrichtung typisch für die Kinderlyrik der Aufklärung sind; der zweiten Auflage (ebd. 1769) waren Vertonungen v. Hiller beigegeben. Es folgte sein Neues A, B, C, Buch (ebd. 1772), das bis ins 19. Jh. neu aufgelegt wurde. Seit Ende 1775 gab W. die weitgehend von ihm selbst verfasste Wochenschrift »Der Kinderfreund« heraus, die bis 1782 erschien. Mit dieser Zeitschrift für Kinder, deren 24 Teile umfassende Buchausgabe (ebd. 1776–82) mehrere Auflagen erfuhr u. in Nachdrucken verbreitet war, schuf W. ein wirkungsmächtiges Modell für die Kinderliteratur der Zeit; die Verbindung v. familiärer Rahmenhandlung u. Binnentexten unterschiedl. literar. Genres wurde häufig nachgeahmt. Zu den Binnentexten gehören insg. 24 Schauspiele für Kinder, die W. auch in Einzelausgaben u. in einer Sammelausgabe (Schauspiele für Kinder. Ebd. 1792) veröffentlicht hat. Weitere Werke (Erscheinungsort jeweils Lpz.): Eduard III. 1758 (Trag.). – Krispus. 1760 (Trag.). – Die Haushälterinn. 1760 (Lustsp.). – Der Mißtrauische gegen sich selbst. 1761 (Lustsp.). – Der Projectmacher. 1766 (Lustsp.). – Lottchen am Hofe. 1767 (Singsp.). – List über List. 1767 (Lustsp.). – Der Aerndtekranz. 1772 (Singsp.). – Armuth u. Tugend. 1772 (D.). – Die Jubelhochzeit. 1773 (Singsp.). – Der Fanatismus oder Jean Calas. 1774 (Trag.). – Briefw. der Familie des Kinderfreunds. 1784–92. – Weißens Selbstbiogr. hg. v. dessen Sohn Christian Ernst Weiße. 1806. Literatur: Jacob Minor: C. F. W. u. seine Beziehungen zur dt. Lit. des 18. Jh. Innsbr. 1880. – Walter Hinck: Das dt. Lustsp. des 17. u. 18. Jh. u. die ital. Komödie. Stgt. 1965, S. 302–314. – HansAlbrecht Koch: Das dt. Singsp. Ebd. 1974, S. 44–58. – Bettina Hurrelmann: Jugendlit. u. Bürgerlich-

Weisse

259 keit. Paderb. 1974. – Horst Steinmetz: Die Komödie der Aufklärung. Stgt. 31978, S. 58–62. – Walter Pape: Das literar. Kinderbuch. Bln. u. a. 1981, S. 129–235. – Albert R. Schmitt: C. F. W.s ›Jean Calas‹. Dokumentar. Theater im 18. Jh. In: Aufnahme – Weitergabe. Literar. Impulse um Lessing u. Goethe. FS Heinz Moenkemeyer. Hg. John A. McCarthy u. Albert A. Kipa. Hbg. 1982, S. 2–30. – Oliver Ihle: ›Im Reich der Möglichkeit‹. Bedingungen dargestellter Welten in der populären Dramatik der Hochaufklärung am Beispiel ausgewählter Dramen C. F. W.s. Freib. i. Br. 1999. – Jürgen Krätzer: C. F. W. in der dt. Germanistik. Ein Forschungsbericht. In: Sächs. Aufklärung. Hg. Anneliese Klingenberg. Lpz. 2001, S. 147–160. – Katrin Löffler u. Ludwig Stockinger (Hg.): C. F. W. u. die Leipziger Aufklärung. Hildesh. 2006. Reiner Wild / Red.

Weitere Werke: Die philosoph. Geheimlehre v. der Unsterblichkeit des menschl. Individuums. Dresden 1834. – Grundzüge der Metaphysik. Hbg. 1835. – Kritik u. Erläuterung des Goethe’schen Faust, nebst einem Anhang zur sittl. Beurtheilung Goethes. Lpz. 1837. – Ueber die Zukunft der evang. Kirche. Reden an die Gebildeten dt. Nation. Ebd. 2 1849. Literatur: Franz Ludwig Greb: Die philosoph. Anfänge C. H. W.s. Diss. Bonn 1943. – Volker Stümke: Die positive Christologie C. H. W.s. Ffm. u. a. 1992. – Günter Kruck: Hegels Religionsphilosophie der absoluten Subjektivität u. die Grundzüge des spekulativen Theismus C. H. W.s. Wien 1994. – Klaus-Gunther Wesseling: C. H. W. In: Bautz. – Anatol Schneider: Personalität u. Wirklichkeit. Nachidealistische Schellingrezeption bei Immanuel Hermann Fichte u. C. H. W. Würzb. 2001. Roland Pietsch / Red.

Weisse, Christian Hermann, auch: Nikodemus, * 10.8.1801 Leipzig, † 19.9.1866 Weisse, Michael, * um 1488 Neiße/SchleLeipzig. – Philosoph u. Theologe. sien (Nysa/Polen), † März 1534 Landskron (Lansˇ kroun)/Böhmen. – Prediger u. KirDer Enkel Christian Felix Weißes u. Sohn chenlieddichter. eines Juraprofessors studierte nach dem Besuch der Nicolaischule in Leipzig Jura, anschließend Philosophie, Kunst u. Literatur. 1823 habilitierte er sich mit der Abhandlung Diversa naturae et rationis in civitatibus constituendis indoles e Graecorum historia illustrata. 1828 wurde W. hier zum a. o., 1847 erst zum o. Prof. ernannt. Vom übermächtigen Einfluss Hegels hatte er sich bereits 1829 in Ueber den gegenwärtigen Standpunkt der philosophischen Wissenschaft (Lpz.) gelöst, blieb dessen dialektischer Methode aber v. a. in seinem System der Aesthetik als Wissenschaft von der Idee der Schönheit (Lpz. 1830) verpflichtet. W., unorthodoxer Spätidealist wie Immanuel Hermann Fichte, verwirft Hegels Lehre vom absoluten Geist u. setzt, Philosophie u. spekulative Theologie vermittelnd, die Gottesidee an die oberste Stelle (vgl. Die Idee der Gottheit. Dresden 1833). 1838 erschien anlässlich von Strauß’ Leben Jesu W.s Die evangelische Geschichte, kritisch und philosophisch bearbeitet (2 Bde., ebd.). Sein Hauptwerk ist die Philosophische Dogmatik oder Philosophie des Christenthums (3 Bde., ebd. 1855–62), in der er das Christentum mit der Geistigkeit der Neuzeit in Gestalt eines eth. Theismus verknüpft. Zu W.s Schülern zählten u. a. Danzel u. Lotze.

W. wurde im Sommer 1504 an der Universität Krakau immatrikuliert u. trat später in ein Mönchskloster in Breslau ein. Als er 1518 daraus floh, nahmen ihn Böhmische Brüder in Leitomischl (Litomysˇ l) auf, deren Gemeine er sich anschloss. Als Vorsteher der Gemeinde in Landskron machte er 1522 mit Johann Horn seine erste Reise zu Luther nach Wittenberg, der bis 1524 vier weitere Besuche zur Klärung theolog. Fragen folgten. 1531 erhielt er in Brandeis die Priesterweihe u. wurde als Seelsorger u. Prediger der »Deutschen Gemeine Gottes und Christlichen Bruderschaft« in Landskron bestellt; 1532 folgte die Wahl zum Mitgl. des Engeren Rats. Ein New Geseng buchlen (Jungbunzlau 1531) ist das erste dt. Gesangbuch der Böhmischen Brüder; W. gab es mit einer Vorrede heraus. Von den 157 Liedern sind 137 von W. selbst gedichtet oder bearbeitet, 16 hat er aus dem Tschechischen, vier aus dem Lateinischen übersetzt. Grundlage war das tschech. Brüdergesangbuch von 1519 (daraus etwa 90 Melodien), in dem lat. Cantionen u. liturg. Gesänge vorherrschen. Alle wesentl. Liedtypen seiner Zeit kommen vor: Psalmlied, freie Hymnennachdichtung, Kyrie-Trope,

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Sequenz, Liedhistorie, Lehr- u. Hauslied. »Es In: Bautz. – Gustav A. Krieg: M. W. In: Kompoist das erste durchgängig nach seinem Inhalt nisten u. Liederdichter des Evang. Gesangbuchs. 2 gegliederte Gesangbuch« (Ameln). Seine Hg. Wolfgang Herbst. Gött. 1999 ( 2001), Vorlagen hat W. »jnn deutsche reym bracht / S. 342–344. – Irmgard Scheitler: Der Beitr. der böhm. Länder zur Entwicklung des Gesangbuchs u. die sillaben wort vnd gesetz also gestellt / daz des dt. geistl. Liedgesangs (1500–1620). In: Jb. für sich ein jeglichs vnder seinem zugeschriebe- Liturgik u. Hymnologie 38 (1999), S. 157–190. – nen thon fein singen lest« (Vorrede). Die Rudolf Walter: Das ›New Gesengbuchlen‹ der Lieder sind für den einstimmigen unbeglei- Böhm. Brüder v. M. W. In: Oberschles. Dichter u. teten Gemeindegesang bestimmt. Bemer- Gelehrte v. Humanismus bis zum Barock. Hg. kenswert ist W.s gereimter Beschluss, in dem Gerhard Kosellek. Bielef. 2000, S. 393–406. – Möller: Oberschles. Autoren er dem Vorsänger eine Melodieveränderung Klaus-Peter erlaubt, aber darauf Wert legt, »Das er dem 1450–1620. In: ebd., S. 543–546. – Franz Heiduk: Oberschles. Lit.-Lex. [...]. Tl. 3, Heidelb. 2000, text kein schaden thu«. S. 168. – Christian-Erdmann Schott: M. W. (um Das Geseng buchlen erzielte sofort eine große 1488–1534). In: Schles. Lebensbilder. Bd. 7, Stgt. Wirkung, erlebte zahlreiche Nachdrucke u. 2001, S. 26–29. – Kulturgesch. Schlesiens in der wurde von Katharina Zell 1534 in Straßburg Frühen Neuzeit. Hg. Klaus Garber. Tüb. 2005, Rein kleinen Heften herausgegeben. W.s Lieder gister. – Christa Reich: ›... durch dein Auferstehn fanden in fast alle evang. Gesangbücher Ein- lass uns dein Wort zu Herzen gehn‹. Ein Blick auf gang, so auch in das Babst’sche von 1545, in die Böhm. Brüder u. auf Osterlieder v. M. W. In: dessen Vorrede Luther zu W.s Begräbnislied Arbeitsstelle Gottesdienst 23 (2009), S. 44–54. Klaus Düwel / Red. (EKG 174) sagt: »es gefellet mir sehr wol / vnd hat ein guter Poet gemacht.« Eine im Blick auf die Abendmahlslehre von Horn revidierte Weissegger von Weißeneck, Weissenegg, u. erweiterte Ausgabe erschien 1544. Die Joseph (oder Johann) Maria, auch: Neuvermehrten Kirchengeseng (1566) bieten die berger, * 12.7.1755 Riegersburg bei Graz, umfangreichste Liedsammlung der Böhmi- † 14.3.1817 Freiburg i. Br. – Verfasser schen Brüder. Die große Bedeutung von W.s historischer u. philosophischer Schriften; Liedschaffen, v. a. der Texte in ihrer einfa- Übersetzer. chen, aber kraftvollen Ausdrucksweise, die sich in einem genau bestimmten Kreis theo- W. war Sohn eines Försters. Er besuchte die log. Begriffe u. Anschauungen bewegt, zeigt Jesuitenschule in Graz u. studierte dort Phinoch das EKG (Nrn. 47, 56, 79, 118, 174, 226, losophie (1775 Magister), anschließend Rechtswissenschaften in Wien. Kurzzeitig 333, 334, 2?, 205?). Ausgaben: Wackernagel 3, S. 229–350. – Ein Privatlehrer, unterrichtete W. die Grafen New Geseng buchlen (1531). Nachdr. hg. v. Wil- Pálffy. 1784 erhielt er einen Ruf an die Unihelm Thomas. Kassel 1931. Hg. Konrad Ameln. versität Freiburg i. Br. auf den neu eingerichteten Lehrstuhl für Weltgeschichte. Er Ebd. 1957. Literatur: Bibliografien: Schmidt, Quellenlexi- wurde 1792 in Rechtswissenschaften promokon, Bd. 33, S. 58 f. – Kosch, Bd. 30 (2010), Sp. viert u. lehrte seit 1793 auch Diplomatik, 178–181. – VD 16. – Weitere Titel: Rudolf Wolkan: Heraldik, Altertumskunde u. Numismatik. Das dt. Kirchenlied der Böhm. Brüder im 16. Jh. 1797 wurde er zum Rektor gewählt, 1804 für Prag 1891. Nachdr. Hildesh. 1968. – Ders.: M. W. seine Verdienste geadelt. In: ADB. – Emil Lehmann: M. W. Ausw. aus seinem W.s Gedichtband Versuch in vermischten GeLandskroner Liederbuch v. 1531. Landskron 1922. dichten (Wien 1781; das einzige Exemplar in – Joseph T. Müller: Gesch. der Böhm. Brüder. der Österreichischen Nationalbibliothek) Bd. 2, Herrnhut 1931. – Siegfried Fornaçon: M. W. enthält ausschließlich Huldigungs-, WidIn: Jb. für Schles. Kirche u. Kirchengesch. N. F. 33 (1954), S. 35–44. – Hdb. zum EKG II, 1, 1957, mungs- u. Gelegenheitsgedichte. Diese lyr. S. 81 f.; Sonderbd. 1958; Bd. III, 1, 1970; Bd. III, 2, Versuche setzte er nicht weiter fort. Sein 1990 (jeweils unter den Nrn. des EKG). – Anneka- Drama Louise von Montfort, ein Trauerspiel in thrin Moeseritz: Die Weisen der Böhm. Brüder v. fünf Aufzügen (ebd. 1782) muss als verschollen 1531 [...]. Diss. Bonn 1990. – Klaus Appel: M. W. gelten. W. schrieb außerdem zahlreiche Ar-

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tikel für Leopold Alois Hoffmanns »Wöchentliche Wahrheiten für und über die Prediger in Wien« (1782 ff.); in Ernst Ludwig Posselts »Wissenschaftlichem Magazin für Aufklärung« veröffentlichte er die Skizze einer Geschichte aller österreichischen Erblande (Bd. III/4, 1787/88, S. 335–387). Weitere Werke: Kurzer Leitfaden der Vernunftlehre. Wien 1779. – Beyträge zur Schilderung Wiens. Ebd. 1781/82. – Wohlgemeinter Unterricht für unstudirte Layen. 1. St. v. dem röm. Bischofe oder dem Papste überhaupt. Ebd. 1782. – Ankunft u. Aufenthalt Pius’ III. in Wien: Ein Beytrag für künftige Geschichtsschreiber (Pseud.). Ebd. 1782. – Syrach, oder ein Wort der Wahrheit über die Frage: Haben die Fränk. Directoren oder der Kaiser den Frieden in Dtschld. gehindert? Teutschland 1799. – Histor. Gemälde oder biogr. Schilderungen aller Herrscher u. Prinzen des durchlauchtigsten Erzhauses Habsburg Oestreich, v. Rudolph I., bis Maria Theresia. 5 Bde., Kempten 1800–1803. – Übersetzungen: Anfangsgründe der Philosophie des Herrn v. Alembert. Wien 1784. – Slg.en verschiedener Abh.en über einige vorzügl. Gegenstände der Weltweisheit, aus den Schr.en der besten Philosophen. 2 Bde., ebd. 1784 u. 1792. Matthias Luserke

Weissenbach, Johann Caspar, auch: Damon, * 9.10.1633 Zug, † 12.11.1678 Zug. – Lyriker u. Dramatiker. W. wurde in der Kanzlei des Klosters Einsiedeln u. im Jesuitenkolleg in Solothurn ausgebildet, wo er das Jesuitentheater näher kennen lernte. Er trat dann in den Dienst des Klosters Einsiedeln u. wurde Obervogt in der thurgauischen Vogtei Gachnang. 1668 ließ er sich in Zug nieder. Sein stattl. Vermögen erlaubte es ihm, sich künftig ganz der Dichtung u. dem Theater zu widmen. Dabei führte er die in seiner Heimatstadt von Johannes Mahler begründete Theatertradition fort. Er ist der bedeutendste Dichter der kath. Schweiz im Barockzeitalter. Unter seinem Schäfernamen veröffentlichte W. eine dreiteilige Sammlung religiöser u. zeitkrit. Lieder, Sprüche u. Epigramme DAMONS, Deß Unseligen Hirten einfältige Cither mit Teütschen Seiten gespannet. 2 Tle., Veldkirch 1678. DAMONS Deß unglück-seeligen Hirten lustige Meyen-Pfeiffen. Tl. 3, Zug 1681). Mehrfach

berief er sich hier auf seine Vorbilder Opitz, Spee, Balde, Prokop von Templin, Johann Georg Schoch u. Laurentius von Schnüffis, den er in Zug persönlich kennen gelernt haben dürfte. Das bedeutendste Werk W.s ist sein Eydgnoßsisches CONTRAFETH Auff- unnd Abnemmender Jungfrawen HELVETIAE (Zug 1673. 1701. Luzern 1702). Dieses barocke Gesamtkunstwerk – eine Art eidgenöss. Welttheaters, das deutlich den Einfluss der Luzerner geistl. Spiele u. des Jesuitendramas erkennen lässt – wurde 1672 in Zug von 93 Laienspielern an zwei Spieltagen mit Chor- u. Instrumentalmusik aufgeführt u. umfasst über 200 Rollen. Es ist in schweizerisch gefärbter Mischsprache verfasst, enthält aber auch rein mundartl. Stellen u. ist daher auch ein wichtiges histor. Dokument für die Dialektologie u. Volkskunde. Das Stück führt im ersten Teil den Aufstieg der Eidgenossenschaft bis zu den Burgunderkriegen u. ital. Feldzügen vor. Ein Tell-Spiel ist in die Handlung eingefügt. Der zweite Teil stellt den Niedergang infolge des Abfalls von Gott, der konfessionellen Spaltung, des A-la-mode-Wesens u. des sittl. Verfalls dar. Helvetia wird jedoch von Bruder Klaus (Niklaus von der Flüe) ermahnt u. auf Marias Fürsprache von Christus in Gnaden wieder aufgenommen. Das CONTRAFETH wirkte bis ins 18. Jh. nach u. war auch außerhalb der Schweiz bekannt. – Daneben verfasste W. noch ein geistl. Schäferspiel (Leydt und Frewdige Hirtengedanken. Aufführung u. Ausg. Zug 1675) u. das Passionsspiel Trauwr-Gedancken Einer Christlichen Seelen (Aufführung ebd. 1678. Ausg. ebd. 1679). Ausgabe: Eydgnoßsisches CONTRAFETH. Mit Nachw. hg. v. Hellmut Thomke. Zürich 2007. Literatur: Ludwig Fränkel: J. C. W. In: ADB. – Oskar Eberle: Theatergesch. der inneren Schweiz. Königsb. 1929. – Norbert Tschulik: Zwei Beiträge zum Theater des Barock. [...]. In: Anzeiger der Österr. Akademie der Wiss.en 114 (1977), S. 359–377. Hellmut Thomke

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Weissenborn, Hanns, * 3.7.1932 Hohenmölsen. – Verfasser von Lyrik u. Kurzprosa; Herausgeber. W., der seit 1938 in Wien lebt, war nach der Matura 1950 in verschiedenen kaufmänn. Berufen tätig; 1975 wurde er Werbeberater. Im restaurativ-konservativen Literaturklima der 1950er Jahre war er ein Vertreter der experimentellen Literatur, die kaum Veröffentlichungsmöglichkeiten u. Resonanz fand (vgl. Jenseits der Plakate. In: Continuum [Sammelbd.], Wien 1957). Er gehörte zur »Wiener Dichtergruppe«, die sich in der Redaktion der Zeitschrift »Neue Wege« 1949/50 zusammengefunden hatte u., nach themat. u. formalen Differenzen, in der Gegenzeitschrift »publikationen einer wiener gruppe junger autoren« (1951–53. Hg. Andreas Okopenko) vorrangig surrealistisch beeinflusste Texte (u. a. H. C. Artmann, Konrad Bayer, René Altmann) abdruckte. Ab April 1954 gab W. (zuerst gemeinsam mit Kurt Klinger) die Zeitschrift »alpha« (1954–56, 1959/60 in 13 Heften) als Forum der literar. Avantgarde mit Erstdrucken unbekannter Autoren (u. a. Eugen Gomringer) sowie Dialektgedichten (H. C. Artmann, Gerhard Rühm) heraus. Aufgrund allzu geringer Resonanz (»der Kreis der Autoren erweitert sich rascher als der der Leser«. In: Jg. 3, Nr. 12, S. 1) musste die Zeitschrift eingestellt werden. W., dessen virtuos gehandhabte Lyrik an die surrealistische Tradition anknüpft u. gekennzeichnet ist durch eine präzis gesetzte sinnenhaftige Bild- u. Gedanklichkeit, publizierte in der Folge lediglich in Zeitschriften (z. B. »manuskripte« 1, 1964). Christine Schmidjell

Weißenborn, Theodor, * 22.7.1933 Düsseldorf. – Erzähler, Lyriker, Hörspielautor, Essayist. W., Sohn des akadem. Kunstmalers Karl Weißenborn u. der Kunsterzieherin Antonie Weißenborn, studierte Kunstpädagogik an der Kunstakademie Düsseldorf, Philosophie, Germanistik u. Romanistik an den Universitäten Köln, Bonn, Würzburg u. Lausanne. In Lausanne legte er 1956 das Examen du Degré

Supérieur de Français Moderne ab; dann folgte das Studium der Medizinischen Psychologie u. Psychiatrie in Köln. Seit 1971 ist W. Mitgl. des P.E.N.-Zentrums der Bundesrepublik Deutschland. Er hat den Roman Udo, der Stählerne von Joseph Alois Gleich (Stgt. 1998) ediert. Seine Werke wurden in mehrere Sprachen übersetzt, u. a. ins Englische, Französische, Italienische, Polnische. W. erhielt u. a. den Förderpreis für Literatur der Stadt Köln (1967, 1976), den Hörspielpreis des Ostdeutschen Kulturrats (1969), den GeorgMackensen-Literaturpreis (1971), den Erzählerpreis des Ostdeutschen Kulturrats (1973), den Hörspielpreis Lautsprecher (1990) u. den Publikumspreis der Akademie der Künste Berlin (1990). Es ist wohl kaum möglich, W. auf eine thematisch-stilistische Identifikationslinie festzulegen. Unter zahlreichen, von ihm verwendeten Gattungen schenkt er kurzen Prosaformen u. Hörspielen besondere Aufmerksamkeit. In seinen Werken gibt er dem Glauben an das sozialkrit., ethisch geprägte Literaturkonzept Ausdruck; der literar. Text ist ihm mehr als nur ein Nachweis der formalen Geschicklichkeit des Verfassers. In seinem unorthodoxen Realismus lässt W. gleichermaßen den Geist u. die Polis, die Ebene des Denkens u. die des Handelns, gelten. Ein Jahr nach den Erzählungen Beinahe das Himmelreich (Donauwörth 1963), W.s literar. Debüt, folgte sein Roman Außer Rufweite (Mchn. 1964), in dem ein Student gegen die uniform funktionierende Gesellschaft rebelliert, zgl. seine Lebensvorstellungen für die Realität nimmt, sich über die eigene Identität täuscht u. wahren Existenzsinn in Literatur u. Kunst mit deren emphat. Anspruch zu finden meint. Zu den kurzen Prosaformen kehrt W. im Erzählband Eine unbefleckte Empfängnis (Zürich 1969), einer realitätsnahen Darstellung bewegter Lebensläufe außenseiterischer Prägung vor dem Hintergrund gestörter sozialer Kommunikation, zurück. Ein ganz besonderes Augenmerk verdient W.s Kurzroman Als wie ein Rauch im Wind (Freib. i. Br./Heidelb. 1979), ein Werk über den in finsterer Tonart beschriebenen Zerfall der Persönlichkeit eines sterbenden Mannes, aus dessen Sicht die Gesellschaft auf das Indivi-

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duum lediglich Zwangswirkungen ausübt. In einem kaum zu Ende gehenden Gespräch mit dem Erzähler wird dem Helden jedoch aufgrund seiner eigenen, sich lebenslang kumulierenden falschen Schritte das ihm fehlende Korrelat zur Außenwelt bewusst gemacht. Als eine gewisse, thanatologisch ausgeprägte Vorwegnahme von W.s Epik der 1990er Jahre lassen sich die Erzählungen Zu den Kellergebrüchen (mit Originalgrafiken v. Bert Gerresheim. Düsseld. 1984) sowie die Geschichten Das steinerne Meer (Stgt. 1986) einstufen. Im Umkreis des intensiv erlebten Alterns u. Todes spielt auch die Romantrilogie Zeiten des Abschieds, deren Einzelteile Hieronymus im Gehäus (Bln. 1992), Die Wohltaten des Regens (Halle 1994) u. Der Nu oder Die Einübung der Abwesenheit (Siegen 1999) sind; die zeitaktuelle Wirklichkeit in den krit. Blick nehmend, lassen sie einen modernen Einsiedler, einen Kunsthändler u. Musiker in der sich bald beschaulich, bald wieder komischspielerisch gebenden Hauptrolle agieren. Mit Vorliebe schrieb W. auch grotesk-ironisch profilierte Prosawerke: Die Killer. Satirischer Roman von harten Männern (Köln 1978), eine Parodie der Comic-Literatur, sowie die Erzählung Notizen aus Wildenhayn (mit einem Essay über ein Wort Ludwig Wittgensteins. Weilerswist 2007), eine Satire auf den modernen Büchermarkt. Er ist auch Verfasser erfolgreicher Hörspiele mit psychiatriekrit. Inhalten wie etwa Patienten (WDR 1967) oder E-Schock & Neuroleptika (HR 1977). Weitere Werke: Werke. Hg. Günter Helmes. 6 Bde., Siegen 2002/2003. – Die Stimme des Herrn Gasenzer. Mchn. 1970 (E.n). – Brief einer Unpolitischen. Zweibrücken/Paris 1971 (P.). – Das LiebeHaß-Spiel. 25 Stories. Tüb./Basel 1973. – Krankheit als Protest. Starnberg 1973 (Pathografien). – Der Sprung ins Ungewisse. Stgt. 1975 (E.en). – Heimkehr in die Stille. Heilbr. 1975 (E.en). – Der Wächter des Wales. Gesch.n u. Grotesken. Bln./Weimar 1976. – Sprache als Waffe. Polit. Lesebuch. Hannoversch Münden 1976. – Blaue Bohnen – scharfe Messer. 6 ungewöhnl. Kriminalgesch.n. Reutlingen 1976. – Waisenkindes Herzeleid. Satiren u. Grotesken. Köln 1979. – Das Haus der Hänflinge. Liebesgesch.n. Freib. i. Br./Heidelb. 1980. – Gespenster im Abraum. Gesch.n aus Nordrhein-Westfalen. Husum 1983. – Kopf ab zum Gebet! Satiren, Grotesken, Parodien. Trier 1984. – Das Sein ist das

Weißenthurn Nichts. Traktat. Bln 1984. – Die Paten der Raketen oder Briefe aus der Provinz. Satiren. Trier 1986. – Alchimie. Sprüche u. Wider-Sprüche. Stgt. 1987. – Fegefeuer. Stgt. 1987 (E.en). – Opfer einer Verschwörung. Ausgew. Prosa. Stgt. 1988. – Der Sündenhund. Bad Homburg 1990 (E.en). – Blasphemie. Ärgernisse, Bessernisse. Texte zur Meditation u. Diskussion. Neumünster 1992. – Fragmente der Liebe. Prosa aus fünf Jahrzehnten. Siegen 2000. – Brot für die Seele. Heilsame Gesch.n. Würzb. 2001. – Insel im Strom. Gedichte, Gedanken, Gestalten. Siegen 2001. – Das Verschwinden der Zeit am Nachmittag. Weilerswist 2007 (E.en). – Die Madonna im Steinbruch. Kirchengesch.n, Satiren, Miszellen. Weilerswist 2010. – Hörspiele (Auswahl): Der Wächter des Wals. WDR 1967. – Das Opfer einer Verschwörung. Radio Bremen. 1969. – Brief einer Mutter. SFB 1970. – Der Deutschaufsatz. HR 1971. – Das Haus der Hänflinge. HR 1971. – Thanatos. BR 1977. – Saison in Lausanne. SFB 1980. – Der Tod des Patienten löst alle Probleme. HR 1981. – Zu den Kellergebrüchen. Radio Bremen 1984. – Aus der Tiefe rufe ich. BBC London 1986. – Der Sündenhund. RIAS Berlin 1989. – Die dt. Familie ist wunderbar in Ordnung. WDR 1991. – Fegefeuer. RIAS Berlin 1991. – Mein vertauschtes Gesicht. WDR 1992. – Krankheit als Protest oder Das Wort hat der Patient. WDR 1997. – Pro Ecclesia. NDR 1997. Literatur: Bernd-Wilfried Kiessler: Gespräch mit Th. W. In: SuF 24 (1972), S. 1042–1048. – Birgit Lermen: Das traditionelle u. neue Hörsp. im Deutschunterricht. Paderb. 1975, S. 272–291 (zu ‹Gesang zu zweien‹). – Paul Konrad Kurz: Über moderne Lit. Bd. 6. Ffm. 1979, S.128–133. – Wilhelm Große: T. W. In: KLG. – Friedhelm Munzel: Lit. als Katharsis. Religionspädagog. Hinführung (Nachw.). In: Th. W.: Der Kaiser hat einen Vogel. Mchn. 1992, S. 101–122. – Thomas Kraft: T. W. In: LGL. Zygmunt Mielczarek

Weißenthurn, Johanna von, auch: J. Franul von W., geb. Grünberg, * 16.2. 1772 Koblenz, † 17.5.1847 Wien. – Schauspielerin, Dramatikerin. Als Tochter eines Wanderschauspielers war W. von Kindheit an mit dem Theater vertraut. Nach dem Tod des Vaters spielte sie in der von ihrem Stiefvater Andreas Teichmann gegründeten Kinderwandertruppe, bis sie 1787 ans Münchner Hoftheater engagiert wurde. Sie verließ München bald wieder; nach einem kurzen Aufenthalt in Baden bei Wien erhielt

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sie ein Engagement am Wiener Burgtheater, len‹. J. F. v. W. u. das Lustsp. um 1800. In: Das wo sie 1789–1842 spielte. W. schrieb über 60 Unterhaltungsstück um 1800. Hg. Johannes BirgDramen, die fast alle am Burgtheater aufge- feld u. Claude D. Conter. Hann. 2007. Ulrike Pichler / Red. führt wurden. Sie gehörte neben Charlotte Birch-Pfeiffer u. Karoline Pichler zu den erfolgreichsten Bühnenschriftstellerinnen der Weisser, Friedrich Christoph, * 7.3.1761 Zeit. Mit dem Lustspiel Das Manuskript (in: Stuttgart, † 9.1.1836 Stuttgart. – SatiriNeueste Schauspiele 5) verteidigte W. die literar. ker, Erzähler, Lyriker, Essayist. Betätigung der Frau, ohne jedoch ge- Der Sohn eines Buchbindermeisters verlebte schlechtsspezif. Rollenzuweisungen generell seine Schulzeit bei einem Stuttgarter Verin Frage zu stellen. wandten, der W. gegen dessen Willen nicht Die meisten Lustspiele W.s stehen in der dem Theologen-, sondern dem SchreiberTradition der Comédie larmoyante, wie auch stand zuführte. Anfangs Steuereinnehmer, in ihren Schauspielen die Rührung zum stieg W. in Stuttgart zum Oberfinanzrat im Zweck des Theaters wird, bes. in Familien- Steuerkollegium (1819–1826) auf. stücken wie Versöhnung (in: Schauspiele 5). W. Im Stuttgarter Kreis um den Bildhauer Jobearbeitete auch histor. Stoffe (Johann, Herzog hann Heinrich Dannecker, dem auch W.s von Finnland u. Herrmann. In: Neue Schauspiele 1 Freunde Friedrich Haug u. Karl Philipp Conz u. 2); ihr Schauspiel Der Wald bei Herrmann- angehörten, fand W. Anregung zu schriftstadt (in: Schauspiele 5) trägt märchenhafte stellerischer Tätigkeit. Seinen ersten, in Züge. Stäudlins »Schwäbischem Musenalmanach« W.s Dramen zeigen Einflüsse aus Ifflands seit 1782 veröffentlichten Epigrammen folgu. Kotzebues Rührstücken, doch wurzeln sie ten zahlreiche, in verschiedenen Almanachen mit dem Anspruch, durch das Theater eine veröffentlichte Verse sowie erste Prosaschrifmoralische Besserung herbeizuführen, im ten in der Tübinger Monatsschrift »Flora« Aufklärungsdenken des 18. Jh. (1791–93). Mit Buchausgaben seiner Werke Ausgaben: Schauspiele. 6 Bde., Wien 1810. – trat W. seit 1804 hervor. Sie umfassen EpiNeue Schauspiele. 2 Bde., ebd. 1817. – Neueste gramme, Romanzen im Bänkelsängerton, Schauspiele. 2 Bde., Bln. 1821/22 u. 5 Bde., Wien Parodien, gesellige Lieder u. lyr. Gedichte, 1826–48. Satiren, Erzählungen, Anekdoten, Märchen, Literatur: Carl Wilhelm Schindel: Die dt. Aphorismen, Rezensionen u. Essays. ZusamSchriftstellerinnen. Lpz. 1825. – Franz Peschel: Die men mit Haug gab W. eine Epigrammatische Theaterdichtungen der Frau J. F. v. W. Diss. Wien Anthologie (10 Bde., Zürich 1807–1809) her1913. – Jean du Toit: J. F. v. W. Diss. Gött. 1924. – Goedeke 11,2, S. 91 ff. – Renate Wagner: Heimat aus. Mit der Bearbeitung von Grimmelshaubist du großer Töchter. Wien 1996, S. 48–52. – sens Barockroman u. d. T. Schalkheit und EinHiltrud Gnüg u. Renate Möhrmann (Hg.): Frauen falt oder der Simplicissimus des siebzehnten JahrLit. Gesch. Stgt./Weimar 21999. – Elin Nesje Vestli: hunderts im Gewande des neunzehnten (2 Bde. u. Das Lustsp. des 18. u. des frühen 19. Jh. als Spiel- ein fingierter Bd., Bln. 1822) wurde W. dem raum weibl. Auflehnung. In: Aus dem Schatten großen Vorbild nicht gerecht. Die Nachertreten. Hg. Kurt Erich Schöndorf. Ffm. u. a. 2000, zählung von Tausendundeiner Nacht, MährS. 27–43. – Ewa Jurczyk: Zum Problem der weibl. chen der Scheherezade (6 Bde., Lpz. 1809–12), Identität in ausgew. Dramen v. J. F. v. W. In: Eingelang um so besser. W., der sein Leben lang . heit versus Vielheit. Hg. Grazyna Barbara SzewKlopstock u. Wieland für die größten dt. czyk. Katowice 2002, S. 9–19. – Dies.: Die Frau auf der Suche nach der neuen Identität. Zur Frauenfi- Dichter hielt, an klassizistischen Formen gur im dramat. Schaffen v. J. F. v. W. u. Charlotte festhielt u. gegen die Romantiker heftig zu Birch-Pfeiffer. Katowice 2005. – Sabine v. Mering: Felde zog, starb als Vertreter einer überlebten J. F. v. W. In: Lexikon deutschsprachiger Epik u. literar. Richtung. In Vergessenheit gerieten so Dramatik v. Autorinnen (1730–1900). Hg. Gudrun auch seine Verdienste um die deutschspraLoster-Schneider u. Gaby Pailer. Tüb./Basel 2006, chige Literatur in Württemberg. S. 142–144. – E. N. Vestli: ›Nun schrieb ich u. schrieb glücklich – das heißt meine Stücke gefie-

265 Ausgaben: Sinngedichte. 2 Bde., Zürich 1805. – Scherz- u. ernsthafte Miscellen. Lpz. 1808. – Satyr. Bl. 2 Tle., ebd. 1813. – Mährchen, Erzählungen u. Anecdoten. Ffm. 1816. – Sämmtl. prosaische Werke. 6 Bde., Stgt./Tüb. 1818–20. – Neueste poet. u. prosaische Werke. 3 Bde., Lpz. 1820–22. Nachdr. Brünn 1820–22. – Neue Slg. auserlesener prosaischer Schr.en. 3 Bde., Augsb./Lpz. 1827. Literatur: Goedeke 5,2, S. 548; 7, S. 277. – Hermann Fischer: Beiträge zur Litteraturgesch. Schwabens. Tüb. 1891, S. 52–61. – Max Mendheim: F. C. W. In: ADB. – Julius Hartmann: Schillers Jugendfreunde. Stgt./Bln. 1904, S. 219 f. – Herbert Meyer: F. C. W. In: Schwäb. Lebensbilder. Bd. 1, Stgt. 1940, S. 553–556. – Kerner – Uhland – Mörike. Schwäb. Dichtung im 19. Jh. Marbach 1980 (= Marbacher Kat. 34. Hg. Bernhard Zeller). – B. Zeller u. Walter Scheffler (Hg.): Lit. im dt. Südwesten. Stgt. 1987. – Christoph Martin Vogtherr (Hg.): Friedrich Wilhelm II. u. die Künste (Ausstellungskat.). Bln. 1997. Ina Ulrike Paul / Red.

Weissglas, (James) Immanuel, * 14.3.1920 Czernowitz, † 28.5.1979 Bukarest. – Lyriker, Übersetzer. Wie Paul Celan, Rose Ausländer, Alfred Kittner gehörte W. zur (niemals fest organisierten) Gruppe jüdisch-dt. Dichter im damals noch rumän. Czernowitz. In einem bildungsbürgerl. Haus aufgewachsen, hat er sich früh der Literatur verschrieben. Erste Gedichte u. Nachdichtungen entstanden häufig in einem wohl nie ganz offenen Wettstreit mit dem Klassenkameraden Paul Antschel (d. i. Celan), der diese frühe Beziehung möglicherweise nach späteren Zerwürfnissen zu verschleiern suchte. Der angesehene rumän. Dichter Tudor Arghezi öffnete W. den Zugang zu rumänisch- u. deutschsprachigen literar. Zeitschriften. Unter der dt. Besatzung wurde W. mit seinen Eltern nach Transnistrien verschleppt; die Familie überlebte Seuchen u. Zwangsarbeit im Steinbruch am Bug (auf den dann der Titel des ersten Gedichtbands verwies). In der Deportation schrieb W. Gedichte über diese »uns alle verzehrenden Tage« in dt. Sprache. Nach der Befreiung durch die Rote Armee arbeitete er als Sanitäter u. verkehrte wie Celan im Haus Rose Ausländers. Wie andere Überlebende des Vorkriegs-

Weissglas

Czernowitz suchte er nach Möglichkeiten, den Leiden des Kriegs, der Deportation u. der Vernichtungslager poetischen Ausdruck zu geben. Vor der sowjetischen Besatzung floh er 1945 nach Bukarest. Die erste Gedichtsammlung, Gottes Mühlen in Berlin (1947), blieb unveröffentlicht; nur wenige Texte daraus wurden noch im selben Jahr in den Band Kariera am Bug (Bukarest) aufgenommen. Das bedeutendste Gedicht, Er (entstanden 1944), strich W. kurz vor Veröffentlichung, wohl aus Rücksicht auf Celan; es erschien erst 1970 in der Zeitschrift »Neue Literatur«. Die Nähe zu Celans später geschriebener Todesfuge löste 1972 eine Plagiatsdebatte aus, gegen die W. selbst mit dem Hinweis auf die literar. Eigenständigkeit u. Überlegenheit des Celan’schen Gedichts protestierte. Unter der kommunistischen Diktatur zog W. sich weitgehend in die Übersetzertätigkeit zurück; unter anderem übertrug er beide Teile von Goethes Faust ins Rumänische u. Texte rumän. Lyriker wie Eminescu u. Alecsandri ins Deutsche. Nach wenigen Veröffentlichungen eigener Gedichte in Zeitschriften u. Anthologien erschien erst 1972 sein zweiter Gedichtband, Der Nobiskrug (Bukarest), für den er mit dem Preis des rumän. Schriftstellerverbands ausgezeichnet wurde. Nach langer Krankheit starb W. über den Vorarbeiten zu einer dritten Gedichtsammlung. Während W. bisher überwiegend in seinem Verhältnis zur Dichtung Celans betrachtet worden ist, gilt noch immer die von Leonard Forster erhobene Forderung, sein formstrenges, in der Verbindung von Traditionalität u. hermet. Moderne suggestives u. in seiner tapferen Humanität exemplarisches Werk auch um seiner selbst willen zu lesen. Weitere Werke: Welch Wort in die Kälte gerufen. Hg. Heinz Seydel. Bln. 1968 (L.). – Aschenzeit. Ges. Gedichte. Nachw. v. Theo Buck. Aachen 1994. Literatur: Heinrich Stiehler: Die Zeit der Todesfuge. In: Akzente 19 (1972), S. 11–40. – Leonard Forster: ›Todesfuge‹. Paul Celan, I. W. and the Psalmist. In: GLL 39 (1985), S. 1–20. – Heinz Stanescu: Der Dichter des ›Nobiskruges‹, I. W. In: ebd., S. 21–64 (mit Bibliogr.). – Hartmut Merkt: Poesie in der Isolation. Deutschsprachige jüd. Dichter in Enklave u. Exil am Beispiel v. Bukowiner

Weissmann Autoren seit dem 19. Jh. Zu Gedichten v. Rose Ausländer, Paul Celan u. I. W. Wiesb. 1999. – Erich Rückleben: Der Lyriker I. W. Leben nach dem Holocaust – Leiden an Dtschld. In: Fliegende Lit.Blätter (2001), H. 3, S. 88–92. – Andrei CorbeaHois¸ie (Hg.): Stundenwechsel. Neue Perspektiven zu Alfred Margul-Sperber, Rose Ausländer, Paul Celan u. I. W. Bukarest u. a. 2002. Heinrich Detering / Red.

Weissmann, Maria Luise, auch: M. Wels, * 20.8.1899 Schweinfurt, † 7.11.1929 München; Grabstätte: ebd., Waldfriedhof. – Lyrikerin, Erzählerin, Essayistin. Die Tochter eines Gymnasialprofessors trat 1918 mit ersten literar. Arbeiten, vornehmlich im »Fränkischen Kurier«, an die Öffentlichkeit. Sie war Sekretärin des Nürnberger »Literarischen Bundes« u. Mitarbeiterin des Verlags Oskar Schloss in München. Im Juni 1922 heiratete sie den Verleger Heinrich F. S. Bachmair, mit dem sie in Pasing bei München, Dresden u. München lebte. Eine erste Sammlung ihrer Gedichte aus den Jahren 1918–1920 erschien u. d. T. Das frühe Fest (Pasing 1922), in der W. – charakteristisch für ihr gesamtes dichterisches Schaffen – im Geist Rilkes u. Hofmannsthals voller subtiler Bildhaftigkeit die Spannung zwischen endl. menschl. Existenz u. ewigem vollkommenen Dasein gestaltet. Es folgten der lyr. Zyklus Robinson (ebd. 1924) sowie Mit einer kleinen Sammlung von Kakteen (Hbg./ Mchn. 1926; 6 Sonette) als bibliophiler Privatdruck. Darüber hinaus veröffentlichte W. Nachdichtungen (Paul Verlaine: Les Amies/ Freundinnen. Midillü, recte Mchn. 1927. Pierre Louy¨s: Mytilenische Elegien. Mchn. 1931. Blaise Cendrars). Ihre Erzählprosa u. essayistischen Texte erschienen in Gesammelte Dichtungen (Pasing 1932). Weitere Werke: Imago. Ausgew. Gedichte. Starnberg 1946. – Gartennovelle. Söcking 1949 (unvollendet). – ›Ich wünsche zu sein, was mich entflammt‹. Ges. Werke. Hg. Hartmut Vollmer. Bln. 2004. Literatur: M. L. W. Hg. Heinrich F. S. Bachmair. Pasing 1932 (mit Bibliogr.). – Jürgen Serke: Frauen schreiben. Hbg. 1979, S. 38–40. – Hansjörg Vies: Der Verleger Heinrich F. S. Bachmair. Bln. 1989. – Monika Dimpfl: ›Ich bin ein einsamer

266 Mensch u. ein Heide ...‹. Die Dichterin M. L. W. Mchn. 1991. – Dies.: Mit offener Seele. Die Dichterin M. L. W. (1899–1929). In: Schönere Heimat 94 (2005), 4, S. 266–269. Hartmut Vollmer / Red.

Weitbrecht, Carl, Karl, (Theodor), auch: Gerhard Sigfrid, * 8.12.1847 Neuhengstett bei Calw/Württemberg, † 10.6.1904 Stuttgart. – Lyriker, Erzähler, Dramatiker, Literarhistoriker. W., Sohn eines Pfarrers, studierte seit 1865 in Tübingen Theologie u. war anschließend an verschiedenen Orten als Vikar tätig, bis er 1874 in Schwaigern bei Heilbronn Diakon wurde. Hier übernahm er gleichzeitig für zehn Jahre die Redaktion des »Neuen deutschen Familienblatts«. Seit 1886 führte er als Rektor die höhere Töchterschule u. das Lehrerinnenseminar in Zürich-Hottingen. 1893 erhielt er einen Ruf als Professor für Literatur, Ästhetik u. Rhetorik an die TH Stuttgart, deren Rektorat er nach 1902 innehatte. Als Schriftsteller debütierte W. mit nationaler Lyrik (Lieder von einem, der nicht mit darf. Stgt. 1870. Liederbuch. Ebd. 1875. 3. Aufl. u. d. T. Gedichte. 1880), verfasste mit seinem Bruder Richard Geschichta-n aus-m Schwobaland (ebd. 1877), gab mit Eduard Paulus ein Schwäbisches Dichterbuch (ebd. 1883) heraus, schrieb mehrere Novellen (Verirrte Leute. Ebd. 1882. Heimkehr. Ebd. 1886) u. Geschichten (Geschichtenbuch. Ebd. 1884. Schwobagschichta. Zus. mit Richard Weitbrecht. 3 Slg.en, ebd. 1898) sowie die Trauerspiele Sigrun (ebd. 1895) u. Schwarmgeister (ebd. 1900). Neben zwei Büchern über Schiller (Schiller in seinen Dramen. Ebd. 1897. 21907. Schiller und die deutsche Gegenwart. Ebd. 1900) verfasste W. auch Das deutsche Drama. Grundzüge seiner Ästhetik (Bln. 1899) u. eine Deutsche Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts (2 Bde., Lpz. 1901). Weitere Werke: Sonnenwende. Neue Dichtungen. Stgt. 1890. – Ges. Gedichte. Ebd. 1903. Literatur: Otto Güntter: K. W. In: BJ 9 (1906) S. 274–279. – Alexander Reck: C. W. In: IGL. Günter Häntzschel / Red.

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Weitenauer, Ignaz Frhr. von, * 1.11.1709 Ingolstadt, † 4.2.1783 Salmansweiler (heute: Salem). – Lehrer u. Dramendichter.

Weitling gies. Sprache in Dtschld.? In: Ex oriente lux. FS Eberhard Gärtner. Hg. Sybille Große u. Axel Schönberger. Ffm. 2002, S. 257–275. Hans Pörnbacher / Red.

W. war Jesuit u. entscheidende Jahre (1754–1773) Professor für Griechisch u. He- Weitling, Wilhelm (Christian), auch: * 5.10.1808 Magdeburg, bräisch an der Universität Innsbruck; wäh- Freimann, rend dieser Zeit gab er wichtige theolog. † 25.1.1871 New York. – Sozialistischer Werke heraus, z. B. ein Bibellexikon, ein Theoretiker, Publizist u. Lyriker. hebräisch-chaldäisch-syrisches Lexikon u. Der Sohn eines im Russlandfeldzug 1812 Kommentare zur Hl. Schrift. Er war ein verschollenen frz. Offiziers u. einer aus Gera Sprachgenie u. wollte mit seiner Methode, stammenden Köchin wuchs nach eigener dargelegt in Hexaglotton geminum (2 Bde., Aussage als Halbwaise bei fremden Leuten Augsb./Freib. i. Br. 1762. Weitere Auflagen »im bittersten Elend« auf u. erlernte nach 1772 u. 1776), auch anderen fremde Sprachen dem Besuch der mittleren Bürgerschule in leicht erschließen. Ein Standardwerk der Magdeburg das Schneiderhandwerk. Seine Homiletik wurden die Subsidia eloquentiae Wanderjahre als Geselle führten W. über sacrae (19 Bde., Augsb. 1764–69). W. förderte Hamburg, Leipzig, Dresden, Prag u. Wien die dt. Sprache an den Jesuitenschulen in nach Paris, wo er 1835 dem Bund der GeSüddeutschland (Zweifel von der deutschen ächteten beitrat. 1837 wandte er sich von Sprache. Freib. i. Br. 1764) u. öffnete den Un- dieser streng hierarchisch gegliederten Geterricht der zeitgenöss. Dichtung des protes- heimorganisation ab u. schloss sich dem 1836 tantischen Nordens (Sammlung kürzerer Ge- gegründeten Bund der Gerechten an, dessen dichte, meistens aus neuen deutschen Dichtern. 2 Zielsetzungen er schon bald entscheidend Bde., Augsb. 1768/69). Er verfasste Ge- mitprägte. 1841–1843 versuchte W. zusamschichtswerke zur oberdt. Ordensprovinz, men mit August Becker die in der Schweiz übersetzte aus dem Französischen u. veröf- bestehenden Arbeitervereine auf das Profentlichte 1778 eigene Übersetzungen von AT gramm des Bundes der Gerechten zu veru. NT. Für das Schultheater schrieb er Sing- pflichten u. neue Anhänger zu gewinnen. spiele u. Dramen. Nach Aufhebung des Or- 1843 wurde er in Zürich verhaftet, zu einer dens lebte W. als Bibliothekar in Salmans- mehrmonatigen Gefängnisstrafe verurteilt u. anschließend aus der Schweiz verbannt. weiler. Nach dem gescheiterten Versuch der preuß. Weitere Werke: Miscella litterarum. Augsb./ Freib. i. Br. 1752. – Carmina selecta. Bd. 1: Heroica. Regierung, ihn nach Nordamerika abzuBd. 2: Lyrica. Freib. i. Br. 1757. – Tragoediae Au- schieben, ging W. nach London u. setzte seine tumnales. Augsb. 1758 (Annibal Moriens, Arminii agitatorische Tätigkeit im dortigen Bund der Corona, Mors Ulyssis, Jonathan Machabaeus, De- Gerechten fort. 1846 traf er in Brüssel mit metrius Philippi, Ego Comoedia). – Theatrum Karl Marx u. Friedrich Engels zusammen, Parthenium, seu Dramata Mariana. Augsb./Freib. i. überwarf sich jedoch mit ihnen u. wanderte Br. 1759. – Hundert Berge in hundert Sinnbildern anschließend in die USA aus. Nach der des [...] Erzhauses Österreich, mit 20 Sprachen Märzrevolution 1848 kehrte W. vorübergeausgezieret. Freib. i. Br. 1765. – Bayer. Bibl. 3 hend nach Europa zurück, wurde aus Preu(1990), S. 382–384. ßen u. Hamburg ausgewiesen u. ließ sich Literatur: Backer/Sommervogel 8. – Bernhard daraufhin in New York nieder. Als in der Duhr: Gesch. der Jesuiten [...]. Bd. 4,2, Mchn./ReFolgezeit seine Experimente, die Siedlung gensb. 1928, S. 21 f., 84, 120–122. – Edith Kellner: I. W.s Ars Poetica u. Tragoediae Autumnales. Diss. Communia in Iowa u. eine an den Ideen RoInnsbr. 1958. – Jean-Marie Valentin: Le Théâtre des bert Owens orientierte GewerbeaustauschJésuites [...]. Tl. 2, Stgt. 1984. – Christoph Schmitt: bank, scheiterten, wandte er sich 1855 von I. W. In: Bautz. – Rolf Kemmler: Das ›Hexaglotton‹ der Politik ab. Die letzten Jahre seines Lebens (1762) v. I. W.: die erste Beschreibung der portu- arbeitete W. für das New Yorker Einwande-

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rungsbüro u. trieb astronomische Privatstu- sums. Eine frühsozialist. Weltanschauung. Nebst dien. Resigniert starb er mit 62 Jahren u. ließ Anhängen. Hg. ders. Ebd. 1931. – Theorie des Weltsystems. Hg. ders. Ebd. 1931. – Der bewegenseine Familie in großer Armut zurück. In seiner ersten bedeutenden Schrift, die de Urstoff in seinen kosmo-elektro-magnet. Wirkungen. Ein Bild des Weltalls v. W. W. Hg. ders. 1839 in einer vom Bund der Gerechten fiEbd. 1931. – W. W. (Hg.): Der Urwähler. Organ des nanzierten Auflage von 2000 Exemplaren auf Befreiungsbundes. Bln. 1848. billigem Löschpapier u. d. T. Die Menschheit, Literatur: Ernst Barnikol: W. der Gefangene u. wie sie ist, und wie sie sein sollte anonym u. ohne seine ›Gerechtigkeit‹. Eine krit. Untersuchung über Ortsangabe in Paris erschien, entwickelte W. Werk u. Wesen des frühsozialist. Messias. Kiel in zehn Geboten ein von urchristlichen u. 1929. – Karl Mielcke: Dt. Frühsozialismus. Gesellneobabouvistischen Vorstellungen beein- sch. u. Gesch. in den Schr.en v. W. u. Hess. Stgt. flusstes Programm zur »gleichen Verteilung 1931. – Waltraud Seidel-Höppner: W. W. – der der Lebensgüter«, der »Arbeit« u. zur »Ver- erste dt. Theoretiker u. Agitator des Kommuniseinigung der ganzen Menschheit«. Auch in mus. Bln. 1961. – Wolfram v. Moritz: W. W. ReliW.s theoret. Hauptwerk Garantien der Harmo- giöse Problematik u. literar. Form. Ffm./Bern 1981. – Lothar Knatz: Utopie u. Wiss. im frühen dt. Sonie und Freiheit (Vivis u. Vevey 1842) wird die zialismus. Theoriebildung u. Wissenschaftsbegriff Beseitigung sozialer Ungleichheit durch eine bei W. W. Ffm. u. a. 1984. – Fabio Bazzani: W. e kommunistische Lebens- u. Gütergemein- Stirner: filosofia e storia (1838–45). Mailand 1985. schaft postuliert. Gleichzeitig beschrieb W. – Jürgen Haefelin: W. W. Biogr. u. Theorie. Der den Verlauf menschl. Geschichte als einen Zürcher Kommunistenprozeß v. 1843. Bern u. a. vom Privateigentum bestimmten Prozess 1986. – W. W., ein dt. Arbeiterkommunist. Matezwischen den Polen urspr. u. zukünftiger rialien der internat. Arbeitstagung W. W., Gesch. – paradiesischer Egalität. Die Schrift Das Evan- Theorie – Perspektive vom 27.-29.9.1988 in Hamgelium der armen Sünder (u. d. T. Das Evangelium burg. Hg. L. Knatz. Hbg. 1989. – Hans-Arthur eines armen Sünders. Bern 1845), die er 1843 zu Marsiske: Eine Republik der Arbeiter ist möglich. Der Beitr. W. W.s zur Arbeiterbewegung in den Papier brachte u. deren Einladung zur Sub- Vereinigten Staaten v. Amerika 1846–1856. Hbg. skription seine Verhaftung provozierte, ver- 1990. – William Rollins: Heine and W. The critique sucht anhand von mehr als 100 Bibelstellen of the anvantgarde in the ›Geständnisse‹. In: Heineeine Ähnlichkeit von urchristl. u. kommu- Jb. 32 (1993), S. 94–126. – Martin Hüttner: Für nistischen Anschauungen zu belegen. Stärker soziale Gerechtigkeit. Vorboten der Wende. Ausals die sozialkrit. Gedichte von Herwegh, gewählte Problematik des 19. Jh. (W. W.) u. des 20. Pfau, Prutz oder Weerth bleibt seine Lyrik, Jh. (freie Gewerkschaften). Bln. 1994. – Walter die u. d. T. Kerkerpoesien (Hbg. 1844) u. in Grab: Heine u. die kommunist. Volkstribunen Jan verschiedenen zeitgenöss. Sammlungen er- v. Leyden u. W. W. In: Ich Narr des Glücks. Ausstellungskat. Hg. Joseph A. Kruse. Stgt. 1997, schien, der Tradition des polit. HandwerkerS. 67–71. – Joël Lefebvre: Le XVIe siècle dans le lieds verbunden. Bedeutende publizistische ›Vormärz‹. Le communisme chréstien de W. W. In: Unternehmungen W.s waren die vier Hefte Etudes allemandes 3 (2007), S. 167–179. seiner 1841 in Genf u. Bern publizierten York-Gothart Mix Monatsschrift »Der Hülferuf der deutschen Jugend« (Fortführung 1842/43 in Bern, Vevey u. Langenthal u. d. T. »Die junge Generati- Weitz, Johannes, * Sept. 1576 Hohenkiron«) u. das in New York 1850–1855 anfäng- chen/Thüringen, † 24. 4. 1642 (1645?) lich in einer Auflage von 4000 Exemplaren Gotha. – Gymnasialrektor, Philologe, verbreitete Organ »Die Republik der Arbei- Dichter. ter«. W. studierte 1597–1599 in Jena u. wirkte seit Weitere Werke: Ein Nothruf an die Männer der Arbeit u. der Sorge. New York 1847. – Der Kate- 1602 als Lehrer am Gymnasium in Gotha; chismus der Arbeiter. Ebd. 1854. – Gerechtigkeit. spätestens in diesem Jahr wurde er, vielleicht Ein Studium in 500 Tagen. Bilder der Wirklichkeit in Jena, zum Dichter gekrönt. Er rückte seit u. Betrachtungen des Gefangenen. Hg. Ernst 1609 in das Amt des Konrektors auf u. hatte Barnikol. Kiel 1929. – Klassifikation des Univer- 1631–1641 das Rektorenamt inne. In diesem

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Jahr führte Herzog Ernst der Fromme eine Schulvisitation durch, in deren Rahmen er W. bei vollen Bezügen pensionierte u. durch Andreas Reyher ersetzte. Ein gleichnamiger Sohn W.s wirkte 1629 als Pastor in Goldbach/ Thüringen. Statt als umsichtiger Rektor scheint W. sich vornehmlich als umtriebiger Philologe späthumanistischer Prägung hervorgetan zu haben. Bereits 1606 erschienen seine Collectanea in Ovidii libros Tristium et de Ponto (Erfurt); 1610 kommentierte er die Komödien des Terenz (Commentarius in Comoedias VI. Terentii. Lpz. 1610), parallel edierte er die spätantiken Autoren Dracontius (Hexaemeron. Ffm. 1610, mit Vorrede von Melchior Goldast), Prudentius (Opera. Hanau 1613) u. Severus Sanctus Endelechus (Carmen bucolicum de mortibus boum. Ffm. 1612). Letzteres Werk widmete W. dem frz. Diplomaten Jacques Bongars, einem Studiengefährten aus Jena, mit dem er ausweislich der Vorrede in regem (?) Kontakt stand. Diese Ausgaben u. zum Teil sehr umfangreichen Kommentare zeichnen sich, wie auch die späteren zur zweiten Epode des Horaz (De laudibus vitae rusticae Commentarius in secundam Horatii Odam, è libro Epodon. Ffm. 1625) oder der Vergil zugeschriebenen Copa (P. Virgilii Maronis Copa, cum Commentariolo. Ffm. 1642), durch große philolog. Akribie u. eine kaum zu überblickende Fülle an sprachl. u. sachl. Erläuterungen aus der lat. Literatur aus Antike, MA u. Neuzeit aus. Zugleich weisen Widmungsgedichte sowie einzelne Briefe die weiträumigen Kontakte auf, die W. nicht nur zur thüring. Ehrbarkeit, sondern z.B. auch zum sächs., Nürnberger u. Augsburger Gelehrten- u. Bürgerstand unterhielt. In diesen Kontext gehört auch eine frühe Dichtung W.s, die in mehr als sechshundert Hexametern abgefasste lobende Vita des Jenaer Professors Nicolaus Reusner, die in einen Sammelband zum Tod Reusners (Parentalia facta Viro Magnifico, Nobilißimo et Consultißimo D[octori] Nicolao Revsnero. Jena 1603) aufgenommen wurde. Auch zu dem berühmten Altdorfer Juristen C. Rittershausen unterhielt W. Kontakte, wie sowohl eine kleine Sammlung Phaleuci votivi (o. O. 1612) belegt, die er als Neujahrsgruß 1612 an Rittershausen schickte, als auch der Umstand, dass W. sei-

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nerseits Anmerkungen zum postumen Salvianus Massiliensis-Kommentar des Altdorfers beisteuerte (S. Presbyterorum Salviani Massiliensis Opera; Cum Libro Commentario Conradi Rittershusii, Ac Notis integris Johannis Weitzii, Tobiae Adami, Theodori Sitzmanni, Johannis Alexandri Brassicani, Stephani Baluzii. Bremen 1688). Schließlich gab es durch Briefe, Gelegenheitsu. Widmungsgedichte einen steten Austausch mit Schlesiern wie M. Opitz oder C. Colerus. Als spätes (oder postumes?) Werk stellte W. unter dem Titel Heortologium, sive hymni festivales (Ffm. 1643. Lpz. 21666) eine Sammlung von christl. Hymnen, Oden aber auch Epigrammen aus der Spätantike u. seiner Gegenwart, nach Festtagen geordnet, zusammen. Die von W. in seiner Vorrede an den sächs. Kanzler G. Frantzkius beschworene Verknüpfung von »pietas« u. »erudita Philologia« exemplifiziert er an Autoren von Ambrosius u. Sedulius bis zu Schede Melissus, der mit vier Gedichten aus den Meletemata allein den Part der zeitgenöss. Poeten bestreitet. Dazu gibt W. ausführl. Erläuterungen zu Struktur u. Bestandteilen der Hymnen u. steuert teils eigene sprachl. u. inhaltl. Kommentare, teils die anderer (Cornerus, Pfladerus) bei. Unter den diversen Werken, Reden u. Kompilationen, die W. im Rahmen seiner Tätigkeit am Gothaer Gymnasium verfasste, verdienen die Feriae cereales (Schleusingen 1636. Altdorf 21662) Beachtung, in denen W. alles, was mit den Sommerferien zusammenhägt (Heu, Ernte, Hundsstern, Fliegen, Zikaden) unter Heranziehung der Hl. Schrift, antiker, spätantiker u. patristischer, teilweise auch volkssprachl. Literatur ausführlich erläutert u. teils symbolisch ausdeutet. Inhaltlich ähnelt ihm ein poetisches Werk W.s, eine kurze Beschreibung u. Deutung der Schwalbe (Alauda; succincte descripta. Coburg 1621). Weitere Werke: Oratio de Contemnendis Sycophantarum Arrosionibus. Jena 1599. – Oratio de Poetis Legendis. Erfurt 1602. – Notae et animadversiones ad P. Terentii Adelphos. Jena 1607 [online zugänglich: BSB München]. – Oratio de provocatione ad supremum Dei, immortalis et incorrupti iudicis, tribunal. Erfurt 1615. – Semiramidis Babyloniorum Reginae, Vita et res gestae; observationibus Philologicis illustratae. Ubi breviter

Weitzel Monarchiae Chaldaicae initia paullo altius repetuntur. Schleusingen 1618. – Oratio M. Johannis Weitzii de dilatione fugiendae super versum Ovidii Qui non est hodie cras minus aptus erit; habita Gothae 1619 d[ie] 13 Aprilis (gedr. Arnstadt 1662). – Epaminondas Thebanus, Omnium Græciæ Ducum Præstantissimus; in Sleidani explicatione ex variis auctorum illustrium monumentis descriptis, et observationibus Historicis ac Philologicis illustratus, Inque Gymnasio Gothano exhibitus. Jena 1621. – Ad Theocriti Syracusani Idyllion XVI. quod inscribitur Charites, Notae. Coburg 1624. – D. Hilarii Episcopi Pictaviensis, Genesis. Cum Notis. Ffm. 1625. – Collectanea, observationes et notae in Valerium Flaccum. Lpz. 1630. – Briefe: Estermann/ Bürger, Tl. 1, Sp. 1270 f.; Tl. 2, Sp. 1437. – Briefe (bes. an F. Hortleder) u. Hs. verzeichnet bei Nilüfer Krüger: Supellex Epistolica Uffenbachii et Wolfiorum. Kat. der Uffenbach-Wolfschen Briefsammlung. Hbg. 1979 , Tl./Bd. 2, S. 1087, 1473 f. Literatur: Bibliografie: VD 17. – Weitere Werke: Jöcher 4, Sp. 1878. – Zedler 54, S. 1480 f. – Fr. Waas: Die Generalvisitation Ernsts des Frommen im Herzogtum Sachsen-Gotha 1641–1645 (Forts.). In: Ztschr. des Vereins für Thüringische Gesch. u. Altertumskunde, N. F. 20 (1911), S. 81–130, hier S. 108–111. – Flood, Poets Laureate, Bd. 4, S. 2220–2223. – Conermann (Hg.): Martin Opitz. Briefw. u. Lebenszeugnisse. Bln. 2009, Bd. 2, S. 879, 885 (886), 913, 919; Bd. 3, S. 1553, 1619, 1729. Jost Eickmeyer

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wurde W., der seit 1816 den Titel eines herzoglich-nassauischen Hofrats führte, zum Leiter der Wiesbadener Landesbibliothek ernannt. Obwohl W. auch eine Reihe belletristischer Werke verfasste, wirkte er auf seine Zeitgenossen vorwiegend durch seine polit. Schriften. Aus einer gemäßigt liberalen Position untersuchte er die Auswirkungen der Französischen Revolution u. der napoleonischen Kriege auf die dt. polit. Situation. Sein Hauptanliegen war die Durchsetzung einer behutsamen Reformpolitik, als deren Garanten er den preuß. Staat ansah. Weitere Werke: Geist der fränk. Revolution. Mainz 1795. – Lindau oder der unsichtbare Bund. Ffm. 1805 (R.). – Hat Dtschld. eine Revolution zu fürchten? Wiesb. 1819. – Vermischte Schr.en. 3 Bde., ebd. 1820/21. – Das Merkwürdigste aus meinem Leben u. meiner Zeit. 2 Bde., Lpz. 1821 u. 1823. – Gesch. der Staatswiss.en. 2 Bde., Stgt. 1832/ 33. – Briefe vom Rhein. Lpz./Stgt. 1834. Literatur: Karl Esselborn: J. I. W. In: Hess. Biogr.n. Bd. 2, Darmst. 1927, S. 301–308. – Günter Fuhr: Wie beurteilten Johann Wolfgang v. Goethe, Karl Reichsfreiherr vom u. zum Stein u. J. W. den frz. Kaiser Napoleon? In: Napoleon u. Nassau (Ausstellungskat.). Hg. Georg Schmidt-v. Rhein. Ramstein 2006, S. 108–118. Walter Weber / Red.

Weitzel, Johann(es Ignaz), * 24.10.1771 Weizsäcker, Carl Friedrich von, * 28.6. Johannisberg/Rheingau, † 10.1.1837 Wies- 1912 Kiel, † 28.4.2007 Starnberg/Obb. – baden. – Publizist, Erzähler, Historiker. Physiker u. Philosoph. Nach einer Schneiderlehre begann der Sohn eines früh verstorbenen Weingutbesitzers ein Universitätsstudium in Mainz, das er in Jena (bei Fichte u. Schiller), schließlich in Göttingen (bei Schlözer) fortsetzte. Im Anschluss an eine Schweizreise 1797 trat W. in den Verwaltungsdienst des linksrheinischen frz. Departments Donnersberg. 1800 wieder von seinen Pflichten entbunden, wandte sich W. dem Journalismus zu. Er gründete 1801 die polit. Monatsschrift »Egeria« u. übernahm die Leitung der »Mainzer Zeitung«, 1807–1810 die der »Europäischen Staatsrelationen« (Ffm.). Danach redigierte er das Mainzer »Rheinische Archiv für Geschichte und Literatur« (1810–1814) u. die Wiesbadener »Rheinischen Blätter« (1816–1819). 1820

Der Sohn des Staatssekretärs im Auswärtigen Amt Ernst von Weizsäcker, Neffe des Arztes u. Psychologen Viktor von Weizsäcker u. Bruder des früheren Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker schlug als Schüler von Heisenberg u. Bohr die wissenschaftl. Laufbahn ein; nach dem Studium der Physik in Berlin, Göttingen u. Leipzig erfolgte 1933 die Promotion, 1936 die Habilitation in Leipzig. 1936–1942 arbeitete W. als wissenschaftl. Assistent für Physikalische Chemie am Kaiser-Wilhelm-Institut in Berlin. Er beschäftigte sich seit 1937 mit der Energieerzeugung in der Sonne u. erkannte wie Hahn u. andere, dass aus Uranspaltung die Entwicklung von Kernwaffen möglich sein würde. 1942–1944 war W. Professor für Theoretische Physik in

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Straßburg, 1944/45 Professor des KaiserWilhelm-Instituts in Berlin u. Hechingen. 1945 gehörte W. zu den von den Alliierten im Rahmen der Alsos-Mission in Farm Hall nahe Cambridge (Großbritannien) internierten dt. Wissenschaftlern. 1946–1957 Abteilungsleiter am Max-Planck-Institut für Physik in Göttingen, wurde er 1957 zum o. Prof. der Philosophie in Hamburg berufen; 1969 gehörte der vielfach Ausgezeichnete zu den Begründern des Max-Planck-Instituts zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt in Starnberg u. war bis 1980 dessen Leiter. Zahlreiche Arbeiten W.s gelten in Überschreitung der Fachgrenzen den Fragen des naturwissenschaftl. Weltbilds (Zum Weltbild der Physik. Lpz. 1943. Die Einheit der Natur. Mchn. 1971); dabei zielte W., ausgehend von den philosophischen Konsequenzen der Quantentheorie, auf Integration der wissenschaftl. Disziplinen. Zudem ging es ihm um eine Bestimmung des Verhältnisses von Wissenschaft u. Politik (Die Verantwortung der Wissenschaft im Atomzeitalter. Gött. 1957), wobei wissenschaftl. Ergebnisse im Blick auf ihre polit. Folgen u. hinsichtlich ihrer Verantwortbarkeit reflektiert werden. Im Bereich der Friedensforschung (Der ungesicherte Friede. Ebd. 1969. Wege in der Gefahr. Eine Studie über Wirtschaft, Gesellschaft und Kriegsverhütung. Mchn./Wien 1976. Der bedrohte Friede. Politische Aufsätze 1945–1981. Ebd. 1981) optierte W. schließlich für die Abschaffung der »Institution des Krieges«. Außerdem hat er sich mit Grundfragen der Anthropologie auseinandergesetzt (Der Garten des Menschlichen. Ebd. 1977). W. hat sich zuletzt bes. für eine verbindl. Erklärung der Kirchen (Die Zeit drängt. Ebd. 1986) zu »Gerechtigkeit, Frieden, Bewahrung der Schöpfung« eingesetzt u. für eine politisch-moralisch verantwortete Bewusstseinsbildung in den Überlebensfragen der Menschheit plädiert (Bewußtseinswandel. Ebd. 1988). 1992 erschien W.s philosophisches Hauptwerk Zeit und Wissen (ebd.), das sich den beiden Grundbegriffen seiner Philosophie widmet; in einem »Kreisgang« durchschreite der Mensch den Weg des Wissens in der Zeit (»Die Natur ist älter als der

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Mensch; der Mensch ist älter als die Naturwissenschaft«). W. wurde u. a. mit der Max-Planck-Medaille (1957), dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels (1963), dem SigmundFreud-Preis (1988), dem Templeton-Preis (1989) u. dem Theodor-Heuss-Preis (1989) geehrt. Der 1994 gegründete Verein »Wissen und Verantwortung« errichtete 2002 die Carl Friedrich von Weizsäcker-Stiftung. Weitere Werke: Die Atomkerne. Grundlagen u. Anwendungen ihrer Theorie. Lpz. 1937. – Die Gesch. der Natur. Gött. 1948. Neuaufl. Stgt. 2006. – Christl. Glaube u. Naturwiss. Bln. 1959. – Bedingungen des Friedens. Ebd. 1964. – Die Tragweite der Wiss. Bd. 1: Schöpfung u. Weltentstehung. Stgt. 1964. Erg. Neuaufl. Ebd. 1990. 72006. – Säkularisierung u. Säkularismus. Wuppertal 1968. – Fragen zur Weltpolitik. Mchn. 1975. – Deutlichkeit. Beiträge zu polit. u. religiösen Gegenwartsfragen. Mchn./Wien 1978. – Der Aufhau der Physik. Ebd. 1985. – Bedingungen der Freiheit. Reden u. Aufsätze 1989–1990. Ebd. 1990. – Der Mensch in seiner Gesch. Ebd. 1991. – Goethes Farbentheologie – heute gesehen. Gött. 1991. – Goethe und Schiller. Hbg. 1991. – Die Sterne sind glühende Gaskugeln u. Gott ist gegenwärtig. Über Religion u. Naturwiss. Hg. u. eingel. v. Thomas Görnitz. Freib. i. Br. u. a. 1992. – Gemeinsam handeln! Der Dalai Lama und C. F. v. W. im Gespräch. Hg. Reiner Degenhardt u. Ines Flemming. Gütersloh 1994. – Der bedrohte Friede – heute. Mchn./Wien 1994. – Wohin gehen wir? Der Gang der Politik, der Weg der Religion, der Schritt der Wiss. – was sollen wir tun? Ebd. 1997. – Lieber Freund! Lieber Gegner! Briefe aus fünf Jahrzehnten. Ausgew. u. mit Anmerkungen vers. v. Eginhard Hora. Ebd. 2002. Literatur: Erhard Scheibe u. Georg Süßmann (Hg.): Einheit u. Vielheit. FS für C. F. v. W. Gött. 1973 (mit Bibliogr.). – Thomas Görnitz: C. F. v. W. Ein Denker an der Schwelle zum neuen Jahrtausend. Freib. i. Br. 1992. – Wolfgang Krohn u. Klaus Michael Meyer-Abich (Hg.): Einheit der Natur – Entwurf der Gesch. Begegnungen mit C. F. v. W. Mchn./Wien 1997. – Dieter Hattrup: C. F. v. W. Physiker u. Philosoph. Darmst. 2004. – Ulrich Völklein: Die Weizsäckers. Macht u. Moral – Porträt einer dt. Familie. Mchn. 2004. – Michael Drieschner: C. F. v. W. Eine Einf. Wiesb. 2005. – Zur Verantwortung der Wiss. C. F. v. W. zu Ehren. Beiträge des 1. Hamburger C.-F.-v.-W.-Forums. Hg. Stephan Albrecht u. a. Bln./Münster 2008. – Weltinnenpolitik. Handeln auf Wegen in der Ge-

Weizsäcker fahr. FS C. F. W. Hg. Ulrich Bartosch u. Jochen Wagner. Ebd. 2008. Werner Klän / Bruno Jahn

Weizsäcker, Viktor Frhr. von, * 21.4.1886 Stuttgart, † 9.1.1957 Heidelberg. – Begründer der anthropologischen Medizin.

272 buch. Hg. Wilhelm Rimpau. Mit einem Vorw. v. Klaus Dörner u. W. R. Ffm. 2008. Literatur: Thomas Henkelmann: V. v. W. Materialien zu Leben u. Werk. Bln. 1986. – Stephan Dressler: V. v. W. Medizin. Anthropologie u. Philosophie. Wien/Bln. 1989. – Stefan Emondts: Menschwerden in Beziehung. Eine religionsphilosoph. Untersuchung der medizin. Anthropologie V. v. W.s. Mit einem Geleitw. v. Carl Friedrich v. Weizsäcker. Stgt.-Bad Cannstatt 1993. – Rainer-M. E. Jacobi: V. v. W. u. Goethe. Einf. zur Edition v. ›Der Umgang mit der Natur‹. In: Zwischen Kultur u. Natur. Hg. ders. Bln. 1997, S. 247–262. – Ders. u. Dieter Janz (Hg.): Zur Aktualität V. v. W.s. Würzb. 2003. – Udo Benzenhöfer: Der Arztphilosoph V. v. W. Leben u. Werk im Überblick. Gött. 2007.

Aus der schwäb. Gelehrten-, Diplomaten- u. Politikerfamilie der Weizsäckers stammend, studierte W. Medizin in Tübingen, Freiburg i. Br., Berlin u. Heidelberg, wo er bei Wilhelm Windelband hörte u. der Internist Ludwig von Krehl zu seinem lebenslang verehrten Vorbild wurde (Natur und Geist. Erinnerungen eines Arztes. Gött. 1954). Nach dem StaatsexGion Condrau † / Red. amen 1910 bildete sich W. am Institut Johannes von Kries’ zum Physiologen aus, war Soldat im Ersten Weltkrieg u. wurde 1923 Wekhrlin, Weckherlin, Wilhelm Ludwig, a. o. Prof. für Neurologie in Heidelberg (1930 auch: Anselmus Rabiosus, * 7.7.1739 Ordinarius), 1942 in Breslau u. 1946 für allg. Botnang/Württemberg, † 24.11.1792 klin. Medizin wieder in Heidelberg. 1927 Ansbach. – Reiseschriftsteller, Publizist. sprach W. in einem Vortrag vor der Kölner Kantgesellschaft über medizinische Anthro- W. war neben Schubart eine der wichtigsten pologie u. vom »Gestaltkreis«, was schließ- Figuren des süddt. Journalismus am Ausgang lich zu seinem Hauptthema wurde. Früh des 18. Jh. Er vertrat den damals neuen Typ schon hatte er sich mit der Psychoanalyse des streitbaren Publizisten, der sich verauseinandergesetzt u. sie gegen alle Angriffe pflichtet u. berufen fühlte, am sozialpolit. der Klinik verteidigt. Die einzige persönl. Tagesgeschehen teilzunehmen. Er stammte Begegnung mit Freud fand 1926 in Wien auf aus einer alten Württemberger Familie. Sein W.s Initiative statt. Vater, Pfarrer von Beruf, starb, als das Kind W.s Hauptwerk, Der Gestaltkreis (Lpz. 1940), sechs Jahre alt war. W. wurde erst von einem führte den Begriff des Subjekts in die Medi- Onkel, seit 1749 von seinem Stiefvater, dem zin ein. In diesem Werk gelang W. die Ver- Ludwigsburger Amtsschreiber Johann Martin bindung von Medizin, Physiologie, Biologie, Heuglin, mit dem er anscheinend nicht gut Psychologie u. Philosophie. Der medizini- auskam, erzogen. Nach mutmaßl. Besuch des schen Anthropologie W.s ging es um die Gymnasium illustre in Stuttgart wurde W. Überwindung des Mechanismus u. Materia- Schreiber in Ludwigsburg. Unwillig über lismus in der ärztl. Heilkunde. Insofern seine »Galeere am Schreibtisch«, verließ er überschritt sie den Bereich der Psychologie u. 1766 seine schwäb. Heimat »mit kaltem der damaligen Psychiatrie. In der Pathosophie Blut« u. emigrierte nach Wien, wo er bis 1776 (Gött. 1956) verdichteten sich die philoso- blieb. Anfangs soll er auch dort Schreiber phisch-anthropolog. Überlegungen zu einer gewesen sein. Seit 1771/72 versuchte er sich Gesamtschau menschl. Daseins, wobei der an sog. »nouvelles à la main«, handgeschriechristlich orientierte Pionier einer Humani- benen, geheimen Zeitungen, die illegal in sierung der Medizin die Krankheit rehabili- Umlauf gesetzt wurden, bis ihm im März tierte, indem er sie nicht als Defekt, sondern 1773 die Polizei das Handwerk legte. Ausgeals einheitl. Prozess von somat., emotionalen wiesen, kehrte er trotzdem nach Wien zuu. kognitiven Vorgängen sinnhafter Natur rück, trat in den Dienst der frz. Botschaft, auffasste. wurde erneut verhaftet u. versuchte der Ausgaben: Ges. Schr.en. 10 Bde., Ffm. heiklen Situation durch eine Agententätig1986–2005. – Warum wird man krank? Ein Lese- keit für die Wiener Polizei zu entgehen. Er

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enttäuschte aber u. musste nach zwei Jahren definitiv die Erblande verlassen. W. lebte zunächst in Augsburg, wurde aber bald ausgewiesen u. begab sich nach Nördlingen, wo er bei Carl Gottlob Beck zunächst die Denkwürdigkeiten von Wien ([Nördlingen] 1777) veröffentlichte u. gleich danach Anselmus Rabiosus’ Reise durch Oberdeutschland (Salzb./Lpz., recte Nördlingen 1778. Neudr. mit Erläuterungen u. Nachw. von Jean Mondot. Mchn./ Lpz. 1988). Diese Reisebeschreibung, die den in der Folge so beliebten polit. Reisebericht in Deutschland inaugurierte, erregte wegen des iron. Tons Aufsehen. Auf die friedl. Gegenden Süddeutschlands habe sie wie ein Komet gewirkt, meinte später Ludwig Schubart. W. wurde schlagartig bekannt. Da er auch vom Nördlinger Magistrat aus der Stadt verjagt wurde, konnte W. seine Lokalzeitung »Das Felleisen« (1778. Neudr. Nendeln 1978) nicht mehr in seinem Sinn verfassen. Er zerstritt sich mit Beck u. trat im Juli 1778 aus dem Unternehmen aus, konnte aber bald in Nürnberg im Verlag der Gebrüder Carl u. Paul Jonathan Felßecker seine Zeitschrift »Die Chronologen« (12 Bde., 1779–83. Neudr. Nendeln 1976) publizieren. Sie war ebenso erfolgreich wie die nachfolgende, »Das Graue Ungeheuer« (12 Bde., 1784–87. Neudr. Nendeln 1976), deren Titel auf die Farbe des Umschlags wie auf die Eigenart des Journals u. des Redakteurs hinwies. 1782 veröffentlichte W. einen »Almanach der Philosophie aufs Jahr 1783« (o. O. [Nürnb.]), in dem er u. a. radikalaufklärerisch Voltaires Genie lobte u. eine Bibliografie der Philosophie, d. h. des Unglaubens, aufstellte. Während dieser Zeit lebte W. in Baldingen bei Nördlingen allem Anschein nach ausschließlich von seinem Publizistenberuf. Er wäre somit einer der ersten freiberufl. dt. Schriftsteller. Aus Wut über seine Ausweisung schrieb W. Pasquille gegen den Nördlinger Bürgermeister, Das Bürgermeisteramt des Harlekins, eine Fastnachtfrazze mit Tänzen (o. O. [Nördlingen] 1779) u., in Versform, Die affentheuerliche Historia des lächerlichen Pritschmeisters und Erzgauklers Pips von Hasenfuß ([ebd.] 1786). Der beleidigte Bürgermeister erwirkte von dem benachbarten Fürsten Kraft Ernst von Öttin-

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gen-Wallerstein, W.s Gerichtsherrn, seine Arretierung (4.5.1787). Die anfangs strengen Haftbedingungen auf Schloss Hochhaus lockerten sich allmählich, doch blieb W. bis 1792 ohne rechtl. Entscheid unter Arrest. Er durfte seine Publizistentätigkeit fortführen, aber seine dritte, 1788–1790 in Briefform verfasste Zeitschrift »Die Hyperboreischen Briefe« (Nürnb. Neudr. Nendeln 1976) hatte nicht den erwarteten Erfolg. An ihr, wie schon an den letzten Bänden des »Grauen Ungeheuers«, arbeitete Karl von Knoblauch mit. 1790/91 veröffentlichte W. noch die Zeitschrift »Die Paragrafen« (Neudr. Nendeln 1976), die über zwei Bände nicht hinauskam. Als W. 1792 Hochhaus verließ, machte er einen letzten publizistischen Versuch im preußisch gewordenen Ansbach, wo Hardenberg die Regierungsgeschäfte übernommen hatte. Seit dem 1.8.1792 gab W. die »Ansbachischen Blätter« (Neudr. Nendeln 1978) heraus, eine wöchentlich zwei- bis dreimal erscheinende Zeitung. Ihr freimütiger Ton missfiel in dieser Zeit der verschärften polit. Auseinandersetzung vielen Bürgern der Stadt. Die Zeitung wurde nach drei Monaten verboten, W. als verkappter Jakobiner hingestellt u. der Volkswut ausgesetzt. Unter Hausarrest gestellt, starb er an den Folgen dieser Ereignisse. Jakobiner ist W. nicht gewesen. Die Französische Revolution hat er, wie viele zeitgenöss. Publizisten auch, zunächst mit Begeisterung aufgenommen. Unter dem Eindruck der übergreifenden Greuel, insbes. der Septembermorde von 1792, erkaltete seine Begeisterung. Die Prinzipien der Aufklärung gab er jedoch nicht auf. W.s Berühmtheit u. spätere Legende rührten aber nicht allein von seinem hartnäckigen Kleinkrieg mit den Nördlinger »Abderiten« her, sondern auch von seinem couragierten Engagement in Justizskandalen der 1780er Jahre, etwa in der Sache des in Zürich aus polit. Gründen hingerichteten Johann Heinrich Waser u. in dem Prozess der in Glarus enthaupteten angebl. Hexe Anna Gödlin. In beiden Fällen, die ihm die ohnmächtige Feindseligkeit der Schweizer Obrigkeit einbrachten, verstand u. verhielt er sich wie der

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von ihm hochverehrte Voltaire während der 1777–1984. Jena 1989. – Jürgen Wilke: Spion des Calas-Affäre: als »geborener Advokat der Publikums, Sittenrichter u. Advokat der Menschheit. W. L. W. (1739–1792) u. die Entwicklung des Menschheit«. W.s Hauptverdienst ist demgemäß poli- Journalismus in Dtschld. In: Publizistik 38 (1993), 3, S. 322–334. – Wolfgang Albrecht: Gemeinsinnitisch-ideolog. Natur. Er hat wie kein anderer ge streitbare Publizistik im Glauben an die Wirauf den entscheidend positiven Einfluss der kungsmacht der ›Publizität‹. W. L. W. In: Ders.: Presse hingewiesen u. permanent die Freiheit Das Angenehme u. das Nützliche. Fallstudien zur der Presse gefordert. Wenn das auch seinem literar. Spätaufklärung in Dtschld. Tüb. 1997, berufl. Interesse entsprach, so enthalten seine S. 147–184. Jean Mondot / Red. Ausführungen doch überzeitl. polit. Einsichten (»Es gibt politische Übel, die ihre Nah- Welcker, Carl Theodor (Georg Philipp), rung nur von der Dunkelheit empfingen, * 29.3.1790 Oberofleiden/Oberhessen, worin sie lagen.« In: Graues Ungeheuer 1, † 10.3.1869 Neuenheim bei Heidelberg. – S. 294). Für ihn begleitete die »Preßfreiheit« Staatsrechtslehrer, Publizist u. Politiker. nicht allein den wirtschaftspolit. Fortschritt eines Landes, sie bedingte ihn geradezu. So W.s Vater war Prediger, der ältere Bruder entwarf er die Zukunftsvision einer dank der Friedrich Gottlieb (1784–1868) ein bedeuPressefreiheit progressiv aufblühenden Welt: tender Klassischer Philologe. Bereits während »Amerika, Afrika, Asia, so aufgeklärt wie seines Rechtsstudiums (1806–11, entscheiEuropa, überall blühende Städte, befruchte- dend geprägt durch die rationalistische Jutes Land, umgeschaffene Wildnisse, erleuch- risprudenz Anton Friedrich Justus Thibauts) tete Regierungen, freie Völker, glückliche in Heidelberg, dann Gießen verfasste W. die Regenten, frohe Untertanen. Mit einem rechtsphilosophische Schrift Die letzten Gründe Wort: die Erde des Anblickes der Gottheit von Recht, Staat und Strafe (Gießen 1813), aufwürdig« (in: ebd. 5, S. 143). Von der publi- grund derer er habilitiert wurde u. 1814 eizistischen Praxis ausgehend, stieß W. vor zur nen Lehrstuhl in Kiel erhielt; 1815 wurde der Aufklärungsutopie einer sich durch die Kritik mit Dahlmann befreundete W. auch Redakder »öffentlichen Vernunft« kontinuierlich teur der »Kieler Blätter«. 1817 wechselte er verbessernden Regierung. Aus seiner gesell- nach Heidelberg, 1819 nach Bonn, wo er mit schaftspolit. Auffassung der Presse wie aus Arndt in ein Verfahren wegen »demagogidem marktwirtschaftl. Zwang, dem er als scher Umtriebe« verwickelt wurde, 1823 freier Schriftsteller unterworfen war, leitete schließlich nach Freiburg i. Br. Dort entstand er stilprägende Konsequenzen ab: »[...] um die enzyklopädisch ausgreifende Darstellung die Herrschaft der Vernunft zu verbreiten, sei Das innere und äußere System der practischen, naes nicht genug, sie zu predigen, es gehöre türlichen und römisch-christlich-germanischen noch ein Schritt dazu [...], sie gefällig zu Rechts-, Staats- und Gesetzgebungslehre (1. u. machen« (in: ebd. 10, Nachschrift). In be- einziger Bd., Stgt. 1829). Den polit. Umschwung im Gefolge des wusster Opposition zum akadem. Stil beRegierungsantritts Großherzog Leopolds hauptete er: »Die Folianten bilden Gelehrte, nutzte W. zu verstärktem polit. Engagement. die Broschüren aber Menschen« (in: ebd. 1, 1830 brachte er beim Deutschen Bund eine S. 10). Petition auf Gewährung völliger Pressfreiheit Ausgabe: Schr.en. Hg. Alfred Estermann. 5 Bde., ein, die eine direkte Teilnahme des Bürgers Nendeln 1976; enthält alle Werke nichtpublizist. an den drei Gewalten substituieren sollte. Art (Bde. 1–3) sowie Schr.en zum Werk u. zur Per1831 in die badische Zweite Kammer geson W.s (Bde. 4–5). wählt, war er der führende Vertreter des Literatur: Knoblauch v. Hatzbach: W. L. W. In: ADB. – Gottfried Böhm: L. W. Ein Publizistenleben süddt. Liberalismus neben Rotteck. Mit ihm des 18. Jh. Mchn. 1893. – Jean Mondot: W. L. W., redigierte er 1832 die Zeitschrift »Der Freiun publiciste des Lumières. 2 Bde., Lille/Bordeaux sinnige« (Freib. i. Br.), in der er die Forderung 1986. – Karla Müller: W. L. W., 1739–1792. Leben – nach einem konstitutionellen Rechtsstaat Werk – Wirkung. Eine dokumentierende Bibliogr., vertrat (anders als – der im Ansatz indivi-

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dualistisch argumentierende – Rotteck mit Biogr. Hdb. der Abgeordneten der Frankfurter stärkerem Akzent auf der lebendigen Ge- Nationalversammlung 1848/49. Düsseld. 1998, meinschaft, verbunden durch eine National- S. 353 f. – Helmut Asmus: C. T. W. In: Biogr. Lekultur, welche einer polit. Einigung xikon zur Gesch. der demokrat. u. liberalen Bewegungen in Mitteleuropa II/1. Hg. Helmut Reinalter. Deutschlands vorarbeiten sollte). Als mit dem 2005, S. 298–302. – Kosch. – Christian Würtz: R. u. bald darauf erfolgten Verbot per Bundesbe- Welcker als Repräsentanten der bad. liberalen Puschluss die Herausgeber zgl. amtsenthoben blizisten. In: Von der Spätaufklärung zur Badiwurden, verbanden sie sich zu dem Opus schen Revolution. Literar. Leben in Baden zwischen summum des vormärzl. Liberalismus, dem 1800 u. 1850. Hg. A. Aurnhammer, W. Kühlmann Staats-Lexicon oder Encyclopädie der Staatswissen- u. Hansgeorg Schmidt-Bergmann. Freib. i. Br. u. a. schaften (18 Bde., Altona 1834–48. Revidierte 2010, S. 91–110. Arno Matschiner / Red. Ausg. hg. von W. in 14 Bdn., Lpz. 31856–66). 1840 in seine Professur wiedereingesetzt, Welk, Ehm, eigentl.: Emil W. (bis 1924), wurde W. 1841 endgültig suspendiert. Der auch: Thomas Trimm, * 29.8.1884 Bieunermüdlich gegen die Reaktion (wie gegen senbrow/Uckermark, † 19.12.1966 Bad die radikale Linke) ankämpfende Publizist Doberan. – Journalist, Dramatiker, Er(u. a. gab er 1843 die geheimen Protokolle der zähler. Karlsbader Konferenzen heraus) u. Politiker gehörte dem Vorparlament u. der Frankfurter Der Sohn eines Milchkühlers wurde nach eiNationalversammlung an, war Mitgl. des ner kaufmänn. Lehre Journalist, arbeitete seit Unterbrechungen durch den Verfassungsausschusses u. zgl. badischer 1904 mit Kriegsdienst 1915–1917 u. eine Amerikareise Bundestagsgesandter. Obgleich der großdt. 1923 als (Chef-)Redakteur bzw. Leitartikler Lösung zuneigend, vertrat er die Ernennung Friedrich Wilhelms IV. von Preußen zum bei Zeitungen u. a. in Stettin, Braunschweig Erbkaiser. Im Mai 1849 trat er, zunehmend u. Leipzig. W.s Kritik an der antidemokratischen isoliert, aus der Nationalversammlung aus u. Tendenz der konservativen Tagespresse widmete sich, nach Heidelberg zurückgezogen, wissenschaftl. Arbeit. 1867 war er noch führte 1922 zum Ausschluss aus dem Vorsitzender der kurzlebigen Deutschen Reichsverband der Deutschen Presse. Bekannt wurde er durch Piscators Inszenierung Partei. seines Schauspiels Gewitter über Gottland (Bln. Weitere Werke: Der preuß. Verfassungskampf. 1926. Urauff. ebd. 1927), von der er sich disFfm. 1863. – Kampf um publizist. Libertät. Schr.en tanzierte, weil Piscator aus der abstrakten [...]. Bochum 1981. Parabolik u. dem expressionistischen Literatur: Karl Wild: Karl T. W., ein Vorkämpfer des älteren Liberalismus. Heidelb. 1913. – Menschheitspathos über die Niederlage der Hans Zehntner: Das Staatslexikon v. Rotteck u. W. »kommunistischen« Viktualienbrüder gegen Jena 1929. Neudr. Rugell/Liechtenstein 1984. – die Hanse ein zeitpolit. Agitationsstück geHeinz Müller-Dietz: Das Leben [...] Karl T. W.s. macht hatte. Auch das Stück Kreuzabnahme Urauff. Mannh. 1927), eine Mchn./Freib. i. Br. 1968. – Rainer Schöttle: Polit. (ebd. 1927. Freiheit für die dt. Nation – C. T. W.s polit. Theorie. ideendramat. Gegenüberstellung Tolstoi – Baden-Baden 1985. – Wolfgang D. Dippel: Wis- Lenin, wurde wegen seiner Revolutionsthesenschaftsverständnis, Rechtsphilosophie u. Ver- matik heftig diskutiert. tragslehre im vormärzl. Konstitutionalismus bei Seit 1927 war W. Redakteur, seit 1928 Rotteck u. W. Münster 1990. – Frank Nägler: Von Chefredakteur der auflagenstarken Wochender Idee des Friedens zur Apologie des Krieges. zeitschrift »Die grüne Post« (Ullstein Verlag, Eine Untersuchung geistiger Strömungen im UmBerlin), bis er 1934 wegen eines Goebbels kreis des Rotteck-W.schen Staatslexikons. BadenBaden 1990. – Thomas Zunhammer: Zwischen kritisierenden Leitartikels vorübergehend ins Adel u. Pöbel. Bürgertum u. Mittelstandsideal im Konzentrationslager Oranienburg eingelieStaatslexikon v. Karl v. Rotteck u. C. T. W. Ein fert wurde. Seit 1935 erhielt W. eingeBeitr. zur Theorie des Liberalismus im Vormärz. schränkte Schreiberlaubnis. Basierend auf Ebd. 1994. – Heinrich Best u. Wilhelm Weege: autobiogr. Notizen seines Vaters u. eigenen

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Weitere Werke: Belg. Skizzenbuch. Reiseber.e. Kindheitserinnerungen, veröffentlichte er die Kummerow-Trilogie, die seinen Ruf u. Erfolg als Braunschw. 1913. – Michael Knobbe. Bln. 1931 volkstümlich-humoristischer Erzähler be- (Kom.). – Die schwarze Sonne. Leben, Schaffen u. gründete: Die Heiden von Kummerow (Bln. Sterben dt. Kolonialhelden. Ebd. 1933. – (Hg.): Der dt. Wald. Sein Leben u. seine Schönheit. Bln. 1935. 1937. Veränderte Neuaufl. Rostock 1948), Die – Die wundersame Freundschaft. Das Buch v. Tier Lebensuhr des Gottlieb Grambauer (Bln. 1938. u. Mensch. Lpz. 1940. – Die stillen Gefährten. GeVeränderte Neuaufl. Rostock 1954. Bln./DDR danken über das Leben mit Tieren. Bln. 1943. – Der 1988) u. Die Gerechten von Kummerow (Bln. Nachtmann. Gesch. einer Fahrt zwischen hüben u. 1943. Veränderte Neuaufl. Rostock 1953). drüben. Bln./DDR. 1950. – Der Hammer will geOhne Tribut an Blut-und-Boden-Ideologie handhabt sein. 7 Gesch.n. Ebd. 1958. – Der wackere gelang es W., das bäuerl. Leben Pommerns in Kühnemann aus Puttelfingen. Ebd. 1959 (R.). – Der der Tradition mündl. Erzählens, mit durch- Pudel Simson. Gesch.n u. Anekdoten v. Menschen aus differenzierter Figurensprache, heiter, u. Tieren. Rostock 1971. Reinb. 1978. Literatur: Walter Grossmann: Die Kummerowaber unverklärt in der Tradition von Fritz Reuter u. Kalendererzählungen darzustellen Romane v. E. W. In: GQ 1 (1957), S. 37–44. – Edith – mehr chronikalisch in der Beichte eines ein- Krull: Auf der Suche nach Orplid. Studie zum Romanschaffen E. W.s. Bln./DDR 1959. – Konrad fältigen Herzens (so der Untertitel zu Die LeReich: E. W. Stationen eines Lebens. Rostock 1976. bensuhr), episodischer als Kampf kindl. Ge- – Monika Schürmann: Der Hammer will gehandrechtigkeitssinns u. Abschied von der Kind- habt sein. Untersuchungen zum literar. Nachheit in Die Heiden u. Die Gerechten. An den kriegsschaffens E. W.s (1945–1966). Ffm 2001. – Publikumserfolg (Auflage von Die Heiden Katja Schoss: ›Kummerow im Bruch hinterm Berzwischen 1937 u. 1944 740.000 Exemplare) ge‹. E. W. u. sein Romanzyklus. Darmst. 2002. – K. dieser von Heimat-, Menschen- u. Tierliebe Reich: E. W. Der Heide v. Kummerow. Rostock u. dem Willen, »persönlich friedfertig zu 2008. – E. W. zum 125. Geburtstag. Angermünde sein« (so bereits sein Programm für die 2010. Erhard Schütz »Grüne Post«), geprägten Prosa konnten W.s andere Werke vor 1945 nicht anknüpfen, Weller von Molsdorf, Hieronymus, * 5.4. weder der humanitäre Pflichterfüllung the1499 Freiberg, † 20.3.1572 Freiberg. – matisierende Kriegsgefangenenroman Der Lutherischer Theologe. hohe Befehl. Opfergang und Bekenntnis des Werner Voß (Bln. 1939) noch Die Fanfare im Pariser Erste humanistische Studien ab 1512 an der Einzugsmarsch (ebd. 1942), eine novellistische Wittenberger Universität schloss W. am Studie über preußisch-militärischen Tradi- 12.4.1519 mit dem Bakkalaureat ab. Danach tionalismus. war er als Lehrer in Zwickau u. Schneeberg Nach 1945 engagierte sich W. für den tätig. Angesteckt von den Ideen der ReforAufbau von Volkshochschulen in Mecklen- mation, brach er ein 1525 in Wittenberg beburg, leitete die Volkshochschule Schwerin u. gonnenes Jurastudium ab, um sich theolog. trat in die KPD ein. Seit 1950 lebte er als Studien zu widmen. W. stand in engem freier Autor in Bad Doberan. Dort schrieb er Kontakt zu den Wittenberger Reformatoren. u. a. das Drehbuch zur Fritz-Reuter-Verfil- Freundschaftlich verbunden war er mit Lumung Kein Hüsung (Urauff. 1954; Regie: Ar- ther, in dessen Haus er viele Jahre lebte u. thur Pohl) u. das autobiogr. Erzählbuch Mein dessen Sohn Johannes er unterrichtete. Land das ferne leuchtet (Bln./DDR 1952), den 1539 kehrte W. als Doktor der Theologie umfangreichen, auf frühe Vorstudien zu- (vgl. Propositiones disputatae Vuittembergae, pro rückgehenden Roman Im Morgennebel (ebd. doctoratu eximiorum virorum D. Hieronymi Vuel1953; von Christa Wolf wegen der Wahl eines ler, et M. Nicolai Medler [...]. Wittenb. 1535; vgl. kleinbürgerl. Helden hart kritisiert) u. die Luther: WA 39/1, S. 40–62: Thesendruck, von skurrilen Einfällen überbordende, an Bruchstücke der Promotionsdisputation vom Morgenstern u. Ringelnatz erinnernde See- 11.9.1535 u. die von W. gesprochene, von fahrerhumoreske Mutafo: Das ist das Ding, das Luther verfasste Promotionsrede vom 14. durch den Wind geht (ebd. 1955. Düsseld. 1956). Sept.) in seine Vaterstadt Freiberg zurück, wo

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er die Stellung eines Lektors antrat. Mit dem S. 35 f. – Andreas Ledl: Lebenslanges Lernen als Amt war die Aufgabe verbunden, theolog. Reformprogramm. Aufbrüche in der ReformatiVorlesungen zu halten u. Aufsicht über das onszeit durch H. W. u. Christoph Fischer. Jena städt. Schulwesen, insbes. das Gymnasium, 2007. Jörg Köhler / Red. zu führen. In seinen letzten Lebensjahren hinderte W. eine schwere Krankheit an der Wellershoff, Dieter, * 3.11.1925 Neuß. – Ausübung seines Amts. Erzähler, Hör- u. Fernsehspielautor; EsW.s literar. Arbeiten gingen aus seiner sayist, Kritiker, Literaturtheoretiker, Lehrtätigkeit hervor. Den Schwerpunkt bilLektor. den Fragen der prakt. Theologie; u. a. verfasste er didakt. Arbeiten u. Schriften zur W. verlebte Kindheit u. Schulzeit in GrevenEthik. Der Unterweisung junger Theologen broich/Niederrhein. Als Gymnasiast meldete dienten Sammlungen von Ratschlägen u. er sich 1943 freiwillig zum Militärdienst u. Vorschriften; Anleitungen zum fruchtbaren wurde 1944 in Litauen verwundet. Nach dem Studium der Bibel gaben zahlreiche exegeti- Abitur für Kriegsteilnehmer studierte er sche Schriften. W. war insbes. um eine Aus- Germanistik, Psychologie u. Kunstgeschichte legung von Bibelstellen bemüht, die den Le- in Bonn u. wurde dort 1952 mit einer Arbeit über Gottfried Benn promoviert (Untersuser in schwerer Zeit trösten konnten. Von W.s seelsorgerischem Bemühen zeu- chungen über Weltanschauung und Sprachstil gen auch seine Erbauungsschriften, die sich Gottfried Benns). Erste berufl. Erfahrungen als durch ihre Ausdruckskraft auszeichnen. Sti- Redakteur machte er bei der »Deutschen listisch wie sprachlich bewegen sich die dt. Studentenzeitung«. 1959 übernahm W. das wie die lat. Schriften des humanistisch um- Lektorat für Wissenschaft u. deutsche Literafassend gebildeten W. auf einem hohen Ni- tur im Kölner Verlag Kiepenheuer & Witsch, veau. Die meisten Arbeiten wurden im 16. Jh. dessen Profil er durch die »Neue Wissenin Einzelausgaben gedruckt. Eine zweibän- schaftliche Bibliothek« u. sein literar. Prodige Gesamtausgabe der Werke W.s erschien gramm maßgeblich prägte. Seit den 1960er 1702 in Leipzig. Der erste Band umfasst die Jahren las er mehrfach bei der Gruppe 47. Seit lat. Schriften (Opera omnia), der zweite Band 1981 lebt W. als freier Schriftsteller in Köln. W. war Writer-in-Residence an der Unidie deutschen (Teutsche Schrifften). versität Warwick/England (1973) u. GastdoWeitere Werke: Annotationes breves in epistolas dominicales [...]. Prior pars [...]. Lpz. 1543. – zent u. a. an den Universitäten München Brevis explicatio epistolarum dominicalius per to- (1962/63), Salzburg (1974), Essen (1987/88), tum annum. Straßb. 1546. – De officio ecclesiastico, Gainesville, Florida (1992) u. Frankfurt/M. politico, et oeconomico, libellus pius et eruditus. (1996). Er erhielt mehrere Literaturpreise, Nürnb. 1552. Dt.: Haußtafel [...]. Nürnb. 1556. – darunter den Heinrich-Böll-Preis der Stadt Antidotum adversus tentationes omnis generis. Köln, den Friedrich-Hölderlin-Preis (2001), Quibus piae mentes exerceri solent [...]. Nürnb. den Joseph-Breitbach-Preis (2001) sowie den 1553. Dt. ebd. 1555. – Ein kurtzer Bericht, warumb Ernst-Robert-Curtius-Preis für Essayistik man offt u. gern zum hochwirdigen Sacrament (2005). W. ist Mitgl. der Mainzer Akademie gehen soll [...]. Lpz. 1555. – Ratio formandi studij der Wissenschaften und der Literatur; er getheologici. Item: De modo et ratione concionandi. hört dem P.E.N.-Zentrum der BR DeutschNürnb. 1562. land, seit 1988 auch dem Berliner WissenAusgaben: Wackernagel 1, S. 320 f.; 3, S. 955. – schaftskolleg an. 1989 wurde ihm der ProInternet-Ed. mehrerer Werke in: VD 16. fessorentitel des Landes Nordrhein-Westfalen Literatur: Bibliografien: VD 16. – VD 17. – Weiverliehen. tere Titel: Heinrich Friedrich August Nobbe: D. H. Als Kritiker u. Literaturtheoretiker versteht W. v. M., der Freund u. Schüler Luther’s [...]. Lpz. 1870. – Georg Müller: H. W. v. M. In: ADB. – Ro- es W., die Bedingungen u. Leistungen mobert Stupperich: Reformatorenlexikon. Gütersloh derner Kunst u. Literatur kompetent u. prä1984, S. 219. – Werner Lauterbach: H. W. In: zise zu verdeutlichen. Seine Darlegungen Mitt.en des Freiberger Altertumsvereins 84 (2000), über die Poetologie, seine Reflexionen, Prin-

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zipien u. Postulate der Literatur wurden bereits in dem meisterhaften Essayband Der Gleichgültige (Köln 1963) formuliert. In zahlreichen seiner frühen Texte konzipierte W. eine eigenständige Realismustheorie: Literatur und Veränderung (ebd. 1969), Literatur und Lustprinzip (ebd. 1973), Das Verschwinden im Bild (ebd. 1980). Er fordert, »der Welt die konventionelle Bekanntheit zu nehmen und etwas von ihrer ursprünglichen Fremdheit und Dichte zurückzugewinnen«. Der Ende der 1960er Jahre vorherrschenden Überzeugung von der politisch-operativen Funktion der Literatur setzte W. sein Konzept von der realistischen Literatur als »Probebühne« oder »Simulationsraum« entgegen. Auf diesem literar. Spielfeld für fiktives Handeln werden festgefahrene Verhaltensweisen u. Vorurteile decouvriert, Leser u. Autor können spielerisch u. risikolos die Grenzen des eigenen Handelns überschreiten. Mit dieser Methode fokussierte W. den Blick auf eine differenzierte Wahrnehmung u. eröffnete somit den Raum für potenzielle Veränderungen. Damit kam das durch die Politisierung der Literatur verdrängte Private wieder zu seinem Recht. Die Darstellung der deformierten Individualität zeigt nach W. den Preis der herrschenden Praxis. Die von W. geforderte, am Konzept des frz. nouveau roman geschulte Wirklichkeitsnähe gab u. a. der dt. Popliteratur wichtige Impulse. In seiner Funktion als Verlagslektor betreute er in den 1960er Jahren nicht nur Schriftsteller wie Heinrich Böll, sondern entdeckte u. förderte viele junge Autoren, die seinem Realismusprogramm nahe kamen. So avancierte er vorübergehend zum geistigen Mentor der sog. Kölner Schule des Neuen Realismus, ohne die unterschiedl. Entwicklung von Autoren wie Nicolas Born, Rolf Dieter Brinkmann, Günter Herburger, Renate Rasp, Günter Seuren, Günter Steffens u. andere festlegen zu wollen. Konsequent legt W. in einer Vielzahl von Essays seine scharfsinnigen u. kenntnisreichen literatur- u. kunsttheoret. Erörterungen dar. Der Sammelband Der Roman und die Erfahrbarkeit der Welt (Köln 1988) gilt als Standardwerk, das die großen Romane der Weltliteratur einfühlsam porträtiert u. die histor.

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Bedingungen ihrer Entstehungsgeschichte analysiert. In Der verstörte Eros (ebd. 2001) begibt sich W. auf die Suche nach dem Topos des Begehrens in den Werken von Goethe bis Houellebecq; exemplarisch untersucht er die literar. Darstellung u. Veränderung von Sexualität u. Leidenschaft im Kontext des gesellschaftl. u. soziokulturellen Wandels. Nach Aussage des Autors war das eigene poetische Schreiben von Anfang an notwendig, um die Anpassungszwänge der sozialen Existenz zu durchbrechen. Zu Beginn seiner literar. Laufbahn stehen Hörspiele, deren formale Entwicklung seit den 1950er Jahren die Entwicklung des westdt. Hörspiels insg. widerspiegelt. Als Romancier u. Erzähler steht er in der Tradition der großen europ. realistischen Erzählkunst. Besonders in seinen Romanen hat W. Depersonalisierungs-, Untergangs- u. Selbstzerstörungsgeschichten erzählt u. sein Realismuskonzept weiterentwickelt. Der erste Roman, Ein schöner Tag (Köln 1966), stellt zwei Wochen aus dem Alltag einer Kölner Familie als Pathologie unterdrückten Lebens dar. Die Schattengrenze (ebd. 1969) erzählt die Geschichte eines verfolgten Kriminellen aus dessen Sicht. Durch die Auflösung von Identität u. Chronologie verstärkt W. in diesem Werk den Eindruck alptraumartiger Angst u. Verlorenheit. Die polyperspektivische Erzählweise in Einladung an alle (ebd. 1972) – wiederum ein kunstvoll arrangierter Kriminalfall – erzeugt eine irritierende Komplexität u. damit ein den Dokumentarismus überbietendes Mehr an Realismus. Die Absicht W.s, in dem unkompliziert erzählten Roman Der Sieger nimmt alles (ebd. 1983) wirtschaftl. Zusammenhänge kritisch zu durchleuchten, gelang ihm überzeugender in dem Fernsehfilm Die Phantasten (ebd. 1979). In den 1990er Jahren schaffte W. insbes. mit seinem tragisch endenden Roman Der Liebeswunsch (2000) seinen Durchbruch auch bei einem größeren Publikum. Das fragile destruktive Beziehungsverhältnis zweier ungleicher Paare seziert W. auf grandiose Art u. Weise u. erweist sich erneut als Meister des psycholog. Realismus. Mit wechselnden Erzählperspektiven bietet er dem Leser Außenu. Innenansichten seiner Figuren, die an der

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Unvereinbarkeit individueller Liebeskonzeptionen u. Glücksvorstellungen scheitern. Der Himmel ist kein Ort (ebd. 2009) beschreibt virtuos die Lebenskrise eines Landpfarrers, der die Folgen eines tragischen Verkehrsunfalls seelsorgerisch begleiten muss u. immer tiefer in die Wirrnisse des eigenen Seins gezogen wird. Mit einer filmisch erzählten, den Spannungsbogen haltenden Handlung thematisiert W. Glaubenfragen u. Zweifel an der Existenz einer göttl. Instanz. W. nutzte auch andere literar. Gattungen als »Suchmuster« für neue Erfahrungen. Der Band Doppelt belichtetes Seestück und andere Texte (Köln 1974) enthält u. a. Erzählungen, das Szenarium einer Oper u. Gedichte, Texte mit autobiogr. Hintergründen, die »alle zusammen das Echo einer Lebenskrise darstellen«. In der Novelle Die Sirene (ebd. 1980) adaptierte W. den antiken Mythos u. gestaltete den für sein Schreiben u. seine psychoanalytisch orientierte Literaturtheorie programmat. Einbruch des Verdrängten in den vom Realitätsprinzip beherrschten Alltag. Der Protagonist kann zwar am Ende die verführerische Macht des Imaginären brechen, jedoch nur um den Preis der zurückbleibenden Leere. 1985 erschien das autobiogr. Buch Die Arbeit des Lebens (ebd.), das wesentl. Aspekte u. Phasen der Lebensgeschichte des Autors darstellt u. zgl. in generationstypische Zusammenhänge einrückt. In Blick auf einen fernen Berg (ebd. 1991) greift W. wiederum auf die eigene Biografie zurück u. erzählt vom Leben u. Sterben seines jüngeren Bruders. Seine Zeit als Soldat u. Kriegsteilnehmer beschreibt er schonungslos in Der Ernstfall. Innenansichten des Krieges (ebd. 1995). W. zeigt in seinem polyphonen essayistischen u. literar. Werk poetisches Gestaltungsvermögen u. intellektuelle Brillanz. Maßgeblich beeinflusste er die Entwicklung der dt. Nachkriegliteratur. Stand die eigene literar. Produktion lange im Schatten seiner differenzierten poetolog. Positionen – eine Trennung, gegen die er sich selbst immer verwahrte –, so lässt sich in der neueren wissenschaftl. Auseinandersetzung mit dem Werk des Autors zunehmend eine gleichwertige Beurteilung u. Würdigung seiner Leistungen wahrnehmen.

Wellershoff Weitere Werke: Gottfried Benn – Phänotyp dieser Stunde. Eine Untersuchung über den Problemgehalt seines Werkes. Köln 1958. – Am ungenauen Ort. Zwei Hörsp.e. Wiesb. 1960. – Anni Nabels Boxschau. Köln/Bln. 1962 (D.). – Bau einer Laube. Hörsp. Neuwied 1965. – Die Bittgänger. Die Schatten. Zwei Hörsp.e. Mit einem autobiogr. Nachw. Stgt. 1968. – Das Schreien der Katze im Sack. Hörsp.e u. Stereostücke. Köln/Bln. 1970. – Die Auflösung des Kunstbegriffs. Ffm. 1976 (Ess.). – Die Schönheit des Schimpansen. Köln 1977. – Ein Gedicht v. der Freiheit. E.en. Ffm. 1977 (gekürzte Ausg. v. ›Doppelt belichtetes Seestück‹ u. a. Texte). – Glücksucher. Vier Drehbücher u. begleitende Texte. Köln 1979. – Von der Moral erwischt. Aufsätze zur Triviallit. Ffm. 1983. – Der Körper u. die Träume. Köln 1987. – Wahrnehmung u. Phantasie. Ess.s zur Lit. Ebd. 1987. – Flüchtige Bekanntschaften. Drei Drehbücher u. begleitende Texte. Ebd. 1987. – Pan u. die Engel. Ansichten v. Köln. Ebd. 1990. – Double, Alter ego u. Schatten-Ich. Schreiben u. Lesen als mimet. Kur. Graz/Wien 1991. – Das geordnete Chaos. Ess.s zur Lit. Ebd. 1992. – Zwischenreich. Gedichte. Weilerswist 1993. – Zikadengeschrei. Novelle. Köln 1995. – Das Schimmern der Schlangenhaut. Existentielle u. formale Aspekte des literar. Textes. Frankfurter Vorlesungen. Ffm. 1996. –Das normale Leben. Erzählungen. Ebd. 2005. – Der lange Weg zum Anfang. Ebd. 2007. – Herausgeber: Gottfried Benn: Ges. Werke in 4 Bdn. Wiesb. 1959–61 u. ö. – Ein Tag in der Stadt. Sechs Autoren variieren ein Thema. Köln 1962. – Wochenende. Sechs Autoren variieren ein Thema. Ebd. 1967. – Etwas geht zu Ende. 13 Autoren variieren ein Thema. Ebd. 1979. Ausgabe: Werke. Hg. Keith Bullivant u. Manfred Durzak. 9 Bde., Köln 1997–2011. Literatur: R. Hinton Thomas (Hg.): Der Schriftsteller D. W. Interpr.en u. Analysen. Köln 1975. – Wolfgang Powroslo: Erkenntnis durch Lit. Realismus in der westdt. Literaturtheorie der Gegenwart. Ebd. 1976. – Eike H. Vollmuth: D. W. – Romanproduktion u. anthropolog. Literaturtheorie. Zu den Romanen ›Ein schöner Tag‹ u. ›Die Schattengrenze‹. Mchn. 1979. – Hans Helmreich: D. W. Ebd. 1982. – D. W. Mchn. 1985. – Manfred Durzak, Hartmut Steinecke u. Keith Bullivant (Hg.): D. W. Studien zu seinem Werk. Köln 1990 (mit Bibliogr.). – Ulrich Tschierske: Das Glück, der Tod u. der ›Augenblick‹. Realismus u. Utopie im Werk D. W.s. Tüb. 1990. – Torsten Bürger: Lebenssimulationen. Zur Literaturtheorie u. fiktionalen Praxis v. D.W. Wiesb. 1993 (mit Bibliogr.). – Bernd Happekotte: D. W. – rezipiert u. isoliert. Studien zur Wirkungsgesch. Ffm. 1995. – Norbert

Wellhausen Schachtsiek-Freitag: D. W. In: KLG. – Klaus Torsy: Unser alltägl. Wahnsinn. Zum Begriff der Kommunikation bei D. W. Marburg 1999. – Werner Jung: Im Dunkel des gelebten Augenblicks. D. W. – Erzähler, Medienautor, Essayist. Bln. 2000. – Martin Hielscher: D. W. In: LGL. – Elisabeth Hollerweger: Liebeswünsche als Lebensängste. Zu D. W.s Roman ›Der Liebeswunsch‹. Diss. Freib. 2004. – W. Jung (Hg.): Lit. ist gefährlich. Bielef. 2010 (mit Bibliogr.). Paul Mog / Gabriele Ewenz

Wellhausen, Julius, * 17.5.1844 Hameln, † 7.1.1918 Göttingen. – Theologe u. Semitist. Der luth. Pfarrerssohn studierte Theologie an der Universität Göttingen, wo er die Orthodoxie des Elternhauses bald abstreifte u. sich unter dem Einfluss Heinrich Ewalds der Bibelwissenschaft zuwandte. 1872 erhielt W. die Professur für AT an der Theologischen Fakultät der Greifswalder Universität, die er jedoch 1882 niederlegte, weil er sich außerstande sah, weiter Geistliche für die Kirche auszubilden. Danach war er bis 1885 Professor für semitische Sprachen in Halle, 1885–1892 in Marburg u. seit 1892 in Göttingen. Zum Klassiker seiner Wissenschaft wurde W. durch die Arbeit des Greifswalder Jahrzehnts. Auf den Spuren de Wettes, Wilhelm Vatkes, Karl Heinrich Grafs u. Abraham Kuenens analysierte er die historiografische Überlieferung des AT mit dem Ergebnis, dass sie zu großen Teilen nur für das Judentum nach dem babylonischen Exil, nicht aber für das ältere Israel Quellenwert besitze. Namentlich die »mosaische« Ritualgesetzgebung ist um ein halbes Jahrtausend in eine Zeit zurückprojiziert, welche die Theokratie noch nicht als »Anstalt«, sondern nur als »Idee« kannte. Dem 1878 in der Geschichte Israels. Erster Band (u. d. T. Prolegomena zur Geschichte Israels. Bln. 21883. 61905. Nachdr. zuletzt Bln. 2001) in glänzendem Stil geführten Nachweis wurden von konservativer Seite mehr ideolog. als wissenschaftl. Argumente, v. a. der Vorwurf des Hegelianismus u. des Antisemitismus, entgegengesetzt. W.s wirkl. Position zeigt sich darin, dass die Historiker außerhalb seines Fachs, von denen er sich am stärksten anregen ließ, Carlyle, Mommsen u.

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Burckhardt waren. Die krit. Analyse ergänzte er 1894 durch die positive Darstellung, die Israelitische und jüdische Geschichte (ebd. 71914. Nachdr. zuletzt Bln. 2004). W.s zweites Arbeitsfeld war die Arabistik. Er erweiterte zunächst durch die Analogie der vorislam. Araber unsere Vorstellung vom ältesten Israel u. gelangte schließlich zu einer großen Darstellung der Umaijadenzeit (Das arabische Reich und sein Sturz. Bln. 1902. 21960). Wie sehr W. trotz seiner Entfremdung von der Kirche Theologe geblieben war, beweisen seine späten Werke zum NT, v. a. zu den Evangelien. Ihr Ergebnis fixieren die Sätze: »Jesus war kein Christ, sondern Jude.« »Man darf das Nichtjüdische in ihm, das Menschliche, für charakteristischer halten, als das Jüdische.« »Wir können nicht zurück zu ihm, auch wenn wir wollten.« (Einleitung in die drei ersten Evangelien. Bln. 1905, S. 113–115). Weitere Werke: Die Pharisäer u. die Saduccäer. Greifsw. 1874. Gött. 31967. – Muhammed in Medina. Bln. 1882. – Skizzen u. Vorarbeiten 1–6. Ebd. 1884–99. Neudr. 1961–85. Mikrofiche Mchn. 2003. – Ein Gemeinwesen ohne Obrigkeit. Gött. 1900. – Das Evangelium Marci. Das Evangelium Matthaei. Das Evangelium Lucae. Das Evangelium Johannis. 4 Bde., Bln. 1903–1908. Neudr. u. d. T. Evangelienkommentare. 1987. Literatur: Bibliografie in: Studien zur semit. Philologie u. Religionsgesch. J. W. zum 70. Geburtstag. Gießen 1914, S. 353–368. – Weitere Titel: Eduard Schwartz: Rede auf J. W. Bln. 1919. Neudr. in: Ders.: Ges. Schr.en 1. Ebd. 21963, S. 326–361. – Friedemann Boschwitz: J. W. Motive u. Maßstäbe seiner Geschichtsschreibung. Diss. Marburg 1938. Darmst. 21968. – Lothar Perlitt: Vatke u. W. Bln. 1965. – Douglas A. Knight (Hg.): J. W. and His ›Prolegomena to the History of Israel‹. Chico 1983. – Rudolf Smend: Dt. Alttestamentler in drei Jahrhunderten. Gött. 1989, S. 99–113, 308 ff. – Michael Ahlsdorf: Nietzsches Juden. Die philosoph. Vereinnahmung des alttestamentl. Judentums u. der Einfluß v. J. W. in Nietzsches Spätwerk. Diss. FU Bln. 1991. – Marco Frenschkowski: J. W. In: Bautz. – Ernest Nicholson: The Pentateuch in the Twentieth Century. The Legacy of J. W. Oxford 1998. – Daniel Weidner: ›Geschichte gegen den Strich bürsten‹. J. W. u. die jüd. ›Gegengeschichte‹. In: ZRGG 54 (2002), S. 32–61. – Michael Bauer: J. W. (1844–1918). In: Klassiker der Theologie. Hg. Friedrich Wilhelm Graf. Bd. 2, Mchn. 2005, S. 123–140. – R. Smend: Ein Fakultätswechsel.

281 J. W. u. die Theologie. In: Greifswalder theolog. Profile. Hg. Irmfried Garbe u. a. Ffm. u. a. 2006, S. 57–75. – Ders.: J. W. Ein Bahnbrecher in drei Disziplinen. Mchn. 2006. – J.-W.-Vorlesung. Bln. 2008 ff. Rudolf Smend / Red.

Welling, Georg von, auch: Gregorius Anglus Sallwigt, * 1655 wohl in Kassel, Tauftag: Kassel, 30.7.1655, † 28.2.1727 Bockenheim bei Frankfurt/M. – Theoalchemischer Sachbuchpublizist. Als Sohn von Hans Georg Welling, eines an den Höfen Hannovers u. Braunschweigs tätigen Generalquartiermeisters, Pyrotechnikers u. Montanisten, wuchs W. im höfischsoldatischen Milieu Mitteldeutschlands heran. Er verfolgte als königlich-preuß. Bergwerksdirektor im Bergbaurevier Hasserode (bei Wernigerode/Harz) unternehmerische Ziele (1705–1710) u. übernahm nach Aufenthalt in Berlin in Diensten Herzog Eberhard Ludwigs die Leitung sämtl. Bergwerke des Herzogtums Württemberg (1717–1720), bald dann in Diensten des Markgrafen Karl Wilhelm von Baden-Durlach die Leitung des markgräfl. Labors in Karlsruhe u. des Bauamts (1721–1723). In Ungnaden entlassen, lebte W. bis zu seinem Tode in Bockenheim. W.s spätestens seit 1708 über Jahre entstandenes Opus mago-cabbalisticum erschien zunächst pseudonym in Teilabdruck (Opus [...] Vom Uhrsprung und Erzeugung Des Saltzes. Hg. Samuel Richter. Ffm. 1719. Auch Salzb. 1729), dann in Vollfassung (Opus mago-cabbalisticum et theosophicum. Darinnen der Ursprung/ Natur/ Eigenschafften und Gebrauch/ Des Saltzes, Schwefels Und mercurii [...] beschrieben. Hg. Christoph Schütz. Homburg vor der Höhe 1735. Auch Ffm. 1760. 1784 [Faksimilia: Stockholm 1971. University of Michigan Library 2009]), in Streuüberlieferung (Auszüge. In: Hermetisches A.B.C. derer ächten Weisen [...] vom Stein der Weisen. Tl. 2, Bln. 1779 [Faks. Bln. 1915. 1921. Schwarzenburg 1979], S. 231–269) u. Paraphrase (Bertusch [Lorenz Schubert]: Welling im Auszug. Ffm. 1786). Übersetzungen ins Holländische (1775) u. Russische (von D. I. Popov. 1791), geschaffen unter alchemotheosophischen Impulsen im 18. Jh., blieben handschriftlich; nach eben-

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falls handschriftlich gebliebenen Übersetzungen ins Englische (um 1800; beteiligt: Francis Barrett. 1801) fand die Opus-Vollfassung ihren Weg in den englischsprachigen Druck (übersetzt von Joseph G. McVeigh. San Francisco 2006). Die dreiteilige Gliederung u. manches Lehrgut einschließlich heilsgeschichtl. Darlegungen sind der Paracelsischen Drei-Prinzipien-Lehre geschuldet. Seine physikotheolog. Zielsetzung, ›die Natur aus Gott‹ u. ›Gott in der Natur‹ zu erkennen, suchte W. mittels intrikater Verknüpfungen von Elementen protestantisch-heterodoxer Erbauungsbücher u. alchem. Sachschriften zu verwirklichen. Exegesen der Genesis, der Offenbarung des Johannes u. weiterer Bibeltexte wechseln mit Abschnitten alchem. u. astronomisch-astrolog. Inhalts. Im Widerstreit mit »Schultheologischen Lehr-Sätzen« u. Doktrinen der »Schul-Philosophi« wird im Rahmen eines hermetistischen Weltbildkonzeptes über den Luzifermythos, den Apokatastasis-Gedanken oder über die Präsenz von Elementargeistern (»Geist-Menschen«) unterrichtet. Elemente der jüd. Kabbala unterwarf W. einschneidend alchemochristl. Umdeutungen. Trotz böhmistisch tingierter Abschnitte, u. obwohl auch beide Opus-Herausgeber u. zahlreiche Rezipienten dem böhmistischen bzw. theosophischen Flügel des Alchemopietismus anhingen, fällt Jacob Böhmes Name nicht. Zwar blieb W.s Opus einem seiner prominentesten Leser, J. W. Goethe, »dunkel und unverständlich genug«, gleichwohl wurde es von Freimaurern, Gold- u. Rosenkreuzern zu ihren Lehrschriften gezählt; auch unter manchen Esoterikern der Moderne blieb W. aktuell. Weitere Werke: Gutachten zum Bergbau Bulach/bei Calw. 1717 (Ms.; Stuttgart, Hauptstaatsarchiv). – Grundlicher Unterricht von [...] erkäntnüs aller Ertze und Bergarthen. Bockenheim 1725 (Karlsruhe, LB, Ms. Durlach 239). – Herausgabe: Anonymus, Curiose Erwegung der Worte Mosis Gen. VI, 2. o. O. 1699. 1700. 1727. Auch in: Opus. Ed. 1784, S. 473–485. Literatur: Rolf Christian Zimmermann: Eine Beschreibung G. v. W.s? In: Goethe N. F. 23 (1961), S. 364–370. – Ders.: Das Weltbild des jungen Goethe. Studien zur hermet. Tradition des dt. 18. Jh.

Wellm Bd. 1: Elemente u. Fundamente. Mchn. 1969, s.v. – Joachim Telle: Zum ›Opus mago-cabbalisticum et theosophicum‹ v. G. v. W. In: Euph. 77 (1983), S. 359–379. – Petra Jungmayr: G. v. W. (1655–1727). Studien zu Leben u. Werk. Stgt. 1990. – Gershom Scholem: Alchemie u. Kabbala. Ffm. 1994, S. 109–115. – Julian Paulus: G. v. W. In: Alchemie (1998), S. 371 f. – Hermann E. Stockinger: Die hermetisch-esoter. Tradition unter besonderer Berücksichtigung der Einflüsse auf das Denken Johann Christian Edelmanns (1698–1767). Hildesh. 2004, S. 894–899. Joachim Telle

Wellm, Alfred, * 22.8.1927 Neukrug bei Elbing (Elbla˛ g), † 17.12.2001 Lohmen bei Güstrow. – Erzähler, Kinderbuchautor. Aufgewachsen als Sohn eines Fischers, absolvierte W. in Ostpreußen Volksschule, Lehrerbildungsanstalt u. Kriegsdienst. Nach 1945 war er Landarbeiter, trat in die KPD ein, wurde 1946 Neulehrer im Havelland u. machte als Schulrat u. Leiter einer Oberschule Karriere im Bildungswesen; daneben schrieb er Kinderbücher. Seit 1963 war W. freier Schriftsteller. Er lebte seit 1973 in Lohmen bei Güstrow u. wurde u. a. mit dem HeinrichMann-Preis, dem Fritz-Reuter-Preis u. dem Nationalpreis der DDR ausgezeichnet. Wie de Bruyn oder Heiduczek gehört auch W. zu jener Autorengeneration, die unter dem Schock von Krieg u. Faschismus bewusst Partei ergriff für einen sozialistischen Aufbau, der für sie immer auch (Selbst-)Befreiung des Einzelnen bedeutete. Große Erwartungen setzte W. auf eine Erneuerung der Schule u. auf die pädagog. Wirkung von Literatur. Seine äußerst populären, z. T. verfilmten Kinder- u. Jugendbücher (Igel, Rainer und die anderen. Bln./DDR 1958. Die Kinder von Plieversdorf. Ebd. 1959. Die Partisanen und der Schäfer Piel. Ebd. 1960. Kaule. Ebd. 1962. Das Mädchen Heika. Ebd. 1966. Karlchen Duckdich. Ebd. 1977. Lpz. 2006) handeln meist von Menschen u. ihren Problemen beim engagierten Umbau der Gesellschaft. Das ist das Thema auch von W.s Roman Pause für Wanzka oder Die Reise nach Descansar (Bln./Weimar 1968. Mchn. 2000), einem der wichtigsten Lehrerromane der DDR, der erst nach Schwierigkeiten mit den Zensurbehörden erscheinen konnte. Erzählt wird vom al-

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ten Schulrat Wanzka, der in die Praxis zurückkehrt, wo er sich an den Bürokraten u. den von ihnen geschaffenen Verhältnissen reibt. Pugowitza oder Die silberne Schlüsseluhr (Bln./DDR 1975, Zürich/Köln 1976) berichtet von der Flucht aus Ostpreußen; trotz einer gewissen Romantisierung der Rolle der Roten Armee gelingt W. eine eindrucksvoll-melanchol. Geschichte vom Ende der Kindheit u. vom Neuanfang, die zgl. ein Plädoyer für das friedl. Zusammenleben unterschiedl. Nationalitäten ist. In seinem wichtigsten Buch, Morisco (Bln./ Weimar 1987. Bln. 1991), unternimmt W. den ambitionierten Versuch, in der fiktiven Lebensbilanz eines erfolgreichen Architekten auch persönlich Rückschau zu halten. Weit ausgreifend wird der Grundkonflikt zwischen subjektiven Lebensplänen u. gesellschaftl. Zähmung gestaltet. Obwohl die Probleme offen u. kontrovers diskutiert u. auch nicht vorschnell-eindeutig gelöst werden, stößt der Roman an die Grenzen einer konventionellen Erzählform, in der Konflikte nur per Dialog u. Figuren-Räsonnement vorangetrieben werden können. Literarisch erheben sich W.s Bücher kaum über den Durchschnitt; als ein glaubwürdiger Streiter für Menschlichkeit u. Wahrheit, für den die Moral nicht kompromissfähig ist, gehört er indes zu den populären DDR-Autoren. Weitere Werke: Das Pferdemädchen. Bln./DDR 1974. Weinheim 52009. – Das Mädchen mit der Katze. Bln./DDR 1983. Lpz. 2007. – Der Hase u. der Mond. Namib. Fabeln u. Märchen. Bln./DDR 1985. 1989. Literatur: Karin Kögel: A. W.s ›Pugowitza‹. In: WB 33 (1987), S. 1275–1292. – Klaus Hammer: ›Morisco‹ v. A. W. In: WB 34 (1988), S. 956–977. – Karin Hirdina: Plädoyer für die Einsamkeit. In: SuF 40 (1988), S. 858–862. – Elke Mehnert: A. W.s ›Pause für Wanzka oder Die Reise nach Descansar‹. Pädagog. Provinz oder provinzielle Pädagogik. In: WB 36 (1990), S. 446–456. – Karin Richter: Ein ungewöhnl. Anspruch an die Erziehung u. Bildung junger Menschen. Der Schriftsteller A. W. In: Kinder- u. Jugendliteratur. Hg. Gabriele Cromme u. Günter Lange. Baltmannsweiler 2001, S. 222–233. Hannes Krauss / Red.

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Welper, Eberhard, * 1590 Lohr, † 22.6. 1664 Straßburg. – Drucker, Mathematiker, Kalendersteller.

Welschgattung logicae Genommen auß dem Stand u. Lauff des [...] 1618 [...] erschinenen grossen Cometens [...]. 1619. – Elementa geometrica, in usum geometriae studiosorum [...]. 1620. 21630. – Gnomonica, Das ist, Gründtlicher Underricht [...], wie man allerhand SonnenUhren [...] verfertigen soll [...]. 1625. 3 Tle., Nürnb. 1672–81. 1708. – Histor. Relation mit angehenckter astronom. u. astrolog. Beschreibung, deß [...] 1652 [...] erschienenen [...] newen Cometens [...]. 1653. – Cometographia. Oder Beschreibung deßen [...] 1661 [...] erschinenen newen Cometens [...]. 1661. – Prodromus coniunctionis magnae, anno 1663. futurae [...]. Das ist [...] Beschreibung der [...] Zusammenkunfft der sieben Planeten [...]. 1662. – Coniunctio Saturni et Jovis magna, Das ist [...] Beschreibung der [...] Zusammenkunfft beyder oberster Planeten [...]. 1663. – Venus eclipsata, Die verfinsterte Venus [...]. 1664. Internet-Ed. in: VD 17. – Beschreibung einer Taffel, auß welcher man [...] wissen kan, welcher Planet zu jeder Stund zu regieren pflege [...]. 1665. – Speculum astrologicum compendiosum quadripartitum [...]. 1668. Ausgaben: Flugbl., Bd. 1, Nr. 198 (E. W. d.J.). – Internet-Ed. zahlreicher Werke in: SLUB Dresden, BSB München u. HAB Wolfenbüttel.

W. studierte zunächst in Straßburg, wo er 1608 das Bakkalaureat erwarb u. 1611 zum Magister artium promoviert wurde, dann in Tübingen bei Michael Mästlin (Immatrikulation am 8.11.1612 u. Rezeption in den Kreis Magistri). 1634–1638 unterrichtete er als Mathematiklehrer am Straßburger Gymnasium Novum. W. besaß eine eigene, von seinen Erben weitergeführte Druckerei; sein Antrag beim Regierungsrat der Saverne 1654, die bischöfl. Druckerei zu erwerben, wurde wahrscheinlich nicht genehmigt. W. war in Straßburg v. a. wegen seiner jährl. Kalender bekannt. Außerdem stand er mit renommierten Professoren u. Gelehrten des Sturm’schen Gymnasiums in Verbindung, z.B. mit Matthias Bernegger, Caspar Brülow u. dem Straßburger Arzt Johann Bartsch. Er korrespondierte mit z.T. namhaften Astronomen in Ulm, Nürnberg, Regensburg, München, Westfalen u. Lübeck. Literatur: Bibliografien: VD 17. – Jean-Marie Le Mit Abdias Trew u. Christoph Schorer ge- Minor: E. W., père et fils, astronomes et astrologues e hörte W. zu denen, die im 17. Jh. die For- strasbourgeois du XVII siècle. Répertoire biblioschungsergebnisse Tycho Brahes in dt. Spra- graphique de leurs publications. In: Annuaire de la che einem Laienpublikum bekannt machten. Société des Amis du Vieux Strasbourg 28 (2001), S. 37–68. – Weitere Titel: Melchior Sebiz d.J.: ApWie die Genannten hielt er aus religiösen pendix chronologica. In: Straßburgischen GymnaGründen noch am geozentr. Weltbild fest. sii christliches Jubelfest [...] 1638 celebrirt u. beAnlässe zur Propagierung der tychon. Astro- gangen. Straßb. 1641, S. 325. – Marcel Fournier u. nomie waren die Kometenerscheinungen von Charles Engel: Gymnase, académie, université de 1618/19, 1652/53 u. 1664, Sonnenfinsternisse Strasbourg. Paris 1894. Nachdr. Aalen 1970, S. 366, u. die periodisch wiederkehrenden sog. 381. – F. Edouard Sitzmann: Dictionnaire de bio»Großen Konjunktionen« von Saturn u. Ju- graphie des hommes célèbres de l’Alsace. Bd. 2, piter. W. verzichtete ebenso wenig wie andere Rixheim 1910, S. 964. – Kurt Pilz: 600 Jahre Kalendersteller auf astrolog. Deutungen die- Astronomie in Nürnberg. Nürnb. 1977, S. 289, 314 f. – Anton Schindling: Humanist. Hochschule ser Himmelsphänomene, warnte aber davor, u. freie Reichsstadt. Wiesb. 1977, S. 252–263. – die Astrologie zur Erzeugung von Massen- Gerhard Meyer: Zu den Anfängen der Straßburger hysterie zu missbrauchen. W.s Werke über Univ. [...]. Hg. Hans-Georg Rott u. a. Hildesh. die Verfertigung von Sonnen- u. Pendeluhren 1989, S. 48, 71. – J.-M. Le Minor: E. W. In: NDBA, u. andere mathemat. Instrumente wurden Lfg. 40 (2002), S. 4163. zwischen 1672 u. 1708 von Johann Gabriel Barbara Mahlmann-Bauer / Red. Doppelmayer u. Johann Christoph Sturm neu herausgegeben. Welschgattung. – Anonyme politischWeitere Werke (Erscheinungsort jeweils Straßb.): Usus quadrantis astronomici et geometrici, Das ist Beschreibung deß Gebrauchs eines astronom. u. geometr. Quadranten [...]. 1619. – Observationes astronomicae et praedictiones astro-

allegorische Reimpaardichtung (1513). Das umfangreiche, 1513 in Straßburg bei Matthias Schürer erschienene Werk (mit drei Holzschnitten v. Hans Baldung Grien) gehört

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zu den moralisierend-adhortativen Schriften aus dem Vorfeld der Reformation. Wie bereits der Titel andeutet, macht der Autor v. a. die heillosen Zustände in Italien für die von ihm angeprangerten Missstände im öffentl., polit. u. religiösen Leben verantwortlich. Die »welsche« Unmoral drohe das christl. Abendland zu vernichten u. auch in Deutschland Fuß zu fassen. Die Rettung der Christenheit erwartet der Autor von einer polit. u. sittl. Reform unter kaiserl. Zentralgewalt. Doch vertritt er nicht eigentlich papstfeindl. oder sozialutop. Thesen wie etwa der »Oberrheinische Revolutionär« oder die späteren reformatorischen Schriften; eher ist die W. als polit. Pendant zum vorlutherischen religiösen Reformschrifttum zu sehen. Die Handlung ist nur erzählerisches Gerüst für das moralisch-didakt. u. polit. Programm: Der Ich-Erzähler wird, in Gedanken über die Sündhaftigkeit der Welt versunken, von einem sog. wilden Mann gefangen genommen u. vor ein Tribunal von zwölf Alten gestellt, denen er einen wahrheitsgetreuen Bericht über die Zeitläufe geben muss. So gelingt es dem Autor, eine detaillierte Skizze der von Geld- u. Machtgier, Intrigen, Betrug, Krieg u. Zwietracht regierten Welt, sonderlich des Welschlands, zu geben. Mit dem Rat, alle Häupter der Christenheit unter dem dt. Kaiser zu vereinen, entlassen die Weisen den Erzähler. Ausgaben: Die Welsch Gattung. Straßb. 1513. Internet-Ed. in: VD 16 digital. – Dass. In: Waga 1910, S. 170–272. Literatur: Friedrich Waga: Die Welsch-Gattung. 1. Tl. Diss. Marburg 1909. – Ders.: Die Welsch-Gattung. Breslau 1910. Nachdr. Hildesh. 1977. – Barbara Könneker: Die dt. Lit. der Reformationszeit. Ffm. 1975, S. 14. – Christine Stöllinger-Löser: Die welsch Gattung. In: VL. Ingeborg Dorchenas / Red.

Welser, Marcus, Marx, * 10.6.1558 Augsburg, † 23.6.1614 Augsburg. – Humanist, Historiker; Verleger. Der aus einer alteingesessenen Augsburger Patrizierfamilie stammende W. wurde als Zehnjähriger zum Jurastudium nach Padua geschickt. 1571 war er wahrscheinlich in Pa-

ris, danach mehrere Jahre in Rom, wo er bei Marc Antonio Bonciari u. Muretus Vorlesungen hörte. 26-jährig ging W. nach Venedig. Hier vervollständigte er seine kaufmänn. Kenntnisse u. trat in Beziehungen zu Humanistenkreisen. Auch war er Konsul der dt. Kaufmannschaft am Fondaco dei Tedeschi. 1584 kehrte er nach Augsburg zurück u. schlug eine polit. Karriere ein. 1600 wurde er einer der beiden »Stadtpfleger«. Daneben führte er mit seinem Bruder Matthäus eine europaweit operierende Handelsunternehmung, die allerdings gerade zu seiner Zeit in Schwierigkeiten geriet. Nur eine Woche nach W.s Tod ging das Unternehmen in Konkurs. Die nicht immer glückl. Vita – bei W.s Tod wurde von Selbstmord gemunkelt – bietet die Folie für reiche literar. u. mäzenatische Aktivitäten, die ihn zu einer der bedeutendsten Gestalten des dt. Späthumanismus machen. W. führte ein reiches »commercium litterarium«, u. a. mit Lipsius, Isaac Casaubon, J. J. Scaliger, Camerarius u. selbst Galilei. Als Autor trat er v. a. mit drei Werken hervor: mit einer Darstellung der antiken Geschichte seiner Vaterstadt (Rerum augustanarum vindelicarum libri octo [...]. Venedig 1594. Dt. Ffm. 1595), einer Edition röm. Inschriften u. Bildwerke Augsburgs (Antiqua monumenta. Venedig 1594) u. einer bayerischen Geschichte (Rerum Boicarum libri quinque. Augsb. 1602. Dt. ebd. 1605. 1615). W. erweist sich hier als kritisch abwägender Geist, der Klarheit der Gedanken in vorzügl. Latein auszudrücken verstand. Dabei ging es ihm um die histor. Wahrheit, ein methodisch wichtiger Fortschritt in einer Epoche der Historiografie, die sich in erster Linie für das Exemplarische, weniger für das historisch Einzigartige interessierte. Ebenfalls bedeutend waren W.s Aktivitäten als Herausgeber u. Anreger von Editionen. Ziemlich einmalig in der Epoche dürfte seine Tätigkeit als ambitionierter Verleger dastehen. Für einige Publikationen des von ihm gegründeten Verlags »Ad insigne pinus« suchte er die Zusammenarbeit mit der Offizin des Aldus Manutius in Venedig. Ein kaiserl. Privileg schützte das Unternehmen, das bis zu W.s Tod u. darüber hinaus etwa 90 Titel herausbrachte. Das u. a. in Zusammenarbeit

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mit David Hoeschel entwickelte Publikationsprogramm umfasste insbes. Werke der christl. Antike (u. a. das Myriobiblion des Photius u. die Geschichtsbücher des Prokop von Caesarea). Zu den Glanzpunkten zählten die Erstausgabe des Falkenbuchs Kaiser Friedrichs II. u. jene der Tabula Peutingeriana, der einzigartigen mittelalterl. Kopie einer antiken Straßenkarte. Die Linie von »pinus« war – vor dem Hintergrund der Spannungen der Epoche – irenisch, in gewisser Hinsicht überkonfessionell. W. war Katholik, aber er stand mit zahlreichen Protestanten in Verbindung, die auch in seinem Verlag publizierten. Als Politiker wollte er Augsburg aus konfessionellen Bündnissen heraushalten. Dabei stand er mit dem gegenreformatorischen Bayernherzog in engem persönl. Kontakt. Aller Wahrscheinlichkeit nach war er Inspirator des großartigen urbanistischen Programms, das Elias Holl seit dem Ende des 16. Jh. realisierte. Zugleich trat W. als »Denkmalpfleger« hervor: Er kümmerte sich um die Erhaltung röm. Überreste, die in Augsburg immer wieder ans Licht gebracht wurden. So steht er, als letzter großer Vertreter der süddt. Späthumanisten, in einer Traditionslinie mit Conrad Peutinger. Ausgaben: Antiqua Monumenta: Das ist, alte Bilder, Gemählde, u. Schrifften [...]. Ffm. 1595. Internet-Ed. in: HAB Wolfenb. – Chronica der [...] Statt Augspurg [...]. Ffm. 1595. Faks. mit Komm. v. Josef Bellot u. Bernd Roeck. Augsb. 1984. – Textauswahl in: Bayer. Bibliothek. Hg. Hans Pörnbacher. Bd. 2, Mchn. 1986, S. 405–407, 1302, 1342. – Opera historica et philologica, sacra et profana [...]. Hg. Christoph Arnold. Nürnb. 1682 (mit Lebensbeschreibung). – Dass.: Internet-Ed. in: CAMENA (Abt. Historica & Poltica). – Bayerische Gelehrtenkorrespondenz I: P. Matthäus Rader SJ, Bd. 2: Die Korrespondenz mit M. W. 1597–1614. Eingel. u. hg. v. Alois Schmid. Mchn. 2009. Literatur: Bibliografien: VD 16. – VD 17. – Weitere Titel: Friedrich Roth: W. In: ADB (Familienart.). – Paul Joachimsen: M. W. als bayer. Geschichtschreiber. Mchn. 1905. – Johann Michael v. Welser: Die Welser. 2 Bde., Nürnb. 1917, passim. – C. A. Willemsen: Drei Briefe des Humanisten M. W. über das Falkenbuch Kaiser Friedrichs II. In: Insel-Almanach (1962), S. 49–55. – Leonhard Lenk: Augsburger Bürgertum [...]. Augsb. 1968, passim. – R. J.

Welsh W. Evans: Rantzau and W. In: History of European Ideas. Bd. 3, Nr. 3, New York 1980, S. 257–272. – B. Roeck: Gesch., Finsternis u. Unkultur. In: AKG 72 (1990), S. 115–141. – Estermann/Bürger, Tl. 1, S. 1190; Tl. 2, S. 1393. – Benedikt Mauer: Zur Organisation städt. Bauens zwischen Elias Holl, M. W. u. Bernhard Rehlinger. In: Ztschr. des histor. Vereins für Schwaben 89 (1996), S. 75–95. – Markus Völkel: Das Verhältnis v. ›religio patriae‹, ›confessio‹ u. ›erudito‹ bei M. W. In: Die europ. Gelehrtenrepublik im Zeitalter des Konfessionalismus. Hg. Herbert Jaumann. Wiesb. 2001, S. 127–140. – Hans-Jörg Künast: Welserbibliotheken. Eine Bestandsaufnahme der Bibliotheken v. Anton, M. u. Paulus W. In: Die Welser. Neue Forschungen zur Gesch. u. Kultur des oberdt. Handelshauses. Hg. Mark Häberlein. Bln. 2002, S. 550–584. – Martin Ott: Miles laureatus. M. W. u. die Anfänge der Landesarchäologie in Bayern um 1600. In: Ztschr. für bayer. Landesgesch. 68 (2005), S. 93–111. – Magnus Ulrich Ferber: ›Scio multos te amicos habere‹. Wissensvermittlung u. Wissenssicherung im Späthumanismus am Beispiel des Epistolariums M. W.s d.J. (1558–1614). Augsb. 2008. – Ders.: Zwischen Lipsius u. Galilei. Der Briefw. M. W.s als Spiegel der geistesgeschichtl. Umwälzung zu Beginn des 17. Jh. In: Justus Lipsius u. der europ. Späthumanismus in Oberdtschld. Hg. Alois Schmid. Mchn. 2008, S. 37–53. – Kepler, Galilei, das Fernrohr u. die Folgen. Hg. Karsten Gaulke u. Jürgen Hamel. Ffm. 2010. – Humanismus u. Renaissance in Augsburg. Hg. Gernot Michael Müller. Tüb. 2010 (Register). Bernd Roeck / Red.

Welsh, Renate, * 22.12.1937 Wien. – Schriftstellerin, Kinder- u. Jugendbuchautorin. Nach dem frühen Verlust der Mutter wuchs W., Tochter eines Arztes, als Halbwaise auf. Ihre Kindheit empfand sie als unglücklich, was sie selbst als Anlass sah, Literatur für Kinder u. Jugendliche zu schreiben. Dem Abbruch des Studiums in Wien (Spanisch, Englisch, Staatswissenschaft) folgte eine Tätigkeit als Übersetzerin. Seit den 1960er Jahren arbeitete W. als freie Schriftstellerin u. wurde für ihre Kinder- u. Jugendbücher mehrfach international ausgezeichnet. Die Autorin lebt in Wien. Neben Erzählungen für Kinder (Das Vamperl. Dortm. 1979) ist W. bekannt für sozialkrit., psycholog. u. zeithistor. Jugendliteratur. Prägend in ihrem Werk sind Außensei-

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terfiguren u. die Thematisierung gesellschaftl. Missstände. Dabei greift W. verschiedene Sujets wie Drogenabhängigkeit (Und schicke ihn hinaus in die Wüste. Wien/ Mchn. 1981), Umgang mit Behinderungen/ seel. Erkrankungen (Drachenflügel. Ebd. 1988. Disteltage. Ebd. 1996), Gastarbeiterproblematik (Spinat auf Rädern. Wien 1991), Krieg (Dieda oder Das fremde Kind. Ebd. 2002), aber auch Gewalt in der Schule (Sonst bist du dran! Würzb. 1994) auf. Kindheit u. Jugend sind bei W. nicht Momente des Idylls, sondern Lebensphasen der Unsicherheit u. Verletzlichkeit. Ihre Adoleszenzromane werden den »sozialrealistischen« Jugendbüchern zugeordnet, da Themenwahl u. Darstellungsweise auf eine wirklichkeitsnahe Abbildung der Probleme junger Menschen abzielen. W. nutzt dabei auch Techniken der Montage, wie im Roman Ülkü – das fremde Mädchen (Wien 1970), in dem reale Zeitungsartikel, Interviews u. Briefe neben narrativen Passagen stehen. Charakteristisch für ihre Werke ist die Verbindung von Individualschicksal u. jeweiligem histor. Kontext. Dies trifft besonders auf ihren vielfach ausgezeichneten Roman Johanna (Wien/Mchn. 1979; Deutscher Jugendliteraturpreis 1980) zu. Das unehelich geborene u. daher sozial ausgestoßene Mädchen wächst im Österreich der 1930er Jahre auf. W. schildert Johannas Unterdrückung u. Ausbeutung auf einem Bauernhof, aber auch ihre Emanzipation u. ihren Entschluss, das eigene Leben selbstbestimmt zu meistern. Der Roman lässt die Grenzen der Jugendliteratur hinter sich u. öffnet sich zur Emanzipations- u. Gesellschaftsgeschichte. W.s großer Erfolg als Kinder- u. Jugendbuchautorin hat häufig den Blick der Kritiker auf ihre Erwachsenenliteratur versperrt, in der sie, ebenfalls sozialkritisch u. dem empir. Realismus folgend, v. a. Frauenschicksale der letzten Jahrhunderte in den Mittelpunkt stellt (Das Lufthaus. Wien 1994. Die schöne Aussicht. Mchn. 2005). Der histor. Roman Constanze Mozart. Eine unbedeutende Frau (Wien 1990) schildert das biogr. Resümee von Mozarts Witwe; in Liebe Schwester (Mchn. 2003) werden multiperspektivisch Leben u. Liebe

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im Alter zweier über 80-jährigen Schwestern erzählt. W. wurde mittlerweile zur Professorin (1992) u. zur Präsidentin der Interessengemeinschaft Österreichischer Autorinnen und Autoren (2006) ernannt, ihr Werk immer wieder mit Ehrungen ausgezeichnet, darunter seit 1977 mehrfach mit dem Österreichischen Staatspreis für Kinder- und Jugendliteratur. Weitere Werke: Prosa (Erscheinungsort, wenn nicht anders angegeben: Wien): Der Enkel des Löwenjägers. Innsbr. 1969. – Alle Kinder nach Kinderstadt. 1974. – Der Staatsanwalt klagt an. 1975. – Empfänger unbekannt – zurück. 1976. – Drittes Bett links. Dortm. 1976. – Einmal 16 und nie wieder! 1975. – Ende gut – gar nichts gut. 1980. – Die Brieftaubentante. 1983. – Wie in fremden Schuhen. 1983. – Ich verstehe die Trommeln nicht mehr. Erzählungen aus Afrika. 1983. – Wen die Musen küssen... der tanzt schon mal aus der Reihe. Ravensburg 1984. – Einfach dazugehören. 1984. – Das kleine Moorgespenst. Hbg. 1985. – Eine Hand zum Anfassen. Ein Briefroman. 1985. – Schneckenhäuser. 1986. – In die Waagschale geworfen – Österreicher im Widerstand. 1988. – Stefan. 1989. – Die Gedanken sind frei. 1990. – Besuch aus der Vergangenheit. 1991. – Vamperl soll nicht alleine bleiben. Mchn. 1992. – Eine Krone aus Papier. 1992. – Das Haus in den Bäumen. 1993. – Das Gesicht im Spiegel. 1997. – Max, der Neue. Würzb. 1998. – Sechs Streuner. Zürich/Frauenfeld 1998. – Wiedersehen mit Vamperl. Mchn. 1998. – Gut, dass niemand weiß. Innsbr. 2006. – Großmutters Schuhe. Mchn. 2008. – Ohne Vamperl geht es nicht. Mchn. 2010. – Sonstige: Gesch.n hinter den Gesch.n. Innsbrucker Poetik-Vorlesung. Innsbr. 1995. Literatur: Karin Sollate: ›Ich kann dir keine Antworten geben, aber steh’ zu deinen Fragen‹. Österr. Würdigungspreis für R. W. In: 1000 u. 1 Buch. 3 (1992), S. 31–40. – Andrea Urbanek: R. W. In: KJL. – Beth Bjorklund: History from a Woman’s Perspective: R. W.’s Lufthaus. In: Out from the shadows. Essays on contemporary Austrian women writers and filmmakers. Hg. Margarete Lamb-Faffelberger. Riverside 1997, S. 88–100. – Andrea Urbanek: ›Etwas gestalten oder erzählen zeigt die Möglichkeiten in der Wirklichkeit auf.‹ Über einen Besuch bei R. W. In: 1000 u. 1 Buch. 4 (1998), S. 31–35. – Maria Gebel: ›Was will die Rumänin?‹ R. W.s ›Spinat auf Rädern‹. In: Das Fremde u. das Andere. Interpretationen u. didakt. Analysen zeitgenöss. Kinder- u. Jugendbücher. Hg. Petra Büker u. Clemens Kammler. Ffm. 2003, S. 127–139. –

287 Anita C. Schaub: Schreiben ›rechtfertigt‹ meinen Platz auf der Welt. Gespräch mir R. W. In: FrauenSchreiben. Abenteuer, Privileg oder Existenzkampf ? Gespräche mit 17 österr. Autorinnen. Hg. dies. Wien 2004, S. 203–210. – A. Urbanek: Die Kinder- u. Jugendbuchautorin R. W. Einblicke in Leben u. Werk. In: Leser treffen Autoren. Autorenporträts – Selbstcharakteristiken – Lesungen. Hg. Kurt Franz u. Paul Maar. Baltmannsweiler 2006, S. 112–126. – Dies.: Wege zur Lit.: Lesen zwischen Wirklichkeit u. Anspruch. Zum Stellenwert u. zur Vermittlung realist. Kinder- u. Jugendliteratur, exemplifiziert an ausgewählten Werken R. W.s. Diss. Würzb. 2006. – Ernst Seibert: Themen, Stoffe u. Motive in der Lit. für Kinder u. Jugendliche. Wien 2008. Susanne Bach

Welskopf-Henrich, Liselotte, eigentl.: Elisabeth Charlotte Welskopf, geb. Henrich, * 15.9.1901 München, † 16.6.1979 Garmisch-Partenkirchen; Grabstätte: Friedhof Berlin-Adlershof. – Althistorikerin, Jugendbuchautorin.

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man geplant, weitete W. die Handlung bis 1963 zu einer mehrfach bearbeiteten, heute sechsbändigen, Saga unter diesem Sammeltitel aus. Am Beispiel des Schicksals des Sioux Tokei-ihto schildert sie die Unterwerfung der nordamerikan. Prärieindianer in der zweiten Hälfte des 19. Jh. Obwohl der Roman explizit als Gegenentwurf für den in der DDR bis Anfang der Achtzigerjahre verpönten Karl May u. seine Werke konzipiert war, griff sie auf Quellen, Motive u. Stilmittel dieses Autors zurück. Die Söhne der großen Bärin war die Vorlage für den gleichnamigen ersten DEFAIndianerfilm von 1966. In der Pentalogie Das Blut des Adlers (Halle/Lpz. 1966–80) wandte sich W. der Situation auf den Reservationen u. der indian. Bürgerrechtsbewegung der USA in der Entstehungszeit dieser Romane zu. Der beim Publikum weniger erfolgreiche Zyklus ist nicht frei von ideologisch bedingten Stereotypen. Seit 1963 unternahm W. Reisen in die USA u. Kanada, wo ihr von den Sioux der Ehrenname »Lakota-Tashina« (Schutzdecke der Lakota) verliehen wurde.

W., Tochter eines Rechtsanwalts, studierte an der Berliner Universität Ökonomie, GeWeitere Werke: Der Steinknabe. Bln./DDR schichte u. Philosophie (Dr. phil. 1925). Von 1952 (E.). – Der Bergführer. Halle 1954 (E.). – Hans 1928 bis 1945 arbeitete sie im Statistischen u. Anna. Bln./DDR 1954. – Die ProduktionsverReichsamt in Berlin. Ihre Ablehnung des hältnisse im Alten Orient u. in der griech.-röm. Nationalsozialismus führte W. 1938 in den Antike. Ebd. 1957. – Frau Lustigkeit u. ihre fünf aktiven Widerstand. Seit 1943 half sie KZ- Schelme. Ebd. 1958. – Das helle Gesicht. Halle 1980 (R.). – (Hg.): Hellen. Poleís. Krise, Wandlung, WirHäftlingen. Obgleich sie in das Visier der kung. 4 Bde., Bln./DDR 1974. Gestapo geriet (Verhör 1944), verhalf sie ihLiteratur: E. C. W. u. die Alte Gesch. in der rem späteren Mann Rudolf Welskopf (Heirat DDR. Beiträge der Konferenz vom 21. bis 23. Nov. 1946) zur Flucht aus dem Konzentrationsla- 2002 in Halle/Saale. Hg. Isolde Stark. Stgt. 2005, ger u. verbarg ihn bis Kriegsende. In auto- S. 201–205. – Erik Lorenz: L. W.-H. u. die Indianer. biografisch angelegten Romanen (Jan und Eine Biogr. Chemnitz 2009. Thomas Kramer Jutta. Bln./DDR 1953. Zwei Freunde. Ebd. 1956) verarbeitete sie diese Erlebnisse. Seit 1949 war sie als Althistorikerin an der Welt, Wolfgang, * 31.12.1952 Bochum. – Humboldt-Universität zu Berlin tätig (1959 Literatur- u. Musikredakteur, WegbereiHabilitation: Probleme der Muße im alten Hellas. ter des Popjournalismus, Nachtportier, Bln./DDR 1962; Professur 1960; Leiterin der Romanautor. Abteilung Altertum 1961). Nach ihrer Emeritierung 1961 leitete sie ein Forschungspro- W. wuchs als Sohn eines Bergmanns u. einer jekt zur Polis u. setzte sich an der Universität Hausfrau in Bochum-Langendreer auf. Nach für Kritiker des SED-Regimes ein. dem Abitur 1971 studierte er erfolglos EngEinem breiten Publikum, insbes. in der lisch u. Philosophie an der Ruhruniversität DDR, aufgrund zahlreicher Übersetzungen Bochum, jobbte nebenher in Schallplattenläaber auch in Osteuropa, wurde sie durch das den u. begann Ende der 1970er Jahre eine Jugendbuch Die Söhne der großen Bärin (Bln. Karriere als Musikjournalist, zunächst beim 1951) bekannt. Zunächst als einbändiger Ro- Bochumer Stadtmagazin u. Ruhrpott-Szene-

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blatt »Marabo«, seit 1981 auch bei den führenden Popmagazinen »Sounds« u. »Musikexpress«. Auch wenn W.s Musikrezensionen u. Konzertbesprechungen dem radikal-subjektiven Duktus der Post-Punk-Ära verpflichtet waren, stießen die bewusst analysearme u. anti-intellektuelle Polemik sowie die Abschweifungen ins Persönlich-Banale in den theorieeuphor. Subkulturen auf Ablehnung. Berüchtigt waren W.s Provokationen u. Beschimpfungen von Schlager-Größen wie Herbert Grönemeyer oder Heinz-Rudolf Kunze, den er als »singenden Erhard Eppler« abkanzelte. Zwar sah sich W. gezwungen, seinen Lebensunterhalt seit 1982 als Nachtpförtner zu verdienen, zunächst in der »Ruhrlandhalle« u. im Rathaus, dann seit 1991 im Bochumer Schauspielhaus, doch trieb ihn der Wunsch, Berufsschriftsteller zu werden. Davon zeugen seine stark autobiografisch gefärbten Schreibversuche, die sich als die endlose Geschichte eines immer wieder aufgeschobenen Lebens-Romans lesen, der irgendwann bei Suhrkamp, dem »Verlag von Hermann Hesse«, groß rauskommen solle. W.s Jugend in einer Arbeitersiedlung zwischen Opel-Werk, Bolzplatz, Eckkneipe, Tschibo-Kaffeestube, Vorstadt-Disko u. Buddy Holly Club ist Gegenstand seiner ersten Erzählung von 1982, Buddy Holly auf der Wilhelmshöhe, veröffentlicht in Diedrich Diederichsens Pop-Anthologie Staccato. Musik und Leben (Düsseld.). Der hier verewigte, 1959 tödlich verunglückte Rock-’n’-Roll-Star u. Jugendheld W.s ist das immer wiederkehrende Leitmotiv seines literar. Werks, das in diversen Fortsetzungsromanen um die autobiogr. Figur eines immer noch bei den Eltern lebenden Taugenichts kreist, der sich vergeblich um Erfolg im Literaturbetrieb u. beim weibl. Geschlecht bemüht. Die Rastlosigkeit u. Umtriebigkeit paart sich zunehmend mit Zügen des Wahns – der Protagonist glaubt sich identisch mit J. R. aus der TV-Serie Dallas; die Diagnose einer paranoiden Schizophrenie führt schließlich zur Einlieferung in die Psychiatrie. 1986 erschien im linksalternativen Konkret-Literatur-Verlag W.s Romandebüt Peggy Sue (Hbg.). Auch wenn die Verkaufszahlen

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sehr bescheiden blieben, erhielt der Roman eine gewisse Resonanz im popkulturellen Milieu, nicht zuletzt durch einen grandiosen Verriss des »Spex«-Cheftheoretikers Diedrich Diederichsen, der die Offenheit W.s im Umgang mit Insiderwissen der Szene u. den unvermittelten, mitunter peinl. Bekenntniszwang des Autors ablehnte. Umgekehrt trafen W.s explizite Schilderung der sexuellen Obsessionen seines Protagonisten, das provokativ zur Schau gestellte Ressentiment gegen alle Autoritäten, das Lob der Faulheit u. die schonungslose Selbst- u. Fremderniedrigung den Ton einer linken Szene zwischen KGruppen-Machismus, Proletkult u. undogmat. Stilpluralismus der Popkultur um 1980. W.s Leben u. Fiktion konsequent mischendem Antibildungsroman wurde erst in den 2000er Jahren die von ihm herbeigesehnte literar. Konsekration zuteil. Zu W.s Förderern zählt, neben dem Journalisten Willi Winkler u. dem ehemaligen Intendanten des Bochumer Schauspiels, Leander Haußmann, v. a. Peter Handke, auf dessen Empfehlung hin der Suhrkamp Verlag das bis dato vorliegende literar. Gesamtwerk W.s – als Tetralogie – veröffentlichte. Durch Handke wiederum war W. schon früh auf die Schriften von Hermann Lenz aufmerksam geworden, an dessen autobiogr. Schreibweise seine Romane sich auch poetologisch orientieren u. mit dem er einen Briefwechsel unterhielt. 2002 erhielt W. ein Hermann-LenzStipendium, danach mehrere Arbeitsstipendien des Landes Nordrhein-Wwestfalen. Auch wenn Winkler W. einmal als den »größte[n] Erzähler des Ruhrgebiets« bezeichnet hat, blieb er lange Zeit jener literar. Außenseiter, dessen Alter-Ego als geborener Verlierer seine Romanwelten vorantreibt. Erst jüngst beginnt die Literaturwissenschaft den eminenten Beitrag W.s für eine Literaturgeschichte des Ruhrgebiets zu entdecken. Die dichten Milieustudien kleinbürgerl. Lebensweisen u. Mentalitäten, die konsequente Verliererperspektive eines von Alkoholexzessen, sexuellen Frustrationserfahrungen u. Geldproblemen geplagten Möchtegern-Kreativen erweisen sich bei genauer Lektüre als durchaus ambitionierte literar. Reflexion der postindustriellen Strukturveränderungen der

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Ruhr-Region. Auch die minutiöse Registratur eines sich rasant wandelnden Kneipenmilieus u. einer regen Musikclubszene zwischen Hardrock, Punk, New Wave u. Neuer Deutscher Welle sowie die komplexe Intertextualität eines auf E- u. U-Kultur eingestellten Verweissystems hat zur (Wieder-)Entdeckung W.s als einem der frühesten u. »der wichtigsten deutschen Popliteraten der Gegenwart« (T. Ernst) geführt. Nicht zuletzt die fast manische Egozentrik des Protagonisten u. die v. a. im Jahr 2009 erschienenen Romanteil Der Tunnel am Ende des Lichts literarisch versierte Protokollierung einer Psychose stellen W.s Werk in die Tradition der Psychopathologien der literar. Moderne. Weitere Werke: Peggy Sue & andere Gesch.n. Bochum 1997. – Der Tick. Mchn. 2001. – Buddy Holly auf der Wilhelmshöhe. Drei Romane. Ffm. 2006. – Doris hilft. Roman. Ffm. 2009. Literatur: Wolfgang Frömberg: W. W. Es muss nicht immer Jean Genet sein. In: Spex Nr. 300, Juli 2006. – Willi Winkler: Nachw. In: W. W.: Doris hilft (s. o.), S. 243–247. – Thomas Hecken u. Katja Peglow: Buddy Holly war nie auf der Wilhelmshöhe. In: ECHT! Pop-Protokolle aus dem Ruhrgebiet. Hg. Johannes Springer u. a. Duisb. 2008, S. 190–199. – Thomas Ernst: Das Ruhrgebiet als Rhizom. Die Netzstadt u. die ›Nicht-MetropoleRuhr‹ in den Erzählwerken v. Jürgen Link u. W. W. In: Literaturwunder Ruhr. Hg. Gerhard Rupp u. a. Essen 2011, S. 43–70. – T. Ernst u. Florian Neuner (Hg.): Das Schwarze sind die Buchstaben. Das Ruhrgebiet in der Gegenwartslit. Oberhausen 2010. Patrick Ramponi

Weltgerichtsspiel, Weltgerichtsspiel

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Welti, Albert Jakob, * 11.10.1894 Höngg (heute zu Zürich), † 5.12.1965 Genf; Grabstätte: Bern, Schosshaldenfriedhof. – Dramatiker, Erzähler; Maler.

Malerei zur Schriftstellerei überging u. sein erstes, 1925 am Stadttheater Basel uraufgeführtes Schauspiel Maroto und sein König (Zürich 1926) schrieb: Ein General wird zum Verräter, weil er einem unfähigen Herrscher nicht dienen kann. Von 1923 bis zu seinem Tod wohnte W. in Chêne-Bougeries bei Genf, wo er ein mit Ausnahme der Lyrik alle Sparten umfassendes, umfangreiches literar. Œuvre schuf, ohne jedoch das Malen ganz aufzugeben. Bis 1940 schrieb W. fast ausschließlich Bühnenwerke: das histor. Drama Servet in Genf (Elgg 1930), das 1933 in Zürich erschienene Kriminalstück Blaubart oder das histor. Mundartstück Mordnacht (Elgg 1937). Er errang dabei seinen größten Erfolg mit dem ebenfalls in Zürcher Dialekt gehaltenen, bewegenden Außenseiterdrama Steibruch (Zürich 1939), das wider Erwarten zum großen kulturellen Ereignis der Schweizerischen Landesausstellung 1939 in Zürich wurde. Mit dem monumentalen Schweizer Generationenroman Wenn Puritaner jung sind (ebd. 1941) legte W. zwei Jahre später erstmals ein Prosabuch vor u. schuf sich in der Folge mit Titeln wie Martha und die Niemandssöhne (ebd. 1948), Die kühle Jungfrau Hannyvonne (ebd. 1954) oder Der Dolch der Lucretia (ebd. 1958) ein Renommee als psychologisch einfühlsamer, wenn auch stofflich etwas ausufernder Erzähler. Eine rundum gelungene Leistung stellt sein letztes Werk, Bild des Vaters (ebd. 1962), dar, indem es seine künstlerischen mit seinen literar. Fähigkeiten verknüpft u. der lebenslang als übergroß u. bedrohlich empfundenen Gestalt des berühmten Vaters eine feinfühlige Hommage darbringt. Literatur: Reto Caluori: Anhang zu A. J. W.: ›Steibruch‹ u. andere Texte. Hg. R. Caluori. Bern 2002, S. 161–254 (Bibliogr. S. 241–249). Charles Linsmayer

Der Sohn des Malers Albert Welti verbrachte Das weltliche Klösterlein. – Minnerede, seine Schulzeit in München u. Bern. Schüler vermutlich 1472 entstanden. seines Vaters, setzte W. seine künstlerische Ausbildung nach dessen Tod 1912 an der Das w. K. gehört mit gut 400 paargereimten Münchner Kunstakademie sowie in Madrid Versen zu den wenigen Minnereden, die im u. London fort. 1920 heiratete er die künftige Druck erschienen sind. Der Simmerner Druck Biologin Eva Hug (1898–1981) u. lebte mit von 1533/35 wurde unter Bearbeitung des ihr zwei Jahre auf Mallorca, wo er von der Prologs in die Zimmersche Chronik von 1566

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aufgenommen u. dort fälschlich dem Grafen fisch-erot. Utopie, die ihren Witz daraus beWilhelm Werner von Zimmern (1485–1575) zieht, dass sie in einer »verkehrten Welt« angesiedelt ist u. der Rezipient das Erzählte zugeschrieben. Der anonyme, vielleicht Hermann von mit konventionellen Formen klösterl. Lebens Sachsenheim nahe stehende Verfasser knüpft vergleicht. Wie in anderen Werken dieser Zeit an die verbreitete spätmittelalterl. Vorstel- ist die literar. Verbindlichkeit des hochmitlung an, dass Liebende eine Ordensgemein- telalterl. Minneideals weitgehend geschwunschaft bilden (vgl. Artikel »Kloster der Min- den. ne«), u. beschreibt so die weltl. MinnetheAusgabe: Kurt Matthaei: Das w. K. u. die dt. matik mittels einer geistl. Denkform. Der Ich- Minne-Allegorie. Diss. Marburg 1907, S. 75–81. Erzähler kritisiert im Prolog der ChronikLiteratur: Tilo Brandis: Mhd., mittelniederdt. Fassung eine zu umfassende Tätigkeit der u. mittelniederländ. Minnereden. Mchn. 1968, »fantasei« u. intensives »speculiern« u. sucht S. 171. – Ingeborg Glier: Artes amandi. Mchn. auf einem Spazierritt Erholung, während die 1971, S. 113, 338–340 u. ö. – Maria Schierling: Das Fassung des Separatdrucks mit dem Erwa- Kloster der Minne. Göpp. 1980, S. 138–140. – chen aus einem Traum beginnt. Der Ich-Er- Werner Wunderlich: Johann II. v. Simmern. Autor u. Gelehrter auf dem Fürstenthron. In: Euph. 85 zähler gelangt in ein Kloster, in dem 18 junge (1991), S. 1–37, hier S. 32. – Heribert Rissel: D. w. Paare zusammen mit ihrer Dienerschaft u. K. In: VL. – Wolfgang Achnitz: ›De monte feneris einigen Mönchen (Abt, Pförtner usw.) leben. agitur hic‹. Liebe als symbol. Code u. als Affekt im Ein Latein sprechender Pförtner führt das Kloster der Minne. In: Die Burg im Minnesang u. staunende Ich in die Regeln u. den Tagesab- als Allegorie im dt. MA. Hg. Ricarda Bauschke. lauf des Ordens ein. Die Klosterbewohner Ffm. 2006, S. 161–186. gehen zwar zur Messe, führen aber v. a. ein Ingeborg Glier / Sandra Linden sorgloses Luxusleben: in schwarzer, doch prächtiger Kleidung, mit üppigen MahlzeiWeltsch, Felix, * 6.10.1884 Prag, † 9.11. ten, höf. Unterhaltung (u. a. Tischlesungen 1964 Jerusalem. – Philosoph. mit Liebesthematik, Tanzen, Musizieren, Jagen u. Fischen, sogar Picknicks) u. nicht zu- Der Sohn eines jüd. Textilhändlers studierte letzt Liebesfreuden. Wie einer der Diener in Prag Jura (1907 Dr. jur.) u. Philosophie bemerkt: In diesem Kloster ist jeden Morgen (1911 Dr. phil.) u. arbeitete 1910–1939 in der Ostern u. jeden Abend Fastnacht (vv. Prager Universitätsbibliothek. W. setzte sich 281–283); dennoch handelt es sich nicht um schon früh mit dem Zionismus auseinander, maßlose Trieberfüllung, sondern um eine studierte den Talmud u. gab 1919–1938 die exakt regulierte Lebensfreude. Dem Problem in Prag erscheinende zionistische Wochender Hinfälligkeit im Alter wird mit einer schrift »Die Selbstwehr« heraus. Über eine Versorgung im Spital begegnet. Aus der gemeinsam mit Max Brod unternommene Ordnung der Minne u. Freude resultiert eine Reise nach Palästina berichtet er in Land der Pflicht zur geselligen Fröhlichkeit; so wird Gegensätze. Eindrücke einer Palästinareise (Prag etwa Einzelgängertum im Kloster mit Ker- 1929). Während zwei seiner Geschwister in kerhaft bestraft. Nach Hause zurückgekehrt, Auschwitz ermordet wurden, gelang W. 1939 bewertet der Erzähler ein solches Leben als die Flucht nach Palästina; er arbeitete an der erstrebenswert, aber vom Glück abhängig. In Bibliothek der Universität Jerusalem. W., typischer Repräsentant des dt. Prager einer Wendung ans Publikum bietet er sich für das kommende Pfingstfest als Führer zum Judentums, verband als Mitgl. des Prager Kreises eine enge Freundschaft mit Kafka, Kloster an. Das w. K. formuliert im Unterschied zu den Werfel u. Brod, zu dessen 50. Geburtstag er meisten Minnereden keine expliziten Lehren die Festschrift Dichter – Denker – Helfer (Mähu. ist auch keine Klostersatire, lediglich die risch-Ostrau 1934) herausgab. Eine krit. Normiertheit des klösterl. Alltags wird in Sichtung erkenntnistheoret. u. psycholog. betont nüchterner Beschreibung parodistisch Positionen legte W. gemeinsam mit Max Brod umgewertet. Es entwirft spielerisch eine hö- in Anschauung und Begriff (Lpz. 1913) vor. In

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späteren Schriften wie Organische Demokratie (ebd. o. J.) u. Das Wagnis der Mitte. Ein Beitrag zur Ethik und Politik der Zeit (Mährisch-Ostrau 1936. Stgt./Bln./Köln 1965) wendet sich W. prakt. philosophischen Fragen zu u. vertritt eine eth. Position der »Mitte« als Korrektiv zu den ideolog. u. polit. Radikalisierungen der Zwischenkriegszeit. Weitere Werke: Gnade u. Freiheit. Untersuchungen zum Problem des schöpfer. Willens in Religion u. Ethik. Mchn. 1920. – Nationalismus u. Judentum. Bln. 1920. – Zionismus als Weltanschauung (zus. mit Max Brod). Mährisch-Ostrau 1925. – Antisemitismus als Völkerhysterie. Prag 1931. – Das Rätsel des Lachens. Mährisch-Ostrau 1935. – Lebensstandard u. ewiger Krieg. Haifa 1952. – Religion u. Humor im Leben u. Werk Franz Kafkas. Bln. – Grunewald 1957. Düsseld. 2008. – Sinn u. Leid. Hg. Manfred Voigts. Bln. 2000. Literatur: Margarita Pazi: F. W.: Die schöpfer. Mitte. In: Leo Baeck Bulletin, Nr. 50 (Tel Aviv 1974). – Manfred Voigts: Franz Kafkas Freund F. W. In: Sprache im techn. Zeitalter 40 (2002), H. 164, S. 392–410. – Carsten Schmidt: Kafkas fast unbekannter Freund. Das Leben u. Werk v. F. W. (1884–1964). Ein Held des Geistes – Zionist, Journalist, Philosoph. Würzb. 2010. Johann Sonnleitner / Red.

Welz, Justinian Ernst Frhr. von, * 12.12. 1621 Chemnitz, † 1668 Surinam (?). – Theologe. W. entstammte einer österreichischen luth. Familie, wuchs in Ulm auf u. studierte seit 1638 in Leiden Geschichte u. Jura. An den Missständen in Staat u. Kirche nahm er energisch Anstoß, ja, er rechtfertigte den Widerstand bis zum Sturz der Staatsgewalt, wenn sie ihr Recht missbraucht (Tractatus de Tyrannide. [Leiden] 1641. 21643). Die beiden folgenden Jahrzehnte liegen fast ganz im Dunkeln. Intensives Studium der Geschichte, der Bibel, von Erbauungsliteratur, vielleicht des Paracelsus, sicher Luthers ist zu erschließen. Ob W. dann in den 60er Jahren das Einsiedlerideal im protestantischen Raum als einen Weg zur Vertiefung der Frömmigkeit (De Vita solitaria. Ulm 1663) ganz neu wieder thematisiert, ob er Gedanken des Thomas a Kempis Raum gibt, ob er 1664 in gleich drei Schriften (Eine christliche Vermahnung [...], be-

treffend eine sonderbare Gesellschaft, durch welche unsere evangelische Religion möchte ausgebreitet werden [...]. Einladungstrieb zum herannahenden großen Abendmahl und Vorschlag zu einer christlichen Jesus-Gesellschaft [...]. Beide Nürnb. Wiederholte [...] Vermahnung [...]) die Ausbreitung der christl. Lehre unter fremden Völkern propagiert: immer ist er ähnlich radikalreformerisch wie in seinem Traktat von 1641. Die vielen Gesellschaftsgründungen seiner hierfür offenen Zeit (Spener ging hier auf Distanz) werden ihn angeregt haben, u. U. hat W.s Dringen auf Abkehr von der Welt das Klima der Schütz-Spenerschen Collegiumgründung mitbestimmt. Die Pläne des inneren Aufbaus u. der äußeren Leitung seiner Gesellschaft waren bis ins Einzelne ausgeführt. An die auszusendenden Missionare stellte W. durchaus realistische Forderungen. W. fand für seine Pläne lediglich wohlwollende Unterstützung, etwa durch Johann Georg Gichtel oder durch ein Widmungsgedicht Sigmund von Birkens; auch Breckling wandte sich öffentlich an W. (Dünnhaupt2 1, S. 623 Nr. 128; 2, S. 760 Nr. 1). In Regensburg aber erwuchs ihm in Johann Heinrich Ursinus ein ernster Gegner. W. machte sich durch seine Verbindungen zu den Schwärmern u. Kirchenkritikern Georg Gichtel u. Friedrich Breckling zusätzlich verdächtig. Letzerer, bei dem W. im Juli 1664 eintraf, trat literarisch für ihn ein u. ordinierte (zusammen mit Johann Caspar Charias und Gottfried Friedeborn) W. vor dessen Ausreise nach Surinam 1665, von wo er an F. Breckling geschrieben und wo er der Überlieferung nach 1668 durch wilde Tiere den Tod gefunden hat. – Im 19. Jh. sind viele Ideen W.’ in die Tat umgesetzt worden, ohne dass eine Kontinuität besteht. Ausgaben: Größel 1897, S. 127–235 [Auszüge v. W. u. a.]. – J. v. W. Essays by an early prophet of mission. Hg. James A. Scherer. Grand Rapids/Mich. 1969 (mit Ursinus’ Gegenschrift) [Teilsammlung]. – J. v. W. Ein Österreicher als Vordenker u. Pionier der Weltmission. Sämtl. Schr.en. Hg. Fritz Laubach. Bonn 22010. – Briefe: J. v. W. an Michael Havemann (1597–1642); Korr. mit Hzg. Eberhard III. v. Württemberg; an Ernst den Frommen – alles 1664 (s. Raupp 1998).

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Literatur: Bibliografien: Fritz Laubach: J. v. W. Diss. masch. Tüb. 1955. – Dünnhaupt 2. Aufl., Bd. 2, S. 760, Nr. 1. – Raupp 1998. – Schmidt, Quellenlexikon. – Weitere Titel: Wolfgang Größel: Die Mission u. die evang. Kirche im 17. Jh. Gotha 1897. – Hans Birkner: v. W. In: Archiv für Sippenforsch. 4,6 (1929), S. 217 ff. – Werner Elert: Morphologie des Luthertums. Bd. 1, Mchn. 1931 u. ö., S. 336–351. – Friedrich Fritz: Konsistorium in Württemberg. In: Bl. für württ. Kirchengesch. 40 (1936), S. 105 f. – Erich Beyreuther: Die Bedeutung des 17. Jh. für das dt. Missionsleben. In: Evang. Missionsztschr. 8 (1951), S. 69 ff., 104 ff. – Laubach, a. a. O. – Ernst Benz: Die protestant. Thebais [...]. Wiesb. 1963, S. 62–80. – F. Laubach: J. v. W. In: Evang. Missionsztschr. 22 (1964), S. 158–165. – Erich Geldbach: J. v. W. [...]. In: Ztschr. für Mission 1 (1975), S. 142–154. – Dietrich Blaufuß: Beziehungen F. Brecklings nach Süddtschld. [...]. In: Ders.: Korrespondierender Pietismus [...]. Lpz. 2003, S. 261 [1976]. – Ders.: Reichsstadt u. Pietismus [...]. Neustadt/Aisch 1977, S. 116 f. u. ö. – Monika Stumberger: Die Welzer [...]. Graz 1980. – E. Beyreuther: Frömmigkeit u. Theologie. Hildesh. 1980, S. 68–88. – Herbert W. Wurster: Johann Heinrich Ursinus: Mein Lebens-Lauff [...]. In: Ztschr. für bayer. Kirchengesch. 51 (1982), S. 73–105. – Werner Wilhelm Schnabel: J. E. v. W. u. Sigmund v. Birken. In: Monatsanzeiger, Museen u. Ausstellungen in Nürnberg, Nr. 105 (1989), S. 842. – Gesch. Piet. Bd. 1 (1993), S. 234. – Werner Raupp: J. E. Frhr. v. W. In: Bautz (Quellen, Lit.). – Andreas Deppermann: Johann Jakob Schütz u. die Anfänge des Pietismus. Tüb. 2002, S. 78–80. – Friedrich Breckling: Autobiogr. [...]. Hg. Johann Anselm Steiger. Tüb. 2005, S. 28 f. – Ernst Koch: Die ›Neue geistlich-fruchtbringende Jesus-Gesellschaft‹ in Rudolstadt. In: PuN 31 (2005), S. 21–59. Dietrich Blaufuß

Wendler, Otto Bernhard, auch: Peter Droß, * 10.12.1895 Frankenberg/Sachsen, † 7.1.1958 Burg bei Magdeburg. – Pädagoge u. Autor von Romanen, Kinder-, Jugend- u. Drehbüchern, Bühnenstücken, Puppen- u. Märchenspielen. Der Sohn eines Kupferschmieds nahm als Freiwilliger am Ersten Weltkrieg teil u. setzte 1918 die bereits begonnene Lehrerausbildung fort. Als Anhänger der Reformpädagogik wurde er 1933 aus dem Schuldienst entfernt. Nach dem Verbot seiner Werke im selben Jahr verfasste er unter dem Pseudonym

Peter Droß Jugendbücher. Durch Bekanntschaft mit berühmten Schauspielern (Heinz Rühmann, Hans Albers, Ilse Werner) u. dem Regisseur Robert A. Stemmle konnte W. ab 1937 offiziell als Drehbuchautor arbeiten. Nach 1945 zunächst Oberschulrat im Kreis Jerichow, übernahm er dann die Leitung des Kulturamtes im Bezirk Magdeburg, die er 1947 aufgab, um als freischaffender Autor tätig zu sein. Als erster Vorsitzender des Schriftstellerverbandes Sachsen-Anhalt unterstützte er die Gründung der »Arbeitsgemeinschaft Junger Autoren«, die junge Talente förderte, u. a. Reiner Kunze u. Brigitte Reimann. Die Kriegserlebnisse verarbeitete W. in seinem ersten Roman, Soldaten Marieen (Lpz./ Wien 1929), der auch ins Englische übersetzt wurde. Acht einfache Soldaten schließen auf der Fahrt zur Ostfront Freundschaft. Zunächst sind sie optimistisch gestimmt u. bereit, für den Kaiser zu sterben. Drei von ihnen überleben den gemeinsamen Fronteinsatz; sie sind zu der Erkenntnis gekommen, dass sie zu Mördern geworden sind. W. beschreibt den Prozess ihrer Desillusionierung. Daneben treten die in vielen Kriegsromanen üblichen Typen auf: der brüllende Feldwebel, der seine Untergebenen schikaniert, der eitle General, der sich für die Nöte der einfachen Soldaten nicht interessiert u. sich stets im sicheren Hinterland aufhält, der Hauptmann, der sich um seine Truppe bemüht, treulose Ehefrauen u. Freundinnen, die ihre Partner betrügen, sowie Dirnen, welche die Soldaten trösten. Die folgenden Romane, Laubenkolonie Erdenglück (Bln. 1931), Sommertheater (Bln. 1936) u. Rosenball (Bln. 1937), erzählen von dem Zusammenhalt in Gemeinschaften, sei es in einer Schrebergartenkolonie, sei es in einer Laienspielgruppe, u. der Bereitschaft, Außenseiter zu integrieren. 1954 griff W. das Thema Krieg in dem Roman Als die Gewitter standen (Halle/S.) erneut auf, in dem die letzten Tage des Zweiten Weltkriegs in einem kleinen Dorf geschildert werden. Obwohl viele Bewohner noch der Nazipropaganda vertrauen, verraten sie einen Deserteur u. einen geflohenen frz. Kriegsgefangenen nicht. Der Friedenswille einer einzelnen Frau wird zum Vorbild für die übrigen

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Dorfbewohner; das dt. Militär wird vertrie- 1949. – Das fremde Leben. Berlin-Film 1944/45. – ben u. man erwartet gefasst die Alliierten. Es Martina. Comedia-Filmges. 1949. – Die Meere ruist stets das Engagement eines Einzelnen für fen. DEFA 1951. – Als Peter Droß: Kleiner Spatz mit die Gemeinschaft, das W. in seinen Werken blauer Feder. Lpz./Wien 1934 (Märchensammlung). – Jugendbücher: Vom Hündlein Strubbs. Lpz. hervorhebt, so auch in dem Roman Von den 1934. – Einmal möchte ich Lehrer sein. Lpz./Wien sieben Seen (Halle/S. 1956), der von dem Ein- 1935. – Wir spielen durch das Jahr. Bln./Wien/Lpz. satz eines jungen Fischers für das Fischerei- 1936. – Ein lustig Stück v. Kaspers Glück. Lpz. kombinat u. die Modernisierung seines Dor- 1937. fes berichtet. Literatur: Paul Schulze: O. B. W. – Pädagoge, Auch in seinen Jugendbüchern wird das Schriftsteller. In: Marcus Alert u. Wolfgang Kusior Verantwortungsbewusstsein für die Allge- (Hg.): 45 namhafte Brandenburger. Bln. 2002, meinheit in den Mittelpunkt gestellt. In Jo- S. 89 f. Angelika Brauchle hann, ein Junge vom Saarhammer (Lpz. 1934), unter dem Pseudonym Peter Droß veröffentWendt, Albert, * 27.2.1948 Borsdorf bei licht, ist es ein Jugendlicher, der mutig dafür Leipzig. – Dramatiker, Hörspiel- u. Kineintritt, dass die dt. Schüler in dem von den derbuchautor, Erzähler. Franzosen regierten Saarland ihre dt. Schule behalten dürfen. Das Jugendbuch Zirkuspaul W. war Mitte zwanzig, als er zu schreiben (Lpz. 1932) wurde 1938 u. d. T. Paul von Zirkus begann. Im ersten Jahrzehnt entstanden v. a. Serpentini (Bln./Lpz.) sowie 1941, 1951 u. 1957 Theaterstücke, meist Einakter (1984 erstverfür den Schulgebrauch in den Niederlanden öffentlicht: Die Dachdecker und andere Stücke herausgegeben u. erschien 1951 u. d. T. Zir- und Texte. Bln./DDR), darunter Nachtfrost, Die kuspaul. Die lustige Geschichte eines Jungen, der Teefrau, Die Dachdecker, Kellerfalle, Das Hexenunter die Artisten will (Augsb.) erneut. Es ist die haus, Der Sauwetterwind. Die Stücke gehen in Erzählung vom umsichtigen Verhalten eines exemplarischen Situationen den Problemen Zwölfjährigen, der durch seine Achtsamkeit im Zusammenleben Erwachsener nach. Da verfällt die abgebrühte Tagebautruppe dem einen Diebstahl verhindert. Weitere Werke: Drei Figuren aus einer Gesang der Teefrau (Die Teefrau), da rangelt Schießbude. Lpz./Wien 1932 (R.). – Himmelblauer ein Dutzend Reisender um den besten Platz Traum eines Mannes. Ffm. 1934 (R.). – Das Mäd- am Schalter (Schritte), da geraten zwei LKWchen Lantelme. Bln. 1943 (R.). – Der Pente ist da! Fahrer aneinander, als ihre Ladung Feuer Halle/S. 1950 (E.) – Jugendbücher: Peter macht das fängt (Fremde Fuhre). – Es folgten anderthalb Rennen. Lpz. 1931. – Jochen sucht den Sender Jahrzehnte, in denen W. vorzugsweise HörR.O.K. Stgt. 1932. – Gode Wind ahoi! Stgt. 1933. – spiele verfasste; nahezu alle fanden den Weg Die Hechte von Rotscherlinde. Lpz. 1933. – Elf auf die Bühne. Inspiriert von dem überwieJungen in einem Boot. Stgt./Bln./Lpz. 1933. – Algend kindl. Personal dieser Funkstücke, win Klein seift alle ein. Lpz. 1934. U. d. T.: Fritz, der Bart ist ab! Augsb. 1953. – Flinke Jungen – schrieb W. auch Kindergeschichten u. erfand harte Pucks. Lpz./Wien 1935. – Der Schimmel Märchen. Seine überbordende Fantasie statHektor trabt wieder. Bln./Wien/Lpz. 1936. – Die tet Gegenstände mit Figureneigenschaften Geschenke des alten Tobias. Halle/S. 1948. – Der aus, lässt Tiere menschlich handeln u. MenJunge mit der großen Klappe. Halle/S. 1949. – schen gelegentlich zu bösartigen Tieren werStücke: Der Sprung über den Leierkasten. Bln. 1927 den. (Kom.). – Spuk um Mitternacht. Lpz. 1928 (Kom.). Unter W.s Erwachsenen ragt ein Figuren– Pygmalia. Bln. 1942 (Kom.). – Kapriolen. Bln. typ heraus: Der Kauz, der Eigenbrötler, der 1957 (Kom.). – Puppenspiele: Der Stilze Rumpel. Bln. Sonderling. Den behält er auch in den späte1927. – Knüppel aus dem Schnupftabak. Bln. 1928. ren Kinder-Sujets bei. Symptomatisch dafür – Sieben auf einen Streich. Lpz. 1928. – König werden ist nicht schwer. Lpz. 1928. – Drehbücher: ist die Figur des Erfinders: »Der Erfinder ist Daphne u. der Diplomat. FDF 1937. – Ich bin gleich eine Übersetzung meiner Arbeit. [...] Gewiss wieder da. UFA 1939. – Mann für Mann. UFA 1939. ist das auch ein Ostthema, [...] eine fast wü– Zwölf Minuten nach zwölf. UFA 1939. – Jungens. tige, zornige Osthaltung gegenüber einem UFA 1941. – Der große Fall. Tobias-Filmkunst Mangel«. Das Erfinder-Motiv wurde von W.

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zunächst in dem Hörspiel He-duda auf dem Lavendel. Hörsp. 1990; Urauff. Freiberg 2002; Pflaumenbaum (1984; Theaterst. Urauff. Gera Hörbuch Bln. 1999. Wien 2004 (E.). – Betti Ket1986) realisiert. Ein Erfinder ist sui generis tenhemd. Hörsp. 1997; Urauff. Nürnb. 2000; ein Kritiker des Status quo, will also die Ver- Hörbuch Bln. 2001. Wien 2008 (E.). – Padulidu u. Lorelei. Bln. 2001 (Hörsp.e). – Marta Maria auf dem hältnisse ändern. Die Produktion wurde vom Spiegelschrank / Marta-Maria auf dem Müllsack. Sender genommen, Maßregelungen folgten. Hörsp. 2001. Wien 2010 (E.). – Prinzessin WachtelW. zog nach Berlin, geriet aber dort in eine ei mit dem goldenen Herzen. Wien 2004 (E.). – bedrohl. Lebens- u. Schaffenskrise. Also Sauwetterwind. Mit Bildern v. Gerhard Lahr. Lpz. kehrte er an seinen Ursprung zurück: auf den 2005 (E.). – Der Stolperhahn. Illustriert v. Konrad Bauernhof im Dorf Kleinpösna vor den Toren Golz. Ebd. 2006. – Prinzessin Zartfuß u. die sieben Elefanten. Wien 2007 (E.). – Kleiner Weingarten am Leipzigs. Dort lebt er bis heute. Seit seinem fünfzigsten Lebensjahr etwa hat Meer. Lpz. 2008 (Hörsp.). – Bummelpeters Weihsich W. ganz auf Märchen u. Kindergeschich- nachtsfest. Wien 2010 (E.). Literatur: Klaus Hammer: A. W. In: Lit. der Dt. ten konzentriert. »Kinder verkörpern Eigenschaften, von denen ich mir wünsche, dass sie Demokrat. Republik. Hg. Hans Jürgen Geerdts. auch die Erwachsenen haben sollten, also die Bd. 3, Bln./DDR 1987, 469–486, 628–631. – Karl Heinz Schmidt: Nachw. zu: Die Dachdecker u. a. große Fühlkraft, diesen Gerechtigkeitssinn, Stücke. Bln./DDR 1984. – Peter Reichel: Tüchtige diese unglaubliche Phantasie und das Tempo, Leute. A. W. In: Ders.: Auskünfte. Beiträge zur mit der sie Welt aufnehmen und spielen«, sagt neuen DDR-Dramatik. Bln./DDR 1989, S. 341–354. W. Was er »Fühlkraft«, »Phantasie«, »Spiel« – Ders.: Konkrete Poesie. A. W.s Gesch.n. In: nennt, summiert er an anderer Stelle unter Stückwerk 2. Arbeitsbuch. Theater der Zeit. Bln. den Begriff des »Wunderbaren«. Und er sieht 1998, S. 145–155. – Thomas Fritz: A. W. In: LGL. es als Resultat harter Prüfungen, mühevoller Peter Reichel Selbstbehauptung. Krankheit, Tod, Einsamkeit, Ausgrenzung kommen deshalb in seinen Wendt, Amadeus, * 29.9.1783 Leipzig, Texten durchaus vor. † 15.10.1836 Göttingen. – Philosoph, W.s wohl erfolgreichster Text ist Der VogelPublizist; Komponist. kopp (Neuausg. Lpz. 2008). Als Kinderhörspiel 1984 geschrieben, als Fernsehspiel 1986 pro- Nach dem Besuch der Thomasschule studuziert, als Theaterstück 1987 in Berlin ur- dierte W. in seiner Vaterstadt u. a. Philologie, aufgeführt, fand er 1989 sogar den Weg auf Philosophie u. Psychologie. Seine Neigung die Opernbühne (Urauff. Oper Chemnitz), zur Musik, in der er ebenfalls intensiv ausehe er schließlich als Hörbuch publiziert gebildet wurde, zieht sich in Form von wurde (Bln. 2000). Inzwischen wurde er in Schriften u. kleineren Kompositionen als romehrere Dutzend Sprachen übersetzt, dar- ter Faden durch seine zeitlebens disparaten unter ins Chinesische u. Hebräische. W. er- Tätigkeiten. Nach der Promotion 1804, einer hielt u. a. den Hörer- u. Kritiker-Hörspiel- Episode als Hauslehrer sowie juristischen Studien habilitierte er sich 1808 wiederum in preis (1990). Werke: Nachtfrost. Urauff. Lpz. 1976; Fernseh- Leipzig mit der Studie De fundamento et origine sp. 1978. – Die Dachdecker. Urauff. Lpz. 1979; dominii. 1811 erlangte er ein Extraordinariat, gedr. Bln. 1981. Wieder in: Die Übergangsgesell- 1816 eine o. Professur für Philosophie, ehe er schaft. Stücke der achtziger Jahre aus der DDR. Hg. 1829 im selben Fach als Nachfolger BouterPeter Reichel. Lpz. 1989. – Jutta oder die Kinder v. weks nach Göttingen berufen wurde. Damutz. Bln. 1981 (Hörsp.e). – Das Hexenhaus. Indes war W. in seiner akadem. Funktion Kinderhörsp. 1981; gedr. Bln. 1986. – Jazz am kaum originell, konzentrierte sich auf die Grab. Bln. 1983 (Hörsp.e). – C-Eierhuhn u. Stolästhetische u. histor. Dimension u. besorgte perhahn. Hörsp. 1981; Urauff. Dresden 1987; gedr. so u. a. seit 1820 mehrere Auflagen von Wilin: Die Dachdecker [...]. – Bronek u. der Angeschlagene. Kinderhörsp. 1983; Urauff. Bln. 1984. – helm Gottlieb Tennemanns Grundriß der GeDame vor Spiegel. Bln. 1984 (Hörsp.e) – Bienchens schichte der Philosophie. Seine eigenen, meist Verwandte. Bln. 1987 (Hörsp.e). – Irgendwo nir- unselbstständig erschienenen Dichtungen gendwo. Bahnhofsgesch.n. Bln. 1988. – Adrian u. sind vergessen. Dagegen übte W. bes. als Re-

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zensent, Theaterkritiker u. Herausgeber schöner Literatur beträchtl. Einfluss auf das literar. Leben des Biedermeier aus (»Leipziger Kunstblatt«, 1817/18. »Taschenbuch zum geselligen Vergnügen«, 1821–1825. »Deutscher Musenalmanach«, 1830–1832). W. war Mitgl. verschiedener wissenschaftl. u. gesellschaftl. Vereinigungen, u. a. auch Freimaurer (vgl. z. B.: Ueber Zweck, Mittel, Gegenwart und Zukunft der Maurerei. Lpz. 1828). Weitere Werke: Rossini’s Leben u. Treiben, vornehmlich nach den Nachrichten des Herrn v. Stendhal geschildert u. mit Urtheilen der Zeitgenossen über seinen musikal. Charakter begleitet. Lpz. 1824. – Ueber die Hauptperioden der schönen Künste [...]. Ebd. 1831. – Ueber den gegenwärtigen Zustand der Musik bes. in Dtschld. [...]. Gött. 1836. Literatur: Hamberger/Meusel 16 u. 21. – Goedeke 9. – Heinze: A. W. In: ADB. – Klaus Ley: Stendhals ›Vie de Rossini‹: zur Übertragung v. A. W. u. ihren Voraussetzungen. In: Stendhal, A. W.: Rossini’s Leben u. Treiben [...]. Nachdr. der Ausg. Leipzig 1824. Hildesh. u. a. 2003, S. 443*–488*. – Reto Müller: Über A. W. u. das erste dt. RossiniBuch. In: ebd., S. 489*–535*. Achim Hölter / Red.

Wendt, Ingeborg, auch: Ruth Rödern, * 8.10.1917 Brandenburg/Havel, † 1989 Baden-Baden. – Kinderbuchautorin.

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Berlin. In einer mosaikartigen Komposition wird vom Leben der im westl. Teil wohnenden Familie Huhn berichtet. Der Berliner Alltag schimmert dabei ständig durch: das Pendeln zwischen West u. Ost, das Aufeinanderprallen u. gleichzeitige Koexistieren zweier Welten, gekennzeichnet von Arbeitslosigkeit, Flüchtlingselend, Warenschmuggel u. Menschenraub. Der sozialkrit. Impetus des Romans findet u. a. in der krit. Selbstreflexion der Schriftstellerrolle in einer politisch labilen Gegenwart ihren Ausdruck. Während in der sich zum Wohlstand aufschwingenden BR Deutschland das Notopfer Berlin als lästig empfunden wird, bleibt der Stadt der Frieden verwehrt, fällt der Schatten der sowjetischen Posten »breit und mächtig« auch auf WestBerlin. In Die Gartenzwerge (Reinb. 1960) verlagert sich die Handlung in die fiktive Kleinstadt Hammelsprung, die aussagekräftiges Beispiel des Restaurationsklimas der 1950er Jahre, des alle Mittel legitimierenden wirtschaftl. Aufschwungstrebens u. der Remilitarisierung ist, die sich hinter einer Heile-Welt-Fassade verbergen. Weitere Werke: Bücherstube Butz. Bln. u. a. 1942. – Das Jahr in Berlin. Ebd. 1944. – Sabine ist nicht Irgendeine. Bln./Augsb. 1949. – Glückliche Cornelia. Kleiner Roman für junge Mädchen. Augsb. [1951]. – Zwanzig Mädchen u. ein Hund. Bln. u. a. 1951. – Was ist denn bloß mit Kuni los? Eine lustige Gesch. v. Kindern, Hunden u. einer verhexten Puppe. Düsseld. 1953. – Wir vom Schloß. Eine lustigernste Gesch. v. Kindern u. Tieren in einem alten Schloß. Hbg. 1953. – Zwillingsreise mit Katzensprüngen. Ulrichs u. Ulrikes rühml. Taten am Lago Maggiore. Freib. i. Br. 1954. – Schöne dt. Sagen (mit Herbert Wendt). Mchn. [1959]. – Pitti an Bord. Mchn. [1961]. Literatur: Horst Hartmann: Zeitkritik im Zeitroman. In: Gewerkschaftl. Monatshefte 12 (1961), S. 739–743. Anastasia Manola

Nach Abschluss der Realschule machte W. eine Ausbildung zur Buchhändlerin. Die Liebe zu Büchern u. zum Buchwesen findet sich als wichtiges Element in ihrem Gesamtwerk, das oft von Schriftstellern, Buchhändlern u. Verlegern handelt. W. war verheiratet mit dem Sachbuchautor Herbert Wendt (1914–1979). Mit ihrer Familie zog sie Ende der 1940er Jahre von Ost-Berlin nach BadenBaden. Neben ihrer journalistischen Tätigkeit – bis 1947 war sie Redakteurin einer Ostberliner Frauenzeitschrift, danach Feuilletonredakteurin in Baden-Baden – war W. als freiberufl. Schriftstellerin tätig. Unter ihrem Pseudonym veröffentlichte sie zahlreiche Wengraf, Edmund, auch: Florian, * 9.1. Kinder- u. Jugendbücher, verfasste zudem 1860 Nikolsburg/Mähren (heute: MikuRomane u. Sachbücher u. wirkte bei Fernlov), † 8.12.1933 Wien. – Erzähler, Lyrisehspielen mit. ker, Theaterkritiker, Essayist. In W.s Romanen spiegelt sich Zeitgeschichte wider. Der »Familien-Roman« Not- W. schlug nach dem Jurastudium zunächst opfer Berlin (Hbg. 1956. Neuaufl. Bln. 1990) die Advokatenlaufbahn ein. 1885 stieß er spielt im Jahre 1950 in der geteilten Stadt zum Kreis um Albert Ilg u. veröffentlichte in

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der Folge in der Reihe Gegen den Strom Flugschriften, die Krisenerscheinungen der Gesellschaft der Gründerzeit aufgriffen u. die Rückkehr zu vereinfachten Lebensformen propagierten. Seit 1889 wurde er beim Aufbau der sozialdemokratischen Presse in Österreich tätig: als Theaterreferent bei der »Wiener Allgemeinen Zeitung«, als Redakteur des Witzblatts »Glühlichter« u. als Mitgl. der »Arbeiter-Zeitung«, in deren Redaktionsstab er von Victor Adler berufen wurde. Seit 1890 war W. zudem Mitarbeiter der »Wiener Literatur Zeitung«, die er 1893–1898 gemeinsam mit Heinrich Osten unter dem Titel »Neue Revue« herausgab. Er modifizierte die Linie des Blatts, indem er der internat. Literatur ein breites Forum schuf u. polit. sowie volkswirtschaftl. Themen in den Vordergrund rückte. Sein sozial betonter Liberalismus wurde bereits 1898 zurückgenommen, als die »Neue Revue« mit der gemäßigt liberalen Zeitschrift »Wage« vereinigt wurde; schließlich war er Sonntagsleitartikler des rechts stehenden »Neuen Wiener Journals«. W.s wichtige Rolle in der Kulturjournalistik der Zeit wird außerdem durch seine Funktion als Chefredakteur des »Extrablatts« sowie der Zeitung »Die Zeit« unterstrichen. 1913–1926 war W. Präsident der Schriftstellervereinigung »Concordia«. Weitere Werke: St. Georg v. Zwettl. Wien 1887. – Die Phrase. Zur Kritik der Gesellschaftslügen. Ebd. 1893. – Armer Leute Kind. Dresden 1894 (R.). – Bunter Abend. Wien 1923 (L.). – Pamphlete: Die gebildete Welt. Ebd. 1886. – Wie man ein Socialist wird. Ebd. 1887. – Wie wir wirthschaften. Ebd. 1887. – Grössenwahn. Ebd. 1888. Arnulf Knafl

Wense, Hans Jürgen von der, auch: Jürgen von der Wense, * 10.11.1894 Ortelsburg/ Ostpreußen, † 9.11.1966 Göttingen. – Fragmentariker, Essayist, Übersetzer, Komponist, Landschaftsforscher, Fotograf. Dass er immer gewandert sei: Zunächst durch die Musik, dann durch die Künste u. »fast alle Wissenschaften hindurch«, endlich auch buchstäblich zu Fuß durch die dt. Mittelgebirge, das hat W. als Lebens- u. Arbeitsprogramm gut zehn Jahre vor seinem Tod 1953

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konstatiert; so hinterließ er auch kein geschlossenes Werk, sondern einen Fundus von kurzen, fast vollständig unpublizierten Texten, Blättern, Fotografien, Montagen u. Materialien, die im Verbundsystem unterschiedlichste Disziplinen u. Medien verknüpfen u. verweben. Zunächst machte W. als expressionistischer Lyriker in Pfemferts »Aktion« u. im Aktionsbuch auf sich aufmerksam (Sternblaue Wimper, Expansion, Finale, Der phantastische Äther IV u. V. 1917) u. skandalisierte als Komponist kurzzeitig die junge Weimarer Republik; seine futuristisch beeinflussten Klavierstücke führte der Pianist Eduard Erdmann 1919 in Berlin auf; um seine Orchesterstücke bemühte sich der Dirigent Hermann Scherchen, u. mit seinen Edda-Liedern wurde W. 1922 zum II. Kammermusikfest zur Förderung der deutschen Tonkunst eingeladen. Dort, in Donaueschingen, verabschiedete sich W. mit einem letzten »musikalischen Putsch« aus dem Kulturbetrieb u. zog sich nach Warnemünde an die Ostsee zurück. In schneller Reihenfolge begann er äußerst unterschiedl. Projekte: Ein Fragmente-Buch (»aphorismenartige Betrachtungen über Kunst und Naturwissenschaften«) in der erklärten Nachfolge von Novalis u. besonders von Johann Wilhelm Ritters Fragmenten aus dem Nachlasse eines jungen Physikers (1810), weiter eine Chronologie der atmosphär. Vorgänge seiner unmittelbaren Lebenswelt, Wetter-Bücher betitelt, zudem mehrere mit eingeklebten Bildern u. originalsprachl. Texten ausgestatteten Lesebücher, v. a. aber mit Übersetzungen u. Übertragungen zunächst aus dem Altirischen, Altisländischen, Altägyptischen, Syrischen u. besonders aus dem Chinesischen (Konfuzius, LaoTse, DschouDsi) – Übertragungen, die bis Anfang der dreißiger Jahre um weitere erstaunl. Manuskripte bereichert u. auch immer wieder überarbeitet u. umgestaltet wurden: die Lieder der Yap (Yap. Sagen und Gesänge. 1927), die überlieferten Zeugnisse der afrikan. Ewe (Eve. Eine Lesebuch. Überlieferung, Berichte und Sprüche, Gesänge und Märchen, Musik. 1927), die Lieder der Insel Malta (1928), die Sagen und Gesänge der Uitoto (1929) u. die Mythen der Kágaba (1929). Zudem collagierte W. drei Weltbilderbücher (1929–1931) u. drei

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Zeitschriftenausschnittsammlungen (u. a. Blumen blühen auf Befehl. 1933) verschriftlichte, was ihm geschah u. begegnete, in vierzig Tagebüchern, die bisweilen zu kleinen, in sich geschlossenen Werken überarbeitet u. verdichtet wurden (1919, Heinrich), u. führte eine überaus umfangreiche Korrespondenz (im Nachlass befinden sich etwa fünftausend Briefe). 1932 wechselte W., angeblich vom Anblick des Desenbergs in der Warburger Börde unweit Carlshafens überwältigt, für die nächsten zehn Jahre von der Ostsee nach Kassel, das ihm als Ausgangspunkt weitausgreifender u. exzessiver Wanderungen diente; als Vorbild galt ihm Wilhelm Heinse. W. begann die dt. Mittelgebirge im Schnittpunkt von Ostwestfalen, Südniedersachen u. Nordhessen aber nicht nur zu begehen, sondern auch schrittweise zu erkunden u. ihre geologischen, atmosphärischen, aber auch kulturellen, ökonomischen, histor. u. sozialen Gegebenheiten (Verkehrswege, Siedlungswesen, Wüstungsforschung, Technikgeschichte) mit dem Ziel zu verzeichnen, einen kleinsten Ausschnitt des Planeten Erde einmal vollständig u. als größtes Erdenwunder zu inventarisieren u. zu beschreiben. Dafür legte er ein besonderes Konvolut von Blätter-Mappen an, die Landeskundlichen Mappen, in die hinein er vielfältige archival. Funde, bibliogr. Verweise, Zeitungsmaterialien, zudem aber auch skizzierte oder ausformulierte Kurzessays von Landschaften, von Städten u. Dörfern, von einzelnen Straßen, ja Häusern u. deren sämtl. Bewohnern samt Familiengeschichte eintrug; große Teile etwa Kassels lassen sich dank W.s Mappen Haus für Haus betreten u. als Schauplätze histor. Ereignisse u. als Schnittpunkte familiärer Verzweigungen in Raum u. Zeit rekonstruieren. Dieses Konvolut umfasste am Ende etwa 15.000 oft beidseitig beschriebene Blätter – eine einzigartige Verschriftlichung regionaler Geografien u. Kulturen im Rahmen einer exemplarisch-ästhetischen Feier der Erde u. des Universums; »Die Erde ist ein Stern. Wir leben im Himmel«, lautet das erste seiner Fragmente programmatisch. Um diese seine Erkundungen auch visuell zu stützen u. für ein allerdings nie vollendetes, kaum auch nur skizziertes

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intermediales Buchprojekt (Wanderbuch) zu präparieren, verfertigte W. tausende Fotografien u. kolorierte Messtischblätter, nach denen er wanderte – ein vielfältig vernetztes Schrift- u. Bild-Territorium mit maximaler Laufweite bei minimaler Reichweite. Aus allen diesen Projekten kristallisierten sich mit den Jahren drei entscheidende Baustellen heraus: ein Fragmente-Werk in der Spur der frühen, frühromant. Jahre, in Ausschnitten 1946/47 u. d. T. Epidot in der Göttinger Zeitschrift »Die Sammlung« publiziert, ein um Tausende von Nachdichtungen u. Dokumenten erweitertes Übersetzungswerk namens All-Buch, das Poesien, aber auch schriftl. Realia »aller Zeiten und Zonen« versammeln sollte, u. die Summe seiner geoästhetischen Erkenntnisse u. Erfahrungen, das Wanderbuch, das in immer neuen Ordnungssystemen die maßlosen landschaftskundl. Materialien verknüpfen u. verschmelzen sollte. Zu all dem ist es im Letzten nicht gekommen, zum einen, weil die Verweiskraft der Einzelstücke, die interdisziplinäre u. intermediale Anlage der unterschiedl. Forschungsbereiche u. endlich die unmögl. Ordnung der uferlosen Materialien u. der auf permanente Erweiterung u. Revision angelegten Arbeitsgebiete einen Abschluss nachhaltig verhinderten, u. zum anderen, weil dem Autor die ungeschlossene Prozessualität seiner Werke einer Wirklichkeit angemessener erschien, die er als Ausfluss einer divinatorisch-deliranten, immer neue Bilder produzierenden, überblendenden u. verknüpfenden »Weltphantasie« verstand. Weitere Werke: Epidot. Hg. Dieter Heim. Mchn 1987. – Blumen blühen auf Befehl. Aus dem Poesiealbum eines zeitungslesenden Volksgenossen 1933–1944. Hg. u. komm. v. dems. Mchn. 1993. – Gesch. einer Jugend. Tagebücher u. Briefe. Ausgew., erl. u. mit einem Nachw. vers. v. dems. Mchn. 1999. – Von Aas bis Zylinder. Werke 1/2. Hg. Reiner Niehoff u. Valeska Bertoncini. 2 Bde., Bln. 2005. – Wanderjahre. Hg. D. Heim. Bln. 2006. 2 2009. Literatur: Michael Lissek: ›Lass uns immer aufbrechen u. nie ankommen‹. Zu Werk u. Leben H. J. v. d. W.s (1894–1966). Hann. 2003. – Reiner Niehoff u. Valeska Bertoncini: Über H. J. v. d. W. Ffm. 2005 (Beibuch zu ›Von Aas bis Zylinder‹). – Heinz Ludwig Arnold (Hg.): H. J. v. d. W. (Text +

Wenter Kritik. H. 185). Mchn. 2010 (Biobliogr., S. 121–126). – Carmen Gómez García: H. J. v. d. W.: el poeta imaginario. In: Revista de Filología Alemana 3 (2010), S. 105–116. Reiner Niehoff

Wenter, Josef (Gottlieb), * 11.8.1880 Meran, † 5.7.1947 Rattenberg/Tirol. – Dramatiker, Erzähler, Essayist.

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dere Tiergeschichten. Salzb. 1954. Laikan. Der Roman eines Lachses. Mchn. 1931. Neuaufl. Salzb. 1952. Mannsräuschlin. Roman eines Wildpferdes. Bln. 1933. Neuaufl. u. d. T. Situtunga. Mchn. 1938. Salzb. 1953). Nach 1945 stand W.s Name auf der Liste der gesperrten Autoren u. Bücher. Besonders aufgrund seiner Tiergeschichten fand er als Autor jedoch bald weitgehende Rehabilitierung.

Der kath. Gastwirtssohn studierte 1900–1903 in München u. Leipzig Musik u. wandte sich Weitere Werke: Aus tiefer Not. Innsbr. 1920 1906 der Literatur zu: Neben ersten dramat. (D.). – Saul. Mchn. 1935 (R.). – Der Kanzler v. Tirol. Versuchen begann W. in München u. Jena das Die Landgräfin v. Thüringen. 2 Dramen. Wien Studium der Kunstgeschichte u. Germanis- 1936. – Salier u. Staufer. Kämpfer der Kaiserzeit. tik; 1914 promovierte er mit einer Arbeit Mchn. 1936 (E.en). – Im hl. Land Tirol. Graz 1937 über Die Paradoxie im Drama Hebbels (Tüb. (Ess.). – Tiere u. Landschaften. Wien/Bln./Lpz. 1937 (E.en). – Die schöne Welserin. Wien 1938 1914). Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs (Schausp.). – Barbarossa in Italien. Histor. Novelle. verhinderte die angestrebte Karriere als Ffm. 1939. – Michael Geismair (zus. mit Alfred E. Hochschullehrer. Frauenfeld). Mchn. 1941 (Schausp.). – Leise, leise! Von Jugend an »dem Gewaltigen« des Liebe Quelle. Eine Kindheit. Ebd. 1941. Neuaufl. »ganzen Deutschland« sich zugehörig füh- Salzb. 1947. Bozen 1981 (Erinnerungen). – Kaiserin lend, fand W. nach 1920 seine adäquaten Maria Theresia. Wien 1944 (Schausp.). – Die OrdHeroen: mittelalterl. dt. Kaiser, denen er ei- nung der Geschöpfe. Hg. Liselotte Eltz-Hoffmann. nen Dramenzyklus widmete (Heinrich IV. Graz/Wien 1963 (Ausw.). – Gesetz im Wandel. Wien Deutscher Kaiser. 2 Tle. Innsbr. 1925. Der sechste 1974 (Dramen). Literatur: Hedwig Springer: J. W.s episches Heinrich. 1921. U. d. T. Der deutsche Heinrich (= Heinrich IV .). Der sechste Heinrich. Wien 1938). Schaffen. Diss. Wien 1949. – Elfriede Trambauer: J. W. artikuliert hier aus der Vergangenheit die W.s histor. Dramen. Diss. Ebd. 1950. – Wilhelm Sommergruber: Der Saulstoff im Schaffen J. W.s. Devise für Gegenwart u. Zukunft: Arbeit am Diss. Ebd. 1951. – Martha Innerhofer: Die Prosa»Reich« als einem Gottesstaat jenseits jegl. dichtung J. W.s. Diss. Innsbr. 1956. – Martha Völkl: realhistor. Faktizität. Bleibt der Bezug zur J. W.s Weg zum Dramatiker. Diss. Ebd. 1973. – aktuellen Situation in den histor. Dramen Friedbert Aspetsberger: Literar. Leben im Austronoch unscharf, so bietet der »Führerroman« faschismus. Königst./Taunus 1980, bes. Spiel um den Staat (Braunschw. 1933. Drama- S. 116–150. – Elmar Oberkofler: ›In seiner Dichtisierte Fassung u. d. T. Spiel um den Staat in 9 tung sind Zeit u. Ewigkeit für immer eins geworBildern. Wien 1932) die Machtübernahme den‹. J. W. zum 100. Geburtstag. In: Der Schlern 54 durch einen namenlosen Führer an, der (1980), S. 459–465. – Eugen Thurnher: J. W. zum gleichsam als Messias die Errettung vor dem 50. Todestag am 5. Juli 1997. In: Der Schlern 71 (1997), S. 534–538. – Anton Unterkircher: TageBolschewismus bringt. Unverblümtes polit. buchstellen u. ein Brief. Zum Nachl. v. J. W. Ziel ist die Versöhnung der österr. Katholiken (1880–1947). In: Mitt.en aus dem Brenner-Archiv mit dem Nationalsozialismus. 1936 erhielt 23 (2004), S. 83–97. Johannes Sachslehner / Red. W. den Österreichischen Staatspreis für Literatur u. trat dem (nationalsozialistischen) Bund deutscher Schriftsteller Österreichs bei; Wentscher, Dora, * 6.11.1883 Berlin, 1938 begrüßte er enthusiastisch den »An† 3.9.1964 Erfurt. – Erzählerin. schluss«. Große Popularität erlangte W. mit seinen Die Tochter eines Landschaftsmalers war meist aus anthropomorphisierender Per- zehn Jahre als Schauspielerin (seit 1903), spektive erzählten Tiergeschichten (Monsieur dann als Bildhauerin u. Malerin tätig. Nach der Kuckuck, der Sonderbare. Breslau 1930. 1917 arbeitete sie bei der »Schaubühne« (ab Neuaufl. u. d. T. Monsieur der Kuckuck und an- April 1918 »Weltbühne«) u. der Zeitschrift

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»Frieden« (Wien 1918/19) mit. W. trat 1929 in die KPD ein u. wurde Mitglied des Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller. 1933 emigrierte sie über Prag nach Moskau, wo sie als Schriftstellerin, Übersetzerin u. Kritikerin tätig war. 1946 kehrte sie nach Deutschland zurück u. lebte, verheiratet mit dem Schriftsteller Johannes Nohl, in Weimar. Nach W.s erstem, teilweise autobiogr. Theaterroman Barbara Velten. Die Geschichte einer Theater-Passion (Wien/Prag/Lpz. 1920) entstanden aus der Distanz des Exils antimilitaristische Erzählungen u. Novellen. Unter »dem Eindruck des Zusammenbruchs des Faschismus« beendete sie ihr mehrfach überarbeitetes Lesedrama Heinrich von Kleist (Weimar 1956), an dessen Biografie sie die Zerrissenheit Nachkriegsdeutschlands spiegelte. Weitere Werke: Zwei Erzählungen. Moskau 1939. – Der Landstreicher. Ebd. 1940. – Die Schule der Grausamkeit. Ebd. 1941. – Tante Tina. Weimar 1946. – Das Parallelepiped des Leutnants. Ebd. 1947. – Sie suchen den Tod. Ebd. 1947. – Der Soldatenvater. Ebd. 1947. – Vergangenes, nicht Vergessenes. Ebd. 1947. – An die Freude. Ebd. 1950. – Helden, Frauen u. Knechte. Ebd. 1956 (Vorw. v. Louis Fürnberg). – Flößstelle Iskitim. Sibir. Tgb. 1941/42. Ebd. 1962. Birgit Schreiber

Wenzel von Böhmen, * 27.8.1271, † 21.6.1305. – Böhmischer König u. Minnesänger. Die hierarchisch gegliederte Autorensammlung der Handschrift Manesse (C) bietet an vierter Position drei Minnelieder König W.s in Kanzonenform; Lied I ist zudem zweifach in der Weimarer Liederhandschrift überliefert. Eine tschech. Fassung von Lied I erwies sich als Fälschung aus dem 19. Jh. Nachdem die ältere Forschung den Minnesänger mit König Wenzel I. (1205–1253) identifiziert hatte, ist mittlerweile geklärt, dass es sich um dessen Enkel König Wenzel II. handeln muss, der bereits als Kind mit Guta, der Tochter König Rudolfs von Habsburg, verheiratet wurde. W. verfolgte ein intensives literar. Mäzenatentum, was u. a. Ulrich von Etzenbach, Heinrich den Klausner u. Frauenlob an den Prager Hof führte. Die Miniatur

Wenzel von Böhmen

in Handschrift C zeigt den repräsentativ thronenden König mit den Wappen von Böhmen u. Mähren; vor ihm knien Bedienstete u. Spielleute. Lied I vertritt in der Beschreibung eines keuschen Beilagers die Konzeption eines amor purus, wie man sie etwa im Traktat De amore (1174–86) von Andreas Capellanus findet. Die Dame wird hier als Werkzeug der übermächtigen Frau Minne dargestellt u. löst beim Sänger eine unbedingte Verpflichtung zum höf. Minnedienst aus, der sich aber explizit nicht »wider ir kiusche« richtet. Lied II malt dann jedoch in direktem Rückbezug auf das erste Lied kühn u. beschwingt eine erotische Erfüllung aus, in der Kuss u. Umarmung die Leiden des Winters ausgleichen. Das Tagelied (III) variiert das konventionelle Schema u. zeigt die Dame im Dialog mit einem bestechl. Wächter, der zu früh weckt, um gegen die Gabe von Silber, Gold u. Edelstein einen zeitl. Aufschub gewähren zu können. Stilistisch ist eine Tendenz zur Reihung sowie der Hang zur Personifikation festzuhalten. W. zeigt sich als Kenner der zeitgenöss. Literatur; wiederholt zitiert er Frauenlob, bes. deutlich in Lied I. Seine Lieder nehmen auf den hochhöf. Minnesang Bezug u. zeichnen sich durch das fiktive Durchspielen minnetheoret. Konzeptionen aus. Motive u. Gedanken des hochhöf. Diskurses werden aufgenommen u. – oftmals in einer Tendenz zur Konkretisierung – innovativ verändert. Ausgabe: KLD, Bd. 1, S. 584–587. Literatur: Burghart Wachinger: Hohe Minne um 1300. In: Wolfram-Studien 10 (1988), S. 135–150. – Hans-Joachim Behr: Lit. als Machtlegitimation. Studien zur Funktion der deutschsprachigen Dichtung am böhm. Königshof im 13. Jh. Mchn. 1989, bes. S. 234–248. – Jürgen Kühnel: Das Taglied König W.s v. B. (KLD 65,III). In: ›Böhmische Dörfer‹. Streifzüge durch eine seltene Gegend auf der Suche nach den Herren Karl Riha, Agno Stowitsch u. Hans Wald. Hg. Peter Gendolla u. Carsten Zelle. Gießen 1995, S. 27–47. – B. Wachinger: König W. v. B. In: VL. Sandra Linden

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Wenzel, Gottfried Immanuel, * 13.1.1754 Weppen, Johann August, * 28.1.1741 Chotzen (Chocenˇ)/Böhmen, † 4.5.1809 Northeim, † 18.8.1812 Gut WickershauLinz. – Pädagogisch-philosophischer sen bei Northeim. – Dichter komischer Schriftsteller. Epen, Fabel- u. Verserzähler. W., aus kleinbürgerl. Verhältnissen stammend, studierte in Prag u. Wien (dort Dr. phil.), lebte anschließend mehrere Jahre als Hauslehrer u. Schriftsteller v. a. in Prag u. (seit etwa 1790) in Wien, ehe er 1800 als Gymnasialprofessor für theoret. u. prakt. Philosophie am Lyzeum in Linz eine feste Anstellung erhielt. In der josephin. Aufklärung wurzelnd, versuchte W. deren Ideen v. a. auf den Gebieten der Pädagogik u. der Philosophie popularisierend zu verbreiten. Dabei war W., begabt mit Witz, rascher Auffassungsgabe u. dem Talent, gefällig zu schreiben, ungemein fruchtbar: Er veröffentlichte knapp 50, z. T. mehrbändige Werke. Vielfach handelt es sich um eilig zusammengestellte Sammlungen von Kuriositäten (z. B. Die natürlichen Zauberkräfte des Menschen erklärt und in Geschichten, Anekdoten und Beispielen dargestellt. Wien 1800), aber daneben finden sich gewichtigere popularphilosophische Werke (z. B. Vollständiger Lehrbegriff der gesammten Philosophie, dem Bedürfnisse der Zeit gemäß eingerichtet. 4 Bde., Linz 1803–1805), in denen W. teilweise als Kritiker Kants auftrat. Unter W.s Dramen ist eine Bearbeitung von Schillers Geisterseher-Fragment als Dokument der Schillerrezeption zu nennen (Der Geisterseher. Ein dramatisches Fragment in drei Skizzen. Prag 1788). W.s größter Erfolg war das Anstandsbuch Der Mann von Welt oder Grundsätze und Regeln des Anstandes, der Grazie, der feinen Lebensart und wahren Höflichkeit (Wien 1801. Überarbeitet 131872). Weitere Werke: Auserlesene Erziehungskenntnisse [...]. 4 Tle., Wien 1796. – Neue, auf Vernunft u. Erfahrung gegründete Entdeckungen über die Sprache der Thiere. Ebd. 1800. Literatur: Wurzbach 55 (mit Schriftenverz.). Matthias Richter

Wenzelpassional ! Der Heiligen Leben

Nach dem Besuch des Gymnasiums studierte W. Rechtswissenschaft in Göttingen, wurde 1764 Auditor im hannoverschen Amt Brunstein, 1766 Gerichtshalter u. schließlich Justizamtmann in Oldershausen. Krankheitshalber legte W. 1795 sein Amt nieder u. lebte auf seinem Gut Wickershausen. Die zahlreichen Fabeln, Verserzählungen, gereimten Episteln u. Epigramme, die von 1776 bis nach 1800 in führende Zeitschriften u. Almanache aufgenommen wurden, zeugen von der Beliebtheit des formgewandten Dichters, an dessen Werk Empfindsamkeit wie Sturm und Drang vorübergegangen waren, ohne eine Spur zu hinterlassen. Zweimal hat W. diese Kleindichtungen gesammelt herausgegeben: Gedichte (2 Tle., Lpz. 1783) u. Erzaehlungen [und Fabeln], Sinngedichte und Episteln, auch Sittengemaehlde (Tl. 1, Hann. 1796; mehr nicht ersch.). – Doch erst als sich W. dem komischen Epos im Gefolge Wielands u. vor allem Thümmels Wilhelmine (1764) zuwandte, wurde er auch von der Kritik gelobt. Am beliebtesten war seine Kirchenvisitation, ein komisches Gedicht in 12 Gesängen (Lpz. 1781), das ein zeitgetreues Sittengemälde liefert u. streckenweise noch heute vergnüglich zu lesen ist. In ihrer Mischung von realistischer Beschreibung, Satire, Ironie u. Idylle befinden sich W.s komische Epen auf dem Weg zur gereimten Unterhaltungsliteratur des Biedermeier. Weitere Werke: Der Liebesbrief. Gött. 1780 (kom. Heldengedicht). – Der Hess. Offizier in Amerika. Ebd. 1783 (Lustsp.). – Das Freischießen oder das glückl. Bauernmädchen. Ebd. 1786 (Operette). – Das [klein-]städt. Patronat. Ebd. 1787 (kom. Gedicht). Literatur: Max Mendheim: J. A. W. In: ADB. – Karlernst Schmidt: Vorstudien zu einer Gesch. des kom. Epos. Halle 1953. Alfred Anger

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Werckmeister, Andreas, * 30.11.1645 Benneckenstein, † 26.10.1706 Halberstadt. – Komponist u. Musiktheoretiker. Aus W.s Biografie sind nur wenige Einzelheiten bekannt: Eine erste musikal. Ausbildung erhielt er bei seinem Onkel Johann Christian Werckmeister in Bennungen bei Sangershausen. Nach dem Schulbesuch in Nordhausen/Harz (seit Sommer 1660) u. in Quedlinburg (seit 1662) war W. bis zu seinem Tod als Organist in Hasselfelde (1664–1674), Elbingerode (seit 1674), Quedlinburg (1675–1695) u. schließlich an St. Martini in Halberstadt tätig. W.s Schriften zur Theorie der musikal. Temperierung machten ihn zu einem der angesehensten Musiktheoretiker seiner Zeit. Vor scholastisch-theolog. Hintergrund vereinigte er alte universalistische Musikauffassungen mit aus der Praxis abgeleiteten Wirkungstheorien im Sinne der zeitgenöss. Temperamenten- u. Affektenlehre. Er wurde damit zu einem der wichtigsten Vordenker einer Lehre von der Wirkung der Musik. Weitere Werke: Orgel-Probe [...]. Ffm./Lpz. 1681. – Musicae mathematicae hodegus curiosus. oder Richtiger musical. Weg-Weiser [...]. Ebd. 1686. 21687. Nachdr. Hildesh. 1972. 31689. – Musical. Temperatur [...]. Ebd. 1691. Nachdr. Utrecht 1983. Essen 1996. Oschersleben 1997. 2001. Internet-Ed. in: SLUB Dresden. – Der edlen Music-Kunst Würde, Gebrauch u. Mißbrauch [...]. Ebd. 1691. – Erweiterte u. verbesserte Orgel-Probe [...]. Quedlinb. 1698. Nachdr. Kassel 1970. Internet-Ed. in: SLUB Dresden. Quedlinb./Aschersleben 1716. Internet-Ed. in: BSB München. – Die nothwendigsten Anmerckungen u. Regeln, wie der General-Basz wol könne tractiret werden [...]. Aschersleben 1698. Nachdr. Blankenburg 1985. Verm. Aufl. o. J. (ca. 1700). 1715. – Übersetzer: Agostino Steffani: SendSchreiben, darinn enthalten wie grosse Gewißheit die Music aus ihren Principiis, u. Grund-Sätzen habe [...]. Quedlinb./Aschersleben 1699. – Cribrum musicum oder musical. Sieb [...]. Quedlinb./Lpz. 1700. – Harmonologia musica oder kurtze Anleitung zur musical. Composition [...]. Ffm./Lpz. 1702. Nachdr. Laaber 2003. – Organum Gruningense redivivum [...]. Quedlinb./Aschersleben 1705. Nachdr. Mainz 1932. – Musical. ParadoxalDiscourse [...]. Quedlinb. 1707. Nachdr. Laaber 2003. – Nucleus musicus. Manuskript um/vor 1697, verschollen.

Werdenhagen Ausgabe: Hypomnemata musica (Quedlinb. 1697; u. vier weitere Schr.en 1697–1707). Nachdr. Hildesh. 1970. Literatur: Bibliografie: VD 17. – Weitere Titel: Johann Melchior Götze: Der weit-berühmte Musicus u. Organista wurde bey trauriger Leich-Bestellung des [...] Andreae W.s [...] dargestellet. o. O. 1707. Internet-Ed. in: BSB München. – Hermann Gehrmann: A. W. In: ADB. – Ursula Herrmann: A. W. (1645–1706). Diss. masch. Halle/S. 1951. – Rolf Dammann: Zur Musiklehre des A. W. In: Archiv für Musikwiss. 11 (1954), S. 206–237. – Ber. über das W.-Kolloquium aus Anlaß des 340. Geb. v. A. W. [...]. Hg. Eitelfriedrich Thom. Michaelstein/Blankenburg 1986. – Werner Braun: Dt. Musiktheorie des 15. bis 17. Jh. (= Gesch. der Musiktheorie, Bd. 8/ 2). Darmst. 1994. – A. W. 1645–1706, Organist, Musiktheoretiker, Orgelbauer, Komponist [...]. Benneckenstein 1995. – Pieter Bakker: A. W. Die histor. Einordnung seiner Schr.en. Schraard 1998. – Ernst Kiehl: Die Liederdichterin Anna Sophie (1638–1683), Landgräfin zu Hessen, Äbtissin zu Quedlinburg. Ein Beitr. zum geistesgeschichtl. Umfeld A. W.s. Quedlinb. 1999. – Ellen J. Archambault: A. W. [...] as a teacher of composition. Diss. Florida State Univ. 1999. – Michael R. Dodds: Columbus’s egg. A. W.’s teachings on contrapuntal improvisation in ›Harmonologia musica‹ (1702). In: Journal of seventeenth century music 12 (2006), online. – Rainer Bayreuther: A. W. In: MGG 2. Aufl. (Personenteil), Bd. 17 (2007), Sp. 774–779 (Lit.). Erich Tremmel / Red.

Werdenhagen, Johann Angelius (von), auch: Chilobertus Jonas Westphalus Ase (junior), Angelus Marianus, * 1.8.1581 Helmstedt, † 26.12.1652 Ratzeburg. – Politiker, Historiker, Staatsphilosoph, böhmistischer Publizist, Dichter. Früh muss der aus einer wohl situierten Bürgerfamilie stammende W. die Universität in seiner Heimatstadt bezogen haben, wo der Jurastudent den Humanisten J. Caselius ebenso hörte wie den Theologen Daniel Hofmann, dessen scharfe Trennung von philosophischer Erkenntnis u. religiöser Wahrheit er später übernehmen sollte. Seit 1601 blieb W. ohne akadem. Abschluss als Privatlehrer in Helmstedt, ehe er seit 1606 als Hofmeister verschiedener junger Adliger auf Reisen ging, u. a. an die Universitäten in Jena, Altdorf (wo er mit Rittershusius bekannt wurde), Tübingen, Straßburg, Heidelberg sowie für drei

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Jahre nach Leipzig. Dort kam er mit dem Alchemomediziner Joachim Tancke u. durch ihn mit paracelsistischem Gedankengut in Kontakt. Rühmend u. zum Teil freundschaftlich ist W.s Nachruf auf Tancke (Ko¯lyte¯ s funeris, in memoriam Joachimi Tanckii. Altenburg 1610), der offenbar auch zwei von W.s Leipziger Schützlingen medizinisch betreut hatte u. für dessen anti-aristotel. Haltung W. noch von Hofmann her empfänglich gewesen sein dürfte. 1611 begann W.s polit. Karriere, da er von Herzog Heinrich Julius von BraunschweigWolfenbüttel, seit 1613 von dessen Sohn Friedrich Ulrich als Gesandter u. a. in Straßburg, Dresden u. Hamburg eingesetzt wurde. 1616 verschaffte ihm Friedrich Ulrich die Professur für Ethik in Helmstedt, die er jedoch nach scharfem Widerstand des Kollegiums gegen den ›Hofmannianer‹ nach zwei Jahren aufgeben musste. Seit 1618 hatte er das Amt des Stadtsyndikus in Magdeburg inne, wo er 1621 die Kipper-und-WipperUnruhen beilegen konnte. Ebenso tat er sich als geschickter Diplomat in Konflikten innerhalb der Hanse, v. a. mit Hamburg hervor. Durch Vermittlung des Braunschweig-Lüneburgischen Hofmedicus Melchior Breler kam W. mit dem Reformchristentum J. Arndts in Kontakt, sodass er sich 1626 im sog. Habitualstreit gegen die luth. Orthodoxie auf die Seite der Opponenten (Andreas Cramer, Wencel Schilling u. a.) schlug. Gleichzeitig griff W. in einer pseudonym erschienenen Schrift in den Streit um die Bischofswahl ein, der zwischen dem Administrator Christian Wilhelm von Brandenburg u. dem Magdeburger Domkapitel entbrannt war, indem er mit Anleihen bei Flacius Illyricus vehement für die mittelalterl. Tradition der Laienwahl u. damit für den Administrator Position bezog (Zwey nützliche [...] Tractätlein: eins vom unnütz verwirreten ungeistlichen Weltstande der Domherren, das andere ein verdeutscheter Beweis wie es mit ordentlicher Wahle eines Bischofs [...] von der Apostel Zeit hero gehalten. Franeker 1622). Mit der zunehmenden kriegerischen Bedrohung Magdeburgs u. angesichts des feindl. Domkapitels verließ W. 1625 die Stadt u. gelangte, unterdessen zum Geheimen Rat

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Christian Wilhelms u. Christians IV. von Dänemark avanciert, auf gefährl. Wegen durch das kriegsversehrte Norddeutschland (in Hamburg hätte der Rat der Stadt ihn 1627 beinahe den Kaiserlichen ausgeliefert) in die Niederlande, wo er bis 1632 in Leiden u. im Haag wirkte u. publizierte. Dort entstanden seine sechs bedeutendsten Werke, v. a. die umfängl. Geschichte der Hanse De Rebuspublicis Hanseaticis earumque nobili Confoederatione tractatus (4 Tle., Leiden 1631), die bereits im Erscheinungsjahr mehrmals nachgedruckt u. 1642, um zwei Teile erweitert u. mit zahlreichen Stichen Matthäus Merians versehen, in Frankfurt erschien; eine wichtige staatstheoret. Schrift Introductio Universalis in omnes Respublicas, sive Politica Generalis (Amsterd. 1632), in der W. auf Grundlage eines christl. Platonismus eine geradezu radikal demokratische Position vertritt, die einerseits mit dem welf. Adel (seinen ehemaligen Dienstherren!) scharf abrechnet, andererseits bürgerl. Handlungs-, Religions- u. vor allem Handelsfreiheit, Letzteres unter Bezug auf die Hanse, zur Grundlage einer am Naturrecht orientierten sozialen Ordnung erhebt. Er wird diese Gedanken in seinen krit. Kommentaren zu Bodins Staatstheorie (Synopsis, sive Medvlla in sex libr[os] Iohan[nis] Bodini [...] de republica. Amsterd. 1635. Leicht verändert: Iohannis Bodini [...] de Republica librorum breviarium. Amsterd. 1645, dort v. a.: Synopsis in sex libros Iohan[nis] Bodini De repvblica, pro¯toporeion generale & necessarium) vertiefen u. damit in eine Kontroverse mit dem ebenfalls Helmstedter Politiktheoretiker Hermann Conring eintreten. In die niederländ. Zeit gehört auch ein unter dem Pseudonym ›Angelus Marianus‹ publiziertes volkssprachl. Werk W.s, in dem er eine dezidiert antirationalistische, tendenziell spiritualistische Frömmigkeit propagieren wollte; diese Offene Hertzens-Pforte/ oder Getreue und freye Einleitung/ Zu dem Wahren Reich Christi (Leiden 1632) erlebte bis ins 18. Jh. immerhin fünf Auflagen. Von besonderer Bedeutung für die frühneuzeitl. Verknüpfung von Politik u. Spiritualismus ist W.s anonym erschienene PSYCHOLOGIA vera J[acobi] B[oehmii] T[eutonici] XL Quaestionibus explicata; Et rerum publicarum vero regimini ac earum maiestatico iuri applicata

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(Amsterd. 1632), in der er, nachdem er wohl durch niederdländ. Böhme-Anhänger wie Theoderich Grave u. Abraham von Beyerland mit dem Görlitzer Mystiker in Kontakt gekommen war, dessen Viertzig Fragen von der Seelen ins Lateinische übersetzte u. politisch ausdeutete. Balthasar Walther, der Böhme diese Fragen zur Antwort vorgelegt hatte, gehörte zum Freundeskreis W.s u. lieferte womöglich Manuskripte, die der angesehene Diplomat in den folgenden Jahren in die Niederlande vermittelte. Öffentlich bekannte W. sich nicht als Böhme-Anhänger, doch kann ein Böhmist wie Abraham von Franckenberg ihn offen als Adressaten seiner Epistola Theosophica über Böhmes Mysterium Magnum nennen (in: Trias Mystica. Amsterd. 1651, S. 99–114). Politisch wirkte W. als Geheimer Rat des Erzbischofs von Bremen, Augusts von Braunschweig-Lüneburg, u. wiederum als Gesandter des Magdeburger Rats u. a. in Dänemark u. bei der Hanse. 1637 für günstige Verhandlungen zum Reichsrat Kaiser Ferdinands II. erhoben u. geadelt, wurde W. ganz in Lübeck ansässig, wo er neben seinen Ämtern weiterhin polit. u. staatstheoret. Traktate verfasste, zgl. aber dem wiederholt unter Häresieverdacht stehenden Kreis um Heinrich Ottendorff angehörte. Während eines Besuchs bei seiner letzten noch lebenden Tochter, Dorothea Sophie, starb W. 1652 in Ratzeburg. An Dichtungen gab er nicht nur 1629 seine biografisch ergiebigen Iuvenilia gesammelt heraus (Poëmatum Iuvenilium liber I: Lyrica continens. Leiden), sondern steuerte auch zu manchem Kasualdruck sowie zum Beiwerk seiner Böhme-Übertragung u. den erasmianisch geprägten Friedensschriften der 1640er Jahre lat. Gedichte bei. Er engagierte sich für die spiritualistisch gefärbte Dichtung der Anna Ovena Hoyers, zu deren Gespräch eines Kindes mit seiner Mutter er 1628 ein lobendes dt. Geleitgedicht verfasste u. deren Verbreitung in den Niederlanden er womöglich aktiv beförderte. Eine von ihm verschiedentlich erwähnte, jedoch nicht vollendete Historia Magdeburgensis ist wohl verloren.

Werdenhagen Weitere Werke: Verus Christianismus, fundamenta religionis nostrae continens, octo orationibus secularibus in acad[emia] Iulia habitis explicatus, quum annus Lutheranus et Iuleius celebraretur. Magdeb. 1618. – Theophrasti Eresi Characteres ethici sive morum descriptiones; graece et latine. Cum notis & monitis J. A. W. Leiden 1632. 21653. – Idea Boni Regentis, sive Politici. Leiden 1632. – De S[ancti] Rom[ani] Imperii circvlis seu de statu & conditione circulorum S[ancti] Romani Imperii in Germania tractatvs. Amsterd. 1636. – Germania supplex Divo Ferdinando III. Caesari Invictissimo, & Imperii Romano-Germanici semper Augusto, Omnem Sceptri Beati felicitatem cum pace saluberrima optans. Ffm. 1641. – Diae pacis et concordiae efflagationes, ex D[esiderii] Erasm[i] Roterod[ami] et aliis clarissimis auctoribus in scenam reproductae. Ffm. 1642. – Briefe: Johann Joachim v. Rusdorf an W. (UB Kassel, 28 Ms. jur. 47, 563); diverse (SUB Bremen, A. 65); diverse (HAB Wolfenbüttel, Bibl. Arch.: Briefe Herzog August). Literatur: Bibliografien: VD 16. – VD 17. – Neubauer (s. u.), S. 122–130. – Weitere Werke: Gottfried Arnold: Unparteiische Kirchen- u. Ketzerhistorie. Ffm. 21729, II, S. 89–93; IV, S. 786–788 u. 972–977. – Kaspar Heinrich Starck: Lubeca Lutherano-Evangelica, das ist der Kayserlichen/ Freyen/ und des Heil[igen] Römischen Reichs Hanse- und Handelsstadt Lübeck Kirchen-Historie. Hbg. 1724, S. 807–812. – Johannes Moller: Cimbria literata. Kopenhagen 1744, Bd. 2, S. 966–970. – Jöcher 4, Sp. 1893–1895. – Zedler 55, Sp. 265–268. – Ernst L. T. Henke: Georg Calixt u. seine Zeit I: Die Univ. Helmstädt im sechzehnten Jh. Halle 1833, S. 246–252. – Paul Zimmermann: J. A. W. In: ADB. – F. Neubauer: J. A. W. In: Geschichtsbl. für Stadt u. Land Magdeburg 38 (1903), S. 59–130. – Alfred Voigt: Über die Politica generalis des J. A. v. W. Erlangen 1965. – Lucas Heinrich Wüthrich: Das druckgraph. Werk v. Matthaeus Merian d.Ä. Bd. 2, Basel 1972, Nr. 56. – Otto Herding: Erasm. Friedensschriften im 17. Jh.: Precatio ad Dominum Jesum pro Pace Ecclesiae. In: Boek, bibliotheek en geesteswetenschappen. Hg. Willem R. H. Koops. Hilversum 1986, S. 151–156. – Roland Crahay: Dalla ›République‹ di Jean Bodin alla ›Synopsis‹ di J. A. W. (1635): un rinnovamento dei concetti religiosi e politici. In: Rivista storica italiana 104 (1992), S. 629–677. – Lucia Bianchin: Dove non arriva la legge. Bologna 2005, S. 293–328. – Stefan Brüdermann: J. A. W. In: Braunschweigisches Biogr. Lexikon. 8. bis 18. Jh. Hg. Horst-Rüdiger Jarck u. a. Braunschw. 2006, Sp. 732 f. – Carlos Gilly: Wege der Verbreitung v. Jacob Böhmes Schriften in Deutschland u. den Niederlanden. In:

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Jacob Böhmes Weg in die Welt. Hg. Theodor Harmsen. Amsterd. 2007, S. 71–98, hier S. 81–83. – Horst Dreitzel: Von Melanchthon zu Pufendorf. In: Spätrenaissance-Philosophie in Dtschld. 1570–1650. Hg. Martin Mulsow. Tüb. 2009, S. 321–398, hier S. 379 f. – Jost Eickmeyer: Ein Politiker als Böhmist. – J. A. W. (1581–1652) u. seine ›Psychologia Vera J. B. T.‹. (1632). In: Offenbarung u. Episteme. Zur europ. Wirkung Jakob Böhmes im 17. u. 18. Jh. Hg. Wilhelm Kühlmann u. Friedrich Vollhardt. Bln./Boston 2012 (im Druck). Jost Eickmeyer

Werder, Diederich von dem, * 17.1.1584 Werdershausen, † 18.12.1657 Reinsdorf; Grabstätte: ebd., Kirche. – Übersetzer, Epiker, Lyriker. Aus reformiertem anhaltischen Adel gebürtig, kam W. zur Erziehung als Page an den Kasseler Hof des Landgrafen Moritz von Hessen. Nach dem Besuch des Collegium Mauritianum, wo W. die neueren Sprachen erlernte, studierte er Theologie u. Jura an der Universität Marburg. Eine Kavalierstour nach Frankreich u. Italien (1609 Immatrikulation in Siena) schloss das Adelscurriculum standesgemäß ab. W., der in höf. Ritterspiel u. kriegerischer Aktion (Belagerung von Jülich 1610) reüssierte, blieb dem landgräfl. Hof verbunden: Vom Stallmeister u. Kammerjunker stieg er zum Geheimen Rat u. Oberhofmarschall auf. Als Ephorus leitete er die Adelserziehung am Mauritianum, außenpolitisch vertrat er in Gesandtschaften die Interessen Hessen-Kassels. Da seine Diplomatie aber den Einfall Tillys in Hessen (1622) nicht verhindern konnte u. er beim Landgrafen in Ungnade fiel, zog sich W. als Privatmann auf sein Gut Reinsdorf zurück. Dort widmete er sich bis zu seinem Tod vor allem der Landwirtschaft u. der Literatur. Obgleich W. während des Dreißigjährigen Kriegs noch mehrere militärisch-polit. Ämter in Anhalt u. – als Obrist – in schwed. u. kurbrandenburgischen Diensten innehatte, nahm er über das eigene Dichten hinaus regen Anteil an der zeitgenöss. Sprach- u. Literaturreform. W., seit 1620 Mitgl. der Fruchtbringenden Gesellschaft (»Der Vielgekörnte«), beriet Fürst Ludwig I . von AnhaltKöthen in grammatisch-poetischen Fragen u.

entschied über die Annahme, Verbesserung u. Veröffentlichung sog. Gesellschaftsarbeiten mit. Er beteiligte sich an der Umarbeitung der »Reimgesetze« in Stanzen (Kurtzer Bericht Von der Fruchtbringenden Geselschaft Vorhaben. Köthen 1641) u. revidierte postume Neuauflagen von Werken von Gesellschaftsmitgliedern wie Tobias Hübners du-Bartas-Übersetzung (ebd. 1640) u. Wilhelm von Kalckheims Malvezzi-Übertragung (ebd. 1643). W.s schriftstellerisches Werk zeichnet sich durch hohe Formkunst u. Rhetorisierung aus. Die Vorliebe für manieristisch-artifizielles Formenspiel bezeugt insbes. der religiöse Sonettenzyklus Krieg und Sieg Christi (Wittenb. 1631), »da in jedem [...] Verse die beyden wörter KRIEG und SIEG [...] befindlich seyn«. Auch die geistl. Dichtungen, die eigenes Leid (Tod der Ehefrau: Selbst eigene Gottselige Thränen. Zerbst 1625) oder fremdes Unglück (Zerstörung der Stadt Magdeburg: Die Busz Psalmen / in Poesie gesetzt. Lpz. 1632) zum Anlass nehmen, sind stark stilisiert. Zwei weitere Werke W.s (Der Ursprung des Weyrauchbaums undt der Sonnenbluhm sowie Piramus und Thisbe) sind wohl verschollen. Seine literarhistor. Bedeutung verdankt W. weniger den eigenen poet. Schöpfungen als seinen Übersetzungen aus dem Italienischen, v. a. dem von Matthäus Merian mit ganzseitigen Kupferstichen illustrierten Gottfried von Bulljon, Oder Das Erlösete Jerusalem (Ffm. 1626. Neudr. hg. von Gerhard Dünnhaupt. Tüb. 1974 [wichtiges Nachwort]). In dieser Versübertragung von Tassos Kreuzzugsepos Gerusalemme liberata verwendete W. erstmals im Deutschen den dreifach verschränkten Stanzenreim. Seiner Übersetzung hat W. ein versepisches Fragment über die herrligkeit Christi vorangestellt, in dem er seinen Anspruch bekundet, nicht nur Übersetzer, sondern inspirierter Dichter zu sein. W.s Übertragung ersetzt Tassos kath. Tendenz durch ein überkonfessionelles christl. Bekenntnis u. erhebt den ritterl. Ehrenkodex zur überparteil. Standesideologie. Somit ist W.s Gottfried ein Friedensappell an die kriegführenden Parteien in Deutschland. Seine irenische Grundhaltung bekundete W. auch in der Friedens-Rede (Weimar 1639. Hbg. 51640. Neudr. ebd. 1918. Wieder in: Die dt. Akad.

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des 17. Jh. Fruchtbringende Gesellschaft [...]. hann Dietrich Gries übertrug Tassos Epos Hg. Klaus Conermann. R. 1, Abt. A, Bd. 5, wieder in Stanzen. Bln. u. a. 2010, S. 175–240). Sie ahmt die Weitere Werke: Der Seelen Ancker (Übers. zus. Querela Pacis des Erasmus nach und wurde von mit Ludwig I . v. Anhalt-Köthen). Köthen 1641. – seinem Sohn Paris bei Hof vorgetragen. Nach Vier u. zwantzig Freuden-reiche Trost-Lieder. Lpz. dem Dreißigjährigen Krieg widmete W. eine 1653. – Seufftzende Andachten. Tl. 1, Frankf./O. metrisch u. sprachl. revidierte Neuauflage 1667. Tle. 2 u. 3 ungedruckt. – (Zahlreiche Gelegenheitsgedichte u. geistl. Lieder). – Briefe: Verz. in seiner Tasso-Übersetzung Kaiser Ferdinand Dünnhaupts Nachw. zum Neudr. des ›Gottfried‹. III. (Gottfried. Oder Erlösetes Jerusalem. Ffm. Tüb. 1974, S. 40*-50*. 1651). Die beigebundenen Lob-Gedichte von Literatur: Bibliografie: Dünnhaupt 2. Aufl., Stubenberg, Milagius, Harsdörffer, Buchner Bd. 6, S. 4251–4267. – Weitere Titel: Georg Witu. Rist zeugen von W.s hohem Ansehen in der kowski: D. v. d. W. Lpz. 1887. – Ida-Marie Cattani: Gelehrtenrepublik des 17. Jh. Studien zum dt. Tassobild des 17. u. 18. Jh. Diss. Weniger Erfolg als der Gottfried, der als Freib./Schweiz 1941. – Ingeborg Ulrich: Torquato Muster eines dt. Epos galt, hatte W.s unvoll- Tassos ›Befreites Jerusalem‹ in den dt. Übers.en ständige Übersetzung von Ariosts Orlando [...]. Diss. Bonn 1958. – Bruna Ceresa: D. v. d. W.s Furioso, die zwischen 1632 u. 1636 in vier dt. Übers. der ›Gerusalemme liberata‹ v. Tasso [...]. Diss. masch. Zürich 1971. – Gerhard Dünnhaupt: Folgen erschien (Gesamtausgabe u. d. T. Die D. v. d. W. Bern/Ffm. 1973. – Ders.: D. v. d. W. [...]. Historia Vom Rasenden Roland. Lpz. 1636 In: MLR 69 (1974), S. 796–804. – Heiduk/Neu[Neuaufl. von Tl. I, Titelaufl. der Tle. 2–4]. meister, Register. – Claus Conermann: Die MitKrit. Ed. hg. von Achim Aurnhammer und glieder der Fruchtbringenden Gesellsch. Dieter Martin. 3 Bde. Stuttgart 2002). Hier 1617–1650. Weinheim 1985, S. 34–36. – Achim blieb W., der die 2920 Strophen (30 Gesänge), Aurnhammer: Torquato Tasso im dt. Barock. Tüb. die das Fragment umfasst, in paarweise ge- 1994, S. 212–239. – Dieter Merzbacher: ›O seltner reimte Alexandriner übertrug, hinter seinem Held / Dem Mars und Febus frönt‹ – D. v. d. W., der hochrangige ›Reimmeister‹ der Fruchtbringenden eigenen epischen Formideal der Stanze zuGesellsch. In: Mitt.en des Vereins für Anhaltische rück. Allerdings überspielt er systemat. die Landeskunde 3 (1994), S. 47–77. – Ders.: Lambentraditionelle Zweiteiligkeit des Alexandri- do demum ursus conformatur. Die Ed. der Werke ners. Die Übersetzung ist insofern eigen- D. v. d. W.s u. Tobias Hübners. In: Editionsdesiständig, als W. in den 31 übers. Gesängen derate zur Frühen Neuzeit. Hg. Hans-Gert Roloff. insgesamt 358 Stanzen auslässt, aber zusätz- Bd. 1, Amsterd. 1997, S. 491–510. – Erika Kanlich Strophen aus Boiardos Orlando Innamorato duth: Das ›Bild‹ in Tassos ›Gerusalemme Liberata‹ eingeschaltet hat. Auch wenn W.s Rasender u. in der Übers. D.s v. d. W. In: Beiträge zu Komparatistik u. Sozialgesch. der Lit. FS Alberto MarRoland mit dem klassizist. Stilideal des Martin tino. Hg. Norbert Bachleitner. Amsterd. u. a. 1997, Opitz konkurrierte, wurde die Übersetzung S. 233–246. Achim Aurnhammer im 17. Jh. produktiv rezipiert. W.s anonym erschienener Roman Dianea Oder Rähtselgedicht (Nürnb. 1644. 21671. Werenfels, Samuel, * 1.3.1657 Basel, Nachdr. hg. von Gerhard Dünnhaupt. Bern † 1.6.1740 Basel. – Reformierter Theolou. a. 1984), eine Übersetzung von G. F. Lore- ge, Philosoph. danos La Dianea, trug zur Einbürgerung der Der Sohn des Pfarrers u. Basler TheologieGattung des höf. Romans in Deutschland bei professors Peter Werenfels (1627–1703) stuu. machte den Adel mit der manierist. Kultur dierte seit 1670 in seiner Heimatstadt PhiloItaliens vertraut. sophie u. Theologie (Magister 1673, kirchl. W. repräsentiert das Barockideal des dich- Examen 1677), ehe er die Akademien in Zütenden Adligen. Seine Bedeutung liegt in der rich, Bern, Lausanne u. Genf besuchte. 1685 Vermittlung der weiter entwickelten ital. Li- avancierte er in Basel zum Professor für teratur, wobei die Tasso-Übersetzung aus Griechisch u. 1687 für Eloquenz. 1696 zum seinem Schaffen herausragt u. am nachhal- Dr. theol. promoviert, wurde er Professor für tigsten fortwirkte. Erst der Romantiker Jo- Dogmatik u. Polemik, schließlich für Altes

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(1703) u. Neues Testament (1711). Zudem war er Universitätsbibliothekar (1696–1727) u. Rektor (1705/06, 1722/23) wie auch Senior der Basler Französischen Kirche (1711). Dem Humanismus (eines Erasmus von Rotterdam) wie auch kritisch dem Cartesianismus nahestehend, war W. ein vielseitiger, tiefreligiöser Gelehrter. In seiner einflussreichsten Schrift, Dissertatio de logomachiis eruditorum (Basel 1688–92. Amsterd. 1702 u. ö.; engl., dt.), betreibt er eine antischolast. Kritik an der Gelehrsamkeit (bes. Philosophie, Theologie): sie sei weitgehend nicht durch Rationalität u. Logik, sondern durch Logomachie bestimmt. Auf naturwissenschaftl. Gebiet sucht er mittels mathematisch-philosophischer Überlegung die Existenz von Atomen zu beweisen (Meditatio de atomis. Basel 1688). In der Oratio de comoediis (entstanden 1687. Amsterd. 1716 u. ö.; dt., engl., holländ.; lat.-dt. Neuausg., 1993) tritt er für das humanistische Schultheater ein; sie wurde bes. von Gottsched (der die beiden dt. Übersetzungen von 1742 u. 1750 anregte), Lessing u. Gellert rezipiert u. als Votum für das öffentl. Bildungstheater verwendet. Wegweisend war W. auch als Theologe. Neben dem Neuchâteler Pfarrer Jean Frédéric Ostervald (1663–1747) u. dem Genfer Kirchenhistoriker Jean-Alphonse Turrettini (1671–1737), mit denen er das auf Irenik bedachte »helvetische Triumvirat« bildete, gilt er als Hauptvertreter der »vernünftigen Orthodoxie«. Diese führte von der strengen altreformierten Orthodoxie in das Zeitalter von Aufklärung u. Pietismus hinüber. Die Übereinstimmung von Offenbarung u. Vernunft wie die praxis christiana betonend, verfocht er die Gewissensfreiheit (Epistola de iure in conscientias ab homine non usurpando. Basel 1702) u. die Beschränkung der Glaubenslehre auf die Fundamentalartikel, womit er den Niedergang des dogmat. Scholastizismus u. die endgültige Beseitigung der Formula Consensus Helvetica (1675) mit heraufführte. Damit einhergehend strebte er nachhaltig eine Union der protestantischen Kirchen an; seine Stimme fand bei den Regensburger Einigungsbestrebungen des Corpus Evangelicorum (1717/26) Resonanz. Schließlich trat er als gedankenreicher Prediger her-

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vor (Sermons sur des vérités importantes de la religion. Basel 1715 u. ö.; dt. 1717 u. ö.; holländ.). Wenngleich die grammatisch-histor. Erforschung der bibl. Schriften befürwortend, stimmte W. der Verurteilung Johann Jacob Wettsteins (Amtsentsetzung 1730), des Mitbegründers der neutestamentl. Textkritik, zu; auch bei der Verbannung Christian Wolffs aus Halle hatte er als Gutachter mitgewirkt. – Europaweit angesehen, gehörte W. der Londoner Society for the Propagation of the gospel in Foreign Parts (1707) u. der Berliner Akademie der Wissenschaften (1709) an; zu seinem Bekanntenkreis zählten Bernard de Montfaucon wie Fontenelle u. Voltaire. Weitere Werke: Opuscula theologica, philosophica et philologica. Basel 1718 u.ö. (holländ. 1723). Neuausg. 3 Bde., Basel 1782. – Martin Stern u. Thomas Wilhelmi: S. W.: Rede von den Schauspielen. Der lat. Urtext (1687/1716), die Übers. von Mylius (1742) u. Gregorius (1750). In: Daphnis 22 (1993), 73–171 (einschl. Lessing-Rezension, 1750) [auch als Sonderdruck, 1993]. Literatur: Bibliografien: Erich Wenneker: S. W. In: Bautz. – Jaumann Hdb., Bd. 1, S. 700 f. – Weitere Titel: Paul Wernle: Der schweizer. Protestantismus im XVIII. Jh. Bd. 1, Tüb., 1923, S. 468 ff., 522 ff.; Bd. 2, 1924, S. 404 ff. – Eberhard Vischer: Werenfelsiana. In: FS Gustav Binz. Basel 1935, S. 55–68. – Karl Barth: S. W. (1657–1740) u. die Theologie seiner Zeit. In: Evang. Theologie 3 (1936), S. 180–203. – Max Geiger: Die Unionsbestrebungen der schweizer. reformierten Theologie unter der Führung des helvet. Triumvirates. In: Theolog. Ztschr. (Basel) 9 (1953), S. 117–136. – Andreas Staehelin: Gesch. der Univ. Basel, 1632–1818. Bd. 1, Basel 1957, S. 267–272. – Wolfgang Rother: Die Philosophie an der Univ. Basel im 17. Jh. Diss. Zürich 1980. – Bernhard Prijs: Chymia Basiliensis. Episoden aus der Basler Chemiegeschichte. Basel u. a. 1983, S. 36 f. – Freyr Roland Varwig: Barocker Wissenschaftsdiskurs zwischen formalisierter Sinnkonstitution u. negativer Hermeneutik. In: Satz – Text – Diskurs. Akten des 27. Linguist. Kolloquiums, Münster 1992. Bd. 1. Hg. Susanne Beckmann u. Sabine Frilling. Tüb. 1994, S. 261–272. – Rudolf Dellsperger: Der Beitr. der ›Vernünftigen Orthodoxie‹ zur innerprotestant. Ökumene. In: Union – Konversion – Toleranz. Dimensionen der Annäherung zwischen den christl. Konfessionen im 17. u. 18. Jh. Hg. Heinz Duchhardt u. Gerhard May. Mainz 2000, S. 289–300. – Camilla Hermanin: S. W. Il dibattito sulla libertà di

307 coscienza a Basileia agli inizi del Settecento. Florenz 2003 (Appendix, S. 259–339: diverse Briefe). – W. Rother: Gelehrsamkeitskritik in der frühen Neuzeit. S. W.s Dissertatio de logomachiis eruditorum u. Idée d’un philosophe. In: Theolog. Ztschr. (Basel) 59 (2003), S. 137–159. Werner Raupp

Werfel, Franz, * 10.9.1890 Prag, † 26.8. 1945 Beverly Hills; Grabstätte: ebd., Rosedale Cemetery; seit 1975 Ehrengrab Wien, Zentralfriedhof. – Lyriker, Dramatiker, Romancier, Erzähler, Essayist, Übersetzer. Als erstes Kind des Handschuhfabrikanten Rudolf Werfel u. seiner Frau Albine, geb. Kussi, wuchs W. in Prag auf. Die seit dem Beginn des 19. Jh. nachweisbaren Vorfahren gehörten dem dt.-böhm. Judentum an. Die Frömmigkeit seiner geliebten Kinderfrau Barbara Sˇimunková, der Besuch der Privatvolksschule der Piaristen sowie die barocke Katholizität der Heimatstadt erwiesen sich für den in der dt.-jüd. Tradition des assimilierten Prager Bürgertums heranwachsenden jungen W. als entscheidende Wegmarken. Zu einem stets neu variierten Leitmotiv des schriftstellerischen Werks wurde die Konspiritualität von Christus u. Israel. Noch vor der Matura am k. k. Deutschen Gymnasium Stefansgasse (1909) begannen die lebenslangen Freundschaften mit Willy Haas, Ernst Deutsch, Max Brod u. Franz Kafka. Ein weiteres entscheidendes Element für das spätere Werk, die Passion für die ital. Oper u. die Verbindung von Musik u. Poesie, lässt sich auf W.s frühe Eindrücke der Verdi-Stagioni am Neuen Deutschen Theater in Prag zurückführen. Zu ersten verstreuten Gedichtveröffentlichungen kam es 1909. Nach einem Volontariat bei einer Hamburger Speditionsfirma 1910 u. dem einjährigen Militärdienst auf dem Prager Hradschin 1911/12 verließ W. seine nun als »lähmendes Ghetto« u. »Fata Morgana« erfahrene Heimatstadt, um im Okt. 1912 als Lektor im Leipziger Kurt Wolff Verlag zu arbeiten. Unter seiner Mitverantwortung erschien die Schriftenreihe »Der jüngste Tag«, eine der maßgebl. Manifestationen des literar. Expressionismus. Auch die

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Begegnung mit Rilke, die Freundschaft mit Hasenclever, Fehden mit Kurt Hiller u. dem einstigen Fürsprecher Karl Kraus fielen in die Leipziger Zeit. Mit den in rascher Folge erschienenen, im Stil des hymn. Expressionismus gehaltenen Gedichtbänden Der Weltfreund (Bln. 1911), Wir sind (Lpz. 1913) u. Einander (ebd. 1915) wurde W. schnell bekannt. Auch als Soldat an der ostgaliz. Front (1916/17) veröffentlichte er weiterhin pazifistische Texte. 1916 etwa wurde am LessingTheater Berlin seine Bearbeitung der Troerinnen des Euripides uraufgeführt. Der Gedichtband Der Gerichtstag (Mchn. 1919) markiert den Übergang zum apokalypt. Expressionismus. Nach W.s Versetzung ins Wiener Kriegspressequartier im Spätsommer 1917 begann die Freundschaft zu Alma MahlerGropius, der erst am 6.7.1929 die Heirat folgte. Nicht zuletzt unter Almas konservativ-klerikalem Einfluss zog sich der anarchistische Dichter, der in Kischs Roter Garde die Wiener Novemberrevolution miterlebt hatte, in den folgenden zwei Jahrzehnten vom öffentl. Leben weitgehend zurück. Seine Werke entstanden weniger an seinem Wiener Hauptwohnsitz als in der Einsamkeit von Breitenstein am Semmering, in Santa Margherita Ligure u. in Venedig. Zum nie verwundenen Schock wurden der frühe Tod des 1918 geborenen Sohns Martin Carl Johannes 1919 u. der an Kinderlähmung erkrankten geliebten Stieftochter Manon Gropius 1935, die in seinem Werk mehrfach auftaucht. In den 1920er u. 1930er Jahren avancierte W. zu einem der meistgelesenen deutschsprachigen Autoren. Zu den Auszeichnungen gehörten der Grillparzer-Preis 1926, der Tschechoslowakische Staatspreis 1927, der Schiller-Preis 1927 u. das Österreichische Verdienstkreuz für Kunst und Wissenschaft 1. Klasse 1937. Der »Franz-Werfel-Menschenrechtspreis« wird seit 2003 an Einzelpersonen, Initiativen oder Gruppen verliehen, die sich gegen die Verletzung von Menschenrechten durch Völkermord, Vertreibung u. die bewusste Zerstörung nationaler, ethnischer, rassischer oder religiöser Gruppen gewandt haben. Maßgeblich verdankte W. diese ungewöhnl. Popularität dem epischen Werk, das

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er selbst freilich seiner Lyrik unterordnete. Weniger bekannt wurden seine heute noch unterschätzten Dramen. Sowohl die am Pathologischen interessierten, die intensive Freud-Lektüre oft zu ostentativ zum Ausdruck bringenden expressionistischen Bühnenstücke Spiegelmensch (Urauff. 1921 Leipzig), Bocksgesang (Urauff. 1922 Raimundtheater Wien) u. das zu einer schweren Auseinandersetzung mit Kafka führende Trauerspiel Schweiger (Urauff. 1923 Neues Deutsches Theater Prag) als auch die im Stil der Neuen Sachlichkeit verfassten, Geschichte als Gleichnis darstellenden histor. Dramen Juarez und Maximilian (Urauff. 1925 Magdeburg), Paulus unter den Juden (Urauff. 1926 gleichzeitig in Bonn, Breslau, Köln u. München) u. Das Reich Gottes in Böhmen (Urauff. 1930 Burgtheater Wien) wurden nur Achtungserfolge. Erst mit zwei in den USA uraufgeführten Bühnenwerken, dem in Zusammenarbeit mit Max Reinhardt u. Kurt Weill 1937 am Manhattan Opera House inszenierten Bibelspiel Der Weg der Verheißung u. der im Exil entstandenen dreiaktigen »Komödie einer Tragödie« Jacobowsky und der Oberst (Urauff. 1944 Martin Beck Theatre New York) konnte sich W. als Dramatiker international durchsetzen. Das umfangreiche Romanwerk W.s entstand zwischen 1920 u. 1945 – flankiert von essayistischen Weltbetrachtungen u. Expeditionen in theolog. u. naturwissenschaftl. Breitengrade – in unmittelbarem Zusammenhang mit der Lebenssituation des Dichters. W. musste 1938 Österreich verlassen u. lebte bis zum Sommer 1940 im frz. Exilzentrum Sanary-sur-Mer, um nach einer mühsam überstandenen Flucht über die Pyrenäen am 13.10.1940 nach Amerika zu gelangen, wo er in Beverly Hills u. Santa Barbara trotz einer sich immer mehr verschlimmernden Angina Pectoris noch kurz vor seinem Tod sein episches Hauptwerk, den utop. Reiseroman Stern der Ungeborenen (Stockholm 1946), vollenden konnte. Schon in W.s erstem, noch dem Expressionismus zugehörenden Roman Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig (Mchn. 1920) erscheint die für das gesamte Werk zentrale Zusammenfügung von Mythos u. Alltag.

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Demnach inkarnieren sich in jedem Vater u. in jedem Sohn Laios u. Ödipus. Die patria potestas wird auswegloser Determinationsraum für den unglückl. Anarchisten Karl Johann Duschek, den Protagonisten des Romans. In Verdi. Roman der Oper (Bln./Wien/Lpz. 1924) lässt W. seinen alternden Helden die durch Richard Wagner verursachte Schaffenskrise überwinden. Das Motiv des künstlerischen Durchbruchs wird mit der Idee der Feindesliebe verbunden. Erst als Verdi den Versuch aufgibt, gegen Wagner zu kämpfen, als er das gescheiterte Dokument dieses Kampfes, die Partitur seines »Lear«, verbrennt, gelangt er aus dem Bann des Antipoden, dem er im Roman – eine Erfindung W.s – einige Male begegnet. Dem an Verdi aufgezeigten Anspruch auf die Zusammengehörigkeit von Ethik u. Ästhetik wird der narkotisierende Illusionismus Wagners entgegengesetzt, der im Untergang der Melodie die Preisgabe des spätbürgerl. Individuums zum Ausdruck bringt. In dem großangelegten, vom Untergang der österr. Doppelmonarchie handelnden Roman Barbara oder die Frömmigkeit (ebd. 1929) wird die Einsicht gestaltet, dass der Mensch »das Gespenst [...], der wiederkehrende Tote seiner eigenen Vergangenheit« ist u. dass jegl. Erleben nur eine Form der Erinnerung ist. Zugleich erweist sich die Grundsituation des Helden Ferdinand S., »nirgends hinzugehören«, als Stigma der gesamten Epoche. Mit äußerster Genauigkeit beschreibt W. das Grauen des Weltkriegs, die Schiebereien im Hinterland, die Revolution u. die erneute Restauration. In dem in intellektuellen Zirkeln des Kaffeehauses zutage tretenden Wertezerfall formieren sich bereits die atavistischen Kräfte der zukünftigen Barbarei. Auch in dem Familienroman Die Geschwister von Neapel (ebd. 1931) wird am Schwund der väterl. Kraft der Untergang der alten Welt gezeigt. Erzähltechnisch entspricht dieser Roman am stärksten dem ästhetischen Anspruch W.s, die »mystischen Grundtatsachen« in unauffälligen Geschehnissen des Alltags aufgehen zu lassen. Die beiden historischen Romane Die vierzig Tage des Musa Dagh (ebd. 1933) u. Höret die Stimme (Wien 1937. U. d. T. Jeremias. Ffm. 1956) verdanken ihre große Authentizität,

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Orts- u. Sachkenntnis W.s Reisen in den Nahen Osten 1925 u. 1930. Das Epos vom erfolgreichen Widerstandskampf einiger armenischer Dörfer auf dem nordsyr. Gebirgsmassiv Musa Dagh gegen die erdrückende türk. Übermacht im Sommer 1915 erwies sich zgl. als Vorwegnahme der Untaten der faschistischen Machthaber, die W. nach dem Erscheinen des Romans aus der Preußischen Akademie der Künste ausschlossen. Von der Ausgrenzung u. Verfolgung eines Propheten, der die düstere Zukunft ankündigt, handelt der Jeremias-Roman Höret die Stimme. Die Tragik des jüd. Künders ist das ununterbrochene Bewusstsein der Paradoxie, dass Gott zerstört, was doch unzerstörbar sein soll, dass der große Vernichter Nebukadnezar zgl. ein Knecht in der Hand Jahwes sein soll. Nach der Wiederentdeckung des Judentums im Jeremias-Roman u. der Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus in der scheiternden österr. Republik im Romanfragment Cella oder die Überwinder (Ffm. 1954) u. dem kleinen Roman Eine blaßblaue Frauenschrift (Buenos Aires 1941) wurden die Exilromane Der veruntreute Himmel (Stockholm 1939) u. Das Lied von Bernadette (ebd. 1941) zum Ausdruck des Bekenntnisses zu einem revoltierenden eth. Christentum. Sowohl die Geschichte von der mit falschen Mitteln auf das Himmelreich setzenden böhm. Magd Teta Linek als auch die Legende des Wunders von Lourdes – »ein Einbruch in den offiziellen Deismus und inoffiziellen Nihilismus des Zeitalters« – handeln vom organisierten Sinnentzug der Neuzeit, von der »Eroberung dieser Welt um den Preis der Überwelt«. W.s letztes Werk, Stern der Ungeborenen (Stockholm 1946), das im Jahr 101943 n. Chr. spielt, ist zgl. sein am stärksten autobiografisch geprägtes. Der Reisebericht des F. W., der durch eine spiritistische Séance aus dem Totenreich zitiert wird, ist sowohl der Bericht von der geistigen, kulturellen, ökonomischen u. ökolog. Zukunft der Menschheit als auch krit. Revision des eigenen Zeitalters. Elemente des Erziehungs-, Bildungs- u. Geschichtsromans verbinden sich mit dem visionären Weltentwurf. Der Schiffbruch, den die Zukunftsgesellschaft am Ende erlebt, ist modellhaft vorgegeben in den Katastrophen der Vergangenheit. Von den

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prominenten Utopien einer gleichgeschalteten Welt, von George Orwell u. Aldous Huxley, unterscheidet sich der Roman tiefgreifend. Nicht eine zuständliche starre u. eindimensional negative Zukunftswelt, sondern einen Epochenwandel schildert das Buch. Eine ungeheure geschichtl. Dynamik bezeichnet das Ende der »astromentalen« Erdenbürger. So wie Atlantis, Platons Objektivation des Idealstaats, untergeht, so zerfällt am Schluss der Geistesstaat des Romans. Weitere Werke: Ausgaben: Ges. Werke in Einzelbdn. Hg. Adolf D. Klarmann. Ffm. 1948–67. – Zwischen Oben u. Unten. Prosa – Tagebücher – Aphorismen – Literar. Nachträge. Hg. ders. Mchn./ Wien 1975. – Ges. Werke in Einzelbdn. Hg. Knut Beck. Ffm. 1989–93. – Einzeltitel: Beschwörungen. Mchn. 1923 (L.). – Gedichte. Bln./Wien/Lpz. 1927. – Der Tod des Kleinbürgers. Ebd. 1927 (N.). – Geheimnis eines Menschen. Ebd. 1927 (N.). – Der Abituriententag. Ebd. 1928. – Kleine Verhältnisse. Ebd. 1931 (N.). – Schlaf u. Erwachen. Ebd. 1935 (L.). – In einer Nacht. Wien 1937 (D.). Literatur: Bibliografien: Lore B. Foltin: F. W. Stgt. 1972. – John M. Spalek u. Sandra H. Hawrylchak: F. W. Bibliography of German editions. Mchn. 2009. – Weitere Titel: Richard Specht: F. W. Versuch einer Zeitspiegelung. Wien 1926. – Adolf D. Klarmann: Musikalität bei W. Diss. Philadelphia 1931. – Annemarie v. Puttkamer: F. W. Wort u. Antwort. Würzb. 1952. – Ernst Keller: F. W. Sein Bild des Menschen. Aarau 1958. – Werner Braselmann: F. W. Dichtung u. Deutung. Wuppertal 1960. – Alma Mahler-Werfel: Mein Leben. Ffm. 1960. – Helga Meister: F. W.s Dramen u. ihre Inszenierungen auf der deutschsprachigen Bühne. Köln 1964. – Leopold Zahn: F. W. Bln. 1966. – Michel Reffet: L’œuvre de F. W. Paris 1984. – Lionel B. Steinman: F. W., the Faith of an Exile. Waterloo/ Ont. 1985. – Peter Stephan Jungk: F. W. Eine Lebensgesch. Ffm. 1987. – Norbert Abels. F. W. Reinb. 1990. – F. W. zwischen Prag u. Wien. Hg. Adalbert Stifter Verein. Mchn. 1990. – Alfons Weber: Problemkonstanz u. Identität. Sozialpsycholog. Studien zu F. W.s Biogr. u. Werk. Ffm. 1990. – F. W. im Exil (Internat. F. W. Conference, Los Angeles, Oct. 1990). Hg. Wolfgang Nehring. Bonn 1992. – Karlheinz F. Auckenthaler (Hg.): F. W. Neue Aspekte seines Werkes. Szeged 1992. – Ders.: Die Tagebücher v. F. W. In: Brücken 3 (1995), S. 167–180. – Volker Doberstein: Die Unmöglichkeit des Möglichen. Utopie u. Utopiekritik in F. W.s Exilroman ›Stern der Ungeborenen‹. In: Lit. für Leser 18 (1995), S. 165–175. – Andrea Bartl: Geis-

Werfel tige Atemräume. Auswirkungen des Exils auf Heinrich Manns ›Empfang bei der Welt‹, F. W.s ›Stern der Ungeborenen‹ u. Hermann Hesses ›Das Glasperlenspiel‹. Bonn 1996. – Frank Joachim Eggers: ›Ich bin ein Katholik mit jüd. Gehirn‹. Modernitätskritik u. Religion bei Joseph Roth u. F. W. Ffm. 1996. – Sympaian. Jb. der Internat. F.-W.Gesellsch. 1 (1997). – Volker Hartmann: Religiosität als Intertextualität. Studien zum Problem der literar. Typologie im Werk F. W.s. Tüb. 1998. – Silvia Anna Rode: F. W.s ›Stern der Ungeborenen‹. Die Utopie als fiktionaler Genrediskurs u. Ideengesch. Ann Arbor, Mich. 1998. – Annette Schmollinger: ›Intra muros et extra‹. Dt. Lit. im Exil u. in der inneren Emigration. Heidelb. 1999. – A. Bartl: Zwischen Venus u. Madonna. Die Funktion der Frauenfiguren in F. W.s ›Stern der Ungeborenen‹. In: MAL 33 (2000), S. 149–164. – Wolfgang Klaghofer-Treitler: Mensch u. Gott im Schatten. Franz Kafka u. F. W. Konturen des Exodus. Ffm. 2000. – Le monde de F. W. et la morale des nations. Actes du Colloque F. W. à l’université de Dijon, 18–20 mai 1995. Hg. M. Reffet. Ffm. 2000. – Hendrikje Mautner: Aus Kitsch wird Kunst. Zur Bedeutung F. W.s für die dt. Verdi-Renaissance. Schliengen 2000. – Klaus Schuhmann: Walter Hasenclever, Kurt Pinthus u. F. W. im Leipziger Kurt-Wolff-Verlag (1913–1919). Lpz. 2000. – Ders.: Der ›Weltfreund‹ u. sein Kritiker. Gedenkblatt für F. W. u. Alfred Wolfenstein. In: NDL 48 (2000), S. 142–146. – Erich Sporis: F. W.s polit. Weltvorstellung. Ffm. 2000. – Jugend in Böhmen. F. W. u. die tschech. Kultur. Beiträge des internat. Symposions in Budweis vom 12. bis 15. März 1998. Hg. Michael Schwidtal u. Václav Bok. Wien 2001. – P. S. Jungk: F. W. Eine Lebensgesch. Ffm. 2001. – John David Pizer: The Kraus/W. polemic. The double as a sign of modernism’s originality crisis. In: CG 34 (2001), S. 41–56. – S. A. Rode: F. W.s ›Stern der Ungeborenen‹. Die Utopie als fiktionaler Genrediskurs u. Ideengesch. Stgt. 2002. – Daniel Meyer: Vom mentalen Schlaraffenland zur Apokalypse. F. W.s utop. Roman ›Der Stern der Ungeborenen‹. In: Utopie, Antiutopie u. Science Fiction im deutschsprachigen Roman des 20. Jh. Hg. Hans Esselborn. Würzb. 2003, S. 83–94. – Sarah Fraiman-Morris: Assimilation, Verrat u. versuchte Wiedergutmachung. Zum Identitätsprozess bei F. W., Stefan Zweig u. Joseph Roth. In: Seminar 39 (2003), S. 203–216. – Alice u. Carl Zuckmayer – Alma u. Franz Werfel. Briefw. In: Carl Zuckmayer: Briefe an Hans Schiebelhuth 1921–1936. Hg. Gunther Nickel. Gött. 2003, S. 89–218. – S. Fraiman-Morris: Verdrängung u. Bekenntnis. Zu F. W.s jüd. Identität. In: GRM 53 (2003), S. 339–354. – Eleonora Pascu: Frauenbilder zwischen Wirklichkeit u. Fik-

310 tion am Beispiel der Erzählung ›Manon‹ v. F. W. In: Transcarpathica 1 (2003), S. 184–192. – Helmut F. Pfanner: Zweimalige Vergangenheitsbewältigung. F. W.s Novelle ›Eine blaßblaue Frauenschrift‹ u. ihre Verfilmung durch Axel Corti. In: Lit. für Leser 26 (2003), S. 28–36. – M. Reffet: Die Rezeption Goethes u. Schillers bei dem Expressionisten F. W. In: Klassik-Rezeption. Auseinandersetzung mit einer Tradition. FS Wolfgang Düsing. Hg. Peter Ensberg. Würzb. 2003, S. 135–146. – Kurt Adel: F. W. In: Ders.: Von Sprache u. Dichtung. 1800–2000. Ffm. 2004, S. 110–128. – Matthias Pape: ›Depression über Österreich‹. F. W.s Novelle ›Eine blaßblaue Frauenschrift‹ (1940) im kulturellen Gedächtnis Österreichs. In: LitJb 45 (2004), S. 141–178. – Das (Musik-)Theater in Exil u. Diktatur. Vorträge u. Gespräche des Salzburger Symposions 2003. Hg. Peter Csobádi. Anif/Salzb. 2005. – Die Alchemie des Exils. Exil als schöpfer. Impuls. Hg. Helga Schreckenberger. Wien 2005. – S. Fraiman-Morris: Naturgefühl u. Religiosität in den Werken österr.-jüd. Schriftsteller. F. W., Stefan Zweig, Joseph Roth u. Richard Beer-Hofmann. In: MAL 38 (2005), S. 29–49. – Axel Stähler: Schreiben gegen die Katastrophe. Oskar Baums ›Das Volk des harten Schlafs‹ (1937) u. F. W.s ›Die vierzig Tage des Musa Dagh‹ (1933). In: ZfdPh 124 (2005), S. 204–226. – Thorsten Valk: Die Geburt der Zwölftontechnik aus dem Geist der Spätromantik. Musikästhetik als Kulturkritik in W.s ›Verdi‹-Roman. In: JbDSG 49 (2005), S. 328–350. – T. Valk: Dt. Idealismus – ital. Sensualismus. W.s dichotom. Musikästhetik im Kontext der klass. Moderne. In: Lit. u. Musik in der klass. Moderne. Hg. Joachim Grage. Würzb. 2006, S. 167–187. – Robert Malecki: F. W. Leben u. Dichten zwischen zwei Religionen. In: Zwischen Verlust u. Fülle. FS Louis Ferdinand Helbig. Hg. Edward Bialek u. Detlef Haberland. Wrocl/aw 2006, S. 87–96. – S. Fraiman-Morris: Ein Heine-Subtext in F. W.s ›Der Tod des Kleinbürgers‹. In: Sprachkunst 38 (2007), S. 15–26. – Norbert Wichard: Wohnen u. Identität in der Moderne. Das erzählte Hotel bei Fontane, W. u. Vicki Baum. In: Einschnitte. Identität in der Moderne. Hg. Oliver Kohns. Würzb. 2007, S. 67–83. – T. Valk: Literar. Musikästhetik. Eine Diskursgesch. v. 1800 bis 1950. Ffm. 2008. – Hans Wagener: Juárez u. W. Drehb. u. Drama. In: Jb. zur Kultur u. Lit. der Weimarer Republik 11 (2008), S. 71–101. – Olga Koller: Judentum u. Christentum im Leben u. Werk F. W.s. Wien 2009. – Akane Nishioka: Dichtung als Prophetie. Gustav Landauer u. F. W. In: Ästhetik – Religion – Säkularisierung 2 (2009), S. 107–123. –

Werner von Elmendorf

311 Michael Wagner: Lit. u. nationale Identität. Österreichbewußtsein bei F. W. Wien 2009. Norbert Abels / Klaudia Hilgers

Werkmeister-Cadisch, Claudia ! Jens, Ina Werlhof, Paul Gottlieb, Gottfried, Godolieb, * 24.3.1699 Helmstedt, † 26.7.1767 Hannover; Grabstätte: ebd., St.-NicolaiFriedhof. – Arzt, Verfasser medizinischer Fachbücher, Lyriker.

die den Schmerz über den Tod seiner ersten Frau widerspiegeln. In seinen lyr. Erzählungen bediente er sich, um sein Bildungsideal zu vermitteln, der populären Fabel. W.s Dichtkunst, deren »richtige und angenehme Schreibart« Herder lobte, erlangte eine große Popularität, geriet jedoch im 19. Jh. in Vergessenheit. Weitere Werke: Zeugnisse treuer Liebe nach dem Tod tugendhafter Frauen in gebundener dt. Rede abgestattet v. ihren Ehemännern. Hann. 1743. Internet-Ed. in: Dt. Lit. des 18. Jh. Online. Hg. Paul Raabe. Mchn. 2007. – Opera medica. Hg. u. erg. v. Johann Ernst Wichmann. 3 Tle., Hann. 1775/76.

W., der aus einer streng luth. Professorenfamilie stammte, studierte 1718–1721 Medizin Literatur: Goedeke 4,1, S. 32. – Julius Leopold in Helmstedt, wo er mit der InauguraldisPagel: P. G. W. In: ADB. – Kurt Ludwig Heinrich sertation De medicina sectae methodicae veteris Roselius: P. G. W., ein norddt. Dichter des frühen ejusque usu et abusu (Helmst. 1723) den Dok- 18. Jh. Oldenb. [1932]. – Karl S. Guthke: Konfestorgrad erwarb. Seine praxisorientierten Pu- sion u. Kunsthandwerk. In: Ders.: Das Abenteuer blikationen über Epidemien u. Fieberkrank- der Lit. Bern/Mchn. 1981, S. 29–48. – Horst Meyer: heiten (Observationes de febribus praecipue inter- Ber. über eine Recherche zur Haller-W.-Korremittentibus et ex earum genere continuis deque spondenz. Bad Iburg 1981. – Udo Benzenhöfer: earum periculis ac reversionibus praenoscendis et Der hannoversche Hof- u. Leibarzt P. G. W. praecavendis [...]. Hann. 1732 u. ö.) erlangten (1699–1767). Aachen 1992. – Gerhard Niemann: P. internat. Anerkennung. W. lebte u. arbeitete G. W. In: Braunschweigisches biogr. Lexikon 8. bis von 1725 bis zu seinem Tod in Hannover. Seit 18. Jh. Hg. Horst-Rüdiger Jarck u. a. Braunschw. 2006, S. 734 f. Carmen Asshoff / Red. 1729 amtierte er als Hof-, später als Leibmedicus Georgs II. Eine enge Freundschaft verband W. mit Albrecht von Haller, wie ein in- Werner ! Wernher tensiver lebenslanger Briefwechsel dokumentiert. In über 1500 Briefen tauschten sich Werner von Elmendorf, Wernher von E. – die beiden Ärzte über familiäre Probleme aus Verfasser eines Lehrgedichts, 1170/80. u. gaben sich gegenseitig Anregungen zur Verbesserung ihrer lyr. Arbeiten. Wie Guthke Der Autor stellt sich im Prolog als »phaphe nachwies, nahm W. großen Einfluss auf Hal- Wernere von Elmindorf der capelan« vor u. lers Dichtung. nennt als Anreger seines Gedichts Herrn Anfangs verstand sich W. als ein Dichter, Dietrich von Elmendorf, Propst in Heiligender sich der strengen Regelpoetik u. der luth. stadt. Diesen kann man mit einem 1171 am Tugendvorstellung verbunden fühlte. Nach Stift St. Martin in Heiligenstadt/Eichsfeld (im 1738 machte er auch subjektive Erfahrungen Nordwesten Thüringens) bezeugten Propst zum Sujet seiner Dichtungen, u. die vorher identifizieren, der wohl auch 1168 als Kanostreng eingehaltene Metrik näherte sich frei- niker am Magdeburger Domstift begegnet. en rhythm. Formen. W.s Werk, das fast voll- Elmendorf ist im Landkreis Ammerland bei ständig zu seinem 50. Geburtstag mit einem Oldenburg zu suchen. Dort war als Zweig des Vorwort von Haller herausgegeben wurde Oldenburger Grafengeschlechts eine Adels(Gedichte. Hg. Deutsche Gesellschaft Göttin- familie ansässig, die in Verwandtschaftsbegen. Hann. 1749. Internet-Ed. in: Dt. Lit. des ziehungen zu den Herren von Ampfurt/Kreis 18. Jh. Online. Hg. Paul Raabe. Mchn. 2007), Wanzleben bei Magdeburg stand. Dietrichs umfasst eine Vielzahl von moralischen Lehr-, Abstammung u. sein Weg von Magdeburg auf Liebes- u. Lobdichtungen. Daneben verfasste die Pfründe in Thüringen, im Bereich des er Lieder gegen den Karneval u. Traueroden, Bistums Mainz, sind so zu rekonstruieren.

Werner von Elmendorf

Der Autor W. dürfte aus der gleichen Adelsfamilie stammen; ferner ist im Prolog »von Elmindorf« als Teil des Namens zu lesen. Man hat versucht, ihn als Bruder Dietrichs einzuordnen. Mit dessen Ortswechsel ist jedenfalls der Zeitpunkt der Entstehung des Lehrgedichts um 1170/80 gegeben. Das Werk ist unvollständig überliefert, nämlich in einer Klosterneuburger Handschrift des 14. Jh., die nach 1203 Versen abbricht; an sechs Stellen ist mindestens ein Reim ausgefallen. Ferner sind zwei wohl noch Ende des 12. Jh. geschriebene Pergamentdoppelblätter, ehemals aus dem Besitz Hoffmanns von Fallersleben, dann Berlin, mit 134 Versen erhalten, die in ihrer textkrit. u. sprachl. Qualität wie der Ausstattung in den allernächsten Umkreis des Dichters weisen u. Randbemerkungen aus der lat. Vorlage enthalten. Die Sprache des Gedichts ist nordmitteldt. mit mittelfränkisch-rheinischem Einschlag u. einzelnen niederdt. Elementen. Bei diesen wird diskutiert, ob sie auf den Dialekt des Entstehungsraums im Norden Thüringens oder auf genuin niederdt. Prägung durch W.s Herkunft aus dem Oldenburgischen (zuletzt wieder Klein 1986) zurückgehen. Die Paarreim-Metrik zeigt in der Reim- u. vor allem der Verstechnik noch die frühmhd. Freiheiten, die formale Gestaltung erscheint gegenüber der lehrhaften Intention sekundär. Das von W. verfasste älteste deutschsprachige Lehrgedicht trägt keinen eigenen Titel, sondern ist nach seiner Quelle, dem im Prolog (V. 15 f.) erwähnten moralphilosophischen Traktat Moralium dogma philosophorum (Lehre der Moralphilosophen), benannt. Das breit überlieferte Moralium dogma ist ein im 12. Jh. in Nordfrankreich entstandenes Kompendium, das aus antiken Autoren wie Cicero, Horaz u. Seneca eine Tugendsystematik zusammenstellt u. dem Bestreben folgt, moralphilosophische Autoritäten enzyklopädisch verfügbar zu machen. Eine früher erwogene Zuschreibung an Wilhelm von Conches oder Walther von Châtillon, die auf Verfassernennungen in einer seit dem 14. Jh. überlieferten Vorrede zurückgeht, ist ebenso wie eine Einordnung in den Umkreis der Schule von Chartres wenig wahrscheinlich. W. bietet eine

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verkürzende Bearbeitung, d.h., er wählt Passagen aus seiner Vorlage aus u. gibt sie recht frei wieder. Er löst die v. a. aus Ciceros De officiis abgeleitete Systematik der Quelle mit den Güterklassen honestum u. utile, die in der Forschungsdiskussion um das sog. »ritterliche Tugendsystem« eine wichtige Rolle spielten, auf. Auch die Gliederung des honestum durch das Schema der vier Kardinaltugenden u. weitere Unterteilungen fallen weg. An die Stelle einer scholastisch geprägten, abstrakten Tugendsystematik tritt eine prakt. Lebenslehre: So wird etwa aus der Darstellung der prudentia ein Abschnitt über gute u. schlechte Ratgeber; die eigentl. Tugendliste setzt erst mit der iustitia ein. Als wichtigste Werte erscheinen »reht«, »milte«, v. a. »staete« u. »mâze« werden als Schlüsseltugenden für die erfolgreiche adlige Lebensbewältigung gesehen, doch kommt ihnen keine strenge Gliederungsfunktion für den Text zu. Ob sich in dieser Reihe ein Typus vulgärsprachl. Herrenlehre abzeichnet (Bumke 1957/58), ist umstritten. Ausführungen über die rechte Frömmigkeit, die Freigebigkeit, die Verwandtschafts- u. Freundespflichten u. die rechte Kriegsführung (entschiedene Voten für die Gegnerschonung) durchbrechen die Orientierung an leitenden Tugendbegriffen. Trotz einer grundsätzl. Ausrichtung an christl. Basiswerten folgt das Lehrgedicht einem dezidiert weltlichen, auf ein adliges Laienpublikum zugeschnittenen Programm. Der geistl. Verfasser definiert damit seinen Zuständigkeitsbereich sehr breit u. sieht sich weniger als Seelsorger denn als Vermittler eines antiken moralphilosophischen Weltwissens, das auch in einer christl. Welt dem Laien zu einer besseren Lebensführung verhilft u. das der Didaktiker seinem Publikum nicht vorenthalten darf (Verweis auf das unter den Scheffel gestellte Licht nach Mt 5,15 u. den vergrabenen Schatz nach Mt 6,19 im Prolog). W. vertritt den Anspruch, dass sich eine gute Erziehung des Leibes auch auf das Seelenheil auswirke: »Man hat uns so viel geschrieben von unseren heiligen Vorfahren, dass wir die Seele sehr wohl retten können. Nun wollen wir auch an den Leib denken, dass der nicht unbewahrt bleibe. Denn wird der in Ehren erzogen, bleibt auch die Seele

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ungefährdet« (Prolog, VV. 66 ff.). Viele An- In: VL (Nachträge u. Korrekturen). – Christoph weisungen sind auf die Praxis bezogen u. Huber: Didakt. Pluralismus u. Poetik der Lehrlassen als Lehrschrift innerhalb der Fürsten- dichtung. Zum ›Ritterspiegel‹ des Johannes Rothe. erziehung oder als allgemeine Tugendlehre In: Dichtung u. Didaxe. Lehrhaftes Sprechen in der dt. Lit. des MA. Hg. Henrike Lähnemann u. Sandra für den mittelständ. Feudaladel die BestimLinden. Bln./New York 2009, S. 413–426, hier mung für ein höfisch-adliges Publikum er- S. 419 f. Christoph Huber / Sandra Linden kennen, was mit den Rekonstruktionen zu W.s u. Dietrichs Herkunft konvergiert. Die spärl. Überlieferung bescheinigt dem Werner, Abraham Gottlob, * 25.9.1749 Gedicht keine große Wirkung, allerdings beWehrau/Oberlausitz (heute: Osiecznica), zeugt gerade die Haupthandschrift Interesse † 30.6.1817 Dresden. – Mineraloge, Geonoch im 14. Jh. Der Friauler Domherr Tho- loge. masin von Zerclaere, der die Großform der mhd. Lehrdichtung prägte, kannte das Mora- Aus einer jahrhundertelang im Berg- u. lium Dogma, aber kaum seine Bearbeitung Hüttenwesen tätigen Familie stammend, durch W. Einflüsse auf den Prolog des Luci- studierte W. nach einer Anstellung als Hütdarius u. die Reimvorreden des Sachsenspiegels tenschreiber seit 1769 an der Bergakademie Eikes von Repgow wurden erwogen. Literar- in Freiberg u. seit 1771 in Leipzig, dort neben historisch gehört das Werk in den Umkreis den für seine Laufbahn im montanistischen der frühhöf. Literatur des rheinisch-nie- Staatsdienst gedachten Rechtswissenschaften derdt.-mitteldt. Raums mit ihrer weiteren auch Naturwissenschaften, u. a. Mineralogie, die der Mediziner Johann Karl Gehler erstAusstrahlung. Ausgaben: Joachim Bumke (Hg.): W. v. E. Tüb. mals las. Weil für dieses Fach ein Lehrbuch 1974 (mit Lit.). – John Holmberg (Hg.): Das mora- fehlte, beabsichtigte W., dessen Dissertation lium dogma philosophorum des Guillaume de von 1757 (De characteribus fossilium externis) in einer kommentierten dt. Übersetzung herConches. Paris/Uppsala/Lpz. 1929. Literatur: Heinrich V. Sauerland: Wernher v. E. auszugeben, ließ sich dann aber dazu beweIn: ZfdA 30 (1886), S. 1–58. – Anton E. Schönbach: gen, seine profunden Kenntnisse nicht als Die Quelle Wernhers v. E. In: ebd. 34 (1890), Ergänzung dazu einzubringen, sondern in S. 55–75. – Albert Leitzmann: Zu Wernher v. E. In: einem eigenständigen Werk auszubreiten: ZfdA 82 (1948/50), S. 64–72. – Joachim Bumke: Binnen Jahresfrist erschien es u. d. T. Von den Wernher v. E. Untersuchung, Text, Kommentar. äußerlichen Kennzeichen der Fossilien, d. h. MiDiss. masch. Heidelb. 1953. – Ders.: Die Auflösung nerale (Lpz. 1774) u. machte den Verfasser des Tugendsystems bei Wernher v. E. In: ZfdA 88 sogleich weltweit bekannt. Die Bergakademie (1957/58), S. 39–54. Auch in: Ritterl. Tugendsysin Freiberg ernannte ihn daraufhin im Febr. tem. Hg. Günter Eifler. Darmst. 1970, S. 401–421. – Ders.: Zur Überlieferung Wernhers v. E.: Die al- 1775 zum Inspektor der Sammlungen u. beten Fragmente. In: FS Ulrich Pretzel. Bln. 1963, rief ihn als Lehrer der Mineralogie, der er bis S. 33–42. – Martin Last: Die Herkunft des Wernher zu seinem Tod blieb. Der Begründer einer wissenschaftl. Minev. E. In: ZfdPh 89 (1970), S. 404–418. – Daniel Rocher: Wernher v. E., un ›adaptateur courtois‹ ralogie u. (gemeinsam mit James Hutton) didactique? In: Actes du colloque des 9 et 10 avril auch der Geologie wirkte in erster Linie als 1976 sur ›L’adaptation courtoise‹ en littérature Lehrer, dessen Ruf angehende u. ausgewiemédiévale allemande. Hg. Danielle Buschinger. sene Praktiker u. Wissenschaftler aus aller Paris 1976, S. 53–65. – Hartmut Beckers: ›Gelücke‹ Welt nach Freiberg zog. Sein Lehrbuch der u. ›heil‹ bei Wernher v. E. In: PBB 99 (Halle 1978), Mineralogie bestach durch die praxisorienS. 175–181. – Hartmut Kokott: Lit. u. Herrtierte Diagnostik; die im Unterricht entwischaftsbewußtsein. Wertstrukturen der vor- u. frühhöf. Lit. Ffm. 1978, S. 152–164, 207–209. – ckelten Neuerungen gingen in zwei frz. Thomas Klein: Wederdege, Undege. Zu Elmendorf. Übersetzungen (1790. 1795) u. eine engl. vv. 906–920. In: FS Gilbert A. R. de Smet. Löwen Übersetzung (1805) ein, die von Schülern W.s 1986, S. 269–276. – J. Bumke: W. v. E. In: VL. – veranstaltet wurden. Mit Erlaubnis W.s verFrank Bezner: ›Moralium dogma philosophorum‹. öffentlichten Schüler auch seine Mineralsys-

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teme (1789. 1816. 1817). Seine »Geognosie« Kopenhagen 1996 (mit dt. Zusammenfassung). – fand überhaupt nur durch den Unterricht u. Ders.: Absolutismus u. Kasualpoesie. Zur Funktion Veröffentlichungen seiner Schüler Verbrei- der polit. Gelegenheitsdichtung im dän. Frühabtung, wobei die starre Beibehaltung seiner solutismus 1660–1699. In: Ostsee-Barock. Texte u. Kultur. Hg. Walter Baumgartner. Münster 2006, Theorie des Neptunismus, gemäß der sämtl. S. 153–168. Dieter Lohmeier / Red. Gesteine u. Minerale sich aus wässrigen Lösungen im alles bedeckenden Urmeer durch Kristallisation oder Sedimentation abgesonWerner, Bruno E(rich), * 5.9.1896 Leipzig, dert hätten, insbes. für die Basalt-Genese zu † 21.1.1964 Davos. – Journalist, Kritiker, einem langen u. heftigen Streit mit den sog. Erzähler. Vulkanisten führte, der erst nach W.s Tod durch Verknüpfung beider Theorien beendet Der Sohn eines Ingenieurs studierte Literawurde. tur- u. Kunstgeschichte, u. a. bei Fritz Strich Literatur: DSB 14. – Martin Guntau: A. G. W. u. Heinrich Wölfflin, u. promovierte 1921 in Lpz. 1984. – Dieter Slaby: A. G. W. – seine Zeit u. München über Die deutschen Übersetzungen der seine Bezüge zur Bergwirtschaft. Freiberg 1999. Gedichte von Paul Verlaine. Seit 1926 war er Fritz Krafft / Red. Kritiker der »Deutschen Allgemeinen Zeitung« in Berlin; 1929–1943 gab er die formal von der Bauhaus-Ästhetik geprägte, doch liWerner, Adam Friedrich, * um 1610 Saalterarisch konservative Zeitschrift »die neue feld/Ostpreußen, begraben am 20.4.1672 linie« heraus. Anfang der 1940er Jahre wurde Kopenhagen. – Hofdichter. er nach dem Verbot der Barlach u. Lehmbruck W. studierte seit 1627 in Königsberg, hielt würdigenden Monografie Die deutsche Plastik sich einige Zeit in Danzig auf u. kam 1641 der Gegenwart (Bln. 1940) aus der Reichspresnach Kopenhagen. Dort wurde er zunächst sekammer ausgeschlossen. Unzeitgemäß Hauslehrer, wenig später Gehilfe eines No- weltoffen u. antiideologisch gab sich W. auch tars, dem er 1654 im Amt nachfolgte. 1645 in seinen Reiseessays (Zwischen den Kriegen. bekam er zudem eine Bestallung als dt. Hof- Lpz. 1940). 1945/46 war er Leiter der Kuldichter des Königs von Dänemark, die er bis turabteilung des NWDR, 1949 Herausgeber zu seinem Tod behielt. W.s Werk umfasst der übernationalen Kulturzeitschrift neben dt. u. lat. Gelegenheitsgedichten für »Glanz«, 1949–1952 Feuilletonleiter der Kopenhagener Bürger u. Gelehrte (Deutsche »Neuen Zeitung« in München, 1952–1962 Poemata. Kopenhagen 1647. Carminum libellus im diplomatischen Dienst als Kulturattaché I.-II. Ebd. 1657–70) v. a. Auftragsarbeiten: in Washington, schließlich in München. Er Panegyrik, Ballettprogramme für Hoffest- war Mitgl. der Deutschen Akademie für lichkeiten u. das Libretto zu einer Oper im Sprache und Dichtung in Darmstadt, 1962 ital. Stil: Der lobwürdige Cadmus (ebd. 1663). Präsident des dt. P.E.N. Über Deutschland hinaus bekannt wurde Weitere Werke: Krönungslied dero Königl. Majestät zu Dennemarck Norwegen, Friederichs W. mit seinem 1943–1947 geschriebenen des dritten. Kopenhagen 1648. Internet-Ed. in: VD Roman Die Galeere (Amsterd./Ffm. 1949. Ge17. – Regum Daniae Icones. Kopenhagen 1656/57 kürzte Neuausg. Ffm. 1958). Hier wird auf(mit dt. Epigrammen W.s). grund eigener Erfahrungen die Position von Literatur: Bibliografien: P. M. Mitchell: A bib- krit. Intellektuellen im »Dritten Reich« liteliography of 17th century German imprints in rarisch verarbeitet. Im bewusst sachl. JourDenmark [...]. 3 Bde., Lawrence/Kansas 1969–76. – nalistenstil verfasst, gibt der Roman Einblick VD 17. – Weitere Titel: Louis Bobé: A. F. W. In: Euph. in die publizistische Praxis unter der Dikta3 (1896), S. 469–475. – Johannes Bolte: A. F. W. In: tur, in den auch für W. selbst fundamentalen ADB. – Fritz Gause: A. F. W. In: Altpr. Biogr., Bd. 2, S. 790. – Dansk Biografisk Leksikon. 3. Konflikt zwischen erzwungener Loyalität, Ausg., Bd. 15, Kopenhagen 1984 (mit Lit.). – Se- Formen der Anpassung u. Distanzierung u. bastian Olden-Jørgensen: Poesi og politik. Lejlig- vorsichtigem Widerstand. Aufsehen erregte hedsdigtningen ved enevældens indførelse 1660. der Roman überdies – auch in den USA – mit

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der Schilderung der Zerstörung Dresdens durch amerikan. Luftangriffe.

mit Zerstörungs- oder Selbstzerstörungsfantasien reagieren.

Weitere Werke: Shakespeare: Das Wintermärchen. Lpz. 1926 (Übers.). – Vom bleibenden Gesicht der dt. Kunst. Bln. 1934. – Neues Bauen in Dtschld. Mchn. 1952. – Kannst Du Europa vergessen? Stgt. 1952. – Die Göttin. Ffm. 1957 (R.). – Die zwanziger Jahre. Mchn. 1962 (Ber.). – Rendezvous mit der Welt. Ebd. 1963. – B. E. W. u. Ortrud Reichel (Hg.): Lunapark u. Alexanderplatz. Ebd. 1964 (LyrikAnth.).

Weitere Werke: Das Wüten der ganzen Welt. Mchn. 1998 (Hörsp.). – Die Hälfte der Stadt. Ein Berliner Lesebuch. Hg. Krista Maria Schädlich u. F. W. Mchn. 1982. Stephan Resch

Werner, Friedrich Ludwig Zacharias, * 18.11.1768 Königsberg, † 17.1.1823 Wien; Grabstätte: Engersdorf bei Wien. – Literatur: Hermann Stahl: Gedenkwort für B. Dramatiker u. Lyriker; Priester.

E. W. In: Jb. der Dt. Akademie für Sprache u. Dichtung 1965, S. 188–190. – Patrick Rössler: Ein Mann mit Eigenschaften. Zu Leben u. Schaffen v. B. E. W. Winnenden 2009. Wilhelm Haefs / Red.

Werner, Frank, * 7.5.1944 Sangerhausen. – Lyriker, Hörspielautor u. -dramaturg. W. wuchs in Erfurt, seit 1954 in West-Berlin auf u. studierte Geschichte u. Politikwissenschaften in Hamburg u. Berlin. 1974–1981 war er Rundfunkredakteur beim Sender Freies Berlin. W. ist Autor zahlreicher Hörspiele. Seine Hörspielbearbeitung Gespräche mit Lebenden und Toten (Mchn.) zur Reaktorkatastrophe von Tschernobyl wurde 1999 als Hörspiel des Jahres u. im Folgejahr mit dem Medienpreis der Evangelischen Kirche ausgezeichnet. 1981 veröffentlichte W. seinen ersten Roman, Der Anfang der Wildnis (Düsseld.). Darin wird die Sinnkrise eines Büroangestellten geschildert, die als Anlass zu einer Selbsterfahrungsreise dient, letztlich aber in Desillusionierung endet. 1983 erschien sein thematisch verwandter Roman Herzland (Mchn.); im selben Jahr nahm er am Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb teil. Mit Die Pappelchaussee (Stgt. 1990) gab W. sein lyr. Debüt. Der Roman Haus mit Gästen (Stgt. 1992) ist eine verstörende Erinnerungsreise, die traumat. Bilder aus der ostdt. Provinz zwischen 1945 u. 1990 heraufbeschwört. W.s assoziative, impressionistische Prosa trägt oft lyr. Züge. Seine Protagonisten sind Einzelgänger, die ihrem bürgerl. Umfeld mit dem Wunsch nach Abgrenzung begegnen. Gewalt u. staatl. Manipulation sind wiederholt Probleme, auf welche die Romanfiguren

Der frühe Tod des Vaters, der als Professor der Geschichte u. der Beredsamkeit in Königsberg lehrte, sowie die später in patholog. Wahnzustände übergehende mystisch-pietistische Schwärmerei der Mutter, einer Nichte Johann Valentin Pietschs, prägten W.s Jugend. 1784 nahm er das Studium der Jurisprudenz u. Kameralistik an der Universität Königsberg auf, besuchte daneben Vorlesungen bei Kant u. begeisterte sich für Rousseau. Seine ersten schriftstellerischen Versuche als Theaterkritiker u. Dichter (Vermischte Gedichte. Königsb. 1789) zeigen, dass W. mit dem literar. Zeitgeschmack bestens vertraut war. Ohne sein Studium abgeschlossen zu haben, trat W. 1793 in den preuß. Staatsdienst ein u. war mehr als zehn Jahre lang in untergeordneter Stellung in verschiedenen südpreußisch-poln. Departmentsverwaltungen tätig. Dort schloss er Freundschaft mit anderen künstlerisch ambitionierten Staatsbediensteten: Mnioch, der ihn zum Freimaurertum bekehrte; Hitzig, seinem späteren Verleger u. Biografen; E. T. A. Hoffmann, der während seiner Kindheit in Königsberg mit der Familie W.s unter einem Dach gelebt hatte u. mit dem W. in Warschau gemeinsame Bühnenwerke plante – beide angetrieben von dem Wunsch, den ungeliebten Brotberuf aufgeben u. sich als Künstler etablieren zu können. W.s Lebensverhältnisse waren durch extreme Dissonanzen gekennzeichnet, für die er in der Kunst die Auflösung suchte. Er fühlte in sich eine religiöse Berufung zum Dichter, dem er ganz im Sinne Schleiermachers die Aufgabe zuwies, der »allem Heiligen entfremdeten Menschheit« ein Evangelium der Liebe u. des erneuerten Christen-

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tums zu verkünden. Zugleich führte er das Leben eines Libertins, ging zwei Ehen mit Frauen von höchst zweifelhaftem Ruf ein, die jeweils nach kurzer Zeit geschieden wurden, u. blieb dem »unwiderstehlichsten, rasendsten Trieb zur Sünde« (E. T. A. Hoffmann in: Serapionsbrüder) verfallen. Nach der ermutigenden Resonanz auf seine ersten Dramen Die Söhne des Tales (2 Tle., Bln. 1803/1804) u. Das Kreuz an der Ostsee (ebd. 1806) – das eine den Untergang des Templerordens, das andere die Eroberung des heidn. Preußen durch die dt. Ordensritter behandelnd – fand der zwischenzeitlich nach Berlin versetzte W. in Iffland einen Mentor. Er erkannte hinter der diffus myst. Oberfläche u. der ausufernden, sich jeder Aufführbarkeit widersetzenden Architektonik der ersten Produkte dieses Autors das große dramat. Talent, das den dichterischen Formenreichtum der »neuen (romantischen) Schule« (insbes. Tiecks u. der Brüder Schlegel) mit einer an Schiller gemahnenden Intensität der szen. Gestaltung zu verbinden verstand. Innerhalb weniger Monate entstand das Drama Martin Luther oder die Weihe der Kraft (ebd. 1807), das 1806 mit Iffland in der Titelrolle zu W.s größtem Bühnenerfolg wurde, wenngleich das Werk heftige Kontroversen auslöste. Den äußerst wirkungsvoll angelegten, durch musikal. Einlagen in ihrem opernhaften Effekt gesteigerten Massenszenen u. der psychologisch ausgefeilten Verknüpfung von Haupt- u. Nebenhandlungen steht ein dramat. Porträt des Reformators gegenüber, der als ein Instrument übernatürl. Mächte agiert – sei es derjenigen der Liebe in seinem Verhältnis zu Katharina von Bora, sei es derjenigen des weltbezwingenden Schicksals in seiner Auflehnung gegen Klerus u. Dogma. Auch die in den Folgejahren verfassten Dramen – Attila, König der Hunnen (Bln. 1808), Wanda, Königin der Sarmaten (1808. Tüb. 1810), Cunegunde die Heilige (1808/1809. Lpz. 1815) – mischen legendenhafte Verklärung der Protagonisten mit dem Eingreifen numinoser Mächte in das dramat. Handlungsgeschehen. Immer dominierender rückte das Motiv der religiös sublimierten Liebes- u. Todesverfallenheit der Helden als seelisch-phys. Aus-

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druck ihrer »Sehnsucht ins Unendliche zu zerfliessen« ins Zentrum der nunmehr von W. als »Romantische Tragödie« bzw. »Romantisches Schauspiel« bezeichneten Stücke. Dahinter stand die in der Kunsttheorie der Frühromantik verbreitete Vorstellung vom christl. Gottesdienst als einem »innerlichen, idealen Drama« (Schelling), das eine der griech. Tragödie gleichwertige religiös-kultische Funktion erfüllt. »In den schönen Zeiten des Catholicismus«, so W., habe »jede Messe dem Volke eine göttliche Tragödie« dargeboten, in der Christus den Heros einer »neuen romantischen Religion« verkörperte. In den Dienst dieses ästhetisch »idealisirten Catholicismus«, den er »nicht als ein Glaubenssystem, sondern als eine wieder aufgegrabene mythologische Fundgrube« begriff, stellte W. sein gesamtes dramat. Schaffen. Die Bühne sollte, »da wir einmal im protestantischen Deutschland keine Tempel haben«, zum Ort der Apotheose u. der »Reinigung der Affecten« werden, zum Schauplatz des christlich gedeuteten Schicksals, »nach welchem Sünder seyn müssen, damit an ihnen die Macht der göttlichen Gnade offenbar werde« (Schelling). Nach einer ersten persönl. Begegnung von Goethe anfangs wohlwollend gefördert (unter dessen Regie fand 1808 in Weimar die Uraufführung der Wanda statt), nahm dieser schon bald Anstoß an W.s »schiefer Religiosität« u. dessen myst. Obskurantismus. Der Versuch Goethes, ihn davon zu kurieren, war nur teilweise erfolgreich: Der »1809 unter den Auspizien seiner Exe. des Hrn. Geheimenrats von Göthe zu Tage geförderte« Einakter Der vierundzwanzigste Februar (entstanden 1809. Altenberg 1815) hielt sich zwar an dessen strenge Auflage, die schicksalhaften Folgen eines bösen Fluchs ohne die mindeste Hindeutung auf das Walten außernatürl. Kräfte zu behandeln (u. avancierte darüber hinaus zum Vorbild für das im 19. Jh. populäre Genre des Schicksalsdramas); doch statt der religiösen Mystik hatte W. in diesem Stück die sich um das »Schicksalsdatum« – den Todestag seiner Mutter u. (vermeintlich) seines Freundes Mnioch – rankende Privatmystik dramatisch verarbeitet.

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Nach einem ruhelosen Wanderleben, das ihn quer durch Deutschland, nach Wien, Paris u. in die Schweiz (wo er in Coppet in den Kreis um Mme. de Staël aufgenommen wurde) führte, fand W. schließlich in Rom die Absolution, die zuvor nur in effigie seinen Protagonisten auf der Bühne zuteil geworden war: 1810 trat er zur kath. Kirche über u. sagte sich (wie er Goethe mitteilte, unter dem Eindruck des Entsagungsopfers, das Ottilie in den Wahlverwandtschaften vollzieht) von der »albernen Mystick« seiner Dramen los, in denen er die Einheit von sinnl. Lust, erlösendem Ich-Verlust u. verklärter Todeslust gefeiert hatte. Nachdem er auch öffentlich in dem Gedicht Die Weihe der Unkraft (Ffm. 1813) seine früheren Irrlehren widerrufen hatte, empfing er 1814 die Priesterweihe u. machte im selben Jahr in Wien, während dort der Kongress tagte, als Kanzelprediger noch einmal Furore. Der Zwiespalt zwischen ungebändigtem sinnl. Verlangen u. postuliertem sittl. Idealtypus, zwischen Sündhaftigkeit u. daraus abgeleitetem Erlösungsbedürfnis stellte in einem strikten Sinne das Triebmoment für W.s Dichtung dar. Nachdem er sich als Priester den Zölibat auferlegt hatte, wurde er geradezu folgerichtig dichterisch unfruchtbar (es erschien nur noch die Tragödie Die Mutter der Makkabäer. Wien 1820). Seine Dramen gerieten rasch in Vergessenheit. Deutliche Spuren hinterließen sie jedoch im Werk Grillparzers u. Richard Wagners, aber auch im Erzählwerk Theodor Fontanes.

W. Diss. Ffm. 1946. – Harald Görtz: Grillparzer u. Z. W. Diss. Wien 1947. – Birgit Heinemann: Gesch. u. Mythos in Z. W.s Drama ›Das Kreuz an der Ostsee‹. Diss. Gött. 1960. – Louis Guinet: Z. W. et l’ésotérisme maçonnique. Paris/Den Haag 1962. – Gerard Koziel/ek: Z. W. Sein Weg zur Romantik. Wrocl/aw 1963. – Ders.: Das dramat. Werk Z. W.s. Ebd. 1967. – Ulrich Beuth: Romant. Schausp. Untersuchungen zum dramat. Werk Z. W.s. Diss. Mchn. 1979. – G. Koziel/ek: F. L. Z. W. In: Dt. Dichter der Romantik. Hg. Benno v. Wiese. Bln. 1983, S. 485–504. – Jochen Fried: Die Symbolik des Realen. Über alte u. neue Mythologie in der Frühromantik. Mchn. 1985. – Gerhard Kosellek: F. L. Z. W. In: Ders.: Darstellung u. Deutung. Aufsätze zur dt. Lit. Wrocl/aw 1988, S. 239–256. – Z. W. In: Dt. Dichter. Leben u. Werk deutschsprachiger Autoren. Hg. Gunter E. Grimm. Bd. 5. Stgt. 1989, S. 16–24. – G. Kosellek: ›Fußangeln aus der Dornenkrone‹. Z. W. u. Goethe. In: Goethe u. die Romantik. Red. Gerard Koziel/ek. Wrocl/aw 1992, S. 27–38. – Elisabeth Stopp: ›Ein Sohn der Zeit‹. In: Dies.: German Romantics in context. London 1992, S. 1–25. – Otto Weiß: F. L. Z. W. In: Bautz. – Anke Detken: Mme de Staël u. Z. W. [...]. In: Europa – ein Salon? [...]. Hg. Roberto Simanowski. Gött. 1999, S. 232–250. – Nicholas Saul: The body, death, mutilation, and decay in Z. W. In: GLL, N. S. 52 (1999), 2, S. 255–270. – Kurt Adel: ›Kunstwerk ist freyes Spiel des Gemüths mit der Welt in Beziehung aufs Heiligste‹. Zur 200. Wiederkehr des Geburtstages v. Z. W. am 18. Nov. [1968]. In: Ders.: Von Sprache u. Dichtung. 1800–2000. Ffm. 2004, S. 11–31. – Carsten Lange: Die Romantisierung preuß. Urgesch. in Z. W.s Drama ›Das Kreuz an der Ostsee‹. In: Ostpreußen, Westpreußen, Danzig. Eine histor. Literaturlandschaft. Hg. Jens Stüben. Mchn. 2007, S. 323–337. Jochen Fried / Red.

Ausgaben: Ausgew. Schr.en. Aus seinem handschriftl. Nachl. hg. v. seinen Freunden. 13 Bde., Grimma 1840 ff. Hg. Jacob Minor. 1884. – Briefe. Hg. Oswald Floeck. 2 Bde., Mchn. 1914. – Dramen. Hg. Paul Kluckhohn. Lpz. 1937. Neudr. Darmst. 1964. – Tagebücher. Hg. O. Floeck. 2 Bde., Stgt. 1939/40.

Werner, Johannes, Ioannes Vernerus, * 14.2. 1468 Nürnberg, † (vor dem 5.5.) 1522 Nürnberg. – Kleriker; Mathematiker u. Astronom.

Literatur: Karl Irmler: Über den Einfluß v. Z. W.s Mystik auf sein dramat. Schaffen. Diss. Münster 1906. – Paul Hankamer: Z. W. Bonn 1920. – Konrad Maria Krug: Z. W. u. die Bühne. Diss. Münster 1923. – Franz Stuckert: Das Drama Z. W.s. Ffm. 1926. – Gretel Carow: Z. W. u. das Theater seiner Zeit. Bln. 1933. – Theo Pehl: Z. W. u. der Pietismus. Diss. Ffm. 1933. – Herbert Breyer: Das Prinzip v. Sinn u. Form im Drama Z. W.s. Breslau 1933. – Hildegard Dauer: Das Todesproblem bei Z.

Nach dem Besuch der Nürnberger Parochialschulen studierte W. seit 1484 Mathesis u. Theologie an der neuen Universität Ingolstadt (Immatrikulation am 21. Sept.). 1490 wurde er Kaplan im mittelfränk. Herzogenaurach. Drei Jahre später zog er zur Fortsetzung seiner Studien nach Rom (1493–1497), wo er 1493 zum Priester geweiht wurde u. Verbindungen zu ital. Gelehrten aufnahm. Er erweiterte seine Kenntnisse auf den Gebieten

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der Mathematik, der Astronomie (in jener Zeit eine Disziplin der ›höheren Mathematik‹) u. der Geografie u. Chorografie (die der Mathematik, nämlich der Geometrie, Trigonometrie sowie der Astronomie, sehr nahe standen) u. erhielt Gelegenheit, sich mit Manuskripten der griech. u. arab. Wissenschaften zu beschäftigen (u. a. mit Ja¯bir ibn Aflah, d.i. Geber). In Italien eignete er sich auch seine hervorragenden Kenntnisse des Griechischen an. Nach einem Aufenthalt in Florenz, wo er für den befreundeten Nürnberger Arzt u. Weltchronisten Hartmann Schedel verschiedene Bücher u. Karten erwarb, kehrte er in die Heimat zurück u. feierte sein erstes Messopfer (Primiz) am 29.4.1498 in St. Sebald zu Nürnberg. Auf Wunsch der späteren Kaiserin Bianca Maria aus der Mailänder Familie der Sforza, der zweiten Gemahlin König Maximilians I. (der erst 1508 in Trient zum Kaiser proklamiert wurde), amtierte er ab 1503 zunächst als Vikar bei St. Bartholomäus in der Vorstadt Wöhrd, das zu St. Sebald gehörte (das Schreiben der Königin an den Magistrat ist in Nürnberg erhalten, vgl. Bachmann 1966). Am 1.10.1508 konnte er das Vikariat bei St. Johannes antreten, das er bis zu seinem Lebensende versah. Als Kleriker gehörte W. zum Hochstift Bamberg. Spätestens um 1513 wurde ihm von Maximilian für seine gelehrten Verdienste der Titel eines kaiserl. Hofkaplans verliehen. Er starb Anfang Mai 1522 in Nürnberg. W. gehörte in Nürnberg zum Kreis der mehr oder weniger der Bewegung des Humanismus zugehörigen städt. Honoratioren u. Dichter um den hochgelehrten Patrizier Willibald Pirckheimer, die vom Kaiser mit großem Wohlwollen gefördert wurden (zur gelehrten Hofgesellschaft um Maximilian bes. J.-D. Müller 1982). Albrecht Dürer soll sich bei W. Rat in allgemeinen mathemat. u. geometr. Fragen geholt haben (er nennt ihn »unsern Herrn Hans«); für Pirckheimer, Erasmus Topler, Propst bei St. Sebald, Ursula Gundelfinger, Sebald Schreyer, für Christoph Scheurl, gelehrter Jurist, Ratskonsulent u. später Verfasser u. Organisator von »Newen Zeitungen« in Nürnberg, wie auch für das Kaiserpaar fertigte er mehrere astrolog. Gutachten an (Prognostiken, nativitates), ein von

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Mathematikern u. Astronomen der Zeit gerne genutzter, oft sehr einträgl. Nebenerwerb. Engere Beziehungen unterhielt er außerdem zu dem berühmten Nürnberger Mathematiker u. Astronomen Johann Schöner (Lehrer am 1526 gegründeten Ägidiengymnasium), zu dem Astronomen Bernhard Walther, einst Mitarbeiter des früh verstorbenen Johannes Regiomontanus, zu Matthäus Lang, dem Kardinal u. bevorzugten Berater des Kaisers, u. zu den Männern der Beheim-Familie (dem Kanonen- u. Glockengießer Sebald Beheim u. den Brüdern Georg u. Lorenz, letzterer Chorherr in Bamberg u. enger Freund Pirckheimers). Conrad Celtis († 1508), den er seinen geliebten Lehrer nennt u. in dessen Ausgabe der Werke Hrotsvits von Gandersheim (1501) ein Widmungsepigramm von ihm aufgenommen ist, versuchte auch W. 1503 nach Wien zu empfehlen (auf einen Lehrstuhl für Griechisch), der aber Nürnberg nicht verlassen wollte. Mit dem aus München stammenden Hofastronomen Nikolaus Kratzer in London gab es ebenso Verbindungen wie mit Johann Stabius, dem Astronomen, Poeten u. kaiserl. Historicus in Wien, mit dem Wiener Buchdrucker Lukas Alantsee, dem humanistischen Bischof von Worms Johann von Dalberg, dem Theologen Johannes Cochläus sowie dem Basler Gräzisten Johannes Cuno. So ernst er seine Pflichten als städt. Geistlicher genommen haben mag, so intensiv muss seine lebenslange Beschäftigung mit den mathemat. Wissenschaften wie auch der Berechnung u. Herstellung von Instrumenten wie Astrolabien, Uhrwerken u. einem von ihm erfundenen »Meteoroskop« zur Sphärenberechnung gewesen sein. Immerhin wurde ein Mondkrater nach ihm benannt. Viele seiner gelehrten Manuskripte blieben ungedruckt, manche sind verloren wie besonders seine dt. Übersetzung von Euklids Elementen (griech. Stoicheia), die er im Auftrag Pirckheimers u. Sebald Beheims für 100 Taler angefertigt hatte. Eine größere Anzahl seiner Arbeiten erschien schließlich in zwei Nürnberger Sammelbänden: die Schriften zur mathemat. Geografie im Jahre 1514, gewidmet dem Kardinal Matthäus Lang, darunter lat. Übersetzungen des Ptolemäus sowie zur

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Kartografie die mit Johannes Stabius auch mathematisch begründete herzförmige sogenannte Stab-Werner-Projektion der Erdkugel, die Martin Waldseemüller bereits 1507 für seine Weltkarte hatte benutzen können u. die ein halbes Jahrhundert später durch die modifizierte Mercator-Projektion abgelöst wurde; Peter Apian, Professor der Mathematik, Kartograf u. Kosmograf in Ingolstadt, der als eine Art Schüler des Nürnbergers gelten darf, hat sie 1533 in veränderter Form u. d. T. seiner Introductio geographica neu herausgegeben. Die mathematisch-astronomischen Schriften, u. a. zur sphär. Trigonometrie, wurden 1522 postum gedruckt. Dieser Band enthält auch die Abhandlung De motu octavae sphaerae, in der er im Hinblick auf die irreguläre sog. Präzession der Sterne die alte arab. Trepidationstheorie vertrat, was ihm eine scharfe Attacke von Nicolaus Copernicus aus Krakau eintrug (in dessen Brief In Wernerum an den Domherrn Wapowski); auch Tycho Brahe übte Kritik an W.s traditioneller Auffassung, die der Däne als Folge ungenauer Beobachtung der betreffenden Sterne betrachtete. W. gilt auch als Begründer einer wissenschaftl. Wetterbeobachtung, die freilich stets noch mit astrolog. Interpretationen verknüpft war (›Astrometeorologie‹); lange nach W.s Tod gab Johann Schöner dessen Aufzeichnungen über die Jahre 1513–20 heraus (Canones. 1546). Die Abhandlung De meteoroscopiis wurde erst 1913 gedruckt. Georg Joachim Rheticus, der berühmte Mitarbeiter des Copernicus, legte W.s unvollendetes Hauptwerk über sphär. Trigonometrie u. die Theorie der Kegelschnitte: De triangulis sphaericis libri IV, entstanden zwischen 1505 u. 1513 u. auf Georg von Peuerbach fußend, seinem eigenen Hauptwerk einer erneuerten Trigonometrie zugrunde, dem Canon doctrinae triangulorum (1551) u. dem von seinem letzten Schüler Valentin Otto besorgten Opus Palatinum de triangulis (1596). Der von Rheticus 1557 titelgleich herausgegebene Band mit W.s Werk enthält aber nicht dessen Texte, sondern lediglich den Widmungsbrief des Herausgebers an Ferdinand I. Die Texte selbst wurden erst 1907 in der Edition von Björnbo gedruckt. Eine gewisse Bedeutung für die Geschichte der Mathematik erhielt

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auch die darin in Teil IV eingeführte vereinfachte Rechenmethode, die unter dem Namen ›Prosthaphärese‹ (prosthaphairesis, griech. für Addition u. Subtraktion) überliefert ist u. bis zur Erfindung des Logarithmus in Gebrauch war. Dabei lassen sich in der Cosinus-Formel Multiplikation u. Division durch Addition u. Subtraktion ersetzen. Über Paul Wittich u. Rheticus ist auch Tycho Brahe mit diesem Rechenverfahren bekannt geworden. Von bes. Reiz unter den ungedruckten Handschriften W.s u. meist übersehen ist ein Diarius historicus, eine Art Tagebuch oder eher privates Merk- oder Notizbuch, in dem während der Jahre 1506–1521 Nachrichten u. Tagesereignisse in nicht ganz regelmäßiger Folge in lat. Sprache festgehalten sind, Deutsch schreibt W. nur in zwei längeren Eintragungen über polit. Vorgänge zwischen Vertretern des regionalen Adels, der Kirche u. der Reichsstadt. Den größten Raum nehmen Gerüchte u. Ereignisse des Genres Mord u. Totschlag in Stadt u. Umgebung ein, außerdem werden dynast. Nachrichten über den europ. Adel, zumal das kaiserl. Herrscherpaar, u. die verschiedenen Territorien des Habsburger Reiches, Ereignisse aus dem kirchl. Leben bes. im Bistum Bamberg oder ein Essen im Hause Pirckheimer verzeichnet; mit großem Interesse verfolgt W. Naturkatastrophen u. auffällige Himmelserscheinungen u. kommentiert sie meist mit astrologisch-prognost. Erwägungen; mit zunehmender Besorgnis werden Unruhen u. soziale Konflikte im ganzen Reich, v. a. in den Städten, registriert; auch das Raubrittertum ist ein Thema, nicht jedoch das Wirken der Humanisten. Über die Anfänge der Reformation u. die Ideen Luthers finden sich zwei ausführlichere Einträge (1519, 1521): W. hat die formelle Einführung der Reformation in Nürnberg nicht mehr erlebt, aber die Vermutung, er habe wie andere aus dem Kreis um Dürer u. Pirckheimer den reformatorischen Ideen nahegestanden, lässt sich durch diese durchgehend ordnungskonformen Aufzeichnungen keinesfalls bestätigen. Im Frühsommer 1520 wird von einer verheerenden Pest in der Stadt berichtet, gegen die es kein Heilmittel gebe. Im Aug. 1521 bricht

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das Tagebuch ab. Wahrscheinlich ist W. vor dem 5. Mai des folgenden Jahres selbst einer erneuten Epidemie zum Opfer gefallen. Der Autograf des Diariums wird in der HAB Wolfenbüttel aufbewahrt (Cod. Guelf. 17. 6. Aug. 48). Andere Handschriften W.s befinden sich in Wien (ÖNB), München (BSB), Paris (BN) u. Oxford. Weitere Werke: In hoc opere haec continentur [...]. Nürnb.: Stuchs 1514 [1. Sammelbd.]. Die Restaufl. u. d. T. Introductio geographica in doctissimas Verneri annotationes. Neu hg. v. Peter Apian. Ingolstadt 1533. – In hoc opere haec continentur [...]. Nürnb.: Petreius 1522 [2. Sammelbd., enth. u. a.: De motu octavae sphaerae tractatus duo]. – Canones sicut brevissimi, ita etiam doctissimi, complectentes praecepta et observationes de mutatione aurae clarissimi mathematici Ioannis Verneri. Hg. Johannes Schöner. Nürnb. 1546. – De triangulis sphaericis libri IV. De meteoroscopiis libri VI. Hg. Joachim Rheticus. Krakau 1557 (enth. nur einen Widmungsbrief des Hg.). Ausgaben: De Triangulis sphaericis libri IV. Hg. A. A. Björnbo. Lpz. 1907. – De meteoroscopiis libri VI. Hg. Joseph Würschmidt. Lpz. 1913. – Der Briefw. des Konrad Celtis. Hg. Hans Rupprich. Mchn. 1934 (mit einigen Briefen W.s). Literatur: Nicolaus Copernicus: Brief gegen Werner [der ›Wapowski-Brief‹]. In: Ders.: Das neue Weltbild. Drei Texte, lat.-dt., übers. u. hg. v. Hans Günter Zekl. Hbg. 2006. – Tycho Brahe: Opera omnia. Hg. John L. E. Dreyer. Bd. 7, Kopenhagen 1924, S. 295; 2. Teilbd., S. 23–42 (die Kritik an W.). – Zedler. – Maximilian Curtze: Der Brief des Coppernicus an den Domherrn Wapowski zu Krakau über das Buch des J. W. ›De motu octavae sphaerae‹. In: Mitt.en des Coppernicus-Vereins für Wiss. u. Kunst (Thorn 1878), Nr. 1, S. 18–33. – Siegmund Günther: Studien zur Gesch. der mathemat. u. physikal. Geographie. Halle 1878, S. 273–332. – Ders.: Der Wapowski-Brief des Coppernicus u. W.s Tractat über die Praecession. In: Mitt.en des Coppernicus-Vereins für Wiss. u. Kunst (Thorn 1880), Nr. 2, S. 1–11. – Ders.: Gesch. des mathemat. Unterrichts im dt. MA bis zum Jahre 1525. Bln. 1887. – Siegmund Günther: J. W. In: ADB . – Moritz Cantor: Vorlesungen über Gesch. der Mathematik. II: Vom Jahre 1200 bis zum Jahre 1668. Lpz. 21900. Nachdr. New York/Stgt. 1965, S. 452–459. – Karl Schottenloher: Der Mathematiker u. Astronom J. W. aus Nürnberg. In: Festg. Hermann Grauert. Hg. M. Jansen. Freib. i. Br. 1910, S. 147–155. – Johannes Tropfke: Gesch. der Elementar-Mathematik in systemat. Darstellung. Bd. 5, Bln./Lpz. 21923, S. 62,

320 107–110. – Ernst Zinner: Verz. der astronom. Hss. des dt. Kulturgebietes. Mchn. 1925. – Gerhard Eis: J. W. In: VL, Bd. 4 (1953), Sp. 910. – Max Steck: Albrecht Dürer als Mathematiker u. Kunsttheoretiker. In: Nova Acta Leopoldina. Lpz. 1954. – E. Zinner: Nürnbergs wiss. Bedeutung am Ende des MA. In: Mitt.en des Vereins für Gesch. der Stadt Nürnberg 50 (1960), S. 113–119. – Christa Schaper: Lorenz u. Georg Beheim, Freunde Willibald Pirckheimers. In: ebd., S. 120–221. – Hans Kreßel: Hans W., der gelehrte Pfarrherr v. St. Johannis, der Freund u. wiss. Lehrmeister Albrecht Dürers. In: ebd. 52 (1963/64), S. 287–304. – Siegfried Bachmann: J. W. Kaiserlicher Hofkaplan, Mathematiker u. Astronom zu Nürnberg, als Chronist der Jahre 1506 bis 1521. In: 102. Bericht des Histor. Vereins Bamberg (1966), S. 315–337. – Karl Heinz Burmeister: G. J. Rhetikus 1514–1574. Eine BioBibliogr. 3 Bde., Wiesb. 1967/68, Bd. 1 u. 2. – Albrecht Dürers Umwelt. FS zum 500. Geburtstag. Nürnb. 1971. – Johann Christian Poggendorff: Biogr.-literar. Handwörterbuch der exakten Naturwiss.en. Hg. Sächs. Akad. der Wiss.en zu Leipzig. Bd. 7a, Bln. 1971, S. 768. – Hans Rupprich: Die dt. Lit. vom späten MA bis zum Barock. 2. Tl.: Das Zeitalter der Reformation. Mchn. 1973, S. 439. – Menso Folkerts: J. W. In: DSB, Bd. 14 (1981), S. 272–277 (grundlegend, mit vollst. u. zuverlässiger Bibliogr.). – Contemporaries, Bd. 3, S. 439 f. – Jan-Dirk Müller: Gedechtnus. Lit. u. Hofgesellsch. um Maximilian I. Mchn. 1982. – Anne Bäumer: J. W.s Abhandlung ›Über die Bewegung der achten Sphäre‹ (De motu octavae sphaerae, Nürnberg 1522). In: Wolfenbütteler Renaissance-Mitt.en 12 (1988), S. 49–61. – Poesis et pictura. FS Dieter Wuttke. Hg. Stephan Füssel. Baden-Baden 1989. – Lexikon bedeutender Mathematiker. Hg. Siegfried Gottwald u. a. Lpz. 1990, S. 486. – Günther Hamann: Aufsätze zur Wissenschafts- u. Entdeckungsgesch. Hg. Johannes Dörflinger u. a. Wien 1993. – Füssel, Dt. Dichter, S. 513. – Hdb. der Bayer. Gesch. Begr. v. Max Spindler. Bd. III/1. Hg. Andreas Kraus. Mchn. 31997, S. 1034, 1046 f. – Berndt Hamm: Lazarus Spengler (1479–1534). Der Nürnberger Ratsschreiber im Spannungsfeld v. Humanismus u. Reformation, Politik u. Glaube. Tüb. 2004. – DBE. – Glen van Brummelen: The Mathematics of the Heavens and the Earth. The Early History of Trigonometry. Princeton 2009, S. 264 (Kap. 5: The West to 1550, Successors to Regiomontanus: Werner and Copernicus). Herbert Jaumann

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Werner, Markus, * 27.12.1944 Eschlikon/ Kt. Thurgau. – Romancier. W. studierte Germanistik, Philosophie u. Psychologie u. wurde 1974 mit der Arbeit Bilder des Endgültigen, Entwürfe des Möglichen. Zum Werk Max Frischs (Bern 1975) promoviert. Er war als Deutschlehrer an der Schaffhauser Kantonsschule tätig: 1975–1985 als Hauptlehrer u. 1985–1990 als Lehrbeauftragter. Seit 1990 ist W. freier Schriftsteller. Seine Werke liegen in ital., frz., span., holländ., poln., slowen., russ., litauischer, griech., georgischer, türk. u. arab. Übersetzung vor. W. erhielt u. a. den Einzelwerkpreis der Schweizerischen Schillerstiftung (1984, 1993), den Georg-Fischer-Preis der Stadt Schaffhausen (1986), den Alemannischen Literaturpreis (1990), den Thomas-Valentin-Literaturpreis der Stadt Lippstadt (1993), den Internationalen Bodensee-Literaturpreis der Stadt Überlingen (1995, 2006), den Literaturpreis der SWF-Bestenliste (1997), den Hermann-HesseLiteraturpreis (1999), den Joseph-BreitbachLiteraturpreis (2000), den Johann-PeterHebel-Preis (2002), den Gesamtwerkpreis der Schweizerischen Schillerstiftung (2005) u. den Ehrenpreis von Stadt u. Kanton Schaffhausen (2008). W.s Debütroman Zündels Abgang (Salzb./ Wien 1984) lässt sich problemlos in die Verfinsterung der literar. Perspektive der 1980er Jahre einreihen. Ein Lehrer namens Konrad Zündel, Erzähler u. Protagonist, beschließt, den seiner Ehe vom Alltag auferlegten Zwängen u. Halbwahrheiten im Aufbruch u. Alleingang radikal zu entfliehen. Auf einer Reise nach Italien ist er, ein ganz individueller Fall, bemüht, sich selbst – in der Nachfolge von Max Frischs Figuren – zu erkennen u. die Besonderheiten der modernen Öffentlichkeit samt deren Macht- u. Medienstrukturen zu hinterfragen. Auch in Froschnacht (ebd. 1985), W.s zweitem Roman, wird der Ausbruch aus gewohnten Verhältnissen zum dominanten Thema u. Problem der Darstellung. Das Liebesabenteuer eines Pfarrers irritiert seine Umgebung derart, dass er aus dieser ausgeschlossen wird. Der Betroffene stellt sich jedoch allen persönl. u. gesellschaftl. Folgen seiner neuen Lage u. bringt

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Widerstandskraft gegen gängige Moralvorstellungen auf. In Die kalte Schulter (ebd. 1989), einem Roman mit fortschreitender, sukzessiv erzählter Handlung, liegt die Betonung auf der Beziehung zwischen Leben, Liebe u. tödl. Bedrohung, auf dem Zufallstod einer Frau an den sich auf den ersten Blick banal zeigenden Folgen eines Bienenstichs. Die Opposition von Ich u. bürgerl. Umgebung wird bei W. stark erlebt. Diesen Gegensatz lässt er seine Figuren in knappem Ausdruck, in verhaltener humoristisch-provozierender Tonart austragen. Höhepunkt seines Schaffens ist der Roman Bis bald (ebd. 1992), der breite Beachtung fand. Einem Denkmalpfleger, der eine Reihe von Infarkten hinter sich hat, eine Krise nach der anderen übersteht, wird eine Transplantation in Aussicht gestellt. Auf die ihm gebotene Therapiechance verzichtet er jedoch, denn das Warten auf ein Spenderherz, ist ihm Warten auf den Tod eines Unbekannten. In Bis bald sind mehrere Diskurse miteinander verschränkt: ein gesellschaftskrit., ein existenzphilosophischer, ein ethischer u. ein medizinischer. Was aber in den Vordergrund tritt, ist die Kontingenz des medizinischen Verfahrens, der moralische Relativismus moderner Behandlungsmethoden. Das Auffallende ist dabei der intertextuelle Bezug auf die mittelalterl. Prosa Der arme Heinrich von Hartmann von Aue, ein Werk, in dem die Schlüsselsituation des Helden am Beispiel eines mit Aussatz konfrontierten Ritters u. dessen bußfertig-mystisch gedeuteter Heilung illustriert wird. Im Roman Der ägyptische Heinrich (ebd. 1999) dagegen, der eine Abweichung von W.s bisheriger themat. Linie darstellt, geht der Verfasser der Lebensgeschichte seines Vorfahren, eines bankrottierten Kaufmanns, nach, der im PharaonenLand Fuß zu fassen versucht. In den biografisch, bisweilen nach abenteuerl. Art profilierten Stoff wird Schweiz- u. Zeitkritik integriert. Am Hang (Ffm. 2004), eine weitere beachtenswerte Prosaleistung von W., ist ein Gesprächsbuch, in dem die Partner, ein hedonistisch orientierter Anwalt u. sein enigmat. Bekannter, ein gescheiterter Ehemann, in einem Tessiner Ferienheim ihre Konversationskunst zu verschiedenen The-

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men, zu fester u. flüchtiger Liebe, zu Bindungsfähigkeit u. Bindungsunfähigkeit des modernen Subjekts, präsentieren sowie ihre Strategie der Einbeziehung des Gegners in den Dialog entwickeln. Weitere Werke: Festland. Salzb./Wien 1996 (R.). – Die Stillen im Lande sowie eine CH-Werkschau. Zürich 1996. Literatur: Hubert Winkels: Kleine Fluchten. M. W.s Prinzip der Verwahrlosung. In: Ders.: Einschnitte. Zur Lit. der 80er Jahre. Köln 1988, S. 27–41. – Axel Ruckaberle: Gesundung u. Untergang. In: Schweizer Monatshefte 72 (1992), H. 12, S. 1035–1037. – Martin Stern: Zwischen Anpassung u. Widerstand. In: ebd. 73 (1993), H. 11, S. 943–949. – Marc Aeschbacher: Vom Stummsein zur Vielsprachigkeit. Vierzig Jahre Lit. aus der dt. Schweiz (1958–1998). 2., überarb. Aufl. Bern 1998. – Martin Ebel: M. W. In: LGL. – A. Ruckaberle: M. W. In: KLG. – M. Ebel (Hg.): ›Allein das Zögern ist human‹. Zum Werk v. M. W. Ffm. 2006. – Peter Rusterholz u. Andreas Solbach (Hg.): Schweizer Literaturgesch. Stgt./Weimar 2007. Zygmunt Mielczarek

Werner, Ruth, geb. Kuczynski, * 15.5. 1907 Berlin, † 7.7.2000 Berlin. – Erzählerin u. Publizistin.

(Bln./DDR 1958) die Erfahrungen einer jungen dt. Kommunistin im China der 1930er Jahre. In dem von der SED angeregten u. von Parteimitgliedern vielgelesenen Bericht Sonjas Rapport (ebd. 1977. Erste vollst. Ausg. Bln. 2006) u. dem Erzählungsband Der Gong des Porzellanhändlers (Bln./DDR 1976. Bln. 1997) beschrieb sie ihre Tätigkeit als sowjetische Agentin. W., 1978 mit dem Nationalpreis ausgezeichnet, erzählt in der Romanbiografie Olga Benario (Bln./DDR 1961. Neuausg. mit Dokumenten aus dem Nachlaß. Bln. 2006), gestützt auf authent. Material, vom Schicksal einer dt. Widerstandskämpferin, die 1942 im Konzentrationslager ermordet wurde. In zahlreichen kleineren Erzählungen u. Romanen zeichnete W. ein weitgehend unkrit. u. apologetisches Bild des DDR-Alltags (Kurgespräche. Bln./DDR 1988). Weitere Werke: Über 1000 Berge. Bln./DDR 1965. – In der Klinik. Ebd. 1968 (R.). – Kleine Fische, große Fische. Ebd. 1972 (R.). – Ein Tropfen Zeit. Gedichte u. Texte. Husum 1990. – Muhme Mehle. Bln. 2000. Literatur: Auskünfte über R. W. Bln./DDR 1982. – R. W. im Gespräch. In: NDL 35 (1987), H. 5. – Benjamin B. Fischer: Farewell to Sonia, the Spy Who Haunted Britain. In: International Journal of Intelligence and Counterintelligence 15 (2002), H. 1, S. 61–76. – Eberhard Panitz: Treffpunkt Banbury oder wie die Atombombe zu den Russen kam. Klaus Fuchs, R. W. u. der größte Spionagefall der Gesch. Bln. 2003. 2., erw. Aufl. ebd. 2009 u. d. T. Geheimtreff Banbury. – Rudolf Hempel (Hg.): Funksprüche an Sonja. Die Gesch. der R. W. Ebd. 2007. Boris Heczko / Red.

W., Tochter eines linksliberalen Wirtschaftswissenschaftlers u. Schwester von Jürgen Kuczynski, trat 1926 in die KPD ein u. ging nach einer Buchhändlerlehre u. kurzer Tätigkeit beim Ullstein Verlag (aus dem sie wegen ihres polit. Engagements ausscheiden musste) 1930 mit ihrem ersten Mann, einem Architekten, nach China, wo sie bis 1935 als Agentin für die Sowjetunion arbeitete. DaWerner, Walter (Kurt), * 22.1.1922 Vachnach setzte sie bis zum Ende des Zweiten dorf/Thüringen, † 6.8.1995 UntermaßWeltkriegs diese Tätigkeit in Polen, Danzig, feld bei Meiningen. – Lyriker, Erzähler. der Schweiz u. England fort. 1950 kehrte sie nach Ost-Berlin zurück, wo sie zunächst beim W. wuchs als Sohn einer Magd vaterlos in »Amt für Information« u. in der Kammer für einem kleinen Dorf im Thüringer Wald auf. Außenhandel arbeitete. In dieser Zeit begann 1936 begann er eine Malerlehre u. arbeitete in sich W. verstärkt der journalistischen Tätig- diesem Beruf, bis er 1940 zum Wehrdienst keit zuzuwenden u. schrieb U. a. Reportage- eingezogen wurde. Er kämpfte seit 1942 an broschüren über Betriebe der DDR. Seit 1956 der Ostfront u. in Frankreich, wurde Oberlebte sie als freie Schriftstellerin in (Ost-)Ber- gefreiter u. geriet im Frühjahr 1945 in amelin. rikan. Kriegsgefangenschaft. Nach der EntViele von W.s Romanen u. Erzählungen lassung aus einem Lager im hess. Eichsfeld besitzen autobiogr. Charakter. So schildert kehrte er nach Thüringen zurück, trat in die sie im Roman Ein ungewöhnliches Mädchen KPD ein u. engagierte sich als Kreissekretär

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des Kulturbundes im Bezirk Suhl für den geistigen Wiederaufbau. Zu seinen nachhaltigsten Leseerfahrungen gehörte Hölderlin. Noch als Fabrikarbeiter unternahm er erste schriftstellerische Versuche, mit denen er das Interesse von Louis Fürnberg weckte. Von 1956 bis 1959 besuchte er das Literaturinstitut »Johannes R. Becher« in Leipzig. Seit 1957 unternahm W. häufig Reisen ins sozialistische Ausland. Die ersten Gedichtbände Licht in der Nacht (Weimar 1957) u. Dem Echo nach (Bln./DDR 1958) verarbeiten noch Kriegserlebnis u. Gefangenschaft. W. benutzt gerne die bewährte Form der vierzeiligen gereimten Strophe, erprobt aber auch freie Rhythmen. Eigenständig ist er da, wo er z. B. Gestalten u. Orte seiner Kindheit porträtiert. Der Band Bewegte Landschaft (Halle a. d. Saale 1959) zeugt von einer ideolog. Verhärtung, die sich nachteilig auf W.s Lyrik auswirkt. Die techn. Überformung der Natur wird einseitig als Freisetzung ihrer Kräfte im Dienste des Sozialismus gedeutet, das Gedicht Schöner wird die Poesie mündet in die naiv-propagandistischen Verse: »Das Volk hat es dem Dichter vorgesungen: / Marxistisch ist, was klangvoll wächst und steigt!« Das Christa u. Gerhard Wolf gewidmete Poem Sichtbar wird der Mensch (Halle a. d. Saale 1960) setzt in hymn. Ton die Feier des sozialistischen Aufbaus fort. Bodenreform u. techn. Fortschritt werden wie in Huchels fragmentarischem Zyklus Das Gesetz oder in Erich Arendts Flug-Oden mit der Verwirklichung der allseitigen sozialistischen Persönlichkeit verknüpft. Die Ästhetisierung der Industrialisierung nimmt dabei geradezu groteske Züge an: »euch allen sage ich: / In dem bleibenden Viereck / Schwedt, Hoyerswerda, / Bitterfeld, Rostock / wird eine unendliche Musik beginnen«, das utopisch gezeichnete Bild des aus seinen Plattenbauten in die Chemiekombinate fahrenden Arbeiters erscheint rückblickend als unfreiwillige Parodie: »Er wird mit Schwebebahnen herausfahren / aus den wilden Kaskaden / der grauen Basaltbrüche / und die Lüfte frisch und sauber halten.« Wulf Kirsten hat zurecht darauf hingewiesen, dass nach 1960 eine Zäsur in W.s lyr. Entwicklung anzusetzen ist, die nicht unab-

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hängig von seiner Beschäftigung mit Bobrowskis sarmat. Gedichten gesehen werden kann. In der Tat setzt in der ersten Hälfte der 1960er Jahre ein Prozess ein, der W. Abstand von jeder ideolog. Perspektivierung seines Schreibens nehmen lässt u. seinem Blick eine neue Konkretheit verleiht. Ohne epigonal zu wirken, erschafft W. in den Gedichtbänden Das unstete Holz (Halle a. d. Saale 1970), Worte für Holunder (Halle a. d. Saale 1974. 21977) u. Der Baum wächst durchs Gebirge (Halle/Lpz. 1982) eine eigene poetische Landschaft, der er den Namen Buchonien gibt u. die sich dem Sarmatien Bobrowskis oder den Gedichten Peter Huchels über die Mark Brandenburg an die Seite stellen lässt. Auch W.s Buchonien ist eine »Landschaft mit Menschen«, vorwiegend solchen, die archaischen handwerkl. Tätigkeiten nachgehen. Sein Dichten ist selbst dem Handwerk verpflichtet, speziell dem Holz bearbeitenden. W. Kirsten hatte schon zu dem Band Das unstete Holz bemerkt, dass sich das Holz als die Grundmetapher von W.s Lyrik erweise, weil sich in ihm Vitalität u. Sprödigkeit verbinden. W.s poetolog. Essay Die glücklichen Verwandlungen über Pablo Neruda, der v. a. dessen Ode an das Holz würdigt, bestätigt diese Sicht (in: Das Gras hält meinen Schatten. Gedichte – Prosa – Aufsätze. Hg. u. mit einem Nachw. von Gerhard Wolf. Halle/Lpz. 1982). Hier findet sich W.s Ideal einer »Dichtung der natürlichen Dinge« formuliert, die ihn zu einem Stil geführt hat, der sinnl. Konkretheit mit kühner Metaphorik u. einer an Neruda u. Hölderlin geschulten Syntax kombiniert. Adolf Endler hat darauf hingewiesen, dass W.s Dichtung durch den Wechsel von einer ihrem Objekt gleichsam überlegenen Position zu einer Haltung der Übereinstimmung an Qualität gewonnen habe. So lauten etwa Anfang u. Ende des Gedichts Auf verwunschenem Berg (aus Das unstete Holz): »Strecke den Arm aus, / die Spanne Anfang, / mit der du immer und alles beginnst, / und leg ihm deinen Arm um, / so wirst du er selber sein, / der Berg. // [...] Mein Gesicht ist Geduld. / Unsere Rede ist Stein.« Als ein persönl. Journal lässt sich der Prosaband Der Traum zu wandern (Halle/Lpz. 1979) auffassen, in dem W. sein Leben in einem abseits gelegenen u. selbst errichteten

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Sommerhaus schildert. In sensibler Sprache DDR. W. W., Wulf Kirsten u. Uwe Greßmann. Stgt. gestaltet er hier sein vertrautes Verhältnis zu 1982. Jürgen Egyptien Tieren u. Bäumen, erinnert Kindheitsszenen u. sammelt – inspiriert von Ludwig BechWerner von Themar, Adam, * um 1462 steins Rhön-Sagen – geschichtliche ÜberlieThemar/Werra, † 7.9.1537 Heidelberg. – ferungen seiner thüring. Heimat. Als wichJurist, Übersetzer, Lyriker. tigster Anreger tritt Johann Gottfried Seume hervor, in dessen Fußstapfen der passionierte Nach dem Studium der Philosophie in LeipWanderer W. bewusst tritt u. zu dessen Art zig (ab Winter 1482) u. Heidelberg (ab Winter der Beschreibung von Menschen u. Land- 1484) u. dem Erwerb des Bakkalaureats am schaften er sich explizit bekennt. Die poeti- 12.11.1485 lehrte W. als Rektor an der Lasche Kartierung seiner Heimat aus einem teinschule in Neustadt/Weinstraße, ehe er im kulturgeschichtl. Bewusstsein heraus hat W. Sept. 1488 nach Heidelberg zurückkehrte, die in Heimkehr nach Buchonien. Wanderungen durch Erziehung der Söhne Kurfürst Philipps von Rhön und Grabfeld (Rudolstadt 1988) fortge- der Pfalz übernahm u. sein Artes-Studium setzt, worin er sich vor allem der legendari- fortsetzte (Magister artium am 26.10.1489). schen Gestalt des Rhönpaulus, einem Räuber 1503 schloss er ein 1489 begonnenes, vom aus dem 18. Jh., halb Robin Hood, halb Till Kurfürsten finanziertes Jurastudium mit dem Eulenspiegel, widmet. Aus W.s Nachlass Erwerb der Doktorwürde ab u. war bis zu wurde ein Band mit einem Fragment des seinem Tod als Universitätslehrer u. Mitgl. Romanprojekts »Traum zu leben oder des kurpfälz. Hofgerichts tätig. W. verfasste rund 200 lat. Gedichte, die z.T. Schatten über dem Fluss«, dessen Protagonist Bodo Bertram deutlich autobiogr. Züge trägt, den humanistischen Freunden Johann von Auszügen aus der Prosa »Mein Thüringen, in Dalberg, Wimpfeling, Trithemius, Dietrich dem ich blieb« u. Gedichten veröffentlicht Gresemund u. anderen gewidmet sind. Be(Klopfzeichen. Auswahl von Cornelia Cieslar. deutsamer sind die kurz nach 1500 entstandenen Übersetzungen antiker u. humanistiWeimar 2002). W. erhielt u. a. den Max-Reger-Preis (1962), scher Autoren, die W. für den Kurfürsten den Heinrich-Heine-Preis (1965) u. den Lou- schuf. Er übertrug als erster Horaz (Sat. I, 9), Vergil (Bucolica 8 u. 10) u. Xenophon (Hieron. is-Fürnberg-Preis (1975). Nach der lat. Übers. Leonardo Brunis) ins Weitere Werke: Blüte Welle Stein. Ausgew. Deutsche u. übersetzte außerdem die AldaGedichte. Lpz. 1962. – Bann’s Herz mitschreibt. Mundartgedicht. Suhl 1963. – Herz v. Ahnung Geschichte des ital. Humanisten Guarino weit. Ausgew. Gedichte. Dülmen/Westf. 1963. – in Veronese, vier Dialoge (II, 3, 55, 68, 69) aus den liedern geboren. Halle (Saale) 1963 (L.). – Die Petrarcas De remediis utriusque fortunae (Eyn Strohhalmflöte. Skizzen, Etüden, Aufzeichnungen. neüwe geteütscht Bücchlein, jnhaltende grosse erEbd. 1965. – Grenzlandschaft. Wegstunden durchs bermliche Clagen [...]. Oppenheim 1516. InterGrabfeld. Ebd. 1972. – Poesiealbum 95. Bln. 1975. net-Ed.en in: VD 16) u. das Abraham-Drama – Die verführer. Gedanken der Schmetterlinge. Hg. der erst kurz zuvor durch Celtis wiederentu. mit einem Nachw. v. Adolf Endler. Lpz. 1979. deckten Hrotsvit von Gandersheim. Bis auf 2 1982. – Fuß im Geröll. Mit einem Nachw. v. Wil- den Petrarca-Text u. eine wenig bekannte helm Bartsch. Halle (Saale) 1996 (L.). – Gewöhnl. Schrift gegen Sebastian Brant über die unbeLandschaft. Thüringische Gedichte. Hg. u. mit eifleckte Empfängnis Mariae (Contra furibundam nem Nachw. vers. v. Wulf Kirsten. Bucha bei Jena Sebastiani brannt [...] musam, non satis sobrie, 2002. virginalem purissime dei genitricis conceptionem, Literatur: Heinz Czechowski: Welt – unmitcarmine invectivo defendere volentem, boatus Ade telbar. Anmerkungen zu zwei Lyrikern. W. W. u. Wulf Kirsten. In: SuF 24 (1972), S. 1278–1292. – wernheri Temarensis syncera compatientia lusus. Volker Ebersbach: ›Der Mensch in allem deutlich.‹ Speyer 1502. Internet-Ed. in: VD 16) sind alle Landschaftsbezogene sozialist. Gegenwartslyrik Werke W.s nur handschriftlich überliefert. der DDR. In: WB 19 (1973), H. 11, S. 83–112. – Wolfgang Ertl: Natur u. Landschaft in der Lyrik der

Literatur: Bibliografien: Worstbrock, Register. – Frank-Rutger Hausmann: Bibliogr. der dt. Über-

325 s.en aus dem Italienischen v. den Anfängen bis 1730. Bd. 1, Tüb. 1992, Nr. 0889. – VD 16. – Weitere Titel: Charles Schmidt: Histoire littéraire de l’Alsace [...]. 2 Bde., Paris 1879. Nachdr. Hildesh. 1966, Bd. 1, S. 17, 20, 24, 220. – Karl Hartfelder: W. v. T., ein Heidelberger Humanist. In: Ztschr. für die Gesch. des Oberrheins 33 (1880), S. 1–101 (mit. Ed. der Gedichte). Wiederabgedr. in: Ders.: Studien zum pfälz. Humanismus. Hg. Wilhelm Kühlmann u. a. Heidelb. 1993, S. 73–173. – Ders.: A. W. v. T. In: ADB. – Ellinger, Bd. 1, S. 385, 434. – Reinhard Düchting: Hrotsvitha v. Gandersheim, A. W. v. T. u. Guarino Veronese. In: Ruperto-Carola 33 (1963), S. 77–89 (Ed. der Alda-Gesch.). – Erich Kleinschmidt: Ein unbekanntes Preisgedicht A. W.s v. T. auf die Stadt Straßburg v. 1494. In: ZfdPh 97 (1978), S. 427–439 (mit Verz. der älteren Lit.). – Franz Josef Worstbrock: Aus Gedichtslg.en des Wolfgang Marius. In: Ztschr. für bayer. Landesgesch. 44 (1981), S. 491–504. – Karl A. Zaenker: ›Eyn hübsche Comedia Abraham genant‹. Hrotsvits v. Gandersheim ›Abraham‹ in der Übers. des A. W. v. T. In: Mlat. Jb. 17 (1982), S. 217–229 (Ed. des Abraham-Dramas). – Joachim Knape: Die ältesten dt. Übers.en v. Petrarcas ›Glücksbuch‹. Texte u. Untersuchungen. Bamberg 1986 (mit Ed. S. 294–308). – Walther Ludwig: Matern Hatten, A. W., Sebastian Braut u. das Problem der religiösen Toleranz. In: Ztschr. für die Gesch. des Oberrheins 144 (1996), S. 271–301. – F. J. Worstbrock: A. Wernher v. T. In: VL. – Dagmar Drüll: Heidelberger Gelehrtenlexikon 1386–1651. Bln. u. a. 2002, S. 2–4. – Petrarca in Dtschld. Ausstellung zum 700. Geb. [...]. Hg. Achim Aurnhammer. Heidelb. 2004, S. 58 f. – Arnim Schlechter: Eine weitere Inkunabel aus dem Umfeld von A. W. v. T.s Heidelberger Vergil-Vorlesung aus den Jahren 1495/96. In: Wolfenbütteler Notizen zur Buchgesch. 33 (2008), S. 63–77. Martina Backes / Red.

Bruder Wernher. – Spruchdichter des 13. Jh. Über das Leben des Spruchdichters gibt es keine außerliterar. Zeugnisse. Er dürfte zumindest zeitweise das Leben eines Fahrenden geführt haben. W. bezeichnet sich selbst als Laien; der Namensbestandteil »Bruder« deutet vielleicht darauf hin, dass der Dichter einen Teil seines Lebens als Pilger oder Laienbruder verbracht hat, doch ist auch eine metaphor. Bedeutung des Namenszusatzes (»fahrender Berufsdichter in der Rolle eines weit herumgekommenen Pilgers«) nicht

Bruder Wernher

auszuschließen. Aufgrund der Gestaltung der von ihm überlieferten Melodien mit Abhängigkeit einzelner Melodienzeilen von der Psalmodie darf man vielleicht annehmen, dass er eine klösterl. Bildung genossen hat, die auch eine musikal. Ausbildung umfasste (Spechtler/Wächter). Aufgrund zeitgeschichtl. Anspielungen datiert man die Entstehungszeit seiner Sprüche etwa in die Zeit zwischen 1217 u. 1250, eine zeitl. Einordnung, die sich mit dem Werkcharakter deckt: W. steht in der Nachfolge Walthers von der Vogelweide u. ist neben Reinmar von Zweter der bedeutendste deutschsprachige Spruchdichter der ersten Hälfte des 13. Jh. Einige seiner Preisstrophen erlauben Rückschlüsse auf Gönner W.s: Nr. 30 auf einen der oberösterr. Herren von Ort, Nr. 56 auf den Kärntner Grafen Wilhelm (III. oder IV.) von Heunburg u. 60 auf den ostfränk. Grafen Boppo VII. von Henneberg. Beziehungen zu den wichtigen Mäzenatenhöfen seiner Zeit wie dem der Babenberger (vgl. z.B. Nr. 32) oder dem der Staufer (vgl. z.B. Nr. 61) sind wahrscheinlich. Unter W.s Namen sind insg. 76 Strophen überliefert, davon 67 Strophen mit sechs Melodien in der um 1340 entstandenen Jenaer Liederhandschrift (J), während die älteren Überlieferungsträger – die Große Heidelberger Liederhandschrift (C) mit 38, die Kleine Heidelberger Liederhandschrift (A) mit drei Strophen – u. das sog. Tetschener Fragment aus der zweiten Hälfte des 14. Jh. (eine Strophe) keine Melodien aufzeichnen. W. bevorzugt ganz offensichtlich die thematisch abgeschlossene Einzelstrophe; Ansätze zu Strophenreihen, Zyklen oder gar liedhaften Einheiten bleiben, wie bei den beiden thematisch verknüpften Kreuzzugsstrophen in A, die Ausnahme, was vielleicht die Tatsache erklärt, dass C die Strophen nicht nach Tönen geordnet aufnimmt. Zusätzlich zu den sechs in J mit Melodien überlieferten Tönen hat W. weitere drei Töne in seinem Repertoire. Die Strophen sind, wie in der nachwaltherschen Spruchdichtung üblich, durchweg stollig gebaut u. zeigen eine Tendenz zu langen Versen (mit Betonung des Strophenschlusses durch zwei paargereimte Langzeilen); die Töne, die im Allgemeinen zwölf Verse umfassen (Ton VI:

Priester Wernher

14 Verse), sind nach dem gleichen Grundmuster gestaltet u. – vor allem im Abgesang – der im 13. Jh. verbreiteten »Alment« Stolles nahe verwandt. W. behandelt typische Themen der Sangspruchdichtung seiner Zeit: Zeitgeschichtliches, Ethisches u. Geistliches; auffallend ist das Fehlen von Minnethematik. Anders als Walther, der in Vielem sein Vorbild war, begründet er seine Tugendlehre ausdrücklich religiös, seine geistl. Ermahnungen nehmen Züge der Bußpredigt an (Gerdes). In Fragen des rechten Verhaltens empfiehlt der Sänger seinem Publikum v. a. die Tugenden der »triuwe« u. der »milte«, letztere durchaus auch selbstbewusst im eigenen Interesse u. nicht nur im eth. Rahmen als dem Besitzenden von Gott auferlegte Verpflichtung den Besitzlosen gegenüber. Der ausgeprägt didakt. Charakter seiner Dichtung wird nicht nur im eth. u. geistl. Bereich deutlich, sondern auch in den Strophen mit zeitgeschichtl. Bezügen, in denen häufig der Nachdruck auf dem Exemplarischen bestimmter Ereignisse, Situationen u. Handlungsweisen liegt. In vielen Fällen haben die Strophen einen resümierenden, oft sentenzhaften Schluss, der die Absicht des Sängers, sein Publikum zu belehren, noch unterstreicht. Von der nachhaltigen Wertschätzung der Dichtung W.s zeugt nicht nur die Aufnahme seiner Strophen in die großen Liederhandschriften C u. J; sein Dichterkollege Rubin erwähnt ihn gegen Ende des 13. Jh. in einer Totenklage lobend neben Reinmar, Walther, Stolle u. Neidhart, u. die Meistersänger des 15. Jh. zählen ihn zu ihren zwölf alten Meistern. Ausgaben: Anton E. Schönbach (Hg.): Die Sprüche des B. W. I. II. In: Sitzungsber.e der Kaiserl. Akademie der Wiss.en in Wien. Philosoph.histor. Klasse CXLVIII u. CL. Wien 1904 (zitiert). – Franz Viktor Spechtler (Hg.): B. W. Abb. u. Transkription der gesamten Überlieferung. I . Abb.en. Göpp. 1982. II . Transkription. 1984. Literatur: Ferdinand Lamey: B. W. Sein Leben u. sein Dichten. Karlsr. 1880. – Henry Doerks: B. W. Programm Treptow a. R. 1889. – Anton E. Schönbach, a. a. O. – Hans Vetter: Die Sprüche B. W.s. In: PBB 44 (1920), S. 242–267. – Albert Leitzmann: Zu B. W.s Sprüchen. In: PBB 65 (1942), S. 159–164. –

326 Paul Kemetmüller: Glossar zu den Sprüchen B. W.s. Diss. Wien 1954. – Udo Gerdes: B. W. Göpp. 1973. – Ders.: Zeitgesch. in der Spruchdichtung. In: Euph. 67 (1973), S. 117–156. – Ulrich Müller: Untersuchungen zur polit. Lyrik des dt. MA. Göpp. 1974, S. 86–103, passim. – Eugen Thurnher: Die Tierfabel als Waffe polit. Kampfes. In: Röm. Histor. Mitt.en 18 (Rom/Wien 1976), S. 55–66. – Ingrid Strasser: Zur ›Herrenlehre‹ in den Sprüchen des B. W. In: Österr. Lit. zur Zeit der Babenberger. Hg. Alfred Ebenbauer u. a. Wien 1977, S. 239–254. – Cyril W. Edwards: Zur Rezeption B. W.s in der Jenaer Liederhs. In: Zur dt. Lit. u. Sprache des 14. Jh. Hg. Walther Haug u. a. Heidelb. 1983, S. 305–319. – Franz Viktor Spechtler: Strophen u. Varianten. In: Spectrum medii aevi. FS George Fenwick Jones. Hg. William C. McDonald. Göpp. 1983, S. 491–508. – Peter Kern: Entaktualisierung in der Jenaer Liederhs.? In: ZfdPh 104 (1985), Sonderheft, S. 157–166. – Horst Brunner: Die Töne B. W.s. Bemerkungen zur Form u. zur formgeschichtl. Stellung. In: Liedstudien. FS Wolfgang Osthoff. Hg. Martin Just u. Reinhard Wiesend. Tutzing 1989, S. 47–60. – Peter Kern: B. W.s ›bîspel‹-Spruch v. dem Affen u. der Schildkröte. In: ZfdPh 109 (1990), S. 55–68. – RSM 5 (1991). – H. Brunner: Verkürztes Denken. Religiöse u. literar. Modelle in der polit. Dichtung des dt. MA. In: FS Werner Hoffmann. Hg. Waltraud Fritsch-Rößler. Göpp. 1991, S. 309–333, bes. S. 317–319. – Fritz Peter Knapp. Herrschaftsideale beim Stricker, bei B. W. u. im ›Buch von Bern‹. In: ebd., S. 277–289, bes. S. 284 f. – H. Brunner: B. W. In: VL. – F. V. Spechtler u. Hans Wächter: Psalmodie u. Sangspruchlyrik. Zu den Melodien des B. W. In: ZfdPh 119 (2000), Sonderheft, S. 50–58. – Dietlind Gade: Anleitung zu einer ›pervertierten Totenklage‹? Zu einem missverstandenen Spruch B. W.s. In: ZfdPh 122 (2003), S. 143–146. – Maria Dorninger: Ohne Minne, doch nicht ohne Frauen. Notizen zur Sangspruchdichtung B. W.s. In: FS Ulrich Müller. Hg. Ingrid Bennewitz. Göpp. 2007, S. 25–34. Claudia Händl

Priester Wernher. – Verfasser eines mittelhochdeutschen Marienlebens, letztes Drittel 12. Jh. Über den Verfasser u. die Entstehungsumstände der ersten epischen dt. Mariendichtung unterrichtet nur das Werk selbst: der »priester« W. habe im Auftrag des Priesters Manegold, der ihn auf die Quelle hingewiesen habe, die Dichtung in drei Büchern (»liet«, V. 1, 3107 u.ö.) abgefasst. Für Autor u.

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Auftraggeber ist durchaus plausibel die Herkunft aus dem Augsburger Weltklerus vermutet worden. Unstreitig ist, dass W.s Werk in den Zusammenhang der Marienfrömmigkeit des 12. Jh. gehört, möglicherweise mit der 1171 in St. Ulrich u. Afra, Augsburg, eingeführten Feier des Festes Mariä Verkündigung (25. März; so Pretzel) in Zusammenhang steht oder auch in die liturg. Bewegung für die Einsetzung des Festes Mariä Empfängnis (8. Dez.) in Augsburg in den 1180er Jahren gehört (Masser). Die Werkbezeichnung Drei Bücher von der Jungfrau Maria (Driu liet von der maget; A v. 4870 f.) deutet auf die Gliederung des insg. rund 5900 Verse umfassenden Textes hin, dessen drei Teile jeweils durch Prologe eingeleitet werden; zwei Epiloge beschließen das Werk. Die Erzählungen der drei Teile sind drei hohen kirchl. Festen zugeordnet: Mariä Geburt (8. Sept.), Mariä Verkündigung (25. März) u. der Geburt Jesu (25. Dez.). Das erste »liet« handelt von der lange Zeit kinderlosen Ehe Joachims u. Annas, der Eltern Marias, der Verheißung durch den Engel, von der Geburt Marias u. ihrer Darbringung im Tempel (Mariä Tempelgang). Das zweite »liet« erzählt von dem Gottesentscheid durch ein Gertenmirakel, aus dem Josephs u. Marias Verlobung folgt, von der Verkündigung des Gottessohns u. der Begegnung Marias mit Elisabeth (Heimsuchung). Das dritte »liet« ist uneinheitlicher. Es berichtet davon, wie Joseph, von einer Reise zurückkehrend, von einem Engel über das Mysterium der übernatürl. Geburt tröstend unterrichtet wird u. wie Maria sich vor den Priestern mit einer Wasserprobe rechtfertigen muss. Dann folgen das Gebot des Augustus zur Volkszählung, die Geburt Christi, der bethlehemitische Kindermord, die Flucht nach Ägypten mit der Rückkehr u. verschiedenen Episoden aus Jesu Kindheit, danach in knapper Raffung Christi Leben, Sterben, Abstieg zur Hölle u. Himmelfahrt u. ein Ausblick auf das Jüngste Gericht. Zwei Epiloge schließen sich an, der erste (in den Handschriften C u. A) bietet Aussagen zur Entstehung des Werks (s.o.), der zweite (nur in A u. D) liefert nur Angaben zur Datierung u. zum Inhalt.

Priester Wernher

Die Quelle W.s ist die Redaktion P des lat. Pseudo-Matthaeus-Evangeliums, an die sich W.s Text stellenweise eng anschließt. Es gehört zur Gruppe der urspr. griech. Kindheitsevangelien, die in Spätantike u. FrühMA (beim Pseudo-Matthaeus-Evangelium etwa seit Anfang des 6. Jh.) versuchten, das Schweigen der kanonischen Evangelienberichte über das Leben der Maria u. ihres Sohnes bis zu seiner öffentl. Wirksamkeit durch legendarische Erzählungen aufzuhellen. Zur breiten mittelalterl. Wirkungsgeschichte der sog. apokryphen Schriften gehört auch das Marienleben des W., der daneben auch liturg. Texte der drei genannten Feste heranzieht. Die Überlieferung des Werks, zwei vollständig u. fünf fragmentarisch erhaltene Handschriften des 13. Jh., bezeugt eine zeitlich begrenzte, aber verhältnismäßig breite Wirkung des Werks, das offenbar von Anfang an in mehreren Fassungen existierte. Bedeutendster Zeuge ist die ehemalige Berliner Handschrift ms. germ. oct. 109 (um 1230), eine kleinformatige Handschrift von hohem Ausstattungsniveau, deren Miniaturen in den weiteren Stilzusammenhang der Regensburg-Prüfeninger Malschule eingeordnet werden. W. bestimmt sein Werk nachdrücklich als Lektüre für Frauen u. schreibt ihm sogar magische Wirkung zu: u. a. lindere es die Schmerzen der Geburt u. bewahre das Neugeborene vor Missbildungen (vv. 2933–3058; vgl. Düwel; Curschmann). W.s Marienleben gehört in den Zusammenhang der Literatur des ausgehenden 12. Jh. W. war Zeitgenosse sowohl des Pfaffen Konrad, der ebenfalls um 1170 sein Rolandslied verfasste, wie auch Heinrichs von Veldeke u. des frühen Minnesangs. W.s Marienleben ist eines der bedeutendsten Werke religiös-erbaul. Erzählens u. zählt zu einer Gruppe, zu der etwa auch Veldekes Servatius (1170er Jahre) gehört, weiterhin der Oberdeutsche Servatius (um 1190), Konrads von Fußesbrunnen Kindheit Jesu (1190er Jahre), Ottos II. von Freising Laubacher Barlaam (um 1200), Ebernands von Erfurt Heinrich und Kunigunde (nach 1202), Alberts von Augsburg Ulrichsleben (Anfang 13. Jh.). Diese Werke religiöser Erzähldichtung stehen zeitgleich neben der Gattung weltl.

Wernher der Gärtner

Erzählens um 1200, dem Roman, u. verdeutlichen die Komplexität der Literatursituation dieser Zeit. Ausgaben: Priester W.: Maria. Bruchstücke u. Umarbeitungen. Hg. Carl Wesle. Halle/S. 1927 (gr. Ausg.). 2. Aufl. hg. v. Hans Fromm. Tüb. 1969. – Des Priesters W. Drei Lieder v. der Magd. Metrisch übers. u. mit ihren Bildern hg. v. Hermann Degering. Bln. 1925. – Priester W.: Driu liet von der maget. Farbmikrofiche.-Ed. der Hs. Berlin, ehem. Preuss. Staatsbibliothek, Ms. germ. 109. Hg. u. komm. von Elisabeth Radaj. Mchn. 2001. – Übersicht über die gesamte Überlieferung: www. handschriftencensus.de. – W.s Quelle: Libri de nativitate Mariae. Ps.-Matthaei Evangelium. Hg. Jan Gijsel (Corpus Christianorum. Ser. Apocryphorum 9). Turnhout 1997 (hier Redaktion P). Literatur: Ulrich Pretzel: Studien zum Marienleben des Priesters W. In: ZfdA 75 (1938), S. 65–82. – Hans Fromm: Untersuchungen zum Marienleben des Priester W. Turku 1955. – Kurt Gärtner: Neues zur Priester-W.-Kritik. In: Studien zur frühmhd. Lit. Hg. L. P. Johnson u. a. Bln. 1975. – Achim Masser: Bibel, Apokryphen u. Legenden. Bln. 1969, passim. – Ders.: Bibel- u. Legendenepik des dt. MA. Ebd. 1976, S. 91–95. – Jan Gijsel: Die Quellen v. Priester W.s ›Driu liet von der maget‹. In: Archiv 215 (1978), S. 250–255. – Nikolaus Henkel: Religiöses Erzählen um 1200 im Kontext höf. Lit. Priester W., Konrad v. Fußesbrunnen, Konrad v. Heimesfurt. In: Die Vermittlung geistl. Inhalte im dt. MA. Hg. Timothy R. Jackson, Nigel F. Palmer u. Almut Suerbaum. Tüb. 1996, S. 1- 22. – K. Gärtner: Priester W. In: VL (Lit.). – Ders.: Mariendichtung. In: RLW 2 (2000), S. 538–541. – N. Henkel: Kommunikative Leistungen einer literar. Kleinstform. Die Spruchbänder in der ehemaligen Berliner Hs. v. Priester W.s ›Maria‹. In: Scrinium Berolinense. FS Tilo Brandis. Hg. Peter J. Becker u. a. Bln. 2000, Bd. 1, S. 246–275. – Klaus Düwel: Ein Buch als christlich-mag. Mittel zur Geburtshilfe. In: Kontinuitäten u. Brüche in der Religionsgesch. FS Anders Hultgård. Hg. Michael Stausberg. Bln./New York 2001, S. 170–193. – Klaus Schreiner: Litterae mysticae. Symbolik u. Pragmatik heiliger Buchstaben, Texte u. Bücher in Kirche u. Gesellsch. des MA. In: Pragmat. Dimensionen mittelalterl. Schriftkultur. Hg. Christel Meier u.a., Mchn. 2002, S. 277–337, bes. 327 f. – Martin J. Schubert: Vnd mit liebe sungen si do. Neumennotation in Priester W. D. In: Magister et amicus. FS K. Gärtner. Hg. Václav Bok u. Frank Shaw. Wien 2003, S. 569–577. – Peter Strohschneider: Unlesbarkeit v. Schrift. Literaturhistor. Anmerkungen zu Schriftpraxen in der religiösen

328 Lit. des 12. u. 13. Jh. In: Regeln der Bedeutung. Hg. Fotis Jannidis u.a. Bln. 2003, S. 591–627. – N. F. Palmer: Manuscripts for Reading: The material evidence for the use of manuscripts containing Middle High German narrative verse. In: Orality and Literacy in the Middle Ages. Essays in honour of D. H. Green. Hg. Mark Chinca u. Christopher Young. Turnhout 2005, S. 67–102. – Michael Curschmann: Das Buch am Anfang u. am Ende des Lebens. W.s Maria u. das Credo Jeans de Joinville. Trier 2008, bes. S. 23–27 u. 65–69 (Abb. 1–5). – Sabine Griese: Text-Bilder u. ihre Kontexte. Medialität u. Materialität v. Einblatt-Holz- u. -Metallschnitten des 15. Jh. Zürich 2010, S. 397–399. – Ernst Hellgardt: Neumen in Hss. mit dt. Texten. Ein Kat. In: ›Ieglicher sang sein eigen ticht‹. Germanistische u. musikwiss. Beiträge zum dt. Lied im SpätMA. Hg. Christoph März (†), Lorenz Welker u. Nicola Zotz. Wiesb. 2011, S. 163–207, hier S. 178 f. (Nr. 16). Nikolaus Henkel

Wernher der Gärtner, Gartenaere, * zweite Hälfte des 13. Jh. – Fahrender Berufsdichter, Verfasser der Versnovelle Helmbrecht. Den Namen des urkundlich nicht bezeugten Autors erfahren wir nur aus den Schlussversen des Werks, die das Publikum zum Gebet für den Vortragenden verpflichten, damit Gott ihm »und dem tihtaere, Wernher dem Gartenaere«, gnädig sei (vv. 1931–1934). Der Beiname ist als Bezeichnung eines Berufs, der Herkunft (aus Garte/Garda) oder der Tätigkeit des bettelnden Vagabundierens (»garten«, ein Wort, das aber erst seit dem 15. Jh. belegt ist) gedeutet worden. Ein Fahrender dürfte W. allemal gewesen sein, klagt er doch, er werde nirgends so gut wie der Held seiner Geschichte aufgenommen (vv. 840 ff.). Das schließt zu dieser Zeit einige Gelehrsamkeit nicht aus, sondern eher ein. So könnte der Autor sich nach dem Vorbild des Strickers einen Künstlernamen beigelegt haben, der seine Dichterprofession metaphorisch als Hegen u. Pflegen des (aus der antiken Rhetorik bekannten) Blütenschmucks der schönen Rede zum Ausdruck bringt. Als Eckdaten für die Abfassung der Versnovelle stehen nur der Tod des Lyrikers Neidhart (v. 217) vor 1246 u. das XV. Gedicht des sog. Seifried Helbling von 1291/96, das auf den Helmbrecht

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anspielt, zur Verfügung, doch scheint eine Eingrenzung auf 1250–1280 nicht abwegig. Die Sprache ist bairisch-österreichisch. Die vergleichsweise genannten realen Orte sind nur als Textsignale für das Publikum zu werten, nicht als Festlegung der erzählten Handlung oder gar der Herkunft des Autors. Zudem differieren sie in den beiden Handschriften. Die Ortsnamen der Handschrift B sind allerdings ziemlich sicher Neuerungen im Sinne des Traungauer Auftraggebers der Handschrift (von 1457). Die alten Namen könnte dagegen das Ambraser Heldenbuch (Handschrift A, von 1504–1516) bewahrt haben, da hier ein vergleichbares Interesse des Auftraggebers an einer Änderung nicht anzunehmen ist. Einwandfrei identifizieren konnte man bisher freilich nur das Dorf Wanghausen (V. 897), das auf der Innviertler Seite des Inns der Burg Burghausen gegenüberliegt. Burghausen war die zweite Hauptresidenz des Herzogs von Niederbayern seit der Mitte des 13. Jh. Für seinen Hof könnte das Gedicht zunächst verfasst worden sein, darüber hinaus wohl für das gesamte Adelspublikum der Länder Nieder- u. Oberbayern, Österreich, Steier, Passau u. Salzburg. Den Interessen dieses Adels dient der Helmbrecht insofern, als er beispielhaft die »natürliche« Gesellschaftsordnung als unantastbar erweisen soll. Die Handlung ist rasch erzählt. Helmbrecht, der Sohn eines gleichnamigen Meiers, also eines begüterten Bauern, der für den Grundherrn Verwaltungstätigkeiten ausübt, will nicht länger auf Acker u. Weide harte Arbeit leisten u. sich mit einfacher Kost u. Kleidung begnügen, sondern das Ritterhandwerk erlernen, um auf einer Burg in Saus u. Braus zu leben. Der Vater stattet ihn – äußerst widerwillig – mit großem Aufwand dafür aus. Ein Burgherr nimmt ihn in die Schar seiner Berittenen auf, die in unrechter Fehde raubend u. sengend durch die Lande ziehen. Kurz kehrt Helmbrecht zur Demonstration seines neu gewonnenen Status ins Vaterhaus zurück u. überredet dort seine Schwester Gotelind, mit ihm zu kommen u. einen seiner Spießgesellen zu heiraten. In die ausgelassene Hochzeitsfeier bricht jäh der Scherge mit seinen Gehilfen ein. Die Raub-

Wernher der Gärtner

ritter sind von Angst wie gelähmt, werden spielend überwältigt, abgeurteilt u. gehenkt – bis auf Helmbrecht, der, geblendet u. verstümmelt, als vogelfreier Krüppel in die Welt hinausgeschickt wird. Der Vater, bei dem er Unterschlupf sucht, weist ihm mit harten Worten die Tür. Bauern, die von ihm einst beraubt u. geschunden wurden, ergreifen ihn u. knüpfen ihn auf. Das geradezu dramat. Geschehen wird oft mehr angedeutet als erzählt. Auch der gegenüber den Erzählversen dominierende Dialog treibt die Handlung nicht zügig voran, sondern dient mehr der Sinngebung, ebenso wie die Reihe der Beschreibungen. Deren wichtigste stellt den jungen Helmbrecht, den Haupthelden – nach dem folgerichtig die Versnovelle zu benennen ist, nicht nach dessen Vater, wie es sich eingebürgert hat –, als modenärrischen Gecken vor, den Mutter u. Schwester mit prächtiger, an sich dem Adel vorbehaltener Kleidung ausstatten, insbes. mit einer wunderbaren Haube, auf der außer einer höf. Tanzszene positive u. negative moralische Exempla abgebildet sind, so u. a. Aeneas, das Muster der Pietät gegenüber dem Vater, u. die Söhne Etzels, die durch ihren Ungehorsam ums Leben kommen. Damit wird nicht nur gleich zu Anfang eine Verständnishilfe zur eth. Beurteilung von Helmbrechts Verhalten gegeben, sondern auch ein reizvolles intertextuelles Spiel eröffnet. Der bäuerl. Parvenü mit den angemaßten Statussymbolen des langen Haares, der Haube, der ritterl. Bewaffnung ist Neidharts Winterliedern entnommen. Der Weg des Helden vom heimatl. Hof in die Fremde, seine Zwischenheimkehr bei den Eltern u. die Fortsetzung des Lebens draußen bis zum bitteren Ende entsprechen bis zu einem gewissen Grad u. in tragischer Verkehrung dem Auszug Erecs u. Iweins vom Artushof u. ihren Bewährungsabenteuern mit der Zwischeneinkehr am selben Hof, in anderer Hinsicht aber dem Ausritt Parzivals im Narrengewand u. seiner Einkehr beim Einsiedleroheim. Ein wichtiges Vorbild hat die bibl. Parabel vom verlorenen Sohn (Lk 15, 11–32) abgegeben. Aus dem reuigen Sünder ist jedoch ein verstockter geworden, den die gerechte Strafe ereilt. Vor allem wird im Helmbrecht nicht an

Wernher der Gärtner

einem innerweltl. Geschehen das Verhältnis des Menschen zu Gott demonstriert, der ird. Vater also nicht gleichnishaft direkt für Gottvater gesetzt, sondern eine Beispielerzählung für die Gültigkeit allg. eth. Normen vorgeführt. Für die breit ausgeführten Wechselreden von Vater u. Sohn griff W. auf die zahlreichen Streit- u. Lehrgespräche in der klass. Epik (Gregorius, Parzival etc.) u. in der didakt. Dichtung des Strickers u. anderer zurück. Die Weltordnung manifestiert sich in der patriarchalisch geleiteten Familie, in der hierarchisch gestuften Gesellschaft u. in dem vom Landesherrn zu wahrenden Zustand des Friedens u. Rechts. Alle drei Ordnungsprinzipien kennen wir aus zeitgenössischen juristischen Texten (wie Landfriedensordnungen), aus Bettelordenspredigten sowie aus Gedichten wie denen des Strickers. Helmbrecht, der seinen Eltern den Gehorsam verweigert, seinen Geburtsstand leugnet u. als »Ritter« die Schwachen beraubt, statt sie zu schützen, begibt sich ins Niemandsland außerhalb jener gottgegebenen Weltordnung, findet keinen Halt mehr u. fällt ins Bodenlose. Der Ausgang der Handlung bestätigt die Richtigkeit der Ansicht des Vaters. Deren Kern bildet der Gedanke des Tugendadels, den sich jedermann, gleich welchen Standes, wenn er dessen Pflichten u. Gottes Gebote nur getreu erfüllt, erwerben kann – ein Gedanke, den schon christl. Soziallehren des frühen 11. Jh. formuliert, dt. Autoren des 12. u. 13. Jh. aber dann neu akzentuiert haben, bes. eindrucksvoll eben W. in den Versen 487–508. Paradoxerweise vertritt gegenüber dem Vater ausgerechnet der junge Helmbrecht den Standpunkt des »reinen« Geburtsadels, der unabhängig von eth. Qualitäten besteht. Diesen Adel kann man selbstverständlich gar nicht erwerben, obwohl der Held dies mit Täuschung u. Gewalt versucht. Bei genauerem Hinsehen erscheint aber überhaupt nur ein einziger echter Adliger in der Gegenwartshandlung der Versnovelle – die vom alten Helmbrecht gepriesenen Edlen seiner Jugendzeit sind offenbar alle tot. Durch jenen Adligen wird aber das vom jungen Helmbrecht entworfene Zerrbild damaliger Ritterschaft indirekt bestätigt: Es ist je-

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ner anonyme Burgherr, der die Raubritter in Dienst nimmt. Ihn trifft im Grunde die Verantwortung. Allzusehr musste sich das Publikum demnach nicht beunruhigen, ruft der Text doch eindeutig zur Wahrung der überkommenen Verhältnisse auf, die rückblickend zu einem harmon. Miteinander aller gesellschaftl. Kräfte in Liebe, Frieden u. Eintracht verklärt werden. Diese Harmonie stören Menschen wie Helmbrecht, weil er die ihm von Gott zugeteilte Stelle nicht ausfüllen will, u. zwar wider besseres Wissen. Deshalb zermalmt ihn das erbarmungslose Schicksal, am erschreckendsten versinnbildlicht durch die gnadenlose Haltung des bitter höhnenden Vaters. Dieser handelt nicht wie der liebende Vater in der Parabel vom verlorenen Sohn, sondern spottet am Ende über den Untergang des Unbelehrbaren wie der Gott des Alten Testaments (Prov 1, 24–26). Zugleich aber empfindet der Vater tiefen seel. Schmerz (v. 1776 »swie im sîn herze krachte«) – vielleicht eine Andeutung menschl. Tragik. So sehr sich W. in Stil u. Motivik, im Ritteru. Gesellschaftsideal auch an die Literatur der sog. Blütezeit angeschlossen haben mag, so deutlich kehrt er sich von ihr mit dieser düsteren Weltsicht ab, die es im MA stets gegeben hat, die sich aber seit dem ausgehenden 13. Jh. wieder stärker Geltung verschaffte. Kein dt. Erzählwerk des MA hat ihr so plast. Gestalt verliehen wie dieses kleine Meisterwerk der Weltliteratur. Kaum ein mittelalterl. Text ist so intensiv nach allen Regeln der Kunst (aber auch nicht selten in Missachtung aller solcher Regeln) ausgelegt worden wie der Helmbrecht. Das 19. Jh. vereinnahmt den Text als historischsagenhafte ›Dorfgeschichte‹ aus der jeweils eigenen bayerischen oder oberösterr. Heimat – eine Nachwirkung der Realitätsfiktion W.s, die bis in die Gegenwart anhält. Im 20. Jh. durchläuft die Forschung alle Ideologien, ›Paradigmen‹ oder auch Moden der Literaturwissenschaft von der regional oder national orientierten Philologie über Positivismus, Historismus, Nationalsozialismus, Marxismus, werkimmanente Betrachtungsweise oder ›close reading‹, Formalismus, Strukturalismus, Mentalitätsgeschichte bis zur

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Textsemiotik u. Textpragmatik u. variiert dabei je länger desto häufiger schon einmal erreichte, wenngleich vielfach unter der Masse der Studien verschüttete Erkenntnisse. In den letzten zwanzig Jahren kommen nur einige neue Nuancen der Auslegung, etwa zur Gattungsproblematik, zu Einflüssen einer speziellen religiösen Ethik, zur Komik des Textes, zum zeitgenöss. Recht, zur histor. Sozialanthropologie hinzu. Umstritten u. letztlich nicht zu enträtseln bleibt die Frage, wieweit sich der Text auf eine bestimmte histor. Situation, auf einen bestimmten Standeskonflikt beziehen könnte. Andererseits mag moderne Sympathie mit dem ›Aufsteiger‹ oder ›Aussteiger‹ Helmbrecht den Text zwar ›gegen den Strich‹ lesen, darf sich aber keinesfalls als Sicht des Autors des 13. Jh. ausgeben. Ausgaben: Krit. Ausg. Hg. Friedrich Panzer u. Kurt Ruh. 10., korr. Aufl. v. Hans-Joachim Ziegeler. Tüb. 1993. – Ausg. mit Übers. v. Helmut Brackert, Winfried Frey u. Dieter Seitz. Ffm. 1972. – Ausg. mit Übers. v. Fritz Tschirch. Stgt. 1974. – Faks. der Hss. A u. B. Hg. Franz Hundsnurscher. Göpp. 1972. Literatur: Bibliografien: Ulrich Seelbach. Bln. 1981. – Ders. In: Nolte u. a. (Hg.). 2001, S. 83–116. – Forschungsbericht: Fritz Peter Knapp: W. d. G. In: VL. – Kommentar zum Text: U. Seelbach. Göpp. 1987. – Studien vor 2000 (Auswahl): Hanns Fischer: Gestaltungsgesch.n im ›Meier Helmbrecht‹. In: PBB 79 (1957), S. 85–109. – Ernst v. Reusner: Helmbrecht. In: WWort 22 (1972), S. 108–122. – Hermann Bausinger: Helmbrecht. In: FS Hugo Moser. Bln. 1974, S. 200–215. – Helmut Brackert: Helmbrechts Haube. In: ZfdA 103 (1974), S. 166–184. – Peter Göhler: Konflikt u. Figurengestaltung im ›Helmbrecht‹ v. W. d. G. In: WB 20 (1974), H. 8, S. 93–116. – Gerhard Schindele: ›Helmbrecht‹. Bäuerl. Aufstieg u. landesherrl. Gewalt. In: Lit. im Feudalismus. Hg. Dieter Richter. Stgt. 1975, S. 131–211. – Hannes Kästner: Mittelalterl. Lehrgespräche. Bln. 1978, bes. S. 235–243. – Anton Schwob: Das mhd. Märe vom ›Helmbrecht‹ vor dem Hintergrund der mittelalterl. ordo-Lehre. In: Geistl. u. weltl. Epik des MA in Österr. Hg. David McLintock u. a. Göpp. 1987, S. 1–17. – U. Seelbach: Späthöf. Dichtung u. ihre spätmittelalterl. Rezeption. Bln. 1987. – Cornelia Wilhelm-Graf: Richter u. Gerichte in ›Helmbrecht‹. In: Neue jurist. Wochenschr. 40 (1987), S. 1391–1393. – F. P. Knapp: Mittelalterl. Erzählgattungen im Lichte scholast.

Wernher II. von Hohenberg Poetik. In: Exempel u. Exempelsammlungen. Hg. Walter Haug u. Burghart Wachinger. Tüb. 1991, S. 1–22. – Petra Menke: Recht u. Ordo-Gedanke im Helmbrecht. Ffm. 1993. – Peter v. Matt: Verkommene Söhne, mißratene Töchter. Familiendesaster in der Literatur. Mchn./Wien 1995. – Ralf-Henning Steinmetz: Komik in mittelalterl. Literatur. Überlegungen zu einem method. Problem am Beispiel des ›Helmbrecht‹. In: GRM N. F. 49 (1999), S. 255–273. – Studien seit 2000 (Auswahl): Claudia Brinker-von der Heyde: Literar. Spielregeln der Kleinfamilie. In: Jb. Int. Germ. 32 (2000), S. 45–63. – Theodor Nolte u. a. (Hg.): ›Helmbrecht‹. Die Beiträge des Helmbrecht-Symposions in Burghausen 2001. Stgt. 2001. – Hannes Kästner: ›Fride unde reht‹ im ›Helmbrecht‹. In: ebd., S. 25–43. – F. P. Knapp: Standesverräter u. Heimatverächter in der bayerisch-österr. Lit. des SpätMA. In: ebd., S. 9–24. – U. Seelbach: Hildemar u. Helmbrecht: Intertextuelle u. zeitaktuelle Bezüge des ›Helmbrecht‹ zu den Liedern Neidharts. In: ebd., S. 45–69. – Werner Schröder: Zur Tragik des Vaters im ›Helmbrecht‹ W.s d. G.s. In: Jb. Int. Germ. 34 (2002), S. 183–205. Fritz Peter Knapp

Wernher II. von Hohenberg, Homberg, Graf, * 1283, † 1320. – Minnesänger. W. war der berühmteste seines Geschlechts. Sein bewegtes, kampferfülltes Leben führte ihn u. a. als Deutschordensritter 1304/1305 nach Litauen u., zuerst ab 1310 im Gefolge Heinrichs VII., nach Italien. Nach dem Tod des Kaisers (1313), der ihm bedeutende Ämter in der Schweiz u. der Lombardei übertragen hatte, begegnet W. in der Umgebung Friedrichs des Schönen. 1319 eilte er den Belagerern von Genua zu Hilfe; vermutlich kostete ihn der Winterkrieg das Leben. Wenige Jahre später starb mit seinem gleichnamigen Sohn das Geschlecht aus. – Zahlreiche dt. u. ital. Chronisten berichten von W.; die Bilderchronik von Heinrichs Romfahrt im Codex Balduineus (um 1340) stellt ihn bei der Eroberung Mailands (12.2.1311) dar. Die Totenklage um Graf Wernher von Hohenberg u. ein Passus im Lob der ritterlichen Minne (vor 1345) rühmen seine – auch im Dienst der Minne – vollbrachten Rittertaten; als Autorität zitiert ihn die Minnerede Die sechs Farben. Die Große Heidelberger Liederhandschrift überliefert als Nachtrag unter W.s Namen acht Lieder, verbunden mit einer Miniatur,

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die W. im Kampfgetümmel (wohl Rück- Wernher vom Niederrhein. – Autor eieroberung von Soncino, 16./17.3.1312) zeigt. nes um 1160/70 in mittelfränkischer Das kleine Œuvre mutet trotz der Verwen- Sprache verfassten typologisch-allegoridung vertrauter Motive, etwa Klagen über schen Gedichts. Abschied u. Entfernung von der Geliebten, durchaus individuell an u. zeugt von beachtl. Der Autor des 690 Verse umfassenden GeVirtuosität. Bemerkenswert heftig ver- dichts Die vier schîven (= Scheiben, d.h. Räder) wünscht der Sänger in Lied 6 den Ehemann bezeichnet sich als Kleriker. Er will im Ander Angebeteten als ungehobelten Teufel u. schluss an Eph 3,17–18 lehren, wie das Gebot verwendet dafür wohl nicht zufällig die der Gottes- u. Nächstenliebe in den spirituStrophenform eines Pseudo-Neidhart. Auch ellen u. heilsgeschichtlich-kosm. Dimensiomit der Sangspruchdichtung muss W. ver- nen Breite, Länge, Tiefe u. Höhe zu verstehen traut gewesen sein: Drei der einstrophigen ist. Als Vehikel seiner erbaulich-spekulativen Lieder 1, 3, 4, 8 sind nachweislich in ent- Lehre wählt W. die im Hohen Lied (6,11) erlehnten Tönen gedichtet, Lied 1 in Ton VI wähnte Quadriga des jüd. Kriegers AminSüßkinds von Trimberg, 3 im Roten Ton des ndab. Sie wird typologisch ausgelegt: AminZwinger, 4 in einem zuerst durch den Mari- ndab, aus dessen Geschlecht Maria stammt, ist Typus Christi, der Streitwagen die Lehre enthaler Psalter bezeugten Ton. des Evangeliums; die vier Rosse sind die Ausgabe: Die Schweizer Minnesänger. Hg. Max Evangelisten, die vier Räder (»schîven«), u. Schiendorfer. Bd. 1: Texte. Tüb. 1990, S. 10–15. dies scheint W.s eigene Idee zu sein, bedeuten Literatur: Jürg Schneider: Die Grafen v. Homberg. In: Argovia 89 (1977), S. 5–310, bes. die vier Heilstaten Jesu: Geburt, Passion, S. 98–170, 239–255, 265–267. – Theodor Nolte: Auferstehung, Himmelfahrt. Diese wiederum Lauda post mortem. Die dt. u. niederländ. Ehren- sollen aber mit den vier Dimensionen des reden des MA. Ffm./Bern 1983, S. 150–153. – RSM Pauluswortes gemeint sein. Das so konzi5. Bearb. v. Frieder Schanze u. Burghart Wachinger. pierte Programm wird im Hauptteil entfaltet. Tüb. 1991, S. 566. – Max Schiendorfer: Graf W. v. Die Tiefendimension bedeutet das unerHomberg. In: Claudia Brinker u. Dione Flühler- gründbare Geheimnis der jungfräul. Geburt. Kreis: Die Maness. Liederhs. in Zürich. Zürich Szenen aus dem Marienleben werden skiz1991, S. 108–117. – De Boor/Newald III,1. 5. Aufl., ziert, ein Marienlob u. Exempla des wunneubearb. v. Johannes Janota. Mchn. 1997, S. 289 f. – M. Schiendorfer: W. v. H. In: VL (Lit.). – Johannes derbaren Gotteswirkens schließen sich an. Spicker: ›Auch das was die natur zum sitz-platz Die Dimension der Breite erschließt sich in außersehn [...]‹. Körperbeschreibungen in der der Passion Jesu, die das unfassbare Maß der spätmittelalterl. Liebeslyrik. In: Ed. u. Interpr. FS Gottesliebe zeigt. Auf die Schilderung von Helmut Tervooren. Hg. ders. Stgt. 2000, Passionsereignissen folgt die Erwähnung S. 115–134, bes. S. 122. – J. Janota: Gesch. der dt. alttestamentar. Typen der Passion u. des Lit. [...]. Bd. III,1: Orientierung durch volksspra- Kreuzes. Die Längendimension wird auf die chige Schriftlichkeit (1280/90–1380/90). Tüb. Auferstehung Jesu u. die Unendlichkeit des 2004, S. 157–159. – Helmut Birkhan: Gesch. der durch sie erwirkten ewigen Lebens gedeutet. altdt. Lit. im Licht ausgew. Texte. Tl. VII. Wien 2005, S. 81–83. – Gisela Kornrumpf: Drei unbe- Mit der Auferstehung überlistete Jesus Tod u. kannte Sangsprüche des 13. Jh. In: Der St. Mari- Teufel, wie der Angler mit Köder u. Haken enthaler Psalter. Hg. Helmut Engelhart. Regensb. den Fisch. Mit der Himmelfahrt Christi 2006, S. 79–87. – Dies.: Transgressionen später schließlich wird heilsgeschichtlich u. kosMinnesänger (in Vorb.). – M. Schiendorfer: Die mologisch die höchste vorstellbare Höhe erSchweizer Minnesänger. Bd. 2: Komm. (in Vorb.). reicht. Als Typus der Himmelfahrt wird die Gisela Kornrumpf Entrückung des Elias angeführt, allegorisch wird das Himmelfahrtsgeschehen im Anschluss an die Beschreibung des Adlers im Physiologus entfaltet. Ein kurzer Epilog reklamiert die Einlösung des Prologprogramms, u. in abschließender Variation wer-

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den Breite, Länge, Tiefe u. Höhe als Liebe u. Langmut Gottes, als Hölle u. Himmel allegorisiert. Ausgaben: Peter F. Ganz (Hg.): Geistl. Dichtung des 12. Jh. Bln. 1960, S. 59–77, 96–108 (leicht gekürzter Text u. Kommentar). – Friedrich Maurer (Hg.): Die religiösen Dichtungen des 11. u. 12. Jh. Bd. 3, Tüb. 1970, Nr. 56 (Lit.). Literatur: Max Ittenbach: Dt. Dichtungen der salischen Kaiserzeit u. verwandte Denkmäler. Würzb.-Aumühle 1937, S. 126–134. – Gisela Vollmann-Profe: Wiederbeginn volkssprachiger Schriftlichkeit im hohen MA [...] (= Gesch. der dt. Lit. v. den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit. Bd. 1. Tl. 2). Tüb. 21994, S. 146–148. – Hartmut Freytag: W. v. N. In: VL. Ernst Hellgardt / Red.

Wernher der Schweizer. – Verfasser eines Marienlebens, vor 1382.

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lehrten Glossen heran, die er in seine Darstellung integrierte. Unter den Zusätzen W.s ist ein Marienpreis (vv. 1015–1060), der formal vom sonst durchgehend gebrauchten Epenvers abweicht. Keine Entsprechung in der Vita haben aus Messliturgie u. Stundengebet stammende Zusätze sowie an die »Ungelehrten« gerichtete Erläuterungen u. Ermahnungen. Aus ihnen hat man geschlossen, dass W. Weltgeistlicher war. Ausgabe: Das Marienleben des Schweizers W. Aus der Heidelberger Hs. hg. v. Max Päpke, zu Ende geführt v. Arthur Hübner. Bln. 1920. Nachdr. Dublin/Zürich 1967. Literatur: Max Päpke: Das Marienleben des Schweizers W. Mit Nachträgen zu Vögtlins Ausg. der Vita Marie Rhythmica. Bln. 1913. – Achim Masser: Bibel, Apokryphen u. Legenden. Geburt u. Kindheit Jesu in der religiösen Epik des MA. Ebd. 1969, S. 58–69. – Kurt Gärtner: W. d. S. In: VL.

Einzige Grundlage für biogr. Angaben über W. ist sein Werk, an dessen Anfang er auch Kurt Gärtner / Red. seinen Namen nennt. Er scheint Aachen u. Rom aus eigener Anschauung gekannt zu haben. Aufgrund der Reime, der Herkunft u. Wernicke, Christian, * Jan. 1661 Elbing, Datierung der einzigen Handschrift (1382) † 5.9.1725 Kopenhagen. – Epigrammatiwird seine Heimat in der Nordostschweiz ker; Diplomat. lokalisiert u. die Abfassungszeit des Werks W. entstammte mütterlicherseits einem alten nicht lange vor 1382 vermutet. W.s Werk (14.914 Reimpaarverse) umfasst engl. Adelsgeschlecht; der 1669 verstorbene den vorwiegend auf neutestamentl. Apokry- Vater war Stadtsekretär von Elbing. In Kiel phen zurückgehenden vollständigen Zyklus immatrikulierte sich W. 1681 für Jura u. des Lebens Marias von der Geschichte ihrer Staatswissenschaft; auf Anregung Morhofs Eltern Joachim u. Anna bis zu ihrem Tod u. begann er lat. Epigramme zu übersetzen. der Himmelfahrt. Mit der Lebensgeschichte Bemühungen um ein Hofamt blieben erfolgMarias eng verbunden ist die Darstellung der los. Reisen nach Frankreich u. England (für Kindheit u. Jugend Jesu, seines öffentl. Wir- den dän. König als polit. Agent; dabei in Haft genommen, soll er entflohen sein) erweiterkens u. der Passion. Die Quelle W.s war die Vita beatae Virginis ten seinen polit. wie literar. Horizont. Bis Mariae et Salvatoris rhythmica. Ihr folgt er im 1699 lose in Diensten der Familie des Grafen ganzen treu, doch weniger ausführlich u. von Rantzau, hielt sich W., Freund von Hagenau als sein Landsmann Walther von gedorns Vater, immer wieder in Hamburg Rheinau, dessen Bearbeitung der Vita er auf. 1697 erschienen anonym seine Uberkannte u. benutzte. Die Einteilung der Vita in schriffte oder Epigrammata, in kurtzen Satyren, vier jeweils mit Prologen versehene Bücher kurtzen Lob-Reden und kurtzen Sitten-Lehren bebehielt W. bei, die charakterist. Kapitelüber- stehend (Amsterd.), die er revidiert – gemäß schriften übernahm er jedoch nicht u. folgte Nicolas Boileaus Anweisung: »Polissez-le auch nicht genau der Abschnittsgliederung. sans cesse, et le repolissez« (L’Art poétique, Anders als Walther übernahm er jedoch die 1674, Chant I) – u. jeweils stark vermehrt in Prosavorrede der Vita u. zog viele ihrer ge- Hamburg 1701 u. 1704 neu herausbrachte; danach hat er nichts mehr veröffentlicht. 1708 erfolgte endlich W.s Berufung zum dän.

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Kanzleirat am frz. Königshof. 1724 zurückberufen, starb er von Krankheit u. Armut gebrochen. Außer mit vier Eklogen u. einem komischen Heldengedicht ist W. nur als Epigrammatiker hervorgetreten. Die Ausgabe von 1704 (u. d. T. Poetischer Versuch, in einem Helden-Gedicht [...]. Hbg.) umfasst ein Korpus von 615 »Uberschrifften«, auf zehn Bücher verteilt u. zum Teil mit ausführl. Annotationen versehen. Diese – statt Gelehrsamkeit hervorzukehren, um kritisch-rationale Durchleuchtung des eigenen literar. Standorts bemüht – verwirklichen ein frühaufklärerisches Literaturprogramm, das sich auch im Abbau von preziös-hermet. Barockmetaphorik u. »weithergesuchtem Witz« zugunsten einer an den Kategorien Natürlichkeit, Klarheit, Angemessenheit ausgerichteten Bildersprache bekundet, damit zgl. in der Abwendung vom feudal eingebundenen Gelehrtenstand als Zielpublikum hin zu einer breiteren bürgerl. Bildungsschicht. Entsprechend prominent in W.s Œuvre vertreten, neben dem unerlässl. traditionell epigrammat. Themen- u. Typenkatalog, sind daher die Themenfelder Hof- (etwa: »daß itzund der Verdienst / Gering ist oder bei Geringen«) u. Literaturkritik. Seine in dieser zgl. personalsatir. Form gattungsgeschichtlich neuartige u. unerhörte Kritik am Schwulststil insbes. der Nachfolger der sog. Zweiten Schlesischen Schule sollte 1701 zu einer polem. Fehde mit Postel – auf ihn münzte W. auch sein in der Tradition des Drydenschen »mock-heroic poem« stehendes Helden-Gedicht, Hans Sachs genannt (Altona 1702) – u. Hunold führen (dessen W.s Elisionen parodierende Komödie Der thörichte Pritschmeister, oder schwermende Poete von 1704 den Streit beschloss). W. setzt der »gestirnten, balsamierten und vergüld’ten Redensart«, wie von Hoffmannswaldau u. Lohenstein überkommen, das Vorbild des frz. Klassizismus entgegen: eine allein vom »Bon sens«, von Vernunft u. Naturnachahmung geleitete Dichthaltung. Dabei sieht er die »nachdrückliche und Männliche Ahrt zu schreiben«, die er in der Vorrede zum ersten Buch der Uberschriffte postuliert, in den preuß. Hofdichtern Canitz

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u. Besser bereits zum Durchbruch gekommen. Indem sich W. auch auf sie beruft, wirkt er mit an einer nationalsprachl. Aufwertung des Deutschen. Seine der Gottschedschule vorgreifende Zurückweisung Bouhours’, der den Deutschen vorgehalten hatte, sie brächten keinen »Bel esprit« hervor, kommt bündig in der Persiflage auf das »je ne sais quoi« zum Ausdruck: »Wahr ist’s, er schreibt ich weiß nicht wie, / Doch auch ich weiß nicht was« (1/73). Zu Lebzeiten als Schriftsteller schon fast in Vergessenheit geraten, erfuhr W. 1749 durch die Neuausgabe des Poetischen Versuchs (Zürich) von Bodmer die verdiente Ehrenrettung als »deutscher Martial«, 1751 dann eine ausführl. Würdigung als bedeutender Vorläufer in Lessings Zerstreuten Anmerkungen über das Epigramm. Ausgaben: Epigramme. Hg. Rudolf Pechel. Bln. 1909. Nachdr. New York 1970. – Ausw. in: Das dt. Gedicht. 1600–1700. Hg. Christian Wagenknecht. Bd. 4, Gütersloh 1969, S. 340 f. – Schiffahrt des Lebens. Ausw. hg. v. Wolfgang Hartwig. Bln./DDR 1984. – Auswahl in: Gedichte des Barock. Hg. Ulrich Maché u. Volker Meid. Stgt. 2005, S. 307. – Überschrifften in zehn Büchern. Ausgew. Epigramme. In: Dt. Lyrik v. Luther bis Rilke. Ffm. 2005 (CD-ROM). – Uberschrifte oder Epigrammata in acht Büchern [...]. Hbg. 1701. Internet-Ed. in: HAB Wolfenbüttel (dünnhaupt digital). Literatur: Bibliografie: Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 6, S. 4268–4271. – Weitere Titel: Julius Elias: C. W. Mchn. 1888. – Erich Schmidt: C. W. In: ADB. – Rudolf Pechel: Prolegomena zu: C. W.s ›Epigramme‹. a. a. O., S. 1–108. – Dietrich Neufeld: W. u. die literar. Verssatire in der ersten Hälfte des 18. Jh. Diss. Jena 1922. – Max v. Waldberg: Eine dt.-frz. Literaturfehde. In: FS Friedrich Panzer. Heidelb. 1930, S. 87–116. – Paul Böckmann: Formgesch. der dt. Dichtung. Hbg. 1949, S. 492–496. – Manfred Windfuhr: Die barocke Bildlichkeit u. ihre Kritiker. Stgt. 1966. – Carl Diesch: C. W. In: Altpr. Biogr., Bd. 2, S. 794 f. – Hans G. Schwark: C. W. Dichter u. Diplomat aus Elbing. Bremerhaven 1974. – Peter Schwind: Schwulst-Stil [...]. Bonn 1977, S. 180–189. – Jutta Weisz: Das dt. Epigramm des 17. Jh. Stgt. 1979. – Manfred Beetz: Die kupierte Muse. Anmerkungen zu einem literaturkrit. Epigramm W.s. In: Gedichte u. Interpr.en. Hg. Karl Richter. Bd. 2, Stgt. 1983, S. 24–39. – Gunter E. Grimm: Lit. u. Gelehrtentum in Dtschld. Tüb. 1983, S. 524–546. – C. F. Weichmanns Poesie der

335 Nieder-Sachsen (1721–38). Nachweise u. Register. Hg. Christoph Perels u. a. Wolfenb. 1983, S. 188 f. – Theodor Verweyen: W. In: Dt. Dichter. Hg. G. E. Grimm u. a. Bd. 2, Stgt. 1989 (durchges. Ausg. 2000), S. 428–435. – Thomas Althaus: Epigrammat. Barock. Bln./New York 1996. – Sieglinde Adler: Literar. Formen polit. Philosophie. Das Epigramm des 17. u. 18. Jh. Würzb. 1998. – Heinz Rölleke: ›Im Deutschen lügt man‹. Ein ›Faust‹Splitter. In: WW 48 (1998), S. 1 f. – Estermann/ Bürger, Tl. 2, S. 1441. – Friedrich Sengle: Aufklärung u. Rokoko in der dt. Lit. Mit einer Nachbemerkung v. Manfred Windfuhr. Hg. Sabine Bierwirth. Heidelb. 2005. – Stephan Kraft: Hohe Zeit des Pasquillanten. Christian Friedrich Hunolds Komödie ›Der Thörichte Pritschmeister‹ u. der sog. Hamburger Stilstreit (C. F. Hunold, C. W.). In: Menantes, ein Dichterleben zwischen Barock u. Aufklärung. Hg. Cornelia Hobohm. Bucha bei Jena 2006, S. 108–137. Arno Matschiner / Red.

Werthes

622–631, S. 43) attackierte, u. Übersetzer Oscar Wildes (Ziele u. Der Sozialismus der Seele. Beide ebd. 1907) wurde 1919 mit dem Bauernfeld-Preis, für die Komödie Stadtpark (ebd. 1929) mit dem Volkstheaterpreis ausgezeichnet. Weitere Werke: Gedichte. Lpz. 1896. – Neue Gedichte. Mchn. 1904. – Die Frau des Raja. Wien 1906 (D.). – Wenn zwei dasselbe tun. Vier Einakter. Bln. 1909. – Im Land der Torheit. Neue Verse. Wien 1910. – Joujou u. a. lustige Gesch.n. Ebd. 1912. – Die Frau Rat. Ebd. 1920 (Kom.). – Sommerhaidenweg. Ebd. 1921 (L.). – Brüder im Geiste. Ein Kulturbilderbuch. Ebd. 1923. – Menschen v. heute. Ebd. 1923. Urauff. Dt. Volkstheater Wien 1924 (Schausp.). – Der Triumphzug des Eros. Ebd. 1926 (L.). – Plakate. Heitere Gesch.n v. Dingen, Tieren u. Menschen. Ebd. 1929. – Respektlose Gesch.n. Ebd. 1929. – Welt- u. Weiberspiegel. Ebd. 1931. – AltWiener Theater. Schilderungen v. Zeitgenossen. Hg. u. eingel. v. P. W. Ebd. 1920. Johann Sonnleitner

Wertheimer, Paul, auch: P. Franken, * 4.2.1874 Wien, † 19.3.1937 Wien. – Lyriker, Dramatiker, Erzähler; Journalist. Werthes, Friedrich August Clemens, * 12.10.1748 Buttenhausen/WürttemDer Kaufmannssohn W. besuchte gemeinsam berg, † 5.12.1817 Stuttgart. – Lyriker, mit Hugo von Hofmannsthal das AkademiDramatiker, Übersetzer. sche Gymnasium in Wien, studierte Jura in Wien u. Zürich (Dr. iur.) u. arbeitete als Advokat u. zgl. Feuilletonredakteur der »Neuen Freien Presse«. Mit Schnitzler u. Bahr befreundet, zählte er zu den Vertretern des Jung-Wien u. veröffentlichte in der Zeitschrift »Pan« u. in der »Neuen Presse« unzählige Gedichte, Theater- u. Literaturkritiken, von denen eine Auswahl in den Kritischen Miniaturen. Essais zur modernen Literatur (Wien 1912) erschien. Gängige Themen des Fin de siècle wie Todessehnsucht u. Lebensunfähigkeit des Großbürgertums u. der Aristokratie sowie lebensphilosophische Theoreme dominieren W.s erfolgreichste Novellensammlung Der Brand der Leidenschaften (ebd. 1914). Der Lyrikband Das war mein Wien. Verliebtes, Verspieltes, Verklungenes (ebd. 1920) evoziert in nostalg. Verbrämung falsche Idyllen u. Klischees aus dem Leben der Hauptstadt der untergegangenen Monarchie. »Der Advokat Paul Wertheimer, der vom Theater weniger versteht als eine Kuh von Jurisprudenz, während sie bestimmt bessere Lyrik macht«, wie Karl Kraus ihn in der »Fackel« (F.n

Der schwäb. Pastorensohn besuchte das Tübinger Stift, wo er 1767 den Magistergrad erwarb. Das Theologiestudium brach er ohne Abschluss 1770 ab. Auf seiner anschließenden Wanderschaft fand er gastfreundl. Aufnahme bei Christoph Martin Wieland in Erfurt. Wieland förderte W., indem er ihn an den Halberstädter Dichterkreis um Gleim vermittelte u. W.’ erste dichterische Publikation, die Hirtenlieder (Lpz. 1772), durch Beigabe eines Fragments des eigenen Epyllions Der verklagte Amor bereicherte (ebd., S. 135–216). Die Hirtenlieder zeigen, wie rasch sich W. die Rokoko-Anakreontik des Halberstädter Dichterkreises zu eigen gemacht hatte. Virtuos gebraucht W. das ankreont. Formen- u. Motivarsenal u. durchbricht zgl. kunstvoll immer wieder die schäferl. Illusion, etwa wenn er sich in dem Dichtergedicht an »H[errn Johann Georg] Jacobi« (ebd., S. 17–19) ein Idyll ausmalt, das Liebe u. Freundschaft verbindet, u. wenn er mit Philine »in Einer Hütte wohnte, | Und Wieland neben Gleimen thronte«. Eine Stelle

Werthes

als Hofmeister zweier Grafen aus dem Hause Lippe-Alverdissen, die ihn in Göttingen mit den Dichtern des Göttinger Hainbundes in Kontakt brachte, gab W. bald enttäuscht auf. Als Gast des schöngeistigen Zirkels der Brüder Jacobi in Düsseldorf lernte er Goethe kennen. Diese Begegnung stilisiert er in einem Brief an Friedrich Heinrich Jacobi vom 18.10.1774 zu einer ästhetischen Konversion (»meine Glaubenartikel«). Eine Schweizer Reise brachte ihn im Sommer 1774 in Verbindung mit den führenden Dichtern der Alpenrepublik, aber auch mit der Typographischen Gesellschaft in Bern. Dort veröffentlichte W. – neben diversen Übersetzungen aus dem Italienischen u. zwei Singspielen im Stile seines Vorbilds Rousseau, Orpheus (Bern 1775) u. Deucalion. Ein lyrisches Schauspiel (Bern 1777, wieder u. d. T. Deukalion und Pyrrha. Breslau/Lpz. 1779) – seine literarhistorisch bedeutende, fünfbändige Übersetzung der Theatralischen Werke von Carlo Gozzi (Bern 1777–79). Mit Erfolg propagierte W. Gozzi, den »Shakespear der Italiäner« u. die »wirkliche Revolution auf den [...] Theatern«, als dritten Weg zwischen dem frz. Klassizismus u. dem regellosen Sturm und Drang. Tatsächlich revolutionierten die tragikom. Theatermärchen mit der innovativen poetischen Autonomie, den »Bisarrerien« und der »Einmischung und Behülfe der Masken« (Bd. 1., Vorbericht) den zeitgenöss. Theatergeschmack in Deutschland u. antizipierten das romant. Theater. Da W. die theoret. Schriften Gozzis nicht übersetzte u. die Dramentexte eigenständig änderte, ist er, wie Rita Unfer Lukoschik zeigt, der eigentl. Urheber der so genannten ›Gozzischen Manier‹ in der dt. Literatur. Schiller griff bei seiner Turandot-Bearbeitung ebenso auf W.’ zurück wie die frühromant. Oper auf Die Frau eine Schlange (Nachdr. hg. von Julia Bohnengel u. Arnd Beise. St. Ingbert 2004). Auch zum Erfolg von Saverio Bettinellis zentraler Programmschrift der Spätaufklärung, Über den Enthusiasmus der schönen Künste (Bern 1778), trug W.’ eigenwillige Übersetzungstechnik maßgeblich bei. Umstritten ist in der Forschung L. Ariosts Rasender Roland (Bern 1778), W.’ Übersetzung der ersten acht Gesänge von Ariosts Orlando Furioso. Obwohl die Kritik des

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Ariost-Übersetzers Wilhelm Heinse vernichtend ausfiel (»Geradebrechtes Deutsch, verschraubter burleskierter Sinn, und genothzüchtigte Reime«, Brief an Gleim vom 21.1.1779), ist W. zugutezuhalten, dass er als erster eine versgetreue Stanzen-Übersetzung Ariosts vorgelegt hat. Die Anthologie Über die vorzüglichsten italiänischen Dichter des 17. Jahrhunderts (Bern 1780, wieder Heidelb./Lpz. 1781), Frucht einer Italienreise (1777/78), erschloss dem dt. Publikum erstmals die ital. Barockdichtung. 1781 kehrte W. aus der Schweiz nach Deutschland zurück, um eine Professur der ital. Sprache an der Hohen Karlsschule in Stuttgart anzutreten. Sein »Roman in Briefen«, die Begebenheiten Eduard Bomstons in Italien (Altenburg 1782), ist ein krit. Supplement zu Rousseaus Nouvelle Héloïse, dem die Figuren entnommen sind. In Briefen an Saint Preux schildert Eduard Bomston, wie er seiner Liebesleidenschaft für die Gräfin Malatesta entsagt, ohne seiner Leidenschaft zu Laura nachzugeben. W.s Übersiedlung nach Wien zeitigte zunächst keine Anstellung, bis er 1784 zum Professor der Schönen Wissenschaften an der von Kaiser Joseph II. reformierten Universität Pest ernannt wurde. Dieser produktiven Lebens- u. Werkphase entstammen das Blankversdrama Rudolph von Habspurg (Wien 1785. Neuaufl. 1786), das den Sieg Rudolfs über König Ottokar von Böhmen darstellt, sowie das in Prosa verfasste »Historische Trauerspiel« Niklas Zrini oder die Belagerung von Sigeth (Wien 1790). Es lieferte das Modell für Theoder Körners Drama Zriny. Bereits 1790 übersetzte Stefan Csépán von Györgyfalu W.’ Stück ins Ungarische, am 20.8.1793 wurde es in Ofen uraufgeführt. Da W. nach dem Tod Josephs II. wohl keinen Rückhalt mehr im Pester Lehrkörper hatte, resignierte er 1791, um eine Hauslehrerstelle in Petersburg anzutreten. Es fehlen genauere biogr. Daten, bis W. 1797 »nach einer langwierigen Pilgrimschaft« (Brief vom 3.9.1799) nach Deutschland zurückkehrte. Seit 1800 lebte er zunächst als Privatmann in Stuttgart, bevor er die Leitung des »Württembergischen Regierungsblattes« übernahm u. zum württembergischen Hofrat ernannt wurde. In der »Zueignung« seines

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»Trauerspiels« Conradin von Schwaben (Tüb. 1800. Grätz [Graz] 1800) dankte er noch einmal seinem großen Förderer Wieland. Kurz vor seinem Tod feierte W. in unzeitgemäßen Kleinepen Sieben Heroen in sieben Gesängen (Augsb. 1816): Gegen den militärischen Heldenkult der Befreiungskriege reklamiert W. hier einen zivil-irenischen Heroismus in Gestalten wie Las Casas, Galilei, William Penn u. Sokrates. Als einer der wichtigsten Vermittler der ital. Literatur im Deutschland des ausgehenden 18. Jh. ist W. erst in jüngster Zeit aufgewertet worden. Weitere Werke: Über den Atys des Katull. Münster 1774. – Lieder eines Mädchens [...]. Münster 1774. – Der rechtschaffne Unterthan. Ein russ. Schauspiel (nach Beaumont u. Fletcher). Stgt. 1783. – Rede bey dem Antritte des öffentl. Lehramts der schönen Wiss.en auf der Univ. v. Pest gehalten. Pest/Ofen 1784. – Das Pfauenfest. Stgt. 1800 (Singsp., Musik: J. R. Zumsteeg). – Hermione. Ebd. 1801 (Singsp.). Literatur: Johann Jakob Gradmann: Das gelehrte Schwaben. Tüb. 1802. – Wurzbach 54 (Werkverz.). – Max Mendheim: W. In: ADB. – Theodor Herold: F. A. C. W. u. die dt. ZrinyDramen. Biogr. u. quellenkrit. Forschungen. Münster 1898. – Rita Unfer Lukoschik: Der erste dt. Gozzi. Untersuchungen zu der Rezeption Carlo Gozzis in der dt. Spätaufklärung. Ffm. u. a. 1993. – Dies.: Rezeption ital. Lit. im Dtschld. der Spätaufklärung: F. A. C. W. (1748–1817). In: Gelehrsamkeit in Dtschld. u. Italien im 18. Jh. Hg. Giorgio Cusatelli u. a. Tüb. 1999, S. 111–126. – Bernhard Geiger: F. A. K. W.: ›Von sieben poetischen Teufeln besessen‹. In: Schwabenspiegel 2 (2003), S. 787–791. – Robert Seidel: Siegreiche Verlierer u. empfindsame Amazonen: F. A. C. W.’ Trauerspiel ›Niklas Zrini oder die Belagerung von Sigeth‹ (1790). In: Militia et Litterae. Die beiden Nikolaus Zrínyi u. Europa. Hg. Wilhelm Kühlmann u. Gábor Tüskés unter Mitarb. v. S. Bene. Tüb. 2009, S. 258–273. Achim Aurnhammer

Wesenbeck, Matthaeus, * 23.10.1531 Antwerpen, † 5.6.1586 Wittenberg. – Jurist. Als Sohn wohlhabender Eltern geboren u. früh durch seine ungewöhnl. Begabung aufgefallen, begann W. ein Studium der Rechte an der Universität Löwen, insbes. bei Gabriel Mudaeus (1500–1560), u. erwarb bereits mit 19 Jahren den Grad des Lizentiaten. Es folg-

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ten Studienreisen nach Frankreich, Italien u. Spanien. Wohl aufgrund der drohenden Verfolgung um seiner protestantischen Gesinnung willen ging er nach Deutschland, wo er 1557 einen Lehrauftrag an der neu gegründeten Universität Jena erhielt u. 1558 als Erster zum Dr. jur. promoviert wurde. 1569 folgte er einem Ruf an die Universität Wittenberg; einen Ruf an die Universität Heidelberg 1572 lehnte er hingegen ab. Bereits in Jena verursachte W.s Weigerung, das streng luth., gegen Melanchthon und seine Anhänger gerichtete Weimarer Konfutationsbuch von 1559 anzuerkennen, dauernde Konflikte u. Anfeindungen. Auch in Wittenberg gab es Probleme mit der luth. Geistlichkeit wegen W.s Ablehnung der luth. Lehre von der leibl. Realpräsenz Christi im Abendmahl. In der Leichenpredigt suchte der Generalsuperintendent Polykarp Leyser (1552–1610) diese zu nivellieren, indem er von einem späten Sinneswandel des berühmten Juristen berichtete. Schon die frühen Biografen berichten über eine tiefe Frömmigkeit W.s, tägl. Bibellektüre u. karitative Tätigkeit. Der Leipziger Ordinarius u. Kanzler Ulrich von Mordeisen (1519–1572) pries ihn als »Jurisperitorum christianissimum et Christianorum jurisperitissimum«. Die hohe Zahl der Nachdrucke seiner Schriften belegt deren erhebl. Wirkungsgeschichte im 17. Jh. (Bibliografie bei: Feenstra, S. 211–243, mit zahlreichen Korrekturen älterer Angaben). Neben einem Institutionenkommentar, der Oeconomia iuris (zuerst 1571), u. einem Traktat über das Feudalrecht (zuerst 1583) hat W. vor allem zwei außerordentlich wirkungsreiche Werke verfasst, die Consilia u. die Paratitla. Die Consilia waren der schriftl. Niederschlag einer umfassenden Gutachtertätigkeit; sie wurden im 17. Jh. vielfach für den Unterricht u. die Praxis genutzt. Zu Lebzeiten erschienen zwei Bände 1575 u. 1577, fünf weitere postum 1611, 1619 u. 1630. W.s Kommentar zu den Digesten, die vielfach erweiterten u. nachgedruckten Paratitla, hat eine überragende Bedeutung für das rechtswissenschaftl. Studium des 16. u. 17. Jh. erlangt. Eine erste Ausgabe erschien in Basel, eine vollständig autorisierte Ausgabe

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1566 ebenda. Ab der Ausgabe von 1575 Wesendonck, Mathilde, geb. Agnes Luwurde ein Kommentar zu einem Teil des ckemeyer, * 23.12.1828 Elberfeld, † 31.8. Codex hinzugefügt u. der Titel des Werks 1902 Traunsee/Salzkammergut; Grabgeändert. Seit 1593 fügte man dem Titel den stätte: Bonn, Alter Friedhof. – Erzählerin, Zusatz »olim Paratitla dicti« hinzu. Mehr als Lyrikerin. 50 Ausgaben dieses Werks wurden bis 1665 Die Tochter eines Kommerzienrats heiratete gedruckt, u. a. in Basel, Genf, Lyon, Köln, 1848 den Kaufmann Otto Wesendonck u. Frankfurt/M., Amsterdam, Padua, Antwerpen, Douai. An einigen Universitäten, wie z. vertauschte ihren eigenen Vornamen mit dem B. in Leiden, waren die Paratitla das von den seiner verstorbenen ersten Frau. 1852 lernten Studenten benutzte Standardlehrbuch. Auch die Wesendoncks Richard Wagner kennen; für einzelne herausragende Juristen wie 1857 boten sie ihm ein kleines »Asyl« neben Hugo Grotius lässt sich die Rezeption der dem Familienwohnsitz, dem »Grünen HüParatitla nachweisen (vgl. Feenstra, gel« in Zürich. Dort komponierte Wagner die S. 201–203). Im Sinne der humanistischen Musik für die fünf von W. gedichteten WeJurisprudenz nimmt W. von der Satz-für- sendonck-Lieder. W. war Vorbild der Isolde, ihr Satz-Kommentierung Abstand u. greift zur Mann für Pogner in den Meistersingern. WähDarstellung des juristischen Systems auf die rend des Kriegs 1870/71 war W.s Haus MitDialektik zurück, ohne jedoch – wie Christian telpunkt fast aller Deutschgesinnten; 1872 Thomasius meinte – die ramistische Methode zog das Paar nach Dresden, 1887 nach Berlin. in die Rechtswissenschaften eingeführt zu Gäste waren u. a. Brahms, Liszt u. C. F. Meyer. Die meisten Werke schrieb W. für Kinder; haben. Auch der Entstehungskontext des deshalb wurden viele urspr. anonym veröfRömischen Rechts u. seine ethische Dimenfentlicht. Erst 1869 erschien ihr Name auf sion werden angemessen berücksichtigt. einem Titelblatt. Von ihren Schauspielen Weitere Werke: Paratitla in Pandectarum iuris civilis libros quinquaginta ex praelectionibus wurde nur Alkestes (1881) auf der Bühne aufMatthaei Wesenbecii [...]. Basel [1563]. – In Pan- geführt. Sie übersetzte aus dem Griechischen dectas iuris civilis et Codicis Iustinianei lib. IIX u. Französischen, auch Dante u. Walther von commentarii [...]. Basel 1575. – Tractatus et res- der Vogelweide. ponsa quae vulgo consilia iuris appellantur [...]. Basel 1575. Literatur: Polykarp Leyser: Eine Predigt uber der Leich des weiland Edlen, Ehrnuesten vnd Hochgelarten Herrn Matthaei W.s [...]. Wittenb. 1587. – Melchior Adam: Vitae Germanorum iureconsultorum et politicorum [...]. [Ffm.]/Heidelb. 1620, S. 270–276. – Roderich Stintzing: Gesch. der dt. Rechtswiss. 1. Tl., Mchn./Lpz. 1880. Reprint Aalen 1957, S. 351–366. – A. Ritter v. Eisenhart: M. W. In: ADB. – Heiner Lück: Ein Niederländer in Wittenberg. Der Jurist M. W. (1531–1586). In: Niederlande-Studien. Jb. 2 (1991), S. 199–209. – Robert Feenstra: M. W. (1531–1586) u. das römisch-holländ. Recht (mit einer Bibliogr. seiner jurist. Schriften). In: Wittenberg. Ein Zentrum europ. Rechtsgesch. u. Rechtskultur. Hg. Heiner Lück u. Heinrich de Wall. Köln/Weimar/ Wien 2006, 175–243. Christoph Strohm

Weitere Werke: Märchen u. Märchenspiele. Düsseld. 1864. – Naturmythen. Zürich 1865. – Gudrun. Ebd. 1868 (D.). – Das dt. Kinderbuch in Wort u. Bild. Stgt. 1869. – Patriotische Gedichte. 1870. – Friedrich der Große. Dramat. Bilder nach Franz Kugler. Bln. 1871. – Edith oder die Schlacht bei Hastings. Stgt. 1872 (Trauersp.). – Gedichte, Volksweisen, Legenden u. Sagen. Lpz. 1874. – Odysseus. Dramat. Gedicht. Dresden 1878. – Alte u. neue Kinderlieder, ges. u. gedichtet v. M. W. Bln. 1898. – Genovefa. o. J.(Trauersp.). Literatur: Julius Kapp (Hg.): Richard Wagner u. M. u. Otto W. Tagebuchbl. u. Briefe. Lpz. 1918. – Friedrich Wilhelm Bissing: M. W. die Frau u. die Dichterin. Im Anhang: Die Briefe C. F. Meyers an M. W. Wien 1942. – Joachim Bergfeld: Otto u. M. W.s Bedeutung für das Leben u. Schaffen Richard Wagners. Bayreuth 1968. – Martin Staehelin: Von den ›W.-Liedern‹ zum ›Tristan‹. In: Zu Richard Wagner. Hg. Helmut Loos u. Günther Massenkeil. Bonn 1984, S. 45–73. – Judith Cabaud: M. W. ou le rêve d’ Isolde. Arles 1990. – Werner Breig: Zur Überlieferung des Briefwechsels zwischen Richard Wagner u. M. W. In: Die Musikforsch. 51 (1998),

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339 S. 57–63. – Axel Langer u. Chris Walton: Minne, Muse u. Mäzen. Otto u. M. W. u. ihr Zürcher Künstlerzirkel. Zürich 2002. – Martha Schad: ›Meine erste u. einzige Liebe‹. Richard Wagner u. M. W. Mchn. 2002. – Heinz Rölleke: M. W. (1828–1902). Richard Wagners Muse als Märchendichterin. In: Aus dem Antiquariat 2005, 4, S. 272–275. – Jörg Aufenanger: Richard Wagner u. M. W.: eine Künstlerliebe. Düsseld. 2007. – John Deathridge: Rätselhafte Liaisons. Richard Wagner u. M. W. aus neuer Sicht. In: Kunstwerk der Zukunft. Richard Wagner u. Zürich (1849–1858) (Ausstellungskat.). Hg. Laurenz Lütteken. Zürich 2008, S. 97–119. Margaret Klopfle Devinney / Red.

Wessenberg, Ignaz Heinrich von, * 4.11. 1774 Dresden, † 9.8.1860 Konstanz. – Katholischer Theologe, Generalvikar u. kirchlicher Reformer, Dichter u. Kulturtheoretiker. Der Spross eines Breisgauer Adelsgeschlechtes studierte in Dillingen (seit 1792, dort Schüler Johann Michael Sailers), Würzburg (seit 1794) u. Wien (seit 1796), wurde erst 1812 zum Priester geweiht u. stieg bis zum Generalvikar (1802) in Konstanz unter Fürstprimas Karl Theodor von Dalberg, schließlich gegen alle Widerstände der vatikanischen Kurie zum ›Verweser‹ des Bistums Konstanz (1817–1827) auf. Was W. als ebenso berühmter wie umstrittener Reformtheologe u. Kirchenpolitiker versucht u. in zahlreichen Memoranden entworfen hat, gehört unter dem Namen ›Wessenberginianismus‹ zum histor. Wissensbestand u. wird zumeist im geistigen Gefolge des sog. Josephinismus u. Febronianismus angesiedelt: Maßnahmen der klerikalen Bildungserneuerung, Bemühungen um den deutschsprachigen Gottesdienst, weitläufige pastoraltheolog. Aktivitäten, schließlich die auch um Mischehe u. Zölibat kreisenden, den Gedanken einer dt. Nationalkirche fördernden Pläne u. Anträge. Sie brachten W. endgültig in Konflikt mit Rom u. besiegelten letzthin sein kirchenpolit. Scheitern, so dass er sich fortan (bis 1833) – an der Seite Johann Peter Hebels – auf seine Tätigkeit in der ersten Badischen Kammer beschränken musste. Mittlerweile gelten W.s

kirchenpolit. Reformen als wegweisend für das zweite Vatikanische Konzil. W.s Dichtungen entsprechen dem ästhetischen Habitus der meisten Autoren des dt. Südwestens, indem sie den empfindsam gewendeten u. christlich bestärkten Eudämonismus der Aufklärungsdichtung so gut wie nahtlos in die konservativ wirkende Formensprache u. manchmal resignative Mentalität der sog. Biedermeierpoesie überleiteten. Impliziert war bei W. der ständige Rückbezug auf das Formenspektrum der Antike (Epigramm, Elegie, Versepistel, erzählend-reflektierendes oder dialogisch gebautes Epyllion), der großen Versepik, aber auch der weltl. wie geistl. Liedpoesie der dt. Überlieferung. In beglaubigten Formkonventionen hielten sich erprobte Zuordnungen von Themen, Stillagen, Motiven u. Darstellungskonventionen. Wer die Elle des ›Fortschritts‹ an W.s üppige poetische Produktion legt, wird auf sie das Etikett des Epigonalen drücken. Solch plane Kategorisierung aber führt nicht zum Erkenntnisgewinn, sondern zur histor. Erkenntnisverweigerung. ›Epigonale‹ Dichtung, man denke an Waiblinger, Platen, Immermann u. viele andere, wollte gar nicht an formal ablesbaren Progressionsmarken emanzipativer Subjektivität gemessen werden, sondern in ihrem historisch sensibilisierten Spielraum der Zeitdeutung u. Selbstdarstellung erkannt sein. Deshalb präsentiert sich W.s Versdichtung auf weiten Strecken als reflektierte, oft melancholisch gefärbte ›Gedächtnis‹-Poesie eines ›ästhetischen Historismus‹. Zumal bei seinen Italienreisen suchte W. ideelle oder materielle Zeichen kultureller Erinnerung oder spiritueller Semantik, um an ihnen eigene Empfindungen u. gedankl. Positionen zu erkunden u. zu bestimmen. Das »Ewig-Schöne«, das sich, von W. oft genug in Schiller’schen Tönen hymnisch gepriesen u. als »Genius« personifiziert, in der Harmonie der Natur, im künstlerischen Artefakt, ja selbst noch in den Spuren seines histor. Schwindens u. in den Ruinen des Gewesenen als meditative Erinnerung u. somit auch als moralisch wirksamer Bewusstseinsgehalt konserviert, verstand sich als ästhetisches Korrelat einer Theologie, die Gott nicht

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ohne pantheisierende Beiklänge als »Geist« anrief. Die ästhetische Vermittlung des Göttlichen, des Guten u. des Schönen fungierte als gefühlshafte Basis einer Kulturfrömmigkeit, die sich postulativ als Menschheitsreligion, als Botschaft christlicher, erst im »Reich Gottes« vollendeter Humanisierung also, entfalten sollte. Diese um die Kraft der »Tugend« u. der »Wahrheit« kreisende, physikotheolog. Argumente u. Empfindungsgewissheiten, lichtmetaphor. Illuminationsfiguren u. Appelle der Praxis pietatis vereinigende Botschaft erlaubte, ja gebot es W. durchaus, seine pastoralen Pflichten auch als Dichter ernst zu nehmen u. in seiner kath. Liedpoesie abseits aller überkommenen konfessionellen Trennschärfe Gott als »der Geister Sonne« u. als Seelenfunken zu feiern, zgl. aber auch als richtende u. leitende Instanz der moralischen Verantwortung zu berufen: in Gedichten zum Festkreis des Kirchenjahres, zu etablierten heilsgeschichtl. oder katechetischen Sujets wie dem »Weltgericht«, in Hymnen u. Gebeten an Christus u. Maria, auch in geistl. Texten für »Volkschöre« nach dem Vorbild der Schweizer »Singvereine«. Die ausgebreitete Versdichtung W.s, die auch eine gekürzte Neubearbeitung der TrutzNachtigall F. Spees umfasste (Zürich 1802), lässt etwa folgende Gruppen erkennen (Zitate nach den Bänden der Sämmtlichen Dichtungen): 1. Empfindsame Naturlyrik, in der erprobte Sprechhaltungen u. allegorisierbare Darstellungsvorgänge (z.B. Der Mensch als Wanderer), dazu viele im lyr. Bildgedächtnis bewährte, fast emblematisch wirkende Natursymbole (z.B. Lerche, Nachtigall, Veilchen, Dorn u. Rose) die Versinnlichung u. Objektivierung von meist melancholisch gefärbten Gefühlskonstellationen u. Wunschfantasien (manchmal auch in pastoraler Topik) erlaubten. Es dominiert nicht der direkte autobiografisch-subjektive Bezug, sondern die Reflexion allgemeinerer Sinnzusammenhänge, nicht selten angelehnt an schöpfungstheologisch grundierte zykl. Strukturen (Tag- u. Jahreszeitenlyrik) oder in direkter Anrufung der »Natur« (IV, 269: An die Natur). 2. Reflektierende, teils gnomisch verdichtete oder pointiert auslaufende, teils didaktisch amplifizierte Versdichtung zu Fragen

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der religiösen u. säkularen Lebensorientierung, zumeist in der Engführung anthropolog. u. erkenntnistheoret. Problemzusammenhänge: etwa Der Mensch (II, 86), Die Freude (II, 115) oder Die Philosophien (II, 209), oft mit zeitkrit. Notierung wie Die neue Weisheit (II, 210 f.); fließend gestalten sich dabei die Übergänge zu explizit zeitgeschichtl. Kontroversen der Politik u. Kultur, die – manchmal an Pfeffel erinnernd – in Versepisteln (z.B. Ueber den Verfall der Sitten, 1799: II, 225 ff.), mehr noch aber in Sprossformen der moralischen, bisweilen allegorisch verschlüsselten oder satirisch gefärbten Verserzählung (mehr oder weniger typologisch abstrahiert), manchmal auch in Lehrdialogen abgehandelt werden. Nicht wenige dieser Poeme geben sich als Fragmente einer impliziten oder expliziten Theorie der Herrschaftspraxis, der Staatsformen u. der polit. Ideen (vgl. etwa II, 208: Der Streit über die Regierungsformen; II, 212: Die guten Fürsten; II, 218 ff.: Epigramme über die Radikalen, das wahre Freiheitsverständnis u. die »Demagogen«). Bisweilen offenbaren vergleichbare Texte auch W.s Position in literar. Fragen, wie etwa das Dialoggedicht über Romantiker und Klassiker (II, 220). 3. Manches dieser philosophischen, gegebenenfalls krit. Meditationspoesie konzentriert sich direkt auf zeitgeschichtl. Ereignisse u. Figuren, sei es in den überlieferten Genera der Kasual- u. Freundschaftsdichtung (darunter an Ittner u. Johann Georg Jacobi), sei es im Zuge öffentl. Meinungsbildung wie im Fall der Lieder u. Gedichte zur Befreiung Griechenlands, sei es in der problematisierenden oder memorierenden Darstellung großer zeitgeschichtl. Gestalten wie Napoleon. Eine beachtl. Gruppe der W.schen Lyrik (bes. IV, Fünftes Buch) thematisiert in kontemporaner Anteilnahme die Herausforderung der napoleonischen Expansion u. die Phasen der Befreiungskriege, gerade hier die appellativen Töne u. Mythen des älteren, von Klopstock überkommenen literar. Patriotismus reaktivierend – in Gedichten wie Deutsche Klagen (IV, 219–221), Mein Vaterland (IV, 222–225) u. Der gerechte Krieg. 1813 (IV, 230 f.) bis hin zu Die Friedensfeier (IV, 239 f.). 4. Unter dem Lemma des ›ästhetischen Historismus‹ lässt sich die topografisch-kul-

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turgeschichtliche, an Monumente, Reliquien, gegebenenfalls auch Ruinen, also an sichtbare Zeichen des Vergangenen anknüpfende u. Bildungswissen gefühlshaft aktivierende Erinnerungsdichtung einordnen. Sie umfasst gelegentlich auch Heimatlich-Regionales (etwa zu Badenweiler, II, 127 f., oder zum Freiburger Münster: V, 313 f.), konstituiert sich jedoch v. a. in einer touristisch exakten Reisedichtung von fast tagebuchartigem Zuschnitt, am besten zu beobachten in den beiden großen Zyklen der Italien- u. Romlyrik, die Antikes u. Christliches gleichermaßen poetisch wahrnahm u. imaginierte: Bd. 3, S. 3–141 (Blüthen aus Italien); Bd. 5, S. 221–271 (Bilder und Denkblätter aus Italien). Das im 19. Jh. kräftig weiterlebende, in bestimmten, eher aristokratischen Lesemilieus fest verankerte Versepos fand in W. einen prominenten Vertreter. Epische Dichtung in Romanform beobachtete er – wie übrigens auch manche protestantischen Theologen u. Moralisten – mit Misstrauen. Seine Denkschrift Über den sittlichen Einfluss der Romane (Konstanz 1826), offenbar in einem beachtl. Lektürefundus gegründet, erkennt den realistischen Illusionismus der zu Ehren kommenden Gattung, kritisiert in ihr jedoch ein Genre mangelnder ästhetischer Distanz, ja ein Medium der moralischen Gefährdung u. vor allem der Selbstentfremdung des Publikums jener niederen Schichten, deren literar. Konsum rein eskapistische oder kompensative Bedürfnisse erfüllt (dazu auch sein Vorschlag zu Mässigkeitsvereinen in Beziehung auf Unterhaltungsliteratur. 1839). W. beweist hier seine sensible Beobachtung der histor. Veränderung von Lektüregewohnheiten (narkotisierender Massenkonsum statt iterativer u. meditativer Lesepädagogik). Unter den vier großen Versepen W.s verdient der in Zürich 1812 vorgelegte Fenelon. Ein Gedicht in drei Gesängen (1834, III, 142–226) bes. Beachtung. Indem hier Ariost erwähnt u. Tassos Gerusalemme Liberata nicht nur motivisch zitiert, sondern auch in der achtzeiligen (wenn auch nicht zur Stanze zusammengezogenen) Strophenform als Gattungsmodell des modernen christl. Epos berufen wird, entsteht ein Werk mit intertextuellen Referenzen. Sie bestimmen die Darstellungsstra-

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tegie bereits in der Figur des Protagonisten. Mit François de Salignac de la Mothe-Fénelon (1651–1715), unter Ludwig XIV. Erzieher von dessen Enkel u. Verfasser des seit dem frühen 18. Jh. auch im deutschsprachigen Raum weit verbreiteten, gerade in der Adelspädagogik gern benutzten Romans über Die Abenteuer des Telemach (frz. 1699), hatte W. mitten in seiner kirchenpolit. Reformeuphorie offenbar ein Leit- u. Wunschbild seiner selbst gefunden. Fénelon, der moderne Pädagoge u. menschenfreundl. Schriftsteller, Fénelon, der vom Geist christl. Mäßigung u. vom Evangelium universaler Liebe durchdrungene Theologe in wichtiger polit. Position, Fénelon, der gegen die ›Laster‹ des Ancien Regime kämpfende u. von der röm. Kurie beargwöhnte Diplomat, auch der Fénelon, der, so wird man im Nachhinein ergänzen, ähnlich wie W. in vielen Punkten scheiterte, kurz: fast alle Facetten der Persönlichkeit Fénelons, mit dem sich übrigens in Colmar auch Pfeffel noch auf seinem Sterbebett beschäftigte, boten W. offenbar den Anreiz nicht nur der persönl. Identifikation, sondern auch – durch die Publikation des Epos – die Möglichkeit einer öffentlich wirksamen Verständigung über die histor. Motive des eigenen geistigen u. geistl. Wollens. So jedenfalls wurde das Werk auch verstanden. Nicht die Revolte findet hier ihr formtypolog. Äquivalent, sondern das durchaus aristokratische, vom platonischen Idealismus geprägte Weltbild eines literarisch ›dilettierenden‹ Kirchenpolitikers u. Reformers im ungebrochenen Traditionszusammenhang der älteren Adelskultur ebenso wie im Kraftfeld der kath. Aufklärung. Ausgaben: Sämmtl. Dichtungen. Bd. 1–7. Stgt./ Tüb. 1834–54. – I. H. v. W.: Unveröffentlichte Mss. u. Briefe. Hg. Kurt Aland. Bd. 1, Tl. 1. Autobiogr. Aufzeichnungen. Freib. i. Br. u. a. 1968. Bd. 2. Die Briefe Johann Philipps v. W. an seinen Bruder. Ebd. 1987. Bd. 3. Kleine Schr.en. Ebd. 1979. Bd. 4. Reisetagebücher. Ebd. 1970. – Ueber die Bildung v. Gewerbetreibenden Volksklassen überhaupt u. im Großherzogtum Baden insbesondere. Nachdr. der Ausg. Konstanz 1833. Vaduz 1987. – So versank die alte Herrlichkeit. Reisebilder u. Gedichte. Hg. Klaus Oettinger u. Helmut Weidhase. Konstanz 1988. – Briefausgaben: Ewald Reinhard: Der Briefw. des Grafen Karl Christian zu Bentzel-Sternau mit I.

Wessobrunner Gebet H. v. W. In: Ztschr. für die Gesch. des Oberrheins 94, N.F. 55 (1942), S. 202–265. – Ders.: Briefe des Konstanzer Generalvikars I. H. v. W. an den Grafen Ferdinand August v. Spiegel. In: ebd. 105, N.F. 66 (1957), S. 225–264. – Der Briefw. 1806–1848 zwischen I. H. v. W. u. Heinrich Zschokke. Bearb. Rudolf Herzog u. Othmar Pfyl. Basel 1990. – I. H. Reichsfreiherr v. W. Briefw. mit dem Luzerner Stadtpfarrer Thaddäus Müller in den Jahren 1801 bis 1821. Bearb. Manfred Weitlauff in Zusammenarbeit mit Markus Ries. 2 Bde., Basel 1994. Literatur: Werkverzeichnis (ca. 460 Titel): Kurt Aland: W.-Studien III. Das Schrifttum I. H. v. W.s. In: Ztschr. für die Gesch. des Oberrheins 105, N.F. 66 (1957), S. 475–511. – Goedeke 6 (1898), S. 358–363. – Weitere Titel: Josef Beck: I. H. v. W. Sein Leben u. Wirken. Freib. i. Br. 1862. – Wilhelm Martens: Verz. der Wessenbergischen Bücherslg. Konstanz 1894. – Hermann Baier: W.s Romreise. In: Ztschr. für die Gesch. des Oberrheins 79, N.F. 40 (1926), S. 207–235. – Konrad Gröber: H. I. [sic] Freiherr v. W. In. Freiburger Diözesan-Archiv N.F. 28 (1927), S. 362–509; N.F. 56 (1928), S. 294–435. – Alois Stiefvater: Das Konstanzer Pastoral-Archiv. Ein Beitr. zur kirchl. Reformbestrebung im Bistum Konstanz unter dem Generalvikar I. H. v. W. 1802–1827. Diss. Freib. i. Br. 1940. – Friedrich Popp: W. u. Johann Georg Jacobi. Ihre Beziehungen dargestellt an Hand des Briefwechsels. In: Freiburger Diözesan-Archiv 86 (1966), S. 444–465. – Wolfgang Müller: I. H. v. W. In: Kath. Theologen Dtschld.s im 19. Jh. Hg. Heinrich Ries u. Georg Schwaiger. Mchn. 1975, S. 196–203. – Johann Ulrich Schlegel: Die Beziehungen zwischen Johann Gaudenz v. Salis u. I. H. v. W. Diss. Zürich 1976. – Remigius Bäumer: Görres u. W. Zur Kritik v. Görres an den kirchenpolit. Vorstellungen W.s. In: Histor. Jb. 96 (1978), S. 123–147. – Ursula Speckamp: Vervollkommnung der Menschheit auf Gott hin durch das Schöne. I. H. v. W. als Literaturkritiker, Kunstsammler, Literaturtheoretiker, Dichter [...]. In: Freiburger Diözesan-Archiv 103 (1983), S. 207–244. – Karl-Heinz Braun (Hg.): Kirche u. Aufklärung. I. H.v. W. (1774–1860). Mchn./ Zürich 1989. – Wolfgang Müller: W. u. Vorderösterr. In: Vorderösterr. in der frühen Neuzeit. Hg. Hans Maier u. Volker Press. Sigmaringen 1989, S. 199–208. – Wilhelm Kühlmann: Dulder u. Heros. Tasso in der dt. Lyrik des 19. Jh. In: Torquato Tasso in Dtschld. Hg. Achim Aurnhammer. Bln./ New York 1995, S. 205–249, bes. S. 227 f., 244–249. – Werner Bänziger. Die Autobiographien v. Pestalozzi, Zschokke u. W. Aarau 1996, bes. S. 124–190. – Rüdiger v. Treskow: Jacobi – W. – Rotteck. Politische Meinungsbildung u. Öffent-

342 lichkeit im Umfeld der Freiburger Iris. In: Zwischen Josephinismus u. Frühliberalismus. Literar. Leben in Südbaden um 1800. Hg. A. Aurnhammer u. W. Kühlmann. Freib. i. Br. 2002, S. 317–329. – W. Kühlmann: Platonische Spätaufklärung u. postjosephinist. Klassizismus. I. H. v. W. u. sein poet. Werk. In: ebd., S. 347–366. – Ders.: Das Werk Friedrich Spees im Horizont der dt. Aufklärung [zuerst 2002]. In: Kühlmann (2006), S. 669–687, bes. S. 679–686. – Andreas Holzem: I. H. v. W. In: TRE (mit weiterer, bes. kirchengeschichtl. Lit.). – W. Kühlmann: Kunst, Liebe u. Glaube. Zu I. H. v. W.s Romlyrik. In: Zwischen Goethe u. Gregorovius. Hg. Ralf Georg Czapla. Würzb. 2009, S. 173–194. Wilhelm Kühlmann

Wessobrunner Gebet. – Althochdeutsches Stabreimgedicht mit anschließendem Prosagebet, um 800. Das W. G. mit dem vielleicht ältesten Stück christl. Stabreimpoesie in dt. Sprache ist ein einzigartiges Zeugnis aus den Anfängen schriftlich aufgezeichneter volkssprachiger Literatur. Seinen Namen hat es vom zeitweiligen Aufbewahrungsort der Handschrift im Kloster Wessobrunn (heute: München, Clm 22053). Der Kodex, eine Abschrift, die um 814 in der Augsburger Region entstand – über die Herkunft der Vorlage ist nichts bekannt –, besteht aus einer Sammlung von Exzerpten aus biblisch-exegetischen Texten in lat. Sprache, in die (fol. 65v-66r) u. d. T. De poeta (»über den Dichter«? »vom Schöpfer«?) das um 800 entstandene Gebet eingetragen ist. Die Sprache des W. G. ist bairisch; abweichende Sprachformen – wie z.B. unverschobenes »dat« – sind wohl weniger Relikte einer niederdt. oder angelsächs. Vorstufe als vielmehr Anzeichen für eine archaische Stilisierung des Gebets mit bewusstem Rückgriff auf gemeingerman. Formeln der Urzeitschilderung, wofür auch der Wortschatz mit archaischen Begriffen u. Formeln german. Dichtung spricht (vgl. z.B. die Eingangsformel »Dat gafregin ih« u. den Terminus »ufhimil« = »der obere Himmel«, die auch in der altengl. u. altsächs. Epik belegt sind). Die Benutzung der »Sternrune« im Text als Abkürzung für »ga-«, »-ga-« (bzw. »ka-«, »-ka-«) könnte auf das Alphabet des Traktats

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De inventione litterarum zurückgehen (Schwab 1972). Das W. G. besteht aus einem lückenhaft überlieferten Stabreimgedicht in neun Versen über die Situation vor der Schöpfung der Welt u. einem Gebet in kunstvoll rhythmisierter Prosa; durch diese Zweiteiligkeit hebt es sich von den anderen frühen ahd. Gebetstexten, die sich durchweg auf die Anrufung Gottes u. die Bitte an ihn beschränken, ab u. nähert sich der zweigliedrigen Form von Zauber- u. Segenssprüchen mit erzählender Einleitung u. magischer Formel. Im poetischen Teil behandelt der Dichter die Schöpfung der Welt »negativ« durch die Beschreibung der Elemente, die vor dem Schöpfungsakt nicht bestanden (vv. 1–6), um dann, die Reihe der Negationen durchbrechend, die Existenz Gottes vor allen anderen Wesen hervorzuheben (v. 7: »enti do was der eino almahtico cot«). Die Darstellung des der Schöpfung vorausgehenden Chaos in der Negation des Seienden findet sich nicht nur in der Bibel (Genesis 1,2; Psalm 89,2; Proverbia 8,22–8,29), sondern auch in germanischheidn. Dichtungen wie der nord. Völuspá (Str. 3); nach der Historia Francorum Gregors von Tours ist diese Vorstellung ein Topos fränk. Heidenmission. Der Dichter des W. G. könnte also bei der Gestaltung seines Einleitungsteils auf die Bibel u./oder auf german. Formeln der Urzeitschilderung zurückgegriffen haben; nicht auszuschließen ist, dass der Verfasser des Prosagebets im ersten Teil seiner Komposition den Beginn eines umfangreicheren, uns nicht erhaltenen Schöpfungsgedichts zitiert u. in der Funktion einer »Kulterzählung« (Haubrichs) dem eigentl. »Kultgebet« voranstellt. Das Aufgreifen heidnisch-german. Formelguts in einer deutlich christlich geprägten Dichtung braucht keine Invektive gegen germanisch-heidn. Kosmos- u. Naturvorstellungen (Gottzmann) zu sein; denkbar ist eher, ähnlich wie bei der Gestaltung von Segensformeln christl. Prägung nach dem Muster heidn. Zauberformeln, ein Fruchtbarmachen heimisch-german. Strukturen u. Vorstellungen im Rahmen der Missionierung german. Gebiete. Die Anrufung des allmächtigen Schöpfergottes zu Beginn des eigentl. Gebetsteils stellt die Verbindung zwischen

Wessobrunner Gebet

dem Einleitungsteil u. der Prädikation des Prosateils – einer Bitte um Glaubensstärke u. Widerstand gegen den Teufel – her; wörtliche Anknüpfungen an das Schöpfungsgedicht u. die Verbindung der beiden Teile durch Alliterationsreihen zeigen, dass das Prosagebet mit Blick auf das Stabreimgedicht geformt wurde, wobei offenbleiben muss, ob die beiden Teile auf einen einzigen Verfasser zurückgehen oder der Autor des Prosagedichts ein schon vorgefundenes Schöpfungsgedicht in eine kunstvolle Komposition integriert hat. Ausgaben: Elias v. Steinmeyer (Hg.): Die kleineren ahd. Sprachdenkmäler. Bln./Zürich 31971, S. 16 ff. – Walter Haug u. Benedikt Konrad Vollmann (Hg.): Frühe dt. Lit. u. lat. Lit. in Dtschld. 800–1150. Ffm. 1991, S. 48 f. (Text u. nhd. Übertragung), 1063–1068 (Kommentar). Literatur: Willy Krogmann: Die Mundart der Wessobrunner Schöpfung. In: Ztschr. für Mundartforsch. 13 (1937), S. 129–149. – Bernhard Bischoff: Paläographische Fragen dt. Denkmäler der Karolingerzeit. In: Frühmittelalterl. Studien 5 (1971), S. 101–134, hier S. 116. – Ute Schwab: Die Sternrune im W. G. Amsterd. 1972. – Peter F. Ganz: Die Zeilenaufteilung im W. G. In: FS Ingeborg Schröbler. Tüb. 1973, S. 39–51. – Norbert Voorwinden: Das W. G. In: Neoph. 59 (1975), S. 390–404. – J. Sidney Groseclose u. Brian O. Murdoch: Die ahd. poet. Denkmäler. Stgt. 1976, S. 45–48. – Ute Schwab: Preghiera di Wessobrunn. In: Dizionario Critico della Letteratura Tedesca. Hg. Sergio Lupi. Bd. 2, Turin 1976, S. 910–919 (Lit.). – Cyril Edwards: Tôhuwábóhû: The W. G. and its Analogues. In: Medium Aevum 53 (1984), S. 263–281. – Carola L. Gottzmann: Das W. G. Ein Zeugnis des Kulturumbruchs vom heidn. Germanentum zum Christentum. In: Althochdeutsch. Hg. Rolf Bergmann u. a. Bd. 1, Heidelb. 1987, S. 637–654. – Johannes A. Huismann: Das W. G. in seinem handschriftl. Kontext. In: ebd., S. 623–636. – U. Schwab: Zum ›W. G.‹: eine Vorstellung u. neue Lesungen. In: Romanobarbarica 10 (1988/89), S. 383–427. – C. Edwards u. Jennie Kiff-Hooper: Ego bonefacius scripsi? More Oblique Approaches to the Wessobrunn Prayer. In: ›mit regulu bithuungan‹. Hg. John L. Flood u. David N. Yeandle. Göpp. 1989, S. 94–122. – Hans Pörnbacher: ›Der eino almahtico cot‹. Gedanken zum ›W. G.‹. In: ›Uf der mâze pfat‹. FS Werner Hoffmann. Hg. Waltraud Fritsch-Rößler. Göpp. 1991, S. 19–29. – Wolfgang Haubrichs: Die Anfänge: Versuche volkssprachiger Schriftlichkeit im frühen MA (ca.

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700–1050/60) (Gesch. der dt. Lit. v. den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit, Bd. 1,1). Tüb. 21995, S. 243–245. – Hans-Hugo Steinhoff: W. G. In: VL. – Michael Gebhardt: Ahd. ›enteo ni uuenteo‹. Zum ›Wessobrunner Schöpfungsgedicht‹, Langzeile 6. In: Septuaginta quinque. FS Heinz Mettke. Hg. Jens Haustein u. a. Heidelb. 2000, S. 111–146. – Carlos Búa: ›ero – stein – liuhta‹. Überlegungen zum ›Wessobrunner Schöpfungsgedicht‹. In: PBB 125 (2003), S. 24–35. – Heinrich Tiefenbach: Wessobrunner Schöpfungsgesch. In: Reallexikon der german. Altertumskunde. Hg. Heinrich Beck u. a. Bd. 33, Bln./New York 22006, S. 513–516. Claudia Händl

Wessobrunner Predigten. – Bruchstücke von drei deutschen, vielleicht schon vor 1050 entstandenen Predigtsammlungen.

Denkmäler. Mit Konkordanzen u. Wortlisten auf einer CD. Hildesh./Zürich/New York 2009. Literatur: Karin Morvay u. Dagmar Grube: Bibliogr. der dt. Predigt des MA. Mchn. 1964, Nr. 4–6. – David R. McLintock: Ahd. Predigtslg.en A-C. In: VL. – Ulrich Montag: Neue Fragmente der W. P. In: Befund u. Deutung. Hg. Klaus Grubmüller u. a. Tüb. 1979, S. 228–239. – Hans-Ulrich Schmid: Ahd. u. frühmhd. Bearb.en lat. Predigten des ›Bairischen Homiliars‹. 2 Bde., Ffm. u. a. 1986. – Ernst Hellgardt: Die ›Wiener Notker‹-Hs. In: FS HansFriedrich Rosenfeld. Göpp. 1989, S. 47–67. – Gisela Vollmann-Profe: Wiederbeginn volkssprachiegr Schriftlichkeit im hohen MA [...] (= Gesch. der dt. Lit. v. den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit. Bd. 1. Tl. 2). Tüb. 21994, S. 45–47. – Jonathan Green: Medieval German Manuscript Fragments from the University of Illinois at Urbana-Champaign. ›Ahd. Predigtslg. C‹ [...]. In: ZfdA 133 (2004), S. 356–362, hier S. 356–358. – Elisabeth Wunderle u. Hans Ulrich Schmid: Ein neues Bruchstück der ›Ahd. Predigtslg. C‹. In: ZfdA 135 (2006), S. 164–172. – E. Wunderle: Cgm 5248. Die sog. ahd. Fragmente der Bayer. Staatsbibl. München. In: ZfdA 139 (2010), S. 197–221, bes. S. 208–213. Ernst Hellgardt / Red.

Die W. P. sind mit anderen volkssprachigen Prosastücken erbaul. Art in der um 1100 zu Wessobrunn/Obb. geschriebenen Handschrift des sog. Wiener Notker u. auf einigen, fragmentarisch erhaltenen Blättern überliefert, die der Handschrift später entfremdet wurden. Es handelt sich um themat. Sermone West, Arthur, eigent.: Arthur Rosenthal, u. um Perikopenhomilien. Die Predigten * 24.8.1922 Wien, † 16.8.2000 Wien. – übersetzen lat. Originale. Die weitgehend auf Dramatiker, Lyriker, Herausgeber. quellenkrit. Beobachtungen beruhende Un- Nach der Annexion Österreichs durch Hitterscheidung dreier Sammlungen A, B u. C lerdeutschland musste der 16-jährige Jude W. lässt sich nach neuerer Forschung für B u. C. den Besuch der Mittelschule abbrechen u. ins wohl nicht mehr aufrechterhalten. Die urspr. Exil gehen. In England arbeitete er in der Funktion der dt. Predigten ist kaum noch Lederbranche u. wurde 1940 als »enemy auszumachen. Im Überlieferungszusammen- alien« interniert, nach Australien verschickt hang des Psalters des Wiener Notker u. der ihm u. 1941 nach London zurückgebracht, wo der einverleibten weiteren Stücke tragen sie als Metallarbeiter sich als Jugendfunktionär der erbaul. Traktate zu der wahrscheinlich für die Freien Österreichischen Bewegung engagierweibl. Konversen Wessobrunns bestimmten te. 1943 trat er in die brit. Armee ein u. war an Sammlung bei, als deren geistige Herkunft der Landung der Alliierten in der Normandie sich Hirsau vermuten lässt. u. an den Kämpfen gegen das »Dritte Reich« Ausgaben: Karl Müllenhoff u. Wilhelm Scherer bis zum Waffenstillstand beteiligt. Für seinen (Hg.): Denkmäler dt. Poesie u. Prosa aus dem VIII.- Einakter Warum die Glocken von Sankt Johannis XII. Jh. Bln. 31892. Nachdr. Bln./Zürich 1954, Nr. läuteten erhielt er 1946 den ersten Preis im 86 (Kommentar). – Elias v. Steinmeyer (Hg.): Die Dramenwettbewerb der Alliierten Streitkräfkleineren ahd. Sprachdenkmäler. Bln. 1916. Nachte im Mittelmeerraum. dr. Bln./Zürich 1963, Nr. 30, 32, 33. – Evelyn Nach Österreich zurückgekehrt, arbeitete Scherabon Firchow unter Mitarb. v. Richard Hotchkiss (Hg.): Der Codex Vindobonensis 2681 aus der engagierte Antifaschist als Lektor u. dem bayer. Kloster Wessobrunn um 1100. Diplo- Fremdsprachenkorrektor im kommunistimatische Textausg. der Wiener Notker Psalmen, schen Wiener Globus-Verlag, übersetzte JuCantica, Wessobrunner Predigten u. katechet. gendbücher, aber auch moderne u. zeitge-

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Westenrieder

nöss. Lyrik (Yeats, Attila József, Ritsos, Car- Westenrieder, Lorenz von (seit 1813), denal) u. verfasste daneben zahlreiche kul- * 1.8.1748 München, † 15.3.1829 Münturpolit. Essays. Von 1967 bis 82 war er Kul- chen; Grabstätte: ebd., Alter Südlicher turredakteur der Tageszeitung »Volksstim- Friedhof. – Erzähler, Historiker, Publime«, dem Zentralorgan der KPÖ; bald nach zist. Beendigung dieser Tätigkeit gab er die Anthologie Linkes Wort für Österreich (Wien 1985) W., Sohn eines Getreidehändlers, besuchte heraus, ein literar. Mosaik, zu dem zahlreiche das Münchner Jesuitengymnasium, dann das damals junge Autoren beigetragen haben. Die theolog. Seminar in Freising u. wurde 1771 mit einem Vorwort von Erich Fried versehe- zum Priester geweiht. Kurze Zeit war er nen Gedichte Israelsprüche (ebd. 1980. 21997) Hofmeister, nach Aufbebung des Jesuitenorrufen zur Versöhnung zwischen Juden u. Pa- dens 1773 Weltgeistlicher u. Lehrer in lästinensern auf u. stellen das Unrecht der Landshut u. München (bis 1779). Nach ersten expansiven Politik Israels in einen histor. Schulreden, einem umstrittenen, schließlich Kontext, wobei sich die Opfer des Antisemi- konfiszierten aufklärerischen Katechismus tismus in Täter verwandeln. In Linkes Rechten. sowie Dramenversuchen publizierte W. anGedichte an und für Österreich (Wien 1988) onym fingierte, gesellschaftskrit. Briefe bairikämpft W. gegen die österr. Verdrängung der scher Denkungsart, und Sitten (o. O. [Mchn.] Mitschuld an den nazistischen Gräueln u. 1778) u. gab die bedeutendste Zeitschrift der gegen die histor. Bewusstlosigkeit. In dem Aufklärung in Kurbayern, »Baierische Beydarauf folgenden Lyrikband Austreibungen. träge zur schönen und nützlichen Litteratur« Sprüche wider die Angst (Wien 1991) übt er Re- (1779–1781), heraus. Darin erschienen pädaligionskritik u. vertritt den Standpunkt eines gog. u. philosophische Aufsätze, agrar- u. entschiedenen, doch keineswegs militanten sozialreformerische Artikel, Gedichte u., aus Atheismus. Der über einen langen Zeitraum der Feder W.s, Berichte über das Münchner entstandene, sukzessiv erweiterte Band Theater sowie satir. u. empfindsame ErzähMännlicher Akt (Wien 1984. Bln. 1999) wie- lungen u. Romane, darunter die erste Fasderum enthält eine repräsentative Auswahl sung von Leben des guten Jünglings Engelhof (2 von W.s formal vielfältiger Liebeslyrik. Seine Bde., Mchn. 1781/82). Neuhumanistische letzte Publikation war eine schmale Samm- Bildungsideale, Empfindsamkeit u. christlich lung von Limericks u. d. T. Im Zeitraffer (Wien kath. Gläubigkeit verbinden sich in dem Ro2000). man, vor dem Hintergrund autobiogr. Er1998 verlieh die Republik Österreich W. fahrungen, mit aufklärerischer, auf die Verdas Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst hältnisse in Kurbayern bezogener SozialkriI. Klasse. Bald nach seinem Tod erschien der tik. Zwar gibt es themat. u. formale Einflüsse Versuch einer Werkausgabe (Bln. 2002), bestevon Richardson, Gellert sowie Goethe (Werhend aus den Bänden Fährten der Zeit, Reimweh ther) u. Nicolai (Sebaldus Nothanker); doch sind und Liederkehr u. Private Protokolle. die Gestaltung u. die komplexe Form eigenWeitere Werke: Die große Selbstverständlichkeit. Wien 1955 (L.). – Frühling. Urauff. ebd. 1961 ständig. W., auch Verfasser von Schullehrbüchern u. (Schausp.). – Zeitzeichen. Wien 1997 (L.). seit 1780 Mitgl. der BücherzensurkommissiLiteratur: Fatma Girretz: Nähe u. Abstand des on, verlagerte mit dem Jahrbuch der MenschenMärchens vom Wünschen v. A. W. zum Volksmärchen. Diplomarbeit Wien 1994. – Silke Hassler: geschichte in Baiern (2 Tle., ebd. 1782/83) sein Über den Lyriker A. W. In: Illustrierte Neue Welt 99 Interesse, enttäuscht von der Trivialemp(1995), H. 5. Johann Sonnleitner / Christian Teissl findsamkeit u. dem Antiklerikalismus in der Literatur, auf die Geschichte, speziell die bayerische. Schon 1777 der Historischen Klasse der Münchner Akademie der Wissenschaften zugewählt (1779/80 war er in der Belletristischen Klasse), lenkte er als uner-

Westerhoff

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müdl. Anreger u. Wissenschaftsorganisator 1882 (Tagebücher u. Briefe). – Auszüge in: Bayer. Bibl. Bd. 3. Hg. Hans Pörnbacher. Mchn. 1990, deren Geschicke über Jahrzehnte. Hatte er sich anfangs um die kulturelle S. 529–557. Literatur: Maurus Gandershofer: ErinnerunÖffnung Kurbayerns durch die Popularisierung der »protestantischen« Aufklärungsli- gen an L. v. W. Mchn. 1830. – August Kluckhohn: teratur u. eine ausgedehnte Gelehrtenkom- Über L. v. W.s Leben u. Schr.en. Bamberg 1892. – Anton Grassl: W.s Briefw. mit einer Darstellung munikation verdient gemacht (intensive seiner inneren Entwicklung. Mchn. 1934. – AnKontakte u. a. zu Friedrich Heinrich Jacobi u. dreas Kraus: Die histor. Forsch. an der Churbayer. Christian Felix Weiße), so reduzierte sich W.s Akademie der Wiss.en 1759–1806. Ebd. 1959. – Eva Wirkungskreis bald wieder auf den bayerisch- D. Becker: Der dt. Roman um 1780. Stgt. 1964. – salzburgischen Raum. In den 1790er Jahren Rolf Wünnenberg: L. v. W. Tutzing 1982. – Ludwig sah er sich unter Karl Theodor isoliert, zeit- Hammermayer: Gesch. der Bayer. Akademie der weise sogar unterdrückt. Doch auch nach Wiss.en 1759–1807. Bd. 2, Mchn. 1983. – Wilhelm dem Tod des Kurfürsten hoffte W. vergeblich Haefs: Traditionalismus u. Patriotismus. L. W. als auf größeren polit. Einfluss u. öffentl. Aner- führender bayer. Historiker zwischen Aufklärung kennung, da er die zielstrebig von Montgelas u. Restauration. In: Vorwärts, vorwärts sollst du schauen [...]. Gesch., Politik u. Kunst unter Ludwig eingeleitete radikale Säkularisation ablehnte. I. Hg. Johannes Erichsen u. Uwe Puschner. Ebd. Seit 1811 setzte er sich für die Politik der 1986, S. 253–274. – Ders.: Aufklärung in AltbayRekatholisierung ein. ern. Leben, Werk u. Wirkung L. W.s. Ebd. 1992 (mit Zwischen 1782 u. 1828 publizierte W. ne- Bibliogr.). – Ders.: ›Praktisches Christentum‹. Reben einem Glossarium [...] zur bayerischen formkatholizismus in den Schr.en des altbayer. Geschichte (ebd. 1816) u. mehreren literar. Aufklärers L. W. In: Kath. Aufklärung – AufkläUtopien eine Fülle von historiografischen u. rung im kath. Dtschld. Hg. Harm Klueting. Hbg. geografisch-statistischen Werken; die wich- 1993, S. 271–301. – Wolfgang Albrecht: Zwischen tigsten sind: Beschreibung der churfürstlichen patrist. Spätaufklärung u. religiöser GegenaufkläHaupt- und Residenzstadt München (ebd. 1782. rung. L. W., der ›Praeceptor Bavariae‹. In: Ders.: Das Angenehme u. das Nützliche. Fallstudien zur Neudr. 1984. Digitalisat Mchn. 2010), Geliterar. Spätaufklärung in Dtschld. Tüb. 1997, schichte der baierischen Akademie der Wissen- S. 113–145. – Margit Ksoll-Marcon: L. v. W. In: schaften (2 Bde., ebd. 1784 u. 1807), Geschichte Bautz. – Raymond Heitz: L. v. W. et le théâtre. In: von Baiern, für die Jugend und das Volk (2 Bde., La volonté de comprendre. FS Roland Krebs. Hg. ebd. 1785), Beyträge zur vaterländischen Historie, Maurice Godé. Bern u. a. 2005, S. 55–74. Geographie, Statistik und Landwirthschaft (10 Wilhelm Haefs / Red. Bde., ebd. 1788–1812). Sein »Baierisch-Historischer Calender« (ab 1790 u. d. T. »HistoWesterhoff, Günter, * 26.3.1923 Essen. – rischer Calender«) war einer der erfolgErzähler, Lyriker. reichsten histor. Almanache der Goethezeit (22 Jahrgänge u. 2 Registerbde., ebd. Der gelernte Maschinenschlosser gehörte zu 1787–1815 u. 1816). W. war, trotz Schwächen den Gründungsmitgliedern der Dortmunder in der Methodik u. Systematik, ein geschick- Gruppe 61. In W.s in den 1960er Jahren entter u. wirkungsvoller Vermittler geschichtl. standenen Gedichten u. kleinen Prosatexten, Wissens. Mit allen Publikationen kämpfte er die teils selbstständig, teils in Anthologien als gemäßigter Aufklärer für die kulturelle erschienen, wird die Technik der Natur nicht Identität u. ein neues Selbstbewusstsein der als Gegensatz gegenübergestellt; vielmehr Altbayern. Er war der führende Historiker fasst W. den industrialisierten, entfremdeten Kurbayerns im ausgehenden 18. u. begin- Arbeitsprozess in Naturmetaphern. Die Manenden 19. Jh., darüber hinaus der wohl be- schinen werden als beseelte Dämonen bedeutendste literar. Aufklärer des kath. griffen, die den Menschen mit einer eigenen Identität konfrontieren u. ihn wie eine NaDeutschland. Ausgaben: Sämmtl. Werke. 32 Bde., Kempten turgewalt beherrschen. 1829–32 (unvollst.). – Aus dem handschriftl. Nachl. L. W.s. Hg. August Kluckhohn. 2 Abt.en, Mchn.

Weitere Werke: Gedichte u. Prosa. Recklinghausen 1966. – Vor Ort. Gedichte u. Erzählungen

347 eines Arbeiters. Oberhausen 1978. – Zwangsvereidigt. 21 Gesch.n. Münster 2005. – MomentWiederkehr. Arbeiterlyrik. Ebd. 2009. Literatur: Gruppe 61. Arbeiterlit. – Lit. der Arbeitswelt? Mchn. 1971. – Ulla Hahn: Lit. in der Aktion. Zur Entwicklung operativer Literaturformen in der BRD. Wiesb. 1978. – Jürgen Werth: Wie der Tango nach Mülheim kam. Über G. W. In: Mülheim a. d. Ruhr. Hg. Peter Grafe. Essen 1990, S. 284–289. Felix Seewöster / Red.

Westermann, Johann, * 1742 Hofgeismar, † 1784 Bremen. – Lyriker.

Westkirch

öffentlichte W. 1868 in München dessen Biografie, die auch heute nicht überholt u. noch immer nicht ersetzt ist (Neuausg. mit Ergänzungen. Hg. v. Hans Pörnbacher u. Wilfried Stroh. Amsterd. 1998). Die Welt des damals verkannten literar. Barock erschloss er auch in Aufsätzen u. a. über Johannes Kuen u. Prokop von Templin in den »Historischpolitischen Blättern für das katholische Deutschland« u. für die »Allgemeine Deutsche Biographie« sowie in einer Studie über das Jesuitendrama in München zur Zeit Maximilians I. (1864). Seine zweite vorbildl. Leistung ist die Chronik der Burg und des Marktes Tölz (Tölz 1871. 21893), die dritte seine Mitarbeit an der Statistischen Beschreibung des Erzbistums München-Freising (ab Bd. 2, 1880–84). Von den lyr. Gedichten W.s hat der Historische Verein von Rosenheim 1901 eine kleine Auswahl veröffentlicht.

Der Sohn eines reformierten Pastors studierte in Marburg Theologie, war einige Jahre als Schulrektor im ostfries. Leer tätig u. wechselte dann als Kandidat der reformierten Kirchen- u. Schulbehörde, des geistl. Ministeriums, nach Bremen. W. war es, der 1765 mit seiner Sammlung Literatur: Marcellus Stigloher: G. W. Eine Die Allerneuesten Sonetten [...] (Bremen) als erster Autor seit dem Barock u. offensichtlich, biogr. Skizze. Mchn. 1895. – Franz Seraph Rausch: um der allg. Verachtung der Sonettform zu Vortrag über das Leben u. die Werke G. W.s. Bad Tölz 1901. – Wilhelm Kühlmann: G. W. u. die seiner Zeit entgegenzutreten, wieder Sonette bayer. Balde-Rezeption des 19. Jh. Die Briefe W.s an drucken ließ, allerdings steife, anschauungs- Otto Voggenreiter (1872/73). In: Daphnis 23 (1994), ferne Gedichte in traditionellen Alexandri- 1, S. 85–108. – Hans Pörnbacher: G. W. nern, die sich nirgends über versifizierte (1836–1893). Ein Lebensbild. In: Ders., Wolfgang Wissenschaft, Mythologie (vor allem Ovid- Beitinger u. Wilfried Stroh: Jacobus Balde, sein Paraphrasen) u. christlich-aufklärerische Tu- Leben u. seine Werke (1604–1668). Amsterd. 1998, gendlehre erheben. Unbeirrt von abfälliger S. 73–81. Hans Pörnbacher / Red. Kritik, ließ W. bis 1780 (jeweils in Bremen) insg. 18 neue Folgen seiner Allerneuesten Sonetten drucken – nach Blanckenburgs Urteil Westkirch, Luise, * 8.7.1853 Amsterdam, »eine immer schlechter als die andere«. Für † 11.7.1941 München. – Erzählerin u. die später einsetzende Renaissance der Gat- Dramatikerin. tung (Bürger, August Wilhelm Schlegel) waDer erste Roman der Kaufmannstochter u. ren W.s Sonette ohne Bedeutung. späteren Lehrerin in Hannover erschien in Literatur: Heinrich Welti: Gesch. des Sonetts in der Familienzeitschrift »Daheim«. Erst 22der dt. Dichtung. Lpz. 1884, S. 143–147. jährig, erlebte W. die Aufführungen ihres Uta Schäfer-Richter Einakters Niemand kann seinem Schicksal entgehen u. ihres Trauerspiels Ein Familienzwist Westermayer, Georg, * 13.4.1836 Rosen(Buchfassung als Roman, Freib. i. Br. 1884). heim, † 17.12.1893 Feldkirchen bei Bad Der Ehrenpreis der »Wiener Allgemeinen Aibling. – Lyriker, Historiker; Priester. Zeitung«, der W. für ihre Novelle Der rote W., Sohn eines Kupferschmieds, studierte Schal zugesprochen wurde, führte zu ihrer Philosophie an der Universität in München u. Mitarbeit an den Zeitschriften »Nord und Theologie in Freising. 1860 zum Priester ge- Süd« u. »Deutsche Revue«. Als Autorin von etwa 50 Erzählwerken war weiht, war er in der Seelsorge tätig u. pflegte seine literar. Interessen weiter: Seit der W. über 60 Jahre schriftstellerisch tätig; ihre Gymnasialzeit mit Jacob Balde vertraut, ver- Werke fanden, gerade im »Dritten Reich«,

Weston

eine breite Leserschaft. Mit andauerndem Erfolg versuchte sie sich in mehreren Erzählgattungen: im Frauenroman (Aus dem Hexenkessel der Zeit. Frauenschuld und Frauengröße. Bln. 1894), in der Tendenzdichtung (zeitgenössischen Sozialproblemen gewidmet ist der Novellenband Rauch. Ebd. 1888), im (norddt.) Heimatroman (Los von der Scholle. Stgt. 1899. Die vom Rosenhof. Lpz. 1920. 81927) wie auch im Kriminalroman (Der Todfeind. Dresden 1912. Bln. 1940) u. im historischvaterländ. Roman. Eda Sagarra

Weston, Westonia, Elisabeth Johanna von, Elizabeth Jane, * 2.11.1582 London, † 23.11.1612 Prag. – Humanistische Dichterin.

348 Nachdr: Neo-Latin Woman Writers. E. J. W. and Bathsua Reginald (Makin). Ed. Donald Cheney. Aldershot 2000. – Collected Writings. Ed. and Transl. by Donald Cheney and Brenda M Housington. Toronto 2000. Literatur: Anton Rebhann: E. J. W. In: Mittheilungen des Vereines für Gesch. der Deutschen in Böhmen 33 (1894), S. 305–316. – Richard J. W. Evans: Rudolf II. [...]. Graz 1980 (engl. 1973), S. 105 u. ö. – Enchiridion renatae poesis Latinae in Bohemia et Moravia cultae. Bd. 5, Prag 1982, S. 470–477. – Jean M. Woods u. Maria Fürstenwald: Schriftstellerinnen, Künstlerinnen u. gelehrte Frauen des dt. Barock. Stgt. 1984, S. 131 f. – Erich Trunz: Pansophie u. Manierismus im Kreise Rudolfs II. In: Zeman 1, S. 865–986, bes. S. 926–929, 977 (mit Hinweisen auf tschech. Studien). – James W. Binns: Intellectual Culture in Elizabethan and Jacobean England. Leeds 1990, S. 110–114. – Wolfgang Schibel: Westonia poetria laureata: Rolle, Schicksal, Text. In: Lat. Lyrik der Frühen Neuzeit. Hg. Beate Czapla, Ralf Georg Czapla u. Robert Seidel. Tüb. 2003, S. 278–303. – Flood, Poets Laureate, Bd. 4, S. 2239–2244.

Schon in jungen Jahren gelangte W. über Frankreich nach Böhmen (bis 1597/98 Brüx, dann Prag). Ihr Stiefvater war Edward Kelley (1557–1597), einer der alchemisch bewegten Wilhelm Kühlmann Naturkundler, die im Umkreis Rudolphs II. zeitweise Rückhalt fanden. Nach Kelleys Tod (1597) kämpfte W. um ihr Erbe u. wurde da- Westphal, Georg Christian Erhard, * 1751 bei unterstützt von den gelehrten Freunden oder 1752 Quedlinburg, † 2.12.1808 Halu. dem Magnaten Peter Wok von Rosenberg. le. – Erzähler, Übersetzer. W. gehört mit ihrem Werk in den Umkreis des böhm. Späthumanismus. Sie galt als W., Sohn eines preuß. Steuerrats, studierte »miraculum« ihrer Zeit: kultiviert, im Besitz Theologie in Jena (ab 1768 oder 1769) u. Halle gelehrter Kenntnisse, mehrsprachig erzogen, (ab 1771). 1772 trat er eine Hofmeisterstelle auf der Höhe der internationalen lat. Dich- in Erfurt an, erwarb dort den Magistertitel, tung. Durch diese erwuchsen ihr auch nam- wurde 1775 Lehrer für Mathematik, Naturhafte auswärtige Freunde, darunter Joseph lehre u. dt. Stil am Gymnasium in QuedlinScaliger, Justus Lipsius u. Paul Schede Me- burg u. erhielt 1779 eine Pfarrstelle in Halblissus (Teilabdruck der Korrespondenz in den erstadt. 1785 ging er als Oberpfarrer u. Gedichtsammlungen). Auch mit Oswald Croll preuß. Inspektor der Diözese nach Halle, wo man ihn 1805 zum Konsistorialrat u. 1808 pflegte sie engeren Kontakt. W.s Lyrik umfasst neben zahlreichen Ka- zum Dr. der Theologie ernannte. Seine sualgedichten den damals gängigen For- Lehrtätigkeit hat sich in zahlreichen Predigmenkanon: bissige Epigramme, Episteln, ten (u. a. Predigten über einige Reden Jesu. DesOden, geistl. Elegien, äsopische Fabeln in sau/Lpz. 1783. Gedächtnißpredigt auf König Versen u. moralische Distichen. Immer wie- Friedrich II. Halle 1786) u. in naturkundl. der kommt Autobiografisches zur Sprache, Aufsätzen (in Zeitschriften der 1790er Jahre) etwa wenn W. ihr Schicksal mit dem exilier- niedergeschlagen. Nur in seiner Halberstädter Zeit war W. ten Ovid vergleicht. Schede Melissus verlieh literarisch tätig. Er übersetzte u. a. Des Titus ihr 1601 den poetischen Lorbeerkranz. Werke und Neuausgaben: Poemata. Ed. G. Livius aus Padua römische Geschichte (Bde. 3–6, Martinius à Baldhofen. Frankf./O. 1602. – Parthe- Lpz. 1779–85), verfasste nach dem Vorbild nicôn Liber I (–III) Prag o. J. [1608?]. Internet-Ed. von Theophrast u. La Bruyère Portraits (2 Bde., in: CAMENA (Abt. Poemata). Beide Slg.en im ebd. 1779 u. 1782), satir. Charakterbilder als

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»Fragment einer deutschen Sittengeschichte im 18. Jahrhundert« (Vorrede), entwarf mit Streifereien im Gebiete der Menschheit (ebd. 1782) Orientierung gebende Modellsituationen im Leben junger Menschen in Briefform u. veröffentlichte den Roman Wilhelm Edelwald die Geschichte eines verlohrnen Sohnes (ebd. 1780). Diese für den »Mittelstand« u. nicht für »Handwerksburschen, Bedienten und Kammermädgen« (Vorrede. Nachdr. Weber 1981) geschriebene Erzählung bezieht eine Mittelstellung zwischen dem Roman pragmat. Erzählform u. dem eines moralisierenden Pragmatismus. Einerseits versuchte W. den Vorgängen psycholog. Wahrscheinlichkeit zu geben, indem er die Handlung im Charakter des »Schwachheiten« (Unselbstständigkeit, Beeinflussbarkeit) zeigenden Helden verankerte. So entstand in Ansätzen, aber weniger deutlich als in Wezels Herrmann und Ulrike, ein Entwicklungsroman. Andererseits ließ W. den Helden sich in einer Welt bewegen, die allegorisch auf Reiche des Bösen u. Guten verengt erscheint. Das moralisch-didakt. Programm siegte über die Empirie, der Rhetor über den Poeten. Literatur: Eva D. Becker: Der dt. Roman um 1780. Stgt. 1964. – Texte zur Romantheorie II (1732–1780). Mit Anmerkungen, Nachw. u. Bibliogr. v. Ernst Weber. Mchn. 1981, S. 514–20, 602 f. – E. Weber u. Christine Mithal: Dt. Originalromane zwischen 1680 u. 1780. Eine Bibliogr. [...]. Bln. 1983. Ernst Weber

Westphalen, Christine Engel, geb. von Axen, auch: Angelika, * 8.12.1758 Hamburg, † 10.5.1840 bei Hamburg. – Lyrikerin, Dramatikerin. Die aus einer bedeutenden Hamburger Kaufmannsfamilie stammende W. zeigte schon in ihrer Kindheit literar. Neigungen. Diese wurden gefördert durch den Beichtvater ihrer Mutter, Christoph Christian Sturm, der selbst auch Gedichte verfasst hatte. Am 4.8.1785 heiratete sie den Hamburger Kaufmann u. späteren Senator Johann Ernst Friedrich Westphalen (1757–1833). Aus der Ehe gingen fünf Kinder hervor, von denen jedoch nur drei die Mutter überlebten. Unterstützt von ihrem Mann, führte W. einen

Westphalen

literar. Salon. Dort ging zum einen die geistig-gesellschaftl. Elite der Hansestadt ein u. aus. Dazu gehörten etwa der Jurist u. Dichter Gerhard Anton Hermann Gramberg, der Dichter u. Herausgeber literar. Zeitschriften Gerhard Anton von Halem sowie der Maler Johann Heinrich Wilhelm Tischbein u. der Pädagoge Johann Gottfried Gurlitt. Zum anderen war W.s Salon auch ein beliebter Treffpunkt frz. Emigranten, die in den Unruhen in Folge der Französischen Revolution ihre Heimat aus polit. Gründen verlassen mussten. So fand sich dort auch der spätere frz. König Louis Philippe ein. W. verfasste hauptsächlich Gedichte, von denen einige von einem der prominentesten Vertreter der norddt. Klassik, Andreas Romberg (1767–1821), vertont wurden. Ihre frühen Poesien publizierte W. zunächst unter dem Pseudonym »Angelika« in Halems »Irene« u. anderen Zeitschriften. 1809–1811 erschienen drei Gedichtbände, ein weiterer folgte 1815 (Gesänge der Zeit. Hbg.). Er war unter dem Eindruck ihrer Reise durch Deutschland u. die Schweiz entstanden, auf der sie ihren Mann 1812 begleitet hatte. Angeregt durch die von Frankreich ausgehenden polit. Ereignisse u. den seit Marats Ermordung 1792 auch in Deutschland verbreiteten Corday-Kult, verfasste auch W. ein Drama über Marats Mörderin (Charlotte Corday. Hbg. 1804). Im Stil einer klass. Tragödie zeigt sie darin die Titelfigur als autonome, aus polit. Überzeugung handelnde Heldin, die sich durch ihre Entschlossenheit über ihre männl. Zeitgenossen erhebt. Daher hat dieses Drama in neuerer Zeit nicht nur in der stoffgeschichtl. Forschung, sondern auch in den Gender Studies besondere Beachtung erfahren. Ihr zweites Drama, Petrarca (Hbg. 1806), wurde im Rahmen der jüngeren Petrarkismus-Forschung gewürdigt. Inspiriert von Goethes Torquato Tasso zeigt W. darin die »Disproportion des Talents mit dem Leben« auf, indem sie Petrarca als melancholisch Liebenden beschreibt, dem sein Dichterruhm aufgrund der unerfüllten Liebe zu seiner Muse Laura wertlos erscheint. W., die mit bedeutenden zeitgenöss. Dichtern wie etwa Johann Joachim Eschenburg u. Christoph Martin Wieland in Kontakt

Westphalen

stand, erlangte nicht nur als Dichterin u. Salonière eine gewisse Prominenz, sondern auch als Wohltäterin. So wurde sie 1815 von ihrer Heimatstadt mit einer Gedenkmünze für ihr karitatives Engagement geehrt. Von ihrer Bedeutung zeugen auch die Gemälde des ehemaligen frz. Hofmalers Laurent Mosnier aus dem Jahr 1800, das sie großformatig in repräsentativer Pose zeigt, u. von Wilhelm Tischbein (um 1815), das sie als bürgerlichgelehrte Dichterin darstellt. Weitere Werke: Gedichte. 2 Bde., Hbg. 1809. – Kleinere Gedichte, Denkmäler, Elegien u. Idyllen. Hbg. 1811. – Neuere Gedichte. Hbg. 1835. – Erbauungslieder. Hbg. 1835. Literatur: Carl Wilhelm Otto August Schindel: Die dt. Schriftstellerinnen des 19. Jh. 2. Theil, Lpz. 1825, S. 421–423. – Hamberger/Meusel 31 (1827), S. 520. – Max Mendheim: E. C. W. In: ADB. – Inge Stephan: ›Die erhab’ne Männin Corday‹. C. W.s Drama ›Charlotte Corday‹ (1804) u. der CordayKult am Ende des 18. Jh. In: ›Sie, u. nicht Wir‹. Die Frz. Revolution u. ihre Wirkung auf Norddeutschland. Bd. 1. Hg. Arno Herzig u.a. Hbg. 1989, S. 177–205. – Erika Süllwold: Charlotte Corday in Hamburg. C. W.s Drama v. 1804. In: Der Menschheit Hälfte blieb noch ohne Recht. Frauen u. die frz. Revolution. Hg. Helga Brandes. Wiesb. 1991, S. 88–112. – Katrin Korch: Der zweite Petrarkismus. Mainz 2000, bes. S. 291–305. – Carla Consolini: Dramma del femminile a confronto con la storia: Charlotte Corday di C. W. In: La questione romantica. Il dramma storico delle donne tra Rivoluzione e Restaurazione (Rivista interdisciplinare die Studi romantici; Num. 14, Primavera 2003), S. 87–94. – Stephanie Hilger: The murderess on stage: C. W.’s Charlotte Corday. In: Women and death. Hg. Clare Bielby. Rochester, NY 2010, S. 71–87. Katrin Korch

Westphalen, Joseph (Ernst Joseph Hubertus Randolph Graf) von, * 26.6.1945 Schwandorf. – Feuilletonist, Romancier. W. wuchs in München auf, wo er als politisch engagierter Student der 68er-Generation Germanistik u. Kunstgeschichte studierte. Nach seiner Promotion 1978 arbeitete er zunächst zwei Jahre bei der VG Wort u. war 1981–1986 Redakteur bei »Westermanns Monatsheften«. Seit 1987 lebt er als freier Schriftsteller in München.

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W.s in literar. Zeitschriften u. Kulturmagazinen veröffentlichte Glossen, Berichte, Kritiken u. Feuilletons erschienen 1989 gesammelt u. d. T. Moderne Zeiten – Blätter zur Pflege der Urteilskraft (2 Bde., Zürich). Grundtenor seiner pointierten kulturkrit. Texte, in denen er Lifestyle u. Weltpolitik harsch kritisiert, ist die Ironie eines notor. Freigeistes. Die Bände Warum ich Monarchist geworden bin (ebd. 1985) u. Warum ich trotzdem Seitensprünge mache (ebd. 1987) sind aufklärerische »Entrüstungen«. In Sinecure. Ein Gedicht von David Elphinstone, herausgegeben, kommentiert und mit einer Übersetzung versehen von Joseph von Westphalen (Mchn. 1989) parodiert W. die Germanistik sowie den literar. Kulturbetrieb. Mit einer Neuauflage (als »Entsorgungsdruck«) wurde dieses Buch 2008 Namensgeber für ein Künstlerstipendium im mecklenburgischen Landsdorf. Der 1987/88 im »ZeitMagazin« geführte Briefwechsel mit Monika Maron (Trotzdem herzliche Grüße. Ffm. 1989) ist als dt.-dt. Dialog konzipiert, in dem sich die Briefpartner jedoch als Vertreter zweier völlig verschiedener Kulturen erweisen. Die Vereinigung der beiden dt. Staaten kommentiert W. in der »vergeblichen« Streitschrift Von deutscher Bulimie (Mchn. 1990). Die Trilogie um die Figur des Diplomaten und späteren Möbelimporteurs Harry von Duckwitz (Im diplomatischen Dienst. Hbg. 1991. Das schöne Leben. Ebd. 1993. Die bösen Frauen. Ebd. 1996) setzt W.s Glossen u. krit. Alltagsbeobachtungen in Romanform fort. In der Medienkombination Wie man mit Jazz die Herzen der Frauen gewinnt (Zürich 1999), bestehend aus vier CDs mit umfangreichem Begleitbuch, verbindet W. Passagen der Duckwitz-Trilogie mit Jazzmusik der 1920er bis 1940er Jahre; weitere CD-Veröffentlichungen folgten (»Mehr Jazz!« Sagten die Frauen. 2 CDs. Ebd. 2000. Jazz macht Frauen Beine. 2 CDs. Ebd. 2002). Zentral bleiben für W. die kleineren Textsorten polemisch-satir. Zeitkritik. Gleichwohl legte er mit Warum mir das Jahr 2000 am Arsch vorbeigeht oder Das Zeitalter der Eidechse (Ffm. 1999), Der Liebessalat (Mchn. 2002) u. Die Memoiren meiner Frau (ebd. 2005) weitere Romane vor.

Wette

351 Weitere Werke: In den Tempeln der Badelust. Architektur einer Sinnlichkeit. Mit Fotos v. Gerhard Müller. Mchn./Luzern 1986 (Ess.). – Das dt. Militär. Mchn. 1989. – Mein Kosmos. Ebd. 1996 (CD-Rom). – Wie man seine Eltern erzieht. Mit Zeichnungen v. Johan Devrome. Mchn./Wien 1999. – So sind wir nicht! Elf dt. Eiertänze. Ffm. 2000 (Ess.). – Aus dem Leben eines Lohnschreibers. Gesch.n. Mchn. 2009. – Zur Phänomenologie des arbeitenden Weibes. Ffm. 2009. – Herausgeber: Die stillenden Väter (zus. mit Klaus Konjetzky). Mchn. 1983. – Profit. Die besten Gesch.n des MontblancLiteraturpreises. Ebd. 1991. – Umarmungen. Die besten Gesch.n [...]. Ebd. 1992. – Der Gipfel. Die besten Gesch.n [...]. Ebd. 1993. – Der Termin. Die besten Gesch.n [...]. Ebd. 1994. Literatur: Silke Wegner: ›Ein weinig zärtl. Techtelmechtel ...‹. Der Brief als Medium privater Kommunikation, Gegenstand der Veröffentlichung u. Mittel des Streits. Dargestellt am Beispiel des Briefwechsels zwischen Monika Maron u. J. v. W. Diss. Münster 1993. – Jan Strümpel: J. v. W. In: KLG. – Peter Stenberg: J. (Graf) v. W. In: LGL. Carola Samlowsky / André Kischel

Wette, Wilhelm Martin Leberecht de, * 12.1.1780 Ulla bei Weimar, † 16.6.1849 Basel. – Evangelischer Theologe. Der Pfarrerssohn besuchte das Gymnasium in Weimar, wo ihn Herder u. Schiller beeindruckten, u. studierte Theologie in Jena (Habilitation 1805). 1807 wurde er als Professor nach Heidelberg u. 1810 an die neu gegründete Universität Berlin berufen, wo er neben Schleiermacher wirkte, ehe er 1819 aufgrund eines Trostbriefs an die Mutter des KotzebueMörders Sand entlassen wurde. Erst 1822 erhielt er in Basel wieder einen Lehrstuhl. W. begann mit genialen Arbeiten zur histor. Kritik des AT, welche die Einsichten Julius Wellhausens z. T. vorwegnahmen (Beiträge zur Einleitung in das Alte Testament. 2 Bde., Halle 1806/1807. Neudr. Darmst. 1971). Später wurde er konservativer, doch trug er durch seine Lehrbücher zu allen Teilen der bibl. Wissenschaft u. namentlich durch sein Alterswerk, die Kommentierung des gesamten NT (Kurzgefaßtes exegetisches Handbuch zum Neuen Testament. 3 Hauptbde., Lpz. 1835–48), Wesentliches zu Ausbau u. Verbreitung der Bibelkritik bei. Seine Bibelübersetzung (Die Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments.

6 Bde., Heidelb. 1809–14. 3 Tle., 21831/32) erstrebt eine möglichst getreue Nachbildung des hebräisch-griech. Originals. Als theolog. Denker versuchte W. einen Brückenschlag zwischen Rationalismus u. Supranaturalismus oder zwischen Vernunft u. Offenbarung. Schon in jungen Jahren von frühromant. Ästhetik (Wackenroder) beeinflusst, schloss er sich später Jakob Heinrich Fries an u. legte dessen anthropolog. System von Wissen, Glauben u. (insbes.) Ahnung seiner eigenen Dogmatik zugrunde. Seine überaus vielfältige Produktion umfasst auch zwei didakt. Romane: Theodor oder des Zweiflers Weihe. Bildungsgeschichte eines evangelischen Geistlichen (2 Tle., Bln. 1822. 2 1828) u. Heinrich Melchthal oder Bildung und Gemeingeist (2 Tle., ebd. 1829). Weitere Werke: Commentar über die Psalmen. Heidelb. 1811. – Lehrbuch der christl. Dogmatik. 2 Bde., Bln. 1813–18. 31831–40. – Über Religion u. Theologie. Ebd. 1815. – Lehrbuch der histor.-krit. Einl. in die Bibel Alten u. Neuen Testaments. 2 Bde., ebd. 1817–26. 51845–48. – Christl. Sittenlehre. 4 Bde., ebd. 1819–23. – Das Wesen des christl. Glaubens vom Standpunkt des Glaubens. Basel 1846. – Herausgeber: Aktenslg. über die Entlassung des Prof. D. d. W. vom theolog. Lehramt zu Berlin. Lpz. 1820. – Dr. Martin Luthers Briefe, Sendschreiben u. Bedenken. 5 Bde., Bln. 1825–28. Literatur: Karl Rudolf Hagenbach: W. M. L. d. W. Eine akadem. Gedächtnißrede. Lpz. 1850. – Ernst Staehelin: Dewettiana. Basel 1956. – Paul Handschin: W. M. L. d. W. als Prediger u. Schriftsteller. Basel 1958. – Rudolf Smend: W. M. L. d. W.s Arbeit am AT u. am NT. Ebd. 1958. – Friedrich Wilhelm Bautz: W. M. L. d. W. In: Bautz. – Jan Rohls: W. In: Profile des neuzeitl. Protestantismus 1. Gütersloh 1990, S. 233–250. – John Rogerson: W. M. L. d. W., Founder of Modern Biblical Scholarship. Sheffield 1992.– Markus Buntfuß: Das Christentum als ästhet. Religion: W. M. L. d. W. In: Vermittlungstheologie als Christentumstheorie. Hg. Christian Albrecht u. Friedemann Voigt. Hann. 2001, S. 67–103. – Hans-Peter Mathys (Hg.): W. M. L. d. W. Ein Universaltheologe des 19. Jh. Basel 2001. – Paul Saupe: Geboren vor 225 Jahren in Ulla bei Weimar: der Theologe W. M. L. d. W. In: Palmbaum 11 (2003), 1/2, S. 162–167. Rudolf Smend / Red.

Wetter

Wetter, Josua, * 26.11.1622 St. Gallen, † 18.7.1656 St. Gallen. – Dramatiker.

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umfasst u. von Instrumentalmusik begleitet wird. Mit den Knittelversen der Soldaten u. der Reihung von zwölf »Handlungen« knüpft es noch an das eidgenöss. Drama des 16. Jh. an, während die Alexandrinerverse der Offiziere u. Standespersonen dem Opitzschen Stilmuster entsprechen. – 1654 folgte das kürzere, streng gebaute Römerdrama in fünf Akten Denckwürdiges Gefecht Der Horatier und Curiatier, ein republikan. Gegenstück zu Pierre Corneilles Horace, das der Staatsräson Vorrang vor privaten menschl. Bindungen einräumt. Stilistisch nähert sich W. hier z.T. dem Leo Armenius von Andreas Gryphius. Ein allegor. Prolog in Form eines Gerichtsspiels verteidigt das polit. Schauspiel gegen die Vorwürfe der reformierten Geistlichkeit, verwirft religiöse Spiele u. verurteilt theatral. Prunk, was deutlich gegen das Jesuitentheater u. die pompösen Heiligenspiele des Fürstabts von St. Gallen gerichtet ist. – Beide Dramen erschienen erst postum 1663 in Basel. Die von W. begründete Tradition öffentl. Theaterspiels der jungen Burgerschaft gipfelte nach seinem Tod in den Aufführungen von Gryphius’ Leo Armenius (1666) u. Papinian (1680).

W. stammte aus einer Gelehrtenfamilie der reformierten Stadt St. Gallen. Er studierte seit 1638 in Basel, erwarb dort 1642 den Titel eines Magister artium u. schrieb sich danach an der Juristischen Fakultät in Straßburg ein. Er war Hausgenosse Samuel Gloners. Vermutlich lernte er auch Isaac Clauß, den reformierten Glaubensgenossen u. Übersetzer Corneilles und weiterer frz. Literatur, kennen. Wann er den Titel eines kaiserlich privilegierten Notars, den er später führte, erwarb, ist ungewiss. 1646 trat er in die St. Galler Kanzlei ein. W. ist es v. a. zu danken, dass seine Heimatstadt in bewusstem Wettbewerb mit dem Fürstabt von St. Gallen das Theaterspiel pflegte. Schon sein Vater, der Schulrektor David Wetter, hatte es in der Schrift Discursus, exhibens tres sermones de comoediis (Basel 1629) verteidigt, während sonst fast überall in der reformierten Schweiz die Geistlichkeit das Schauspiel unterdrückte. Schon in der Basler Studienzeit wandte sich W. der späthumanistischen Gelegenheitsdichtung in lat. Sprache zu; in Straßburg schloss er sich dann mit einer kurzen poetiAusgabe: Karl v. Burgund. Denkwürdiges Geschen Chronik u. Stadtbeschreibung der dt. fecht der Horatier u. Curiatier. Hg. u. mit einem Barockdichtung an (Kurtze und einfältige Be- Nachw. versehen v. Hellmut Thomke. Bern/Stgt. schreibung Der Statt Sanct-Gallen. Straßb. 1642. 1980. Faks.-Nachdr. St. Gallen 1948. Nachdr. Literatur: Hellmut Thomke: J. W. u. sein Whitefish, Montana 2009). Er bearbeitete Straßburger Kostherr Samuel Gloner. In: Wolfendarin die lat. Sangallas seines Vaters u. über- bütteler Beiträge 4 (1981), S. 205–233. – Walter E. trug sie in Alexandriner; unter dem Eindruck Schäfer: Dt. Lit. zur Zeit des Barock. In: St. Gallen. des elsäss. Sprachpatriotismus stimmte er das Geschichte einer literar. Kultur. Hg. Werner WunLob der »teutschen Mutterspraach« an u. derlich. St. Gallen 1999. Bd. 1 Darstellung, S. 329–370; Bd. 2 Quellen, S. 329–350. bekannte sich zur gemeindt. LiteraturspraHellmut Thomke che, in der Absicht, Gelehrsamkeit zum Gemeingut aller Mitbürger zu machen. Als Vorbilder nannte er Rist, Zacharias Lund u. Wettstein, Johann Jakob, * 16.3.1693 Basel, † 24.3.1754 Amsterdam. – EvangeliOpitz. scher Theologe. W. ist der einzige hervorragende Dramatiker der reformierten Schweiz im Barockzeit- Der Pfarrerssohn studierte 1709–1713 Klasalter. In St. Gallen entstanden zwei bedeu- sische Philologie u. Theologie in Basel, u. a. tende Dramen, die er mit Hilfe der jungen bei Samuel Werenfels. Seine Dissertation De Burgerschaft zur Aufführung brachte. 1653 variis lectionibus Novi Testamenti (Präses: Jowurde das »trawrig Frewdenspil« Deß wey- hann Ludwig Frey. Basel 1713), mit der er den land Großmächtigen und Großmüthigen Hertzogen Doktorgrad erwarb, war ihm schicksalhaft / Carle von Burgund / etc. unglücklich geführte für Wissenschaft u. weiteres Leben Krieg gegeben, das 80 Rollen u. zwei Chöre (1714–1716 Bibliotheksreisen, 1716/17 Feld-

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prediger, 1717 Hilfspfarrer, ab 1720 Pfarrer Göttinger Projekt ›Neuer Wettstein‹. In: Ztschr. für in Basel). Textkritische Arbeit am NT wurde die neutestamentl. Wiss. 83 (1992), S. 245–252. – W. konsequent Motor einer radikalen Kritik Pieter Willem van der Horst: J. J. W. nach 300 am orthodoxen Schriftverständnis. Harte Jahren. Erbe u. Auftrag. In: Theolog. Ztschr. 49 (1993), S. 267–281. – Hans J. Klauck: W., alt u. neu. Auseinandersetzungen mit den Kirchen- u. Zur Neuausg. eines Standardwerks. In: Bibl. Stadtbehörden (1729–1733) brachten ihm Ztschr. 41 (1997), S. 89–95. – U. Schnelle: J. J. W. 1730 Entzug von Pfarramt u. Dozentur in In: TRE. Otto Merk / Red. Basel. Seine Einsichten in die Textkritik u. die daraus folgenden hermeneut. Konsequenzen (u. a. Aufgabe der Lehre von der Wetzel, Friedrich Gottlob, auch: TheoVerbalinspiration des Bibeltextes) liegen zuphrast, Ysthamarus u. a., * 14.9.1779 nächst vor in den Prolegomena ad Novi TestaBautzen, † 27.7.1819 Bamberg. – Erzähmenti Graeci editionem (Amsterd. 1730). Sie ler, Dramatiker, Lyriker, Publizist. wurden im Amsterdamer Exil während W.s Tätigkeit am Remonstrantenseminar von W., Sohn eines Tuchmachers, studierte nach 1733 an weitergeführt in dem bis heute Besuch des Bautzener Gymnasiums in Leipgrundlegenden Werk Novum Testamentum zig Medizin; 1801 wechselte er an die UniGraecum (2 Bde., ebd. 1751/52). Sammlung versität Jena, wo er Schelling hörte. Sein von zu vergleichendem religionsgeschichtl. Studium verdiente sich W. als Romanskribent Material, Methodik u. erstmals durchge- u. Verfasser von Gelegenheitslyrik; 1802 erführte, noch gegenwärtig geltende Kenn- schien als erstes Werk unter seinem Namen zeichnung der textkrit. Zeugen verbinden die antiakadem. Satire Kleon, der letzte Grieche, sich mit dem Grundsatz, dass Textkritik oder der Bund der Mainotten (Ronneburg/Lpz.), Wegbereiterin der Interpretation u. damit ein romant. Abenteuerroman im philhellikrit. Schriftauslegung ist, die neutestamentl. nistischen Zeitgeschmack. Es folgten Jahre Autoren aus ihrer Zeit heraus zu verstehen eines unsteten Wanderlebens, das ihn durch lehrt. ganz Sachsen führte, finanziell unterstützt Schon zu Lebzeiten war W. als wesentl. von seinem Freund Gotthilf Heinrich SchuMitbegründer neutestamentl. Textkritik an- bert u. dem Theologen Conrad Benjamin erkannt (Mitgl. der Berliner Akademie der Meißner. 1805 promovierte W., heiratete die Wissenschaften 1752 u. der Royal Society in vermögende Johanna Heuäcker u. nahm seiLondon 1753); auf der von ihm geschaffenen nen Wohnsitz in Dresden. Neben seinem Arztberuf entfaltete W. eine Grundlage wird bis heute differenziert weitergearbeitet. So entsteht seit einigen Jahren rege Tätigkeit als Publizist; er lieferte literar. in Göttingen bzw. Halle ein »Neuer Wett- u. kritisch-polem. Beiträge zur Dresdner »Abendzeitung« sowie epigrammat. u. satir. stein«. Ausgaben: Novum Testamentum Graecum [...]. Gedichte für Adam Müllers u. Kleists »Phoe2 Bde., Amsterd. 1751/52. Nachdr. Graz 1962. – bus« (1808); auch Kleists späteren publizisNeuer Wettstein [...]. Hg. Georg Strecker u. Udo tischen Unternehmungen blieb W. verbunSchnelle. Bln./New York 1996 ff., Bd. I/1,1 (2008), den (Beiträge für die »Berliner AbendblätI/2 (2001), II/1–2 (1996). ter«). Für Seckendorffs u. Joseph Ludwig Literatur: Arnold von Salis: J. J. W. In: ADB. – Stolls »Prometheus« (1808) schrieb W. den C. L. Hulbert-Powell: John James W. 1693–1754. naturphilosophischen Aufsatz Versuch einer An Account of His Life, Work and Some of His Allegorie über den Homer; in seinen naturwisContemporaries. London [1938] (mit Stammbaum senschaftl. Schriften erweist sich W. als stark der Familie Wettstein). – Otto Merk: Von Jeanvon Herder beeinflusst (Briefe über Brown’s Alphonse Turretini zu J. J. W. In: Histor. Kritik u. System der Heilkunde. Lpz. 1806. Sieben Briefe des bibl. Kanon in der dt. Aufklärung. Hg. Henning Graf Reventlow u. a. Wiesb. 1988, S. 89–112. Wie- Mannes im Mond an mich. Jena 1808. Nachdr. derabgedr. in: Ders.: Wissenschaftsgesch. u. Exe- Wien u. a. 2005). Romantische Naturauffasgese. Ges. Aufsätze [...]. Hg. Roland Gebauer u. a. sung prägt auch die dramat. Persiflage Der Bln./New York 1998, S. 47–70. – G. Strecker: Das große Magen, von der nur der Prolog im Druck

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erschien (Lpz./Altenburg 1815). 1809 wurde Wetzel, (Gottlieb) Friedrich Wilhelm, W. auf Empfehlung Hegels dessen Nachfol- * 30.12.1738 Mönchberg/Vogtland, † nach ger als Redakteur des »Fränkischen Merkur« 1800. – Dramatiker. in Bamberg; diese Stelle hatte er bis zu seiDer zweite Sohn eines Theologen besuchte nem Tod inne. seit 1748 das Gymnasium zu Bayreuth. Den Als Verfasser patriotischer Kriegslyrik (Aus literarisch Interessierten beeinflusste wähdem Kriegs- und Siegesjahre Achtzehnhundertrend des Jurastudiums in Leipzig Gellert; in Dreyzehn. Vierzig Lieder. Lpz./Altenburg 1815) Erlangen trat W. der Deutschen Gesellschaft u. histor. Schauspiele (Hermannfried, letzter bei. Das Examen legte er in Bayreuth ab; König von Thüringen. Bln. 1818; Trauerspiel in unter der Regierung des Markgrafen Alexfünf Aufzügen) blieb W. auch in diesen Jahander hatte er verschiedene Ämter inne, ehe ren literarisch tätig. Jean Paul, der W. er 1796 Kriegsrat u. Amtmann zu St. Georgen freundschaftlich verbunden war, wurde zu wurde. dessen Nachlassverwalter bestellt. Heine »Ob ich zwar das Verdienst nicht habe, ein nannte W. einen »Wahlverwandten unseres Schriftsteller zu seyn: so wagte ich mich doch vortrefflichen Uhland«; in die Literaturgein das Feld der dramatischen Dichtkunst, schichte ist W. allerdings nicht so sehr als theils weil es jederzeit Reizungen für mich Lyriker, sondern als mögl. Verfasser der hatte, anderntheils aber um meine Kräfte zu Nachtwachen von Bonaventura eingegangen, als versuchen.« Dies bekannte W. in der Vorrede deren Autor inzwischen August Klingemann zu seinem Lustspiel Der Großmüthige (Bayidentifiziert wurde. reuth 1773). Mehr Rührstücke als Lustspiele, Weitere Werke: Strophen v. Wezel. Lübbe prangern W.s Dramen soziale Missstände 1802. – Gedichte. Bd. 1, Lpz. 1803. – Briefe über zwar an, sind aber in ihrer Grundhaltung das Studium der Medizin. Ebd. 1805. – Mag. Spiegel, darin zu schauen die Zukunft Deutsch- affirmativ: In Der König oder das Abentheuer lands u. aller umliegenden Lande (Pseud. Theoph- (Augsb. 1785) tritt der Titelheld als »Vater des rast). Dresden 1806. – Fischers Reise v. Leipzig nach Volkes« auf, der das Schicksal der ProtagoHeidelberg im Herbst 1805. Görlitz 1808. – Rhi- nisten zum Guten wendet. Bei nicht ungenozeros. Ein lyr.-didakt. Gedicht in einem Gesange. schickten Dialogen präsentieren sich die Nürnb. 1810. – Schriftproben. Mythen, Romanzen, Missstände – verderbte Hofleute setzen den lyr. Gedichte. 2 Bde., Bamberg 1814 u. 1818. – Je- aufrechten Bürgern mit Betrug u. Gewalt zu – anne D’Arc. Lpz./Altenburg 1817 (Trauersp.). – plakativ als triviale Klischees. Ges. Gedichte u. Nachl. Hg. Z. Funck [d. i. Carl Friedrich Krug]. Lpz. 1838.

Literatur: Franz Schultz: Der Verf. der Nachtwachen v. Bonaventura. Bln. 1909. – Reinhold Steig: F. G. W. als Beiträger zu Heinrich v. Kleists Berliner Abendblättern. In: Archiv 127 (1911), S. 25–30. – Sebastian Merkle: W. – Arzt, Dichter u. Tagesschriftsteller. In: Lebensläufe aus Franken. Bd. 2, Würzb. 1922, S. 488–494. – Hans Trube: F. G. W.s Leben u. Werk. Bln. 1928. Neudr. Nendeln 1967. – Jost Schillemeit: Bonaventura, der Verfasser der ›Nachtwachen‹. Mchn. 1973. – Horst Fleig: Zersprungene Identität: Klingemanns ›Nachtwachen v. Bonaventura‹. Nebel/Amrum 1973.

Weitere Werke: Versuch in Gedichten. Bayreuth 1761 (L.). – Wilhelmina. Gera 1775 (D.). – Herold, oder der Mann nach der Welt. Bayreuth 1778 (D.). – Er kömmt! Er kömmt! Ebd. 1796 (D.). Literatur: Georg Wolfgang Augustin Fikenscher: Gelehrtes Fürstenthum Baireut. Bd. 9, Nürnb. 1804, S. 97–99. Ulrike Leuschner

Wetzel, Johann Caspar, * 22.2.1691 (a. St.) Meiningen, † 6.8.1755 Meiningen. – Evangelischer Liederdichter u. Hymnologe.

Cornelia Fischer

Der Sohn eines armen Schuhmachers besuchte die Lateinschule in Meiningen u. kam 1708 auf das Gymnasium in Schleusingen. Von 1711 an studierte W. in Jena u. Halle; danach war er Hauslehrer u. ging 1718 als Reisesekretär nach Italien. 1721 wurde er

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Prinzenerzieher bei Herzog Anton Ulrich zu 1855. – Koch 5, S. 507–514. – l. u.: J. K. W. In: ADB. Sachsen-Meiningen, der damals in Amster- – Laura Balbiani: Christian Knorr v. Rosenroth in dam residierte, u. kam drei Jahre später als der ›Hymnopoeographie‹ (1719–1728) u. in den Cabinetsprediger der verwitweten Herzogin ›Analecta hymnica‹ (1751–1756) v. J. C. W. In: Morgen-Glantz 15 (2005), S. 27–46. – Konstanzenach Meiningen. Das 1728 angetretene Amt Mirjam Grutschnig-Kieser: J. C. W., Theologe u. des Diakons in Römhild brachte ihm wenig Hymnologe [...] 250. Todestag. In: Mitteldt. Jb. für Freude, da er sich wegen seiner heftigen An- Kultur u. Gesch. 12 (2005), S. 253 f. – Linda Maria griffe gegen die dort übl. Feier des Gregori- Koldau: Frauen, Musik, Kultur. Ein Hdb. zum dt. usfestes die Aussichten auf Beförderung ver- Sprachgebiet der Frühen Neuzeit. Köln u. a. 2005, scherzte. Erst als 1744 die Herzoginwitwe Register. Helmut K. Krausse / Red. nach Römhild übersiedelte u. W. zum Hofprediger ernannte, besserte sich seine Lage. Weyh, Florian Felix, auch: Zacharias ZasW.s Hauptinteresse galt der Bücherkunde ter, * 8.2.1963 Düren/Rheinland. – Esu. Literaturgeschichte. In seiner Hymnopoeo- sayist, Dramatiker, Hörspielautor, Jourgraphia, oder historische Lebens-Beschreibung der nalist u. Moderator. berühmtesten Lieder-Dichter (4 Tle., Herrnstadt 1719–28) führte er über 1100 Biografien W. wuchs in Ulm auf u. studierte 1982–1986 evang. Liederdichter in alphabetischer Ord- Psychologie in Köln. In dieser Zeit verfasste er nung auf, die trotz ihres hölzernen Stils u. journalistische Beiträge für den »Kölner mangelhafter Genauigkeit eine wertvolle Stadt-Anzeiger« u. andere Tageszeitungen. Quelle für alle späteren Arbeiten auf diesem Nach dem Zivildienst arbeitete er u. a. für den Gebiet wurden. Von 1751 an erschienen Er- Deutschlandfunk. 1991 war er Hausautor am gänzungen dazu u. d. T. Analecta hymnica, Das Staatsschauspiel Hannover. Seit 1995 lebt W. ist: Merckwürdige Nachlesen zur Lieder-Historie (2 als freier Schriftsteller, Publizist u. Journalist Bde., Gotha [1.-3. St. 1751] 1752–56). Unter in Berlin. 1998–2000 verfasste er Radiofeaseinen weiteren Schriften sind allenfalls seine tures für den NDR u. den SWF. ZwischenHeiligen und dem Herrn gewidmeten Andachts- zeitlich trat er als Fernsehmoderator für den Früchte (Coburg 1718–22) von Interesse, die WDR in Erscheinung. Neben Radiofeatures auch der Hymnopoeographia als Anhang bei- für den SWR (seit 2007) u. Beiträgen für die gegeben waren. Von diesen 50 »nach be- »Financial Times Deutschland« liefert W. kannten Singweisen eingerichteten« Liedern Kolumnen für den Berliner »Tagesspiegel« u. sind einige zeitweise in evang. Gesangbücher die Dresdner »Sächsische Zeitung« u. ist als aufgenommen worden, im Allgemeinen je- Ghostwriter für Persönlichkeiten aus Politik doch verraten sie wenig Originalität u. gleiten u. Wirtschaft tätig. W. legt in seinen Werken auf die gedankl. nicht selten ins Banale ab, wie ein Vers aus Verzahnung von Wirtschaft u. Kultur wert. In Lied Nr. 6 der ersten Sammlung illustriert: »Hunde, die am meisten bellen / Schrecken seinem ersten Essay, Die ferne Haut. Wider die nicht des Mondes Schein; / Die, die sich der Berührungsangst (Bln. 1999), beleuchtet er Welt gleich stellen / Und im Hertzen Lügner verschiedene Facetten des körperl. Kontakts. sein, / Bringt der Herr in seinem Grimm / Wo Im selben Jahr erschien sein zweiter Essay Kapitale Lust. Das geheime Sexualleben des Geldes nicht Buß erfolget, uem.« (Bln.) unter dem Pseudonym Zacharias ZasWeitere Werke: Jubilirende Lieder-Freude, das ter. Darin beschäftigt er sich pointenreich mit ist, Zwölff andächtige Jubel-Lieder, auf das grosse dem Geschehen an der Börse u. den Energien, Confessions-Jubel-Fest der Evangelisch-Lutherischen Kirche Anno 1730 [...]. Römhild 1730. In- die durch die Turboökonomie der 1990er ternet-Ed. in: SUB Gött. – Quaestio moralis: [...] Ob Jahre freigesetzt wurden. 2001 veröffentlichdas Gregorius Fest eine sündl. Eitelkeit [...] sey? te er in der dtv-Reihe »Kleine Philosophie der Ebd. 1733. – Kurtzgefaßte Kirch- u. Schul- wie auch Passionen« den feuilletonistischen Ratgeber Brand-Historie der Stadt Römhild [...]. Ebd. 1735. Internet (Mchn.). In Vermögen. Was wir haben, Literatur: Zedler 55 (1748). – Johann Georg was wir können, was wir sind (Ffm. 2006) arSauer: Zur Erinnerung an J. C. W. Hildburghausen gumentiert W. faktenreich, stilsicher u. mit

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viel Humor den Zusammenhang von materiellen u. immateriellen Vermögensarten; in dem Roman Die letzte Wahl. Therapien für die leidende Demokratie (Ffm. 2007) liefert er ein Stimmungsbild unserer Staatsform u. thematisiert die Stagnation unseres polit. Systems, in dem er sowohl Politiker u. Fachleute als auch die Wähler zu Wort kommen lässt. Für seine fiktionale Literatur u. Essays erhielt W. neben verschiedenen Stipendien, z.B. vom Deutschen Literaturfonds (1989), vom Künstlerdorf Schöppingen (1995) oder von der Stiftung Niedersachsen (1995), mehrere Kurzgeschichtenpreise. Im Medienbereich wurde er mehrmals nominiert, so zum Prix Italia 1987 u. zum Joseph-Roth-Preis 1995, u. unter anderem mit dem Alex-Medienpreis 2010 ausgezeichnet. Weitere Werke: Theaterstücke: Fondue. Ein szen. Oratorium für 6 Personen in 15 Gesängen u. 9 Intermezzi. Urauff. Bln. 1988. – Massbach. Übungsstück für eine Schauspielschülerin. Urauff. Ulm 1988. – Ludwigslust. Urauff. Bln. 1990 (Kom.). – Haben Sie ein I? Szenen. Urauff. Wiesb. 1991. – Stirling. Das Glück der Bewegung. Eine Gesellschaftskomödie. Urauff. Potsdam. 1992. – Triage. Szenen. Urauff. Saarbr. 1996. – Die Legende vom Fall ohne Ende. Libretto zu einer Kammeroper (Musik v. Wolfgang Böhmer). Urauff. Bln. 1996. – Gutenberg. Eine sentimentale Komödie in brit. Manier. Urauff. Krefeld/Mönchengladbach. 1997. – Hörspiele: Massbach. WDR 1986. – Oststraße oder Wie ein Gedicht entsteht. WDR 1987. – Das schwäb. Eigentum. WDR/BR 1989. – Design Deutschland. SWR 2009. Ingo Langenbach

Weyhe, Weihe, Eberhard von, auch: Durus de Pascolo, a Pascalo, Wahremund von Ehrenberg, Mirabilis de Bona Casa, * 28.5. 1553 Hannover, † nach 1637 (Sterbedatum unsicher, auch: Nov. 1643?). – Jurist, Politiker; Verfasser lateinischer Schriften u. a. zum Staatsrecht u. zur Verhaltenslehre. Der aus altem niedersächs. Adelsgeschlecht stammende W. studierte seit 1570 in Wittenberg, 1572 in Rostock, 1576 in Marburg u. reiste im Gefolge von Herzog Otto Heinrich von Braunschweig-Lüneburg u. anderer Fürsten nach Italien; er studierte auch in der Schweiz u. in Frankreich. 1580 Doktor beider

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Rechte, wurde W. anschließend auf den Lehrstuhl für Pandekten (Zivilrecht auf römisch-rechtl. Basis) der Universität Wittenberg berufen. Er war seit 1583 auch kursächs. Hofgerichtsassessor u. 1585/86 Rat des Herzogs von Holstein-Gottorf, wurde 1587 auf den Lehrstuhl für Kanonisches Recht in Wittenberg berufen u. war damit führender Professor der Universität, im Ostersemester 1589 u. 1591 auch ihr Rektor. Seit 1587 war W. zudem Rat des Kurfürsten von Sachsen. In Wittenberg geriet er unter Calvinismusverdacht u. wurde, weil er sich weigerte, die Konkordienformel zu unterschreiben, vertrieben. 1592 war er Rat, seit 1594 Kanzler des Landgrafen von Hessen-Kassel; in dieser Funktion übernahm er mehrere wichtige diplomatische Missionen. 1605 wurde W. holsteinisch schaumburgischer Kanzler in Bückeburg, anschließend Landrat in Pinneberg, seit 1615 schließlich Geheimer Rat u. Kanzler in Wolfenbüttel, nachdem ihm 1614 bereits der Titel eines kaiserl. Rats verliehen worden war. Als Gegner der prodän. Kriegspolitik schied W. 1626 aus seinem Amt aus u. zog sich auf sein Gut Böhme im Fürstentum Lüneburg zurück, übernahm aber trotzdem immer wieder polit. Dienste für Herzog Friedrich Ulrich von Braunschweig u. andere Fürsten. 1630 nahm W. eine Bestallung Herzog Augusts d.J. von Braunschweig-Wolfenbüttel als »Rat von Haus aus« an. W., der 1623 unter dem Gesellschaftsnamen »Der Wehrende« in die Fruchtbringende Gesellschaft aufgenommen wurde, war ein vielseitiger lat. Schriftsteller, der neben juristischen Gegenständen auch andere polit. u. gesellschaftl. Themen bearbeitete. Am bekanntesten wurde sein viel zitierter Aulicus politicus diversis regulis instructus (Hanau 1596 u. ö., bis 1615 unter dem Pseudonym Durus de Pascolo), eine Sammlung von Sentenzen u. Aphorismen zum Hofleben. W. bietet differenzierte u. fein ausbalancierte Regeln für das Verhalten des Höflings, lehrt die Kunst der Menschenbeobachtung wie die richtige Selbsteinschätzung, aber auch strateg. Handeln im Umgang mit dem Herrscher. Ihm gegenüber müsse man sich wie dem Feuer gegenüber verhalten: nicht zu nahe kommen, aber sich auch nicht zu entfernt halten. Zu

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Als Adliger aus altem Geschlecht – einerhäufiger Umgang mit ihm rufe Überdruss u. Abneigung hervor, zu seltener Kontakt führe seits mit fundierter gelehrter Ausbildung zu Vernachlässigung u. Vergessen. Andere (wie sie eher für Autoren bürgerl. Herkunft Regeln exponieren das Ideal des guten Rat- üblich war), andererseits u. darüber hinaus gebers, der zwischen der Bewahrung seiner mit breiten Erfahrungen in der polit. Praxis – eigenen Identität u. der Brauchbarkeit im verkörpert W. eine Synthese, die zu seiner Fürstendienst die richtige Balance findet – Zeit nur wenige bieten konnten. Seine vielen ein Problem, das für die Diskussionen um das Berufungen u. sein hohes Prestige zeugen frühneuzeitl. Beamtentum von großer Wich- davon, dass er in der Zeit des frühabsolutistigkeit war u. bis in staatsrechtl. Fragen hin- tischen Machtstaats zu Beginn des 17. Jh. alle ein eine Rolle spielte. Bei W. werden, u. hierin Voraussetzungen mitbrachte, das Ideal eines ist der Aulicus politicus charakteristisch für die perfekten Fürstendieners u. Staatsmannes zu besseren Vertreter dieser Textgattung, gerade erfüllen. Weitere Werke: Problema regium [...]: utrius auch hofkrit. Argumente u. die zugehörigen regni conditio melior [...] illiusne, cui Rex nascatur, Topoi (wie Schmeichelei, Neid, Ehrgeiz, Lüge) einbezogen. Mit dem Argument, wer an ejus, cui eligatur? Lich 1593 u. ö. – De regni subsidiis ac oneribus subditorum. Ffm. 1601. – den Hof verlassen wolle, könne gleich die Diss. de vita aulica et privata. Ebd. 1610. – MediWelt verlassen, werden sie jedoch in gängiger tatio de gloriae humanae vanitate, ex Patribus colWeise konterkariert. lecta. Ebd. 1610. – Discursus de speculi origine, usu Innerhalb der im engeren Sinn juristischen et abusu. Hagae Schaumburg 1612. Arbeiten W.s ist am wichtigsten seine AbLiteratur: Wilhelm Christian Lange: E. v. W. handlung über das Bündnisrecht (Medita- In: ADB (mit Quellenverz.). – Helmuth Kiesel: ›Bei menta pro foederibus. 2 Bde., Hanau 1601 u. Hof, bei Höll‹. Untersuchungen zur literar. HofFfm. 1609), die erste ihrer Art in Deutschland kritik [...]. Tüb. 1979, S. 109–112. – Claus Coneru. das in der ersten Hälfte des 17. Jh. meist- mann: Die Mitglieder der Fruchtbringenden Gezitierte einschlägige Werk. 1601 veranstaltete sellsch. Weinheim 1985, S. 83–85. – Michael Stolleis: Gesch. des öffentl. Rechts in Dtschld. Bd. 1, W. eine Edition der Utopia von Thomas Mo- Mchn. 1988, S. 189 f. – DBA. Georg Braungart rus. Eine staatsrechtl. Auseinandersetzung mit den Monarchomachen bietet Ficta Juditha et Falsa (Verona 1614), in der W. gegen den Tyrannen letztlich nur ein Mittel zulässt: ihn Weymann, Gert, * 31.3.1919 Berlin, geduldig ertragen u. »zu tod beten« (Nr. 130, † 10.3.2000 Berlin. – Dramatiker, Hör- u. S. 61; ein in der staatsrechtl. Diskussion seit Fernsehspielautor. dem 16. Jh. bekannter Satz). Das Motto dieses Der Sohn eines Buchhändlers wurde nach Werks lautet: Hütet ihr euch vor den Fürsten dem Abitur 1937 zum Arbeits- u. Wehrdienst (»Cavete Vobis Principes«). – Die Schrift über eingezogen. Während des Kriegs – aufgrund das kanonische Recht, An jus pontificum sive einer schweren Verwundung beurlaubt – becanonicum in scholis doceri, observari possit? gann W. in Berlin Theaterwissenschaft, Ger(Wittenb. 1588), W.s Antrittsrede bei der manistik u. Kunstgeschichte zu studieren Rückkehr nach Wittenberg, in welcher der sowie als Regieassistent am Staatstheater zu neuberufene Professor für Kanonisches Recht arbeiten. Nach dem Krieg war er zunächst die Titelfrage zwar bejaht, jedoch auch hef- Regieassistent u. Regisseur am Schlossparktige Kritik am Papst äußert, stand ebenso auf theater in Berlin, 1947–1952 Spielleiter in dem »Index librorum prohibitorum« wie der Nürnberg u. als Gastregisseur an anderen Aulicus politicus. W. beanspruchte auch, der Theatern tätig. Seit 1953 war W. freiberufl. eigentl. Autor des unter dem Namen des Ar- Autor, Regisseur u. Dramaturg sowie Übernold Clapmarius (Clapmeier), des Hausleh- setzer u. Lektor, auch für Fernsehen, Film u. rers seiner Söhne, veröffentlichten berühm- Rundfunk. 1962/63 u. 1966 war er Gastdoten Werks De arcanis rerum publicarum libri VI zent u. Gastregisseur in den USA. W. lebte in (Ffm. 1611) zu sein. Berlin u. war für Film-, Fernseh- u. Hör-

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spielproduktionen als Dramaturg u. Lektor tätig. W.s Theatererstling, die »Tragikomödie« Generationen (Urauff. Bln. 1955), war ein großer Erfolg; sie wurde auf mehreren Bühnen West- u. Ostdeutschlands, des französischsprachigen Belgien sowie für das DDR-Fernsehen (1957) inszeniert. Der Autor wurde dafür mit dem Gerhart-Hauptmann-Preis ausgezeichnet. Das realistische Gegenwartsstück ist eine der ersten u. interessantesten Auseinandersetzungen auf der Bühne mit den restaurativen Entwicklungen in der westdt. Nachkriegsgesellschaft. Gezeigt wird der Konflikt zwischen einem kompromissbereiten, opportunistisch-pragmat. Vater, der die Vergangenheit begraben u. am Wiederaufstieg teilhaben will, u. seinem Sohn, der eine persönl. Mitverantwortlichkeit an einem Kriegsverbrechen nicht einfach ablegen kann u. will, obwohl er unter Zwang gehandelt hatte: eine ethisch-rigorose Haltung, die als nicht mehr zeitgemäß u. als störend empfunden wird. Die Restauration hat sich durchgesetzt. Auch die weiteren Werke W.s sind vom ›humanistischen‹ Engagement geprägte Auseinandersetzungen mit der Kriegsu. der westdt. Nachkriegszeit. Weitere Werke: Dramen: Eh’ die Brücken verbrennen. Urauff. Nürnb. 1958. – Der Ehrentag. Urauff. ebd. 1960. – Fernsehspiele: Das Liebesmahl eines Wucherers. DDR-Fernsehen 1958. – Familie. SWF 1960. – Konami. ZDF 1963. – Hörspiele: Per Anhalter. SFB 1963. – Die Übergabe. Ebd. 1965. Walter Olma

Weyrauch, Wolfgang, auch: Joseph Scherer, * 15.10.1904 (nicht 1907) Königsberg, † 7.11.1980 Darmstadt; Grabstätte: ebd., Waldfriedhof. – Erzähler, Lyriker u. Hörspielautor. Der Sohn eines Landmessers war nach dem Besuch der Frankfurter Schauspielschule an den Theatern in Münster, Bochum u. Thale/ Harz engagiert; danach studierte er an den Universitäten in Frankfurt/M. u. Berlin Germanistik, Romanistik u. Geschichte. Seit 1929 arbeitete W. als freier Schriftsteller u. seit 1933 als Redakteur beim »Berliner Tageblatt« sowie als Lektor im Deutschen Ver-

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lag in Berlin. Nach Kriegsdienst (1940–1945) u. sowjetischer Gefangenschaft war er Zeitschriftenredakteur u. 1950–1958 Lektor des Rowohlt Verlags. Danach lebte er als freier Autor u. Hörspieldramaturg in Gauting u. von 1967 an in Darmstadt. Er gehörte zu den ersten Mitgliedern der Gruppe 47. W. schrieb zunächst Erzählungen u. Hörspiele. Als Buchautor debütierte er 1934 mit der »Legende« Der Main (Bln.), in der er, wie in seinen bis 1943 folgenden Prosawerken, existenzielle Fragen aufgriff: die Suche nach Liebe, nach Heimat u. nach dem Sinn des Lebens. Das Grauen des Zweiten Weltkriegs, das er 1946 in seiner Erzählung Auf der bewegten Erde (Bln.) schilderte, machte W. zu einem kämpferischen Pazifisten, der auch für die Literatur eine radikale Erneuerung forderte. Nur in diesem Sinn ist der von ihm geprägte Begriff »Kahlschlag« (im Nachwort zu der von ihm herausgegebenen Anthologie Tausend Gramm. Hbg. 1949. Überarb. u. erw. Neuausg. Reinb. 1989) zu verstehen. W. wurde zu einem Protagonisten des literar. Experiments. Seine Gedichte, zu Beginn noch von expressionistischem Pathos getragen (Von des Glücks Barmherzigkeit. Bln. 1946), umfassen ein weites formales Spektrum vom Kinderlied über den konventionellen, paargereimten Vers bis zur lyr. Prosa. Inhaltlich sind seine Gedichte geprägt von der Erinnerung an die NS-Barbarei u. der Warnung vor den Folgen der atomaren Bewaffnung (Lidice und Oradour u. Atom und Aloe. In: Gesang um nicht zu sterben. Hbg. 1956). »Denn wozu wären die Schriftsteller sonst da«, so W. in seinem Aufsatz Mein Gedicht ist mein Messer (Heidelb. 1955), »als die Summe des Bösen zu vermindern und die Summe des Guten zu vermehren? Und wenn es auch nur um ein Quentchen wäre? Als den Essig der Erde in Wein zu verwandeln?« Dieses Ideal bestimmt auch seine z. T. lakonisch kurzen Erzählungen, in denen W. zwischenmenschl. u. gesellschaftl. Konflikten nachspürt, um Ursachen für Kommunikationsverlust, Aggression u. Isolation zu finden (Mein Schiff, das heißt Taifun. Olten/Freib. i. Br. 1959. Etwas geschieht. Olten 1966. Geschichten zum Weiterschreiben. Neuwied 1969). Mit sei-

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nen auch im Dialog monologisch aufgebau- Weyttenfelder, Weitenfelder, Weidenfelder, ten Hörspielen hat W. die Entwicklung dieses Hans, * Mitte des 16. Jh. – PritschenGenres in Deutschland stark beeinflusst. Die meister. japanischen Fischer (Ursendung BR, 24.5.1955. W. war als Seiler 1571 in Urfahr bei Linz, Stgt. 1956. 21996), eine Parabel auf den 1574 in Wolkersdorf ansässig. Er bezeichnete langsamen Tod der Menschheit durch die sich selbst als »Pritschenmeister«, d.h. ZereAtombombe, ist das bekannteste seiner rund monienmeister u. Lohnpoet bei bürgerl. Fes40 Hörspiele. Für Totentanz (Ursendung NDR, tivitäten. Sehr erfolgreich war er offenbar 22.11.1961; Regie: Martin Walser) erhielt W. nicht. Nur drei »Lobsprüche« haben sich im den Hörspielpreis der Kriegsblinden. Druck erhalten. Mit ungelenken KnittelverAls Herausgeber u. Lektor hat W. eine sen über das ›Freischießen‹ in Klagenfurt Reihe heute bekannter Autoren entdeckt oder 1571 (Ein Lobspruch, des löblichen Freyschiessens gefördert. Auf seine Initiative geht der Leon[...]. Wien 1571) gab er sein Debüt u. bat dabei ce-und-Lena-Preis für Lyrik zurück; der um Nachsicht für seine mangelhafte Schulgleichzeitig vergebene Förderpreis heißt seit bildung. Besser gelang ihm Ein schöner Lob1997 Wolfgang-Weyrauch-Förderpreis. spruch vnd Heyrats Abred zu Wien [...], wie man Weitere Werke: An die Wand geschrieben. die Weyber die Zeit jhres Lebens halten [...] soll, Hbg. 1950 (L.). – bericht an die regierung. Ffm. damit Sie lang schön bleyben (Augsb. 1573. 1953 (E.). – die minute des negers. Hbg. 1953 (L.). – Dialog mit dem Unsichtbaren. Olten/Freib. i. Br. Niederdt. Hbg. 1576. Verkürzte Liedfassung 1962 (Hörsp.e). – Mit dem Kopf durch die Wand. o. O. 1581. o. O. 1618. Hg. Franz Haydinger. Gesch.n, Gedichte, Ess.s u. ein Hörsp. Darmst. Wien 1861). Die 404 Verse, als Lohnarbeit für 1972. Mit einem Nachw. v. Martin Walser. Erw. ein Fastnachtsfest gedichtet, propagieren in 1977. – Beinahe täglich. Darmst. 1975 (E.). – Drei- parodistischer Absicht detailgenau eine bemal geköpft. Unbekannte Gedichte. Assenheim queme Lebensführung, wie man sie sich in 1983. – Atom u. Aloe. Ges. Gedichte. Hg. Hans Handwerkerkreisen erträumt haben mag. Bender Ffm. 1987. Lpz. 1991. – Lebenslauf. Dreieich 1988 (L.). – Poesie Poezja x 4. Lyrik, dt. u. poln. Hg. Bogdan Danowicz (unter Mitarb. v. Fritz Deppert). Darmst. 1998. – Das war überall. Hg. u. mit einem Vorw. v. F. Deppert. Ebd. 1998 (E.en). Literatur: Horst-Günter Funke: Die literar. Form des dt. Hörspiels in histor. Entwicklung. Diss. Erlangen 1962. – Gustav Zürcher: Trümmerlyrik. Polit. Lyrik 1945–50. Kronberg 1977. – Irmela Schneider u. Karl Riha (Hg.): Zu den Hörspielen W. W.s. Siegen 1981. – Ulrike Landzettel: W. W. In: KLG. – Helmut Kreuzer: Deutschsprachige Hörsp.e 1924–33. Elf Studien zu ihrer gattungsgeschichtl. Differenzierung. Ffm. u. a. 2003. – Michael Schmitt: W. W. In: LGL. – U. Landzettel: Identifikationen eines Eckenstehers. Der Schriftsteller W. W. (1904–1980). Diss. Marburg 2004 (Online-Publikation). – Hans-Joachim Hahn: ›Die, von denen man erzählt hat, dass sie die kleinen Kinder schlachten‹. Dt. Leiderfahrung u. Bilder v. Juden in der dt. Kultur nach 1945. Zu einigen Texten W. W.s. In: A nation of victims? Hg. Helmut Schmitz. Amsterd./New York 2007, S. 51–70. Hans Sarkowicz / Red.

Weiteres Werk: Ein hüpsch news Liedt, wie man den bösen Weybern u. Meyden die Klappersucht vertreibet [...]. Augsb. [um 1573]. Literatur: Bibliografie: VD 16. – Weitere Titel: Josef Maria Wagner: Österr. Dichter des 16. Jh. In: Serapeum 25 (1864), S. 310–316; 26 (1865), S. 122 f. – Renaissance in Österreich [...]. Bearb. v. Rupert Feuchtmüller. Horn 1974, S. 305, 315. – Repertorium deutschsprachiger Ehelehren der Frühen Neuzeit. Hg. Erika Kartschoke. Bd. I/1, Bln. 1996, Nr. 9 u. 102, S. 24 f., 224. Hartmut Kugler / Red.

Wezel, Johann Karl, * 31.10.1747 Sondershausen/Thüringen, † 28.1.1819 Sondershausen. – Erzähler, Dramatiker, Lyriker; Pädagoge; Philosoph. Aufklärung über Leben u. Werk W.s, »eines der vorzüglichsten Schriftsteller Deutschlands«, wie es im Kirchensterberegister heißt, tut noch immer not. Arno Schmidt konnte 1959, da er zuerst wieder auf W.s Belphegor hinwies, gar nicht ahnen, welches Dunkel über dem Schicksal des unbegünstigten Einzelgängers aus Sondershausen liegt. Dort verbrachte W. seine Kindheit in ärml. Ver-

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hältnissen. Seine Herkunft ist ungesichert, eine illegitime Abstammung von Heinrich I. von Sondershausen-Schwarzburg nicht belegt. Der junge W. dichtete um 1763 einen Lobgesang auf den Frieden u. beherrschte das Geigenspiel virtuos. Über den theatralen Gebrauch der Musik äußerte er sich in der Vorrede zu seinem musikal. Lustspiel Zelmor und Ermide (1779). Sein Lehrer Nikolaus Dietrich Giseke brachte ihn bei dem befreundeten Gellert in Leipzig unter, wo W. 17-jährig mit dem Theologiestudium begann. Er wandte sich bald der Jurisprudenz, Philosophie u. Philologie zu. In diesen Studienjahren bis 1769 beurteilte W. die Schulgelehrsamkeit zunehmend skeptischer u. fand im engl. Empirismus Lockes, in Voltaire, im frz. Materialismus Holbachs, Helvétius, u. bes. im mechanist. Denken La Mettries, später auch bei Rousseau, wichtigste Anregungen. Nach Tätigkeiten als Hauslehrer in Bautzen u. Berlin suchte W. sich selbstständig zu machen. Reisen führten ihn nach Petersburg, Paris, London. 1782–1784 war er Theaterdichter in Wien. Danach wieder in Leipzig, kehrte er wohl 1793 zurück nach Sondershausen, wo er 1819 starb. Als freier Schriftsteller verfasste er in den Jahren von 1772 bis 1785 nahezu sein gesamtes Werk. Davon lag bis zur Neuauflage des Belphegor (2 Tle., Lpz. 1776. Ffm. u. Bln./DDR 1965 u. ö.) nur die Neuauflage von Herrmann und Ulrike vor (4 Bde., Lpz. 1780. 2 Bde., Mchn. 1919. Potsdam 1943. 4 Bde., Stgt. 1971. Lpz. 1980. JGA. Bd. 3, hg. Bernd Auerochs. Heidelberg 1997). Man glaubte lange Zeit, W. sei 1786 in Wahnsinn verfallen u. deshalb nach Sondershausen zurückgekehrt. Sein aktives Schriftstellerleben galt damit als erloschen. Mit dieser Wahnsinnsversion liegen die Tatsachen im Widerstreit, denn sie beruht ausschließlich auf Fremdzeugnissen; nicht einmal die Datierung auf 1786 stimmt. Jene Fremdzeugnisse stammen bes. von August von Blumröder (1776–1860), der zeitweise eine Art Aufsicht über den internierten W. führte u. mit seinen Veröffentlichungen von 1833 u. 1857 hauptverantwortlich für das negative Legendenbild wurde. Es kann schon deshalb nicht ernstgenommen werden, weil es auch W.s gedrucktes Werk im Nachhinein

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in seine Krankheitsgeschichte miteinbezieht. Die Nachrichten Etwas über den jetzigen Zustand Wezels in der »Zeitung für die elegante Welt« vom 18.2.1812 wissen von Manuskripten, unter denen sich noch der dritte Band des Versuchs befand. Danach verliert sich deren Spur, u. dies, obwohl, wie Friedrich Carl Ludloff im Bericht über Wezel als Schriftsteller in den »Gemeinnützigen Blättern für Schwarzburg« (1808, Nr. 26–31) mitteilt, »Wezel seine Scripturen noch muthiger bewahrt und vertheidigt, als weyland der feuersprühende Drache das goldene Vließ zu Colchos«. Die Ludloff-Akte Z 475 des Staatsarchivs Rudolstadt enthält noch zwei Blätter mit Notizen W.s zum Versuch. W., der wohl seine innere Veranlagung kannte u. an sich »Antipathien« beobachtete, wie es im Versuch über die Kenntniß des Menschen (Lpz. 1784/85. JGA, Bd. 7, hg. Jutta Heinz. Heidelberg 2001, S. 267 ff.) heißt, lenkt auf ganz andere, äußere Gründe seiner Isolation. Selbst der mit Irrenheilkunde vertraute Arzt Samuel Hahnemann in Altona, der den 52Jährigen W. im Sommer 1800 behandelte, hielt nicht für unmöglich, den Dichter »herzustellen«. Eine Eskalation von W.s inneren Krisensymptomen in Verbindung mit seiner äußeren bedrohl. Lebenssituation ist jedoch nur zu erschließen. Schon im April 1778 hatte ihn Georg Joachim Zollikofer dem Dessauer Philanthropin als Mitarbeiter empfohlen, in dessen Pädagogischen Unterhandlungen vier Aufsätze von W. erschienen sind. Noch am 1.1.1788 bewarb sich W. dort um eine Stelle. Es scheint, als habe er sich durch den mit dem Universitätslehrer Ernst Platner 1781 in Leipzig ausgetragenen Streit, von dem seine Untersuchung über das Platnersche Verfahren gegen J. K. Wezel und gegen sein Urteil von Leibnitzen (Lpz. 1781) zeugt, bes. nachhaltig geschadet. Nicht Geisteskrankheit, sondern zunehmende gesellschaftl. Isolierung, finanzielle Sorgen u. Zensurschwierigkeiten haben offenbar den Agnostiker u. Skeptizisten ins Abseits gedrängt. Aufgrund des 1787 gegen den dritten Band seines Versuchs ergangenen Verbots musste W. den von seinem Verleger gewährten Vorschuss zurückerstatten. Friedrich David Gräters Zeugnis im »Reichsanzeiger« vom 8.7.1799, W. werde eher Schuhsohlen

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essen als jemanden ansprechen – »er will nun einmahl durch sich selbst existieren« –, weist jedenfalls auf tiefe Verletzungen W.s hin. Gräters liebenswürdiger Vorschlag, W. mit einer Ausgabe seiner sämtl. Schriften Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, fand keine Resonanz. Aber Blumröders klitternde Bemerkungen zu W. (Johann Karl Wezel, Fragmente über sein Leben und seinen Wahnsinn. In: Zeitgenossen 4, 1833, S. 141–172) über dessen polit., religiöse, philosophische Ansichten, die W. zum Verhängnis geworden seien, grenzen an Rufmord. Neben dem auf fünf Bände geplanten, systemat. Versuch über die Kenntniß des Menschen besteht W.s herausragende Leistung in seinem zwischen Biografie u. Lustspiel anzusiedelnden Erzählwerk, bes. in den einander so entgegengesetzten Romanen Herrmann und Ulrike. Ein komischer Roman, in dem ein Liebespaar, allen Unbilden zum Trotz, sein bescheidenes Glück macht, u. Belphegor, oder die wahrscheinlichste Geschichte unter der Sonne, ein Enttäuschungsroman, in welchem dem Helden, seinem unerschütterl. Glauben an das Gute zum Trotz, kein Erfolg beschieden ist. Ihnen folgen die Lebensgeschichte Tobias Knauts, des Weisen, sonst der Stammler genannt (4 Bde., Lpz. 1773–76. Neudr.e Stgt. 1971. Bln. 1990), Robinson Krusoe (2 Tle., Lpz. 1780. Neudr.e Bln. 1979. 1982), Wilhelmine Arend, oder die Gefahren der Empfindsamkeit (2 Bde., Dessau/ Lpz. 1782. Karlsr. 1783. Neudr. Ffm. 1970) u. Kakerlak, oder Geschichte eines Rosenkreuzers aus dem vorigen Jahrhunderte (Lpz. 1784. Neudr.e Bln. 1984. Freib. i. Br. 1985). Die antiidealistischen u. antiutop. Werke W.s, die sich z. T. an Swift, Voltaire, Fielding, Johnson orientieren, haben in der dt. Literatur des 18. Jh. kaum ihresgleichen. Ihr Distanz schaffendes Erzählen ist prinzipiell skeptisch u. mündet, indem es das Empfindsame als »Nationalkrankheit« diagnostiziert, deren Ursachen im modernen Leben liegen, in gründliche spätaufklärerische Zivilisationskritik. Den Zeitgenossen blieben W.s Werke überwiegend fremd, bes. einem so versöhnl. Geist wie Wieland, der W. trotz der ideolog. u. ästhetischen Kontroverse ernst nahm u. Tobias Knaut u. Belphegor von Merck, wenn auch kritisch, im »Teutschen Merkur« re-

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zensieren ließ. Am 22.7.1776 schrieb Wieland an W., er wolle sich nicht erwehren, ihn »immer lieber zu kriegen, wiewohl sie als Autor alles thun um sich hassen zu machen«. Er denkt an den »verwünschten Be lph ego r«, den er als einen »neuen Frevel an der armen Menschheit« bezeichnete. Ende 1780, in einem Billett an Bertuch, wird deutlich, dass Wieland W. vielleicht unterschätzt, aber nicht verachtet hat. Denn Herrmann und Ulrike feiert er jetzt als den besten dt. Roman. Weitere Werke: Ausgaben: Krit. Schr.en. Hg. Albert R. Schmitt. Bde. 1 u. 2, Stgt. 1971. Bd. 3, ebd. 1975. – Gesamtausg. in acht Bdn. Jenaer Ausg. (= JGA). Hg. Klaus Manger in Zus. mit anderen. Heidelb. 1997 ff. – Einzeltitel: Filibert u. Theodosia. Ein dramat. Gedicht. Lpz. 1772. – Der Graf v. Wickham. Ebd. 1774 (Trag.). – Satir. Erzählungen. 2 Bde., ebd. 1777/78. Neudr. Bln. 1983. – Lustsp.e. 4 Tle., Lpz. 1778–87. – Die wilde Betty. Peter Marks. Ehestandsgesch.n. Ebd. 1779. Neudr. Ebd. 1969. – Prinz Edmund. Eine kom. Erzählung. Ebd. 1785. Literatur: Bibliografien: Phillip S. McKnight: Versuch einer Gesamtbibliogr. In: Krit. Schr.en. a. a. O. Bd. 2, S. 813–836. Bd. 3, S. 523–527. – Hans Henning: Zum Stand der W.-Forsch. In: Das 18. Jh. 11 (1987), 2, S. 79–85. – Cathrin Blöss: Bibliogr. zu W. seit 1975, Fortschreibung eines Versuchs. In: Schr.en der W.-Gesellsch. 1 (1997), S. 238–258. Weitergeführt in: W.-Jb. 5 (2002), S. 243–255. W.Jb. 9 (2006), S. 199–205. – Periodikum: W.-Gesellsch. Sondershausen (Hg.): Neues aus der W.-Forsch. 1 (1980. 21986). 2 (1984). 3 (1991). – Schr.en der J.-K.W.-Gesellsch. in Sondershausen e. V. 1 (1997). – W.Jb. 1 ff. (1998 ff.). – Biografisches: Kurt Adel: J. K. W. [...]. Wien 1968. – Gerhard Steiner: Nachw. In: Herrmann u. Ulrike. Lpz. 1980. – Ders.: J. K. W.s Behandlung durch Dr. Samuel Hahnemann. In: JbDSG 25 (1981), S. 229–237. – P. S. McKnight: W.Forsch. in der DDR [...]. In: Lessing Yearbook 19 (1987), S. 223–266. – Irene Boose (Hg.): Warum W.? Zum 250. Geburtstag eines Aufklärers. Heidelb. 1997. – Hendrik Bärnighausen: ›Einer der vorzüglichsten Schriftsteller Deutschlands‹. J. K. W.s Jahre in Sondershausen. Rudolstadt/Jena 1997. – Ders. u. Claudia Taszus (Hg.): W. im Walde. Aus dem Romanfragment ›Der Frühling im Walde‹ v. Friedrich Carl Ludloff. Rudolstadt 1998. – Weitere Titel: Arno Schmidt: Belphegor, oder Wie ich euch hasse (1959). In: Belphegor. Nachrichten v. Büchern u. Menschen. Karlsr. 1961. – Hans Peter Thurn: Der Roman der unaufgeklärten Gesellschaft. Untersuchungen zum Prosawerk J. K. W.s.

Wibbelt Stgt. 1973. – Fritz Martini: J. K. W.s verspätete Lustspiele. In: FS Victor Lange. Gött. 1977, S. 38–67. – H. Henning: J. K. W.s ›Versuch über die Kenntniß des Menschen‹. In: arcadia 15 (1980), S. 258–277. – P. S. McKnight: The Novels of J. K. W. [...]. Bern/Ffm./Las Vegas 1981. – A. R. Schmitt: W. u. Wieland. In: Christoph Martin Wieland. Nordamerikan. Forschungsbeiträge [...]. Hg. Hansjörg Schelle. Tüb. 1984, S. 251–275. – Detlef Kremer: W. über die Nachtseite der Aufklärung. Skept. Lebensphilosophie zwischen Spätaufklärung u. Frühromantik. Mchn. [1985]. – Alexander Kosˇenina: Ernst Platners Anthropologie u. Philosophie. Der ›philosophische Arzt‹ u. seine Wirkung auf J. K. W. u. Jean Paul. Würzb. 1989.  Isabel Knautz: Epische Schwärmerkuren. J. K. W.s Romane gegen die Melancholie. Würzb. 1990. – J. C. W. Akten des Symposiums der Gesamthochschule/Univ. Kassel vom 15. bis 18. Okt. 1992. Kassel 1994/95. – J. Heinz: Wissen vom Menschen u. Erzählen vom Einzelfall. Untersuchungen zum anthropolog. Roman der Spätaufklärung. Bln./New York 1996. – A. Kosˇ enina u. Christoph Weiß (Hg.): J. K. W. (1747–1819). St. Ingbert 1997. – Franz Futterknecht: Infantiles Bewußtsein. J. K. W.s Kritik der Moderne. Mchn. 1999. – Martin-Andreas Schulz: J. K. W. Literar. Öffentlichkeit u. Erzählen. Untersuchungen zu seinem literar. Programm u. dessen Umsetzung in seinen Romanen. Hann. 2000. – Ewa Grzesiuk: Auf der Suche nach dem ›moralischen Stein der Weisen‹. Die Auseinandersetzung mit der frühaufklärer. Utopie der Glückseligkeit in den Romanen J. K. W.s. Lublin 2002.  Michael Hammerschmid: Skept. Poetik der Aufklärung. Formen des Widerstreits bei J. K. W. Würzb. 2002.  HansPeter Nowitzki: Der wohltemperierte Mensch. Aufklärungsanthropologien im Widerstreit. Bln./ New York 2003. – Cornelia Ilbrig: Aufklärung im Zeichen eines ›glücklichen Skepticismus‹. J. K. W.s Werk als Modellfall für literarisierte Skepsis in der späten Aufklärung. Hann. 2007. Klaus Manger

Wibbelt, Augustin, auch: Ivo, * 19.9.1862 Vorhelm bei Ahlen/Westfalen, † 14.9. 1947 Vorhelm bei Ahlen. – Niederdeutscher Mundartdichter. Nach dem Abitur auf dem Gymnasium Carolinum in Osnabrück studierte der aus einer westfäl. Bauernfamilie stammende W. 1883–1887 Philologie, Philosophie u. kath. Theologie in Münster u. Würzburg. Zwischenzeitlich absolvierte er 1884/85 den freiwilligen einjährigen Militärdienst in Frei-

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burg i. Br. Dort begann er, angeregt durch die Alemannischen Gedichte Johann Peter Hebels, plattdt. Verse zu schreiben. Ostern 1887 trat er in das Priesterseminar in Münster ein; ein Jahr später erfolgte dort die Priesterweihe. Ab Herbst 1888 Kaplan in Moers, war W. 1890–1897 Verwalter der Diakonal-Vikarie an der Pfarrkirche St. Martini in Münster u. Redakteur der kath. Wochenschrift »Ludgerus-Blatt«. 1897 wechselte er als Kaplan nach Oedt am Niederrhein. 1898/99 promovierte er in Tübingen zum Dr. phil. mit der Dissertation Joseph von Görres als Litterarhistoriker (Köln 1899). Von 1899 bis 1906 war W. Kaplan in Duisburg, ab Nov. 1906 Pfarrer in Mehr bei Kleve. Nebenher war er Schriftleiter der populären westfäl. Heimatzeitschrift »De Kiepenkerl – Westfälischer Volkskalender« u. der kath. Wochenschrift »Die christliche Familie« sowie Herausgeber des »Christlichen Familien-Kalenders« u. der Kommunionzeitschrift »Der Kinderfreund im Sakrament«. Für alle Periodika schrieb er zahlreiche Artikel. Im Ruhestand kehrte er 1935 zurück auf den elterl. Hof nach Vorhelm. W., der in Hochdeutsch u. in westfäl. Mundart schrieb, hinterließ ein umfangreiches Werk. Zu den allein etwa 140 selbstständig erschienenen Publikationen zu Lebzeiten W.s kamen Hunderte von Texten in Zeitungen, Zeitschriften u. Heimatkalendern. Einige der mehrfach aufgelegten Romane, Erzählungen u. so genannten schnurrigen Döhnkes stehen in der Tradition der derb-komischen niederdt. Schwankliteratur, etwa Drüke-Möhne (Münster 1898). Ironie, Satire, überlegener Humor, amüsante Dialoge u. ein feinsinniges Gespür für Natur- u. Charakterstimmungen zeichnen die Prosa aus, die eine psychologisch nuancierte Entlarvung menschl. Schwächen beabsichtigt. Auch im Roman De Iärfschopp (Essen 1910) geraten differenziert dargestellte moralischethische Konflikte in den Blick. In den Erzählungen Wildrups Hoff (Essen 1900), De Strunz (Essen 1902) u. Hus Dahlen (Essen 1903) schildert W. in einer typischen Mischung aus Ernst u. Humor das Leben der Kleinbauern Westfalens, die sich gegen das Vordringen der Industrie u. gegen die Konkurrenz adliger

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Wibmer-Pedit

Großgrundbesitzer nur schwer behaupten Schepper: Begegnungen mit W. Münster 1978. – Ders.: Das Werk A. W.s in Literaturkritik, Literakönnen. Der Ruhm W.s als bedeutendster niederdt. turwiss. u. Literaturgeschichtsschreibung. In: Jb. Lyriker gründet sich auf den drei Gedicht- der A. W.-Gesellsch. 1 (1984/85), S. 16–42. – Albin Gladen: Gesch. u. Gesch.n bei A. W. (1862–1947). sammlungen Mäten-Gaitlink (Essen 1909), In: Westfäl. Forsch.en 40 (1990), S. 86–111. – Pastraoten-Gaoren (Essen 1912) u. Aobend-Klo- Westf. Autorenlex. 3. – Katharina Knäpper: Becken (Essen 1934), die vier zentrale Themen- trachtung der Modernisierung in A. W.s ›De u. Motivkreise aufweisen: die heimatl. Natur, Strunz‹ u. ›De Revolution in Lurum‹. In: Jb. der A. den bäuerl. Menschen u. seine westfäl. Regi- W.-Gesellsch. 22 (2006), S. 7–28. – Werner Freitag: on, den Dichter, Gott. Patriotisch-nationalis- Ländl. Gesellsch. um 1900: Die E.en A. W.s als tische u. kriegspropagandistische Töne herr- Quelle für die Sozial- u. Kulturgesch. Westfalens. schen insbes. in De graute Tied. Kriegs-Gedichte In: ebd. 23 (2007), S. 7–19. – Periodikum: Jb. der A. in Münsterländer Mundart (Essen 1915) vor. W.-Gesellsch. Münster. Bielef. 1984/85 ff. Peter Heßelmann Allerdings wird in W.s Nachkriegsroman Ut de feldgraoe Tied (2 Tle., Essen 1918) dem Krieg aus der Perspektive eines von Tod, Grauen u. Wibmer-Pedit, Fanny, eigentl.: Fanny Elend betroffenen Dorfes kritisch begegnet. Wibmer, geb. Pedit, * 19.2.1890 InnsVölkischen Tendenzen u. dem Nationalsobruck, † 27.10.1967 Lienz/Osttirol; Grabzialismus stand der Katholik ablehnend gestätte: ebd., Friedhof. – Erzählerin, Dragenüber. matikerin, Publizistin. W. war kein rückwärtsgewandter Heimatdichter u. Trivialschriftsteller, sondern er Nach einfacher Schulbildung wurde W. Kellstellte psychologisch differenzierte Charak- nerin in Oberlienz u. lernte dort Leben u. tere u. Konflikte dar u. griff in sozialkrit. Denken der Tiroler Bergbauern kennen. 1912 Absicht Gegenwartsprobleme seiner im Um- heiratete sie u. ging nach Wien. In ihrer bruch befindl. Zeit auf. Unter anderem wur- Freizeit begann sie mit dem Verfassen von den das Vordringen der kapitalistischen In- kleinen Feuilletons u. Skizzen für Osttiroler dustrie in den ländl. Raum, der Gegensatz Lokalzeitungen. Ihre ersten Romane erschievon Stadt u. Land, der tief greifende soziale nen zunächst als Fortsetzungsromane in Wandel der alten Agrargesellschaft u. der Zeitungen (Medardus Siegenwart. In: Lienzer damit einhergehende krisenvolle u. kon- Nachrichten, 1928. Regensb. 1931. Bearb. fliktreiche Modernisierungsprozess, die Dif- Neuaufl. 1957. Die Hochzeiterin. In: Reichsfusion traditioneller Wertvorstellungen u. post, 1928. Die Hochzeiterin. Die drei Kristalle. Verhaltensnormen, das soziale Elend, die Klagenf. 1989). Der einsetzende rasche Erfolg Abholzung der Wälder, die Verschmutzung ihrer antimodernen, religiös grundierten der Flüsse sowie damit verbundene ökolog. Texte verdankt sich der Darstellung einer noch heilen Welt, projiziert auf heroische Schäden zu wiederkehrenden Themen. W.s niederdt. Romane, Erzählungen u. Phasen der Geschichte. Zu W.s beliebtesten Gedichte erreichten weit über seinen Tod Büchern in den 30er Jahren zählen Ritter Flohinaus hohe Auflagenzahlen. Er gilt als der rian Waldauf (Salzb. 1935. Neuaufl. u. d. T. erfolgreichste Volksschriftsteller Westfalens, Maximilians goldener Ritter. Innsbr. 1960. Under nicht zuletzt die vom Untergang be- veränderte Neuaufl. Klagenf. 1989), ein Rodrohte Sprache seiner Heimat, das Platt- man über die Zeit Kaiser Maximilians I., u. deutsche, zu würdigen verstand u. sie vor der Maria-Theresia-Roman Eine Frau trägt die Krone (ebd. 1937. Klagenf. 81976. Neuaufl. dem Vergessen bewahren wollte. Ausgabe: Ges. Werke in Einzelausg.n nach den Wien 1980). Anfang der 1930er Jahre trug W. Originalausg.n. Bearb. v. Hans Taubken. 22 Bde. auch wesentlich zur Wiederbelebung des mittelalterl. Mysterienspiels bei: Das Stern(17 Bde. bisher erschienen), Bielef. 1985 ff. Literatur: Gertrud Schalkamp: A. W. u. die singerspiel (Regensb. 1931) u. das Tiroler KripDorfgesch. Würzb. 1933. – Siegbert Pohl: A. W. als penspiel (Innsbr. 1932) erlebten zahlreiche niederdt. Lyriker. Köln/Graz 1962. – Rainer Aufführungen u. Rundfunkinszenierungen.

Wicel

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Mit Heimkehr zur Scholle (Innsbr. 1938. Bearb. Heidelb. 1949. Steyr 1993 (E.). – Graf u. Herzog. Neuaufl. Klagenf. 1947) näherte sie sich dem Roman um Meinhard II. v. Tirol. Graz u. a. 1954. mythisierenden Bauernroman, eine Tendenz, Neuaufl. u. d. T. Meinhard II. Der Einiger Tyrols. die ihrer polit. Entwicklung entsprach: War Innsbr./Wien 1995 (biogr. R.). – Der hl. Berg. Klagenf. 1958 (R.). – Alles besiegt die Liebe. Mchn. sie 1931 noch Vorsitzende der Christlich 1960 (weihnachtl. Spiel). – Der Brandleger. ReDeutschen Schriftstellervereinigung Win- gensb. 1964 (R.). – Margarete Maultasch. Klagenf. fried geworden u. im Ständestaat u. a. Füh- 1969. Innsbr./Wien 1997 (R.). – Die Dolomitenrerin der Jungfrauenschaft der Vaterländi- krone u. andere Tiroler Sagen. Innsbr. 2008. schen Front im Kreis Lienz sowie Mitgl. des Literatur: Edda Margreiter-Wilscher: F. W.-P. kath. Frauenbundes, ergriff sie 1938 ent- Versuch einer Monogr. Diss. Innsbr. 1983 (mit Bischieden Partei für den »Anschluss«. In ei- bliogr.). – Anton Unterkircher: Zwischen allen nem Aufruf u. d. T. Irrtum, Erkenntnis und Be- Stühlen. F. W.-P. In: Schattenkämpfe. Lit. in Ostkenntnis (in: Wiener Neueste Nachrichten, tirol. Hg. Johann Holzner. Innsbr. u. a. 2006, 12.4.1938) wies sie alle Vorwürfe der »Un- S. 67–85. Johannes Sachslehner / Red. deutschheit« zurück u. sprach ihr »verantwortungsvolles« »Ja« zu Hitler. Dennoch Wicel, Georg ! Witzel, Georg wurde sie kurz nach Erscheinen des von der Kritik begrüßten Romans Die Welserin (InnsWichern, Johann Hinrich, * 21.4.1808 br. 1940. Mchn. 1985) aus der ReichsschriftHamburg, † 7.4.1881 Hamburg. – Evantumskammer wegen »politischer Unzuvergelischer Theologe u. Sozialpädagoge. lässigkeit« ausgeschlossen, im Juli 1943 allerdings aufgrund ihrer Bereitschaft zur Zu- Der Sohn aus einer verarmten Notarsfamilie sammenarbeit mit dem Regime wieder auf- wurde nach dem Besuch des Hamburger Jogenommen. 1944 trat sie völlig überraschend hanneums Gehilfe in einer Erziehungsanaus der Kirche aus, ein Schritt, der ihr von der stalt, kam mit Ideen der Erweckungsbewekath.-konservativen Kritik u. Leserschaft nie gung in Berührung u. studierte evang. in Göttingen u. Berlin völlig verziehen wurde. In W.s Karriere spie- Theologie gelt sich die tiefe ideolog. Unsicherheit des (1828–1831). Nach dem Examen 1832 wieder österr. Kleinbürgers in der Zeit von 1918 bis in Hamburg, arbeitete W. als Oberlehrer an einer Sonntagsfreischule. 1833 gründete er 1945. Literarisch konnte W. aufgrund zahlreicher das »Rauhe Haus«, ein Rettungs- u. ErzieNeuauflagen u. etwa auch mit der Bauern- hungshaus für Kinder aus verarmten Familitrilogie Die Dirnburg (Klagenf. 1949), Auf en, dem bald internat. Modellcharakter zuWolfsegg (ebd. 1949) u. Der Hochwalder (ebd. kam u. das er bis 1873 leitete, sowie die 1950) nahtlos an ihre Vorkriegserfolge an- Brüderanstalt, ein Gehilfeninstitut zur pädagog. Schulung der Mitarbeiter. Als Organ des schließen. Weitere Werke: Der brennende Dornbusch. »Rauhen Hauses« dienten die »Fliegenden Regensb. 1930. 51953 (R.). – Karl Müllers Lostag. Blätter«, die W. seit 1844 herausgab. Auf dem Wiener Roman. Wien 1930. Regensb. 21932. – Das ersten dt. evang. Kirchentag in Wittenberg Marienglöckl v. Leisach. Eine Glockengießer- 1848 rief W. zur »inneren Mission« auf u. Gesch. aus Osttirol. Wien 1932. Unveränd. Nachdr. regte die Bildung des »Centralausschusses für Steyr 1992. – Die Sündenkrot. Regensb. 1932. die Innere Mission der Deutschen Evangeli3 1958 (R.). – Die drei Kristalle. Bauernlegenden aus schen Kirche« an. 1856 berief ihn König dem Osttirol. Mchn. 1932. – Emerenzia. Salzb. Friedrich Wilhelm IV. nach Berlin als Dezer1934. Neuaufl. u. d. T. Die Pfaffin. Ebd. 1937. nent (bis 1874) für das Strafanstalts- u. das 3 1938. Hall in Tirol 1997 (R.). – St. Nothburg, die Armenwesen ins Ministerium des Innern. Dienstmagd Gottes. Salzb./Lpz. 1935. Heidelb. 3 1955. Hall in Tirol 2001. – Der goldene Pflug. Seit 1857 war W. Mitgl. des Evangelischen Mchn. 1938. Steyr 1993 (3 E.en). – Der Wieshofer. Oberkirchenrats; er gründete 1858 das JoSein Weg in die neue Zeit. Innsbr. 1939 (Heimat- hannesstift in Berlin u. organisierte in den roman). – Der erste Landsknecht. Lebensroman Kriegen von 1864, 1866 u. 1870/71 die FeldMaximilians I. Ebd. 1940. – Der Galitzenschmied. diakonie.

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Wichert

Die in W.s Denken zentrale Idee der »in- Wichert, Ernst (Alexander August Georneren Mission« war seine Antwort auf das ge), * 11.3.1831 Insterburg/Ostpreußen, akute soziale Problem des Pauperismus. † 21.1.1902 Berlin. – Erzähler, RomanMaßnahmen zur Linderung der materiellen cier, Dramatiker, Lyriker, Kritiker; Jurist. Not sollten mit diakonisch-missionar. Arbeit W., Sohn aus einer alten Beamtenfamilie, innerhalb der säkularisierten Massengesellstudierte Jura in Königsberg u. erhielt 1860 schaft Hand in Hand gehen. Erziehungsareine Stelle als Kreisrichter in Prökuls. Seit beit u. der Gedanke einer Strafvollzugsre1863 Stadtrichter, seit 1877 Oberlandesgeform bildeten W.s Arbeitsschwerpunkte. richtsrat in Königsberg, wurde er 1887 Ausgaben: Sämtl. Werke. 10 Bde. Hg. Peter Kammergerichtsrat in Berlin u. trat 1896 als Meinhold (Bde. 1–8) u. Günter Brakelmann (Bde. 9 Geheimer Justizrat in Pension. Neben seiner u. 10). Bln. u. a. 1958–88. – Friedrich Löblein: Die Liebe gehört mir wie der Glaube. Ein W.-Lesebuch. berufl. Laufbahn entstand ein höchst umfangreiches literar. Œuvre. Von seinen 30 Ludwigsburg 2008. Literatur: Bibliografie: Georg Schiller: W.-Bi- Dramen wurden die historischen, v. a. aber bliogr. Hainburg 31984. – Weitere Titel: Christian v. Lustspiele wie Der Narr des Glücks (Bln. 1871) Hase u. Peter Meinhold (Hg.): Reform v. Kirche u. u. Biegen oder Brechen (Lpz. 1874) sehr populär. Gesellsch. 1848–1973. J. H. W.s Forderungen im W., von liberaler Grundhaltung, entsprach Revolutionsjahr 1848 als Fragen an die Gegenwart. dem Bedürfnis des Publikums nach literar. Stgt. 1973. – Erich Wittenborn: J. H. W. als Sozi- Bestätigung ihrer bürgerl. Werte u. ihres alpädagoge. Diss. Wuppertal 1982. – Martin Mi- Glaubens an die Zukunft des Bismarckchel: W.-Konkordanz. Hann. 1988. – Leonhard Reichs. Die signifikanteste Leistung des ErDeppe (Hg.): W.-Bibl. Bücher aus dem Besitz v. J. H. zählers W., der 18 Romane u. an die 60 Nou. Johannes W. in der Bibl. des Diakon. Werkes der vellen verfasste, stellen die kulturhistorisch EKD, Bestand Berlin. Kat. Neustadt/Aisch 1995. – Ulrich Heidenreich: Mut zur Tat: J. H. W., Be- wertvollen Littauischen Geschichten (2 F.n, Lpz. gründer der Inneren Mission. Hbg. 1997. – Hans 1881 u. 1890) dar. Steinacker: J. H. W. Ein Menschenfischer aus Passion. Neuhausen-Stgt. 1998. – Wolfgang Neumann-Bechstein: Von der Kate zum Graffiti – J. H. W. Dokumentarfilm. Stgt. 1998. – Evang. Fachhochschule Darmstadt (Hg.): J. H. W. u. seine Bedeutung für die Diakonie heute. Darmst. 1999. – Werner Raupp: J. H. W. In: Bautz. – Martin Gerhardt: J. H. W. u. die Innere Mission. Studien zur Diakoniegesch. Hg. Volker Herrmann. Heidelb. 2002. – Uwe Birnstein: Der Erzieher. Wie J. H. W. Kinder u. Kirche retten wollte. Bln. 2007. – Volker Herrmann, Jürgen Gohde u. Heinz Schmidt (Hg.): J. H. W. – Erbe u. Auftrag. Stand u. Perspektiven der Forsch. Heidelb. 2007. – Dietrich Sattler: Anwalt der Armen, Missionar der Kirche: J. H. W., 1808–1881. Hbg. 2007. – Uwe Dieckhoff: J. H. W. – Mitten im Leben. Zum 200. Jahrestag. Ellwangen 2008 (DVD). – Sigrid Schambach: J. H. W. Hbg. 2008. – Thomas K. Kuhn (Hg.): Zwischen Barmherzigkeit u. Gerechtigkeit. Bochum 2009. – V. Herrmann u. Roland Anhorn (Hg.): J. H. W. Theologe, Sozialpädagoge, Reformer. Heidelb. 2010. Susanne Lange / Red.

Weitere Werke: Aus anständiger Familie. 3 Bde., Bln. 1866 (R.). – Heinrich v. Plauen. 3 Bde., Lpz. 1881 (histor. R.). – Unter einer Decke. Ebd. 1884 (N.n). – Im Dienst der Pflicht. Dresden 1896 (histor. D.). – Ges. Werke. 18 Bde., Lpz. 1896–1902. – Richter u. Dichter. Bln. 1899 (Autobiogr.). Literatur: Reinhard Lehmann: Nachw. In: E. W.: Litauische Gesch.n. Bln./DDR 1983. – Helmut Motekat: Nachw. In: E. W.: Der Schaktarp. Bln. 1988. – Ders.: E. W., ›Richter u. Dichter‹ (1831–1902). In: Acta Borussica 4 (1989/90), S. 219–223. – Tadeusz Namowicz: Altpreußen als Grenzland. Zu einem Motiv in den histor. Romanen v. E. W. In: Das literar. Antlitz des Grenzlandes. Hg. Krzysztof A. Kuczyn´ski. Ffm. u. a. 1991, S. 124–141. – Rolf Parr: Real-Idealismus. Zur Diskursposition des dt. Nationalstereotyps um 1870 am Beispiel v. E. W. u. Theodor Fontane. In: Lit. u. Nation. Die Gründung des Dt. Reiches 1871 in der deutschsprachigen Lit. Hg. Klaus Amann. Wien u. a. 1996, S. 107–126. – Hermann Weber: Vergessene Dichterjuristen: E. W. – ›Richter u. Dichter‹. In: Neue jurist. Wochenschr. 51 (1998), 19, S. 1367–1370. Virginia L. Lewis / Red.

Wichmann von Arnstein

Wichmann von Arnstein, auch: W. v. Ruppin, OPraem / OP, * nach 1180, † 1270 Neuruppin. – Mystiker, Verfasser geistlicher Briefe.

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Engelberger Handschrift sowie Schmidts Abschriften der ehemaligen Straßburger Handschriften. Hg. Ferdinand Vetter. Nachdr. der 2. Aufl. Bln. u. a. 1968, Hildesh. 2000, S. 205). Werke: Marcus Antonius van den Oudenrijn:

Aus dem Geschlecht der von Arnstein stamMiracula quaedem et collationes fr. W., inter mysmend, war W. zunächst von 1210 bis 1228 ticos ord. Praed. nationis Germanicae aetate antiPropst des Prämonstratenserstifts ›Unser quissimi. In: Analecta Sacri Ordinis Praedicatorum Lieben Frau‹ in Magdeburg. Die Kenntnis der 16 (1923/24), S. 396–402, 446–456, 504–512. – Struktur u. Regel des Dominikanerordens, Ders.: Miracula quaedam et collationes Fratris W. die er auf einer Reise nach Paris 1224 erwarb In: Analecta Praemonstratensia 6 (1930), S. 5–53. – u. an dessen Ansiedlung in Magdeburg er sich Deutsche Übersetzungen in Auswahl: Wilhelm Oehl beteiligte, bewegte ihn 1233 zum Eintritt in (Hg.): Dt. Mystikerbriefe des MA 1100–1500. den Orden. 1246 gründete er gemeinsam mit Darmst. 1972, S. 208–215. – Abdr. der Übertragung aus Cgm 531 bei: Regina D. Schiewer (s. Lit.), seinem Bruder Gerhard das erste brandenS. 440. burgische Dominikanerkloster in Neuruppin, Literatur: F. Winter: Legende über W. v. A. Aus dem er bis zu seinem Tod 1270 vorstand. der Utrechter Hs. In: Geschichtsbl. für die Stadt Über W.s geistl. u. myst. Wirken erfahren Magdeburg 11 (1876), S. 180–191. – Wilhelm Oehl wir durch eine Vita, die seine Mitbrüder kurz (Hg.): Dt. Mystikerbriefe des MA 1100–1500, nach seinem Tod verfassten. Dabei handelt es a. a. O., S. 205–207. – Kurt Ruh: Mechthild v. sich um eine lat. Sammlung geistl. Briefe so- Magdeburg u. W. v. A. In: ZfdA 120 (1991), wie korrespondierender Mirakula. Überlie- S. 322–325. – Ders.: Gesch. der abendländ. Mystik. fert ist diese in zwei Handschriften aus dem Bd. 2, Mchn. 1993, S. 292–295. – Eugenie Lecheler: frühen 14. Jh. sowie aus dem 15. Jh. Insge- W. v. A. (1180–1270). In: W.-Jb. 36/37 (1996/1997), samt sind von W. sechs Briefe überliefert, S. 15–46. – K. Ruh: W. v. A. In: VL. – Regina D. Schiewer: Eine deutschsprachige Überlieferung des deren Adressaten je nach Handschrift variie›Miraculum I‹ W.s v. A. In: ZfdA 131 (2002), ren. Als gesichert gilt, dass W.s geistl. Für- S. 436–453. Birgit Zacke sorge sich an die Zisterzienserinnen in Kloster Zimmern richtete; sein Wirken im süddt. Raum belegt weiterhin eine dt. Überlieferung Wichner, Ernest, * 17.4.1952 Za˘brani/ des Miraculum primum in einer Handschrift Guttenbrunn (Banat, Rumänien). – Lyriaus der 1. Hälfte des 14. Jh., die aus dem ker, Prosaautor, Übersetzer. Kloster Katharinental stammt. W. machte 1971 sein Abitur am NikolausMirakel wie auch Briefe W.s sind geprägt Lenau-Lyzeum in Timis¸ oara/Temeswar u. von der bernhardinischen Liebesmystik u. war 1972 Gründungsmitglied der »Aktionsgelten als Beginn der dominikanischen myst. gruppe Banat«. Ebenfalls seit 1972 ist er mit Literatur in Deutschland. Parallelen in der ersten Publikationen in der »Neuen Banater Bildlichkeit seiner Sprache verweisen auf die Zeitung« u. der »neuen literatur« an die ÖfMystikerinnen seiner Zeit, v. a. aber auf fentlichkeit getreten. 1973/74 studierte er an Mechthild von Magdeburg. Wesentlich für der Universität Timis¸ oara Deutsch u. Rumäbeide ist das Konzept der Gottesferne u. die nisch, bevor er 1975 nach Deutschland ausBetonung der eigenen Nichtigkeit. Folgt man wanderte. Seither lebt er als Autor, Übersetden biogr. Angaben zu W. u. den unsicheren zer (v. a. aus dem Rumänischen, u. a. von Überlegungen zu Mechthilds Biografie, kann S¸tefan Ba˘nulescu u. Norman Manea) u. Hereine gemeinsame Zeit in Magdeburg ange- ausgeber (häufig in Zusammenarbeit mit nommen werden. Über Mechthild vermittel- Herbert Wiesner) in (West-)Berlin. W. stute sich dann der Einfluss W.s auf die Mysti- dierte dort 1977–1982 Germanistik u. Polikerinnen in Helfta. Auch Johannes Tauler war tologie an der Freien Universität. 1988 erbeeindruckt von W. u. erwähnt ihn in einer schien sein Lyrikband Steinsuppe (Ffm. 1988. Predigt (Nr. 46 In omnibus requiem quaesivi, Sir. 2., erg. Aufl. 2008), in dem die Auseinander24,7. In: Die Predigten Johannes Taulers. Aus der setzung mit der Banater Heimat eine große

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Meister Wichwolt

Rolle spielt. 1988 wurde W. stellvertretender Reflexionen u. Beiträge zur ›Aktionsgruppe Banat‹ Leiter, 2003 Leiter des Literaturhauses Berlin. u. andere literatur- u. kunstbezogene Arbeiten. Anfangs gab W. Bertolt Brecht als literar. Hbg. 2008. Christoph Willmitzer Referenz an, aber intertextuelle Verfahren sind immer kennzeichnend für seine Texte (Rückseite der Gesten. Gedichte. Springe 2003). Meister Wichwolt (oder Wichbolt), in den Die oft sprachspielerisch-experimentellen Handschriften auch: Wybolt, Babiloth. – Gedichte komponiert er häufig formal durch; Autor des ersten deutschen Alexanderparadigmatisch für W.s Schreiben sind seine romans in Prosa, um/nach 1400. »Prosagedichte«. Oft enthalten seine Texte poetolog. Anspielungen. Seine jüngsten Ge- Die Cronica Allexandri des grossen konigs ist wohl dichte (»bin ganz wie aufgesperrt«. Heidelb. von einem Niederdeutschen vor etwa 1410, 2010) zeichnet eine Entwicklung zu einem vielleicht noch im 14. Jh. verfasst worden. Nur drei Handschriften, von denen die Forpersönlicher gehaltenen Ton aus. Weitere Werke: Elegien Weiß. Grafik Ullrich schung zwei erst spät beachtet hat, nennen Panndorf. Bln. 1988. – Alte Bilder. Geschichten. den Namen des Übersetzers; Babiloth, zuHeidelb. 2001. – Starie Snimki. Plovdiv 2001. – Die nächst gebräuchlich, ist vermutlich aus Einzahl der Wolken. Gedichte (rumän./dt.). Buka- Wichwolt/Wybolt (*Wichbolt) entstellt (so rest 2003. – Herausgaben: Das Wohnen ist kein Ort. Brandis; anders Rosenfeld, S. 366, noch ohne Texte u. Zeichen aus Siebenbürgen, dem Banat u. Kenntnis des Wybolt-Belegs). W. hält sich den Gegenden versuchter Ankunft. In memoriam insg. ziemlich eng an den lat. Wortlaut u. Rolf Bossert. Bremerhaven 1986 (= die horen 32, folgt zunächst der Historia de preliis Alexandri 1987, Bd. 3). – Ein Pronomen ist verhaftet worden. magni J2 (etwa bis zum Tod des Königs Porus Texte der Aktionsgruppe Banat. Ffm. 1992. – Das von Indien; mit Interpolation aus dem SecreLand am Nebentisch. Texte u. Zeichen aus Siebentum secretorum), dann hauptsächlich der Fasbürgen, dem Banat u. den Orten versuchter Ansung J3. Dass W. selbstständig mehrere kunft. Lpz. 1993. – Der Flaneur u. die Memoiren der Augenblicke. Bremerhaven 2001 (= die horen Quellen kombinierte, kann nicht ausge45, 2000, Bd. 4). – Merkmal-Gedichte. Eine Slg. v. schlossen werden, solange keine lat. Kompipoetolog. Vorträgen. Bremerhaven 2002 (= die ho- lation gleicher Zusammensetzung gefunden ren 47, 2002, Bd. 1). – Oskar Pastior: Werkausg. ist. Mchn. 2003 ff. – Gellu Naum: Deutschsprachige W.s Cronica umspannt das ganze Leben Werkausg. Basel/Weil am Rhein 2006 ff. Alexanders (Nectanebus-Vorgeschichte, JuLiteratur: René Kegelmann: Identitätsproble- gend, Eroberung Persiens u. weitere Erobematik u. sprachl. Heimatlosigkeit. Zur ›rumäni- rungszüge, Regierung in Babylon, Vergiftung endt. Lit.‹ der 80er u. frühen 90er Jahre in der BR u. Tod); ein Ausblick auf die polit. EntwickDtschld. In: Studien zu Forschungsproblemen der lung des Weltreichs nach seinem Tod fehlt. dt. Lit. in Mittel- u. Osteuropa. Hg. Carola L. Gottzmann u. Petra Hörner. Ffm. u. a. 1998, Die wunderbaren Begebenheiten beanspruS. 205–218. – Peter Motzan: Von der Aneignung chen weniger Raum als in mancher anderen zur Abwendung. Der intertextuelle Dialog der ru- Alexander-Erzählung; so werden Greifen- u. mäniendt. Lyrik mit Bertolt Brecht. In: Im Dienste Tauchfahrt nur knapp gestreift, die Fahrt der Auslandsgermanistik. Hg. Ferenc Szász. Buda- zum Paradies ist gar nicht aufgenommen. pest 1999, S. 139–165. – Roxana Nubert: Paradig- Dafür erscheint der moralisch-didakt. Zug menwechsel in der rumäniendt. Lit. nach 1964 mit stärker ausgeprägt, u. a. in Aristoteles’ Bebesonderer Berücksichtigung der Aktionsgruppe lehrung des jungen Alexander über FürstenBanat. In: Gegenwartsliteratur. Hg. Helmuth Kiepflichten (nicht in J2), im Briefwechsel mit sel. Bern u. a. 2002, S. 273–280. – Stefan Sienerth: dem Brahmanenkönig Dindimus, in den auf E. W. In: LGL. – Diana Schuster: Die Banater Autorengruppe. Selbstdarstellung u. Rezeption in das Begräbnis in Alexandria folgenden Rumänien u. in Dtschld. Konstanz 2004. – Ulrich Schlussstücken (Grabschriften, Laster Alexvan Loyen: E. W.: Rückseiten der Gesten [Rez.]. In: anders, Sendschreiben des Juden MarSüdostdt. Vierteljahresbl. 53 (2004), H. 4, S. 389 f. – dochaeus, der Alexander zum Glauben an den Anton Sterbling: ›Am Anfang war das Gespräch‹. einen Gott bekehren will).

Wickenburg

Handschriftlich ist W.s Cronica im 15. Jh. fast ebenso reich überliefert wie Seifrits Versdichtung von 1352 u. Johannes Hartliebs Prosa-Alexander von etwa 1450 (14 mitteldt. u. oberdt. Abschriften, dazu zwei Auszüge). Anders als Hartliebs Werk gelangte sie aber nur einmal zum Druck (Rückübersetzung ins Niederdeutsche, ergänzt nach Hartlieb, um 1477/78). In einem Zentrum ihrer Verbreitung, dem Nürnberger Raum, ist die Cronica 1459 für eine dt. Weltchronik (Johannes Platterberger u. Theoderich Truchsess: Excerpta cronicarum) benutzt worden. Ausgaben: Sigmund Herzog: Die Alexanderchronik des Meister Babiloth. 2 Tle. In: Programm des Eberhard-Ludwigs-Gymnasiums in Stuttgart. Stgt. 1897, S. 1–60, u. 1903, S. 3–41, hier Tl. 1, S. 31 ff., Tl. 2, S. 5 ff. (erste zwei Fünftel in zwei Fassungen, synoptisch nach 5 Hss. bzw. 1 Hs.). – Peter Hvilshøj Andersen: Deux témoins en prose du roman d’Alexandre à la fin du Moyen Age en Allemagne: [...] l’Alexandre de Wichbolt. Amiens 2001, S. 62–179, hier S. 93 ff. (Gesamttext nach 1 Hs. mit Benutzung 5 weiterer Hss.); dazu Dorothea Klein in: Germanistik 43 (2002), S. 776 (Nr. 5007). – Digitalisat der Hs. M (München, Bayer. Staatsbibl., Cgm 267): http://daten.digitale-sammlungen.de/ db/0004/bsb00041192/images/. – Krit. Ausg. unter Leitung v. Trude Ehlert in Vorb.

368 Alexander im ›christl.‹ MA. In: Kontinuität u. Transformation der Antike im MA. Hg. Willi Erzgräber. Sigmaringen 1989, S. 45–63. – Rudolf Weigand: Vinzenz v. Beauvais. Hildesh. u. a. 1991, bes. S. 160–164, 249–259. – Trude Ehlert: Die Rolle des Frühdrucks bei der Ed. der ›C. A. d. g. k.‹ des Meister W. (Babiloth). In: Editionsber.e zur mittelalterl. dt. Lit. Hg. Anton Schwob u. a. Göpp. 1994, S. 15–32. – Renate Schänzer: Die Erziehung u. Bildung Alexanders des Großen in den Alexanderdichtungen des MA. Diss. TU Braunschweig 1996, S. 255–270. – Christian Kiening: Schwierige Modernität. Tüb. 1998 (Register). – T. Ehlert: Meister W. In: VL. – Peter Hvilshøj Andersen (s. Ausg.). – Elisabeth Lienert: Dt. Antikenromane im MA. Bln. 2001, S. 65 f. – P. H. Andersen: Wichbolt – un ›fidus interpres‹ par excellence? In: Pratiques de traduction au Moyen Age. Hg. ders. Kopenhagen 2004, S. 66–81. – Florian Kragl: Die Weisheit des Fremden. Studien zur mittelalterl. Alexandertradition [...]. Bern 2005, S. 394–415. – Beate Baier: Die Bildung des Helden. Erziehung u. Ausbildung in mhd. Antikenromanen u. ihren Vorlagen. Trier 2006, bes. S. 240 f., 247–251, 451 f. – Regula Forster: Das Geheimnis der Geheimnisse. Wiesb. 2006, bes. S. 131. Gisela Kornrumpf

Wickenburg, Erik Graf, auch: Robert (von den) Steinen, * 19.1.1903 Kasern bei Salzburg, † 7.9.1998 Salzburg. – RomanLiteratur: Adolf Ausfeld: Die Orosius-Recencier, Lyriker, Publizist.

sion der Historia Alexandri Magni de preliis u. Babiloths Alexanderchronik. In: FS der Bad. Gymnasien. Karlsr. 1886, S. 97–120. – Sigmund Herzog (s. Ausg.). – Carl Georg Brandis: Die Jenaer Hs. des ›Babiloth‹. In: FS Walther Judeich. Weimar 1929, S. 206–209. – Gerta Schmidtgall: Vorstudien zu einer Gesamtausg. der Alexandergesch. des Meister Babiloth. Diss. FU Bln. 1961. – Heribert A. Hilgers: Das Kölner Fragment v. Konrads ›Trojanerkrieg‹. In: ABäG 4 (1973), S. 129–185, bes. S. 131 f., 175–177. – Friedrich Pfister: Kleine Schr.en zur Alexandersage. Meisenheim am Glan 1976, bes. S. 228–239. – H. A. Hilgers: Zu der neuen Ausg. des ›Straßburger Alexander‹. In: ABäG 13 (1978), S. 91–102, bes. S. 91. – Hans-Hugo Steinhoff: Meister Babiloth. In: VL. – Hans-Friedrich Rosenfeld: Babiloth oder Wichwolt? In: ZfdPh 105 (1986), S. 332–369. – Franzjosef Pensel: Verz. der altdt. [...] Hss. in der Universitätsbibl. Jena. Bln. 1986, S. 490. – Rüdiger Schnell: Zur volkssprachl. Rezeption des ›Speculum Historiale‹ in Dtschld. In: Vincent of Beauvais and Alexander the Great. Hg. Willem J. Aerts u. a. Groningen 1986, S. 101–126, bes. S. 112 f., 117, 122, 125. – Ders.: Der ›Heide‹

W. stammte aus einer adligen Familie mit ausgeprägten künstlerischen Begabungen. Nach dem Abitur am Schottengymnasium in Freistadt studierte er einige Semester Germanistik in München u. Wien. Seit 1928 war er Feuilletonredakteur der »Frankfurter Zeitung«. Nach dem Militärdienst wurde er 1945 Chefredakteur des International Service Branch in Salzburg, übersiedelte 1946 nach Wien u. trat in die Redaktion der »Wiener Bühne« ein. Nach deren Einstellung 1949 übernahm er das Feuilleton der »Stuttgarter Zeitung« u. anschließend das kulturpolit. Referat des »Standpunkt« in Meran; 1951 wurde er österr. Kulturkorrespondent der »Welt«. Neben vielfältigen publizistischen Arbeiten entstand W.s literar. Werk. Sein erster, autobiogr. Roman Farben zu einer Kinderlandschaft (Bln. 1934) zeigt ebenso wie der Roman Florian. Taggleichen einer Jugend (Ffm. 1940) W.s

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Verbundenheit mit Mensch u. Landschaft. Durch die altösterr. Konversationsform u. die im Werk zum Ausdruck gebrachte Lebensart führte W. nach 1945 die Traditionen der Vorkriegszeit fort. 1980–1988 war er Präsident des österr. P.E.N. Weitere Werke: Salzburger Gloria. Landschaftsbuch. Freib. i. Br. 1937. – Die Begleiterin. U. d. T. Resi. Salzb. 1948 (R.). – Mit zarter Hand am Steuer. Autofibel. Wien 1956. – Kleine Gesch. Österreichs. Ffm. 1958. – Barock u. Kaiserschmarrn. Mchn. 1961 (Ess.s u. Skizzen). – Kleine Gesch. Wiens. Ffm. 1963. – Der gute Ton nach alter Schule. Ein Knigge für Leute v. heute. Wien 1978. – Lauschet der Stille. Wien/Mchn. 1978 (L.). – Wien. Ein Spaziergang durch die Stadt u. ihre Gesch. Wien 1992. – Post Festum. Tgb. eines Nonkochs. Ebd. 1999. Literatur: György Sebestyén: Lächelnd u. unbeugsam. Der Schriftsteller E. Graf W. In: Pannonia 16 (1988), S. 26 f. Elisabeth Schawerda / Red.

Wickert, Erwin, * 7.1.1915 Bralitz bei Eberswalde, † 26.3.2008 Remagen. – Diplomat; Journalist, Hörspielautor, Erzähler u. Romancier. Der Pfarrerssohn ging in Wittenberg u. Berlin zur Schule, studierte in Berlin, Carlisle u. Heidelberg u. war nach mehreren Auslandsreisen 1939–1945 u. 1955–1980 Beamter im Auswärtigen Amt, zuletzt als Botschafter in Bukarest u. Peking. W. schrieb rund 20 Hörspiele, von denen Darfst Du die Stunde rufen?, eine Auseinandersetzung mit der Euthanasie, 1925 mit dem ersten Hörspielpreis der Kriegsblinden ausgezeichnet wurde. W.s Romane u. Erzählungen spielen zumeist im Fernen Osten oder in der Antike, sind aber keineswegs als bloße dokumentarische Werke zu lesen. In dem Roman Der verlassene Tempel (Stgt. 1985) versetzt sich ein Heidelberger Mathematikprofessor in die röm. Antike zurück, was Gelegenheit gibt, die Grenzen zwischen Gegenwart u. Geschichte kunstvoll zu verwischen u. Platon mit Kant u. Augustinus zu konfrontieren. Als ausgewiesener Kenner des Fernen Ostens, inbes. Chinas (China von innen gesehen. Stgt. 1982. Der fremde Osten. China und Japan gestern und heute. Stgt. 1988), schrieb W. re-

Wickram

gelmäßig für die »Frankfurter Allgemeine Zeitung«. Weitere Werke: Fata Morgana über den Straßen. Lpz. 1938 (E.en). – Das Paradies im Westen. Stgt. 1939 (R.). – Die Adamowa. Ebd. 1941 (E.). – Du musst dein Leben ändern. Ebd. 1949 (R.). – Der Klassenaufsatz. Alkestis. Ebd. 1960 (Hörsp.e. mit autobiogr. Nachw.). – Der Auftrag. Ebd. 1961. U.d.T. Der Auftrag des Himmels. Roman aus dem kaiserl. China. Wiesb. 1979. – Mut u. Übermut. Gesch.n aus meinem Leben. Stgt. 1991 (Autobiogr. Tl. 1). – Sonate mit dem Paukenschlag u. sieben andere unglaubl. Gesch.n. Ebd. 1995 (E.en). – Die glückl. Augen. Gesch.n aus meinem Leben. Ebd. 2001 (Autobiogr. Tl. 2). Literatur: Eckart Kleßmann (Hg.): Die Wahrheit umkreisen. Zu den Romanen v. E. W. Stgt./ Mchn. 2000. Michael Scheffel

Wickram, Georg, Jörg, * um 1505 Colmar, † um 1555/1560 Burkheim. – Verfasser von Spielen u. Romanen. Der unehel. Sohn eines Colmarer Ratsherrn wurde 1546 Bürger Colmars, bekleidete dort das Amt eines Ratsdieners u. scheint nebenher v. a. als Maler u. Buchhändler gewirkt zu haben. Seit Beginn des Jahres 1555 war W. Stadtschreiber in Burkheim/Kaiserstuhl. Am 21.12.1546 erwarb W. in Schlettstadt die berühmteste u. umfänglichste, nachmals so genannte Kolmarer Liederhandschrift. Dieser Erwerb steht in Zusammenhang mit W.s Bemühungen, auch in Colmar eine Meistersingergesellschaft zu begründen. Schon »vff volgendenn weinacht tag« hat er gemeinsam mit anderen »die erst schu8 l gehalten«. Man wird nicht ausschließen können, dass W. selbst Meisterlieder gedichtet hat; erhalten hat sich keines. Aus seiner Feder stammt die Tabulatur der Gesellschaft (cgm 5000. 1549) sowie eine Sammlung mit 73 Liedern v. a. von Hans Sachs (cgm 4998. 1549). 1545, in der Zeit seiner Tätigkeit für die Meistersinger, erschien W.s Bearbeitung der Ovid-Übersetzung Albrechts von Halberstadt (um 1200), die nur in dieser Form überliefert ist. Der des Lateins unkundige W. empfiehlt seinen auf einem volkssprachl. Vorgänger fußenden Ovid allen Lesern als unterhaltsames Sittenlehrbuch u. speziell »allen Malern / Bildthauwern / vnnd [...] allen künstnern als

Wickram

nützlich / Von wegen der ertigen Inuention«. Die ersten zwei Auflagen (1545. 1551) sind mit 46 Holzschnitten W.s versehen. Zusammen mit dem allen fünf Auflagen (bis 1631) beigefügten allegorisierenden Kommentar des Gerhard Lorichius hat W.s Werk nachhaltig die Kenntnis Ovids bei den Meistersängern befördert (Sachs, Ambrosius Metzger u. andere). W.s literar. Anfänge reichen bis in die 30er Jahre des 16. Jh. zurück. Einer Bearbeitung von Pamphilus Gengenbachs Die zehn Alter dieser Welt (1531) folgten mehrere Spiele mit Narrenthematik (u. a. Narren gießen. 1537/38) u. später v. a. geistl. Dramen: Das Spil von dem verlornen Sun (1540), das mit seiner Verbindung von reformatorischem Gnadenverständnis u. Erziehungslehre in eine lange Reihe vergleichbarer Bearbeitungen dieses Stoffes im 16. Jh. gehört, dann die umfängliche Biblische Histori des Tobias (1551), der wie Hiob das von Gott gesandte »Creutz« geduldig trug u. dem sein vorbildhaftes Almosengeben zum »Trost vor Gott« wurde, oder das Apostelspiel (1552), in dem gezeigt wird, »durch was grossen gefar / angst / trübsal / creütz / und leiden / der Christlich glaub angefangen und aufferwachsen« ist. Dezidiert nicht zu »underweysung« oder »leer«, sondern um die »schweren Melancolischen Gemüter« zu ermuntern, sind die u. d. T. Rollwagenbüchlein zusammengefassten 67 Geschichten geschrieben, die 1555–1613 wenigstens 17, den Grundbestand bis auf 111 Erzählungen erweiternde Auflagen erfuhren. Abgesehen von der ersten Geschichte mit ihrer Verurteilung falschen Heiligenkults u. Wallfahrtswesens im Epimythion, sollen die meisten ausschließlich der »guoten kurtzweil« des Lesers dienen u. sind mit Bezug auf Matth. 18,6 f. ausdrücklich den »ergernuß« bringenden, unnützen u. das Schamgefühl »züchtiger Personen« verletzenden Geschichten anderer entgegengestellt. Das fast zeitgleich entstandene narrative Experiment Der irr reitende Pilger (1555/56), in dem zahlreiche Gattungen (u. a. Dialog, Gespräch, Reisebericht, Allegorie) vereint sind, fasst die zentralen Anliegen W.s zusammen. Es gipfelt im Lob eines kontemplativen, Studium, Andacht u. Armenpflege gewidmeten

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Lebens, zu dem sich der Protagonist Arnolt nach einer abenteuerreichen Pilgerfahrt, die ihn auch mit seinem »verlorenen Sohn« erneut zusammenführt, u. einem Gespräch mit einem Abt bekehrt. W.s fünf Romane (Ritter Galmy, 1539; Gabriotto und Reinhart, 1551; Der jungen Knaben Spiegel, 1554; Von guten und bösen Nachbauern, 1556; Der Goldtfaden, 1557) gelten als der bedeutendste, den modernen Prosaroman in Deutschland begründende Teil seines Werks. Allerdings bereitet eine genauere Bestimmung dieser »Modernität« Probleme u. ebenso die Antwort auf die Frage, welchem seiner Romane vorzugsweise dieses Prädikat zukommt. So sind Galmy u. Gabriotto und Reinhart auf der Handlungsebene zwar weitgehend traditionell: Im einen Fall endet die Liebe eines Ritters zu seiner verheirateten Geliebten nach vielfachen Verzögerungen glücklich, d. h. in der Ehe, da der Ehemann rechtzeitig stirbt; im zweiten Fall nimmt die als unstandesgemäß empfundene Liebe zweier Freunde zu einer Königs- u. einer Grafentochter ein tragisches Ende. Dieser stoffl. Konventionalität steht aber mit der v. a. im Galmy thematisierten, ganz unmittelalterl. Trennung von körperl. u. seel. Liebe die Entdeckung des »Ehebruchsthemas nach innen« u. damit ein Zug moderner Innerlichkeit innovativ gegenüber (Haug). Die drei jüngeren Romane bieten v. a. auf der Handlungsebene Neues. Der Goldtfaden greift das »Aufsteigerthema« auf: Ein Hirtensohn heiratet am Ende die Tochter eines Grafen u. erbt dessen Titel. Diese provozierende Karriere wird freilich dadurch relativiert, dass der Held Lewfried von seiner Geburt an als ein Auserwählter erscheint u. ohnehin ein Muster an Tugend ist. Diese in Verbindung mit Gelehrsamkeit zeichnet auch Fridbert aus, den positiven Protagonisten des Knaben Spiegel, der mit ihrer Hilfe zu Amt u. Würden gelangt. Gänzlich in nichtadeligem, kaufmännisch-handwerkl. Milieu spielt der Nachbauern-Roman, der mehrfach als der am ehesten zukunftweisende Roman W.s charakterisiert wurde (u. a. Jan-Dirk Müller): Auch hier steht die auf die Bibel (AT) gegründete Erziehung des Sohnes durch den Vater im Vordergrund, nicht aber als Mög-

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lichkeit des sozialen Aufstiegs, sondern als Voraussetzung dafür, zum Kreis der »Guten« zu gehören, der sich mit familiären u. merkantilen Interessen von dem »Bösen« absondert. Dieser Antizipation der bürgerl. Familie steht als traditionelles Moment entgegen, dass hier der Liebe keinerlei Autonomie zugestanden wird; sie bleibt im Dienst der Zweckgemeinschaft letztlich öffentlich. Ausgaben: Werke. Hg. Johannes Bolte. 8 Bde., Tüb. 1901–1906. – Sämtl. Werke. Hg. Hans-Gert Roloff. 13 Bde., Bln. 1967–2003. – Romane des 15. u. 16. Jh. Nach den Erstdrucken mit sämtl. Holzschnitten. Hg. Jan-Dirk Müller. Ffm. 1990, S. 679–827 (›Knabenspiegel‹ u. ›Dialog von einem ungeratenen Sohn‹), 1261–1318 (Komm.). Literatur: Bibliografien: Bodo Gotzkowsky: ›Volksbücher‹ [...]. Bibliogr. der dt. Drucke. Tl. I: Drucke des 15. u. 16. Jh. Baden-Baden 1991, S. 442–453, 574–583; Tl. II: Drucke des 17. Jh. Baden-Baden 1994, S. 121–125, 180 f. – Weitere Titel: Erich Schmidt: Jörg W. In: ADB. – Clemens Lugowski: Die Form der Individualität im Roman. Studien zur inneren Struktur der frühen dt. Prosaerzählung. Bln. 1932. Nachdr. Hildesh. 1970. Neuausg. mit Einl. v. Heinz Schlaffer. Ffm. 1976. – Karl Stackmann: Die Auslegung des Gerhard Lorichius zur ›Metamorphosen‹-Nachdichtung J. W.s. In: ZfdPh 86 (1967), Sonderheft, S. 120–160. – Hauke Stroszeck: Pointe u. Poet. Dominante. Ffm. 1970, S. 104–122. – Hannelore Christ: Literar. Text u. histor. Realität. Düsseld. 1974. – Christoph Petzsch: J. W.s Singergesellsch. u. ihre große Liederhs. In: Annuaire de la Société d’Histoire et d’Archéologie de Colmar 25 (1975/76), S. 91–119. – Jan Knopf: Frühzeit des Bürgers. Stgt. 1978, S. 25–57. – J.-D. Müller: Vertauschte Väter u. verlorene Söhne. In: Akten des 6. Internat. Germanisten-Kongresses. Bern u. a. 1980, S. 247–255. – Ders.: Frühbürgerl. Privatheit u. altständ. Gemeinschaft. In: IASL 5 (1980), S. 1–32. – Harald Fricke: Norm u. Abweichung. Mchn. 1981, S. 230–238. – Erich Kleinschmidt: Stadt u. Lit. in der frühen Neuzeit. Köln/Wien 1982, S. 238–261. – Dieter Kartschoke: ›Bald bracht Phebus seinen Wagen ...‹. In: Daphnis 11 (1982), S. 717–741. – Xenja v. Ertzdorff: Romane u. Novellen des 15. u. 16. Jh. in Dtschld. Darmst. 1989, S. 46–49, 105–133. – Walter Haug: J. W.s ›Ritter Galmy‹. In: Traditionswandel u. Traditionsverhalten. Hg. ders. u. Burghart Wachinger. Tüb. 1991, S. 98–122. – E. Kleinschmidt: J. W. In: Füssel, Dt. Dichter, S. 494–511. – Elisabeth Wåghäll: G. W. Stand der Forsch. In: Daphnis 24 (1995), S. 491–540. – Bri-

Widebram gitte Rücker: Die Bearb. v. Ovids Metamorphosen durch Albrecht v. Halberstadt u. J. W. u. ihre Kommentierung durch Gerhard Lorichius. Göpp. 1997. – Hannes Kästner: Wissen für den ›gemeinen Mann‹. Rezeption u. Popularisierung griech.-röm. Lit. durch J. W. u. Hans Sachs. In: Latein u. Nationalsprachen in der Renaissance. Hg. Bodo Guthmüller. Wiesb. 1998, S. 345–378. – Manuel Braun: Ehe, Liebe, Freundschaft. Semantik der Vergesellschaftung im frühnhd. Prosaroman. Tüb. 2001. – Frank Muller: G. W. In: NDBA, Lfg. 40 (2002), S. 4222. – D. Kartschoke: ›Ritter Galmy vß Schottenland‹ u. J. W. aus Colmar. In: Daphnis 31 (2002), S. 469–489. – Volker Mertens: Lit. oder Lebenswelt? Leufried, Lasarus & Co. Höf. u. stadtbürgerl. Männer im ›Goldtfaden‹ u. im ›Nachbaurn‹-Roman. In: Lit., Gesch., Literaturgesch. [...]. FS Volker Honemann. Hg. Nine Miedema u. a. Ffm. 2003, S. 295–313. – Vergessene Texte, verstellte Blicke. Neue Perspektiven der W.-Forsch. Hg. Maria E. Müller u. a. Ffm. u. a. 2007. – Stefanie Schmitt: Humanistisches bei G. W.? Zur Problematik deutschsprachiger humanist. Lit. In: Humanismus in der dt. Lit. des MA u. der Frühen Neuzeit. Hg. Nicola McLelland u. a. Tüb. 2008, S. 137–154. – H.G. Roloff: G. W. als Editor. In: Autoren u. Redaktoren als Editoren [...]. Hg. Jochen Golz u. a. Tüb. 2008, S. 35–41. – Michael Mecklenburg: ›Dann es ist nit der gelerten buoch‹. Wissen, Buch u. Erfahrung bei J. W. In: Buchkultur u. Wissensvermittlung in MA u. Früher Neuzeit. Hg. Andreas Gardt, Mireille Schnyder u. Jürgen Wolf. Bln. 2011, S. 245–260. Jens Haustein / Red.

Widebram, Widebrandus, Friedrich, * 1.7. 1532 Pößneck/Vogtland,, † 2.5.1585 Heidelberg. – Protestantischer Theologe u. neulateinischer Dichter. Nach Schulbesuch in Pößneck, Naumburg u. Eisenach studierte W. ab 1549 in Jena u. ab 1551 in Wittenberg (Magisterpromotion 1555), amtierte als Gymnasialrektor in Zerbst u. Eisenach u. wurde 1563 Professor der lat. Sprache u. Dialektik in Jena, 1569 Pfarrer, dann Generalsuperintendent in Wittenberg u. 1570 Doktor der Theologie. Auf dem Torgauer Konvent des Kryptocalvinismus beschuldigt, wurde W. inhaftiert u. drei Jahre verbannt. Nach der Entlassung beteiligte er sich an der Reformation der Grafschaft Katzenelnbogen, wurde 1577 Pastor in Dietz u. reformierte die Grafschaft Solms-Braunfels.

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1584 berief ihn Johann Casimir als kurfürstl. etarum graecorum Germaniae a renatis literis ad nostra usque tempora [...]. Ffm./Lpz. 1730, Kirchenrat nach Heidelberg. Die frühere lat. Dichtung W.s bietet kul- S. 152–54. – Friedrich Wilhelm Cuno: F. W. In: turhistorisch interessante Stoffe: Der Typus ADB. – Ellinger, Bd. 2, S. 126–130, 137. – Georg Biundo: Die evang. Geistlichen der Pfalz seit der depositionis scholasticae, heroico carmine descriptus Reformation (Pfälzisches Pfarrerbuch). Neustadt a. (Wittenb. 1559 u. ö.) etwa schildert in lat. d. Aisch 1968, Nr. 5918, S. 508. – Hermann WiegHexametern den akadem. Brauch der recht and: Hodoeporica [...]. Baden-Baden 1984. – DBA. gewaltsamen »Reinigung« des akadem. – Johannes Hund: Das Wort ward Fleisch. Eine Grünschnabels von allen Überresten des vor- systematisch-theolog. Untersuchung zur Debatte akadem. Lebens, das Lehrgedicht Palamaedia um die Wittenberger Christologie u. Abendmahls(u. a. in: Caspar Dornau: Amphitheatrum sa- lehre in den Jahren 1567 u. 1574. Gött. 2006, Repientiae [...]. Hanau 1619. Nachdr. hg. u. ein- gister. – Sünje Prühlen: Heinrich Moller [...]. In: gel. v. Robert Seidel. Goldbach 1995, Konfession, Migration u. Elitenbildung. Studien S. 232–236; dort auch weitere Dichtungen zur Theologenausbildung des 16. Jh. Hg. Herman J. Selderhuis u. a. Leiden 2007, S. 255–286. – Ulrike W.s, S. 502 f.: Agaso, u. 820 f. [recte 814 f.]: Ludwig: Philippismus u. orthodoxes Luthertum an Depositio scholastica) ist ein an bibl. u. antiken der Univ. Wittenberg [...]. Münster 2009. Beispielen orientiertes Lob des Strohs, in der Hermann Wiegand / Red. Febris (Wittenb. 1559. Internet-Ed. in: VD 16; auch in Johannes Dinckels De origine, causis, Widl, Adam, * 9.8.1639 München, † 23.2. typo [...] ritus, qui vulgo [...] depositio appellatur, 1710 Ebersberg. – Jesuit, neulateinischer oratio. Magdeb. 1582. Internet-Ed. in: ebd., Dichter, Hagiograf. v v Bl. C7 –F1 ) gibt W. die detailgesättigte BeW. trat am 9.11.1656 in die Gesellschaft Jesu schreibung eines Schlaraffenlandes. Das spätere »Hodoeporicon exilii« (vgl. ein, lehrte an den Jesuitengymnasien in Hall/ Gruter, S. 1081–1098) über eine Reise von Tirol (1663), in Eichstätt u. dann wieder in Naumburg nach Nürnberg zeigt W. als Got- Hall. 1676 war er Direktor des Jesuitengymtesstreiter wider Satan. Es leitet über zu dem nasiums in Regensburg, 1680 in gleicher Eierst postum erschienenen poetischen Haupt- genschaft in Konstanz. 17 Jahre wirkte er als werk Poematum [...] liber primus (Heidelb. Prediger v. a. in Altötting u. Ebersberg. Ne1601): u. a. Elegien auf Christi Geburt, versi- ben poetischen u. oratorischen Kasualschriffizierte Gebete u. Auseinandersetzungen mit ten publizierte W. ein groß angelegtes Buch Haft u. Verbannung, so das »Soliloquium lat. Lyrik im Stil des Horaz, Lyricorum libri III. Carceris«, welches das unerschütterl. Gott- Epodon liber unus (Ingolst./Mchn. 1674 u. ö), vertrauen des Melanchthonschülers spiegelt. das – wie schon das Titelkupfer ausweist – in Weitere Werke: Ecloga de veteri politia judaica, der Tradition der antiken Lyrik u. der großen et de regno Christi. Wittenb. 1554. – Propositiones nlat. Jesuitendichter der ersten Hälfte des 17. de poetica, quae disputabuntur die V. Aprilis in Jh. steht. W. formulierte in seiner lyr. DichAcademia Ienensi. Jena 1564. – Carmen heroicum tung ein Erziehungsprogramm für seine jude vinea Christi [...]. Jena 1564. gendl. Zöglinge; zugleich verstand er sich als Ausgaben: Psalterium Davidis integrum, car- habsburgtreuer Reichspatriot, der gegen Almine redditum. Straßb. 1579. Internet-Ed. in: CA- amodewesen u. Ausländerei kämpft. Wie bei MENA. – Gedichte in: Delitiae poetarum Germa- seinem Vorbild Jacob Balde, den er in der norum [...]. Hg. Janus Gruter. Bd. 6, Ffm. 1612. zweiten Ode des ersten Buchs preist, sind Internet-Ed. in: CAMENA, S. 1065–1117. – Elegia nicht wenige Gedichte Maria, der Patronin in [...] obitum [...] dominae Elisabethae principis Leuchtenbergensis, coniugis [...]. o. O. 1579. In- Bayerns, gewidmet (Ode III, 1 feiert die ternet-Ed. in: UB Ffm. (Einblattdr.). – Internet-Ed. Münchner Mariensäule); zahlreiche andere gelten den Heiligen aus dem eigenen Orden. weiterer Werke in: BSB München. Literatur: Bibliografie: VD 16. – Weitere Titel: Als Hagiograf verfasste W. ein Buch über den Johann Jacob Grynaeus: Oratio [...] de vita et morte hl. Sebastian, den Patron Ebersbergs (Divus [...] Friderici Widebrami [...]. Heidelb. 1585. In- Sebastianus Eberspergae Boiorum propitius [...]. ternet-Ed. in: VD 16. – Georg Lizel: Historia po- Mchn. 1688), u. übersetzte Joachim Seilers

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Lebensbeschreibung der Ida von Tockenburg (Vita [...] S. Iddae [...] Tockenburgi [...] ex iodiomate germanico in latinum traducta [...]. Konstanz 1685). Eine »Lobpredigt« beschäftigt sich mit der Heilig-Grab-Verehrung auf dem Mariä-Hilf-Berg bei Amberg/Oberpfalz (Neue [...] Grab-Statt auff dem [...] Mariä Hilff-Berg [...]. Amberg 1701). Weitere Werke: Nuptialis Panegiris augustissimo [...] Leopoldi I. [...] et Claudiae [...]. Innsbr. 1673. – Grandium Mysteriorum illustrium [...] Heroum elogia. Ingolst. 1676. – Epithalamius panegiricus in coronatis nuptiis Annae Comitis Palatinae Neoburgicae [...]. Ebd. 1689. – David fratrum suorum minimus David under seinen Brüdern der Mindiste [...]. Amberg 1700. – Übersetzer: Andreas Kummeter: Miles vere christianus [...]. Würzb. 1695 (Leichenpredigt auf Notker Wilhelm v. Öttingen). Ausgaben: Lyricorum libri III. Epodon liber unus. Ingolst./Mchn. 1674. Internet-Ed. in: CAMENA. – Auswahl in: Bayer. Bibl. Hg. Hans Pörnbacher. Bd. 2, Mchn. 1986, 238–241, 958–960, 1303, 1342 f. Literatur: Bibliografien: Backer/Sommervogel, Bd. 8, Sp. 1107 f.; Bd. 9, Sp. 908 f. – VD 17. – Weitere Titel: Bernhard Duhr: Gesch. der Jesuiten [...]. Bd. 3, Mchn./Regensb. 1921, S. 452 f. u. ö. – J. M. Fernandez: Poetas Latinos [...]: A. W. [...]. In: Humanidades 7 (1955), S. 215–254. Hermann Wiegand / Red.

Widmann, (Georg) Achilles Jason, * um 1530 Schwäbisch Hall, † 1597 Schwäbisch Hall. – Verfasser eines Schwankromans. W. legte sich früh die beiden heroischen Vornamen Achilles u. Jason zu. Er schlug die Verwaltungslaufbahn ein, wurde gräflich hohenloh. Vogt zu Neuenstein bei Oehringen u. lebte bis 1597 als Justitiar des Stifts Chomburg in Schwäbisch Hall. W. ist lediglich als Verfasser der History Peter Lewen, des andern Kalenbergers, was er für seltzame abenthewr fürgehabt vnd begangen (Ffm. um 1558) bekannt geworden, einer Art Fortsetzung u. Übertragung der sehr populären österr. Geschichte des Pfarrers von Kalenberg (Augsb. um 1473) ins Schwäbische. Zuvor nicht literarisch in Erscheinung getreten, musste W. den Leser wegen seiner häufig unbeholfenen Reimereien um Nachsicht bit-

ten. Sein wichtigstes Ziel ist lachende Unterhaltung. Sie dient nicht zuletzt dem diätet. Zweck, das schwere Essen verdaulich zu machen, das dickflüssige Blut zu beschleunigen u. die schwarze Galle der Melancholie zu vertreiben. Dabei versichert W., dass er mit seinen »lecherlich bossen« niemanden verletzen, also auf die aggressive Komik verzichten wolle, die für die Schwankdichtung des SpätMA u. der frühen Neuzeit kennzeichnend ist. Die History Peter Lewen ist als Schwankroman konzipiert, als Sammlung von Einzelschwänken, die durch einen biogr. Erzählrahmen verbunden werden. Dabei folgen die Teile der typischen Erzähllogik schwankhaften Erzählens: Im Mittelpunkt steht der souveräne Held, der aufgrund seiner listigen Vernunft allen anderen überlegen ist u. seinen eigenen Gewinn sichert; der die Kunst des Wörtlichnehmens beherrscht u. damit lachendes Vergnügen hervorruft; der aus der Konfrontation von Priesteramt u. Betrug komische Effekte gewinnt, auch die Mittel obszöner Komik nicht verachtet. Allerdings ist W.s Witz matter, der Erzählstil unbeholfener u. die Figuration des Schwankhelden widersprüchlicher als etwa bei Botes Ulenspiegel, dem Pfarrer vom Kalenberg oder auch dem Bauern Markolf. Vorbild des Peter Lew ist vielleicht ein Pfarrer Peter Düssenbach, der bis zum Ende des 15. Jh. in Schwäbisch Hall bezeugt ist. Eine bemerkenswerte Rezeption des Peter Lew ist nicht bekannt; aus dem 16. Jh. sind drei Drucke überliefert. Ausgaben: Narrenbuch. Hg. u. erl. v. Felix Bobertag. Bln./Stgt. 1884. Nachdr. Darmst. 1964, S. 87–140. – Histori Peter Löwens (Augsburg um 1559). Nachdr. mit einem Nachw. v. Daniel Stihler. Schwäbisch Hall 2000. Literatur: Bibliografie: Bodo Gotzkowsky: ›Volksbücher‹ [...]. Bibliogr. der dt. Drucke. Tl. 1: Drucke des 15. u. 16. Jh. Baden-Baden 1991, S. 584–586; Tl. 2: Drucke des 17. Jh. Ebd. 1994, S. 182 f. – Weitere Titel: Christian Kolb: Der Verfasser u. der Held des Peter Leu. In: Vjs. für Literaturgesch. 6 (1893), S. 110–114, 430–432. – Ludwig Fränkel: Widman(n). In: ADB (Familienart.). – W. Röcke: Die Freude am Bösen. Studien zu einer Poetik des dt. Schwankromans im SpätMA. Mchn. 1987, S. 191–193. – Bärbel Schwitzgebel: Noch

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nicht genug der Vorrede. Zur Vorrede volkssprachiger Slg.en [...] des 16. Jh. Tüb. 1996. – Alexander Schwarz u. Dorothee C. Papendorf: Eulenspiegelähnl. Gestalten. In: Verführer, Schurken, Magier. Hg. Ulrich Müller u. a. St. Gallen 2001, S. 211–225. – Eva Wodarz-Eichner: Narrenweisheit im Priestergewand [...]. Mchn. 2007, S. 212–214. Werner Röcke / Red.

Widmann, Josef Victor, auch: Messer Ludovico Ariosto Helvetico, * 20.2.1842 Nennowitz/Mähren, † 6.11.1911 Bern. – Redakteur; Autor von Reisebeschreibungen, Erzählungen, Romanen, Dramen, Gedichten. W.s Vater Joseph Otto Widmann, zunächst Mönch im Zisterzienserkloster Heiligenkreuz bei Wien, wurde 1845 von der protestantischen Gemeinde Liestal bei Basel zu ihrem Pfarrer gewählt. W. besuchte dort die Primar- u. Bezirksschule, dann das Basler Pädagogium (Lehrer waren u. a. Jacob Burckhardt u. Wilhelm Wackernagel) u. studierte danach an den Universitäten Basel, Heidelberg u. Jena Theologie. 1867 war W. Pfarrhelfer in Frauenfeld, 1868–1880 Vizedirektor, dann Direktor einer Berner Mädchenschule. Auf Verlangen pietistischer Kreise entlassen, erhielt er 1880 die Ehrendoktorwürde der Universität Bern u. übernahm im Herbst desselben Jahres die Feuilletonredaktion der Zeitung »Der Bund«. Jährlich verfasste er in dieser Eigenschaft 300–500 Rezensionen; als seine Hauptaufgabe betrachtete er jedoch die Förderung noch unbekannter Autoren (u. a. Robert Walsers u. Carl Spittelers, mit dem er seit 1858 befreundet war). W. besprach als einer der ersten Nietzsches Werk (Jenseits von Gut und Böse) in einer Tagszeitung ausführlich (Nietzsches gefährliches Buch. In: Der Bund, 16./ 17.9.1886); in seinem Drama Jenseits von Gut und Böse (Urauff. Meiningen 1893) führte er das Scheitern v. Nietzsches Philosophie vor. Zwischen 1886 u. 1888 verbrachte Johannes Brahms zahlreiche Wochenenden im Hause W.s; gemeinsame Reise führten nach Italien (1888, 1890, 1893). W.s eigene Werke kennzeichnen gemütvolle Ironie einerseits, Resignation, Verzicht u. Todesbereitschaft andererseits. Thema-

tisch u. formal ist das Spektrum sehr breit: Antikendramen (Iphigenie in Delphi. Frauenfeld 1865), Romane (Die Patrizierin. Bern 1888), Novellen, Erzählungen, Komödien (Maikäferkomödie. Frauenfeld 1897), Reiseberichte u. Italienbücher (Rektor Müslins Italiänische Reise. Zürich 1881). Weitere Werke: Arnold v. Brescia. Frauenfeld 1867 (Trauersp.). – ’Bin, der Schwärmer. Idyll. Mit Zeichnungen v. Fritz Widmann. Ebd. 1896. – Johannes Brahms in Erinnerungen. Bln. 1898. Neu hg. u. erg. v. Willi Reich. Basel 1947. Mit einer Einl. v. Samuel Geiser. Zürich/Stgt. 1980. – Die Muse des Aretin. Frauenfeld 1902. – Gedichte. Hg. Max Widmann. Ebd. 1912. – Ausgew. Feuilletons. Hg. ders. Ebd. 1913. – Feuilletons. Hg. Jonas Fränkel. Bern/Stgt. 1964. – ›Ein Journalist aus Temperament‹. J. V. W. Ausgew. Feuilletons. Hg. Elsbeth Pulver u. Rudolf Käser. Bern 1992. – Briefe: Liebesbriefe des jungen J. V. W. Hg. M. Widmann. Einf. v. Carl Spitteler. Basel 1921. – Briefw. zwischen Gottfried Keller u. J. V. W. Basel/Lpz. 1922. – Briefw. mit Henriette Feuerbach u. Ricarda Huch. Einf. v. Max Rychner. Hg. Charlotte v. Dach. Zürich/Stgt. 1965. – Carl Spitteler – J. V. W. Briefw. Hg. Werner Stauffacher. Bern u. a. 1998. Literatur: Bibliografie: Michael Drucker: J. V. W. In: Gero v. Wilpert u. Adolf Gühring: Erstausg.n dt. Dichtung. 2., vollst. überarb. Aufl. Stgt. 1992, S. 1621–1623. – Weitere Titel: Elisabeth u. Max Widmann: J. V. W. 2 Bde., Frauenfeld 1922 u. 1924. – Maria Waser: J. V. W. Frauenfeld/Lpz. 1927. – Walter Scheitlin: J. V. W.s Weltanschauung. Diss. Zürich 1929. – Carl Spitteler: Das Haus Widmann. In: Ders.: Ges. Werke. Bd. 6, ebd. 1947, S. 305–366. – Ursula Müller: J. V. W. als Feuilletonist u. Feuilletonredaktor. Diss. Bern 1952. Goslar 1954 (mit Bibliogr.). – Werner Günther: J. V. W. In: Ders.: Dichter der neueren Schweiz 2. Bern/Mchn. 1968, S. 118–185. – Solomon Liptzin: Richard Beer-Hofmann and J. V. W. In: MAL 8 (1975), H. 3/4, 74–80. – Barbara Binder u. a.: J. V. W. In: Helvet. Steckbriefe. Zürich/Mchn. 1981, S. 288–295. – Rudolf Käser: ›Ein rechter Sancho Pansa müsste nun kommen ...‹. W.s Nietzsche-Kritik im Feuilleton des Berner ›Bund‹. In: Nietzsche u. die Schweiz. Hg. David Marc Hoffmann. Zürich 1994, S. 123–131. – Elsbeth Pulver: Ein Literaturkritiker u. die Frauenfrage. J. V. W. In: Und schrieb u. schrieb wie ein Tiger aus dem Busch. Über Schriftstellerinnen in der deutschsprachigen Schweiz. Hg. Elisabeth Ryter u. a. Zürich 1994, S. 112–129. – Joachim Reiber: ›Auch das Gegenteil kann wahr sein‹. Johannes Brahms, J. V. W. u.

375 Friedrich Nietzsche. In: Nietzsche u. die Musik. Hg. Günther Pöltner u. Helmuth Vetter. Ffm. u. a. 1997, S. 57–79. Rémy Charbon / Red.

Widmannstetter, Vidmestadius, Widmanstadius, Widmanstadt, Johann Albrecht (von), auch: Lucretius, Oesiander, * 1506 Nellingen (Alb, Lkr. Ulm), † vor dem 28.3. 1557 Regensburg. – Orientalist, Humanist, Theologe u. Diplomat. Nach ersten Unterweisungen durch den Dorfpfarrer, der seine Sprachbegabung erkannte, u. vielleicht am Gymnasium im nahen Ulm studierte der Sohn einer Bauernfamilie seit 1526 in Tübingen, wo der junge Philologe u. Kleriker Jakob Jonas sein Interesse für das Griechische u. die oriental. Sprachen geweckt hat, dann in Heidelberg u. Basel. Dort studierte er bei dem führenden Hebraisten Sebastian Münster, bei Heinrich Glarean u. Bonifacius Amerbach klassische u. oriental. Sprachen u. Jurisprudenz, ehe er nach Italien weiterzog, um in Turin u. Bologna seine Studien fortzusetzen, wo er im Febr. 1530 der Krönung Karls V. zum Kaiser beiwohnte. In den folgenden Jahren wurde er mit der Hilfe in Italien ansässiger Philologen aus dem griech. u. jüdisch-oriental. Osten sowie einflussreicher, an der Bibelphilologie interessierter Kleriker zu einem viel versprechenden jungen Spezialisten für das Hebräische u. die Kabbala, die anderen sog. Bibelsprachen (linguae sacrae): Syrisch (d. h. Aramäisch) u. Chaldäisch, wie auch für das Arabische (u. damit den Islam u. die Sprache des Korans u. anderer Texte). In Turin lehrte er nebenher Griechisch, in Neapel hielt er 1530–1532 u. a. Vorlesungen über die Ilias, nahm den Gelehrtennamen Lucretius an (wohl nach Lukrez, dem lat. Frühklassiker mit religionskrit. Aura), wurde Mitgl. der Akademie, verkehrte mit dem geistvollen Paradoxisten Ortensio Lando (ca. 1505–ca. 1556) u. wurde vom Kardinalerzbischof von Salerno, Girolamo Seripando, u. dem röm. Kardinal Egidio Antonini da Viterbo († 1532) unterstützt, dem Schüler des dt. Hebraisten Elijah Levita. Die Kleriker waren ihm beim Studium des Syrischen u. Arabischen u. der Beschaffung von Originalmanuskripten be-

Widmannstetter

hilflich. Die Päpste Klemens VII. u. Paul III. verwenden ihn zu diplomatischen Missionen. Zu seinen Freunden in Rom gehörten auch der Philosoph Agostino Steuco, Georg von Logau u. jener Ambrosius von Gumppenberg, mit dem er in einen schweren Konflikt geriet, der sich während der 1540er Jahre hinzog: Der neue Bischof von Eichstätt, Moritz von Hutten, wollte 1539 die einträgl. Pfründe als Domprobst zu Würzburg in sein neues Amt mitnehmen u. beauftragte den in Rom residierenden, reich gewordenen Kurienbeamten Gumppenberg, die Sache beim Papst durchzusetzen. Für seine Tätigkeit als Lobbyist für die kirchenpolit. Interessen Bayerns erhielt Gumppenberg sehr viel Geld vom Herzog. Man entsendete W., inzwischen Rat des Herzogs Ludwig X., als Geschäftsträger nach Rom, der aber feststellte, dass Gumppenberg das viele Geld in die eigene Kasse geleitet hatte. Es kam zu einer Anklage u. a. wegen Untreue, Gumppenberg kam kurze Zeit ins Gefängnis, von beiden Seiten wurden Verleumdungen u. Streitschriften verbreitet (vgl. die umfassende Darstellung u. Verteidigung von W. selbst in: Quibus de causis, 1543, sowie die Gegenschriften von Grynaeus: Spongia contra aspergines [ein von Erasmus übernommener Titel], u. Sealtelus, 1544); W. sollte bei einem nächtl. Überfall ermordet werden, u. es gibt eine Duellforderung gegen ihn, die dieser prinzipiell als »Schlächterei« (carnificina) zurückweist – ein sehr frühes Beispiel für die bis ins 20. Jh. reichende Debatte um die Legitimität des Ehrenhandels. 1542 heiratete W. in Landshut Anna von Leonsperg, später wohl nach dem eigenen Beinamen Lucretia genannt, die illegitime Tochter des unverheirateten Herzogs mit seiner Geliebten, der Ehefrau von Jakob Jonas, W.s ehemaligem Professor der alten Sprachen in Tübingen, der inzwischen im kaiserl. Dienst in hohe Positionen aufgestiegen u. 1541 geadelt worden war. Nach einer Italienreise 1543/44 wurde er Kanzler des Bischofs von Augsburg, Kardinal Otto von Truchseß. Seit 1552 amtierte er, nun auf dem Höhepunkt seiner Karriere, als Kanzler des Königs Ferdinand I. für Niederösterreich. 1554 wurde er Aufseher der Wiener Universität u. mit einer Studienreform u. der

Widmannstetter

Gründung eines Jesuitenkollegs beauftragt. Die kleine Schrift De Societatis Iesu initiis, die 1556 unter dem Namen seines jüngeren Bruders Philipp Jakob Widmannstetter erschien, soll laut neuerer Forschung von ihm selbst zum Druck befördert u. von Petrus Canisius verfasst sein. Nach dem Tod seiner Frau (1556) ließ er sich zum Priester weihen u. wurde Domkapitular in Regensburg, wo er im Jahr darauf starb u. begraben wurde. Sein philolog. Hauptwerk ist sicher die 1555 erschienene Edition der syr. (d. h. aramäischen) Version des NT in syr. Schrift, die er – ein bis dahin einzigartiges Unternehmen – im Auftrag seines Herzogs u. mit Hilfe des in Italien in päpstl. Diensten tätigen orthodoxen Priesters Moses von Mardin (Mardenus, Meredinaeus) sowie vermutlich Guillaume Postels († 1581), der eines der syr. Manuskripte besaß, erarbeitet hat. Wie dieser, Sebastian Münster u. davor Reuchlin ist W. ein Pionier der oriental. Philologie nicht nur in Deutschland. Martin Bucer berichtet von der Handschrift einer lat. Übersetzung des Koran, die W. ihm 1541 auf dem Reichstag zu Regensburg gezeigt habe; der 1543 von Oporin in Basel gedruckte u. von Theodor Bibliander herausgegebene lat. Koran (Mahumetis [...] Alcoran) geht auf die Übersetzung von Robert of Ketton (Ketenensis, ca. 1110–1160) u. Hermann von Dalmatien (Hermannus Dalmata, ca. 1100–1160) zurück, zweier Philologen im Umkreis von Chartres u. unter der Anleitung des Abtes von Cluny, Petrus Venerabilis. W.s Notationes variarum impiarumque opinionum Mahumetis (11 S.) sind nicht bei Bibliander, sondern zusammen mit einer Mahumetis vita (3 S.) in W.s eigenem Band Mahometis Abdallae filii theologia enthalten, der ebenfalls 1543 (60 S.) herauskam. W.s reiche Humanistenbibliothek wurde von Albrecht V. für die Herzogliche Bibliothek in München erworben, seine bedeutende Sammlung hebr., arab., türk., syr., auch griech. u. lat. Manuskripte wird noch heute in der Bayerischen Staatsbibliothek aufbewahrt. Werke: Mahometis Abdallae filii theologia dialogo explicata, Hermanno Nellingaunense interprete / Alcorani epitome, Roberto Ketenense Anglo interprete / J. A. Widmestadij Iuriscons. Notationes

376 falsarum [variarum] impiarumque opinionum Mahumetis, quae in dialogis [in hisce libris] occurrunt / Mahometis vita. [Widmung an Kurfürst Ludwig Albert von der Pfalz u. Bayern]. Nürnb.: Petreius 1543, 60 Bll. – Quibus de causis quibusque modis Ambrosius Gumpebergus I. A. Vidmestadii [...] vitae, honori et fortunis insidias posuerit breves commentarii. o. O. (1543) [vgl. direkt dagegen Grynaeus 1544]. – Beitrag in: Georg Fabricius: Flavius Sosipater Charisius: Artis grammaticae libri V. Basel: Froben, Episcopius 1551. – Von den gaistlichen u. weltlichen Wappen eines Ritters. Dillingen 1552. Dass. erw. u. d. T.: Die Gaistlich Ritterschafft. Hg. Adam Walasser. Ingolst. 1578. – Catalogus episcoporum Salisburgensium. In: Sebastian Münster: Cosmographia universalis. Libri VI. Basel 1552, S. 638–641. – [Syr. Titel] Liber Sacrosancti Evangelii de Iesu Christo domino et Deo nostro. Characteribus et lingua Syra, Iesu Christi vernacula. Hg. J. A. W. Mitarb.: Moses von Mardin u. Guillaume Postel. Wien: Michael Zimmermann 1555. 1562. – Drei Zeilen in syr. Schrift in: Syriacae linguae, Iesu Christo eiusque Matri Virgini atque Iudaeis omnibus, Christianae redemptionis Evangelicaeque praedicationis tempore vernaculae et popularis [...] prima elementa, quibus adiectae sunt Christianae Religionis solennes, quotidianaeque precationes. Wien 1556. 1572. – De iniustissimi odii origine et causis [...]. o. O. 1557 [über den Streit mit Gumppenberg]. – Beitrag in: Heinrich Opitz: [Syr. Titel] Hoc est Syriasmus facilitati et integritati suae restitutus simulque Hebraismo et Chaldaismo harmonicus. Lpz. 1678. Gegenschriften und Editionen: Mahometis Saracenorum principis eiusque successorum vitae ac doctrina, ipseque ALCORAN. His adiunctae [...]. Hg. Theodor Bibliander. (Basel: Johannes Oporin) 1543. – Bonaccursius Grynaeus: Spongia contra aspergines Lucretii. 2 Tle., o. O. 1544. – Angelus Sealtelus: Ad Romanos judices pro Ambrosio Gumppenberg contra J. A. Widmestadium orationum Actio prima (1544). In: Amoenitates literariae. Hg. Johann Georg Schelhorn. Bd. 14, Ffm./Lpz. 1731 (Nr. 3), S. 468–500. – Philipp Jakob W.: De Societatis Iesu initiis, progressu, rebusque gestis nonnullis. Ingolst. 1556. Literatur: (An.): De eximiis Suevorum in literaturam orientalem meritis schediasma historicoliterarium. In: Amoenitates literariae. Hg. J. G. Schelhorn. Bd. 13, Ffm./Lpz. 1730 (Nr. 3), S. 197–264, bes. 223 ff. – August Wilhelm Ferber: De J. A. Widmanstadio Syriacae Novi Testamenti versionis primo editore. Helmst. 1771. – Georg Ernst Waldau: J. A. von Widmannstadt, östreichischer Kanzler u. großer Orientalist; aus sichern

Widmer

377 Quellen bio- u. bibliogr. dargestellt. Gotha 1796. – Ferdinand Gregorovius: Ambrosius Frh. v. Gumppenberg. In: ADB. – Sigmund Ritter v. Riezler: J. A. W. In: ADB. – Max Müller: J. A. v. W. 1506–1557. Bamberg 1908. – Das Buch Bahir [Se¯fär Ba¯hı¯ r]. Ein Schriftdenkmal aus der Frühzeit der Kabbala. Auf Grund der krit. Neuausg. hg. v. Gerhard Scholem. J. A. W.-Gesellsch. Lpz. 1923. – Hans Striedl: Die Bücherei des Orientalisten J. A. W. In: Serta Monacensia. FS F. Babinger. Hg. H. J. Kissling u. A. Schmaus. Leiden 1952, S. 200–44. – Ders.: Der Humanist J. A. W. als klass. Philologe. In: FS Emil Gratzl. Wiesb. 1953, S. 96–120. – Ders.: Gesch. der Hebraica-Sammlung der Bayer. Staatsbibl. In: Orientalisches aus Münchner Bibliotheken u. Sammlungen. Wiesb. 1957. – Edgar Krausen: A. Freiherr v. Gumppenberg. In: NDB. – Karl Heinz Burmeister: Jakob Jonas. In: NDB. – Martin Steinmann: Johannes Oporinus. Basel/Stgt. 1967. – Ilse Guenther u. Peter G. Bietenholz: J. A. W. In: Contemporaries. – Margit Ksoll-Marcon: J. A. W. In: Bautz. – Robert J. Wilkinson: Orientalism, Aramaic and Kabbalah in the Catholic Reformation. The first printing of the Syriac New Testament. Leiden 2007. Herbert Jaumann

Gwunger (ebd. 1982) erzählt eine Schülerin ihr Leben, in Ryter unger em Ys (ebd. 1988) kommen abwechselnd Großmutter, Vater u. Tochter mit ihrer je spezif. Sprache zu Wort u. unterlaufen gängige Rollenbilder. Beim Schweizer Radiosender DRS gestaltete er überdies Sendungen über Mundartlieder; sein Wort zum nöie Tag (1994–2000) liegt aufgrund seiner Beliebtheit ebenfalls in Druckform vor (No einisch aafa. Gümligen 2000). Mit seinem viel gelobten Gedichtband Wo geit das hi, wo me vergisst? (Bern 2009) legt W. ein letztes Beispiel für sein dichterisches Können vor: In seinen Gedichten in Berner Mundart verknüpft er gängige Redensarten u. bekannte Motive mit ungewohnten Sprachbildern u. stellt sie gemeinsam mit Nachdichtungen verschiedenster Vorlagen (von Shakespeare bis Bob Dylan) in einer reichen Gesamtkomposition zusammen. Weitere Werke: Der Zier-Eremit. Bern 2001 (R.). – Ds Glück isch fasch gäng gratis. Norderstedt 2007 (R.). Dominik Müller / Sonja Schüller

Widmer, Fritz, * 5.2.1938 Kirchberg/Kt. Widmer, Urs, * 21.5.1938 Basel. – ErzähBern, † 28.4.2010 Bern. – Liedermacher, ler, Dramatiker, Hörspielautor, Essayist Mundartautor. u. Übersetzer. Nach seinem Germanistik- u. Anglistikstudium in Bern war W. seit 1965 hauptberuflich als Lehrer tätig. – Dass W. zuerst Liedertexte übersetzte, bevor er eigene berndt. Chansons schrieb u. sie bei den Auftritten der »Berner Troubadours« vortrug, denen er wie Mani Matter angehörte, ist bezeichnend: Immer wieder geht er in seinen Mundartliedern u. -gedichten (Ds fromme Ross. Bärndütschi Lieder und Gedicht. Bern 1974. Di wüeschte u di schöne Tröim. Ebd. 1980) von vorgefundenem Sprachmaterial, von Volksliedern, Witzen, von alltägl. Ausdrucksweisen u. Redewendungen aus, die er aktualisiert oder ironisch verfremdet. Er zeigt auf, wie das Bodenständige, das mit der Mundart gern identifiziert wird, in einer gewandelten Welt zum anachronist. Klischee wird; dabei schwingt oft eine leise Wehmut über den Untergang der alten Welt mit. W.s Gespür für die gesprochene Sprache kommt auch in seinen kurzweiligen, unkonventionellen Mundartromanen zum Ausdruck. In Gluscht u Gnusch u

W., Sohn des Literaturkritikers u. Übersetzers Walter Widmer, studierte Germanistik, Romanistik u. Geschichte in Basel, Montpellier u. Paris u. wurde mit der Abhandlung 1945 oder Die »neue Sprache«. Studien zur Prosa der »jungen Generation« (Düsseld. 1966) promoviert. Eine wichtige Lebensetappe war seine Tätigkeit als Lektor beim Walter Verlag in Olten u. bei Suhrkamp. Seit 1967 lebte W. in Frankfurt/M. u. war 1969 Mitbegründer des Verlags der Autoren. 1984 kehrte er in die Schweiz zurück. W. übersetzte u. a. Texte von Samuel Beckett, Jean Cayrol, Raymond Chandler, Joseph Conrad, Alexandre Dumas, Eugène Labiche, Michael McClure u. Hyacinthe Phypps. Er ist Herausgeber der Werke von Sean O’Casey (Sean O’Casey. Eine Auswahl aus den Stücken, der Autobiographie und den Aufsätzen. Zürich 1970). W. ist Mitgl. der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung Darmstadt, der Akademie der Künste Berlin u. der Deutschen

Widmer

Akademie der Darstellenden Künste Frankfurt/M. Seine eigenen Werke wurden in zahlreiche Sprachen übertragen, u. a. in die arab., chines., hebr. u. koreanische. W. erhielt u. a. den Karl-Sczuka-Preis des Südwestfunks Baden-Baden (1974), den Hörspielpreis der Kriegsblinden (1976), den »manuskripte«Preis (1983), den Preis der Schweizerischen Schillerstiftung (1985), den Literaturpreis der Stadt Basel (1989), den Kunstpreis der Stadt Zürich für Literatur (1995), den Literaturpreis der Stadt Zürich (1996), den Kunstpreis der Gemeinde Zollikon (1997), den 3sat-Innovationspreis (1997), den Mülheimer Dramatikerpreis (1997), den Heimito-von-DodererPreis (1998), den Bertolt-Brecht-Literaturpreis der Stadt Augsburg (2001), den FranzNabl-Preis (2001), den Kulturpreis der Gemeinde Riehen (2001), den Großen Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste (2002) u. den Friedrich-Hölderlin-Preis der Stadt Bad Homburg (2007). W., einer der souveränsten Schweizer Schriftsteller der Gegenwart, hat poetisches Gehör u. versteht das Schreiben als eine Arbeit an immer neuen, auf ironisch-grotesken Ton gestimmten, fantasievollen Spielräumen. Literatur sei eine fiktionale, mit Verfremdung operierende Widerstandsform gegen die Ideologisierung des menschl. Idioms u. Verhaltens, eine Negation von überlieferten Normen. Diese Position bezieht W. in den einschlägigen Kommentaren des eigenen literar. Selbstverständnisses: Das Normale und die Sehnsucht. Essays und Geschichten (Zürich 1972), Die sechste Puppe im Bauch der fünften Puppe im Bauch der vierten und andere Überlegungen zur Literatur. Grazer Poetikvorlesungen (Graz/Wien 1991), Vom Leben, vom Tod und vom Übrigen auch dies und das. Frankfurter Poetikvorlesungen (Zürich 2007). In der Tat bezieht W. seine Identität, angefangen mit der Debüterzählung Alois (Zürich 1968), einem literar. Spiel mit überlieferten Konventionen u. Trivialstoffen, aus der Verschränkung von Imagination u. Realität, dem Vorrang des Besonderen vor dem Gewöhnlichen u. Typischen. Seine Werke erhalten dadurch einen avantgardistischen Gestus, u. Fabulieren heißt jeweils bei W. Fantasieren. Diesem Prinzip entspricht Die

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lange Nacht der Detektive. Kriminalstück in drei Akten (Zürich 1973; Urauff. Basel 1973), eine Persiflage auf die literar. Detektivkonvention. Von Jules Verne inspiriert, schrieb W. in den mittleren 1970er Jahren fiktive Reiseberichte als eine Kompensation des Plakativen u. Wirklichen. Beispiele dafür sind die Romane Die Forschungsreise (Zürich 1974), eine Parodie auf Abenteuerliteratur, u. Die gelben Männer (Zürich 1976), komische Stilisierung der Science-Fiction-Gattung, sowie Schweizer Geschichten (Bern/Stgt. 1975), ein Prosawerk, in dem die Darstellung mit krit., zeitaktuellem Blick alliert ist. In Begleitung seiner Gefährten unternimmt hier der Erzähler eine Ballonreise u. macht sie aus der Luftperspektive auf die Sehenswürdigkeiten der Schweiz, auf Bedeutendes in helvet. Geschichte u. Gegenwart, aufmerksam. Das Flottieren von Exotik, Wunsch u. Wirklichkeit ist charakteristisch auch für W.s Texte aus den 1980er Jahren (Das enge Land. Zürich 1981. Die gestohlene Schöpfung. Ein Märchen. Zürich 1984. Indianersommer. Zürich 1985), in denen die dargestellten Figuren aus dem Wachen u. Träumen hinübergleiten u. ihre Freiheit von alltägl., einschränkenden Beziehungen erleben. Diesmal kommt – neben der nach wie vor weit tragenden Fantasie – ein anderes Motiv zur Geltung: das Ich in seiner geschlechtl. Unschärfe. Gebrochen wird nämlich bei W. der Zwang zu rigorosen, den Einzelnen auf bürgerl. Normen fixierenden Rollen; von Bedeutung erscheint das Neben-Ich, ein Unbekannter. Ein Indianermädchen z.B. entpuppt sich als Junge u. gewinnt an neuer Identität. In Die gestohlene Schöpfung wird der Protagonist »mehr und mehr ein anderer«; er wird Teil eines anderen Subjekts. Feste Identitäten resultieren in W.s Auffassung aus dem Druck einer Gesellschaft, die sich anmaßt, Individuen nach eigenem Maß zu unifizieren; in den genannten Texten zählt die Erfahrung des Übergangs in ein neues Ich, eine personale Beliebigkeitsstruktur. Nach grotesker Art entstand auch Der Kongreß der Paläolepidopterologen (Zürich 1989), die komische Geschichte eines Offiziers der Schweizer Armee u. Begründers der Schmetterlingskunde. Der zentrale Punkt der Darstellung ist das Schreiben selbst, der moderne

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Roman als ein Spiel von clownesken Geschichten, von wechselndem, einfallsreichem Erzählen. Dieser Poetik bleibt W. in Das Paradies des Vergessens (Zürich 1990) treu – einer witzigen gattungsfreien Prosa, die, mit Verlegern u. ihre Manuskripte vergessenden Schriftstellern im Vordergrund, v. a. den Schreibprozess u. den modernen Literaturbetrieb reflektiert. W.s Werk ist ständigem Wandel unterworfen; seine produktivste Phase fällt in die 1990er Jahre. Das Erfundene wurzelt nun stärker im Zeitaktuellen, im persönlich Erlebten. Zu Beginn dieses Jahrzehnts legte W. sein bedeutendes Prosawerk Der blaue Siphon (Zürich 1992) vor. Gezeigt wird darin die Wanderung des Erzählers durch Zeit u. Erinnerung. Mit einem Mal sieht er sich in seine Kindheit zurückversetzt, u. der Junge, der er zu jener Zeit war, findet sich in der erzählten Gegenwart wieder. Hergestellt wird dadurch eine Rückkoppelung von zwei Perspektiven, der des Kindes u. der des Erwachsenen, die sich in der Subjektivität ein u. derselben Person vereinigen. Eine Besonderheit ist hier die Siphon-Metapher, die infolge einer ikonografischen Ähnlichkeit mit »Little Boy«, der auf Hiroshima abgeworfenen Atombombe, auf die ständige Präsenz von Unglück in menschl. Geschichte, einer Vergangenheit »mit Krieg und Toten«, zielt. Die ungeklärte Geschichte der Schweiz ist Thema von W.s Schauspielen Frölicher. Ein Fest (Urauff. Zürich 1991. Ersch. in: Der Sprung in der Schüssel. Frölicher. Ein Fest. Zwei Stücke. Ffm. 1992) u. Jeanmaire. Ein Stück Schweiz (Ffm. 1992. Urauff. Bern 1992. Fernsehen: 3sat. 1993). Die beiden Theaterstücke lassen sich als ein Versuch deuten, authent. Ereignisse zu rekapitulieren u. die jüngste Vergangenheit der Schweiz unter die Lupe zu nehmen. Im Ersteren wird am Beispiel des Falls des letzten Botschafters der Schweiz in Berlin zur Zeit des Nationalsozialismus nach Sinn u. Unsinn des Opportunismus der schweizerischen Politik im Zweiten Weltkrieg gefragt. Im zweiten dagegen greift der Verfasser auf den angeblichen, streng bestraften Staatsverrat eines Schweizer Offiziers in den Jahren des Kalten Krieges zurück. Im zeittypischen Kontext ist auch das Schauspiel Top Dogs

Widmer

(Ffm. 1997. Urauff. Zürich 1996) zu betrachten, in dem in zwölf Szenen entlassene Manager mit Arbeitslosigkeit, einer für sie apokalypt. Lebenslage u. grotesker Therapie, konfrontiert werden. Was W.s Texte neuesten Datums ausweist, ist ein deutlicher autobiogr. Bezug. Gemeint sind die Romane Der Geliebte der Mutter (Zürich 2000), eine Darstellung glückloser Liebe u. Ehe aus der Sicht einer Frau u. eines skrupellosen Dirigenten vor dem Hintergrund der Schweizer Zeitgeschichte, sowie Das Buch des Vaters (Zürich 2004), in dem der Titelfigur, einem Intellektuellen, epikureische Lebensgenüsse nicht fremd sind. Im Roman Herr Adamson (Zürich 2009), einer Art Lebensbilanz, erzählt ein alter Mann seine Geschichte u. weiht einen Jungen ins Reich der Toten ein, dabei der Sterblichkeit des Lebens den burlesken, dem Gesamtwerk W.s eigenen Ton gebend. Weitere Werke: Die Amsel im Regen im Garten. Zürich 1971 (E.). – Nepal. Stück in der Basler Umgangssprache. Mit der Frankfurter Fassung v. Karlheinz Braun im Anhang. Zürich 1977. Urauff. Ffm. 1977. – Vom Fenster meines Hauses aus. Zürich 1977 (P.). – Shakespeares Gesch.n. Alle Stücke v. William Shakespeare. Nacherzählt v. U. W. u. Walter E. Richartz. Mit vielen Bildern v. Kenny Meadows. Zürich 1978. – Hand u. Fuss. Ein Buch. Mit Zeichnungen v. Max Zaugg. The Hague 1978 (P.). – Das Urs Widmer Lesebuch. Hg. Thomas Bodmer. Mit einem Vorw. v. Hans Carl Artmann u. einem Nachw. v. Hanns Grössel. Zürich 1980. – Fotos. Ffm. 1980 (P.). – Züst oder die Aufschneider. Ein Traumspiel. Hoch- u. schweizerdt. Fassung. Zürich 1980. Urauff. unter U. W.s Regie Ffm. 1981. – Liebesnacht. Zürich 1982 (E.). – Das Verschwinden der Chinesen im neuen Jahr. Mit einem Nachw. v. H. C. Artmann. Zürich 1987 (P.). – Stan u. Ollie in Dtschld. Alles klar. Zwei Stücke. Ffm. 1987. – Liebesbrief für Mary. Zürich 1993 (E.). – Im Kongo. Zürich 1996 (R.). – Vor uns die Sintflut. Zürich 1998 (Gesch.n). – Das Theater. 8 Bde., Ffm. 1998. – Das Buch der Albträume. Illustr. v. Hannes Binder. Mchn. 2000 (Prosastücke). – Heiliger Krieg gegen die Fakten. Zum statist. Jb. der Schweiz 2000. Neuchâtel 2001. – König der Bücher. Bankgeheimnisse. Zwei Stücke. Ffm 2002. – Das Geld, die Arbeit, die Angst, das Glück. Zürich 2002 (Kolumnen u. Ess.s). – Shakespeares Königsdramen. Nacherzählt v. U. W. Mit Zeichnungen v. Paul Flora. Zürich 2004. – Ein Leben als Zwerg. Zürich

Widukind von Corvey 2006 (R.). – Valentin Lustigs Pilgerreise. Bericht eines Spaziergangs durch 33 seiner Gemälde. Mit Briefen des Malers an den Verfasser. Zürich 2008 (P.). – Hörspiele (Ausw.): Wer nicht sehen kann, muß hören. WDR 1969. – Henry Chicago. WDR/HR 1970. – Alle Wege führen nach Rom. Hörspot (zus. mit Gerhard Rühm). WDR 1971. – Operette. WDR/ HR 1971. – Aua 231 (zus. mit G. Rühm). WDR 1971. – Anna von hinten wie von vorne. WDR 1971. – Tod u. Sehnsucht. SFB 1972. – Die Katzen des Doktor Watson. WDR 1972. – Das Überleben der unsterbl. Mimi. SWF 1973. – Die schreckl. Verwirrung des Giuseppe Verdi. SWF 1973. – Der Bergsteiger. BR 1974. – Fernsehabend. SWF 1976. – Die Ballade von den Hoffnungen der Väter. WDR/HR/ SFB 1976. – Die Zwerge in der Stadt. Hörsp. für Kinder. SDR/HR 1978. – Das Blasquartett oder 80 Fragen nach dem Glück. SWF/HR/WDR 1978. – Stan u. Ollie in Dtschld. SWF/HR/NDR/BR 1979. – Die Zehen der Elfen. SDR 1981. – Der neue Noah. DRS 1983. – Indianersommer. SWF 1984. – Der Afrikaforscher. SWF 1990. – Bottoms Traum. SWF 1990. – Das gelöschte Band. SWF 1991. – Die Frauen des Sultans. SWF 1994. – Durst. SWF 1995. – In der Renaissance sagte kein Mensch ›Ich‹. U. W. interviewt Francesco Petrarca. SWF 1995. – Im Kongo. SWF 1995. – Arbe. Träume. DRS 2001. – Dialog über den Müll an den Stränden. SWF 2002. – Top Dogs. SWR 2004. – Das Machthorn. SWR 2005. Literatur: Hanns Grössel: Über U. W. In: NR 12 (1974), S. 501–508. – Benita Cantieni: Schweizer Schriftsteller persönlich. Interviews. Frauenfeld/ Stgt. 1983. – Hans-Peter Ecker: Die fragile Zitadelle. Zur Reflexion medialer Vermittlung v. Realität in U. W.s Erzählung ›Der blaue Siphon‹. In: Archiv 147 (1995), S. 1–22. – Zygmunt Mielczarek: Gedächtnis u. Vorstellung. ›Der blaue Siphon‹ v. U. W. In: Nach den Zürcher Unruhen. Deutschsprachige Schweizer Lit. seit Anfang der achtziger Jahre. Hg. ders. Katowice 1996, S. 20–31. – Jürgen Söring: ›Hinterlassenschaften‹ – W., Hürlimann u. der Fall des Schweizer Gesandten Hans Frölicher (Berlin 1938–1945). In: Deutschsprachige Gegenwartslit. Hg. Hans-Jörg Knobloch u. Helmut Koopmann. Tüb. 1997, S. 45–64. – Ursi Schachenmann (Red.): ›Top Dogs‹. Entstehung – Hintergründe – Materialien. Hg. vom Theater Neumarkt Zürich. Zürich 1997. – Marc Aeschbacher: Vom Stummsein zur Vielsprachigkeit. Vierzig Jahre Lit. aus der dt. Schweiz (1958–1998). 2., überarb. Aufl. Bern 1998. – Heinz Ludwig Arnold (Hg.): U. W. Mchn. 1980 (Text + Kritik. H. 140). – Peter Arnds: In the heard of darkness. Switzerland, Hitler, Mobutu and Joseph Conrad in U. W.’s novel ›Im

380 Kongo‹. In: GQ 4 (1998), S. 329–342. – H.-J. Knobloch. Von Tätern u. Opfern. Eine neue Runde in der Bewältigung der nationalsozialist. Vergangenheit. In: Acta Germanica 26/27 (1998/99), S. 107–115. – Nikolaus Förster: Die Wiederkehr des Erzählens. Deutschsprachige Prosa der 80er u. 90er Jahre. Darmst. 1999. – Daniel Lenz u. Eric Pütz: ›Witze sind oft mangelnder Mut‹. In: Dies.: Lebensbeschreibungen. Zwanzig Gespräche mit Schriftstellern. Mchn. 2000, S. 77–89. – Barbara Sinic: Die sozialkrit. Funktion des Grotesken. Analysiert anhand der Romane v. Vonnegut, Irving, Grass, Rosendorfer u. W. Ffm. u. a. 2003. – Simplice Agossavi: Fremdhermeneutik in der zeitgenöss. dt. Lit. An Beispielen v. Uwe Timm, Gerhard Polt, U. W., Sibylle Knauss, Wolfgang Lange, Hans Christoph Buch. St. Ingbert 2003. – David Barnett: ›Da draußen sind Hunderte von solchen, wie Sie einer sind.‹ The Triumph of the Market and the Persistence of Dialectics in U. W.’s ›Top Dogs‹. In: Forum Modernes Theater 18 (2003), H. 2, S. 153–165. – Sibylle Cramer: U. W. In: LGL. – Maria-Felicitas Herforth: Erläuterungen zu U. W.: Top Dogs. Hollfeld 2005. – Christophe Bourquin: Schreiben über Reisen. Zur ars itineraria v. U. W. im Kontext zu der europ. Reiselit. Würzb. 2006. – Michael Koetzle u. Jörg Bong: U. W. In: KLG. – Winfried Giesen (Hg.): U. W. – Vom Leben, vom Tod u. vom Übrigen auch dies u. das. Begleitheft zur Ausstellung 16. Januar – 2. März 2007. Wien 2006. – Winfried Stephan u. Daniel Keel (Hg.): Das Schreiben ist das Ziel, nicht das Buch. U. W. zum 70. Geburtstag. Zürich 2008. Zygmunt Mielczarek

Widukind von Corvey, * um 925, † nach 973. – Mönch, Hagiograf, Autor einer Sachsenchronik. Noch unter Abt Folkmar († 942) trat der wohl aus altem sächs. Hochadel stammende W. in das Adelskloster Corvey ein, wo er zunächst (nicht erhaltene) Heiligenviten verfasste, bevor er vermutlich um 967/968 die der Kaisertochter Mathilde, 966–999 Äbtissin von Quedlinburg, gewidmeten Rerum gestarum Saxonicarum libri tres schrieb, die er nach Ottos d. Gr. Tod (973) bis zu diesem Datum fortsetzte. Deren bis ins 16. Jh. reichende handschriftl. Überlieferung lässt mehrere Bearbeitungsschichten erkennen (A: Widmungsfassung, bis 968/69 reichend, Handschrift von 1220. B: fortgesetzt bis 973, zwei Handschriften der Mitte des 12. Jh. C: Fassung mit

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Kapiteleinteilung, älteste Handschrift vor 1050). Im Zentrum von W.s herrschaftsorientierter Historiografie steht die Geschichte des liudolfing. Hauses: Buch I berichtet, wohl auch aus mündl. Überlieferung schöpfend, über Ursprung u. Frühgeschichte der Sachsen u. die Zeit Heinrichs I.; Buch II u. III behandeln die Geschichte Ottos I. Mit dem Tod des von Otto adoptierten Grafen Wichmann 967, eines Sohns der Schwester Königin Mathildes, endet W.s Darstellung zunächst, ehe er nach Ottos Tod die Ereignisse bis 973 ergänzt. Die Historia Langobardorum des Paulus Diaconus, Jordanis Gotengeschichte, Beda, Einhards Vita Caroli, die Translatio S. Viti u. eine Passio des hl. Vitus, dessen Gebeine 836 nach Corvey überführt wurden, lassen sich als Quellen nachweisen. Programmatische Bedeutung haben die engen Bezüge zu den Makkabäerbüchern u. eine immer wieder durchscheinende »biblische Färbung der Sprache« (Körntgen, S. 95). Stilistisch ist W.s Schulung an röm. Historiografie, bes. Sallust, erkennbar, was ihm von der älteren Forschung eine Abwertung als »Spielmann in der Kutte« oder »Epiker« einbrachte; Anspielungen auf Cicero, Livius, Vergil, Ovid, Lukan u. Juvenal belegen seine breite Bildung. Trotz der Übernahme spätantiker Begrifflichkeit intendiert W. nicht eine Geschichte des röm. oder fränk. Imperiums, sondern gentile u. partikulare nichtröm. Staatsvolksgeschichte, ohne Beziehung zur vorausgehenden karoling. Historiografie. Der Berichtshorizont ist personalisiert, bisweilen stark tendenziell oder sogar propagandistisch geprägt u. auf den unmittelbaren Lebensraum eingeengt: die in den Taten ihrer Fürsten sich verkörpernden »gestae Saxonum«, wobei Wendungen wie »populus Francorum atque Saxonum« u. »Francia Saxoniaque« die größer gedachten Dimensionen offenbaren. Grundideen sind das unmittelbare Gottesgnadentum der Ottonen, aber wohl auch eine damit verknüpfte röm. Dimension des Reichs, was insbes. im Titel Ottos I. zum Ausdruck kommt, den er nach dem Lechfeldsieg 955 u. der röm. Kaiserkrönung 962 – von der er allerdings nicht be-

Widukind von Corvey

richtet – als »imperator Romanorum, rex gentium« bezeichnet. Entsprechende Beobachtungen Kellers stehen z.T. konträr zur älteren Forschung, die von einem »romfreien« Kaisertum Ottos spricht. Von bes. Bedeutung für die Bewertung von Intention u. Wirkung ist, dass das Werk ausweislich der Widmungsadressen im unmittelbaren Einflussbereich des Kaiserhauses für Mathilde, die Tochter Kaiser Ottos d. Gr., entstand. Althoff vermutet als unmittelbaren Schreibanlass den Tod der gleichnamigen Kaisermutter Mathilde u. Wilhelms von Mainz im März 968. Zu bedenken sind aber auch autonome Interessen des Klosters Corvey. W.s Sachsengeschichte hat ungeachtet des intendierten engen Addressatenkreises schnell größere Wirkung erzielen können. Viele bedeutende Geschichtsschreiber des MA wie Thietmar von Merseburg, Sigebert von Gembloux, der ›Annalista Saxo‹, Alexander Minorita, Frutolf von Michelsberg u. Ekkehard von Aura rezipierten seine Chronik. Erhalten sind fünf Handschriften des 11. bis 16. Jh. Zu mindestens fünf weiteren Handschriften existieren histor. Hinweise. Ausgaben: Hans-Eberhard Lohmann u. Paul Hirsch (Hg.): Die Sachsengesch. des W. v. Korvey. Hann. 51935 (= MGH Ss. rer. germ. 60). – Albert Bauer u. Reinhold Rau (Hg.): Die Sachsengesch. des W. v. Korvey. In: Quellen zur Gesch. der sächs. Kaiserzeit. Darmst. 1977, S. 16–183 (lat.-dt.). – Ekkehart Rotter u. Bernd Schneidmüller (Hg.): W. v. C., Res gestae Saxonicae. Die Sachsengesch. Stgt. 2 1992 (lat.-dt.). Literatur: Helmut Beumann: W. v. Korvey. Untersuchungen zur Geschichtsschreibung u. Ideengesch. des 10. Jh. Weimar 1950. – James A. Brundage: W. of C. and the ›Non-Roman‹ Imperial Idea. In: Mediaeval Studies 22 (1960), S. 15–26. – H. Beumann: Historiograph. Konzeption u. polit. Ziele W.s v. C. In: La storiografia altomedievale. Spoleto 1970, S. 857–894. – Helmut Vester: W. v. Korvei – ein Beispiel zur Wirkungsgesch. Sallusts. In: Altsprachl. Unterricht 21 (1978), S. 5–22. – Ernst Karpf: Herrscherlegitimation u. Reichsbegriff in der otton. Geschichtsschreibung des 10. Jh. Stgt. 1985, S. 144–175. – Gerd Althoff: W. v. C. Kronzeuge u. Herausforderung. In: FMSt 27 (1993), S. 253–272. – Hagen Keller: Machabaeorum pugnae. In: Iconologia sacra. Mythos, Bildkunst u. Dichtung. Hg. ders. u. Nikolaus Staubach. Bln./ New York 1994, S. 417–437. – Ders.: W.s Bericht

Wiechert über die Aachener Wahl u. Krönung Ottos I. In: FMSt 29 (1995), S. 390–453. – Klaus Nass: Die Reichschronik des Annalista Saxo u. die sächs. Geschichtsschreibung im 12. Jh. Hann. 1996, S. 243–253. – Bernd Schneidmüller: W. v. C., Richer v. Reims u. der Wandel polit. Bewußtseins im 10. Jh. In: Beiträge zur mittelalterl. Reichs- u. Nationsbildung in Dtschld. u. Frankreich. Hg. Carlrichard Brühl u. B. S. HZ-Beiheft 24. Mchn. 1997, S. 83–102. – Gerd Althoff: W. v. C. In: LexMA. – K. Nass: W. v. C. In: VL. – Ludger Körntgen: Königsherrschaft u. Gottes Gnade. Bln. 2001, bes. S. 74–100. – Sverre Bagge: Kings, Politics, and the Right Order of the World in German Historiography. c. 950–1150. Leiden u. a. 2002, S. 23–94. – David A. Warner: W. of C. In: Encyclopedia of the Medieval Chronicle. Hg. Graeme Dunphy. Leiden 2010 (im Druck). Norbert H. Ott / Jürgen Wolf

Wiechert, Ernst, auch: E. Barany Bjell, * 18.5.1887 Forsthaus Kleinort/Kreis Sensburg bei Allenstein, † 24.8.1950 Uerikon/Zürichsee. – Romancier u. Erzähler. Nach dem Studium in Königsberg war der Försterssohn ab 1911 als Oberrealschullehrer tätig. 1914 meldete er sich freiwillig zum Kriegsdienst u. wurde 1918 als Leutnant der Reserve aus dem Heer entlassen. 1918–1929 unterrichtete er am Hufengymnasium zu Königsberg, seit April 1930 an einem Gymnasium in Berlin-Charlottenburg. In dieser Zeit stellte sich schriftstellerischer Erfolg ein. Auf den Literaturpreis der europäischen Zeitschriften (1929) für die Novelle Der Hauptmann von Kapernaum (in: Die Flöte des Pan. Bln. 1930) folgten 1932 der RaabeVolkspreis für den Roman Die Magd des Jürgen Doskocil (Mchn. 1932) u. der Carl-Schünemann-Preis für den Roman Jedermann. Geschichte eines Namenlosen (ebd. 1932). Um W. bildete sich eine Lesergemeinde, die von seinem schwermütig-lyr. Sprachduktus fasziniert war u. ihn bei der Suche nach dem Lebenssinn in verworrener Zeit als geistig-moralische Instanz anerkannte. Im April 1933 schied er aus Gesundheitsgründen aus dem Schuldienst aus u. zog nach Ambach/Starnberger See, 1936 auf Hof Gagert bei Wolfratshausen.

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Während der Weimarer Republik hatte W. enge Kontakte zu nationalistischen Kreisen (Fichte-Gesellschaft, Raabe-Stiftung). Die Nationalsozialisten sahen in ihm, dem Verfasser des aggressiv völk. Romans Der Totenwolf (Regensb. 1924), einen verwandten Geist. Seine neueren Werke, Das Spiel vom deutschen Bettelmann (Mchn. 1933), der Heimkehrerroman Die Majorin (ebd. 1934) u. die Hirtennovelle (ebd. 1935), wurden uneingeschränkt positiv aufgenommen. Dies änderte sich nach der am 16.4.1935 gehaltenen Münchner Universitätsrede Der Dichter und die Zeit (Zürich 1945), in der W. die Kultur- u. Erziehungspolitik des Regimes kritisierte. Es kam in der offiziellen Presse zu heftigen Angriffen gegen W., die sich v. a. gegen das autobiogr. Buch Wälder und Menschen. Eine Jugend (Mchn. 1936) richteten. W. setzte jedoch seine humanistisch-moralische Opposition fort, indem er die Ende 1937 vom Langen Müller Verlag abgelehnte, den Konflikt zwischen Macht u. Recht darstellende Legendenerzählung Der weiße Büffel oder von der großen Gerechtigkeit (Zürich 1946) in öffentl. Lesungen publik machte. Ende März 1938 protestierte er brieflich gegen die Verschleppung Martin Niemöllers ins Konzentrationslager. Daraufhin wurde W. am 6.5.1938 inhaftiert u. vom 4. Juli bis zum 24. Aug. im Konzentrationslager Buchenwald interniert. Seinem Bericht zufolge drohte ihm Goebbels im Fall eines erneuten Engagements gegen den Staat die Rückführung ins Lager u. die »physische Vernichtung« an (Der Totenwald. Ebd. 1946). Noch im Okt. 1938 sah sich W. dazu gezwungen, auf dem Deutschen Dichtertreffen in Weimar zu erscheinen. Zwiespältig fiel seitdem auch die Behandlung W.s durch die amtl. Lenkungsinstanzen aus. Einerseits gehörte er mit Rücksicht auf sein großes Ansehen u. wegen der konservativ-bodenständigen Elemente seines Werks zu den geduldeten Autoren, andererseits sollte seine Wirkung durch negative Gutachten begrenzt werden. W. verzichtete deshalb auf weitere direkte Kritik am Regime. Sein 1939 in München erschienener Roman Das einfache Leben stellt jedoch am Beispiel des Korvettenkapitäns a. D. Thomas von Orla, der sich aus der Großstadt in die Einsamkeit der ma-

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surischen Seen zurückzieht, dem sinnlosen verständnis u. literar. Praxis. Ffm. u. a. 1984. – Weltkrieg u. den Nachkriegswirren eine Hugh Alexander Boag: E. W. The Prose Works in durch Arbeit u. Kontemplation gewonnene Relation to his Life and Times. Stgt. 1987. – G. Haltung der inneren Freiheit gegenüber. Das Reiner u. Klaus Weigelt (Hg.): E. W. heute. Ffm. 1993. – H.-M. Pleßke u. K. Weigelt (Hg.): Zuspruch Werk, das stellenweise auch als verdeckte u. Tröstung. Beiträge über E. W. u. sein Werk. Ffm. Regimekritik gelesen werden kann, blieb die 1999. – Annette Schmollinger: ›Intra muros et exletzte Publikation W.s im »Dritten Reich«. Es tra‹. Dt. Lit. im Exil u. in der Inneren Emigration. erzielte bis 1942 eine Auflage von über einer Heidelb. 1999. – Heidrun Ehrke-Rotermund u. Viertelmillion Exemplaren. Erwin Rotermund: Zwischenreiche u. GegenwelNach 1945 wurde W. eine Zeitlang als ten. Texte u. Vorstudien zur ›Verdeckten SchreibHauptvertreter der literar. Opposition gegen weise‹ im ›Dritten Reich‹. Mchn. 1999, S. 103–151. den Nationalsozialismus angesehen. Der be- – Barbara Beutner u. H.-M. Pleßke (Hg.): Von reits 1940 begonnene, zutiefst antizivilisato- bleibenden Dingen. Über E. W. u. sein Werk. Ffm. 2002. – Manfred Franke: Jenseits der Wälder. Der risch-pessimistische Familien- u. EntwickSchriftsteller E. W. als polit. Redner u. Autor. Köln lungsroman Die Jeromin-Kinder (2 Bde., ebd. 2003. – Klaus Briegleb: Shoah 1938. In: E. W.: Der 1945 u. 1947) schildert am Beispiel des engen Totenwald. Ffm. 2008, S. 139–184. Lebenskreises eines ostpreuß. Dorfs die KaHeidrun Ehrke-Rotermund tastrophen des 20. Jh. Ablehnende Reaktionen löste W.s Kritik am Verhalten der Deutschen unter Hitler aus (Rede an die Deutsche Wied, Martina, eigentl.: Alexandrine Jugend. Ebd. 1945). Von fehlender Schuldein- Martina Weisl, geb. Schnabel, * 10.12. sicht, allg. Korruption u. Behördenwillkür 1882 Wien, † 25.1.1957 Wien. – Erzähleabgestoßen, emigrierte der Autor im Früh- rin. jahr 1948 in die Schweiz. In seinem Todesjahr erschien der Roman Missa sine nomine (Erlen- Aus einer hoch angesehenen reichen Bürgerbach 1950), der – anhand von Vertriebenen- familie stammend, begann die universell geschicksalen – noch einmal das entsagungs- bildete W. in den 1920er Jahren Romane, volle einfache Leben in der Abgeschiedenheit Erzählungen u. literar. Kritiken zu veröfals Überwindung des »Zeitalters der Dämo- fentlichen (bereits ab 1912 war sie Mitarbeiterin des »Brenner«). In fast allen ihren nen« zu beschwören sucht. Werken diagnostizierte sie eine Krise der Weitere Werke: Ausgaben: Sämtl. Werke. 10 bürgerl. Gesellschaft, aus der sie nach verBde., Mchn. 1957. – Die Novellen u. Erzählungen. Ebd. 1962. – Ges. Werke. 5 Bde., ebd. 1980. – Ein- schiedenen Auswegen suchte. In ihrem ersten zeltitel: Die Flucht. Bln. 1916 (R.; Pseud.). – Der Roman, der 1934 fortsetzungsweise u. d. T. Wald. Ebd. 1922 (R.). – Die blauen Schwingen. Das Asyl zum obdachlosen Geist u. erst 1950 als Regensb. 1925 (R.). – Der Knecht Gottes Andreas Kellingrath (Wien) auch in Buchform erschien, Nyland. Bln. 1926 (R.). – Der silberne Wagen. Ebd. führt der Versuch des Einzelnen, Moralität zu 1928 (E.en). – Die kleine Passion. Ebd. 1929 (R.). – bewahren, zur Flucht in die Isolation, zum Der Todeskandidat. Mchn. 1934 (E.en). – Der ver- Rückzug in das Irrenhaus. Der Austritt aus lorene Sohn. Ebd. 1935 (D.). – Der Dichter u. die der Gesellschaft als Antwort auf die Krise des Jugend. Mainz 1936 (Rede). – Von den treuen Be- Bürgertums konnte W. nicht zufrieden stelgleitern. Hbg. 1937 (Ess.). – Märchen. 2 Bde., Zülen. In Rauch über Sanct Florian (Wien [1937]. rich 1946. – Der Richter. Mchn. 1948 (E.). – Jahre u. Innsbr. 1949) thematisiert sie die MöglichZeiten. Zürich 1948 (Autobiogr.). – Die Mutter. keiten der Bewältigung dieser moralischen Ebd. 1949 (E.). Krise innerhalb einer auch vom austrofaLiteratur: Bibliografie: Guido Reiner: E. W. 4 schistischen christl. Ständestaat propagierten Tle., Paris 1972–82. – Weitere Titel: Bekenntnis zu E. W. Ein Gedenkbuch zum 60. Geburtstag. Mchn. heilen Welt des Dorfes. Doch ihr erstaunli1947. – Hans-Martin Pleßke: E. W. Bln./DDR 1967. cher, indes völlig unbekannter Provinzroman – Ralf Schnell: Literar. Innere Emigration führt geradezu vor, dass nichts komplizierter 1933–1945. Stgt. 1976. – Jörg Hattwig: Das Dritte ist als das einfache Leben im Dorf, das kein Reich im Werk E. W.s. Geschichtsdenken, Selbst- Ort der Sicherheit, vielmehr, wie der Unter-

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titel andeutet, eine »Welt der Mißverständnisse« ist. 1938 musste W. ins engl. Exil flüchten; mit der geografisch-kulturellen Heimat verlor sie auch die Zugehörigkeit zu ihrer sozialen Klasse, die zur Zeit des Nationalsozialismus Gegenstand von W.s merklich verschärfter Kritik wurde. 1947 kehrte W. nach Wien zurück. In den verspätet erschienenen Exilromanen Das Krähennest (Wien 1951) u. Das Einhorn (ebd. 1948. Graz/Wien 1964) stellt sie der zerrütteten Gegenwart ein idealisiertes MA bzw. die vorbürgerl. Epochen entgegen, da Arm u. Reich noch im selben Weltbild miteinander verbunden waren. Als ihr Hauptwerk betrachtete W. den monumentalen Entwicklungsroman Die Geschichte des reichen Jünglings (Innsbr. u. Ffm. 1952. Klagenf. 2005), an dem sie 1928–1943 gearbeitet hatte. In diesem Roman, der auch ein mit großer Zuneigung gezeichnetes Porträt von Georg Lukács enthält, wird der Weg eines Kindes aus reichem Haus in die kommunistische Bewegung u. von dort zu einem karitativen Christentum entworfen. Weitere Werke: Bewegung. Wien 1919 (L.). – Nikodemus. Erstsendung RAVAG Wien 1949 (Hörsp.). – Brücken ins Sichtbare. Ausgew. Gedichte 1912–52. Innsbr. 1952. – Das fremde Haus. Erstsendung RAVAG Wien 1953 (Hörsp.). – Der Ehering. Innsbr. 1954 (R.). Literatur: Hans Friedrich Prokop: Die Romane M. W.s. Diss. Wien 1972. – Audrey Milne: A Hard Life. M. W. in Exile. In: GLL 45 (1992), S. 239–243. – Evelyne Polt-Heinzl: ›Um sein Motiv ordnet sich für den Dichter die Welt‹. M. W. (1882–1957). In: Dies.: Zeitlos. Neun Porträts. Von der ersten Krimiautorin Österreichs bis zur ersten Satirikerin . Deutschlands. Wien 2005, S. 76–97. – Bozena Stepien´-Janssen: M. W. Ein monograf. Versuch . Diss. Ebd. 2007. – Andrea Hammel: Everyday Life as Alternative Space in Exile Writing. The Novels of Anna Gmeyner, Selma Kahn, Hilde Spiel, M. W. and Hermynia Zur Mühlen. Oxford u. a. 2008. Karl-Markus Gauß / Red.

Wiedemann, Ernst F(idelis), * 9.4.1928 Füssen/Allgäu. – Dramatiker, Lyriker, Erzähler. Bevor W., gelernter Bäcker, sich ganz dem Schreiben widmete, war er Schauspieler,

Bauarbeiter, Handelsvertreter u. Werbetexter. 1964 erschien seine zivilisationskrit. Erzählung Das Hochhaus (Neuwied), der eine Sammlung melanchol. Gedichte folgte (Preislied des Troglodyten. Nürnb. 1977). Von 1977 an verfasste W. Stücke für Straßentheateraufführungen, darunter die Doppelkomödie Comedia tragica von Julio und Hyppolita u. Spiel mit und ohne Kaiser Karl IV. Seither brachte W., in der Regel auch Darsteller seiner Hauptrollen, jährlich ein neues Stück zur Uraufführung. Einige Hörspielbearbeitungen (Peter & Paula. 1981. Wuinsln. 1987) sendete der BR. Daneben entstand der Gedichtband Es war einmal. Sens und Nonsens Reime (Fürth 1989), durch die ständige Wiederkehr der Einleitungszeile zum Zyklus gefasste, ironisch antikisierende Verse, die an Wilhelm Busch oder Eugen Roth erinnern. W. ist, trotz mancher Anleihe bei Fastnachtspiel, Dialektburleske u. Boulevardkomödie, ein »Poet der leisen Töne«. Sein Thema ist das unmerkl. Abhandenkommen der Humanität aus menschl. Beziehungen. Die melanchol. Komödien enden fast ausnahmslos zwischen Resignation u. Hoffen. Weitere Werke: Der Ainu. Urauff. 1988. Mchn. 1989 (Tonkassette). – Die Spur der Unsichtbaren. Gedichte zu Bildern v. Jutta Jentges. Neumünster 1995. – Buztog. Tragikomödie. Mchn. 1999 (Bühnenms.). – Mia san hoit koane Mörda net. Tragikomödie. Ebd. 1999 (Bühnenms.). Friedhelm Sikora / Red.

Wiedemann, Widemann, Michael, * 13.4. 1660 Görsdorf bei Lauban/Oberlausitz, † 1.9.1719 Stolberg am Harz. – Evangelischer Pastor u. Schriftsteller. W. besuchte das Gymnasium in Görlitz u. studierte seit 1682 v. a. Theologie in Leipzig u. Jena. Nach Jahren als Hauslehrer u. Mitgl. des evang. Pfarrerkollegiums in Görlitz war er ab 1690 Pastor in Ossig (bei Liegnitz) u. seit 1694 Diakon im schlesischen, also habsburgischen Schweidnitz. W. ist zu Lebzeiten durch ein einziges Buch zur Skandalfigur geworden. Die Affäre entzündete sich an den auf seine Studentenzeit zurückgehenden, ebenso gelehrten wie galanten Historisch-Poetischen Gefangenschafften

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(Lpz. 1689. 21690 mit Anhang). Die darin (1679) sowie an anderen dt. u. ital. Mustern enthaltenen Spitzen gegen die kath. Kirche dieser Gattung (bes. Loredano), der sich bei empfahlen das Werk den Jesuiten als nützl. W. freilich Momente des scherzhaften u. geInstrument, um gegen die Lutherischen vor- legentlich derb-erot. Sprechens beimischen. zugehen. Die protestantischen Kirchenobe- Typisch ist die Intention, Scherz u. Unterren wollten ihrerseits keinesfalls wegen der haltung mit »sinnreichen Reden« zu verbinAnzüglichkeiten aus der Feder eines kleinen den, also: gelehrte Sachen »poetisch verDiakons Freiräume gefährden u. offerierten blümt«. Unter den geistl. Büchern der Stolberger den Verfasser den habsburgischen Behörden als Bauernopfer. Am 14.4.1702 wurde W. Zeit ist die Christliche Haus-Schul (Lpz. 1703; verhaftet u. ins Gefängnis geworfen. Drei etwa zehn Auflagen) bemerkenswert, weil sie Monate später verfügte ein kaiserl. Erlass den neben mehreren Kirchenliedern W.s das noch Verlust seines Amtes u. den Landesverweis; 1702 verfasste Gedicht Freundlicher Abschied das Buch wurde öffentlich verbrannt. Nach- von denen Evangelischen vor Schweidnitz sich verdem W. zurück nach Görlitz gezogen war, sammlenden Christen Gemeinden Anno 1702 entdurfte er bald darauf die Erhöhung des Ge- hält. W. deutet hier seinen eigenen Fall als fallenen erleben: Der Graf von Stolberg am Zeichen göttl. Providenz u. vergleicht ihn mit Harz berief ihn zum Superintendenten u. den Vertreibungen Esaus u. Josephs. Prediger. 1703 konnte er das neue Amt anWeitere Werke: Bibl. Spruch-Redner. Lpz. treten u. gab fortan als Verfasser geistl. 1704. – Bibl. Gedächtniß-Redner. Ebd. 1706. – Schriften u. Lieder der Obrigkeit keinen Einl. zum christl. Cantzel-Redner. Ebd. 1713. – Christl. Psalm-Lieder [...]. Stolberg 1713. – Christl. Grund mehr zur Klage. Die Geschichte ist deshalb von fast tragi- Hauslehrer. Lauban 1723 (mit einer Lebensbekom. Art, weil W. selbst eben das geschehen schreibung W.s). Literatur: Stolbergische Kirchen- u. Stadt-Hisist, wovon sein inkriminiertes Buch vornehmlich handelt. Es enthält, nach Monaten torie. Ffm./Lpz. 1717. – Johann Caspar Wetzel: Hymnopoeographia. Tl. III. Herrenstadt 1724. – J. gegliedert u. darin mit den um diese Zeit in C. Klotz: De libris auctoribus suis fatalibus liber Deutschland entstehenden period. Journalen singularis. Lpz. 1768. – Friedhelm Kemp: ›Wie das verwandt (die ›natürliche‹ Periodisierung Verhängniß führet‹. [...]. In: Dt. Barocklyrik. Hg. nach Monaten als ältere Vorstufe der period. Martin Bircher u. Alois M. Haas. Bern/Mchn. 1973, Publikationsweise), eine Folge von zwölf S. 292–309. – Alexander Kosˇ enina: Anatomie, ViHistorien, in denen jeweils eine bestimmte visektion u. Plastination in Gedichten der Frühen Person oder eine Gruppe vorgestellt wird, die Neuzeit (Gryphius, Wiedemann, Brockes). In: ZfG in Gefangenschaft geraten ist. Einem kurzen N.F. 19 (2009), S. 63–76. Herbert Jaumann novellistischen Bericht über den Fall folgt ein Gedicht: eine »scharffsinnige Rede in reinen Wiegand, Carl Friedrich, * 29.1.1877 Fuldeutschen Reimen« (Vorbericht). Hier äußert da, † 26.5.1942 Zürich. – Dramatiker, sich die betreffende Person monologisch in Lyriker, Erzähler. der Form der »Geschicht-Rede« in teilweise ausführl. Expektorationen über ihr Schicksal, Nach Kindheit u. Jugend in Fulda wurde der unter Aufbietung vielfältiger myth., bibl. u. Sohn eines Eisenbahnbeamten zuerst Kontohistor. Parallelen u. Anspielungen, die in den rist bei einer Großbrauerei, ehe er das Lehjeweils anschließenden Anmerkungen auch rerseminar besuchte u. nach Studien in sogleich kommentiert u. erläutert werden. Frankfurt/M. u. Zürich 1907 zum Dr. phil. Die Prosaberichte fußen auf Historienbü- promoviert wurde. Danach war W. bis zu chern u. Chroniken, Reisebeschreibungen u. seiner Pensionierung Lehrer an der Zürcher polyhistorischen Kompendien; deutlich sind Handelsschule u. hatte da maßgebl. Einfluss Anknüpfungen an Harsdörffer, Jakob Daniel auf Schüler wie Guido Looser, Friedrich Witz Ernst u. Athanasius Kircher, an Schupp, Rist u. Kurt Guggenheim. 1914–1918 nahm W., u. Christian Weise. Die Poeme orientieren der sich nie als Schweizer naturalisieren sich bes. an Hoffmannswaldaus Helden-Briefen konnte, auf dt. Seite am Krieg teil. Nach sei-

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nem literar. Debüt mit den Niederländischen Balladen (Frauenfeld 1908) u. den Dramen Winternacht (ebd. 1909) bzw. Der Korse (Zürich 1909) gelang ihm mit dem von Hodlers Marignano-Fresken im Zürcher Landesmuseum inspirierten, auf einer eigens dafür errichteten Freilichtbühne bei Morschach am Vierwaldstättersee uraufgeführten Schweizer Volksdrama Marignano (ebd. 1911) ein spektakulärer Publikumserfolg. Nach dem Ersten Weltkrieg wandte sich W. stärker einer hymnenhaft-konventionellen Lyrik (Totentanz 1914–1918. Illustriert von Hans Witzig. Ebd. 1919. Die Lebensreise. Frauenfeld 1935) bzw. mit Romanen wie Das Opfer des Kaspar Freuler (ebd. 1933), Einhard und Eva (ebd. 1938) oder Millionen in Gefahr (ebd. 1941) einer volkstümlich-unterhaltsamen, gelegentlich auch etwas klischeehaften Erzählkunst zu. W.s Gedichte bildeten die Vorlage für eine große Zahl von Männerchorliedern der verschiedensten Schweizer Komponisten. Literatur: Robert Faesi u. a.: C. F. W. Frauenfeld 1937 (mit Bibliogr.). Charles Linsmayer

Wiegler, Paul, * 15.9.1878 Frankfurt/M., † 23.8.1949 Berlin/SBZ. – Literaturhistoriker, Essayist, Kritiker, Erzähler, Übersetzer. W., Sohn eines Studienrats, studierte Germanistik, Philosophie u. Geschichte u. wandte sich bald dem Journalismus zu. Er war Redakteur u. Theaterkritiker in Lübeck, Posen, Stuttgart, Leipzig, am »Berliner Tageblatt«, an der Prager »Bohemia« u. der »Schaubühne«. Früh entdeckte er seine Vorliebe für die frz. Literatur u. Geschichte, veröffentlichte Bücher über Französische Rebellen (Bln. 1904) u. das Französische Theater (ebd. 1906). 1913 übernahm W. die Leitung der Romanabteilung des Ullstein Verlags in Berlin. 1916 erschienen seine »literarischen Porträts« Figuren (Neuaufl. Lpz. 1979), streng komponierte, stellenweise bis zur Novelle ausgeformte Betrachtungen über Chateaubriand, Walpole, Disraëli, Renan, Taine u. Rimbaud (Neuaufl. Lpz./Weimar 1979). Für die »Literarische Welt« schrieb er regelmäßig histor. u. biogr. Skizzen u. Serien (Die große Liebe, Wie sie starben, Dichter- und Frauenporträts.

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Buchausg. Hellerau [1926]). 1925 schied W. bei Ullstein aus u. veröffentlichte u. a. eine zweibändige Geschichte der deutschen Literatur (Bln. 1930). Während der NS-Herrschaft hielt W. sich im Hintergrund u. veröffentlichte seine Essaybände Schicksale und Verbrechen. Die großen Prozesse der letzten 100 Jahre (ebd. 1935) u. Verräter und Verschwörer. Große und kleine Dramen der Weltgeschichte (ebd. 1937). 1945 wurde W. stellvertretender Chefredakteur des Ostberliner »Nacht-Expreß«, arbeitete als Theaterkritiker u. Lektor im Aufbau-Verlag. Er war Mitbegründer des »Kulturbunds« u. der Zeitschrift »Sinn und Form«. Als Kenner alter u. neuer Literatur schrieb W. eine Geschichte der Weltliteratur (ebd. 1914. 6., erw. Aufl. u. d. T. Geschichte der fremdsprachigen Weltliteratur. Mchn. 1947) u. galt als vorzügl. Übersetzer (Jules Laforgue, Gustave Flaubert u. Victor Hugo). W.s einziger Roman, Das Haus an der Moldau (Bln. 1934. Ffm. 1991), der ihn als überzeugenden Erzähler ausweist, spielt in den letzten Tagen der Habsburger Monarchie in Prag. Die Hauptfigur, Josef Schandera, Jurist, liberaler Politiker u. Verfechter eines Ausgleichs zwischen Deutschen u. Tschechen, wird aufgrund einer Intrige aus der Partei ausgestoßen, kehrt nach fünf Jahren Pariser Asyl nach Prag zurück u. bemüht sich vergeblich um Rehabilitierung. Das Schicksal Schanderas ist meisterhaft mit dem Verfall des Vielvölkerstaats verknüpft. Für Schandera, von seiner Vergangenheit abgeschnitten u. seiner Zukunft beraubt, gibt es ebensowenig einen Ausweg wie für die Monarchie. W.s straffe, markante Prosa gestaltet die Stadt Prag als unheimliche, vom Verfall gezeichnete Szenerie. Weitere Werke: Wilhelm der Erste. Sein Leben u. seine Zeit. Hellerau 1927. – Könige v. Frankreich. Bln. 1936. – Glanz u. Niedergang der Bourbonen. Ebd. 1938. – Joseph Kainz. Ein Genius in seinen Verwandlungen. Ebd. 1941 (Biogr.). – Johann Wolfgang v. Goethe. Ebd. 1946 (Ess.). – Tageslauf der Unsterblichen. Szenen aus dem Alltagsleben berühmter Männer. Mchn. 1950. Literatur: Hans J. Schütz: P. W. In: Ders.: ›Ein dt. Dichter bin ich einst gewesen.‹ Vergessene u. verkannte Autoren des 20. Jh. Mchn. 1988, S. 290–294, 332. – Hartmut Binder: ›... das Theater

387 menschl. Zustände u. Regungen zu öffnen‹. Der Erzähler, Essayist u. Übersetzer P. W. In: Brennpunkt Berlin. Prager Schriftsteller in der dt. Metropole. Hg. ders. Bonn 1995, S. 177–290. – Isabelle Bernard-Eymard: ›Das Haus an der Moldau‹ de P. W. Le dernier voyage à Prague, un roman apprécié de Werfel. In: Le monde de Franz Werfel et la morale des nations. Hg. Michel Reffet. Bern u. a. 2000, S. 175–181. Hans J. Schütz † / Red.

Wieland, Christoph Martin, * 5.9.1733 Oberholzheim bei Biberach, † 20.1.1813 Weimar; Grabstätte: Park von Oßmannstedt. »Der größte Dichter seines Zeitalters«, steht in der Pfarrmatrikel Oberholzheim, wo W. 1733 geboren wurde, über seinem hinzugesetzten Sterbetag. Fünf Tage nach W.s Tod, am 25.1.1813, bemerkte Goethe zu Johannes Falk, er würde sich nicht wundern, wenn er »einst diesem Wieland als einer Weltmonade, als einem Stern erster Größe, nach Jahrtausenden wieder begegnete und sähe und Zeuge davon wäre, wie er mit seinem lieblichen Lichte alles, was ihm irgend nahe käme, erquickte und aufheiterte«. W.s Leben u. Werk reichten zwar noch deutlich ins 19. Jh., gerieten aber, in krassem Widerspruch zu seiner wirkl. Bedeutung für die dt. Literatur, schon den Zeitgenossen zunehmend aus dem Blick, sodass das neue Interesse an W. einer W.-Renaissance gleichkommt. Pfarrerssohn wie Lessing, Reichsstädter wie Goethe, Schwabe wie Schiller, besuchte der junge W. in Biberach die Lateinschule u. privaten Unterricht. Der Vater Thomas Adam Wieland (1704–1772) stieg dort zum obersten Geistlichen auf, wo schon W.s Urgroßvater Martin Wieland (1624–1685) das Bürgermeisteramt bekleidet hatte. Über die Mutter Regina Katharina, geb. Kick (1715–1789), war W. mit der Familie ihres Cousins Georg Friedrich Gutermann verwandt, dessen Tochter Maria Sophie (1730–1807) sich 1753 mit Georg Michael Frank La Roche (1720–1788) verheiratete, dem vermutlich natürl. Sohn von Friedrich Graf von Stadion auf Warthausen bei Biberach. W.s Vater hatte sein Studium der Jurisprudenz in Tübingen abgebrochen, als sein Bruder, der Theologe

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war, plötzlich starb, u. hatte zur Theologie nach Halle gewechselt, wo August Hermann Francke lehrte, der mit einer entfernten Biberacher Verwandten W.s verheiratet war. Der Löwe in W.s Familienwappen hält, »statt eines edeln Mordinstruments, eine friedliche Pflugschar in den Bratzen« (in: Neuer Teutscher Merkur, 1800, Bd. 1, S. 265). Im Treibhaus der Jugend- u. Bildungsjahre stillte W. Lern- u. Lesehunger. 1747–1750 besuchte er die Schule Klosterbergen bei Magdeburg, ein im pietistischen Geist geführtes Internat. Nach dem heimatl. Unterricht, bes. in alten Sprachen, wurde er nun in die philolog., mathemat., philosophischen, theolog. Wissenschaften eingeführt. »Sobald ich aber im 15ten Jahr über Wolfen u. Bayles Dictionaire kam, abandonnirte ich alles um die philosophie«, schrieb er am 6.3.1752 an Bodmer. Auf ausgiebige Bibellektüre, die Autoren der goldenen u. silbernen Latinität, die Philosophen von Demokrit bis Leibniz u. Voltaire, unter den deutschsprachigen Autoren bes. Brockes, Haller, Klopstock, folgte 1749 bei Johann Wilhelm Baumer, Professor in Erfurt, die Bekanntschaft mit Cervantes Don Quijote. Wenn W. an Bodmer auch schrieb, Horaz u. Cicero »aber liebte ich am meisten«, so waren damit schon seine Favoriten unter den Lateinern benannt, denen sich bald neben Platon unter den Griechen Xenophon, Aristophanes, Euripides, Lukian hinzugesellten, die er später auch übersetzte u. kommentierte. Im Sommer 1750, nach seiner Rückkehr, begegneten sich W. u. Sophie (seit 1741: von) Gutermann in Biberach. Nur wenige Wochen darauf verlobten sie sich. Wenn das schwärmerisch eingegangene Verlöbnis auch nicht von Bestand war, weil es von den Eltern hintertrieben wurde, so bedeutete die platonische Liebe zu seiner »englischen« Sophie doch ein so prägendes Erlebnis, dass W. noch im Altersbrief vom 20.12.1805 ihr bekennen konnte: »Nichts ist wol gewisser, als daß ich, wofern uns das Schicksal nicht im Jahre 1750 zusammengebracht hätte, kein Dichter geworden wäre.« Umgekehrt urteilte Sophie von La Roche 1783 in ihrer Zeitschrift »Pomona«: »In Wieland, meinem Verwandten, sah ich schöne Wissenschaft« (H. 5, S. 428). In

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der briefl. Zwiesprache mit der Geliebten entwickelte W. zuerst seine nicht auf Regeln, sondern auf Lebendigkeit zielende Poetik. Nach zahllosen vernichteten Entwürfen ging daraus sein erstes, von Georg Friedrich Meier in Halle 1752 veröffentlichtes Werk hervor, Die Natur der Dinge, ein Lehrgedicht in Alexandrinern. Das folgende Jahrzehnt bis 1760 weilte W. in Tübingen u. in der Schweiz. Im Nov. 1750 begann er ein Jurastudium an der Universität Tübingen. Dort wurde der junge Bräutigam in seiner unangeregten Einsamkeit u. im Bewusstsein, keine Lehrer zu haben, zum Dichter. Sein hexametr. Epenfragment Hermann in vier Gesängen, mit dessen nationalem Stoff W. auch erstmals Anspruch auf die Rolle eines Nationalautors anmeldete, verschaffte ihm eine Einladung in Bodmers Haus nach Zürich. 1752–1754 war er dort Gast, danach bis 1759 Hauslehrer in Zürich u. seit Sommer 1759 ein knappes Jahr in Bern. Obwohl stark auf das Programm der Zürcher Lehrer Bodmer u. Breitinger verpflichtet, gedieh in dieser Schule des Lesens doch eine ausgeprägte Form-, Gattungs- u. Traditionsbewusstheit. Zürich war damals, bes. in der Gegnerschaft gegen Gottsched in Leipzig, ein literar. Mittelpunkt. Unter der patriarchalen Obhut seines Mentors, dessen Forderungen wider Erwarten auch W.s Widerspruch förderten, durch platonische Liebschaften mit einem ganzen »Serail« gebildeter Frauen nur beflügelt, reifte W. vom urspr., etwa im Gepryften Abraham (Zürich 1753), noch bodmerisierenden, seraphisch bibl. Hexametristen vollends zum Dichter. W.s Schweizer Umweg entfernte die beiden Verlobten voneinander bis zur freundschaftl., endgültigen Trennung im Dez. 1753. In Bern gab es 1759/60 eine kurzzeitig innige Verbindung mit Julie von Bondeli. In jenen Jahren vertiefte W. sein religiöses Denken u. überhöhte es dichterisch. Den vom Gesangbuch geprägten frühesten Entwürfen folgten durch Klopstock angeregte Großformen, auch das erste dt. Blankversdrama, Lady Johanna Gray (Zürich 1758). W.s stets auf prakt. Umsetzung bedachtes Schaffen verknüpfte jetzt den prakt. Nutzen der christl. Religion mit der griech. Philosophie, die er sich folgenreich erschloss. Überdies profitierte seine

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Dichtung vom für ihn von Anfang an zentralen Liebesmotiv. Wie aus dem Vorbericht zu Theages oder Unterredungen von Schönheit und Liebe (in: Sammlung einiger Prosaischen Schriften. 3 Bde., ebd. 1758) zu ersehen, liebte W. jetzt neben den Werken Platons auch die Shaftesburys, »weil er sehr oft seine eigensten Empfindungen und Ideen darin ausgedrückt fand«. Und in der Zueignung von Araspes und Panthea (ebd. 1760) schrieb W., ein Dämon, »in der Gestalt der Muse Xenophons und der moralischen Venus des Shaftesbury verkleidet«, habe ihm den Gedanken zur heroischen Dichtung des Cyrus (ebd. 1759) eingegeben. Lessing aber, der im zwölften der Briefe die Neueste Litteratur betreffend (1759) warnte, Shaftesbury sei »der gefährlichste Feind der Religion, weil er der feinste ist«, u. im folgenden Brief W. züchtigte, »da er alle Wissenschaften in ein artiges Geschwätze verwandelt wissen« wolle, lenkte W. nur um so entschiedener auf den einmal beschrittenen Weg als Dichter. W.s immer zielstrebiger verwirklichte Poetik fand schließlich ihren literar. Rückhalt in Platons u. Xenophons Gastmählern, von deren beiden Veranstaltern er denn auch für seinen Romanhelden Agathon bzw. Kallias (wie Hippias ihn nennt) dessen Namen u. das Programm der Kalokagathie entlieh. In den seine literar. Entwicklung begleitenden Briefen an den Freund Johann Georg Zimmermann sprach W. noch am 2.9.1756 vom »Mysticismus« als höchstem Grad der Glückseligkeit, erkannte jedoch schon im Febr. 1758 in »mancherlei Gattungen der Liebe« die »wahren Quellen des Fanatisme und Mysticisme«. W. wandelte sich dabei nicht so sehr vom Mystiker in einen Psychoanalytiker u. Ironiker, sondern relativierte nur zusehends seine Gesichtspunkte. Das daraus resultierende Weltbild wurde differenzierter, die Grundlage seines Menschenbilds umfassender, seine Darstellung vielseitiger. Das Handeln der Menschen aus mehreren Perspektiven heraus angemessen zu betrachten, wurde mehr u. mehr zu seinem bes. Inhalt. Im Aristipp (Lpz. 1800/1801) ist dann erklärtes Ziel, »alles an den Menschen natürlich zu finden, was sie zu tun fähig sind« (Buch 2, Brief 5).

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In der eigenen Vervollkommnung, einer expansiven Verknüpfung von Poesie, Theologie u. Philosophie, wuchs der Perfektibilitätsgedanke, der W. zunächst als religiösen, dann philosophischen u. schließlich im weitesten Sinn humanen Aufklärer auszeichnet. Als klass. Nationalautor hatte er zwar vorrangig die Vervollkommnung des Einzelnen im Sinn, im Hintergrund jedoch zgl. auch die der literar. Gattungen u. überhaupt der Nationalliteratur im Ganzen. Die für die dt. Literatur bedeutsame Entwicklung W.s war nahezu vollzogen, als er 1760 in Biberach zum Senator u. Kanzleiverwalter gewählt wurde. Als bedeutendstes Resultat ging daraus der noch in der Schweiz (mit einem Titelhelden Chärephon) konzipierte Roman Geschichte des Agathon (Zürich 1766/67) hervor. Persönlich durch die neue Aufgabe herausgefordert, gesellschaftlich u. künstlerisch noch unerfüllt, trat W. das polit. Amt im Stadtstaat Biberach an, dessen Ämter von Protestanten u. Katholiken paritätisch besetzt wurden. Das führte zwangsläufig zu Streitigkeiten. Seit den Biberacher Jahren, 1760–1769, wurde in seinen Werken bis hin zum Staatsroman der polit. Grundzug denn auch, wie vordem der theologische u. philosophische, erst recht praktisch bestimmend. Wie Klopstock für die Lyrik, Lessing für das Drama, so wirkte W. für den Roman u. die Verserzählung in der dt. Literatur bahnbrechend. Der Dichtername des Kanzleiverwalters warf auch auf die Stadt einigen Ruhm, doch W. geriet in der Paritätsstreiterei, da die Katholiken seiner Amtsführung nicht zustimmen wollten, an den Rand finanziellen Ruins. Sein Gehalt war nämlich bis zur Entscheidung des Rechtshandels ausgesetzt worden. Im Privatleben sorgten erst die Liebelei mit der Frau des Bürgermeisters, der Schwester von Sophie La Roche, dann die beabsichtigte Heirat mit der ihrer Niederkunft entgegensehenden kath. Christine Hogel, genannt Bibi, für Verwirrung. Die nicht standesgemäße u. obendrein interkonfessionelle Heirat, ein Thema des zeitgenöss. Schauspiels, wurde zu einem unüberwindl. Hindernis. Bibis Unterhalt widmete Wieland den Erlös aus dem Don Sylvio von Rosalva (Ulm 1764), einem Roman, der bestes Verständnis

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des Don Quijote verrät. Die gemachten Erfahrungen aber erzeugten in W. etwas Neues: Skeptizismus. Der Idealist wurde auch zu einem Realisten. Am 21.10.1765 ging W. schließlich, was er zeitlebens betonte, eine glückl. Ehe mit der Augsburger Bürgertochter Anna Dorothea von Hillenbrand (1746–1801) ein. Er hatte sie, 13 Jahre jünger als er, über die La Roches kennen gelernt. Die Heirat kam einer Befreiung gleich. Am Warthausener Hof des Grafen Stadion, in einer Art literar. Salon, verkehrte W. auch in Gesellschaft der La Roches, die auf dem Schloss wohnten. Sein Privatleben bewegte sich fortan in geordneten Bahnen. Und sein literar. Stern ging mit der ersten dt. Übersetzung von 22 Dramen Shakespeares (Zürich 1762–66), mit der Verserzählung Musarion, oder die Philosophie der Grazien (Lpz. 1768) u. bes. mit der Geschichte des Agathon auf, dem, wie Lessing im 69. Stück der Hamburgischen Dramaturgie (29.12.1767) rühmte, »erste[n] und einzige[n] Roman für den denkenden Kopf, von klassischem Geschmacke«. W.s gescheite Freundin Julie von Bondeli, die ihm schon im Brief vom 15.4.1763 die Lektüre von Sternes Tristram Shandy (1759–67) empfahl, hatte in diesem Roman diagnostiziert: »tiefe Gelehrsamkeit, eine lachende Philosophie, eine besonnene Kritik und eine erhabene Moral, unter dem Colorit des witzigsten Scherzes [...]. Das Buch scheint ohne Plan entworfen zu seyn; eine Verkettung von Digressionen ist dabei zum Grunde gelegt, und das Ganze bildet einen Plan, der eben so richtig als neu ist.« Das fand Friedrich von Blanckenburg ein Jahrzehnt später in W.s Agathon wieder, dessen Aufnahme bes. des engl. Romans (Richardson, Fielding, Sterne) seinen Versuch über den Roman (1774) angeregt hatte. Aller literar. Ruhm aber konnte W. je länger je weniger an Biberach binden, das er als »Anti-Parnaß« empfand. Nach langwierigen Verhandlungen erhielt W. im Febr. 1769 den Ruf als Professor der Philosophie an die Erfurter Universität, den Friedrich Justus Riedel vermittelt u. Warthausen über den kurfürstl. Hof in Mainz, dem die Erfurter Universität unterstand, befürwortet hatte. Riedels ästhetischer Relativismus wurde für W. insofern wichtig, als er

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z. B. die absolute Schönheit der Liebesgöttin in der Geschichte der Abderiten (Lpz. 1781) mit einer schwarzen Venus kontrastierte u. somit relativierte. Im Ringen der Universität um Reformen geriet W. in den Ruf der Freigeisterei. Bei den Studenten, zu denen Heinse gehörte, genoss er Popularität. Arbeitsbelastung u. Universitätspolitik aber waren, wie er erkennen musste, seinem Dichten gleichermaßen abträglich. Die bedeutendste Veröffentlichung jener Erfurter Jahre, der Staatsroman Der goldne Spiegel (ebd. 1772), weckte die Aufmerksamkeit der verwitweten Weimarer Herzogin Anna Amalia. Sie bestellte W. als Prinzenerzieher. Diese neue Aufgabe band, bis zur Mündigkeit des Erbprinzen Carl August 1775, W. nur für drei Jahre u. sicherte ihm darüber hinaus eine lebenslängl. Pension. Mit W.s Übersiedlung nach Weimar im Sept. 1772 begann der Aufstieg dieser Residenzstadt zur Kulturmetropole. Seine 1773 nach dem Vorbild des Pariser »Mercure de France« begründete (u. selbstverlegte) Zeitschrift »Der Teutsche Merkur« (TM) machte Weimar zu einem Zentrum der literar. Welt, das in der Folge nicht nur Goethe, Herder, Schiller, sondern auch zahllose Besucher anzog, sodass W. sich schon bald nach einer ruhigen Zuflucht sehnte. In Weimar bewältigte W. – jetzt ein freier Schriftsteller – mit einem allenfalls zu unterschätzenden Arbeitspensum seine Aufgaben als Dichter, Publizist u. Übersetzer. Als Erzähler u. Dichter veröffentlichte er die zweite Auflage seines Agathon (Lpz. 1773) u. die zunächst in Fortsetzungen im »Teutschen Merkur« 1774 bis 1780 erschienenen Abderiten. An diesen antiken Schildbürgern statuiert W. ein universales Exempel, das in der fünfteiligen Buchausgabe auch kompositionell sichtbar wird, weil er die Narrheit der Abderiten sich an den jeweils einem Buch zugeteilten Fakultäten menschl. Wissens (naturwissenschaftl., medizinische, philosophische, juristische, theolog. Fakultät) brechen lässt u. schließlich, eine satirisch verkehrte Welt, mit theolog. Begründung aus Abdera ins Weltexil entlässt. Gleichfalls zuerst im »Teutschen Merkur« erschien 1780 das komische, in der Tradition Ariosts stehende Versepos Oberon (Weimar 1780). Auch

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gab W. Sophie von La Roches Geschichte des Fräuleins von Sternheim (Lpz. 1771) heraus oder die das Feenmärchen auch in der dt. Literatur beheimatende Sammlung Dschinnistan oder auserlesene Feen- und Geister-Mährchen (3 Bde., Winterthur 1786–89), zu der er selbst beigetragen hat u. in der Schikaneder die Quelle zu Mozarts Zauberflöte (1791) fand. Es folgten die, wie das Spätwerk, weitgehend unbekannt gebliebenen Romane Geheime Geschichte des Philosophen Peregrinus Proteus (Lpz. 1791), angeregt durch Lukians Satire über das Lebensende des Peregrinus, u. Agathodämon (ebd. 1799), angeregt durch Philostrats Biografie des Apollonius von Tyana. Mit der dritten, endgültigen Fassung seiner Geschichte des Agathon eröffnete W. 1794 die Ausgabe seiner Sämmtlichen Werke »von der letzten Hand«. Diese Werkausgabe in 42 Bänden, die 1794–1802 parallel in vier Formaten u. Ausstattungen »wohlfeil« in Oktav (C1: hier allein erschienen noch drei weitere Bände bis 1811), in Klein- u. Großoktav (C2 u. C3) sowie in Quart (C4), der »Fürstenausgabe«, erschien, ist, verlegt von Georg Joachim Göschen in Leipzig, das größte Monument, das je einem dt. Dichter u. Schriftsteller zu Lebzeiten errichtet worden ist. Die Ausgabe enthält weitgehend auch W.s publizistisches Werk. Darunter befinden sich die poetisch u. literarhistorisch bedeutenden Briefe an einen jungen Dichter (TM, 1782 u. 1784), die wichtige Abhandlung über Das Geheimniß des Kosmopoliten-Ordens (TM, 1788), in der W. sein Weltbürgertum in überraschender Nähe zu Lessings Freimaurergesprächen u. Herders Humanitätsbriefen fern jegl. Organisationsform allein auf Freundschaft u. Vernunft gründet, außerdem zahlreiche Hinweise auf Literatur, Kultur u. Kunst des Altertums u. der Neuzeit, darunter frühe emanzipator. Darstellungen bedeutender Frauen, etwa der Christine de Pisan (TM, 1781), oder die in Auseinandersetzung mit den Originaldokumenten verfassten umfänglichen Aufsätze zur Französischen Revolution. In seine Werkausgabe nicht aufgenommen hat W. seine bis heute nicht veralteten Weimarer Übersetzungen, die Briefe u. Satiren des Horaz (Lpz. 1782 u. 1786), die sechs Bände von Lukians Sämtlichen Werken (ebd. 1788/89), die sieben Bände von

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Ciceros Sämmtlichen Briefen (vollendet von Friedrich David Gräter. Zürich 1808–21). Weitere Übertragungen erschienen in der nach dem »Teutschen Merkur« (1773–1810) zweiten Zeitschrift, die W. herausgab, im »Attischen Museum« (1797–1807), darunter vier Komödien des Aristophanes, (Friede, Wolken, Ritter, Vögel), zwei Tragödien des Euripides (Ion, Helena) u. bes. das Werk, das W. beinahe sein Leben lang als poetisches Muster galt, Xenophons Symposion, das er mit dem für sein Spätwerk fundamentalen Versuch über das Xenofontische Gastmahl als Muster einer dialogisirten dramatischen Erzählung betrachtet (1802) begleitete. Seinem Klassizismus blieb W. – darin Klopstocks ästhetischem Imperativ folgend: »So ahm dem Griechen nach. Der Griech’ erfand« – in origineller Weise treu. Doch entfernte er sich sichtlich von Platons Ideenbildern, kritisierte sie zunehmend u. fand die authent. Überlieferung des Sokrates u. seines Denkens schließlich mustergültig in Xenophons Werken, aus dessen Sokratischen Denkwürdigkeiten 2,1 er beispielsweise auch den Dialog zwischen Sokrates u. Aristippos (1799) übertrug. W.s wenig aufregende Biografie muss, sobald man auf sein immenses Lebenswerk blickt, unweigerlich in den Hintergrund geraten. Er war nicht nur glückl. Ehemann, sondern auch fürsorgl. Hausvater, hatte 14 Kinder, von denen er elf großzog, darunter sieben Töchter. »Denken Sie indessen nicht, daß es eben ein gar Aristippisches und Heluonisches Leben um diese meine Otia sey«, schrieb er am 24.1.1779 an Voß: »Ich bin Hausvater, und habe inclusive sieben liebe holde Kinder, wovon das älteste wenig über zehn Jahre, und das jüngste sieben Wochen alt ist, täglich sechzehn Mäuler und Mägen zu versorgen.« Daneben führte W. ein gastl. Haus. Heinrich Gessner, der Sohn von Salomon Gessner in Zürich, u. der Philosoph Karl Leonhard Reinhold, Kantianer u. Vorgänger Fichtes in Jena, waren seine Schwiegersöhne. Kleist, befreundet mit W.s Sohn Ludwig u. 1803 zu Gast in Oßmannstedt, wo er W. aus dem Robert Guiskard vorgetragen hatte, schrieb ihm hierüber am 17.12.1807: »Das war der stolzeste Augenblick meines Lebens.«

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Im Vorbericht zu seinen Sämmtlichen Werken betonte W., das Glück gehabt zu haben, »der Zeitgenosse aller Deutschen Dichter und Schriftsteller, in deren Werken der Geist der Unvergänglichkeit athmet«, gewesen zu sein: »die meisten unter ihnen waren seine Fre un de, keiner sein Feind.« Tatsächlich ist W.s versöhnliches, stets um objektive Beurteilung bemühtes Verhalten auch zu seinen Gegnern aufschlussreich für seinen Charakter. In seinem Singspiel Alceste (Lpz. 1773) witterte Goethe auf der Höhe der Originalgenieästhetik eine Kritik an Euripides u. ahndete sie mit der Farce Götter, Helden und Wieland (1774), deren lukianische Manier W. stilsicher erkannte u. als ein »Meisterstück von Persiflage« zur Lektüre empfahl (TM, 1774). Komponiert hat die dt.e Oper Anton Schweitzer (1735–1787; vgl. 2 CD, Naxos 2002. DVD, edel Classics GmbH 2008). Als W. am 10.11.1775 in Weimar erstmals Goethe begegnet war, schrieb er an Friedrich Heinrich Jacobi: »Seit dem h eu t igen Mo rge n ist meine Seele so voll von Göthen wie ein Thautropfe von der Morgensonne.« Und im dritten der Briefe an einen jungen Dichter, nach dem Aufweis, welche Höhe bislang im 18. Jh. die Lyrik gewonnen, ohne dabei seine eigene Leistung in der Erzählprosa zu erwähnen, verhieß er seinen Landsleuten im Verfasser des Götz u. der Iphigenie (deren Versifikation Goethe auf seine Anregung hin unternahm) einen Sophokles, Shakespeare, Racine der dt. Nationalliteratur in einer Person. Seine überragende literarhistor. Bedeutung, die W. sich allein schon mit seinen beiden Zeitschriften sicherte, rief zweimal Gegner auf den Plan. Das erste Mal waren es die Göttinger Hainbündler, die Klopstocks Rheinhymne feierten u. W.s vermeintlich undeutschen Idris (ebd. 1768) verbrannten. Das zweite Mal waren es 1798 die Brüder Schlegel als Herausgeber des »Athenaeum«, der ein Jahr nach dem »Attischen Museum« 1798 erschienenen Zeitschrift der Frühromantik, die W. um seiner »Annihilazion« willen den Prozess machten u. ihn mit der Citatio edictalis (1799) des Plagiats bezichtigten. Nur wenig vorher hatte W. Friedrich Schlegel noch als Mitarbeiter am »Attischen Museum« gewinnen können. Dessen gegen

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ihn jetzt erhobener Vorwurf, er sei ein »negative[r] Classiker« (an Caroline Schlegel, 20.10.1798), überstieg jedoch alles bisher Dagewesene. Es war eine der nachhaltigsten Attacken in der dt. Literaturgeschichte überhaupt. Aus der Sicht der Romantiker behinderte W. ihr Konzept einer »progressiven Universalpoesie«. Tatsächlich gab er seine dem prakt. Leben zugewandten Erfahrungen nie preis u. hielt, ihren Grenzverwischungen entgegen, an der Trennung von Fantasie u. Erfahrung fest. Die Folge war, dass der damals wirkungsreichste, doch gelegentlich als schlüpfrig, geschwätzig, undeutsch verkannte Dichter weitgehend, bis in die jüngste Zeit, aus dem Kanon dessen, was man las, verschwunden ist. Dabei war der »schlüpfrige« W. nur reizend, der »geschwätzige« W. nur genau, weil er die Gedanken bis in die Winkel der Sprache hinein verfolgte (deshalb für Schlagworte schlecht geeignet), u. der »undeutsche« W. ausgerechnet derjenige, der aus seinem Weltbürgerverständnis heraus früh den Begriff der »Weltlitteratur« (um 1790) prägte u. das Verständnis für diese der Nationalliteratur erschloss. Gemäß seinen Idealen des horazischen »nil admirari« (Epistolae 1,6) u. der aristippischen Gelassenheit reagierte W. persönlich zurückhaltend u. poetisch mit dem umfassenden Gesprächsangebot seines über Entfernungen hinweg in Briefen geführten Gesprächs Aristipp und einige seiner Zeitgenossen (Lpz. 1800/ 1801). Gegenüber seinem Verleger betonte W. am 14.12.1799: »Ein solches Buch schreibt man nicht ums Geld«. Äußere Voraussetzung dafür, dass ihm das staunenswerte Werk gelingen konnte, war W.s Wegzug von Weimar auf das nahegelegene Landgut Oßmannstedt, sein Osmantinum, wie er es in Anlehnung an Horazens Sabinum u. Ciceros Tusculanum nannte. Er hatte es 1797 erworben u. bis zum Tod seiner Frau im Nov. 1801 versucht, es erfolgreich zu bewirtschaften, als wollte er spät noch seine Deutung des Familienwappens erweisen. Danach war ihm, wie er am 31.12.1801 an Göschen schrieb, »als ob mir die Schwungfedern gestutzt seyen: sonst arbeitete ich mit Freude, mit Munterkeit; itzt mühsam, entgeistert, schwerfällig«. Im

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Frühjahr 1803 beendete W. denn sein Idyllenleben u. zog nach Weimar zurück. Der Aristipp-Roman, ein Kulturpanorama u. Bildungsgespräch in einem, durch die Gestalt der Lais auch ein erotischer, durch die Aristipps ein philosophischer oder durch die Diskussion von Platons Schrift vom Staate ein polit. Roman, war in vier Büchern abgeschlossen, obwohl sich W. zeitweise noch mit dem Plan eines fünften Buchs getragen hatte. In Umfang u. themat. Breite resultierte die Universalität des Erzählten aus seinem Lebenswerk. Die mündl. u. schriftl. Traditionen des Gesprächs (Dialog, Tischgespräch, Gespräch in Briefen) sind in der Makropoetik dieses Briefromans entfaltet, der obendrein am Geburtsort des sokrat. Dialogs angesiedelt ist, damit (im Blick auf Raffael) auch eine Schule von Athen ist, aber auch in Kleinasien u. im nordafrikan. Kyrene (Aristipps Vaterstadt) spielt, also den drei Kontinenten der Alten Welt. Im Roman dringt auch der schon in W.s Frühwerk sichtbare Praxisbezug wieder durch. Als Empfänger aller Briefe bleibt ihr Leser nämlich der einzig wirklich Handelnde, da W.s Lebendigkeitsästhetik transitorisch auf die Leserbeteiligung zielt. Dem perspektivenreichen Roman, im griech. Geist Sokrates’ u. Aristipps gebündelt, ist W.s letzte Arbeit, die er nicht mehr selbst abschließen konnte, an die Seite zu stellen. Darin ordnete W. die Briefe Ciceros u. einiger seiner Zeitgenossen chronologisch, verknüpfte sie durch begleitende Kommentare u. entwarf somit vor dem Hintergrund der brieflich dokumentierten Biografie des Römers zgl. die geistige Physiognomie Roms. W. habe besser »als irgend Jemand, deutsch geschrieben«, sagt Nietzsche in Menschliches, Allzumenschliches (107. Stück): »seine Uebersetzungen der Briefe Cicero’s und des Lucian sind die besten deutschen Uebersetzungen«, er fügt allerdings hinzu: »aber seine Gedanken geben uns Nichts mehr zu denken«. Dennoch bleiben W.s monumentaler Aristipp-Roman u. die Cicero-Übersetzung wie das von klassizistischem Geist durchdrungene Spätwerk insg. in der dt. Literatur noch zu entdecken. Am 20.1.1813 starb W. in Weimar, Comes palatinus, Hofrat, Mitgl. der Akademie der

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Wissenschaften zu Berlin, der Freimaurerloge Amalia zu Weimar, Ehrenmitgl. des Pegnesischen Blumenordens zu Nürnberg, ausgezeichnet von Napoleon u. Zar Alexander I. auf dem Fürstenkongress zu Erfurt (1808). Seine letzte Ruhestätte fand er im gemeinsamen Grab mit seiner Frau u. der im Sept. 1800 auf W.s Landsitz gestorbenen Sophie Brentano im Park von Oßmannstedt. Am 18.2.1813 feierte Goethe Wieland’s Andenken in der Loge Amalia zu Weimar (Weimarer Ausg. I 36) u. erhob für die Nachwelt den Anspruch, »daß die sittliche Sinnlichkeit, die gemäßigte, geistreiche Lebensfreude unsers Edlen einen reichen, gedrängt gewundenen Kranz verdiene«. Ausgaben: Werkausgaben: Nachdr.e der Sämmtl. Werke: 85 Bde., Wien 1797–1815. 65 Bde., ebd. 1811–23. 39 Bde. u. 6 Suppl.-Bde., Karlsr. 1814–18. 43 Bde., Wien 1818–21. 36 Bde., Lpz. 1839 (erneut 1853–58 u. 1855–58). Neudr. v. C1: 39 Bde. u. 6 Suppl.-Bde., Hbg. 1984. – Neudr. der ShakespeareÜbertragung (Zürich 1762–66): 8 [v. 22] Dramen in 8 Bdn., Nördlingen 1986–89. – Sämmtl. Werke. Hg. Johann Gottfried Gruber. 53 Bde., Lpz. 1818–28 (in Taschenformat 1824/25. Mit Suppl.Bd. 1824–28). – Werke. Hg. Heinrich Düntzer. 40 Tle. in 16 Bdn., Bln. [1879/80] (umfänglichste Ausg.). – Ges. Schr.en. Hg. Dt. Kommission der Preuß. Akademie der Wiss.en [...]. Abt. 1: Werke. Abt. 2: Übers.en. Bln. 1909 ff. (unvollst.). Neudr. Hildesh. 1986 ff. – Ausgew. Werke. Hg. Friedrich Beißner. 3 Bde., Mchn. 1964/65. – Werke. Hg. Fritz Martini u. Hans Werner Seiffert. 5 Bde., ebd. 1964–68. – Der goldne Spiegel u. a. polit. Dichtungen. Hg. Herbert Jaumann. Ebd. 1979. – Werke in 12 Bdn. Ffm. 1986 ff. Einzig ersch.: Bd. 3: Agathon. Hg. Klaus Manger. Bd. 4: Aristipp. Hg. ders. Bd. 9: Übers. des Horaz. Hg. Manfred Fuhrmann.  Polit. Schr.en, insbes. zur Frz. Revolution. Hg. Jan Philipp Reemtsma, Hans u. Johanna Radspieler. 3 Bde., Nördlingen 1988.  C. M. W. Von der Freiheit der Lit. Krit. Schr.en u. Publizistik. Hg. Wolfgang Albrecht. 2 Bde., Ffm./Lpz. 1997. – Schr.en zur dt. Sprache u. Lit. Hg. J. P. Reemtsma, H. u. J. Radspieler. 3 Bde., Ffm./Lpz. 2005.  Werke. Oßmannstedter Ausg. Hist.-krit. Ausg. (= WOA). Hg. K. Manger u. J. P. Reemtsma. Bln./ New York 2008 ff.– Briefe: Ausw. denkwürdiger Briefe. Hg. Ludwig Wieland. 2 Bde., Wien 1815. – Ausgew. Briefe v. C. M. W. [...] 1751 bis 1810 [...]. 4 Bde., Zürich 1815/16. – W. u. Reinhold. OriginalMittheilungen [...]. Hg. Robert Keil. Lpz./Bln. 1885. Lpz. 21890. – Briefw. Hg. Berlin-Branden-

Wieland burg. Akademie der Wiss.en durch Siegfried Scheibe. 20 Bde., Bln. 1963–2007. – Sophie v. La Roche. Ein Lebensbild in Briefen. Hg. M. Maurer. Lpz./Weimar/Mchn. 1983. 21985. – Hansjörg Schelle: C. M. W.s Briefw. mit Friedrich Vieweg. 3 Tle. In: MLN 98–100 (1983–85). – Ders.: W.s Briefw. mit Christian Friedrich v. Blanckenburg u. zwei Briefe W.s an Göschen. In: Lessing Yearbook 17 (1985), S. 177–208. – C. M. W., Sophie Brentano, Briefe u. Begegnungen. Hg. Otto Drude. Weinheim 1989. Literatur: Bibliografien: Gottfried Günther u. Heidi Zeilinger: W.-Bibliogr. Bln./Weimar 1983 (bis 1980). – Hansjörg Schelle: Nachträge u. Ergänzungen zur W.-Bibliogr. 6 Tle. In: Lessing Yearbook 16–21 (1984–89). – Viia Ottenbacher: W. Bibliogr. 1983–88. In: W.-Studien 1 (1991), S. 185–240. Dies./Heidi Zeilinger: W.-Bibliogr. 1988–1992. In: W.-Studien 2 (1994), S. 285–332. Dies.n: W.-Bibliogr. 1993–1995. In: W.-Studien 3 (1996), S. 299–352. Dies.n: W.-Bibliogr. 1996–2000. In: W.-Studien 4 (2005), S. 163–256. V. Ottenbacher/Wolfram Wojtecki: W.-Bibliogr. 2001–2005. In: W.-Studien 5 (2005), S. 235–295. – W.-Bibliogr. 2006–2010. In: W.-Studien 7 (2011) (in Vorb.). – Biografien: Johann Gottfried Gruber: C. M. W.s Leben. Neu bearb., mit Einschluß vieler noch ungedr. Briefe W.s. 9 Bücher in 4 Tln., Lpz. 1827/28. Neudr. Hbg. 1984 (auch als Bde. 50–53 der Ausg. ›Sämmtl. Werke‹. Hg. J. G. Gruber. Lpz. 1827/28). – Friedrich Sengle: W. Stgt. 1949. – Hans Radspieler: C. M. W. 1733–1813. Leben u. Wirken in Oberschwaben. Weißenhorn 1983 (Kat.). – Thomas C. Starnes: C. M. W. Leben u. Werk. Aus zeitgenöss. Quellen chronologisch dargestellt. 3 Bde., Sigmaringen 1987. – Irmela Brender: C. M. W. mit Selbstzeugnissen u. Bilddokumenten. Reinb. 1990. – Michael Zaremba: C. M. W. Aufklärer u. Poet. Eine Biogr. Köln/Weimar/Wien 2007. – Handbuch: Jutta Heinz (Hg.): W.-Hdb. Leben – Werk – Wirkung. Stgt./Weimar 2008. – Dokumentationen: Verz. der Bibl. des verewigten Herrn Hofraths W. [...]. Weimar 1814. Neudr. Mchn. 1977. Bernhard Seuffert: Prolegomena zu einer W.-Ausg. 9 Tle., Bln. 1904–41. Neudr. Hildesh. 1990. – Klaus-P. Bauch/Maria-B. Schröder: Alphabetisches Verz. der W.-Bibl. [...]. Hann. 1993. – Wilhelm Kurrelmeyer: Die Doppeldrucke in ihrer Bedeutung für die Textgesch. v. W.s Werken. Bln. 1913. – Ders.: Neue W.-Doppeldrucke. In: MLN 43 (1928), S. 1–11. – Ders.: Die Doppeldrucke der W.-Ausg. letzter Hand. In: PMLA 43 (1928), S. 1062–1081. – Friedrich Beißner: Neue W.-Hss. Bln. 1938. – Hans Werner Seiffert: Ergänzungen u. Berichtigungen zu den ›Prolegomena 8 u. 9‹. Ebd. 1953. – Werner

Wieland R. Deusch: W. in der zeitgenöss. Buchillustration. Eine Bibliogr. Stgt. 1964. – H. Schelle: W.s Beziehungen zu seinen Leipziger Verlegern. Neue Dokumente. 3 Tle. In: Lessing Yearbook 7–9 (1975–77). – Forschungsberichte: Fritz Martini: W.Forsch. In: DVjs 24 (1950), S. 269–280. – H. W. Seiffert: Wielandbild u. Wielandforsch. In: W. Vier Biberacher Vorträge (1953). Wiesb. 1954, S. 80–102. – Alfred Anger: Dt. Rokokodichtung, ein Forschungsber. 2 Tle. In: DVjs 36 (1962), S. 430–479, 614–648. – Hanna Brigitte Schumann: Zu Lit. über W.s Sprache u. Stil. In: Studien zur neueren dt. Lit. Hg. H. W. Seiffert. Bln. 1964, S. 7–31. – Richard Samuel: W. als Gesellschaftskritiker: eine Forschungsaufgabe. In: Seminar 5 (1969), S. 45–53. – Cornelius Sommer: C. M. W. Stgt. 1971. – T. C. Starnes: Die W.-Epistolographie. Emendierungen. In: JbDSG 19 (1975), S. 432–445. – Horst Thomé: Probleme u. Tendenzen der W.Forsch. 1974–78. In: ebd. 23 (1979), S. 492–513. – H. W. Seiffert: Zu einigen Fragen der W.-Rezeption u. W.-Forsch. In: MLN 99 (1984), S. 425–436. – Sven-Aage Jørgensen, Herbert Jaumann, John A. McCarthy u. Horst Thomé: C. M. W. Epoche – Werk – Wirkung. Mchn. 1994. – Klaus Schaefer: C. M. W. Stgt./Weimar 1996. – Periodikum: W.-Studien 1 ff. (1991 ff.). – Sammlungen: FS zum 200. Geburtstag des Dichters C. M. W. Biberach 1933. – W. Vier Biberacher Vorträge (1953). Wiesb. 1954. – H. Schelle (Hg.): C. M. W. Darmst. 1981. – Ders. (Hg.): C. M. W. Nordamerikan. Forschungsbeiträge [...]. Tüb. 1984. – W.-Heft: MLN 99/3 (1984). – Thomas Höhle (Hg.): W.-Kolloquium, Halberst. 1983. Halle 1985. – Max Kunze (Hg.): C. M. W. u. die Antike [...]. Stendal 1986. – T. Höhle (Hg.): Das Spätwerk C. M. W.s u. seine Bedeutung für die dt. Aufklärung. Halle 1988. –W.s Aktualität heute. Kolloquium zum 270. Geb. 2003. In: Die Pforte. Veröffentlichungen des Freundeskreises Goethe-Nationalmuseum e.V. H. 7. Weimar 2004. – Wissen – Erzählen – Tradition. W.s Spätwerk. Hg. Walter Erhart u. Lothar van Laak. Bln./New York 2010. – Darstellungen zu Leben und Zeitgenossen: W. Daniel Wilson: W.s Bild v. Friedrich II . u. die ›Selbstzensur‹ des ›Teutschen Merkur‹. In: JbDSG 29 (1985), S. 22–47. – H. Schelle: S. C. A. Lütkemüller in seinen Beziehungen zu C. M. W. In: Jb. der Jean Paul Gesellsch. 20 (1985), S. 127–200. – Rosalinde Gothe: Wo W. als Gutsherr saß. Gut u. Gemeinde Oßmannstedt am Ende des 18. Jh. In: Impulse 8 (1985), S. 203–230. – Heinrich Bock u. H. Radspieler: Gärten in W.s Welt. Marbach 1986. – Helga Madland: Lenz and W. The Dialectics of Friendship and Morality. In: Lessing Yearbook 18 (1986), S. 197–208. – H. Schelle: Zur Biogr. des Erfurter W. In: ebd., S. 209–226. – Ders.: Neue Quellen u.

394 Untersuchungen zum Kreise Sophie v. La Roches u. C. M. W.s. Tl. 1. In: ebd. 20 (1988), S. 205–291. – Wielandgut Oßmannstedt. Hg. Klaus Manger u. Jan Philipp Reemtsma. Mchn./Wien 2005. – Darstellungen zum Werk: Helmut Koopmann (Hg.): Hdb. des dt. Romans. Düsseld. 1983, S. 151 ff. – Karl S. Guthke: Distanzierter Dialog. Lessing u. W.; Alptraum der Vernunft? Auf der Suche nach einem neuen W.-Bild. In: Ders.: Erkundungen [...]. New York/Bern 1983, S. 103–140, 141–155, 391–394. – H. Jaumann: Vom ›klass. Nationalautor‹ zum ›negativen Classiker‹. Wandel literaturgesellschaftl. Institutionen u. Wirkungsgesch. am Beispiel W. In: FS Walter Müller-Seidel. Hg. Karl Richter. Stgt. 1983, S. 326. – Roman Schnur: Tradition u. Fortschritt im Rechtsdenken C. M. W.s (1977). In: Ders.: Revolution u. Weltbürgerkrieg. Studien zur Ouvertüre nach 1789. Bln. 1983, S. 60–78. – Walter Hinderer: C. M. W. u. das dt. Drama des 18. Jh. In: JbDSG 28 (1984), S. 117–143. – Sven-Aage Jørgensen: Ist eine Weimarer Klassik ohne W. denkbar? In: Wilfried Barner u. a. (Hg.): Unser Commercium [...]. Stgt. 1984, S. 187–197. – Hans-Jürgen Schings: Agathon – Anton Reiser – Wilhelm Meister. Zur Pathogenese des modernen Subjekts im Bildungsroman. In: Goethe im Kontext [...]. Hg. Wolfgang Wittkowski. Tüb. 1984, S. 42–68. – Hans-Joachim Mähl: Die Republik des Diogenes, utop. Fiktion u. Fiktionsironie am Beispiel W.s. In: Utopieforschung [...]. Hg. Wilhelm Voßkamp. Bd. 3, Ffm. 1985, S. 50–85. – Klaus Schaefer: [...] Zu einigen Aspekten v. C. M. W.s Gesellschafts- u. Geschichtsbild zwischen 1789 u. 1800. In: Impulse 8 (1985), S. 190–202. – Michael Voges: W.s ›Peregrinus Proteus‹ u. ›Agathodämon‹. In: Ders.: Aufklärung u. Geheimnis [...]. Tüb. 1987, S. 398–472. – Hans-J. Weitz: ›Weltliteratur‹ zuerst bei W. In: Arcadia 22 (1987), S. 206–208. – Wolfgang Albrecht: Literar. Spätaufklärung in Dtschld. Studien zu W., Nicolai u. Hebel. Halle 1988. – Knuth Mewes: Aufklären – Schreiben – Philosophieren. Untersuchungen zu C. M. W.s Spätwerk ›Aristipp u. einige seiner Zeitgenossen‹. Diss. Ebd. 1988. – Margit Hacker: Anthropolog. u. kosmolog. Ordnungsutopien: C. M. W.s ›Natur der Dinge‹. Würzb. 1989. – Heinz Härtl: ›Athenaeum‹-Polemiken. In: Debatten u. Kontroversen [...]. Hg. Hans-Dietrich Dahnke u. Bernd Leistner. 2 Bde., Bln./Weimar 1989. Bd. 2, S. 261–274 (zu W.). – Uwe Blasig: Die religiöse Entwicklung des frühen C. M. W. Ffm. u. a. 1990. – Irmtraut Sahmland: C. M. W. u. die dt. Nation [...]. Tüb. 1990. – Reinhard Tschapke: Anmutige Vernunft. C. M. W. u. die Rhetorik. Stgt. 1990. – Ludwig Fertig: C. M. W. der Weisheitslehrer. Darmst. 1991. – K. Manger: Klassizismus u. Aufklärung. Das Beispiel des späten W.

395 Ffm. 1991. – Walter Erhart: Entzweiung u. Selbstaufklärung. C. M. W.s ›Agathon‹-Projekt. Tüb. 1991. – J. P. Reemtsma: Das Buch vom Ich. C. M. W.s ›Aristipp u. einige seiner Zeitgenossen‹. Zürich 1993. – Michael Hofmann: Reine Seelen u. kom. Ritter. Aspekte literar. Aufklärung in C. M. W.s Versepik. Stgt./Weimar 1998.  Jan Cölln: Philologie u. Roman. Zu W.s erzähler. Rekonstruktion griech. Antike im ›Aristipp‹. Gött. 1998.  J. P. Reemtsma: Der Liebe Maskentanz. Aufsätze zum Werk C. M. W.s. Zürich 1999. – Bernhard Budde: Aufklärung als Dialog. W.s antithet. Prosa. Tüb. 2000. – Karl-Heinz Kausch: Das Kulturproblem bei W. [1954]. Hg. Horst Thomé. Würzb. 2001. – Pascal Frey: Erkenntnis, Esoterik u. das Seelenheil des Schwärmers. Religion u. Aufklärung im Spätwerk C. M. W.s. Solothurn 2001. – Manuel Baumbach: Lukian in Dtschld. Eine forschungs- u. rezeptionsgeschichtl. Analyse vom Humanismus bis zur Gegenwart. Mchn. 2002. – Andrea Heinz (Hg.): ›Der Teutsche Merkur‹ – die erste dt. Kulturzeitschrift? Heidelb. 2003. – Bernhard Kreuz: Die belebte Bildfläche. Beobachtungen an der Antikerezeption C. M. W.s. Wien 2004. – Jutta Heinz: Narrative Kulturkonzepte. W.s ›Aristipp‹ u. Goethes ›Wilhelm Meisters Wanderjahre‹. Heidelb. 2006. – Andreas Seidler: Der Reiz der Lektüre. W.s ›Don Sylvio‹ u. die Autonomisierung der Lit. Heidelb. 2008. – Peter-Henning Haischer: Historizität u. Klassizität. C. M. W. u. die Werkausg. im 18. Jh. Heidelb. 2011. Klaus Manger

Wieland, Johann Sebastian, * 9.5.1590 Kleingartach bei Heilbronn, † nach 9.10. 1635 Ilsfeld. – Pfarrer, Satiriker, lat. u. dt. Dichter. W., Sohn eines Wirtschafters für Geistliche in Brackenheim/Zabergau, besuchte dort, in Stuttgart u. Adelberg die Schule sowie das Priesterseminar in Maulbronn. Nach dem frühen Tod der Eltern sorgte Georg Machtolph, ein Onkel mütterlicherseits, für ihn, dessen er in verschiedenen späteren Werken gedenkt. 1607–1611 bezog er die Universität Tübingen, woraufhin er bis 1613 als Diakon in Gruibingen angestellt war. Danach wirkte er bis 1627 als Pfarrer in Kohlstetten auf der Alp, wo er (wohl 1614) Margarete Ruof heiratete. Von den insg. sieben Kindern starben drei früh, ein Mädchen (* 1620) blieb behindert. Seine letzte Stelle hatte er 1627–1635 in Ilsfeld bei Heilbronn inne. 1619 wurde er,

Wieland

vielleicht durch seinen Freund Sebastian Hornmold, zum Dichter gekrönt. Als Anhänger des württembergischen Luthertums, der eher Johann Arndt nahestand, bezog W. nicht nur zeitlebens Position gegen Schwenckfeldianer, Calvinisten u. Antitrinitarier, sondern suchte auch in seinen frühen, sprachlich an Juvenal und Persius, teils auch Martial, orientierten Verssatiren die sittl. Mängel seiner Mitmenschen zu bessern. So richten sich die Tibicines irridentes (Ulm 1619) gegen eine rein rationalistische Glaubensauffassung, die Melissa Satyrica (Ulm 1618/19 [?]) gegen Untätigkeit, wobei W. zugleich die eigene Dichtung als Pflege seines »ingeniums« verteidigt, der Amethystus (Ulm 1619) schließlich in Anlehnung an das Collegii Posthimelissaei votum des Johannes Posthius gegen die besonders unter Deutschen berüchtigte Trunksucht. 1624 erschienen in Tübingen seine gesammelten Elegien in einem Buch. Konfessionspolemisch relevant ist wiederum der Cultus amarus Abrahami Sculteti (Tüb. 1625), in dem W. gegen den Calvinisten u. für Lucas Osiander Partei ergreift. Bemerkenswert wirkt hier die Wiedergabe der berüchtigten Prager Predigt, die W. Scultetus selbst, freilich überzeichnet, sprechen lässt. Neben verschiedenen deutschsprachigen Andachtsu. Trostbüchern berührt den geistl. Bereich auch sein Liber de patientia (Ulm 1626), in dem er, teils autobiografisch grundiert, die christl. Geduld in 27 Kapitel darstellt. Für die dt., noch nicht von Opitzens Dichtungsreform berührte Poesie ist seine ausführl. Beschreibung der Stadt Urach relevant (Vrach: Das ist/ Warhafftige/ Nutzliche/ Lustige Beschreibung/ der Weitberuehmten Stadt Urach an der Alp/ im Hoch loeblichen Herzogthumb Wuerttemberg gelegen [...]. Tüb. 1626), ein in eher silbenzählenden, vielleicht an Weckherlin orientierten, paargereimten Alexandrinern gehaltenes Lob der Alpstadt. Das Werk ist einerseits biografisch ergiebig, zeigt es doch die freundschaftl. Kontakte etwa zu J. V. Andreae, der ihm Auskünfte zur württembergischen Geschichte gab, oder zu Sebastian Hornmold, Christoph Besold u. dem Ulmer Theologen Conrad Dieterich auf; andererseits finden sich neben geistreichen Etymologien auch teils quellenkrit. Abrisse der württem-

Wiemer

bergischen Geschichte, eine idyllische, geradezu szen. Beschreibung des Ganges durch Urach, der auch das örtl. Handwerk u. die Kleinindustrie (Schießpulver, Papier, Weberei) einbegreift, sowie eine lobende Passage über den »glert Poet« Nicodemus Frischlin, in der Anekdotisches mit eigener Dichtung des Gefangenen auf Hohenurach überblendet u. das lokale Andenken an den großen Dichter ausdrücklich gelobt werden. W.s zweite dt. Dichtung, Der Held Von Mitternacht: Das ist/ Der Aller Durchleuchtigste/ Großmächtigste/ Fürst und Herr/ Herr Gustavus Adolphus/ Von Gottes Gnaden/ der Schweden/ Gothen und Wenden König [...] Welcher In der Blutigen Schlacht bey Lützen [...] Sein Königliches Blut vergossen (Heilbr. 1633) folgt im Versbau genauer den Regeln Opitzens u. bietet eine mythologisch überhöhte Vita des Schwedenkönigs, unterbrochen von Liedern u. Psalmparaphrasen. In der Gelehrtenkorrespondenz etwa Berneggers u. Freinsheims wird W. gelegentlich lobend erwähnt, Janus Gruter steuerte gar ein Widmungsepigramm zu seinen Elegiae bei. Weitere Werke: Amor Mundi, Qui Est Ollaris, Satyricè repræsentatus. Ulm 1619 (?). – Apobaterion. Tüb. 1627. – Sortilegia Lycophrontica, Quae Per Sabinorum Somnia, varia Anagrammata ex nominibus virorum clariorum exhibent. Ulm 1627. – Sterbestuendlein/ Das ist/ Christliches Trostbuechlein denen stunden nach/ bey denen zu gebrauchen/ so auß dieser Welt abscheiden wollen/ das sie seliglich der Welt abgnaden vnd zu Gott kommen mögen. Stgt. 1628. – Geistliches Wolleben, In Andächtigen Gebeten/ Allein auss den Worten dess Lebens unnd Heylbrunnen Israels für verfolgte Christen/ auch die/ so umb der allein seligmachenden Religion/ in höchsten Sorgen stehen. Nürnb. 1620. Literatur: Karl Martin Schiefer: J. S. W.s Leben u. Werke mit besonderer Berücksichtigung seiner Dt. Verskunst. Diss. Lpz. 1892. – Ludwig Fränkel: J. S. W. In: ADB. – Flood, Poets Laureate, Bd. 4, S. 2250–2252. Jost Eickmeyer

Wiemer, Rudolf Otto, auch: Frank Hauser, * 24.3.1905 Friedrichroda, † 5.6.1998 Göttingen. – Romancier, Erzähler, Lyriker. Der Sohn eines Lehrers u. Sängers wuchs in Thüringen auf, besuchte 1923/24 ein Leh-

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rerseminar u. arbeitete, mit Unterbrechung durch Wehrdienst u. Kriegsgefangenschaft 1939–1945, bis 1962 als Realschullehrer in Göttingen; dort lebte W. seither als freier Schriftsteller. W.s umfangreiches Werk umfasst Jugendbücher, Gedichte, Romane, Erzählungen, Hörspiele u. Laienspiele. Standen die ersten Erzählwerke in den 1950er Jahren noch unter dem Einfluss Brechts u. Kafkas, bildete W. später einen literar. Stil aus, der auf moderne Darstellungsformen verzichtet. In spürbarer pädagog. Absicht u. mit christl. Tendenz werden Szenen u. Geschichten aus dem Leben kleiner Leute u. gesellschaftl. Außenseiter dargestellt. Die Frage nach dem deus absconditus durchzieht den Roman Die Schlagzeile (Köln 1977), in dem eine fromme Mutter die Sozialisation ihres bei einem Banküberfall erschossenen Sohnes rekapituliert; sie gelangt zu der Überzeugung, er habe nie eine Chance gehabt, seinem kriminellen Werdegang zu entkommen. Im Erzählband Reizklima (ebd. 1979) sind skurrile, parabel- u. märchenhafte Geschichten versammelt von Busfahrern, die ihre Fahrtroute ändern, Fotografen, die auch das Innere von Menschen abbilden können, u. Zoobesuchern, die von den Tieren lernen wollen. Weitere Werke: : Die Räuber v. Ukkelow. Köln 1940 (Kinderbuch). – Der Mann am Feuer. Kassel 1953 (E.en). – Der Ort zu unseren Füßen. Stgt. 1958 (E.en). – Nicht Stunde noch Tag oder: Die Austrocknung des Stroms. Ebd. 1961 (R.). – Ernstfall. Ebd. 1963 (L.). – Stier u. Taube. Ebd. 1964 (R.). – Der gute Räuber Willibald. Ebd. 1966. Würzb. 9 2000 (Kinderbuch). – beispiele zur dt. grammatik. Bln. 1971 (L.). – Bethlehem ist überall. Gesch.n u. Gedichte zur Weihnachtszeit. Gütersloh 1979. – Mahnke. Die Gesch. eines Lückenbüßers. Freib. i. Br. 1979 (R.). – Auf u. davon u. zurück. Würzb. 1979 (Jugendbuch). – Schnee fällt auf die Arche. Freib. i. Br. 1981. Marburg 1996 (R.). – Warum der Bär sich wecken ließ. Düsseld. 1985. 62005. – Die Erzbahn. Stgt. 1988 (E.en). – Brenn, Feuerchen, brenn doch. Ebd. 1992. Mchn. u. a. 1994 (R.). – Ein volles Geständnis. E.en u. Parabeln. Stgt./Hbg. 1994. – Der Augenblick ist noch nicht vorüber. Ausgewählte Gedichte. Stgt. 2001. – Die Nacht der Tiere. Weihnachtslegenden. Limburg u. a. 2002. – Dann werden die Steine schreien. Jesus-Gesch.n neu erzählt. Wuppertal 2003.

397 Literatur: R. O. W. zum 60. Geburtstag am 24.3.1965. Weinheim 1965 (Werkausw. mit Bibliogr.). – Weil keiner nicht sieht, was an manchen Orten geschieht. R. O. W. zu Ehren aus Anlaß seines 85. Geburtstags. Stgt. 1990. – Yilmaz Koç: Religiöse Figuren in der modernen dt. u. der türk. Lit. Eine vergleichende Untersuchung über die Prosawerke von R. O. W. u. Mustafa Kutlu. Diss. Ankara 1993. – R. O. W. Dokumentation zum 90. Geburtstag. Gött. 1995. Matías Martínez / Red.

Wienbarg, Ludolf, auch: L. Vineta, Freimund, * 25.12.1802 Altona, † 8.1.1872 Schleswig. – Publizist, Reiseschriftsteller, Redakteur. »Dir junges Deutschland, widme ich diese Reden, nicht dem alten.« Diese Anfangsworte aus W.s Manifest Aesthetische Feldzüge (Hbg. 1834. Neuausg. von Walter Dietze. Bln./ Weimar 1964) trugen maßgeblich dazu bei, eine ganze Reihe von Schriftstellern unter dem Signet »Junges Deutschland« zusammenzufassen. W. will hier »allem altdeutschen Philisterium den Krieg erklären«. Diese einleitenden Worte aus W.s wirkungsvollstem Buch machen deutlich, mit welcher Emphase er die biedermeierl. Literaturszene betrat. W., Sohn eines Hufschmieds, schloss 1822 den Besuch des Altonaer Gymnasiums ab. Sein Studium der Theologie in Kiel (1822–1825) u. der Philologie in Bonn (1828/ 29) wurde durch finanzielle Probleme, die eine Hauslehrertätigkeit beim dän. Adel notwendig machten, wie durch Sanktionen infolge seiner burschenschaftl. Aktivitäten unterbrochen. In Marburg promovierte er 1829 mit der Dissertation De primitivo idearum Platonicarum sensu (Altona 1829). In dieser an Herbarts u. Schleiermachers Platonsicht orientierten Arbeit vertritt W. die These, dass Platons populäre Dialoge nur der mythologisch-künstlerischen Einkleidung seiner wissenschaftl. Thesen dienen. 1830 lernte W. bei einem Aufenthalt in Hamburg Heinrich Heine, eines seiner großen Vorbilder, kennen. In dieses Jahr fällt auch der Beginn von W.s publizistischer Tätigkeit, die das Gros seiner Veröffentlichungen bildet. Zudem verfasste er unter dem Pseud. Vineta eine auszugsweise Übersetzung

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von Pindar (Hbg. 1830) u. eine engagierte Studie über Paganini’s Leben und Charakter (ebd. 1830). Ganz an Heines Vorbild orientiert, folgt dann W.s idyllisch-impressionistisches Reisebuch Holland in den Jahren 1831 und 1832 (2 Tle., ebd. 1833. Neudr. Ffm. 1973). Hier schlägt er das Thema an, das lange Zeit Mittelpunkt u. Antrieb seines Schreibens bleibt: die polit. Verhältnisse in Deutschland. »Siehst du denn nicht, daß diese einunddreißig Konstitutionsflecken uns noch lächerlicher machen in unserer bunten Jacke« (Tl. 1, S. 35). Nachdem W. 1835 unter das Publikationsverbot für das Junge Deutschland gefallen war (dessen Opfer auch die kurzlebige, mit Gutzkow in Frankfurt/M. begründete »Deutsche Revue« wurde), verfasste er noch ein Tagebuch von Helgoland (Hbg. 1838. Neudr. Ffm. 1973), um sich dann wesentlich den historisch-polit. Fragen des umkämpften Schleswig-Holstein (z. B. Der dänische Fehdehandschuh. Hbg. 1846) sowie unter dem Pseud. Freimund der Bekämpfung von Plattdeutsch als Literatursprache zu widmen (Die plattdeutsche Propaganda und ihre Apostel. Ebd. 1869). W.s Leben – er war seit 1839 mit Dorothea Marwedel verheiratet (drei Kinder) – blieb auch während seiner Tätigkeit als Redakteur des »Deutschen Literaturblatts« (Hbg.; 1840–1842) von ständigen finanziellen Problemen geprägt; hinzu kam die zunehmende Aussichtslosigkeit seines Tuns. Dies führte zu einem Versiegen seiner Sprachkraft u. zu einem Verdämmern seiner intellektuellen Leistungsfähigkeit, aus der ihn auch eine Pension der Schiller-Stiftung 1868 nicht mehr befreien konnte. W. starb in einer Schleswiger Irrenanstalt. Die Dispositon der Aesthetischen Feldzüge, die das Ergebnis seiner Kieler Vorlesungen der Privatdozentenzeit 1834 waren, kombiniert den reichen Hintergrund seiner literar. Bildung mit einem fortschrittlich-nationalen Pathos. In 24 Vorlesungen entwickelte W. seine Idee von der Rolle der dt. Literatur als Surrogat für die fehlende polit. Einheit. Beginnend bei den Griechen, zeigt er die Poesie als »weltverbindendes Element« u. erläutert, wie aus der Sprache als »Urfels der Nationalität« eine neue Ästhetik hervorgeht. Seine

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Heroen Goethe u. Schiller, aber auch Jean Sprachnot. In: ebd. 58 (2003), 1, S. 3–6. – Sandra Paul u. Heine dienen ihm hierfür als Exem- Pott: Emphat. Vorstellungen u. Ironie. Friedrich pel. Sinnlichkeit u. Verstand als Quellen einer Rückert ›Weltpoesie‹ (1832) u. L. W. ›Goethe u. die »neuen Kunst, neuen Poesie« führen zum Weltliteratur‹ (1835). In: Dies.: Poetiken. Poetologische Lyrik, Poetik u. Ästhetik v. Novalis bis Rilke. Ziel: »Die neue Prosa verrät [...] ihren UrBln. u. a. 2004, S. 184–194. sprung aus, ihre Gemeinschaft mit dem Reinhold Hülsewiesche / Red. neuen Leben [...], der Wirklichkeit«. So sollen sich Kunst u. Leben zur neuen Einheit verWiener, Oskar, * 4.3.1873 Prag, † 20.4.(?) söhnen (Ausg. 1964, S. 142, 149, 189). 1944 Konzentrationslager Theresienstadt. W.s Wirkung war u. blieb v. a. auf seine – Lyriker, Erzähler; Herausgeber. Rolle als Programmatiker des Jungen Deutschland beschränkt. Gutzkow beschei- Nach dem Besuch der Prager Akademie für nigte ihm, er habe »theoretisch am reinsten Handel und Gewerbe u. einer kurzen Laufdie Grundzüge einer Literatur gezeichnet, bahn als Bankbeamter wandte sich W., der welche wir als die neue begrüßen sollten« (in: aus einer alten Hutmacherfamilie stammte, Vergangenheit und Gegenwart, 1839, S. 66). dem Schriftstellerberuf zu. Seine Lyrik (GeWeitere Werke: Wanderungen durch den dichte. Bln. 1899. Das hat die liebe Liebe getan. Thierkreis. Hbg. 1835. Neudr. Ffm. 1973. – Zur Minden 1905), die volksliedhafte Elemente neuesten Lit. Mannh. 1835. – Menzel u. die junge aufweist u. auch von Max Reger vertont Lit. Programm der Dt. Revue. Ebd. 1835. – Ge- wurde, ist der Neuromantik verpflichtet, schichtl. Vorträge über altdt. Sprache u. Lit. Hbg. ebenso seine schwülstigen Novellen, die v. a. 1838. – Die Dramatiker der Jetztzeit. Altona 1839. das Prager Nachtleben zum Inhalt haben – Darstellungen aus den Schleswig-holstein. Feld(Verstiegene Novellen. Bln. 1907. Das Haupt der zügen. 2 Bde., Kiel 1850/51. – Das Geheimniß des Medusa. Wien/Prag/Lpz. 1919). W., Mitglied Wortes. Hbg. 1852. – Gesch. Schleswigs. 2 Bde., der 1898 gegründeten Gruppe »Jung-Prag«, ebd. 1861/62. war Mitarbeiter des von Richard Dehmel Literatur: F. Gustav Kühne: Portraits u. Silhouetten. Hann. 1843. – Viktor Schweizer: L. W. herausgegebenen Sammelbands Der BuntBeiträge zu einer jungdt. Ästhetik. Ebd. 1897. – scheck (Köln 1904). In der Folge entstanden Heinrich Hubert Houben: Jungdt. Sturm u. Drang. zahlreiche Gedichte u. Erzählungen für KinLpz. 1911. – Gustav Burkhardt: L. W. als Ästhetiker der (Der lustige Kindergarten. Mchn. 1907. Kinu. Kritiker. Diss. Hbg. 1956. – Gert Ueding: Rhe- derland. Esslingen 1910). Sein bes. Interesse torik der Tat: L. W. u. seine ›Ästhetischen Feldzü- galt dt., tschech. u. jüd. Sagen u. Volksliege‹. In: Die anderen Klassiker. Literar. Porträts aus dern, die er gesammelt herausgab (Arien und zwei Jahrhunderten. Mchn. 1986, S. 89–109, Bänkel aus Altwien. Lpz. 1914. Böhmische Sagen. 249–251. – Ulf-Thomas Lesle: L. W.: Flüchtling. Warnsdorf/Wien 1919). Die Deutschen Dichter Eine dt. Biogr. In: ›Heil über dir, Hammonia‹. aus Prag (so der Titel einer von W. herausgeHamburg im 19. Jh. Kultur, Gesch., Politik. Hg. Inge Stephan u. Hans-Gerd Winter. Hbg. 1992, gebenen Anthologie. Wien/Lpz. 1919) beS. 109–129. – Tracey Jane Kinney: Challenging the zeichnet W. ambivalent als »Märtyrer ihrer myth of ›young Germany‹: conflict and consensus Heimatlichkeit«, die in die »Flut eines fremin the works of Karl Gutzkow, Heinrich Laube, den Volkstums eintauchen« u. sich »ihre Theodor Mundt and L. W. Diss. Vancouver 1997. – Anregungen und den Stimmungsgehalt ihrer Alfred Estermann: ›Flüchtige Ergüsse wechselnder Werke aus der tschechischen Wesensart« hoAufregung‹. L. W. In: Ders.: Kontextverarbeitung. len, die sie »befruchtend umströmt« (ebd., Buchwiss. Studien. Hg. Klaus-Dieter Lehmann u. Vorwort). W. war Mitgl. des Schutzverbandes Klaus G. Saur in Verb. mit der Stadt- u. UniversiDeutscher Schriftsteller in der Tschechoslotätsbibl. Frankfurt am Main. Mchn. 1998, wakei. Nach dem Einmarsch dt. Truppen in S. 385–396. – Petra Hartmann: Geschichtsschreiˇ bung für die Gegenwart: Theodor Mundt u. L. W. die CSR wurde W. in das Konzentrationslager In: 1848 u. der dt. Vormärz. Red. Peter Stein. Bielef. Theresienstadt deportiert. 1998, S. 43–54. – Daniel Schnorbusch: Nicht zu vergessen: L. W. In: Christianeum 57 (2002), 1, S. 13–16. – Rolf Eigenwald: L. W.: Wortgewalt u.

399 Weitere Werke: Balladen u. Schwänke. Minden 1903. – Das dt. Kinderlied. Prag 1904. – Das dt. Studentenlied. Ebd. 1906. – Das dt. Handwerkerlied. Ebd. 1907. – Das dt. Bauernlied. Ebd. 1909. – So endete das schöne Fest. Bln. – Charlottenburg 1910 (E.en). – Das dt. Jägerlied. Prag 1911. – Das dt. Fuhrmannslied u. die Lieder der Landstraße. Ebd. 1913. – Prinz Eugenius, der edle Ritter. Braunschw. 1913. – Mit Detlev v. Liliencron durch Prag. Ffm. 1918. – Freut euch des Lebens. Reichenberg [1919] (E.en, L.). – Im Prager Dunstkreis. Wien/Prag/Lpz. 1919 (R.). – Alt-Prager Guckkasten. Wanderungen durch das romant. Prag. Ebd. 1922. – Für kleine Leute. Ebd. 1925 (L.). – Hand in Hand. 1926 (L.). – Herausgeber: Klass. Novellenkranz. Gotha 1909. – Der Heimat zum Gruß. Ein Almanach dt. Dichtung u. Kunst aus Böhmen (zus. mit Johann Pilz). Bln. 1914. – Anno 15. Kriegsanekdoten aus Österr. PragSmichow o. J. – Von zahmen u. wilden Gesellen. Lpz. 1920. – Unter Blättern u. Blüten. Ebd. 1920. – Rätsel der Deutschen. Warnsdorf 1924. – In arte voluptas. Lpz. 1929. Bruno Jahn

Wiener, Oswald, * 5.10.1935 Wien. – Experimenteller Schriftsteller u. Kognitionsforscher. Nach der Matura 1953 studierte W. in Wien Jura, Musikwissenschaft, afrikan. Sprachen u. Mathematik (ohne Abschluss), trat als Jazztrompeter auf u. begann nach der Bekanntschaft mit Konrad Bayer, H. C. Artmann u. Gerhard Rühm literarisch zu arbeiten. Sein Beitrag zur Wiener Gruppe bestand neben der – zum Teil gemeinsamen – Produktion von Gedichten, Konstellationen, Montagen, szen. Stücken, Chansons u. Prosa in der theoret. Grundlegung für diese teilweise neuartige literar. Praxis. Als Anregung diente u. a. die Lektüre von Sprach- u. Erkenntnisphilosophen (Wittgenstein, Fritz Mauthner, Max Stirner) sowie von Anarchisten (M. A. Bakunin). W. gelangte zu einer Position des solipsistischen oder Individual-Anarchismus, die er nicht nur in der Literatur vertrat, sondern auch in Aktionen, die ihn zeitweise zum Staatsfeind Nr. 1 u. zur maßgebl. Figur der Wiener Untergrundkultur werden ließen (Uni-Aktion: Kunst und Revolution, Juni 1968). W. war auch der Verfasser des verloren gegangenen programmat. »coolen manifests«, in dem – wie Rühm berichtet (in: Die Wiener Gruppe. Reinb. 1967. Erw. Neuaufl.

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1985) – der Begriff der Literatur auf alles Geschriebene ausgedehnt u. das Ready-made in die Literatur eingeführt wurde. Bis 1959 trat W. mit der Gruppe bei Lesungen u. zwei Happenings u. d. T. »literarisches cabaret« auf, ehe er seine gesamte literar. Produktion vernichtete u. eine Karriere in der Privatwirtschaft begann. Bis 1966 baute er die Datenverarbeitung der österr. Niederlassung von Olivetti auf. 1967 kündigte er u. ging 1969 nach Berlin, wo er u. a. die Kneipe »Exil« eröffnete. Daneben studierte er seit 1980 Mathematik an der TU Berlin. Seit 1986 lebt W. u. a. in Kanada, in Dawson City/Yukon Territory, wo er sich hauptsächlich mit Forschung zur Künstlichen Intelligenz (Probleme der Künstlichen Intelligenz. Bln. 1990) u. dem theoret. Ansatz der Denkpsychologie beschäftigt. 1992–2004 war W. Professor für Poetik u. Ästhetik an der Kunstakademie Düsseldorf u. lebte zusätzlich in Krefeld. Seit dieser Zeit hatte er auch diverse Wohnsitze in Österreich (Mariazell, Wien u. zuletzt Birkfeld/Steiermark). 1987 erhielt W. den Preis der Stadt Wien für Literatur, 1989 den Großen Österreichischen Staatspreis für Literatur u. 2006 den »manuskripte«-Preis des Landes Steiermark. 1995 wurde ihm die Ehrendoktorwürde der Universität Klagenfurt verliehen. Das Werk W.s kann als paradigmatisch für einen relevanten Zweig der Avantgarde in der zweiten Hälfte des 20. Jh. gesehen werden: Sein Weg aus der Kunst u. Literatur führt W. hin zur (Natur-)Wissenschaft, von einer Abkehr von seinen frühen literar. Experimenten aus der Zeit der Wiener Gruppe u. seiner verbesserung von mitteleuropa, roman (Reinb. 1969. Neuausg. 1985) hin zu einer Befragung der konzeptuellen Voraussetzungen der Denkpsychologie mit Hilfe des theoret. Ansatzes der Automatentheorie. In literar. Hinsicht ist der Name W.s vor allem mit die verbesserung von mitteleuropa, roman verbunden. Dieses Werk, zwischen 1962 u. 1967 geschrieben u. seit 1965 als »work in progress« in den »manuskripten« veröffentlicht, gilt als eines der radikalsten u. auch auf nachfolgende Schriftstellergenerationen einflussreichsten Formexperimente mit der Gattung Roman. Äußerlich kaum an einen

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Roman erinnernd, kann es inhaltlich doch als Fortsetzung des die Romantradition seit dem 18. Jh. bestimmenden Konflikts zwischen Individuum u. Gesellschaft gelesen werden (»ein Bildungs-Roman [...], wie er heute aussehen könnte, oder muß«. Jörg Drews in: Neue Rundschau, H. 2, 1970). Formal ist der Roman eine Ansammlung von Notizen, literar. Skizzen u. Entwürfen, von »Annäherungen an Definitionen, Maximen (meist in der Form ausformulierter Zweifel) und aphoristische[n] Mißtrauensanträge[n] gegen ein Heer von Denkgewohnheiten, Erläuterungen zu Begriffen, Präludien zu Gedankenkomplexen, die dann in den essayistischen Schlußpassagen und vorher in den ›dichterischen‹ Texten ausführlicher oder konkreter dargestellt werden« (Drews). Vorangestellt ist ein »personenund sachregister«, eine Art Inhaltsverzeichnis u. Inventar des Autor-Bewusstseins. Grob gesprochen, verfolgt W. in den ersten Abschnitten, welche die Verfahren der experimentellen Literatur herbeizitieren, noch den Kurs einer kommunikations- u. medienkrit. Bestandsaufnahme der Determinierung des Bewusstseins durch Sprache: »noch einmal und immer wieder: es ist die sprache das wirkliche, das reale, das einzige, das greifbare, das vorhandene, der masstab ist die kommunikation« (S. CLVI f.). Diese vollziehe sich in »diesem unentwirrbaren knäuel von sprache, staat und wirklichkeit« (S. CXLII). W. verbindet in der verbesserung von mitteleuropa Erkenntnis- u. Sprachkritik mit politisch-sozialer Analyse, die zu der bitter-bösen Satire führt, die Wirklichkeit durch einen Apparat, den sog. »bio-adapter«, zu ersetzen. Da dem Individuum gegen die Zurüstung durch die Normen der Sprache u. der Wirklichkeit allenfalls ein terroristischer Aufstand möglich ist, wird es durch Überstülpen eines »glücksanzugs« satirisch eliminiert, u. die Geschichte wird in Kybernetik aufgehoben. Während es W. zur Zeit der Wiener Gruppe u. am Beginn der Arbeit an der verbesserung von mitteleuropa noch um das Aufdecken von Sprachklischees u. die Ablösung der normierten Sprache durch eine Annäherung der Sprache an die Wirklichkeit mittels Dichtung ging, ist seit den 1970er Jahren für ihn, der die Unabhängigkeit mentaler Prozesse von

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der Sprache behauptet, die Möglichkeit des literar. Experiments darauf beschränkt, »material für die introspektion« (Wittgensteins Einfluß auf die ›Wiener Gruppe‹. In: die wiener gruppe. Hg. Walter-Buchebner-Gesellschaft. Wien/Köln 1987, S. 46–59, hier S. 49) zu liefern. Auch in W.s zweitem Roman, der 1990 unter dem Pseud. Evo Präkogler erschien (Nicht schon wieder...! Mchn. 1990), dominiert der Apparat über die Wirklichkeit. In diesem, von W. selbst als Trivialroman bezeichneten Werk wird ein österr. Politskandal um das Atomkraftwerk Zwentendorf von einer Person wahrgenommen u. aufgezeichnet, die erkennen muss, dass sie nur als Simulation in einem Computer existiert, um »realen« Personen Informationen geben zu können, die ihr, als sie noch »wirklich« lebte, zur Verfügung standen. So werden auch in diesem Roman Kybernetik u. Forschung zur Künstlichen Intelligenz in iron. Weise verwendet. Trotz dieses satir. bzw. iron. Gebrauchs kybernet. Konzepte in seiner Literatur gibt die Forschung zur Künstlichen Intelligenz die Richtung von W.s Denken an. Zu den Topoi dieses Denkens gehört es, Mechanismen des Verstehens, Denkens, Wahrnehmens, Empfindens, des Traums, des Schmerzes usw. zu erklären. W. hält prinzipiell daran fest, alle Phänomene, auch die des Psychischen u. Geistigen, ließen sich mechanistisch erklären u. in der Folge in einem Automaten nachbauen, auch wenn die gegenwärtige Verfasstheit von Computern dies noch nicht leisten könne. Seine 1996 erschienenen Schriften zur Erkenntnistheorie (Wien/New York) versammeln Aufsätze u. Essays zu Automatentheorie u. TuringMaschinen u. zu der von ihm in die wissenschaftl. Diskussion eingebrachten »Struktur«-Definition: »Eine Struktur einer Zeichenkette ist eine Turing-Maschine (ein effektives Verfahren), welche (das) die Zeichenkette generiert oder akzeptiert.« In Aufsätzen, Vorträgen u. Interviews hat er sich wiederholt dagegen ausgesprochen, mit Begriffen wie Ich, Bewusstsein, Verstehen, Intuition, Kreativität, die in der Ästhetik eine Rolle spielen, zu operieren, da sie für ihn lediglich Eigenschaften von Maschinen sind,

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über die man noch nicht genügend wisse, um sie zu formalisieren. Im Bemühen, Kenntnisse darüber zu gewinnen, trifft sich der Wissenschaftler mit dem Künstler W., für den die Aufgabe der Kunst darin besteht, eben diese Komplexe im Sinne einer naturwissenschaftl. Ästhetik zu erforschen. (Hinweise zum Verhältnis von Ästhetik u. Naturwissenschaft finden sich in: Literarische Aufsätze. Wien 1998.) Da die positivistischen wissenschaftl. Methoden dafür nicht ausreichen, setzt W. auf Selbstbeobachtung als wichtigste Quelle der zu gewinnenden Kenntnisse. Erschien W. zur Zeit der verbesserung von mitteleuropa noch das Experimentieren mit dem Sprachmaterial als ein probates Mittel zur Erforschung des Verhältnisses von Sprache, Denken u. Wirklichkeit, so setzt er in diesen experimentellen Selbstbeobachtungen auf Wiederholbarkeit u. intersubjektive Nachvollziehbarkeit. Damit sollen in weiteren Ausbaustufen seiner Theorie die Grundlagen für eine Implementierung in informationsverarbeitende Systeme geschaffen werden. Das Ziel ist es, durch experimentelle Selbstbeobachtung die Möglichkeit zu schaffen, menschl. Verstandesleistungen vollständig zu verstehen u. nachbauen zu können. W.s in Fortsetzung wiederum v. a. in der Zeitschrift »manuskripte« erscheinende Aufsätze versuchen die tentative Entwicklung einer Theorie der Mechanismen der Verstandesleistungen, aufbauend auf die Arbeiten der Psychologen des ausgehenden 19. u. frühen 20. Jh. (Ach, Helmholtz, Selz, Külpe, Duncker) u. vor allem durch eine Erweiterung u. teilweise Revision des Piaget’schen Ansatzes. Seine auf tatsächlich durchgeführten Selbstbeobachtungen fußende Entwicklung einer Theorie stellt einen zur Zeit in den Kognitionswissenschaften von jüngeren Forschern an den Universitäten Wien u. Osnabrück breit diskutierten Ansatz dar. Weitere Werke: starker toback – kleine fibel für den ratlosen (zus. mit Konrad Bayer). Paris 1962. – ›gemeinschaftsarbeiten‹ u. ›das literar. cabaret der wiener gruppe‹. In: Die Wiener Gruppe. Hg. Gerhard Rühm. Reinb. 1967. – wie liegen die dinge? zu der ausstellung ›die prototypen‹ v. walter pichler. In: Aufforderung zum Mißtrauen. Hg. Otto Breicha u. Gerhard Fritsch. Salzb. 1967, S. 529 f. –

Wiener Beiträge zur Adöologie des Wienerischen. In: Josefine Mutzenbacher. Die Lebensgesch. einer wienerischen Dirne, v. ihr selbst erzählt. Mchn. [1969], S. 285–389. – Sprache u. Geisteskrankheiten. SFB, 25.11.1969 (Ess.). – subjekt, semantik, abbildungsbeziehungen. In: text bedeutung ästhetik. Hg. Siegfried J. Schmidt. Mchn. 1970, S. 1–14. – der geist der super-helden. In: Vom Geist der Superhelden. Hg. Hans Dieter Zimmermann. Bln. 1970, S. 93–101. – Vorw. in: Hermann Nitsch: Orgien-Mysterientheater. Ffm. 1971. – Dieter Roth: Frühe Schr.en u. typ. Scheiße, ausgew. u. mit einem Haufen Teilverdautes v. O. W. Darmst./Neuwied 1973. – Was ist der Inhalt dieses Satzes. Vortrag für das Kolloquium ›Die Sprache des Anderen‹ der Société internationale de psychopathologie de l’expression 1975. In: Gedanken. Bln. 1975. – Einiges über Konrad Bayer. Schwarze Romantik u. Surrealismus im Nachkriegs-Wien. In: Die Zeit, 17.2.1978. – über den illusionismus. In: Oskar Panizza: Die kriminelle Psychose, genannt Psichopatia criminalis. Mchn. 1978, S. 213–237. – Wir möchten auch vom Arno-Schmidt-Jahr profitieren. Ebd. 1979. – Probleme des Nihilismus. Dokumente der Triester Konferenz. In: Berliner Hefte 17. Bln. 1980. – Eine Art Einzige. In: Riten der Selbstauflösung. Hg. Verena v. der Heyden-Rynsch. Mchn. 1982, S. 35–78. – Turing Tests. Vom dialekt. zum binären Denken. In: Kursbuch 75 (1984), S. 12–37. – Über das Ziel der Erkenntnistheorie, Maschinen zu bauen die lügen können. In: Jean Baudrillard: Die fatalen Strategien. Mchn. 1985, S. 235–250. – Beim Wiederlesen v. Carl Einstein. In: K. Kunstztschr., März 1985. – Eine Buchbesprechung. Zu Douglas Hofstädter: Gödel, Escher, Bach (zus. mit Rolf Herken). In: Durch 1. Graz 1986. – Persönlichkeit u. Verantwortung. In: manuskripte (1987), H. 98, S. 92–101. – Form and Content in Thinking Turing Machines. In: The Universal Turing Machine. A Half-Century Survey. Hg. Rolf Herken. Oxford 1988, S. 631–657. – Das Konzept der universellen Maschine. Ein Gespräch mit Florian Rötzer. In: Kunstforum 110, Nov./Dez. 1990, S. 223–229. – (Hg.): Eine elementare Einf. in die Theorie der Turing-Maschinen (zus. mit Manuel Bonik u. Robert Hödicke). Wien/New York 1998. – Bouvard u. Pécuchet im Reich der Sinne. Eine Tischrede. Bern 1998. – Für Maria. In: Maria Lassnig. Hg. Lóránd Hegyi. Wien 1999, S. 177–187. – Materialien zu meinem Buch VORSTELLUNGEN. In: AUSSCHNITT 05. Hg. Frantisˇek Lesák. Wien 2000. – Computing the motor-sensor map. In: Behavioral and Brain Sciences 27 (2004), 3, S. 423–424. – Unter LSD / Über LSD. In: manuskripte 45 (2005), H. 171, S. 5–27. – Über das ›Sehen‹ im Traum (Zweiter Teil). In: manuskripte 47 (2007), H. 178,

Wiener S. 161–172. – Kunst u. Politik bei PGH. In: Peter Gerwin Hoffmann. Hg. Günther Holler-Schuster. Köln 2007, S. 210–215. – Über das ›Sehen‹ im Traum (Dritter Teil). In: manuskripte 48 (2008), H. 181, S. 132–141. Literatur: Manfred Mixner: W. In: KLG. – Valie Export: O. W. – Tischbemerkungen. 1986 (Film). – Ferdinand Schmatz: über neuere aufsätze o. w.s. In: die wiener gruppe. Hg. Walter-Buchebner-Gesellschaft. a. a. O., S. 131–144. – Wilfried Ihrig: Literar. Avantgarde u. Dandysmus. Eine Studie zur Prosa v. Carl Einstein bis O. W. Ffm. 1988. – Friedbert Aspetsberger: Sprachkritik als Gesellschaftskritik. Von der Wiener Gruppe zu O. W.s ›die verbesserung von mitteleuropa. roman‹. In: Ders.: Der Historismus u. die Folgen. Ffm. 1987, S. 290–316. – Martin Kubaczek: Poetik der Auflösung. O. W.s ›Die Verbesserung von Mitteleuropa, Roman‹. Wien 1992. – Gerda Elisabeth Moser: O. W. – Werner Schwab: Anfang u. Ende einer radikalen literar. Sprachkritik. In: Informationen zur Deutschdidaktik 18 (1994), H. 4, S. 97–109. – F. Aspetsberger: Das Unzulängliche, hier wirds Ereignis. O. W.s ›Floppy‹-Roman u. einige Anschlüsse bei Doderer, Weininger u. anderen. In: EG 50 (1995), Nr. 2, S. 223–260. – Friedrich W. Block: Erfahrung u. Experiment. Zur Poetik des Verstehens bei O. W. u. Ferdinand Schmatz. Mit einem Appendix. In: Verstehen wir uns? Zur gegenseitigen Einschätzung v. Lit. u. Wiss. Hg. ders. Ffm. u. a. 1996, S. 219–254. – Anton Amann: Mikrostrukturen der Macht. O. W. ›Die Verbesserung von Mitteleuropa, Roman‹. In: Strukturen erzählen. Hg. Herbert J. Wimmer. Wien 1996, S. 58–73. – F. Aspetsberger: Lebensapparate. Scrotum u. Cerebrum auf O. W.s ›Floppy‹, Amputation u. Flagellation bei Heimito v. Doderer. In: Ders.: Einritzungen auf der Pyramide des Mykerinos. Wien 1997, S. 147–194. – Horst Günter Kurz: Die Transzendierung des Menschen im ›Bio-Adapter‹. O. W.’s ›Die Verbesserung von Mitteleuropa, Roman‹. Ann Arbor, Mich. 1998. – Thomas Eder: Kunst – Revolution – Erkenntnis. O. W. u. ZOCK. In: Schluß mit dem Abendland. Wien 2000, S. 60–80. – Ders.: Erkenntnis! Der Weg O. W.s aus der Lit. u. Kunst. In: manuskripte 40 (2000), H. 147, S. 125–129. – Ders.: Erkenntnis in Dichtung u. Naturwiss. Zu O. W. u. Reinhard Priessnitz. In: Avantgarde u. Traditionalismus. Kein Widerspruch in der Postmoderne? Hg. Kurt Bartsch. Innsbr. 2000, S. 81–95. – Michael Backes: Intersubjektive Prämissen de-identifikator. Ästhetik. Zu O. W.s ›Einiges über Konrad Bayer‹. In: Die Struktur medialer Revolutionen. FS Georg Jäger. Hg. Sven Hanuschek u. a. Ffm. u. a. 2000, S. 170–177. – Lori Ann Ingalsbe: The Collision of

402 Language and Reality: O. W.’s ›die verbesserung von mitteleuropa, roman‹. In: Die Wiener Gruppe. Krefeld 2001, S. 81–91. – Franz Josef Czernin: Dichtung u. Wiss. Ein Dialog für O. W. In: wespennest (2001), H. 124, S. 84–87. – Albert Berger: Glück hienieden. O. W.s ›Glücks-Anzug‹. In: Das glückl. Leben – u. die Schwierigkeit, es darzustellen. Glückskonzeptionen in der österr. Lit. Hg. Ulrike Tanzer u. a. Wien 2002, S. 173–183. – Christoph Bartmann: O. W. In: LGL. – Gesine Lenore Schiewer: Poetische Gestaltkonzepte u. Automatentheorie. Arno Holz – Robert Musil – O. W. Würzb. 2004. – Thomas T. Tabbert: Verschmolzen mit der absoluten Realitätsmaschine. O. W.s ›Die Verbesserung von Mitteleuropa, Roman‹. Hbg. 2005. – Claudia Langhammer: O. W. an seinen Verleger Axel Matthes. Zur Erschließung der Sammlung O. W. an der Handschriftensammlung der Wiener Stadt- u. Landesbibl. In: Sichtungen 6/7 (2003/2004), S. 274–280. – Martin A. Hainz: ›Niemals richtungsweisend‹. Zu O. W.s 70. Geburtstag. In: Praesent (2005), S. 45–48. – Peter Weibel: Laudatio für O. W., manuskripte-Preisträger 2006. In: manuskripte 46 (2006), H. 174, S. 134–140 [1. Tl.]; ebd. 47 (2007), H. 175, S. 131–135 [2. Tl.]; ebd., H. 176, S. 163–168 [3. Tl. u. Ende]. – Katalin Teller: ›alles ausgeburt der sprache‹. Ästhetisierte Gewalt bei O. W.? In: Jb. der ungar. Germanistik (2006), S. 66–76. – Kalina Kupczynska: Sprache als Zankapfel oder Warum das Duo O. W./Otto Muehl verstummte. In: Kontinuitäten u. Brüche. Österreichs literar. Wiederaufbau nach 1945. Hg. Heide Kunzelmann u. a. Oberhausen 2006, S. 177–187. – Ulrich Einhaus: Wir die Einzigen. Zum Verhältnis v. Konrad Bayer u. O. W. zur Philosophie Max Stirners. In: ›Ich habe den sechsten Sinn‹. Hg. Clemens K. Stepina. Wien 2006, S. 25–28. – Massimo Salgaro: Dal ›dandy‹ a ›superman‹. L’ipertrofia della coscienza nel pensiero di O. W. In: Quaderni di lingue e letterature 32 (2007), S. 73–85. – Michael Grote: [...]. Sprachkritik u. autobiogr. Praxis in O. W.s ›die verbesserung von mitteleuropa, roman‹. In: Autobiogr. Schreiben in der deutschsprachigen Gegenwartslit. Bd. 3: Entwicklungen, Kontexte, Grenzgänge. Hg. M. Grote u. Beatrice Sandberg. Mchn. 2009, S. 130–146. – M. Salgaro: O. W.: Lit. als Experiment. In: ›Ein in der Phantasie durchgeführtes Experiment‹. Lit. u. Wiss. nach Neunzehnhundert. Hg. Raul Calzoni u. a. Gött. 2010, S. 237–261. – Klaus Kastberger: O. W. SchreibSzenen zwischen Lit. u. Wiss. In: manuskripte 50 (2010), H. 189/190, S. 289–296. – T. Eder: Introspektion, Vorstellungsbilder und Denkpsychologie. O. W.s Gedankenexperimente seit 1980. In: ›Es ist ein Laboratorium, ein Laboratorium für Worte‹.

Wiener (rheinisches) Passionsspielfragment

403 Experiment u. Lit. III: 1890–2010. Hg. Michael Bies u. Michael Gamper. Gött. 2011, S. 409–431. Walter Ruprechter / Thomas Eder

Die Wiener Meerfahrt ! Die Freudenlehre Wiener Osterspiel. – Geistliches Spiel, 1472 überliefert.

Berliner u. Wiener Osterspiel. Breslau 1913. – Alfred Bäschlin: Die altdt. Salbenkrämerspiele. Diss. Basel 1929. – Rolf Steinbach. Die dt. Oster- u. Passionsspiele des MA. Köln/Wien 1970, S. 68–77. – Hans Blosen: Zum Lied der Wächter im W. O. In: OL 29 (1974), S. 183–215. – Anke Roeder: Die Gebärde im Drama des MA. Mchn. 1974. – Ruprecht Wimmer: Deutsch u. Latein im Osterspiel. Ebd. 1974, S. 118–133. – Ursula Hennig: Die Klage der Maria Magdalena in den dt. Osterspielen. In: ZfdPh 94 (1975), Sonderheft, S. 108–138. – Rolf Bergmann: Kat. der deutschsprachigen geistl. Spiele u. Marienklagen des MA. Mchn. 1986. – Barbara Thoran: Das Lied der Wächter auf dem Weg zum Grab Jesu in österl. Spielen des 14. u. 15. Jh. In: ›bickelwort‹ u. ›wildiu maere‹. FS Eberhard Nellmann. Hg. Dorothee Lindemann. Göpp. 1995, S. 398–407. – Hansjürgen Linke: W. schles. O. In: VL. Bernd Neumann / Red.

Wie viele andere mittelalterl. geistl. Spiele findet sich auch das W. O. in einer zu Lesezwecken angelegten Sammelhandschrift, in der es zusammen mit anderen religiösen u. weltl. Texten 1472 von einem bislang nicht identifizierten Schreiber – er gibt sich selbst am Ende des Codex den Namen »Johannes nescio quis« – aufgezeichnet wurde. Sprachliche Kriterien u. die Erwähnung der Orte Breslau u. Ottmachau verweisen auf eine Wiener (rheinisches) PassionsspielEntstehung des W. O. im Osten Schlesiens. fragment, auch: Wiener Passionsspiel. – Mit dem Text des W. O. ist ein vollständiMittelalterliches geistliches Spiel, Anfang ges Osterspiel überliefert, das in 1138 Versen, des 14. Jh. beginnend mit dem Einzug des Pilatus u. der Bestellung der Grabwächter bis hin zur Hor- Das von seinem ersten Herausgeber als Ostulanusszene (Erscheinung Jesu in Gestalt terspiel apostrophierte Fragment eines Paseines Gärtners vor Maria Magdalena) sowie sionsspiels (nicht zu verwechseln mit dem der Verkündigung der Auferstehung durch Wiener Osterspiel) vom Anfang des 14. Jh. die Marien u. dem Apostellauf, alle wichtigen bricht nach 531 Versen mit einer RegieanBestandteile mittelalterl. Osterspiele enthält weisung ab. Wie die meisten geistl. Spiele des – lediglich auf die nach der Höllenfahrt MA ist auch das W. P. Abschrift oder BearChristi oft eingeschobene Ständesatire hat der beitung einer älteren Vorlage; seine Sprache Bearbeiter hier verzichtet. Gleichwohl weicht ist bairisch, doch scheint allenthalben noch das W. O. in der Ausgestaltung einzelner die rheinfränk. Vorstufe durch. Die Anlage Partien von anderen Spielen ab: So fehlt z.B. der Handschrift, ihre musikal. Ausstattung, zu Beginn der sonst übliche liturg. Gesang Randnotizen eines zweiten Schreibers wie Ingressus Pilatus, am Grabe Christi sind sieben auch ein Eintrag einer dritten Hand aus dem Engel versammelt, die Frau des Cayphas tritt 15. Jh. lassen vermuten, dass sie direkten auf usw. Fast ein Fünftel des gesamten Spiels Aufführungszwecken diente. wird von der Krämerszene eingenommen, die Das Spiel beginnt nach »Silete«-Gesang u. in Aufbau u. Inhalt Parallelen zum Innsbrucker Prolog mit der Auflehnung Luzifers u. dem Osterspiel u. den Erlauer Spielen (Erlau III) zeigt Höllensturz der gefallenen Engel. Um sich an u. wie letztere diverse Alternativ- oder Dop- Gott zu rächen, fassen die Teufel den Plan, pelfassungen einzelner Texte aufweist, an- Adam u. Eva – u. damit den Menschen überdererseits jedoch auf die meisten in dieser haupt – zur Sünde zu verführen. DementSzene traditionsgemäß eingefügten lat. Ge- sprechend folgen im Wiener Passionsspiel die sänge verzichtet. Versuchung Evas, der Sündenfall u. die Vertreibung aus dem Paradies, in deren AnAusgabe: Hans Blosen: Das W. O. Bln. 1979. Literatur: Ludwig Wirth: Die Oster- u. Passi- schluss Adam u. Eva von den Teufeln in die onsspiele bis zum 16. Jh. Halle 1889. – Rudolf Hölle gebracht werden. Um die Folgen des Höpfner: Untersuchungen zu dem Innsbrucker, Sündenfalls noch eindringlicher vor Augen

Wienhäuser Liederbuch

zu führen, müssen sich vier weitere sündige Seelen vor Luzifer verantworten: ein Wucherer, ein Räuber, ein unkeuscher Geistlicher u. eine Zauberin – in späteren Spielen sind es dann in der Regel Angehörige verschiedener Stände u. Berufe. Diesem ersten Teil, der auf die Notwendigkeit der Erlösung des sündigen Menschen durch Christi Opfertod verweisen soll, folgt wiederum nach einem »Silete«-Gesang – ein breit ausgestaltetes Magdalenenspiel, dessen lat. Partien mit nur geringen Abweichungen jenen des Benediktbeurer Passionsspiels entsprechen, ohne dass der übrige Text Berührungspunkte dazu aufwiese. Ein erneuter »Silete«-Gesang leitet dann die Passion Christi ein, von der aber nur die Abendmahlsszene u. die Andeutung des Judas-Verrats überliefert sind. Ausgaben: Joseph Haupt: Bruchstücke eines Osterspiels aus dem 13. Jh. In: Archiv für die Gesch. dt. Sprache u. Dichtung 1 (1874), S. 355–381. – Richard Froning: Das Drama des MA. Bd. 1, Stgt. o. J. [1891]. Nachdr. Darmst. 1964, S. 305–324. – Ursula Hennig (Hg.): Das W. P. (mit Einl. u. Textabdr. in Abb.). Göpp. 1986. Literatur: Alfred Orel: Die Weisen im W. P. aus dem 13. Jh. In: Mitt.en des Vereins für Gesch. der Stadt Wien 6 (1926), S. 72–95, Anhang, S. 1–3. – Rolf Steinbach: Die dt. Oster- u. Passionsspiele des MA. Köln/Wien 1970, S. 115–120. – Rolf Bergmann: Studien zur Entstehung u. Gesch. der dt. Passionspiele des 13. u. 14. Jh. Mchn. 1972. – Anke Roeder: Die Gebärde im Drama des MA. Ebd. 1974. – R. Bergmann: Kat. der deutschsprachigen geistl. Spiele u. Marienklagen des MA. Ebd. 1986. – Hansjürgen Linke: Drama u. Theater. In: Die dt. Lit. im späten MA. Tl. 2. Hg. Ingeborg Glier. Ebd. 1987, S. 185–189, 192 f., 196. – Ders.: W. P. In: VL. – Guy Borgnet: W. P. (Passion de Vienne). In: Pur remembrance. FS Wolfgang Spiewok. Hg. Anne Berthelot. Greifsw. 2001, S. 23–50. Bernd Neumann / Red.

Wienhäuser Liederbuch. – Spätmittelalterliche Sammlung von Liedern im ehemaligen Zisterzienserinnenkloster Wienhausen/Niedersachsen. Das bescheidene Bändchen von 40 Blättern wurde 1934 im Archiv des noch heute u. a. durch seinen Tristan-Teppich berühmten Klosters Wienhausen entdeckt (Hs. 9). Es umfasst 59 niederdt., lat. u. gemischtspra-

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chige Lieder (rund ein Viertel mit Melodien). Gegen die neuerdings wieder vertretene Frühdatierung »um 1460« (Kaufhold) sprechen äußere u. innere Gründe (Irtenkauf, Gottwald, Janota). Am ältesten dürfte der Kopfteil mit lat. Liedern (mit Melodien) sein, der möglicherweise im Zuge der Klosterreform (1470) von auswärts nach Wienhausen gelangte, vielleicht durch die neue Äbtissin Susanna Potstock (1470–1501) aus Kloster Derneburg (Derneburg wird in einer Umschlagnotiz erwähnt). Der zweite, sprachlich gemischte Teil mit einigen Melodien u. der dritte, rein dt. Teil mit einer einzigen Melodie sind nach u. nach, allenfalls partienweise in einem Zuge, im Kloster geschrieben. Die lat.-dt. Klosterregeln (39) nennen zweimal Wienhausen; für Lied 49 ist die Rückseite eines Brief(entwurf)s der 1469 abgesetzten Äbtissin Katharina von Hoya (Nr. 61) genutzt. Termini post quem bieten die Lieder 21 u. 22 vom Hostienfrevel in Breslau 1453 (von Jakob von Ratingen) bzw. in Blomberg bei Detmold (1460, von Tirich Tabernes). Das weit verbreitete, kunstvolle Lied 43 (Maria zart) ist evtl. erst zum Jubeljahr 1500 gedichtet worden; nach einem anderswo überlieferten Entstehungsbericht stammen Text u. Melodie von einem Jüngling, der an der seit Ende des 15. Jh. grassierenden Syphilis erkrankt war. Nachträge fanden auf dem Vorsatzblatt (Vogelhochzeit, 59), in Freiräumen, auf Zetteln u. der Rückseite der parodist. Strafpredigt für Nonnen (Reimprosa, Nr. 60) Platz (hier u. a. Häsleins Klage, 58, lat.). In dem auch formal recht vielfältigen Repertoire des W. L. überwiegt das für religiöse Frauengemeinschaften typische geistl. Liedgut mit den Themen Weihnachten, Ostern, Marienpreis, Jesusminne, darunter auch Kontrafakturen; jüngere Parallelen finden sich u. a. im (verschollenen) Werdener u. im Ebstorfer Liederbuch, v. a. aber im Liederbuch der Anna von Köln (um 1540), das im Gesamtprofil am nächsten verwandt ist. Neben dem Einfluss der Devotio moderna lassen sich, zumal in den lat. Gesängen, Verbindungen zum süddt.-böhm. Bereich erkennen. Hochdeutschen Ursprungs sind Maria zart (43) u. wohl das Neujahrslied im Ton des schwankhaften Erzählliedes Bruder Konrad (33), der hier als

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Wiens

reumütig ins Kloster zurückkehrender Lied- ge. Inventar der handschriftlich überlieferten Muautor erscheint. Es gehört ebenso wie die sik aus den Lüneburger Frauenklöstern bis ca. Ballade Elisabeth von Thüringen (42) zu den 1550. [...]. Hildesh. u. a. 2008, S. 108. – Dies.: Mittelalterl. Hss. mit Musik in den Lüneburger zahlreichen Unica des W. L. Frauenklöstern. In: Musikort Kloster. Hg. Susanne Über die Bestimmung des Büchleins, das Rode-Breymann. Köln u. a. 2009, S. 139–158. man sich am ehesten in Privatbesitz vorstelGisela Kornrumpf len kann, ist nichts Konkretes bekannt. Das Repertoire als solches war gewiss nicht allein der Erbauung einzelner Schwestern vorbe- Wiens, Paul, * 17.8.1922 Königsberg, halten, sondern zumindest teilweise in ge- † 6.4.1982 Berlin/DDR. – Lyriker, Übermeinschaftl. Gebrauch. setzer, Publizist. Ausgaben: Das W. L. Hg. Paul Alpers. In: Nd. Jb. 69/70 (1943–47), S. 1–40; Ergänzung ebd. 76 (1953), S. 21–24 (alle Texte, ausgenommen die rein lat. geistl. Lieder; mit Komm.). – Das W. L. Hg. Heinrich Sievers. [I.] Faks. [II.] Komm. zu den Melodien (mit Ausg.). Wolfenb. 1954 (vgl. W. Salmen u. W. Irtenkauf, s. Lit.). – Das W. L. Hg. Peter Kaufhold. Wienhausen 2002 (Gesamtausg., mit Übers. u. 7 Abb. aus der Hs. in Farbe; zitiert). – Geistl. Gesänge des dt. MA. Hg. Max Lütolf u. a. Bd. 2–4. 6–7. Kassel u. a. 2004 ff., Nr. 235, 301, 305, 422, 537, 633 (Lied 50, 17, 19, 21, 15, 7). Literatur: Heinrich Sievers: Die Melodien des W. L. In: Nd. Jb. 69/70 (1943–47), S. 41–46. – Walter Salmen: Das W. L. In: Die Musikforsch. 8 (1955), S. 356 f. – Wolfgang Irtenkauf: Das W. L. In: Niedersächs. Jb. für Landesgesch. 28 (1956), S. 316–319. – Ders.: Einige Ergänzungen zu den lat. Liedern des W. L. (1470–80). In: Die Musikforsch. 10 (1957), S. 217–225. – Clytus Gottwald: ›In dulci iubilo‹. In: Jb. für Liturgik u. Hymnologie 9 (1964), S. 133–143, hier S. 139. – Paul Alpers: Weltliches im W. L. In: Jb. für Volksliedforsch. 12 (1967), S. 93–102. – Horst Appuhn: Chronik u. Totenbuch des Klosters Wienhausen. 3., erg. Aufl. Wienhausen 1986. – Daniela Wissemann-Garbe: Wienhausen. In: MGG, 2. Aufl., Sachteil. – Johannes Janota: ›W. L.‹. In: VL (grundlegend; Lit., Nachweis der Lied-Artikel mit weiterer Lit.). – Birgit Lodes: ›Maria zart‹ u. die Angst vor Fegefeuer u. Malafrantzos – Die Karriere eines Liedes zu Beginn des 16. Jh. In: Musikal. Alltag im 15. u. 16. Jh. Hg. Nicole Schwindt. Kassel u. a. 2001, S. 99–131. – Helmut Tervooren u. Martina Klug: Ein neu entdeckter Adventszyklus aus dem niederrhein. Kloster Gaesdonck. In: Queeste 9 (2002), S. 38–66, bes. S. 49–51. – Linda Maria Koldau: Frauen – Musik – Kultur. Ein Hdb. [...]. Köln u. a. 2005, S. 719–732. – Anne-Dore Harzer: In dulci iubilo. Tüb. 2006, bes. S. 45–59. – Martin Schubert: W. L. In: Elisabeth v. Thüringen – eine europ. Heilige. Katalog. Petersberg 2007, S. 195 (mit Abb.). – Ulrike Hascher-Burger: Verborgene Klän-

W. wuchs in Berlin auf u. musste, als Sohn einer Halbjüdin verfolgt, emigrieren (Schweiz, Italien, Frankreich, England). Er studierte in Lausanne u. Genf Philosophie u. Nationalökonomie, arbeitete ab 1942 illegal für die KPD in Berlin, wurde 1943 in Wien verhaftet u. wegen »Wehrkraftzersetzung« ins Konzentrationslager Oberlanzendorf bei St. Pölten deportiert. Nach dem Krieg war W. Hilfslehrer in Wien, ab 1947 Lektor u. Übersetzer beim Aufbau-Verlag in Ost-Berlin. Nach 1950 war er dort freischaffender Autor mit wechselnden kulturpolit. Funktionen, u. a. als Chefredakteur der Zeitschrift »Sinn und Form« (1982). W. war mit Irmtraud Morgner verheiratet. Geprägt von der Erfahrung des Faschismus, begann W. nach dem Krieg mit AgitProp-Gedichten (Begeistert von Berlin. Zus. mit Uwe Berger u. Manfred H. Kieseler. Bln./DDR 1952), vielfach als Jugendlieder vertont. Später wollte er auch »Bleibendes« schreiben, übersetzte Majakowski, Hikmet, Neruda, lernte von Johannes R. Becher (Das Geheimnis des J. R. B. 1975; Film) u. verfasste Gedichte, die, auf Subjektivität beharrend, wortspielerisch, humorvoll, aber auch ironisch-lapidar (»der hang zum lockerleichten, die schräge zum bitterbissigen, auf denen ich allzugern schlittenfahre«) die Bewährung des Gefühls angesichts der Entwicklungen in der Weltpolitik u. des Fortschritts in den Naturwissenschaften priesen (Beredte Welt. Bln./DDR 1953. Dienstgeheimnis. Ebd. 1968. Vier Linien aus meiner Hand. Gedichte 1943–1971. Lpz. 1972. Innenweltbilderhandschrift. Bln./Weimar 1982). W. fühlte sich zeitlebens »im Dienst« seines Staates, dessen Dogmatismus er aber auch immer wieder kritisierte (Einmischungen. Pu-

Wieprecht

blizistik 1949–1981. Ebd. 1982). Aus dem umfangreichen Œuvre bleiben v. a. Gedichte wie Die stadt hieß Berlin (in: Dienstgeheimnis), in denen W. sich selbst als Suchenden definiert, aufschlussreich u. wichtig. Weitere Werke: Nachrichten aus der dritten Welt. Bln./DDR 1957 (L.). – Die Sonnensucher (zus. mit Karl Georg Egel). 1958 (Filmskript). – Die Haut v. Paris. Bln./DDR 1960 (E.). – Neue Harfenlieder. Ebd. 1966. – Das Friedensfest oder Die Teilhabe. Oratorium. Musik: Günter Kochan. 1978. Literatur: Günter Rücker: P. W. [...]. In: SuF 34 (1982), S. 478–480. – Mathilde Dau: ›... u. vergeßt das Gelächter nicht‹. [...]. In: WB 25 (1979), H. 3, S. 93–112. – Kurt Bartsch: ›Komm, fremder Dichter, laß uns Ping-Pong spielen!‹ Zu den ›Neuen Harfenliedern des Oswald v. Wolkenstein‹ v. P. W. In: ›Durch aubenteuer muess man wagen vil‹. Hg. Wernfried Hofmeister u. Bernd Steinbauer. Innsbr. 1997, S. 1–9. Konrad Franke / Red.

Wieprecht, Christoph, * 15.10.1875 Essen-Altendorf, † 24.9.1942 Essen-Holsterhausen. – Arbeiterdichter. W. war das einzige überlebende von acht Kindern eines Krupparbeiters. Er wurde nach dem Besuch der Volksschule Lehrling, Fräser, Dreher u. Fabrikaufseher bei Krupp, ehe er 1927 aus gesundheitl. Gründen, versehen mit einem Ehrensold, in den Ruhestand ging. W.s erste Lyrikbände, Flammen (MünchenGladbach 1915) u. Hammer und Schwert. Gedichte der Arbeit (ebd. 1918), sammeln mehrheitlich Kriegsgedichte, die – Heinrich Lersch ähnlich – den Arbeiter als »Werkstattkrieger« besingen. In den folgenden Jahren gehörte W. zum Kreis der Werkleute auf Haus Nyland u. stand in lockerer Verbindung zum Ruhrlandkreis um Otto Wohlgemuth. Seine Gedichte sind geprägt von Fachvokabular u. propagieren zgl. in tiefer Religiosität – W. war aktives Mitgl. des Volksvereins für das katholische Deutschland u. des Christlichen Metallarbeiterverbands – Demut u. Ergriffenheit. Sie preisen die Arbeit als Gottesdienst u. rufen zur sozialen Versöhnung angesichts der Schönheit der Arbeit u. ihrer Werke auf. Die unfreiwillige Komik mancher Gedichte wurde von Erik Reger im Roman Union der festen Hand karikiert. In seinem autobiogr. Roman Nachtgesang (Essen 1924)

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schilderte W. in poetischer Überhöhung, wie er aus der Bedrückung industrieller Arbeitswelt zu Religiosität u. Dichtung fand. Da W. nach 1933 die zuvor vergeblich begehrte Anerkennung erhielt – etwa durch Veröffentlichung der Sammlung Im wachsenden Erz (Duisburg 1933) u. Werkgemeinschaft (Potsdam 1939) –, ließ er sich in seinen letzten Jahren zum Lob des »Dritten Reichs« verführen. Weitere Werke: Erde. Gedichte. Duisburg 1922. – Herausgeber: Die Ruhr. Ein Heimatkalender. Essen o. J. [1926/27]. – Die kath. Anth. Lyrik der Zeit (zus. mit Wolfgang Wallisfurth). Ebd. 1929. Literatur: Monika Müller-Ahle: C. W. (1875–1942). Ein christl. Arbeiterschriftsteller. Kleine Werk-Anth. mit Verzeichnung des W.Nachl. im Fritz-Hüser-Institut. Dortm. 1993. Erhard Schütz / Red.

Wiesner, Heinrich, * 1.7.1925 Zeglingen/ Kt. Basel-Land. – Erzähler, Lyriker, Kinder- u. Jugendbuchautor. Nach dem Besuch des Lehrerseminars in Schiers war W. 1945–1947 als Heimerzieher in Liestal u. dann bis 1981 als Lehrer in Augst u. Reinach bei Basel tätig. Seither lebt er als freischaffender Autor. W. war Mitbegründer der Autorengruppe Olten; er ist Mitgl. des Schweizerischen Vereins für Religionswissenschaft. Er wurde u. a. mit dem Literaturpreis des Kantons Baselland (1980) u. dem Reinacher Kulturpreis (1986) ausgezeichnet. Mit kontemplativer, konventionell stilisierter Naturbetrachtung ist der Gedichtband Der innere Wanderer (Basel 1951) als eine erste Einübung W.s in die Schreibkunst zu betrachten. In den 1960er Jahren prägte ihn die jener Zeit eigene Poetik des direkten soziopolit. Protestes. Seine Miniaturtexte Lakonische Zeilen (Mchn. 1965), Lapidare Geschichten (Mchn. 1967), Die Kehrseite der Medaille. Neue lakonische Zeilen (Mchn. 1972) nehmen die zeitaktuelle Wirklichkeit (uniform funktionierende Gesellschaft, bürgerl. Enge, durch alltägl. Gerede entwertete Sprache, Militär) kritisch in den Blick. Die Knappheit des Ausdrucks dient W. – u. hierin teilt er die Position Peter Bichsels, Hans Boeschs u. des frühen Christoph Geiser – als Grundkategorie seiner schmucklosen Aussageweise; er

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bringt aphorist. Sequenzen gern ins Spiel. W. In: KLG. – Zygmunt Mielczarek: Kurze ProsaZum gleichen Themenkreis gehört ferner das formen in der deutschsprachigen Schweizer Lit. der Prosawerk Schauplätze. Eine Chronik (Zürich sechziger u. siebziger Jahre des 20. Jh. Katowice 1969), das – ähnlich wie Die Hinterlassenschaft 1985. Zygmunt Mielczarek (Zürich 1965) von Walter Matthias Diggelmann – die histor. Tragweite der Schweizer Wigamur. – Anonymer mittelhochdeutFlüchtlingspolitik vor 1945, »die humanitäre scher Artusroman in etwa 6100 Versen, und die amtliche Schweiz«, aus der Sicht eiverfasst im 13. Jh. nes Bauernjungen mit dem dazu gehörigen Der Titelheld wird u. a. im IV. Leich des affektiven Ausdruckspotential befragt. Literatur ist für W. jedoch zgl. mehr als nur Tannhäusers (Mitte des 13. Jh.?), in Albrechts ein Mittel für ideolog. Botschaft. Die auto- Jüngerem Titurel (um 1270) u. in dem anonybiografisch untermauerten Prosawerke (der men Roman Friedrich von Schwaben (nach 1314) Bericht Rico. Ein Fall. Basel 1970; Notennot. erwähnt. Der Text ist in einer Wolfenbütteler Schulgeschichten. Basel 1973; der Roman Das Handschrift (Herzog August Bibliothek, Cod. Dankschreiben. Basel 1975) haben die pädagog. Guelf. 51.2. Aug 48, um 1475 [W]; stark fehErfahrungen eines Lehrers u. Anstalterzie- lerhaft mit zahlreichen Lücken) sowie in zwei hers, dessen Sinn für repressive Abhängig- Fragmenten (München, Bayerische Staatsbikeitsverhältnisse in einer Erziehungsanstalt bliothek, Cgm 5249/28; 4. Viertel 13. Jh. [M], zum Inhalt. Nicht zu trennen von W.s u. Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Kenntnis der Schulrealitäten u. Schüleremo- Cod. Ser. Nov. 4433; Mitte 14. Jh. [S]) schlecht tionalität sind auch seine populären Jugend- überliefert. Der – in der älteren Forschung negativ bebücher: Jaromir bei den Rittern (Gümligen/Bern 1987), Jaromir in einer mittelalterlichen Stadt urteilte – Roman erzählt in vierhebigen (ebd. 1990), Jaromir bei den Mammutjägern (ebd. Reimpaaren die Abenteuergeschichte von Wigamur, dem Ritter mit dem Adler. Wiga2000). Weitere Werke: Leichte Boote. Gedichte mur, der Sohn des Königs Paltriot, wird als 1954–1957. Zürich 1958. – Der Jass. In: Neues dt. kleines Kind von einem Meerweib geraubt, Theater. Hg. Karlheinz Braun u. Peter Iden. Zürich gelangt dann zu einem Meerwesen u. wird 1971, S. 98–107. Urauff. Basel 1971 (Theaterstück). von diesem fern der Menschenwelt erzogen. – Das verwandelte Land. Ein Lesebuch. Illustratio- Nach einigen Jahren zieht der Knabe in die nen v. Celestino Piatti. Liestal 1977. – Der Riese am Welt. Bei seinem ersten Kontakt mit der RitTisch. Basel 1979 (P.). – H. W.s Kürzestgesch.n. Mit terwelt erlebt er die Erstürmung einer Burg; zehn Scherenschnitten v. Martin Mächler. Basel er eignet sich die Rüstung eines toten Ritters 1980. – Der Mann vom Mond. Illustrationen v. Hannes Binder. Zürich 1980 (Jugendbuch). – Wel- an u. besiegt seinen ersten Gegner im Zweicher Gott ist denn tot. Basel 1984 (Religionsschrift). kampf. Dann trifft er das Mädchen Pioles, das – Neue Kürzestgesch.n. Illustrationen v. M. Mäch- den Kampf um die Burg überlebt hat. Bei ler. Rorschach 1985. – Iseblitz. Der Waldfuchs, der dem Versuch, für sie Nahrung zu beschaffen, zum Stadtfuchs wurde. Schülerroman. Gümligen/ gelangt er auf die Burg eines Zwerges, der Bern 1989. – Die würdige Greisin. Basel 1992 (P.). – einem Usurpator untertan ist. (Eine TextlüDer längste Karfreitag. Gesch.n. vom Lande. Basel cke enthielt wohl den Sieg über den Usurpa1995. – Leichte Boote. Farbholzschnitte v. Ruedi tor.) Bei dem Ritter Ittra erhält Wigamur eine Pfirter. Liestal 1996 (L.). – Wolfmädchen. Gümligen ritterl. Erziehung, nachdem er seine Tugend 1998 (Kinderbuch). – Die Menschen. Die Dinge. in einem steinernen Wunderbad unter Beweis Lesebuchgesch.n. Basel 2000. – Hase Hoppel & Igel Isidor. Zwei Tiergesch.n. Illustrationen v. Heinz gestellt hat. Beim Weiterritt zum Artushof hilft er einem Adler gegen einen Geier; der Durrer. Oberhofen am Thunersee 2007. Adler folgt ihm aus Dankbarkeit. Am ArtusLiteratur: Werner Bucher u. Georges Ammann: Schweizer Schriftsteller im Gespräch. Bd. 2, Basel hof kämpft u. siegt Wigamur in einem Ge1971. – Johannes Maassen: Ein hoffnungsvoller richtskampf für eine Jungfrau, schlägt aber Pessimist. Zur Kurz- u. Kürzestprosa H. W.s. In: die Hand des Mädchens aus. In einem Turnier ABNG 9 (1979), S. 231–253. – Dieter Fringeli: H. erringt er ein Lehen – u. verzichtet auf die

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Krone. Dann zieht er mit dem Heer des Artus gegen einen Heiden, um einer Königin beizustehen. Der Heide wird besiegt; die Heirat der Königin mit ihrem Retter kommt nicht zustande. Wigamur verlässt den Artushof u. gerät in den Krieg zwischen Atroglas u. Paltriot. Die Sache soll durch einen Zweikampf entschieden werden, dabei steht Wigamur als Kämpfer für Atroglas seinem Vater gegenüber. Als dieser sich weigert, gegen einen Unbekannten zu kämpfen, erzählt Wigamur seine Geschichte; Paltriot erkennt seinen verlorenen Sohn. Wigamur hat seine Familie wiedergefunden u. bekommt nach der Versöhnung der Gegner die Tochter des Atroglas, Dulciflur, zur Frau. Das Mädchen wird allerdings von einem Ritter entführt u. muss von Wigamur befreit werden. Dulciflur gebiert Wigamur einen Sohn namens Dulciwigar. Der Dichter beruft sich auf eine schriftl. Quelle, doch hat er sein Werk eher nach gängigen Mustern selbst zusammengesetzt u. wohl auch die z.T. grotesken Namen erfunden. Motivmaterial entnahm er u. a. Hartmanns von Aue Iwein (Erbstreit, Tierbegleiter), dem Lanzelet Ulrichs von Zazikhoven (Kindesentführung, Familienthematik), Wolframs Parzival (Ausritt des »Toren«, Erziehung) u. dem Wigalois Wirnts von Grafenberg (Tugendprobe). Durch die Einbeziehung bekannter Artusritter wird der Roman mit den älteren Artusromanen verknüpft. Zentrales Thema ist – wie im Lanzelet – die Frage nach der richtigen Herrschaft. Dabei dominiert das dynast. Denken: An die Stelle des geläufigen Motivs der Suche nach dem eigenen Namen tritt die Suche nach der Familie, der sozialen Identität. Der ideale Held weist trotz seiner Erfolge im Kampf Angebote über Herrschaft (u. Ehe) konsequent zurück; er verschließt sich der Aufsteigerideologie (Idoneitätsprinzip), die bei Artus üblich ist. Der Artushof verliert an Bedeutung u. wird nachgerade zum Ort der Versuchung. Wigamur trennt sich von diesem Hof u. findet seine Familie wieder; dies befähigt den Königssohn zur Herrschaftsübernahme (Geblütsadel). Das glückl. Ende wird möglich, weil Wigamur seinem Programm (Ablehnung von erkämpfter Herrschaft) treu bleibt. Mit

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der Betonung der dynast. Frage steht wohl das Zurücktreten des Minnethemas in Zusammenhang, das im verwandten Lanzelet eine bes. Rolle spielt. Ausgaben: Kritische Ausgabe: W. Hg. Nathanael Busch. Bln./New York 2009 (mit Einf., Übers. u. Komm.). – Handschriften: Friedrich Heinrich v. der Hagen u. Johann Gustav Büsching (Hg.): Dt. Gedichte des MA 1. Bln. 1808, Text III (Abdruck von W). – Carl v. Kraus (Hg.): Mhd. Übungsbuch. Heidelb. 21926, S. 109 ff. (Auszug). – W. Hg. Danielle Buschinger. Göpp. 1987 (Paralleldruck aller drei Textzeugen). Literatur: Gregor Sarrazin: W. Eine litterarhistor. Untersuchung. Straßb. 1879. – Otto Ernst Maußer: Reimstudien zu W. Diss. Mchn. 1907. – Erich Jenisch: Vorarbeiten zu einer krit. Ausg. des W. Diss. Königsb. 1918. – Walter Linden: Studien zum W. Überlieferung u. Sprache. Diss. Halle 1920. – David Blamires: The sources and literary structure of ›W.‹. In: Studies in medieval literature and languages in memory of Frederick Whitehead. Hg. W. Rothwell u. a. Manchester/New York 1973, S. 27–46. – Alfred Ebenbauer: W. u. die Familie. In: Artusrittertum im späten MA. Hg. Friedrich Wolfzettel. Gießen 1984, S. 28–46. – Ann G. Martin: The Concept of ›reht‹ in W. In: CG 20 (1987), S. 1–14. – Ingeborg Henderson: Illustrationsprogramm u. Text der Wolfenbütteler W.-Hs. In: ›in hôhem prîse‹. Hg. Winder McConnell. Göpp. 1989, S. 163–181. – Albrecht Classen: Der kom. Held W. – Ironie oder Parodie? In: Euph. 87 (1993), S. 200–224. – Neil Thomas: The Sources of W. and the German Reception of the Fair Unknown Tradition. In: Reading Medieval Studies 19 (1993), S. 97–111. – Volker Mertens: Der dt. Artusroman. Stgt. 1998, S. 240–249. – Horst Brunner: W. In: VL. – Matthias Meyer: Intertextuality in the Later Thirteenth Century: ›W.‹, ›Gauriel‹, ›Lohengrin‹ and the Fragments of Arthurian Romances. In: The Arthur of the Germans. Hg. W. H. Jackson u. S. A. Ranawake. Cardiff 2000, S. 98–114. – Matthias Meyer: Das defizitäre Wunder. Die Feenjugend des Helden. In: Das Wunderbare in der arthur. Literatur. Hg. F. Wolfzettel. Tüb. 2003, S. 95–112. – Sabine Obermaier: Löwe, Adler, Bock. In: Tierepik u. Tierallegorese. Hg. Bernhard Jahn u. a. Ffm. u. a. 2004, S. 121–139. – H. Brunner: ›hie enist niht âventiure!‹ Bilder des Krieges in einigen nachklass. Artusromanen. In: Ders.: Annäherungen. Studien zur dt. Lit. des MA u. der Frühen Neuzeit. Bln. 2008, S. 80–92. – Ders.: ›Hie ist diu âventiure geholt -/wâ ist nû der minne solt?‹ Die Rolle der Frau

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409 des Helden in einigen nachklass. Artusromanen. In: ebd., S. 93–102. Alfred Ebenbauer † / Nathanael Busch

Wigoleis, 1472–1483. – Prosaauflösung des Versromans Wigalois Wirnts von Grafenberg. Der zuerst 1493 in Augsburg bei Johann Schönsperger, dann mehrfach im 16. Jh. gedruckte W. wurde 1587 in Sigmund Feyerabends Buch der Liebe aufgenommen u. damit weit verbreitet. Bis ins 19. Jh. gab man ihn in Sammlungen weiter. Der programmatisch seinen Namen verweigernde Verfasser (»ich vngenant«) beruft sich auf die Bitten von »etlich edel vnd auch ander personen«, die ihn veranlasst hätten, 1472 den gereimten Wigalois in Prosa umzuschreiben. Die Umarbeitung, die er 1483 abgeschlossen hat, stellt sich als entschiedene Kürzung dar, die auf das bloße Handlungsgerüst ausgerichtet ist. Prosaauflösungen dieser Art sind symptomatisch für den literar. Geschmack im 15./16. Jh.; ihre Subsumierung unter den problemat. Volksbuch-Begriff sollte vermieden werden. Ausgaben: Brandstetter, S. 190–235 (s. Literatur). – Wigalois. Mit einem Vorw. v. Helmut Melzer. Hildesh./New York 1973. Literatur: Alois Brandstetter: Prosaauflösung. Studien zur Rezeption der höf. Epik im frühnhd. Prosaroman. Ffm. 1971. – Helmut Melzer: Trivialisierungstendenzen im Volksbuch: Ein Vergleich der Volksbücher ›Tristant u. Isalde‹, ›W.‹ u. ›Wilhelm v. Österr.‹ mit den mhd. Epen. Hildesh. 1972. – Jan-Dirk Müller: Volksbuch/Prosaroman im 15./ 16. Jh. In: IASL, Sonderheft 1 (1985), S. 1–128. – Ders.: Jch Vngenant u. die leüt. In: Der Ursprung v. Lit. Hg. Gisela Smolka-Koerdt u. a. Mchn. 1988, S. 149–174. – Jutta Eming: Funktionswandel des Wunderbaren. Studien zum ›Bel inconnu‹, zum ›Wigalois‹ u. zum ›W. vom Rade‹. Trier 1999. – Hans-Joachim Ziegeler: W. vom Rade. In: VL. – Volker Honemann: The Wigalois Narratives. In: The Arthur of the Germans: The Arthurian Legend in Medieval German and Dutch Literature. Hg. W. H. Jackson u. a. Cardiff/Wales 2000, S. 142–54. – Judith Schönhoff: Von ›werden degen‹ u. ›edelen vrouwen‹ zu ›tugentlichen helden‹ u. ›eelichen hausfrawen‹. Zum Wandel der Konzepte v. Weiblichkeit u. Männlichkeit in den Prosaauflösungen mhd. Epen. Ffm. 2008. – James H. Brown: Poetry as Source for Illustrated Prose: The 1519 Strassburg

›W. vom Rade‹. In: Fifteenth-Century Studies 34 (2009), S. 24–47. – Eulenspiegel trifft Melusine. Der frühnhd. Prosaroman im Licht neuer Forsch.en u. Methoden. Hg. Catherine Drittenbass u. Andre´ Schnyder. Amsterd. 2010. Klaus Grubmüller / Red.

Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von, * 22.12.1848 Markowitz/Posen, † 25.9. 1931 Berlin; Grabstätte: Markowitz. – Altphilologe. Aus dem ostpreuß. Adel stammend, machte W. nie einen Hehl daraus, »daß es die Majestät des Königtums ist, welche Preußen groß gemacht [...], daß in diesem Königtume das Heil unserer gesamten Kultur« liege (Basileia. 1886. In: Reden und Vorträge. Bln. 31913, S. 84). Der Besuch der Hohen Schule in Schulpforta sollte sich als prägend für W.’ wissenschaftl. Laufbahn erweisen. Der Titel seiner Valediktionsarbeit, Inwieweit befriedigen die Schlüsse der erhaltenen griechischen Trauerspiele? (1867), scheint wie eine Art Lebensprogramm. W. studierte an der Universität Bonn, u. a. bei Jakob Bernays u. Friedrich Gottlieb Welcker, u. in Berlin bei Moriz Haupt. 1870 wurde W. im Eilverfahren promoviert (Observationes Criticae in Comoediam Graecam selectae. Bln. 1870), um am Krieg teilnehmen zu können. Diesen Einsatz für Preußen unter dem später geäußerten Leitgedanken »Im Kampfe, da stählen sich unsere Kräfte: der Kampf ist der Vater aller Dinge« (Ansprache an die Studierenden. Gött. 1887. In: Reden und Vorträge, S. 87) wird er immer auch als wissenschaftl. Antrieb ansehen u. die Lehre war ihm »patriotische und quasi religiöse Pflicht« (Von der Universität. Erreichtes und Erhofftes, Reden 1915, 8.). Der »ochlokratische Parlamentarismus« (Erinnerungen. Bln. 1928, S. 228) war ihm in jeder Form verhasst, die Republik immer nur ein defizienter Modus des verehrten Kaiserreichs, auf dessen Verfall wie auch auf andere, persönliche Krisen W. mit vermehrtem Arbeitseinsatz reagierte. 1872 griff W. erstmals in die wissenschaftlich-polit. Debatte seiner Zunft ein. Im Streit um Nietzsches Geburt der Tragödie markiert er in der Broschüre Zukunftsphilologie (Bln. 1872.

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Neuausg. von Karlfried Gründer. Hildesh. 1969) deutlich seine eigene method. Position, »von Erkenntnis zu Erkenntnis fortschreiten, jede geschichtlich gewordene Erscheinung allein aus den Voraussetzungen der Zeit, in der sie sich entwickelt zu begreifen«, als »historisch-kritische Methode« (S. 8). Diese, über die Grenzen der reinen »Buchstabenphilologie« (Was ist Übersetzen? In: Reden und Vorträge, S. 3) hinausgehende Sichtweise erweitert er, sich an seines Lehrers Welcker oder A. Boeckhs Totalitätsideal orientierend, zu einer ganzheitl. Sicht, die für seine Themen stets »Sitte, Brauchtum, Recht, Staat, Religion, Kunst und Wissenschaft« einschließt (Hellmut Flashar: Wilamowitz heute? Zur Situation der Geisteswissenschaften. In: W. in Greifswald. Hildesh. u. a. 2000, S. 678.). Er reiste nach Griechenland u. Rom, wo er 1873 Mommsen traf u. ihm trotz unterschiedl. polit. Einstellung bald auch durch familiäre Bande näher trat: 1878 heiratete er dessen älteste Tochter Marie, mit der »ein besseres Leben begann« (Erinnerungen, S. 178) u. mit der er drei Kinder hatte. Mit seiner Habilitationsschrift Analecta Euripidea (Bln. 1875) war eines seiner Hauptarbeitsgebiete betreten. Euripides begleitet ihn mit zahlreichen Ausgaben, Übersetzungen u. Interpretationen durch sein gesamtes Arbeitsleben. Bei allen seinen Arbeiten ist er immer bestrebt, die behandelten Charaktere zu verlebendigen, um sie den Hörern u. Lesern näher zu bringen; z.B. indem ihm Hippolytos als »Jüngling ... ein deutscher Charakter« ist (Einleitung in die griechische Tragödie, S. 114) oder Sokrates ihm zu einem »Landsturmmann« gerät. Der Grundstein zu einer akadem. Karriere ist gelegt, die über Greifswald (seit 1876) u. Göttingen (seit 1883) 1897 nach Berlin führte, wo er mit der Gründung des Instituts für Altertumskunde nicht nur seine eigenen wissenschaftl. Vorstellungen institutionalisieren konnte, sondern den Weltruhm dieser Disziplin mitbegründete. Daneben griff W. auch in die Bildungspolitik ein – nicht nur durch seine Lehrstuhlpolitik, sondern auch durch Memoranden zur Schulreform (Philologie und Schulreform. 1892. In: Reden und Vorträge, S. 98 f.), Veröffentlichungen von kleinsten philologisch-emendator.

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Spezialitäten über Vasenbeschreibungen bis zu übergreifenden Leistungen wie z.B. 1889 die Einleitungen in die griechische Tragödie (Bln. 3 1912), urspr. ein Euripides-Buch. Hier postulierte er, dass die »historische kritik [...] zu ermitteln [hat], was wirklich überliefert ist« (S. 2). Diesem an Ranke orientierten Anspruch ist auch sein monumentaler Wurf Platon. Sein Leben und seine Werke (2 Bde., ebd. 1919/20. 31948) verpflichtet: »Wenn ein Kunstwerk ein Stück Leben ist [...] so [...] die Interpretation eines ganzen Menschenlebens erst recht. Daran ändert alles Streben nach wissenschaftlicher Objektivität nichts« (S. X, XV). Konsequent ist er immer bestrebt, sei es in Vorlesungen, sei es in Publikationen, »den toten Worten durch das eigene Herzblut Leben« zu geben (Einleitung in die griechische Tragödie, S. 258.) In seinem letzten großen, unvollendet gebliebenen Werk, Der Glaube der Hellenen (2 Bde., Bln. 1931/32. 21955), weitet W. seine Perspektive ins Kulturgeschichtliche: Er will »das Werden, die Wandlungen und das Übergehen aus dem Glauben in den Mythos und das Schwinden des Glaubens, während der Kultus bleibt«, insg. darstellen (S. 1). Die Vielfalt der für »seine« Altertumswissenschaft maßgebl. Aspekte, die W. 1928 in einem Akademievortrag zusammenfasste, »Spiegelungen der religiös patriotischen Gefühle« in der Literatur, »die man geschichtlich begreifen, aber auch nachempfinden muß«, die Rolle der Landschaft, in der sie wachsen: »der Boden lehrt sie verstehen, wie er sie einst gezeugt hat« (Kyrene. Bln. 1928, S. 13) – diese Aspekte sind der Arbeitsweise der frz. »Annales«-Schule ganz nahe. Seine Werke sind deshalb großenteils bis heute unüberholt. Weitere Werke: Aus Kydathen. Bln. 1880. – Antigonos v. Karystos. Bln. 1881. Bln./Zürich 2 1965. – Homerische Untersuchungen. Bln. 1884. – Aristoteles u. Athen. 2 Bde., ebd. 1893. Neudr. 1966. – Die Textgesch. der griech. Lyriker. Bln. 1900. Neudr. Nendeln 1970. – Die Textgesch. der griech. Bukoliker. Bln. 1906. – Die griech. u. lat. Lit. u. Sprache. Bln. 1907. Neudr. Stgt./Lpz. 1995. – Staat u. Gesellsch. der Griechen u. Römer bis zum Ausgang des MA. Lpz./Bln. 1910. Neudr. New York 1979. – Sappho u. Simonides. Untersuchungen

411 über griech. Lyriker. Bln. 1913. Neudr. Zürich u. a. 1985. – Aischylos. Interpr.en. Bln. 1914. Neudr. Dublin/Zürich 1967. – Die Ilias u. Homer. Bln. 1916. Neudr. Bln. u. a. 31966. – Griech. Verskunst. Bln. 1921. Neudr. Darmst. 31975. – Gesch. der Philologie. Bln. 1921. Neudr. Stgt./Lpz. 1998. Engl. Übers. London 1982. – Pindaros. Bln. 1922. Neudr. Bln. u. a. 1966. – Hellenist. Dichtung in der Zeit des Kallimachos. 2 Bde., Bln. 1924. Neudr. Dublin/ Zürich 1973. – Die Heimkehr des Odysseus. Neue homer. Untersuchungen. Bln. 1927. – Kleine Schr.en. 6 Bde., ebd. 1935–72. Literatur: Bibliografien: Friedrich Hiller v. Gaertringen u. Günther Klaffenbach (Hg.): W. Bibliogr. 1868–1929. Bln. 1929. – Wolfgang Buchwald: Ergänzungen. In: Kleine Schr.en. Bd. 6, a. a. O., S. 394–400. – Weitere Titel: Rudolf Pfeiffer: Gesch. der Klass. Philologie. Reinb. 1970. Mchn. 2 1978. – Hellmut Flashar u. a. (Hg.): Philologie u. Hermeneutik im 19. Jh. Gött. 1983. – William M. Calder III u. a. (Hg.): W. nach 50 Jahren. Darmst. 1985. – Eckart Mensching: U. v. W., Walther Kranz u. das ›Dritte Reich‹. In: Hermes 116 (1988), S. 357–366. – W. M. Calder III u. a. (Hg ): W. in Greifswald. Hildesh. u. a. 2000. – W. M. Calder III: Men in Their Books. Studies in the Modern History of Classical Scholarship. Hg. John P. Harris u. R. Scott Smith. Hildesh. u. a. 22002. – Markus Mülke (Hg.): W. u. kein Ende. FS W. M. Calder III. Hildesh. u. a. 2003. – Stephan Heilen u. a. (Hg.): In Pursuit of ›Wiss.‹. FS W. M. Calder III. Hildesh. u. a. 2008. Reinhold Hülsewiesche

Wilbrandt, Adolf von (seit 1884), * 24.8. 1837 Rostock, † 10.6.1911 Rostock; Grabstätte: ebd., Alter Friedhof. – Erzähler, Dramatiker, Direktor des Wiener Burgtheaters. Nach seinem Philosophie- u. Geschichtsstudium mit anschließender Promotion zum Dr. phil. arbeitete W., Sohn eines Juraprofessors, als Redakteur der »Süddeutschen Zeitung« von Karl Brater zunächst in München, dann in Frankfurt/M. In München knüpfte er Kontakte zu Paul Heyse u. zum Dichterkreis »Die Krokodile« (vgl. Paul Heyse: Jugenderinnerungen und Bekenntnisse. Bln. 1900). Nach einer Monografie über Heinrich von Kleist (Nördlingen 1863) veröffentlichte W. einen Bildungsroman in der Nachfolge Goethes (Geister und Menschen. Nördlingen 1864). In rascher Folge entstanden zahlreiche Novellen

Wilbrandt

u. Romane, darunter einige Schlüsselromane wie der Künstlerroman Hermann Ifinger (Stgt. 1892) über Hans Makart u. seine Epoche. Charakteristisch für W.s Romane sind ausgreifende, lebendige Dialoge im ›Plauderton‹, in denen er die Gesellschaft seiner Zeit facettenreich spiegelt u. dabei immer wieder ethisch-philosophische Debatten aufgreift (etwa in seinem Ehebruchroman Fesseln. Stgt./Bln. 1904). Der Roman Fridolins heimliche Ehe (Wien/Lpz. 1875. Hg. James Steakley u. Wolfram Seitz. Hbg. 2010), den Fontane im dritten Kapitel seiner Autobiografie Von zwanzig bis dreißig (Bln. 1898) erwähnt, zeichnet mit dem Porträt des Protagonisten u. dem zentralen Thema der ›Mannweiblichkeit‹ zgl. ein Sittenbild der Epoche. Als erster ›schwuler Roman‹ hat er eine bes. Wirkungsgeschichte (Übersetzung ins amerikan. Englisch durch Clara Bell: Fridolin’s mystical marriage. New York 1884). Erfolgreich war W., der 1871 nach Wien übersiedelte u. die Schauspielerin Auguste Baudius heiratete, jedoch v. a. als Dramatiker. Für sein Drama Gracchus, der Volkstribun (Wien 1872), ein Charakterdrama in ›kerniger‹ Prosa, erhielt er 1875 den Grillparzer-Preis. Ein Publikumserfolg des äußerst produktiven u. gefragten Bühnenautors wurde insbes. sein Drama Arria und Messalina (Wien 1874) mit Charlotte Wolter in der Titelrolle der Messalina. 1877 wurde dem prominenten Dramatiker u. Schriftsteller der Schiller-Preis verliehen. Als Direktor des Wiener Burgtheaters (1881–1887) war W. eine einflussreiche Persönlichkeit des kulturellen Lebens der österr. Metropole. Seine Erinnerungen (Stgt./Bln. 1905) an die Wiener Zeit sind ein kulturgeschichtlich bedeutendes Dokument der Epoche. Das wirkmächtigste Stück W.s ist Der Meister Palmyra (Stgt. 1889), für das er 1890 zum zweiten Mal den Grillparzer-Preis erhielt. Das Blankversdrama behandelt die Themen der Seelenwanderung u. des faustischen Drangs in pointierten Sentenzen u. in deutlicher formaler u. konzeptioneller Orientierung am Drama der Weimarer Klassik. W., der bereits 1884 mit der Verleihung des Bayerischen Maximiliansordens durch Ludwig II. zgl. den persönl. Adelstitel erhalten hatte, kehrte 1887 nach Rostock zurück.

Wilckens Weitere Werke: Der Graf von Hammerstein. Bln. 1870 (D.). – Giordano Bruno. Wien 1874 (D). – Kriemhild. Ebd. 1877 (Trauersp.). – Ein Mecklenburger. Stgt. 1901 (R.). – Aus der Werdezeit. Erinnerungen. N. F. Stgt./Bln. 1907. Literatur: Victor Klemperer: A. W. Eine Studie über seine Werke. Stgt./Bln. 1907. – Eduard Scharrer: A. W. als Dramatiker. Mchn./Lpz. 1912. – Friedrich Schramek: W.s Zeitromane. Diss. Wien 1950. – Peter Sprengel: Gerhart Hauptmanns Idyllendichtung ›Die drei Palmyren‹ u. ihre Vorbilder bei Goethe u. W. In: JbFDH 1996, S. 264–289. – Fritz-Wilhelm Neumann: Shakespeare – Dorothea Tieck – A. W.: ›Coriolanus‹ auf der Datenbank. Neue Wege der historisch-vergleichenden Übersetzungsanalyse. In: Theaterinstitution u. Kulturtransfer. Bd. 1. Hg. Bärbel Fritz. Tüb. 1997, S. 155–172. – Jürgen Grambow: ›Ergänzung meines nordischen Ich durch den Süden‹ – Der Schriftsteller A. W. als Intendant des Wiener Burgtheaters. In: Mecklenburger im Ausland [...]. Hg. Martin Guntau. Bremen 2001, S. 117–123. – Kosch TL 6 (2008), S. 3367. – Karl-Heinz Jügelt: Die ›Weihe der Wiss.‹ für den Dichter A. W. [...]. In: Beiträge zur Gesch. der Stadt Rostock 31 (2011), S. 200–210. Hanna Klessinger

Wilckens, Matthäus Arnold, Hamburg, † 11.6.1759 Hamburg. – Jurist, Lyriker, Übersetzer.

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Nachdr. Stgt. 1965) von Brockes u. ist seinerseits mit 92 Titeln in Weichmanns Poesie der Nieder-Sachsen (ebd. 1721–38. Neudr. hg. v. Jürgen Stenzel. Mchn. 1980) vertreten. Die letzten drei Bände (1732–38) dieser Anthologie redigierte er gemeinsam mit ihrem Herausgeber Johann Peter Kohl. Bei W., einem Verehrer Postels, finden sich weltl. u. geistl. Kantaten u. Oratorien, aber auch Sonette, Dialoge, Fabeln u. Übersetzungen. Aussagestarke, ungewohnt geschmeidige dt. Alexandriner wirken bei W. ebenso natürlich wie die von ihm bevorzugten liedhaften Gedichte unterschiedl. Versmaße. Obwohl oft Gelegenheitspoesie, welche die klass. Bildung des Autors u. den philosophischen Geist seines Jahrhunderts nie verleugnet, lesen sie sich ohne jede Fremdheit. In ihnen findet sich Hagedorns Leichtigkeit; sie beeindrucken durch die Unaufdringlichkeit der in ihnen ausgesprochenen persönl. Gefühle. W. schrieb den Text zu Johann Paul Kunzens Passionsoratorium von 1727, einer freien Evangelien-Nachdichtung, u. zu Telemanns Lukaspassion von 1728. Telemann stellte ihn als Textautor geistl. Musik neben Erdmann Neumeister. Literatur: Catalogus [...] bibliothecae et iconum aere expressorum beati Domini Matthaei Arnoldi Wilckens [...]. Hbg. 1761. – Hans Schröder: Lexikon der hamburg. Schriftsteller. Bd. 8, Hbg. 1883, S. 36 f. – C. F. Weichmanns Poesie der Nieder-Sachsen (1721–38). Nachweise u. Register. Hg. Christoph Perels, Jürgen Rathje u. Jürgen Stenzel. Wolfenb. 1983, S. 190–195. – Horst Gronemeyer: M. A. W. In: Hamburgische Biogr. Hg. Franklin Kopitzsch u. Dirk Brietzke. Bd. 5, Gött. 2010, S. 384. Jürgen Rathje / Red.

Der Sohn des bekannten hamburgischen Archivars Nicolaus Wilckens besuchte ab 1721 die Lateinschule Johanneum, studierte ab 1725 am Akademischen Gymnasium u. (spätestens) ab 1727 an der Universität Leipzig, wo er bei Gottlieb Corte Jura hörte. W. wurde zum Dr. jur. promoviert, kehrte nach Hamburg zurück, praktizierte aber nicht, sondern führte das Leben eines Privatgelehrten. 1741 heiratete er Margaretha Catharina vom Kampe. Wild, Ingold ! Meister Ingold W. zählte zu den Trägern der Hamburger Frühaufklärung. Er war der Vertraute BroWild, Sebastian, † (nach) 1583 Augsburg. – ckes’ u. Hagedorns, zu dessen Hamburger Meistersinger, Dramatiker. Freundeszirkel er ebenso gehörte wie zum Bekanntenkreis Johann Samuel Müllers. Über W., von Beruf urspr. Schneider, ist Freundschaft verband ihn mit seinem Studi- biografisch wenig bekannt. Als Meistersinger enkameraden Johann Richey u. dem Ham- u. »Tichter«, in dessen Haus zeitweise die burger Bürgermeisterssohn Matthäus Julius öffentl. Konzerte (›Singschulen‹) abgehalten Rulant. W. edierte zusammen mit Hagedorn wurden, ist er 1547 u. 1550 in einer Chronik den Auszug der vornehmsten Gedichte, aus dem der Augsburger Gesellschaft (Staats- und [...] Irdischen Vergnügen in GOTT (Hbg. 1738. Stadtbibl. Augsburg, 48 Cod. Aug. 218) be-

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legt; ein Meisterlied (ebd.) des Notars u. Homer-Übersetzers Johan Spreng (1524–1601) führt ihn unter den zwölf ältesten Singern auf. Er erfand 13 Töne, die in dem Liederzyklus Die histori der zerstörung Jerusalem (BSB, Cgm 5103, fol. 180r-199v) vereinigt sind; seines ›Gekrönten Tons‹ bediente sich Hans Sachs bereits 1555, u. noch zu Beginn des 17. Jh. waren seine ›Weisen‹ in Nürnberg beliebt. Ansehen genoss W. auch als Liedautor; in mehreren Meistersinger-Handschriften, darunter dem bekannten Singebuch (1584/88) des Breslauer Meistersingers Adam Puschman, sind insg. 31 Lieder (datiert 1553 bis 1573) überliefert, die sich v. a. mit religiösen u. kontroverstheolog. Themen, aber auch mit ›Historien‹ (Iosephus, Bellum Iudaicum; Herodot, Historiae) beschäftigen. Spätestens 1565 entstanden paarzeilig gereimte Begleitverse zu einer von dem Augsburger Maler Jörg Sorg d.Ä. (1481–1563) u. seiner Werkstatt geschaffenen Folge von 82 Bildnissen röm. u. dt. Kaiser von Julius Caesar bis Maximilian II. für Herzog Albrecht V. von Bayern (BSB, Cgm 960; Textabdruck: Eine Reihe Römischer Kaiser nach einem höchstseltenen Kunstalterthum. Hg. Marcus Philipp Burk. Tüb. 1791, S. 22–48). Möglicherweise wirkte W. – die von der Forschung angenommene Identität mit einem 1545 erstmals erwähnten Leonhard (Sebastian) Wild vorausgesetzt – auch als Schulhalter einer dt. Schule, wohl zusammen mit seiner Frau, die 1551 wegen ihrer Weigerung, das sog. Augsburger Interim, das u. a. den kath. Unterricht einforderte, zu unterzeichnen, vom Rat der Stadt ein Berufsverbot erhielt. 1566 erschien bei Matthäus Franck in Augsburg eine umfängl. Sammlung seiner lehrhaft-moralisierenden Dramen (Schöner Comedien und Tragedien zwölff), die mit dem reichen Theaterleben in der Reichsstadt in Verbindung zu bringen ist, bes. mit der Meistersingerbühne im »Dantzhaus«, wo sein Weihnachtsspiel (Comedj von der geburt vnsers Herrn Jesu Christi) u. sein Passions- u. Osterspiel (Tragedj [...] von dem Leyden vnd sterben, auch die aufferstehung vnsers Herren Jesu Christi. Neudr., hg. August Hartmann, in: Das Oberammergauer Passionsspiel in seiner ältesten Gestalt. Lpz. 1880. Neudr., hg.

Wild

Manfred Knedlik. Amsterd. u. a. 2010) bereits vor der Drucklegung aufgeführt worden waren, u. mit einiger Wahrscheinlichkeit auch mit der dt. Schulbühne. Eine Dramatisierung erfahren im ersten Teil der Sammlung geistl. Stoffe aus der Bibel, aus der Legendentradition (Tragedj von dem Keiser Tydo [Titus]) u. aus der populär-kanonist. Literatur (Belial), während der zweite Teil mit Bearbeitungen frühneuzeitl. Prosaromane (u. a. Die siben weysen Maister, Die schön Magelona) u. einer Fabel des Äsop (Der Doctor mit dem Esel. Neudr., hg. Julius Tittmann, in: Schauspiele aus dem sechzehnten Jahrhundert. Lpz. 1868) weltl. Stoffe präsentiert. Trat W. in einigen seiner Meisterlieder als überzeugter Lutheraner auf, so verzichtete er – den Religionsverhältnissen in Augsburg geschuldet – in den einer größeren Öffentlichkeit vorgestellten Dramen weitgehend auf konfessionelle Polemik u. experimentierte sogar mit apokryphen u. legendarischen Versatzstücken des vorreformatorischen geistl. Spiels. In diesem »überkonfessionellen Angebot« (Jahn), aber sicherlich auch in der Drucklegung, liegt die nachhaltige Wirkung seines Passions- u. Osterspiels im bairisch-österr. Raum begründet; so fußt z.B. das ›Erler Osterspiel‹ des 17. Jh. fast vollständig auf der Tragedj, die zusammen mit dem ›Augsburger Passionsspiel‹ aus dem Benediktinerkloster St. Ulrich u. Afra auch die Grundlage des ältesten Oberammergauer Spieltextes (1662) bildet. Weitere Werke: Einzeldrucke: Ein schöne Tragedj oder Spyl, gezogen ausz der Apostel geschicht [= Der Junger gefengknuß]. Augsb. 1613. – Ein schöne Tragœdi, auß heiliger Schrifft gezogen, Von dem Leyden vnd Sterben, auch Aufferstehung vnsers Herren Jesu Christi. Augsb. [um 1650]. Literatur: Hugo Holstein: S. W. In: ADB. – Max Radlkofer: Die schriftsteller. Tätigkeit der Augsburger Volksschullehrer im Jh. der Reformation. Augsb. 1903, S. 6–11. – Willy Brandl: S. W., ein Augsburger Meistersinger. Weimar 1914. – Wolfgang F. Michael: Das dt. Drama der Reformationszeit. Bern u. a. 1984, S. 281–286. – RSM, Bd. 13 (1989), S. 354–366. – Elisabeth Wunderle: S. W. In: Augsburger Stadtlexikon. Augsb. 21998, S. 931 f. – Manfred Knedlik: ›Auff das jr nutz darauß empfangen ...‹. Das protestant. Passions- u. Osterspiel (1566) des S. W. In: Museion Boicum

Der Wilde Alexander oder bajuwar. Musengabe. Beiträge zur bayer. Kultur u. Gesch. Hg. Guillaume van Gemert u. M. Knedlik. Amsterdam/Utrecht 2009, S. 31–55. – Bernhard Jahn: Schultheater jenseits von St. Anna. Versuch einer Annäherung an die Theaterspielpraxis der dt. Schulen in Augsburg am Beispiel von S. W.s Dramensammlung. In: Humanismus u. Renaissance in Augsburg. Hg. Gernot Michael Müller. Bln. 2010, S. 217–233. Manfred Knedlik

Der Wilde Alexander ! Alexander, Der Wilde Wildenbruch, Ernst von, * 3.2.1845 Beirut, † 15.1.1909 Berlin; Grabstätte: ebd., Neuer Friedhof. – Dramatiker u. Romancier; Jurist. W.s Vater, Louis von Wildenbruch, war der Sohn des Prinzen Louis Ferdinand von Preußen aus der nicht standesgemäßen Verbindung mit Henriette Fromme. Er ging als preuß. Generalkonsul nach Syrien, wo W. geboren wurde. Nach Aufenthalten in Berlin, Athen (seit 1850) u. Konstantinopel (1852–1857) besuchte W. die Gymnasien in Berlin u. Halle. Durch den häufigen Wechsel der Wohnorte, die oriental. Eindrücke sowie die frühe Berührung mit Kultur u. Landschaft Griechenlands wurde W.s Fantasie beträchtlich geformt. Nach der Kadettenzeit war W. 1863–1867 Gardeleutnant in Potsdam; zwar nahm er an den Kriegen von 1866 u. 1870/71 teil, kam jedoch beide Male nicht ins Gefecht. Im Herbst 1867 begann er ein Jurastudium in Berlin. In dieser Zeit entstanden erste Gelegenheitsdichtungen, stark von Vorbildern wie Tieck, Dante u. Goethe beeinflusst. Nach dem Friedensschluss 1871 ging W. als Referendar nach Frankfurt/O. Auch hier entstanden Gedichte, Novellen u. Dramen. Nach dem bestandenen zweiten juristischen Staatsexamen (Dez. 1876) übernahm er die Stelle eines Hilfsrichters in Eberswalde, seit Frühjahr 1877 eine solche in Berlin. Im gleichen Sommer erfolgte die Anstellung im Auswärtigen Amt – ein berufl. Glücksfall, da W. einen kleinen Posten bekam, der ihm freie Zeit für seine literar. Neigungen ließ. Allerdings kam es hier wie schon in Frankfurt/O. zu Konflikten mit den

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Vorgesetzten, teils wegen nicht unproblemat. dramat. Veröffentlichungen, teils wegen des Umstands, dass ein Beamter eines bedeutenden Ministeriums offensichtlich mehr Wert auf seine schriftstellerische als auf die berufl. Karriere legte. – Nach einer Reihe von Ablehnungen fand W. im Meininger Theater die erwünschte Förderung seiner Dramen. 1885 heiratete er Maria von Weber, die Enkelin des Komponisten. 1900 quittierte W. aufgrund sich verschlechternder Gesundheit seine Beamtentätigkeit, für die er den Kronenorden zweiter Klasse bekam. Bereits 1880 hatte er den Hohenzollernschen Hausorden u. 1897 den Roten Adlerorden dritter Klasse erhalten, Auszeichnungen, die mehr dem Dichter galten. W. war auch Mitgl. der Goethe-Gesellschaft u. wurde 1903 zum Ehrenpräsidenten der »Association littéraire et artistique« ernannt. 1907 zog W. endgültig nach Weimar. Es trifft weder W.s künstlerische Absicht noch Form u. Inhalt seiner Werke, wenn sie ausschließlich mit dem Schlagwort »epigonal« charakterisiert werden. Allerdings lassen ihm die Bindung an die histor. Überlieferung sowie ein überkommenes Formverständnis keine Innovation gelingen. So erscheint etwa das soziale Drama Die Haubenlerche (Bln. 1891), in der W. ungebundene Sprache u. Dialekt verwendet, rund 20 Jahre später als entsprechende Werke Anzengrubers. W. schrieb in der Tradition Raupachs u. Scherenbergs u. kam damit dem sich entwickelnden preuß. Selbstbewusstsein entgegen. Versepen wie Vionville (ebd. 1874) oder Sedan (Frankfurt/O. 1875) verdeutlichen mit ihrer pathet. Sprache u. der ausschließlich nationalen Glorifizierung diese Tendenz. In Dramen wie Die Karolinger (Bln. 1881), Harold (ebd. 1882), Die Quitzows (ebd. 1888) u. dem Doppeldrama Heinrich und Heinrichs Geschlecht (ebd. 1895) griff er immer wieder auf histor. Themen zurück. Erfolgreich war W. nicht durch den Bezug auf Schiller, sondern vielmehr durch seine Technik, die der allg. akzeptierten Theatersprache der Meininger entsprach. Am besten lässt sich sein Verständnis von Drama u. dramat. Intention anhand seines Essays Das deutsche Drama. Seine Entwicklung und sein gegenwärtiger Stand (1899. Lpz. 1906) verstehen. Für ihn ist, anders als

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Wildenhain

bei Schiller, das Drama nicht Ausdruck äs- decree. E. v. W. In: Imperial Germany. Hg. Volker thetischer u. sittl. Freiheit des Einzelnen, die Dürr u. a. Madison 1985, S. 134–148. – Ulrich zur politisch motivierten Handlung führen Moritz: E. v. W. Weimar 1995. – Helmut Schanze: kann, sondern gründet sich auf ein begrifflich Histor. Kostüm. Ferdinand v. Saar u. E. v. W. im Kontext der Theatermoderne um 1890. In: Ferdinicht recht fassbares »Volksschicksal« u. nand v. Saar. Zehn Studien. Hg. Kurt Bergel. Ridessen »politische Reife«. Es war jedoch ge- verside, Calif. 1995, S. 153–169. – Anita Skupin: E. rade diese Absicht, die ihm zweimal den v. W. In: Magdeburger biogr. Lexikon. Hg. Guido Schiller- (1884 u. 1896) u. einmal den Grill- Heinrich u. Gunter Schandera. Magdeb. 2002, parzer-Preis (1907) eintrug. Auch in W.s S. 802 f. – Hans Rudolf Wahl: Die Religion des dt. Prosawerken häufen sich Rückgriffe auf Ju- Nationalismus. Eine mentalitätsgeschichtl. Studie genderinnerungen u. klass. Bildungsgut zur Lit. des Kaiserreichs: Felix Dahn, E. v. W., (etwa: Der Meister von Tanagra. Eine Künstlerge- Walter Flex. Heidelb. 2002. – Torsten Leutert: E. v. schichte aus Alt-Hellas. Bln. 1880. Francesca von W.s histor. Dramen. Ffm. u. a. 2004. Detlef Haberland / Red. Rimini. In: Novellen. Ebd. 1882) wie auf die Geschichte Preußens (etwa Das Riechbüchschen. In: Neue Novellen. Ebd. 1885). Im Gegensatz Wildenhain, Michael, auch: Carl Wille, zu Fontane aber (der ihn als einer der Ersten * 20.9.1958 Berlin (West). – Verfasser von kritisierte) leistete W. in seinen durchaus Romanen, Theaterstücken u. Gedichten. überzeugend präsentierten u. teils spannenden Erzählungen u. Romanen keine Verar- Der Sohn eines Schlossers u. einer Erzieherin beitung der histor. Situation durch eine gehört zu jener Generation, die um 1980 in überzeugende gehaltl. u. psycholog. Struk- den europ. Metropolen die Nachfolge der turierung. Eine zuweilen aufdringl. Ding- außerparlamentar. Opposition antrat. W. symbolik u. Metaphorik verhindern vielmehr wuchs im Westteil Berlins auf, wo er heute die überzeitl., vielschichtige poetische Ge- noch lebt, studierte dort seit 1977 Wirtstaltung etwa eines Fontane, Raabe oder schaftsingenieurwesen, Philosophie u. InforKeller. Gleichwohl vermittelt W. gerade matik, mit einem Abschluss als Diplomindurch seine Zeitverhaftung u. moralische formatiker. Er beteiligte sich um 1980 an Absicht (etwa in: Neid. Ebd. 1900) auch heute Hausbesetzungen in Berlin, die durch die noch lebendige Einblicke in soziale u. kultu- Stadtplanung des Berliner Senats provoziert relle Eigenheiten der zweiten Hälfte des wurden, sich als radikale Kritik der Gesellschaft verstanden, zgl. auch die Funktion ei19. Jh. ner Selbstverständigungsinitiative seiner AlWeitere Werke (Erscheinungsort jeweils Bln.): Ausgabe: Ges. Werke. Hg. Berthold Litzmann. 16 terskohorte hatten. Er galt neben Rainald Bde., 1911. – Einzeltitel: Väter u. Söhne. 1882 (D.). – Goetz u. Bodo Morshäuser als einer der Der Menonit. 1882 (D.). – Der neue Herr. 1891 (D.). »Dichter des Terrors« (Uwe Wittstock). W. hat eine Reihe von Auszeichnungen er– Die Tochter des Erasmus. 1900 (D.). – Das schwarze Holz. 1905 (R.). – Die Rabensteinerin. halten, darunter 1988 den Ernst-Willner1907 (D.). Preis des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs, Literatur: Berthold Litzmann: E. v. W. 2 Bde., 1997 den Alfred-Döblin-Preis, 1998 das Villa Bln. 1913 u. 1916. – Albert Fries: Beobachtungen Massimo Stipendium, 2006 das London-Stizu W.s Stil u. Versbau. Ebd. 1920. Neudr. Nendeln pendium des Deutschen Literaturfonds u. 1967. – Robert Minder: Kadettenhaus, Gruppen- 2007 das Stipendium des Deutschen Literadynamik u. Stilwandel v. W. bis Rilke u. Musil. In: turfonds. Ders.: Kultur u. Lit. in Dtschld. u. Frankreich. Ffm. Der Autor war zeitweise selbst Bewohner 1962, S. 73–93. – Uwe-K. Ketelsen: E. v. W. Die eines besetzten Hauses u. schrieb sich mit Quitzows. In: Dt. Dramen. Hg. Harro Müller-Michaels. Bd. 2, Königst./Taunus 1981, S. 24–41. – seinen ersten Arbeiten als Chronist der »BeRoswitha Flatz: Germania u. Willehalm. Theatral. wegung« in die Literaturgeschichte ein. Er Allegorien eines utop. Nationalismus. In: Literar. folgte dabei, wie er 1994 betonte, anfangs Utopie-Entwürfe. Hg. Hiltrud Gnüg. Ffm. 1982, dem Anspruch größtmögl. Authentizität, war S. 219–235. – Kathy Harms: Writer by imperial sich jedoch der Grenzen dieses Verfahrens

Wildenhain

bewusst. Wichtig sei ihm gewesen, »daß die Ereignisse in einer ähnlichen Form auch tatsächlich stattgefunden hatten« (Delabar/ Jung, S. 167). Um den Kern der Geschehnisse erfassen zu können, verlagerte W. seine Schreibform vom dezidiert Dokumentarischen, das noch den ersten Prosatext zum beispiel k. (Bln. 1983) geprägt hatte, zum Erzählerischen. Bereits der zweite Prosatext Prinzenbad (ebd. 1987) ist als fiktionaler Text erkennbar u. als literar. »road movie« angelegt u. operiert mit schnellen Schnitten (Matthias Kußmann). In seinem Opus magnum, dem Roman Die kalte Haut der Stadt (ebd. 1991), entwickelte W. eine komplexe, mit Montagen u. wechselnden Erzählperspektiven arbeitende Erzählform, die in der Nachfolge von Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz (1929) steht. W. verbindet in den Texten dieses ersten Jahrzehnts eine politisch motivierte Erzählhandlung kaleidoskopartig mit Realitätspartikeln, literar. u. kulturellen Zitaten, die sich gegen das Desinteresse der Bewegung an Literatur wenden. Der Roman ist fokussiert auf die Krawalle am 1.5.1987 in Berlin-Kreuzberg u. sollte sich anfänglich auf 48 Stunden um dieses Datum beschränken. W. setzt den sozialen Bewegungen in seinem Roman ein Denkmal u. schreibt deren Grundideen fort, benennt aber auch wie in der Lyrik (Das Ticken der Steine. Ebd. 1989) präzise die Verletzungen, biogr. Schäden, blinden Flecke u. Irrtümer der Protagonisten. Nach dem großen Roman, der wohl die bleibende Leistung des Autors darstellt, wandte sich W. Themen aus dem Umkreis der polit. Linken, der Diskussion um die zerfallende RAF, Adoleszenz- u. Jugendproblematiken zu (Erste Liebe. Deutscher Herbst. Ffm. 1997), die er in Romanen, teilweise im Krimi (Exit Berlin. Bln. 1994, Pseud. Carl Wille) u. im Jugendbuch (Wer sich nicht wehrt. Ravensburg 1994), teils in Theaterstücken u. in seiner Lyrik behandelte. In einer Reihe von Theaterarbeiten thematisierte W. die Disziplinierungen u. Zurichtungen radikaler Gruppen (Fotografien. Urauff. Oberhausen 1994). Kern seiner Texte bleiben dabei die Sehnsüchte u. Bedürfnisse der Subjekte, die gegen die kollektiven polit. Anforderungen gestellt wer-

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den. Das verweist auf den aus der libertären Tradition stammenden Anspruch auf das subjektive Glück, den W. verteidigt, der aber auch als Erbe der Romantik erkennbar ist. W. betont zgl. die Verpflichtung auf eine menschl. Gesellschaft, für die es sich zu kämpfen lohnt. Noch in Träumer des Absoluten (Stgt. 2008) sind diese Motive erkennbar. Themen wie Rassismus u. Neo-Faschismus, die in den 1990er Jahren vakant waren, wurden auch in den Theaterarbeiten W.s behandelt (Im Schlagschatten des Mondes. Urauff. Tübingen 1993). Der von W. teilweise benutzte hohe, pathet. Ton erntete Kritik, verweist jedoch auf die Sprachstile der sozialen Bewegungen. Seine wiederholte Beschäftigung mit dem Thema RAF hat v. a. in den 1990er Jahren provoziert, wie auch die Inszenierung von Schlagschatten des Mondes / Hänsel & Gretel durch Thomas Heise am Berliner Ensemble 1995, in denen die Rollen mit Kindern besetzt wurden. Weitere Werke: Heimlich, still und leise. Ffm. 1994 (E.en). – Die Zeit als Wolf. Weilerswist 1995 (L.). – Lisa im Zirkus. Mit Bildern v. Wolfgang Slawski. Ravensburg 1997 (Kinderbuch). – Lisa u. Robbi. Eine Tiergesch. Mit Bildern v. W. Slawski. Ravensburg 1998 (Kinderbuch). – Russisch Brot. Stgt. 2005 (R.). – Wie es war. Weilerswist 2011 (L.). Literatur: Uwe Wittstock: Der Terror u. seine Dichter. Politisch motivierte Gewalt in der neuen dt. Lit.: Bodo Morshäuser, M. W., Rainald Goetz. In: NR 101 (1990) H. 3, S. 65–78. – Walter Delabar: Gewalt, Katharsis u. gelungener Augenblick. Zu den Romanen v. M. W. In: JUNI (1993), Nr. 18, S. 106–118. – Ders.: Letztes Abenteuer Großstadt. (West)Berlin-Romane der achtziger Jahre. In: Neue Generation – Neues Erzählen. Die dt. Prosa-Lit. in den achtziger Jahren. Hg. ders., Werner Jung u. Ingrid Pergande. Wiesb. 1993, S. 103–125. – Ders. u. Werner Jung: Erinnerung u. Werkzeug. Ein Gespräch mit M. W. In: JUNI (1995), H. 23, S. 167–178. – Elke Buhr: ›Und wir werden dich nun killen, alte fettgewordene Wachtel Westberlin‹. M. W.s ›Die kalte Haut der Stadt‹. In: Jb. Int. Germ. 28 (1996), H. 1, S. 22–40. – Matthias Kußmann: M. W. In: KLG. – Frank Lingnau: Wenn ich die Wahl habe, Fußball zu spielen oder zu einer Lesung zu gehen, dann fällt mir die Entscheidung leicht. Gespräch mit M. W. In: Am Erker 24 (2001), H. 41, S. 62–67. – Thomas Kraft: M. W. In: LGL. Walter Delabar

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Wilder Mann. – Autor von vier geistlichen, um 1180 in mittelfränkischer Sprache verfassten Gedichten.

Wildermuth

nicht. Die Christliche Lehre reiht assoziativ eine Fülle von Typologien des AT für die christl. Lehre des NT aneinander u. hinterlässt den Eindruck eines spontan aus der Fülle geistl. Gelehrsamkeit improvisierten, fast rhapsod. Vortrags. In einem zweiten Teil, der wohl mit Recht als selbstständig angesehen wird (Vollmann-Profe), predigt das Gedicht die Pflicht des Wissenden zur Weitergabe seiner Weisheit u. geht über zur Skizze einer allg. Tugendlehre.

Die Selbstbezeichnung des Autors der Gedichte Veronica (660 Verse), Vespasian (278 Verse), Van der girheit (424 Verse) u. Christliche Lehre (222 Verse) könnte das Pseudonym eines fahrenden Klerikers (Vaganten) gewesen sein. Der Dichter zeigt ausgedehnte bibl. u. theolog. Kenntnisse u. solche der antiken Literatur (Sallust). Seine Bildung wurde stets unAusgaben: Die Gedichte des Wilden Mannes. terschätzt, weil er sie sehr unbefangen in Hg. Bernard Standring. Tüb. 1963 (Komm.). – seiner volkssprachigen Dichtung einsetzt. Friedrich Maurer (Hg.): Die religiösen Dichtungen Veronica schildert knapp das Leben Jesu mit des 11. u. 12. Jh. Bd. 3, ebd. 1970, Nr. 57–60 (Lit.). Schwerpunkt auf der Passion u. den EreigLiteratur: Francis G. Gentry: Bibliogr. zur nissen nach der Auferstehung. Wie eine der frühmhd. geistl. Dichtung. Bln. 1992, Nr. Wundertaten Jesu wird in diesem Rahmen 1314–1329. – Hartmut Freytag: Der W. M. In: VL. – erzählt, wie Jesus Veronica das Abbild seines Dieter Kartschoke: Der W. M. u. die religiösen BeAntlitzes in einem von ihm benutzten wegungen im 12. Jh. In: Aspekte der Germanistik. Handtuch schenkt, nachdem der Jünger Lu- FS Hans-Friedrich Rosenfeld. Göpp. 1989, kas vergeblich versucht hat, ein Porträt des S. 69–97. – Gisela Vollmann-Profe: Wiederbeginn volkssprachiger Schriftlichkeit [...]. Tüb. 21994, Herrn für sie zu malen. Mit seiner Gabe verS. 147–149, 157–159. Ernst Hellgardt bindet Jesus die Prophezeiung, das Tuch werde nach seinem Tod Wunder wirken. Eingelöst wird das erst in der Vespasian-Erzählung. Der Kaisersohn Titus erfährt auf der Wildermuth, Ottilie, geb. Rooschütz, Suche nach Jesus – als Arzt für seinen * 22.2.1817 Rottenburg/Neckar, † 12.7. schlimm erkrankten Vater Vespasian – von 1877 Tübingen. – Erzählerin, Lyrikerin, dessen Tod. Er findet Veronica, die mit dem Jugendbuchautorin. Tuch den Kaiser heilt u. Rom bekehrt; Vesp- W. wurde als älteste u. einzige Tochter des asian rächt den Tod Jesu durch die Zerstö- Kriminalrats Gottlob Christian Ludwig Roorung Jerusalems. Die Verbindung der beiden schütz u. seiner Frau Eleonore (geb. Scholl) Erzählungen wird der W. M. erst nachträg- geboren. Mit der Berufung des Vaters zum lich hergestellt haben, um aus zwei selbst- Richter an das dortige Oberamtsgericht ständigen kürzeren Vortragsstücken bei pas- wechselte die Familie nach Marbach über, wo sendem Anlass ein längeres zu gewinnen. W. die Volks- u. Haushaltsschule besuchte. Van der girheit u. Christliche Lehre stellen der Die offene, aufgeschlossene Atmosphäre des erzählenden Dichtung des W. M. zwei Lehr- Elternhauses förderte W.s musische. u. litegedichte gegenüber, unter denen das erste rar. Neigung. Gelegentlicher Privatunterricht v. a. das Thema der materiellen Habgier be- bei einem verwandten Geistlichen sowie ein handelt. Das Gedicht ragt unter allen anderen mehrmonatiger Aufenthalt in Stuttgart des W. M.s durch alltagssprachlich-idioma- (1833) vollendeten ihre Ausbildung. 1843 tisch geprägten Ausdruck heraus, bes. aber heiratete W. den späteren Gymnasialprofesdurch die Kreativität seines Bildgebrauchs u. sor Dr. Johann David Wildermuth seiner Allegorese. Traditionelle bibl. Gleich- (1807–1885), mit dem sie nach Tübingen nisvorstellungen werden eigenständig neu übersiedelte, wo das Paar in regem Kontakt gestaltet, allegorisiert, in neuer, origineller mit Literaten, Gelehrten u. Wissenschaftlern Improvisation miteinander verbunden u. auf wie Ludwig Uhland u. Justinus Kerner stand, das moraldidakt. Hauptthema angewendet. mit dem W. einen langjährigen Briefwechsel Auch an zeitsatir. u. dramat. Zügen fehlt es unterhielt (Verehrte Freundin! Wo sind Sie? Jus-

Wildermuth

tinus Kerners Briefwechsel mit O. W. 1853–1862. Hg. Rosemarie Wildermuth mit einem Vorw. von Bernhard Zeller. Stgt. 1996). 1847 debütierte W. mit den Genrebildern aus einer kleinen Stadt in Cottas »Morgenblatt« (Stgt.). Darin setzte sie ihrer Heimatstadt Marbach ein literar. Denkmal. Den eigentl. Durchbruch erzielte sie jedoch mit ihren Bildern und Geschichten aus dem schwäbischen Leben (Stgt. 1852), in denen sich ihre Begabung für das literar. Genrebild erwies. Das alltägl. Leben der kleinen Leute bildet den wiederkehrenden Gegenstand von W.s Prosa. Ihre Figuren, vorwiegend wiedererkennbare Typen, illustrieren die Sorgen u. Nöte der meist ländlichagrarisch geprägten Bevölkerung ihrer schwäb. Heimat u. sind als anschaul. Porträt des Soziallebens einer Epoche von alltags- u. mentalitätsgeschichtl. Wert. Ein christl. Weltbild relativiert die gelegentlich vorgebrachte, moderate Gegenwartskritik. So dominiert in den Dorfgeschichten eine markant teleolog. Ausrichtung. Diese manifestiert sich im uneingeschränkten Glauben an eine göttl. Instanz u. heilsbringende Gerechtigkeit, die das Weltgeschehen lenkt. Dass sich damit zgl. ein pädagog. Interesse verband, förderte ebenso W.s Erfolg bei einem primär jugendl. u. weibl. Publikum wie die sprachlich-formale Gestaltung ihrer Prosa, die in einfachen Erzählmustern realistische mit romantischidyllisierenden Verfahren kombiniert. Literaturhistorisch steht sie der Heimatdichtung des Schwäbischen Biedermeier näher als der engagierten Literatur schreibender Frauen im Kontext der Freiheitsbewegung, insofern sie ein genuin eigenes Rollenmodell für die Schriftstellerin christlich-konservativer Prägung bedient. »Keine Emancipirte u. kein Blaustrumpf« – damit beschrieb sie wohl nicht nur eine Gestalt in ihrer Hausfrau der neuen Zeit (in: Neue Bilder aus Schwaben. Ebd. 1854). Der ausgeprägte Sinn für Komik wie auch die ständige Selbstpersiflage entspricht jedoch nicht dem klischierten Bild. Der ständige Rollenwechsel zwischen erfolgreicher Gelegenheitsdichterin einerseits u. Gattin, Mutter u. Hausfrau andererseits beanspruchte W. zunehmend u. führte im fortgeschrittenen Alter zu Rheumatismus u. einem ausgeprägtem Nervenleiden. Dennoch fand

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W. immer wieder Zeit, im Dienst der weibl. Erziehung u. verarmter Frauen karitativ tätig zu sein. Ausgaben: Werke. 8 Bde., Stgt. 1862. – Jugendschriften. 22 Bde., 1871–1900. – Ges. Werke. Hg. Adelheid Wildermuth. 10 Bde., Stgt. u. a. 1892–94. – Lebenswege – krumme u. gerade. Erzählungen. Hg. Rosemarie Wildermuth. Irdning/ Steiermark 1987. – Briefe: Ach, die Poesie im Leben. O. W.s Briefw. mit ihrem Sohn Hermann. Hg. dies. Pfullingen 1979. Literatur: Bibliografie: Aiga Klotz: Kinder- u. Jugendlit. in Dtschld. 1840–1950. Gesamtverz. der Veröffentlichungen in dt. Sprache. Bd. 5, Stgt. 1999, S. 258–267. – Biografische Literatur: Agnes Willms u. Adelheid Wildermuth: O. W.s Leben. Nach ihren eigenen Aufzeichnungen zusammengestellt u. erg. v. ihren Töchtern. Stgt. 1888. – Theodor Schott: O. W. In: ADB. – Sophie Pataky: O. W. In: Lexikon dt. Frauen der Feder. Hg. dies. Bd. 2, Bln. 1898, S. 436–438. – Franz Brümmer: O. W. In: Ders.: Lexikon der dt. Dichter u. Prosaisten des 19. Jh. 5. Ausg. Bd. 4, Lpz. 1901, S. 349. – Dora Schlatter: Von edlen Frauen. 6 Biogr.n für die reifere Jugend. Basel 1907. – Vera Vollmer: O. W. Dichterin u. Schriftstellerin. 1817–1877. In: Schwäb. Lebensbilder 5 (1950), S. 354–378. – Hildegard Gulde: O. W. u. ihre Zeit. Vortrag anläßlich der Feier zu ihrem 150. Geburtstag. In: Tübinger Bl. 54 (1967), S. 30–36. – Dies.: O. W. Eine schwäb. Hausfrau u. Schriftstellerin. 1817–1877. In: Attempto 63–65 (1978/79), S. 272–281. – Wolfgang Promies: O. W. In: LKJL 3 (1979), S. 804–807. – Peter Härtling: Über O. W. In: Ders.: Zueignung. Über Schrifsteller. Stgt. 1985, S. 70–78. – Rosemarie Wildermuth (Bearb.): O. W. 1817–77. Marbach 1986. – Janette Hudson: ›Sieh so schreib ich Bücher ...‹. O. W. In: Out of Line, ausgefallen. The Paradox of Marginality in the Writings of 19th c. German Woman. Hg. Ruth-Ellen Boetcher Joeres. Amsterd. 1989, S. 41–76. – Hilde D. Kathrein u. Rita Herbig (Hg.): Frauen setzen sich durch. 30 Frauenschicksale. Heilbr. 1992. – Martin Elze: O. W. über Ferdinand Christian Baur. In: Evangelium – Schriftauslegung – Kirche. FS Peter Stuhlmacher. Hg. Jostein Ådna. Gött. 1997, S. 107–111. – Vera Vollmer: O. W. In: Baden-Württemberg. Portraits. Frauengestalten aus fünf Jahrhunderten. Hg. Elisabeth Noelle-Neumann. Stgt. 1999, S. 122–127. – Judith Purver: O. W. (1817–77). ›Ein ungerächtes Opfer‹. In: Denkbilder ... FS Eoin Bourke. Hg. Hermann Rasche u. Christiane Schönfeld. Würzb. 2004, S. 149–154. – Alexander Reck: O. W. In: MetzlerLexikon Autoren. Hg. Bernd Lutz. 3., aktualisierte u. erw. Aufl. Stgt./Weimar 2004, S. 809 f. – Anne-

419 Gabriele Michaelis: Dichterinnen aus drei Jahrhunderten. Lpz. 2009. – Studien zum Werk: Maria Pfadt: O. W. Profile ihrer Kinder- u. Jugendlit. Diss. Ludwigsburg 1994. – Dies.: Außenseiterfiguren bei O. W. – Beispiele aus ihrer Kinder- u. Jugendlit. In: Staatsanzeiger für Baden-Württemberg, Nr. 4, Aug. 1996. – Jutta Krienke: ›Liebste Freundin! Ich will dir gleich schreiben ...‹. Zur Ausbildung des unmittelbaren Erzählens am Beispiel der Verwendung des Briefes in der Kinderlit. des 19. Jh. Ffm. 2001. Eda Sagarra / Julia Ilgner

Wildgans, Anton, * 17.4.1881 Wien, † 3.5. 1932 Mödling bei Wien; Grabstätte: Wien, Zentralfriedhof. – Dramatiker, Lyriker; Jurist. Der Sohn eines Staatsbeamten verlor mit vier Jahren seine Mutter u. mit 17 seinen Vater. Nach dem Besuch des Piaristengymnasiums in Wien studierte er dort wider Willen Jura (1908 Promotion). 1904 unternahm er mit seinem Freund Arthur Trebitsch eine Weltreise, die ihn bis nach Australien führte. Seine Erfahrungen als Untersuchungsrichter (1909–1911) flossen in seine literar. Arbeit ein (Und hättet der Liebe nicht... Bln. 1911; Gedichte. In Ewigkeit Amen. Lpz. 1913. Urauff. Wien 1913). W.’ Gedichtband Herbstfrühling (Bln. 1909) war ein vielversprechender Erfolg, sodass er sich 1911 entschloss, als freier Schriftsteller zu leben. Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs verfasste er zahlreiche Flugblätter mit militanten Gedichten, die in der von Hofmannsthal herausgegebenen Österreichischen Bibliothek (Bd. 15, Wien 1915) erschienen, während W. selbst versuchte, sich einer Einberufung zum »Landsturmdienst ohne Waffe« zu entziehen. Als Dramatiker konnte er sich mit dem Trauerspiel Armut (Lpz. 1914. Urauff. Wien, Deutsches Volkstheater 1915; 1916 Bauernfeld- u. Raimund-Preis u. Preis des Deutschen Volkstheaters) durchsetzen, das auch autobiogr. Momente, etwa den frühen Tod des Vaters, verarbeitete u. bis heute aufgeführt wird. Die Tragödie Liebe (Lpz. 1916. 31916), an der W. unter dem Arbeitstitel Die irdische Maria zu arbeiten begonnen hatte, setzt verkürzt u. in dramat. Zuspitzung Theoreme um, wie sie Otto Weininger entwickelt hatte. In der Tragödie Dies irae (ebd.

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1918), 1919 am Burgtheater uraufgeführt u. vom Wiener Publikum »wie eine Genie-Offenbarung« (Polgar) aufgenommen, rechnet ein mittelloser Student mit der bürgerl. Moral der Familie Fallmer ab, die ihren Sohn durch Lieblosigkeit u. Herrschsucht in den Freitod getrieben hatte. 1921 zum Direktor des Burgtheaters bestellt, schied W. nach zwei Jahren wieder aus u. übernahm 1930, bereits schwer erkrankt, erneut diesen Posten. W.’ Dramen kennzeichnet ein stilistischer Synkretismus, der in die vorwiegend naturalistische, oft zur Metrisierung neigende Schreibweise klassizist. Formen (Anleihen beim Sturm und Drang u. der Weimarer Klassik) integriert. Seine selten innovative Lyrik entsprach dem durchschnittl. Erwartungshorizont des bildungsbürgerl. Lesers seiner Zeit u. fand rasch Eingang in Anthologien u. Schullesebücher. Robert Musil notierte im Exil, 1932 Wien verlassen zu haben, »weil Rot und Schwarz darin einig gewesen sind, in Wildgans einen großen österreichischen Dichter verloren zu haben«. 1962 vergab die Vereinigung österreichischer Industrieller zum ersten Mal den Anton-Wildgans-Preis der Österreichischen Industrie. Trotz einer noch immer aktiven AntonWildgans-Gesellschaft gibt es heute kein breiteres Interesse an W.’ Werk. Weitere Werke: Ausgaben: Ein Leben in Briefen. Hg. Lilly Wildgans. 3 Bde., Wien 1947. – Sämtl. Werke. Hist.-krit. Ausg. in 8 Bdn. unter Mitwirkung v. Otto Rommel hg. v. L. Wildgans. Ebd. 1948 ff. – A. W. – Tiefer Blick. Hg. Evelyn A. Hahnenkamp u. Petra Sela. Ebd. 2002 (Gedichte, Briefu. Tagebuchauszüge). – Einzeltitel: Vom Wege. Dresden 1903 (L.). – Die Sonette an Ead. Lpz. 1913. – Kain. Ein myst. Gedicht. Ebd. 1920. – Kirbisch oder Der Gendarm, die Schande oder das Glück. Ebd. 1927. – Rede über Österr. Wien 1930. Literatur: Klaus Heydemann: Reden über Österr. Von W. zu Brandstätter. In: Staat u. Gesellsch. in der modernen österr. Lit. Wien 1977, S. 79–92. – Heinz Gerstinger: Der Dramatiker A. W. Innsbr. 1981. – Studien zu A. W. Anläßlich des 100. Jahrestages seiner Geburt. In: Morgen 5 (1981), S. 191–224. – Albert Berger: Lyr. Zurüstung der ›Österreich-Idee‹. A. W. u. Hugo v. Hofmannsthal. In: Österr. u. der Große Krieg 1914–1918. Wien 1989, S. 144–152. – Franz Hadriga: Drama Burgtheaterdirektion. Vom Scheitern des Idealisten

Wilhelm von Hirnkofen A. W. Ebd. 1989. – Ders. u. Eva Maria Schwalb (Hg.): A. W. Ein Lesebuch. Ebd. 1994. – Grazia Pulvirenti: Die ›Verwirrungen‹ der Tradition. Zum Werk v. A. W. In: Expressionismus in Österr. Hg. Klaus Amann u. Armin A. Wallas. Ebd. 1994, S. 600–611. – Wendelin Schmidt-Dengler: Das langsame Verschwinden des A. W. aus der Literaturgesch. In: Die einen raus – die anderen rein. Hg. ders. Bln. 1994, S. 71–84. – Carmen Friedel: Der junge A. W. Von der Erfahrung gehemmten Lebens zum Ideal der Dichtkunst als Lebenshilfe. Ffm. u. a. 1995. 2., überarb. Aufl. 1999. – Erwin Trebitsch: A. W. A Critical Reappraisal of the Reception of his Writings. Diss. London 1997. – Norbert Leser: Hugo v. Hofmannsthal u. A. W. In: Mitt.en aus dem Brenner-Archiv 19 (2000), S. 20–29. Johann Sonnleitner / Red.

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Histori Herculis. W. steht mit seinem Übersetzungsstil in enger Nachfolge des Niklas von Wyle. Ausgaben: Henry Ernest Sigerist (Hg.): The Earliest Printed Book on Wine, by Arnaldus of Villanova. New York 1943 (Faks. der Ausg. v. 1478). – Der Weintraktat des Arnoldus de Villa Nova. Übers. aus dem Lat. v. W. v. H. In Faks. hg. u. mit einem Vorw. vers. v. Lothar Hempe. Stgt. 1956. – GW 2537–2547. – VD 16, A 3659–3675. – Hain 204. Literatur: Gerhard Eis: Nachträge zum VL. In: Studia neophilologica 31 (1959), 2, S. 137 f. – Dieter Wuttke: Die Histori Herculis. Köln/Graz 1964, S. 72 f. – Gundolf Keil: Arnald v. Villanova. In: VL. – Paul Weinig: Aeneas Silvius Piccolominis ›De curialium miseriis‹ deutsch. In: ZfdA 120 (1991), S. 73–82. – Franz-Josef Worstbrock: W. v. H. In: VL. Paul Weinig / Red.

Wilhelm von Hirnkofen, genannt Rennwart, * um die Mitte des 15. Jh. Wilhelm, Richard, * 10.5.1873 Stuttgart, Höchstadt/Aisch. – Übersetzer; Jurist u. † 2.3.1930 Tübingen. – Sinologe. Anwalt, Landvogt. W., dessen Biografie u. Werk noch unerforscht sind, ist nach eigenem Bekunden in Ulm aufgewachsen u. hat dort vermutlich eine Kanzleiausbildung absolviert. 1478 oder kurz davor trat er in die Dienste der Stadt Nürnberg, wo er als Jurist u. Anwalt zwischen 1479 u. 1488 bezeugt ist. Unter anderem vertrat er die Nürnberger Interessen am Hof Herzog Sigmunds des Münzreichen in Innsbruck. Spätestens seit 1488 u. mindestens bis 1491 war er Landvogt in Höchstadt/Aisch. W. ist bekannt als Übersetzer zweier Werke: des Liber de vinis Arnalds von Villanova aus dem frühen 14. Jh. (Teilübersetzung) u. des Brieftraktats De curialium miseriis Piccolominis von 1444. Beide Übersetzungen entstanden 1478, zu Anfang von W.s Tätigkeit für die Stadt Nürnberg, u. erschienen im selben Jahr kurz nacheinander bei Konrad Fyner in Esslingen im Druck. Die dt. Fassung des Liber de vinis, dem Nürnberger Rat gewidmet, hatte mit 21 Ausgaben bis 1550 überaus großen Erfolg. Die Übersetzung des Traktats De curialium miseriis, die W. auf Wunsch der Nürnberger Kanzleiangehörigen anfertigte, erlebte nur eine Auflage, von der heute lediglich vier Exemplare erhalten sind. Teile ihrer Widmungsvorrede entlehnte Pangratz Bernhaupt, genannt Schwenter, für seine

W. ging 1899 im Auftrag des Allgemeinen Evangelisch-Protestantischen Missionsvereins als Pfarrer in die damalige dt. Kolonie Tsingtau. 1921 wurde er wissenschaftl. Beirat an der Deutschen Gesandtschaft in Peking. 1922–1924 nahm er eine Professur für dt. Literatur an der Pekinger Reichsuniversität wahr. Nach Deutschland zurückgekehrt, übernahm er eine für ihn gestiftete sinolog. Professur an der Universität Frankfurt/Main (Ordinarius 1927) u. baute gleichzeitig das im Zweiten Weltkrieg zerstörte – China-Institut auf, dessen erster Direktor er wurde. Durch seine umfangreiche publizistische, akadem. u. Vortragstätigkeit beeinflusste W. wesentlich die neue u. intensive China-Rezeption in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg. Er begründete u. leitete mehrere Zeitschriften: »Vertrauliche Mitteilungen für die Freunde unserer Arbeit in China« (Tsingtau 1908–14), »Pekinger Abende« (Peking 1922–24) u. das Organ des China-Instituts »Sinica« (Ffm. 1925–42), die eine Fülle von landeskundl. Arbeiten u. Übersetzungen aus der chines. Literatur enthalten. Große Bedeutung erlangten W.s Übersetzungen der alten chines. Philosophen, v. a. der konfuzian. Klassiker: Kung Fu Tse: Gespräche (Lun-yü) (Jena 1910), Mong Dsi (Jena 1915), I Ging. Das Buch der Wandlungen (ebd. 1924); Letzteres be-

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schäftigte Hermann Hesse u. C. G. Jung. Li Gi. Vermittler chines. Geistesguts. Nettetal 2008. – Das Buch der Sitte des älteren und jüngeren Dai Lutz Drescher (Red.): R. W. Pionier im Dialog mit (ebd. 1930) ist eine Übersetzung des chines. Chinas Traditionen. 2 Bde., Stgt. 2009. – Adrian Hsia: Goethe, Hesse, R. W. u. die Weltlit. In: HerRitualklassikers. mann-Hesse-Jb. 4 (2009), S. 41–58. Auch die wichtigsten taoistischen PhilosoHartmut Walravens / Red. phen übersetzte W.: Laotse: Tao te king. Das Buch des Alten vom Sinn und Leben (Jena 1911), Liä Dsi: Das wahre Buch vom quellenden Urgrund Wilhelmi, Jakob, vormals: Jakob Wilhelm (ebd. 1912), Dschuang Dsi: Das wahre Buch vom Ritz, * Mitte 16. Jh. Schweiz, † Anfang 17. südlichen Blütenland (ebd. 1912) u. zusammen Jh. Luzern (?). – Dramatiker. mit C. G. Jung Das Geheimnis der goldenen Blüte (Mchn. 1929). Die dt. Fassung von Frühling Der Name des Schulmeisters des Luzerner und Herbst des Lü Bu We (ebd. 1928), eines Kollegiatstiftes St. Leodegar im Hof, der dort enzyklopädisch-synkretistischen Kompendi- 1571–1604 wirkte, ist in Selbstnennungen u. ums der Weltweisheit aus dem 3. Jh. v. Chr., Luzerner Quellen als Jakob Wilhelmi, Jakoist eine Pionierleistung u. war lange die ein- bus Wilhelminus u. Magister Jacobus Wilzige Übersetzung in eine westl. Sprache. helmi von Althusen angegeben. Nachdem Diese Übersetzungen u. Interpretationen, die Morel (1861) ihn – wohl fälschlich – als Jacob z. T. aus intensiver Zusammenarbeit mit Wilhelm Ritzius verzeichnet hatte, wurde er chines. Gelehrten hervorgingen, prägten das in der Forschung zumeist unter dem Namen dt. Chinabild entscheidend u. haben bis heute Ritz geführt. Als Altgläubiger trat W. mit religiösen fast alle den Rang von deutschsprachigen Standardausgaben. Sie werden bis heute – Schauspielen, die (teils fragmentarisch) in häufig unter leicht abgewandelten Titeln – Handschriften der Zentral- und Hochschulbibliothek Luzern überliefert sind, für die neu aufgelegt. Weitere Werke: Die Seele Chinas. Bln. 1925. kath. Restauration ein. Wunderglaube u. Leicht rev. Ausg. Wiesb. 2009. – Gesch. der chines. Heiligenkult werden durch die DramatisieKultur. Mchn. 1928. – Die chines. Lit. Potsdam rungen legendarischer Stoffe demonstrativ 1930. – Der Mensch u. das Sein. Jena 1931 (Auf- bestätigt. Mit Bürgern der Stadt veranstaltete sätze). – Botschafter zweier Welten. Ausw. u. Einl. W. auf dem Luzerner Weinmarkt, dem trav. Wolfgang Bauer. Düsseld. 1973 (Textslg. mit ditionellen Spielort der seit 1453 etablierten Bibliogr.). – Chines. Philosophie. Eine Einf. Wiesb. Luzerner Oster-/Passionsspiele, Aufführun2007. – Übersetzungen: Chines. Volksmärchen. Jena gen seiner Stücke, die eine außerordentl. 1914. – Chinesisch-dt. Jahres- u. Tageszeiten. Ebd. Breitenwirkung erzielten. Die Texte des 1585 1922 (Anth. jahreszeitlich geordneter chines. Ge(eintägig) u. 1599 (zweitägig mit Erweitedichte). rungen) gespielten, in biblisch-apokrypher Literatur: Salome Wilhelm: R. W., der geistige Mittler zwischen China u. Europa. Mit einer Einl. v. Stofftradition stehenden Apostelspiels (HimWalter F. Otto. Ebd. 1956 (aus Tagebuchnotizen). – melfahrt Christi; Wirken u. Martyrium der Lydia Gerber: Von Voskamps ›heidn. Treiben‹ u. Apostel nach Christi Tod bis zur Zerstörung W.s ›höherem China‹. Die Berichterstattung dt. Jerusalems) u. des 1596 (zweitägig) aufgeprotestant. Missionare aus dem dt. Pachtgebiet führten St. Wilhelm (Tyrannenherrschaft u. Kiautschou 1898–1914. Hbg. 2002. Nachdr. Gos- Bekehrung Wilhelms von Aquitanien nach senberg 2008. – Klaus Hirsch (Hg.): R. W. Bot- dem 1570–75 erschienen, gegenreformatoschafter zweier Welten. Sinologe u. Missionar risch geprägten Legendar des Laurentius Suzwischen China u. Europa. Ffm./London 2003. – rius) basieren auf Spielbüchern eines nicht Dorothea Wippermann (Hg.): Interkulturalität im bekannten Verfassers aus Beromünster. Von frühen 20. Jh.: R. W. – Theologe, Missionar u. Sinologe. Ebd. 2007. – Georg Ebertshäuser u. D. W. selbst stammt vermutlich das 1606 inszeWippermann (Hg.): Wege u. Kreuzungen der Chi- nierte Spiel von St. Leodegar, eine Dramatisienakunde an der Johann-Wolfgang-Goethe-Univer- rung der Vita (Verfolgung, Martyrium u. sität Frankfurt/M. Ffm. 2007. – Hartmut Walravens ›miracula post mortem‹) des Luzerner Stadt(Hg.): R. W. (1873–1930). Missionar in China u. patrons nach einer bislang nicht identifizier-

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ten hagiografischen Quelle. Möglicherweise der Frühen Neuzeit. Histor. Abriß. 2 Bde., Zürich leitete W. auch die Aufführung des Kathari- 2009. Elke Ukena-Best naspiels von 1594, dessen Text nicht erhalten ist. Literatur- u. theatergeschichtlich aufWilk, Werner, * 6.9.1900 Neubrandenschlussreich ist der an W.s dramat. Schaffen burg/Mecklenburg, † 14.1.1970 (West-) unter humanistischem u. jesuitischem EinBerlin; Grabstätte: ebd., Neuer Friedhof fluss sich abzeichnende Übergang vom mitder St.-Matthäi-Gemeinde. – Erzähler, telalterl. Simultanbühnenprinzip mit der Romancier, Hörspielautor. Vielheit paralleler u. sukzessiver Handlungen zur Einortbühne mit durchgängiger Hand- Bis 1927 arbeitete der gelernte Konstrukteur lung u. Geschehenskonzentration auf die als Schauspieler, danach als Redakteur, VerHauptfigur. Der für den zweiten Spieltag des lagslektor u. freier Schriftsteller. Fast ein Wilhelm in der ZHB Luzern erhaltene Bühn- Jahrzehnt war er Leiter der Literaturabteienplan ermöglicht eine Rekonstruktion der lung des RIAS Berlin. Neben seinen spannenden erzählerischen Werken verfasste er szen. Disposition. Überlieferung und Ausgaben: Apostelspiel: Hörspiele sowie Kritiken. – Die Novelle Der ZHB Luzern, Ms 175 fol. (unediert). – St. Wilhelm: Verrat (Gütersloh 1957) erzählt von der WieZHB Luzern, Ms 176 fol. (1. Spieltag). – Alois derbegegnung zweier Kriegskameraden acht Luetolf: Über ein Schausp. v. St. Wilhelm. In: Ar- Jahre nach Kriegsende u. von der Aufklärung chiv 1 (1874), S. 80–82 (Textauszug). – Carl Nies- eines vermeintl. Verrats. In W.s Werken geht sen: Das Bühnenbild. Bonn/Lpz. 1924, Tafel 7, es meist um Kriegs- u. Nachkriegsschicksale, Abb. 7 (Bühnenplan des 2. Tages). – Christiane so im Roman ... hinab gen Jericho (Witten/Bln. Oppikofer-Dedie: St. Wilhelmspiel v. 1596, aufge1960). führt in Luzern unter der Spielleitung v. Magister Jakob Wilhelmi (Ritz). Lizentiatsarbeit Univ. Zürich 1980 (Transkription des Textfragments des 1. Tages). – John E. Tailby: Text, Bühnenanweisungen u. Bewegungen im Luzerner Wilhelmspiel v. 1596. In: ›Et respondeat‹. Studien zum dt. Theater des MA. FS Johan Nowé. Hg. Katja Scheel. Leuven 2002, S. 195–214 (Textauszüge). – St. Leodegar: ZHB Luzern, Ms. 184 fol. (2. Spieltag; unediert).

Literatur: Gall Morel: Das geistl. Drama, vom 12. bis 19. Jh., in den fünf Orten u. bes. in Einsiedeln. In: Der Geschichtsfreund 17 (1861), S. 75–144. – Jakob Baechtold: Gesch. der Dt. Lit. in der Schweiz. Frauenfeld 1892, S. 386, Anmerkungen S. 106–109. – P[eter] X[aver] Weber: Beiträge zur älteren Luzerner Bildungs- u. Schulgesch. In: Geschichtsfreund 79 (1924), S. 1–76. – Oskar Eberle: Theatergesch. der innern Schweiz. Königsb. 1929, S. 26–29. – John E. Tailby: Berührungspunkte zwischen Passionsspiel u. Heiligenspiel in Luzern am Ende des 16. Jh. In: Leuvense Bijdragen 90 (2001), S. 249–261. – Ders.: Die Kochszene im Luzerner Wilhelmspiel (1596). In: Der kom. Körper. Hg. Eva Erdmann. Bielef. 2003, S. 89–94. – Ders.: Ein vernachlässigter Luzerner Bühnenplan. In: Ritual u. Inszenierung. Geistl. u. weltl. Drama des MA u. der Frühen Neuzeit. Hg. Hans-Joachim Ziegeler. Tüb. 2004, S. 255–260. – Heidy GrecoKaufmann: ›Zuo der Eere Gottes, vfferbuwung dess mentschen vnd der statt Lucern lob‹. Theater u. szen. Vorgänge in der Stadt Luzern im SpätMA u. in

Weitere Werke: An der Teufelsleine. Potsdam 1949 (E.en). – Wesenholz. Ebd. 1949 (R.). – Zwischen zwei Ufern. Witten/Bln. 1954 (E.en). – Wunder werfen Schatten. Gütersloh 1958 (R.). – Hellriegel. Ebd. 1959 (N.). – Fortunas Gebrechen. Witten/Bln. 1962 (E.en). – Werner Bergengruen. Bln. 1968 (Ess.). Literatur: Monika Melchert: Der Zeitgeschichtsroman am Beispiel v. W. W. u. Hugo Hartung. In: Hoffnung u. Erinnerung. Potsdamer Lit. 1945–1950. Texte u. Betrachtungen. Hg. Mathias Iven. Bln. 1998, S. 178–187. – Dies.: W. W. zum 100. Geburtstag. In: Mitt.en der Staatsbibl. zu Berlin N. F. 10 (2001), Nr. 1, S. 83–85. – Barbara Wilk-Mincu: Mit dem Jahrhundert. Eine Ausstellung zum 100. Geburtstag des Schriftstellers W. W. (1900–1970). In: ebd., S. 86–110. Walter Olma

Wilker, Gertrud, geb. Hürsch, * 18.3.1924 Solothurn, † 25.9.1984 Herrenschwanden/Kt. Bern. – Erzählerin, Lyrikerin. Nach dem Studium der Germanistik, Psychologie u. Kunstgeschichte in Bern u. Zürich (1950 Promotion über Gehalt und Form im deutschen Sonett von Goethe bis Rilke. Bern 1952) unterrichtete W. fünf Jahre in Bern. Sie war verheiratet mit dem Ordinarius für Mathematik, Peter Wilker. W. erhielt u. a. 1980 den

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Preis der Schweizerischen Schillergesellschaft u. 1982 den Literaturpreis des Kantons Bern. W. gehört mit Silja Walter u. Erika Burkart zu den wenigen Frauen, die sich in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg in der deutsch-schweizerischen Literatur zu Wort meldeten. Die schwierige Rolle zwischen literar. Arbeit u. traditionellen Mutterpflichten, wie sie etwa im Gedicht aus dem Nachlass Beredt oder schweigsam aufscheint (»Dann holt ich Kartoffeln im Keller / und dachte während des Schälens nach / über schöne und unschöne Verse«), thematisierte W. immer wieder eindringlich, so auch gegen Ende ihres literar. Schaffens nochmals in Blick auf meinesgleichen. 28 Frauengeschichten (Frauenfeld 1979), in denen sie Möglichkeiten weibl. Identität durchspielt. Ihren ersten Roman legte W. als 42-Jährige vor: Elegie auf die Zukunft (Zürich 1966. Neuaufl. u. d. T. Wolfsschatten. Frauenfeld 1980). Es ist die Familiengeschichte der Steinbruchbesitzer Conradi, die in dem Versuch scheitern, die Zukunft zu steuern. Zwei Jahre später erschien eine Sammlung einzelner Prosastücke (Mimikriparadies, Schwarze Stimmen), die, als Partikel, ein Bild Amerikas in der Vorvietnamzeit abgeben. Collages USA (Zürich 1968) ist der Reflex eines zweijährigen Amerikaaufenthalts während der Gastprofessur ihres Mannes. Einsamkeit u. Isolation in der Fremde, aber auch Selbstfindung in der Sprache u. Versicherung der Identität im Schreiben sind die für W.s gesamtes späteres Werk entscheidenden Folgen. Sprachreflexion u. radikaler Umgang mit Sprachmaterial – um die Diskrepanz zwischen Leben u. Schreiben zu überwinden – bestimmen die Kurzprosasammlung Einen Vater aus Wörtern machen. Beschriebenes, Erzähltes, Abgebildetes (ebd. 1970). Sprache als Mittel der präzisen Wahrnehmung der Gegenwart u. gesellschaftl. Veränderungen prägt auch den Roman Altläger bei kleinem Feuer (ebd. 1971), der dem Einbruch moderner Industrie u. – mit der Kommune – unkonventioneller Lebensformen in ein traditionelles Bauerndorf nachgeht – ein Thema, das W. mit der Erzählung Jota (ebd. 1973), dem Schicksal eines »Blumenkindes« in der bürgerl., städt. Gesellschaft, nochmals aufnimmt. Schonungs-

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loses Erkunden der Realität u. Erkennen des Verborgenen mittels Sprache sind die Grundbewegungen, die die u. d. T. Winterdorf (Frauenfeld 1977) zusammengefassten Erzählungen vorantreiben. Sie thematisieren das Nachdenken über einen imaginären Ort (Winterdorf), das Leben einer Frau (Flaschenpost) u. die Orte der Kindheit (Worum denn darum) u. gehören zu den Höhepunkten im literar. Schaffen W.s. 1993 beklagte Beatrice Eichmann-Leutenegger das geringe wissenschaftl. Interesse an den Werken W.s. Als mögl. Forschungsaufgaben nennt sie die Untersuchung der Entstehungsgeschichte der Gedichte, die sich über Jahre hinweg nachverfolgen lässt. Ein weiteres Desiderat sieht sie darin, den Einfluss ihrer Vorbilder Virginia Woolf u. Paula Modersohn-Becker zu erforschen. Christa Grötzinger Strupler untersucht in ihrer Studie »Aber ist es möglich, Leben im nachhinein durch Wörter wieder zu beleben?« (Bern u. a. 2004) ausgewählte Kurzprosatexte der Autorin u. beschreibt den im Schweizerischen Literaturarchiv befindl. Nachlass. Im Anhang werden die vier unveröffentlichten Kurzprosatexte Im Wasserspiegel, Aus einem Privatleben, An diesem kalten Morgen u. Vita mit Fussnoten abgedruckt; zudem wird das Manuskript Flatters. Siegreiche Niederlage transkribiert. Weitere Werke: Der Drachen. St. Gallen 1959 (E.). – Vier Gedichte. Zürich 1966. – Nachleben. Frauenfeld 1980 (R.). – Leute ich lebe. Ebd. 1983 (L. u. Songs). – Zwölf Ansichten des Fujiama. Bern 1985 (L.). – Elegie auf die Zukunft. Ein Lesebuch. Frauenfeld 1990. – (Hg.): Kursbuch für Mädchen. Vorw. Luise Rinser. Frauenfeld 1978. Literatur: Cantiena Benita: G. W. In: Schweizer Schriftsteller persönlich. Interviews. Frauenfeld/ Stgt. 1983, S. 142–159. – Elsbeth Pulver: Nachruf auf G. W. In: Antworten. Die Lit. der deutschsprachigen Schweiz in den achtziger Jahren. Hg. Beatrice v. Matt. Zürich 1991, S. 445–449. – Beatrice Eichmann-Leutenegger: G. W. (1924–1984). ›Liebes Leben, zärtlich bedrückt uns dein Übergewicht ...‹. In: Grenzfall Lit. Die Sinnfrage in der modernen Lit. der viersprachigen Schweiz. Hg. Joseph Bättig u. Stephan Leimgruber. Freib./Schweiz 1993, S. 350–362. – Dies.: ›Beglückt-verzweifeltvertrauend.‹ Eine Annäherung an G. W. Nachw. zu: ›Elegie auf die Zukunft‹. a. a. O., S. 279–341. – E. Pulver: ›Wir, Ausgehungerte der Erde ...‹ Ess. über

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G. W. In: drehpunkt (2002), H. 112, S. 5–41. – Romey Sabalius: Zwischen Freiheitstraum u. Heimweh. Das Amerikabild zweier Schweizer Schriftstellerinnen. In: Die Lektüre der Welt. Zur Theorie, Gesch. u. Soziologie kultureller Praxis. FS Walter Veit. Hg. Helmut Heinze u. a. Ffm u. a. 2004, S. 453–461. – Vesna Kondricˇ Horvat: Der Roman als Ausdruck des kulturellen Pluralismus: Überlegungen anhand der Romane ›Die Reise nach Trient‹ v. Kajetan Kovicˇ u. ›Nachleben‹ v. G. W. In: German Studies Review 32 (2009), H. 1, S. 51–64. Pia Reinacher / Elke Kasper

Wilkow, Willkaw, Wilkau, Christoph, * 3.2. 1598 Königsberg, † 2.11.1647 Königsberg. – Lyriker. W. wurde am 28.7.1609 pro forma u. (»in honorem parentis Domini Stephani Wilkau pastoris Polonici«) gratis in die Matrikel der Universität Königsberg aufgenommen. Ab 1626 wirkte er als außerordentl. Kanzlist in Königsberg, 1629–1641 als Prorektor am Löbenicht’schen Gymnasium u. erhielt 1638 die Würde eines kgl. poln. Notars. Seine an Opitz geschulten Lieder u. Gedichte weisen ihn als Mitgl. des Königsberger Dichterkreises aus. Die Casualcarmina erschienen meist in Einzeldrucken, teils nur mit den Initialen des Dichters versehen. Die meisten wurden von Johann Stobaeus vertont, einige von Heinrich Albert. Dach bedichtete W. bei dessen Hochzeit u. Tod. Über seine Zeit hinaus hat W. kaum gewirkt. Johann Caspar Wetzel nennt im dritten Teil seiner Hymnopoeographia (Herrnstadt 1724, S. 428) das im Lemgoischen Gesangbuch (1717) abgedruckte Kirchenlied »Wie ist der Mensch doch so bethört, daß er das Sterben scheuet« u. weist auf W.s Beitrag in Alberts Arien hin. Bereits für ihn ist W. jedoch »ein unbekannter Auctor«. Ausgaben: Leopold Hermann Fischer: Gedichte des Königsberger Dichterkreises [...]. Halle 1884. – Fischer/Tümpel 3, S. 37 f. – Alfred Kelletat: Simon Dach u. der Königsberger Dichterkreis. Stgt. 1986, S. 259–262. Literatur: Fritz Gause: C. W. In: Altpr. Biogr., Bd. 2, S. 806. – Heiduk/Neumeister, S. 116, 259, 495. – Simon Dach (1605–1659). Werk u. Nachwirken. Hg. Axel E. Walter. Tüb. 2008, Register. Ulrich Maché / Red.

Willamov, Johann Gottlieb, * 15.1.1736 Mohrungen, † 6.5.1777 St. Petersburg. – Lyriker, Fabeldichter. W. studierte in Königsberg Theologie u. wirkte seit 1758 als Lehrer, seit 1761 als Professor für antike Sprachen u. schöne Wissenschaften am Gymnasium zu Thorn, wo er 1762–1766 die Zeitschrift »Thornische Nachrichten von gelehrten Sachen« herausgab. 1767 folgte er einem Ruf als Direktor der dt. Schule in St. Petersburg – ein Verwaltungsamt, dem der Gelehrte nicht gewachsen war u. aus dem er 1772 entlassen wurde. Der Versuch, sich durch die Herausgabe der Petersburger Wochenschrift »Spaziergänge« (1772) über Wasser zu halten, scheiterte. W. musste als Rechen- u. Zeichenlehrer an einem Töchterstift sein Leben fristen. W. hat sich in vielen Gattungen versucht: in geistl. u. anakreont. Liedern, in Epigramm, Idylle, Satire, Romanze, komischem Epos, sogar in einem Schauspiel, u. dabei oft Vorzügliches geleistet. Seinen Platz in der Literaturgeschichte verdankt W. jedoch nur seinen 53 Dialogischen Fabeln (Bln. 1765) u. vor allem der Erneuerung einer verschollenen altgriech. Gattung, den Dithyramben (ebd. 1763. 21766). Dieses Bändchen mit seinen zehn (bzw. zwölf) hymn. Gesängen, deren trunkene Begeisterung keinen Reim, kein Metrum duldet u. neben Anakoluthen kühnste Wortschöpfungen verlangt, wurde von allen führenden Zeitschriften besprochen (vom jüngeren Landsmann Herder gleich zweimal), der Verfasser, trotz mancher Kritik, als Originalgenie, als »Deutscher Pindar« gefeiert. Folgten die Gesänge zunächst noch einem pindarischen Strophenschema, so durchbrach W. 1766 auch diese Formschranke u. bot fünf Gesänge in freien Rhythmen, wie sie vor ihm nur Klopstock (von dem W. weitgehend unabhängig ist) in sechs Hymnen im »Nordischen Aufseher« (1758, 1760) gewagt hatte. (Auch diese Auflage wurde von Herder rezensiert.) In den Schriften von 1776 erscheinen u. d. T. Dithyramben nur noch diese fünf Gesänge; die übrigen stroph. Hymnen werden den Enkomien bzw. den (pindarischen) Oden zugeteilt. Die Dithyramben W.s sind kein

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Ausdruck persönl. Lebensgefühls, sondern akadem. Stilübungen u. klingen gekünstelt. Das große Interesse v. a. des jungen Herder (der sich, von W. angeregt, in eigenen freien Rhythmen versuchte) aber beweist, dass hier eine Form geschaffen wurde, in der sich die Gefühlsüberschwänge etwa des Frankfurter Goethe 1772/73 entladen konnten. Daneben ist W. der Dichter, der die spätere Pindarbegeisterung einleitete. Weitere Werke: Batrachomyomachie, oder Krieg der Frösche u. Mäuse. Griech. u. dt. St. Petersburg 1771. – Sämmtl. poet. Schriften. Lpz. 1779 (Enkomien, Dithyramben, Oden u. Lieder; noch v. W. selbst zusammengestellt). – Der standhafte Ehemann. Ein Schausp. In: Oberschles. Monathschr. Bd. 2, Grottkau 1789. – Sämmtl. Poet. Schr.en. 2 Bde., Wien 1793/94 (umfangreichste Ausg., aber v. fremder Hand bearb.). – J. G. W.’s sämmtl. Poetische Schr.en. Mikrofiche-Ausg. Mchn. u. a. 1991. Online-Ausg. Mchn. 2007. Literatur: Johann Gottfried Herder: Fragmente 2. 1767. In: Sämtl. Werke. Hg. Bernhard Suphan. Bd. 1. Hg. Carl Redlich. Hildesh. u. a. 1994, S. 307 ff. – Konrad Speiser: Der Dithyrambendichter J. G. W. Programmschr. St. Paul/Kärnten 1912. – Rudolf Schreck: J. G. W. Heidelb. 1913. – Peter Drews: J. G. W. – ein dt. Dichter im Rußland Katharinas II. In: Germanoslavica 3 (1996), 2, S. 209–222. – Karl Willamowius: J. G. W. Leben u. Werke. Dülmen 2001. Alfred Anger / Red.

Wille, Bruno, * 6.2.1860 Magdeburg, † 4.9.1928 Schloss Senftenau bei Lindau. – Weltanschauungsschriftsteller; Lyriker, Romancier. W.s Jugend in Magdeburg, Tübingen u. Aachen beschreibt der kulturkrit. Roman Glasberg (Bln. 1920). Während seiner Studienzeit in Bonn ließ sich W. von dem Arbeiterphilosophen Joseph Dietzgen in den Marxismus einführen. Nach Hauslehrertätigkeit in Bukarest u. Reisen nach Konstantinopel u. Pergamon promovierte er 1888 über Thomas Hobbes. Er wurde Hilfsredakteur bei den von Georg Ledebour redigierten »Demokratischen Blättern« u. im Hauptberuf Religionslehrer u. Prediger der »Freireligiösen Gemeinde«, Redner auf Gewerkschaftsversammlungen u. vor Arbeiterbildungsvereinen. Das Ziel, das arbeitende Volk an Kunst u.

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Literatur teilhaben zu lassen, verwirklichte W. 1890 mit der Gründung der »Freien Volksbühne«, deren Organisationsschema u. Abonnementsystem sich in den Grundzügen über ein Jahrhundert erhalten hat. Nach Auseinandersetzungen mit der SPD schied er 1892 mit einigen Freunden aus u. gründete die »Neue freie Volksbühne«. Diesem polit. Interesse verdankte sich auch noch die Schrift Philosophie der Befreiung durch das reine Mittel. Beiträge zur Pädagogik des Menschengeschlechts (Bln. 1894), in der W. jedoch bereits den für die jüngstdt. Dichtergeneration so typischen Schritt vom Sozialismus zu einem von Nietzsche u. Stirner beeinflussten Individualismus vollzog. Im Berliner Verein »Durch« (1886–1889) trat er in Kontakt mit den Naturalisten Carl u. Gerhart Hauptmann, den Brüdern Hart, mit Johannes Schlaf, Arno Holz, Wilhelm Bölsche u. John Henry Mackay. 1888 gründete er den politischer ausgerichteten »Genie-Convent« u. den »Ethischen Club«; 1890 zog er in den Vorort Friedrichshagen, »eine Art Kamerun für die großstadtmüde junge Berliner Literatur« (Julius Hart). Zum »Friedrichshagener Dichterkreis«, der das Ende der naturalistischen Bewegung bezeichnet, stießen Richard Strauss, Otto Erich Hartleben, Wedekind u. Strindberg. Hier entwickelte W. gemeinsam mit Bölsche eine von Darwin, Haeckel u. Fechner beeinflusste panpsychist. Weltanschauung. Gegen christl. Kirchenverständnis einerseits u. den wissenschaftl. Materialismus des 19. Jh. andererseits wurde hier der Weg zu einer überkonfessionellen, an der Natur orientierten Frömmigkeit gesucht, für die man u. a. Giordano Bruno zum Schutzpatron wählte (Giordano-Bruno-Bund, gegr. 1900). 1892 wurde W. in den Vorstand des Deutschen Freidenkerbundes berufen, dessen Bundesorgan »Der Freidenker« er zeitweilig redigierte. Seiner im Grunde religiösen Haltung zum Trotz wurde er mehrfach gerichtlich belangt u. verbüßte verschiedene kleinere Gefängnisstrafen, die er literarisch verarbeitete (Sibirien in Preußen. [...] Ein Weckruf aus dem Gefängnis. Stgt. 1896. Das Gefängnis zum Preußischen Adler. Eine selbsterlebte Schildbürgerei. Jena 1914. Neudr. Bln. 1985).

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Die seine weltanschaul. Schriften u. Tätig- wart. Hg. Arnher E. Lenz u. Volker Mueller. Neukeiten prägende Spannung zwischen natur- stadt am Rübenberge 2006, S. 247–273. Angelika Müller / Björn Spiekermann religiöser Kontemplation u. polit. Engagement kehrt in seinen poetischen Werken wieder u. wird dort sogar explizit reflektiert, Wille, Eliza, auch: Elizabeth de Wille, geb. wie etwa der Titel seiner ersten Gedicht- Sloman, * 9.3.1809 Itzehoe, † 23.12.1893 sammlung andeutet (Einsiedler und Genosse. Marienfeld bei Zürich. – Erzählerin, LyBln. 1894). Als Lyriker bleibt W. der Natur- u. rikerin. Stimmungslyrik des 19. Jh. verhaftet; immer W.s Vater war engl. Reeder, ihr Mann, Franwieder gelingen ihm sensible Naturbeobachçois Wille, Schweizer Journalist; W. selbst tungen, die mit naturalistischen Großstadthatte ein Freundschaftstalent, das sie mit so eindrücken u. Schilderungen der Bauern- u. verschiedenen Männern wie Börne, den sie Arbeiterwelt wirkungsvoll kontrastiert wer- auf einer Reise nach Paris kennen lernte, u. – den. Sein bedeutendster Roman, Offenbarun- in ihrem Zürcher Heim – Kinkel, Wagner, gen des Wacholderbaums (2 Bde., Lpz. 1901. Nietzsche, Conrad Ferdinand Meyer u. dem 6 1931), zeigt in der für die Jahrhundertwende jungen Thomas Mann freundschaftlich vertypischen Figur eines Suchers den Weg des kehren ließ. Börne war es, der ihr ErstlingsProtagonisten von der sinnentleerten Exis- werk – über die Misere Polens – zum Druck tenz des modernen Menschen zur naturseli- brachte: Der Sang eines fremden Sängers. Eine gen Allfrömmigkeit, ähnlich auch noch der Phantasie (Hbg. 1836; anonym); Dichtungen aus dem Nachlass herausgegebene Roman Der (ebd. 1836) folgten. Wagners Korrespondenz Maschinenmensch und seine Erlösung (Pfullingen mit W. erschien 1894 in Berlin als Fünfzehn 1930). In dem Roman Die Abendburg (Jena Briefe. Nebst Erinnerungen und Erläuterungen (3., 1909) verlegt W. die gleiche Thematik in die vermehrte Aufl. 1935). Dazwischen liegen Zeit des Dreißigjährigen Kriegs. Der Gold- Felicitas (2 Bde., Lpz. 1850) u. Johannes Olaf (3 sucher Johannes entdeckt einen Schatz, des- Bde., ebd. 1871), trotz realistischer Details sen Besitz ihn schon bald ins Unglück stürzt. mit ausgeprägtem Hang zu fantastischer Vom Gold befreit u. zur reinen Liebe fähig, Ausmalung u. idealisierender Überhöhung, zieht er sich als Einsiedler zurück. u. die anschaul. Familienerinnerungen aus Weitere Werke: Die Christus-Mythe als monist. der Franzosenzeit, Stilleben in bewegter Zeit (3 Weltanschauung. Ein Wort zur Verständigung Bde., ebd. 1878). zwischen Religion u. Wiss. Bln. 1903. – Der heilige Hain. Jena 1908 (L.). – Aus Traum u. Kampf. Mein sechzigjähriges Leben. Bln. 1920. – Das B. W.-Buch. Hg. v. seinen Freunden nebst einer Einl. ›Mein Werk u. Leben‹. Dresden 1923. – Das Ewige u. seine Masken. Hg. v. Emmy Wille. Pfullingen 1929. – Philosophie der Liebe. Hg. dies. Ebd. 1930. Literatur: Kurt Sollmann: Literar. Intelligenz vor 1900. Studien zu ihrer Ideologie u. Gesch. Köln 1982, S. 190 ff. – Eric Paul Jacobsen: Ernst Haeckel, B. W. and Wilhelm Bölsche: ›Monismus‹ and Environmental Ethics. In: Ökologie u. Lit. Hg. Peter Morris-Keitel u. Michael Niedermeier. New York u. a. 2000, S. 75–98. – Jan Ehlenberger: Adoleszenz u. Suizid in Schulromanen v. Emil Strauss, Hermann Hesse, B. W. u. Friedrich Torberg. Ffm. u. a. 2006. – Erik Lehnert: ›Tiefes Gemüt, klarer Verstand und tapfere Kulturarbeit‹. B. W. u. der Friedrichshagener Dichterkreis als Ausgangspunkt monist. Kulturpolitik im Kaiserreich. In: Darwin, Haeckel u. die Folgen. Monismus in Vergangenheit u. Gegen-

Literatur: Adolf Frey: E. W. In: ADB. – Hans Bélart: Richard Wagners Beziehungen zu François u. E. W. [...]. Dresden 1914. – C. F. Meyers Briefw. Conrad Ferdinand Meyer – François u. E. W. Briefe 1869 bis 1895. Bearb. v. Stefan Graber. Bern 1999. Eda Sagarra / Red.

Willebrand, Christian Ludwig, * 18.10. 1750 Lübeck, † 24.8.1837 Hamburg. – Verfasser didaktischer u. romantheoretischer Schriften; Erzähler. Der Sohn von Johann Peter Willebrand ließ sich nach einem Jurastudium (1771 Promotion in Halle) in Hamburg nieder (Bürgerrecht 2.1.1778), arbeitetete aber nicht als Jurist, sondern war schriftstellerisch tätig. Doch sind Werke – darunter Aufsätze über die Freimaurerei, die Herrnhuter oder Zauberei (Briefe über die Zauberey. Lpz. 1778) sowie Bei-

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träge zu Zeitungen (z.B. im »Hamburgischen die eigene Anschauung fehlte, stützte er sich Correspondenten«. Sigle: Clwd) u. Zeit- vornehmlich auf zwei Reiseberichte: Olfert schriften – fast nur aus den 1770er Jahren Drapper: Umständliche und Eigentliche Beschreibekannt. W. schrieb (anonym) für ein Publi- bung Africa [...] (Amsterd. 1670. Holländ. Orikum, das in der Literatur Lebenshilfe u. Er- ginal 1668) u. Peter Kolb: Caput Bonae Spei bauung suchte. Die an Gellert geschulten hodiernum (Nürnb. 1719). Von ihnen überSittlichen und rührenden Unterhaltungen für nimmt er das Vorurteil, dass die EingeboreFrauenzimmer (12 Bde., ebd. 1770–86) wie die nen (Khoi-Khoi) – anders als der »edle Wilde« Trostgründe der Vernunft und Religion (ebd. bei Rousseau – minderwertige, ungeschlachte 1773/74. 21779) u. der Lehrbrief für Jünglinge, Menschen seien, die der christl. Zivilisation die sich der Welt bilden (ebd. 1778) zeigen in bedürften. W. übt aber auch Kritik am moihrer Vernunftgläubigkeit, dass W. den ralischen Verhalten der Holländer, ohne jeDenkformen u. Zielen der Aufklärung um doch deren Imperialismus zu rechtfertigen. 1750 verpflichtet blieb. Sein Essay Ueber die Weiteres Werk: Ueber die Hamburgische Wahl eines Ehegatten (ebd. 1776) konstatiert Bühne. Hbg./Lpz. 1772. zwar die abhängige Stellung der Frau, sucht Literatur: Werner Hahl: Reflexion u. Erzähaber allein in der Liebe des Mannes die Ge- lung. Ein Problem der Romantheorie v. der Spätaufklärung bis zum programmat. Realismus. Stgt. währ für die »zeitlichen Glücksumstände«. Literaturgeschichtliche Bedeutung kommt u. a. 1971. – Texte zur Romantheorie II W. nur als Antipode Blanckenburgs zu. In der (1732–1780). Mit Anmerkungen, Nachw. u. BiVorrede zu seinen Erzählungen Etwas für bliogr. v. Ernst Weber. Mchn. 1981, S. 353–381, 593 f. – Frederick Hale: The First German Novel Mütter (Breslau 1774, S. VI–LXXXII. TeilAbout South Africa: ›Geschichte eines Hottentotten nachdr. Weber 1981) entwarf er eine Ro- [...]‹. In: GLL 60 (2007), S. 149–164. Ernst Weber mantheorie des moralisierenden Pragmatismus, wobei ihm Sophiens Reise von Hermes als Modell diente. Mit den schematisierenden, Willebrand, Willebrandt, Johann Peter, nach »res« (»Stoff«) u. »verba« (»Erfindung«) * 10.9.1719 Rostock, † 22.7.1786 Hamgegliederten Schreibanweisungen, die eine burg. – Reiseschriftsteller, Sachbuchauverbreitete, die erbaul. Lesehaltung weiter tor. Teile des Publikums berücksichtigende Romanpraxis theoretisch überhöhten, meldete W. entstammte einer alteingesessenen Rossich ein sich noch ganz in rhetorischen Bah- tocker Familie. Nach dem Schulbesuch in nen bewegendes Denken zu Wort. Für W. ist seiner Geburtsstadt studierte er Rechtswisder Roman weniger ein Kunstwerk als eine senschaft u. wurde 1742 in Halle promoviert. anschaulich gemachte Moral, deren Wirkung Nach mehrjährigen Reisen im In- u. Ausland – darin nimmt er Positionen der Moralischen ließ er sich in Lübeck als Advokat nieder. Wochenschriften auf – von der Wirklich- Seine Bekanntschaft mit Johann Hartwig keitsnähe des Dargestellten abhängt. Er soll Ernst Graf Bernstorff bewirkte, dass er 1755 im Leser die Überzeugung befestigen, dass kgl. dän. Regierungs- u. Gerichtsrat in Sittenlehre u. Empirie identisch seien. Glückstadt wurde. Seit 1759 folgten ErnenVon der Nähe zur Erfahrungswirklichkeit nungen zum kgl. dän. Appellations-, Justizseiner Leser kann bei W.s einzigem Roman u. Konsistorialrat u. zum Polizeidirektor in Geschichte eines Hottentotten, von ihm selbst er- Altona. Dort geriet er aber zu Vorgesetzten, zählt (Halle 1773) nur bedingt die Rede sein. Magistrat u. Bürgern in ein schlechtes VerDer abenteuerliche, von Glücks- u. Un- hältnis, sodass er 1766 seinen Abschied glücksfällen bestimmte fiktive Lebensbericht nahm. Er begab sich wieder auf Reisen u. des Kori, Sohn eines schiffbrüchigen Fran- lebte dann von 1771 bis zu seinem Tod als zosen u. einer Hottentottin (beide werden vor Literat in Hamburg. Koris 10. Lebensjahr ermordet, er selbst vom Als Frucht seiner Reisen legte W. 1758 Kapstadter Gouverneur erzogen), spielt in der seine Historischen Berichte und Practischen Anholländ. Kolonie Südafrika u. auf Java. Da W. merkungen auf Reisen in Deutschland, in die Nie-

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derlande, in Frankreich, England, Dännemark, Böhmen und Ungarn (mit einer Vorrede hg. von Gottfried Schütze. Hbg. 1758) vor, eine Kombination von Reisehandbuch u. Reisebeschreibung. Sie brachten es innerhalb von elf Jahren zu acht (meist nicht autorisierten) Ausgaben. Das Werk besteht aus 24 Briefen, die eine Reise schildern, mit Ausnahme der letzten beiden, die Von Deutschlands innerlicher Mannichfaltigkeit u. Von den Verdrießlichkeiten auf Reisen handeln. Jeder Brief ist mit etwa 50 Anmerkungen versehen, die detaillierte Informationen über Gasthäuser, Preise, Kabinette etc. enthalten. W. war ferner Verfasser einer Hansischen Chronik [...] (Lübeck 1748. Hbg. 1749), die schon damals nicht den wissenschaftl. Anforderungen genügte, aber als eine der ersten Arbeiten auf diesem Gebiet angesehen werden kann. Darin publizierte er zahlreiche Urkunden, die den eigentl. Wert des Buches ausmachen. Weitere Werke: Betrachtungen über Wahrheiten u. Vorurtheile. Hbg. 1763. – Inbegriff der Policey, mit Betrachtungen über Wachsthum der Städte. Aus dem Frz. Zittau 1766. – Betrachtungen über Würde der Teutschen Hansa [...]. Hbg. 1768. – Grundregeln u. Anleitungssätze zur Beförderung der gesellschaftl. Glückseligkeit in den Städten. Lpz. 1771. – Hamburgs Bequemlichkeiten v. einem Ausländer beschrieben. Hbg./Lpz. 1772 (anonym). – Lübecks Annehmlichkeiten v. einem Ausländer beschrieben. Hbg. 1774 (anonym). – Grundriß einer schönen Stadt [...]. 3 Tle., Hbg./Lpz. 1775/76. Literatur: Christoph Weidlich: Biogr. Nachrichten v. den jetztlebenden Rechts-Gelehrten in Teutschland. Tl. 4, Halle 1785, S. 270–272. – Meusel 15. – Hans Nirrnheim: J. P. W. In: ADB. – Hans Schröder: Lexikon der hamburg. Schriftsteller 8. Hbg. 1883, S. 48–50. – Franklin Kopitzsch: J. P. W. In: Hamburgische Biogr. Hg. ders. u. Dirk Brietzke. Bd. 2, Hbg. 2003, S. 443 f. Uli Kutter / Red.

Willemer, Johann Jakob von (seit 1816), * 29.3.1760 Frankfurt/M., † 19.10.1838 Frankfurt/M. – Verfasser von zeitkritischen, philosophischen u. pädagogischen Schriften, Dramatiker, Erzähler. Der älteste Sohn eines Frankfurter Bankiers wurde streng luth. erzogen. Mit 16 Jahren

stieg W. in das Familienunternehmen ein; 1816 zog er sich aus dem Bankgeschäft zurück, sein Senatorenamt hatte er bereits 1793 niedergelegt. W. gehörte dem Goethekreis in Frankfurt an; seine dritte Ehefrau Marianne war »Goethes Suleika«. Seit 1834 litt W. zunehmend unter Gedächtnisschwäche. W., der als Kommunalpolitiker u. Mitglied der Direktion des Nationaltheaters (1800–1804) die Kultur in Frankfurt fördern wollte (Auszüge aus Briefen über das Theaterwesen zu Frankfurt a. M. Heft 1, 1799–1801. Lpz./Bln. 1802. Neudr. Ffm. 1929), schrieb selbst zwei Theaterstücke, in denen er die inhumanen Lebensbedingungen im postrevolutionären Frankreich (Die Jacobiner. 1794) u. die Vorherrschaft des Geburts- u. Geldadels (Der Geburtstag. 1800) kritisierte. In seinen pädagog. Schriften blieb W. dem Glauben der Aufklärung an die Erziehbarkeit des Menschen verpflichtet, ordnete jedoch gleichzeitig die Vernunft der religiösen Sittlichkeit unter (Bruchstücke zur Menschen- und Erziehungskunde [...]. H.e 1–12, Ffm. 1810–16). Sein nationalstaatl. Konzept vermengte die Vorstellung vom mittelalterl. Gottesstaat mit der aufklärerischen Idee des bürgerl. Verantwortungsbewusstseins (Teutschlands Hoffnungen in Gefolg der Pariser Konvention vom 26. September 1815. Ein Nachtrag [...]. Ebd. 1816). Weitere Werke: Der Amerikaner zu Yverdun. Ffm. 1809 (E.). – Von den Vorzügen des Preßzwangs vor der Preßfreiheit, oder v. Erlösung der Freiheit v. der Presse durch den Zwang. In: Die Wage, April 1819, H. 7, S. 291–302. – Von den Vorzügen des christl. Moral-Princips u. seinem Einfluß. Ffm. 1826. – Sollst mir ewig Suleika heissen. Goethes Briefw. mit Marianne u. J. J. W. Hg. Hans-J. Weitz. Ffm. 1995. Literatur: Adolf Müller: J. v. W. Der Mensch u. Bürger. Diss. Ffm. 1925 (mit vollst. Werkverz.). – Günther Jacobs: J. J. W. (1760–1838) [...]. Diss. Ebd. 1971. – Reinhart Meyer-Kalkus: Leidenschaftl. Liebe oder Rollenspiel? Marianne v. Willemer zwischen Johann Wolfgang v. Goethe und J. J. v. W. In: Große Gefühle. Ein Kaleidoskop. Hg. Ottmar Ette u. Gertrud Lehnert. Bln. 2007, S. 33–49. Carmen Asshoff / Red.

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Willemer, Marianne von, eigentl.: Maria Anna Katharina Therese von W., geb. Pirngruber, gen. Jung (nach dem Vater), * 20.11.1784 (?) vermutlich Linz, † 6.12. 1860 Frankfurt/M.; Grabstätte: ebd., Hauptfriedhof. – Schauspielerin, Lyrikerin.

Willemsen Briefw. zwischen Goethe u. M. v. W. Stgt. 21878. – Hans-J. Weitz (Hg.): M. u. Johann J. Willemer. Briefw. mit Goethe. Dokumente, Lebenschronik, Erläuterungen. Ffm. 1965. Revidierte Neuausg. 1986. – Carmen Kahn-Wallerstein: M. v. W. Goethes Suleika. Ebd. 21985. – Hans Joachim Mey (Hg.): Im Namen Goethes. Der Briefw. M. v. W. u. Herman Grimm. Ebd. 1988. – Walter Laufenberg: Goethe u. die Bajadere. Das Geheimnis des Westöstl. Diwans. Mchn./Bln. 1993. – Siegfried Unseld: Goethe u. der Ginkgo. Ein Baum u. ein Gedicht. Ffm. 1998. – Hans Imhoff: Eine Geliebte Goethes. Ffm. 2001. – Dieter Martin: M. v. W. s ›Suleika‹Gedichte u. ihre Vertonungen. In: Eine Art Symbolik fürs Ohr. Johann Wolfgang v. Goethe. Lyrik u. Musik. Hg. Hermann Jung. Ffm. u. a. 2002, S. 131–150. – Siegrid Düll: Tiefe Mystik hinter leichten Versen. M. v. W. entdeckt den wahren Orient. In: Frauen entdecken Konstantinopel u. den Orient. Hg. dies. St. Augustin 2003, S. 47–54. – Katharina Mommsen: ›Zu den Kleinen zähl ich mich ...‹. M. v. W.s erstes an Goethe gerichtetes Gedicht. In: Romantik u. Exil. FS Konrad Feilchenfeldt. Hg. Claudia Christophersen u. Ursula Hudson-Wiedenmann. Gött. 2003, S. 47–54. – Markus Wallenborn: Frauen, Dichten, Goethe. Die produktive Goethe-Rezeption bei Charlotte v. Stein, M. v. W. u. Bettina v. Arnim. Tüb. 2006. Julei M. Habisreutinger / Red.

Schon die Achtjährige – uneheliches Kind der Schauspielerin Maria Anna Elisabeth Pirngruber aus Wien – wurde in Schauspielerei, Literatur u. Sprachen eingeführt. Mit der Truppe des Ballettmeisters Traub kamen Mutter u. Tochter 1798 nach Frankfurt/M. Um 1800 vereinbarte der verwitwete Senator, Theaterfreund u. Schriftsteller Johann Jakob Willemer mit der Mutter, Marianne als Pflegetochter in seinem Haus mit den eigenen Töchtern erziehen u. musikalisch ausbilden zu lassen. Clemens Brentano erteilte ihr Unterricht in Gitarre u. Gesang, Johann Georg Schütz im Zeichnen. 1806 konzertierte sie auf der Gitarre vor Kaiserin Joséphine von Frankreich. Im Sept. 1814 wurde sie mit Willemer getraut u. als dessen Ehefrau Goethe vorgestellt. Während Goethes Aufenthalt im Sommer 1815 auf Willemers Landsitz Gerbermühle entstanden mit der aufkeimenden Liebe zwischen W. u. Goethe die Suleika-Lieder des West-Östlichen Divan. W. Willemsen, Roger, * 15.8.1955 Bonn. – war Goethes kongeniale Mitdichterin, die im Publizist, Fernsehmoderator, Romanpoetischen Wechselgespräch der Liebenden autor, Übersetzer u. Literaturwissengleichrangige Gedichte schuf. Beethoven, schaftler. Schubert u. Mendelssohn vertonten diese W. studierte Germanistik, Philosophie u. Liebeslieder. Das wahre Ausmaß von W.s Kunstgeschichte in Bonn, Florenz, München Teilhabe am Divan eröffnete erst Herman u. Wien. 1984 an der Ludwig-MaximiliansGrimms Essay Goethe und Suleika (in: Preußi- Universität in München mit einer Arbeit über sche Jahrbücher 24, 1869). Nach der letzten Robert Musils Literaturtheorie promoviert, Begegnung 1815 in Heidelberg scheint Goe- war er dort 1984–1986 Assistent für Literathe ein Wiedersehen mit der geliebten W. turwissenschaft. Seine Habilitation über den vermieden zu haben, dafür entstand ein Selbstmord in der Literatur schloss er nicht langjähriger, freundschaftl. Briefwechsel. ab, veröffentlichte 1986 jedoch das zusamAuch nach dem Tod ihres Mannes 1838 nahm mengetragene Material. Der Selbstmord ist sie, als Sängerin u. humorvolle Gelegen- ein Langzeitthema in W.s publizistischem heitsdichterin geschätzt u. verehrt, am ge- Werk u. taucht in Essays wie Das Recht auf eiselligen Leben der Frankfurter Familien nen eigenen Tod (in: Nur zur Ansicht. Ffm. 2007) Brentano, Bansa, Guaita u. Schlosser teil. oder in Der Knacks (Ffm. 2008; Kapitel Sich Weiteres Werk: Das Stammbuch der M. v. W. heimdrehen ) wieder auf. 1988–1991 lebte W. Hg. Kurt Andreae. Ffm. 2006. als Korrespondent in London. Danach wechLiteratur: Emilie Kellner: Goethe u. das Urbild selte er zum Fernsehen u. moderierte der Suleika. Lpz. 1876. – Theodor Creizenach (Hg.): 1991–1993 die mehrfach ausgezeichnete In-

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terviewreihe »0137« beim Sender »Premie- guren der Willkür. Autobiogr. eines Buches. re«. Einige seiner Interviews mit Menschen in Mchn./Zürich 1987. – Die Abruzzen. Das Bergland extremen Lebenssituationen druckte er in im Herzen Italiens. Kunst, Kultur u. Geschichte. dem Band An der Grenze (Köln 1994) ab. Seine Köln 1990. – Kopf oder Adler. Ermittlungen gegen Dtschld. Bln. 1990. – Gewaltakte. MännerphantaBegabung zu einfühlsamer u. unterhaltsamer sien u. Krieg (zus. mit Helke Sander). Hbg. 1993. – Gesprächsführung verhalf W. zu einer ra- Menschen aus Willemsens Woche. Fotografien v. schen Karriere: 1994–1998 präsentierte er im Detlev Schneider. Bln. 1996. – Das Kaff der guten ZDF die Talkshow »Willemsens Woche«. Hoffnung. Gesammelte Glossen. Zürich 1997. – Nach 2002 reduzierte er seine Fernseharbeit Noch eine Frage. Begegnungen mit Menschen u. jedoch u. trat verstärkt als Autor hervor. Seit Orten. Mchn. 1997. – Bild dir meine Meinung. 2010 ist W. Honorarprofessor am Institut für Kritisches u. Polemisches. Bln. 1999. – Karneval der deutsche Literatur der Humboldt-Universität Tiere. Illustr. v. Volker Kriegel. Ffm. 2003. – Gute Tage. Begegnungen mit Menschen u. Orten. Ffm. zu Berlin. 2004. – Unverkäufliche Muster. Gesammelte GlosCharakteristisch ist W.s Kombination von sen. Ffm. 2005. – Ein Schuss ein Schrei. Das Meiste Reise- u. Gesprächsbericht. In dem tage- von Karl May. Illustr. v. Michael Sowa. Zürich buchartigen Stationen-Essay Deutschlandreise 2005. Überarb. Neuausg. Ffm. 2007. – Hier spricht (Ffm. 2002) nimmt er die Begegnung mit Guantánamo. R. W. interviewt Ex-Häftlinge. Unter unterschiedl. Menschen u. Regionen zum Mitarbeit v. Nina Tesenfitz. Ffm. 2006. – ›Ich gebe Anlass für Reflexionen über die dt. Gegen- Ihnen mein Ehrenwort!‹ Die Weltgesch. der Lüge wartsgesellschaft. Generalisierungen vermei- (zus. mit Traudl Bünger). Ffm. 2007. – Vages Erdend, versucht er in der pointierten Be- innern, präzises Vergessen. Reden. Ffm. 2008. – Matthias Löwe schreibung zufälliger Begegnungen Typi- Die Enden der Welt. Ffm. 2010. sches aufscheinen zu lassen. Ähnlich verfährt er in Afghanische Reise (Ffm. 2006) u. in Bangkok Williram von Ebersberg, * 1000/1010, Noir (zus. mit Ralf Tooten. Ffm. 2009). † 1085. – Verfasser lateinischer Gedichte 2005 legte W. seinen Roman-Erstling Kleine u. einer lateinisch-deutschen HoheliedLichter (Ffm.) vor, in dem eine Kunsthändlerin Paraphrase. über die Beziehung zu ihrem im Koma liegenden Geliebten, einem Restaurator, mo- W. entstammte einer vornehmen mittelrheinologisiert. Die Berufe der Figuren erinnern nischen Familie, wahrscheinlich dem im an W.s Elternhaus u. der Roman ist Indiz für »Wormsgau begüterten Geschlecht der Konden prägenden Einschnitt, den der frühe radiner« (Gärtner 1999). Er wurde Mönch in Krebstod seines Vaters, ebenfalls Restaurator, Fulda, wo er auch seine Ausbildung erhielt. für W. bedeutete. In seinem Großessay Der In den 1040er Jahren wurde W. als ScholasKnacks skizziert W. diese existenzielle Ver- ticus in das Bamberger Kloster Michelsberg berufen. Er gehörte wohl der Hofkapelle lusterfahrung u. entwickelt daraus ÜberleHeinrichs III. an, u. als ihm der Kaiser 1048 gungen zur gebrochenen Biografie als andie kleine bayerische Abtei Ebersberg verlieh, thropolog. Universalie. mag W. dies nicht ohne Grund als Beginn Neben seinen Buchprojekten ist W. mit eieiner weiterführenden Karriere betrachtet ner Vielzahl von zeitkrit. Essays u. Glossen u. haben. Seine Hoffnungen erfüllten sich jedurch sein Engagement in verschiedenen doch nicht; die Ursache dafür sah er selbst Hilfsorganisationen öffentlich präsent. rückblickend im frühen Tod des Kaisers Weitere Werke: Das Existenzrecht der Dich- (1056). So blieb W., da ihm Heinrich IV. sogar tung. Zur Rekonstruktion einer systemat. Literadie Rückkehr nach Fulda als einfacher Mönch turtheorie im Werk Robert Musils. Mchn. 1984. – versagte, bis zu seinem Tod als Abt in Robert Musil. Vom intellektuellen Eros. Mchn./ Zürich 1985. – Der Selbstmord in Berichten, Brie- Ebersberg, tatkräftig besorgt um die geistige, fen, Manifesten, Dokumenten u. literar. Texten. aber nicht weniger um die wirtschaftl. FörKöln 1986. Aktualisierte Neuausg. Köln 2002. – Die derung seiner Abtei. Der gebildete W. stand Marken. Die adriat. Kulturlandschaft zwischen in Kontakt mit bedeutenden Theologen u. Urbino, Loreto u. Ascoli Piceno. Köln 1987. – Fi- Schriftstellern seiner Zeit (Otloh von St.

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Emmeram, Wilhelm von Hirsau). Er selbst war ein gewandter lat. Stilist; dies bezeugen nicht nur seine Gedichte, sondern auch eine auf Bitten Wilhelms von Hirsau entstandene Bearbeitung der Vita Sancti Aurelii. W. ist wohl auch der Verfasser des Chronicon Ebersbergense samt Kartular; seinen eigentl. Ruhm aber begründete sein Hoheslied, das er 1069 König Heinrich IV. widmete. W.s Hoheslied ist eine doppelte Paraphrase des bibl. Textes. Zum einen bietet der Autor eine lat. Umsetzung in leonin. Hexameter, zum anderen eine dt. Übertragung, die Satz für Satz von einem Kommentar in dt.-lat. Mischprosa begleitet wird. Beides verbindet W. mit dem bibl. Grundtext zu einer Art »Triptychon«: In einer dreispaltig angelegten Handschrift wird der in der Mitte stehende Bibeltext »umgürtet« (Prolog) von der poetischen Paraphrase samt allegor. Auslegung links, der die kommentierte Übersetzung rechts gegenübersteht. In dieser dreigliedrigen Form ist das Werk ein Unikum. Betrachtet man aber W.s Hoheslied nur in seinem Nebeneinander von Poesie u. Prosa, so stellt es sich in die Tradition der seit der Spätantike gepflegten »opera geminata«, der »Zwillingswerke«, die einen Autor vor die bes. anspruchsvolle Aufgabe stellten, das gleiche Sujet zweimal mit verschiedenen künstlerischen Mitteln zu gestalten. Für einen versierten lat. Stilisten des 11. Jh. wie W. lag die Herausforderung dabei weniger in der lat. Dichtung als in der volkssprachigen Wiedergabe. Als theolog. Rüstzeug stand dem Autor die reiche Kommentarliteratur zum Hohenlied zur Verfügung, aus der er neben Angelomus von Luxeuil v. a. Haimo von Auxerre heranzog. W. übernahm das dort vorgetragene, bis zum 12. Jh. vorherrschende ekklesiolog. Deutungsmodell, nach dem Bräutigam u. Braut des Hohenliedes als Christus u. die Kirche verstanden werden. Konnte sich der Theologe W. also an Vorgegebenem orientieren, so fehlte es dem Schriftsteller doch an unmittelbaren Vorbildern für die volkssprachige Gestaltung. Denn obschon die Formulierung einfacher Glaubenswahrheiten in der Volkssprache Tradition hatte, gab es noch kaum Ansätze zu einer theolog. Fachsprache. W. konnte sich allenfalls an Notker

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von St. Gallen orientieren, u. man hat angesichts seiner wohl überlegten Orthografie u. seiner mit Notker vergleichbaren Mischprosa Einfluss des St. Galler Mönchs erwogen. Doch selbst wenn er dessen Psalmenwerk kannte – ein Vorbild, das er nur zu kopieren brauchte, konnte ihm Notker schon angesichts der unterschiedl. Zielsetzung (s.u.) nicht sein. So hat seine Mischprosa denn auch ein deutlich anderes Gepräge als die Notker’sche. Dies zeigt sich v. a. im Einsatz des Lateins. W. behält es zumeist den dogmatisch-theolog. Zentralbegriffen vor, die nicht übersetzt werden, sondern – häufig an der exponierten Stelle des Satzschlusses – als eine Art Kristallisationspunkte inmitten der volkssprachigen Darlegungen fungieren. W. verdeutlicht seine Intentionen bei der Abfassung des Hohenliedes mit dem Hinweis auf den frz. Theologen Lanfranc, 1059–1065 Leiter der Schule von Bec, der dem Studium der Dialektik entsagt u. sich wieder der wahren christl. Wissenschaft zugewandt habe. In Analogie dazu sieht auch W. seine Aufgabe nicht in der Förderung der »modernen« Wissenschaft, sondern im pastoralen Auftrag. Sein Werk soll es daher den zur Lehre berufenen Geistlichen (doctores) erleichtern, den aufnehmenden Laien (audientes) die Glaubensinhalte angemessen zu vermitteln. Dem Werk war ein außergewöhnl. Erfolg beschieden: In 45 Handschriften ist W.s Hoheslied ganz oder teilweise (nur Verskommentar; nur Prosakommentar; nur Paraphrase ohne Auslegung) überliefert (zur Textkritik vgl. Bohnert). Dies hat seinen Grund gewiss in der viel gerühmten Klarheit u. Leichtigkeit von W.s Sprache, v. a. aber im Gegenstand selbst. Mit dem Hohenlied hatte W. der Volkssprache ein Werk erschlossen, das wie kein anderes mithelfen konnte, jene neue Glaubenserfahrung in Worte zu fassen, die dann im myst. Erleben ihren Höhepunkt fand. Als rund ein Jahrhundert nach der Abfassung des Hohenliedes mit dem St. Trudperter Hohenlied das erste myst. Werk in dt. Sprache entstand, bildete W.s Übersetzung den Ausgangspunkt.

Willkomm Ausgaben: The ›Expositio in Cantica Canticorum‹ of W., Abbot of Ebersberg 1048–85. Hg. Erminnie H. Bartelmez. Philadelphia 1967. – (Expositio) Willerammi Eberspergensis abbatis in canticis canticorvm. Die Leidener Hs. Neu hg. v. Willy Sanders. Mchn. 1971. – Die älteste Überlieferung v. W.s Komm. des Hohen Liedes. Ed. – Übers. – Glossar. Hg. Rudolf Schützeichel u. Birgit Meineke. Gött. 2001 (Ebersberger Hs.). – W. v. E.: Expositio in Cantica Canticorum u. das ›Commentarium in Cantica Canticorum‹ Haimos v. Auxerre. Hg. u. übers. v. Henrike Lähnemann u. Michael Rupp. Bln./New York 2004 (Breslauer Hs.). Literatur: Marie Luise Dittrich: W.s v. E. Bearb. der Cantica Canticorum. In: ZfdA 82 (1948/50), S. 47–64. – Dies.: Die literar. Form v. W.s Expositio in Cantica Canticorum. In: ZfdA 84 (1952/53), S. 179–197. – Volker Schupp: Studien zu W. v. E. Bern/Mchn. 1978. – Kurt Gärtner: Zu den Hss. mit dem dt. Kommentarteil des Hohelied-Kommentars W.s v. E. In.: Volker Honemann u. Nigel F. Palmer (Hg.): Dt. Hss. 1100–1400. Tüb. 1988, S. 1–34. – Ders.: Die W.-Überlieferung als Quellengrundlage für eine neue Grammatik des Mittelhochdeutschen. In: ZfdPh 110 (1991), Sonderheft: Mhd. Grammatik als Aufgabe. Hg. Klaus-Peter Wegera, S. 23–55. – Erminnie H. Bartelmez: Abt W.s ›Expositio in Cantica Canticorum‹. In: Editionsberichte zur mittelalterl. dt. Lit. Hg. Anton Schwob. Göpp. 1994, S. 167–173. – Christine Zerfaß: Die Allegorese zwischen Latinität u. Volkssprache. W.s v. E. ›Expositio in cantica canticorum‹. Göpp. 1995. – K. Gärtner: W. v. E. In: VL. – Ernst Hellgardt: ›mysteria regni celestis ... quasi ruminando conferenda et exponenda‹. Die logisch-ästhet. Struktur der lat.dt. ›Expositio in Cantica Canticorum‹ W.s v. E. In: De consolatione philologiae. Studies in Honour of Evelyn S. Firchow. Hg. Heinrich Beck u. A. Schwob. Bd. 1, Göpp. 2000, S. 149–160. – Niels Bohnert: Zur Textkritik v. W.s Komm. des Hohen Liedes. Mit besonderer Berücksichtigung der Autorvarianten. Tüb. 2006. Gisela Vollmann-Profe

Willkomm, Ernst (Adolf), * 10.2.1810 Herwigsdorf bei Zittau, † 24.5.1886 Zittau. – Erzähler, Journalist. Der Pfarrerssohn erhielt ersten Unterricht vom Vater, besuchte das Gymnasium in Zittau, studierte seit 1830 in Leipzig zunächst Jura, dann Philologie u. Ästhetik. Dort kam es zu der Bekanntschaft mit Vertretern des Jungen Deutschland (u. a. Herloßsohn, Gutzkow, Wienbarg) sowie zu ersten publi-

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zistisch-schriftstellerischen Arbeiten (u. a. als Mitherausgeber der »Jahrbücher für Drama, Dramaturgie und Theater«, Lpz. 1837–39). Aus den Diskussionen jungdt. Deutschlandu. Europakritik ist der Roman Die Europamüden. Modernes Lebensbild (2 Bde., ebd. 1838) zu verstehen. Er nimmt ein Stichwort Heines auf u. formuliert Kritik an Europa, das mit dem republikanisch-jungen Amerika kontrastiert wird. 1845/46 bereiste W. Italien (vgl. Italienische Nächte. Reiseskizzen und Studien. 2 Bde., ebd. 1847). 1849 war er Kriegsberichterstatter u. übernahm dann die Leitung der »Lübecker Zeitung«; 1850 heiratete er die Jugendschriftstellerin Anna Marie Christine Rosendahl († 1880). 1852–1857 arbeitete W. in Hamburg als Feuilletonredakteur (Romanzeitschrift »Jahreszeiten« u. »Hamburgischer Correspondent«). Ein 1859 dort eröffnetes Pensionat sicherte ihn materiell ab. Als W.s wichtigste schriftstellerische Leistung gelten seine Versuche, die Lohnarbeit der beginnenden Industrialisierung realistisch darzustellen u. – mit den Mitteln des jungdt. Zeit- u. Geheimnisromans – zu kritisieren, etwa in Eisen, Gold und Geist. Ein tragikomischer Roman (4 Tle., Lpz. 1843), bes. aber in Weisse Sclaven oder die Leiden des Volkes (5 Bde., ebd. 1845). W. schildert das Elend der schles. Heim- u. Fabrikweber; die Arbeiter werden als »Sclaven« eines monströsen Maschinen- u. Ausbeutungssystems gezeigt, das die Abhängigkeit der alten Leibeigenschaft unter anderen Bedingungen fortsetzt. Dabei gelingen eindrucksvolle Bilder der Fabrikarbeit. Doch greift die Analyse W.s immer dort zu kurz, wo sie gegen die Ausbeutung allein das Ideal der allg. Menschenrechte propagiert, ohne die Vorstellungen einer tiefgreifenden Umgestaltung des Wirtschafts- u. Rechtssystems entwickeln zu können. So bleibt regelmäßig nur die personalpunktuelle Lösung: Der ausbeuterisch-böse Fabrikinhaber wird durch den guten (paternalistischen) Arbeitgeber ersetzt. Am Bild dieses Unternehmers u. Kaufmanns orientieren sich auch W.s Sozial- u. Gesellschaftsromane der Nachmärzzeit. Arbeitsethik u. Arbeitsverfassung (im Sinne des Verhältnisses von Unternehmer u. Arbeiter) werden in das liberale Konzept eingepasst,

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Willmann

das die Fabrik als Gemeinschafts- u. Famili- Willmann, Otto (Philipp Gustav), * 24.4. enverband organisieren möchte, in dem ein 1839 Lissa/Posen, † 1.7.1920 Leitmeritz/ strenger, gerechter u. gütiger Unternehmer Böhmen. – Pädagoge u. Philosoph. einer ehrlichen, arbeitsamen u. bescheidenen Arbeiterschaft vorsteht. Der Kaufmann wird Nach einem Studium in Breslau u. Berlin arzum Kulturträger u. Kolonisator (wo »er er- beitete W. zunächst als Instruktor an Zillers scheint, weicht seinem besseren Wissen die Seminar in Leipzig u. als Dozent am Wiener Uncultur«. In: Rheder und Matrose. Ein Ham- Pädagogium. 1872 wurde er Professor für burger Roman. Ffm. 1857). Demgegenüber Philosophie u. Pädagogik an der dt. Univerwerden alle Formen spekulativen Geldge- sität in Prag. Seine beiden Hauptwerke Diwinns kritisiert (v. a. Die Familie Ammer. Sit- daktik als Bildungslehre [...] (27 Bde., Braunschw. tenroman. Ebd. 1855. Banco. Ein Roman aus dem 1882 u. 1889. Freib. i. Br. 1968) u. Geschichte des Idealismus (3 Bde., ebd. 1894–97. Erw. Hamburger Leben. Gotha 1857). 2 1907) sowie die Gründung des PädagogiWeitere Werke: Julius Kühn. 2 Bde., Lpz. 1833 schen Universitätsseminars (1876) machten (N.). – Bernhard Hzg. v. Weimar. Ebd. 1833 (Trauersp.). – Buch der Küsse. Ebd. 1834 (L.). – W. zu einem der einflussreichsten HerbarCivilisationsnovellen. Ebd. 1837. – Lord Byron. 3 tianer. Unverkennbar stehen insbes. W.s frühe Bde., ebd. 1839. – Grenzer, Narren u. Lotsen. Ebd. 1842 (N.n). – Sagen u. Märchen aus der Oberlausitz. Schriften Die Odyssee im erziehenden Unterricht Hann. 1843. – Denkwürdigkeiten eines österr. (Lpz. 1868) u. Pädagogische Vorträge (ebd. 1869. Kerkermeisters. Lpz. 1843. – Die Nachtmahlsbrü- 51916) in der Tradition Herbarts. W.s Fassung der in Rom. 3 Tle., ebd. 1847 (R.). – Wanderungen der »Formalstufen des Unterrichts« als Aufan der Nord- u. Ostsee. Ebd. 1850. – Dichter u. fassen, Verstehen, Anwenden zeigt deutlich Apostel. 4 Tle., Ffm. 1859 (R.). – Am häusl. Herd. Criminal- u. Strandgesch.n. 2 Bde., Gotha 1859. – diesen Einfluss; ebenso seine Bestimmung der Erziehung als Pflege (des Körpers), Zucht Jugenderinnerungen. Lpz. 1887 (Fragment). Literatur: Erich Edler: Die Anfänge des sozia- (des Willens) u. Bildung (des Geistes). len Romans u. der sozialen Novelle in Dtschld. Ffm. Gleichwohl erweiterte W. mit der entschie1977. – Martin Halter: Sklaven der Arbeit – Ritter denen Betonung der sozialen u. der histor. vom Geiste [...]. Ebd. 1983. – Gabriele Büchler- Bezüge der Erziehung den Herbartianismus. Hauschild: Erzählte Arbeit [...]. Paderb. u. a. 1987. Neben den »Bildungsgütern« als »Kulturob– Keith Bullivant: E. W. In: Nineteenth-century jektivationen«, die es im Bildungsprozess, German writers to 1840. Hg. James Hardin u. dem »geistigen Güterverkehr«, weiterzugeSiegfried Mews. Detroit 1993, S. 308–311. – ben gelte (paedagogia perennis), band W. Wynfrid Kriegleder: Die ›Prosa unserer Union‹ u. seine Pädagogik eng an die (katholische) Redie ›Poesie des deutschen Gemüthes‹. Amerikabilder bei Charles Sealsfield, E. W. u. Ferdinand ligion. Als »Herzwurzel der Erziehung« soll Kürnberger. In: Jb. des Wiener Goethe-Vereins 97/ sie im »Zentrum des Unterrichts« stehen. Die 98 (1993–94), S. 99–111. – Helen G. Morris-Keitel: bloß intellektuelle Teilnahme reiche nicht A new christianity for whom? E. W.’s ›Weisse aus: Religion u. Vaterland verlangten mehr – Sclaven‹. In: Dies.: Identity in transition: the ima- nämlich Hingebung. Daneben vertrat W. die ges of working-class women in social prose of the Pädagogik aber auch als Sozialwissenschaft, Vormärz (1840–1848). New York u. a. 1995, die beschreibt u. erklärt, was ist, nicht aber S. 17–50. – Peter Hanenberg: Die Europamüden v. sagt, was sein soll. E. W. Eine Bestandsaufnahme europ. Identität. In: Die oft unsachl. Polemik der ReformpädDers.: Europa – Gestalten. Studien u. Essays. Ffm. agogen gegen den »formalistischen« Heru. a. 2004, S. 69–80. Joachim Linder / Red. bartianismus, dem alle Erstarrungen des wilhelmin. Bildungswesens angelastet wurden, verstellte für Jahrzehnte den Blick auf W.s Werk. So erfährt Die genetische Methode (in: Aus Hörsaal und Schulstube. Freib. i. Br. 1904. 2 1912, S. 236–246) als die Kunst, Lösungen in Aufgaben, Werke in Schöpfungen rückzu-

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verwandeln – die Schüler also an Prozessen statt an Resultaten teilhaben zu lassen –, erst in jüngster Zeit, etwa im Werk Martin Wagenscheins, wieder größere Aufmerksamkeit. W.s ganzheitl. Wirklichkeitsentwurf der Einheit von Ideen- u. Erfahrungswelt in der Tradition des Aristoteles (Abriß der Philosophie. Freib. i. Br. 51959. Zuerst u. d. T. Philosophische Propädeutik. 2 Bde., 1901 u. 1904) wird ebenfalls eine Renaissance zugetraut: auch über den kath. Bildungsbereich hinaus, dessen beherrschende Gestalt W. Anfang des 20. Jh. war u. in dem, zumal durch die Gründung des Willmann-Instituts (München/Wien/ Freiburg) 1957, die Rezeption nie ganz abbrach. Weitere Werke: Aus der Werkstatt der philosophia perennis. Freib. i. Br. 1912. – Sämtl. Werke. 16 Bde., Aalen 1968 ff. Literatur: Bibliografie: Heinrich Bitterlich-Willmann: O. W. Bibliogr. 1861–1966. Aalen 1967. – Weitere Titel: Franz Xaver Eggersdorfer: O. W. Leben u. Werk. Freib. i. Br. 1957. – Hans Christoph Berg: Genetisch lehren mit Wagenschein u. W. In: Neue Slg. 30 (1990), S. 15–22 (mit weiteren Aufsätzen zu W.). – Wolfgang Brezinka: O. W. In: Gesch. u. Gegenwart 16 (1997), S. 147–166. – Rotraud Coriand: Karl Volkmar Stoy (1815–1885) u. O. W. (1839–1920). In: Klassiker der Pädagogik. Die Bildung der modernen Gesellsch. Hg. Bernd Dollinger. Wiesb. 2008, S. 151–178. – Hermann Ganß: O. W.s Rolle in der Auseinandersetzung um den Begriff ›Sozialpädagogik‹. Eichstätt 2008. – R. Coriand: O. W. u. der ›Anspruch der Pädagogik auf akadem. Bürgerrecht‹. In: Die Pädagogik des Herbartianismus in der Österreichisch-Ungarischen Monarchie. Hg. Erik Adam u. Gerald Grimm. Wien u. a. 2009, S. 37–53. – Dies.: ›Lernen‹ – ein ›einheimischer‹ Begriff ? Zur Lehren-Lernen-Korrelation im Herbartianismus, insbes. bei O. W. In: Konzepte des Lernens in der Erziehungswiss.: Phänomene, Reflexionen, Konstruktionen. Hg. Gabriele Strobel-Eisele u. Albrecht Wacker. Bad Heilbrunn 2009, S. 112–121. Heiner Barz / Red.

Wilsnacker Wunderblut. – Hostienwunder im brandenburgischen Ort Wilsnack 1383; wurde im 15./16. Jh. vielerorts in Chroniken, theologischen Traktaten, Einblattdrucken u. a. m. thematisiert. Nachdem die Pfarrkirche des kleinen Orts Wilsnack im Bistum Havelberg am Bartholo-

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mäustag (24.8.) 1383 durch Heinrich von Bülow, der zu dieser Zeit mit dem Havelberger Bischof in Fehde lag, zerstört worden war, wurde berichtet, der Gemeindepfarrer habe aus der Asche drei unversehrte konsekrierte Hostien geborgen, die am Rand leicht gerötet u. mit einem Blutstropfen gezeichnet waren. Der Havelberger Bischof griff diesen Bericht auf, inszenierte das Wunder u. etablierte eine gewinnträchtige Wallfahrt nach Wilsnack. Bald pilgerten Wallfahrer aus vielen Teilen des christl. Europas nach Wilsnack, das im Hinterland der Hanse lag. Der Kernbereich des Einzugsgebiets erstreckte sich von Schleswig bis Hessen u. von den Niederlanden bis Preußen. Darüber hinaus lassen sich Pilger aus Böhmen u. Ungarn, Kleinpolen (Krakau), Lettland (Riga) u. Skandinavien nachweisen. Der große Erfolg des Wunderbluts zog bald den Argwohn der benachbarten Geistlichkeit auf sich. Ein heftiger theolog. Disput über die Wahrhaftigkeit des W. W.s in der Mitte des 15. Jh. führte allerdings nicht zur Einstellung der Wallfahrt. Erst die Zerstörung der Wunderhostien durch den ersten luth. Ortspfarrer leitete den allmähl. Niedergang der Wallfahrt nach Wilsnack u. der damit verbundenen Publizistik ein. Die Voraussetzungen u. Gründe für den enormen Erfolg des W. W.s lagen in der 1215 auf dem 4. Laterankonzil verabschiedeten Transsubstantiationslehre. Sie besagt, dass sich Brot u. Wein durch die Konsekration des Priesters bei Wahrung von Aussehen u. Geschmack in den Leib u. das Blut Jesu Christi verwandeln würden. Infolgedessen kamen Berichte von Wundererscheinungen auf, die diesen Vorgang bestätigten. Nachdem Papst Urban IV. 1264 das Fronleichnamsfest für die römische Kirche eingeführt hatte, setzte es sich im ersten Drittel des 14. Jh. im mittel- u. norddt. Raum unter dem Namen »Heiligblutstag« durch. An diesem Tag wurde die hl. Hostie in einer Monstranz (Schaugefäß) präsentiert u. meist feierl. Prozessionen vorangetragen; die erste dt. Wallfahrt in diesem Zusammenhang führte 1331 nach Gottsbüren in Hessen. Die Transsubstantition hatte mehrere einflussreiche Kritiker auf den Plan gerufen, die sich nicht nur an der Lehre selbst störten,

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sondern auch an den Begleitumständen. Das W. W. nahm innerhalb dieses theolog. Disputs eine herausragende Stellung ein: zwei heftige Kontroversen schlugen sich schriftenreich in Synodalbeschlüssen, Traktaten, Gutachten u. Korrespondenzen nieder. In der ersten hatte der Prager Erzbischof Zbynko von Hasenburg eine Kommission bestellt, die verschiedene neuere Wallfahrten begutachten sollte, bestehend aus dem bekannten Kirchenreformer u. später verurteilten Häretiker Jan Hus u. a. Nachdem der Erzbischof zuvor bereits zwei andere Wallfahrten verboten hatte, unterstellte er 1405 dem W. W. auf Grundlage des kommissarischen Gutachtens, dass es sich hierbei nur um eine Schurkerei der örtl. Geistlichen zur Erhöhung ihres materiellen Gewinns handele. Hus begründete seine grundsätzl. Ablehnung von Bluthostien damit, dass Christus auf seiner Himmelfahrt alles mit sich genommen habe, daher könne weder Blut noch Leib auf der Erde zurückgeblieben sein (Quaestio de sanguine Christi. 1405/1407). Der Erzbischof verbot daraufhin jedem, der seiner Kirchenprovinz angehörte, nach Wilsnack zu pilgern. Die zweite theolog. Kontroverse, insbes. geführt von Vertretern des Franziskaner- u. Dominikanerordens, erreichte ihren Höhepunkt in den Jahren von 1443 bis 1453: aufseiten der Franziskaner standen u. a. Matthias Döring, sächs. Ordensprovinzial, Johann Kannemann aus Magdeburg, Nikolaus Lackmann aus Erfurt u. der brandenburgische Kurfürst Friedrich II.; aufseiten der Dominikaner agierten u. a. Heinrich Toke aus Magdeburg, Johann Hagen aus Erfurt u. der Karthäuser Jakob von Paradies. Die Magdeburger Erzbischöfe Günther von Schwarzburg (1403–1445) u. Friedrich von Beichlingen (1445–1464) unterstützen engagiert die Kritik der Dominikaner. 1446 verfassten Toke u. Heinrich Zolter die Articuli oblati, 30 Artikel gegen Wilsnack: Sie warfen dem örtl. Klerus Götzendienst, gefälschte Wunder u. Habgier vor. Darauf reagierten Kannemann u. Döring, die sich u. a. auch deshalb von Toke u. dem Erzbischof angegriffen fühlten, weil diese die Franziskaner im Erzbistum Magdeburg gegen ihren Willen zu reformieren suchten. In ihrer Ant-

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wort warfen sie Toke vor, die gleichen Argumente wie der Häretiker Jan Hus gegen das W. W. zu verwenden (Hic quidem determinans singulari odio. 1446). Döring brachte die Wunderhostie nicht mit dem hl. Sakrament in Verbindung, sondern verstand sie als Reliquie, deren Präsentation erwünscht sei. Toke u. Zolter legten noch im selben Jahr eine Gegenschrift an der Universität Erfurt zur Begutachtung vor (Dubia circa sacramentum quod dicitur esse in Welsnack. 1446); das Gutachten fiel gemäßigt kritisch aus. Der sich daran anschließende Streit mit Schwerpunkten an den Universitäten Erfurt u. Leipzig sowie dem Braunschweiger St. Ägidienkloster (im Besitz einer Blutreliquie) wurde grundsätzlicher: Die Gegner kritisierten nicht nur Wilsnack, sondern die Reliquienverehrung u. ihr Vermögen der Heilsvermittlung insgesamt. Damit wurde an die ältere Diskussion um Jan Hus angeknüpft. Bereits 1446 hatte Kurfürst Friedrich II. von Brandenburg sich in diese Auseinandersetzungen eingeschaltet. Da er im Streit des Papstes mit dem Baseler Konzil (1431–1449) auf die Seite Eugens IV. getreten war, erlangte er die Anerkennung der Hostien, einen erneuten Ablass u. das Recht, über die Bluthostie neue konsekrierte Hostien zu legen, um der »Abnutzung« der Wunderhostien zu begegnen. Nachdem jedoch durch den päpstl. Legaten Nikolaus von Kues am 5.4.1451 ein generelles Verbot, Bluthostien zu zeigen, ihre angebl. Wunder zu verkünden u. Bleizeichen in Hostienform zu verkaufen, erlassen worden war, kam es zur gegenseitigen Exkommunikation des betroffenen Magdeburger Erzbischofs u. des Havelberger Bischofs. Der Erlass des Legaten wurde aber 1453 von Papst Nikolaus V. während einer Romreise Friedrichs II. kassiert. Der fast ausschließlich in lat. Sprache geführte Gelehrtendisput beeinträchtigte den Pilgerstrom nach Wilsnack nicht. Im Gegenteil: Chronisten insbes. aus der zweiten Hälfte des 15. Jh. berichten von (spontanen) Massenwallfahrten, dem »Wilsnacklaufen«. Während aus dem 14. Jh. nur ein Laufen schles. Pilger für das Jahr 1397 (Ludolf von Sagan: Catalogus abbatum Saganensium) bekannt ist, berichten mehrere mitteldt. Chro-

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niken von Massenwallfahrten v. a. junger Leute u. Kinder, die sich – vielleicht genötigt durch Armut u. bevorstehende Hungersnöte oder im Zusammenhang mit anderen Wallfahrten wie ein Reliquienfest in der Aachener Marienkirche – auf die Reise nach Wilsnack begaben: 1475 Pilger aus Thüringen, Franken, Hessen, Meißen, Österreich u. Ungarn (Magdeburger Bischofschronik, Konrad Stolle: Erfurter Chronik), 1476 Pilger aus Thüringen u. Franken (Markus Spittendorf aus Halle: Denkwürdigkeiten), 1487 Pilger aus Kursachsen u. Meißen (Weltchronik des Dietrich Engelhus, fortgeführt von Matthias Döring), 1488 Pilger aus Braunschweig (Anonymus: Braunschweiger Stadtfehde 1492/93), 1516 Pilger aus Rinteln an der Weser (Cyriakus Spangenberg: Chronicon [...] der [...] graffen zü Holstein). Das Laufen wurde v. a. von Erfurter Theologen wie Johannes (Bauer) von Dorsten u. dessen Schüler Johannes von Paltz kritisiert: Es störe die Ordnung, die nach der Kirche das höchste Gut Christi sei; das Laufen sei eine Form betrügerischer Wallfahrt. Neben diesen Beispielen existieren in bisher nicht überschaubarer Zahl Hinweise u. Berichte zum W. W. in historiografischen Schriften, von denen folgende in der histor. Forschung bereits diskutiert werden: Limburger Chronik des Tilemann Elhen (um 1400), Hermann Korner: Chronica novella (um 1435), Eberhart Windeck: Denkwürdigkeiten (um 1438/39), Johannes Cochlaeus: Brevis Germanie descriptio (Nürnb. 1512) sowie weitere Chroniken aus Braunschweig, Lübeck u. Nürnberg (siehe Ausgaben). Bis zur Mitte des 15. Jh. hatte Wilsnack sich als bedeutendster Wallfahrtsort im norddt. Raum etabliert, zu dem Pilger jegl. Standes reisten. In öffentlich ausliegenden Mirakelbüchern verzeichneten die Wilsnacker Geistlichen jedes Wunder, das mit ihren Hostien in Verbindungen stand; diese Bücher gingen allerdings wie die ebenfalls in Wilsnack geführten Bücher von Bruderschaften, die dort Stiftungen eingerichtet hatten, schon im 16. Jh. verloren. Von der Verbreitung zeugen hingegen noch Testamente mit reichen Legaten (aus Lüneburg 1398, 1417, 1429; aus Braunschweig 1428, 1490; aus Holland eine Stiftung von 80 bemalten u. 14 Blankglas-

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fenstern, 1459 gestiftet von Frank van Borselen), Gerichtsbücher, in denen Strafwallfahrten zum W. W. angewiesen wurden (z. B. 196 Strafwallfahrten in Antwerpen, 66 in Brüssel, 60 in Gouda, 40 in Mecheln, eine in Stralsund), Rechnungsbücher (Wallfahrt Landgraf Ludwigs I. von Hessen 1431), Viatica (Schutzbriefe für Wallfahrer, z. B. vom Osloer Bischof Jens Jakobssøn, vom Lübecker Domdechanten Nikolaus van der Molen) u. Grafitti in der Wilsnacker Kirche (Ritzzeichnungen um 1500). Das Wilsnacker Pilgerzeichen zeigt auf drei durch ein Dreieck verbundenen Hostien die Geißelung, Kreuzigung u. Auferstehung Jesu Christi (www.pilgerzeichen.de). Aus dem frühen 16. Jh. sind vier Drucke zum W. W. bekannt, die über den Kirchenbrand von 1383 u. die anschließenden Wunder anschaulich berichten: ein achtseitiges Heftchen in Niederdeutsch (Magdeburg bei Jacob Winter 1509), ein Bilderbogen mit 15 Einzelszenen (De hystorie unde erfindinghe des hillighen sacraments tho der Wilssnagk, um 1510), die Historia inventionis et ostensionis viuifici sacramenti in Wilsnack (Lübeck bei Stephan Arndes 1520) u. ihre niederdt. Übertragung (Rostock bei Ludwig Dietz 1521). Zu den Funktionen der Drucke gibt es unterschiedl. Vorschläge: zur Erinnerung nach vollzogener Wahlfahrt, zur Bewerbung des W. W. aufgrund sinkender Pilgerzahlen oder zur Deckung des gesteigerten Bedarfs privater Andachtsstücke. Am Beginn des Reformationszeitalters wurde das W. W. abermals Ziel namhafter krit. Theologen, ohne dass bekannt ist, ob sich daraus eine größere Diskussion entwickelte. Martin Luther polemisierte in seiner Schrift An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung (Wittenb. 1520) gegen die Wallfahrtsorte Wilsnack, Sternberg in Mecklenburg, Trier, Regensburg u.a.m. Er richtete seine Kritik gegen die betreffenden Bischöfe als Nutznießer der Einnahmen, die solch ein »Teufelsgespenst« zuließen; desgleichen warnte Philipp Melanchthon in seinen Articuli Torgavienses (1530) vor den Verfehlungen dieser Pilgerreisen. Eine intensive Auseinandersetzung mit dem W. W. setzte erst wieder nach dem Versiegen

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der Pilgerströme mit Matthäus Ludecus, dem Dekan des evang. Domstifts zu Havelberg, ein. Seine Historia von der erfindung, wunderwercken und zerstörung des vermeinten heiligen bluts zur Wilssnagk (Wittenb. 1586) ist die erste u. wichtigste Quellensammlung mit insgesamt 63 Stücken, die heute z. T. verschollen sind. Er lehnt die Bluthostien mit der Begründung ab, dass Wunderzeichen nicht immer Zeichen des Heils seien, sondern auch der Teufel, der »bose Geist«, könne Wunder bewirken. Nach zögerl. Einzug der Reformen im Kurfürstentum Brandenburg u. damit auch in Wilsnack (seit 1538) setzte der Rat der Stadt im Streit um das Patronatsrecht an der Wallfahrtskirche gegen den Willen des protestierenden Havelberger Domkapitels den ersten evang. Pfarrer, den aus Pritzwalk stammenden Joachim Ellefeld, ein, der nur predigen, nicht aber die Sakramente, Reliquien u. Wunderhostien zu verwalten hatte. Ellefeld fühlte sich an diese Absprache nicht gebunden: Er verbrannte am 28.5.1552 die Bluthostien u. wurde daraufhin im Auftrag des brandenburgischen Kurfürsten Joachim II. festgesetzt, jedoch nach zahlreichen Petitionen u. Suppliken, die durch Ludecus überliefert sind, wieder freigelassen. Ausgaben liegen nur ausgewählt nach Einzelthemen u. Regionen vor. – Ausgabenverzeichnisse: Die Kunstdenkmäler der Provinz Brandenburg. Bd. I/1: Die Kunstdenkmäler des Kreises Westprignitz. Bearb. v. Paul Eichholz u. a. Bln. 1909, S. 305–334. – Gottfried Wentz: Germania Sacra I/2: Das Bistum Havelberg. Bln. 1933, S. 62–65, 116–121. – Repertorium Germanicum IV/3 (1958), Sp. 9730; V/1.2 (2004), Nr. 3044, 3163, 5094; VIII/1 (1993), Nr. 1520. – Jutta Fliege (Bearb.): Die Hss. der ehem. Stifts- u. Gymnasialbibl. Quedlinburg in Halle. Halle 1982, S. 92–102, 114–116, 172–175. – AnneKatrin Ziesak: ›Multa habeo vobis dicere‹. Eine Bestandsaufnahme zur publizist. Auseinandersetzung um das Heilige Blut v. Wilsnack. In: Jb. für Berlin-Brandenburg. Kirchengesch. 59 (1993), S. 208–248. – Volker Honemann: W. W. In: VL. – Ausgaben: Matthäus Ludecus: Historia von der erfindung, wunderwercken u. zerstörung des vermeinten heiligen bluts zur Wilssnagk. Wittenberg 1586 (VD 16 L 3181). – Johann Wolf: Lectionum memorabilium et reconditarum, tom. II. Lauingen 1600 (u. a. Abb. der Wilsnacker Sündenwaage). –

Wilsnacker Wunderblut Cyriakus Spangenberg: Chronicon in welchem der hochgebornen uhralten graffen zü Holstein, Schaümbürgk, Ster[n]berg und Gehmen ankünfft. Stadthagen 1614 (Online-Ausg. http://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:gbv:3:1–22843). – Samuel Walther: Foeda et plus quam barbara superstitio Wilsnacensis. Magdeb. 1725. – Josephus Hartzheim: Concilia Germaniae. Bd. 5, Köln 1763. – Augustin Zifte: Vermischte Schr.en des M. Jan Hus v. Hussinecz. Aus dem Lateinischen. Lpz./Prag 1784 (S. 173–241: De sanguine Christi glorificatio). – Ferdinand H. Grautuff (Hg.): Chronik des Franciscaner Lesemeisters Detmar. 2 Bde., Hbg. 1929/ 30. – Ludolf v. Sagan: Catalogus abbatum Saganensium, incipit catalogus abbatum. In: Scriptores rerum Silesiacarum. Bd. 1. Hg. Gustav A. Stenzel. Breslau 1835, S. 173–528. – Adolph F. Riedel: Codex diplomaticus Brandenburgensis. Bd. A 2, Bln. 1842, S. 121–184 (Ablässe, Korrespondenzen etc.) u. Bd. D 1, S. 209–256, hier S. 248 (Weltchronik des Dietrich Engelhus u. Matthias Döring). – Philippi Melanthonis opera quae supersunt omnia. Hg. Karl G. Bretschneider (Corpus reformatorum, 26). Braunschw. 1858 (Nachdr. New York u. a. 1963), Sp. 161–200, hier Sp. 197: Articuli Torgavienses. – Die Chroniken der dt. Städte 14.-16. Jh. Bd. 1: Nürnberg. Bd. 1, Lpz. 1862 (Nachdr. Gött. 1961), S. 379. – Urkundenbuch der Univ. Leipzig 1409–1555. Hg. Bruno Stübel. Lpz. 1879 (Nr. 88, 100–101: Korrespondenzen). – Carl Höfler (Hg.): Concilia Pragensia. Prag 1862 (S. 46–47: Contra peregrinacionem in Welssenag). – Dyt ys dy erfindunge und wunderwerke des hilligen sacramentes tho der Wilsnagk. Hg. Gustav Schmidt. In: Jb. des Vereins für niederdt. Sprachforsch. 3 (1877), S. 57–60. – Denkwürdigkeiten des Hallischen Rathsmeisters Spittendorff. Bearb. Julius Opel. Halle 1880. – Ernst Breest: Das Wunderblut v. Wilsnack (1383–1552). Quellenmäßige Darstellung seiner Gesch. In: Märk. Forsch.en 16 (1881), S. 131–302 (S. 195 f.: Notiz Tokes’; S. 296–301: Articuli Ottoni, Articuli oblati, Tokes Schrift an die Erfurter Univ.). – Synodalrede des Domherrn Dr. Heinrich Toke v. Magdeburg (1451). Hg. Ernst Breest. In: Bl. für Handel, Gewerbe u. sociales Leben (Beiblatt zur Magdeburg. Ztg.) 34 (1882), S. 167–168, 174–180. – Die Chroniken der dt. Städte 14.-16. Jh. Bd. 19: Lübeck. Bd. 1, Lpz. 1884 (Nachdr. Gött. 1967), S. 579 f. – Die Limburger Chronik des Tilemann Elhen v. Wolfhagen. Hg. Arthur Wyss. Hann. 1883 (MGH, Dt. Chroniken u. andere Geschichtsbücher des MA, IV/1). – Martin Luther: An den christl. Adel dt. Nation v. des christl. Standes Besserung. In: Ders.: Werke. Krit. Gesammtausg. Bd. 6, Weimar 1888, S. 381–469, hier S. 447. – Eberhart Windeckes Denkwürdig-

Wilsnacker Wunderblut keiten zur Gesch. des Zeitalters Kaiser Sigmunds. Hg. Wilhelm Altmann. Bln 1893, S. 315. – Die Chronica novella des Hermann Korner. Hg. Jakob Schwalm. Gött. 1898, S. 77, 315. – Die Chroniken der dt. Städte 14.-16. Jh. Bd. 26: Lübeck. Bd. 2, Lpz. 1899 (Nachdr. Gött. 1967), S. 48. – Jan Fijal/ek: . Mistrz Jakub z Paradyza i Uniwersytet Krakowski w okresie soboru bazylejskiego. Bd. 2, Kraków 1900 (S. 291–294: De concertatione super cruore de Wilsnack). – Konrad Stolle: Memoriale-thüringisch-erfurt. Chronik. Bearb. Richard Thiele. Halle 1900. – Johann Hus: De sanguine Christi. In: Ders.: Opera omnia. Bd. 1, Fasc. 1. Hg. Václav Flajsˇhans. Prag 1903. Nachdr. Osnabr. 1966. – Das Wunderblut zur Wilsnack, niederdt. Einblattdruck mit 15 Holzschnitten aus der Zeit v. 1510–1520. Hg. Paul Heitz u. Wilhelm Ludwig Schreiber. Straßb. 1904. – Bruno Hennig: Kurfürst Friedrich II. u. das W. zu W. In: Forsch.en zur brandenburg. u. preuß. Gesch. 19 (1906), S. 391–422 (S. 412: päpstl. Bulle v. 1447). – Die Chroniken der dt. Städte 14.-16. Jh. Bd. 30: Lübeck. Bd. 4, Lpz. 1910 (Nachdr. Gött. 1968), S. 54–56. – Die Chroniken der dt. Städte 14.-16. Jh. Bd. 35: Braunschweig. Bd. 3/I. Stgt./Gotha 1928 (Nachdr. Stgt. 1969), S. 79 (Braunschweiger Stadtfehde 1492/93). – Die brandenburg. Kirchenvisitations-Abschiede. Bd. 1. Hg. Victor Herold. Bln. 1931, S. 611–639. – Ludger Meier: Christianus de Hiddestorf OFM Scholae Erfordiensis columna. In: Antonianum 14 (1939), S. 52–57 (Sermo synodalis oder Tractatus contra cruorem). – Johannes Cochlaeus: Brevis Germanie descriptio. Hg. Karl Langosch. Darmst. 1959. – Joseph Klapper: Der Erfurter Karthäuser Johannes Hagen. Verz. seiner Schr.en mit Auszügen. Lpz. 1961 (S. 119–124: Verteidigung des Eberhard Waltmann, 1453). – Rudolf Damerau: Das Gutachten der Theolog. Fakultät Erfurt 1452 über ›Das heilige Blut v. Wilsnack‹. Marburg 1976 (S. 14–57: De adoratione et contra cruores; Octo articuli de illicita et mala in Wilsnack). – Jutta Fliege: Nikolaus v. Kues u. der Kampf gegen das W. W. In: Das Buch als Quelle histor. Forsch. FS Fritz Juntke. Hg. Joachim Dietze u. a. Mchn. 1978, S. 62–70 (S. 66–68: Korrespon. denz). – Jakub z Paradyza: Wybór tekstów dot/ ycza˛ cychreformy Kos´ciola. Hg. Stanisl/aw A. Porebski. Warszawa 1978 (S. 275–359: De erroribus et moribus christianorum modernorum). – Rita Buchholz u. Klaus-Dieter Gralow: De hystorie unde erfindinghe des hillighen Sacraments tho der wilsnagk. Unter Verwendung eines v. Paul Heitz im Jahre 1904 hg. niederdt. Einblattdrucks aus der Zeit zwischen 1510 u. 1520. Bad Wilsnack 1992. – Magdeburger Bischofschronik. Hg. Eckhart W. Peters. Dößel 2006.

438 Literatur: Georg Landau: Zwei Reisen des Landgrafen Ludwig I. v. Hessen im Jahr 1431. In: Ztschr. des Vereins für hess. Gesch. u. Landeskunde 5 (1850), S. 77–85. – Ernst Breest 1881 (siehe Ausg.n). – Livarius Oliger: Johannes Kannemann. Ein dt. Franziskaner aus dem 15. Jh. In: Franziskan. Studien 5 (1918), S. 39–67. – Ludger Meier: Wilsnack als Spiegel dt. Vorreformation. In: Ztschr. für Religions- u. Geistesgesch. 3 (1951), S. 53–69. – Otto-Friedrich Gandert: Das heilige Blut v. Wilsnack u. seine Pilgerzeichen. In: Brandenburgische Jahrhunderte. FS Johannes Schultze. Hg. Gerd Heinrich u. a. Bln. 1971, S. 73–90. – Dieter Mertens: Iacobus Carthusiensis. Untersuchungen zur Rezeption der Werke des Karthäusers Jakob v. Paradies. Gött. 1976. – Hartmut Boockmann: Der Streit um das Wilsnacker Blut. In: Ztschr. für Histor. Forsch. 9 (1982), S. 385–408. – Angela Nickel: Wilsnack als europ. Wallfahrtsort (1383–1552) u. seine Kunstwerke. In: Die mittelalterl. Plastik in der Mark Brandenburg. Hg. Lothar Lambacher u. Frank M. Kammel. Bln. 1990, S. 153–160 (Kircheninventar). – Folkhard Cremer: Die St. Nikolaus- u. Heiligblut-Kirche zu Wilsnack (1383–1552). 2 Bde., Mchn. 1996. – Jan Peters: Wilsnack nach dem Wunderblut. Nachreformatorisches Kirchenleben in einer märk. Mediatstadt. In: Jb. für Berlin-Brandenburg. Kirchengesch. 61 (1997), S. 124–150. – Morichimi Watanabe: The German church shortly before the Reformation. Nicolaus Cusanus and the veneration of the bleeding hosts at Wilsnack. In: Reform and Renewal in the Middle Ages and the Renaissance. Hg. Thomas Izbicki. Leiden 2000, S. 210–223. – Petra Weigl: Matthias Döring. Provinzialminister von 1427 bis 1461. In: Management u. Minoritas. Lebensbilder sächs. Franziskanerprovinziale vom 13. bis zum 20. Jh. Hg. Dieter Berg. Kevelaar 2003, S. 21–61. – Cornelia Aman: Die Glasmalereien der Wilsnacker Nikolaikirche. In: Mitt.en des Vereins für Gesch. der Prignitz 4 (2004), S. 5–77. – Hartmut Kühne u. Anne-Katrin Ziesak (Hg.): Wunder, Wallfahrt, Widersacher. Die Wilsnackfahrt. Regensb. 2005. – Felix Escher u. Hartmut Kühne (Hg.): Die Wilsnackfahrt. Ffm. u. a. 2006. – Felix Escher: ›Sie sagen, dass sie nicht wissen, warum sie laufen‹. Gedanken zum Wilsnacklaufen. In: Kirche – Kunst – Kultur. FS Gerlinde Strohmaier-Wiederanders. Hg. Hartmut Kühne u. Erdmute Nieke. Ffm. u. a. 2008, S. 73–82. Mario Müller

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Wimpfeling, Wimpheling, Jakob, * 25.7. 1450 Schlettstadt (Sélestad), † 15.11.1528 Schlettstadt. – Humanistischer Pädagoge, Reformer, Autor u. Editor. W., Sohn eines Sattlers u. Zögling der von Dringenberg geleiteten Schlettstädter Lateinschule, bezog 1464 die Freiburger Universität u. 1469, nach kurzem Aufenthalt in Erfurt, die Universität Heidelberg. Dort stieg er als humanistischer Lehrer der Artistenfakultät zu Ämtern u. Würden auf (u. a. Rektor 1481/82) u. trat mit dem kurpfälz. Hof in enge Verbindung. 1484–1498 war er Domvikar, zunächst auch Domprediger in Speyer, schloss unterdes (1496) das in den 1470er Jahren aufgenommene Theologiestudium mit dem Lizentiat in Heidelberg ab. 1498 kehrte er, obschon Theologe, an die Artistenfakultät in Heidelberg zurück, um auf einer Humanistenlektur über Briefe u. Dichtungen lat. Kirchenväter zu lesen. Doch 1501 gab er, nicht ohne Verbitterung über die an Frankreich angelehnte antihabsburgische Politik des Pfälzer Hofs, Ämter u. Pfründen auf, um sich in eine u. a. mit Geiler von Kaysersberg geplante, doch nicht zustande gekommene Priestergemeinschaft zurückzuziehen. Seither ohne öffentl. Amt, betätigte sich W. als Berater des Basler Bischofs, als Seelsorger der Benediktinerinnen von Sölden i. Br. u. als Mentor einiger Straßburger Patriziersöhne, bes. des später als Politiker bedeutenden Jakob Sturm, u. entfaltete von Straßburg aus in engem Kontakt mit Geiler, Sebastian Brant u. dem Basler Drucker Johannes Amerbach eine rege literar. u. editorische Tätigkeit. Seit 1515 lebte W. in Schlettstadt, zuletzt im Dilemma zwischen Reform u. Reformation vereinsamt, als sich viele seiner Schüler, auch Sturm, der von ihm zwar bis 1521 begrüßten, dann aber heftig bekämpften reformatorischen Bewegung anschlossen. W. steht in der Tradition der spätmittelalterl. Kirchen- u. Reichsreform, die bei ihm jedoch pädagogisch u. humanistisch zugespitzt erscheint. Das Zentralproblem aller Reform sieht er mit Jean Gerson (1363–1429), dessen Werke Geiler u. W. edierten, in der richtigen Erziehung. Diese aber soll durch die

Wimpfeling

neue Bildung, einen auf die Kirchenväter mehr als auf die Literatur der paganen Antike fundierten Humanismus, gewährleistet werden. In den Mittelpunkt seiner Reformvorstellungen u. pädagog. Bemühungen rückte W. zunehmend u. mit deutl. Spitze gegen das Selbstverständnis der Orden den humanistisch gebildeten Weltpriester. – Hierüber wie über nahezu alle ihm wichtigen Themen ist W. in literar. Fehden, bisweilen auch Prozesse verwickelt worden. Seinen verbreiteten frühen Unterrichtsbüchern für Poesie u. Rhetorik, De arte metrificandi (Memmingen: Albert Kunne 1484 u. ö.; anonym) u. Elegantiarum medulla ([Speyer: Konrad Hist 1493] u. ö. Erw. u. d. T. Elegantiae maiores), stellte W. den 1480 aufgeführten Prosadialog Stylpho ([Basel: Johann Bergmann de Olpe 1494]) zur Seite, der für die neue Bildung warb u. zugleich den Beginn der lat. Humanistenkomödie in Deutschland darstellt. In mehreren bedeutenden u. einflussreichen Erziehungsschriften brachte W. sodann sein Reformprogramm umfassender zur Darstellung: Isidoneus germanicus ([Speyer: Konrad Hist 1497] u. ö.), das pädagog. Hauptwerk Adolescentia (Straßb.: Martin Flach 1500 u. ö.), De integritate (ebd.: Johann Knobloch 1505), Apologia pro republica christiana (Pforzheim: Thomas Anshelm 1506), Diatriba (Hagenau: Heinrich Gran 1514). Die pfälz. Politik u. Basels Anschluss an die Eidgenossenschaft veranlassten W. seit 1501, verstärkt elsäss., dt. u. reichspatriotische Themen publizistisch-polemisch u. historiografisch zu behandeln. Mit der Germania (Straßb.: Johann Prüß 1501) warnt W. Straßburg indirekt vor den Wegen der pfälz. Politik u. rät die Gründung einer höheren Schule an; das Soliloquium (1505) warnt die Reichsstädte vor dem Beispiel der Schweiz; mit der Epithoma rerum Germanicarum (ebd.: Prüß 1505), einem kurzen Schulbuch, hat W. die erste dt. Geschichte, mit dem gründlichen Argentinensium episcoporum cathalogus (ebd.: Johann Grüninger 1508) die erste in Deutschland gedruckte Bistumsgeschichte verfasst. Daneben ist W. wichtig als Anreger seiner Freunde u. Schüler (u. a. Bebel, Gallus, Gebwiler, Gresemund, Johann Adelphus Muling,

Wimpina

Matthias Ringmann, Spiegel, Trithemius, Vogler, Thomas Wolf d.J.) u. als Editor von Werken v. a. des Hrabanus Maurus, Christian von Stablo, Lupold von Bebenburg, Jean Gerson, Battista Mantovano, Stephan Hoest, Peter Schott. Ausgaben: Stylpho. Urspr. Fassung. Hg. Hugo Holstein. Bln. 1892. Lat./dt. Hg. Harry C. Schnur. Stgt. 1971. – Emil v. Borries: W. u. Murner im Kampf um die ältere Gesch. des Elsasses. Heidelb. 1926 (S. 77–189: Germania). – Aeneas Silvius: Germania, u. J. W.: Responsa et replicae ad Eneam Silvium. Hg. Adolf Schmidt. Köln/Graz 1962. – Adolescentia. Hg. Otto Herding. Mchn. 1965. – J. W./Beatus Rhenanus: Das Leben des Johannes Geiler v. Kaysersberg. Hg. ders. Ebd. 1970. – Bruno Singer: Die Fürstenspiegel in Dtschld. im Zeitalter des Humanismus u. der Reformation. Ebd. 1981 (S. 173–249: Agatharchia). – Briefw. Hg. O. Herding u. Dieter Mertens. 2 Bde. (s. unter Lit.). Literatur: Charles Schmidt: Histoire littéraire de l’Alsace. Paris 1879. Neudr. Hildesh. 1966. Bd. 1, S. 3–188, Bd. 2, S. 317–349 (Werkverz.) u. passim. – Gaston Zeller: Alsace, France et Palatinat au temps de W. In: Revue d’Alsace 87 (1947), S. 30–42. – Otto Herding: W.s Begegnung mit Erasmus. In: FS August Buck. Ffm. 1973, S. 131–155. – Francis Rapp: Réformes et Réformation à Strasbourg. Paris 1974 (Register). – Rainer Donner: J. W.s Bemühungen um die Verbesserung der liturg. Texte. Mainz 1976. – Jacques Ridé: L’image du Germain dans la pensée et la littérature allemandes de la rédecouverte de Tacite à la fin du XVIéme siècle. 3 Bde., Lille-Paris 1977 (Register). – Anton Schindling: Humanist. Hochschule u. Freie Reichsstadt. Wiesb. 1977, S. 23–27. – Franz Josef Worstbrock: Die ›Ars versificandi et carminum‹ des Konrad Celtis. In: Studien zum städt. Bildungswesen des späten MA u. der frühen Neuzeit. Hg. Bernd Moeller u. a. Gött. 1983, S. 462–498. – Contemporaries. – Rudolf Benl: Zu einem Brief W.s aus dem Jahre 1503. In: Bibliothèque d’humanisme et renaissance 48 (1986), S. 93–99. – J. W.: Briefw. Krit. Ausg. mit Einl. u. Komm. Hg. Otto Herding u. Dieter Mertens. 2 Bde., Mchn 1990. – Michel Perrin: Un nouveau regard jeté par J. W. (1450–1528) sur la culture antique et chrétienne. In: Bulletin de l’Association Guillaume Budé N. 1 (1992), S. 73–86. – D. Mertens: J. W. (1450–1528): pädagog. Humanismus. In: Humanismus im dt. Südwesten. Hg. Paul Gerhard Schmidt. Sigmaringen 1993, S. 35–57. – Monique Samuel-Scheyder: W. versus Murner. Die Anfänge der Polemik um die elsäss. Identität im 16. Jh. In: RG 26 (1996), S. 137–151. – Hubert Meyer: J. W. In: NDBA Lfg. 40 (2002),

440 S. 4254–4256. – Susann El-Kholi: J. W.s Dichtung ›De nuntio angelico‹. Versuch einer Analyse u. Interpr.; mit einem Abdruck des Textes nach der Editio princeps v. 1494. In: Jb. Int. Germ. 34 (2002), H. 2, S. 25–46. – Dies.: J. W.: ›De triplici candore Mariae‹. Notizen zu Inhalt u. Aufbau. In: ebd. 36 (2005), H. 2, S. 79–112. – Dies.: Zu J. W.s Dichtung ›De Triplici Candore Mariae‹. Die Gedichtbeigaben. In: Daphnis 35 (2006), S. 647–693. – Yves Delegue: Théologie et poésie ou la parole de vérité: la querelle entre Jacques Locher et Jacques Wimpheling (1500–1510). Paris 2008. – D. Mertens: Struktur – Konzept – Temperament. J. W.s ›Fehden‹. In: Die Kunst des Streitens. Inszenierung, Formen u. Funktionen öffentl. Streits in histor. Perspektive. Hg. Marc Laureys. Gött. 2010, S. 317–329. Dieter Mertens / Red.

Wimpina, Konrad, eigentl.: Konrad Koch, auch: Wimpana, Conradus de WimpineBuchensis (de Fagis), Cunradus ex Fagis, * um 1460 Wimpfen (oder Buchen/Odenwald), † 16.6.1531 Benediktinerabtei Amorbach/Odenwald; Grabstätte: Buchen, St. Oswaldkirche. – Katholischer Theologe, kurfürstlicher Rat. Bekannt ist W. vor allem als scharfer Gegner Martin Luthers u. Gründungsrektor der Universität Viadrina in Frankfurt, die in den ersten Jahren der Reformation unter seiner Mitwirkung ein bedeutendes Gegengewicht zu Wittenberg bildete. Diese Verengung auf das Konfessionelle führte in der Forschung oftmals zu parteiischen u. gelegentlich auch sehr polem. Urteilen über ihn, die das erwünschte Maß an Objektivität vermissen lassen. Über die Kindheit u. frühe Jugend W.s liegen nur wenige Anhaltspunkte vor. Er wurde entweder in Wimpfen oder Buchen als Sohn von Angela u. Heinrich Koch, einem Gerber u. Landwirt, um 1460 geboren. An beiden Orten orientiert sich seine lat. Namensgebung. W. wuchs in Buchen auf u. besuchte dort die städt. Schule, bevor er 1479 seinem Bruder Friedrich zum Studium an die Universität Leipzig folgte. Nachdem er die nötigen Ausbildungsstufen erklommen u. die priesterl. Weihen erhalten hatte, wurde ihm wohl aufgrund einer beeindruckenden Empfangsrede anlässlich der Ankunft des päpstl.

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Legaten Kardinal Raimund Peraudi in Leipzig (1503) die Würde eines Doctor theologiae verliehen. Die Höhepunkte seines bisherigen Werdegangs bildeten die Wahl zum Rektor der Leipziger Universität 1491 u. seine Tätigkeit im Rahmen der Universitätsreformen. In dieser Zeit publizierte W. amtl. Erlasse, Gutachten zu den universitären Reformen, Streitschriften, Predigten, Lobreden u. mehrere Stücke, die v. a. im Rahmen seines Lehrbetriebs Anwendung finden sollten. Dazu zählen u. a. eine Anleitung für das Abfassen von Reden u. Briefen (Praecepta coaugmentandae rhetoricae orationis commodissima et ars epistolandi. Lpz. um 1486), Traktate über das Verhältnis von Theologie u. Philosophie (z. B. Tractatus de erroribus philosophorum in fide Christiana. Lpz. 1493) sowie ein Lobgedicht auf die Universität u. Stadt Leipzig (Alme universitatis studii Lipzensis et urbis Liptzg descriptio. Lpz. 1488). In einem Heldengedicht über den Landesvater u. Schirmherrn der Universität, Herzog Albrecht den Beherzten von Sachsen, schildert er ausführlich dessen Taten u. preist dessen Gemahlin, die böhm. Königstochter Sidonia (Illustrissimi fama[que] super ethera noti. Lpz. 1497). Diesem Hymnus war mit mehreren Auflagen bis ins 18. Jh. hinein die größte Resonanz aus dem frühen Werk W.s beschieden (ca. 1730 Übertragung ins Deutsche). Seit 1499 geriet W. in die Auseinandersetzung seiner beiden Leipziger Kollegen Simon Pistoris u. Martin Pollich über die Ursachen der Syphilis u. den Einfluss der Gestirne. Pollich verdächtigte W. als Bundesgenossen seines Kontrahenten u. begann mit ihm einen erbitterten Streit über die Rolle der Poesie. Während Pollich zum Gründungsrektor der Wittenberger Universität berufen wurde, trat W. vielleicht auf Empfehlung Pistoris’ das Rektorenamt in Frankfurt an. Diese Kontroverse bildet den Ausgangspunkt einer zu Beginn des 18. Jh. aufgezeichneten Legende, wonach die Universitätsgründungen in Wittenberg (1502) u. Frankfurt (1506) auf diesen Streit zurückgehen sollen (Höhle 2002, S. 10, 15 f.). Tatsächlich standen die Schirmherren der Universitäten, der sächsische u. der brandenburgische Kurfürst, v. a. wegen landes- u. kirchenpolit. Gründe in starker Kon-

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kurrenz zueinander, sodass die spätere Auseinandersetzung zwischen Luther u. W. sowohl von persönl. als auch von landespolit. Motiven begleitet wurde. Als erster Rektor der Viadrina verstand es W., der nach dem Erfurter Humanisten Nikolaus Marschalk zweite Wahl war, eine große Zahl von Studenten u. Professoren nach Frankfurt zu locken – v. a. aus Leipzig (insg. 933 Immatrikulationen). Keine der zuvor gegründeten Universitäten hatte eine so große Resonanz auf ihre Werbung gefunden. Die Statuten der Viadrina hielten sich eng an das Leipziger Vorbild, stimmten z. T. wörtlich mit ihnen überein. Trotz des vorgeschriebenen halbjährigen Wechsels im Rektorenamt wusste W. sich als Dekan der Theologischen Fakultät auf Lebenszeit eine einflussreiche Stellung zu sichern, v. a. den ersten Platz im Collegium maius. Er förderte u. a. das studentische Disputieren u. sorgte dafür, dass Brüder des Dominikaner- u. Franziskanerordens in Frankfurt studierten bzw. regelmäßig Vorlesungen hielten. Die Anfänge von W.s Gegnerschaft zu Luther gehen auf eine Disputation am 20.1.1518 an der Viadrina zurück, in der W. dem eben immatrikulierten Ablassprediger Johann Tetzel eine Reihe mit Gegenthesen zu Luthers Ablassgedanken vorlegte, um sie von ihm verteidigen zu lassen. W.s u. Tetzels Gegendarstellung war weniger für eine tatsächlich Gewinn bringende Diskussion geeignet, insofern sie auf die von Luther geäußerten Bedenken kaum eingeht, sondern lediglich die bestehende Ablasspraxis zu bestätigen sucht. Eine öffentl. Verbrennung der gedruckten Gegenthesen im März desselben Jahres durch Studenten in Wittenberg veranlassten die Streitparteien im Anschluss, zu einzelnen Punkten ausführlich Stellung zu beziehen u. infolgedessen die Frankfurter Ablassthesen immer aufs Neue zu publizieren. Sie sind allein im 16. Jh. über 20-mal in diversen Schriften abgedruckt worden u. trugen im Wesentlichen zu W.s mäßiger Popularität im altgläubigen Lager bei, die ihm am Ende seines Lebens nochmals eine wichtige Rolle bei den Vermittlungsversuchen zwischen Altgläubigen u. Protestanten einräumen sollte.

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W. griff, nachdem er die Thesenreihe von 1518 überarbeitet hatte, lange Zeit nicht übermäßig in die öffentl. Diskussion ein, sondern sammelte Material, das er in kleineren Darstellungen verarbeitete u. 1528 in seinem Sammelwerk Sectarum, errorum [...] anacephalaeoseos [...] librorum partes tres publizierte. In diesem dreigliedrigen Werk legt W. im ersten Teil eine Geschichte früherer Häresien vor, um anschließend Luthers Lehren in ihre Tradition zu stellen u. zu verurteilen. Im zweiten Teil begründet er die altgläubigen Positionen zu Klostergelübde, päpstl. Primat, priesterl. Ehelosigkeit, Messopfer, Eucharistie, Beichte u. Heiligenverehrung. Der dritte Teil widmet sich v. a. Überlegungen zur Gnadenlehre u. Willensfreiheit. W. hat diesen Band sorgfältig vorbereitet u. mit Illustrationen ausstatten lassen in der Hoffnung, eine öffentlichkeitswirksame u. fundierte Gegendarstellung zur Wittenberger Reformation vorlegen zu können. Trotz der Bemühungen um eine größtmögl. Verbreitung konnte diese Sammlung sich keiner großen Resonanz erfreuen. Zwei Jahre später hingegen, kurz vor seinem Ableben, gelang es W., eine zweite Sammlung kleinerer Schriften (Farrago miscellaneorum) von Predigten, Vorlesungen, Traktaten etc. mit Hilfe des erfolgreicheren Herausgebers u. Kölner Dominikaners Johannes Host von Romberch zu publizieren. Hier mahnt er u. a. zu einem heiligenähnl. Priestertum u. warnt vor Aberglauben, Heuchelei, Gier, unbotmäßigem Luxus u. Reichtum. Auf dem Augsburger Reichstag 1530, zu dem Kaiser Karl V. geladen hatte, um die altgläubigen u. luth. Anhänger zu vergleichen, wirkte W. als Rat des brandenburgischen Kurfürsten Joachim I. Er erarbeitete die schriftl. Gegendarstellungen zu den protestantischen Glaubensmanifesten (Schwabacher Artikel u. Augsburger Bekenntnis) mit u. gehörte mehreren konfessionell gemischten Verhandlungsgremien an, denen es allerdings nicht gelang, das Ziel des Reichstags zu erreichen. In der altgläubigen Confutatio (Widerlegung) zum Augsburger Bekenntnis u. in die vorausgeschickten Gegenschriften konnte W. einige Passagen seiner Anacephalaeoseis sectarum von 1528 einfließen lassen.

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W. begleitete Kurfürst Joachim noch zur Königswahl Ferdinands I. nach Köln, um dort u. a. mit Johannes Host zu verhandeln; nach Frankfurt kehrte er jedoch nicht mehr zurück. Er reiste, vermutlich schon erkrankt, in seine alte Heimat, den Odenwald, zurück u. beendete sein Leben in der Benediktinerabtei Amorbach. Sein dort aufgelegtes Testament, in dem er Familienangehörige, Bedürftige sowie Institutionen in Wimpfen u. Buchen begünstigt, zeugt von Wohlstand, den er v. a. durch Geldanlagen in Rentenbriefen u. Pfründen in Würzburg, Brandenburg/Havel u. Havelberg erworben hat. Die theolog. Schriften W.s haben weder im altgläubigen noch im protestantischen Lager größere Spuren hinterlassen. Nach 1526 findet sich kein Hinweis mehr darauf, dass Luther oder seine Anhänger ihn als ernst zu nehmenden Konkurrenten wahrgenommen haben; sein Auftritt in Augsburg war von geringer Wirkung u. vermutlich durch den in konfessionellen Fragen sehr impulsiven Kurfürsten von Brandenburg inspiriert. In der durch die Disputation Tetzels angeregten Kontroverse übernahm im weitaus größeren Maß der Ablassprediger selbst die Initiative. W.s Kollegen in Augsburg, die kath. Theologen Johannes Eck u. Johannes Cochlaeus, haben verschiedene Schriften von ihm nachweislich genutzt, jedoch scheinen W.s Ausführungen bald nach seinem Tod in Vergessenheit geraten zu sein. Sie galten zwar als fleißige Kompilationen der Kirchenväter u. Altvorderen wie Aristoteles, Hieronymus, Gregor der Große, Johannes Gerson oder Bonaventura, aber ihnen wohnte weder überdurchschnittl. Rhetorik noch jenes schöpferische Angebot inne, das von den Zeitgenossen eingefordert wurde. Über die Wirkung seiner deutschsprachigen Texte (Von der Messe. Frankf./O. 1526. Christlicher Glaubensspiegel. Frankf./O. 1528) ist nichts weiter bekannt. Diese zwei singulären Drucke von ihm unterstützen allerdings den Eindruck, dass W. den fachspezifischen, insbes. inneruniversitären Disput bevorzugte u. weniger auf Breitenwirksamkeit abzielte. Seine Ausgaben von Texten des Augustinus oder des Thomas von Aquin fanden außerhalb der Viadrina kaum Verbreitung. Die lange Zeit

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W. zugeschriebene Schrift Centuria (1514 ab- histor. Wandels vor 1517. Ein Beitr. zu Voraussetgeschlossen), eine Sammlung von Notizen zungen u. Einordnung der Reformation. In: ARG über Gelehrte aus Leipzig, Wittenberg u. 90 (1999), S. 6–71. – Michael Höhle: Univ. u. ReFrankfurt/O., ist nicht von ihm bzw. von ihm formation. Die Univ. Frankfurt (Oder) v. 1505 bis 1550. Köln u. a. 2002, bes. S. 124–131, 208–276, allein verfasst worden, sondern von mehreren 310–336. Mario Müller Personen. W.s umfängl. Nachlass an frühen Drucken ging in die Universitätsbibliothek Viadrina über u. ist heute gut zu rekonstru- Wimpinaeus ! Albrecht, Johann ieren (Kocowski 1959). Ausgaben: Nikolaus Müller: Über K. W. Eine Quellenstudie. In: Theolog. Studien u. Kritiken 67 (1894), S. 339–362 (W.s Testament). – Gerlinde u. Rainer Trunk: St. Oswald Buchen/Odenwald. Regensb. 21995, S. 8 f. (Abb. v. W.s Grab u. Epitaph). – Erwin Kiefer: Das Epitaph für K. W. zu Buchen. In: Freiburger Diözesan-Archiv 80 (1960), S. 279–284. – Gegen das Bekenntnis Martin Luthers (zus. mit Johann Mensing u. a.): In: Flugschr.en gegen die Reformation (1525–1530). Hg. Adolf Laube. 2 Bde., Bln. 2000, Bd. 2, S. 1237–1247. – Internet-Ed. zahlreicher Werke in: BSB München. Literatur: Bibliografien: Heinrich Grimm: Die Holzschnittillustration in den Drucken aus der Universitätsstadt Frankfurt a. d. Oder bis zum Jahre 1528. Mainz 1958 (Abb. 14 f., 17 f. aus der ›Anacephalaeosis‹). – Bronisl/aw Kocowski (Bearb.): Katalog inkunabulow biblioteki uniwersyteckiej w Wrocl/awiu. Bd. 1, Wrocl/aw 1959, Nr. 226, 230, 249, 253, 1218, 1222, 1237, 1494, 1662, 2725, 2935 (W.s Nachl.). – Klaiber, Nr. 3290–3320 (Werkverz.), Nr. 2114 (Streitschrift contra W.). – Hans-Erich Teitge: Der Buchdruck des 16. Jh. in Frankfurt a. d. Oder. Verz. der Drucke. Wiesb. 2000, Nr. 56, 75–77, 96, 115, 117–120, 121 f., 125, 137, 142 f. – Jürgen Splett: Conrad W. In: Bio-Bibliogr.n. Brandenburg. Gelehrte der Frühen Neuzeit. Mark Brandenburg mit Berlin-Cölln 1506–1640. Hg. Lothar Noack u. Jürgen Splett. Bln. 2009, S. 636–651 (Werk-, Nachl.- u. Literaturverz.). – VD 16. – Weitere Titel: Rupert Mittermüller: Conrad W. In: Der Katholik 49 (1869), 1. Hälfte (N. F. 21), S. 641–680; 2. Hälfte (N. F. 22), S. 1–20, 129–165, 257–285, 385–403. – Gustav Bauch: Gesch. des Leipziger Frühhumanismus mit besonderer Rücksicht auf die Streitigkeiten zwischen K. W. u. Martin Mellerstadt. Lpz. 1899. – Joseph Newger: K. W. Ein kath. Theologe aus der Reformationszeit. Breslau 1909. – Peter P. Koch: K. Koch W. v. Buchen. Zum Gedächtnis seines 400jährigen Todestages am 16. Juni 1531. Buchen (Odenwald) 1931. – Remigius Bäumer: K. W. (1460–1531). In: Kath. Theologen der Reformationszeit. Bd. 3, Münster 1986, S. 7–17. – Michael Erbe: Conradus Coci de W.: In: Contemporaries. – Wilhelm E. Winterhager: Ablasskritik als Indikator

Winckelmann, Franz Karl Philipp von, * 17.6.1757 Meiningen, † 29.7.1820 Samarang/Java. – Verfasser eines Reiseberichts. W., Sohn eines Kammerherrn, absolvierte das Studium der Staatsverwaltung an der Karlsschule in Stuttgart. Er verkehrte im Freundeskreis um Charlotte von Wolzogen u. Friedrich Schiller, dessen Bemühungen um Subskribenten für das Theaterjournal »Thalia« er tatkräftig unterstützte. Nach seiner Verlobung mit einer Schwester der Reichsgräfin Franziska von Hohenheim versetzte ihn Herzog Karl Eugen in das württembergische Kapregiment, das den strateg. Zugang zum Indischen Ozean für die Holländische Ostindienkompanie schützen sollte. Die Offiziere des Regiments, neben W. noch zwei weitere Freunde Schillers (Carl von Wolzogen, Josef Kapf), erwiesen sich auch fernab ihrer Heimat als Bewunderer des Dichters, u. einige seiner Werke wurden ihnen nachgesandt. 1791 wurde das Regiment nach Java u. W.s Kompanie nach Ceylon verlegt, wo er sich mit einer Beamtentochter vermählte. Als die Insel 1796 von den Engländern erobert wurde, geriet W. in Kriegsgefangenschaft, aus der er erst ein Jahrzehnt später entlassen wurde. Auf Java betrieb W. die Auflösung des Kapregiments u. trat nach dem Tod seines Freundes Wolzogen dessen Stelle als Direktor der Forsten auf Java an. W.s Nachruhm gründet auf seinem Bericht über eine Reise in das östl. Kapland (1788/89), das Land der Xhosa, deren staatl. Ordnung »ohne Polizei« er erforschen wollte. Seine feinsinnigen u. geistreichen Beobachtungen sind teils von Rousseaus Eintreten für die sog. Naturvölker, teils von eigenen Erfahrungen mit dem dynast. Polizeistaat Karl Eugens

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beeinflusst. Sie harren, in literar. wie auch in ethnolog. Hinsicht, noch einer eingehenden Würdigung. Weiteres Werk: Reisaantekeningen van F. v. W. 1789. In: Reizen in Zuid-Afrika in de Hollandse Tijd. Hg. E. C. Godée-Molsbergen. Tl. 4: Tochten in Het Kafferland [...]. Den Haag 1932, S. 63–99 (in dt. Sprache). Literatur: Johannes Prinz: Das württemberg. Kapregiment [...]. Stgt. 21932. – Una Long (Hg.): Travels of F. v. W. in Kaffraria [...]. In: East London Centenary, Official Souvenir Brochure. East London 1948, S. 43–49. – O. F. Raum: Drei Freunde Schillers am Kap. In: Die Eiche 13 (Moorleigh/Natal 1959), 4, S. 50 ff. – Ders.: Field Chaplain with the Württemberg Regiment at the Cape [...]. In: Bulletin of the South African Library 22 (Cape Town 1966), 1, S. 4 ff. O. F. Raum

Winckelmann, Johann Joachim, * 9.12. 1717 Stendal, † 8.6.1768 Triest. – Philologe, Bibliothekar, Archäologe, Gemmograf. Nach dem Besuch der Lateinschule in Stendal, des Köllnischen Gymnasiums zu Berlin u. der Altstädtischen Schule in Salzwedel studierte der Sohn eines Schuhmachers vom April 1738 bis zum Febr. 1740 Theologie in Halle. Im Anschluss an eine einjährige Hauslehrerzeit nahm W. im Frühjahr 1741 das Studium der Medizin an der Universität Jena auf. Im Frühjahr 1742 wurde er Hauslehrer in Hadmersleben bei Magdeburg, danach, im April 1743, begann die von W. immer wieder als Martyrium beschriebene Zeit als Konrektor an der Lateinschule in Seehausen. Im Sept. 1748 ging er als Bibliothekar des Reichsgrafen Heinrich von Bünau nach Nöthnitz bei Dresden; die bibliothekarische Tätigkeit in der berühmten Büchersammlung des Grafen schloss eine Mitarbeit an dessen Teutscher Kayser- und Reichs-Historie (Lpz. 1728 ff.) ein. Im Okt. 1754 verließ W. die Dienste Bünaus. Im Juni desselben Jahres war er zum Katholizismus übergetreten: ein seit 1751 vorbereiteter Schritt, der ihm den Weg nach Italien ebnen sollte. Das Jahr vor seiner Abreise verbrachte er in Dresden insbes. mit Studien zur bildenden Kunst, wobei er unter dem Einfluss des Malers Adam Friedrich Oe-

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ser stand. Die dem Kurfürsten gewidmeten Gedancken über die Nachahmung der Griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst (Dresden 1755. 2., verm. Aufl. Dresden/Lpz. 1756) begründeten trotz ihres schmalen Umfangs u. der niedrigen Auflage W.s europ. Ruhm (frz. Übersetzungen 1755 u. 1756). In Abkehr von den Ausdrucksübersteigerungen der barocken Formenwelt entwickelte W. hier, in Übereinstimmung mit dem um die Jahrhundertmitte in ganz Europa neuerwachenden Interesse an den griech. Ursprüngen des guten Geschmacks, sein auf der These von der Vorbildlichkeit der griech. Kunst gründendes Nachahmungspostulat: »Der eintzige Weg für uns, groß, ja, wenn es möglich ist, unnachahmlich zu werden, ist die Nachahmung der Alten« (Ausg. 1755, S. 2). Die klimat. Bedingungen u. die polit. Freiheit Griechenlands erklärten für W. die körperl. Schönheit der Griechen, die in ihrer Kunst zur idealen Schönheit gesteigert erscheine. Als bes. folgenreich erwies sich W.s an der Laokoon-Gruppe entwickelte Charakterisierung der Ausdruckskomponente der griech. Kunst, nach der die sittl. Größe des Dargestellten sich dem Betrachter in der Ruhe des Ausdrucks vermittelt: »Das allgemeine vorzügliche Kennzeichen der Griechischen Meisterstücke ist endlich eine edle Einfalt, und eine stille Grösse, so wohl in der Stellung als im Ausdruck« (S. 19). Das Ideal der Stille als zentrale Kategorie von W.s Ästhetik, in der eth. u. ästhetische Komponenten miteinander verschmelzen, war von großer Bedeutung für die Ausbildung des Humanitätsideals der dt. Klassik. W.s Idealisierung Griechenlands in seiner Erstlingsschrift leitete geschmacksgeschichtlich die Wendung von Rom, der Heimat des Barockklassizismus, nach Athen als dem Ursprungsort menschl. Idealität ein. Im Herbst 1755 ging W. nach Rom, wo ihm ein Stipendium des Kurprinzen zunächst eine unabhängige Gelehrtenexistenz ermöglichte. Unter dem Einfluss des mit ihm befreundeten Sächsischen Hofmalers Anton Raphael Mengs wandte er sich konzentriertem Antikenstudium zu, wobei er verschiedene literar. Pläne verfolgte: neben einer Beschreibung der Statuen im Belvedere v. a. eine Abhandlung »Vom Geschmack der griechischen

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Künstler« u. eine Studie »Von den Vergehungen der Scribenten über die Ergänzungen«. All diese Pläne schlossen sich im Spätsommer 1756 zu der Idee einer Geschichte der Kunst des Altertums zusammen; an diesem wissenschaftsgeschichtlich revolutionären Werk arbeitete W., über das Erscheinen der Erstausgabe hinaus, bis an sein Lebensende. Der Ausbruch des Siebenjährigen Kriegs nötigte W. im Jan. 1757, als Bibliothekar in die Dienste des Kardinals Archinto zu treten; dadurch gelangte er in enge Berührung mit der röm. Gelehrtenwelt. Von Sept. 1758 bis April 1759 erarbeitete W. in Florenz auf Einladung seines Freundes Wilhelm MuzelStosch den großen beschreibenden Katalog der Gemmensammlung des 1757 verstorbenen Barons Philipp von Stosch (Description des pierres gravées du feu Baron de Stosch. Florenz 1760). Diese Arbeit war von grundlegender Bedeutung für W.s weiteres wissenschaftl. Werk, weil er der Deutung der Gemmen erstmals das Grundaxiom seiner Hermeneutik zugrunde legte, die antiken Denkmäler zeigten Gegenstände des griech. Mythos, wie er in den Texten der griech. Dichter überliefert sei. Im Juni 1759 wurde W. Bibliothekar des Kardinals Alessandro Albani, des größten Antikensammlers in Rom u. Erbauers der Villa Albani; in Diensten des ihm freundschaftlich verbundenen Albani blieb er bis zu seinem Tod. Im April 1763 wurde W., durch die Vermittlung Albanis, das hochangesehene Amt eines Oberaufsehers aller Altertümer in u. um Rom (Prefetto delle antichità di Roma) übertragen; im Folgemonat wurde er zusätzlich zum Scriptor linguae teutonicae an der Vaticana ernannt. Diese beispiellose Gelehrtenkarriere eines Deutschen in Rom sicherte W. in der dt. Gelehrtenwelt einzigartigen Ruhm, zu dem er mit einem überlegt geführten Briefwechsel mit seinen dt. Freunden zusätzlich entscheidend beitrug. Als führende Autorität in der Altertumskunde erwies W. sich mit einer Folge kleiner Schriften, in denen er den Anspruch auf genaueste histor. Materialerschließung mit dem Primat des Sehens begründete: Über die Kunst u. das Schöne könne nur aus der konkreten Anschauung

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geschrieben werden. Einer Reihe von Aufsätzen, die 1759 in der »Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste« erschienen waren, folgten Anmerkungen über die Baukunst der Alten (Lpz. 1762) u. das Sendschreiben von den Herculanischen Entdeckungen (Dresden 1762. Frz. Paris 1764), das, als wissenschaftl. Ertrag seiner zweiten Reise nach Neapel (1762), zu heftiger Verstimmung am Hof zu Neapel führte, der sämtl. Publikationen über die Resultate der Ausgrabungen in den wiederentdeckten Vesuv-Städten untersagt hatte (weitere Reisen nach Neapel 1758, 1764 u. 1767). Im Herbst 1763 erschien W.s Programm einer ästhetischen Erziehung: die Abhandlung von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen in der Kunst, und dem Unterrichte in derselben (Dresden 1763). Zu einer Gestalt von europ. Rang wurde W. mit dem Erscheinen seiner lange vorbereiteten u. mehrfach umgearbeiteten Geschichte der Kunst des Alterthums (Dresden 1764. Erste frz. Übersetzung Paris/Amsterd. 1766). Das Werk, einer der großen wissenschaftlichen Ordnungsentwürfe des 18. Jh., brach mit der Tradition, die Kunstgeschichte vornehmlich als Künstlergeschichte in der Nachfolge von Vasaris Viten auffasste. W.s Geschichte besteht aus einem systemat. u. einem – erheblich schmaleren – histor. Teil. Sie will die Kunst der Antike nicht in Form einer »bloßen Erzählung der Zeitfolge und der Veränderungen in derselben« darstellen, sondern strebt »einen Versuch eines Lehrgebäudes« an, dessen »vornehmster Entzweck« die Erkenntnis des »Wesens der Kunst« u. damit die Ausbildung eines normativen Schönheitsbegriffs ist. So ordnete W. die Kunst der Antike in einem stilgeschichtl. Entwicklungsschema an, das der Wachstumsmetaphorik folgt: »Die Geschichte der Kunst soll den Ursprung, das Wachsthum, die Veränderung und den Fall derselben, nebst dem verschiedenen Stile der Völker, Zeiten und Künstler, lehren, und dieses aus den übrig gebliebenen Werken des Alterthums, so viel möglich ist, beweisen« (Erstausg., S. IX f.). In den ersten drei Kapiteln stellte W. die ältesten Ursprünge der Kunst sowie die Kunst der Ägypter, Phönizier, Perser u. der Etrusker dar. Das vierte Kapitel, das Kernstück des

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Werks, begründet zunächst den »Vorzug der Griechischen Kunst vor anderen Völkern« (S. 128) mit den schon aus der Erstlingsschrift bekannten Argumenten (Klima, polit. Freiheit, Leibesübungen, gesellschaftl. Stellung der Künstler), entwickelt anschließend eine Ästhetik der griech. Skulptur u. ordnet dann die erhaltenen Denkmäler den verschiedenen Stufen der stilgeschichtl. Entwicklung zu: dem älteren Stil, dem hohen, dem schönen u. dem Stil der Nachahmer. Das den ersten Teil abschließende Kapitel über die Kunst unter den Römern versucht v. a. zu zeigen, dass die Römer keinen eigenen Kunststil ausgebildet haben. Der zweite Teil des Werks gibt eine chronolog. Darstellung der griech. Kunst von ihren Anfängen bis zur Spätantike, dies unter den »äußeren Umständen« (S. 315) der polit. Geschichte, wobei es W. insbes. um den Nachweis geht, dass die Blütezeiten der Kunst in Epochen polit. Freiheit fallen. In diesen Teil sind W.s berühmte Beschreibungen der Statuen des Belvedere integriert, die zu Beginn seiner röm. Zeit entstanden waren. Die Geschichte der Kunst des Alterthums, in der eine theoretisch-systematische u. eine historisch-chronolog. Darstellungsweise spannungsvoll ineinandergreifen, leitete die stilgeschichtl. Kunstbetrachtung ein: den Versuch einer histor. Einordnung der Kunstwerke allein nach ihren formal-ästhetischen Merkmalen. Die Prägnanz von W.s Sprache, die Schnörkellosigkeit seiner »körnigten« Diktion, war stilbildend für die weitere Sprachentwicklung in der dt. Klassik. W. begann gleich nach dem Erscheinen der Geschichte mit der Materialsammlung für eine zweite, verbesserte u. ergänzte Auflage in frz. Sprache. Das Erscheinen einer nichtautorisierten frz. Übersetzung (1766) machte diesen Plan zunichte, sodass W. sich entschloss, das neugewonnene Material u. d. T. Anmerkungen über die Geschichte der Kunst des Alterthums (Dresden 1767) gesondert zu veröffentlichen. Im selben Jahr erschien im Selbstverlag nach langjährigen Vorarbeiten das große Werk Monumenti antichi inediti spiegati ed illustrati (2 Bde., Rom 1767), die altertumskundl. Deutung von 208 bis dahin unpublizierten antiken Kunstwerken, die der Tafelband in Kupferstichen reproduziert. Dem Werk ist als

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Trattato preliminare eine geraffte u. im einzelnen ergänzte ital. Fassung der Geschichte der Kunst des Alterthums vorangestellt. In rastloser Tätigkeit sammelte der in ganz Europa hochverehrte Archäologe, von dem sich dt. Fürsten u. engl. Lords durch Rom führen ließen, bis in seine letzten Lebenstage Material für den dritten Band der Monumenti inediti; zugleich arbeitete er an einer erweiterten Neuausgabe seiner Kunstgeschichte (auf der Grundlage von W.s Aufzeichnungen hg. von Friedrich Just Riedel. Wien 1776). Nebenher entstand der Versuch einer Allegorie, besonders für die Kunst (Dresden 1766), eine Sammlung von – teils selbsterfundenen – Allegorien für die Zwecke der bildenden Künstler, die von den meisten Zeitgenossen mit Unverständnis aufgenommen wurde. W.s Ruhm konnte dies freilich nicht mehr gefährden. So fand im Frühjahr 1768 die Nachricht, W. werde seine lang geplante Deutschlandreise endlich ins Werk setzen, unter den dt. Gelehrten u. der jungen Dichtergeneration größte Resonanz. W. brach aber, von Depressionen gequält, die Reise bereits in Regensburg ab u. begab sich über Wien nach Italien zurück. Bei einem Aufenthalt in Triest fiel er einem Raubmörder zum Opfer. W. galt bei seinem Tod als der bedeutendste Kenner der antiken Kunst in Europa. Mochten ihm auch schon bald Irrtümer, philolog. Versehen u. Fehldeutungen nachgewiesen werden, so blieb davon doch sein Ruhm, der Begründer der Klassischen Archäologie als Wissenschaft zu sein, unberührt. In Abkehr von den traditionellen antiquarischen Interessen hatte er die Stilprinzipien für eine Chronologie der antiken Kunst erarbeitet. Seine kunstästhetische u. stilgeschichtl. Betrachtungsweise war zgl. richtungweisend für die Ausbildung der neueren Kunstgeschichte als wissenschaftl. Disziplin. Und schließlich legte er mit seiner Ästhetik der griech. Skulptur gleichsam das wissenschaftl. Fundament für den humanen Griechentraum der dt. Klassik. »Man lernt nichts, wenn man ihn lieset, aber man wird etwas«, auf diese Formel brachte Goethe noch am 16.2.1827 im Gespräch mit Eckermann den Widerspruch zwischen der wissenschaftl.

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Überholtheit von W.s Werk u. dessen fortdauerndem Bildungswert. Die W.-Gesellschaft mit W.-Museum in Stendal pflegt durch Tagungen, Sammelbände u. Monografien das Andenken des Gelehrten, dessen Leben seit dem 19. Jh. Gegenstand von Dichtungen wurde. Als literar. Figur begegnet W. auch in Novellen des 20. Jh. wie von Werner Bergengruen, Wilhelm Schäfer u. Victor Meyer-Eckhardt (gesammelt in: Novellen um W. Hg. Heinz Berthold. Mainz 1995). Vor allem sein gewaltsamer Tod wurde mehrfach poetisch bearbeitet, zuletzt durch Franco Farina (mit Volker Riedel u. Helgalinde Staudigel, Endpunkt Triest. Leiden und Tod von J. J. W. Stendal 1992) u. durch Rolf Schneider (Die Affäre W. Hörsp. 2009). Ausgaben: Werke. Hg. Carl Ludwig Fernow, Heinrich Meyer u. Johann Schulze. 8 Bde., Dresden 1808–20. – Sämtl. Werke. Einzige vollst. Ausg. Hg. Joseph Eiselein. 12 Bde., Donaueschingen 1825–29. – Werke. Einzig rechtmäßige OriginalAusg. 2 Bde., Stgt. 1847. – Kleine Schr.en u. Briefe. Hg. Hermann Uhde-Bernays. 2 Bde., Lpz. 1925. – Gesch. der Kunst des Altertums. Hg. Ludwig Goldscheider. Wien 1934. – Briefe. Hg. Walther Rehm (in Verb. mit Hans Diepolder). 4 Bde., Bln. 1952–57. – Kleine Schr.en u. Briefe. Hg. Wilhelm Senff. Weimar 1960. – Kunsttheoret. Schr.en. 9 Bde., Baden-Baden/Straßb. 1962–70 (fotomechan. Nachdr. der Erstausg.n). – Gesch. der Kunst des Altertums. Hg. W. Senff. Weimar 1964. – Kleine Schr.en. Vorreden. Entwürfe. Hg. W. Rehm. Einl. v. Hellmut Sichtermann. Bln. 1968 (hist.-krit. Ausg.). – Unbekannte Schr.en. Antiquar. Relationen u. Beschreibung der Villa Albani. Hg. Sigrid v. Moisy, H. Sichtermann u. Ludwig Tavernier. Mchn. 1986. – Schr.en u. Nachlaß. Hg. Akademie der Wiss.en u. der Lit. Mainz, der Akademie gemeinnütziger Wiss.en zu Erfurt u. der W.-Gesellsch. 6 Bde., Stendal/Mainz 1996 ff. Literatur: Bibliografie: Hans Ruppert: W.-Bibliogr. Neudr. der Folgen 1 u. 2. Bln. 1968. – Weitere Titel: Johann Wolfgang Goethe: W. u. sein Jahrhundert. In Briefen u. Aufsätzen. Tüb. 1805. Nachdr. Hildesheim u. a. 2005. – Domenico de Rossetti: Il sepolcro di W. in Trieste. Venedig 1823. – Carl Justi: W. Sein Leben, seine Werke u. seine Zeitgenossen. 3 Bde., Lpz. 1866–72 (weitere Aufl.n u. d. T. ›W. u. seine Zeitgenossen‹). – André Tibal: Inventaire des manuscrits de W. déposés à la Bibliothèque Nationale. Paris 1911. – Berthold Vallentin: W. Bln. 1931. – Gottfried Baumecker: W. in

Winckelmann seinen Dresdner Schr.en. Bln. 1933. – Konrad Kraus: W. u. Homer. Ebd. 1935. – Walther Rehm: Griechentum u. Goethezeit. Gesch. eines Glaubens. Lpz. 1936. – Wolfgang Schadewaldt: W. u. Homer. Ebd. 1941. – W. Rehm: W. u. Lessing. Bln. 1941. – Henry C. Hatfield: W. and his German Critics. 1755–81. A Prelude to the Classical Age. New York 1943. – Hans Zeller: W.s Beschreibung des Apollo im Belvedere. Zürich 1955. – Horst Rüdiger: W. u. Italien. Sprache, Dichtung, Menschen. Krefeld 1956. – Hanna Koch: J. J. W. Sprache u. Kunstwerk. Bln. 1957. – Ingrid Kreuzer: Studien zu W.s Aesthetik. Normativität u. histor. Bewußtsein. Ebd. 1959. – Heinrich Alexander Stoll: W., seine Verleger u. seine Drucker. Ebd. 1960. – Arthur Schulz: W. u. seine Welt. Ebd. 1962. – Ders. (Hg.): Die Kasseler Lobschriften auf W. Ebd. 1963. – H. A. Stoll (Hg.): Mordakte W. Die Originalakten des Kriminalprozesses gegen den Mörder J. J. W.s (Triest 1768). Ebd. 1965. – Wolfgang Leppmann: W. Eine Biogr. Ffm./Bln./Wien 1971. – Nikolaus Himmelmann: W.s Hermeneutik. Mainz/Wiesb. 1971. – Konrad Zimmermann (Hg.): Die Dresdener Antiken u. W. Bln. 1977. – Herbert Beck u. Peter C. Bol (Hg.): Forsch.en zur Villa Albani. Antike Kunst u. die Epoche der Aufklärung. Ebd. 1982. – Thomas W. Gaehtgens (Hg.): J. J. W. 1717–68. Hbg. 1986. – Markus Käfer: W.s hermeneut. Prinzipien. Heidelb. 1986. – Helmut Pfotenhauer: W., der dt. Klassizismus u. die europ. Kunstlit. In. Connections. Essays in honour of Eda Sagarra on the occassion of her 60th birthday. Hg. Peter Skrine. Stgt. 1993, S. 197–209. – A. Potts: Flesh and the Ideal. W. and the Origins of Art History. New Haven/ London 1994. – Georg Daltrop: J. J. W. Skizze seiner Biogr., seiner Hauptwerke u. seiner Leistung. In: Das 18. Jh. Aufklärung. Hg. Paul Geyer. Regensb. 1995, S. 63–80. – H. Pfotenhauer: W.s ›Gedancken über die Nachahmung der Griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst‹. Ein Komm. In: Il confronto letterario H. 23, 12 (1995), S. 23–40. – W. Leppmann: W. Ein Leben für Apoll. Bln. 1996. – Ernst Osterkamp: J. J. W.s ›Heftigkeit im Reden u. Richten‹: Zur Funktion der Polemik in Leben u. Werk des Archäologen. Stendal 1996. – Raimund M. Fridrich: ›Sehnsucht nach dem Verlorenen‹. W.s Ästhetik u. ihr frühe Rezeption. Bern 2003. – Élisabeth Décultot: Untersuchungen zu W.s Exzerptheften. Ein Beitr. zur Genealogie der Kunstgesch. im 18. Jh. Ruhpolding 2004. – Urs Müller: Feldkontakte, Kulturtransfer, kulturelle Teilhabe. W.s Beitr. zur Etablierung des dt. intellektuellen Felds. Lpz. 2005. – Wolfgang v. Wangenheim: Der verworfene Stein. W.s Leben. Bln. 2005. – Thomas Franke: Ideale Natur aus kontingenter Erfahrung. J. J. W.s normative Kunstlehre u.

Winckelmann die empir. Naturwiss. Würzb. 2006. – Wolfgang Adam: W. in Triest. Max Kommerells W.-Mythos in den ›Gesprächen aus der Zeit der dt. Wiedergeburt‹. In: Gesch. der Germanistik 31–32 (2007), S. 51–63. – Clemens Carl-Härle: W.s Problem. In: Studi germanici 45 (2008), S. 7–45. – Mathias René Hofter: Die Sinnlichkeit des Ideals. Zur Begründung von J. J. W.s Archäologie. Ruhpolding 2008. – Doris H. Lehmann: J. J. W. u. die gefälschte Antike. Kritikkompetenz u. Streit von Künstlern u. Gelehrten um 1760. In: Streitkultur. Okzidentale Traditionen des Streitens in Lit., Gesch. u. Kunst. Hg. Uwe Baumann. Gött. 2008, S. 327–383. Ernst Osterkamp

Winckelmann, Johann Justus, auch: Stanislaus Minck von Weinsheun, * 29.8. 1620 Gießen, † 3.7.1699 Bremen. – Chronist, Emblematiker, Dichter.

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publizierte W. Bücher zu diesem Thema, obwohl ihm vielfach die Mittel fehlten, sie mit Kupferstichen auszustatten. 1660 übersetzte er John Barclays berühmtes Emblembuch, Spiegel menschlicher GemüthsNeigungen (Ffm./ Bremen 1660). Eine Würdigung der schriftstellerischen Tätigkeit W.s steht noch aus. Weitere Werke: Lobrede der [...] Statt Alsfeld [...]. Gießen 1648. – Relatio novissima ex Parnasso [...]. o. O. 1618 [! recte ca.1648]. Internet-Ed. in: HAB Wolfenb. – Proteus. Das ist: Eine unglaubl. lustnützl. Lehrart, in kurzer Zeit ohne Müh deutsch- u. lat. Vers zumachen [...]. Oldenb. 1657. – Logica memorativa, cujus beneficio compendium logicae peripateticae brevissimi temporis spacio memoriae mandari potest. Halle 1659. Ffm. 21725. – Caesareologia cum figuris aeneis. Halle 1659. Lpz. 61728. – Der american. Neuen Welt Beschreibung [...]. Oldenb. 1664. – Amphitheatrum orbis politico-historicum [...]. Ebd. 1668. – Artificiosa totius moralis philosophiae delineatio, cuius beneficio praecepta ethices christianae, mediante figura aenea, brevissimo temporis spacio memoriae mandari possunt [...]. Bremen 1679. – Dreyfache KunstSchnur [...]. Ffm./Lpz. 1692. Literatur: Bibliografie: VD 17. – Weitere Titel: Friedrich Wilhelm Strieder: Grundlage zu einer hess. Gelehrten- u. Schriftsteller-Gesch. [...]. Bd. 17, Marburg 1819. Nachdr. Gött. 1988, S. 130–141. – J. Pistor: J. J. W. In: ADB. – Heiduk/ Neumeister, S. 116, 260 f., 496 f., 550. – Conrad Wiedemann: Kennen Sie J. J. Win(c)kelmann? Erste Nachrichten über einen wiederzuentdeckenden Großschriftsteller des 17. Jh. aus Gießen. In: Literar. Leben in Oberhessen. Hg. Gerhard R. Kaiser u. a. Gießen 1993, S. 33–46. – Gerhard F. Strasser: Emblematik u. Mnemonik der frühen Neuzeit im Zusammenspiel. Johannes Buno u. J. J. W. Wiesb. 2000. – Ursula Kocher: Emblematik, Mnemonik, Semiotik. Die ›Gedächtnisbilder‹ J. J. W.s. In: Behext v. Bildern? [...]. Hg. Heinz J. Drügh u. a. Heidelb. 2001, S. 71–85. – Estermann/Bürger, Tl. 2, S. 1456. Jill Bepler / Red.

Der Sohn des Gießener Theologieprofessors Johannes Winckelmann besuchte die Lateinschule in Butzbach, später das Marburger Pädagogium u. die dortige Universität (1633), wo er 1639 den Magistergrad erwarb. 1640 ging W. nach Herborn, brach aber bald zu ausgedehnten Reisen durch Nord- u. Westeuropa, besonders die Niederlande, auf. Seit 1646 war er im Dienst des Landgrafen von Hessen-Darmstadt u. wandte sich bald in dessen Auftrag der Erstellung einer Landeschronik zu. Obwohl er zeitlebens an dieser unvollendet gebliebenen Chronik, von der 1697 fünf Bände in Bremen erschienen, weiterarbeitete, zog W. 1653 nach Oldenburg, wo er als Historiograf im Dienst des Grafen Anton Günther stand. Nach dessen Tod 1667 siedelte W. nach Bremen über, wo er als Korrespondent u. Rat verschiedener Fürsten u. als Schriftsteller lebte. Neben seinen genealog. u. historiografischen Auftragsarbeiten, z. B. Arboretum genealogicum heroum Europaeorum (Oldenb. 1664), Oldenburgische FrieWinckler, Josef, * 7.7.1881 Bentlage dens- und der benachbarten Oerter Kriegs-Hand(heute Rheine), † 29.1.1966 Bensberg bei lungen (ebd. 1671), verfasste W. zahlreiche Bergisch Gladbach; Grabstätte: ebd., kaGelegenheitsschriften. Sein wichtigstes poetholischer Friedhof. – Lyriker, Romancier. tisches Werk ist eine Schäferei, Ammergauische Frülingslust (ebd. 1656). Im Studium wurde Aufgewachsen in Rheine (dort jetzt ein J.-W.W. nachhaltig von der in Marburg von Haus mit Ausstellung u. Nachlass), auf Haus Schupp u. anderen propagierten emblemat. Nyland in Hopsten bei Rheine u. in Kempen, Lehrmethode, die die mnemonischen Fähig- studierte der Sohn eines Salinendirektors keiten steigern sollte, beeinflusst. Zeitlebens Zahnmedizin u. praktizierte von 1907 an in

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Windberger Psalter

Moers. Zusammen mit Wilhelm Vershofen u. – Wolfgang Delseit u. Franz Rudolf Menne (Hg.): J. Jakob Kneip veröffentlichte W. 1904 erste W. 1881–1966. Leben u. Werk. Arbeitsbuch zur Gedichte; 1912 gründeten die drei den Ausstellung. Köln 1991. – W. Delseit: J. W. »Bund Werkleute auf Haus Nyland«. Im (1881–1966). In: Rhein. Lebensbilder. Bd. 13. Hg. Franz-Josef Heyen. Köln 1993, S. 297–312. – Ders.: Banne Walt Whitmans stehen W.s Eiserne SoRichard Dehmel als Förderer v. J. W. Der Schriftnette, die 1914 in der »Inselbücherei« er- steller als Förderer junger Talente. In: Die Moderne schienen (erw. u. d. T. Eiserne Welt. Stgt. 1930). im Rheinland. Ihre Förderung u. Durchsetzung in Sie feiern Großstadt u. Technik in pathet. Lit., Theater, Musik, Architektur, angewandter u. Ton, der sich auch in W.s Kriegslyrik (Mitten bildender Kunst 1900–1933. Hg. Dieter Breuer. im Weltkrieg. Lpz. 1915) wiederfindet. Nach Köln 1994, S. 59–73. – Ders.: J. W. (1881–1966). In: dem ernüchternden Kriegsausgang handel- Lit. von nebenan. 1900–1945. 60 Portraits v. Auten die Gedichte u. Versdichtungen von Ni- toren aus dem Gebiet des heutigen Nordrheinhilismus, Zeitkritik u. Kriegsächtung (Irrgar- Westfalen. Hg. Bernd Kortländer. Bielef. 1995, S. 397–404. – Ders.: ›Jetzt kann ich in der Lit. ten Gottes. Jena 1922). Der Verlust an ZuWestfalens nicht mehr untergehen.‹ Heimat als likunftshoffnung mündete schließlich im terar. Konzept J. W.s. In: Lit. in Westfalen. Beiträge Volkstümlich-Anekdotischen; der Lyriker W. zur Forsch. 3. Hg. Walter Gödden. Paderb. 1995, wurde zum Erzähler u. Romancier. Dem ist S. 119–151. – Dieter Sudhoff: ›Die bedeutsamsten W.s berühmtes, erzählerisch originelles Buch lebenden westfäl. Dichter der Gegenwart‹. Adolf v. Der tolle Bomberg (Stgt. 1923; mehrfach ver- Hatzfeld, J. W. u. der Droste-Preis 1953. Eine Dofilmt u. oft neu herausgegeben) zu verdan- kumentation. In: ebd., S. 153–193. – Westf. Autoken. Entgegen der Konvention ist in diesem renlex. 3. – W. Delseit: Orientierungslosigkeit der Schelmenroman nicht ein sozial Deklassierter Moderne? Hinwendung zur ›neuen Sachlichkeit‹. der Held des Geschehens, sondern ein west- Rhein. Schriftsteller u. der Nationalsozialismus. In: Moderne u. Nationalsozialismus im Rheinland. fäl. Baron, der – den Materialismus der Hg. D. Breuer u. Gertrude Cepl-Kaufmann. Paderb. Gründerzeit verhöhnend – Geld nicht an- 1997, S. 149–161. – D. Sudhoff: Die literar. Mohäuft, sondern unter die Leute bringt. derne u. Westfalen. Besichtigung einer vernachläsNeben weiteren Narrenbüchern (Doctor Ei- sigten Kulturlandschaft. Bielef. 2002, S. 207–253. senbart. Ebd. 1929) zeigen die Menschen und Elmar Elling / Red. Geschichten um Haus Nyland im Pumpernickel (ebd. 1926) W.s Verbundenheit mit Boden u. Windberger Psalter. – Im PrämonstraHeimat (Westfalen). Im »Dritten Reich« zu- tenserkloster Windberg bei Straubing nächst anerkannt, musste sein Roman Die wohl 1174 geschriebenes u. sicher auch Großschieber (Bln. 1933) 1938 aus dem Handel dort verfasstes lateinisch-deutsches Übergezogen werden. W. wurde – vermutlich setzungswerk. wegen seiner Frau, Tochter eines jüd. Kölner Unternehmers – unter Druck gesetzt u. einige Der W. P. enthält in einer Buchausstattung von gehobenem Niveau neben den Psalmen, Male mit Publikationsverbot belegt. Für seinen Westfalen-Spiegel (Dortm. 1952) den Cantica (psalmenartigen Lobgesängen 1953 mit dem Annette-von-Droste-Hülshoff- liturg. Gebrauchs aus verstreuten Stellen des Preis ausgezeichnet, begründete W. 1957 AT u. NT) u. dem Tedeum noch lat.-dt. katedie Nyland-Stiftung, die rheinisch-westfäl. chetische Texte (Paternoster, Credo) u. eine Reihe lat.-dt. u. rein lat. Gebete sowie ein lat. Dichter fördert. Kalendarium mit dt. Zusatzbemerkungen. Ausgaben: Ausgew. Werke. Westfäl. Dichtungen Der lat. Text aller übersetzten Stücke lässt, in vier Bdn. Emsdetten 1960–63. – Ges. Werke in acht Bdn. Ebd. 1983 ff. (Bd. 6: Briefw. 1912–1966. wie im 12. Jh. bei Psalterübersetzungen übEine Ausw. Bearb. u. komm. v. Wolfgang Delseit. lich, zwischen seinen Zeilen Platz für eine fortlaufende dt. Interlinearversion. Köln 1995). Literaturgeschichtlich bezeugt der W. P. Literatur: Karl Vogler: J. W. In: Die Lit. 29 (1926/27), S. 14 f. – Anneliese Stollenwerk: Dr. J. W. die prämonstratensisch seelsorgerischen AkIn: Rheine Gestern Heute Morgen. Ztschr. für den tivitäten des Klosters Windberg unter Abt Raum Rheine 1 (1981), S. 6–23 (Bibliogr. S. 46–53). Gebehard (1141/42–1191) bei der Produktion

Windeck

von Dichtung u. Sachschrifttum in der Volkssprache. Damals entstanden hier neben einer umfangreichen dt. Bibelglossierung das dt. Gedicht Vom Himmelreich u. die dt. Tundalus-Dichtung des Windberger Chorherrn Alber. Die Übersetzung des W. P. bleibt dem Original möglichst nahe, behält insbes. dessen Wortfolge auch gegen die Regeln der dt. Wortstellung bei. In diesem Sinn ist die Zielsprache das Lateinische. Im Vergleich zu älteren u. zeitgleichen Interlinearversionen des Psalters zeichnet sich der W. P. durch seine Ausstattung mit den Psalmtituli, Orationes zu jedem Psalm u. mit gelegentl. dt. Randkommentaren sowie durch das Niveau seiner Übersetzungstechnik u. seinen Wortschatz als relativ eigenständige Arbeit aus. Schwer zu entscheiden bleibt, ob man das Werk eher als Neuschöpfung unter Berücksichtigung althergebrachter Übersetzungstraditionen zu beurteilen hat oder lediglich als verbesserte Fortführung solchen Herkommens. In jedem Fall markiert der W. P. eine wichtige Station auf dem Weg der Psalmenverdeutschung von der Zeit Karls des Großen bis hin zu Luther. Ausgabe: Klaus Kirchert: Der W. P. Bd. 1: Untersuchung. Bd. 2: Textausg. Mchn. 1979. Literatur: Norbert Backmund: Kloster Windberg. Windberg 1977. – Klaus Kirchert, a. a. O. – Elisabeth Klemm: Die roman. Hss. der Bayer. Staatsbibl. Wiesb. 1980. Bd. 1,1, Nr. 178. Bd. 2,2, Abb.en 395 ff. – Klaus Matzel: Zum W. P. In: PBB 105 (1983), S. 177–191. – Karin Schneider: Got. Schr.en in dt. Sprache. Wiesb. 1987, S. 33–37. – Dorothea Klein: W. Interlinearversion zu Psalter, Cantica u. a. In: VL. – Stefan Müller: Die Schrift zwischen den Zeilen. Philologischer Befund u. theoret. Aspekte einer dt. ›Zwischen-Schrift‹ am Beispiel der Windberger Interlinearversion zum Psalter. In: Volkssprachig-lat. Mischtexte u. Textensembles in der ahd., altsächs. u. altengl. Überlieferung. Hg. Rolf Bergmann. Heidelb. 2003, S. 315–329. Ernst Hellgardt / Red.

Windeck, Eberhard, * um 1380 Mainz, † um 1440. – Autor einer Geschichte über Kaiser Sigmund und seine Zeit. An mehreren Stellen einer chronikal. Biografie Kaiser Sigmunds (1368–1437) nennt

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sich ein »eberhart windecke ein burger zu8 mencz« (Mainz) als Autor. Eine Reihe weiterer Informationen über sein eigenes Leben stammt ebenfalls aus diesem Text, so der Hinweis, dass er mit 15 Jahren, vermittelt durch einen »mechtigen koufman«, nach Prag gekommen sei. In den 40 Jahren seither, bis zum Tod Kaiser Sigmunds 1437, habe er, neben Königen, Herzögen u. Herren, zu dessen Hof gehört. Sigmund hat W. wiederholt für die Abwicklung finanzieller Transaktionen herangezogen, da er auf diesem Gebiet offenbar spezielle Kompetenzen besaß. Anlässlich von längeren Aufenthalten in Buda u. dann zwischen 1409 u. 1413 im damals ungarischen Pressburg (Bratislava), wo W. auch das Bürgerrecht erwarb, dürfte es zu engeren Kontakten zu Sigmund, der auch König von Ungarn war, gekommen sein. Angaben in der Chronik zufolge, die z. T. durch anderweitige Dokumente bestätigt werden, suchte W. den König 1415 auf dem Konstanzer Konzil auf u. begleitete ihn anschließend durch Frankreich, Spanien u. England, unternahm in Sigmunds Diensten mehrere Reisen (u. a. Brügge 1416, Pavia 1418) u. hielt sich bis 1424 noch verschiedentlich am Hof Sigmunds auf. Damals erhielt W. vom König einen prestigeträchtigen Anteil am Mainzer Rheinzoll als Belohnung für seine Dienste. Anschließend ließ er sich wieder dauerhaft in seiner Heimatstadt Mainz nieder, wo er seit 1428 auf Seiten der Reformpartei in die Konflikte zwischen Patriziat u. Zünften verwickelt war. Angehörige der alten Mainzer Geschlechter prozessierten gegen W. wegen seiner kgl. Lehen sowie wegen verschiedener Erbstreitigkeiten auch am Königshof u. griffen hierbei u. a. angebliche betrügerische Machenschaften W.s in Pressburg wieder auf. Doch konnte W. noch 1437 kurz vor Sigmunds Tod eine kaiserl. Bestätigung seiner Lehen erwirken. Von W.s Chronik Des keiser Sigesmundus buch und bi sinem leben eins teils gescheen ist existieren zwei Fassungen: eine offensichtlich autornahe, zunächst bis 1438 reichende u. von W.s Diener »Reynhart Brunwart« niedergeschriebene Fassung, die dann noch einen Anhang bis 1439 erhielt (Handschrift spätes 15./frühes 16. Jh.; davon Abschrift von 1704),

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Windelband

u. eine 1443 endende, nach W.s Tod wohl im schichtschreiber der dt. Vorzeit. Zweite GesammtElsass entstandene Redaktion, die wahr- ausgabe. 15. Jh. Erster Band). Literatur: Alexander Reifferscheid: Des Kaisers scheinlich für eine illustrierte Fassung der Hagenauer Malerwerkstatt des Diebold Lau- Sigismund Buch v. E. W. u. seine Ueberlieferung. ber angelegt u. in mehr als 370 Kapitel ge- In: Nachrichten v. der Kgl. Gesellsch. der Wiss.en [...] zu Göttingen (1887), S. 522–545. – Arthur gliedert wurde. In der Mehrzahl der AbWyss: E. W. u. sein Sigmundbuch. In: ZfB 11 schnitte sollte dem Text eines Kapitels ein (1894), S. 433–483. – Peter Johanek: E. W. In: VL. – großformatiges Bild gegenübergestellt wer- Lieselotte Saurma-Jeltsch: Spätformen mittelalterl. den (fünf Handschriften des 15. Jh., davon Buchherstellung. Bilderhandschriften aus der zwei mit ausgeführter Bilderfolge aus der Werkstatt Diebold Laubers in Hagenau. 2 Bde., Lauber-Werkstatt mit bis zu ca. 250 großfor- Wiesb. 2001. – Joachim Schneider: Das illustrierte matigen Bildern; mindestens sieben nicht il- ›Buch von Kaiser Sigmund‹ des E. W. Der wiederaufgefundene Textzeuge aus der ehemaligen Bibl. lustrierte Abschriften des 17. Jh.). v. Sir Thomas Phillipps in Cheltenham. In: Dt. W. versichert in der Vorrede seines offen- Archiv für Erforschung des MA 61 (2005), sichtlich ohne offiziellen Auftrag kurz nach S. 169–180. – P. Johanek: E. Windecke u. Kaiser dem Tod des Kaisers entstandenen Sigmund- Sigismund. In: Sigismundus v. Luxemburg. Ein buchs, die meisten geschilderten Ereignisse Kaiser in Europa. Hg. Michel Pauly u. François selbst erlebt zu haben, u. beruft sich zuweilen Reinert. Mainz 2006, S. 143–156. – J. Schneider: auf die Anwesenheit weiterer Augenzeugen. Vom persönl. Memorandum zum kommerziellen Unparteiisch – »nyeman zu8 liebe noch zu8 Produkt: Das Buch von Kaiser Sigmund des E. W. u. die Werkstatt des Diebold Lauber. In: Gesch. leyde« – wolle er berichten, wie »es ergangen schreiben. Ein Quellen- u. Studienhandbuch zur ist«. Doch ist unübersehbar, dass W. die Historiografie (ca. 1350–1750). Hg. Susanne Rau u. Chronik auch dazu nutzte, vor dem Hinter- Birgit Studt. Bln. 2010, S. 234–244. grund der gegen ihn in Mainz erhobenen Norbert H. Ott / Joachim Schneider Vorwürfe seine kontinuierl. Förderung durch den Kaiser hervorzuheben. Wer die Welt kenne u. den Hof der Herren suche, könne, so Windelband, Wilhelm, * 10.5.1848 PotsW., für seine Familie u. die Freunde in der dam, † 22.10.1915 Heidelberg; GrabstätHeimat von großem Nutzen sein. Die Au- te: ebd., Bergfriedhof. – Philosoph. thentizität der Chronik suchte W. noch zu Der einer preuß. Beamtenfamilie entstamerhöhen, indem er wiederholt wörtlich zi- mende W. studierte in Jena, Berlin u. Göttiertes Urkunden- u. Briefmaterial einschob, tingen Medizin u. Naturwissenschaften, späzu dem er offensichtlich Zugang hatte. Er ter Geschichte u. Philosophie. Seine einflussberichtet aber auch über Kuriosa wie über den reichsten Lehrer waren Kuno Fischer u. HerFang eines riesigen, 120 Tonnen Schmalz mann Lotze, bei dem er 1870 über Die Lehren liefernden Wals bei Dünkirchen 1416, den er vom Zufall (Bln. 1870) promovierte. 1873 haselbst gesehen habe. Das Werk markiert mit bilitierte sich W. in Leipzig Über die Gewißheit seinem durch Augenzeugenschaft begründe- der Erkenntnis (ebd. 1873). 1876 nahm er einen ten Wahrheitsanspruch u. dem breiten In- Ruf nach Zürich, 1877 nach Freiburg i. Br. an; teresse an zeit- u. reichsgeschichtl. Begeben- 1882–1903 lehrte er in Straßburg, wo das heiten einen historiografischen Neuansatz, später von Heinz Heimsoeth fortgesetzte der noch im 17. Jh. auf großes Interesse stieß, Lehrbuch der Geschichte der Philosophie (Tüb. 17 wie die damalige breite Rezeption deutlich 1892. 1980) entstand. 1903 kam W. als Nachfolger Fischers nach Heidelberg, wo er macht. bis zu seinem Tod lehrte. Ausgaben: E. W.s Denkwürdigkeiten zur Gesch. W. begründete eine neue, weniger an der des Zeitalters Kaiser Sigmunds. Hg. Wil[helm] Altmann. Bln. 1893. – Nhd. Übersetzung (fehlerhaft): Darstellung von Denkern als an der EntDas Leben König Sigmunds v. E. Windecke. Nach wicklung von Sachproblemen orientierte Handschriften übers. v. Dr. v. Hagen. Mit Nach- Philosophiegeschichte. In systemat. Hinsicht trägen v. O. Holder-Egger. Lpz. 1899 (Die Ge- ist er durch seine neuartige Deutung des

Winder

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Kantischen Kritizismus bekannt geworden, durch seinen Schüler Heinrich Rickert systedie ihn zum Begründer der Südwestdeut- matisch entfaltet. schen Schule des Neukantianismus werden Weitere Werke: Gesch. der neueren Philosoließ. Unter der Devise »Kant verstehen heißt phie im Zusammenhang mit der allg. Kultur u. den über ihn hinausgehen« versuchte er, die sei- bes. Wiss.en. 2 Bde., Lpz. 1878 u. 1880. – Gesch. u. ner Ansicht nach zu stark auf den mathe- Naturwiss. Straßb. 1894. – Die Erneuerung des matisch-naturwissenschaftl. Bereich einge- Hegelianismus. Heidelb. 1910. – Die Prinzipien der Logik. Tüb. 1912. – Geschichtsphilosophie. Eine schränkte Kantische Erkenntnislehre zu einer Kriegsvorlesung. In: Kantstudien, Ergänzungsheft umfassenden wertorientierten Kulturphilo- 38 (1916), S. 5–68. – Einl. in die Philosophie. Tüb. sophie zu erweitern. Bedeutsam ist W.s Ver- 1919. such, seine werttheoret. Überlegungen für Literatur: Heinrich Rickert: W. W. Tüb. 1915. eine Grundlegung der histor. Wissenschaften – Georg Iggers: Dt. Geschichtswiss. Mchn. 1971. – fruchtbar zu machen. Er unterschied zwei Herbert Schnädelbach: Philosophie in Dtschld. verschiedene method. Zugangsweisen der 1831–1933. Ffm. 1983. – Robert M. Burns: Secular Wissenschaften zu ihren Gegenständen. Ih- Historicism [...]. In: Philosophies of history: from nen liegt die Unterscheidung des Allgemei- enlightenment to postmodernity. Hg. ders. Oxford nen u. Besonderen zugrunde, die »von So- 2000, S. 155–217. – Wolfgang K. Schulz: Zum Begriff der Willensfreiheit bei W. W. In: Neukantiakrates als die Grundbeziehung alles wissen- nismus u. Rechtsphilosophie. Hg. Robert Alexy. schaftlichen Denkens erkannt wurde« (Prälu- Baden-Baden 2002, S. 409–419. – Jürgen Stolzendien. Freib. i. Br. 1884. Tüb. 91924, S. 145). berg: Fichte im Neukantianismus [...]. In: ebd., Auf der einen Seite steht die Naturwissen- S. 421–434. – Rossella Bonito Oliva: La variante schaft, die »ihre Tatsachen feststellt, sammelt ›cultura‹ nella storiografia filosofica di W. W. In: und verarbeitet und unter dem Gesichts- Historismus in den Kulturwiss.en. Hg. Karl-Egon punkte und zu dem Zwecke, daraus die all- Lönne. Tüb. u. a. 2003, S. 113–135. – Matthias gemeine Gesetzmäßigkeit zu verstehen, wel- Kemper: Geltung u. Problem. Theorie u. Gesch. im Kontext des Bildungsgedankens bei W. W. Würzb. cher diese Tatsachen unterworfen sind«. Auf 2006. – J. Stolzenberg: W. W. In: DBE. der anderen Seite sind die GeisteswissenThomas Zwenger / Red. schaften »daraufgerichtet, ein einzelnes, mehr oder minder ausgedehntes Geschehen von einmaliger, in der Zeit begrenzter Wirk- Winder, Ludwig, auch: G. A. List, * 7.2. lichkeit zu voller und erschöpfender Darstel- 1889 Schaffa/Mähren, † 16.6.1946 Ballung zu bringen« (S. 143 f.). Während also die dock bei London. – Erzähler, Journalist, Naturwissenschaften Gesetze suchen, ihren Kritiker. Gegenstand als »Typus« betrachten u. zur W. ist einer der bedeutendsten Autoren der Abstraktion neigen (nomothetisches Verfah- deutschsprachigen Prager Literatur u. wurde ren), werden in der Geschichte »Gestalten« nach Kafkas Tod von Max Brod in den engeerforscht, d. h. Gebilde der Vergangenheit in ren »Prager Kreis« aufgenommen. Zur individueller Ausprägung, was in erster Linie tschech. Geschichte u. Kultur hatte W. eine Anschaulichkeit erfordert (idiografisches enge Beziehung, warnte bereits in den 1920er Verfahren). »Die einen sind Gesetzeswissen- Jahren vor dem Faschismus u. kämpfte in den schaften, die anderen Ereigniswissenschaf- 1930er Jahren gegen die Annektionspolitik ten; jene lehren, was immer ist, diese, was der Nationalsozialisten. einmal war« (S. 145). Was indessen dem einW., Sohn eines jüd. Kantors, der das literar. zelnen Geschehen den Charakter des Ge- Talent seines Sohns förderte, war nach dem schichtlichen verleiht u. zgl. seine Bedeutung Abitur in Olmütz als Journalist in Wien, »für ein übergeordnetes Ganzes in der Teplitz u. Pilsen tätig, ehe er 1914 Leiter des menschlichen Gemeinschaft« ausmacht, ist Feuilletons der Prager Zeitschrift »Bohemia« die Wertbeziehung menschl. Denkens u. wurde, das er bis zur Einstellung des Blattes Handelns. Diese axiolog. u. wissenschafts- am 31.12.1938 redigierte. Er selbst schrieb theoret. Überlegungen W.s wurden erst für die »Bohemia« etwa 3000 Beiträge. Ende

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Juni 1939 flüchtete er über Polen u. Skandinavien nach England. Bevor er, wie geplant, 1946 nach Prag zurückkehren konnte, erlag er einer schweren Krankheit. W. ließ lediglich die Romane, die ihm zu Lebzeiten zwar Achtung u. Anerkennung, nicht aber Popularität verschafften, als sein literar. Werk gelten. Ihr erzählerischer Duktus ist streng u. die Sprache schlicht, melancholisch oder ironisch getönt. In Die jüdische Orgel (Wien/Mchn./Lpz. 1922. Neudr. der Erstausg. Salzb./Wien 1999) gestaltet W. nicht nur das Thema des jüd. Selbsthasses, sondern die Tragödie eines Individuums, das, eingebunden in eine uralte Tradition, nach einem eigenen Zugang zur göttl. Wahrheit u. zur Liebe sucht. Die Problematik der Entfremdung des Menschen ist dabei unauflösbar mit der Schicksalhaftigkeit jüd. Wesens u. Daseins verknüpft. Der Vater des Helden, ein Orthodoxer u. Talmudgelehrter, will aus seinem Sohn um jeden Preis einen Rabbiner machen. Doch der Sohn entzieht sich der Autorität u. endet als Türsteher eines Wiener Bordells. Der Protagonist des 1927 in Berlin erschienenen Romans Die nachgeholten Freuden (Neuausg. Wien/Hbg. 1987), Adam Dupic, der zu Macht u. Reichtum aufgestiegene Sohn eines armen Bauern, findet keine Liebe u. sucht Erfüllung in der Herrschaft über Menschen, die er sich rigoros unterwirft. Als Inkarnation des Bösen ist er ein Vorgriff auf den Typus des totalitären Machtmenschen u. wird am Schluss durch ein Kind zu Fall gebracht. Ein Macht- u. Erfolgsmensch ist auch der Industrielle Garban, Held des Romans Dr. Muff (Bln. 1931. Wien/Darmst. 1990). Er versteht es, sich die Arbeiter mit subtilen Methoden gefügig zu machen. Gegen diese scheinbar humane Art der Unterdrückung setzt sich Muff zur Wehr u. scheitert tragisch. W. durchschaut die Mechanismen der Macht u. sondiert die Möglichkeiten, die sie den Mächtigen bieten, Menschen zu manipulieren. In dem 1937 in Zürich erschienenen Roman Der Thronfolger (Neuausg. Bln./DDR 1984. 21989) konzentrieren sich die Schuldgefühle u. Obsessionen der Helden aus W.s früheren Büchern in der Figur des Erzherzogs Franz Ferdinand. Mit großer psycholog.

Winder

Einfühlung beschreibt W. die 25 Jahre währende Jagd des verklemmten u. Menschen verachtenden Mannes nach dem Thron. Das Buch, auch eine Abrechnung mit der anachronistischen Herrschaftspraxis der Habsburger, wurde im Dez. 1937 in Österreich verboten. W.s Exilroman Der Kammerdiener (Zeitungsabdruck 1943–45. Buchausg. Wien./ Darmst. 1988) erzählt die Geschichte eines gräfl. Kammerdieners, der Pflichterfüllung als absolute Unterordnung lustvoll genießt. In dieser Mentalität erkennt W. die Basis für totalitäre Entwicklungen. In Die Pflicht (Zürich, Bln./DDR 1949. Wuppertal 2003) entschließt sich ein pflichtgetreuer, anfangs politisch indifferenter tschech. Beamter zum aktiven Widerstand gegen die Nationalsozialisten. Weitere Werke: Die rasende Rotationsmaschine. Bln./Lpz. 1917 (R.). – Die Reitpeitsche. Ebd. 1929 (R.). – Steffi oder Familie Dörre überwindet die Krise. Lpz./Mährisch-Ostrau 1935(R.). – Hugo. Tragödie eines Knaben. Mit einem Anhang hg. v. Dieter Sudhoff. Paderb. 1995 (ges. E.en). – Die Novemberwolke. Mit einem Anhang hg. v. D. Sudhoff. Ebd. 1996 (R.) – Gesch. meines Vaters. Mit einem Nachw. hg. v. D. Sudhoff. Oldenb. 2000 (Romanfragment). Literatur: Max Brod: Der Prager Kreis. Stgt. 1966. – Kurt Krolop: L. W. Diss. Halle 1967. – Margarita Pazi: Fünf Autoren des Prager Kreises. Ffm. 1978. – Jürgen Serke: Böhm. Dörfer. Wien/ Hbg. 1987. – Hans J. Schütz: L. W. In: Ders.: ›Ein dt. Dichter bin ich einst gewesen‹. Mchn. 1988, S. 294–300, 332 f. – M. Pazi: Ein Versuch jüd. dt.tschech. Symbiose: L. W. In: GQ 63 (1990), S. 211–221. – Arno A. Gassmann: Lieber Vater, lieber Gott? Der Vater-Sohn-Konflikt bei den Autoren des engeren Prager Kreises (Max Brod – Franz Kafka – Oskar Baum – L. W.). Oldenb. 2002. – Christiane Ida Spirek: Von Habsburg bis Heydrich. Die mitteleurop. Krise im Spät- u. Exilwerk L. W.s. Wuppertal 2005. – Jörg Thunecke: Das fehlende Kapitel. Anmerkungen zur vollst. Fassung v. L. W.s Roman ›Die Pflicht‹. In: Exil 26 (2006), H. 2, S. 50–66. – Jindra Broukalová: L. W. als Dichter der menschl. Seele u. der Wirklichkeit. Ein Beitr. zur Betrachtung des Romans ›Der Thronfolger. Ein Franz Ferdinand Roman‹ im Kontext des erzähler. Werks seines Verfassers. Prag 2008. – PatriciaCharlotta Steinfeld (Hg.): L. W. (1889–1946) u. die

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Prager dt. Lit. Tl. 1. Erste vollst. Bibliogr. zum Werk L. W. Dettelbach 2009. Hans J. Schütz † / Red.

Windhager, Juliane, auch: Lily Häuptner, * 12.10.1912 Bad Ischl/Österreich, † 23.11.1986 Salzburg. – Lyrikerin, Erzählerin, Hörspielautorin. Die Tochter eines Fabrikanten lebte seit 1939 in Salzburg. Als Lyrikerin bevorzugte W. zunächst klassizistische Formen (Der linke Engel. Wien 1959) u. variierte mit melanchol. Pathos antike u. christlich-abendländ. Bildwelten. Die späteren, metrisch freien lyr. Miniaturen (Schnee-Erwartung. Salzb./Wien 1979) evozieren Naturstimmungen u. Reiseimpressionen. Das Ineinander von Realität u. Fantasie, Erinnerung u. Imagination kennzeichnet auch W.s skizzenhaft-atmosphär. Erzählungen (Ein Engel in Oulu. Ebd. 1984) u. Hörspiele (Staubflocken. Wien 1965; enthält Staubflocken u. Bahnhof ohne Namen). W. erhielt u. a. 1957 den Trakl-Preis u. 1969 den ersten Hörspielpreis der Stadt Klagenfurt. Weitere Werke: Cordelia u. das Erbe der Freien. Wien/Lpz. 1936 (R.). – Die Kassiansnacht. Wien 1942 (N.). – Der Friedtäter. Roman um Paris Lodron. Salzb./Wien 1948. – Die Disteltreppe. Salzb. 1960 (L.). – Talstation. Hbg. 1967 (L.). Ursula Weyrer

Windischgrätz, Gottlieb Frhr., später: Graf von, getauft 13.3.1630 Regensburg, † 25.12.1695 Wien. – Kaiserlicher Diplomat; Lyriker. Ihres luth. Bekenntnisses wegen hatten W.’ Eltern 1629 die Heimat verlassen. Nach dem Tod des Gatten 1633 kehrte die Mutter jedoch nach Österreich zurück: W. wuchs in Wien, Kärnten u. Linz auf. Er erhielt eine standesgemäße Ausbildung durch Hauslehrer; die Kavalierstour (1648–1651) führte über die Schweiz nach Frankreich u. Italien. Nach der Rückkehr trat W. offenbar bald in Hofdienste. 1656 wurde er Mitglied – eines von sechs protestantischen – des Reichshofrats; 1661 begann mit einer Mission zu den nördl. Reichsständen wegen des Reichsaufgebots gegen die Türken die Serie seiner 36 Sondergesandtschaften im Auftrag des Kai-

sers. Die glanzvollste ging 1670/71 an den Hof Ludwigs XIV., andere führten nach England, Dänemark, Schweden u. an verschiedene dt. u. ital. Höfe. 1665 wurde W. kaiserl. Kämmerer, 1692 Obersthofmarschall, 1693 Reichsvizekanzler. Das luth. Bekenntnis war seiner Laufbahn lange eher nützlich als hinderlich. Erst 1683 konvertierte er zum Katholizismus. Seit 1656 gehörte W. als »Der Kühne« der Fruchtbringenden Gesellschaft an. Gedichtet hat er v. a. in den 1650er Jahren. Deklariertes frühes Vorbild war Rudolf von Dietrichstein, »Der Ezzende« der Fruchtbringenden Gesellschaft, sein poetischer Lehrmeister seit 1653 Sigmund von Birken. Ihn hatte er Ende 1652 in Regensburg oder Anfang 1653 in Nürnberg kennengelernt, u. er traf ihn mehrmals bei späteren Aufenthalten in Nürnberg wieder. Der recht gut überlieferte Briefwechsel (1653–1677; er ist in Bd. 9 der Birken-Gesamtausgabe publiziert u. kommentiert) lässt Art u. Ausmaß der Zusammenarbeit erkennen. 1986 sind ein wohl von W. selbst zusammengestelltes Buch mit Gedichtautografen u. weitere Gedichtmanuskripte wiedergefunden worden; zusammen mit den wenigen anderweitig überkommenen liegen etwa 150 Gedichte vor: wenige geistliche, einige zu aktuellen Ereignissen, mehrere poetologische, manche als Übersetzungen deklariert oder kenntlich, die meisten von erot. Thematik u. durch eine unglückl. Liebesbeziehung in den 1650er Jahren ausgelöst, viele von Birken bearbeitet. Eine ganze Anzahl ist schon zu Lebzeiten des Verfassers, freilich anonym, gedruckt worden: in der Aramena u. der Octavia des Herzogs Anton Ulrich von Braunschweig-Wolfenbüttel, mit dem W. seit 1661 befreundet war. Ausgaben: Almut u. Hartmut Laufhütte (Hg.): Die Gedichte des Grafen G. v. W. Tüb. 1994. – Der Briefw. zwischen Sigmund v. Birken u. G. v. W. In: S. v. B. Werke u. Korrespondenz. Tüb. Bd. 9/I (2007), S. 259–560 (Texte); Bd. 9/II (2007), S. 297–1393 (Apparate u. Kommentare). Literatur: v. Zwiedineck: W. In: ADB. – Marianne Pelzl: G. v. W. Diss. masch. Wien 1935. – Heinrich Ritter v. Srbik: Wien u. Versailles 1692–97. Mchn. 1944. – Blake Lee Spahr: Anton Ulrich and Aramena. Berkeley 1966. – Ders.:

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Windthorst

Nachw. in: ›Aramena‹. Hg. ders. Tl. 5, Bln./Ffm. 1983. – Martin Bircher: J. W. v. Stubenberg. Bln. 1968, S. 292–307. – Hartmut Laufhütte: ›Wie gerne wolt’ auch ich, die Höh’ des Bergs ersteigen.‹ Die Gedichte des Grafen G. v. W. In: WBN 15 (1988), S. 1–10. Hartmut Laufhütte

Reimspruchpublizistik um 1500 artikuliert. Sein Autor erweist sich in seiner weniger gelehrten als populären Orientierung auf satir., geschichtl. u. polit. Aussageebenen hin als Vertreter eines Humanismus, der den Wirkungsmöglichkeiten der volkssprachl. Textformen um 1500 positiv gegenüberstand.

Windschiff aus Schlaraffenland. – Anonyme satirisch-didaktische Versdichtung, um 1504.

Ausgabe: Das W. a. S. Hg. Erich Kleinschmidt. Bern/Mchn. 1977. Literatur: Johannes Janota: Rez. (mit ergänzenden Hinweisen u. Korrekturen) zur Ed. v. 1977. In: AfdA 92 (1982), S. 166–171. – E. Kleinschmidt: W. a. S. In: VL. Erich Kleinschmidt / Red.

Das kleinepische Gelegenheitswerk (1891 paarreimige Verse) eines bisher nicht namentlich identifizierten, aus Stuttgart gebürtigen Mainzer Medizinstudenten, der im Einflussfeld des dort ansässigen Humanis- Windthorst, Margarete, * 3.11.1884 Gut mus schrieb, verdankt seine Grundidee Hesseln bei Bielefeld, † 9.12.1958 Strang Brants Narrenschiff. Der Autor übernimmt in bei Osnabrück. – Lyrikerin, Erzählerin. lockerer Form noch vor Thomas Murners Narrenbeschwörung u. Schelmenzunft (beide erst Bis auf ihr Studium in Münster u. kurze Ur1512) dessen satir. Darstellungsmuster, laubsreisen nach Süddeutschland u. Bremen ständ. Narrentypen der Zeit kritisch zu gei- verbrachte W. ihr ganzes Leben auf ihrem Gut ßeln. Im Gegensatz zu diesen beiden sehr Hesseln, das sie gemeinsam mit ihrer erfolgreichen Rezeptionen des volkssprachl. Schwester bewirtschaftete. W.s Werk ist von starker Religiosität geHauptwerks der europ. Gelehrtensatire am prägt; das Geschehen konzentriert sich in Beginn der Neuzeit erfuhr das (nur in einer Gleichnisgestalten (die Gärtnerin, die Hirtin, vermutlich autografen Handschrift überliedie Seherin), in denen sich Naturmystik u. ferte) W. a. S. wahrscheinlich keine Verbreitung im Druck, obwohl es in seiner Darstel- religiöse Weltschau verbinden. Unter dem lungsweise dem Brant’schen Text qualitativ Einfluss des Religionsmystikers Bô Yin Râ kaum nachsteht. Es geht über Brants rein (= Joseph Anton Schneiderfranken) legte W. ständedidakt. Konzeption sogar hinaus, in- immer mehr Gewicht auf diese religiösen dem der Autor historiografische Kapitel ein- Aspekte, so besonders in ihrer Romantrilogie. fügt, die u. a. Ereignisse des Schweizerkriegs Aufgrund ihres Katholizismus wurde sie nach von 1499 u. des Bayerisch-Pfälzischen Erb- 1933 von der nationalsozialistischen Presse folgekriegs von 1504 im formalen Anschluss stark angegriffen u. sollte aus der Reichsan die Flugblattpublizistik der Zeit (zumin- schrifttumskammer ausgeschlossen werden. dest z.T. auch aufgrund eigener Zeugen- Der erste Teil ihrer Romantrilogie, Mit Lust schaft) behandeln. Hier wie auch bei zeitkrit. und Last, erschien 1940 in Berlin, danach noch Äußerungen etwa zur Türkenthematik, aber die Balladensammlung Mär und Mythe (Bln. auch zum Syphilisproblem zeichnet sich der 1941). Die weiteren Teile der Trilogie, Mit Autor durch selbstständiges Urteil aus. Leib und Leben u. Zu Erb und Eigen, konnten erst Durchgehend interessiert ihn dabei das Ge- 1949 (Kempen) veröffentlicht werden. Weitere Werke: Gedichte. Stgt. 1911. – Die schick der unteren sozialen Schichten. Der kulturgeschichtl. Wert des Werks ist Seele des Jahres. München-Gladbach 1919 (L.). – Das Jahr auf dem Gottesmorgen. Augsb. 1921 nicht unbeträchtlich. So finden sich in ihm (N.n). – Der Basilisk. Roman aus der westfäl. zum Beispiel frühe Belege zur rotwelschen Adelswelt. Bln. 1924. – M. W. Ausw. u. Einf. v. Gaunersprache. Das W. a. S. spiegelt insg. Hans Ballhausen. München-Gladbach 1929. – Die geradezu querschnittartig einen literar. In- Sieben am Sandbach. Bln. 1937 (R.). – Weizenkörteressenhorizont der Zeit, wie er sich in der ner. Erlebtes u. Erlauschtes. Nachw. v. Hanns thematisch einschlägig orientierten Lied- u. Martin Elster. Bielef. 1954. – Erde, die uns trägt.

Winiewicz

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Aus dem Nachl. hg. u. mit einem Nachw. versehen v. Inge Meidinger-Geise. Emsdetten 1964 (R.). Literatur: Inge Meidinger-Geise: M. W. u. Westfalen. Emsdetten 1960. – Dies.: Begegnung mit M. W. heute. Dortm. 1978. Christina Burck / Red.

terbahn. Eine Wiener Weltreise. Ebd. 2006. 22008. – Die Kinder gehen in die Oper. Ebd. 2007 (R.). – Katzentisch. Kulinar. Abenteuer. Ebd. 2009. – Schauspiele: Keine Ehe wegen Liebe. Urauff. Wien 1970. – Das Zimmer. Wien/Mchn. 1974.– Miami murder show. Bln. 2000. Christine Schmidjell / Red.

Winiewicz, Lida, eigentl.: L. W.-Lefèvre, * 17.3.1928 Wien. – Bühnen-, Drehbuch- Winkler, Eugen Gottlob, * 1.5.1912 Züu. Fernsehautorin, Erzählerin, Überset- rich, † 26.10.1936 München. – Essayist, zerin. Erzähler, Lyriker. W., Tochter eines Rechtsanwalts, gilt als vielseitige Schriftstellerin mit einem breiten Themen- u. Darstellungsspektrum, dem gelegentlich Elemente des Trivialen u. der seichten Unterhaltung anhaften. Erste Erfolge als Dramatikerin feierte W. mit Stücken zur Vergangenheitsbewältigung. Der Einakter Das Leben meines Bruders brachte ihr 1960 den ersten Preis im Dramenwettbewerb des Theaters der Courage in Wien; es folgten der Einakter Die Wohnung (Urauff. ebd. 1964) sowie das gemeinsam mit dem Kabarettisten Ernst Waldbrunn verfasste Stück Die Flucht (Urauff. Wien 1965). Das Fernsehspiel Der Fall Bohr (ORF 1966) nach einem Kriminalfall aus dem Biedermeier ermöglichte W. den Einstieg als Fernsehautorin (u. a. Hans und Lene. Fernsehserie 1976/77). In der Lebensgeschichte einer 80-jährigen Mühlviertler Bäuerin, Späte Gegend. Protokoll eines Lebens (Wien 1986. Erstmals mit gleichnamiger Bühnenfassung: ebd. 1995), findet W. Anschluss an die in den 1980er Jahren populäre Gattung des lebensgeschichtl. Erzählens. W. ist Koautorin der Revue Gilbert & Sullivan (zus. mit Helmut Baumann. Urauff. Wien 1983) sowie des Erfolgsmusicals Freudiana (Urauff. ebd. 1990). Neben Letzteren übersetzte sie u. a. Werke von Graham Greene u. Colette u. schreibt Feuilletons u. Liedtexte. Seit 1986 lebt W. in Dublin. Weitere Werke: Keine Ehe wegen Liebe. Urauff. Wien 1970 (Schausp.). – Das Zimmer. Wien/ Mchn. 1974 (Schausp.). – Fernsehspiele: Auf den Spuren der Staufer. 1968. – Blaue Blüten. 1969. – Der Tag des Krähenflügels. 1970. – Augenblicke. 1980. – Der Fälscher. 1989. – Leonardo. 1989. – Sicher ist sicher. 1990. – Ein Schutzengel auf Reisen. 1997. – Prosa: Alte Dame, grauer Hund. Eine Österreicherin erlebt Amerika. Wien 2005. – Geis-

W. wuchs in Wangen bei Stuttgart auf. In München, Paris, Köln u. Tübingen studierte er Germanistik, Romanistik u. Kunstgeschichte. Da er keinen bürgerl. Beruf anstrebte, versuchte er mit Kritiken u. Essays den Freiraum für sein literar. Schaffen zu gewinnen. Im Nov. 1933 wurde er beschuldigt, ein Wahlplakat der NSDAP beschädigt zu haben, u. zehn Tage eingesperrt. Er unternahm seinen ersten Selbstmordversuch. 1935/36 schrieb W. für »Das Deutsche Wort«, die »Deutsche Zeitschrift«, den »Bücherwurm«, »Hochland« u. veröffentlichte Erzählungen u. Skizzen im »Inneren Reich«, der »Neuen Rundschau« u. der »Frankfurter Zeitung«. Seine große Begabung für den literar. Essay zeigen seine Studien über Ernst Jünger, Stefan George, Marcel Proust, August von Platen, Friedrich Hölderlin u. Thomas Edward Lawrence. Aus Angst vor einer neuerl. Verhaftung nahm sich W. im Alter von nur 24 Jahren das Leben. W. schrieb neben seinen Essays Aufsätze u. Rezensionen, Prosa u. Gedichte. Er war ein begabter Vertreter der jungen nichtfaschistischen, aber unpolit. Intelligenz. Ein Einzelgänger mit einem extrem übersteigerten Anspruch an sich u. seine Kunst, war W. ein Dichter, der sich – verfolgt von Depressionen, zerrissen von qualvollen Selbstanalysen – ausschließlich auf die Kunst konzentrierte. Als Formalist orientierte er sich vorrangig an frz. Vorbildern, vorrangig an Stephane Mallarmé u. an Paul Valéry. Seine Abwendung vom Stofflichen u. sein Bekenntnis zum ReinGeistigen zeigt sich in seinem Dialog Erkundung der Linie, die unter einem Motto Valérys dem Maler Joseph Fassbender zugeeignet ist. Hier erörtert W. die prinzipielle Nachzeitig-

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keit der Kunst gegenüber der Erlebnisgegenwart. Das rekonstruktive Moment des erinnernden Vergegenwärtigens in der künstlerischen Wiederholung bestimmt vor allem W.s Prosa. Im Gedenken an Trinakria oder in Die Insel werden flüchtige Erlebnisse wiederbeschworen. In der Mischung von genauem Detail, Vagheit, korrigierender Annäherung u. Vergessen gewinnt W.s Erinnerungsprosa eine außerordentliche wahrnehmungspsycholog. Sensibilität: So sucht sich das erinnernde Ich in der Insel einen Grabspruch ins Gedächtnis zurückzurufen, um schließlich resigniert einzugestehen: »Doch wie ich mich auch besinne, ich kann sie [die Worte] nicht mehr zusammenfinden«. W.s ausgeprägter Formwille zeigt sich auch in den ambivalenten Essays zu George (Über Stefan George u. Die Gestalt Stefan Georges in unserer Zeit), dessen »Unnachgiebigkeit gegen die Unform« er bewundert, aber seine Erscheinung zgl. als »eine ungeheuerliche Pose« kritisiert. W. selbst glaubte durch die vollendete Erfüllung der Form das Ich erlösen zu können, »verewigt zugleich durch das Opfer der eigenen Hingabe«. Dies macht seine Affinität zur Liturgie u. zum Renouveau catholique aus. W.s Lyrik bleibt aber hinter dem hohen Selbstanspruch zurück. Es gelingt ihm nur selten, in traditionellen Strophenformen u. Anlehnungen an die Repräsentanten der klass. Moderne wie Trakl, Rilke u. George zu einem eigenen Ton zu finden. Viele Vertreter seiner Generation sahen W. als negativen Helden, als »Soldaten auf verlorenem Posten« (Geleitwort zur Werkausgabe 1937). Die Nachkriegsrezeption war zunächst durch die gegensätzl. Positionen von Walter Jens (»Er hätte alle Möglichkeiten gehabt, um unser wissenschaftliches Zeitalter mit der ihm gemäßen Sprache zu beschreiben«) u. Franz Schonauer (»Seinem Werk fehlt das Originäre«) gekennzeichnet. Erst in jüngster Zeit wurde W., dessen Nachlass im Deutschen Literaturarchiv verwahrt wird, wiederentdeckt, u. der Dichter Durs Grünbein hat als Herausgeber einer W.-Auswahlausgabe (Die Erkundung der Linie. Lpz. 1993) ihn in einem kongenialen Essay (Bis ans Ende der Linie. In: ebd., S. 259–281) gewürdigt.

Winkler Ausgaben: Ges. Schr.en. 2 Bde., Dessau 1937. – Briefe. 1932–1936. Hg. Walter Warnach. Bad Salzig 1949. – Dichtungen. Gestalten u. Probleme. Pfullingen 1956 (Nachl.). – Die Dauer der Dinge. Dichtungen. Ess.s. Briefe. Mchn. 1985. Literatur: Bernt von Heiseler: E. G. W. In: Ders.: Ahnung u. Aussage. Gütersloh 1952, S. 284–291. – Walter Jens: Der Mann mit der Tarnkappe. In: Texte u. Zeichen, H. 1 (1956). – Franz Schonauer: E. G. W. In: ebd., H. 3 (1957). – Max v. Brück: E. G. W.s zweite Wiederkehr. In: NDH 4 (1957/58), S. 44–57. – W. Jens: Vorw. In: E. G. W. Ffm. u. a. 1960, S. 7–17. – Johannes Pfeiffer: Zwischen Sinngebung u. Skepsis. Über E. G. W. In: Die dichter. Wirklichkeit. Hbg. 1962, S. 35–47. – Wolfram Mauser: E. G. W. u. Paul Valéry. In: GRM 45 (1964), S. 170–188. – Ders.: E. G. W.s ›Gedenken an Trinakria‹. Antike Gestalt u. moderner Mythos. In: Formenwandel. FS Paul Böckmann. Hg. Walter Müller-Seidel. Hbg. 1964, S. 483–499. – Rolf Neuhoff (Hg.): E. G. W. Ffm. 1958. – Helmut Salzinger. E. G. W.s künstler. Entwicklung. Diss. Hbg. 1967. – R. K. Angress: The Narrative Prose of E. G. W. In: GLL 23 (1969/70), S. 129–137. – Elsbeth Pulver: E. G. W. in seinen Briefen. In: Schweizer Monatshefte 67 (1987), S. 163–168. – Hans Egon Holthusen: Vom Heimweh des Unglaubens. Eine neue Generation entdeckt E. G. W. In: Die Welt 33 (1986), S. 19. – Hans J. Schütz: Die improvisierte Existenz. E. G. W. u. sein ›maßloser Wunsch nach Vollkommenheit‹. In: Börsenblatt für den dt. Buchhandel 41 (1985), Nr. 56, S. 1825–1827. – Ders.: ›Ein dt. Dichter bin ich einst gewesen.‹ Mchn. 1988, S. 301–305. – Ulrich Keicher: ›Dichtung bedeutet für mich Lebensform‹. E. G. W. in Stuttgart-Wangen. Marbach a. N. 1991. – Ders. (Hg.): E. G. W. zum 80. Geb. Warmbronn 1992. – Doris Kirchner: Doppelbödige Wirklichkeit. Mag. Realismus u. nicht-faschist. Lit. Tüb 1993. – Luca Crescenzi: Ängstl. Rettung. Zu E. G. W.s Dialog ›Die Erkundung der Linie‹. In: Studi germanici 37 (1999), Nr. 3, S. 519–527. – Dagmar Pfensig: ›Im Geist das Ganze besitzen‹. Zur Geometrisierung des Leidens in den Texten v. Paul Valéry u. E. G. W. In: Zwischen den Zeiten. Junge Lit. in Dtschld. Von 1933 bis 1945. Hg. Uta Beiküfner/Hania Siebenpfeiffer. Bln. 2000, S. 135–155. – Kyra Stromberg: Ein uneingelöstes Versprechen. Über E. G. W. Warmbronn 2002. – Maurizio Pirro: Geist u. Leben als kultur- u. kunstkrit. Kategorien bei Alfred Seidel u. E. G. W. In: Musil-Forum 28 (2003/2004), S. 213–241. – Martin Maurach: E. G. W.s ›Anekdote aus dem Span. Bürgerkrieg‹: Kleist-Rezeption zwischen den Weltkriegen u. das Bild einer a-polit. Gemeinschaft. In: Lit. – Kunst – Medien. FS Peter Seibert.

Winkler

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Hg. Achim Barsch, Helmut Scheuer u. Georg M. Schulz. Mchn. 2008, S. 105–117. Hans J. Schütz † / Achim Aurnhammer

Winkler, Josef, * 3.3.1953 Kärnten. – Romanautor.

Kamering/

Die Kindheit W.s war durch ein patriarchal. Umfeld geprägt. Das »kreuzförmige Dorf meiner Kindheit« wird zum Topos der Texte; kath. Bildlichkeit u. die Struktur der Litanei bestimmen den Sprachduktus des früheren Erzministranten. In Kärnten, das literarisch zur Anti-Heimat mutiert, besuchte W. nach der Handelsschule in Villach die Abendhandelsakademie in Klagenfurt. Parallel zum Studium arbeitete er in einem Verlag, der Karl-May-Bücher herausgab – das Motiv der innigen Freundschaft zwischen Winnetou u. Old Shatterhand erscheint im Werk als Gegenbild zum düsteren Alltag des Bauernkindes. Seit 1973 war W. in der Verwaltung der Universität Klagenfurt, die ihm 2009 das Ehrendoktorat verlieh, tätig. Seit 1982 ist er freier Schriftsteller. W. erhielt u. a. den Großen Österreichischen Staatspreis für Literatur (2007) u. den Georg-Büchner-Preis (2008). Er lebt mit seiner Frau u. zwei Kindern in Klagenfurt. In die Literatur trat W. als zorniger junger Mann mit Menschenkind (Ffm. 1979) ein. Dieser Roman bildet mit Der Ackermann aus Kärnten (ebd. 1980) u. Muttersprache (ebd. 1982) die Trilogie Das wilde Kärnten (ebd. 1984), die durch ihre Gesellschaftskritik u. provokative Metaphorik zur negativen Heimatliteratur gehört. Zum bekanntesten Vertreter dieser Strömung bekennt sich W. in seinem Thomas Bernhard-Essay (1995). Auch W.s Texte zeigen Österreich als Hölle auf Erden u. brechen dabei verschiedene Tabus, indem sie Homoerotik thematisieren – W.s Vorbilder sind Jean Genet u. Hans Henny Jahnn – u. Gewalt u. Katholizismus auf einen Nenner bringen. Unter dem Motto »Während meiner Kindheit sind meine Seele und mein Körper mißhandelt worden, heute antworte ich mit einem Sakrileg« (Ackermann, S. 211), bedient sich W. blasphem. Bilder u. eignet sich den Duktus der schwarzen Messen an. Während der durch das homophobe Umfeld

verschuldete Doppelselbstmord von Jakob u. Robert zum Anlass für die Trilogie wurde, greift der Roman Friedhof der bitteren Orangen (Ffm. 1990) Geschichten sozialer Außenseiter auf. Obwohl der Schwall makabrer Bilder einen kausalen Zusammenhang zwischen der kath. Kirche u. dem Unglück oder gar dem gewaltsamen Tod impliziert, wohnt dem Buch eine utop. Dimension inne: Im Text sollen all die sizilian. Kinder, afrikan. Zuwanderer oder röm. Stricher weiterleben. Diese Verpflichtung der Literatur zur Bekämpfung des Todes teilt W. mit Elias Canetti. Einen Wandel stellt der Roman Domra. Am Ufer des Ganges (Ffm. 1996) dar. Der literar. Todestanz drückt diesmal eine Faszination vom natürl. Umgang der Hindus mit dem Tod aus, der in keiner Opposition zum Leben steht. Formal spiegelt sich diese Einheit in der Simultanität der mannigfaltigen Bilder. Indische Imaginationen werden beibehalten. In Leichnam, seine Familie belauernd (Ffm. 2003) sieht sich der Erzähler am Ufer des Ganges auf seine angeschwemmte Kinderleiche einschlagen, bis sie von streunenden Hunden aufgefressen wird. Der Tod wird zur Chiffre für die Kindheit im Zeichen des Kreuzes, die das auktoriale Ich durch die Mantras seiner Texte begraben will. Die Erzählung Wenn es soweit ist (Ffm. 1998) stellt in bildhafter Sprache die kath. Begräbnisriten dar. Die alten Geschichten werden mit einer vertrauten Figurenkonstellation unter geänderten Namen erzählt. Die suggestive Ich-Form wurde durch den Knochensammler Maximilian ersetzt, der in seinem Tonkrug, dem Symbol des künstlerischen Schaffens schlechthin, menschl. Gebeine sowie Fragmente der Schicksale eines Dorfes u. eines Jahrhunderts schichtet – eine zutreffende Allegorie des Schreibens W.s. Radikal geändert hat sich die Vaterfigur. Der archetypische Ackermann wurde zum Greis, dessen Geschichten der Sohn weitergibt. In Leichnam verwandelt sich der kafkaeske Übervater in eine Randfigur, da der erzählende Sohn selber Vater geworden ist. Symptomatisch wird der Kalbsstrick, der zuvor als Selbstmordinstrument zweier Jungen sakralisiert wurde, zum Spielzeug des Kindes. Auch das Interesse an der morbiden

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Winkler

Thematik wird in den familiären Kontext Sarca: Außenseitertum u. metaphys. Exil. Eine eingebettet: Der Erzähler kann sich bis zu vergleichende Auseinandersetzung mit den Werdem Augenblick zurückerinnern, als er drei- ken Emil Ciorans u. J. W.s Ffm. u. a. 2008. – Mijährig mit dem aufgebahrten Leichnam sei- chael Kerbler: Der Allerheiligenhistoriker [Gespräch mit W.]. Klagenf. 2009. Dana Pfeiferová ner Großmutter konfrontiert wurde. Umwandlung der Erzählinstanz u. Verzicht auf Obsessionen zugunsten von (Selbst-)Ironie Winkler, Winckler, Wincler, Paul, * 13.11. prägen die neue Textform: Kurzgeschichten 1630 Groß-Glogau/Schlesien, † 1.3.1686 oder gar Anekdoten. Mit Natura morta (Ffm. Breslau. – Jurist; Romanautor. 2001) greift W. wiederum das Genre der klass. Der Sohn eines Kaufmanns u. Neffe Andreas Novelle auf. Der Kamerablick des Erzählers Gryphius’ wurde früh Waise. Aus materiellen verfolgt den Fischverkäufer Piccoletto bis zu Gründen musste er sein Jurastudium in seinem tödl. Unglück. Die Aufbahrung des Frankfurt/Oder abbrechen u. sein Brot als schönen Jünglings bildet das Finale der äsHauslehrer verdienen, u. a. bei Johann Wilthetischen Schilderung; W.s ›Tod in Rom‹ helm von Stubenberg, auf dessen Antrag er mutet romantisch an. 1662 in die Fruchtbringende Gesellschaft Weitere Werke: Der Leibeigene. Ffm. 1987. – (»Der Geübte«, FG 789) aufgenommen wurDie Verschleppung. Njetotschka Iljaschenko erde. Seit 1658 wieder in Schlesien, war W. zählt ihre russ. Kindheit. Ffm. 1984. – Das Zöglingsheft des Jean Genet. Ebd. 1992. – Schutzengel zunächst Rechtsberater bei Frhr. von der Selbstmörder. Eingedenken am ersten Todestag Schönaich in Carolath, dann ließ er sich als Thomas Bernhards. In: Lit. über Lit. Eine österr. Rechtsanwalt u. brandenburgischer Resident Anth. Hg. Petra Nachbaur u. Sigurd Paul Scheichl. in Breslau nieder. 1678 wurde er kurfürstl. Graz 1995, S. 217–223. – Roppongi. Requiem für brandenburgischer Rat. einen Vater. Ffm. 2007. – Ich reiß mir eine Wimper Sein Hauptwerk, der umfangreiche Zeitaus u. stech dich damit tot. Ebd. 2008. – Der Kat- roman Der Edelmann, erschien anonym (Ffm./ zensilberkranz in der Henselstraße. Klagenfurter Lpz. 1696. Lüneburg 1696. Nürnb. 1697. Rede zur Literatur. Ebd. 2009. – J. W. Der Kino1709): Die amüsante Satire auf den schles. leinwandgeher. Ein Film v. Michael Pfeifenberger. Adel bot sich in ihrem Kollektaneencharakter Weitra [2009]. – Bilder- und Textbücher: Indien. Varanasi, Harishchandra ... Reisejournal (zus. mit v. a. als Konversationslehrbuch für junge AdChristina Schwichtenberg). Ebd. [2006]. – lige an. Gustav Freytag hat in seinen Bildern Schwimmer, kasteie dein Fleisch (zus. mit Günter aus der deutschen Vergangenheit (Bd. 3) ausgiebig daraus zitiert. Man vermutet in W. den Egger). Weitra [2010]. Literatur: Dirck Linck: Halbweib u. Masken- (Mit-)Verfasser des ersten Teils des Schlesischen bildner. Subjektivität u. schwule Erfahrung im Robinsons (Breslau/Lpz. 1723. Übers. u. d. T. Werk J. W.s. Bln. 1993. – Günther A. Höfler u. De Silesische Robinson. Amsterd. 1754). Zu Gerhard Melzer (Hg.): J. W. Graz/Wien 1998. – Lutz Lebzeiten veröffentlichte W. eine Sammlung Hagestedt: J. W. In: LGL. – Reinhard Kacianca »Sprüch- und Denck-Wörter«, die in den (Hg.): beigesellt. fernwesend. Beiträge zu J. W. u. Umkreis der barocken Apophthegmataseinem Werk. [Klagenf. 2004]. – Carmen Ulrich: Sammlungen gehört (Zwey Tausend Gutte GeSinn u. Sinnlichkeit des Reisens. Indien(be)schreidancken u. Guter Gedancken Drittes Tausend. bungen v. Hubert Fichte, Günter Grass u. J. W. Görlitz 1685). Seine in Abschriften überlieMchn. 2004, S. 210–263. – Narjes K. Kalatehbali: Das Fremde in der Literatur. Postkoloniale ferte Selbstbiografie wurde erst 1860 veröfFremdheitskonstruktionen in Werken v. Elias Ca- fentlicht. netti, Günter Grass u. J. W. Münster 2005, S. 168–228. – Johann Strutz u. Ingrid Laurien: J. W. In: KLG. – Dana Pfeiferová: Angesichts des Todes. Die Todesbilder in der neueren österr. Prosa: Bachmann, Bernhard, W., Jelinek, Handke, Ransmayr. Wien 2007, S. 135–172. – Friedbert Aspetsberger: J. W.s ›Roppongi‹. Entwicklungen u. Ideologien seiner Prosa. Innsbr. u. a. 2008. – Maria I.

Ausgaben: August Kahlert: P. W.s Selbstbiogr. In: Ztschr. des Vereins für Gesch. u. Alterthum Schlesiens 1, H. 3 (1860), S. 82–146. – Karl Rother: Die schles. Sprichwörter u. Redensarten. Breslau 1928 (Ausw. aus den ›Gutten Gedancken‹). – Zwey Tausend Gutte Gedancken. Görlitz 1685. InternetEd. in: SB Berlin. – Der Edelmann. Ffm./Lpz. 1696. Internet-Ed. in: HAB Wolfenb. – Dass. Nürnb.

Winkler 1697. Nachdr. hg. u. eingel. v. Lynne Tatlock. Bern 1988. Literatur: Max Hippe: P. W. In: ADB. – Wolfgang van der Briele: P. W. Diss. Rostock 1918. – Egon Cohn: Gesellschaftsideale u. Gesellschaftsroman des 17. Jh. Bln. 1921, S. 9, 196–198. – Karl Konrad: P. W. In: Schles. Monatshefte 3 (1936), S. 103–109. – Martin Bircher: Johann Wilhelm v. Stubenberg u. sein Freundeskreis. Bln. 1968, S. 118–124, 146 ff., 231–235. – Terry Rey Griffin: P. W.s ›Der Edelmann‹. Ph. D. Univ. of Tennessee 1976. – Lynne Tatlock: P. W. In: German Baroque Writers, 1580–1660. Hg. James Hardin. Detroit 1996, S. 364–369. – Dies.: The novel as archive in new times. In: Daphnis 37 (2008), S. 351–374. Ewa Pietrzak / Red.

Winkler, Ron, * 31.12.1973 Jena. – Lyriker u. Übersetzer.

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nes poetolog. Programms verstanden werden: der »Reibung des Jargons des Informationszeitalters mit kühnen Bildfindungen«, wie die Jury für die Verleihung des Mondseer Lyrikpreises 2006 an W. befand. Weitere Werke: Dichtung zwischen Großstadt u. Großhirn. Annäherungen an das lyr. Werk Durs Grünbeins. Hbg. 2000. – Torp. Skizzen. Bln. 2009. – Kleine Schriften an C. Bln. 2010. – Herausgaben: Hermetisch offen. Poetiken junger deutschsprachiger AutorInnen. Bln. 2008. – Neubuch. Neue junge Lyrik. Mit einem Nachw. v. Ulrike Draesner. Mchn. 2008. Literatur: Klaus Siblewski: Sich selbst widerlegende Turbulenzen. Warum R. W.s Gedichte mit dem Mondseer Lyrik-Preis ausgezeichnet werden. In: manuskripte 47 (2007), H. 176, S. 51–55. – Karl Robert Straube: ›wir, das Seltsame der Natur‹. Zu den Landschaften R. W.s. 12. Limlingeröder Diskurse, 27.6.2009. Dirk Rose

W. zählt zu den profiliertesten Vertretern einer Generation junger Lyriker, die darum bemüht ist, dem »digitalen Zeitalter« mit Winkopp, Peter Adolph, * 1759 Kursachneuen lyr. Sprechweisen gerecht zu werden. sen, † 26.10.1813 Aschaffenburg. – ErNach dem Studium der Germanistik u. Gezähler, Herausgeber. schichte in Jena (Abschlussarbeit über Durs Grünbein) ging W. nach Berlin, wo er seitdem Nach dem Studium der Theologie u. Philoals freiberufl. Autor lebt. Sein Debüt gab er sophie in Erfurt trat W. 1778 in den Benemit dem Band Morphosen (Köln 2002). In die diktinerorden ein, floh aber bereits 1781 viel beachtete Anthologie Lyrik von JETZT (hg. wieder aus dem Kloster. In den folgenden Björn Kuhligk u. Jan Wagner. Köln 2003) Jahren verfasste er eine Reihe von Romanen, wurden einige Gedichte von ihm aufgenom- die sich v. a. gegen kirchl. u. staatl. Machtmen. Für den Lyrikband vereinzelt Passanten missbrauch richteten (Leben, Schicksale und (Idtsein 2004) erhielt W. u. a. 2005 den Le- Verfolgungen des Priors Hartungus. Lpz. 1782; once-und-Lena-Preis, da es ihm, wie die Jury mit autobiogr. Zügen), begründete die aufbegründete, gelungen sei, »das Naturgedicht klärerische Zeitschrift »Bibliothek für Denein weiteres Mal zu aktualisieren und als ker und Männer von Geschmack« (4 Bde., Referenz eines modernen Lebensgefühls Gera 1783–91) u. war 1785/86 in Zürich nutzbar zu machen«. Seither sind von ihm Herausgeber der sozialkrit. Zeitschrift »Der zwei weitere Gedichtbände – Fragmentierte deutsche Zuschauer« (insg. 9 Bde., Zürich Gewässer (Bln. 2007) u. Frenetische Stille (Bln. 1785–89). Wegen eines krit. Artikels von Jo2010) – erschienen. hann von Benzel, den er anonym veröffentW. hat sich auch einen Namen als Über- lichte, wurde er 1786 von der Mainzer Resetzer u. Herausgeber gemacht. Neben der gierung verschleppt u. gefangen gesetzt. Übersetzung von Gedichtbänden vorwiegend Nach seiner Haftentlassung blieb er, nunangloamerikan. Autoren (Jeffrey McDaniel, mehr Verfechter der absolutistischen OrdMatthew Zapruder u. a.) veröffentlichte er nung, in Mainz, wurde 1791 Hofbeamter u. verschiedene Anthologien junger dt. u. ame- verfasste als eifriger Gegner der Revolution rikan. Lyrik, so den Band Schwerkraft. Junge denunziatorische »Demokratenlisten« u. amerikanische Lyrik (Salzb./Wien 2007). Seine konterrevolutionäre Schriften (Über die Ververschiedenen Internet-Publikationen u. fassung von Mainz. Ffm. 1793). Seit 1801 lebte multimedialen Projekte können als Teil sei- W. als freier Schriftsteller u. Herausgeber

Winsbecke u. Winsbeckin

461

verschiedener Zeitschriften Aschaffenburg.

wieder

in

Weitere Werke: Die Päbstin Johanna. Lpz. 1782 (R.). – Faustin, oder das philosoph. Jahrhundert. Bd. 2, o. O. 1784 (R.). – Gesch. der frz. Revolution u. Eroberungen am Rheinstrome [...]. Ffm. 1794. – Der Rheinische Bund. 20 Bde. u. Registerbd., ebd. 1806–12. – Briefe in: Moses Mendelssohns ges. Schr.en. Hg. Georg Benjamin Mendelssohn. Bd. 5, Lpz. 1844, S. 563–573. Literatur: Woldemar Wenck: Dtschld. vor 100 Jahren. Lpz. 1887, S. 75–77. – Hans Hainebach: Studien zum literar. Leben der Aufklärungszeit in Mainz. Gießen 1936, S. 101–105. – Claus Träger (Hg.): Mainz zwischen Rot u. Schwarz. Bln. 1963, S. 260–282. – Fritz Valjavec: Die Entstehung der polit. Strömungen in Dtschld. 1770–1815. Neudr. Kronberg/Taunus 1978, S. 112–119. Wolfgang Griep

Winnig, August, * 31.3.1878 Blankenburg/Harz, † 3.11.1956 Bad Nauheim. – Gewerkschafter, Politiker; Schriftsteller, Essayist.

Jahre 1925–1945 (Aus zwanzig Jahren. Hbg. 1948) ist ein erschütterndes Dokument des Lebens unter dem Nationalsozialismus u. der Hilflosigkeit der bürgerlich-konservativen Opposition. W.s einziger Roman, Wunderbare Welt (ebd. 1938), u. seine Erzählungen sind heute vergessen. Weitere Werke: Die ewig grünende Tanne. Hbg. 1927 (N.n). – Das Reich als Republik. Stgt. 1928 (polit. Ess.). Literatur: Ein dt. Gewissen. Dank an A. W. FS zum 60. Geburtstag. Bln. 1938. – Friedrich Gudehus: A. W. – Ein Mann des Wortes, der Tat u. des Glaubens. Ebd. 1938. – Wilhelm Ribhegge: A. W. Eine hist. Persönlichkeitsanalyse. Bonn-Bad Godesberg 1973. – Christopher Hausmann: A. W. u. die ›Konservative Revolution‹. Ein Beitr. zur ideengeschichtl. Debatte über die Weimarer Republik. In: Internationale wiss. Korrespondenz zur Gesch. der dt. Arbeiterbewegung 32 (1996), S. 23–46. – Frank Schröder: A. W. als Exponent dt. Politik im Baltikum 1918/19. Hbg. 1996. – Wolfdietrich Kloeden: A. W. In: Bautz. – Walter T. Rix: Weiter Weg u. Heimkehr. Ostpreußen im Werk v. A. W. In: Ostpreußen. Hg. Frank-Lothar Kroll. Bln. 2001, S. 91–116. Walther Kummerow † / Red.

Der Sohn eines Totengräbers, von Beruf Maurer, schloss sich unter dem Eindruck bitterer Armut der Arbeiterbewegung an. Sozialgeschichtlich interessant sind seine Winsbecke u. Winsbeckin. – Anonyme Autobiografien. In Frührot (Stgt. 1924) schilstrophische Lehrgedichte des 13. Jh. dert W. seine Kindheit u. Gesellenzeit. Die folgenden Bände Der weite Weg (Hbg. 1932) u. Der Winsbecke bietet eine umfassende ritterl. Heimkehr (ebd. 1935) beschreiben den Auf- Morallehre im Gespräch zwischen Vater u. stieg des Autodidakten als Gewerkschafts- Sohn, die Winsbeckin – in Nachahmung dazu – führer u. sozialdemokratischer Politiker bis eine Mutter-Tochter-Lehre. zum Reichskommissar für das Baltikum Beide Lehrgedichte sind in derselben acht(1918) u. Oberpräsidenten Ostpreußens zeiligen Strophenform abgefasst; eine Melo(1919). Als dieser befürwortete er offen den die überliefert die Kolmarer Liederhandschrift Kapp-Putsch, was zum Bruch mit der Sozial- (k; um 1460) unter dem Namen »Grußweidemokratischen Partei u. zum Verlust seines se«, als deren Erfinder sie willkürlich den Amtes führte. Fortan lebte W. als freier Tugendhaften Schreiber benennt. Die EntSchriftsteller u. Vortragsreisender, der die stehungszeit des Winsbecken ist nicht genau Ideologie der nationalen u. volkskonservati- bestimmbar, gewöhnlich wird 1210/1220 ven Bewegung mitformulierte. Seine polit. angegeben, doch ohne hinreichende Gründe. Wandlung dokumentiert das Buch Vom Prole- Den terminus post quem liefert eine Anspietariat zum Arbeitertum (ebd. 1930). lung auf Wolframs Parzival (in Strophe 18 Trotz seiner ideolog. Nähe zu den Natio- wird Gahmuret als Beispiel für die große Ehre nalsozialisten lehnte W. offizielle Ämter ab u. genannt, die ein Ritter im Umgang mit dem schloss sich zunehmend kirchl. Kreisen u. der Schild erlangen kann), die Beziehungen zu Opposition gegen die Nationalsozialisten an Freidanks Bescheidenheit lassen sich hingegen (Europa. Gedanken eines Deutschen. Bln. 1937). nicht eindeutig festlegen. Gegen Ende des Der letzte Teil seiner Autobiografie über die Jahrhunderts nennt Hugo von Trimberg in

Winsbecke u. Winsbeckin

seinem Renner den »von Windesbecke« unter anderen Sängern (V. 1185). Die Namen »Der Winsbeke« u. »Diu Winsbekin« erscheinen sonst nur noch als Korpus-Überschriften in der Großen Heidelberger Liederhandschrift (C); die Schreibervorschrift beim Winsbecken lautet »von Winsbach«, womit vermutlich das fränk. Windsbach gemeint ist. Damit ist aber wohl kaum der Autor des Winsbecken bezeichnet, sondern eher die Rolle des lehrenden Vaters, wie mit »Diu Winsbeckin« zweifellos die der Mutter. Der Winsbecke war nach Ausweis der Überlieferung im späten MA weit verbreitet. Bekannt sind 14 Handschriften vom Ende des 13. bis in die zweite Hälfte des 15. Jh., in der Mehrzahl Fragmente; sie weisen beträchtl. Unterschiede im Strophenbestand u. in der Strophenreihung auf. Die Winsbeckin ist fast immer im Anschluss an den Winsbecken aufgezeichnet, jedoch mit sieben Handschriften schwächer bezeugt. Auch diese weichen stark voneinander ab, allerdings ist die Strophenreihung deutlich weniger variant als beim Winsbecken. Durch den Abdruck in Goldasts Paraeneticorum veterum pars I (1604) erlangten die beiden Dichtungen als Muster didakt. Poesie des MA auch in der neuzeitl. Forschung früh Beachtung. Der Winsbecke, dessen umfangreichste handschriftl. Version 78 Strophen umfasst (die Ausgabe hat 80 Strophen u. vier Zusatzstrophen), besteht aus zwei formal u. inhaltlich deutlich unterschiedenen Teilen. Der zweite Teil gilt als späterer Zusatz; vereinzelt wird jedoch auch für die urspr. Zusammengehörigkeit der Teile plädiert. Die Strophen des ersten Teils (1–56) bieten nach einer knappen Einleitung durchweg Lehren des Vaters u. werden stereotyp mit der Anrede an den Sohn eingeleitet, der selbst nicht zu Wort kommt. Die Lehren geben Unterweisung in ritterl. Moral; sie betreffen zuerst allgemeiner das Verhältnis zu Gott u. zur Geistlichkeit sowie zu den Frauen, außerdem den Wert des Ritterstandes. Darauf folgen ausführlicher, aber ohne klar erkennbare Gliederung, spezielle Anweisungen zu einzelnen Verhaltensweisen. Am Schluss werden als die drei wesentl. Lehren u. die grundlegenden Tugenden herausgehoben die Liebe zu Gott, die

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Aufrichtigkeit u. die »zuht«. Im Unterschied zur vorwiegend weltl. Didaxe des ersten Teils ist der zweite Teil (Strophen 57–80) entschieden religiös geprägt. Hier spricht zunächst der Sohn. Er belehrt den Vater über die Wertlosigkeit des Weltdienstes u. fordert ihn auf, für seine Sünden ein Spital zu stiften u. dort mit ihm zusammen der Welt zu entsagen. Über die Weisheit seines Kindes zu Tränen gerührt, stimmt der Vater zu u. wendet sich dann im Gebet an Gott, dem er seine Sündhaftigkeit bekennt u. dessen Barmherzigkeit er erfleht. Am Schluss gelobt er, seine Hörigen freizulassen, seine Einkünfte einem Spital zu vermachen u. sich mit seinem Sohn dorthin zurückzuziehen. Die Winsbeckin (die umfangreichsten Versionen enthalten 39 Strophen; die Ausgabe hat 45 Strophen u. zwei Zusatzstrophen) ist als Zwiegespräch zwischen Mutter u. Tochter mit regelmäßigem Sprecherwechsel angelegt. Anfangs geht es allgemeiner um die Tugend, danach v. a. um die Minne. Diese wird von der Tochter zunächst abgelehnt, dann aber in ihrem Wert anerkannt. Ähnlich wie der Vater im Winsbecken gibt die Mutter abschließend drei Regeln, hier jedoch eingeschränkt auf das vorherrschende Thema, die Minne. Stärker als im Winsbecken treten die beiden handelnden Rollen hervor, v. a. der Tochter wird dabei eine gewisse Eigenständigkeit zuerkannt: Sie akzeptiert die Lehren der Mutter nicht ohne Widerspruch, gibt sich aufmüpfig u. wirkt altklug, obwohl sie unerfahren u. ziemlich naiv ist. Die Rolle der Tochter hat ein gewisses komisches Potential, das mit seinen parodistischen Zügen nicht nur der Unterhaltung dient, sondern auch normstabilisierende Funktion hat. Der Text präsentiert eine männlich perspektivierte u. die Frau auf ihren Bezug zu den männl. Mitgliedern der Gesellschaft reduzierende Minne- u. Gesellschaftslehre aus fingiert weibl. Sicht. In der sog. Winsbecken-Parodie sind die moralischen Lehren des Winsbecken satirisch ins Gegenteil verkehrt. Der Text, der rund 40 Strophen umfasst haben dürfte, ist nur in zwei Fragmenten überliefert.

Winter

463 Ausgabe: Winsbeckische Gedichte nebst Tirol u. Fridebrant. Hg. Albert Leitzmann. 3., neubearb. Aufl. v. Ingo Reiffenstein. Tüb. 1962. Literatur: RSM 5, S. 568–574. – Ann Marie Rasmussen: Mothers and Daughters in Medieval German Literature. Syracuse, New York 1997, S. 136–159. – Frieder Schanze: ›Winsbecke‹, ›Winsbeckin‹ u. ›Winsbecken-Parodie‹. In: VL (mit Lit. bis ca. 1998). – Olga V. Trokhimenko: ›Gedanken sint frî?‹ Proverbs and Socialization of Genders in the Middle High German Didactic Poems ›Die Winsbeckin‹ and ›Der Winsbecke‹. In: Res humanae proverbiorum et sententiarum. FS Wolfgang Mieder. Hg. Csaba Földes. Tüb. 2004, S. 327–350. – Elke Brüggen: Minne im Dialog. Die ›Winsbeckin‹. In: Dichtung u. Didaxe. Hg. Henrike Lähnemann u. Sandra Linden. Bln./New York 2009, S. 223–238. – Christoph Schanze: Orientierung für den Hof. Zum ›Winsbecken‹-Komplex (in Vorb.). Frieder Schanze / Christoph Schanze

Winsloe, Christa, verh. Baronin Hatvany, * 23.12.1888 Darmstadt, † 10.6.1944 Cluny/Frankreich. – Schriftstellerin, Bildhauerin.

zur Kommandantur in Cluny wurde sie zusammen mit ihrer Lebensgefährtin, der Schweizer Schriftstellerin Simone Gentet, verschleppt u. erschossen. Weiteres Werk: Passeggiera. Amsterd. 1938 (R.). Literatur: Christa Reinig: Über C. W. In: C. W.: Mädchen in Uniform. Mchn. 1983, S. 239–248. – Claudia Schoppmann: C. W. Portrait. In: Dies. (Hg.): Im Fluchtgepäck die Sprache. Deutschsprachige Schriftstellerinnen im Exil. Bln. 1991, S. 110–116. Überarb. Ausg. Ffm. 1995, S. 128–135. – Annegret Pelz: Passeggiera – Transit. Metaphern des Übergangs in Exilromanen v. Frauen. In: Zwischen Aufbruch u. Verfolgung. Hg. Denny Hirschbach. Bremen 1993, S. 149–157. – Christoph Lorey: Frauen-Zimmerwelten. Die räuml. Einbindung weibl. Sexualität in den Romanen ›Sind es Frauen‹ v. Aimée Duc u. ›Das Mädchen Manuela‹ v. C. W. In: Forum Homosexualität u. Lit. 39 (2001), S. 27–44. – Sabine Rohlf: Exil als Praxis – Heimatlosigkeit als Perspektive? Lektüre ausgew. Exilromane v. Frauen. Mchn. 2002. – Karin Windt: Zwischen den Decks u. zwischen den Zeilen. C. W.s ›Passeggiera‹, quer gelesen. In: Forum Homosexualität u. Lit. 42 (2003), S. 69–77. – Agnieszka Sochal: Militarisierung des Alltags u. ihre Folgen auf der Grundlage des Romans ›Mädchen in Uniform‹ v. C. W. In: Studia niemcoznawcze 29 (2005), S. 567–577. Ilse Auer / Red.

Die Offizierstochter besuchte das KaiserinAugusta-Stift in Potsdam u. anschließend ein Schweizer Internat. In München machte W. eine Bildhauerausbildung. Nach dem Scheitern ihrer Ehe arbeitete sie als TierbildhaueWinter, Michael, auch: Percy Warberger, rin u. veröffentlichte Feuilletons in Münch* 8.12.1946 Braunschweig. – Erzähler, ner Zeitungen u. in der Zeitschrift »QuerEssayist, Journalist. schnitt«. Eigene Erfahrungen verarbeitete W. in dem W. studierte Germanistik, Geschichte u. Mu1930 in Leipzig uraufgeführten Theaterstück sikwissenschaft in Berlin u. ging anschlieRitter Nérestan (in Berlin aufgeführt u. d. T. ßend einer Lehrtätigkeit in Saarbrücken Gestern und Heute), das die schwärmerische nach. Seit 1978 lebt er in Koblenz. Von 1987 Liebe einer Internatsschülerin zu ihrer Leh- bis 1993 war er Mitarbeiter der »Zeit«, dann rerin behandelt. Der 1931 nach dem Thea- wechselte er zur »Süddeutschen Zeitung«. terstück gedrehte Film Mädchen in Uniform W.s Interesse gilt in besonderer Weise dem machte W. berühmt (u. d. T. Das Mädchen utop. Denken in Europa. Zu dieser Thematik Manuela. Amsterd. 1934. Neudr. u. d. T. Mäd- legte er – noch im akadem. Kontext – das chen in Uniform. Mchn. 1983. Neuausg. mit Sammelwerk Compendium Utopiarum (Stgt. einem Nachw. v. Susanne Amrain. Gött. 1978) vor, bevor er sich der Utopie als Er1999). zähler zuwandte. Nach der Machtergreifung der NationalsoIn Rückkehr in die Metropolen (Darmst. 1987) zialisten verließ W. Deutschland. Nach einem unternimmt W. nichts Geringeres, als einen Aufenthalt in der USA ging sie ins Exil nach umfassenden Prozess gegen das europ. DenSüdfrankreich u. versteckte Flüchtlinge vor ken seit der Neuzeit anzustrengen. Die der Gestapo. 1944 entschloss sie sich zur Handlung spielt in der nahen Zukunft des Rückkehr nach Deutschland. Auf dem Weg Jahres 1994, ihre Wurzeln hat sie jedoch im

Winter

Jahr 1492, in der Entdeckung u. gewaltsamen Kolonisierung Amerikas durch Kolumbus. Der erste Mord an einem Ureinwohner erscheint W. als zweiter Sündenfall, als sinnfälliger Ausdruck der hybriden Suche der Europäer nach dem El Dorado. Goldrausch als Blutrausch, Mission als Massaker desavouieren die Sehnsucht nach dem Paradies als Entfesselung der Hölle. In der Gegenwart von 1994 muss der Ich-Erzähler, ein Baumeister, erkennen, dass sein Lebenswerk, die Stadt Chaux, mit ihrer egalitären Architektur Herrschaft nicht abgeschafft, sondern in ihrer Uniformität deren Struktur verabsolutiert hat. Chaux ist eine künstlich angelegte Stadt in Insellage – topografisch Nachfolgerin von Thomas Morus’ Utopia oder Campanellas Sonnenstaat. Chaux gleicht einer ins Extrem getriebenen Le Corbusier’schen Wohnmaschine, bis ins letzte durchrationalisiert u. symmetrisiert. Der Tagesablauf ist streng normiert, sein Akzent liegt auf körperl. Ertüchtigung, der Wettkampf jeder gegen jeden ist »die einzige Form der Kommunikation«. Bei Erreichen einer bestimmten Altersgrenze werden Bewohner diskret entsorgt, die Versorgung geschieht automatisch. So realisiert Chaux die Utopie eines Glücks, das weder die Sorge um Nahrung noch den Tod kennt. Der Architekt begreift jedoch, dass man die Menschen, indem man sie um die Erfahrung der Vergänglichkeit bringt, umbringt. Die Flucht des Ich-Erzählers vor seiner eigenen Schöpfung dient W. erzähltechnisch als Motivierung mehrerer Reisen in die Vergangenheit. Der Baumeister wird Zeitzeuge der Restauration im England nach Cromwell, der Französischen Revolution, des Fenstersturzes zu Prag, des Janitscharen-Aufstands in Konstantinopel u. des Spanischen Bürgerkriegs. Die Metropolen fungieren als Erinnerungsspeicher, der als Antidot zur Geschichtslosigkeit der Gegenwart wirkt. Den Spuren, welche die histor. Kämpfe in ihr Gesicht eingegraben haben, wohnt latent ein subversives Bewusstsein inne. Auf seinem Weg durch die Zeiten besitzt die Begegnung mit der engl. Schriftstellerin Aphra Behn, einer Zeitgenossin Shakespeares, besondere Qualität. Sie schleudert der absolutistischen Souveränitätslehre von Hobbes als auch dem auf

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protestantischem Arbeitsethos u. Rationalität gründenden Gesellschaftsentwurf von Milton ihr anarch. Bekenntnis zur Unsittlichkeit, zum Genuss, zur Faulheit u. Ekstase entgegen, das in das Paradoxon mündet: »Die höchste Ordnung ist das Chaos.« Das Ende der Reise führt in das London von 1994 u. zeigt dem Ich-Erzähler, dass der weltumspannende Abbruchkonzern Savillys & Price die brit. Metropole bereits nach dem ChauxModell umzugestalten begonnen hat. Die Auslöschung – Chaux ist das frz. Wort für Kalk – der in den europ. Metropolen sedimentierten Geschichte ist in vollem Gange. Der Roman Claire oder Die achte Reise Sindbads (Ffm. 1990) erscheint als Variation des Vorgängerwerks, das eine histor. Episode, die Französische Revolution, noch einmal in einem vergrößerten Ausschnitt beleuchtet. In fünf Kapiteln kommen fünf Personen zu Wort, aus deren Berichten mosaikartig, aber gleichwohl widersprüchlich u. fragmentarisch die Gestalt der rätselhaften Claire de Brie ersteht. Sie erscheint als Geistesverwandte von Aphra Behn, führt ein ausschweifendes Sexualleben u. soll laut Sindbad, einem Pariser Clochard, das Geheimnis gelöst haben, wie man Ereignisse als Bilder festhält, also die Fotografie erfunden haben. Mit ihrer Kamera wird Claire quasi zu einer Dokumentaristin des blutigen Revolutionsgeschehens. Die These des Romans besteht darin, dass Claires verschwundene Bilder zu Bewusstsein brächten, dass die Geburt der demokratischen Gesellschaft aus dem Geist der aufklärerischen Utopie auch die Geburtsstunde der Legitimation unterdrückender Gewalt mit den Mitteln der Vernunft war. Letztlich erweisen sich das europ. Machtstaatsdenken u. sein antithet. Zwillingsbruder, der aufklärerische Rationalismus, als identisch. In W.s essayistisch angelegter Studie Ende eines Traums. Blick zurück auf das utopische Zeitalter Europas (Stgt./Weimar 1992) kehren die in den beiden Romanen entfalteten Positionen teils wörtlich wieder. W. setzt auch hier den Beginn der verhängnisvollen »Geometrisierung der Welt und der Seelen« symbolisch mit dem Jahr 1492 an u. plädiert in seinem Resümee für den Mut, »das Chaos als

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eine allgemeinere Form der Ordnung zu verstehen« u. auf illusionäre Glücksversprechen zugunsten eines offenen humanen Miteinander zu verzichten. Im selben Jahr erschien Auf den Trümmern der Moderne (Ffm.), bestehend aus 137 »Torpedos« genannten Kurzprosatexten, in denen W. fiktive u. histor. Persönlichkeiten aus Mythos, Geschichte u. Literatur in knappen szen. Spots beleuchtet. Indem er sie häufig in eine verfremdende Umgebung oder Zeit versetzt, versucht er, witzige Effekte zu erzielen. Unter dem Pseud. Percy Warberger wurde der Roman Das große Spiel oder Im Dickicht der Begehrlichkeiten (Bln. 1995) veröffentlicht, den W. gemeinsam mit Harald Eggebrecht u. Sten Nadolny in 53 Fortsetzungen für die »Süddeutsche Zeitung« schrieb. Die Autoren wechselten sich dabei ständig ab, ohne auf den jeweils vorausgehenden Text Einfluss gehabt zu haben. Seither ist W. vorwiegend journalistisch tätig. Weitere Werke: Im Gewühle der Gefühle. Ein erot. Verführer. Bln. 1996. – (Pseud. Percy Warberger) Das große Spiel. Mchn. 1997 (R.). – PferdeStärken. Die Lebensliebe der Clärenore Stinnes. Hbg. 2001. Literatur: Michael Braun: Verlorenes Paradies. In: Die Zeit, 27.11.1987. – Walter Hinderer: Nichts als Hirngespinste. In: FAZ, 23.11.1990. Jürgen Egyptien

Winter, Mona, * 1.5.1946 Haan bei Solingen. – Verfasserin von experimentellen Prosatexten u. Theaterstücken, Essayistin. Seit ihrem Soziologiestudium lebt W. als freie Schriftstellerin u. Verlegerin in München. In ihren Essays u. poetischen »Texturen« setzt sie sich mit dem Zeitgeist, weibl. Imaginationen u. den künstlerischen Traditionen der Moderne auseinander. In der Anthologie Zitronenblau-Balanceakte ästhetischen begreifens (Mchn. 1983) stellt sie weibl. Schreibweisen vor, die sie als radikale ästhetische Entwürfe wider die gewöhnl. Sprach- u. Wahrnehmungsmuster entziffert. Daran schließen ihr imaginärer Prosatext Mondlicht im Prisma (ebd. 1985) u. die 1991 in Koblenz uraufgeführten zeitkrit. Stücke Tag der Tollkirsche u.

Winter aus Andernach

Gerne kannibalisch an. Die Auflösung der dramat. Einheiten, die Überzeichnung der Personen, das Montieren von disparaten Sprachu. Wirklichkeitspartikeln sind die von W. eingesetzten Stilmittel, um auf die Indifferenz der als postmodern verstandenen Welt zu verweisen. Weitere Werke: Venusfliegenfalle. Sozialarbeit als Geometrisierung der Nächstenliebe (zus. mit Nana Ochmann u. a.). Ffm. 1979. – Dasz es dich raubt, Salome. Urauff. Mchn. 1988 (D.). – Gully girl. Köln 1993 (Bühnenms.). – Knock out. Urauff. Koblenz 1994 (D.). – Welcome to death. Ffm. 1994 (Bühnenms.). – Kill Daddy kill. Ffm. 1995 (Bühnenms.). – Neue Stücke v. Achternbusch bis W. (zus. mit Mira Dietermann [Red.] u. Herbert Achternbusch). Ebd. 1996. – Zuviele Engel hier Franzi(ska Gräfin zu Reventlow). Urauff. Mchn. 1997 (Kom.). – Herzflüge. Urauff. Memmingen 2000 (D.). – Ich, eine von dir. Urauff. Mchn. 2001 (D.). Sonia Nowoselsky-Müller / Red.

Winter aus Andernach, Johann, auch: Winther oder Guinther von A., Joannes Guinterius Andernacus, * 1505 Andernach, † 4.10.1574 Straßburg. – Philologe u. Arzt. W. widmete sich humanistischen Studien u. a. in Utrecht u. erlernte dort die griech. Sprache. In Mitteldeutschland (Goslar) scheint er als Lehrer gewirkt zu haben; seit 1523 lehrte er Griechisch in Löwen. 1527 ging W. nach Paris u. nahm dort ein Medizinstudium auf (Bakkalaureat am 15.4.1528, Dr. med. am 29.10.1532). An der Pariser Universität wirkte der angesehene Anatom ab Nov. 1534 als Medizinprofessor. Seine griech. Sprachkenntnisse nutzte W. zur Übersetzung der Werke des Galen (u. a. Galeni aliquot libelli [...]. Basel 1529), Paulus von Aegina (Opus de re medica libri VII. Paris 1532), Oribasius (Commentaria in aphorismos Hippocratis [...]. Paris 1533) u. Alexander von Tralles (Alexandri Tralliani [...] Libri duodecim, Razae de pestilentia libellus [...]. Straßb. 1549. Internet-Ed. in: VD 16). Der Protestant musste 1538 von Paris nach Metz gehen. In Straßburg (1544–74) entstand sein Hauptwerk De medicina veteri et nova (Basel 1571), eine in Dialogform gehaltene Auseinandersetzung zwischen »galenischer« u.

Wiplinger

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»paracelsischer« Medizin. W. blieb zwar der Wiplinger, Peter Paul, * 25.6.1939 Hasantiken Medizin verbunden, flocht in seinen lach/Oberösterreich. – Lyriker, Essayist. Text jedoch paracels. Rezepte ein. W.s AutoAls zehntes Kind einer Kaufmannsfamilie rität als Mediziner trug zur Verbreitung des Paracelsismus in Deutschland u. Frankreich wuchs W. in Haslach auf. Nach dem Besuch des Humanistischen Gymnasiums studierte bei. er in Wien Germanistik, Philosophie u. Weitere Werke: Syntaxis graeca nunc recens, et Theaterwissenschaften. Tätigkeiten als nata, et edita. Paris 1527. – Institutionum anatomicarum secundum Galeni sententiam, ad candi- Tankwart, Werbetexter u. Galerist folgten. datos medicinae, libri quatuor. Paris 1536. Inter- Seit 1960 lebt er in Wien u. ist auch als Kulnet-Ed. in: BSB München. – De victus et medicinae turpublizist u. künstlerischer Fotograf tätig ratione cum alio, tum pestilentiae tempore obser- (mehrere Fotogedichtbände u. Fotoessays). vanda, commentarius. Straßb. 1542. Frz. ebd. 1547. Seine Werke wurden in mehr als 20 Sprachen Dt. ebd. 1564. – Commentarius de balneis, et aquis übersetzt. medicatis in tres dialogos distinctus. Ebd. 1565. Neben Natur-, Reise- u. Liebesgedichten Internet-Ed. in: VD 16. widmete W. sich v. a. der polit. Lyrik. Literatur: Bibliografie: VD 16. – Weitere Titel: Sprachliche Knappheit u. ein oft aggressiver Georg Calaminus: Vita [...] Ioannis Gvintherij Anu. appellativer Unterton kennzeichnen ebendernaci medici celeberrimi, heroico carmine conso wie der sparsame Umgang mit Metaphern scripta [...]. Straßb. 1575 (Neuausg. in: Ders.: Sämtl. Werke. Hg., übers. u. komm. v. Robert Hintern- W.s Gedichte, die Aussagen nicht verschleidörfer. 4 Bde., Wien 1998, Bd. 1, S. 12–69: Text u. ern. Erich Fried beschrieb im Vorwort zum Übers.; Bd. 3, S. 1439–1465: Komm.). – Friedrich Gedichtband Farbenlehre und andere Gedichte Wieger: Gesch. der Medizin [...] in Straßburg. 1967–1987 (Klagenf. 1987) W.s Texte als »reStraßb. 1885. – Wilhelm Haberling: J. Winther v. A. duzierte Gedichte«, in denen alles ÜberflüsIn: Klin. Wochenschr. 11, Nr. 39 (1932), sige zugunsten dichter Inhalte ausgelassen S. 1616–1660. – Richard Doll: Das lat. Epos des werde. Thematisch setzt sich der Gedichtschles. Dichters Calaminus über den Straßburger band mit dem Faschismus unter Hitler, mit Arzt J. W. v. A. Diss. Düsseld. 1937. – Maria HollRassismus u. polit. Verfolgung in Österreich felder: Ansichten des Straßburger Arztes J. Winther v. A. über alte u. neue Medizin nach seinem Werk v. nach dem »Anschluss« 1938 auseinander. Der 1571. Diss. Ebd. 1939. – C. D. O’Malley: Ioannes Zweite Weltkrieg u. der Holocaust sind imGuinter. In: DSB. – Georges Schaff: Jean Gonthier mer wiederkehrende Motive in W.s Ged’Andernach (1497–1574) et la médecine de son samtœuvre u. stehen in engem Zusammentemps. In: Médecine et assistance en Alsace hang mit seinem sozialen u. polit. EngageXVIe–XXe siècle [...]. Hg. Georges Livet. Straßb. ment für Menschenrechte u. Humanität. In 1976, S. 20–40. – Anton Schindling: Humanist. Abgrenzung zu Adornos Aufsatz Kulturkritik Hochschule u. Freie Reichsstadt. Gymnasium u. und Gesellschaft (1951) postuliert W. in Warum Akademie in Straßburg 1538–1621. Wiesb. 1977, schreibe ich Gedichte? (in: Sprachzeichen. Gosau Register. – Robert Steegmann: Gonthier d’Ander2011), dass seine Texte »gegen das Vergessen, nach. In: NDBA, Lfg. 1 (1982), S. 39. – Suzanne Elisabeth Wust: Jean Guinter d’Andernach [...] et la für das Sich-Erinnern« stehen. Man dürfe »an Peste. Diss. Straßb. 1984. – Kaspar v. Greyerz u. Auschwitz nicht mehr vorbeischreiben« (EsPeter G. Bietenholz: J. Guinterius. In: Contem- say Nach Auschwitz – Gedichte Schreiben). Nach poraries. – Gerhard Meyer: Zu den Anfängen der W. sollen Schriftsteller u. Poeten polit. TheStraßburger Univ. [...]. Hg. Hans-Georg Rott u. a. men nicht ausblenden, sondern sich literaHildesh. 1989, Register. – J. W. aus Andernach [...] risch damit in gesellschaftl. Verantwortung 1505–1574. Ein Humanist u. Mediziner des 16. Jh. auseinandersetzen. In den Prosabänden LeHg. Klaus Schäfer. Andernach 1989. – Histoire de la bensbilder. Geschichten aus der Erinnerung médecine à Strasbourg. Hg. Jacques Héran. Straßb. 1997, bes. S. 66 f. u. Register. – CP II, S. 423–427 u. (Grünbach 2003) u. Lebenswege. Geschichten aus der Erinnerung (ebd. 2011) werden detailreiche Register (mit Lit.). Wolf-Dieter Müller-Jahncke / Red. autobiogr. Erinnerungen an W.s Kindheit u. Jugend im Mühlviertel u. an seine Studienzeit in Wien gesammelt.

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W. war Vorstandsmitglied des Berufsverbandes österreichischer Schriftsteller und Schriftstellerinnen sowie jahrzehntelang aktives Mitgl. im Internationalen u. im Österreichischen P.E.N.-Club. 1991 wurde er zum Professor ernannt. Für sein Werk wurde W. immer wieder ausgezeichnet, u. a. mit dem Theodor-Körner-Förderungspreis (1976, 1983, 1992), dem Österreichischen Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst 1. Klasse (2003) u. der Kulturmedaille des Landes Oberösterreich (2005). Weitere Werke: Hoc est enim/Denn dies ist. Mchn. 1966 (L.). – Borders/Grenzen. New York 1977 (L.). – Gitter. Baden bei Wien 1981 (L.). – Abschiede. Fotogedichtband. Linz 1981. – Bildersprache. Fotogedichtband. Klagenf. 1988. – Herzschläge. Liebesgedichte. Baden bei Wien 1989. – Lebenszeichen. Klagenf. 1992 (L.). – Unterwegs. Reise- u. Aufenthaltsgedichte 1966–1996. Eisenstadt 1997. – Schnittpunkte. Gedichte 1966–1998. Ebd. 1999. – Splitter. Gedichte 1966–1998. Ebd. 2000. – Spuren. Gedichte 1966–1998. Ebd. 2001. – Niemandsland. Gedichte 1960–2000. Ebd. 2002. – Aussagen u. Gedichte. Wien 2004. – Ausgestoßen. Gosau/Salzb./Wien 2006 (E.). – Steine im Licht – Römische Etüden. Salzb. 2007 (L.). – Schriftstellerbegegnungen 1960–2010. Klagenf./Wien 2010. – Schattenzeit. Gedichte 2000–2010. Wien 2011. Literatur: Erich Fried: Vorw. In: P. P. W.: Farbenlehre u. andere Gedichte 1967–1987. Klagenf. 1987. – Wolf H. Käfer: Türhüter der Banalität?: ... über das Eigenartige in der Lyrik P. P. W.s, der auch Photokünstler ist. In: Morgen (2000) 1, S. 34–36. – P. P. W. im Gespräch mit Arletta Szmorhun. In: Orbis linguarum 25 (2004), S. 171–187. – A. Szmorhun: P. P. W.s Poetik des Humanen. In: Reden u. Schweigen in der deutschsprachigen Lit. nach 1945. Hg. Carsten Gansel u. Pawel Zimniak. Wrocl/aw 2006, S. 407–423. – Dies.: Zerbrechlichkeit des Gefühls. Über den Zustand der Liebe in lyr. Texten v. P. P. W. In: Der Hüter des Humanen. FS Bernd Balzer. Hg. Edward Bial/ek u.a. Dresden/Wrocl/aw 2007, S. 239–248. – Dies.: Erfahrung u. Erinnerung in der poet. Sprache v. P. P. W. Grünbach 2008. Susanne Bach

Wipo, * letztes Jahrzehnt des 10. Jh., † bald nach 1046. – Lateinischer Dichter u. Geschichtsschreiber. W. war Priester u. Hofkaplan Konrads II. u. Heinrichs III., vielleicht schon Heinrichs II.

Gelegentliche Gallizismen u. ein dt. Lehnwort (»fano«, »Fahne«) in seinem Latein lassen darauf schließen, dass W. von der dt.-romanischen Sprachgrenze stammte, vielleicht aus einem Ort im burgundischen Teil des Reiches, für den er bes. Engagement zeigt (Solothurn?). Man dürfte erwarten, dass W. als Beamter der kgl. Kanzlei deren wechselnde Amtssitze teilte. Doch sagte er selbst, dass er krankheitshalber nur selten in der Capella Konrads anwesend sein konnte. Möglicherweise lebte er gegen Ende seines Lebens als Eremit im böhm. Grenzgebiet. W.s Werk besteht zum einen aus seinen Gesta Chuonradi II. imperatoris, zum anderen aus Gelegenheitsgedichten, die nur z. T. erhalten sind oder sich ihm bloß mehr oder weniger sicher zuschreiben lassen. Die Gesta Chuonradi sollten nach W.s Willen den ersten Teil eines Werks darstellen, dessen zweite Hälfte die Taten von Konrads Sohn Heinrich III. behandelt hätte. W. ist nicht zur Ausführung seines Plans gelangt, hat in die Gesta aber die Taten Heinrichs III. zu Lebzeiten Konrads noch eingearbeitet. Die ersten neun Kapitel der Gesta über die Wahl u. die ersten Amtshandlungen Konrads gestaltete W. frei; im Folgenden richtete er sich nach dem chronolog. Gerüst der (verlorenen) Schwäbischen Weltchronik, deren dürre Angaben er erzählerisch ausgestaltet, erweitert, ergänzt u. zum Teil auch berichtigt. Als Erzähler schätzt er die Anekdote exemplarischen Charakters, die er pointensicher zu gestalten weiß. Obwohl W. teils selbst als Augenzeuge, teils aufgrund von Augenzeugenberichten erzählt, liegt ihm wenig an der konkreten Einmaligkeit des histor. Geschehens u. an dessen Hintergründen. Vielmehr gestaltet er in der Person Konrads typologisch den Repräsentanten der Idee eines sakralen Königu. Kaisertums vorgregorian. Prägung. Hauptpunkte: erste Regierungsakte Konrads, seine Italienzüge, die Rebellion des Herzogs Ernst von Schwaben, der Erwerb Burgunds. Als Literat zeigt W. eine herausragende Schulung an der Bibel u. an klass. lat. Poesie u. Prosa. An passenden Stellen geht er zu Reimprosa über, streut rhythmisch gnomische Verse u. Sentenzen oder auch hexametr.

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Wendungen ein, nicht selten in der Form von Zitaten aus eigenen Verswerken. Unter den Versdichtungen W.s, die ein vielseitiges Spektrum antiker u. mittelalterl. Formen bieten, lassen sich aufgrund von Erwähnungen u. zum Teil detaillierten Inhaltsreferaten der Gesta als verloren nachweisen: eine über den Winterfeldzug Konrads II. nach Burgund (1033), eine, die wahrscheinlich die Erwerbung Burgunds im Ganzen behandelte (Gallinarius), u. eine auf Konrads Sieg über die Liutizen (1035). Auch ein Hymnus über die Einführung Heinrichs III. als König in Burgund ist aufgrund eines Zitats der Gesta vielleicht als Dichtung W.s erschließbar. Umstritten ist, ob die beiden in den Carmina Cantabrigiensia überlieferten Stücke auf Konrads II. Kaiser- u. Heinrichs III. Königskrönung W. zuzuschreiben sind. Auch die Zuschreibung des sog. Sutri-Lieds an W. ist sehr unsicher. In diesem einmaligen Denkmal polit. Lyrik des 11. Jh. wird Heinrich III. aufgefordert, klärend in das Schisma dreier Päpste einzugreifen, wie es dann auf der Synode zu Sutri (1046) tatsächlich geschah. Fünf unbestritten echte Gedichte W.s haben sich erhalten. Seine Ostersequenz Victimae paschali laudes ist noch heute in liturg. Gebrauch. Im MA bildete sie u. a. einen festen Bestandteil des lat. u. dt. Osterspiels. Wohl anlässlich seiner Königskrönung (1028) widmete W. Heinrich III. seine Proverbia, 100 Einzeiler nach Art der bibl. Spruchbücher, doch hier in zäsurreimenden Versen unterschiedl. Maßes. Die Sprüche sind thematisch in regelmäßigen Gruppen von gleicher Verszahl angeordnet. Den Inhalt bilden Lehren nach Art eines Fürstenspiegels. Auf den Tod Konrads (1039) dichtete W. eine unvollständig u. interpoliert überlieferte Totenklage aus vierzeiligen Strophen mit Zäsurreimen u. Refrain. In dem aus vier Reden bestehenden Tetralogus (326 Hexameter), den er Heinrich III. 1031 zum Weihnachtsfest überreichte, fordert W. die Musen zum Lob des Königs auf, u. diese sprechen Heinrich ebenso an wie die Personifikationen von Gesetz u. Gnade. Sie geben polit. Rat (insbes. zur Einrichtung von Rechtsschulen für den jungen Adel) sowie persönl. Mahnung u. lassen das vertraute Verhältnis W.s zum König erkennen. Mit

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dem Tetralogus wurden als Vortragsgabe für die Weihnachtstafel des Königs die Versus ad mensam regis (zehn Disticha) überreicht. Sie erinnern daran, dass Christus an Weihnachten als wahre Speise u. wahrer Trank zur Erhaltung des Lebens geschenkt wurde. Ausgaben: Die Werke W.s. Hg. Harry Breslau. Hann./Lpz. 31915. Nachdr. 1993 (MGH SS rer. Germ. in us. schol. sep. ed., Bd. 61). Online http:// bsbdmgh.bsb.lrz-muenchen.de/dmgh_new/app/ web?action=loadBook&bookId=00000709. – Gesta Chuonradi II. imperatoris. Bearb. v. Werner Trillmich (lat.-dt. Text mit Einl.). In: Quellen des 9. u. 11. Jh. zur Gesch. der Hamburg. Kirche u. des Reiches. Darmst. 1961, S. 507–613. – Paul Klopsch (Hg.): Lat. Lyrik des MA. Stgt. 1985, Nr. 53 u. 54 (Ostersequenz, Sutri-Lied; lat.-dt.). Literatur: Harry Breslau, a. a. O. – Max Manitius: Gesch. der lat. Lit. des MA. Bd. 2: Von der Mitte des zehnten Jh. bis zum Ausbruch des Kampfes zwischen Kirche u. Staat. Mchn. 1923, S. 318–328. – Wilhelm Wattenbach u. Robert Holtzmann: Deutschlands Geschichtsquellen im MA. Die Zeit der Sachsen u. Salier. In: Das Zeitalter des Otton. Staates (900–1500). Darmst. 1978, S. 76–82 (Lit.). – Kurt-Ulrich Jäschke: ›Tamen virilis probitas in femina vicit‹. Ein hochmittelalterl. Hofkapellan u. die Herrscherinnen – W.s Äußerungen über Kaiserinnen u. Königinnen seiner Zeit. In: Ex ipsis rerum documentis. Beiträge zur Mediävistik. FS Harald Zimmermann. Hg. Klaus Herbers u. a. Sigmaringen 1991, S. 429–448. – Franz Brunhölzl: Gesch. der lat. Lit. des MA. Bd. 2: Die Zwischenzeit vom Ausgang des karoling. Zeitalters bis zur Mitte des elften Jh. Mchn. 1992, S. 489–497. – Hagen Keller: Das Bildnis Kaiser Heinrichs im Regensburger Evangeliar aus Montecassino (Bibl. Vat., Ottob. lat. 74). Zgl. ein Beitr. zu W.s ›Tetralogus‹. In: Frühmittelalterl. Studien 30 (1996), S. 173–214. – Rudolf Schieffer: W. In: VL. – Jacek Banszkiewicz: Conrad II’s ›theatrum rituale‹: W. on the earliest deeds of the Salian ruler (Gesta Cuonradi imperatoris cap. 5). In: Central and Eastern Europe in the middle ages. A cultural history. London u. a. 2009, S. 50–63. – Volkhard Huth: W., neu gelesen. Quellenkrit. Notizen zur ›Hofkultur‹ in spätottonisch-frühsal. Zeit. In: Adel u. Königtum im mittelalterl. Schwaben. FS Thomas Zotz. Hg. Andreas Bihrer. Stgt. 2009, S. 155–168. Ernst Hellgardt

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Wirnt von Grafenberg, um 1210/20. – Epiker. W. nennt sich selbst (v. 141) als Verfasser des Artusromans Wigalois. Er wird, vermutlich ritterl. Geschlechts, aus dem fränk. Gräfenberg (bei Nürnberg) stammen. Rückblickend erwähnt er den Tod »eines vil edeln vürsten [...] von Merân« (v. 8063 f.), in dem man Berthold IV . aus dem Geschlecht der Grafen von Andechs-Meranien († 1204) glaubt sehen zu dürfen. Dies legte den Wigalois auf nach 1204 entstanden fest. In zahlreichen literar. Anspielungen, v. a. auf die Werke Hartmanns von Aue, Wolframs Parzival (um 1200/10) u. Willehalm (1210/20) sowie Gottfrieds von Straßburg Tristan (um 1210), demonstriert W. seine intime Kenntnis zeitgenöss. Literatur. Da Heinrich von dem Türlin den Wigalois in der Crône (1225) ausführlich zitiert u. die ältesten Handschriften ebenfalls noch ins erste Viertel des 13. Jh. datieren, ist der abgeschlossene Roman um bzw. bald nach 1220 anzusetzen. Offensichtlich ist, dass der Wigalois in engem zeitl. u. sachl. Bezug zu den klass. Artusepen entstanden ist. Er stellt sich in seinem literar. Gestus dezidiert in diesen Zusammenhang. In ihn gehört auch die von W. skizzierte Quellensituation: Er habe die – vermutlich frz. – Geschichte von einem Knappen berichtet bekommen u. folge diesem Bericht treu. Von welcher Art diese mündlich vermittelte Vorlage war, ist ungeklärt. Deutliche Parallelen gibt es für einige Partien zum Bel Inconnu des Renaut de Beaujeu (um 1190), jene zum späten Chevalier de Papegau (14./15. Jh.) bleiben auch aus Datierungsgründen problematisch. Der Wigalois galt der lange im Bann der Doppelweg-Metaphysik stehenden Forschung als Musterbeispiel für eine fortgeschrittene Entwicklungsstufe des Artusromans. Man kann in dem nahezu zeitgleichen Modell W.s aber auch, ähnlich wie in Ulrichs von Zazikhofen Lanzelet, einen durchaus absichtsvoll konkurrierenden Entwurf erkennen. Im Gegensatz zu den Protagonisten Chrestiens, Hartmanns von Aue oder Wolframs von Eschenbach, die sich in ihren »aventiure«-Begegnungen mit der außerhöf.

Wirnt von Grafenberg

Welt als Person konstituieren u. in einer krisenhaften Zuspitzung durch die Überwindung von Selbstzweifel u. Selbstverlust auf eine neue Ebene sozial verantworteter Individualität geführt werden, geht Wigalois seinen Weg nämlich von Anfang an als perfekter Ritter. Diese nicht entwicklungsbedürftige Idealität ist in der vorgeschalteten Geschichte seiner Eltern, des arthurischen Musterritters Gawein u. Flories, begründet u. wird gleich bei Wigalois erstem Auftreten am Artushof durch eine Tugendprobe strahlend bestätigt. Die Kämpfe, die er von da an zu bestehen hat, dienen dazu, ihn als den geeigneten Befreier des von einem Teufelsbündler bedrohten Reichs von Korntin zu bestätigen. Für die eigentl. Befreiungskämpfe wird Wigalois mit einer Reihe christlich-magischer Requisiten ausgestattet, die ihn gegen übernatürlich mächtige Gegner überleben u. siegen lassen. Das Angewiesensein auf solche jenseitige Hilfe u. die an entscheidenden Stellen angesetzten Gebetsszenen verweisen auf die Eigenschaften, die im Kampf gegen den schlimmsten Feind, den Teufel, gefordert sind, u. sie setzen auch die unangefochtene Perfektion des Helden ins rechte Licht: Selbstgewissheit u. unerschütterl. Gottesvertrauen verbürgen den Sieg über den Bösen. Der Wigalois zeichnet so das Bild eines christl. Helden, das in einem ausführl. Schlusstableau zu dem des christl. Herrschers konkretisiert wird. Er bietet entwicklungsgeschichtlich neben Wolframs Parzival u. dem Prosa-Lanzelot das beste Beispiel für die Anfälligkeit des im Artusroman entwickelten laikalen Ritter-Konzepts für geistlich-sakrale Einbettung. W. ist als Autorfigur im MA zu Ruhm gekommen (vgl. z. B. Rudolf von Ems: Alexander, v. 3192 ff.). In Konrads von Würzburg Der Welt Lohn erlebt der weltfrohe Minneritter eine tiefgreifende Bekehrung, die ihn auf einen Kreuzzug treibt. Der Wigalois wurde mehrfach bearbeitet: vor 1455 hat Dietrich von Hopfgarten den Roman im Bernerton strophifiziert (Wigelis), um 1480 hat Ulrich Fuetrer ihn in sein Buch der Abenteuer eingearbeitet, etwa gleichzeitig entstand eine Prosaauflösung (Wigoleis), Anfang des 16. Jh. eine jidd. Versbearbeitung (Ritter Widuwilt); 1656

Wirri

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wurde die Prosa erstmals in Dänische übersetzt. Ausgaben: W. v. Grâvenberc. Wigalois der Ritter mit dem Rade. Hg. J[ohannes] M. N. Kapteyn. Bonn 1926. – W. v. G. Wigalois. Text der Ausg. von Kapteyn, übers. v. Sabine u. Ulrich Seelbach. Berlin 2005. Literatur: Klaus Grubmüller: Artusroman u. Heilsbringerethos. Zum ›Wigalois‹ des W. v. G. In: PBB 107 (1985), S. 218–239. – Walter Haug: Literaturtheorie im dt. MA. Darmst. 1985, S. 252–255. – Stephan Fuchs: Hybride Helden – Gwigalois u. Willehalm. Heidelb. 1997. – Jutta Eming: Funktionswandel des Wunderbaren. Trier 1999. – HansJoachim Ziegeler: W. v. G. In: VL. – Markus Wennerhold: Späte mhd. Artusromane. Würzb. 2005. – Sybille Wüstemann: Der Ritter mit dem Rad. Trier 2006. – Christoph Fasbender: Der ›Wigalois‹ W.s v. G. Bln. 2010. Klaus Grubmüller / Christoph Fasbender

Wirri, Wirry, Wire, Wirrich, Werry, Heinrich, * erstes Viertel des 16. Jh. Aarau, † nach 1572. – Pritschenmeister. W. gehört zu derselben Aarauer Familie wie der fast gleichzeitige Spruchdichter Ulrich Wirri. Er war Weber u. Schneider. Seine Tätigkeit als Pritschenmeister, d.h. als Zeremonienmeister u. Festpoet bei Schützenfesten u. dergleichen, brachte ihn weit im Land herum u. scheint zu seinem Hauptberuf geworden zu sein. 1563 nennt er sich »öbrister Britschen meyster in Schweytz«, 1569 »teutscher Poet und Obrister Prütschenmeister inn Osterrich«. Ferner ist er als Schauspieler in der Schweiz u. in Köln bezeugt. W.s literar. Produktion trägt die Züge professioneller Unterhaltungskunst. Seine Druckschriften lassen sich in zwei Gruppen einteilen. Etwa 1550–1555 dominieren »wunderbarliche erschrockenliche geschicht« von blutigen Familientragödien u. von Bürgern, die der Teufel geholt hat, daneben auch von zeitgeschichtl. Ereignissen. Zumeist als illustrierte Einblattdrucke in Vers oder Prosa publiziert, verraten sie einen stilsicheren Journalistengriff. – Seit 1555 überwiegen »ordenliche beschreybungen«, zunächst von bürgerl. Schützenfesten, dann auch von adligen Festivitäten: u. a. 1563 von Maximilians Krönung in Ungarn, 1571 von der Hochzeit

des Erzherzogs Karl von Österreich. Die umfängl. Festberichte sind z.T. mehrfach aufgelegt u. prächtig ausgestattet worden, v. a. die Beschreibung der österr. Herzogshochzeit (sog. Wirrichsches Hochzeitsbuch). Weitere Werke: Ein schöner Spruch v. der verrümbten Hochzeit zu Wädischwil [...] zwüschent Jkr Jacoben v. Chaam [u.] Jungfraw Verena Wirzin [...] Anno 1556. – Ein Geystlich schön new gemacht Lied v. erschaffung der Welt. o. O. u. J. Ausgaben: Internet-Ed. mehrerer Werke in: VD 16. Literatur: Bibliografie: VD 16. – Weitere Titel: Eduard Hoffmann-Krayer: H. W. In: ADB (mit Werkverz.). – Jacob Bächtold: Gesch. der dt. Lit. in der Schweiz. Frauenfeld 1892. – Ernst Zschokke: Über den Aarauer Poeten H. W. Aarau 1895. – Histor.-Biogr. Lexikon der Schweiz. Bd. 7, 1934. – Heinerich Wirri-Zunft zue Arau der Stadt 1922–62. Unsere Zunftmeister, unser erster Zunftschreiber, Verz. der Zünfter. Aarau 1963. – Zeman 1, S. 653. – 75 Jahre Heinerich-Wirri-Zunft zue Arau der Stadt 1922–1997. Aarau 1997. Hartmut Kugler / Red.

Wirsung, Christoph, * 1500 Augsburg, † 1571 Heidelberg. – Medizinischer Sachschriftsteller, Übersetzer. Nach mehrjährigem Venedigaufenthalt lebte W. als Apotheker u. Ratsherr in Augsburg. Er gehörte zum Scholarchat des St.-Anna-Gymnasiums, förderte die Bestrebungen des Humanistenkreises um Sixtus Birck (Betulius) u. nahm an den konfessionellen Auseinandersetzungen aktiven Anteil. Bald aber entzog sich W. allen »weltlichen hendeln« seiner Heimatstadt u. führte seit 1562 in Heidelberg ein »müssigs leben«. W. übertrug in jungen Jahren nach einer ital. Vorlage (Venedig 1519) das vermutlich von Fernando de Rojas verfasste span. Prosadrama Celestina, einer Tragicomedia de Calisto y Melibea (1499); seine Übersetzung (Augsb. 1520. Faksimile Augsburg ca. 1923. Nachwort: Th. Musper. Neufassung ebd. 1534. Mit Holzschnitten von Hans Weiditz. Ausg. beider Fassungen von Kathleen V. Kish u. Ursula Ritzenhoff. Vorw. von Walter Mettmann. Hildesh. 1984) fand noch Clemens Brentanos überschwängl. Beifall. 1543/44 entstand dann W.s Verdeutschung der Boccaccio-Vita von Girolamo Squarciafico (Venedig 1472

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u. ö.), die in lat. Fassung in Hieronymus Christenthumb‹. In: From Wolfram and Petrarch to Zieglers Ausgabe von Boccaccios De casibus Goethe and Grass. FS Leonard Forster. Hg. Dennis virorum illustrium (Augsb. 1544) gedruckt H. Green u. a. Baden-Baden 1982, S. 257–263. – worden ist. Schließlich übersetzte W. Pre- Joachim Telle: C. W. In: Bibliotheca Palatina. Ausstellungskat., Textbd. Hg. Elmar Mittler. Heidelb. digten des ital. Predigers Bernardino Ochino 1986, S. 227–229. – DBE. – Kathrin Pfister u. Ulrike (Augsb. 1546/48) u. schuf im Zuge seiner Schofer: ›Allen Hausvattern entsprüngender nutz‹. Übersetzung der Apologen dieses ›ketzeri- Das Heidelberger ›Artzney Buch‹ des Apothekers C. schen‹ Kapuziners (Buch I. Augsb. 1556. II, W. (1500–1571). In: Pharmazie in Vergangenheit u. 1557. I–IV, 1559) das bislang älteste in dt. Gegenwart. FS Wolf-Dieter Müller-Jahncke. Hg. Sprache nachgewiesene Sonett (Zu8 dem Bas- Christoph Friedrich u. J. Telle. Stgt. 2009, tardischen Christenthumb). Seine Übersetzun- S. 345–361. Joachim Telle gen der Catholica expositio Ecclesiastica in totum novum Testamentum des Augustinus Marlora- Wirth, Johann August Georg, * 20.11.1798 tus u. der Predigten Ludwig Lavaters blieb Hof/Bayern, † 26.7.1848 Frankfurt/M. – unvollendet. Politischer Publizist. W.s Nachruhm beruht hauptsächlich auf seinem Artzney Buch (Heidelb. 1568. Faks. Der Sohn eines Reichspostallmeisters beRümikon 1993. Mit Kommentarbd. Knitt- suchte 1812–1814 die Gymnasien in Hof, lingen 2010), einer umfängl. Kompilation Bayreuth u. Plauen, zuletzt (1814–1816) das von etwa 15000 Anweisungen zur medika- von Hegel geleitete Melanchthon- oder auch mentösen Therapie menschl. Krankheiten, Egidiengymnasium in Nürnberg. Nach seidie hauptsächlich mit der Medicina practica nem von Geldknappheit geprägten u. durch Augsburger Ärzte bekannt machte. Die »allen häufige Krankheit immer wieder unterbroHausvätern« zugedachte Schrift blieb mit chenen Studium der Rechtswissenschaften ab ungefähr zwölf Ausgaben bis weit in das 17. Nov. 1816 in Erlangen trat W. für zwei Jahre Jh. auf dem Druckmarkt präsent, fand in den (1819/20) als Praktikant an den PatrimonialÄrzten Johann Theodor (1577) u. Peter Uf- gerichten in Schwarzenbach/Saale u. Hof in fenbach (1605) namhafte Herausgeber u. in den Staatsdienst. Dort lernte er dort auch Carolus Battus u. Jacob Mosanus Übersetzer Regina Magdalena Werner kennen, die er ins Holländische (Dordrecht 1589 u. ö.) bzw. 1821 heiratete. Mit einer an der juristischen Fakultät in Halle eingereichten Dissertation Englische (London 1598 u. ö.). rechnete sich W. Chancen auf eine höhere Ausgabe: Das Heidelberger Artzney Buch 1568 des C. W. Naturheilkunde in der Frühen Neuzeit. Beamtenlaufbahn aus. Die Darstellung dieser Hg. u. aus dem Frühneuhochdeutschen übertragen Jahre in W.s später verfassten Lebenserinnev. Ulrike Schofer u. Kathrin Pfister. Knittlingen rungen Denkwürdigkeiten aus meinem Leben (Emmishofen 1844) ist unpräzise u. legte 2011. Literatur: Max Radlkofer: Die humanist. Be- lange Zeit nahe, dass W. in Halle promoviert strebungen der Augsburger Ärzte im 16. Jh. In: wurde. Tatsächlich aber konnte er, wie neue Ztschr. des Histor. Vereins für Schwaben u. Neu- Quellen belegen (bei E. Hüls), den Termin der burg 20 (1893), S. 25–52, hier S. 38–40. – H. A. Lier: Disputatio im Herbst 1821 aufgrund des ToC. W. In: ADB. – Reinhold Köhler: Das älteste be- des seiner Schwester nicht wahrnehmen u. kannte dt. Sonett u. sein ital. Original (1880). In: beantragte eine Promotion in Abwesenheit, Ders.: Kleinere Schr.en [...]. Hg. Johannes Bolte. was von den Gutachtern auch befürwortet Bd. 3, Bln. 1900, S. 35–39. – Wilhelm Fehse: C. W.s wurde. Die Verleihung des Doktordiploms dt. Celestinaübers.en. Halle 1902. – Julius Wilde: C. scheiterte jedoch an der nicht entrichteten W., der bedeutendste Apotheker des 16. Jh. In: Promotionsgebühr. Dennoch übersiedelte W. Süddt. Apotheker-Zeitung 77 (1937), Nr. 76, S. 737–739. – Gerhard Gensthaler: Das Medizinal- Ende 1821 nach Breslau, um an der dortigen wesen der Freien Reichsstadt Augsburg bis zum 16. Universität eine Stellung als Privatdozent Jh. Augsb. 1973, s.v. – Hans Rupprich: Die dt. Lit. anzunehmen. Er musste aber die akadem. vom späten MA bis zum Barock. Tl. 2, Mchn. 1973, Laufbahn aufgeben, nachdem er bis Anfang s.v. – Philip McNair: ›Zu dem Basthardischen 1823 nicht das Geld für die Promotionsge-

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bühr aufbringen u. in Breslau keine Urkunde hatte vorlegen können. Sein in dieser Zeit verfasstes Handbuch der Strafrechts-Wissenschaft und Straf-Gesetzgebung [...] (6 Bde., Breslau 1823) wurde vielfach als (abgebrochene) Habilitationsschrift gewertet, was nach den neuen Quellen aber zu relativieren ist, da W. nicht einmal promoviert war. Als Anwaltsgehilfe ging W. daraufhin nach Bayreuth. Mit Publikationen zum Straf- u. Zivilrecht nahm er nicht nur Anteil an zeitgenössisch kontrovers diskutierten juristischen Fragen, sondern er wollte sich damit offenbar auch für den Staatsdienst empfehlen (Entwurf eines Strafgesetzbuches – ein Beytrag zu der Frage: »ob der Entwurf des Strafgesetzbuches für Baiern vom Jahre 1822 dem zur Zeit möglichen Grade der Vollständigkeit und Gerechtigkeit entspreche?« [...]. Bayreuth 1825. Ueber die Nothwendigkeit einer durchgreifenden und gründlichen Reform der Civil-Proceßordnung, Rechtspflege und Gerichtsverfassung in Bayern [...]. Bayreuth 1826). Die Publikation seines Entwurfs eines Strafgesetzbuchs fiel gerade in die Zeit, als das von Johann Paul Anselm Feuerbach 1813 für Bayern erarbeitete u. als Pionierwerk liberaler Rechtsauffassung geltende Strafrecht korrigiert werden sollte. Wie Feuerbach fordert auch W., die Tat als einzige Bezugsgröße bei der Strafbemessung anzuerkennen u. damit die Berücksichtigung von Standesunterschieden bei der Strafhöhe abzuschaffen. Doch bewertet er generell die Frage der Präventionsfunktion von Strafen aus staatl. Sicht anders als Feuerbach. Sowohl in seinen juristischen Schriften als auch in der 1828 erschienenen nationalökonomischen Untersuchung Plan zur Begründung eines blühenden Nationalwohlstandes des preußischen Volkes (Bayreuth 1828) erscheint indessen die Forderung nach einem Nationalstaat weder als »Ziel noch Bezugspunkt« (E. Hüls). Nach dem Ausscheiden aus der Anwaltskanzlei Ende 1830 widmete sich W. mehreren Zeitschriftenprojekten. Als Verleger u. Herausgeber publizierte er noch in Bayreuth das nur in sieben Ausgaben erschienene Blatt »Der Kosmopolit. Eine Zeitschrift für constitutionelle Staaten«. Seit Ende Febr. 1831 arbeitete W. in München als Redakteur für die von Cotta verlegte regierungsnahe Zei-

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tung »Das Inland«. Mit zahlreichen Artikeln, in denen W. für liberale Forderungen u. Reformen eintrat, erregte er den Unmut der bayerischen Regierung u. Zensur. Er gründete daher eine eigene Zeitung, die »Deutsche Tribüne. Ein constitutionelles Tagblatt«, deren erste Ausgabe am 1. Juli 1831 in München erschien (neu hg. v. Wolfram Siemann u. Christof Müller-Wirth. 3 Teilbde. Mchn. 2004–07). Neben Carl von Rottecks u. Theodor Welckers Staatslexikon (1834 ff.) stellt W.s Zeitung eine der wichtigsten Quellengrundlagen für das Verständnis des Frühliberalismus mit seinen politisch-gesellschaftl. Reformvorstellungen u. Forderungen nach bürgerl. Freiheitsrechten sowie einer konstitutionellen Monarchie dar. Auch als Herausgeber der »Deutschen Tribüne« geriet W. in Konflikt mit den Zensurbehörden. Er sah sich mit dem Vorwurf konfrontiert, sein Blatt fördere revolutionäre Tendenzen. Seit dem 1.1.1832 bis zu ihrem endgültigen Verbot im März 1832 erschien die Zeitung daher im rheinbayerischen Homburg, wo aufgrund der dort geltenden frz. Gesetzgebung die Zensurverhältnisse (noch) nicht so rigide waren. Zusammen mit Philipp Jakob Siebenpfeiffer war W. im Mai 1832 einer der Initiatoren des Hambacher Festes. Als einer der Hauptredner forderte er polit. Reformen u. vor allem Presse- u. Meinungsfreiheit, distanzierte sich aber auch von radikalen Teilnehmern, deren Reden nicht in die Festbeschreibung aufgenommen wurden (Das Nationalfest der Deutschen zu Hambach. Unter Mitwirkung eines Redaktions-Ausschusses beschrieben von J. G. A. Wirth. Mchn. 1831). Fast zeitgleich mit seiner Verhaftung im Juni 1832 erschien die noch vor der Zeit im Gefängnis entstandene u. in Straßburg – wohl von seinem Sohn – gedruckte Schrift Die politische Reform Deutschlands. Noch ein dringendes Wort an die deutschen Volksfreunde, die letztlich eine Zusammenfassung von W.s Artikeln für die »Deutsche Tribüne« darstellt. Im Prozess vor den Landauer Assisen wurde W. im Juni 1833 vom Vorwurf des polit. Umsturzversuches zwar freigesprochen, allerdings von einem Zuchtpolizeigericht im November wegen Beleidigung ausländ. Regierungen zu zwei Jahren Haft verurteilt. W.s fast sechsstündige Ver-

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teidigungsrede in Landau, in der sein orga- Wirz, (Volker) Mario, * 3.12.1956 Marnisches u. sozialanthropolog. polit. Denken burg/Lahn. – Lyriker, Erzähler, Dramatiu. Staatsmodell noch einmal zusammenge- ker, Regisseur, Schauspieler. fasst sind, wurde noch im selben Jahr in Nancy gedruckt (Die Rechte des deutschen Volkes. W. verbrachte seine Kindheit in Frankenberg Eine Verteidigungsrede vor den Assisen zu Landau. u. absolvierte nach dem Abitur eine SchauNachdr. mit einer Einführung von Michail spielausbildung in Berlin. 1981–1984 folgten Krausnick. Potsdam 1998). Unter Polizeiauf- Engagements an der dortigen Vagantenbühsicht war es W. nach der Haft erlaubt, wieder ne u. als Regisseur, u. a. am Kieler Stadtin seiner Heimatstadt Hof zu leben, von wo er theater. Seit 1988 lebt er als freier Schriftim Dez. 1836 zuerst nach Frankreich (bis steller in Berlin. W.’ Werke wurden in zahl1839) u. später in die Schweiz fliehen konnte. reiche Sprachen übersetzt. W. thematisiert in seinem Werk alltägl. Im Schweizer Exil schrieb er bis 1841 zahlreiche Leitartikel für die von Ignaz Vanotti Probleme sowie seine Aids-Erkrankung, z.B. verlegte Zeitschrift »Deutsche Volkshalle«, in seinem Lyrikband Ich rufe die Wölfe (Bln./ konzentrierte sich aber dann auf großange- Weimar 1993), in dem er aus der Beobachlegte histor. Darstellungen (Die Geschichte der terposition das Leben mit HIV beschreibt u. Deutschen. 4 Bde. Konstanz 1842–45; Geschichte sich mit der unausweichl. Gewissheit des eider deutschen Staaten. Bde. 1 u. 2, Karlsr. 1847; genen, vermeintlich nahen Todes auseinanfortgeführt von W. Zimmermann). Durch ei- dersetzt. In dem Roman Es ist spät, ich kann nen königlichen Gnadenerlass konnte W. im nicht atmen. Ein nächtlicher Bericht (Bln./WeiHerbst 1846 nach Deutschland zurückkeh- mar 1992) geht es um Mario, einen 35-jähriren. Seine nationalliberalen Reformpositio- gen schwulen Schauspieler, der vor dem nanen gab W. mit dem Beginn der Revolution henden Tod mit seinem Leben abrechnet. In auf; er plädierte für eine Republik (Ein Wort einem stakkatohaften Stil erzählt W. den auan die deutsche Nation. Karlsr. 1848). Seine tobiogr. Bericht, in dem er sein Leben mit Wahl zum Abgeordneten der Frankfurter dem Aidsvirus schildert. Dabei wird das Virus Nationalversammlung im Juni 1848 über- zur Metapher für Sterblichkeit u. Verletzlebte er nur um wenige Wochen. barkeit – ein nach dem Leben schreiender Weitere Werke: Aufruf an die Volksfreunde in Bericht, in dem sich der unbändige LebensDtschld. Homburg 21.4.1832. – Fragmente zur wille des Protagonisten/Autors offenbart. In Culturgesch. 2 Tle., Kaiserslautern 1835/36. – Die Umarmungen am Ende der Nacht (Bln. 1999) politisch-reformator. Richtung der Deutschen im XVI. u. XIX. Jh. [Emmishofen] 1841. – Walderode. erzählt W. Geschichten über Liebe u. Verrat, Eine histor. Novelle aus der neueren Zeit. Emmis- Selbstbetrug u. Glücksmomenten, die sich hofen 1843. – J. G. A. W.’s Letztes Wort an die dt. am Ende zu einem Bild des Lebens mosaikNation. Mit Randglossen v. M[ax] Wirth. Ffm. artig zusammenfügen. Dabei verwendet W. 1849. eine klare, oft harte Sprache, um die Gefühle Literatur: Theophil Gallo: Die Verhandlungen eines ungeliebten schwulen Psychopathen des außerordentl. Assisengerichts zu Landau in der einfühlsam zu beschreiben. Der zusammen Pfalz im Jahre 1833. Verlauf, Grundlagen u. Hinmit Christoph Klimke verfasste Roman tergründe. Sigmaringen 1996. – Axel Hermann u. Nachrichten von den Geliebten (Bln. 2009) ist Arnd Kluge (Hg.): J. G. A. W. (1798–1848). Ein Revolutionär aus Hof. Seine Person – seine Zeit – sowohl eine literar. Hommage an die seine Wirkungen. Hof 1999. – Elisabeth Hüls: J. G. Freundschaft beider Autoren als auch ein A. W. (1798–1848). Ein polit. Leben im Vormärz. Zeitdokument, in dem ihre Lebensstationen Düsseld. 2004. – Joachim Kermann: Freiheit, Ein- nachgezeichnet werden. heit u. Europa. Das Hambacher Fest v. 1832. UrW. erhielt mehrere Stipendien u. Preise, sachen, Ziele, Wirkungen. Ludwigshafen/Rhein u. a. den Ersten Preis des P.E.N.-Club Liech2006. Bernhard Walcher tenstein (1991), das Stipendium der Stiftung Kulturfonds (1994), den Förderpreis des Landes Brandenburg (1997) u. das Stipendi-

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um der Käthe-Dorsch-Stiftung (2002 u. 2006). Weitere Werke: Atemlos. Urauff. Kiel 1982 (Theaterst.). – Und Traum zerzaust dein Haar. Nachtgedichte. Mit Illustrationen v. Aubrey Beardsley. Gött. 1982. – Bella Italia. Urauff. Kiel 1983 (Theaterst.). – All die vielen Nachtschritte. Gedichte ohne Illusionen. Mit Zeichnungen v. Georges Seurat. Gött. 1984. – Hat ein Messer im Schnabel. Urauff. Bln. 1986 (Theaterst.). – Nest für einen Star. Urauff. Bln. 1988 (Theaterst.). – Biogr. eines lebendigen Tages. Bln./Weimar 1994 (R.). – Folge dem Fieber u. tanze. Briefe zwischen Alltag, Sex, Kunst u. Tod (zus. mit Rosa v. Praunheim). Bln. 1995. – Das Herz dieser Stunde. Mit einem Nachw. v. Richard Pietraß. Bln. 1997 (L.). – Sieben Leben hat die Woche. Gedichte 1981–2002. Bln. 2003. – Sturm vor der Stille. Bln. 2006 (L.). – Auf dem Grund der Gläser. Berliner Trommel-Szenen. In: Nachtfieber. Storys aus der Mitte der Tanzfläche. Hg. Boris R. Gibhardt. Bln. 2008. – Vorübergehend unsterblich. Bln. 2010 (L.). Literatur: Detlef Grumbach: M. W. In: LGL. Ingo Langenbach

Wirz, Otto, * 3.11.1887 Olten/Kt. Solothurn, † 2.9.1946 Gunten/Kt. Bern. – Erzähler. Auf Wunsch des Vaters, eines aus dem aargauischen Schöftland stammenden, in Stuttgart tätigen Ingenieurs, wandte sich W. nach dem Gymnasium in Donaueschingen einer techn. Laufbahn zu u. absolvierte 1895–1898 das Winterthurer Technikum u. anschließend ein Studium an den Technischen Hochschulen von München u. Darmstadt, das er 1904 als Diplomingenieur abschloss. Nach Zwischenspielen als Assistent in Darmstadt bzw. als Konstrukteur bei Escher Wyss in Zürich war W. 1908–1926 als Experte am Eidgenössischen Patentamt in Bern tätig u. trat dabei in engen freundschaftl. Kontakt zu Albert Einstein. Nach der Heirat mit der Sängerin Clara Wyss schrieb W. für den Berner »Bund« Musikkritiken u. begann, angeregt durch Hermann Hesse, von dem er Lieder vertont hatte, bereits vor dem Ersten Weltkrieg an seinem Roman Gewalten eines Toren (Stgt. 1923. Zuletzt Frauenfeld 1969) zu arbeiten. Kompositorisch heterogen, sprachlich u.

motivisch dem Expressionismus nahestehend, stellt das 700-seitige Werk das faustische Ringen des Ingenieurs Hans Calonder um den letzten, tiefsten Sinn des Daseins dar: »Aus der klugen Finsternis unserer Tage den innersten Dingen zuzustreben, bin ich ausgezogen.« Calonders Weg, der in breiten, z.T. sehr eindrückl. Landschaftsschilderungen u. einfühlsamen Szenarien u. Begegnungen durch Deutschland, die Schweiz u. Italien führt u. ihn sowohl mit dem Bordell als auch mit dem Klosterleben konfrontiert, wird in zunehmender Weise durch den Wahnsinn bestimmt u. bringt ihn schließlich zur Pfarrfrau Clio, die ihn töten u. damit von seiner Verstörtheit befreien will. Als der Mord misslingt u. die beiden nur noch enger aneinandergekettet sind, wird Calonder in einem entsetzlichen, den Exzessen in Hans Henny Jahnns Bühnenstücken um nichts nachstehenden Finale von Clios Mann, dem Pfarrer, über dem Kirchenschiff geblendet, kastriert, gekreuzigt u. mumifiziert, während Clio daneben mit seinem Kind in den Wehen liegt. Obwohl es auch da um die Erfahrung der letzten Dinge u. um die durch den Krieg entfesselte menschl. Vorstellungswelt geht – Gewalten eines Toren endet mit der Ankündigung des Ersten Weltkriegs! –, geben sich die folgenden Romane, Die geduckte Kraft (Stgt. 1928) u. Prophet Müllerzwo (ebd. 1933), wesentlich maßvoller u. konzentrierter. So ist die Lebensgeschichte des Kampfgaschemikers August Müller, der nach dem Krieg in einer Nervenklinik um seinen Verstand ringt u. mit einem imaginären Alter ego die drängendsten Fragen des techn. Zeitalters diskutiert, bis ihn eine junge Krankenschwester mit ihrer Zuneigung aus seiner Krise befreit, ganz in den knappen, oftmals ekstatischen, bildhaft-surrealen Monolog eingebaut, den der Ich-Erzähler auf einem Bahnhof einem Fremden hält. Obwohl er sich darum bemühte, fand W.’ Expressionismus im NSStaat kein Verständnis mehr, weshalb er sich mit Späte Erfüllung (Stgt. 1936) bzw. Rebellion der Liebe (Erlenbach 1937) dem konventionellen Liebesroman zuwandte. Die expressionistische Linie verfolgte W., der seit 1926 abwechselnd in Zürich u. in Gunten am

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Thunersee lebte, weiter mit Rebellen und Geister (aus dem Nachlass hg. von Emil Staiger. Frauenfeld 1965), einer reflexionsbeladenen, durch eine kühne experimentelle Sprachbehandlung gekennzeichneten, nach allen Seiten hin ausufernden u. letztlich Torso gebliebenen Spiegelung seiner Oltener Kindheitsjahre. – Während sich Emil Staiger um eine postume Rezeption bemühte, blieb W. nach dem Zweiten Weltkrieg in der Schweiz v. a. als einer der Unterzeichner der deutschfreundl. »Eingabe der 200« vom Dezember 1940 in Erinnerung. Literatur: Reinhart Maag: O. W. – Gewalten eines Toren. Diss. Zürich 1961. – Werner Günther: O. W. In: Dichter der neueren Schweiz 1. Bern 1963. – Emil Staiger: O. W. Einf. zu O. W.: ›Gewalten eines Toren‹. Neuausg. Frauenfeld 1969. – Fritz Schaub: O. W. Aufbruch u. Zerfall des neuen Menschen. Diss. Zürich/Bern 1970. – Halina Kappeler-Borowska: O. W. Dichter u. Mensch. Diss. Zürich 1978. – Fritz Schaub: O. W. Nachw. zu O. W.: ›Prophet Müller-Zwo‹. Neu hg. v. Charles Linsmayer. Zürich 1983. Charles Linsmayer

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W. durch sein Engagement bei der Sicherung der dt. Kolonialherrschaft in Deutsch-Ostafrika sowie bei der Bekämpfung des Sklavenhandels. Weitere Werke: Unter dt. Flagge quer durch Afrika [...]. Bln. 1889. 81902. – Meine zweite Durchquerung Äquatorial-Afrikas [...]. Frankf./O. 1891. Neuausg. Bln. 1907. Literatur: Conrad v. Perbrandt u. a.: H. v. W. [...]. Bln. 1906. 51914. – Oskar Karstedt: H. v. W. [...]. Ebd. 1933. – Adolf Leidlmair (Hg.): H.-v.-W.Festschrift. Tüb. 1962. – Marcel Luwel: König Leopold II. u. H. v. W. Beispiele eines vertrauensvollen Zusammenwirkens (1883–1896). Greifenstein 1993. – Joachim Zeller: ›Deutschlands größter Afrikaner‹. Zur Gesch. der Denkmäler für H. v. W. In: Ztschr. für Geschichtswiss. 44 (1996), S. 1089–1111. – Claudia Prinz: H. v. W. als ›Kolonialpionier‹. In: Peripherie. Ztschr. für Politik u. Ökonomie in der Dritten Welt 30 (2010), 118/119, S. 315–336. Doris Herdin / Red.

Witekind, Hermann, eigentlich: H. Wil(c)ken, auch Augustin Lercheimer von Steinfelden, Johann Gutmann [?], Ursinus Eybenhold [?], * 1522 Neuenrade an Wisse, Claus ! Rappoltsteiner Parzival der Hönne/Grafschaft Mark in Westfalen, † 7.2.1603 Heidelberg. – Protestantischer Wißmann, Hermann (Wilhelm Leopold Theologe, Mathematiker, Astronom, HisLudwig) von, * 4.9.1853 Frankfurt/O., toriker, Verfasser einer Schrift gegen He† 15.6.1905 Weißenbach/Steiermark. – xenprozesse. Afrikaforscher. Nach einer militärischen Laufbahn unternahm W. 1880–1887 drei Forschungsreisen, von denen die beiden letzten von König Leopold von Belgien finanziert wurden. W. durchquerte als Erster das äquatoriale Afrika von Westen nach Osten u. erlangte Bedeutung durch die Erforschung des Kasai-Gebiets, worüber er in Im Innern Afrikas (Lpz. 1888. Neudr. Nendeln 1974) berichtete. 1889 begab er sich als Reichskommissar nach Ostafrika, wo er den Araberaufstand niederschlug. 1895 wurde er zum Gouverneur von Deutsch-Ostafrika ernannt, ließ sich jedoch bereits 1896 aus gesundheitl. Gründen in den einstweiligen Ruhestand versetzen. W. verfasste überwiegend Reisebeschreibungen, die seine geografischen, anthropolog. u. linguistischen Forschungsergebnisse widerspiegeln. Als Politiker bedeutsam war

W., über dessen Kindheit nichts Näheres bekannt ist, entstammte bürgerl. Verhältnissen. Er studierte seit 1546 in Frankfurt/O. u. 1548–1550 bei Melanchthon in Wittenberg, der ihn als Lehrer an die Domschule in Riga vermittelte, wo W. von 1552 an als Lehrer, seit 1554 als Rektor wirkte. Auf Anregung Melanchthons sammelte u. übersetzte er Angaben zum Leben römischer Herrscher von Caesar bis zum byzantin. Kaiser Theophilos (829–842) aus der Suda, der griech. Enzyklopädie des späten 10. Jh. n. Chr. (Vitae Caesarum. Ffm 1557; die Übersetzung auch in dem histor. Sammelwerk Vitae illustrium virorum. Basel 1563). Ebenfalls in Riga entstanden eine handschriftl. Abhandlung über die Notwendigkeit der Kindstaufe (Infantes ante baptismum extinctos non posse censeri inter membra ecclesiae, ca. 1559, Staatsarchiv Riga, Fonds 214/ 6/307) u. ein Gedicht auf den Tod Melan-

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chthons (In: Orationes, epitaphia et scripta, quae edita sunt de morte Philippi Melanthonis omnia. Wittenb. 1563, fol 7r-8r). 1561 trat W. aus unbekannten Gründen als Schulleiter zurück, immatrikulierte sich in Rostock, wandte sich aber noch im selben Jahr nach Heidelberg. 1563 wurde er dort zunächst Vertretungslehrer am Pädagogium, dann Universitätsprofessor für Griechisch. Den für dieses Amt eigentlich erforderl. Magistergrad erwarb W. erst im Aug. desselben Jahres, bevor er im Sept. vor der Pest zunächst nach Oppenheim, dann in seine Geburtsstadt flüchtete, für die er eine Kirchenordnung nach luth. Vorbildern aus Riga (1548, 1559) u. Mecklenburg (1552) erarbeitete (Kerckenordenunge der Christliken Gemeine tho Niggen Rade. Dortm. 1564). 1564 kehrte W. nach Heidelberg zurück u. übernahm wiederholt Leitungs- u. Kontrollfunktionen an Pädagogium u. Universität, bis er 1580 entlassen wurde, weil er die für kurpfälz. Beamte nun verbindliche luth. Konkordienformel nicht unterschreiben wollte. Wie andere reformierte u. philippistische kurpfälz. Professoren fand er Zuflucht an der vom Gymnasium zur Hohen Schule aufgewerteten Lehranstalt im benachbarten Neustadt a. d. W. im Fürstentum Pfalz-Lautern. Dort lehrte W. von 1581 bis 1584 als Professor der Mathematik, bis er nach Wiedereinführung des reformierten Bekenntnisses in der Kurpfalz in gleicher Funktion nach Heidelberg zurückkehrte. 1587 wurde er zusätzlich Universitätsbibliothekar. 1601 trat W. in den Ruhestand. Die während der Heidelberger Zeit veröffentlichten Schriften sind überwiegend mathematisch-astronomischen Inhalts (De sphaera mundi et temporis ratione apud Christianos. Heidelb. 1574. Auch Neustadt a. d. W. 1590. Conformatio horologiorum sciotericorum. Ebd. 1576) über den Bau von Sonnenuhren u. Quadranten. Sicher zuschreiben lässt sich ihm auch eine anonyme Streitschrift gegen den gregorian. Kalender (Kurtzer Bericht von gemeinem Kalender. Ebd. 1583. 1584), mit großer Wahrscheinlichkeit ebenso die zuerst unter dem Verfassernamen Johann Gutmann veröffentlichte Feldmessung (Heidelb. 1574. Anonym u. überarb. als Bewerte Feldmessung. Ebd. 1578 u. ö.). Bekannt ist auch, dass W.

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eine Schrift zur Verteidigung der Historizität der Päpstin Johanna verfasste, evtl. Iesuitas, [...] falso et frustra negare Papam Ioannem VIII. fuisse mulierem (o. O. 1588; zahlreiche Drucke, auch in dt. u. engl. Übersetzung). Im Auftrag des Kuradministrators Johann Casimir entstand 1589 die für die Erziehung des Kurprinzen Friedrich IV. bestimmte, in drei handschriftl. Fassung (München, BSB) überlieferte Geschichte der pfälz. Wittelsbacher (Genealogia vnd Herkommen der Churfürsten. Erstdruck lat. Groningen 1773). Des Autors bleibende Bedeutung begründete jedoch das unter dem Pseudonym Augustin Lercheimer von Steinfelden verfasste Christlich bedencken und erjnnerung von Zauberey (Heidelb. 1585: Jeweils überarb. Neuausg.n Straßb. 1586, Basel 1593, Speyer 1597; auch Basel 1627). Der Autor steht hier in einer spezifisch kurpfälz., allerdings weder völlig kontinuierlichen noch regional allgemein geteilten Tradition der Kritik an Hexenprozessen, obwohl er seine Argumente teils älteren, auswärtigen Quellen (dem karoling. Canon episcopi, Geiler von Kaysersberg, Johann Weier) verdankt. Als Adressaten des Werkes wurden humanistisch nicht tiefer gebildete Praktiker des Hexenverfahrens (Amtleute, Richter) ausgemacht. Zwar finden sich bei W. zentrale Elemente des Hexenglaubens unverändert (Teufelspakt), eingeschränkt (Teufelsbuhlschaft) oder modifiziert (Hexenflug) wieder, doch bestreitet er die Existenz des häufigsten Anklagepunktes, des Schadenszaubers, u. fordert umfangreiche Reformen des gerichtl. Verfahrens (Beweislast beim Ankläger, keine Zulassung von Bezichtigungen durch andere Hexen, Abschaffung von Folter u. Todesstrafe, Landesverweisung als härteste Sanktion). Die Anfälligkeit der Hexen für die Einflüsterungen führt W. auf mildernde Umstände wie angeblich spezifisch weibl. Eigenschaften (z. B. ausgeprägte Rachsucht), v. a. aber auf soziale (Armut, mangelnde Bildung) u. gesundheitl. Faktoren (Melancholie) zurück, weshalb er Seelsorge als bestes Mittel zur Prävention u. Bekämpfung des Hexenwesens betrachtet. Männliche Schwarzkünstler seien hingegen für ihre Taten voll verantwortlich, weil sie aufgrund ihrer Bildung wüssten, was sie tun. Einige

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von W.s Berichten über berühmte Teufelsbündler (Johannes Trithemius, Agrippa von Nettesheim, Johann Faust) haben, nun durchweg dem Protagonisten zugeordnet, Eingang in das anonyme Faustbuch (Ffm. 1587) gefunden ebenso wie die Angabe, der faustische Pakt habe 24 Jahre gegolten. Ausgaben: Schrift wider den Hexenwahn. Lebensgeschichtliches u. Abdruck der letzten vom Verfasser besorgten Ausg. v. 1597. Sprachlich bearb. durch Anton Birlinger. Hg. Carl Binz. Straßb. 1888. – Baron (2009) (s. u.), S. 1–107. – Hexen u. Hexenprozesse in Dtschld. Hg. Wolfgang Behringer. Mchn. 42000, S. 35–37, 175–178, 339–345 (Auszüge aus dem ›Christlich bedencken‹). Literatur: Bibliografie: VD 16. – Weitere Titel: [Albrecht Wolters:] Hermann Wilcken genannt W. u. seine Kirchenordnung v. Neuenrade. In: Ztschr. des Bergischen Geschichtsvereins 2 (1856), S. 42–83. – A[rthur] Poelchau: Biographisches über Hermann Wilcken (Augustin Lercheimer) u. Andere. In: Sitzungsberichte der Gesellsch. für Gesch. u. Alterthumskunde der Ostseeprovinzen Russlands aus dem Jahre 1888. Riga 1889, S. 98–95. – Johannes Janssen: Gesch. des dt. Volkes. Bd. 4. Freib. i. Br. 1894, S. 562–571. – C[arl] Binz: H. W. In: ADB. – [H. F. Wilhelm] Nelle: Hermann Wilckens Kirchenordnung v. Neuenrade u. ihre Liedersammlung. Dortm. 1564. In: Jb. des Vereins für die Evang. Kirchengesch. der Grafschaft Mark 2 (1900), S. 84–138. – Robert Stupperich: Melanchthon u. H. Wittekind über den livländ. Krieg. In: Ztschr. für die Gesch. des Oberrheins 103 (1955), S. 275–281. – Gemeinde- u. Gedenkbuch zur 400 Jahrfeier der Reformation u. der Neuenrader Kirchenordnung. Im Auftrag des Presbyteriums hg. v. Walter Schlick. Neuenrade 1964, S. 45–66. – H. C. Erik Midelfort: Witch Hunting in Southwestern Germany 1561–1684. The Social and Intellectual Foundations. Stanford 1972, S. 57, 65–66. – Bruno Gloger u. Walter Zöllner: Teufelsglaube u. Hexenwahn. Wien/Köln/Graz 1984, S. 215–217. – Hans-Peter Kneubühler: Die Überwindung v. Hexenwahn u. Hexenprozess. Diessenhofen 1977, S. 94–99. – Dieter Stievermann: Neuenrade. Die Gesch. einer sauerländ. Stadt v. den Anfängen bis zur Gegenwart. Neuenrade 1990, S. 108–116. – Otto Ulbricht: Der sozialkrit. unter den Gegnern: H. W. u. sein ›Christlich bedencken vnd erjnnerung von Zauberey‹ v. 1585. In: Vom Unfug des Hexen-Processes. Gegner der Hexenverfolgung v. Johann Weyer bis Friedrich Spee. Hg. Hartmut Lehmann u. O. Ulbricht. Wiesb. 1992, S. 99–128. – Dieter Stiever-

Withof mann: Augustin Lercheimer. In: Bautz. – Cornelius Becker: Funktion u. Realisation. Zu H. W. u. seinem ›Christlich Bedencken von Zauberey‹. In: Text im Kontext. Anleitung zur Lektüre dt. Texte der frühen Neuzeit. Hg. Alexander Schwarz u. Laure Abplanalp. Bern u. a. 1997, S. 257–287. – HansJürgen Wolf: Hexenwahn. Hexen in Gesch. u. Gegenwart. Herrsching 1999 [zuerst 1980], S. 464–469, 623. – Uwe Gryczan: Der Melanchthonschüler Hermann Wilken (W.) u. die Neuenrader Kirchenordnung v. 1564. Bielef. 1999 (mit Ed. der Briefe). – Jürgen Michael Schmidt: Glaube u. Skepsis. Die Kurpfalz u. die abendländ. Hexenverfolgung 1446–1685. Bielef. 2000, Register s.v. – Dagmar Drüll: Heidelberger Gelehrtenlexikon 1386–1651. Heidelb. 2002, S. 557–559. – Wolfgang Behringer: Witches and Witch-Hunts. A Global History. Cambridge 2004, S. 98, 172–174, 184. – Johannes Dillinger: Hexen u. Magie. Eine histor. Einf. Ffm./New York 2007, S. 138. – Frank Baron (Hg.): H. W.s ›Christlich bedencken‹ u. die Entstehung des Faustbuchs v. 1587 [...]. In Verb. mit einer krit. Ed. des Textes v. 1585 v. Benedikt Sommer. Bln. 2009. Volker Hartmann

Withof, Johann Philipp Lorenz, * 1.6.1725 Duisburg, † 3.7.1789 Duisburg. – Lehrdichter. Der Sohn des Gelehrten Johann Hildebrand Withof zeichnete sich durch umfassende, fächerübergreifende Bildung aus. Bereits 1740 nahm W. in Duisburg das Studium der klass. Sprachen, Philosophie u. Geschichte auf; seit 1743 konzentrierte er sich auf das Gebiet der Medizin, worin er promovierte u. sich habilitierte. Er praktizierte zunächst in Lingen, lehrte dann in Duisburg an der Medizinischen Fakultät. Seit 1752 übernahm er die Professuren für Geschichte, Philosophie u. Beredsamkeit an den akadem. Gymnasien in Hamm u. Burgsteinfurt. 1770 wurde er als Nachfolger seines Vaters Professor für Geschichte an der Universität Duisburg. Er war Bentheim-Steinfurtischer Hofrat u. Leibarzt, Mitgl. der Deutschen Gesellschaft in Göttingen u. der Britischen Akademie der Wissenschaften. W.s Schriften behandeln gemäß seiner universellen Interessen eine Fülle von Themen, sei es in theoret. Abhandlungen (Das meuchelmörderische Reich der Assassinen. Cleve/ Lpz. 1765. De optimo infantes [...] educandi modo.

Witte

Steinfurt 1767. Prolusio [...] de poesia epica. Duisburg 1774), sei es in Lehrgedichten in der Tradition Albrecht von Hallers (Gedichte. Bremen 1751). In seinen Grundsätzen nimmt er die gemäßigte Position des dt. Aufklärungsdenkens ein, das christlich fundiert bleibt u. »praktische Vernunft« fordert. Aktuelle medizinische Fragen zu Zeugung (Die Redlichkeit. Halberst. 1770) oder Säuglingsernährung (Der medicinische Patriot. Cleve/Lpz. 1782/83) werden als zentrale Bereiche der Diskussion um eine gerechte Welt- u. Sozialordnung abgehandelt. Weitere Werke: Aufmunterungen in Moralischen Gedichten. Dortm. 1755. – Academ. Gedichte. 2 Bde., Cleve/Lpz. 1782/83. Literatur: Hermann Sickel: W.s Metrik u. Sprache. Diss. Lpz. 1895. – Hans-Wolf Jäger: Lehrdichtung. In: Hansers Sozialgesch. der dt. Lit. Bd. 3, Teilbd. 2. Hg. Rolf Grimminger. Mchn. 2 1984, S. 500–544. – Albrecht Blank: J. P. L. W. In: Lit. in Westfalen. Beiträge zur Forsch. Hg. Walter Gödden. Bd. 6, Bielef. 2002, S. 9–46. – Heribert Rissel: Ein Poet an Lingener Krankenbetten – J. P. L. W. u. seine Dichtung. In: Jb. des Emsländ. Heimatbundes 52 (2006), S. 141–154.

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1691) ist ein unschätzbares Hilfsmittel insbes. für die balt. Kulturgeschichte u. erweist ihn als wichtigen Vorläufer Friedrich Konrad Gadebuschs. W.s Schüler Phragmenius setzte das Werk mit der Riga literata (1699) fort. Weitere Werke: Memoria praeclarorum in incluta Riga virorum. Riga o. J. [1658]. Dt. v. J. S. Markard. Lübeck 1658. – Memoriae theologorum. Ffm. 1674–85. – Memoriae Philosophorum, Oratorum, Poetarum, Historicorum et Philologorum. Ffm. 1677–79. – Repertorium homileticum. Danzig 1682. – Repertorium biblicum. Ffm. 1682. Riga 2 1689. – Ausw. elektronisch in: CAMENA. Literatur: David Hörnick: Justa Funebra M. H. W. Riga 1696 (Trauerrede). – A. Buchholtz: H. W. In: ADB. – G. Schweder: Die alte Domschule u. das [...] Stadtgymnasium zu Riga. Riga 1910, S. 22 ff., 79. – Bernhard Hollander: Gesch. der Domschule [...] zu Riga. Hg. Clara Redlich. Hann.-Döhren 1980. – DBA. – Klaus Garber: Schatzhäuser des Geistes. Alte Bibliotheken u. Büchersammlungen im Baltikum. Köln u. a. 2007. Klaus Garber

Witte, (Johann Heinrich Friedrich) Karl, * 1.7.1800 Lochau bei Halle/Saale, † 6.3. Dominica Volkert / Red. 1883 Halle/Saale.  Jurist, Danteforscher, Philologe u. Übersetzer. Witte, Henning, * 26.2.1634 Riga, † 22.1. W., Sohn des Erziehers u. Pfarrers Karl 1696 Riga. – Professor für Rhetorik u. Heinrich Gottfried Witte, erregte aufgrund Geschichte, Biograf, Polyhistor. W. gehört zur Gruppe der Polyhistoren, deren Auftreten sich seit den 70er Jahren des 17. Jh. mehrt. Er studierte 1654–1658 am Gymnasium seiner Heimatstadt u. wechselte dann nach Helmstedt, wo er sich als Respondent für theolog. Probleme einen Namen machte. Eine Gelehrtenreise durch dt., niederländ., engl. u. schwed. Universitäten brachte ihn mit theolog. Größen (u. a. Arnold, Coccejus, Osiander, Spener) in Kontakt. 1666 kehrte er nach Riga zurück, widmete sich seinen ausgebreiteten gelehrten Studien u. erhielt 1677 die Professur für Rhetorik u. Geschichte am Gymnasium. Seit den 70er Jahren des 17. Jh. verfasste er seine viel benutzten Biografiensammlungen gelehrter Berufsstände. W. kompilierte berühmte Biografien, schrieb jedoch auch eigene annalistisch gegliederte Porträts. Sein Diarium biographicum (2 Tle., Danzig 1688 u.

des umstrittenen, von E. T. A. Hoffmann im Kater Murr parodierten pädagog. Konzepts des Vaters früh als »Wunderkind« Aufsehen: Der Ehrgeiz des Vaters, der durch die vielfältige frühkindl. Förderung des »nur mittelmäßig« veranlagten Sohnes den »ausgezeichneten Menschen« als Produkt seiner Erziehung ausweisen wollte (Karl Witte, oder: Erziehungs- und Bildungsgeschichte desselben [...]. 2 Bde., Lpz. 1819), führte jedoch später zum Zerwürfnis. W. studierte ohne Besuch des Gymnasiums bereits mit zehn Jahren vom Vater begleitet an der Universität Göttingen. Mit 13 Jahren verlieh ihm die Universität Gießen die philosophische Ehrendoktorwürde; sein Jurastudium in Heidelberg schloss W. 1816 nach nur zwei Jahren mit der Promotion über den »Ususfructus« ab. Obwohl W. die für die Habilitation erforderl. Vorträge in Berlin gehalten hatte, wurde ihm die Lehrbefugnis verweigert; der preuß. König

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gewährte ihm aber die Mittel für eine Studi- Auszeichnungen; seit 1850 war W. Mitgl. der enreise durch Italien 1818–1821. Dort er- »Accademia della Crusca«. folgte neben rechtsgeschichtl. Studien der Weitere Werke: Giovanni Boccaccio: Das Deprägende Kontakt mit der ital. Sprache, kameron. Lpz. 1827. 21843 (Übers.). – Dantis AlKunst u. Literatur, besonders mit dem Werk ligherii Monarchia. Liber 1–3. Halle 1863–71. – Dantes. W.s frühe Liebe zur Kunst u. zu Ita- (Hg.:) Jb. der Dt. Dante-Gesellsch. I-III. Lpz. lien spiegeln z.B. seine Sonette auf berühmte 1867–71. – Dante-Forschungen. 2 Bde., Halle/ Heilbr. 1869–79. – La Vita Nuova di Dante AlliGemälde (in: Die Harfe 8, 1819), das von ghieri. Lpz. 1876. Maximilian Stadler vertonte sentimentale Literatur: Goedeke 17 (21991), S. 1746–1758. – Volkslied Sehnsucht nach Rom (in: Witte/ Hermann Witte u. Hans Haupt: K. W. Ein Leben für Haupt, S. 82), ferner der Aufsatz Tizian und Dante. Hbg. 1971. – Michael Pantenius: Dr. WunHohlbein (1818) wider. derkind: K. W. (1800–1883), Rechtsgelehrter u. Nach der Rückkehr aus Italien setzte er Sprachkundiger. In: Ders.: Gelehrte, Weltanseine juristische Karriere fort: als Dozent u. schauer, auch Poeten ... Literar. Porträts berühmter seit 1829 als Ordinarius an der Universität Hallenser. Halle/Saale 2006, S. 131–134. – Heiner Breslau, 1834–1867 an der Universität Halle; Lück: K. W. (1800–1883) – dem Wunderkind, seine Spezialgebiete waren Röm. Recht u. Universitätsprofessor u. Dante-Forscher zum 125. Todestag. In: Die ›Liebenau‹ – Erkundungen zu Preuß. Landrecht. Daneben avancierte W. einer Kulturlandschaft zwischen Halle u. Leipzig. zum bedeutendsten Danteforscher des 19. Jh. Hg. Walter Müller. Halle/Saale 2008, S. 341–351. Er schuf ein beachtl. Œuvre philolog. u. Franziska Kraft übersetzerischer Bearbeitung ital. Werke. Noch vor Dante entdeckte W. 1818 Michelangelos Lyrik für sich; die Idee einer Ge- Wittek, Bruno Hanns, * 15.2.1895 Freudichtedition blieb unausgeführt. Mit seinem denthal/Ostschlesien, † 27.1.1935 Tropspäteren Eingreifen in die philolog. Debatte pau. – Lyriker, Erzähler. um C. Guastis Edition der Rime MichelangeW. studierte an der Universität in Wien Gerlos (1863) bewies W. seine umfassenden Fämanistik, nahm ab 1917 am Ersten Weltkrieg higkeiten auf dem Gebiet der Romanischen teil u. wurde nach 1918 Redakteur in TropPhilologie (Zu Michelagnolo Buonarroti’s Gepau. Er debütierte mit dem romantisierenden dichten. In: Romanische Studien 1, 1871, Roman aus der Zeit der Meistersinger, Frau Minne S. 1–60; enthält 38 Sonettübersetzungen W.s (Weinböhla 1920). ins Deutsche). Die Grundlage seiner DanteIm histor. Roman Sturm überm Acker (Bresforschung legte er mit dem Aufsatz Über das lau 1927. Mit einer Einf. von Theodor Heuss: Mißverständnis Dantes (in: Hermes oder kriti- Stgt. 41955), der die Geschichte des Bauernsches Jahrbuch der Literatur 24, 1824); 1827 befreiers Hans Kudlich erzählt, überlagern edierte er die lat. Briefe u. erarbeitete zu- die nationale Thematik u. das Ziel eines völk. sammen mit dem Danteexperten Kannegie- Großdeutschland soziale Fragestellungen. ßer die Übersetzung Dante Alighieri’s lyrische Die Erzählung Peter Leutrecht (Karlsbad 1930) Gedichte (21842). Epochal ist seine textkrit. schildert den völk. Abwehrkampf der SudeEdition der Divina Commedia (1862), bei der er tendeutschen im Dreißigjährigen Krieg. Im die vier zuverlässigsten Codices berücksich- Bauernroman Die Heimkehr des Andreas Loschtigte. Die geplante Kollation aller gesam- ner (Wien 1932), der im nationalsozialistimelten Dantehandschriften wurde jedoch schen Adolf Luser Verlag erschien, verführt nicht realisiert (Dante-Forschungen, Bd. 1, ein das Hinterland repräsentierender Hei1869, S. 278–292). Zu Dantes 600. Geburtstag ratsschwindler u. Betrüger die Mutter des 1865 gab er eine in Italien vielfach nachge- verschollenen Helden, um den Loschnerhof druckte Übersetzung der Divina Commedia in in seinen Besitz zu bringen. dt. Blankversen heraus u. gründete die heute Weitere Werke: Seele im Licht. Ein Reigen wieder aktive »Deutsche Dante-Gesellschaft«. Gedichte. Bln. 1922. – Romant. Garten. Ein NoSein Renommee in Italien zeigten zahlreiche vellenbuch der Heimat. Freudenthal/Tschech.-

Wittek Schlesien 1925. – Schatzhauser. Gedichte u. Balladen. Bln. 1933. Literatur: August Kurt Lassmann: B. H. W. zum Gedächtnis. In: Sudetendt. Kulturalmanach 4 (1963), S. 53–56. Johann Sonnleitner

Wittek, Erhard ! Steuben, Fritz Wittels, Fritz, auch: Avicenna, * 14.11. 1880 Wien, † 16.10.1950 New York. – Arzt, Psychologe. Nach dem Medizinstudium an der Universität Wien trat W. 1907 Freuds Psychologischer Mittwochsgesellschaft bei u. war bestrebt, die neuen psychologischen Ergebnisse zur Sexualität zu popularisieren. Er veröffentlichte 1907/1908 wissenschaftl. Artikel u. Erzählungen in der »Fackel«, in denen er Kraus Theorien über Sittlichkeit u. Sexualität untermauerte u. das zeitgenöss. Frauenbild der Wiener Intellektuellen mitgestaltete. Nach einem Vortrag W.’ am 12.1.1910 über die Fackel-Neurose kam es zum Bruch mit Kraus u. zu dessen Verhöhnung in dem Schlüsselroman Ezechiel der Zugereiste (Bln. 1910). Nach Kriegsdienst als Arzt schrieb W. sozialkrit. u. pazifistische Beiträge im Wiener »Abend« u. verfasste neben Schriften zur Psychoanalyse die erste Freud-Biografie (Sigmund Freud. Wien 1924). Von 1928 bis zu seinem Tod lehrte er an der School for Social Research u. am Brooklyn Institute for Art and Science in New York. Weitere Werke: Der Taufjude. Wien 1904. – Die sexuelle Not. Ebd. 1907. – Die Lustseuche. Ebd. 1907. – Alte Liebeshändel. Ebd. 1909. – Tragische Motive. Ebd. 1911 (Ess.). – Alles um Liebe. Bln. 1912 (D.). – Der Juwelier v. Bagdad. Ebd. 1914 (R.). – Über den Tod u. über den Glauben an Gott. Wien 1914. – Vorträge. Die Vernichtung der Not. Ebd. 1922 (Ess.). – Zacharias Pamperl oder der verschobene Halbmond. Ebd. 1923 (R.). – Die Technik der Psychoanalyse. Mchn. 1926. – Die Befreiung des Kindes. Stgt. 1927 (Ess.). – Die Psychoanalyse. Neue Wege der Seelenkunde. Wien 1927. – Die Welt ohne Zuchthaus. Stgt. 1928 (R.). – Freud u. das Kindweib. Die Erinnerungen v. F. W. Hg. Edward Timms. [Mit einem Vorw. u. Komm.] Wien u. a. 1996. Literatur: Edward Timms: The ›child-woman‹: Kraus, Freud, W. and Irma Karczewska. In: Aus-

480 trian studies, H. 1 (1990), S. 87–107. – Gilbert J. Carr: Zu Kraus’ polem. Aphorismen gegen F. W. In: Kraus-H.e (1993), H. 65, S. 9–12. – Leo A. Lensing: ›Freud and the Child Woman‹ or ›The Kraus Affair‹? A Textual ›Reconstruction‹ of F. W.’s Psychoanalytic Autobiography. In: GQ 69 (1996), S. 322–332. – Beate Petra Kory: Im Spannungsfeld zwischen Lit. u. Psychoanalyse. Die Auseinandersetzung v. Karl Kraus, F. W. u. Stefan Zweig mit dem ›großen Zauberer‹ Sigmund Freud. Stgt. 2007. Walter Ruprechter / Red.

Wittenberg, Albrecht, * 5.12.1728 Hamburg, † 13.2.1807 Hamburg. – Publizist, Kritiker, Übersetzer. »Wie Ast und Busch / So Wittenberg und Dusch. / Wie Ries und Zwerg / So Dusch und Wittenberg.« Dieses Epigramm Lessings an die Übersetzer W. u. Johann Jakob Dusch (in: Lessings sämtliche Schriften. Hg. Karl Lachmann u. Franz Muncker. Bd. 1, S. 50) ist charakteristisch für die literar. Fehden der Zeit, in deren bekanntester – Lessing contra Hauptpastor Johan Melchior Goeze – auch W. eine Rolle spielte. W., der in Göttingen 1751 seine Promotion zum Lizentiaten der Rechte abgeschlossen hatte, arbeitete in Hamburg zunächst als Advokat, seit etwa 1764 ausschließlich literarisch u. publizistisch. Bei mehreren Hamburger Zeitungen war W. Herausgeber u. Redakteur, so 1769/70 beim »Hamburgischen Correspondenten«, 1772–1786 beim »Altonaischen Reichspostreuter«, 1786–1795 bei der »Neuen Hamburgischen Zeitung« u. 1787–1795 beim »Niederelbischen historischpolitisch-litterarischen Magazin«. W.s bes. Interesse galt der Theaterkritik, im Positiven wie im Negativen: Hatte sich W. noch 1770 im Hamburger Streit um die »Sittlichkeit der Schaubühne« als einer der Hauptgegner Goezes erwiesen u. die Schauspielerin Sophie Charlotte Ackermann samt ihrer Truppe enthusiastisch gefeiert (Schreiben an Mademoiselle Ackermann [...]. Hbg. 1770), so erklärte er 1774 die Bühne »für eine öffentliche Pest, und für eine Schule des Lasters« u. bat »Herrn Pastor Goeze um Verzeihung« für seine frühere theaterfreundl. u. damit antiklerikale Haltung (Ueber das Theater. 27. Brief. In: Hg. A. W., Allgemeines Wochenblat zur

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Literatur: Erich Schmidt (Hg.): Goezes StreitEhre der Lektür. 31. Stück, 3.11.1774, S. 93). Auf Seiten Goezes stand W. dann auch in schr.en gegen Lessing. Stgt. 1893. – Lessing im dessen »Fragmentenstreit« mit Lessing. Im 8. Urtheile seiner Zeitgenossen. Bd. 2., Bln. 1893. – u. 10. Anti-Goeze hatte Lessing anlässlich eines Richard Daunicht: Lessing im Gespräch. Mchn. 1971. – Rolf Specht: Die Rhetorik in Lessings ›AntiW.schen Spottgedichts gegen die »Vorreiter- Goeze‹. Bern 1986, S. 97 f., 161–166. – Wolfgang rolle« polemisiert, die der »Reichspostreu- Bürsgens: A. W. (1728–1807). Ein Hamburger ter« W. für Goeze in der Auseinandersetzung Zeitungsschriftsteller der Aufklärung. Ein Beitr. um die von Lessing herausgegebenen Frag- zur Lit.- u. Rezeptionsgesch. des 18. Jh. Diss. Bomente eines Ungenannten spiele. W. rächte sich chum 1988. – Wolf Gerhard Schmidt: ›Homer des mit dem Sendschreiben an den Herrn Hofrath Nordens‹ u. ›Mutter der Romantik‹. James MacLessing (o. O. 1778): die »Charteke« des Anti- phersons ›Ossian‹ u. seine Rezeption in der Goeze sei voll »pöbelmäßiger Grobheiten« deutschsprachigen Lit. 4 Bde., Bln./New York 2003/2004, bes. Bd. 1, S. 497–500 u. ö.; Bd. 4, (S. 7) u. »Stallknechtssprache« (S. 30), auch S. 407–412 (Vorrede zu ›Fingal‹) u. ö. – Hans-Werhabe der Autor, »einer der frechsten Verbre- ner Engels: A. W. In: Hamburgische Biogr. Hg. cher« (S. 42), zur »Ausbreitung [...] der Zü- Franklin Kopitzsch u. Dirk Brietzke. Bd. 5, Gött. gellosigkeit und des moralischen Verderbens 2010, S. 386 f. Gudrun Schury / Red. beygetragen« (S. 36). W.s Streitschrift gipfelt in der zyn. Bemerkung, wenn Lessing tatsächlich der Verfasser des Anti-Goeze sei, wäre Wittenwiler, Heinrich. – Verfasser der um es für ihn besser gewesen, an seinem Hoch- 1400 entstandenen episch-didaktischen zeitstag ertrunken zu sein. Mischdichtung Der Ring. Weniger beleidigend, dafür rhetorisch geDer Dichter des Ring nennt sich am Ende des schickt u. sachkundig führte W. seine andePrologs (v. 52) »Hainreich Wittenweilër«: ren Literaturfehden, z. B. mit Dusch. Er Dieser Name ist in variierten Formen zwiprangerte grobe Übersetzungsfehler an u. schen 1387 u. 1436 im Nordosten der veröffentlichte den Erweis, daß Herr Johann JaSchweiz u. in Konstanz urkundlich belegt, kob Dusch [...] eben so wenig Englisch, als Latein wobei es sich bei den erwähnten Personen um verstehe (Hbg. 1768). W. selbst legte u. a. mit mindestens zwei verschiedene Namensträger der ersten dt. Übersetzung von Ossians handeln dürfte. Vieles weist darauf hin, dass (MacPhersons) Fingal (Hbg./Lpz. 1764) origi- der Dichter mit dem 1387–1395 urkundennalgetreue Übertragungen vor. Besonders den Notar u. Kurienadvokaten am Konstangelungen sind seine Übersetzungen polit. zer Bischofshof, »Maister Heinrich von WitTexte aus dem Französischen u. Englischen, tenwil«, identisch ist; eine Urkunde von so Edmund Burkes Zween Briefe zum Frieden 1389, in der von dem »ersamen herren hern mit dem königsmörderischen Direktorium von Hainrich von Wittenwille« als Schiedsmann Frankreich (Ffm./Lpz. 1797). die Rede ist, erlaubt die Vermutung, dass der W.s hohe Ansprüche, denen auch Werke Konstanzer Advokat dem Adel angehörte. von Goethe u. Shakespeare nicht genügten Dieser Wittenwiler ist 1395 zum letzten Mal (Vorwort zu: Schreiben des Herrn von Voltaire an sicher bezeugt; die Nennung eines »Meister die Akademie Françoise über [...] Shakespear. Hbg. Heinrich von Wittenwill, hoffmeister zuo 1777), stehen im Gegensatz zu seinen eigenen Kostentz« im Necrologium der ZisterzienseVeröffentlichungen. In den Epigrammen und rinnen in Wurmsbach an einem 29. Juli ist anderen Gedichten (Altona 1779) beispielsweise u. a. wegen der fehlenden Jahresangabe nicht herrschen hohler Witz, offene Beleidigung, sicher auf den Advokaten u. Notar zu KonVerallgemeinerung u. Empfindelei vor, u. oft stanz zu beziehen. bedürfen die Gedichte zum Verständnis erst Der Ring ist in einer einzigen Handschrift des Kommentars des Verfassers. überliefert, die früher als Kodex Nr. 29 im Weitere Werke: Briefe über die Ackermannsche Staatsarchiv Meiningen aufbewahrt wurde u. u. Hamonsche Schauspieler Gesellsch. zu Ham- seit 2002 den Beständen der Bayerischen Staatsbibliothek München angehört (Cgm burg. Bln./Lpz. 1776.

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9300). Bei dieser Pergamenthandschrift handelt es sich mit zieml. Sicherheit um eine Abschrift von einer Hand. Dem Schriftcharakter nach ist sie um 1400 (aber kaum nach 1420) entstanden. Die Sprache, eine Mischung aus bair. u. alemann. (schwäb. u. schweizerischen) Elementen, könnte vom Autor bewusst als eine einem breiteren Publikum verständl. »Gemeinsprache« konzipiert worden sein; eine mit modernen sprachwissenschaftl. Methoden durchgeführte Untersuchung zum Schreibdialekt des Ring steht noch aus. Im Prolog erklärt der Autor den Titel seines Werks u. kündigt programmatisch an, im Folgenden »der welte lauff« u. das, was man »tuon und lassen schol«, darzustellen. Die Lehre soll in drei Teilen erfolgen: Der erste Teil »lert hofieren / Mit stechen und turnieren, / Mit sagen und mit singen / und auch mit andern dingen«, der zweite Teil unterweist darin, »Wie ein man sich halten schol / An sel und leib und gen der welt«, während der dritte Teil lehrt, »Wie man allerpest gevar / Ze nöten, chrieges zeiten / In stürmen, vechten, streiten«. Der »gpauren gschrai«, das der Autor unter »diseu ler« mischen will, ergibt die Rahmenhandlung für das laut Titelgebung u. Prologankündigung enzyklopädisch-didaktisch ausgerichtete Werk; als Orientierungshilfe für das Publikum sollen Farblinien in den Zeilenanfängen dienen – rote Linien für »ernst«, grüne für »törpelleben« –, was an einigen Stellen eher verwirrt als erhellt. Erzählt wird in rund 9700 Reimpaarversen die tragisch endende grotesk-komische Liebesgeschichte des tölpelhaften Bauernburschen Bertschi Triefnas u. der abgrundtief hässlichen, als Gegenbild zum höf. Schönheitsideal geschilderten Mätzli Rüerenzumph im Dorf Lappenhausen: Bertschi wirbt mit verschiedenen Mitteln um seine Angebetete – vom zu Ehren Mätzlis veranstalteten Turnier über das nächtl. Ständchen bis zum vom Dorfschreiber Nabelreiber in Bertschis Auftrag verfassten Minnebrief, der schließlich zum Erfolg führt: Die von ihrem Vater im Speicher eingesperrte Mätzli erhält den Brief mittels Steinwurf u. trägt dabei eine Kopfverletzung davon, die ihr einen Vorwand lie-

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fert, den des Lesens u. Schreibens kundigen Dorfarzt Chrippenchra (Hippokrates?) zu konsultieren, um sich den Brief vorlesen zu lassen. Mätzli gibt ihre Zustimmung in einem allegor. Antwortbrief, den der Arzt – der sie bei der Gelegenheit schwängert, ihr aber gleich ein bewährtes Rezept zur Vortäuschung der Jungfernschaft verrät – nach ihrem Vorentwurf verfasst. Bertschi erhält Mätzlis Antwort, u. nachdem Nabelreiber den kunstvoll gestalteten Minnebrief in für Bertschi verständl. Weise resümiert hat (vv. 2620–2622: »Sei spricht, sei tät den willen dein / Und dar zuo vil und dannocht me, / Nämist du sei zuo der e«), kommt es zur ausgedehnten Beratung unter Bertschis Verwandten, bei der das Für u. Wider der Ehe diskutiert wird. Bei der hitzigen Debatte, die den zweiten Teil des Ring einleitet, stehen die Männer der Ehe neutral oder ablehnend gegenüber, während die Frauen sie befürworten; ein Schiedsspruch des Dorfschreibers in Prosa, den Bertschi als Aufforderung zur Ehe versteht, beendet die Auseinandersetzung. Zwei Brautwerber werden zu Mätzlis Vater geschickt, u. nach einer kürzeren Beratung der Verwandten Mätzlis wird der zukünftige Ehemann einer Prüfung, die im Aufsagen von Pater Noster, Ave Maria u. Credo besteht, unterzogen. Es folgen ausführl. Lehren: Lastersak unterrichtet Bertschi über das Studium (sog. Schülerspiegel) u. unterweist den Bräutigam, der um eine Tugendlehre bittet, in theolog. Grundwissen, der Apotheker Straub gibt sieben Regeln zu Gesundheit, Ernährung u. Hygiene u. eine Soziallehre, Übelsmach vermittelt die vier Kardinaltugenden Weisheit, Gerechtigkeit, Stärke, Mäßigkeit. Die Belehrung endet mit einer Haushaltungslehre von Härtel Saichinkruog, u. Bertschi, der schnell ans Ziel seiner Wünsche kommen möchte, gibt vor, alles verstanden zu haben u. die Lehren befolgen zu wollen. Nun wird Mätzli geholt, u. die Eheschließung erfolgt »an schuoler und an phaffen« (v. 5276). Am nächsten Morgen begibt man sich zur Messe, u. nach der Beschenkung der Brautleute u. dem orgiastischen Hochzeitsmahl, bei dem die Gäste unter Missachtung jegl. Tischregeln ungehemmt fressen u. saufen – nach Ausweis der roten Farblinie eine Tischzucht ex nega-

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tivo –, kommt es beim Hochzeitstanz zu einer wüsten Schlägerei, die den Beginn des dritten Teils markiert u. zum Krieg zwischen Lappenhausen u. Nissingen u. deren Bundesgenossen – neben Bewohnern benachbarter Dörfer v. a. Gestalten aus der Mythologie u. der Heldendichtung – führt. In diesem Teil vermittelt der Autor Lehren über Kriegsführung, die von der Kriegsberatung u. -erklärung über diplomatische Schritte bis zur Kampfstrategie u. -taktik reichen. Von Kriegsberatungen u. -vorbereitungen ungestört, verbringt Bertschi mit der vermeintlich noch jungfräul. Mätzli seine erste Nacht, die mit einem Wächter-Tagelied endet. Der Kongress der 73 europ. Hauptstädte, die von Lappenhausen um Hilfe angegangen werden, beschließt, nicht in die Kampfhandlungen einzugreifen, sondern Frieden zu stiften – ein Versuch, der fehlschlägt. Nach erbitterten Kämpfen fällt Lappenhausen durch den Verrat Frau Laichdenmans, u. dem folgenden Gemetzel entgeht als einziger Bertschi, der als Einsiedler in den Schwarzwald zieht. Das epische Gerüst der Hochzeitsschilderung mit anschließender Schlägerei geht auf den in zwei Versionen anonym überlieferten »Bauernhochzeitsschwank« (Metzen hochzit u. Meier Betz) zurück; W. erweitert dieses Grundgerüst um die nach höf. Mustern gestaltete, breit angelegte Brautwerbung im ersten Teil; das »Examen« Bertschis nimmt er zum Anlass für ausführlich belehrende Passagen, für welche die Forschung mögl. Quellen herausgearbeitet hat – so könnte Straubs Gesundheitslehre auf das pseudoaristotelische Secretum secretorum zurückgehen, die Tugendlehre Lastersaks auf das Moralium dogma philosophorum des Wilhelm von Conches, die Haushaltungslehre des Saichinkruog auf den weit verbreiteten, Bernard Silvestris de Chartres zugeschriebenen Brief an einen Ritter Raimund, De cura et modo rei familiaris utilius gubernandae. W. baut Eheschließung, Hochzeitsmahl u. Tanz der Vorlage mit zusätzl. Details u. eigenen Akzenten weiter aus u. lässt die in der Tradition der Neidhart-Nachfolge stehende Bauernschlägerei in einen apokalypt. Züge annehmenden Vernichtungskampf ausarten, der ihm Gelegenheit zu umfangreichen Kriegslehren gibt.

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Als Quelle dieser Lehren gilt insbes. der Traktat des Bologneser Juristen Giovanni da Legnano, De Bello De Represaliis et De Duello. W. erweist sich als profunder Kenner der literar. Tradition, der nicht etwa einzelne Versatzstücke aneinanderreiht, sondern sie gekonnt in ein planvoll angelegtes Epos integriert u. dabei über seine explizit angekündigte Absicht, eine in Unterhaltung verpackte enzyklopäd. Lehre zu vermitteln, hinausgehend ein auf mehreren Ebenen verstehbares, raffiniert angelegtes literar. Gebilde schafft, dessen Deutung noch viele Fragen offen lässt. Die unrealistisch anmutende Chronologie des Handlungsablaufs – das Geschehen ab den Hochzeitsvorbereitungen spielt sich in der Zeit von Samstag Nacht bis Mittwoch ab – wird wie ein Teil des Personals (Hexen, der Wilde Mann, Frau Berchta [Laichdenman]) auf der Folie des Fastnachtsbrauchtums verständlich, die im Rahmen des Maskenwesens vielleicht auch die Anziehungskraft der extrem hässl. Mätzli auf Bertschi sowie die groteske Gestaltung der Bauern erklären könnte. Besondere Schwierigkeiten bereiten Fragen nach Gattung, Entstehungszeit, Wirkungsabsicht u. Rezeption des Ring. Bei der Gattungsfrage empfiehlt es sich, eindeutige Festlegungen zu vermeiden u. den Ring als eine Mischung verschiedener literar. Formen zu sehen, die der Autor zu einem komplexen Neuen fügt. Wie problematisch eine einseitige Festlegung für die Gesamtinterpretation sein kann, zeigt die umfangreiche Untersuchung zum Ring von Lutz (Lutz 1990), die W.s Dichtung als allegor. Bewältigung einer konkreten histor. Welt deutet u. den Kerngedanken des Ring darin sieht, dass das Elend in der Welt in der »spiritualis fornicatio« (geistl. »Hurerei«), dem Abfall des Menschen von Gott, seinen Ursprung habe. Eine solche Deutung vernachlässigt die vom Autor sicher beabsichtigte Vielschichtigkeit des Werks: So kann dieser Ansatz, um nur ein Beispiel zu nennen, nicht das von W. vor allem im ersten Teil inszenierte raffinierte Spiel mit Mustern u. Normen der höf. Literatur erklären. Immer wieder ist in der Forschung ausgehend vom Prolog die Frage nach der intendierten Gebrauchsfunktion des Textes u. nach dem Verhältnis von Lehre u. Unterhal-

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tung im Ring gestellt worden. Besondere Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang einer neueren Arbeit zu, die nachzuweisen versucht, dass die dreiteilige Grundstruktur des Ring sich an dem aristotelisch-scholast. Modell der »philosophia practica« orientiert, welches das menschl. Handlungswissen in die drei Bereiche der »ethica«, »oeconomica« u. »politica« ordnet (Fürbeth 2002). Für den Ring lasse sich auf der Basis dieses Modells eine zweifache Intention ermitteln: einerseits würden Anweisungen zum richtigen Verhalten mittels »doctrina« u. »exempla« (auch ex negativo) gegeben, andererseits werde eine Lesart geboten, welche eine Interpretation der Bauernhandlung als »fabula« einer standesunangemessenen Selbsterhöhung der Bauern nahelege. Die Trias der im Prolog mit »nutz«, »tagalt« u. »mär« benannten mögl. Lesarten des Textes entspräche demgemäß der rhetorisch-poetischen Trias von »historia«, »argumentum« u. »fabula«. Solchen Interpretationsansätzen, die dem Autor des Ring eine konkrete, sinnstiftende Wirkungsabsicht unterstellen, steht der radikale Ansatz Bachorskis gegenüber, der in mehreren neueren Arbeiten für eine dekonstruierende Lektüre des Ring eintritt (siehe v. a. Bachorski 2006). Der Ring wird als Text begriffen, der Sinn nur setzt, um ihn sogleich wieder zu zerstören, u. es wird davor gewarnt, die im Prolog gegebene Lektüreanweisung als Deutungsanweisung für den gesamten Text ernst zu nehmen. Der Autor schlägt vor, sich auf die Mehrdeutigkeit u. Widersprüchlichkeit der im Text übereinander gelagerten Bedeutungsebenen einzulassen, diese also nicht zu beseitigen zu versuchen, sondern sie vielmehr als wesentl. Strukturmerkmal zu erkennen. Die Welt, wie sie sich aus der Perspektive des Ring präsentiert, ist laut Bachorski eine Welt ohne die ideolog. Bindungskraft von Tradition u. Sinnbildungssystemen, eine Welt, in der wenig Kohärenz, wenig Autorität u. noch weniger gültige Moral zu finden sei. Im Text zeichne sich ein Bewusstsein ab, das darauf verzichtet, ordnend oder sinnstiftend in die Welt einzugreifen; das Werk könne keine schlüssige Synthese anbieten, sondern richte

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seine Anstrengungen allein auf die Dekonstruktion. In diese Richtung geht auch eine neuere Interpretation, in der die zentrale Aussage des Ring darin gesehen wird, dass fiktionale Dichtung nicht imstande sei, Erkenntnis, Sinn, Sinnvolles oder Lehrhaftes zu vermitteln u. zu ergründen u. deshalb völlig sinnlos, nutzlos oder überflüssig sei; W. sei mit seinem Ring »in einem Akt vernichtenden Schreibens« am »Nullpunkt der Literatur« angekommen (Neukirchen 2010). Es ist eher unwahrscheinlich, dass damit das letzte Wort zu W.s Ring gesagt ist: Trotz intensiver Auseinandersetzung mit dem Text in der Forschung der letzten Jahrzehnte sind noch viele Fragen offen. Umstritten sind etwa nach wie vor Entstehungszeit u. Adressaten des Ring. Nach dem derzeitigen Forschungsstand muss man sich für die Abfassungszeit des Ring mit der Angabe »um 1400« begnügen. Den terminus post quem liefert der Traktat des Giovanni da Legnano (s. oben; nach 1360); nach Ausweis der Überlieferung (s. oben) dürfte der Ring vor 1420 entstanden sein. Unterschiedliche Entstehungszeiten für die verschiedenen Teile des Werks sind nicht auszuschließen. Ist der Autor mit dem Konstanzer Kurienadvokaten identisch, so dürfte sich der Ring wohl am ehesten an Stadtpatriziat u. -adel zu Konstanz, vielleicht auch – zumindest im ersten Teil – an ein höfisch-literarisch gebildetes Publikum aus dem Kreis deutschsprachiger Konzilsteilnehmer gewendet haben (Händl 1991). Solange keine Einigkeit über die genaue Abfassungszeit u. das Publikum des Ring besteht, wird die Frage nach der Wirkungsabsicht wohl immer wieder neu gestellt werden, u. es muss weiterhin offen bleiben, warum der Ring, wie nicht nur die Überlieferung, sondern auch unser Wissen um die deutschsprachige Literatur des SpätMA u. der frühen Neuzeit nahelegt, so offensichtlich ohne Wirkung blieb. Ausgaben: H. W.s Ring nach der Meininger Hs. Hg. Edmund Wiessner. Lpz. 1931. Nachdr. Darmst. 1973 (zitiert). – H. W. Der Ring. In Abb. der Meininger Hs. Hg. Rolf Bräuer u. a. Göpp. 1990. – Übersetzungen: H. W. Der Ring. Nach der Ausg. E. Wiessners übertragen u. mit einer Einl. vers. v.

485 Helmut Birkhan. Wien 1983. – H. W. Der Ring oder Wie Bertschi Triefnas um sein Mätzli freite. Hg. u. übertragen v. R. Bräuer. Bln. 1983. – H. W. ›Der Ring‹. Hg., übers. u. komm. v. Bernhard Sowinski. Stgt. 1988. – H. W. Der Ring. Frühnd./Nhd. übers. u. hg. v. Horst Brunner. Stgt. 1991. 32003. Literatur: Forschungsberichte: Bernward Plate: H. W. Darmst. 1977 (mit Bibliogr.). – Ortrun Riha: Die Forsch. zu H. W.s ›Ring‹ 1851–1988. Würzb. 1990 (mit Bibliogr.). – Dies.: Die Forsch. zu H. W.s ›Ring‹ 1988–1998. In: Vom MA zur Neuzeit. FS Horst Brunner. Hg. Dorothea Klein u. a. Wiesb. 2000, S. 423–430 (mit Bibliogr.). – Frank Fürbeth: Die Forsch. zu H. W.s ›Ring‹ seit 1988. In: Archiv 245 [160] (2008), S. 350–390 (mit Bibliogr.). – Zitierte Titel vor 2008: Eckart Conrad Lutz: Spiritualis fornicatio. H. W., seine Welt u. sein ›Ring‹. Sigmaringen 1990. – Claudia Händl: ›hofieren mit stechen u. turnieren‹. Zur Funktion Neitharts beim Bauernturnier in H. W.s ›Ring‹. In: ZfdPh 110 (1991), S. 98–112. – F. Fürbeth: nutz, tagalt oder mär. Das wissensorganisierende Paradigma der ›philosophia practica‹ als literar. Mittel der Sinnstiftung in H. W.s ›Ring‹. In: DVjs 76 (2002), S. 497–541. – Hans-Jürgen Bachorski: Irrsinn u. Kolportage. Studien zum ›Ring‹, zum ›Lalebuch‹ u. zur ›Geschichtklitterung‹. Trier 2006. – Weitere Titel: Stephanie Hagen: H. W.s ›Ring‹ – ein ästhet. Vexierbild. Studien zur Struktur des Komischen. Trier 2008. – Werner Röcke: Drohung u. Eskalation. Das Wechselspiel von sprachl. Gewalt u. körperl. ›violentia‹ in H. W.s ›Ring‹. In: Blutige Worte. Internat. u. interdisziplinäres Kolloquium zum Verhältnis v. Sprache u. Gewalt im MA u. Früher Neuzeit. Hg. Jutta Eming u. Claudia Jarzebowski. Gött. 2008, S. 129–143. – Christine Stridde: H. W., ›Der Ring‹ (um 1410). In: Literar. Performativität. Lektüren vormoderner Texte. Hg. Cornelia Herberichs u. Christian Kiening. Zürich 2008, S. 298–315. – Christine Putzo: Komik, Ernst u. ›Mise en page‹. Zum Problem der Farblinien in W.s ›Ring‹. In: Archiv 246 [161] (2009), S. 21–49. – Klaus Ridder: Grenzüberschreitungen. TabuWahrnehmung u. Lach-Inszenierung in mittelalterl. Lit. In: Dichtung u. Didaxe. Lehrhaftes Sprechen in der dt. Lit. des MA. Hg. Henrike Lähnemann u. Sandra Linden. Bln. 2009, S. 135–153. – Thomas Neukirchen: Am Nullpunkt der Lit. H. W.s ›Ring‹ u. die Tradition der Literaturverachtung. In: Euph. 104 (2010), S. 247–266. Claudia Händl

Wittfogel

Wittfogel, Karl August, auch: Klaus Hinrichs, * 6.9.1896 Woltersdorf, † 25.5.1988 New York. – Dramatiker, Romancier; Sozialwissenschaftler. W. arbeitete 1928–1933 am Institut für Sozialforschung in Frankfurt/M. Mit Wirtschaft und Gesellschaft Chinas (Lpz. 1931) erwarb sich der Marxist W. internationale Anerkennung als Historiker der chines. Wirtschaftsgeschichte. Die in diesem Werk angekündigte Fortsetzung erschien erst 1957 u. d. T. Oriental Despotism (New Haven. Dt.: Die Orientalische Despotie. Köln/Bln. 1962). W. griff in dieser bahnbrechenden Studie die aus allen offiziellen kommunistischen Ausgaben verbannte Marx’sche These der »asiatischen Produktionsweise« auf u. entwickelte sie weiter zu seiner Theorie der »hydraulischen Gesellschaft«, einer Gesellschaftsordnung, die auf der Monopolherrschaft einer Staatsbürokratie beruhe u. deren despotisches Erbe die (stalinistische) Sowjetunion angetreten habe. Die literar. Arbeiten W.s nehmen einen relativ kleinen, aber wichtigen Platz ein. In den frühen 1920er Jahren schrieb W. im Malik-Verlag erschienene u. von Piscator aufgeführte Theaterstücke, die er als Beispiele eines »revolutionären Idealismus und Expressionismus« betrachtete (z. B. Rote Soldaten. Bln. 1921. Der Mann, der eine Idee hat. Ebd. 1922). 1930 leistete er in sieben in der »Linkskurve« veröffentlichten Artikeln einen wesentl. Beitrag zur Entwicklung einer marxistischen Ästhetik. Nachdem er 1933 von den Nationalsozialisten inhaftiert worden war – diese Erfahrung liegt seinem unter Pseudonym veröffentlichten Roman Staatliches Konzentrationslager VII. Eine ›Erziehungsanstalt‹ im Dritten Reich (London 1936. Mit einem Nachw. v. Joachim Radkau. Bremen 1991) zugrunde –, emigrierte W. 1934 über Großbritannien in die USA. Weiteres Werk: Gesch. der bürgerl. Gesellsch. Wien 1924. Nachdr. Köln 2000. Literatur: G. L. Ulmen: The Science of Society. Toward an Understanding of the Life and Work of K. A. W. Den Haag/Paris/New York 1978. – Rolf Mainz: Die Thiniten. Eine altägypt. Eroberungszeit u. K. A. W.s Theorie der oriental. Despotie. Münster/Hbg. 1993. – James H. Fraser: K. A. W. Über den

Wittgenstein Malik-Verlag u. Salman Schocken. Ein unbekanntes Interview. In: Marginalien 173 (2004), S. 7–19. – Marcel van der Linden: Western Marxism and the Soviet Union. A Survey of Critical Theories and Debates Since 1917. Chicago 2009. Ian Wallace / Red.

Wittgenstein, Ludwig (Josef Johann), * 26.4.1889 Neuwaldegg bei Wien, † 29.4. 1951 Cambridge; Grabstätte: ebd., Friedhof St. Giles. – Philosoph. Als jüngster Sohn eines österr. Industriellen wuchs W. in kultivierter Familie, doch von der übrigen Umwelt recht isoliert auf. Eine Schule besuchte er erst während der letzten drei Jahre vor der Matura. Zunächst studierte er Ingenieurwissenschaften in Berlin, später in Manchester. Allmählich begann er sich für mathemat. Grundlagenfragen zu interessieren, nahm Verbindung auf mit Gottlob Frege u. ging Ende 1911 nach Cambridge, wo er unter Bertrand Russells Anleitung Logik u. Philosophie studierte. Rasch erwarb er sich Russells Respekt u. avancierte in kürzester Zeit vom Schüler zum Freund u. Gesprächspartner. In den maßgebl. Cambridger Kreisen galt er als einer der brillantesten jungen Köpfe; mit George Edward Moore u. John Maynard Keynes schloss er Freundschaft. Von 1913 an entstanden, z.T. in Norwegen, Vorarbeiten zu einem philosophischen Werk, das zunächst logische Fragen im Sinne Freges u. Russells behandeln sollte. Während des Ersten Weltkriegs, an dem W. als Freiwilliger teilnahm, wurde die Arbeit fortgesetzt, doch die Thematik weitete sich aus, bis das Werk, der später sog. Tractatus logico-philosophicus, 1918 u. d. T. Logisch-philosophische Abhandlung abgeschlossen wurde – kurz bevor W. in ital. Kriegsgefangenschaft geriet. 1919 nach Wien zurückgekehrt, änderte W. sein Leben: Er verschenkte sein Vermögen, besuchte eine Lehrerbildungsanstalt u. wurde Volksschullehrer in Niederösterreich. Die ersten Versuche einer Veröffentlichung der Abhandlung scheiterten, bis durch Russells Intervention 1921 eine dt. Zeitschriftenveröffentlichung u. 1922 eine zweisprachige Buchpublikation in London zustande kamen. Den Lehrerberuf gab W. nach einigen Jahren auf. Anschlie-

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ßend arbeitete er als Architekt u. baute zusammen mit Paul Engelmann in Wien ein großes Wohnhaus für eine seiner Schwestern. Allmählich kam er – vielleicht auch aufgrund von Gesprächen mit dem Cambridger Logiker Frank Ramsey sowie mit Moritz Schlick, Friedrich Waismann u. anderen Mitgliedern des Wiener Kreises – auf philosophische Themen zurück. Anfang 1929 siedelte er nach Cambridge über, wo er zunächst mit dem Tractatus promoviert wurde, dann auch als akadem. Lehrer tätig war. W.s unorthodoxe Lehrveranstaltungen wurden alsbald legendär. Die eigene philosophische Arbeit war der einzige Inhalt der Vorlesungen. Die Themen reichten über Sprachphilosophie, Philosophie der Psychologie u. Ästhetik bis zur Philosophie der Mathematik. In dieser Zeit diktierte er seinen Schülern das Blaue u. das Braune Buch (The Blue and Brown Books. Oxford 1959). Als seine Lehrstelle 1936 auslief, ging er nach Norwegen, um dort völlig einsam an seinen Manuskripten zu arbeiten. 1939 wurde er auf den Lehrstuhl Moores nach Cambridge berufen. Während des Zweiten Weltkriegs leistete W. verschiedene Hilfsdienste; anschließend lehrte er noch bis 1947, verzichtete dann jedoch auf die Professur. Bis 1949 arbeitete er hauptsächlich in Irland an seinen späten Manuskripten zur Philosophie der Psychologie. Auf einer Reise nach Amerika machten sich erste Anzeichen seiner Krebskrankheit bemerkbar. Wenige Monate vor seinem Tod begann nach längerer Unterbrechung eine neue Arbeitsphase, in der Aufzeichnungen über Farben u. über Gewissheit entstanden. Abgesehen von einer frühen Rezension, einem kurzen Aufsatz u. einem Wörterbuch für Volksschulen, publizierte W. zu Lebzeiten nur ein Werk: die Logisch-philosophische Abhandlung, den Tractatus logico-philosophicus. Diese Schrift machte ihn in Fachkreisen rasch berühmt. Alle übrigen Schriften W.s wurden aus dem umfangreichen Nachlass herausgegeben. Das Hauptwerk sind die Philosophischen Untersuchungen (Oxford 1953). Umstritten ist die Periodisierung von W.s Werk. Die ersten erhaltenen Aufzeichnungen von 1913/ 14 sowie die philosophischen Tagebücher aus dem Ersten Weltkrieg sind offenbar Vorar-

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beiten zum Tractatus u. gehören wie dieser zu den Frühschriften. Aus der Zeit als Volksschullehrer sind keine philosophischen Arbeiten bekannt. Aus den frühen 1930er Jahren stammen die Philosophischen Bemerkungen (ebd. 1964) u. ein großes Typoskript (The Big Typescript. Ebd. 2005), das den Grundstock bildet für die vom Herausgeber zusammengestellte Philosophische Grammatik (ebd. 1969). Daneben gibt es aus diesen Jahren Waismanns Gesprächsaufzeichnungen Wittgenstein und der Wiener Kreis (ebd. 1967) u. mehrere Vorlesungsnachschriften. In der Sekundärliteratur wird der Gegensatz zwischen dem frühen W. des Tractatus u. dem späten W. der Philosophischen Untersuchungen so herausgestrichen, dass gelegentlich von einem Wittgenstein I u. einem Wittgenstein II gesprochen wird. Große Unterschiede zwischen Früh- u. Spätschriften sind zwar nicht zu bestreiten, doch die zunehmende Bekanntschaft mit den Schriften der mittleren Periode hat zu einer Neubewertung geführt u. die allmähl. Übergänge immer stärker in den Vordergrund treten lassen. Kontrovers ist bis heute, inwieweit die Arbeiten der mittleren Zeit als Fortführung der Tractatus-Philosophie oder als Ausdruck eines neuen Denkens anzusehen sind u. ob die letzten Schriften Über Gewißheit (ebd. 1969) als eigenständige Phase in W.s Denken aufgefasst werden sollten. Die Wirkung W.s ist vielfältig. Spürbar ist sein Einfluss nicht nur in allen philosophischen Fachgebieten, sondern darüber hinaus in den meisten sprach- u. kunstwissenschaftl. Disziplinen, in der Theologie u. der Psychologie. Er ist Gegenstand von Theaterstücken u. Romanen, Karikaturen u. Feuilletons. Den einen gilt er als Bannerträger einer naturwissenschaftlich orientierten analyt. Philosophie, den anderen als Gesinnungsgenosse Martin Heideggers im Kampf gegen die analyt. Philosophie. Der Tractatus wirkte zunächst auf den Wiener Kreis, später auch auf Philosophen in Großbritannien, Nordamerika u. Skandinavien. W.s Einfluss als Lehrer war immens, aber im Wesentlichen auf den engl. Sprachraum begrenzt, wo er jedoch rasch über die Grenzen des Fachs Philosophie hinaus auf Physiker, Mathematiker u. Psy-

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chologen wirkte. Beeinflusst hat er außerdem einige Vertreter der Philosophie der normalen Sprache, wie z.B. Gilbert Ryle, was dazu führte, dass er eine Zeitlang als Wortführer dieser nicht einheitl. Schule galt. Die Fachliteratur hat sich bisher hauptsächlich mit dem sprachphilosophischen Aspekt seines Denkens beschäftigt, während eine fundierte Auseinandersetzung mit anderen Teilen seines Werks aussteht. Von den meisten Philosophen unterscheidet sich W. durch den Stil seiner Schriften. Seine Sprache ist unkompliziert u. direkt. Er benutzt anschaul. Beispiele, verzichtet auf jede Fachterminologie u. setzt nur wenig an philosophiehistor. Kenntnis voraus. Viele seiner Texte sind dialogisch angelegt u. bestehen aus kurzen, mitunter aphorist. Bemerkungen. Der allg. Philosophiebegriff des frühen W. unterscheidet sich kaum von dem des späten. Philosophie wird nicht als Theorie oder Lehre aufgefasst, sondern als Tätigkeit. Nicht Lehrsätze werden angestrebt, sondern das Klarwerden von problemat. Sätzen. Die Philosophie ist eine von den Wissenschaften getrennte, »über oder unter, aber nicht neben« ihnen angesiedelte Aktivität. Das heißt nicht, dass sie den Wissenschaften keine Probleme entnehmen darf, doch es bedeutet, dass sie diese Probleme nicht mit Hilfe ihrer Methoden lösen kann. Im Spätwerk bemühte sich W., die nach seiner Ansicht verfehlten Positionen möglichst plausibel darzustellen u. ihre Irrtümer deutlich werden zu lassen. Der Philosoph ist eine Art Therapeut: Er »behandelt eine Frage; wie eine Krankheit«. Philosophische Probleme werden gelöst u. beseitigt durch eine »übersichtliche Darstellung«, durch eine auf einen prägnanten Punkt ausgerichtete Nebeneinanderstellung von Phänomenen, vielfach in der Form schemat. Kürzestgeschichten. Eine große Rolle spielt dabei W.s Überzeugung, dass ein Großteil der philosophischen Probleme durch mangelnde Einsicht in das Arbeiten der Sprache verursacht wird. Daher die Wichtigkeit sprachbezogener Verfahren: in der frühen Zeit das Instrumentarium der formalen Logik, später zunächst die Betonung »grammatischer« Regeln, schließlich

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die Technik der Beschreibung von tatsächlichen oder erfundenen Sprachspielen. Im Tractatus ist W.s Konzeption in mancher Hinsicht atomistisch. Hier wird die Möglichkeit unterstellt, durch Analyse bis zu den letzten Bausteinen vordringen zu können. Diese letzten Elemente sind sprachlich die eigentl. Namen, denen in der Wirklichkeit letzte Gegenstände entsprechen sollen. Diese Namen sind jedoch keine in einer wirklich gesprochenen Sprache vorkommenden Eigennamen, sondern durch Analyse zu erschließende oder zu entdeckende Gebilde, die nicht als solche in der Sprache erscheinen, sondern ausschließlich in den »Elementarsätzen«, die ihrerseits keine logische Komplexität aufweisen, sondern unmittelbare Verkettungen von Namen sind. Die Elementarsätze stehen in einer direkt abbildenden Beziehung zur Realität; nur in ihnen sind die Namen Stellvertreter von Dingen. Den sprachl. Elementen korrespondieren auf Seiten der Wirklichkeit die Gegenstände als letzte Einheiten; sie sind »das Feste, das Bestehende«, woraus sich die Sachverhalte u. die gesamte Wirklichkeit – die Welt – zusammensetzen. Den ganzen Tractatus durchzieht ein Kontrast zwischen »sagen« u. »zeigen«, zwischen dem, was in sinnvollen Sätzen gesagt, u. dem, was in – streng genommen – sinnlosen »Schein«-Sätzen nur gezeigt werden kann. W. benutzte diesen Gegensatz, um die These aufzustellen, dass das, was sich zeigen lässt, nicht gesagt werden kann. Da die Logik ebenso wie z.B. Ethik u. Ästhetik zu den Dingen gehört, die sich höchstens zeigen lassen, ist sie aus dem Bereich des Sagbaren ausgeschlossen. Der Tractatus beansprucht, durch rein sprachlog. Untersuchungen immer wieder das Ergebnis darzulegen, dass wir auf Unsagbares hinauswollen, dies aber bestenfalls andeuten können. Dieses Unaussprechliche »zeigt sich, es ist das Mystische«. Doch was wir sinnvoll sagen können, beschränkt sich im Grunde auf die Sätze der Naturwissenschaft; alles Metaphysische wird ausgeschlossen. Entsprechend lautet der berühmte Schlusssatz des Tractatus: »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.«

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In den Jahren nach W.s Rückkehr zur Philosophie wandelte sich seine Sprachkonzeption. Ausgangspunkt ist nicht mehr der einzelne Satz, in dessen Kontext die Einzelausdrücke Bedeutung aufweisen, sondern ins Zentrum gestellt werden nun umfassendere Einheiten: Satzsysteme oder Kalküle. Damit geht die vielfach an den Tractatus erinnernde Auffassung einher, dass solche Systeme strengen Regeln gehorchen. Diese Regeln bilden einerseits die »Grammatik« einer Sprache im Sinne der Gesamtheit der diese Sprache strukturierenden syntakt. Verwendungsvorschriften u. ihrer semantisch relevanten Konventionen; andererseits legen sie die »Grammatik« einzelner Ausdrücke fest, indem sie deren mögl. Gebrauch beschränken. Die Grammatik ist autonom; sie kann nicht gerechtfertigt werden u. ist von der Wirklichkeit unabhängig. Ergänzt wird diese Konzeption durch die Betonung des Aspekts der Verifikation, die ihren deutlichsten Ausdruck findet in der These, der Sinn eines Satzes liege in der Methode seiner Verifikation. Das zunächst dominierende Modell des durch klare Regeln bestimmten Kalküls erwies sich schon bald als zu eng u. wurde nach u. nach durch den Begriff des Sprachspiels ersetzt. Unter Sprachspielen verstand W. a) vollständige primitive Sprachsysteme, b) Bruchstücke dieser Systeme, sofern sie als einigermaßen in sich geschlossen beschrieben werden können, oder c) die Verwendungsweisen bestimmter Ausdrücke unter besonderer Berücksichtigung ihrer Äußerungsumstände. Dieser komplexe Sprachspielbegriff verdankte sich der Einsicht, dass die sprachl. Bedeutung nicht unabhängig vom Gebrauch der betreffenden sprachl. Ausdrücke ermittelt u. verstanden werden kann. Dabei soll der Ausdruck Sprach-»Spiel« eine ganze Reihe von Aspekten betonen, die nach W.s Auffassung wesentlich sind für eine angemessene Erklärung der sprachl. Bedeutung. Zunächst soll darauf hingewiesen werden, dass Wörter – u. umfassendere Einheiten – nicht ohne Berücksichtigung des Zusammenhangs ihrer Äußerung zu verstehen sind. Zweitens soll betont werden, dass nicht nur der sprachl., sondern auch der nichtsprachl. Äußerungs-

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kontext die Bedeutung beeinflusst. Drittens behauptet W., dass die Betrachtung typischer Lehr- u. Lernsituationen entscheidend Aufschluss geben kann über die Bedeutung eines Ausdrucks. Es ist eine Konsequenz dieser Auffassung, dass sprachl. Bedeutung in gewissem Sinne kulturrelativ sei, denn weder die nichtsprachl. Äußerungsumstände noch die Lehr- u. Lernmethoden sind überall u. zu jeder Zeit gleich. Diese Relativität kann als ein Aspekt von W.s Behauptung gesehen werden, durch das Wort »Sprachspiel« werde hervorgehoben, »daß das Sprechen der Sprache Teil ist einer Tätigkeit, oder einer Lebensform«. In seinen Aufzeichnungen zum Thema Gewissheit erörterte W. anhand der Rolle von Sätzen wie »Ich weiß, daß die Erde älter ist als fünf Minuten« die Funktion unseres Weltbilds als eines überkommenen Hintergrunds, dessen Wahrheit oder Falschheit gar nicht zur Debatte steht, sondern der seinerseits unsere Urteile über die Wahrheit oder Falschheit von Behauptungen bestimmt. Dabei verglich W. das Weltbild mit dem Bett eines Flusses, das den Strom unserer empir. oder von der Erfahrung abhängigen Aussagen reguliert. Ein solches Flussbett kann jedoch in Bewegung kommen: Die versteinerten Sätze, die gestern noch zu den Sätzen des Betts gehörten, können heute in Fluss geraten, fortgeschwemmt u. durch neue ersetzt werden. Derartige Verschiebungen haben nicht den Charakter eines rationalen Wechsels der Überzeugung, sondern ähneln eher einer »Bekehrung«. Dementsprechend verglich W. unser Weltbild mit einer Mythologie, denn wie diese bildet es ein System von Überzeugungen, die sich nicht ohne Weiteres daraus entfernen lassen. Außerdem ist unser Weltbild, ebenso wie die Mythologie, aufs Engste mit unserer Praxis verknüpft u. beruht weder auf empir. Erkenntnis noch auf Verifikation von Hypothesen. Ferner gleicht unser Weltbild einer Mythologie auch darin, dass es durch widersprechende Erfahrungssätze nicht leicht zu erschüttern ist. In diesen Reflexionen über das Weltbild fanden auch W.s Gedanken zum Sprachspielbegriff ihre Vollendung. Denn am Ende aller Rechtfertigungen u. Begründungen steht nicht, dass »uns gewisse Sätze un-

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mittelbar als wahr einleuchten, also eine Art ›Sehen‹ unsererseits, sondern unser ›Handeln‹, welches am Grunde des Sprachspiels liegt«. Weitere Werke: Ausgaben: Werkausg. 8 Bde., Ffm. 1984. – Logisch-philosoph. Abhandlung/Tractatus logico-philosophicus. Ffm. 1989. 22001 (krit. Ausg.). – Wiener Ausg. Hg. Michael Nedo. Bde. 1–5, 8, 11. Wien/New York 1993 ff. – Philosophische Untersuchungen. Hg. Joachim Schulte. Ffm. 2001 (krit.-genet. Ausg.). – Einzeltitel: Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik. Hg. Georg Henrik v. Wright u. a. Oxford 1956. 21978. – Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie. Hg. G. E. M. Anscombe. u. a. Ebd. 1980. – Letzte Schr.en über die Philosophie der Psychologie. Hg. G. H. v. Wright u. a. Ebd. 1982. – Philosophical Occasions 1912–1951. Hg. James C. Klagge u. Alfred Nordmann. Indianapolis/Cambridge 1993. – Denkbewegungen. Tagebücher 1930–1932, 1936–1937. Hg. Ilse Somavilla. 2 Bde., Innsbr. 1997. – Gespräche / Briefe: Lectures and Conversations on Aesthetics, Psychology and Religious Belief. Oxford 1966. Dt. Ffm. 2000. – Recollections of W. Oxford 1981. Dt. Ffm. 1987. – W. / Engelmann: Briefe, Begegnungen, Erinnerungen. Hg. I. Somavilla. Innsbr./Wien 2006. – W. in Cambridge. Oxford 2008. Literatur: Bibliografie: Guido Frongia u. a.: W. A Bibliographical Guide. Oxford 1990. – Weitere Titel: Norman Malcolm: L. W. A Memoir. London 1958. Dt. Ffm. 1987. – Max Black: A Companion to W.’s Tractatus. Cambridge 1964. – Allan Janik u. Stephen Toulmin: W.’s Vienna. New York 1973. Dt. Mchn. 1984. – Gordon P. Baker u. Peter M. S. Hacker: An Analytical Commentary on the ›Philosophical Investigations‹. 4 Bde., Oxford 1980–96. – Georg Henrik v. Wright: W. Oxford 1982. Dt. Ffm. 1986. – Saul Kripke: W. on Rules and Private Language. Oxford 1982. Dt. Ffm. 1987. – David Pears: The False Prison. 2 Bde., Oxford 1987/88. – Brian McGuinness: W. A Life. Young Ludwig (1889–1921). London 1988. Dt. Ffm. 1989. – Joachim Schulte: W. Eine Einführung. Stgt. 1989. – Cora Diamond: The Realistic Spirit. Cambridge, MA 1991. – Eike v. Savigny: W.s ›Philosophische Untersuchungen‹ – Ein Komm. für Leser. 2 Bde., Ffm. 21994–96. – Hans Sluga u. David G. Stern (Hg.): The Cambridge Companion to W. Cambridge u. a. 1996. – Hans-Johann Glock: A W. Dictionary. Oxford 1996. Dt. Darmst. 2000. – J. Schulte: L. W. Leben, Werk, Wirkung. Ffm. 2005. – Marie McGinn: Elucidating the Tractatus. Oxford 2006. –

Wittich Wolfgang Kienzler: L. W.s ›Philosophische Untersuchungen‹. Darmst. 2007. Joachim Schulte

Wittich, Johann, * 1.5.1537 Weimar, † 23.9.1596 Arnstadt. – Publizist medizinischer Sachschriften u. religiöser Werke. Der Sohn eines Weimarer Apothekers Johann Wittich lebte nach Studien in Jena (1553; Lehrer: Johann Schröter) u. Wien (1559) als Stadtarzt in Sangerhausen (1563), Eisleben (1564) u. von 1578 bis zu seinem Tode in Arnstadt. Zu seiner Klientel gehörten Angehörige der Grafenfamilie Mansfeld u. Graf Albrecht VII. von Schwarzburg-Rudolstadt, zu seinen Textlieferanten Luthers medizinische Ratgeberin Dorothea von Mansfeld, zu seinen Förderern der sächs. Kurfürst August. Das lutherisch geprägte Schrifttum religiösen Inhalts vermehrte W. mit einer Ecclesia domestica Wittichiana, [...] Kinderübung (Erfurt 1587), mit Ars-moriendi-Schriften – einer Übersetzung von Joachim von Beusts Sterbenskunst (Lpz. 1598) u. einem Bericht [...] wie sich [...] Christen in Sterbensläufften [...] verhalten sollen (Dresden 1599) – sowie mit einer Übersetzung von Joachim von Beusts Postilla (Lpz. 1597). Im Zentrum seiner regen Publikationstätigkeit aber stand die Popularisierung ärztl. Wissens; geleitet vom protestantisch befeuerten Selbsthilfegedanken adressierte W. eine Vielzahl landessprachiger Schriften medizinisch-pharmazeutischen Inhalts an den lateinunkundigen ›Gemeinen Mann‹, ärztlich tätige Personen gesellschaftlich-sozialer Mittel- u. Oberschichten. Er schuf Heilmittelmonografien, die über Qualität u. Gebrauch bestimmter Materia medica belehrten, über Salz (Halilogia. Lpz. 1594), den Bezoar (Bericht Von den [...] Bezoardischen Steinen. Lpz. 1589. 1592. Reprint Lpz. 1976), Guajak (Von dem Ligno Guayaco. Lpz. 1589), Mineralwasser (Extract Und [...] Bericht des [...] Sawerbruns zu Kissingen. Erfurt 1589) u. die Rose (Rhodographia. Dresden 1604). Hinzu gesellten sich Pestschriften (Praeservatif Regiment. Eisleben 1564. Hausartzney. Eisleben 1575. Begriff de peste. Eisleben 1578. Bericht von der [...] Pestilentz. Lpz. 1585). Andere Werke wieder informierten aus aktuellen Anlässen über Prophylaxe

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u. Therapie des Fleckfiebers (Von der [...] Heubtkranckheit. Eisleben 1574. Von der Hertzbreune. Erfurt 1581), der Grippe (Bericht von dem [...] Epidemialischen [...] Fieber. Lpz. 1592), des »Schlags« (Consilium Apoplecticum. Lpz. 1593), der »Rothen Rhur« (Bericht. Mühlhausen 1596), bestimmter Frauenleiden (Von Unfruchtbarkeit der Weiber. Lpz. 1594) oder gelten der Geburtshilfe (Unterricht für Schwangere und geberende Weiber. Lpz. 1591) u. Pädiatrie (Libellus de infantilium aegritudinum medicatione [...] Artzneybüchlein. Lpz. 1596), während zwei umfängl. Werke (Vademecum. [...] Ein künstlich NEw Artzneybuch. 2 Tle., Lpz. 1595/96. Sylva experimentorum [...] ExperimentBuch Vieler [...] Artzneymittel. Hg. Magdalena Wittich. Lpz. 1607) u. ein Artzneybuch für alle Menschen (Lpz. 1596) der Bekämpfung einer Vielzahl menschl. Krankheiten gewidmet sind. Überdies bereicherte W. das Regiminasanitatis-Schrifttum mit Heinrich Rantzaus Gesundheitslehre in dt. Übersetzung (De conservanda valetudine. Lpz. 1587) u. einem teilweise gereimten Praeservator sanitatis. [...] Bericht von den Sechs unvormeidlichen Dingen (Lpz. 1590), aber auch die Ratgeberliteratur für Reisende (Arcula itineraria [...] Reisekästlein. Lpz. 1590). Außerdem sammelte W. Zeugnisse der Medicina practica galenistischer Schulmediziner seines Jahrhunderts (Nobilissimorum [...] Germaniae medicorum consilia, observationes atque epistolae medicae. Hg. Johann Wittich d.J. Lpz. 1604) u. publizierte Schriften von Johannes Pontanus (Bericht [...] was man in den [...] Pestilentz leufften gebrauchen sol. Lpz. 1585) u. Helidaeus Padoanus (Processus, curationes et consilia. Lpz. 1607). Hinter der Masse landessprachiger Publikationen für den ›Gemeinen Mann‹ treten lat. Medicinalien etwa zur Arzneimittellehre (Methodus tum simplicium tum compositorum medicamentorum. Lpz. 1596) weit zurück; auch medizinalpolit. Schriften (Neüwe ordung der [...] Schlos Apotecken zü Arnstadt. 1580. Tax Tefflein der Apothecken zu Arnstadt. Erfurt 1583. Der [...] Grafschaft Hennebergs Apothekerordnung und Tax. Schmalkalden 1596) fallen in W.s Gesamtwerk kaum ins Gewicht. Allenorts kenntlich wird ein redaktionell geschickter, dem aktuellen Formenhaushalt verpflichteter u. von paracelsistischen Im-

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pulsen unberührter Kompilator. W. zeigt sich vielfach sozialethisch beflügelt u. richtete ausdrücklich gewisse Informationen an »arme und dürfftige Leute/ denen bißweilen die Sonne ehe ins Haus kömmet/ dann das liebe Brodt« (Artzneybuch. 1596). Mit seiner sozialethisch motivierten Sprachwahl half W. die lastende Dominanz des Lateins in der ärztl. Schriftkultur zu untergraben u. beförderte an der Seite etwa eines W. H. Ryff, Michael Bapst u. Martin Pansa mit über vierzig oft mehrfach gedruckten Ausgaben den Aufstieg der Landessprache zu einem anerkannten Medium der akadem. Medizin. Weitere Werke: Bericht/ von dem [...] Zeichen/ welches am Himmel [...] gesehen ist worden. Erfurt 1561. – Ärztliche Ratschläge für Graf Albrecht VII von Schwarzburg-Rudolstadt (Autografen). In: Rudolstadt/Thüringen. Staatsarchiv. Kanzlei Rudolstadt. C XVI 4g Nr. 16. Ausgabe: Briefliches Gutachten über Kissinger Mineralwasser (Arnstadt, 19.6.1587), ed. Pfister (1954), S. 83–86. Literatur: l. u.: J. W. In: ADB. – Alfred Martin: Die neue Ordnung der gräflich schwarzburg. Schloßapotheke zu Arnstadt mit dem Pflichtenverz. des Apothekergesellen v. 1580. In: Sudhoffs Archiv 9 (1916), S. 345–348 (mit Auszügen aus der Ordnung, 1580). – Hedwig Pfister: Bad Kissingen vor 400 Jahren. Würzb. 1954 (Mainfränkische Hefte. Heft 19), S. 40–60 (mit Extract-Paraphrase). – Klaus Hafemann: Magister J. W. (1537–1596). Diss. med. Würzb. 1956. – Erich Püschel: Kinderernährung gegen Ende des 16. Jh. Zugleich ein Hinweis auf Magister Johannes W. (1537–1596) u. Dr. Oswald Gäbelkhover (1539–1616). In: Sudhoffs Archiv 41 (1957), S. 83–88. Joachim Telle

Wittich, Manfred, * 5.2.1851 Greiz, † 9.7. 1902 Leipzig. – Publizist, Lyriker, Dramatiker; Germanist. Als Sohn eines Malers, Fotografen u. Prinzenerziehers studierte W. Geschichte, Literatur- u. Sprachwissenschaft in Leipzig (1872–1878). Er lernte Liebknecht u. Bebel kennen, trat in die sozialdemokratische Partei ein u. wurde (zunächst freier) Mitarbeiter an deren Publikationsorganen (»Vorwärts«, »Süd-Deutscher Postillion«, »Neue Welt«, »Der Wähler« u. andere). 1884 verzichtete W. auf den ihm 1878 mühsam vermittelten

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Lehrposten an einer Dresdner Privatschule zugunsten seiner Agitations- u. Kulturarbeit (v. a. für die Dresdner u. Leipziger Arbeiterbildungsvereine). Anschließende Redaktionstätigkeiten für die Zeitschriften »Der Volksfreund« (1888) u. »Der Wähler« (1890–1894) trugen ihm Presseprozesse u. Freiheitsstrafen ein, die zusammen mit W.s zahlreichen Vortragsreisen seinen gesundheitl. Ruin zur Folge hatten. Die prägende Begegnung mit Liebknecht (1874) verpflichtete W. auf dessen Konzept der »Arbeiterbildung«. So verfasste W. nicht nur typische Agitationslyrik in Form von Wahlgedichten, revolutionären Volksliedparodien, Massengesängen für Maifeiern u. Verherrlichungen des Achtstundentages oder der Frauenemanzipation (Gelegenheitsgedichte und Prologe für Arbeiterfeste. Mchn. 1891. Lieder eines fahrenden Schülers. Hg. Anna Wittich. Lpz. 1904); er bemühte sich auch um die historische (Geschichte der neuesten Zeit. Breslau 1887), sprachliche (Die Kunst der Rede. Lpz. 1901) u. literaturwissenschaftl. Bildung der Arbeiterschaft durch zahllose Beiträge für das auf weibl. Leser zugeschnittene Unterhaltungsblatt »Neue Welt« oder durch Einzelessays (u. a. Goethe und die Liebe. Dresden 1888). Als Vorläufer von Mehring u. Clara Zetkin fand W. zu einer sozialdemokratischen Perspektive auf Literaturgeschichte u. -theorie (Das Volk und die Literatur. Lpz. 1881. Geschichte der älteren deutschen Literatur. Dresden 1888/89. Hans Sachs. Nürnb. 1894). Von Lassalles Sickingen (1859) beeinflusst, ist W.s Ulrich von Hutten. Ein Reformationsfestspiel (Dresden 1887. Neu hg. von Ursula Münchow in: Aus den Anfängen der sozialistischen Dramatik. Bd. 1, Bln./DDR 1964, S. 119–151), ein um realistische Sprachporträts besorgtes, immer noch lesenswertes Exempel sozialdemokratischer Dramatik. Literatur: A. R. (= Anna Wittich): M. W. Lpz. 1902. – Klaus Völkerling: M. W. – Dichter u. Germanist der dt. Arbeiterklasse. In: WB 14 (1968), S. 1060–1065 (Lit.). Adrian Hummel

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Wittkop, Justus F(ranz), * 9.6.1899 Wies- Wittlinger, Karl, * 17.5.1922 Karlsruhe, baden, † 23.9.1986 Bad Homburg. – Ro- † 22.11.1994 Lippertsreute. – Dramatimancier u. Biograf. ker, Romancier, Hörspiel- u. Drehbuchautor. Nach dem Studium an den Universitäten in Frankfurt/M. u. München (Promotion 1926) u. Aufenthalten in Frankreich lebte W. von 1930 an in Berlin als freier Schriftsteller. Die ersten Erzählungen u. Romane sind leichte Unterhaltungsware, doch lassen sie bereits W.s Lust am Fabulieren u. die Vorliebe für lebenskräftige Schilderungen erkennen. Zu Abenteuerromanen (Piratenschiffe. Wien 1941) gesellten sich bald anspruchsvollere Erzählungen (Nächte neben der Tür. Ebd. 1943) u. die polit. Satire auf das »Dritte Reich« Gullivers letzte Reise. Die Insel der Vergänglichen (Nürnb. 1941). Während des Kriegs war W. Dolmetscher der Wehrmacht in Paris. Wie schon 1918 desertierte er (1943), ein Schritt, zu dem er sich in seinem Pariser Tagebuch (Mchn. 1948. Neudr. mit einem Nachw. von Adam Seide. Esslingen 1985) offen bekannte. Seine populär geschriebenen Darstellungen der Gestalten der Französischen Revolution erheben keinen wissenschaftl. Anspruch, sondern erkunden (versäumte) geschichtl. Möglichkeiten (Danton. Mchn. 1961. Graf Mirabeau. Esslingen 1982). Verbreitete Vorurteile zu revidieren versuchte W. in seinem Buch über den Anarchismus Unter den schwarzen Fahnen (Ffm. 1973. Neuausg. mit einer Einl. v. Dittmar Dahlmann. Bln. 1996), in dem er den Unterschied zwischen Anarchismus u. Terrorismus herausarbeitete.

Weitere Werke: Fortuna u. der Bruder des Schlafs. Nürnb. 1941 (R.). – Der Frevel der Venus. Eine Legende. Wien 1943 (R.). – Das war Scaramouche. Die Lebensgesch. des Tiberio Fiorelli, seine Schwänke, Liebschaften u. ergötzl. Mißgeschicke. Zürich 1957 (R.). – Ruf der Eule. Roman einer Schicksalsstunde Napoleons. Mchn. 1960. – Michael A. Bakunin. Reinb. 1974. 51994 (Biogr.). – Jonathan Swift. Ebd. 1976 (Biogr.).

Der Schreinerssohn absolvierte nach dem Studium der Anglistik u. Philosophie (Promotion 1950) eine Dramaturgie- u. Regieausbildung in Freiburg i. Br. Seit 1953 war W. freier Schriftsteller. Mit unverbindl., augenzwinkerndem Humor greifen W.s Komödien der 1950er u. frühen 1960er Jahre aktuelle Themen auf. Sie gehorchen den Regeln des Boulevardtheaters u. legten den Grundstein zu W.s Erfolg als Drehbuchautor von Literaturverfilmungen nach Marlitt, Fallada oder Siegfried Lenz u. von Vorabendserien in den 1970er u. 1980er Jahren. Der Einsatz neuerer, zumeist von Brecht entlehnter Theatermittel prätendiert literar. Rang, kann aber das schlichte Weltbild dieser Komödien mit ihrer Polarität von Gut u. Böse nicht verdecken. In Kennen Sie die Milchstraße (Bln. 1955. Urauff. Köln 1956; im selben Jahr wurde W. für das Stück mit dem Gerhart-Hauptmann-Preis ausgezeichnet), dem meistgespielten Stück der Spielzeit 1958/59 in der BR Deutschland, inszeniert ein an der Gesellschaft Irregewordener zusammen mit seinem Psychiater den Versuch, als Kriegsheimkehrer im bürgerl. Leben unter fremder Identität wieder Fuß zu fassen. Es gelingt ihm in spätem Triumph, den Arzt aus seinem berufl. Gleis zu werfen u. ihn auf die »Milchstraße« – den tägl. Weg des Milchholens für die psychiatr. Anstalt – zu locken u. darin sogar neuen Lebenssinn finden zu lassen. Dass in der Wirtschaftswundergesellschaft allein derjenige Erfolg hat, der, statt »gut« zu sein, seine Seele verpfändet, ist Thema der Theaterparabel Seelenwanderung (Zürich 1963. Fernsehsp. 1961; ausgezeichnet mit dem Prix Italia 1962). Michael Geiger / Red.

Peter König / Red.

Wittmaack, Adolph, * 30.6.1878 Itzehoe, † 4.11.1957 Hamburg. – Romancier. Im Hauptberuf Hamburger Kaufmann, schrieb W. zunächst für den »Simplicissimus«, die »Jugend« u. den »März« (gesam-

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melt in: Kleine Geschichten zur Hebung der Moral. Altona 1919). In dem 1915 in Berlin erschienenen Roman Konsul Möllers Erben (Erw. Hbg. 1946. Neudr. Ffm. 1983) schildert er das Leben von fünf Generationen einer Hamburger Familie, in der erweiterten Auflage auch die Bombennächte des Zweiten Weltkriegs einbeziehend. In Hans Hinz Butenbrink (Mchn. 1909) wird das Leben der hanseatischen Gesellschaft u. der Seeleute auf satir. Weise dargestellt. – W. gründete 1919 den Verband Nordmark des Schutzverbands deutscher Schriftsteller. Weitere Werke: Die kleine Lüge. Bln. 1911 (R.). – Nackte Götter. Ebd. 1920 (R.). – Ozean. Roman zwischen gestern u. heute. Lpz. 1937. – Erinnerungen. Bearb. v. Hans D. Loose. Hbg. 1989. Literatur: Kay Dohnke: A. W. In: Steinburger Jb. 30 (1986), S. 305–310. – Rüdiger Schütt (Hg.): Bohemiens u. Biedermänner. Die Hamburger Gruppe 1925 bis 1931. Hbg. 1996. Georg Patzer / Red.

Wittner, Victor, auch: Vivo, * 1.3.1896 Herta/Bukowina (heute: Gerca/Rumänien), † 27.10.1949 Wien; Grabstätte: ebd., Zentralfriedhof. – Lyriker, Dramatiker u. Publizist.

Kaiser u. andere) u. Aphorismen u. d. T. In den Wind gemurmelt in Zeitungen veröffentlichte. Die Lyrik W.s, der bereits als 18-Jähriger anonym den Gedichtband Klüfte, Klagen, Klärungen (Lpz. 1914) veröffentlichte, ist beeinflusst von Expressionismus u. Neuer Sachlichkeit. Sprung auf die Straße (Bln. 1924) steht unter dem Eindruck des Großstadt- u. Naturerlebnisses; mit Hilfe expressionistischer Stilmittel wie der Belebung der Dingwelt gelingt W. die Verfremdung gewohnter Lebenszusammenhänge; inmitten der grotesken (Wiener) Großstadtszenerie eröffnen sich für den Lyriker jedoch Reservate der Geborgenheit; die wahrnehmungspsycholog. Verunsicherung durch die moderne Verkehrstechnik drückt sich in Gedichten wie Fremde Stadt u. Der Schnellzug (beide in: Sprung auf die Straße) aus, neben denen kosmisch-visionäre Verse (z. B. Mitternachts u. Aufschwung und Sturz) stehen. Im Band Der Mann zwischen Fenster und Spiegel (Bln./Wien/Lpz. 1929) setzt W. seine Methode der Kombination von sachl. Beschreibung u. grotesker Verfremdung fort u. ergänzt sie durch die lyr. Verdichtung eines Entrücktheitsgefühls; an die Stelle der cartesian. Einheit von Denken u. Sein tritt in diesen Versen die nüchterne Konstatierung der Ich-Dissoziation.

Der Sohn eines jüd. Arztes übersiedelte 1914 Weitere Werke: Ein Herr Herbst. Kom. in drei zum Medizinstudium nach Wien. Nach dem Krieg lebte er als freier Schriftsteller u. Tagen u. einem Nachsp. Wien/Bln. 1933. Urauff. Theaterkritiker, u. a. als Mitarbeiter der Dt. Volkstheater, Wien 1932. – Drei Tage stumm. »Stunde« u. der »Bühne«, in Wien u. seit 1933 (Kom.). – Die Weiße Weste. 1934 (Kom.). – Alltag der Augen. Sonette. Zürich 1941. – Das 1928 in Berlin, wo er das literar. Magazin Haarpfand. Gedichte aus dem Nachl. Wien 1956. – »Der Querschnitt« (Jahrgänge 9–13, Gedichte. In: Texte des Expressionismus. Hg. Ar1929–33) redigierte. Nach der Machtergrei- min A. Wallas. Linz/Wien 1988, S. 264–268. fung Hitlers kehrte W. nach Wien zurück u. Literatur: Eva Reichmann: V. W., ein deutschverfasste vorwiegend Theaterkritiken. 1938 sprachiger Dichter aus Rumänien. In: Ztschr. der emigrierte er über Prag in die Schweiz u. Germanisten Rumäniens 6 (1997) S. 191–200. wurde Mitarbeiter u. a. beim Berner »Bund«, Armin A. Wallas † / Red. der »Basler National Zeitung« u. der »Neuen Schweizer Rundschau«. Nach 1945 beteiligte Wittstock, Erwin, * 25.2.1899 Hermannsich W., der 1948 nach Wien zurückkehrte, stadt (heute: Sibiu/Rumänien), † 27.12. mit Beiträgen für die Kulturzeitschrift 1962 Bras¸ ov/Rumänien. – Prosaautor. »Plan« u. die »Litterarische Welt« an der kulturpolit. Neuorientierung Österreichs, Der Sohn einer bekannten Intellektuellenfaindem er v. a. expressionistische Autoren vor milie aus Siebenbürgen, die Pfarrer, Lehrer, dem Vergessen zu bewahren suchte (Nachrufe Bürgermeister u. Schriftsteller stellte, beauf Alfred Wolfenstein, Franz Werfel, Georg suchte die dt. Schulen in Schäßburg (rum. Sighis¸ oara) u. Hermannstadt, nahm am Ersten Weltkrieg teil u. wurde nach dem Studi-

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um der Rechtswissenschaften 1931 zum Obernotär beim Hermannstädter Bürgermeisteramt gewählt. Durch die frühen schriftstellerischen Erfolge vom Beamtenberuf abgelenkt, war er seit 1936 freischaffend tätig. 1939 siedelte W. nach Berlin um, um in den Besitz der Tantiemen nach den sich gut verkaufenden Büchern zu kommen, wusste aber Distanz zu der Ideologie der Zeit zu wahren, was sich auch in seinem Umzug nach Hammer am See in Böhmen ausdrückte. Vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs, 1944, kehrte W. nach Siebenbürgen, nach Hermannstadt, zurück; 1945 eröffnete er eine Anwaltskanzlei, die er einige Jahre später schließen musste. Nach dem Tod seiner Frau zog er nach Kronstadt, heiratete dort ein zweites Mal, wechselte zeitweilig in den Schuldienst u. lebte seit 1956 mit einer Rente des rumän. Schriftstellerverbands. W. gilt neben Adolf Meschendörfer als Klassiker der siebenbürgisch-dt. Literatur. Sein erster Sohn, der Schriftsteller Joachim Wittstock, pflegt seinen Nachlass bis heute beispielhaft. Seine ersten Erfolge erreichte W. mit seinen Erzählungen, die siebenbürg. Lokalkolorit, die mehrsprachige Kultursituation u. das Weiterleben einer mittelalterlich anmutenden, trotzdem halbmodernen Welt – eingebettet in das permanente Naturerlebnis der Karpaten, bunt u. mit Humor – präsentierte. Die Loslösung Siebenbürgens von ÖsterreichUngarn u. die Eingliederung dieser Provinz in die lateinisch-balkanische Welt des Königreichs Rumänien wurde von vielen siebenbürg. Lesern als Kulturschock erlebt: Der Autor schuf als Trost u. Hoffnung auf Rettung Gegen- u. Fluchtbilder vor den Bedrohungen, indem er die heitere bäuerl. Welt als autonom u. autark bzw. als sicheren Ort vor der Madjarisierung (die bis 1918 andauerte) u. Rumänisierung darstellte. Die Fabulierlust von W. wurde von den Lebensrealitäten in die Schranken gewiesen; so wechselte W. die Stimmung seiner Texte u. schilderte im Zeitroman Bruder, nimm die Brüder mit! (Mchn. 1934), der zwei Jahre später auch im nationalsozialistischen Eher Verlag (ebd.) veröffentlicht wurde, den Untergang der volksdt. Bauern. Die Kulturkonflikte des Romans sind allerdings von der nationalsozialistischen

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Expansionspolitik als Angriff auf das Deutschtum gedeutet u. als literar. Schützenhilfe verwertet worden. 1936 erhielt W. für die Novellensammlung Die Freundschaft von Kockelburg. Erlebnisse der Sieben (ebd. 1936) den Volksdeutschen Schrifttumspreis der Stadt Stuttgart u. den Preis des Deutschen Auslandsinstituts. Im Zweiten Weltkrieg zog sich W. immer stärker in die innere Emigration zurück u. unterhielt Kontakte zu jüd. Schriftstellern (siehe J. Wittstock in Markel/Motzan). Die Schilderung des Dorflebens erwies sich nach dem Zweiten Weltkrieg im Nachhinein als ein Glücksfall der schriftstellerischen Karriere, denn gerade solche Themen u. Sichtweisen sind von der kommunistischen Kunstpropaganda bevorzugt worden. W. wurde nicht gerade zu einem privilegierten Autor des sozialistischen Realismus, aber doch zu einem, der frei u. unbehelligt publizieren konnte. Unter diesen Umständen wandte er sich sozialen Themen zu, die als literar. Dokument der Kultur u. der gesellschaftl. Probleme der Siebenbürger Sachsen bes. in der DDR Beachtung fanden. Sein Roman über die Deportation der Deutschen aus Kronstadt unmittelbar nach dem Krieg blieb dagegen bis nach der Wende unveröffentlicht (Januar ’45 oder die höhere Pflicht. Bukarest 1998). In ihm wird das Scheitern des älteren u. reichen Protagonisten beschrieben, der seine Familie von der Deportation mit dem Einsatz seines ganzen Vermögens zu retten versucht. Die Erzählungen von W. sind in Rumänien in den dt. Schulen Pflichtlektüre geworden, von denen viele auch ins Rumänische u. manche ins Ungarische übersetzt worden sind. Weitere Werke: Zineborn. Gesch.n aus Siebenbürgen. Hermannstadt 1927. – Die Töpfer v. Agnethendorf. Bukarest 1934 (Schausp.). – Miesken u. Riesken. Mchn. 1937 (E.). – Das Begräbnis der Maio. Lpz. 1937 (N.). – Station Onefreit. Herz an der Grenze. Mchn. 1939 (E.en). – Königsboden. Graz 1941 (E.en). – Der Hochzeitsschmuck. Mchn. 1941. – Die Schiffbrüchigen. Hbg. 1949. – Das Herodesspiel. Graz 1954 (E.). – Siebenbürg. Novellen u. Erzählungen. Bukarest 1955. – Freunde. Ebd. 1956 (E.en). – Die Begegnung. Ebd. 1957 (N.n). – Einkehr. Bln./DDR 1958 (N.n u. E.en). – Der verlorene Freund. Ebd. 1958 (E.en). – Der Viehmarkt v. Wängersthuel. Ebd. 1958. – Der Sohn

495 des Kutschers u. a. E.en. Bukarest 1964. – Das jüngste Gericht in Altbirk. Ebd. 1971 (R.). – Werke in Einzelbänden. Hg. Joachim Wittstock. Bukarest 1979–91 (Zineborn. Erzählungen 1920–1929; Abends Gäste. Erzählungen 1930–1939; Die Schiffbrüchigen. Erzählungen 1940–1962; Das letzte Fest.) – Einkehr. Prosa aus Siebenbürgen. Mchn. 1999. Literatur: Heinrich Zillich: E. W. Werk u. Persönlichkeit. In: Südostdt. Vierteljahresbl. 12 (1963), S. 61–68. – Joachim Wittstock: E. W. Das erzähler. Werk. Cluj-Napoca 1974. – Michael Markel: Aufforderung zur Spurensicherung. Zu dem Band ›Zineborn‹. In: Reflexe 2 (1984), S. 209–212. – Hans Bergel: Der nüchterne Blick für das Reale: E. W. Dreißig Jahre nach seinem Tod. In: Südostdt. Vierteljahresbl. 41 (1992), S. 309–314. – Stefan Sienerth: Vorw. zu: E. W.: Einkehr. Prosa aus Siebenbürgen. Mchn. 1999, S. 5–17. – Olivia Spiridon: Untersuchungen zur rumäniendt. Lit. der Nachkriegszeit. Oldenb. 2002, S. 49–56. – J. Wittstock: E. W. in Dtschld. In: Dt. Lit. in Rumänien u. das ›Dritte Reich‹. Vereinnahmung – Verstrickung – Ausgrenzung. Hg. M. Markel u. Peter Motzan. Mchn. 2003, S. 119–143. – S. Sienerth: Studien u. Aufsätze zur Gesch. der dt. Lit. u. Sprachwiss. in Südosteuropa. Bd. 2, Mchn. 2008, S. 249–266, 325–334. – András F. Balogh: Studien zur dt. Literatur Südosteuropas. Cluj-Napoca/Klausenburg u. Heidelb. 22010, S. 114–115, 211. Johann Sonnleitner / András F. Balogh

Wittstock, Joachim, * 28.8.1939 Hermannstadt/Sibiu (Rumänien). – Lyriker, Essayist, Übersetzer, Literaturwissenschaftler u. Romanautor. Als Sohn des siebenbürgisch-dt. Schriftstellers Erwin Wittstock u. Erbe einer Intellektuellenfamilie fand W. einen geebneten Weg zur Literatur vor: Nach dem Studium der Germanistik u. Rumänistik 1956–1961 in Klausenburg wirkte er zunächst als Lehrer u. Bibliothekar, von 1971 bis zu seiner Pensionierung als wissenschaftl. Mitarbeiter an der Hermannstädter Zweigstelle der Rumänischen Akademie der Wissenschaften, wo er literaturwissenschaftl. Studien betrieb. Ergebnis dieser berufl. Laufbahn sind eine Monografie über Erwin Wittstock (Klausenburg 1974) u. die repräsentative Geschichte der deutschen Literatur Siebenbürgens (2 Bde., Mchn. 1997 u. 1999).

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Die besondere geistige Leistung W.s besteht allerdings in seinen Prosatexten, die fast ausnahmslos die besonderen Probleme der Deutschen aus Siebenbürgen u. aus Rumänien unter dia- u. synchronen Aspekten behandeln. W. weiß die lokale Geschichte in ihrer europ. Verflechtung durch intellektuellphilosophisch begründete Bilder u. Lebensläufe zu präsentieren. Bereits in seinen ersten Texten zeigt sich seine Vorliebe für die aktualisierbaren Fragen der Geschichte; so führt er seine Leser in der Karusselpolka (Klausenburg/Cluj 1978) in das 17. Jh., damit die »eigenartige Doppelbödigkeit« (Gerhard Csejka in: Reflexe II, S. 223) der kommunistischen Ära entdeckt werden kann. Die histor. Parabeln W.s gestalten sich aber dermaßen komplex – beladen mit theolog., kulturgeschichtl. u. geografischen Kenntnissen –, dass diese Romane zgl. als Symbole der menschl. Existenz in einem fremdsprachigen Milieu gedeutet werden können. Nach 1990 wanderte die dt. Bevölkerung Rumäniens in die BR Deutschland aus. W. folgte den Aussiedlern nicht, er blieb in seiner Geburtsstadt, um als »nachdenklicher Zeitgenosse« (Csejka) über das bunte osteurop. Treiben aus Lebensnähe zu berichten. Er behandelte Fragen wie ungewollte Schuld im Krieg (Ascheregen. Klausenburg 1985), Verschleppung der Deutschen u. die damit verbundene Verantwortung (Bestätigt und besiegelt. Roman in vier Jahreszeiten. Bukarest 2003) u. erweckte den Bildungsroman zu einem neuen Leben in der fiktionalisierten Zeugenaussage über die kulturelle Sozialisation jener Generation, die sich ihre europ., klass. Bildung in den schlimmsten kommunistischen Jahren anzueignen versuchte (Die uns angebotene Welt. Jahre in Klausenburg. Bukarest 2007). Besonders wichtig sind seine Essays über die dt.-rumän. kulturellen Interferenzen. W. ist in der siebenbürgisch-dt. u. in der rumän. Kultur besonders geschätzt; in gewisser Hinsicht gilt er als der Erzvertreter der siebenbürgisch-dt. Literatur. Davon zeugen seine Preise: 2002 der Preis des Rumänischen Schriftstellerverbandes Bukarest, der Operaomnia-Preis 2007 des Rumänischen Schriftstellerverbandes, Filiale Hermannstadt u. der Siebenbürgisch-sächsische Kulturpreis 2010.

Witzel Weitere Werke: Botenpfeil. Klausenburg/Cluj 1972. – Blickvermerke. Klausenburg 1976. – Der europ. Knopf. Ffm. 1991. – Historia Annae Kendi. Cluj 1996 (Übers. u. Ed.). – Die dalmatin. Friedenskönigin. Innsbr. 1997. – Scherenschnitt. Beschreibungen, Phantasien, Auskünfte. Hermannstadt/Sibiu 2002. – Einen Halt suchen. Hermannstadt/Sibiu 2009 (Ess.s). Literatur: Bibliografien: Bibliogr. J. W. bis Herbst 1999. In: Germanistische Beiträge der Lucian-Blaga-Univ. Sibiu/Hermannstadt 12 (2000), S. 30–70. – Bibliogr. J. W. 1999–2009, Ausw. In: Schreiben ist zweifellos ein Ziegelrücken. Studien u. Aufsätze zu J. W.s Werk. Sonderbd. der Germanistischen Beiträge der Lucian-Blaga-Univ. Sibiu/ Hermannstadt 25 (2009), S. 173–194. – Weitere Titel: Emmerich Reichrath (Hg.): Reflexe. Krit. Beiträge zur rumäniendt. Gegenwartslit. Bukarest 1977, S. 289–294. – Ders.: Reflexe II. Aufsätze, Rezensionen u. Interviews zur dt. Lit. in Rumänien. Cluj/ Klausenburg 1984, S. 217–237. – András F. Balogh: Zäsur u. Zensur. In: Die Unzulänglichkeit aller philosoph. Engel. FS Zsuzsa Széll. Budapest 1996, S. 69–78. – Carmen Elisabeth Puchianu (Hg.): Erinnern u. Vergessen. Zum identitätsbildenden Beitr. der Deutschsprachigkeit im mittel- u. osteurop. Raum. FS für J. W. Kronstädter Beiträge zur Germanistischer Forschung, Brasov 11 (2009) S. 1–303. András F. Balogh

Witzel, Wicel, Georg, * 1501 Vacha/Werra, † 16.2.1573 Mainz. – Katholischer Theologe. W. war einer der eigentümlichsten Kirchenpolitiker des 16. Jh. Nach schwerer Jugend besuchte der Sohn des Schultheißen Michael Witzel ab Winter 1516 die Universität Erfurt, unterbrach sein Studium u. ging 1521 nach Wittenberg. Auf Verlangen seines Vaters ließ er sich noch im selben Jahr zum Priester weihen, übertrat aber das Zölibatsgebot u. verlor sein Amt. W. ging nach Eisenach u. schloss sich Jakob Strauß an. Dieser verschaffte ihm 1525 eine Pfarrstelle in Lupnitz, die W. infolge des Bauernkriegs wieder verlor. Auf Empfehlung Martin Luthers kam er nach Niemegk. Dort studierte er die Kirchenväter u. hielt sich an den Gedanken der kirchl. Einheit. Da ihm das Gemeindeleben nicht genügte, ging er im Herbst 1531 von Niemegk fort u. wurde, nach einem Aufenthalt im hess. Vacha, wo er die guten Werke

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verteidigte (Pro defensione bonorum operum [...]. Lpz. 1532), im Sommer 1533 von dem altgläubigen Grafen Hoyer von Mansfeld zum Priester in der kleinen kath. Gemeinde im überwiegend evang. Eisleben berufen. Dort erlebte er scharfe Ablehnung u. musste mit Johann Agricola u. Caspar Güttel kämpfen. In dieser Zeit entfaltete W. eine umfangreiche literar. Tätigkeit u. verteidigte seine Position gegen die »lutherische Sekte«. Gegen Justus Jonas schrieb er 1534: »Enderung zum besten kan die Kyrch Gottes wol merleiden, aber enderung zum ergsten krenket sie. Verschütt ist viel, aber yr Sectischen wöllet nichts wider aufflesen helffen [...] auff das es alles ketzernew würde ynn aller welt.« Gegen Luther verfasste W. Katechismen u. griff ihn wegen seiner Bibelübersetzung an. Außerdem schrieb er volkstüml. Schriftauslegungen u. nahm an der kirchl. Tagespublizistik teil. W.s großes Thema war die Wiedervereinigung der Kirchen. Seine schon 1532 entworfene Schrift Methodus concordiae ecclesiasticae ließ er 1537 in Leipzig drucken. Diese Arbeit enthielt sein Programm: u. a. apostolische Grundlage, Verzicht auf jede scholastische Lehre, Reform der kirchl. Bräuche wie des Mönchtums, Priesterehe. Die Schrift erregte Aufsehen. Aus Eisleben 1538 nach Dresden berufen, sollte W. für kirchl. Ausgleich sorgen. Am Leipziger Religionsgespräch 1539 beteiligt, musste er nach dem Tod Herzog Georgs Sachsen verlassen. Kurfürst Joachim II. suchte ihn zu übernehmen, verzichtete aber doch auf seine Mitarbeit. Jahrelang führte W. ein Wanderleben, blieb länger in Fulda, seit 1553 in Mainz. Kontinuierlich war er literarisch tätig. Es liegen von ihm etwa 150 Schriften u. Gutachten vor. Bezüglich seiner Pläne fand er in seiner Kirche kaum Rückhalt. Karl V. reichte er 1544 in Speyer eine Denkschrift ein, unterstützte das Interim u. gab Ratschläge, ›Was der Kaiserliche Hof beachten sollte‹ (Aulae Caesarianae consideranda hoc tempore, Hs.). Auch Kaiser Ferdinand u. Maximilian II. haben W.s Eingaben beachtet, v. a. die Denkschrift Via regia von 1564 (Ed. pr. in: J. Wolf: Lectionum memorabilium [...]. Bd. 2, Lauingen 1600, S. 354–392). Diese wurde noch nach

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100 Jahren von Hermann Conring neu herausgegeben (Helmstedt 1650), als die humanistische Richtung erneut für Toleranz eintrat. Weitere Werke: Apologia [...] wider seine affterreder die Luteristen [...]. Lpz. 1533. – Von der Pusse, Beichte u. Bann [...]. o. O. 1534. – Oratio in laudem hebraicae linguae [...]. Lpz. 1534. – Onomasticon ecclesiae. Die Tauffnamen der Christen, deudsch u. christlich ausgelegt. Mainz 1541. – Diaphora: Das ist, Unterschiedt, zwischen den Uneinigen Parteien der streittigen Religions Sachen [...]. Hdschr. 1556. Ausgaben: Wackernagel 1, S. 835–838; 5, S. 923–931. – Kath. Katechismen des sechzehnten Jh. in dt. Sprache. Hg. Christoph Moufang. Mainz 1881. Nachdr. Hildesh. 1964, S. 107–134 (›Catechismus‹, 1542), 467–538 (›Newer u. kurtzer Catechismus‹, 1560). – Drei Schr.en gegen Luthers Schmalkaldische Artikel v. Cochläus, W. u. Hoffmeister [...]. Hg. Hans Volz. Münster 1932, S. 65–115. – Defensio doctrinae de bonis operibus (zuerst 1532). Köln 1549. Internet-Ed. in: The Digital Library of the Catholic Reformation (http:// solomon.dlcr.alexanderstreet.com//). – Confutatio calumniosissimae responsionis Iusti Ionae [...] (zuerst Lpz. 1533). Köln 1549. Internet-Ed. in: ebd. – Epistolarum [...] libri quatuor. Lpz. 1537. Internet-Ed. in: CAMENA (Abt. CERA). – Historiarum de divis tam Veteris quam Novi Testamenti [...] liber unus [...]. Basel 1557. Internet-Ed. in: CAMENA (Abt. Thesaurus). – Internet-Ed. etlicher Werke in: VD 16. Literatur: Bibliografien: Gregor Richter: Die Schr.en G. W.s. [...]. Fulda 1913. – Klaiber, S. 307–315. – Henze, S. 306–411 (Verz. der Drucke u. Hss.). – Schmidt, Quellenlexikon, Bd. 34, S. 54 f. – VD 16. – Weitere Titel: Räß, Convertiten, Bd. 1, S. 123–184 (mit Werkverz. u. Ed. der ›Apologia‹). – Paul Tschackert: G. W. In: ADB. – Gustav Kawerau: G. W. In: RE. – Robert Stupperich: Der Humanismus u. die Wiedervereinigung der Konfessionen. Lpz. 1936. – Friedrich Wilhelm Kanzenbach: Im Ringen um die Einheit der Kirche. Stgt. 1956. – John Patrick Dolan: The influence of Erasmus, W. and Cassander. Münster 1957. – Winfried Trusen: Um die Reform u. Einheit der Kirche [...]. Münster 1957. – Manfred Fleischer: Kath. u. luth. Ireniker. Gött. 1968. – Irmgard Höss: G. W. In: Contemporaries. – Remigius Bäumer: G. W. In: Kath. Theologen der Reformationszeit. Hg. Erwin Iserloh. Bd. 1, Münster 1984, S. 125–132. – Barbara Henze: Aus Liebe zur Kirche Reform. Die Bemühungen G. W.s (1501–1573) um die Kircheneinheit. Münster 1995. – Erika Rummel: From Boccaccio to

Wizlav der Junge W. An appeal to study the sources. In: Renaissance Quarterly 51 (1998), S. 1330–1335. – Heribert Smolinsky: Sprachenstreit in der Theologie? Latein oder Deutsch für Bibel u. Liturgie. Ein Problem der kath. Kontroverstheologen des 16. Jh. In: Latein u. Nationalsprachen in der Renaissance. Hg. Bodo Guthmüller. Wiesb. 1998, S. 181–200. – Peter O. Müller: Dt. Lexikographie des 16. Jh. [...]. Tüb. 2001, Register. – Michael Höhle: Univ. u. Reformation. Die Univ. Frankfurt (Oder) v. 1506 bis 1550. Köln u. a. 2002, Register. – Im Dienst um die Einheit u. die Reform der Kirche. Zum Leben u. Werk G. W.s. Hg. Karlheinz Diez u. a. Ffm. 2003. – Ute Mennecke-Haustein: G. W. In: TRE (Lit.). – Adalbert Böning: G. W. (1501–1573) als Hebraist u. seine Lobrede auf die Hebräische Sprache. Schwerte 2004 (mit Ed.). – Kai Bremer: Religionsstreitigkeiten. Volkssprachl. Kontroversen zwischen altgläubigen u. evang. Theologen im 16. Jh. Tüb. 2005, Register. – Anthony Ruff: G. W. In: MGG, Bd. 17 (Pers.), Sp. 1060 f. – Regina Toepfer: Pädagogik, Polemik, Paränese. Die dt. Rezeption des Basilius Magnus im Humanismus u. in der Reformationszeit. Tüb. 2007, Register. – Daniel Gaschick: Witzelt Cassander? Der Briefw. zwischen Georg Cassander (1513–1566) u. G. W. (1501–1573). In: Kirchengesch., Frömmigkeitsgesch. Landesgesch. FS Barbara Henze. Remscheid 2008, S. 97–114. – Christoph Melchior: Altes u. Neues Testament ›kurtz begriffen‹. Bibl. Grundwissen für ein christl. Leben in G. W.s ersten beiden Katechismen. In: Orientierung für das Leben [...]. FS Manfred Schulze. Hg. Patrik Mähling. Bln./Münster 2010, S. 186–200. Robert Stupperich † / Red.

Wizlav der Junge, auch Wizlaw, oft gleichgesetzt mit Fürst Wizlaw III. von Rügen. – Minnesänger u. Sangspruchdichter des 13./14. Jh. Die Minnelieder u. Sangsprüche W.s wurden nachträglich – vielleicht um 1350 – in die Jenaer Liederhandschrift eingefügt u. mit Melodien versehen. Das Œuvre ist durch Blattverlust unvollständig. Da W.s Liedkorpus ohne die in dieser Handschrift übliche Verfassernennung nachgetragen wurde, kann der Zusammenhang von Text u. Dichter nur über die dreimalige Erwähnung eines »Wizlav« bzw. »Wizlav den junghen« hergestellt werden. Deshalb ist auch nicht sicher, ob alle W. zugewiesenen Strophen tatsächlich auf ihn zurückgehen. Aufgrund der schwierigen Überlieferung variieren die Angaben zum

Wizlav der Junge

Gesamtwerk. Die maßgebl. Editoren der Texte – Thomas/Seagrave (1967) u. Werg (1969) – gehen von 14 bzw. 13 Minneliedern sowie 13 Sangsprüchen aus, Wachinger (1999) zählt hingegen nach Strophen: 43 vollständige u. vier fragmentarische. Niederdeutsche Sprachformen in den ansonsten mitteldt. Texten W.s sowie eine Lobstrophe auf einen holsteinischen Herrn weisen auf einen Dichter niederdt. Herkunft hin. Sein Werk lässt sich zeitlich eingrenzen durch die Nachahmung König Wenzels II. von Böhmen (1251–1305) in der zweiten Strophe W.s u. die Niederschrift der Lieder in der Mitte des 14. Jh. Unsicherheiten bestehen ebenfalls für die frühe Rezeptionsgeschichte: Es muss offen bleiben, ob die namentl. Nennungen eines »W.« durch die Nürnberger Meistersinger Hans Folz u. Konrad Nachtigall wirklich den Dichter der Jenaer Liederhandschrift meinen u. somit dessen Lieder bzw. Töne im ausgehenden MA noch bekannt waren (Brunner 1989, S. 12). Das Interesse an W. seit dem frühen 19. Jh. geht weniger auf Außergewöhnliches in seinem Werk zurück, sondern mehr auf die Identifikation des Dichters mit dem Rügenfürsten Wizlaw III. – diese Gleichsetzung bestimmt einen großen Teil der wissenschaftl., literar. u. musikal. Forschungsdiskussion. Die spätmittelalterl. Geschichtsschreibung aus Mecklenburg u. Pommern – wie die Reimchronik des Ernst von Kirchberg, die Stralsundischen Stadtbücher oder die Ribnitzer Klosterchronik – berichten zwar über den Rügenfürsten, kennen ihn aber nicht als Dichter. In der ersten vollständigen Ausgabe von W.s Liedern u. Sprüchen mit niederdt. Übertragung von 1831 warf Ludwig Ettmüller die Frage auf, in welcher Sprache W. gedichtet habe, da die Lieder in Mitteldeutsch überliefert sind, der vermutete Verfasser, Fürst Wizlaw, hingegen aus dem niederdt. Sprachraum stammt. Nach einer mitteldt. Ausgabe der Minnelieder W.s durch Friedrich Heinrich von der Hagen 1838 u. einer weiteren niederdt. Übertragung einer Strophe W.s durch Jacob Grimm 1849 (Helpet mi scallen hundert dûsent vroiden mêr) übertrug Ettmüller das Werk nochmals vollständig ins Nieder-

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deutsche (1852) u. stellte damit die lange Zeit gültige Edition her. Die neueste Untersuchung zur Sprache W.s von Reinhard Bleck (2000) geht nach einem Vergleich mit Urkunden, die in der Kanzlei des Rügenfürsten Wizlaw III. ausgefertigt wurden, davon aus, dass »W.s poetische Sprache [...] eine Mischung aus literarischem Hochdeutsch und gesprochenem Niederdeutsch zu etwa gleichen Teilen« war (S. 152). Aus den Texten W.s spricht ein über die zeitgenössischen lyr. Kontroversen gut informierter Dichter, der einerseits Anleihen aus Liedern Anderer aufnimmt, andererseits auch antike u. bibl. Stoffe verarbeitet. Ihre Inhalte erschließen sich teilweise schwer aufgrund der Sprache. In den Sprüchen überwiegen heilsgeschichtl. Themen, verfasst als Preislieder auf den allwissenden Gottvater bzw. die hl. Maria oder als Gebete. Darunter fällt auch eine Auslegung des Traums des Nebukadnezars (Buch Daniel 2) nach dem Vorbild des Marner. Daneben dichtete W. mehrere moralische Lieder, die vor übler Nachrede, falschen Ratgebern u. Wollust warnen. So berichtet er im vierten Spruch von einem röm. Ritter, der ein Feuerloch durch sein Todesopfer verschließt, dafür aber ein Jahr lang jegl. Sinnesfreuden nachgehen durfte (Jovinussage). Mit einem bisher noch nicht überzeugend aufgelösten Rätsel lehnt W. sich an Strophe 220 des Reinmar von Zweter an u. entspricht damit der Vorliebe seiner (höfischen) Rezipienten für ästhetische wie auch intellektuelle Lehr- u. Rätseldichtung (mögl. Lösungen: hoher Mut, Herz, Blut). Politische Inhalte spart W. fast gänzlich aus, wenn man von dem Preislied auf einen »herren von holsten« absieht, in dem dessen Ehre u. Tugenden gelobt werden. Dabei soll es sich um einen holsteinischen Grafen handeln (zu den diversen Identifizierungsversuchen siehe Bleck 2000, S. 31–43). In über der Hälfte seiner Minnelieder spielt W. mit der Jahreszeitenmetaphorik, u. a. nach den Vorbildern des Gottfried von Neifen u. des Steinmar. Dabei räumt er der Klage über die unerfüllte Minne ebenso Raum ein wie der Hoffnung, dass seine Sehnsüchte erfüllt werden. W. lässt sein Publikum nicht im Unklaren darüber, was er in seinen Liedern

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begehrt: Obwohl er dem Winter nicht viel abgewinnen könne, weil sich wegen ihm die Frauen in viele Tücher hüllen müssten, lobt er die Länge der Winternächte; im zehnten Minnelied, einem Mailied, drückt er die Hoffnung aus, endlich mit seiner Geliebten das Bett teilen zu dürfen. Daneben gehört zu W.s Œuvre auch ein Tagelied, in dem der Abschied von einer heiml. Geliebten besungen wird, u. das in der Forschung oft besprochene Preislied auf einen mutmaßl. Dichterkollegen oder Lehrer, den Ungelehrten, der eine sehr schöne »sehende Weise« erdichtet habe. Ihm wolle W. nacheifern, um seine Lieder Männern u. Frauen mit feinem Kunstverstand vortragen zu können. Lange Zeit fiel das Urteil über die Töne W.s – er verwendete für seine Sangsprüche überwiegend Da-capo-Formen u. für seine Minnelieder die gattungstypische Kanzonenstrophe – sehr verhalten aus. Im Vergleich mit zeitgenöss. Vorbildern sei er wenig kreativ, sogar unbeholfen gewesen. Jüngste Forschungen haben hingegen versucht, die reduzierte Form der Kompositionen als eine gelungene Tendenz zur Einfachheit bzw. zum sich formenden Volkslied herauszustellen (Amtstätter 2002). Über den Rügenfürsten Wizlaw III. als Mäzen – nicht als Dichter – berichten zwei zeitgenöss. Sänger: Frauenlob u. Goldener (Bumke 1979, S. 636 u. 642). Frauenlob preist allgemein die Tugenden W.s u. dessen »engels mu8 t« zu guten Werken; Goldner zählt die Tugenden im Einzelnen auf: Treue, Keuschheit, Züchtigkeit, Freigebigkeit u. Mäßigkeit. Neben Wizlaw werden um 1300 u. a. auch die niederdt. Herzöge von Pommern-Stettin, die von Mecklenburg u. die von Schleswig als Mäzene von fahrenden Dichtern gewürdigt. Wizlaw III., um 1265 als ältester Sohn seines gleichnamigen Vaters u. dessen Gemahlin Herzogin Agnes von Braunschweig-Lüneburg geboren, starb am 8.11.1325 u. wurde im Zisterzienserkloster Neuenkamp (Franzburg) bestattet. Er war in erster Ehe mit einer Margarete unbekannter Herkunft verheiratet, in zweiter Ehe mit Agnes, der Tochter des Grafen Ulrich I. von Lindow-Ruppin (nicht Tochter des Grafen Günter! Heinrich 1961, S. 106–113). Wizlaws

Wizlav der Junge

jüngerer Bruder Jaromar erhielt, da er für den geistl. Stand bestimmt war, eine schulische Ausbildung. Er wurde Rektor der Stralsunder Pfarrkirche St. Nikolai u. 1289 schließlich zum Bischof von Kammin gewählt. Darüber hinaus sind Wizlaw u. seine Familie durch eine engagierte Pflege der dt. Sprache u. Literatur hervorgetreten. So werden unter seiner Regierung erstmals neben lat. auch dt. Urkunden in der fürstl. Kanzlei ausgefertigt. Seine Mutter Agnes, die zeitweise im Quedlinburger Stift ausgebildet wurde, stammte von dem literarisch interessierten Hof der Herzöge von Braunschweig-Lüneburg, an dem nachweislich der Romandichter Bertold von Holle wirkte u. dessen Werk von Agnes’ Bruder, Herzog Johann I., angeregt wurde. Im Umfeld dieses Hofes entstand zum Ende des 13. Jh. die anonyme Braunschweigische Reimchronik. Ein anderer Bruder Agnes’, Herzog Albrecht I., wird von den Meisterdichtern Rumelant von Sachsen u. dem Tannhäuser als Mäzen gerühmt. Im Auftrag von Wizlaws Schwester Eufemia, die mit dem späteren norwegischen König Håkon Magnusson verheiratet war, wurden für den künftigen Gemahl ihrer Tochter, den schwed. Herzog Erik Magnusson von Södermanland, drei Versromane ins Schwedische übertragen: Herra Ivan lejonriddaren (nach einer frz. Vorlage, 1303), Hertig Fredrik av Normandie (nach einer dt. Vorlage, 1308) u. Flores och Blanzeflor (nach einer norweg. Vorlage, 1312). Sie sind heute unter dem Namen Eufemiavisor, Lieder der Eufemia, bekannt. Deutsche Vorbilder, die über den Hof der Eufemia ihren Weg nach Skandinavien gefunden haben, prägen die Sprache u. Form dieser Werke. Eine zeitgenöss. Chronik, die Erikskrönika, berichtet von Eufemia u. a., dass sie sich aus frz. Werken vorlesen ließ. Die Erikskrönika wurde stilistisch nicht nur von den Eufemiavisor, sondern auch durch die Braunschweigische Reimchronik beeinflusst. Weil diese Hinweise eine in Bildung u. Literatur gleichermaßen fördertätige Familie erkennen lassen, setzten Literaturhistoriker des 19. Jh. Wizlaw III. mit dem Dichter W. gleich u. fügten ihn in jenen Kreis zeitgenöss. Fürsten ein, die Lorbeeren durch ihr Dichten erworben haben – wie z. B. König Wenzel II.

Wizlav der Junge

von Böhmen, Markgraf Heinrich III. von Meißen, Herzog Heinrich IV. von Breslau (Autorschaft unsicher) u. Markgraf Otto von Brandenburg mit dem Pfeil. Letzteren kannte Wizlaw persönlich. Basilius Wiedeburg, der die Jenaer Liederhandschrift 1754 erstmals ausführlich beschrieb, ordnete W. noch keine Texte zu, erwähnt ihn aber als den »iungen von Rivien Her Wizlau«, der durch Konrad von Würzburg als Mäzen gefeiert worden sein soll (S. 49). Erst Bernhard J. Docen (1809) äußerte die Vermutung, W. könne identisch mit dem Rügener Fürsten sein; Friedrich Heinrich von der Hagen führte durch eine umfangreiche Materialsammlung zu Wizlaws Biografie diese Überlegungen aus. Auf ihn geht die Vermutung zurück, dass der ansonsten unbekannte Meister »Ungelarde« (der Ungelehrte), der sich in der Hansestadt Stralsund niedergelassen hatte, W.s Lehrmeister gewesen sei – eine Verbindung zwischen dem genannten Lied u. dem Stralsunder konnte allerdings nicht nachgewiesen werden. Jüngere Arbeiten stehen diesen Konstruktionen kritisch gegenüber (im Überblick: Bleck 2000, S. 25–30). Der Greifswalder Historiker Karl Theodor Pyl publizierte 1872 die erste nhd. Übertragung der Texte, der wenig später eine Dichterbiografie von Kuntze folgte. Beide Publikationen trugen maßgeblich zur Verbreitung der Texte u. zur regionalen Identifikation mit dem »Dichterfürsten« Wizlaw von Rügen bei, die z. T. bis heute von einem regionalpatriotischen Pathos getragen wird: »Wenn sein Werk auch nur eine späte Blüte am Wunderbaume mittelhochdeutscher Dichtung war, so hat er doch dadurch auch der Ostseeküste einen Anteil erworben an jener einzigartigen Ruhmeszeit deutschen Geistesleben, die in Walther von der Vogelweide, Wolfram von Eschenbach und dem Nibelungenliede ihre leuchtendste Verklärung findet« (Gülzow 1922, S. 26). Zu diesem Dichterfürsten entstanden ein Trauerspiel aus der Feder des Stralsunder Dichters Heinrich Kruse (Lpz. 1881), ein vierstrophiges Lobgedicht von Carl Gustav von Platen (Rügenscher Heimat-Kalender 1930, S. 43), Kalenderblätter (Rugia-Journal 1997, S. 22 f.) u. zuletzt ein Singspiel von Lothar Jahn u. Peter Will: W. der

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Verführer – Sänger und Herrscher auf Rügen (2003, www.wizlaw.de). Die Lieder Maiensonne u. Trost im Winter fanden Aufnahme in einem heimatkundl. Lesebuch von Paul Elsholz u. Paul Hoffmann: Aus niederdeutschen Herzen. Heimatbuch für Pommern (1925, S. 70 u. 78). Noch beeindruckender ist die Resonanz von W.s Œuvre im Musikalischen. Mit der ersten Übertragung der mittelalterl. Notenbilder aus der Jenaer Handschrift in die gegenwärtige Form durch von der Hagen 1838 begann eine nicht versiegende Begeisterung für die Lieder W.s., die u. a. bei Rochus von Liliencron u. Wilhelm Stade (Lieder und Sprüche aus der letzten Zeit des Minnesangs. Weimar 1854), bei Hans J. Moser (Geschichte der deutschen Musik. Bd. 1, Stgt. 1930) u. in verschiedenen Volksliederbüchern (für Männerchor: Hg. auf Veranlassung Kaiser Wilhelms II. 2 Bde., Lpz. 1907; für gemischten Chor: Hg. auf Veranlassung Kaiser Wilhelms II. 2 Bde., Lpz. 1915) Niederschlag fand. Das Paradoxon dieser Rezeption liegt in der kuriosen Verbindung von heimatverbundenem Stolz mit deprimierenden kulturellen Zuschreibungen: »Doch es ist schon erstaunlich, daß im Norden Deutschlands, in unserer Heimat, ein damals bekannter Dichter gelebt hat« (Krüger 2005, S. 272). Ausgaben (siehe auch »Jenaer Liederhandschrift«): Basilius C. B. Wiedeburg: Ausführl. Nachricht v. einigen alten teutschen poet. Manuscripten aus dem dreyzehnden u. vierzehenden Jahrhunderte [...]. Jena 1754, S. 42 f. – Eyn aldt Meister Gesangbuch auf dem Pergament. In: Samlung dt. Gedichte aus dem XII. XIII. u. XIV. Iahrhundert. Hg. Christoph H. Müller, Bd. 2, Bln. 1785, S. 29. – Ludwig Ettmüller (Hg.): Lieder v. Wizlau aus Pommern. Jena 1831 (Denkmæler sassischer sprâche, 1). – Friedrich Heinrich v. der Hagen (Hg.): Minnesinger. Gesch. der Dichter u. ihrer Werke. Bd. 3, Lpz. 1838, S. 78–85. – Jacob Grimm: Darf. In: Ztschr. für dt. Alterthum 7 (1849), S. 452–455. – L. Ettmüller (Hg.): Des Fürsten v. Rügen Wizlâw’s des Vierten Sprüche u. Lieder in niederdt. Sprache. Quedlinb./Lpz. 1852. Nachdr. Amsterd. 1969. – [Karl] Theodor Pyl: Lieder u. Sprüche des Fürsten Wizlaw v. Rügen. Greifsw. 1872. – Erich Gülzow (Hg.): Des Fürsten Wizlaw v. Rügen Minnelieder u. Sprüche. Greifsw. 1922. – Wesley Thomas u. Barbara Garvey Seagrave (Hg.): The Songs of the Minnesinger, Prince W. of Rügen.

501 Chapel Hill 1967 (mit Melodien, engl. Übertragung u. kommentierter Bibliogr.). – Sabine Werg: Die Sprüche u. Lieder W.s v. Rügen Untersuchung u. krit. Ausg. der Gedichte. Stgt. 1969. – Reinhard Bleck: Untersuchungen zur sog. Spruchdichtung u. zur Sprache des Fürsten Wizlaw III. v. Rügen. Göpp. 2000, S. 8–15, 46–57, 62–78. – Dt. Lyrik des späten MA. Hg. Burghart Wachinger. Ffm. 2006, S. 432–439, 902–907 (vier ausgew. Stücke). Literatur: Ein aktuelles, wenn auch unvollständiges Literaturverzeichnis bei Bleck 2000, S. 169–174 (siehe Ausg.). – Bernhard J. Docen: Versuch einer vollständigen Lit. der älteren Dt. Poesie [...]. In: Museum für Altdt. Lit. u. Kunst 1 (1809), S. 126–234. – Friedrich Gennrich: Zu den Melodien W.s v. Rügen. In: ZfdA 80 (1944), S. 86–102. – Wilfried Seibicke: ›wizlau diz scrip‹, oder: Wer ist der Autor von J, fol. 72v-80v ? In: Nd. Jb. 101 (1978), S. 68–85. – Joachim Bumke: Mäzene im MA. Die Gönner u. Auftraggeber der höf. Lit. in Dtschld 1150–1300. Mchn. 1979. – Horst Brunner: Dichter ohne Werk. Zu einer überlieferungsbedingten Grenze mittelalterl. Literaturgesch. In: Überlieferungsgeschichtl. Ed.en u. Studien zur dt. Lit. des MA. Kurt Ruh zum 75. Geburtstag. Hg. Konrad Kunze u. a. Tüb. 1989, S. 1–31. – Birgit Spitschuh: W. v. Rügen. Diss. Greifw. 1989. – RSM 5 (1991), S. 575–578. – Tomas Tomasek: Das dt. Rätsel im MA. Tüb. 1994, S. 299 f. – Elisabeth Hages: ›snel hel ghel scrygh ich dinen namen‹. Zu W.s Umgang mit Minnesangtraditionen des 13. Jh. In: Lied im dt. MA. Überlieferung, Typen, Gebrauch. Hg. Cyril Edwards u. a. Tüb. 1996, S. 157–176. – Wolfgang Spiewok: W. v. Rügen. Ein erster pommerscher Dichter. In: Ders.: Mittelalterl. Lit. up plattdütsch. Greifsw. 1998, S. 52–64. – Burghart Wachinger: W. In: VL. – Mark E. Amtstätter: ›Ihc wil singhen in der nuwen wise eyn let‹. Die SubStrophik W.s v. Rügen u. die Einheit v. Wort u. Ton im Minnesang. In: PBB 124 (2002), S. 466–483. – H. Brunner: W. In: MGG 2. Aufl. Personentl. Bd. 17, Sp. 1061 f. – Stephan Sehlke: Pädagogen – Pastoren – Patrioten. Biogr. Hdb. zum Druckgut für Kinder u. Jugendliche v. Autoren u. Illustratoren aus Mecklenburg-Vorpommern. Norderstedt 2009, S. 413. – Ausführliche biografische Darstellungen zu Wizlaw III. und zu seinen Geschwistern: Carl G. Fabricius: Urkunden zur Gesch. des Fürstenthums Rügen unter den eingeborenen Fürsten. Bd. 4, Bln. 1858–69: Abt. 1, S. 77–119; Abt. 2, S. 57–103; Abt. 3, S. 79–135; Abt. 4, S. 99–129. – Otto Fock: Rügensch-Pommersche Gesch.n aus sieben Jahrhunderten. Bd. 3, Lpz. 1865, S. 1–68. – Franz Kuntze: Wizlaw III. Der letzte Fürst v. Rügen. Halle 1893. – [K.] T. Pyl: W. In: ADB. – Martin Wehrmann:

Wobeser Jaromar v. Rügen als Elektus v. Kammin (1289–1294). In: Pommersche Jbb. 20 (1920), S. 121–139. – Gerd Heinrich: Die Grafen v. Arnstein. Köln/Graz 1961. – Ursula Scheil: Zur Genealogie der einheim. Fürsten v. Rügen. Köln u. a. 1962. – Wilhelm Steffen: Kulturgesch. v. Rügen bis 1815. Köln u. a. 1963, S. 47–64. – Thomas/Seagrave (s. Ausg.). – Stefanie Würth: Eufemia. Dt. Auftraggeberin schwed. Lit. am norweg. Hof. In: Arbeiten zur Skandinavistik. Hg. Fritz Paul. Ffm. u. a. 2000, S. 269–281. – Fritz Petrik: Rügens Fürstentochter Eufemia u. ihre Lieder. In: Rugia-Journal 2001, S. 32–37. – Manfred Krüger: Wizlaw III. v. Rügen, der fürstl. Dichter. In: Stadt Barth 1255–2005. Beiträge zur Stadtgesch. Hg. Jörg Scheffelke u. Gerd Garber. Schwerin 2005, S. 269–273. – Ingrid Schmidt: Die Dynastie der Rügenfürsten. Rostock 2009, S. 90–93, 105 f. – Sven Wichert u. Fritz Petrick: Rügens MA u. Frühe Neuzeit 1168–1648. Putbus/Rügen 2009 (Rügens Gesch. v. den Anfängen bis zur Gegenwart, 2), S. 58–61. – Marlis Zeus: Königin Eufemia v. Norwegen u. die frühe skandinav. Lit. Von den Runen zu den ›Eufemiavisor‹. Karlsr. 2009. – Matthias Herweg: Weibl. Mäzenatentum zwischen dynast. Bestimmung, polit. Kalkül u. höf. Memoria. In: LiLi 159 (2010), S. 9–34. – Roswitha Wisniewski: Wizlav III., Rügenfürst u. Minnesänger. In: Insel im pommrischen Meer. Beiträge zur Gesch. Rügens. Hg. Irmfried Garbe u. Nils Jörn. Greifsw. 2011, S. 15–22. Mario Müller

Wobeser, Wilhelmine Karoline (von), geb. von Rebeur, * 1769 Berlin, † 1807 Gut Wirschen bei Stolpe. – Romanautorin. W. stammte aus einer aufgeklärten hugenott. Familie – ihr Vater war kgl.-preuß. KammerPräsident –, heiratete 1797 den kgl.-preuß. Hauptmann Friedrich von Wobeser, der dem literar. Interesse seiner Frau vermutlich ablehnend gegenüberstand. Mit ihrem anonym erschienenen einzigen Roman Elisa oder das Weib wie es seyn sollte (Lpz. 1795) erzielte sie großen Erfolg bei Publikum u. Kritikern, gab ihre Identität aber nicht preis. Trotz der Anregungen ihres Verlegers Heinrich Gräff unterließ sie unter Hinweis auf »eheliche Pflichten« und »Schwangerschaft« eine Neubearbeitung des Textes. Elisa wurde in mehrere Sprachen übersetzt u. provozierte eine Fülle von »Seitenstücken« (u. a. von Christian Friedrich Traugott Voigt),

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Gegenschriften u. Fortsetzungen, die zumeist das spätaufklärerische weibl. Tugendideal karikieren, das im Roman vertreten wird: Auf Betreiben der Mutter u. aus finanziellen Gründen verzichtet Elisa von Hohenau auf ihren Jugendgeliebten u. heiratet einen viel älteren, erzkonservativen Landadligen, dessen Launen u. erot. Eskapaden sie geduldig erträgt u. dessen unsolides Wirtschaften sie ausgleicht. Schließlich gelingt es ihr, sein Verhalten zu disziplinieren. Einzig über die Erziehung ihres Sohns streitet sie – erfolglos – mit ihrem Ehemann. Der Sohn, von frühester Jugend an im Internat erzogen, gerät in schlechte Gesellschaft u. macht Spielschulden. Elisa stirbt, um ihre vollkommene Tugendhaftigkeit wissend, aber mit Zweifeln an der Unsterblichkeit der Seele. Mit dem weibl. Verhaltenskodex, der die Frau als unveränderlich tugendhaft, altruistisch u. standhaft zeigt, führt der Roman ein perfektioniertes Exempel für jene polare Geschlechtercharakteristik vor, wie sie in männlich dominierten theoret. Diskursen um 1800 vertreten wird. Ausgabe: Elisa. Lpz. 31798 (mit einem Vorbericht des Verlegers Heinrich Gräff). 41799 (mit sechs Kupferstichen). Neudr. mit Nachw. v. Lydia Schieth. Hildesh./Zürich/New York 1990. Literatur: Goedeke 6. – Volker Hoffmann: Elisa u. Robert oder das Weib u. der Mann wie sie sein sollten. Anmerkungen zur Geschlechter-Charakteristik der Goethezeit. In: Klassik u. Moderne. Hg. Karl Richter u. Jörg Schönert. Stgt. 1983, S. 80–97. – Lydia Schieth: Die Entwicklung des dt. Frauenromans im ausgehenden 18. Jh. Ffm./Bern/New York 1987. – Claudia Honegger: Die Ordnung der Geschlechter. Ffm./New York 1991, S. 35–45. – Hee-Kyung Kim-Park: Mutter-Tochter-Beziehungen in den Romanen v. Frauen im ausgehenden 18. Jh. Königst./Ts. 2000. Ursula von Keitz / Red.

Wölfel, Ursula, * 16.9.1922 Duisburg. – Kinder- u. Jugendbuchautorin. Die Tochter eines Musikers studierte Germanistik in Heidelberg u. Frankfurt/M. Sie absolvierte zudem eine Lehrerausbildung in Jugenheim u. Darmstadt, wo sie einige Jahre als Assistentin arbeitete. 1955–1958 war sie Sonderschullehrerin in Darmstadt. Seit 1961 lebt sie als freie Schriftstellerin im Odenwald.

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W.s Kinderbücher gestalten kindl. Leben u. Erleben in einer als übermächtig erscheinenden Umwelt. Dabei versucht sie, die seel. Befindlichkeit von Kindern zu erforschen. Gelungen ist ihr das in der Erzählung Sinchen hinter der Mauer (Düsseld. 1960. Ravensburg 17 1990). In Der rote Rächer (Düsseld. 1959. Hbg. 2006), Feuerschuh und Windsandale (Düsseld. 1961. Hbg. 2005) u. Mond, Mond, Mond (Düsseld. 1962. Mchn. 2000) suchen Einzelne oder Gruppen sich in einer widrigen Gegenwart zu behaupten. W. sieht sich auf der Seite der Unterlegenen, Zukurzgekommenen u. Ausgegrenzten. Daneben schrieb W. seit Ende der 1960er Jahre unterhaltende u. auf unausdrückl. Weise belehrende, von ihr sog. »Lach-, Suppen- und Sachgeschichten« (30 Geschichten von Tante Mila. Ebd. 1977. Stgt./ Wien 1990). Die Kurzgeschichten Die grauen und die grünen Felder (Mülheim 1970. Weinheim/Basel 2004) wurden zu einem Vorbild der realistischen Kindergeschichten der frühen 1970er Jahre. W. brach in dieser Sammlung mit überkommenen inhaltl. u. formalen Traditionen u. sprach Themen wie das Leben in der Dritten Welt, Behinderung, Streit u. Konflikt an. Der Roman Jakob, der ein Kartoffelbergwerk träumte (Kevelaer 1979. U. d. T. Jacob, Leinewebersohn, geb. 1821. Mchn. 1989. U. d. T. Jacob unterwegs. Ebd. 2004) spielt vor dem Hintergrund der Restaurationsphase des frühen 19. Jh. u. berichtet von polit. Emanzipation u. sozialen Kämpfen des Vormärz. Die Glückskarte (Düsseld. 1987), angesiedelt am Ende des letzten Jahrhunderts, beschreibt das Aufeinandertreffen zweier Epochen im Gegensatz zwischen Vater u. . Sohn. Für ihr Gesamtwerk erhielt W. 1991 den Sonderpreis des Deutschen Jugendliteraturpreises. Weitere Werke: Ausgabe: Das U.-W.-Lesebuch. 114 Gesch.n zum Lachen u. Staunen. Mchn. 2003. – Einzeltitel: Joschis Garten. Düsseld. 1965. Stgt. 2010. – Hannas Reise. Mchn. 1989. 1998. – Ein Haus für alle. Stgt. 1991. 2008. – Vom Apfelhäuschen u. elf andere winzige Gesch.n. Ebd. 1996. – Von der Zaubermütze u. elf andere winzige Gesch.n. Ebd. 1996. – Morgenkind. Gesch.n zum Vorlesen. Ebd. 1997. Neuaufl. u. d. T. Gesch.n vom Morgenkind. 2010. – Das schönste Martinslicht. Ebd. 2003. 2010.

503 Literatur: Theodor Karst: Dargestellte Wirklichkeit: ›Die grauen u. die grünen Felder‹ v. U. W. In: Erfolgreiche Kinder- u. Jugendbücher. Hg. Bernhard Rank. Baltmannsweiler 1999, S. 23–42. – Gundel Mattenklott: U. W. In: LGL. Winfred Kaminski / Red.

Wölfflin, Heinrich, * 21.6.1864 Winterthur, † 19.7.1945 Zürich; Grabstätte: Basel, Wolfgottesacker. – Kunsttheoretiker u. Kunsthistoriker. W., einer der wichtigsten u. einflussreichsten Kunsttheoretiker u. Kunsthistoriker seiner Zeit, war der Sohn des Altphilologen Eduard Wöfflin (1831–1908), der als Initiator u. Herausgeber des monumentalen Thesaurus linguae latinae bekannt wurde. W. wuchs in Erlangen u. München auf. Seit 1882 studierte er in München v. a. Philosophie u. Psychologie; einige Semester verbrachte er an den Universitäten Basel u. Berlin. 1886 wurde er in München mit den Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur (Mchn. 1886. Nachw. Jasper Cepl. Bln. 1999) promoviert. Für die Kunstgeschichte entschied er sich erst spät, auf einer Reise nach Italien u. Griechenland. 1888 habilitiert, wurde W. 1893 Nachfolger von Jacob Burckhardt auf dem Basler Lehrstuhl für Kunstgeschichte. 1901 erhielt er einen Ruf nach Berlin, 1912 nach München; 1924–1934 lehrte er an der Universität Zürich. 1910 wurde W. als erster Kunsthistoriker in die Preußische Akademie der Wissenschaften aufgenommen; seit 1933 war er Ritter des Ordens Pour le mérite. W. hatte zahlreiche namhafte Schüler, von denen Paul Frankl der bedeutendste gewesen sein dürfte. Im Zentrum von W.s Interesse stand anders als in der monografisch verfahrenden Kunstgeschichte nicht die individualisierende Charakteristik des Reichtums u. der Vielseitigkeit großer Einzelgestalten, er bemühte sich vielmehr um die Erklärung histor. Zusammenhänge. In seiner architekturgeschichtl. Habilitationsschrift Renaissance und Barock. Eine Untersuchung über Wesen und Entstehung des Barockstils in Italien (Mchn. 1888. Basel/Stgt. 81986. Basel 2009) verabschiedet er die »Künstlergeschichte« förmlich. Er sucht den gesetzmäßigen Charakter des Stil-

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wandels in der neueren ital. Kunstentwicklung darzulegen sowie das den Barock bestimmende künstlerische Gesetz zu beschreiben, um damit – als einer der ersten Kunsthistoriker seiner Zeit – diese Kunstform, die gewöhnlich als »Verwilderung und Willkür« abgewertet werde (Vorw.), als eigenständigen Stil zu rechtfertigen. W. geht es hier jedoch noch nicht um eine reine Formanalyse. Methodisch ist seine Interpretation durch die Einfühlungspsychologie bestimmt, den architekton. Stil fasst er dementsprechend »als Ausdruck der [...] Grundstimmung der Zeit« (ed. 1986, S. 82 f.). Mit der Burckhardt gewidmeten Schrift Die klassische Kunst. Eine Einführung in die italienische Renaissance (Mchn. 1899. Basel 101984) legte W. den Grundstein zu seinem Projekt einer allgemeinen »Geschichte des künstlerischen Sehens«, mit dem er die Eigenständigkeit der Kunstgeschichte gegenüber der allgemeinen Kultur- u. Ideengeschichte begründen wollte. W. führte diese methodolog. Wende selbst explizit auf Adolf von Hildebrands Das Problem der Form in der bildenden Kunst (1893) zurück; mindestens ebenso wichtig, wenn nicht wichtiger waren für ihn aber die Abhandlungen Konrad Fiedlers (vgl. v. a. Über den Ursprung der künstlerischen Tätigkeit, 1887). W. will hier den spezifisch »künstlerischen Inhalt«, also die reine »Bildform«, der ital. Klassik herausheben u. dies nicht in einer Folge von Schilderungen einzelner Künstler, sondern als systemat. Deskription des »Gesamtstils«. Er zeigt, dass die Entwicklung des künstlerischen Sehens, d. h. der »Art, wie das gegebene Objekt für das Auge als Bild zurecht gemacht wird«, unabhängig ist von allen stofflich-inhaltl. Momenten, also von der »Gesinnung« u. dem »Schönheitsideal« einer Epoche. Bereits in diesem Buch finden sich die zentralen Lehrstücke – von einer doppelten Wurzel des Stils, von der Immanenz der Formentwicklung u. der Ausdruckslosigkeit formaler Momente (vgl. 91968, S. 315) –, die man gewöhnlich mit dem Namen W.s verbindet. Die Kunstgeschichtlichen Grundbegriffe. Das Problem der Stilentwicklung in der neueren Kunst (Mchn. 1915. Basel 192004) begründeten den Ruhm W.s; mit diesem Buch wirkte W. weit

Wölfflin

über die Grenzen seines Faches hinaus, etwa auf Archäologie, Musik- u. Literaturwissenschaft (vgl. für die Letztere v. a. die Arbeiten von Margarete Hoerner[-Riemschneider]; von Oskar Walzel, der bis heute als Hauptrepräsentant der literaturwissenschaftl. W.-Schule gilt, hat sich W. selbst unmissverständlich distanziert). Anschließend an den Berliner Akademievortrag Das Problem des Stils in der bildenden Kunst (7.12.1911) verfolgt W. auch in diesem Werk das Bestreben, die veranschaulichende Darstellung der Kunstentwicklung durch exakten Begriffsgebrauch zu ersetzen. Seine ausgereifte Stiltheorie (»Idee der Bildform, der Anschauungsform erst rein entwickelt in meinen Grundbegriffen 1915«, vgl. Autobiographie, Tagebücher und Briefe, S. 334), die auf der Annahme von der Eigenbedeutsamkeit der künstlerischen Form fußt u. darauf, dass diese Form ihre eigene Geschichte hat, exemplifiziert er weiterhin an den Epochenstilen Renaissance u. Barock. Die Geschichte der Kunst ist für W. keine Folge von punktuellen, voraussetzungs- u. fortsetzungslosen Einzelschöpfungen, sondern ein periodisch durchlaufener Inbegriff von einander polar entgegen gesetzten Seh- u. Gestaltungsmöglichkeiten, deren Kenntnis nach ihm die Voraussetzung für das richtige Verständnis des Einzelwerks ist. W. wollte sehen lehren u. zerstörte dazu die Illusion eines unmittelbaren Verstehens. Es sei »durchaus nicht natürlich, daß jeder sieht, was da ist« (Das Erklären von Kunstwerken. Lpz. 1921. 4 1940, S. 7): Will man Kunstwerke nicht mit ihnen fremden, sondern mit ihren eigenen Maßstäben messen, dann muss man sich systematisch Rechenschaft von elementaren Gestaltungsverschiedenheiten geben. Diese fasste er in fünf antithet. Begriffspaaren zusammen (das Lineare u. das Malerische, Fläche u. Tiefe, geschlossene Form u. offene Form, Vielheit u. Einheit, Klarheit u. Unklarheit) – seinen »Grundbegriffen«. Zu der alsbald einsetzenden Kritik des Buches nahm W. mehrfach Stellung, u. a. mit dem Aufsatz In eigener Sache (1920), in dem er die »Kunstgeschichte ohne Namen«, also seinen erklärten kunsthistor. Impersonalismus, gegen den Vorwurf der »Ausschaltung des Subjekts« verteidigte.

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In seiner letzten größeren Studie, Italien und das deutsche Formgefühl (Mchn. 1931), suchte W. die Beziehungen der Kunst des Südens zu der des Nordens zu klären, nicht historisch, sondern systematisch nach ihren allgemeinen »formpsychologischen Voraussetzungen«, um die Begriffe zu gewinnen, die eine exakte histor. Darstellung erst ermöglichen; doch es ging ihm zgl. darum, dem dt. Italienreisenden die »besondere Einstellung« zu vermitteln, die allein jene andere, fremde u. fremd bleibende Formenwelt erschließe, wodurch auch die eigene erst wirklich verständlich werde, für deren Auffassung die Kriterien allerdings noch ungenügend ausgebildet seien. Die Annahme eines nationalen Formgefühls steht nach W.s Verständnis zu seiner These von der »gleichmäßigen Entwicklung der europäischen Kunst« nicht im Widerspruch, sondern dient deren Binnendifferenzierung (Vorw., S. VII). Die Vorherrschaft des Anschauungsformalismus endete um 1920; die Formanalytik wurde durch method. Neuorientierungen wie Ikonografie u. Ikonologie verdrängt. Mit dem v. a. durch Max Dvorˇ ák († 1921) begründeten Programm einer »Kunstgeschichte als Geistesgeschichte«, also wieder als »Ausdruck«, setzte sich W. noch in seiner Züricher Zeit auseinander. Seit Anfang der 60er Jahre des letzten Jh. hat der Berliner Philosophiehistoriker Wolfgang Hübener († 2007) den Formalismus W.scher Prägung in Gestalt einer radikalisierten Denkformenanalytik im Felde der Philosophiegeschichtsschreibung wiederbelebt (vgl. z. B. Untersuchungen zur Denkart Martin Heideggers. Diss. Berlin 1960). Weitere Werke: Salomon Geßner. Mit ungedruckten Briefen. Frauenfeld 1889. – Die Jugendwerke des Michelangelo. Mchn. 1891. Internet-Ed. in: UB Heidelb. – Die Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders. In: Studien zur Literaturgesch. FS Michael Bernays. Hbg./Lpz. 1893, S. 61–73. – Die Kunst Albrecht Dürers. Mchn. 1905. 91984. 102000. – Das Problem des Stils in der bildenden Kunst. In: Sitzungsber. der kgl. preuss. Akad. der Wiss.en. Bd. 31 (1912), S. 572–578. – Über den Begriff des Malerischen. In: Logos 4 (1913), S. 1–7. – Die Bamberger Apokalypse. Eine Reichenauer Bilderhandschrift vom Jahre 1000. Mchn. 1918. 2., verm. Aufl. 1921. – In eigener Sache. Zur vierten Aufl. meiner ›Kunstgeschichtli-

505 chen Grundbegriffe‹. In: Kunstchronik u. Kunstmarkt 20 (1920), S. 397–399. – ›Kunstgeschichtl. Grundbegriffe‹. Eine Revision. In: Logos 22 (1933), S. 210–218. – Gedanken zur Kunstgesch. Gedrucktes u. Ungedrucktes. Basel 1940. 41947. – Nachlass: UB Basel. Ausgaben: Jacob Burckhardt u. H. W. Briefw. u. andere Dokumente ihrer Begegnung 1882–1897. Hg. Joseph Gantner. Basel 1948. Erw. 21989. Lpz. 1988. – H. W. 1864–1945. Autobiogr., Tagebücher u. Briefe. Hg. J. Gantner. Basel/Stgt. 21984 (zuerst 1982). – Mosaikbild einer Freundschaft. Ricarda Huchs Briefw. mit Elisabeth u. H. W. Hg. u. komm. v. Heidy Margit Müller. Mchn. 1994. – Kunstgesch. des 19. Jh. Akadem. Vorlesung aus dem Archiv des Kunsthistor. Instituts der Univ. Wien. Hg. Norbert Schmitz. 2., verb. Aufl. Alfter 1994 (zuerst 1993). – Golo Maurer: August Grisebach (1881–1950), Kunsthistoriker in Dtschld. Mit einer Ed. der Briefe H. W.s an Grisebach. Ruhpolding 2007. Literatur: Bibliografie: H. W.: Kleine Schr.en (1886–1933). Hg. Joseph Gantner. Basel 1946, S. 265–271 (Werkverz. 1886–1943). – Weitere Titel: Erwin Panofsky: Das Problem des Stils in der bildenden Kunst. In: Ztschr. für Ästhetik u. Allg. Kunstwiss. 10 (1915), S. 460–467. – FS H. W. [60. Geb.] Beiträge zur Kunst. u. Geistesgesch. [...]. Mchn. 1924. – Walter Passarge: Die Philosophie der Kunstgesch. in der Gegenwart. Bln. 1930. Nachdr. Mittenwald 1981. – FS H. W. zum 70. Geb. Dresden 1935. – Concinnitas. Beiträge zum Problem des Klassischen. FS H. W. 80. Geb. Basel 1944. – J. Gantner: Schönheit u. Grenzen der klass. Form. Burckhardt, Croce, W. Drei Vorträge. Wien 1949. – Arnold Hauser: Philosophie der Kunstgesch. Mchn. 1958 (spätere Aufl.n u. d. T.: Methoden moderner Kunstbetrachtung). – Walther Rehm: H. W. als Literarhistoriker. Mit einem Anhang ungedr. Briefe v. M. Bernays, Eduard u. H. W. Mchn. 1960. – Meinhold Lurz: H. W. Biogr. einer Kunsttheorie. Worms 1981. – Wolfgang Hübener: Die Ehe des Merkurius u. der Philologie. Prolegomena zu einer Theorie der Philosophiegesch. In: Wer hat Angst vor der Philosophie? Hg. Norbert W. Bolz. Paderb. 1982, S. 137–196. – Hans B. Busse: Kunst u. Wiss. [...] zur Ästhetik u. Methodik [...] bei Riegl, W. u. Dvorak. Mchn. 1984. – Relire W. Cycle de conférences organisé au musée du Louvre [...] 1993. Hg. Matthias Waschek. Paris 1995. – Andreas Eckl: Kategorien der Anschauung. Zur transzendentalphilosoph. Bedeutung v. H. W.s ›Kunstgeschichtl. Grundbegriffen‹. Mchn. 1996. – Reimund B. Sdzuj: Formale Axiomatik der Stilbegriffe. Zu Paul Frankls konstruktivist. Weiterentwicklung des Anschauungsformalismus. In: DVjs 73 (1999),

Wölfli S. 152–199. – Metzler Kunsthistoriker Lexikon. 210 Porträts deutschsprachiger Autoren aus vier Jh.en. Hg. Peter Betthausen u. a. 2., akt. u. erw. Aufl. Stgt./Weimar 2007, S. 515–520. – Andreas Ay: ›Nachts: Göthe gelesen‹. H. W. u. seine GoetheRezeption. Gött. 2010. – W. Hübener: Was leistet eine Denkstilgesch., die sich weiterhin an der Stilgesch. der bildenden Kunst orientiert? u. Appendix: Die begrenzte Tragweite v. H. W.s stiltheoret. Grundsatz ›Es ist nicht alles zu allen Zeiten möglich‹ (2005/06). In: Ders.: ›Lesen lernen, was dasteht!‹ Beiträge zu einer Theorie der Philosophiegesch. Hg. Stephan Meier-Oeser u. R. B. Sdzuj. Mchn./Paderb. (in Vorb.). Reimund B. Sdzuj

Wölfli, Adolf, * 29.2.1864 Bowil/Kt. Bern, † 6.11.1930 Klinik Waldau bei Bern. – Schriftsteller, Zeichner, Komponist. Der jüngste Sohn eines Steinhauers wuchs unter ärml. Verhältnissen in Bowil, Bern u. Schangnau im Emmental auf u. war nach der Trennung der Eltern bzw. dem Tod der Mutter 1873–1879 sog. Verdingbub bei Bauern in Schangnau u. 1880–1889 Bauernknecht an verschiedenen Orten in den Kantonen Bern u. Neuenburg. 1890–1892 war W. wegen Notzuchtversuchen an minderjährigen Mädchen in der Strafanstalt St. Johannsen/Kt. Bern inhaftiert. Des gleichen Delikts wegen wurde er nach drei Jahren in der Region Bern 1895 erneut verhaftet u. in die Irrenanstalt Waldau eingeliefert, wo man Schizophrenie u. Unzurechnungsfähigkeit diagnostizierte u. wo er die restl. 35 Jahre seines Lebens zubrachte. 1921 erlangte W. in kunstinteressierten Kreisen Berühmtheit, als sein Psychiater Walter Morgenthaler (1882–1965), der die sich abzeichnenden künstlerischen Ambitionen des Patienten geschickt gefördert u. therapeutisch genutzt hatte, seine Aufsehen erregende Wölfli-Monografie Ein Geisteskranker als Künstler (Bern/Lpz. Erw. Neuausgabe Bln./ Wien 1985) veröffentlichte. »Der Fall Wölfli wird dazu helfen«, schrieb Rilke nach der Lektüre des Buchs an Lou Andreas-Salomé, »einmal über die Ursprünge des Produktiven neue Aufschlüsse zu gewinnen.« Jahrzehntelang isolierte man dann allerdings die künstlerische Dimension von W.s Schaffen weitgehend von der literarischen bzw. musi-

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kalischen u. feierte ihn, so 1948 in der von Zeichnungen Meret Oppenheim, Dieter Roth Jean Dubuffet angeregten großen Wölfli- oder André Thomkins künstlerisch zu beAusstellung der Pariser Galerie Drouin, die einflussen vermochten. Während es um die mit der Gründung der »Compagnie de l’Art Edition u. Interpretation seiner Texte eher brut« in unmittelbarem Zusammenhang still wurde, erlangte W.s Werk in den 1990er stand, als Beispiel für die Autonomie u. den Jahren in einer Reihe von Ausstellungen als Eigenwert der ehemals als pathologisch ab- wesentl. Beitrag zur Kunst des 20. Jh. weit gewerteten Kunst der Schizophrenen. Ihren über die Schweiz hinaus großes Ansehen. eigentl. Durchbruch erlebte W.s Kunst erst, Ausgaben: Geographisches Heft No. 11 (Schrifals Harald Szeemann sie auf der Kasseler ten 1912–1913). Hg. v. der Adolf-Wölfli-Stiftung, »documenta 5« 1972 gänzlich aus dem Um- Kunstmuseum Bern. Bearb. v. Elka Spoerri u. Max feld der Psychiatrie löste u. als Beispiel für Wechsler. Stgt. 1991. – o Grad 8/ooo: Entbrantt von eine »individuelle Mythologie« präsentierte. Liebes, = Flammen. Gedichte. Ausgew. u. mit eiNäheren Aufschluss darüber versprach man nem Nachw. v. Jürg Laederach. Ffm. 1996. – Kopfwelten – A. W. Schreiber, Dichter, Zeichner, sich von der systemat. Transkription von W.s Componist. Hg. Daniel Baumann u. Berno Odo dichterischem Werk, mit der Elka Spoerri u. Polzer. Wien 2001. Dieter Schwarz im selben Jahr begannen u. Literatur: A. W. Kat. Wanderausstellung. Hg. von der sie 13 Jahre später einen ersten Teil Jürgen Glaesemer u. Elka Spoerri (mit Beiträgen v. vorlegen konnten: Von der Wiege bis zum Graab. E. Spoerri, Harald Szeemann, Elsbeth Pulver, Peter Oder, Durch arbeiten und schwitzen, leiden, und Streiff, Kjell Keller, Peter Bichsel, Theodor Spoerri Drangsal bettend zum Fluch. Schriften 1908–1912 u. a.). Bern 1976. – E. Spoerri (Hg.): Der Engel des (2 Bde., Ffm. 1985). Das Werk stellt etwa ein Herrn im Küchenschurz. Über A. W. (mit Beiträgen Fünftel von W.s dichterischem Schaffen dar, v. Adolf Muschg, E. Spoerri, Adolf Koelsch, H. das auf insg. 45 Folianten im Zeitungsformat Szeemann, Laszlo Glozer, Jürg Laederach, Hanssowie in 16 Schulheften annähernd 25.000 Jürgen Heinrichs, Guido Bachmann, Max WechsSeiten jener charakteristischen monumenta- ler, Jochen Hieber u. a.). Ffm. 1987. – Bettina Hunger u. a. (Hg.): A. W. Porträt eines produktiven len Bild-Text-Komposition umfasst, an der Unfalls. Dokumente u. Recherchen. Basel 1993. – W. bis zu seinem Tod 22 Jahre lang wie be- A.-W.-Stiftung (Hg.): A. W. Schreiber, Dichter, sessen gearbeitet hatte. Von der Wiege bis zum Zeichner, Componist. Mit Texten v. Daniel BauGraab ist stärker autobiografisch als W.s spä- mann u. a. Red.: E. Spoerri u. D. Baumann. Basel tere, erst zu einem geringen Teil veröffent- 1996. – Marie-Françoise Chanfrault-Duchet: A. W. lichte Arbeiten Geographische und allgebräische Autobiogr. u. Autofiktion. Freib. i. Br. 1998. – A. Hefte (1912–16), Hefte mit Liedern und Tänzen W. Die Schenkung Ernst u. Maria Elisabeth Mu(1917–22), Allbumm-Hefte mit Tänzen und menthaler-Fischer. Bearb. v. Marianne WackernaMärschen (1924–28) u. Trauer-Marsch gel. Basel 1998 (Ausstellungskat.). – Kopfreisen: (1928–30). Es handelt sich dabei zum einen Jules Verne, A. W. u. andere Grenzgänger. Hg. D. Baumann u. Monika Brunner. Ffm. 2002 (Ausstelum weitgehend imaginäre Reiseerlebnisse, lungskat.). – The art of A. W. Hg. E. Spoerri u. D. die dem Kind »Doufi«, also dem Verfasser Baumann. Essay by Edward M. Gomez. Writings by selbst, im Alter zwischen zwei u. acht Jahren A. W., with a forew. by Gerard C. Wertkin. New zugeschrieben sind, zum andern aber auch York 2003 (Ausstellungskat.). Charles Linsmayer um die Beschreibung von W.s wirkl. Lebensgeschichte bis zu seiner Internierung 1895. Die Fantastik des Geschehens, die lebhafte, Woelk, Ulrich, * 18.8.1960 Bonn. – Verdirekte Erzählweise, der Wechsel von Dialekt fasser von Romanen. u. Hochsprache, die unerhört modern anmutende sprachl. Experimentierfreude, die In Köln aufgewachsen, studierte W., Sohn eigenwillige Orthografie u. nicht zuletzt die eines Chemikers, 1980–1987 Physik u. PhiEinwürfe u. Ausrufe des permanent präsen- losophie in Tübingen. 1991 wurde er mit eiten Autors machen die Lektüre zu einem ganz ner physikal. Arbeit an der TU Berlin probes. Erlebnis u. inspirierten Autoren wie Jürg moviert, wo er bis 1995 als Astrophysiker Laederach oder Peter Bichsel ebenso, wie W.s beschäftigt war. In dieser Zeit erschienen u. a.

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der mit dem aspekte-Literaturpreis ausgezeichnete Debütroman Freigang (Ffm. 1990) u. Rückspiel (Ffm. 1993). W. verlegte sich ganz auf die Arbeit als freier Autor. 2005 wurde sein Werk mit dem Thomas-Valentin-Preis gewürdigt. Mit der Polarität von Literatur und Physik (in: Wo steht die Dichtung heute? Hg. Bruno Hillebrand. Darmst. 2002, S. 214–229) steckt W. das grundlegende themat. Spannungsfeld seiner literar. Arbeiten ab. Ausgehend vom Glaubwürdigkeitsverlust positivistischer Theoriebildung u. teleolog. Leiterzählungen geht es in seinen Texten um Möglichkeiten u. Probleme autonomer Selbstverortung des Individuums in der massenmedial geprägten postmodernen Gegenwart. Dabei nimmt W. insbes. die eigene Altersgruppe in den Blick. Das Laborieren an ihrer ontolog. Obdachlosigkeit als Generationenmerkmal der Nach68er wird zum wichtigen Leitmotiv neben der Thematisierung des Schreibens als Modus der Fremd- u. Selbstbeobachtung. In diesem Sinne steht W.s Auslegung der Heisenberg’schen Unschärferelation im Zentrum der Autorpoetik: die »wechselseitige Abhängigkeit« (Literatur und Physik, S. 225) von Beobachter u. Objekt gilt auch für Akte der Introspektion; sie liegt dem Progress des Individuums zu Grunde. Diese Poetik bestimmt v. a. die frühen Texte. Den Ich-Erzählern von Freigang u. Rückspiel wird jeweils eine emotionale Ausnahmesituation zum Anlass eines selbstreflexiven protokollarischen Rekonstruktionsversuchs vorangegangener Ereignisse. Der Physiker Frank Zweig sitzt nach einem Nervenzusammenbruch aufgrund der Untreue seiner Freundin in einer Heilanstalt, gibt aber vor, seinen Vater getötet zu haben. Zweigs erklärte Absicht, mit seinem »Bericht« ein sachlich-kausales »Abbild der Realität« zu liefern, wird damit von vornherein in Frage gestellt. Unzuverlässiges, nichtlineares Erzählen u. Erinnern, permanente Zeitsprünge, Traumsequenzen unterstreichen die finale Absage Zweigs an das eigene positivistischrationalistische Weltbild: »Es gibt kein zentrales Motiv« (Freigang, S. 209). Die offene Abschlussfrage, »ob eine Erkenntnis das Erkannte verändert« (ebd., S. 235), beantwortet

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W. mit der Fortsetzung seines Erstlings negativ. Die Einsamkeit des Astronomen (Hbg. 2005) ist die Konsequenz aus Zweigs anhaltend gestörtem Verhältnis zu seiner Umwelt. Diese lässt sich in der neuerl. Verknüpfung von Ereignis-, Bewusstseins- u. Erinnerungsprotokoll zwar in ihrer Komplexität erfassen, eine erfüllte Partizipation bleibt dem distanzierten Beobachter jedoch verwehrt. Auf Motivsuche begibt sich auch der Innenarchitekt Johannes Stirner aus Rückspiel. In zwei Schreibphasen rekapituliert er die Gründe für seine Flucht nach Berlin, rekonstruiert zwei zwischenmenschl. Dramen aus NS-Zeit u. Studentenbewegung u. umkreist schließlich die eigene ménage à trois zur Zeit des Mauerfalls. Auch in diesem Text problematisiert W. durch die bewährten reflexiven Schreibverfahren den Gegensatz von deterministischem Methodenrepertoire, Stirners »Sinn für Symmetrien«, u. subjektivem Erkenntnisinteresse (»Alles falsch, kein Wort das wahr wäre [...] Makulatur, weil ich eine Theorie im Kopf hatte«, ebd., S. 151). Im Sinne eines Aufbruchs vom Ich (Paderb. 2005) löst sich W.s Erzählen von der ersten Person. Standen die frühen Romane zur Autorbiografie in einem engen »Ausbeutungsverhältnis« (ebd.), sucht er mit der Erweiterung von Figurenensembles u. einer multiperspektivischen Narration in einer Form von ›short cuts‹ (Liebespaare. Hbg. 2001) seine Generation als Ganze in den epischen Horizont zu stellen. Die in Rückspiel ausgebliebene Auseinandersetzung mit linker Ideologie im Kontext von dt. Teilung u. Wiedervereinigung holt W. in dem Kriminalroman Die letzte Vorstellung (Hbg. 2002) nach, der 2004 u. d. T. Mord am Meer preisgekrönt verfilmt wurde. Ein hingerichteter, einstmals in der DDR untergetauchter RAF-Terrorist bringt zwei Ermittlerfiguren aus Ost u. West zusammen, deren Recherchemethoden u. persönl. Verstrickung zu Kontroversen um die Bewertung totalitärer Weltanschauungsmodelle aus postideolog. Perspektive führen. Die Romane Einstein on the lake (Mchn. 2005), Schrödingers Schlafzimmer (Mchn. 2006) u. Joana Mandelbrot und ich (Mchn. 2008) nähern sich W.s Hauptthema, der Spannung zwischen rationalistischen Prämissen u. sub-

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jektiver Erfahrung, in unterhaltsamer Manier, indem sie die Kerngedanken der titelgebenden Theoriebegründer auf das alltägl. Erleben ihrer Protagonisten übertragen. Weitere Werke: Tod Liebe Verklärung. Ffm. 1992. Urauff. Köln 1993 (Theaterst.). – Amerikan. Reise. Ffm. 1996 (R.). – Science-Fiction ohne Plot. In: SZ, 21.3.2001. – Sternenklar. Ein kleines Buch über den Himmel. Köln 2008. Literatur: Uwe Wittstock: Planspiele. U. W. – Geschichten über Geschichte. In: Ders.: Leselust. Wie unterhaltsam ist die neue dt. Lit.? Mchn. 1995, S. 115–137. – Angela Fitz: ›Wir blicken in ein ersonnenes Sehen‹. Wirklichkeits- u. Selbstkonstruktion in zeitgenöss. Romanen. Sten Nadolny – Christoph Ransmayr – U. W. St. Ingbert 1998. – Stefan Sprang: U. W. In: LGL. – Stefanie Hofer: U. W. In: KLG. Norman Ächtler

Wöllner, Johann Christoph von (geadelt 1786), * 19.5.1732 Döberitz bei Spandau, † 10.9.1800 Groß-Rietz bei Beeskow. – Theologe, Ökonom; Minister.

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sung in den Preußischen Staaten betreffend (Bln.) um, das die aufgeklärten Prediger auf die in den symbolischen Büchern festgelegten konfessionellen Dogmen verpflichtete. Auch wenn W.s unter Friedrich Wilhelm III. revidierte Religionspolitik letztlich scheiterte, belastete seine als »General-Commando in dem Krieg gegen die Aufklärer« verstandene Amtsführung das geistige Klima im einstigen Stammland der dt. Aufklärung schwer. Literatur: Johann David Erdmann Preuß: Zur Beurtheilung des Staatsministers v. W. In: Ztschr. für Preuß. Gesch. u. Landeskunde 2 (1865), S. 577–604, 746–774. 3 (1866), S. 65–95. – Paul Schwartz: Der erste Kulturkampf in Preußen [...]. Bln. 1925. – Dirk Kemper (Hg.): Mißbrauchte Aufklärung? [118] Schr.en zum preuß. Religionsedikt. Mikrofiche-Edition mit Begleitbd. Hildesh. u. a. 1996. – Ders.: Obskurantismus als Mittel der Politik. J. C. v. W.s Politik der Gegenaufklärung am Vorabend der Frz. Revolution. In: Von ›Obscuranten‹ u. ›Eudämonisten‹. Gegenaufklärerische, konservative u. antirevolutionäre Publizisten im späten 18. Jh. Hg. Christoph Weiß in Zus. mit Wolfgang Albrecht. St. Ingbert 1997, 193–220. – Klaus-Gunther Wesseling: J. C. Frhr. v. W. In: Bautz 27 (2007), Sp. 1549–1566. – Uta Wiggermann: W. u. das Religionsedikt. Kirchenpolitik u. kirchl. Wirklichkeit im Preußen des späten 18. Jh. Tüb. 2010. Dirk Kemper

Als Hallenser Student durch Sigmund Jacob Baumgarten von der Aufklärungstheologie geprägt (vgl. Predigten. Vom Jahr 1761. [Bln.] 1789), übernahm W., Sohn eines Pastors, 1754 die Pfarrstelle Groß-Behnitz im Havelland, wo er seit 1760 als Gutsverwalter, später Gutspächter wirkte. Seine Schriften (Unterricht zu einer kleinen [...] oekonomischen Bibliothek. 2 Bde., Wörishöffer, Sophie, geb. Andresen, Bln. 1764/65. Die Aufhebung der Gemeinheiten in auch: W. Höffer, S. von der Horst, * 6.10. der Marck Brandenburg. Ebd. 1766. Preisschrift 1838 Pinneberg, † 8.11.1890 Altona. – wegen der eigenthümlichen Besitzungen der Bauern. Erzählerin, Jugendbuchautorin. Ebd. 1768) sowie zahlreiche Rezensionen aus den Jahren 1765–1780 in Nicolais »Allgemei- Die Advokatentochter u. Kusine Detlev von ner deutscher Bibliothek« weisen ihn als Liliencrons, 1871 schon nach fünf Jahren Ehe kompetenten Ökonomen aus. (mit einem Architekten) verwitwet, war MitDurch Johann Rudolf von Bischoffwerder arbeiterin der »Hamburger Reform« u. in den kam W. 1773 mit dem aufklärungsfeindl. letzten zwei Dezennien des Jahrhunderts ErRosenkreuzerorden in Berührung, für den er folgsautorin von Abenteuerromanen, welche 1781 die Ordensinstruktion des preuß. die aktuellen Themen der damaligen europ. Kronprinzen in Form von Vorträgen u. Kolonial- u. Handelspolitik ansprachen u. Denkschriften (u. a. Abhandlung von der Religi- sich bis in die zweite Hälfte des 20. Jh. gut on. 1785. Mit wenigen Kürzungen in: verkauften. Schwartz, s. Literatur, S. 73–92) übernahm. Am bekanntesten waren Onnen Visser, der Das dort entwickelte Programm setzte er Schmugglersohn von Norderney (Bielef. 1885. unmittelbar nach seiner Ernennung zum 81907), Kreuz und quer durch Indien [...] (ebd. Chef des geistl. Departements durch Fried- 1884. 81910) u. Gerettet aus Sibirien (Lpz. 1885). rich Wilhelm II. am 9.7.1788 in das aus seiner Kaum ein Kontinent, der im Werk W.s, die Feder stammende EDICT, die Religions-Verfas- wie Karl May ihre Schauplätze nicht aus ei-

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gener Anschauung kannte, nicht vertreten war: so auch Die Diamanten des Peruaners (Bielef. 1888) u. Ein Wiedersehen in Australien (ebd. 1888). Die 1877 erstpublizierten Robert des Schiffsjungen Fahrten auf der deutschen Handelsund Kriegsflotte (ebd.) wurden in der Epoche der Flottenbegeisterung zu einem Bestseller. Literatur: Bernd Steinbrink: Abenteuerlit. des 19. Jh. in Dtschld. Tüb. 1983. – Karin Tuxhorn: Mit S. W. ins Abenteuerland. Vertraute Heimat, eigenartige Landschaften, unbekannte Ethnien u. Kulturen. Hbg. 2008. Eda Sagarra / Red.

Wogatzki, Benito, * 31.8.1932 Berlin. – Fernseh-, Theater- u. Hörspielautor, Erzähler. W. absolvierte nach dem Besuch einer Arbeiter-und-Bauern-Fakultät ein Journalistikstudium in Leipzig, war dann Redakteur der »Freiheit« in Halle unter Horst Sindermann u. Reporter der Studentenzeitung »Forum«. In deren Blütezeit konnte W. Verbindungen zu Schwerpunktbetrieben des sozialistischen Aufbaus wie Schwedt, Leuna u. Edelstahl Freital knüpfen, was ihm wichtige Einsichten u. Zugang zu Chefetagen verschaffte. Seit den späten 1960er Jahren übte er höhere Funktionärstätigkeiten in DDR-Kulturverbänden aus u. zeigte geraume Zeit eine große innere Verbundenheit mit dem System. Wie Helmut Sakowski über die Landwirtschaft, schrieb W. für das DDR-Fernsehen massenwirksam ideologisierte, künstlerisch aber bereits zeitgenössisch umstrittene Mehrteiler über Entwicklungsprobleme in der Industrie, u. zwar insbes. unter dem Reihentitel Meine besten Freunde (Der Unschuldige. 1965. Besuch aus der Ferne. 1966. Die Geduld der Kühnen. 3 Tle., 1966/67. Zeit ist Glück. 1968). Die Serien folgten der Forderung, krittelnde Sicht von unten durch die »des Planers und Leiters« zu ersetzen u. aus der »Königsebene« zu aufgeworfenen Problemen auch gleich die Lösung anzubieten. W.s dreiteiliger Fernsehmonolog eines Arbeiters Der Mann aus dem Kessel (DFF 1970), mag, angesichts des Verzichts auf Darstellung antagonistischer Konflikte oder auch nur ernsthafter Gegenpositionen, schon als Abgesang gewertet werden. Lessing-Preis

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(1967), zweimaliger Nationalpreis (1967 u. 1968 im Kollektiv) u. FDGB-Literaturpreis (1969) sowie W.s Aufnahme in die Akademie der Künste der DDR unterstreichen den Stellenwert, der von offizieller Seite dem Fernsehroman zugeschrieben wurde. Weitere Arbeiten für Radio (Hörspiele), Theater u. Fernsehen folgten seit den 1980er Jahren. Nach der Wende arbeitete W. vielfach an Drehbüchern mit, u. a. für populäre Fernsehserien wie Für alle Fälle Stefanie u. Mordslust. Als Erzähler (Der Preis des Mädchens. Bln./ DDR 1971. U. d. T. Zement und Karfunkel. Mchn. 1975) u. Romanautor (Romanze mit Amélie. Bln./DDR u. Düsseld. 1977. DEFAFilm 1981. Das Narrenfell. Bln./DDR 1982, Augsb. 1986. Schwalbenjagd. Bln./DDR 1985) gelang es W. zu Zeiten der DDR, Problembewusstsein mit vergnüglich-unterhaltsamen Elementen zu verbinden. An dieser Kombination wurde kritisiert, dass »Probleme nur angetippt und einige Figuren recht einschichtig gezeichnet« seien (Elisabeth Simons, 1986). Seit 1990 trat W. als Erzähler kaum mehr hervor, veröffentlichte jedoch zuletzt einen komplex konstruierten, sprachlich aber eher handfesten Kriminal- u. Gesellschaftsroman, der oft nahezu filmische Spannungsmomente aufweist u. mit dem W. zumindest einzelne krit. Schlaglichter auf die späte DDR sowie die ersten Nachwendejahre wirft (Flieh mit dem Löwen. Bln. 2007). Weitere Werke: Tennis zu dritt (zus. mit Gert Billing). Bln./DDR 1962 (Studentengesch.n). – Kinder- und Jugendbücher: Der ungezogene Vater. Bln./ DDR 1980, Ffm. 1982. – Ein goldener Schweif am Horizont v. Thumbach. Roman mit Kindern u. Erwachsenen. Bln./DDR 1987. U.d.T. SATTI. Stgt./ Wien 1989. – Fernsehspiele: Ein Tag u. eine Nacht. 1965. – Die Zeichen der Ersten. 1969. – Klassenauftrag. 1970. – Anlauf. 1971. – Broddi. 1975 (Szenarium: Bln./DDR 1976). – Tull. 1979. 2. Fassung 1982. – Tiere machen Leute. Serie in 13 Teilen. 1988. – Hörspiele: Ein Tag u. eine Nacht. 1965. – Schobers verrücktester Gedanke. 1970. – Theaterstücke: Viola vor dem Tor. 1977. – Yesterday und Kanapee. 1981. Literatur: Elisabeth Simons: Heitere Variation über die Suche nach Glück. B. W.s Roman ›Schwalbenjagd‹. In: DDR-Lit. ’85 im Gespräch. Hg. Siegfried Rönisch. Bln./DDR, Weimar 1986, S. 260–266. – Knut Hickethier: Auseinanderset-

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zung mit der Gegenwart. Fernsehdramatik in den sechziger Jahren. In: Dramatik der DDR. Hg. Ulrich Profitlich. Ffm. 1987, S. 150–166. – Joachim Walther: Sicherungsbereich Lit. Schriftsteller u. Staatssicherheit in der Deutschen Demokratischen Republik. Bln. 1996, bes. S. 671 u. 836 f. – Thomas Beutelschmidt u. Henning Wrage: ›Das Buch zum Film – der Film zum Buch‹. Annäherung an den literar. Kanon im DDR-Fernsehen. Lpz. 2004, bes. S. 161–167. Jürgen Grambow † / Stefan Elit

Wohl, Louis de, eigentl.: Ludwig von W., * 24.1.1903 Berlin, † 2.6.1961 Luzern. – Erzähler. Nach dem Besuch des Gymnasiums arbeitete W., Sohn eines Diplomaten, zunächst in Berlin als Bankangestellter, dann bei der Ufa. Seit 1924 war er als freier Schriftsteller tätig. Nach seinem ersten Erfolg mit Der große Kampf (Bln. 1926), einem Roman aus dem Boxermilieu, schrieb W. bis zu seiner Emigration (1935 nach Großbritannien) noch über 30 Unterhaltungs-, Abenteuer- u. Kriminalromane, von denen viele Bestseller wurden. Während des Zweiten Weltkriegs arbeitete W. für den Informationsdienst der brit. Armee. Er versuchte, Hitlers Entscheidungen aufgrund seiner Astrologiegläubigkeit vorherzusagen. 1949 zog W. in die USA. Nach dem Krieg veröffentlichte er weitere Kriminalromane wie Der verschwundene Express (Olten 1950) u. zahlreiche populäre Heiligenbiografien, z. B. Der fröhliche Bettler (ebd. 1958. Wuppertal 1996) über Franz von Assisi. Weitere Werke: Er u. sie u. sehr viel Schwindel. Bln. 1929 (R.). – Der unsichtbare Reporter. Salzb. 1932. Olten 1955 (R.). – I follow my stars. London 1937 (Autobiogr.). – Satan in Verkleidung. Olten 1947 (R.). – Licht über Aquino. Ebd. 1950 (R.). – Johanna reitet voran. Ebd. 1958. – König David. Ebd. 1961. Wuppertal 1996. 22001. Heiner Widdig / Red.

deburg u. Riga (1837). Durch eine Erbschaft finanziell saniert, brach er 1860 zu einer Orientreise auf, während der er starb. Neben seiner schauspielerischen Tätigkeit als Charakterkomiker, die häufig krankheitsbedingt unterbrochen wurde, schrieb W. für seinen Schwager Heinrich Marschner Libretti, so für die Opern Der Templer und die Jüdin (Lpz. 1829; nach Scotts Ivanhoe), deren Figurenkonstellation Wagners Lohengrin aufgreift, Des Falkners Braut (ebd. 1831; nach einer Erzählung von Spindler) u. Der Bäbu (Hann. 1838). Bekanntestes Dokument der Zusammenarbeit ist die romant. Oper Der Vampyr (Lpz. 1828; nach Byrons Erzählung Lord Ruthwen), die sehr erfolgreich war u. in der Vampirsage u. Teufelspaktthema kombiniert sind: Ruthwen, der ähnlich dämonische Züge wie der Templer Bois Guilbert trägt, besitzt teufl. Verführungskunst u. muss erot. Beziehungen zerstören, um sein Leben zu verlängern. Dieser Fluch, Strafe für einen Meineid, hat ein Ende, als sein Freund Aubry seine Vampirexistenz verrät u. damit einen Schwur bricht, um seine Geliebte, die das nächste Opfer Ruthwens werden sollte, zu retten. Gottesfurcht u. reine Liebe erscheinen als Abwehrmittel gegen die erot. Faszination des Vampirs. An der Figur des Aubry wird ein Wertekonflikt zwischen männl. gegenseitiger Verpflichtung u. partnerbezogener Treue demonstriert. In seiner Neueinrichtung der Oper (Bln. 1925) hob Pfitzner die Nähe der Oper zu Wagners Fliegendem Holländer hervor. Weitere Werke: Athalia. Musik v. Johann Nep. v. Poyßl. Mchn. 1814 (nach Racine). – Der Schöffe v. Paris. Komische Oper. Musik v. Heinrich Dorn. Lpz. 1839. – Lieder u. vermischte Gedichte. Riga 1848. Literatur: Goedeke 6. – Hans Gaartz: Die Opern Heinrich Marschners. Lpz. 1912, S. 26 f. – Stefan Hock: Vampirsagen. Bln. 1900. – Carl Friedrich Wittmann: Vorw. zu ›Der Templer u. die Jüdin‹. Lpz. o. J., S. 3–21. Ursula von Keitz

Wohlbrück, Wilhelm August, * 1794 (1796?) Flensburg, † 1861 Alexandria. – Schauspieler, Regisseur u. Librettist. Wohlgemuth, Hildegard, * 11.3.1917 Wanne-Eickel, † 23.4.1994 OsterholzW. stammte aus einer berühmten SchauspieScharmbeck. – Lyrikerin, Erzählerin. lerfamilie u. hatte Engagements u. a. in Breslau (1824), Leipzig (1829 u. 1848/49), von wo er hochverschuldet fliehen musste, Mag-

W. wurde nach dem Besuch der Handelsschule Sozialhelferin u. später Lehrerin in

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Ostpreußen. Nach der Flucht 1945 nach Schleswig-Holstein studierte sie in Bonn Kunstgeschichte. 1970–1984 lebte sie in Hamburg; danach war sie in der Nähe von Bremen ansässig. W. war Mitgl. der Dortmunder Gruppe 61, die sich der Darstellung industrieller Arbeitswelt widmete. Im Bewusstsein der Antiquiertheit der Arbeiterdichtung der 1920er Jahre, experimentierte sie mit neuen sprachl. Mitteln u. erreichte damit eine Formenvielfalt, die von individueller Metaphorik getragen wird. W. bemühte sich stets, Lyrik als Mittel zur Gestaltung der Lebenserfahrung von Repression u. Ausbeutung in Arbeiterkreisen einzusetzen (Gedichte. Recklinghausen 1965). Als Erzählerin trat sie mit Kurzgeschichten sowie mit Kinderbüchern hervor. Weitere Werke: Vom Brötchen, das ein Hochzeitskuchen werden wollte. Recklinghausen 1969 (Kinderbuch). – Wen soll ich nach Rosen schicken. Wuppertal 1971 (L.). – Auch ich auch du. Bln. 1976 (L.). – (Hg.): Gesch.n aus dem Hut. Reinb. 1987 (Kinderbuch). – (Hg.): Bibel, Babel, Bebel. Lieder, Balladen, Chansons. Mchn. 1990. – An meiner Seite. Ebd. 1992 (L.). Literatur: Andrea Teubel: H. W. Frieden fängt ganz unten an. In: Lesarten Herne. Hg. Joachim Wittkowski. Herne 2002, S. 101–112. – Westf. Autorenlex. 3. Christian Schwarz / Red.

Wohlgemuth, Joachim, * 27.6.1932 Prenzlau, † 9.10.1996 Mirow/Mecklenburg. – Erzähler, Roman-, Hörspiel- u. Fernsehspielautor.

Wohlgemuth

nen Platz in der Gesellschaft findet. Die Jahre des Übergangs zur genossenschaftl. Arbeit auf dem Land bilden den Hintergrund des Romans Verlobung in Hullerbusch (ebd. 1969). In der Erzählung Das Puppenheim in Pinnow (ebd. 1983. 71989) gestaltet W. Probleme der Lehrlingsausbildung auf dem Land. Die Resonanz auf seine Werke wurde durch Fernsehverfilmungen, Hörspiel- u. Theaterfassungen Theaterfassungen verstärkt. Bei der Aufarbeitung der Geschichte des Literaturzentrums Neubrandenburg ergab sich, dass W. als Inoffizieller Mitarbeiter »Paul« bzw. »Paul Fiedler« Spitzeldienste für das Ministerium für Staatssicherheit geleistet hat. Weitere Werke: Erlebnisse eines Neugierigen. Bln./DDR 1962 (E.en). – Die Brautschau. Radio DDR 1965 (Hörsp.). – Der Vater bin ich. Bln./DDR 1977 (E.). – Blutiger Kies. Bln. 1993 (Kriminalroman). – Die Jesewitzer Affäre. Neustrelitz 1995 (R.). – Auf halbem Weg zum Glück. Bln. 1996 (Kriminalroman). – Brandzone. Ebd. 1996 (Kriminalroman). Literatur: Klaus Walther: Jugendsubjekt im Jugendobjekt. In: NDL, H. 5 (1963), S. 155–159 (zu ›Egon u. das achte Weltwunder‹). – Werner Neubert: Ewalds Charakter. In: NDL, H. 7 (1970), S. 158–161 (zu ›Verlobung in Hullerbusch‹). – Dieter Schlenstedt: Ankunft u. Anspruch. In: Kritik in der Zeit. Bd. 2, Halle 1978, S. 54–79. – Erika Becker: J. W. im Urteil seiner Leser u. Kritiker. Neubrandenburg 1988. – Christiane Baumann: Das Literaturzentrum Neubrandenburg 1971–2005. Literaturpolitik zwischen Förderung, Kontrolle u. neuer Geschichtslosigkeit. Eine Recherche. Bln. 2006. Erika Becker / Red.

W., Sohn einer Schneiderin u. eines ZimWohlgemuth, (August Heinrich Gustav) mermanns, besuchte 1950–1953 die ArbeiterOtto, * 30.3.1884 Hattingen, † 15.8.1965 u. Bauernfakultät in Potsdam u. studierte bis Hattingen; Grabstätte: ebd., Kommunal1958 Philosophie in Leipzig. Seit 1959 lebt er friedhof (Ehrengrab). – Lyriker u. Erzähals freier Schriftsteller in Mecklenburg. Geler. prägt vom »Bitterfelder Weg«, schrieb W. aus gründlicher Kenntnis u. genauer Beobach- W., sechstes von 13 Kindern eines Bergtung des ländl. Milieus u. der Lebensweise manns, wurde nach Volksschule u. abgebroJugendlicher humorvoll u. sinnlich-konkret chener Formerlehre mit 16 Jahren Bergmann. erzählte Bücher. Sein erfolgreichster Roman, 1908 u. 1909 erschienen zwei Bändchen mit Egon und das achte Weltwunder (Bln./DDR 1962. an Spät- u. Neuromantikern geschulten NaKückenshagen 311996), charakterist. Beispiel tur- u. Heimatgedichten (Gedichte. Neue Geder sog. Ankunftsliteratur, beschreibt den dichte. Beide Bochum). 1916 fand er mit Du Entwicklungsweg eines vorbestraften Ju- bist das Land [...]. Kriegsdichtungen des Bergmanns gendlichen, der mit Hilfe neuer Freunde sei- O. W. (Warendorf) Anschluss an die Arbeiter-

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dichtung, worunter er, bei Ablehnung von Wohmann, Gabriele, geb. Guyot, * 21.5. Kämpchens operativem Literaturbegriff, 1932 Darmstadt. – Erzählerin, Lyrikerin, Dichtung aus der Arbeitswelt aus eigener Dramatikerin, Hör- u. FernsehspielautoAnschauung verstand. Nach dem Krieg ge- rin. hörte W. zum »Bund der Werkleute auf Haus Nyland« u. organisierte, auch als Maler u. W. wurde als drittes von vier Kindern des Grafiker tätig, den Ruhrlandkreis, einen Zu- Pfarrers Paul Daniel Guyot u. dessen Frau sammenschluss von Schriftstellern u. Künst- Luise geboren. Ihre Kindheit fiel in die »verfluchte Nazizeit«, in der die Familie zum lern des Industriereviers. 1923 berief die Stadt Buer ihn zum Stadt- isolierten Rückzugs- u. Schutzraum gegen bibliothekar. W. galt in den 1920er Jahren als eine feindl. u. bedrohl. Außenwelt wurde. »der Dichter des deutschen Bergbaus« (Aus der Nach dem Abitur im Nordseepädagogium Tiefe. Lieder eines Bergmanns. Düsseld. 1922). Langeoog 1951 studierte W. vier Semester 1933 wurde er als SPD-Mitgl. zwangspensio- lang Germanistik, Romanistik u. Philosophie niert. Seit 1935 gelang es ihm, trotz wieder- an der Universität Frankfurt/M., wo sie Reiholter polit. Denunziation, im blühenden ner Wohmann kennenlernte, den sie 1953 Vortragswesen (HJ, Reichsarbeitsfront, heiratete. Nach kurzer Lehrtätigkeit in LanTruppenbetreuung) Fuß zu fassen u. auch zu geoog, an der Volkshochschule u. an einer veröffentlichen (neue Gedichtsammlung Aus Handelsschule in Darmstadt begann W. 1956 der Tiefe. Potsdam 1937. Volk, ich breche deine mit der Schriftstellerei. Die 1957 in der Zeitschrift »Akzente« erKohle. Erzählungen eines deutschen Bergmanns. Bln. 1936. 1943 verboten). Sein Engagement schienene Erzählung Ein unwiderstehlicher für die Wiederbelebung der Arbeiterdichtung Mann brachte ihr erste Anerkennung. W.s viel in der Nachkriegszeit u. seine Freundschaft zitierte Produktivität begann bereits in dieser mit Fritz Hüser ließen ihn trotz seiner Ver- frühen Phase: Neben einer Fülle von Kurzstrickung in die NS-Kulturpolitik program- prosa u. Erzählungen veröffentlichte sie ihmat. u. personellen Einfluss auf die Dort- ren ersten Roman, Jetzt und nie (Darmst. munder Gruppe 61 nehmen. Zum 75. Ge- 1958). In diesen Texten sind die für W. typiburtstag erschien 1959 eine von ihm getrof- schen Themenstellungen enthalten: Angst u. fene Auswahl aus dem lyr. Lebenswerk u. d. T. Einsamkeit, verkümmerte Emotionalität, die in inneren Monologen zutage treten oder in Aus der Tiefe (Münster). Literatur: Michael Klaus: O. W. u. der Ruhr- kühl referierendem, personalem Erzählen landkreis. Eine regionale Autorengruppe in der vorgeführt werden. In den 1960er Jahren nahm W. an den Weimarer Republik. Köln 1980. – Anita OverwienNeuhaus: Mythos Arbeit Wirklichkeit. Leben u. Treffen der Gruppe 47 teil, ältere Texte erWerk des Bergarbeiterdichters O. W. Ebd. 1986. – schienen erstmals in Sammelbänden; ihr Dirk Hallenberger: O. W. (1884–1965). In: Lit. v. zweiter Roman, Abschied für länger (Olten/ nebenan. 1900–1945. 60 Portraits v. Autoren aus Freib. i. Br. 1965), erhielt die Auszeichnung dem Gebiet des heutigen Nordrhein-Westfalen. »Das Buch des Monats« (Darmstadt). Die 33Hg. Bernd Kortländer. Bielef. 1995, S. 405–411. – jährige Ich-Erzählerin berichtet in resignatiFrançoise Muller: O. W. et les ecrivains du ›Ruhrlandkreis‹. In: Germanica 16 (1995), S. 59–75. – ver Verhaltenheit vom Scheitern ihrer LieUwe-K. Ketelsen: Das Motiv der Arbeit in O. W.s besbeziehung u. des Versuchs, ein neues LeLyrik-Anth. ›Ruhrland‹ (1923). In: Schreibwelten – ben zu beginnen. Ausgangs- u. Endpunkt Erschriebene Welten. Zum 50. Geburtstag der ihres stillen Ausbruchs ist die Familie, die Dortmunder Gruppe 61. Hg. Gertrude Cepl-Kauf- ihrerseits keine wirkl. Geborgenheit geben mann u. Jasmin Grande. Essen 2011, S. 101–105. kann. Volker Neuhaus / Red. Hartnäckig variiert W. in Kurzprosa u. Erzählungen bestimmte Situationstypen als Fallstudien, anhand derer sich ein düsteres Welt- u. Menschenbild vermittelt. Paarbindung u. Ehe erweisen sich bereits im Ansatz

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als Beziehungsfallen, die anstelle menschl. Wärme nur Trostlosigkeit, Unverständnis u. Langeweile versprechen (Ein netter Kerl, Die Antwort. In: Habgier. Düsseld. 1973) u. sich als reine Fassade erweisen (Sonntag bei den Kreisands. Stierstadt 1970); Gleichgültigkeit u. Lieblosigkeit machen Kinder zu hilflosen Opfern (Kompakt, Wachsfiguren. In: Habgier. a. a. O.); Familien werden als latent faschistoide Sozialsysteme decouvriert, die kleinbürgerl. Werte nach innen brutal durchsetzen u. jede Einflussnahme von außen aggressiv abwehren (Die Bütows. Stierstadt 1967. Habgier. a. a. O.). Der Roman Ernste Absicht (Darmst. 1970) rückt ein weiteres Hauptthema der Autorin in den Vordergrund: den Tod. Der Krankenhausaufenthalt der IchErzählerin wird zum Anlass für einen Rechenschaftsbericht über das eigene Dasein u. dessen mögl. Ende. Die assoziativ ausufernde Bestandsaufnahme des defizitären Privat- u. Gefühlslebens endet, wie für W. typisch, ohne Perspektive auf eine wesentl. Transformation der frustrierenden Lebenslage. Der Roman Schönes Gehege (Darmst. 1975) wird häufig als Einschnitt in W.s Schaffen bezeichnet, der aber – bei Beibehaltung der Erzählform u. Grundthematik – lediglich gradueller Natur ist: Glücksansprüche an die private Enklave werden expliziter formuliert u. partiell eingelöst. Während der Dreharbeiten zu einem TV-Porträt über ihn reflektiert der Autor Plath über sich u. sein Privatleben, wehrt sich gegen das Image, das in der Öffentlichkeit über ihn verbreitet wird, u. verteidigt sein privates Glück mit Ehefrau, Wohlstand u. geordnetem Alltag als notwendige Trostquelle angesichts einer negativ erfahrenen Umwelt u. der ständigen Bedrohung durch den mögl. Verlust geliebter Personen. Der Roman enthält implizit das dichterische Programm W.s: die Thematisierung des Privaten, des Alltags. Die Ergiebigkeit des »ziemlich Normalen« wird durch Plath wiederholt verteidigt: »Das Landläufige, das, was Unzähligen zustoßen kann, zustößt, ohne Paukenschlag, reißt keinen vom Stuhl, rüttelt keinen auf. Aber warum eigentlich nicht?« Auch nach Schönes Gehege verlässt sich W. auf ihre erprobte, professionelle Erzähltech-

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nik, mit der sie das Innenleben ihrer am Privaten leidenden Figuren ausbreitet. Meist sind es mittelständische, akademisch gebildete Figuren, die – ohne finanzielle Sorgen – ganz auf ihre emotionalen Kalamitäten konzentriert sind. Auch die Katastrophe von Tschernobyl, Hintergrund der Handlung im Roman Der Flötenton (Darmst. 1987), erschüttert die private Langeweile der Selbstbespiegeler nur kurzfristig. Offenkundig erlaubt es das aus den Texten W.s ableitbare Menschenbild nicht, dass Ereignisse u. Transformationen in der Außenwelt für eine wirkliche Entwicklung der Figuren relevant werden. Deren Unfähigkeit, aus dem inneren Ghetto eines als unbefriedigend erlebten IstZustands auszubrechen u. verändernd auf sich oder die Umwelt einzuwirken, bleibt in den neueren Erzählungen W.s (Kassensturz. Ebd. 1989) erhalten. Die in der Prosa entwickelten Themen u. Sichtweisen übertrug W. auch auf die Gattungen Drama, Hör- u. Fernsehspiel. Daneben nutzt sie das Fernsehen zur Selbstporträtierung (Schreiben müssen. Ein elektronisches Tagebuch. ZDF 1990) ebenso wie die Gedichte, in denen in einer Art komprimierter Kurzprosa Eindrücke u. Einstellungen der Autorin festgehalten sind. In den 1990er Jahren überraschte W. weiterhin mit ihrer ungezähmten Produktivität u. brachte in dichter Folge acht Erzählungsbände u. drei Romane hervor. Auch in dieser Phase ihres Schaffens blieb sie ihrem bewährten Themenkreis treu u. stellte mit handwerkl. Geschick kleine private Katastrophen u. kurze Glücksmomente dar. Doch die Kritiker konstatierten ein verstärktes Interesse der Chronistin des Alltags an den Phänomenen von Altern, Sterben u. Tod. Das zeigt sich im Roman Bitte nicht sterben (Mchn./ Zürich 1993), einer Geschichte vom Altern dreier Schwestern, deren älteste bald zum hoffnungslosen Pflegefall wird. Das Buch schließt mit der Vorahnung ihres Ablebens. Direkt vom Tod handelt W.s nächster Roman Aber das war noch nicht das Schlimmste (ebd. 1995). Hier sehen sich Verwandte u. Freunde der an Krebs erkrankten Nike schonungslos mit dem langsamen Prozess des Sterbens konfrontiert. Zwar sind alle voller Mitgefühl, stehen jedoch der Situation ratlos gegenüber.

Wohmann

Angesichts des Unausweichlichen versuchen sie, die peinl. Wirklichkeit schönzureden, oder ziehen sich zurück. 1996 erschien Das Handicap (ebd.), ein spannender »Psycho-Krimi«, mit dem die Autorin hohe Auflagen erzielt. Der Roman handelt von einer Frau, die infolge eines Treppensturzes ihr Sehvermögen vorübergehend verliert. Von da an nimmt Sue die Menschen um sie herum auf neue Weise wahr u. beginnt an der Wirklichkeit ihrer heilen Welt zu zweifeln. W.s großes Thema Tod kehrt in ihrem bisher persönlichsten Buch Abschied von der Schwester (Zürich 2001) wieder. Es ist ein Protokoll des Sterbens ihrer an einem Gehirntumor leidenden Schwester. Die Verfasserin verzichtet hier auf die Fiktionalisierung u. schreibt unverstellt autobiografisch. Wie im Roman Aber das war noch nicht das Schlimmste spricht W. von der Schwierigkeit, sich dem Tod zu stellen, u. das Schreiben avanciert hier zur Schmerztherapie. Auf den therapeutischen Aspekt des Dichtens geht W. in den Romanen Das Hallenbad (Mchn./Zürich 2000) u. Schön und gut (ebd. 2002) ein. Beide Texte zeigen pubertierende Jugendliche, die mit dem Geschichtenerfinden ihren Alltag zu bewältigen suchen. In ihrem Buch Sterben ist Mist, der Tod aber schön. Träume vom Himmel (Freib. i. Br. 2011) versucht W., sich ein Bild vom Jenseits zu machen. Das Werk enthält ihre Gespräche mit dem Journalisten u. Theologen Georg Magirius über das Ende des ird. Daseins. Die Schriftstellerin erzählt von ihren Erwartungen u. Hoffnungen, aber auch ihren Zweifeln u. Ängsten. Die Aufzeichnungen sind mit Auszügen aus W.s Büchern kombiniert. W. wurden zahlreiche Preise u. Auszeichnungen verliehen, u. a. der Georg-Mackensen-Literaturpreis (1965), der Kurzgeschichten-Preis der Stadt Neheim-Hüsten (1969), der Literaturpreis der Freien Hansestadt Bremen (1971), das Bundesverdienstkreuz I. Klasse (1980), der Hessische Kulturpreis (1988), der Konrad-Adenauer-Preis für Literatur (1992), der Montblanc-Literaturpreis (1994) u. das Große Bundesverdienstkreuz (1997); 1985 war sie Stadtschreiberin des ZDF u. der Stadt Mainz. Zudem ist sie Mitgl. der Akademie der Künste in Berlin u. der Aka-

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demie für Sprache und Dichtung in Darmstadt. Weitere Werke: Trinken ist das Herrlichste. Darmst. 1963 (E.en). – Selbstverteidigung. Prosa u. anderes. Neuwied/Bln. 1971. – Paulinchen war allein zu Haus. Darmst. 1974 (R.). – So ist die Lage. Düsseld. 1974 (L.). – Ausflug mit der Mutter. Darmst. 1976 (R.). – Vor der Hochzeit. Reinb. 1980 (E.en). – Ach wie gut, daß niemand weiß. Darmst. 1980 (R.). – Ich weiß das auch nicht besser. Mchn. 1980 (L.). – Ges. Erzählungen aus dreißig Jahren. 3 Bde., Darmst. 1986. – Das könnte ich sein. Sechzig neue Gedichte. Düsseld. 1989. – Ein gehorsamer Diener. Drei Hörsp.e. Ffm. 1990. – Das Salz bitte! Ehegesch.n. Mchn./Zürich 1992. – Der Kleine v. meiner Partei. Hauzenberg 1992 (L.). – Wäre wunderbar, am liebsten sofort. Liebesgesch.n. Mchn./ Zürich 1994. – Erzählen Sie mir was vom Jenseits. Gedichte, Erzählungen, Gedanken. Mainz 1994. – Die Schönste im ganzen Land. Frauengesch.n. Mchn./Zürich 1995. – Treffpunkt Wahlverwandschaft. Hörsp.e 1997. – Vielleicht versteht er alles. Mchn./Zürich 1997 (E.en). – Bleib doch über Weihnachten. Zürich 1998 (E.en). – Schwestern. Mchn./Zürich 1999 (E.en). – Frauen machens am späten Nachmittag. Sommergesch.n. Mchn./Zürich 2000. – Frauen schauen aufs Gesicht. Mchn. 2000 (E.en). – Komm lieber Mai. Gedichte. Mchn. 2000. – Goldene Kniekehlen. Hauzenberg 2002 (P.). – Umwege. Stgt. 2003 (E.). – Hol mich einfach ab. Mchn./Zürich 2003 (R.). – Scherben hätten Glück gebracht. Bln. 2006 (E.en). – Schwarz u. ohne alles. Bln. 2008 (E.en). – Wann kommt die Liebe. Bln. 2010 (E.en). Literatur: Ingeborg Drewitz: Sie drückt ganz schön zu, aber sie lächelt ja. Die Prosa der G. W. In: Merkur (1974), H. 10, S. 989–992. – Klaus Wellner: Leiden an der Familie. Zur sozialpatholog. Rollenanalyse im Werk G. W.s. Stgt. 1976. – Thomas Scheuffelen (Hg.): G. W. Materialienbuch. Darmst. 1977. – Irene Ferchl: Die Rolle des Alltäglichen in der Kurzprosa von G. W. Bonn 1980. – Mona Knapp: Zwischen den Fronten: Zur Entwicklung der Frauengestalten in Erzähltexten v. G. W. In: ABNG (1980), H. 10, S. 295–317. – Gerhard P. u. M. Knapp (Hg.): G. W. Königst. 1981. – Günter Häntzschel: G. W. Mchn. 1982. – Klaus Siblewski (Hg.): G. W. Auskunft für Leser. Darmst. 1982. – Manfred Jurgensen: Dt. Frauenautoren der Gegenwart. Bern 1983, S. 123–196. – Dorothea LutzHilgarth: Literaturkritik in Zeitungen. Dargestellt am Beispiel G. W. Ffm. 1984. – Hans Wagener: G. W. Bln. 1986. – Hildegard Fritsch: Spielarten der Angst in G. W.s ›Der Flötenton‹. In: Neoph. (1990), H. 3, S. 426–433. – Helga Kraft: Das Angstbild der

Wolf

515 Mutter. Versuchte u. verworfene Selbstentwürfe. In: Mütter-Töchter-Frauen. Weiblichkeitsbilder in der Lit. Hg. H. Kraft u. Elke Liebs. Stgt. 1993, S. 215–241. – Renate Da Rin: Pathologie der Familie. Untersuchung der Romane ›Abschied für länger‹ u. ›Schönes Gehege‹ v. G. W. [...]. Marburg 1995. – Benjamin Biebuyck: Gewalt u. Ethik im postmodernen Erzählen. Zur Darstellung v. Viktimisierung [...]. In: ABNG (2000), H. 49, S. 79–123. – Ders.: Weiblichkeit u. Oppressivität. Drei Frauentypen in der Erzählprosa G. W.s. In: Was bleibt? Ex-Territorialisierung in der deutschsprachigen Prosa seit 1945. Hg. Bart Philipsen u.a. Tüb. 2000, S. 133–151. – Ruta Eidukeviciene: Jenseits des Geschlechterkampfes. Traditionelle Aspekte des Frauenbildes [...]. St. Ingbert 2003. – Heidi Rehn: G. W. In: LGL. – Rosvitha Friesen Blume: Ein anderer Blick auf den bösen Blick. Zu ausgewählten E.en G. W.s aus feministisch-theoret. Perspektive. Bln. 2006. – Heinz F. Schafroth, Angelika Machinek u. Ingrid Laurien: G. W. In: KLG. Hermann Sottong / Barbara Pogonowska

Wolf, Arnoldine (Charlotte Henriette), geb. Weissel, * 21.1.1769 Kassel, † 5.3. 1820 Schmalkalden. – Lyrikerin. Die Tochter eines hess. Regierungsbeamten verlor mit vier Jahren den Vater. Die Mutter ging keine Ehe mehr ein, sondern widmete sich ganz der Erziehung ihrer vier Kinder. Zwölfjährig wurde W. der bekannten Erzieherin Friederike Bode anvertraut. Gerade 15 Jahre alt, erhielt sie selbst Angebote, als Erzieherin zu wirken, die sie jedoch ablehnte. 1788 erkrankte sie schwer an einer schmerzhaften Hautkrankheit. Um in den schlaflosen Nächten nicht zu verzweifeln, begann sie, alle ihr bekannten Lieder, Tänze u. Märsche zu singen. Dabei erfand sie aus dem Stegreif eigene, fromme Lieder: Sechs Lieder von einem jungen Frauenzimmer, das noch nie gedichtet, auf ihrem schmerzlichen Krankenlager gemacht. Von einem Freund ohne ihr Wissen und ganz unverändert zum Druck befördert (Kassel 1788). Dieser Vorgang wurde als patholog. Phänomen in der »Fürstlich Hessenkasselischen Staatsund Gelehrten-Zeitung« (Nr. 113, 16.7.1788) diskutiert. Nach ihrer Genesung heiratete W. 1791 den kurhess. Bergrat Georg Friedrich Wolf aus Schmalkalden. Trotz ihrer Pflichten als Mutter von neun Kindern veröffentlichte W., von ihrem Freund, dem »Barden [Carl

Ludwig] von Münchhausen«, gefördert, zahlreiche gefühlvolle Gedichte z. B. im »Taschenbuch für Liebe und Freundschaft« (1804), im »Morgenblatt« (1811) u. in den »Thüringer Erholungen« (1814). Kurz vor ihrem Tod 1820 erschienen W.s Gedichte, mit dem Leben und einer merkwürdigen Krankheitsgeschichte derselben (Hg. Dr. Wiß. Schmalkaden 1817). Literatur: Carl Wilhelm O. A. v. Schindel: Die dt. Schriftstellerinnen. Lpz. 1823–25. – Wilhelm Schoof: Die dt. Dichtung in Hessen. Marburg 1901. Julei M. Habisreutinger

Wolf, Christa, geb. Ihlenfeld, * 18.3.1929 Landsberg/Warthe (heute: Gorzów Wielkopolski/Polen). – Erzählerin, Essayistin. Die erstgeborene Tochter eines Lebensmittelhändlerehepaares besuchte in Landsberg die Schule; im Sommer 1945 flüchtete die Familie nach Gammelin/Mecklenburg. Nach dem Abitur 1949 in Schwerin trat W. in die SED ein. Bis 1953 studierte sie in Jena u. Leipzig Germanistik u. schrieb bei Hans Mayer eine Diplomarbeit über Hans Fallada (Das Problem des Realismus). Seit 1951 verheiratet mit Gerhard Wolf u. Mutter zweier Töchter (geb. 1952 u. 1956), arbeitete sie 1953–59 als Lektorin u. ist seitdem als freie Schriftstellerin tätig. W. erhielt u. a. 1963 den Heinrich-Mann-Preis, 1978 den Bremer Literaturpreis (für Kindheitsmuster), 1980 den Büchner-Preis, 2002 den Deutschen Bücherpreis u. 2010 den Thomas-Mann-Preis sowie den Uwe-Johnson-Preis. 1955–1977 war sie Vorstandsmitgl. des Deutschen Schriftstellerverbands (ab 1973 Schriftstellerverband der DDR). Im Juni 1989 trat sie aus der SED aus. Nach Anfängen mit der Moskauer Novelle (Halle/S. 1961) veröffentlichte W. den Roman Der geteilte Himmel (ebd. 1963, Bln. 1964. Verfilmt 1964, Regie: Konrad Wolf), mit dem sie bekannt wurde. Der Romantitel gibt bis heute sprichwörtlich die Metapher für die dt. Teilung. W. verbindet eine Liebesgeschichte mit Reflexionen über die arbeitsökonomischen Umgestaltungen in der DDR, auch unter Einbezug autobiogr. Erfahrungen bei Studienaufenthalten im VEB Waggonbau

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Ammendorf bei Halle. Auf drei Zeitebenen entfaltet sich der Roman: die Gegenwartshandlung umfasst das Schicksalsjahr 1961 von Ende August bis in den November, die erinnerte Handlung die Berufsfindungsphase des Mädchens Rita Seidel bis zu ihrer Erkrankung Ende August 1961; durch Episoden werden Erinnerungen an das Kriegsende u. exemplarische Lebensläufe von Arbeitskollegen Ritas reflektiert. Der Roman beginnt u. schließt mit der Formel: »Wir gewöhnen uns wieder, ruhig zu schlafen. Wir leben aus dem vollen, als gäbe es übergenug von diesem seltsamen Stoff Leben, als könnte er nie zu Ende gehen.« Die Erzählform u. moralische Haltung des »Wir« ist allen Zweifeln u. krit. Einwürfen der Individuen, speziell auch der Protagonistin in ihrer Erkrankungs- u. Genesungsgeschichte, im Roman übergeordnet, aber innerhalb dieses Rahmens findet der Einzelne ein Sprachrohr. So werden Sprüche wie »Der Mensch ist gut, man muß ihm nur die Möglichkeit dazu geben«, als »Unsinn« benannt; »der nackte Eigennutz« als menschliche Triebfeder lässt alle gesellschaftspolit. Umwandlungsanstrengungen als äußerst begrenzt erscheinen; für den Verlobten Manfred, der in den Westen geht, werden es »verlorene Illusionen«, die »tönenden Phrasen« will er »abschminken«. Auf dieses »Außenseitergefühl«, das die Protagonistin in Abgründigkeit auch kennt, lässt sie sich aber nicht ein, sondern wendet den Blick – etwas abrupt u. reflexiv ungeklärt, aber sicher kulturpolitisch gewollt – auf Alltagsgesten der Freundlichkeit; eine »ideologische Gesundung dieser Art« kommt nie wieder im Werk vor (Manfred Jäger). Vom Tod der Protagonistin her erzählt, gilt die Erzählung Nachdenken über Christa T. (Halle/S. 1968, Neuwied/Bln. 1969) als kulturpolitisch risikoreiches Nachdenken über das Individuum, das sich der sozialen Einbindung im Kollektiv widersetzt, u. wurde in dieser Brisanz auch so verstanden. »Die Schwierigkeit, ›ich‹ zu sagen«, treibt die IchErzählerin an, ihre Freundin u. damit auch sich selbst in 20 Kapiteln zu ergründen. Der Erinnerungs- u. Schreibprozess ist gestaltet als eine Suche, die angesichts des ausweglosen Krebstodes der Freundin dramaturgisch

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ein Schreiben gegen den Tod ist. Aus der Figurenperspektive der Protagonistin wird einer Wehleidigkeit kein Raum eröffnet: »Ich will leben und muß sterben«; die Ich-Erzählerin steigert sich mit Verve u. genialer Sprachfantasie in einen schöpferischen Akt: »Ich hätte sie leben lassen« u. verwirklicht dadurch ein poetolog. Programm: »Schreiben ist groß machen.« Überlebenstechniken der Anpassung oder Ankunft – im Sinne der gesinnungsästhetischen Ankunftsliteratur – verblassen gegenüber dieser visionären Energie, die kulturpolit. Kritik herausfordern musste, der W. aber standhielt. Mit diesem Werk nähert sich W. ihrer zentralen Leitfrage, die sie aus Johannes Bobrowskis Erzählung Boehlendorff (1964) über Friedrich Hölderlins Freund – aus dem Systemprogramm des Deutschen Idealismus – gewinnt: »Wie muß die Welt für ein moralisches Wesen beschaffen sein?« u. im Interview mit Hans Kaufmann 1973 so deutet, dass nicht der Mensch, sondern die Welt sich anpassen müsse. Kritik an Anpassungsformen bestimmt den Roman Kindheitsmuster (Bln./Weimar 1976, Darmst./Newied 1977), der eine durch das Vorwort als fiktiv markierte autobiogr. Annäherung an eine Kindheit in der NS-Zeit auf vier Zeitebenen darstellt: den Bericht einer Reise der Ich-Erzählerin an ihren Geburtsort, »nach L., heute G.«, im Juli 1971, die Erinnerung an die Ich-Erzählerin als Kind, Nelly Jordan, im Alter von 3 bis 17 Jahren, zeitgeschichtl. Notate zu weltpolitisch-kriegstreibenden Ereignissen aus der Entstehungszeit des Romans (1974, bis zum 2.5.1975), zeitphilosophische Reflexionen über das Erinnern u. Erzählen. Mit den berühmt gewordenen ersten Sätzen: »Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen. Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd« werden Verdrängungsmechanismen als Überlebenstechnik in 18 Kapiteln decouvriert: »Erinnerungslücken« bis zum »Gedächtnisverlust«, individuell als Verstummen oder Sich-Verstecken in der zweiten u. dritten Person, kollektiv als »Nachrichtensperre« verordnet. Musils Konzept der »phantastischen Genauigkeit«, nach dem »Strukturen des Erlebens sich mit den Strukturen des Erzählens decken« (Kindheitsmuster, Kap. 13)

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sollten, wird als »unglaublich verfilztes Geflecht« zum poetolog. Programm u. zur nichtlinearen Erzählmethode, die vom letzten Satz her sprachkritisch gegenüber dem Projekt zurücktritt: »mich nicht auflehnen gegen die Grenzen des Sagbaren«. Die dem Buch zugrunde liegende Frage »Wie sind wir so geworden, wie wir heute sind?« wurde wirkungsmächtig zu W.s moralischer Haltung des schonungslosen Authentizitätsanspruchs bei gleichzeitiger erkenntnis- u. sprachkritischer wie poetisch produktiver Einsicht in die Unmöglichkeit objektiver Geschichtsschreibung. Literarhistorisch hergeleitet wird die IchProblematik mit der Prosa Kein Ort. Nirgends (Bln./Weimar u. Darmst./Neuwied 1979), ein Parallelprojekt zum Hölderlin-Buch ihres Mannes (1972). Zwei Außenseitergestalten der Literaturgeschichte, Heinrich von Kleist u. Karoline von Günderode, treten – fiktiv nach einer Legende – für einige Stunden in Zwiesprache u. bleiben doch für sich: »Ich bin nicht ich. Du bist nicht du. Wer sind wir? / Wir sind sehr einsam. Irrsinnige Pläne, die uns auf die exzentrische Bahn werfen.« Mit Hölderlins Hyperion-Lebenslauf-Metapher werden hier fortschrittskritisch Erfahrungen des Scheiterns von Utopien, »Unlebbares Leben«, gerade zum Schreibanlass. Körperliche Entleibung u. geistige Erfindung treten in eine fatal korrespondierende Wechselwirkung, die in lakonisch-apodikt. Sätzen sehr befremdend wirkt. Vor allem mit dem Essay Der Schatten eines Traumes in der von W. edierten Werkausgabe zu Karoline von Günderode (Bln./DDR u. Darmst./Neuwied 1979) trieb W. (neben Franz Fühmann u. Bobrowski) eine Neubewertung der Romantik voran, die von dem Literaturwissenschaftler Georg Lukács mit dem Bannstrahl belegt worden war, die aber seit Bobrowskis Wiederentdeckung des Nicht-Klassischen zum Ort der alternativen subjektorientierten Ethik u. Ästhetik zusammen mit Gerhard Wolfs Würdigung dieses Ansatzes in seinen Bobrowski-Büchern (1967, 1971) um 1970 eine veränderte Romantikrezeption beförderte. Die Günderode ist eine Kassandra in nuce; sie geht über die Konvention des Weiblichen hinaus u. sucht in

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selbstzerstörerischer Unbedingtheit ›männliche‹ Selbstverwirklichung. Durch ihre Romantikrezeption gewinnt W. die Vorstellung einer »Mythologie der Vernunft«, in der dem antiken Mythos ein überzeitl. Aufklärungsgehalt eingeschrieben ist. Eine moderne Lesart des Mythos mit histor. u. gegenwärtigen Wegzeichen bietet die ästhetisch anspruchsvolle u. darin zgl. äußerst erfolgreiche Erzählung Kassandra (Bln./Weimar u. Darmst./Neuwied 1983). Kassandra ist nicht verrückt u. auch nicht länger eine mysteriöse Seherin mit magischen Kräften von irgendwoher, sondern eine Frau mit Geist u. Sinnen, mit Kopf u. Herz. In ihrem Reflexionsmonolog, der immer auch innerer Dialog mit ihren Mitmenschen ist, gestaltet die Ich-Erzählerin eine weibl. Perspektive unter dem Leitwort »Angst- und Gefühlsgedächtnis« gegen den ›Fortschritt der Fühllosigkeit‹. Diese krit. Haltung ist durch Klarheit u. Schonungslosigkeit gegenüber sich selbst bestimmt; voller Empathie werden die Verletzungen u. Ungerechtigkeiten gegenüber anderen durchschaut, in Träumen zu Ende gedacht u. perspektiviert sowie sprachskeptisch umkreist. Im Traum vom gleichzeitigen Erscheinen des Sonnengottes, Phöbus Apollon, u. der Mondfrau Selene sind die männlich-aggressiv-todsuchende u. die weiblich-friedliebend-lebensnahe Position in kosm. Konstellation gebracht. Verbündete Männer wie Anchises, des Geliebten Aineias’ Vater, sind solidarisch, weil sie erkennen, »wie man mit beiden Beinen auf der Erde träumt«. Darin verweigern sie sich der Macht- u. damit Kriegspolitik, wenn sie auch den »Sprachkrieg« mitspielen müssen u. auch nur im Schmerzbewusstsein der Vergeblichkeit verharren: »Gegen eine Zeit, die Helden braucht, richten wir nichts aus«; dennoch: »mein Teil war, nein zu sagen«; die polit. Spitze gegen jede Form von ›Übereinstimmungssucht und -besessenheit‹ ist unüberhörbar, der »Wahn-Sinn als Ende der Verstellungsqual« wird gerechtfertigt. In ihren fünf Frankfurter Poetik-Vorlesungen legte W. die Annäherung an das Thema in Form des Berichtes von einer Griechenlandreise u. von Gesprächen mit Freunden über die Wirkung der Kunst als anthropologisch-

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polit. Kulturkritik dar: »Erzählen ist human und bewirkt Humanes, Gedächtnis, Anteilnahme, Verständnis – auch dann, wenn die Erzählung teilweise eine Klage ist über die Zerstörung des Vaterhauses, den Verlust des Gedächtnisses, das Abreißen von Anteilnahme, das Fehlen von Verständnis.« Die Voraussetzungen einer Erzählung (Darmst./Neuwied 1983) sind in ihrer Sprach- u. gender-Kritik auch als Hommage an I. Bachmann zu sehen. W. setzte durch, dass bei der Veröffentlichung in der DDR durch Zensur wegen Kriegskritik gestrichene Teile kenntlich gemacht wurden, ein einmaliger zivilcouragierter Akt. Apokalyptische Alltagssituationen werden in drei folgenden Werken bemerkenswert aktualisierend analysiert: In Störfall. Nachrichten eines Tages (Bln./Weimar u. Darmst./ Neuwied 1987) wird die Dialektik der Technik aufgezeigt, wenn an einem Tag der Reaktorunfall von Tschernobyl u. die Gehirnoperation des jüngeren Bruders der Erzählerin korrespondieren. Sommerstück (Bln./Weimar u. Ffm. 1989), nach Aussage der Autorin ihr persönlichstes Buch, lässt – unter verschlüsseltem Rückbezug auf Bobrowskis letzten Roman Litauische Claviere (1965) – die Frage nach der Ethik u. Utopie in Künstlerkreisen zu Zeiten polit. Desillusionierung klar hervortreten u. findet eine Antwort in der Leben u. Tod integrierenden Sehnsuchtslandschaft der Fantasie. Die im Sommer 1979 geschriebene, im Nov. 1989 überarbeitete u. im Frühsommer 1990 nach dem Zerfall der DDR veröffentlichte Erzählung Was bleibt (Bln./Weimar u. Ffm.) verdeutlicht die Wirkung von Überwachung auf Überwachte wie Überwachende am Beispiel autobiografisch erfahrener Abhörpraktiken der Staatssicherheit 1979 u. entfachte einen erbitterten Literaturstreit. Dieser führte als erster Literaturstreit des vereinten Deutschland unter dem von Wolf Biermann formulierten Paradox »Es geht um Christa Wolf – es geht nicht um Christa Wolf« zu grundsätzl. Reflexionen, zum Verhältnis von Literatur u. Politik, sowohl für die Utopien der Linksintellektuellen als auch die ihrer Kritiker, zum Verhältnis der Generationen des ›Dableibens und Gehens‹ in der DDR

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sowie zum Verhältnis von Moral/Gesinnung/ Humanität u. Ästhetik. Der Herausgeber der einschlägigen Dokumentation (Mchn. 1991), Thomas Anz, fasst zusammen: »Die Kritiker Christa Wolfs können es sich leicht machen, sie brauchen nur abzuschreiben, was die Autorin an kritischen Einsichten über sich selbst mitgeteilt hat. Wohl kein Autor aus der DDR hat während der Ereignisse der Jahre 1989 und 1990, aber auch schon vorher, soviel Trauerarbeit über den Verlust ehemaliger Hoffnungen geleistet und so stark auf kritische Selbstbefragung gedrungen wie sie.« Allerdings wurden diese grundsätzl. Fragen literaturpolitisch tagesaktuell an Schärfe u. Häme übertroffen, als W. am 21.1.1993 unter dem Titel Eine Auskunft ihre Entdeckung vom Mai 1992 bekannt machte, dass in den Akten der Gauck-Behörde in Berlin eine Stasi-Akte über sie von 1959 bis 1962 zunächst als »GI« (Geheimer Informant), dann »IM« (Informeller Mitarbeiter) unter dem Namen »Margarete« existiert. Wo W. sich selbst als »ideologiegläubig, eine brave Genossin« analysiert, sah die Presse Feigheit u. Demontage einer moralischen Instanz; dass W. 1955–1959 u. nach 1962, seit 1965 systematisch unter dem Operativen Vorgang »Doppelzüngler«, von der Stasi beobachtet wurde, fand kaum Beachtung. In dem von W. angeregten Band Akteneinsicht Christa Wolf. Zerrspiegel und Dialog. Eine Dokumentation (Hg. Hermann Vinke. Hbg. 1993) ist das aus der Distanz »übertriebene« Medienereignis dokumentiert; exemplarisch sei Christoph Hein genannt, mit dem W. in der »Unabhängigen Untersuchungskommission zu den Ereignissen am 7./8. Oktober in Berlin« zu Polizeiübergriffen 1989 saß u. der die folgende, schon damals decouvrierende Einschätzung der unhistor. Aufgeregtheit gibt: »Der Waschzwang ist da, also muß gewaschen werden« (Freitag, 29.1.1993). In dem Band Auf dem Weg nach Tabou. Texte 1990–1994 (Köln 1994) dokumentiert W. den Vorgang der Zermürbung durch den Text Rückäußerung. Auf den Brief eines Freundes (Volker Braun) in innovativer lyrisch-analyt. Reflexionsform aus ihrem zeitweiligen ›Exil‹ vor den dt. Medien in Santa Monica (Sept. 1992 – Juli 1993).

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In Kalifornien trieb W. auch ihr zweites mytholog. Buch voran, Medea. Stimmen ([Mchn.] 1996). Dabei vollzieht sie – unter dem Eindruck der gegen sie selbst durchgeführten »Hetzkampagne«, »Hexenjagd« – durch inversive Lektüre einen Freispruch für die vermeintl. Bruder- u. Kindsmörderin Medea, die, da sie Machtintrigen aufdeckt, zum Sündenbock gemacht u. geopfert wird; W.s Leistung wird als Anti-Euripides in der Rezeptionsgeschichte des Mythos hochgeschätzt (Mythos Medea. Hg. Ludger Lütkehaus. Lpz. 2001). In der aus einer Anti-Opfer-Haltung geprägten Erzählung Leibhaftig (Mchn. 2002) erscheint W.s Werk auf einem Höhepunkt. Die Poetologie u. Poesie der Wahrhaftigkeit findet ihr Korrelat in der Authentizität des Hautnah-an-sich-Heranlassens u. des Sichzu-Herzen-Nehmens, das zu einer ›Leibhaft‹ führt, ein Haften mit Haut u. Haar für die gewählte Lebensform mit allen Gefährdungen von Innen u. Außen, unter der anspruchsvollen, strengen Kritik der inneren Gedankenbühne, ein Zugleich als Richterin u. Angeklagte. Im Wechsel von personaler u. Ich-Perspektive, zwischen Außen- u. Innensicht, wird ein Krankenhausaufenthalt W.s wegen eines lebensbedrohl. Zusammenbruchs des Immunsystems zur Metapher der Hades- oder Purgatoriumsfahrt (im Gedenken an Fühmann auch als Bergwerk-Abstieg), radikalisiert in Träumen eines ›Grablabyrinthes der nicht zur Welt gebrachten Kinder‹, in die Abgründe des eigenen Lebens im Nationalsozialismus u. im Sozialismus. Mit der Sprache von Goethe- u. Bachmann-Gedichten wehrt sich die Kranke gegen die Bedrohung durch den »Doppelsinn« der Worte, gegen das Unrecht, das Verdrängte, das Verstecken u. Verschweigen der Wunden. Erst durch die nüchterne medizinische Feststellung, dass sich im Leib die Verletzungen durch Leid spiegeln u. deshalb ernst genommen werden dürfen u. müssen, wird die Widerstandskraft als Lebensmut geweckt, der Tod als Drohung wird zum Mittel des Lebens. Die Kranke lebt als wache, unbestechl., bis zur Idiosynkrasie gewissenhafte Zeugin im Schlachtfeld der Sprüche u. Wider-Sprüche. Die Metaphern von Anamnese, Diagnose u. Therapie wurden

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in W.s poetolog. Essays auf der Basis von Musils literar. Erkenntnis im »Generalsekretariat von Genauigkeit und Seele« u. auch schon im Roman Der geteilte Himmel als »phantastische Genauigkeit«, als krit. Wendung der Realismus-Formel, beschworen. Es ist nicht mehr die myth. Ekstase, die Klarsicht gibt, sondern – ohne die Masken des Mythos – die Klarsicht, die in Ekstase versetzt (I. Harms). In der Erzählung konzentrieren sich die im Gesamtwerk durchgehend angedeuteten körperl. Zusammenbrüche in Autoren-, Freundinnen- u. Figuren-Biografien kathartisch. »Daß ich dem Augenblick, in dem jede Maske, jede Verstellung abfällt und nichts bleibt als die nackte Wahrheit, die allerdings Leiden heißt, einen Hauch von Genugtuung abgewinne: So ist es also.« Mit bes. Ernst angesichts der Todesursache einiger ihrer Schriftstellerfreunde (Fühmann) u. -freundinnen (Brigitte Reimann, Maxie Wander) sowie Figuren (Christa T.) wendet sich W. dem Tabuthema Krebs im Vortrag Krebs und Gesellschaft anlässlich der Jahresversammlung der Deutschen Krebsgesellschaft im Nov. 1991 zu, wo sie angesichts der Erfahrungen von Fremdbestimmtheit in der Krankheit die Förderung der Autonomie des Patienten durch Kunst fordert u. Musils Utopie des Wiederzusammenkommens der auseinanderstrebenden »beiden Zweige am Baum der Erkenntnis«, »Wissenschaft und Kunst«, aufnimmt. Hier wird das Werkleitmotiv, durch Krankheiten als Signale des Körpers bei Erfahrungen der Sprachlosigkeit zur Ruhe u. damit zur Lektüre (v. a. ein Band mit GoetheGedichten) gezwungen zu sein, produktiv gewendet. Aber auch bis ins Satirehafte gerät die Medizinkritik in der Erzählung Leibhaftig, wie schon der experimentelle Selbstversuch (1972) einer wissenschaftlich motivierten Geschlechtsumwandlung. Die Erzählungen (1981) erweisen sich als Romane in nucleo. Das Thema der Erinnerung im Roman Kindheitsmuster liegt konzentriert vor in der Erzählung Blickwechsel (1970): »und ich höre wieder das feine Geräusch, mit dem der biedere Zug Wirklichkeit aus den Schienen springt und in wilder Fahrt mitten in die dichteste, unglaublichste Unwirklichkeit

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rast, so daß mich ein Lachen stößt, dessen Ungehörigkeit ich scharf empfinde«. Das Interesse an den Gestalten der Romantik (Ins Ungebundene gehet eine Sehnsucht. Gesprächsraum Romantik. Zus. mit Gerhard Wolf. Bln./Weimar 1985. Ffm./Lpz. 2008 [mit dem Untertitel Projektionsraum Romantik]) liegt im Traumspaziergang Unter den Linden (1969) in der Wandlung vom Gekränktsein als ein in Krankheit u. Todes(sehn)sucht sich erstreckendes Sich-Verstecken vor der Wirklichkeit bis zum hoffend erwarteten u. schließlich selbstbefreienden Da-Herauskommen durch die Kunst. Wie Büchner versucht sie – nach ihrer Büchnerpreisrede – bis zur Zerreißprobe »die Sprachen von Politik, Wissenschaft und Literatur«, die »inzwischen unrettbar weit voneinander weggetrieben sind«, in einer Person zusammenzuhalten. In Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud (Ffm. 2010) beschreibt W. unter dem in einer Vorbemerkung eingeklagten Schutzschirm der Fiktion ihren US-Aufenthalt als Stipendiatin des Getty Centers in Santa Monica vom Sept. 1992 bis Juli 1993, als gleichzeitig ihre IM-Vergangenheit öffentlich wurde. Die langen u. hohen Erwartungen an den Roman stehen unweigerlich unter der Frage, wie W. mit dem Vergessen dieser Vergangenheit umgeht; wer hier eine erhellende Antwort erwartet, wird enttäuscht. Innerhalb der »Patchwork-Leben«-Erzähltechnik des Romans treten alle pittoresken Detailschilderungen in den Kontext einer Selbstrechtfertigung, in der W. die Ideologie des Antifaschismus der DDR bemüht u. dazu dt.-jüd. Exilanten als Gewährsleute wählt. Los Angeles ist so einerseits Brechts Stadt der Teufel (die bösen Amerikaner mit Geld-Religion, Irak-Imperialismus u. Kommunismus-Phobie), andererseits Benjamins Traumstadt mit »Angelus Novus«, figuriert in der schwarzen Reinigungskraft Angelina als Schutzengel der Utopie trotz Scheiterns u. in den Zirkeln der dt.-jüd.-amerikan. Kulturtreibenden. Zum Schreiben auf Hoffnung hin sei W. (nur) durch die Konflikte getrieben, die sie in der DDR-Gesellschaft hatte. So bleibt dieser Staat für sie das »kleinere«, »Andere Deutschland«, in dem sich Antifaschisten u. Künstler aufgehoben fühlen durften. Überblendungen

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zum Exil, sowohl jüd. Autoren als auch Thomas Manns als Verfolgten des NS-Regimes, führen – in einer Synthese von polit. Haltung u. Schreibhaltung – zur »doublebind«-Situation von Schmerzerfahrung wie -vermeidung, verallgemeinert bis zum endzeitl. Blick auf untergehende Völker wie Hopi-Indianer, DDR-Bürger u. die gesamte Menschheit angesichts der Atomgefahr. Die im Untertitel bemühte »Fetisch«-Metapher eines Freud’schen Mantels, der als Schutzschild über- oder weggezogen wird, trägt ebenso wenig wie die zahlreichen Tagebuchu. Traumeinsprengsel dazu bei, die mangelnde Schonungslosigkeit in W.s »Version der Geschichte« als Überlebensstrategie zu rechtfertigen. Weitere Werke: Lesen u. Schreiben. Aufsätze u. Betrachtungen. Bln./Weimar u. Darmst./Neuwied 1972. Erw. Ausg. u.d.T.: Lesen u. Schreiben. Neue Slg. Essays, Aufsätze, Reden. Darmst./Neuwied 1980. – Till Eulenspiegel. Erzählung für den Film (zus. mit Gerhard Wolf). Bln./Weimar u. Darmst./ Neuwied 1973. Verfilmt 1975, Regie: Rainer Simon. – Erzählungen. Bln./Weimar 1985. – Die Dimension des Autors. Essays u. Aufsätze, Reden u. Gespräche 1959–1985. 2 Bde., ebd. 1986, Darmst./ Neuwied 1987. – Ges. Erzählungen. Bln./Weimar 1989. – Reden im Herbst. Bln./Weimar 1990. – Brigitte Reimann, C. W.: Sei gegrüßt u. lebe. Eine Freundschaft in Briefen 1964–1973. Hg. Angela Drescher. Bln./Weimar 1993. – Was nicht in den Tagebüchern steht. Mit Lithografien v. Helga Schröder. Bln. 1995. – C. W., Franz Fühmann: Monsieur – wir finden uns wieder. Briefe 1968–1984. Hg. v. A. Drescher. Bln. 1995. – Hierzulande Andernorts. Erzählungen u. a. Texte 1994–1998. Mchn. 1999. – Wüstenfahrt. Mit Abb.en v. Günter Uecker. Bln. 1999. – Ein Tag im Jahr. 1960–2000. Mchn. 2003. – C. W., Anna Seghers: Das dicht besetzte Leben. Briefe, Gespräche u. Essays. Hg. A. Drescher. Bln. 2003. – C. W., Charlotte Wolff: Ja, unsere Kreise berühren sich. Briefe. Mchn. 2004. – Der Worte Adernetz. Essays u. Reden. Ffm. 2006. Ausgabe: Werke. Hg., komm. u. mit einem Nachw. vers. v. Sonja Hilzinger. 12 Bde., Mchn. 1999–2001. Literatur: Martin Reso (Hg.): ›Der geteilte Himmel‹ u. seine Kritiker. Halle 1965. – Manfred Behn (Hg.): Wirkungsgesch. v. C. W.s ›Nachdenken über Christa T.‹. Königst./Ts. 1978. – Klaus Sauer (Hg.): C. W. Materialienbuch. Darmst./Neuwied

521 1979. Neue, überarb. Aufl. Ebd. 1983. – Wolfram Mauser (Hg.): Erinnerte Zukunft. 11 Studien zum Werk C. W.s. Würzb. 1985. – S. Hilzinger: C. W. Stgt. 1986. – Alexander Stephan: C. W. Mchn. 4 1987. – Uwe Wittstock: Über die Fähigkeit zu trauern. Das Bild der Wandlung im Prosawerk v. C. W. u. Franz Fühmann. Ffm. 1987. – Ansprachen. Darmst. 1988. – Angela Drescher (Hg.): C. W. Ein Arbeitsbuch. Studien, Dokumente, Bibliogr. Bln./ Weimar 1989, Ffm. 1990 (mit Auswahlbibliogr. 1961–87 v. Rosemarie Geist u. Maritta Rost). – Therese Hörnigk: C. W. Bln./DDR 1990. – Thomas Anz (Hg.): ›Es geht nicht um C. W.‹. Der Literaturstreit im vereinten Dtschld. Mchn. 1991. Erw. Neuausg. Ffm. 1995. – Karl Deiritz u. Hannes Krauss (Hg.): Der dt.-dt. Literaturstreit oder ›Freunde, es spricht sich schlecht mit gebundener Zunge‹. Analysen u. Materialien. Hbg./Zürich 1991. – Maria Behre: Die Moralität des Ich-Sagens. Johannes Bobrowskis Prosa als Anregung zum Schreiben bei C. W. In: Le roman allemand contemporain. Transversales. Hg. Jean-Jacques Pollet. Lille 1993, S. 115–129. – Heinz Ludwig Arnold (Hg.): C. W. (Text + Kritik. H. 46). Mchn. 41994. – Birgit Henriette Ulrike Ebert-Zacovic: Romantikrezeption in der DDR. C. W. u. Gerhard. Ann Arbor, Michigan 1994. – Jörg Magenau: C. W. Eine Biogr. Reinb. 2003. – Ders.: C. W. In: LGL. – Katharina Theml: Fortgesetzter Versuch. Zu einer Poetik des Essays in der Gegenwartslit. am Beispiel v. Texten C. W.s. Ffm. u. a. 2003. – Peter Böthig (Hg.): C. W. Eine Biogr. in Bildern u. Texten. Mchn. 2004. – S. Hilzinger: C. W. Ffm. 2007. – Frauke Meyer-Gosau, Hans-Michael Bock, Volker Hammerschmidt u. Andreas Oettel: C. W. In: KLG. Maria Behre

Wolf, Friedrich, auch: Christian Baetz, Hans Rüedi, Dr. Isegrimm, * 23.12.1888 Neuwied, † 5.10.1953 Lehnitz bei Oranienburg; Grabstätte: Berlin-Friedrichsfelde, »Gedenkstätte der Sozialisten«. – Dramatiker, Filmszenarist, Erzähler; Arzt. W., der einer bürgerlich-jüd., rheinischpreuß. Familie entstammte, besuchte die jüd. Volksschule u. das Gymnasium in Neuwied, schloss sich der Wandervogel-Bewegung an, studierte kurzzeitig Kunstgeschichte in München, dann Medizin in Tübingen, Bonn u. Berlin. 1913/14 war er Schiffsarzt beim Norddeutschen Lloyd, danach Truppenarzt an der Front, schließlich kriegsdienstverweigernder Lazarettarzt. Im Sommer 1918 wur-

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de W. zum Mitgl. des Zentralrats der sächsischen Arbeiter- und Soldatenräte gewählt. Als Stadtarzt von Remscheid nahm er aktiv an der Niederschlagung des Kapp-Putsches teil. 1921 versuchte W. zusammen mit Heinrich Vogeler auf dessen »Barkenhoff« in Worpswede mit Kriegsheimkehrern eine »sozialistische Siedlungszelle« zu begründen. Er praktizierte seit Nov. 1921 als Arzt in Hechingen u. Höllsteig/Bodensee, seit 1927 in Stuttgart. 1928 trat er in die KPD ein, 1932 gründete u. leitete er die Agit-Prop-Gruppe »Spieltrupp Südwest« u. arbeitete im Volksfilmverband u. im Arbeitertheaterbund mit. 1933 emigrierte W. über Österreich, die Schweiz u. Frankreich in die Sowjetunion (Aufenthalte 1933–1938 u. 1941–1945). 1943 wurde er Mitbegründer u. Frontbeauftragter des »Nationalkomitees Freies Deutschland«. Nach seiner Rückkehr nach Berlin 1945 arbeitete W. beim Aufbau des Rundfunks u. des Filmwesens der SBZ/DDR mit. 1950/51 war er Botschafter der DDR in Polen u. lebte danach als freier Autor in Lehnitz bei Oranienburg. 1949 u. 1950 erhielt er den Nationalpreis der DDR. W. ist der Vater des Filmregisseurs Konrad Wolf (1925–1982. Direkt in Kopf und Herz. Aufzeichnungen, Reden, Interviews. Bln./DDR 1989) u. des langjährigen leitenden Mitarbeiters des Staatssicherheitsdienstes der DDR, Markus Wolf (1923–2006; vgl. dessen Erinnerungen an die Exilzeit in der Sowjetunion, Die Troika. Düsseld. 1989, die »Bekenntnisse und Einsichten« In eigenem Auftrag. Mchn. 1991, die »Erinnerungen« Spionagechef im geheimen Krieg. Ebd. 1997 sowie Die Kunst der Verstellung. Dokumente, Gespräche, Interviews. Hg. Günther Drommer. Bln. 1998 u. Freunde sterben nicht. Ebd. 2002). W. schrieb anfangs Lyrik, Prosa u. Dramatik im expressionistischen Ton; erfolgreich war die Ehetragödie Das bist du (Urauff. Dresden 1919). In der Zeit der Annäherung an die KPD wandte sich W. zuerst historischen (Der Arme Konrad. Urauff. Stgt. 1924), dann, mit sehr großem Erfolg, aktuellen Themen zu: Von ihm so genannte »kollektive« Helden erleben die sozialen Folgen des § 218 (Cyankali. Urauff. Bln. 1929. Verfilmt 1930), einen Matrosenaufstand am Ende des Ersten Weltkriegs (Die Matrosen von Cattaro.

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Urauff. ebd. 1931), den Klassenkampf in China (Tai Yang erwacht. Urauff. ebd. 1930). 1928 wies W. in einem Vortrag vor dem Berliner Arbeitertheaterbund dem Künstler unter der Losung »Kunst ist Waffe« seinen Platz an der Seite der Arbeiterklasse zu: Aus dem religiösen Sozialisten, dem Pazifisten, dem Sozialethiker (Die Natur als Arzt und Helfer. Stgt. 1928) war ein Agitationsdramatiker geworden, der, sprachlich ohne Originalität, mit massenwirksamen Stoffen u. Helden in die Klassenkämpfe der Weimarer Republik eingriff. W. nutzte auch als einer der ersten das neue Medium Radio: Sein Hörspiel SOS... Rao Rao... Foyn ›Krassin‹ rettet ›Italia‹ (Erstsendung 1929. Buchausg. Stgt. 1930) schildert die Rettung ital. Luftschiffer durch einen sowjetischen Eisbrecher. W.s größter Erfolg wurde Professor Mamlock, entstanden 1933 im Pariser Exil (Urauff. in jidd. Sprache Warschau 1934. Deutschsprachige Erstaufführung u. d. T. Professor Mannheim Schauspielhaus Zürich 1934. Erste Buchausg. u. d. T. Doktor Mamlocks Ausweg – Tragödie der westlichen Demokratie. Moskau 1935. Neuausg. unter dem urspr. Titel. Bln. 1952. Stgt. 2009. In der Sowjetunion verfilmt 1938. DEFA-Verfilmung durch Konrad Wolf 1961): Ein dt.-jüd. Mediziner erschießt sich, als er einen jüd. Krankenwärter nicht vor den Nationalsozialisten retten kann. Im Exil versuchte W. vor allem durch Prosaarbeiten (Der Russenpelz. Moskau 1942. Heimkehr der Söhne. Ebd. 1944) politisch wirksam zu bleiben. Der Roman Zwei an der Grenze (Zürich/New York 1938) beschreibt den antifaschistischen Kampf in der Emigration. In einem Brief an Stalin (24.7.1945) warnte W. früh vor einem wiedererwachenden Antisemitismus in der Sowjetunion. Sein Bemühen, das Theater durch die Darstellung großer Charaktere in Zeitstücken zu erneuern, blieb nach 1945 fast ganz erfolglos der »Verfremder« Brecht siegte mit seiner Dramaturgie über den »Aristoteliker« W., zudem brauchten Partei u. Staat bei der Sammlung der »antifaschistischen Kräfte« die Kunst nicht mehr als »Waffe«. Erfolgreich waren W.s filmische Abrechnung mit dem IG Farben-Konzern, Der Rat der Götter (1950), das Lustspiel Bürgermeister Anna (Verfilmt 1950.

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Urauff. als Drama Dresden 1950), seine Märchen u. Tiergeschichten (Bummi. Bln./DDR 1951), das Schauspiel Thomas Münzer (Filmszenario 1953. Urauff. als Drama Bln./DDR 1953). Weitere Werke: Ausgaben: Ges. Werke. Hg. Else Wolf u. Walther Pollatschek. 16 Bde., Bln. 1960–68. Neudr. Bde. 1–6, 1988. – Briefw. Hg. dies.n. Ebd. 1968 (Ausw.). – Briefe. Eine Ausw. Hg. dies.n. Ebd. 1969. – Einzeltitel: Das Heldenepos des Alten Bundes. Aufgespürt in dt. Worten v. F. W. Stgt./Bln./Lpz. 1925. – Kreatur. Bln. 1926 (R.). – Kolonne Hund. Urauff. Hbg. 1927. – John D. erobert die Welt. Urauff. als Hörsp. Bln. 1930. Urauff. als Drama ebd. 1932. – Die Jungens v. Mons. Urauff. ebd. 1931. – Floridsdorf. Urauff. Toronto 1936 u. Dresden 1953. Buchausg. Moskau 1935. – Beaumarchais. Urauff. Bln./SBZ 1946. – Wie Tiere des Waldes. 1946. Urauff. Lpz. 1948. – Das Schiff auf der Donau. 1938. Urauff. Bln./DDR 1955. Literatur: Emmi Wolf u. Klaus Hammer: ›Cyankali‹ v. F. W. Eine Dokumentation. Bln./Weimar 1978. – K. Hammer: Weltanschaul. Entwicklung u. ästhet. Konzeption F. W.s v. den Anfängen bis 1929. Diss. Jena 1984. – Hermann Haarmann u. Klaus Siebenhaar: Lebensform u. Tendenzkunst. Zum Frühwerk F. W.s. In: IASL 10 (1985), S. 113–134. – Lew Hohmann: F. W. Bilder einer dt. Biogr. Bln./DDR u. Bln. 1988. – Ruth Herlinghaus (Hg.): F. W. u. der Film. Aufsätze u. Briefe 1920–53. Ebd. 1988. – Henning Müller (Hg. u. Komm.): F. W. – Weltbürger aus Neuwied. Selbstzeugnisse [...]. Neuwied 1988. – Ders.: Wer war Wolf ? [...]. Köln 1988. – ›Mut, nochmals Mut, immerzu Mut!‹ Protokollbd. des Internat. F.-W.-Symposions Neuwied 1988. Hg. Volkhochschule Neuwied u. F.-W.-Archiv Lehnitz. Neuwied 1989. – E. Wolf u. Brigitte Struzyk (Hg.): ›Auf wieviel Pferden ich geritten...‹. Der junge F. W. Eine Dokumentation. Bln./Weimar 1989. – Gerald Diesener: F. W. u. das Nationalkomitee ›Freies Dtschld.‹. In: Ztschr. für Geschichtswiss. 38 (1990), S. 689–699. – Michael Kienzle u. Dirk Mende: ›Her mit dem hellen, gesunden, wohnl. Eigenheim!‹ Dr. F. W. Stgt. Zeppelinstraße 43. Marbach am Neckar 1992. – Lutz Neitzert: Verzeiht, daß ich ein Mensch bin. Leben u. Werk des Arztes u. Dramatikers F. W. Neuwied 1998. – Rainhard May u. Hendrik Jackson (Hg.): Filme für die Volksfront. Erwin Piscator, Gustav v. Wangenheim, F. W. – antifaschist. Filmemacher im sowjet. Exil. Bln. 2001. – F.-W.-Gesellsch. (Hg.): F. W. 2003. Zum 50. Todestag F. W.s. Lehnitz 2003. – Christel Berger: F. W. 1953. Eine unvollständige Biogr. rückwärts. Bln. 2006. – Einspruch. Schriftenreihe der F.-W.-Gesellsch. Bln. 2007/Marburg

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523 2010. – H. Müller: F. W. (1888–1953). Dt. Jude – Schriftsteller – Sozialist. Teetz/Bln. 2009. Konrad Franke / Red.

Wolf, Friedrich August, * 15.2.1759 Hainrode bei Nordhausen, † 8.8.1824 Marseille. – Klassischer Philologe. Es ist eine (fromme) Legende, dass dieser Schulmeister- u. Kantorensohn aus der Grafschaft Hohnstein der Erste gewesen sei, der sich als Philologiae Studiosus an einer dt. Universität immatrikulierte; jedenfalls tat er es am 8.4.1777 auf eigenen Wunsch u. wischte den Einwand, für dieses brotlose Studium gebe es nur ein paar Stellen in Deutschland, mit dem Hinweis weg: dann wäre eben eine für ihn darunter. Vorläufer in diesem Fach hatte er indessen selbst in Göttingen, wo er mit einer schier unglaubl. Energie größtenteils im Selbststudium seine seit dem sechsten Lebensjahr begonnenen Studien der klass. Sprachen u. Literatur zu exzellenter Kenntnis vertiefte – bizarre Techniken des Wachhaltens werden von ihm berichtet. Nicht zuletzt durch den Widerspruch (kein Zug charakterisiert sein Leben u. Werk besser als dieser) erfuhr er nachhaltige Prägung in Christian Gottlob Heynes berühmtem altphilolog. Kolleg u. Seminar, das er nicht nach-, sondern detailliert vorbereitete. W. blieb in Göttingen bis Ostern 1778; wurde 1779 Lehrer in Kloster Ilfeld, weil Heyne, der diese einzige Staatsschule in Kurhannover zu beaufsichtigen hatte, auf ihn aufmerksam geworden war. 1782 dann, nachdem er kurzerhand ohne sichere Subsistenz für einen Hausstand Sophie Hüpeden geheiratet hatte, musste er eine besser bezahlte Stelle suchen; nach einer fulminanten Probelektion stieg er zum Rektor der Stadtschule in Osterode/Harz auf. 1783 erreichte er endlich den erstrebten Stand, wurde zum Professor für Philologie u. Pädagogik in Halle berufen, zu übrigens erbärml. Konditionen. Aber W. war bereit, zu einem Drittel des Gehalts, mit dem er Lehrer in Gera hätte werden können, die hallische Professur anzunehmen. Dort erschienen 1795 seine Prolegomena ad Homerum I (Übersetzung ins Deutsche von

Hermann Muchau. Lpz. 1908. Tl. II kam nicht zustande). Sie erregten einiges Aufsehen, machte doch erstmals ein Forscher darin plausibel, dass die als Werke Homers gelesenen Epen nicht oder jedenfalls nicht in dieser Gestalt von einem Dichter stammen könnten (wer sei denn Homer gewesen vor dieser »mutigen Geistestat«, wird Nietzsche 1869 in seiner Antrittsvorlesung fragen). Diese revolutionierende Schrift wurde von Schiller zunächst begrüßt, dann heftig angegriffen (Epigramm Die Homeriden), von Goethe verteidigt (Annalen. 1797) u. später abgelehnt (er wolle die homerischen Gedichte lieber als Einheit empfinden). Ein Werk von ungewöhnl. Wirkung also, in dessen 51 Kapiteln W. auf der Basis von vier Hauptuntersuchungen (zum Alter der Schreibkunst, zur Tätigkeit des Rhapsoden, zur Uneinheitlichkeit des homerischen Werks u. zu seiner Redaktion durch Peisistratos) eine völlige Umwertung durchsetzte u. einen jahrzehntelang anhaltenden, noch im 20. Jh. in der Altphilologie u. über sie hinaus nachwirkenden Streit heraufbeschwor. Verkleinernde Kommentare, wie »das habe man sich schon immer gedacht«, fertigte W. in den Briefen an Heyne, eine Beilage zu den neuesten Untersuchungen über Homer (Bln. 1797) ab, die in ihrer geistreichen Ironie als Muster gelehrter Polemik gelten können. Neben der Lehre forschte W. über Probleme der Textkritik, Echtheit, Übersetzung u. Interpretation v. a. bei Hesiod, Aristophanes, Platon, Lukian, Horaz u. Cicero. Ehrungen blieben nicht aus, doch lehnte er Berufungen nach Leiden (1797), Kopenhagen (1798) u. München (1805) ab. 1810, mit Gründung der Universität Berlin, erhielt W. dort den entsprechenden Lehrstuhl, wo er sich bereits seit 1807 als a. o. Mitgl. der Akademie aufhielt, nachdem Napoleon die hallische Universität wegen Franzosenfeindlichkeit der Studenten geschlossen hatte. In Berlin verschliss sich W. eine Zeitlang als Direktor der wissenschaftl. Deputation u. als Mitgl. der Sektion für den öffentl. Unterricht. Er legte aber nach wenigen Jahren all diese Ämter u. sein Professorat aus gesundheitl. Gründen u. weil sie ihn nicht befriedigten nieder. 1824 trat er eine Kurreise nach Frankreich an, wo er starb.

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W. setzte streng genommen das Werk New York 1990. – Gerrit Walther: F. A. W. u. die Heynes fort, nur eben konsequent auch dort, Hallenser Philologie – ein aufklärer. Phänomen? wo jener aus Idiosynkrasien seine eigenen In: Universitäten u. Aufklärung. Hg. Notker Methoden außer Acht ließ, u. wurde daher Hammerstein. Gött. 1995, S. 125–136. – Manfred Riedel: Die Erfindung des Philologen. F. A. W. u. der eigentl. Begründer der AltertumswissenFriedrich Nietzsche. In: Antike u. Abendland 42 schaften in Deutschland, insbes. (dies ge- (1996), S. 119–136. – Salvatore Cerasuolo (Hg.): F. meinsam mit Karl Lachmann u. Gottfried A. W. e la scienza dell’antichità. Neapel 1997. – M. Hermann) der Klassischen Philologie. Riedel: Zwischen Dichtung u. Philologie. Goethe u. Hauptverdienst W.s, des »Blenders« (Wi- F. A. W. In: DVjs 71 (1997), S. 92–109. – Georgios lamowitz-Moellendorff ein bisschen unge- Fatouros: F. A. W. In: Bautz. – Reinhard Markner recht in der Griechischen Verskunst), war, trotz u. Giuseppe Veltri (Hg.): F. A. W. Studien, Dokuvieler Irrtümer im Einzelnen (z. B. bei der mente, Bibliogr. Stgt. 1999. – Dag Haug: The LinZeitbestimmung der Schriftlichkeit), die guistic Thought of F. A. W. A reconsideration of the classical philology and linHistorisierung Homers, dem er den Mythos relationship between guistics in the 19th century. In: Historiographia nahm, womit er die fatale moderne GleichLinguistica 32 (2005), S. 35–60. – Matthias Buschsetzung mit Vergil, Tasso, Milton aufhob. Für meier: Epos, Philologie, Roman: F. A. W., Friedrich die Eposforschung entscheidend aber bleiben Schlegel u. ihre Bedeutung für Goethes ›Wanderder Nachweis der einschneidenden u. mit- jahre‹. In: Goethe-Jb. 125 (2008), S. 64–79. – Regischreibenden antiken Textkritik der Chori- na Meyer: F. A. W.: Klass. Philologe. In: Mitteldt. zonten u. derjenige der Möglichkeit einer Jb. für Kultur u. Gesch. 16 (2009), S. 211–213. mündl. Verbreitung. Auf ihrer Basis appliUlrich Joost / Red. zierte Lachmann seine für die Nibelungen entworfene Liedertheorie zur Entstehung der Wolf, Gerhard, * 16.10.1928 Bad Franhomerischen Epen; Jacob Grimm setzte W.s kenhausen/Kyffhäuser. – LiteraturwisBegriff »Volksepos« dichotomisch ein senschaftler, Schriftsteller, Verleger u. Li»Kunstepos« entgegen. Beides blieb zunächst teraturkritiker. von den »Unitariern« gegen die »Kleinlieddichter« heftig umstritten, dann bis in die W., Sohn eines Angestellten, arbeitete nach letzten Jahrzehnte in Widerspruch, Vermitt- dem Germanistikstudium in Jena u. Leipzig lung u. Modifikation forschungsmächtig u. als Rundfunkredakteur u. Lektor. Er ist seit ergebnisreich etwa (neben der klassischen) 1951 mit Christa Wolf verheiratet u. lebt, seit für die dt., finn., serbokroat., altnord. u. 1991 auch als Verleger (Janus Press) tätig, in provenzal. Sagenforschung. Größeres vermag Berlin. W. darf als der Förderer der Lyrik in der eine Hypothese in der Literaturwissenschaft ehemaligen DDR bezeichnet werden; er schlechterdings nicht. Weiteres Werk: Darstellung der Alterthums- stellte moderne, anspruchsvolle Lyriker in Wiss. [...]. Hg. Johannes Irmschen. Bln. 1985 (zu- Anthologien wie Sonnenpferde und Argonauten (Halle/S. 1964) der Öffentlichkeit vor u. beerst 1806). Literatur: Wilhelm Körte: Leben u. Studien F. gründete darüber hinaus poetologisch, liteA. W.s. 2 Bde., Essen 1833. – F. A. W. Ein Leben in raturkritisch u. literaturwissenschaftlich seiBriefen. Die Slg. besorgt u. erl. durch Siegfried ne Wahl. Neben der Edition der Werke Louis Reiter. Stgt. 1935. Erg.-Bd. 1: Die Texte. Aus dem Fürnbergs (zus. mit Lotte Fürnberg, 6 Bde., Nachl. des Verf. hg. v. Rudolf Sellheim. Halle/ 1964–73) ist die Herausgabe der Gedichte S. 1956. Nachdr. Opladen 1990. Erg.-Bd. 2: Die Erich Arendts (Lpz. 1973. Aachen 1995. 1997. Erläuterungen. Mit Benutzung der Vorarbeiten R. 2005), aber auch von Werken von Sarah Sellheims aus dem Nachl. des Verf. hg. v. Rudolf Kirsch (Bln. 1989), Thomas Brasch (Lpz. 1990) Kassel. Ebd. 1990 (Werkverz. – unter Übergehung der aus den Kollegienheften gezogenen Vorlesun- u. Reinhard Jirgl (Bln. 1990) bemerkenswert. 1964 verfasste W. den ersten »Versuch eigen – in: Bd. 3, S. 258–260). – Hans Ludwig Gumbert: Nietzsche. Homer, F. A. W. Nijmegen 1944. ner kritischen Würdigung der deutschen Ly2 1945. – Wilhelm v. Humboldt: Briefe an F. A. W. rik nach 1945« in seinem Werk Deutsche Lyrik Textkritisch hg. u. komm. v. Philip Mattson. Bln./ nach 1945 in der von ihm betreuten Reihe

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Schriftsteller der Gegenwart (Bln./DDR: Volk und Wissen, Bd. 13). Er behandelt darin gleichberechtigt »Lyrik in West-Deutschland« u. »Lyrik in der DDR«. Zum Thema »Bewältigte Vergangenheit und neues Lebensgefühl« hebt er Johannes Bobrowskis Gedichte – den Autor kennt er seit 1957 – trotz deren »schwerer Entschlüsselung« bei »versiegelter Mythe« hervor u. leistet dadurch einen entscheidenden Schritt zur Würdigung moderner Lyrik, der auf die kulturpolitisch erwarteten Vorwürfe von »Dekadenz und Formalismus spätbürgerlicher Konvenienz« verzichtet. W. widmete Bobrowski sein Werk mit dem für sein krit. u. wissenschaftl. Wirken charakterist. Leitsatz »Trotzdem hat die Poesie recht!« (Nachlassbibliothek Johannes Bobrowskis in der ZLB Berlin). Die Bobrowski-Würdigung findet – vorbereitet durch die Schrift Johannes Bobrowski. Leben und Werk (Bln./DDR 1967) – ihren Höhepunkt im Werk Beschreibung eines Zimmers. 15 Kapitel über Johannes Bobrowski (Bln./DDR 1971, Stgt. 1972. Überarb. u. erw. Ausg. Bln. 1993). Bobrowskis Domizil in Berlin-Friedrichshagen, Ahornallee 26, wird in dieser Schrift Freiraum eines »Untertauchen[s] in gestorbener Sprache und Existenz des Vergangenen«, speziell der Königberger Aufklärung im 18. Jh., um darin eine geistige Distanz zur Kulturideologie der DDR zu bieten. Formal entdeckt W. in Bobrowskis Texten eine »Prosa der behutsamen Ergänzungen« u. rechtfertigt deren Modernität als rezeptionsästhetische Befreiung u. Autonomisierung des Lesenden, der wie der Erzähler kommentierend eingreifen darf u. soll; in der Leere des Dichterzimmers rufen die krit. Stimmen der Vergangenheit zur Kritik der Gegenwart auf. In ähnl. Weise innovativ war W.s Beschäftigung mit dem »verrückten Hölderlin«, eine modellhafte Parallelaktion zu Christa Wolfs Kassandra-Projekt als Annäherung an die verrückte Seherin: Der arme Hölderlin (Bln./DDR 1972, Stgt. 1976). Die Erzählmethode – eine Collage einer multiperspektivischen Annäherung im Stimmengewirr von Zeitgenossen, Werkzitaten u. Kommentaren in 19 Kapiteln, wechselnd kursiv u. nichtkursiv gesetzt – ist

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orientiert an Bobrowskis Erzählung über Friedrich Hölderlins »wahnsinnigen« Freund Boehlendorff (1964); die Dichterhauptfiguren artikulieren – zgl. individuell herausgehoben wie sozial am Leben der einfachen Leute ausgerichtet – die Gebrochenheit der Welt zwischen der Begeisterung für die Ideale der Französischen Revolution u. der Verzweiflung über die mangelhafte Umsetzbarkeit, speziell durch die Zwangsinstitution des Staates. Die politisch brisante Frage für Vergangenheit wie Gegenwart wird gewonnen: »Es ist nur ein Streit in der Welt, was nämlich mehr sei, das Ganze oder das Einzelne?« Diese Fragestellung vertieft W. in seinem aus bereits veröffentlichten Aufsätzen u. Nachworten (1972–1985) zusammengestellten Werk Im deutschen Dichtergarten. Lyrik zwischen Mutter Natur und Vater Staat (Darmst./ Neuwied 1985) programmatisch als übergreifende Spannung poetischer Anstrengung in der Vergangenheit wie in der unmittelbaren Gegenwart; statt abseitiger Idylle symbolisiert der Dichtergarten »eine Vorstellung von Bei-sich-Sein«, ein Terrain der Individualität, einen Freiraum für Fantasie. W. arbeitet die innerliterar. Auseinandersetzung heraus, wenn er Brechts Korrekturen von Bachmann-Gedichten vorführt, oder die Produktivität des »Dichtergespräch[s] von Berlin-Ost nach Berlin-West«. Die in der Reihe Märkischer Dichtergarten (zus. mit Günter de Bruyn. 8 Bde., Bln./DDR 1980–88) herausgegebene Lyrik erschließt W. als aktuell wirksame dichterische u. krit. Reflexionsmöglichkeit, die er der Vergessenheit entreißt, z.B. Anna Louisa Karsch (Bln. 1981), Ewald Christian von Kleist (Bln. 1982), Fanny Lewald (Bln. 1987). Deutlicher als seine Frau wagte es W. Kritik zu äußern; er wurde deshalb 1976 nach der Biermann-Affäre aus der SED ausgeschlossen. Als Förderer der Lyrik u. der bildenden Künste u. als Garant des Freundeskreises um das Ehepaar Wolf erwarb er große Verdienste, wie in Christa Wolfs Werk Herr Wolf erwartet Gäste und bereitet für sie ein Essen vor (Mit Radierungen von Horst Hussel. Bln. 2003) u. in den zahlreichen Briefwechseln angedeutet ist. Auch Schlüsselwerke seiner Frau verlegte

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er als Künstlerbücher: Was nicht in den Tagebüchern steht (Mit Lithografien von Helga Schröder. Bln. 1995) u. Wüstenfahrt (Mit Nagelbildern von Günther Uecker. Bln. 1999). Weitere Werke: Till Eulenspiegel. Erzählung für den Film (zus. mit Christa Wolf). Bln./Weimar u. Darmst./Neuwied 1973. – Albert Ebert – Wie ein Leben gemalt wird. Beschrieben u. v. ihm selbst erzählt. Bln./DDR 1974. – Ins Ungebundene gehet eine Sehnsucht. Gesprächsraum Romantik. Prosa u. Essay (zus. mit Christa Wolf). Bln./Weimar 1985. Neuausg. Ffm./Lpz. 2008 mit dem Untertitel ›Projektionsraum Romantik‹. – Wortlaut Wortbruch Wortlust. Dialog mit Dichtung. Aufsätze u. Vorträge. Lpz. 1988. – Herausgaben: Wir, unsere Zeit (zus. mit C. Wolf). Bd. 1: Prosa aus zehn Jahren. Bln. 1959. Bd. 2: Gedichte aus zehn Jahren. Bln./ Weimar 1959. – Bekanntschaft mit uns selbst. Gedichte junger Menschen. Halle 1961. – ›außer der reihe‹. 11 Bde., Bln./Weimar 1988–91. – Die andere Sprache. Neue DDR-Lit. der 80er Jahre (zus. mit Heinz Ludwig Arnold). Mchn. 1990. – Filmdrehbücher (zus. mit C. Wolf): Moskauer Novelle. 1961 (zus. mit Konrad Wolf). – Der geteilte Himmel (zus. mit K. Wolf, Willi Brückner u. Kurt Barthel. Regie: K. Wolf). 1964. – Fräulein Schmetterling. 1966. – Till Eulenspiegel. 1970 (Verfilmt 1975, Regie: Rainer Simon). Literatur: Birgit Henriette Ulrike Ebert-Zacovic: Romantikrezeption in der DDR. Christa Wolf u. G. W. Ann Arbor, MI 1994. – Peter Böthig (Hg.): Die Poesie hat immer recht. G. W. Autor, Herausgeber, Verleger. Ein Almanach zum 70. Geburtstag. Bln. 1998. Maria Behre

Wolf, Hieronymus, * 13.8.1516 Oettingen i. Bay., † 8.10.1580 Augsburg. – Humanist, Philologe u. Pädagoge. Der als Sohn eines hohen Beamten der Grafen von Oettingen geborene W. kam als Elfjähriger nach Nürnberg, wo er zunächst die Lateinschule bei St. Sebald u. anschließend das Egidiengymnasium besuchte. 1530 musste W. auf Anweisung seines Vaters eine Stelle als Schreiber in der gräfl. Kanzlei auf Schloss Harburg antreten. Erst 1535 durfte er ans Egidiengymnasium zurückkehren, doch folgte er Joachim Camerarius d.Ä. an die Universität Tübingen. Nach dem Tod des Vaters 1536 nahm er dort ein Jurastudium auf, das er bald wieder abbrach. Die nächsten anderthalb Jahrzehnte seines Lebens waren

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von häufig wechselnden Stationen gekennzeichnet: 1537 Schreiber in der Kanzlei des Würzburger Bischofs; 1538 Studium in Wittenberg, Begegnung mit Philipp Melanchthon; 1539/40 Lehrer an der Schule bei St. Sebald in Nürnberg; 1541 Eröffnung einer Lateinschule in Oettingen; 1542 Rückkehr nach Wittenberg; 1543/44 auf Vermittlung Melanchthons Rektor der Lateinschule in Mühlhausen/Thüringen; 1544–1546 Lehrer der Chorschüler am Nürnberger Heilig-GeistSpital; 1546 Eröffnung einer Privatschule in Nürnberg; 1547 Übersiedlung nach Straßburg, erste Übersetzungen griech. Autoren ins Lateinische; 1548–1550 in Basel Betreuer Augsburger Studenten, Freundschaft mit dem Verleger Johannes Oporinus; 1550/51 Reise nach Paris mit den Augsburger Studenten. Nach seiner Rückkehr aus Paris ließ W. sich dauerhaft in Augsburg nieder. Zuerst fand er eine Anstellung als Bibliothekar bei Hans Jakob Fugger, 1557 wurde er zum Rektor des Gymnasiums bei St. Anna u. damit zgl. zum Stadtbibliothekar berufen. Die Leitung von Schule u. Bibliothek übte er 23 Jahre lang bis zu seinem Tod erfolgreich aus. W. wurde geprägt von Melanchthon u. ganz besonders von Camerarius, der ihm zeitlebens freundschaftlich verbunden blieb. Ebenso wichtig für ihn war sein enger Kontakt zu Oporinus in Basel, bei dem bzw. dessen Nachfolgern die meisten seiner Veröffentlichungen erschienen. Der Schwerpunkt lag auf Übersetzungen griech. Autoren ins Lateinische, z. T. mit beigegebenem Originaltext. Den Auftakt bildete 1548 die Übersetzung des Redners Isokrates (auch: Paris 1553, Basel 1553 griech./lat., 1558 griech./lat., Augsb. 1566, Basel 1567 griech./ lat., 1570 griech./lat., 1571 griech./lat.), der bereits 1550 die eines weiteren Redners, des Demosthenes, folgte (auch: Venedig 1550, Basel 1555, 1572 griech./lat.). Durch seine von Anton Fugger finanzierten zweisprachigen Erstausgaben der byzantin. Geschichtsschreiber Johannes Zonaras (Basel 1557), Niketas Choniates (1557) u. Nikephoros Gregoras (1562; nur die lat. Übers. aller drei Autoren auch: Paris 1567, Frankfurt 1568, 1578) wurde W. zum Begründer der Byzantinistik in Deutschland. Ferner publizierte er Über-

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setzungen von Kommentaren zur Tetrabiblos des Claudius Ptolemäus (Basel 1559), des Stoikers Epiktet (Basel 1563; nur das Encheiridion vorab 1561) sowie der Suda (Suidas), eines byzantin. Lexikons (Basel 1564, 1581). An Editionen röm. Autoren ist eine kommentierte Ausgabe von Ciceros De officiis zu nennen (Basel 1563; um weitere philosophische Werke C.s vermehrt 1569). W.s Ausgaben u. Übersetzungen fanden europaweite Verbreitung u. machten ihn zu einem der namhaftesten Gräzisten seiner Zeit. Sein literarisch bedeutendstes Werk ist jedoch seine nur in einer Abschrift aus dem 18. Jh. vorliegende u. erst 1773 gedruckte Selbstbiografie. Der Commentariolus de vita sua wurde von W. 1564 begonnen u. bis zur Jahreswende 1570/71 fortgeführt. Der lat. Text ist mit zahlreichen griech. Passagen durchsetzt. Im Mittelpunkt steht W.s Leben vor seiner Berufung zum Rektor u. Stadtbibliothekar in Augsburg, während die Zeit nach 1557 nur summarisch behandelt wird. Besonderes Gewicht legt W. auf seinen schulischen u. wissenschaftl. Werdegang sowie auf die Entstehungsgeschichte seiner gedruckten Werke. Die chronolog. Darstellung wird häufig durch umfangreiche reflektierende Abschnitte unterbrochen. Trotz der apologetischen Intention des Commentariolus äußert W. vielfach Selbstkritik u. Selbstzweifel. Während der christl. Glaube eher im Hintergrund bleibt, spielt die Astrologie eine zentrale Rolle. Die Beschäftigung mit ihr gab W. den Anstoß zur Reflexion über sein Leben. Zugleich bildet sie den Bezugsrahmen für die Bewertung seines Handelns u. seines Schicksals. Die Autobiografie W.s wird zeitlich u. inhaltlich ergänzt durch seine über 400 noch vorhandenen Briefe, die überwiegend aus den Jahren nach seiner dauerhaften Niederlassung in Augsburg 1551 stammen. Größere Gruppen davon sind an Oporinus, dessen Neffen Theodor Zwinger, Camerarius, dessen Sohn Joachim d.J. sowie an den kaiserlichen Leibarzt Johannes Crato von Kraftheim gerichtet. Die rund 150 Briefe an Oporinus dokumentieren in einer für das 16. Jh. singulären Weise die Kommunikation eines Autors mit seinem Verleger. In seinem gesamten

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Briefwechsel thematisiert W. neben dem gelehrten Austausch in aller Offenheit u. Breite seine persönl. Situation sowie seine seel. u. körperl. Verfassung. Da W.s Nachlass verschollen ist, sind Briefe an ihn nur ausnahmsweise überliefert; den einzigen geschlossenen Bestand bilden die von Camerarius’ Söhnen publizierten Schreiben ihres Vaters. Dagegen sind aus W.s umfangreicher Privatbibliothek rund 650 Bände in der Staatlichen Bibliothek Neuburg a. d. Donau erhalten geblieben. Weitere Werke: Admonitio de astrologiae usu. In: Cyprian Leowitz: Ephemeridum novum atque insigne opus. Augsb. 1557. – Johannes Rivius: Liber primus [-octavus] de primis grammaticae rudimentis. Hg. W. Augsb. [1557]. – De docendi discendique ratione. In: Johannes Rivius: De dialectica libri VI. Hg. W. Augsb. [1557]; um weitere pädagogische Schriften vermehrt in: Johannes Rivius: Institutionum grammaticarum libri octo. Hg. W. Augsb. 1578. – Demosthenis recogniti graecolatini una cum Aeschine brevi [...] edendi specimen. Basel 1569. – Gnomologia Demosthenica. Basel 1570. – De christianae classi divinitus concessa victoria contra Turcos [...] carmina. Augsb. 1572. – Isocratis sententiae graecolatinae. Basel 1572. – Catalogus graecorum librorum manuscriptorum Augustanae bibliothecae. Augsb. 1575. – Doctrina recte vivendi ac moriendi. Basel 1577. – Quaestiones maxime necessaria trium librorum Ciceronis de Officiis praecepta complectentes. Basel 1579. 1580. – Guillaume Morel: Tabula compendiosa de origine, successione, aetate et doctrina veterum philosophorum. Hg. W. Basel 1580. – Marci Tullii Ciceronis Tusculanarum Quaestionum aphorismi. Basel 1580. Ausgaben: Joachim Camerarius d.Ä.: Epistolarum familiarium libri VI. Ffm. 1583, S. 447–495. – Hieronymi Wolfii de vita sua commentariolus. Hg. Johann Jakob Reiske. In: Oratores Graeci. Bd. 8, Lpz. 1773, S. 772–876. – Commentariolus de vita sua. Hg. Helmut Zäh. Diss. München 1992. Mikrofiche-Ausg. Donauwörth 1998. – Neuausgaben der Autobiografie u. des Briefwechsels werden von Helmut Zäh vorbereitet. Literatur: Karl Köberlin: Gesch. des Humanistischen Gymnasiums bei St. Anna in Augsburg v. 1531 bis 1931. Augsb. 1931, S. 51–105. – Fritz Husner: Die Editio princeps des ›Corpus Historiae Byzantinae‹. In: FS Karl Schwarber. Basel 1949, S. 143–162. – Richard Schmidbauer: Die Augsburger Stadtbibliothekare durch vier Jahrhunderte. Augsb. 1963, S. 55–75, 329. – Hans-Georg Beck: H.

Wolf W. In: Lebensbilder aus dem Bayerischen Schwaben. Bd. 9, Mchn. 1966, S. 169–193. – Graecogermania. Griechischstudien dt. Humanisten. Die Editionstätigkeit der Griechen in der ital. Renaissance (1469–1523). Hg. Dieter Harlfinger. Weinheim 1989, Register. – En Basileia polei te¯s Germanias [griech.]: Griech. Geist aus Basler Pressen. Einl. v. Frank Hieronymus. Basel 1992 (Kat.), Register. Internet-Ed. (2003): http://www.ub.unibas.ch/kadmos/gg/. – Hans Rudolf Velten: Das selbst geschriebene Leben. Heidelb. 1995. – Helmut Zäh: Ein Gelehrter u. Pädagoge von europ. Format: H. W., Rektor 1557–1580. In: Eine Augsburger Schule im Wandel der Zeit. Augsb. 2000, S. 30–41. – Vera Jung: Die Leiden des H. W. In: Histor. Anthropologie 9 (2001), S. 333–357. – Gadi Algazi: Food for Thought. H. W. Grapples with the Scholarly Habitus. In: Egodocuments and History. Hg. Rudolf Dekker. Hilversum 2002, S. 21–43. – Kerstin Hajdú: Griech. Autographe des H. W. in der Bayerischen Staatsbibl. In: Codices manuscripti 44/ 45 (2003), S. 41–67. – H. Zäh: Zeitalter des Humanismus: Die Wiederentdeckung von Byzanz. In: Die Welt v. Byzanz – Europas östl. Erbe. Hg. Ludwig Wamser. Stgt. 2004, S. 426–433. – Ders.: Die ›Bibliotheca Wolfiana‹ in Neuburg. In: Bibliotheken in Neuburg an der Donau. Hg. Bettina Wagner. Wiesb. 2005, S. 105–135. – Ders.: Vom Augsburger Religionsfrieden bis zur Gründung des Annakollegs. Das Rektorat des H. W. (1557–1580) im Spiegel seines Briefwechsels. In: Das Gymnasium bei St. Anna in Augsburg. Hg. Karl-August Keil. Augsb. 2006, S. 30–49. Helmut Zäh

Wolf, Johann Christoph, * 21.(?)2.1683 Wernigerode, † 25.7.1739 Hamburg. – Orientalist u. Theologe. Aus einem Pastorenhaus stammend, war W. Schüler am Johanneum u. am Akademischen Gymnasium in Hamburg. Johann Albert Fabricius empfahl ihn an Esdras Edzardus, der ihn ins Hebräische einführte. Nach Studien in Wittenberg (Immatrikulation am 19.5.1703 »gratuitus«, Magisterpromotion am 1.5.1704, dann Adjunkt der Philos. Fakultät), einem Konrektorat in Flensburg (vgl. W.s Primitiae Flensburgenses, d.i. die im März 1707 gehaltene Inauguralrede De praecocibus eruditis [...]. Hbg. o. J. [1708]), Reisen nach Holland, England u. Dänemark trat W. am 15.1.1710 eine a. o. Professur für Philosophie in Wittenberg an; 1712 wurde er als Professor für oriental. Sprachen nach Hamburg beru-

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fen, wo er kurze Zeit am Dom predigte u. 1716 die (Haupt-)Pastorenstelle an St. Katharinen erhielt. W.s bis ins 19. Jh. reichende Bedeutung als gelehrter Schriftsteller liegt v. a. in seinem Repertorium der hebräischen Literatur in vier Bänden, der Bibliotheca hebraea (Hbg./Lpz. 1715–33; Bd. 2, 1721, enthält u. a. eine ›Historia Scripturae Sacrae‹), seinem ebenfalls vierbändigen lat. Kommentar zum NT (Curae philologicae et criticae [...]. Hbg. 1725–35 u. ö.) u. einer Folio-Ausgabe der Briefe des Libanius (Libaniou Sophistou Epistolai. Libanii Sophistae Epistolae [...]. Hg., übers. u. komm. v. J. C. W. Amsterd. 1738). Bleibend ist der Wert der etwa 25.000 Bände u. viele hundert Handschriften umfassenden Bibliothek, die W. zusammen mit seinem Bruder Johann Christian der Stadt-, heute Staats- u. Universitätsbibliothek Hamburg stiftete. Weitere Werke: Disputatio prior de mythica moralia tradendi ratione nov-antiqua. Präses: Christian Röhrensee; Respondent: J. C. W. Wittenb. 1704. – Disp. posterior de mythica moralia tradendi ratione nov-antiqua. Präs.: J. C. W.; Resp.: Johann Peter Beger. Wittenb. 1704. – Absurda Hallensia oder die irrigen u. ungereimten Meynungen, welche die Herrn Theologi in Halle in ihren Hertzen hegen, in öffentl. Lectionibus vortragen [...]. o. O. 1707. – Carcer eruditorum museum. Präs.: J. C. W.; Resp.: Kaspar Peter v. Schwoll. Wittenb. 1710. – Libanus: Epistolarum adhuc non editarum centuria selecta. Übers. u. komm. v. J. C. W. Lpz. 1711. Ausgaben: Manichaeismus ante Manichaeos, et in Christianismo redivivus. Hbg. 1707. Nachdr. Lpz. 1970. – Curae philologicae et criticae [...]. 4 Bde., Basel 1741. Internet-Ed. in: http:// books.google.com. Literatur: Carl Bertheau: J. C. W. In: ADB. – Eva Horváth: J. C. W. [...] Johann Christian Wolf [...]. In: Bibl.en u. Gelehrte im alten Hamburg. Ausstellung der Staats- u. Universitätsbibl. Hamburg anläßlich ihres 500jährigen Bestehens. Hbg. 1979 (Kat.), S. 82–98. – Werner Kayser: 500 Jahre wiss. Bibl. in Hamburg, 1479–1979. Von der Ratsbücherei zur Staats- u. Universitätsbibliothek. Hbg. 1979, S. 65–90. – Ralph Häfner: Die Fässer des Zeus. Ein homer. Mythologem u. seine Aufnahme in die Manichäismusdebatte in Dtschld. am Beginn des 18. Jh. In: Scientia poetica 1 (1996), S. 35–61. – Estermann/Bürger, Tl. 1, S. 1284–1288; Tl. 2, S. 1458 f. – Martin Mulsow: J. C. W. (1683–1739) u. die verbotenen Bücher in Hamburg. In: 500 Jahre

529 Theologie in Hamburg [...]. Hg. Johann Anselm Steiger. Bln./New York 2005, S. 81–112. – BBHS, Bd. 8, S. 436. – Dietrich Klein: Hermann Samuel Reimarus (1694–1768). Das theolog. Werk. Tüb. 2009, Register. Heimo Reinitzer / Red.

Wolf, Kaspar, Wolff, Wolph, Casparus Wolphius, * 23.3.1532 Zürich, † 2.9.1601 Zürich. – Mediziner, Arzt, Naturforscher, Gräzist u. Übersetzer. Der Vater Heinrich Wolf, aus alter Zürcher Familie, wurde nach klass. Studien u. Reisen Beamter u. schloss sich der Reformation an; kaum 40 Jahre alt, fiel er am 11.10.1531 an der Seite des Feldpredigers H. Zwingli in der Schlacht bei Kappel am Albis. Der jüngste Sohn Kaspar wuchs ohne Vater auf, der ältere Bruder Johann (1521–1572) wurde Prediger am Frauenmünster. W. besuchte die Schule beim Frauenmünster u. war Lieblingsschüler u. später Mitarbeiter u. Freund des Naturforschers, Mediziners, Zoologen, Botanikers u. nicht zuletzt Bibliografen Konrad Gessner (1516–1565), mit dem er auch das philolog. Interesse an den klass. Sprachen teilte. Auf Gessners Anregung u. Empfehlung studierte er die Artes in Lausanne u. Basel (bei Quercetanus), Medizin in Paris (bei Jacques Dubois/Sylvius) u. mit einem Stipendium seiner Heimatstadt durch Gessners Vermittlung 1555–1557 in Montpellier (bei Rondelet). Den Doktorgrad erwarb er anschließend 1557 in Orléans. 1559 heiratete er Anna Röust aus einer Zürcher Patrizierfamilie u. gründete eine kinderreiche Familie. Als erfolgreicher prakt. Arzt u. Zürcher Stadtphysicus wurde W. nach dem Tod seines Mentors u. Freundes Gessner 1565 dessen Nachfolger als Professor der Physica (Naturforschung) an der Universität. 1578 übernahm er auch die Professur für Griechisch u. amtierte als Chorherr am Frauenmünster sowie in den 1570er u. 1590er Jahren als Schulherr, d.i. ein vom Rat der Stadt bestellter bzw. diesem angehöriger Aufseher über Schulen u. Universität. Er unterhielt enge Beziehungen zu den führenden Theologen u. Philologen der zwinglian. Reformation, Oswald Myconius, Heinrich Bullinger, Konrad Pellikan (Kürschner), Theodor Bibliander (Buchmann), u. in den frühen

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Jahren auch zu Gessners Jugendfreund Georg Joachim Rheticus (1514–75), dem ›Urkopernikaner‹ u. Verfasser der Narratio prima (1540) über die neue Astronomie des Frauenburgers. Rheticus lebte seit 1554 im poln. Krakau. Durch Gessners Vermittlung trat er auch in Kontakt zu dem berühmten späthumanist. Mediziner Johannes Crato von Krafftheim, dem kaiserl. Leibarzt von Rudolf II. in Prag; Kaiser Ferdinand I. interessierte sich ebenfalls für ihn. Unter den eigenen Fachbüchern der Naturkunde u. Medizin ist das gynäkolog. Sammelwerk Gynaeciorum, hoc est, de mulierum [...] affectibus et morbis, libri [...] aliquot das erfolgreichste gewesen (Basel 1566. InternetEd. in: VD 16; später in 3 oder 4 Bdn. u. mit zahlreichen Illustrationen prächtig ausgestattet). Ein prakt. Handbuch ist das Viaticum novum. De omnium fere particularium morborum curatione, liber, das zuerst 1565 in Zürich erschien u. in zahlreichen Drucken verbreitet war. Hinzu kamen populäre Kalender u. Prognostiken in der Volkssprache (Kalender oder Laaßbüchli, ohne erkennbare magische oder astromedizin. Interessen). Bis heute bedeutend ist W. vor allem durch seine Editionen, Bearbeitungen, Kompilationen u. Übersetzungen mehrerer gedruckter u. ungedruckter Werke seines Mentors u. Freundes Gessner, eines viel beschäftigten u. zunehmend kränkl. Gelehrten, dem er schon zu dessen Lebzeiten zahlreiche Hilfsdienste (Materialsammlungen, Exzerpte aus Büchern usw.) geleistet hatte. Die nachgelassenen Manuskripte Gessners, deren Herausgabe W. ihm vor seinem Tode versprochen hatte, waren sämtlich durch Kauf (nicht durch Erbe) an ihn gegangen (vgl. W.s Mitteilungen dazu in der Hyposchesis, sive, de Con. Gesneri stirpium historia ad Ioan. Cratonem [...] pollicitatio. Zürich 1566). Mit der Geschichte der Pflanzen, eines von Gessners lange erwarteten Hauptwerken, übernahm er sich u. übergab das Projekt an Joachim II. Camerarius, doch erst der Nürnberger Botaniker Christoph Jakob Trew konnte sie 1751 (Bd. 1) u. 1771 (Bd. 2) publizieren (Opera botanica. Nürnberg: Schmiedel). Weitere Werke: Kalender oder Laaßbüchli sampt der Schreybtafel, Mässen u. Jarmärckten uff das 1567. Jar. Gestellt uff den Meridianum der [...]

Wolf statt Zürych. Zürich 1566. – Hg. u. Bearb.: De remediis secretis liber physicus, medicus et partim etiam chymicus et oeconomicus in vinorum diversi saporis apparatu, medicis et pharmacopolis omnibus praecipue necessariis. Ebd. 1569 (zuerst 1552 v. Gessner unter dem Pseud. Euonymus Philiatrus publiziert). – Hg. u. Bearb.: C. Gessner: De remedijs secretis, liber secundus. Ebd. 1569 (enth.: Anhang mit 3 Texten des Hg. K. W.). – Hg.: Epistolarum medicinalium, Conradi Gesneri, philosophi et medici Tigurini, libri III. [...] Ebd. 1577. – Übers. u. Bearb.: Alphabetum empiricum, sive, Dioscorides et Stephani Atheniensis [...] de remediis expertis liber [...]. Ebd. 1581. – Hg.: Epistolarum medicinalium Conradi Gesneri liber quartus. Wittenb. 1584. – Virorum illustrium alphabetica enumeratio, qui de ponderum ac mensurarum doctrina scripserunt. In: Domenico Massari: De ponderibus ac mensuris medicinalibus libri III. Ebd. 1584. – Tabula generalis diversorum ponderum cum enumeratione eorum qui de ponderibus scripserunt. Ebd. 1584. – Hg.: Aphorismorum Hippocratis methodus, ab Achille Pirmin Gassero primum quinque libris distincta, deinde vero C. Gesneri opera illustrata. St. Gallen 1584. – Hg.: Physicarum meditationum, annotationum et scholiorum libri V. Nunc recens ex variis Gesnerianae diligentiae relictis schedis et libris studiose collecti. Ebd. 1586. – Hg. u. Bearb.: De stirpium collectione tabulae tum generales, tum per duodecim menses, cum germanicis nominibus [...]. Ebd. 1587. – Hg. u. Übers.: De scorpione. Kurtze beschreybung deß Scorpions, auß deß weytberümpten hochgelehrten Herrn D. Conradt Gessners S. History vom Ungeziffer zu8 samen getragen, gemehrt und verfertigt, durch den hochgelehrten Herrn D. Caspar Wolphen der löblichen Statt Zürych Medicum. Und an jetzo auß dem Latin mit fleyß verteütscht. Ebd. 1589. Ffm. 1621 (lat.: Scorpionis insecti historia. Ebd. 1587). – Schreybkalender mit sampt der Practick, Mässen, u. Jarmärckten auff das Jar nach der gnadreychen geburt Jesu Christi 1593 [...]. Ebd. 1593. Ausgaben: Internet-Ed. mehrerer Werke in: VD 16. Literatur: Bibliografie: VD 16. – Weitere Titel: Christian Wilhelm Kestner: Medicinisches Gelehrten-Lexicon. Vorrede v. Gottlieb Stolle. Jena 1740. Nachdr. Hildesh. 1971. – Zedler, Bd. 58 (1748), Sp. 546. – Rudolf Wolf: K. W. v. Zürich. 1532–1601. In: Ders.: Biogr.n zur Kulturgesch. der Schweiz. Erster Cyclus. Zürich 1858, S. 43–56. – Julius Leopold Pagel: C. W. In: ADB. – Willy Ley: Konrad Gesner. Leben u. Werk. Mchn. 1929. – Hans Wellisch: Conrad Gessner. A Biobibliography. In: Journal of the Society for the Bibliography of Natural History

530 7.2 (1975), S. 151–247. – Humanismus u. Naturwiss.en. Hg. Rudolf Schmitz u. Fritz Krafft. Boppard 1980. – Marie Boas: Die Renaissance der Naturwiss.en 1450–1630. Das Zeitalter des Kopernikus. Nördlingen 1988 (zuerst engl.: The Scientific Renaissance 1450–1630. London 1962). – Friedrich Schaller: Conrad Gesner u. seine Bedeutung für das Naturverständnis der Neuzeit. In: Der Weg der Naturwiss.en v. Johannes v. Gmunden zu Johannes Kepler. Hg. Günther Hamann u. Helmuth Grössing. Wien 1988. – Udo Friedrich: Naturgesch. zwischen artes liberales u. frühneuzeitl. Wiss. Conrad Gessners Historia animalium u. ihre volkssprachl. Rezeption. Tüb. 1995. Herbert Jaumann

Wolf, Peter Philipp, getauft 28.1.1761 Pfaffenhofen/Obb., nach Freitod aufgefunden 9.8.1808 München. – Erzähler, Lyriker, Publizist, Historiker; Verleger. W., Sohn eines Schlossermeisters, besuchte mehrere Schulen, u. a. das Münchner Jesuitengymnasium, die er jeweils ohne Abschluss verließ. Um 1780 arbeitete er bei dem Münchner Verleger Johann Baptist Strobl; wenig später wechselte er zu dessen Antipoden Joseph Alois Crätz. Nach ersten Gedichten veröffentlichte W. sozial-empfindsame Prosa (Erzählungen zum Troste unglücklicher Menschen. Mchn. 1784. Lilienberg eine deutsche Originalgeschichte. Ffm./Lpz., recte Mchn. 1784; R.). W.s zweiter Roman, Salvator oder merkwürdige Beiträge zur Geschichte unsers philosophischen Jahrhunderts ([Nürnb.] 1784), enthält massive Kritik am Absolutismus u. die kompromisslose Forderung nach Säkularisation. Nach einem Gerichtsverfahren wegen angebl. Beleidigung Strobls u. antibayerischer Propaganda verließ der Radikalaufklärer W. München 1785. Neun Jahre war er als Redakteur der »Neuen Zürcher Zeitung« tätig. Er schrieb auch eine umfangreiche, auf intensiven Quellenstudien beruhende Allgemeine Geschichte der Jesuiten von dem Ursprunge ihres Ordens bis auf gegenwärtige Zeiten (4 Bde., Zürich 1789–92. Vermehrte Neuausg. Lpz. 1803), die weit verbreitet war. Mitte der 1790er Jahre übernahm er eine Verlagshandlung in Leipzig, in der er u. a. jakobin. Zeitschriften (»Klio«) herausbrachte. Ende 1803 kehrte W. nach München zurück, wohl auf

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Veranlassung Montgelas’, dem er sich mit seiner radikalen Säkularisierungsschrift Vorschlag zu einer Reformation der katholischen Kirche (Lpz./Luzern 1800) empfohlen hatte. Als akadem. Historiker verfasste er die in spätaufklärerischer Tradition stehende, reich dokumentierende Geschichte Maximilians I. und seiner Zeit, die von Carl Wilhelm Friedrich Breyer abgeschlossen wurde (2 Bde., Mchn. 1807. Forts. 2 Bde., 1809–11). Weitere Werke: Gesch. der röm.-kath. Kirche unter der Regierung Pius des Sechsten. 7 Bde., 1793–1802: Bd. 1, Zürich. Bde. 2 u. 3, Germanien d. i. Zürich. Bde. 4–7, Lpz. – Kurzgefaßte Gesch., Statistik u. Topographie v. Tirol. Mchn. 1807. – Ueber die Wahrscheinlichkeit der Existenz der Päbstin Johanna. Regensb. 1809. Literatur: Heigel: P. P. W. In: ADB. – August Kluckhohn: Zur Erinnerung an P. P. W. In: Sitzungsber.e der philosoph.-philolog. u. histor. Classe der k. bayer. Akademie der Wiss. Bd. 2, H. 5, (1881), S. 449–480 (u. a. Briefe an Westenrieder). – Hans Graßl: P. P. W. Ein bayer. Revolutionär. In: Barock u. Aufklärung. Mchn. 1972, S. 184–195. – Wilhelm Haefs: Aufklärung in Altbayern. Leben, Werk u. Wirkung Lorenz Westenrieders. Mchn. 1991. – Tristan Coignard: La référence à l’Antiquité et son interprétation dans la littérature politique de la fin du XVIIIe siècle: l’exemple de Christoph Martin Wieland et de P. P. W. In: Cahiers d’études germaniques 46 (2004), 1, S. 15–31. Wilhelm Haefs / red.

Wolf, Ror, eigentl.: Richard W., auch: Raoul Tranchirer, * 29.6.1932 Saalfeld/ Thüringen. – Experimenteller Schriftsteller, Hörspielautor. Nach dem Abitur in Saalfeld u. einer zweijährigen Tätigkeit als Bauarbeiter übersiedelte W. 1953 in die BR Deutschland. In Stuttgart arbeitete er zunächst als Vertreter, Hilfsarbeiter u. Büroangestellter. Seit 1954 studierte er Germanistik, Soziologie u. Philosophie in Hamburg u. Frankfurt/M., wo er sich der avantgardistisch ausgerichteten, überregional angesehenen Studentenzeitung »Diskus« als Feuilletonredakteur anschloss. 1961–1963 war er Redakteur beim HR. Seit 1963 arbeitet W. als freier Schriftsteller; er lebt heute in Mainz.

W.s erster Roman Fortsetzung des Berichts (Ffm. 1964) gehört zu den viel beachteten Büchern der experimentellen Literatur der sechziger Jahre. Handke nannte den Roman den »ersten ernstzunehmenden Versuch, für den Strom des Bewußtseins eine neue sprachliche Form zu finden«. Die Handlung des Romans, eine monströse, sich im ländl. Milieu abspielende Mahlzeit, steht nur scheinbar im Mittelpunkt. Der Text gleicht einem aus der Sprache hervorwuchernden Fluss von Halluzinationen u. Realitätspartikeln, dessen sinnl. Eindruck immer wieder durch schockhaft-surrealistisch auftauchende Bilder von Gewalt u. Schrecken unterbrochen wird. In diesem Sinne ist in W.s Büchern von Anfang an eine auf Komik angelegte Weltsicht mit einer Gesellschafts- u. Zivilisationskritik gepaart, die ihren Ausdruck in jähen Weltuntergangs- u. Katastrophenvisionen findet. W.s zum Zeitpunkt seines Erscheinens fantastisch anmutender Reiseroman Die Gefährlichkeit der großen Ebene (Ffm. 1976) antizipiert eine gänzlich aus ihrem ökolog. Gleichgewicht geratene Umwelt: Das Meer erscheint hier als ein schwarzer Klumpen, die Landschaft ist durch Dürreperioden verwüstet, von Ungeziefer heimgesucht oder von Algen u. Schlick überzogen. Obwohl die Kritik W. immer wieder seinen virtuosen Umgang mit der Sprache bescheinigte u. seinem Werk mittlerweile auch seitens der Literaturwissenschaft einige Aufmerksamkeit zuteil geworden ist, blieb W. im Literaturbetrieb lediglich eine Art Geheimtipp. Populär wurde allein sein auf Hörspielen basierendes Fußball-Buch Punkt ist Punkt (Ffm. 1971. Erw. Taschenbuchausg. Ffm. 1973), eine Collage aus Spieler-Deutsch, Reportersätzen u. Expertenrotwelsch, welche die »schönste Nebensache der Welt« zu einem sprachl. Hauptereignis macht; der Ergänzungsband Die heiße Luft der Spiele (Ffm. 1980) sowie Das nächste Spiel ist immer das schwerste (Königstein/Ts. 1982) setzen dieses Verfahren fort. Die Erzeugung von ›Welthaltigkeit‹ in der Literatur kennzeichnet auch die unter Pseudonym veröffentlichte Text-Bildcollage Raoul Tranchirers vielseitiger großer Ratschläger für alle Fälle der Welt (Gießen 1983), die, zwi-

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schen Fakt u. Fiktion changierend, einen facettenreichen Einblick in die Mentalität des dt. Bürgertums im 19. Jh. liefert; die ebenfalls enzyklopädisch organisierten Bände Raoul Tranchirers Mitteilungen an Ratlose (Zürich 1988), Raoul Tranchirers Welt- und Wirklichkeitslehre aus dem Reich des Fleisches, der Erde, der Luft, des Wassers und der Gefühle (Gießen 1990), Tranchirers letzte Gedanken über die Vermehrung der Lust und des Schreckens (Gießen 1994), Raoul Tranchirers Enzyklopädie für unerschrockene Leser & ihre überschaubaren Folgen (Gießen 2002) sowie Raoul Tranchirers Bemerkungen über die Stille (Ffm. 2005) setzen das Projekt einer parodistischen Ratgeberliteratur fort u. bilden zusammen die umfangreiche Enzyklopädie für unerschrockene Leser. Eine nur vermeintl. Bewegung hin zu traditionelleren literar. Formen vollzog W. mit seinem Reiseroman Nachrichten aus der bewohnten Welt (Ffm. 1991), der die Erwartungskonventionen des Genres jedoch von vornherein unterläuft u. stattdessen die Paradoxien literar. Illusionserzeugung betont: »Ich könnte noch lange vom Reisen reden«, so der Erzähler gegen Ende seiner Erzählung, »von Reisegebieten, in die ich hineintreibe wie im Schlaf, ganz von selbst, auf die allernatürlichste Weise und immer so weiter. Doch bevor ich damit beginne, mache ich Schluß mit dem Reisen.« Zwei oder drei Jahre später. Siebenundvierzig Ausschweifungen (Ffm. 2003), eine Sammlung kurzer Prosatexte, spitzt die Infragestellung etablierter Erzählverfahren noch weiter zu; nach der knappen, nur vier Zeilen umfassenden Schilderung einer Ausgangssituation, entgegnet der Erzähler: »Ich unterlasse es, dem Leser die Fortsetzung der Geschichte zu schildern, bin aber sicher, daß er die richtigen Schlüsse ziehen wird, um sich danach der folgenden Seite zuzuwenden.« Bei dieser Verweigerung bleibt W. auch in seinen folgenden Büchern, die auf einen narrativ entfalteten Weltentwurf vollends verzichten. Die Grenzen der Vertraulichkeit oder große Reise in entgegengesetzter Richtung (Ffm. 2006), Eine schöne Umgebung oder Neuigkeiten aus dem Gebiet der dunklen Gefühle (Ffm. 2008) u. Vor dem Fenster übrigens zu meiner Verwunderung die Abenddämmerung (Ffm. 2008) versam-

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meln, so der gemeinsame Untertitel, Aufzeichnungen aus dem Archiv der Wirklichkeitsfabrik, ein heterogenes Spektrum aus Kurztexten sowie Entwürfen, Notizen u. Fragmenten aus dem Archiv des Autors. Die Wahrnehmung einer zerrissenen Wirklichkeit, wie sie für die Moderne charakteristisch ist, bildet für W. offenkundig die begrüßenswerte Voraussetzung einer Literatur, die sich als »Spiel, Heckmeck, Hokuspokus, Burleske, Wortakrobatik, Spaß« versteht, wie es in einem poetolog. Grundlagentext des Autors aus dem Jahr 1966 heißt. Aus eben dieser Umwertung ergibt sich die Möglichkeit einer literaturgeschichtl. Einordnung: Denn indem W. den modernen Verlust von ›Einheit‹ u. ›Ganzheit‹ als Gewinn betrachtet u. in seinem ebenso umfangreichen wie vielseitigen Œuvre die Schwelle zwischen ›E‹- u. ›U‹-Kultur konsequent zu überwinden sucht (gemäß der Fiedler’schen Forderung »cross the border, close the gap«), lassen sich seine Texte, im vollen Wortsinne, als postmodern bezeichnen. Zu Beginn seiner schriftstellerischen Karriere erhielt W. den Niedersächsischen Förderpreis für junge Künstler (1965) u. ein Stipendium des Berliner Senats (1971). Der Hörspielpreis der Kriegsblinden wurde W. 1988 verliehen. Es folgten u. a. der Literaturpreis der Freien Hansestadt Bremen (1992), der Heimito-von-Doderer-Preis (1996), der Große Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste (2003), der Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor (2004) u. der Friedrich-Hölderlin-Preis (2008). Weitere Werke: Das Lexikon der feinen Sitte (zus. mit Karl Riha). Ffm. 1964. – Pilzer u. Pelzer. Eine Abenteuerserie. Ffm. 1967 (P.). – mein famili. 12 moritaten u. collagen des autors. Steinbach 1968 (L.). – Meine Voraussetzungen. In: Akzente 5 (1968), S. 400–406. – Danke schön. Nichts zu danken. Gesch.n. Ffm. 1969. – mein famili. sämtl. moritaten v. raoul tranchirer mit 22 collagen des autors. Ffm. 1971 (L.). – Auf der Suche nach Doktor Q. Hörsp.-Trilogie. Ffm. 1976. – Hans Waldmanns Abenteuer. Sämtl. Moritaten v. Raoul Tranchirer. Zürich 1985. – Mehrere Männer. Zweiundachtzig ziemlich kurze Gesch.n, zwölf Collagen u. eine längere Reise. Darmst. 1987. – Ausflug an den vorläufigen Rand der Dinge. Prosa 1957–76.

Wolf

533 Darmst. 1988. – Die weiche Welt der fließenden Tiere. Bayreuth 1994. – Aussichten auf neue Erlebnisse. Moritaten, Balladen & andere Gedichte. Ffm. 1996. – Ess.s & Kritiken, Reste aus dem Stichwortleben sowie 80 neue Bildcollagen. Ffm. 2002. – Raoul Tranchirers Taschenkosmos. Bln. 2005. – Pfeifers Reisen. Ffm. 2007 (L.). – Verschiedene Möglichkeiten, die Ruhe zu verlieren. Ein Lesebuch. Ausgew. u. komm. v. Brigitte Kronauer. Ffm. 2008. Ausgabe:R. W. Werke. Ffm. 2009 ff. Literatur: Lothar Baier (Hg.): Über R. W. Ffm. 1972. – Thomas Bündgen: Sinnlichkeit u. Konstruktion. Die Struktur moderner Prosa im Werk v. R. W. Ffm. u. a. 1985. – Rolf Schütte: Material, Konstitution, Variabilität. Sprachbewegungen im literar. Werk v. R. W. Ffm. u. a. 1987. – Anfang & vorläufiges Ende. 91 Ansichten über den Schriftsteller R. W. Ffm. 1992. – Ina Appel: Von Lust u. Schrecken im Spiel ästhet. Subjektivität. Über den Zusammenhang v. Subjekt, Sprache u. Existenz in Prosa v. Brigitte Kronauer u. R. W. Würzb. 2000. – Kai U. Jürgens: Zwischen Suppe u. Mund. Realitätskonzeption in R. W.s ›Fortsetzung des Berichts‹. Kiel 2000. – Barbara Raschig: Bizarre Welten R. W. v. A bis Z. Diss. Univ. Siegen 2000. – Oliver Jahn u. K. U. Jürgens (Hg.): Ähnliches ist nicht dasselbe. Eine rasante Revue für R. W. Kiel 2002. – Volker Hage: R. W. In: LGL. – Martin Schmitt: Nichts als die Wahrheit. Sprache u. Welt in R. W.s Prosa. Sulzbach 2004. – Ders.: Unterwegssein. Präsenz u. Absenz in R. W.s Kürzestprosa. Bielef. 2004. – Hans Christian Kosler, Harald Kern u. Michael Töteberg: R. W. In: KLG. Hans Christian Kosler / Kai Sina

Wolf, Uljana, * 6.4.1979 Berlin/DDR. – Lyrikerin, Übersetzerin. W. studierte 1998–2008 Neuere deutsche Literatur, Anglistik u. Kulturwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin u. 2003/ 04 an der Universität Kraków. Im Herbst 2004 hielt sie sich mit einem Mercator-Berg. haus-Stipendium in Krzyzowa auf u. war im Sommer 2006 Stipendiatin der Villa Decius in Kraków. W., die seit 2007 mit dem Schriftsteller Christian Hawkey verheiratet ist, lebt als Lyrikerin u. Übersetzerin in Berlin u. New York. Nach einzelnen Lyrikveröffentlichungen wurde W. bereits mit ihrem Debütband kochanie ich habe brot gekauft (Idstein 2005), für den sie 2006 den Peter-Huchel-Preis erhielt,

einem größeren Publikum bekannt. Die meist knappen, aber oft zu Gruppen oder Zyklen geordneten Gedichte zeichnen sich durch Metaphernreichtum, ausgeprägte klangl. Strukturierung (u. a. Assonanz, Binnen- u. unregelmäßiger Endreim) u. häufiges variierendes Wiederaufgreifen einzelner Textteile aus; sie entwickeln so große sprachl. Sinnlichkeit, bisweilen sogar Liedhaftigkeit. Mündlichkeit u. (lyrisches) Sprechen figurieren auch thematisch als Leitmotiv, oft verschränkt mit Liebeslyrik u. der Reflexion des Polen-Erlebnisses; Letzteres wird neben der eigenen Erfahrung von W.s Familiengeschichte gespeist: W.s Großmutter väterlicherseits ist in Schlesien geboren, der Großvater war dort 1940/41 als Vermessungstechniker tätig. Durch die Positionierung in der relativen Distanz der »Nachgeborenen«, die Darstellung des Gegenwartserlebnisses u. die sinnl. Sprache verharrt auch die häufige Verwendung von stark kodierten Begriffen wie »väter«, »soldat« oder »wald« nicht im toposhaften Aufruf der dt. Vergangenheit, sondern lässt sich als Versuch lesen, die damit operierende lyr. Tradition aufzubrechen u. aktualisiert fortzuschreiben. Nicht Mündlichkeit, sondern die visuelle Organisation der Textseite ist das herausragende Merkmal des Nachfolgebandes falsche freunde (Idstein, 2009), der in vier Umschlagfarben erhältlich ist u. dessen vier Zyklen ihr Thema jeweils auch visuell-konzeptuell umsetzen. Dazu wird nur im letzten Zyklus, Alien II: Liquid Life, nicht die Form des Prosagedichts gewählt, das jeweils mit einem typografischen Element pro Zyklus (Wortkonstellation, negativ gesetzter Untertitel oder alphabetische Liste) statt eines herkömml. Gedichttitels ergänzt wird; in Alien II beruhen die Gedichte auf meist amtl. Texten aus dem Bereich Biometrie u. Grenzkontrolle, aus denen längere Passagen entfernt wurden, u. erinnern in der resultierenden freien Verteilung der Wörter auf der Fläche an Mallarmés Un coup de dés oder an e. e. cummings. Inhaltlich kreist falsche freunde um den Sprachwechsel Deutsch-Englisch, der im Titel gebenden Zyklus über die orthografische u. phonet. Ähnlichkeit »falscher Freunde« sprachspielerisch realisiert ist; aber auch in

Wolfdietrich

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den anderen Zyklen werden häufig ähnl. Wortformen, Doppelbedeutungen oder Permutationen zur assoziativen Koppelung u. Textentfaltung eingesetzt. In Auseinandersetzung u. a. mit Charles Baudelaire, Ilse Aichinger u. Günter Eichs »Maulwürfen« formulierte W. in Box Office (Mchn. 2009) ihre Überlegungen zum Prosagedicht, das für sie »seine Identität als das Andere gewinnt, indem es Prosaformate nachahmt und ihre Konventionen benutzt, um von ihnen im entscheidenden Moment abzuweichen, sie eben wie ein Maulwurf zu untergraben, auszuhöhlen« (S. 16 f.). Weitere Werke: Jb. der Lyrik 2009 (hg. mit Christoph Buchwald). Ffm. 2009. – Übersetzungen: Christian Hawkey: Reisen in Ziegengeschwindigkeit. Gedichte Englisch-Deutsch. Idstein 2008 (mit Steffen Popp). – Matthea Harvey: Du kennst das auch. Gedichte Englisch-Deutsch. Idstein 2010. – Eugene Ostashevsky: Auf tritt Morris Imposternak, verfolgt v. Ironien. Bln. 2010. – C. Hawkey: Sonette mit Elisabethanischem Maulwurf. Bln. 2010. Literatur: Walter Fabian Schmid: U. W.: falsche freunde. Bilinguale Kippfiguren. 7.11.2009, http://www.poetenladen.de/wf-schmid-uljanawolf.htm. – Jan Kuhlbrodt: ›Vielleicht sollte man das Konzept Ort abschaffen.‹ U. W. im Gespräch. In: poet Nr. 10 (2011), S. 232–241. – Roland Berbig: Nur reden, wenn es wie eine Übersetzung klingt. U. W. – Poetische Welten zwischen Berlin, Krakau u. New York. In: Wechselwirkungen. Deutschsprachige Lit. u. Kultur im regionalen u. internat. Kontext. Internat. Germanistik-Tagung an der Univ. Pècs, 9.-11. September 2010. Hg. Zoltán Szendi. Wien (in Vorb.). Sven Koch

Wolfdietrich. 13. Jh.



Heldendichtung

des

Die Erzähltradition von Wolfdietrich (bzw. Ortnit/Wolfdietrich) bildet mit derjenigen von Dietrich von Bern, mit der sie in der Überlieferung regelmäßig verbunden ist, den breiten, vielarmig verzweigten Hauptstrom der mhd. Heldendichtung. (Dass diese im allg. Bewusstsein vom Nibelungenlied dominiert wird, ist ein spätes Rezeptionsphänomen: Es verdankt sich der national bewegten Nibelungen-Begeisterung des 19. Jh.) Der Wolfdietrich-Stoff dürfte in merowing. Geschichte wurzeln. (Die noch heute gele-

gentlich vertretene Auffassung, der Held sei urspr. identisch mit Dietrich von Bern, hinter der Sagengestalt stehe also der Ostgotenkönig Theoderich der Große, ist abwegig, auch wenn sie sich auf die Autorität Wilhelm Grimms berufen kann.) Ehe er im 13. Jh. zu Pergament gekommen ist, muss er sich über die Jahrhunderte in mündl. Tradition entwickelt haben (streckenweise wohl im Kontakt mit frz. Heldendichtung, zu der es enge Motivparallelen gibt). Als älteste erhaltene Version gilt der Text A, der fragmentarisch im Ambraser Heldenbuch vom Beginn des 16. Jh. überliefert u. indirekt in der Fassung des Dresdner Heldenbuchs von etwa 1472 bezeugt ist (auch Ambraser Wolfdietrich oder Wolfdietrich von Konstantinopel genannt). Nach dieser Version, die um 1230 verfasst worden sein soll, ist Wolfdietrich der jüngste Sohn des Königs Hugdietrich von Konstantinopel. In Abwesenheit des Vaters geboren, wird er von dessen ungetreuem Ratgeber Sabene als Teufelsspross verleumdet, aber von dem treuen Vasallen Berchtung, der ihn töten soll, gerettet (Berchtung setzt das Kind im Wald aus, wo es in ein Rudel Wölfe gerät, das ihm wunderbarerweise nichts tut: So kommt der Held zu seinem Namen: »Wolf her Dietrîch«). Der Prinz wird rehabilitiert, doch vertreiben ihn nach dem Tod des Vaters seine Brüder aufgrund einer neuerl. Verleumdung durch Sabene. Berchtung u. dessen 16 Söhne, von denen sechs im Kampf gegen die Vertreiber fallen, stehen ihm bei. Die Bedrängten verschanzen sich in Berchtungs Burg. Nach vierjähriger Belagerung macht sich Wolfdietrich auf, um Hilfe bei König Ortnit in Lamparten (der Lombardei) zu holen. Von diesem hatte das (vom selben Dichter als Vorgeschichte zur Version A konzipierte?) Ortnit-Epos berichtet, dass er von Drachen getötet worden war. Wolfdietrich trifft erst nach Ortnits Tod in Lamparten ein. Er erlegt die Drachen, heiratet Ortnits Witwe u. kehrt als siegreicher Rächer in sein Land zurück. Noch im 13. Jh. sind nach herrschender Ansicht mindestens zwei weitere Versionen entstanden: B (Wolfdietrich von Salnecke [Saloniki]), überliefert in zwei Handschriften des 15. u. einer des 16. Jh., u. C (Wolfdietrich von

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Athen), rudimentär überliefert in der nur fragmentarisch erhaltenen ältesten Heldenbuch-Handschrift aus der 1. Hälfte des 14. Jh. Bei gleicher Kernfabel – Vertreibung des Helden, Treue der Dienstmannen, Heimkehr in die angestammte Herrschaft – unterscheidet sich B von A durch eine andere Ausgestaltung von Wolfdietrichs Fahrt nach Lamparten u. eine andere Fassung der ätiolog. Kindheits- bzw. Vorgeschichte: Der Held ist da der heimlich gezeugte Spross Hugdietrichs von Konstantinopel u. der Tochter König Walgunds von Salnecke, der, ausgesetzt, von Wölfen geraubt, aber verschont wird. C bietet eine dritte Version der ätiolog. Kindheitsgeschichte (der Held, Sohn des Königs Trippel von Athen, wird von Wölfen entführt u. großgezogen) u. geht, soweit erkennbar, auch sonst eigene Wege. Wohl aus dem 14. Jh. stammt schließlich die vierte Version D (der Große Wolfdietrich), deren Verfasser (bzw. Kompilator) sich als Wolfram von Eschenbach ausgibt. Mit über 2000 Strophen (wie die anderen Versionen im Hildebrandston) ist sie bei Weitem die umfangreichste. Sie bietet die Ätiologie des B-Typs u. zeichnet sich im Übrigen v. a. dadurch aus, dass Wolfdietrichs Lampartenfahrt zu einer bizarren Folge von Abenteuern ausgebaut ist, hinter der die heroische Kernfabel völlig zurücktritt. Nach der Überlieferung zu urteilen, hat sie den anderen Versionen rasch den Rang abgelaufen: Nicht weniger als zehn Handschriften des 15. Jh. u. dazu die sechs Drucke des Heldenbuchs überliefern sie. In diesen erscheint der W. tendenziell als das organisatorische Zentrum einer zykl. Summe der mhd. Heldenepik: Die Sammlung beginnt mit dem Ortnit, der hier handlungsmäßig bes. eng mit dem anschließenden W. verklammert ist, u. auf diesen folgen mit Rosengarten u. Laurin zwei Dietrichepen, die dadurch genealogisch angebunden sind, dass Dietrich u. seine Gesellen als Nachfahren Wolfdietrichs u. der Söhne Berchtungs erscheinen. Die zentrale Bedeutung des Werks im Kreis der verwandten Dichtungen kommt vielleicht auch darin zum Ausdruck, dass der Redaktor der Drucksammlung diese als ganze nach ihm benannt hat: der helden bu8 ch / das man nennet den wolfdieterich.

Wolfdietrich

Die Version D des W. kann als einer der großen literar. Erfolge des SpätMA gelten. Bei aller Rohheit der Sprache wie der Anschauungen u. bei aller Konfusion im Abwickeln des Handlungsfadens durchaus spannend u. effektsicher erzählt, wird sie ihre Resonanz v. a. der bunten, fantastischen Abenteuerwelt verdankt haben, in welcher der Held sich gegen monströse Ungeheuer aller Art behauptet u. in der auch der publikumswirksame Bereich des Erotischen (z.T. in sehr direkter, das Pornografische streifender Darstellung) zu seinem Recht kommt. Dem Zeitgeschmack musste das um so mehr entsprechen, als die Abenteuerwelt mit einer handfesten Legendenfrömmigkeit u. einer grobschlächtigen Kreuzzugsideologie verbunden ist, die den Helden als einen »miles dei« präsentiert, der unentwegt Heiden tötet u. Heiden tauft, dabei allen Anfechtungen des Teufels widersteht, am Ende seines Lebens in ein Kloster eintritt u. dort einen seligen Tod stirbt. Auffällig ist der Bezug des Helden zur Gestalt des hl. Georg. Nicht nur kann man das Wolfdietrich-Leben stellenweise geradezu als »imitatio« der Vita des »propugnator militum christianorum« lesen, dieser ist selbst direkt u. indirekt im Geschehen präsent: Er ist einer der Taufpaten des Helden; dieser trägt ein schützendes Wunderhemd, das einst der Heilige besessen hatte; das Kloster, in dem er sein Leben beschließt, gehört zu dessen Orden. Der hl. Georg war der Patron zahlreicher Ritterorden u. ordensartiger Gesellschaften (nicht zuletzt des Deutschen Ordens, dessen Brüder der Held auf einer Jerusalemfahrt im Kampf gegen die Heiden unterstützt). Von daher liegt es nahe, dass man in Wolfdietrich eine Art Ritterheiligen gesehen hat, der für den zeitgenöss. Adel eine attraktive Identifikationsfigur gewesen sein dürfte: Das Interesse dieser Kreise mag nicht wenig zur Popularität des Werks beigetragen haben. Ausgaben: Sammelausgaben: Dt. Heldenbuch. Tl. 3.4. Hg. Arthur Amelung u. Oskar Jänicke. Bln. 1871–73. Neudr. Dublin/Zürich 1968 (alle Versionen). – Version A: Ortnit u. W. A. Hg. Walter Kofler. Stgt. 2009. – Version B: W. B. Hg. W. Kofler. Stgt. 2008. – Version D: Der große W. Hg. Adolf Holtz-

Wolfenbütteler Marienklage u. Osterspiel mann. Heidelb. 1865. – Heldenbuch. Hg. Joachim Heinzle. Bd. 1: Abbildungsbd. Göpp. 1981 (Faks. des ältesten Drucks). – Ortnit u. W. D. Hg. W. Kofler. Stgt. 2001. Literatur: Heldenbuch. Hg. Joachim Heinzle. Bd. 2: Kommentarbd. Göpp. 1987. – Wolfgang Dinkelacker: W. In: VL (Bibliogr.). – Lydia Miklautsch: Montierte Texte – hybride Helden. Zur Poetik der W.-Dichtungen. Bln./New York 2005. – Victor Millet: German. Heldendichtung im MA. Eine Einf. Bln./New York 2008. Joachim Heinzle

Wolfenbütteler Marienklage u. Osterspiel. – Spätmittelalterliche geistliche Spiele, vermutlich 1425 aufgeschrieben.

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mit der Thomasszene u. der Verkündigung der Auferstehung durch die Marien endet, zeigt in seiner ganzen Anlage offensichtlich das Bemühen, einer lat. Texttradition zu folgen, diese vorsichtig mit dt. Texten zu überformen u. so dem Osterspiel eine neue, angemessene, d.h. sich auf das Wesentliche des österl. Heilsgeschehens beschränkende, Form zu geben. Ausgaben: Otto Schönemann: Der Sündenfall u. Marienklage. Zwei niederdt. Schausp.e aus Hss. der Wolfenbüttler Bibl. Hann. 1855, S. 127–168. Literatur: Anton Schönbach: Über die Marienklage. Graz 1874, S. 35–39 (W. M. mit der Sigle O). – Alfons Brinkmann: Liturg. u. volkstüml. Formen im geistl. Spiel des dt. MA. Münster 1932, S. 40–42. – Ernst August Schuler: Die Musik der Osterfeiern, Osterspiele u. Passionen des MA. Kassel/Basel 1951, S. 104 f. – Rolf Steinbach: Die dt. Oster- u. Passionsspiele des MA. Köln/Wien 1970, S. 17–20. – Ruprecht Wimmer: Deutsch u. Latein im Osterspiel. Mchn. 1974. – Ursula Hennig: Die Klage der Maria Magdalena in den dt. Osterspielen. In: ZfdPh 94 (1975), Sonderheft, S. 108–138. – Rolf Bergmann: Kat. der deutschsprachigen geistl. Spiele u. Marienklagen des MA. Mchn. 1986. – Andreas Traub: Zu einigen Melodien der Wolfenbütteler Marienklage. In: Neue Musik u. Tradition. FS Rudolf Stephan. Hg. Josef Kuckertz u. a. Laaber 1990. S. 55–72. – Ulrich Mehler: Marienklagen im spätmittelalterl. u. frühneuzeitl. Dtschld. Bd. 1 u. 2. Amsterd./Atlanta 1997. – Ders.: W. M. In: VL. – U. Hennig: W. O. In: VL. Bernd Neumann / Red.

Die beiden nach ihrem heutigen Aufbewahrungsort benannten Spiele sind Bestandteile einer vermutlich 1425 in Braunschweig entstandenen Sammelhandschrift, in die sie in direkter Abfolge zwischen überwiegend lat. Texten hauptsächlich religiösen Inhalts zwar nicht zum Zweck einer Aufführung, wohl aber doch in engem Zusammenhang mit einer solchen von einem unbekannten Schreiber eingetragen wurden. Musikalisch reich ausgestaltet, umfasst die Wolfenbütteler Marienklage, die in der Überschrift zwar als »ludus domini nostri ihesu christi« bezeichnet wird, ihrem Aufbau u. Inhalt nach aber zu den Marienklagen gehört, 464 Verse, in denen die drei Marien, Johannes, Petrus, Nichodemus u. der Salvator auftreten; die Handlung, die in ihrem Verlauf mehr u. mehr hinter den Wolfensberger, William, * 17.6.1889 Klagegesängen zurücktritt, umfasst Szenen Hottingen (heute zu Zürich), † 6.12.1918 vom Gang der Klagenden zum Kreuz bis zur Rheineck/Kt. St. Gallen. – Erzähler, LyriKreuzabnahme u. Grablegung Christi. ker; Theologe. Das sich anschließende Osterspiel (283 Verse), das ebenfalls eine Vielzahl mit Noten Der Zürcher Fabrikantensohn studierte nach versehener dt. u. lat. Gesänge enthält, be- dem Besuch des Gymnasiums in seiner Vaginnt mit dem Gesang der drei Marien zum terstadt zunächst Germanistik, dann protesGrabe u. dem Salbenkauf, wobei die Krä- tantische Theologie. Nach dem Scheitern eimerszene nicht – wie in vielen anderen Spie- ner Liebesbeziehung u. einer schweren Auslen – von grober Komik u. unflätigem Witz, einandersetzung mit dem autoritären Vater sondern von Ernst u. Würde geprägt ist. Im ließ sich W. 1914 als Pfarrer ins abgelegene Vergleich mit anderen Spielen hat das Wol- Bündner Dorf Fuldera wählen. fenbütteler Osterspiel auch den Szenenbestand W., der den Ideen des religiös-sozialen deutlich reduziert: So fehlen z.B. alle Pilatus-, Theologen Leonhard Ragaz nahestand, geriet Juden-, Wächter- u. Teufelsszenen sowie der mit seinem engagiert humanitären, das irdisonst so beliebte Wettlauf der beiden Apostel sche einem himml. Glück voranstellenden Petrus u. Johannes zum Grabe. Das Spiel, das Christentum dort allerdings schon bald in

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Konflikt mit den Verfechtern des traditio- Rudolf Probst: W. W., Leben u. Werk. In: W. W.: nellen Amtskirchentums. Das spiegelt sich Eingeklemmt zwischen Unmöglichkeit und Sehnauch in seinem literar. Erstling, den auto- sucht. a. a. O., S. 245–303. – Franzisca Pilgrambiografisch bestimmten Erzählungen Unsers Frühauf: ›Sagen kann man es nicht‹. Spannungsfelder des Schweigens im autobiogr., literar. u. Herrgotts Rebberg (Heilbr. 1916), die einem theolog. Werk v. W. W. (1889–1918). Zürich 2008. zutiefst pessimistischen Welt- u. MenschenCharles Linsmayer bild das Wort reden u. sich allein schon deshalb auffallend von der zeitgenöss. Schweizer Heimatliteratur abheben. Die Gestalten dieWolfenstein, Alfred, * 28.12.1883 Halle/ ses Buchs sind an Gott irre geworden, sie Saale, † 22.1.1945 Paris. – Lyriker, Drazerbrechen an ihrer Sehnsucht nach Liebe u. matiker, Novellist, Essayist, Übersetzer. enden oftmals in Wahnsinn, Selbstmord oder frühem Tod. »Er sorgt nicht um uns. Um Der Sohn eines Kaufmanns studierte in Berkeinen«, sagt der Bauer Barba-Jon in der Er- lin, wohin die Familie 1901 übersiedelte, zählung Aus einsamer Welt über Gott, »die Rechtswissenschaften (Dr. jur.). 1915 wurde Liebe, die wir haben sollten und möchten, er Gerichtsreferendar, u. seitdem stand die freie schriftstellerische Betätigung im Vorgibt der uns nicht!« Nach Auseinandersetzungen mit der Ge- dergrund: 1912 erschien sein erstes Gedicht meinde Fuldera u. einer tiefen seel. Krise trat in Pfemferts »Die Aktion«, deren enger MitW. 1917 eine neue Pfarrstelle im rheintali- arbeiter er bis 1917 war. Es folgten bis 1916 schen Rheineck an, u. hier, in einer ihm Gedichte in Schickeles »Weißen Blättern«. wohlgesinnten Umgebung u. im Banne eines Die Lyrik der Jahre vor dem Ersten Weltkrieg moderaten zweiten Liebesglücks, schrieb er (Die Gottlosen Jahre. Bln. 1914) zeigt W. als erstmals auch Erzählungen u. Gedichte von Dichter, der fernab von modischen Expreseiner helleren, beinahe optimistischen Ton- sionismen düster-melancholisch Vereinzeart: die Erzählung Seines Bruders Hüter (pos- lung, Entfremdung, Ich-Verlust u. -dissoziatum erschienen im Band Köpfe und Herzen. tion sprachlich präzise registriert, freilich Zürich 1919) oder den 1918 in Zürich er- schon die Erlösung durch die Gemeinschaft schienenen lyr. Zyklus Lieder aus einer kleinen erhofft (»Ach man ist es überdrüssig, nur zu Stadt, der dem Städtchen Rheineck, wo W. mit denken. / Nichts als einzeln denkende zu 29 Jahren als Opfer einer Grippeepidemie sehn!« Aus: Die Laternen. In: Die Gottlosen starb, eine liebevolle poetische Hommage Jahre). 1917 kommt es nicht nur zum Bruch darbringt. Als bewegende Zeugnisse einer mit Pfemfert, sondern auch mit Kurt Hiller, unsentimentalen, niemals frömmlerischen bei dessen »Aktivismus« wie auch beim polit. christl. Dichtung wurden Publikationen wie Gedicht W. die »ergreifende Kunstform« Religiöse Miniaturen (zuerst Heilbr. 1917) nach vermisste bzw. bedroht sah. W.s Vorbild war W.s Tod immer wieder neu aufgelegt u. fan- nun Shelley, den er auch übersetzte: der den auch die aus dem Nachlass herausgege- »Einklang von Dichtertum und Kämpferbenen Bände Legenden (Zürich 1919), Narren tum« als künstlerisch-ethisches Credo. In der der Liebe (ebd. 1920) u. der Gedichtband Kreuz Sammlung Die Freundschaft, Neue Gedichte (ebd. und Krone (ebd. 1920) rasch eine treue Leser- 1917) zeigt sich W. von der Friedensutopie einer reinen Menschengemeinschaft beseelt. schaft. Es überwiegt das gedanklich-reflexive EleAusgaben: Ausgew. Werke. Hg. Robert Lejeune. ment, u. Pinthus prägte das Diktum vom Frauenfeld 1964 (E.en u. G.e). – W. W.: Eingeklemmt zwischen Unmöglichkeit u. Sehnsucht. Ein »Hirndichter«, der allerdings als GegengeLesebuch. Zusammengestellt v. Charles Linsmayer wicht u. Zentralmetapher das »Herz« aufzuu. Rudolf Probst. Hg. C. Linsmayer. Frauenfeld u. a. bieten hat. Bereits 1916 war W. in München, wo er näheren Umgang mit Rilke u. Gottfried 2007. Literatur: Max Konzelmann: W. W. Leben u. Kölwel hatte; im selben Jahr heiratete er die Wirken. Erlenbach 1924. – Robert Lejeune: W. A. Dichterin Henriette Hardenberg. 1924 kehrte In: W. W.: Ausgew. Werke. a. a. O., S. 465–496. – er nach Berlin zurück.

Wolfenstein

Als Erzähler verharrte W. im lyr. Ton. Seine Kurzprosa, stets stark moralisch-didaktisch u. symbolisch aufgeladen (Der Lebendige. Mchn. 1918) fand keinen großen Anklang, obwohl W. hier wie auch in der späteren Sammlung Die gefährlichen Engel. Dreißig Geschichten (Mährisch-Ostrau/Lpz. 1936) Kabinettstücke psychologisierender Parabolik gelangen (vgl. auch die Erzählungen Ein Spiel mit dem Gesetz u. Unter den Sternen. Beide Dessau 1924). 1919 u. 1920 gab W. das »Jahrbuch für neue Dichtung und Wertung: Die Erhebung« (Bln.) heraus, das Manifeste u. Bekenntnisse der bedeutendsten Expressionisten versammelt u. als wichtige theoret. Selbstdarstellung jener Bewegung gilt. Als Übersetzer widmete er sich Nerval, Verlaine, E. Brontë, O’Neill; für seine Rimbaud-Übertragung (Rimbaud. Leben, Werke, Briefe. Bln. 1930) erhielt er 1930 den ersten dt. Übersetzerpreis. 1933 floh W., der als Jude u. Pazifist, nicht zuletzt durch seinen Essay Jüdisches Wesen und neue Dichtung (ebd. 1922), ganz oben auf der Liste der Verfolgten stand, nach Prag. Als Hörspielautor (Turandot, Leben Victor Hugos) sowie durch Beiträge in Zeitungen u. Zeitschriften hielt er sich über Wasser. 1939 gelang ihm die Flucht nach Paris, wo er im Schutzverband dt. Schriftsteller u. als Übersetzer tätig war, Vorträge zu literarhistor. u. geschichtl. Themen hielt u. für die »Pariser Tageszeitung« sowie das »Pariser Tageblatt« schrieb. Erst kurz vor dem Einmarsch der dt. Truppen 1940 verließ W. Paris, wurde von der Gestapo verhaftet, jedoch auf wunderbare Weise nach drei Monaten von einem dt. Offizier, der W. als Schriftsteller kannte, aus dem Gefängnis La Santé entlassen (vgl. den erschütternden Gedichtzyklus Ein Gefangener. Hg. Walter Huder. Ebd. 1972). W.s Verurteilung der Amerikaemigration, der »Europaflucht« (so auch die Titel zweier Gedichte, in denen es heißt: »und ihr gebt den Geist hier tot«. Aus: Europaflucht II. In: Neues Tagebuch, Nr. 22, 1938), führte zu einer Kontroverse mit Erika Mann. In der Abstellkammer einer Pension in Nizza fristete W. sein Dasein, da das von Thomas Mann u. Pinthus vermittelte Amerikavisum aufgrund der verschärften Lage nicht mehr eintraf. Die Arbeit an dem

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autobiogr. Roman Frank (in: Werke. Bd. 2, Mainz 1984), der Fragment blieb u. in essayistisch eingefärbten Dialogen Künstlertum u. Emigrantenschicksal vor dem Hintergrund des Prag der 1930er Jahre schildert, war seine einzige Zuflucht. Diesem Werk räumte er neben seiner Lyrik den größten Stellenwert ein. Unter dem Namen Albert Worlin schlug sich W. Mitte 1944 nach Paris durch. Stark depressiv u. herzleidend, nahm er sich im Hospital Rothschild, wohin ihn Freunde gebracht hatten, Anfang 1945 das Leben. Die Forschung ist sich darin einig, dass W. bereits 1917 den Zenit seiner genuin lyr. Begabung erreicht hatte u. im folgenden nur noch Variationen in Form von vielfachen Überarbeitungen u. Selbstzitaten hervorgebracht habe, sodass W. schon vor 1933 eher »moralische« denn künstlerisch-ästhetische Vorbildfunktion hatte. Der Dramatiker W. entwickelte sich aus der Krise des Lyrikers u. dem verstärkten Bedürfnis nach öffentl. Wirksamkeit, die ihm im Exil so sehr fehlte. Denn laut W. könne das Kunstwerk die Welt verändern u. zur Formung des »neuen Menschen« u. zu dessen »Vergemeinschaftung« beitragen. W.s Dramen, weitgehend unaufgeführt u. selbst als Lesedramen zu thesenhaft u. abstrakt, übernehmen seine Lyrismen teils wörtlich. Sie huldigen zwar nicht dem »O-Mensch«Pathos der Zeit, sind aber durchgängig von einer Opfer- u. Erlösungssymbolik getragen, die an Rubiner oder Toller erinnert. Lediglich dem vehementen Plädoyer gegen die Todesstrafe, dem vergleichsweise »realistischen« Drama Die Nacht vor dem Beil (Urauff. 1927. Gedr. Stgt. 1929), angeregt durch die Reichstagsdebatte um die Abschaffung der Todesstrafe, war ein Achtungserfolg beschieden, der aber weniger in der Bühnenwirksamkeit als in der Aktualität u. der überzeugenden ethischen Wertung des Themas begründet war. Weitere Werke: Ausgabe: Werke. Hg. Hermann Haarmann u. Günter Holtz. 5 Bde., Mainz 1982 ff. – Einzeltitel: Die Nackten. Eine Dichtung. Lpz. 1918. – Menschl. Kämpfer. Bln. 1919 (L.). – Der gute Kampf. Eine Dichtung. Dresden 1920. – Mörder u. Träumer. Drei szen. Dichtungen. Bln.

539 1923. – Der Narr der Insel. Ebd. 1925 (D.). – Bäume in den Himmel. Ebd. 1926 (D.). – Celestina. Ebd. 1929 (D.). – Übersetzer: Gérard de Nerval. 3 Bde., Mchn. 1921 (E.en). – Percy Bysshe Shelley: Dichtungen in neuer Übertragung. Bln. 1922. – Victor Hugo: Die letzten Tage eines Verurteilten. Ebd. 1925. – Herausgeber: Hier schreibt Paris. Sammelwerk v. heute. Bln. 1931. – Stimmen der Völker. Amsterd. 1938 (Lyrikanth.). Literatur: Peter Fischer: A. W. Der Expressionismus oder die verendende Kunst. Mchn. 1968. – Günter Holtz: Die lyr. Dichtung A. W.s. Thematik, Stil u. Textentwicklung. Diss. Bln. 1972. – P. Fischer: Euphorie u. Realität des Rundfunks. (Zu W.s Ansichten). In: Lit. u. Rundfunk. Hildesh. 1975, S. 265–272. – Hans W. Pantel: Rainer Maria Rilke u. A. W.: Politisch-poetische Affinitäten. In: Crisis and Commitment. Waterloo/Ontario 1983, S. 202–220. – Walter Huder: Über den Exilanten A. W. u. dessen Produktion vor u. nach 1933. In: Maria Sechi (Hg.): Fascismo ed esilio. Pisa 1988, S. 141–158. – Silvia Schlenstedt: Der Dichter A. W. im Exil. In: Wider den Faschismus. Hg. Sigrid Bauschinger u. Susan L. Cocalis. Tüb./Basel 1993, S. 147–158. – Lovis Maxim Wambach: Die Dichterjuristen des Expressionismus. Baden-Baden 2002. – Lutz Winckler: Zum Parisbild im Pariser Tageblatt/Pariser Tageszeitung. Texte v. Franz Hessel, Hermann Wendel, A. W., Richard Dyck. In: Fluchtziel Paris. Hg. Anne Saint Sauveur-Henn. Bln. 2002, S. 261–270. – Günter Hartung: Der Lyriker A. W. In: Ders.: Juden u. dt. Lit. Lpz. 2006, S. 423–435. – Armin A. Wallas: A. W. – Aus Anlaß seiner Werkausg. In: Ders.: Deutschsprachige jüd. Lit. im 20. Jh. Bd. 3, Wuppertal 2008, S. 299–318. Oliver Riedel / Red.

Wolff, Caspar Friedrich, * 18.1.1734 Berlin, † 22.2.1794 St. Petersburg. – Anatom, Embryologe. Der Sohn eines Schneidermeisters trat 1753 in das Berliner Collegium medico-chirurgicum ein. 1755 nahm er in Halle das Medizinstudium auf u. schloss es am 29.11.1759 mit der berühmten Dissertation Theoria generationis (Halle 1759. Dt. Theorie von der Generation [...]. Bln. 1764. Neudr. Lpz. 1896) ab. W. war zunächst Militärarzt in der preuß. Armee. Als er die Erlaubnis, am Collegium medico-chirurgicum Vorlesungen zu halten, nicht erhielt, las er privat über Anatomie, Physiologie u. Medizin. 1766 wurde er zum Professor für Anatomie u. Physiologie an die

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St. Petersburger Akademie der Wissenschaften berufen, an der er bis zu seinem Tod tätig war. W.s Hauptverdienst war der Nachweis der Unhaltbarkeit der Präformationstheorie, die zu seiner Zeit in Albrecht von Haller ihren berühmtesten Vertreter hatte. Die Präformisten gingen davon aus, dass der Embryo von Anfang an in Miniaturform vorliege u. sich durch das Wachstum nur vergrößere. In seiner Dissertation schrieb W. das embryonale Wachstum dem Wirken einer Lebenskraft auf eine homogene organische Substanz zu, einen klaren, flüssigen Nährstoff, in dem anfangs keinerlei Organisation bestehe. Mit fortschreitender Entwicklung verfestige er sich von den Rändern her zu Höhlungen u. Gefäßen (Zellen), zu Gewebe, das sich durch die »wesentliche Kraft« weiter zu Organen differenziere. Für die Bildung von Tieren u. Pflanzen seien die gleichen Gesetze gültig. W. hat mit der Theorie, dass alles aus zunächst diffusen Zellhaufen gebildet wird, viel für die Entwicklung der Zellenlehre geleistet. Er entdeckte auch das Basiswachstum der Kelch-, Staub- u. Fruchtblätter u. machte sich Gedanken über die Gestaltänderung bei Pflanzen; seine Überlegungen, dass die Blüte ein modifiziertes Blatt sei, lassen ihn als Vorläufer von Goethes Metamorphosenlehre erscheinen. An Hallers Studienobjekt, dem Hühnerembryo, wollte W. seinen Gegner widerlegen. Er fand heraus, dass sich der Darm, die Haut u. alle Organe des Embryos aus blattförmigen Anlagen entwickeln (De formatione intestinorum praecipue [...] Observationes, in ovis incubatis institutae. In: Novi commentarii academiae scientiarum imperialis Petropolitanae 12, 1768, S. 403–507. 13, 1769, S. 478–530). Er hat damit den Ansatz zur Keimblättertheorie geliefert, die erst wieder aufgegriffen wurde, als Johann Friedrich Meckel W.s Abhandlung Über die Bildung des Darmkanals im bebrüteten Hühnchen in dt. Übersetzung (Halle 1812) herausgab. Mit seiner Epigenesistheorie u. seinem Ansatz zum Transformismus legte W. die Grundlage für die biolog. Forschungen des 19. Jh., die schließlich zur Abstammungslehre u. auf dem Gebiet der Embryologie zur Keimblättertheorie führten.

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Weiteres Werk: Von der [...] Kraft der vegetabilischen, sowohl als auch der animal. Substanz. St. Petersburg 1789. Literatur: Gesamtdarstellungen: Georg Uschmann: C. F. W. Ein Pionier der modernen Embryologie. Lpz./Jena 1955 (mit Bibliogr.). – Boris Eugenovic Rajkov: C. F. W. In: Zoolog. Jbb. für Systematik 91 (1964), S. 555–626. – Ilse Jahn: C. F. W. (1734–1794). In: Dies.: Darwin & Co. Eine Gesch. der Biologie in Portraits. Bd. 1, Mchn. 1991, S. 95–116. – Naturwissenschaft: Alfred Kirchhoff: Die Idee der Pflanzen-Metamorphose bei W. u. Goethe. Bln. 1867. – Robert Herrlinger: C. F. W.s Theoria generationis (1759). Die Gesch. einer epochemachenden Diss. In: Ztschr. für Anatomie u. Entwicklungsgesch. 121 (1959), S. 245–270. – Shirley A. Roe: Matter, Life and Generation: Eighteenth Century Embryology and the HallerWolff-Debate. New York 1981. – Änne Bäumer: Die Entwicklung des Hühnchens im Ei. Ein klass. Objekt der Naturbetrachtung v. der Antike bis zur Moderne. Diss. Mainz 1985, S. 171–193. – Dietmar Schmidt: Vom Neptunismus zum ›schaffenden Gewebe‹. Die Genese des Lebendigen bei C. F. W. u. Johann Wolfgang Goethe. In: Ztschr. für Ästhetik u. allg. Kunstwiss. 49 (2004), 2, S. 173–196. Änne Bäumer / Red.

Wolff, Wolf, Christian von (Reichsfreiherr: seit 1745), * 24.1.1679 Breslau, † 9.4.1754 Halle. – Philosoph. W., die Schlüsselfigur der dt. Hochaufklärung, war das zweite von sechs Kindern des Lohgerbers Christoph Wolff u. seiner Ehefrau Anna, geb. Giller. Das Neben- u. Gegeneinander von Katholizismus u. Luthertum auf engstem Raum, das damals für das religiöse Klima seiner Heimatstadt Breslau charakteristisch war, hat W.s Entwicklung aufs stärkste beeinflusst: Sein Wunsch, angesichts dieser Gegensätze »die Wahrheit in der Theologie so deutlich zu zeigen, dass sie keinen Wiederspruch leide«, war – seiner eigenen Lebensbeschreibung (Lpz. 1841) zufolge – das Motiv, das ihn veranlasst hat, die Mathematik um ihrer Methode willen (»methodi gratia«) zu studieren. W.s groß angelegtes Lebensprogramm, die Philosophie mit Hilfe der mathemat. Methode auf das Niveau gründl. Wissenschaft zu bringen, hat, wenn nicht alles täuscht, eben hier seine Wurzeln. W.s Elternhaus war durch eine tief verankerte

Moralität, gläubiges Luthertum u. eine bemerkenswerte Aufgeschlossenheit gegenüber der Welt des Geistes gekennzeichnet. So schickten ihn die Eltern, nicht zuletzt auch aufgrund einer schon früh hervortretenden Begabung, mit acht Jahren auf das evang. Magdalenen-Gymnasium, eine traditionsreiche Schule von Rang, deren Rektor seit 1686 Christian Gryphius, der Sohn des schles. Barockdichters, war. Schon dort machte W. mit der traditionellen scholastischen Philosophie des Deutscharistotelismus u. des Thomismus, aber auch mit den modernen Philosophien von Descartes u. Ehrenfried Walter von Tschirnhaus, die ihn stark beeinflusst haben, Bekanntschaft. Auch einen großen Teil seines theolog. Wissens erwarb er bereits auf der Schule. Die ersten Kenntnisse der Mathematik dagegen musste er sich weitgehend im Selbststudium verschaffen. Im Herbst 1699 begann W. mit dem Studium an der Universität Jena. Zu seinen Studienfächern zählten Mathematik, Physik, Astronomie, Philosophie, Theologie u. Jurisprudenz. Bereits Anfang 1702 legte er in Leipzig (nicht in Jena!) das Magisterexamen ab, setzte sein Studium aber noch bis Ende 1702 in Jena fort. Anfang 1703 habilitierte er sich in Leipzig als 23Jähriger mit dem programmat. Entwurf einer Philosophia practica universalis, Mathematica methodo conscripta (Lpz. 1703), in dem sich die beiden Grundmotive seines Denkens miteinander verbinden: das inhaltl. Interesse an der prakt. Philosophie u. das formale an der mathemat. Methode. Mit dieser Arbeit fand er auch das Interesse von Leibniz: Otto Mencke hatte sie ohne Wissen W.s an diesen geschickt u. damit den Grundstein zu einer Beziehung gelegt, die sich bis zu Leibniz Tod (1716) immer mehr vertieften u. für W. – insbes. durch das ungeliebte Etikett der »LeibnizWolffischen« Philosophie – geradezu schicksalhafte Züge annehmen sollte. Seit Anfang 1703 hielt W. in Leipzig als Privatdozent (Magister legens) Vorlesungen über Mathematik, Physik, Philosophie u. Theologie. Gleichzeitig war er auch als Prediger tätig. Im Juli 1705 veröffentlichte W. seine erste Rezension in dem berühmten Gelehrtenjournal der »Acta eruditorum«, zu dem er nach den Angaben Ludovicis zwischen 1705 u. 1717

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nicht weniger als 247 Rezensionen aus den verschiedensten Wissensgebieten beigesteuert hat. 1706 erhielt W. fast gleichzeitig Rufe auf Lehrstühle der Mathematik an den Universitäten Gießen u. Halle. Er entschied sich für das damals von Thomasius beherrschte Halle, die Hochburg des Pietismus in Preußen, u. nahm dort Anfang 1707 seine Lehrveranstaltungen auf. W. las zunächst nur über Mathematik, seit 1709 daneben über Physik u. bald auch, allem Anschein nach von Anfang an gegen erhebl. Widerstand, über Philosophie, genauer: über Logik, Metaphysik u. Moral. Offenbar gelang es W. (der in jüngeren Jahren ein eindrucksvoller akadem. Lehrer gewesen sein muss) jedoch, im Lauf der Zeit nachhaltigen Einfluss auf die Studenten auszuüben. Während W. seine Veranstaltungen in Leipzig noch auf lateinisch gehalten hatte, bediente er sich in dem auf Modernität bedachten Halle, dem dortigen Brauch folgend, der dt. Sprache. Dementsprechend waren auch seine wichtigsten philosophischen Schriften, die zunächst einmal für die eigenen Hörer bestimmt waren, auf deutsch abgefasst. Die in eben diesem Zusammenhang von W. entwickelte dt. Begriffssprache zählt zu den bahnbrechenden Leistungen im Felde der Philosophie. »Mit Christian Wolff beginnt gewissermaßen die deutsche Philosophie« (Wuttke). Die genannten Schriften, die, von W. immer wieder überarbeitet, z. T. zehn bis fünfzehn Auflagen erlebten u. rasch in zahlreiche Sprachen übersetzt wurden, beginnen in ihren Titeln alle mit einer gleichlautenden Wendung, die einem Fanfarenstoß gleicht u. ihre Zugehörigkeit zur Aufklärung signalisiert. Sie erscheinen als »Vernünftige Gedanken«, vielleicht könnte man sagen: als vernünftig geordnete Gedanken: Vernünfftige Gedancken von den Kräfften des menschlichen Verstandes (Halle 1712; sog. dt. Logik); Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, Auch allen Dingen überhaupt (ebd. 1719; dt. Metaphysik); Vernünfftige Gedancken von der Menschen Thun und Lassen, zu Beförderung ihrer Glückseeligkeit (ebd. 1720; dt. Ethik); Vernünfftige Gedancken von dem gesellschafftlichen Leben der Menschen (ebd. 1721; dt.

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Politik); Vernünfftige Gedancken von den Würckungen der Natur (ebd. 1723; dt. Physik); Vernünfftige Gedancken von den Absichten der natürlichen Dinge (ebd. 1723; dt. Teleologie). Eine zgl. für W.s Biografie aufschlussreiche »Einleitung zu nützlicher Lesung« dieser Schriften bietet nach Ludovici W.s Ausführliche Nachricht von seinen eigenen Schrifften, die er in deutscher Sprache von den verschiedenen Theilen der Welt-Weißheit heraus gegeben (Ffm. 1726). Sie artikuliert auch die spezif. Systemidee W.s, die die innere Konsequenz der von ihm befolgten mathematisch-deduktiven Methode ist. Unter den zahlreichen lat. Schriften der ersten Halleschen Periode (1706–1723) wären wohl insbes. die Aërometriae Elementa (Lpz. 1709) zu nennen. Es war dies die Zeit des beginnenden Ruhmes über die Grenzen Preußens, ja Deutschlands hinaus. W. wurde Mitgl. der Londoner u. 1711 der Berliner Akademie der Wissenschaften. Ein von ihm abgelehnter Ruf nach Wittenberg brachte dem 36-Jährigen 1715 den Titel eines Hofrats ein. Auch Zar Peter der Große bemühte sich bereits in Halle um ihn. In diese Jahre fällt auch W.s Heirat (30.9.1716) mit Katharina Maria, einer Tochter des Halleschen Stiftsamtmanns Brandis, mit der er drei Söhne hatte. Mit seinem Ansehen wuchsen in Halle aber auch die Spannungen zwischen W. u. seinen pietistischen Kollegen. Das Jahr 1721 führte zu einer dramat. Verschärfung der Situation: Am 12.7.1720 hatte W. das Prorektorat der Universität übernommen. Als er es ein Jahr später an den Theologen Joachim Lange weitergab, wählte er für die bei dieser Gelegenheit übl. Festrede das Thema Die praktische Philosophie der Chinesen (Oratio de Sinarum philosophia practica. Ffm. 1726). Ziel der Rede war der Nachweis, dass das alte China imstande gewesen sei, eine vorbildl. Tugendauffassung zu entwickeln, zu der man also offenbar auch ohne Hilfe der christl. Offenbarung gelangen kann. Eben diese Überzeugung von der Autonomie der prakt. Vernunft musste insbes. die pietistischen Theologen herausfordern. Justus Breithaupt, Senior der Halleschen Theologen, attackierte W. gleich am folgenden Tag von der Kanzel herab. Schriftliche Auseinandersetzungen zwischen W. u. Au-

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gust Hermann Francke, dem Dekan der Theologischen Fakultät, schlossen sich an. Im Herbst 1722 begann die gesamte Theologische Fakultät mit einer umfassenden Prüfung der Veröffentlichungen W.s. Seit 1723 erschienen in rascher Folge immer neue Streitschriften der Pietisten, v. a. Langes, u. Erwiderungen W.s, in deren Zentrum der von W. stets zurückgewiesene Vorwurf des »Fatalismus« oder »Spinozismus«, also einer Aufhebung der Willensfreiheit durch einen strengen Determinismus, stand. Beide Seiten bemühten sich auch, u. zwar mit wechselndem Erfolg, auf den Kgl. Hof in Berlin Einfluss zu nehmen. Dramatischer Höhepunkt des Konflikts war schließlich eine eigenhändige Kabinettsorder Friedrich Wilhelms I. vom 8.11.1723 des Inhalts, W. habe Preußen »bey Strafe des Stranges [...] binnen 48 Stunden« zu verlassen. Von nun an war W. kein Privatmann mehr: Er war der Märtyrer der Aufklärung, der Galilei des Protestantismus. W.s persönl. Situation war jedoch weit weniger heikel, als es zunächst aussehen könnte. Bereits im Juni 1723 hatte W. vom Landgrafen Carl von Hessen-Kassel ein lukratives Angebot auf eine Professur für Mathematik u. Physik an der (calvinistischen) Universität Marburg erhalten. So konnte sich W. am 13.11.1723, einen Tag nachdem ihn die Kabinettsorder in Halle erreicht hatte, geradenwegs nach Kassel begeben, wo der Landgraf sein Angebot auch sogleich erneuerte. Aber auch eine Anfrage des sächs. Hofes mit Blick auf die Universität Leipzig (die sich bereits 1707 um W. bemüht hatte) erreichte W. noch im November in Kassel. W. entschied sich jedoch für Marburg u. begann dort am 13.12.1723 mit seinen Vorlesungen. Alles in allem hatte er seine Lehrveranstaltungen also nur für genau einen Monat unterbrechen müssen. Die dt. Kleinstaaterei erwies sich in diesem Fall als Schutzraum der Freiheit der Wissenschaft. Die Marburger Periode war derjenige Lebensabschnitt, in dem W., jetzt ganz im Zentrum der öffentl. Aufmerksamkeit, mit Ehren geradezu überhäuft wurde. Auch seine wirtschaftl. Situation verbesserte sich dadurch in ungewöhnl. Maße. Ende 1723 bot ihm Peter der Große die Stelle eines Vizepräsidenten der neu zu gründenden Pe-

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tersburger Akademie der Wissenschaften an. Nach Ablehnung dieses Angebots machte ihn Katharina I. 1725 zum (hoch besoldeten) Honorarprofessor der Petersburger Akademie. 1733 wählte ihn auch die Königliche Akademie der Wissenschaften zu Paris zu ihrem Mitglied. Fast zur gleichen Zeit ernannte ihn Landgraf Friedrich von HessenKassel (u. König von Schweden) zum Regierungsrat. Rufe nach Göttingen (1733) u. Utrecht (1740) unterstreichen das Ansehen W.s. Auch schriftstellerisch gesehen war die Marburger Periode eine Periode glänzenden Erfolgs. Bis 1727 war W. noch mit dem Abschluss (bzw. den zahlreichen Neuauflagen) seiner dt. Schriften, der Veröffentlichung seiner Chinesenrede sowie den zahlreichen literar. Kontroversen im Gefolge der Halleschen Auseinandersetzungen beschäftigt. Anschließend aber begann er mit der Abfassung seiner großen lat. Werke, die jetzt in rascher Folge erschienen, zunächst die Logik u. die einzelnen Teile der Metaphysik: Philosophia rationalis sive Logica (Ffm., Lpz. 1728), Philosophia prima, sive Ontologia (ebd. 1730), Cosmologia generalis (ebd. 1731), Psychologia empirica (ebd. 1732), Psychologia rationalis (ebd. 1734) u. Theologia naturalis (ebd. 1736/37), dann die Philosophia practica universalis (ebd. 1738/39) u. anschließend der erste Teil des achtbändigen Naturrechts (Jus naturae. Ebd. 1740), mit dessen Ausarbeitung W. noch in Marburg begann. Ähnlich wie die dt. sind auch die großen lat. Werke ausnahmslos durch eine stereotype Formel gekennzeichnet: Ihre jeweilige Materie ist »nach wissenschaftlicher Methode abgehandelt« (»methodo scientifica pertractata«). Dieser – für W. durch die mathemat. Methode verbürgte – Anspruch der Philosophie auf Wissenschaftlichkeit, der ja alles andere als selbstverständlich ist, hat den Gang der Philosophiegeschichte in Deutschland, so sehr W. selbst im Laufe der Zeit auch in Vergessenheit geraten ist, aufs nachhaltigste bestimmt. Auch in dieser Hinsicht liegt der Ursprung der dt. Philosophie bei W. Bei den lat. Werken W.s handelt es sich nicht etwa nur um eine Wiederholung oder breitere Ausführung der dt. Werke. Sie beruhen vielmehr auf einer erneuten gedankl.

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Durchdringung der Probleme u. bringen an zahlreichen Stellen neue Überlegungen, Weiterführungen u. Korrekturen, bei denen sich auch W.s intensive Rezensententätigkeit bemerkbar macht. Schon die Vorläufige Abhandlung über die Philosophie überhaupt (Discursus praeliminaris de philosophia in genere. Ffm./ Lpz. 1728), die W. an den Anfang seiner Logik u. damit seiner lat. Werke insg. gestellt hat – es ist dies die wohl eindringlichste Zusammenfassung seiner Grundgedanken überhaupt –, artikuliert mit ihrer scharfen Unterscheidung von historischer (= empirischer), philosophischer (= rationaler) u. mathemat. Erkenntnis eine neue Problemlage. Sie erlaubt es, den erkenntnistheoret. Status jeder einzelnen Prämisse exakt zu bestimmen. Stärker noch ist das Moment des Neuen in W.s Psychologia empirica – der ersten empir. Psychologie in der Wissenschaftsgeschichte überhaupt –, mit der W. zum mittlerweile längst vergessenen Urheber der modernen Psychologie als Erfahrungswissenschaft geworden ist. Im Lauf der Jahre hatte sich die Situation in Preußen gründlich verändert. Ende 1733, also zehn Jahre nach W.s Vertreibung, setzten intensive Bemühungen von seiten des Hofs ein, W. für Halle zurückzugewinnen. Eine Kgl. Kommission in Berlin, die mit der Prüfung der W.schen Philosophie beauftragt war, wies die seinerzeit gegen W. erhobenen Vorwürfe als unbegründet zurück. In Berlin bildete sich unter Federführung des Grafen Ernst Christoph von Manteuffel, eines der wichtigsten Briefpartners W.s (zwischen Mai 1738 u. Nov. 1748), eine Gesellschaft der Liebhaber der Wahrheit, die sog. »Societas Alethophilorum«, die sich die Verbreitung der W.schen Philosophie zum Ziel setzte. Seit 1739 war man bemüht, W. für die Universität Frankfurt/O. zu gewinnen. Aber erst der Regierungswechsel in Preußen brachte 1740 den Durchbruch: Als eine der ersten Maßnahmen seiner Regierung ließ Friedrich der Große W. ostentativ nach Halle zurückberufen. Nun galt für Preußen die einprägsame Formel Voltaires: »Wolfio philosophante, Rege Philosopho regnante«. W. traf am 6.12.1740 in Halle ein u. wurde dort enthusiastisch begrüßt. Er konnte je-

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doch seinen alten Ruhm als akadem. Lehrer in seiner zweiten Halleschen Periode nicht wieder einholen. Während seine Anhänger eine Universität nach der anderen besetzten, blieben seine eigenen Veranstaltungen hinter den hochgespannten Erwartungen zurück. Einer der Gründe dafür mag in W.s zunehmender Konzentration auf die Ausarbeitung seiner lat. Werke zu suchen sein, die ja nicht wie die dt. unmittelbar auf die akadem. Lehre bezogen waren. Europa aber huldigte W. in kaum vorstellbarer Weise. 1741 machte ihn Friedrich der Große zum Kurator aller Preußischen Universitäten, 1743 ernannte er ihn zum Kanzler der Universität Halle. Am 10.9.1745 wurde er auf Veranlassung des Jesuiten Stadler in den Reichsfreiherrnstand erhoben, sodass er von nun an den Titel eines Barons trug. 1752 schließlich wurde er Mitgl. der Akademie der Wissenschaften zu Bologna. Das letzte große lat. Werk, das W. noch zum Abschluss bringen konnte, war seine fünfbändige Philosophia moralis sive Ethica (Halle 1750–53), in deren Mittelpunkt die Idee der Selbstvervollkommnung steht. Seine Oeconomia (ebd. 1754) dagegen, den ersten Teil seiner Politik, konnte er nicht mehr vollenden. Das Bewusstsein der Unabgeschlossenheit seines Werks hat seine letzten Lebensjahre überschattet. Am Karfreitag 1754, dem 9. April, ist er gefasst u. wissend gestorben. Seine letzten Worte lauteten: »Nun, Jesu, mein Erlöser, stärke mich in dieser Stunde.« Ausgaben: Ges. Werke. Neu hg. u. bearb. v. Jean École, Hans W. Arndt, Charles A. Corr, Joseph E. Hofmann u. Marcel Thomann. Abt.en I–III, bisher 190 Bde. in 259 Tln., Hildesh. u. a. 1962 ff. 1. Abt.: Dt. Schr.en. 25 Bde. in 36 Tln. II . Abt.: Lat. Schr.en. 38 Bde. in 47 Tln. III. Abt.: Materialien u. Dokumente. Bisher 127 Bde. in 176 Tln. Literatur: Gesamtdarstellungen: Werner Schneiders (Hg.): C. W. 1679–1754. Interpr.en zu seiner Philosophie u. deren Wirkung. Mit einer Bibliogr. der W.-Lit. Hbg. 1983. 21986. – Sonia Carboncini u. Luigi Cataldi Madonna (Hg.): Nuovi studi sul pensiero di C. W. = il cannocchiale (1989), H. 2/3 (Themenheft). – Jean École: La métaphysique de C. W. 2 Tle., Hildesh. 1990 (mit detailliertem Werkverz.). – Nachschlagewerk: Heinrich P. Delfosse, Berthold Krämer u. Elfriede Reinardt: W.-Index.

Wolff Stellenindex u. Konkordanz zu C. W.s ›Dt. Logik‹. Stgt.-Bad Cannstatt 1987. – Biografisches: Carl Günther Ludovici: W. In: Zedler 58, Sp. 549–677. – C. W. Biogr. (= Ges. Werke, Abt. 1, Bd. 10). Hildesh. 1980. – Einzelaspekte: Bruno Bianco: Freiheit gegen Fatalismus. Zu Joachim Langes Kritik an W. In: Zentren der Aufklärung 1: Halle. Aufklärung u. Pietismus. Hg. Norbert Hinske. Heidelb. 1989. – S. Carboncini: Transzendentale Wahrheit u. Traum. C. W.s Antwort auf die Herausforderung durch den cartesian. Zweifel. Stgt.-Bad Cannstatt 1991. – Akten: Hans-Martin Gerlach (Hg.): C. W. – seine Schule u. seine Gegner. Hbg. 1997. – Jürgen Stolzenberg u. Oliver-Pierre Rudolph (Hg.): Wolffiana II: C. W. u. die europ. Aufklärung. Akten des 1. Internat. C.W.-Kongresses, Halle (Salle), 4.-8. April 2004. 5 Tle., Hildesh. 2007–2010. – Ferdinando Luigi Marcolungo (Hg.): Wolffiana III: C. W. tra psicologia empirica e psicologia razionale. Atti del seminario internazionale du studi, Verona 13–14 maggio 2005. Hildesh. 2007. – Sophie Grapotte u. Tinca Prunea-Bretonnet (Hg.): Kant et W.: héritages et ruptures. Paris 2011. Norbert Hinske

Wolff, Claudia, * 29.7.1941 Nürnberg. – Verfasserin von Rundfunkreportagen, Features u. Essays. Die Tochter eines Musiksortimenters u. einer ausgebildeten Sängerin studierte Germanistik u. Philosophie in Heidelberg u. Wien. Die Beschäftigung mit Musik im Elternhaus veranlasste W. zu den Features Gänge durch Bayreuth. Ein historisch-kritischer Stadt- und Festspielführer – angefertigt im 99. Festspieljahr (WDR/SDR/SFB/RB 1975), Die Duse. Schmerzensgöttin der Jahrhundertwende (SDR/WDR/ SFB/NDR 1990) u. Cosima Wagner, geb. Liszt, geschiedene von Bülow (SDR/WDR/NDR/SFB 1998). In Die Callas. Beschreibung einer Leidenschaft (SDR/WDR/SFB/NDR 1987. Hörbuch u. d. T. Maria Callas. Mythos und Leidenschaft. 2008) versucht W. ihren Enthusiasmus für die Sängerin zu vermitteln. Sie beschreibt den Kampf der Callas, Sängerin zu werden, lobt ihre Vielseitigkeit u. demonstriert an Hörbeispielen die dramat. Intensität des Ausdrucks. Sie bezeichnet die Sängerin als Inkarnation des Melodramas, als ein Stimmwunder. Kritiker der Callas werden nur knapp zitiert. Ihre schriftstellerische Tätigkeit, die sie als Redakteurin einer Studentenzeitung begann,

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setzte W. nach Abschluss des Studiums als freie Autorin fort, vorwiegend für das polit. Feuilleton »Kritisches Tagebuch« des WDRHörfunks. Ihre in zehn Jahren entstandenen Texte fasste sie 1986 in dem Band Staatsgemütlichkeit. Auch Zwischenlagen (Gött.) zusammen. Er enthält dreiunddreißig Features, Essays, Kommentare u. Glossen zu tagespolit. Themen, teils ironisch, süffisant, auch nachdenklich, aber stets um Objektivität bemüht. W. setzt sich kritisch mit Politikern auseinander, die ihre nationalsozialistische Vergangenheit verdrängen oder Rechtsbeugung gutheißen mit der Begründung, die Bevölkerung schützen zu müssen. Radikalenerlass u. Lauschangriff als vermeintl. Rechtssicherheit sind ebenso Themen wie Wiederbewaffnung u. Stationierung von Atomwaffen sowie die Entwicklungshilfe als Politik in DritteWelt-Ländern. Im Vordergrund aller Kritik steht die Forderung nach Einhaltung der Grundrechte wie Meinungsfreiheit u. freie Entfaltung der Persönlichkeit. Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheitsbewältigung u. dem »Verschleiß der Erinnerung« führte W. nach der »Wende« 1989 in der DDR fort u. a. mit dem Feature Zugeben. Gestehen. Bekennen. Erkundungen über eine Lohn-Arbeit (SFB/WDR/SDR/NDR 1996). Diskutiert wird die Ambivalenz der Reue u. das Problem der »Selbstgefälligkeit des Gestehens« u. der »Entlarvungsrhetorik«, für das die Autorin keinen Lösungsvorschlag bietet. Inspiriert von eigenen Erfahrungen, entstand das Feature Im Abstammungsglück. Greise Szenen (WDR/SWR/SFB/DLR 2001), das W. zu dem Buch Letzte Szenen mit den Eltern (Mchn. 2004) erweiterte. Es ist die kompromisslose Auseinandersetzung der alternden Tochter mit dem Tod des Vaters u. dem Abgleiten der Mutter in die Demenz, die Konfrontation mit dem eigenen Älterwerden u. dem Versäumnis, Fragen nach der Vergangenheit der Eltern in der nationalsozialistischen Zeit nicht gestellt zu haben. Als sie endlich wagt, den sterbenden Vater nach seinem Verhalten im Krieg zu fragen, wird ihr die Antwort verweigert. Die Tochter würde gerne ihre jahrelang unterdrückten Gefühle offenbaren, die in der Familie alles beherrschende Harmonie entlarven, erlittene Demütigungen offenle-

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gen u. mit Hilfe von Details aus der Vergan- Wolff, Heinrich, auch: Henricus Wolfius, genheit Erinnerungen zurückholen, aber die * 3.2.1520 Öttingen, † 21.12.1581 NürnMutter ist verstandesmäßig nicht mehr zu berg. – Publizist alchemomedizinischer erreichen. Die Tochter sieht sich zum Sachschriften. Schweigen verurteilt, die Sprachlosigkeit zwischen den Generationen lässt sich nicht Nach Schulbesuch in Nürnberg u. Studien in überbrücken; der Wunsch nach einer Bezie- Tübingen (1542: Magister artium) studierte hung zur Mutter in Augenhöhe bleibt uner- W. an Hohen Schulen Frankreichs Medizin füllt, es ist nur noch eine Betreuung der alten (1542–1548). Einem Aufenthalt in Avignon (dort vermutlich Promotion zum Dr. med.) Frau möglich. W. erhielt 1984 den Ernst-Reuter-Preis für folgten ärztl. Tätigkeiten in Öttingen (1550) das Feature Eine feste Burg auf Weltniveau. u. Straßburg (1553); von 1553 bis zu seinem Martin Luthers Heimholung in die DDR (WDR/ Tode lebte W. dann als Stadtarzt in NürnSDR/SFB/RB 1983). 1994 wurde sie Mitgl. der berg; der Augsburger Humanist Hieronymus Akademie der Künste, Berlin, Sektion Film- Wolf (1516–1580) war sein Bruder. W. stand mit namhaften Angehörigen der u. Medienkunst. Respublica literaria in briefl. Austausch (JoWeitere Werke (Features für den Hörfunk): Die stille Kraft des Ganzen. Jargon u. Tendenz völk. hann Albrecht, Lucas Bathodius, Tycho BraGermanistik. RB 1965. – Der große Verdacht. Zum he, Joachim Camerarius d.Ä., Volcher Coiter, Biologismus in der Lit. der Jahrhundertwende. Johann Crato von Kraftheim, Pietro Andrea WDR 1969. – Aus der Linkskurve geschleudert. Mattioli, Johannes Posthius). Ferner zählten ›Liberale Scheißer‹, ›Aktionisten‹ u. der Sozialis- Sebald Hawenreuter u. der Erzparacelsist M. mus. WDR 1970. – Join in the fight. Die schwarzen Toxites zu seinem Freundes- u. BekanntenSoldaten der US-Armee in Westdeutschland. WDR/ kreis. Aufgrund seiner seit den 1560er Jahren RB 1971. – FAUST. Der Tragödie dritter Teil. Vom dokumentierten Parteinahme für die pharKampf um das kulturelle Erbe im real existierenmakotherapeutisch belangvollen Aspekte der den Sozialismus. WDR/SDR/SFB 1979. – Die Verhaftung des gefährl. Gedankens. Zur Diskussion umstrittenen ›Medicina nova‹ Hohenheims um den Paragraphen 88a u. andere ›Gewaltpara- stieß W. zu dem kleinen Kreis entschiedener graphen‹. WDR 1980. – Nürnberg u. die Folgen. Frühparacelsisten u. trotzte fortan allen Nach der Massenverhaftung am 5. März: Beob- Feindseligkeiten seiner Nürnberger Zunftachtungen, Gespräche, Szenen. WDR/SFB/SDR genossen um den Arzthumanisten Joachim 1981. – Berlin, Prinz-Albrecht-Str. 8. Zugeschüttet Camerarius d.J. Seine Klientel bestand voru. wiedergefunden. Vom Umgang mit einem zen- wiegend aus Angehörigen benachbarter Höfe tralen Ort der NS-Herrschaft. WDR/SDR/SFB/NDR/ u. Nürnberger Patriziern. RB 1986. – Krise u. Kränkung. Die krit. Intelligenz. Spätestens seit den 1550er Jahren beschäfSkizzen zur linksdt. Selbstaufklärung. WDR/SDR/ tigte W. die Publikation jagdkundl. Schriften, SFB/NDR 1991. – Weimar unser. Am Hauptort eidoch blieben seine jagdliterar. Pläne unverner abgestürzten Utopie. SFB/WDR/SDR/NDR 1992. – Die Familie Schroffenstein. Oder: Der wirklicht. Er bereicherte aber das alchemoBürgerkrieg. BR/WDR/SDR/NDR 1994. – Ernstfall. medizinische Schrifttum mit einer BernarEin Traum von ihm. Die Talkshow zur Krise der dus-Trevisanus-Übersetzung samt AlanusWerte. WDR/SDR/SFB/NDR 1995. – Bomben auf Schrift (Von der Hermetischenn Philosophia. Hg. Belgrad. Die dt. Geschichtslehranstalt verwirrt ihre Michael Toxites. Straßb. 1574 u. ö.) u. zwei Kinder. WDR/SFB 1999. – Der Skandalbetrieb u. Traktatsammlungen (Herliche Medicische [!] wir Mitmacher. Also Walser mal wieder. WDR Tractat. Straßb. 1576. Ricardus Anglicus: 2002. Correctorium alchymiae. Hg. Johann Fischart. Literatur: Frank Kaspar: C. W. In: LGL. Straßb. 1581). Außerdem sicherte sich W. Angelika Brauchle aufgrund der Tatsache, dass er M. Toxites Vorlagen für Paracelsicaabdrucke (Holtzbüchlein. Straßb. 1564. Archidoxa. Straßb. 1574) u. ein lexikografisches Werk (Onomasticon. Straßb. 1574) hatte zukommen lassen, in der

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bewegten Frühgeschichte der Paracelsicaüberlieferung einen Platz. Weitere Werke: Briefbuch (Harburg, Schloss, Oettingen-Wallersteinsche Bibl., Sign.: VII/28 6): Über 500 Briefe W.s aus den Jahren 1554–1578 (Verzeichnis der Adressaten bei Brechtold, 1959, S. 269–273. – Zwei Briefe an L. Thunreisser. 1581 (Autografen). In: Berlin, Staatsbibl., Ms. germ. fol. 423 b, Nr. 6, 96. Ausgaben: Gutachten zur Heilkraft des Wildbads Wemding. Nürnberg 1559, ed. Brechtold, 1959, S. 196. – Rezept (Autograf). Ebd., S. 198. – CP I (2001), Nr. 38 (Leservorrede, Nürnberg ca. 1563), Nr. 39 (Brief an Johannes Posthius, 6.2.1571). – Inge Keil u. Helmut Zäh: Tycho Brahe (1546–1601) u. seine Beziehungen zu Augsburg. In: Ztschr. des histor. Vereins für Schwaben 97 (2004), S. 139–193, hier S. 176 (Brief an Tycho Brahe. 1571; in Übers.), S. 184 f. (Brief an Hieronymus Wolf. 1575), S. 185 (Brief an Johann Albert. 1575): Jeweils Auszug in Übersetzung. Literatur: Wolfram Brechtold: Dr. H. W. (1520–1581). Diss. med. Würzb. 1959. – Joachim Telle: Die Jagdschriften des Nürnberger Stadtarztes H. Wolf nach einem handschriftl. Buchregister vom Jahre 1576. In: Ztschr. für Jagdwiss. 17 (1971), S. 78–94 (mit Textwiedergabe). – CP I (2001), S. 630–657. Joachim Telle

Wolff, Julius, * 16.9.1834 Quedlinburg, † 3.6.1910 Charlottenburg (heute zu Berlin); Grabstätte: Berlin, Luisenfriedhof II. – Versepiker, Erzähler, Dramatiker. W. besuchte das Gymnasium in Quedlinburg, studierte Philosophie u. Wirtschaftswissenschaften an der Universität Berlin u. übernahm 1859 von seinem Vater die Leitung der mütterlicherseits in die Familie eingebrachten Tuchfabrik, die er nach wirtschaftl. Misserfolgen 1869 aufgeben musste. Vom 1.4.1869 bis zum 21.7.1870 gab W. die »Harz-Zeitung« in Quedlinburg heraus. Am Krieg gegen Frankreich 1870/71 nahm er als Landwehroffizier teil u. wurde mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet. Literarisch gestaltete er die Kriegserfahrungen in seiner ersten Veröffentlichung, den Liedern Aus dem Felde (Bln. 1871). Während der Tätigkeit als Angestellter 1871–1880 in verschiedenen Unternehmen in Berlin trat er als Schriftsteller hervor, konnte aber erst seit 1880 als

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freier Autor mit seiner Familie (vier Kinder) von seinen Honoraren leben. W.s in seiner Zeit überaus erfolgreiche versepische u. erzählende Werke stehen stofflich u. sprachlich in der Tradition Joseph Victor von Scheffels. Hauptgegenstände sind mittelalterl. Sagen u. Volksbücher, die er in gefälliger, leicht lesbarer Form gestaltete, ohne soziale, polit. u. psycholog. Problemstellungen herauszuarbeiten. Insgesamt ist den Texten eine Orientierung am gesellschaftl. Status quo des Kaiserreichs unterlegt. Besonders erfolgreich waren die Versepen Till Eulenspiegel redivivus. Schelmenlied (Detmold 1874) mit einer Widmung an Ferdinand von Freiligrath u. Der Rattenfänger von Hameln. Eine Aventiure (Bln. 1876). Um vom Erfolg des Rattenfängers zu profitieren, veröffentlichte er Singuf. Rattenfänger-Lieder (Bln. 1881). Seine Rattenfänger-Gestaltungen brachten ihm 1884 die Ehrenbürgerwürde der Stadt Hameln ein. Aufgrund seiner literar. Erfolge verlieh ihm der Kaiser zum 70. Geburtstag 1904 den Ehrentitel ›königlicher Professor‹. W.s Heimatstadt Quedlinburg würdigte seine Verdienste um die Gestaltung lokaler u. regionaler Überlieferungen (z.B. Der Raubgraf. Eine Geschichte aus dem Harzgau. Bln. 1884; R.) mit der postumen Verleihung der Ehrenbürgerwürde 1910. Für seine in Hildesheim spielende Verserzählung Renata. Eine Dichtung (1891) wurde er 1911 mit der Errichtung des Renata-Brunnens in Hildesheim geehrt. Die Ausgabe Sämtliche Werke erschien nach dem Tod W.s seit 1912 u. bietet in Bd. 18 auch Gelegenheitsdichtungen wie Texte zu Jubiläen u. Festen, Widmungen u. Prologe, Sprüche u. Übertragungen von Texten Walthers von der Vogelweide. Deutlich weniger Erfolg hatten W.s dramat. Arbeiten, die Schauspiele Die Junggesellensteuer. Lustspiel (Bln. 1877), das im Berlin der Gegenwart spielt, Drohende Wolken (Bln. 1879), Der Fiskus. Lustspiel (o. J.) u. die Tragödie Kambyses (Bln. 1877), in der es um den Brudermord von Kambyses an Smerdes geht u. die im Jahr 522 v. Chr. in Ägypten spielt. Besonders in Bezug auf Konfliktkonstellation, psycholog. Gestaltung der Personen u. sprachl. Differenzierung reichten W.s Ge-

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sellschaftsdramen an die Werke anderer 19th and 20th century. Den Haag 1967, S. 28–30, 120–122. – Theodor Fontane: J. W. Tannhäuser. zeitgenöss. Autoren nicht heran. W.s zeitgenöss. Rezeption spiegelte eine Versuch einer Kritik. In: Ders.: Literar. Ess.s u. literar. Frontenbildung wider. Gegen allge- Studien. Hg. Rainer Bachmann u. Peter Bramböck. Tl. 2, Mchn. 1974, S. 217–220. – Franz Stieler: J. meine, unspezifische, positive Voten von W.s Verserzählung ›Till Eulenspiegel redivivus‹. Ferdinand von Freiligrath, Felix Dahn, In: Eulenspiegel-Jb. 17 (1977), S. 40–42. – Georg Friedrich Spielhagen, Anton von Werner, Bollenbeck: Till Eulenspiegel. Der dauerhafte Ernst von Wildenbruch u. a. stand die nach- Schwankheld. Zum Verhältnis v. Produktions- u. haltige Kritik Paul Heyses an W.s literar. Rezeptionsgesch. Stgt. 1985, S. 273 f. – Elke Liebs: Verfahren u. Texten als epigonal u. unzeit- Kindheit u. Tod. Der Rattenfänger-Mythos als gemäß unter dem Begriff der »Butzenschei- Beitr. zu einer Kulturgesch. der Kindheit. Mchn. bendichtung«; Theodor Fontane benutzte in 1986, S. 105–112. – Maria Margarida C. R. S. de seiner Kritik (1881) von W.s Tannhäuser. Ein Carvalho: Loreley. Diss. Lissabon 1988, S. 114–127. Minnesang (Bln. 1880) Wendungen wie »nicht – Burckhard Dücker: Erlösung u. Massenwahn. Zur literar. Mythologie des Sezessionismus im 20. Jh. kindisch, aber kinderhaft«, »sträflich unausHeidelb. 2003, S. 385. Burckhard Dücker reichend«, »Unbedeutendheit«, »einfach Unsinn«. Ähnlich kritisch äußerte sich auch Vilmar in seiner verbreiteten Geschichte der Wolff, Kurt (August Paul), * 3.3.1887 Deutschen National-Litteratur (231890) über die Bonn, † 21.10.1963 Ludwigsburg; Grab»gemachte und künstliche Mittelalterlichstätte: Marbach, Friedhof. – Verleger. keit«. In der neueren Forschung wird W. vor allem im Zusammenhang mit seinen Gestal- Als Sohn eines Bonner Musikprofessors enttungen von Eulenspiegel (Stieler 1977, Bollen- stammte W. einem kulturell aufgeschlossebeck 1982) u. Rattenfänger (Liebs 1986, Dücker nen Elternhaus (in dem u. a. Brahms verkehrte). Nach dem Abitur in Marburg begann 2003) kritisch erwähnt. Weitere Werke: Sämtl. Werke. Hg. Josef Lauff. er dort 1906 ein Germanistikstudium, das er 18 Bde., Lpz. 1912 ff. – Einzelwerke (Erscheinungs- 1908 in München, im Wintersemester in ort jeweils Bln.): Der wilde Jäger. Eine Weid- Leipzig fortsetzte, wo er alsbald Ernst Romannsmär. 1877. – Der Sülfmeister. Eine alte wohlts Verlag beitrat, den er vier Jahre später Stadtgesch. 1883. – Lurlei. Eine Romanze. 1886. – übernahm u. unter eigenem Namen fortDas Recht der Hagestolze. Eine Heiratsgesch. aus führte. Mit jungen Literaten wie Hasenclever, dem Neckartal. 1888. – Die Pappenheimer. Ein Pinthus u. Werfel als Lektoren gelang es W. Reiterlied. 1889. – Der fliegende Holländer. Seerasch zu expandieren u., vor allem mit der mannssage. 1892. – Das schwarze Weib. Roman aus 1913 begonnenen Buchreihe Der jüngste Tag dem Bauernkriege. 1894. – Assalide. Dichtung aus der Zeit der provenzal. Troubadours. 1896. – Der (in der auch Sternheim u. Kafka zu ersten Landsknecht v. Cochem. Ein Sang v. der Mosel. Veröffentlichungen kamen), zum führenden 1898. – Der fahrende Schüler. Eine Dichtung. 1900. Verleger der modernen – mit dem Etikett – Die Hohkönigsburg. 1902 (R.). – Zweifel der »Expressionismus« nur unzureichend klasLiebe. 1904 (R.). – Das Wildfangrecht. Eine pfälz. sifizierten – dt. Dichtung zu werden. Außer Gesch. 1907 (Epos). – Der Sachsenspiegel. Eine avantgardistischer Literatur brachte W., der Gesch. aus der Hohenstaufenzeit. 1909 (R.). noch bei Rowohlt die »Drugulin-Drucke« Literatur: Julian Schmidt: Portraits aus dem begründet, 1917 den Hyperion Verlag er19. Jh. Bln. 1878, S. 448–453. – Alfred Ruhemann: worben u. eine bedeutende InkunabelnJ. W. u. seine Dichtungen. Lpz. 1887. – Carl sammlung aufgebaut hatte, auch zunehmend Schweninger: Dichtungen v. J. W. in Bildern. Bln. Bibliophiles u. Schriften zur Kunst. Seit 1919 1889. – A. F. C. Vilmar: Gesch. der Dt. Nationalin München ansässig, geriet der Verlag in den 23 Litteratur. Marburg/Lpz. 1890, S. 625. – Heinz Schierenberg: Die Verstechnik J. W.s. Münster 1920er Jahren in wirtschaftl. Turbulenzen; 1923. – Rotraud Ehrenzeller Favre: Loreley. Ent- 1930 wurde er liquidiert. W. verließ nach dem Reichstagsbrand 1933 stehung u. Wandlung einer Sage. Diss. Zürich 1948, S. 165–180. – Heinz Jürgen Schüler: Der Deutschland, lebte in Italien u. Frankreich u. wilde Jäger. In: Ders.: The German verse epic in the seit 1941 in den USA. Durch Pantheon Books

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Inc., 1942 in New York gegründet u. bis 1960 von ihm u. seiner zweiten Frau Helen geführt, mit einem Schwerpunkt im Bereich von Philosophie, Mythologie u. Psychologie, wurde er dort zu einem bedeutenden Vermittler zwischen den Kontinenten. W.s verlegerisches Selbstverständnis kommt am besten in einem Brief des 30-Jährigen an Rilke zum Ausdruck: »daß das Bild, aufgefangen im Spiegel meines Verlages[,] Geist und Herz meiner Zeit am treuesten widerspiegelt in der ganzen Vielfältigkeit ihrer Erscheinungen, ihrer Hysterie und Bizarrerie, ihrer Sehnsucht nach Brüderlichkeit und Güte, ihrer Liebe zum Menschen, und ihrem Haß gegen den Bürger« (10.12.1917; Briefwechsel, S. VIII). Weitere Werke: Autoren, Bücher, Abenteuer. Betrachtungen u. Erinnerungen. Bln. [1965]. Ebd. 2004. – Briefw. 1911–63. Hg. Bernhard Zeller u. Ellen Otten. Ffm. 1966. 21980. – Zwischen Jüngstem Tag u. Weltgericht. Karl Kraus u. K. W. Briefw. 1912–1921. Hg. Friedrich Pfäfflin. Gött. 2007. – Boris Pasternak – K. W. Im Meer der Hingabe. Briefw. 1958–1960. Hg. Evgenij Pasternak u. Elena Pasternak. Mit einem Vorw. v. Gerd Ruge. Ffm. u. a. 2010. Literatur: Wolfram Goebel: Der K. W. Verlag 1913–30. Ffm. 1977 (= AGB 15/16, 1976/77). Unveränd. Nachdr. Mchn. 2007 (mit Bibliogr.). – Friedrich Pfäfflin (Bearb.): K. W., Ernst Rowohlt. Marbach 1987. – Klaus Schuhmann: Walter Hasenclever, Kurt Pinthus u. Franz Werfel im Leipziger K.-W.-Verlag (1913–1919). Ein verlags- u. literaturgeschichtl. Exkurs ins expressionist. Jahrzehnt. Lpz. 2000. – Josef Smolen: Der jüngste Tag. Eine neue Bibliogr. Bln. 2003. – Barbara Weidle (Hg.): K. W. Ein Literat u. Gentleman. Bonn 2007. Arno Matschiner / Red.

Wolff, Leo, * 1640 München, † 28.9.1708 Klosterlechfeld bei Augsburg. – Prediger aus dem Franziskanerorden. Über W.s Leben ist wenig bekannt. Der Ordenseintritt ist 1659 in Bamberg verzeichnet; danach war W. infolge seiner Zugehörigkeit zur Straßburger Rekollektenprovinz vorwiegend im Schwäbischen eingesetzt, in späteren Jahren als Wallfahrtsprediger im Kloster Mariahilf am Lechfeld. Seine Vorliebe für das Skurrile erweist sich an den durchwegs auf

seinen Vornamen bezogenen Titeln der Predigtsammlungen: Kanzelreden zum Advent bezeichnete er als Rugitus Leonis, Geistliches Löwen-Brüllen (Augsb. 1701), mit demselben Obertitel Rugitus Leonis jeweils Eingriffige Sonntags-Predigen (ebd. 1702. 21707), ebenso in zwei Teilen Lob-schuldigste Ehren-Predigen, auf alle Fest-Täg (ebd. 1705. 21707), zudem Fastenpredigten (Hertz-berührende Red-Verfassungen durch die H. vierzig-tägige Fasten-Zeit [...]. Ebd. 1706) u. ein zweites Dominicale (ebd. 1708). Spaßhaft wollte W. seine Kanzelreden gleichwohl nicht verstanden wissen. Die Adventpredigten sollten »die Seelen der Menschen aus dem verdammlichen SündenSchlaff zur Besserung des Lebens« aufwecken. Das bewährte Titel-Wortspiel behielt er jedoch auch in den späteren Festtagsdiskursen bei: »Gleichwie der Löw [...] wann er von seinem Schlaff aufstehet / drei starcke Brüller von sich hören lasset / also ich / Frater Leo / [...] nunmehr den dritten Rugitum [...] folgen lasse [...].« Bei allem Ernst u. Glaubenseifer im Gesamttenor konnte er sich lautmalender Effekte nicht enthalten. Biblische Geschichten lesen sich bei W. nicht viel anders als die zahlreich eingeflochtenen Schwänke. Wohin barocker Kanzelhumor gelegentlich führen konnte, zeigt eines seiner Ostermärlein von dem allbekannten Märchen vom Tapferen Schneiderlein, das er ohne Bedenken auf Christus auslegte, der für einen schwachen Menschen gehalten worden, jedoch ein starker Held gewesen sei; ebenso verwegen bezog W. die sieben erschlagenen Fliegen auf Höllengeister, das Einhorn auf den von Christus besiegten Tod. Literatur: Bibliografie: Kat. gedr. deutschsprachiger kath. Predigtslg.en. Hg. Werner Welzig. Bd. 1, Wien 1984, S. 257–259, 264 f., 276 f.; Bd. 2, ebd. 1987, S. 813. – Weitere Titel: Elfriede MoserRath: Predigtmärlein der Barockzeit. Bln. 1964, S. 156–178, 448–455. – Predigt u. soziale Wirklichkeit. Beiträge zur Erforsch. der Predigtliteratur. Hg. W. Welzig. Amsterd. 1981. – Bayer. Bibl. Hg. Hans Pörnbacher. Bd. 2, Mchn. 1986, S. 440–447, 1304. – E. Moser-Rath: Kleine Schr.en zur populären Lit. des Barock. Hg. Ulrich Marzolph u. a. Gött. 1994, passim. Elfriede Moser-Rath † / Red.

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Wolff, Ludwig, * 7.3.1876 Bielitz/Oberschlesien, † nach 1940 vermutlich Las Vegas/Nevada (USA). – Unterhaltungsschriftsteller.

Wolff hoch, Charly! Bln. [1925]. – Ariadne in Hoppegarten. Bln. 1928 (alle verfilmt). Literatur: Max Krell: Das alles gab es einmal. Ffm. 1961. – Eva Chrambach: Mit dem Daimler in die Welt v. gestern. In: FAZ, 7.11.1998. – Dies.: L. W. In: Aus dem Antiquariat (1999), S. 254–264.

Erste Feuilletons veröffentlichte der Sohn eines jüd. Schnapsbrenners im »Neuen Wiener Eva Chrambach Journal« des Jakob Julius David. Nach dem Jurastudium arbeitete W. 1899–1910 als Dramaturg u. war dann als Schriftsteller tä- Wolff, Pius Alexander, auch: Wolff von tig. Seine frühen Werke, u. a. der Roman Im Leitershofen, * 3.5.1782 Augsburg, † 28.8. toten Wasser (Dresden 1899), sind von »Jung- 1828 Weimar; Grabstätte: ebd., Friedhof. Wien« u. vom befreundeten Jakob Wasser- – Schauspieler u. Regisseur; Bühnenschriftsteller. mann beeinflusst. 1914 begann die lange Reihe seiner Bestseller mit Der Sohn des Han- W. besuchte das Augsburger Jesuitenkolleg u. nibal (Bln./Lpz.), der sich auch schon durch erlernte 1797–1800 bei einem Kunst- u. die für ihn typische Szenerie aus Spielcasinos, Landkartenhändler in Berlin den kaufmänn. Pferderennbahnen u. Filmstudios auszeich- Beruf. Erst nach dem Tod seines Vaters nete. Seit 1915 erschienen seine erfolgreichen konnte W. seinen Neigungen gemäß leben u. Romane zuerst in Fortsetzungen in der 1803 am Weimarer Hoftheater Goethe vor»Berliner Illustrierten Zeitung«, dann als sprechen, der ihn auch engagierte. W. spielte Ullstein-Bücher. Seit 1919 verfasste W. (z.T v. a. jugendl. Helden in den Dramen Shakemit seinem Bruder Ernst) Drehbücher nach speares, Calderóns, Schillers u. Goethes. Die eigenen u. fremden Vorlagen. Sein erfolg- Uraufführung des Tasso 1807 – Goethe hielt reichster Roman, Garragan (Bln.), wurde unter ihn für nicht bühnenwirksam – geht auf W.s seiner Regie nach eigenem Drehbuch 1924 Initiative zurück. 1804 heiratete W. die Schauspielerin Amalie Becker (1783–1851). verfilmt. Im Mittelpunkt seiner Romane, die Lese- 1816 wechselten beide an das Königliche futter für ein Millionenpublikum waren, Schauspielhaus Berlin. Neben tragischen stehen meist Menschen in einer Sinn- u. Le- Helden spielte W. hier auch Vaterrollen. Das Regieamt legte er 1823 nach einer Kontrobenskrise, in den frühen Büchern häufig Ofverse mit Ludwig Devrient nieder. Von W.s 17 fiziere, die mit ihren überholten Ehrbegriffen Bühnenstücken hat sich nur eines über die u. ihrer Unfähigkeit, sich in den veränderten Romantik hinaus behauptet: Preciosa (Bln. Verhältnissen nach dem Ersten Weltkrieg 1823. Lpz. 71883. Musik von Carl Maria von zurechtzufinden, zum Scheitern verurteilt Weber). W. folgte hier – nach Cervantes’ Ersind. W. verstand sich bewusst als Handwerzählung La Gitanilla – der literar. Mode der ker u. Unterhaltungsschriftsteller, der ver- Spanienstücke: Eine vermeintl. Zigeunerin suchte, seine Arbeiten auch bei Bühne u. Film erweist sich als Tochter eines span. Granden. zu verwerten. Vor dem Nationalsozialismus Das Versdrama, das mit seinem Zigeunerklizog er sich 1934 an die Cote d’Azur, dann schee u. seinem gezwungen poetischen Text nach Wien u. Zürich zurück. 1936 erschien als Kitsch bezeichnet werden muss, galt W.s sein letzter Roman Das Recht zu leben (Zürich/ Zeitgenossen als Hauptrollenstück für eine Lpz.). Um 1939 gelang es ihm, sich mit sei- jugendl. Sentimentale. Durch die populäre nem Bruder in die USA abzusetzen; die Brü- Schauspielmusik Webers blieb Preciosa bis der gründeten in Las Vegas ein Institut gegen Ende des 19. Jh. im Repertoire (WiederaufSpielsucht. Nach 1945 wurden einige Titel im führung 1941 am Staatstheater Berlin: W.s Südverlag u. in den 1960er Jahren nochmals geordnete Fantasiewelt war probat als Abim Martin Kelter-Verlag wieder aufgelegt. lenkung vom NS-Alltag). Weitere Werke: Die Kwannon v. Okadera. Bln. 1921. – Prinzessin Suwarin. Bln. [1922]. – Kopf

Weitere Werke: Der Hund des Aubry. Breslau 1822 (Posse). – Dramat. Spiele. Bln. 1823. – Adele v.

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Buday. Ebd. 1823 (Singsp.; Musik v. Konradin Kreutzer). Literatur: Max Martersteig: P. A. W. Lpz. 1879. – Heinz Kindermann: Theatergesch. der Goethezeit. Wien 1948. – Frank Ziegler: Die Preciosa v. P. A. W. u. Carl Maria v. Weber im Kontext der Brühlschen Theaterkonzeption. In: Carl Maria v. Weber u. die Schauspielmusik seiner Zeit. Hg. Dagmar Beck. Mainz u. a. 2003, S. 201–240. Alain Michel / Red.

Wolff, Theodor, * 2.8.1868 Berlin, † 23.9. 1943 Berlin; Grabstätte: ebd., Jüdischer Friedhof Weißensee. – Journalist, Erzähler, Dramatiker. Als Mitbegründer der Freien Bühne Berlin (1889), als Literatur- u. Theaterkritiker am »Berliner Tageblatt« seines Cousins Rudolf Mosse u. durch seine Bekanntschaften mit Fontane, Hauptmann, Strindberg u. der im »Schwarzen Ferkel« verkehrenden Boheme nahm der bereits in jungen Jahren weit gereiste Sohn eines jüd. Großkaufmanns lebhaften Anteil am literar. Leben in Berlin. Während seines Aufenthalts als Korrespondent des »Berliner Tageblatts« in Paris 1894–1906 lernte W. Zola u. Anatole France kennen. In Jens Peter Jacobsens Roman Niels Lyhne, dessen dt. Übersetzung er bei Reclam mit einem Vorwort versehen herausgab (Lpz. 1889), sah W. jene Verbindung von Naturalismus u. Impressionismus, die auch sein eigenes Frühwerk im Zeichen Ibsens prägt (Der Untergang. Bln. 1892). In den beiden mehrfach aufgeführten Märchenspielen Niemand weiß es (Mchn. 1895) u. Die Königin (Köln 1898) entwickelte der brillante Feuilletonist eine psycholog. Charakterisierungskunst, die in den Prosaskizzen des Pariser Tagebuchs (Mchn. 1908) u. der Spaziergänge (Köln 1909) ihren genuinen literar. Ausdruck fand. »Sie schreiben ein klassisches Deutsch, Sie haben ein jüdisches Herz – was braucht man mehr, wenn man ein deutscher Schriftsteller sein will?« (Joseph Roth). Unter dem Eindruck der Dreyfus-Affäre entwickelte sich »Mosses junger Mann für Literatur und Kunst« (Wedekind) in Paris zum polit. Journalisten. Von 1906 an war W. Chefredakteur des »Berliner Tageblatts«, für

dessen Redaktion er u. a. Alfred Kerr, Rudolf Olden, Ernst Feder, Victor Auburtin, Kurt Tucholsky u. J. Roth gewann. Im Ersten Weltkrieg kritisierte W. den annexionistischen Kurs der dt. Regierung u. beteiligte sich an der Gründung der »Deutschen Gesellschaft 1914«. Im Nov. 1918 gehörte er zu den Begründern der Deutschen Demokratischen Partei (1926 wegen des von Theodor Heuss vertretenen sog. Schmutz- und Schundgesetzes ausgetreten). Als prominente Symbolfigur der Weimarer Republik schon früh Opfer antisemitischer Polemik, musste W. 1933 über Zürich nach Nizza fliehen; Ende Okt. wurde ihm die dt. Staatsbürgerschaft aberkannt. Am 23.5.1943 von ital. Zivilbeamten verhaftet, wurde er an die Gestapo ausgeliefert. Nach Haft u. a. in Lagern in Marseille u. Drancy (bei Paris), im Polizeigefängnis in Berlin u. im Konzentrationslager Oranienburg starb W. an den Folgen einer zu spät gestatteten ärztl. Behandlung. Die Zeitdiagnose seines Exilromans Die Schwimmerin (Zürich 1937) zeigt ebenso wie seine Distanz zur dt. Exilliteratur W.s tragische Unterschätzung des Nationalsozialismus. Das Vorspiel (Mchn. 1924), Der Krieg des Pontius Pilatus (Zürich 1934) u. Der Marsch durch zwei Jahrzehnte (Amsterd. 1936. Erw. Neudr. u. d. T. Die Wilhelminische Epoche. Fürst Bülow am Fenster und andere Begegnungen. Hg. u. eingel. von Bernd Sösemann. Ffm. 1989) beschreiben aus autobiogr. Perspektive mit »dem Zauberstab einer beinahe unvergleichlichen Darstellungskunst« (Kurt Hiller) die Zeit von der Jahrhundertwende bis zur Weimarer Republik. Mit dem 1962 gegründeten »Journalistenpreis der deutschen Zeitungen – TheodorWolff-Preis« würdigt der Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger jährlich die besten Essays, Kommentare u. Reportagen. Weitere Werke: Vollendete Tatsachen 1914–17. Bln. 1918 (ges. Leitartikel). – Tagebücher 1914–1919. Hg. Bernd Sösemann. 2 Bde., Boppard 1984. – Erlebnisse, Erinnerungen, Gedanken im südfrz. Exil. Hg. Margrit Bröhan. Ebd. 1992. – T. W. Der Journalist. Berichte u. Leitartikel. Hg. B. Sösemann. Düsseld. u.a. 1993. – T. W. Der Publizist. Feuilletons, Gedichte u. Aufzeichnungen. Hg. B. Sösemann. Ebd. 1995. – T. W. Der Chronist.

551 Krieg, Revolution u. Frieden im Tagebuch 1914–1919. Hg. B. Sösemann. Ebd. 1997. Literatur: Gernot Schley: Die Freie Bühne in Berlin. Bln. 1967. – Gotthart Schwarz: T. W. u. das ›Berliner Tageblatt‹. Tüb. 1968. – Bernd Sösemann: Das Ende der Weimarer Republik in der Kritik der demokrat. Publizisten. T. W., Ernst Feder, Julius Elbau, Leopold Schwarzschild Bln. 1976. – Wolfram Köhler: Der Chef-Redakteur T. W. Düsseld. 1978. – Klaus Bohnen: Niels Lyhne in Dtschld. Unveröffentlichter Briefw. zwischen Georg Brandes u. T. W. In: Skandinavistik. European journal of Scandinavian studies 9 (1979), S. 1–20. – Fritz Paul: T. W. u. die Berliner Boheme des ›Schwarzen Ferkels‹ (1892–94). Mit einem Bericht W.s u. unveröffentlichten Briefen Strindbergs u. Munch. In: ebd. 13 (1983), S. 9–30. – B. Sösemann: T. W. Ein Leben mit der Zeitung. Mchn. 2000. – Christel Goldbach: Distanzierte Beobachtung. T. W. u. das Judentum. Oldenb. 2002. – B. Sösemann u. Jürgen Frölich: T. W. Journalist, Weltbürger, Demokrat. Teetz 2004. – Birgit Zimmer-Wagner: T. W. u. der Erste Weltkrieg 1914–1918. Ein Journalist zwischen Anpassung u. Rebellion. Ffm. u. a. 2005. – Gerhard R. Kaiser: Paris im Zeichen der DreyfusAffäre. Theodor Herzl, ›Das Palais Bourbon. Bilder aus dem französischen Parlamentsleben‹ (1895), T. W., ›Pariser Tagebuch‹ (1908). In: Ders.: Dt. Berichterstattung aus Paris. Neue Funde u. Tendenzen. Heidelb. 2008, S. 151–177. Dirk Göttsche / Bruno Jahn

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nal Zeitung« (unter dem Pseud. Eleanor Colling) musste W. 1939 die Schweiz verlassen; anschließend lebte sie in Nizza. Nach einem Haftaufenthalt (wegen Spionageverdachts) konnte sie 1941 mit ihren Kindern in die USA emigrieren, wo sie 1943–1946 als Drehbuchautorin arbeitete. Der Roman König im Tal der Könige (Buenos Aires 1945. Engl.: Spell of Egypt. New York 1943) erzählt die Geschichte eines Archäologen, der nach dem Grab des Tutanchamun sucht. Die Zeit des Exils schildert W. in dem autobiogr. Roman Keine Zeit für Tränen (Darmst. 1954. Pseud. Claudia Martell. Gekürzte Ausg. u. d. T. Die Zeit der Tränen geht vorbei. Mchn. 1969). Die meisten anderen Werke W.s sind dem Genre Unterhaltungsroman zuzurechnen. Literatur: Rudolf Hirschmann: V. W. In: Dt. Exillit. Bd. 1, Tl. 1, Mchn. 1976, S. 668–675. – Amelie Heinrichsdorff: Nur eine Frau? Krit. Untersuchungen zur literaturwiss. Vernachlässigung der Exilschriftstellerinnen in Los Angeles: Ruth Berlau, Marta Feuchtwanger, Gina Kaus u. V. W. Ann Arbor/Michigan 1999. – Heike KrauseSchmidt: Gast in der Heimat. V. W. (1903–1992). In: Heilbronner Köpfe 2 (1999), S. 201–216. – Anke Heimberg: Emigration ist eine Entziehungskur. Leben u. Werk der Exilschriftstellerin V. W. In: Dt. Exillit. Bd. 3, Tl. 5, Bern/Mchn. 2005, S. 271–301. Bettina Mähler / Red.

Wolff, Victoria (Trude), geb. Victor, auch: Hans Baysen, Eleanor Colling, Claudia Gernot, * 20.12.1944 Martell, * 10.12.1903 Heilbronn, † 16.9. Wolfgruber, 1992 Los Angeles. – Journalistin, Erzäh- Gmünd/Niederösterreich. – Erzähler, Hörspiel- u. Filmbuchautor. lerin, Drehbuchautorin. Nach dem Studium der Naturwissenschaften (ohne Abschluss) arbeitete W. als Journalistin für die »Frankfurter Zeitung« u. das »Stuttgarter Tageblatt«. 1932 debütierte sie mit Eine Frau wie Du und ich (Dresden), einer literar. Biografie George Sands. Nachdem ihr 1933 wegen ihrer jüd. Herkunft Schreibverbot erteilt worden war, floh sie mit ihren beiden Kindern nach Ascona. Durch Vermittlung von Remarque u. Leonhard Frank erschien 1935 der Roman Gast in der Heimat (Amsterd.), in dem W. das Aufkommen des Nationalsozialismus in einer württembergischen Stadt schildert. Wegen unerlaubter Mitarbeit an der Basler »Natio-

Als Sohn einer Kriegerwitwe in der ländl. Peripherie Österreichs geboren, durchlief W. den Bildungsweg sozial u. regional benachteiligter Schichten: Hauptschule, abgebrochene Lehre, Hilfsarbeit. Sein weiteres Leben ist das atypische Beispiel für einen geglückten sozialen Aufstieg: Programmierer, Externistenmatura 1968, Studium der Publizistik u. Politikwissenschaft in Wien; seit 1975 lebt W. als freier Schriftsteller in Wien. Seine fünf Romane erzählen modellhaft Geschichten von Leben, die nicht gelingen wollen: sie scheitern an den gesellschaftl. Umständen, an der Herkunft, an sozialen wie mentalen Zwängen, an strukturellen Ausschlussme-

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chanismen sowie an falschen Zielvorstellun- reagiert der Architekt Stefan Zell auf die fragwürdige Erfolgsorientierung der Gesellgen u. Wunschbildern. Auf freiem Fuß (Salzb. 1975. Neuausg. schaft mit manisch-depressiven Symptomen, Salzb./Wien 2009. Film 1978) ist die Ge- die W. mit großer Eindringlichkeit beschichte einer aussichtslosen Jugend in der schreibt. Seit 1985 hat W. nur zwei umfangreichere österr. Provinz der Nachkriegszeit. Als Folie für hilflose Ausbruchsversuche aus der Per- Auszüge aus einem »Roman in Arbeit« puspektivlosigkeit u. den frustrierenden Lehr- bliziert: WIE WARTEN. IMMER (in: manulingserlebnissen bieten sich allein die Idole skripte, 1997, H. 137, S. 7–20) u. Mit weit der Film- u. Konsumindustrie an. Doch die weggestreckter Hand (in: kolik,1998, H. 2, kleinen, filmische Abenteuer imitierenden S. 88–95), die beide, v. a. mit der Mutterfigur, Einbrüche münden in der Strafanstalt u. be- an Motive aus W.s erstem Roman anknüpfen. siegeln das Ende der Zukunft, bevor sie eiWeitere Werke: Ankunftsversuch. Pfaffenweigentlich begonnen hat. ler 1979 (E.). – Hörspiele (zus. mit Helmut Zenker): Der spontane Erfolg dieses Debüts wurde Der Vertreter. SR 1975. – Mutter, Vater, Kind. SWF ein Jahr später von Herrenjahre (Salzb. 1976. 1976. – Wiener Schnitzel oder High Noon. SR 1976. Film 1983) noch übertroffen. Hier verfolgt W. – Filmdrehbücher: Der Einstand. ZDF 1977. – Der die Biografie seiner Hauptfigur Melzer über Jagdgast. ORF 1978. Buchausg. Salzb./Wien 1978. – Das Vorbild. ORF/ZDF 1980. die Pubertät hinaus ins Erwachsenenalter. Literatur: Martin W. Lüdke: Arbeit u. Leben. Dieser »Weg der Reifung« wird mit neuen, W.s Phänomenologie des ›Ohnedies‹. In: Merkur das traditionelle Muster des Entwicklungs36 (1982), S. 824–827. – Ders. u. Sigrid Lüdkeromans konterkarierenden Inhalten gefüllt: Haertel: G. W. In: KLG. – Norbert Schmidt: Zur Schritt für Schritt verliert Melzer seine Illu- Dialektik v. subjektiver Erfahrung u. objektiver sionen von einem erfüllten Leben u. fällt Erkenntnis. In: die horen 35 (1990), H. 157, selbst immer mehr auf die verachteten Rol- S. 155–160. – Dragutin Horvat: G. W. Versuch einer lenmuster seines Vaters zurück. Bilanz. In: Zagreber Germanistische Beiträge 1 Mit seinen ersten Werken galt W. als Ex- (1992), S. 65–73. – Klaus Böldl: G. W. In: LGL. – ponent der Anti-Heimatliteratur u. der auto- Dossier G. W. In: LuK 44 (2009), H. 433/434, biogr. Bekenntnisromane der 1970er Jahre. S. 37–78. Evelyne Polt-Heinzl Doch er filtert aus persönl. Erleben lediglich die dichte Farbigkeit des jeweiligen AmbiWolfhart, Wolffhart, Conrad, auch: Lycoentes u. analysiert mit erzählerischer Distanz sthenes, * 8.8.1518 Rufach, † 15.3.1561 zu seinen Figuren die Gründe für das ScheiBasel. – Enzyklopädist. tern hoffnungsfroher Lebensaufbrüche. In Niemandsland (Salzb./Wien 1978. Film 1981) Nach dem Studium der Geschichte, Theolowechselt der Arbeiter Georg Klein in das An- gie u. Philologie in Heidelberg (Promotion gestelltenmilieu. Auch er wird von falschen 1539) lebte W. seit 1542 als Professor (1543) Erwartungen angetrieben, an denen seine von einer Diakonspfründe in Basel, die es ihm Aufstiegsträume zerschellen: mit der struk- erlaubte, enzyklopädisch umfassende Werke turellen Analogie der Arbeitsverhältnisse für unterschiedl. Sachgebiete anzulegen. Seine Arbeiter u. kleine Angestellte hat Klein nicht lat. Sammlung von Anekdoten, treffenden gerechnet. Worten u. vorbildl. Taten (Apophthegmata, ex In den beiden folgenden Romanen wech- probatis Graecae Latinaeque linguae scriptoribus selt W. ins Großstadtmilieu zu abgebroche- collecta. Basel 1555) ordnete er für die rhetonen bzw. gescheiterten akadem. Karrieren. rische Verwendung alphabetisch nach loci Der ehemalige Medizinstudent Martin Lenau communes u. gab ihr einen Anhang von in Verlauf eines Sommers (Salzb./Wien 1981) ähnlich verwendbaren Gleichnissen mit. Das vermag seine Vorstellungen von geglücktem Werk, das die Traditionen von Plutarch bis Leben zu verbalisieren, aber ihre Umsetzung Erasmus aufnahm, erreichte breite Wirkung scheitert auch hier an den äußeren Bedin- (Auflagen Lyon 1556 u. 1574, Basel 1584, gungen. In Die Nähe der Sonne (ebd. 1985) ferner 1594, 1614, 1633).

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Weitere Werke: Commentaria in Plinium jun. Auf dem Gebiet der Wunderzeichen-Literatur gab W. zunächst die entsprechenden de viris illustribus. Basel 1547. – Herausgeber: Werke des Julius Obsequens, Polydor Vergil Compendium Bibliothecae Gesnerianae. Basel u. Joachim Camerarius d.Ä. heraus, wobei er 1551. – Iulii Obsequentis prodigiorum liber [...] Polydori Vergilii Urbinatis de Prodigiis libri III. zum Obsequens-Text eine durchlaufende IlIoachimi Camerarii Papebergensis de Ostentis libri lustration einführte. Damit bereitete er den III. Ebd. 1552. Erfolg seines Prodigiorum ac ostentorum chroLiteratur: J. Franck: Lycosthenes. In: ADB. – nicon (Basel 1557) vor, der sich durch die Rudolf Schenda: Die dt. Prodigienslg.en des 16. u. von Johann Herold sogleich ausgeführte 17. Jh. In: AGB 4 (1962), S. 638–710. – Theodor deutschsprachige Version (Wunderwerck Oder Verweyen: Apophthegmata u. Scherzrede. Bad Gottes unergründliches vorbilden. Ebd. 1557. Homburg u.a. 1970. – Wolfgang Brückner: HistoNachdr. mit Nachwort von Pia Holenstein u. rien u. Historie. In: Volkserzählung u. ReformatiPaul Michel. Zürich u. a. 2007) noch ver- on. Hg. ders. Bln. 1974, S. 13–123 u. Register. – stärkte. Aus zahlreichen alten u. neuesten Josef Hejnic u. Václav Bok: Gessners europ. BiQuellen wird hier in Wort u. Bild eine Do- bliogr. u. ihre Beziehung zum Späthumanismus in kumentation dessen aufbereitet, was als Rede Böhmen u. Mähren. Wien u. a. 1989. – Jürgen Beyer: Lycosthenes. In: EM, Bd. 8. – P. P. Faust: oder Zeichen Gottes verstanden wird (alles, Conrad Lycosthenes. In: NDBA, Lfg. 25. was die regelmäßigen Erscheinungen der Wolfgang Harms Natur durchbricht). Dass diese Phänomene nicht selten als eschatolog. Vorzeichen gesehen wurden, steigerte die Hochschätzung des Wolfkind, Peter Daniel, eigentl.: Peter Werks, das wegen der Kostbarkeit seiner Vujica, * 7.12.1937 Graz. – Erzähler, Ausstattung aber nicht als populär wirkendes Komponist, Musikkritiker. Buch anzusehen ist, aber vermittelt über die Form illustrierter Flugblätter weitere Wir- W. wurde als Dramaturg u. Musikkritiker kung erreichte. bekannt, v. a. als Mitbegründer der »MusikW.s Streben nach universaler Stoffaufbe- protokolle« (1968) u. als Intendant des »steireitung führte zur kommentierten Edition rischen herbst« in Graz (1982–1989); von von Kompilationsliteratur und kulminierte 1961 bis 1966 war er Dramaturg an der Grain seiner umfangreichen Historiensamm- zer Oper. Nach dem Musikstudium promolung, in der Exempla für alle Lebenslagen vierte er 1964 mit einer Arbeit über den geboten werden (Theatrum vitae humanae. Poesiebegriff bei Johann Gottfried Herder. In Ebd. 1565. 1571. 1586/87). Sie wurde von den 1970er Jahren schrieb W., als »Poet des W.s Schwiegersohn Theodor Zwinger Verfalls« apostrophiert, literar. Texte. Für (1533–1588) abgeschlossen, herausgegeben den ersten Erzählband Die Mondnacht erhielt u. erweitert, die umfassendste Ausgabe er 1972 den österr. »Förderungspreis für Librachte erst dessen Sohn 1604 heraus. Dieses teratur«. Der Roman Der grüne Zuzumbest Werk reformierter Autoren wurde der (Wien 1973) erzählt die Geschichte eines Grundstock des Magnum theatrum vitae hum- Mannes, der die sonderbarsten Metamoranae, das unter der Leitung des Antwerpener phosen durchlebt u. erst auf dem Umweg Jesuiten Laurentius Beyerlinck (1578 – 1627) über die Pflanze wieder Mensch wird. W. ilzur größten Enzyklopädie jener Zeit um- lustriert die ungeahnten Tiefen der menschl. konzipiert u. 1631 in Köln ediert wurde. Ein Psyche u. die verborgenen Variationen des viertes Großunternehmen, an dem W. seine Lebens. Immer beginnen seine Geschichten enzyklopäd. Fähigkeiten erwies, ist Konrad mit einer scheinbar beiläufigen Begebenheit Gessners Bibliografie. W. publizierte daraus u. enden völlig unerwartet im grotesk Faneinen selbstständig erstellten Auszug (Elen- tastischen, in Grauen u. Bösartigkeit. Auch in chus scriptorum omnium. Ebd. 1551), der sich den Erzählungen Boten des Frühlings (ebd. als praxisgerecht erwies. 1975. Ffm. 1986) vermischen sich Traum u. Wirklichkeit, wird das allabendl. Holzholen zu einem unheiml. Abenteuer (Schichtanbot-

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schaft), findet sich der eben Erwachte in einem Wolfram von Eschenbach, um 1200. – Wald voller an Bäume angebundener Men- Hochmittelalterlicher Epiker u. Lyriker. schen (Nach dem Erwachen). Die Kritik beW.s Lebenszeit u. -umstände lassen sich nur mängelte an diesen Erzählungen, sie seien aus Angaben in den Werken selbst erschliekonstruiert, ausschweifend u. zu grell in der ßen. Dort aber begegnen sie im Rahmen einer Aussage – ein Vorwurf, der Vorfall in St. Wolfexzessiv ausgespielten Erzählerrolle, für die gang zu Recht trifft. Doch fallen auch hier die unklar bleibt, welche histor. Referenzpunkte Spannung zwischen Alltäglichem u. Irratiodie oft humoristisch kontrastvollen Anspienalem, die klare Sprache u. die plast. Bildlungen auf Familienverhältnisse (Frau, haftigkeit des Dargestellten auf. In der TheTochter, Geschwister), Existenzbedingungen matisierung des Übersinnlichen, in seiner (Armut) u. Minnebindungen (Enttäuschung Neigung zum Skurrilen u. Grotesken kann u. Zorn über eine ungenannte Dame) haben. W., von jüd. Mystik geprägt, als naher VerErwähnungen bekannter Räume u. Personen wandter von Doderer, Herzmanovsky-Orlanlassen immerhin eine Identifizierung der do u. Kubin gesehen werden. Heimatstadt Eschenbach mit dem südlich Schreiben aber ist für W. nur eine Form von vom fränk. Ansbach gelegenen Ort zu. Doch vielen künstlerischen Ausdrucksmöglichkeihat W. sich fraglos gewisse Zeit in Thüringen ten. Seine eigentl. Kunst bleibt die Musik. Er aufgehalten (Landgraf Hermann wird schon komponiert, schreibt Opernlibretti u. betäim Parzival erwähnt u. im Willehalm als Vertigt sich als Musikjournalist. Seine Kompomittler der Vorlage genannt). Stand u. Bilsitionen wurden u. a. am Grazer Schauspieldung des Dichters geben Rätsel auf. Weder haus, bei den Wiener Festwochen u. im Wiedas Wappen in der Großen Heidelberger Liederner Musikverein (ur)aufgeführt. Er war handschrift noch die Erzähleraussage im Par1966–1982 Kulturredakteur der Tageszeizival, die sich betont gegen gelehrtes Dichten tung »Kleine Zeitung« in Graz u. dann unter wendet u. stattdessen das Ritterhandwerk seinem eigentl. Namen Peter Vujica acht herausstreicht (»schildes ambet ist mîn art«; Jahre lang Leiter der Kulturredaktion der 115,11), erlauben eine zweifelsfreie FixieZeitung »Der Standard« in Wien. Bitte blättern rung z. B. als ritterl. Ministeriale. In jedem Sie weiter (Wien 2000) versammelt seine besFall setzen die umfangreichen Werke längere ten Kolumnen aus dieser Zeit. Seine Neigung Förderung an größeren Höfen voraus, vielzum Skurrilen, der typische bildhaft barocke leicht auch Gehilfen, die dem wohl nicht laStil ist auch in seinen Essays (z.B. in verteinisch-klerikal gebildeten Autor bei Überschiedenen Bildbänden wie Steiermark exklusetzung u. Niederschrift zur Seite waren. siv. Zus. mit Gery Wolf. Graz/Wien/Köln Manches deutet darauf, dass W. die altfrz. 1995) u. Kolumnen unverkennbar. 2006 war Texte, die er in Parzival u. Willehalm bearbeiW. Mitbegründer der Joseph-Marx-Geselltete, in mündl. Form kennenlernte; Missverschaft in Wien. ständnis u. kongeniale sprachl. Aneignung Weitere Werke: Musikkritik – ihr Geist u. ihre stehen anscheinend nebeneinander. Physiognomie. Graz 1967. – Sentimentale GeograEinigermaßen gesichert ist die Reihenfolge phie. Graz/Wien/Köln 1979. – Das Fest der Kröten. der Werke. Im Parzival sagt der Autor-ErzähFfm. 1985 (E.en). – Welch ein Haus. Die Grazer Oper 1972–1990 (zus. mit Carl Nemeth). Graz/ ler, er könne »ein teil mit sange« (Pz. 114,13), habe also bereits Lieder verfasst. Im Prolog Wien/Köln 1990. Literatur: Anne-Marie Bouisson: P. D. W.: des Willehalm blickt er auf das zurück, was er Vorstoss in ›kosmische Urnacht‹ (C. G. Jung). To- »von Parzival gesprach« (Wh. 4,20). Die Tipographisch begrenzt. In: Grenze u. Entgrenzung. turel-Fragmente scheinen wiederum den Hg. Nicole Bary u. a. Lille 1990, S. 97–107. – Martin (nicht unbedingt abgeschlossenen) Parzival Behr: Unkrautgärtner aus Passion. Peter Vujica: vorauszusetzen. Historische Anspielungen Lebemann mit der ›Gnade der Ehrgeizlosigkeit‹. machen wahrscheinlich, dass W. nach 1203 In: UNIZEIT. Das Forschungsmagazin der Karl- am siebten Buch des Parzival (die Erfurter Franzens-Univ. Graz, 4/1996. sind noch zerstört; Pz. Jutta Freund Weingärten

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379,18–20) u. nach 1217 am neunten Buch des Willehalm (Landgraf Hermann von Thüringen wird postum gepriesen; Wh. 417,22–28) gearbeitet hat. Verweise auf den als »meister« bezeichneten Heinrich von Veldeke, auf Hartmann von Aue (Erec u. Iwein), Walther von der Vogelweide, Neidhart u. die zeitgenöss. Heldenepik spannen ein dichtes Netz literar. Beziehungen u. Auseinandersetzungen auf. Es zeigt sich ein begnadeter, ebenso eigenwilliger wie selbstbewusster Erzähler mit der Neigung zum Sinnlich-Konkreten, der narrative Makro- u. Mikrokosmen entwirft u. seinem Publikum Differenzierungsvermögen u. Wachsamkeit abverlangt. Die insg. neun Lieder sind in den drei großen Sammelhandschriften bzw. der »Autorsammlung« des Münchener Cgm 19 überliefert. Die (nicht sämtlich als echt akzeptierten) vier Minnelieder haben eher konventionelle Züge. Doch führt Nr. IV, »Ein wîp mac wol erlouben mir«, als Auseinandersetzung mit einer ungetreuen Minneherrin immerhin in den Umkreis des Parzival u. der Walther-Reinmar-Fehde. Lied VI, »Ursprinc bluomen«, zeigt, wie sich hinter scheinbar klass. Natureingang erot. Imperative gegenüber der angesprochenen Dame eröffnen, die den zeitgenöss. Minnesang aufzusprengen drohen. Größere Bedeutung besitzen die vier bzw. fünf Tagelieder, die der im Deutschen noch jungen Gattung – u. a. durch die Einführung des Wächters – entscheidende Impulse vermittelten. Während das erzählende Lied I, »Den morgenblic [...]«, kühn die Not der Trennung in neue Liebesvereinigung übergehen lässt, schildert Lied II in Verbindung dialogischer u. epischer Elemente sprach- u. bildgewaltig den für die Liebenden bedrohl. Tagesanbruch: »Sîne klâwen / durch die wolken sint geslagen, / er stîget ûf mit grôzer kraft«; auch hier bedeutet der Abschied noch eine Intensivierung der Bindung, zgl. spielt der Text mit der für den Typus konstitutiven Figur des Dritten. Auch die Lieder V u. VII loten Redemöglichkeiten aus. Sie variieren die Situation des Abschieds (»urloup«) im Monolog des Wächters u. im Dialog der Liebenden; Lied IV, »Der helden minne ir klage«, erprobt eine Verabschiedung

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des Wächters (er ist unnötig, wenn es sich bei der Geliebten um die eigene Ehefrau handelt) u. lenkt so den Blick auf die Funktionsweisen einer Gattung, die dort am deutlichsten werden, wo sie außer Kraft gesetzt scheinen. Was sich in den Liedern konzentriert, eine Mischung aus epischen u. lyr. Tönen, aus Wortkraft u. Sprachwitz, aus literar. Bewusstsein u. biogr. Spiel, findet im Parzival breite Entfaltung. Der Roman beruht wie Hartmanns Artusromane auf einem Text Chrétiens de Troyes, hier dem unvollendeten Perceval oder Le conte du graal (1180–90). W. folgt im Ganzen der Vorlage genau, schafft aber durch Modifikationen u. Hinzufügungen, vielfältige Erzählerkommentare, Konkretisierungen u. ausgefeilte zeitlich-räuml. Bezüge einen eigenständigen, mehr als doppelt so umfangreichen Roman (24.810 paarweise gereimte Vierheber). Karl Lachmann, der erste Herausgeber, hat ihn teilweise unter Rückgriff auf handschriftl. Initialen in 16 Bücher eingeteilt, von denen die ersten (I/II) u. die letzten (XIII–XVI) kein Pendant in der Vorlage besitzen. Der Anfang setzt, indem er mit einer Vorgeschichte beginnt u. ein biografisierendes Erzählen etabliert, einen markanten Differenzpunkt gegenüber den bisherigen Artusromanen. Berichtet wird die Geschichte von Parzivals Vater Gahmuret, der als jüngerer erbeloser Sohn des Königs von Anschouwe in den Orient zieht, sein Glück zu machen. Er dient erfolgreich dem Baruc, erringt die Mohrenkönigin Belakane, bricht aber in ritterl. Unstete wieder auf. In Waleis gewinnt er als strahlender Turniersieger die Landesherrin Herzeloyde, stirbt aber bei einer erneuten Orientfahrt an einem vergifteten heidn. Speer u. hinterlässt zwei Kinder, den älteren Feirefiz, den elsternfarben gefleckten Heiden, u. den jüngeren Parzival, den kommenden Helden der Geschichte (»des mæres sachewalte«). Die Vorgeschichte eröffnet einerseits ein Netz universaler genealogischer Verbindungen, dessen Dichte sich erst sukzessiv enthüllen wird, u. entwirft andererseits mit der Frage nach Wesen u. Ziel von Ritterschaft eine ambivalente Vorgabe für Parzivals Weg (III/IV): Um dem Sohn ein ähnl. Schicksal wie

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dem Vater zu ersparen, erzieht Herzeloyde ihn in der Wildnis, in einer ebenso zu Höherem befähigenden wie Probleme heraufbeschwörenden »tumpheit«. Schon der erste Kontakt mit der Außenwelt bringt den Unerfahrenen auf ritterl. Pfad, lässt ihn im Narrenkleid, nur mit Bauernspieß u. mütterl. Ratschlägen versehen, an den Artushof aufbrechen. Er tötet dort den den Hof herausfordernden Roten Ritter, dessen Identität er selbst für einige Zeit übernimmt, holt bei Gurnemanz im Schnellverfahren ritterl. Erziehung u. erste Minneerfahrung nach, befreit die Stadt Pelrapeire u. gewinnt die Königin des Landes, Condwiramurs, zur Gattin. Weiterziehend gelangt er auf die Gralsburg Munsalvæsche (V), wo er als staunender Gast den Aufzug des Grals (bei Chrétien ein Gefäß, bei W. ein Stein), Speisewunder u. märchenhafte Prachtentfaltung verfolgt, doch aus falsch verstandener »zuht« stumm bleibt angesichts des offensichtlichen quälenden Leides seines Gastgebers Anfortas. Im Folgenden wird er am Plimizoel glorreich in den Artuskreis aufgenommen. Die Gahmuret-Existenz jedoch, die sich andeutet (schnelles Glück bei Frauen, gesellschaftl. Ruhm), erweist sich als Kontrastfolie: Parzival bleibt Condwiramurs auch in Abwesenheit treu (am Plimizoel verliert er sich in den Anblick dreier Blutstropfen im Schnee, die ihn an die geliebte Frau erinnern), sein Erfolg aber steht auf tönernen Füßen. Die allzu schemat. Beherzigung der Ratschläge von Mutter u. Erzieher zeigt seine Defizite. Dass er beim Abzug von der Gralsburg alles verödet findet, lässt schon Böses ahnen; eine zweite Begegnung mit seiner um den Geliebten trauernden Kusine Sigune, die ihm anfangs seinen Namen genannt hatte, deutet das Unglück an; im Artuskreis dann (VI), auf der Höhe des Ruhms, trifft ihn die Verfluchung der hässlich-weisen Gralsbotin Cundrie. Geschlagen mit dem Mal des Frageversäumnisses, fällt er wie Erec u. Iwein aus der Bahn des Glücks. Er hadert mit Gott u. begibt sich, fern der Gesellschaft, auf die Suche nach dem »Neu-Verlorenen«, dem Gral, eine Suche, die hier als unbewusste Sippensuche, nicht als bewusste Namenssuche wie bei Chrétien erscheint. Solange sie andauert,

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bleibt Parzival nur mit einer manchmal aufleuchtenden Spur im Hintergrund des Romans präsent, während den Vordergrund die Taten des Artusneffen Gawan bilden. Er hat sich, des Mordes angeklagt, zu einem Gerichtskampf einzufinden, gerät in polit. Händel u. erot. Konstellationen u. wird, nach Vertagung des Gerichtskampfs, schließlich ebenfalls auf Gralssuche geschickt (VII/VIII). Die Höhepunkte seiner Fahrt konzentrieren sich auf wenige Tage (X–XIII). Im Zentrum: die schwierige Liebe zu der harschen Orgeluse u. das Abenteuer auf dem Wunderbett (»lit marveile«) zu Schastelmarveile, eine beliebte Szene mittelalterl. Artus-Ikonographie. In beidem ist Gawan erfolgreich: Er befreit in Parallele zu Parzival das magische Land u. seine Bewohner vom Verödungsbann des Zauberers Clinschor (wie Anfortas ein durch falsche Minne Versehrter), findet zgl. weibl. Mitglieder seiner Familie wieder u. gewinnt Orgeluse, nachdem er den von ihr gehassten Gramoflanz herausgefordert hat. Der zweite Auszug des Artushofs kündigt dann das große Finale an. Hier ist auch Parzival wieder präsent. Er war zuvor nur einmal, nach Gawans Aufbruch zum Gral, aufgetaucht, als er an einem Karfreitag in einer – narrativ durch ein Gespräch zwischen Erzähler u. Aventiure herausgehobenen – Schlüsselszene (IX) dem Einsiedler Trevrizent begegnete, der ihn über die Geschichte der Welt, der Menschheit u. des Grals, v. a. auch über seine eigene Position aufklärte u. ihm seine Schuld u. die Dimension des Frageversäumnisses vor Augen führte. Parzival erfuhr, dass es sich bei Anfortas, dem Gastgeber auf der Gralsburg, um seinen Oheim handelte, aber auch, dass er bei seinem anfängl. Aufbruch die Mutter tot zurückließ u. in dem Roten Ritter Ither einen Verwandten, sein »eigen verh«, erschlug (erst später wird er erfahren, dass auch Trevrizent sein Onkel ist). Nun, als er am Rande des Artushofs wieder in die Erzählwelt eintritt, macht er den vereinbarten Kampf zwischen Gawan u. Gramoflanz obsolet, indem er abseits des Lagers erst mit dem einen, dann mit dem anderen kämpft – jeweils unerkannt bis zur Erschöpfung der Gegner. Schließlich, während Artus schon eine in zahlreiche Hei-

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raten mündende Versöhnung gestiftet hat, trägt er noch den schwersten Kampf seines Lebens gegen seinen erst spät identifizierten Halbbruder Feirefiz aus (XV). Damit rundet sich der Kreis des Erzählens: Ein zweites Mal erscheint die Gralsbotin Cundrie, um zu verkünden, Parzival sei zum Gral berufen. Mit Feirefiz als Begleiter stellt er Anfortas auf Munsalvæsche die erst jetzt so mögl. Frage (»oeheim, waz wirret dir?« 795,29) u. wird zum Gralskönig gekrönt. Am Plimizoel (an der Blutstropfenstelle) trifft er Condwiramurs u. seine noch nie gesehenen Söhne, die Zwillinge Kardeiz u. Loherangrin. Das Weitere bleibt in der Schwebe zwischen Komik u. Ernst: Feirefiz lässt sich der Minne zur Gralsträgerin Repanse de Schoye zuliebe taufen; beide kehren in den Orient zurück (ihr Sohn wird der Priesterkönig Johannes sein). Ein Ausblick gilt dem Schicksal von Parzivals Sohn Loherangrin, der in kuriosem Kontrast zu Anfortas an einer unerlaubten Frage scheitert. Damit zeigt sich auch die Utopie, die dem Gralsgedanken zugrunde liegt, insg. als zwiespältig. Schon die Gralsgesellschaft selbst hat, von genealogischen Abbrüchen bedroht, katastrophische Züge. Ihre zentrale Aufgabe, in den Gralsrittern, den »templeisen«, weltweite Friedensaufgaben wahrzunehmen, wird am Ende durch die vom Gral selbst ausgegebene neue Regel, dass die Ritter nicht nach ihrer Herkunft gefragt werden dürfen, in Frage gestellt. Es scheint, als solle Parzivals Erlöserfunktion gnadenhaft-einmalig bleiben u. kein dauerhaftes Ideal gestiftet werden. Im Schnittpunkt von Erbkönigtum u. himml. Berufung u. zgl. im Schnittpunkt der beiden genealogischen Hauptlinien des Artus- u. des Gralsgeschlechts stehend vermag Parzival die Lähmung des Gralsgeschlecht aufzuheben, doch dies erst, indem er sich von den in Vorgeschichte, Kindheit u. Erziehung angelegten Defiziten u. Hypotheken befreit. Erst am Ende hat er den Punkt erreicht, der ihm von Anfang an zubestimmt war. Das aber verweist darauf, dass auch die genealogische Vernetzung aller mit allen, die W. weit über Chrétien hinaus betreibt u. durch die er Vergangenheit u. Gegenwart, Figuren u. Räume,

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Orient u. Okzident miteinander verknüpft, sich erst in einem sukzessiven Prozess einstellt. Das Publikum u. etwas verzögert auch der Titelheld des Romans erhalten Einsicht in die Gegebenheiten erst an bestimmten Punkten der Handlung – durch Figuren wie Sigune u. Trevrizent, die über ein besonderes genealogisches Wissen verfügen. Ein subjektives, was bedeutet: Auch die Genealogie, die als Grundelement der göttl. Schöpfung begriffen werden soll, ist fassbar nur in der Vermittlung durch Figuren, die aufgrund ihrer eigenen Position im Sippenzusammenhang auch eine spezielle Sicht auf diesen haben. Auf allen Ebenen erweist sich die Komplexität des Romans. Nicht nur entfaltet er sich als Doppelroman, in der durch die GawanPartien der Geschichte des auserwählten, transzdendenzbezogenen Ritters andere Themen untergemengt werden: verschiedene Typen von Konflikten u. polit. Handeln, Minnebeziehungen, Kommunikations- u. Wahrnehmungsformen. Auch ist das Erzählen selbst ein Abenteuer, darauf angelegt, in beständiger Dialektik von Verschweigen u. Enthüllen die Zuhörer zu fesseln, neugierig zu machen, dann wieder orientierungslos zu lassen oder auch mit bis ins Detail gehenden Verknüpfungen von Personen u. Tieren, Dingen u. Ereignissen zu überraschen. So wie in der Erzählwelt Kommunikation, zum Beispiel über Boten, eine zentrale Rolle spielt, kommt auf der Ebene des Textes der Reflexion der Bedingungen des Erzählens hohe Bedeutung zu. Eingeleitet wird der Roman mit einem Prolog, der in komplexer Weise Bedingungen des Verstehens u. Mitvollzugs des literar. Prozesses thematisiert. Ein späteres sog. Bogengleichnis (241,1 ff.) behandelt Publikumserwartungen bezüglich des Gangs des Erzählen – u. demonstriert schon an sich selbst die Verweigerung von Geradlinigkeit. Schließlich wird auch die Quellenlage verunklärt: Ein gewisser Kyot habe in Toledo ein verworfenes heidn. Buch gefunden, geschrieben in arab. Schrift, das die von Flegetanis, einem Salomonnachkommen, in den Sternen gelesene u. niedergeschriebene Geschichte des Grals geboten habe. Derselbe Kyot habe aber auch in lat. Chroniken nach

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der Geschichte des Gralsgeschlechts gesucht u. diese in Anschouwe gefunden. Viele Instanzen also, die aber in unklarem Verhältnis zueinander stehen, krypt. Mitteilungen neben beredtem Verschweigen – all dies verkörpert einen Roman, der sich spannungsvoll zwischen Globalem u. Lokalem, Spiel u. Ernst, Erzählen u. Kommentieren bewegt. Noch gesteigert erscheint das Erzählprinzip des Parzival in dem in komplexer langzeiliger Strophenform verfassten Titurel, der zum Kühnsten der mittelalterl. Literatur gehört. Erhalten sind nur zwei Fragmente (aus drei Handschriften), die teilweise Werkstattcharakter tragen, aber auch fraglich machen, ob sie auf ein Ganzes hin angelegt waren. Im Zentrum stehen Schionatulander u. Sigune, die bereits in vier Szenen im Parzival vorkamen – als Paradigma eines erst im Tod vereinten Minnepaares, an dem sich eine Weltabkehr in gesteigerter Bilderfolge vollzieht. Das erste Titurel-Bruchstück (131 Strophen) erzählt nun – nach einer Klage Titurels, des alternden Gralskönigs, u. einer von Niedergangsstimmung getönten Genealogie des Gralsgeschlechts – von der Kinderminne zwischen Sigune u. Schionatulander, die sich bei der Hochzeit Herzeloydes mit Gahmuret zum ersten Mal sehen u. in der Folgezeit versuchen, sich über das Phänomen Minne, u. a. im Modus des Metaphorischen, zu verständigen. Das zweite Stück (39 Strophen) zeigt die beiden beim gemeinsamen Ausflug im Wald, wo Sigune ein Bracke zuläuft, dessen Halsband eine geheimnisvolle Aufschrift trägt, die zwar »gunst« u. »sælde« verheißt, zgl. aber eine Unheilsgeschichte früherer Besitzer bietet; bei deren weiterer Entzifferung entkommt ihr das Tier. Um alles in der Welt will sie das Ende der Geschichte (das sich paradoxerweise in ihr selbst erfüllt) kennen. Schionatulander verpflichtet sich darauf, Hund u. Leine wiederzubringen; sein Weg wird, wie man aus dem Parzival weiß, in den Tod führen. So groß der Handlungssprung zwischen den beiden Stücken ist, so deutlich sind doch die Verknüpfungen in Form bildl. u. begriffl. Responsionen, gesprächstakt. Parallelen, erzählweltl. Spiegelungen. Syntagmatisch stellen die beiden Sequenzen zentrale Punkte

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einer fatalen Ereignisfolge dar, paradigmatisch verhandeln sie die Frage, wie Minne als Unverfügbares in der Sprache verfügbar gemacht werden kann u. zgl sich vollzieht. Der Text experimentiert mit der Grenze zwischen epischem, dialogischem u. lyr. Sprechen. Uneindeutige sprachl. Bezüge, überraschende syntakt. Konstruktionen, ellipt. Angaben u. häufige Perspektivewechseln, klagende Vorausdeutungen des Erzählers u. dunkle Metaphorik bilden das formale Pendant zur düsteren Stimmung einer dem Untergang geweihten Welt. Im MA allerdings las man dies v. a. in der auf über 6000 Strophen aufgeblähten, allegorisierenden Version des Klerikers Albrecht (sog. Jüngerer Titurel, um 1270), welche, die älteren Stücke in sich aufnehmend u. teilweise unter der Maske W.s gedichtet, viel zu dessen Ruhm beitrug. W.s zweites Großwerk, der ebenfalls fragmentarische Willehalm (knapp 14.000 Verse), verlässt die Artus- u. Gralswelt u. wendet sich der als Geschichtsdichtung verstandenen Chanson de geste zu. Die Vorlage bildet die altfrz. Bataille d’Aliscans, ein in verschiedenen Rezensionen überliefertes Heldenepos (über 8000 Zehnsilber) aus dem Zyklus um Guillaume d’Orange. Historischer Hintergrund ist der für Karl den Großen u. Ludwig den Frommen in Südfrankreich gegen die Heiden kämpfende Wilhelm von Toulouse, der 812/ 13 in dem von ihm gegründeten Kloster Gellone im Ruch der Heiligkeit gestorben war u. bald epische wie hagiografische Berühmtheit erlangte. Die handlungsorientierte Erzählweise der Bataille verwandelt W. in ein sprachlich u. gedanklich komplexes Reflexionsgeflecht. Schon der Gebetsprolog, gerichtet an die göttl. Trinität mit der top. Bitte um Beistand für das eigene Werk, betont zgl. den eigenen »Sinn«, der die Umsetzung der göttl. Inspiration ermöglicht, u. überschreitet damit das herkömml. Legendenmodell. Auch die Geschichte selbst ist mehr als die eines Ritterheiligen. Sie behandelt die blutige Auseinandersetzung zwischen Christen u. Heiden, die für Heiligkeit nur vereinzelt Raum lässt, stattdessen das Problem der Kontingenz aufwirft: Das fatale Geschehen nimmt seinen Ausgang von der nicht weiter begründeten Enterbung Willehalms (u. sei-

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ner sieben Brüder), der daraufhin wie Gahmuret im Orient sein Glück sucht. Er lernt die heidn. Königin Arabel lieben, die ihren Mann verlässt, um, als Christin unter dem Namen Gyburc, Willehalm in die Provence zu folgen. Mit der Rachefahrt der Heiden u. der Landung an der südfrz. Küste setzt die eigentl. Handlung ein. Bei der Schlacht auf dem Felde Alischanz wird das christl. Heer völlig aufgerieben. Nur Willehalm kann zur heimischen Burg Oransche entkommen. Er versucht die Hilfe des Königs (dessen Frau seine Schwester ist) zu gewinnen. Nach frostigem Empfang gelingt eine mühsame Versöhnung, u. Willehalm findet zunächst die materielle u. personelle Unterstützung seiner Familie, dann auch des zögerl. Königs. Dessen Kontingent, obwohl auf das Kreuzzeichen verpflichtet, sucht sich allerdings auf dem Rückweg vom Kampf abzusetzen. Ein junger Heide, Rennewart, auf den Willehalms Blick in Munleun gefallen war, kann die Zaghaften aufhalten. Er setzt sich an ihre Spitze u. wird zur entscheidenden Figur der zweiten Schlacht, in der die Christen nach grauenhaftem Gemetzel siegreich bleiben. Die großherzige Freilassung der fürstl. Gefangenen, die Willehalm dem Heiden Matribleiz zugesteht, kontrapunktisch zu seiner schonungslosen Tötung des Heiden Arofel nach der ersten Schlacht, beschließt den erhaltenen Text, lässt aber viele Erzählfäden u. Fragen offen – u. a. das Schicksal Rennewarts, der sich im Schlachtgewühl verliert u. von Willehalm schmerzlich beklagt wird. Bei ihm handelt es sich – wie das Publikum weiß, die Hauptpersonen nur ahnen, um den Bruder Gyburcs, der aus dem Orient entführt worden war u. am frz. Königshof aufwuchs. In Liebe der Königstochter Alyze verbunden, würde sich in ihm eine weitere, die Heirat Willehalms u. Gyburcs ergänzende Sippenverflechtung andeuten, bei der allerdings offen bleibt, inwieweit sie das in der Schlacht beiderseits eskalierende Leid aufzuheben vermöchte. Wie kein anderer Zeitgenosse hat W. im Willehalm die Schrecken des Kriegs vor Augen gestellt, insistierend dabei auf einer immerhin partiellen Gleichrangigkeit von Christen u. Heiden – nicht zuletzt aus Sicht der Figu-

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ren: Es ist die ehemalige Heidin Gyburc, die in der Rede an die christl. Streiter vor der zweiten Schlacht den Gedanken universaler Menschlichkeit u. Gotteskindschaft vertritt, ohne dass aber die Schlacht selbst zu verhindern wäre. Wie im Parzival stellt auch hier die Verwandtschaft die zentrale ideelle, sozial u. affektiv bedeutungsvolle Größe dar, in der sich die Ordnung der göttl. Schöpfung manifestiert u. in deren Achtung oder Missachtung der Status von Figuren oder das Wertgefüge von Gruppen aufscheint. Mit einer Zersplitterung der Familie beginnt der Roman. Sie ist zu überwinden, u. an ihr, d. h. auch an den Spannungen zwischen der Willehalmsippe u. der Königsfamilie, lassen sich Konturen einer polit. Anthropologie entwickeln – die tendenziell aporet. Züge trägt: Das Erzählen gerät in Widerstreit zu den auktorialen Deutungsversuchen. Eine Kluft öffnet sich zwischen der Einsicht in Unrecht u. Leid u. den Möglichkeiten der Darstellung. Die heroische Stoffvorgabe scheint nur mühsam mit der religiösen Überformung u. dem narrativen Wahrheitsanspruch vereinbar. Die beiden Ergänzungen des Textes, die noch im 13. Jh. entstehen, Ulrichs von Türheim Rennewart u. Ulrichs von dem Türlin Arabel, schließen sich deshalb wohl nicht nur an den Ruhm des Meisters an, sondern versuchen auch, dunkel gebliebene Erzählelemente aufzuklären: das Ende u. die fragmentierte Vorgeschichte des Willehalm. Zwischen ihnen wurde W.s Text meist als Mittelteil einer Trilogie gelesen. Die Rezeption setzte W. fort u. schrieb ihn aus. Sie zitierte ihn, machte ihn zur literar. Figur, schließlich (wie ähnlich Walther) zum »herre«, »edel ritter« u. »freyher«. Während der Zeitgenosse Gottfried von Straßburg gegen W., ohne ihn zu nennen, als »vindære wilder mære« polemisierte, meinte schon Wirnt von Grafenberg um 1220, dass »leien munt nie baz gesprach« (Wigalois, v. 6346). Spätere apostrophierten ihn als den »wîsen« u. »künsterîchen«. Adlige Geschlechter übernahmen die Figurennamen aus seinen Werken. Ulrichs von Liechtenstein Artusfahrt u. Bruns von Schönebeck Magdeburger Gralsfest beziehen sich auf den Parzival, der auch mit Einzelszenen u. Szenenfolgen viel-

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fache bildl. Umsetzung erfuhr; der Willehalm blieb als (pseudo-)histor. Dichtung in volkssprachlich-literar. Kreisen präsent. Beide Großepen, der Parzival mit mehr als 80 vollständigen oder fragmentar. Handschriften (dazu ein Strassburger Druck bei Mentelin, 1477), der Willehalm mit über 100, gehören zu den meistüberlieferten dt. Texten des MA. Nach dem allg. Erlöschen des Interesses an den älteren Texten war es Johann Jacob Bodmer, der sie der Vergessenheit entriss u. durch Hexameterübersetzung bzw. Balladenadaptation wieder ins Bewusstsein der Zeit zu heben versuchte. Das 19. u. teilweise auch das 20. Jh. fand weniger Gefallen an der Gestalt des frz. Markgrafen Willehalm u. seinen blutigen Schlachten als an dem »reinen Toren« Parzival, der zum Inbegriff des Zweiflers, des faustischen Suchers, des Protagonisten eines frühen Entwicklungsromans wurde. Ausgaben: W. v. E. Hg. Karl Lachmann. Bln. 1833. 61926. – Parzival. Hg. Eberhard Nellmann. 2 Bde., Ffm. 1994 (mit Übers. von Dieter Kühn u. Komm.). – Parzival. Nach der Ausg. v. K. Lachmann. Hg. Bernd Schirok. Bln./New York 1998 (mit Übers. v. Peter Knecht). – Parzival. Hg. Joachim Bumke. Tüb. 2008. – Titurel. Hg. Helmut Brackert u. Stephan Fuchs-Jolie. Bln./New York 2002 (mit Übers. u. Komm.). – Titurel. Hg. J. Bumke u. Joachim Heinzle. Tüb. 2004. – Willehalm. Hg. Werner Schröder. Bln./New York 1978. – Willehalm. Hg. J. Heinzle. Ffm. 1991 (mit Übers. u. Komm.). – Peter Wapnewski: Die Lyrik W.s v. E. Mchn. 1972 (mit Übers. u. Komm.). Literatur: Periodicum: Wolfram-Studien (1970 ff. mit fortgeführter Bibliogr. seit 1988). – Einführungen/Übergreifendes: Karl Bertau: W. v. E. Mchn. 1983. – Walter Haug: Literaturtheorie im dt. MA. Darmst. 1985. – Christian Kiening: Zwischen Körper u. Schrift. Ffm. 2003. – Joachim Bumke: W. v. E. Stgt. 82004. – Lieder: Alois Wolf: Variation u. Integration. Beobachtungen zu hochmittelalterl. Tageliedern. Darmst. 1979. – Gerdt Rohrbach: Studien zur Erforschung des mhd. Tageliedes. Göpp. 1986. – C. Kiening: Die Figur des Dritten. In: Ders.: Zwischen Körper u. Schrift (s. o.), S. 157–175, 362–366. – Katharina Boll: [...]. Untersuchungen zu Konstitution u. Funktion der Frauenrede im Minnesang des 12. Jh. Würzb. 2007, S. 481–500. – Parzival: Dennis H. Green u. Leslie P. Johnson: Approaches to W. v. E. Ffm. u. a. 1978. – Helmut Brall: Gralsuche u. Adelsheil. Heidelb. 1983. – Walter Delabar: [...] Studien zur Funktion

560 des Verwandtschaftsverbandes in W.s v. E. ›Pz.‹. Göpp. 1990. – Alexandra Stein: ›wort‹ u. ›werc‹. Studien zum narrativen Diskurs in W.s ›Pz.‹. Ffm. u. a. 1993. – Konstantin Pratelidis: Tafelrunde u. Gral. Würzb. 1994. – Ulrike Draesner: Wege durch erzählte Welten. Ffm. u. a. 1995. – Arthur Groos: Romancing the Grail. Ithaca/London 1995. – W. Haug: Brechungen auf dem Weg zur Individualität. Tüb. 1997. – J. Bumke: Die Blutstropfen im Schnee. Tüb. 2001. – Cornelia Schu: Vom erzählten Abenteuer zum Abenteuer des Erzählens. Ffm. u. a. 2002. – Sonja Emmerling: Geschlechterbeziehungen in den Gawan-Büchern des ›Pz.‹. Tüb. 2003. – John Greenfield (Hg.): Wahrnehmung im ›Pz.‹ W.s v. E. Porto 2004. – Anne Stephan-Chlustin: Artuswelt u. Gralswelt im Bild. Wiesb. 2004. – Katharina Mertens Fleury: Leiden lesen. Bln./New York 2006. – Beatrice Trînca: [...]. Wolframs Poetik des Heterogenen. Heidelb. 2008. – Ch. Kiening: Unheilige Familien. Würzb. 2009, S. 161–185. – Titurel: J. Heinzle: Stellenkomm. zum ›Titurel‹ W.s v. E. Tüb. 1974. – Max Wehrli: W.s ›Titurel‹. Opladen 1974. – Helmut Brackert: Sinnspuren. In: FS Dieter Kartschoke. Bln./New York 1996, S. 155–175. – C. Kiening u. Susanne Köbele: Wilde Minne. In: PBB 120 (1998), S. 234–265. – Martin Baisch: Textkritik als Problem der Kulturwiss. Bln./New York 2006, S. 306–349. – Alexander Sager: minne von mæren. Gött. 2006. – Sonja Glauch: An der Schwelle zur Lit. Heidelb. 2009, S. 199–263. – Willehalm: J. Bumke: W.s Wh. Heidelb. 1959. – Carl Lofmark: Rennewart in W.s ›Wh.‹. Cambridge 1972. – C. Kiening: Reflexion – Narration. Wege zum ›Wh.‹ W.s v. E. Tüb. 1991. – Christoph A. Kleppel: [...]. Erzählen von Fremdem in W.s ›Wh.‹. Ffm. u. a. 1996. – Stephan Fuchs: Hybride Helden. Heidelb. 1997. – John Greenfield u. Lydia Miklautsch: Der ›Wh.‹ W.s v. E. Eine Einf. Bln./New York 1998. – Christopher Young: Narrativ. Perspektiven in W.s ›Wh.‹. Tüb. 2000. – Martin Przybilski: ›sippe‹ u. ›geslehte‹. Wiesb. 2000. – Martin H. Jones u. Timothy McFarland (Hg.): W.s ›Wh.‹. Rochester 2002. – Kathryn Starkey: Reading the Medieval Book. Word, Image, and Performance in W. v. E.s ›Wh.‹. Notre Dame 2004. – Elke Koch: Trauer u. Identität. Bln./New York 2006. – Rezeption: Hedda Ragotzky: Studien zur W.-Rezeption. Stgt. u. a. 1971. – Erich Kleinschmidt: Literar. Rezeption u. Gesch. Zur Wirkungsgesch. v. W.s ›Wh.‹ [...]. In: DVjs 48 (1974), S. 585–649. – Bernd Schirok: Pz.-Rezeption im MA. Darmst. 1982. – Werner Schröder: W. v. E. Spuren u. Werke. Wirkungen. 2 Bde., Stgt. 1989/ 90. – C. Kiening: W.s ›Wh.‹ in karoling. Kontext. In: Studien zur Weltchronik Heinrichs v. München. Hg. Horst Brunner. Bd. 1, Wiesb. 1998, S. 522–568. – Andrea Lorenz: Der ›Jüngere Titurel‹ als Wolf-

561 ram-Fortsetzung. Bern u. a. 2002. – Thomas Neukirchen: Die ganze ›aventiure‹ u. ihre ›lere‹. Heidelb. 2006. – Christoph Gerhardt: Der ›Wh.‹-Zyklus. Stgt. 2010. Christian Kiening

Wolfskehl, Karl, * 17.9.1869 Darmstadt, † 30.6.1948 Bayswater-Auckland/Neuseeland; Grabstätte: Auckland-Henderson, Waikomete-Friedhof. – Lyriker, Dramatiker, Essayist u. Übersetzer. Der Sohn des Bankiers u. Politikers Otto Wolfskehl studierte in Gießen, Leipzig u. Berlin Ältere Deutsche Philologie, Religionsgeschichte sowie Archäologie u. wurde 1893 in Gießen von Otto Behaghel über Germanische Werbungssagen (Darmst.) promoviert. 1898 ließ sich W. in München nieder, wo er – zunächst im »Kosmiker«-Kreis – als »Zeus von Schwabing« zum Mittelpunkt der Boheme wurde. Bereits 1893 hatte er Stefan George kennen gelernt, mit dem ihn eine lebenslange, wenn auch zuletzt etwas distanziertere Freundschaft verband. George wurde ihm »Maßstab, kein Gedanke, keine Zeile, die nicht an seiner Art gemessen wurden, so selten ich ihn sah« (Brief an Albert Verwey, 20.12.1933). Seine ersten Gedichte, die W. seit 1894 in den »Blättern für die Kunst« veröffentlichte, lassen deutlich diesen Einfluss erkennen. W. zeigte sich fasziniert von der Rückbesinnung auf die Antike, von der symbolistischen Geste u. von der Überhöhung der Sprache, aber zu einem Epigonen des Meisters wurde er nicht. Seine bilderreichen, oft überladen u. konstruiert wirkenden Gedichte (Ulais. Bln. 1897. Gesammelte Dichtungen. Ebd. 1903), die Elemente der Romantik u. des Jugendstils aufnehmen, offenbaren sein Interesse am Mythischen u. weisen auf sein großes Ziel hin: die Trennung von jüd. Erbe u. dt. Kultur aufzuheben, der er sich ganz öffnete. So gab er auch mit George eine dreibändige Auswahl Deutsche Dichtung (ebd. 1901–1903) heraus u. übersetzte Älteste deutsche Dichtungen (zus. mit Friedrich von der Leyen. Lpz. 1909. Erw. Ffm. 1964) u. die Gedichte des Archipoeta (Mchn. 1921). Obwohl sich W. schon früh der zionistischen Bewegung angeschlossen hatte u. immer wieder Themen aus dem AT aufgriff

Wolfskehl

(Saul. Bln. 1905), blieb sein Denken zunächst stark beeinflusst von nordischer Mythologie, von Nietzsche u. von Bachofen, dessen Mutterrecht er für die Münchner Künstlerkreise entdeckte. Noch im Ersten Weltkrieg, den er auch öffentlich als Weg zur Erneuerung u. »von Gott gewollt« (offener Brief an Romain Rolland) begrüßt hatte, kaufte er für seine Familie das Landgut Kiechlingsbergen. Die Inflation, die sein Vermögen verzehrte, zwang ihn, 1922–1924 eine Hauslehrerstelle bei der Baronin Münchhausen in Florenz anzunehmen, u. zu verstärkter publizistischer Tätigkeit. Er schrieb Essays (Bild und Gesetz. Bln./Zürich 1930), übersetzte aus verschiedenen Sprachen, etwa Charles de Costers Die Geschichte von Ulenspiegel (2 Bde., Bln. 1926), übernahm 1922 die literar. Leitung der bibliophilen Rupprecht-Presse u. wurde 1928 Beirat des Zeitungsverlags Knorr und Hirth. 1933 floh W. vor den Nationalsozialisten in die Schweiz u. dann nach Italien. Nachdem 1937 sein Antrag auf Doppelwohnsitz in Italien u. Deutschland abgelehnt worden war, verkaufte er seine wertvolle Bibliothek gegen eine Leibrente an Salman Schocken u. verließ 1938 mit »Abscheu und Zorn« Europa. Er ging nach Neuseeland, »so weit weg [...], als dies überhaupt auf diesem Kleinplanet möglich ist« (Brief an Bella Fromm Welles, 31.1.1947). Die Dichtungen seines Exils, v. a. Die Stimme spricht (Bln. 1934. Erw. 1936) u. Hiob oder Die vier Spiegel (Hbg. 1950), sind von der Rückbesinnung auf die jüd. Geschichte des Alten Bundes u. auf das jüd. Schicksal geprägt, ohne die Hoffnung auf Selbsterlösung in Gott aufzugeben. In den Mittelpunkt vom Sang aus dem Exil (Zürich 1950) stellte W., der sich als »jüdisch, römisch, deutsch zugleich« bezeichnete, die Klage über den Verlust seiner dt. Heimat u. der mediterranen Welt: »[...] Stern und Wahn / Sind mir vertraut wie euch. Von selber Sippe / Durchmaß ich, Hiob, Leids zeitlose Bahn« (Albatros). Bitter klingt sein »Lebenslied mit Abgesang« An die Deutschen (Zürich 1947), in dem er das Scheitern der von ihm angestrebten geistigen Symbiose erkennen muss, aber den Glauben an ein anderes

Wolke

Deutschland noch nicht aufgegeben hat: »Wo ich bin ist Deutscher Geist.« Die Verbindung zur Heimat, zum »deutschen Geist«, suchte W. durch einen umfangreichen Briefwechsel aufrechtzuerhalten. Seine Briefe an Hannah Arendt, Martin Buber, Thomas Mann, Alfred Kubin, Kurt Wolff u. andere sind schmerzl. Erinnerungen, im Duktus Gesprächsersatz, erschütternde Dokumente des Verzweifelns u. des Vereinsamens, aber auch des unbeugsamen Willens. W.s Exilwerk, das sich in seiner zeitgeschichtl. Bedeutung u. in seiner künstlerischen Qualität von seinen frühen Arbeiten abhebt, ist seit dem 50. Todestag des Dichters verstärkt zum Gegenstand germanistischer Forschungen geworden, in Deutschland wie in Neuseeland. Weitere Werke: Ausgaben: Ges. Werke. Hg. Margot Ruben u. Claus Victor Bock. 2 Bde., Hbg. 1960. – Briefe u. Aufsätze. München 1925–33. Hg. M. Ruben. Ebd. 1966. – Gedichte. Essays. Briefe. Hg. Cornelia Blasberg u. Paul Hoffmann. Ffm 1999. – Späte Dichtungen. Hg. Friedrich Voit. Gött. 2009. – Einzeltitel: Der Umkreis. Gedichte u. Dramat. Dichtungen. Bln. 1927. – (Hg.): Das Buch vom Wein (zus. mit Curt S. Gutkind). Mchn. 1927. – Bücher. Bücher. Bücher. Bücher. Elemente der Bücherliebeskunst. Mchn. 1932. – Kalon bekawod namir. Aus Schmach wird Ehr. Amsterd. 1960. – Die Hochzeit des Figaro. Marbach 1978 (Übers.). – Briefe: Zehn Jahre Exil – Briefe aus Neuseeland 1938–48. Hg. M. Rüben. Heidelb./Darmst. 1959. Erw. u. d. T. Briefw. aus Neuseeland. Hg. C. Blasberg. 2 Bde., Darmst. 1988. – W. – Verwey. Die Dokumente ihrer Freundschaft 1897–1946. Hg. Mea Nijland-Verwey. Heidelb. 1968. – Karl u. Hanna W. Briefw. mit Friedrich Gundolf 1899–1931. Hg. Karlhans Kluncker. 2 Bde., Amsterd. 1977. – Briefw. aus Italien 1933–1938. Hg. C. Blasberg. Hbg. 1993. Literatur: Bibliografie: Manfred Schlösser: K. W. Darmst. 1971. – Weitere Titel: Edwin Landau: K. W. Stilkrit. Untersuchungen seiner Lyrik. Hellerau 1928. – Margarete Susman: K. W. In: Dies.: Gestalten u. Kreise. Stgt./Konstanz 1954, S. 220–238. – Paul Theodor Hoffmann: Das religiöse Spätwerk K. W.s. Diss. Wien 1957. – Ruth Bowert: Die Prosa K. W.s. Diss. Hbg. 1964. – K. W. 1869–1969. Leben u. Werk in Dokumenten. Darmst. 1969. – Gunter Grimm: K. W. Die Hiobs-Dichtung. Bonn 1972. – Elmar Zorn: K. W. im Exil. Briefe u. Gedichte der Emigrationszeit. Diss. Mchn. 1977. – K. W. Kollo-

562 quium. Hg. Paul-Gerhard Klussmann. Amsterd. 1983. – Richard Faber: Männerrunde mit Gräfin. Die ›Kosmiker‹ Derleth, George, Klages, Schuler, W. u. Franziska zu Reventlow. Ffm./Bern 1994. – C. Blasberg: K. W. u. Kiechlinsbergen. Marbach 1995. – Jürgen Egyptien: Der Auszug des Geistes aus dem Zuchthaus Europa. K. W.s Europa-Vision zwischen Utopie u. Apokalypse. In: Das Jüd. Echo 45 (1996) S. 172–179. – K. W. Tübinger Symposion zum 50. Todestag. Hg. P. Hoffmann. Tüb. 1999. – Exul Poeta. Leben u. Werk K. W.s im ital. u. neuseeländ. Exil. Hg. Friedrich Voit u. August Obermayer. Dunedin 1999. – Norman P. Franke: ›Honour and Shame ...‹. K. W. and the Stauffenberg Brothers. In: Letters and Texts of Jewish History. Hg. Norman Simms. Hamilton 1999, S. 89–130. – Daniel Hoffmann: ›Ich kam aus dem Geheg‹. K. W.s Deutung des Exodus in ›Die Stimme spricht‹. In: ›Verkannte brüder‹? Hg. Gert Mattenklott, Michael Philipp u. Julius H. Schoeps. Hildesh. 2001, S. 135–151. – F. Voit: K. W. Leben u. Werk im Exil. Gött. 2005. – N. Franke: ›Jüdisch, römisch, deutsch zugleich ...‹? Eine Untersuchung der literar. Selbstkonstruktion K. W.s unter bes. Berücksichtigung seiner Exillyrik. Heidelb. 2006. – ›O dürft ich Stimme sein, das Volk zu rütteln!‹ Leben u. Werk v. K. W. (1869–1948). Hg. Elke-Vera Kotowski u. G. Mattenklott. Hildesh. u.a. 2007. Hans Sarkowicz

Wolke, Christian Hinrich, * 21.8.1741 Jever, † 8.1.1825 Berlin. – Pädagoge, Sprachforscher. Der Sohn eines Landwirts u. Viehhändlers besuchte seit 1761 das Gymnasium (»Hochschule«) in Jever u. studierte seit 1763 an den Universitäten (»Höchstschule«) Göttingen u. Leipzig zunächst Jura, nach dem Tod des Vaters (1765) Mathematik u. Physik. Danach lebte er als Erzieher in adligen Familien. W. entwarf 1770 den Plan einer Erziehungsanstalt »nach naturgemäßem Stufengange« u. machte die Bekanntschaft von Basedow (Altona), dem er 1773 nach Dessau folgte, um ihn als Lehrer im neu gegründeten Philanthropin zu unterstützen. W. wirkte dort zehn Jahre (seit 1776 als Professor, seit 1778 als Leiter) u. ging dann nach Petersburg, wo er mit Unterstützung von Katharina II. (die 1793 auch Fürstin von Jever wurde) eine eigene Erziehungsanstalt aufbaute. 1801 kehrte er als pensionierter kaiserlich-russ.

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Hofrat nach Jever zurück, lebte seit 1809 in ebd., S. 123–127. – Ursula Wolf: C. H. W. Ein Pädagoge der Aufklärungszeit. Dessau/Göpp. 2004. Dresden, zuletzt in Berlin. Bernd Naumann / Red. Während seiner Zeit als Erzieher verfasste der »bescheidene und unbeschreiblich thätige Mann« (Kant) zahlreiche pädagog. SchrifWolken, Karl Alfred, * 26.8.1929 Wanten u. gab Kinder- u. Jugendliteratur u. gerooge. – Lyriker u. Erzähler. plattdt. (»sassische«) Gedichte heraus. Danach (zur Zeit der Napoleonischen Kriege) Aus der Kriegsgefangenschaft entlassen, wandte er sich mehr u. mehr sprachkrit. Ar- machte der Sohn eines Schmieds eine beiten zu. Er wurde 1814 Gründungsmitgl. Schreinerlehre u. arbeitete als Fabrikschreider patriotisch-sprachpolit. Berlinischen Ge- ner, bis er sich nach der Veröffentlichung sellschaft für deutsche Sprache, gab eine seines ersten Gedichtbands Halblaute Einfahrt Empfehlung für eine rein nach phonet. (Stgt. 1960) entschloss, als freier Schriftsteller Prinzipien abgefasste dt. Rechtschreibung zu leben. Nebenbei arbeitete W. als Übersetheraus (u. geriet darüber in einen Disput mit zer u. Literaturkritiker. Seit 1965 lebt er mit Jean Paul), war darum bemüht, Fremdwörter seiner Frau Elisabeth Wolken, geb. Gericke, aus der dt. Sprache zu tilgen, arbeitete an die seitdem Leiterin der Deutschen Akademie »Pasigraphie« u. »Telephrasie« (d. h. Tele- in der Villa Massimo war, in Rom. In Halblaute Einfahrt setzt sich W. mit zeitgraphie) u. beschäftigte sich mit der Sprachgenöss. Lyrik auseinander (der Titel des erziehung von Gehörlosen. Sein wichtigstes Werk ist die sprachkritisch-didaktisch aus- Bandes bezieht sich auf Ingeborg Bachmanns gerichtete Anleit zur deutschen Gesammtsprache programmat. Gedicht Ausfahrt). Sein Ziel ist oder zur baldigen Erkennung und Berichtigung ei- es, die Balladenform neu zu beleben u. sie mit niger (zuwenigst 20 tausend) Sprachfäler in der seinem sachl. Stil zu verbinden. In den beiden hochdeutschen Mundart (Dresden 1812. 21816 folgenden Gedichtbänden Wortwechsel (Stgt. 1964) u. Klare Verhältnisse (Mchn. 1968) mit verändertem Titel). nimmt W. zunehmend Ereignisse des AllWeitere Werke: Beschreibung der hundert v. tagslebens mit krit. Blick auf die gesellschaftl. Chodowiecki zum Elementarwerk gezeichneten Kupfertafeln. 2 Bde., Lpz. 1781 u. 1787 (frz. u. lat. Realität in seine Texte auf. »Während andere Übers.en). – Erste Kenntnisse für Kinder. Ebd. den vollen Preis entrichten / zahlen wir Voll1783. – Düdsge or sass. Singedigte, Gravsgriften, pension / wählen wir Glücklichen unter Leder, Vertelsels un wunderbare Eventüre, süst mehreren Speisen.« Als Stipendiat der Villa Massimo (1962) in nömt Romansen un Balladen. Ebd. 1804. – Kurtse Erzihungslere [...]. Ebd. 1805. – Kinderbibliothek Rom, entdeckte W. die mediterrane Landzur Belehrung u. Unterhaltung. 7 Bde., Bln. 1822 schaft u. Lebensart als Motiv für seine weitere (Bd. 1: Fibel; Bd. 2–5: Lesebücher; Bd. 6: Rechen- Lyrikproduktion. Sein 1987 erschienener u. Zahlendenkkunst; Bd. 7: Anleitbuch für Mütter, Band Eigenleben. Gedichte aus der Villa Massimo Lehrer etc.). (Mchn.) beschreibt das Zusammenleben mit Literatur: NND 1, Bd. 1, 1825 (Schriftenverz.). den dort lebenden Künstlern. Wie bereits in – J. P. Hasselbach: Lebensgesch. des [...] W. Mit den früheren Gedichten nimmt W. sein eiGedichten u. Briefen v. ihm [...]. Aachen 1826. – genes Ich zum Ausgangspunkt u. versucht, Franz Ferdinand Nietzold: W. am Philanthropin zu persönl. Erfahrungen so zu gestalten, dass sie Dessau. Grimma 1890. – Theodor Ballauff u. Klaus allgemeinere Gültigkeit erhalten. KindheitsSchaller: Pädagogik. Bd. 2, Freib. i. Br./Mchn. 1970. – Werner Bahner u. Werner Neumann: erinnerungen u. Landschaftsstimmungen Sprachwiss. Germanistik. Bln. 1985. – Christopher bilden zusammen mit den Morgengedichten J. Wells: Deutsch: eine Sprachgesch. bis 1945. Tüb. (Der Morgen, das ist meine Freude) den Schwer1990. – Focke Tannen Hinrichs: C. H. W. punkt dieses Bands. (1741–1825). Zum 250. Geburtstag eines Pädagogen u. Sprachtheoretikers aus Jever. In: Oldenburger Jb. 92 (1992), S. 99–121. – Wilhelm Topsch: C. H. W. Bibliogr. seiner selbständigen Werke. In:

Weitere Werke: Schnapsinsel. Stgt. 1961 (R.). – Zahltag. Ebd. 1964 (R.). – Außer Landes. Gedichte 1974 bis 1978. Düsseld. 1979. – Die richtige Zeit zum Gehen. Eine Jugend in Gedichten. Ebd. 1982.

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Literatur: Heinz Piontek: K. A. W. Die Jahre in Dillingen. In: Ders.: Leben mit Wörtern. Percha am Starnberger See 1975, S. 133–142. – Michael Winkler: K. A. W. In: Die dt. Lyrik 1945–1975. Zwischen Botschaft u. Spiel. Hg. Klaus Weissenberger. Düsseld. 1981, S. 198–205. Christina Burck / Red.

Wolleb, Johannes, * 30.11.1586 Basel, † 24.11.1629 Basel (infolge der Pest). – Reformierter Theologe.

Weitere Werke: Concionum Miscellanearum Fasciculus. Basel 1648. – Christenliche Leich- u. Trost-Predigten. Basel 1657. Literatur: Bibliografie: Matthias Freudenberg: J. W. In: Bautz (auch Lit.). – Weitere Titel: Paul Tschackert: Johann W. In: ADB. – RE, Bd. 21 (1908), S. 472–474. – Heinrich Heppe: Die Dogmatik der evang.-reformierten Kirche. Neu durchges. u. hg. v. Ernst Bizer. Neukirchen 1935 (21958), passim. – Andreas Staehelin: Professoren der Univ. Basel aus fünf Jahrhunderten. Basel 1960, S. 64 f. (mit Porträt). – Heiner Faulenbach: Die Struktur der Theologie des Amandus Polanus v. Polansdorf. Zürich 1967. – Eginhard P. Meijering: Von den Kirchenvätern zu Karl Barth. Das altkirchl. Dogma in der ›Kirchl. Dogmatik‹. Amsterd. 1993, passim. – Hanspeter Jecker: Ketzer, Rebellen, Heilige. Das Basler Täufertum v. 1580–1700. Liestal 1998, S. 335–338 u. ö. (mit Porträt). – Amy Nelson Burnett: Teaching the Reformation. Ministers and their message in Basel, 1529–1629. Oxford 2006, S. 187–194 u. ö. Werner Raupp

Der Sohn eines Ratsherrn studierte in Basel Theologie u. wurde Schüler von Amandus Polanus von Polansdorf. Dort wirkte er sodann als städt. Diakonus (1607) u. Pfarrer an St. Elisabeth (1611). Als Nachfolger Johann Jakob Grynaeus’ avancierte er 1618 zum Antistes am Münster, womit er der Basler Kirche vorstand. In diesem Jahr übernahm er in seiner Vaterstadt auch die Professur für AT (Dr. der Theologie [1619] mit der Dissertation De divina praedestinatione, dem großen Thema der Wollschläger, Hans, * 17.3.1935 Minden, Dordrechter Synode von 1618/19). – Sein † 19.5.2007 Bamberg. – Essayist, Übertheolog. Denken verläuft durch u. durch in setzer, Schriftsteller. den Bahnen der v. a. calvinistisch geprägten reformierten Orthodoxie, wobei er sich bes. Der Sohn eines Pfarrers studierte an der an der in dieser Richtung sich herausbilden- Nordwestdeutschen Musikakademie in Detden Föderaltheologie orientiert. mold u. hatte Privatunterricht bei dem DiriAnsehen erlangte W. zunächst mit seinem genten Hermann Scherchen. Seit 1958 lebte Katechismus Vorbereitung zu dem Hl. Abendmahl W. in Bamberg, wo er bis 1970 für den Karl(1625), der im Volksmund »Nachtmahlbüch- May-Verlag tätig war; 1962 begann er als lein« genannt wurde. Ein Jahr später erschien freier Schriftsteller zu arbeiten. sein Hauptwerk: Compendium theologiae chrisW., Polemiker im Geiste Karl Kraus’ u. tianae (1. Tl. [Dogmatik]: de Deo cognoscendo. 2. scharfer Kritiker des Literaturbetriebs, war Tl. [Ethik]: de Deo colendo), das weitgehend von nach eigenen Worten seit dem Tod von Arno Polanus’ Syntagma theologiae christianae (Hanau Schmidt der »zur Zeit verantwortliche Statt1609/10 u. ö.) abhängig ist. Der Leitfaden re- halter der Sprache in Deutschland«. Mit 23 formierter Dogmatik lässt originelle Gedan- Jahren begann er die Arbeit an seinem Opus kengänge vermissen, er besticht jedoch durch magnum, dem Roman Herzgewächse, den er meisterhafte Klarheit u. Prägnanz. Schon 1962 nach mehrmaliger Umarbeitung abbald fand er weite Verbreitung, besonders schloss. Das Werk fand zunächst keinen Veran reformierten Universitäten (zahlreiche leger, sodass W. lange nur als Essayist, SachAufl.n; Neuausg. hg. v. Ernst Bizer. Neukir- buchautor u. Übersetzer bekannt war. W. chen 1935. Engl. 1650 u. ö. Neuausg. hg. v. polemisierte gegen die christl. Kirche, TierJohn W. Beardslee. New York 1965. Holländ. versuche u. prangerte die – selbst erfahrenen 1651 u. ö. Microfiche-Ausg. 1973 u. ö. Online- – Existenznöte von Schriftstellern an. Er Ausg.), u. beeinflusste u. a. den Westminster übersetzte u. a. Faulkner, Chandler, James Katechismus (1647). Noch im 20. Jh. wurde er Baldwin, Donald Barthelme u. zusammen von Karl Barth rezipiert, nicht zuletzt in sei- mit Arno Schmidt die Werke von Edgar Allan ner Kirchlichen Dogmatik (1932–68). Poe (4 Bde., Olten 1966–73). W.s Überset-

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zung des Anna-Livia-Plurabelle-Kapitels aus 1987–98) u. Friedrich Rückerts (zus. mit RuJoyces Finnegans Wake (Ffm. 1970) offenbart dolf Kreutner. Gött. 1998–2007) Werken. Seit W.s Fähigkeit, den Sprachgestus des Origi- 2002 erscheinen W.s Schriften in Einzelausnals in der dt. Fassung zu bewahren. 1975 lag gaben (ebd.), die seine bekannten Texte verdie Übersetzung von Joyces Ulysses (ebd.) vor, sammeln u. um unveröffentlichtes Material des Romans, »dessen Held die Sprache ist, ergänzen. dessen Stoff die Sprache ist und in dessen Weitere Werke: Karl May. Reinb. 1965. – Die Handlung das Eigenleben der Sprache selbst bewaffneten Wallfahrten gen Jerusalem. Zürich beschrieben wird« (Wollschläger). Die stän- 1973. – Die Gegenwart einer Illusion. Ebd. 1978 dig wechselnden Sprach- u. Stilebenen, seine (Ess.). – Die Insel u. einige andere Metaphern für unzähligen Allusionen auf die Weltliteratur Arno Schmidt. Rede zur Verleihung des Arnoerfasste W., indem er Neologismen schuf, Schmidt-Preises 1982. Bargfeld 1982. – Von Sternen u. Schnuppen. Bei Gelegenheit einiger Bücher. eine archaisierende (Kunst-)Sprache entwiRez.en u. Zensuren. Zürich 1984. – In diesen ckelte u. vom Mittelhochdeutschen über das geistfernen Zeiten. Konzertante Noten zur Lage der Lutherdeutsch bis zum Gassenjargon alle Dichter u. Denker für deren Volk. Ebd. 1986. – Möglichkeiten von Sprachäquivalenten Tiere sehen dich an oder das Potential Mengele. nutzte. Ebd. 1989. – Wiedersehen mit Dr. F. Beim Lesen in Trotz des Erfolgs der Ulysses-Übersetzung letzter Zeit. Gött. 1997. – Moments musicaux. Tage dauerte es noch bis 1982, ehe nach neuerl. mit TWA. Ebd. 2005. – Herausgeber: Das Karl-KrausÜberarbeitung der erste Band des Romans Lesebuch. Zürich 1980. – Friedrich Rückert: KindHerzgewächse oder Der Fall Adams (Zürich) er- ertotenlieder. Nördlingen 1988. – Jb. der Karl-Mayschien. Dieser Roman ist die fiktive frag- Gesellsch. Hbg. 1970–2007 (seit 1970 Mitgl. der Redaktion, seit 1975 Mitherausgeber). – Karl May: mentarische Biografik in unzufälligen MaDas Alterswerk: Ardistan u. Dschinnistan. Krit. kulaturblättern des Schriftstellers Michael Ausg. nach den Manuskripten. 2 Bde., Bamberg Adams, seine Tagebuchaufzeichnungen im 2005/2006. ersten Halbjahr 1950 – nach der Rückkehr Literatur: Andreas Weigel: ›ruckworts gegen aus dem Exil ins Haus seiner Kindheit. Sein den Strom der Zeilen‹. Lese-Notizen zu H. W.s Ziel: eine »Biographie der Menschenart ›Herzgewächse oder Der Fall Adams. Erstes Buch‹. überhaupt« zu schreiben. Die Schilderung 2 Bde., Ffm. 1992 u. 1994. – Rudi Schweikert (Hg.): der Arbeit an der Biografie wird jedoch er- H. W. Eggingen 1995. – Guido Graf: Über den weitert (»noch die letzte Wortkrume muß Briefw. zwischen Arno Schmidt u. H. W. Wiesenunter das Mikroskop«) um Erinnerungs- u. bach 1997. – Wulf Segebrecht (Hg.): Auskünfte von Assoziationssplitter, um Traumsequenzen, u. über H. W. Bamberg 2002. – Stefan Iglhaut: H. um theoret. Erörterungen u. Reflexionen. W. W. In: LGL. – Anderrede vom Weltgebäude herab. H. W. zum Gedächtnis. Gött. 2007. – Maria Eger, versuchte diesen Vorgang im Schriftbild Andrea Scholz u. Rudi Schweikert: H. W. In: KLG. nachzuvollziehen: Die Schriftgröße wechselt, Claus-Ulrich Bielefeld / André Kischel kursive Passagen sind eingeschaltet, mit Hilfe der Zeichensetzung soll das Lesetempo beWolter, Christine, * 30.3.1939 Königsschleunigt oder verlangsamt werden. W.s berg. – Erzählerin, Lyrikerin. Experiment einer »Polyphonie des Schreibens«, sein Wille, ein Idiom zu schaffen, »das In Halle u. Ost-Berlin aufgewachsen, studer Musiksprache Mahlers« entspricht, ver- dierte W. an der Humboldt-Universität Roweist auf den erzählerischen Anspruch von manistik, arbeitete als Verlagslektorin u. Arno Schmidt, der W. lange als seinen Schüler Dolmetscherin, ehe sie 1978 einen ital. Aru. Nachfolger betrachtete u. die Herzgewächse chitekten heiratete u. mit ihrem Sohn nach schon vor ihrer Veröffentlichung in Zettels Mailand übersiedelte. An der dortigen UniTraum erwähnte. versität war sie Lektorin für Deutsch, bis sie Statt die Herzgewächse zu vollenden, wid- 1989 ihren Wohnsitz wieder nach Berlinmete sich W. der Herausgabe der hist.-krit. Adlershof verlegte. Edition von Karl Mays (zus. mit Hermann Wiedenroth. Nördlingen, Zürich, Bargfeld

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Seit 2001 tritt W. auch als Lyrikerin in ErW.s Erzählungen u. Romane sind von autobiogr. Erfahrungen geprägt: das Leben als scheinung (z.B. Meteorologisches. Vier Gedichte. allein erziehende Mutter, Reisen durch Itali- In: NDL 2001, H. 4, Spiegelseele. Vier Gedichte. en, Erinnerungen an die DDR, bes. an das In: NDL 2003, H. 4). Ihr erster Gedichtband Universitätsmilieu in Ost-Berlin. In ihrem Reisende (Bln. 2009) zeigt Menschen, Orte u. Erzähldebüt Meine italienische Reise (Bln./Wei- Erinnerungen, die immer in Bewegung sind, mar 1973) werden ferne Städte u. Landschaf- u. den Versuch, sie fassbar zu machen. Neben ten beschworen, zgl. polit. Widersprüche in ihrer Arbeit als Autorin ist W. auch als HerItalien u. Beziehungen der Menschen beob- ausgeberin u. Übersetzerin ital. Literatur täachtet. Dabei bilden die Beobachtungen über tig. die Kultur u. Menschen Italiens eine KonWeitere Werke: Die Hintergrundsperson. Bln./ stante im Werk W.s (vgl. auch: Juni in Sizilien. Weimar 1979. U. d. T. Stückweise leben. Zürich/ Bln. u. a. 1977. Piazza Brà. Zürich 1988. Italien Köln 1980 (R.). – Italienfahrten. Bln. u. a. 1982.  muß schön sein. Bln. 1993), genau wie deren Areopolis. Bln. u. a. 1985.  Straße der Stunden. 44 Nutzung als Auslöser lebensgeschichtl. Re- Ansichten v. Mailand. Bln. u. a. 1987.  Die Zimflexionen u. Kontrastfolie zur ehemaligen mer der Erinnerung. Roman einer Auflösung. Bln. 1996.  Mariane oder Die Unsterblichkeit. Lpz. Heimat DDR. 2004 (R.)  Traum Berlin Ost. Alte u. neue BeIm Erzählband Wie ich meine Unschuld verlor kannte, Orte, Wege. Bln. 2009. (ebd. 1976) geht es um gescheiterte PartnerHajo Steinert / Christian Walter schaften mit Männern u. um die Versuche von Frauen, ohne Männer das Leben zu meistern. Woltereck, Christoph, * 1.7.1686 GlückDer große Erfolg dieses Bandes in der DDR stadt, † 11.6.1735 Wolfenbüttel. – Jurist, 5 ( 1987) zeigt, wie populär Texte mit frauenHistoriker, Lyriker. spezif. Fragen in der Nachfolge Christa Wolfs oder Irmtraud Morgners waren. In dem Ro- W. besuchte als Schüler Johann Mollers ab man Die Alleinseglerin (Köln 1982) erzählt W. 1700 das Gymnasium in Flensburg, studierte, von einer Frau, die das Boot ihres verstorbe- von Johann Albert Fabricius entscheidend nen Vaters – eine Belohnung für die Erbau- gefördert, ab 1703 am Akademischen Gymung der Stalin-Allee Ost-Berlins in den nasium in Hamburg, wo sein bes. Interesse 1950er Jahren – wieder seetüchtig macht. Das den oriental., klass. u. modernen Sprachen Stendhal-Syndrom (Bln./Weimar 1990) handelt galt, u. ab 1706 an der Universität Leipzig von einem Mediziner, der an einem Kongress (Theologie, Jura, Geschichte u. Mathematik). in Florenz teilnimmt u. dort aufgrund über- Wegen des Schwedeneinfalls in Sachsen mäßigen Kunstgenusses, wie er selbst dia- kehrte er noch im selben Jahr nach Hamburg gnostiziert, ein entsprechendes Syndrom zurück, nahm 1707 das Studium in Leipzig entwickelt. Zurück in Ost-Berlin, gerät sein wieder auf, machte sich durch öffentl. DisWeltbild nachhaltig ins Wanken – mit gro- putationen sowie akadem. Reden einen Natesken Folgen: In einem Schrebergarten ver- men u. wechselte Briefe mit zahlreichen Gesucht er, ein Stück Toskana nachzuahmen. lehrten, so auch mit Leibniz. Auf elterl. Die Erzählung offenbart einerseits die Sehn- Wunsch u. ohne Abschluss verließ W. 1710 sucht nach Harmonie (u. deren impliziertes die Universität u. hielt sich aus KarriereScheitern) als auch die Stille in den letzten gründen, aber ohne Erfolg, zeitweilig in Tagen der DDR. Glückstadt, Hamburg u. Rendsburg auf. 1714 Der Roman Das Herz, diese rastlose Zunei- reiste er nach Goslar, praktizierte dort um gungs- und Abneigungsmaschine (Bln. 2000) ent- 1716 als Anwalt u. ging endlich 1717 nach faltet über eine Erzählzeit von sechzig Jahren Wolfenbüttel, wo er mit der Ordnung des in einer Vielzahl an Bildern u. Fragmenten Archivs der Hauptkirche Beatae Mariae Vireine Liebes- u. Familiengeschichte, die W.s ginis betraut wurde. 1720 Sekretär des eigene Biografie u. histor. Entwicklungen Braunschweigischen Premierministers HieDeutschlands von 1930 bis 1990 miteinander ronymus von Münchhausen, erhielt W. 1721 eine Anstellung als Aktuar u. 1725 als Sekreverknüpft.

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tär am fürstl. Residenzamt u. wurde 1731 als gen Rathje u. Jürgen Stenzel. Ebd. 1983, S. 196 f. – Oberamtmann dessen Präsident. 1723 schon Joachim Schmid: C. W. In: Braunschweigisches hatte er die ständige Aufsicht über das Archiv biogr. Lex. 8. bis 18. Jh. Hg. Horst-Rüdiger Jarck der Marienkirche übernommen. W. heiratete u. a. Braunschw. 2006, S. 748 f. Jürgen Rathje / Red. zweimal: 1723 Franziska Elisabeth de Forestier († 1734), mit der er einen Sohn hatte, u. 1735 Antonie Amalie Clara Bosse. Wolters, Friedrich, * 2.9.1876 Uerdingen, Allgemeines Lob als gelehrter Publizist † 14.4.1930 München. – Historiker, erntete W. erstmals mit der Veröffentlichung Übersetzer, Dichter. von elf Stücken des »Ausführlichen Berichts von allerhand neuen Büchern« (Lpz. Während des Geschichtsstudiums in Berlin 1708–10), mit dessen Herausgabe er Wilhelm wurde W. durch seinen Lehrer, den UniverErnst Tentzels »Curieuse Bibliothek« fort- salhistoriker u. Schmoller-Schüler Kurt setzte. Nach Erscheinen der von seltenen Breysig, auf Stefan George aufmerksam. Münzen handelnden Electa rei nummariae Breysigs Kreis mit seiner ganzheitl. Sicht der (Hbg. 1709) zog ihn Johann Burkhard Men- Geistesgeschichte betonte in Leben u. Forcke zur Mitarbeit an den »Acta Eruditorum« schen das Gemeinschaftliche. W. als zeitwei(Lpz. 1682–1782) heran. In seinem umfang- liger Mentor des Prinzen August Wilhelm reichen poetischen Werk erweist sich W. wie von Preußen stand dem Zweiten Kaiserreich der frühe, von ihm geschätzte Nicolaus von dabei weniger kritisch gegenüber als George. Bostel als ein Anhänger Hoffmannswaldaus. Nach der ersten Begegnung mit diesem Gedichte aus den Holsteinischen Musen wurde W. rasch zu einer der zentralen Figu(Glückstadt 1712) nahm Weichmann in die ren des George-Kreises. Er legte mit Herrschaft Poesie der Nieder-Sachsen (Hbg. 1721–38. und Dienst (Bln. 1909) eines der explizitesten Neudr. hg. v. Jürgen Stenzel. Mchn. 1980) Dokumente der Selbstvergewisserung des auf. Von W.s unvollendetem, größtenteils Kreises vor, das in seinem impliziten NeuManuskript gebliebenem Lebenswerk, dem platonismus nicht ohne Widerspruch blieb. Corpus Bonorum der Heinrichstädtischen Kirche B. Mit Friedrich Gundolf gab W. 1910–1912 das M. V., erschienen einige Schriften im Druck. »Jahrbuch für die geistige Bewegung« heraus, das auf die universitäre Jugend im Sinne Weitere Werke: Sonette, Madrigale u. Sinnge2 dichte. Tl. 1, Glückstadt 1711; Tl. 2, ebd. 1711. – des Kreises einwirken sollte. In seinen Ruhige Gedancken in der Unruhe. Goslar 1715. Schriften aus dieser Zeit, darunter der GeBlankenburg 21731. – Ehren- u. Scherz-Gedancken. dichtband Wandel und Glaube (Bln. 1911), Glückstadt 1716. – Erleuterung einiger Müntzen umkreist W. die Frage, in welchem Verhältnis [...]. Wolfenb. 1722. – Wolfenbüttelsche Merk- auf ontolog. u. pragmat. Ebene ein dichtewürdigkeiten. Ebd. 1729. – Herzogl. Erb-Begräb- risch begründeter u. sich in Freundschaft nisse in der Haupt-Kirchen B. M. V. zu Wolfen- stets erneuernder Kreis zur Gesellschaft als büttel. o. O. 1731. – Forestisches Ehren-Gedächt- ganzer steht. W.s wichtigste Gedichte, die niß. Blankenburg 1735. – Chronicon der Stadt u. eine eigenständige lyr. Stimme ausdrücken, Vestung Wolffenbüttel. Hg. Rudolf August Nolte. stehen in den letzten Folgen der »Blätter für Blankenburg/Helmstedt 1747. Internet-Ed. in: UB die Kunst«. Braunschweig. 1914 habilitierte sich W. bei Schmoller; Ausgabe: Slg. allerhand sinn-reicher Gedichte 1920 wurde er in Marburg a. o., 1923 in Kiel [...]. Stockholm 1721. Internet-Ed. in: Dt. Lit. des o. Professor. W.s im strengen Sinn wissen18. Jh. Online. Hg. Paul Raabe. Mchn. 2007. schaftl. Werk ist schmal u. stand nicht im Literatur: Johann Georg Oldekop: Die guten Vordergrund seines Interesses. Zu seinem Beschäfftigungen eines in die Ewigkeit hineilenden Gläubigen [...]. Wolfenb. 1737 (Leichenpredigt). – universitären Kreis gehörten Max KommePaul Zimmermann: C. W. In: ADB. – Dieter Loh- rell, Johann Anton u. Rudolf Fahrner, die W. meier: C. W. In: BLSHL, Bd. 6, S. 305–307. – C. F. zu George führte. Nach außen wirkte W. zu einem wesentl. Weichmanns Poesie der Nieder-Sachsen (1721–38). Nachweise u. Register. Hg. Christoph Perels, Jür- Teil als (Mit-)Herausgeber, also als anregen-

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der u. sichtender, einleitender u. nicht zuletzt Woltersdorf, Ernst Gottlieb, * 31.5.1725 übersetzender Vermittler. Beispiele sind das Friedrichsfelde bei Berlin, † 17.12.1761 in hoher Auflage erschienene, antifrz. Lese- Bunzlau. – Evangelischer Prediger, Seelbuch Stimmen des Rheines (zus. mit Walter sorger, Kirchenlieddichter. Elze. Breslau 1923) u. das für den Gebrauch in Schulen erarbeitete, fünfbändige Kompendi- Der sechste Sohn des Predigers Gabriel Lucas um Der Deutsche (Breslau 1925–27). George Woltersdorf besuchte ab 1735 das Gymnasiverurteilte diese Aktivitäten als Zeitver- um zum Grauen Kloster in Berlin; von 1742 schwendung; die Auswahl der ausgesprochen bis 1744 studierte er Theologie an der Unizahlreichen anthologisierten Autoren in versität Halle. Geprägt wurde er durch Pieletzterem Werk zeigt aber die eigenständige tismus, Brüdergemeine u. den Geist der Handschrift des George-Kreises. W. übertrug Francke’schen Anstalten. Früh zum Prediger Hymnen und Lieder der christlichen Zeit (3 Bde., berufen, widmete sich W. ab Okt. 1748 ganz Bln. 1922/23) u. unterstrich damit in die der Seelsorge u. dem Schulwesen in Bunzlau, Spätantike u. ins MA reichende Traditionsli- wo er auch das 1754 von dem Maurermeister Gottfried Zahn († 1758) gegründete Waisennien des Kreises. W.s umstrittenstes u. vorderhand ambitio- haus leitete. Als geistl. Schriftsteller u. Psalniertestes Werk ist Stefan George und die Blätter mist erhielt er den Ehrentitel eines »schlesifür die Kunst (Bln. 1930), eine Geschichte des schen Asaph«, dessen prophetische Kraft Kreises, die durch ihre Auswahl u. Schwer- lange u. auch in evang. Gesangbüchern punktsetzung vehementen Widerspruch wirkte, heute freilich geschwunden ist. Seine hervorrief. Der bereits schwer kranke George wortreichen u. kein Ende findenden 218 hatte das Werk in der Entstehung begleitet u. Lieder suchen den sinnl., dunklen, fremden in seiner Zielsetzung gebilligt. W. u. seine Ausdruck u. paradoxe Redensarten, um Herz Schüler waren in den 1920er Jahren als u. Verstand zu bewegen u. zum Nachdenken Gastgeber, Gesprächspartner u. Freunde über Gottes Gnade zu erwecken, die im LeiGeorges wichtigster menschl. Bezugspunkt. den u. Sterben Christi gipfelt. »Komm, mein Weitere Werke: Melchior Lechter. Mchn. 1911. Herz, in Jesu Leiden strömt auch dir ein Quell – Der Wandrer. Zwölf Gespräche. Bln. 1924. – Vier der Freuden« ist das einzige Lied, das das Reden über das Vaterland. Breslau 1927. – F. W. EKG von ihm noch überliefert (Nr. 428). (Hg.): Die Heldensagen der german. Frühzeit (zus. Theodor Fontane widmete W. u. dessen Vater mit Carl Petersen). Ebd. 1921. – Briefwechsel: Stefan im 4. Teil seiner Wanderungen durch die Mark George / F. W.: Briefw. 1904–1930. Mit einer Einl. Brandenburg (1881) einen längeren Abschnitt. hg. v. Michael Philipp. Amsterd. 1998. – Friedrich Gundolf / F. W.: Ein Briefw. aus dem Kreis um Stefan George. Hg. u. eingel. v. Christophe Fricker. Köln/Weimar/Wien 2009. Literatur: Carola Groppe: Die Macht der Bildung. Das dt. Bürgertum u. der George-Kreis 1890–1933. Köln/Weimar/Wien 1997, S. 213–289. – Wolfgang Christian Schneider: Staat u. Kreis, Dienst u. Glaube. F. W. u. Robert Boehringer in ihren Vorstellungen v. Gesellsch. In: Das Ideal des schönen Lebens u. die Wirklichkeit der Weimarer Republik. Hg. Roman Köster u. a. Bln. 2009, S. 97–122. Christophe Fricker

Weitere Werke: Einige neue Lieder oder evang. Psalmen [...]. 2 Bde., Jauer 1750–52. – Fliegender Brief evang. Worte an die Jugend, von der Glückseligkeit solcher Kinder u. jungen Leute, die sich frühzeitig bekehren [...] (1749). Züllichau 21752 (Ausg.en bis ins 20. Jh.). – Kurtzer Beweis von der Göttlichkeit der heil. Schrift u. Wahrheit der christl. Religion [...]. Ebd. 1752. – Der Schächer am Kreutz. Das ist, vollständige Nachrichten von der Bekehrung u. seligem Ende hingerichteter Missethäter [...]. 2 Bde., Bautzen/Görlitz 1753–66. – Erste [-dritte] Nachricht von einer [...] Waisen- u. Schul-Anstalt zu Bunzlau in Schlesien [...]. Bunzlau 1755–62. – Die aus dem blutigen Tode Jesu hervorstralende Liebe Gottes, eine Passions-Predigt [...]. Budissin/Görlitz 1756. – Sämtl. neue Lieder oder evang. Psalmen [...]. Bln. 1767. – Predigten [...]. Jena 1769. – Slg. dererjenigen neuen Lieder [...], welche in denen beyden zu Jauer heraus ge-

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Literatur: Erdmann: E. G. W. In: ADB. – Koch 4, S. 501–520. – Goedeke 4/1, S. 215 f. – Albert Freybe: E. G. W. In: RE, Bd. 21, S. 485–488. – Johannes Giffey: E. G. W. Ein evang. Sänger u. Seelsorger in seinem Werk u. Lied. Barmen 1925. – Arno Pagel: E. G. W., Friedrich Traub, zwei Frühvollendete. Gießen/Basel 1954. – Herbert Patzelt: Wirkungen des Pietismus in Schlesien. In: Quellenbuch zur Gesch. der evang. Kirche in Schlesien. Hg. Gustav Adolf Benrath. Mchn. 1992, S. 157–200. – Gesch. Piet. Bd. 2, S. 343 f., 351, 356; Bd. 4, S. 396, 632. – Rainer Lächele: ›Maleficanten‹ u. Pietisten auf dem Schafott. Histor. Überlegungen zur Delinquentenseelsorge im 18. Jh. In: Ztschr. für Kirchengesch. 107 (1996), S. 179–200. – BBHS, Bd. 8, S. 437. Heimo Reinitzer / Red.

Romane unbedeutend. Die Memoiren des Freiherrn von S-a (3 Bde., Prag/Lpz. 1815/16) verdienen hingegen noch heute Aufmerksamkeit. Darin verarbeitet W. eigene Erfahrungen als Diplomat mit umfangreichen, teils satir. Betrachtungen über die literar. Zustände in Deutschland u. über Schriftstellerkollegen (Tl. 1: Barbarei der deutschen Literatur) sowie mit polit. Porträts u. Erzählungen von Liebeswirren zu einem Roman. Das iron. Spiel mit der eigenen Person als Erzählfigur setzte W. anonym in einer umfangreichen Rezension des Werks in der »Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung« fort, für die er auch sonst zahlreiche Besprechungen schrieb. – 1818–1827 gab seine Witwe Sämtliche Werke (14 Bde., Lpz.) heraus; Band 1 enthält W.s Selbstbiographie mit einem Nachtrag von ihr.

Woltmann, Karl Ludwig von (seit 1805), * 9.2.1770 Oldenburg, † 19.6.1817 Prag. – Historiker; Erzähler, Lyriker.

Weitere Werke: Gesch. Frankreichs. Bln. 1797. – Gesch. Großbritanniens. Bln. 1799. – Geist der neuen Preuß. Staatsorganisation. Lpz. u. a. 1810. – Mathilde v. Merveld. 2 Bde., Altenburg u. a. 1799 (R.).

kommenen Theilen nicht anzutreffen [...]. Minden 1769. Ausgabe: W.s Psalmen. Bielef. 1984. 22002.

Literatur: Heinrich Laube: W. In: Ders.: MoW. besuchte das Gymnasium in Oldenburg u. studierte seit 1788 in Göttingen Jura u. Ge- derne Charakteristiken. Bd. 2, Mannh. 1835, schichte. 1795–1797 lehrte er als a. o. Prof. S. 270–282. – Goedeke. – Max Mendheim: K. L. v. W. In: ADB. – Florian Krobb: ›daß der verewigte Philosophie in Jena, wo er u. a. in Kontakt mit Schiller sein genialisches Werk nicht fortsetzte‹: the Schiller, Goethe u. Hufeland trat. Er begann ›continuations‹ of Schiller’s historical works by ein umfangreiches Werk als Geschichts- Karl Curths and K. L. v. W. In: Schiller – on the schreiber zu verfassen; einige Arbeiten (auch treshold of modernity. Hg. ders. u. Hans W. erste poetische Versuche) erschienen in Schmidt-Hannisa. Konstanz 2006, S. 53–66. – Schillers »Horen« u. »Musenalmanach«. Seit Christina Randig: ›weil es den Geschichtsschrei1800 lebte W. in Berlin, wo er verschiedene bern an Phantasie fehlt‹: K. L. W. – ein Gediplomatische Tätigkeiten ausübte u. die schichtsschreiber an der Wende zum 19. Jh. u. seine Zeitschrift »Geschichte und Politik« heraus- Gedanken zur Historiographie. In: Das achtzehnte gab (18 Bde. bis 1805). 1805 heiratete er Jh. 33 (2009), 1, S. 42–59. Hartmut Steinecke / Red. die Schriftstellerin Karoline Müchler, geb. Stosch. Vor den frz. Heeren floh er nach Breslau u. 1813 nach Prag. Woltmann, Karoline von, geb. Stosch, W.s historiografisches Werk umfasst v. a. auch: Luise Berg, * 6.3.1782 Berlin, Schriften zur Geschichte Deutschlands, † 18.11.1847 Berlin. – Erzählerin, LyriFrankreichs u. Englands; am bekanntesten kerin, Historikerin, Herausgeberin, Überwurde seine Geschichte des Westphälischen Friesetzerin. dens (2 Tle., Lpz. 1808/1809). Goethe u. Schiller korrespondierten über W.s Einleitung Nach nur fünf Ehejahren 1804 von dem zur älteren Menschengeschichte (Tl. 1, Jena 1797). preuß. Kriegsrat u. Schriftsteller Carl FriedW.s literar. Ambitionen u. die Subjektivität rich Müchler geschieden, heiratete die in seiner Sichtweise begrenzen die wissen- Berlin lebende Arzttochter 1805 den Diploschaftl. Bedeutung dieser Arbeiten. maten, Historiker u. Schriftsteller Karl LudDie Goethe wenig erfolgreich nachahmen- wig Woltmann. Im selben Jahr flohen beide den Gedichte W.s sind ebenso wie zwei frühe vor den frz. Truppen nach Breslau, 1813 nach

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Prag (Böhmen). Seit 1817 verwitwet, kehrte W. 1826 nach Berlin zurück. In ihrem unter dem Decknamen Luise Berg veröffentlichten Erstlingswerk Euphrosyne (Bln. 1804) idealisiert W. die weibl. Liebe, löst sie aus den Fesseln der Fixierung auf die Paarbeziehung u. fasst sie als evolutionäre Kraft. Ihr Mann riet zur Überarbeitung. Heloise, ein kleiner Roman (Bln. 1809) erschien anonym u. mit einem Vorwort ihres inzwischen geadelten Mannes herausgegeben, doch blieb der erhoffte Erfolg aus – ein lebenslanges Problem der Autorin, was deren Freundin Therese Huber in der Dunkelheit ihres Stils begründet sah. Von den äußeren Bedingungen idealer weibl. Selbstvervollkommnung handelt der Aufsatz Leben und Geist der Frau von Sévigné aus dem Zeitalter Ludwigs des Vierzehnten, der, mit ihrem Ehenamen gekennzeichnet, 1805 in der von ihrem Mann in Berlin gegründeten Zeitschrift »Geschichte und Politik« (Bd. 2, S. 211–273) erschien. Es folgten weitere histor. Biografien, so im fünften Band der Schriften von Karl und Karoline Woltmann (Bln. 1807) die wohl gemeinsam verfassten Leben der Margarete von Anjou u. des Albrecht von Wallenstein. Die beidseitig als beglückend empfundene fortdauernde geistige Zusammenarbeit thematisiert W. 1818 im Nachtrag zur Selbstbiographie ihres Mannes (Karl Ludwig von Woltmann’s Sämmtliche Werke, Bd. 1, S. 91–162). In Breslau vollendete W. ihr einziges Drama, Orlando. Ein Trauerspiel (Prag/Lpz. 1815). Dynastische Auseinandersetzungen in einer ital. Hochadelsfamilie führen zu Gewaltszenarien, die ihren Endpunkt in Tod u. Untergang finden. Im Jan. 1813 übersandte ihr Mann das unter dem Eindruck der napoleonischen Eroberungskriege entstandene Stück Goethe, dem es für das Weimarer Theater ungeeignet erschien. Die geplante Uraufführung am Berliner Nationaltheater kam nicht zustande, da der als Regisseur u. Schauspieler gewonnene August Wilhelm Iffland im Sept. 1814 verstarb. Die Prager Jahre seit 1813 waren überschattet von Krankheit – ihr Mann litt an Gicht, die ihn am Schreiben hinderte – u. den Publikationsprojekten, die er ihr diktierte. Vom Verlag F. A. Brockhaus, einem geistigen

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Anziehungspunkt des liberalen Bürgertums, wegen ihrer guten Englischkenntnisse offenbar gezielt angeworben, profilierte die 32Jährige sich als Übersetzerin; ihre Zusammenarbeit mit dem Leipziger Großverleger begann 1814 mit zwei Werken von Maria Edgeworth (Denkwürdigkeiten des Grafen von Glenthron; Schleichkünste) für die Reihe »Bibliothek neuer englischer Romane«, an der auch Henriette Schubart mitwirkte, u. endete 1820 mit den Geschichten für junge Frauen von Jean-Nicolas Bouilly. In den einerseits romantisierenden, andererseits lokale u. nationale Eigentümlichkeiten detailgenau beschreibenden Sagenadaptionen Volkssagen der Böhmen (2 Tle., Prag 1815) greift W. u. a. das Problem der gesellschaftl. Gewalt auf. Zwar waren die Sagenbände von 1815, 1821 (neu aufgelegt 1832) u. 1835 (mit der Sage Die weiße Frau) pekuniär nicht ergiebig genug, um eine dauerhafte verlegerische Geschäftsbeziehung entstehen zu lassen, das Interesse der Hamburger Verlagsbuchhandlung Hoffmann und Campe an der Autorin, welches diese in die Nähe zu rebellischen Autoren wie Heine rückte, war jedoch im Nachhinein betrachtet ein Achtungserfolg. 1818 erschien in Leipzig bei Friedrich Fleischer der erste Band der von ihr besorgten Gesamtausgabe ihres im Vorjahr verstorbenen Mannes. Wegen der geringen Nachfrage reduzierte sie die auf 33 Bände angelegten Sämmtlichen Werke, die auch Schriften von ihr selbst enthalten, bis 1827 auf eine 14-bändige Ausgabe. Hier wie in den 1834 von Fleischer verlegten Deutschen Briefen (u. a. Goethe, Karl Ludwig von Woltmann, Gerhard Anton von Halem, Karl August Varnhagen von Ense, Therese Huber) setzte sie sich für die späte Anerkennung ihres Mannes ein, im Briefband darüber hinaus für das Recht der Frauen auf wechselseitige Anerkennung. In der Regel sind die Briefe gekürzt. Waren für W.s Lyrik Klopstock u. Goethe von maßgebl. Bedeutung, so für ihren zweiten Roman Schiller. Einen von diesem nicht mehr ausgeführten kompositorischen Plan umsetzend, verkettete sie »die Begebenheiten und Figuren [...] durch einen geheimen Bund« (Tl. 1, S. II), der sich gebildet hatte, um das Ideal einer nationen- u. ständeeinenden Vervollkommnung

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der Menschheit zu verwirklichen. Maria und Walpurgis. Ein Roman (2 Tle., Lpz. 1817/18) übt in verschlüsselter Form Kritik an der Restaurationszeit. 1820 war W. mit der Chefredakteurin des Cotta’schen »Morgenblatts«, Therese Huber, bekannt geworden, u. führte mit dieser nachweislich bis 1827 einen Briefwechsel. Der Freundin berichtete sie von den Eingriffen der Zensur in ihre philosophisch u. historisch fundierte pädagog. Abhandlung Ueber Natur, Bestimmung, Tugend und Bildung der Frauen (Wien 1826). Fragmente des Textes waren 1823 im »Kranz« erschienen. Ihre Redaktionstätigkeit für diese Prager Literaturzeitschrift gab sie 1824 vorzeitig auf. Um diese Zeit verfasste sie im Auftrag des Hartleben-Verlags ein für Frauen bestimmtes Anstandsbuch. Der Spiegel der großen Welt und ihrer Forderungen (Pesth/Lpz. 1824) bildet das Gegenstück zu Gottfried Immanuel Wenzels Anstandsbuch Mann von Welt (1801. 131872), gleichfalls ein Hartleben’sches Verlagsprodukt. Neben dem bis dahin vorliegenden literarisch-histor. u. populärwissenschaftl. Repertoire wird ihr Spätwerk erweitert durch eine Novelle, eine Reisebeschreibung – 1832 brach W. zu einer Reise nach Italien auf – u. eine naturwissenschaftl. Abhandlung. Das vielseitige monografische Gesamtwerk W.s ist bisher nicht zusammenhängend erforscht worden; ebenso wenig sind ihre unselbstständig erschienenen Veröffentlichungen, ihre Briefe sowie die Reaktionen auf ihre Werke erschöpfend dokumentiert. In das heutige Gedächtnis hat sich ihre 1843 geäußerte Prophezeiung »Hölderlin wird aufsteigen am literarischen Himmel Deutschlands wie ein Stern« eingeschrieben. Alexander Jung, Verfasser der ersten Hölderlin-Monografie, würdigte ihr Verdienst, »ihrem Geschlechte ein weiteres Gebiet der Cultur zuzuweisen als man ihm noch so häufig zugestehen will« (Blätter für literarische Unterhaltung 1849, S. 718). Jung war es auch, der den literarhistor. Wert von W.s Briefen erkannte. Das literaturwissenschaftl. Interesse neueren Datums konzentriert sich auf ausgewählte Romane, Erzählungen u. Sagen, wobei die polit. Selbstverortung der Autorin u. ihre Haltung zur Tradition im Vorder-

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grund stehen. Auf ihre Bedeutung als Zeitzeugin, Historikerin u. Bildungstheoretikerin wurde erst in jüngster Zeit hingewiesen. Ihre polit. Ideale weisen sie als konservative Revolutionärin aus. Weitere Werke: Schr.en v. Karl u. Karoline W. 5 Bde., Bln. 1806/1807 (E.en, G.e, Lebensbeschreibungen). – Histor. Darstellungen zu mehr individueller Kenntniß der Zeiten u. Personen. Halberst. 1820. – Neue Volkssagen der Böhmen. Halberst. 1821. Neuausg. u. d. T. Die weiße Frau. Die Eiche des starken Ritters. Zwei böhm. Volkssagen. Lpz. 1835. – Die weißen Hüthe. Eine histor. Darstellung aus dem MA. Halberst. 1822 (nach der Chronik von Jean Froissart). Neuausg. u. d. T. Der siebenjährige Kampf der Stadt Gent wider den letzten Grafen v. Flandern. Ein Roman ohne Liebesintrigen. Lpz. 1835. – Die Bildhauer. 2 Tle., Bln. 1829 (R.). – Das Erbe. 3 Tle., Gera 1832 (N.). – Der Ultra u. der Liberale u. die weiße Frau. Ausgew. Erzählungen. Hbg. 1832. – Menschen u. Gegenden. 2 Bde., Breslau 1835. – Das Lebensgesetz, die Formen u. der gesetzl. Zusammenhang des Lebens. Bln. 1842. – Heinrich der Erste. Die Rache der Elfen (zus. mit Karl Ludwig v. Woltmann). New York [um 1853]. Literatur: Carl Wilhelm Otto August v. Schindel: Die dt. Schriftstellerinnen des neunzehnten Jh. 3 Tle., Lpz. 1823–25, Tl. 2, S. 452–457, Tl. 3, S. 243. – NND 25 (1847), Tl. 2, S. 710–714. – Max Mendheim: K. v. W. In: ADB. – Alfred Estermann: Die dt. Lit.-Ztschr.en 1815–1850. Bd. 3, Nendeln 1977, S. 104–107. – Elisabeth Friedrichs: Die deutschsprachigen Schriftstellerinnen des 18. u. 19. Jh. Ein Lexikon. Stgt. 1981, S. 343. – Hartmut Vollmer: Der deutschsprachige Roman 1815–1820. Bestand, Entwicklungen, Gattungen, Rolle u. Bedeutung in der Lit. u. in der Zeit. Mchn. 1993, S. 148–159. – Todd Kontje: Nationalism or Cosmopolitism? In: Carleton Germanic Papers 24 (1996), S. 93–108. – Ders.: Women, the Novel, and the German Nation 1771–1871. Domestic Fiction in the Fatherland. Cambridge 1998, S. 114–122. – Margret Friedrich: ›Ein Paradies ist uns verschlossen ...‹. Zur Gesch. der schul. Mädchenerziehung in Österr. im ›langen‹ 19. Jh. Wien u. a. 1999, S. 326–330. – Brigitte Leuschner (Hg.): Der Briefw. zwischen Therese Huber (1764–1829) u. K. v. W. (1782–1847). Ein Diskurs über Schreiben u. Leben. Mchn. 1999. – Irmgard Scheitler: Gattung u. Geschlecht. Reisebeschreibungen dt. Frauen 1780–1850. Tüb. 1999. – Sabine v. Mering: Marriage – a Tragedy: German Women Dramatists and the Politics of Genre. In: Seminar. A Journal of Germanic Studies 38 (2002), S. 332–343. – Angelika Epple: Empfindsame Geschichtsschreibung. Eine

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Geschlechtergesch. der Historiographie zwischen Aufklärung u. Historismus. Köln u. a. 2003, S. 346–363. – Gudrun Loster-Schneider u. Gaby Pailer (Hg.): Lexikon deutschsprachiger Epik u. Dramatik v. Autorinnen (1730–1900). Tüb. u. a. 2006, S. 465–469. – Claudia Hauser: Politiken des Wahnsinns. Weibl. Psychopathologie in Texten dt. Autorinnen zwischen Spätaufklärung u. Fin de siècle. Hildesh. u. a. 2007, S. 155–175. Sabine Koloch

Wolzogen, Caroline Freifrau von, geb. von Lengefeld, * 3.2.1763 Rudolstadt, † 11.1. 1847 Jena; Grabstätte: ebd., Alter Friedhof. – Erzählerin, Biografin Schillers. W. wuchs als Tochter eines Rudolstädtischen Hofbeamten in einer fromm-gebildeten Atmosphäre auf. Zu den Lebensumständen, die dazu beitrugen, dass sie im literar. Leben ihrer Zeit hervortrat, gehören Beziehungen ihrer Familie zum Musenhof Anna Amalias, vornehmlich aber eine enge Freundschaft mit Schiller. Der Grund dazu wurde gelegt, als dieser den Sommer 1788 über in dem Dörfchen Volkstedt bei Rudolstadt wohnte u. fast täglich mit W. u. ihrer um drei Jahre jüngeren Schwester Lotte zusammenkam. Durch Lottes Heirat mit Schiller (1790) wurde sie dessen Schwägerin. Seit 1797, nach der Scheidung einer unglückl. Konvenienzehe mit dem Rudolstädtischen Hofrichter Friedrich von Beulwitz, ihrer Vermählung mit Schillers Jugendfreund Wilhelm von Wolzogen u. dessen Anstellung als Sachsen-Weimarischer Kammerherr, lebte W. in Weimar. Ihr Haus wurde eines der Zentren des geistigen u. gesellschaftl. Lebens der Stadt. Nach dem Tod der ihr am nächsten stehenden Menschen – auf Schiller folgten ihr Mann, ihre Schwester u. ihr einziger Sohn – schränkte sie ihr Engagement mehr u. mehr ein u. zog sich 1825 nach Jena zurück, wo sie ein stilles, zunehmend durch schwärmerische Gläubigkeit bestimmtes Leben führte. Das Ansehen W.s als Schriftstellerin beruht im Wesentlichen auf einem einzigen Werk, dem Roman Agnes von Lilien, der 1796/97 in Schillers Zeitschrift »Die Horen« erschien (Buchausg. Bln. 1798). Die Geschichte eines Mädchens von reinem Gemüt, dem es gelingt, sich allen Versuchungen einer von Libertina-

ge gezeichneten Gesellschaft zu widersetzen, steht der Sprache nach der Empfindsamkeit, der inneren Ausrichtung nach der Weimarer Klassik nahe. Beim zeitgenöss. Publikum fand der anonym herausgekommene Roman zustimmende Aufnahme. Friedrich Schlegel hielt Goethe für den Verfasser. Aber bereits die jüngeren Romantiker betrachteten den Stil W.s als steril, u. das Interesse an dem Werk erlosch. Entmutigt durch solche Reaktion, führte W. von vielen poetischen Plänen nur noch wenige Erzählungen aus. In deren Heldinnen erkennt man empfindsame u. allem Schönen zugetane, der realen Welt jedoch mit Unverständnis begegnende Schwestern Agnes von Liliens. Das einzige Werk, mit dem W. noch einmal Beachtung fand, wurde ihre Darstellung von Schillers Leben, verfaßt aus Erinnerungen der Familie [...] (Stgt. 1830. 131940). In der Absicht, den bis dahin recht spekulativ ausgerichteten Biografien Schillers mit authent. Zeugnissen entgegenzutreten, gestaltete sie der Form nach einen chronolog. Bericht, der Sache nach das Bild des begnadeten Dichters, der immer die höchsten Ideale verfolgt habe. Sein Leben sei als eine zwar unwiederbringlich dahingegangene, durch ihre anspornende Kraft jedoch nach wie vor wirksame Blütezeit des dt. Geistes zu verstehen. Die stärkste Resonanz fand das Werk in der Zeit der Schillerbegeisterung zwischen Vormärz u. Reichsgründung. In den Kreisen des Bildungsbürgertums wurde es als Hausbuch gelesen. Der Literarische Nachlaß der Frau Caroline von Wolzogen (Lpz. 1848/49. 21867), im Wesentlichen eine Auswahl aus den Briefen, die W. empfangen hatte, gewann nachhaltige Wirkung durch die Vorrede des Herausgebers Karl Hase, in dem von Schillers Verhältnis zu W. u. ihrer Schwester zum ersten Mal als von einer »nicht geteilten, aber zwiefachen« Liebe gesprochen wird. Mit einem solchen Urteil wurde der Grund gelegt für das in der popularisierenden Schillerliteratur vielfach vorgetragene Konzept einer »Doppelliebe« des Dichters: Er habe sich zu beiden Schwestern in gleichem Maße hingezogen gefühlt u. schließlich Lotte deshalb gewählt, weil nur mit ihr, nicht mit der durch eine unglückl. Ehe gebundenen Caroline, eine

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Lebensgemeinschaft möglich schien. Moderne Biografen erkennen dagegen in den überlieferten Zeugnissen eine schon früh ausgesprochene Neigung Schillers für Lotte u. sehen ihn so in seiner Wahl zwischen den beiden Schwestern viel entschiedener. Weitere Werke: Ausgaben: Erzählungen v. der Verfasserin der Agnes v. Lilien. 2 Bde., Stgt. 1826/ 27. – Ges. Schr.en. Hg. Peter Boerner. 3 Bde., Hildesh. 1988–90 (mit Bibliogr.). – Einzeltitel: Cordelia. 2 Bde., Lpz. 1840 (R.). Literatur: Heinrich Bierbaum: K. v. W. aus ihren Werken u. aus Briefen. Diss. Greifsw. 1909. – Carmen Kahn-Wallerstein: Die Frau im Schatten. Schillers Schwägerin K. v. W. Bern 1970. – Dietlinde Schunk: Die Schriftstellerin K. v. W. u. die Frauenrollen in ihren Romanen u. Erzählungen. Magisterarbeit. Bamberg 1987. – Friederike Fetting: ›Ich fand in mir eine Welt‹. Eine sozial- u. literaturgeschichtl. Untersuchung zur dt. Romanschriftstellerin um 1800. Mchn. 1992. – Christine Theml: ›Größe zu lieben war meine Seligkeit ...‹. Biogr. Skizzen zu C. v. Beulwitz-W. Jena 1996. – Jochen Golz (Hg.): C. v. W. Marbach 1998. – Lesley Sharpe: Female illness and male heroism: the works of C. v. W. In: GLL, N. S. 52 (1999), 2, S. 184–196. – Dies.: ›Wahrheit allein sollte mich leiten‹: C. v. W.’s Schiller biography. In: Publications of the English Goethe Society 68 (1999), S. 70–81. – Janet Besserer Holmgren: ›Die Horen haben jetzo wie es scheint ihr weibliches Zeitalter ...‹: the women writers in Schiller’s ›Horen‹. Berkeley, Calif. 2000. – Kirsten Jüngling u. Brigitte Roßbeck: Schillers Doppelliebe: die LengefeldSchwestern Caroline u. Charlotte. Bln. 2006. – Angelika Schneider: Widersprüche weibl. Selbstentwürfe um 1800: C. v. W.s Roman ›Agnes v. Lilien‹. Sulzbach/Taunus 2009. Peter Boerner / Red.

Wolzogen, Ernst (Ludwig Frhr.) von, * 23.4.1855 Breslau, † 30.7.1934 Puppling bei Wolfratshausen. – Erzähler, Dramatiker, Essayist; Komponist. Der aus Tiroler u. niederösterr. Uradel stammende W. war der Sohn von Alfred u. der Halbbruder Hans von Wolzogens. W. studierte Germanistik, Philosophie u. Biologie in Straßburg u. Leipzig, war 1879–1881 Vorleser des Großherzogs von Sachsen-Weimar, nach der Übersiedlung nach Berlin 1882 zunächst Verlagslektor, dann freier Schriftsteller. Während der anschließenden

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Münchner Zeit 1893–1899 wurde W. zum Wegbereiter moderner literar. Tendenzen: So gründete er mit Ludwig Ganghofer die Münchner Literarische Gesellschaft 1907, die den jungen Hofmannsthal maßgeblich förderte, u. inszenierte im Akademisch-dramatischen Verein Dramen des Naturalismus (u. a. Hauptmanns Die Weber). Der Mitarbeiter des Berliner »Magazins für Litteratur« sowie der Münchner Wochenschrift »Die Gesellschaft« kehrte 1899 nach Berlin zurück u. gründete mit dem »bunten Theater« »Überbrettl« (1901) – der Name spielt auf Nietzsches Übermenschen an – das erste dt. Kabarett nach dem Vorbild der Pariser Cabarets »Chat Noir« u. »Le Mirliton«. Die Absicht, einer popularisierten Kunst den Weg zu ebnen, sich in einem »schönen Sinne gemein zu machen« (Das Überbrettl. In: Ansichten und Aussichten. Ein Erntebuch. Bln. 1908), konnte den baldigen Misserfolg (1903) der Unternehmung nicht verhindern, der v. a. auf eigene geschäftl. Fehlentscheidungen zurückzuführen ist. W. zog sich 1905 nach Darmstadt zurück. Nach dem Ersten Weltkrieg radikalisierte sich sein latenter Antisemitismus. W., der als freier Schriftsteller in Puppling lebte, veröffentlichte rassistische Schriften im Hammer-Verlag des völk. Publizisten Theodor Fritsch, einen antisemitischen Roman (Sem, der Mitbürger. Bln. 1924) u. eine DramenTrilogie Der Weg des Kreuzes (1914–26), die für ein germanisiertes Christentum warb. Finanzielle Schwierigkeiten u. die Ablehnung seiner Stücke an den dt. Theatern führten zu einer immer stärkeren Annäherung an den Nationalsozialismus, der seine späten Schriften u. Stücke förderte. W. repräsentierte sowohl in seinem Lebenswandel zwischen Boheme u. provinzieller Zurückgezogenheit als auch in seinem umfangreichen literar. u. publizistischen Werk wesentl. Züge der dt. Moderne wie den Willen zu konservativer Beharrung. Während seiner Berliner u. Münchner Zeit stand er in engem Kontakt zu den meisten Künstlern der Avantgarde u. versuchte, die moderne Literatur in Deutschland bekannt zu machen u. neue Formen – auch durch eigene Vertonungen (Kabarett, »Brettllieder«, etwa in Bierbaums Sammlung Deutsche Chansons von

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1900) – zu erproben. In seiner eigenen literar. mich ums Leben brachte. Erinnerungen und Erfahrungen (Braunschw. 1922) distanzierte W. Produktion blieb er konventionell. Wegen ihrer treffenden Milieuschilderung sich von seinem größten Erfolg, der Populau. moderaten iron. Zeitkritik erfolgreich wa- risierung des Kabaretts, das er nun als unren die Lustspiele, Novellen u. Romane, die deutsch wertete. Mit Erfolg schrieb W. auch Biografien (GeW. in der Aristokratie u. der Boheme ansiedelte. Häufig entwickelte er Motive u. Figu- orge Eliot u. Wilkie Collins. Beide Lpz. 1885) u. ren aus intimer privater Kenntnis, wie in der Singspiele (Feuersnot. Ein Sinngedicht in einem Tragikomödie Das Lumpengesindel (Bln. 1892) Akt. Bln. 1901; Musik von Richard Strauss). – hier wird die Berliner Boheme um die Literatur: Ernst König: Das Überbrettl E. v. Brüder Hart humoristisch gezeichnet –, dem W.s u. die Berliner Überbrettlbewegung. Diss. Kiel Berliner Sittenbild Die kühle Blonde (2 Bde., 1956. – Hans-Peter Bayerdörfer: Überbrettl u. ÜbStgt. 1891) oder dem Musikantenroman Der erdrama. In: Lit. u. Theater im Wilhelmin. ZeitalKraft-Mayr (ebd. 1897. Als Lustsp. Bln. 1906), ter. Hg. ders. u. a. Tüb. 1978. – Peter Jelavich: der die satir. Schilderung der Wagner- u. Berlin Cabaret. Cambridge, Mass. u.a. 1993. – Morten Kristiansen: Strauss’s first librettist. In: Liszt-Schwärmerei mit scharfer Beobachtung Richard-Strauss-Bl. 59 (2008), S. 75–116. des Milieus der Künstler u. Großbürger verJohannes G. Pankau / Sven Neufert bindet. Mit seinen Gedichtsammlungen Heiteres und Weiteres (Stgt. 1886), Geschichten von lieben, süßen Mädeln (Bln. 1898), Vom Peperl und Wolzogen, Hans (Paul Frhr.) von, * 13.11. anderen Raritäten (Mchn. 1898) bekannte sich 1848 Potsdam, † 2.6.1938 Bayreuth; W. zur Unterhaltungsliteratur, die er auch in Grabstätte: ebd., Friedhof St. Georgen. – seinen literaturkrit. Arbeiten verteidigte Musikschriftsteller, Übersetzer u. Redak(Theatralische Probleme. In: Ansichten und Austeur; Verfasser von Dramen u. Lustspiesichten). Als beschaul. Humorist zeigte er sich len. in seiner freigeistigen Novelle Die Gloriahose (Stgt. 1897), in der komische Wirkung aus der Der Sohn des Lustspieldichters u. späteren Begegnung eines gutmütig-einfältigen Schweriner Hoftheaterintendanten Alfred Landgeistlichen mit dem ihn kontrollieren- von Wolzogen, Enkel des Architekten Karl den Superintendenten gewonnen wird. Vom Friedrich Schinkel u. Großneffe Caroline von Gespür für effektvolle Behandlung aktueller Wolzogens wuchs in der geistigen Tradition Themen zeugt der zwischen 1899 u. 1930 Schillers u. des Klassizismus Schinkels auf. mehrmals aufgelegte Schlüsselroman Das Tief beeindruckt von Wagners Tannhäuser u. dritte Geschlecht (Bln. 1899, Gesamtauflage: den Meistersingern, bemühte sich W. nach dem 125.000), eine ironisch-distanzierte, dabei Studium der vergleichenden Sprachwissenklischeehafte u. von patriarchal. Denken ge- schaft, Mythologie u. Geschichte in Berlin prägte Auseinandersetzung mit der Frauen- bald um den Kontakt zu Wagner, der ihn emanzipation, in dem neben dem Autor 1877 zum Redakteur der Vierteljahresschrift selbst bekannte Figuren der Münchner Bo- »Bayreuther Blätter« berief. W. zog mit seiheme (Anita Augspurg, Franziska zu Re- ner Frau Mathilde (geb. von Schoeler) in die ventlow) erscheinen. W. warb nach dem Ers- unmittelbare Nachbarschaft zu Haus Wahnten Weltkrieg unermüdlich für einen neuen fried u. wirkte als Herausgeber der »Bayreu»deutschen Glauben« (Wegweiser zu deutschem ther Blätter« bis zu seinem Tod. Glauben. Oranienburg-Eden 1919), dessen Zu Wagners Lebzeiten trat W. mit einer Propagierung auch sein literar. Spätwerk Reihe von Abhandlungen zum Verständnis dient. Die freigeistige Autoritätskritik der des Wagner’schen Œuvres hervor: Er verJahrhundertwende schlug in eine völkisch- fasste zum Ring, zum Parsifal u. zu Tristan und antisemitische Kritik am Christentum um, Isolde den Thematischen Leitfaden (Lpz. deren Wirkkreis allerdings eng begrenzt war. 1876–85), der in Stoff- u. Motivwelt der In seiner von der Verbitterung der Nach- Wagner’schen Musikdramen einführt u. die kriegszeit gezeichneten Autobiografie Wie ich wichtigsten musikal. Themen vorstellt (der

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von Wagner nicht akzeptierte Begriff des »Leitmotivs« soll von W. stammen). Nach Wagners Tod widmete sich W. verstärkt der Kanonisierung der Wagner’schen Gedankenwelt, die er antisemitisch u. nationalistisch sowie betont christlich-idealistisch interpretierte. Als Autoren der »Bayreuther Blätter«, die Wagner als Diskussionsforum seiner ästhetischen u. polit. Ideen ins Leben gerufen hatte, duldete er nur noch Mitarbeiter, die dieser Geisteshaltung entsprachen. W. hatte damit maßgebl. Anteil an der ideolog. Verhärtung des Bayreuther Kreises sowie an der Verbreitung einer einseitigen Wagner-Interpretation, die dem Ansehen des Wagner’schen Œuvres geschadet u. seinen Missbrauch durch den Nationalsozialismus vorbereitet hat. Weitere Werke: Dichtungen: Wohltäterin Musik. Regensb. 1925. – Heitere Spiele. 3 Bde., Lpz. 1932. – Ernste Spiele. 3 Bde., ebd. 1932/33. – Übersetzungen: Euripides: Die Bakchantinnen. Ebd. [1877]. – Aischylos: Werke. 7 Bde., ebd. 1878. – Schriften: Die Sprache in Richard Wagners Dichtungen. Ebd. 1878. – Erinnerungen an Richard Wagner. Wien 1883. Erw. Lpz. 1891. – Wagneriana. Lpz. 1888. – Aus Richard Wagners Geisteswelt. Ebd. 1908. Literatur: Erik Böhm: H. v. W. als Hg. der Bayreuther Blätter. Diss. Mchn. 1943. – Winfried Schüler: Der Bayreuther Kreis v. seiner Entstehung bis zum Ausgang der wilhelmin. Ära. Münster 1971. – Peter Rümenapp: H. v. W. u. Gottlieb Federlein. Zwei Leitmotivexegeten des Ring des Nibelungen. In: Acta musicologica 69 (1997), 2, S. 120–133. – Karl Zaenker: ›Der Jude im Dorn‹ als Fastnachtspiel des Wagnerianers H. v. W. In: Seminar 38 (2002), 3, S. 209–225. Ulrike Kienzle / Red.

Wondratschek, Wolf, * 14.8.1943 Rudolstadt/Thüringen. – Lyriker, Erzähler, Autor von Hörspielen, Drehbüchern, Essays u. Reportagen. W. begann Mitte der 1960er Jahre zu publizieren. Erste Gedichte erschienen 1965 in Arnfrid Astels Lyrischen Heften, als W. noch Literaturwissenschaft, Philosophie u. Soziologie in Heidelberg, Göttingen u. Frankfurt/ M. studierte, wo er u. a. Vorlesungen von Gadamer, Löwith u. Adorno hörte. Seit dem

Abbruch des Studiums (1967) lebt er als freier Schriftsteller zunächst in Frankfurt, später längere Zeit in München u. seit Mitte der 1990er Jahre in Wien. Für sein Gedicht Als Alfred Jarry merkte, daß seine Mutter eine Jungfrau war besteigt er sein Fahrrad erhielt er 1968 den Leonce-und-Lena-Preis, für sein experimentelles »Neues Hörspiel« Paul oder die Zerstörung eines Hörbeispiels 1970 den Hörspielpreis der Kriegsblinden. Bekannt wurde W. mit seinen beiden ersten Buchveröffentlichungen Früher begann der Tag mit einer Schußwunde (Mchn. 1969) u. Ein Bauer zeugt mit einer Bäuerin einen Bauernjungen, der unbedingt Knecht werden will (Mchn. 1970). Gemäß den zahlreichen in den Bänden verstreuten poetolog. Selbstaussagen (»Nur die Sätze zählen. Die Geschichten machen keinen Spaß mehr«, »Jeder Satz ist auch ein Satz über die Geringfügigkeit jener letzten bürgerlichen Extravaganzen, die man Geschichten nennt«) u. unter Bezugnahme auf Vorbilder wie William S. Burroughs versucht sich W. mit seiner frühen, zwischen Gesellschaftskritik, polit. Engagement u. Pop-Literatur angesiedelten lakon. Kurzprosa von traditionellen Erzählprinzipien zu emanzipieren u. trifft damit den Nerv einer Generation zwischen Protestbewegung u. Subkultur. Mit den vier nach einer bewussten Abkehr vom konventionellen Literaturbetrieb im Selbstverlag herausgebrachten u. über den Versand Zweitausendeins vertriebenen Gedichtbänden Chuck’s Zimmer (Ffm. 1974), Das leise Lachen am Ohr eines andern (Ffm. 1976), Männer und Frauen (Ffm. 1978) u. Letzte Gedichte (Ffm. 1980) gelang W. in den 1970er Jahren der kommerzielle Durchbruch. Bis zum Ende des Jahrzehnts wurden insg. weit über 100.000 Exemplare verkauft u. W. durch den Erfolg zum populären »Kultautor«, »Pop-Lyriker« u. »Rockpoeten«. Seine Gedichte u. Lieder (anfangs noch häufig in einfacher Strophenform, mit Reimen u. Refrains) sind geprägt von einer »Durchmischung von Hohem und Niederem« (W.), Alltäglichem u. Ausgefallenem, Schlichtem u. Elaboriertem, Slang u. Pathos. Von Teilen der Kritik wird dem Autor dabei die vermeintlich kalkulierte, auf leichte Konsumierbarkeit u. Breitenwirksamkeit abzielende Simplizität

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der Texte vorgeworfen. Andere wiederum sehen in W. schon früh einen »Klassiker der jungen Generation« (Marcel Reich-Ranicki). Der literar. Erfolg ermöglichte W. ausgedehnte Reisen, auf denen (im Geiste Truman Capotes) unzählige Reportagen u. Stories entstanden (u. a. über John Huston, Nelson Algren, Charles Bukowski, Malcolm Lowry, New York City, Miami Beach u. Mexiko), die u. d. T. Menschen Orte Fäuste (Zürich 1987) u. später um einige neuere Texte erweitert als Die weißen Jahre (Mchn. 2007) gesammelt in Buchform erscheinen. Im Verlauf der 1980er Jahre u. bis in die frühen 1990er steigerte sich kontinuierlich die Ablehnung durch die Literaturkritik. Die beiden Lyrikbände Die Einsamkeit der Männer. Mexikanische Sonette (Lowry-Lieder) (Zürich 1983) u. Carmen oder Bin ich das Arschloch der achtziger Jahre (Zürich 1986), wurden überwiegend ebenso negativ aufgenommen wie der umfangreiche dokumentarische Roman Einer von der Straße (Mchn. 1991) über das Leben des Münchner Rotlicht-Millionärs Gustav »Johnny« Berger alias Walter Staudinger. »Endgültig und fast mutwillig« habe W. seinen »künstlerischen Kredit« verspielt (O. F. Riewoldt). Seinen Ruf als »Macho vom Dienst« (Patrick Süskind) u. Halbwelt-Dichter wurde er nie wieder richtig los. Trotzdem gelang W. um die Jahrtausendwende ein beachtliches literar. Comeback. Nach dem Umzug nach Wien, einigen kleineren Gedichtveröffentlichungen u. dem gemeinsam mit der Künstlerin Lilo Rinkens entstandenen Briefroman Kelly-Briefe (Mchn. 1998), erscheinen seine Bücher seit 2001 (wie schon zu Beginn seiner Karriere) erneut im Hanser Verlag – begleitet von wieder zunehmendem Wohlwollen des Feuilletons. Sein viel beachteter Erzählungsband Die große Beleidigung (Mchn. 2001) versammelt vier motivisch u. assoziativ eng verflochtene Geschichten über gescheiterte u. scheiternde Künstlerexistenzen. Im Prosaband Mozarts Friseur (Mchn. 2002) wird ein Wiener Friseursalon zum märchenhaften, der Zeit scheinbar entrückten Treffpunkt einer illustren Reihe von Figuren (Künstlern, Nomaden, Matrosen, Punks, aber auch Berühmtheiten wie Wolfgang Amadeus Mozart oder

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Thomas Bernhard) u. zum Zentrum unzähliger Geschichten u. Anekdoten. In vielen Texten dieser Zeit stehen die Themen Kunst u. Musik im Mittelpunkt. So auch in der Erzählung Mara (Mchn. 2003), in der ein berühmtes Stradivari-Violoncello – einem Kunstgriff des Autors gemäß – zum iron. IchErzähler der eigenen, beinahe dreihundertjährigen Lebensgeschichte wird. Dem Wechsel seiner vielen Besitzer folgend, erzählt das Mara in dieser »Liebeserklärung an die Kunst« (Fritz J. Raddatz) von Reisen u. Konzerten, künstlerischen Erfolgen u. Krisen, Liebesgeschichten u. Katastrophen. Parallel zu den neuen Büchern veröffentlichte W. im Verlauf eines überaus produktiven Jahrzehnts auch eine Neuedition seines bisherigen literar. Werks, darunter die gesammelten Texte über das Boxen, Im Dickicht der Fäuste (Mchn. 2005), sowie einige bis dahin nur verstreut erschienene Gedichte u. Gedichtzyklen (Tabori in Fuschl. Mchn. 2006. Lied von der Liebe. Mchn. 2008). Mit Das Geschenk (Mchn. 2011) knüpft W. wieder direkt an das eigene (lyrische) Frühwerk an. Nach fast vierzig Jahren macht er Chuck, den nunmehr gealterten u. unverhofft Vater gewordenen Helden seines ersten Gedichtbands Chuck’s Zimmer, zur Hauptfigur eines zum Teil autobiografisch gefärbten, zwischen Komik, Selbstironie u. Melancholie oszillierenden Romans. Weitere Werke: Paul oder die Zerstörung eines Hörbeispiels. Hörsp.e. Mchn. 1971. – Die Hundente (zus. mit Bernd Brummbär). Ffm. 1972 (Kinderbuch). – Omnibus. Mchn. 1972. – Maschine Nr. 9 (zus. mit B. Brummbär). Warwick 1973 (Hörsp.). – (Hg.): Mein Lesebuch. Anth. Ffm. 1982. – Die Gedichte. Zürich 1992. – Oktober der Schweine. Ffm. 1993. – Liebesgedichte. Zürich 1997. – Das Mädchen u. der Messerwerfer. Ffm. 1997 (L.). – Orpheus in der Sonne. Vier Gedichtzyklen. Mchn./Wien 2003. – Saint Tropez u. andere Erzählungen. Mchn./Wien 2005. Literatur: Kurt Rothmann: W. W. In: Ders.: Deutschsprachige Schriftsteller seit 1945 in Einzeldarstellungen. Stgt. 1985, S. 399–404. – Patrick Süskind: Romantiker im Irrenhaus. In: Der Spiegel (1998), H. 32, S. 162–165. – Bernhard Kraller: Der glückl. Autor. Versuch, W. W. zu verstehen. In: Wespennest (2002), H. 127, S. 64–68 (Heft mit einem Schwerpunkt zu W., S. 36–81). – Hajo Steinert: W. W. In: LGL. – Otto F. Riewoldt u. Isa

577 Schikorsky: W. W. In: KLG. – Hans. H. Hiebel: W. W. In: Ders.: Das Spektrum der mod. Poesie. Interpr.en deutschsprachige Lyrik 1900–2000 im internat. Kontext der Moderne. Bd. 2, Würzb. 2006, S. 510–523. Wolfgang Reichmann

Wonneberger, Jens, * 3.5.1960 Großröhrsdorf/Sachsen. – Autor v. Romanen, Erzählungen u. Sachbüchern.

Wonnecke

Texte DDR-Erfahrung u. ostdt. Nachwenderealität verarbeiten, erschöpfen sie sich nicht darin; sie reflektieren vielmehr allgemeine Topoi wie Verlust, ungelebtes Leben, unerfüllte Träume, Kommunikationsunfähigkeit u. Isolation. Der Roman Infarkt (Gött. 2004) z.B. verschränkt kunstvoll die Wege von vier Gescheiterten, die, gefangen in ihrem Bewusstseinszimmer, nicht zueinander finden. Mit souveräner Balance von Ironie u. Empathie fängt W. die Perspektive der sog. kleinen Leute ein, in deren Alltag wenig passiert, doch alles rumort. W. erhielt zahlreiche Stipendien, u. a. vom Sächsischen Ministerium für Wissenschaft u. Kunst (1995, 1999, 2002; Literaturförderpreis 2010), von der Kulturstiftung des Freistaats Sachsen (2008) u. vom Deutschen Literaturfonds (2009).

W. wuchs im sächs. Ohorn auf, studierte 1980–1985 an der TU Dresden Bauingenieurwesen u. übte 1986–1991 Gelegenheitsjobs aus. Seit 1992 ist er freier Autor u. Literaturredakteur des Stadtmagazins »SAX«. Seit 2002 gehört er dem Präsidium des dt. P.E.N.-Zentrums an. Während als übergreifendes Thema seiner Werke das Scheitern gelten kann, variiert W. virtuos Dramaturgie u. Sprachstil je nach Weitere Werke: Ohorn. Dresden 1994. 2., Sujet: In der autobiogr. Erzählung Auf der überarb. Aufl. Ebd. 1998 (R.). – Onuphrius. DresReise nach Himmelreich (Dresden 1998) spiegelt den 1994 (E.en). – Dichter, Denker, Literaten aus eine knappe paratakt. Sprache die fehlende sechs Jahrhunderten in Dresden (zus. mit Norbert Kommunikation zweier Vater-Sohn-Bezie- Weiß). Dresden 1997 (Lexikon). – Dresdner Dichhungen; Gefühle werden allein über assozia- terhäuser (zus. mit N. Weiß). Bln. 2002. – Weltfreunde an der Elbe. Eine literar. Begegnung tive Detailschilderungen von Szenerie u. AllDresden – Prag. Dresden 2003 (Sachbuch). – Dichtagshandlungen transportiert. Der vortreffl. terhäuser um Dresden (zus. mit N. Weiß). Bln. Wenderoman Wiesinger. Der Mann mit Hacke 2004. – Dichterhäuser um Leipzig (zus. mit N. und Spaten (Bln. 1999) ist traditionell kom- Weiß). Bln. 2006. – Gegenüber brennt noch Licht. poniert, der Erzählton eingängig, fast heiter. Gött. 2008 (R.). – Dichterhäuser in der Oberlausitz Der Bericht vom Verschwinden eines Toten- (zus. mit N. Weiß). Dresden 2008. – Heimatkunde gräbers, der in der DDR als Außenseiter galt Dresden. Hbg. 2009 (Sachbuch). u. es nach 1989 blieb, weil ihm mit dem Staat Literatur: Bernhard Setzwein: J. W. In: LGL. – der Gegner wegbrach, kommt so als »Schel- Axel Helbig: Enragiertheit im Konjunktiv. In: menroman« daher. Wenn hingegen ein Poetenladen. http://ww0055.site90.net/axel-helSchriftsteller auf der Suche nach dem ersten big-jens-wonneberger.htm. – Ders.: J. W.: Das tägl. Satz wie jeden Morgen Ums Karree (Bln. 2001) Abenteuer des Schreibens. In: Ostragehege Nr. 49 (2008), H. 1, S. 25–34. – Dorothea Dieckmann: läuft, hat sein innerer Monolog den gehetzSorgfältig abgeschrieben. In: NZZ, 19.12.2009. ten Tonfall der Großstadt: voller Ellipsen, Janine Ludwig Anakoluthe, Aposiopesen. In Die Pflaumenallee (Gött. 2006) wiederum gibt der Ich-Erzähler die »Nörgelprosa« (Helbig) des störr. VerlieWonnecke, Johann, auch: J. W. von Caub, rers Bergheimer in indirekter Rede wieder u. J. Dronnecke, J. v. Cuba, J. v. Cube, * um suggeriert so Distanz zu ihm u. seinen Fan1430/35 Kaub, † 1503/1504 Frankfurt/M. tastereien, die doch die eigenen sind. – Kräuterbuchverfasser. Die Miniaturerzählungen Die letzten Mohikaner (Dresden 2003) wurden v. a. dadurch W. wurde 1448 in Köln immatrikuliert. 1451 bekannt, dass eine NZZ-Autorin Formulie- ging er nach Erfurt (Baccalaureus artium rungen daraus in Uwe Tellkamps Roman Der 1453), wo er wohl auch zum Magister der Turm wiederfand, wobei W. auf explizite Medizin promoviert wurde. 1445–1450 war Plagiatsvorwürfe verzichtete. Obwohl W.s W. mutmaßlich als Arzt in Frankfurt/M. tä-

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tig; später wirkte er am Mainzer Hof. 1476 ist pen botanisch-medizin. Lit. des SpätMA. Stgt. W. in Heidelberg am Hof Friedrichs des 2010. Wolf-Dieter Müller-Jahncke Siegreichen nachzuweisen, ehe er am 7.9.1484 die Stadtarztstelle in Frankfurt/M. Worgitzky, Charlotte, * 6.6.1934 Annaeinnahm, die er bis zu seinem Tod innehatte. berg/Erzgebirge. – Erzählerin, SchauEs ist ungesichert, ob W. auch als Kompi- spielerin. lator des 1484 bei Peter Schöffer gedruckten lateinischen Herbarius Moguntinus gelten Nach dem Besuch der Schauspielschule kann, unbestritten war er aber der Text- 1951–1954 in Leipzig war W. zehn Jahre kompilator des ersten deutschsprachigen Schauspielerin, zuletzt am Maxim-GorkiKräuterbuchs Gart der Gesundheit, das 1485 Theater in Ost-Berlin; danach besuchte sie einen von Peter Hacks geleiteten Schreibzirebenfalls bei Peter Schöffer in Mainz erschien kel. 1994–1997 gehörte W. dem Bundesvor(Nachdr. 1966). W. gibt sich selbst im Text stand des Verbandes Deutscher Schriftsteller der Monografie Bolus armenus (Kap. 76) als an. »Meister Johan von Cube« zu erkennen, wird In dem Erzählband Vieräugig oder blind (ebd. aber auch in einem Gerichtsprozess von 1533 1978) bringt W. – zum Teil mit den Stilmitals Urheber genannt. Im Auftrag des Mainzer teln des Fantastischen u. Surrealen (z. B. in Domherrn Bernhard von Breidenbach hatte Karriere abgesagt) – die trotz der offiziellen W. um 1480 mit der Kompilation begonnen, Gleichstellung der Frau in der sozialistischen die er 1482 fertig stellte. Der Text fußt nicht, Gesellschaft herrschenden Probleme u. Bewie früher vermutet, auf lat. Quellen; vielnachteiligungen zur Sprache. Der Roman mehr benutzte W. altdt. Fachtexte, deren Meine ungeborenen Kinder (ebd. 1982) wurde in Identifikation größtenteils noch aussteht. Die der DDR heftig diskutiert. Aus der PerspekPflanzenabbildungen des Gart entstammen tive einer älteren Schauspielerin schildert W. teils der »Circa Instans«-Tradition, teils dem vor dem Hintergrund einer Inszenierung des Codex Berleburg des Bernhard von BreidenAbtreibungsstücks Cyankali von Friedrich bach; weitere Abbildungen werden dem UtWolf die Nöte von Frauen, die sich zur – seit rechter Maler Erhard Reuwich (umstritten) 1972 in der DDR legalen – Abtreibung entoder einem Anonymus zugeschrieben. Die schlossen haben. Auch W.s weitere Bücher Quellen anderer Abbildungen sind unbethematisieren moralische Fragen: die Sterkannt. Nicht zuletzt wegen der Abbildungen behilfe in der Erzählung Heute sterben immer folgten zahlreiche Ausgaben, Bearbeitungen nur die andern (ebd. 1986. DEFA-Film 1990) u. u. Übersetzungen der Erstausgabe; die letzte die Fähigkeit des Menschen zum Frieden im Bearbeitung erschien 1783. Roman Traum vom Möglichen (Bln. 1991). Literatur: Helmut Dolezal: J. v. Cuba. In: NDB. W. gehört zur sog. »dritten Generation« – Reimar Walter Fuchs: Die Mainzer Frühdrucke feministisch engagierter Schriftstellerinnen, mit Buchholzschnitten 1480–1500. In: AGB 2 die erst spät u. gleichsam im Nebenberuf zum (1966), S. 1–129. – Wolf-Dieter Müller-Jahncke: Schreiben gekommen sind. Obgleich W.s ›Deshalben ich solichs angefangen werck unfolkomen ließ‹. In: Dt. Apotheker Ztg. 117 (1977), Bücher beim Publikum großen Anklang fanS. 1663–1671. – Gundolf Keil: ›Gart‹, ›Herbarius‹, den, wurde sie von der offiziellen Kritik ›Hortus‹. In: ›Gelêrter der arzenîe, ouch apotêker‹. kaum wahrgenommen. Beiträge zur Wissenschaftsgesch. FS Willem F. Daems. Hg. G. Keil. Pattensen/Hann. 1982, S. 589–653. – Ders.: J. W. In: VL. – Peter Riethe: Hildegards v. Bingen ›Liber simplicis medicinae‹ im Mainzer ›Gart der Gesundheit‹. In: Sudhoffs Archiv 89 (2005), S. 96–119. – Brigitte Baumann u. Helmut Baumann: Die Mainzer Kräuterbuch-Inkunabeln ›Herbarius Moguntinus‹ (1481), ›Gart der Gesundheit‹ (1485), ›Hortus Sanitatis‹ (1491). Wissenschaftshistor. Untersuchung der drei Prototy-

Weitere Werke: Die Unschuldigen. Bln./DDR 1975 (R.). – Langer Abend. Ffm. 2001 (R.). – Rundfunkfeatures: Drei Besuche u. etwas mehr. Rundfunk der DDR 1972.1973.1974. – Wie wir sein sollten. Berliner Rundfunk 1972. – Die Ungeborenen I. HR 1985. – Die Ungeborenen II. Berliner Rundfunk 1990.

Worringer

579 Literatur: Christel Hildebrandt: Zwölf schreibende Frauen in der DDR. Hbg. 1974. Carola Samlowsky / Red.

Worringer, Wilhelm Robert, * 13.1.1881 Aachen, † 29.3.1965 München; Grabstätte: ebd., Nordfriedhof. – Kunsttheoretiker u. Kunsthistoriker. Der aus kleinbürgerlichem, protestantisch geprägtem Milieu stammende W. – sein Vater war Gastwirt – besuchte seit 1891 das Marzellengymnasium in Köln (Abitur 1901); danach studierte er Germanistik in Freiburg i. Br. u. München sowie Kunstgeschichte in Florenz, Berlin (bei Heinrich Wölfflin) u. München (u. a. bei Theodor Lipps u. Artur Weese). Im Jan. 1907 wurde W. an der Universität Bern von Weese promoviert; im selben Jahr heiratete er die Künstlerin Marta Schmitz. Seine in mehrere Sprachen übersetzte Inauguraldissertation Abstraktion und Einfühlung (Diss.-Druck: Neuwied 1907), ein Beitrag zur Erforschung der psycholog. Entstehungsbedingungen von Kunstformen, ist eines der erfolgreichsten kunsttheoret. Bücher des 20. Jh. u. gilt zgl. als eine der Programmschriften des Expressionismus. 1909 habilitierte sich W., ebenfalls in Bern, mit der Arbeit Formprobleme der Gotik (Mchn. 1911 u. ö.), die er als Anwendung der in seiner Erstlingsschrift entwickelten Grundideen auf das Stilphänomen der Gotik, »den uns nächstliegenden Komplex abstrakter Kunst«, verstand (Abstraktion und Einfühlung. 31911, Vorw., S. VII). In ungesicherten Verhältnissen lebend, lehrte er bis 1914 als Privatdozent in Bern, nach Umhabilitation – u. mit Unterbrechung durch den Kriegsdienst – an der Universität Bonn, wo er 1925 (nach anderer Auskunft 1921) eine nichtbeamtete a. o. Professur erhielt. Zum Wintersemester 1928 erfolgte seine Berufung als Ordinarius für Kunstgeschichte an die Albertus-Universität in Königsberg (gegen den Willen fast der gesamten Philosophischen Fakultät). Aus Protest veröffentlichte W. in der Zeit des Nationalsozialismus nicht (mit Ausnahme einer Rezension eines Grünewald-Buches 1939), hielt jedoch Vorlesungen. Das Kriegsende erlebte er in Berlin. 1946 folgte er einem Ruf

nach Halle (dort von Febr. 1948 bis 1950 Mitgl. im ›Spirituskreis‹, einer 1890 gegründeten neuhumanistischen Gelehrtengemeinschaft), verließ die DDR aber wegen polit. Unstimmigkeiten (u. a. Missbrauch seines Namens zu polit. Zwecken) zum Ende des Sommersemesters 1950; die letzten Jahre seines Lebens verbrachte er in München. W. starb an einem Schlaganfall. Mit Abstraktion u. Einfühlung suchte W. unter (allenfalls begrenzt berechtigter) Berufung auf das Konzept des ›Kunstwollens‹ des Wiener Kunsthistorikers Alois Riegl († 1905) »die Einseitigkeit und die europäisch-klassische Befangenheit unserer üblichen historischen Kunstauffassung und Kunstwertung« zu überwinden (ebd., S. VI). Dafür ging er auf das »Weltgefühl der Völker« zurück u. unterschied zwei gegensätzl. psych. Verhaltensmöglichkeiten des Menschen zur Außenwelt, in denen er die Voraussetzungen eines Einfühlungs- u. eines Abstraktionsdranges sah, die aber beide für W. wiederum nur zwei Gradabstufungen des ihnen gemeinsamen Bedürfnisses nach »Selbstentäusserung« waren. Jenen beiden Trieben ließ er dann je eigene, einander polar entgegensetzte u. gleichermaßen gültige, nämlich »abstrakte« u. »organisch-lebendige« Schönheitswerte entsprechen, die er auf Seiten der geschaffenen Kunstwerke (missverständlich) als »Stil« u. »Naturalismus« bezeichnete. Die Antithese von Abstraktion u. Einfühlung ist nicht im Sinne einer Geschichtsphilosophie der Kunstgeschichte als ein regelmäßiges Anderswerden der Kunst gemeint, sondern als ein Schwanken zwischen stets möglichen u. in diesem Sinn zeitlosen Formen, in dem sich die Gefühlsschwankungen des Menschen zwischen Angst u. Vertrautheit ausdrücken. Die subjektivistische, normativ an »Naturwahrheit«, d. h. an der »sichtbare[n] Oberfläche der Dinge« orientierte Einfühlungsästhetik der Moderne (v. a. Lipps) kritisierte W. durch histor. Begrenzung ihrer Geltung: Sie sei auf weite Teile der Kunstgeschichte gar nicht anwendbar. Die materialistische Theorie der Entstehung des Kunstwerks aus Gebrauchszweck, Rohstoff u. Technik (Gottfried Semper) lehnte er ebenso ab wie die traditionelle Nachahmungslehre. Methodisch plä-

Wower

dierte W. auf der Grundlage eines histor. Erkenntnisskeptizismus mit Nietzsche nachdrücklich für »intuitiv geleitete Spekulationen«: »In den unendlichen Raum der Geschichte hinein bauen wir von dem festen Standpunkt unseres positiven Ichs aus eine erweiterte Erkenntnisfläche durch ideelle Verdoppelung unseres Ichs um seinen Gegensatz« (Formprobleme der Gotik, Einl.). Wo es wie bei Kunst u. Religion um die »lebendige Interpretation« von durch psych. Kräfte geformten Phänomenen gehe, hielt er alles Bemühen um histor. Objektivität nicht nur für naiv u. verfehlt, sondern geradezu für schädlich. Bekannt geworden ist W., dessen Ideen der Kunsthistoriker Paul Frankl insg. etwas »Nebelhaftes« attestierte (zit. Schenk/ Mey¨er, S. 613, Anm. 15), nicht zuletzt durch seine verdinglichende völkerpsycholog. Unterscheidung von »Grundtypen der Menschheit« (»Der primitive Mensch«, »Der klassische Mensch«, »Der gotische Mensch« etc.). Seit Ende der 1980er Jahre ist W. wieder intensiver in den Blickpunkt v. a. der wissenschaftshistor. Forschung gelangt. Weitere Werke: Lucas Cranach. Mchn./Lpz. 1908. – Die altdt. Buchillustration. Ebd. 1912 u. ö. Zuletzt Paderb. 2011. – Künstlerische Zeitfragen. Mchn. 1921. – Die Kölner Bibel. Einf. W. W. Mchn. 1923. – Urs Graf. Die Holzschnitte zur Passion. Einf. W. W. Mchn. 1923. – Die Anfänge der Tafelmalerei. Lpz. 1924. – Dt. Jugend u. östl. Geist. Bonn 1924. – Buch u. Leben des hochberühmten Fabeldichters Aesopi. Einf. W. W. Mchn. 1925. – Byzantinismus u. Gotik. Eine stilgeschichtl. Anregung. In: FS Paul Clemen. Hg. W. W. u. a. Bonn 1926, S. 329–334. – Ägypt. Kunst. Probleme ihrer Wertung. Mchn. 1927. – Griechentum u. Gotik. Vom Weltreich des Hellenismus. Mchn. 1928. – Über den Einfluß der angelsächs. Buchmalerei auf die frühmittelalterl. Monumentalplastik des Kontinents. Halle/S. 1931. – Problematik der Gegenwartskunst. Mchn. 1948. – Fragen u. Gegenfragen. Schr.en zum Kunstproblem. Ebd. 1956. – Nachlass: Archiv für bildende Kunst, German. Nationalmuseum, Nürnberg. Ausgaben: Abstraktion u. Einfühlung. Ein Beitr. zur Stilpsychologie. Mchn. 1908. Verm. 31911. 1948. 1959. Nachw. Hilmar Frank. Lpz./Weimar 1981. Dresden 1996. Hg. Helga Grebing. Einl. Claudia Öhlschläger. Mchn./Paderb. 2007. – Schr.en. Hg. Hannes Böhringer, H. Grebing u. a. 2

580 Bde. u. 1 CD-ROM, Mchn. 2004 (Schr.en in Ausw. u. Vorlesungen u. Vorträge aus dem Nachlass). Literatur: Bibliografie: W. W.: Schr.en, Bd. 2, S. 1411–1422. – Weitere Titel: Neue Beiträge dt. Forschung. FS W. W. Hg. Erich Fidder. Königsb. 1943. – Kitty Zijlmans u. Jos Hoogeveen: Kommunikation über Kunst. Eine Fallstudie zur Entstehungs- u. Rezeptionsgesch. des ›Blauen Reiters‹ u. von W. W.s ›Abstraktion u. Einfühlung‹. Leiden 1988. – Claudia Schaeffer: La théorie abstraction et Einfühlung de W. W. et sa contribution aux concepts des artistes du ›Blauer Reiter‹. Diss. Paris (1993) 1994 (Mikrofiche-Ed.). – Neil H. Donahue: Forms of disruption. Abstraction in modern german prose. Ann Arbor 1993, S. 13–33. – Heinrich L. Nickel: W. W. (1881–1965). In: Die Albertus-Univ. zu Königsberg u. ihre Professoren. Hg. Dietrich Rauschning. Bln. 1995, S. 795–798. – Invisible cathedrals. The expressionist art history of W. W. Hg. N. H. Donahue. University Park, Pa. 1995. – Gunter Witting: Anmerkungen zu einem Kunstgesetz. Arno Holz u. W. W. In: Texte, Bilder, Kontexte [...]. Hg. Ernst Rohmer. Heidelb. 2000, S. 43–61. – W. W.s Kunstgesch. Hg. H. Böhringer u. a. Mchn. 2002. – Philosophisches Denken in Halle. Personen u. Texte. Hg. Günter Schenk u. a. Abt. III, Bd. 4/2, Halle/S. 2004, S. 149–216 (mit Textauszügen). – Helga Grebing: Die Worringers. Bildungsbürgerlichkeit als Lebenssinn. W. u. Marta W. (1881–1965). Bln. 2004 (Biogr.). – Heinrich Dilly: W. W.s hallesche Publikationen. In: 100 Jahre Kunstgesch. an der Martin-Luther-Univ. Halle-Wittenberg. Personen u. Werke. Hg. Wolfgang Schenkluhn. Halle/S. 2004, S. 163–80. – C. Öhlschläger: Abstraktionsdrang. W. W. u. der Geist der Moderne. Mchn. 2005. – G. Schenk u. Regina Mey¨er: Biogr. Studien über die Mitglieder des Professorenzirkels ›Spirituskreis‹. Halle/S. 2007, S. 608–620 u. Register. Reimund B. Sdzuj

Wower, Wowern, Wouwer, Wowerius, Woverius, a Wower, Johann von, * 10.3.1574 Hamburg, † 30.3.1612 Schleswig. – Jurist u. Philologe. Die protestantische Familie der Eltern musste das kath. Antwerpen verlassen u. siedelte nach Hamburg über. Nach dem Besuch der dortigen Gelehrtenschule, des »Johanneums«, wo Werner Rolfinck sen., der Vater des später berühmten Mediziners u. Naturforschers, unterrichtete, studierte W. bis 1590 in Marburg u. seit 1592 in Leiden u. a. bei Janus Gruter, Janus Dousa u. Joseph Scaliger. W.

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vertrat jene um 1600 so häufige Verbindung von Jurisprudenz u. philolog. Kritik. Nach gelehrten Reisen in Frankreich (u. a. nach Paris u. Montpellier) u. Italien (Aufenthalt auch im Rom des gelehrten Papstes Klemens VIII.) scheint er erst gegen 1602 über Prag nach Hamburg zurückgekehrt zu sein; dort sind die meisten seiner philolog. Arbeiten entstanden. Wie manche Philologen u. ›critici‹ um 1600 manövrierte sich W. in eine prekäre Lage zwischen den Loyalitäten: Als kleiner Adliger u. späterer Hofrat stand er zwischen der höf. Sphäre, die keinen Ruhm aber Beamtenpositionen zu vergeben hatte, u. dem Netz der internat. Gelehrtenkommunikation, die um diese Zeit stark (krypto-)kalvinistisch, aber deshalb wenig konfessionell geprägt war; wegen seiner röm. Kontakte, deren er sich rühmte, wurde er als Papist u. Libertiner oder gleich als Atheist verleumdet; von den Lutheranern trennte ihn seine Verbindung zur Religionspolitik der Reformierten; hinzu kamen sein Lebenswandel u. seine langen Reisen nach Westen u. Süden. Seit 1607 amtierte W. als Rat u. Gesandter des Grafen Enno III. von Ostfriesland in Emden, seit 1608 als Schlossverwalter u. Kirchenrat des reformiert erzogenen Fürsten Johann Adolph von Holstein in Gottorf bei Schleswig, wo er, auch gegen die luth. Geistlichkeit, für die Einführung des reformierten Bekenntnisses tätig war u. bereits nach vier Jahren an einer plötzl. Krankheit starb. Alle seine bekannten, mehrfach aufgelegten Schriften, darunter v. a. verschiedene textkrit. u. kommentierte Editionen lat. Klassiker, allen voran eine in Leiden u. Paris gedruckte anspruchsvolle Petronius-Ausgabe, erschienen vor der Übernahme seiner Hofämter in Emden bzw. Schloss Gottorf. Durch einen familiären Konflikt belastet waren die Beziehungen zu den Hamburger Brüdern Heinrich u. Friedrich Lindenbrog, die ebenfalls in Leiden studiert hatten; Heinrich hielt sich mit W. in Paris auf u. war seit 1610 Bibliothekar auf Schloss Gottorf. Einen beachtl. Quellenwert besitzt W.s schon zeitgenössisch viel zitierter Traktat De polymathia von 1604, der 60 Jahre später von dem Leipziger Philosophiehistoriker Jakob Thomasius zusammen mit einer Vorrede u.

Wower

der Biografie W.s durch Geverhart (Eberhard) Elmenhorst noch einmal herausgegeben wurde. Das Buch ist das Fragment eines unvollendet u. ungedruckt gebliebenen Werkes De studiis veterum, u. seine Publikation wurde von viel übler Nachrede begleitet; u. a. wurde W. als Bücherdieb u. des Plagiats des in ganz Europa berühmten reformierten Genfer Philologen Isaac Casaubon verdächtigt, dem er zur Zeit von dessen Professur in Montpellier begegnet war (dazu Kap. I: Dissertatio adversus invidos et calumniatores, ›gegen missgünstige Verleumder‹, u. ausführlich J. Thomasius in seiner Vorrede von 1665). W.s Traktat ist nicht zuletzt durch die Neuausgabe von Thomasius einer der bekanntesten Versuche der Begründung einer polyhistorischen, enzyklopäd. Kritik u. Philologie auf der Linie von G. Budé (1532), Th. Zwinger (1565) oder J. Scaliger u. G. J. Vossius, u. noch vor den Epoche machenden Entwürfen Francis Bacons (Advancement of learning. 1605. Erw. De dignitate et augmentis scientiarum. 1623). Eine Briefsammlung mit einer postumen Schrift W.s über die Bibelinterpretation u. einer Kurzbiografie hat G. Elmenhorst 1618 erneut zum Druck befördert. Mit dem belg. Gelehrten Jan van (den) Wouweren aus Antwerpen, mit dem der Hamburger W. gerne verwechselt wird, war dieser sogar auch persönlich bekannt, wie auch mit Justus Lipsius, der (wahrscheinlich) zusammen mit dem Belgier auf dem u. d. T. Die vier Philosophen bekannten Gruppenbild von Peter Paul Rubens zu sehen ist (neben Rubens’ Bruder Philipp, einem Schüler des Lipsius, u. dem Maler selbst), das auf 1611 datiert ist (Florenz, Palazzo Pitti). Weitere Werke: Themata juris. Marburg 1590. – Hg.: Petronius: Satyricon cum notis [...]. Leiden 1596. Dass. erw. 1604. Amsterd. 1626 (Praefatio de ineptiis criticorum; Widmung an J. Scaliger). – Hg. (zus. mit Petrus Colvius): Caius Sollius Apollinaris Sidonius: Opera [...]. Paris 1598 (Widmung an den Bischof von Montpellier, Komm.). – Hg.: Julius Firmicus Maternus: De errore profanarum religionum. Ad Constantinum et Constantem [...]. Hbg. 1603. Oxford 1678. – Ad Q. Septimi Florentis Tertulliani opera emendationes epidicticae. Ffm. 1603 u. ö. – Panegyricus scriptus [...] principi Christiano IV. Daniae, Norwegiae [...] regi [...]. Hbg. 1603 u. ö. – Hg.: Marcus Minucius Felix: Octavius; u. T. C. Cyprianus: De idolorum vanitate. Hbg. 1603. – De

Wühr polymathia tractatio. Integri operis de studiis veterum apospasmation. (Hbg.) 1603. Internet-Ed. in: HAB Wolfenb. (Hbg.) 1604. Erw. hg. v. Jakob Thomasius. Lpz. 1665 (mit Leservorrede des Hg., Elogia, Register u. synopt. Tabellen v. Joachim Feller u. Kurzbiogr. v. Geverhard Elmenhorst). – Hg.: Lucius Apuleius Madaurensis Platonicus: Opera. Hbg. 1606 (Komm., Biogr.). – Syntagma de graeca et latina bibliorum interpretatione. Hg. G. Elmenhorst. Hbg. 1617. 1618. – Epistolarum centuriae II. Eiusdem syntagma de bibliorum interpretatione cum epistolis clarorum virorum ad Wowerum. Hg. G. Elmenhorst. Hbg. 1618. 1619 (mit Kurzbiogr.). Internet-Ed. in: CAMENA (Abt. CERA). Literatur: Adam Olearius: Panegyricus. Kiel 1667. – Jakob Gronovius: Thesaurus graecarum antiquitatum. Bd. 10, Leiden 1697. – Jakob Friedrich Reimmann: Versuch einer Critique über das Dictionaire historique et critique des Mr. Bayle, darinnen [...] II. der daselbst befindliche LebensLauff des Johannis Woweri [...] untersuchet, u. nach denen Grund-Regeln der Geschicht- u. Richt-Kunst [...] geprüfet werden (1711). In: Ders.: Versuch einer Einleitung in die Historiam literariam [...] in VI. verschiedene Tomos verfasset [...]. Halle 1708–13. Internet-Ed. in: SUB Gött. – Johann Friedrich Noodt: Beiträge zur Erläuterung der Civil-, Kirchen- u. Gelehrten-Historie der Hertzogthümer Schleßwig u. Hollstein. Hbg. 1744. – Johannes Moller: Cimbria literata. Bd. 3, Kopenhagen 1744, S. 652. – Zedler, Bd. 59 (1749). – Carsten Erich Carstens: J. v. Wowern. In: ADB. – Wilhelm Schmidt-Biggemann: Topica universalis. Eine Modellgesch. humanist. u. barocker Wiss. Hbg. 1983. – Anthony Grafton: Defenders of the text. The tradition of scholarship in an age of science, 1450–1800. Cambridge, Mass. 1991. – Helmut Zedelmaier: Bibliotheca universalis u. Bibliotheca selecta. Das Problem der Ordnung des gelehrten Wissens in der frühen Neuzeit. Köln u. a. 1992. – A. Grafton: Joseph Scaliger. Bd. 2: Historical chronology. Oxford 1993, S. 492–494. – Herbert Jaumann: Critica. Untersuchungen zur Gesch. der Literaturkritik zwischen Quintilian u. Thomasius. Leiden 1995, S. 170 ff. – Luc Deitz: Ioannes W. of Hamburg, Philologist and Polymath. A Preliminary Sketch of His Life and Works. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 58 (1995), S. 132–151. – Skepsis, Providenz, Polyhistorie. Hg. Martin Mulsow u. H. Zedelmaier. Tüb. 1998. – Philologie u. Erkenntnis. Hg. Ralph Häfner. Tüb. 2001. Herbert Jaumann

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Wühr, Paul, * 10.7.1927 München. – Hörspielautor, Erzähler, Lyriker. Der Bäckerssohn war 1948–1984 – mit Unterbrechung – Hauptschullehrer in Gräfelfing bei München. 1978 wurde W. Mitgl. des Bielefelder Colloquiums Neue Poesie. Im Sommer 1986 zog er nach Passignano/Umbrien. Bekannt wurde W. mit einer ersten Serie von Hörspielen in den 1960er Jahren. Darin treten Figuren auf, deren Realitätsstatus in Gedankenexperimenten zur Disposition gestellt wird, wobei eine Tendenz zur Reduzierung der Personalpsychologie zugunsten von »Konstellationen« bemerkbar ist, die von »Stimmen« diskutiert werden. Das Merkmal der Entindividualisierung teilen diese frühen Arbeiten mit einer zweiten Serie von Hörspielen, die W. in den 1970er Jahren als sog. Originalton-Hörspiele produzierte. Hier befragte W. Passanten oder Personen aus seinem Bekanntenkreis u. aus Randgruppen (Drogenabhängige, Obdachlose, Prostituierte, Wahnsinnige) zu Themen wie Glück, Sexualität, Suchtproblemen. Die Tonbänder wurden nach ideolog. Postulaten, Floskeln, sprachl. Fehlleistungen abgehört, diese herausgeschnitten, isoliert u. in neue Zusammenhänge integriert mit dem Ziel, aus den Aussagen von Individuen ein Kollektivbewusstsein der Gesellschaft herauszufiltern. Das Preislied (in: So spricht unsereiner. Ein Originaltext-Buch. Nachw. von Jörg Drews. Mchn. 1973) wurde 1971 mit dem Hörspielpreis der Kriegsblinden ausgezeichnet. Weitere Literaturpreise folgten, darunter 1984 der Bremer Literaturpreis, 1990 der Petrarca-Preis u. der Ernst-Meister-Preis für Lyrik, 1997 der Große Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, 2001 der F.-C.-WeiskopfPreis der Berliner Akademie der Künste, 2002 der Hans-Erich-Nossack-Preis u. 2007 der Ernst-Jandl-Preis für Lyrik. W.s Mitte der 1960er Jahre begonnenes Textbuch Gegenmünchen (ebd. 1970) errichtet eine Wörterstadt über der wirkl. Stadt. Gegenmünchen wirkt wie ein Palimpsest, welches das zugrundeliegende, offizielle München nur noch schwach erkennen lässt. Es basiert auf vergangener, verdrängter Stadtgeschich-

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te, die mit den Ereignissen der Schwabinger Jugendunruhen u. dem Pariser Mai konfrontiert wird. Mit den Idealen von 1968 ziehen »Er« u. »Sie«, die Kinder der Revolution, »durch das polizeiliche Nachtleben«, über die Friedhöfe der Stadt u. erzählen die Geschichte neu. Gegenmünchen zeigt eine Fülle formaler Experimente, die heterogene Koexistenz der Texttypen Prosa, Lyrik, Drama, Visuelle Poesie. Das falsche Buch (Mchn./Wien 1983) – rein äußerlich natürlich ein richtiges Buch – spielt auf der Münchner Freiheit, die gegenüber der wirkl. »Freiheit« stark verändert u. erweitert wurde. Hier agieren – ohne durchgehenden Plot – ein Regisseur u. seine Pseudos, die sog. »Falschen«, die aus performativen Sprechakten des Regisseurs hervorgegangen sind u. sich nun von ihrem Schöpfer u. Autor emanzipieren wollen. In kindl. Motorik fegen sie über den Platz, verstricken sich in zahllose erot. Abenteuer, machen Metamorphosen durch u. vertreiben sich mit Denk- u. Rollenspielen die Zeit. Sie zitieren u. diskutieren Gedanken von Hegel, Marx, Luhmann u. entwickeln eine eigene Philosophie des »Falschen«. W.s Lyrik versteht sich als »Zyklopoiesis« (Claus-Michael Ort), als systematisch geordnete Großdichtung, nicht als Summe von Einzeltexten. Dies gilt bereits für Grüß Gott ihr Mütter ihr Väter ihr Töchter ihr Söhne (ebd. 1976), Rede (ebd. 1979) u. Sage (Mchn. 1988), in gesteigertem Maße aber für Salve res publica poetica (Mchn./Wien 1997), Venus im Pudel (ebd. 2000) u. Dame Gott (ebd. 2007). Jedes einzelne Gedicht lässt sich potenziell in den Kontext aller anderen eingliedern u. erschließt sich erst vor dem Hintergrund der übrigen Texte. In Grüß Gott werden – neben poetolog. Selbstthematisierung – Realiät, Sexualität, Politik, Tod erörtert. Die Rede thematisiert den Frühlings-, Pfingst- u. Revolutionsmonat Mai. Die Sprechhaltung ist einheitlicher als in Grüß Gott; in den einzelnen Gedichten verwandte W. dasselbe oder ähnl. Wortmaterial, das durch virtuose Kombinatorik semantisch bereichert wird. In der Sage koexistieren sowohl formal u. inhaltlich völlig heterogene, mehrfach gegliederte Texte als auch Kleinzyklen, die sich – wie in der Rede

Wühr

– äußerlich u. inhaltlich gleichen. Auch Dame Gott ist als Plädoyer für ›flache Hierarchien‹ lesbar, in der das Subjekt mit seinem ›Gott‹, seiner ›Dame‹, rechtet u. ins poetische Gespräch kommt. Weitere Werke: Der kleine Peregrino. Mchn. 1960 (Kinderbuch). – Basili hat ein Geheimnis. Ebd. 1964 (Kinderbuch). – Der faule Strick. Mchn./Wien 1987 (Tgb.). – Pyramus u. Thisbe. Eine Teichoskopie. In: Nacht Zettel. Bln. 1987 (D.). – Ob. Mchn. 1991 (L.). – Wenn man mich so reden hört. Ein Selbstgespräch, aufgezeichnet v. Lucas Cejpek. Graz/Wien 1993. – Luftstreiche. Ein Buch der Fragen. Mchn./Wien 1994. – Ob der Magus im Norden. Mchn. 1995. – Ich unterstehe mich. Mchn. 1998 (L.). – Tanzschrift. Illustr. v. Hans Baschang. Karlsr. 2000 (L.). – Leibhaftig. Ausgew. Gedichte. Aachen 2001. – Das Lachen eines Falschen. Wiener Vorlesungen zur Lit. Mit Bildern v. Jürgen Wolf. Mchn. 2002. – Was ich noch vergessen habe. Aufgezeichnet von Lucas Cejpek. Graz/Wien 2002. – An u. für. Mchn./Wien 2004 (L.). – Zur Dame Gott. Graz/Wien 2009 (Ess.). Literatur: Lutz Hagestedt (Hg.): P. W. Materialien zu seinem Werk. Mchn. 1987. – Bernhard Setzwein: ›So etwas kann nur aus dem Bayerischen kommen so eine gspinnerte Lehre‹. Über P. W., Poet einer Philosophie des Falschen. In: Ders.: Käuze, Ketzer, Komödianten. Literaten in Bayern. Pfaffenhofen 1990, S. 253–267. – Jürgen Nelles: Denk-Spiele der Poesie. Der Hörspielmacher u. Schriftsteller P. W. Bonn 1991. – Marion Kramer: Wenn Hunde frech mit falschen Zungen reden. Über die Hundegestalten in P. W.s ›Das falsche Buch‹. In: Vergessen. Entdecken. Erhellen. Hg. Jörg Drews. Bielef. 1993, S. 57–97. – Sabine Kyora: ›... wenn der Begriff sportelt‹. Theorie u. Poetik in P. W.s ›Das falsche Buch‹. In: Vergangene Gegenwart – gegenwärtige Vergangenheit. Studien, Polemiken u. Laudationes zur deutschsprachigen Lit. 1960–1994. Hg. J. Drews. Bielef. 1994, S. 121–137. – P. W. Jb. Aachen 1997 ff. – S. Kyora (Hg.): Falsches Lesen. Zu Poesie u. Poetik P. W.s. FS zum 70. Geburtstag. Bielef. 1997. – Dies. (Hg.): Die poet. Republik. Annäherungen an P. W.s ›Salve res publica poetica‹. Bielef. 2001. – V. Hoffmann: P. W. In: LGL. – Christer Petersen: Der postmoderne Text. Rekonstruktion einer zeitgenöss. Ästhetik am Beispiel v. Thomas Pynchon, Peter Greenaway u. P. W. Kiel 2003. – S. Kyora (Hg.): Im Fleisch der Poesie. FS zum 80. Geburtstag v. P. W. Bielef. 2007. – Volker Hoffmann: P. W. In: KLG. Lutz Hagestedt

Wülfer

Wülfer, Daniel, * 3.7.1617 Nürnberg, † 11.5.1685 Nürnberg. – Protestantischer Theologe, Prediger.

584 propter hominem condita esse ostenditur. Präs.: D. W.; Resp.: Georg Crauser. Jena 1639. – Dissertatio theologica de absolute ultimo hominis fine, sive beatitudine aeterna. Präs.: Johann Michael Dilherr; Resp.: D. W. Nürnb. 1642. – Dissertatio philologica, in qua de emendata latine loquendi consuetudine. Präs.: D. W.; Resp.: Johann H. im Hof. Ebd. 1645. – Compendium physicum [...]. Ebd. 1646. – Genuina expositio termini huius technici causa sine qua non. Präs.: D. W.; Resp.: Johann Elias Reu. Ebd. 1647. – Phoenix christianus, oder Christl. Betrachtung deß Menschen Phönix Art [...]. Ebd. 1650. – De causa sine-qua-non [...]. Ebd. 2., erw. Aufl. 1654 (zuerst als Diss. 1647). – De propositione deus est passus, an realis sit, an verbalis? Exercitatio. Ebd. 1654. – De physica christiana. Exercitatio. Ebd. 1656.

Der Sohn eines protestantischen Exulanten aus Böhmen bezog nach Privatunterricht u. dem Besuch der Lorenzer Schule u. des Egidien-Gymnasiums 1634 die Universität Jena, wo er bei Paul Slevogt, Johann Gerhard u. Johann Michael Dilherr studierte. 1636 wechselte er nach Altdorf, wo er am 29.6.1637 den Magistergrad erwarb, u. ging 1638 als Student, Prediger u. Privat-Collaborator nach Jena zurück. Seit 1642 hielt W. Lektionen in Dilherrs Auditorium Egidianum in Nürnberg; 1646 übernahm er das Predigeramt an Ausgabe: Fischer/Tümpel 3, S. 204–213. St. Lorenz, seit 1652 als ordentl. Prediger; die Literatur: Bibliografie: VD 17. – Weitere Titel: Generalsuperintendentur in Öttingen, die ihm 1649 angetragen worden war, hatte er Andreas Myhldörffer: Ara victoriae. Geistlicher Siausgeschlagen. 1666 wurde ihm die Aufsicht ges-Altar [...]. Bey [...] Beerdigung, des [...] D. W. über das Nürnberger Predigerseminar anver- [...]. Nürnb. 1685. – Katalog der fürstl StolbergStolberg’schen Leichenpredigten-Slg. Bd. IV/2, Lpz. traut. 1935, S. 749 f. – Paul Tschackert: D. W. In: ADB. – W. verfasste zahlreiche Predigten, An- Heinz Gossmann: Das Collegium Pharmaceuticum dachtsbücher u. Reimgebete in dt. Sprache Norimbergense [...]. Ffm. 1966, S. 110 f. – DBA. – (Zwölff Andachten, über etliche hertzbewegliche Estermann/Bürger, Tl. 2, S. 1464. – Der Wahrheit Wort unsers vor seinem blutigen Leiden beküm- auf der Spur. Johann Christoph Sturm merten Herrn Jesu. 1648. Der geistliche Kranich. (1635–1703), Mathematiker, Physiker, Astronom. 1657. Himmlische Engel-Freud. 1659. Eliae Lei- Hg. u. bearb. v. Volker Herrmann u. a. Büchenbach den, Scheiden, Freuden. 1661. Elisae Hohn, Lohn, 2003, bes. S. 43–48. – Johann Christoph Sturm (1635–1703). Hg. Hans Gaab u. a. Ffm. 2004, bes. Cron. 1663. Saul Exrex, Das ist die gantze Histori S. 20–23. – Jürgensen, Register. von Sauls, deß ersten Königs in Israel, Erwehlung, Renate Jürgensen / Red. Regierung, Untergang, und Begräbnus. 2 Tle., 1670; alle Nürnb.). 1656 erschien sein erWünsche, Konrad, * 25.2.1928 Zwickau. – folgreichstes Werk, Das vertheidigte GottesDramatiker, Hörspielautor, Verfasser geschick, und vernichtete Heyden-Glück (2., erw. pädagogischer Schriften. Aufl. u. d. T.: Fatum Das ist [...]. Ebd. 1666), eine Sammlung geistl. Betrachtungen über Nach dem Besuch des Realgymnasiums in das Schicksal mit Andachtsliedern Birkens, Zwickau kam W., Sohn eines Zahnarztes, die bei allen Konfessionen Anklang fand. noch als 16-Jähriger an die Front. Nach dem Daneben veröffentlichte er viele Dissertatio- Krieg studierte er u. arbeitete als Lehrer. 1980 nen u. eine Abhandlung zur Geschichte jüd. wurde er Pädagogikprofessor an der TU Beru. christl. Gotteshäuser (Kurtzer historischer lin. 1962 debütierte W. mit den beiden EinakBericht von Kirchen- und Tempel-Gebäuwen [...]. Ebd. 1652). W. pflegte zeitlebens enge Kon- tern Über den Gartenzaun u. Vor der Klagemauer takte zur Heimat seiner Familie u. führte ei- (Ffm.), die durch eine parodistische u. pessinen ausgedehnten Briefwechsel. Besonders mistische Grundhaltung W.s Nähe zum abinteressierte er sich für Medizin u. Alchemie. surden Theater zeigen. W. verzichtet auf eine Weitere Werke: Disputatio logica de natura realistische Handlung u. Kennzeichnung der homonymorum, synonymorum et paronymorum. Charaktere u. entwirft mit diesen poetischen Präses: Johann Kob; Respondent: D. W. Altdorf Fantasiespielen »Partituren für Stimmen« 1636. – Disputatio philosophica in qua omnia (Wünsche), in denen die menschl. Psyche so-

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Der Württemberger

wie das Irrationale u. Abtrünnige menschl. Handelns in Ausnahmesituationen gezeigt werden. Der Fünfakter Der Unbelehrbare (ebd. 1964) ist eine Parodie auf den Hamlet-Stoff, u. das Antikriegsstück Les Adieux oder die Schlacht bei Stötteritz (ebd. 1964) zeigt das Grausame, Banale, Erniedrigende des Kriegs am Beispiel der Völkerschlacht von 1812. In dem im MA spielenden Stück Jerusalem, Jerusalem (ebd. 1966) wird die christl. Kreuzzugsideologie unter Anspielung auf die OstWest-Ideologie kritisch überprüft. Zwar hat W. in seinen Stücken neue formale dramat. u. musikal. Elemente eingeführt, jedoch kontrastieren diese Experimente mit den konventionellen Themen, Inhalten u. der Form des traditionellen Dialogdramas. Nach mehreren Hörspielen (Gegendemonstration. Neuwied/Bln. 1966) u. dem der konkreten Poesie verpflichteten Gedichtband Schemen entsprechend (ebd. 1963) wandte sich W. pädagog. Themen zu.

gierten Sammlung Gedichte (Stgt. 1837. Neudr. hg. von Norbert Eke. 1991) bilden neben wenigen unmittelbar politisch oder satirisch gestimmten Dichtungen noch deutlich von Lenau abhängige Naturgedichte, Romanzen u. epische Gedichte sowie Genreszenen aus der ungarischen Heide. In rascher Folge erschienen 1838 die Lieder des Sturms, 1841 die Gesammelten Gedichte u. 1843 die vaterländ. Sonettensammlung Gegen den Strom (alle Stgt.). Mit der beginnenden Politisierung seiner Dichtungen gegen Ende der 1830er Jahre bekamen einige der bereits in W.s früher Lyrik andeutungsweise enthaltenen Momente dominierende Bedeutung: das Patriotisch-Nationale, Antifranzösische u. Heroisch-Militante. So suchte er in den Jahren nach 1840 das ausschließlich Schöne in einer »Poesie der Kraft« zu überwinden, in der die nationale Begeisterung der Freiheitskriege ein Nachleben bloß als ideolog. Phrase führte.

Weitere Werke: Die Wirklichkeit des Hauptschülers. Ber.e v. Kindern der schweigenden Mehrheit. Köln 1972. – Der Volksschullehrer Ludwig Wittgenstein. Ffm. 1984. – Bauhaus. Versuche, das Leben zu ordnen. Bln. 1989. 21992. – ›Und du verkennst dich doch!‹ Eine Galerie der Anthropologie. Gött. 2007 (Ess.).

Ausgabe: Sämmtl. Gedichte. Lpz. 1880. Literatur: Atha Nodnagel: A. v. W. Diss. Heidelb. 1925. – Leonard A. Willoughby: Justinus Kerner u. A. v. W. In: Internat. Forsch.en zur dt. Literaturgesch. Lpz. 1938, S. 175–193. – Bernhard Zeller: A. Graf v. W. u. seine Freunde. In: Eßlinger Studien 3 (1957), S. 30–42. – Ders.: Lenau u. A. Graf v. W. In: Genio huius loci. Hg. Dorothea Kuhn u. B. Zeller. Wien u. a. 1982, S. 331–348. – Norbert Otto Eke: Lenau u. Graf A. v. W. oder: Der Dichter als (krit.) Leser. In: Lenau-Forum 17 (1991), S. 5–23. – Horst Fassel: Das Ungarnbild v. Lenau u. Graf A. v. W. In: Europ. u. regionale Bezugssysteme im Spiegel v. Lenaus Dichtung. Hg. ders. u. Annemarie Röder. Tüb. 2002, S. 47–65. – B. Zeller: ›Dieses Fleckchen Erde umfaßte einen Kranz glücklicher Menschen‹. Graf A. v. W. u. seine Freunde in Serach. In: Literar. Spuren in Esslingen. Hg. Irene Ferchl. Esslingen 2003, S. 43–54. Norbert Eke / Red.

Literatur: Henning Rischbieter u. Ernst Wendt: Dt. Dramatik in Ost u. West. Hann. 1965, S. 70–72. – Marianne Kesting: Panorama des zeitgenöss. Theaters. Mchn. 1969, S. 329–332. Sabina Becker / Red.

Württemberg, Alexander (Christian Friedrich) Graf von, * 5.11.1801 Kopenhagen, † 7.7.1844 Wildbad/Schwarzwald; Grabstätte: Stuttgart, Stiftskirche. – Lyriker.

Der Sohn Herzog Wilhelms von Württemberg trat 1821 in die württembergische Armee ein, der er, 1838 zum Oberst à la suite Der Württemberger, auch: Jagd von ernannt, mit Unterbrechungen bis 1840 anWürttemberg. – Mittelhochdeutsche gehörte. Reimpaarerzählung. Eng mit Lenau u. Kerner befreundet u. der schwäb. Dichterschule nahestehend, veröf- Fünf zwischen 1393 u. 1510 geschriebene, fentlichte W. von 1830 an regelmäßig in v. a. bair. Handschriften (Wien, Karlsruhe, Cottas »Morgenblatt für gebildete Stände« u. München) überliefern divergierende Versiolieferte Beiträge zu verschiedenen Almana- nen (zwischen 333 u. 713 Verse) einer im 13. chen. Den Grundstock der von Lenau redi- oder 14. Jh. entstandenen Geschichte aus dem

Würzburger Liederhandschrift

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Umkreis mittelalterl. Visionsliteratur: Der Würzburger Liederhandschrift, auch: Ritter Ulrich, in Diensten des Grafen Hart- Hausbuch des Michael de Leone (Band 2). mann von Württemberg, begegnet auf der – Deutsch-lateinische SammelhandJagd im Wald einer Gruppe von mehreren schrift, Würzburg, etwa 1345–1354. hundert schweigend vorbeiziehenden Rittern u. Frauen, die sich als Tote erweisen. Eine am Michael de Leone († 1355), bischöfl. ProtoEnde allein reitende Dame nimmt Ulrich mit notar u. Scholaster des Stifts Neumünster in auf die unheiml. Fahrt, die in Mahl u. Tanz Würzburg, legte vor u. um 1350 zwei großmündet, u. bewahrt ihn zweimal vor Unheil: formatige Sammlungen an: das Manuale, das Als er, obwohl gewarnt, einen gerösteten überwiegend lat. Texte enthält, für NeuFisch ergreift, verliert er vier Finger, u. nur münster (Würzburg, Universitätsbibliothek, das (aus einem in die Haut geschnittenen M. p. misc. f. 6; vgl. Thurn), u. das Hausbuch, Kreuz) hervorquellende Blut kann das höll. das Michael für seinen Neffen Jakob u. dessen Brennen lindern; als er am Tanz teilnimmt, Familie bestimmte; hier dominieren dt. wird er ohnmächtig, u. nur das schnelle Ein- Texte. Vom ersten Band des Hausbuchs sind Band 2 (München, greifen der Dame rettet ihn vor den herbei- nur Bruchstücke bewahrt; o geeilten Teufeln. Erst jetzt wird ihm das Universitätsbibliothek, 2 Cod. ms. 731) verHöllenszenario evident. Die Dame, aufgrund zeichnet den gesamten Inhalt, sodass das eines Ehebruchs leidend, beauftragt Ulrich, Konzept der Sammlung erkennbar bleibt. ihrem Buhlen, dem Herrn von Schenkenberg, Ihren Kern bildeten didakt. Reimpaardichdie Botschaft zu überbringen, er solle Buße tungen (Hugos von Trimberg Renner, Freitun. Beide Ritter erhalten sich u. der Dame danks Bescheidenheit u. a.); er wurde nach u. schließlich das Seelenheil durch einen nach um vielerlei dt. u. lat. Texte in Versen u. Prosa erweitert, darunter zunehmend solche, Kreuzzug gegen die Heiden. Die in den einzelnen Versionen unter- die die prakt. Lebensführung u. aktuelle Erschiedlich prägnante, teils erweiterte, teils eignisse wie die Pestepidemie von 1348 begeraffte Erzählung hat vielfältige Parallelen treffen. Der zweite Hausbuch-Band wird auch W. L. in der Literatur der Jenseitsfahrten u. Höllenschilderungen. So ist etwa der ungesuchte genannt u. trägt in der Liedforschung seit Karl u. erst langsam bemerkte Kontakt mit der Lachmanns Ausgabe der Gedichte Walthers von anderen Welt auch in dem Liber visionum Ot- der Vogelweide (1827) die Sigle E bzw. e. Die lohs von St. Emmeram, dem altfrz. Lai du Trot Lyrica (ohne Noten) machen freilich bloß ein oder dem mhd. Gedicht Der Weltlohn, die gutes Zehntel des Textbestands aus. Sie stehen Botschafterfunktion des Jenseitsreisenden nahezu sämtlich im »Grundstock« (etwa zwischen Toten u. Lebenden auch in den Vi- 1345–1349, Hand B). Eine Weile bildeten die sionen Georgs von Ungarn oder in Hans Lieder Walthers (E 1–212) u. Reinmars des Folzens Pfarrer im Ätna anzutreffen. Auffällig Alten (E 213–341, mit Anhang: e 342–376) vb vb ra va am W. bleibt die eher geringe didakt. Nei- dessen Abschluss (Bl. 168 –180 , 181 –191 ; dazwischen Blattu. Textverlust). Nachdem gung u. das vorherrschende höf. Element, das die Jenseitsreise als ›aventiure‹-Fahrt er- der »Grundstock«-Schreiber ein weiteres Mal den Renner kopiert hatte, ergänzte er im scheinen lässt. Ausgaben: Heinzle (s. Lit.). – Oskar Pausch: Eine Hausbuch noch eine bunte Reihe von dt. u. lat. bair.-österr. Überlieferungskette des W. Wien 1977. Gedichten (Bl. 192 ff.), darunter Frauenlobs Literatur: Franziska Heinzle: Der W. Unter- Marienleich u. sechs Sangsprüche, die Frauensuchung, Texte, Komm. Göpp. 1974. – Claude Le- lob, dem Marner sowie Friedrich von Soncouteux: Gesch. der Gespenster u. Wiedergänger nenburg zugewiesen sind (Bl. 206rb–211ra, im MA. Wien 1987, S. 168 f. – Jean-Claude Schmitt: 225vb–226ra). – Weitere Sangsprüche unter Die Wiederkehr der Toten. Stgt. 1995. – O. Pausch: Frauenlobs Namen enthielt Band 1. Der W. In: VL. In der ersten Nachtragsphase (um 1350) Christian Kiening wurde der freie Raum hinter Reinmars Liedern für Lupold Hornburgs drei Strophen Von

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allen singern im Langen Ton des Marner genutzt, die bes. Reinmar von Zweter, an zweiter Stelle Walther rühmen (Bl. 191va-vb); anscheinend wurde der Sangspruchdichter Reinmar mit dem Minnesänger in eins gesetzt. Vorausgeschickt ist eine Nachricht über die Begräbnisstätten Walthers im Neumünster u. Reinmars von Zweter in Eßfeld südl. Würzburg, wo das Stift Besitzungen hatte. Schon zuvor waren die lat. Verse auf Walthers Epitaph im Neumünster im »Grundstock« (Bl. 212va) u. auch im Manuale zitiert worden. Das Walther- u. das Reinmar-Corpus werden trotz ihrer Verstümmelung nur von den Corpora in der Großen Heidelberger Liederhandschrift (C) an Umfang übertroffen. Für die Aufnahme der Lieder ins Hausbuch mag das Minnesang-Lob im Renner eine Rolle gespielt haben; entscheidend war für Michael de Leone aber wohl die tatsächl. oder vermeintl. Verbindung der Autoren mit seinem Stift. Die Herkunft der Vorlage ist unbekannt. Eine Vorstufe *EC lässt sich aus Nachträgen in C erschließen. Auf eine noch ältere Vorstufe *EU (um 1250?) führt der Vergleich mit verwandten Bruchstücken u. Florilegien; sie könnte im niederdt. Sprachgebiet zu situieren sein. Dann hätte die umfassendere Liedkodifizierung im Norden kaum viel später eingesetzt als im Süden. Ausgaben: Die Lieder Reinmars u. Walthers v. der Vogelweide aus der Würzburger Hs. I. Faks. Mit einer Einf. v. Gisela Kornrumpf. Wiesb. 1972 (Transkription in Vorb.). – Das Hausbuch des Michael de Leone. In Abb. hg. v. Horst Brunner. Göpp. 1983. – Digitalisat: http://epub.ub.uni-muenchen.de/10638/. Literatur (Auswahl, v. a. zum ›Hausbuch‹ insges. u. zu den Lied-Corpora): Peter Keyser: Michael de Leone († 1355) u. seine literar. Slg. Würzb. 1966. – Gisela Kornrumpf u. Paul-Gerhard Völker: Die dt. mittelalterl. Hss. der Universitätsbibl. München. Wiesb. 1968, S. 66–107, 349. – G. Kornrumpf (s. Ausg.). – Minnesangs Frühling 2, S. 48–50 (Lit.). – Ursula Peters: Lit. in der Stadt. Tüb. 1983, bes. S. 138–168. – G. Kornrumpf: Michael de Leone. In: VL, bes. Sp. 497, 499–501. – Lothar Voetz, in: Codex Manesse. Hg. Elmar Mittler u. Wilfried Werner. Heidelb. 21988, S. 254–256. – Rüdiger Krohn: Ergänzung im Gegensang. Anmerkungen zu Reinmars (?) Lied ›Herre, wer hât sie begozzen‹. In: ›Ist zwîvel herzen nâchgebûr‹. FS Günther

Würzburger Liederhandschrift Schweikle. Hg. Rüdiger Krüger u. a. Stgt. 1989, S. 43–62. – Hans Thurn: Die Hss. der Universitätsbibl. Würzburg. Bd. 4, Wiesb. 1990, S. 31–47. – Helmut Tervooren: Reinmar-Studien. Bln. 1991, bes. S. 31 f., 42–81, 140–181. – Ursula Kocher: ›Unechte‹ Strophen in der Walther-Überlieferung u. das Problem der ›Zusatzstrophen‹ in der Würzburger Hs. In: Artibus. FS Dieter Wuttke. Hg. Stephan Füssel. Wiesb. 1994, S. 47–62. – RSM 1, Tüb. 1994, S. 59–318: Handschriftenverz. Bearb. v. Frieder Schanze u. Eva Klesatschke, hier S. 222 f. – Ingrid Bennewitz: ›Eine Slg. von Gemeinplätzen‹? Die Walther-Überlieferung der Hs. E. In: ›Da hœret ouch geloube zuo‹. Überlieferungs- u. Echtheitsfragen zum Minnesang. FS G. Schweikle. Hg. R. Krohn. Stgt./Lpz. 1995, S. 27–35. – Franz-Josef Holznagel: Wege in die Schriftlichkeit. Untersuchungen u. Materialien zur Überlieferung der mhd. Lyrik. Tüb./Basel 1995, bes. S. 59–61, 230–232, 268–272. – Thomas Bein: ›Mit fremden Pegasusen pflügen‹. Untersuchungen zu Authentizitätsproblemen in mhd. Lyrik u. Lyrikphilologie. Bln. 1998, bes. S. 209–213, 396–421. – Albrecht Hausmann: Reinmar der Alte als Autor. Tüb./Basel 1999, bes. S. 301–307, 323 f. – Norbert Richard Wolf: Zur Schreibsprache des ›Hausbuchs‹ Michaels de Leone. In: Vom MA zur Neuzeit. FS Horst Brunner. Hg. Dorothea Klein u. a. Wiesb. 2000, S. 359–368. – Dietrich Huschenbett: Walther u. Reinmar. Zum Poetenwinkel am Neumünster in Würzburg. In: Zwischenzeiten – Zwischenwelten. FS Kozo Hirao. Hg. Josef Fürnkäs u. a. Ffm. 2001, S. 121–145. – Frank Fürbeth: Bischofsstädte als Orte der Literaturproduktion u. -rezeption. In: Das MA 7 (2002), H. 1, S. 125–146, bes. S. 130–141. – Vom Großen Löwenhof zur Universität. Würzburg u. die dt. Lit. im SpätMA. Hg. H. Brunner u. Hans-Günter Schmidt. Wiesb. 2002. – Jonathan Green: ›Der Renner‹. In: ZfdA 133 (2004), S. 360–362. – Würzburg, der Große Löwenhof u. die dt. Lit. des SpätMA. Hg. H. Brunner. Wiesb. 2004, darin v. a. Rainer Leng sowie Christa Bertelsmeier-Kierst (zum ›Hausbuch‹), Ursula Schulze (zu Walther E), Ricarda Bauschke (zu Walther E u. Reinmar E/e), Walter Röll (zu Hornburgs Lied). – Katharina Boll: ›Alsô redete ein vrowe schoene‹. Untersuchungen zu Konstitution u. Funktion der Frauenrede im Minnesang des 12. Jh. Würzb. 2007, bes. S. 533–535. – G. Kornrumpf: Vom Codex Manesse zur Kolmarer Liederhs. I. Tüb. 2008, bes. S. 82 ff., 110 ff. – Karin Schneider: Got. Schriften in dt. Sprache II. Wiesb. 2009, S. 124–126. – Carolin Schuchert: Walther in A. Studien zum Corpusprofil u. zum Autorbild Walthers v. der Vogelweide in der Kleinen Heidelberger Liederhs. Ffm. 2010, bes. S. 123–126, 275–280, 305–308. – I. Bennewitz: Die

Würzer Schrift des Minnesangs u. der Text des Editors. Studien zur Minnesang-Überlieferung im ›Hausbuch‹ des Michael de Leone (Minnesang-Hs. E) (Druck in Vorb.). Gisela Kornrumpf

Würzer, Heinrich, auch: Schmeichelfeind, Misocolax, * 28.1.1751 Hamburg, † 27.7. 1835 Berlin. – Publizist.

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ßens an u. erklärten den Widerstand gegen die despotische Obrigkeit zum obersten Menschenrecht. Seine Freimütigen Gedanken über politische und religiöse Gegenstände (Altona 1797) lassen seine Enttäuschung über die frz. Politik erkennen. – W. leitete die von der jüdisch-christl. Loge »Einigkeit und Toleranz« 1793 begründete Freimaurerschule bis zu ihrer Schließung 1808 u. nahm dann Privatschüler auf, zu denen auch Gabriel Riesser gehörte. Seit 1827 lebte er in Berlin.

W., Sohn eines Zuckerbäckers, studierte Jura u. Philosophie an der Universität Göttingen, wo er 1779 den Doktorgrad erwarb. Er war Weitere Werke: Charakteristik Friedrichs II., dann in Hamburg Hauslehrer u. gab 1784 die Königs v. Preußen. Chemnitz 1794. – Trauerrede Monatsschrift »Deutsche Annalen« heraus. auf des höchstseligen Königs v. Preußen Friedrich Seine von weltbürgerl. Aufklärungsdenken Wilhelm II. Majestät. Dtschld., recte Altona 1797 erfüllten Aufsätze drangen auf Verbesserung (anonym). – Ausgabe journalistischer Arbeiten: Ein der Justizpflege u. Gewährung der Bürger- Spazziergänger [!] in Altona. Mit einem Nachw. hg. v. Hans-Werner Engels. Hbg. 1997. rechte für Juden. Seit 1788 in Berlin, verLiteratur: NND 13,2, S. 629–637. – Walter kehrte er im Salon der Henriette Herz. Als er Grab: Ein Volk muß seine Freiheit selbst erobern. in seinen Bemerkungen über das preußische ReliZur Gesch. der dt. Jakobiner. Ffm. 1984, gionsedikt vom 9. Julius (Lpz. 1788) Wöllners S. 345–386. – Ders.: Die iron. ›Leichen-Predigt‹ des Obskurantismus kritisierte u. Pressefreiheit [...] W. auf den Tod König Friedrich Wilhelms II. v. forderte, wurde er zu sechs Wochen Gefäng- Preußen. In: Gesch. als Aufgabe. FS Otto Büsch. nis verurteilt. Er errichtete dann eine Privat- Hg. Wilhelm Treue. Bln. 1988, S. 145–158. schule, die geschlossen wurde, als er den Walter Grab † / Red. Richtlinien des aufklärungsfeindl. Religionsedikts nicht nachkommen wollte. 1793 Wüstefeld, Michael, * 12.9.1951 Dresden. begab er sich nach Altona u. publizierte dort – Lyriker u. Verfasser von autobiografieinen Revolutionskatechismus (Nachdr. Kronscher Prosa. berg/Ts. 1977), der darauf drang, »alle Staatsbürger [...] von einer freiwillig dazu Nach Abitur u. Facharbeiterbrief (Maschibestellten oder doch gebilligten Macht« re- nenbau) studierte W. 1970–74 Kraftfahrzeuggieren zu lassen. W. begrüßte die soziale , Land- u. Fördertechnik an der TU Dresden Vertiefung der Französischen Revolution; er u. arbeitete bis 1991 als Diplom-Ingenieur u. gab Anfang 1794 in Altona die Wochenschrift Technologe in einem Dresdner Ingenieurbü»Historisches Journal« heraus, die als radi- ro. Seit 1993 ist er freischaffender Autor u. kalstes Sprachrohr der revolutionären De- Kritiker. W. war 1989 Mitbegründer der Unmokratie in Deutschland während der frz. abhängigen Schriftsteller Assoziation DresJakobinerdiktatur anzusehen ist. Er verur- den; seit 1996 gehört er dem dt. P.E.N.-Zenteilte die Eroberungspolitik Preußens u. trum an. 1990 erhielt er den Walter-HasenÖsterreichs u. betonte den Friedenswillen clever-Preis. Frankreichs, das für Freiheit u. MenschenW. zählt zu den erinnerungskrit. Autoren rechte kämpfe. Das Blatt wurde schnell ver- der letzten Generation der DDR-Literatur u. boten. begreift sich als nachhaltig geprägt vom VerAuch nach Robespierres Sturz hielt W. an geblichkeitsgefühl des »Hineingeborenen« seiner demokratischen Überzeugung fest. (Uwe Kolbe). 1979 debütierte er mit GedichSeine Neuen Hyperboreischen Briefe (1795) u. ten zu Holzschnitten von Peter Herrmann seine Wochenschrift »Der patriotische Volks- (grafiklyrik 2. Dresden); 1987 u. 1990 folgten redner« (1796), die in der jakobin. »Verlags- die Gedichtbände Heimsuchung (Bln./Weimar) gesellschaft von Altona« erschienen, griffen u. Stadtplan (ebd.). Beide befassen sich vordie Willkürherrschaft u. Polenpolitik Preu- nehmlich mit Geschichte u. Gegenwart seiner

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Wüsten

Weitere Werke: Gedichte (zus. mit Sascha AnHeimatstadt. Warnbilder des zerstörten Dresden stehen neben romant. Imaginatio- derson u. Bernhard Theilmann). Dresden 1982. – nen der Elblandschaft; der Fluss avanciert Amsterdamer Gedichte. Dresden 1994. – Dt. Anazum zentralen Motiv einer Sehnsucht nach tomie. Dülmen 1996 (L.). – Schobers Zimmer. Dresden 1998 (E.). – Landstrich. Rudolstadt 2003 Ausbruch u. Entgrenzung. Schon hier wird (L.). der für W. bestimmende Einfluss experiLiteratur: Manfred Jäger: ›Wem schreibe ich?‹ menteller u. avantgardistischer Techniken Adressen u. Botschaften in Gedichten jüngerer sichtbar (Tendenz zum poemhaften Langge- Autoren aus der DDR seit dem Beginn der achtziger dicht; Nähe zur visuellen Poesie; derber, all- Jahre. In: Die andere Sprache. Neue DDR-Lit. der tagssprachl. Ton; Synthese von Understate- 80er Jahre. Hg. v. Heinz Ludwig Arnold in Zus. mit ment u. Pathos; Dialoghaltung des lyr. Ich), Gerhard Wolf (Sonderbd. Text + Kritik). Mchn. die er v. a. der amerikan. Poplyrik (Beat-Ge- 1990, S. 61–71. – Ekkehard Mann: Untergrund, neration) u. Gedichten Rolf Dieter Brink- autonome Lit. u. das Ende der DDR. Eine systemmanns entlehnt. In Momentaufnahmen des theoret. Analyse. Ffm. u. a. 1996, S. 221–230. – DDR-Alltags wollen die Texte mit iron. Michael Braun: M. W. In: KLG. Mirjam Meuser Zungenschlag den poetischen Widerstand gegen Erstarrung u. Abstumpfung mobiliWüsten, Johannes, auch: Peter Nikl, sieren. Der Band Wegzehrung (Mchn. 2001) * 4.10.1896 Heidelberg, † 26.4.1943 schließlich destilliert aus den Erfahrungen Brandenburg-Görden. – Erzähler, Drader Wendejahre eine trotzige Selbstbehaupmatiker, Publizist; Maler, Grafiker. tung des Gedichts in poesieloser Zeit. Das AnAlphabet (Gött. 2007) orientiert sich als W., Sohn eines Predigers, wuchs in Görlitz Fortschreibung des Langgedichts Alphabet der auf, wo er das Gymnasium besuchte u. eine dän. Lyrikerin Inger Christensen in seinem Tischlerlehre machte. Nach einer Ausbildung Aufbau an der Fibonacci-Reihe u. zeugt von zum Kunsthandwerker schloss er sich 1914 W.s ausgeprägtem Bedürfnis nach intertex- der Künstlerkolonie um Heinrich Vogeler in tueller Kommunikation. Worpswede an, um Maler zu werden; 1916 Mit seiner Prosa reiht sich W. in die große wurde er zum Kriegsdienst einberufen. Nach Welle autobiogr. Schriften ehemaliger DDR- seiner Rückkehr aus dem Ersten Weltkrieg Autoren nach 1989 ein. Nackt hinter der lebte er als Maler in Hamburg u. dann wieder Schutzmaske (Bln./Weimar 1990) zeichnet, in in Görlitz, wo er 1926 die Görlitzer MalerAnlehnung an Max Frischs Dienstbüchlein, W.s schule mitbegründete. Seine Technik als Erfahrungen während des NVA-Reservisten- Kupferstecher war an den alten Meistern gedienstes auf. Die Reflexionen sind verknüpft schult, doch seine Blätter besaßen von Anfang mit Traumnotizen u. entlarvenden Wort- an eine gesellschaftskrit. u. satir. Tendenz. spielen, weisen jedoch selten über einen mo- 1921 erschien W.s erste Novelle (Ywon. Hbg.) ralisch-pazifistischen Konsens hinaus. Grenz- sowie ein satir. Roman (Semper die Mumie. Ebd. streifen (Warmbronn 1993) beschreibt eine Bln./Lpz. 1995). Sein Hauptinteresse galt Radtour durch das ehemalige mecklenburgi- histor. Themen, v. a. der Zeit der Bauernsche Grenzgebiet im Sommer 1990, die An- kriege. Er arbeitete in der Roten Hilfe u. orlass für eine Betrachtung über die dt. Teilung ganisierte eine Arbeiterschauspielgruppe, die gibt. In Paris geschenkt (Dresden 2008) ver- 1932 sein Drama Die Verrätergasse aufführte. schränkt W. zwei Paris-Reisen, die er 1988 auf Als Mitgl. der KPD (seit 1932) war W. nach Einladung einer ominösen Stiftung, 1995 auf 1933 illegal tätig u. musste 1934 nach Prag den Spuren der ersten Reise unternommen emigrieren. Dort war er Mitarbeiter der »Arhat. Der Erzählung eignet eine, mit fantasti- beiter-Illustrierte-Zeitung«, des »Simpl« u. schen Elementen durchsetzte, reizvolle Kon- der »Deutschen Volkszeitung«, war als Presstruktion, die sich leider in einem bloßen sezeichner tätig u. schrieb Kurzgeschichten, Selbsterfahrungsbericht schnell erschöpft. agitatorische Stücke (z. B. das Widerstandsstück Bessie Bosch. Urauff. Prag 1936. In: Das Wort, H. 6, Moskau 1936. Neuausg. Bln./

Wüthrich

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DDR 1987) u. Dramen über den Bauernkrieg. Maler-Schriftstellers J. W. In: Aus dem Antiquariat 1939 floh er nach Paris, wo er seine Malerge- (2007), H. 1, S. 35–39 (mit Bibliogr.). Hans J. Schütz † / Red. schichten vollendete, welche die gesellschaftl. Stellung des Künstlers u. die Fiktion der Kunst in der polit. Auseinandersetzung thematisieren (Das Leben einer Buhlerin und andere Wüthrich, Werner, * 14.6.1947 Ittigen bei Malergeschichten. Bln./DDR 1951). Im Sept. Bern. – Theaterautor, Regisseur, Publi1939 wurde W. im Lager Marolles interniert, zist, Mundartautor. konnte jedoch fliehen u. in Paris untertau- Nach dem Studium der Theaterwissenschafchen. Als er wegen seines Tuberkuloseleidens ten in Wien, das er 1974 mit einer Dissertaals Deutscher ein dt. Krankenhaus aufsuchen tion über Bertolt Brechts Aufnahme in der Schweiz musste, wurde er von der Gestapo verhaftet. 1923–1969 abschloss, u. der Arbeit am Wiener Im März 1942 wurde er vom Berliner Volks- Dramatischen Zentrum setzt sich der in Bern gerichtshof zu 15 Jahren Zuchthaus verur- lebende W. als Autor u. Regisseur für ein teilt. W. starb im Zuchthaus Brandenburg- Volkstheater ein, das Schauspieler u. ZuGörden an Tuberkulose. schauer mit ihrem eigenen ErfahrungshinEin großer Teil von W.s grafischen u. lite- tergrund konfrontiert. Dieses Anliegen spierar. Arbeiten ist verloren. Sein literar. gelt sich in seinem satir. Mundartstück Halt Hauptwerk, der Roman Der Strom fließt nicht auf Verlangen (Elgg 1988), das von einer bergauf (Rudolstadt 1963. Neuausg. u. d. T. Dorftheatergruppe handelt, die das Theater Rübezahl oder der Strom fließt nicht bergauf. Ebd. verlässt u. die Landbevölkerung mit einer 1979, Ffm. 1988), behandelt die Aufstände Protestaktion gegen ein Straßenbauprojekt der schles. Weber u. Arbeiter um 1880. überrascht. Von der Werbung vereinnahmt, Weitere Werke: Drei Nächte des Jan Bockelson begehrt schließlich auch der Motorrennfahu. a. aus dem Erzählwerk. Rudolstadt 1972. – rer im Dialektstück Motocross (Bern 1981) geTannhäuser. E.en u. Gesch.n. Bln./DDR 1976. – Die gen die moderne Leistungsgesellschaft auf, Verrätergasse. Stücke, Aufsätze, Gedichte, Autoderen Probleme für die Bauern W., selbst biographisches, Briefe. Ebd. 1976. – AntifaschistiSohn einer Pächterfamilie, im Theaterstück sche Texte u. Grafik aus dem Exil. Mit einem Nachw. v. Heinz Dieter Tschörtner. Ebd. 1987 Landflucht (Elgg 1979. Auch als Fernsehspiel) (Pseud.). – Das heilige Grab. Drama in 4 Akten. Hg. sowie im Reportagenband Vom Land. Berichte Rat der Stadt Görlitz. Aus dem Nachl. ed. v. H. D. (Zürich 1979) zur Sprache bringt. Großes Tschörtner. Görlitz 1989. – ›... auf dass ich etliche Echo fand W. mit seinen Gotthelf-Bearbeigewänne‹. Kunstbetrachtungen in der Provinz. tungen, die in Zusammenarbeit mit dem Ausgew. u. komm. v. Wolfgang Wessig. Ebd. 1991. Berner »Theater 1230« entstanden. Neben – Heimatl. Miniaturen. Ausgew. u. mit einem Veröffentlichungen über Brecht verfolgt W. Nachw. v. dems. Ebd. 1991. – Kämpfer gegen Ko- auch weiterhin das konfliktbeladene Zusammeten. Utopischer Roman. Bln. 1992. – Die Gör- mentreffen von Fortschritt u. Tradition; so litz-Trilogie. Heimatspiele. Hg. W. Wessig. Görlitz dokumentiert er mit seiner Prosaschrift Die sie 1993. – Die Blutproben des J. W. Hg. Harald RügBauern nannten. Vom Mythos und Überleben ungeberg. Hbg. 1995 (Kupferstiche, Texte u. Briefe). serer Landwirtschaft (Frauenfeld 2009) das allLiteratur: J. W. Malerei, Graphik, Zeichnunmähl. Verschwinden des Schweizer Bauerngen, Keramik. Lpz. 1973 (Kat.). – Hans J. Schütz: J. W. In: Ders.: ›Ein dt. Dichter bin ich einst gewe- standes. sen‹. Mchn. 1988, S. 306–310, 333. – Heinz Dieter Tschörtner: Unbekanntes v. J. W. Notizen für ein Jakob-Böhme-Stück. Aus Anlaß des 100. Geburtstages v. J. W. In: Görlitzer Magazin 10 (1996), S. 76–80. – Wolfgang Wessig: Vom Heimatspiel zum Exildrama. J. W. als Dramatiker. In: Dichter u. Lit. im Sechsstädtebund vom 18. Jh. bis zur Gegenwart. Red.: Marion Kutter. Kamenz 1998, S. 88–103. – H. D. Tschörtner: Das literar. Werk des

Weitere Werke: Theaterstücke: Wo Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht. Wien 1977. – Die Erfolgreichen. Bern 1982. – The Gnomes of. Zürich 1986. – Hörspiele: A deplorable original Swiss story. DRS 1972. – Wanderungen. DRS 1972. – Die Zurücknahme. ORF 1974. – Der Fall Henzi. Zürich 1974. – Vom Ärgernis zum Klassiker. DRS 1978. Dominik Müller / Sonja Schüller

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Wunderer. – Heldendichtung aus dem Stoffkreis um Dietrich von Bern, 13. Jh. (?) Zwei Handschriften u. drei Drucke des 15. u. 16. Jh. überliefern eine Erzählung aus der Jugend Dietrichs von Bern, die man (ohne jede Gewähr) ins 13. Jh. zu datieren pflegt. Die schmale Überlieferung bietet den Text in verschiedenen Fassungen; neben den erzählenden Texten, deren Verfasser unbekannt sind, steht ein Fastnachtspiel des 15. Jh., für das man Hans Folz als Verfasser in Betracht gezogen hat. Bei den erzählenden Texten kann man eine stroph. Version u. zwei Fassungen in Reimpaaren unterscheiden. Die Reimpaarfassungen sind nur trümmerhaft in je einem Textzeugen erhalten: in Fragmenten eines Drucks von etwa 1490 u. als Teileintrag in einer Sammelhandschrift vom Anfang des 16. Jh. (Da der Druck nur späte Partien, die Handschrift nur den Anfang der Erzählung bietet, können die Texte nicht direkt verglichen werden, doch weisen deutl. Unterschiede in der Erzähltechnik darauf hin, dass es sich nicht um Zeugen ein u. derselben Fassung handelt.) Dagegen ist die stroph. Version vollständig u. gut bezeugt, u. zwar ihrerseits in zwei Fassungen: die eine im Dresdner Heldenbuch von etwa 1472, die andere in zwei Drucken von 1503 u. 1518. In der stroph. Version (beide Fassungen 215 Strophen in der Heunenweise) wird berichtet: Bei einem Fest, das der Hunnenkönig Etzel für die Großen seines Reichs gibt, erscheint ein überaus schönes Mädchen u. fleht um Hilfe gegen den wilden Wunderer, der sie verfolgt u. fressen will. Etzel lehnt es ab, selbst zu kämpfen, u. verweist das Mädchen an seine Helden. Sie richtet ihre Bitte an Rüdiger (den berühmten Helden aus dem Nibelungenlied), der ebenfalls ablehnt. Von Etzel in einen anderen Saal gewiesen, findet sie dort den jungen Dietrich von Bern, der Etzel zur Erziehung anvertraut ist. Er erklärt sich spontan bereit zu kämpfen, doch verweigert Etzel die Erlaubnis aus Furcht, sein Schützling könne zu Schaden kommen. Der Wunderer dringt mit einer Hundemeute in die Burg ein u. fordert die Herausgabe des Mäd-

Wunderer

chens. Wie sich herausstellt, war es ihm zur Ehe versprochen, verschmähte ihn aber. Dietrich nimmt nun doch den Kampf auf, siegt nach hartem Ringen u. schlägt dem Wunderer den Kopf ab. Man feiert ein Siegesfest. Das Mädchen, das sich als Frau Sælde vorstellt, nimmt Abschied. Die Festgesellschaft beschließt, die wunderbare Begebenheit aufschreiben zu lassen, u. geht auseinander. Die Geschichte folgt einem international verbreiteten, durch Boccaccios NastagioNovelle (Decamerone V 8) u. deren Darstellung in einem Gemälde Botticellis berühmt gewordenen Erzähltyp: Der verschmähte Liebhaber jagt die spröde Geliebte, um sie zu töten (»Frauenjagdsage«). Ob die Verbindung des Erzähltyps mit Dietrich von Bern altüberlieferte Sage oder junge literar. Erfindung ist, lässt sich nicht sagen. Man hat wiederholt versucht, sie an einschlägige Volksüberlieferungen (Sagen vom Wilden Jäger u. vom Herrn der Tiere, die Saligfräulein der Tiroler Volkssage) anzubinden, doch sind die Begründungen äußerst dürftig u. überzeugen um so weniger, als klare Motivparallelen zur mhd. Literatur nachweisbar sind (so v. a. zum Wigamur-Roman des 13. Jh. u. zum weit verbreiteten Wolfdietrich-Epos). Sagengeschichtlich bedeutsam ist hingegen ein Hinweis auf Dietrichs Schicksal: Frau Sælde spricht vor dem Kampf einen Segen über den Helden, aufgrund dessen ihn Gott in allen Kämpfen beschützt, die er zu bestehen hat. Daran knüpft der Erzähler die Bemerkung, Dietrich lebe noch heute: Zur Buße dafür, dass er den Einflüsterungen des Teufels Gehör geschenkt habe, sei er auf einem »unreinen« Ross in die Wüste »Rumeney« (die Romagna?) entführt worden, wo er zur Buße bis zum jüngsten Tag gegen Drachen kämpfen müsse. Der Hinweis fügt sich in eine reich bezeugte Überlieferung von Dietrichs Ende. Literarhistorisch ist der W. vor allem in zweierlei Hinsicht von Interesse. Zum einen ist er ein Musterbeispiel dafür, wie der Dietrichstoff mit Hilfe von Erzählschablonen des höf. (Artus-)Romans literarisiert wurde: Etzel wird (explizit!) mit König Artus verglichen, u. wie es bei dessen Hoffesten zu geschehen pflegt, bricht auch hier die aventiure ein in

Wundt

Gestalt eines um Schutz flehenden Mädchens, dessen sich einer der berühmten Helden aus dem Kreis des Herrschers annimmt. Zum anderen bietet der W. ein Gegenstück zur Erzählung von Dietrichs Jugend in der Virginal. Hier wie dort bewährt sich der Held in seiner ersten Waffentat als Verteidiger eines Mädchens gegen ein anthropophages Ungeheuer; in der Virginal ist seine Hilfsbereitschaft jedoch zögerlich u. bleibt gebrochen durch eine negative Einstellung zum Frauendienst, während sie, kontrastiv unterstrichen durch die Feigheit Etzels u. Rüdigers, im W. als der prägende Zug des Helden erscheint, den er – wie Autor u. Publikum wussten – in seinen vielen Abenteuern immer wieder bewährte. Ob der W. dezidiert als »Anti-Virginal« konzipiert wurde, muss dahinstehen. Deutlich ist in jedem Fall die Absicht des Autors, ein Teilstück von Dietrichs Leben zu entwerfen, das dessen Entwicklung, wie sie sich in den bereits vorhandenen Texten darstellt, ausbaut u. begründet. Das entspricht dem gattungstypischen Prinzip der zykl. Reihenbildung. Ausgaben: (stroph. Version): Das Dresdener Heldenbuch u. die Bruchstücke des Berlin-Wolfenbütteler Heldenbuchs. Ed. u. Digitalfaks. Hg. Walter Kofler. Stgt. 2006 (Fassung des Dresdner Heldenbuchs). – Le W. Fac-Similé de l’Edition de 1503. Hg. Georges Zink. Paris 1949. Literatur: Joachim Heinzle: Mhd. Dietrichepik. Mchn. 1978. – Ders.: Einf. in die mhd. Dietrichepik. Bln./New York 1999 (Bibliogr.). – Ders.: Der W. In: VL. – Uta Störmer-Caysa: Der Name des Unholds. Überlegungen zum W. mit einem spekulativen Ausblick auf ›Laurin‹ u. ›Rosengarten‹. In: ZfdPh 124 (2005), Sonderheft, S. 182–204. – Victor Millet: German. Heldendichtung im MA. Eine Einf. Bln./New York 2008. Joachim Heinzle

Wundt, Wilhelm, * 18.8.1832 Neckarau bei Mannheim, † 31.8.1920 Großbothen bei Leipzig. – Begründer der akademischen Psychologie. Der Pfarrerssohn studierte 1851 Medizin an der Universität Tübingen, 1852–1855 in Heidelberg u. schließlich in Berlin bei dem Experimentalphysiologen Johannes Müller (Promotion 1856 u. Habilitation 1857 in Heidelberg). Als Assistent von Hermann von

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Helmholtz leitete W. von 1858 an die Übungen in dessen physiolog. Seminar, bis er 1864 zum a. o. Prof. ernannt wurde. 1874 folgte er einem Ruf nach Zürich auf den Lehrstuhl für Induktive Philosophie. Im folgenden Jahr wurde er als Philosoph an die Universität Leipzig berufen, wo er bis zu seinem Tod lehrte. In Leipzig gründete W. 1879 das erste Psychologische Institut der Welt, das zunächst nur aus einem Forschungslabor bestand, später aber zum internat. Zentrum der jungen Wissenschaft wurde. Die meisten der um die Jahrhundertwende bekannt gewordenen Psychologen studierten bei W., darunter James McKeen Cattell, Granville Stanley Hall u. der Psychiater Emil Kraepelin. Als Publikationsorgan seines Instituts begründete W. 1883 das weltweit erste psycholog. Periodikum, das zwar zunächst den Titel »Philosophische Studien« trug, aber fast ausschließlich Veröffentlichungen über experimentelle Arbeiten enthielt. Sein method. Konzept einer wissenschaftl. Psychologie entwarf W. in seinem physiolog. Lehrwerk Beiträge zur Theorie der Sinneswahrnehmung (Lpz. 1862). Ausgangspunkt aller Psychologie sei die Selbstbeobachtung, Hilfsmittel zum einen das Experiment u. zum anderen die Analyse der Geschichte. In Anlehnung an das Vorgehen der klass. Naturwissenschaften versuchte er in seinem Werk Grundzüge der physiologischen Psychologie (2 Tle., ebd. 1873/74. Revidiert 3 Bde., 6 1908–11) kleinste, nicht weiter zerlegbare Einheiten des Psychischen, sog. psych. Elemente, aufzuspüren, wobei er Empfindungen als Elemente objektiver u. Gefühle als Elemente subjektiver Erfahrung unterschied. Für die Gefühle entwickelte W. in seinem Grundriss der Psychologie (ebd. 1896. Revidiert 9 1909) ein klassifikatorisches Schema mit den drei Dimensionen Lust/Unlust, Spannung/ Entspannung u. Erregung/Ruhe. Im Streit mit der Würzburger Schule, die auf reine Selbstbeobachtung setzte, verteidigte W. vehement die Bedeutung des Experiments u. die Einhaltung seiner Kriterien wie Wiederholbarkeit u. Variation. Da jedoch nach W. die experimentelle Methode nicht zu höheren geistigen Phänomenen vordringen

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Wurm

kann, schuf er als Ergänzung seine monu- Wurm, Ernst, * 30.6.1906 Katzelsdorf bei mentale Völkerpsychologie (10 Bde., Lpz. Wiener Neustadt, † 30.9.1971 Wiener 1900–20. Neudruck Aalen 1975 ff.), eine Neustadt. – Dramatiker, Erzähler, Jourpsycholog. Entwicklungsgeschichte der nalist. Menschheit von der Sprache über Kunst, Mythos u. Religion bis zu Gesellschaft, Recht Nach dem Abschluss der Handels- u. Realu. Kultur. In den Bänden ist großes Detail- schule nahm W. in Wien ein Jahr privaten wissen zusammengetragen. Im Sprachenteil Schauspielunterricht; sozialer Notstand gab W. einen Überblick über die damals be- zwang ihn jedoch zur Ausübung eines Hankannten Gebärdensysteme etwa der Taub- delsberufs. Zu seinen ersten schriftstelleristummen, »Naturvölker«, Neapolitaner oder schen Versuchen (Lyrik u. balladeskes Drama) der Zisterziensermönche, um seine These ei- wurde er von Romain Rolland, Thomas Mann ner urspr. anschaul. Beziehung zwischen u. Max Reinhardt ermutigt. Seit 1933 arbeiZeichen u. Bezeichnetem zu untermauern. tete W. beim österr. Rundfunk u. schrieb Fachkollegen griffen den volksgruppenori- Theater-, Musik- u. Literaturkritiken; 1944 entierten Ansatz allerdings nicht auf, u. die wurde er zum Kriegsdienst eingezogen. Mit seinem ersten Roman, Solange die Erde Völkerpsychologie ist heute mehr für Ethnologen interessant als für Psychologen, die sie steht (Stgt./Bln. 1934), der am Schicksal eines wie die meisten der annähernd 500 Veröf- rumän. Bauern den Einbruch der Zivilisation fentlichungen W.s kaum rezipieren. W.s in das abgeschiedene, naturnahe Leben u. den herausragende Bedeutung für die Geschichte Triumph des erdverbundenen Bauerntums der Psychologie liegt darin, dass er das Ex- schildert, gelang W. der literar. Durchbruch. periment als wissenschaftl. Methode inner- Mit dem breit angelegten Roman Die Adlerin halb eines damals noch zu den Geisteswis- (Wien 1936), in dem er eindrucksvoll das tragische Schicksal der stolzen u. heldenhafsenschaften zählenden Fachs durchsetzte. Weitere Werke: Ethik. Stgt. 1886. Rev. 3 Bde., ten Johanna von Navarra erzählt, konnte W. 4 1912. – Einl. in die Philosophie. Lpz. 1901. 91922. an seinen Erfolg anschließen. Seine Romane – Einf. in die Psychologie. Ebd. 1911. – Erlebtes u. u. Erzählungen, die Themen aus dem Erkanntes. Stgt. 1920 (Autobiogr.). Künstlermilieu (Musik wie ein Schwert. Bln. Literatur: Bibliografie: W. W.s Werke. Hg. 1938), der Geschichte (Die Sängerin. Ebd. Eleonore Wundt. Mchn. 1927. – Weitere Titel: Dies.: 1939) u. dem Bauern- u. Kleinbürgertum (Der W. In: Dt. Biogr. Jb., Überleitungsbd. 2, Held von Nedea. Wien/Lpz. 1937) behandeln, S. 626–636. – W. W. and the Making of a Scientific wurden v. a. aufgrund der packenden RealisPsychology. New York 1980. – Ludwig Pongratz: tik, verbrämt mit idealistischen Zügen, geProblemgesch. der Psychologie. Mchn. 21984, S. 99–106. – Berthold Oelze: W.: Die Konzeption schätzt. W. war auch als Drehbuch- (Wetterder Völkerpsychologie. Münster 1990. – Georg leuchten im Biedermeier. Ufa 1932) u. HörLamberti: W. M. W. (1832–1920). Leben, Werk u. spielautor (Die unendliche Melodie. Buchausg. Persönlichkeit in Bildern u. Texten. In Gedenken Wien 1951) erfolgreich. an den 75jährigen Todestag v. W. W. Bonn 1995. – Kurt Danziger: Sealing off the Discipline: W. W. and the Psychology of Memory. In: The transformation of psychology: influences of 19th-century philosophy, technology, and natural science. Hg. Christopher D. Green. Washington, DC 2001, S. 45–62. – Holger Steinberg (Hg.): Der Briefw. zwischen W. W. u. Emil Kraepelin. Zeugnis einer jahrzehntelangen Freundschaft. Bern u. a. 2002. – Maximilian Wontorra: W. W. (1832–1920) u. die Anfänge der experimentellen Psychologie. Lpz. 2004 (mit CD-ROM). Angela Schrameier / Red.

Weitere Werke: Zwischen Genf u. Paris. Wien 1932 (Kom.). – Shakespeare-Legende. RAVAG 1935. Buchausg. Wien 1950 (Hörsp.). – Seine Kraft war in ihm mächtig. Stgt. 1935 (R.). – Agneta Tischler. Bln. 1937 (E.). – Die Messe des Tauben. Wien 1940 (E.). – Gast aus Gottesland. Ebd. 1940. – Die Unvollendeten. Böhmisch-Leipa 1940 (R.). – Der Bürger. Bln. 1941 (R.). – Yüan Schi-Kai. Bln./Wien/Lpz. 1942 (R.). – Michaela. Wien 1947 (R.). – Die Krone. Graz 1951 (R.). – Die letzte Sonate. Ebd. 1968 (R.). Literatur: Walter Edelbauer: Ich will nicht umsonst gelebt haben – E. W. 1906–1971. Wiener Neustadt 1996. Cornelia Fritsch / Red.

Wurm

Wurm, Franz, * 16.3.1926 Prag, † 29.9. 2010 Ascona. – Lyriker, Übersetzer. W. entstammte einer dt.-jüd. Fabrikantenfamilie. Er besuchte in Prag die dt. Grundschule u. das frz. Gymnasium. Nach dem Einmarsch dt. Truppen in die Tschechoslowakei verließ W. Anfang April 1939 Prag u. reiste ohne Eltern nach England. Er legte 1943 die Reifeprüfung am Cheltenham College ab u. studierte anschließend bis 1947 am Queen’s College in Oxford Germanistik u. Romanistik. Seit 1941 hatte er frz., seit 1944 engl. Gedichte veröffentlicht, seit 1944 schrieb er auch deutsch. 1945 erreichte ihn die Nachricht vom Tod der Eltern in Auschwitz. 1947 bekam er die engl. Staatsbürgerschaft u. freundete sich mit dem Physiker u. Pädagogen Moshé Feldenkrais an. Nach Tätigkeiten als Redakteur, Ghostwriter u. Fremdenführer siedelte er Anfang 1949 nach Zürich um. Der Debütband Anmeldung (Zürich 1959) bietet Lyrik u. lyr. Prosa, die W.s Prägung durch den Surrealismus dokumentieren. Die Formensprache von W.s Dichtung weist von Beginn an ein breites Spektrum auf. Es reicht vom Sonett über gereimte Texte bis zu freirhythm. Langgedichten. Thematisch begegnen mytholog. Stoffe, surreale Szenen u. regelrechte Kaskaden metaphor. Splitter, die im Stil Mallarmés zu Bild-Konstellationen zusammentreten. W. gelingen einprägsame poetolog. Metaphern (»Tanzend auf der Spitze des Atems«), wobei Metaphern aus dem maritimen Bereich dominieren (»Wellen hoben mich auf ihre Hörner und warfen mich meinem Herzen voraus«). Auffallend ist W.s Vorliebe für die Technik der Wortwiederholung. Der zweite größere Gedichtband Anker und Unruh (Ffm. 1964) besteht überwiegend aus Gedichtzyklen, um deren »langen Atem« der mit W.s Gedichten vertraute Celan ihn beneidete. 1963 war die erste persönl. Begegnung mit Paul Celan erfolgt, mit dem W. seit 1960 korrespondierte. Ihr knapp zweihundert Briefe u. Karten umfassender Briefwechsel (Paul Celan. F. W. Briefwechsel. Hg. Barbara Wiedemann. Ffm. 1995. 2003) dokumentiert eine intensive Dichterfreundschaft.

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Von 1966 bis 1969 war W. Leiter des Kulturprogramms des DRS (Deutsches Radio Schweiz) in Zürich. Anfang 1969 gab er diese Tätigkeit auf u. ging für zwei Jahre nach Prag. Zurück in Zürich gründete er 1974 mit Moshé Feldenkrais das auf Bewegungs- u. Körpertherapie spezialisierte Feldenkrais-Institut, dessen Leitung er nach dessen Tod übernahm. Schon 1968 hatte W. das erste Werk von Feldenkrais übersetzt, dem weitere folgen sollten. Als Übersetzer hat sich W. besonders um René Char u. den Tschechen Vladimír Holan verdient gemacht; außerdem übersetzte er Paul Valéry u. Michael Hamburger. W.s Spätwerk seit den 1980er Jahren lässt sich als eigenständige Fortsetzung des Celan’schen Sprachduktus lesen. Typisch sind die überschriftlosen Gedichtanfänge in Majuskeln, der Gebrauch von Interjektionen, Appositionen u. zeilengebrochenen Wörtern wie etwa: »NIEDERGEPFLÜCKT, ach, nieder- / gepflockt, wo die Himmelsrunse, die alte / Fuchtel, lispelt und flennt« (aus: Hundstage. Mit Zeichnungen von Gisèle Celan-Lestrange. Zürich 1986). Eine wesentl. Differenz liegt aber in W.s Verzicht auf die enigmat. Verwendung von Fachsprachen u. abseitigen Termini. Zudem tritt an einem Langgedicht wie Offene Fuge (aus: Dreiundfünfzig Gedichte. Zürich 1996) etwa im Vergleich zu Celans Todesfuge W.s stärkere Orientierung an der konstellativen Sprachform Mallarmés zu Tage. W. hat in einem dichtungstheoret. Vortrag, der Paul Eluards berühmte Gedichtzeile »La terre est bleue comme une orange« (Die Erde ist blau wie eine Orange) umspielt, sein eigenes Schreiben als »Übersetzen des Sprachlosen in Worte« bezeichnet (Blaue Orangen oder Das Auge der Pallas Athene. Segmente eines Umgangs um Dichtung. Frauenfeld 2005). Ausgehend von seiner eigenen Erfahrung als Übersetzer hat er in der dichterischen Sprache das Zusammenspiel von einem »wörtlichen Informationsgehalt« u. einer individuellen »Gestaltung des Ausdrucks« gesehen. Das begrifflich nicht Subsumierbare des ästhetischen Gebildes fasste er in das von Musil für die Dichtung geprägte Bild des »Schwingens einer Brücke«. Bemerkenswert ist, dass

Wust

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W., der in seinem Vortrag eine dem Dichterischen sich von außen nähernde Beschreibung verweigert, letztlich zu einer Aussage kommt, die Albrecht Fabris ästhetischem Axiom »Das Wesen der Kunst ist Tautologie« nahe verwandt ist: »Dichtung sagt, was sie ist; was sie ist, sagt sie.« – Seine letzten Lebensjahre verbrachte W. zurückgezogen in Ascona. Weitere Werke: Vorgang. 1962 (L.). – Gedichte. Mit Handätzungen v. Emil Müller. Zürich 1965. – in diesem fall. Zürich 1989 (L.). – Dirzulande. Wien/Darmst. 1990 (L.). – Unter Anderem. Spiel. 1992. – Nachbemerkungen zu Feldenkrais. 1995. – König auf dem Dach. Eine Auslassung. Frauenfeld 1997 (L.). – Orangenblau. Denklingen 1998 (L.).

schichte, Von einer verschollenen Königsstadt. Wien 1850. Hbg. 21856; oder die politischen Parallelen. Lpz. 1849. 21852), zumeist pseudonym erschienen, die – trotz deutl. Qualitätsunterschiede – die Nähe zu Nikolaus Lenau u. Anastasius Grün verraten. Literatur: Elisabeth Lebensaft u. Hubert Reitterer: W.-Aspekte. Wien 1991. – Robert Rill: C. v. W. – eine wiss. Biogr. Wien 1992. – Stanisl/aw Predota: C. v. W. als Sprichwortforscher. In: Proverbium 14 (1997), S. 289–301. – Izabela Kleszczowa: In der Judenstadt, dem Krakauer Stadtteil Kazimierz v. C. W. In: Aus der Gesch. Österreichs in Mitteleuropa. Bd. 2. Red. Anna Glaser. Wien 2000, S. 68–78. Elisabeth Lebensaft / Red.

Jürgen Egyptien

Wust, Peter, 28.8.1884 Rissenthal/Saarland, † 3.4.1940 Münster; Grabstätte in Wurzbach(-Tannenberg), Constant von, Mecklenbeck (heute zu Münster gehörig). auch: W. Constant, * 11.4.1818 Laibach – Katholischer Religionsphilosoph u. Pu(heute: Ljubljana), † 18.8.1893 Berchtes- blizist. gaden; Grabstätte: ebd. – Biograf; LyriDer Sohn eines Siebmachers u. Hausierers sah ker, Epiker. Der Sohn eines Advokaten begann selbst ein Jurastudium, wandte sich aber dann der Militärlaufbahn zu. Nach seiner Promotion zum Dr. phil. (1843) wurde W. Skriptor an der Universitätsbibliothek in Lemberg; seit 1849 trat er als Vorstand der Administrativen Bibliothek des Ministeriums des Innern in Wien v. a. durch organisatorisches Wirken sowie die Herausgabe wichtiger Bibliografien hervor. Seit 1874 lebte er, für die Vollendung seines Biographischen Lexikons des Kaiserthums Oesterreich (60 Bde., Wien 1856–91) freigestellt, in Berchtesgaden. Wenn auch W.s Name in erster Linie mit seinem Hauptwerk, einem noch heute gültigen Standardwerk der österr. Biografik, verbunden, ja zu einer Metonymie dafür geworden ist, verdienen doch auch eine Reihe anderer, vorwiegend kompilatorischer Publikationen – häufig aus der poln. Kunst- u. Kulturgeschichte –, etwa seine diversen Sammlungen u. Erläuterungen von dt. u. poln. Sprichwörtern u. Redensarten, Erwähnung. Neben ungedruckten, in Lemberg aufgeführten Lustspielen schuf er auch Lyrik u. epische Versdichtungen (etwa das romantisierende Epos aus der poln. Sage u. Ge-

seine über mancherlei Krisen wiedergewonnene u. bis zu seinem mitleidswürdigen Tod (Kiefern- u. Mundhöhlenkrebs) verkündete Glaubensgewissheit verkörpert in dem dörflich-frommen, von Entbehrungen, aber auch von schweren psych. Spannungen geprägten Milieu seiner saarländ. Kindheit. W. hat diese Frühzeit später in seiner bewegenden Autobiografie Gestalten und Gedanken. Ein Rückblick auf mein Leben (München 1940. 41950) rekonstruiert, die der junge Heinrich Böll von seinem Bruder geschenkt bekam. Gefördert von dem örtl. Pfarrer, besuchte W. das FriedrichWilhelm-Gymnasium in Trier (1900–1907). Statt des urspr. avisierten Theologiestudiums studierte er Deutsch u. Englisch in Berlin u. Straßburg (Staatsexamen 1910), lehrte dann an Schulen in Berlin, Neuss, Trier (seit 1915) u. Köln (seit 1921), wobei sich seine philosophischen Interessen in den Vordergrund schoben. Neben dem Schuldienst promovierte er 1914 mit einer Dissertation über John Stuart Mill in Köln. Es waren Ernst Troeltsch u. besonders Max Scheler, denen sich W. ausdrücklich verpflichtet fühlte. Erst 1930 wurde er zum Professor für Philosophie in Münster ernannt. Durch ein weitläufiges Werk, durch seine Vorlesungen, aber auch

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durch öffentl. Vorträge im Rahmen des Verbandskatholizismus u. durch publizistische Arbeiten profilierte er sich, den Nationalsozialisten fernstehend, als einer der bedeutendsten Protagonisten der kath. Literaturbewegung des 20. Jh. – porträtiert als »Prof. Munster« in Hermann Kasacks Roman Die Stadt hinter dem Strom. In seinem viel beachteten philosophischen Erstlingswerk formulierte W. nach den Schockerfahrungen des verlorenen Ersten Weltkriegs u. nach der entschiedenen Abkehr vom Neukantianismus Die Auferstehung der Metaphysik (Lpz. 1920). Hinter Kant u. Descartes zurückgreifend, von nun an auch gepaart mit der aggressiven Abkehr vom »Knochenfraß des Historismus«, propagierte er eine theologisch gegründete Ontologie u. Anthropologie, die sich – gegen den modernen Subjektivismus – immer wieder gern auch auf Goethes Seinsfrömmigkeit berief. Dem postulierten ontolog. Unschuldsblick einer »zweiten Naivität«, die als »Weisheit durch den Zweifel hindurchgegangen ist«, verband sich in W.s Spätwerken eine existenzialphilosophische Anthropologie, die sich an Kierkegaard, Jaspers, Heidegger u. dem ›Fideismus‹ der dialektischen Theologie Karl Barths abarbeitete. Unter dem Leitwort der »insecuritas humana« bedachte W. hier die Ausgesetztheit u. »oszillierende« Selbstbestimmung des Menschen als Heilsweg der Moderne u. kritisierte die bürgerlich-saturierte religiöse Gewissheit. Ebenfalls in Ungewißheit und Wagnis (Salzb./Lpz. 1937. München 71962. Neuaufl. Münster 2002 ) zog W. deutlich die Grenzlinien seiner theistischmetaphysischen, zgl. augustinisch imprägnierten Axiomatik im Rahmen der auch auf Kierkegaard zurückgeführten u. doch von ihm abgesetzten zeitgenöss. Existenzphilosophie. Zum Propheten einer »Literaturbewegung des deutschen Katholizismus« wurde W. vor allem 1924 in drei viel diskutierten Zeitungsartikeln über Die Rückkehr des deutschen Katholizismus aus dem Exil, für ihn Indiz eines »allgemeinen Umschwungs des Geistes nicht bloß in Deutschland, sondern in Europa«. Er plädierte »in diesen barbarischen Zeiten« (so Maritain an W.) für einen »nexus fidei« u.

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eine traditionsbewusste, genuin »rheinische« Geistigkeit, die noch bei Heinrich Böll zu spüren ist: »Wann wird von Paris bis Köln eine Brücke des Geistes führen?« Die bekannten Werke von Ernst Robert Curtius (Die literarischen Wegbereiter des neuen Frankreich. 1919. 31923) u. des W. freundschaftlich verbundenen Bonner Romanisten Hermann Platz (Geistige Kämpfe im modernen Frankreich. 1922) erwiesen sich für W. als literar. Schlüsselerlebnisse; sie wurden von ihm lauthals begrüßt. Vor allem ein Aufenthalt in Paris (1928) erwies sich für W. als spirituelles Großereignis von bleibender Wirkung. Die dort gewonnenen Kontakte wurden im regen Briefwechsel mit maßgebl. Vertretern des frz. Renouveau Catholique u. durch Besuche frz. Freunde in Köln u. Münster bestärkt. Schon vor das Jahr 1928 zurück reichen Korrespondenzen mit Romain Rolland u. Jean Baruzi, Professor am Collège de France, dessen Bekanntschaft (Prinz) Karl Anton Rohan (1898–1975), der Gründer (1925) u. Herausgeber der konservativ gestimmten »Europäischen Revue«, vermittelt hatte. Zu den Pariser Prägungen gehörte auch die intellektuelle, ja existenziell empfundene Nachfolge des vom ästhetischen Nihilismus zum Glauben revertierten Joris-Karl Huysmans (1848–1907). Es war v. a. Durtal, eine Figur in Huysmans’ Romans En route, in dem W. sein Ebenbild entdeckte. Zeitweise unterschrieb er manche Briefe nicht mit seinem Namen, sondern mit »Durtal«. Hinter seiner voluntativen Seinsfrömmigkeit u. scheinbarer kath. Unerschütterlichkeit eröffnen sich so in literar. Spiegelung Dimensionen tieferer psych. Krisen u. Melancholien, die W. nur in Andeutungen preisgab. Werke: Ges. Werke. Hg. Wilhelm Vernekohl. Münster 1963–69. Bd. 1: Die Auferstehung der Metaphysik. Bd. 2: Naivität u. Pietät. Bd. 3,1 u. 3,2: Die Dialektik des Geistes. Bd. 4: Ungewißheit u. Wagnis. Der Mensch u. die Philosophie. Bd. 5: Gestalten u. Gedanken. Die Rückkehr aus dem Exil [einleitend v. Robert Grosche: P. W. in Köln, S. 7–20; Einf. zu W.s Autobiogr. ›Gestalten u. Gedanken‹ v. Hubert Schiel, S. 23–39]. Bd. 6: Weisheit u. Heiligkeit. Bd. 7: Aufsätze u. Briefe [letztere in kleiner Ausw.]. Bd. 8: P. W. Leben u. Werk [W. Vernekohl: P. W. Biogr. Notizen, S. 7–148; Karl

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597 Delahaye unter Mitarbeit v. Wilfried Kuckartz: Die Philosophie P. W.s als Christl. Anthropologie, S. 151–410; Ludwig Langenfeld: P.-W.-Bibliogr. mit Verzeichnissen des Primär- u. Sekundärschrifttums, S. 461–517]. Bd. 9: Briefe von u. nach Frankreich. Hg. Johannes Bendiek u. Hildebert A. Huning [von diesem Band erschien 1968 eine Einzelausg., erg. durch den ›Pariser Rechenschaftsbericht‹ u. d. T. ›Ein dt.-frz. Gespräch. P. W.s Briefw. mit Frankreich‹]. Bd. 10: Vorlesungen u. Briefe. Hg. Alois Huning. Gesamtregister zu Bd. 1–10, bearb. v. Othmar Höfling. – Briefe: Karl Pfleger: Dialog mit P. W. Briefe u. Aufsätze. Heidelb. 1949. – Wege einer Freundschaft. Briefw. P. W. – Marianne Weber 1927–1939. Hg. Walter Theodor Cleve. Heidelb. 1951. – Briefe an Freunde. Hg. W. Vernekohl. 2., erw. Aufl. Münster 1956. – Vincent Berning: Fragmente einer geistigen Begegnung. Unveröffentlichte Briefe P. W.s an Hermann Platz. In: Hochland 57 (1964/65), S. 559–569. Literatur: Hermann Westhoff: P. W. Christl. Existenzbewußtsein. In: Grundprobleme der großen Philosophen. Philosophie der Gegenwart V. Hg. Josef Speck. Gött. 1982, S. 178–212. – Werner Veauthier: P. W. In: Saarländ. Lebensbilder. Bd. 2. Hg. Peter Neumann. Saarbr. 1984, S. 271–305. – Begegnung mit P. W. Sechsunddreißig Autoren im Dialog mit dem christl. Existenzphilosophen aus dem Saarland. Zusammengestellt v. Peter C. Keller. Saarbr. 1984. – Alexander Friedrich Lohner: Gewißheit im Wagnis des Denkens. Die Frage nach der Möglichkeit von christl. Philosophie u. Metaphysik im Werk u. Denken des Philosophen P. W. Eine Gesamtdarstellung seiner Philosophie. Ffm. u. a. 1990. – Eugen Biser: Das Wagnis der Weisheit. Der wahrheitstheoret. Ansatz P. W.s. In: Religiöse Erfahrung u. theolog. Reflexion. FS Heinrich Döring. Hg. Armin Kreiner u. Perry Schmidt-Leukel. Paderb. 1993, S. 133–144. – Ekkehard Blattmann: P. W. als Denker u. Leser des Bösen. Ffm. u. a. 1994. – Thomas Ruster: Die verlorene Nützlichkeit der Religion. Katholizismus u. Moderne in der Weimarer Republik. Paderb. u. a. 1994, S. 164–173. – Werner Schüßler: P. W. In: Bautz. – F. Werner Veauthier: Kulturkritik als Aufgabe der Kulturphilosophie. P. W.s Bedeutung als Kultur- u. Zivilisationskritiker. Heidelb. 1998. – Alexander Lohner: P. W. In: Metzler Lexikon Christl. Denker. Hg. Markus Vinzent. Stgt. 2000, S. 742 f. – Ekkehard Blattmann (Hg.): P. W. Aspekte seines Denkens. F. Werner Veauthier zum Gedächtnis. Münster u.a. 2004. – Wilhelm Kühlmann: Die Epoche der Entscheidungen. P. W. u. der Elsässer Charles/Karl Pfleger als Übersetzer u. Vermittler des ›Renouveau catholique‹. In: Moderne u. Anti-

moderne. Der ›Renouveau catholique‹ u. die dt. Lit. Hg. ders. u. Roman Luckscheiter. Freib. i. Br. 2008, S. 131–166. – Richard Faber: Auferstehung der Metaphysik oder Rückkehr ins Dorf. Rheinischer ›Renouveau catholique‹ in konservativ-revolutionärem Kontext. In: ebd., S. 167–186. Wilhelm Kühlmann

Wusterwitz, Engelbert, * um 1385 wahrscheinlich Brandenburg a. d. Havel, † 5.12.1433 Brandenburg a. d. Havel. – Geschichtsschreiber. W. studierte in Erfurt u. Prag u. war im juristischen Dienst tätig. Zu seinen Auftraggebern gehörten die Bischöfe von Brandenburg u. von Halberstadt, das Kloster Lehnin, die Altstadt Magdeburg u. die Neustadt Brandenburg. Sein Hauptwerk, das Memoriale, umfasst die Ereignisse in der Mark Brandenburg an der Wende vom 14. zum 15. Jh. Diese Chronik ist weder im Original noch in Abschriften erhalten. Sie ist aus Rezensionen späterer Autoren erschlossen worden. Des Weiteren wird W. für den Zeitraum zwischen 1411 u. 1421 die Abfassung der Magdeburger Schöppenchronik zugeschrieben. Auch das Prozessregister des Klosters Lehnin geht wohl bei den Nachrichten über das frühe 15. Jh. auf ihn zurück. In allen drei Werken zeigt sich eine ausgesprochen adelsfeindl. Sicht. Die Aufzeichnungen von W. stellen die wichtigsten erzählenden Quellen für die brandenburgische Landesgeschichte jener Zeit dar. Seine parteiische Bewertung der Ereignisse an der Wende vom 14. zum 15. Jh. erfuhr eine vielfältige Rezeption, deren überwiegend unkrit. Übernahme bis heute anhält. Ausgabe der ›Mageburger Schöppenchronik‹: Karl Janicke: Die Chroniken der dt. Städte 7. Lpz. 1869. Neudr. 1962, S. 331,8–358,13. Literatur: Wolfgang Ribbe: Die Aufzeichnungen des E. W. Bln. 1973. – Ders.: Das Prozeßregister des Klosters Lehnin. Potsdam 1998. – Birgit Studt: E. W. In: VL. – Martin Kintzinger: E. W. In: LexMA. Clemens Bergstedt

Wyle, Niklas von ! Niklas von Wyle

Wyneken

Wyneken, Gustav (Adolph), * 19.3.1875 Stade, † 8.12.1964 Göttingen. – Pädagoge. Unter den Vatergestalten der Jugendbewegung u. der Reformpädagogik zu Beginn dieses Jahrhunderts war W. der Intellektuelle u. in der Tendenz politisch Linke. Der Pfarrerssohn studierte Nationalökonomie, Theologie, Philosophie u. später Germanistik an den Universitäten in Berlin, Halle, Greifswald u. Göttingen. Seit seiner Dissertation Hegels Kritik Kants (Greifsw. 1898) stand er Hegel nahe – im Gegensatz zur Fichteverehrung in den Kreisen der Jugendbewegung u. der Deutschnationalen. Nach dem Bruch mit Hermann Lietz, der ihm 1901 die Leitung des Landerziehungsheims Ilsenburg übertragen hatte, gründete er 1906 zusammen mit Paul Geheeb die Freie Schulgemeinde Wickersdorf bei Saalfeld im Thüringer Wald als Stätte einer freiheitl. Bildung u. Erziehung, die von den Jugendlichen selbst mitgestaltet werden sollte. Die kleine Einrichtung gewann an Bedeutung, da einige engagierte u. später berühmt gewordene, jugendl. Anhänger in mehreren Großstädten Freundeskreise dieser Schulgemeinde gründeten, z. B. Walter Benjamin 1907 in Berlin u. Siegfried Bernfeld 1912 in Wien. Auf ihrem Höhepunkt, 1914, bildeten etwa 3000 »Wynekenianer« den polizeilich verfolgten, in seiner Theorie antibürgerlich radikalen sog. »Jugendkultur«-Flügel der Freideutschen Jugend (deren Mehrheit rasch nationalistischen Parolen verfiel). Der Name geht auf W.s programmat. Schrift Schule und Jugendkultur (Jena 1913) zurück. Nach W.s Auffassung blieb die Kritik des Wandervogels an der bürgerl. Gesellschaft zu äußerlich. Daher sollten in der Schule, »der die geistige Kultur der Jugend anvertraut ist«, durch eine krit. Aufnahme der dt. bürgerl. Bildungstradition aus dem »Geist der Jugend [...] eine reine und starke Geistesbejahung, eine unbedingte und starke Kulturgesinnung gerettet« werden, um der »geistigen Krisis durch einen reinen Willen gewachsen« zu sein (Was ist Jugendkultur? Mchn. 1914). W.s Ausstrahlung muss stark u. irritierend gewesen sein u. war von pädagog. Eros (Lauenburg 1921) im

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Sinn eines Führer-Gefolgschafts-Verhältnisses getragen; seine Programmatik blieb, so scharfsinnig er teilweise in der Kritik bürgerl. Ideologie war (Der europäische Geist. Gesammelte Aufsätze über Religion und Kunst. Ebd. 1922. Erw. Bln. 1926), pathetisch, diffus u. verbalradikal. Bereits 1910 musste W. Wickersdorf auf Druck der Meiningischen Schulbehörde verlassen u. begann eine freie Vortragstätigkeit als Vorsitzender des Bundes für freie Schulgemeinden. 1913 gehörte er zu den Initiatoren des Freideutschen Jugendtags auf dem Hohen Meißner. Der Krieg und die Jugend (Mchn. 1915) führte zum Bruch mit den Linken unter seinen Anhängern. 1918 wurde er kurze Zeit Berater der Kultusministerien in Berlin u. München, 1919 war er wieder für ein Jahr Lehrer der Schulgemeinde Wickersdorf, die er, seit 1925 Wirtschaftlicher Leiter, nach endlosen Auseinandersetzungen mit den Behörden 1931 endgültig verlassen musste. Sein weit ausgreifendes Werk Weltanschauung, das er 1934–1936 schrieb u. »in der Mitte zwischen der Religion und der wissenschaftlichen Philosophie« ansiedelte, konnte 1940 in München erscheinen, obwohl es wenig Nähe zur herrschenden Ideologie zeigt u. sogar eine deutl. Kritik am Totalitätsanspruch des Staats enthält. Nach 1945 sah W. noch einmal eine Chance, seine Ziele zu verfolgen. 1948 veröffentlichte er Was können wir tun? Grundlinien einer freideutschen Politik zusammen mit dem Aufruf zur Gründung eines freideutschen Bundes (Hbg.), doch ließ sich an die Bewegung von 1913 nicht mehr anknüpfen. Weitere Werke: Abschied vom Christentum. Mchn. 1963. – Freie Schulgemeinde Wickersdorf. Kleine Schr.en. Hg. Ulrich Hermann. Jena 2006. Literatur: Heinrich Kupffer: G. W. Stgt. 1970. – Ders.: G. W. Ein Wegbereiter der modernen Erlebnispädagogik? Lüneb. 1992. – Thijs Maasen: Pädagog. Eros. G. W. u. die Freie Schulgemeinde Wickersdorf. Bln. 1995. – Hanno Schmitt: G. W. als Reformpädagoge. In: ZRGG 53 (2001), H. 3, S. 240–255. – Margarete Kohlenbach: Walter Benjamin, G. W. and the Jugendkulturbewegung. In: Counter-cultures in Germany and Central Europe. Hg. Steve Giles. Oxford 2003, S. 137–154. – Histor. Jugendforschung. Jb. des Archivs der Dt. Jugend-

Wysocki

599 bewegung. Bd. 3, Die Freie Schulgemeinde Wickersdorf (2006). – Peter Dudek: ›Versuchsacker für eine neue Jugend‹. Die Freie Schulgemeinde Wickersdorf 1906–1945. Bad Heilbrunn 2009. Walther Kummerow † / Red.

Wysocki, Gisela von, * 1940 Berlin. – Essayistin, Lyrikerin, Dramatikerin, Hörspielautorin. W. studierte Musikwissenschaft, Soziologie u. Philosophie in Berlin u. Frankfurt/M., u. a. bei Theodor W. Adorno. 1976 wurde sie in Frankfurt mit einer Arbeit über Potentiale der Subjektivität im irrationalistischen Denken promoviert, aus der ihr erster essayistischer Band Peter Altenberg. Bilder und Geschichten des befreiten Lebens (Mchn./Wien 1979. Neuausg. Hbg. 1994) hervorging. W. lehrte u. a. am Institut für Theaterwissenschaft in Frankfurt/M. u. in Berlin, wo sie derzeit als freie Schriftstellerin lebt. 1996 erhielt sie die Roswitha-von-Gandersheim-Gedenkmedaille. Die im Altenberg-Essay ausgelotete Subjektivitäts- u. Subjektthematik beleuchtet W. in Die Fröste der Freiheit. Aufbruchsphantasien (Ffm. 1980. Erw. Neuaufl. Hbg. 2000) im Hinblick auf Entwürfe des Weiblichen. In sieben Porträts – von Marieluise Fleißer bis Greta Garbo – beschreibt sie den Aufbruch von Frauen, die sich mittels neuer Sprach- u. Bildwelten an bisher unerprobte Möglichkeiten des Lebens abseits der homogenen männl. Ordnungssysteme herantasten. Diese in eine widerspruchsfreie, ungebrochene Identität zu überführen, gelingt den Frauen jedoch angesichts von Konventionen u. verfestigten Weiblichkeitsprojektionen nicht. Vielmehr überlagern sich in ihnen die »verschiedenartigsten kulturellen Systeme«, wie W. auch in Weiblichkeit und Modernität. Über Virginia Woolf (Ffm./Paris 1982, S. 10) ausführt. Dass Identität als »Ablagerung von kulturellem Leben« (vgl. Abendlandspiele – Abschiedsspiele. Gespräch mit Gisela von Wysocki. In: Autorinnen. Herausforderungen an das Theater. Hg. Anke Roeder. Ffm. 1989, S. 127) zu begreifen ist, verdeutlicht W. auch in ihrem ersten Drama Abendlandleben oder Apollinaires Gedächtnis. Spiele aus Neu Glück (Ffm./New

York 1987; Urauff. Basel 1999), das mit dem Theaterpreis der Frankfurter Autorenstiftung u. einem Sonderpreis der Kranichsteiner Literaturtage ausgezeichnet wurde. In diesem multimedialen, postmodernen Gesamtkunstwerk wird eine Gehirnoperation inszeniert, die in Form von zwanzig sich wiederholenden »Spielen« sukzessiv Apollinaires Gedächtnisschichten freilegt. Diese stellen nicht individuelle Erinnerungen vor, sondern decken Fundamente abendländ. Selbstverständnisses auf. Das authentische, originäre Ich wird durch eine komplexe Zitat- u. Montagetechnik als Illusion vorgeführt, Geschichte als geschichtetes Konstrukt kenntlich. Den Konstruktionscharakter von Kunst inszeniert W. in Schauspieler Tänzer Sängerin (in: Theater heute 1988, H. 6, S. 22–33; Urauff. Ffm. 1988; NDR/BR/SWF 1993), indem sie die Mechanik von Tonproduktion, Muskelbewegung u. Gefühlsausdruck vorführt u. mit Ästhetikkonzeptionen parallelisiert, so dass der »Künstler aus seiner Mythengestalt« (Abendlandspiele, S. 137) herausgelöst u. als Ablagerung von Ästhetikgeschichte begriffen wird. Wie auch in Abendlandleben erscheint das Subjekt brüchig, auf eine lineare Handlung wird zugunsten eines Nebeneinanders verzichtet; Sprache wird über Zitattechnik dekonstruiert. Auch in W.s Hörspielen lösen sich Subjekte auf, so z.B. in Tragende Wände oder Niederschriften der Schwerelosigkeit (DLR/HR 2000) sowie in dem 1992 als Hörspiel des Jahres ausgezeichneten Erdbebenforscher (NDR/BR 1992). Mit dem Auflösungsprozess kollabieren Raum- u. Zeitordnungen. So dringt der Erdbebenforscher nicht nur in die Privatsphäre der Protagonistin Michaela Sesselmann ein, sondern macht es sich in ihrem Kopf bequem, wo er ein Erdbeben des Unbewussten protokolliert. In dem Maße, wie sich die zerstörerische Selbstauflösung vollzieht, verwandelt sich das Nacheinander der Ereignisse in eine Gleich- bzw. Vorzeitigkeit. Die Bühne wird zum Simultanraum für die multiperspektivische Darbietung. Sprache u. Inhalt oszillieren – wie in vielen Werken W.s – zwischen diagnostisch-analyt. Präzision u. ungebundener Assoziation, wobei sich die

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akust. Dimension der rhythmisch-melod. Sprechweise bisweilen verselbstständigt. Weitere Werke: Auf Schwarzmärkten. Prosagedichte, Fotografien. Ffm./Paris 1983. – Das Menschenmuseum oder Apollinaires Gedächtnis. HR/SWF/SFB 1988 (Hörsp.). – Auf der Höhe der Tiefebene. Ein Buchstabenspiel. In: Tribunal im Askanischen Hof. [...]. Hg. Herbert Wiesner. Bln. 1989. Urauff. Literaturhaus Bln. 1988 (D.). – Yokohama. NDR 1990 (Hörsp.). – Greta Garbo. Ein Mythos in Bildern. Mit einem Ess. v. G. v. W. Mchn. 1990. – Wildnis Leben. HR/NDR/WDR 1993 (Hörsp.). – Der Erdbebenforscher. In: Spectaculum 57 (1994), S. 247–269 (D.). – Noch nie war die Sonne so nah. WDR/SWF 1994 (Hörsp.). – Stein u. Riesenrad. NDR/HR/WDR 1995 (Hörsp.). – Fremde Bühnen. Mitteilungen über das menschl. Gesicht. Hbg. 1995. Urauff. Zürich 2000. – Der Bildersammler. WDR 1997 (Hörsp.). – Zwei Wochen Wien. NDR/WDR 1999 (Hörsp.). – Mit dem Skandalon auf ›Du‹ u. ›Du‹. In: Hexenreden (zus. mit Birgit Vanderbeke u. Marlene Streeruwitz). Gött. 1999, S. 5–11 (Ess.). – Ich nehme ein Blau. Ich nehme ein Gelb. BR/NDR 2003 (Hörsp.). – Klopfzeichen. Ein Stück. In: Warum nicht würfeln? Gestaltungsmöglichkeiten zu Beginn des 21. Jh. Ffm. 2003, S. 205–285. Als Hörsp. HR 2003. – Und nirgends eine Erde. NDR 2005 (Hörsp.). – Wir machen Musik. Die Gesch. einer Suggestion. Ffm. 2010. Literatur: Birgit Brüster: Das Finale der Agonie. Funktionen des ›Metadramas‹ im deutschsprachigen Drama der achtziger Jahre. Ffm. u. a. 1993, S. 229–264. – Petra Waschescio: Vernunftkritik u. Patriarchatskritik. Mythische Modelle in der dt. Gegenwartsliteratur. Heiner Müller, Irmtraud Morgner, Botho Strauss, G. v. W. Bielef. 1994, S. 105–140. – Markus Moninger: G. v. W. (* 1940). In: Dt. Dramatiker des 20. Jh. Hg. Alo Allkemper u. Norbert Otto Eke. Bln. 2000, S. 631–643. – Peter Michalzik: G. v. W. In: LGL. – M. Moninger: G. v. W. In: KLG. Eva-Maria Gebert

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Mädchenbuch (Bern/Stgt. 1973): Ermutigung zu einem neuen Bewusstsein –, verzichtet aber weitgehend auf Schlagworte zugunsten präzise beobachteter Szenen u. geschickt gewählter Metaphern. Während W. in ihren Kinderbüchern zu einer Überprüfung u. Veränderung der tradierten Geschlechterrollen anregt, setzt sie sich in ihren Romanen mit dem Konflikt zwischen gesellschaftl. Rolle u. Selbstverwirklichung auseinander. In Keine Hand frei (Zürich/Köln 1980) zeigt sie die Spannung zwischen erfülltem Hausfrauendasein u. einer männergeprägten Umwelt. In Flügel im Kopf (ebd. 1982) sucht die Hauptfigur eine Neuorientierung u. »probiert« spielerisch Lebensgeschichten von Frauen aus. Der utop. Roman Der Ozean steigt (Zürich 1987) kritisiert die (umweltzerstörende) Selbstsicherheit der Männer. In Bubikopf und Putzturban. Ein Leben im Zwanzigsten Jahrhundert (Bern/Wettingen 2003) erzählt W. die Lebensgeschichte ihrer Mutter. Der Kontrast im Titel verweist auf die emanzipatorischen Bestrebungen der Mutter wie auch auf das traditionelle Frauenbild, das sie gleichermaßen verkörperte. Zudem reflektiert W. ihr Schreiben als vergebl. Ankämpfen gegen das Verschwinden der Menschen u. Dinge. Als die Asche der Mutter im See verstreut wird, manifestiert die resignierte Aussage ›Nichts bleibt‹ das Scheitern dieses Versuchs. Weitere Werke: Jugendromane: Welt hinter Glas. Zürich/Köln 1979. – Der violette Puma. Ebd. 1984. – Tinas Fahrt durch die Luft. Zürich 1990. – Herausgeberin: Rotstrumpf 1–5 (zus. mit Isolde Schaad). Zürich/Köln 1975. 1977. 1979. 1981. 1983 (Mädchenjahrbücher). Guido Stefani / Elke Kasper

Wyss, Hedi, * 17.10.1949 Bern. – Erzähle- Wyss, Johann David, * 28.5.1743 Bern, rin, Jugendbuchautorin. † 11.1.1818 Köniz. – Erzähler. Nach dem Besuch des Lehrerseminars war W. kurze Zeit als Lehrerin tätig, studierte dann Romanistik, Germanistik u. Kunstgeschichte an der Universität Bern u. arbeitet seit 1969 als freie Journalistin u. Schriftstellerin; sie lebt in Kilchberg bei Zürich. W. wählt in ihrem literar. Werk einen betont weibl. Blickwinkel – vgl. den programmat. Untertitel ihres ersten Buchs, Das rosarote

Der aus bürgerl. Milieu stammende W. studierte an den Akademien Bern u. Lausanne Theologie. Danach war er als Feldprediger bei einem Schweizerregiment auf Sardinien, seit 1775 als Pfarrer in Seedorf, seit 1777 als dritter u. seit 1807 als zweiter Münsterpfarrer in Bern tätig. Für seine Kinder verfasste er um 1800 ein Manuskript, das in der Bearbeitung durch

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seinen Sohn Johann Rudolf u. d. T. Der Schweizerische Robinson oder der schiffbrüchige Schweizer-Prediger und seine Familie (4 Bde., Zürich 1812–27) zum lang anhaltenden Erfolg wurde (13. »Original-Ausgabe«: Zürich 1975. Unzählige Bearbeitungen u. Übersetzungen in viele Sprachen). Gegenüber den Robinsonaden Defoes, Campes u. Schnabels ist W.’ Werk von (vor-)biedermeierl. Geist geprägt; familiärer Zusammenhalt, gegenseitige Hilfe der Familienmitglieder u. Belehrungen durch den belesenen Vater ersetzen Zivilisationskritik u. gesellschaftl. Utopien. Literatur: Paul Dottin: Le Robinson Suisse. In: Mercure de France 613 (1924), S. 114–126. – Robert L. Wyss: Der Schweizerische Robinson. Seine Entstehung u. sein Manuskript. In: Stultifera navis 12 (1955), S. 122–135. – François Walter: Lecture symbolique d’un espace insulaire. In: Geographica Helvetica 38 (1983), S. 121–126. – Hannelore Kortenbruck-Hoeijmans: J. D. W.’ ›Schweizerischer Robinson‹. Dokument pädagogisch-literar. Zeitgeistes an der Schwelle zum 19. Jh. Baltmannsweiler 1999. – Rebecca Gilleland: The Swiss Family Robinson study guide: for the novel by J. D. W. Hg. Andrew Clausen. Fall Creek, Wis. 2003. Rémy Charbon / Red.

Wyss, Johann Rudolf d.J., auch: Adrian, Oscar, Manfred, Q. Q., X. Y., A-n, O-r, Ab-n-s, getauft 4.3.1782 Bern, † 21.3.1830 Bern. – Herausgeber, Volkskundler; Erzähler, Lyriker.

kunde, Naturwissenschaft u. touristische Beschreibung, die Geographisch-statistische Darstellung des Cantons Bern (3 Tle., Zürich 1819–22. Neudr. Genf 1978) gibt eine äußerst präzise Bestandsaufnahme. Zusammen mit Gottlieb Jakob Kuhn gab W. 1811–1830 den Almanach »Alpenrosen«, das bedeutendste Forum der Schweizer Literatur, heraus, mit Kuhn u. Sigmund Wagner (wechselnde Herausgeber) regte er die Sammlung von SchweizerKühreihen und Volksliedern (Bern 1805. Mehrfach erw. u. umgearb. bis 41826. Neudr. Zürich 1979) an, die den Beginn der schweizerischen Volksliedforschung markiert. In den Idyllen, Volkssagen, Legenden und Erzählungen aus der Schweiz (2 Bde., Bern 1815 u. 1822) greift W. zwar auf volkstüml. Überlieferungen u. mittelalterl. Chroniken zurück, versifiziert u. »poetisiert« sie jedoch u. verfällt oft in einen moralisierenden Ton; als Beleg für die Verbreitung von Stoffen u. Motiven ist die Sammlung dennoch von Interesse. Vergessen, obwohl gut erzählt, sind W.’ Dorfgeschichten (Die Bärenjagd. In: Alpenrosen, 1820). Außerdem verfasste W. Mundartgedichte in biedermeierlich-idyll. Ton sowie die spätere schweizerische Nationalhymne (Rufst du, mein Vaterland. 1811). Weiteres Werk: Blumenlese aus den sämmtl. Werken. Hg. Otto v. Greyerz. Bern 1872. Literatur: Ludwig Hirzel: Jacob Grimm u. J. R. W. In: AfdA 3 (1877), S. 204–211. – Alfred Ludin: Der schweizer. Almanach ›Alpenrosen‹ u. seine Vorgänger (1780–1830). Diss. Zürich 1902. – Rudolf Ischer: J. R. W. Bern 1911 (Bibliogr.). – Ders.: Aus dem Briefw. zwischen J. R. W. u. David Hess. In: Neues Berner Tb. auf das Jahr 1913, S. 102–149. – Urs Siegrist: J. R. W. In: Sagenerzähler u. Sagensammler der Schweiz. Hg. Rudolf Schenda. Bern/Stgt. 1988, S. 203–222 (Auswahlbibliogr.).

W. war Sohn des Münsterpfarrers Johann David Wyss, dessen Schweizerischen Robinson er bearbeitete u. herausgab. Nach den Studien an der Berner Akademie – unterbrochen durch eine Reise nach Deutschland (Tübingen, Weimar, Göttingen), wo er Voß, Goethe, Rémy Charbon Schiller, Wieland begegnete – legte er 1803 sein Examen ab u. begab sich nach Halle für Wyss, Laure, * 20.6.1913 Biel, † 21.8.2002 ein weiteres Studienjahr (bei Schleiermacher Zürich. – Erzählerin, Journalistin, Überu. Herbart). 1805 erhielt er die Professur für setzerin. Philosophie an der Berner Akademie. W. war Mitgl. der Geschichtforschenden Gesell- Nach dem Studium der Philologie, Pädagogik schaft, der Bernischen u. der schweizerischen u. Philosophie an den Universitäten in Paris, Künstlergesellschaft. Zürich u. Berlin erwarb W. ein Patent als Auf langen Wanderungen erkundete W. Fachlehrerin auf der Sekundarschulstufe in den Kanton Bern. Die Reise in das Berner Ober- Deutsch u. Französisch. 1937–1942 hielt sie land (2 Bde., Bern 1816/17) verbindet Volks- sich in Stockholm auf, wo sie nach Ausbruch

Wyss

des Krieges für den Evangelischen Verlag in Zollikon Widerstandsdokumente der skandinav. Kirchen übersetzte. 1942 in die Schweiz zurückgekehrt, war W. als Journalistin u. Redaktorin tätig, u. a. beim Schweizerischen Evangelischen Pressedienst. 1946 u. 1947 unternahm sie, ebenfalls vom Evangelischen Pressedienst beauftragt, zwei Reisen nach Polen u. verbrachte im folgenden Jahr einige Monate in England als Haushalthilfe u. Kindermädchen. Seit 1949 war W. freie Journalistin bei verschiedenen Tageszeitungen. 1958–1967 arbeitete sie für das Schweizer Fernsehen; eine ihrer Spezialstrecken war die Sozialreportage. W.s Tätigkeit als Redaktorin beim »Tages-Anzeiger« seit 1962 u. beim »Tages-Anzeiger-Magazin« seit 1969 sind ihre weiteren journalistischen Stationen. In den Medien engagierte sie sich für den Kampf um das Frauenstimmrecht in der Schweiz. Seit der Pensionierung 1975 wirkte sie als Gerichtsberichterstatterin u. freie Schriftstellerin. W. erhielt u. a. den Preis der Schweizerischen Schillerstiftung (1982, 1998), den Bernischen Literaturpreis (1985), den Dr.-A.-Binet-Fendt-Preis, EDI (1991), den Premio Mediterraneo (1992), den Großen Literaturpreis des Kantons Bern (1998) u. die Goldene Ehrenmedaille des Regierungsrates des Kantons Zürich (2001). Die Quintessenz von W.s Schaffen liegt in der Verbindung des journalistischen u. des literar. Artikulationsvermögens begründet u. entspricht damit dem Trend der 1970er Jahre, demzufolge die Gegenwartsliteratur neue Wege zur Behauptung der weibl. Identität zu erschließen hat. Bereits im Band Frauen erzählen ihr Leben. 14 Protokolle. Aufgezeichnet von Laure Wyss (Frauenfeld/Stgt. 1976) werden in Hochdeutsch u. Dialekt gehaltene Lebensberichte von Frauen in differenzierten Sozialrollen dokumentiert. Auch ihre weiteren, ebenfalls der Frauenproblematik gewidmeten Werke weichen in ihrer Essenz davon nicht wesentlich ab. Eine alleinerziehende, A genannte Mutter (Mutters Geburtstag. Notizen zu einer Reise und Nachdenken über A. Ein Bericht. Frauenfeld/Stgt. 1978), falsche Hoffnungen einsamer Frauen, ihre Trauer um den Fluss u. Verlust der Zeit, Flüchtigkeit u. Brüchigkeit der Beziehungen (Tag der Verlorenheit. Frau-

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enfeld/Stgt. 1984. Das blaue Kleid und andere Geschichten. Zürich 1989), junge, randständige u. strafgefangene Frauen (Liebe Livia. Veras Tagebuch von Januar bis Dezember. Zürich 1985) sind wohl die wichtigsten wiederkehrenden Motive bei W. Dieser Stoffkomplex wird im Roman Das rote Haus (Frauenfeld/Stgt. 1982) fortgesetzt: Drei Frauen, die sich in Nordschweden aufhalten u. die Sommerzeit zusammen verbringen, stellen sich der Selbsterkenntnis, u. diese schwebt zwischen dem Gemeinschaftsgefühl u. dem einer individualistischen Vereinzelung. Ein ganz besonderes Interesse verdient ihr Prosawerk Weggehen ehe das Meer zufriert. Fragmente zu Königin Christina von Schweden (Zürich 1994), in dem auf miteinander verwobenen Ebenen, einer histor. u. einer gegenwartsbezogenen, zwei Frauen den Mut zur Revision der eigenen Existenz demonstrieren. Die schwed. Königin Christina Vasa symbolisiert eine souveräne, sich nie den höf. Konventionen ihrer Zeit beugende, auf Europareisen, im Denken u. Betragen unabhängige Dame u. stellt in dieser Rolle für die erzählende IchFigur, die ihre Ehekrise erlebt, ein modernes Vorbild dar. In der späten Schaffensphase machte sich W. auch als Lyrikerin bemerkbar. Ihre Poesie (Lascar. Zürich 1994. Rascal. Zürich 1999) umfasst ein weites themat. Feld: Naturerkenntnis, Lebenslust, Alter, Tod. In der ästhet. Eigenart versteht sie sich jedoch v. a. als eine Einübung in die Wortkunst als solche, als Etüden im präzisen Erfassen von momentanen Reizen u. Ideen. Weitere Werke: Ein schwebendes Verfahren. Mutmassungen über die Hintergründe einer Familientragödie. Eine Dokumentation. Mchn. 1981. – An einem Ort muß man anfangen. Frauen-Protokolle aus der Schweiz. Darmst./Neuwied 1981. – Was wir nicht sehen wollen, sehen wir nicht. Journalistische Texte. Hg. Elisabeth Fröhlich. Zürich 1987. – Briefe nach Feuerland. Wahrnehmungen zur Schweiz in Europa. Zürich 1997. – Schuhwerk im Kopf u. andere Gesch.n. Zürich 2000. – Protokoll einer Stunde über das Alter. Moritz Leuenberger im Gespräch mit L. W. Zürich 2002. – Wahrnehmungen. Zürich 2003. Literatur: Benita Cantieni: Schweizer Schriftsteller persönlich. Interviews. Frauenfeld/Stgt.

603 1963. – Corina Caduff (Hg.): L. W. Schriftstellerin u. Journalistin. Zürich 1996. Zygmunt Mielczarek

Wyssenherre, Michel, * 15. Jh. – Verfasser eines Kurzepos. Am Schluss des nur in einer Handschrift von 1471/74 (Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek, Cod. poet. et phil. 28 4, Bl. 91v104v) überlieferten bu8 ch von dem edeln hern von Bruneczwigk als er vber mer fu8 re nennt sich ein sonst nicht bekannter W. als Autor. Das wohl kurz vor der Niederschrift entstandene, die Form der Moringerballade benützende Kurzepos von 98 siebenzeiligen Strophen knüpft an zwei histor. Ereignisse aus dem Leben Heinrichs des Löwen an (Fahrt ins Hl. Land 1172, Errichtung des Braunschweiger Löwendenkmals 1166), ohne sie allerdings – wie schon in dem um 1300 entstandenen Reinfried von Braunschweig – historisch korrekt wiedergeben zu wollen, wobei das Thema der nicht fristgerechten Heimkehr mit Motiven aus weiteren Stoffkreisen angereichert wird: Der (anonyme) Herzog von Braunschweig bricht, mit seiner Gattin einen Ring teilend, nach Jerusalem auf; fast ein Jahr sitzt das Schiff nach einem Sturm fest, wobei fast alle Mitreisenden verhungern, der Held aber von einem Greif nach dem Muster Sindbads aus 1001 Nacht gerettet wird. Ein Löwe, dem er im Kampf mit einem Drachen beisteht, wird sein ständiger Begleiter. Als er, die vereinbarte Rückkehrfrist ist abgelaufen, von der bevorstehenden Wiederverheiratung seiner Gemahlin hört, kehrt er im Rahmen eines Teufelspaktes, aus dessen Zwängen ihn allein der Löwe rettet, nach Hause zurück. Die Gatten erkennen einander an den Ringhälften u. versöhnen sich. Nach dem Tod des Herzogs, auf dessen Grab sich auch sein treuer Löwe zum Sterben niederlegt, lässt die Witwe das Löwendenkmal errichten. Es geht im Text nicht nur nicht um faktengetreue Wiedergabe von histor. Ereignissen oder auch nur um deren poetische Ausgestaltung wie im Heldenepos, sondern um

Wyssenherre

die Schaffung eines kulturellen Gedächtnisses, das dem Welfenherzog eine neue memoriale Identität verleiht: In einer Welt, in der Machtausübung u. Landesherrschaft zunehmend verbürokratisiert erscheint, verkörpert er die »alten« Tugenden wie Mut, Kampfkraft u. Treue. Das Erzählschema entspricht weitgehend dem Herzog Ernst, ist aber dadurch noch gesteigert, dass der Held außer dem Löwen keine weiteren Helfer hat u. letztendlich sogar die Unterstützung Satans benötigt. W.s Text ist die früheste einer Reihe von Bearbeitungen des Stoffs im 15. u. 16. Jh. (Meisterlieder 1562 u. 1565; Hans Sachs 1565; Heinrich Gödings Hochzeitscarmen von 1585; niederländische, tschech., dän. u. schwed. Fassungen), der auch durch die Bildkunst (Freskenzyklus im ehemaligen Kollegiatsstift Karden an der Mosel, Ende des 15. Jh.) rezipiert wurde. Ausgabe: Vestigia Leonis. Spuren des Löwen. Das Bild Heinrich des Löwen in der dt. u. skandinav. Lit. Texte des MA u. der frühen Neuzeit. Hg., übers. u. erl. v. Hans-Joachim Behr u. Herbert Blume. Braunschw. 1995, S. 50–121. Literatur: Walther Seehausen: M. W.s Gedicht ›Von dem edeln hern von Bruneczwigk, als er über mer fure‹ u. Die Sage v. Heinrich dem Löwen. Breslau 1913. – Hans-Joachim Behr (s. Ausg.), S. 9–49. – Ders: Das Nachleben Heinrichs des Löwen in der Lit. des SpätMA. In: Heinrich der Löwe u. seine Zeit. Kat. der Ausstellung Braunschweig 1995. Bd. 3: Nachleben. Hg. Jochen Luckhardt u. Franz Niehoff zus. mit Gerd Biegel. Mchn 1995, S. 9–14. – Wolfgang Metzner: Greifen, Drachen, Schnabelmenschen. Heinrich der Löwe in erzählenden Darstellungen des SpätMA. In: ebd., S. 15–28. – Werner Röcke: Kulturelles Gedächtnis u. Erfahrung der Fremde. Der Herzog v. Braunschweig in der Lit. des SpätMA u. der Frühen Neuzeit. JOWG 10 (1998), S. 281–297. – Klaus Ridder: M. W. In: VL. – H.-J. Behr: Löwenritter u. Teufelsbündler – ein Braunschweiger Herzog auf Abwegen. Überlegungen zu M. W.s Dichtung. In: Wiss. Ztschr. des Braunschw. Landesmuseums 4 (1997), S. 7–20. Norbert H. Ott / Hans-Joachim Behr

X Xylander, Gulielmus, eigentl.: Wilhelm Hol(t)zmann, * 26.12.1532 Augsburg, † 10.2.1576 Heidelberg. – Klassischer Philologe, Übersetzer, Philosoph, Mathematiker, neulateinischer Dichter. X. stammte aus einfachen Verhältnissen, fand jedoch in dem Augsburger Bürgermeister Wolfgang Rehlinger (ca. 1502–1557) sowie dem Dramatiker, Kirchenlieddichter u. Rektor des Gymnasiums bei St. Anna Sixt Birck (1501–1554) Förderer, die ihm den Schulbesuch u. das Studium der alten Sprachen, der Philosophie u. der Mathematik in Tübingen ermöglichten. Dort immatrikulierte er sich 1549, erwarb 1550 den Grad eines Baccalaureus u. blieb wohl bis 1554. Dann ist X. wieder in Augsburg nachzuweisen, wo ihn Vertreter prominenter Patriziergeschlechter (Fugger, Herwart) unterstützten u. ihm eine Fortsetzung seiner Studien seit 1557 in Basel ermöglichten. X. wurde 1558 zum Magister promoviert u. setzte in dieser Zeit seine Kooperation mit dem örtl. Verleger Johann Oporinus (1507–1568) fort, für den er als Dank an seine Gönner u. aus materieller Notdurft in kurzer Zeit zahlreiche Werke publizierte: die zweisprachige Erstausgabe der Quadriviumsschriften des byzantin. Polyhistors Michael Psellos (1017/8-um 1074), denen X. ein umfangreiches Lehrgedicht über die Teildisziplinen der Philosophie sowie poetische Nachrufe auf den Lehrer Birck beifügte (1556); die erste lat. Übersetzung der Römischen Geschichte von Cassius Dio (1557); Melanchthons Prosa-Übertragung des Euripides, ergänzt um die noch fehlende lat. Hecuba u. eine Vita des Dichters, u. die griech.lat. »editio princeps« der Selbstbetrachtungen des Marcus Aurelius aus dem Jahr 1558, als X. eine Professur für Griechisch in Heidelberg

antrat. Seit 1561 war er auch kurfürstl. Bibliothekar u. vertrat 1562/63 auch die Professur für Mathematik, ehe er von 1563 bis zu seinem Tod den Lehrstuhl für Logik u. mehrfach auch Universitätsämter innehatte. Eine geringe Besoldung u. wirtschaftl. Unvermögen zwangen X. auch in der Heidelberger Zeit zu permanenter literar. Produktion. Er publizierte u. a. die erste vollständige lat. Übersetzung des Plutarch (Vitae. Ffm. 1561. Moralia. Basel 1570) u. des Mathematikers Diophantos von Alexandrien (Basel 1575), die ersten dt. Übertragungen der Bücher 1 bis 6 von Euklids Geometrie (Basel 1562) u. des Geschichtswerks von Polybios (Basel 1574) sowie zweisprachige Erstausgaben des byzantin. Historikers Georgios Kedrenos (11./12. Jh.; ebd. 1566), der griech Paradoxographen, d.h. Sammler »wunderbarer« Fakten u. Begebenheiten, (Antonini Liberalis Transformationum congeries. Ebd. 1568) u. lat. Übersetzungen der griech. Geografen Stephanos von Byzanz (ebd. 1568) u. Strabon (ebd. 1571), aber auch eine zweibändige Horaz-Ausgabe (Heidelb. 1575). Als X. starb, meinte sein Freund Hermann Witekind als Todesursache Überarbeitung annehmen zu müssen. Postum erschienen noch eine von Friedrich Sylburg fertiggestellte Pausanias-Edition (Ffm. 1583) u. eine von Jonas Löchinger zu Ende gebrachte dt. Fassung der Vitae parallelae des Plutarch (Ffm. 1580). X.s Editionen u. Übersetzungen griech. Autoren wurden bis ins 19. Jh. immer wieder neu aufgelegt. Bleibende Bedeutung kommt seiner Marcus Aurelius-Ausgabe zu, weil er hier auf eine seit der Drucklegung verlorene, für die Textüberlieferung aber sehr wichtige Handschrift aus der Bibliotheca Palatina zurückgreifen konnte.

605 Weitere Werke: Theocriti Idyllia [...] cum Scholiis Zachariae [...] Calliergi (Hg.). Ffm. 1558. – Plutarchi Duo commentarii (Übers., Komm.). Basel 1566. – Institutiones logicae aphoristicae. Heidelb. 1577. – Opuscula mathematica. Ebd. 1577. Literatur: Bibliografie: VD 16. – Weitere Titel: Fritz Schöll: W. Holtzmann X. In: ADB. – Erwin Christmann: Studien zur Gesch. der Mathematik u. des mathemat. Unterrichts in Heidelberg. Von der Gründung der Univ. bis zur combinator. Schule. Diss. masch. Heidelb. 1924, S. 67–74. – Franck L. Schoell: Le Plutarque latin de X. In: Ders.: Études sur l’Humanisme continental en Angleterre. Paris 1926, S. 62–98, 197–247. – Ruth Wesel-Roth:

Xylander Thomas Erastus. Ein Beitr. zur Gesch. der reformierten Kirche u. zur Lehre v. der Staatssouveränität. Lahr/Baden 1954, Register s.v. – Griech. Geist aus Basler Pressen. Ausstellungskat. Basel 1993, Register s.v. – Uwe Gryczan: Der Melanchthonschüler Hermann Wilken (Witekind) u. die Neuenrader Kirchenordnung v. 1564. Bielef. 1999, S. 56–92. – Dagmar Drüll: Heidelberger Gelehrtenlexikon 1386–1651. Heidelb. 2002, S. 562 f. – Reinhard Düchting: X. scripsit. In: Ders.: Sibi et amicis. Erinnerungen, kleine Studien, Schriftenverz. Hg. Johanna Wiendlocha. Heidelb. 2006, S. 58 f. Volker Hartmann

Z Zach, Richard, * 23.3.1919 Graz, † 27.1. 1943 Zuchthaus Berlin-Brandenburg. – Lehrer u. Lyriker.

Wien 1989. – Ders.: ›Wozu solche Probleme, Todeskandidat?‹ Über R. Z. In: Zwischenwelt 3 – Lit. in der Peripherie. Ebd. 1992, S. 175–193. – Ders.: Die Frage des Menschseins. Monogr. zu R. Z. (1919–1943). Diss. Salzb. 1993. – Christian Teissl: Fluchtpunkt Graz. Österr. Gegenwartslit. Klagenf. 2006. Johann Sonnleitner / Red.

Der Sohn eines Fassbinders besuchte 1934–1938 die Grazer Bundeslehrerbildungsanstalt u. gründete einen marxistischen Arbeitskreis, der nach 1938 die antifaschistische Zeitschrift »Der rote Stoßtrupp« herausgab. Der Wehrmacht entzog sich Z. Zachariä, (Justus) Friedrich Wilhelm, 1940 durch einen vorgetäuschten Unfall, * 1.5.1726 Frankenhausen am Kyffhäuser, unterrichtete als Lehrer in Graz u. nahm seine † 30.1.1777 Braunschweig. – Verfasser Widerstandsaktivitäten wieder auf, während von Kleinepen, Übersetzer, Herausgeber. er zur Tarnung der Hitlerjugend beitrat. Ein Als drittes Kind des Regierungsadvokaten Verrat löste 1941 eine umfangreiche VerhafFriedrich Sigismund Zachariä u. seiner Frau tungswelle aus. 1943 wurde Z. wegen WehrMartha Elisabeth, geb. Müller, erhielt Z. erskraftzersetzung, Hochverrats u. »Versuch[s] ten Unterricht auf der fürstl. Landschule in der Lostrennung eines zum Reich gehörigen Frankenhausen. Bei poetischen Versuchen Gebietes« im Zuchthaus Berlin-Brandenburg fand er Unterstützung des Vaters. 17-jährig hingerichtet. Von den über 800 erhaltenen nahm er in Leipzig das Studium der JurisGedichten u. Entwürfen, die von geschichts- prudenz auf (immatrikuliert 22.5.1743), philosophischer Dialektik u. utop. Hoffnung wandte sich aber auch der Dichtkunst zu. Im geprägt sind, verfasste Z. zahlreiche in der Jan. 1744 erschien unter allg. Beifall die erste Haft u. gliederte sie in einem Kassiber noch Folge seines berühmtesten Werks, Der Rethematisch in vier Gruppen. Die Verse aus der nommiste. Ein komisches Heldengedichte (in: BeHaft zeugen von Verzweiflung u. zeichnen lustigungen des Verstandes und Witzes. sich durch sprachl. Dichte u. Eindringlichkeit Bd. 1, S. 47–56. Weitere Folgen: ebd., aus (Der Weg ins Licht. Wien 1948). S. 172–186, 244–262, 338–356, 428–446, Weitere Werke: Zellengedichte. Hg. Hermann 525–543). Zum Vorbild hatte es die komiSchürrer u. Gerhard Jaschke. Wien 1978 (= Dop- schen Heldengedichte Le Lutrin von Boileaupelnr. der Ztschr. ›Freibord‹). – ›Streut die Asche in Despréaux u. Popes Lockenraub. Das für das den Wind‹. Österr. Lit. im Widerstand. Hg. ChrisRokoko zum Prototyp gewordene Werk tian Hawle. Stgt. 1988. – Die schönen Worte fallen spiegelt, kulturgeschichtlich genau, das Z. welk u. fremd. Kassibertexte, Gedichte u. Briefe. bekannte galante studentische Stutzerleben Hg. ders. Weitra 1993. in Leipzig, wo er einen relegierten Jenaer Literatur: Christian Hawle: [...] u. schreit die Renommisten samt drei rauf- u. sauflustigen ganze Welt auch Lüge [...]. Zu Leben u. Werk des Widerstandskämpfers R. Z. In: Mitt.en des Instituts Kumpanen sein Unwesen treiben lässt. Die für Wiss. u. Kunst 2 (Wien 1987), S. 46–51. – Ro- bes. Komik des Gedichts entsteht im Wechman Rocˇek: Lit. hinter Gittern. Botschaften des selspiel des parodierten, aus dem antiken Widerstands. In: Morgen 12, H. 58 (1988), Epos bekannten hohen Stils mit dem alltägl. S. 79–82. – C. Hawle: R. Z. ›Gelebt habe ich doch!‹ niedrigen Gegenstand u. durch die Präsenta-

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tion im schwerfälligen Alexandriner. Stark überarbeitet erscheint es auch in der Ausgabe Scherzhafte Epische Poesien nebst einigen Oden und Liedern (Braunschw./Hildesh. [1754]. Weitere Auflagen. Zuletzt hg. von Anselm Maler. Stgt. 1974). Früh zählte Z. zu Gottscheds Schülern, fiel aber schon im Sommer 1744 von ihm ab u. gesellte sich einem Kreis junger Literaten zu, der später unter dem Namen »Bremer Beiträger« in die Literaturgeschichte einging. Carl Christian Gärtner, Johann Arnold Ebert, Eschenburg u. Konrad Arnold Schmid, die Z. in Braunschweig wiedertreffen sollte, wurden seine lebenslangen Freunde. Die jungen Poeten machten sich durch ihre Verehrung u. Unterstützung Klopstocks u. der Schweizer (Bodmer, Breitinger u. Haller) bekannt, deren undogmat. Kunstauffassung sie in Gegnerschaft zu Gottsched in ihren »Neuen Beyträgen zum Vergnügen des Verstandes und Witzes« (Lpz., Bremen) vertraten. 1747 immatrikulierte sich Z. in Göttingen. Während er dort sein Jurastudium fortsetzte, knüpfte er Freundschaft mit Eberhard Friedrich von Gemmingen, mit dem er die Verehrung für die Hofratsgattin Anna Katharine Elisabeth Liste teilte. Er besang sie in anakreont. Manier mit dem Gedicht An Selinen, das er in die Scherzhaften Epischen Poesien (S. 364) aufnahm. Den Band widmete er dem Freund, doch erst als er Gemmingens Poetische und Prosaische Stücke (Braunschw. 1769) ungefragt herausgab, zerbrach die Freundschaft. Der Jurist Johann Christian Claproth, Senior der Göttinger Deutschen Gesellschaft, deren Mitgl. auch Z. war, empfahl ihn dem Abt Jerusalem nach Braunschweig, wo Z. am 18.4.1748 als Hofmeister am Collegium Carolinum eingestellt wurde. Hier war er bei seinen Schülern außerordentlich beliebt: »Seine Liebe zu den schönen Wissenschaften, sein richtig gebildeter Geschmack, seine vertraute Verbindung mit den besten Köpfen Deutschlands [...] wurden für seine Untergebene Beyspiel und Ermunterung; und durch den leichten, gefälligen Ton seines Umgangs mit ihnen, gewann er ihr Zutrauen und ihre Freundschaft« (Eschenburg in: Hinterlassene Schriften von Zachariä. Braunschw. 1781, Vorwort, S. XI).

Zachariä

Ebenfalls in den Scherzhaften Epischen Poesien erschien Z.s Phaeton (Neudr. unter Mitarbeit von Andrea Ehlert neu hg. u. mit einem Nachw. versehen von Gotthardt Frühsorge. Braunschw. 1988), den Gottsched in der Monatsschrift »Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit« (vom Herbstmonde 1754, S. 688) wegen des klass. Metrums, des Hexameters, so abfällig kritisierte. Zum Vorbild für Titel u. Form wählte Z. Phaetons Sturz mit dem Sonnenwagen im zweiten Buch der Metamorphosen Ovids. Vorgeführt werden in komischer Brechung des Mythos getreue Szenen aus dem adligen Landleben, in deren Mittelpunkt die verwegene Gräfin Diana steht, die sich an ihrem 14. Geburtstag die Erlaubnis erbittet, allein den Phaeton (spezieller Typ des Kutschwagens im 18. Jh.) lenken zu dürfen. Ein junger Baron rettet die Stürzende. Bei den Zeitgenossen war das Stück sehr beliebt, v. a. in Frankreich, wo es mehrere Übersetzungen u. Auflagen erfuhr. Gottscheds Ausfälle parierte Z. mit einem Gedicht dem Gedächtnisse des Herrn von Hagedorn gewidmet (Braunschw. 1754), in dem er gegen die Cliquenwirtschaft des Leipzigers polemisierte. Auf die erfolglosen Gottsched’schen Beschwerdebriefe an den braunschweigischen Herzog Karl I. u. seine Regierung reagierte Z. mit der Streitschrift Die Poesie und Germanien. Ein Gedicht (Bln. 1755. Neudr. in: Deutsche Literaturdenkmale des 18. und 19. Jahrhunderts. Bln. 1903; vgl. darin Vorwort von Otto Ladendorf, S. III–XV). Es führt die Germania vor, die am Donaustrand den aufkeimenden poetischen Frühling rühmt, dann jedoch die Klage der Poesie über die Gottschedianer anhören muss. 1761 wurde Z. zum Professor ordinarius Poëseos ernannt, was er bis zu seinem Tod blieb. Er war am Collegium Carolinum v. a. für die Bildung des Geschmacks zuständig u. lehrte in seinen Vorlesungen die in der vorkantischen Zeit wichtige Theorie der schönen Wissenschaften nach Charles Batteux’ Cours de Belles-Lettres, ou Principes de la littérature. – Am 12.12.1761 erhielt er die Aufsicht über die »Gelehrten Beyträge«, ein Teilblatt der »Braunschweigischen Anzeigen«, u. am 26. Dez. über die Buchhandlung des fürstl. Waisenhauses, 1766 schließlich die Leitung des

Zacharieva

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gesamten Intelligenzwesens. In Sachen des Braunschw. 1962, S. 130–164. – Weitere Titel: Franz Waisenhauses 1767 auf der Leipziger Oster- Muncker: F. W. Z. In: Ders. (Hg.): Bremer Beiträmesse, lernte er Goethe kennen (vgl. Dichtung ger. Tl. 2, Bln./Stgt. [1889], S. 243–260. – Paul und Wahrheit, 8. Buch). Seit 1768 gab Z. die für Zimmermann: F. W. Z. in Braunschweig. Wolfenb. 1896. – C. Schüddekopf: J. F. W. Z. In: ADB. – Otto die Literaturkritik der 1770er Jahre wichtige Hermann Kirchgeorg: Die dichter. Entwicklung J. »Neue Braunschweigische Zeitung« heraus, F. W. Z.s. Diss. Greifsw. 1904. – Goedeke 4, an der auch Lessing mitarbeitete. S. 70–73. – Hermann Kaspar: Die kom. Epen v. F. Auf den zahlreichen Treffen der Braun- W. Z. [...]. Breslau 1935. – Klaus Lichem: Die frz. schweiger u. Wolfenbütteler Literaten zu Übers.en des Phaëton v. J. F. W. Z. In: GRM N. F. 19 Punsch u. Gespräch im heute noch existie- (1969), H. 3, S. 241–261. – Yves Carbonnel: La crirenden Großen Weghause zu Stöckheim tique sociale dans l’œuvre de J. F. W. Z. In: EG 43 lernte Z. die Gastwirtstochter Henriette So- (1988), S. 408–425. – Anett Lütteken: Harzreisen – phie Elisabeth Wegener (1735–1825) kennen nicht nur – im Winter. Die Entdeckung einer literar. Landschaft bei F. W. Z. In: JbFDH 1999, u. heiratete sie am 6.1.1773. Lessing berichS. 68–93. – Detlef Ignasiak: Der Renommist: F. W. tete Eva König, »was das für eine angenehme Z. zum 275. Geburtstag. In: Der Schnapphans 81 und in allem Betracht herrliche Hochzeit war (2001), S. 57–59. – Peter Kranepuhl: F. W. Z. [...]. [...]. Wir haben bis an den andern Tag ge- Leben, Werk u. Wirken. Treuen 2001. – Anett schwärmt; und niemand ist zu Bette gegan- Lütteken: J. F. W. Z. In: MGG 2. Aufl. Bd. 17 gen, als Braut und Bräutigam« (8.1.1773). (Personenteil). Andrea Ehlert / Red. Nachdem Z. 1774 freiwillig aus seinen Ämtern ausgeschieden war, erhielt er von seinem Zacharieva, Rumjana, * 30.9.1950 Balcˇik/ Herzog Anfang 1775 das Kanonikat am St. Bulgarien. – Lyrikerin, Erzählerin, ÜberCyriaksstift. Etwa um diese Zeit befiel ihn setzerin. Fieber, das sich nur vorübergehend nach Kuren im Sommer 1776 in Bad Pyrmont Z. publizierte ab 1964 erste literar. Arbeiten besserte. Als er im 51. Lebensjahr an Was- in Bulgarien, Deutsch lernte sie erst nach ihsersucht starb, war dieser einflussreiche Lite- rer Heirat u. Übersiedlung 1970 in die BR rat des Rokoko schon fast vergessen. Der Deutschland. Bis 1977 studierte sie Slawistik Verbleib des Nachlasses ist nicht bekannt. u. Anglistik an der Universität Bonn, wo sie Etwa 120 Briefe von u. an Z. sind erhalten; heute als freie Schriftstellerin u. Übersetzerin umfangreichstes Konvolut ist der Briefwech- lebt. Seit 1975 schreibt Z. auf Deutsch. Ihre sel mit Gleim; es liegt zum größten Teil im ersten Lyrikbände, Geschlossene Kurve (GelGleimhaus in Halberstadt. Weitere Werke: Die Tageszeiten. Ein Gedicht, senkirchen 1978), Fegefeuer (ebd. 1979), Schwur in vier Büchern. Rostock/Lpz. 1756 (vertont v. Ge- (Stgt. 1984), Im Nabelkrater (Gelsenkirchen org Philipp Telemann. Partitur hg. v. Anton Heil- 1989), z.T. wieder abgedruckt in Am Grund der mann. Wolfenb. 1934). – Murner in der Hölle. Ein Zeit. Gedichte (St. Augustin 1993), behandeln scherzhaftes Heldengedicht. Rostock 1757. – Slg. in einem kraftvollen persönl. Ton das Leben Einiger Musikal. Versuche. 2 Tle., Braunschw. in der Fremde zwischen zwei Sprachen u. 1760/61. – Das Verlohrne Paradies, aus dem Engl. Kulturen, Themen einer emanzipierten Johann Miltons in Reymfreye Verse übers. [...]. 2 Weiblichkeit wie Partnerschaft, Sinnlichkeit, Tle., Altona 1760 u. 1763. – Poet. Schr.en. 9 Bde., Mutterschaft u. zunehmend auch, aus einer [Braunschw.] 1763–65. – Die vier Stufen des Weibl. starken Naturverbundenheit heraus, die BeAlters. Ein Gedicht in vier Gesängen. Neue, verb. drohung der Welt durch Atomkraft u. UmAufl. Rostock 1767. – Fabeln u. Erzählungen. In Burkard Waldis Manier. Braunschw. 1771. – Zwey weltzerstörung. 1987 veröffentlichte Z. ihren Roman Eines schöne Neue Mährlein. Lpz. 1772 (anonym). – Tayti, oder Die Glückl. Insel. Braunschw. 1777. – Tages jetzt oder Warum verändert Elisabeth Herausgeber: Auserlesene Stücke der besten dt. Schleifenbaum ihr Leben (Mchn.), die groteske Dichter [...]. 3 Bde., ebd. 1766–78. Geschichte einer rheinischen Rentnerin, die Literatur: Bibliografie: Fritz Meyen: F. W. Z. In: sich eines Tages nach einer Fernsehsendung Ders.: Bremer Beiträger am Collegium Carolinum. entschließt, für den drohenden Atomkrieg

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Zäunemann

einen privaten Bunker zu bauen, u. schließ- Leben in Bulgarien teil u. veröffentlichte zwei lich zwei Mädchen entführt, um sie zu retten. Gedichtbände auf Bulgarisch. Ein WDR-Porträt vom 9.6.2002, Ich, die geDer Roman 7 kg Zeit (Bonn 1990) beschwört in einer einfachen, intensiven Sprache Erinne- borene Verräterin, entfaltet Z.s zentrale Therungen der Ich-Erzählerin an die Sommerfe- matik des Verrats an Herkunft u. Mutterrien des zwölfjährigen Mädchens bei der sprache, des Pendelns zwischen fremd geGroßmutter auf dem Dorf im nachstalinisti- wordener alter u. neuer Heimat, ohne in der schen Bulgarien, an die verwirrenden Wi- fremden Sprache heimisch zu werden, was dersprüche zwischen Staatsideologie u. All- auch den Themenkomplex Transitvisum durchs tagserfahrungen u. die beginnende Pubertät Leben (Hörsp. 1993; Erzählung, in: Wespennest 140, 2005, S. 66–70; Romanplan) von u. Selbstfindung. Im Roman Bärenfell (Unkel/Bad Honnef einem Emigranten bestimmt, der seine 1999) zieht die bulgarisch-dt. Autorin Mila Identität nicht preisgeben u. sich nicht stänwährend eines Besuches zu Hause in Bulga- dig neu definieren lassen will. Z. erhielt u. a. 1979 den Förderpreis für rien eine Bilanz ihres gesamten bisherigen Lebens. Ein Ausflug der Familie ins Balkan- Literatur des Landes Nordrhein-Westfalen, gebirge verbindet sich mit Erfahrungen einer 1991 den Kogge-Förderpreis u. 1999 den Lifrüheren erschöpfenden Bergbesteigung mit teraturpreis der Bonner Lese- und Erhodem Ehemann u. mit weiteren ständig frei lungsgesellschaft. assoziierten bruchstückhaften Erinnerungen Weitere Werke: Kann man den Himmel teilen? an die Kindheit im poststalinistischen Sozia- Ein Märchen. Stgt. 1986. – Poslednata zˇena [bullismus, an die Schulzeit im engl. Gymnasium gar., Die letzte Frau]. Sofia 1992 (L.). – Birka entin Russe, die ersten poetischen Erfolge der 13- deckt Sankt Augustin. Stadt(teil)geschichte(n) für Jährigen, frühe sexuelle Erlebnisse u. dann Kinder. Sankt Augustin 1994. – Gott ist ein Mann, Hemden selbst bügelt. Neue Gedichte. den Wechsel nach Deutschland. Im Lauf der der seine o. O. 22004. – Herausgeberin: 1300 Jahre Bulgarien. Zeit ist der Protagonistin als Reaktion auf Bulgar. Kultur, Kunst u. Lit. Ein Überblick. Zunegative Lebenserfahrungen u. undefinier- sammengestellt v. R. Z. In: die horen 26 (1981), H. bare Schuld ein »Bärenfell« gewachsen, das 124, S. 153–235. – Alltagsschmiede. Ausgew. Gesie schwerfällig macht u. das auch für ele- dichte. Bulgarien 1944–1984. Übertragen aus dem mentare Reaktionen von Liebe oder Eifer- Bulgarischen v. R. Z. Bovenden 1984. sucht steht. Nur sinnl. Offenheit u. ZärtlichLiteratur: Ekaterina Klüh: Interkulturelle keit bzw. das Entsetzen oder außerordentl. Identitäten im Spiegel der Migrantenlit. Kulturelle Augenblicke können es zum Reißen bringen. Metamorphosen bei Ilija Trojanow u. R. Z. Würzb. Eine »Häutung« scheint erst möglich, als die 2009. – Dietmar Endler: Anverwandlung u. Protagonistin am Ende nach langer einsamer Selbstbehauptung. R. Z. – eine deutschsprachige Wanderung auf den Berg in einem Gefühl der Schriftstellerin aus Bulgarien. In: Dt.-bulgar. BeFreiheit im Zentrum ihrer selbst ankommt u. gegnungen in Kunst u. Lit. während des 19. u. 20. Jh. Hg. ders. Mchn. 2006, S. 175–186. – Karlsich u. ihr ganzes Leben mit allen Höhen u. Markus Gauss: In der Zwischenwelt. Zwei Romane Tiefen akzeptieren kann – auch das »Bären- der Bulgarin R. Z. In: NZZ, 6./7.5.2000. fell« als Gegengewicht zu »der betörenden Karl Esselborn Zentripetalkraft der Poesie«, zum »Fliegen«. Die geliehenen Strapse (Siegburg 1998) samZäunemann, Sidonia Hedwig, * 15.1. meln (komische) »deutsch geschriebene eng1714 Erfurt, † 11.12.1740 bei Plaue; lische Kurzgeschichten« aus dem AlltagsleGrabstätte: ebd. – Dichterin. ben einer bulgar. Schriftstellerin über Männer, Kinder, dt. u. bulgar. Gewohnheiten u. a. »Der Ehstand ist ein schwarzes Meer, worein Schon früh versuchte Z., die bulgar. Lite- viel trübe Wasser fliessen; Er ist ein herb- und ratur durch Beiträge in Rundfunk u. Fernse- bittrer Kohl. Kan ihn ein beissend Salz verhen, durch Lesungen, Anthologien u. Über- süssen?« Z., die bereits in jungen Jahren das setzungen in Deutschland bekannt zu ma- Schreiben für sich entdeckte u. zunächst Gechen. Nach 1990 nahm sie stärker am literar. legenheitsdichtung verfasste, thematisierte

Zäunemann

in späteren Texten nicht nur die von ihr persönlich abgelehnte Ehe, sondern v. a. bekannte Personen u. Ereignisse. Damit erreichte die Tochter des Erfurter Notars Paul Nicolaus u. der Hedwig Dorothea Zäunemann bald ein größeres Publikum. Nach Christiane Marianne von Ziegler war Z. die zweite kaiserlich gekrönte Poetin Deutschlands; 1738 verlieh ihr die Universität Göttingen, zu deren Gründung sie ein Jahr zuvor ein Gedicht verfasst hatte, diesen Titel. Z., die sich selbst in Französisch, Latein u. Literatur gebildet hatte, beteiligte sich am zeitgenöss. Diskurs zur Frauenbildung. Sie verwahrte sich dagegen, Frauen auf den familiär-privaten Bereich zu beschränken u. vertrat in ihrem literar. Schaffen den Anspruch der Frauen auf Teilhabe an der Gelehrsamkeit: »Ihr Männer bildet euch nicht ein/ Als ob Vernunft, Verstand, Gelehrsamkeit und aufgeklärter Sinn/ Solt euer Eigenthum und erbrecht seyn/ Nein! Warlich, der das Firmament gesetzt/ Der hat das Frauen-Volck nichts minder hochgeschätzt: Und ihnen auch Verstand und Witz verliehen.« Zeugnis ihres eher unkonventionellen Lebens waren ihre häufigen Ausritte in Männerkleidung u. der zweimalige Besuch des später durch Goethe zur Bekanntheit gelangten Ilmenauer Bergwerks. Ihr daraufhin entstandenes Gedicht Das Ilmenauische Bergwerk / wie solches den 23. und 30. Jenner des 1737. Jahres befahren und bey Gelegenheit des gewöhnlichen Berg-Festes mit poetischer Feder und Bergmännisch entworfen wurde (Erfurt 1737) bildete wie auch ihre umfangreiche u. intensive Schilderung des Erfurter Stadtbrandes (Das am 21- und 22ten October 1736 unter Gluth und Flammen aechzende Erfurt. Ebd. 1736) eine Überschreitung des den Frauen zugewiesenen privaten Bereichs. 1738 legte Z. ihre Gedichtsammlung Poetische Rosen in Knospen (Erfurt) vor; ein Jahr später erschien ihre Verssatire Die von denen Faunen gepeitschte Laster (Ffm./Lpz.). Im Alter von 26 Jahren verunglückte Z. tödlich bei einem Sturz vom Pferde beim Überqueren einer durch das Hochwasser beschädigten Brücke über die Gera unweit von Plaue. Dort wurde sie am 16.12.1740 begraben. Ihr Grabstein ist noch heute dort zu sehen. Die zu Lebzeiten bekannte Dichterin

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wurde erst kürzlich wieder der Vergessenheit entrissen. Ausgaben: Ode Auf die zum Dienst Sr. Römischen Käyserlichen Majestät Carl des VI. Am Rhein stehende sämmtliche Herren Hussaren. Schmalkalden 1735. – Jgfr. S. H. Zäunemannin aus Erfurt Grab- und Helden-Gedicht, auf den Tod des unvergleichlichen Printzen Eugenii von Savoyen A. wie auch eben derselben berühmten Poetin Gedicht auf das Absterben des hochberühmten Hrn. Doctoris Fabricii [...]. Hamburgi 1736. – Kurieuser und immerwährender Astronomisch-meteorologischOeconomischer Frauenzimmer-Reise- und HandKalender / mit einer Vorrede von S. H. Z. 6. Aufl. Erffurth, 1737. – Der welt-berühmten königlichen Academie Georg-Augusta stattet wegen Uberlieferung des ihr höchst-geneigt gewidmeten poetischen Lorber-Kranzes [...]: ihre unterthänige Danksagung in nachstehender Ode / ab S. H. Zäunemannin. Erfurt 1738. – Sendschreiben an die Herren Verfasser derer Gelehrten Hamburgischen Berichte in welchem kürzlich abgehandelt wird: Dass ein Philosoph nicht allezeit bey demjenigen, was ihm begegnet, ein Stoicker seyn könne, vielweniger seyn dürffe. Erfurt 1737. – Da der grosse Held der Sachsen, Fürst und Herzog Ernst August zu Germanens Ruhm und Ehre, und der Unterthanen Lust Sein durchlauchtigst Lebens-Fest mit vergnügten Augen siehet, Sich mit Demuth ihre Pflicht bezeigen nicht entziehet S. H. Z., Kayserl. gekrönte Poetin, den 19. April 1738. Literatur: Bibliografie: Es liegt keine Gesamtwerkausgabe vor. Ein Verzeichnis der Schriften bei John L. Flood 2006 (s. Lit.). – Weitere Titel: Paulus Cassel: Erfurt u. die Zäunemannin. Eine literaturhistor. Skizze. In: Weimarisches Jb. für Dt. Sprache, Litt. u. Kunst 3 (1855), S. 426–457. – Ders.: Erfurt u. die Zäunemannin. Hann. 1857. – August Josef Julien De Berdt: S. H. Z.: Poet Laureate and Emancipated Woman. Diss. Tennessee 1977. – Gisela Brinker-Gabler (Hg.): Dt. Dichterinnen vom 16. Jh. bis zur Gegenwart. Ffm. 1978, S. 120–127. – Dies.: Das weibl. Ich. Überlegungen zur Analyse v. Werken weibl. Autoren mit einem Beispiel aus dem 18. Jh. In: Die Frau als Heldin u. Autorin. Hg. Wolfgang Paulsen. Bern/Mchn. 1979, S. 55–65. – Silvia Bovenschen: Die imaginierte Weiblichkeit. Ffm. 1979, S. 134–136. – Jean M. Woods u. Maria Fürstenwald: Schriftstellerinnen, Künstlerinnen u. gelehrte Frauen des dt. Barock. Ein Lexikon. Stgt. 1984, S. 135 f. – Wolfgang Gresky: Eine Göttinger Dichterkrönung v. 1738: S. H. Z. (1714–1740). In: Göttinger Jb. 1984, S. 207–226. – Barbara BeckerCantarino: Der lange Weg zur Mündigkeit. Stgt. 1987, S. 270–272. – Magdalene Heuser: Soll Trau-

Zahl

611 Ring, Wiege, Leichenstein / Nur bloß der Lieder würdig seyn? In: Dt. Lit. v. Frauen. Hg. Gisela Brinker-Gabler. Bd. 1, Mchn. 1988, S. 307–313. – Jutta Ruth Tragnitz: S. H. Z.: feminist poet manqué? discrepancies between her early poetry and her late work ›Die von den Faunen gepeitschten Laster‹. In: Lessing Yearbook 24 (1992), S. 121–132. – Kathrin Paasch: S. H. Z. – eine (fast) vergessene Erfurter Schriftstellerin. Eine Ausstellung der Stadt- u. Regionalbibl. Erfurt 1997. – Felicitas Marwinski: Sidoniens Poesie, voll Lieblichkeit im Lesen: über die thüring. Dichterin S. H. Z. u. ihre Resonanz in der gelehrten Welt. In: Bl. des Vereins für Thüringische Gesch. e.V. 11 (2001), S. 6–22. – Arnd Bohm: The transgression of S. H. Z. In: CG 33 (2001), H. 1, S. 21–41. – J. R. Tragnitz: S. H. Z.: the satirist and her struggle for recognition. Ann Arbor, Michigan 2003. – Flood, Poets Laureate, Bd. 4, S. 2282–2287. – Ute Wermer: Wer will die Zeiten loben? Eine Barockdichterin zwischen Hofknicks u. Waldritt. In: Potsdamer Forschungen 2009, H. 2. Dörthe Buchhester

Zahl, Peter-Paul, * 14.3.1944 Freiburg i. Br., † 24.1.2011 Port Antonio/Jamaika – Lyriker, Erzähler, Essayist. Der Sohn eines Verlegers wuchs in Feldberg/ Mecklenburg auf u. wanderte 1953 mit der Familie aus der DDR ins rhein. Ratingen aus. Nach einer Druckerlehre zog er 1964 als Kriegsdienstverweigerer nach West-Berlin. 1966 wurde er Mitgl. der Gruppe 61, im Folgejahr gründete er eine Druckerei samt Verlag. Seit Ende der 1960er Jahre überwachte ihn die Polizei wegen seiner dezidiert linken Schriften u. der polit. Publikationen seines Verlags. Im Dez. 1972 versuchte sich Z. einer polizeil. Kontrolle zu entziehen; beim folgenden Schusswechsel verletzte er einen Beamten lebensgefährlich. 1974 wurde er deshalb zu vier Jahren Haft verurteilt. Nach der Aufhebung des Urteils durch den Bundesgerichtshof wurde die Haftstrafe 1976 auf 15 Jahre hinaufgesetzt. An dem zweiten Urteil entzündeten sich heftige Kontroversen. Trotz zahlreicher Proteste, auch des P.E.N.Zentrums, wurde Z. erst 1982, nachdem er zwei Drittel seiner Strafe verbüßt hatte, aus der Haft entlassen. Seit 1985 lebte Z. überwiegend in Long Bay, Jamaika. Der polit. Hintergrund des »Falls Zahl« erschwert den unvoreingenommenen Zu-

gang zu Z.s literar. Arbeit. In den Gedichten zeigte er mehr rhetorisches als poetisches Talent: Er benannte die Ziele linker Theorien, verstand aber nur selten, sie ins Bild zu bringen. Als »ein Meister der Aussparung« (Erich Fried) skizzierte er in kurzen Versen Gefängnisfantasien. Im Essay Eingreifende oder ergriffene Literatur. Zur Rezeption »moderner Klassik« (Gaiganz 1975. Ffm. 1976) plädierte Z. für eine Poesie aktueller sozialer Probleme, die zur »Rückeroberung der Sinne« beitrage. Der Schelmenroman Die Glücklichen (Bln. 1979), für den Z. 1980 den Bremer LiteraturFörderpreis erhielt, erzählt eine zeitgenöss. Robin-Hood-Geschichte: Helden sind der linke Ganove Jörg u. Ilona, die sich von einer heroinabhängigen Prostituierten zur engagierten Kommunardin entwickelt. Das Buch vermag die epischen, szen. u. dokumentarischen Formen nicht überzeugend zusammenzuführen. Neben einer weiteren Ganovengeschichte, dem »Schelmenroman Der Domraub (Mchn. 2002), schrieb Z. in späten Jahren v. a. in Jamaika angesiedelte, sozialkritisch gefärbte Kriminalromane (Lauf um dein Leben. Bln. 1995. Im Todestrakt. Ffm. 2005. Kampfhähne. Ebd. 2005); für Der schöne Mann (Bln. 1994) erhielt er 1995 den FriedrichGlauser-Preis. Weitere Werke: Von einem, der auszog, Geld zu verdienen. Düsseld. 1970 (R.). – Schutzimpfung. Bln. 1975 (L.). – Wie im Frieden. Leverkusen 1976 (E.en). – Alle Türen offen. Bln. 1977 (L.). – Die Stille u. das Grelle. Ffm. 1981 (Aufsätze). – Konterbande. Ebd. 1982 (L.). – Johann Georg Elser. Ein dt. Drama. Bln. 1982. Urauff. Bochum 1982. – Aber nein, sagte Bakunin u. lachte laut. Bln. 1983 (L.). – Nichts wie weg. Bln. 1994 (Kriminalroman). – Teufelsdroge Cannabis. Ebd. 1995 (Kriminalroman). Literatur: Erich Fried u. Helga M. Novak (Hg.): Am Beispiel P.-P. Z. Eine Dokumentation. Ffm. 1976. – Ralf Schnell (Hg.): Schreiben ist ein monolog. Medium. Dialoge mit u. über P.-P. Z. Bln. 1979. – Thomas Kraft: P.-P. Z. In: LGL. – Sigrid Weigel u. Corina Caduff: P.-P. Z. In: KLG. Uwe Wittstock / Harald Jakobs

Zahn

Zahn, Ernst, * 24.1.1867 Zürich, † 12.2. 1952 Meggen/Kt. Luzern; Grabstätte: Zürich, Friedhof Enzenbühl. – Erzähler, Lyriker u. Dramatiker.

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psychologisch feinsinnig gezeichnete Frauenfigur präsentiert. Z.s bedeutendste Leistungen sind aber gleichwohl nicht die berühmten Bestseller, sondern weniger bekannte Texte wie die bewegende Erzählung Nacht (ebd. 1917) – die Lebensgeschichte eines Blinden – oder die zeitlos-anmutige, legendenhafte Liebeserzählung Blancheflur (Bln. 1923). Der übergroße Erfolg in Deutschland – das Schweizer Lesepublikum blieb eher zurückhaltend, die Kritik vielfach gehässig – wurde Z. allerdings auch zum Verhängnis, geriet er doch seiner engen Verbundenheit mit dem dt. Markt wegen sowohl 1914–1918 als auch 1933–1945 in den Verdacht einer gegen die Interessen der Schweiz gerichteten einseitigen Parteinahme für Deutschland. Nach 1945, als die Heimatliteratur aus der Mode kam, geriet auch Z.s Werk rasch fast völlig in Vergessenheit.

Der Sohn des aus Bayern stammenden Inhabers des Zürcher »Café littéraire« u. späteren Hoteliers in Siders/Kt. Wallis u. Göschenen/ Kt. Uri verlebte seine Jugend an den Wirkungsstätten seines Vaters u. trat nach Lehrjahren in England u. Italien 1887 in Göschenen in den väterl. Betrieb ein. Im selben Jahr debütierte Z. literarisch bei der Einweihung des Gotthardtunneldenkmals mit dem Gedicht An die gefallenen Arbeiter. 1893 erschien in Luzern sein erstes Buch, die gefühlvolle, mit dem Erlebnis der Bergwelt verknüpfte Erzählung Herzens-Kämpfe, der Gedichte, weitere Erzählungen u. der erste Roman, Erni Beheim (Stgt. 1898), folgten. Ein Jahr nach der vollständigen Übernahme des väterl. Betriebs Literatur: Heinrich Spiero: E. Z. Das Werk u. gelang ihm mit Albin Indergand (Frauenfeld 1901. Zuletzt Zürich 1981) der Durchbruch. der Dichter. Stgt. 1927. – Dieter Fringeli: E. Z. Der um 1792 angesiedelte, geschickt in die Nachw. zu E. Z.: ›Albin Indergand‹. Neu hg. v. kolossale Gotthardlandschaft hineinmon- Charles Linsmayer. Zürich 1981, S. 309–331. Charles Linsmayer tierte, spannend geschriebene Roman um einen Außenseiter, der sich die Achtung seines Volkes erwirbt, stand am Anfang einer langen Zaimoglu, Feridun (sprich: Feridunn Reihe von Erfolgsbüchern wie Die Clari-Marie Sayhm-ohlu), * 4.12.1964 Bolu/Türkei. – (ebd. 1905), Verena Stadler (ebd. 1906) oder Die Schriftsteller, Essayist, bildender KünstLiebe des Severin Imboden (ebd. 1916), mit wel- ler. chen Z. zusammen mit Autoren wie Jakob »Ich bin ein deutscher Autor«, konstatiert Z. Christoph Heer oder Alfred Huggenberger 2006 in einem Leitartikel für »Die Zeit«. den dt. Bedarf an zugkräftiger Schweizer Geboren in Anatolien, kam er 1965 in die Heimatliteratur deckte. Dennoch lieferte Z. Bundesrepublik. Sein Vater war Metallarbeikeineswegs nur idyllische Bilder von einer ter, seine Mutter arbeitete als Putzfrau u. heilen Bergwelt. Bereits der Roman Lukas Schneiderin. »Ist das Deutschland? frage ich Hochstrassers Haus (ebd. 1907), der mit über mit leiser Stimme. Meine Mutter starrt eine 500.000 verkauften Exemplaren sein erfolg- Weile hinaus und sagt: Deutschland ist aureichstes Buch wurde, verlässt das bäuerl. ßerhalb des Bahnhofs« – mit dieser Ankunft Ambiente fast ganz u. bezieht auch das städt. in München endet Z.s 2006 veröffentlichter Proletariat u. sogar die Welt des fahrenden Roman Leyla (Köln). Die gleichnamige ProtVolkes mit ein. Die Frauen von Tannó (ebd. agonistin reist Mitte der sechziger Jahre zu1911) wiederum sprengt das Genre des bäu- sammen mit ihrer Mutter nach München, von erl. Dorfromans durch die gekonnt behan- Anatolien über Istanbul zum Vater komdelte Problematik der Bluterkrankheit, wäh- mend, der bereits in Deutschland arbeitete; rend ein anderer Bestseller, Frau Sixta (ebd. weiter geht es noch einmal zehn Stunden von 1926), bei aller Abenteuerlichkeit des Ge- München nach Berlin. Leyla erzählt die Geschehens in der Titelheldin, die den Geliebten schichte einer Befreiung aus einem gewalttäan ihre Tochter verliert, eine eindrückl., tig-patriarchalischen, traditionsgebundenen

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Umfeld u. handelt damit von der Vorgeschichte der Auswanderung, von den prägenden Erfahrungen der Kindheit u. Jugend u. davon, was es bedeutet, in Anatolien aufgewachsen zu sein. Vielleicht waren auch darum die Reaktionen auf diesen Roman so heftig. Z. gab der Generation seiner Mutter eine Stimme, brach Tabus – berichtete über die erste Menstruation, die Ängste u. Reaktionen der familiären Umwelt darauf, über weibl. Sexualität u. den Anspruch der Mütter auf einen angemessenen Platz auch in der islamischen Gesellschaft. Damit dokumentiert Z.s Roman Leyla eine ästhetisch hochwertige neue Form der Selbstvergewisserung gesellschaftl. Identität. Migration wird in der deutschsprachigen Literatur des 21. Jh. nicht nur von Z. überwiegend von einem sozialen u. intellektuellen Standort aus reflektiert, der als gesicherter wahrgenommen wird. Aus der sog. »Migrationsliteratur« ist eine »neue deutsche Literatur« geworden, mit einer »interkulturellen Vielfalt«, die zu einer Weltläufigkeit der deutschsprachigen Literatur wesentlich beiträgt, aber auch zu einer Selbstvergewisserung der eigenen Wurzeln. »Schließlich beginnt die Geschichte der Einwanderung, eine Erfolgsgeschichte zu werden« – so Z. (Mein Deutschland. In: DIE ZEIT, 12.4.2006, Nr. 16). Aufgewachsen ist Z. in München; in Kiel begann der als »Jahrgangsbester« in Bonn ausgezeichnete Abiturient das Studium der Humanmedizin u. Kunst. Ohne das Studium mit einem Abschluss zu beenden, begann der Z. – die Stadt Kiel bezeichnet er als seine Heimat – mit dem Schreiben. Er war Mitbegründer u. Herausgeber der Literaturzeitschrift »ARGOS« sowie Mitbegründer der »Kanak Attack«. 1995 erschien als Erstling seine Sammlung von literar. Porträts von jungen Türken u. d. T. Kanak Sprak. 24 Mißtöne vom Rande der Gesellschaft (Hbg.), u. dies zu einer Zeit, als die rassistische Gewalt gegen die türkischstämmigen Bürger der Bundesrepublik einen traurigen Höhepunkt erreichte – die Brandanschläge von Mölln u. Solingen stehen dafür als Chiffre. Gegen die Gewalt opponierte selbstbewusst Z.s erstes Buch. 24 türkischstämmige Deutsche ant-

Zaimoglu

worten auf die Frage: »Wie lebt es sich als Kanake in Deutschland?« Radikaler noch sein zweites Buch Abschaum. Die wahre Geschichte von Ertan Ongun (Hbg. 1997). Dieser Text basiert auf der Geschichte des fünfundzwanzigjährigen verurteilten Kleinkriminellen Ertan Ongun, der Z. bat, seine Geschichte literarisch aufzubereiten. »Wir sind die Kanaken, vor denen ihr Deutschen immer gewarnt habt.« Z.s Texte lenken den Blick auf eine Schicht von Heranwachsenden, die sich aus der bundesrepublikan. Gesellschaft nach der Vereinigung immer weiter an den Rand gedrückt fühlten. Abschaum wurde im Jahr 2000 u. d. T. Kanak Attack von Lars Becker verfilmt. Kanak Sprak, im 21. Jh. nicht nur als WerbeIdiom längst instrumentalisiert, zeigte einen Weg zu einer neuen Identität auf, die sich nicht als Peripherie begreifen wollte. »Es reicht« – das war die Botschaft, u. Z. wurde zunehmend zu einem Vermittler von Lebensprojektionen der »kanakster«, die sich gesellschaftlich abgeschoben fühlen mussten. Für Z. war das Etikett »Migrationsliteratur« obsolet, ebenso wie die vermeintlich gelungene »Multikulturalität«. Seine ästhetische Opposition in den 1990er Jahren galt der Selbstgenügsamkeit der deutschsprachigen Literatur der »Generation Golf«, die sich der gesellschaftl. Reflexion u. der Dynamik der sozialen Prozesse verweigerte. Eine literarisch polem. Reminiszenz darauf findet sich in Kopf und Kragen. Kanak-Kultur-Kompendium (Ffm. 2001), einem Sammelband mit Kolumnen u. Texten in Zeitungen u. Zeitschriften. Es ist diese Rebellion, die Z. zum Sprecher nicht nur der türkischstämmigen Deutschen werden ließ. Er lenkte das Augenmerk auf die der dt. Mehrheitsgesellschaft fremden Lebenswelten, auf die soziale Ausgangsbasis der Ausgegrenzten; er fordert als säkularer Moslem Respekt vor den islamischen Traditionen, gerade auch vor dem Kampf der Frauen u. der islamischen Feministinnen, die für ihre Selbstbestimmung eintreten. Mit der Sammlung Koppstoff. Kanaka Sprak vom Rande der Gesellschaft (Hbg. 1999) dokumentiert Z. die Erfahrungen von 26 türk. Migrantinnen, von den Rändern der Gesellschaft bis in die Mittelschicht. 2000 erschien

Zamehl

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sein erster Roman mit dem Titel Liebesmale, Münster 2004 (D.). – Von der Kunst der geringen scharlachrot (Hbg.), ein Briefroman, der das Abweichung. Rede an die Abiturienten des JahrLebensgefühl u. die Suche nach Liebe jenseits gangs 2007. Blieskastel 2007. – Schwarze Jungder banalen Sexualität der deutschstämmi- frauen (zus. mit G. Senkel). Hbg. 2007. Urauff. Bln. 2006 (D.). – Ferne Nähe. Tübinger Poetik-Dozentur gen Türken im Kieler Milieu am Beispiel der 2007 (zus. mit Ilija Trojanow). Hg. Dorothee KimProtagonisten Serdar u. Hakan zur Jahrtau- mich. Künzelsau 2008. sendwende spiegelt. Literatur: Manuela Günter: ›Wir sind bastarde, Z.s Texte provozieren, auch den Literatur- freund ...‹ F. Z.s ›Kanak Sprak‹ u. die performative betrieb; heftige Angriffe begleiten seine Struktur v. Identität. In: Sprache u. Lit. in Wiss. u. Texte bis heute. Mit seinem Roman German Unterricht (1999), H. 8, S. 15–28. – Jamal Tuschik: Amok (Köln 2002) antwortete der Autor dem ›Bruder, du bist meine Stimme‹. F. Z., Kombattant Ressentiment mit einer Farce, die den im Kulturkampf. In: aufgerissen. Zur Lit. der 90er Kunstbetrieb – den Z. auch als bildender Jahre. Hg. Thomas Kraft. Mchn. 2000, S. 105–116. Künstler gut kennt – heftig u. polemisch de- – Ders.: F. Z. In: LGL. – Leslie A. Adelson: The konstruiert. Im Zentrum stehen Sexualität u. Turkish Turn in Contemporary German Literature. Toward a New Critical Grammar of Migration. New Gewaltfantasien; der »Ton des Buches ist York 2005. – Volker C. Dürr: ›N gefälliger Kanakdrastisch, aber das ist der Ton unserer Zeit«, sta‹ F. Z.s ›Liebesmale, scharlachrot‹. Migrantenlit. so konstatierte der Autor. Dies gilt auch für im ›transkulturellen‹ Kontext? In: ZfG N. F. 15 die 2003 veröffentlichten Texte, für den Kri- (2005), S. 610–628. – Julia Abel: Konstruktionen minalroman Leinwand (Hbg.) u. das Theater- ›authentischer‹ Stimmen. Zum Verhältnis v. stück Ja. Tu es. Jetzt. (zus. mit Günter Senkel), ›Stimme‹ u. Identität in F. Z.s ›Kanak Sprak‹. In: das wird die Realität des Filmbetriebs scho- Stimme(n) im Text. Hg. Andreas Blödorn, Daniela nungslos thematisiert. Ambivalent aufge- Langer u. Michael Scheffel. Bln./New York 2006, nommen wurden auch seine Theaterinsze- S. 297–320. – Tom Cheesman: Cosmopolite Ficnierungen wie seine zusammen mit Günter tions: Novels of Turkish German Settlement. New York/London 2007. – Olga Olivia Kasaty: Ein GeSenkel neu übersetzte u. bearbeitete Fassung spräch mit F. Z. In: Dies.: Entgrenzungen. Viervon Shakespeares Othello für die Münchner zehn Autorengespräche. Mchn. 2007, S. 431–464. – Kammerspiele (Urauff. 29.3.2003). Maria Paola: Anti-Mythos Rom. Interkulturelle Seine Prosatexte Zwölf Gramm Glück (Köln Missverständnisse oder die Grenzen des Multikul2004) überzeugten dann wieder die Kritik; Z. turalismus bei F. Z. In: Die verewigte Stadt. Rom in wurde 2003 ausgezeichnet mit dem Preis der der deutschsprachigen Lit. nach 1945. Hg. Ralf Jury beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb Georg Czapla u. a. Bern u. a. 2008, S. 345–362. – u. 2005 mit dem Adelbert-von-Chamisso- Yıldız Yasemin: Kritisch ›Kanak‹. GesellschaftskriPreis; er erhielt 2005 als dt. Autor das be- tik, Sprache u. Kultur bei F. Z. In: Wider den Kulturenzwang. Migration, Kulturalisierung u. Weltgehrte Stipendium der Villa Massimo in Rom. lit. Hg. Özkan Ezli. Bielef. 2009, S. 187–205. – Der witzige u. sprachlich durchgearbeitete Karin E. Yes¸ ilada: F. Z. In: KLG. Erzählband Rom intensiv. Mein Jahr in der ewiHansgeorg Schmidt-Bergmann gen Stadt (Köln 2007) steht in der Tradition u. a. von Rolf Dieter Brinkmanns Rom, Blicke. Mit seinen folgenden Romanen Liebesbrand Zamehl, Gottfried, * 2 2.1629 Elbing, (Köln 2008) u. Hinterland (Köln 2009) experi- † 12.8.1684 Elbing. – Dichter u. Mitglied mentierte Z. mit romant. Topoi der Begierde mehrerer barocker Sprachgesellschaften. u. Liebe: Er artikuliert die Suche nach Glück, u. dies mit durchaus autobiogr. Grundierung Der Sohn des angesehenen Elbinger Ratsherren u. gekrönten Dichters Friedrich Zau. großem Erfolg bei der Kritik. mehl besuchte seit 1638 das Gymnasium Weitere Werke: Gastarbeiterliteratur. Ali macht Männchen. In: Globalkolorit. Multikultu- seiner Heimatstadt bzw. das Gymnasium in ralismus u. Populärkultur. Hg. Ruth Mayer u. Mark Thorn (1646), woran sich eine Studienreise Terkessidis. St. Andrä-Wördern 1998, S. 85–97. – nach Norddeutschland u. in die Niederlande Drei Versuche über die Liebe. Casino Leger/Ja. Tu mit Stationen u. a. in Groningen (1648), Leies. Jetzt/Halb so wild (zus. mit Günter Senkel). den (1650) u. am Gymnasium Illustre in

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Bremen (1650/51) anschloss; dort wurde er berg 1644 bis 1744. Wiesb. 1994, passim (Register). zum kaiserlich gekrönten Dichter erhoben. – Die Fruchtbringende Gesellsch. unter Herzog 1659 wurde Z. in Elbing zum Mitgl. der August v. Sachsen-Weißenfels. Die Preuß. Mitglie»präsentierenden Gemeinde«, 1668 zum der Martin Kempe (der Erkorne) u. G. Z. (der Ronde). Hg. Martin Bircher u. Andreas Herz. Reihe Ratsmitgl. ernannt; er hatte verschiedene II. Abt. C: Halle, Bd. 1, Tüb. 1997, S. 395 452 (Verz. Ämter inne, darunter das des Scholarchen. der poet. Werke u. der Forschungslit. mit Abdruck Für seine Förderung der dt. Dichtung u. v. Briefen u. Dokumenten). – Flood, Poets Laureate, Sprache (eine verschollene handschriftl. Ab- Bd. 4, S. 2278–2281. – Jürgensen, Register. – Fridhandlung Germania Celtica Redivia [...] Das run Freise: Königsberg u. Elbing. Gelehrte BezieUhralte deutsche Poetisirende Deutschland kam hungen in die ›literar. Provinz‹. In: Simon Dach wohl nicht zum Druck) wurde Z. in mehrere (1605–1659). Werk u. Nachwirken. Hg. Axel E. Sprachgesellschaften aufgenommen: von Jo- Walter. Tüb. 2008, S. 295–320. – Klaus Garber (Hg.): Hdb. des personalen Gelegenheitsschrifthann Rist in den Elbschwanenorden unter tums in europ. Bibl.en u. Archiven, bes. Bde. 3–6 dem Namen Almesius, in den Nürnberger (zu Thorn), Hildesh. u. a. 2002, u. Bde. 23–26 (zu Pegnesischen Blumenorden unter dem Na- Danzig), ebd. 2009, passim (Register). – Jürgensen. men Meleager u. am 22.4.1668 als Nr. 805 in Wilhelm Kühlmann die Fruchtbringende Gesellschaft mit dem Beinamen »der Ronde«. Johann Rist ließ Z. als Gesprächspartner in seinem fünften Mo- Zand, Herbert, * 14.11.1923 Knoppen bei natsgespräch auftreten (Die alleredelste Erfin- Bad Aussee/Steiermark, † 14.7.1970 dung Der Gantzen Welt, 1667). Briefe u. zahl- Wien; Grabstätte: Knoppen, Friedhof reiche, hier nicht anzuführende dt. wie lat. Maria Kumitz. – Erzähler, Lyriker, EsKasualgedichte bezeugen Z.s rege Kontakte sayist u. Übersetzer. mit Autoren der Sprachgesellschaften: bes. mit Martin Kempe, Georg Schöbel von Ro- Z. verbrachte seine Kindheit auf dem elterl. senfeld, Daniel Bärholtz u. Sigmund von Bauernhof u. besuchte die Pflichtschule. 1941 Birken (13 Briefe Z.s an ihn sind erhalten) wurde er im Alter von 17 Jahren als Infantesowie mit Simon Dach u. Christoph Kalden- rist einberufen u. an der Ostfront eingesetzt. In den letzten Kriegstagen erlitt er schwere bach in Königsberg. Verwundungen. Seit 1954 lebte er – abgeseZ. beherrschte das weite formale Spektrum hen von mehrwöchigen Aufenthalten im der anlassgebundenen Poesie. Zu seinem ländl. Knoppen – in Wien, zuerst als Verdichterischen Markenzeichen wurde jedoch lagslektor, seit 1961 als Mitarbeiter der das aus dem Französischen übernommene Österreichischen Gesellschaft für Literatur, Rondeau, das Z. unter dem Titel »Ringelgezuletzt als Außenlektor für den Österreichidicht« bzw. »Rundode« in einer eigenen schen Rundfunk. 1970 erlag Z. im Alter von Sammlung vorstellte u. typologisch reflek46 Jahren seinen Kriegsverletzungen. tierte: Amesii musae cyclades oder Deutsche RinIn einem bildungsfernen Elternhaus aufgel-Gedicht. Im Jahr 1667 (Königsb. 1667). gewachsen, erhielt Z. erste literar. Kenntnisse Weitere Werke: Disputatio politica de electione durch die persönl. Förderung seines Lehrers & successione. Groningen 1649. – Studiosus apo- u. durch die Bekanntschaft mit dem zeitweise demicus, sive de peregrinationibus studiosorum in Bad Aussee wohnenden Schriftsteller Discursus politicus, editio altera. Bremen 1651. – Frank Thiess. Am wichtigsten wurde die G. Z. u. Cyriacus Martini: Correspondence, wegen des Bernsteins u. anderer Preußischen Sachen. In: Lektüre Hermann Brochs, mit dem er seit Acta borussica [...]. [Hg. Michael Lilienthal]. Kö- 1947 korrespondierte. Brochs geschichtsphilosophische These vom Wertewandel, sein nigsb./Lpz. 1730, S. 41–59. Literatur: L[eonhard] Neubaur: Zur Gesch. des Konzept von der kognitiven Aufgabe der Elbschwanenordens. In: Altpreuß. Monatsschr. 47 Dichtung u. sein polyhistorischer Erzählan(1910), S. 113–183, bes. S. 168–173. – Renate Jür- satz hinterließen Spuren in Z.s literar. Werk gensen: Utile Cum Dulci. Mit Nutzen erfreulich. sowie in den nachgelassenen Essays (Träume Die Blütezeit des Pegnes. Blumenordens in Nürn- im Spiegel. Wien 1973). Im Mittelpunkt von

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Z.s traditionsbewusster früher Lyrik (Die pheus-Stoff liegt nur als unveröffentlichtes Glaskugel. Wien/Mchn. 1953) stehen die bäu- Fragment vor. Z. erlernte autodidaktisch die Fremdspraerl. Welt seiner Heimat u. eine anthropomorphe myth. Natur. Der Erzähler Z. ist ein chen Englisch, Französisch sowie ansatzweise Vertreter jener »kriegsversehrten« Generati- auch Polnisch u. trat als Übersetzer von on, die das Leben als Verurteilung zu einem Henry Miller, Anaïs Nin, Lawrence Durrell u. unabwendbaren Schicksal begriff. Krieg als frz. Symbolisten hervor. 1957 erhielt er den existenzielle Kategorie u. das Eingekreistsein Peter-Rosegger-Förderpreis, 1966 den Antondurch den Tod sind Leitmotive. Im autobiogr. Wildgans-Preis u. 1974 postum den Litera»Roman der Eingekesselten« Letzte Ausfahrt turpreis des Landes Steiermark. Trotz der sechsbändigen, von seinem (ebd. 1953. Neuaufl. Wien 1971. 1992) für dessen Manuskript er bereits den Förde- Schriftstellerkollegen u. Freund Wolfgang rungspreis zum Österreichischen Staatspreis Kraus herausgegebenen Neuauflage (1971 bis erhielt u. dem als einzigem seiner Werke 1973) ist Z. bis heute nur wenigen außerhalb breite Aufmerksamkeit zuteil wurde, schil- des Literaturbetriebs bekannt, obwohl er als dert Z. den Mechanismus sinnloser Zerstö- Repräsentant einer ganzen Generation gelten rung im totalen Krieg sowohl aus der strateg. darf, die in frühester Jugend einberufen Perspektive des Kriegsgeschehens als auch wurde u. zeitlebens körperlich u. seelisch von aus individualpsycholog. Sicht: Eine apoka- den Jahren des Krieges gezeichnet blieb. Weitere Werke: Die Sonnenstadt. Linz/Wien/ lypt. Kesselschlacht an der Ostfront wird zum Paradigma der Situation des um die bloße Regensb. [1947] (R.). – Kerne des paradies. Apfels. Mit einem Nachw. v. Wolfgang Kraus. Wien 1971 Existenz kämpfenden, schließlich vor dem (autobiogr. Aufzeichnungen). – Demosthenes Tod resignierenden Menschen. Durch plaka- spricht gegen die Brandung. Ebd. 1972 (E.en). – tive Bilder u. reflexive Erzählelemente er- Aus zerschossenem Sonnengeflecht. Ebd. 1973 (L.). zeugt Z. einen symbolhaften Realismus. Die Literatur: Klaus Podak: Versuch über H. Z. In: Überblendung von Innen- u. Außenperspek- NR (1973), S. 545–550. – Martin Kubaczek: Zur tive ebenso wie eine existenzialistisch lesbare Motivik in der Prosa H. Z.s. In: Die Rampe (1982), Wegmetaphorik bestimmen auch die Erzäh- H. 2, S. 142–166. – Hans Gerhard Kandolf: Über H. lung Der Weg nach Hassi el emel (Wien/Mchn. Z. (1923–1970). In: LuK (2000), H. 341/342, 1956. Neuaufl. Graz/Wien 1965; mit Biblio- S. 103–108. – Raffaele Louis: Georg Hensels grafie), die den Überlebenskampf eines über ›Nachtfahrt‹, Jens Rehns ›Feuer im Schnee‹, Werner Warsinskys ›Kimmerische Fahrt‹ u. H. Z.s ›Letzte der Wüste abgestürzten Piloten schildert. In Ausfahrt‹. In: Treibhaus. Jb. für die Lit. der 50er dem ebenfalls einem magischen Realismus Jahre 3 (2007), S. 125–156. – Raimund Bahr (Hg.): verpflichteten, um ein wirtschaftskriminalis- Kain u. Z. Eine Heimat – zwei Leben. Wien/St. tisches Thema kreisenden Zeitroman Erben Wolfgang 2010. Ursula Weyrer / Raffaele Louis des Feuers (Salzb. 1961. Neuaufl. Wien 1972. Ebd./Salzb. 2000) kehrt das Motiv der Einkesselung im Kontext der Wiener Nach- Zanker, Arthur, * 22.7.1890 Oderberg/ kriegsgesellschaft wieder. Die Jugend, einer- Österreichisch-Schlesien, † 30.4.1957 Lonseits die Vertreter einer überkommenen Le- don. – Lyriker. benshaltung aus der k. k. Monarchie u. an- Z. studierte in Wien Medizin u. Psychologie dererseits die Anbeter der Profit- u. Erfolgs- u. war Schüler von Alfred Adler. Während des ideologie vor Augen, sucht vergeblich nach Ersten Weltkriegs geriet er in russ. Gefaneinem Lebenssinn. genschaft nach Sibirien; nach seiner RückNach Erben des Feuers veröffentlichte Z. kehr war er Kinderarzt in Wien. 1938 eminicht mehr, wenngleich sich nach seinem Tod grierte er nach Shanghai, dann nach England, herausstellte, dass er fortweg weiterschrieb u. wo er eine Nervenheilstätte leitete. zwischenzeitlich sogar Manuskripte, darunZ.s literar. Werk umfasst zwei schmale ter einen fast beendeten Roman, verbrannte. Gedichtbände, in denen er sich als Meister der Auch sein letztes Erzählprojekt um den Or- Naturschilderung, der bescheidenen Idylle u.

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der Stimmungsmalerei ausweist. In der Sammlung Die Ernte mit den vier Geräten (Wien 1935) verarbeitet er in der Darstellung des bäuerl. Lebens Kindheitserinnerungen, in den einfühlsamen Landschaftsbildern ist eine lyr. Harmonie spürbar; immer wieder hält der Dichter Zwiesprache mit der Natur. Auch der Gedichtband Es duftet noch der Weichselstock (ebd. 1957) ist geprägt vom eigenen Erlebnis; in einfachen, berührenden Bildern kommt die Empfindung des lyr. Ichs zum Ausdruck. Z. orientierte sich in Form- u. Motivwahl an traditionellen Vorbildern; die Gedichte erinnern an die Empfindungslyrik des 19. Jh., bewahren jedoch eine Eigenständigkeit aufgrund der individuellen Gefühlseindrücke. Cornelia Fritsch

Zapf, Georg Wilhelm, * 28.3.1747 Nördlingen, † 29.12.1810 Augsburg. – Literarhistoriker, Publizist, Büchersammler. Als nichtehel. Sohn eines Rotgerbergesellen wuchs Z. in ärml. Verhältnissen auf. Zuwendungen aus einer Stiftung ermöglichten ihm jedoch den Besuch der Lateinschule. Das gewünschte Theologiestudium blieb ihm allerdings verwehrt. Z. verließ seine Heimatstadt u. wurde 1766 Kanzleischreiber in Aalen. Seine freien Stunden widmete er dem Selbststudium der Geschichte, Diplomatik u. Literatur. Seit 1769 erschienen seine ersten literar. u. geschichtl. Arbeiten. Ein Jahr später gab er die Schreiberstelle auf u. trat in adlige Dienste. Schließlich ließ er sich 1773 als kaiserl. Notar in Augsburg nieder. Ein weiteres wichtiges Tätigkeitsfeld wurde der bereits in Aalen begonnene Handel mit antiquarischen Büchern. 1786 erwarb Z. ein Landgut in Biburg bei Augsburg, um unabhängig als Schriftsteller u. Antiquar leben zu können. Aufgrund hoher Verluste infolge der frz. Revolutionskriege verkaufte er 1798 sein Landgut u. blieb bis zu seinem Tod in Augsburg ansässig. Der Autodidakt war bereits seit 1769 Ehrenmitgl. der Deutschen Gesellschaft in Altdorf, seit 1775 ordentl. Mitgl. der kurbayerischen Akademie der Wissenschaften u. seit 1776 der Société Patriotique de HesseHombourg. Zeitlebens unterhielt Z. einen äußerst umfangreichen Briefwechsel. Über-

liefert sind noch rund 5000 Briefe, darunter über 4500 an ihn gerichtete Schreiben von mehr als 350 Korrespondenten. Der inhaltl. Schwerpunkt liegt auf Z.s Veröffentlichungen sowie dem An- u. Verkauf antiquarischer Bücher. Der Antiquariatshandel ermöglichte Z. den Aufbau einer umfangreichen Privatbibliothek, die jedoch, abhängig von seinen jeweiligen Forschungsinteressen u. seiner wirtschaftl. Situation, stetigen Veränderungen unterworfen war. Besonders intensiv beschäftigte sich Z. mit der Erforschung des frühen Buchdrucks des 15. u. 16. Jh. Damit gehörte er zu den Begründern dieses Fachgebiets in Deutschland. Seine Bibliografie der Augsburger Drucke von 1466 bis 1530 ist die erste u. bislang einzige Arbeit zu diesem Thema (Annales typographiae Augustanae. Augsb. 1778. Neubearbeitung in dt. Sprache: Augsburgs Buchdruckergeschichte nebst den Jahrbüchern derselben. 2 Bde., Augsb. 1786–91). Weitere Veröffentlichungen galten dem Frühdruck in Mainz (Aelteste Buchdruckergeschichte von Mainz von derselben Erfindung bis auf das Jahr 1499. Ulm 1790), in Südwestdeutschland (Aelteste Buchdruckergeschichte Schwabens. Ulm 1791) sowie in Venedig (Buchdrucker Geschichte Venedigs von ihrer Entstehung bis auf das Jahr 1500. In: Neuer literarischer Anzeiger. München 1806/1807). Über die von ihm angebotenen alten Drucke u. Handschriften gab Z. regelmäßig Verkaufskataloge heraus, die auch als Nachschlagewerke geschätzt wurden. Zeittypisch unternahm er Anfang der 1780er Jahre mehrere Bibliotheksreisen in Klöster Süddeutschlands u. der Schweiz. Die von ihm darüber publizierten Beschreibungen sicherten ihm einen anhaltenden Bekanntheitsgrad (Ueber meine vollbrachte Reise in einige Klöster Schwabens und in die Schweiz. Augsb. 1782. Ueber meine literarische Reise in einige Klöster Baierns im Jahre 1780. Augsb. 1782. Literarische Reise durch einen Theil von Baiern, Franken, Schwaben und der Schweiz in den Jahren 1780, 1781 und 1782. Augsb. 1783. Reisen in einige Klöster Schwabens, durch den Schwarzwald und in die Schweiz im Jahr 1781. Erlangen 1786). Die auf diesen Reisen gewonnenen Kontakte zu zahlreichen Klosterbibliothekaren nutzte Z. für seinen Handel wie zur Er-

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weiterung seiner bibliografischen Kenntnisse. Nicht zuletzt aus finanziellen Gründen verfasste er eine Fülle weiterer Werke, darunter noch immer brauchbare Biografien von Bischöfen u. Humanisten des 15. und 16. Jh. (Ueber das Leben und die Verdienste Johann von Dalbergs, ehemaligen Bischofs zu Worms. Augsb. 1789 u. ö. Christoph von Stadion, Bischof von Augsburg. Zürich 1799. Heinrich Bebel nach seinem Leben und Schriften. Augsb. 1802. Jakob Locher, genannt Philomusus, in biographischer und literarischer Hinsicht. Nürnb. 1802/1803). Seine zahlreichen Beiträge u. Rezensionen in Literaturzeitungen sind bis heute nicht bibliografisch erfasst. Literatur: [Clemens Alois Baader]: G. W. Z., Kurmainzischer geheimer Rath. In: Slg. v. Bildnissen Gelehrter u. Künstler, nebst kurzen Biographien derselben. Hg. Christoph Wilhelm Bock. Bd. 2, H. 10. Nürnberg 1799, S. 1–12. – Ders.: Lexikon verstorbener Baier. Schriftsteller des achtzehenten u. neunzehenten Jh. Bd. 1,2, Augsb. 1824, S. 344–349 (mit Bibliogr.). – Ulrike Ness: Der Augsburger Gelehrte G. W. Z., Oberlins Korrespondent in Augsburg. In: Gelehrtennetzwerke in Straßburg am Ende des 18. Jh. Hg. Marie-Renée Diot. Lpz. 2007, S. 211–227. – Edith Seidl: Frühe Drucke, Büchertausch u. Gelehrtenstreit – Aus der Korrespondenz des Augsburger Antiquars G. W. Z. (1747–1810) mit dem Rottenbucher Stiftsbibliothekar Klemens Braun (1754–1826). In: Der Welf 10 (2008/09), S. 195–236. Edith Seidl

Zasius, Ulrich, eigentl.: U. Zäsy, * 1461 Konstanz, † 24.11.1535 Freiburg i. Br. – Humanist u. Jurist. Der aus begüterter Familie stammende Z. studierte nach dem Besuch der Konstanzer Domschule seit 1481 in Tübingen u. kehrte 1483 als Baccalaureus artium zurück, um sich in einer Kanzlei für den Beruf eines Stadtschreibers fortzubilden. 1483 war er Gerichtsschreiber des Offizialats in Konstanz, seit 1485 Stadtschreiber in Buchhorn/Friedrichshafen, 1489–1494 Stadtschreiber in Baden/Kt. Aargau u. Schreiber der eidgenöss. Tagsatzung. 1494 wurde Z. Stadtschreiber von Freiburg i. Br., wo er auch das Rechtsstudium aufnahm. Er reformierte die städt. Kanzlei, legte aber 1496 sein Amt nieder, um als Lateinschulmeister (bis 1499) mehr Muße

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für das Studium zu finden. Als Syndikus u. (seit 1503) als Gerichtsschreiber blieb er in städt. Diensten, wirkte aber hauptsächlich an der Universität. 1501 wurde Z. Dr. legum; er erhielt den Lehrstuhl für Poetik u. Rhetorik, kurz darauf den für die Institutionen; 1506 wurde er Ordinarius für röm. Recht. Er sammelte einen großen Kreis bedeutender Schüler um sich. 1507 wurde er kgl. Rat im Elsass u. 1508 kaiserl. Rat. Z., der u. a. mit Wimpfeling, Erasmus, Peutinger u. Pirckheimer befreundet war, stand auch Luther positiv gegenüber, brach jedoch schon 1520 mit ihm, weil er das kanonische Recht in Frage gestellt sah. Gleichwohl kamen die Schriften des Erasmianers Z. auf den Index. Z. gilt neben Budé u. Alciato als einer der Begründer der humanistischen Jurisprudenz u. Erneuerer der modernen Rechtswissenschaften. Mittels Rückkehr zu den Quellen suchte er das röm. Recht aus seinem geschichtl. Zusammenhang zu verstehen. Er wirkte v. a. durch Unterricht u. prakt. Tätigkeit, namentlich durch die Neubearbeitung des Freiburger Stadtrechts (1520). Zu Lebzeiten erschienen nur wenige Schriften, u. a. die wenig ruhmvollen Quaestiones de parvulis Judaeorum baptizandis (Straßb. 1508), in denen er für die Zwangstaufe eintrat u. die Duldung der Juden generell in Frage stellte. Die Lucubrationes (Basel 1518) vereinigen Abhandlungen unterschiedl. Thematik. In der Apologetica defensio (ebd. 1519) tritt Z. Eck entgegen, mit dem er auch wegen dessen Ansichten über das verzinsbare Darlehen in Streit lag. Die Intellectus singulares (ebd. 1526) sind eine Sammlung von Interpretationen schwieriger Stellen des röm. Rechts. Eine bes. Streitfrage dieser Art behandelt die Defensio contra Petrum Stellam (Freib. i. Br. 1530). Dem Lehnsrecht ist die Schrift In usus feudorum (Basel 1535. Dt. Köln 1576) gewidmet. Zahlreiche Schriften erschienen erst postum, insbes. Vorlesungsnachschriften seiner Schüler, aber auch die praxisbezogenen Responsa juris sive Consilia (2 Bde., Basel 1538/39) sowie das humanistische Werk In M. T. Ciceronis rhetoricam ad Herennium (ebd. 1539). Eine siebenbändige Gesamtausgabe erschien in Lyon 1550/51 (Nachdr. Aalen 1964/65).

619 Literatur: Roderich Stintzing: U. Z. [...]. Basel 1857. – v. Eisenhart: U. Z. In: ADB. – Erik Wolf: Große Rechtsdenker der dt. Geistesgesch. Tüb. 1939, S. 35–71. – Hansjürgen Knoche: U. Z. u. das Freiburger Stadtrecht v. 1520. Karlsr. 1957. – Hans Thieme: Aus den Hss. v. U. Z. (1461–1535). Freib. i. Br. 1957. – Guido Kisch: Z. u. Reuchlin. Konstanz 1961. – Hans Winterberg: Die Schüler v. U. Z. Stgt. 1961. – Karl S. Bader: Z. als Notar. In: Schauinsland 79 (1961), S. 13–29. – Folkmar Thiele: Die Freiburger Stadtschreiber des MA. Freib. i. Br. 1973. – Hans Thieme: Ideengesch. u. Rechtsgesch. Ges. Schr.en. Bd. 1, Köln/Wien 1986, S. 508–580. – Steven Rowan: The German Works of U. Z. In: Manuscripta 21 (1977), S. 131–143. – Steven W. Rowan: U. Z., a jurist in the German Renaissance, 1461–1535. Ffm. 1987. – H. Thieme u. S. W. Rowan: U. Z. In: Contemporaries. – Peter-Johannes Schuler: Notare Südwestdeutschlands. Textbd. Stgt. 1987, S. 526–530. – Klaus-Peter Schroeder: U. Z. (1461–1535). Ein dt. Rechtsgelehrter im Zeitalter des Humanismus. In: Juristische Schulung 35 (1995), S. 97–102. – Kleinheyer/Schröder. – K. H. Burmeister: U. Z. (1461–1535), Humanist u. Jurist. In: Humanismus im dt. Südwesten. Biogr. Profile. Hg. Paul Gerhard Schmidt. Stgt. 22000, S. 105–124. – Marcel Thomann: U. Z. In: NDBA 41 (2003), S. 4348 f. – Wilhelm Güde: Vom Freiburger Oberhof u. vom Hofgericht des Oberrheinkreises zum Landgericht Freiburg – oder v. U. Z. bis zur Gaierwally. In: FS 200 Jahre Badisches Oberhofgericht, Oberlandesgericht Karlsruhe. Hg. Werner Münchbach. Heidelb. 2003, S. 317–329. Karl Heinz Burmeister / Red.

Zauner, Friedrich Ch(ristian), * 19.9.1936 Rainbach im Innkreis/Oberösterreich. – Dramatiker, Erzähler, Hörspiel- u. Drehbuchautor. Z.s Vater Friedrich, Bindermeister, starb 1945 als Wehrmachtssoldat in sowjetischer Kriegsgefangenschaft, woraufhin die Mutter Elisabeth, eine Wirtstocher, das einzige Kind allein großzog. Da Z.s seit dem zehnten Lebensjahr lebendiges literar. Interesse zunächst dem Theater galt, begann er nach der Matura 1955 Theaterwissenschaft in Wien zu studieren (Promotion 1961). Im Studium erwarb er sich neben akadem. u. theoret. auch prakt. Kenntnisse – so beispielsweise durch seine Arbeit für die Studentenbühne »Die Arche«. Z. trat 1961 ein Lehramt im Tiroler Bergdorf Obergurgl an. Der gemeinsamen

Zauner

Entscheidung der Eheleute, freie Schriftsteller zu werden, folgte 1965 die Übersiedlung in Z.s Elternhaus. Z.s erstes Bühnenstück Spuk (Urauff. Linz 1971) war international erfolgreich; es trägt Spuren seiner als Lehrer erworbenen Einsicht in die kindl. Psyche: Während die Eltern aus dem Haus sind, sehen sich die pubertierenden Mädchen Gabi u. Susi nach Opfern für ein exzessives, raffiniertes u. brutales Spiel um. Trotz ihrer Skrupellosigkeit auf der Suche nach Hilfe u. Halt beim Erwachsenwerden, parodieren u. entlarven die Kinder die Welt der Erwachsenen. Z. begreift seine zumeist tief pessimistischen dramat. Werke, die im Wesentlichen den drei Einheiten folgen u. knappe, nüchterne Dialoge vorführen, als lediglich einen »Mosaikstein des viel wichtigeren Endergebnisses, des Theaterabends«. Dass Z. trotz anfängl. Skepsis schließlich zum Roman fand, ist das Resultat einer ästhetischen Begrenzung des Theaters: »Daß die Umwelt der Menschen immer Kulisse bleiben muß. Und ich hatte plötzlich ein Thema, wo die ›Kulisse‹ sehr real und lebendig sein mußte.« Unzufrieden mit dem Hörspiel Dort oben im Wald bei diesen Leuten, gestaltete Z. es zu seinem 1990 auch verfilmten gleichnamigen Debütroman (Wien/Hbg. 1981. Neuausg. Grünbach 2000. Steyr 2008) um: Den Polizisten Obermann, wie alle Protagonisten in Z.s Prosatexten ein Außenseiter, hält eine Autopanne in einem Innviertler Dorf auf. Zwar kann er einen kürzlich geschehenen Mord aufklären, aber die eigentüml. Charaktere u. komplexen Sozialstrukturen des Dorfes, die ihn zunehmend faszinieren, bleiben ihm noch bei seiner Abreise verschlossen. Das präsentische Erzählen aus einer souveränen, zumeist externen u. neutralen Perspektive, das immer auch darauf zielt, das Innviertel als Lebensraum u. Ort der »eigenen Wurzeln wiederzuentdecken«, pflegt Z. auch in seiner 1986 begonnenen u. in Forschung u. Kritik viel beachteten Romantetralogie Das Ende der Ewigkeit (Im Schatten der Maulwurfshügel. Grünbach 1992. Und die Fische sind stumm. Ebd. 1993. Früchte vom Taubenbaum. Ebd. 1994. Heiser wie Dohlen. Ebd. 1996). Im Zentrum steht die Lebens- u. Liebesgeschichte

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von Maurits u. Theres während der histor. stellung v. A. Pindelski. Rainbach 2002. – Gerald Umbruchszeit 1900–1938. Mit kultur- u. so- Rettenegger: Das Ende der Ewigkeit. Zum Rozialgeschichtl. Detailkenntnis wird ein dörfl. manzyklus von F. C. Z. Grünbach 2002. – S. Ünlü: Sozialsystem beschrieben, in das die landes- Liebe zur Natur, Liebe zur Kunst. Adalbert Stifter: ›Der Waldgänger‹ u. F. C. Z.: ›Scharade‹. Zwei u. weltpolit. Ereignisse nicht nur einbrechen, große Erzählungen oberösterr. Dichter aus zwei sondern das sie auch vorausahnen lässt. Der Jahrhunderten im Vergleich. In: Jb. des Adalberttiefgreifende Wertewandel am Beginn des 20. Stifter-Institutes des Landes Oberösterr. 9/10 Jh. erweitert den Raum des Möglichen für die (2002/2003 [2005]), S. 97–116. – Ders.: Gott, Kaiser, Protagonisten, bedeutet jedoch auch den Vaterland. Die große Zeitenwende an Hand der Verlust der scheinbar ewigen Ordnung. Die Romantetralogie ›Das Ende der Ewigkeit‹ v. F. C. Z. Tetralogie steht der Gattung Dorfgeschichte In: Politics in Literature. Studies on a Germanic nahe, geht jedoch weder in den anklagenden, Preoccupation from Kleist to Améry. Hg. Rüdiger Tilman Venzl demaskierenden noch in den idyllisierenden Görner. Mchn. 2004, S. 135–155. Tendenzen der Anti- bzw. Heimatliteratur auf. Z. ist Träger zahlreicher Literaturpreise u. Zaupser, Andreas (Dominikus), * 23.12. seit 1989 Präsident des Oberösterreichischen 1748 München, † 1.7.1795 München. – P.E.N.-Clubs. Sein Werk wurde in andere Lyriker; Jurist, Dialektforscher. Sprachen übersetzt. Der Sohn eines Kammerschreibers absolvierte Weitere Werke: Scharade. Mchn. 1985. Neudas Münchner Jesuitengymnasium, brach ein ausg. Grünbach 1998 (E.). – Lieben u. Irren des Martin Kummanz. Recklinghausen/Wien 1986 (R.). Noviziat in Oberaltaich ab u. ließ sich – Bulle. Mchn. 1986. Neuausg. Grünbach 1999 (E.). schließlich zum Juristen ausbilden. Seit 1770 – Katzenspiele. Grünbach 2002 (E.). – Dramen: Von veröffentlichte er mehrere laientheolog., andraußen rein. Urauff. Wien 1976. – Menschens- tidogmat. u. antikuriale Schriften (z. B. Briefe kinder. Urauff. Salzb. 1980. – Reportage. Urauff. eines Baiern, an seinen Freund, über die Macht der Linz 1981 (zuerst als Hörsp.). – Ypsilon. Die Kirche und des Pabstes. o. O. 1770) sowie jurisSelbstgespräche eines alten Schauspielers nach tische Abhandlungen, in denen er für eine Elementen v. Guy de Maupassant. Linz 1981. Humanisierung des Strafrechts u. des StrafUrauff. Wien 1985. – Mirakel, Mirakel. Urauff. vollzugs plädierte (Bedenken ueber einige Punkte Wien 1991. – Passion. Steyr 1996. – Das Grab ist des Criminalrechts. o. O. 1773. 4., erw. Aufl. leer. Die fünfzig Tage. Ebd. 1998. – Zeichen u. u. d. T. Gedanken [...]. Mchn. 1781). Wunder. Ebd. 2000. – Der Rufer in der Wüste JoSchlagartig berühmt wurde Z. 1780, nachhannes. Ebd. 2001. – Als er anklopfte, der mit seidem seine gegen die span. Inquisition gener Knochenhand. Requiem. Ebd. 2003. – Der Vergessene. Die Selbstgespräche eines großen richtete Ode auf die Inquisition (Mchn. 1777. Schauspielers nach Elementen v. Guy de Maupas- Erw. Neuaufl. 1780) vom Kurfürsten verbosant. Mit Zeichnungen v. Gotthard Grünbart. Ebd. ten u. konfisziert worden war. Fortan galt 2005. Kurbayern den außerbayer. Aufklärern als Literatur: Emmerich Schierhuber: F. C. Z. Sein Zentrum der »Reaktion«. Leben u. sein dramat. Schaffen. Diss. Wien 1984. – Z.s Gedichte (postum u. d. T. Andreas ZaupF. C. Z. Linz 1996 (= Die Rampe. Porträt). – Jörg sers sämmtliche Gedichte. Mchn. 1818. Ausw. Thuneck: Weder Idyll noch Hölle: F. C. Z.’s Hei- in: Bayerische Bibliothek 3. Hg. Hans Pörnbamatroman-Zyklus: ›Das Ende der Ewigkeit‹. In: cher. Ebd. 1990, S. 559–567) sind formal von MAL 31 (1998), Nr. 3/4, S. 252–277. – Selçuk Ünlü: Uz, Gleim u. Ramler geprägte, pragmatischDas Dorf bei Karin Brandauer u. F. C. Z. Parallelen aufklärerische Gelegenheitsgedichte. In den zwischen Karin Brandauers Film ›Im Sauwald‹ u. F. 1780er Jahren widmete sich Z. verstärkt der C. Z.s Romantetralogie ›Das Ende der Ewigkeit‹. In: MAL 32 (1999), Nr. 4, S. 118–134. – Klaus Dialektforschung u. verfasste den innovatiZeyringer: Österr. Lit. seit 1945. Überblicke. Ein- ven lexikal. Versuch eines baierischen und oberschnitte. Wegmarken. Innsbr. 2001, S. 439–448. – pfälzischen Idiotikons [...] (ebd. 1789. Nachlese. ›Das Ende der Ewigkeit‹. Kritiken u. Reaktionen zu Ebd. 1789. Neudr. Grafenau 1986), der ihn als F. C. Z.s Opus Magnum. Recherche u. Zusammen- wichtigen Vorläufer Schmellers ausweist. –

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Z. ist nach Westenrieder u. von Bucher einer der bedeutendsten altbayerischen Aufklärer. Literatur: Karl v. Reinhardstöttner: A. Z. In: Forsch.en zur Kultur- u. Litteraturgesch. Bayerns. Bd. 1, Mchn./Lpz. 1891, S. 121–226. – Ludwig Hammermayer: Gesch. der Bayer. Akademie der Wiss.en 1759–1807. Bd. 2, Mchn. 1983. – Wilhelm Haefs: Staatsmaschine u. Musentempel. Von den Mühen literar.-publizist. Aufklärung in Kurbayern unter Max III. Joseph (1759–77). In: Zwischen Aufklärung u. Restauration [...]. FS Wolfgang Martens. Hg. Wolfgang Frühwald u. Alberto Martino. Tüb. 1989, S. 85–129. – Bernhard Setzwein: A. D. Z. u. sein ›baier. u. oberpfälz. Idiotikon‹. Mchn. 1992. – Ders.: Aufklärer u. Mundartforscher: vor 200 Jahren starb A. D. Z. In: Unser Bayern 44 (1995), 7, S. 54 f. Wilhelm Haefs / Red.

Zé do Rock, eigentl.: Claudio Matschulat, * 3.6.1956 Porto Alegre/Brasilien. – Schriftsteller, Kabarettist u. Regisseur.

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(2001), den Ernst-Hoferichter-Preis (2006) u. den Schwabinger Kunstpreis (2010). Im Gegensatz zur literaturkrit. Rezeption hat eine literaturwissenschaftl. Auseinandersetzung bisher nur marginal stattgefunden. Weitere Werke: No Elephants (zus. mit Christoph Konrad). 1987 (Film). – deutsch gutt sonst geld zuruck. a siegfriedische u. kauderdeutshe leru. textbuk. Mchn. 2002 (E.en., Sprachbuch). – Schroeder liegt in Brasilien [Dt./Brasilianisch]. 2008 (Film). Literatur: Tanja Dückers: Rock, Zé Do. In: LGL. – Veronika Fuechtner: From ›Ultradoitsh‹ to ›Siegfriedisch‹: The Problem of a Multicultural Literature in Z. d. R.’s Orthographies. In: Über Gegenwartslit./About Contemporary Literature. FS Paul Michael Lützeler. Hg. Mark W. Rectanus. Bielef. 2008, S. 193–208. – Andreas Schumann: Sprachspiel u. Individualität. Neue Tendenzen einer Lit. der Migration. In: Lit. als Spiel. Evolutionsbiologische, ästhet. u. pädagog. Konzepte. Hg. Thomas Anz u. Heinrich Kaulen. Bln./New York 2009, S. 499–508. Matthias Kremp

Z., dessen Vorfahren aus Deutschland, Litauen u. Russland stammen, kam früh mit den in Südbrasilien verbreiteten dialektalen Zech, Paul, auch: Timm Borah, Paul RoVarietäten des Deutschen in Kontakt. Bevor er bert, Michel Michael, * 19.2.1881 Briesen sich 1992 in München niederließ, hatte er in bei Torún (Thorn), † 7.9.1946 Buenos Ai13 Jahren rund 120 Länder bereist. res. – Lyriker, Erzähler, Dramatiker, EsDie Reiseerlebnisse bilden die Vorlage sosayist, Übersetzer. wohl für sein erfolgreiches Debüt, den Roman fom winde ferfeelt (Bln. 1995), als auch für Bis auf Geburts- u. Todesdatum hat Z. fast jede sekunde stirbt ein nichtraucher. a lexikon üba alle Daten seines Werdegangs je nach Opvorurteile un andre teile (Mchn. 2009). In beiden portunität fantasievoll verschönt oder verin Kunstsprachen verfassten Texten werden düstert, so dass es umfangreicher Forschungroteske Situationen interkultureller Begeg- gen bedurfte, um die wahren (dürftigen) nungen geschildert sowie Klischees in hu- Verhältnisse zu ermitteln. Geboren als drittes moristisch-ironischer, bisweilen satir. Er- Kind eines Briesener Seilers u. seiner aus zählweise beleuchtet. Ersteres ist in »ultra- Müncheberg (Brandenburg) stammenden doitsh« verfasst, einem sukzessiv entwickel- Frau, kam Z. mit fünf Jahren als Pflegekind ten, grammatisch u. ortografisch vereinfach- zu den Großeltern nach Müncheberg, kehrte ten Deutsch, das Z. als Beitrag zur Recht- elfjährig nach Briesen zurück u. schloss dort schreibreform vorschlägt. Letzteres basiert mit 14 Jahren die Volksschule ab. Die anüberwiegend, wie schon Z.s Roman UFO in der schließende (Bäcker-?)Lehre brach er vorzeiküche. ein autobiografischer seiens-fikschen (Lpz. tig ab. Entgegen eigenen Angaben besuchte 1998), auf »wunschdeutsch«, einer laut- er weder ein Gymnasium, noch studierte er sprachlich orientierten Schreibweise, über wie behauptet an den Universitäten Bonn, welche die Zuschauer von Z.s. kabarettisti- Zürich u. Heidelberg, auch der später verschen »literaturshows« abstimmen. Weitere wandte Titel eines Dr. phil. ist Fiktion. Mit Kunstsprachen sind »siegfriedisch«, »kau- etwa 18 Jahren verließ er Briesen in Richtung Westen u. verdingte sich als Bergmann im derdeutsch« u. »kokokuk«. Z. erhielt u. a. den Münchner Förderpreis belg. Kohlerevier (Charleroi?). Seit 1901 in (1996), den Satirepreis »Pfefferbeißer« Wuppertal, zunächst in Barmen, seit 1902 in

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Elberfeld, begann er neben dem Broterwerb (als »Lagerist«, seit 1906 als »Konditor«) zu schreiben u. belieferte seit 1904 die Feuilletons der örtl. Zeitungen mit Naturlyrik, seit 1910 auch mit Rezensionen von Dichterlesungen u. literar. Neuerscheinungen; nun firmierte er im Elberfelder Adressbuch als »Zeitungskorrespondent«. 1904 heiratete er die Schuhmachertochter Helene Siemon aus Elberfeld; im selben Jahr wurde sein Sohn geboren, 1906 seine Tochter. 1907 wurde er durch die erfolgreiche Teilnahme am Lyrikwettbewerb der alljährlichen »Kölner Blumenspiele« auch überörtlich als Lyriker bekannt u. unternahm Lesereisen im Rheinland. Neben die Naturlyrik (gesammelt in Schollenbruch. Bln. 1912) traten seit 1909 Themen der Moderne (industrielle Arbeitswelt u. Großstadtleben in ihrer Zwiespältigkeit u. Dämonie), jedoch wie bisher in gefälligen gereimten Strophenformen u. Sonetten. Im Zeichen des Expressionismus entstanden seit 1910 auch erste Erzählungen (gesammelt in Der schwarze Baal. Lpz. 1917. Neu hg. von Mathias Martínez. Gött. 1989). Entscheidend für den weiteren Werdegang wurde sein Kontakt zu Else Lasker-Schüler, die er 1910 bei ihrem Besuch im heimatl. Elberfeld kennen lernte; sie vermittelte ihm über Herwarth Walden, ihren Ehemann, Publikationsmöglichkeiten in dessen Zeitschrift »Der Sturm« u. anderen expressionistischen Zeitschriften sowie in Kurt Hillers Anthologie Der Kondor (1912). Auf ihren Rat hin wagte Z. 1912 den Umzug nach Berlin, wo er rasch Anschluss an die expressionistische Bewegung fand u. selbst Mitherausgeber der Zeitschrift »Das neue Pathos« (Bln. 1913–20) wurde u. wo er sogleich mit sprachmächtigen Lyrikbänden hervortrat: Waldpastelle (Bln. 1912), Die Sonette aus dem Exil (Bln. 1913; in Erinnerung an seine Elberfelder Muse Emmy Schattke), Das schwarze Revier (Bln. 1913), Die eiserne Brücke (Lpz. 1914), Die rotdurchrasten Nächte (Bln. 1914; angeblich Übertragungen von Gedichten des 1913 verstorbenen Léon Deubel, in Wahrheit meist eigene Gedichte). Auch Z. meldete sich Aug. 1914 als Freiwilliger zum Kriegsdienst, wurde aber erst 1915 aktiviert; im Sommer 1916 an der Westfront verschüttet, wandelte er sich zum

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Pazifisten u. tat dies 1916 in einem von ihm übersetzten pazifistischen Brief des belg. Dichters Emile Verhaeren öffentlich kund, der sich als Fälschung Z.s herausstellte u. ein polit. Nachspiel hatte. Doch bediente Z. auch die Kriegspartei mit patriotischer Lyrik u. d. T. Helden und Heilige (Lpz. 1917). Noch unter Pseudonym folgte der kriegskrit. Band Vor Cressy an der Marne. Gedichte eines Frontsoldaten (Privatdruck 1918), nach Kriegsende sein Antikriegsbuch Das Grab der Welt. Eine Passion wider den Krieg auf Erden (Hbg./Bln. 1919). Sein Kriegstagebuch, 1932 zum Druck vorbereitet, erschien erst postum (Von der Maas bis an die Marne. Rudolstadt 1986. Ffm. 1988). Zu weiterem Ansehen trug der KleistPreis bei, den er 1918 auf Vorschlag Heinrich Manns zusammen mit Leonhard Frank erhielt, ebenso die Aufnahme von 12 seiner Gedichte in der von Kurt Pinthus herausgegebenen Anthologie Menschheitsdämmerung. Nach der Novemberrevolution als »Dr. Zech« Leiter eines »Werbedienstes für die sozialistische Republik« kam er zu Wohlstand u. zu einem eigenen Haus in Bestensee in Berlin, das er 1919 mit seiner Familie bezog. Er verlor aber schon bald seine Stelle, ebenso 1921 eine solche bei der Deutschen Eisenbahnreklame u. 1924 als Dramaturg am Berliner Dramatischen Theater u. 1925 als Lektor am Leipziger Schauspielverlag, kam aber 1925 auf Dauer als Hilfsbibliothekar an der Berliner Stadtbibliothek unter, wo er mit Inventarisierungsarbeiten betraut war. Inzwischen hatte er weitere Lyrikbände veröffentlicht (Der Wald. Dresden 1920. Allegro der Lust. Bln. 1921; anonym), aber auch weitere Erzählbände (Die Reise um den Kummerberg. Rudolstadt 1924. Die Mutterstadt. Kempten 1924. Das törichte Herz. Rudolstadt 1925) sowie Essays in renommierten literar. Zeitschriften. Als Dramatiker, zunächst im expressionistischen Zeitstil (Tetralogie Das Rad, Der Turm, Verbrüderung, Steine, Lpz. 1924), war Z. trotz beachtl. Produktivität bis auf sein Rimbaud-Stück Das trunkene Schiff (Lpz. 1924; Urauff. Volksbühne Berlin unter der Regie von Erwin Piscator, Bühnenbild von George Grosz) wenig erfolgreich. Seine Übersetzungen, eigentlich freie Nachdichtungen mit eingestreuten eigenen Texten (Rimbaud. Das

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gesammelte Werk. Lpz. 1927. Die lasterhaften Balladen und Lieder des Herrn François Villon. Weimar 1931 mit selbsterdachter VillonBiografie) sind bis heute seine erfolgreichsten Werke. Schon seit 1925 waren Plagiatvorwürfe gegen den viel schreibenden Lyriker Z. erhoben worden, die 1929 zu seinem Ausschluss aus dem Schriftstellerverband führten. Die erbetene Aufnahme in die Reichsschriftumskammer 1933 wurde wegen angebl. SPD-Nähe abgelehnt. Als Z. 1933 wegen fortgesetztem Bücherdiebstahls aus dem Bibliotheksdienst entlassen u. von der Berliner Kriminalpolizei vorgeladen wurde, floh er Anfang August aus Berlin u. gelangte über Wien, Triest u. Montevideo nach Buenos Aires, wo er bis 1937 bei seinem dort lebenden Bruder unterkam. In der dt. Kolonie der argentin. Hauptstadt schlüpfte er sogleich in die Rolle des von den Nationalsozialisten verfolgten, ausgebürgerten Emigranten, dessen Bücher verbrannt worden seien, u. erwarb sich Ansehen mit Beiträgen in deutschsprachigen Zeitungen, Exilzeitschriften u. mit Lyrikzyklen (Bäume am Rio de la Plata. Buenos Aires 1935. Neue Welt. Verse der Emigration Ebd. 1939), Dramen (Nur ein Judenweib, am 5.4. 1935 in jidd. Übersetzung aufgeführt; Heuschrecken, 1937; Die drei Gerechten, 1945), Erzählungen u. Romanen, die bis auf den Roman Ich suchte Schmied... und fand Malva (Buenos Aires 1941) erst postum von seinem Sohn in Berlin u. Rudolstadt zum Druck gebracht wurden. 1943 überarbeitete er den sprachl. Ausdruck abmildernd seine Villon-Nachdichtung u. kurz vor seinem Tod auch die Villon-Biografie. Seit 1947 auf sich allein gestellt, verschaffte sich Z. durch fantasievolle Bittgesuche an Emigrantenhilfswerke die nötigen Geldmittel, denn die Einkünfte aus Publikationen waren spärlich. In Buenos Aires hatte er Rückhalt zwar in der dt.-jüd. Emigrantenszene, aber auch Feinde in der durch Hitler gespaltenen dt. Gemeinschaft, die sogar ein Attentat auf den vermeintl. Kommunisten verübten. Die seit 1910 bestehende freundschaftl. Beziehung zu Stefan Zweig, der ihn auch materiell unterstützte, riss bis zu dessen Tod 1942 nicht ab. Wie vielen Exilautoren

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wurden ihm als »Antifaschisten« in der Nachkriegszeit in der DDR postume Ehrungen zuteil, während er in Westdeutschland als Expressionist in die Literaturgeschichte einging u. (seit 1962) nun als Villon-Nachdichter zu größtem Erfolg kam. Seine Urne wurde 1971 nach Berlin überführt u. in einem Ehrengrab der Stadt Berlin beigesetzt. Sein Nachlass liegt in Teilen in der Stadt- und Landesbibliothek Dortmund, der Akademie der Künste Berlin, im Deutschen Literaturarchiv Marbach, in der Berliner Staatsbibliothek u. in der Stadtbibliothek Wuppertal. Weitere Werke: Der feurige Busch. Neue Gedichte 1912–1917. Mchn. 1919. – Der Kuckucksknecht. Lpz. 1924 (D.). – Peregrins Heimkehr. Bln 1925 (R.). – Rotes Herz der Erde. Ausgew. Balladen, Gedichte, Gesänge. Bln. 1929. – Die schwarze Orchidee. Indianische Legenden. Bln. 1947. – Das rote Messer. Begegnungen mit Tieren u. seltsamen Menschen. Rudolstadt 1953. – Die Häuser haben die Augen aufgetan. Bln./Weimar 1976 (L.). – Dtschld., dein Tänzer ist der Tod. Rudolstadt 1980 (R.). – Menschen der Calle Tuyuti. Erzählungen aus dem Exil. Ebd. 1982. – Vom schwarzen Revier zur neuen Welt. Ges. Gedichte. Hg. Henry A. Smith. Mchn. 1983. – Michael M. irrt durch Buenos Aires. Rudolstadt 1985. (R.). – Ausgew. Werke. Bd. 1–5. Mit einem Vorw. hg. v. Bert Kasties. Aachen 1999. – P. Z. Lesebuch. Hg. Wolfgang Delseit. Köln 2005. – Yo soy una vez Yo y una vez Tú. Mal bin ich Ich u. mal Du. Hg. Héctor A Piccoli. Buenos Aires 2009 (span.-dt. Ausg. ausgew. Gedichte). – Briefe: Stefan Zweig – P. Z. Briefe 1910–1942. Hg. Donald G. Daviau. Ffm. 1986. – Tonträger: Ich bin so wild nach deinem Erdbeermund. [Klaus Kinski liest u.a. Balladen aus Z.s Villon-Nachdichtung]. Dt. Grammophon 2004. Literatur: Bibliografien: Fritz Hüser (Hg.): P. Z. 19. Febr. 1881 – 7. Sept. 1946 [Kat.]. Wuppertal 1961. – Ward B. Lewis: Poetry and exile. An annotated bibliography of works and criticism of P. Z. Bern/Ffm. 1975. – Weitere Titel: Alfred Hübner: Das Weltbild im Drama P. Z.s. Bern/Ffm. 1975. – Brigitte Pohl: Studien zur Biogr. u. Lyrik P. Z.s. Diss. Jena 1977. – Arnold Spitta: P. Z. im südamerkan. Exil 1933–1946. Ein Beitr. zur Gesch. der dt. Emigration in Argentinien. Bln. 1978. – Uwe Eckardt: P. Z. in Elberfeld. (Mit bisher unbekannten Gedichten). In: Romerike Berge 46 (Solingen 1996), H. 4, S. 2–23. – Bert Kasties: ›Leben bei einem Ende u. vor einem Anfang‹. P. Z. – Annäherung an einen Verwandlungskünstler. In: P. Z. Ausgew. Werke. Bd. 1. Aachen 1999, S. 11–42. – Dieter Sudhoff: Die

Zedler literar. Moderne u. Westfalen. Besichtigung einer vernachlässigten Kulturlandschaft. Bielef. 2002, S. 254–285. – Gert Pinkernell: P. Z. u. seine ›Lasterhaften Balladen u. Lieder des François Villon‹ – Ein ›Betrug am Leser‹? In: Euph. 104 (2010), S. 371–391. Dieter Breuer

Zedler, Johann Heinrich, * 7.1.1706 Breslau, † 21.3.1751 Leipzig; Grabstätte: ebd., St.-Johannis-Friedhof (beerdigt am 23.3.1751). – Buchhändler u. Verleger. Nach Lehrjahren in seiner Geburtsstadt u. in Hamburg gründete der aufgeweckte Sohn eines Schuhmachers 1726 in Freiberg eine Verlagsbuchhandlung. Ein Jahr später siedelte er nach Leipzig über u. richtete sein Augenmerk auf die »Verlegung grosser Wercke« (»Zedler«, Bd. 61, 1749, Sp. 309). Bereits 1729 erschien sein erstes bedeutendes Projekt: die 22 Foliobände umfassende »Leipziger Lutherausgabe« in dt. Sprache (Des Theuren Mannes GOttes, D. Martin Luthers Sämtliche [...] SCHRIFFTEN UND WERCKE. Lpz. 1729–34, Registerbd. 1740. Microfiche-Ausg. 1992), die durch die sächs. Regierung gefördert wurde u. ihm den Kommerzienratstitel eintrug. Noch weitaus berühmter als diese Ausgabe wurde das nachfolgende Werk, das noch heute als »Zedler« zitiert wird: das imposante Grosse vollständige UNIVERSAL LEXICON Aller Wissenschafften und Künste, Welche bißhero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden und verbessert worden ([Glaucha bei] Halle/Saale u. Lpz. 64 Bde., 4 Supplementbde., 1731 [1732]-1754 [knapp 68.000 S., ca. 288.000 Einträge, 270.000 Verweise]. Nachdr. Graz 1961–64. 21993–99. Mikrofiche-Ausg. 1962. 1995. Online-Ausg. 2005). Weitgehend vom Geist der frühen Aufklärungszeit getragen, stellt es einen Thesaurus thesaurorum dar, der die Summe des barocken Polyhistorismus zu ziehen sucht. So spiegelt es auch, im Zeichen der LeibnizWolff’schen Schulphilosophie stehend, die dt. Geistes- u. Kulturgeschichte des frühen 18. Jh. vielfach wider. Eine beträchtl. Anzahl der Artikel stammt aus früheren Lexika, weshalb Z., des Plagiats verdächtigt, in langwierige Auseinandersetzungen mit der

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Leipziger Verlegerschaft geriet. Die Hauptredakteure waren der Leipziger Jurist Jacob August Franckenstein (Bd. 1–2), der Hofer Gymnasialrektor Paul Daniel Longolius (Bd. 3–18) u. vor allem der Wolffianer Carl Günther Ludovici (Bd. 19–64, 4 Supplementbde.). Das Monumentalwerk avancierte zur bedeutendsten deutschsprachigen Enzyklopädie des 18. Jh., u. es gilt bis heute als das umfangreichste unter den vollendeten dt. Lexika. 1736 in Konkurs gehend, musste Z. seine Handlungsgeschäfte aufgeben. Dennoch betreute er auch weiterhin seine bisherigen Projekte u. suchte neue zu initiieren, die fortan von Johann Heinrich Wolf u. Johann Samuel Heinsius verlegt wurden. Dazu zählen neben Zeitschriften u. a. eine erweiterte dt. Ausgabe von Antoine-Augustin Bruzen de La Martinières berühmtem Werk Le Grand Dictionnaire géographique historique et critique (10 Bde., Den Haag 1726–39), die 1744–49 u. d. T. Historisch-Politisch-Geographischer ATLAS der gantzen Welt (12 Bde., 1750 Supplementbd.) in Leipzig erschien. Weitere Werke: Andreas Reyher u. Christian Juncker: Latinitas theatrum. Lpz. 1733 (Erstausg. Gotha 1668). – Allg. Staats- Kriegs- Kirchen- u. Gelehrten-Chronicke. 20 Bde., 1 Registerbd. Lpz. 1733–54 (ab Bd. 13. 1744 auch u.d.T.: Eröffneter Schau-Platz der Allgemeinen Welt-Gesch. [des 18. Jh.]). Microfiche-Ausg. 2002. – Allg. SchatzKammer Der Kauffmannschafft. 4 Bde., 1 Supplementbd., Lpz. 1741–43. Online-Ausg. 2006. – Johann Gottlieb Siegel: Corpus juris CAMBIALIS. 2 Tle. in 1 Bd., 1742. Online-Ausg. 2006. – Allg. Jurist. ORACULUM. 16 Bde., 1 Registerbd., Lpz. 1746–54. Literatur: Bibliografie: Werner Raupp: J. H. Z. In: Bautz (auch Lit. u. Webseiten). – Arbeitsgespräch (s.u., 2007), S. 333–340. – Weitere Titel: Bernhard Kossmann: Dt. Universallexika des 18. Jh. In: Börsenblatt für den Dt. Buchhandel 89 (1968), Sp. 2947–2968. – Gerd Quedenbaum: Der Verleger u. Buchhändler J. H. Z. Hildesh./New York 1977. – Dietrich Fuhrmann: Die Auffassung v. Recht, Staat, Politik u. Gesellsch. in Z.s Lexikon. Diss. Erlangen 1978. – Horst Dreitzel: Z.s ›Großes vollständiges Universallexikon‹. In: Das achtzehnte Jh. 18 (1994), S. 117–124. – Sergio Roberto Nobre: Über die Mathematik in Z.s ›UniversalLexicon‹ (1732–1754). Diss. Lpz. 1994. – Harald Wentzlaff-Eggebert: Wie schrieb man in Dtschld.

625 über die span. Inquisition? Von Z.s ›Großem vollständigem Universal-Lexikon‹ (1735) zu Ersch/ Grubers ›Allgemeiner Encyclopädie‹ (1840). In: Dt.-span. Lit. u. Kulturbeziehungen [...]. Hg. Margit Raders u. a. Madrid u. a. 1995, S. 103–122. – Sigurd Wichter: Sprache, Rede, ›Loquela‹ in Z.s Universal-Lexicon. In: Alles was Recht war. Rechtslit. u. literar. Recht. FS Ruth SchmidtWiegand. Hg. Hans Höfinghoff. Essen 1996, S. 235–246. – Nicola Kaminski: Die Musen als Lexikographen. Z.s ›Grosses vollständiges UniversalLexicon‹ im Schnittpunkt v. poetischem, wiss., jurist. u. ökonom. Diskurs. In: Daphnis 29 (2000), S. 649–693. – Ines Prodöhl: ›Aus den besten Scribenten‹. J. H. Z.s ›Universal-Lexicon‹ im Spannungsfeld zeitgenöss. Lexikonproduktion. In: Das achtzehnte Jh. 29 (2005), S. 82–94. – Ulrich Johannes Schneider (Hg.): Seine Welt wissen. Enzyklopädien in der Frühen Neuzeit. Darmst. 2006 (Ausstellungskat. anlässlich des 300. Geburtstags v. J. H. Z.). – J. H. Z. u. sein Lexicon – ausgewählte Beiträge eines Arbeitsgesprächs am 20. u. 21. Januar [im Haus des Buches, Leipzig]. In: Leipziger Jb. zur Buchgesch. 16 (2007), S. 197–396. – Wolf-Dietrich Schäufele: Von ›Aberglaube‹ bis ›Zweifel‹. Grundsätze theolog. Frühaufklärung im Spiegel v. Z.s ›Universal-Lexicon‹ (1732–1754). In: Aufgeklärtes Christentum. Beiträge zur Kirchen- u. Theologiegesch. des 18. Jh. Hg. Albrecht Beutel u.a. Lpz. 2010, S. 11–22. Werner Raupp

Zedlitz, Joseph Christian Frhr. von, * 28.2. 1790 Schloss Johannisberg/Österreichisch-Schlesien, † 16.3.1862 Wien. – Lyriker, Dramatiker, Übersetzer, Publizist. Wie sein Jugendfreund Joseph von Eichendorff dem verarmten Adel zugehörig, wählte Z. nach seiner Schulzeit in Breslau die militärische Laufbahn. Er erlebte als Offizier die Schlachten von Aspern u. Wagram mit, nahm dann aber seinen Abschied. Durch die 1811 geschlossene Ehe mit Ernestine von Lipthai finanziell abgesichert, konnte sich Z. bis zu deren Tod 1836 ausschließlich seiner literar. Tätigkeit widmen. Seit 1837 der österr. Staatskanzlei u. dem weiteren Kreis um Metternich zugehörig, schrieb Z. seit 1838 Korrespondenzartikel in der Augsburger »Allgemeinen Zeitung« u. Flugschriften zu polit. Fragen (etwa: Ueber die orientalische Frage. 1840). In den Staatsdienst kehrte er als Ministerresident 1851 zurück, nachdem er

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1848 entlassen worden war u., zurückgezogen in Altaussee, wie Franz Grillparzer für die monarchistische Armee Partei ergriffen hatte. In seinen Todtenkränzen (Wien 1828) hingegen, die Z. zu seiner Zeit berühmt gemacht haben u. in denen die Grabstätten großer Persönlichkeiten – von Wallenstein über Laura u. Petrarca bis hin zu Joseph II. – Anlass zur Reflexion über deren Glauben an »die bess’re Zukunft« geben (Gedichte. Stgt. 1859, S. 456 f.), hatte Z. immerhin die Notwendigkeit auch von polit. »Träumen« betont. So dient Z.’ bekanntestes Gedicht, Die nächtliche Heerschau, das mehrfach übersetzt u. vertont wurde, der Mythisierung des ehemaligen Feindes Napoleon. Entsprechend dieser Tendenz dominiert in Z.’ dramat. Schaffen die Schicksalstragödie. Schon in dem »tragischen Märchen« Turturell (Wien 1821) – Z.’ Debüt am Wiener Burgtheater 1819, das dem Stil Zacharias Werners (Z. durch die Zusammenarbeit für die Zeitschrift »Aglaja« bekannt) nahesteht – wird das Schicksal zur allein bestimmenden Macht. Den Ehrbegriff, den Z. etwa in dem von ihm übersetzten u. bearbeiteten Drama Lope de Vegas, Der Stern von Sevilla (Urauff. 1829), kennen gelernt hatte, funktionalisiert er für die Schicksalskonstruktion seiner eigenen Trauerspiele (alle Dramen in: Dramatische Werke. 4 Bde., Stgt. 1830–36): Der Königin Ehre (1819/34), Zwey Nächte in Valladolid (1823) u. Herr und Sclave (1831). Weitere Themen sind Hofkritik u. Melancholie, in Kerker und Krone (1834), Z.’ Bearbeitung des Tasso-Stoffes, durch die Künstlerproblematik miteinander verbunden. Soll sich nach diesem Schauspiel die Literatur an »Arme wie Reiche, Vornehm’ und Geringe« (Dramatische Werke. Bd. 2, S. 62) richten, so ist damit exemplarisch sein literar. Konzept formuliert: Z., der sein Selbstverständnis in das Sinnbild des Schwanes fasste, wollte als reiner, aber nicht zu Weltruhm aufsteigender Dichter (Dichtersehnsucht, An Grillparzer) das dt.-österr. Nationalbewusstsein im Sinne der Romantik stärken (Epilog zu Grillparzers ›Ottokar‹); seine Werke standen aber zunehmend im Zeichen des Unpolitischen (vgl. das Märchen Das Waldfräulein. Stgt. 1843) oder der Reaktion (vgl. die Lyrik-

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sammlung Soldaten-Büchlein. 2 Bde., Wien 1849/50).

Vier Texte v. D. Z. In: Frauen verstehen keinen Spaß. Hg. Daniela Strigl. Wien 2002, S. 147–161.

Weitere Werke: Liebe findet ihre Wege. Wien 1827 (Lustsp.). – Cabinets-Intriguen. Lustsp. In: Dramat. Werke. Bd. 4, Stgt. 1836. – Altnord. Bilder. Stgt./Tüb. 1860.

Literatur: Sabine Zelger: D. Z.: ›Mir liegt satanisches Gelächter.‹ Ein Blick in den Nachl. einer umstrittenen Schriftstellerin, Publizistin u. Liebhaberin. In: Frauen verstehen keinen Spaß (s. o.), S. 129–146. Ursula Weyrer / Red.

Literatur: Wurzbach 59. – Goedeke 8. – Conrad Dieter Frhr. v. Zedlitz-Neukirch: J. C. Frhr. v. Z. In: Aurora 29 (1969), S. 70–91. – Werner Bein: Poesie u. Politik. J. C. Frhr. v. Z. (1790–1862). In: Oberschles. Jb. 6 (1990), S. 11–40. – Achim Aurnhammer (Hg.): Torquato Tasso in Dtschld. Bln./New York 1995, passim (Register). Susanna Schmidt / Red.

Zeemann, Dorothea, eigentl.: Dor(othe)a Holzinger, * 20.4.1909 Wien, † 11.12. 1993 Wien. – Erzählerin u. Hörspielautorin. Z., ausgebildete Krankenschwester, arbeitete nach 1945 in der Volksbildung u. war 1970–1972 Generalsekretärin des Österreichischen P.E.N. – Egon Friedell bestärkte Z. früh in ihren literar. Ambitionen; größere Resonanz, v. a. unter Leserinnen, fand sie aber erst Anfang der 1980er Jahre mit den zeitgeschichtlich aufschlussreichen Autobiografien Einübung in Katastrophen. Leben zwischen 1913 und 1945 (Ffm. 1979. 21990) u. Jungfrau und Reptil. Leben zwischen 1945 und 1972 (ebd. 1982; beide Werke in: Einübung in Katastrophen. Ebd. 1997). Was Z. mit der unumwundenen Schilderung ihrer Beziehung zu Heimito von Doderer hier begann, setzte sie in den folgenden Romanen in freizügigem u. sarkast. Ton fort. Oft stehen Frauen im Mittelpunkt, die ihre Sexualität unbeeinflusst von männl. Normen ausleben; immer geht es um Möglichkeiten persönl. Glücks: Eine Liebhaberin (ebd. 1989) erzählt die erot. Karriere eines Mädchens in der Tradition der Josefine Mutzenbacher. Das Thema der alternden Frau u. ihrer Sexualität variieren Das heimliche Fest (ebd. 1986) u. Reise mit Ernst (Wien 1991). Weitere Werke: Signal aus den Bergen. Dresden 1941 (Jugenderzählung). – Ottilie. Ein Schicksal um Goethe. Salzb. 1949 (R.). – Das Rapportbuch. Mchn. 1959. Ffm. 1999 (R.). – Eine unsympath. Frau. Ebd. 1983. 1993 (E.en). – Verbiesterung. Wien 1997 (Ms.). – Wiener Lust. Djuna Barnes. Elfriede Jelinek. Erinnerung an Heimito v. Doderer.

Zeevaert, Sigrid, * 30.1.1960 Aachen. – Kinder- u. Jugendbuchautorin. Z. studierte Lehramt an der Pädagogischen Hochschule Aachen u. lebt als freischaffende Kinder- u. Jugendschriftstellerin in Aachen. Sie erhielt u. a. 1987 den Förderpreis des Landes Nordrhein-Westfalen, 1992 den Walter-Hasenclever-Förderpreis, 2000 den Zürcher Kinderbuchpreis, 2005 den Kinderbuchpreis des Landes Nordrhein-Westfalen, 2006 den Friedrich-Bödecker-Preis u. 2008 den Evangelischen Kinderbuchpreis. Z. hat ihren Debütband Max, mein Bruder (Würzb. 1986; Tb. 1990) als Examensarbeit verfasst. Bereits hier widmet sie sich einem schwierigen Thema. Bei Max wird nach einem Sturz von einem Baum Krebs diagnostiziert. Aus der Perspektive seiner Zwillingsschwester Jo werden sein Sterben u. sein Tod erzählt. Es kristallisieren sich die wichtigsten Eckpfeiler von Z.s Schreiben heraus: Sie schreibt realistisch, sie schreibt aus der Perspektive eines Kindes, u. sie macht existenzielle Themen wie Tod oder Liebe zum Mittelpunkt ihres Schreibens. In Ein Meer voller Sterne (Hbg. 1998) dokumentieren die Briefe zwischen Nele u. Katharina den Verlauf von Katharinas unheilbarer Krankheit. Später werden die Antwortbriefe von Katharinas Mutter übernommen. Es bleibt die Trauer Neles, die in Briefe ohne Empfängerin mündet. Jan und Josh oder wie man Regenwürmer zähmt (Hildesh. 2008) nimmt das Thema Krankheit noch einmal auf. Jan ist seit seiner Geburt herzkrank u. musste schon mehrere Operationen überstehen. Doch im Mittelpunkt dieser Geschichte steht nicht die Krankheit, sondern die intensive Freundschaft mit dem außergewöhnl. Josh. Er ist übergewichtig u. leidet unter seiner alkoholkranken Mutter. Deutlich wird, dass nicht nur Krankheit das Leben belastet. In Winter-

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wolf (Hildesh. 2005) ist es eine Spätaussied- den Romanen Z.s immer schmerzlich u. lerfamilie, die am neuen Leben in Deutsch- schön zugleich. Dass die Realität der Kinder u. Jugendliland scheitert. Die Mutter verlässt die Familie, Juri zieht mit seinem Vater nach Merz- chen nicht einfacher als die der Erwachsenen heim u. wird in der neuen Schule gemobbt. ist, zeigt sich an den zeitgemäßen Themen Gleichzeitig taucht im nahen Wald quasi als von Z.s Literatur, z. B. die Trennung der Elalter ego Juris ein Wolf auf. Das Tier ist tern (Schön und traurig und alles zugleich. hungrig u. verletzt. In ihrem poetolog. Text Weinheim 1997) oder Arbeitslosigkeit (Mia Erzählte Welten (in: Praxis Deutsch 22, 1995, Minzmanns Mäusezucht. Hildesh. 2004). Im H. 134, S. 6–8) hebt Z. hervor, dass Kindern Krimi Mehr als ein Spiel (Hbg. 1999; Tb. 2002) traurige Themen zugemutet werden können, geht es um Jugendliche, die Kinder einwenn die literar. Umsetzung die Ängste u. schüchtern, um von ihnen Geld zu erpressen Trauer der Kinder ernst nehme u. ihnen die oder sie zu Diebstählen zu zwingen. Zum weiteren Werk Z.s gehört das SachChance biete, Ausdrucksmöglichkeiten für buch Sigrid Zeevaert erzählt von den Walen (Hbg. diese Gefühle zu finden. Ein weiteres wichtiges Thema im Werk Z.s 1991); zudem hat sie Theaterstücke eigens ist die Pubertät. Einfühlsam schildert sie das für das Aachener DAS DA-Theater (Bis ans Erwachsenwerden mit seinen zahlreichen Ende der Welt. Urauff. 9.12.2006. Mit dir sind Problemen u. die erste Liebe. Während sich wir vier. Urauff. 8.12.2007. Prinz Ben und Tina Anna in Und ganz besonders Fabian (Würzb. Rosina. Urauff. Sept. 2009) verfasst. In der 1989; Tb. 1994; verfilmt ZDF 1993) glücklich Radio-Kindersendung »Ohrenbär« wurden verliebt, gerät Cora an einen gemeinen Kerl, u. a. Jasper und seine drei Schwestern (RBB 2000) der sich über ihre Gefühle lustig macht. Diese oder Wie Piet hinauszog in die Welt (RBB 2001) schwierige Situation stellt auch die Freund- gesendet. schaft von Anna u. Cora auf eine harte Probe. Weitere Werke: Lu u. die Lackschuh-Lilli. Mit In dem Roman Und das alles wegen Hannah Bildern v. Cornelia Funke. Würzb. 1987. – Mach’s (Hbg. 2000) geht es um eine Gruppe Ju- gut, Nick. Ebd. 1990. – Die unschlagbaren Fünf. gendlicher bei einer Bergwanderung. Als Olli Würzb. 1993. Tb. 1998. – Flaschenpost für Olle eine dumme Bemerkung über Tom u. Han- Pfitzmann. Hbg. 1995. Tb. Mchn. 2001. – Weibernah macht, ist Tom in diesem Moment so kram? Hbg. 2001. – Oskars geheimer Ferienplan. Hildesh. 2011. – Radio: Jonas in einem anderen aufgewühlt, dass er die Gruppe verlässt u. Land. RBB 2003. – Tür an Tür in Haus Nummer sich verläuft. Er verbringt die Nacht bei hef- neun. RBB 2009. tigem Gewitter alleine auf dem Berg. Am Literatur: Günter Lange: S. Z. In: LKJL. nächsten Tag wird er erschöpft von WandeElke Kasper rern gefunden u. ins Krankenhaus gebracht. Das Weglaufen, der Aus- bzw. Aufbruch ist eine zentrale Metapher in den JugendromaZeh, Juli, * 30.6.1974 Bonn. – Romannen Z.s. In Wer ich bin (Stgt./Wien 2009) macht autorin u. Essayistin. Sus eine gefährl. Ausfahrt mit einem Boot. Sie hat den Boden unter den Füßen verloren, als Z. studierte 1993–1998 Jura in Passau u. ihre heiml. Liebe mit ihrer Zwillingsschwes- Leipzig; 1996–2000 absolvierte sie zudem ein ter anbändelt. Im Mittelpunkt dieses Buchs Studium am Deutschen Literaturinstitut in steht die schmerzhafte Ich- u. Identitätsfin- Leipzig. Verschiedene Praktika führten sie dung von Zwillingen, die vorher unzer- u. a. zur UNO u. nach Ex-Jugoslawien. Nach trennlich waren. Im Roman Tage & Nächte juristischem Referendariat u. zweitem (ebd. 2010) machen sich Jana u. Jul unab- Staatsexamen wurde sie 2010 mit einer völhängig voneinander auf den Weg nach Paris. kerrechtl. Arbeit promoviert. Z. arbeitet seit Jul wird von seiner sterbenden Mutter geru- 2007 als Volljuristin. Für ihr literar. Werk fen, Jana will von zuhause weg. In Paris erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen, u. a. treffen sie sich zufällig. Gemeinsam finden 2000 den Caroline-Schlegel-Preis für Essaysie ihren eigenen Weg, u. dieser Prozess ist in istik, 2002 den Deutschen Bücherpreis für das

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»erfolgreichste Debüt« u. den Förderpreis des Bremer Literaturpreises, 2003 den HölderlinFörderpreis u. den Ernst-Toller-Preis, 2009 den Solothurner u. den Carl-Amery-Literaturpreis. Z. gehört zu den prominentesten Vertreterinnen engagierter Autorschaft, die nicht nur essayistisch (Alles auf dem Rasen. Kein Roman. Ffm. 2006) in polit. Debatten eingreift. Der persönl. Zugang etwa, den sie in ihrem Reisebericht aus Bosnien (Die Stille ist ein Geräusch. Ffm. 2002) wählt, stellt medial überlieferte Vorurteile über Land u. Menschen in Frage. 2008 reichte Z. Verfassungsbeschwerde gegen den biometr. Reisepass ein. Die Streitschrift Angriff auf die Freiheit (zus. mit Ilija Trojanow. Mchn./Wien 2009) problematisiert die Dialektik von Freiheit u. Sicherheit im Zeitalter des »Kriegs gegen den Terrorismus« u. warnt vor den Möglichkeiten digitaler Totalüberwachung. Vor diesem Hintergrund ist Corpus Delicti. Ein Prozess (Ffm. 2009), die Dystopie einer Gesundheitsdiktatur, als Thesenroman zu lesen. 2007 zuerst in dramat. Form vorgelegt (Urauff. Essen), dominieren Dialogsequenzen das Geschehen. Darin verhandeln die Protagonisten die Grundprinzipien einer Gesellschaft, in der sich gegenwärtige Entwicklungen in zugespitzter Form realisiert haben. Hier garantiert der Staat seinen Bürgern zwar Sicherheit u. Gesundheit, dies jedoch zu Lasten der Freiheit des Einzelnen. Die Totalüberwachung reicht von der Pflicht zu regelmäßigen Gesundheitsberichten bis zum implantierten Datenchip. Der Selbstmord, mit dem sich der Bruder der angepassten Protagonistin Mia dem System bewusst entzieht, stürzt diese in eine Lebenskrise. An ihrem Fall zeigt sich die Inhumanität der vermeintlich auf »Vernunft« gebauten staatstragenden »METHODE«, insofern sie »den Geist an den Körper verraten hat« u. »keinen Raum für Privatangelegenheiten lässt«. An Mia wird ein Exempel statuiert. Nach einer regimekrit. Proklamation wird sie in eine psychiatr. Klinik eingewiesen u. damit ins System dauerhaft reintegriert. Von Konflikten im Spannungsfeld zwischen Individuum u. Gesellschaft, zwischen Recht u. Moral handeln alle bislang veröf-

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fentlichten Romane Z.s. Adler und Engel (Ffm. 2001) verknüpft eine trag. Liebesgeschichte mit einem Politthriller um die Balkankriege u. die EU-Osterweiterung. Jessie, große Liebe des Ich-Erzählers Max u. in die Drogengeschäfte ihres Vaters verwickelt, erschießt sich am Telefon. Aus einem anhaltend suizidalen Schockzustand heraus beginnt Max der Psychologin Lisa die Zusammenhänge auf Tonbändern zu rekonstruieren. Während der gemeinsamen Recherche muss der Spezialist für Völkerrecht erkennen, dass auch sein Arbeitgeber Rufus in Geschäfte mit serb. Kriegsverbrechern verwickelt ist. Eindrücklich zeigt Z. die Diskrepanz von Ethik u. Jurisdiktion auf, wenn Rufus sich das Recht auf eine »gewisse moralische Emanzipation« im Dienste des Völkerrechts einräumt u. Max an dieser »letzten großen Utopie« scheitert (Britta Lange u. Hermann Weber: Über Recht und Literatur. Ein Gespräch mit J. Z. und Martin Mosebach. In: Literatur, Recht und Musik. Hg. Hermann Weber. Bln. 2007, S. 183–204). Spieltrieb (Ffm. 2004) ist ein exzeptioneller, philosophisch komplexer Adoleszenzroman über zwei Schüler, die mit ihren jugendl. Allmachtsfantasien ernst machen. Die Antwort auf die Leitfrage des Romans: Was bleibt, »wenn man dem Menschen alle Wertvorstellungen nimmt?« gibt bereits der Titel. »Amoralisch, anormal und asozial« aus persönl. Disposition u. sozialer Prägung, verstehen Ada u. Alev ihre Umwelt als Spielfeld, auf dem sie selbst die Regeln bestimmen. Sie ruinieren das Leben ihres Lehrers Smutek, indem sie ihn in ein auswegloses perverses Spiel um sexuelle Macht zwingen. Die angestrebte Entlarvung fragwürdig gewordener Unterscheidungskriterien von »gut und böse, richtig und falsch« endet blutig, aber ohne juristisch eindeutig bestimmbare Täter u. Opfer. Schilf (Ffm. 2007) ist als »metaliterarisches« Buch konzipiert (Werkstattgespräch mit J. Z. Der Unterschied zwischen Realität und Fiktion ist marginal. Hg. Sabine Doering u. Monika Eden. Oldenb. 2008, S. 23). Der Physiker Sebastian glaubt, mit der vermeintl. Entführung seines Sohnes zum Auftragsmord erpresst zu werden. Im Ringen mit sich selbst vor, während u. nach der Tat verwischen sich

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für ihn zusehends die Grenzen von Fantasie u. Wirklichkeit. Letztere rekonstruiert Kommissar Schilf, dessen kriminalistisches Talent sich aus der Verinnerlichung der Heisenberg’schen Unschärferelation ergibt. Weil es, wie bei Sebastian, »stets der Beobachter ist, der die Realität erschafft«, löst Schilf seine Fälle im permanenten Dialog mit einem »inneren Beobachter« zweiter Ordnung. Das Nach- u. Miterzählen der Vorgänge aus der distanzierten Perspektive der dritten Person, ein poetolog. Plädoyer für den auktorialen Erzähler, bringt Schilf schließlich auf den »Unbekannten«, der »an der Wirklichkeit eine Schraube verstellt« hat. Alle Romane, die über zahlreiche Motive als zusammenhängende »Projekte« eines »großen Schreibprozess[es]« (Werkstattgespräch [...], S. 51) markiert sind, wurden unter Z.s Mitwirkung für die Bühne bearbeitet. Weitere Werke: Recht auf Beitritt? Ansprüche v. Kandidatenstaaten gegen die Europ. Union. Baden-Baden 2002. – Ein Hund läuft durch die Republik. Gesch.n aus Bosnien. Hg. J. Z., David Finck u. Oskar Tersˇ. Ffm. 2004. – Kleines Konversationslexikon für Haushunde. Mit Fotografien v. D. Finck. Ffm. 2005. – Das Land der Menschen. Mit Illustrationen v. Wolfgang Nocke. Ffm. 2008 (Kinderbuch). Literatur: Thomas Kraft: J. Z. In: LGL. – Katja Thomas: Poetik des Zerstörten. Zum Zusammenspiel v. Text u. Wahrnehmung bei Peter Handke u. J. Z. Saarbr. 2007. – Eva Steindorfer: Frau ohne Eigenschaften. J. Z.s Nihilismustheorie des 21. Jh. In: Germanistische Mitt.en (2008), H. 67, S. 221–232. – Heinz-Peter Preußer: J. Z. In: KLG. Norman Ächtler

Zehender, Johannes, latinisiert: Decumanus, * 1564 Besigheim, † 25.9.1613 Wien. – Badischer Hofprediger, später Jesuit. Z.s Vater war im ehemals badischen Besigheim Landvogt. Über die Mutter, eine Schwester von Eberhard Biedenbach, dem ersten evang. Abt von Bebenhausen, war Z. mit berühmten württembergischen Theologenfamilien (Brenz, Schnepff, Osiander, Andreae) verwandt. Nach dem Besuch der Besigheimer Lateinschule wurde der begabte 15-jährige Z. im Febr. 1579 in Tübingen im-

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matrikuliert. Als Magister artium u. Bester seines Semesters verließ er 1583 die Universität. Seit 1585 betreute der 21-Jährige als Hofprediger die badische Markgräfin Anna, Witwe Karls II. Die Leichenpredigt für die früh verstorbene Regentin wurde 1586 noch unter seinem Geburtsnamen »J. Zehender« ediert. Die weiteren Schriften – nach 1600 – gab er mit seinem dann latinisierten Namen »Decumanus« heraus. Eine besondere Sympathie verband ihn mit Jacob III. (* 1562), Sohn des badischen Reformators Markgraf Karl II. Im Sommer 1586 wurde Z. Jacobs Hofprediger auf der Emmendinger Hochburg. Hier schloss er auch Freundschaft mit dem Arzt, Historiografen u. Juristen Joh. Pistorius Niddanus. Im Juni 1590 trat Z. – offiziell noch Lutheraner – beim ›Colloquium Emmendingense‹ als Hauptdisputant der kath. Seite auf. Dieses Religionsgespräch endete mit großen Spannungen zwischen dem Markgrafen Jacob III. u. der Hachberger Pfarrerschaft. Am 15.7.1590 konvertierte der Fürst wie auch sein ›concionator‹ Z. zur kath. Kirche. Mit Jacob III. sollte erstmals gemäß dem »cuius regio, eius religio« von 1555 ein evang. Land katholisch werden. Unruhen unter den Pfarrern, die auch hätten konvertieren oder ihre Pfarrstelle hätten aufgeben müssen, verstärkten sich. Auf dem Höhepunkt der Revolte erkrankte der bis dahin kerngesunde 28-jährige Jacob III. schwer. Z. betreute den Todkranken seelsorgerlich. Am 17.8.1590 starb der Markgraf an einer Arsenikvergiftung, was aus dem bereits 1591 edierten lat. Sektionsprotokoll hervorgeht. Nach Jacobs Tod wurde Emmendingen u. das Hachberger Land wieder lutherisch. Z. war nun »persona non grata«. Schon nach seiner Konversion hatte eine Verleumdungskampagne gegen ihn eingesetzt. Z. floh nach Freiburg. Von dort schrieb er am 22.8.1590 dem evang. Pfarrer von Besigheim, M. Jeremias Pistor über seine Konversion: «Wenn die katholische Religion so wäre, wie man bei den Lutheranern über sie spricht oder glaubt, dass sie sei, wäre ich gewiss eher Mohammedaner als Katholik geworden.« Bereits im Herbst 1590 wurde Z. in Konstanz Hofprediger bei Kardinal Andreas von

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Österreich, der ihn im Sommer 1591 zum entfaltete er ein besonderes Engagement. Das Leben des inzwischen 49-Jährigen erfüllte Priester weihte. Die Matrikel vom 5.11.1591 beweist, dass sich, als er während einer Pestepidemie fünf er in Rom an der Gregoriana erneut Theolo- Wochen lang die Kranken eines Wiener Argie studierte. Nach der Promotion trat er menviertels betreut hatte. Am 25.9.1613 1595 in den Jesuitenorden ein. In den fol- raffte auch ihn die Seuche dahin. Seine genden vier Jahren wirkte Z., der nun die ital. Grabstätte ist nicht bekannt. Beispielhaft ist Z.s, auf christl. Caritas baSprache perfekt beherrschte, als Beichtvater u. Prediger an verschiedenen Orten Italiens. sierendes Engagement bis hin zur SelbstaufIn den Catalogi personarum et officiorum pro- opferung. Sein in Wort u. Schrift toleranter vinciae Austriae S. I. für 1599 ist belegt, dass der Umgang mit Zeitgenossen, die in Glaubensinzwischen 34-jährige Z. im »Collegium dingen anders dachten als er, hebt ihn heraus Viennense« (Wien) tätig war. Nächster Wir- aus der Zahl polemisierender Kontroverskungsort von Z. wurde die Donaustadt Linz. theologen, die es in der Mitte des ReformaZiel des Jesuitenordens im deutschsprachigen tionsjahrhunderts zuhauf gab. Raum war es damals, möglichst viele neoLiteratur: Räß, Bd. 3, S. 1–90. – Hans-Jürgen protestantische Städte u. Länder für die kath. Günther: J. Z. (J. Decumanus, 1564–1613) – ein Kirche zurückzugewinnen. Erfahren in der vergessener Besigheimer? [...]. In: Besigheimer Pastoral beider Konfessionen, erschien Z. für Geschichtsbl., Nr. 16, Besigheim 1995 (darin S. 62: diese Aufgabe besonders geeignet. Er trat Verz. aller Werke Z.s). – Ders.: Emmendingen im Reformationsjahrhundert. In: Gesch. der Stadt »suaviter in modo, fortiter in re« auf. Emmendingen. Hg. Hans-Jörg Jenne u. Gerhard A. Für seine Toleranz sprach auch, dass der Auer. Bd. 1, Emmendingen 2006, S. 131–278. Katholik Z. 1600 mit einer großzügigen Hans-Jürgen Günther Spende die Armenkasse seiner evang. Heimatstadt Besigheim unterstützte, u. das in einer Zeit, in der es sonst allerorten längst zu Zehnjungfrauenspiel ! Thüringisches einer Polarisierung im Machtgebaren der Zehnjungfrauenspiel Konfessionen gekommen war, was dann zum Dreißigjährigen Krieg führen sollte. 1601 Zeidler, Christian, * 28.11.1643 Ronnenahm er am Religionsgespräch in Regensburg, † 21.8.1707 Eisenach. – Schuldraburg teil. Seine Hauptaufgaben lagen jedoch matiker. weiterhin im Predigt- u. Beichtdienst. So bestieg Z. 1605/06 im Wiener Stephansdom re- Z. ging zum Philosophiestudium nach Leipgelmäßig als Festprediger die berühmte zig (Immatrikulation ohne Eidesleistung im Kanzel. Am 26.3.1606 – Z. war inzwischen 42 Sommer 1656), wo er den Magistertitel erJahre alt – legte er die Ordensprofess ab. Da- warb. 1670–1684 war er Rektor in Saalfeld, nach leitete er als »Superior« die neu ge- ehe er für zwei Jahre die Ratsschule u. das gründete Niederlassung der Jesuiten in Linz. Gymnasium in Coburg übernahm; hier wurIn seinen österr. Jahren trat Z. (Decumanus) de er auch a. o. Prof. der griech. Sprache. 1686 auch als Verfasser mehrerer Bücher hervor. wurde er Pfarrer in Weißenbrunn, zwei Jahre Darin gelang es ihm, mit vielen fast witzig später Conrektor, 1693 Rektor in Eisenach. anmutenden Formulierungen die ernsten reZ.s erstes Schauspiel, Paedia dramatica, oder ligiösen Themen aufzulockern. Der gelehrte die gute und böse Kinder-Zucht (Dresden 1675), Theologe verriet hier, dass er von Jugend an ist Johann Sebastian Mitternachts Dramen »dem Volk aufs Maul geschaut« hatte. Der verpflichtet, »von dessen gegenhöfischem gebürtige Besigheimer ist der erste Autor Konzept [...] er sich [...] weitgehend bestimseiner Stadt. Seine gedruckten Werke er- men ließ« (Kaiser, S. 106). Z. entschied sich schienen zwischen 1586 u. 1608. jedoch dafür, den Konflikt der pädagog. 1610 wurde Z. Rektor des Wiener Jesui- Leitbilder in der herkömml. Form eines tenkollegs. In der Betreuung Gefangener, Knabenspiegels zu gestalten, was auf ein zum Tode Verurteilter u. unheilbar Kranker größeres Vertrauen in die Gültigkeit tradi-

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tioneller Bildungsinhalte schließen lässt. Der dramatisierte Fürstenspiegel Monarchia optima reipublicae forma (Rudolstadt 1679) ist eine stark verkürzte Bearbeitung von Mitternachts Politica dramatica. Allerdings lässt schon der geänderte Titel erkennen, dass hier die Monarchie als die »beste und bequemste Art zu regieren« (Monarchia, Bl. A3v) ausgewiesen wird. Mitternacht setzte den Schwerpunkt anders, die zentrale Aussage blieb jedoch erhalten: Wenn der Monarch elementarste Gesetze missachtet, dürfen sich die Stände erheben. In Saalfeld hat Z. von Schülern zwei weitere Schauspiele verwandter Thematik aufführen lassen: den Albrechtus animosus, Hertzog Albrecht, der teutsche Roland u. die Optuma principis educatio (beide Rudolstadt 1677. Internet-Ed. in: VD 17). Obwohl Z. nachweislich auf Christian Weise gewirkt hat, blieb er nahezu unbekannt. Weitere Werke: Die majestätische Auferstehung unsers Herrn [...] Jesu Christi [...]. Rudolstadt 1676. – Der Gott-gelassene Berg-Mann, Das ist, XL. christl. Berg-Andachten [...]. Saalfeld 1679. Halberstadt 1681. Verm. Ausg. Jena 1693. – Die durch Adam zwar verderbete doch in Christo wieder ererbete Unschuld [...]. Saalfeld 1680 (Drama). – Herausgeber: Die Episteln des Heiligen Märtyres Ignatii [...]. Eisenach 1690. Ausgaben: Internet-Ed. mehrerer Gelegenheitsschriften in: VD 17. Literatur: Bibliografie: VD 17. – Weitere Titel: Robert Richter: Die Schulkomödie in Saalfeld. Saalfeld 1864 (Schulprogramm). – Franz Spengler: Der verlorene Sohn [...]. Innsbr. 1888. – Marianne Kaiser: Mitternacht, Z., Weise [...]. Gött. 1972. – Heiduk/Neumeister, S. 117, 261, 498. – Konrad Zeller: Pädagogik u. Drama. Tüb. 1979. – Klaus Reichelt: Barockdrama u. Absolutismus. Studien zum dt. Drama zwischen 1650 u. 1700. Ffm. 1981. – Adalbert Wichert: Lit., Rhetorik u. Jurisprudenz im 17. Jh. Daniel Casper v. Lohenstein u. sein Werk [...]. Tüb. 1991, S. 212, 319. Jutta Sandstede / Red.

Zeidler, Zeitler, Johann Gottfried, auch: Synesius Philadelphus, * 11.4.1655 Fienstedt, † 1711 Halle. – Ehemaliger Pastor, satirischer Schriftsteller u. Übersetzer. Z. studierte in Jena u. Wittenberg Theologie, mit wachsendem Widerwillen gegen Schul-

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philosophie u. Klerikalismus, wie er später gestand. Zunächst gab es keine Alternative zum geistl. Amt; er wurde in Leipzig ordiniert u. musste seit 1679 dem erblindenden Vater als Hilfspastor assistieren. 1699, nach 20-jährigem Dienst, schlug Z. die nach dem Tod des Vaters freie Pfarrstelle aus u. brach mit seinem bisherigen Leben. Bereits Witwer, zog er mit seinen Kindern nach Halle u. begann eine profane u. ungesicherte Existenz. Seine satir. Begabung kam nun frei zur Geltung; es erschien Buch um Buch in rascher Folge. Zuvor war bereits eine Reihe eher frommer, eines angehenden Pastors u. aufstrebenden Gelehrten würdiger Schriften erschienen: Wittenberg 1678 ein Eigentliches Bildnis des Mannes Gottes D. Martin Luthers (Druck eines Stiches nach Lukas Cranach d.Ä. mit Versen Z.s darunter), ein Bilder-Büchlein (Magdeb. 1691. Erw. 1701) mit »biblische[n] Figuren: Jn deutlichen Reimen erkläret«, u. das Compendium Theatri Eruditorum (Wittenb. 1680. Auch 1686 u. 1690). Bemerkenswert an dieser Galerie von hundert Gelehrten u. Theologen im Stil der humanistischen Dichterkataloge, jeweils mit Porträtkupfer u. epigrammatischer subscriptio, ist die Auswahl: Calvin neben Chemnitz, Flacius neben Jan Hus u. Schwenckfeld. In Halle gehörte Z. zu den gewiss betagtesten u. eifrigsten Hörern u. ›Mitarbeitern‹ von Christian Thomasius, mit dem ihn rasch ein freundschaftl. Verhältnis verband. Aufgrund der Vorlesungsnachschriften erschien die Dreyfache Rettung des Rechts Evangelischer Fürsten in Kirchen-Sachen (Ffm. 1701), drei Abhandlungen des Lehrers, deren aggressiver u. spottlustiger Ton gegen die Geistlichkeit sicher mit auf Z. zurückgeht, der mehrere Schriften des Thomasius ins Deutsche übersetzte: Eine der Übertragungen der Dissertation gegen das Hexenwesen (De crimine magiae) ist von ihm (1703), daneben die Verdeutschungen der Standardwerke des Thomasius zum Natur- u. Staatskirchenrecht. Die lange Reihe der Satiren, heute schwer auffindbar, beginnt mit dem romanartigen Werk Das verdeckte und entdeckte Carneval (o. O. 1699/1700. Hg. Elmar Lechner. Klagenf. 2010) in zwei Teilen (»Aufzügen«, nämlich »Masqueraden auf dem großen Schauplatz der Welt«), einer vehementen Kritik der Ge-

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lehrten u. vor allem des luth. Klerus. Auffällig schen Seite, physikalisch zu erklären verist das Thema der Rollenunsicherheit im sucht. Nach den Ursachen solcher Dinge forgeistl. Beruf, über dessen Nutzen in einer Art schen zu wollen, hält Thomasius dagegen, karnevalistischer Umfrage Vertreter anderer gehöre zu den größten Torheiten der Menschen. Statt Erstursachen zu ergründen, solle Stände u. Lebenskreise zu Wort kommen. Auch in den Philosophiesatiren begegnet man die Wirkungsweise u. den Nutzen aufman den Themen des Thomasius; die Diktion zeigen. ist bei Z. jedoch gelegentlich verschärft, aber Weitere Werke: Neun Priester-Teuffel [...] in auch bereichert durch eine Vorliebe für Münch-Latein geschrieben u. in Druck gegeben. überschäumende Bildhaftigkeit, drast. Tier- Anno 1540, [...] mit guten Anmerckungen bey eivergleiche u. Fäkalsprache. Am gelungensten nem jeden Teuffel. Halle 1701. – Andreas Wissist die Metaphysica oder Über-Naturlehre (Halle owatius [Wiszowaty]: Die Vernünfftige Religion. 1699. Nachdr. Klagenf. 2008). Ihr folgten die Mit einer Vorrede Synesii Philadelphi. Amsterd. 1703. – Staat der Grafen von Mansfeld u. Hanau. Gnostologia oder Allwisserey (1699. Nachdr. Braunschw. 1703. – Sieben edle Tugenden, deren Klagenf. 2008), die Noologia oder Versteherey sich die Herren Dorff-Schulmeister befleißigen (1699), die Fiscologia oder Communität-Casse oder doch befleißigen sollen. o. O. 1703. – Buch(1700), die Pneumatica oder Geisterey (1700), die binder-Philosophie. Halle 1708. Nachdr. Hann. Physica (1700. Nachdr. Klagenf. 2008) u. die 1978. – Fliegender Wandersmann, oder philosoEthica (1700). Alle diese u. weitere Werke sind phische Untersuchung der Fliegekunst. Durch Anbei Renger in Halle u. anderen Druckorten laß des erdichteten Lufft-Schiffs, u. darauff erfolgdieses Verlags erschienen. Mit Die lustige und ten künstlische Erfindung Herrn Johann Gabriel denckwürdige Correspondence, welche den törichten Illings, Bürgers u. Schlossers in Halle. Halle 1710. – Lauff der Welt und die seltzamen Intriguen der Der wacklende Pfaff u. befestigte Lehrer (unveröffentl. Manuskript). Menschen mit nachdrücklichen Vorstellungen erLiteratur: Jakob Friedrich Reimmann: Cataloöffnet, 1.-3. Staffetta [d.i. 3 Teile] (Freyburg [d.i. gus Bibliothecae Theologicae. Hildesh. 1731. – Lpz.] 1699) versuchte sich Z. wie andere AuZedler. – P. Krumbholz: J. G. Z. [...]. In: Mitt.en der toren um 1700 in einem journalähnlich un- Gesellsch. für dt. Erziehungs- u. Schulgesch. 20 terhaltenden Periodicum, u. wie Thomasius (1910), S. 237–270. – Carlos Gilly: Das Sprichwort tritt auch er für die dt. Bildungssprache ein. ›Die Gelehrten die Verkehrten‹. In: Forme e destiEr schreibt sogar über eine reformierte Erst- nazione del messaggio religioso. Aspetti della prolesemethode (ABC Buch oder Schlüssel zur Lese- paganda religiosa nel cinquecento. Hg. Antonio Kunst. Braunschw. 1701. Verb. Aufl. 1709), in Rotondò. Firenze 1991. – Flood, Poets Laureate, der er sich gegen das Buchstabieren wendet, Bd. 4, S. 2288–2293. – Elmar Lechner (Hg.): Pädweil es »unnatürlich« sei. Das Projekt eines agogik u. Kulturkritik in der dt. Frühaufklärung: J. dt. Wörterbuchs ist unvollendet geblieben. G. Z. (1655–1711). Zehn Thesen u. Ed. einiger seiner autobiogr., pädagog. u. histor. sowie aphorist. Dem Schulwesen gilt auch die bes. umfängSchr.en. Ffm. 2008 (mit Werkverz.). liche u. erfolgreiche Satire Sieben böse Geister, Herbert Jaumann welche heutiges Tages guten Theils die Küster oder so genandte Dorff-Schulmeister regieren (Braunschw./Lpz. 1700. Halle 1703. Nachdr. ZschoZeidler, Paul Gerhard, auch: C. F. Kerin, pau 1880. Lpz. 1892. Klagenf. 2008 [Ausw.]). * 11.8.1876 Meißen, † 14.7.1947 Berlin. – Die Orientierung Z.s an Johann Balthasar Verfasser von historischen Romanen, NoSchupp wird hier deutlich. Das zu seinen vellen u. kulturhistorischen Schriften. Lebzeiten vielleicht bekannteste Buch Z.s war das Pantomysterium, oder Das Neueste vom Jahre Z. trat literarisch erstmals in den 1920er in der Wündschelruthe (Halle 1700). Thomasius Jahren als Verfasser histor. Romane in Erschrieb dafür eine wohlwollende, aber dis- scheinung, die in der Weimarer Republik tanzierte Vorrede. Die Wirkung der Wün- wieder Konjunktur hatten. Unter diesen doschelrute, einer Liebhaberei Z.s, wird in die- minieren historisch-biogr. Porträts im Stile ser Vorrede gegen allen Aberglauben, u. Alfred Schirokauers u. Emil Ludwigs. Indem gleichsam gegen den Beifall von dieser fal- die Romane zumeist populäre Stoffe der

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Weltgeschichte literarisierten, richteten sie rakter gänzlich zu negieren. Die Wendung sich an breite Leserkreise u. erzielten zumeist zurück zur Historiendichtung, die ein Konhohe Auflagen. Dabei erweist sich seine Ge- tinuum im literar. Werk Z.s darstellt, marschichtsbelletristik jedoch als durchaus akri- kiert sein letzter Roman über die Fugger (Jabisch recherchiert u. lässt den belesenen Au- kob Fugger, der Reiche. Ein deutscher Kaufmannstor u. Übersetzer Z. erkennen. Gleichwohl roman. Dresden 1943), der als merkantile Erbedient Z. die zeitgenöss. Schema- u. Ten- folgsgeschichte aus dem dt. SpätMA wiederdenzliteratur mit seinen histor. Erzählungen um Zeugnis einer intentionalen Geschichtsüber große Frauengestalten der europ. Ge- aneignung im Kontext nationaler Gesinnung schichte (Elisabeth von Platen. Eine deutsche ist. Pompadour. Bln. 1921. Elisabeth, Kaiserin von Weitere Werke: Die Unehelichen. Bln. 1926 Österreich, Königin von Ungarn, die Leidgekrönte. (R.). – Kulturdokumente (zus. mit Alfred Semerau). Bln. 1923. Bianca Capello, die Zauberin von Ve- 3 Bde. (I: Die großen Diebe. II: Die großen Mänedig. Bln. 1927. Katharina der Große. Bln. tressen. III: Die großen Kämpfer). Bln. 1927/28. – 1929), in denen Typisierung bei der Figu- Der Gestürzte Götze. Bln. 1928 (R.). – Ignez de rendarstellung u. triviale Erzählmuster Castro. Liebe ist stark wie der Tod. Bln. 1930. – Francesco Crispi, der Advokat Italiens. Histor. Roüberwiegen. So knüpft Z. an literarisch wie man. Bln. 1939. – Blauer Dunst macht Weltgesch. populärhistorisch präfigurierte Vorstellun- Kurzweiliger Lebenslauf des Tabaks (zus. mit Argen an, beispielsweise indem er die Mätresse thur-Heinz Lehmann). Lpz. 1939. – Auf goldener u. Kurtisane Bianca Capello zur sinnlich be- Schaukel. Bln. 1940. – Windstärke 9. Segel fest! rückenden femme fatale im schönheitslie- Bln. 1940. – Wohltäter der Menschheit: Wilhelm benden Florenz der Spätrenaissance stilisiert. Conrad Röntgen. Lebensbild. Bln./Lpz. 1947. Dabei fungieren die Protagonisten paradigJulia Ilgner matisch als Zerrspiegel der Epoche, anhand derer der Verfasser eine zeittypische, jedoch Zeiller, Franz (Anton Felix) von, * 14.1. zumeist wenig differenzierte Geschichtskri1751 Graz, † 23.8.1828 Hietzing (heute tik entfaltet. zu Wien). – Rechtslehrer u. GesetzesreNeben Lebensbildern faszinierender Redaktor. gentinnen rangiert in der späten Weimarer Republik die Entdeckungsliteratur zum Z. studierte zunächst Philosophie in Graz, zweiten Metier Z.s. Die durch die enge Zu- dann Rechtswissenschaften in Wien, beides sammenarbeit mit dem Autor, Übersetzer u. mit dem Doktorat abschließend. 1782 wurde Herausgeber Alfred Semerau bedingte publi- er Nachfolger seines Lehrers Karl Anton von zistische Arbeit für den Berliner Oestergaard- Martini als Professor für Naturrecht u. InstiVerlag über Expeditionen in klimatisch ex- tutionen des röm. Zivilrechts in Wien. Seit treme u. zivilisatorisch nicht erschlossene 1797 war er Mitgl. der Hofkommission in Gebiete (Polarfahrten. Bln. 1927. Helden im Justizsachen, auf deren Geheiß er 1801 stänewigen Eis. Lpz. 1936. Durch Wüstensand und diger Referent für das neu zu schaffende Sonnenbrand. Bln. 1936) sind stereotype Re- ABGB wurde. Diese große naturrechtl. Kodipräsentanten der neusachl. Forschungsreise- fikation, die 1810 in Kraft trat u. mit einer u. Entdeckungsliteratur. Sind die Polarfahr- Reihe von Änderungen noch heute in Österten noch einem epigonalen Exotismus ver- reich gültig ist, hat Z. wesentlich mitgeprägt. haftet, gewinnt seit Mitte der 1930er Jahre Seine Leistung bestand in erster Linie darin, ein völkisch überhöhter Heroismus über- den Entwurf Martinis, der bereits als Westhand. Auch die Lebensbilder dt. Kriegshel- galizisches Gesetzbuch in Kraft war, umzuden, wie des preuß. Feldmarschall Ludwig gestalten, insbes. Martinis sozial-ethisches Yorck von Wartenburg (Große Soldaten. Bln. Naturrechtsverständnis mit der krit. Philo1936. Yorck von Wartenburg. Bln. 1936), stehen sophie Kants in Einklang zu bringen. Von unter dem Einfluss des von der nationalso- seinen gesetzgeberischen Vorstellungen, die zialistischen Propaganda geförderten Patrio- in vielen Punkten in dem Gesetz Niedertismus, ohne jedoch ihren geschichtl. Cha- schlag gefunden haben, legt Das natürliche

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Privat-Recht (Wien 1802) Zeugnis ab sowie die Vorbereitung zur neuesten österreichischen Gesetzeskunde im Straf- und Civil-Justiz-Fach (2 Bde., ebd. 1810; eine Zusammenfassung von vier in den Jahren 1806–1809 erschienenen Aufsätzen). Z. gilt als Musterbeispiel eines Vertreters des aufgeklärten Naturrechts, der Kants Erkenntniskritik für die Rechtswissenschaften nutzbar zu machen verstand. Verdienstvoll ist darüber hinaus sein Bemühen um Kürze u. Klarheit der Sprache, die sich wohltuend auf die Gesetzgebung auswirkte. Weiteres Werk: Commentar über das allg. bürgerl. Gesetzbuch für die gesammten Dt. Erbländer der österr. Monarchie. 4 Bde., Wien, Triest 1811–13. Literatur: Ernst Swoboda: F. v. Z. Graz/Wien/ Lpz. 1931. – Walter Selb u. Herbert Hofmeister (Hg.): Forschungsbd. F. v. Z. Wien/Graz/Köln 1980. – Karl Gabriel: F. v. Z. im Kontext der Rechtsphilosophie seiner Zeit. Diss. Wien 1993. – Johannes Michael Rainer: F. v. Z. u. der Code Civil Napoleons. In: Mélanges Fritz Sturm 1 (1999), S. 869–879. – Gernot Kocher: F. v. Z. u. seine Vorstellungen über eine Zivilprozessordnung. In: Der Zivilprozess zu Beginn des 21. Jh. FS Wolfgang Jelinek. Hg. Daphne-Ariane Simotta. Wien 2002, S. 101–109. – Joseph F. Desput (Hg.): F. v. Z. Graz 2003. – Eric Gilardeau: Der Einfluss des Gedankengutes Kants auf das Allg. Bürgerl. Gesetzbuch durch F. v. Z. In: Ztschr. für Europarecht, internat. Privatrecht u. Rechtsvergleichung 45 (2004), 4, S. 123–142. Andreas Roth / Red.

Zeiller, Martin, * 17.4.1589 Ranten/Obersteiermark, † 6.10.1661 Ulm. – Publizist. Der Sohn eines luth. Pfarrers besuchte seit 1601 die Schule in Ulm. Während seines Studiums in Wittenberg (seit 1608) widmete sich Z. bes. der Geschichte u. der Rechtswissenschaft. Zwischen 1612 u. 1629 fand er seinen Unterhalt als Hauslehrer u. Sekretär im Dienst verschiedener protestantischer Adelshäuser Oberösterreichs (u. a. der Grafen von Tattenbach). Diese Position ermöglichte ihm weite Reisen innerhalb des Reichs (Böhmen, Altdorf, Straßburg) sowie nach Frankreich u. Italien (Padua). In Ulm erhielt Z. 1630 das Bürgerrecht; 1633 wurde er zum Aufseher des Gymnasiums, schließlich zum Bü-

cherzensor (1641) u. Inspektor der dt. Schulen (1643) ernannt. Z. gehört zu den populären Autoren des 17. Jh., die in dickleibigen, nahezu seriell produzierten Gebrauchsschriften historischgeografische Kenntnisse u. alltagsbezogenes Realienwissen an ein zumeist nicht Latein lesendes Publikum vermittelten. Faktendichte u. Erörterungswert, Erbauung u. Zerstreuung, Befriedigung sentimentaler Neugier u. ungestillter Wissensbedürfnisse bestimmten Verbreitung u. Attraktivität der Z.schen Publikationen. Durch sie wurden Formen der akadem. Diskurs- u. Observationenliteratur in die Muttersprache übertragen. Die Leser benützten ausführl. Register, jedoch erfasste Z. auch schon den Nutzen einer Enzyklopädie. Besonders bekannt wurden seine Itinerarien (1632–1640), denen er ein vorbereitendes Handbuch an die Seite stellte (Fidus Achates oder der getreue Rayßgefärt. Ulm 1651. 1657. 1680. Lat. 1653). Zusammen mit Matthäus Merian erarbeitete er als Textautor die Buchreihe der Topographiae Germaniae, ein Grundwerk der histor. Städte- u. Landeskunde (1642 ff. Faks. Kassel 1959–65). Daneben verdienen auch die Übersetzungen aus dem Französischen (Louis Garron, François de Rosset) Beachtung., durch die sich Z. einen Platz in der Frühgeschichte der dt. Novellistik sicherte. Weitere Werke: Episteln oder Sendschreiben [...]. 6 Bde., Ulm 1640–47. 2 Bde., ebd. 1656. 1683. 1700. – Topographiae superioris Saxoniae, Thüringiae, Misniae, Lutatiae etc. [...]. Ulm 1650. Nachdr. Braunschw. 2005. – Chronicon parvum Sueviae [...]. Ebd. 1653. – Ein Hundert Dialogi [...]. Ebd. 1653. – Hdb. v. allerley [...] Denckwürdigkeiten [...]. Ebd. 1655. – Centuria Variarum Quaestionum Oder / Ein Hundert Fragen [...]. Ebd. 1658. – Collectanea Oder Nachdenckl. Reden [...]. Ebd. 1658. – Miscellanea Oder Allerley [...] denckwürdige Sachen [...]. Ebd. 1661. – Übersetzungen: Louis Garron: Der Unlustvertreiber. Ffm. 1643 u. ö. – François de Rosset: Wunderl. u. Trawrige Gesch.n. 25 Aufl.n seit 1615. Literatur: Albrecht Weyermann: Nachrichten v. Gelehrten, Künstlern u. andern merkwürdigen Personen aus Ulm. Ulm 1798, S. 555–563 (mit Werkverz.). – Otto Häcker: M. Z. In: Schwäb. Lebensbilder. Bd. 1. Hg. Hermann Haering u. Otto Hohenstatt. Stgt. 1940, S. 563–573. – Carl Schu-

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635 chardt: Die Z.-Merianschen Topographien [...]. In: Philobiblon 3 (1959), S. 293–339 (zuerst 1896). – Janifer G. Stackhouse: Early Critical Response [...]. The ›Dialogi‹ of M. Z. In: JEGPh 73 (1974), S. 487–496. – Wilhelm Kühlmann: Lektüre für den Bürger. In: Lit. u. Volk im 17. Jh. Hg. Wolfgang Brückner u. a. Wiesb. 1982, S. 917–934. – Walter Brunner. M. Z., 1589–1661. Ein Gelehrtenleben. 2., verb. Aufl. Graz 1990. – Rudolf Schenda: Jämmerl. Mordgeschichte. Harsdörffer, Huber, Z. u. frz. Tragica des 16. u. 17. Jh. In: Volkskultur – Gesch. – Region. FS W. Brückner. Hg. Dieter Harmening u. Erich Wimmer. Würzb. 1990, S. 530–551. – Italo Michele Battafarano: Paolo Grillando, François de Rosset, M. Z., Grimmelshausen. Die Literarisierung v. Hexenprozeßakten in der Frühen Neuzeit. In: Simpliciana 20 (1998), S. 13–24. – Ders: Von Sodomiten u. Sirenen in Neapel. Barocke Erzählkunst bei M. Z. u. Georg Philipp Harsdörffer. In: Ebd. 21 (1999), S. 125–139. – Ingo Breuer: Trag. Topographien. Zur dt. Novellistik im europ. Kontext (Camus, Harsdörffer, Rosset, Z.). In: Topographien der Literatur. Dt. Lit. im transnationalen Kontext. Hg. Hartmut Böhme. Stgt./Weimar 2005, S. 291–312. Wilhelm Kühlmann

Zeindler, Peter, * 18.2.1934 Zürich. – Krimi-, Hörspiel- u. Drehbuchautor. Nach dem Studium der Germanistik u. Kunstgeschichte in Zürich (Dr. phil.) arbeitete Z. zuerst als Lehrer, dann als freier Journalist u. Schriftsteller; er lebt in Zürich. Z. begann als Dramatiker, blieb aber mit seinen Stücken (u. a. Der Eremit. Dramatische Collage. Urauff. Bern 1966) ohne großen Erfolg. Seit 1982 profiliert er sich als Autor von Agentenromanen. Bereits in Tarock (Mchn. 1982) fand Z. zu einem seiner Hauptthemen: der Agent als Spielball der Geheimdienste. In Die Ringe des Saturn (ebd. 1984. Fernsehverfilmung 1991) wird Konrad Sembritzki, Agent des BND im Ruhestand, reaktiviert u. nach Prag geschickt, wo er merkt, dass er entgegen seiner Überzeugung die Interessen westl. Rüstungsstrategen befürworten soll. Sembritzki bleibt auch in den folgenden Romanen Hauptfigur u. gerät unfreiwillig in polit. Spannungssituationen: in den Konflikt zwischen der Gewerkschaft Solidarnos´ c´ u. der Regierung in Polen (Widerspiel. Wien/Hbg. 1987) u. in die Autonomiebestrebungen im

Baltikum (Der Schattenagent. Ebd. 1989). Brenner, der neue Held in Die Feuerprobe (Zürich 1991), versucht nach der dt. Wiedervereinigung das Machtvakuum in der ehemaligen DDR zu nützen u. sich von seiner Tätigkeit als Ostspion zu lösen. Zentralthema ist hier die Suche Brenners nach seiner Identität hinter den Masken der Agentenexistenz. Mit Seilschaften aus der Zeit des Kommunismus beschäftigt sich der Protagonist in Der Mauersegler (Zürich/Hbg. 2007). Die Aufmerksamkeit der Erzähler von Z. gilt auch der Scheinheiligkeit der Medien (Toter Strand. Ebd. 2004, R.) u. der therapeutischen Funktion des literar. Schreibens (Der Schreibtisch am Fenster. Ebd. 2006, R.). Ein glänzendes Zeugnis von seiner Virtuosität im spielerischen Umgang mit Gattungskonventionen legt Z. in den Bänden Mord im Zug. Böse Geschichten (Zürich 1994) u. Die Meisterpartie. Kriminalgeschichten (Bielef. 2009) ab. Z. schrieb auch Hörspiele (u. a. Die Meisterpartie. SWF 1990. Duett in Zürich. SWF/SFB 1996. Der letzte Gang. DRS 2000) u. Drehbücher für Fernsehfilme (u. a. 1990 zu Leo Perutz’ Roman Der Meister des jüngsten Tages). – Er erhielt 1986, 1988 u. 1989 den dt. KrimiPreis; 1996 wurde er mit dem FriedrichGlauser-Ehrenpreis für das Gesamtwerk ausgezeichnet. Weitere Werke: Kurzschluß. Urauff. Karlsr. 1969 (D.). – Der Zirkel. Zürich/Köln 1985 (R.). – Der Kurgast. Urauff. Zürich 1985 (D.). – Das Sargbukett oder Sophies erster Fall. Zürich 1992 (Kriminal-R.). – Der Schläfer. Zürich 1993 (Agenten-R.). – Ausgetrieben. Zürich/Hbg. 1995 (R.). – Klick! Zürich 1996. – Salon mit Seerosen. Zürich/Hbg. 1996 (R.). – Aus Privatbesitz. Zürich/Hbg. 1998 (R.). – Abgepfiffen. Best of foul play. Hbg. 1998. – Der letzte Schrei. Komödie mit Musik. Köln 1998. – Abschied in Casablanca. Sembritzki auf Mission in Marokko. Zürich/Hbg. 2000. – Bratwurst für Prominente. Hbg./Wien 2002. – Das Lächeln des andern. Zürich/ Hbg. 2002 (R.). – Der Elegant. Zürich 2002 (L.). – Das unheiml. Auge. Kinderkrimi. Mchn./Wien/ Innsbr. 2003. – Dichter morden nicht! Urauff. Zürich 2004 (D.). – Der Heimwerker. Köln 2005 (Kom.). – Grüezi – moin, moin. Szenen aus Zürich & Hamburg u. Hamburg & Zürich. Zürich/Hbg. 2006. – Tanti Auguri. Zürich 2008 (Kriminal-R.). Guido Stefani / Robert Rduch

Zeising

Zeising, Adolf (Daniel Georg Heinrich Theodor), * 24.9.1810 Ballenstedt/Harz, † 27.4.1876 München. – Verfasser von ästhetischen u. philosophischen Schriften, Romanen u. politischer Lyrik. Der Sohn eines früh verstorbenen Kammermusikers am Hof von Alexius Friedrich Christian II. von Anhalt-Bernburg studierte Philosophie u. Philologie in Berlin u. Halle. Schon während seiner Studienzeit veröffentlichte Z. erste Gedichte u. Prosatexte, u. a. im von Gustav Schwab u. Adelbert von Chamisso herausgegebenen Deutschen Musenalmanach. Nach seinem Lehrerexamen 1834 übernahm er verschiedene kleinere Lehraufträge u. schließlich eine Subkonrektorenstelle am Gymnasium in Bernburg, setzte aber seine literar. Tätigkeit fort: So schrieb er – unter dem Pseud. Richard Morning – u. a. für die Marbacher Jahreszeiten u. veröffentlichte mit den Zeitgedichten (Lpz. 1846) eine Sammlung polit. u. patriotischer Lyrik, die jedoch von der Zensur weitgehend vernichtet wurde. 1848 wurde Z. als Führer der Oppositionspartei Volksvertreter für Bernburg; er fungierte außerdem als Herausgeber des Sprechsaals für das anhaltische Volk. Nach dem Scheitern der Revolution schied er 1852 – wohl aufgrund seines vorausgehenden polit. Engagements – aus dem Schuldienst aus. Abgesichert durch ein Wartegeld übersiedelte er im Folgejahr nach Leipzig, wo er sich systematisch seinen philosophischen u. ästhetischen Studien widmete. Wesentlich wurde er durch seine Forschungen zum Phänomen des Goldenen Schnitts bekannt, deren Ergebnisse er in der Neuen Lehre von den Proportionen des menschlichen Körpers (Lpz. 1854) erstmals veröffentlichte: Ausgehend von früheren Beschreibungen beschreibt Z. den Goldenen Schnitt als ästhetisches Naturgesetz, das er in Messungen von Kunstwerken u. Lebewesen analytisch nachzuweisen sucht. Die Aesthetischen Forschungen (Ffm. 1855) u. diverse Einzelabhandlungen setzten die Arbeiten bis weit in die 1860er Jahre fort; postum erschien Der goldene Schnitt (Halle 1884) nach einem vermutlich unvollendeten Manuskript aus dem Nachlass des Autors.

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1855 zog Z. nach München, ursprünglich wohl mit dem Ziel, seine Messungen auf die antiken Plastiken der Glyptothek auszuweiten. Er schloss sich verschiedenen Künstler- u. Gelehrtengesellschaften an, u. a. dem Dichterkreis »Die Krokodile«. Aus der Münchener Zeit stammen vier Romane, die – anders als die frühe polit. Lyrik – kunst- u. musikästhetische sowie philosophische Fragen in den Mittelpunkt stellen. Auch seine frühere Novelle Meister Ludwig Tieck’s Heimgang (Ffm. 1854) setzt sich mit der Romantik u. vor allem mit einer falsch verstandenen, auf das Schwarzmagische reduzierten Romantikrezeption auseinander. Wenig erfolgreich war Z. als Dramatiker: Seine Landhofmeisterin (Stgt. 1860), ein histor. Drama aus der Zeit der span. Erbfolgekriege, wurde wegen denkbarer tagespolit. Implikationen aus dem Spielplan der Münchener Hofbühne gestrichen; auch die Aufführung der späteren Tragödie Kaiserin Eudocia (1861) entsprach nicht Z.s Erwartungen. Obwohl Z. neben den genannten ästhetischen u. literar. Schriften auch zahlreiche Kritiken, Berichte u. Aufsätze, Übersetzungen u. philosophische Werke veröffentlichte, wurde er in der Rezeption annähernd ausschließlich auf seine ästhetischen Arbeiten zum Goldenen Schnitt reduziert. Weitere Werke: Die Reise nach dem Lorbeerkranze. Humoristisches Lebensbild. Bln. 1861. – Hausse u. Baisse. Ein Roman aus der Gegenwart. Bln. 1864. – Joppe u. Crinoline. Roman. Wien 1865. – Kunst u. Gunst. Roman aus den ersten Jahrzehnten unseres Jh. Bln. 1865. – Religion u. Wiss., Staat u. Kirche. Eine Gott- u. Weltanschauung auf erfahrungs- u. zeitgemäßer Grundlage. Wien 1873. Literatur: N[ikolaus] Wecklein: A. Z. In: ADB. – Roger Herz-Fischler: A. Z. (1810–1876). The Life and Work of a German Intellectual. Ottawa 2004 (mit umfassender Bibliogr. u. digitalem Textanhang). – Bernd Gerhard Ulbrich: ›... mit Rücksicht auf dessen tadelnswerthe frühere politische Haltung ...‹. Dokumente u. Anmerkungen zur Lebensgesch. v. A. Z. In: Mitt.en des Vereins für Anhaltische Landeskunde 14 (2005), S. 149–168. – Ders.: A. Z. u. das Bernburger ›ästhetische Kränzchen‹ 1835 bis 1838. In: ebd. 17 (2008), S. 207–217. Christiane Hansen

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Zell, Albrecht Jacob, * 6.5.1701 Hamburg, † 10.3.1754 Stadthagen. – Lyriker.

Zeller fenb. 1983, S. 198. – Hans Joachim Marx: Die Hamburger Gänsemarkt-Oper. Katalog der Textbücher. Laaber 1995. Wolfgang Schimpf / Red.

Der Schüler von Johann Albert Fabricius u. Brockes war nach Abschluss seines Jurastudiums in Jena auf eine Stelle als Hauslehrer in Zeller, Eva, * 25.1.1923 Eberswalde bei Glückstadt angewiesen, bis er 1735 in gräf- Berlin. – Lyrikerin, Erzählerin, Essayistin. lich Schaumburgische Dienste trat u. in Bü- Nach dem Abitur 1941 im Internat Droyßig ckeburg in der Kanzlei u. als Schlossbiblio- bei Zeitz studierte Z. bis 1944 Germanistik u. thekar arbeitete. 1739 schickte ihn sein neuer Philosophie in Greifswald, Marburg u. BerLandesherr zum Theologiestudium nach lin, schloss das Studium nach dem Krieg in Halle; 1741 erhielt er das Rektorat des Gym- Greifswald ab u. war 1947–1950 Lehrerin u. nasiums Stadthagen, das er bis zu seinem Tod Junglehrer-Ausbilderin in Görzke. 1950 heiinnehatte. ratete sie den Pfarrer u. Kunsthistoriker In seinem Hauptwerk Erweckte Nachfolge Reinmar Zeller (1925–2007), dem sie 1956 zum Irdischen Vergnügen in Gott, bestehend in nach Swapokmund (Namibia) folgte. Seit physicalisch- und moralischen Gedichten (Hbg. 1962 lebte sie in der BR Deutschland (Düs1735. Internet-Ed. in: HAB Wolfenb. [dünn- seldorf, Villingen, Heidelberg) u. ist seit 1998 haupt digital]) teilt Z. das poesiolog. Credo in Berlin ansässig. Z. ist Mitgl. der Akademie seines Lehrers Brockes, als dessen beflissens- für Deutsche Sprache und Dichtung (Darmter Nachahmer er gilt. Wie dieser unternahm stadt) sowie der Akademie der Wissenschafer in vielfältigen lyr. Formen den Versuch ten und Literatur (Mainz). Sie erhielt zahleiner physikotheolog. Theodizee, sah die reiche Preise, u. a. den Georg-MackensenNatur in allen ihren Erscheinungsformen als Literaturpreis (1970), die Ehrengabe zum Abbild einer harmon. Schöpfung u. Anlass Andreas-Gryphius-Preis (1974), den Salzburzum Preis des allmächtigen Schöpfers, er- ger Lyrikpreis u. den Droste-Preis (1975), den reichte freilich oft das Reflexionsniveau sei- Ida-Dehmel-Literaturpreis (1986), die Erzähnes Vorbilds nicht. Während seiner Bücke- lerpreise der Stiftung Ostdeutscher Kulturrat burger Zeit trat Z. vor allem als spätabsolu- (1988 u. 1992), den Eichendorff-Literaturtistischer Hofdichter hervor, der in Gelegen- preis (1991), den Nikolaus-Lenau-Preis heitscarmina aus unterschiedlichsten Anläs- (1994), den Evangelischen Buchpreis (1994) u. sen dem Lob der gräfl. Familie das angemes- den Paul-Gerhardt-Preis (2007). 1999 wurde sene rhetorische Gewand verlieh. Häufig Z. die Ehrendoktorwürde der Evangelischwählte er auch librettistische Genres (Orato- lutherischen Hochschule Neuendettelsau rium, Kantate). verliehen. 2005 fand im »Handwerkerhof Weitere Werke: Christus drey Tage u. drey Görzke« die Eröffnung einer ständigen AusNächte im Hertzen der Erden; Oder: Schriftmäßige stellung zu Leben u. Werk Z.s statt. Erklährung der Worte unsers Heylandes Matth. Nach jugendliterar. Anfängen (1957–1969, XII, 40 [...]. Bückeburg 1741. – Das Heiligthum u. z.T. für die Heft-Reihen »Silberstern« u. »Für Ehrenmahl [...] Herrn Albrecht Wolfgangs des Heil. stille Stunden«) wurde Z. mit Erzählungen Röm. Reichs, auch regierenden Grafens zu Schau- (Die magische Rechnung. Stgt. 1966) u. einem enburg [...]. Ebd. 1748. Roman (Der Sprung über den Schatten. Ebd. Literatur: Elias Friedrich Schmersahl: Neue 1967) bekannt, in denen das ZusammentrefNachrichten v. jüngstverstorbenen Gelehrten. fen verschiedener Kulturen im heutigen Bd. 2, 8. St., Lpz. 1756, S. 836–839. – Walter Afrika auffällig nüchtern beschrieben wird. Schatzberg: Scientific themes in the popular liteFolgen der Industrialisierung in Europa therature and the poetry of the German Enlightenment 1720–1760. Bern 1973. – Uwe K. Ketelsen: matisieren die Erzählbände Ein Morgen im Mai Die Naturpoesie der norddt. Frühaufklärung. Stgt. (ebd. 1969) u. Tod der Singschwäne (ebd. 1983). 1974. – C. F. Weichmanns Poesie der Nieder-Sach- Die Herausforderungen einer 20-jährigen sen (1721–38). Nachweise u. Register. Hg. Chris- Ehe besonders durch die ›Revolte‹ der Tochtoph Perels, Jürgen Rathje u. Jürgen Stenzel. Wol- ter sowie die depravierte Situation einer be-

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trogenen Ehefrau sind Themen der Romane Lampenfieber (ebd. 1974) u. Die Hauptfrau (ebd. 1977). Über Erzählungen Z.s urteilte Günter Blöcker 1973: »Das Ästhetische ist hier noch identisch mit dem Moralischen.« Die Erzählweise Z.s komme »ohne Tricks und Taschenspielerkünste aus«, so Walter Hinck (FAZ, 29.3.1983): »Unvergessen scheint hier die Forderung Emile Zolas, der Autor habe nicht zu richten, sondern Tatsachen festzustellen, er habe zu protokollieren.« »In hohem Maße geglückt« (Werner Roos in: SZ, 14.10.1981) seien die Erzählungen über die erinnerte Kindheit, »diese nie / geschlossene Fontanelle« (Auf dem Wasser gehen. Ausgewählte Gedichte. Stgt. 1979). Besonders die autobiogr. Romane Solange ich denken kann (ebd. 1981) u. Nein und Amen (ebd. 1986), in denen die Erfahrungen einer durch den Nationalsozialismus verführten u. verratenen Jugend aufgearbeitet werden, zeigen aber auch, dass »Kindernöte, die zerrissenen Gefühle zu den geschiedenen Eltern, Freundschaften und Enttäuschungen, die große Liebe, Jungsein und Durchkommen [...] das größere Gewicht« hatten als die »emotionale Mobilmachung fürs Vaterland« (Hiltrud Häntzschel), der sich das Mädchen gleichwohl nicht entziehen kann. Am Ende aber steht die »Rettung« vor dem »Bösen, dem man unschuldig anheimgefallen war [...] durch die innere Stimme des Glaubens« (Hilde Spiel). Narratologisch ist die Konstruktion schlicht: Immer bleibt die analysierende Perspektive der rückschauenden Erzählerin von der Erlebnisperspektive des einstigen Mädchens deutlich getrennt. Auch in einigen Erzählungen des Bands Das Sprungtuch (ebd. 1991) geht es um den nationalsozialistischen Alltag, seine »Atmosphäre, das Gewürm und Gewürge« jener Zeit. In dem Roman Das versiegelte Manuskript (Stgt. 1998) wird an den Holocaust, die Schrecken des Kriegs u. die Verschleppung zahlloser Frauen in sowjetische Gefangenenlager erinnert, in den Erzählungen Dreißig Worte für Liebe (Stgt./Mchn. 2002) werden – neben anderen Ereignissen aus der Geschichte u. Gegenwart – aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs eher geschichtsabgewandte Situationen geschildert.

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»Alles, was sie schreibt, ist Biographie, aufgesuchtes, erinnertes, sie anfallendes Leben«, so Hartmut von Hentig in einer Laudatio zu Z.s 80. Geburtstag. Den größten Erfolg hatte Z. mit Die Lutherin (Stgt. 1996. 8 1999. Tb. Mchn./Zürich 2000. 22001. 52009), einer histor. Spurensuche nach Katharina von Bora, von Rüdiger Görner als »das eigentliche literarische Ereignis des Luther-Jahres« gerühmt (NZZ, 20.6.1996). Es handelt sich um eine fiktive Biografie, die nie verleugnet, wie fragil auf Grund der so wenigen Zeugnisse u. Urkunden die lebensgeschichtl. Konstruktion bleiben muss. Als Lyrikerin ist Z. seit Anfang der 1970er Jahre auf dem Buchmarkt präsent (die Jugendgedichte im Tone Benns wurden nie publiziert). Insbesondere in den Gedichten offenbart sich eine christl. Grundhaltung, »ohne dass ihr poetischer Gestus jedoch nur entfernt an religiöse Erbauungslyrik erinnerte« (Petra Ernst). Vielmehr werden hier existenzielle Situationen angesprochen u. die »Quersumme / meiner Einsilbigkeit« gezogen, »die Schrecksekunde / in der ich das Wort / ins Gebet nehme« beschworen, oder auch poetolog. Kommentare zum eigenen »Schreiben« gegeben: »Die Atemnot / artikulieren«. Gedichte seien, so heißt es in dem Band Sage und schreibe (Stgt. 1971), »[v]on der Hoffnung / hereingelegte Worte // Veröffentlichte / Ängste. Aller- / närrischste Unter/ schriftensammlung // gegen den Tod«. Neben die »Angst« vor dem Tod, »diesen tödlichen Mangel«, tritt in vielen Gedichten auch die Sorge, dass »wir im Begriff« seien, »die Leidensfähigkeit und Verletzlichkeit des Menschen wegzuerklären und zu überspielen«. »Eine Kirche gibt es / nicht in meinem Dorf / wohl aber einen / kleinen nackten Gott / den verstecke ich lebendig / unter meiner Türschwelle [...] // Ich gehe über ihn hinweg / Wenn es nichts mehr / zu besichtigen gibt / und die Spiegel erlöschen / grabe ich / mit nackten Händen / nach ihm« (Wo ich wohne. In: Auf dem Wasser gehen). Z. bezeichnete einmal als ihr poetisch-ethisches Programm, »die Sprache beim Wort zu nehmen« (Gespräch mit Karl Bongardt in: Unveränderliche Kennzeichen, S. 274).

639 Weitere Werke: Der Schuß. Unerwartete Begegnung. 1965 (Hörsp.). – Die Gretchenfrage, 1972 (Fernsehsp.). – Der Turmbau. Stgt. 1973 (E.en). – Fliehkraft. Ebd. 1975 (L.). – Lang genug habe ich gewohnt bei dem Hasser des Friedens (zus. mit Leszek Kol/akowski). Eschbach 1981 (P.). – Stellprobe. Stgt. 1989 (L.). – Das Wort u. die Wörter. Tradition u. Moderne in der geistl. Lyrik. Ebd. 1990 (Ess.). – Ein Stein aus Davids Hirtentasche. Freib. i. Br. u. a. 1992 (L.). – Die Autobiographie. Selbsterkenntnis – Selbstentblößung. Stgt. 1995 (Ess.). – Das unverschämte Glück. Stgt. 2006 (L.). – Was mich betrifft. Mchn. 2011 (L.). – Gesammelte Werke: Unveränderl. Kennzeichen. Hg. Karl Bongardt. Bln. 1983 (E.en, L.). – E. Z. Lyrik u. Prosa. Hg. Karl Foldenauer. Karlsr. 1992. – Herausgaben: Generationen. Dreißig dt. Jahre. Stgt. 1972 (E.en). – Das Kind in dem ich stak. Gedichte u. Gesch.n über die Kindheit (zus. mit Irma Hildebrandt). Ffm. 1991. Literatur: André Bogaert: E. Z. In: La Nouvelle Revue des Deux Mondes 1972, Bd. 3, H. 8, S. 448–457. – Ursula Homann: Z., Der Tod der Singschwäne. In: Dt. Bücher 13 (1983), S. 206–208. – Die Pausen zwischen den Worten. Dichter über ihre Gedichte. Hg. Rudolf Riedler. Mchn./Zürich 1986, S. 117–121. – Linhua Chen: Autobiogr. als Lebenserfahrung u. Fiktion. Ffm. 1991. – Egon Schwarz: Erinnerung, nicht Rückkehr. In: Frankfurter Anthologie 14 (1991), S. 227–230. – Elaine Martin: Patriarchy, memory, and the Third Reich in the autobiographical novels of E. Z. In: Women in German Yearbook 6 (1991), S. 46–62. – Gerhard Schulz: Glauben u. Wissen. In: Frankfurter Anthologie 15 (1992), S. 219–223. – Ulrich Karthaus: Die mag. Rechnung. In: FAZ, Nr. 20, 25.1.1993, S. 30. – Elaine Martin: Autobiography, Gender, and the Third Reich. In: Gender, patriarchy, and fascism in the Third Reich. Hg. E. M. Detroit 1993, S. 169–200. – Bloomsbury Guide to Women’s Literature. Hg. Claire Buck. London 1994. – U. Homann: E. Z. In: KLG. – Petra Ernst: E. Z. In: LGL. – Hartmut v. Hentig: Ein Kind stiehlt sich davon. E. Z. zum achtzigsten Geburtstag. In: Neue Sammlung 43 (2003), H. 1, S. 107–112. – Walter Hinck: Selbstannäherungen. Düsseld. 2004, S. 63–78. – Ilka Scheidgen: Höllisch froh. In: Zeitzeichen 9 (2008), H. 2, S. 56–58. – Dies.: Fünfuhrgespräche. Lahr 2008, S. 203–221. Arnd Beise

Zeller, Eva Christina, * 2.7.1960 Ulm. – Lyrikerin, Rundfunkjournalistin. Z. studierte in Berlin u. Tübingen Philosophie, Germanistik, Theaterwissenschaft u. Rhetorik; 1988 war sie Lektorin an der Uni-

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versität von Otago in Dunedin, Neuseeland. Seit vielen Jahren ist sie als Journalistin u. Autorin für SWR2 Kultur tätig. Darüber hinaus arbeitet sie als Übersetzerin. In dem Gedichtband Liebe und andere Reisen (Tüb. 2007) thematisiert Z. die bipolare Beziehung des Themas Liebe mit der Gattung Lyrik u. zeigt neue, teils unbekannte Facetten des Themas auf. Dabei gelingt es ihr, durch Schlichtheit der gewählten Sprache das Große u. Ferne mit einer konkreten Situation zu verbinden. In Mütter. 133 Kurzgedichte (Bln. 2006) verortet sie die Mutter von heute auf iron. Art u. Weise zwischen Laptop u. Wickeltisch. Dabei spannt sie einen Bogen von der Geburt der Töchter, über die Mühen des Alltags als alleinerziehende Mutter bis hin zu den Schwierigkeiten in einer Patchworkfamilie. Das 2008 vom Tübinger Zimmertheater uraufgeführte Theaterstück Tod in Tübingen (zus. mit Joachim Zelter) ist eine sarkast. Komödie über den unbändigen Drang des Schriftstellers nach Öffentlichkeit, eine bissige Bestandsaufnahme der Frustration des Künstlers in den Mühlen der Kultur- u. Politbürokratie. Z. erhielt u. a. den Thaddäus-Troll-Preis (1989) u. den Preis der Bundesakademie für kulturelle Bildung Wolfenbüttel (2009) für ihren Text An die Arbeit (in: Zur Zeit. Hg. Günter Guben u. Astrid Braun. Stgt. 2008). Weitere Werke: Wort-Bilder. Tüb. 1981 (L.). – Das Meer kennt kein Meer. Tüb. 1985 (L.). – Requiem. Tüb. 1987 (L.). – Folg ich dem Wasser. Eggingen. 1988 (L.). – Ingeborg Bachmann: Der Fall Franza. Ffm. u. a. 1988. – Stiftsgarten, Tübingen. Tüb. 2002 (L.). Ingo Langenbach

Zeller, Michael, auch: Jutta Roth, * 29.10. 1944 Breslau. – Romancier, Lyriker, Essayist. Z. studierte Literatur, Philosophie u. Klassische Archäologie in Marburg u. Bonn, wo er 1974 über Generationsthematik bei Thomas Mann promoviert wurde. Er arbeitete als Dozent an der Universität Erlangen u. habilitierte sich dort 1981 mit einer Arbeit über Lyrik der Gegenwart habilitierte (Gedichte haben Zeit. Stgt. 1982). Z. erhielt zahlreiche Preise u. Stipendien, darunter 1997 den Kul-

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turpreis Schlesien des Landes Niedersachsen. 1993/94 hielt er Vorlesungen im Rahmen der Poetikdozentur an der Universität Mainz. Seit 1982 ist Z. freier Schriftsteller. Nach häufigem Wohnsitzwechsel lebt er in Wuppertal. In seinem Roman Follens Erbe (Bad Homburg 1986) verknüpft Z. eigene Erfahrungen des Universitätsbetriebs mit jüngster dt. Geschichte. Dem Protagonisten u. Universitätsdozenten Hellmuth Buchwald wird im »deutschen Herbst« seine Sympathie mit den Zielen der Studentenbewegung fast zum Verhängnis. Gespiegelt wird Buchwald in seinem eigenen Forschungsgegenstand, dem histor. Vormärzrevolutionär Karl Follen. Z. zeichnet damit nicht nur ein Stimmungsbild der 1970er Jahre in Deutschland, sondern verbindet Zeitgeschichte mit histor. Reminiszenzen; so auch im Roman Der Wiedergänger (Zürich 1990), in dem die Geschichte der Pest mit kontemporärer HIV-Problematik verflochten wird. Vorangegangen war in dem Roman Die Sonne! Früchte. Ein Tod ( Ffm. 1987) ein als fiktives Tagebuch eines Zimmernachbarn konzipiertes Romanportät der Malerin Paula Modersohn-Becker. Z. gestaltet hier die Probleme, Störungen u. Abstürze des künstlerischen Schaffens. Immer wieder zeigt u. reflektiert Z. in seinen Texten seine genaue Beobachtungsgabe. Häufig liegt sein Augenmerk dabei auf der Beschreibung einer bestimmten Region samt deren Bewohnern, wobei äußere Merkmale ebenso wie lokale Besonderheiten, Brauchtümer u. histor. Wurzeln fiktional eingebunden werden. In Weimar. Deutscher Musenort. Heute: Damals. (Berg am See 1991) schildert Z. seine Eindrücke vom nahenden Ende der DDR u. setzt dies dem histor. Weimar Schillers u. Goethes gegenüber, während er an anderer Stelle in vierhebigen epischen Versen das Portrait der Kleinstadt Schwerte »besingt« (Mein schöner Ort. Gesänge aus dem deutschen Alltag. Cadolzburg 2001). Seit dem Ende des Kalten Krieges äußerte sich Z.s verstärktes Interesse an Osteuropa, besonders an Polen. Zahlreiche (Lese-)Reisen u. längere Aufenthalte v. a. in Krakau dienten ihm als Inspiration u. schlugen sich in seiner Prosa nieder (Café Europa. Cadolzburg 1994.

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Noch ein Glas mit Pan Tadeusz. Krakauer Geschichten. Ebd. 2000), was auch auf seinen bislang stärksten Roman Die Reise nach Samosch (ebd. 2003) zutrifft. Es handelt sich nicht um eine Reisegeschichte, vielmehr um die epische Vergegenwärtigung dt.-poln. Begegnungen anhand der Familie Anschütz über drei Generationen von 1940 bis in die Gegenwart hinein. Erzählt wird sprachlich virtuos aus fünf Perspektiven in je eigener monologischer Sprechweise (als Tagebuchaufzeichnung, Interview oder als Erinnerungsbericht) u. mit unterschiedl. Blickrichtungen auf Familienbande, den Zweiten Weltkrieg u. die Frage nach Heimat. So erscheinen dt. u. poln. Schicksale als miteinander verbunden. Die Generation der Großeltern, vom Krieg um die eigene Jugend betrogen, wird als ein Leben lang traumatisiert dargestellt. Während die Nachkriegsgeneration, personifiziert in Hans Anschütz, ihre Ablehnung gegenüber den Verwicklungen der Eltern deutlich macht u. Hans keinerlei Interesse an Polen, der Heimat seiner Mutter zeigt, ist es der Enkel Sebastian, der sich auf die Suche nach den Wurzeln seiner Familie begibt, auf die Reise ins poln. Samosch. In Krakau verliebt er sich in eine poln. Studentin, u. die familiäre Spurensuche bleibt unvollendet. Es sind die zwischenmenschl. Beziehungen, die eine Neuorientierung weg von der schreckl. Vergangenheit u. hin zu einer gemeinsamen Zukunft des dt. u. poln. Volkes zulassen. Im Jahr 2009 provozierte Z. einen Eklat um seinen Roman Falschspieler (ebd. 2008). Die multiperspektivisch dargebotene Geschichte über den dt. Literaturbetrieb lehnt sich an den authent. Betrugsfall um George Forestier alias Karl E. Krämer aus den 1950er Jahren an. Z.s Roman schildert eine Plagiatsaffäre um den zwielichtigen Autor Leo Zurmühlen u. den jungen Dichter Elmar, der vor seinen eigenen Kriegserinnerungen nach Kanada flüchtet. Der Fall wird Jahre später aufgedeckt. Mit der Veröffentlichung dieses Romans unter dem Pseudonym »Jutta Roth« akzentuierte Z. literar. wie auch außerliterar. Problemdimensionen des Kulturbetriebs. 2009 gab er seine Autorschaft zu. Seit 2000 schrieb Z. wiederholt in Kooperation mit Schulklassen an so genannten

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Schulhausromanen (Die Schwarze Schachtel. Wuppertal 2008. Saskia leuchtet. Ebd. 2009. Ein Schuss Jugendliebe. Ebd. 2011). Die Bandbreite seines literar. Schaffens umfasst neben Prosa u. Essayistik auch Lyrik u. Dramatik. Weitere Werke (wenn nicht anders angegeben Erscheinungsort Cadolzburg): Väter u. Söhne bei Thomas Mann. Der Generationsschnitt als geschichtl. Prozeß. Diss. Bonn. 1974. – FehlstartTraining. Aarau 1978 (R.). – Aufbrüche, Abschiede. Studien zur dt. Lit. seit 1968. Stgt. 1979. – Aus meinen Provinzen. Nürnb. 1981 (L.). – Lieben Sie Dallas? Eine Streit-Lustschrift wider den Dünkel der Kultur. Ffm. 1984. – Lust auf Blau u. Beine. Ffm. 1988 (L.). – Rochus. Die Pest u. ihr Patron. Nürnb. 1989 (Ess.). – Mein Traum vom Dulden. Eine dt.-jüd. Begegnung der anderen Art. Eggingen 1991. – Mikado. 1994 (E.en). – Ist nicht zu sagen. Lauenburg/Elbe 1996 (L.). – Kropp. Eine Abrechnung. Ffm. 1996 (R.). – Und nächstes Jahr in Jerusalem. Gesch.n am Weg. 1999 (E.en). – Mein schöner Ort. Gesänge aus dem dt. Alltag. 2001 (L.; mit CD). – Granaten u. Balladen. Bosn. Mosaik. Münster 2005. – Der Schüler Struwe. Wuppertal 2009 (E.). – Die Soester Fehde. Urauff. Soest 2009 (Schausp.). – Herausgaben: Einwärts. Auswärts. Prosa einer Landschaft (zus. mit Bobby Kastenhuber). 1994 (Anth.). – Erfurt erfinden. Weimar 2002 (Anth.). – Gerhard Nebel: Zwischen den Fronten. Kriegstagebücher 1942–1945. Bln. 2010. Literatur: Ladislaus Löb: The University and the State. Michael Z.’s novel ›Follens Erbe‹. In: MLR 84 (1989), S. 658–671. – Norbert Honsza: Sechs literar. Begegnungen. Zu K. May, O. J. Bierbaum, G. Hauptmann, H. Böll, G. Grass u. M. Z. In: Jb. Ostrava – Erfurt 3 (1997), S. 35–62. – Thomas Herold: M. Z. In: LGL. Susanne Bach

Zelter, Carl Friedrich, * 11.12.1758 Berlin, † 15.5.1832 Berlin; Grabstätte: ebd., Alter Sophienkirchhof. – Komponist, Pädagoge, Kulturpolitiker, Begründer der preußischen staatlichen Musikpflege u. Musikerziehung; Freund Goethes. Aus einer aus Sachsen kommenden, in Berlin niedergelassenen Handwerkerfamilie stammend, wurde Z. mit dem Besuch des Joachimsthalschen Gymnasiums u. einem regelmäßigen Musikunterricht eine solide humanistische Schulbildung zuteil, bevor er im väterl. Betrieb das Maurerhandwerk erlernte. Die wirtschaftlich unsicheren Zeiten ließen es

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geraten erscheinen, nach seiner Freisprechung u. dem Erwerb des Meisterbriefs (1783) das florierende Bauunternehmen seines Vaters zu übernehmen, das seiner – nach der Vermählung mit der Witwe Johanna Sophia Flöricke sowie nach deren frühem Tod (1795) mit Julie Pappritz – rasch wachsenden Familie ein mittelständ. Auskommen sicherte. Über die Konflikte, in die er beim Eintritt in das Bauunternehmen zu seinen ausgeprägten musikal. Ambitionen geriet, die er in Italien hatte ausbilden lassen wollen, berichtet Z. in seinen autobiogr. Schriften, die sich wie Episoden aus einem Schelmenroman lesen. Die Bekannt- u. Freundschaft mit dem Gründer der »Singe-Academie zu Berlin«, Carl Friedrich Christian Fasch, versetzte ihn trotz der berufl. Beanspruchung in die Lage, in den Jahren 1784–1786 eine Kompositionslehre zu absolvieren. Seit 1791 bildete er sich in der »Singe-Academie«, deren Leitung er nach Faschs Tod im Jahr 1800 übernahm, zum gefragten Chordirigenten aus, sodass er sich aus dem Baugewerbe zurückziehen konnte. 1815 legte er seine Meisterrechte nieder u. lebte fortan ausschließlich seinen musikal. u. kulturpolit. Neigungen. 1809 hatte er die Berliner Liedertafel gegründet, war zudem zum Professor für Musik an der Kgl. Preußischen Akademie der Künste ernannt worden; 1823 übernahm er die Direktion des Berliner Kgl. Instituts für Kirchenmusik. Als Pädagoge, kulturpolit. Organisator, Gutachter u. Inspizient gehörte er zu den angesehenen Autoritäten Berlins u. bestimmte wesentlich die Entwicklung der öffentl. Musikpflege. Mit seinen erhalten gebliebenen Kompositionen, v. a. seinen Liedern u. Chorwerken, gilt er als Vertreter der Zweiten Berliner Liederschule. Unter Z.s Direktion gedieh in der »Sing-Akademie« – zu den namhaften Schülern, die aus ihr hervorgingen, gehörten die Geschwister Mendelssohn Bartholdy – neben der Pflege des älteren ital. Kirchengesangs die Berliner HändelPflege, kündigte sich die Bach-Renaissance an u. wurden die Wege für die Rezeption der Mozart’schen und Haydn’schen Werke geebnet. Mit der Gründung einer Ripienschule (1807) konnte sich das Repertoire erweitern, von dem das umfangreiche Notenarchiv

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Zeugnis ablegt. Seit 1827 verfügte das Institut über ein eigenes stattl. Gebäude (heute Maksim Gorkij Theater). Z. verfasste musikpädagogische »Denkschriften«, beteiligte sich am Diskurs um die Opernreform, war Rezensent u. Berichterstatter in den führenden Kunst- u. Literaturjournalen. Als Musikschriftsteller u. gewandter Erzähler weist er sich zudem in seinen erst postum von seinem Enkel Wilhelm Rintel in starker Bearbeitung veröffentlichten autobiogr. Schriften aus, die Johann-Wolfgang Schottländer 1931 »nach den Handschriften« erneut herausgab. Z. konnte mithin 1799 dem neun Jahre älteren Johann Wolfgang Goethe als »denkender« Musiker begegnen, dem Goethes Werke längst zu »Hausgöttern« geworden seien, wie er dem Dichter in seinem ersten Brief vom 11.8.1799 versicherte. Mit diesem Brief begann eine mehr als 30-jährige Freundschaft u. außergewöhnl. Korrespondenz. »Wenn ich irgend jemals neugierig auf die Bekanntschaft eines Individuums war, so bin ichs auf Herrn Zelter. Gerade diese Verbindung zweier Künste ist so wichtig. Das Originale seiner Compositionen ist, so viel ich beurtheilen kann, niemals ein Einfall, sondern es ist eine radicale Reproduction der poetischen Intentionen.« Mit diesen Worten drückte Goethe in einem Brief an August Wilhelm Schlegel vom 18.6.1798 seine Ungeduld auf die Begegnung mit Z. aus, von dem er sich die Fortführung u. Intensivierung des Austauschs erhoffte, den er stets mit seinen musikal. Partnern gesucht hatte. Von Johann Friedrich Reichardt hatte er sich wegen polit. Differenzen distanziert, an dessen Stelle rückte Z., der für G. der unverzichtbare Partner in allen Musikfragen wurde. Seine kraftvolle, zgl. sensible, auf Goethes innere Spannungen reagierende Art einerseits, das Bedürfnis Goethes, sich mit einem Menschen seines Vertrauens auszusprechen andererseits; freilich v. a. beider Übereinstimmung in ihrer Einschätzung vieler Aspekte des künstlerischen, intellektuellen wie des tägl. Lebens machte die Männer im Verlauf der Jahre zu engen Vertrauten. Nach Schillers Tod (1805) gehörte Z. zu den wenigen Menschen, denen Goethe das vertrauliche »Du« anbot. Auf Goethes Mu-

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sikverständnis u. ästhetische Positionierung, von seiner Hinwendung zu Johann Sebastian Bach, Wolfgang Amadeus Mozart u. Joseph Haydn bis zu seiner Reserve gegenüber Carl Maria von Weber oder Hector Berlioz, hatte Z. entscheidenden Einfluss. Die regelmäßigen Berichte, die aus der Residenzstadt nach Weimar gingen, wurden ihm zu wichtigen Informationsquellen. Wiewohl sich beide nur relativ selten sahen oder dann u. wann gemeinsame Badeaufenthalte in Wiesbaden u. Teplitz verbrachten, entwickelte sich eine dichte innere Verbindung, von der die mehr als 875 gewechselten Briefe zeugen, die von Z. als eine »offne Verzahnung zwischen zwey Leben« charakterisiert wurden. Von der Diskussion über Z.s Vertonungen Goethe’scher Gedichte ausgehend, brachten die Korrespondenten im Laufe der Zeit alle sie berührenden Anliegen zur Sprache: den Fortgang ihrer poetischen, musikal. u. wissenschaftl. Arbeiten; Fragen der bildenden Kunst; polit. u. soziale Entwicklungen der Zeit; persönl. u. familiäre Vorkommnisse; dazu lokale Ereignisse in Berlin u. Weimar. Nachdem er Z. in den 1820er Jahren den Vorschlag gemacht hatte, den Briefwechsel nach beider Tod publizieren zu lassen, hinterlegte Goethe darin auch Reflexionen über philosophische u. religiöse Fragen, die er zu seinen Lebzeiten nicht mehr öffentlich mitteilen wollte, u. betrachtete diesen Briefwechsel als Teil seines Gesamtwerks, das er sorgsam hütete (der größte Teil der Handschriften wird im Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar aufbewahrt). Von Goethe selbst mit der Unterstützung des Philologen Friedrich Wilhelm Riemer zur Drucklegung vorbereitet, erschien der Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter in den Jahren 1796 bis 1832 aus Dezenzgründen gekürzt, bisweilen mit verändertem Wortlaut 1833/34 in sechs Bänden (Bln.). Von zeitgenöss. Lesern wurde die Ausgabe geteilt aufgenommen; in der Goetheforschung behandelte man den Briefwechsel, der von Ludwig Geiger in drei in Leipzig erschienenen Bänden 1902 u. als krit. Edition von Max Hecker 1913–1918 ebenfalls in drei Bänden erneut vorgelegt wurde, stets ambivalent. Bis heute wird er gar als asymmetr. Prosa disqualifiziert u. als ein

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nahezu ausschließlich den Part Goethes be- Goethe u. Z. Lebenskunst u. literar. Projekt. Tüb. rücksichtigender biografischer »Steinbruch« 1996.  Edith Zehm: Briefw. mit C. F. Z. In: Goebetrachtet. Die Zuneigung des Weimarer the-Hdb. Bd. 3: Prosaschriften. Hg. Bernd Witte Dichterfürsten zu einem gewesenen Bau- u. a. Stgt./Weimar 1997, S. 484–496.  Norbert Miller: Endliches, unendl. Gespräch. Zum Briefw. meister stand »der Monumentalisierung zwischen Goethe u. Z. In: Briefw. zwischen Goethe Goethes in der zweiten Hälfte des 19. Jahr- u. Z. in den Jahren 1799 bis 1832. Hg. E. Zehm. hunderts im Wege«, der »die scheinbare Mchn. 1998, S. 7–93 (MA 20.3, Münchner Ausg.). Hemdsärmeligkeit dieser Freundschaft an- Aktualisierter Nachdr. in: N. Miller: Goethe u. stößig sein« musste (Norbert Miller). Erst seit seine Komponisten. Mchn. 2009, S. 271–332. – dem Erscheinen der kommentierten, von ei- Thomas Richter: Die Dialoge über Lit. im Briefw. nem ausführl. Essay begleiteten, dreibändi- zwischen Goethe u. Z. Stgt./Weimar 2000. – Ders.: gen Gesamtausgabe innerhalb der Sämtlichen Bibliotheca Zelteriana. Rekonstruktion der Bibl. C. Werke Goethes nach Epochen seines Schaffens, der F. Z.s. Alphabet. Kat. Ebd. 2000. – Gabriele BuschSalmen: ›Deine Kompositionen [...] mit meinen Münchner Ausgabe im Jahr 1998 (MA Liedern identisch‹ – C. F. Z. zum 250. Geburtstag. 20.1–3), liegt eine Edition der Briefe vor, die In: Die Tonkunst. Magazin für klass. Musik u. eine vollständige Würdigung ermöglicht, Musikwiss. 2 (2008), Nr. 4, S. 424–427. – Christian nachdem in den voraufgegangenen wissen- Filips (Hg.): Der Singemeister C. F. Z. Mainz 2009. schaftl. Werkausgaben, ausgehend von der – Lorraine Byrne Bodley: Goethe and Z. Musical Weimarer Sophienausgabe (WA), der Anteil dialogues. London 2009. Gabriele Busch-Salmen des Komponisten am Briefwechsel weitgehend ausgeklammert geblieben war. Zelter, Joachim, * 26.8.1962 Freiburg i. Br. Weitere Werke: Z.-Nachlass u. Notenarchiv der Sing-Akademie zu Berlin seit 2001 in der Staatsbibliothek zu Berlin. Ausführlich beschrieben in: MGG 2. Aufl. (Personenteil) Bd. 17 (2007), Sp. 1403–1407.  Autobiografische Schriften: Wilhelm Rintel (Hg.): C. F. Z. Eine Lebensbeschreibung. Nach autobiogr. Manuscripten bearb. [Ausw.]. Bln. 1861.  C. F. Z.s Darstellungen seines Lebens. Hg. Johann-Wolfgang Schottländer. Weimar 1931. Nachdr. Hildesh. 1978. – Karl F. Z. Selbstdarstellung [Ausw., auch anderer Z.-Schr.en]. Hg. Willi Reich. Zürich 1955. – C. F. Z. Lieder. Faks. der wichtigsten gedruckten Slg.en nebst Kritischem Bericht. Hg. Reinhold Kubik u. Andreas Meier. Mchn. 1995.  Briefwechsel: Briefw. zwischen Goethe u. Z. Hg. Ludwig Geiger. Bd. 1–3, Lpz. 1902. – Der Briefw. zwischen Goethe u. Z. Im Auftrag des Goethe- u. Schiller-Archivs nach den Hss. hg. v. Max Hecker. Bd. 1–3, Lpz. 1913–18. Literatur: Walther Victor: C. F. Z. u. seine Freundschaft mit Goethe. Bln. 1960. – Dora Wahl: Goethe u. Z. ›damals zu Wiesbaden‹. In: Jb. der Slg. Kippenberg N. F. 1 (1963), S. 101–138. – Albrecht Schöne: ›Regenbogen auf schwarzgrauem Grunde‹. Goethes Dornburger Brief an Z. zum Tod seines Großherzogs. Gött. 1979. – Peter Boerner: Musikalisches, märk. Rübchen u. sehr ernste Betrachtungen über das Leben. Goethe korrespondiert mit C. F. Z. In: JbFDH (1989), S. 127–146. – RalphRainer Wuthenow: Altersfreundschaft. Goethe u. Z. In: Dt. Freunde. Hg. Thomas Karlauf. Bln. 1995, S. 92–126.  Bettina Hey’l: Der Briefw. zwischen

– Erzähler, Dramatiker, Hörspielautor, Anglist. Z. studierte Anglistik u. Politikwissenschaft in Tübingen u. lehrte dort sowie an der Universität Yale. Er wurde 1994 mit der Arbeit Sinnhafte Fiktion und Wahrheit (Tüb. 1994) promoviert u. war 1995/96 Dozent für dt. Literatur in Yale u. 1996/97 für engl. Literatur in Tübingen, wo er lange Jahre als Schauspieler der Anglo-Irish Theatre Group angehörte. Seit 1997 ist er freier Autor u. Rezitator. Z. lebt in Tübingen. Z.s Debütroman Briefe aus Amerika (Stgt. 1998) schildert die Erlebnisse eines frisch promovierten Akademikers, der in Amerika Deutsch unterrichten soll. Der Ich-Erzähler gerät in eine komplizierte Figurenkonstellation, die ihn bis in die Zeit des dt. Exils zurückführt. Im Roman Die Würde des Lügens (Stgt. 2000. Neuausg. Tüb. 2007. Hörbuch 2008) spricht ein Analphabet u. notorischer Lügner seine Erinnerungen vom dritten bis zum achtzehnten Lebensjahr auf Band u. will an der wohltuenden Wirkung auf die Betrogenen die Menschenfreundlichkeit des Lügens demonstrieren. Die paradoxe Pointe seiner Bekenntnisse lautet: »Die Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners.« Der folgende Roman Die Lieb-Haberin (Tüb. 2002. Bühnen-

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fassung Urauff. Recklinghausen, 30.5.2010) wurde als »postmoderne Variante von Romeo und Julia« gelesen (FAZ, 14.9.2002, Nr. 214, S. 40). Erst investiert der melanchol. Akademiker Goodridge-Clerk als Friedhofssoziologe enormen rhetorischen Aufwand, um der begehrten Frau zu imponieren, dann fühlt er sich von ihrer Besitz ergreifenden Dauerpräsenz bedroht. Der Roman Das Gesicht (Tüb. 2003) ist eine fulminante Satire auf den Literaturbetrieb. Der Ich-Erzähler, ein verkannter Autor, wird eines Tages von einem marktführenden Verlag engagiert, weil seine Physiognomie präzise derjenigen des verstorbenen Starautors Vasˇ icˇek gleicht. Fortan wird der Autor unter luxuriösen Bedingungen auf Lesereisen geschickt, um den Vasˇ icˇekErfolg zu erneuern. Die Texte des IchErzählers werden von einem Lektorenteam bis zur Unkenntlichkeit, d.h. bis zur Übereinstimmung mit den kommerziellen Serienprodukten bearbeitet. Eine Verknüpfung von Satire u. Zukunftsroman stellt die nicht zu Unrecht mit George Orwell verglichene Dystopie des Romans Schule der Arbeitslosen (Tüb. 2006. Bühnenfassung Urauff. Hamburg, 17.4.2007) dar, Z.s bislang reifste erzählerische Leistung. Der Roman spielt 2016 in einem hermetisch abgeschlossenen Ausbildungszentrum, das in einer verödeten Industriezone liegt u. in dem die Elite der Arbeitslosen zu Bewerbungsprofis gedrillt wird. Der Kampf um Arbeit ist zu einem weltweiten Krieg geworden, in dem alle Mittel erlaubt sind. In den Fluren von Sphericon, wie das Camp heißt, hängen Fotos von »Helden der Bewerbung«, die den Trainees als Vorbilder dienen sollen. Im Mittelpunkt des Unterrichts steht das »biographische Arbeiten«, die ständige Optimierung bei der Darstellung des eigenen Lebenslaufs. Ausgehend von dem Grundsatz »Lebensläufe sind Fiktionen« sollen die Trainees hier den kreativen Umgang mit der eigenen Biografie lernen u. abgebrochene Ausbildungen oder gescheiterte Beziehungen in berufsqualifizierende Kompetenzen verwandeln. Es versteht sich, dass das System zum Kampf aller gegen alle erzieht. Die Handlung gipfelt in einem performanceartigen Bewerbungswettstreit. Bei der Bestimmung des Siegers ar-

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beitet Z. virtuos mit allen Elementen, welche die Big Brother-Serien hervorgebracht haben. Der Sieger erhält eine neue Sozialversicherungskarte. Z.s Roman ist eine Satire von großer analyt. Fantasie. Die von Anglizismen durchsetzte Sprache Sphericons wird in ihrer beschönigenden u. geradezu zyn. Funktion überzeugend entlarvt. 2004 erschien der Erzählband Betrachtungen eines Krankenhausgängers (Tüb.), dessen Titelerzählung von einem Hypochonder handelt, der sich im Vorfeld eines harmlosen Eingriffs alle mögl. Horrorszenarien ausmalt u. seinen Krankenhausaufenthalt vorab simuliert. Nicht alle Texte dieser Sammlung sind so pointensicher, was etwa für die Erzählung Die Frau und das Buch gilt, in der auf eine selbstmörderische Weise die Namen der Auschwitz-Opfer rezitiert werden. Es ist schade, dass Z. diesen abgeschmackten Text in der veränderten Fassung dieses Erzählbandes u. d. T. Die Welt in Weiß (Tüb. 2011) belassen hat. Z. bevorzugt insg. die Tonlage einer hyperbol. Komik, wobei Abstürze in Sprachklamauk nicht ausbleiben. Auch sind Z.s witzige Einfälle nicht immer tragfähig für eine romanhafte Ausgestaltung. Das trifft etwa auf den Roman Der Ministerpräsident (Tüb. 2010) zu, in dem der Protagonist nach einem Autounfall mitten im Wahlkampf aus einer Totalamnesie erwacht u. sich weder an sein Amt noch an seine Frau erinnern kann. Sein Stab verfällt auf die Idee, den Gehbehinderten jeweils per Fahrrad zu seinen Wahlauftritten rollen zu lassen. Die Reden sind Montagen aus Sprachaufzeichnungen. Der Rekonvaleszent verliebt sich in die Tontechnikerin u. bricht mit ihr heimlich zu einer Fahrradtour auf, die für die Frau mit einem tödl. Unfall endet. Z. erhielt zahlreiche Stipendien u. wurde 2000 mit dem Thaddäus-Troll-Preis ausgezeichnet. Weitere Werke: Alpha Park. Urauff. Tüb., 28.10.2007 (D.). – Vorstellungsgespräch. Urauff. Stgt., 27.10.2007 (D.). – How are you, Mister Angst? Tüb. 2008 (R.). – Tod in Tübingen (zus. mit Eva Christina Zeller). Urauff. Tüb., 27.6.2008 (D.). – Professor Lear. Urauff. Tüb., 18.2.2010 (D.). – Tier mit drei Buchstaben. Urauff. Tüb., 29.1.2011 (D.). – Hörspiele (alle SWR): Die Stadtführung,

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645 7.12.2002. – Tortouren. Eine Fahrradkomödie, 24.6.2006. – Heimkehr, 13.10.2007. Jürgen Egyptien

Zemme, Oskar, * 22.3.1931 Zeiden bei Kronstadt/Siebenbürgen. – Dramatiker u. Hörspielautor. Z., Kind eines österr. Vaters u. einer rumän. Mutter, lebt seit 1939 in Linz. Der gelernte Tapezierer arbeitete als Bühnenarbeiter, Tontechniker u. a. in Berlin u. Bayreuth u. zuletzt als Beleuchter wieder am Landestheater Linz. Die Welt des Theaters hat Z. auch zum Gegenstand mehrerer Stücke gemacht, in denen er Probleme des Subventionstheaters (Der Bumerang. Urauff. Linz 1956), der Schauspielerexistenz (Die Vorsprache. Urauff. Wildberg bei Linz 1985) oder des schwierigen Arbeitsalltags hinter der Bühne (Gegenlicht. Urauff. Wien 2010) aufgreift. Z. bevorzugt realistisches Theater ohne großen Aufwand. In zeitkrit., gegenwartsbezogenen Volksstücken erzählt er von sog. kleinen Leuten u. ihren enttäuschten Hoffnungen, den gestörten Idyllen u. Lebenslügen, aber auch den Ausbruchs- u. Protestversuchen. Dabei gelingt es ihm nicht immer, sich von Sprachklischees zu lösen u. stimmig zu formulieren, auch wenn ihm in der Kritik gemeinhin ein gutes Gespür für aktuelle gesellschaftl. Missstände zugesprochen wird. Die Komödie Die Störung (Urauff. Linz 1986) greift Z.s Themen von der humorvollen Seite auf: Gestört zwischen zwei skurrilen alten Damen sind das Zusammenleben, die Kommunikation u. – als plötzlich der Fernsehapparat defekt wird – auch die Konfliktverdrängung. In Salva Guardia oder Gewalt in Steyr (Urauff. Steyr 2004) bringt Z. den Bauern- u. Glaubenskrieg im Oberösterreich des 17. Jh. auf die Bühne u. spitzt den Konflikt am konventionellen Motiv der unmögl. Liebe eines jungen Paares zu. In dem Bauerndrama Gehzeit (Urauff. Reichenau 2009) kann der Zuschauer beobachten, wie eine Familie sich kurz vor ihrem Auseinanderbrechen doch noch gemeinsam gegen den Abriss ihres Bauernhofs stellt, der Neubausiedlungen Platz machen sollte.

Schon in einigen seiner letzten Theaterstücke (z. B. Maria. Urauff. Linz 1993. Der Türmer. Urauff. Linz 1994) deutet sich in monologisierenden Szenen Z.s Hinwendung zur Prosa an. Seine Erfahrungen aus seiner Arbeit hinter der Bühne schildert Z. in Blick aus der Kulisse (Steyr 1998) u. Mein Koffer in Berlin (Linz 2003). Mit Wien liegt an der Moldau (ebd. 2000) greift er Hasˇ eks Figur des braven Soldaten Schweijk auf, versetzt seinen Protagonisten allerdings in das Jahr 2000, wo er für drei Tage den Himmel wieder verlassen darf, um sich mit einem alten Kameraden in Prag wiederzutreffen. Z.s Interesse für die Theaterwelt, für Familiengeschichten, Beziehungskonflikte u. das Älterwerden sowie für Heimat u. Fremde spiegeln sich auch in seinen Hörspielen wider: Nach seinem ersten Hörspiel Nataki kann warten (1954), für das er mit dem Förderungspreis zum Staatspreis für Literatur ausgezeichnet wurde, gingen v. a. in den siebziger u. achtziger Jahren einige neue Stücke auf Sendung (zumeist im Regionalradio des ORF Oberösterreich); in den Anfängen des Fernsehens wurden zudem Hörspiele adaptiert (z. B. Das Glück des Josef Meier. ORF 1979) bzw. zwei Fernsehspiele gesendet (Die Abreise. ZDF/ORF 1971. Monolog im Pendlerzug. RAI 1978). Allerdings wurde Z. öfters auch hier der Vorwurf der Stereotypisierung u. teilweise holzschnittartigen Sprache gemacht. Weitere Werke: Die Hochzeit des Toren. Urauff. Linz 1954 (D.). – Die bessere Ernte. Urauff. ebd. 1957 (D.). – Das große Fischessen. Urauff. Saarbr. 1959 (D.). – Die Klingel. Urauff. Linz 1968. Zus. mit ›Didi‹ u. d. T. Attentate (D.). – Die Abreise. Urauff. Trier 1969 (D.). – Angelo. ORF OÖ 1968 (Hörsp.). – Die Nachtwächter. Urauff. Osnabr. 1969 (D.). – Die Glückskonserve. Urauff. Saarbr. 1969 (D.). – Maskierungen – Demaskierungen. Wien 1971 (ges. Dramen). – Die Gartenzwerge. Urauff. Rottweil 1972 (D.). – Schlafstörung. ORF OÖ/SFB 1972 (Hörsp.). – Heimatland. Urauff. Linz 1979 (D.). – Ausgesetzt. Urauff. ebd. 1993 (D.). – Gegen den Strom schwimmen. Linz 1998 (P.). – Die Schiefertafel. ORF OÖ 2001 (Hörsp.). Literatur: O. Z. Red.: Heide Stockinger. Linz 2002 (Die Rampe. Porträt). Wolfgang Seibel / Sonja Schüller

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Zemp, Werner, * 10.11.1906 Zürich, † 16.11.1959 Mendrisio/Kt. Tessin. – Lyriker. Der Sohn eines aus dem Kanton Luzern stammenden Zürcher Professors studierte 1926–1930 in Zürich u. München Germanistik u. Altphilologie u. wurde 1937 mit einer Arbeit über Mörike zum Dr. phil. promoviert. Einer Lungenkrankheit wegen konnte Z. nur 1945–1953 ein eingeschränktes Lehrpensum am Zürcher Mädchengymnasium übernehmen. Was Z. an Lebenskräften blieb, widmete er ganz seiner formal brillanten, in ihrer konventionellen Schreibweise an Hofmannsthal u. C. F. Meyer erinnernden, eher vom Verstand als vom Gefühl diktierten Lyrik. »Das Wort-Gebilde, das Kleinod, das Gedicht: es ist für ihn der Zeit entzogen, ist erreichtes Urbild, ist gleichmütige Richtigkeit, anstrengungslos, unauffällig« (Werner Weber: Wiederbegegnung mit Werner Zemp. In: NZZ, 29.7./ 5.8.1967). Abgesehen von vereinzelten Zeitungsabdrucken veröffentlichte Z. zu Lebzeiten nur einen einzigen Band: Gedichte (Zürich 1943. 2., verm. Aufl. 1954). Nach seinem Tod wurde sein Schaffen umfassend dokumentiert in Das lyrische Werk. Aufsätze. Briefe (Mit einem Vorw. von Emil Staiger hg. von Verena Häfeli. Zürich 1967). Charles Linsmayer

Zenker, Hartmut, auch: Hamdorf, * 24.2. 1922 Zittau, † 12.6.1991 Dresden. – Romanautor u. Lyriker.

fentlichung hinauszögerte. Noch 1976 musste er sich mit der viel jüngeren Tamara Tanzmann einen Gedichtband teilen (Handschriften. Halle). 1979 erschien der Roman Die Uhr steht auf Fünf (Bln./DDR), der eigene Kriegserlebnisse mit der Biografie eines Leo Foerster verwebt: Infolge sog. defätistischer Äußerungen »verwirkt der kleine Beamte« im Soldatenrock sein Leben, »gewinnt aber sein Menschsein«. Auch wenn er sein Buch als »Nachdenken über die Väter und über sich selbst« charakterisierte, ist die Überwindung von Furcht das untergründige Thema des Romans, mit dem sich Z. dem Faschismus aus der Sicht der 1970er Jahre zuwandte (wie Helmut H. Schulz, Günther Rücker u. andere). Im Auftrag der Redaktion der Zweimonatsschrift der ostdt. Akademie der Künste bereiste Z. Oberschlesien. Die assoziationsträchtige Reportage wurde 1979 u. d. T. Unterwegs mit G in den Heften 2–5 von »Sinn und Form« abgedruckt; später erschien sie als Reiseerzählung u. d. T. Mit Goethe in Polen (Bln./DDR 1986). – Im Allgemeinen verstellte Z. sich durch ein Überangebot von Bezügen (»Kunstreichtum und Gedankenstärke« wurden ihm attestiert) das Verständnis durch den Leser. In den 1980er Jahren veröffentlichte er auch wieder Gedichte: Zeitflug ins Grün (Halle 1980; mit Reproduktionen eigener Aquarelle) u. Fürsprache (ebd. 1987). Sein Roman Projektemacher existiert nur im Manuskript. Weitere Werke: Vorkommnisse. Bln./DDR 1980 (E.en). – Hohe Straße. Ebd. 1989 (R.). – Kornblum. Ebd. 1990. Jürgen Grambow † / Red.

Nach Krieg u. Gefangenschaft übte Z. zunächst journalistische u. Hilfstätigkeiten Zenker, Helmut, * 1.11.1949 St. Valentin/ (u. a. im Bibliothekswesen) aus. Nach dem Niederösterreich, † 7.1.2003 Wien. – ErStudium (1967–1971) an der Humboldtzähler, Kriminalroman-, Kinderbuch- u. Universität in Ost-Berlin war er bis 1978 Drehbuchautor. Wissenschaftlicher Bibliothekar in Schwerin, danach freischaffend tätig (Pseud. Hamdorf). Mit der ersten Folge Hartlgasse 16a der FernZ. war mit der Lyrikerin u. Nachdichterin Ria sehserie Kottan ermittelt (1978) avancierte Z., Zenker (1933–2004) verheiratet. Sohn eines Politbüromitglieds u. niederDie literaturpropagandistische Arbeit sei- österreichischen KPÖ-Landessekretärs, zu einer ersten Nachkriegsjahre setzte Z. auch im nem der meistgespielten österr. DrehbuchSchriftstellerverband als Leiter der Arbeits- autoren. Der ehemalige Sonderschullehrer gemeinschaft Junger Autoren in Schwerin hatte neun Jahre zuvor weniger spektakulär, fort, während sich eine eigene Buchveröf- dafür aber mit großem polit. Engagement die

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Literaturzeitschrift »Wespennest« mitge- naltypus geschaffen, der bis dahin im gründet – aus der Kritik am etablierten Kul- deutschsprachigen Krimi unbekannt war« turbetrieb u. an den »elitären themen, me- (Nachruf von Gerhard Ruiss), in dem weder thoden, vehikeln« der »tradierten Literatur«. psychologisiert noch nach Phänomenen geZ.s Romane widmen sich »Randthemen« wie sucht wird. Kottan ermittelt (19 Folgen) wurde sozialer Verweigerung u. Entfremdung. Aus 1985 mit dem Adolf-Grimme-Preis ausgeder Perspektive des Lehrers Stefan zeigt der zeichnet. Die Folgen erschienen auch in Roman Wer hier die Fremden sind (Neuwied/ Buchform u. als Hörspiele. Weitere literar. Darmst. 1973) Variationen gesellschaftl. Au- Arbeiten veröffentlichte Z. seit Anfang der ßenseitertums: Ausländer als billige Arbeits- 1990er Jahre nicht mehr. kräfte, Schüler in ihrer trostlosen SchulsiWeitere Werke: Herr Novak macht Gesch.n. tuation, die Schule als »Prototyp gesell- Darmst./Neuwied 1976 (Kinderroman). – Der Verschaftlicher Entfremdung«. Sie bleiben treter (zus. mit Gernot Wolfgruber). SR 1976 »Fremde« im Leistungssystem, so auch der (Hörsp.). – High Noon. ORF 1978 (Hörsp.). – Arbeiter Janda in Das Froschfest (Mchn. 1977), Schußgefahr (zus. mit Margit Zenker). Königst./Ts. der jedoch in der Gemeinschaft mit einer 1979 (Kriminalroman). – Den Tüchtigen gehört die Welt. 1981 (Drehb.; Regie: Peter Patzak). – Zünden Arbeiterin eine Lebensperspektive findet. Bäume u. Häuser an. Wien/Mchn. 1984 (R.). – Immer wieder setzt sich Z. mit faschistoidem Kleiner Mann, was nun? Kriminalroman in 12 Bewusstsein auseinander, zeigt dessen Runden. Wien 1989. – Minni Mann. Ebd. 1989. Denkschablonen u. Verhaltensweisen (Kass- Verfilmt u. d. T. Die Mann sieht rot. ORF 1991. – bach oder Das allgemeine Interesse an Meer- Die Mann im Mond. Wien 1990 (Kriminalroman). – schweinchen. Neuwied/Darmst. 1974. Verfilmt Spottbuch. Gesch.n, Gedichte, visuelle Texte, Artiu. d. T. Kassbach. Ein Porträt. 1978; Regie: Peter kel, Beleidigungen, Lieder, Satiren u. a. Patzak). Nie sucht Z. dabei die dargestellte (1967–1990). Wien/Klosterneuburg 1990. Neuaufl. Problematik psychologisch erklärbar zu ma- Mchn. 2003. Literatur: J. Mathias Waberschek: H. Z. In: chen. Seine Sprache ist knapp, einfach u. sie trifft. Wie viele österr. Autoren seiner Gene- KLG. Jutta Freund ration nutzte Z. den Dialekt als literar. Gestaltungsmittel, auch seine Kottan-Dialoge Zeno. – Geistliche Verserzählung aus dem profitieren davon. 13. oder 14. Jh. Die Serie fällt durch Slapstickeinlagen, parodistische Szenen u. iron. Anspielungen Das Gedicht (1624 Verse) hat eine kompliauf die Kino- u. Medienwelt der frühen zierte Textgeschichte. Sprachliche Indizien 1980er Jahre auf. Ihre »running Gags« – der weisen auf eine ostniederländ. Entstehung im Inspektor, dem regelmäßig die Autotür ab- späten 13. oder frühen 14. Jh. hin. Im späten gefahren wird, der Dezernatsleiter mit Holz- 14. Jh. wurde es ins Nieder-, im 15. Jh. ins bein, der seine Krücke mitunter als Maschi- Ostmitteldeutsche übertragen. Erhalten sind nengewehr oder Stolperfalle umfunktioniert nur niederdt. u. ostmitteldt. Handschriften – sind ihr Markenzeichen. Zwar läuft die eine des 15. Jh. Die wohl lat. Quelle des Werks ist oder andere Folge Gefahr, in Klamauk u. ab- unbekannt. gegriffene Späße abzugleiten – auch Z. beErzählt wird eine höchst abenteuerl. Gefindet sich bisweilen selbst in den »Sach- schichte um die Reliquien der Hl. Drei Közwängen der Autoren«, deren Problematik er nige. Nach langem Beten gewährt Gott Zeno schon 1973 in seinem Manifest was mir beim u. Enticia aus Verona einen Sohn. Der Teufel wort literatur einfällt und was ich selbst schreiben entführt das Kind nach Mailand u. legt sich möchte (in: Wespennest. Wien/Mchn. 1973, selbst in die Wiege. Der ebenfalls Zeno geS. 110–115) formuliert hatte. Doch hat die nannte Bischof von Mailand findet den Fernsehreihe durch ihre sarkast. Seitenhiebe Säugling, nennt ihn, da er die Herkunft des auf den österr. Alltag der 1970er/1980er Jah- Kindes von einem Zettel her kennt, nach seire, die brillanten Persiflagen auf Kleinbür- nem Vater u. lässt ihn aufziehen. Der Knabe gertum u. Polizistenmilieu, »einen Krimi- wächst zum Gelehrten heran u. lernt sogar

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die Schwarzen Künste. Nachdem behauptet Nikolaus Henkel u. Nigel F. Palmer. Tüb. 1992, wird, er sei ein Kind des Bischofs, verrät ihm S. 223–232. – Ursula Rautenberg: Z. In: VL. Werner Williams-Krapp / Red. der Pflegevater seine Herkunft. Der junge Zeno sucht nun den Vater auf, der durch die Unersättlichkeit des in 31 Jahren nicht ge- Zeplin, Rosemarie, * 29.12.1939 Güstrow. wachsenen Wechselbalgs arm geworden ist, – Erzählerin. u. bannt den Teufel in eine Flasche. Der Schon in ihrem Erstlingswerk, dem ErzählTeufel befreit sich u. fährt in die Tochter ei- band Schattenriß eines Liebhabers (Bln./Weimar nes fernöstl. Königs, der schließlich Zeno um 1980), gilt Z.s Interesse v. a. der feinfühligen, Hilfe bittet. Ein für die Reise von Zeno in ein mit iron. Unterton versehenen Analyse famiPferd verwandelter Teufel erzählt ihm, wo liärer u. zwischenmenschl. Beziehungen, sich das Grab der Magi befindet. Nach der nicht zuletzt im akadem. Bereich. Im MittelVertreibung des Teufels aus der Königstoch- punkt des autobiografisch gefärbten Romans ter kehrt der reich gewordene Zeno mit den Alpträume aus der Provinz (ebd. 1984) steht ein Reliquien zurück u. bringt sie nach Mailand, Mädchen, das in den 1950er Jahren in einer wo er beim Bischof Zeno bleibt. Im zweiten mecklenburgischen Kleinstadt aufwächst, ein Teil wird von der berühmten Überführung unehel. Kind bekommt u. schließlich »ihr der Reliquien nach Köln (1164) berichtet. zweites Leben« als Philosophiestudentin in Der Z. verknüpft eine wohl in Verona ent- Berlin beginnt. Die polit. Komponente, die in standene Sage mit einer Überführungsge- den ersten Werken eine relativ untergeordschichte kölnischen Ursprungs. Textliche In- nete Rolle spielt, tritt im Roman Der Maulwurf dizien könnten nahelegen, dass der zweite oder Fatales Beispiel weiblicher Gradlinigkeit (ebd. Teil nicht vom Dichter des ersten stammt, 1990) deutlicher hervor – vor allem in der jedoch ist nur schwer vorstellbar, dass ein Figur eines Arbeiters, der zunächst als StasiNiederländer nahe am Kölner Bistum eine Spitzel unter Verdacht steht, schließlich aber Erzählung von den in Köln hochverehrten wegen Verteilung eines revolutionären FlugReliquien mit deren Überführung nach Mai- blatts verhaftet wird. Im Rundfunk-Feature land beendet hätte. Beide Teile haben einen Ein holdes Liebkerlchen. Epitaph für die Schauhistor. Hintergrund, der aber im ersten spielerin Carola Neher (ungedrucktes Manuweitgehend verschüttet ist. So wurde einem skript, 1990) setzt sich Z. mit dem Schicksal Veroneser Bischof Zeno (362–372) die Aus- einer führenden Vertreterin des dt. Theaters treibung eines Teufels aus der Tochter des in der Weimarer Republik auseinander, die Kaisers Galienus (um 218–268) zugeschrie- 1941 in einem sibir. Lager umgekommen ist. ben; außerdem soll er auch ein Verhältnis mit Weitere Werke: Die Geschichte ist offen. In: einer Frau namens Indicia gehabt haben, Michael Naumann (Hg.): Die Geschichte ist offen. wofür ihn Ambrosius rügte. Die im Z. er- Reinb. 1990, S. 177–182. zählte Sage ist wahrscheinlich zu seiner EntLiteratur: Dunja Welke: Analyse einer bedrülastung erfunden worden. Das Gedicht wurde ckenden Kleinstadtidylle. In: NDL 33 (1985), H. 3, von Konrad Bote für seine Cronecken der Sassen S. 148–151. – Ian Wallace: Gespräch mit R. Z. In: Dt. Bücher 21 (1991), H. 1, S. 1–8. – Eva Kaufmann: (1489–91) verwertet. Ausgaben: Z. oder die Legende v. den Hl. Drei Königen. Hg. Anna Arfwidsson. Lund 1940. Literatur: Willy Krogmann: Die Vorstufen des mittelniederdt. ›Z.‹. In: Jb. des Kölnischen Geschichtsvereins 38/39 (1963/65 [1967]), S. 73–150. – Ders.: Mittelniederdt. Lit. In: Kurzer Grundriß der german. Philologie bis 1500. Hg. Ludwig Erich Schmitt. Bd. 2, Bln. 1971, S. 281–290. – Matthias Zender: Drei Könige, Hll. In: EM. – Jutta Fliege: Die Legende von Z. oder den Hl. Drei Königen. In: Latein u. Volkssprache im dt. MA. 1100–1500. Hg.

Adieu Kassandra? Schriftstellerinnen aus der DDR vor, in u. nach der Wende: Brigitte Burmeister, Helga Königsdorf, Helga Schütz, Brigitte Struzyk, R. Z. In: Women and the ›Wende‹. Social Effects and Cultural Reflections of the German Unification Process. Hg. Elizabeth Boa u. Janet Wharton. Amsterd./Atlanta, GA 1994, S. 216–225. Ian Wallace

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Zerbster Fronleichnamsspiel. – Mittelalterliches geistliches Spiel, Aufführungen ab 1504 urkundlich belegt.

Zerkaulen Dtschld. Breslau 1932, S. 47–57. – Neil C. Brooks: Processional Drama and Dramatic Procession. In: Journal of English and Germanic Philology 32 (1933), S. 141–171. – Wolfgang F. Michael: Die Bedeutung des Wortes ›figur‹ im geistl. Drama Deutschlands. In: GR 21 (1946), S. 3–8. – Ders.: Die geistl. Prozessionssp.e in Dtschld. Baltimore/Gött. 1947. – Wilhelm Breuer: Zur Aufführungspraxis vorreformator. Fronleichnamssp.e in Dtschld. In: ZfdPh 94, (1975), Sonderheft, S. 50–71. – Bernd Neumann: Zeugnisse mittelalterl. Aufführungen im dt. Sprachraum. Diss. Köln 1979, S. 122–127. – Rolf Bergmann: Kat. der deutschsprachigen geistl. Spiele u. Marienklagen des MA. Mchn. 1986. – B. Neumann: Geistl. Schausp. im Zeugnis der Zeit. 2 Bde., ebd. 1987, Nr. 3397–3566. – Raymond Graeme Dunphy: Z. F. In: VL. Bernd Neumann / Red.

Urkundlich bezeugt sind Aufführungen des Z. F.s zwischen 1504 u. 1522, doch dürften seine Ursprünge älter sein. Erhalten haben sich 15 Spielhandschriften, drei Regiebücher, welche die Prozessionsordnung überliefern, sowie eine lat. Beschreibung des Festoffiziums u. der Prozession; weitere Informationen lassen sich aus Urkunden u. Eintragungen in Rechnungsbüchern gewinnen. Im Z. F. hat sich eine Sonderform des Prozessionsspiels erhalten, die mit einer theophor. Prozession in der Pfingstwoche oder einem Fronleichnamsoktav eine Vielzahl lebender Bilder verband u. in ihrem bes. Aufführungsmodus etwa einer Revue zu vergleichen Zerkaulen, Heinrich, * 2.3.1892 Bonn, wäre: Das Z. F. lässt stumme Darsteller- † 13.2.1954 Hofgeismar. – Erzähler, Dragruppen, die z.T. pantomimisch agieren, an matiker u. Lyriker. einem Gerüst (pallatium) vorbeiziehen, von Der Sohn eines Schuhmachermeisters studem aus der rector processionis die jeweils dierte in München u. Marburg Pharmazie u. vorgeführte figura beschreibt oder erklärt. meldete sich 1914 als Kriegsfreiwilliger an Das Z. F. umfasst in seiner umfangreichsten die Ostfront. Nach einer schweren VerwunForm über 60 solcher Gruppen, die Ereignisse dung war er seit 1916 Feuilletonredakteur in von der Schöpfung bis zum Jüngsten Gericht Düsseldorf u. Essen; 1923 wurde er Leiter der repräsentierten: Auf Szenen aus dem AT u. literar. Abteilung der Städtischen Ausstelauf Maria verweisende Präfigurationen u. lungen in Dresden. Seit 1931 lebte er als freier Allegorien folgten Szenen aus dem NT sowie Schriftsteller. Z. debütierte mit naiven, volksliedhaften Auftritte von Heiligen, Nothelfern u. Kirchenlehrern, wobei der Szenenbestand vari- Gedichten u. pathet. Kriegslyrik (gesammelt ieren konnte. Den Beschluss bildeten Dar- in: Gesegneter Tag. Mchn. 1935), ehe er sich der stellungen des Todes, des Jüngsten Gerichts, romantisierenden Verklärung seiner rheinider Parabel von den klugen u. den törichten schen Heimat in Erzählungen u. Romanen Jungfrauen u. der Hölle. Beendet wurde das zuwandte (Die Spitzweg-Gasse. Kempten 1918. Spiel mit einem Epilog des Kommentators, in Die Welt im Winkel. Breslau 1928. Revidiert dem dieser auf Christus u. das von ihm ein- u. d. T. Der Strom der Väter. Lpz. 1937). Histogesetzte Sakrament verweist, u. einer Auf- riengemälde, die den Genius des dt. Menforderung an die Zuschauer zu einem an- schen feiern, sind seine Romane über August dächtigen Schlussgesang: »Crist, du bist milt den Starken (Rautenkranz und Schwerter. Bremen 1927), Beethoven (Musik auf dem Rhein. und guth.« Freib. i. Br. 1930) u. Lucas Cranach (Herr Lukas Ausgaben: Friedrich Sintenis: Beschreibung einer im Jahre 1507 zu Zerbst aufgeführten Proces- aus Kronach. Lpz. 1938). Seinen ersten großen Erfolg erzielte Z. sion. In: ZfdA 2 (1842), S. 276–297. – Willm 1931 mit dem Roman Osternothafen (Bln. Reupke: Das Zerbster Prozessionssp. 1507. Bln./ Neuausg. u. d. T. Anna und Sigrid. Ebd. 1934), Lpz. 1930. Literatur: Toni Weber: Die Praefigurationen in dem er aus einer komplizierten psycholog. im geistl. Drama Deutschlands. Diss. Marburg Situation einen simplen Konflikt zwischen 1919, S. 53–57. – Oskar Sengspiel: Die Bedeutung Pflicht u. Liebe machte. Z.s ins Religiöse geder Prozessionen für das geistl. Spiel des MA in steigerter Nationalismus konnte sich nach

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1933 entfalten, zunächst in dem Drama Jugend vor Langemarck (Lpz. 1933), das die in blindem Gehorsam gefallenen Freiwilligen des Ersten Weltkriegs heroisierte u. zu einem der meistgespielten Stücke der NS-Zeit wurde, später in seinem Frontsoldatenroman Hörnerklang der Frühe (Bln. 1934) u. in seinen Reiseberichten über Fahrten auf Kriegsmarine- u. »Kraft-durch-Freude«-Schiffen. Von seiner Internierung durch die Amerikaner nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs handelt Zwischen Nacht und Tag. Erlebnisse aus dem Camp 94 (Mchn. 1951). Literatur: Hermann Wanderscheck: H. Z. Mchn. 1939. – Günther Rühle: H. Z. ›Jugend vor Langemarck‹. In: Ders.: Zeit u. Theater 1933–45. Bd. 3, Ffm. 1974, S. 742–754. – Jutta Romeis: H. Z. In: Der Bamberger Dichterkreis 1936–43. Hg. Wulf Segebrecht. Bamberg 1985, S. 230–237. – Siegfried Friedrich Schmidt: ›... eine Burg mir bauen in die Sterne‹. Der Bonner Schriftsteller H. Z., ein ›gestrichener Name‹. In: Bonner Geschichtsbl. 43/44 (1993/94), S. 405–446. Hans Sarkowicz / Red.

Zernatto, Guido, * 21.7.1903 Treffen bei Villach/Kärnten, † 8.2.1943 New York; Grabstätte: ebd., St. Raymond’s Cemetery/Bronx. – Lyriker, Erzähler, Essayist; Kulturpolitiker. 1919 brach Z. den Schulbesuch ab u. nahm 1919/20 am Kärntner Abwehrkampf teil – eine Erfahrung, die sein späteres polit. Engagement bestimmte. In der Folge war er als Einkäufer einer Holzhandelsgesellschaft tätig; mit der Herausgabe der »Kärntner Monatshefte« (Villach 1925/26) schuf er erstmals ein publizistisches Forum für sein konservativ-zivilisationskrit. Denken: Die Literatur erscheint als Ort der Versöhnung, an dem der Zerfall der alten Ordnung gestoppt u. umgekehrt wird. Seit 1926 in Wien, war Z. bis 1928 Mitarbeiter u. Herausgeber der »Österreichischen Monatshefte«. Nach der Externistenmatura in St. Pölten inskribierte er sich für Jura an der Universität Wien; im Eigenverlag veröffentlichte er den Gedichtband Mein Herz im Spiegel (Wien 1928): religiös-bekenntnishafte, in einem bäuerlich orientierten Weltbild wurzelnde Lyrik, die in Gelobt sei alle Kreatur

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(Dresden 1930) u. vor allem in dem Band Die Sonnenuhr (Lpz. 1930) ihre erfolgreiche Fortsetzung fand. Z. evoziert in gleichnishaften Bildern eine seltsam heile Welt, die durch ständiges Herbeizitieren von Zeit u. Ewigkeit in ein myth. Licht getaucht wird. Für die Dichtung im Ständestaat entwickelten diese Texte enorme Vorbildwirkung. Zielstrebig verfolgte Z. indes seine polit. Karriere: 1929–1931 war er Generalsekretär der österr. Heimwehr. In Vorträgen u. Rundfunksendungen verfocht er die Sache der christlich-sozialen Partei. 1934 wurde er Mitgl. des Bundeskulturamts u. Präsident des Verbands kath. Schriftsteller sowie Vizepräsident des Österreichischen Bundesverlags. Literarisch gibt der Roman Sinnlose Stadt (Lpz. 1934) die Linie vor: Am Beispiel seines Helden, der vom Land kommend in der Großstadt tragisch scheitert, entwirft Z. exemplarisch ein dichotom. Weltbild, in dem sich die natürlich gewachsene, organisch strukturierte Provinz der seelenlosen, ungläubigen Stadt als überlegen erweist. Sein Förderer Schuschnigg berief Z. 1936 als Staatssekretär im Kanzleramt ins Kabinett u. ernannte ihn zum Generalsekretär der Vaterländischen Front; damit wurde Z. zum Hauptverantwortlichen für die sehr zwiespältige Kulturpolitik des Ständestaats. Im Febr. 1938 wurde er Minister ohne Portefeuille u. Stellvertreter Schuschniggs; letzte publizistische Bemühungen zur Rettung der österr. Unabhängigkeit (Der deutsche Friede beruht auf der Unabhängigkeit Österreichs. In: Der Morgen, Nr. 10, 1938, S. 1) blieben jedoch ohne Erfolg. Am 11.3.1938 floh Z. nach Preßburg, dann nach Paris, wo er bis 1940 unter dem Decknamen Gustave Rapp lebte. In dem großangelegten Essay Die Wahrheit über Österreich (New York/Toronto 1938) trat er vehement für die Wiederherstellung der österr. Souveränität ein, rechtfertigte aber auch die Politik von Dollfuß u. Schuschnigg. Wiederholte Versuche zur Bildung einer Exilregierung scheiterten; 1940 floh Z. über Lissabon nach New York, wo er als Assistant Research Professor for Political Science an der Fordham University ein angemessenes Tätigkeitsfeld fand. Besondere Verdienste erwarb sich Z. durch sein Eintreten für in Not

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geratene Emigranten. – Z.s kulturpolit. Scheitern hinsichtlich der Abwehr des Nationalsozialismus resultiert im Grunde aus einem durch ideolog. Affinitäten getrübten Blick für die tatsächl. Gegebenheiten in der Literatur. Weitere Werke: Ein Mensch u. seine Krankheit. In: Die sieben Jungen aus Österr. Hg. Ludwig Steiner. Lpz. 1930, S. 195–218 (E.). – Der Weg über den Berg. In: Der Bergsteiger 9, 1930/31 (R.). – La resurrection de l’Autriche. Paris 1940 (Ess.). – Gedichte aus dem Nachl. Hg. Johann Lindner. Klagenf. 1946 (Sonderdr. ›Der Jahrmarkt‹). – Die Sonnenuhr. Gesamtausg. der Gedichte. Salzb. 1961. – Otmar M. Drekonja (Hg.): Erinnerungen an G. Z. Unbekanntes aus der Schreibtischlade eines Österreichers aus Kärnten. Klagenf. 1981 (zumeist L.). Literatur: Ingeborg U. Zimmer: G. Z. Leben u. dichter. Werk. Klagenf. 1970. Nachdr. mit einem zusätzl. Beitr. zum 50. Todestag v. G. Z. 1993. – Otmar M. Drekonja: G. Z. Dichtung u. Politik. Diss. Salzb. 1971 (mit Bibliogr.). – Daniela Strigl: Über G. Z. (1903–1943). In: LuK 38 (2003), H. 375/376, S. 95–111. – Eugen Thurnher: Wandlung ins Menschliche. Einige Anmerkungen zu G. Z.s frühen G.en. In: Ders.: Zwischen Siebzig u. Achtzig. Innsbr. 2005, S. 387–392. – D. Strigl: Anspruchsvolle Armut? Zur Lyrik v. Theodor Kramer u. G. Z. In: Ökonomien der Armut. Hg. Elke Brüns. Mchn. u. a. 2008, S. 173–188. Johannes Sachslehner / Red.

Zernitz, Christian Friedrich, * 11.1.1717 Tangermünde, † 1.2.1745 Tangermünde. – Lyriker. Z. hatte seine Mutter bereits im zweiten, seinen Vater, einen wohlhabenden Kaufmann, im neunten Lebensjahr verloren, wurde aber nachhaltig von dem Tangermünder Rektor Andreas Coler gefördert. Z. studierte an der Universität Leipzig Jura u. war 1738–1744 kgl.-preuß. Gerichtsaktuar zu Kloster Neuendorf bei Gardelegen/Altmark. Während dieser Zeit arbeitete er an Johann Joachim Schwabes »Belustigungen des Verstandes und des Witzes« (8 Bde., Lpz. 1741–45) mit. Z.’ letzte vier Lebensjahre standen zunehmend im Zeichen von Krankheit u. Depression. Seit Okt. 1744 war er an Händen u. Füßen gelähmt.

Z.’ Versuch in moralischen und Schäfer-Gedichten, nebst dessen Gedanken von der Natur der Kunst in dieser Art der Poesie gab Adam Gottfried Uhlich (Hbg./Lpz. 1748) heraus. Während dieser schon (maßvolle) Kritik an dem anakreont. Teil des Werks äußerte, fanden die Lehrgedichte Anerkennung bis ins frühe 19. Jh. Der Tradition eines Lukrez u. Vergil verpflichtet, ist Z. – obgleich aus Gottscheds Schule hervorgegangen – ein Vertreter der von Albrecht von Haller eingeleiteten Erneuerung der deutschsprachigen Lyrik. Vor allem seinen Gedanken von den Entzwecken der Welt galt Christian Heinrich Schmids u. Karl August Kütners Lob – bei Gervinus stehen sie, pars pro toto, für die Z.sche Lehrdichtung schlechthin. Wenn der Dichter auch im »Weltbürger« (Bln. 1741/42) einen Feind hatte u. Einzelne ihm vorwarfen, in der Nachahmung Hallers zu weit gegangen zu sein, so spricht doch der Abdruck seiner beliebtesten Gedichte in Duschs Briefen zur Bildung des Geschmacks (Breslau/Lpz. 1764–73), Schmids Anthologie der Teutschen (Lpz. 1770–72), Eschenburgs Beispielsammlung (Bln./Stettin 1788–95) u. Matthissons Lyrischer Anthologie (Zürich 1803–07) für die Wirkung seines Werks. Ausgabe: Versuch in moralischen u. SchäferGedichten [...]. Hbg./Lpz. 1748. Internet-Ed. in: Dt. Lit. des 18. Jh. Online. Hg. Paul Raabe. Mchn. 2007. Literatur: Adam Gottfried Uhlich: Vorbericht zu: ›Versuch [...]‹. a. a. O. – Christian Heinrich Schmid: Nekrolog. Bd. 1, Bln. 1785, S. 191–200. – Brümmer 2. – Franz Ulbrich: Die Belustigungen des Verstandes u. des Witzes. Ein Beitr. zur Journalistik des 18. Jh. Lpz. 1911. – P. Pflanz: C. F. Z. In: Montagsbl. der Magdeburgischen Ztg., Nr. 36 (1937). – Kosch, Bd. 4 (2. Aufl.). – Walter Schatzberg: Scientific themes in the popular literature and the poetry of the German Enlightenment, 1720–1760. Bern 1973. – Friedrich Vollhardt: Selbstliebe u. Geselligkeit [...]. Tüb. 2001, Register. – Fred Oberhauser u. Axel Kahrs: Literar. Führer Dtschld. Ffm. 2008, S. 1158–1160. – Sigrid Brückner: Tangermünder Persönlichkeiten. In: Tangermünde. 1000 Jahre Gesch. Hg. dies. Dössel 2008, S. 93–125. Jürgen Rathje / Red.

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Zerrenner, Heinrich Gottlieb, * 8.3.1750 Zerzer, Julius, * 5.1.1889 Mureck/SüdsteiWernigerode, † 10.11.1811 Derenburg. – ermark, † 29.10.1971 Linz; Ehrengrab: Protestantischer Pfarrer; Volksschriftstel- ebd., St.-Barbara-Friedhof. – Lyriker, Erler u. Pädagoge. zähler, Dramatiker, Zeichner, Maler. Z., Sohn eines gräfl. Amtsverwalters, besuchte seit 1759 die Lateinschule in Wernigerode, seit 1764 das Pädagogium in Klosterbergen; 1768–1771 studierte er an der Universität Halle Theologie. Die Wartezeit auf eine Pfarrstelle überbrückte er als Lehrer in Klosterbergen. 1775 wurde er Pfarrer in Beyendorf u. Sohlen im Magdeburgischen, 1788 kgl.-preuß. Kirchen- u. Schulinspektor u. Oberprediger in Derenburg bei Halberstadt. Das ihm kurz vor seinem Tod verliehene Amt eines Generalsuperintendenten in Halberstadt konnte er nicht mehr antreten. Z. war zu seiner Zeit einer der bekanntesten Volksschriftsteller, obwohl er sicher nicht zu den literarisch begabteren gehörte. Seine schriftstellerische Schwerfälligkeit u. sozialkonservative Haltung sind schon im Titel seines »Volksbuchs« deutlich erkennbar: Volksbuch. Einfaßlicher Unterricht in nützlichen Erkenntnissen und Sachen, mittelst einer zusammenhängenden Erzählung für Landleute, um sie verständig, gut, wohlhabend, zufriedner und für die Gesellschaft brauchbarer zu machen (2 Bde., Magdeb. 1787). Als Predigtautor hatte Z. eine glücklichere Hand. Weitere Werke: Predigten, ganz u. stückweise, für die lieben Landleute. 2 Bde., Magdeb./Lpz. 1779 u. 1781. – Natur- u. Ackerpredigten oder: Natur- u. Ackerbau als eine Anleitung zur Gottseligkeit, ganz für Landleute. Magdeb. 1783. – Volksaufklärung. Uebersicht u. freimüthige Darstellung ihrer Hindernisse [...]. Ebd. 1786. – Der dt. Schulfreund (fortgesetzt v. Karl Christoph Gottlieb Zerrenner). Bändchen 1–60, Erfurt, Bln., Magdeb. 1791–1823. Literatur: Selbstbiogr. in: J. R. G. Beyer (Hg.): Allg. Magazin für Prediger 7 (1793), S. 456–490. – Eduard Jacobs: H. G. Z. In: ADB. – Guido Heinrich: H. G. Z. In: Mageburger Biogr. Lexikon. 19. u. 20. Jh. Hg. G. H. u. Gunter Schandera. Magdeburg 2002, S. 830 f. – Hans Hermann Fries: H. G. Z. In: Bautz 24 (2005). Reinhart Siegert / Red.

Der Arztsohn studierte Germanistik u. Anglistik an der Universität Graz (Dr. phil. 1914); seit 1914 war er in einer Linzer Realschule als Pädagoge tätig. Ludwig von Fickers »Brenner« brachte erstmals 1913 Gedichte Z.s; der Ausbruch des Ersten Weltkriegs inspirierte ihn zu dem Gedichtband Kriegsmesse 1914 (Jena 1914), der den Kriegstod zum Gottesdienst stilisiert. Bekannt wurde der leidenschaftl. Wanderer Z. mit der Landschaftsdichtung des Sonettebands Das Drama der Landschaft (Graz 1925) u. der Erzählung Johannes (Mchn. 1927), einer Neufassung der Faustlegende, in der das Erlebnis der Bergwelt zu »menschlicher Sinnwandlung« führt. Z. widmete Adalbert Stifter, in dessen Nachfolge er sich sah, umfassende biogr. Vorstudien; in der Erzählung Stifter in Kirchschlag (ebd. 1929) ist es die »Kraft der Landschaft«, die histor. Größe formt. Zu Beginn der 1930er Jahre wechselte Z. ins dt.-völk., »nationale« Lager; auch er war Beiträger der repräsentativen Anthologie Dichterbuch (Wien 1933). 1936 trat er der NSTarnorganisation »Bund deutscher Schriftsteller Österreichs« bei. Von der NS-Kritik mit Wohlwollen bedacht, ging Z. nach dem »Anschluss« jedoch deutlich auf Distanz zum Regime. Seine ausschließl. Beschäftigung mit österr. Geschichte, etwa mit Wallenstein in der Erzählung Das Bild des Geharnischten (Mchn. 1933), ließ das offizielle Interesse an seinem Werk weitgehend erlahmen. Erst nach Kriegsende erschienen Z.s histor. Erzählungen gesammelt in dem Band Die Himmelsrute (Wien/Zürich 1946). Im Mittelpunkt seines erzählerischen Hauptwerks, des histor. Romans Der Kronerbe (Linz 1953; HandelMazzetti-Preis 1952), steht Ladislaus Postumus, der Sohn König Albrechts II., an dem »das große, gleichsam naturbedingte Gesetz« menschlichen Seins vorgeführt wird. Der religiös-konservative Grundzug seines Werks, beruhend auf den Eckpfeilern Natur – Kunst – Gott, förderte bis in die 1950er Jahre die Rezeption v. a. der Lyrik Z.s. 1965 erhielt er

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den Adalbert-Stifter-Preis. Sein Nachlass befindet sich im Adalbert-Stifter-Institut, Linz. Weitere Werke: Balladen. Bln. 1909. – Phädra. Ebd. 1912 (D.). – Die Heimsuchung. Vier Legenden. Mchn. 1931. – Vor den Bergen. Ebd. 1932 (L.). – Die weite Sicht. Linz 1946 (L.). – Das Bild wird Sinnbild. Ebd. 1965 (L.). Literatur: Bibliografie in: Biogr. Lexikon v. Oberösterr. Bd. 9, Linz 1965 ff. – Weiterer Titel: Eva Kurz: J. Z. Eine Monogr. Diss. Innsbr. 1951. Johannes Sachslehner

Zesen, Caesius, Cösius, Philipp von (geadelt 1653), auch: Ritterhold von Blauen; Gesellschaftsnamen: der Wohlsetzende, der Färtige, * 8.10.1619 Priorau bei Dessau, † 13.11.1689 Hamburg. – Sprachreformer, Poetiker, Romanautor, Lyriker, Übersetzer. Der Pastorensohn Z. besuchte von 1631 an das von Christian Gueintz geleitete Gymnasium in Halle/Saale, bezog 1639 die Wittenberger Universität, wo er insbes. Augustus Buchner hörte, u. erwarb dort am 28.4.1641 den Magistergrad. Es begann für ihn, dem es zeitlebens nicht gelang, eine dauerhafte Anstellung in obrigkeitl. Diensten zu erlangen, nun ein Lebenslauf, der von vielen Reisen, wechselnden Beschäftigungen u. stetiger Unrast geprägt war. Vom Herbst 1641 bis Frühjahr 1642 lebte er in Hamburg u. lernte dort Johann Rist u. dessen literaturbeflissenen Umkreis (u. a. Gottfried Hegenitz u. den Dänen Søren Terkelsen) kennen. Zusammen mit dem zwei Jahrzehnte älteren Hegenitz, der bereits seit den 1630er Jahren in Leiden (u. a. für die Elzeviers) als Übersetzer u. Autor tätig gewesen war, begegnet uns Z. 1642–1648 in den Niederlanden (Leiden, Amsterdam, Utrecht), wohl nicht als Student, vielmehr als Übersetzer (von frz. Romanen u. anderen Werken), als Schriftsteller sowie offenbar auch als Korrektor, vornehmlich im Dienst des Verlegers Ludwig Elzevier. In diese Epoche seines Lebens fällt auch eine Reise nach Paris (1643), wo er u. a. mit Hugo Grotius u. Isaac Vossius, aber auch mit Rompler von Löwenhalt, dem Gründer der Straßburger »Tannengesellschaft«, zusammentraf. Diese Reise hat ihre literar. Spuren in seinem

Roman Die Adriatische Rosemund (Amsterd. 1645) hinterlassen. Z., seit etwa 1643 Haupt einer selbstgegründeten Sprachgesellschaft, der Deutschgesinneten Genossenschaft (erstes reguläres Mitgl. war Hegenitz), suchte von den Niederlanden aus wiederholt um Aufnahme in die bedeutendere Fruchtbringende Gesellschaft nach, reiste zu diesem Zweck 1646 eigens nach Wittenberg, wo er die Fürsprache Buchners u. weiterer Literaten zu gewinnen hoffte, u. 1648 mit demselben Ziel nach Köthen zu Fürst Ludwig selbst. Zwar nahm man den wegen seiner orthografischen u. wortbildnerischen Neuerungen unbeliebten Z. 1648 als den »Wohlsetzenden« (ein Name, der ihn zu sprachl. Wohlverhalten verpflichten sollte) widerstrebend auf, bereits 1649 aber kam es wegen orthografischer u. anderer sprachl. Meinungsverschiedenheiten zum bleibenden Zerwürfnis mit den Fruchtbringenden. Z. wurde damit zur willkommenen Zielscheibe aller sprachlich Konservativen, die z.T. auch vor persönl. Verunglimpfungen nicht zurückscheuten; der Prominenteste unter ihnen war der einstige Freund Rist, der Z. in seinem Neuen Teütschen Parnass (1652) als »Junker Sausewind« figurieren ließ. Damit wurde der Boden dafür bereitet, dass Z. – zum Teil bis weit in das 20. Jh. hinein – in der Handbuchliteratur als die halb komische, halb unseriöse Gestalt unter den literar. Sprachreformern des 17. Jh. dargestellt wurde. Nach einem dreijährigen Aufenthalt in Holland begab Z. sich 1652 an den Hof in Dessau, wurde zwar mit Dessauer Unterstützung 1653 auf dem Reichstag in Regensburg in den Adelsstand erhoben, nicht zuteil aber wurde ihm eine dauernde Anstellung am Hof des Heimatlandes, ebensowenig in Dänemark, wo er noch im selben Jahr sich dem kgl. Hof in Kopenhagen durch Gelegenheitspoesie zu empfehlen suchte. 1654 zurück in Dessau, reiste er 1655 ins Baltikum u. hielt sich dort für kurze Zeit beim schwed. Statthalter in Riga, Heinrich Matthias Graf von Thurn, auf. 1656–1664 indessen finden wir ihn wieder in Holland, im Umkreis von niederländ. Dichtern u. Gelehrten (Nicolaas Fontein, Anna Maria Schuurmans), Patriziern

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u. Verlegern (neben Elzevier: Joh. Blaeu, Joh. Janssonius, Joh. van Waesberghe). Die Niederlande waren inzwischen zu Z.s Wahlheimat geworden: Z. beherrschte die Landessprache in Wort u. Schrift; die niederländ. Übersetzung von Johann Arndts Paradiesgärtlein (Amsterd. 1665, vielleicht schon 1658) gilt als sein Werk. Z. hat sowohl eine geschichtlich-systemat. »Landeskunde« der Niederlande (Leo Belgicus. Lat. Amsterd. 1660. Dt. Nürnb. 1677) als auch eine Beschreibung der Stadt Amsterdam (1664) verfasst. Von 1667 bis zu seinem Tod wohnte er, bei fünfmaligem Umzug, bald in Hamburg, bald in Amsterdam. Er war inzwischen zwar ein bekannter Literat geworden, der mit allerlei berühmten Leuten umging u. der von bürgerl. Mäzenen dann u. wann Geldgeschenke u. andere Zuwendungen erhielt. Eine »Bestallung« jedoch, die er so sehr wünschte u. um die er sich noch 1679 am Wolfenbütteler Hof brieflich bemühte, erlangte er nicht. Auch die recht späte Eheschließung (1672) mit der Stader Bürgerstochter Maria Becker[s], die dann sogar 1679 noch einen Leinwandhandel einzurichten suchte, vertrieb die wirtschaftl. Sorgen nicht. Falls Z. wirklich, wie oft zu lesen, einer der ersten »freien Schriftsteller« dt. Sprache gewesen sein sollte, so war er dies sicherlich wider eigenen Willen. Als Schriftsteller betätigte sich Z. auf vielen Schaffensfeldern. Ein Leben lang arbeitete er als Übersetzer für niederländ. Verleger, bes. für Ludwig Elzevier, bei dem er durch Hegenitz eingeführt worden war. Mit Hegenitz gemeinsam übersetzte er für Elzevier Vital d’Audiguiers Roman Lysandre et Caliste ins Deutsche: Liebes-beschreibung Lysanders und Kalisten (Amsterd. 1644). Beim selben Verleger erschienen 1645 der Ibrahim (nach Madeleine de Scudérys frz. Roman) u. 1647 Die Afrikanische Sofonisbe (nach der Vorlage von François de Soucy, Sieur de Gerzan). Als fleißiger Übersetzer von Fachprosa aus dem Lateinischen, Französischen u. Niederländischen verstand Z. es, den Broterwerb mit dem Verfolg seines puristischen Ziels der neologistischen Wortschatzerweiterung der dt. Literatursprache zu verknüpfen. Beispiel für seinen neuwortreichen Übersetzungsstil sind mehrere große Reiseberichte aus den neuen Kon-

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tinenten, von Mitgliedern der niederländ. Ostindischen Gesellschaft verfasst, drei umfangreiche Handbücher der Fortifikationstechnik u. die medizinischen Kompendien Schatz der Gesundheit u. Schatz der Ungesundheit (beide Amsterd. 1671) des niederländ. Arztes Jan van Beverwijk. Dem Romancier Z. sind drei der eigenwilligsten Romane des Jahrhunderts zu danken. Seine autobiografisch geprägte Adriatische Rosemund – der pseudonyme Verfassername Ritterhold von Blauen u. der Name des Helden, Markhold, sind durchsichtige Verdeutschungen seines Vor- u. Familiennamens – kombiniert erzähltechn. Elemente des höfisch-heroischen Romans mit sehr bürgerl. Personal u. unexot. Schauplätzen (Niederlande, Frankreich), trägt aber auch Züge des Schäferromans sowie des frz. sentimentalen Romans. In der Assenat (ebd. 1670) versucht Z. abermals eine neue Romanform, diesmal eine Variante des »Staatsromans«, zu konstituieren: In der biblisch verbürgten, somit »wahren« (nicht bloß wahrscheinlichen) Geschichte Josephs in Ägypten wird, fast fürstenspiegelartig, die Idealgestalt eines absoluten Herrschers (der zgl. Präfiguration Christi ist) vorgestellt. Stilistisch neu ist in der Assenat Z.s »kurtzbündiger«, paratakt., stakkatoartiger Satzbau, der sich bewusst vom zeitgenöss. Periodenbau absetzt. Auch in seinem thematisch bibl. Roman Simson (Nürnb. 1679) mischt Z. die Gattungen, indem er Darstellungsformen des höfischheroischen, aber auch des pikaresken Romans einflicht. In seiner Lyrik, oft als Gelegenheitspoesie, aber auch in Gedichtsammlungen weltl. u. geistl. Thematik publiziert (z.B. Lustinne. 1645. Dichterische Jugend-Flammen. 1651. Gekreuzigter Liebsflammen Vorschmak. 1653. Dichterisches Rosen- und Liljentahl. 1670. Alle Hbg.) zeigt Z. sich als ein Dichter, der die Opitz’schen Forderungen der Versifikation nicht nur mit leichter u. sicherer Hand souverän beherrscht, sondern sie auch weiterentwickelt. Es war Z., der die von seinem Lehrer Buchner propagierte Zulassung von Daktylus u. Anapäst in der poetolog. Theorie (Deutscher Helicon. Ebd. 1640. Erw. 1641. 1649. 1656) erstmals schriftlich forderte u. diese Kunst-

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mittel in seinen eigenen Versen dann anmutig praktizierte: hierin den Nürnbergern ein Vorbild. Z.s Lyrik, von der Kombination verschiedenster Versarten in einer Strophe u. dabei von liedhafter Geschmeidigkeit geprägt, häufig mit onomatopoet. u. synästhet. Effekten u. spielerischen Mitteln (z.B. Binnenreim) arbeitend, hat wenig gemein mit der in schwerem Ornat einhergehenden Sonettenbauerei vieler Zeitgenossen. Z.s sprachl. u. stilistische Praxis – sei es in der lyr. Wortwahl, in seiner puristischneuernden Wortschatzarbeit oder in seiner eigenwilligen Orthografie – gründet insg. auf seinen sprachtheoret. Überzeugungen. Wie alle Sprachgelehrten des dt. Literaturbarock nahm er an, dass das Hochdeutsche eine »Hauptsprache« (also dem Hebräischen, Griechischen u. Lateinischen ebenbürtig u. nahestehend) sei, dass es somit über einen bes. großen Vorrat an »Stammwörtern« (d.h. Eigen-Lexemen) verfüge, deren Lautform zum jeweils Bezeichneten in wesenhafter Beziehung (Motiviertheitsrelation) stehe: daher z.B. das Interesse an den Onomatopoetika u. Synästhetika. Niedergelegt hat Z. diese Ansichten u. a. in seiner Hooch-Deutschen Spraach-übung (Hbg. 1643) u. im Rosen-mând (ebd. 1651). Indem Z. aus den genannten, aus heutiger sprachwissenschaftl. Sicht zwar irrigen, aber im damaligen Deutschland allg. für gültig gehaltenen Axiomen konsistente orthografische u. wortbildnerische Systeme entwickelte (in Theorie u. Praxis), verfolgte er im Wesentlichen nur die Leitlinien, die man sich in den »Sprachgesellschaften« seiner Zeit für den Ausbau des Deutschen zu einer modernen Literatursprache gezogen hatte. Dadurch, dass er sich dabei über das zu seiner Zeit Übliche hinauswagte, gab er wohlfeilen Anlass zum Spott. Das so entstandene klischeehaft-negative Z.-Bild des 18. u. 19. Jh. ist erst von der Forschung des 20. Jh. allmählich korrigiert worden. Z. darf heute als einer der vielseitigsten, fruchtbarsten u. für seine Zeit anregendsten Autoren der Barockepoche gelten. – Pastichehaft-parodistisch aufgegriffen ist Z.s Orthografie in Arno Holz’ Dafnis (1904).

Zesen Ausgaben: Gesamtausgabe: Sämtl. Werke. Unter Mitwirkung v. Ulrich Maché u. Volker Meid hg. v. Ferdinand van Ingen. Bd. 1 ff., Bln./New York 1970 ff. – Einzelausgaben: Adriat. Rosemund. Hg. Max Hermann Jellinek. Halle 1899. – Assenat. Hg. V. Meid. Tüb. 1967. – Beschreibung der Stadt Amsterdam. Hg. Christian Gellinek. New York u. a. 1988. – Internet-Ed. zahlreicher Werke in: HAB Wolfenb. (dünnhaupt digital). Literatur: Bibliografien: Karl F. Otto: P. v. Z. A Bibliographical Catalogue. Bern/Mchn. 1972. – Pyritz 2, S. 733–740. – Heiduk/Neumeister, S. 262–267, 498–502. – Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 6, S. 4272–4331. – William Jervis Jones: German lexicography in the european context. A descriptive bibliography [...]. Bln. u. a. 2000, Nr. 1144–1150. – Weitere Titel: Jan Hendrik Scholte: P. v. Z. In: Veertiende Jaarboek van het Genootschap Amstelodamum (1916), S. 37–143. – Heinrich Reinacher: Studien zur Übersetzungstechnik im dt. Literaturbarock. Diss. Freib./Schweiz 1937. – Renate WeberStockmann: Die Lieder P. v. Z.s. Diss. Hbg. 1962. – Ulrich Maché: Z.s ›Hochdt. Helicon‹ [...]. Diss. Princeton 1963. – Volker Meid: Z.s Romankunst. Diss. Ffm. 1966. – Herbert Blume: Die Morphologie von Z.s Wortneubildungen. Diss. Gießen 1967. – Ferdinand van Ingen: P. v. Z. Stgt. 1970. – Ders. (Hg.): P. v. Z. 1619–1969. Wiesb. 1972. – Karl F. Otto: Die Sprachgesellsch.en des 17. Jh. Stgt. 1972. – H. Blume: S. Terkelsen, G. Hegenitz, P. v. Z. u. K. v. Höfeln. In: Daphnis 2 (1973), S. 54–70. – Josef Keller: Die Lyrik P. v. Z.s [...]. Bern u. a. 1983. – F. van Ingen: P. v. Z. In: Dt. Dichter des 17. Jh. Hg. Harald Steinhagen u. Benno v. Wiese. Bln. 1984, S. 497–516. – Wilhelm Kühlmann: P. v. Z. In: Dt. Dichter 2, S. 266–276. – Karl F. Otto: Wiederaufgefundene Zeseniana II. In: Wiss. Ztschr. der Univ. Halle 33, H. 5 (1984), S. 79–90. – Klaus Conermann: Die Mitglieder der Fruchtbringenden Gesellsch. 1617–1650 [...]. Lpz. 1985, S. 663–669. – Chrystèle Schielein: P. v. Z.: Orthographiereformer mit niederländ. Vorbildern? Diss. Erlangen 2002 (www.opus.ub.uni-erlangen.de/opus/volltexte). – Flood, Poets Laureate, Bd. 4, S. 2304–2307. – Maximilian Bergengruen u. Dieter Martin (Hg.): P. v. Z. Wissen – Sprache – Literatur. Tüb. 2008. Herbert Blume

Zetkin

Zetkin, Clara (Josephine), geb. Eißner, verh. Zundel, * 5.7.1857 Wiederau bei Leipzig, † 20.6.1933 Archangelskoje bei Moskau; Grabstätte: Moskau, Ehrengrab an der Kremlmauer. – Politische Publizistin, Frauenrechtlerin, Politikerin. »Wie oft haben wir Radikalen in der alten deutschen Sozialdemokratie gewähnt, mit tadellosen Resolutionen den revolutionären Geist gerettet zu haben.« Trotz dieser Einsicht setzte Z. immer auf die Wirkung des Worts u. schreckte vor der revolutionären Tat zurück. Für sie war »der eigentliche Erfolg der Kämpfe nicht das positive Resultat, sondern die immer größere Vereinigung der Arbeitermassen«. Aufgewachsen in einem Lehrerhaus im Vorland des Erzgebirges, studierte Z. 1873–1878 am Lehrerseminar Auguste Schmidts in Leipzig, wo sie auch Luise Peters kennenlernte, u. besuchte unter dem Einfluss des russ. Revolutionärs Ossip Zetkin den Leipziger Arbeiterbildungsverein. Nach der Ausweisung Zetkins 1880 gab sie ihre Hauslehrerstelle auf u. folgte ihm 1882 über Zürich nach Paris. Dort lernte sie Karl Marx’ zweite Tochter Laura u. deren Mann Paul Lafargue kennen, den Mitbegründer der Sozialistischen Partei Frankreichs. Auf dem Gründungskongress der II. Internationale 1889 hielt sie das zentrale Referat zur Frauenfrage, dessen Thesen nach ihrem Umzug nach Stuttgart auf dem Erfurter Parteitag der SPD 1891 bestätigt wurden. Ihre Broschüre Die Arbeiterinnen- und Frauenfrage der Gegenwart (Bln. 1889) blieb ein knappes Jahrhundert maßgebend nicht nur für die sozialistische u. kommunistische Bewegung: Die industrielle Revolution habe die Produktionsfunktion der Familie ausgehöhlt, der Frau damit die bisherige ökonomische Basis entzogen. In der Bourgeoisie habe sich die Frau zum »Luxusthier« gewandelt, ihre Emanzipation bestehe im Verfügungsrecht über das in die Ehe eingebrachte Vermögen. Die Frau der Mittelschicht strebe nach den freien Berufen, die Arbeiterfrau sei zur proletar. Lohnsklavin geworden. Also teile nur die Arbeiterfrau nach der Befreiung aus der Geschlechtshörigkeit den ökonomischen Zwang des freien

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Markts mit dem übrigen Proletariat. Z.s Hauptfolgerungen waren, dass erstens keine Revolution ohne Frauen möglich sei, u. dass es zweitens eine vollständige Befreiung der Frau nur nach der Zerschlagung des Kapitalismus – u. damit der die Frau unterdrückenden Wirtschaftsform »Familie« – geben könnte. Auf dem Erfurter Parteitag machte der Stuttgarter Parteiverleger Heinrich Dietz Z. zur Redakteurin der »Gleichheit«, die sie zum Organ des radikalen u. pazifistischen Flügels der SPD ausbaute, für die Agitation in der Frauen-, Kultur- u. Jugenderziehungsfrage (im Sinne des Herbartianers Wilhelm Rein) einsetzte u. bis 1913 auf eine Auflage von über 100.000 Exemplaren brachte. 1896 wurde Z. als »des Teufels Großmutter« (Eduard Bernstein) in die Kontrollkommission der SPD gewählt. 1903 zog sie nach Sillenbuch bei Stuttgart; seit 1907 war sie einflussreiche Sekretärin der Internationalen Frauenkonferenz. Am 10.9.1914 erschien der von der Gruppe Internationale (Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg, Franz Mehring u. Z.) unterzeichnete Aufruf gegen den Weltkrieg. 1917 wurde Z. in die Kontrollkommission der USPD gewählt (gleichzeitig als Redakteurin der »Gleichheit« entlassen), im Okt. 1919 in die Zentrale der KPD (bis 1924). 1920–1933 war sie Abgeordnete im dt. Reichstag; am 30.8.1932 eröffnete sie als Alterspräsidentin die konstituierende Sitzung des Reichstags, in dem die NSDAP die stärkste Fraktion bildete, mit einem Appell zur Einheit gegen die faschistische Gefahr. Weitere Werke: Der Student u. das Weib. Bln. 1899. – Die Frauen u. die kommunist. Partei. Lpz. 1921. – Um Rosa Luxemburgs Stellung zur russ. Revolution. Hbg. 1922. – Erinnerungen an Lenin. Mit einem Anhang: Aus dem Briefw. C. Z.s mit W. I. Lenin u. N. K. Krupskaja. Bln. 1957. – Ausgew. Reden u. Schr.en. Hg. vom Institut für MarxismusLeninismus beim ZK der SED. 3 Bde., Bln./DDR 1957–60. – Zur Gesch. der proletar. Frauenbewegung Deutschlands. Hg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Ebd. 1958. – Für die Sowjetmacht. Artikel, Reden u. Briefe 1917–1933. Hg. vom Institut für MarxismusLeninismus beim ZK der SED. Ebd. 1977. – Kunst u. Proletariat. Hg. Hans Koch. Ebd. 1977.

657 Literatur: G. G. L. Alexander: Aus C. Z.s Leben u. Werk. Bln. 1927. – Luise Dornemann: C. Z. Bln./ DDR 1957. Revidiert 51973. – Rosemarie Walther: C. Z. zur Proletar. Familienerziehung. Ebd. 1959. – Werner Thönnessen: Frauenemanzipation. Ffm. 1969. – Anna-E. Freier: ›Dem Reich der Freiheit sollst Du Kinder gebären‹. Der Antifeminismus der proletar. Frauenbewegung im Spiegel der ›Gleichheit‹. Ebd. 1981. – Joan Reutershan: C. Z. u. Brot u. Rosen. Literaturpolit. Konflikte zwischen Partei u. Frauenbewegung in der dt. Vorkriegssozialdemokratie. New York 1985. – Gilbert Badia: C. Z. Eine neue Biogr. Bln. 1994. – Tânia Puschnerat: C. Z. Bürgerlichkeit u. Marxismus. Eine Biogr. Essen 2003. Johannes Schulz / Red.

Ziebritzki, Henning, * 1.1.1961 Wunstorf/Niedersachsen. – Lyriker, Essayist.

Ziegenhagen

gemessene Ausdrucksmedium religiöser Erfahrung in der Moderne bestimmt. Passagen dieses Essays lassen sich als programmat. Kommentar zu seinen eigenen Gedichten lesen, die geprägt sind vom hier benannten »Wechselspiel von Undurchdringlichkeit und Luzidität«, u. deren epiphan. Charakter sich ihrer lyr. Vexierbilder verdankt, die an der Grenze von Realem u. Imaginär-Fantastischem oszillieren. Weiteres Werk: Gedächtnispaß. Bergen, 1995. Literatur: Michael Braun: Von der Allmacht der Zunge. In: Der Freitag, 20.2. 2004. – Hauke Hückstädt: Altes Liedernagen. Über H. Z.s Lyrik. In: BELLA triste, Nr. 17 (2007). – Angelika Overath: Was Leben ist. ›Schöner Platz‹ – Gedichte v. H. Z. In: NZZ, 12.2.2008. Katharina Knüppel

Z. schloss das Studium der Evang. Theologie, Ziegenhagen, Franz Heinrich, * 8.12. Germanistik u. Philosophie in Tübingen, 1753 Straßburg, † 21.8.1806 Rothau/ElMünchen u. Mainz 1991 mit einer Dissertasass. – Sozialutopist. tion über den kaiserzeitl. Platonismus ab. Den ersten schmalen, bibliophilen Gedicht- Z., Sohn eines Arztes, wurde im Geist des band Was übrigbleibt (Bergen) veröffentlichte Pietismus erzogen. Er absolvierte eine kaufer 1994 im niederländ. Verlag Eric van der männ. Lehre u. erwarb sich im Tuchhandel Wal. Der Literaturbetrieb reagierte auf das ein beträchtl. Vermögen. 1780 ließ er sich in Debüt 1996 mit dem Förderpreis für Litera- Hamburg nieder u. kaufte 1788 ein Gut im tur des Landes Niedersachsen. 1998 erschien nahegelegenen Billwärder, um dort die der Gedichtband Randerscheinungen (Ffm.), die landwirtschaftl. Erziehungsanstalt anzuleihre Entdeckung dem aufmerksamen, dem gen, durch die er zur Lösung des sozialen sinnl. Detail verpflichteten Blick des Dichters Problems beitragen wollte. Z.s sozialutop. verdanken. Das Material dieser Lyrik ist All- Vorstellungen, die er in seinem Buch Lehre täglichkeit; in ihren intertextuellen Reso- vom richtigen Verhältnisse zu den Schöpfungswernanzräumen klingen Namen wie Borges, ken, und die durch öffentliche Einführung derselben Constantine, Tranströmer oder Zagajewski. allein zu bewirkende allgemeine MenschenbeglüIn der langen Pause bis zur Veröffentlichung ckung (Hbg. 1792. Neudr. Vaduz 1980) niedes Bandes Schöner Platz (Springe 2007) derlegte, beruhen auf der Annahme, die wechselte Z. beruflich in die Verlagsbranche; Menschen würden Glück u. Sittlichkeit erer ist heute programmverantwortl. Lektor für ringen, wenn sie nach dem Willen Gottes Theologie u. Judaistik u. Mitgl. der Ge- »naturgemäß« lebten. Um das »schöpfungsschäftsführung beim Tübinger Verlag Mohr widrige«, verderbl. Stadtleben zu beseitigen, Siebeck. schlug Z. die Errichtung von LandwirtZ. verfasst neben Gedichten u. Essays schaftskolonien vor, die auf Gemeineigentheolog. Fachschriften. Die Verwandtschaft tum, Planung u. kollektivem Leben beruhen von Dichtung u. Religion, die in Leben u. u. ihren Bewohnern Freiheit, soziale SicherWerk des Autors aufscheint, benennt Z. ex- heit u. materiellen Überfluss gewähren sollplizit in seinem Essay Experimente mit dem ten. Die von Z. gedichtete Hymne Die ihr des Echolot. Zum Verhältnis von moderner Lyrik und unermeßlichen Weltalls Schöpfer ehrt, die in den Religion (in: Das Gedicht, Nr. 9, 2001/02, tägl. Versammlungen der Kolonisten gesunS. 89–94), in dem er die zeitgenöss. Lyrik in gen werden sollte, wurde von Mozart als ihrer zerrissenen Sinnhaftigkeit als das an- Kantate 1791 komponiert. Chodowiecki lie-

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ferte für Z.s Lehre mehrere Darstellungen, die das Leben in der Zukunftskolonie zeigen. Z., der dem Projekt sein Vermögen opferte, appellierte an Fürsten, wohlhabende Bürger, Universitäten u. den frz. Konvent, die Anlage der Kolonien finanziell zu unterstützen, hatte jedoch keinen Erfolg. Er musste 1800 sein Gut verkaufen, versuchte 1802 in seiner elsäss. Heimat Fuß zu fassen u. beging nach dem endgültigen Scheitern seiner Pläne Selbstmord. Literatur: Gerhard Steiner: F. H. Z. u. seine Verhältnislehre. Bln./DDR 1962. Walter Grab †

Zieger, Ulrich, * 29.12.1961 Döbeln/Sachsen. – Dramatiker, Lyriker, Prosa- u. Hörspielautor, Übersetzer aus dem Französischen. Als Sohn eines Handwerkers u. einer Lehrerin in Waldheim/Sachsen u. Magdeburg aufgewachsen, durchlief Z. zunächst eine Chemigrafenlehre. 1981 übersiedelte er nach OstBerlin u. arbeitete dort in einem wissenschaftl. Verlag. Erste Texte, vornehmlich Gedichte, entstanden im Umfeld der Prenzlauer-Berg-Szene. Dort engagierte Z. sich als Mitherausgeber der inoffiziellen Zeitschriften »schaden« u. »verwendung« u. war Mitgl. beim »theater Zinnober«, der einzigen freien Theatergruppe der DDR. Im Frühjahr 1989 reiste er nach West-Berlin aus; seitdem lebt er meist im südfrz. Montpellier. Z. erhielt zahlreiche Preise, u. a. den Nicolas-BornPreis (1991) u. die Dr. Manfred JahrmarktEhrengabe der Deutschen Schillerstiftung (2000). Im Zentrum seines Werks stehen die Theaterstücke, doch bleiben Z.s lyr. Wurzeln immer präsent. Noch in der DDR entstand der erste dramat. Text, Die Sonne ist blau (entstanden 1986/1989; Bühnenmanuskript 1991; Urauff. Magdeburg 1998), über den Kindermörder Jürgen Bartsch, gegen dessen Veröffentlichung man sich dort sperrte. Z. ergänzte den Text später mit den zwei folgenden Stücken Die Verlagerung der Steppe (1989/1991; Urauff. Berlin 1996) u. Das zwischen den Schläfen ... den Augen (1992; Urauff. Schwerin 1996) zur Trilogie Immerwährende Hanglage (Bln. 1993). Schon hier lassen sich

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Züge einer Poetik erkennen, die für die Generation der in die DDR »Hineingeborenen« (Uwe Kolbe) nicht untypisch ist, u. die Z. eigenwillig u. genreübergreifend ausbaut. Im Mittelpunkt steht dabei die Erforschung des Subjekts u. seiner Wahrnehmung sowie die Ablehnung verbindlicher ästhetischer Paradigmen u. ideolog. Verpflichtungen. Besonders hinsichtlich des Unterlaufens von Herrschaftsmechanismen der Sprache u. der Weigerung, Geschichten linear auszuerzählen, ist der Einfluss des frz. Poststrukturalismus spürbar. Auch Bezüge zur Ästhetik des Absurden (Kafka, Beckett) werden wichtig (Die Erzählung der ganzen Geschichte. 2001/2002; Urauff. Biefefeld 2002. SKETCH oder Die Weltanschauung. 2002; Urauff. Bielefeld 2003. Der Bürgermeister. 2006; Urauff. Bielefeld 2006. Beispiel. 2008). 1992 gewann Wim Wenders Z. für die Mitarbeit am Drehbuch von In weiter Ferne, so nah! (1993). Mit neunzehnhundertfünfundsechzig veröffentlichte Z. 1990 seinen ersten Gedichtband, der anhand eines alptraumhaften Panoramas zerstörter Kindheitslandschaften den Erfahrungsraum DDR poetisch ausleuchtet. Hier sind Anklänge an Hölderlin u. die amerikan. Beatnik-Bewegung erkennbar. In der Beschwörung einer existenziellen Trauer u. eines Gefühls der Vergeblichkeit ist das lyr. Subjekt nur als fragmentiertes u. unbehaustes auszumachen, das nach Erlösung in einem neuen Sprechen sucht. Dessen verheißungsvolle Unabgeschlossenheit bedingt eine Hermetisierung, die in dem sprachlich u. formal noch radikaleren Gedichtband Große beruhigte Körper (Bln. 1992) Gefahr läuft, das Gedicht auf seinen Klang zu reduzieren. Dagegen vollzieht L’atelier/Die Werkstatt (Montpellier 2009) eine deutl. Kehrtwende. Die zweisprachige Sammlung bedient sich weiterhin des elegisch-balladenhaften Tons, verweigert allerdings nicht mehr die Sinngebung – ein bemerkenswertes autobiogr. Zeugnis vom gescheiterten Versuch einer Wiederankunft in der Gesellschaft. Bis etwa Mitte der 1990er Jahre machte Z. seine Herkunft aus der DDR zum Gegenstand einer schonungslosen, krit. Auseinandersetzung. Dafür nützte er v. a. die Prosa u. arbeitete sich an alltägl. Phänomenen der Enge

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u. Ausweglosigkeit ab. In auffälliger Weise bevölkern Selbstmörder die Texte, deren Titel Bände sprechen (In der Finsternis. Bln. 1993. Schwarzland. Bln. 1994). Mit dem Roman Der Kasten (Bln. 1995) fand dieser Prozess vorläufig seinen verstörenden Höhepunkt. Die DDR – u. mit ihr die Institution Staatssicherheit – erscheint hier als kafkaeskes Labyrinth, in dem der Protagonist auf einer illusionären Suche nach Wahrheit die Kontrolle über sein Handeln verliert. Weitere Werke: Der zweifelhafte Ruhm dreier Dichter. Bln. 1991 (E.). – Die Hügel vor den Städten. DS Kultur u. Buschfunk Bln. 1994 (Hörsp.). – Vier Hefte. Bln. 1999 (P., D., L.). – Über den Fortgang des Matriarchats. BR 2000 (Hörsp.). – Willkommen u. Abschied. Bln. 2001 (E.). Literatur: Peter Böthig: Grammatik einer Landschaft. Lit. aus der DDR in den 80er Jahren. Bln. 1997, S. 111–116. – Kristin Schulz: So wurden die Augen nicht leicht / Die Vergleiche sind weiterhin schuldig. U. Z. In: STÜCK-WERK. Deutschsprachige Dramatik der 90er Jahre. Hg. im Auftrag der interessengemeinschaft theater der zeit e. v. Berlin v. Frank Hörnigk. Bln. 1997, S. 144–147. – Peter Geist: U. Z. In: LGL. Mirjam Meuser

Ziegler, Caspar, * 15.9.1621 Leipzig, † 17.4.1690 Wittenberg. – Jurist u. Dichter. Z., Sohn eines Leipziger Rechtsgelehrten, verlebte seine Jugendjahre in Leipzig u. erwarb eine umfassende Bildung. 1638 wurde er Bakkalaureus der Philosophie; weitere Studien in Leipzig u. Wittenberg schloss er 1643 mit dem Magistergrad ab; dieser wurde ihm für die Arbeit De philologia, dissertatio (Lpz. 1643) verliehen, die er am 18. Febr. unter dem Vorsitz von Gottlieb Köhler verteidigt hatte. Obwohl Z., dem Wunsch des Vaters folgend, zunächst ein theolog. Studium beendete, wandte er sich 1652 der Jurisprudenz zu, wurde 1655 in Jena zum Dr. iur. utr. promoviert, erhielt eine Professur in Wittenberg u. wurde 1662 Ordinarius der Juristenfakultät, an der er bei zahllosen Disputationen den Vorsitz führte. Z. war zeitweise Rektor der Universität u. erwarb als Wittenbergischer Konsistorialdirektor u. kursächs. Appellationsrat Würde u. Ansehen.

Er unterhielt einen umfangreichen Briefwechsel mit berühmten Zeitgenossen u. veröffentlichte viele vorwiegend kirchen- u. staatsrechtl. Schriften, mehrheitlich Dissertationen, aber auch einen großen Kommentar zu Hugo Grotius. Heute dürfte Z. hauptsächlich wegen seiner kleinen Schrift Von den Madrigalen (Lpz. 1653. Vermehrte Neuaufl. Wittenb. 1685. InternetEd. in: ULB Sachsen-Anhalt) bekannt sein, zu der ein Brief seines Schwagers Heinrich Schütz das Vorwort liefert. Die Schrift entsprang Z.s Liebe zur Dichtkunst u. Musik u. sollte dem bes. in Italien gepflegten Genre seinen Eingang in die dt. Literatur sichern. Z. formuliert Richtlinien für Umfang, Verslänge u. Reimschemata des Madrigals, dessen Reiz allerdings gerade in der Freiheit der Form liegt. Der Nachdruck, den er auf den epigrammat. Charakter des Madrigals legte, machte es zu einem bevorzugten lyr. Genre der galanten Dichter, u. mit dem Hinweis auf seine musikal. Verwendbarkeit u. seine Nähe zum Rezitativ hat Z. die Entwicklung der neuen Kantatenform maßgeblich beeinflusst. Erdmann Neumeister lobte in De poetis germanicis bes. den Epigrammatiker Z., doch sind dessen dem Traktat als »Exempel« angefügte Madrigale dichterisch unbedeutend. Von den geistl. Liedern Z.s wurden einige in sächs. Gesangbücher aufgenommen, wo sie sich z.T. bis in unser Jahrhundert gehalten haben (z.B. »Ich freue mich in Dir«; von Johann Sebastian Bach in zwei seiner Kantaten verarbeitet). Weitere Werke: Jesus oder zwantzig Elegien uber die Geburt, Leyden, u. Auferstehung unsers Herrn u. Heylandes Jesu Christi. Lpz. 1648. – Die sechs Jahreszeiten bey der Kühleweinischen u. Trogerischen Hochzeit. Lpz. 1652 (Drama; Musik v. Johann Rosenmüller). – De conditionibus [...]. Präs.: Christoph Philipp Richter; Resp.: C. Z. Jena 1655. – In Hugonis Grotii De jure belli ac pacis libros, quibus naturae et gentium jus explicavit, notae et animadversiones subitariae. Wittenb. 1666 u. ö. – De diaconis et diaconissis veteris ecclesiae liber commentarius. Wittenb. 1678. – De juribus majestatis tractatus academicus [...]. Wittenb. 1681. – De episcopis eorumque juribus, privilegiis, et vivendi ratione, liber commentarius [...]. Wittenb. 1686.

Ziegler Ausgaben: Fischer/Tümpel 1, S. 504 f. – Leichabdankung (1645). In: Trauerreden des Barock. Hg. Maria Fürstenberg. Wiesb. 1973, S. 39–43. – Von den Madrigalen [...]. Lpz. 1653. Nachdr. hg. v. Dorothea Glodny-Wiercinski. Ffm. 1971. – Auswahl in: Wir vergehn wie Rauch v. starken Winden. Dt. Gedichte des 17. Jh. Hg. Eberhard Haufe. 2 Bde., Bln. 1985, Register. Literatur: Bibliografie: VD 17 (derzeit knapp 200 Okkurrenzen). – Weitere Titel: Johann Caspar Wetzel: Hymnopoeographia [...]. 4 Tle., Herrnstadt 1719–28, Tl. 3, S. 464–468. – Zedler, Bd. 62 (1749), Sp. 559–574. – Karl Vossler: Das dt. Madrigal. Weimar 1898. – Max v. Waldberg: K. Z. In: ADB. – Bruno Markwardt: Gesch. der dt. Poetik. Bd. 1, Bln. 3 1964, S. 161–168, 388–391 u. Register – Heiduk/ Neumeister, S. 123 f., 267 f., 503 u. Register. – Estermann/Bürger, Tl. 1, S. 1294; Tl. 2, S. 1476. – Die dt. Akademie des 17. Jh. Fruchtbringende Gesellschaft. Hg. Martin Bircher u. Klaus Conermann. Reihe II, Abt. C, Bd. 1, Tüb. 1997, Register. – Ueberweg, Philos. 17. Jh., Bd. 4/1–2, Register. – Judith P. Aikin: A language for german opera [...]. Wiesb. 2002, Register. – Markus Paul: Reichsstadt u. Schauspiel. Theatrale Kunst im Nürnberg des 17. Jh. Tüb. 2002, Register. – Jörg Wesche: Literar. Diversität. Abweichungen. Lizenzen u. Spielräume in der dt. Poesie u. Poetik der Barockzeit. Tüb. 2004. – Elisabeth Rothmund: Heinrich Schütz (1585–1672). Kulturpatriotismus u. dt. weltl. Vokalmusik [...]. Bern 2004, passim. – Hans-Peter Schneider: Die Lehre vom christl. Naturrecht bei C. Z. (1621–1690). In: Wittenberg. Ein Zentrum europ. Rechtsgesch. u. Rechtskultur. Hg. Heiner Lück u. a. Köln u. a. 2006, S. 273–290. – Andreas Waczkat: C. Z. In: MGG, Bd. 17 (Pers.), Sp. 1465–1467. – Kenneth G. Appold: Frauen im frühneuzeitl. Luthertum. Kirchliche Ämter u. die Frage der Ordination. In: Luth. Kirche in der Welt 55 (2008), S. 179–207. Helmut K. Krausse / Red.

Ziegler, Christiane Mariane von, * 28.6. 1695 Leipzig, † 1.5.1760 Frankfurt/O. – Poetin, Verfasserin von Briefprosa. Die Tochter des angesehenen Leipziger Bürgermeisters Franz Conrad Romanus, der ohne Gerichtsurteil seit 1706 in Haft gehalten wurde, heiratete 1711 Heinrich Levin von Könitz u. ging nach dessen Tod die Ehe mit Georg Friedrich von Ziegler ein, der jedoch, ebenso wie ihre beiden Kinder, bald starb. Seit 1722 führte Z. in Leipzig einen musikal. u. literar. Salon, in dem auch Gottsched, der

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seit 1724 in der Stadt lebte, regelmäßig verkehrte. 1730 als erstes weibl. Mitgl. in die von Gottsched geführte Deutsche Gesellschaft aufgenommen, erhielt sie 1732 u. 1734 für ihre Verse den Preis der Poesie. 1733 wurde Z. von der Philosophischen Fakultät in Wittenberg als erste Frau zur kaiserl. Poetin ernannt. 1741 heiratete sie den Professor für Philosophie Wolf Balthasar von Steinwehr u. zog mit ihm nach Frankfurt/O. Zur Herausgabe ihrer ersten Auswahl von Sendschreiben, weltl. u. geistl. Gedichten u. d. T. Versuch In Gebundener Schreib-Art (2 Tle., Lpz. 1728/29) ließ sie sich »von ein und andern guten Freund bereden«. Die Resonanz war so positiv, dass Z. bald zu einer bekannten Poetin wurde u. Johann Sebastian Bach die Kantatentexte des ersten Teils vertonte. Auch in ihrer zweiten Veröffentlichung, den Moralischen und vermischten Send-Schreiben, An einige Ihrer vertrauten und guten Freunde gestellet (ebd. 1731) reflektierte sie über ihre Rolle im literar. Leben. Literarästhetisch zeigt sich ihre in der Briefprosa laut werdende Kritik an allen »gezwungenen Worten« u. am affektierten »Wesen« vom sprachreformerischen Programm Gottscheds beeinflusst. Das gilt noch stärker für ihre 1739 an den Leitsätzen seiner Regelpoetik orientierte Sammlung Vermischete Schriften in gebundener und ungebundener Rede (Gött. 1739). Literatur: Philipp Spitta: M. v. Z. u. Johann Sebastian Bach. In: Ders.: Zur Musik. Bln. 1892, S. 93–118. – Barbara Becker-Cantarino: Der lange Weg zur Mündigkeit. Stgt. 1987, S. 263–266. – Gisela Brinker-Gabler: Dt. Lit. v. Frauen. Bd. 1, Mchn. 1988, S. 295–302. – Sunka Simon: ›Als sie ihr Bildniss schildern sollte‹. Die sprachl. Struktur [...] in der Lyrik C. M. v. Z.s. In: Daphnis 19 (1990), S. 247–265. – Flood, Poets Laureate, Bd. 4, S. 2307–2311. – Cornelia Caroline Köhler: Frauengelehrsamkeit im Leipzig der Frühaufklärung. Möglichkeiten u. Grenzen am Fallbeispiel des Schmähschriftenprozesses in Zusammenhang mit der Dichterkrönung C. M. v. Z.s. Lpz. 2007. – Mark A. Peters: A woman’s voice in baroque music. M. v. Z. and J. S. Bach. Aldershot 2008. York-Gothart Mix / Carolina Kapraun

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Ziegler, Friedrich Julius Wilhelm, * 1759 Braunschweig, † 21. (oder 24.) 9.1827 Preßburg. – Schauspieler, Dramatiker.

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angelegt sind« (Brief vom 22.11.1797). Gemäß der zeitgenöss. Mode hielt Z. das rührende Lustspiel für die höchste dramat. Leistung (Vorrede zu Das Incognito. Wien 1792). Zu seinen erfolgreichsten Lustspielen gehörten Liebhaber und Nebenbuhler in Einer Person (ebd. 1790) u. Die vier Temperamente (Dresden 1821). Von seinen Schauspielen hatte ParteyWuth, oder die Kraft des Glaubens (Wien 1817) einen lang anhaltenden Erfolg. – Z.s Stücke kamen vorrangig in Wien auf die Bühne, viele wurden – vor allem ins Italienische – übersetzt.

Z. kam als junger Schauspieler 1783 nach Wien, wo er dann 40 Jahre lang, bis zu seiner Pensionierung 1822, Mitgl. des Hoftheaters war. Seine letzten Jahre verlebte er in Preßburg. Hinsichtlich Beruf u. Ambition ist Z. mit seinen Zeitgenossen Friedrich Ludwig Schröder u. dem gleichaltrigen August Wilhelm Iffland zu vergleichen, nur dass er bei Weitem nicht an deren Schauspielkunst herAusgabe: Sämmtl. dramat. Werke. Bde. 1–13, anreichte u. auch die wenigsten seiner Stücke Wien 1824. Bde. 14–19, ebd. 1834. die Erfolge seiner Konkurrenten erreichten. Winfried Hartkopf Vor allem suchte er es Kotzebue gleichzutun. Während dessen Aufenthalt in Wien 1797–1799 stand Z. mit ihm in offener Feh- Ziegler, Hieronymus, * um 1514 Rothende. Dabei hatte er sich schon 1791 mit Eulalia burg o. d. T., † 28.1.1562 Ingolstadt. – Meinau, oder die Folgen der Wiedervereinigung (in: Humanist, Übersetzer, Schuldramatiker. Deutsche Schaubühne Augsburg, Jg. 3, Bd. 6) Z. studierte in Ingolstadt (Magister 1534). an das Kotzebue-Erfolgsstück Menschenhaß 1535–1540 u. 1542–1548 war er Lehrer und Reue (1789) anzuhängen versucht. Von am St.-Anna-Gymnasium in Augsburg. den 59 nachweisbaren Dramen Z.s sind 1540–1542 wirkte er an der Universität Inknapp die Hälfte als Lustspiele, etwa ein golstadt als Lehrer der Philosophie; 1548 trat Drittel als Schauspiele u. der Rest als Trau- er die Nachfolge Christoph Brunos als Rektor erspiele gekennzeichnet. Über ein Dutzend der Poetenschule in München an, ehe er 1554 der Dramen lassen sich den um 1800 noch die Professur für Dichtkunst an der Universehr beliebten Ritterstücken zuordnen. Goe- sität Ingolstadt annahm. the schrieb am 30.12.1795 an Schiller, man Als Dichter dürfte Z., der weit mehr der habe in Weimar ein »Stück von Ziegler auf- humanistischen Form verhaftet blieb als Sixt geführt«, Barbarei und Größe (in: ebd., Jg. 5, Birck, zu seiner Zeit populär gewesen sein, Bd. 12), »wobei sie so barbarisch zugehauen wie die Übertragung mehrerer seiner Dramen haben, dass ein Schauspieler fast um seine ins Deutsche belegt, doch hat er auf ZeitgeNase gekommen ist«. Insgesamt kann man nossen nur in bescheidenem Maße gewirkt. für Z.s dramat. Schaffen übernehmen, was Vor allem in seinen späten Dramen sind Z.s ein Kritiker in der »Chronik der österreichi- Figuren lediglich Sprachrohr der Lehren des schen Literatur« vom 21.6.1817 schrieb: »Wir Autors. Die Aufführungsbedingungen sind möchten Hrn. Zieglers Stücke füglich mit den nicht immer klar; nicht alle Dramen Z.s eigTheater-Decorationen vergleichen, die wohl neten sich für die Aufführung auf einem von Ferne das Auge blenden, aber in der Nähe Schulhof. nicht sehr erfreulich zu sehen sind.« Schon vor der Augsburger Zeit könnte die Die Lustspiele gehören noch zu seinen Pedonothia (Augsb. 1543) entstanden sein, besseren Leistungen: »Er findet recht artige welche die alttestamentl. Geschichte des komische Motive, und [...] behandelt [...] sie Priesters Heli u. seiner Söhne Ophni u. Phimeist recht gut«, schrieb Goethe an Schiller; nees behandelt. Nomothesia (Basel [1540?] allerdings wisse er »alle zarte, sentimentale 1547) hat die Wanderung des Volkes Israel in und pathetische Situationen [...] nicht zu der Wüste Sinai u. die Schlacht gegen die traktieren, [...] sie überstolpern sich und tun Amalekiter zum Thema. Isaaci Immolatio keinen Effekt, ob sie gleich nicht unglücklich (Augsb. 1543) behandelt den Lebenslauf

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Abrahams in fünf Akten u. dürfte von Rol- Wolfenbütteler Renaissance-Mitt.en 18 (1994), lenhagen für dessen Abraham weitgehend ad- S. 51–55. – J.-M. Valentin: Les Jésuites et le théâtre aptiert worden sein. Für das Drama Z.s ver- (1554–1680) [...]. Paris 2001, Register. – Wolfram fasste Sixt Birck eine Widmungsode. Proto- Washof: Die Bibel auf der Bühne. Exempelfiguren u. protestant. Theologie im lat. u. dt. Bibeldrama lastus (Augsb. 1545. Internet-Ed. in: VD 16) ist der Reformationszeit. Münster 2007, Register. eine Darstellung der Schöpfungsgeschichte in Markus Mollitor / Red. drei Akten. Cyrus maior (ebd. 1547), Z.s einziges Stück antiker Thematik, behandelt, zu einem reinen Rededrama aufgelöst, den Ziegler, Jakob, auch: Lateranus, * um 1470 Kampf des Kyros gegen Astyages um die Landau an der Isar/Niederbayern, † Aug. Macht über Perser u. Meder. Aus dem drei- 1549 Passau. – Astronom, Geograf, aktigen Christi vinea (Basel 1551. Internet-Ed. Theologe. in: VD 16 u. CAMENA) spricht die betont kath. Auffassung Z.s (z.B. in 1, 2 bei der Z. studierte seit Sept. 1491 in Ingolstadt Einsetzung des Petrus als Fundament für die (1499 Baccalaureus theologicus), wo er SchüKirche). Die Regales nuptiae (Augsb. 1553. In- ler von Conrad Celtis wurde. Ein unstetes ternet-Ed. in: VD 16) stellen die Hochzeit Wanderleben führte ihn 1504 nach Köln u. Christi mit Ecclesia dar; in der Einleitung Nürnberg, 1505–1508 nach Wien, 1509–1511 preist Z. Celtis als den Erneuerer des antiken nach Mähren u. 1521–1531 nach Italien (lateinischen) Dramas in Deutschland. Reine (Rom, Venedig, Ferrara; 1527 Teilnahme am Rededramen liegen vor beim Infanticidium Sacco di Roma). 1531–1533 war er in Straß(aufgeführt in München 1554, in Ingolstadt burg, 1534 wurde er Erzieher des Markgra1555; eine Wiederaufnahme des Themas der fensohns in Baden-Baden. 1542/43 war Z. Ecclesia als Braut Christi findet sich in dem Professor der Theologie in Wien; 1544–1549 beigebundenen Drama Parabola Christi de de- gehörte er zum bischöfl. Hof in Passau. Z.s Nachlass umfasst astronomische, geocem virginibus, zus. ed. u. d. T. Dramata sacra grafische, histor. u. theolog. Werke. Er bearduo [...]. Ingolst. 1555. Internet-Ed. in: VD 16) beitete u. kommentierte die Safea des al-Zaru. dem Abel iustus (Ingolst. 1559). kali (1504; ungedruckt), das Türkengerät Weitere Werke: Dramata sacra, comoediae atque tragoediae aliquot e Veteri Testamento de- (1527; ungedruckt), das zweite Buch der Nasumptae [...]. Hg. Johannes Oporinus. 2 Bde., Basel turgeschichte des Plinius d.J. (In C. Plinii de na1547. Internet-Ed. in: CAMENA (in Bd. 1: Proto- turali historia librum secundum [...]. Basel 1531. plastus, Isaaci immolatio, Nomothesia, Samson u. Internet-Ed. in: VD 16), die Tabulae GeograHeli, sive Paedonothia). – Ophiletes. Ingolst. 1549. phicae des Ptolemäus (Straßb. 1532) u. schrieb Ausgabe: Matthäus Rotbletz: Samson (1558); H. zusammenfassend Sphaerae atque astrorum coeZ.: Samson (1547). Hg. Emil Ermatinger. Frauen- lestium ratio, natura, et motus (Basel 1536. Internet-Ed. in: VD 16). Als Geograf schuf er das feld/Lpz. 1936. Literatur: Bibliografien: Worstbrock, Nr. 278, gesamte bekannte Material verarbeitende 314. – Frank-Rutger Hausmann: Bibliogr. der dt. historische Länderkunden über Israel, Syrien, Übers.en aus dem Italienischen v. den Anfängen bis Arabien, Ägypten u. Skandinavien mit 1730. Bd. 1, Tüb. 1992, Nr. 0141, 0466. – Weitere grundlegenden Karten (Straßb. 1532. 21536). Titel: Johannes Bolte: H. Z. In: ADB. – Jean-Marie Z.s Beiträge zur Papst- u. KonzilsgeValentin: H. Z. et son Abel Justus. In: Etudes Ger- schichte vertraten einen extrem antipäpstl. maniques 23 (1968), S. 381–388. – Wolfgang F. Standpunkt. Sie blieben ungedruckt, beMichael: Das dt. Drama der Reformationszeit. Bern wirkten jedoch, dass seine Schriften auf den 1984. – Ders.: Ein Forschungsbericht [...]. Bern Index gesetzt wurden. Als Theologe trat Z. 1989. – Graecogermania. Griechischstudien dt. Humanisten. Die Editionstätigkeit der Griechen in mit dem Libellus [...] adversus Jacobi Stunicae der ital. Renaissance (1469–1523). Hg. Dieter maledicentiam (Basel 1523) für Erasmus ein u. Harlfinger. Weinheim 1989, Nr. 114, S. 216 f. – kommentierte Genesis u. Exodus (In Genesim Peter G. Macardle: H. Z.’s handwriting. Auto- mundi, et Exodum, commentarij [...]. Basel 1548). graphs in two books in the British Library. In: Trotz zeitweiser Annäherung an die Refor-

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mation blieb der erasmisch gesinnte Z. katholisch. Weiteres Werk: In hoc volumine haec continentur [...] contra heresim Valdensium libri quinque [...]. Lpz. 1512 [VD 16 Z 442]. Internet-Ed. in: VD 16. Literatur: Bibliografie: VD 16. – Weitere Titel: Gustaf Hjalmar Eneström: Le commentaire de J. Z. sur la ›Saphea‹ de Zarkali. In: Bibliotheca Mathematica N. F. 10 (1896), S. 53 f. – Siegmund Günther: J. Z., ein bayr. Geograph u. Mathematiker. Ansbach/Lpz. 1896. – Ders.: J. Z. In: ADB. – Sigmund v. Riezler: Gesch. Bayerns. Bd. 6, Gotha 1903, S. 406–412. – Karl Schottenloher: J. Z. Münster 1910 (mit Werkverz.). – Gustav Künstler: Wolf Huber als Hofmaler des Bischofs v. Passau, Graf Wolfgang v. Salom. In: Jb. der Kunsthistor. Slg. in Wien 58 (1962), S. 73–100. – Erhard Peschke: Die Böhm. Brüder im Urteil ihrer Zeit. Z.s, Dungersheims u. Luthers Kritik an der Brüderunität. Stgt. 1964. – Ilse Guenther u. Peter G. Bietenholz: J. Z. In: Contemporaries. – Christoph Schöner: Mathematik u. Astronomie an der Univ. Ingolstadt im 15. u. 16. Jh. Bln. 1994, S. 250–262. – Kurt Stadtwald: Roman popes and german patriots. Antipapalism in the politics of the german humanist movement from Gregor Heimburg to Martin Luther. Genf 1996, S. 105–136 u. Register. Karl Heinz Burmeister / Red.

Ziegler, Leopold (Carl Claudius), * 30.4. 1881 Karlsruhe, † 25.11.1958 Überlingen. – Kultur- u. religionsphilosophischer Schriftsteller. Der Sohn eines Kaufmanns studierte ab 1902 in Karlsruhe u. Heidelberg Philosophie u. wurde 1905 bei Rudolf Eucken u. Ernst Haeckel in Jena zum Dr. phil. promoviert (Der abendländische Rationalismus und der Eros. Jena 1905). Seine Habilitationspläne gab Z. bald auf, um seiner stets kränkl. Konstitution als Privatgelehrter abseits des akadem. Betriebs – zunächst in Ettlingen, dann in Achberg bei Lindau u. ab 1925 in Überlingen – ein umfangreiches u. thematisch weit gefächertes Werk abzuringen. Es stand in leidenschaftl. Widerspruch zur Moderne mit ihrer Wissenschaftsgläubigkeit u. umfasst Titel zu bildender Kunst, Architektur u. Musik ebenso wie zu Philosophie, Pädagogik, Wirtschaft u. Religion.

Nach ersten Schriften zur Ästhetik (u. a. Zur Metaphysik des Tragischen. Lpz. 1902. Florentinische Introduktion. Lpz. 1912) wandte sich Z. unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs gesellschaftl. Fragen zu (Der deutsche Mensch. Bln. 1915. Volk, Staat und Persönlichkeit. Bln. 1917), um mit Gestaltwandel der Götter (2 Bde., Bln. 1920) seinen eigentl. Gegenstand zu finden: das Verhältnis des Menschen zur Religion. Während Z. sein erstes Hauptwerk u. nachfolgend auch den später zurückgezogenen Ewigen Buddho (Darmst. 1922) noch als atheistischen Mythos menschl. Selbstvergottung konzipierte, bereitete sich mit seinem zweiten Hauptwerk, Das heilige Reich der Deutschen (2 Bde., Darmst. 1925), Z.s Hinwendung zum Christentum vor. Insbesondere mit Überlieferung (Lpz. 1936) stieß er aufgrund umfassender kultur- u. religionswissenschaftl. Studien zu einem erweiterten Verständnis von Religiosität vor u. las die Mythen u. Überlieferungen aller Völker u. Zeiten nunmehr als Varianten ein- u. derselben Uroffenbarung, als in der gesamten Menschheit hinterlegtes, von der Neuzeit »gleichsam verlerntes Alphabet des Weltgeistes«. Mit zwei weiteren Hauptwerken, Menschwerdung (2 Bde., Olten 1948) u. Das Lehrgespräch vom allgemeinen Menschen (Hbg. 1956), arbeitete Z. seine Religionsphilosophie weiter aus in Richtung einer katholisch grundierten »Ökumene der Weltreligionen«. Charakteristisch für Z. ist eine intuitiv-»meditierende«, die reine Begrifflichkeit übersteigende Sprache mit Denk- u. Stilfiguren, die durch Ausloten geschichtl. Tiefenräume u. universaler Mythen eine versöhnende Synthese von Bild u. Begriff, Glaube u. Wissen, Spiritualität u. Rationalität anstreben. Weitere Werke: Dienst an der Welt. Darmst. 1925. – Zwischen Mensch u. Wirtschaft. Ebd. 1927. – Magna Charta einer Schule. Ebd. 1928. – Apollons letzte Epiphanie. Lpz. 1937. – Spätlese eigener Hand. Mchn. 1953. – Briefe 1901–1958. Ebd. 1963. – Ges. Werke in Einzelbdn. Hg. Paulus Wall. Bisher 6 Bde., 2001–2007. Literatur: Martha Schneider-Faßbaender: L. Z. Leben u. Werk. Pfullingen 1978. – Gerhard Stamm, Friedbert Holz u. Helmut Schröer: L. Z. Leben u. Werk in Dokumenten (Ausstellungskat.). Karlsr. o. J. [1978] (mit Bibliogr.). – P. Wall (Hg.): Welt-

Ziegler und Kliphausen zerfall u. Menschwerdung. Würzb. 2001. – Theodor Binder u. a.: L. Z. Briefe u. Dokumente. Würzb. 2005. – Timo Kölling: L. Z. Eine Schlüsselfigur im Umkreis des Denkens v. E. Jünger u. F. G. Jünger. Würzb. 2009. – P. Wall (Hg.): Mythos – Logos – Integrale Tradition. Würzb. 2009. Manfred Bosch

Ziegler und Kliphausen, Zigler und Klipphausen, Heinrich Anshelm von, * 6.1. 1663 Radmeritz bei Görlitz, † 8.9.1697 Liebertwolkwitz bei Leipzig. – Dichter (Roman, Heroiden, Opernlibretto) u. Verfasser von Geschichtskompendien. Z. stammte aus einer alten sächs. Adelsfamilie. Er besuchte das Gymnasium in Görlitz (1679–1682), wo er eine solide rhetorische Ausbildung erhielt – einige Schulreden sind erhalten – u. an Schultheateraufführungen teilnahm. Anschließend (1682–1684) studierte er in Frankfurt/O. Jura, Geschichte, Sprachen u. Poesie, brach aber sein Studium wegen des Todes seines Vaters ab u. widmete sich fortan – nachdem er 1685 Sabine von Lindenau, die Tochter des kursächs. Oberküchenmeisters, geheiratet hatte – der Verwaltung u. Vermehrung des ererbten u. erheirateten Besitzes. Er kaufte u. verkaufte eine Reihe von Rittergütern u. lebte zuletzt in Liebertwolkwitz. An einem Hofamt war er wohl nicht interessiert, obgleich ihm Herkunft, Bildung u. Vermögen die besten Möglichkeiten eröffnet hätten u. er Beziehungen zu den Höfen in Dresden u. Weißenfels pflegte. In Weißenfels wurde, wie eine Tagebuchnotiz Johann Beers bezeugt, am 6.11.1696 die Oper Die Lybische Talestris (Weißenfels 1696) mit dem Text von Z. u. der Musik Johann Philipp Kriegers aufgeführt. Seinen Ruhm verdankt Z. der »Heldenund Liebes-Geschichte« Die Asiatische Banise / Oder Das blutig- doch muthige Pegu (Lpz. 1689. Neudr. der Ausg. von 1707 mit einem Nachwort von Wolfgang Pfeiffer-Belli. Mchn. 1965. Hist.-krit. Ausg. 2010, s. u.), dem wohl meistgelesenen höfisch-histor. Roman des Barock. Zu dem Erfolg hat neben der rhetorischen Brillanz u. der dramat. Inszenierung sicherlich der Umstand beigetragen, dass Z. die barocke Großform auf ein überschaubares Maß reduzierte, ohne freilich die gattungs-

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spezif. Struktur mit ihrer Verflechtung von Haupt- u. Nebenhandlungen, dem verwirrungs- u. spannungsfördernden Ineinander von Vorgeschichten u. Gegenwartsgeschehen u. der Verbindung von Liebes- u. Staatsgeschichte aufzugeben. Militärisch-politische Ereignisse aus der Geschichte Südostasiens im 16. u. 17. Jh., wie die kulturhistor. Details v. a. vermittelt durch Schriften Erasmus Franciscis, bilden den Hintergrund der Liebesgeschichte des Prinzen Balacin aus Ava u. der Prinzessin Banise, Kaisertochter aus Pegu. Und wenn am Schluss des blutigen Geschehens der vorbildl. junge König Balacin die von dem Tyrannen Chaumigrem unterjochten Länder befreit, den Usurpator getötet u. damit Xemindo, den Kaiser von Pegu, gerächt u. seine Banise vor dem Tod gerettet hat, dann ist die gestörte Weltordnung wiederhergestellt, versöhnen sich festlich Allgemeinwohl u. persönl. Glück. Dabei geht es wie in allen Werken dieser Gattung um die eigene Gegenwart, um Absolutismus, Herrscherbild, »gute« – moralisch u. religiös legitimierte – u. »böse« – »machiavellistische« – Staatsräson. Selbst Gottsched fand die Banise »nicht ohne Werth« (»ja sie ist unter allen Deutschen Romanen noch für den besten zu halten«). In zahlreichen, z.T. bearbeiteten Neuauflagen (111764), Fortsetzungen (Johann Georg Hamann d.Ä.: Fortsetzung Der Asiatischen Banise. Lpz. 1724 u. ö.), Nachahmungen (Christian Ernst Fidelinus: Die Engeländische Banise. Ffm./Lpz. 1754), zwei dreiteiligen Opernfassungen (Melchior Hoffmann, Leipzig 1712; Johann Käfer, Durlach, um 1720) u. mehreren Dramatisierungen (Wanderbühnenstücke; Friedrich Melchior Grimm: Banise, ein Trauerspiel. Lpz. 1743) fand Z.s Roman ein breites Publikum. Die dauerhafte Popularität des Romans spiegelt sich auch in zahlreichen intertextuellen Verweisen in der Literatur des 18. u. 19. Jh., u. a. in Goethes Wilhelm Meister u. in E. T. A. Hoffmanns Erzählung Das steinerne Herz. Zwei Lieder aus dem Roman gingen ins volkstüml. Liedgut ein. In eine andere Welt führen die ebenfalls recht erfolgreichen Heroiden: Helden-Liebe Der Schrifft Alten Testaments (Lpz. 1690. 71734. Zwei anonyme Fortsetzungen 1710 bzw.

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1729 mit weiteren 16 bzw. zwölf bibl. »Poe- u. 1788 [...]. In: Argenis 2 (1978), S. 327–340. – tischen Wechsel-Schrifften«). Dabei ergibt Hans-Gert Roloff: H. A. v. Z. u. K. In: Dt. Dichter sich aus den Versepisteln (u. Prosaeinleitun- des 17. Jh. Hg. Harald Steinhagen u. Benno v. gen) – von Adam u. Eva bis zu Susanna u. den Wiese. Bln. 1984, S. 798–818. – Werner Frick: Providenz u. Kontingenz. Tüb. 1988. – Bernhard alten Richtern – eine Art Typologie alttestaJahn: Das Libretto als literar. Leitgattung am Ende mentarischer Liebesverhältnisse, zgl. aber des 17. Jh. Zu Z.s Roman ›Die Asiat. Banise‹ u. auch ein mit »curieusen Anmerckungen« seinen Opernfassungen. In: Die Oper am Weißenversehenes, moralisierendes Gegenstück zu felser Hof. Hg. Eleonore Sent. Rudolstadt 1996, Hoffmannswaldaus galanten Helden-Briefen S. 143–169. – Dieter Martin: Barock um 1800. Bearbeitung u. Aneignung dt. Lit. des 17. Jh. v. 1770 (1679). Zwei histor. Kompendien beschließen Z.s bis 1830. Ffm. 2000. – Zur Druck- u. Rezeptionsschriftstellerisches Werk, Ausdruck seiner gesch. des Romans s. auch das Internet-Portal des DFG-Projekts ›Asiat. Banise‹: http://portal.uni»ungemeine[n] Liebe zur Historie und deren freiburg.de/ndl/forschung/banise. Connoissance«: Das erste, Täglicher Schau-Platz Volker Meid / Karin Vorderstemann 3 der Zeit (Lpz. 1695. 1728), stellt ein riesiges polyhistorisches Kuriositätenkabinett dar, das auf rund 1500 Folioseiten für jeden Tag Ziel, Ernst, * 5.5.1841 Rostock, † 16.2. des Jahres die »merckwürdigsten Begeben- 1921 Berlin. – Lyriker, Journalist, Essayheiten / so sich vom Anfange der Welt / biß ist, Literaturhistoriker. auff diese ietzige Zeiten / an demselben zuNach Erlernen des Kaufmannsberufs stugetragen / vorstellig machet« (u. fast allen dierte Z. Geschichte u. Literaturwissenschaft Todesfällen »Poetische Grabschrifften« beiin Rostock (dort Promotion 1869), Bonn, fügt); das zweite ist eine ähnliche, zwar unLeipzig u. Berlin, unternahm Reisen nach geordnete, aber durch ein dreifaches Register Skandinavien, lebte seit 1883 in Cannstatt u. erschließbare Fundgrube weiterer histor. seit den 1890er Jahren als freier Schriftsteller Fakten u. Kuriosa jeder Art, in der Tat ein in Berlin. Bekannt wurde er v. a. durch seine Historisches Labyrinth der Zeit (ebd. 1701. VollTätigkeit 1872–1883 (seit 1878 als Chefreendet von Philipp Balthasar Sinold. Eine dakteur) für die »Gartenlaube«. Ihr Gründer Fortsetzung von Christian Stieff folgte 1718). Ernst Keil hatte bereits 1867 Z.s erste Gedichte Ausgaben: Internet-Ed. mehrerer Werke in: (Lpz. 21881) veröffentlicht. Als Lyriker beHAB Wolfenb. (dünnhaupt digital). – Die Asiativorzugte Z. epigrammat. u. Spruchformen, sche Banise. Hist.-krit. u. komm. Ausg. des Erstspäter abgeklärt Stimmungshaftes (Ausgedrucks 1689. Hg. Werner Frick, Dieter Martin u. wählte Gedichte. Stgt. 1901). Der volksbildenKatrin Vorderstemann. Bln. 2010. den Zielsetzung der »Gartenlaube« verLiteratur: Bibliografien: Dünnhaupt 2. Aufl. pflichtet, verfasste Z. populärwissenschaftBd. 6, S. 4332–4343. – Heiduk/Neumeister, S. 503 f. – Pyritz, S. 741 f. – Weitere Titel: Leo Cho- lich-essayistisch gehaltene Reliefs. Dichterporlevius: Die bedeutendsten dt. Romane des 17. Jh. träts (4 Bde., Lpz. 1885–94). Er gab auch Lpz. 1866. Neudr. Darmst. 1965. – Georg Müller- Dulks Sämtliche Dramen (3 Bde., Stgt. 1893) Frauenstein: Über Z.s ›Asiat. Banise‹. In: ZfdPh 22 heraus. (1890), S. 60–92, 168–213. – Martin Pistorius: H. A. v. Z. u. K. Diss. Jena 1928. – Erika Schön: Der Stil v. Z.s ›Asiat. Banise‹. Diss. Greifsw. 1933. – Wolfgang Pfeiffer-Belli: Die asiat. Banise. Bln. 1940. – Hans Kuhnert Kettler: Baroque Tradition in the Literature of the German Enlightenment [...]. Cambridge o. J. [1943]. – Elisabeth Frenzel: H. A. v. Z. als Opernlibrettist. In: Euph. 62 (1968), S. 278–300. – Hans Geulen: Erzählkunst der frühen Neuzeit. Tüb. 1975. – Gerhart Hoffmeister: Transformationen v. Z.s ›Asiat. Banise‹. In: GQ 49 (1976), S. 181–190. – Volker Meid: Z.s ›Asiat. Banise‹ 1689

Weitere Werke: Moderne Xenien. Stgt. 1889. – Von heute. Lpz. 1899 (Aphorismen). Christian Schwarz

Ziely, Wilhelm, * um 1480 Bern, † 1541. Übersetzer französischer Romane. Z. war zunächst wie sein Vater Tuchscherermeister, arbeitete dann als Aufseher am städt. Kaufhaus u. als Faktor in einer Salzhandelsgesellschaft u. fungierte schließlich als Vogt

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des Stifts. 1502–1540 ist er als Mitgl. des Seelmann. Norden/Lpz. 1884. – Olivier u. Artus. In: Volksbücher vom sterbenden Rittertum. Hg. Heinz großen Rats von Bern belegt. Von Z. stammen die 1521 in Basel erschie- Kindermann. Lpz. 1928. Nachdr. Darmst. 1974. Literatur: Bibliografie: Bodo Gotzkowsky: nenen u. mehrfach nachgedruckten dt. ›Volksbücher‹ [...]. Bibliogr. der dt. Drucke. Tl. 1: Übersetzungen zweier frz. u. danach in verDrucke des 15. u. 16. Jh. Baden-Baden 1991, schiedenen Bearbeitungen verbreiteter LieS. 137–143, 163–168; Tl. 2: Drucke des 17. Jh. Ebd. bes- u. Abenteuerromane aus dem 15. Jh. Die 1994, S. 54–56, 202. – Weitere Titel: Jakob Bächtold: Helden des einen, Olivier und Artus, Halbbrü- Gesch. der dt. Lit. in der Schweiz. Frauenfeld 1892, der u. Freunde, werden wegen ungerechtfer- S. 438–442. – Eduard Hoffmann-Krayer: W. Z. In: tigter Anschuldigungen getrennt, bestehen ADB. – Arthur Dickson: Valentine and Orson. New vielfältige Abenteuer, erwerben edle Frauen, York 1929. – Ludwig Wolff: Valentin u. Namelos. retten sich gegenseitig unter äußerstem Ri- In: VL (1. Aufl.). – Hinrich Lühmann: Valentin u. siko aus Lebensgefahr, bevor sie glücklich als Orsus. Dt. Version (1521) u. frz. Original (1489). adlige Herrscher bis an ihr seliges Ende leben Vergleich u. Strukturanalyse. Diss. TU Bln. 1974. – Xenja v. Ertzdorff: Romane u. Novellen des 15. u. können. Ähnliche Motive bietet Valentin und 16. Jh. in Dtschld. Darmst. 1989. – Ute v. Bloh: Orsus, dessen Stoff vielfach bearbeitet wurde Doppelgänger in der Lit. des MA? Doppelungs(vgl. den Artikel »Valentin und Namelos«): phantasien im ›Engelhart‹ Konrads v. Würzburg u. Die beiden Söhne einer zu Unrecht versto- ›Olwier und Artus‹. In: ZfdPh 124 (2005), ßenen Kaiserin werden in früher Jugend ge- S. 341–359. – Stefanie Schmitt: Inszenierungen v. trennt. Während Valentin am Königshof er- Glaubwürdigkeit. Studien zur Beglaubigung im zogen wird u. in Abenteuern zu Ruhm u. späthöf. u. frühneuzeitl. Roman. Tüb. 2005. Hans-Jürgen Bachorski † / Red. Frau kommt, wächst der von einer Bärin entführte Orsus zunächst namen-, sprach- u. kulturlos fern von aller Zivilisation auf, bevor Ziem, Jochen, * 5.4.1932 Magdeburg, er von seinem Bruder durch allerlei Zauber- † 19.4.1994 Berlin. – Dramatiker, Erzähmächte erlöst, schließlich selbst Kaiser u. am ler, Fernseh- u. Hörspielautor. Ende Eremit wird. Nach dem Studium der Germanistik in Halle So wenig originell diese von Z. vorlagenu. Leipzig war Z. Praktikant am Theater in getreu übersetzten Romane in Motivbestand Greiz/Thüringen u. beim Berliner Ensemble, u. narrativer Struktur sind, so typisch sind sie Reporter bei ADN in Halle u., nach der für die Romanproduktion des späten MA. In Übersiedlung in die BR Deutschland 1956, paradigmat. Reihung werden offenkundig 1961–1966 Chefredakteur der Zeitschrift faszinierende Motive zu einem heterokliten »DM«. Danach lebte er als freier Schriftsteller Ganzen zusammengefügt, in dem eine Bain Berlin. lance gesucht wird zwischen einer als höchst Sein erstes Theaterstück, Die Einladung (in: kontingent erfahrenen Welt u. schicksalhafDeutsches Theater der Gegenwart. Bd. 2, Ffm. ter Providenz, zwischen einer unhinterfrag1967, S. 483–559. Urauff. 1967 Berliner bar vorgegebenen sozialen Identität u. dem Schlossparktheater), wurde mit dem Gerhartpermanenten Zwang zur individuellen Be- Hauptmann-Förderpreis der Volksbühne u. währung. dem Gustav-Dehler-Preis ausgezeichnet. Die Ausgaben: Jn disem bu8 ch werden begriffen [...] dt.-dt. Satire handelt nur vordergründig von zwo wunderbarlicher hystorien [...]. Die erst hys- der Teilung Deutschlands; das Thema ist die tori von zweyen trüwen gesellen, mit namen Olwier Entfremdung zwischen einem Ostberliner [...] u. Arto [...]. Die ander hystori sagt von zweyen Ehepaar u. den verheirateten Kindern, die in brüderen Valentino u. Orso [...], gezogen uß Düsseldorf u. Ost-Berlin leben. Z. charaktefrantzösischer zungen in dütsch durch W. Z. von Bern [...]. Basel 1521. Internet-Ed. in: VD 16. – risiert seine Protagonisten durch ihre SpraValentin u. Namenlos. Die niederdt. Dichtung. Die che; Klischees u. Banalitäten werden ausgehochdt. Prosa. Die Bruchstücke der mittelnieder- tauscht, eine Verständigung findet kaum länd. Dichtung. Nebst Einl., Bibliogr. u. Analyse statt. Die Fortsetzung des Familienkonflikts des Romans Valentin u. Orson hg. v. Wilhelm ist Die Versöhnung (in: Theater heute 10, 1971,

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H. 6, S. 33–47. Urauff. 1967 Städtische Bühnen Nürnberg). Der Handlungsverlauf »entspricht nicht mehr einer geraden Linie, sondern hat Beulen und Dellen, bläht sich hier völlig nutzlos, schrumpft dort, wo Sprachlosigkeit angebracht scheint« (Ziem). In seinen kurzen, vielfach als Fernseh- oder Hörspiel gesendeten Erzählungen beobachtete Z. den Alltag in der Großstadt (Zahltage. Ffm. 1968. Boris, Kreuzberg, 12 Jahre. Bln. 1988. Mchn. 112006. Verfilmt 1984 u. d. T. Was soll aus dir werden). Autobiografische Züge trägt der Roman Der Junge (Mchn. 1980), eine »Entwicklung in sieben Bildern« über einen wohlbehüteten Knaben, der das Ende der NSHerrschaft erlebt. Weitere Werke: Nachrichten aus der Provinz. In: Theater heute 8 (1968), H. 1, S. 55–64. – Die Klassefrau. Darmst. 1974 (E.en). – Warsteiner. Ffm. 1989 (Ms.). – Uwe Johnson u. J. Z.: ›Leaving Leipsic next week‹. Briefe an J. Z. Texte v. J. Z. Hg. u. eingel. v. Erdmut Wizisla. Bln. 2002. Literatur: Stephen W. Smith u. Michael Töteberg: J. Z. In: KLG. Reinhard Tenberg / Red.

Zierke, Heinz-Jürgen, * 8.7.1926 Marienthal/Kreis Greifenhagen. – Roman- u. Hörspielautor. Z. studierte nach dem Besuch der Arbeiter- u. Bauernfakultät Germanistik u. war als Dramaturg tätig. Seit 1966 lebt er als freier Schriftsteller in Stralsund. Z.s Domäne ist der histor. Roman konventioneller Prägung, der bemüht ist, ein genaues Bild der Zeit zu zeichnen, zgl. aber zu unterhalten u. aus der Sicht unterer Volksschichten zu werten. Dazu schlüpfen seine Protagonisten in Rock u. Rolle der Herrscher u. Heerführer: der Schreiber Sven Svensson in die des schwed. Königs (Karl XII. Rostock 1978), der Schneidergeselle in die des Freischärlers (Ich war Ferdinand von Schill. Ebd. 1983), ein Klosterbruder schreibt im Namen Barbarossas (Wibald der Mönch. Ebd. 1987). Verschaffen Doppelgänger u. Täuschungsmanöver dem Erzählten Spielraum, so geben die historisch prägenden Daten u. verbürgten Abläufe (Nordischer Krieg, Gegenreformation u. Napoleons Feldzüge) sowie der hanseatische Raum von Lübeck über Stralsund,

Zies

Kolberg, Petershof, Riga bis nach Nowgorod dem Romangeschehen die feste Kontur. Z.s einziger Gegenwartsroman, Eine Chance für Biggers (ebd. 1970), blieb folgenlos. In Themenwahl u. Sujetbehandlung sowie im bevorzugten Genre erwies sich Z. als außerordentlich beständig. Weitere Werke: Gänge durch eine alte Stadt. Riga. Rostock 1977. – Eine livländ. Weihnachtsgesch. Ebd. 1981 (E.en). – Historische Romane: Das Gottesurteil. Ebd. 1965. – Sieben Rebellen. Ebd. 1967. – Sie nannten mich Nettelbeck. Ebd. 1968 – Nowgorodfahrer. Ebd. 1973. – Odins Schwert. Ebd. 1990. Das Mädchen aus Vineta. Ebd. 2000 – Der Dänenschatz. Ebd. 2002. – Kinderbücher: Von einem, der auszog, Napoleon zu schlagen. Bln./DDR 1975. – Der Dänenschatz. Ebd. 1988. – Kinderhörspiele und -bücher: Der Rebellenmajor. 1981. – Jana. 1983. – Mein Hof steht abseits. 1987. – Spuk auf Spyker. Wundersame Gesch.n. Rostock 1998. Jürgen Grambow † / Sonja Schüller

Zies, Gisela, * 13.6.1939 Herzberg/Harz. – Dramatikerin, Erzählerin. In der Montage Geschichte-Nichtgeschichte (in: Die Versuchung des Normalen. Ffm. 1986), die eigene Erinnerungen mit unabhängig voneinander geführten Tagebuchaufzeichnungen der Eltern konfrontiert, beschreibt Z. die Kluft zwischen der Welt des Vaters, der sich als Lehrer u. Soldat zgl. als öffentl. Person begreift, u. der Privatsphäre der Mutter, die der Tochter nach Übersiedlung aus dem kriegsgefährdeten Wilhelmshaven in Northeim Geborgenheit gibt. Z. studierte Kunstpädagogik u. Soziologie u. absolvierte eine Schauspielausbildung. 1966–1970 war sie Schauspielerin in Bremen, seit ihrem Umzug nach Berlin 1970 Regieassistentin, Übersetzerin, Lehrerin u. Lektorin, von 1974 an freiberuflich. Als verschlüsselte Autobiografie beschreibt Z.’ Werk den Weg ins Leben, der, statt die Gespaltenheit der elterl. Welt zu überwinden u. zu weibl. Identität zu führen, wieder in einer von Männern beherrschten Welt endet. Ohne sich in Selbstbekenntnissen zu erschöpfen, ist es zgl. konsequente Reflexion der literar. Form u. ihrer Scheinhaftigkeit. Nährte noch das Drama Die Schlange aber (in: Drei Stücke. Bln. 1976) die Hoffnung auf eine

Ziesel

weibl. Kunst, musste schon das Volleyballspiel (ebd.), in dem die Hauptdarstellerin in einer Bilderfolge Stadien ihres Lebenslaufs inszeniert, um schließlich von der eigenen Inszenierung mattgesetzt zu werden, diesen »Ball« dem Publikum zuwerfen, um nicht als Stilleben – so der Titel des dritten Stücks – zu erstarren. Mit einem trotzigen »Es müßte anders sein« setzt Z. in der 1981 in Münster erschienenen Novelle Siebenjahr dem HappyEnd mit Märchenprinz, wie es sich bei den Brüdern Grimm zuträgt, das »Bildungserlebnis« der Königstochter Maleen entgegen. Doch zeigt die Erzählerin, dass dessen literar. Formulierung nur in eine neue repressive Konstellation, in die von literar. Ware u. kulturellem Betrieb, eintritt. Weiteres Werk: Zwischen Fuß u. Tag. Pullach im Isartal 2005. Michael Geiger / Red.

Ziesel, Kurt, * 25.2.1911 Innsbruck, † 10.5.2001 Prien. – Erzähler, Essayist, Journalist.

668 Weitere Werke: Verwandlung der Herzen. Lpz. 1938 (R.). – Der kleine Gott. Wien 1939 (R.). – Stunden der Wandlung. Ebd. 1940 (N.n). – Der Gezeichnete. Ebd. 1942 (E.). – Die Prima greift ein. Gütersloh 1943. – ›Aphrodite lächelt ...‹. Erschautes, Erlebtes u. Erträumtes v. der Insel Rhodos. Wien 1950. – Und was bleibt, ist der Mensch. Stgt. 1951. Ungekürzte Ausg. Ffm./Bln. 1990 (R.). – Daniel in der Löwengrube. Ffm. 1952. Ungekürzte Ausg. 1992. – Das Leben verläßt uns nicht. Stgt. 1953 (R.). – Die goldenen Tage. Ffm. 1953 (R.). – Solange wir lieben. Wien 1956 (R.). – Die Geister scheiden sich. Mchn. 1959 (Dokumentation zu ›Das verlorene Gewissen‹). – Die Literaturfabrik. Eine polem. Auseinandersetzung mit dem Literaturbetrieb im heutigen Dtschld. Wien 1962. – Die Pressfreiheit in der Demokratie. Mchn. 1962. – Der rote Rufmord. Eine Dokumentation zum Kalten Krieg. Tüb. 1962. – Der endlose Tag. Mchn. 1962 (R.). – Der dt. Selbstmord. Diktatur der Meinungsmacher. Kettwig 1963. – Freiheit u. Verantwortung. Beiträge zur Zeit. Mchn. 1966. – Die Sensation des Guten. Ber. über eine ungewöhnl. Weltreise. Würzb. 1966. – Schwarz u. Weiß in Afrika. Wirklichkeit u. Legenden. Beobachtungen u. Erfahrungen in Rhodesien, Südafrika u. Südwestafrika. Mchn. 1973. – Die Meinungsmacher. Spiegel, Zeit, Stern & Co. Ebd. 1988. – Der Preis des Ruhms. Roman einer Schauspielerin. Ebd. 1989. – Wider den Zeitgeist. Die Demokratie auf dem Prüfstand. Herford 1992. Literatur: Kunst oder Pornographie? Der Prozeß Grass gegen Z. Eine Dokumentation. Mchn. 1969. – Klaus Ziermann: Vom Bildschirm bis zum Groschenheft. Der Literaturbetrieb der BRD – Machtstrukturen u. Widersprüche. Bln./DDR 1983, S. 198–212. – Lex. ns. Dichter. – Stefan Busch: ›Und gestern, da hörte uns Deutschland‹. NSAutoren in der BR. Kontinuität u. Diskontinuität bei Friedrich Griese, Werner Beumelburg, Eberhard Wolfgang Möller u. K. Z. Würzb. 1998. – Hans-Joachim Hahn: Lektüreschwierigkeiten mit dem ›Judenproblem‹ in der dt. Nachkriegslit. Luise Rinser u. K. Z. In: Literar. Antisemitismus nach Auschwitz. Hg. Klaus-Michael Bogdal. Stgt. 2007, S. 131–145. – Heinrich Böll: Der Schriftsteller u. Zeitkritiker K. Z. In: Ders.: Werke. Kölner Ausg. Bd. 12. Hg. Robert C. Conrad. Köln 2008, S. 328–337. Johann Sonnleitner / Red.

Seit 1930 Mitgl. des NS-Studentenbundes, trat Z. 1931 in die NSDAP ein, wurde Redakteur der nationalsozialistischen »Deutsch-Österreichischen Tageszeitung«, floh 1933, des Hochverrats verdächtigt, nach Deutschland u. arbeitete als Journalist der NS-Presse. Trotz Schwierigkeiten mit der Partei wegen verschiedener Verfehlungen wurde der Herausgeber von Anthologien wie Stimmen der Ostmark. Feierabendfolge (Hbg. 1938) u. später Krieg und Dichtung. Soldaten werden Dichter, Dichter werden Soldaten (Wien 1940) nach 1938 Schriftleiter der »Neuen Wiener Tageszeitung«. Nach halbherzigen Versuchen der Distanzierung von seiner Vergangenheit publizierte Z. außer populären Zeitromanen reaktionäre kulturkrit. Schriften wie Das verlorene Gewissen. Hinter den Kulissen der Presse, der Literatur und ihrer Machtträger von heute (Mchn. 1958) u. Die verratene Demokratie (ebd. 1960), die sich gegen die bundesrepublikan. Linke, gegen Brecht u. die Gruppe 47 richteten. Dank seiZilies von Sayn. – Sangspruchdichter, ner Beziehungen zu konservativen polit. vermutlich zweite Hälfte des 13. Jh. Kreisen wurde er Geschäftsführer der Deutschlandstiftung e. V. sowie Herausgeber Die Jenaer Liederhandschrift (J) enthält unter der des »Deutschland-Magazins«. Überschrift Meister zilies von seine sieben

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Ziller

Sangspruchstrophen in zwei Tönen, die mit Ziller, Tuiskon, * 22.12.1817 Wasungen jeweils acht siebenhebigen Versen nahezu bei Meiningen, † 20.4.1882 Leipzig. – identisch gebaut sind, jedoch verschiedene Pädagoge u. Philosoph. Melodien haben. Behandelt werden typische Themen der Sangspruchdichtung: Lob des Wenn überhaupt, war Z. dem 20. Jh. lange gastl. Hofs, an dem man die Sangeskunst zu Zeit nur als Zielscheibe vehementer Kritik der schätzen weiß u. der daher auch von den Reformpädagogen ein Begriff. Als Begründer Künstlern geliebt wird; Auslassungen über u. Hauptvertreter des Herbartianismus wurehrlose u. schlechte, d.h. geizige Herren; den ihm das leere »Methodengeklapper«, der Kritik an Berufskollegen, die den Gesang einseitige Intellektualismus u. die lebensferzum Lob der Unedlen missbrauchen; Klage ne Buchgelehrsamkeit des wilhelmin. Schulüber die eigene Armut. Die Texte lassen betriebs angelastet. Erst neuerdings wird deutlich erkennen, dass der Verfasser wie die versucht, die fruchtbaren Anregungen hinter meisten Sangspruchdichter zu den Fahren- diesem Zerrbild der »formalistischen« Herbart-Ziller’schen Pädagogik wieder zu würden gehörte. Seinem Namen nach stammte Z. aus dem digen u. den Nachweis zu führen, dass die Mittelrheingebiet (Sayn bei Neuwied). Da- reformpädagog. Didaktiken selbst – aller durch hat sich Adolf Bach veranlasst gesehen, Polemik zum Trotz, gleichsam als »Herbarihm eine Gruppe von anonym überlieferten tianismus ohne Herbart« – an Z. anknüpfen. In der Tat weist die von Z. proklamierte Reimpaardichtungen aus dem letzten Viertel des 13. Jh. zuzuschreiben, die im selben Zentrierung der Unterrichtsstoffe um einen Raum entstanden sind. Der Verfasser dichtete altersgemäßen »Gesinnungsstoff« (Konzenfür ein Adelspublikum, dessen Mittelpunkt trationsprinzip) voraus auf den »Epochenoffenbar die Grafen von Katzenelnbogen bil- unterricht«, wie er wegweisend in Steiners deten, in deren Dienst er gestanden zu haben Waldorfpädagogik verwirklicht wurde. Und scheint. Sein Œuvre besteht aus zwei Min- die Auswahl dieser Schwerpunktthemen genereden (Minnehof u. Ritterfahrt), zwei Ehren- mäß Z.s Kulturstufentheorie – der einzelne reden (Turnier u. Ritterpreis) u. zwei historisch- Mensch wiederholt in seiner individuellen polit. Dichtungen (Böhmenschlacht über die Entwicklung die Phasen der MenschheitsgeSchlacht auf dem Marchfeld zwischen Rudolf schichte (biogenet. bzw. psychogenet. von Habsburg u. Ottokar von Böhmen 1278 Grundgesetz) – begegnet im Lehrplan etwa u. Schlacht bei Göllheim über die Schlacht zwi- der Waldorfschulen in nur geringfügig moschen Albrecht von Österreich u. Adolf von difizierter Form. Schulbildend im Wortsinn Nassau 1298). In der älteren Forschungslite- wirkten aber die berühmt-berüchtigten vier ratur wird der Verfasser dieser Gedichte meist Herbart’schen Formalstufen für den Aufbau als Pseudo-Zilies von Sayn bezeichnet. Da die des »erziehenden Unterrichts«, denen Z. eine Haltlosigkeit seiner Identifizierung mit dem fünfte vorschaltete. Klassisch wurde diese Sangspruchdichter auf der Hand liegt, ist auf später viel geschmähte Methode in der durch den Herbartianer Wilhelm Rein eingediese Verlegenheitslösung zu verzichten. Ausgabe: Adolf Bach (Hg.): Die Werke des Verf. deutschten Variante: Vorbereitung – Darbieder Schlacht bei Göllheim. Bonn 1930, S. 255–258. tung – Verknüpfung – Zusammenfassung – Literatur: A. Bach (s. Ausg.), S. 161–185. – Anwendung. Weiter ist Z.s betont religiöse Helmut Tervooren: Einzelstrophe oder Strophen- Sinngebung der Erziehung hervorzuheben, bindung? Diss. Bonn 1967, S. 172–175. – Ingeborg in deren Zentrum das Ideal der Persönlichkeit Glier: Artes Amandi. Mchn. 1971, S. 57–73. – RSM Christi als »absolutes« Erziehungsziel steht. 5 (1991) S. 583 f. – Burghart Wachinger: Z. v. S. In: Während sich an den oft zum »ExerzierregVL. Frieder Schanze / Red. lement der Schulstube« erstarrten Formalstufen die Kritik entzündete, sind die »Disputationsmethode« als sokrat. Form fragendfortschreitender Begriffsklärung u. die religionspädagog. Relevanz der Volksmärchen

Zillich

heute noch kaum wiederentdeckte Anliegen Z.s. Z. lehrte nach dem Studium der dt. Sprache u. der Klassischen Philologie u. nach Gymnasiallehrerjahren von 1853 an als Privatdozent, seit 1864 als Professor der Philosophie u. Pädagogik in Leipzig, wo er 1862 auch eine Übungsschule einrichtete. Der 1868 ebenfalls von ihm begründete Verein für wissenschaftliche Pädagogik hatte an der Verbreitung des Herbartianismus unter Volksschullehrern entscheidenden Anteil. Weitere Werke: Einl. in die allg. Pädagogik. Lpz. 1856. – Grundlegung zur Lehre vom erziehenden Unterricht. Ebd. 1865. – Der Märchenunterricht. In: T. Z. (Hg.): Jb. des Vereins für wiss. Pädagogik 1 (1869), S. 25–29. – Vorlesungen über allg. Pädagogik. Lpz. 1876. – Allg. philosoph. Ethik. Langensalza 1880. Literatur: Theodor Wiget: Die formalen Stufen des Unterrichts. Eine Einf. in das Studium der Herbart-Zillerschen Pädagogik. Chur 1884. 111914. – Bernhard Schwenk: Das Herbartverständnis der Herbartianer. Weinheim 1963. – Erich E. Geißler: Herbart u. die Reformpädagogik. In: Pädagog. Rundschau 37 (1983), S. 171–185. – Hans Glöckel: T. Z. (1817–1882). In: Ders.: Bedeutende Schulpädagogen. Werdegang – Werk – Wirkung auf die Schule v. heute. Bad Heilbrunn 1993, S. 43–58. – Günther Wölfing: ›Handliche Münze für Schule‹. T. Z. – ein großer dt. Pädagoge stammt aus Wasungen. In: Meininger Heimat-Klänge 4 (1993), S. 7 f. – Rotraud Coriand: Epigonentum oder Originalität? T. Z.s u. Karl Volkmar Stoys Rezeption v. Herbarts ›Erziehung durch Unterricht‹. Bern 2001. – Carsten Heinze: Die herbartian. Reform der Lehrerbildung [...] – die Positionen v. T. Z. In: Herbartianische Konzepte der Lehrerbildung: Gesch. oder Herausforderung? Hg. R. Coriand. Bad Heilbrunn 2003, S. 65–78. Heiner Barz / Red.

Zillich, Heinrich, * 23.5.1898 Kronstadt/ Siebenbürgen,, † 22.5.1988 Starnberg. – Erzähler, Herausgeber. Nach der Teilnahme am Ersten Weltkrieg u. an den Kämpfen Rumäniens gegen Ungarn promovierte Z. in Berlin mit einer Dissertation über agrarpolit. Probleme in Siebenbürgen. 1924–1938 gab er die siebenbürg. Literaturzeitschrift »Klingsor« heraus, in der die ersten Gedichte Weinhebers, auch Beiträge Thomas Manns u. namhafter rumäniendt.

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Autoren veröffentlicht wurden. 1936 übersiedelte Z. nach Bayern; 1939 trat er in die Wehrmacht ein. 1950 gab er das Buch Bekenntnisse zu Josef Weinheber. Erinnerungen seiner Freunde (Salzb. 1950), in dem nationalsozialistische Germanisten u. Autoren wieder zu Wort kamen, von 1959 an die »Südostdeutschen Vierteljahresblätter« (Mchn.) heraus. Seine formal traditionelle Prosa kreist thematisch um die Geschichte u. die unterschwelligen Konflikte der Nationalitäten in Südosteuropa. Die biolog. u. ökonomische Suprematie der Siebenbürger Sachsen wird auf degoutante Weise in dem Roman Zwischen Grenzen und Zeiten (Mchn. 1936) unterstrichen. So wundert es nicht, dass sein Werk im Nationalsozialismus bes. positiv aufgenommen wurde. Weitere Werke: Attilas Ende. Kronstadt 1923 (R.). – Strömung u. Erde. Ebd. 1929 (L.). – Sturz aus der Kindheit. Lpz. 1933 (N.). – Der Urlaub. Mchn. 1933. – Komme, was will. Ebd. 1935 (L.). – Die Reinerbachmühle. Mit einem autobiogr. Nachw. Lpz. 1935 (E.). – Der Weizenstrauß. Ebd. 1938 (R.). – Die gefangene Eiche u. a. siebenbürg. E.en. Köln 1939. – Flausen u. Flunkereien. Lustige Gesch.n aus Siebenbürgen. Wien 1940. – Der balt. Graf. Mchn. 1940 (E.). – Krippe-Lore u. der Feuermann. Eine Gesch. für Kinder. Ebd. 1942. – Die ewige Kompanie. Bln. 1943. – Grünk oder das große Lachen. Braunschw. 1949 (R.). – Der Sprung im Ring. Mchn. 1953 (R.). – Die Schicksalsstunde. Wien 1956. – Sturm des Lebens. Ebd. 1956. – Die große Glocke. Kindheits- u. Jugendgesch.n. Schrobenhausen 1963. – Dt. Weihnacht in Ost u. West. Wien 1996. Literatur: H. Z. zum 80. Geburtstag. Hg. v. der Landsmannschaft der Siebenbürger Sachsen in Dtschld. Starnberg 1978. – George Gut¸ u: Im Trubel der Gesch. H. Z.s Briefe an Alfred Margul-Sperber. In: Die dt. Literaturgesch. Ostmittel- u. Südosteuropas v. der Mitte des 19. Jh. bis heute. Hg. Anton Schwob. Mchn. 1992, S. 206–215. – Johann Böhm: H. Z. In: Ders.: Hitlers Vasallen der dt. Volksgruppe in Rumänien vor u. nach 1945. Ffm. u. a. 2006, S. 60–76. – Stefan Sienerth: Adolf Meschendörfer u. H. Z. im Literaturbetrieb des ›Dritten Reiches‹. In: Ders.: Studien u. Aufsätze zur Gesch. der dt. Lit. u. Sprachwiss. in Südosteuropa. Bd. 2, Mchn. 2008, S. 189–226. – Ders.: Verdient, wirkungsvoll u. umstritten. Hundert Jahre seit der Geburt v. H. Z. In: ebd., S. 335–340. Johann Sonnleitner / Red.

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Zimmer, Dieter, * 19.12.1939 Leipzig. – Romanautor; Fernsehredakteur.

Zimmering Freib. i. Br. 1984. – Kaliforn. Quartett. Bergisch Gladbach 1987 (R.). – Wenn der Mensch zum Vater wird. Ein heiter-besinnl. Ratgeber. Ebd. 1988. – Das Mädchen vom Alex. Mchn. 1989 (R.). – Auferstanden aus Ruinen. Von der SBZ zur DDR. Stgt. 1989 (Sachbuch).  Das Hochzeitsfoto. Ebd. 1992 (R.).  Bitte rechts ranfahren. Bergisch Gladbach 1994 (R.).  Die gelbe Karte. Ebd. 1996 (Sachbuch).  Wie im richtigen Leben. Ebd. 1998 (R.).  Dt. Allerlei. Erinnerungen an ein merkwürdiges Heimatland. Ebd. 2003 (Sachbuch).  Mit 33 auf der Route 66. Stgt./Lpz. 2006 (R.).

Der 1953 nach Westberlin geflohene Z. studierte Germanistik u. Publizistik in Heidelberg, Münster u. München. Nach seinen Anfängen beim SWF war er 1973–1977 Studioredakteur der »heute«-Sendung des ZDF. Dann wechselte er in die Redaktion Innenpolitik, in der er 1984–2002 Leiter der Dokumentationen u. Reportagen war. Seit seinem Ausscheiden lebt er als freier SchriftMatías Martínez / Christian Walter steller in Wiesbaden. Mit seinem ersten, autobiogr. Roman Für’n Groschen Brause (Mchn. 1980. Fernsehsp. 1983) Zimmering, Max, auch: Mix, * 16.11. gelang Z. ein großer Publikumserfolg. Die 1909 Pirna, † 15.9.1973 Berlin/DDR. – »liebenswerte Familienchronik aus unliebsa- Lyriker, Erzähler u. Kinderbuchautor. men Zeiten« erzählt das Leben eines Leipzi- Z., Sohn eines Uhrmachers, trat 1929 in die ger Schuljungen zu Beginn der 1950er Jahre. KPD u. in den Bund proletarisch-revolutioHumoristische Schilderungen von Lausbu- närer Schriftsteller ein. Seit 1928 schrieb er benstreichen verbinden sich mit der krit. Gedichte u. Prosa für die Arbeiterpresse. Für Darstellung des mühseligen u. bedrückten das Gedicht Das Fließband erhielt er 1930 den Lebens in der DDR, dem sich der Protagonist Lyrikpreis der »Bund«-Zeitschrift »Die schließlich durch die Flucht nach West-Berlin Linkskurve«. Nach dem Abitur 1930 in Joentzieht. Mit Alles in Butter (ebd. 1982), einer hannstadt u. einer Tätigkeit als Schaufens»Familienchronik aus den wirtschaftswun- terdekorateur wurde er 1932 arbeitslos. Es derlichen fünfziger Jahren«, u. weiteren Bü- entstand der verloren gegangene Roman Der chern setzte Z. seinen ersten Roman in Stil Aufstieg des Verkäufers Gottlieb Ziegenfuß. 1933 (unterhaltsam, humoristisch) u. Thema emigrierte Z. über Frankreich, Palästina u. (Nachkriegszeit, dt. Teilung) fort. die CˇSR (1935–1939) nach England (InterIm Roman Wiedersehen in alter Frische (Ber- nierung 1939–1941), wo er an antifaschistigisch Gladbach 2000) trifft eine Gruppe Ab- schen Blättern mitarbeitete u. die Monatsiturienten nach 30 Jahren wieder aufeinan- schrift des Freien Deutschen Kulturbunds der. Nach mehr als einem halben Leben ste- herausgab. 1946 kehrte er nach Dresden zuhen die ehemaligen Klassenkameraden vor rück, war bis 1953 Kulturredakteur der »Zeit ihrer vorläufigen Bilanz. Geschickt werden im Bild«, 1956–1958 erster Sekretär im dabei vergangene Träume, gescheiterte u. Schriftstellerverband des Bezirks Dresden u. erfolgreiche Lebensentwürfe, Charakter- 1958–1964 Direktor des Literaturinstituts in wandlungen u. menschl. Beziehungen durch Leipzig. – Z., der in der BR Deutschland unernsthafte u. humorvolle Passagen miteinan- bekannt blieb, wurde in der DDR vielfach der verwoben. geehrt. In den 1950er Jahren wurden v. a. Als Sachbuchautor widmet sich Z. unter- seine agitatorischen Gedichte in Feierstunden schiedl. Themenbereichen wie z.B. Vater- u. Veranstaltungen gesungen u. vorgetragen. schaft, dt.-dt. Zeitgeschichte oder der Rück- Seine Kinderbücher, die meist Themen aus kehr ins Leben nach einem Schlaganfall. Er ist der Arbeiterbewegung aufgriffen, erlangten zudem Autor zahlreicher Reportagen u. Do- für die Entwicklung des Genres in der DDR kumentationen. Für die Sendereihe »Die Re- Bedeutung: Buttje Pieter und sein Held (Bln./ portage« erhielt er 1988 den Adolf-Grimme- DDR 1951) erzählt das Leben Ernst ThälPreis in Gold. manns. Weitere Werke: Wunder dauern etwas länger. Mchn. 1984 (R.). – Mein Leipzig – lob ich’s mir?

Weitere Werke: Brand im Warenhaus. Bln. 1932 (E.). – So ist Palästina. Prag 1935 (Reportage).

Zimmermann – Und sie bewegt sich doch. London 1943 (L.). – Ernst Thälmann. Bln./DDR 1949 (Kantate). – Und fürchte nicht den Tag. Dresden 1950 (L.). – Friedens- u. Kampflieder für die FDJ. Ebd. 1951. – Phosphor u. Flieder. Vom Untergang u. Wiederaufbau der Stadt Dresden. Bln./DDR 1954 (R.). – Seht, wie uns die Sonne lacht. Ebd. 1955 (L.). – Die unfreiwillige Weltreise. Ebd. 1956 (Jugendbuch). – Spuk in der Ziegelstraße. Ebd. 1962 (Kinderbuch). – Rebellion in der Oberprima. Ebd. 1962. – Der gekreuzigte Grischa. Ebd. 1969 (E.en). – Wir lieben unsere Zeit. Gedichte, Erzählungen, Erinnerungen, Briefe. Ebd. 1979. – Familie Blanchard. Entstanden 1942. In: Stücke aus dem Exil. Hg. Hansjörg Schneider. Ebd. 1984, S. 199–246. Literatur: Harry Riedel: M. Z. In: Lit. der DDR in Einzeldarstellungen. Hg. Hans Jürgen Geerdts. Stgt. 1974, S. 113–129. – James M. Ritchie: M. Z.’s ›Unfreiwillige Weltreise‹. In: The text and its context. Hg. Nigel Harris u. Joanne Sayner. Oxford u. a. 2008, S. 241–250. Gesine von Prittwitz / Red.

Zimmermann, Balthasar Friedrich Wilhelm, * 2.1.1807 Stuttgart, † 22.9.1878 Mergentheim. – Erzähler, Geschichtsschreiber, Lyriker, Pfarrer u. Politiker. Der aus kleinbürgerl. Verhältnissen stammende Z. sollte nach dem Willen des Vaters eine Handwerkerausbildung absolvieren, konnte aber durch die Förderung eines Onkels das Gymnasium besuchen. 1821 trat er in das theolog. Seminar in Blaubeuren ein, wo er in Kontakt mit den Mitschülern Gustav Pfizer, Friedrich Theodor Vischer u. David Friedrich Strauß stand. Im Nov. 1825 nahm Z. das Studium der Theologie an der Universität Tübingen auf u. war gleichzeitig Stipendiat im Tübinger Stift, was ihn zunächst finanziell absicherte. Eine freundschaftl. Beziehung pflegte er mit seinem Stiftsgenossen Wilhelm Waiblinger, auch über dessen Relegierung vom Stift im Sept. 1826 hinaus. Während der Studienzeit setzte sich Z. intensiv mit den Schriften Hegels auseinander. Mehrfach wurde Z. wegen »vormittäglicher Wirtshausbesuche« u. anderer Verfehlungen ermahnt u. schließlich im April 1829 vom Stift verwiesen. Sein theolog. Examen legte er daher an der Universität ab. Nach dem Vikariat u. einer vorübergehenden Anstellung als Hilfspfarrer kehrte Z. nach Stuttgart zurück,

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wo er zunächst für verschiedene polit. Zeitungen arbeitete. Im Jan. 1832 wurde Z. an der Universität Tübingen mit einer Arbeit über die altröm. Literatur promoviert. Kurz darauf folgte seine erste literar. Publikation mit einem Band Gedichte (Stgt. 1832; 2. u. 3., jeweils verm. Aufl. ebd. 1839 bzw. 1854), die in ihrem oft schwermütigen Tonfall Z.s Prägung durch die sog. schwäb. Dichterschule erkennen lassen. Während sich die Sammlung formal durch ein breites Spektrum an Strophenformen auszeichnet, dominieren thematisch – neben den auf die aktuelle poln. Freiheitsbewegung verweisenden Polenliedern – Stoffe aus der stauf. Kaiserzeit u. württembergischen (Sagen-)Geschichte. In ihnen zeigte sich Z.s tiefe Verbundenheit mit seiner schwäb. Heimat, die ihren Niederschlag auch in einer historisch-literar. Darstellung Württembergs gefunden hat (Die Geschichte Württembergs, nach seinen Sagen und Thaten dargestellt. Stgt. 1836. 2 1839). Nach seiner Heirat mit der aus einer alten Pfarrerfamilie stammenden Luise Dinzinger im Sept. 1832 bemühte sich Z. zur Sicherung des Lebensunterhalts immer wieder um eine Stelle als Geistlicher, wurde aber erst im Mai 1840 zum Diakon in Dettingen an der Erms ernannt. Die Gründe für das auch noch in den folgenden Jahren problemat. Verhältnis zur Führung der württembergischen Landeskirche dürften nicht zuletzt in Z.s demokratisch-republikan. Gesinnung gelegen haben. Bevor sich Z. auf die Geschichtsschreibung konzentrierte, veröffentlichte er das Trauerspiel Masaniello, der Mann des Volkes (Stgt. 1833. 21835), in dem er – wie schon vor ihm Christian Weise (1683) u. Johann Friedrich Ernst Albrecht (1789) – den von Tommaso Aniello (gen. Masianello) 1647 in Neapel initiierten Aufstand gegen die span. Herrschaft in Süditalien literarisierte. Im Zentrum des Dramas stehen – deutlich inspiriert von der Juli-Revolution – der Kampf gegen Unterdrückung u. das Recht auf (politische) Freiheit, das notfalls auch gewaltsam errungen werden soll. In den im folgenden Jahr publizierten zwei Bänden mit vier Erzählungen (Amor’s und Satyr’s [sic]. Reihe: Maja: Bibliothek neuer Originalnovellen. Stgt. 1834) greift Z. neben

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zwei in der zeitgenöss. Gegenwart angesiedelten frührealistischen Erzählungen (Der verliebte Philosoph, Das Modell) auf histor. Stoffe u. Personen aus der württembergischen Geschichte zurück (Gräveniz, Nikodemus Frischlin). Wenngleich in älteren Epochen angesiedelt, enthalten die Texte zeitkrit. Verweise u. unterstreichen damit auch die Möglichkeiten des histor. Erzählens zur Auseinandersetzung mit zeitgenöss. polit. Zuständen. Dieses Geschichtsverständnis stellt auch die Grundlage für Z.s histor. Schriften dar. Noch vor den Dettinger Jahren entstand Z.s erste groß angelegte histor. Schrift über die Stauferzeit (Die Hohenstaufen oder der Kampf der Monarchie gegen Papst und republikanische Freiheit. Ein historisches Denkmal. 2 Bde., Stgt. 1838/39; 2., verm. Aufl. u. d. T. Geschichte der Hohenstaufen für das deutsche Volk. Ebd. 1843). Im Unterschied zu vielen Historikern des Vor- u. Nachmärz, die das einheitliche mittelalterl. (Kaiser-)Reich als Vorbild nationalliberaler Einigungsvorstellungen beschworen, beurteilt Z. die stauf. Kaiserpolitik vor dem Hintergrund unterdrückter Freiheit kritisch. In der Einleitung zu seinem erfolgreichsten Werk Allgemeine Geschichte des großen Bauernkrieges nach handschriftlichen und gedruckten Quellen (3 Bde., Stgt. 1841–43; bes. auch in Volksausgaben der DDR wiederaufgelegt; eine genaue Aufstellung bei G. Vogler, 2008, S. 130 f.) fordert Z. die Völker auf, sich die Freiheit »durch Kampf [zu] erstreiten«. Nach Z. liegen »alle Erscheinungen der späteren sozialen Bewegung in Europa in der Bewegung von 1525 eingeschlossen«, die »nicht nur der Anfang der europäischen Revolutionen, sondern ihr Inbegriff im kleinen« sei. Gab es bis dahin hauptsächlich eine kath. Deutung des Bauernkrieges als Folge der Reformation u. eine protestantische (luth.) Bewertung der Aufstände als gottlose Gewaltexzesse, so stellte Z. als einer der Ersten die Bewegung in einen größeren polit. u. sozialen Kontext. Begünstigt wurde diese neue Sicht auf den Bauernkrieg nicht zuletzt durch einen Quellenfund von 1830, mit dem Ferdinand Friedrich Oechsle Verfassungspläne der Bauern nachweisen konnte. Z.s Darstellung hatte maßgebl. Einfluss auf die marxistische Geschichtsauffassung der Reforma-

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tionszeit u. blieb als Quelle sowohl bildkünstlerischer (Käthe Kollwitz) als auch literar. Verarbeitungen des Bauernkrieges (Gerhart Hauptmann) bis ins 20. Jh. präsent. Auch beruflich waren die 1840er Jahre für Z. erfolgreich. Auf Vermittlung seines ehemaligen Lehrers in Blaubeuren, Gustav Schwab, wurde er 1847 zum Professor für Geschichte, dt. Sprache u. Literatur an der polytechn. Anstalt, einer Vorläuferin der Universität, in Stuttgart ernannt. Nach der Revolution saß Z. für die äußerste Linke seit Mai 1848 für seinen Wahlkreis Schwäbisch Hall in der Nationalversammlung, der er bis zur Auflösung des Stuttgarter Rumpfparlamentes im Juni 1849 angehörte. Auch als Abgeordneter des württembergischen Landtags (bis Okt. 1854) vertrat er demokratischrepublikanische u. antimonarchistische Positionen, was letztlich zum Verlust seiner Professorenstelle im März 1851 führte. In dieser Zeit übernahm Z. auch die Fortführung der von Johann Georg August Wirth (gest. 1848) begonnenen Geschichte der deutschen Staaten (Bd. 1 u. 2, Karlsr. 1847), deren dritter Band 1850 erschien. Im folgenden Jahr wurde – unter Angabe der fingierten Jahreszahl 1848 auf dem Titelblatt – Band 4 u. d. T. Die deutsche Revolution veröffentlicht. Kritik übte Z. hier v. a. an liberal Gesinnten wie Heinrich Laube oder Heinrich von Gagern, während Radikale wie Friedrich Hecker seine Zustimmung fanden. 1854 legte Z. sein Landtagsmandat nieder u. übernahm die Pfarrei in Leonbronn. Bis zu seinem Tod hatte er noch Pfarrstellen in Schnaitheim (1864–1870) u. St. Owen inne u. widmete sich neben seiner seelsorgerischen Tätigkeit der Neubearbeitung seiner in der Vergangenheit erschienenen Schriften. Die von Bismarck betriebene Kriegs- u. Reichspolitik wurde von Z. begrüßt u. literarisch unterstützt (Illustrierte Kriegsgeschichte des Jahres 1866 für das deutsche Volk. Stgt. 1868. Neuaufl. Wolfenbüttel 2007). – Seit 1996 wird von den Freunden des Historischen Instituts der Universität Stuttgart ein nach Z. benannter Preis für herausragende Abschlussarbeiten verliehen. Weitere Werke: Fürstenliebe. Novelle aus der neueren Gesch. Schwabens. Stgt. 1834. – Die Befreiungskämpfe der Deutschen gegen Napoleon.

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Stgt. 1836. – Prinz Eugen, der edle Ritter u. seine Zeit. Nach großentheils neuen Quellen, bes. nach des Prinzen hinterlassenen Schriften. Stgt. 1838. – Der dt. Kaisersaal. Vaterländische Gemälde. Stgt. 1841. Nachdr. der 2., berichtigten u. erg. Aufl. von 1855: Holzminden 2005. – Illustrierte Weltgesch. für gebildete Frauen u. Jungfrauen. Stgt. 1854. Fortgesetzt v. Manfred Zimmermann u.d.T.: Illustrierte Weltgesch. für Frauen u. Töchter. Ulm 1885. – Lebensgesch. der Kirche Jesu Christi. 4 Bde., Stgt. 1857–59. – Illustrierte Gesch. des dt. Volkes. 3 Bde., Stgt. 1873–77. – Dettinger Liedergarten. Hg. Günter Randecker. Dettingen/Erms 1984 (Zusammenstellung v. Gedichten aus der Zeit von 1840 bis 1847, die teilweise verstreut in Zeitschriften publiziert wurden). Literatur: Adolf Rapp: B. F. W. Z. In: Schwäb. Lebensbilder. Bd. 6. Hg. Max Miller u. Robert Uhland. Stgt. 1957, S. 266–285. – Friedrich Winterhager: W. Z. Ein schwäb. Pfarrer als Historiker des Bauernkrieges. Würzb. 1986. – Italo Michele Battafarano: Der Traum der Revolution: W. Z.s ›Masaniello‹ (1833) u. Georg Büchners ›Dantons Tod‹ (1835). In: Zweites Internat. Georg Büchner Symposium 1987. Referate. Hg. Burghard Dedner u. Günter Oesterle. Gießen 1990, S. 293–222. – Norbert Conrads: W. Z. (1807–1878). Ein Stuttgarter Historiker. Stgt. 1998. – Günter Randecker: W. Z. u. Goethe. In: In dem milden u. glückl. Schwaben u. in der Neuen Welt. Beiträge zur Goethezeit. FS Hartmut Fröschle. Hg. Reinhard Breymayer. Stgt. 2004, S. 345–355. – Roland Müller u. Anton Schindling (Hg.): Bauernkrieg u. Revolution. W. Z. Ein Radikaler aus Stuttgart. Stgt./ Lpz. 2008 (darin u.a.: Günter Vogler: ›Noch gehet sein Geist um in Europas Gauen‹. W. Z.s ThomasMüntzer-Bild u. die Rezeptionsgesch., S. 83–131). Bernhard Walcher

Zimmermann, Eberhard August Wilhelm von (seit 1796), * 17.8.1743 Uelzen, † 3./4.7.1815 Braunschweig. – Naturwissenschaftler. Der Sohn eines Propstes studierte an den Universitäten in Leiden, Halle, Berlin u. Göttingen zuerst Medizin, danach Mathematik u. Physik. Erst 23-jährig, wurde Z. o. Prof. für Mathematik u. Naturlehre am Collegium Carolinum in Braunschweig, dem er unter Ablehnung anderer Rufe zeitlebens verbunden blieb. Einer seiner Schüler war Carl Friedrich Gauß, dem er der erste aka-

dem. Lehrer u. zgl. wirtschaftlich wirksamste Förderer war. Z.s Werk umfasst zahlreiche Schriften auf den Gebieten der Mathematik, Naturwissenschaften, Länderkunde u. Entdeckungsgeschichte sowie Übersetzungen aus dem Englischen, Französischen u. Italienischen. Alle Veröffentlichungen sind geprägt vom zeitgemäßen Streben nach Nützlichkeit, Anwendbarkeit u. Lesbarkeit für Laien; sie sind zudem durch method. Neuerung in Forschung u. Darstellung gekennzeichnet. Unter den naturwissenschaftl. Schriften ragt die Begründung der Tiergeografie hervor: die Geographische Geschichte des Menschen und der allgemein verbreiteten vierfüßigen Thiere (3 Bde. u. Weltkarte, Lpz. 1779–83). Die Karte veranschaulicht viele neue Sachverhalte, u. der erklärende Text nähert sich schon der modernen kausalgenet. u. ökolog. Betrachtungsweise. Einen großen Raum nimmt die Länderkunde oder Regionale Geografie ein: Taschenbuch der Reisen (12 Bde., Lpz. 1802–13), Die Erde und ihre Bewohner nach den neuesten Entdeckungen (5 Bde., ebd. 1810–14), Australien in Hinsicht der Erd-, Menschen- und Produktenkunde, nebst einer allgemeinen Darstellung des großen Oceans (Hbg. 1810). Eine aktuelle Auseinandersetzung mit der Revolution u. der Versuch einer vergleichenden Länderkunde ist Frankreich und die Freistaaten von Nordamerika. Vergleichung beider Länder (2 Bde., Bln. 1795). Für die Allgemeinheit waren diese Werke eine viel gefragte Quelle reicher Belehrung u. Information, für die Länderkunde zgl. ein großer method. Fortschritt gegenüber der bisherigen Kosmografie mit ihrer bloßen Stoffansammlung. Z. beschränkte sich auf wirkliche geografische Sachverhalte u. stellte erstmals die Frage nach deren wechselseitiger Bedingtheit, wodurch er diesen Zweig der Geografie von der rein deskriptiven auf das Niveau einer dynamischerklärenden Wissenschaft hob. Er befand sich damit auf dem Weg zur Geografie Alexander von Humboldts. Dem entsprach auch seine Vorstellung, dass länderkundl. Darstellungen auf gezielten Studienreisen beruhen sollten. Er selbst reiste 1769–1771 nach Livland, Russland, Schweden u. Dänemark u.

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1789–1791 nach England, Frankreich u. Italien. Z. war Mitgl. der Akademien in Petersburg, Bologna, London u. Göttingen; 1796 wurde er für seine Verdienste um die Reform der oberital. Universitäten u. Museen in den Reichsadel erhoben.

Zimmermann Körner. Ebd. 1863 (histor. Drama). – Lumpenkönig. Lpz. o. J. (Posse). Literatur: Robert Arnold Fritzsche: G. Z. In: ADB. – Jan-Christoph Hauschild: Erinnerung an einen ›außerordentl. Menschen‹ [...]. In: GeorgBüchner-Jb. 5 (1985), S. 330–346 (zu Büchner u. Z.). Jan-Christoph Hauschild

Weiteres Werk: Briefw. zwischen Carl Friedrich Gauß u. E. A. W. v. Z. Hg. u. erl. v. Hans Poser. Gött. 1987.

Zimmermann, Joachim Johann Daniel, * 27.10.1710 Salzwedel, † 2.1.1767 HamLiteratur: E. A. W. Z. In: Allg. dt. Real-Encyburg. – Evangelischer Kanzelredner, Lyclopädie oder Conversations-Lexikon. Lpz. 51822. – Paul Zimmermann: E. A. W. Z. In: ADB. – Theodor riker. Müller: Gesch. der Geographie am Collegium Carolinum zu Braunschweig 1745–1834. In: Braunschweig. Jb. 38 (1957), S. 81–87. – Petra FeuersteinHerz: Der Elefant der Neuen Welt. E. A. W. v. Z. (1743–1815) u. die Anfänge der Tiergeographie. Stgt. 2006. Hans Poser / Red.

Zimmermann, Georg, auch: G. Ludwig, * 24.2.1814 Darmstadt, † 4.3.1881 Darmstadt. – Erzähler, Dramatiker; Literaturhistoriker. Nach dem Besuch des Gymnasiums in Darmstadt studierte Z. in Heidelberg u. Gießen Rechtswissenschaften, dann Theologie u. Klassische Philologie. Trotz Promotion u. Habilitation erhielt er erst 1863 in Gießen eine a. o. Honorarprofessur für Ästhetik u. dt. Literatur. 1838 war er als Editor des Nachlasses seines Jugendfreundes Georg Büchner im Gespräch, was angeblich an seinem »zerfahrenen Wesen« (Luise Büchner) scheiterte. Seit 1837 Gymnasiallehrer, ergänzte er seine spärl. Einkünfte durch Artikel u. a. über Shakespeare, Uz, Lessing, Sturz, Herder, Goethe, Schiller, Jean Paul, Kleist u. Uhland. Größere Beachtung fand seine Studie Johann Heinrich Merck (Ffm. 1871). In den 1860er Jahren verfasste er einige poetische Arbeiten, von denen die unter Pseud. veröffentlichte Erzählung Aus Hof und Wald (Bln. 1866) aufgrund ihrer atmosphär. Authentizität bleibenden Wert beanspruchen kann. Sie schildert das Schicksal eines jungen Patrioten in Darmstadts Rheinbundzeit, der den Intrigen der Hofkamarilla zum Opfer fällt. Weitere Werke: Der junge König u. die Schäferin. Darmst. 1862 (dramat. Märchen). – Theodor

Der Pfarrerssohn Z. erhielt anfangs Privatunterricht, besuchte dann Salzwedels öffentl. Schulen u. wurde darauf von seinem Vater auf das Studium vorbereitet. 1728 immatrikulierte er sich am Akademischen Gymnasium in Hamburg, wo er Logisgast bei Erdmann Neumeister wurde, der ihn zur dt. Literatur führte. Dieser bestimmte auch Z.s weiteren Werdegang, als dessen Vater 1729 starb. Seit 1730 studierte Z. an der Universität Rostock Theologie, disputierte 1732 unter dem Vorsitz Johann Joachim Weidners u. kehrte nach Hamburg zurück, wo er im selben Jahr Kandidat des geistl. Ministeriums wurde. Als Hauslehrer unterrichtete er dort u. a. Neumeisters Sohn Erdmann Gottwerth. Z. setzte später sein Studium in Helmstedt u. an sächs. Universitäten fort, kehrte noch vor 1738 abermals nach Hamburg zurück u. wurde wieder Hauslehrer. 1738 übernahm er die Geschäfte eines nichtordinierten Pastors u. Sonntagspredigers als Katechet am Werk- u. Zuchthaus. 1741 wurde er Diakon an St. Katharinen u. 1754 Archidiakon. Z. heiratete 1742 Johanna Christine Richter u. war Vater von fünf Söhnen u. sieben Töchtern. Die Zeitgenossen schätzten an Z. nicht nur dichterisches Talent u. Gelehrsamkeit, sondern zumal die Kunst der öffentl. Rede. Seine Predigten wurden gedruckt (Auserlesene Predigten über die wichtigsten Stellen aus den epistolischen Texten durchs ganze Jahr. 2 Bde., Hbg. 1758/59. Nachdr. 3 Bde., Lpz. 1761–63. Auserlesene Predigten über die wichtigsten Stellen aus den evangelischen Texten durchs ganze Jahr. 4 Bde., Hbg. 1761–63). Er war wie sein Lehrer, Förderer u. Freund Neumeister der luth. Orthodoxie verbunden u. vertrat in apologeti-

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scher Absicht deren Erkenntnispassivität ge- Schon zu seinen Lebzeiten verlangte man genüber dem Erkenntnisstreben der New nach einer Werkausgabe, die jedoch nicht Science: Nur die Offenbarung verleihe (eng zustande kam. begrenzte) Einsicht in Naturgesetze (vgl. Rede Weitere Werke: Die Nichtigkeit der Lehre v. bey der Taufe eines vormahligen Socinianers. Ebd. der Wiederbringung aller Dinge erwiesen. Hbg. 1755). Wie Neumeister ließ auch Z. seinen 1748. – Drey Predigten, bey Gelegenheit eines auPredigten jeweils eigene Gedichte folgen ßerordentl., u. insonderheit des weltbekannten (Dankworte in gebundener Rede. 2 Bde., ebd. Erdbebens halber verordneten Bußtages. Hbg. 1759–66), u. auch die häufige Verwendung 1756. – Betrachtungen über den Verstand u. die Folgen der ersten Drohung Gottes, wider einige der Kantatenform in seinem dichterischen Gelehrte, welche darinn eine blosse Vernichtigung Werk (z.T. abgedruckt in Weichmanns Poesie zu finden glauben. Hbg. 1765. – Vertheidigung der Nieder-Sachsen. Ebd. 1721–38. Nachdr. hg. seiner Schrift v. der ersten Drohung Gottes, zuvon Jürgen Stenzel. Mchn. 1980) geht un- gleich auch einiger Gelehrten wider die allgemeine mittelbar auf Neumeister zurück. In dieser dt. Bibliotheck. Hbg. 1766. Tradition stehen Z.s Texte der von Telemann Literatur: Johann Dietrich Winckler: Nachkomponierten Trauermusiken für Friedrich richten v. Niedersächs. berühmten Leuten u. FaAugust I. von Sachsen (Hbg. 1733), für Karl milien. Bd. 1, Hbg. 1768, S. 106–115. – Hans VI. (ebd. 1740), Karl VII. (ebd. 1745) u. Franz Schröder: Lexikon der hamburg. Schriftsteller. I. (ebd. 1765) ebenso wie sein gleichfalls für Bd. 8, ebd. 1883, S. 240–242. – l. u.: J. J. D. Z. In: Telemann geschriebenes Oratorium Komm ADB. – Werner Menke: Themat. Verz. der Vokalwieder Herr (ebd. 1762) zur Einweihung der werke v. G. P. Telemann. 2 Bde., Ffm. 1982/83, Bd. 2, S. 119. – C. F. Weichmanns Poesie der Niewiederaufgebauten Hauptkirche St. Michaeder-Sachsen (1721–38). Nachweise u. Register. Hg. lis. Aber auch die Naturpoesie der Frühauf- Christoph Perels, Jürgen Rathje u. Jürgen Stenzel. klärung hat in seinen Gedichten ihre Spuren Wolfenb. 1983, S. 199–203. – Wolfgang Hirschhinterlassen. Hier war Brockes Vorbild, für mann: ›Glück zu, o Erlöser, du hast es vollbracht‹. den er die dritte Auflage vom zweiten Band Quellenphilolog. u. analytisch-interpretator. Be(ebd. 1734) des Irdischen Vergnügens in GOTT merkungen zur Johannespassion 1745 v. Georg besorgte, so wie er später auch als Herausge- Philipp Telemann u. J. J. D. Z. In: Auf der gezeigten ber des Versuchs einiger moralischen Briefe (ebd. Spur [...]. FS Martin Ruhnke. Hg. W. Hirschmann. 1753) des geistesverwandten Johann Christi- Oschersleben 1994, S. 36–66. – Fred Oberhauser u. an Cuno hervortrat. Beredtestes Zeugnis für Axel Kahrs: Salzwedel. In: Literar. Führer Dtschld. Hg. dies. Ffm. 2008, S. 1074–1076. – Michael Mau: Z.s Hinwendung zur Naturdichtung ist die Barockoper in Leipzig (1693–1720). 2 Bde., Freib. i. Landlust, die fünfte seiner Sechs Cantaten welche Br. u. a. 2009, S. 361. Jürgen Rathje / Red. vormals der Telemannischen Composition gewidmet worden (in: Weichmann: Poesie der NiederSachsen. Bd. 5, S. 318–325). Zimmermann, Johann Georg, * 8.12. Z. bewunderte Brockes, obgleich dieser als 1728 Brugg/Kt. Bern (heute: Kt. Aargau), Ratsherr die Neumeister verhasste Fraktion † 7.10.1795 Hannover. – Popularphiloder Patriotischen Gesellschaft von 1724 mit soph, Arzt. vertrat. Er begegnete ihm bei Peter Carpser zusammen mit Matthäus Arnold Wilckens, Z., Sohn eines Ratsherrn, studierte seit 1742 Johann Georg Hamann d.Ä. u. Hagedorn. an der Berner Akademie Philosophie, GeDessen Hamburger Freundeszirkel gehörte schichte, Beredsamkeit u. Griechisch u. seit Z. ebenso an wie den Bekannten- u. Freun- 1747 Medizin in Göttingen, wo er in enger deskreisen Johann Samuel Müllers u. Meta Beziehung zu seinem Lehrer Albrecht von Mollers. Haller stand. Nach der Promotion 1751 unZ.s Dichtung stand unter den Zeitgenossen ternahm er eine Bildungsreise durch Holland in hohem Ansehen. Seine oft vom Rat der nach Paris, war Hofmeister in Göttingen, ließ Stadt zu feierl. Anlässen in Auftrag gegebe- sich 1752 als Arzt in Bern nieder u. erhielt nen Oratorien, Kantaten u. Serenaden wur- 1754 durch Hallers Empfehlung die Stelle den unter allg. Beifall öffentlich aufgeführt. eines Stadtphysikus in Brugg, die er 14 Jahre

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innehatte. Trotz glückl. Ehe u. anerkannter ärztl. Praxis fühlte sich Z. in der kleinstädt. Atmosphäre unwohl. Er widmete sich der Schriftstellerei u. verfasste u. a. die Biografie Das Leben des Herrn von Haller (Zürich 1755), ein umfängl. Lehrgedicht über Die Zerstörung von Lissabon (ebd. 1756. Neudr. Hann. 1997) sowie die Betrachtungen über die Einsamkeit (Zürich 1756). In medizinischen Kreisen wurde Z. mit seinem Werk Von der Erfahrung in der Arzneykunst (2 Bde., ebd. 1763/64) bekannt, bei einem größeren Publikum mit dem Traktat Von dem Nationalstolze (ebd. 1758. Neudr. ebd. 1980): Darin sprach er sich zunächst für die Republik als beste Staatsform aus; in späteren Auflagen (ebd. 1760. 1766. 1768) milderte er die Feudalismuskritik jedoch spürbar ab. Gelehrte Beziehungen u. Korrespondenzen verbanden Z. mit Bodmer, Breitinger, Sulzer, Iselin, Mendelssohn, Nicolai, Wieland, Abbt, Lavater u.v.a., später auch mit Herder, Goethe, Lenz u. Georg Forster. 1768 wurde Z. als Leibarzt des engl. Königs Georg III. nach Hannover berufen, wo er zu den höchsten Kreisen Zugang hatte u. mit Auszeichnungen geehrt wurde. Allerdings trübten Schicksalsschläge den äußeren Glanz: 1770 starb seine Frau, elf Jahre später die gemeinsame Tochter; bei Z.s Sohn brach 1777 eine psych. Krankheit aus. Auch seine eigene Gesundheit war schwer angegriffen; er litt unter Arbeitsüberlastung u. fühlte sich durch die gesellschaftl. Verpflichtungen empfindlich gestört. Dennoch legte Z. zahlreiche wissenschaftl. Arbeiten vor; eine Fülle von Aufsätzen erschien im »Hannoverischen Magazin«. Hervorzuheben ist die Schrift Von der Einsamkeit (Lpz. 1773), mit der er an seine Veröffentlichung von 1756 anknüpfte; überdies lieferte er Beiträge zu Lavaters Physiognomischen Fragmenten, deren 3. Band (1777) ein Porträt Z.s enthält. Mehrere Reisen unterbrachen dessen Leben in Hannover; die bedeutendste führte ihn 1775 in die Schweizer Heimat. Auf dem Rückweg traf Z. in Frankfurt mit Goethe zusammen, der davon im dritten Teil von Dichtung und Wahrheit (1814) berichtet. In der Folge wurde Z. zusehends gereizter; er verstrickte sich in Fehden, u. a. mit Kästner

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u. Lichtenberg, brüskierte Wieland, Herder u. Goethe durch unbesonnene Äußerungen, isolierte sich immer mehr u. verfasste das Werk, mit dem er bis heute bekannt geblieben ist: Ueber die Einsamkeit (4 Bde., Lpz. 1784/85. Neudr. Zürich 1982). Diese anthropolog. Abhandlung bildet die Summe der Erfahrungen Z.s, dessen Leben zwischen gesuchter u. doch wieder gehasster Geselligkeit auf der einen, ersehnter u. gleichzeitig gefürchteter Einsamkeit auf der anderen Seite schwankte. Sie stellt zudem ein Dokument der »Dialektik der Aufklärung« (Horkheimer/Adorno) dar, indem in ihr das Dilemma zwischen religiöser Emanzipation u. existenzieller Verunsicherung des Individuums thematisiert ist. Z. attackiert in oft ermüdender Ausführlichkeit die »falsche« Einsamkeit, die er im mönchischen Wesen, im Anachoretentum u. im Obskurantismus aufspürt u. als Lebensfremdheit, Misanthropie u. Selbstüberhebung entlarvt. Im dritten Band rechnet er mit dem Schweizer Arzt u. Philosophen Jacob Hermann Obereit ab, der gegen Z.s Abhandlung Von der Einsamkeit eine vehemente Vertheidigung der Mystik und des Einsiedlerlebens (Ffm. 1775) verfasst hatte. Dagegen preist Z. die »wahre« Einsamkeit als notwendig für die schöpferische Sublimierung des geistig Schaffenden. Als Ideal präsentiert er eine den eudämonistischen Tendenzen der Aufklärung entsprechende Synthese von einsamer Askese u. heiterer Geselligkeit, von Selbstdisziplin u. Einlassen auf die Welt. Z.s Schrift über das im 18. Jh. viel diskutierte Phänomen der Einsamkeit – vgl. z.B. Christian Garves Ueber Gesellschaft und Einsamkeit (1797) – erfuhr beträchtl. Resonanz u. fand Zustimmung bes. bei Nicolai, Biester u. Gedike. Die russ. Kaiserin Katharina II. suchte Z. an ihren Hof zu ziehen u. erhob ihn zum Ritter des St.-Wladimir-Ordens. Sein Prestige erhöhte sich weiter, als er 1786 zum kranken König Friedrich II. von Preußen gerufen wurde. Die Frucht dieser Audienz, das Buch Ueber Friedrich den Grossen und meine Unterredungen mit Ihm kurz vor seinem Tode (Lpz. 1788), enthielt unerwartete Angriffe gegen die Berliner Aufklärer, die Z. mit den Illuminaten zum Umsturz von Religion u. Staat

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verschworen wähnte. Der heftige Widerstand gegen dieses Werk bildete den Beginn einer nicht mehr abreißenden scharfen Kritik an Z., der sich unvermittelt von der einst verteidigten Aufklärung abgewandt hatte: Den Deismus bekämpfte er jetzt als Ursprung aller Irreligiosität u. Sittenverderbnis, gerade wie er einst den Katholizismus verabscheut hatte. Immer offener gerierte sich der vormalige Demokrat Z. als überzeugter Monarchist; seine strikte Ablehnung der Französischen Revolution animierte die Aufklärer zu beißendem Spott u. veranlasste Bahrdt zu einer persönl. Polemik: Mit dem Herrn Zimmermann [...] deutsch gesprochen [...] (o. O. 1790. Neudr. St. Ingbert 1994). Unter dem Namen von Knigge trat Kotzebue mit seinem Pasquill Doctor Bahrdt mit der eisernen Stirn oder die deutsche Union gegen Zimmermann (o. O. 1790) auf Z.s Seite u. beschimpfte dessen Gegner in unflätiger Weise. Z., den die Öffentlichkeit für den Verfasser dieses Machwerks hielt, konnte seine Reputation nicht mehr retten, auch nicht, als sich schließlich Kotzebue zur Autorschaft bekannte. Überworfen mit seinen einstigen Anhängern u. im Prozess gegen Knigge stehend, fand Z. nur noch bei Leopold Alois Hoffmann in Wien Sympathie, einem Vertrauten Kaiser Leopolds II. In Hoffmanns »Wiener Zeitschrift«, einem Organ zur Bekämpfung revolutionärer Ideen, setzte er seine Polemik gegen Aufklärung u. Französische Revolution fort; er starb kurz nach seiner juristischen Niederlage gegen Knigge. Heute tragen medizinische Gesellschaften u. Auszeichnungen Z.s Namen, u. speziell die germanistische Z.-Forschung hat in jüngerer Zeit einen merkl. Aufschwung erfahren. Zwar gilt ihr Hauptinteresse weiterhin der Abhandlung Ueber die Einsamkeit, doch sind Bemühungen um eine stärkere Kontextualisierung dieses Werks auszumachen. Dementsprechend hat man zuletzt auch (kommentierte) Neuausgaben anderer Arbeiten Z.s vorgelegt. Weitere Werke: Versuch in anmuthigen u. lehrreichen Erzählungen [...]. Lpz. 1788. – Vertheidigung Friedrichs des Grossen gegen den Grafen v. Mirabeau. Hann. 1788. – Fragmente über

678 Friedrich den Grossen [...]. 3 Bde., Lpz. 1790. – Zerstreute Blätter vermischten Inhalts. Ebd. 1799. Literatur: Eduard Bodemann: J. G. Z. Hann. 1878. – Rudolf Ischer: J. G. Z.s Leben u. Werke. Bern 1893 (mit Werkverz.). – Ders.: Nachträge zu J. G. Z. In: Euph. 4 (1897), S. 550–557. – Ders.: J. G. Z. In: ADB. – Daniel Bonin: J. G. Z. u. Johann Gottfried Herder nach ungedr. Briefen. Worms 1910. – Auguste Adolphe Bouvier: J. G. Z. Un représentant suisse du cosmopolitisme littéraire au 18e siècle. Genf 1925. – Heinrich Funck: Z. als Charakterologe. Sein Anteil an Lavaters Physiognom. Fragmenten. In: Euph. 27 (1926), S. 521–534. – Friso Melzer: J. G. Z.s ›Einsamkeit‹ in ihrer Stellung im Geistesleben des ausgehenden 18. Jh. Breslau 1930. – Leo Maduschka: Das Problem der Einsamkeit im 18. Jh. im bes. bei J. G. Z. Weimar 1933. – Werner Milch: Die Einsamkeit. Z. u. Obereit im Kampf um die Überwindung der Aufklärung. Frauenfeld/Lpz. 1937. – Andreas Langenbacher: Die erlesenen Tränen J. G. Z.s. Versuch über den getrübten Blick in aufgeklärter Zeit. In: Schweizer Monatshefte 69 (1989), S. 807–819. – Andreas Langenbacher (Hg.): J. G. Z. Mit Skalpell u. Federkiel – ein Lesebuch. Bern/Stgt./Wien 1995 (mit Werkverz.). – Martin Dinges: Medizinische Aufklärung bei J. G. Z. Zum Verhältnis v. Macht u. Wissen bei einem Arzt der Aufklärung. In: Schweizer im Berlin des 18. Jh. Hg. Martin Fontius u. Helmut Holzhey. Bln. 1996, S. 137–150. – Christoph Weiß: ›Royaliste, antirépublicain, antijacobin et antiilluminé‹: J. G. Z. u. die ›polit. Mordbrennerey in Europa‹. In: Von ›Obscuranten‹ u. ›Eudämonisten‹. Gegenaufklärerische, konservative u. antirevolutionäre Publizisten im späten 18. Jh. Hg. ders. St. Ingbert 1997, S. 367–401. – Hans-Peter Schramm (Hg.): J. G. Z. – königlich großbritann. Leibarzt. Wiesb. 1998. – Martina Wagner-Egelhaaf: Unheilbare Phantasie u. heillose Vernunft: J. G. Z., ›Über die Einsamkeit‹ (1784/85). In: Einsamkeit. Archäologie der literar. Kommunikation VI. Hg. Aleida u. Jan Assmann. Mchn. 2000, S. 265–279. – Lieselotte E. Kurth-Voigt: Z.s ›Ueber die Einsamkeit‹ (1784/85). Zur Rezeption des Werkes. In: MLN 116 (2001), S. 579–595. – Mark-Georg Dehrmann: Produktive Einsamkeit. Studien zu Gottfried Arnold, Shaftesbury, J. G. Z., Jacob Hermann Obereit u. Christoph Martin Wieland. Hann. 2002. – Markus Zenker: Individualität u. Soziabilität. Zu J. G. Z.s Werk über die Einsamkeit im zeitgenöss. dt.-schweizer. Kontext. In: Das achtzehnte Jh. 26 (2002), S. 163–171. – Hugo Loetscher: J. G. Z. oder das Leiden an der Schweiz. In: Ders.: Lesen statt klettern. Aufsätze zur literar. Schweiz. Zürich 2003, S. 73–92. – Fabian Lampart:

679 Anreger, Autorität, Konkurrent: Petrarca in J. G. Z.s Einsamkeitsdiskursen. In: Francesco Petrarca in Dtschld. Seine Wirkung in Lit., Kunst u. Musik. Hg. Achim Aurnhammer. Tüb. 2006, S. 349–360. – M. Zenker: ›Kenne den Menschen muß man freilich dem Menschen ohne Aufhören zurufen!‹ Anthropologie u. Medizin bei J. G. Z. im Kontext der dt. Spätaufklärung. In: Physis u. Norm. Neue Perspektiven der Anthropologie im 18. Jh. Hg. Manfred Beetz u. a. Gött. 2007, S. 107–119. – Ders.: Therapie im literar. Text. J. G. Z.s Werk ›Über die Einsamkeit‹ in seiner Zeit. Tüb. 2007. – Ders.: ›Betrachte doch dich selbst u. wag es dich zu kennen‹. Anthropologie u. Pietismus bei J. G. Z. In: Alter Adam u. Neue Kreatur. Pietismus u. Anthropologie. Hg. Udo Sträter. Bd. 2, Halle 2009, S. 849–856. Günter Häntzschel / Stefan Hermes

Zimmermann, Johann Jacob, auch: P. Christianus, Liebhaber der Wahrheit, Ambrosius Sehmann von Caminiez, * 25.12.1644 Vaihingen/Württemberg, † 1693 Rotterdam. – Theologe, Mathematiker, Astronom, Chiliast. Z. studierte Theologie in Tübingen (Magister 1664), wurde dort Repetent am Herzoglichen Stipendium, 1671 zweiter Pfarrer in Bietigheim unter dem schwierigen Dekan Christoph Zeller (1637–1681). Schon nach fünf Jahren geriet er in den Verdacht, Anhänger Böhmes zu sein. Biblische Gründe u. natürl. Offenbarung sollten das copernikan. Weltsystem stützen (Tl. 3 der Exercitatio theoricum mathematico-physica-theologica [...]. Altona 1689. Philadelphia 1691). Fortgeführt wurde dies in Scriptura sacra Copernicans (1681. Hbg./ Altona 1690. Aufl.n bis 1736), die ein in der Geschichte sich wandelndes Verständnis der Bibel betont – auch die »Naturalia« biblisch untermauernd, dem Konflikt von Biblizismus u. neuem Weltbild nicht entgehend. Das große Lehrgedicht Das Drey-kräfftige Geistliche Licht entwirft ein trinitar. Weltsystem (Brecht 1994). Zur Kometenliteratur steuerte Z. seine als Bußruf gemeinte Cometoscopia (Stgt. 1681) bei u. ließ pseudonym 1684 die Muthmaßliche Zeit-Bestimmung (o. O.) folgen, gegen die sich der Tübinger Professor der Theologie Georg Heinrich Häberlein (1644–1699) wandte. Kritik an den Religionsstreitigkeiten, dem Gewissenszwang u. der Unsittlichkeit ist hier

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verbunden mit chiliastischen Vorhersagen des Falls Babels; neue Propheten würden auftreten (unter Berufung auf Andreae, Großgebauer, Heinrich Müller, Spener). Nach der durch den Propst Christoph Wölfflin/ Stuttgart betriebenen Entlassung aus dem Kirchendienst (1684, 1686) führte Z.s Weg nach Nürnberg, Frankfurt/M. (u. a. zu Johann Jakob Schütz, mit dem er schon lange vorher korrespondiert hatte), Heidelberg (als a. o. Prof. für Mathematik), Erfurt (?) u. Hamburg. Sein Eintreten für Böhme brachte ihm persönl. u. literar. Auseinandersetzungen mit Spener (der mit Z. im Briefwechsel über Speners Programmschrift PIA DESIDERIA von 1675 u. wichtige theolog. Themen stand) u. Hamburger Theologen. Z. ist dem (radikalen) Pietismus zuzurechnen (Brecht). Die chiliastische Prägung seines Denkens ließ ihn in die Nähe Petersens u. in eine Kontroverse mit August Pfeiffer geraten. Nicht nur hier, auch in der Übersetzung von Thomas Burnets Theoria Sacra Telluris (Ffm./ Lpz. 1693 u. ö.) vertrat Z. einen milden Chiliasmus mit vorsichtigen u. »offenen« Endzeitberechnungen. Viele Gesinnungsgenossen teilten nicht Z.s Bereitschaft, mit dem Ausgang aus dem europ. Babel Ernst zu machen. Johannes Kelp (1673-ca. 1708), Z.s glühender Anhänger u. später wichtig in der Ephrata Community, übernahm nach dessen plötzl. Tod in Rotterdam die Führung der ihres Leiters beraubten Auswanderergruppe. Briefe: Philipp Jakob Spener: Briefe [...] 1677–78. Tüb. 2000 (2 u. 2 Br.e). – Ders.: Schr.en. Bd. 13/1. Hildesh. 1999, S. 176–190, 225–240 (an Z.; s. Johannes Wallmann: Ges. Aufs. II. Tüb. 2008, S. 155–167; vgl. dass. I. Tüb. 1995, S. 347 f.). – Gottfried Arnold: Unparteiische Kirchen- u. Ketzer-Historie (1699/1700). Ffm. 1729. Nachdr. Bd. 2, Hildesh. 1967 (32008), S. 1105 (v. F. Breckling). Literatur: Bibliografien: Gottfried Mälzer: Die Werke der württemberg. Pietisten [...]. Bln. 1972, S. 398–404. – Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 6, S. 4344–4355. – Weitere Titel: Dietrich Blaufuß: P. J. Spener: Einl. in P. J. Spener: Schr.en. Bd. 4, Hildesh. 1984, S. 27–33. – Martin Brecht: Ausgew. Aufsätze. Bd. 2, Stgt. 1997, S. 133–149 [1988]. – Gesch. Piet., Bd. 1 (1993), S. 397, 424 (Hans Schneider). – Gudrun Aker: J. J. Z. 1642–1693 [...]. In: Vaihinger Köpfe. Vaihingen 1993, S. 71–88. – M. Brecht: ›Etliche durch des Lichts Natur poetice

Zimmern u. sonsten ilustrirte Glaubes-Articul‹. Ein Lehrgedicht aus dem radikalen Pietismus. In: PuN 20 (1994), S. 75–89 [S. 77–82 Faks.-Text]. – Klaus vom Orde: Antoinette Bourignon in der Beurteilung Philipp Jakob Speners [...]. In: PuN 26 (2000), S. 63. – Matthias Wolfes: J. J. Z. In Bautz (Archivalien, Quellen, Lit.). – P. J. Spener: Briefe [...] 1688. Tüb. 2009, S. 284 f. Dietrich Blaufuß

Zimmern, Johannes Werner (d.Ä.) Frhr. von, * um 1450, † Okt. 1496 München; Grabstätte: Klosterkirche Andechs. – Übersetzer, Büchersammler, Erzähler. Zimmern, Wilhelm Werner (d.Ä.) Frhr. von, * 6.1.1485 Meßkirch, † 7.1.1575 Herrenzimmern bei Rottweil. – Jurist, Historiker u. Büchersammler. Zimmern , Froben Christoph Graf von, * 19.2.1519 Mespelbrunn/Spessart, † 27.11.1566 (?). – Geschichtsschreiber. J. W., W. W. u. F. C. v. Z. entstammten einem schwäb. Freiherrengeschlecht u. sind heute wegen der Familienchronik so bekannt, die W. W. u. sein Neffe F. C. in gewisser Zusammenarbeit schufen, indem jener große Teile mündlich beisteuerte, während dieser in den 60er Jahren des 16. Jh. das Werk schriftlich verfasste (abgeschlossen ca. 1566). J. W. Frhr. v. Z., der Vater v. W. W., soll in Freiburg i. Br., Wien u. Bologna studiert haben (keine Matrikeleinträge); 1474 heiratete er die Gräfin Margarethe von Öttingen, neun Jahre später pilgerte er zur Buße für einen Streit mit seinem Vater ins Hl. Land (dazu v. Ertzdorff 1999). 1488 wurde er als Rat u. Kämmerer des österr. Erzherzogs Sigmund von Kaiser Friedrich III. in Innsbruck geächtet. Bis zu seinem Tod bemühte sich der Freiherr um die Aufhebung der Acht. Erst 1504 erhielt seine Familie die alten Rechte u. Besitzungen zurück. Wie diejenige seiner Vita beruht die Kenntnis von J. W.s literar. Tätigkeiten weitgehend auf den Angaben in der Zimmerischen Chronik. Sie schildert ihn nicht nur als an »allen haimlichen, verborgnen künsten« interessiert, sondern berichtet auch, er habe »etliche autores und historicos [...] selbs außer latein ins deutsch transferiert«, sich darüber hinaus »den rittern- und taffelrundtbüecher[n]« besonders gewidmet.

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Nur dieses letzte Interesse lässt sich durch parallele Zeugnisse erhärten. Im seinem Auftrag schrieb Gabriel Sattler von Lindenast zwischen 1475 u. 1483 mehrere Kopien von wichtigen mhd. Werken, von denen sich acht (darunter Rudolfs von Ems Guter Gerhard, Schachzabelbücher, Wolframs Willehalm samt Fortsetzungen, Hermanns von Sachsenheim Mörin) erhalten haben u. somit ein außerordentlich ausgeprägtes u. differenziertes aristokratisches Literaturbewusstsein bezeugen. Von J. W.s »gereumpten gedichten und schriften« überliefert die Chronik nur die Graf Eberhard von Württemberg gewidmete, nach 1473/74 entstandene umfangreiche (1072 Verse) Schwankerzählung Der enttäuschte Liebhaber. In ihr überlistet eine junge Frau zu eigenem sexuellem Vorteil wiederholt den um sie werbenden Ich-Erzähler u. auch ihren Ehemann. Dabei erzählt sie zu ihrer Rechtfertigung eine durch Arigos/Heinrich Schlüsselfelders Übersetzung vermittelte Novelle aus Boccaccios Decamerone (VI, 7), in der allerdings die Heldin im deutl. Gegensatz zu derjenigen in der Rahmenerzählung extrem positiv geschildert wird. Dieses Beispiel bezeugt erneut das literar. Anspruchsniveau des schwäb. Freiherrn. W. W. musste wegen der Ächtung seines Vaters J. W. schon als kleines Kind Meßkirch verlassen. Er wurde einige Jahre am württemberg. Hof in Stuttgart erzogen. Am 8.9.1499 nahm er in Tübingen das Studium auf, das er am 31.10.1504 an der Universität Freiburg i. Br. (bis 1509) fortsetzte; dort wurde er im Wintersemester 1506/07 auch zum Rektor gewählt. Pläne, Geistlicher zu werden, zerschlugen sich, da er die erstrebte Domherrenpfründe zu Konstanz nicht erlangte. Er entschied sich für eine jurist. Karriere u. versah seit etwa 1510 für zwei Jahrzehnte das Amt eines Hofrichters zu Rottweil, bis er 1529 durch den Kaiser an das Reichskammergericht in Speyer berufen wurde, zunächst als Assessor, seit 1548 als Reichskammerrichter; dieses Amt übte er bis 1554 aus. Er verfasste zeit seines Lebens Genealogien schwäb. Adelsgeschlechter, dann die fünfbändige Chronik von dem Erzstifte Mainz und dessen Suffraganbisthümern (1536–1550), Die Könige von Ungarn, seit ca.

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1540, u. sein Vergänglichkeitsbuch (ca. 1540–1550; ed. Kiening 2004). F. C. Graf v. Z. studierte nach einer humanistischen Erziehung in Tübingen (immatrikuliert 1531), Bourges, Köln u. Löwen u. diente seit 1542 in Speyer u. Meßkirch seinem Onkel als schlecht bezahlter Kanzler, heiratete 1544 Kunigunde von Eberstein, bevor er 1548 das väterl. Erbe u. 1554 das des Onkels antrat. Unter F. C.s Herrschaft erlebte die Zimmerische Dynastie eine späte Blüte, wie uns die heute noch imposante vierflügelige nach ital. Vorbild errichtete Schlossanlage in Meßkirch, 1557–1558 völlig neu konzipiert, vor Augen führt. Ihren ersten schriftl. Niederschlag fanden F. C.s literarisch-historiografische Interessen in seinem lat. Liber rerum Cimbriacarum (1540), in dem er die kurz zuvor (1538) erfolgte Erhebung in den erbl. Grafenstand durch Herleitung seines Geschlechts von den Kimbern u. aufgrund allodialer Landnahme in Schwaben rechtfertigt. Ausgehend von dem Liber verfertigte er unter Zuhilfenahme von einem Sekretär (Johannes Müller) u. mit beratender Unterstützung durch seinen Onkel W. W. seine 1567 Folioseiten umfassende Zimmerische Chronik, in welcher er neben dem »Herkommen« eine lückenlose Genealogie des Geschlechts seit dem 10. Jh. fingiert u. die wenigen erhaltenen Urkunden der Zimmern als Basis weitausgreifender Geschichtskonstruktionen verwendet. Den Rahmen einer traditionellen Hauschronik weit übersteigend, bezieht F. C. im Fortgang seiner Arbeit immer mehr auch die Geschichte benachbarter Geschlechter u. eine große Zahl schwankhafter Erzählungen, Anekdoten, Fazetien, Sprichwörter usw. mit ein oder verfasst zu früheren Partien entsprechende Nachträge. F. C. schöpft hier aus mündl. Überlieferung oder entnimmt den Stoff literar. Vorlagen (u. a. Boccaccio, Poggio Bracciolini, Till Ulenspiegel, Augustin Tünger, Heinrich Bebel), die er – mit südwestdt. Regionalkolorit versehen – als reale Geschehnisse ausgibt. Die ungewöhnl. Vermischung von Schwankbuch u. Chronik dient erklärtermaßen dem Ziel, das Interesse des Lesers zu wecken, indirekt auch der Kommentierung u. Perspektivierung der histor. Ereig-

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nisse. Auf diese Weise entstehen autonome Diskurse über die zentralen Fragen der menschl. Existenz im Allgemeinen u. des adligen Lebens im Besonderen, wobei der Umgang mit der Ehefrau u. der Konkubine, d.h. die verschiedenen Spielformen sexueller Liebe genauso vorgeführt werden wie ökonomische u. polit. Sujets. Je mehr sich der Chronist dabei von dem historiografischrepräsentativen u. didakt. Ausgangspunkt seines Werks löst, desto pointierter, ironischer u. witziger werden Sprache u. Stil, u. desto markanter zeigt sich F. C. als souveräner Prosaist, den man mit gutem Grund als »deutschen Commynes« bezeichnen kann. In der komplexen Verknüpfung historischer, religiöser, philosophischer, psycholog. u. praxisorientierter Themen stellt die Zimmerische Chronik eine der Daseinsdeutung dienende Enzyklopädie der »condicio humana« des 16. Jh. dar. Bis 1993 lagerten die zwei Handschriften A (Pergament) u. B (Papier) als Cod. Donaueschingen 580 u. 581 in der dortigen Fürstlich Fürstenbergschen Hofbibibliothek, seither befinden sie sich in der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart. Ausgaben: Zimmerische Chronik. Hg. Karl August Barack. 4 Bde., Stgt. 1869; 2., verb. Aufl. Freib. i. Br./Tüb. 1881/82. Internet-Ed. in: UB Freiburg i. Br. – Zimmerische Chronik. Neu hg. v. Paul Herrmann [nach der v. K. A. Barack besorgten Ausg. 1881/82]. 4 Bde., Meersburg/Lpz. 1932 (zur Biogr. v. J. W. v. Z. v. a. Bd. 1, S. 422–583). – Die Würzburger Bischofschronik des Grafen W. W. v. Z. u. die Würzburger Geschichtsschreibung des 16. Jh. Hg. Wilhelm Engel. Würzb. 1952. – Die Eichstätter Bischofschronik des Grafen W. W. v. Z. Hg. Wilhelm Kraft. Würzb. 1956. – Die Chronik der Grafen v. Zimmern. Hg. Hansmartin Decker-Hauff. 3 Bde. (von 6 geplanten), Konstanz u. a. 1964–72; Bd. 1, Sigmaringen 41978; Bd. 2, ebd. 31981. – J. W. v. Z.: Der enttäuschte Liebhaber. In: Die dt. Märendichtung des 15. Jh. Hg. Hanns Fischer. Mchn. 1966, Nr. 35, S. 300–329. – W. W. v. Z.: Totentanz. Hg. u. komm. v. Christian Kiening. Konstanz u. a. 2004. – Das Vergänglichkeitsbuch des W. W. v. Z. [...]. Hg. C. Kiening. [Zürich 2004] www.ds.uzh.ch/kiening/ vergaenglichkeitsbuch/. Literatur: Georg Tumbült: W. W. Frhr. v. Z. In: ADB. – Beat Rudolf Jenny: Graf F. C. v. Z. [...]. Lindau/Konstanz 1959 (mit Lit.). – Hans-Joachim

Zincgref Koppitz: Studien zur Tradierung der weltl. mhd. Epik im 15. Jh. [...]. Mchn. 1980, S. 57 ff. – Frieder Schanze: J. W. v. Z. In: VL, Bd. 4, Sp. 813–816. – Gerhard Wolf: ›Alhie mueß ich ain gueten schwank einmischen‹. Zur Funktion kleinerer Erzählungen in der Zimmerischen Chronik. In: Kleinere Erzählformen im MA. Hg. Klaus Grubmüller u. a. Paderb. 1988, S. 173–186. – Ders.: F. C. v. Z. In: Füssel, Dt. Dichter, S. 512–528. – Xenja v. Ertzdorff: Felix Fabris ›Evagatorium‹ u. ›Eygentlich beschreibung der hin vnnd wider farth zuo dem Heyligen Landt ...‹ (1484) u. der Ber. über die Pilgerfahrt des Frhr.n J. W. v. Z. in der ›Chronik der Grafen v. Zimmern‹. Ein Vergleich. In: Jb. Int. Germ. 31 (1999), S. 54–86. – Erica Bastress-Dukehart: The Zimmern Chronicle. Nobility, memory and self-representation in sixteenth-century Germany. Aldershot 2002. – G. Wolf: Von der Chronik zum Weltbuch: Sinn u. Anspruch südwestdt. Hauschroniken am Ausgang des MA. Bln./New York 2002. – Wolfgang Achnitz: ›Die poeten u. alten historien hat er gewist‹. Die Bibl. des J. W. v. Z. als Paradigma der Literaturgeschichtsschreibung. In: Lit., Gesch., Literaturgesch. [...]. FS Volker Honemann. Hg. Nine Miedema u. a. Ffm. 2003, S. 315–333. – Felix Heinzer: Hs. u. Druck im Œuvre der Grafen W. W. u. F. C. v. Z. In: Die Gleichzeitigkeit von Hs. u. Buchdruck. Hg. Gerd Dicke u. a. Wiesb. 2003, S. 141–166. – Ursula Kocher: Boccaccio u. die dt. Novellistik. Amsterd./ New York 2005. – G. Wolf: ›das die herren was zu lachen hetten‹. Lachgemeinschaften im südwestdt. Adel. In: Lachgemeinschaften. Kulturelle Inzenierungen u. soziale Wirkungen v. gelächter im MA u. in der Frühen Neuzeit. Hg. Werner Röcke u. a. Bln. u. a. 2005, S. 145–169. – Marija Javor-Briski: Die ›Zimmerische Chronik‹. Studien zur Komik als Medium der Dialogisierung des histor. Diskurses. Ffm. 2005. – G. Dicke: Fazetieren. Ein Konversationstyp der ital. Renaissance u. seine dt. Rezeption im 15. u. 16. Jh. In: Lit. u. Wandmalerei II [...]. Hg. Eckhart Conrad Lutz u. a. Tüb. 2005, S. 155–188. – Franz-Josef Holznagel: Selbstdarstellung u. Montage im ›Vergänglichkeitsbuch‹ des Grafen W. W. v. Z. (ca. 1500). In: ZfdA 134 (2005), S. 143–182. – Judith J. Hurwich: Noble strategies. Marriage and sexuality in the ›Zimmern Chronicle‹. Kirksville, Miss. 2006. – Rüdiger Schnell: Zur Geselligkeitskultur des männl. Adels in Dtschld. Das Fallbeispiel ›Zimmerische Chronik‹ (ca. 1552–66). In: Konversationskultur in der Vormoderne. Geschlechter im geselligen Gespräch. Hg. Ders. Köln u. a. 2008, S. 441–471. – Jacob Klingner: Gattungsinteresse u. Familientradition. Zu einer wieder aufgefundenen Sammelhandschrift der Grafen

682 v. Z. (Lana XXIII D 33). In: ZfdA 137 (2008), S. 204–228. Peter Strohschneider / Gerhard Wolf / Reimund B. Sdzuj

Zincgref, Zinckgref, Zengravius, Julius Wilhelm, auch: Laurentiades Primnicius, * 3.6.1591 Heidelberg, † 12.11.1635 St. Goar. – Dichter, Publizist. Nach der Schulzeit studierte Z. in Heidelberg Philologie, Philosophie u. die Rechte. Eine fünfjährige Studienreise führte ihn in die Schweiz (Basel), nach Frankreich (Orléans, Marseille), England u. in die Niederlande. Nach seiner Rückkehr promovierte er zum Dr. jur. (1619). Als die kaiserl. Truppen 1622 Heidelberg eroberten, floh Z. nach Straßburg, wo er zeitweise in Diensten eines frz. Gesandten stand. Nach seiner Heirat 1626 lebte Z. zurückgezogen in der Pfalz. 1632 übernahm er das Amt eines Landschreibers in Kreuznach, später in Alzey. Z. wurde von der älteren Forschung lange Zeit nur als Herausgeber der Teutschen Poemata Martin Opitz’ (Straßb. 1624) u. der daran angefügten Sammlung Auserleßener getichte anderer Teutscher Poeten (Neudr. hg. v. Wilhelm Braune. Halle/Saale 1879) mit Texten von Caspar Kirchner, Melissus Schede, Weckherlin u. anderen sowie eigenen Versen beachtet. Er hatte 1620 von seinem Freund Opitz das Manuskript der Teutschen Poemata erhalten u. deren Druck zum Missfallen des Autors um etliche Jugendgedichte erweitert. Die Gedichtsammlung machte erstmals ein größeres Publikum mit den Ergebnissen der modernen dt. Lyrik bekannt, diente als prakt. Umsetzung der gleichzeitig erschienenen poetolog. Thesen von Opitz u. wurde so zu einem der wirkungsreichsten Werke der dt. Barockliteratur. Die vertraute Bekanntschaft mit Opitz ist einzuordnen in das Netz freundschaftl. Beziehungen, die Z. mit reformierten u. irenischen Gelehrten u. Dichtern in Heidelberg u. Straßburg (u. a. Gruter, Georg Michael u. Friedrich Lingelsheim, Bernegger, Venator, Weidner) unterhielt. Diese Einbindung in die res publica litteraria wird dokumentiert in einer Gemeinschaftsproduktion späthumanistischer Freundschafts- u. Casualcarmina

683

(Triga amico-poetica. Hg. Johann Leonhard Weidner. Heidelb. 1619), in einer Vielzahl gegenseitig zugeeigneter Widmungs- u. Gelegenheitsgedichte u. in einem ausgedehnten Briefwechsel. Sie äußert sich auch in der Entstehungsgeschichte der Emblematum Ethico-Politicorum Centuria (Oppenheim 1619. Neudr. hg. v. Dieter Mertens u. Theodor Verweyen. 2 Bde., Tüb. 1993), zu der Gruter, G. M. Lingelsheim, der Kupferstecher Jacques Granthomme u. der Drucker Johann Lancelot Beiträge lieferten. Dieses Emblembuch, das Friedrich V. von der Pfalz gewidmet ist, enthält eine umfassende, calvinistisch gefärbte Staats- u. Regierungslehre. Seinen Rang u. seine Eigenart gewinnt es durch die Radierungen Matthäus Merians u. die nach Art eines Centos montierten Prosakommentare. Die frz. Quatrains wurden in der Ausgabe Frankfurt/M. 1624 um dt. Epigramme ergänzt, die dann in einer späteren Auflage durch Verse Georg Greflingers ersetzt wurden (Heidelb. 1664. Nachdr. hg. v. Arthur Henkel u. Wolfgang Wiemann. Ebd. 1986). Bald nach der Rückkehr von seiner peregrinatio academica hatte Z. die Facetiae Pennalium (o. O. 1618. Neudr. hg. v. D. Mertens u. T. Verweyen. Tüb. 1978) anonym veröffentlicht, in denen er unter dem Eindruck seiner Reiseerfahrungen u. unter Rückgriff auf antike Traditionen (PseudoHierokles, Theophrast) das heimische akadem. Leben mit seinen Tendenzen zu Pennalismus, Pedantismus u. Provinzialismus an den Pranger der Satire stellt. In die Bemühungen um die Anerkennung des Deutschen als Literatursprache gehört Z.s Apophthegmensammlung (Der Teutschen Scharpfsinnige kluge Sprüch. Straßb. 1626. Tl. 2, 1631. In Ausw. u. modernisiert hg. v. KarlHeinz Klingenberg. Lpz. 1982. Neudr. der Ausg. Amsterd. 1653 hg. v. Wolfgang Mieder. Hildesh. 2006). Bei der Zusammenstellung gedanklich u. sprachlich prägnanter Aussprüche war wiederum ein größerer Kreis von Beiträgern beteiligt (u. a. Besoldus, Christoph Koeler, Andreae, Moscherosch). Neben seiner wirkungsreichen Tätigkeit als Autor literar. Texte, Sammler u. Herausgeber hat Z. immer wieder auch die polit. Vorgänge seiner Zeit kommentiert. Er be-

Zincgref

diente sich dabei einer breiten Palette publizistischer Formen u. Medien, die vom lat. Kurzepos (Ad Fridericum Bohemiae Regem. o. O. 1619/20) u. von Distichen zu einem Porträtstich Gustav Adolfs von Schweden über satir. Flugschriften (Newe Zeitungen Von unterschiedlichen Orten. o. O. 1619. Zeitung auß der Churpfaltz. o. O. 1621. Quodlibetisches Weltkefig. o. O. 1623) bis hin zum illustrierten Flugblatt (Der Römische Vogelherdt. o. O. 1623) reicht. Es ist anzunehmen, dass das anonym publizierte Tagesschrifttum der ersten Hälfte des Dreißigjährigen Kriegs noch weitere bislang unentdeckte Texte Z.s birgt. Weitere Werke: Briefwechsel: Briefe [...] Lingelsheims, [...] Berneggers u. ihrer Freunde. Hg. Alexander Reifferscheid. Heilbr. 1889. Literatur: Bibliografie: Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 6, S. 4356–4372. – Weitere Titel: Franz Schnorr v. Carolsfeld: J. W. Z.s Leben [...]. In: AfLg 8 (1879), S. 1–58, 446–490 (mit Briefed.). – Curt v. Faber du Faur: The Author of the Sapientia Picta. In: The Yale Univ. Library Gazette 28 (1954), S. 156–160. – Dietrich Walter Jöns: Emblematisches bei Grimmelshausen. In: Euph. 62 (1968), S. 385–391. – Theodor Verweyen: Apophthegma u. Scherzrede. Bad Homburg v. d. H. 1970. – Ders. u. Dieter Mertens: Ber. über die Vorarbeiten zu einer Z.Ausg. In: Jb. Int. Germ. 4,2 (1972), S. 125–150. – D. Mertens: Zu Heidelberger Dichtern [...]. In: ZfdA 103 (1974), S. 200–241. – Michael Schilling: ›Der Röm. Vogelherdt‹ u. ›Gustavus Adolphus‹. In: GRM 62 (1981), S. 283–303. – Wilhelm Kühlmann: Gelehrtenrepublik u. Fürstenstaat. Tüb. 1982. – Ingrid Höpel: Emblem u. Sinnbild. Ffm. 1987. – Arthur Henkel: Zu einem Emblem des J. W. Z. In: OL 42 (1987), S. 236–247. – Hans-Henrik Krummacher: ›Laurea Doctoralis Julii Guilielmi Zincgrefii‹ (1620). Ein Heidelberger Gelegenheitsdruck für J. W. Z. mit einem unbekannten Gedicht v. Martin Opitz. In: Opitz u. seine Welt. FS George Schulz-Behrend. Hg. Barbara Becker-Cantarino u. Jörg-Ulrich Fechner. Amsterd./Atlanta 1990, S. 287–349. – T. Verweyen: Zwischenbericht über die Ausg. der ›Gesammelten Schriften‹ Z.s. In: Lit. u. Kultur im dt. Südwesten zwischen Renaissance u. Aufklärung. FS Walter Ernst Schäfer. Hg. W. Kühlmann. Amsterd./Atlanta 1995, S. 185–218. – Dieter Martin: Barock um 1800. Bearb. u. Aneignung dt. Lit. des 17. Jh. v. 1770 bis 1830. Ffm. 2000. – D. Mertens: J. W. Z. u. das Problem des Späthumanismus. In: Ztschr. für die Gesch. des Oberrheins 150 (2002), S. 185–207. – Axel E. Walter: Späthumanismus u. Konfessionspolitik. Die europ.

Zinck Gelehrtenrepublik um 1600 im Spiegel der Korrespondenzen Georg Michael Lingelsheims. Tüb. 2004. – Wolfgang Harms: ›Emblemata secreta‹. Anonyme emblemat. Verständigungen über polit. Ereignisse v. 1620 bis 1630 unter pfälzisch-reformierten Autoren. In: Ders.: Kolloquialität der Literatur. Kleine Schr.en. Hg. M. Schilling. Stgt. 2006, S. 45–60. – T. Verweyen u. Wolfgang Srb: Konkurrenz oder Koexistenz? Dichten in lat. u. dt. Sprache am Beispiel einiger Texte J. W. Z.s u. im Kontext der Reform Martin Opitz’. In: Euph. 101 (2007), S. 415–450. – W. Kühlmann (Hg.): J. W. Z. u. der Heidelberger Späthumanismus. Zur Blüte u. Kampfzeit der calvinist. Kurpfalz. Ubstadt-Weiher u. a. 2011 (mit Editionen). Michael Schilling

Zinck, Friedrich von, * 21.4.1752 Gatterstädt bei Querfurt, † 17.2.1802 Freiburg i. Br. – Lyriker, Übersetzer, Essayist. Z. war der einzige Sohn des in der Nähe von Querfurt begüterten Kavalleriehauptmanns in sächs. Diensten Friedrich Ludewig von Zinck u. seiner Frau Friderica Christiana, einer geborenen von Bünau. Nach dem Tod des Vaters kam der 13-jährige Z. unter die Vormundschaft seines Verwandten Reichardt Gottlieb von Zinck, der in Merseburg die Stelle eines Domprobstes innehatte. Seit 1769 studierte Z. in Leipzig die Rechte u. pflegte intensiven Kontakt mit den Mitgliedern eines »Journalisticum« genannten akadem. Lesekreises; von diesen blieb ihm Christian Friedrich Eberhard, späterer Leipziger Universitätsregistrator, ein lebenslanger Freund u. Korrespondenzpartner. Nach seiner Promotion 1774 ging Z. als Gerichtsassessor an den badischen Hof in Karlsruhe. Im südbadischen Emmendingen lernte er seine Cousine Wilhelmine von Zinck kennen, die er 1777 heiratete. Da ihm eine Beförderung verwehrt blieb u. auch ein Versetzungsgesuch als Adlatus Johann Georg Schlossers nach Emmendingen negativ beschieden wurde, quittierte Z. den badischen Dienst u. zog sich mit dem Titel eines Hofrats für den Rest seines Lebens als Privatmann nach Südbaden zurück. Dort gehörte er zum Umkreis Johann Georg Schlossers u., seit dessen Berufung an die Freiburger Universität 1784, Johann Georg Jacobis. Zu den von Letzterem zwischen 1796 u. 1802 herausgegebenen Taschenbüchern

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steuerte Z. neben einer Fabel u. einer längeren Beschreibung seines Wohnorts Emmendingen auch mehrere Versepisteln bei, die tiefe Kenntnis der literar. Vorbilder verraten u. bei aller Treue zur Formkonvention mit viel Witz Alltägliches u. Persönliches ins Zeitlose u. Allgemeine transferieren. Auch in anderen Periodika erschienen zwischen 1786 u. 1799 Aufsätze u. Gedichte von Z., so im »Berlinischen Archiv der Zeit und ihres Geschmacks« (Bln. 1795–1800) u. in Ernst Ludwig Posselts »Wissenschaftlichem Magazin für Aufklärung« (Lpz. 1785–88). Unter seinen veröffentlichten Gedichten sind besonders hervorzuheben zwei Kontrafakturen nach Gedichten des Horaz, in denen Z. in die Rolle des röm. Dichters schlüpft u. Jacobi die des Maecenas zuschreibt. 1788 gehörte Z. zu den Gründern einer bürgerl. Lesegesellschaft in Emmendingen, die er 1795 zum Adressaten einer Versepistel machte (Beim Schlusse des Jahres 1795, an die Lesegesellschaft zu Emmendingen. In: Berlinisches Archiv der Zeit und ihres Geschmacks, 1796, Bd. 2, S. 85–88). Die umfangreichen, sich über mehr als zwanzig Jahre erstreckenden Briefwechsel (UB Leipzig Ms 0349) mit seinem ehemaligen Kommilitonen Eberhard u. einer in Leipzig ansässigen Tante bieten aufschlussreiche Momentaufnahmen des Karlsruher Hoflebens, Beschreibungen von Reisen ins Elsass u. die Schweiz, Diskussionen literar. Neuerscheinungen u. Augenzeugenberichte aus den Koalitionskriegen, von denen Südbaden immer wieder betroffen war. Den Exzessen der Französischen Revolution stand Z. ablehnend gegenüber, verteidigte jedoch entschieden liberale Geister gegen die Verdächtigungen reaktionärer Kreise (Schreiben an ***, über eine den Herrn Professor Jacobi zu Freiburg betreffende Anfrage; Flugschrift, 1798) u. kritisierte in seinen Aufsätzen die Auswüchse aristokratischer Privilegien (Über die besten und ausführbarsten Mittel, den Kindermord zu verhüten. In: Wissenschaftliches Magazin für Aufklärung, 1787, Bd. 3, S. 129–154, 240–283). Als Übersetzer hat Z. eine anonyme Nachahmung von Xavier de Maistres Voyage autour de ma chambre (Noveau voyage autour de ma chambre. Braunschw. 1797. Neue Reise in mei-

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nem Zimmer herum. Basel 1798) u. einen Roman Ch. A. G. Pigault-Lebrun (Mon Oncle Thomas. Paris 1799/1800. Oncle Thomas. Tl. 1, Basel 1801) aus dem Französischen ins Deutsche übertragen. Weitere Werke: An Herrn Professor Jacobi. Nach dem Horaz Carm. I.9. Im December 1794. In: Berlinisches Archiv der Zeit u. ihres Geschmacks (1795) Bd. 2, S. 489 f. – Antwort [an J. G. Jacobi]. In: Taschenbuch v. J. G. Jacobi u. seinen Freunden für 1796. Königsb. o. J., S. 3–19. – An den Herausgeber. In: Überflüßiges Taschenbuch für das Jahr 1800. Hg. J. G. Jacobi. Hbg. o. J. (Nachdr. Würzb. 1995), S. 87–104. Literatur: Adolf F. Schlichtegroll (Hg.): Nekrolog der Teutschen für das 19. Jh. Gotha 1803, Bd. 2 , S. 49–68. – Cornelius Ludwig: F. v. Z. In: Johann Georg Jacobi in Freiburg u. sein oberrhein. Dichterkreis 1784–1814. Hg. Achim Aurnhammer u. C. J. Andreas Klein. Freib. i. Br. 2000, S. 149–154. – Eckard Lefèvre: F. v. Z., Horaz u. Georg Jacobi. Zur Rezeption der ›Schwätzer-Satire‹ bei Z., Hagedorn u. Tieck. In: Zwischen Josephinismus u. Frühliberalismus. Literar. Leben in Südbaden um 1800. Hg. A. Aurnhammer u. Wilhelm Kühlmann. Freib. i. Br. 2002, S. 297–316. Cornelius Ludwig

Zincke, Georg Heinrich, * 27.9.1692 Altenrode bei Naumburg, † 15.8.1768 Braunschweig. – Publizist, Kameralist. Der Sohn eines Predigers u. einer Advokatentochter erhielt bis zum 13. Lebensjahr Privatunterricht. Der Besuch der Stadtschule zu Naumburg wurde durch eine zweimalige Soldatenzeit unterbrochen. In Jena studierte Z. seit 1709 Rechtswissenschaften u. Theologie u. war anschließend Hofmeister u. Universitätslehrer. Nach weiteren Studien in Erfurt u. Halle wurde er 1720 zum Dr. jur. promoviert. Opposition u. wohl auch Intrigen gegen ihn am Hof in Weimar, wo er von 1731 an Hofrat war, führten zu einer dreijährigen Haft, aus der er 1738 entlassen wurde. Danach lehrte er in Leipzig Kameralwissenschaften u. erhielt 1745 einen Ruf als Hof- u. Kammerrat nach Braunschweig. Dort wirkte er als Professor der Rechte u. der Kameralwissenschaften am Karolinum u. an der Universität Helmstedt. Den ersten Versuch einer Systematisierung der kameralwissenschaftlichen Kenntnisse

Zincke

unternahm Z. mit einem Allgemeinen Oeconomischen Lexicon (Lpz. 1731), das 1744 in einer stark überarbeiteten zweiten Auflage erschien u. bis 1820 sieben Auflagen erlebte. Bedeutend für die Popularisierung der gemeinnützig-ökonomischen Aufklärung sind die von ihm herausgegebenen Leipziger Sammlungen von Wirthschafftlichen- PoliceyCammer und Finantz-Sachen (Lpz. 1742–67). Mit einer Abhandlung von der Wirthschaftskunst der Armen und Dürftigen (Düsseld. 1759) betätigte sich Z. auch volksaufklärerisch. Als Herausgeber zahlreicher ökonomischer Schriften hatte er wichtigen Anteil an der Herausbildung einer prakt. Aufklärung. In Anerkennung seiner Verdienste ernannte ihn die Duisburgische Gelehrte Gesellschaft zu ihrem Mitglied. Weitere Werke: Grundriß einer Einl. zu denen Cameralwiss.en. 2 Tle., Lpz. 1742/43. – Teutsches Real- Manufactur- u. Handwerks-Lexicon. Tl. 1, Lpz. 1745. – Cameralisten-Bibl. 4 Tle. in 2 Bdn., ebd. 1751/52. Nachdr. Ruggell 1972. – Anfangsgründe der Cameralwiss. 2 Bde., Lpz. 1755. Ausgaben: Mirmidons Abhandlung von der heutigen Buchhandlung u. derselben Verbesserung (Ffm./Lpz. 1756). Nachdr. in: Der Buchmarkt um die Mitte des 18. Jh. Mchn. 1981, S. 1–88. – Textauswahl (mit Komm.) in: Gesch. der Ökonomie. Hg. Johannes Burkhardt u. a. Ffm. 2000. 22009. – Internet-Ed. mehrerer Werke in: http:// books.google.de. Literatur: Paul Zimmermann: G. H. Z. In: ADB. – Helmut Seifert: Der Beitr. des ersten Leip. . ziger Hochschullehrers fur Okonomie, G. H. Z., . . 1692–1768, zur Entwicklung des burgerlich-okonom. Denkens in Dtschld. Diss. Lpz. 1966. – Hansjürgen Koschwitz: Die period. Wirtschaftspublizistik im Zeitalter des Kameralismus. Gött. 1968. – Jutta Brückner: Staatswiss.en, Kameralismus u. Naturrecht. Ein Beitr. zur Gesch. der Polit. Wiss. im Dtschld. des späten 17. u. frühen 18. Jh. Mchn. 1977. – Holger Böning u. Reinhart Siegert: Volksaufklärung. Biobibliogr. Hdb. [...] Bd. 1, Stgt.-Bad Cannstatt 1990. – Peter Albrecht: G. H. Z. In: Braunschweigisches biogr. Lexikon 8. bis 18. Jh. Hg. Horst-Rüdiger Jarck u. a. Braunschw. 2006, S. 758 f. – Christian Kohfeldt: Die gemeinnützigökonom. Aufklärung als Wegbereiterin für die Volksaufklärung. In: Volksaufklärung. Eine prakt. Reformbewegung des 18. u. 19. Jh. Hg. H. Böning u. a. Bremen 2007, S. 127–139. – Reinhard Saller:

Zingel

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Schöne Ökonomie. Die poet. Reflexion der Ökonomie in frühromant. Zeit. Würzb. 2007.

LMU. Tl. 1, S. 501. – Winfried Kausch: G. Z. In: Bautz, Bd. 26 (2006), S. 1598–1600.

Holger Böning / Red.

Bernhard Coppel / Red.

Zingel, Georg, * 1428 Schlierstadt/Oden- Zink, Burkhard, * um 1396 Memmingen, wald, † 1508 Ingolstadt; Grabstätte: ebd., † 1474/75. – Autor einer Chronik Augsehemalige Minoritenkirche (Grabplatte burgs. erhalten). – Theologe. Herzog Ludwig IX. der Reiche berief Z. 1474 aus Wien, wo er studierte, an die neu gegründete Universität Ingolstadt. Gegen die negative Beurteilung Z.s in der älteren Locher-Literatur bleibt festzuhalten, dass Z. als erster Professor der Theologischen Fakultät hohes Ansehen genoss. Er hatte die höchsten akadem. Ämter inne (u. a. Rektor 1477, 1479, 1482, 1491). Unter den Beziehungen Z.s zu Kollegen anderer Fakultäten ist die bemerkenswerteste die zu Celtis, dem er ein väterl. Freund war (Brief an Celtis vom 26.10.1497). Celtis hat Z. die Ode II, 22 gewidmet. Sein Nachfolger Jacob Locher Philomusus geriet mit Z. in einen schweren Streit, den Bauch mit einer nicht beglichenen Geldschuld Lochers in Verbindung bringt, dessen eigentl. Ursache aber die Intoleranz des Spätscholastikers nominalistischer Observanz gegenüber Lochers humanistischer Vorliebe für die antike Dichtung war. Locher rächte sich nach seiner Verdrängung aus Ingolstadt mit zwei maßlosen Pamphleten, der Apologia (1503) u. der Responsio compendiosa (1505). Auch seine Comparatio sterilis mulae ad Musam (1506), eine Verteidigung der Dichtung, ist hauptsächlich gegen Z. gerichtet, der Locher als »mulopoeta« (»Mauleseldichter«, d.h. Vertreter einer unfruchtbaren Kunst) beschimpft hatte. Nur der Fehde mit Locher verdankt Z. seine Bekanntheit. Literatur: Gustav Bauch: Die Anfänge des Humanismus in Ingolstadt. Mchn./Lpz. 1901, bes. S. 72. – Der Briefw. des Konrad Celtis. Hg. Hans Rupprich. Mchn. 1934, S. 291 f. – Arno Seifert: Die Univ. Ingolstadt im 15. u. 16. Jh. Texte u. Regesten. Bearb. v. A. Seifert. Bln. 1973, S. 32 f., 38–56 u. ö. (Register). – Günter Heidloff: Untersuchungen zu Leben u. Werk des Humanisten Jakob Locher Philomusus. Diss. Freib. i. Br. 1975, S. 158, passim. – Cora Dietl: Die Abrechnnung mit Z. In: Dies.: Die Dramen Jacob Lochers [...]. Bln./New York 2005, S. 277–282. – Jan-Dirk Müller: G. Z. In: Biogr. Lex.

Z. kam elfjährig in die Obhut seines Onkels, Pfarrer in Rieg/Krain, u. besuchte sieben Jahre die Schule in Reifnitz; kurz vor Antritt des geplanten Theologiestudiums in Wien kehrte er jedoch nach Hause zurück, durchstreifte dann als fahrender Schüler Süddeutschland, hielt sich zunächst als Lehrer u. dann als Kaufmann in mehreren schwäb. Städten, später auch in Nürnberg u. Bamberg auf, bis er sich 1415 als Teilhaber einer Handelsfirma in Augsburg niederließ, städt. Ämter bekleidete, als Gesandter des Rats wirkte u. mehrere Reisen (u. a. nach Ungarn zu König Siegmund, nach Venedig u. Rhodos) unternahm. Wohlhabend geworden, gab er seine Geschäfte auf u. widmete sich Literatur (als Sammler) u. Geschichtsschreibung (als Verfasser). Nach 1450 begann er eine dt. Chronik abzufassen, welche die Geschichte Augsburgs von der Einführung der Zunftverfassung 1368 zunächst bis zu seinem 70. Geburtstag im Jahr 1466 (bald fortgesetzt bis 1468) u. darin eingebettet auch die seines eigenen Lebens bisweilen minutiös nachzeichnet. Sämtliche Informationen über Z.s Leben sind seiner Autobiografie zu entnehmen, die er als drittes Buch in diese in den 1460er Jahren entstandene, nur in Handschriften des 16. Jh. überlieferte Augsburger Chronik eingefügt hat. Mit der persönl. Darstellungsperspektive, der Verschränkung von Selbstdokumentation u. Historiografie sowie Bildungs-, Sozial- u. Wirtschaftsgeschichte u. der Gleichsetzung des eigenen Lebens mit der Geschichte der Stadt repräsentiert Z.s Werk einen neuen Typ der Chronistik. Während das erste Buch der von 1368 bis 1468 reichenden Darstellung nach eigener Angabe Z.s auf einer anonymen Augsburger Chronik (1368–1406) basiert, von der Z. berichtet, »ain allter mann« hätte sie geschrieben, u. auch der zweite, stadt- u. reichsgeschichtl. Ereignisse von 1401 bis

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Zinn

1466 referierende Teil vermutlich fremde R. Veenstra. Ffm. u. a. 2003, S. 23–49, bes. S. 37–39. Quellen ausschöpft, berichtet Z. – nach dem – Stephanie Cain Van D’Elden: B. Z. In: Encycloautobiogr. Einschub des »besunder buechs« pedia of the Medieval Chronicle. Hg. Graeme mit detaillierten Berichten zur drei Genera- Dunphy. Leiden 2010 (im Druck). – Verzeichnis der Gesamtüberlieferung im Handschriftencensus: tionen umfassenden Familiengeschichte – im http://www.handschriftencensus.de/18572. umfangreichen vierten Teil ausschließlich Norbert H. Ott / Jürgen Wolf Selbsterlebtes oder durch Augenzeugen Übermitteltes: »ain tail der geschicht, die Zinn, (Adalbert) Alexander, * 18.3.1880 beschechen sind hie in diser stat Augspurg, Coburg, † 17.4.1941 Stuttgart. – Journaseider ich her kommen pin«. In Z.s gleich list, Dramatiker, Romancier. sachlich über Stadtpolitik u. Preise, Judenpogrome u. persönl. Schicksal berichtender, Nach erfolglosem Bemühen, Schauspieler zu kommentierender, aber letztlich kaum re- werden, war Z. Feuilletonredakteur u. Theaflektierter Darstellung manifestiert sich ein terkritiker in Hamburg. Nach dem Ersten neues Bewusstsein stadtbürgerl. Identität. Weltkrieg wurde er Leiter der staatl. PresseDrohend über allem steht allerdings die stelle, Staatsrat (1929), Mitbegründer des Angst vor dem Abstieg des Bürgertums u. die Zeitungswissenschaftlichen Seminars der Angst vor der real erlebten Macht der Fürs- Universität Hamburg u. Ghostwriter für die ten. Kultur- u. sozialhistor. Bedeutung er- Ersten Bürgermeister Carl Petersen u. Rudolf langt die Chronik Z.s insbes. als ungefilterter Ross. Spiegel der gelebten Realität. Einigen Erfolg hatte Z. kurz nach der Das Autograf Z.s ist verloren. Vier Hand- Jahrhundertwende mit seinen Dramen, von schriften seiner Chronik sind überliefert, je- denen das Lustspiel Die drei Brüder von Dadoch entstammt kein Textzeuge mehr dem maskus im Schauspielhaus Berlin aufgeführt wurde. Daneben schrieb er histor. Romane, 15. Jh. Ausgaben: Die Chroniken der dt. Städte 5. Lpz. die jedoch – wie sein gesamtes Werk – in 1886. Neudr. Gött. 1965. – Horst Wenzel: Die Au- Vergessenheit geraten sind. – 1965–1993 tobiogr. des späten MA u. der frühen Neuzeit. vergab die Hansestadt Hamburg »für besonBd. 2: Die Selbstdeutung des Stadtbürgertums. dere literarische Leistungen« den mit zuletzt Mchn. 1980, S. 44–72 (Buch III). 15.000 DM dotierten Alexander-Zinn-Preis. Literatur: Paul Joachimsen: Zur städt. u. klösterl. Geschichtsschreibung Augsburgs im 15. Jh. In: Alemannia 22 (1894), S. 1–32, 123–159. Auch in: Ders.: Ges. Aufsätze. Bd. 2, Aalen 1983, S. 463–531. – Heinrich Schmidt: Die dt. Städtechroniken als Spiegel des bürgerl. Selbstverständnisses im SpätMA. Gött. 1958, S. 29–38. – Karl Schnith: Die Augsburger Chronik des B. Z. Diss. Mchn. 1958. – Horst Wenzel: Die Autobiogr. des späten MA u. der frühen Neuzeit. Bd. 2: Die Selbstdeutung des Stadtbürgertums. Mchn. 1980, S. 44–49. – Dieter Weber: Geschichtsschreibung in Augsburg. Augsb. 1984. – Martin Kintzinger: ›ich was auch ain schueler‹. In: Geschichtsschreibung u. Geschichtsüberlieferung in Augsburg. Hg. Johannes Janota u. Werner Williams-Krapp. Tüb. 1995, S. 58–81, bes. S. 58–64. – Jörg Rogge: Vom Schweigen der Chronisten. In: ebd., S. 216–239, bes. S. 227–231. – K. Schnith: B. Z. In: LexMA. – Ders: B. Z. In: VL. – Sabine Schmolinsky: Selbstzeugnisse finden oder: Zur Überlieferung erinnerter Erfahrung im MA. In: Self-Fashioning. Personen(selbst)darstellung. Hg. Rudolf Suntrup u. Jan

Weitere Werke: Kreuzigung. Minden 1908 (D.). – Schlemihl. Bln. 1920 (Kom.). – Meister Mathis, genannt Grünewald. Ein Leben unter Gott. Ebd. 1937. 61950. – Im krummen Spiegel. Heitere Gesch.n u. literar. Miniaturen. Hbg. 1942. Literatur: Erich Lüth: A. Z. Journalist, Poet u. Staatsmann. Hbg. 1969 (Rede). – Hans-Dieter Loose: ›Hörerkreis u. Programmgestaltung‹. Der Schriftsteller A. Z. u. der dt. Rundfunk 1931. In: Archiv u. Gesch. Hg. Klaus Oldenhage. Düsseld. 2000, S. 657–672. – Ders.: Ein politisch tätiger Schriftsteller im Visier nationalsozialist. Machthaber. Der Hamburger Staatsrat A. Z. In: Menschenrechte u. Menschenbilder v. der Antike bis zur Gegenwart. Hg. Burghart Schmidt. Hbg. 2006, S. 211–219. Reinhard Tenberg / Red.

Zinner

Zinner, Hedda, eigentl.: H. Zinner-Erpenbeck, auch: Elisabeth Frank, Hannchen Lobesam, * 20.5.1905 Lemberg, † 4.7.1994 Berlin. – Erzählerin, Dramatikerin, Lyrikerin, Verfasserin von Fernsehspielen. Z. stammte aus großbürgerl. Familie; der Vater war k. k. Ministerialbeamter. Bereits seit 1906 in Wien lebend, absolvierte sie eine Schauspielausbildung (1923–1925). Nach Engagements in Deutschland entschied sie sich 1929 (Bekanntschaft mit Ludwig Renn; Eintritt in die KPD) für politisch-künstlerische Arbeit u. veröffentlichte Reportagen u. agitatorische Gedichte in der »Roten Fahne« u. der »Arbeiter-Illustrierten-Zeitung«. 1933 emigrierte sie über Wien nach Prag, leitete dort das Kabarett »Studio 1934«, war Kurier in Deutschland u. ging 1935 mit ihrem Mann, dem Schriftsteller Fritz Erpenbeck, in die Sowjetunion, wo sie v. a. publizistisch (Rundfunk) tätig war. Dort wurde auch ihr Sohn, der Schriftsteller John Erpenbeck, geboren. 1945 kehrte sie nach Berlin zurück, wo sie bis zu ihrem Tod als freie Schriftstellerin lebte. Obwohl Z. das Jahr 1945 als Beginn ihres »eigentlichen literarischen Lebens« bezeichnet, lagen bis dahin bereits zwei wichtige Werke vor: Unter den Dächern (Moskau 1936. Vorw. von Erich Weinert) – »Vortragslyrik« (Leschnitzer) u. ein Hörspiel – u. der Gedichtband Geschehen (ebd. 1939), die Würdigungen der sozialistischen Revolution u. Stalins enthalten. Z.s meist autobiografisch geprägtes Prosaschaffen wird durchweg von den Themen des Ausbruchs aus der bürgerl. Familie u. des Generationenkonflikts bestimmt. Die Literaturkritik bemängelte an Z.s Texten häufig eine nicht ausgereifte ästhetische Qualität; durch Themenwahl u. kriminalistische Zuspitzungen gewann Z. jedoch ein großes Leserinteresse; ihre Werke erreichten Millionenauflage. Der erste Roman, Nur eine Frau (Bln./DDR 1954. Neuausg. 1981. Film 1958. U. d. T. Louise – Nur eine Frau. Ffm. 1984), beschreibt das Leben der Frauenrechtlerin Louise Otto-Peters. Z.s Hauptwerk, der dreiteilige Gesellschafts- u. Familienroman Ahnen und Erben (Regina. 1968. Die

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Schwestern. 1970. Fini. 1973. Alle Bln./DDR), umfasst den Zeitraum von der Jahrhundertwende bis zur NS-Herrschaft u. beschreibt, in z. T. unglaubwürdiger Konstruktion, den Entwicklungsgang der Figuren, die sich von ihrer bürgerl. Herkunft abwenden u. sich auf die Seite der Kommunisten stellen. In dem 1980 in Ost-Berlin erschienenen Roman Katja (auch Ffm. 1981), einer krit. Selbstbetrachtung (vgl. Selbstbefragung. Bln./DDR 1986), geht es u. a. um Schicksale der Wolgadeutschen als Opfer von Stalins Personenkult. Auch im Roman Die Lösung (Bln./DDR 1981) wird über das Scheitern polit. Ideale reflektiert, ohne dass Z. von ihrer Utopie einer menschlicheren Gesellschaft Abstand nimmt. Der Roman Arrangement mit dem Tod (ebd. 1984, Ffm. 1985) verarbeitet u. a. das Schicksal des jüd. Regisseurs Fritz Wisten, der Z.s Teufelskreis-Uraufführung (Bln./DDR 1961. Buchausgabe ebd. 1961) inszenierte, ebenso die Ravensbrücker Ballade (Urauff. ebd. 1961), das erste dt. Stück, dessen Handlung im Konzentrationslager angesiedelt ist. Gegen Zuckmayers Des Teufels General schrieb Z. 1950/51 das Schauspiel General Landt (gestützt auf Martha Dodds Roman Die den Wind säen. Urauff. Weimar 1957; auch als Hör- u. Fernsehspiel), das die Mitschuld der Generäle am Nationalsozialismus benennt. Z.s erfolgreichstes Schauspiel, Der Teufelskreis (Urauff. Bln./DDR 1953. DEFA-Film 1955. Fernsehfilm 1982. Buchausgabe Bln./DDR 1988), handelt vom Reichstagsbrand-Prozess, macht aber den fiktiven Reichstagsabgeordneten Lühring, nicht Dimitroff, zum dramat. Helden. In der Verbindung fiktiver u. dokumentarischer Elemente geht Z. hier neue Wege, die das dokumentarische Theater vorwegnehmen. Die erfolgreiche Dorfkomödie Was wäre wenn ..., die 1959 an elf DDR-Bühnen zgl. uraufgeführt wurde, handelt von der Grenzbegradigung einer Gemeinde der DDR, die Bestandteil der BR Deutschland werden soll. Z.s Stücke, Friedrich Wolfs dramaturgischem Beispiel folgend, sind von aristotel. Struktur, sehen aber den kathart. Vorgang als Gemeinschaftserlebnis. Z., die nach 1963 keine Theaterstücke mehr schrieb, wurde auch als Verfasserin zahlreicher Fernsehspiele bekannt.

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689 Weitere Werke: Ausgaben: Stücke. Nachw. Martin Linzer. Bln./DDR 1973. – Erzählungen. Ebd. 1975. – Ausgew. Werke. Hg. Ekkehard Petersohn. Ebd. 1982 ff. – Erzählungen. Ebd. 1984. – Einzeltitel: Caféhaus Payer. 1939/40. Urauff. Rostock u. Gera 1945. – Alltag eines nicht alltägl. Landes. Bln./DDR 1950 (E.en). – Lützower. Urauff. ebd. 1955. Neufassung 1956 (D.). – Leistungskontrolle. Urauff. ebd. 1960 (Jugendstück). Als Film u. d. T. Die aus der 12 b. – Auf dem roten Teppich. Erfahrungen, Gedanken, Impressionen. Bln./DDR 1978. – Glas u. Spiegel. Ebd. 1985 (Nachdichtung). – Die große Ungeduld. Ebd. 1988 (N.). – Ins Leben entlassen. Ebd. 1990 (E.en). – Eine merkwürdige Ehrung für Fritz Wisten. In: Neues Dtschld., 20.9.1990. – Fernsehspiele: Elisabeth Trowe. 1967. – Die Richterin. 1974. – Der Fall Sylvia Karsinke. 1980. – Der Fall Detlef Kammrath. 1981. – Der Fall Marion Neuhaus. 1983. – Zwei Ärztinnen. 1983. Literatur: Simone Barck: H. Z. In: Lit. der Dt. Demokrat. Republik. Hg. Hans Jürgen Geerdts. Bd. 3, Bln./DDR 1987, S. 530–547, 639–643. – Gespräch mit H. Z. (geführt v. Klaus-Dieter Schönewerk). In: Neues Dtschld., 19./20.5.1990. – Christa Schikorra: Die Un/Möglichkeit antifaschist. Heldinnen. Die ›Ravensbrücker Ballade‹ v. 1961. In: Gedächtnis u. Geschlecht. Hg. Insa Eschebach. Ffm. 2002, S. 59–76. – Uta Klaedtke u. Martina Ölke: Erinnern u. erfinden. DDR-Autorinnen u. ›jüd. Identität‹ (H. Z., Monika Maron, Barbara Honigmann). In: Jüd. Intellektuelle im 20. Jh. Hg. Ariane Huml. Würzb. 2003, S. 249–276. – Anne Kwaschik: Ravensbrück als kommunist. Erinnerungsort. H. Z.s ›Ravensbrücker Ballade‹. In: Dachauer Hefte 24 (2008), S. 153–173. – Irena S´wiatl/owska: H. Z.s Gewissensprüfung im Angesicht der Wende 1989. In: Literar. Koordinaten der Zeiterfahrung. Hg. Joanna Lawnikowska-Koper. Breslau 2008, S.196–203. Rüdiger Bernhardt / Red. /

Zinzendorf, Christian Renatus Graf von, * 19.9.1727 Herrnhut, † 28.5.1752 London. – Kirchenlieddichter. Der Sohn von Nikolaus Ludwig von Zinzendorf wurde 1736 mit seinem Erzieher Johann Nitschmann nach Jena in die Obhut der »Erweckten« an der dortigen Universität gegeben. Doch verfügte die Regierung 1739 die Ausweisung dieser »Christelsökonomie« (gen. nach Z.), in der sie eine geheime Herrnhuter Gründung sah. Nach weiterer Ausbildung in dem Brüderseminar in der Wetterau begleitete Z. seinen Vater nach Genf

u. Livland, wurde Ältester der »ledigen Brüder« u. 1748 ordiniert. Z. steigerte sich jedoch in eine mystischschwärmerische Heilandsfrömmigkeit, sodass ihn sein Vater 1749 aus diesem leitenden Amt in Herrnhaag abberief. An seinem Versagen litt er tief u. opferte sich in seinem weiteren Einsatz für die Brüder so sehr auf, dass seine schwache Gesundheit darüber zerbrach. Z.s früher Tod verklärte seine Frömmigkeit u. geistl. Dichtung. Seine innige Bindung an den gekreuzigten, leidenden Christus vermochte er schlicht u. empfindsam zu besingen, z. B. in dem Vers: »Die wir uns allhier beisammen finden schlagen unsre Hände ein, / uns auf deine Marter zu verbinden« (in: Gesangbuch der Evangelischen Brüdergemeine. Hbg. 1967; weitere neun Lieder). Weitere Werke: Lieder in: Herrnhuter Gesangbuch. 1735. Neudr. Hildesh. 1981 (mit Verfasserverz.). – Londoner Gesangbuch. 2 Tle., London 1753/54, insbes. 1. Anhang. Neudr. Hildesh. 1980 (mit Verfasserregister). Literatur: Koch 5. – P[aul] Tschackert: C. R. Z. In: ADB. – Wilhelm Jannasch: C. R. Graf v. Z. In: Ztschr. für Brüdergesch. 2 (1908), H. 2, S. 45–80. 3 (1909), S. 61–93. – Hans Walter Erbe: Herrnhaag. Eine religiöse Kommunität im 18. Jh. Hbg. 1988 (= Unitas Fratrum, H. 23/24). – A birthday celebration for C. R., Count of Z. 1727–1752. Moravian Museum of Bethlehem Sept. 19, 2008; mit Beilage Paul Peucker: C. R., the Phenomenon. Dietrich Meyer

Zinzendorf, Erdmuth(e) Dorothea Gräfin von, geb. Reuß-Ebersdorf, * 7.11.1700 Ebersdorf/Vogtland, † 19.6.1756 Herrnhut; Grabstätte: ebd. – Kirchenlieddichterin. Z. wuchs in pietistischer Frömmigkeit auf u. war von Spener u. von Franckes Betonung des Bußkampfes geprägt. Am 7.9.1722 heiratete sie Nikolaus Ludwig von Zinzendorf, mit dem sie eine »Streiterehe« für den Heiland führte. Z. gebar sechs Töchter u. sechs Söhne; sie war für die Finanzverwaltung des gräfl. Besitzes verantwortlich u. verwaltete die ihr 1732 überschriebenen Güter auch im Interesse der entstehenden Herrnhuter Brüdergemeine. Sie reiste mit ihrem Mann, aber auch allein im Dienst der Gemeine, nach Dänemark (1732, 1742), Holland (1736, 1745,

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1747/48), England (1737, 1741, 1746, 1750, 1752, 1754), Livland/Russland (1742), Schlesien (1743, 1747, 1751) u. in die Schweiz (1741). Z. gehört zu den adligen Frauengestalten des Pietismus mit poetischer Begabung u. verband zuversichtl. Gottvertrauen mit einer zupackenden Sprache: »Wir gehn getrost an deiner Hand, Herr Jesu, die uns führet« (in: Gesangbuch der Evangelischen Brüdergemeine. Hbg. 1967; weitere neun Lieder). Weitere Werke: Abdruck sämtl. Lieder in: Herrnhuter Gesangbuch. 1735. Neudr. Hildesh. 1981 (mit Verfasserregister). Literatur: Wilhelm Jannasch: E. D. Gräfin v. Z., geb. Gräfin Reuß zu Plauen. Herrnhut 1915 (= Ztschr. für Brüdergesch. 8, 1914). – Erika Geiger: E. D. Gräfin v. Z. Die ›Hausmutter‹ der Herrnhuter Brüdergemeine. Holzgerlingen 2000; engl. Übers.: E. D. Countess v. Z. noble servant. Winston-Salem, NC 2006. – Dies.: ›Hast Du aber ein Los für Dich, so schweige ich stille ...‹. Gedanken zur Frömmigkeit der E. D. v. Z. In: ›Alles ist euer, ihr aber seid Christi‹. FS Dietrich Meyer. Hg. Rudolf Mohr. Köln/Bonn 2000, S. 897–918. – Julie Tomberlin Weber: ›Our dear Mama‹. Z.’s Memoir of E. D. In: Journal of Moravian History 4 (2008), S. 45–94. Dietrich Meyer

Zinzendorf, Nikolaus Ludwig Graf von, * 26.5.1700 Dresden, † 9.5.1760 Herrnhut; Grabstätte: ebd., Friedhof der Brüdergemeine. – Begründer der Herrnhuter Brüdergemeine; Liederdichter. Als »geistlicher Don Quichote« verlacht u. als »wahrer Gottesfürst« verherrlicht, gehört der theologisch ambitionierte, fromme Aristokrat zu den umstrittensten Persönlichkeiten der Kirchengeschichte. Durch die Großmutter, Henriette Catharina von Gersdorf, eine der bedeutendsten Frauen des dt. Pietismus, u. durch Franckes Pädagogium in Halle geprägt (1710–1716), las Z. die Bibel in den Ursprachen sowie theolog. Schriften Speners, Franckes, Luthers u. der Orthodoxie, während er in Wittenberg standesgemäß Jura studierte (1716–1719). Auf Bildungsreisen in die Niederlande u. nach Paris lernte er das friedvolle Nebeneinander der Konfessionen ebenso wie die verschiedenen Formen des Katholizismus, bes. den Jansenismus, kennen. Als Mitgl. der (nach Offb 3,7 ff.) »phila-

delphischen« Gemeinde am Grafenhof ReußEbersdorf erfuhr er erneut die Relativität konfessioneller Schranken, die Mystik Johann Arndts in der Nachfolge Jacob Böhmes u. die asketisch-myst. Eheauffassung Ernst Christoph Hochmanns von Hochenau, der im Geschlechtlichkeit auslöschenden Bund mit Christus die Erfüllung christl. Ehe erkannte. 1721 zum Hof- u. Justizrat in Dresden ernannt, suchte Z. die Idee einer Gemeinschaft der Kinder Gottes zu verwirklichen u. durch den Druck der (sehr umstrittenen) Ebersdorfer Bibel (1727) zu unterstützen, in deren Anhang der Erweckungstheologe Johann Andreas Rothe etwa 3000 Korrekturen des Luthertextes vorschlug. Entscheidend für die Verwirklichung der philadelph. Idee war jedoch die Ansiedlung von böhmisch-mähr. Exulanten. Z. gestattete ihnen 1722, auf seinem privaten Gut Berthelsdorf gehörigen Hutberg/Oberlausitz eine Kolonie zu gründen, die stetig wuchs u. aus der am 13.8.1727 die Brüdergemeine Herrnhut als »ecclesiola« innerhalb der luth. Kirche hervorging. Sie wurde zu einem neuen Zentrum des Pietismus, gefestigt durch eine strenge innere Ordnung, tolerant gegenüber radikalen (oft verfolgten) Strömungen u. erfüllt vom missionarischen Eifer einer »militia Christi«, die darauf zielte, die Gemeinschaft der wahren Kinder Gottes zu praktizieren u. das Evangelium auch unter den Heiden zu bezeugen. Z. selbst reiste als Missionar zu den westindischen Inseln u. den Indianern Nordamerikas. Seine Mission hier war erfolgreicher als die Verbindung, die er zu philadelph. Gemeinden in Berleburg (Berleburger Bibel seit 1726) u. Schwarzenau knüpfte sowie in der Wetterau, wo er zunächst Zuflucht suchte, nachdem man ihm sonderkirchl. Tendenzen u. Religionserneuerungen vorgeworfen hatte u. er auf kurfürstl. Geheiß 1736 des Landes Sachsen verwiesen worden war. Um 1734 vollzog Z. in Auseinandersetzung mit der Bußkampftheologie in Halle u. in Abkehr vom moralischen Rationalismus seiner Zeit den Anschluss an eine lutherische Kreuzestheologie. In der Folge mietete Z. das Schloss Marienborn u. erwarb das Gelände am »Haag«, wo eine Kolonie als selbstständiges Kirchenwesen entstand. Mit den anderen

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Ortsgemeinden war Herrnhaag verbunden Paradoxa zu buchstabieren, die Passion zu im Amt des Generalältesten, in das 1741 verwirklichen durch Benennung von WunChristus selbst berufen wurde. In der somit den, Blut, Schweiß u. Leichengeruch. Der begründeten »Theokratie des Heilands« er- reife Z. (nach 1750) lenkte seine Gemeinden hielt ein schon lange geübtes Verfahren seine auf die ununterbrochene »personelle Konnetheolog. Legitimation: die Lospraxis, bei der xion« mit dem Gekreuzigten als dem entin allen Fragen des tägl. Lebens Christus scheidenden Zentrum seiner Christus-Mystik, achtete aber zgl. in seinen »Liturgien« durch Los entschied. Die in unmittelbarer Verbindung mit (Ausgaben von 1744, 1755 u. 1757) auf eine Christus sich wähnenden Brüder verloren in trinitarisch ausgewogene Anbetung von Gott der Folge den Kontakt zur Wirklichkeit u. Vater, Lamm Christi und hl. Geist als »Mutgerieten in ein Schwärmertum, das letztlich ter« der Gemeine. durch das Ende der Herrnhaager Gemeinde Ausgaben: Krit. Werkausgabe u. d. T.: N. L. v. Z. (durch Landesverweis 1750) überwunden Werke. Bisher ersch. Bd. 6/1: Katechismen. Gött. wurde. Drei Jahre zuvor war Z.s Verbannung 2008. – Reprintausgabe hg. v. Erich Beyreuther u. aus Sachsen aufgehoben, 1749 Herrnhut als Gerhard Meyer: Hauptschriften. 6 Bde., Hildesh. Augsburgischer Konfessionsverwandter an- 1962/63. 15 Erg.-Bde., ebd. 1964–2002. Hier: Bd. 2: Teutsche Gedichte. Materialien u. Dokuerkannt worden. mente in 4 weiteren Reihen, ebd. 1973 ff. (1. Böhm. Z.s Lebenswerk wurde von zwei gleichgeBrüder. 2. Leben u. Werk. 3. Ztschr. für Brüdergesinnten Ehefrauen mitgestaltet: der Gräfin sch. 4. Gesangbücher). – Auswahlausgabe: N. L. Erdmuthe Dorothea von Reuß-Ebersdorf, die Graf v. Z. Er der Meister, wir die Brüder. Eine 1756 starb, sowie der bürgerl. Mährin Anna Ausw. seiner Reden, Briefe u. Lieder. Hg. Dietrich Nitschmann, Chorpflegerin der ledigen Meyer. Gießen 2000. Schwestern in Herrnhut, mit Z. seit 1757 Literatur: Bibliografie: Bibliogr. Hdb. zur Z.verheiratet. Beide Frauen traten mit Lied- Forsch. Hg. Dietrich Meyer. Düsseld. 1987. – Weidichtungen hervor. Z.s umfangreiches u. tere Titel: D. Meyer: Z. u. Herrnhut. In: Gesch. Piet. noch nicht erschlossenes schriftstellerisches Bd. 2 (1995), S. 3–106. – Hans-Georg Kemper: Dt. Werk umfasst mehr als 100, vor allem mo- Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. 6,1: Empfindsamraltheolog., katechetische, liturg. u. erbaul. keit. Tüb. 1997. – Graf ohne Grenzen. Leben u. Schriften sowie über 2000 Kirchenlieder, die Werk v. N. L. Graf v. Z. Ausstellung im Völkerkundemuseum Herrnhut. Herrnhut 2000 (mit seit 1722 in verschiedenen LiedersammlunBilddokumenten). – Martin Brecht u. Paul Peucker gen u. -büchern erschienen: Die letzten Stunden (Hg.): Neue Aspekte der Z.-Forsch. Gött. 2006 unsres Herrn und Heilands auf dieser Erde (Wit- (Vorträge des Symposiums 2000, u.a. von Hanstenb. 1722), Die letzten Reden unsres Herrn und Jürgen Schrader zur Dichtung). Heilandes vor seinem Kreuzestode, das 14.–17. CaHeimo Reinitzer / Dietrich Meyer pitel Johannis in sich haltend (ebd. 1725), Sammlung geistlicher und lieblicher Lieder (Löbau Zischka, Anton, auch: Rupert Donkan, 1725) usw., von denen sich aber kaum eine Thomas Daring, Darius Plecha, Antal Handvoll (in der Bearbeitung von Christian Sorba, * 14.9.1904 Wien, † 31.5.1997 Gregor u. Albert Knapp) in das EKG gerettet Pollença/Mallorca. – Journalist, Sachhat. Bekannt ist Lied 274 (Jesu, geh voran auf der buchautor. Lebensbahn!), das auf Strophen aus den schon 1721 niedergeschriebenen Morgen-Gedanken u. Z. war 1924–1929 Redakteur bei der »Neuen dem Lied Seelenbräutigam, o du Gotteslamm zu- Freien Presse« in Wien u. ging anschließend rückgeht, u. das Lied 251 (Herz und Herz vereint als Korrespondent großer internat. Zeitzusammen). schriften nach Südosteuropa, Ostasien u. auf Einer dauerhaften Rezeption der Lieder eine Weltreise. 1934 begann er, gut recheraußerhalb der Brüdergemeine stand die zu- chierte populärwissenschaftl. Sachbücher zu nehmend esoter. Gruppensprache entgegen, schreiben, die hohe Auflagen erreichten u. in in der die Lieder verfasst sind: Sie schwelgt in 16 Sprachen übersetzt wurden. Bevorzugte verdinglichten Allegorien, sucht die christl. Themen seiner über 45 Werke sind Länder-

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darstellungen (Abessinien. Lpz. 1935. Japan in der Welt. Ebd. 1936) u. Fragen der wirtschaftlich-techn. Entwicklung (Wissenschaft bricht Monopole. Bern/Lpz./Wien 1936. Ölkrieg. Lpz. 1939). Seiner journalistischen Herkunft treu, reagierte Z. rasch auf aktuelle Vorgänge (Tschernobyl – kein Zufall. Mchn. 1987). Trotz einer betont objektiven Darstellungsweise brachte ihn sein ungebremster Glaube an Technik u. Fortschritt in die Gefahr polit. Parteilichkeit, etwa beim Lob der Agrarentwicklung im »Dritten Reich« (Brot für 2 Milliarden Menschen. Lpz. 1938). – Z. lebte seit 1935 auf Mallorca. Weitere Werke: Die Auferstehung Arabiens. Ibn Sauds Weg u. Ziel. Lpz. 1942 (Pseud. Rupert Donkan). – Der Dollar. Glanz u. Elend einer Währung. Mchn. 1986. 3., vom Autor völlig überarb. u. erg. Aufl. 1995. – Die alles treibende Kraft. Weltgesch. der Energie. Heidelb. 1988. Literatur: Heike Weber: Technikkonzeptionen in der populären Sachbuchlit. des Nationalsozialismus. Die Werke v. A. Z. In: Technikgesch. 66 (1999), H. 3, S. 205–236. – Dirk van Laak: Energie von A bis Z. A. Z. erschließt die Welt. In: Non Fiktion 2 (2007), H. 1, S. 79–93. – Andy Hahnemann: Vom Sieg der Arbeit. A. Z.s Briefw. mit seinem Verleger Wilhelm Goldmann 1934–1950. In: Sachbuch u. populäres Wissen im 20. Jh. Hg. ders. u. David Oels. Ffm. u. a. 2008, S. 123–135. Stefan Bauer / Red.

Zitelmann, Arnulf, * 9.3.1929 Oberhausen-Sterkrade. – Evangelischer Theologe, Jugend- u. Sachbuchautor. Z. wuchs als fünftes von sechs Kindern in der Zeit des Nationalsozialismus im Ruhrgebiet auf. Diese Zeit verarbeitete er später z.T. im Roman Paule Pizolka oder Eine Flucht durch Deutschland (Weinheim 1991; Gustav Heinemann Friedenspreis 1992). Z. studierte Theologie u. Philosophie in Marburg u. Heidelberg. 1957–1977 war er als Pfarrer, anschließend bis 1992 als Religionslehrer tätig. Den »Abenteuer-Romanen« Z.s liegen stets gründlich recherchierte biblische u. philosophische Stoffe zu Grunde. Die histor. Spannweite reicht dabei von der Frühzeit (»Kleiner Weg«. Ebd. 1978), den bibl. Zeiten (Der Turmbau zu Kullab. Ebd. 1982. Mose, der Mann aus der Wüste. Ebd. 1991. Abram und Sa-

rai. Ebd. 1993. Jonatan, Prinz von Israel. Ebd. 1999) über die römisch-griech. Antike (Hypatia. Ebd. 1988. Alica. Ebd. 2006), das MA (Unter Gauklern. Ebd. 1980. Unterwegs nach Bigorra. Ebd. 1994) u. das 20. Jh. (Kein Ort für Engel. Ebd. 1998) bis in die Zukunft (Nach dem Großen Glitch. Ebd. 1981. Sirrahs Träume. Ebd. 2000). Bei den Hauptfiguren handelt es sich um einfache, meistens junge Menschen, die versuchen, sich in ihrer Zeit zu behaupten. Frauen nehmen hierbei eine besondere Rolle ein – sie treten als emanzipierte, ›moderne‹ Figuren auf. Z.s Biografien sind Geistlichen – Martin Luther (Widerrufen kann ich nicht. Ebd. 1983) u. Martin Luther King (Keiner dreht mich um. Ebd. 1985) –, Kämpfern wie Thomas Müntzer (Ich will donnern über sie! Ebd. 1989) u. Philosophen wie Immanuel Kant (Nur daß ich ein Mensch sei. Ebd. 1996) gewidmet. Z.s Bücher erlebten vielfache Auflagen, sie wurden in mehrere Sprachen übersetzt, mehrfach ausgezeichnet u. dienen als Lesestoff im Schulunterricht. Z. erhielt u. a. den Friedrich-Bödecker-Preis für sein Gesamtwerk (1994) u. den Großen Preis der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur (1994). Weitere Werke: Didaktik der Sexualerziehung (mit Therese Carl). Weinheim u. a. 1970 (Sachbuch). – Basisbibel. Ebd. 1972. – Zwölf Steine für Judäa. Weinheim 1979 (R.). – Jenseits von Aran. Ebd. 1984 (R.). – Bis zum 13. Mond. Eine Gesch. aus der Eiszeit. Ebd. 1986. – Die Weltreligionen. Ffm./New York 2002. – Jedes Sandkorn ist ein Buchstabe. Die Lebensgesch. des Georg Christoph Lichtenberg. Weinheim 2002. – Vor den Toren von Byzanz. Ebd. 2003 (R.). – Die Gesch. der Christen. Ffm. 2004. – Ich weiß, dass ich nichts weiß. Die vier großen Philosophen der Antike. Weinheim 2007. – Die Welt der Griechen. Ffm./New York 2008. – Ich, Tobit erzähle diese Geschichte. Düsseld. 2009. Literatur: Hans ten Doornkaat: Hoffnungen sind realer als die Realität. In: JugendLit. (1993), H. 2, S. 17–21. – Gabriele v. Glasenapp: A. Z. In: LGL. – Ortwin Beisbart: Erwachsenwerden als Herausforderung, in welche Gesch. man gehören will. Konstruktion v. Individuum u. Familie in A. Z.s Jugendroman ›Abram u. Sarai‹ (1993). In: Jb. Int. Germ. 36 (2004), H. 1, S. 183–196. – Udo Schmoll: ›Bruchstellen sind Fundstellen‹. Zum Leben u.

693 Werk von A. Z. In: Kinder- u. Jugendlit. & Medien. 2009, H. 2, S. 38–43. Anastasia Manola

Zittrauer, Maria, * 10.1.1913 Bad Bruck, † 6.7.1997 Bad Gastein/Salzburg. – Lyrikerin.

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tete Auswahlband Der Sehnsüchte Flug (Wien 1997), der das Œuvre um eine Handvoll Gedichte aus dem Nachlass ergänzt. Z. erhielt 1952 den Georg-Trakl-Preis u. 1977 den Rauriser Literaturpreis. Jürgen Egyptien

Z. war Kind einer Gastwirtfamilie aus der Zivier, Georg, auch: Hans Gregor, Hans Nähe von Bad Gastein. Früh verlor sie den Nowak, * 13.2.1897 Breslau, † 19.3.1974 Vater, der in der Wirtshausstube bei einem Berlin. – Feuilletonist, Erzähler. außer Kontrolle geratenen Spektakel erschossen wurde. Die Mutter schlug das An- Z. wuchs seit 1902 in Pleß auf, wo sein Vater, gebot der Nonnen vom Stift Nonnberg bei der Historiker Ezechiel Zivier, Fürstlicher Salzburg aus, der begabten Tochter mit ei- Archivdirektor geworden war. Im Ersten nem Stipendium zu höherer Bildung zu ver- Weltkrieg Soldat, studierte Z. anschließend helfen, weil sie im Haushalt gebraucht wur- Medizin u. Philosophie an den Universitäten de. Später war sie lange durch die Pflege Greifswald u. Berlin. Zusammen mit Heinzweier behinderter Töchter gebunden. Der rich Eduard Jacob gründete er 1922 in Münzum Gasthaus gehörige Grundbesitz war chen die literar. Zeitschrift »Der Feuerreiter«. ständiges Objekt der Begierde des expandie- Als Kritiker u. Feuilletonist spezialisierte sich renden Kurorts, gegen den Z. oft u. vergeb- Z. auf das expressionistische Tanztheater. 1937 wurde Z. aus der Reichsschrifttumslich Prozesse führte. »Wo Feindland schon kammer ausgeschlossen, später zu Zwangsam Zaun beginnt / Gewalt und Tücke ihre arbeit herangezogen. Zwei Trivialromane Ämter haben / mein Grenzstein ohne Geltung über die Industrialisierung Oberschlesiens ist«, heißt es im Gedicht Wo ich her bin aus (Zink wird Gold. Breslau 1937. Wenn es Tag dem Band Schlangenflöte (Salzb. 1992). Als wird. Bln. 1942) konnten nur unter dem Naweiteres Handicap kamen materielle Not u. men seines Freundes Hans Nowak erscheieine zunehmende Erblindung hinzu, die erst nen. Nach dem Krieg war Z. Berliner Feuilin den letzten Lebensjahren durch eine Auletonredakteur der »Neuen Zeitung« u. genoperation aufgehalten werden konnte. schrieb dann für den »Tagesspiegel« u. »Die Das lyr. Werk Z.s ist schmal, besitzt aber Welt«. Neben schles. Novellen u. Erzähluneinen originären Ton. In den Gedichten der gen (Licht und Schatten. Ebd. 1949. Komödianten Bände Die Feuerlilie (Salzb. 1954) u. Ich male und fahrende Poeten. Ebd. 1956) veröffentlichte mein Gedicht ans Tor der Gärten (Salzb. 1977) er humorvolle Bücher über das Berliner klingen zwar noch expressionistische Kunst- u. Theaterleben der 1920er Jahre Sprachgesten (»Ich schreibe aller Schöpfung Schrei«) u. das Echo Trakls nach, aber Z. (Schiller-Theater, Schloßpark-Theater, Berlin. Ebd. entwickelt zgl. eine eigene Bildsprache, die 1963. Ernst Deutsch und das deutsche Theater. sie aus genauer Naturbeobachtung u. Stim- Ebd. 1964. Das Romanische Café. Ebd. 1965). Weitere Werke: Verdi oder Die Macht des mungsbeschreibung gewinnt. Wiederkehrende Motive wie Föhn, Feuer, Jagd, Kahn Schicksals (zus. mit Hans Nowak). Bln. 1938 (R.). – Harmonie u. Ekstase. Mary Wigman. Ebd. 1956 oder Wolf schaffen eine spannungsvolle At(Ess.). – Dtschld. u. seine Juden. Hbg. 1971. mosphäre, in der sich hinter natürl. SchönPeter König heit jähe Abgründe öffnen. Ihre lyr. Erkundungen des ›Tals ohne Zeit‹ führen sie zu der Zobeltitz, (Karl Maria) Fedor von, * 5.10. existenzialitisch gefärbten Erkenntnis: »un1857 Schloss Spiegelberg/Neumark, beschränkt jagdbar sind wir«. Im Werk von Z. † 20.2.1934 Berlin. – Journalist u. Unterstehen freirhythm. Gedichte neben gereimhaltungsschriftsteller. ten, deren souveräne Formung sie manchmal an den Volksliedton heranrückt. Postum er- Z., Sohn eines Gutsbesitzers, besuchte die schien der von Brita Steinwendtner eingelei- Kadettenschulen in Plön u. Berlin, trat 1874

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in den Miltärdienst ein, quittierte ihn jedoch Lebens. Nicht ganz so produktiv wie sein bald u. bewirtschaftete das väterl. Gut, das er jüngerer Bruder Fedor, schuf sich Z. durch nach ersten schriftstellerischen Erfolgen ver- Romane u. Novellen eine große Lesergepachtete. Er zog nach Berlin u. wurde Re- meinde. Sie handeln von der Berliner u. der dakteur mehrerer Zeitschriften, u. a. des märk. Gesellschaft, dem Leben in den Garni»Deutschen Familienblatts«. 1888–1891 war sonen u. Gutshäusern; in Billigausgaben der er Chefredakteur der Berliner »Illustrierten Romanbibliotheken wurden sie bis zum Frauenzeitung«. Reisen führten ihn u. a. nach Zweiten Weltkrieg gelesen. Heute noch Italien, Frankreich, Algerien u. Marokko. Seit wertvoll sind Z.’ lebhafte u. farbenreiche Er1893 lebte er abwechselnd auf dem Som- innerungen u. d. T. Im Knödelländchen und anmersitz Spiegelberg, in Berlin u. in Südeu- derswo (Bielef. 1916). ropa. Weitere Werke: Die ewige Braut. Jena 1894 Vorherrschende Themen seiner zahlrei- (R.). – Die Kronprinzenpassage. 2 Bde., ebd. 1895 chen Unterhaltungsromane sind das Theater- (R.). – Prinzeß Hummelchen. Stgt. 1–171902 (R.). – u. Hofleben (Der Herr Intendant. Bln./Wien Der Bildhauer. Ebd. 1906 (R.). Hermann Schreiber 1900), Exotik u. Abenteurertum aus imperialer Perspektive, wie sie z. B. die JugendroZoderer, Joseph, * 25.11.1935 Meran. – mantrilogie Heinz Stirlings Abenteuer (Bln. Erzähler, Lyriker. 1915/16) bietet. Die Welt des Landadels, dessen ökonomische Probleme zu einer Mo- Z. übersiedelte 1940 (Optionszeit) nach Graz difikation der Heiratsregeln zwingen, schil- u. kehrte 1953 nach Südtirol zurück. Er studert Z. exemplarisch im Roman Die arme dierte in Wien Jura, Philosophie, TheaterPrinzessin (Stgt. 1905). Ein historisierendes u. wissenschaften u. Psychologie u. arbeitete apologetisches Porträt bekannter Adelsfami- dort als Journalist für den »Kurier«, die lien lieferte Z. in dem kulturanthropolog. »Kronenzeitung« u. »Die Presse« sowie als Werk Mann und Weib (Die beiden Geschlechter Rundfunkredakteur beim Sender RAI in Boinnerhalb der Aristokratie. Bd. 3, Stgt. u. a. 1915, zen. Seit 1981 lebt er – nach längeren AusS. 241–270). landsaufenthalten – als freier Schriftsteller in Weitere Werke: Fähnrichsgesch.n. Hann. 1881. Terenten/Südtirol. Während Z.s Lyrik eine Entwicklung vom – Bis in die Wüste. Roman aus zwei Welten. Bln. 1892. – Das eigene Blut. Ebd. 1896 (D.). – Drei polit. Engagement zur Resignation aufzeigt, Mädchen am Spinnrad. Ebd. 1912 (R.). – Die un- zentriert sich sein Romanwerk um die ruhigen Mädchen. Ebd. 1931 (R.). – Ich hab so gern Wahrnehmungs- u. Identitätsmöglichkeiten gelebt. Lebenserinnerungen. Ebd. 1934. des Einzelnen. Immer ist es eine Reise oder Literatur: Manfred Hanke: F. v. Z., ein Ortswechsel, der die Identitätsspannun1857–1934: ein Versuch über bibliophile Vorbild- gen der Romanfiguren freisetzt. In der jelichkeit. In: Philobiblon 36 (1992), 3, S. 204–217. weils neuen Kontrastwelt – einem Schweizer Ursula von Keitz / Red. Internat (Das Glück beim Händewaschen. Mchn. 1976. Neuausg. Mchn./Wien 1982. Verfilmt 1982, Regie: Werner Masten), dem nach lanZobeltitz, Hans (Caspar) von, auch: Max ger Zeit wieder aufgesuchten Geburtsdorf E. Conried, H. von Spielberg, * 9.9.1853 (Die Walsche. Ebd. 1982. Verfilmt 1986, Regie: Schloss Spiegelberg/Neumark, † 4.4.1918 W. Masten), Amerika (Lontano. Ebd. 1984) Bad Oeynhausen. – Erzähler. oder einer nordital. Hafenstadt (Dauerhaftes Der Gutsbesitzerssohn verfolgte zunächst die Morgenrot. Ebd. 1987) – führt die Rückbesintraditionelle Offizierslaufbahn u. wurde nung auf die Vergangenheit zu Momenten selbst Lehrer an der Kriegsakademie in Ber- der Selbstvergegenwärtigung, die nicht zulin, nahm jedoch 1890 als Hauptmann seinen letzt eine Neuwahrnehmung des eigenen Ichs Abschied u. war seit 1891 als Schriftleiter von nach sich zieht. So erzählt Z. etwa im Roman »Velhagen & Klasings Monatsheften« eine Der Schmerz der Gewöhnung (Mchn./Wien 2002) bekannte Erscheinung des Berliner literar. die Geschichte des krebskranken Jul, der sich

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Zöberlein

Literatur: Thomas Kraft: J. Z. In: LGL. – Ruth – ausgelöst durch den Unfalltod seiner Tochter – auf Distanz zum vermeintl. Ver- Esterhammer: J. Z. im Spiegel der Literaturkritik. trauten begibt u. sich dadurch auch in Bezug Wien/Bln. 2006. – Christoph König u. Hermann auf seine eigene Fremdwahrnehmung neu Korte: J. Z. In: KLG. – J. Z. Hg. Günther A. Höfler u. Sigurd Paul Scheichl. Graz/Wien 2010. – Heinz verortet. Zudem gelangen bei Z. die RomanLudwig Arnold (Hg.): J. Z. Mchn. 2010 (Text + figuren durch die Trennung vom Partner Kritik. H. 188). oder den Tod eines Elternteils zu oft Hans Martin Hennig / Silvana Cimenti schmerzhaften Detailwahrnehmungen, die er zunehmend sinnlich fassbar erzählt. Am radikalsten zeigen sich Auflösung u. Bildung Zöberlein, Hans, eigentl.: Johann Z., eines Ich in Dauerhaftes Morgenrot. Die Dop* 1.9.1895 Nürnberg, † 13.2.1964 Münpelrolle der Hauptfigur Lukas, Erzähler u. chen. – Romanautor, Erzähler. Protagonist des Romans, spiegelt sich auch im ständigen Wechsel der Erzählperspektive. Der Sohn eines Schuhmachers erlernte zuDer jederzeit mögl. Umschlag von Vertraut- nächst das Maurerhandwerk u. bildete sich heit in Fremdheit, vom abstandslosen »ich« später durch den Besuch einer Baufachschule ins distanzierte »er« erlaubt es Lukas, zgl. zum Architekten weiter. Am Ersten WeltSubjekt u. Objekt der Wahrnehmung zu sein. krieg nahm er als Infanterist teil u. erhielt Dauerhaftes Morgenrot kann aber auch als Ex- hohe Auszeichnungen. Nach Kriegsende geempel für die von Z. zuweilen praktizierte hörte er zum Freikorps Epp u. trat bereits Abkehr von traditionellen Erzählweisen ge- 1921 der NSDAP sowie der SA bei. Am sehen werden, die sich am eindringlichsten 9.11.1923 beteiligte er sich am Münchner im Roman Schlaglöcher. Dauerwellenroman (Bo- Hitler-Putsch. Z.s Weltkriegsroman Der Glaube an zen 1993. Entstanden 1968/69) zeigt. Zentrale Bedeutung als literar. Thema in Deutschland (Mchn. 1931) rühmte Hitler in Z.s Werk hat die »Südtirolthematik«, bedingt seinem Geleitwort als »das Erbe der Front«. nicht zuletzt durch die Biografie d. Autors, Darin heroisierte Z. die dt. Soldaten u. reeinhergehend mit den Fragen nach Heimat/ klamierte für sie die polit. Macht – mit einem Fremdheit, ethn. Konflikten u. dem Be- charismat. u. schlachtenbewährten Führer an wusstseinshorizont (vgl. hierzu den Erzähl- der Spitze. In der polit. Aussage ähnlich ist band Der Himmel über Meran. Mchn./Wien sein zweiter Roman, Der Befehl des Gewissens 2005). Z., der sich selbst als »Autor an der (ebd. 1937), der die Hinwendung der eheGrenze« definiert, schafft es, durch ein In- maligen Frontsoldaten zur nationalsozialisbezugsetzen von faktischer mit individueller tischen Bewegung propagiert. Weltkrieg u. Historie das »Große« im »Kleinen« abzubil- Freikorpskampf bestimmen auch seine beiden (vgl. Der Schmerz der Gewöhnung). Südtirol den z. T. rassistischen u. antisemitischen dient dabei oftmals als Matrix für die Dar- Spielfilme Stoßtrupp 1917 (1934) u. Um das stellung der Komplexität ethn. u. polit. Ver- Menschenrecht (1934). Z. erhielt nach 1933 für seine erfolgreichen flechtungen. Z. erhielt zahlreiche literar. Auszeichnun- Bücher mehrere Preise; außerdem wurde er gen u. Preise, u. a. das Österreichische zum Präsidenten des Ordens der Bayerischen Staatsstipendium 1982, den Hermann-Lenz- Tapferkeitsmedaille u. als Münchner Stadtrat Preis 2003 u. den Walther von der Vogelwei- zum Leiter der Kulturabteilung ernannt. Zuletzt stand er im Rang eines SA-Brigadede-Literaturpreis 2005. führers. 1948 wurde Z. wegen Beteiligung an Weitere Werke: S Maul auf der Erd oder der Ermordung von acht Penzberger BürDreckknuidelen kliabn. Südtiroler Mundarttexte. Mit Zeichnungen v. Luis Stefan Stecher. Mchn. gern, die zuvor ihren NS-Bürgermeister ab1974. – Pappendeckelgedichte. Eppan 1979. – Das gesetzt hatten (»Penzberger Mordnacht« vom Schildkrötenfest. Mchn./Wien 1995. – Liebe auf 28./29.4.1945), zum Tode verurteilt. Das den Kopf gestellt. Mchn. 2007. – Die Farben der Oberlandesgericht München wandelte die Strafe in lebenslängl. Haft um, aus der Z. Grausamkeit. Innsbr./Wien 2011 (R.).

Zoege von Manteuffel

1958 aus gesundheitl. Gründen entlassen wurde. Weitere Werke: Der Druckposten. Mchn. 1940 (E.). – Der Schrapnellbaum. Ebd. 1940 (R.). Literatur: Karl Prümm: Das Erbe der Front. Der antidemokrat. Kriegsroman der Weimarer Republik u. seine nationalsozialist. Fortsetzung. In: Die dt. Lit. im Dritten Reich. Hg. Ders. u. Horst Denkler. Stgt. 1976, S. 138–164. – Michael Gollbach: Die Wiederkehr des Weltkriegs in der Lit. Kronberg 1978. – Lex. ns. Dichter. – Walter Delabar: ›Aufhören, aufhören, he, aufhören – hört doch einmal auf!‹ H. Z.: ›Der Glaube an Dtschld.‹ (1931). In: Von Richthofen bis Remarque: Deutschsprachige Prosa zum I. Weltkrieg. Hg. Thomas F. Schneider u. Hans Wagener. Amsterd./ New York 2003, S. 399–421. – Jay W. Baird: H. Z. The Heritage of the Front as Third Reich Prophecy. In: Ders.: Hitler’s war poets. Cambridge 2008, S. 96–116. Hans Sarkowicz / Red.

Zoege von Manteuffel, Peter (Arthur) Baron (seit 1918), * 5.2.1866 Gut Wechmuth/Estland, † 17.10.1947 Biberach/ Riß. – Erzähler, Lyriker. Der estn. Zweig der ausgebreiteten Familie Manteuffel führte den Beinamen Zoege, weil der dt. Name von den Esten nicht ausgesprochen werden konnte (Zoege = estn. »Teufel«). Diese Sympathie für die Esten prägt auch Z. Nach langen Studien (Dorpat, Leipzig, München) u. Reisen lebte er als Buchhalter der adligen Güterkasse 1892–1923 in Reval, danach als freier Schriftsteller in Stuttgart u. seit 1929 wieder in Estland. Im Krieg kehrte er nach Stuttgart zurück, wurde dort ausgebombt u. zog schließlich nach Biberach. Der Ausbildung nach Geograf u. Völkerkundler, wandte sich Z. wohl auch wegen privater Heimsuchungen erst als reifer Mann der Literatur zu u. veröffentlichte 1914 seinen ersten Gedichtband u. d. T. Von Stürmen und Sonnentagen (Paderb.); es folgten die Elegie Briefe an den Frühling (Dresden 1920) u. Balladen (ebd. 1922). Großen Erfolg brachte der 1925 in Stuttgart erschienene Novellenband Das estnische Bauernbuch. Es zeigt nach Jahrhunderten einer bis zur Feindschaft gehenden Distanz zwischen Gutsherren u. Gutsvolk die glückl. Annäherung zwischen

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beiden Welten u. damit auch ein neues Selbstverständnis der Oberschicht in dem jungen estn. Staat. Z. ging mit Familienromanen u. regionalen Erzählungen diesen Weg weiter u. veröffentlichte schließlich auch estnisch geschriebene Dorfgeschichten. Daneben stehen psycholog. Studien aus der Adelswelt in den Erzählungen Tagebuch einer Egoistin u. Die Tochter des Geizhalses (beide Stgt. 1927). Literatur: Petersen: P. Z. v. M. als Gestalter estn. Bauernlebens. In: Baltische Monatshefte (1935), S. 604 ff. Hermann Schreiber

Zöllner, Johann Friedrich, * 24.4.1753 Neudamm/Neumark (heute: Debno), † 12.9.1804 Berlin. – Verfasser aufklärerischer Schriften. Durch den preuß. Minister von Zedlitz nach Abschluss seines Studiums in Frankfurt/O. 1779 als Prediger nach Berlin berufen, avancierte Z. bereits 1788 zum Propst u. Oberkonsistorialrat. Sein Widerstand gegen die Restaurationspolitik Wöllners führte beinahe zu seiner Kassation, vor der ihn aber das Eingreifen des Königs bewahrte. Seiner Aufnahme in die Akademie der Wissenschaften (1799) folgte 1800 die Berufung ins Oberschulkollegium. Z.s Schaffenskraft konzentrierte sich weitgehend auf die Volksaufklärung. 1781–1804 gab er zu diesem Zweck sein Lesebuch für alle Stände. Zur Beförderung edler Grundsätze, ächten Geschmacks und nützlicher Kenntnisse (10 Bde., Bln.) heraus. Seit den 1790er Jahren widmete er sich mehr u. mehr der Reform des Schulwesens. Aus dieser Arbeit gingen 1804 seine Ideen über National-Erziehung besonders in Rücksicht auf die Königl. Preußischen Staaten (Bln.) hervor, die nach Wegen zur Aufklärung, Ausbildung u. Erziehung einer ganzen Nation suchten. Frühzeitig mit der Philosophie Kants vertraut, suchte Z. dessen Moralphilosophie zu popularisieren u. den kategor. Imperativ einer seichten Glückseligkeitsphilosophie entgegenzusetzen (an Kant, 25.4.1790). Daneben ist Z. bes. mit seiner Schrift Ueber Moses Mendelssohn’s Jerusalem hervorgetreten, die ihm

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unter seinen Zeitgenossen den Ruf eines bedeutenden Naturrechtlers einbrachte. Weitere Werke: Wöchentl. Unterhaltungen über die Erde u. ihre Bewohner. 8 Bde., Bln. 1784–87. – Wöchentl. Unterhaltungen über die Charakteristik der Menschheit. 6 Bde., ebd. 1789–91. Literatur: Ferdinand Runkel: Gesch. der Freimaurerei in Dtschld. Bd. 3, Bln. 1932, S. 152–172. – Ingeborg Lohfink: J. F. Z.: mit den krit. Augen eines aufgeklärten Theologen. In: Dies.: Mein Pommernbuch. Glückstadt 22001, S. 54–66. Birgit Nehren / Red.

Zoff, Otto, * 9.4.1890 Prag, † 12.12.1963 München. – Erzähler, Dramatiker, Journalist.

Zoller

In den Tagebüchern aus der Emigration 1939–1944 (Heidelb. 1968) schilderte er das Schicksal der Emigranten bis in die Einzelheiten tägl. Überlebensschwierigkeiten. Weitere Werke: Kerker u. Erlösung. Mchn. 1918 (Trauersp.). – Das Leben des Peter Paul Rubens. Ebd. 1922. – Die Hugenotten. Wien 1937. – Die großen Komponisten. Bern 1952. Literatur: Sigrid Kellenter: Alte u. neue Heimat in Leben u. Werk v. Hans Sahl, Walter Sorell u. O. Z. In: Kulturelle Wechselbeziehungen im Exil. Hg. Helmut F. Pfanner. Bonn 1980, S. 90–192. – Ulrike Keller: O. Z.s dramat. Werke. Mchn. 1988. – Hans Albert Walter: Dt. Exil-Lit. 1933–50. Bd. 3, Stgt. 1988, S. 307–318. – Marie Luise Kaschnitz: O. Z.s Tagebücher. In: Dies.: Ges. Werke. Bd. 7, Ffm. 1989, S. 877–880. – Sigrid Kellenter: O. Z. In: Dt. Exillit. Bd. 2, Tl. 2, S. 1010–1032. – Peter Engel: Repräsentant einer versunkenen Welt. Der Erzähler u. Dramatiker O. Z. In: Brennpunkt Berlin. Prager Schriftsteller in der dt. Metropole. Hg. Hartmut Binder. Bonn 1995, S. 291–317. – Manfred Bosch: Ein Brief aus Konstanz. O. Z. In: Ders.: Zeit der schönen Not. Konstanz 2009, S. 221–232. Winfried Hönes † / Red.

Der Sohn eines jüd. Militärbeamten wuchs in Wien auf u. studierte in Prag u. Wien Kunstgeschichte. 1916/17 war Z. Lektor bei S. Fischer in Berlin, 1919–1923 Dramaturg an den Münchner Kammerspielen unter Otto Falckenberg u. am Lobe-Theater Breslau. Bis 1925 Direktor des Münchner Verlags O. C. Recht, lebte er danach als freier Schriftsteller Zoller, Konrad, auch: Gg. Aichkirchner, u. Regisseur, von 1932 an in Italien, seit 1941 * 9.11.1886 Aichkirchen bei Regensburg, in den USA. 1949 kehrte Z. nach Deutschland † 23.2.1952 Bad Gögging bei Regensburg. zurück, war 1957–1961 New Yorker Korre- – Erzähler u. Lyriker. spondent der »Frankfurter Allgemeinen Zei- Der Lehrerssohn studierte zunächst Kunsttung« u. wohnte anschließend wieder in geschichte, dann Theologie u. wurde 1915 München. zum Priester geweiht. Z. sammelte Sagen Nach den im Zeichen des Expressionismus (Seelen und Geister der Vorfahren. Zus. mit Ludstehenden Erstlingswerken Der Winterrock (R.) wig Kastner. Kallmünz 1923), schrieb Märu. Der Schneesturm (D.; beide Mchn. 1919) gab chen u. Gedichte (in Mundart u. HochspraZ. im tragischen Zeitroman Die Liebenden (Bln. che) u. veröffentlichte in den kath. Zeit1929) eine für die damalige literar. Produk- schriften »Hochland«, »Orplid« u. »Der tion typische Analyse der Weimarer Nach- Zwiebelturm«. Eichendorff u. Stifter waren Inflationszeit mit ihrer Hoffnungslosigkeit, ihm Vorbilder für seine eigenen SchöpfunEinsamkeit u. erot. Verwirrung. Mit seinen gen, sowohl der unter Pseud. erschienenen Bühnenbearbeitungen der Stücke u. Texte Erzählungen Einöde mit Gott (Krailling 1948) von Dickens, Calderón, Goldoni u. Gozzi als auch seiner Gedichte. wollte Z. ein poetisches Theater schaffen. Weitere Werke: Das Talschloß. Mchn. 1922 Hervorzuheben ist hier die Einrichtung von (N.). – Leben u. Leiden der Jungfrau Anna Schäffer Eichendorffs Lustspiel Die Freier (Urauff. v. Mindelstetten. Regensb. 1949. 1923), das von rund 100 Bühnen nachgespielt Hans Pörnbacher wurde u. mit der Z. nach eigenen Worten versuchte, Otto Falckenberg »mit der Zeit immer eindeutiger zum anti-realistischen Theater hinüberzuziehen«. Daneben schrieb Z. kunsthistor. u. musikgeschichtl. Bücher.

Zollikofer

Zollikofer, Georg Joachim, * 5.8.1730 St. Gallen, † 22.1.1788 Leipzig. – Reformierter Theologe, Prediger, Übersetzer. Der Sohn eines Rechtsgelehrten u. Abkömmling einer angesehenen St. Gallener Familie besuchte zunächst das Gymnasium seiner Vaterstadt, dann das Gymnasium illustre in Bremen (Immatrikulation 1751 als »Gregor. Joach. Zollicoferus ab Altenklingen S. Gallens.«). Nach dem Studium der Theologie in Utrecht arbeitete Z. zunächst vier Jahre als Hauslehrer in Frankfurt/M., war dann (ab 1754) für einige Zeit Prediger in der Schweiz, bevor er 1758 seine Lebensstellung antrat: das Predigeramt an der reformierten Gemeinde zu Leipzig (Antrittspredigt am 13.8.1758). Nach anfängl. Schwierigkeiten stieg Z. bald zum beliebtesten Kanzelredner der Stadt auf, der weit über deren Grenzen hinaus bekannt war. Außer durch einige Übersetzungen aus dem Englischen u. Französischen, von denen insbes. die der urspr. frz. abgefassten Akademieabhandlungen seines Freundes Sulzer zu erwähnen sind (Vermischte philosophische Schriften. Lpz. 1773. Internet-Ed. in: Dt. Lit. des 18. Jh. Online. Hg. Paul Raabe. Mchn. 2007), trat Z. zunächst durch die Herausgabe einer stark beachteten Sammlung geistl. Lieder hervor, von denen er viele überarbeitet u. einige selbst verfasst hat (Neues Gesangbuch, oder Sammlung der besten geistlichen Lieder und Gesänge, zum Gebrauche bey dem öffentlichen Gottesdienste [...]. Lpz. 1766; danach mehrfach aufgelegt u. d. T.: Sammlung geistlicher Lieder und Gesänge zum Gebrauche reformirter Religionsverwandten). Literarischen Rang verschaffte sich Z. aber v. a. durch seine Predigten (Lpz. 1769–71), denen zahlreiche weitere Veröffentlichungen folgten (Einige Betrachtungen über das Uebel in der Welt; nebst einer Warnung vor den Sünden der Unkeuschheit und andere Predigten. Lpz. 1777 u. ö. Predigten über die Würde des Menschen. 2 Bde., Lpz. 1783. 21784). Z.s Predigten wurden in viele Sprachen übersetzt u. häufig nachgedruckt; nach seinem Tod erschienen sie gesammelt in mehrbändigen Ausgaben (Predigten, nach seinem Tode herausgegeben [von Friedrich von Blanckenburg].

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7 Bde., Lpz. 1788/89. Sämmtliche Predigten. 15 Bde., Lpz. 1798–1804). Entsprechend der Programmatik der Aufklärungstheologie verstand Z. sein Predigeramt nicht als theoretisch-dogmat., sondern als prakt., erzieherisch-moralische Aufgabe. Nicht Glaubensfragen stehen im Mittelpunkt, sondern die moralischen Probleme des alltägl. Lebens. Dem prakt. Interesse Z.s trägt auch die Sprache seiner Predigten Rechnung, die durchweg in einem lebensnahen, populären Ton gehalten sind u. auf gelehrte Begrifflichkeit weitgehend verzichten. Goethe (Dichtung und Wahrheit II/7) rechnete Z. wegen seiner »gefällige[n] Schreibart« neben J. F. W. Jerusalem u. J. J. Spalding zu denjenigen, die »durch einen guten und reinen Styl, der Religion und der ihr so nah verwandten Sittenlehre, auch bei Personen von einem gewissen Sinn und Geschmack, Beifall und Anhänglichkeit zu erwerben suchten«. Weitere Werke: Anreden u. Gebete [...]. Lpz. 1777. – Abh. über die moral. Erziehung. Lpz. 1783. – Andachtsübungen u. Gebete [...]. 2 Tle., Lpz. 1785 u. ö. – Herausgeber: Johann Caspar Lavater: Geheimes Tgb. Von einem Beobachter seiner selbst. 2 Tle., Lpz. 1771. Internet-Ed. in: Dt. Lit. des 18. Jh. Online. – Briefe: Briefw. zwischen Christian Garve u. G. J. Z. [...]. Breslau 1804. Nachdr. Hildesh. 1999 (= C. Garve: Ges. Werke. 4. Abt., Bd. 16/ 1); auch als Internet-Ed.: www.olmsonline.de. Ausgaben: Predigtauswahl in: Predigten v. protestant. Gottesgelehrten der Aufklärungszeit. Hg. Wichmann v. Meding. Darmst. 1989 (= Nachdr. der Ausg. Bln. 1799), S. 333–409. – Internet-Ed. zahlreicher Werke in: http://www.google.de/ books. Literatur: Bibliografie: Schmidt, Quellenlexikon, Bd. 34, S. 353. – Weitere Titel: Christian Garve: Ueber den Charakter Z.s [...]. Lpz. 1788. InternetEd. in: Dt. Lit. des 18. Jh. Online. – Jean Dumas: Gedächtnißrede auf G. J. Z., evang. Prediger bei der reformierten Gemeinde zu Leipzig. Lpz. 1788. – Daniel Jacoby: G. J. Z. In: ADB. – Paul Weinmeister: Beiträge zur Gesch. der evang.-reformierten Gemeinde zu Leipzig 1700–1900. Lpz. 1900, S. 158 ff. – Paul Melhorn: G. J. Z. In: RE, Bd. 21, S. 711–715. – Reinhard Krause: Die Predigt der späten dt. Aufklärung (1770–1805). Stgt. 1965, passim. – Gerhard Schmalenberg: Pietismus, Schule, Religionsunterricht [...]. Bern u. a. 1974. – Stefan Rieger: Lit., Kryptographie, Physiognomik. Die Lektüren des Körpers u. die Decodierung der

Zollinger

699 Seele bei Johann Kaspar Lavater. In: Gesch.en der Physiognomik [...]. Hg. Rüdiger Campe u. a. Freib. i. Br. 1996, S. 387–409. – Erich Wenneker: G. J. Z. In: Bautz. – Katharina Middel: ›... immer unter der Herrschaft der Vernunft‹. Der Prediger G. J. Z. als Aufklärer. In: Plurales Dtschld. FS Étienne François. Hg. Peter Schöttler u. a. Gött. 1999, S. 179–191. – Heinz-Hermann Grube: G. J. Z. In: Komponisten u. Liederdichter des Evang. Gesangbuchs. Hg. Wolfgang Herbst. Gött. 1999 (22001), S. 360 f. – Gustav Adolf Benrath: Menschenbild u. Seelsorge in der dt. Spätaufklärung. In: Menschenbild u. Menschenwürde. Hg. Eilert Herms. Gütersloh 2001, S. 201–212. – Hans-Georg Kemper: Dt. Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. 6/2, Tüb. 2002, S. 95, 111 f. – Katrin Löffler: ›Niemand spricht hier Uebels von ihm‹. G. J. Z. war der erste dt. Prediger der reformierten Gemeinde. In: Leipziger Blätter 55 (2009), S. 4–7. – ›Gedanke ohne Empfindung ist selten wirksam‹. G. J. Z., Prediger der Spätaufklärung. Hg. Christian Schmelzer u. a. Magdeb. 2009 (mit Ed. v. Predigten). Claus Altmayer / Red.

Zollinger, Albin, * 24.1.1895 Zürich, † 7.11.1941 Zürich; Grabstätte: ebd., Friedhof Nordheim. – Lyriker, Erzähler, Essayist. Sohn eines fantasiebegabten, grüblerischen Mechanikers u. einer unsteten, abenteuerlustigen Mutter, verbrachte Z. seine Kindheit in Rüti/Kt. Zürich u. in Argentinien, wo sich die Eltern 1903–1907 vergeblich eine neue Existenz aufzubauen suchten. 1912–1916 bildete er sich in Küsnacht/Kt. Zürich zum Primarlehrer aus u. begann mit ersten schriftstellerischen Versuchen. Nach verschiedenen Aushilfsstellen in den Zürcher Gemeinden Wald, Uster, Pfäffikon, Leimbach bzw. Stadel wurde Z. 1923 in Zürich-Oerlikon fest angestellt u. behielt dieses Lehramt bis zu seinem Tod. Daneben redigierte er 1936/37 auf bemerkenswert hohem Niveau u. mit zeitkrit. Tendenz die in Bern erscheinende Zeitschrift »Die Zeit« u. gehörte auch mit seinem sonstigen publizistischen u. journalistischen Wirken (vgl. Politische und kulturkritische Schriften. Kleine Prosa. Hg. Gustav Huonker. Bd. 6, Zürich 1984) zu den weitsichtigsten u. integersten krit. Schweizer Intellektuellen seiner Generation.

Als Schriftsteller wurde Z. den Zeitgenossen v. a. mit seiner romantisierenden, im Banne einer großen Tradition stehenden u. gleichwohl unverwechselbar eigenständigen Natur- u. Liebeslyrik zum Begriff, wie er sie in den Bänden Gedichte (ebd. 1933), Sternfrühe (ebd. 1936), Stille des Herbstes (ebd. 1939) u. Haus des Lebens (ebd. 1939) vorlegte. »Denn das Geheimnis ist bei ihm schon in der Sprache wohl behütet, in diesen Versen, bei denen sich niemals voraussagen lässt, was geschehen wird, die bis in die kühnsten Reime und einen manchmal fast labyrinthischen Satzbau wie Improvisationen anmuten.« (Emil Staiger im Nachwort zu: Gedichte. Ausgewählt von E. Staiger. Ebd. 1956) Weil sie dem gängigen Formkanon nicht entsprachen, u. zum Teil wohl auch ihres stark gesellschafts- u. zeitkrit. Gehalts wegen fanden Z.s Romane bei den Zeitgenossen, sieht man vom davon wesentlich beeinflussten Max Frisch einmal ab, weit weniger Anklang als seine Lyrik. Z. debütierte mit dem zur Zeit des Sonnenkönigs spielenden, von der seel. Verfassung des gescheiterten, dem Wahnsinn verfallenden Tyrannenmörders René Bonval her aber gleichwohl autobiografisch bestimmten Roman Die Gärten des Königs (Lpz./Zürich 1921). Fast unverstellt autobiografisch war dann der zweite Roman, Der halbe Mensch (ebd. 1929), den Z. nach eigenem Bekunden schrieb, »um eine Lebensnot abzustreifen«, u. der davon handelt, wie der Künstler Wendelin Bach in verschiedenen Liebesbegegnungen u. mit Hilfe der Mazdaznan-Bewegung Klarheit über sich selbst zu finden sucht. Einen vielschichtigen, in Paris, Berlin u. Wien spielenden, um die Figur des gleichfalls autobiografischen, an seiner Ehe scheiternden Urban von Tscharner zentrierten Entwicklungsroman legte Z. mit Die große Unruhe (ebd. 1939) vor. Z.s letztes zu Lebzeiten veröffentlichtes Werk, der Roman Pfannenstiel. Die Geschichte eines Bildhauers (ebd. 1940), sollte im postum erschienenen zweiten Teil, Bohnenblust oder Die Erzieher (ebd. 1941), seine Fortsetzung finden u. ist die wiederum auf persönl. Erlebnissen basierende Erzählung von einem Künstler, der an unglückl. Liebe u. der Verständnislosigkeit seiner Umwelt fast zugrundegeht, sich dann aber doch

Zoozmann

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auf sich besinnt, als das Land zu Beginn des Lit. der Zwischenkriegszeit. Studien zu Meinrad Zweiten Weltkriegs in Gefahr ist. Während Inglin u. A. Z. Lublin 2006. Charles Linsmayer im ersten Teil von Seiten des Freundesbunds der »Pfannenstieler« harsche Kritik an der Schweiz u. ihrer Kultur- u. Gesellschaftspo- Zoozmann, Richard (Hugo Max), auch: litik geübt wird, wirkt der zweite Teil mit Richard Hugo, Hugo Zürner u. a., * 13.3. seiner Utopie einer durch die Kräfte des 1863 Berlin, † 17.2.1934 Herrenalb/ Bauerntums erneuerten Gemeinschaft ver- Schwarzwald. – Lyriker, Epiker, Dramasöhnlich. Wie zwei andere postum veröf- tiker, Redakteur, Übersetzer u. Herausfentlichte Texte – die ins Historische verlegte geber. Eulenspiegelei Der Fröschlacher Kuckuck. Leben Der Sohn eines Obertribunalsekretärs beund Taten einer Stadt in zwanzig Abenteuern (ebd. suchte zunächst das Louisenstädtische Real1941) u. Die Narrenspur. Vom Leben des Barome- gymnasium in Berlin u. begann dann wider termachers Balthasar Kaspar Zellweger, genannt seinen Willen eine Laufbahn als PrivatbankBaneter Balz, in Stäfa (Erstdr. in: Werke. Hg. beamter. Geibel, Hamerling u. andere erFelix Müller. Bd. 2, Zürich 1983) zeigen, munterten ihn, nebenher zu schriftstellern. verstärkte sich, wohl unter dem Eindruck des Z. schrieb Novellen u. Essays in verschieKriegs u. nach negativen Erfahrungen mit der denen Zeitschriften, u. a. der »Gartenlaube« freiwilligen Selbstzensur, die Tendenz zu u. im »Universum«. 1888 heiratete er Anna Konzilianz u. unverfängl. histor. Stoffen in Lange. Seine Gedichte – humoristisch oder Z.s letzten Lebensmonaten beträchtlich. Wie oft im ironisch-melanchol. Heine-Ton, stark seine Romane durch leidvolle persönl. Schauerballaden, aber auch klassizistische Erfahrungen bestimmt u. auch belastet sind, Lyrik in der Nachfolge Geibels – wurden zu zeigte sich bereits bei der Veröffentlichung Ende des 19. Jh. viel gelesen, weniger seine der Briefe an seine erste, 1935 von ihm ge- Novellen u. Dramen. Bedeutend ist Z. als schiedene Frau Heidi Zollinger-Senn (Fluch Übersetzer; seine Version der poetischen der Scheidung. Hg. Magdalena Vogel. St. Gallen Werke Dantes (mit ital. Text. Bde. 1–4, Freib. 1965), insbes. aber anhand der umfassenden i. Br. 1904) zählt heute noch zu den bekannBriefsammlung, die Silvia Weimar im An- testen. Er hatte einen Namen als Herausgeber schluss an die zweite Zollinger-Werkausgabe zahlreicher Anthologien zur dt. u. zur Weltedierte (Briefe. Nachw. v. S. W. Zürich 1987). literatur; heute noch unentbehrlich sind seiAusgaben: Werke in 4 Bdn. Zürich 1961/62. – ne Sammlungen komischer Literatur u. Zitatenschätze (Zitaten- und Sentenzenschatz der Werke in 6 Bdn. Ebd. 1981–84. Literatur: Hans Schumacher: A. Z. Lyrik. Weltliteratur alter und neuer Zeit. Lpz. 1910. Herrliberg 1946. – Paul Häfliger. Der Dichter A. Z. Spätere Auflagen u. d. T. Zitatenschatz der Welt. Diss. Freib./Schweiz 1954. – Werner Günther: A. Z. Zuletzt Reinb. 1987). In: Dichter der neueren Schweiz I. Bern 1963. S. 488–535. – Beatrice v. Matt-Albrecht: Die Lyrik A. Z.s. Diss. Zürich 1964. – Felix Müller: A. Z. Biogr. Mit Bilddokumenten u. Materialien. In: A. Z.: Werke. Bd. 1, Zürich 1981. – Erwin Jaeckle: Dichter in dieser Zeit. Nachw. zu A. Z.: ›Pfannenstiel‹. Neu hg. v. Charles Linsmayer. Ebd. 1983. Ffm. 1990. – B. v. Matt: A. Z. Der Lyriker in seinem literar. Umfeld. Nachw. zu A. Z.: Werke. Bd. 4, Zürich 1983. – Dies.: Z. als Erzähler. Glanz u. Grenzen seiner Prosa. Nachw. zu A. Z.: Werke. Bd. 5, ebd. 1984. – Gustav Huonker: A. Z., der Publizist. Nachw. zu A. Z.: Werke. Bd. 6, ebd. 1984. – Isabelle Chopin: A. Z. Entre politique et poésie (1933–1939). Diss. Bern 2000. – Marzena Górecka: Tendenzen der Innerlichkeit in der Deutschweizer

Weitere Werke: Gedichte. Bde. 1–3, Lpz. 1884–96. – Zwischen Himmel u. Erde. Bln. 1885 (D.). – Narrenchronik. Ebd. 1900. – Dantes letzte Tage. Eine Dichtung. Freib. i. Br. 1909. – Sturmflut. Skizzen u. Novellen. Tabarz 1921. – Gutti Galander. Friedrichroda 1923 (N.). – Muckipuckis wundersame Fahrten u. Abenteuer. Kunterbunter Filmroman. Hildesh. 1927. 31933. – Weg u. Wille zum Erfolg. Ein Hdb. der Lebensklugheit. Wiesb. 1928. – Übersetzungen: Walther v. der Vogelweide. Stgt. 1908. – James Fenimore Cooper: Romane. Bde. 1–5, Lpz. 1910. – Henryk Sienkiewicz: Quo vadis. Bln. 1911. Zuletzt Würzb. 1986. – Altdt. Minnelieder – Östl. Rosen – Aus Hesperiens Gärten – Aus Hellas u. Rom – Nordlandharfe. Bde. 1–5, Wien 1921–23 (Liebeslieder). – Charles Dickens:

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701 Ausgew. Romane. Bde. 1–3, Lpz. 1930. – Herausgeber: Laßt uns lachen! Achthundert Jahre dt. Humors. Bln. 1912. – Unartige Musenkinder. Lpz. 1915. Neuaufl. 1957. N. F. u. d. T. Amors Possenspiel. 1920. – Dichtergarten der Weltpoesie. Bln. 1920. – Maximilian Bern: Die zehnte Muse. Dichtungen vom Brettl fürs Brettl. N. F. Ebd. 1925. Literatur: Arne Grafe: ›Glückauf, du böhmische Amsel!‹ René Maria Rilke: Briefe an R. Z. aus dem Jahre 1896. In: JbDSG 53 (2009), S. 48–70. Walter Pape / Red.

Zopfi, Emil, * 4.1.1943 Wald/Kt. Zürich. – Erzähler, Hörspiel- u. Sachbuchautor. Z. wuchs in Gibswil im Zürcher Oberland als Sohn einer Textilarbeiterfamilie auf. Nach zwei Jahren als Laufbursche in der Textilindustrie machte er eine Lehre als Fernmeldemonteur, an die sich 1964–1967 das Studium der Elektrotechnik in Winterthur anschloss. 1967–1969 war Z. Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für physikal. Chemie der ETH Zürich; 1969–1973 arbeitete er als Programmierer u. Systemingenieur. In dieser Zeit begann Z. zu schreiben u. schloss sich in Zürich einer Werkstatt schreibender Arbeiter an. 1974–1979 war er nochmals als Entwicklungsingenieur tätig; nach einem anschließenden Italienaufenthalt lebt er seit 1981 als freier Schriftsteller. Zusammen mit seiner Frau Christa gründete er 1986 eine Schreibwerkstatt. Z. ist heute in Obstalden im Kanton Glarus ansässig. Z.s Debütroman Jede Minute kostet 33 Franken (Zürich 1977. U. d. T. Jede Minute kostet ... Reinb. 1981) kann man noch als Produkt einer »Literatur der Arbeitswelt« betrachten, zumal Z. sein Schreiben in dieser Zeit selbst als »kulturelle Leistung für die Arbeiterbewegung« (Schreiben im Kollektiv. In: drehpunkt 1978, H. 40/41) begriffen hat. In unprätentiöser Sprache werden die Arbeitsvorgänge detailliert geschildert. Der Ingenieur Kern wird durch die Konfrontation mit einem Kollaps des Computersystems in seinem Glauben an die moderne Technologie erschüttert u. entwickelt gesellschaftl. Problembewusstsein. Die polit. Risiken der Computertechnik fokussiert der Roman Computer für tausendundeine Nacht (Zürich 1980) an einem brisanten Modell. Der Wis-

senschaftsjournalist Kopp stößt auf den Plan, im Iran ein Computernetz zu installieren, das ihm als techn. »Inkarnation der politischen Vorstellungen der Diktatur« erscheint. Mit Hilfe eines oppositionellen iranischen Technikers gelingt es, die Auslieferung dieses Programms u. damit die Funktionalisierung eines ganzen Landes »als Testzentrum, als Laboratorium der industrialisierten Welt« zu verhindern. Mit der Welt der Computer hat Z. sich in vielen literar. Gattungen auseinandergesetzt. Er hat früh versucht, das Thema in die Kinder- u. Jugendliteratur einzuführen (Ein Wiesenfest für die Computerkäfer. Zürich 1982. Der Computerdieb. Reinb. 1988) u. sich ihm journalistisch vielfältig angenähert (Die elektronische Schiefertafel. Nachdenken über Computer. Zürich 1988). Als Erzähler hat er sich dem Thema wieder in dem Roman Londons letzter Gast (Zürich 1999) zugewandt, einer Art apokalypt. Science-Fiction-Roman, der in gewisser Weise die Katastrophe des 11. Sept. 2001 antizipiert. Die Hauptfigur ist der Netzwerkspezialist Dr. Alexander Adank, der in Diensten der global aufgestellten Londoner Versicherungsgesellschaft Risk & Win steht. Plötzlich fällt in der City of London der Strom aus, u. das Militär errichtet Sperrzonen. Adank schlägt sich zu seinem Kollegen Ahmed durch, der an der Wiederherstellung des Systems arbeitet. Ahmed eröffnet ihm jedoch, dass er das Netzwerk von Risk & Win in RahNet, eine Plattform des fundamentalistischen Scheichs Rahman umwandeln will, um den Dschihad in Form eines heiligen Cyber-War zu verkünden. Ahmed legt Adank nahe, ebenfalls in den Dienst des Scheich Rahman zu treten, aber Adank flieht. Ähnlich outet sich sein jüd. Kollege Goodrich am Ende als militanter Orthodoxer, der mit den Islamisten gemeinsame Sache macht, um den dekadenten Westen zu strafen. An den propagandistischen Äußerungen des Scheich Rahman exemplifiziert Adank die Thesen seiner Frau Claire, einer Linguistin, die über die rhetorische Verschleierung von Herrschaft geforscht hat. Der Anteil, den Computernetze an polit. Machtausübung haben, wird in Londons letzter Gast immer wieder reflektiert.

Zopfi

Aus der Skepsis gegenüber der High-TechWelt erwuchs in Z.s Werk die Suche nach lebensweltl. Alternativen. Im Roman Cooperativa oder Das bessere Leben (Zürich/Köln 1981) betreibt eine Gruppe junger Menschen, die vom arbeitslosen Meridionale bis zur Zürcher Großbürgerstochter reicht, eine Landkooperative bei Florenz. Innere Spannungen u. behördl. Behinderungen lassen das Projekt scheitern. Dass der Charakter der Arbeit sich unter dem Etikett autonomer Produktion nicht wirklich geändert hat, registriert auch der Techniker Zwahlen in dem folgenden Roman Suche nach dem andern (Zürich/Köln 1982). Zwahlen engagiert sich zwar an seinem Arbeitsplatz u. sympathisiert mit den Streikenden, aber erst die Entdeckung seiner Kreativität als Maler eröffnet ihm die Perspektive auf eine eigene Identität. Zwahlens Einsicht »Die Wahrheit ist keine Formel« u. seine Entpuppung als Künstler resultieren aus einer ästhetischen Umorientierung seines Autors. Z. möchte eine Poetik hinter sich lassen, die zu konstruktiv, gewissermaßen zu computeraffin operiert, u. nun ein Schreiben praktizieren, in dem »Spiele statt Formeln« dominieren. Eine erzählerische Selbstkorrektur macht deutlich, welche Konsequenzen diese ästhetische Umorientierung hat. Der Roman Lebensgefährlich verletzt (Zürich 1984) entlarvt den autobiogr. Roman Mondmilchsteine (Zürich 1979) in entscheidenden Punkten als ideolog. Konstruktion. Zum einen hatte Z. in dem früheren Roman aus klassenkämpferischer Optik die Beziehung zwischen einem Fabrikbesitzer u. der Landbevölkerung antagonistisch überzeichnet, zum anderen hatte er dieser Perspektive den tatsächl. Tod seiner Mutter aufgeopfert, um die positive Rezeptionswirkung nicht zu beeinträchtigen. Die Entlastung des eigenen Schreibens von jeder präskriptiven Ästhetik führt zu einer spürbaren Subjektivierung. Die Erzählung Die Wand der Sila (Zürich 1986) steht in ihrer Ästhetisierung u. existenziellen Deutung des Bergsteigens in einem intertextuellen Bezug zu Ludwig Hohls Novelle Bergfahrt. Das Bergsteigen bietet die gesuchte Alternative zur normierten gesellschaftl. Rolle, es vermittelt Authentizität u. Selbsterfahrung. Ganz im Sinne des Postulats

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»Spiele statt Formeln« verwandelt sich dem Beobachter seines Freundes elegante Überwindung einer Schlüsselstelle im Berg zu einem »Spiel aus Farbe und Bewegung«, zu einem »Kunstwerk«. Das Thema Bergsteigen hat sich in Z.s Werk zunehmend als Kern herausgeschält. In seiner Aufsatzsammlung Sanduhren im Fels (Zürich 1994) geht Z. auf die entscheidende Bedeutung des Bergsteigens für die Entwicklung seines Schreibens ein u. bekennt: »mein Schreiben hat in den Bergen eine Wurzel«. In der jüngeren Vergangenheit hat Z. das Thema Bergsteigen mit der für ihn neuen Gattung des Kriminalromans verknüpft. Wie andere Schweizer Autoren – Friedrich Glauser, Friedrich Dürrenmatt, Werner Schmidli – hat er eine wiederkehrende Figur erfunden, die junge Bergführerin Andrea Stamm. Z. führt sie in dem Roman Steinschlag (Zürich 2002) ein, der 2005 auch verfilmt wurde (Regie: Judith Kennel, DRS). Da die Täterschaft recht bald ersichtlich ist, richtet sich das Interesse weniger auf die Kriminalhandlung als auf die Hauptfigur, die sich beruflich in einer Männerdomäne behaupten muss. Z. gelingt es nicht zuletzt durch eine Reihe von Nebensträngen, die aber durchweg in einem funktionalen Verhältnis zum Kriminalfall stehen, seiner Protagonistin Individualität u. Plastizität zu verleihen. Der zweite Andrea Stamm-Roman Spurlos (Zürich 2007) gewinnt durch sein Thema gesellschaftl. Brisanz. Als Auslöser wirkt das Verschwinden des Schreiners Walter Kernen im Gebirge. Stamm erfährt, dass Kernen moribunder Krebspatient war. Bei weiteren Nachforschungen entdeckt sie, dass auf Betreiben des Gemeindeverwalters inmitten des Orts, verborgen in einem Glockenturm, eine Antennenanlage für Mobilfunk u. Internet illegal errichtet wurde. Von dem mit ihr befreundeten Arzt Daniel Meyer erfährt sie von geheim gehaltenen Statistiken über die gestiegene Zahl an Krebserkrankungen. Parallel zu ihren Recherchen erzählt Z.s Kriminalroman von Magnus, dem körperlich u. sozial benachteiligten Sohn des Verschwundenen. Die lebenslangen Erfahrungen von Gewalt u. Zurücksetzung haben Magnus verstockt u. fast stumm gemacht. Sein Bewusstsein ist okku-

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Zorn

Z. erhielt zahlreiche Stipendien, Auszeichpiert von Angst u. Misstrauen, sein Handeln besteht aus einer Kette von Verzweiflungs- nungen u. Preise, darunter den Schweizer akten. Doch wird das Klettern im Gebirge auf Jugendbuchpreis (1984, 1993), den Preis der der Suche nach dem Vater für Magnus zu- Conrad Ferdinand Meyer-Stiftung (1985), nehmend zu einer Quelle positiver Selbster- den Preis der Schweizerischen Schillerstiffahrung. Als Magnus hört, dass Andrea tung (1992) u. den Sarganserländer KulturStamm die Leiche seines Vaters gefunden hat, preis (1997). steckt er instinktiv den Glockenturm in Weitere Werke: Susanna u. die siebenhunBrand. Das Einzelschicksal des Magnus Ker- derttausend Zwerge. Aarau 1978. – Ralf u. die Konen dient Z. dazu, die Kehrseite des Moder- bra. Zürich 1979. – Musettina, mein Kätzchen. nisierungsprozesses in einem schweizeri- Zürich/Köln 1981. – Die Weltraumbasis beim Roschen Bergkanton zu thematisieren. Im drit- ten Haus. Zürich 1983. – Die Gesch. vom Stausee. ten Andrea Stamm-Krimi Finale (Zürich 2010) Zürich 1983 (alles Kinderbücher). – Die Stunden im Fels. Basel 1989. – Gespräch mit E. Z. In: NDL 39 stürzt die Protagonistin im Berg u. verletzt (1991), H. 8, S. 116–120. – Wörter mit Flügeln. sich schwer. Der Freund Daniel Meyer geht Kreatives Schreiben (zus. mit Christa Zopfi). Bern ihrem Unfall nach u. stößt auf ein Verbre- 1995. – Der Flohzirkus. Zürich 2000. – Kommissar chen. Frederiks Fälle. Zürich 2001 (beides Kinderbücher). Außer am Kriminalroman hat sich Z. auch – Leichter im Text – Ein Schreibtraining (zus. mit an der Gattung des histor. Romans versucht. C. Zopfi). Bern 2001. – Rund um den Walensee. Mit In Die Fabrikglocke (Zürich 1991) hat er das einem Vorw. v. Franz Hohler. Zürich 2008. – Eindringen der Zeitmessung in den Arbeits- Dichter am Berg. Alpine Lit. aus der Schweiz. Züprozess am konkreten Beispiel einer Stoff- rich 2009. – Hörspiele (wenn nicht anders anders druckerei in Glarus im Jahre 1837 untersucht. angegeben, alle DRS, Deutsches Radio Schweiz, Auswahl): Biwaknacht, 15.6.1978. – Schach dem Hier löste die Einführung einer Fabrikglocke Computer, 12.12.1981. – Alma, 15.10.1983. – Die einen spontanen Streik aus. Z. kombiniert die Brücke ins Land der Toten, 22.3.1992. – Der Fehler, Methode der dokumentarischen Rekon- 31.12.1999. – Das letzte Streichholz, 31.12.1999. – struktion mit der Reflexion des eigenen Stadtbahnlinie 1, SWR, 7.7.2001. – Herausgaben: Schreibprozesses. Die autobiografisch ge- Tödi – Sehnsucht u. Traum. Zürich 2000. – Glärfärbte Figur des Journalisten Kubli lässt Z. nisch. Rosen auf Vrenelis Gärtli. Zürich 2003. – nach dem Zusammenbruch des Streiks die Churfirsten. Über die sieben Berge. Zürich 2006. – Flucht nach Italien antreten. In Kilchenstock Annemarie Schwarzenbach: Lorenz Saladin. Ein (Zürich 1996) widmet sich Z. den vergebl. Leben für die Berge. Hg. u. mit einem Ess. v. Robert Warnungen des Pfarrers von Linthal vor ei- Steiner u. E. Z. Basel 2007. – Über alle Berge. Gesch.n. vom Wandern. Zürich 2010. nem drohenden Bergsturz. Auch hier greifen Literatur: Jürgen Egyptien: E. Z. In: KLG. Quellenstudium u. Erzählerreflexionen inJürgen Egyptien einander. Die Handlung spielt in den Jahren 1929–32 u. erlaubt Z., Weltwirtschaftskrise u. Aufstieg des Nationalsozialismus in Zorn, Fritz, † 3.7.1482. – Nürnberger Deutschland als sozialhistor. u. ideolog. Meistersinger. Phänomene in ihren Fernwirkungen bis in ein Glarner Gebirgstal einzubeziehen. Schon Z. war Nagler von Beruf. Er ist 1427 erstmals hier vermittelt die plast. Schilderung des urkundlich bezeugt, wurde 1442 Meister Klausenpass-Rennens von 1932 mit seinem seines Handwerks u. starb 1482 als Insasse Helden Rudolf Caracciola eine Vorstellung des Mendelschen Zwölfbrüderhauses, einer von dem Einbruch avancierter Technik u. frommen Stiftung für alte Handwerker. Als moderner Medienwelt in das traditionelle solcher ist er im Hausbuch der Stiftung in Sozialgefüge eines abgelegenen Bergtals. Nur Habit u. in Ausübung seines Handwerks von lokalgeschichtl. Interesse ist der allzu dargestellt (Abb. bei Brunner). quellenlastige histor. Roman Schrot und Eis Von Z. sind fünf meisterl. Töne überliefert: (Zürich 2005) über den sog. Züriputsch am 6. Greferei, Zugweise, Unbenannter Ton, VerSept. 1839. borgener Ton u. Verhohlener Ton. Die drei

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Ausgabe: Cramer 3, S. 512; Kommentar S. 593 letztgenannten Tonnamen deuten wohl auf die Auseinandersetzung um das Dichten in (das signierte Lied). Literatur: Irene Stahl: Die Meistersinger v. selbst erfundenen Tönen unter den Nürnberger Meistersingern im 15. Jh. hin. Z.s Nürnberg. Archival. Studien. Nürnb. 1982, S. 339. Töne wurden auch von späteren Meistern – Frieder Schanze: F. Z. In: VL. – Ders.: Meisterl. gerne gebraucht. Die Greferei ist erst im 16. Liedkunst zwischen Heinrich v. Mügeln u. Hans Sachs. Zürich/Mchn. 1983/84, Bd. 1, Register. – Jh. belegt. Johannes Rettelbach: Zu dem Nürnberger MeisVon Z. ist nur ein einziges signiertes Lied tersinger F. Z. In: ZfdA 114 (1985), S. 255–260. – bekannt (RSM 1Zorn/5/1): ein kommentierter RSM 5, bearb. v. F. Schanze u. Burghart Wachinger. Katalog von zwölf Tugenden. Außer diesem Tüb. 1991, S. 586–617. – J. Rettelbach: Der Einzug Lied stehen in der von Hans Sachs 1517 ge- der Meistersinger in die Oper. In: Vom MA zur schriebenen Handschrift Berlin SBPK, Mgq Neuzeit. FS Horst Brunner. Hg. Dorothea Klein 414 weitere 35 vorreformatorische Texte in u. a. Wiesb. 2000, S. 615–632. – H. Brunner: F. Z. Tönen Z.s ohne Autornennung, ferner eines In: Stadtlexikon Nürnberg. Hg. Michael Diefenin München SB, Cgm 847. Mit großer Si- bacher u. Rudolf Endres. Nürnb. 1999, S. 1217 u. cherheit sind unter diesen Liedern Texte des 1218. – RSM 2/1, bearb. v. J. Rettelbach. Tüb. 2008, S. 324 f.; Bd. 5, bearb. v. F. Schanze. Tüb. 1991, Tonautors selbst, doch wird man sie nicht S. 586–617. Johannes Rettelbach unbedenklich sämtlich ihm zuordnen können, sind seine Töne doch auch bei ZeitgeAnnemarie, * 12.3.1932 nossen wie Hans Folz u. Konrad Nachtigall Zornack, beliebt, von denen Texte signiert in derselben Aschersleben/Harz. – Lyrikerin, VerfasseHandschrift stehen. Von Z.s Bedeutung zeu- rin von Kurzprosa u. Reisebüchern. gen zwei Erwähnungen bei Hans Folz: ein- Z. wuchs als Schülerin in Magdeburg auf, war mal ein kurzer ehrender Nachruf, davor je- dort u. seit 1953 in Kiel als Krankenschwester doch eine polem. Absetzung von dessen tätig. Seit 1961 mit Hans-Jürgen Heise theolog. Positionen, die göttl. u. menschl. (* 6.7.1930) verheiratet, mit dem sie zwei Natur Christi betreffend. Der indizierte Text Reisebücher, eine Anthologie u. die multilässt sich nicht sicher erschließen. mediale Verssammlung Zikadentreff. AndalusiBei den Texten in Z.-Tönen überwiegen sche Motive (Bln. 1990; mit Holzschnitten von theologisch-spekulative Erörterungen. Zen- Wolfgang Simon, Musik von Mariangeles trales Thema ist das Wesen Gottes, insbes. das Sanchez Benimeli) publizierte. Seit 1969 ist Z. der Trinität: das Verhältnis von göttl. Einheit als freie Schriftstellerin tätig. Sie ist Mitgl. u. personaler Dreiheit, das Verhältnis der des P.E.N.-Zentrums Deutschland u. seit göttl. Personen untereinander, das Verhältnis 1998 Ehrenmitgl. der Gesellschaft für zeitvon Gott u. Schöpfung u. die göttl. u. menschl. genössische Lyrik, Leipzig. Z. erhielt 1979 Natur Christi. Die Formulierungen der Tex- den Friedrich-Hebbel-Preis u. 1998 den Kulte sind teilweise so eng verwandt, dass turpreis der Stadt Kiel; 1989 war sie Ehrenman für einen Großteil der Lieder von einem gast der Villa Massimo in Rom. Der literar. einheitl. Verfasser ausgehen darf. Gelegent- Vorlass befindet sich seit 2003 im Deutschen lich finden sich auch andere religiöse The- Literaturarchiv, Marbach. men: Passionslieder, Marienlieder, das VerSeit 1963 veröffentlichte Z. Kurzgeschichhältnis von Mensch zu Gott u. Ermahnungen ten u. Gedichte, gesammelt in den Bänden als zu rechtem christl. Lebenswandel, einmal das fernsehprogramm noch vorm küchenfenster lief unter Verwendung zahlreicher Tierallegores- (Düsseld. 1979), stolperherz (ebd. 1988), Eingeen. holte Jahreszeit (Kiel 1991; L., P.) u. strömungsSachs zählt ihn unter die zwölf Begründer gefahr (Düsseld. 1999). Eine zyklisch gegliedes Nürnberger Meistergesangs (RSM 2S/ derte Auswahl der Gedichte aus den Jahren 187); Z. spielt auch in Wagners Meistersingern 1962–2003 erschien u. d. T. dich meine ich eine Rolle. (Gött. 2004).

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In freien Versen (Z. nennt es »rhythmi- G. Dimmer. Ebd. 1987. – das meer unter meinem siertes reimloses Sprechen«) werden Zeiten u. kopfkissen. Kiel 1995. – hexennest. Mit Graphiken Orte unmittelbarer Teilhabe am Leben be- v. Malgorzata M. Meirah Buras. Düsseld. 1997. – schworen. »Die geheiligten Bildungsgüter Mitlesebuch Nr. 89: [Leseprobe]. Mit Graphiken v. Siegfried Schütze. Bln. 2007. – Reisebücher (zus. mit verabscheut sie« (Verena Auffermann). Die H.-J. Heise): Die zwei Flüsse von Granada. Düsseld. »Kindheit im proletarischen-kleinbürgerli- 1976. – Der Macho u. der Kampfhahn. Kiel 1987. – chen Milieu Mitteldeutschlands, die sinnes- Herausgabe: Schon mal gelebt? Amerikan. Gedichte verwirrenden Erlebnisse der Pubertät, Zärt- des 20. Jh. (zus. mit H.-J. Heise). Ebd. 1991. lichkeiten, Glücksmomente, Zeitvergehen, Literatur: Die Pausen zwischen den Worten. Entfremdungsschocks, Begegnungen mit Dichter über ihre Gedichte. Hg. Rudolf Riedler. anderen Ländern und die bewußte Verortung Mchn./Zürich 1986, S. 122–124. – Walter Helmut meines Lebens an der Kieler Förde« sind Fritz: Z., Kußhand. In: NDH 34 (1987), S. 600 f. – Themen, die Z. in einer lakonischen, zupa- Die Form kommt mit dem Inhalt. A. Z.s Werk im ckenden Sprache poetisch verdichtet. Von Spiegel der Kritik. Hg. Giuseppe de Siati u. Thies ihrer »Kunst der Einfühlung in Landschaf- Ziemke. Kiel [1996]. – Erich Maletzke: Poeten in ländl. Idylle. Kiel 1996. – orte 20 (1996), Nr. 97 ten, Persönlichkeiten« u. »in die eigene ›Ar(darin Beiträge v. Werner Bucher, Virgilio Maschibeit am Tod‹« war schon 1970 die Rede (Inge adri, Erwin Messmer). – Dietrich Rall: WiderMeidinger-Geise). Mit wenigen Worten ent- sprüchliches aus Mexiko. In: Schriftsteller u. die wirft Z. Alltagsszenen: »lauter augenblicke ›Dritte Welt‹. Hg. Paul Michael Lützeler. Tüb. flüchtig«. Es geht darum, auch »dem Nich- 1998, S. 71–85. – Uwe Herms: Die Langbeinige tigen einen Namen zu geben« (Vera Botter- Zikade. In: die horen 47 (2002), H. 2, Nr. 206, busch). Psychische Irritationen finden ihre S. 182–185. Arnd Beise Entsprechung in surrealen Bildern, die sich bisweilen dem Wortspiel verdanken, v. a. in Zschokke, (Johann) Heinrich (Daniel), eiden erot. Gedichten (»laß das einhorn / stets / gentl.: H. Schocke, auch: Johann von allein kommen, nie / in der herde«). Die Magdeburg, L. Weber; * 22.3.1771 MagKommunikation mit dem Leser verliert Z. deburg, † 27.6.1848 Gut Blumenhalde bei dabei nicht aus den Augen: »Ich suche Aarau. – Erzähler, Dramatiker, Publizist; schreibend die Begegnung mit dem Men- Pädagoge, Politiker. schen im Menschen [...]. Ich rede den Leser an wie einen Menschen, der mich bereits kennt, Der Sohn eines wohlhabenden Tuchmachers so, als träfe ich einen Freund auf der Straße wuchs mutterlos u. nach dem Tod des Vaters und begänne ein Gespräch mit ihm.« Ihren (1779) zunächst bei Geschwistern auf, dann Gedichten eignet Individualität, Musikalität, bei dem Schriftsteller Elias Caspar Reichard. aber auch Spaß am Rollenspiel, an »Wortwitz Nach einem Verweis vom Gymnasium floh und Wort-Schönheit« (Karl Krolow). In einer der 17-Jährige nach Schwerin, wo er als Korpoetolog. Reflexion heißt es: »Stilistisch rektor u. Privatlehrer tätig war. 1788 schloss strebe ich Einfachheit an, die Vermittlung sich Z. einer wandernden Theatertruppe an. zwischen Bild und Small-Talk, Tagtraum und Er wurde zum erfolgreichen Theaterdichter, realistischer Selbstvergewisserung« (Gegen die dessen Stücke, wie Goethe berichtet, denen Vergänglichkeit anschreiben, 1985). Auf diese Art Schillers gleichgestellt wurden. Sein größter entsteht eine »zugleich zugängliche und Erfolg wurde 1795 das nach seinem zwei dennoch betont artistische Lyrik« (Volker Jahre zuvor erschienenen Roman umgearbeitete u. in viele Sprachen übersetzte RäuHage), die tatsächlich unverwechselbar ist. berstück Abällino der große Bandit (Lpz., Weitere Werke: Lyrik: mobile. Darmst. 1968. – Frankf./O.). Nach der Maturitätsprüfung zwei sommer. Ebd. 1968. – tagesanfänge. Ebd. 1972. – der steinschläfer. Ffm. 1972. – nichts wei- studierte Z. seit 1790 an der Universität in ter. Darmst. 1976. – treibanker werfen. Mit Gra- Frankfurt/O. Theologie u. war nach der Prophiken v. Günter Dimmer. Düsseld. 1982. – die motion als Privatdozent tätig. 1795 trat er langbeinige zikade. Mit Graphiken v. Heinrich eine Reise an, die ihn über Paris in seine neue Richter. Ebd. 1985. – kußhand. Mit Graphiken v. Heimat, die Schweiz, führte. Hier leitete er in

Zschokke

Reichenau zunächst ein Philanthropin u. hatte während der Helvetischen Republik hohe polit. Ämter inne. Mit mehreren Zeitschriften, u. a. dem »Aufrichtigen und wohlerfahrenen Schweizerboten« (Luzern 1798–1800, Aarau 1804–79), bemühte er sich gemeinsam mit Bronner, Pestalozzi u. Stapfer um die polit. Volksaufklärung. 1802 begab sich Z. mit Kleist u. Ludwig Wieland auf eine Wanderung; es kam zu einem Dichterwettstreit, während dessen die Erzählung Der zerbrochne Krug entstand. 1802 nach Aarau übergesiedelt, heiratete Z. 1805 die Pfarrerstochter Nanny Nüsperli, mit der er eine Tochter u. zwölf Söhne hatte. Als Politiker trat Z. zeitlebens energisch für bürgerl. Freiheitsrechte ein, als Pädagoge u. Schriftsteller entfaltete er eine umfangreiche Tätigkeit u. trug zur Gründung einer gemeinnützigen Gesellschaft, einer Freimaurerloge, einer Gewerbe- u. einer Taubstummenschule sowie einer Sparkasse bei. Als Herausgeber zahlreicher Zeitschriften, in denen ein großer Teil seiner literar. Arbeiten zunächst erschien, wurde Z. zu einem der meistgelesenen deutschsprachigen Schriftsteller. In mehr als 70 Erzählungen – sie erschienen zumeist in den »Erheiterungen. Eine Monatsschrift für gebildete Leser« (Aarau 1811–26) – blieb das Gedankengut der Aufklärung lebendig u. verband sich mit den Ideen des polit. Liberalismus. Einzelne Erzählungen u. Novellen wie Die Walpurgisnacht (1812), Hans Dampf in allen Gassen (1814), Das Abenteuer in der Neujahrsnacht (1818) oder Ein Narr des neunzehnten Jahrhunderts (1822) sind meisterhaft, lesenswert auch die Romane Der Flüchtling im Jura (1822), Die Rose von Disentis (1844) oder die an Scott anknüpfenden histor. Romane Der Freihof von Aarau (1823) u. Addrich im Moos (1825. Neudr. Ffm./Salzb. 1978). Großen Einfluss in ganz Europa hatten die von Rom indizierten »Stunden der Andacht« (Aarau 1809–16). Für die in 40 Bänden erschienenen Ausgewählten Werke (ebd. 1825–28) konnte der Verleger Sauerländer eine Auflage von 4000 wagen; es folgten Z.s Ausgewählte historische Schriften (16 Bde., ebd. 1830). Ein facettenreiches Zeitbild u. Schilderungen der Verbindung zu zahllosen Schriftstellern, Politikern u. Gelehrten bietet die 1842 in Aarau

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erschienene Autobiografie Eine Selbstschau (bearb. von Rémy Charbon. Bern/Stgt. 1977). Weiter verfasste Z. zahlreiche histor., polit. u. forstwissenschaftl. Schriften. Neben dem Erzählwerk für gebildete Leser erschienen u. a. mit Das Goldmacherdorf (1817. Neuausg. Ratingen u. a. 1973), Des Schweizerlands Geschichte für das Schweizer Volk (1822), Die Brannteweinpest (1837) u. Meister Jordan, oder Handwerk hat goldenen Boden (1845. Alle Aarau) mehrere Volksschriften. Seine Konzeption der Volksaufklärung legte Z. in der Rede Volksbildung ist Volksbefreiung! (Sissach 1836) dar. Weitere Werke: Ausgabe: Werke in 12 Tln. Hg. Hans Bodmer. Bln. u. a. 1910. – Neuere Einzelausgaben: Die Walpurgisnacht. Einl. Günther Albrecht. Bln./DDR 1975 (E.en). – Hans Dampf in allen Gassen. Humoristische Erzählungen u. Fabeln. Hg. Volker Michels. Ffm. 1980. – Einzeltitel: Ideen zur Psycholog. Ästhetik. Bln., Frankf./O. 1793. – Meine Wallfahrt nach Paris. 2 Bde., Zürich 1796/97. – Schauspiele. Bayreuth 1804. – Der Baier. Gesch. erstes (bis sechstes) Buch. Aarau 1813–18. – Die klass. Stellen der Schweiz [...]. Wien u. a. 1842. Neudr. Hildesh. 1976. – Zeitschriften: Der Helvet. Genius. Luzern/Zürich 1799. – Miscellen für die Neueste Weltkunde. Aarau 1813–18. – Überlieferung zur Gesch. unserer Zeit. Ebd. 1817–23. – Prometheus. Für Licht u. Recht. Ebd. 1832/33. – Briefe: Der Briefw. 1806–1848 zwischen Ignaz Heinrich v. Wessenberg u. H. Z. Bearb. v. Rudolf Herzog u. Othmar Pfyl. Basel 1990. – Ilona Scherm u. Ekkehard Hübschmann: ›Ich will sie chronologisch ordnen u. schön einbinden lassen‹. Textkrit. u. kommentierte Ed. einer Ausw. v. 28 Briefen aus der Korrespondenz v. H. Z. mit dem Züricher Oberrichter Johann Heinrich v. Orelli. Bayreuth 1998. – ›Guten Morgen, Lieber!‹ Der Briefw. H. Z.s mit seinem Verleger Sauerländer. Hg. Werner Ort. Bern u. a. 2001. – Nachlass: Aargauisches Kantonsarchiv Aarau. Literatur: Carl Günther: H. Z.s Jugend- u. Bildungsjahre (bis 1798). Aarau 1918. – Paul Schaffroth: H. Z. als Politiker u. Publizist während der Restauration u. Regeneration. In: Argovia 61 (1949), S. 5–203. – Friedrich Voit: Der kluge Landmann sieht nicht nach dem Mond. Der Schweizerbote-Kalender v. J. H. Z. In: IASL 8 (1983), S. 83–120. – Holger Böning: H. Z. u. sein ›Aufrichtiger u. wohlerfahrener Schweizerbote‹. Bern u. a. 1983. – Eduard Vischer: H. Z. – einst u. heute. In: Argovia 104 (1992), S. 164–174. – Robert Hinderling u. Rémy Charbon: Der Briefw. v. H. Z.

Zsolnay

707 Bayreuth 1998. – Werner Ort: ›Die Zeit ist kein Sumpf, sie ist Strom‹. H. Z. als Zeitschriftenmacher in der Schweiz. Bern 1998. – Erich Wenneker: H. Z. In: Bautz. – H.-Z.-Brief. Mitteilungsorgan der H.Z.-Gesellsch. 2001 ff. – W. Ort: H. Z. als Regierungsstatthalter der Helvetik in Basel. Zürich 2001. – Gunter Schandera: J. H. D. Z. In: Magdeburger biogr. Lexikon. Hg. ders. u. Guido Heinrich. Magdeb. 2002, S. 832 f. – R. Charbon: Autobiogr. Schreiben bei H. Z. In: Immermann-Jb. 4 (2003), S. 55–70. – W. Ort: Der modernen Schweiz entgegen. H. Z. prägt den Aargau. Baden 2003. – Stephan Sehlke: H. J. D. Z. In: Ders.: Pädagogen – Pastoren – Patrioten [...]. Norderstedt 2009, S. 426 f. Holger Böning / Red.

Zschokke, Matthias, * 29.10.1954 Bern. – Erzähler, Dramatiker, Filmemacher.

mung; trotz der Sehnsucht nach Veränderung, scheint Handeln unmöglich. »Unzufriedenheit, die Unruhe, die Sehnsucht, das sind gerade die Motoren, gleichsam die Galeerensklaven oder Schiffsschraubenantriebe, der Wind in den Segeln von Brut« (Z. im Programmheft der Uraufführung). Der Roman Piraten (Ffm. 1991) korrespondiert mit dem Stück: Die Figuren treten als Schauspieltruppe auf, »ziehen heute drittklassig kostümiert durch Fußgängerzonen und werden ausgelacht, sobald sie sich im Suff dazu hinreißen lassen, von Brut zu erzählen«. Auch der Autor mischt sich hier zuweilen unter seine Figuren. Wenn man Brut als Allegorie auf den Theaterbetrieb lesen konnte, so ist Die Alphabeten (Bln. 1990. Urauff. Bern 1994) eine Auseinandersetzung mit dem Literaturbetrieb: Das Stück fängt mit einer Literaturpreisverleihung an. Es wurde mit dem Gerhart-Hauptmann-Preis (1992) u. dem StückeFörderpreis des Goethe-Instituts (1995) ausgezeichnet.

Z. besuchte die Schauspielschule in Zürich u. war dann unter Peter Zadek am Schauspielhaus Bochum engagiert. 1980 zog er nach Berlin, das auch den Hintergrund für seine ersten Romane bildet. In seinem Romandebüt Max (Mchn. 1982), das mit dem RobertWeitere Werke: ErSieEs. Mchn. 1986 (R.). – Der Walser-Preis 1981 ausgezeichnet wurde, um- dicke Dichter. Köln/Basel 1995 (R.). – Der reiche kreist Z. die immer vielschichtig u. rätselhaft Freund. Bln. 1994. Urauff. Hann. 1995 (D.). – Die bleibende Identität seiner Hauptfigur. Am Exzentrischen. Bln. 1997 (D.). – Das lose Glück. Schluss stehen acht verschiedene Romanaus- Zürich 1999 (R.). – Die Einladung. Bln. 2000. gänge alternativ nebeneinander. Mit seinem Urauff. Genf 2006 (D.). – Die singende Kommissarin. Bln. 2001. Urauff. Bln. 2002 (D.). – Ein neuer zweiten Roman Prinz Hans (Mchn. 1984) lotet Nachbar. Zürich 2002 (E.en). – Raghadan. Bln. Z. die Möglichkeiten des Romans weiter aus: 2005 (D.). – Maurice mit Huhn. Zürich 2006 (R.). – Im zweiten Teil wird der Roman zum Thea- Auf Reisen. Zürich 2008 (E.). terstück (Elefanten können nicht in die Luft Literatur: Niels Höpfner: Z. Ein sanfter Rebell. springen, weil sie zu dick sind – oder wollen sie Mit einer Bibliogr. 1981–2011. Köln 2002 (Privatnicht. Bln. 1983. Urauff. Bln. 1986). Der Text druck u. unter www.angelfire.com/ms/zschokke/ macht dabei auch den Prozess des Schreibens Titel.html). – Thomas Kraft: M. Z. In: LGL. – Sasichtbar: »Die hintere Neonleuchte links muel Moser: M. Z. In: KLG. Ursula Cadenbach muß flackern, weil sie erwähnt werden will« (Prinz Hans, S. 92). Nicht nur seine Romane, Zsolnay, Paul (von), * 12.6.1895 Budapest, auch Z.s erster Spielfilm Edvige Scimitt (Vie† 11.5.1961 Wien. – Verleger. tinghoff/ZDF/Xanadu 1985) wurde von der Kritik sehr positiv aufgenommen; er gewann Der Sohn eines österr. Honorar-Generalkonden Spielfilmpreis der Deutschen Filmkritik suls besuchte nach dem Abitur die Hoch1986. 1988 u. 1996 folgten zwei weitere Fil- schule für Bodenkultur in Wien. Nach dem me: Der wilde Mann (ZDF) u. Erhöhte Wald- Studienabschluss widmete er sich mehrere brandgefahr (R-Film). Jahre lang der Verwaltung seines in der Nähe Für sein Stück Brut (Urauff. Bonn 1988) von Preßburg gelegenen Guts, das er mit wurde Z. 1989 von »Theater heute« zum großem wirtschaftl. Erfolg führte. Auf AnreNachwuchsautor gewählt. Unter der Mann- gung von Freunden u. befreundeten Schriftschaft eines in der Karibik gestrandeten Pi- stellern gründete Z. 1923 in Wien den Paul ratenschiffes herrscht morbide Endzeitstim- Zsolnay Verlag mit Niederlassungen in Berlin

Zuber

u. Leipzig. Nach 1933 war der Verlag zunehmend von dt. Devisenbeschränkungen u. vom Verbot jüd. Literatur in Deutschland betroffen; er wurde sukzessive gleichgeschaltet. Z.s erste verlegerische Tat war 1924 die Herausgabe von Franz Werfels Verdi. Roman der Oper; bis 1938 verlegte Z. alle Werke Werfels. Zu den Hausautoren zählten Heinrich Mann, Däubler, Schnitzler, Salten, H. G. Wells mit einer Ausgabe gesammelter Werke, Colette, Theodore Dreiser, Galsworthy, Cronin (Letztere in dt. Erstveröffentlichung). Nach dem »Anschluss« 1938 emigrierte Z. nach London u. gründete dort den Verlag Heinemann & Zsolnay. 1946 erfolgte die Neugründung des Unternehmens als Paul Zsolnay Verlag GmbH in Wien mit Filiale in Hamburg u. den Schwerpunkten Belletristik u. Sachbuch. Zu den neuen Autoren der Nachkriegszeit gehörten Graham Greene u. Hans Bender. Z. gab auch eine umfangreiche Anthologie österr. bzw. Wiener Autoren von Altenberg bis Zweig nach dem amerikan. Vorbild des Esquire Cocktail heraus (Wiener Cocktail. Wien/Hbg. 1960). Literatur: Murray G. Hall: Der P. Z. Verlag. Von der Gründung bis zur Rückkehr aus dem Exil. Tüb. 1994. – Ders. u. Herbert Ohrlinger: Der P. Z. Verlag 1924–1999. Dokumente u. Zeugnisse. Wien 1999. – Manuela Rogger: Der P. Z. Verlag in Wien zwischen 1924 u. 1945. Diss. Innsbr. 2010. Oliver Riedel / Red.

Zuber, Zuberus, Matthaeus, * 1570 Neuburg/Donau, † 19.2.1623 Nürnberg. – Späthumanistischer Dichter.

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ein Unterkommen am Gottorper Hof des Fürsten Johann Adolph in SchleswigHolstein. 1616 wurde er als Lehrer an das Gymnasium in Sulzbach (Oberpfalz) berufen, schon 1619 aber wegen Trunksucht u. Aufsässigkeit entlassen. Seit 1621 lehrte er am Aegidiengymnasium in Nürnberg. Sein aus zahlreichen, meist kleineren Bänden (kleine Auswahl elektronisch lesbar in CAMENA) bestehendes lat. Gedichtwerk (unerforscht; mehr als 50 Titel), das nur teilweise zusammengefasst wurde (Poematum Pars Prima-Altera. Ffm. 1627) besteht, oft mit autobiogr. Referenz u. interessanten sozialgeschichtl. Indizien, auch aus Bettelpoemen, die einen weiten Umkeis der Gelehrtenwelt, des Adels u. des städt. Patriziats ansprechen. Sein Ruf als »berühmter und fürtrefflicher Dichter« (Will) beruhte v. a. auf der gewandten Handhabung epigrammat. Techniken. Die bisher so gut wie unbekannte Tatsache, dass sich Z. – aus Interesse oder im Auftrag u. aus finanzieller Not? – auch an die lat. Übersetzung eines Corpus griech. alchem. Handschriften machte (Handschriftenbestand in der ÖNB Wien, Cod. Vindobon. 11427 f.) bedarf ebenso weiterer Erkundung wie die Sammlung u. Sichtung seiner weit verstreuten Korrespondenz. Literatur: J. P. Lotichius: Bibliothecae Poeticae Pars Quarta. Ffm. 1628, S. 177–182. – Zedler 63, Sp. 772–774. – Georg Andreas Will: Nürnbergisches Gelehrten-Lexikon. Dritter Theil. Nürnb./ Altdorf 1757, S. 358–361. – Georg Ellinger. M. Z.s Lyrik. In: Der grundgescheute Antiquarius 1 (1920–22), S. 82–86. – Wilhelm Kühlmann: Gelehrtenrepublik u. Fürstenstaat. Tüb. 1982, S. 199 f. u. ö. (Register). – Estermann/Bürger, Tl. 1, S. 1296. – Flood, Poets Laureate, Bd. 4, S. 2324–2329 (mit bestem, aber immer noch ergänzungsbedürftigem Werkverz.).

Der aus armer Familie stammende Z. besuchte, zeitweise durch ein Stipendium unterstützt, das Gymnasium in Lauingen/Donau, dann (ohne Abschluss) die Universitäten Wilhelm Kühlmann Altdorf u. Wittenberg (1592). Paul Schede Melissus verlieh ihm 1597 den Titel eines Zuchardt, Karl, * 10.2.1887 Leipzig, Poeta laureatus. Zeitweise lebte Z. offenbar † 12.11.1968 Dresden; Grabstätte: ebd., von Einkünften als Verlagsmitarbeiter (KorStädtischer Heidefriedhof. – Dramatiker, rektor in Amberg 1600). Zu vermuten sind in Romancier, Novellist. dieser u. in der Folgezeit mehrere Reisen, wohl auch nach Frankreich, jedenfalls nach Z., Sohn eines Buchhändlers, studierte in Köln (dort Kontakte mit Caspar Ens, der Z. Freiburg i. Br., Berlin u. Leipzig Geschichte, aus dem Schuldgefängnis befreite). 1602 fand Volkswirtschaft u. Philosophie (Promotion er, wir wissen nicht, wie lange, als Hofpoet 1910). Er arbeitete einige Jahre als Studienrat

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u. ging 1916 für neun Jahre ins Ausland (Syrien, Spanien). 1940 ließ er sich als freier Schriftsteller in Dresden nieder. 1945–1957 unterrichtete er an der dortigen Musikhochschule u. der TH Literatur. Nach 1936 publizierte Z. in rascher Folge z. T. recht erfolgreiche Komödien zumeist um histor. Gegenstände (Erbschaft aus Amerika. Lpz. 1936. Frisch verloren – halb gewonnen. Ebd. 1938) u. Novellenbände (Umwege des Schicksals. Essen 1938. Könige und Masken. Ebd. 1942). Nach 1945 schrieb Z. ausschließlich Prosa u. erreichte mit drei formal eher herkömml. Romanen mit didaktisch aufbereiteten histor. Stoffen eine recht große Leserschaft. In Der Spießrutenlauf (Halle 1954. Reinb. 1989) kontert er kritisch die traditionelle Glorifizierung des »Alten Fritz«, in Wie lange noch, Bonaparte? (Halle 1956) beschreibt er die Umsturzversuche gegen Napoleon, u. in Stirb, Du Narr (ebd. 1960. 181989) gestaltet er das tragische Schicksal des Thomas Morus in seiner Auseinandersetzung mit Heinrich VIII. Die kontrastive Ausleuchtung der Welt der Mächtigen u. jener der »kleinen Leute« mutet dabei gelegentlich etwas vordergründig an. Ähnliche Züge finden sich in seiner letzten Arbeit, Die Stunde der Wahrheit (ebd. 1965. 10 1987), in der Z. mit der Darstellung der Todesstunde von prominenten Herrschern eine krit. Bilanz ihres Wirkens vorlegte. Weitere Werke: Ein König u. ein Grande. Breslau 1935 (D.). – Primanerin Ruth Hofbaur. Ziemetshausen 1947 (R.). – Das Mädchen Salud. Ebd. 1948 (P.). Gunnar Müller-Waldeck / Red.

Zuckerkandl, Berta, Bertha, * 13.4.1864 Wien, † 16.10.1945 Paris; Grabstätte: ebd., Friedhof Père Lachaise. – Journalistin, Salonière, Übersetzerin. Z. war die jüngste Tochter des aus Galizien stammenden jüd. Journalisten, Gründers u. Herausgebers des »Neuen Wiener Tagblatts«, Moriz Szeps, durch dessen Kontakte mit dem Kronprinzen Rudolf u. frz. Politikern sie schon früh an den gesellschaftspolit. Dialog herangeführt wurde. Die Erziehung Z.s übernahmen Hauslehrer; der Kunsthistoriker Albert Ilg vermittelte ihr dabei ein Verständnis für zeitgenöss. Kunst. 1886 heiratete Z.

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den angesehenen Anatomen Emil Zuckerkandl, mit dem sie vorübergehend in Graz wohnte u. der ihr Einblicke in seine medizinischen Arbeiten gab, die für Z.s Glauben an den wissenschaftl. Fortschritt entscheidend waren. Mit der impressionistischen Kunst in Paris machte sie ihr Schwager Georges Clémenceau bekannt, den Z. 1918 überzeugte, als frz. Ministerpräsident das besiegte Österreich nicht noch stärker zu isolieren. Neben einzelnen diplomatischen Missionen trat Z. vor allem durch ihre zwei Salons hervor, deren erster (Nusswaldgasse, 1889–1916) immer mittwochs, der zweite (Oppolzergasse 6, 1916–1938) sonntags stattfand u. die ein gesellschaftlich-kulturelles Zentrum Wiens bildeten. Zu ihren Gästen gehörten Sigmund Freud, Egon Friedell, Gustav Mahler, Max Reinhardt u. Arthur Schnitzler, in dessen Tagebüchern häufig von Z. die Rede ist. Langjähriger Kritiker war Karl Kraus, der sie als »sage-femme der Kultur« verspottete. Ihr mit Hugo von Hofmannsthal geführtes Gespräch über Österreich, das auf 1920 datiert ist, zeigt Z.s kulturpolit. Visionen, aufgrund derer u. a. Parallelen man die Salondame als Vorbild für die Diotima-Figur in Musils Roman Mann ohne Eigenschaften hat identifizieren wollen. Als Journalistin veröffentlichte Z. seit den 1890er Jahren in der »Wiener Allgemeinen Zeitung« u. in »Ver Sacrum«, später im »Neuen Wiener Tagblatt«, im »Neuen Wiener Journal« u. in ausländ. Zeitungen (»TAM«, Algier, u. »Jewish Chronicle«, London) Artikel. Themat. Schwerpunkte stellten der Kampf gegen Nationalismus u. Antisemitismus, das Burgtheater u. die Salzburger Festspiele dar, die Z. mit initiierte. Erkennbar sind drei Phasen ihrer Kunst- u. Gesellschaftskritik: Zuerst setzte sich Z. leidenschaftlich für die Wiener Secession u. eine neue Sachlichkeit in Architektur, Kunstgewerbe u. -industrie ein, die »Gebrauchsgegenstände schaffen« sollten. Während des Ersten Weltkriegs traten dann soziale Themen in den Vordergrund. Schließlich entwickelte Z. ein pazifistisches Europa-Konzept. Als kulturelle Vermittlungsleistungen sind auch Z.s Übersetzungen von ca. 120 Theaterstücken aus dem Französischen ins Deutsche u. ihre Initiativen zum

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dt.-frz. Austausch, v. a. über den Pariser Salon 2007, S. 158 f. – Bettina Spoerri: ›Auf meinem Diihrer Schwester Sophie, in diesem Zusam- wan wird Österreich lebendig.‹ Die jüd. Journalistin B. Z.-Szeps u. ihr Wiener Salon. In: ›Not an menhang zu sehen. Nach dem »Anschluss« Österreichs an Essence but a Positioning«. German-Jewish Women Writers (1900–1938). Hg. Andrea Hammel u. GoDeutschland 1938 emigrierte Z. nach Paris, dela Weiss-Sussex. Mchn. 2009, S. 165–180. wo ihre Wohnung zum Treffpunkt dt.-österr. Robert Krause Emigranten wurde u. Z. fortan vorwiegend auf Französisch schrieb. 1940 flüchtete sie weiter nach Algier, lernte dort André Gide Zuckmayer, Carl, * 27.12.1896 Nackenkennen u. diktierte ihrem Enkel ihr sog. heim bei Mainz, † 18.1.1977 Visp/Kt. »Telefontagebuch« u. Anekdoten über Her- Wallis. – Dramatiker, Romancier, Lyriker. mann Bahr, Auguste Rodin u. v. a.; diese Manuskripte erschienen postum u. editorisch Z. war Sohn eines Weinkapselfabrikanten u. umstritten u. d. T. Österreich intim. Erinnerun- wuchs in Mainz auf. Nach Notabitur u. Melgen 1892–1942 (Hg. Reinhard Federmann. dung als Kriegsfreiwilliger im Aug. 1914 war Ffm./Bln./Wien 1970). Sie informieren eben- er bis 1918 Soldat an der Westfront, zuletzt so wie schon Z.s autobiogr. Bericht Ich erlebte als Leutnant. Danach studierte er bis 1920 50 Jahre Weltgeschichte (Stockholm 1939), der Jura, Literaturgeschichte u. Soziologie in fast zeitgleich auch in engl. u. frz. Sprache Frankfurt/M. u. Heidelberg, brach dann sein erschien, anschaulich über ihr schillerndes Studium ab, ging nach Berlin u. schlug sich Leben, wobei allerdings die Erinnerungspro- nach dem Misserfolg seines am Staatlichen blematik u. Tendenz zur Selbstinszenierung Schauspielhaus in Berlin uraufgeführten Erstlingsdramas Kreuzweg (Mchn. 1920) mit zu berücksichtigen sind. Nachdem sie im Sept. 1945 todkrank nach Gelegenheitsarbeiten durch. 1922/23 war er Dramaturg am Theater in Kiel, 1923 an den Frankreich zurückgekehrt war, um sich meKammerspielen in München u. 1924, zudizinisch behandeln zu lassen, starb Z. in sammen mit Bertolt Brecht, am Deutschen Paris. Theater in Berlin. 1925 heiratete er Alice Weitere Werke: Dekorative Kunst u. KunstgeFrank, geb. von Herdan. Nach dem Sensatiwerbe. Wien 1900. – Zeitkunst. Ebd. 1908. – Cléonserfolg mit seiner Komödie Der fröhliche menceau, tel que je l’ai connu. Algier 1944. Weinberg (Bln. 1925) erwarb er in Henndorf Literatur: Mary L. Wagener: Pioneer Journabei Salzburg ein Haus, die »Wiesmühl«, das listinnen. B. Z. and Alice Schalek. Diss. Ohio 1976. seitdem sein Hauptwohnsitz war. – Renate Redl: B. Z. u. die Wiener Gesellsch. Diss. Von 1933 an wurden seine Stücke in Wien 1978. – Hélène Mauler: B. Z. entre Vienne et Deutschland nicht mehr aufgeführt, waren Paris. In: Etudes Danubiennes 4 (1990), 1, S. 21–32. – Isabella Ackerl: Wiener Salonkultur um die aber zunächst noch nicht verboten. Erst im Jahrhundertwende. In: Die Wiener Jahrhundert- April 1935 wurde von der Gestapo die Realiwende. Hg. Jürgen Nautz u. Richard Vahrenkamp. sierung eines Filmprojekts für die Ufa vereiWien/Köln/Graz 1993, S. 694–709. – Beatrix Schi- telt u. im Dezember desselben Jahres die ferer: Vorbilder. Wien 1994, S. 95–106. – Lucian O. Veröffentlichung seines Romans Salwàre oder Meysels: In meinem Salon ist Österr. B. Z. u. ihre die Magdalena von Bozen (Wien 1936) im Zeit. Wien 21997. – Olaf Herling: B. Z. oder die Deutschen Reich untersagt. Nach der AnneKunst weibl. Diplomatie. In: Das alles war ich. Hg. xion Österreichs 1938 floh Z. in die Schweiz; Frauke Severit. Wien/Köln/Weimar 1998, S. 53–74. 1939 emigrierte er in die USA. Dort arbeitete – Gesa v. Essen: ›Hier ist noch Europa!‹ B. Z.s er eine kurze Zeit als Drehbuchautor in HolWiener Salon. In: Europa – ein Salon? Beiträge zur lywood u. als Dozent für Erwin Piscators Internationalität des literar. Salons. Hg. Roberto Simanowski. Gött. 1999, S. 190–213. – Michael Dramatic Workshop an der New School of Schulte: B. Z. Zürich 2006. – Lisa Silverman: Jewish Social Research in New York. Nach dem verintellectual women and the public sphere in inter- gebl. Versuch, als Schriftsteller in den USA war Vienna. In: Women in Europe between the Fuß zu fassen, pachtete er 1941 die Backwars. Hg. Angela Kershaw. Aldershot/Burlington woodsfarm bei Barnard in Vermont.

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1943/44 fertigte Z. im Auftrag des amerikan. Auslandsgeheimdienstes OSS ein Dossier mit 150 Porträts dt. Schauspieler, Schriftsteller, Verleger u. Journalisten an, die im nationalsozialistischen Deutschland eine prominente Rolle spielten. Es blieb ohne jeden Einfluss auf die Besatzungspolitik nach Kriegsende; erst 2002 wurde es unter dem Titel Geheimreport vollständig publiziert. 1946 wurde Z. die amerikan. Staatsbürgerschaft zuerkannt; ab November unternahm er als ziviler Kulturoffizier des US-Kriegsministeriums eine fünfmonatige Inspektionsreise durch Deutschland u. Österreich. Nach seiner Rückkehr in die USA verfasste er einen Deutschlandbericht für das Kriegsministerium der Vereinigten Staaten von Amerika, der in Gänze u. zusammen mit anderen thematisch einschlägigen Texten Z.s erst 2004 veröffentlicht wurde. Von 1947 bis 1958 lebte Z. abwechselnd in den USA u. der Schweiz. 1958 ließ er sich in dem Gebirgsort Saas-Fee im Schweizer Kanton Wallis nieder u. gab die amerikan. zugunsten der österr. Staatsbürgerschaft auf. 1966 wurde er Schweizer Staatsbürger. Z. begann als Lyriker; erste Gedichte veröffentlichte er 1917 in Franz Pfemferts Zeitschrift »Die Aktion«. Die Sammlung Der Baum (Bln. 1926) vereinigt in erster Linie Naturlyrik, die wie seine frühe, in der Sammlung Ein Bauer aus dem Taunus und andere Geschichten (Bln. 1927) zusammengetragene Prosa stark von einer vitalistischen Weltsicht geprägt ist. Das für ihn wichtigste künstlerische Terrain war indes das Theater, auf dem er zu einem der erfolgreichsten Dramatiker der Weimarer Republik avancierte. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg gehörten seine Stücke zu den mit Abstand am meisten gespielten in Deutschland. Nach Talentproben mit seinen ersten, expressionistischen Dramen wurde seine Komödie Der fröhliche Weinberg 1925 als zukunftsweisendes Ende des Expressionismus gefeiert. Es folgten mit Schinderhannes (ebd. 1927) u. Katharina Knie (ebd. 1928) zwei sentimentale Volksstücke, die erneut großen Zuspruch beim Publikum fanden. 1931 war Z.s Tragikomödie Der Hauptmann von Köpenick, eine Persiflage auf den Militarismus im Wilhelminismus, das herausra-

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gende Theaterereignis in Deutschland. Sein Renommee setzte er auch im polit. Engagement gegen die Nationalsozialisten ein, die ihn wegen seiner Vorfahren mütterlicherseits stets als »Halbjuden« denunzierten. In dieser Zeit änderte sich auch der Charakter seines Werks. Hatte Z.s Aufmerksamkeit bis dahin den unteren Volksschichten u. vor allem sozial Deklassierten gegolten, so rückte nun in den Erzählungen Die Affenhochzeit (Bln. 1932), Eine Liebesgeschichte (ebd. 1934) u. Herr über Leben und Tod (Stockholm 1938) wie auch in den Dramen Der Schelm von Bergen (Bln. 1934) u. Bellman (Chur 1938. U. d. T. Ulla Winblad. Ffm. 1953) die Oberschicht stärker ins Blickfeld. Zum Teil griff er nun auch auf histor. Stoffe zurück, letztmals in Barbara Blomberg (Ffm. 1949). Wie im Hauptmann von Köpenick galt Z.s Interesse in dieser Werkphase immer dem prekären Verhältnis des Einzelnen zur reglementierenden, Freiheit limitierenden Ordnung (einer natürlichen, gesellschaftlichen oder metaphysischen). Dieses Spannungsverhältnis wird in Z.s überaus erfolgreichem Exildrama Des Teufels General (Stockholm 1946) um den dt. Fliegergeneral Ernst Udet mit der Frage nach der Pflicht u. den Möglichkeiten zum Widerstand in Zeiten der polit. Barbarei verknüpft. Die gleiche Problemkonstellation kennzeichnet auch sein Stück Der Gesang im Feuerofen (Ffm. 1950) über Kollaboration u. Résistance im besetzten Frankreich während des Zweiten Weltkriegs. Die politisch grundierten Zeitstücke der folgenden Jahre – Das kalte Licht (ebd. 1955) u. Die Uhr schlägt eins (ebd. 1961) – thematisieren die Bedrohung des Zusammenlebens durch eine weltweit wachsende Vertrauenskrise, die ihre Ursache für Z. unter anderem, aber nicht ausschließlich im Kalten Krieg hat. Mit Beginn der 1960er Jahre sank das Interesse der Theater an Z.s Stücken rapide. Ihre relativ konventionelle Machart u. Z.s konservativ-humanistisches Weltbild galten zunehmend als anachronistisch. Nach einem bloßen Achtungserfolg mit seinem Goldgräberstück Das Leben des Horace A. W. Tabor (ebd. 1964) scheiterte zwei Jahre vor seinem Tod der ambitionierte Versuch, mit einem Stück über den Jugendprotest in einer naturzer-

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störenden Gesellschaft (Der Rattenfänger. Ebd. 1956. – Wilfried Adling: Die Entwicklung des 1975) noch einmal die Bühnen im dt. Dramatikers C. Z. Diss. Lpz. 1957. Wiederabdr. in: Sprachraum zu erobern. Seine Wertschät- Schr.en zur Theaterwiss. Bd. 1, Bln./DDR 1959, zung sank bei Dramaturgen u. Theaterkriti- S. 9–186. – Ingeborg Engelsing-Malek: ›Amor Fati‹ in Z.s Dramen. Berkeley 1960. – Ludwig Emanuel kern allerdings schneller als beim Publikum, Reindl: Z. Eine Bildbiogr. Mchn. 1962. – C. Z. Das wie die Verkaufszahlen seiner Erzählung Die Bühnenwerk im Spiegel der Kritik. Ffm. 1977. – Fastnachtsbeichte (ebd. 1959) u. seiner Auto- Thomas Ayck: C. Z. Reinb. 1977. – Siegfried Mews: biografie Als wär’s ein Stück von mir (ebd. 1966), C. Z. Boston 1981. – Hans Wagener: C. Z. Mchn. die ein Best- u. Longseller wurden, beweisen. 1983. – H. Kieser (Hg.): C. Z. Materialien zu Leben Von Beginn seines Erfolgs als Schriftsteller u. Werk. Ffm. 1986. – Jochen Becker: C. Z. u. seine an sperrte sich Z. nicht gegen die Verände- Heimaten. Mainz 1989. – H. Wagener: C. Z. Critirungen des literar. Feldes durch die mediale cism. Tracing Endangered Fame. Columbia, SC Entwicklung. Er schrieb für das Feuilleton u. 1995. – Christian Strasser: C. Z. Deutsche Künstler den Rundfunk, verfasste einmal sogar einen im Salzburger Exil 1933–1938. Wien/Köln/Weimar 1996. – Gunther Nickel u. Ulrike Weiß: C. Z. Werbetext für eine Schreibmaschine. Vor alMarbach 1996. – Z.-Jb. 1–4, St. Ingbert 1998–2001; lem aber arbeitete er immer wieder für die 5 ff., Gött. 2002 ff. Gunther Nickel Filmindustrie; die Liste aller Filme, an denen Z. als Treatment- oder Drehbuchautor mitgewirkt hat oder für die eines seiner Stücke Züfle, Manfred, * 30.6.1936 Baar/Kt. Zug, die Vorlage abgab, umfasst 36 Titel. Er 29.3.2007 Zürich. – Erzähler, Dramatiker, schrieb u. a. das Drehbuch für die Verfilmung Lyriker, Publizist. von Heinrich Manns Roman Professor Unrat, die 1930 u. d. T. Der blaue Engel ein Welterfolg Nach einem Germanistik- u. Psychologiestuwurde. Zwischen 1933 u. 1939 bildeten seine dium in Zürich, Tübingen, Nottingham, Arbeiten für den Film, unter ihnen auch das London u. Aix-en-Provence war Z. über 20 Drehbuch zu Alexander Kordas Rembrandt Jahre Gymnasiallehrer in Zürich u. machte während dieser Zeit auch eine psychoanalyt. (1936), sogar seine Haupteinnahmequelle. Z. wurde mit zahlreichen Literaturpreisen Ausbildung. Seit 1982 lebte er als freier ausgezeichnet, darunter 1925 der Kleist- Schriftsteller u. Publizist in Zürich. 1991–95 Preis, 1927 der Georg-Büchner-Preis, 1952 war er Präsident der Gruppe Olten. Z. verstand sich als polit. Autor. In seinem der Goethepreis der Stadt Frankfurt/M., 1960 der Große Österreichische Staatspreis für Li- Engagement verschmolzen Christentum, teratur u. 1972 der Heinrich-Heine-Preis der Marxismus u. Psychoanalyse zu einem Amalgam, das ihn zur Auseinandersetzung Stadt Düsseldorf. Ausgaben und Briefeditionen: Ges. Werke. 4 mit schweizerischen u. globalen Missständen Bde., Ffm. 1960. – Werkausg. in 10 Bdn. Ebd. 1976. anregte. Unter anderem mit dem Stück Der – Ges. Werke in 17 Einzelbdn. Ebd. 1995–97. – Jogger und der Heilige (Urauff. Luzern 1984) Späte Freundschaft. C. Z., Karl Barth in Briefen. reagierte er auf die Zürcher Jugendunruhen Zürich 1977. – C. Z. / Paul Hindemith: Briefw. In: zu Beginn der 1980er Jahre, am differenZ.-Jb. 1 (1998). – C. Z. / Carl Jacob Burckhardt: ziertesten in seinem Hauptwerk, dem Roman Briefw. In: ebd. 3 (2000). – C. Z. / Annemarie Seidel: Der Scheinputsch (ebd. 1989): Die subtile geBriefw. Gött. 2003. – C. Z. / Gottfried Bermann sellschaftl. Ausgrenzung eines Vaters, der Fischer: Briefw. Gött. 2004. – C. Z. / Albrecht Josich mit der rebellierenden Generation seiner seph: Briefw. Gött. 2007. Kinder solidarisiert, lässt ihn in seinem moLiteratur: Bibliografien: Arnold John Jacobius: ralischen Humanismus erstarren u. daran C. Z. Eine Bibliogr. 1917–71. Ab 1955 fortgeführt zugrunde gehen. Politisch motiviert waren [...] v. Harro Kieser. Ffm. 1971. Forts.en in: Bl. der C.-Z.-Gesellsch. Mainz 1975–96. – In: FS C. Z. Ebd. der essayistische Querschnitt durch die hel1976. – In: C. Z. Ein Jb. Ffm. 1978. – In: Z.-Jb. 3 vet. Geschichte in hast noch Söhne ja. Schwei(2000), S. 505–518. – Weitere Titel: Alice Herdan- zergeschichte – jugendfrei? (Zürich 1991), das Zuckmayer: Die Farm in den grünen Bergen. Hbg. Prosaporträt des Heiligen Niklaus von Flüe, 1949. – Fülle der Zeit. C. Z. u. sein Werk. Ffm. Ranft. Erzählung und Erzählung der Erzählungen

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Zürcher Buch vom heiligen Karl

(Zürich 1998), sowie der Bericht Die Fremd- Kulturkritik. Bln./Hbg. 1998. – Eines natürl. Tomacher. Widerstand gegen die schweizerische Asyl- des. Zürich 2003 (E.en). Guido Stefani / Robert Rduch und Migrationspolitik. Zum Jubiläum von Solidarité sans frontières (sosf) (zus. mit Anni Lanz. Zürich 2006), die Z. als Korrektiv gegen die Zürcher Buch vom heiligen Karl. – selbstzufriedene u. konservative Schweiz beProsakompilation des 15. Jh. griff. Z. schrieb seine Werke auch aus persönl. Die in einer Zürcher Handschrift von 1475 Betroffenheit: In Kellergeschichten (Zürich überlieferte, aufgrund der hagiografischen 1983) nutzte er seine Erfahrungen als Mieter Stilisierung von der Forschung als Zürcher in einem Hochhaus für einen Roman, der das Buch vom heiligen Karl bezeichnete ProsakomGerücht als Stilmittel einsetzt u. diffuse ge- pilation zum Leben Karls d. Gr. steht im Zusellschaftl. Ängste symbolisch im Gemein- sammenhang mit dem Kult des berühmten schaftskeller des Hauses lokalisiert. In Astrid. Kaisers. Dieser Kult hatte in der Stadt Zürich Tagebuch einer Trauer (ebd. 1984) verarbeitete neben Aachen eines der bedeutendsten Zener in Gedichten u. kurzen Prosatexten den tren im dt. Sprachraum. Das ZB zählt zu den plötzl. Tod seiner Frau. 1989 führte die Ab- wichtigsten – gleichwohl noch immer wenig lehnung des krit. Auftragsstücks Die Werbung untersuchten – Zeugnissen der dt. Karlsveroder Margarete und der schwarze Toni durch die ehrung im ausgehenden MA. Die Zürcher Theatergesellschaft Zug zu einer landeswei- Handschrift überliefert das ZB u. a. zusamten Diskussion über Zensur u. einem Protest men mit einer Prosabearbeitung des stofflich des 9. europäischen Schriftstellerkongresses verwandten Willehalm Wolframs von Eschen(Dokumentation von Stück u. Kontroverse in: bach u. einer ihrerseits prosifizierten Version Zug, wie ich Dich liebe. Ebd. 1989). In dem der Georgslegende Reinbots von Durne. (In letzten Gedichtband Apokalypse und später. der Ausgabe des ZB unberücksichtigt ist die Zwischenräume (Zürich 2006) thematisierte er Handschrift aus der Schaffhausener Stadtbibliothek, Generalia 16; auch hier ist das ZB seine Krankheitserfahrung. Weitere Werke: Prosa der Welt. Die Sprache zusammen mit dem Prosa-Willehalm überlieHegels. Einsiedeln 1968. – Nacht ein für allemal. fert). Die Prosaauflösungen von Wolframs u. Urauff. Zürich 1969 (D.). – Wortzirkus. Urauff. Reinbots Versdichtung stammen offenbar Zürich 1971 (D.). – Monodrama. Urauff. Zürich ebenfalls vom Bearbeiter des ZB, der im 1971 (D.). – Mensch gesucht, z.B. Jesus: Medita- Rahmen seiner Karlskompilation die Prosationen zur nachchristl. Lit. Stgt. 1972. – Mord- auflösung von Konrad Flecks Flore und Blannacht. Urauff. Luzern 1974 (D.). – Ja oder nein zum scheflur u. von Strickers Karl zum wesentliVogelturm. Urauff. Solothurn 1975 (D.). – Die chen Grundstock macht. Götter hocken am Quai. Gedichte. Reflexe u. VerDas ZB berichtet in einem ersten, auf fahren. Darmst. 1977. – Schliesslich wird auch in kleinen Städten gestorben. Urauff. Solothurn 1980 Konrad Fleck fußenden Teil von Karls Groß(D.). – Der Herr der Lage. Zürich 1982 (Kantate). – eltern Flore u. Blanscheflur. Im zweiten Teil Weitergeräubert. Urauff. Solothurn 1982 (D). – mündet die gegenüber Strickers Karl noch Paranoia City oder Zürich ist überall (zus. mit weiter ausgebaute Vorgeschichte von Karls Jürgmeier). Reinb. 1982. – Hans im Loch. Urauff. Eltern, seiner Geburt, polit. Karriere, aber Solothurn 1983 (D.). – Der Löwe im Kloster. auch seiner (von Gott vergebenen) VerfehGesch.n aus Europa. Zürich 1984. – Im Herbst lungen in Karls Spanienfeldzug ein, der den schreien die Krähen anders. Urauff. Solothurn 1985 mit Abstand umfangreichsten Höhepunkt (D.). – Die verschwundene Geschichte. Noch ein darstellt. Abweichend von Strickers Karl u. Pamphlet um die PC-7 u. damit zusammenhängende Gegenstände wie Bundesrat, Waffen, Export auch von dessen Vorlage, dem Rolandslied des u. ähnliches. Basel 1986. – Zwielichter. Basel 1989 Pfaffen Konrad, trifft der Kaiser nach der (L.). – Der breton. Turm. Essays zur Macht- u. Schlacht von Roncevaux den Märtyrerhelden Roland hier noch lebend an, um ihm das Geheimnis zu enthüllen, dass er nicht sein Neffe, sondern sein Sohn sei. Der dritte Teil

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trägt eine Fülle von Taten u. Ereignissen Zürn, Unica, eigentl.: Nora Berta Unika nach. Er gründet auf der lat. Historia Karoli Z., * 6.7.1916 Grunewald (heute zu BerMagni et Rotholandi des Pseudo-Turpin, ist lin), † 19.10.1970 Paris; Grabstätte: ebd., aber gelegentlich durch andere Quellen er- Friedhof Père Lachaise. – Anagrammatigänzt u. imitiert mit der Abfolge von Karls kerin, Autorin autobiografischer u. erTod, Kanonisation, Translation u. »Mirakel«- zählender Prosa; Zeichnerin. Schluss ein Strukturmodell der Heiligenle»Dieses Leben ist nicht mein Leben geworgende, zu dem auch einige geistl. Zusatzmoden«, schrieb Z. 1958 in Das Weiße mit dem tivierungen passen. roten Punkt u. formulierte damit das Leitmotiv Insgesamt besteht die Leistung des unbeihrer künstlerischen Arbeit. In wohlhabenkannten Bearbeiters v. a. in der Redaktion des den Verhältnissen in Berlin-Grunewald aufheterogenen, zwischen Epik u. Historiogragewachsen, verbrachte sie eine glückl. Juphie eingespannten Materials, das er durch gend; die Ehe der Eltern zerbrach jedoch, das Verweise übersichtlicher zu gestalten sucht. Vermögen war aufgebraucht. 1931–1941 arDas sprachlich-stilistische Niveau seiner Erbeitete Z. bei der Ufa, zuerst als Bürogehilfin, zählprosa verrät trotz einiger Reimreste später als Werbefilmdramaturgin. Nach einer durchaus literar. Anspruch. Die Absicht, eine gescheiterten Ehe (1942–1949) mit Erich Affinität Karls zu Zürich zu demonstrieren u. Laupenmühlen, der zwei Kinder entstamdie Stadt mit ihrem Karlskult an die Seite men, lebte sie als Journalistin u. SchriftstelAachens zu stellen, macht sich in der Einbelerin in Berliner Künstlerkreisen. Es entstanziehung von Lokaltradition bzw. der Verladen etwa 140 Kurzgeschichten für die Berligerung einzelner Episoden nach Zürich bener Tagespresse. 1953 begegnete sie dem merkbar. Parallelen im Werk des Schweizer Maler Hans Bellmer (1902–1975), mit dem sie Chronisten Heinrich Brennwald erklären sich nach Paris ging u. den sie »als Kameraden im wohl eher aus der mit dem ZB gemeinsamen Elend« bezeichnete. Sie begann Anagramme Verankerung in der Lokaltradition als aus zu schreiben u. zu zeichnen. 1960 zeigten einer direkten Nachwirkung. sich erste Indizien einer psych. Erkrankung Ausgabe: Albert Bachmann u. Samuel Singer Z.s. Bis zu ihrem Freitod 1970 musste sie (Hg.): Dt. Volksbücher. Aus einer Zürcher Hs. des mehrmals in psychiatr. Kliniken aufgenom15. Jh. Tüb. 1889. men werden, u. a. für die Dauer von fast zwei Literatur: Urte Kletzin: Das Buch vom hl. Karl, Jahren in die Pariser Klinik St. Anne. eine Zürcher Prosa. In: PBB 55 (1931), S. 1–73. – Ausgehend von der Beobachtung, dass die Robert Folz: Le souvenir et la légende de CharleFeder intentionslos auf dem Blatt dahinlaumagne dans l’empire germanique médiéval. Paris 1950, S. 469–479. – Karl-Ernst Geith: Karl d.Gr. In: fen kann, situieren sich ihre »automatischen« Herrscher, Helden, Heilige. Hg. Ulrich Müller u. Zeichnungen an der Schnittstelle von SurWerner Wunderlich. St. Gallen 1996, S. 87–100. – realismus u. Art brut. In Form von Serien Ders.: ›ZB‹. In: VL u. VL (Nachträge u. Korrektu- entstanden ornamentale, verästelte Gesichter, ren). – Bernd Bastert: Heros u. Heiliger. Literar. Tierwesen u. Hybridgestalten. Häufig trug Z. Karlsbilder im mittelalterl. Frankreich u. Dtschld. in die Zeichnungen Anagramme ein, verwob In: Karl d.Gr. u. das Erbe der Kulturen. Hg. Franz- also ihre verschiedenen Werkgruppen. 1954 Rainer Erkens. Bln. 2001, S. 197–220. – Ders.: ›der erschien der Anagrammband Hexentexte (Bln.) Christenheyt als nücz kein czelffbott‹. Karl d.Gr. in u. die luzide Erzählung Dunkler Frühling der dt. erzählenden Lit. des MA. In: Karl d.Gr. in (Hbg. 1969), erot. Erlebnisse eines Mädchens, den europ. Literaturen des MA. Konstruktion eines Mythos. Hg. ders. Tüb. 2004, S. 127–147. – Bea das der Unerträglichkeit ihres Lebens durch Lundt: Der Mythos vom Kaiser Karl. Die narrative einen Sprung aus dem Fenster entflieht. Der Konstruktion europ. Männlichkeit im SpätMA am Mann im Jasmin, ein in geschriebenen Bildern Beispiel v. Karl d.Gr. In: Männer, Macht, Körper. verfasster Bericht über ihre Krankheit, zgl. Hegemoniale Männlichkeiten vom MA bis heute. dokumentarisch u. poetisch, verschlüsselt u. Hg. Martin Dinges. Ffm. 2005, S. 37–51. selbstanalytisch, wurde postum zuerst in frz. Edith Feistner Übersetzung veröffentlicht (Paris 1971. Dt.

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Bln. 1977). Ihre Anagramme – Traumsprache, Rebus u. Berliner Gemunkel – gehören zu den bedeutendsten der Gattung. Das Haus der Krankheiten (Bln. 1958) skizziert eine katalysatorische Reise durch den (erkrankten) Körper der Erzählerin, der ihr eine »neue Blickrichtung« eröffnet. Ebenso wie Hexentexte ist dieser Text mit nicht-illustrativen Zeichnungen versehen, die, in der Tradition des Surrealismus stehend, die Trennwand zwischen Literatur u. Malerei aufheben. Z.s vielgestaltiges Werk, das die Übergänge zwischen den Werkgruppen intrinsisch reflektiert, wurde zuerst durch die Frauenbewegung u. nun durch den internat. Kunstmarkt entdeckt. Aus dem Blickwinkel einer »femme surrealiste« ist es ein Nachtrag u. ein Korrektiv zum Surrealismus. Ausgaben: Das Weiße mit dem roten Punkt. Unveröffentlichte Texte u. Zeichnungen. Hg. Inge Morgenroth. Bln. 1981. – Das Haus der Krankheiten. Faks. der Hs. Ebd. 1986. – Gesamtausg. Hg. u. komm v. Günter Bose (bis 1994) u. Erich Brinkmann. 8 Bde., ebd. 1988–2001. – Bilder 1953–1970. Hg. E. Brinkmann u.a. Ebd. 1998. – Alben. Hg. E. Brinkmann. Ebd. 2009. Literatur: Inge Morgenroth: U. Z. In: U. Z.: Das Weiße mit dem roten Punkt. a. a. O. – Petra Ernst: U. Z. In: LGL. – Rike Felka u. Erich Brinkmann: U. Z. (6 July 1916 – 19 October 1970): biographical background. In: U. Z. [Ausstellungskat.] Paris 2006, S. 99–105. – Barbara Safarova: The magical encounter between writing and image. In: ebd., S. 54–61. – R. Felka: Die träumende Hand. In: Alben. a. a. O. – Sabrina Ebbersmeyer: U. Z. In: KLG. Erich Brinkmann / Rike Felka

Zulliger, Hans, * 21.2.1893 Mett/Kt. Bern, † 18.10.1965 Ittigen/Kt. Bern. – Essayist, Erzähler; Psychologe. Der Arbeitersohn aus einem Vorort von Biel arbeitete 1912–1959 in der Industrie- u. Bauerngemeinde Ittigen als Primarlehrer. Autodidaktisch bildete sich Z. nebenbei zum Psychologen aus u. machte seine pädagog. Erfahrungen in zahlreichen, in fast alle europ. Sprachen übersetzten Publikationen zur Jugendpsychologie fruchtbar: Gelöste Fesseln (Dresden 1927), Helfen statt Strafen (Stgt. 1955), Gespräche über Erziehung (Bern 1961) u. andere.

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Als belletristischer Autor hatte Z. mit den von Simon Gfeller warm begrüßten Dialektversen Bärner Wiehnecht (Bern 1918) debütiert u. machte sich in der Folge mit Theaterstücken (Unghüürig. Ebd. 1922. Für all Fäll. Ebd. 1925. Het en Yscher. Ebd. 1932), mit Erzählbänden wie Bi üs deheime (Basel 1927) oder Flüehlikofer Härd (Bern 1939) sowie mit den Lyrikbänden Bärner Marsch (ebd. 1932) u. Aern (ebd. 1943) einen Namen als sprachlich authent. Berner Mundartschriftsteller. Mit seinerzeit viel gelesenen Jugendbüchern (sein SJW-Heft Die Pfahlbauer am Mosssee von 1934 erreichte eine Gesamtauflage von 200.000 Exemplaren), den witzig-hintergründigen Fabeln Ergötzliches Vieh (Zürich 1938) u. mit Erzählungen wie Sonne über Flüehlikofen (Basel 1943) bewies er aber auch seine Fähigkeiten als hochdeutsch schreibender Autor von spezifisch schweizerischem Gepräge. Literatur: Alfred Burger: H. Z. u. Oskar Spiel. Aktualität u. Bedeutung ihrer Schulpraxis für die heutige Pädagogik. Zürich 1992. Charles Linsmayer

Zumpf, Peter, auch: Neruda Jan, merbod, Stadtschreiber, * 3.8.1944 Baden bei Wien. – Lyriker, Erzähler, Theater- u. Hörspielautor; Verleger. Z. absolvierte die Handelsschule u. arbeitete in einer Baufirma als leitender Angestellter. Daneben betreute er zwölf Jahre das Lektorat eines Verlags. Z. veröffentlicht in Zeitschriften u. Zeitungen Artikel zu literar. u. gesellschaftspolit. Themen. 1987 übernahm er gemeinsam mit Peter Schuster die Leitung des merbod Verlags. – In dem satirischen, den Kolportageroman parodierenden Roman Der Wurzelschnitzer vom Koboldjoch. Ein Bergdrama voller Leidenschaft (Wien 1987) karikiert er Liebesleben u. Naturempfinden von Dorfbewohnern in einer burlesken Sprache. Ernsteren Themen widmet sich Z. in Gedichten u. Erzählungen: Randgruppen (Wiener Neustadt 1986) behandelt in eindringl. Porträtstudien u. a. die Auswirkungen von Arbeitslosigkeit, Alter u. Entfremdung auf den Einzelnen. Im Lyrikband Klärungen (Baden bei Wien 1980), der formal der neuen Subjektivität nahesteht, bildet Z. in einem zwischen Resignation u.

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Aggression wechselnden Tonfall den gesellschaftl. Zustand der 1970er Jahre nach. Weitere Werke: Stunde der Spieler (zus. mit Peter Schuster). ORF 1978 (Schausp.). – Aus dem wildbewegten Jägerleben des Blasius Wenzel H. Wiener Neustadt 1984 (satir. R.). – Ber.e zur Lage der Nation. Ebd. 1985 (Satiren). – (Hg.): Wiener Neustädter Literaturlexikon. Ebd. 1983. – Der Tod in Corned Beef. Western aus dem wilden Grenzland (mit Wörterbuch). Ebd. 1991. – Chronik eines Theaters. Wiener Neustadt 1794–1994. Ebd. 1994. Waldemar Fromm / Red.

Zunz, Leopold, * 10.8.1794 Detmold, † 17.3.1886 Berlin. – Philologe u. Begründer der Wissenschaft vom Judentum.

Weitere Werke: Die synagogale Poesie des MA. Bln. 1855. Neudr. Hildesh. 1967. – Literaturgesch. der synagogalen Poesie. Bln. 1866. Neudr. Hildesh. 1966. – Dt. Briefe. Lpz. 1872. – Ges. Schr.en. 3 Bde., Bln. 1875/76. Neudr. Hildesh. 1976. – Das Buch Zunz. Hg. Fritz Bamberger. Bln. 1931. Literatur: Luitpold Wallach: Liberty and Letters. The Thoughts of L. Z. London 1959. – Nachum N. Glatzer (Hg.): L. Z., Jude – Deutscher – Europäer. Tüb. 1964. – Michael A. Meyer: Von Moses Mendelssohn zu L. Z. Jüdische Identität in Dtschld. Übers. v. Ernst-Peter Wieckenberg. Mchn. 1994. – Peter Wagner: Wir werden frei sein. L. Z., 1794–1886. Detmold 1994. – Céline TrautmannWaller: Philologie allemande et tradition juive. Le parcours intellectuel de L. Z. Paris 1998. – Henri Soussan: The science of Judaism. From L. Z. to Leopold Lucas. Brighton 1999. – Giuseppe Veltri: Altertumswiss. u. Wiss. des Judentums. L. Z. u. seine Lehrer F. A. Wolf u. A. Böckh. In: Friedrich August Wolf. Studien, Dokumente, Bibliogr. Hg. Reinhard Markner u. G. Veltri. Stgt. 1999, S. 32–47. – Ders.: L. Z. Hallische Prolegomena zur Wiss. des Judentums. In: Beiträge zur Gesch. der MartinLuther-Univ. Halle-Wittenberg 1502–2002. Hg. Hermann-J. Rupieper. Halle 2002, S. 308–314. – Evelyn Burkhardt: Forsch. an histor. Ort. Das L.-Z.Zentrum. In: scientia halensis 13 (2005), 2, S. 13 f. – G. Veltri u. a.: Die Digitalisierung des L. Z.-Archivs [...]. In: ABI-Technik 29 (2009), 2, S. 78–89. – G. Veltri u. Annette Winkelmann: ›... daß er in Rabbinischer u. in der Talmudischen Litteratur ziemlich bewandert ist‹. L. Z. u. die Univ. Halle-Wittenberg. In: Jüd. Bildung u. Kultur in SachsenAnhalt v. der Aufklärung bis zum Nationalsozialismus. Hg. G. Veltri u. Christian Wiese. Bln. 2009, S. 239–260. – Manfred Voigts: Die ›Dt. Briefe‹ v. L. Z. In: Integration u. Ausgrenzung. FS Hans Otto Horch. Hg. Mark H. Gelber. Tüb. 2009, S. 131–138.

Der Sohn eines armen Talmud-Lehrers wurde in Wolfenbüttel erzogen u. besuchte als erster Jude in Preußen ein Gymnasium. Seit 1815 studierte Z. Philologie in Berlin u. wurde 1821 in Halle promoviert. Danach als Prediger, Redakteur u. Lehrer tätig, lebte er seit 1850 als Privatgelehrter in Berlin. Die von ihm geschaffene Disziplin der Wissenschaft des Judentums bediente sich der Methoden der Klassischen Philologie. Schon in seiner 1818 veröffentlichten kleinen Schrift Etwas über die rabbinische Literatur (Bln.) zeichnet er jener den Weg vor, wobei er die jüd. Literatur als zu ihrem Abschluss gekommen wähnte, nun der klass. Literatur vergleichbar. Als Mittler zwischen Orthodoxie u. Reformjudentum wollte Z. die Wissenschaft des Judentums in den Dienst der Emanzipation gestellt sehen: Jüdische Literatur wird als gleichwertig mit der nichtjüdischen behanLudger Heid / Red. delt. Seit den 1830er Jahren vertrat er die Überzeugung, der Staat habe die Juden gleichberechtigt am kulturellen u. polit. Le- Zur Bentlage, Margarete ! Bentlage, ben teilnehmen zu lassen. Alle spätere jüd. Margarete zur Forschung lässt sich auf ihn zurückführen; Z.’ Die gottesdienstlichen Vorträge der Juden (Bln. Zur Linde, Otto, * 26.4.1873 Essen, † 16.2. 1832. Ffm. 21892) ist ein Standardwerk zur 1938 Berlin. – Lyriker, Poetologe. Midrasch-Kunde. Zu seinen auf breiten Quellenstudien basierenden Werken zählen Der Sohn eines Buchhalters u. Kolonialwaferner eine geschichtl. Untersuchung über Die renhändlers wuchs in Gelsenkirchen auf. Das Namen der Juden (Bln. 1836), Studien Zur geo- Studium der Philosophie u. Germanistik graphischen Literatur der Juden (ebd. 1840/41) u. schloss Z. 1898 mit einer Dissertation über zur jüd. Liturgie sowie drei Bücher über die Heinrich Heine und die deutsche Romantik ab. mittelalterl. religiösen Dichter u. ihre Hym- 1899 ging er als freier Schriftsteller u. Kritinen. ker nach London, wo er am British Museum

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u. für die »Vossische Zeitung« arbeitete. Im v. nebenan. 1900–1945. 60 Portraits v. Autoren aus Herbst 1902 zog er nach Berlin u. gründete dem Gebiet des heutigen Nordrhein-Westfalen. im Jan. 1904 zusammen mit Rudolf Pannwitz Hg. Bernd Kortländer. Bielef. 1995, S. 419–425. – die Zeitschrift »Charon« (bis 1914), die er seit Carola v. Edlinger: Kosmogon. u. myth. Weltentwürfe aus interdiskursiver Sicht. Untersuchungen 1906 allein, seit 1909 zusammen mit Karl zu ›Phantasus‹ (Arno Holz), ›Das Nordlicht‹ Röttger redigierte. Im 1905 gegründeten (Theodor Däubler) u. ›Die Kugel‹ (O. z. L.). Ffm. Charon-Buchverlag publizierte er neben sei- u. a. 2002. Maria Behre / Red. nen eigenen zehnbändigen Gesammelten Werken (Groß-Lichterfelde 1910–25) Arbeiten von Pannwitz, Else Lasker-Schüler u. Johannes Zur Mühlen, Hermynia, geb. Gräfin Schlaf. Seit Mai 1925 schrieb Z. nicht mehr u. Hermine Isabelle Maria Folliot de Crenverfiel in Depression. neville-Poutet, verh. Klein, auch: Maria Als Lyriktheoretiker entwickelte Z. in Berg, Lawrence H. Desberry, Traugott Auseinandersetzung mit George u. Holz ei- Lehmann, Franziska Maria Rautenberg, nen Formbegriff, den er zu einer »Lehre von * 12.12.1883 Wien, † 20.3.1951 Radlett/ den Realitäten« in »antithetischer Paralleli- Hertfordshire; Grabstätte: ebd. – Rotät« zur modernen Physik ausbaute. Das manschriftstellerin, Übersetzerin. zentrale, zum großen Teil in London entstandene theoret. Werk ist Die Kugel. Eine In ihrer 1929 in Frankfurt/M. erschienenen Philosophie in Versen (ebd. 1909. Erw. Mchn. Autobiografie Ende und Anfang. Ein Lebensbuch 2 1923). In prophetischer, an Nietzsches Zara- (Bln./Weimar 1976. Klagenf. 2001) schildert thustra erinnernder Überhöhung des eigenen Z. ihre Kindheit u. Jugend als einzige Tochter Denkens wies Z. die Rationalität abendländ. eines österr. Diplomaten. Polyglott u. kosPhilosophie seit Aristoteles zurück u. er- mopolitisch erzogen, zeigte das schriftstellekannte in Nikolaus von Kues u. Meister Eck- risch ambitionierte Mädchen früh Interesse hart Vorläufer eigener Gottesspekulation. für soziale Fragen. Eine berufl. Tätigkeit Anstelle des Subjekt/Objekt-Dualismus, von wurde ihr trotz Volksschullehrerexamen u. Selbst u. Handlung, gelte es, in einer Buchbinderlehre vom Vater untersagt. »Selbsterlösung« als »Tu-Selbst« neue Iden- 1908–1912 lebte sie, verheiratet mit dem tität zu stiften. Empirisch abgesichert sah Gutsbesitzer Viktor von zur Mühlen, in Livsich Z. durch mathemat. Gottesbeweise – er land. In diese Zeit fällt Z.s intensive Auseinnannte sich selbst einen »exakten Reihen- andersetzung mit sozialkrit. u. anarchistidenker« –, durch pietistische Gotteserfah- scher Literatur, die nach der Scheidung u. der rungen u. durch Carl Philipp Moritz’ Kugel- Rückkehr nach Deutschland, wo sie bis 1933 metapher. Aufgrund seines Interesses für lebte, in den Beitritt zur KPD u. ihre Tätigkeit Raum- u. Zeitbeschleunigungserfahrungen als polit. Schriftstellerin mündete. Unter den entdeckte Z. die Stadt für seine Lyrik (Stadt zahlreichen Erzählungen Z.s sind die in den und Landschaft. In: Gesammelte Werke. Bd. 3, 1920er Jahren entstandenen, u. a. von George 1911), die er, in Anlehnung an die engl. me- Grosz u. John Heartfield illustrierten u. in taphys. Lyrik, als sprachl. Ausdruck der viele Sprachen übertragenen Proletarischen Märchen von bes. Bedeutung (Was Peterchens »All-« oder »Welt-Seele« verstand. Freunde erzählen. Bln. 1921. Wien 1946. OsWeitere Werke: Gedichte, Märchen u. Skizzen. nabr. 1979. Stgt. 1979. Lpz. 1979. Das Schloß Dresden/Lpz. 1901. – Fantoccini. Ebd. 1902. – Arno der Wahrheit. Bln. 1924. Faks. Bln./DDR 1986). Holz u. der Charon. Groß-Lichterfelde 1911. – Charon. Ausw. aus seinen Gedichten. Einf. v. Hans Vor den Nationalsozialisten floh Z. mit ihrem Hennecke. Mchn. 1952. – Prosa u. Gedichte. Aus- Lebensgefährten u. späteren Ehemann, dem gew. u. mit einem Nachw. vers. v. Helmut Röttger. jüd. Publizisten Stefan I. Klein, zunächst Münster 1974. – Prosa, Gedichte, Briefe. Ausgew. u. nach Wien, dann in die CˇSR u. 1939 weiter mit einem Nachw. vers. v. H. Röttger. Wiesb. 1974. nach London. Die 1930er Jahre sind gekennLiteratur: Helmut Röttger: O. z. L. Wuppertal zeichnet durch Z.s antifaschistisches Enga1970. – Herbert Knorr: O. z. L. (1873.1938). In: Lit. gement, das sich ausdrückt im Roman Unsere

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Töchter, die Nazinen (Wien 1935. Bln./Weimar 1983. Wien 2000) u. in einer Reihe von Hörspielen u. Erzählungen, durch eine Phase autobiogr. Auseinandersetzung in den Romanen Das Riesenrad (Stgt. 1932. Wien 1948), Reise durch ein Leben (Bern 1933) u. Ein Jahr im Schatten (Zürich 1935) sowie durch die Abkehr von der KPD. Die ideolog. Veränderung wird in der im Exil begonnenen (unvollendeten) mehrbändigen Familiengeschichte We Poor Shadows (London 1943. Dt.: Ewiges Schattenspiel. Wien 1996) u. Came The Stranger (ebd. 1946. Dt.: Als der Fremde kam. Wien 1947. Bln./ Weimar 1979. Wien 1994) deutlich. Z.s Bedeutung als sozialistische Kinderbuchautorin wurde v. a. in der DDR gewürdigt; eine Aufarbeitung ihrer Biografie u. eine Analyse ihres erzählerischen Schaffens setzte erst Anfang der 1990er Jahre ein. Als Übersetzerin v. a. der Werke Upton Sinclairs u. als Vermittlerin sozialkrit. Literatur im dt. Sprachraum ist Z. noch nicht hinreichend erkannt. Weitere Werke: Licht. Konstanz 1922 (R.). – Der Tempel. Bln. 1922 (R.). – Ali, der Teppichweber. 5 Märchen. Ebd. 1923. – Schupomann Karl Müller. Ebd. 1924 (E.). – Der Deutschvölkische. Ebd. 1924 (E.). – Der rote Heiland. Lpz. 1924. Neuausg. Ffm. 1989 (N.n). – Kleine Leute. Bln. 1925 (E.). – Die weiße Pest. Bln. 1926. Bln./DDR 1987 (R.). – Lina. Erzählung aus dem Leben eines Dienstmädchens. Bln. 1926. – Said der Träumer. Bln. 1927. Moskau/Leningrad 1935. – Die Söhne der Aischa. Ein Märchen. Bln. 1927. – Der Muezzin. Ein Märchen. Bln. 1927. – Es war einmal ... u. es wird sein. Märchen. Bln. 1930. Ebd. 2001. – Nora hat eine famose Idee. Bern 1933 (R.). – Fahrt ins Licht. Sechsundsechzig Stationen. Wien/Lpz. 1936. Klagenf. 1999. – Kleine Gesch.n v. großen Dichtern. London 1944. Wien 1945. – Little Allies. London 1945 (E.en). – Gesch.n v. heute u. gestern. New York 1946. – Eine Flasche Parfum. Wien 1947 (R.). – Der kleine graue Hund u. andere Märchen. Oberhausen 1976. – Der Nachbar u. andere Gesch.n. Wien 2000. – Nebenglück. Ausgew. Erzählungen u. Feuilletons aus dem Exil. Deborah J. Vietor-Engländer u. a. Bern u. a. 2002. – Vierzehn Nothelfer u. andere Romane aus dem Exil. Hg. D. J. Vietor-Engländer u. a. Ebd. 2002. – Briefwechsel: Upton Sinclair, Wieland Herzfelde, H. Z. M.: Werter Genosse, die Maliks haben beschlossen ... Briefe 1919–1950. Hg. Walter Grünzweig u. Susanne Schulz. Bonn 2001.

718 Literatur: Bibliografien: Manfred Altner (Hg.): In: H. Z. M.: Der Spatz. Bln./DDR 1984, S. 226 ff. (Bibliogr. der Märchen). – In: Lynda J. King: German Fiction Writers 1914–1945. Detroit 1987, S. 317 ff. – Weitere Titel: Martin Freiberger: Gesellschaftl. Wirklichkeit u. kindl. Phantasie. In: kürbiskern, H. 1 (1974), S. 51–67. – M. Altner: Wer war H. Z. M.? In: Die Weltbühne 52 (1983), S. 1649 f. – Helmut Müssener: ›Wir bauen auf, Mutter‹. [...]. Zu H. Z. M.s Roman ›Unsere Töchter, die Nazinen‹. In: Exil, Sonderbd. 1. Maintal 1987, S. 121–143. – Karl-Markus Gauß: H. Z. M. oder Kein Weg zurück aus Hertfordshire. In: Ders.: Tinte ist bitter. Literarische Porträts aus Barbaropa. Klagenf. 1988, S. 160–173. – L. J. King: From the Crown to the Hammer and Sickle: The Life and Works of German Interwar Writer H. Z. M. In: Women in German Yearbook 4 (1988), S. 125–154. – Beate Frakele: ›Ich als Österreicherin‹. H. Z. M. 1883–1951. In: Eine schwierige Heimkehr. Österr. Lit. im Exil 1938–45. Hg. Johann Holzner u. a. Innsbr. 1991, S. 373–383. – Siglinde Bolbecher (Hg.): Lit. in der Peripherie. Wien 1992. – Eva-Maria Siegel: Jugend, Frauen, Drittes Reich. Autorinnen im Exil 1933–1945. Pfaffenweiler 1993. – M. Altner: H. Z. M. Eine Biogr. Bern u.a. 1997. – Richard Dove: Eine andere Besetzung? Drei Emigranten u. das Nachkriegsösterr. H. Z. M., Robert Neumann, Hilde Spiel. In: Kontinuitäten u. Brüche. Hg. Heide Kunzelmann. Oberhausen 2006, S. 77–92. – Andrea Hammel: Everyday Life as Alternative Space in Exile Writing. The Novels of Anna Gmeyner, Selma Kahn, Hilde Spiel, Martina Wied and H. Z. M. Bern u.a. 2008. – Alisa Wallace: H. Z. M. The guises of socialist fiction. Oxford 2009. – Ulrike Weymann: Polyperspektiv. Wirklichkeitsdarstellung. Zeitgesch. u. Fiktion in H. Z. M.s ›Unsere Töchter, die Nazinen‹ (1935) u. ›Manja‹ (1938) v. Anna Gemyner. In: Lit. für Leser, H. 3 (2009), S. 191–209. – Sabine Schmidt: Von Revolution u. Resignation, Licht u. Dunkel, Individuum u. Gemeinschaft. H. Z. M.s ›Propagandaerzählungen‹ ›Licht‹ u. ›Der Tempel‹. In: ›Friede, Freiheit, Brot!‹ Romane zur dt. Novemberrevolution. Hg. Ulrich Kittstein. Amsterd. u.a. 2009, S. 115–137. Beate Frakele / Robert Rduch

Zurflüe, Johann, * 6.1.1566 Stans/Nidwalden (?), † nach 1615 Sarnen (?). – Katholischer Theologe, Dramatiker. Der seit 1572 in Luzern urkundlich nachgewiesene Z. lebte nach dem Tod seiner Eltern ab 1576 im Spital »Xenodochium«. Von 1582 bis zur Priesterweihe 1589 besuchte er das

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Collegium helveticum in Mailand u. wurde Bruderklausen-Spiel v. J. Z. aus dem Jahre 1601 1591 als Leutpriester an der Luzerner Hof- [...]. Liz.-Arbeit, Freiburg i. Ü. 1986. Elke Ukena-Best / Red. kirche eingesetzt. Ab 1593 wirkte er als Kaplan in Beromünster, ab 1594 wieder in Luzern. 1595–1603 u. 1611–1615 stand er der Zusanek, Harald, * 14.1.1922 Wien, Pfarrei in Sarnen vor; zwischendurch war er † 20.1.1989 Wien. – Lyriker, Dramatiker, Pfarrer in Arth. Hör- u. Fernsehspielautor. Der kath. Geistliche setzte sich auch außerhalb seines Priesteramts für die gegenre- Z., in den 1950er Jahren einer der meistgeformatorische Bewegung ein. Am 16./ spielten deutschsprachigen Gegenwartsdra17.9.1601 führte er in Sarnen mit Bürgern matiker, studierte in Wien u. München Meder Stadt sein zweitägig konzipiertes Schau- dizin, dann Philosophie, Geschichte u. spiel über Niclausen von der Flüe, den man Kunstgeschichte; daneben besuchte er das nemptt Bruoder Clauß auf. Quelle der dramati- Reinhardt-Seminar. Seine Erfahrungen als sierten Vita des 1487 verstorbenen Obwalde- Regisseur, Film- u. Hörspielautor gab er seit ner Landesheiligen ist die Bruder-Klaus- 1967 als Professor an der Hochschule für Legende des Abts von Einsiedeln, Ulrich Musik u. darstellende Kunst in Wien weiter. Die existenzielle Bedrohung des Menschen Witwyler (gedr. 1575). Der auch im lat. Drama der Schweizer Jesuiten verarbeitete Stoff durch Politik u. Ideologien ist Grundthema gewann in Z.s volkssprachiger Version bes. von Z.s Dramen. Häufig bediente er sich Popularität. Als bedeutendstes Vermächtnis histor. Stoffe, um auf Gegenwartsprobleme des durch sein 19-jähriges Eremitendasein hinzuweisen bzw. den Kampf des Individuzur Heiligkeit gelangten Nikolaus von der ums gegen entseelte Machtapparate als KonFlüe gilt der Nachwelt seine Vermittlung stante der Geschichte zu verdeutlichen. So 1481 in Stans, welche die kriegerisch ent- exemplifizierte er anhand des Untergangs zweite Eidgenossenschaft zur Einheit zu- des Weströmischen Reichs in Warum gräbst du, rückführte. Auf diese religiös interpretierte Centurio (1949) die Hohlheit des traditionelHeilstat steuert die Handlung des achtakti- len Patriotismus. Am Beispiel der Französigen Legendenspiels zu. In markanten Statio- schen Revolution (Jean von der Tonne. 1954) u. nen wird der hagiografisch stilisierte, von des Koreakriegs (Die dritte Front. 1956) dehimml. u. höll. Macht (Engel, Teufel) beglei- monstrierte er den Zusammenprall verfeintete Weg des Titelhelden von der Geburt bis deter Ideologien u. die Notwendigkeit der zum verklärten Tod mit Heilungsmirakeln Freiheit menschl. Entscheidung. – 1951 erdargestellt. Gegenwartsbezogen sind die hielt Z. den Österreichischen Staatspreis für eindringl. Appelle zur Erhaltung u. Vertei- Literatur. Aus dem Nachlass von Z. ist eine digung des kath. Glaubens. In seine Fassung, Reihe umfangreicher Studien zu Gestalten die ein wichtiges Zeugnis der Bruder-Klaus- der griech. Mythologie u. zur Kultur des Spieltradition ist (die Textbearbeitung von klass. Altertums publiziert worden. Den 1630 ist erhalten), hat Z. längere Passagen aus Ausgangspunkt bilden jeweils Studien zu den den Bruder-Klaus-Auftritten des allegori- Epen Homers. Weitere Werke: Hinter der Erde. Wien 1956 schen Weltspiegel-Dramas von Valentin Boltz (L.). – Piazza. Graz/Wien 1964 (D.). – Die Straße (Basel 1550) u. die Übersetzungen mehrerer Szenen des 1586 entstandenen lat. Nicolai- nach Cavarcere. Wien 1966 (D.). – Die dritte Front. Ebd. 1969 (enthält auch: Jean von der Tonne. Spiels des Jesuiten Jacob Gretser eingearbeiSchloß in Europa). – Ich log die Wahrheit. In: tet. Das Textbuch ist als Handschrift von Dramatiker einer Generation. Innsbr. 1982, 1602 im Landesarchiv Obwalden überliefert. S. 13–95. – Rhodos u. Helios. Mythos, Topos u. Literatur: Jakob Baechtold: Gesch. der Dt. Lit. in der Schweiz. Frauenfeld 1892, S. 389–391, Anm. S. 111 f. – Eduard Hoffmann-Krayer: J. Z. In: ADB. – Oskar Eberle: Theatergesch. der inneren Schweiz. Königsberg 1929, S. 171–173. – Pia v. Flüe: Das

Kultentwicklung. Hg. Sibylla Hoffmann. Ffm. u. a. 1994. 2., korrigierte Aufl. 1996. – Untersuchungen zum dios-Begriff. Aus dem Nachl. hg. u. bearb. v. ders. u. Michael Zuzanek. 3 Bde., ebd. 1996–2005. – Hermes. Hg. u. bearb. v. M. Zuzanek Ebd. 2003. –

Zweig Untersuchungen zum Vogelkult. Bd. 1. Hg. u. bearb. v. dems. Ebd. 2007. – Poseidon. Hg. u. bearb. v. dems. Ebd. 2009. Literatur: Paul Wimmer: Der Dramatiker H. Z. Innsbr. 1988. Gerald Leitner / Red.

Zweig, Arnold, * 10.11.1887 Glogau, † 26.11.1968 Berlin/DDR; Grabstätte: ebd., Dorotheenstädtischer Friedhof. – Erzähler, Romanschriftsteller, Dramatiker, Essayist. Nach dem wirtschaftl. Ruin des Vaters, eines Sattlermeisters, zog die Familie 1896 in die Bergarbeiterstadt Kattowitz, wo sie sich eine notdürftige materielle Existenz aufbaute. Dem Wunsch der Eltern entsprechend, begann Z. 1907 ein Lehrerstudium (Germanistik, moderne Sprachen, Philosophie, Psychologie u. Kunstgeschichte) zunächst in Breslau, dann in München, Göttingen u. Rostock, von 1913 an in Berlin. Doch Z. schlug den von den Eltern vorgezeichneten Weg nicht ein. Bereits 1909 gab er mit Freunden eine kleine Studentenzeitschrift, »Die Gäste«, heraus, in deren sechs Heften er seine ersten literar. Texte veröffentlichte. Intensiv setzte sich der Student mit seiner jüd. Herkunft auseinander. Sein erstarkendes jüd. Selbstbewusstsein prägte die frühen Dramen: die alttestamentar. Geschichte von Abigail und Nabal (entstanden 1909. Lpz. 1913. Veränderte Fassung Mchn. 1920), die Tragödie der Judenverfolgung in Ritualmord in Ungarn (Bln. 1914. U. d. T. Die Sendung Semaels. Lpz. 1918), für die er 1915 den Kleist-Preis erhielt, u. das Thema der Selbstbesinnung eines Juden auf seinen Glauben in Die Umkehr des Abtrünnigen (entstanden 1914. Bln. 1925. Verändert u. d. T. Die Umkehr. 1927). Der 1912 erschienene Roman Die Novellen um Claudia (Lpz.) lebt von Z.s Interesse an tiefenpsycholog. Vorgängen, das sich in den schriftstellerischen Anfangsjahren entfaltete. In sieben novellistischen Kapiteln über die Liebesbeziehung zwischen der wohlhabenden u. gebildeten Claudia Eggeling u. dem mittellosen, unattraktiven u. unbeholfenen Gelehrten Dr. Walter Rohme zelebriert Z. die Seelenqualen der Liebenden. Mit dem Widerspruch zwischen gesellschaftl. Normen u.

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Begierden ringend, gestehen sich die beiden ihre Schwächen u. Normverstöße, setzen damit ihre Liebe aufs Spiel, die sie so erst wirklich gewinnen. In der gepflegten Atmosphäre des bürgerl. Salons wilhelmin. Zeit, in der Auseinandersetzung mit Kunst u. Musik entfalten die psych. Konstellationen existentielle Kraft. Konsequent rezipierte Z. wenig später begeistert die Lehren Freuds. Sie werden von fundamentaler Bedeutung für seine persönl. Entwicklung u. sein literar. u. essayistisches Werk. 1927 begann ein umfangreicher, bald freundschaftl. Briefwechsel zwischen »Vater Freud« u. »Meister Arnold« (Sigmund Freud. Arnold Zweig. Briefwechsel. Hg. Ernst L. Freud. Ffm. 1968). Wie sehr der Martin Bubers Ideen verbundene Zionist Z. zgl. ein dt. Schriftsteller war, äußerte sich zunächst unrühmlich in Kriegsbegeisterung, in die er 1914, wie viele Intellektuelle, mit einstimmte. Seine Erzählungen in dem Band Die Bestie (Mchn. 1914) begrüßen den Krieg als Besinnung der Nation auf ihre eigentl. Werte u. gestalten die Ideologien des Feindbildes literarisch. Im Alter griff Z. dieses ihn belastende Lebenskapitel wieder auf u. legte 1952 eine Umarbeitung der Titelerzählung vor als Kernstück der Chronik Westlandsaga (Bln./DDR 1985). Am 23.4.1915 als Armierungssoldat einberufen, meldete sich Z. kurz darauf zum freiwilligen Einsatz an der Westfront. Nach seinem Einsatz in Verdun erlebte er die letzte Phase des Kriegs als Mitarbeiter der Presseabteilung des Oberbefehlshabers Ost. Die Wirklichkeit des Kriegs ließ seinen Kriegsenthusiasmus schnell zusammenbrechen, zermürbte ihn bis an den Rand des Nervenzusammenbruchs. Erst eine psychoanalyt. Behandlung vermochte ihn nach dem Krieg zu stabilisieren. Als entschiedener Pazifist kehrte Z. zurück. Seine Erfahrung, dass der Krieg nicht die Verwirklichung der Idee einer gerechten Staatsordnung ist, sondern diese Ideale korrumpiert, wird zur Kernaussage seines wichtigsten u. weltberühmten Werks Der Streit um den Sergeanten Grischa (Potsdam 1928). Dieser Antikriegsroman erzählt von der gescheiterten Flucht des russ. Soldaten Grischa aus dt. Gefangenschaft. Grischa, der lernen muss, dass die Wahrheit in Kriegszei-

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ten ein äußerst gefährl. Standpunkt ist, versucht, nachdem ihn die Deutschen wieder eingefangen haben, seine Identität zu vertuschen, u. gibt sich als Überläufer aus, die Deutschen aber halten ihn für einen Spion. Obwohl Grischa schließlich seine wahre Identität beweisen kann, wird das über ihn verhängte Todesurteil nicht mehr aufgehoben. In seinem aussichtslosen Kampf als Individuum gegen die kriegerische Staatsmaschinerie hat Grischa bedeutende Fürsprecher: General von Lychow, dessen Neffen u. Adjutanten Oberleutnant Winfried, den jüd. Kriegsgerichtsrat Posniaski u. den jüd. Schriftsteller Werner Bertin. Diese wehren sich gegen die Rechtsbeugung durch den Generalmajor Schieffenzahn, unschwer als Ludendorff zu identifizieren. Für sie steht die moralische Existenz der »Mutter Deutschland« auf dem Spiel, »daß in dem Land, dessen Rock wir tragen und für dessen Sache wir in Dreck und Elend zu verrecken bereit sind, Recht richtig und Gerechtigkeit der Ordnung nach gewogen wird«. Doch dieser altpreuß. Staatsidealismus scheitert am pragmat. Standpunkt des imperialen Deutschland: »Der Staat schafft das Recht, der einzelne ist eine Laus.« Nach dem Erscheinen des Grischa-Romans beschloss Z., diese Geschichte in einen – unvollendeten – Zyklus, Der große Krieg der weißen Männer, einzubetten. In der Liebesgeschichte von Leonore Wahl u. Bertin verfolgt Z. den Desillusionierungsprozess des Künstlers, der zunächst leichtfertig Partei für das kriegführende Deutschland ergreift (Junge Frau von 1914. Bln. 1931), dann aber durch eigene Kriegserfahrung zum Pazifisten wird (Erziehung vor Verdun. Amsterd. 1935). Z. greift in Einsetzung eines Königs (ebd. 1937) die Figur des Oberleutnants Winfried erneut auf, der im letzten Kriegsjahr die verheerenden Machenschaften dt. Militärs in den besetzten Ostgebieten am eigenen Leib erfährt u. so einen Reifungsprozess durchläuft. Nach dem Ersten Weltkrieg profilierte sich Z. als jüd. Essayist, schrieb für die Zeitschrift »Der Jude«, war Redakteur der »Jüdischen Rundschau«. Er bekannte sich zur Idee des jüd. Siedlungssozialismus (Das Ostjüdische Antlitz. Bln. 1920. Wiesb. 1988. Das neue Ka-

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naan. Bln. 1925), entwarf die Psychopathologie des Antisemitismus in dem Freud gewidmeten Essay Caliban oder Politik und Leidenschaft (Potsdam 1927), stellte die Rolle der Juden auf der deutschen Bühne (Bln. 1927) dar. Die Erfahrungen einer Palästinareise 1932 gingen in den kritisch Anteil nehmenden Roman De Vriendt kehrt heim (ebd. 1932) ein. Im Dez. 1933 emigrierte Z. nach Haifa, zusammen mit seiner Frau Beatrice, mit der er seit 1916 verheiratet war. Materielle Sorgen, nicht zuletzt Folge seiner polit. Isolation, bestimmten die Jahre des Exils. Ausführlich korrespondierte Z. darüber mit seinem engen Freund Feuchtwanger (Lion Feuchtwanger. Arnold Zweig. Briefwechsel 1933–1958. 2 Bde., Bln./Weimar 1984). Im Jishuw war Deutsch als NS-Sprache verpönt, Hebräisch sollte als einzig legitime Sprache eines zukünftigen jüd. Staates zugelassen sein. Hebräisch zu erlernen hätte Z. jedoch nicht nur wegen eines schweren Augenleidens größte Mühe bereitet; Deutsch war für ihn die Sprache der literar. Tradition, der er sich verbunden fühlte. Kleist, Fontane u. Thomas Mann waren seine Vorbilder. Der »preußische Jude« (Marcel Reich-Ranicki) Z. hätte den Sprachwechsel literarisch nicht verkraftet. Entsprechend existentiell war es für ihn, sich auch gegen den jüd. Nationalismus zu wenden. Als Mitherausgeber der Exilzeitschrift »Orient« (Haifa 1942/43) vertrat Z. eine Politik der Verständigung mit den Arabern. 1943 erschien die einzige hebräische Originalausgabe eines Buches von Z., Hakardom shel Wandsbek (Haifa. Das Beil von Wandsbek. Stockholm 1947), ein antifaschistischer Roman, in dem Z. zgl. für ein differenziertes Bild vom Deutschen warb. 1948 kehrte Z. nach Deutschland zurück u. ließ sich in Ost-Berlin nieder. Die Wahl der DDR als Wohnsitz führte dazu, dass Z. in der BR Deutschland lange Zeit in Vergessenheit, während des Kalten Kriegs sogar in Verruf geriet. Die DDR hingegen versuchte Z. als einen Dichter zu vereinnahmen, der sich kontinuierlich zum Sozialisten entwickelt habe. Er wurde materiell großzügig ausgestattet, seine Bücher wurden neu aufgelegt. 1949 wurde er Abgeordneter der Volkskammer, 1950–1953 war er Präsident der Akade-

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mie der Künste. Er erhielt eine Reihe höchster Auszeichnungen. Z. gab sich ohne nennenswerten Widerstand für propagandistische Zwecke her, arbeitete alte Texte um, duldete zensorische Eingriffe in seine Arbeiten, ertrug es, dass die DDR Freud verpönte u. den Zionismus bekämpfte. Trotzdem spricht wenig für die offiziell behauptete konsequente Entwicklung Z.s zum Sozialisten. Er stand zwar nach dem Ersten Weltkrieg der Sowjetunion positiv gegenüber, freilich immer vom Standpunkt des Pazifisten aus. So protestierte er gegen den Umgang der Sowjetunion mit Oppositionellen (Die Moskauer Hinrichtungen. In: Weltbühne, 11.11.1930, S. 707 ff.) u. lehnte die Diktatur des Proletariats ab (Macht oder Freiheit. In: ebd., 25.11.1930, S. 784 ff.). Die Werke von Marx u. Lenin lernte Z. wahrscheinlich erst im Exil kennen, ein intensives Studium der »Klassiker« absolvierte er wohl nicht. In seinen Romanen bleiben sozialistische Geschichtsinterpretationen vordergründig, ausdrückl. Bekenntnisse zum Kommunismus fügte Z. erst nachträglich hinzu, etwa den Epilog im Beil von Wandsbek. Dass seine Hinwendung zum Sozialismus nicht frei von Opportunismus war, schlug sich auch in seinen späten Romanen nieder. Die Feuerpause (Bln./DDR 1954), mit der Z. die urspr. Fassung von Erziehung vor Verdun erneut aufgriff, u. Die Zeit ist reif (ebd. 1957), ein weiteres Vorspiel zum Grischa-Zyklus, zerfallen ästhetisch ebenso wie sein letzter, stark autobiogr. Roman Traum ist teuer (ebd. 1962) über die widersprüchl. Erfahrungen der Emigration: Politische Bekenntnisse u. Aussagen bleiben meist ohne Vermittlung zur Handlung, zur nach wie vor lebendigen Zeitschilderung u. zu den psycholog. Charakterdarstellungen. Ausgaben: Ausgew. Werke in Einzelausg.n. 16 Bde., Bln./Weimar 1957–67. Lizenzausg. Ffm. 1972–87. – Bilanz der dt. Judenheit. Hg. u. mit einem Nachw. v. Kurt Pätzold. Lpz. 1990. – Jüd. Ausdruckswille. Publizistik aus vier Jahrzehnten. Ausw. u. Nachw. Detlev Claussen. Bln. 1991. – Mal herhören, alle! Prosa – Essays – Briefe. Hg. Wilhelm v. Sternburg. Bln. 1995. – Berliner Ausg. Hg v. der Humboldt-Univ. zu Berlin u. der Akademie der Künste, Berlin. Wiss. Leitung: Frank Hörnigk in Zus. mit Julia Bernhard. Bln. 1996 ff. Bislang 11

722 Bde. erschienen. – A. Z., Beatrice Zweig, Helene Weyl: Komm her, wir lieben Dich. Briefe einer ungewöhnl. Freundschaft zu dritt. Hg. Ilse Lange. Mit einem Nachw. v. Jost Hermand. Bln. 1996. – Ludger Heid (Hg.): ›Das nenne ich ein haltbares Bündnis!‹ A. Z., Beatrice Zweig u. Ruth Klinger – Briefw. (1936–1962). Bern u. a. 2005. Literatur: Bibliografie: Maritta Rost: Bibliogr. A. Z. (Bd. 1: Primärlit. Bd. 2: Sekundärlit., Register). Bln./Weimar 1987. – Weitere Titel: A. Z. SuF-Sonderheft (1952). – Johanna Rudolph: Der Humanist A. Z. Bln./DDR 1955. – A. Z. Ein Almanach. Briefe, Glückwünsche, Aufsätze. Ebd. 1962. – Heinz Kamnitzer: Der Tod des Dichters. Ebd. 1967. – Eva Kaufmann: A. Z.s Weg zum Roman. Vorgesch. u. Analyse des Grischaromans. Ebd. 1967. – Marcel Reich-Ranicki: Der preuß. Jude A. Z. In: Ders.: Dt. Lit. in West u. Ost. Hbg. 1970. – George Salamon: A. Z. Boston 1975. – Geoffrey V. Davis: A. Z. in der DDR. Entstehung u. Bearb. der Romane ›Die Feuerpause‹, ›Das Eis bricht‹ u. ›Traum ist teuer‹. Bonn 1977. – Georg Wenzel (Hg.): A. Z. 1887–1968. Werk u. Leben in Dokumenten u. Bildern. Bln./Weimar 1978. – David R. Midgley: A. Z. Zu Werk u. Wandlung 1927–48. Ebd. 1980. – Manuel Wiznitzer: A. Z. Das Leben eines dt.-jüd. Schrifstellers. Ebd. 1983. – E. Hilscher: A. Z. Leben u. Werk. Bln./ DDR 1985. – Rudolf Wolff (Hg.): A. Z. Der Streit um den Sergeanten Grischa. Bonn 1986. – Ray Lewis White: A. Z. in the USA. New York/Bern/Ffm. 1986. – D. R. Midgley (Hg.): A. Z. Poetik, Judentum u. Politik. Akten des Internat. A.-Z.-Symposiums aus Anlaß des 100. Geburtstags. Cambridge 1987. – Ders.: A. Z. Eine Einf. in Leben u. Werk. Ffm. 1987. – Wilhelm v. Sternburg (Hg.): A. Z. Materialien zu Leben u. Werk. Ffm. 1987. – Arie Wolf: Größe u. Tragik A. Z.s. Ein jüd.-dt. Dichterschicksal in jüd. Sicht. London/Worms 1990. – Sigrid Thielking: Auf dem Irrweg ins ›Neue Kanaan‹? Palästina u. der Zionismus im Werk A. Z.s vor dem Exil. Ffm./Bern 1990. – Jost Hermand: A. Z. in Selbstzeugnissen u. Bilddokumenten. Reinb. 1990 (Bibliogr. S. 147–153). – Ders.: Engagement als Lebensform. Über A. Z. Bln. 1992. – D. R. Midgley (Hg.): A. Z. Psyche, Politik u. Literatur. Akten des II. Internat. A.-Z.-Symposiums, Gent 1991. Bern u. a. 1993. – Thomas Becker: Literar. Protest u. heiml. Affirmation. Das ästhet. Dilemma des Weimarer Antikriegsromans. Butzbach-Griedel 1994. – Arthur Tilo Alt (Hg.): A. Z. Berlin – Haifa – Berlin. Perspektiven des Gesamtwerks. Akten des III. Internat. A.-Z.-Symposiums, Berlin 1993. Bern u. a. 1995. – Ursula Schumacher: Die Opferung Isaaks. Zur Manifestation des Jüdischen bei A. Z. Ffm. u. a. 1996. – W. v. Sternburg: ›Um Deutschland geht es

723 uns‹. A. Z. Die Biogr. Bln. 1998. – A. T. Alt u. Julia Bernhard (Hg.): A. Z. Sein Werk im Kontext der deutschsprachigen Exilliteratur. Akten des IV. Internat. A.-Z.-Symposiums, Durham, N. C. 1996. Bern u. a. 1999. – Eva Raffel: Vertraute Fremde. Das östl. Judentum im Werk v. Joseph Roth u. A. Z. Tüb. 2002. – J. Bernhard u. Joachim Schlör (Hg.): Deutscher, Jude, Europäer im 20. Jh. A. Z. u. das Judentum. Bern u. a. 2004. – Gabriella Ra´ cz: ›Kunstvolle Maskerade‹. Modernität u. Epigonalität in A. Z.s ›Die Novellen um Claudia‹. Untersuchungen zur Erzählstruktur. Veszpre´ m/Wien 2005. – Stefanie Leuenberger: Schrift-Raum Jerusalem. Identitätsdiskurse im Werk dt.-jüd. Autoren. Köln/ Weimar/Wien 2007. – Reiner Scheel: Literar. Justizkritik bei Feuchtwanger, Musil, Wassermann u. A. Z. Essen 2008. Andrea Jäger

Zweig, Max, * 22.6.1892 Proßnitz/Mähren, † 5.1.1992 Jerusalem. – Dramatiker.

Zweig Hbg. 2010 ff. – Einzeltitel: Die Marranen. Prag: Selbstverlag 1938. – Die dt. Bartholomäusnacht. 1940. Mit einem Nachw. v. Harald Weinrich. Mchn. 1989. – Ghetto Warschau. 1947. – Saul. Jerusalem 1951. Wien 1964. – Der Generalsekretär u. a. Dramen. Hg. Elazar Benyoetz. Tel Aviv 1979 (mit Bibliogr.). – Die Liebe in uns vergrößern. Hg. Kurt Becsi. Mit einer Einl. v. Paul Wimmer. Innsbr. 1984 (enthält ›Tolstois Gefangenschaft u. Flucht‹, ›Pia Cameron‹, ›Franziskus‹). – Religion u. Konfession. Bruchstücke eines Bekenntnisses. Klagenf. 1991. Literatur: Norbert Fuerst: Das Dramenwerk M. Z.s. Klagenf. 1986. – C. Bernd Sucher: M. Z.: ein dt. Jude, ein Dramatiker. Eine nichtgemachte Karriere. Ffm. 1988. – Eva Reichmann (Hg.): M. Z. Krit. Betrachtungen. St. Ingbert 1995. – Sulamith Sparre: Der wandernde Schreibtisch. Erfahrung, Bewältigung u. Folgen des Exils bei Leonhard Frank, Soma Morgenstern u. M. Z. Ein Vergleich. Würzb. 2006. – Armin A. Wallas: Deutschsprachige jüd. Lit. im 20. Jh. Bd. 3, Wuppertal 2008, S. 7–134. Rita Mielke / Red.

Der Sohn eines jüd. Rechtsanwalts ging – gedrängt, in die Fußstapfen des Vaters zu Zweig, Stefan, * 28.11.1881 Wien, † 23.2. treten – zum Jurastudium nach Wien u. 1942 Petropolis/Brasilien. – Erzähler, Lywidmete sich seit 1920 in Berlin ausschließriker, Dramatiker, Essayist, Feuilletonist, lich seiner schriftstellerischen Neigung. 1938 Übersetzer. emigrierte er nach Palästina, lebte in Tel Aviv Z. wuchs in Wien in einer großbürgerl.-jüd., u. seit 1978 in Jerusalem. Z.s erstes Theaterstück, Ragen (Bln. 1925), unorthodoxen Familie auf; sein Vater war wurde 1924 wenig erfolgreich am Mannhei- Textilunternehmer, die Mutter entstammte mer Nationaltheater uraufgeführt. Bis Mitte einem Kaufmannsgeschlecht. In Wien u. der 1960er Jahre entstanden, großenteils im Berlin studierte er Philosophie, Germanistik, Exil, insg. 22 Dramen mit religiösen, histor. Romanistik u. wurde 1904 mit der Dissertaoder zeitgeschichtl. Themen, welche die Fra- tion Die Philosophie des Hippolyte Taine promoge nach Schicksal u. Schuld(fähigkeit) des viert. In das Jahr 1902 fällt der Beginn seiner Menschen stellen. Nur wenige dieser Stücke langjährigen Freundschaft mit dem belg. gelangten zur Aufführung. Unbeeinflusst Dichter Emile Verhaeren. 1902–1938 publivon zeitgenöss. literar. Strömungen, die er als zierte Z. in der »Neuen Freien Presse« in »Niederungen« der abendländ. Kultur ab- Wien. Zahlreiche Reisen u. längere Aufentlehnte, folgte Z. den Prinzipien des klassisch- halte im Ausland waren ein bedeutender Teil idealistischen Theaters. Der Protagonist sei- seiner Lebenserfahrung u. ein Nachweis seines letzten Stücks, Die Entscheidung des Lorenzo ner Weltoffenheit. Z. besuchte viele Länder Moreno (1965), ein Dramatiker, der in die Europas – darunter die Sowjetunion, Nord-, Maschinerie einer polit. Diktatur gerät, trägt Mittel- u. Südamerika, erlebte auch Indien u. Züge des Autors. In hohem Alter vollendete Nordafrika. 1912 lernte er Friderike Maria Z., dem Popularität u. Erfolg zeitlebens ver- von Winternitz kennen; die Heirat erfolgte wehrt blieben, seine Lebenserinnerungen (Ger- 1920. Auf seinen Reisen begegnete Z. u. a. lingen 1987. Mit einem Vorw. v. Hans Mayer. Rainer Maria Rilke u. Auguste Rodin (1904), 2 Romain Rolland (1911), James Joyce, Her1992). Weitere Werke: Ausgaben: Werke in Einzel- mann Hesse, René Schickele (1917), Salvador bänden. Hg. Eva Reichmann. 6 Bde., Oldenb. Dali (1924), Albert Schweitzer (1930) u. Ma1997–2002. 2., überarb. Aufl. u. d. T. Ges. Werke. xim Gorki (1930). Beim Ausbruch des Ersten

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Weltkrieges meldete er sich freiwillig zum Militärdienst u. wurde im Archiv des Kriegsministeriums eingesetzt, wo er die Zeitschrift »Donauland« redigierte. Die im Auftrag des Archivs unternommene Reise an die galiz. Front, die ihm Einblicke ins wahre Kriegsantlitz gab, sowie die Freundschaft mit Romain Rolland hatten eine pazifistische Haltung des Schriftstellers zur Folge. 1917 zog Z. in die Schweiz, von wo er Ende März 1919 nach Österreich zurückkehrte. Die Machtergreifung durch die Nationalsozialisten war für sein weiteres Leben u. Wirken eine entscheidende Zäsur. 1933 wurden seine Bücher verbrannt. Infolge einer polizeil. Durchsuchung seines Salzburger Hauses verließ Z. 1934 Österreich u. begab sich nach London. Die Londoner Zeit erwies sich als sehr wichtig für sein privates Leben. 1939 heiratete Z. seine Sekretärin Charlotte Altmann u. wurde ein Jahr später brit. Staatsbürger. Im selben Jahr siedelte er mit seiner zweiten Frau nach New York über u. von dort aus nach Südamerika. 1941 fand der Schriftsteller seine letzte Station im brasilian. Petropolis, wo er sich mit seiner Frau das Leben nahm u. wo sich auch seine Grabstätte befindet. 1942 hat die Universität Wien Z. den Doktortitel aberkannt. – Z. übersetzte die Texte von Charles Baudelaire, Paul Verlaine, Emile Verhaeren u. Romain Rolland. Sein Werke wurden in viele Sprachen übersetzt u. in riesigen Auflagen verlegt. Das Schaffen von Z. bietet eine Vielfalt von verschiedenen Formen an. Es sind Gedichte, Theaterstücke, Novellen, Romane, Biografien, Essays u. Feuilletons. Z.s erste Buchveröffentlichung ist der im Geiste der Neuromantik verfasste Lyrikband Silberne Saiten (Bln./Lpz. 1901). Auch seine zweite, unter dem Einfluss des frz. Symbolismus entstandene Gedichtsammlung Die frühen Kränze (Lpz. 1906), lässt sich als eine für den angehenden Schriftsteller charakterist. Suche nach eigenem Ausdruck deuten. Dies trifft ebenfalls für seine Dramatik zu – wie etwa für Tersites. Ein Trauerspiel in drei Aufzügen (Lpz. 1907. Urauff. gleichzeitig in Dresden u. Kassel 1908), das Bild einer homerischen Gestalt, das er später nie wieder neu edieren wollte. Aufsehen erregte dagegen Jeremias. Eine dra-

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matische Dichtung in neun Bildern (Lpz. 1917; endgültige Ausgabe: Lpz.1928. Urauff. Zürich 1918), ein Theaterstück, das am Beispiel eines bibl. Motivs Einsichten in die jüd. Tradition, deren Gemeinschaftsmystik, liefert, zgl. auch zeitkrit. Bezüge entwickelt u. die Völker zu freiheitl. Gesinnung ermuntert. Die bisherigen Werke sind zwar als Z.s gelungener Einstieg in die literar. Gefilde anzusehen, jedoch erst mit seiner Novellistik konnte er sein Talent beweisen. Alle seine mit fast unverändertem klass. Konzept (klare Motivführung, unerhörte Begebenheit, dramat. Zuspitzung des Geschehens) geschriebenen Novellen haben den gleichen Ansatz: die Zuwendung zu Eros als einer der Zeit entzogenen menschl. Grunderfahrung mit dem dazugehörenden Nebeneinander von Lust u. Schmerz. Solche Erlebnisse werden die Protagonisten in der dreiteiligen Sammlung u. d. T. Die Kette. Ein Novellenkreis (Bd. 1: Erstes Erlebnis. Vier Geschichten aus Kinderland. Lpz. 1911. Bd. 2: Amok. Novellen einer Leidenschaft. Lpz. 1922. Bd. 3: Verwirrung der Gefühle. Drei Novellen. Lpz. 1927) teilhaftig; der dritte Band enthält u. a. die berühmte, 1931 verfilmte Novelle Vierundzwanzig Stunden aus dem Leben einer Frau. Erotische Abgründe als Entfesselungskunst des Unbewussten, die Entdeckung der in bürgerl. Welt tabuisierterten Intimität, die Intensität passionierter Liebeserlebnisse u. unbändiger Leidenschaften – auch im Kontext des Hasardspiels, des Spiels als Sucht – lassen den Einfluss Freuds erkennen. In diese Kategorie gehört ebenso der Brief einer Unbekannten (Einzelausg.: Dresden 1922; verfilmt 1923), die novellistisch geartete Liebe einer Frau zu einem Schriftsteller, eine Darstellung erot. Obsession u. deren Folgen. Zum gleichen Motivkomplex zählt auch Z.s melodramat. Roman Ungeduld des Herzens (ersch. gleichzeitig in Ffm. u. Stockholm 1939; verfilmt 1946), das Bild feinfühliger Liebe einer jungen behinderten Frau zu einem Offizier. Den größten Erfolg brachte Z. die psychologisch nuancierte u. zeitaktuell fundierte Schachnovelle (Buenos Aires 1942; verfilmt 1960), in der ein sich obsessiv u. sensationell gebendes Schachspiel während einer Schifffahrt von New York nach Buenos Aires mit furchterregenden Bezügen auf die

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Nazizeit zum Ausdruck kommt. Z.s Novellen genießen immer wieder große Popularität, deren Erfolg in einer Balance zwischen präziser Erfassung von seel. Feinheiten u. hoher Textverständlichkeit des Dargestellten begründet liegt. Ein anderes Spezialgebiet seines Schaffens sind Biografien berühmter histor. Persönlichkeiten, die zgl. Charakterstudien u. Zeitbilder sind: Joseph Fouché. Bildnis eines politischen Menschen (Lpz. 1929), Marie Antoinette. Bildnis eines mittleren Charakters (Lpz. 1932; verfilmt 1938), Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam (Wien 1934), Maria Stuart (Wien 1935), Castellio gegen Calvin oder Ein Gewissen gegen die Gewalt (Wien 1936), Magellan. Der Mann und seine Tat (Wien 1938), Amerigo. Die Geschichte eines historischen Irrtums (Stockholm 1944) u. Balzac. Roman seines Lebens (aus dem Nachlass hg. v. Richard Friedenthal. Stockholm 1946). Ein weiteres Beispiel für Z.s Ideen- u. Kulturverständnis sind seine Momentaufnahmen der Weltgeschichte u. d. T. Sternstunden der Menschheit. Fünf historische Miniaturen (Lpz. 1927; erweitert in späteren Editionen, worauf jeweils im Untertitel hingewiesen wird: Zwölf historische Miniaturen. Stockholm 1943 sowie Vierzehn historische Miniaturen. Ffm. 1964). Zu Z.s beachtenswerten Texten gehört auch die dreibändige Essay-Edition Die Baumeister der Welt. Versuch einer Typologie des Geistes, in der legendären Schriftstellern u. Denkern eine epochenübergreifende geistesgeschichtl. Rolle zugeschrieben wird (Bd. 1: Drei Meister. Balzac, Dickens, Dostojewski. Lpz.1920. Bd. 2: Der Kampf mit dem Dämon. Hölderlin, Kleist, Nietzsche. Lpz. 1925. Bd. 3: Dichter ihres Lebens. Casanova, Stendhal, Tolstoi. Lpz. 1928). Als ein bedeutendes Segment von Z.s Essayistik gilt ebenfalls Die Heilung durch den Geist (Lpz. 1931), eine Sammlung von Texten über Anton Mesmer, Mary Baker-Eddy u. Sigmund Freud. Eine vornehmlich produktive Bilanz von Z.s Leben u. Wirken liefert die 1941 entstandene, in Form von weitläufiger Gedächtnisarbeit u. Reflexion über den Untergang der europ. Kultur gedachte Autobiografie Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers (New York 1943. Stockholm 1944).

Zweig Weitere Werke: Romane: Rausch der Verwandlung. Aus dem Nachl. hg. v. K. Beck. Ffm. 1982. – Clarissa. Ein Romanentwurf. Aus dem Nachl. hg. v. K. Beck. Ffm. 1990. – Erzählungen: Rahel rechtet mit Gott. Legende. In: NR 1904. In Buchform ersch. Bln. 1930 (mit Holzschnitten v. Walter Preißer). – Die Liebe der Erika Ewald. Buchschmuck v. Hugo Steiner-Prag. Bln. 1904. – Der Zwang. Lpz. 1920. – Die Augen des ewigen Bruders. Eine Legende. Lpz. 1922. – Angst. Lpz. 1925. – Kleine Chronik. Vier Erzählungen. Lpz. 1929. – Die unsichtbare Sammlung. Wien 1933. – Der begrabene Leuchter. Mit Zeichnungen v. Berthold Wolpe. Wien u.a. 1937. – Legenden. Stockholm 1945. – Meisternovellen. Gütersloh 1960. – Fragment einer Novelle. Mit 4 Original-Lithographien v. Hans Fronius. Hg. Erich Fitzbauer. Wien 1961. – Brennendes Geheimnis. Erzählungen. Hg. u. mit einer Nachbemerkung v. K. Beck. Gütersloh 1989. – Dramen: Das Haus am Meer. Ein Schausp. in zwei Tln. Lpz. 1912. Urauff. Wien 1912. – Der verwandelte Komödiant. Ein Spiel aus dem dt. Rokoko. Urauff. Breslau 1912. Ersch. Lpz. 1913. – Legende eines Lebens. Ein Kammerspiel in drei Aufügen. Lpz. 1919. – Die Flucht zu Gott. Ein Epilog zu Leo Tolstois unvollendetem Drama ›Das Licht scheint in der Finsternis‹. Bln. 1927. – Quiproquo (zus. mit Alexander Lernet-Holenia). Wien 1928. – Das Lamm des Armen. Tragikomödie in drei Akten. Lpz. 1929. Urauff. Breslau 1930. – Die schweigsame Frau. Komische Oper in drei Aufzügen. Libretto, frei bearb. nach Ben Jonson. Musik v. Richard Strauss. Bln. 1935. Urauff. Dresden 1935. – Adam Lux. Zehn Bilder aus dem Leben eines dt. Revolutionärs. Mit Zeittafel u. Bibliogr. Mit Essays v. Franz Dumont u. Erwin Rotermund. Obernburg 2003. – Porträts: Emile Verhaeren. Lpz. 1910. – Erinnerungen an Emile Verhaeren. Privatdruck 1917. – Marceline Desbordes-Valmore. Das Lebensbild einer Dichterin. Mit Übertragungen v. Gisela EtzelKühn. Lpz. 1920. – Romain Rolland. Der Mann u. das Werk. Ffm. 1921. – Frans Masereel (zus. mit Arthur Holitscher). Bln. 1923. – Aufsätze und Reden: Das Herz Europas. Ein Besuch im Genfer Roten Kreuz. Umschlagzeichnung v. Frans Masereel. Zürich 1918. – Fahrten. Landschaften u. Städte. Lpz. u.a. 1919. – Der Flüchtling. Episode vom Genfer See. Lpz. 1927. – Abschied v. Rilke. Eine Rede. Tüb. 1927. – Begegnungen mit Menschen, Büchern, Städten. Wien 1937. – Briefe: S. Z. Briefe 1897–1942 in vier Bdn. Hg. K. Beck, Jeffrey B. Berlin u.a. Bd. 1: Briefe 1897–1914. Ffm. 1995; Bd. 2: Briefe 1914–1919. Ffm. 1998; Bd. 3: Briefe 1920–1931. Ffm. 2000; Bd. 4: Briefe 1932–1942. Ffm. 2005. – Briefe in Einzelausgaben: S. Z. Briefw. mit Friderike Zweig 1912–42. Bern 1951. – Richard Strauss – S.

Zweig Z.: Briefw. Hg. Willi Schuh. Ffm. 1957. – Maxim Gorki/S. Z. Briefw. Dokumente. Hg. Kurt Böttcher. Lpz. 1971. – Briefe an Freunde. Hg. Richard Friedenthal. Ffm. 1978. – The Correspondence of S. Z. with Raoul Auernheimer and Richard BeerHofmann. Hg. Donald G. Daviau u.a. Columbia 1983. – S. Z./Paul Zech. Briefe 1910–1942. Hg. D. G. Daviau. Rudolstadt 1984. – Briefw. mit Hermann Bahr, Sigmund Freud, Rainer Maria Rilke u. Arthur Schnitzler. Hg. J. B. Berlin. Ffm. 1987. – Briefw. mit Romain Rolland 1910–1940. 2 Bde., Bln. 1987. – Rainer Maria Rilke u. S. Z. in Briefen u. Dokumenten. Hg. Donald A. Prater. Ffm. 1987. – Vielleicht führen wir zwei verschiedene Sprachen ... – Zum Briefw. zwischen Joseph Roth u. S. Z. Mit 21 bisher unveröffentlichten Briefen. Hg. Matjaz Birk. Münster 1996. – Alfons Petzold – S. Z. Briefw. Einl. u. Komm. v. David Turner. New York 1998. – Georges Duhamel – S. Z. Correspondance. L’anthologie oubliée de Leipzig. Hg. Claudine Delphis. Lpz. 2001. – Hermann Hesse u. S. Z. Briefw. Hg. Volker Michels. Ffm. 2006. – S. Z., Friderike Zweig: ›Wenn einen Augenblick die Wolken weichen‹. Briefw. 1912–1942. Hg. J. B. Berlin u. Gert Kerschbaumer. Ffm 2006. – Sonstiges: Brasilien. Ein Land der Zukunft. Stockholm 1941. – Tagebücher. Hg. K. Beck. Ffm 1984. – Ich kenne den Zauber der Schrift. Kat. u. Gesch. der Autographensammlung S. Z. Mit kommentiertem Abdruck v. S. Z.s Aufsätzen über das Sammeln v. Handschriften. Bearb. v. Oliver Matuschek. Wien 2005. Ausgaben: Die ges. Gedichte. Lpz. 1924. – Ausgew. Gedichte. Lpz. 1931. – Ges. Erzählungen. 2 Bde. (Bd. 1: Die Kette, Bd. 2: Kaleidoskop). Wien. 1936. – Zeit u. Welt. Ges. Aufsätze u. Vorträge 1904–1940. Hg. Richard Friedenthal. Stockholm 1943. – Ges. Werke in Einzelbänden. Hg. Knut Beck. Ffm. 1981 ff. – Ausgew. Werke in vier Bdn. (in Kassette). Ffm 2003. Literatur: Bibliografie: Randolph J. Klawiter. S. Z. A Bibliography. Chapel Hill 1965. Erw. Ausg.: S. Z. An Internat. Bibliography. Riverside 1991. – Weitere Titel: Erwin Rieger: S. Z. Der Mann u. das Werk. Bln. 1928. – Friderike M. Zweig: S. Z. Wie ich ihn erlebte. Stockholm 1947. – Hannah Arendt: S. Z. Juden in der Welt von gestern. In: Dies.: Sechs Essays. Heidelb. 1948. – Hanns Arens (Hg.): Der große Europäer S. Z. Mchn. 1956. Neuausg. u.d.T. S. Z. im Zeugnis seiner Freunde. Mchn./Wien 1968. – Erich Fitzbauer (Hg.): S. Z. – Spiegelungen einer schöpfer. Persönlichkeit. Wien 1959. – Arnold Bauer: S. Z. Bln. 1961. – F. M. Zweig: S. Z. Eine Bildmonogr. Mchn. 1961. – Dies.: Spiegelungen des Lebens. Wien u.a. 1964. – Donald A. Prater: S. Z. Das Leben eines Ungeduldigen. Mchn./Wien

726 1981. – S. Z. 1881–1981. Aufsätze u. Dokumente. ›Zirkular‹ 2 (1981). Red.: Heinz Lunzer u. Gerhard Renner. Wien 1981. – Joseph Strelka: S. Z. Freier Geist der Menschlichkeit. Wien 1981. – D. A. Prater u. Volker Michels (Hg.): S. Z. Leben u. Werk im Bild. Ffm. 1981. – Mark H. Gelber (Hg.): S. Z. heute. New York u.a. 1987. – Hartmut Müller: S. Z. Mit Selbstzeugnissen u. Bilddokumenten. Reinb. 1988. – David Turner: Moral Values and the Human Zoo. The ›Novellen‹ of S. Z. Hull 1988. – Ulrich Weinzierl (Hg.): S. Z. Triumph u. Tragik. Aufsätze, Tagebuchnotizen, Briefe. Ffm. 1992. – Klemens Renoldner, Hildeman Holl u. Peter Karlhuber (Hg.): S. Z. Für ein Europa des Geistes. Ausstellungskat. Salzb. 1992. – Natascha Weschenbach: S. Z. u. Hippolyte Taine. S. Z.s Diss. über ›Die Philosophie des Hippolyte Taine‹ (Wien 1904). Amsterd./Atlanta 1992. – Sabine Kinder u. Ellen Presser (Hg.): ›Die Zeit gibt die Bilder, ich spreche nur die Worte dazu.‹ S. Z. 1881–1942. Eine Ausstellung der Münchner Stadtbibl. am Gasteig. Mchn. 1993. – M. H. Gelber u. Klaus Zelewitz (Hg.): S. Z. Exil u. Suche nach dem Weltfrieden. Riverside 1995. – Thomas Haenel: Psychologe aus Leidenschaft. S. Z. Leben u. Werk aus der Sicht eines Psychiaters. Düsseld. 1995. – Renate Chédin: Die Tragik des Daseins. S. Z.s ›Die Welt von Gestern‹. Würzb. 1996. – Guo-Qiang Ren: Am Ende der Missachtung? Studie über die S. Z.-Rezeption in der dt. Literaturwiss. nach 1945. Herzogenrath 1996. – Susanne Buchinger: S. Z. – Schriftsteller u. literar. Agent. Die Beziehungen zu seinen deutschsprachigen Verlegern (1901–1942). Mchn. 1998. – Gabriella Rovagnati: ›Umwege auf dem Weg zu mir selbst‹. Zu Leben u. Werk S. Z.s. Bonn 1998. – Sigrid Schmid-Bortenschlager u. Werner Riemer (Hg.): S. Z. lebt. Akten des 2. Internat. S. Z.-Kongresses in Salzburg 1998. Stgt. 1999. – Ingrid Schwamborn (Hg.): Die letzte Partie. S. Z.s Leben u. Werk in Brasilien (1932–1942). Bielef. 1999. – Catherine Sauvat: S. Z. u. Wien. Fotos v. Helene Moulonguet. Hildesh. 2000 (Bildband). – Thomas Eicher (Hg.): S. Z. im Zeitgeschehen des 20. Jh. Oberhausen 2003. – Gert Kerschbaumer: S. Z. Der fliegende Salzburger. Salzb. u.a. 2003. – Alberto Dines: Tod im Paradies. Die Tragödie des S. Z. Ffm. 2006. – Oliver Matuschek: S. Z. Drei Leben. Eine Biogr. Ffm. 2006. – Wolfgang Treitler: Zwischen Hiob u. Jeremia. S. Z. u. Joseph Roth am Ende der Welt. Ffm. u.a. 2006. – Christian v. Zimmemann: Biogr. Anthropologie. Menschenbilder in lebensgeschichtl. Darstellung (1830–1940). Bln./New York 2006, S. 286–348. – Joachim Brügge (Hg.): Das Buch als Eingang zur Welt. Würzb. 2009. Zygmunt Mielczarek

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Zwerenz, Gerhard, auch: Peter Lauenheim, Leslie Markwart, Peer Tarrok, * 3.6. 1925 Gablenz bei Aue. – Romancier u. Publizist. Z. wuchs in der Ziegelei seiner Großeltern auf. Nach acht Jahren Volksschule u. einer Kupferschmiedlehre meldete er sich 1942 freiwillig zur Wehrmacht, desertierte im Aug. 1944 u. kam in sowjetische Kriegsgefangenschaft. Nach seiner Entlassung 1948 wurde er für zwei Jahre zur Volkspolizei verpflichtet, erkrankte an Tuberkulose u. war 1950/51, inzwischen Mitgl. der SED, Lehrer an einer Ingenieurschule in Zwickau. Erneut erkrankt, wurde er nach einer Sonderprüfung zum Studium zugelassen u. studierte von 1952 an in Leipzig Philosophie bei Ernst Bloch. In dieser Zeit schrieb er für die »Weltbühne«, den »Sonntag« u. das Leipziger Kabarett »Die Pfeffermühle«, hatte Kontakt zum Kreis um Wolfgang Harich u. heiratete Ingrid, geb. Hoffmann (* 1934). 1957 ging Z., wegen seiner krit. Haltung aus der SED ausgeschlossen, mit seiner Familie über West-Berlin in die BR Deutschland. Er ließ sich zunächst in Kasbach bei Linz/Rhein nieder, später in München, Köln, Offenbach u. Frankfurt/M.; heute lebt er in Schmitten/ Taunus. Nach der Wende engagierte er sich bis 1998 für die PDS. Z. ist Träger des Carlvon-Ossietzky-Preises (1986). Trotz eines inzwischen auf mehr als hundert Bücher angewachsenen Werks bewahrte sich der »Vielschreiber« (Zwerenz) den Ruf eines Provokateurs des Literaturbetriebs. Sein öffentl. Auftreten u. der kultur- u. gesellschaftskrit. Gestus seiner Bücher erregten immer wieder Anstoß, auch wenn ihm wegen seiner mitunter pornografischen Behandlung der Sexualität Kritiker vorwarfen, den Skandal um des Skandals willen zu suchen. Z. neigte nicht zu ästhetischen Innovationen; er erwies sich in seinen Romanen als guter Handwerker. Ersten Erfolg hatte Z. mit der 1961 veröffentlichten Essaysammlung Ärgernisse – Von der Maas bis an die Memel (Köln), in der er sich, höchst polemisch, über die betrübl. Situation der Intellektuellen in beiden Teilen Deutschlands äußerte. Wider die deutschen Ta-

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bus (Mchn. 1962) war sein nachfolgender Essayband betitelt, mit dem er – ebenso wie mit den Gesängen auf dem Markt (Köln 1962), mit Heldengedenktag. Dreizehn Versuche in Prosa, eine ehrerbietige Haltung anzunehmen (Bern/Mchn./ Wien 1964) u. mit der biogr. Skizze über Walter Ulbricht (Mchn./Bern/Wien 1966) – die begonnene Richtung fortsetzte. Die Radikalität von Z.’ Äußerungen war dabei zweifellos auch eine Folge der Enttäuschung des ExKommunisten, der mit dem Kommunismus gebrochen hatte u. sich nun ausdrücklich als Sozialist verstand. In der DDR wurde Z. 1966 u. noch einmal 1973 als Renegat verurteilt, während er sein Werk immer noch als Teil der DDR-Literatur u. sich selbst als »Exil-Literat« begreifen wollte. Seine Erfolge verdankte Z. aber der Beschäftigung mit bundesrepublikan. Themen, nicht zuletzt befördert durch die Studentenbewegung. Ein Bestseller wurde Casanova oder der Kleine Herr in Krieg und Frieden (Bern/Mchn./Wien 1966); in der Gestalt des Helden Michel Casanova schildert Z., in der Tradition des pikaresken Romans, den Typ des unangepassten Menschen in verschiedenen gesellschaftl. Systemen, zgl. ist der Roman eine Satire auf den Literaturbetrieb der 1960er Jahre. Er rückte jene Thematik in den Vordergrund, die Z. in den folgenden Jahren, mitunter bis zur Einseitigkeit, beschäftigte: die Sexualität, von ihm zur »revolutionären Kraft« stilisiert. Noch stärker, wenn auch nicht zum Nutzen der literar. Qualität, verfocht er dies in Erbarmen mit den Männern. Roman vom Aschermittwochsfest und den sieben Sinnlichkeiten (ebd. 1968). Von der Konzentration auf die Sexualität ließ Z. schließlich ab mit dem Roman Kopf und Bauch (Ffm. 1971), der Geschichte eines Arbeiters, der unter die Intellektuellen gefallen ist, u. mit dem Essayband Der plebejische Intellektuelle (ebd. 1971), der Versuch einer Standortbestimmung, zgl. eine literar. Beichte u. ein Kindheitsbericht. In seine Kindheit in der Ziegelei der Großeltern kehrte Z. auch zurück mit dem autobiogr. Bericht Der Widerspruch (ebd. 1974), in dem er analytischer u. dokumentarischer verfährt als in dem früheren Werk, u. mit Das Großelternkind (Weinheim/ Basel 1978). Weitere Kindheitserlebnisse beschrieb Z. in Vergiß die Träume deiner Jugend

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nicht (Hbg. 1989). Daneben wandte er sich in ganze Theater. Starnberg 1977 (E.). – Die schreckl. den 1970er Jahren wieder der Kritik der Le- Folgen der Legende, ein Liebhaber gewesen zu sein. bensverhältnisse in der BR Deutschland zu, Erot. Gesch.n. Mchn. 1978 (E.). – Eine Liebe in so in Die Erde ist unbewohnbar wie der Mond Schweden. Roman vom seltsamen Spiel u. Tod des Satirikers K. T. Ebd. 1980 (R.). – Die Geschäfte des (Ffm. 1973). Der Roman machte Skandal, weil Herrn Morgenstern. Satiren. Ebd. 1980. – Salut für Z. darin die Figur eines jüd. Grundstücks- einen alten Poeten. Rückblick aus dem Jahre 1994 spekulanten entwarf; dem Autor wurde, wie auf die goldenen siebziger Jahre. Ebd. 1980 (R.). – später auch Rainer Werner Fassbinder, der Der langsame Tod des Rainer Werner Fassbinder. das Buch zur Vorlage seines Stücks Der Müll, Ebd. 1982 (Biogr.). – Die Rückkehr des toten Juden die Stadt und der Tod nahm, Antisemitismus nach Dtschld. Ebd. 1986 (Ess.). – ›Soldaten sind vorgeworfen. Den Fall Guillaume griff Z. in Mörder‹. Die Deutschen u. der Krieg. Ebd. 1988 Die Quadriga des Mischa Wolf (ebd. 1975) auf u. (Ess.). – Die Heilige Familie im Personalbüro. bewies, wie auch in der Untergangssatire Der Krippenspiel. Urauff. 1993 (Hörspielfassung ORB 1993). – Krieg im Glashaus oder Der Bundestag als Bunker (Mchn. 1983), wieder einmal sein Ta- Windmühle. Autobiogr. Aufzeichnungen vom Ablent, rasch auf aktuelle Ereignisse zu reagie- gang der Bonner Republik. Bln. 2000. ren u. geschickt Fiktion u. Fakten zu miLiteratur: Ekkehardt Rudolph: G. Z. In: Ders.: schen. 1981 beschloss Z., seine Werke nur Protokoll zur Person. Mchn. 1971. – Heinz Ludwig noch als Taschenbücher zu publizieren. Sein Arnold: Da muß man in eine Nacht hineinschreiAnspruch, dadurch als »plebejischer Intel- ben. Gespräch. In: Ders.: Als Schriftsteller leben. lektueller« die Methoden der Medienindu- Reinb. 1979, S. 65–96. – Ulrich Dittmann: G. Z. In: strie benutzen u. umfunktionieren zu kön- LGL. – Hannes Schwenger: G. Z. In: KLG. Annette Meyhöfer / Günter Baumann nen, lief allerdings ins Leere, wie er auch seine Ankündigung, mit dem Schreiben aufhören zu wollen, nicht einhalten konnte. Zwick, Johannes, * um 1496 Konstanz, Vielmehr pflegte er ungebrochen das Streit- † 23.10.1542 Bischofszell/Thurgau. – Jugespräch, auch mit Gesinnungsgenossen wie rist, Reformator, Prediger, KirchenliedHermann Kant (Unendliche Wende. Querfurt dichter. 1998) oder Sahra Wagenknecht (Die grundsätzliche Differenz. Ebd. 1999) u. publizierte Einer Patrizierfamilie entstammend, wurde weiterhin Essays. Zusammen mit seiner Frau Z. schon als Knabe zum Kleriker bestimmt u. studierte, wie damals üblich, Rechtswissenschrieb er zwei Billy-Romane (Lord Billy, der schaft an bedeutenden europ. Universitäten: chinesische Hund. Roman einer Freundschaft. zunächst in Freiburg (Immatrikulation am Hbg. 1988. Reisen mit Lord Billy. Ebd. 1991) 3.8.1509 als »clericus Constantiensis«; er sowie eine Arbeit über Sklavensprache und Rehatte also schon die niederen Weihen empvolte. der Bloch-Kreis und seine Feinde in Ost und fangen), dann in Avignon u. Bologna. Am West (Hbg./Bln. 2004). Eine Bilanz seines 16.11.1520 wurde er in Siena zum Dr. iur. wandelhaften, aber in der Haltung geradliutr. promoviert; am 7.7.1521 ließ er sich in nigen Wegs zieht der »Deserteur«, »SprachBasel einschreiben, wo er 1521/22 dieses Fach rebell« u. »Grenzgänger« (so die ersten Kalehrte (Verbindung mit Erasmus u. Zwingli). pitel) in dem Gesprächsband Weder Kain noch 1522 schloss er sich der reformatorischen Abel (Bln. 2008). Bewegung an. Nach Konstanz zurückgeWeitere Werke: Aristotel. u. Brechtsche Dra- kehrt, heiratete er u. nahm 1523 eine Pfarrmatik. Rudolstadt 1956. – Magie – Sternglaube – stelle in Riedlingen/Württemberg an. Nach Spiritismus. Lpz. 1956. Erw. Ffm. 1974. – Aufs Rad seiner Vertreibung übernahm er 1525 das geflochten. Roman vom Aufstieg der neuen Klasse. Predigeramt an St. Stephan in Konstanz u. Köln 1959. – Vom Nutzen des dicken Fells u. a. Gesch.n. Mchn. 1968. – Ber. aus dem Landesinnern. führte dort zusammen mit seinem Bruder City, Strecke, Siedlung. Ffm. 1972 (Ess.). – Nicht Konrad sowie mit Ambrosius u. Thomas alles gefallen lassen. Schulbuchgesch.n. Ebd. 1972. Blarer die Reformation durch. Vertretungs– Vorbereitungen zur Hochzeit. Ebd. 1975 (E.). – weise in Bischofszell tätig, erlag er 1542 der Die Westdeutschen. Mchn. 1977 (Ess.). – Wozu das Pest.

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Der Zwickauer

Z.s literar. Leistung liegt auf katecheti- Tschackert: J. Z. In: ADB. – Jean Hotz: J. Z., Uß der schem Gebiet. In Schriften, Gebeten u. Lie- Werckstatt sines läbens. Zürich 1942. – Lebensbildern hat er sich, selbst kinderlos, v. a. an der der Liederdichter u. Melodisten. Bearb. v. WilKinder gewandt. Seine Lieder finden sich in helm Lueken. (Hdb. zum Evang. Kirchengesangsbuch, Bd. II, 1). Gött. (auch Bln.) 1957, S. 71 f. – verschiedenen Gesangbüchern, dem nicht Johannes Kulp: Sonderbd. [zum Hdb. zum EKG]. erhaltenen (um 1533/34) u. dem fragmenta- Gött. (auch Bln.) 1958, Register. – Bernd Moeller: J. rischen (um 1537) Konstanzer, dem Straß- Z. u. die Reformation in Konstanz. Gütersloh 1961. burger (1537) u. vor allem dem dritten Kon- – Fritz Hauss: J. Z. In: RGG 3. Aufl., Bd. 6, Sp. stanzer Nüw gsangbüchle (Zürich 1540) mit ei- 1950. – Markus Jenny: Gesch. des dt.-schweizer. ner Vorrede Z.s »zu beschirm vnnd erhaltung evang. Gesangbuches im 16. Jh. Basel 1962. – Rodes ordenlich Kirchengsangs«. Darin sind 17 bert Stupperich: Reformatorenlexikon. Gütersloh Lieder mit J. Z. signiert, von denen drei in das 1984, S. 227 f. – Ilse Günther: J. Z. In: ContemEKG (Nr. 36, 91, 147) gelangten. Sieben Lie- poraries. – HKJL, Bd. 1, Sp. 245–255 u. Register. – B. Moeller u. Karl Stackmann: Städt. Predigt in der der stehen in seinem Kindergebetbuch (Gebätt Frühzeit der Reformation. Eine Untersuchung dt. 8 für Jung lüt, die man in Schulen u. im Huß alltag u. Flugschr.en der Jahre 1522 bis 1529. Gött. 1996, durch die wochen sprechen mag [...]. Zürich um passim. – Konrad Fuchs: J. Z. In: Bautz. – Wolfgang 1540), weitere gab Ambrosius Blarer 1545 in Herbst: J. Z. In: Komponisten u. Liederdichter des Konstanz aus Z.s Nachlass heraus (Christenli- Evang. Gesangbuchs. Hg. ders. Gött. 1999 (22001), cher gantz trostlicher underricht, wie man sich zu8 S. 361 f. – Christine Christ-v. Wedel: J. Z.s ›Undainem säligen stärben beraiten sölle [...]. Daraus errichtung‹ neu gelesen. Zum Verständnis v. Schrift die Morgenlieder EKG 336, 337). Die urspr. u. Gesetz zwischen 1521 u. 1524. In: Histor. Hooberdt. Sprachform wird in modernen Aus- rizonte [...]. Hg. Sigrid Lekebusch. Wuppertal gaben geglättet. Z.s Lieder zeichnen sich 2002, S. 93–103. – Thomas Schmidt-Beste (Markus Jenny): J. Z. In: MGG, Bd. 17 (Pers.), Sp. 1599 f. durch erfrischende Volkstümlichkeit aus; Klaus Düwel / Red. daneben klingen lehrhafte Töne an. Im Einzelnen (EKG 36) führen alliterierende Wortpaare auf vorgeprägte Wendungen der geistl. Der Zwickauer (Der Zwingäuer). – UnbeDichtung u. des Volkslieds. Z.s Lieder »ge- kannter Verfasser einer spätmittelalterlihören zum besten Liedgut der Reformation chen Kurzerzählung, erstes Drittel 14. Jh. überhaupt« (Hauss). Weitere Werke: Geschrifft Doctor Johanns Die Identität des Autors, von dem die fünfmal zwicken an seyne, yhm von got bevolhen vnder- vollständig u. einmal fragmentarisch überthonen, zu8 Rüdlingen, anzöugend auß was unrecht lieferte, um 1300/1325 entstandene mhd. messigen ursachen er von der Pfarr daselbst abge- Verserzählung Des Mönches Not (544 Verse) stossen [...] seye worden [...]. Augsb. 1526. Inter- stammt, ist nicht geklärt; die Handschriften net-Ed. in: VD 16. – Das Vatter unser in frag u. weisen in den ostmitteldt., bair. u. schwäb. betswyß, für die jungenn kind ußgelegt [...]. Kon- Raum. stanz um 1529. – Bekantnus der zwölff artickel, des Die um einen eingebildet schwangeren Gloubens von Jesu Christo [...]. Für jung u. ain- Mann kreisende Kurzerzählung greift ein fältig lüt. Konstanz 1530. – Rhapsodiae sive preces internationales, bis in die Gegenwart popudiurnae in gratiam puerorum et scholarum conläres Schwankmotiv auf, das auch im MA weit gestae. Zürich 1540. verbreitet war, u. versetzt es in die monast. Ausgaben: Wackernagel 3, S. 603–617. – Gebete Sphäre. Einem jungen, naiven Mönch fällt u. Lieder für die Jugend. Hg. Friedrich Spitta. Gött. eine Schrift über der minne bant (»die Fesseln 1901. – Nüw gsangbüchle von vil schönen Psalmen u. geistlichen liedern [...]. Zürich 1540. Nachdr. hg. der Liebe«, v. 26) in die Hände, woraufhin er v. Jean Hotz. Zürich 1946. – All Morgen ist ganz die Minne kennen lernen möchte. Ein Knecht frisch u. neu. Mit einem Text zur Entstehungsge- ermöglicht ihnen listig eine Reise, auf der er sch. des Liedes u. Anmerkungen zu J. Z. Hg. Martin für den Mönch eine Liebesnacht mit ihrer Gotthard Schneider. Lahr 1994. Gastwirtin arrangiert. Da der junge Mann Literatur: Bibliografien: Schmidt, Quellenlexi- allerdings reglos im Bett liegen bleibt, anstatt kon, Bd. 34, S. 425. – VD 16. – Weitere Titel: Paul ihr beizuwohnen, verprügelt die enttäuschte

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Frau ihn dreimal. Am nächsten Morgen fliehen beide Männer zurück ins Kloster. Der Mönch erkundigt sich beim Knecht danach, wer das Kind aus einem Beischlaf empfange. Als die Antwort lautet, der, der unten liege, hält er sich für schwanger u. fürchtet, aus der Klostergemeinschaft verstoßen zu werden. Eines Tages hört er, wie ein Pächter beim Abt vorstellig wird, um gegen einen Mann zu klagen, der seine Kuh so heftig geschlagen hat, dass sie ein Kalb verloren hat. Er bittet heimlich diesen Mann, an ihm dieselbe Prozedur vorzunehmen, u. bezahlt dafür auch noch drei Pfund. Am Ende der Misshandlung sieht der völlig zerschlagene Mönch einen kleinen Hasen, der in den Wald flieht, hält ihn für sein Kind u. setzt ihm reuevoll nach. Ein alter Mönch beobachtet ihn dabei u. bringt ihn unter neuerl. Schlägen ins Kloster zurück. Dort betrauert der junge Mönch sein vermeintliches, ungetauft verstorbenes Kind u. wird von den Mitbrüdern für besessen gehalten. Ein brutaler Exorzismus hilft ebenso wenig wie Kerkerhaft, erst als er bei der Beichte die ganze Geschichte von Anfang an erzählen kann, erbarmt sich der Abt seiner u. vergibt ihm seine Sünden. Die Erzählung des Z.s, für die keine direkte Vorlage namhaft gemacht werden kann, besticht durch viele narrative Pointen, eine Demonstration klerikal-mönchischer Lebensfremdheit u. eine detailreiche Darstellung der monast. Denk- u. Lebenswelt. Ausgabe: Klaus Grubmüller (Hg.): Novellistik des MA. Märendichung. Ffm. 1996, S. 666–695 (mit nhd. Übers.). Literatur: André Schnyder: Z. In: VL. – Grubmüller 1996 (s. o.), S. 1250–1261 (Überlieferung, literarhist. Informationen, Bibliogr., Komm.). Corinna Laude

diente in der Fremdenlegion u. war seit 1941 als Besitzer einer Kosmetikfirma in Saigon tätig. Beim Überfall der Japaner 1945 war er im Widerstand engagiert u. wurde schwer verwundet; sein gesamter Besitz wurde zerstört. Als Kriegsversehrter kam er nach Frankreich, wo er Direktor eines Parfümeriekonzerns wurde. Bis zu seinem Tod lebte er in Garches. Seit 1926 veröffentlichte Z. Gedichte in Zeitungen u. Zeitschriften u. hielt Vorlesungen u. Vorträge im Rundfunk. Als Schriftsteller wurde er bekannt, als 1960 sein Stück Galileo Galilei (Bayreuth 1962) zur Eröffnung der Bregenzer Festspiele vom Wiener Burgtheater uraufgeführt wurde. Die freirhythmische, bilder- u. metaphernreiche Lyrik Z.s (Gedichte. 3 Bde., Wien 1963) ist geprägt von der Auseinandersetzung mit Natur u. Kosmos, mit Wissenschaft u. Staatsgewalt – aber es liegen ihr auch bibl. Motive u. Eindrücke von Werken bildender Künstler zugrunde. Weitere Werke: Dalmatin. Bilderbuch. Wien 1938 (L., P.). – Wandel u. Wiederkehr. Nürnb. 1950 (L.). – Der mag. Tanz. Wien 1960 (Balladen). – Der Streik Gottes. Mchn./Wien/Basel o. J. [1967] (Volksstück). – Geist u. Macht (Maharal, Galileo Galilei, Archimedes, Kettenreaktion). Wien 1973 (Dramen). – Entzifferung. Darmst. 1976 (L.). – ortung. kosm. texte. Ebd. 1976 (L.). – Lyr. Triptychon: durch blick. besinnl. rhythmen; ein sicht. melos des wissens; ideogramme. metaphor. transparente. St. Michael 1980. – Paul Celan u. F. Z. Erstveröffentlichung der Korrespondenz. Komm. v. Arno Barnert u. Wilhelm Hemecker. In: Sichtungen 3 (2000), S. 56–70. Literatur: Harry Zohn: Aspects of F. Z.’s Theater. In: Von Franzos zu Canetti. Hg. Mark H. Gelber. Tüb. 1996, S. 357–368. – Erika A. Blumenthal: Science and the State in F. Z.’s Dramatic Tetralogy ›Geist u. Macht‹. Ann Arbor/Michigan 1998. Kristina Pfoser-Schewig / Red.

Zwillinger, Frank Gerhard, * 29.11.1909 Wien, † 26.11.1989 Garches bei Paris. – Zwinger, Theodor, d.Ä., * 2.8.1533 Basel, Lyriker, Dramatiker. † 10.3.1588 Basel. – Mediziner, Enzyklopädist, Editor, Wissenschafts- u. ReiseZ. absolvierte das Gymnasium im ehemals theoretiker. österreichisch-schles. Neu-Oderberg u. studierte dann in Wien Germanistik. Nach einem einjährigen Romaufenthalt 1938 emigrierte er nach Ostasien u. lebte in Saigon, wo er bei Kriegsbeginn interniert wurde. Er

Z.s Vater war der aus Bischofszell (Thurgau) stammende Kürschner Leonhard Zwinger, seine Mutter Christiane Herbster, Schwester des späteren Verlegers Johannes Oporinus,

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der zeitweilig als Famulus des Paracelsus arbeitete u. diesen in einem weit verbreiteten Brief als haltlosen Trunkenbold verunglimpfte. Mit Basilius Amerbach sowie mit Thomas u. Felix Platter besuchte er in Basel die Schule, wurde dort im Mai 1545 immatrikuliert, setzte sich aber schon im Herbst dieses Jahres nach Frankreich ab: zunächst nach Lyon (Druckereigehilfe bei Beringer), dann nach Paris (1551), wo er Petrus Ramus nahetrat, dessen methodolog. Neuerungen ihn beeindruckten. Von 1553 bis 1559 (Dr. med. Jan. 1559) studierte er, zeitweise in Begleitung des späteren Basler Verlegers Pietro Perna, in Padua u. setzte sich dort intensiv mit der galenischen Medizin u. dem herrschenden Aristotelismus auseinander. Mit einer reichen Witwe verheiratet (1561), wirkte er fortan in Basel als Professor für Griechisch (1565), Moralphilosophie (1571) u. theoret. Medizin (1580). In dieser Zeit gab er medizinische u. philosophische Werke (Galen, Hippokrates, Aristoteles) heraus, die er immer wieder mit analyt. Tafeln kommentierte, wie er sie in Frankreich u. Italien kennengelernt hatte. In den Mittelpunkt seines Interesse rückte dabei die »Methode« der Gewinnung, Übermittlung u. systemat. Bestimmung des gültigen Wissens, ablesbar in den verschiedenen Ausgaben seiner wirkungsreichen Enzyklopädie, dem Theatrum Vitae Humanae, das auf einer Exempelsammlung seines Stiefvaters Konrad Lycosthenes beruhte, die Z. fortwährend ergänzte (von einem Folioband zu acht Foliobänden; zuletzt eine wahre Realenzyklopädie, die später nur noch in alphabetischer Ordnung zu bewältigen war). Diese Materalien des Wissens, quer durch alle Disziplinen zusammengetragen, wurden von Z. topologisch u. methodisch geordnet, mit Exkursen versehen sowie mit ausgreifenden ramistischen Schemata erläutert (Basel 1565/66; überarb. ebd. 1571; Ausg. letzter Hand Basel 1586/87; postum ebd. 1604). Seit 1571 wollte Z. auf diese Weise alle theoret. wie auch prakt., sogar die mechan. Wissenschaften aus gemeinsamen Prinzipien abgeleitet wissen, die er dichotomisch als »praecepta universalia« (theoretische Vernunftbegriffe der Reflexion ) u. »exempla particularia« (Ergebnisse der sinnl.

Zwinger

Erfahrung als »Experientia« u. »Historia«) unterschied. Mitte der siebziger Jahre vollzog Z., der selbst laborantisch arbeitete, nach anfängl. Skepsis (Brief an Marstaller, 1565; CP II, Nr. 82; Teilhabe an der Verurteilung des Paracelsisten Adam von Bodenstein) einen deutl. Schwenk zum Paracelsismus, sah nun in Paracelsus den wahren Nachfolger des Hippokrates (Vorrede zu Methodus rustica Catonis atque Varronis. Basel 1576) u. beteiligte sich mit Vorworten an der Drucklegung paracels. Werke. In vielen Begegnungen (auch mit Montaigne), in einem weitläufigen, kaum in Ansätzen erforschten Briefwechsel (ca. 3000 Schreiben an u. von Z. erhalten) u. als Gesprächspartner sehr vieler Paracelsisten aus Deutschland, Böhmen, England u. Frankreich, darunter auch der spätere berühmte Theologe Johann Arndt (s. CP III), dokumentierte sich Z.s Position als gesuchter u. anerkannter wissenschaftl. Autorität. Zu seinem weiten fachliterar. Publikationsradius gehörte auch seine Methodus Apodemica In Eorum Gratiam, Qui cum fructu in quocumque tandem vitae genere pereginari cupiunt (Basel 1577), ein penibles Handbuch, das topologisch geordnet u. kulturgeschichtlich wertvoll über alle Arten, Zwecke, Vorkehrungen u. Begleitumstände des Reisens unterrichtete u. dabei auch vornehme Reiseziele (Paris, Padua) charakterisierte (dazu Neuber 1991). Literatur: Eduard Schubert u. Karl Sudhoff: Paracelsus-Forschungen. H. 2, Ffm. 1889, S. 1–9. – R[udolf] Thommen: T. Z. In: ADB. – Albrecht Burckhardt: Gesch. der medizin. Fakultät zu Basel. Basel 1917. – Johannes Karcher: T. Z. u. seine Zeitgenossen. Episode aus dem Ringen der Basler Ärzte um die Grundlehren der Medizin im Zeitalter des Barock. Basel 1956. – Marie-Louise Portmann: T. Z.s Briefw. mit Johannes Runge. Ein Beitr. zur Gesch. der Alchemie im Basel des 16. Jh. In: Gesnerus 26 (1969), S. 154–163. – Antonio Rotondo: Pietro Perna e la vita culturale e religiosa di Basilea fra il 1570 et il 1580. In: Ders.: Studi e ricerche di storia ereticale italiana del Cinquecento. Turin 1974, S. 273–391. – Carlos Gilly: Zwischen Erfahrung u. Spekulation. T. Z. u. die religiöse u. kulturelle Krise seiner Zeit. In: Basler Ztschr. für Geschichtswiss. u. Altertumskunde 77 (1977), S. 57–137; 79 (1979), S. 125–233. – M.-L. Portmann: Paracelsus im Urteil v. T. Z. In: Nova Acta

Zwingli Paracelsica N. F. 2 (1987), S. 15–32. – Wolfgang Neuber: Fremde Welt im europ. Horizont. Zur Topik der dt. Amerika-Reiseberichte der Frühen Neuzeit. Bln. 1991, S. 67–75, 86–93 u. ö. – Amerbachkorrespondenz X/1 (1991), bes. Nr. 4133. – Joachim Telle: Johann Huser in seinen Briefen. In: Parerga Paracelsica. Hg. ders. Stgt. 1991, S. 159–248, bes. S. 186 f. u. 232 f. – Helmut Zedelmaier: Bibliotheca Universalis u. Bibliotheca Selecta. Das Problem der Ordnung des gelehrten Wissens in der frühen Neuzeit. Köln u. a. 1992, S. 176–179, 228–241 u. passim. – Fausta Garavini: Montaigne rencontre Z. à Bâle. In: Montaigne Studies 5 (1993), S. 31–45. – Martin Steinmann (Hg.): Sieben Briefe aus der Korrespondenz v. T. Z. In: Im Spannungsfeld v. Gott u. Welt. Hg. Andreas Urs Sommer. Basel 1997, S. 181–209. – Leandro Perini: Pietro Perna Domenicano. In: Archivo storico italiano 156 (1998), S. 294–306. – C. Gilly: Die Manuskripte in der Bibl. des Johannes Oporinus. Verz. der Manuskripte u. Druckvorlagen aus dem Nachl. Oporins anhand des v. T. Z. u. Basilius Amerbach erstellten Inventariums. Basel 2001, passim. – Jaumann Hdb. – Frank Hieronymus: Theophrast u. Galen, Celsus u. Paracelsus. Medizin, Naturphilosophie u. Kirchenreform im Basler Buchdruck bis 1600. 4 Bde. u. Registerbd., Basel 2005, passim. – CP I, passim; CP II, Nr. 81–82, S. 745–823; CP III, Nr. 126 (im Druck). – Didier Kahn: Alchimie et Paracelsisme en France à la Fin de la Renaissance (1567–1625). Genf 2007, passim. – Martin Schierbaum: Paratexte u. ihre Funktionen in der Transformation von Wissensordnungen am Beispiel der Reihe v. T. Z.s ›Theatrum Vitae Humanae‹. In: Die Pluralisierung des Paratextes in der Frühen Neuzeit. Theorie, Formen, Funktionen. Hg. Frieder v. Ammon u. Herfried Vögel. Bln. 2008, S. 255–282. – Ders.: Typen v. Transformationen der Wissensspeicher in der Frühen Neuzeit. In: Enzyklopädistik 1550–1650. Hg. ders. Bln./Münster 2009, S. 249–348, bes. S. 283–305. – Ders.: Metaphern als Integrationsmedien für heterogenes Wissen in den Enzyklopädien der Frühen Neuzeit. Mylaeus, Z., Zara. In: Pluralisierungen. Konzepte zur Erfassung der Frühen Neuzeit. Hg. Jan-Dirk Müller, Wulf Oesterreicher u. Friedrich Vollhardt. Bln. 2010, S. 203–235. Wilhelm Kühlmann

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Zwingli, Huldrych (Taufname Ulrich), * 1.1.1484 Wildhaus im Toggenburg, † 11.10.1531 (gefallen in der Schlacht bei Kappel); Grabstätte: Zürich, Großmünster. – Humanist u. Reformator. Z. entstammte einer wohlhabenden Bergbauernfamilie im oberen Toggenburg; sein Vater war Amman von Wildhaus. Z. wurde von seinem Onkel, dem Dekan Bartholomaeus Zwingli von Weesen am Walensee, zuerst selbst unterrichtet, dann auf die Lateinschule St. Theodor nach Basel (1494), nach Bern (1496/97) u. schließlich nach Wien geschickt. In Bern wurde er wohl wegen seiner hohen Musikalität u. schönen Stimme zu einem Noviziat bei den Dominikanern bewogen; dagegen intervenierte seine Familie erfolgreich. In Wien, wo er sich zweimal (1498 u. 1500) immatrikulierte, hat er sich wahrscheinlich erst an der der Universität angeschlossenen St.-Stephanus-Schule auf das Studium vorbereitet, dann an der Artesfakultät zu studieren begonnen. Hier dürfte der 17-Jährige mit Mitgliedern des Wiener Humanistenkreises wie Celtis, Cuspinian u. Vadian in Kontakt gekommen sein. Sein Studium absolvierte er v. a. in Basel, wo er sich 1502 immatrikulierte, im Sept. 1504 den Baccalaureus u. im April 1506 den Magister artium erwarb. Hier lernte Z. neben den traditionellen scholast. Methoden des Denkens, Sprechens u. Argumentierens den frühen oberrheinischen Humanismus etwa eines Thomas Wittenbach u. Ulrich Surgant kennen. Basel prägte ihn entscheidend, u. dort gewann er seine vielfältigen Kontakte zu der neueren Generation von Reformhumanisten, so zu Caspar Hedio u. Wolfgang Capito sowie zu seinen späteren Mitarbeitern in Zürich, Leo Jud u. Konrad Pellikan. Verlässliche Nachrichten aus seiner Studienzeit fehlen aber weitgehend. Z. ging, kaum hatte er ein Semester Theologie studiert, bereits ins Amt: Im Spätsommer 1506 bot ihm die Gemeinde Glarus eine Pfarrstelle an, in die er umgehend durch den Bischof von Konstanz, Hugo von Hohenlandenberg, eingewiesen wurde u. die er zehn Jahre wahrnahm. In dieser Zeit bildeten sich wesentliche polit., reformerische u. religiöse

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Anschauungen Z.s, welche ihn schließlich, v. a. wegen seiner ablehnenden Einstellung zum Reislaufen, die er bei zweimaligen Zügen als Feldprediger 1513 (Novara) u. 1515 (Marignano) gewonnen hatte, in Glarus untragbar machten, sodass er sich, einem Angebot folgend, 1516 als Leutpriester für Gemeinde u. Wallfahrer nach Einsiedeln zurückzog. Von hier aus wurde er 1518 bes. auf Wunsch der Zünfte nach Zürich auf sein Reformatorenamt als Prediger am Großmünster berufen, wo er bis zu seinem Ende wirkte. Z.s reformatorische Entwicklung, der keine erkennbare persönl. Bekehrungserfahrung zugrunde lag, lief über verschiedene Ebenen, die für ihn aber unmittelbar zusammengehörten: Seine Auseinandersetzung mit den polit. u. sozialen Verhältnissen der Schweiz führte ihn zur grundlegenden Kritik am Reislaufen u. Pensionen(un)wesen. Ausgehend von prakt. Fragen der kirchl. u. kommunalen Gemeindedisziplin-Ordnung, fand Z. bald zu den zentralen reformatorischen Problemen des Kirchen- u. Sakramentsverständnisses. Tiefgreifende Einflüsse hatte seit etwa 1514 der erasmische Humanismus – bes. dessen Biblizismus u. Christozentrik sowie dessen Moralismus u. Pazifismus – auf Z. ausgeübt. Z. gehörte zu den Reformatoren, die durch eine intensive Phase des Erasmianismus ihren Weg zur theologisch begründeten Reformation gefunden haben. Doch nahm Z. schon bei seinen ersten Kontakten 1515/16 zu dem berühmten u. verehrten Erasmus einen selbstständigen Standpunkt ein: Während Erasmus noch zwischen philolog. Wortbedeutung u. theolog. Sinn unterschied – letzteren sah er im allegor. Sinn –, suchte Z. den literalen u. theolog. Sinn zu vereinigen; das Glaubensverständnis erwuchs aus der inneren Erleuchtung beim Lesen bzw. Hören des authent. Bibeltextes. Sein Argument war kaum angreifbar: Nur aus dem inspirierten Verstehen des geheimen Sinnes der Gottesbotschaft kann der eigene, selbstständige Glaube erwachsen: ein unmittelbarer Akt, der sich methodisch nicht durch die erneuerte Allegorese des Erasmus vermitteln ließ. – Auch wenn Z. später Erasmus, etwa in der Sakramentsdiskussion, taktisch für seine

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polit. Ziele zu instrumentalisieren suchte, worauf jener mit maßloser Empörung reagierte, blieb er immer dem großen Bibelhumanisten in Ehrfurcht verpflichtet. Dies konnte geschehen, weil der »Reformator im Gewand des Humanisten« Erasmus in Glaubenssachen keine Kompetenz zubilligte. Z. sah keinen Gegensatz zwischen Humanismus u. Reformation, sondern eine Rangfolge: Erasmus war ein »Kommentator«, Z. sah sich als »Prophet«. Das umfangreiche publizistische Werk konzentrierte sich auf das letzte Lebensjahrzehnt seines 47-jährigen Lebens. Etliche seiner eindeutig im Autograf überlieferten Texte blieben ungedruckt u. wurden nur handschriftlich verbreitet, obwohl Z. in dem Zürcher Christoph Froschauer einen der großen Drucker seiner Zeit zur Verfügung hatte. Der in den drei »heiligen« Sprachen gelehrte Mann – so hatte er große Teile des NT, mindestens die Apostelbriefe, im Text der griech. Erasmusausgabe auswendig parat – schrieb seine Texte lateinisch oder deutsch. Sein lat. Stil gilt als besser als sein Schriftdeutsch. Z.s alemann. »Tütsch« war deutlich von seiner intensiven Predigttätigkeit vor einer gemischten Zuhörerschaft geprägt. Er wählte je nach Adressatenkreis u. Thema die eine oder andere Sprache bzw. Sprachebene, wobei er alle Texte für die Stadt- u. Kirchengemeinde, den Rat oder die Eidgenossenschaft deutsch verfasste. Daraus ergab sich oft die Notwendigkeit, etwa eine Bekenntnisoder Streitschrift auch in der jeweils anderen Sprache verbreiten zu müssen. Diese Aufgabe überließ der seit 1523 meist überlastete Z. anderen – bes. Leo Jud u. Georg Binder. Aus dem ersten Jahrzehnt seiner literar. Tätigkeit seit 1510 liegen lediglich acht humanistisch-reformerische Texte handschriftlich überliefert vor, von denen nur das Mitte 1520 verfasste Gebetslied Die Pest 1560 erstmals auch gedruckt erschien. Der früheste Text, das allegor. Fabelgedicht Vom Ochsen (1510), ruft die Schweizer zur Unterstützung des Papstes auf. Die De gestis inter Gallos et Helveticos relatio in Briefform an Joachim Vadian (1512) geht gegen das Pensionswesen. 1522 gab Z. mindestens acht Reformpamphlete heraus, die gleichsam den Auftakt der

Zwingli

Zürcher Reformation bedeuteten: Im Frühjahr rechtfertigte er den Bruch des Fastengebots in Vom erkiesen und Freiheit der speisen, daneben verschärfte er seine Ablehnung des Soldkriegs; eine Verurteilung seiner reformpolit. Haltung durch die Eidgenossenschaft suchte er mit der Bitte und Ermahnung an die Eidgenossen (Mai u. Juli 1523) zu vermeiden. Die vorherrschende Rolle spielte seine Auseinandersetzung mit dem an sich reformentschlossenen Konstanzer Bischof, etwa mit der Supplicatio ad Hugonem, die im Juli lateinisch u. deutsch erschien, u. dem Apologeticus Archeteles (Aug. 1522), womit er die Diskussion auf die evang. Predigt lenkte: Von klarheit und Gewissheit des Wortes Gottes (Sept. 1522). Das führte Anfang 1523 zur ersten Zürcher Disputation, in der die 67 Artikel Z.s, die seine reformatorische Theologie zum ersten Mal zusammenfassen, die maßgebl. Rolle spielten. Aus der Disputation ergab sich der Ratsbeschluss, dass in Zürich evangelisch zu predigen (u. dementsprechend zu reformieren) sei. Diesen ersten Durchbruch in der Stadt suchte Z. nach allen Seiten gegenüber den Schweizer Kantonen (Entschuldigung etlicher Zwingli unwahrlich zugelegter Artikel an die Tagsatzung zu Bern. Juli 1523), den Konservativen (bes. dem Konstanzer Generalvikar Johannes Faber), dem Reichstag zu Nürnberg 1522 (»Suggestio«) u. den Radikalen abzusichern. Z. unterschied bereits in Von göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit (Juli 1522) zwischen den Evangelischen u. den Radikalen, aus denen sich dann die Täufer entwickelten. Z.s 67 Thesen oder Schlußreden standen in den folgenden Jahren im Mittelpunkt der Auseinandersetzung, die ihn nötigte, sich in seiner ausführlichsten Reformschrift, Auslegen und Gründe der Schlußreden (Mitte Juli 1523 bei Froschauer erschienen), v. a. gegen die Altkirchlichen zur Wehr zu setzen. Die Auseinandersetzungen im Zürcher Gebiet, die zu wahren Predigerkriegen führten, konzentrierten sich mehr u. mehr auf den sakramentalen Charakter der Messe. Dazu publizierte Z. seinen »Versuch« (De canone missae epicheresis. Aug. 1523) u. die De canone missae libelli apologia (Okt. 1523). In der zweiten Zürcher Disputation vom Okt. 1523, die wegen der gesteigerten Unruhe notwendig war,

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stand Z. deutlich zwischen den Fronten u. musste in den aktuellen Mess- u. Bilderfragen seine kirchl. Ziele weitgehend den Interessen der Zürcher Obrigkeit anpassen. In den zweieinhalb Jahren von der amtl. Einführung der evang. Predigt 1523 bis zur formalen Durchsetzung der Reformation mit der Ordnung der christlichen Kirche zu Zürich (Ende 1525) konzentrierte sich die Auseinandersetzung auf zentrale theolog. u. kirchl. Fragen, wie das Altarssakrament, den Messkanon, die Sakramente von Taufe u. Priesterweihe. Dabei befand sich Z. in einer komplizierten Frontstellung gegen verschiedene Richtungen: Einmal gegen die Altkirchlichen, so gegen Ecks Missive (Nov. 1524) u. Emsers Antibolon (Aug. 1524). Gegen die entstehende Wiedertäuferbewegung, die sich in Zürich zunächst auf Z. berief, in diesem dann aber einen falschen Propheten angriff, weil Z. der Obrigkeit in Fragen des Glaubens Entscheidungsgewalt zusprach, verfasste er seit 1524 mehrere Schriften, so die Von Wiedertauf und Kindertaufe (Mai 1525) u. die Antwort über Balthasar Hubmairs Taufbüchlin (Nov. 1525). Die große Abrechnung In catabaptistorum strophas elenchus (Sommer 1527) führt gegen die Täufer die Gedanken des Bundes u. der Erwählung durch Gott ins Feld, die dem Glauben notwendig vorausgingen, sodass dieser nicht zur Voraussetzung der Kirchenmitgliedschaft erklärt werden könne. Auch Z.s umfangreiches Vom Predigtamt (Juli 1525) enthält eine scharfe Auseinandersetzung mit dem Verständnis der Täufer von der Verkündigung. Mehr u. mehr rückte die Frage des Altarssakraments in den Mittelpunkt: Dabei ging es weder zuerst um die vermutete Nähe zum erasmischen Spiritualismus oder den Gegensatz zur kath. Realpräsenz im Hostienkult, sondern um die Auseinandersetzung mit der Lehre Luthers, welche die grundlegenden Divergenzen im reformatorischen Lager zunehmend sichtbar machte. Wie bei Luther erinnert die Messe bei Z. an das einmalige Opfer Christi u. kann nicht selbst ein Opfer sein. Für Z. bedeuten jedoch Brot u. Wein Leib u. Blut Christi (»symbolische Deutung« der Einsetzungsworte); Christus ist in ihnen nicht gegenwärtig; die Messe ist kein Gna-

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denmittel. Aus der Zahl der bekennenden u. polem. Schriften Z.s seien neben den Briefapologien an Matthias Kretz (An die Brüder in Augsburg. Dez. 1524) die Responsio ad epistolam Jo. Bugenhagii (Okt. 1525) oder Ad Theobaldi Billicani et Urbani Rhegio epistolae responsio (März 1525) u. das Subsidium sive coronis de eucharistia bzw. deutsch die Nachhut von dem Nachtmahl oder Danksagung Christi (1525/26) genannt. Die Versuche v. a. der Straßburger Theologen Capito u. Bucer, zwischen den Parteien zu vermitteln, scheiterten; beim Marburger Religionsgespräch 1527 kam es zu keiner Einigung über die Frage der Realpräsenz. Die Schriften der späteren 1520er Jahre nach der Durchsetzung der Reformation in Zürich sind bestimmt von der Sicherung u. Ausbreitung der Reformation in der Schweiz u. der Klärung ihres Verhältnisses zur luth. Reformation. Kristallisationspunkte sind Religionsgespräche bzw. Disputationen: Besonders die Verhandlungen auf der Tagsatzung der zwölf Schweizer Orte in Baden/Kt. Aargau im Mai 1526 forderten Z. zu zahlreichen Druckschriften heraus, da er aus Sicherheitsgründen nicht persönlich anwesend sein durfte u. das Feld nicht der Phalanx der kath. Gegner Faber, Eck, Murner usw. überlassen wollte. Etwa acht der meist mehrfach gedruckten Pamphlete richten sich namentlich gegen seine kath. Feinde. – Ein anderer Komplex seiner Schriften betraf die Berner Disputation vom Jan. 1528, die schließlich zum freien Anschluss der politisch wichtigsten Stadt Bern an die Zürcher Reformation führte. Hierfür stehen v. a. die beiden Predigten Z.s in Bern am 19. u. 30.1.1528 u. die Handlung oder Acta gehaltener Disputation zu Bern. – Wichtiger sind die Schriften Z.s zum Altarssakrament oder Abendmahl, die schließlich zum berühmten, aber ergebnislosen Gespräch zwischen Z. u. Luther in Marburg führten: Amica exegesis [...] ad Martinum Lutherum u. die Früntlich verglimpfung [...] über die predig [...] Luthers wider die Schwermer, welche Z. im April 1527 Luther direkt zusandte. Die in über 20 Drucken verbreiteten Marburger Artikel sind von Luther verfasst, enthalten Einwände Z.s u. sind von ihm mit unterzeichnet.

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Die letzten wichtigen systemat. Schriften Fidei ratio, im Sommer 1530 für den Augsburger Reichstag verfasst, u. Fidei christiani expositio, gewidmet Franz I. (1531, ersch. 1536), sind dem Glaubensbekenntnis entlang verfasst. In der Sermonis de providentia dei anamnema stellt Z. die Unterschiede zur Theologie Luthers am schärfsten heraus. Gegen Luthers Lehre vom verborgenen Gott hält Z. daran fest, dass Gottes Wille durch die Offenbarung vollkommen erkannt werden könne. Weitgehend Z.s Werk ist der Aufbau der »Prophezey« am Großmünster. Dies war einerseits eine Zentrale zur Erarbeitung einer neuartigen Bibelausgabe, andererseits ein theolog. Seminar zur Um- u. Neuausbildung evang. Prediger. Z. übernahm die Rolle eines Professors für das AT. In einem neuartigen Seminarstil wurden, unter Einbeziehung der Gemeinde durch regelmäßige Predigtzyklen, Kommentare u. dt. Fassungen einzelner Bücher der Hl. Schrift, zuerst konzentriert auf das AT, erarbeitet. Während der Lebenszeit Z.s erschienen vier Bücher aus dem Pentateuch u. den Propheten; postum kam das Enchiridion psalmorum heraus. Als Exeget hat Z., bes. aus seiner fruchtbaren Kritik an der erasmischen Allegorese u. an dessen konjekturalen Textrekonstruktionen, Originelles in der Annäherung an den Textsinn geleistet. Calvin kritisierte Z.s Version als zu freizügig; er selbst wollte »volkstümlich und verständlich« sein. Kaum eine von Z.s zahlreichen Predigten ist in ihrem Wortlaut überliefert. Z. verstand sich als »prophetischer Prediger« u. predigte frei oder nach wenigen Notizen. Es gibt Nachschriften von Leo Jud u. Heinrich Buchmann (seit 1524), die teilweise von Oskar Farner ediert wurden. Zwar tragen etliche seiner Schriften die Bezeichnung »Predigt«, doch handelt es sich dabei um gründl. Ausarbeitungen, wie etwa Der Hirt u. De providentia (1529). Aufschlussreich für die Beurteilung von Z.s Persönlichkeit ist das Marburger Religionsgespräch als Kulminationspunkt. Bei klarem Beharren auf seiner Überzeugung vom Altarssakrament als Erinnerungsmahl gegen Luthers »katholisierende« Realpräsenz hat er

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in den Marburger Artikeln zwar den Unterschied protokolliert, dass in der Sakramentsfrage keine Einigkeit herstellbar war, doch auch seine Auffassung, dass der Dissens die Kirchen nicht zu trennen brauche. Luther hat das nicht akzeptiert. Damit war Luther derjenige, dem die verhängnisvolle Spaltung zuzuschreiben war. Widersprüche markieren Z.s Biografie u. Persönlichkeit. Er war angetreten gegen das käufl. Kriegshandwerk der Schweizer, das Reislaufen, später trieb er zum Bürgerkrieg u. kam, Feldprediger wie am Anfang seiner Karriere, in der Schlacht bei Kappel 1531 durch Waffengewalt um. Kaum ein anderer Reformator hat so auf die Wirkung des evang. Wortes durch die Predigt gebaut. Doch bald darauf hat er um der Ordnung des polit. Gemeinwesens Zürich willen leidenschaftlich an verschiedenen Rechtsprozessen gegen Täufer aktiv mitgewirkt. Nach der Landesverweisung mit Urfehde stand am Ende die Hinrichtung, wie etwa die Ertränkung von Felix Manz in der Limmat 1527. Z.s Reformation fand in Süddeutschland u. dem Elsass, in Hessen, den Niederlanden sowie Ostfriesland u. England Nachahmung u. Wirkung. Dies lässt sich aus der Verbreitung u. Rezeptionsgeschichte seiner Schriften entnehmen. Sein »Schweizer« Modell, welches sich in Basel u. Mülhausen, von Bern bis nach Genf durchsetzte, scheint auch für die süddt. Reichsstädte bes. geeignet gewesen zu sein. – Schon mit dem Augsburger Reichstag, auf dem Straßburg konkret durch eine Reichsexekution bedroht wurde, u. endgültig durch die Katastrophe des Schmalkaldischen Bundes endete im Reich dieser genossenschaftl. Typus der Reformation. Ausgaben: Werke. Erste vollst. Ausg. durch Melchior Schuler u. Johannes Schulthess. 8 Bde. u. Suppl.-Bd., Zürich 1828–61. – Sämtl. Werke. Begr. v. Emil Egli u. Georg Finsler. 14 Bde. (= CR, Bde. 88–101), Bln./Lpz./Zürich 1905–1991 (div. Nachdr.e). – Briefe. Übers. v. Oskar Farner. Bd. 1 (1512–23), Zürich 1918; Bd. 2 (1524–26), ebd. 1920. – Hauptschr.en. Bearb. v. Fritz Blanke, O. Farner u. Rudolf Pfister. Ebd. 1940–63 (unvollst.; nur Bde. 1–4, 7 u. 9–11 ersch.; lat. Schr.en in dt. Übers.). – Aus Z.s Predigten zu Jesaja u. Jeremia. Unbekannte Nachschr.en. Hg. O. Farner. Ebd.

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Deutsches Wörterbuch 1728 Seiten, zweifarbig

Erschienen im Bertelsmann Lexikon Institut