Killy Literaturlexikon: Band 1 A – Blu [2. vollst. überarb. Auf. ed.]
 9783110209334, 9783110189629

Table of contents :
Frontmatter
Inhalt
A-Ayr
B-Blu

Citation preview

Killy Literaturlexikon

Band 1

Killy Literaturlexikon Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes 2., vollständig überarbeitete Auflage Herausgegeben von Wilhelm Kühlmann in Verbindung mit Achim Aurnhammer, Jürgen Egyptien, Karina Kellermann, Helmuth Kiesel, Steffen Martus, Reimund B. Sdzuj Band 1 A – Blu

Walter de Gruyter • Berlin • New York

Die erste Auflage erschien unter dem Titel Literatur Lexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache im Bertelsmann Lexikon Verlag, Gütersloh/München, herausgegeben von Walther Killy unter Mitarbeit von Hans Fromm, Franz Josef Görtz, Gerhard Köpf, Wilhelm Kühlmann, Gisela Lindemann, Volker Meid, Nicolette Mout, Roger Paulin, Christoph Perels, Ferdinand Schmatz, Wilhelm Totok und Peter Utz. Die in diesem Lexikon gewählten Schreibweisen folgen dem Werk „WAHRIG – Die deutsche Rechtschreibung“ sowie den Empfehlungen der WAHRIG-Redaktion. Weitere Informationen unter www.wahrig.de Redaktion: Christine Henschel (Leitung) und Bruno Jahn Redaktionsschluss: 31. Januar 2008

1 Gedruckt auf säurefreiem Papier, *

das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt. ISBN 978-3-11-018962-9 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.  für die 1. Auflage by Bertelsmann Lexikon Verlag GmbH, Gütersloh/München 1988 – 1993 Alle Rechte vorbehalten  für die 2. Auflage 2008 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin Satz: Konrad Triltsch, Ochsenfurt-Hohestadt Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co., Göttingen

Inhalt Vorwort des Herausgebers zur zweiten Auflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

VII

Vorbemerkung des Verlages zur zweiten Auflage . . . . . . . . . . . . . . . . . .

XIII

Vorwort des Herausgebers zur ersten Auflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

XVI

Benutzerhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

XXI

Allgemeine Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

XXIV

Abgekürzte Literatur (Lexika, Zeitschriften) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXVIII Verfasserinnen und Verfasser der Beiträge dieses Bandes . . . . . . . . . . . .

XLI

Artikel A – Blu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

Vorwort des Herausgebers zur zweiten Auflage I Das in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts von Walther Killy und seinen Fachberatern konzipierte Lexikon der deutschen Literatur hat sich bewährt, indem es die Informationsbedürfnisse eines breiten Publikums umfassend und zuverlässig befriedigte und eine klaffende Lücke zwischen wertvollen und notwendigen, aber hoch spezialisierten und bibliografisch überbordenden Nachschlagewerken, wichtigen regionalen Lexika und allgemeinen Enzyklopädien mit ihren Kurzartikeln zu schließen unternahm. Der Wissenschaftler, auch die Forscherin und der Gelehrte der Nachbardisziplinen, die Lehrerin, der Student oder die Doktorandin, der Journalist, ja, jede Bücherfreundin und jeder Bücherfreund konnte und kann hier auch in Zukunft Vergessenes nachschlagen, vage Erinnerungen auffrischen, Assoziationen überprüfen und sich auf Entdeckungsreisen in bislang verdeckte oder scheinbar abseitige Gefilde der Literaturund Kulturgeschichte des deutschsprachigen Raumes begeben. Obwohl sich die nun erscheinende Neuauflage des Killy Literaturlexikons als Ergebnis einer kompletten Durchsicht und Neubearbeitung versteht, hat sich an der grundsätzlichen Anlage des Werkes und dem angesprochenen Adressatenkreis nichts geändert. Allen kulturpolitisch kurzfristigen Bewertungs- und Verwertungsinteressen zum Trotz geht es um das Ganze der Literatur des deutschen Sprachraums, einer Literatur, die in älteren Jahrhunderten nicht nur eine deutschsprachige, sondern quer durch das Œuvre vieler Autoren auch eine lateinische war. Das Mittelalter wird hier ebenso wenig verdrängt wie die frühneuzeitliche Literaturproduktion, die in der »Gelehrtenrepublik« des alten Europa wurzelte. Zugleich waren stärker als bisher auch die schriftstellerischen Leistungen der Gegenwart aufzunehmen und zu würdigen. Auf diese Weise orientiert sich unsere lexikografische Arbeit durchaus an aktuellen Interessen. Dies gilt selbstverständlich auch für das darstellerische Gewicht, das den großen Autoren des etablierten Kanons eingeräumt wird. Gerade heute liegt die Herausforderung eines solchen Lexikons allerdings darin, dass es im begrenzten Rahmen und demgemäß in sorgfältiger Auswahl der Artikel alle Epochen der deutschen Literatur angemessen zur Geltung bringen soll. Dabei hat für die Zeit bis gegen Ende des 18. Jahrhunderts, also bis zur endgültigen Ausgliederung der »Belletristik« aus dem literarischen »System«, ein weiter Literaturbegriff zu

Vorwort des Herausgebers zur zweiten Auflage

VIII

gelten, der in der älteren »Literärgeschichte« unbestritten war und der auch den aktuellen Forschungsinteressen entspricht. Nur so ist das literarische Leben des alten Europa zu erfassen, nur so wird man dem produktiven Selbstverständnis der Autoren und Autorinnen, dem Profil ihrer Intellektualität, der in sich verflochtenen Vielfalt ihres Schaffens und der Intensität ihrer Wirkung gerecht. Es kann also nicht nur darum gehen, auf Nachschlageimpulse bei Gedenktagen zu reagieren, das vorgeblich allgemein Bewusste mit Daten und Fakten zu untermauern oder den vermeintlichen Kanon einfach fortzuschreiben. Auch und gerade dadurch ist unser Lexikon dem Publikum verpflichtet, dass es über das Tagesgespräch hinaus – in neuen Artikeln, aber auch in den beigegebenen und durchweg überarbeiteten Literaturhinweisen – die Fortschritte und Ergebnisse der Wissenschaft, aber implizit auch deren Lücken, sichtbar machen soll. Die Achtung vor dem bisher Geleisteten – jenseits einer bloß punktuellen und unverbindlichen »Lektüre« und eines bequemen Vergessens – kann so bestärkt, zugleich mancherlei Anregendes zumindest angedeutet werden. Gewiss, auch das in diesem Lexikon dokumentierte wissenschaftliche »Gedächtnis«, das nie ein »kollektives« sein kann (wenn es denn ein solches jemals gab), wird sich nicht lossprechen von der trivialen Tatsache, dass Vergangenheiten, erst recht literarische Vergangenheit, selbst wissenschaftlich nur in den Grenzen des geltenden gesellschaftlichen Bewusstseins zu rekonstruieren sind, zudem unvermeidlich auch nur in den Grenzen, die den Kenntnissen des Herausgeberteams und seiner Mitarbeiter gezogen sind. Gleichwohl ist das lexikografisch geborgene Wissen eben dadurch als wissenschaftlich definiert, dass es die gängigen kulturellen Erwartungen und Kategorisierungen immer wieder außer Acht lässt, somit innovative Erkenntnischancen eröffnet und Literaturgeschichte als einen Teil der Kulturgeschichte versteht, in der auch das mittlerweile Vergessene, Verdrängte, schwer Verständliche, manchmal auch das in der Vergangenheit Verfolgte und zum Schweigen Verdammte beachtet wird. Leitsterne zweiter Ordnung, von heute aus gesehen, waren für viele einstmals Leitsterne erster Ordnung. Ganz abgesehen davon, dass wir ein Nachschlage- und Informationsbedürfnis vieler Leser gerade bei denjenigen Autorinnen und Autoren vermuten, die nicht in aller Munde sind, die heute nur im Kleingedruckten erscheinen, deren Schaffen aber Resonanz fand, symptomatisch für kulturelle Entwicklungen einsteht, und über das ernst zu nehmende Forschungen Auskunft geben. Damit sind wichtige Kriterien für die Aufnahme von Autoren in dieses Lexikon genannt, ist auch die Transferleistung umrissen, die der neue Killy gegenüber der Spezialforschung zu übernehmen hat, die sonst oft nur, wenn überhaupt, mit erstaunlicher Zeitverzögerung wahrgenommen wird. Gerade ein Lexikon zur Literatur und Literaturgeschichte des deutschsprachigen Kulturraums hat sich den eklatanten konfessionellen wie politischen Brüchen und Konflikten der deutschen Geschichte sowie den Eigenentwicklungen des österreichischen und schweizerischen Kulturraums zu stellen. Zu be-

IX

Vorwort des Herausgebers zur zweiten Auflage

denken sind damit Ungleichzeitigkeiten der historiografischen Erschließung sowie höchst unterschiedliche, sich oftmals widersprechende Bewertungsmodelle und Schwerpunktbildungen. Dies gilt für alle Jahrhunderte. Simon Dach und einen bayerischen Jesuiten trennten im 17. Jahrhundert letzthin doch Welten, der österreichische Josephinismus hatte mit dem »Sturm und Drang« wenig zu tun, Weimar wenig mit Jean Paul, Börne und den deutschen »Jakobinern«. Zwischen den »proletarisch-revolutionären Schriftstellern« und etwa dem George-Kreis, zwischen Benn und Brecht, Thomas Mann und Döblin klaffen Abgründe, und die frühe deutsche Nachkriegsliteratur ist beileibe nicht identisch mit der »Gruppe 47«. Avantgardismen überschlugen sich seit dem späteren 19. Jahrhundert und verdrängten jeweils aggressiv die etablierten Größen, manchmal nur kurzfristig, manchmal mit bleibender Wirkung. Selbst die scheinbar unaufhaltsame »Moderne« des 20. Jahrhunderts war durchzogen und dialektisch durchsetzt mit Positionen und Umschlagsphänomenen der AntiModerne. Die deutschsprachige Literatur brach eher mit Traditionen als etwa die französische, die widerstreitende geistige Lager integrierte, war überdies über Jahrhunderte eher geprägt von regionalen Zentren, Bünden und Zirkeln als von nationaler Repräsentanz, mehr von territorialer Zersplitterung als von der manchmal ersehnten oder literaturgeschichtlich missbrauchten imperialen Konzentration. Dies schuf jene beeindruckende Vielfalt, die in einem Lexikon zu verarbeiten ist. Der Lexikograf kann differenzieren und gewichten in der Auswahl und Länge der Artikel, hat jedoch zunächst einmal die Weite der Autorenlandschaften und die Eigenheit der Autorenphysiognomien nüchtern zu vermessen. Dies aber keinesfalls im Gefühl von Resignation und in der Anfechtung vermeintlicher Beliebigkeit, sondern im Gegenteil oft mit der beglückenden Chance, die auch dem neugierigen Benutzer zuteil werden kann, der sich im neuen Killy festliest: der Chance nämlich, den Blick zu weiten, Scheuklappen abzulegen, Gegenwärtiges im Vergangenen festzumachen – und umgekehrt. Modellhafte Abläufe, Schreibmuster und Viten sind zu studieren, die Dynamik von Pluralisierungen ist zu erkennen, gerade das geistig und ästhetisch Heterogene wird sichtbar in seiner Abfolge und seiner historischen Bedingtheit. Dabei ist auch immer wieder, wenn man so will, Literatur als das wahre »Organon der Geschichte« (Walter Benjamin) neu zu entdecken. Ein Autorenlexikon dient ganz selbstverständlich und legitim den Lesern, die über Autorinnen und Autoren und ihre Texte mehr wissen möchten. Soziale und geistige Verflechtungen, mentale Bedingtheiten, historische Voraussetzungen, Institutionen, Gattungen und ästhetische Vorgaben, all das also, was sich jenseits der Individuen und doch immer auch in ihnen selbst zur Sprache bringt, sind zu berücksichtigen und verdienen wissenschaftliche Analyse. Doch für dieses Lexikon bleibt festzuhalten, dass literarische Werke, die zur Hand genommen werden und den Leser anregen, nicht als Ergebnisse anonymer Diskurse er-

Vorwort des Herausgebers zur zweiten Auflage

X

scheinen, sondern sich uns im Allgemeinen als Produkte mehr oder weniger bewusster kultureller Handlungen von Menschen in ihren jeweiligen Lebenssituationen, mit ihren Motivationsmustern und ästhetischen Ansprüchen sowie im Horizont der jeweils gemeinten oder aktuellen Leserschaft darbieten. Davon ist auch ihre subjektive wie intersubjektive, ihre historische wie auch gegenwärtige Bedeutung wesentlich geprägt und dadurch wenigstens annäherungsweise zu entschlüsseln. Diesen Ausgangsbefund bekräftigt eine Literaturwissenschaft, die sich in der forschungsgeschichtlich reflektierten, oft weit zurückreichenden Folge von überprüfbaren Thesen, Fragen und Erkenntnisanstrengungen situiert und sich mithin als dienende historische und zugleich ästhetisch orientierte Disziplin versteht.

II Was also hat der Leser (»Benutzer«) des neuen Killy im Vergleich zur ersten Auflage zu erwarten? Zunächst einmal die konzeptionell gleiche Anlage der Artikel in der Verschränkung von Ausführungen zu Leben und Werk der Autoren, bei jedem Autor unterschiedlich zu gewichten und dies auch so, dass dem jeweiligen Artikelbearbeiter kein unzumutbares Darstellungsschema auferlegt wurde. Besonderer Wert wird dabei auf angemessene bibliografische Beratung des Lesers am Ende eines jeden Artikels gelegt, nicht nur im Hinblick auf Forschungsberichte und Editionen, sondern auch auf gut zugängliche Spezialliteratur. Dass hier oft eine schwierige, manchmal schmerzliche Auswahl zu treffen war, liegt auf der Hand. Jedoch sollte der Ratsuchende immer zumindest so gut informiert werden, dass er den Stand der Forschung abschätzen und sich selbständig weiter orientieren kann. Markante Änderungen ergaben sich in anderer Hinsicht: Die Abbildungsstrecken sind entfallen, um Raum für neue Artikel freizumachen. Wenige Artikel wurden gestrichen: Artikel über mittlerweile ephemere Verfasser, auch Artikel über die bislang ganz unsystematisch aufgenommenen Germanisten des 20. Jahrhunderts, für die mittlerweile ein eigenes Speziallexikon existiert, es sei denn, dass ihr Werk besondere literarische Ambitionen verrät und auf Literaten oder ein breiteres Publikum eingewirkt hat. Auch Artikel über große Namen der neueren deutschsprachigen Kultur- und Wissenschaftsgeschichte wurden herausgenommen, insoweit ihre Beiträge zum öffentlichen literarischen Leben ihrer Zeit als marginal anzusehen und – z. B. bei Komponisten und manchen Naturwissenschaftlern – besser in anderen Fachlexika zu würdigen sind. Theoretiker und Philosophen wie Kant, Hegel oder Simmel finden selbstverständlich weiterhin Beachtung, wenn sie zumindest in Teilbereichen ihres Œuvres Beiträge zur Ästhetik sowie zur allgemeinen Literatur- und Kulturtheorie vorgelegt haben. Entfallen sind schließlich auch die »Begriffsbände« der ersten Ausgabe des Killy (Band 13 und 14), die Informationen zu wichtigen literaturwissenschaftli-

XI

Vorwort des Herausgebers zur zweiten Auflage

chen Begriffen, zu Epochen, Genres und Stilmitteln, boten: Der diesbezügliche Informationsbedarf ist durch einschlägige und leicht zugängliche Nachschlagewerke, die den aktuellen Forschungsstand abbilden (vor allem das 2003 abgeschlossene Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft), inzwischen umfassend gedeckt, sodass für einen Bearbeiter hier nur die Gefahr bestünde, sich zu wiederholen. Im Durchschnitt mehr als 70 Artikel pro Band widmen sich Autorinnen und Autoren, die in der ersten Auflage des Killy nicht zu finden sind. Dies betrifft im Besonderen die Literatur des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart. Jedoch wurden auch für alle anderen Epochen mancherlei Lücken geschlossen oder Bereiche einbezogen, deren Erforschung erst in den letzten Jahrzehnten wichtige neue Erkenntnisse erbracht hat: darunter spätmittelalterliche Kleinepik, die Gelehrtenkultur der Frühen Neuzeit, der weite Kontinent der manchmal als ketzerisch verurteilten Prosa des 16. bis 18. Jahrhunderts, die Gruppen der radikalen Aufklärung und Gegenaufklärung, nicht zuletzt manche höchst produktive Autoren des 19. Jahrhunderts, das entgegen landläufiger Einschätzung wissenschaftlich zu den weniger gut erforschten Zeiträumen zu zählen ist. Alle Artikel der ersten Auflage des Killy wurden sorgfältig überprüft, einige mussten von neuen Verfassern ganz neu gefasst werden. Für die Durchsicht und Ergänzung wurden nach Möglichkeit (soweit erreichbar, in der Lage oder willens) die Verfasser der Erstauflage herangezogen. Wo dies unmöglich war oder wenig sinnvoll erschien, wurden neue Bearbeiter gefunden, deren Namen nun gegebenenfalls neben denen der alten Artikelverfasser zu stehen kommen. Manchmal konnte sich die Bearbeitung auf kleinere Korrekturen oder bibliografische Ergänzungen beschränken, die vom Herausgeberteam und seinen Mitarbeitern vorgenommen wurden (gekennzeichnet mit dem Kürzel »Red.« hinter dem Autorennamen). Dass trotz aller Bemühungen Lücken bleiben oder Fehler nicht erkannt wurden, ist anzunehmen. Der verständige Leser wird dies abzuschätzen wissen. Gerne danke ich der Initiative und dem großen Engagement des Verlages, namentlich Dr. Heiko Hartmann und den Redaktionen in Berlin, federführend betreut von Dr. Christine Henschel, und München, dort koordiniert von Bruno Jahn, ebenso den Kollegen, die sich unter Zeitdruck als Fachberater, damit als Mitherausgeber, zur Verfügung gestellt haben und eine beträchtliche Arbeitslast trugen: Prof. Dr. Karina Kellermann (Bonn) für das Mittelalter, PD Dr. Reimund B. Sdzuj (Greifswald) für die Frühe Neuzeit, Prof. Dr. Achim Aurnhammer (Freiburg) für das spätere 18. und das 19. Jahrhundert, Prof. Dr. Helmuth Kiesel (Heidelberg) für das 20. und 21. Jahrhundert (Bände 1 – 3) sowie, ab Band 4, Prof. Dr. Jürgen Egyptien (Aachen) für das 20. Jahrhundert und Prof. Dr. Steffen Martus (Kiel) für die Gegenwartsliteratur. Ohne den Einsatz der vielen Kolleginnen und Kollegen, darunter zahlreicher junger Wissenschaftler, denen die Artikel zu verdanken sind und die selbstlos eine notwendige Dienstleistung auf

Vorwort des Herausgebers zur zweiten Auflage

XII

sich genommen haben, wäre dieses Unternehmen unmöglich gewesen. Ihnen gilt mein besonderer Dank. Heidelberg, im Januar 2008

Wilhelm Kühlmann

Vorbemerkung des Verlages zur zweiten Auflage Walther Killys Literaturlexikon ist seit nunmehr fast 20 Jahren ein einschlägiges und verlässliches Nachschlagewerk auf dem Gebiet der Literatur und Literaturgeschichte des deutschen Sprach- und Kulturraums. Doch jedes in einem Lexikon gesammelte Wissen verliert irgendwann an Aktualität. Besonders auffällig wird dies bei einem Blick in die Artikel zu Gegenwartsautoren, denen heute ein fast 20 Jahre alter Beitrag naturgemäß nicht mehr gerecht zu werden vermag. Doch auch in anderen Bereichen haben sich erhebliche Lücken aufgetan, sei es durch neue Forschung, sei es durch gewandelte Forschungsschwerpunkte und -interessen oder auch durch Handschriftenfunde. Aus der Beobachtung heraus, dass der Bertelsmann Lexikon Verlag, der die erste Auflage von 1988 bis 1993 publiziert hat, das Killy Literaturlexikon nicht weiterentwickeln würde, hat der Verlag Walter de Gruyter begonnen, die Möglichkeiten und Voraussetzungen einer Neuausgabe zu prüfen, und ist 2005 mit diesem Anliegen erstmals an den heute unter dem Namen Wissen Media Verlag firmierenden Rechteinhaber herangetreten. Noch im gleichen Jahr konnte eine Lizenzvereinbarung getroffen werden, die die Fortführung des Killy ermöglicht und dem Verlag de Gruyter und den Bearbeitern das Recht zur Neugestaltung des Werkes einräumt. De Gruyter hat sich bewusst und in voller Überzeugung für dieses Projekt entschieden, obwohl es zahlreiche Risiken und Unwägbarkeiten birgt. Ein derart umfassendes, ambitioniertes Lexikonwerk auf den Markt zu bringen, stellt heute, mehr noch als Ende der 1980er Jahre, für jeden Verlag ein großes, in erster Linie wirtschaftliches Risiko dar. Die Bibliotheken verfügen nicht mehr über unerschöpfliche Geldmittel, und mit dem Internet und seinem Informationsschatz ist den großen Nachschlagewerken ein ernst zu nehmender Konkurrent erwachsen. Dass die im Internet gesammelten und zusammengestellten Informationen oftmals beliebig, lücken- und fehlerhaft sind und die Qualität und Verlässlichkeit eines von Experten erarbeiteten homogenen Nachschlagewerkes zumeist nicht erreichen, wird dabei oft übersehen. Unbedingte Voraussetzung für das Gelingen des Projektes war es, für die zweite Auflage ein kompetentes und schlagkräftiges Herausgebergremium zu gewinnen, was sich als eine ebenso wichtige wie schwierige Aufgabe darstellte und mit einem längeren Entscheidungsprozess einherging. Früh konnte der neue Hauptherausgeber, Professor Dr. Wilhelm Kühlmann (Heidelberg) gewonnen werden, der bereits an der Erstausgabe als Teilherausgeber beteiligt und

Vorbemerkung des Verlages zur zweiten Auflage

XIV

mit Konzeption und Zielsetzung des Lexikons gut vertraut war und darüber hinaus einer der derzeit renommiertesten Forscher und Lexikografen im Bereich der deutschen Literaturgeschichte ist. Zusammen mit ihm wurden die »Fachberater«, die für die einzelnen literaturgeschichtlichen Epochen zuständigen Teilherausgeber, ausgewählt: Professor Dr. Karina Kellermann (Bonn) für das Mittelalter, Privatdozent Dr. Reimund B. Sdzuj (Greifswald) für die Frühe Neuzeit, Professor Dr. Achim Aurnhammer (Freiburg) für den Zeitraum 1750 – 1918 sowie für die Gegenwartsliteratur Professor Dr. Helmuth Kiesel (Heidelberg, beteiligt an Band 1 – 3), Professor Dr. Jürgen Egyptien (Aachen, für das 20. Jahrhundert) und Professor Dr. Steffen Martus (Kiel, für die Gegenwartsliteratur). Auf Verlagsseite wurde eine zweiköpfige Redaktion eingerichtet, die abwechselnd für die Betreuung jeweils dreier Bände zuständig ist: Federführend für die Gesamtkonzeption und redaktionell verantwortlich für die Bände 1 – 3 und 7 – 9 ist Dr. Christine Henschel in Berlin, die Bände 4 – 6 und 10 – 12 betreut Bruno Jahn in München. In den ersten Herausgebersitzungen galt es zunächst, die Konzeption und Anlage des Werkes zu überprüfen und über Vorgehen und Arbeitsabläufe zu entscheiden. Sich auf ein bereits bestehendes Konzept und bewährte Strukturen stützen zu können, bringt zweifelsohne Vorteile mit sich, wirft jedoch auch Schwierigkeiten und Fragen auf, etwa wie mit Artikeln aus der ersten Auflage zu verfahren sei und wie man die damals beteiligten Autoren ausfindig machen solle. Da von Verlagsseite ein enger Zeit- und Produktionsplan vorgegeben war, wurden die Autoren der Erstausgabe nur dann kontaktiert, wenn ein »alter« Artikel beibehalten und aktualisiert werden sollte. Erwies sich ein Beitrag als weiterhin aktuell, wurde sein Autor nicht kontaktiert; die notwendigen bibliografischen Ergänzungen übernahmen in diesen Fällen die Herausgeber (Kennzeichnung am Ende der Artikel durch den Zusatz »Red.«), sodass einerseits den Autoren unnötige Kleinarbeit erspart wurde und andererseits die Arbeiten rasch vorangebracht werden konnten. Der Verlag bedauert, dass es der Redaktion trotz aller Bemühungen nicht immer gelungen ist, die an der ersten Auflage beteiligten Autoren ausfindig zu machen und zu erreichen. Die Namen aller damals Beteiligten, die ihre Artikel nicht selbst überarbeiten konnten oder wollten, werden unter den Beiträgen selbstverständlich weiterhin angeführt, insofern mit ihrem Material in Teilen weitergearbeitet wurde. Dies gilt nicht für ersetzte Artikel, die von anderen Bearbeitern gänzlich neu verfasst worden sind. Allen Autoren, sowohl den bereits an der ersten Auflage beteiligten, die sich erneut zur Mitarbeit bereit erklärt haben, als auch den neuen Beiträgern, gilt der Dank des Verlages. Ihnen sind einige Härten und Mühen abverlangt worden. Der Verlag konnte aufgrund der ohnehin hohen finanziellen Belastung nur die Bearbeitung neu zu schreibender Artikel entlohnen; viele Autoren haben somit ohne Honorar und innerhalb enger Fristen Beiträge durchgesehen und ergänzt. Der enge Produktionsplan hat es darüber hinaus nötig gemacht, auf Autorkor-

XV

Vorbemerkung des Verlages zur zweiten Auflage

rekturen zu verzichten und von den Autoren das Imprimatur bereits mit Abgabe ihrer Beiträge zu erbitten. Für ihre wertvolle Mithilfe, ihr großes Engagement und das dem Verlag, der Redaktion und den Herausgebern entgegengebrachte Vertrauen sei allen beteiligten Autoren sehr herzlich gedankt. Der besondere Dank des Verlages gilt darüber hinaus den Herausgebern für ihren unermüdlichen Einsatz und für die effiziente und fruchtbare Zusammenarbeit. Sie alle, obwohl in zahlreiche andere Projekte eingebunden und im universitären Alltagsbetrieb sehr in Anspruch genommen, haben viele Mühen auf sich genommen und das große Arbeitskontingent oft unter Zeitdruck rasch und kompetent bewältigt. Der Verlag de Gruyter wünscht und hofft, dass der »neue« Killy allen Interessierten ein verlässlicher Begleiter und Wegweiser durch die deutschsprachige Literaturgeschichte und die dazugehörige Forschung sein möge und dieses Standardwerk in verbesserter Form auch in Zukunft der Erschließung und Vermittlung der literarischen Kultur in Geschichte und Gegenwart dient. Berlin, im Januar 2008

Lektorat und Redaktion Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York

Vorwort des Herausgebers zur ersten Auflage Ein Schatzhaus ohnegleichen ist die deutsche Literatur, aber ein weitläufiges und nicht leicht zu überblicken. Jahrhunderte haben daran gebaut, prachtvolle Gemächer und stille Kammern, Räume zur Andacht, aber auch Vorratsräume für den Bedarf wechselnder Tage. Viele Baumeister haben ihre Spuren hinterlassen, und viele Reisende haben das Haus beschrieben in so verschiedener Weise, daß der Leser sich fragt, ob sie dasselbe Gebäude in Augenschein genommen haben. Um es etwas sachlicher mit den Worten Heinrich Heines zu sagen: »Die Geschichte der Literatur ist ebenso schwierig zu beschreiben wie die Naturgeschichte. Dort wie hier hält man sich an die besonders hervortretenden Erscheinungen... Die meisten Literaturhistoriker geben uns wirklich eine Literaturgeschichte wie eine wohlgeordnete Menagerie...« Als Heine diese Sätze schrieb, ahnte er nicht, daß sie prophetisch sein würden. Die großen Literaturgeschichten seiner Zeit waren wahre Muster an Sachlichkeit und Methode, mißt man sie an den Produktionen gegen Ende des 19. und 20. Jahrhunderts. Im gleichen Maße, in dem die Literaturwissenschaft und Germanistik ideologisch und deutschtümelnd wurden (oder auch soziologisch und theoretisch), ordneten sie die »Menagerie« nach einem jeweiligen Vorverständnis. Wenn sie aber von weltanschaulichen Gesichtspunkten sich fernzuhalten vermochten, so waren sie doch nicht gefeit gegen ein fachmännisches Etikettenwesen, das die lebendige Vielfalt von Zeiten und Werken aufteilte in ein Epochensystem mit Namen wie Naturalismus, Frühromantik, Neue Sachlichkeit usw. Mit solchen Aufschriften droht die Individualität der literarischen Zeugnisse ebenso verlorenzugehen wie die zeitliche Koexistenz verschiedener Denkweisen und intellektueller Generationen. Freilich soll nicht verkannt werden, was zu solchen Anordnungen und Lehrgebäuden verleitete. Es war nicht zuletzt die Fülle der Materialien, die nach Übersicht und erklärtem Zusammenhang verlangten. Denn mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts war das deutsche Volk ein Volk von Lesern geworden. Diese Entwicklung hatte sich schon gegen Ende des vorausgegangenen Säkulums angekündigt und erreichte mit einer Jahresproduktion von über 4000 Titeln einen ersten Höhepunkt vor den Napoleonischen Kriegen; im Jahre 1837 erschienen erstmals über 10000 Titel, und um die gleiche Zeit gab es in Berlin und in Leipzig jeweils 130 Buchhandlungen. Die in vielerlei Staatlichkeit geteilte Nation fand ihre Einheit in gemeinsamer Lektüre. »Nur insofern ein Volk eine eigene Lite-

XVII

Vorwort des Herausgebers zur ersten Auflage

ratur hat«, so hatte Goethe ihr ins Stammbuch geschrieben, »kann es urteilen und versteht die vergangene wie die gleichzeitige Welt.« Das Wachstum des Bücherwesens hat, allen Wendungen der Geschichte und allen Unkenrufen zum Trotz, seitdem angehalten und ist schier unübersehbar geworden. 1986 kamen allein in der Bundesrepublik Deutschland über 63000 Titel heraus. Freilich ist keineswegs alles »Literatur«, was derart die Regale füllt, aber immer noch bilden erzählende und poetische Werke die größte Gruppe in der gesamten Produktion. Angesichts dieser Überfülle erscheint es notwendig und sachgerecht, Licht in die verwirrende Vielfalt zu bringen und verläßliche Information zu gewährleisten; ein Nachschlagewerk zu konzipieren, das auch um der Benutzbarkeit willen der Anordnung des Alphabets folgt und Zugang zum Ganzen durch die Erläuterung des Einzelnen erleichtert; es stellt die Autoren dar als die Urheber jeglicher Literatur. In durchaus absehbarer Zeit wird es abgeschlossen sein und schon allein durch seinen Umfang eine im Hinblick auf die deutsche Literatur vielfach schmerzlich empfundene Lücke schließen. Das Werk geht dabei von einem Literaturbegriff aus, den ebenfalls Goethe formuliert hat, lange bevor die Literaturwissenschaft ihn sich wieder zu eigen zu machen begann. Dr. Friedrich Wilhelm Riemer, Hauslehrer im Goetheschen Hause, hat im Jahre 1810 eine Bemerkung des Hausherrn notiert: »Doppelte Ansicht der literarischen Produktion, moralisch und ästhetisch, nach ihren Wirkungen und nach ihrem Kunstwert. Gewirkt hat das schlechteste Werk so gut als das beste, der Werther, der Messias, Geßners Idyllen, der schlechteste Roman wie der beste; aber sie sind nicht alle Kunstwerke.« Vor aller Rezeptions- und Wirkungsgeschichte war dabei das Augenmerk auf die Tatsache gerichtet, daß die Literatur einer Nation nicht nur aus den Werken der Großen besteht, deren Namen der Nachwelt geläufig sind. Jede Zeit hat ein eigentümliches und dichtes Gewebe literarischer Produktionen, das den niemals eindeutigen Zeitgeist bestimmt und ausspricht; seine Muster, aber auch seine Gemengelagen müssen aufgenommen werden, wenn es um die Erkenntnis von Geschichte geht. Auch Literaturgeschichte ist Geschichte und schon gar die deutsche. Die deutsche Literatur kennt nicht die gleichmäßigen Höhenzüge, welche etwa die englische und französische, jedenfalls seit dem 16. Jahrhundert, charakterisieren. Wie die staatliche, so ist auch die literarische Historie der Deutschen gelegentlicher als die der großen Nachbarn. Das gilt auch dann noch, wenn man Bertolt Brechts, eines großen und unnachsichtigen Lesers, Notiz für allzu scharfzüngig hält: »Die Deutschen haben überhaupt noch keine Literatur, genaugenommen. Einige hochgeschossene Champions ohne Verbindung untereinander, jeder mit seinen Kriterien, ein jämmerlicher Partikularismus der Poesie. Es fehlt einfach schon ein Mittelpunkt, eine Stadt wie London oder Paris oder Rom.«

Vorwort des Herausgebers zur ersten Auflage

XVIII

Darüber mag man streiten. Unstreitig ist, daß die deutsche Literatur disparater, aber dadurch auch reicher ist als andere, und das nicht nur, weil sie das gemeinsame Staatswesen, den gemeinsamen Glauben und die ungebrochenen Traditionen entbehren mußte. Auch der Begriff von Literatur ist bei uns immer beschränkter geworden. Im Gebrauch der Franzosen hingegen findet man eine klare, zweifache Definition von littérature. Das Wort meint zum einen die Gesamtheit des Wissens und einer allgemeinen Kultur, zum anderen ist es der Oberbegriff für alle Schriften, die ästhetischen Ansprüchen genügen. Bei den Engländern ist literature jegliches Schrifttum, das höheren Anforderungen entspricht. Als Literatur will man in der deutschen Bildungslandschaft nur gelten lassen, was poetischen Charakter hat, und man verweist damit die Schriften Luthers, Lichtenbergs und Rankes (die Beispiele sind beliebig und beliebig vermehrbar) in einen anderen Bereich, dem eine geringere Würde zugebilligt wird. Das war nicht immer so. Noch der Brockhaus von 1826, der die Kultur der klassischen Zeit auf lesbarste Weise in 12 Bänden zusammenfaßt, beendet den Artikel »Literatur« mit den Sätzen: »Soll jedoch die Poesie als schöne Literatur gelten, so ist sie es nicht allein, sondern es gehört dann zur schönen Literatur einer Nation der ganze Kreis der Humanitätsstudien, alle Werke der Poetik, Philosophie, Geschichte, Beredtsamkeit, insoweit nämlich, als dieselben Ansprüche auf schöne Darstellungen haben und in der Muttersprache geschrieben sind. Daß diese Begriffsbestimmung nicht willkürlich sei, kann man schon daraus schließen, daß alle Nationen die Schriftsteller, welche sie als classische auszeichnen, aus diesem Kreise wählen.« Es ist dieser ebenso klassische wie – erweitert man ihn um die Sozial- und Naturwissenschaften – auch zeitgemäße Literaturbegriff, dem sich das vorliegende Werk verpflichtet fühlt. Der Herausgeber gesteht, daß ihm die Aufgabe, die der Verlag an ihn herangetragen hat, nicht zuletzt so verlockend und begründet erschien, weil sie von vornherein einen weiten Horizont ins Auge faßte – nicht nur der überlieferte Kanon der großen und anerkannten Dichter sollte in diesem Nachschlagewerk Berücksichtigung finden, sondern die zahllosen poetae minores (in den Augen der Nachwelt), auch die Verkannten, die zu Unrecht Vergessenen, die zu ihren Lebzeiten das literarische Leben der Epoche mitbestimmten in jenem von Goethe bezeichneten, hier soeben zitierten Sinn. Aber innerhalb des Horizonts sollten auch die Hervorbringungen der großen und wirksamen Autoren angesiedelt sein, eben der Luther, Arnold, Lichtenberg, Schleiermacher, Niebuhr, Ranke, Fallmerayer, Schopenhauer, Freud und so fort, aller derjenigen also, die literarisch über ihr Fach hinaus wirksam geworden sind im Fortgang der deutschen Geistesgeschichte. Es ist deutlich, daß auch ein derart umfangreiches, auf 15 Bände berechnetes Unternehmen dennoch auf Auswahl angewiesen ist und eine wie immer definierte »Vollständigkeit« weder erreichen kann noch will. Je weniger bedeutend

XIX

Vorwort des Herausgebers zur ersten Auflage

der jeweilige Autor ist, um so mehr Arbeit macht die Verifikation seiner Daten und Werke. Die etwa 1000 Fachleute, Fachmänner und Fachfrauen, haben Mühen bei ihren biographischen und bibliographischen Untersuchungen aufwenden müssen, die keineswegs immer in einem Verhältnis zum Gewicht des jeweiligen Gegenstandes standen. Das äußere Leben der »Großen« liegt klar zutage, das der bald Vergessenen ist oft genug im Dunkel. Es liegt dem Herausgeber daran, mit Dankbarkeit festzuhalten, was an unsichtbarer und mühsamer Leistung in die geringsten Artikel eingegangen ist. So wenig wie die Vollständigkeit ist eine Gleichbehandlung der literarischen Epochen erreichbar. Das liegt keineswegs nur daran, daß mit dem Anwachsen der Bevölkerungszahlen, mit der Verbreitung der Lesefähigkeit und der Multiplikation des Buchdrucks die Anzahl von Autoren und Werken in analoger Progression anstieg. Es liegt nicht weniger an den Gesetzen der historischen Perspektive, die das zeitlich Näherliegende differenzierter und augenfälliger wahrnimmt als das weiter oder gar weit Zurückliegende. So werden diejenigen, welche alle Geschichte als »unmittelbar zu Gott« verstehen, dennoch hinnehmen müssen, daß unser rückwärts gewandtes Auge mehr vom bald vergangenen 20. Jahrhundert als vom 19., aber viel mehr vom 19. als vom 18. registriert, genau so wie dieses Lexikon. Dennoch ist zu hoffen, daß ihm nichts Wesentliches entgangen ist und daß es insgesamt in der Summe seiner Einzelheiten ein zuvor nicht versammeltes literarhistorisches und historisches Kapital darstellt, das dem Benutzer reichliche Zinsen bringen mag. Ein solches nach Personennamen geordnetes Nachschlagewerk muß die Darstellung der Zusammenhänge zurücktreten lassen, in denen diese Personen und ihre Werke standen. Um diese Beschränkung auszugleichen, wird das Lexikon durch ein zweibändiges Sachwörterbuch der Literatur vervollständigt. Darin findet der Benutzer wiederum in alphabetischer Anordnung u. a. zusammenfassende Darstellungen einzelner Epochen und Stile, die Erklärung poetologischer, literarischer, literaturgeschichtlicher und ästhetischer Begriffe, überhaupt Auskunft über die mit der Literatur aufgegebenen Sachfragen. Die Benutzung des gesamten Werkes wird erleichtert durch einen Registerband, mit dessen Hilfe alle notwendigen Zusammenhänge sichtbar werden. Es ist guter Brauch – und in diesem Falle aus vielfältigem Anlaß –, am Ende einer Vorrede Dank abzustatten. Er gilt zunächst der Initiative des Verlages; nur ein großes Haus kann ein so großes Unternehmen in Angriff nehmen – daß es geschieht, ist vor allem Herrn Dr. Günther Hadding zuzuschreiben. Der Unterzeichnende darf für sich beanspruchen, reiche und immer erfreuliche Erfahrungen im Umgang mit Verlegern zu haben; daß diesen nun eine weitere hinzugefügt wird, sei der Cheflektorin Margarete Schwind und ihren Mitarbeitern

Vorwort des Herausgebers zur ersten Auflage

XX

gedankt. Am Schluß möchte ich nicht minder den mitwirkenden Kolleginnen und Kollegen danken, deren Sachkunde und sehr tätige Mitwirkung dem Werk allererst eine breite Grundlage gesichert haben und sichern. Göttingen, im Juli 1988

Walther Killy

Benutzerhinweise Das alphabetisch geordnete 13-bändige Literaturlexikon führt in den ersten 12 Bänden Autorennamen neben anonymen Werktiteln als Stichwörter; diese sind halbfett gesetzt. Band 13 ist der Registerband.

Anordnung der Einträge, Alphabetisierung Mehr noch als in der ersten Ausgabe ist der Versuch unternommen worden, Einträge immer dann konsequent einem Autornamen zuzuordnen, wenn dieser bekannt und »greifbar« ist, auch im Falle von mittelalterlichen Verfassern, von denen oft kaum biografische Informationen vorliegen. Vorrang wurde immer der Alphabetisierungsweise gegeben, die dem Benutzer ein leichtes Auffinden ermöglicht: In der Ordnung der Namen werden zuerst Vornamen als Eigennamen angeführt, dann einfache Nachnamen, dann zusammengesetzte Namen mit Bindestrich, schließlich zusammengesetzte Namen ohne Bindestrich. Im Falle von gleichlautenden Autorennamen werden die Einträge nach der Chronologie angeordnet. Ligaturen (æ und œ) und Umlaute (ä, ö, ü) gelten als zwei Buchstaben, die anderen diakritischen Zeichen haben auf die Alphabetisierung keinen Einfluss. ß wird wie ss behandelt, ø wie ö. Adelsprädikate und ähnliche Namensbestandteile werden nachgestellt; anonyme Werktitel erscheinen in natürlicher Wortfolge und werden nach dem ersten Bedeutung tragenden Wort alphabetisiert.

Schreibung Bei differierenden Schreibweisen eines Stichworts ist die in der zeitgenössischen Literaturwissenschaft gebräuchliche vorangestellt, weitere Schreibweisen folgen kursiv. Außer in Originaltiteln und Zitaten ist nach den Regeln der reformierten Orthografie verfahren worden.

Benutzerhinweise

XXII

Pseudonyme Autoren, die überwiegend unter Pseudonym publiziert haben, sind unter diesem aufgenommen. In diesen Fällen erscheint unter »eigentl.« ihr Geburtsname. Pseudonyme von Autoren, die unter ihrem Geburtsnamen ins Lexikon aufgenommen worden sind, werden unter »auch« genannt. Gegebenenfalls wurden Verweise gesetzt, um ein Auffinden der Einträge auch in Zweifelsfällen sicherzustellen.

Daten und Datierungen Fehlende Geburts- und Sterbedaten, Erscheinungsjahre u. ä. wichtige Angaben waren nicht zu recherchieren. Für Daten nach der Kalenderreform gilt der Gregorianische Kalender; nur bei Abweichungen steht der Hinweis »neuer Stil« (Gregorianischer Kalender) bzw. »alter Stil« (Julianischer Kalender).

Werktitel Innerhalb jedes Lexikonartikels sind alle genannten Werktitel kursiv hervorgehoben, außer im bibliografischen Teil. Die meisten Werktitel aus dem 19. und 20. Jahrhundert erscheinen im Lexikonartikel ungekürzt, die Mehrzahl der Titel aus dem 15. bis 18. Jahrhundert erscheint sinnvoll gekürzt; Auslassungen innerhalb des Titels sind durch [...] kenntlich gemacht. Werktitel wie Zitate sind in der Regel in originaler Schreibung wiedergegeben; orientierende Untertitel werden genannt. Zeitschriften- und Zeitungstitel sind, außer im bibliografischen Teil, durch französische Anführungszeichen kenntlich gemacht.

Bibliografie Bibliografische Angaben finden sich innerhalb eines jeden Lexikonartikels an der Stelle des behandelten Einzelwerks. Angeführt werden jeweils Erscheinungsort und -jahr der Originalausgabe. In rezeptionsgeschichtlich aufschlussreichen Einzelfällen werden auch Verlage sowie spätere Auflagen und Ausgaben genannt. Die Literaturgattung ist als Kürzel in Klammern angeführt, sofern sie sich nicht aus dem Titel bzw. Kontext ergibt. Wenige Werke lassen sich keiner Gattung zuordnen. Bei Dramen sind häufig auch das Jahr der Uraufführung und die Spielstätte angegeben. Fingierte Erscheinungsorte sind durch den Zusatz »recte« berichtigt, indirekt erschlossene Erscheinungsorte und -jahre von Werktiteln finden sich in eckigen Klammern.

Benutzerhinweise

XXIII

Am Ende aller Artikel stehen bibliografische Angaben, die in der Regel Weitere Werke – meist nicht sämtliche – und ausgewählte Literatur verzeichnen sowie, falls von Interesse, Ausgaben und Übersetzungen. Die Bibliografien sind chronologisch geordnet. Umfangreiche Werk- bzw. Literaturverzeichnisse werden jeweils angemessen, in der Regel nach Publikationsarten differenzierend, untergliedert.

Verweise Verweise sind nur dann gesetzt, wenn bei bekannten Namen und anonymen Werken angenommen werden kann, dass der gesuchte Artikel auch unter dem Verweisstichwort zu finden ist. Außerdem wird auf Einträge verwiesen, die in der Neuausgabe an anderer Stelle als in der Erstausgabe eingeordnet worden sind.

Abkürzungen Das Stichwort wird grundsätzlich innerhalb des Lexikonartikels mit seinem Anfangsbuchstaben wiedergegeben. Sofern in bibliografischen Angaben auch Vornamen eines Autors erwähnt werden, sind sie durch Initial abgekürzt. Wenn es die Lesbarkeit nicht beeinträchtigt, wird die Wortendung -isch weggelassen, während die Endung -lich als »l.« erscheint; weitere Abkürzungen finden sich im allgemeinen Abkürzungsverzeichnis. Die biblischen Bücher werden gemäß den einschlägigen Bibel-Ausgaben abgekürzt.

Allgemeine Abkürzungen a.a.O. a. o. Prof. Abb.(en) Abdr.(e) Abh.(en) Abt.(en) ahd. allg. Amsterd. an. Anth.(n) Art. AT aufgef. Aufl.(n) Aufs. Aug. Augsb. Ausg.(n) ausgew. Ausw. autobiogr. Autobiogr.(n) Bd., Bde., Bdn. bearb. Bearb.(en) begr. beigef. Beitr. Ber.(e) bes. Bibl. bibliogr. Bibliogr.(n) Bielef. biogr.

am angegebenen Ort außerordentlicher Professor Abbildung(en) Abdruck(e) Abhandlung(en) Abteilung(en) althochdeutsch allgemein Amsterdam anonym Anthologie(n) Artikel Altes Testament aufgeführt Auflage(n) Aufsatz August (Monatsname) Augsburg Ausgabe(n) ausgewählt Auswahl autobiografisch / autobiographisch Autobiografie(n) / Autobiographie(n) Band, Bände, Bänden bearbeitet Bearbeitung(en) begründet beigefügt Beitrag Bericht(e) besonders, besondere Bibliothek bibliografisch / bibliographisch Bibliografie(n) / Bibliographie(n) Bielefeld biografisch / biographisch

Biogr.(n) Bl. Bln. BR Braunschw. Briefw. Charlottenb. D. d. Ä. d. i. d. J. Darmst. ders. Dez. DFG dies. Disp. Diss.(en) Diss. med. DLA Dortm. Dr. habil. Dr. jur. Dr. juris canon. Dr. med. Dr. phil. Dr. rer. soc. Dr. theol. Drehb. dt. Dtschld. Düsseld. durchges. E.(en) ebd. ed. Ed.(en)

Biografie(n) / Biographie(n) Blätter Berlin Bundesrepublik Braunschweig Briefwechsel Charlottenburg Drama der Ältere das ist der Jüngere Darmstadt derselbe Dezember Deutsche Forschungsgemeinschaft dieselbe Disputatio Dissertation(en) Dissertatio medicinae Dt. Literaturarchiv/Schiller Nationalmuseum, Marbach Dortmund Doctor habilitatus Doctor juris Doctor juris canonici Doctor medicinae Doctor philosophiae Doctor rerum socialium Doctor theologiae Drehbuch deutsch Deutschland Düsseldorf durchgesehen Erzählung(en) ebenda, ebendort ediert Edition(en)

Allgemeine Abkürzungen

XXV

ehem. Einf.(en) eingel. Einl.(en) EKG enth. Ep. Erforsch. erg. Erg.–Bd. erl. ersch. Erstauff. erw. Ess.(s) europ. evang. evtl. Ex. F.(n) f., ff. Faks.(s) FAZ FDH

Febr. Fernsehsp.(e) Festg.(n) Ffm. fol. Forsch.(en) Forts.(en) Frankf./O. Freib. i. Br. Frhr. frz. FS G.(e) geb. gedr. gegr. gen. ges. Gesch.(n)

ehemalig Einführung(en) eingeleitet Einleitung(en) Evangelisches Kirchengesangbuch enthält Epos Erforschung ergänzt, ergänzende Ergänzungsband erläutert erscheint, erschienen Erstaufführung erweitert Essay(s) europäisch evangelisch eventuell Exemplar Folge(n) folgende Seite(n), folgendes (folgende) Jahr(e) Faksimile(s) Frankfurter Allgemeine Zeitung Freies Deutsches Hochstift/ Frankfurter Goethemuseum, Ffm. Februar Fernsehspiel(e) Festgabe(n) Frankfurt am Main folio Forschung(en) Fortsetzung(en) Frankfurt an der Oder Freiburg im Breisgau Freiherr französisch Festschrift Gedicht(e) geboren gedruckt gegründet genannt gesammelt Geschichte(n)

Gesellsch. ggf. Göpp. Gött. Greifsw. GSA

Gesellschaft gegebenenfalls Göppingen Göttingen Greifswald Goethe-Schiller-Archiv, Weimar H.(e) Heft(e) h. c. honoris causa habil. habilitatus Habil.–Schr. Habilitations-Schrift Halberst. Halberstadt Hann. Hannover Hbg. Hamburg Hdb. Handbuch hebr. hebräisch Heidelb. Heidelberg Heilbr. Heilbronn hg., Hg. herausgegeben, Herausgeber(in) Hildesh. Hildesheim hist.–krit. historisch-kritische Ausgabe Ausg. Hörsp.(e) Hörspiel(e) Hs(s). Handschrift, Handschriften Hzg. Herzog Hzgt. Herzogtum in Verb. mit in Verbindung mit in Vorb. in Vorbereitung in Zus. mit in Zusammenarbeit mit Ingolst. Ingolstadt Innsbr. Innsbruck insbes. insbesondere insg. insgesamt internat. international Interpr.(en) Interpretation(en) ital. italienisch Jan. Januar Jb., Jbb. Jahrbuch, Jahrbücher Jg. Jahrgang Jh. Jahrhundert Journ.(e) Journal(e) Kap. Kapitel Karlsr. Karlsruhe Kat.(e) Katalog(e) kath. katholisch kgl. königlich Klagenf. Klagenfurt Königsb. Königsberg

Allgemeine Abkürzungen

Königst. Kom.(n) komm. Komm. Kt. Kurzp. L. lat. Lfg. Libr. lic. Lic. theol. Lit. LP Lpz. Lüneb. Lustsp.(e) luth. M. MA Magdeb. Mannh. Mchn. mhd. Mitarb. Mitgl.(er) Mitt.(en) mlat. Monogr.(n) Ms(s). N.(n) N. F. Nachdr. Nachl. Nachtr. Nachw. nat. Naumb. ND Neuaufl.(n) Neuausg. Neubearb.(en) Neudr.(e) nhd. niederdt. nlat. Nov.

Königstein Komödie(n) kommentiert Kommentar Kanton Kurzprosa Lyrik lateinisch Lieferung Libretto licentiatus Licentiatus theologiae Literatur Langspielplatte Leipzig Lüneburg Lustspiel(e) lutherisch Märchen Mittelalter Magdeburg Mannheim München mittelhochdeutsch Mitarbeit, Mitarbeiter Mitglied(er) Mitteilung(en) mittellateinisch Monografie(n) / Monographie(n) Manuskript(e) Novelle(n) Neue Folge Nachdruck Nachlass / Nachlaß Nachtrag Nachwort national Naumburg Neues Deutschland Neuauflage(n) Neuausgabe Neubearbeitung(en) Neudruck(e) neuhochdeutsch niederdeutsch neulateinisch November

XXVI

Nr., Nrn. NS NT Nürnb. NZZ o. J. o. O. o. O. u. J. o. Prof. Obb. österr. Österr. Offb. OFM Okt. Oldenb. OP op. OSA OSB Osnabr. P. Paderb. Pseud. Publ.(en) Quedlinb. R.(e) rd. Regensb. Reinb. Reutl. rev. Rez.(en) Rhld. S. s. s. o. s. u. Saarbr. Salzb. Schaffh. Schausp.(e) Schr.(en) sep. Sept. ser. Singsp.(e) SJ Slg.(en)

Nummer, Nummern Nationalsozialismus Neues Testament Nürnberg Neue Zürcher Zeitung ohne Jahr ohne Ort ohne Ort und Jahr ordentlicher Professor Oberbayern österreichisch Österreich Offenbarung Ordinis Fratorum Minorum Oktober Oldenburg Ordinis Praedicatorum opus Ordinis Sancti Augustini Ordinis Sancti Benedictini Osnabrück Prosa Paderborn Pseudonym Publikation(en) Quedlinburg Roman(e) rund Regensburg Reinbek bei Hamburg Reutlingen revidiert Rezension(en) Rheinland Seite siehe siehe oben siehe unten Saarbrücken Salzburg Schaffhausen Schauspiel(e) Schrift(en) separat September series Singspiel(e) Societatis Jesu Sammlung(en)

Allgemeine Abkürzungen

XXVII

sog. Sp. St. Stgt. Str. Straßb. Suppl. SZ Tb. Tgb. TH Tl., Tle., Tln. Trag.(n) Trauersp.(e) Ts. Tsd. TU Tüb. u. a. u. d. T. u. ö. überarb. übers. Übers.(en) ungedr. Univ. unvollst. Urauff.(en)

sogenannt Spalte Sankt Stuttgart Strophe Straßburg Supplement Süddeutsche Zeitung Taschenbuch Tagebuch Technische Hochschule Teil, Teile, Teilen Tragödie(n) Trauerspiel(e) Taunus Tausend Technische Universität Tübingen und andere / unter anderem unter dem Titel und öfter (erschienen) überarbeitet übersetzt Übersetzung(en) ungedruckt Universität/University unvollständig Uraufführung(en)

uraufg. urspr. v. V., VV. v. a. verb. verf., Verf. verh. verm. vers. verw. Verz. vgl. Vjs. Volksst.(e) vollst. Vorw. Werkverz. Westf. Wiesb. wiss. Wiss.(en) Wittenb. Wolfenb. Würzb. zgl. Ztg.(en) Ztschr.(en) zus.

uraufgeführt ursprünglich von Vers, Verse vor allem verbessert verfasst, Verfasser verheiratet, verheiratete vermehrt versehen verwitwet, verwitwete Verzeichnis vergleiche Vierteljahrsschrift Volksstück(e) vollständig Vorwort Werkverzeichnis Westfalen Wiesbaden wissenschaftlich Wissenschaft(en) Wittenberg Wolfenbüttel Würzburg zugleich Zeitung(en) Zeitschrift(en) zusammen

Abgekürzte Literatur (Lexika, Zeitschriften) ABäG ABNG ADB

AfdA AfLg AfMW AGB AGP AKG AKL

Akzente Alchemie Alternative Altpr. Biogr.

Altpreuß. Monatsschr. Ambix Arbitrium Arcadia Archiv ARG

ARG.L Argenis

Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik. Amsterd. 1972 ff. Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik. Amsterd. 1972 ff. Allgemeine Deutsche Biographie. Hg. durch die Historische Commission bei der Königlichen [Bayerischen] Akademie der Wissenschaften. 56 Bde., Lpz. 1875 – 1912. Nachdr. Bln. 1967 – 1971. Anzeiger für deutsches Altertum und deutsche Literatur. Stgt. 1876 – 1989. Archiv für Litteraturgeschichte. Lpz. 1870 – 1887. Archiv für Musikwissenschaft. Wiesb. 1918 ff. Archiv für Geschichte des Buchwesens. Hg. v. der Historischen Kommission des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels. Mchn. 1958 ff. Arbeiten zur Geschichte des Pietismus. Im Auftrag der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus. Gött. 1967 ff. Archiv für Kulturgeschichte. Köln/Weimar/Wien 1903 ff. Allgemeines Künstlerlexikon. Die Bildenden Künstler aller Zeiten und Völker. Hg. K. G. Saur Verlag. Begr. u. mithg. v. Günter Meißner. Mchn./Lpz. 1992 ff. Akzente. Zeitschrift für Literatur. Mchn. 1954 ff. Alchemie. Lexikon einer hermetischen Wissenschaft. Hg. Claus Priesner u. Karin Figala. Mchn. 1998. Alternative. Zeitschrift für Literatur und Diskussion. Bln. 1958 – 1982. Altpreußische Biographie. Hg. im Auftrag der Historischen Kommission für Ost- und Westpreußische Landesforschung. Königsb. u. Marburg 1941 ff. Altpreußische Monatsschrift. Königsb. 1864 – 1923. Mikrofiche-Ausg. Bln. 1997. Ambix. The Journal of the Society for the History of Alchemy and early Chemistry. Cambridge 1937 ff. Arbitrium. Zeitschrift für Rezensionen zur germanistischen Literaturwissenschaft. Tüb. 1983 ff. Arcadia. Internationale Zeitschrift für Literaturwissenschaft. Bln. 1966 ff. Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen. Bln. 1846 ff. Archiv für Reformationsgeschichte. Internationale Zeitschrift zur Erforschung der Reformation und ihrer Weltwirkungen. Gütersloh 1903 ff. Archiv für Reformationsgeschichte. Literaturbericht. Gütersloh 1972 ff. Argenis. Internationale Zeitschrift für mittlere deutsche Literatur. Eine Veröffentlichung der American Society for German Literature of the Sixteenth and Seventeenth Centuries. Las Vegas/Stgt. 1978 – 1979.

XXIX

Aurora BaBA Backer/ Sommervogel

Bautz

BHR Biogr. Lex. LMU BJ BJudaica BLGNP

BLSHL

BOKG

BPfKG

Brümmer

BSLK BThKG

BWKG CA

CAMENA

CCSG CCSL

Abgekürzte Literatur (Lexika, Zeitschriften)

Aurora. Jahrbuch der Eichendorff-Gesellschaft. Tüb. 1929 ff. Baltisches Biographisches Archiv. Mchn. 1995 ff. Augustin de Backer: Bibliothèque de la Compagnie de Jésus. 1. Tl.: Bibliographie. 12 Bde., neu hg. v. Charles Sommervogel. Brüssel/Paris 1890 – 1932. Ergänzter Nachdr. Louvain 1960. Faks.–Ausg. Mansfield Centre 1998 ff. Friedrich-Wilhelm Bautz u. Traugott Bautz (Hg.): Biographisch-bibliographisches Kirchenlexikon. Hamm 1975 ff. (auch online unter: http:// www.bautz.de/bbkl/). Bibliothèque d’Humanisme et Renaissance. Travaux et documents. Organe de l’Association Humanisme et Renaissance. Genf 1941 ff. Biographisches Lexikon der Ludwig-Maximilians-Universität München. Hg. Laetitia Boehm. Bln. 1998 ff. Biographisches Jahrbuch und Deutscher Nekrolog [für den Zeitraum 1896 – 1913]. Hg. Anton Bettelheim. 18 Bde., Bln. 1897 – 1917. Bibliographia Judaica. Verzeichnis jüdischer Autoren deutscher Sprache. Bearb. v. Renate Heuer. 4 Bde., Ffm. (Bd. 1 Mchn.) 1981 – 1996. Biografisch lexicon voor de geschiedenis van het Nederlandse protestantisme. Hg. Doede Nauta, Johannes van den Berg u. Cornelis Houtman. 6 Bde., Kampen 1978 – 2006. Biographisches Lexikon für Schleswig-Holstein und Lübeck. Hg. v. der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek unter Mitwirkung der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte u. des Vereins für Lübeckische Geschichte und Altertumskunde. Neumünster 1970 ff. (bis Bd. 5 u. d. T. Schleswig-holsteinisches biographisches Lexikon). Beiträge zur ostdeutschen Kirchengeschichte. Hg. im Auftrag des Vereins für Ostdeutsche Kirchengeschichte u. in Verbindung mit dem Ostkirchen-Institut Münster. Münster 1996 ff. Blätter für pfälzische Kirchengeschichte und religiöse Volkskunde. Begr. u. hg. vom Verein für Pfälzische Kirchengeschichte. Heidelb./Basel 1925 – 1940 u. 1950 ff. Franz Brümmer: Lexikon der deutschen Dichter und Prosaisten vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. 8 Bde., Lpz. 61913. Nachdr. Nendeln 1975. Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche. Gött. 121998. Beiträge zur thüringischen Kirchengeschichte. Hg. v. der Gesellschaft für Thüringische Kirchengeschichte e. V. Weimar 1930/1932 – 1940. N. F. 2004 ff. Blätter für württembergische Kirchengeschichte. Hg. im Auftrag des Vereins für Württembergische Kirchengeschichte. Stgt. 1886 ff. Confessio Augustana. Das lutherische Magazin für Religion, Gesellschaft und Kultur. Hg. v. der Gesellschaft für Innere und Äußere Mission im Sinne der Lutherischen Kirche e.V. Neuendettelsau 1996 ff. CAMENA. Lateinische Texte der Frühen Neuzeit / Corpus Automatum Multiplex Electorum Neolatinitatis Auctorum (http://www.uni-mannheim.de/mateo/camenahtdocs/camena.html). Corpus Christianorum Series Graeca. Turnhout 1977 ff. Corpus Christianorum Series Latina. Turnhout 1954 ff.

Abgekürzte Literatur (Lexika, Zeitschriften)

Cimelia Rhodostaurotica CG Conermann FG

Contemporaries

CP I CP II CR Cramer Daphnis DBA

DBE

DD DDL

De Boor/Newald Der Schlern Der Wächter Deutsch-kanad. Jb DHGE DLE

DNP

XXX

Cimelia Rhodostaurotica. Die Rosenkreuzer im Spiegel der zwischen 1619 und 1660 entstandenen Handschriften und Drucke. Ausstellungskatalog. Bearb. v. Carlos Gilly. Amsterd. 1995. Colloquia Germanica. Internationale Zeitschrift für germanische Sprach- und Literaturwissenschaft. Tüb./Basel 1967 ff. Fruchtbringende Gesellschaft. Der Fruchtbringenden Gesellschaft Geöffneter Erzschrein. Das Köthener Gesellschaftsbuch Fürst Ludwig I. von Anhalt-Köthen 1617 – 1650. Hg. Klaus Conermann. 3 Bde., Lpz. 1985. Contemporaries of Erasmus. A biographical register of the Renaissance and Reformation. Hg. Peter G. Bietenholz. 3 Bde., Toronto 1985 – 1987. Nachdr. Toronto 2003. Corpus Paracelsisticum. Bd. 1: Der Frühparacelsismus. Erster Teil, hg. u. erläutert v. Wilhelm Kühlmann u. Joachim Telle. Tüb. 2001. Corpus Paracelsisticum. Bd. 2: Der Frühparacelsismus. Zweiter Teil, hg. u. erläutert v. Wilhelm Kühlmann u. Joachim Telle. Tüb. 2004. Corpus Reformatorum. Hg. Carl Gottlieb Bretschneider u. a. 101 Bde., Halle/Saale 1846 – 1991. Thomas Cramer (Hg.): Die kleineren Liederdichter des 14. und 15. Jahrhunderts. 4 Bde., Mchn. 1977 – 1985. Daphnis. Zeitschrift für mittlere deutsche Literatur und Kultur der frühen Neuzeit (1400 bis 1750). Amsterd. 1972 ff. Deutsches Biographisches Archiv. Hg. Bernhard Fabian u. Willy Gorzny. Mikrofiches u. 4 Indexbde. Mchn. u. a. 1982 – 1986 (auch als Online-Ressource: DBA I, DBA II, DBA III). Deutsche biographische Enzyklopädie. Hg. Walther Killy u. Rudolf Vierhaus. 10 Bde., 2 Registerbde. u. 1 Supplementbd. Mchn. 1995 – 2003. 2., überarb. u. erw. Aufl. 2005 ff. Diskussion Deutsch. Zeitschrift für Deutschlehrer [...]. Ffm./Bln./ Mchn. 1970 – 1995 (danach aufgegangen in DU). Die Deutsche Literatur. Biographisches und bibliographisches Lexikon. Abt. A: Autorenlexikon, Abt. B: Forschungsliteratur. Hg. Hans-Gert Roloff. Stgt. 1985 ff. Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart. Begr. v. Helmut de Boor u. Richard Newald. Mchn. 1949 ff. Der Schlern. Monatszeitschrift für Südtiroler Landeskunde. Bozen 1920 ff. Der Wächter. Zeitschrift für alle Zweige der Kultur. Wien 1918 – 1960/ 61. Deutsch-kanadisches Jahrbuch. Toronto 1973 – 2004 (seit 1983 u. d. T. German Canadian yearbook). Dictionnaire d’histoire et de géographie ecclésiastiques. Hg. Roger Aubert u. a. Paris 1912 ff. Deutsche Literatur. Sammlung literarischer Kunst- und Kulturdenkmäler in Entwicklungsreihen. Hg. Heinz Kindermann u. a. Lpz. 1928 – 1950. Nachdr. Darmst. 1964 ff. Der neue Pauly. Enzyklopädie der Antike. Hg. Brigitte Egger u. Jochen Derlien. 16 Bde., Stgt./Weimar 1996 – 2003.

XXXI

Abgekürzte Literatur (Lexika, Zeitschriften)

DSB

Dictionary of Scientific Biography. Hg. Charles Coulston Gillispie. 14 Bde., 1 Indexbd. u. 3 Supplementbde., New York 1970 – 1990. Deutsche Exilliteratur seit 1933. Bd. 1 in 2 Teilbdn.: Kalifornien. Hg. John M. Spalek u. Joseph Strelka. Bern 1976. Bd. 2 in 2 Teilbdn.: New York. Hg. dies. Bern 1989. Bd. 3 in 5 Teilbdn.: USA. Hg. J. M. Spalek, Konrad Feilchenfeldt u. Sandra H. Hawrylchak. Bern/Mchn. 2000 – 2005. Bd. 4 in 3 Teilbdn.: Bibliographien: Schriftsteller, Publizisten und Literaturwissenschaftler in den USA. Bern/Mchn. 1994 (ab Bd. 2 u. d. T. Deutschsprachige Exilliteratur). Deutsches Jahrbuch für Volkskunde. Hg. vom Institut für Deutsche Volkskunde an der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Bln./DDR 1955 – 1969. Der Deutschunterricht. Beiträge zu seiner Praxis und wissenschaftlichen Grundlegung. Seelze 1948/49 ff. Gerhard Dünnhaupt: Personalbibliographien zu den Drucken des Barock. 2., erw. Aufl. 6 Bde., Stgt. 1990 – 1993 (1. Aufl. u. d. T. Bibliographisches Handbuch der Barockliteratur. Hundert Personalbibliographien deutscher Autoren des 17. Jahrhunderts. 3 Tle., Stgt. 1980 – 1981). Bernhard Duhr: Geschichte der Jesuiten in den Ländern deutscher Zunge. 4 Bde., Freib. i. Br. 1907 – 1928. Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Stgt./Weimar 1923 ff. Editio. Internationales Jahrbuch für Editionswissenschaft. In Verbindung mit der Arbeitsgemeinschaft für Germanistische Edition u. der Arbeitsgemeinschaft Philosophischer Editionen. Tüb. 1987 ff. Études Germaniques. Allemagne, Autriche, Suisse, pays scandinaves et néerlandais, études yiddish et judéo-allemande. Revue trimestrielle de la Société des Études Germaniques. Paris 1946 ff. Europa Humanistica: Die deutschen Humanisten. Dokumente zur Überlieferung der antiken und mittelalterlichen Literatur in der Frühen Neuzeit. Hg. Wilhelm Kühlmann, Volker Hartmann u. Susann El Kholi. Turnhout 2005 ff. Georg Ellinger: Geschichte der neulateinischen Literatur Deutschlands im 16. Jahrhundert. 3 Bde., Bln./Lpz. 1929 – 33. Nachdr. Bln. 1969. Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Begr. v. Kurt Ranke. Hg. Rolf Wilhelm Brednich u. Hermann Bausinger. Bln./New York 1977 ff. Enchiridion renatae poeseos Latinae in Bohemia et Moravia cultae. Hg. Antonín Truhlárˇ , Karel Hrdina, Josef Hejnic u. Jan Martínek. 5 Bde., Prag 1966 – 1982. Allgemeine Encyklopädie der Wissenschaften und Künste. Begr. v. Johann Samuel Ersch u. Johann Gottfried Gruber. 167 Bde., Lpz. 1818 – 1889. Nachdr. u. d. T. Allgemeine Enzyklopädie Graz 1969 ff. Monika Estermann: Verzeichnis der gedruckten Briefe deutscher Autoren des 17. Jahrhunderts. Tl. 1: Drucke zwischen 1600 u. 1750, Wiesb. 1992/93. Tl. 2: Drucke zwischen 1751 u. 1980. Bearb. v. Thomas Bürger. Wiesb. 2002. Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte. Heidelb. 1894 ff. (1934 – 1944 u. d. T. Dichtung und Volkstum).

Dt. Exillit.

Dt. Jb. für Volkskunde DU Dünnhaupt

Duhr, Jesuiten DVjs Editio

EG

EH

Ellinger EM

Enchiridion

Ersch/Gruber

Estermann/ Bürger

Euph.

Abgekürzte Literatur (Lexika, Zeitschriften)

Europäische Ideen FH Fischer/Tümpel

Flood, Poets Laureate Flugbl. FMSt Fol. litt.

Frels

Füssel, Dt. Dichter Germania Germanistik Gesch. Piet. Gesch. u. Gesellsch. Giebisch/Gugitz

Glaser GLL Goedeke

Goedeke Forts.

GoetheJb GQ GR

XXXII

Europäische Ideen. Bln. 1973 ff. Frankfurter Hefte. Zeitschrift für Kultur und Politik. Ffm. 1946 – 1984 (dann zusammengeführt mit Die neue Gesellschaft. Bonn 1954 ff.). Albert Fischer: Das deutsche evangelische Kirchenlied des 17. Jahrhunderts. Vollendet u. hg. v. Wilhelm Tümpel. 6 Bde., Gütersloh 1904 – 1916. Nachdr. Hildesh. 1964. John L. Flood: Poets Laureate in the Holy Roman Empire. A Bio-bibliographical Handbook. 4 Bde., Bln./New York 2006. Wolfgang Harms u. a. (Hg.): Deutsche illustrierte Flugblätter des 16. und 17. Jahrhunderts. Tüb. 1980 ff. Frühmittelalterliche Studien. Jahrbuch des Instituts für Frühmittelalterforschung der Universität Münster. Bln. 1967 ff. Folia litteraria. Acta Universitatis Lodziensis. ódz´ 1981 – 1997 (fortgeführt als Folia litteraria anglica, Folia litteraria polonica bzw. Folia litteraria romanica). Wilhelm Frels: Deutsche Dichterhandschriften von 1400 bis 1900. Gesamtkatalog der eigenhändigen Handschriften deutscher Dichter in den Bibliotheken und Archiven Deutschlands, Österreichs, der Schweiz und der CˇSR. Lpz. 1934. Nachdr. Stgt. 1970. Stephan Füssel (Hg.): Deutsche Dichter der frühen Neuzeit (1450 – 1600). Ihr Leben und Werk. Bln. 1993. Germania. Vierteljahrsschrift für deutsche Altertumskunde. Wien 1856 – 1892. Germanistik. Internationales Referatenorgan mit bibliographischen Hinweisen. Tüb. 1960 ff. Geschichte des Pietismus. Hg. Martin Brecht, Klaus Deppermann, Ulrich Gäbler u. Hartmut Lehmann. Bd. 1 ff., Gött. 1993 ff. Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für historische Sozialwissenschaften. Gött. 1975 ff. Hans Giebisch u. Gustav Gugitz: Bio-Bibliographisches Literaturlexikon Österreichs. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Wien 1963. 2 1985. Horst Albert Glaser (Hg.): Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte. 10 Bde., Reinb./Bern 1980 – 1997. German Life and Letters. A quarterly review. Oxford u. a. 1936/37 ff. Karl Goedeke: Grundriß zur Geschichte der deutschen Dichtung aus den Quellen. 2. bzw. 3., ganz neu bearb. Aufl. 18 Bde., Dresden 1884 – 1998. Nachdr. Nendeln 1975. Deutsches Schriftstellerlexikon 1830 – 1880 (= Fortführung des »Goedeke«). Hg. v. der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Bln. 1995 ff. Goethe-Jahrbuch. Weimar 1880 ff. (1914 – 1935 u. d. T. Jahrbuch der Goethe-Gesellschaft. 1936 – 1944 u. 1947 – 1971 u. d. T. Goethe). The German Quarterly. A Journal of the American Association of Teachers of German. Cherry Hill/New Jersey 1928 ff. The Germanic Review. Literature, culture, theory. Washington DC 1926 ff.

XXXIII

GRM Grove GW Hamberger/ Meusel

Heiduk/ Neumeister HeineJb HKJL

HL

HLS HölderlinJb HRG HWbPhil HWRh HZ IASL Imprimatur Jaumann Hdb. Jb. für Erziehungs- u. Schulgesch. Jb. GrillparzerGesellsch. Jb. Int. Germ. JbDSG

Abgekürzte Literatur (Lexika, Zeitschriften)

Germanisch-romanische Monatsschrift. Heidelb. 1909 – 1943. N. F. 1950/51 ff. George Grove (Hg.): Dictionary of Music and Musicians. 9 Bde. u. Supplementbd., London 51954 – 1961. Gesamtkatalog der Wiegendrucke. Hg. v. der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz. Stgt. 1925 ff. Das gelehrte Teutschland oder Lexikon der jetzt lebenden teutschen Schriftsteller. Angefangen v. Georg Christoph Hamberger, fortgesetzt v. Johann Georg Meusel. 11 Bde. mit Registerbd., Lemgo 51796 – 1827. 12 Supplementbde., Lemgo 1808 – 1834. Nachdr. Hildesh. 1965/1966. Erdmann Neumeister: De Poetis Germanicis. Neuausg. mit Bibliographie v. Franz Heiduk. Bern/Mchn. 1978. Heine-Jahrbuch. Hg. vom Heinrich-Heine-Institut der Landeshauptstadt Düsseldorf. Stgt./Weimar 1961 ff. Theodor Brüggemann u. Otto Brunken: Handbuch zur Kinder- und Jugendliteratur. Bisher 5 (ungezählte) Bde. ([Bd. 1] Vom Beginn des Buchdrucks bis 1570 [1987]. [Bd. 2] Von 1570 bis 1750 [1991]. [Bd. 3] Von 1750 bis 1800 [1982]. [Bd. 4] Von 1800 bis 1850 [1998] sowie SBZ/ DDR [2006]), Stgt. 1982 ff. Humanistische Lyrik des 16. Jahrhunderts. Lateinisch und deutsch. Hg. Wilhelm Kühlmann, Robert Seidel u. Hermann Wiegand. Ffm. 1997. Historisches Lexikon der Schweiz. Hg. v. der Stiftung Historisches Lexikon der Schweiz. Basel 2002 ff. Hölderlin-Jahrbuch. Hg. im Auftrag der Hölderlin-Gesellschaft. Eggingen 1944. 1947 ff. Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Hg. Adalbert Erler u. a. 5 Bde., Bln. 1971 – 1998. Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. Joachim Ritter u. Karlfried Gründer. 12 Bde. u. Registerbd., Basel 1971 – 2007. Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. Gert Ueding. Tüb. 1992 ff. Historische Zeitschrift. Mchn./Bln. 1859 ff. Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur. Tüb. 1976 ff. Imprimatur. Ein Jahrbuch für Bücherfreunde. Mchn./Wiesb. 1930 ff. N. F. 1956/57 ff. Herbert Jaumann: Handbuch Gelehrtenkultur der Frühen Neuzeit. 2 Bde., Bln./New York 2004 ff. Jahrbuch für Erziehungs- und Schulgeschichte. Hg. v. der Kommission für Deutsche Erziehungs- und Schulgeschichte der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften der Deutschen Demokratischen Republik. Bln. 1961 – 1990. Jahrbuch der Grillparzer-Gesellschaft. Wien 1891 ff. N. F. 1941 ff. 3. F. 1953 ff. Jahrbuch für Internationale Germanistik. In Verbindung mit der Internationalen Vereinigung für Germanistik. Bern/Bln. u. a. 1969 ff. Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft. Internationales Organ für neuere deutsche Literatur. Gött. 1957 ff.

Abgekürzte Literatur (Lexika, Zeitschriften)

JbFDH

XXXIV

Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts. Tüb. 1902 ff. N. F. 1962 ff. (1941 – 1961 nicht ersch.). JEGPh Journal of English and Germanic Philology. Champaign/Illinois 1897 ff. Jöcher Christian Gottlieb Jöcher: Allgemeines Gelehrten-Lexicon [...]. 4 Tle., Lpz. 1750/51. Nachdr. Hildesh. 1960 – 1961. Jöcher/Adelung [Forts. u. Erg. zu Jöcher] Bde. 1 u. 2 hg. v. Johann Christoph Adelung. Lpz. 1784 – 1787. Bde. 3 – 6 hg. v. Heinrich Wilhelm Rotermund. Delmenhorst/Bremen 1810 – 1819. Bd. 7 hg. v. Otto Günther. Lpz. 1897. Nachdr. aller 7 Bde. Hildesh. 1960 – 1961. Jördens Karl Heinrich Jördens (Hg.): Lexikon deutscher Dichter und Prosaisten. 5 Bde. u. Supplementbd., Lpz. 1806 – 1811. Nachdr. Hildesh. 1970. Killy Walther Killy (Hg.): Literatur Lexikon. Autoren und Werke. 15 Bde., Gütersloh 11988 – 1993. Kindler Kindlers Literatur-Lexikon. Hg. Wolfgang von Einsiedel. 7 Bde. u. Erg.–Bd., Zürich 1965 – 1974. KindlerNeu Kindlers neues Literaturlexikon. Hg. Walter Jens. 20 Bde. u. 2 Supplementbde., Mchn. 1988 – 1998. Klaiber Wilbirgis Klaiber (Hg.): Katholische Kontroverstheologen und Reformer des 16. Jahrhunderts. Münster 1978. KLD Carl von Kraus: Deutsche Liederdichter des 13. Jahrhunderts. 2. Aufl., durchges. v. Gisela Kornrumpf. 2 Bde., Tüb. 1978. Kleinheyer/ Gerd Kleinheyer u. Jan Schröder (Hg.): Deutsche und europäische JurisSchröder ten aus neun Jahrhunderten. Eine biographische Einführung in die Geschichte der Rechtswissenschaft. Heidelb. 41996 (bis zur 3. Aufl. u. d. T. Deutsche Juristen aus fünf Jahrhunderten). KLG Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Loseblattausgabe. Hg. Heinz Ludwig Arnold. Mchn. 1978 ff. Koch Eduard Emil Koch: Geschichte des Kirchenlieds und Kirchengesangs der christlichen, insbesondere der deutschen evangelischen Kirche. 8 Bde. u. Registerbd., Stgt. 31866 – 1877. Nachdr. Hildesh. 1973. Kosch Deutsches Literatur-Lexikon. Biographisch-bibliographisches Handbuch. Begr. v. Wilhelm Kosch. Fortgeführt v. Carl Ludwig Lang. 3., völlig neu bearb. Aufl. hg. v. Hubert Herkommer (Mittelalter) u. Konrad Feilchenfeldt (ca. 1500 bis zur Gegenwart). Zürich/Mchn. 1968 ff. Kosch TL Deutsches Theater-Lexikon. Biographisches und bibliographisches Handbuch. Begr. v. Wilhelm Kosch. Fortgeführt v. Ingrid Bigler-Marschall. Zürich 1953 ff. Kosch 20. Jh. Deutsches Literatur-Lexikon. Das 20. Jahrhundert. Biographisch-bibliographisches Handbuch. Begr. v. Wilhelm Kosch. Fortgeführt v. Carl Ludwig Lang. Hg. Konrad Feilchenfeldt. Bern/Mchn./Zürich 2000 ff. Kühlmann (2006) Wilhelm Kühlmann: Vom Humanismus zur Spätaufklärung. Ästhetische und kulturgeschichtliche Dimensionen der frühneuzeitlichen Lyrik und Verspublizistik in Deutschland. Hg. Joachim Telle, Friedrich Vollhardt u. Hermann Wiegand. Tüb. 2006. Kühlmann/ Wilhelm Kühlmann u. Walter E. Schäfer: Literatur im Elsaß von FiSchäfer (2001) schart bis Moscherosch. Tüb. 2001.

XXXV

LCI

Lex. dt.–jüd. Autoren LexMA LGL Liederhort LiLi Lit. in Bayern

LitJb LKJL LöE LThK LuK MAL manuskripte Maske u. Kothurn MAutL

Mediävistik Merkur Meusel

MGG

MGH Minnesangs Frühling

Abgekürzte Literatur (Lexika, Zeitschriften)

Lexikon der christlichen Ikonographie. Hg. Engelbert Kirschbaum u. Wolfgang Braunfels. 8 Bde., Rom u. a. 1968 – 1976. Sonderausg. 1990/ 1994. Lexikon deutsch-jüdischer Autoren. Redaktionelle Leitung: Renate Heuer. Mchn. u. a. 1992 ff. Lexikon des Mittelalters. Hg. Norbert Angermann u. a. 9 Bde. u. Registerbd., Mchn./Zürich 1980 – 1999. Lexikon der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur seit 1945. Begr. v. Hermann Kunisch, neu hg. v. Thomas Kraft. 2 Bde., Mchn. 2003. Ludwig Erk u. Franz Böhme (Hg.): Deutscher Liederhort. 3 Bde., Lpz. 1893/1894. Nachdr. Hildesh. 1963. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik. Stgt./Weimar 1971 ff. Literatur in Bayern. Vierteljahresschrift für Literatur, Literaturkritik und Literaturwissenschaft hg. vom Institut für Bayerische Literaturgeschichte der Universität München. Mchn. 1985 ff. Literaturwissenschaftliches Jahrbuch. Im Auftrag der Görres-Gesellschaft. Freib. i. Br. 1926 – 1939. N. F. Bln. 1961 ff. Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur. Hg. Klaus Doderer. 3 Bde. u. Ergänzungsbd., Weinheim 1975 – 1982. Lexikon der österreichischen Exilliteratur. Hg. Siglinde Bolbecher u. Konstantin Kaiser. Wien/Mchn. 2000. Lexikon für Theologie und Kirche. 3. Aufl. hg. v. Walter Kasper. 10 Bde. u. Registerbd., Freib. i. Br. 1993 – 2001 (21930 – 1938). Literatur und Kritik. Salzb. 1966 ff. Modern Austrian Literature. A journal devoted to the study of Austrian literature and culture. Houston (Texas) 1968 ff. manuskripte. Zeitschrift für Literatur, Kunst, Kritik. Hg. vom Forum Stadtpark. Graz 1961 ff. Maske und Kothurn. Internationale Beiträge zur Theaterwissenschaft. Hg. vom Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Universität Wien. Wien/Köln/Weimar 1955 ff. Metzler Autoren-Lexikon. Deutschsprachige Dichter und Schriftsteller vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hg. Bernd Lutz u. Benedikt Jeßing. 3., erw. Aufl. Stgt./Weimar 2004 (11986). Mediävistik. Internationale Zeitschrift für interdisziplinäre Mittelalterforschung. Ffm. u. a. 1988 ff. Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken. Stgt. 1947/ 1948 ff. Lexikon der vom Jahr 1750 bis 1800 verstorbenen teutschen Schriftsteller. Ausgearbeitet v. Johann Georg Meusel. 15 Bde., Lpz. 1802 – 1816. Nachdr. Hildesh. 1967/1968. Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik. Begr. v. Friedrich Blume, hg. v. Ludwig Vinscher. 26 Bde., Kassel/Basel 21994 ff. (11949 – 1986). Monumenta Germaniae Historica. Hann. u. a. 1826 ff. Des Minnesangs Frühling. Bearb. v. Hugo Moser u. Helmut Tervooren. 3 Bde., Stgt. 1977 (Bd. 1: Texte. 381988).

Abgekürzte Literatur (Lexika, Zeitschriften)

MIÖG

Das Mittelalter Mlat. Jb. MLdjL

MLN MLR MÖIG Monatshefte

Mützell, Geistl. Lieder NDA NDB NDH Nd. Jb. NDL Neukirch

Neoph. Neuphilolog. Mitt. New Grove NHbLw Nlat. Jb. NND Noack/Splett NR

XXXVI

Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung. Wien/Mchn. 1880 ff. (1923 – 1944 u. d. T. Mittheilungen des Österreichischen Instituts für Geschichtsforschung MÖIG). Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung. Zeitschrift des Mediävistenverbandes. Bln. 1996 ff. Mittellateinisches Jahrbuch. Internationale Zeitschrift für Mediävistik und Humanismusforschung. Stgt. 1964 ff. Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur. Jüdische Autorinnen und Autoren deutscher Sprache von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Hg. Andreas B. Kilcher. Stgt. 2000. Modern Language Notes. Baltimore 1886 – 1961. The Modern Language Review. A quarterly journal. Hg. The Modern Humanities Research Association. Leeds. 1905/06 ff. siehe MIÖG Monatshefte für deutschen Unterricht, deutsche Sprache und Literatur. Madison/Wisconsin 1899 ff. (seit 1998 u. d. T. Monatshefe für deutschsprachige Literatur und Kultur). Julius Mützell (Hg.): Geistliche Lieder der evangelischen Kirche aus dem 16. Jahrhundert nach den ältesten Drucken. 3 Bde., Bln. 1855. Nachdr. Hildesh. u. a. 1998. Nouveau Dictionnaire de Biographie Alsacienne. Lfg. 1 – 49 (in 10 Bdn.). o. O. [Straßb.] 1986 – 2007. Neue deutsche Biographie. Hg. v. der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Bln. 1953 ff. Neue Deutsche Hefte. Beiträge zur europäischen Gegenwart. Bln. 1954 – 1989. Jahrbuch des Vereins für Niederdeutsche Sprachforschung (Niederdeutsches Jahrbuch). Neumünster 1876 ff. Neue Deutsche Literatur. Zeitschrift für deutschsprachige Literatur. Bln. 1953 – 2004. Benjamin Neukirchs Anthologie. Herrn von Hoffmannswaldau und andrer Deutschen auserlesener und bißher ungedruckter Gedichte. 7 Tle., Lpz. u. a. 1697 – 1727. Nachdr. mit krit. Einl. u. Lesarten hg. v. Angelo George de Capua u. Erika A. Metzger. Tüb. 1961 – 1991. Neophilologus. An international journal of modern and mediaeval language and literature. Dordrecht 1915 ff. Neuphilologische Mitteilungen. Bulletin de la Société Néophilologique de Helsinki. Helsinki 1899 ff. The New Grove Dictionary of Music and Musicians. Hg. Stanley Sadie u. a. 27 Bde., 1 Supplementbd. u. 1 Indexbd., London 22001 (11990). Neues Handbuch der Literaturwissenschaft. Begr. v. Klaus von See. Wiesb. u. a. 1972 ff. Neulateinisches Jahrbuch. Journal of Neo-Latin Language and Literature. Hildesh. u. a. 1999 ff. Neuer Nekrolog der Deutschen. Hg. Friedrich August Schmidt. Weimar u. a. 1824 – 1854 (Forts. des Schlichtegroll-Nekrologs). Lothar Noack u. Jürgen Splett: Bio-Biliographien. Brandenburgische Gelehrte der frühen Neuzeit. 3 Bde., Bln. 1997 – 2001. Neue Rundschau. Ffm. 1904 ff.

XXXVII

ÖBL

Österr. Lit. von außen

OGS Parn. Pal.

Pataky

Paulsen, Gel. Unt.

Pauly/Wissowa

PBB

PGK

Philobiblon PL PMLA Poetica Preuß. Jbb. protokolle PuN Pyritz

Abgekürzte Literatur (Lexika, Zeitschriften)

Österreichisches Biographisches Lexikon 1815 – 1950. Genaue Lebensbeschreibungen berühmter und denkwürdiger Personen jedes Standes in der österreichischen Monarchie von der frühesten Zeit bis auf unsere Tage. Hg. v. der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Wien 1954 ff. Die österreichische Literatur von außen. Personalbibliographie zur Rezeption der österreichischen Literatur in deutschen und schweizerischen Tages- und Wochenzeitungen 1975 – 1994. Zusammengestellt v. Margareth Almberger u. Monika Klein. Hg. Michael Klein. Innsbr. 1996. Oxford German Studies. Hg. v. der Modern Humanities Research Association. London 1966 ff. Parnassus Palatinus. Humanistische Dichtung in Heidelberg und der alten Kurpfalz. Lateinisch-deutsch, hg. v. Wilhelm Kühlmann u. Hermann Wiegand. Heidelb. 1989. Sophie Pataky: Lexikon deutscher Frauen der Feder. Eine Zusammenstellung der seit dem Jahre 1840 erschienenen Werke weiblicher Autoren, nebst Biographien der lebenden und einem Verzeichnis der Pseudonyme. 2 Bde., Bln. 1898. Nachdr. Bern 1971 u. Pforzheim 1987. Geschichte des gelehrten Unterrichts auf den deutschen Schulen und Universitäten vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart. Mit besonderer Hinsicht auf den klassischen Unterricht. Hg. Friedrich Paulsen. 2 Bde., Lpz. 21896/1897. 3., erw. Aufl. hg. v. Rudolf Lehmann. Lpz./Bln. 1919/1921. Nachdr. Bln. 1965. Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft. Neue Bearbeitung, begonnen v. Georg Wissowa, fortgeführt v. Wilhelm Kroll u. Karl Mittelhaus. Stgt. 1893 ff. Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur. Begr. v. Hermann Paul u. Wilhelm Braune (= Paul-Braune-Beiträge). Halle 1874 ff. Seit 1955 unter gleichem Titel in Tüb. fortgeführt. Gesamtkatalog der preußischen Bibliotheken mit Nachweis des identischen Besitzes der Bayerischen Staatsbibliothek und der Nationalbibliothek in Wien. 15 Bde., Bln. 1931 – 1943 (ab Bd. 9 u. d. T. Deutscher Gesamtkatalog). Philobiblon. Eine Vierteljahrsschrift für Buch- und Graphiksammler. Stgt. 1928 – 2001. Patrologia Latina. Hg. Jacques Paul Migne. 217 Bde. u. 5 Registerbde., Paris 1844 – 1864 u. 1958 – 1971. Publications of the Modern Language Association of America. New York 1884/1885 ff. Poetica. Zeitschrift für Sprach- und Literaturwissenschaft. Mchn. 1967 ff. Preußische Jahrbücher. Bln. 1858 – 1935. protokolle. Jahresschrift für Literatur, bildende Kunst und Musik. Wien 1966 – 1997. Pietismus und Neuzeit. Jahrbuch zur Geschichte des neueren Pietismus. Gött. 1974 ff. Ilse Pyritz: Bibliographie zur deutschen Literaturgeschichte des Barockzeitalters. 2 Bde. u. Gesamtregister, Bern 1985 – 1994.

Abgekürzte Literatur (Lexika, Zeitschriften)

QF

XXXVIII

Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker. Bln. 1874 – 1918. N. F. 1958 ff. Quaerendo Quaerendo. A quarterly review from the Low Countries devoted to manuscripts and printed books. Leiden 1971 ff. RAC Reallexikon für Antike und Christentum. Sachwörterbuch zur Auseinandersetzung des Christentums mit der antiken Welt. Hg. Theodor Klauser; ab Bd. 14: Ernst Dassmann. Stgt. 1950 ff. Räß, Convertiten Andreas Räß: Die Convertiten seit der Reformation nach ihrem Leben und aus ihren Schriften dargestellt. 13 Bde. u. Registerbd., Freib. i. Br. 1866 – 1880. RE Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche. 3. Aufl. hg. v. Albert Hauck. 24 Bde., Lpz. 1896 – 1913. Ren. Quarterly Renaissance Quarterly. Hg. v. der Renaissance Society of America. New York 1967 ff. RG Recherches Germaniques. Revue annuelle. Straßb. 1971 ff. RGG Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. 4. Aufl. hg. v. Hans Dieter Betz. 8 Bde., Tüb. 1998 – 2005. RL Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. 2. Aufl. Neu bearb. u. hg. v. Werner Kohlschmidt u. Wolfgang Mohr (Bde. 1 – 3); Klaus Kanzog u. Achim Masser (Bd. 4). 4 Bde. u. Registerbd., Bln. 1958 – 1988. RLW Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Hg. Harald Fricke, Jan-Dirk Müller u. Klaus Weimar. 3 Bde., Bln. 1997 – 2003. Roman. Romanische Forschungen. Vierteljahresschrift für romanische Sprachen Forsch.en und Literaturen. Ffm. 1883 ff. RSM Repertorium der Sangsprüche und Meisterlieder des 12. bis 18. Jahrhunderts. Hg. Horst Brunner u. Burghart Wachinger. 13 Bde. u. 3 Registerbde., Tüb. 1986 – 2002. Schlichtegroll 19. Friedrich Schlichtegroll (Hg.): Nekrolog der Teutschen für das 19. JahrJh. hundert. 5 Bde., Gotha 1802 – 1806. Schlichtegroll Friedrich Schlichtegroll (Hg.): Nekrolog auf das Jahr 1790 [-1800]. 22 [Jg.] Bde. u. Supplementbd., Gotha 1791 – 1806 (Forts.: Schlichtegroll 19. Jh.). Schmidt, Heiner Schmidt: Quellenlexikon zur deutschen Literaturgeschichte. Quellenlexikon Personal- und Einzelwerkbibliographien der internationalen Sekundärliteratur 1945 – 1990 zur deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart. 36 Bde., Duisburg 31994 – 2003. Schottenloher Karl Schottenloher: Bibliographie zur deutschen Geschichte im Zeitalter der Glaubensspaltung 1517 – 1585. 7 Bde., Stgt. 21956 – 1966. Sengle Friedrich Sengle: Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1815 – 1848. 3 Bde., Stgt. 1971 – 1980. Slg. Hardenberg Sammlung Albert Ritzaeus Hardenberg (Johannes a Lasco Bibliothek Emden): http://hardenberg.jalb.de/titeluebersicht.php. Sprache im Sprache im technischen Zeitalter. Köln 1961 ff. techn. Zeitalter Sprachkunst Sprachkunst. Beiträge zur Literaturwissenschaft. Hg. für die Österreichische Akademie der Wissenschaften v. Herbert Seidler. Wien 1970 ff.

XXXIX

Stolleis Sudhoffs Archiv SuF Tervooren Text + Kritik Text u. Kontext Texte u. Zeichen Thieme/Becker

Thorndike TRE Trivium Ueberweg VD 16

VD 17 Vestigia Bibliae Vjs. für Litteraturgesch. VL

VL Dt. Hum. Wackernagel

Walter (2004)

WB

Abgekürzte Literatur (Lexika, Zeitschriften)

Michael Stolleis: Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Mchn. 1988 ff. Archiv für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften. Stgt. 1908 ff. Sinn und Form. Bln. 1949 ff. Helmut Tervooren: Bibliographie zum Minnesang und zu den Dichtern aus ›Minnesangs Frühling‹. Bln. 1969. Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur. Mchn. 1963 ff. Text und Kontext. Zeitschrift für germanistische Literaturforschung in Skandinavien. Kopenhagen/Mchn. 1973 ff. Texte und Zeichen. Eine literarische Zeitschrift. Hg. Alfred Andersch. Darmst./Bln./Neuwied 1955 – 1957. Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler von der Antike bis zur Gegenwart. Begr. v. Ulrich Thieme u. Felix Becker. 36 Bde. u. 2 Erg.–Bde., Lpz. 1907 – 1954. Lynn Thorndike: A history of magic and experimental science. 8 Bde., New York 1923 – 1958. Theologische Realenzyklopädie. Hg. Gerhard Krause u. Gerhard Müller. 36 Bde. u. Registerbde., Bln./New York 1977 – 2004. Trivium. Schweizerische Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft. Zürich 1942 – 1951. Grundriss der Geschichte der Philosophie. Begr. v. Friedrich Ueberweg. Neu bearb. Ausg. Basel 1983 ff. Verzeichnis der im deutschen Sprachbereich erschienenen Drucke des 16. Jahrhunderts. Hg. v. der Bayerischen Staatsbibliothek München, in Verbindung mit der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel. Bearb. v. Irmgard Bezzel. 25 Bde., Stgt. 1983 – 2000 (auch online unter: www.vd16.de [mit fortlaufenden Aktualisierungen]). Verzeichnis der im deutschen Sprachraum erschienenen Drucke des 17. Jahrhunderts (nur online unter: http://www.vd17.de/). Vestigia Bibliae. Jahrbuch des Deutschen Bibelarchivs Hamburg. Bonn u. a. 1980 ff. Vierteljahrsschrift für Litteraturgeschichte. Weimar 1888 – 1893. Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 2., völlig neu bearb. Aufl. hg. v. Kurt Ruh u. Burkhart Wachinger. 11 Bde., Bln./New York 1977 – 2004. Deutscher Humanismus 1480 – 1520. Verfasserlexikon. Hg. Franz Josef Worstbrock. Bln./New York 2005 ff. Philipp Wackernagel: Das deutsche Kirchenlied von der ältesten Zeit bis zu Anfang des 17. Jahrhunderts. 5 Bde., Lpz. 1864 – 1877. Nachdr. Hildesh. 1964 u. 1990. Axel E. Walter: Späthumanismus und Konfessionspolitik. Die europäische Gelehrtenrepublik um 1600 im Spiegel der Korrespondenzen Georg Michael Lingelheims. Tüb. 2004 (Frühe Neuzeit, Bd. 95). Weimarer Beiträge. Zeitschrift für Literaturwissenschaft, Ästhetik und Kulturwissenschaften. Wien 1955 ff.

Abgekürzte Literatur (Lexika, Zeitschriften)

Westf. Autorenlex. Worstbrock

Wurzbach

WW Zeman Zeman Gesch. ZfB ZfdA

ZfdPh ZfG ZfSl

ZfSlPh ZKG ZKTh ZRGG ZThK

XL

Westfälisches Autorenlexikon. Im Auftrag des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe hg. u. bearb. v. Walter Gödden u. Iris Nölle-Hornkamp. Paderb. 1993 ff. Franz Josef Worstbrock: Deutsche Antikerezeption 1450 – 1550. Bd. 1: Verzeichnis der deutschen Übersetzungen antiker Autoren. Boppard 1976. Constant von Wurzbach: Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich. 60 Bde., Wien 1856 – 1891. Nachdr. New York 1966 – 1973 u. Bad Feilnbach 2001. Wirkendes Wort. Deutsche Sprache und Literatur in Forschung und Lehre. Trier 1950/1951 ff. Herbert Zeman (Hg.): Die österreichische Literatur. Eine Dokumentation ihrer literarhistorischen Entwicklung. 4 Bde., Graz 1979 – 1989. Herbert Zeman (Hg.): Geschichte der Literatur in Österreich von den Anfängen bis zur Gegenwart. Graz 1994 ff. Zentralblatt für Bibliothekswesen. Lpz. 1884 – 1990 (aufgegangen in Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie. Ffm. 1997 ff.). Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur. Stgt. 1841 ff. (1876 – 1989 mit der Beilage: Anzeiger für deutsches Altertum, AfdA). Zeitschrift für deutsche Philologie. Bln. 1954 ff. Zeitschrift für Germanistik. Hg. v. der Philosophischen Fakultät II, Germanistik der Humboldt-Universität zu Berlin. Bln. u. a. 1980 ff. Zeitschrift für Slawistik. Hg. vom Institut für Slawistik der HumboldtUniversität zu Berlin u. der Abteilung Slavistik des Osteuropa-Instituts der Freien Universität Berlin. Bln. 1956 ff. Zeitschrift für slavische Philologie. Heidelb. 1925 ff. Zeitschrift für Kirchengeschichte. Stgt. u. a. 1876/1877 ff. Zeitschrift für katholische Theologie. Wien 1877 ff. Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte. Leiden 1948 ff. Zeitschrift für Theologie und Kirche. Tüb. 1891 ff.

Verfasserinnen und Verfasser der Beiträge dieses Bandes Irmgard Ackermann Philip Ajouri Fokke Akkermann Robert J. Alexander Alfred Anger Stefanie Arend Achim Aurnhammer Michael Auwers Remigius Bäumer Eva-Maria Bangerter-Schmid Andrew Barker Johannes Barth Christoph Bartscherer Michael Behnen Jill Bepler Jochen Bepler Eckhard Bernstein Barbara Beßlich Raimund Bezold Wolfgang Biesterfeld Walter Blank Dietrich Blaufuß Hans Peter Bleuel Holger Böning Ralf Georg Bogner Klaus Bohnen Karl-Heinz Bokeloh Norbert Bolz Urszula Bonter Hartmut Boockmann Manfred Bosch Helmut Braun Michael Braun Michael U. Braun Thomas Martin Braun Werner Braun Gisela Brinker-Gabler Claudia Brinker-von der Heyde Ulrich Bubenheimer Christine Bücken Wolfgang Bunzel Volker Busch Eva Chrambach

Albrecht Classen Klaus Conermann Moritz Csáky Anne Czajka Ralf Georg Czapla Holger Dainat Birgit Dankert Walter Dengler Dan Diner Irene Dingel Peter Dinzelbacher Janny Dittrich Verena Dohrn F. W. P. Dougherty Carsten Dutt Joachim Dyck Willehad Paul Eckert Hans Heinrich Eggebrecht Jürgen Egyptien Hermann Ehmer Adolf Endler Bettina Eschenhagen Franz M. Eybl Christoph Fasbender Wilhelm Ludwig Federlin Ernst Fischer Helmar Harald Fischer Peter Fischer Thorsten Fitzon Konrad Franke Ursula Franke Heino Freiberg Matthias Freudenberg Jochen Fried Wolfgang Frühwald Stephan Füssel Klaus Garber Eva-Maria Gehler Guillaume van Gemert Walter Gödden Franz Josef Görtz Sonia Goldblum Bernd Goldmann

Verfasserinnen und Verfasser der Beiträge dieses Bandes Fritz Graf Philipp Gresser Wolfgang Griep Ulrike Groffy Uwe Grüning Detlef Haberland Monika Haberstok Wilhelm Haefs Claudia Händl Hiltrud Häntzschel Lutz Hagestedt Barbara Handwerker Küchenhoff Wolfgang Harms Volker Hartmann Jens Haustein Matthias Heinzel Mechthild Hellmig Hans Martin Hennig Klaus Hensel Walter Hettche Alex W. Hinrichsen Norbert Hinske Stefan Höppner Detlef Holland Dietmar Holland Niklas Holzberg Karoline Hornik Christoph Huber Stefan Humbel Adrian Hummel Bettina Hurrelmann Matthias Hurst Ferdinand van Ingen Andrea Jäger Bruno Jahn Harald Jakobs Herbert Jaumann Renate Jürgensen Rudolf Käser Elke Kasper Karina Kellermann Florian Kessler Daniel Ketteler Christian Kiening Joseph Kiermeier-Debre Helmuth Kiesel Martin Kintzinger Klaus Kipf Matthias Klagges Ursula Kocher Peter König Jürgen H. Koepp Sabine Koloch Katrin Korch

Olav Krämer Hans-Christof Kraus Horst Krause Robert Krause Manfred Kremer Michael Kreß Wynfrid Kriegleder Marcel Krings Michael Krüger Agnes Krup-Ebert Walburga Krupp Fridtjof Küchemann Wilhelm Kühlmann Hartmut Kugler Walther Kummerow Matthias Kußmann Godwin Lämmermann Stephan Landshuter Ingo Langenbach Martin M. Langner Gregor Laschen Corinna Laude Gerhard Lauer Hartmut Laufhütte Felix Leibrock Marcel Lepper Michael Leusch Hans Leuschner Sandra Linden Joachim Linder Uta Lindgren Burkhardt Lindner Charles Linsmayer Tim Lörke Raffaele Louis Roman Luckscheiter Anett Lütteken Cornelia Lutz Ulrich Maché Theodor Mahlmann Lea Marquart Hanspeter Marti Kurt Marti Dieter Martin Reiner Marx Arno Matschiner Beat Mazenauer Michael Mecklenburg Volker Meid Ute Mennecke-Haustein Erika A. Metzger Wolfgang F. Michael Alain Michel Samuel Moser

XLII

XLIII Elfriede Moser-Rath Peter Moses-Krause Angelika Müller Dominik Müller Gernot Michael Müller Jan-Dirk Müller Ulrich Müller Wolf-Dieter Müller-Jahncke Martin Mulsow Guido Naschert Bernd Naumann Wolfgang Neuber Bernd Neumann Hans-Jörg Neuschäfer Nicole Nottelmann Norbert H. Ott Rolf Paulus Dietmar Peil Christoph Perels Jens Pfeiffer Kristina Pfoser-Schewig Robert Pichl Ewa Pietrzak Hans Pörnbacher Norman Pohl Bernd Prätorius Peter Priskil Fidel Rädle Frank Raepke Wolfgang Rath Jürgen Rathje Werner Raupp Heimo Reinitzer Angela Reinthal Wolfgang Riedel Michael Rölcke Florian Rötzer Udo Roth Hermann Ruch Kurt Jakob Rüetschi Andreas Rumler Walter Ruprechter Johannes Sachslehner Eda Sagarra Jutta Sandstede Mario Scalla Merio Scattola Andreas Schaffry Gerhard Schaub Heinz Scheible Walter Scherf Hans-Jochen Schiewer Jörg Schilling Albert von Schirnding

Verfasserinnen und Verfasser der Beiträge dieses Bandes Walter Schmähling Wolf Gerhard Schmidt Hansgeorg Schmidt-Bergmann Wendelin Schmidt-Dengler Christoph Schmitt-Maaß Sabine Schmolinsky Ralf Schnell Sabine Scholl Ingrid Schröder Hartwig Schultz Karlheinz Schulz Ferdinand Schumacher Andreas Schumann Thomas B. Schumann Leopold Schuwerack Hans-Rüdiger Schwab Christian Schwarz Rolf Schwendter Ulrich Seelbach Ernst Seibert Robert Seidel Andreas Seifert Rolf Selbmann Christoph Siegrist Franz Günter Sieveke Friedhelm Sikora Claudius Sittig Heribert Smolinsky Walter Sparn Björn Spiekermann Ingeborg Springer-Strand Johann Anselm Steiger Wolfgang Stein Hartmut Steinecke Christine Steinhoff Dick van Stekelenburg Hans Stempel Ute Stempel Renate Sternagel Thomas Sternberg Mary E. Stewart Gideon Stiening Udo Sträter Gerhard F. Strasser Lothar Suhling Anette Syndikus Marian Szyrocki Joachim Telle Reinhard Tenberg René Teuteberg Hellmut Thomke Karl-Ewald Tietz Frederike Timm Harry Timmermann

Verfasserinnen und Verfasser der Beiträge dieses Bandes Erich Tremmel Antje Tumat Elke Ukena-Best Helgard Ulmschneider Hans Unterreitmeier Heinz Vestner Albrecht Viertel Gisela Vollmann-Profe Karin Vorderstemann Harry Vredeveld Hans Wagener Fritz Wahrenburg Bernhard Walcher Johannes Wallmann Klaus-Peter Walter Ernst Weber

Hilkert Weddige Wolfgang Weismantel Christoph Weiß Eva Weisz Ursula Weyrer Heiner Widdig Hermann Wiegand Jan Wiele Ulla Williams Werner Williams-Krapp Elisabeth Willnat Heinz Wittenbrink Jean M. Woods Elisabeth Wunderle Dieter Wuttke

XLIV

A Aal, Al, All, Johannes, latinisiert Joannes Anguilla bzw. Olus, * um 1500 Bremgarten/Aargau, † 28.5.1551 Solothurn; Grabstätte: ebd., altes Ursus-Münster. – Dramatiker. Seiner Berufung zum Geistlichen folgte der Sohn des Bremgartener Bürgers Hans von Aal als strikter Verfechter der altgläubigen Position. Das 1529 erlangte Amt des Dekans von Bremgarten verlor er bei Einführung der Reformation. Urkundlich nachgewiesen ist er bis 1536 in Baden bei Zürich als Leutpriester u. Angehöriger der Verenabruderschaft. Am 26.8.1536 immatrikulierte A. sich an der Universität Freiburg i. Br. u. wurde Schüler, dann Freund des Humanisten Heinrich Loriti gen. Glareanus (9 Briefe Glareans an A. in der Zentralbibliothek Solothurn). 1538 berief man ihn zum Stiftsprediger von St. Ursus in Solothurn, wo er 1544 mit der Wahl zum Propst zgl. das Bürgerrecht erhielt. A. fungierte auch als Vorsteher der Stiftsschule u. wurde 1550 zum Kanonikus ernannt. Literar. Bedeutung erlangte A. durch sein die Tradition des spätmittelalterl. geistl. Dramas fortsetzendes Schauspiel über Johannes den Täufer, das als Medium der Verbreitung katholischer Glaubenslehre gegenreformatorischer Propaganda dienen sollte. Das aus 7090 Reimpaarversen bestehende, zweitägig konzipierte Stück wurde unter der Leitung A.s von den Bürgern Solothurns am 21. u. 22.7.1549 auf freiem Platz, vermutlich vor St. Ursus, gespielt. Der Titel des 1549 durch Mathias Apiarius in Bern gedruckten Textes lautet: Tragoedia. Joannis des Heiligen vorläuffers und Töuffers Christi Jesu warhaffte Histori / von anfang sines läbens / biß inn das end siner enthouptung. Den Stoff entnahm A. den vier Evangelien, den Antiquitates Judaicae des

Flavius Josephus u. den Hypomnemata des Hegesippus. Humanistischer Einfluss zeigt sich an der Formalgliederung von je vier Akten mit Szeneneinteilung, der Gattungsbezeichnung Tragoedia u. der Figur des Prologu. Epilogsprechers Calliopius. Mit dramatisch effektvoller Verknüpfung kontrastierender Handlungskomplexe u. plangenauem Einsatz von Instrumental- u. Vokalmusik verwirklicht A. seine Doppelintention der Belehrung u. Unterhaltung. Das zentrale Gestaltungskriterium der heilsgeschichtl. Notwendigkeit aller Vorgänge manifestiert sich bes. in den personalen Auftritten des »Gott vatter«. Der erste Tag zeigt Johannes’ Aktivitäten in der Wüste mit dem Höhepunkt der Taufe Christi, die Zusammenkünfte des Hohen Rats u. seine Gesandtschaften zu Johannes u. Herodes, Herodes’ höf. Prachtentfaltung, Johannes’ Sündenanklage vor Herodes u. Einkerkerung. Am zweiten Tag werden die Intrige der Herodias gegen Johannes, seine Gefängnispredigten, Christi Disputation mit den Pharisäern u. seine Wunderheilungen, das Festmahl des Herodes mit dem Tanz der Salome, Johannes’ Enthauptung u. sein Begräbnis geboten. Eventuell ist A. auch der Verfasser der in Solothurn überlieferten Texte des 16strophigen St. Mauritzen- und St. Ursen-Liedes u. des Älteren St. Ursen-Spiels von 1539. Ausgaben: Tragoedia Johannis des Täufers v. J. A. in Solothurn. 1549. Hg. Ernst Meyer. Halle/ S. 1929 (darin auch das St. Mauritzen- u. St. UrsenLied). – Die Briefe Glareans an A. Hg. Eugen Tatarinoff. In: Urkundl. Beitr. zur vaterländ. Geschichtsforsch. Bd. 2, Solothurn 1895, S. 1–59. Literatur: Ludwig Gombert: J. A.s Spiel v. Johannes dem Täufer u. die älteren Johannesdramen. Breslau 1908. Neudr. Hildesh./New York 1977. – Frels, S. 3. – Oskar Eberle: J. A. In: NDB. – Elisa-

Abbt beth Kully: Das ältere St. Ursenspiel. In: Jb. für Solothurn. Gesch. 55 (1982), S. 1–107. – Wolfgang F. Michael: Das dt. Drama der Reformationszeit. Bern 1984, S. 181–186 (u. Register). – Hans-Gert Roloff: J. A. In: DDL (darin weitere Lit.). Elke Ukena-Best / Red.

Abbt, Thomas, * 25.11.1738 Ulm, † 3.11. 1766 Bückeburg; Grabstätte: ebd. – Patriotischer Schriftsteller, Kritiker und Schulreformer. A.s Vater, Sohn eines vom niederen Kriegsstand arrivierten Hauptmannes u. gelernter Perückenmacher, war ein wohlhabender Waffenhändler, seine Mutter Anna Elisabeth, geb. Binderin, eine Pfarrerstochter, klug wie ihr Mann. Nach einer elitären Schulausbildung am Ulmer Gymnasium u. aufwendigem Privatunterricht immatrikulierte sich A. 1756 an der Friedrichs-Universität Halle, auf elterl. Wunsch als Theologe. A.s theolog. Lehrer waren Johann Salomo Semler u. Sigmund Jacob Baumgarten. Seine bibelkrit. Arbeit aus dieser Zeit, Untersuchung, ob Gott selbst Mosen begraben habe? (Halle 1757), ist von ihnen beeinflusst. Schon 1757 wandte sich A. ganz der theologiekrit. Wolff’schen Philosophie u. der Mathematik zu, die er bei Johann Andreas von Segner studierte. Er hörte zudem bei Georg Friedrich Meier die Philosophie u. Ästhetik Alexander Gottlieb Baumgartens u. wurde bereits 1758 mit seiner Disputation Confusionem linguarum quae Babelica audit, no fuisse poenam generi humano a Deo inflictam, in der er die natürl. Ursachen der Sprachenvielfalt vertrat, als Magister der Philosophie in den hallischen Lehrkörper für die Lehre der Anfangsgründe der Wissenschaften aufgenommen. A.s prakt. Sinn u. seine pädagog. Ader realisieren sich bereits früh in einigen popularphilosoph. Versuchen, u. a. über die besondere Empfindsamkeit der Frau, in A.s Gedanken von der Einrichtung der ersten Studien eines jungen Herrn vom Stande von 1759 u. in seiner Dissertatio prior de recto philosophiae studio von 1760. 1760 berief Friedrich II. A. zum a. o. Philosophieprofessor zu Frankfurt/O., wo A. bis

2

Mai 1761 als Kollege von A. G. Baumgarten wirkte. In seiner Antrittsrede Oratio de Rege philosopho restauriert A. die traditionelle Idee der Nützlichkeit der Philosophie für den Staatsmann u. verherrlicht in dem aufgeklärten König Friedrich II. auch deren Bedeutung für das absolute Regiment. 1761 erschien A.s patriot. Schrift Vom Tode für das Vaterland (Bln.). A. greift in der kriegerischen Bedrängnis Preußens nach der vernichtenden Niederlage bei Kunersdorf 1759 zur Feder, da die kirchl. Predigt ebenso wenig ihrer staatspolit. Aufgabe der Ausbildung von Vaterlandsliebe gerecht würde wie Bereiche der Literatur, die die Ausbildung derselben gar parodierten, so etwa Jean Baptiste Racine oder Henry Fielding. Er entkräftet an histor. Beispielen das Vorurteil, dass Vaterlandsliebe in einer Monarchie nicht möglich sei. Zwar sei auch die Ständeverfassung der Monarchie u. das damit verbundene Söldnerheer der Ausbildung von Vaterlandsliebe als einer Tugend jedes Bürgers hinderlich, als eigentliches Hindernis in allen staatl. Verfassungen erweise sich jedoch jene menschl. Einstellung, »daß es lächerlich sey, sich für den Vortheil andrer aufzuopfern; und eine unverzeihliche Thorheit, sein Leben anders, als seines eigenen Vortheils wegen in Gefahr zu setzen.« A. hofft, die Vortrefflichkeit der Vaterlandsliebe an ihren Folgen darstellen zu können, die er in der Ausbildung des Volkes zu einer neuen, ständeübergreifenden patriot. Denkungsart sieht. Diese könne auch in der Monarchie Motivation für die übrigen Handlungen des Bürgers werden, die eigene Nation zu einem Vorbild für andere Nationen machen, die Furcht vor dem Tod auch für nichtkirchl. Bürger besiegen u. jedem Bürger zur Ehre gereichen, wenn sie mit gemeinnützigem »Enthusiasmus« ausgeübt werde u. nicht zu einer in sich selbst verliebten, närr. Schwärmerei verkümmere. Viele junge Männer, insbes. Königsberger Studenten, sollen sich daraufhin in patriot. Gesinnung freiwillig zur kgl. Armee gemeldet haben. 1761 trat A. in hess. Dienste. Er erhielt einen Ruf als o. Philosophie- u. Mathematikprofessor an die kleine, von nur ca. 100 Studenten frequentierte Universität Rinteln. A.

3

wirkte an dieser Universität 4 Jahre. In diese Jahre fallen zwei wichtige Reisen A.s, 1761 ein Aufenthalt in Berlin u. 1763 eine Reise nach Süddeutschland. In Berlin knüpfte A. gelehrte Beziehungen u. Freundschaften zu bekannten Geistesgrößen, z.B. zu Vater u. Sohn Euler, Friedrich Nicolai u. Moses Mendelssohn. Auch die andere Reise diente der Pflege alter u. neuer Kontakte, so u. a. zu Justus Möser, Schöpflin, David Bernoulli, Iselin, dem Prinzen Ludwig Eugen von Württemberg, Vernet, Charles Bonnet u. Voltaire. In Rinteln entwickelte A. eine reiche schriftsteller. Tätigkeit. Neben historischen u. philosoph. Vorlesungen, Preisfragenausarbeitungen u. historiograf. Arbeiten setzte A. auch seine Mitarbeit an den von Lessing, Nicolai u. Mendelssohn herausgegebenen Briefen, die neueste Litteratur betreffend fort. A.s krit. Eingriff in die Debatte zwischen Spalding u. Mendelssohn über die Bestimmung des Menschen bildet darunter einen literar. Glanzpunkt. Außerdem veröffentlichte A. 1762 die Schrift Vom Einflusse des Schönen auf die strengern Wissenschaften (Rinteln), 1763 das Trostschreiben an den Superintendenten u. Professor Schwarz aus Rinteln, dessen Sohn als Reisebegleiter A.s verstarb, u. eine frz. Übersetzung von Mendelssohns Rhapsodie, oder Zusätze zu den Briefen über die Empfindungen. 1764 folgte seine Antrittsvorlesung von 1762, De difficillimo progressu in dimetiendis animae virtutibus, eine Abhandlung über die Urkräfte, in der A. Traditionen von Leibniz, Bonnet, Condillac unter mathemat. Perspektive verarbeitete, sowie die Erörterung der Ursachen der abergläubischen Furcht bey Verfinsterungen der Sonne und des Mondes. 1765 erschienen dann A.s krit. Biografie zum Leben und Charakter Alexander Gottlieb Baumgartens (Halle) von 1763 u. die Schrift Vom Verdienste (Bln.), an der A. 1762–1764 gearbeitet hatte u. die bei Zeitgenossen als A.s vorzüglichstes u. unsterbl. Werk galt. A. geht es in dieser gesellschaftskrit. Schrift – nun umfassender als in der Schrift Vom Tode für das Vaterland u. in den wieder eingekehrten friedlicheren Zeiten – um das Verdienst der Individuen aller gesellschaftl. Stände für das Gemeinwesen. An Beispielen aus Geschichte u. Gegenwart stellt er dar, dass das Leben für

Abbt

Vaterland u. eine bürgerl. Gesellschaft nicht bloß in guten Herzensgesinnungen bestehen könne, sondern standesübergreifende, mit Verstand u. Tätigkeit verknüpfte Verhaltensweisen aller Bürger erfordere: wohltätige Bemühungen u. Anstrengungen. »1) H an dlu n gen , oder überhaupt Thät igk ei t, 2) die andern zum Nut z en , 3) aus freye r E nt sc h li eßun g und rei n en Ab si ch t en , oder, welches einerley ist aus Wo h lw o ll en , 4) zu einem erh eb li ch en Zw ec ke , 5) durch Se ele nk räft e, ausgeübt worden, diese können wir Verdienst nennen. J edem Men sc h en kommt daher einiges Verdi en st zu«, so A. 1765 vollzog sich in A.s Verhältnissen eine bedeutende Veränderung. Obwohl er einen weiteren hess. Ruf als Mathematikprofessor nach Marburg erhalten hatte u. auch eine Berufung durch Friedrich II. zum Hofrat u. o. Philosophie- u. Mathematikprofessor nach Halle bereits patentiert war, gab A. sein 7jähriges Lehramt auf u. tauschte es gegen ein einträgliches polit. Regierungsamt unter dem Fürsten Graf Wilhelm von Schaumburg-Lippe. A. wurde Hof-, Regierungs- u. Konsistorialrat am Bückeburger Hof, zuständig insbes. für das Schulwesen. Entgegen dem Rat seiner Freunde herausgehoben u. eng mit dem absoluten Fürsten selbst liiert, wirkte A. in Bückeburg bis zu seinem rätselhaften Tod nur ein Jahr. 1766 brachte er u. a. die Satire auf den Eigendünkel u. die Polemik der Lutheraner, Erfreuliche Nachricht von einem hoffentlich bald zu errichtenden protestantischen Inquisitionsgericht [...] (Hbg.), heraus. Weiter entstand in dieser neuen, praktisch-polit. Sphäre neben Beiträgen zu Nicolais Allgemeiner Deutscher Bibliothek A.s wichtige, forschungsgeschichtlich vernachlässigte Schulordnung. Als Erziehungsziel etabliert A. darin vernünftiges u. richtiges Denken sowie ein williges, gesellschaftlich löbl. Handeln. Dieses Ziel soll dadurch erreicht werden, dass Bibel, Katechismus u. Gesangbuch als die traditionellen Medien zur Erlernung der Kulturtechniken durch Verwendung außerbiblischer Erzählungen u. mathemat. Medien relativiert werden. So sollen vernünftiges Gottvertrauen, rechtschaffene Vaterlandslie-

Abbt

be, herzlicher Gehorsam u. treue Anhänglichkeit zum Landesherren, lebhafte Dankbarkeit für das Gute durch das Vaterland, eifriges Mitwirken an der Prosperität des Vaterlandes, Bürger- u. Vaterlandsstolz, fröhl. Dienstbarkeit in jedem Stande u. heilsame Gedanken, die zum patriot. Handeln anspornen, eingeübt werden. A. hat also den Bürger im Blick, wie er in den kleinstaatlichständ. Verhältnissen zu existieren u. seinem Lebensunterhalt nachzugehen hatte. Eingeschlossen ist damit aber auch, dass die zeitgenössischen theolog. Legitimationsideologien der Gesellschaft wegen ihres dunklen Gottesbildes, ihren patriotisch handlungsabstinenten oder ihren gesellschaftlich in bloße Selbstgefälligkeit ausufernden Auswirkungen in A.s Schulordnung ihre staatspolit. Funktion verloren haben. Nach ihren Regeln konnte man nach A. nicht mehr ein »Ch ri st und z u gl eic h ein flei ßige r, nützlicher B ür ger« sein. A.s patriotische, staatspolit. u. pädagog. Ideen fanden in seiner Zeit nicht nur über die Literatur eine große Verbreitung, sondern über die Institution Schule auch eine breite Wirkung in allen gesellschaftl. Ständen in Schaumburg-Lippe. A. zu verdanken sind auch die Überlegungen seines Landesfürsten, zum Wohl des Gemeinwesens die Regierungsform zu verändern. Der Ausgleich zwischen Privatinteressen u. allgemeinem Wohl sollte danach so herbeigeführt werden, dass das Gute nicht zum Übel werde, indem es von der landesherrl. Obrigkeit den Ständen aufgedrungen u. durch blinden Gehorsam erzwungen werde. Erwünscht ist vielmehr der zu willigem Gehorsam ausgebildete Patriot. Bereits zu Lebzeiten von Gelehrten beneidet, wurde A. in der weiteren geistesgeschichtl. Entwicklung nur spärlich rezipiert. Der Sache nach lag dies v. a. an A.s Grundeinstellung zur ständisch strukturierten bürgerl. Gesellschaft wie zum aufgeklärt-absoluten Landesfürstentum, die er beide zwar als zu verbessernde, nicht jedoch als abzuschaffende Gegebenheiten voraussetzte. Sein Werk bleibt gleichwohl für Zeiten bedeutsam, in denen die Bestimmung des Menschen zu allgemeiner Nützlichkeit lediglich auf eine Selbstverwirklichung oder Selbsterfah-

4

rung seiner eigenen Kräfte reduziert wird. Auch Zeiten, in denen Religionen die europ. Errungenschaften einer aufgeklärten bürgerl. Gesellschaft durch Bevormundungen, veraltete religiöse Dogmen u. Ideologien im Griff behalten, in Frage stellen oder usurpieren wollen, finden in A. einen unbequemen u. scharfzüngigen Kritiker. Auf gelehrter Ebene bleiben daneben seine Einsichten in das Schöne u. dessen Evidenz für das Gute von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Mit der Ausbildung der natürlich gegebenen Seelenkraft des menschl. Verstandes nach Gefühl, Vernunft, freier Entschlusskraft u. wohlwollender Tat als oberste Entscheidungsinstanz u. der Abkehr von einem dürren u. lebensarmen theolog. Moralgerüst gehört A. zu den gelehrten Pionieren, die mit dem Programm einer gefühlsevidenten, am allgemeinen Wohl orientierten Moral die gesellschaftl. Geschmacksbildung wie die polit. Auseinandersetzung erst ermöglichten. Schon Möser, Nicolai, Mendelssohn u. v. a. Herder, A.s Nachfolger in Bückeburg, haben dies gesehen. Sie widmeten A. durch Ehrengedächtnisse, Denkmäler, Denkschriften, Abhandlungen oder die Herausgabe seiner Vermischten Werke eine besondere Aufmerksamkeit. In Herders Verständnis u. Praxis des Geistlichen Amtes, das sich an der Evidenz des Gefühls als den unteren Seelenkräften der Menschen für das verständige gemeinnützl. Handeln orientierte, ist A. bis heute auch bildungspraktisch im Gespräch geblieben. Literatur: Robert Prutz: T. A. In: Literaturhistor. Tb. 4 (1846), S. 371–444. – Richard Thiele: T. A.s Anteil an den ›Briefen, die neueste Literatur betreffend‹. In: FS J. Zacher. Halle 1880, S. 147–190. – Erich Becker: Der Stil T. A.s in seiner Abhandlung ›Vom Verdienste‹. Greifsw. 1914. – Annie Bender: T. A. Ein Beitr. zur Darstellung des erwachenden Lebensgefühls im 18. Jh. Bonn 1922. – Otto Gruber: Herder u. A. Düsseld. 1934. – Gertrud Brück: Die Bedeutung Justus Mösers für das Leben u. Denken T. A.s. Würzb. 1937. – Ilse Schaarschmidt: Der Bedeutungswandel der Worte ›bilden‹ u. ›Bildung‹ in der Literaturepoche v. Gottsched bis Herder. In: Beiträge zur Gesch. des Bildungsbegriffs. Weinheim 1965, S. 24–87. – Helmut Möller: Die kleinbürgerl. Familie im 18. Jh. Verhalten u. Gruppenkultur. Bln. 1969. – CarlHans Hauptmeyer: Souveränität, Partizipation u.

Abel

5 absolutist. Kleinstaat. Die Grafschaft Schaumburg(-Lippe) als Beispiel. Hildesh. 1980. – Dieter Kimpel: Philosophie, Ästhetik u. Literaturkritik. Hbg. 1980. – Hans Erich Bödeker: T. A.: Patriot, Bürger u. bürgerl. Bewußtsein. In: Bürger u. Bürgerlichkeit im Zeitalter der Aufklärung. Hg. Rudolf Vierhaus. Heidelb. 1981, S. 221–253. – Stefan Lorenz: T. A.s u. M. Mendelssohns Debatte über J. J. Spaldings ›Bestimmung des Menschen‹. Bochum 1984. – Wilhelm-Ludwig Federlin: Kirchl. Volksbildung u. Bürgerl. Gesellsch. Studien zu T. A., Alexander G. Baumgarten, J. D. Heilmann, J. G. Herder, J. G. Müller u. J. v. Müller. Ffm. u. a. 1993. – Benjamin Wall Redekop: Enlightenment and community: Lessing, A., Herder, and the quest for a German public. Montreal 2000. Wilhelm-Ludwig Federlin

Abeken, Bernhard Rudolf, * 1.12.1780 Osnabrück, † 24.2.1866 Osnabrück. – Philologe, Literaturhistoriker, Lehrer u. Schulleiter.

Im Mittelpunkt von A.s schriftstellerischer Tätigkeit aber stand die Beschäftigung mit Goethe, den A. in seiner Weimarer Zeit persönlich kennenlernte u. den er zeitlebens verehrte. Von seiner lobenden, 1810 anonym erschienenen Besprechung der Wahlverwandtschaften ließ Goethe selbst Nachdrucke in Umlauf bringen. In den folgenden Jahrzehnten rezensierte A. neu erschienene Untersuchungen zu Goethe, verfasste selbst Aufsatzstudien zu einigen Werken desselben u. veröffentlichte schließlich ein Buch über Goethe in den Jahren 1771 bis 1775 (Hann. 1861. 2 1865). Innerhalb der Rezeptionsgeschichte Goethes bilden die Veröffentlichungen A.s somit ein Bindeglied zwischen der Aufnahme durch die Zeitgenossen u. den Anfängen einer systematischen wiss. Erforschung von Goethes Leben u. Werk. Weitere Werke: Cicero in seinen Briefen. Ein Leitfaden durch dieselben, mit Hinweisung auf die Zeiten, in denen sie geschrieben wurden. Hann. 1835. – Ein Stück aus Goethe’s Leben, zum Verständniß einzelner Werke desselben. Bln. 1845. – Goethe in meinem Leben. Erinnerungen u. Betrachtungen. Hg. Adolf Heuermann. Weimar 1904. Literatur: Theodor Paur: Dante in Dtschld. In: Unsere Zeit. Dt. Revue der Gegenwart N. F. 1 (1865), S. 321–341. – Hans Gerhard Gräf: Goethe im Briefw. zweier Freunde (B. R. A. u. Johann Diederich Gries). In: GoetheJb 5 (1918), S. 232–255. – Werner Deetjen: Ein Briefw. über Dante zwischen Karl Immermann u. B. R. A. In: Dt. Dante-Jb. 19 / N. F. 10 (1937), S. 203–209. – Werner P. Friederich: Dante’s fame abroad 1350–1850. Chapel Hill 1950. – Goedeke Forts. – Anne Baillot: Aktualität des Sophokles. Zur Übers. u. Inszenierung der ›Antigone‹: Ein unveröffentlichter Brief v. R. A. an Karl Solger (Weimar, 1809). In: ZfdPh 120 (2001), S. 161–182. Olav Krämer

Der Sohn eines Kaufmanns studierte von 1799 bis 1802 Theologie, daneben auch Philologie u. Philosophie in Jena. Dort befreundete er sich mit Karl Solger, der in Halle studierte, u. schloss sich dessen Studentenzirkel (»Freitagskreis«) an, zu dem auch Heinrich Voß d.J. u. Friedrich Heinrich von der Hagen gehörten. Von 1802 bis 1808 war A. als Hofmeister in Berlin tätig, bevor er für zwei Jahre nach Weimar ging, um Lehrer der Söhne Schillers zu werden. 1810 wurde er zum Konrektor des Gymnasiums in Rudolstadt ernannt, 1815 zum Mitdirektor am Gymnasium seiner Heimatstadt Osnabrück, das er dann von 1841 bis 1863 als Rektor leiten sollte. A. schrieb eine große Zahl meist anonym veröffentlichter Rezensionen u. Aufsätze zur Literatur seiner Zeit. 1826 erschienen seine Abel, Jakob Friedrich (von?), * 9.5.1751 Beiträge für das Studium der Göttlichen Comödie Vaihingen/Enz, † 7.7.1829 Schorndorf. – Dante Alighieri’s (Bln./Stettin), eine gründliPhilosoph, Erfahrungsseelenkundler; che, material- u. aspektreiche Einführung in Generalsuperintendent. Dantes Werk, die von der Forschung anerkennend aufgenommen wurde u. lange Zeit A.s Vater, Konrad Ludwig Abel, war Oberals eine der besten deutschsprachigen Dante- amtmann u. Vogt zu Vaihingen; seine VorEinführungen galt. A. gab ferner die erste fahren kamen im 16. Jh. als österr. ProtesGesamtausgabe der Werke seines Osnabrü- tanten aus der Steiermark. Die Mutter Eve cker Landsmanns Justus Möser (10 Bde., Bln. Regine, geb. Bonjons, war frz. Herkunft. 1842/43) heraus. Nach dem Besuch der Klosterschulen Den-

Abel

kendorff u. Maulbronn kam A. 1768 ans Tübinger Stift, wo er 1770, zum Magister promoviert, das Theologiestudium begann. 1772, noch vor Studienabschluss, berief ihn Herzog Carl Eugen von Württemberg als Philosophieprofessor an die Stuttgarter Militärakademie (die spätere Karlsschule, ab 1781 Universität), wo er ab 1786 auch Prorektor war. Nach zwei Rufen an die Universität Göttingen, deren Annahme der Herzog verweigerte, trat A. 1790 als Professor für prakt. Philosophie die Nachfolge Gottfried Ploucquets an der Universität Tübingen an. 1811 wurde er Leiter des evang. Seminars in Kloster Schönthal u. Generalsuperintendent für Hohenlohe (1823 für Urach, zuletzt für Reutlingen). 1812 persönlich geadelt (unsicher!), wurde er 1815 Mitgl. der zweiten Kammer der Ständeversammlung. Seit 1786 war er mit Luise Schmid verheiratet (fünf Kinder), nach deren Tod mit Friederike Köstlin (seit 1810). Schon im Studium wandte sich A. theologisch der Neologie, philosophisch-psychologisch dem Empirismus, ästhetisch der Geniepoetik u. ethisch der schott. Moralphilosophie (sowie Abbt u. Mendelssohn) zu. Hieraus speiste sich auch sein Unterricht an der Karlsschule, wo er trotz Kritik (Ploucquet) schnell der führende Philosoph wurde u. großen Einfluss auf die Eleven (darunter 1773–1780 Schiller) ausübte. Sein Verständnis von Philosophie als Philosophie für Leben u. Welt, als prakt. Vernunft, führte ihn (wie auch andere Karlsschullehrer) 1781/82 zum polit. Geheimbund der Illuminaten, brachte ihn aber auch bald wieder auf Distanz zu diesem. Seine 1773–1782 entstandenen Schulschriften (darunter die bekannte ›GenieRede‹. Stgt. 1776. Neudr. Marb. 1955 u. in Quellened., s. u.), die Einleitung in die Seelenlehre (Stgt. 1786. Neudr. Hildesh. 1985) u. die »erfahrungsseelenkundliche« Sammlung und Erklärung merkwürdiger Erscheinungen aus dem menschlichen Leben (3 Tle., Stgt. 1784–90) vertreten die neue »empirische Psychologie« u. psychophysiolog. »Anthropologie« (Sulzer, Platner, Unzer u. v. m.). Psychologisch-moralische Fallstudien sind auch die Erzählungen dieser Jahre, der »Anti-Werther« Beitrag zur Geschichte der Liebe (Lpz. 1778. Neudr. in

6

Quellened.) u. das Pendant zu Schillers Verbrecher-Novelle (zgl. deren wichtigste Quelle), die Lebens-Geschichte Friedrich Schwans (Sammlung [...]. Tl. 2, 1787. Neudr. in Quellened.), ferner die Erläuterungen wichtiger Gegenstände aus der [...] Moral, besonders der Ascetik (Tüb. 1790) u. die »aus Criminalacten gezogene Geschichte« Proselytenmacherei durch Aberglauben (Tüb. 1791). Noch vor 1790 begann A. sich mit Kant auseinanderzusetzen (Versuch über die Natur der speculativen Vernunft. Zur Prüfung des Kantischen Systems. Ffm./Lpz. 1787. Neudr. Brüssel 1968). Gleichwohl konnte er in Tübingen die Bedeutung, die er in Stuttgart besaß, nicht mehr wahren. Mit dem Aufgang des Idealismus wurde er so unzeitgemäß wie die Aufklärungsphilosophie insgesamt. Historisch interessanter als die späten ethisch-theolog. »Summen« (Versuch über die Seelenstärke. Tüb. 1804. Über die lezten Gründe des Glaubens an Gott. Heilbr. 1818. Stgt. 21820. Ausführliche Darstellung des Grundes unsers Glaubens an Unsterblichkeit. Ffm. 1826) mögen daher heute seine Denkschriften zu kirchen- u. bildungspolit. Fragen erscheinen, zur Einrichtung der niedern Seminarien in Württemberg (Oehringen 1818), zur Ausdehnung der Aushebung zum Militair auf die Studirenden (Stgt. 1828), zum Vertreten der Kirche bei Ständeversammlungen (Heidelb. 1816), zur Aufhebung des Cölibats (Ulm 1824) u. Ob das Kirchen-Gut Eigenthum der [...] Kirche oder des Staats sey (Stgt. 1821). Weitere Werke: Komm. Ausg. der Frühschr.en: J. F. A. Eine Quellened. zum Philosophieunterricht an der Stuttgarter Karlsschule (1773–82). Hg. Wolfgang Riedel. Würzb. 1995 (mit Übers. der lat. Thesen). Literatur: Biografie/Bibliografie: DDL 4, A, 1, S. 49–65. – Quellened. (s. o.), S. 377–388 u. S. 651–680 (mit Nachlassverz. u. komm. Forschungsbibliogr.). – Ältere Standardwerke: Julius Hartmann: Schillers Jugendfreunde. Stgt./Bln. 1904, S. 95–123. – Reinhard Buchwald: Schiller. Wiesb. 41959, S. 154–194. – Neuere Titel: GonthierLouis Fink: Théologie, psychologie et sociologie du crime. Le conte moral de Schubart à Schiller. In: RG 6 (1976), S. 55–117. – Wolfgang Riedel: Die Anthropologie des jungen Schiller. Würzb. 1985. – Ders.: Influxus physicus u. Seelenstärke. Empir. Psychologie u. moral. Erzählung in der dt. Spätaufklärung u. bei J. F. A. In: Anthropologie u. Lit.

7 um 1800. Hg. Jürgen Barkhoff u. Eda Sagarra. Mchn. 1992, S. 24–52. – Ders.: Weltweisheit als Menschenlehre. Das philosoph. Profil v. Schillers Lehrer A. In: Quellened. (s. o.), S. 375–450. – Michael Franz: Eine Anregung für den philosophietheoret. Ansatz des frühen Schelling: J. F. A.s Inauguralthesen über ›Ursprung u. Natur der Ersten Philosophie‹ (1792). In: Dialektik 1996/2, S. 105–112 (mit dt. Übers. der Thesen). – HansJürgen Schings: Die Brüder des Marquis Posa. Schiller u. der Geheimbund der Illuminaten. Tüb. 1996. – Walter Müller-Seidel u. W. Riedel (Hg.): Die Weimarer Klassik u. ihre Geheimbünde. Würzb. 2003, S. 107–125. Wolfgang Riedel

Abel, Kaspar, Caspar, * 14.7.1676 Hindenburg/Altmark, † 11.1.1763 Westdorf bei Aschersleben. – Herausgeber von Chroniken, Übersetzer u. Satiriker. Von seinem Vater, dem evang. Pfarrer Joachim Abel, zunächst privat unterrichtet, besuchte A. 1688–1694 die Lateinschule an St. Martin in Braunschweig. Zur Sicherung seines Lebensunterhalts erteilte er nebenbei Privatunterricht. Entgegen seiner ursprüngl. Neigung zur Rechtswissenschaft studierte er an der Universität Halle Theologie, war 1694 in Helmstedt als Privatlehrer, 1696 als Schulmeister in Osterburg u. seit 1698 als Rektor der St. Johannes-Schule in Halberstadt tätig. Aus seiner 1705 geschlossenen Ehe mit Margarete Hakin, einer Pfarrerstochter aus der Nähe Braunschweigs, gingen mehrere Kinder hervor. Durch satir. Gelegenheitsschriften zog sich A. die Gegnerschaft einflussreicher Zeitgenossen zu, die sein berufliches Fortkommen behinderte. Obwohl er 1718 zum Schulmeister an der Halberstädter Domschule gewählt worden war, ging er im selben Jahr als Pfarrer nach Westdorf, wo er bis zu seinem Lebensende blieb. Neben theolog. Abhandlungen u. Schulschriften veröffentlichte A. 1704 erstmals ein literar. Werk, die Übersetzung der Heroides des Ovid: Publii Ovidii Nasonis [...] Brieffe (Lpz. 1704 u. Quedlinb./Aschersleben 1723). Seine eigenen Dichtungen standen unter dem Einfluss des Nicolas Boileau-Déspreaux, dessen Satiren er – neben Werken von Vergil u. Horaz – übersetzte: Des berühmten Poeten Nicolai d’Espreaux Boileau Satyrische Gedichte (2 Tle.,

Abel

Goslar 1729 u. 1732). Besonderen Wert legte A. darauf, Übersetzungen u. eigene Werke nicht nur in hochdt., sondern auch in niederdt. Sprache anzufertigen, wie etwa in seinen 1714 erschienenen Satiren Caspar Abels auserlesene Satirische Gedichte (Quedlinb./ Aschersleben). Seinen Nachruhm verdankt A. weniger diesen Werken als seinen wichtigsten histor. Arbeiten: der Edition von Chroniken u. anderer histor. Quellen, die er z.T. erstmals der Öffentlichkeit zugänglich machte. Heute noch benutzt werden v. a.: Teutsche und Sächsische Alterthümer (2 Bde., Braunschw. 1720 u. 1730), die Sammlung etlicher noch nicht gedruckten alten Chronicken (Braunschw. 1732 u. 1741), die Geschichte der alten Teutschen Völker (Braunschw. 1741), Heinrich Meiboms des Älteren Walbeckische Chronike (Helmstedt 1749) u. die Stiffts- Stadt- und Land-Chronick Des jetzigen Fürstenthums Halberstadt (Bernburg 1754). Weitere Werke: Preuß. u. Brandenburg. Staatshistorie. Lpz./Stendal 1710. Lpz./Gardelegen 1735 u. 1747. – Casparis Abeli Historia monarchiarum orbis antiqui. Lpz./Stendal 1715. – C. A. (Hg.): Christophori Schraderi Tabulae Chronologicae. Braunschw. 1730. – Hebräische Altertümer. Lpz./Gardelegen 1736. – Griech. Altertümer. Lpz./ Gardelegen 1738/39. Literatur: Adolph Hofmeister: C. A.s niederdt. Gedichte. In: Nd. Jb. 8 (1882), S. 1–25. – Franz Xaver Wegele: Gesch. der dt. Historiographie seit dem Auftreten des Humanismus. Mchn./Lpz. 1885, S. 488, 714. – Wilhelm Preis: Dt. Dichterhss. v. 1400 bis 1900. Lpz. 1934, S. 3. – Marga Heyne: Das literar. Schrifttum der Mark Brandenburg bis 1700. Eine Bücherkunde. In: Brandenburg. Jbb. 13, Bln. 1939, S. 97 ff. – Werner Rieck, Paul Günther Krohn u. a. (Hg.): Gesch. der dt. Lit. vom Ausgang des 17. Jh. bis 1789. Bln./DDR 1979, S. 138 f. – Carl Haase: Lit. vom Ende der Renaissance bis zum Beginn des Realismus. In: Gesch. Niedersachsens. Hg. Hans Patze. Bd. 3,2, Hildesh. 1983, S. 516. – Christian Falk: Der Historiker C. A. (1676–1763). Ein unterschätzter Gelehrter aus der Altmark. In: AltmarkBlätter 14 (2003), S. 77–80. Martin Kintzinger / Red.

Abel

Abel, Michael, * 1.9.1542 (?) Frankfurt/O., † nicht vor 1609. – Neulateinischer Lyriker.

8

christliche, vielfach die Bibel paraphrasierende Dichtung. Dem Erlebnis der Natur, wie etwa im Frühlingsgedicht Viola (Eleg. 1, 9) u. der Heimat (vgl. die Elegie über Frankfurt, II, 1) hat A. vielfach sympathischen Ausdruck gegeben. Viele Gedichte sind an Freunde gerichtet oder haben die Freundschaft zum Thema, während erot. Gegenstände ganz selten sind. Unter den Satiren ist die böse Abrechnung mit der Stadt Iglau (Eleg. I, 13) bes. bemerkenswert. A.s tiefsinnige, ja überwiegend schwermütige Lyrik orientiert sich formal deutlich an der Antike. Viele Junkturen, sogar ganze Verse sind etwa aus Vergils Eklogen, aber auch aus Horaz u. Martial übernommen. Trotzdem spricht er mit einer für seine Zeit auffallend unverwechselbaren Stimme in elegantem, allerdings oft schwierigem Latein.

A., Sohn eines Seidenkrämers aus Stendal, studierte seit 1553 an der Universität in Frankfurt/O. zunächst Rhetorik bei Georg Sabinus u. Johannes Schosser, danach u. a. Theologie u. Jura. Hier schloss er Freundschaft mit Michael Haslob, dessen poet. Begabung er vielfach preist u. der seinerseits sieben Gedichte an A. hinterlassen hat. 1562–1566/67 war A. Lehrer in Lauban/ Oberlausitz; später wirkte er in nicht genau bekannter Funktion u. a. in Gröditz, Dresden u. Leipzig, offenbar eng verbunden mit Kurfürst August von Sachsen. Kaiser Rudolph II. zog ihn (wohl Ende der 1570er Jahre) nach Wien u. krönte ihn zum Dichter (vor 1582). Von Ende 1583 bis Frühjahr 1585 war A. Weitere Werke: De priori lunae anni LXX ecRektor der evang. Lateinschule in Iglau/ clipsi Meditatio. Wittenb. o. J. [1570]. – In Messiae Mähren. salvatoris natalem LXXV supra D. et M. Odae et Nach einer Liebesaffäre mit der Tochter epigrammata. Wittenb. 1575. – Heroicorum Poeseines Hauswirts, der er angeblich ein Ehe- matum liber unus. Prag 1587. – Cerva aurorae et versprechen gegeben hatte, wurde A. auf der Christus triumphans. Prag 1587. – Eclipseos solaris Flucht in Prag ergriffen u. bis zu seiner vom die 21. Julii ad [...] Christophorum Pelargum [...] ac Kaiser angeordneten Freilassung Ende 1587 reliquos Inclitae Academiae Francofordianae proceres [...] consideratio. Frankfurt/O. 1587. – Inin Iglau gefangen gesetzt. Es folgte ein kurzer cendium Neoberlino oppido, lamentabili fato inAufenthalt bei König Friedrich II. von Däne- missum, carmine adumbratum [...]. Stettin 1609. mark. 1587 kehrte A. nach Frankfurt/O. zuLiteratur: PGK 1, Sp. 189. – VD 16, A 20–28. – rück, wo er (bis 1594) Rektor des Städt. Ly- Weitere Titel: Theodor Hertel: M. A. aus Frankfurt/ zeums wurde. Vor der auch hier noch an- O., Humanist u. gekrönter Dichter des 16. Jh. Ein dauernden Verfolgung durch seinen Iglauer Lebensbild. Potsdam 1896. – Ders.: Nachtr. zum Hauswirt musste er erneut fliehen. Ende Lebensbild. Potsdam 1898. – Ellinger 2, S. 325, 1595 wurde A. (möglicherweise zum Schutz 327, 336–339. – Heinrich Grimm: M. A. In: NDB. – vor seinem Verfolger) offiziell totgesagt. Fidel Rädle in: DDL (mit Bibliogr.). – Ders.: WirkSpäter datierte Gedichte verbürgen eindeu- lichkeit u. poet. Welt in M. A.s Gedichten. In: Retig, dass A. 1601 u. noch 1608 in der Neu- formation and Latin literature in northern Europe. Hg. Inger Ekrem. Oslo 1996, S. 151–178. – Flood, mark lebte. Poets Laureate, Bd. 1, S. 11–13. Fidel Rädle / Red. A.s lyrisches Hauptwerk ist die Sammlung Carminum [...] libri IIII. Elegiarum libri II (o. O. 1590 [Internet-Ed.: CAMENA: Abt. PoemaAbele von und zu Lilienberg, Matthias, ta]. 21594. 31598) mit über 250 metrisch * 17.2.1616 (oder 1618) Steyr/Oberöstervielgestaltigen Gedichten u. 26 Elegien. Aureich, † 14.11.1677 Steyr/Oberösterreich. ßerdem erschienen zwischen 1567 u. 1609 – Jurist u. Schriftsteller. zahlreiche meist einzeln oder in kleinen Gruppen veröffentlichte Gelegenheitsge- A. entstammte einer zum Katholizismus redichte. Thematisch gliedert sich A.s Werk konvertierten Familie, die dem habsburg. (wenn man von der Panegyrik absieht) in vier Staat eine Reihe von Staatsdienern stellte. Er Gruppen: meditative Ich- u. Erlebnislyrik, war in seinem wenn auch begrenzten WirFreundschaftsdichtung, Satiren und v. a. kungskreis eine geachtete Persönlichkeit u.

9

Abelinus

Weitere Werke: Asmodaei [...] Rechts-Prozeßl. ein erfolgreicher Schriftsteller. Davon zeugen sowohl die zahlreichen Neuauflagen seiner [...]. Linz [1658]. – Artliche Gerichts-Verfahrung Hauptwerke bis ins 18. Jh. hinein als auch [...]. Linz 1659. – Zwey Wunderseltzambe Gerichtsseine vielfältigen Ehrenämter u. -titel: vor Verfahrung [...]. o. O. [Linz] 1666. Literatur: Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 1, 1650 Comes Palatinus (sog. Kleines HofS. 103–110 (Bibliogr.). – Hans Halm: Volkstüml. pfalzgrafenamt), 1652 Aufnahme in die Dichtung im 17. Jh. Bd. 1, Weimar 1912. – Kurt Fruchtbringende Gesellschaft (als »Der Ent- Vancsa: M. A. In: NDB. – Dieter Breuer: M. A. u. scheidende«), 1653 Nobilitierung des Bru- seine Erzählslg.en. In: Die österr. Lit. Ihr Profil v. ders Christoph, die sich auch auf A. selbst den Anfängen im MA bis ins 18. Jh. (1050–1750). erstreckte, 1671 habsburg. Hofhistoriograf u. Hg. Herbert Zeman. Tl. 2, Graz 1986, kaiserl. Rat. A. studierte in Graz u. in Wien S. 1135–1148. – Franz M. Eybl: Ein unbekannter (dort Promotion zum Doktor beider Rechte). Druck einer Flugschr. M. A.s. In: Wolfenbütteler A.s literarisches Erstlingswerk, die Über- Barock-Nachrichten 14/2 (1987), S. 77 f. – Arno Traninger: Eine neu entdeckte Flugschr. v. M. A. in setzung eines lat. Erbauungsbuches, ist verder Stadt- u. Landesbibl. Wien. In: Frühneuzeitschollen. 1648–1671 war A. Sekretär der In- Info 5 (1994), H. 2, S. 145–154. – Edith Grether: nerberger Eisengewerkschaft; die Erfahrun- Die Poesie der Throne. Die Juristen in der Fruchtgen dieser Tätigkeit, insbes. die Teilnahme an bringenden Gesellsch. Ffm. 1995. – Estermann/ Straf- u. Zivilprozessen u. seine Reiseerleb- Bürger 2, S. 3 (Verz. gedr. Briefe). nisse, fanden vielfach Eingang in seine WerMichael Auwers / Red. ke. Diese »Gerichtsreportagen« sind das dominierende Thema der Metamorphosis [...] Das Abelinus, Johann Philipp, eigentl.: J. P. ist seltzame Gerichts-Händel (4 Tle., Linz Abele, auch: Philippus Arlanibaeus, ge1651–54). In Vivat! oder künstliche Unordnung (5 tauft 7.12.1600 Straßburg, † 12.9.1634 Tle., Nürnb. 1669–75) sind sie nur noch ein Frankfurt/M. – Kompilator u. Übersetzer. themat. Element unter anderen in einer Der Sohn des evang. Schreiners Hans Abele Sammlung von nicht oder kaum fiktionaler erwarb 1622 den Grad eines Baccalaureus u. Kurzprosa, dramat. Szenen u. Lyrik. Die 1623/24 den eines Magisters. Verheiratet mit Häufigkeit autobiografischer Referenzen, die einer Tochter des Frankfurter Konrektors u. Verwendung oberdt. u. volkssprachl. lexikaMathematikers Gothard Arthusius, erlangte lischer Elemente u. einer quantitierenden A. 1625/26 das Amt eines Praeceptors am Metrik wie auch die themat. u. strukturellen dortigen Gymnasium, das ihm jedoch bereits Parallelen zu den Schwanksammlungen u. 1630 »Unfleißes halber« entzogen wurde. Volksbüchern des 15. u. 16. Jh. setzen A.s A. betätigte sich vornehmlich als KompiWerke von den literar. Hauptströmungen des lator u. Übersetzer. Er war an vielen Werken 17. Jh. ab, obwohl er versuchte, dem sprach- zu den polit. u. militär. Ereignissen der Zeit lich-literar. Programm der Fruchtbringenden beteiligt, die z. T. in kurzen Abständen fortGesellschaft durch Überarbeitungen seiner gesetzt wurden u. so eher Zeitschriften- als Werke gerecht zu werden. Buchcharakter haben. Die Verleger – unter A.s zweite, mit dem Untertitel Wunder- ihnen Merian – wollten mit ihnen ein breiseltzame Geschicht deß grossen Abissini, Königs der teres Publikum erreichen. Bereits die UnterMohren versehene Übersetzung (Sulzbach titel lassen oft erkennen, dass die Ereignisse 1672) stellt eine in diesem Sinne »regelge- aus protestantischer Perspektive dargestellt rechte« Wiedergabe des Staatsromans Metho- werden. Welchen Anteil A. im Einzelnen an dus doctrinae civilis (Köln 1628) des Jesuiten diesen Werken hatte, ist nicht mehr klar Adam Contzen dar. Neben einigen journa- auszumachen. So werden etwa die Archontolistisch orientierten Flugblattschriften ver- logia cosmica (Ffm. 1628 [Internet-Ed.: CAfasste A. auch Casualcarmina für das österr. MENA: Abt. Thesaurus eruditionis]. 21638. Kaiserhaus; Beispiele beider Genres sind, 31649) – eine Übersetzung von Pierre d’Avitys teilweise überarbeitet, in Vivat [...] Unordnung Les empires, royaumes [...] du monde (St. Omer aufgenommen worden. 1614) – u. das Inventarium Sueciae (Ffm. 1632),

Abraham a Sancta Clara

10

eine auf bekannten amtl. u. halbamtl. Be- Erich Angermann: J. P. A. In: NDB. – Frank L. richten basierende Aneinanderreihung von Borchardt in: DDL (mit Bibliogr.). Michael Behnen / Red. Ereignissen der schwed. Feldzüge in Deutschland, sowohl A. wie seinem Kollegen Johann Ludwig Gottfried zugeschrieben. Abraham a Sancta Clara (Ordensname), Gottfried und A. arbeiteten mit denselben auch: Gaudentius Hilarion, Hilarius von Quellen und werteten wechselseitig ihre Freudberg, Theophilus Mariophilus, Schriften aus. bürgerlich: Johann Ulrich Megerle, * 2.7. Den bereits von seinem Schwiegervater 1644 Kreenheinstetten bei Meßkirch/Baherausgegebenen Mercurius Gallo-Belgicus den, † 1.12.1709 Wien. – Katholischer setzte A. 1628–1634 mit den Bänden 17–20 Prediger u. Schriftsteller. fort. A.’ Verfasserschaft der Arma Suecica, die unter dem Namen Philipp Arlanibaeus (o. O. Das jüngste von acht Kindern des Dorfwirts 1631–34) in Fortsetzungen erschien, ist nicht Matthias Megerle besuchte nach der Lateingesichert, aber wahrscheinlich. schule in Meßkirch das Jesuitengymnasium Am bekanntesten wurde A. durch die His- in Ingolstadt u. immatrikulierte sich sodann, torischer Chronicken Continuation, die, Gott- gefördert von seinem als Kirchenmusiker frieds Werk fortsetzend u. mit Matthäus gerühmten Onkel, dem Kanonikus Abraham Merians Kupfern illustriert, den Zeitraum Megerle, an der Benediktineruniversität zu 1629–1632 umfasst u. 1633 in Frankfurt/M. Salzburg. 1662 ging A. nach Wien u. trat in als Band 2 des Theatrum Europaeum erschien den Orden der Augustiner-Barfüsser ein. (21637. 31646. 41679). Ein Jahr darauf folgte Nach Studienjahren in Prag u. Ferrara 1666 Band 1 für die Jahre 1618–1628 (Titelblatt zum Priester geweiht, wirkte er 1670 als 1635). Verschiedene Autoren (Johann Geor- Wallfahrtsprediger im bayer. Maria-Stern bei gius Schleder, Martin Meyer, Wolfgang Jacob Taxa, wurde 1672 nach Wien berufen u. 1677 Geiger u. a.) publizierten bis 1718 insg. 19 zum Subprior des Hofklosters ernannt. Vor weitere bis zu 1500 Seiten umfassende Bände einer Generalversammlung des Ordens ver(Angabe 1738). Mit dem Theatrum Europaeum lieh ihm Kaiser Leopold I. zwecks protokolbegründete A. ein viel gelesenes Organ, des- larischer Statusstärkung 1677 den Hofpredisen Inhalt von polit. Haupt- u. Staatsaktionen gertitel. 1680–1683 war A. Prior im AugusMaria-Brunn bei Wien, über Informationen u. Berichte aus dem All- tinerkloster tag bis zu seichtem Unterhaltungsstoff 1683–1688 im Grazer Konvent Prediger u. reichte. Kritik wurde zumeist nicht geäußert. wiederum Prior. Dreimal vertrat er die OrWeitere Werke: Übers. v. Daniel Cramers densprovinz in Rom u. bekleidete im übl. Kaufungen-Komödie (1593) u. d. T.: Plagium, eine Turnus diverse hohe Ordensämter; seit 1695 schöne Comoedia. Ffm. 1627. wirkte er in Wien. Als Prediger fand er wegen seiner tempeAusgabe: Expeditio Svedica, das ist warhaffte u. gründl. Erzehlung, deß [...] Gustavo Adolphi [...] in ramentvoll vorgetragenen Kanzelreden in Teutschlandt im Jahr 1630 gethanen Kriegszugs ihrer Mischung aus religiösem Eifer, treffsi[...]. o. O. 1632. Internet-Ed.: cherer Satire u. rhetorisch glänzender Aushttp://miami.uni-muenster.de/resolver/ gestaltung breiten Zulauf, bisweilen hat er urn:nbn:de:hbz:6–85659545541. sein Publikum durch die Gewalt seiner Worte Literatur: PGK 1, Sp. 198–200. – Gustav zu Tränen gerührt. Als gesuchter KanzelredDroysen: Arlanibaeus, Godofredus, A. Sive scripner sprach er an klösterl. Festen oder Leichtorum de Gustavi Adolphi expeditione princeps. begängnissen in Ober- u. Niederösterreich u. (Habil.-Schr. Halle) Bln. 1864. – Hermann Bingel: Das Theatrum Europaeum. Ein Beitr. zur Publi- der Steiermark. Zum Erfolgsautor aber wurde zistik des 17. u. 18. Jh. Bln. 1909. – Hermann der Schwabe durch seine gedruckten Werke. Mit dem Druck trat A. zwischen 1673 u. Barge: Gesch. der Buchdruckerkunst. Lpz. 1940. – 1680 in der übl. Weise seiner Profession hervor, mit einigen Festpredigten (Astriacus Austriacus, 1673 auf den Namenspatron des Kai-

11

sers, den hl. Leopold, die Georgspredigt Soldaten Glory, 1676, die Heilige Hof-Art, 1677 auf Franz Xaver, die Marienpredigt Fisch-Zug zu Anz-Bach, 1677), mit lat. Gelegenheitsdrucken (Corona Gloriae. Wien 1680) sowie einem Emblembuch zur Lauretanischen Litanei (Stella ex Jacob orta Maria. Wien 1680. Dt. Stern, so auß Jacob auffgangen, ebd.); später in Druck ging das noch in die Frühzeit gehörige Wallfahrtsbuch Gack, Gack, Gack, Gack, á Ga. Einer Wunderseltzamen Hennen in dem Hertzogthumb Bayern, Das ist: Ein außführliche [...] Beschreibung der berühmten Wallfahrt Maria Stern in Taxa (Mchn. 1685). Gedruckt dem Kaiser überreicht, aber nicht gehalten wurde die Prunkrede Neuerwöhlte Paradeyß-Blum (Wien 1675) über den zum Landespatron erhobenen hl. Joseph; die Predigt Prophetischer Willkomb (Wien 1677) wurde zur kaiserl. Hochzeit gehalten. Orientierte sich A. am Beginn seiner Predigttätigkeit u. Predigtpublikation an den propagandist. Anliegen der Habsburgerdynastie, was in der Verleihung des Hofpredigertitels kulminierte, so wirkte er nach den Katastrophen des Pest- u. des Türkenjahrs (1679 u. 1683) in Wien u. Graz als Seelsorger für das allgemeine Predigtpublikum der städtischen oder klösterl. Pfarr- u. Festgemeinden, also zwischen Hof- u. Volkskultur für eine sich formierende städtische religiöse Öffentlichkeit. Die Predigten zu den Landsmannschaftsfeiern sind dabei ebenso am städt. Milieu ausgerichtet wie die emblemat. Ausgestaltungen des Klosters bei den angeordneten »Beleuchtungen« oder die Konzeption von Emblemata für die Triumphbögen; hier bezog A. Honorar vom Magistrat Wiens. Zum Schriftsteller der Stadt wurde er durch die Pest- u. Kriegsschriften, allen voran durch sein Mercks Wienn, Das ist: Deß wütenden Todts ein umständige Beschreibung (Wien: Vivian 1680. Neudr. Tüb. 1983). In seiner Quarantäne im Palais Hoyos verarbeitete A. während der Wiener Pestepidemie von 1679 Predigtmanuskripte zu einer einzigartigen Kombination von Pestpredigten, emblematischem Totentanz, Bruderschaftsbuch u. Stadtbeschreibung. Noch im gleichen Jahr folgten Schriften zum Totengedenken der Wiener (Lösch Wienn, Das ist: Ein bewögliche Anmahnung

Abraham a Sancta Clara

zu der Kayserlichen Residentz-Statt Wienn. Wien 1680) oder der Armenseelenbruderschaft (Große Todten-Bruderschafft, Das ist: ein kurtzer Entwurff Deß Sterblichen Lebens. Wien 1680). Als Dankpredigt nach überstandener Pest erschien Oesterreichisches Deo Gratias, Das ist: Eine ausführliche Beschreibung Eines Hoch-Feyerlichen Danck-Fests (Wien 1680). Mit diesen Schriften war ein Werkbündel geschaffen, das als gefällige Mischung aus historischem Bericht über die Bedrohung u. Überlebensfähigkeit einer Stadt unter Katastrophenbedingungen, moralischer Applikation u. tröstl. Erheiterung rezipiert wurde u. seinen Autor mit einem Schlag im dt. Sprachraum berühmt machte; allein für das Mercks Wienn konnten mehrere Wiener Drucke unterschieden u. 11 weitere Nachdrucke verschiedenen Offizinen in Ulm, Nürnberg u. München zugeordnet werden. Dabei stellten die Nachdrucker in ihren Ausgaben auch die anderen Wienschriften dazu u. versahen zum Zweck der Anpassung die Georgspredigt von 1676 mit dem neuen Titel Mercks wohl Soldat. Wenig später folgte unter dem Eindruck der zweiten Türkenbelagerung Wiens von 1683 als Appell zur Ermutigung der Streitkräfte des Reichs u. jedes Christenmenschen Auff, auff, Ihr Christen! Das ist: Ein bewegliche Anfrischung der christlichen Waffen wider den Türckischen Bluet-Egel (Salzb./Wien 1683), jene Schrift, die Friedrich Schiller zur Kapuzinerpredigt in Wallensteins Lager inspirierte; Goethe hatte das Werk empfohlen. Mit der Bündelung dieser Werke ist ein eigenständiger Publikationstyp geschaffen, der sodann zur Gesamtausgabe Reimb Dich, Oder, Ich Liß dich (Salzb. 1684 u. ö.) erweitert wird – sie enthält zwar ein Applikationsregister, das die Texte zur Verwendung auf der Kanzel brauchbar werden lässt, stellt aber keine Predigtsammlung dar, sondern ein Sammelwerk sui generis. A.s schriftstellerisches Werk beruht in der Folge weitgehend auf dem einmal erarbeiteten Gestaltungsprinzip: Die Gattung der Predigt wird zu unterhaltsamen Sammelwerken unterschiedl. Zuschnitts verarbeitet u. in bestehende populäre Formen der Unterhaltungsliteratur gegossen. Das Grundprinzip von Tugendlob u. (bisweilen derber)

Abraham a Sancta Clara

Lasterschelte bestimmt die lat. Grammatica religiosa (Salzb. 1691), in dt. Übersetzung Geistliche Tugend-Schul. Den Charakter des Sammelsuriums bereits im Titel trägt die Sammlung Heylsames Gemisch-Gemasch, Das ist: Allerley seltsame und verwunderliche Geschichten (Wien/Würzb. 1704), ein unterhaltsames geistl. Quodlibeticum. Weitaus die umfangreichste solcher Sammelformen stellt der Rahmen der Biografie bereit. Für sein vierbändiges Hauptwerk Judas Der Ertz-Schelm, Für ehrliche Leuth (Salzb. 1686–95) zieht A. als organisierendes Prinzip die Lebensbeschreibung des Bösewichts aus der Legenda aurea heran, um eine Reihe von Kapiteln über Judas’ Laster u. Fehler aufzufädeln, die er sodann in pastorale Anwendung bringt u. an seinen Lesern moralisch-satirisch bessern möchte. Neues entsteht auch unter der Gattung der literar. Neujahrsgabe. In vier kleinen Schriftchen adaptiert A. ältere populäre Sammel- u. Publikationsformen (»Postbüchl«): als Zeitung nennt sich der Geflüglete Mercurius, Worinnen zwar Etliche kurtzweilige Sachen zu lesen seynd, jedoch mit untergemengter Lehr (Wien 1701), eine Continuation (Salzb. 1702) folgt im Jahr darauf; es handelt sich um einen lächerlichen fingierten Briefwechsel über Freuden u. Leiden des Ehestands. In den Jahren darauf greift A. auf die Tradition der Narrenrevue zurück, die er neu belebt: Wunderlicher Traum Von einem grossen Narren-Nest (Salzb. 1703. Neudr. Stgt. 1969), Ein Karn, voller Narrn, Das ist: Etliche Blättl Ohne Blat fürs Maul (Salzb. 1704). Mit diesen Werkchen ist eine Revitalisierung der alten Gattung eingeleitet, die in langer Tradition (Thomas Murner, Erasmus von Rotterdam) den unfrommen Menschen als Narren beschreibt; Nachahmer wie etwa Johann Albert Conlin bedienen sich dieser Form. Daneben hat es A.s geschickter Nürnberger Verleger Christian Weigel verstanden, den mittlerweile eingetretenen Ruhm des Schriftstellers auch auf den Buchtyp des Bilderbuchs strahlen zu lassen, für den Weigel als Kupferstecher die Konzession besaß. Hier kommt es zur Kooperation mehrerer Urheber, für die der Name A.s das Firmenschild bildete, u. zgl. zur allmähl. Aushöhlung sei-

12

ner Verfasserschaft. Parallel zu Weigels Ständebuch nach Jan u. Caspar Luykens Het Menschelyk Bedryf mit seinen 212 Illustrationen (Regensb. 1698) entstand als dt. Auswahlausgabe unter A.s Namen Etwas für Alle (Nürnb./Wien/Würzb. 1699), dessen 100 enzyklopädisch die Gesellschaft abbildenden Berufs- u. Standesdarstellungen mit Versen von Samuel Faber u. mit Prosaabschnitten von A. versehen wurden. Ähnlich verfuhren Verleger u. Autor bei der dt. Ausgabe der Ethica naturalis Jan Luykens, die als Huy! und Pfuy! Der Welt. Huy oder Anfrischung Zu allen schönen Tugenden: Pfuy Oder Abschreckung Von allen schändlichen Lastern (Nürnb./Würzb. 1707. Teilausg. Mchn. 1963) erschien, wobei A. auf jeweils einer Druckseite pro Kupfer Betrachtung, Schwank oder Fabel ausbreitete. Für die Übersetzung von Chertablons emblematischer frz. Sterbkunst unter dem Titel Sterben und Erben, Das ist die schönste Vorbereitung zum Tode (Amsterd. 1702) hat A. nur Dedikationsepistel u. Vorwort geschrieben, für Weigels Ausgabe von Caspar Luykens Neueröffneter Welt-Galleria (Nürnb. 1703. Neudr. Hildesh. 1969), einen Ständespiegel in Gestalt eines Kostümwerks, bloß das Vorwort. A. durchdringt u. verlebendigt die gemäßigte theolog. Botschaft seiner Schriften durch seine in der theolog. Literatur der Zeit unerreichte sprachl. Darstellungskraft. Barock erscheint die kreative Freude an der sprachl. Reihenbildung jeden Maßstabs, von den Wortspielkaskaden auf engstem Raum über die anaphor. Dispositionsmuster einzelner Abschnitte bis zu den ausgedehnten Kapitel-, ja Buchreihen der Sammelwerke. Vieles ist der Mündlichkeit verpflichtet, ist Ausruf (»Halts Maul!«), Klang oder musikal. Effekt, ist Sprichwort oder Verseinlage. Das illustrierende Redematerial entstammt den zeitgenöss. Auskunftswerken von Jeremias Drexel über die theolog. Standardwerke hin zur enzyklopäd. Kompilationsliteratur der Exempelsammlungen u. Historienbücher. Die mittlere Stilebene der oberdt. Literatursprache wird in den autorisierten Drucken wie auch den Predigtmanuskripten kaum je verlassen, weder ins Derbe noch ins Gesuchte, ein an Jakob Masen geschulter »arguter« Scharfsinn zeigt sich v. a. in den unvermute-

13

ten Vergleichen, überraschenden Wendungen, witzigen Etymologien. Es war jene stilist. Könnerschaft des erheiternden Witzes, die von Christian Thomasius über Schiller u. Goethe hinaus bis zu Eichendorff als literarischer Wert geschätzt wurde, die »Tollheit« u. »Gescheidigkeit« eines »prächtigen Originals« (Schiller). Zwischen dem Beginn seiner Publikationstätigkeit u. dem Ende des Ancien Régime sind seine Werke »in weit über 300.000 Exemplaren verbreitet worden« (Breuer); die Nachdruckverhältnisse seiner Hauptwerke sind (bis auf das Mercks Wienn) unerforscht, geschweige denn die postumen Ausgaben. Im Spätwerk nimmt der Anteil der Autorschaft deutlich ab; unter A.s Namen erscheinen postum verschiedene Sammelbände, die auf nachgelassenen Predigtmanuskripten beruhen, aber deutl. Überarbeitungen v. a. auch im Hinblick auf ausgeprägten Antijudaismus zeigen, wodurch formal der Klamauk verstärkt u. inhaltlich der religiöse Tiefsinn geglättet wird. Die aufs Unterhaltsame getrimmten Texte aus Wohl angefüllter Weinkeller (Nürnb./Würzb. 1710/14/19), Abrahamisches Bescheid-Essen (Wien/Brünn 1717) u. Abrahamische Lauber-Hütt (Wien/Nürnb. 1721/22/23) haben das Bild A.s nachhaltiger geprägt als seine autorisierten Werke zu Lebzeiten. Das »Abrahamische« wurde (wie das »Simplicianische«) zum vom Verfasser losgelösten Stilmerkmal u. Markenzeichen. Unter seinem Namen kamen zahlreiche Nachahmungen heraus, das Centi-Folium Stultorum (Wien/ Nürnb. 1709. Neudr. Dortm. 1978), die Teile 2 u. 3 des Etwas für Alle (Nürnb./Würzb. 1711) u. Mala gallina, Malum Ovum (Wien/Nürnb. 1713). Die Besonders meublirt- und gezierte Todten-Capelle (Würzb. 1710. Neudr. Hildesh. 2003) bietet ein Kompilat aus A.s früheren Schriften. Insbesondere Johann Valentin Neiner, ein antisemitischer Kalenderschreiber in Wien, hat sich als kreativer Editor hervorgetan – das Abrahamische Gehab dich wohl! oder Urlaube In diesem End-Wercke seiner Schrifften (Nürnb./Wien 1729) stammt bis auf wenige abrahamische Einsprengsel von ihm. Die Geschichte der Rezeption u. Erforschung A.s ist durch Polarisierungen gekennzeichnet. Den Aufklärern galt A. als das

Abraham a Sancta Clara

Paradigma des Barock-Unvernünftigen, ästhetisch Abgeschmackten u. theologisch Platten, den protestant. Historikern, insofern sie eine literar. Entwicklungslinie von Luther zu Lessing veranschlagten, als Fabelhans u. närrischer Prediger u. damit als exemplarischer Beleg der »finsteren katholischen Schrecknisse« (Gervinus). Umgekehrt beeilte sich die vaterländisch-kleindt. Geschichts- u. Literaturgeschichtsschreibung, den Autor als Thron u. Altar gleichermaßen verpflichteten Konservativen darzustellen, der dem Volk aufs Maul geschaut u. eine spezif. Art »österreichischen« Humors verkörpert hätte. Dies spricht Jean Paul an, wenn er meint: »seinem Witz für Gestalten und Wörter, seinem humoristischen Dramatisieren schadete nichts als das Jahrhundert und ein dreifacher Ort, Deutschland, Wien und Kanzel« (Vorschule der Ästhetik, VIII, § 36). Im 19. Jh. hatte Wilhelm Scherer ein ablehnendes Urteil gesprochen, während gleichzeitig Theodor G. von Karajan seine bis heute brauchbare Monografie erarbeitete. Im 20. Jh. gelangte Karl Bertsche in beeindruckender Lebensleistung durch seine monografischen, bibliogr. u. editor. Anstrengungen um A. zu wissenschaftlich bis heute haltbaren Resultaten, während in seinen populären Darstellungen (wie auch in seiner Biografie) eine doch recht unkrit. Verehrung A.s vorherrschte. Franz Loidl hat eine als Materialschlüssel immer noch nützl. Dissertation veröffentlicht (in anderen Aufsätzen hingegen Einzelaspekte fragwürdig beleuchtet). Die volkskundl. Forschung konnte A. unter dem Gesichtspunkt der Kanzelerzählung (Moser-Rath) weitere wichtige barocke Prediger zur Seite stellen. Als ausgeprägten Antisemiten zeichneten ihn 1962 Robert A. Kann u. die frz. HeideggerForschung, neuere literaturwiss. Arbeiten haben die sozialgeschichtlichen, medienhistor. u. intertextuellen Horizonte seines Wirkens differenzierter beleuchtet. Eine wiss. Gesamtausgabe fehlt bis heute ebenso wie eine angemessene literaturhistor. Würdigung. Literatur: Bibliografie: Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 1, S. 111–166. – Weitere Titel: Theodor G. v. Karajan: A. a S. C. Wien 1867. – Wilhelm Scherer: Pater A. a S. C. [1866]. In: Ders.: Vorträge u. Auf-

Abrogans sätze zur Gesch. des geistigen Lebens in Dtschld. u. Österr. Bln. 1874, S. 147–192. – Karl Bertsche: A. a S. C. 2., verb. Aufl. Mönchen Gladbach 1922. – Franz Loidl: Menschen im Barock. A. a S. C. über das religiös-sittl. Leben in Österr. Wien 1938. – Robert A. Kann: Kanzel u. Katheder. Studien zur österr. Geistesgesch. vom Spätbarock zur Frühromantik. Wien/Freib./Basel 1962. – A. a S. C. Karlsr. 1982 (Ausstellungskat.). – Michael Bauer: Christoph Weigel (1654–1725), Kupferstecher u. Kunsthändler in Augsburg u. Nürnberg. In: AGB 23 (1982), Sp. 693–1186. – Werner Welzig: A. a S. C. In: Dt. Dichter des 17. Jh. Hg. Harald Steinhagen u. Benno v. Wiese. Bln. 1984, S. 726–735. – Dieter Breuer: A. a S. C. In: Die österr. Lit. Ihr Profil v. den Anfängen im MA bis ins 18. Jh. (1050–1750). Hg. Herbert Zeman. Graz 1986, S. 1335–1358. – Franz M. Eybl: Kirchenprunk u. Leserandacht. Die Emblemkunst des A. a S. C. In: Jb. der GrillparzerGesellsch. 3. F. 17 (1987/90), S. 53–70. – Ders.: A. a S. C. Vom Prediger zum Schriftsteller. Tüb. 1992. – Jean Schillinger: A. a S. C. Pastorale et discours politique dans l’Autriche du XVIIe siècle. Bern/Bln. 1993. – F. M. Eybl (Hg.): A. a S. C. ›Ein Karren voller Narren‹ u. a. kleine Werke. Salzb. 1993. – J. Schillinger: Parénèse et divertissement littéraire. Le ›Narrennest‹ d’A. a S. C. (1703). In: EG 58 (2003), H. 3, S. 387–428. – Ders.: L’image de la société chrétienne dans ›Etwas für Alle‹ d’A. a S. C. In: RG 34 (2004), S. 1–30. Franz M. Eybl

Abrogans, Abrogans deutsch, Mitte des 8. Jh. – Althochdeutsche Übersetzung eines lateinischen Synonymenwörterbuchs. Das »älteste deutsche Buch« entstand im oberdt. Sprachgebiet. Seinen Namen hat das alphabetisch geordnete Werk vom ersten lat. Stichwort (»abrogans«: bescheiden). Der deutsche A. ist, abgesehen von einigen unbedeutenden Bruchstücken, in drei Handschriften, die älteste vom Ende des 8. Jh., die jüngste aus dem frühen 9. Jh., überliefert (St. Gallen, Paris, Karlsruhe). Die urspr. Fassung des A. ist nicht erhalten. Die lat. Vorlage steht dem Abba-Glossar, dem Abavus minor, dem Affatim-Glossar u. dem zweiten Erfurter Glossar nahe. Übersetzt wird im A. das gesamte Synonymenwörterbuch: Nicht nur die lat. Lemmata, sondern auch die lat. Interpretamente sind mit Glossen versehen. Die Urfassung war wohl – wie der A. der Pariser Handschrift (bair., mit alemann.

14

Einflüssen) vom Anfang des 9. Jh. mit den Buchstaben A bis I – interlinear, während bei den anderen beiden Handschriften (alemann.) die ahd. Glossierung eingereiht ist. Der A. enthält rd. 3670 volkssprachl. Wörter, von denen etwa 700 an keinem anderen Ort bezeugt sind. Man nahm lange an, der A. sei als eine Art Stilwörterbuch zur rhetor. Bereicherung des Wortschatzes verwendet worden. Der von Splett (1985) nachgewiesene hohe Anteil an Bibelglossen u. der Titel »Incipiunt glosae ex novo et vetere testamento« in den Haupthandschriften deuten jedoch überzeugender auf eine Nutzung des A. als texterklärendes Wörterbuch zur Förderung des Bibelverständnisses. Später dürfte er als lat.-ahd. Wörterbuch genutzt worden sein, wie v. a. eine spätere verkürzende Bearbeitung des A. zeigt: In dieser vermutlich um 790 entstandenen umfassenden Umgestaltung, den Samanunga uuorto (auch: pseudohrabanisches Glossar) sind auch die Interpretamente u. ihre Übersetzungen alphabetisch eingeordnet. Trotz der häufig fehlerhaften Übersetzung gilt der deutsche A., u. a. wegen der zahlreichen Neologismen, als kulturgeschichtlich bedeutendes Sprachdenkmal der Frühgeschichte des dt. Schrifttums. Mit ihm beginnt eine umfangreiche Glossierungstätigkeit, die durch das ganze MA zu verfolgen ist. Ausgaben: Eberhard G. Graff: Diutiska. Bd. 1, Stgt./Tüb. 1826, S. 122–279 (Pariser u. Karlsruher Hss.). – Transkription der ältesten u. umfangreichsten Hs. (St. Gallen) v. Stefan Sonderegger. In: Das älteste dt. Buch. Kommentarbd. Hg. Bernhard Bischoff u. a. St. Gallen 1977, S. 139–308. Literatur: Georg Baesecke: Der dt. A. u. die Herkunft des dt. Schrifttums. Halle/S. 1930 (mit Bibliogr. bis 1930). – Werner Betz: Der Einfluß des Lateinischen auf den ahd. Sprachschatz 1: Der A., Heidelb. 1936. – G. Baesecke: Die Sprache des dt. A. In: Ders.: Kleinere Schr.en. Bern/Mchn. 1966, S. 181–220. – Ursula Daab: Zur ahd. Glossierung des A. In: PBB 88 (1967), S. 1–27. – Jochen Splett: A.-Studien. Wiesb. 1976 (mit Bibliogr.). – Ders.: A. deutsch. In: VL. – Ders.: Samanunga-Studien. Göpp. 1979. – Ders.: Zur Frage der Zweckbestimmung des A. In: FS Helmut Gipper Bd. 2, BadenBaden 1985, S. 725–735. – Ders.: Der A. u. das Einsetzen ahd. Schriftlichkeit im 8. Jh. In: Typen der Ethnogenese unter bes. Berücksichtigung der

15 Bayern. Hg. Herwig Wolfram u. Walter Pohl. Tl. 1, Wien 1990, S. 235–241. Claudia Händl / Red.

Abschatz, Hans Aßmann Frhr. von, auch: Johann Eraßmus, Hannß A. von A., * 4.2. 1646 Breslau, † 22.4.1699 Liegnitz/Schlesien; Grabstätte: ebd., Peter-Paul-Kirche. – Lyriker u. Übersetzer. A. entstammte einem seit 1294 urkundlich nachgewiesenen schles. Adelsgeschlecht u. wurde wie seine fünf Geschwister evangelisch getauft. Mit vier Jahren verlor A. seinen Vater Johann Eraßmus während einer Feuerkatastrophe am 22.6.1650 u. mit 13 Jahren seine Mutter. A.’ Gedicht Betrachtung funffzig-jährigen Lebens-Lauffs (1698), ein wegen realist. Schilderungen wichtiger Vorläufer der dichterischen Autobiografie, beschreibt, wie er als jüngstes der früh verwaisten Kinder danach als »zweyer Väter Sohn« im Haus seines Onkels Georg Friedrich von Abschatz liebevoll aufgezogen wurde. Er besuchte das Gymnasium in Liegnitz 1658–1664 u. zeigte früh Proben eines poet. Talents bei Schulaufführungen u. in ersten Gedichten, die er ab 1663 gelegentlich als Einzeldrucke veröffentlichte. Ab 1664 studierte A. Jura in Straßburg u. war 1666 Student an der Universität Leiden. Eine dreijährige Bildungsreise in Begleitung mehrerer Freunde führte ihn anschließend von Holland nach Frankreich (Paris) u. Italien (u. a. Rom, Terracina, Neapel, Florenz, Venedig). In lat. u. dt. Gedichten bezog sich A. wiederholt auf Reiseeindrücke u. Erinnerungen an die Heimat. Nicht nur Freundschafts-, sondern auch erste Liebeserlebnisse fielen in diese Jahre. 1669 kehrte A. nach Schlesien zurück u. übernahm zunächst das ihm von seiner Pflegetante vererbte Gut Würbitz zur Bewirtschaftung. Am 3.12.1669 heiratete A. die ihm schon seit längerer Zeit bekannte Anna von Hund aus dem Hause Rausse. Unter den Namen »Amaranthe« u. »Anemone« widmete A. ihr zahlreiche Liebesgedichte, denen das Stilelement der Wiederholung einen besonderen Reiz verlieh. Mit der ihm in allem gleichgesinnten Ehegefährtin u. sechs Kindern, von denen das letzte 1681 zur Welt kam, bewohnte er abwechselnd die Güter Zobel, Lederose, Petschkendorf, Ober-

Abschatz

Bärschdorf u. Nieder-Gölschau. Wie schon sein Vater vor ihm diente A. als Landadliger u. Gutsherr in verschiedenen öffentl. Ämtern. Er wirkte seit 1675 in Stellungen im Herzogtum Liegnitz, bis er schließlich am 15.3.1679 zum »Landes-Bestallten« u. Deputierten (»deputatus nobilium in Silesia«) zu den Fürstentagen in Breslau gewählt wurde u. sich zeitweilig als Abgesandter u. a. in Wien aufhielt. Wegen seiner Verdienste als Politiker u. geschickter Vermittler in Streitfragen erhob ihn Kaiser Leopold am 26.8.1695 in den erbl. Freiherrenstand. A. genoss u. a. als Beschützer des protestant. Glaubens während der Zeit intensiver gegenreformator. Bestrebungen nach 1675 hohes Ansehen bei der Bevölkerung. A. u. seine Frau starben plötzlich im Abstand von zwei Tagen während einer Reise nach Liegnitz. Als Dichter war A. nur einem kleineren Kreis von Freunden bekannt, u. a. Martin Hanke, Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau, Christian Anton Knorr von Rosenroth, Friedrich von Logau, Daniel Casper von Lohenstein (mit dem er eng befreundet war) u. den Brüdern Georg Hermann u. Hans Christoph von Schweinitz. Aufgrund seiner polit. Bemühungen verglichen sie ihn mit Papinianus oder Joseph in Ägypten, als Künstler mit Rubens oder Bernini. Seine Freunde nannten ihn in Nachrufen »Phönix« u. »Meister« der »teutschen Tichter-Welt«. Aber man räumte A. die Stelle auf dem galanten Parnass, auf die er sich ein Recht erworben hatte, erst dann ein, als einige seiner Texte ab 1695 in den ersten beiden Bänden der Neukirchschen Sammlung (1695–1727) erschienen u. Christian Gryphius es 1704 im Auftrag der Familie unternahm, Werke von A. u. Einzeldrucke der dem Dichter A. gewidmeten Begräbnisgedichte zu sammeln u. zu veröffentlichen. Seinen Ruhm als Dichter verdankte A. vor 1704 hauptsächlich seiner wahrscheinlich in Italien begonnenen Übertragung von Giovanni Battista Guarinis Il Pastor Fido (Der Teutsch-redende Treue Schäffer. o. O. u. J.). Er richtete das Drama für die Bühne ein u. ließ es nach eingehender Begutachtung durch Hoffmannswaldau vermutlich zwischen 1672 u. 1678 drucken. A. galt lange als Epigone

Abusch

16

Hoffmannswaldaus u. Lohensteins. Aber ge- Liegnitz 1700. – Carl Hanns Wegener: A.: Ein Beitr. genhöf. Schlichtheit u. antimarinist. Kritik zur Gesch. der dt. Lit. des 17. Jh. Bln. 1910 u. ö. – (an der Lyrik Giambattista Marinos hatte sich Josef A. Körner: Zum Texte v. ›Anemons u. Adonis die sog. zweite schlesische Dichterschule ori- Blumen‹. In: ZfdPh 59 (1934), S. 256 f. – Rudolf Alexander Schröder: A., ein vaterländ. Dichter des entiert), die er bei Guarini u. in den Sonetten schles. Barocks. In: Ders.: Ges. Werke. Bd. 3, Bln./ von Alexander Adimari gefunden hatte, ver- Ffm. 1952, S. 722–738. – Erika A. Metzger: Zum anlassten ihn, in seiner geistl. Lyrik (Himmel- Problem ›höfisch-antihöfisch‹ bei A. Diss. Buffalo schlüssel) wie in seinen weltl. Gedichten (Ane- 1967. – Bernhard Asmuth: H. A. v. A. In: Schles. mons und Adonis Blumen) einen knappen, nu- Lebensbilder 5. Hg. Helmut Neubach u. Ludwig ancenreichen Stil (G. Müller: »Capo-Run- Petry. Würzb. 1968, S. 51–62. – Gerhart Hoffdung«) zu verwenden, der ihn von anderen meister: Ital. Vorlagen u. petrarkist. Topoi. Zur zeitgenöss. Dichtern auffallend unterschei- Stiltradition v. A. In: Studia Neophilologica 42 det. Seine religiösen Texte stehen dem Ge- (1970), S. 435–450. – E. A. Metzger: ›La Solitude‹ oder ›Die angenehme Wüsteney‹. Marc-Antoine de dankengut der Stoa u. der schles. Mystik Saint-Amant u. H. A. v. A. In: Europ. Tradition u. nahe. Melancholische Skepsis, verbunden mit dt. Literaturbarock. Hg. Gerhart Hoffmeister. Bern einem krit. Zeit- u. Geschichtsbewusstsein, 1973, S. 135–152. – Elida M. Szarota: Dt. Pastorcharakterisiert die meisten seiner geistl. u. Fido-Übers.en. Ebd., S. 305–327. – E. A. Metzger: weltl. Verse. A.’ lyrischer Ton, Naturbe- Drei Gelegenheitsgedichte v. A. In: Daphnis 7 schreibungen u. delikate Ironie inspirierten (1978), S. 549–554. – Dies.: H. A. v. A. In: German später noch Joseph von Eichendorff, der sich Baroque Writers, 1661–1730. Hg. James Hardin. Detroit 1996, S. 19–25. – Wolfgang Harms: Zur auf ihn als Vorbild beruft. Als weiteres Meisterwerk seiner Überset- Variabilität der Funktionen mittelalterlich geprägter allegor. Bildlichkeit im Barock: ›An ihre Augen‹ zungskunst hat die Übertragung einer Ode v. H. A. v. A. In: Vox Sermo Res: Beiträge zur von Marc Antoine de Saint-Amant zu gelten: Sprachreflexion, Lit.- u. Sprachgesch. vom MA bis La Solitude (Die angenehme Wüsteney). Hier ent- zur Neuzeit. Hg. Wolfgang Haubrichs u. a. Stgt. deckte A. eine poet. Sicht der Welt, der er sich 2001, S. 195–205. Erika A. Metzger zutiefst verwandt fühlte. Die vom Petrarkismus her bestimmte Pose des »treuen Seladons«, der um die Treulosigkeit weiß u. Abusch, Alexander, * 14.2.1902 Krakau, dennoch treu bleiben muss, selbst wenn er † 27.1.1982 Berlin/DDR. – Publizist u. daran zugrunde geht, fand in diesem Gedicht Kulturpolitiker. erneute Bestätigung. Der Sohn eines Kutschers besuchte die Ausgaben: Herrn H. A. Frhr. v. A. [...] Poet. Übers.en u. Gedichte. Hg. Christian Gryphius. Volksschule in Nürnberg, war kaufmänniLpz./Breslau 1704. Neudr. ohne ›Phoenix Ab- scher Angestellter, wurde 1919 Mitgl. der schatzianus‹. Hg. Erika A. Metzger. Bern 1970. – KPD u. beteiligte sich an den revolutionären Teilausgaben: Auserlesene Gedichte v. Friedrich v. Aufständen in Bayern u. Thüringen. ZwiLogau u. H. A. v. A. Hg. Wilhelm Müller. Lpz. 1824. schen 1921 u. 1933 war A. Redakteur bei der – Zweite schles. Schule I. Hg. Felix Bobertag. Stgt. »Roten Fahne« u. dem »Ruhr-Echo«. Zus. 1885 (Dt. Nat.-Litt. Bd. 36), S. 361–377 (Ausw.). – mit Johannes R. Becher, Ludwig Renn u. a. Anemons u. Adonis Blumen. Hg. Günther Müller. gründete er 1928 den »Bund proletarisch-reHalle 1929. – Gedichte. Eine Ausw. Hg. E. A. volutionärer Schriftsteller«. Nach dem BeMetzger. Bern/Ffm. 1973. ginn der NS-Herrschaft floh A. zunächst nach Literatur: Bibliografie: Dünnhaupt 2. Aufl. Paris (Mitarbeit am Braunbuch über ReichstagsBd. 1, S. 167–169. – Frank-Rutger Hausmann: Bibrand und Hitler-Terror. Paris 1933), dann nach bliogr. der dt. Übers.en aus dem Italienischen v. Mexiko, wo er mit Lion Feuchtwanger u. den Anfängen bis zur Gegenwart. Bd. 1 (2 Teilbde.), Tüb. 1992, Nr. 0009, 0525. – Alberto Martino: Die Heinrich Mann die Zeitschrift »Freies ital. Lit. im dt. Sprachraum. Ergänzungen u. Be- Deutschland« herausgab (1941–1946). Nach richtigungen zu F.-R. Hausmanns Bibliogr. Ams- dem Krieg wurde A. Bundessekretär des terd./Atlanta 1994, S. 427, 454. – Weitere Titel: »Kulturbundes zur demokratischen ErneueAdam Ludwig Thebesius: Leichenpredigt auf A. rung Deutschlands« u. enger Mitarbeiter von

17

Johannes R. Becher, dem ersten Kulturminister der DDR. Parteimitgl. seit Gründung der SED, wurde A. 1950 im Zuge der stalinist. Säuberungen der Partei von Splittergruppen u. »Westemigranten« während der MerkerAffäre aller Funktionen enthoben. Nach 1954 rehabilitiert, bestimmte er bis 1971 in höchsten kultur-administrativen Ämtern (Minister für Kultur 1958–1961) maßgeblich den Aufbau des Erziehungssystems der DDR. A.s programmat. Reden u. Aufsätze zeigen in pädagogisch griffiger Interpretation der Literaturtheorie von Georg Lukács, wie Literatur das Gesellschaftsganze vom »fortschrittlichsten« Klassenstandpunkt aus darzustellen habe. So repräsentiere die Weimarer Klassik vorbildlich den Aufstieg des Bürgertums, wie die Vormärz-Literatur die Hoffnungen der fortschrittl. Bürger auf Revolution widerspiegele. Der »Nihilismus« Nietzsches, der dem Faschismus den Weg bereitet habe, u. die »Dekadenz« Rilkes zeigten literarisch das Scheitern der dt. Revolution. Dagegen bewiesen Johannes R. Becher, Anna Seghers u. a. den Sieg des Sozialismus. Weitere Werke: Stalin u. die Schicksalsfrage der dt. Nation. Bln./DDR 1949. – Mit wem seid ihr, Meister der Kultur? Die Rolle der Kulturschaffenden im Kampf um den Frieden. Rede, gehalten am 25.11.1949 in Berlin auf dem 2. Bundeskongress des Kulturbundes zur demokrat. Erneuerung Deutschlands. Bln./DDR 1950. – Lit. u. Wirklichkeit. Bln./DDR 1952. 21953. – Von der Wiss. u. der Kunst der Sowjetunion schöpferisch lernen. Bln./ DDR 1953. – Schiller: Größe u. Tragik eines dt. Genius. Bln./DDR 1955. 81984. – Der Deckname. Memoiren I. Bln./DDR 1981. 21984. – Mit offenem Visier. Memoiren II. Bln./DDR 1986. Ausgabe: Schr.en. 3 Bde., Bln./Weimar 1967–77. Literatur: Peter Davies: Exiles, purges, and ›rootless cosmopolitans‹ in the GDR. Evaluating the memoirs of A. A. In: Cosmopolitans in the modern world. Studies on a theme in German and Austrian literary culture. Hg. Suzanne Kirkbright. Mchn. 2000, S. 147–164. Verena Dohrn / Red.

Achleitner, Arthur, * 16.8.1858 Straubing, † 29.9.1927 Straubing. – Verfasser von Jagd- u. Berggeschichten. Der Sohn eines Chorleiters brach sein Lehramtsstudium ab. Reisen, die ihn vom

Achleitner

Schwarzwald über Österreich bis in die Balkanländer führten, lieferten ihm Stoff für Berichte in verschiedenen Zeitungen. Seit dem Ende der 1880er Jahre Redakteur der »Süddeutschen Presse«, wurde A. 1897 zum Professor, 1900 zum Hofrat u. nach weiteren drei Jahren zum Geheimen Hofrat ernannt. Seine über 100 Romane u. Erzählungen, die sich an Anzengruber u. Ganghofer orientieren, waren überaus erfolgreich. Mit Erzählungen wie Der Eiskaplan (Mainz 1904) – ein junger Priester sucht, um den Wohlstand seines Dorfes zu heben, einen Übergang über die Gletscher des Ventertals u. verliert dabei sein Leben – leitete er das Genre des Hochgebirgsromans ein, dessen populärster Autor Luis Trenker wurde. Weitere Werke: Gesch.n aus den Bergen. 5 Bde., Lpz. 1889–95. – Im Gamsgebirg. Mchn. 1893 (E.). – Fröhlich Gejaid! Bln. 1895 (E.). – Bayern, wie es war u. ist. 4 Bde., Mchn./Stgt. 1898. – Bergrichters Erdenwallen. Bln. 1900 (R.). – In Treue fest. Bln. 1903 (R.). – Tugendloses Gestein. Bln. 1906 (N.). – Wo der Bergwind rauscht. Lpz. 1913 (E.). – Von der Umsturznacht bis zur Totenbahre. Die letzte Leidenszeit König Ludwigs III. Dillingen 1922. Frank Raepke / Red.

Achleitner, Friedrich, * 23.5.1930 Schalchen/Oberösterreich. – Architekt, Schriftsteller, Publizist. Nach Absolvierung der Höheren Bundesgewerbeschule in Salzburg studierte A. an der Akademie der Bildenden Künste in Wien Architektur; er gehörte zur Meisterklasse von Clemens Holzmeister. 1953 schloss er mit dem Diplom ab u. arbeitete fünf Jahre als freischaffender Architekt; nebenbei studierte er Bühnenbild bei Emil Pirchan. A.s Annäherung an die Wiener Gruppe datiert auf das Jahr 1955, als er Gerhard Rühm kennenlernte, der ihn bald mit H. C. Artmann, Konrad Bayer u. Oswald Wiener bekannt machte. Unter dem Eindruck einer neuen, konkreten Poesie, die den formalen Verfahrensmodus betont, begann A. selbst zu schreiben. Seine ersten Texte, sog. »Konstellationen« u. Dialektgedichte, entstanden 1956. Im selben Jahr besuchten A. u. Rühm den Schweizer Schriftsteller Eugen Gomringer in Ulm.

Achleitner

Gomringer gab ab 1960 eine Reihe konkrete poesie – poesia concreta im Selbstverlag heraus, deren Hefte 3 u. 10 (beide Frauenfeld 1960) Texte von A. brachten. In die Jahre 1957–1959 fiel A.s intensivste literar. Produktion. Er gab seinen Beruf auf, um sich nur der Literatur zu widmen. In der überaus kreativen Atmosphäre der Wiener Gruppe, deren Mitgl. er nun war, verfasste er weitere prosa, konstellationen, montagen, dialektgedichte, studien (so bezeichnete er die Gattungen seiner 1970 im Rowohlt Verlag als Gesamtausgabe edierten Texte). A. war an drei von 22 Gemeinschaftsarbeiten der Wiener Gruppe beteiligt (schwurfinger, kinderoper, SUPER REKORD EXTRA 100). Nach den beiden »literarischen Cabarets« begannen Ende der 1950er Jahre die Auflösungserscheinungen der Gruppe. A. schrieb noch Dialektgedichte u. befasste sich v. a. mit Studien, die während eines Stipendienaufenthalts in Berlin 1972 in den dort entstandenen quadratroman eingingen. Mit dieser 1973 bei Luchterhand veröffentlichten Arbeit, zgl. seinem größten Projekt, zog A. mit Ironie u. Selbstironie die Summe aus seinen der konkreten Poesie verpflichteten literar. Experimenten. Der »Held« des Romans ist die Figur eines Quadrats, denn diese bedingt alle im Text generierten Bedeutungen. Im Zusammentreffen von sprachlichen u. grafischen Elementen mit der Form des Quadrats erfolgt die semant. Markierung, aus der die verschiedenen »Geschichten« hervorgehen. So erzeugt diese geometr. Figur in ihren ständigen Metamorphosen überraschende u. witzige Bedeutungseffekte. Beides, das Ausschöpfen der Wirkungsmöglichkeiten eines Grundelements u. die Sparsamkeit der Mittel, ist charakteristisch für A.s Arbeiten. Auch seine Konstellationen u. Dialektgedichte zeichnen sich durch Reduktion auf wenige sprachl. Elemente u. deren Anordnung auf dem Papier aus, wobei sie im gegenläufigen Prozess ein Maximum an semant. Effekten freisetzen. Zu Beginn der 1960er Jahre hatte sich A. wieder der Architektur zugewandt, jetzt als Kritiker. Er begründete das Genre Architekturkritik in der Tagespresse; 1961 schrieb er anonym in der »Abend-Zeitung«, 1962–1972 in der »Presse«. Unter dem polemisch-iron.

18

Titel Nieder mit Fischer von Erlach (Salzb. 1986) wurde eine Auswahl aus seinen mehr als 500 Kritiken publiziert, die A.s energisches Auftreten gegen Abbruchspekulation u. unkünstlerisches Bauen dokumentiert. Die Kriterien seiner Kritik u. seinen Anspruch auf künstlerisches Bauen legte er später in seinem viel beachteten österr. Architekturführer dar (Österreichische Architektur im 20. Jahrhundert. 4 Bde., Salzb./Wien 1980–2005). Von 1983 bis zu seiner Emeritierung 1998 war A. Vorstand der Lehrkanzel für Geschichte u. Theorie der Architektur an der Universität für angewandte Kunst in Wien. Seit 2003 erscheinen wieder literar. Texte von A. Sowohl die einschlafgeschichten (Wien 2003) als auch die wiener linien (Wien 2004) sind Prosaminiaturen, die sich der Beobachtung alltäglicher Situationen mit Witz u. Hintersinn verdanken. Weitere Werke: hosn rosn baa (zus. mit H. C. Artmann u. Gerhard Rühm). Wien 1959 (L.). – quadrat-studie. Linz 1974. – WOHNEN ETCETERA. Architekturtexte II. Hg. Rüdiger Möller. Mchn. 1975. – F. A. (Hg.): Die WARE Landschaft. Eine krit. Analyse des Landschaftsbegriffs. Salzb. 1977. – Aufforderung zum Vertrauen. Aufs. zur Architektur. Salzb. 1987. – Werkstattbericht. In: die wiener gruppe. Hg. Walter-Buchebner-Gesellsch. Wien/ Köln/Graz 1987, S. 145 ff. – KAAS. Dialektgedichte. 1991. – Die rückwärtsgewandte Utopie: Motor des Fortschritts in der Wiener Architektur? Wien 1993. – Die Plotteggs kommen. Ein Bericht. Wien 1995. – Region, ein Konstrukt? Regionalismus, eine Pleite? Basel 1995. – Wiener Architektur. Wien 1998. – und oder oder und. Wien 2006. Literatur: F.A. Schr.en u. Werk. Wien 1985 (Ausstellungskat. mit Bibliogr.). – Christiane Zintzen: F. A. In: LGL. – Tyrus Miller: Concrete dialects, spatial dialectics. F. A. as poet and architectural historian. In: Architectures of poetry. Hg. María Eugenia Díaz Sánchez. Amsterd. 2004, S. 53–75. – Martin A. Hainz: ›do schraib i fai nix nai‹. Architektur, Sprache u. Möglichkeit bei F. A. In: Kunst u. Musik in der Lit. Ästhet. Wechselbeziehungen in der österr. Lit. der Gegenwart. Hg. Roman Koprˇ iva u. Jaroslav Kovárˇ . Wien 2005. – Herbert J. Wimmer: Risse, Ausrisse, Herausrisse. Zu F. A.s Architekturpublizistik. In: Vom Glück sich anzustecken. Möglichkeiten u. Risiken im Übersetzungsprozess. Hg. Martin A. Hainz. Wien 2005, S. 13–33. Walter Ruprechter

19

Achternbusch, Herbert, eigentl.: Herbert Schild, * 23.11.1938 München. – Erzähler, Dramatiker, Filmemacher u. Schauspieler. Der Sohn eines Zahnarztes u. einer Sportlehrerin wuchs bei seiner Großmutter in Breitenbach bei Mietraching im Bayerischen Wald auf. Der unehelich geborene A. wurde 22-jährig von seinem Vater adoptiert. Nach dem Abitur 1960 in Cham u. einer abgebrochenen Schreinerlehre studierte A. Malerei an der Kunstakademie Nürnberg. Er arbeitet nicht nur als Schriftsteller, sondern auch als Maler, Filmemacher u. Schauspieler; in Volker Schlöndorffs Film Übernachtung in Tirol (1973) spielte er eine Nebenrolle. A. lebt heute in München. A. stattet seine Figuren häufig mit Daten seiner eigenen biogr. Realität aus, stellt sie dann aber in Kontexte, die eine rein autobiogr. Lesart ausschließen. Mehr noch: Bereits die Art der Präsentation des biogr. Materials verzichtet darauf, eine literar. Realität herzustellen, die für wirklich genommen werden könnte. Durch Überzeichnung – entweder zum Grotesken hin (Das Andechser Gefühl. In dem Roman: Die Stunde des Todes. Ffm. 1975) oder zur Katastrophe (Wind. Ffm. 1984. Briefe) – werden die Kunstwelten sogleich als Fiktion ausgewiesen. Dabei wird der Anspruch aufrechterhalten, die außerliterar. Wirklichkeit zeichenhaft exemplarisch darzustellen u. durch die Art der Darstellung zu kritisieren. Gegenstand der Kritik ist die soziale, polit. u. kulturelle Wirklichkeit der dt. Nachkriegsgesellschaft, bes. Bayerns, das durch sein konservatives, katholizist. Wertesystem von A. des kulturellen Muffs, der Reaktion u. Bigotterie verdächtigt wird. A.s Hassliebe zu Bayern u. seine z.T. harsche Kritik an Staat u. Politik, an Kirche u. Religion wird häufig als Beleidigung u. Verletzung sittlicher u. religiöser Gefühle empfunden; sein Jesus-Film Das Gespenst (1982. Filmbuch Ffm. 1983) war ein internat. Skandal, wurde in einigen Ländern (Schweiz, Österreich) verboten u. zum Streitgegenstand über »Freiheit und Mißbrauch der Kunst« hochstilisiert. Sein Buch Breitenbach (Köln 1986) ist eine wortreiche,

Achternbusch

gebetsmühlenhafte Schmähschrift auf die CSU u. ihre Anhänger. Der Faschismus wird hier als histor. Konstante, die Bundesrepublik Deutschland als saniertes Konzentrationslager beschrieben, wo »Arbeit« wieder »frei« macht. Die nicht bewältigte dt. Vergangenheit ist ein Motiv dafür, dass das komödiantische, satir., absurde Element aller seiner Schriften umkippen kann in die böseste Geschmacklosigkeit. Die Darstellung eines Arztes, der seinem Patienten 3000 Hektoliter Schnaps verschreibt, damit er den Völkermord an sechs Millionen Juden vergessen kann (in: Das Haus am Nil. Ffm. 1981), überschritt für viele die Grenzen des Zumutbaren. Der Normverstoß besteht darin, dass A. Völkermord u. auch andere brisante Themen (Umweltkatastrophen, Aids, Raketenstationierung, atomaren Overkill) überzogen drastisch, satirisch, ja absurd darstellt – Themen, die für derartige Darstellungen eigentlich tabu sind. Heimatlosigkeit u. die Suche nach Ersatzheimaten (Afrika, China, Grönland u. a.) sind wiederkehrende Themen. Im Film Servus Bayern (Gauting 1977) wird die Schönheit des Schreibens darin gesehen, Eis zu brechen u. zu schmelzen. In Bayern haben die Menschen, bildlich gesprochen, »das Eis in sich«, sind also gefühlskalt. Aber in welche Gegend der Welt der Schriftsteller auch immer kommen mag, er wird nirgendwo eine Idealheimat finden, in der die Erfüllung von »konservativen« Werten wie Glück, Harmonie, Heimatliebe, Wärme garantiert ist. In Grönland, wo das Eis außerhalb des Menschen liegt, korreliert die »trostlose Landschaft« der Gletscher mit »Tod«, sogar Sizilien ist von »grönländischer Atmosphäre überlagert«. Die Nichterfüllung der utop. Suche ist systemimmanent zgl. Vorbedingung für die Schriftstellerei selbst; denn wenn es für den Schriftsteller kein Eis mehr zu brechen gibt, dann gibt es für ihn auch die »Schönheit des Schreibens« nicht mehr, u. das würde den Tod der Literatur bedeuten. Trotz seiner Bajuwarismen, die seine Bücher für Außenstehende mitunter schwer lesbar machen u. einer breiteren Rezeption entgegenstehen, ist A. zum bundesdt. Skandalautor avanciert, nicht nur thematisch.

Achternbusch

Auch sein Stil unterläuft provokativ die »Hoch- oder Kunstgestochenheit der Bildungsträger« (Achternbusch), u. zwar durch eine betont unkünstlerische Erzählhaltung, die sich scheinbar der Kunstproduktion verweigert, die aber der Darstellung der kleinen Leute u. ihrer Nöte entgegenkommt. Eine »spezielle literarische Form«, heißt es in dem »Roman« Die Alexanderschlacht (Ffm. 1971. 5 1984), könne sich bereits affirmativ bzw. subversiv zu einem »politischen System« verhalten. Die Literaturkritik, die A. überwiegend positiv rezipiert, beschreibt seine Texte häufig als subversiv u. anarchisch, weil sie bestimmte formal-ästhet. Erwartungen an Literatur nicht erfüllten. Ihre Erzählstruktur wird als regellos, sprunghaft, subjektivistisch, manchmal auch als schlampig u. dilettantisch beschrieben. Sie suggeriert, dass die Texte verständlicher wären, würde man den realen biogr. Hintergrund u. den situativen Kontext kennen, in dem sie entstanden sind. »Das beste Verständnis«, heißt es in der Alexanderschlacht, hätte der, »der sich am nächsten beim Autor befindet«. Diese Einheit von Literatur (bzw. Film, Theater, Malerei) u. Leben wird dadurch postuliert, dass die Texte ihre eigenen Entstehungsbedingungen laut Fiktion immer schon mitreflektieren. Jeder Text erscheint also als ein Konglomerat aus den alltäglichen, oft banalen Lebensbedingungen (als den Begleiterscheinungen des Schreib-Produktionsprozesses) u. der Thematisierung der Kunstproduktion selbst. A. hat zudem viele seiner Texte, auch die bereits publizierten, nachträglich überarbeitet u. Textteile aus Einzelveröffentlichungen herausgelöst u. neu zusammengestellt. Bes. gut sichtbar ist das an seiner mittlerweile neunbändigen Werkausgabe unter dem Motto Du hast keine Chance, aber nutze sie (Ffm. 1978 ff.). Die Existenz solch toposhaft versetzbarer Versatzstücke zeigt, dass A. – im Gegensatz zur generativ-hierarchischen – die additiv-kombinator. Textproduktion bevorzugt. A. verzichtet auf die gängigen Gattungsbezeichnungen, die Grundformen gehen ineinander über: Der Roman Der Tag wird kommen (Ffm. 1973. Frz. Le jour viendra. Paris 1979) ist wiederholt von Gedichten durchbrochen, jedes Kapitel in Breitenbach beginnt

20

als Erzähltext u. endet als Gedicht. Ein Erzähltext kann zgl. als Theaterstück (z.B. Ella. 1973/78), als Film oder Hörspiel (z.B. Das Andechser Gefühl) realisiert werden. Die bevorzugten Textsorten sind Erzählungen (z.B. Blutentnahme. In: Land in Sicht. Ffm. 1977), Briefe (Wind), Essays (z.B. Das Mumienherz. 1976. In: Land in Sicht) u. Kurzprosa aller Art, ferner Drehbücher (z.B. Heart of Glass. Mchn. 1976) u. Theaterstücke (z.B. Ella. In: Spectaculum 31. Ffm. 1979). Seit Das Andechser Gefühl hat A. etwa 30 Filme realisiert (meist sowohl als Autor wie als Regisseur), zuletzt Das Klatschen der einen Hand (2002), seit 1978 hat er sich auch der Theaterarbeit stärker zugewandt u. seine Stücke z.T. selbst inszeniert, wie z.B. Linz (Mchn. 1987) u. Der Stiefel und sein Socken (Mchn. 1993. Frz. La botte et sa chaussette. Paris 1994), für das er 1994 den Mühlheimer Dramatikerpreis u. den Dramatikerpreis des Goethe-Instituts erhielt. A. ist auch als Maler hervorgetreten, der seine Aquarelle auf bedrucktes Zeitungspapier malt (abgedr. in: Die Föhnforscher. Ffm. 1985), ein Zeichen für die Vergänglichkeit der Kunst. Weitere Werke: Südtyroler. Mchn. 1966 (L.). – Zigarettenverkäufer / Hülle. Ffm. 1969. 1983 (P.). – Das Kamel. Ffm. 1970. 1983 (P.). – Die Macht des Löwengebrülls. Ffm. 1970 (P.). – L’Etat c’est moi. Ffm. 1972. 41984 (P.). – Land in Sicht. Ffm. 1977 (R.). – 1969. Die Alexanderschlacht. Die Atlantikschwimmer. 3 Bde. (Werke 1–3), Ffm. 1978. – Der Komantsche. Heidelb. 1979 (Drehb.). – Es ist ein leichtes beim Gehen den Boden zu berühren. Ffm. 1980 (P., Theaterstücke u. Filmtexte). – Der Neger Erwin. Ffm. 1981 (Filmbuch). – Die Olympiasiegerin. Ffm. 1982. Filmbuch 1984. – Das letzte Loch. Ffm. 1982 (Filmbuch). – Revolten. Ffm. 1982 (P., Theaterstücke u. Filmtexte). – Der Depp. Ffm. 1983 (Filmbuch). – Wellen. Ffm. 1983 (Filmtexte u. Theaterstücke). – Weg. Ffm. 1985 (P.). – Das Ambacher Exil. Köln 1987 (P.). – Die blaue Blume. Ffm. 1987 (P.). – Wohin? Köln 1988 (P.). – Mixwix. Köln 1990 (P.). – Es ist niemand da. Ffm. 1992 (P.). – Hundstage. Ffm. 1995 (P.). – Der letzte Schliff. Mchn. 1997 (R., Biogr.). – Misslungen. Weitra 1999 (Drehbücher). – Alexanderschlacht. Gesamtausg. I. Weitra 2001. – Das Haus am Nil. Gesamtausg. II. Weitra 2002. Literatur: Thomas Beckermann u. Michael Töteberg: H. A. In: KLG. – Jörg Drews (Hg.): H. A. Ffm. 1981. – Peter W. Jansen u. Wolfram Schütte

21 (Hg.): H. A. Mchn. 1984. – Marina Schneede u. Matthias Klein (Hg.): H. A. Der Maler. Mchn. 1988 (Kat.). – Christoph Borninkhof: Das Selbstlebenschreiben. Studien zum schriftsteller. Werk H. A.s. Ffm. 1994. – Doris Riedl: Der spielende Tod. Analyse zur Darstellung des Todes in Text u. Inszenierung v. H. A. ›Plattling‹ u. a. Mchn. 1995. – Tutto in una volta: H. A. Hg. Marco Farano. Turin 1996. – Mirko F. Schmidt: H. A. In: Dt. Dramatiker des 20. Jh. Hg. Alo Allkemper u. Norbert Otto Eke. Bln. 2000, S. 587–609. – Lutz Hagestedt: H. A. In: LGL. – Marion Chénetier-Alev: L’oralité dans le théâtre contemporain: H. A., Pierre Guyotat, Valère Novarina, Jon Fosse, Daniel Danis, Sarah Kane. Diss. Paris. 2004 (Mikroform). Lutz Hagestedt

Acidalius, Valens, eigentl.: Valtin Havekenthal, * 1567 Wittstock/Ostpriegnitz, † 25.5.1595 Neisse/Schlesien. – Neulateinischer Lyriker u. Philologe. A., Sohn des evang. Pastors u. Inspektors der Kirche in Wittstock, studierte Philologie u. Medizin in Rostock (seit April 1585), Greifswald (seit Jan. 1587) u. Helmstedt (Juni 1589–1590), wo er bei Giordano Bruno hörte. Mit den Cunae Natalitiae (Greifsw. 1588) u. Epigrammata (Helmstedt 1589) erschienen noch zu Studienzeiten erste Sammlungen seiner Elegien u. Epigramme, unter denen zahlreiche Übersetzungen aus der Anthologia Graeca zu finden sind. Vom Frühling 1590 bis zum Frühsommer 1593 bereiste A. Italien (Padua, Bologna, Rom). Rufe auf Lehrstühle in Bologna u. Pisa lehnte er aus gesundheitl. Gründen ab. Seit Juli 1593 lebte er in Breslau u. Neisse bei Freunden im Umkreis des Fürstbischofs Andreas von Jerin. Durch poet. Beiträge zur Neuausgabe der Beschreibung von Laurentius Scholtzens botanischem Garten (Breslau 1594) u. zu Jakob Monaus Symbolum (Lebensspruch. Görlitz 1595) sowie durch ein Epithalamium anlässlich der Hochzeit seines Breslauer Freundes Daniel Bucretius Rindfleisch, dessen Geburtsstadt er als neue Heimat der Musen feierte, avancierte A. zu einem der profiliertesten humanist. Dichter Schlesiens. 1603 wurden seine gesammelten Gedichte in Werkeinheit mit Gedichten von Janus Lernutius aus Brügge, Janus Gulielmus u. Janus Gruter in Liegnitz aufgelegt (Internet-Ed.: CAME-

Acidalius

NA), 1612 nahm Gruter eine Auswahl in die Deliciae Poetarum Germanorum (Ffm.) auf. Hundert von seinem Bruder Christian unter dem Titel Epistolarum Centuria (Hanau 1606) veröffentlichte Briefe dokumentieren A.’ Kontakte zu den Gelehrten Deutschlands u. Italiens (u. a. an Caselius, Lipsius, Ortelius u. Scaliger) in den Jahren zwischen 1591 u. 1595. Als Philologe trat A. nach dem Vorbild des von ihm verehrten Justus Lipsius durch eine krit. Ausgabe des röm. Historikers Velleius Paterculus (Padua 1590) u. krit. Studien zur Alexandergeschichte des Q. Curtius Rufus (Ffm. 1594), zu Tacitus (Hanau 1607) u. Plautus (Ffm. 1607) hervor, deren Textemendationen z.T. bis heute relevant sind. A.’ letzte Lebensmonate standen im Zeichen des Streits um die Disputatio nova contra mulieres qua probatur eas homines non esse (o. O. 1595), eine Frauensatire vermutlich polnisch-sozinianischen Ursprungs, die A. an den Verleger seines Curtiusbuchs vermittelte, um ihn für das finanzielle Desaster zu entschädigen, deren Verfasserschaft ihm jedoch zugeschrieben wurde. Die Schrift fand bis ins 20. Jh. Respondenten u. Nachahmer. Neuere Ausgaben: Clive Hart: Treatise on the Question ›Do Women Have Souls and Are They Human Beings?‹ Disputatio Nova. With Translation, Commentary and Appendices. Expanded and Revised Edition. Lewiston 2004. – V. A.: Disputatio nova contra mulieres, qua probatur eas homines non esse – Neue Disputation gegen die Frauen zum Erweis, daß sie keine Menschen sind. Lat. u. dt. Mit der Übers. v. Georg Burkard hg. u. erl. v. Ralf Georg Czapla u. G. Burkard. Heidelb. 2006. Literatur: Bibliografie: Jozef IJsewijn: V. A. In: DDL. – Weitere Titel: Manfred P. Fleischer: The Garden of Laurentius Scholz. A Cultural Landmark of Late Sixteenth-Century Lutheranism. In: Journal of Medieval and Renaissance Studies 9 (1979), S. 29–48. – Ders.: Are Women Human? The Debate of 1595 Between V. A. and Simon Gediccus. In: Sixteenth Century Journal 12 (1981), S. 107–120. – J. IJsewijn: An Admirer of Justus Lipsius. The German Neo-Latin Poet and Philologist V. A. In: Academiae Analecta: Medelingen Kon. Academie W. L. S. K. van België. Klasse der Letteren 45 (1983), S. 183–206. – Bernhard Kytzler: Laudes Silesiae III. Der Sonnengesang des A. In: Jb. der Schles. Friedrich-Wilhelm-Univ. zu Breslau 27 (1986), S. 81–86.

Ackermann – Magdalena Drexl: Weiberfeinde – Weiberfreunde? Die Querelle des femmes im Kontext konfessioneller Konflikte um 1600. Ffm. 2006. – Ralf Georg Czapla: Einl. zu: V. A.: Disputatio nova contra mulieres [...] (s. o.), S. 7–25. Ralf Georg Czapla

Ackermann, Ernst Wilhelm, * 14.10.1821 Königsberg, † 14.6.1846 Neapel. – Lyriker u. Erzähler. Der Sohn eines Gymnasialprofessors am Lübecker Katharinengymnasium bestand dort 1840 die Reifeprüfung mit Auszeichnung. 1840–1844 studierte A. in Leipzig, Berlin u. Bonn Theologie, Philosophie u. Geschichte. In Berlin lernte er Jacob Burckhardt kennen, in Bonn pflegte er Kontakt mit Ernst Moritz Arndt u. Gottfried Kinkel, der ihn nachhaltig beeinflusste. Ab 1844 bereiste A. die Schweiz, Italien u. Griechenland u. trat im Sept. 1845 durch die Vermittlung Ernst Raupachs als Erzieher in den Dienst einer russ. Familie, die er auf ihrer Italienreise begleitete, bis er in Neapel am Nervenfieber verstarb. Literarisch orientierte sich A. an der Romantik u. v. a. an Hölderlin, dessen Tod des Empedokles thematisches Vorbild für seine lyr. Gestaltung ekstatischer Todessehnsucht war. Daneben versuchte er sich auch auf dem Gebiet der Novellistik u. Reisebeschreibung u. nahm eine Untersuchung zur dt. Mystik in Angriff. Aufgrund seiner vielfältigen Interessen dem biedermeierl. Weltbild entwachsen, machte A. sich das krit. Gedankengut des Vormärz zu eigen, doch verhinderte sein früher Tod eine Ausarbeitung der Entwürfe. Weitere Werke: Aus dem poet. Nachlasse mit einem Vorw. v. Ernst Raupach. Hg. vom Vater des Verewigten (d.i. Wilhelm August Ackermann). Lpz. 1848.

22

Ackermann, Werner, auch: Robert Landmann, Rico Gala, W. A. Fieldmann, * 28.12.1892 Antwerpen, † Mai 1982 Mbabane/Swasiland. – Roman- u. Hörspielautor. Nach der Teilnahme am Ersten Weltkrieg arbeitete A. 1920–1923 als Buchhändler u. Verleger in Berlin. 1923–1925 war er Mitbesitzer des Kurhauses u. Künstlertreffs »Monte Verità« bei Ascona, das er in seinem Roman (unter dem Pseud. Robert Landmann) Monte Verità beschrieb (Bln. 1930. Überarb. u. erg. u. d. T. Ascona, Monte Verità. Ffm./Bln./Wien 1979. 1988. Frauenfeld u. a. 2000). Ab 1929 lebte A. wieder in Berlin als freier Autor. Neben seinen Dramen wie Lotterie (1926) u. Flucht nach Schanghai (1928) ist sein antifaschistischer Roman Wehe dem Sieger (Heide/ Holstein 1932. Neufassungen u. d. T. Matteotti besiegt Mussolini. Karlsr. 1947, sowie u. d. T. Ein Toter besiegt Mussolini. Halle/ S. 1950) hervorzuheben, dessen erste Auflage durch die SA vernichtet wurde. 1933 emigrierte A. über die Türkei u. Spanien nach Belgien. Dort schrieb er mehrere Hörspiele wie Le duel américain (Brüssel 1936). Nach der Besetzung Belgiens wurde A. 1940 als Übersetzer eingezogen, 1941 wegen politischer Unzuverlässigkeit jedoch wieder entlassen. Nach der Kriegsgefangenschaft (1945/46) lebte er in Weinheim/Bergstraße u. ging 1951 nach Südafrika. Weitere Werke: Urwald in der großen Stadt. Kleiner afrikan. Roman. Mchn. 1956. – Schwarzweiß gestreift. Südafrikan. Gesch.n. Esslingen 1958. Literatur: DLL, 20. Jh. Heiner Widdig / Red.

Acklin, Jürg, auch: Jörg, * 20.2.1945 Zürich. – Kulturredakteur, PsychoanalytiLiteratur: Jacob Burckhardt: In Neapel. Auf E. ker, Erzähler, Romanautor, Lyriker.

W. A.s Tod. In: Gedichte. Basel 1926, S. 64 ff. – Paul Requadt: Hölderlin im Vormärz. Über E. W. A. In: Ders.: Bildlichkeit der Dichtung. Mchn. 1974, S. 95–105 (zuerst in: HölderlinJb 12, 1961/62, S. 250–262). – BLSHL. Andreas Schaffry / Red.

Aufgewachsen in Küsnacht am Zürichsee, studierte A. Sozialwissenschaften in Zürich u. Bremen u. promovierte 1974 mit einer Arbeit über den Frühsozialisten Wilhelm Weitling (Der Kommunistenprozeß in Zürich von 1843. Zus. mit Christoph Kappeler. 1974. 1982). Anschließend übernahm A. die Leitung einer Alternativschule in Zürich, an der er auch

23

Acontius

unterrichtete. Es folgte eine dreijährige Re- von einem Kind, das jahrzehntelang im dakteurszeit beim Schweizer Fernsehen, Bauch der Mutter verharrt, sich ansonsten während der A. sich zum Psychoanalytiker aber durchaus normal entwickelt, wächst, ausbilden ließ. Seit den frühen 1980er Jahren sprechen lernt, Schule u. Universität besucht. betreibt A. eine eigene Praxis in Zürich, wo er In Das Tangopaar (Zürich/Frauenfeld 1994) mit seiner Familie lebt. 1999 leitete er für bleibt ein vor der Scheidung stehendes Eheeinige Monate den »Literaturclub« im paar nach erneutem Geschlechtsakt unlösbar Schweizer Fernsehen DRS. A. gehörte der ineinander verkeilt u. muss den Alltag nun, Gruppe Olten an (2002 aufgelöst), seit 2003 siames. Zwillingen ähnlich, bewältigen. A. wurde wiederholt für sein literar. Werk ist er Mitgl. der Autorinnen und Autoren der ausgezeichnet (Buchpreis der Stadt Zürich für Schweiz (AdS). A.s Prosatexte charakterisiert eine über- Froschgesang 1996, Ehrengabe des Kantons wiegend monolog. Form. Die Handlung wird Zürich für Defekt 2002, Zolliker Kunstpreis über den Gedanken- oder Erzählstrom des für sein Lebenswerk 2005). Auch von den meist männl. Protagonisten vermittelt, ein Feuilletons wurde er fast durchweg positiv jeweiliges Gegenüber erscheint in den Texten aufgenommen; bemängelt werden aber bisnur bedingt präsent. Retrospektiv werden weilen eine zu offensichtlich konstruierte problematische zwischenmenschl. Beziehun- Handlungsverwebung oder eine schemengen u. Generationskonflikte, oft familiärer hafte Figurenzeichnung. Von der literaturwiss. Forschung ist A. Art, aufgerollt. Die (gesellschafts-)krit. Färbung seiner Texte unterstreicht A., indem er bisher kaum beachtet worden. das Geschehen in der Wirklichkeit ansiedelt – Weitere Werke: Der einsame Träumer. Zürich oft greifbar in u. um Zürich –, zgl. überspitzt 1967 (L.). – In der Kalaharisteppe. In: Gesch.n v. der er es mittels Verwendung surrealer, grotesker Menschenwürde. Zürich 1968. – Michael Häuptli. oder bizarr-absurder Elemente; mit Adolf Zürich 1969 (R.). – Das Überhandnehmen. Ein Muschg kann von einem »phantastischen Text. Zürich 1973. – Der Aufstieg des Fesselballons. Mchn. 1980 (R.). – Froschgesang. Zürich/FrauenRealismus à la Suisse« gesprochen werden. feld 1996 (R.). – Der Vater. Zürich/Frauenfeld 1998 Erste literar. Anerkennung erlangte A. (R.). – Defekt. Zürich 2002 (R.). durch seinen Text alias (Zürich 1971), für den Literatur: Rainer Stöckli: J. A. In: DDL. – J. A. er 1971 mit dem Conrad-Ferdinand-MeyerIn: Der Bremer Literaturpreis 1954–98. Hg. WolfPreis u. 1972 mit dem Bremer Literaturpreis gang Emmerich. Bremerhaven 1999, S. 167–170. – ausgezeichnet wurde. Die monolog. Erzäh- Gerhard Beckmann: J. A. In: LGL. lung spielt den drohenden Identitätsverlust Karoline Hornik bzw. -wechsel des Protagonisten durch, gespiegelt an dessen Vater u. Großvater – ist Acontius, Melchior, eigentl.: Volz, Folst, Letzterer bereits davon überzeugt, »MünchFoltz(e), * um 1515 Oberursel/Taunus, hausen« zu sein, führt der Text den ver† 22.6.1569 Allstedt/Thüringen; Grabmeintl. Wandel des Protagonisten in »James stätte: Pfarrkirche in Stolberg. – Lyriker. Bond« vor. Nur der Vater ist »er selbst«, wenn auch ebenso unbestimmt »nicht der, für den A. studierte 1533/34 in Heidelberg, dann bis man ihn hält«. Durchaus ironisch statuiert 1540 in Wittenberg. Hier legte er sich den der Text mehrmals: »Wir wissen doch noch, Humanistennamen Acontius bei (wohl als wer wir sind!« Übersetzung von Volz = Bolz, Bolzen, WurfÜberwiegt bei den früheren Texten noch spieß aufzufassen). Zu seinen Freunden in eine erzählerische Breite, so konzentrieren Wittenberg gehörten Georg Aemilius, Georg sich A.s Romane der 1990er Jahre stärker auf Sabinus, Johannes Stigel u. Johannes Gigas. einen bestimmten Grundeinfall oder eine Nachdem er 1540 den Magistergrad erlangt Metapher, die der Autor zwar in der Realität hatte, zog A. nach Königstein, wo er in den verankert, aber in äußerster Konsequenz bis Dienst des Grafen Ludwig von Stolberg trat. ins Absurd-Groteske durchspielt. So berichtet Zum Rat des Grafen ernannt, nahm er 1549 Der Känguruhmann (Zürich/Frauenfeld 1992) teil an den Verhandlungen in Speyer über

Acxtelmeier

24

eine Neuerung im Münzwesen. Auch am Quellen u. Forsch.en zur Gesch. v. Oberursel am Kaiserhof soll er den Grafen vertreten haben. Taunus. Hg. Waldemar Krämer. Bd. 1, Ffm. 1978, A.’ größere Gedichte stammen alle aus der S. 85–86. – Harry Vredeveld in: DDL (mit BiblioHarry Vredeveld / Red. Wittenberger Zeit. Die Elegie In Icona Divi gr.). Christophori Carmen (Wittenb. 1536) ist eine allegor. Deutung des Heiligenbildes. Anzie- Acxtelmeier, Stanislaus Reinhard ! Axhender sind seine Gelegenheitsgedichte, zwei telmeier, Stanislaus Reinhard auf Erasmus’ Tod (12.7.1536) u. zwei auf die Heirat seines Freundes Georg Sabinus mit Adam, Adamus, Johannes, * um 1570 RüMelanchthons Tochter Anna (6.11.1536). Das genwalde/Hinterpommern, † nach 1628 erste Epithalamium für Sabinus wurde in den vermutlich Heppenheim/Bergstraße. – Erotica Georgii Sabini Brandenburgensis. Duo Lehrer u. Geistlicher, lateinischer Dichter. Epithalamia (Wittenb. 1536) veröffentlicht. Es schildert die Hochzeit in eleg. Versen: kirchl. Nach Schulausbildung in Danzig u. Studien Feier u. Festmahl, Tanz u. Aufbruch der in Königsberg (seit 1584), Altdorf u. HeidelJungvermählten ins Brautgemach. Das zweite berg (seit 1587) durchlief A. eine bescheidene Hochzeitsgedicht, De nuptiis Georgii Sabini et Karriere in kurpfälz. Diensten: Er unterrichAnnae, Carmen heroicum, erschien 1537 eben- tete seit 1590 am Gymnasium in Kreuznach, falls in Wittenberg. In diesem Gedicht erzählt später am Heidelberger Pädagogium (zuletzt Amor der Mutter Venus, es sei ihm nun end- als Rektor) u. heiratete 1591 die Tochter des lich gelungen, Sabinus mit seinem Pfeil zu Poetikprofessors Lambert Ludolf Pithopoeus. verwunden. Venus begibt sich hierauf nach 1592 erhielt er ohne Examen den Titel eines Wittenberg, schenkt der Braut einen Kranz u. Magister artium. 1601–1624 bekleidete er unterweist sie in der Kunst der ehelichen eine Pfarrstelle im kurmainzischen, zu jener Liebe. Dem Dichter Sabinus sind inzwischen Zeit an die Kurpfalz verpfändeten Heppenheim. Im Zuge der Rekatholisierung nach die Musen erschienen; sie krönen ihn u. sindem Ende des böhmisch-pfälz. Krieges wurde gen ihm ein wundervolles Lied. A. entlassen. Seine letzte Erwähnung datiert Die Gedichte auf den Tod des Erasmus, 1628. wahrscheinlich schon 1536 entstanden, wurUnter A.s Werken sind die hexametr. den erst 1540 in Leipzig veröffentlicht. Die Dichtung Nicer sive Ecloga, Historiam Electorum Elegie Epicedion Erasmi Roterodami klagt die Palatinorum complectens (öffentlich vorgetraParzen an u. verherrlicht Erasmus’ Verdiensgen 1593, gedr. Heidelb. 1609) u. die Lyrikte. Die Apotheosis Erasmi beschreibt anschausammlungen, v. a. Horatianarum parodiarum lich, wie Erasmus vor den Augen Apollons u. liber primus [- secundus] (Heidelb. 1611) herder Musen in den Himmel erhoben wird. vorzuheben. Das vom Autor selbst als »priWeitere Werke: Ad Lectorem. In: Joachim Ge- mitiae« klassifizierte Jugendwerk präsentiert org: Tabulae astronomicae in gratiam studiosae in Form einer Prosopopöie des Flussgottes iuventutis seorsim editae. Wittenb. o. J. – Ad TyNeckar eine Geschichte der kurpfälz. Herrpographum. In: Iacob Micyllus: Silvarum libri scher u. ihrer Vorgänger von den Anfängen quinque. o. O. 1564 (Titelbl.). – Ex Epithalamio in nuptias Georgii Sabini; Aegidius Periander. In: der Wittelsbacherdynastie bis auf Friedrich Germania Aegidii Periandri. Ffm. 1567, S. 579. – 7 IV. (1574–1610), dessen künftige Leistungen Briefe an Hartmann Beyer. In: AfLg 13 (1885), nach Art eines Fürstenspiegels imaginiert werden. Die übrigen Kurfürsten des zurückS. 308–314. Ausgabe: Epithalamia auf die Hochzeit des Sa- liegenden Jahrhunderts werden nach ihren binus. Internet-Ed.: CAMENA: Abt. Poemata (G. Verdiensten um die Reformation bzw. um die Sabinus: Poemata. Lpz. um 1568, Liber adoptivus). Förderung des Calvinismus gewürdigt. Zur Literatur: Franz Schnorr v. Carolsfeld: M. A. Abfassung sog. »Horazparodien« (KontraIn: AfLg 13 (1885), S. 297–314. – Ellinger 2, fakturen horazischer Oden mit vorlagenunS. 105–110. – Winfried Trusen: M. A. In: NDB. – abhängiger Aussage) wurde A. wohl durch Rolf Rosenbohm: Oberursel im 16. Jh. In: Ursella. das Vorbild des in Heidelberg wirkenden Paul

25

Adam

Schede Melissus (1539–1602) angeregt. Das Fechner: Thomas Ludolf Adam, ein bislang unbeerste der beiden Bücher verdient wegen der achteter Angehöriger des frühbarocken HeidelberZeitbezüge (z.B. Nr. 3: Pulververschwörung ger Dichterkreises. In: Euph. 65 (1971), S. 419–427. u. »Oath of Allegiance« in England; Nr. 7: – Dieter Mertens: Zu Heidelberger Dichtern v. Schede bis Zincgref. In: ZfdA 103 (1974), Ermordung Heinrichs IV. von Frankreich) u. S. 200–241. – Eckart Schäfer: Dt. Horaz [...]. Die der scharfen Polemik gegen konfessionelle Nachwirkung des Horaz in der nlat. Dichtung Gegner, bes. die Jesuiten, Beachtung; die Dtschld.s. Wiesb. 1976, S. 92–101. – Rüdiger Textsequenz reflektiert offensichtlich recht Niehl: Parodia Horatiana. Parodiebegriff u. Parpräzise die konfessionspolit. Konstellationen odiedichtung im Dtschld. des 17. Jh. In: Parodia u. Europas im Jahrzehnt vor dem Dreißigjähri- Parodie. Aspekte intertextuellen Schreibens in der gen Krieg. Während hier als Adressaten Per- lat. Lit. der Frühen Neuzeit. Hg. Reinhold F. Glei u. sonen außerhalb des realen Kommunikati- Robert Seidel. Tüb. 2006, S. 11–45. Robert Seidel onshorizontes des Verfassers firmieren, sind die Texte des zweiten Buches der Parodiae wie Adam, Melchior, * Grottkau/Schlesien, auch des Odarum liber primus [- secundus] † 23.3. oder 26.12.1622 Heidelberg. – (Heidelb. 1615–17) »Kasualgedichte« im en- Verfasser von Schriftsteller- u. Gelehrtengeren Sinne, aus denen sich Rückschlüsse auf biografien. die soziale Struktur der pfälz. Gelehrtenschaft gewinnen lassen (z.B. Ad amicos, [...] cum Nach dem Besuch des Gymnasium illustre in filio suo [...] laurea conferretur. Mit Übers. ab- Brieg u. einem Studium an mehreren Hochgedruckt in Parn. Pal., S. 112–115). Ein bis- schulen erwarb A. 1600 in Heidelberg den her als unsicher geltender Einblattdruck zur Magister Artium. Hier war er ab 1601 am Hochzeit Friedrichs V. (Incentivum ad poetas. Pädagogium als Magister, seit 1606 als KonHeidelb. 1613) kann nunmehr eindeutig A. rektor u. seit 1613 als Rektor tätig. A. wurde rasch bekannt durch seine 136 in als Verfasser zugeschrieben werden. Neben lat. Sprache abgefassten wohlfundierten Bioseinen poet. Werken sind von A. lediglich grafien vornehmlich dt. Dichter, PhilosoBearbeitungen theologischer Schriften der phen, Theologen, Juristen, Mathematiker, pfälz. Hofprediger Bartholomaeus Pitiscus (1561–1613) u. Abraham Scultetus Physiker, Humanisten u. Mediziner aus der Zeit zwischen 1420 u. 1620 (Vitae Germanorum (1566–1624) überliefert. Im Zusammenhang mit der Rekonstrukti- jureconsultorum et politicorum. Heidelb. 1611. on des pfälz. Späthumanismus sowie seiner Vitae [...] philosophorum. Heidelb. 1615. Decades chronologisch aufeinanderfolgenden u. be- duae continentes vitas theologorum exterorum rufsständisch gestaffelten »Dichterkreise« principium. Ffm. 1618. Vitae [...] medicorum. wurde A.s sozialhistor. Position präzise ana- Heidelb. 1620. Vitae [...] theologorum. Heidelb. lysiert (Mertens). Auch rückte ein (isoliertes) 1620. Gesamted.: CAMENA). Dieses erste deutschsprachiges Gedicht aus der Vorlauf- bedeutende lexikograf. Werk im Deutschen phase der Opitzianischen Versreform in den Reich stützte sich auf vorhandene EinzelbioBlick, das A. seinem Sohn Thomas Ludolf grafien, ferner auf Leichenpredigten u. er(geb. 1592) zuschrieb (Fechner, korrigiert von lebte 1653–1663 u. 1705/06 weitere AusgaMertens). Die allg. Studien zur »Horazpar- ben. Zeitlebens dem schles. Kulturraum verodie« (Schäfer, Niehl) nennen A. nur mit bunden, war der reformierte A. eine promiNamen; eine Untersuchung seiner Parodiae nente Figur im pfälz. Calvinismus am Vorwie auch des Nicer ist ein dringendes Desi- abend des Dreißigjährigen Krieges. Über lange Zeit kränklich, starb er relativ jung. derat. Weitere Werke: Historia de Abrahamo et Isaaco [...] carmine Heroico reddita. Heidelb. 1592. Literatur: Bibliografie: Dieter Mertens in: DDL. – Weitere Titel: Hans Dieter Dyroff: Gotthard Vögelin – Verleger, Drucker, Buchhändler 1597–1631. In: AGB 4 (1963), S. 1129–1424. – Jörg-Ulrich

Weitere Werke: Apographum Monumentorum Haidelbergensium. Heidelb. 1612. – Disce mori oder Sterbekunst. Neustadt a. d. H. 1615. – Parodiae et metaphrases Horatianae. Ffm. 1616. Internet-Ed.: CAMENA.

Adami Literatur: Johann Gottlieb Krause: Von Melchioris Adamis Vitis. In: Ders.: Umständl. BücherHistorie, oder Nachrichten u. Urtheile v. allerhand alten u. neuen Schrifften. Bd. 1, Lpz. 1715, S. 87–119. – Johann Friedrich Hautz: Die erste Gelehrtenschule Reformierten Glaubensbekenntnisses in Dtschld. oder Gesch. des Pädagogiums zu Heidelberg (1565–77). Heidelb. 1855. – G. Hecht: Schlesisch-kurpfälz. Beziehungen im 16. u. 17. Jh. In: Ztschr. für die Gesch. des Oberrheins. N. F. 42 (1929), S. 176–222. – Peter Schäffer in: DDL (mit Bibliogr.). – James Michael Weiss: The Harvest of German Humanism: M. A.’s Collective Biographies as Cultural History. In: The Harvest of Humanism in Central Europe: Essays in Honor of Lewis W. Spitz. Hg. Manfred P. Fleischer. St. Louis 1992, S. 341–350. – Robert Seidel: M. A.s ›Vitae‹ (1615–20) u. die Tradition frühneuzeitl. Gelehrtenbiographik: Fortschritte u. Grenzen eines wiss. Paradigmas um 1600. In: Oberschles. Dichter u. Gelehrte vom Humanismus bis zum Barock [...]. Hg. Gerhard Kosellek. Bielef. 2000, S. 179–204. – Ders.: Die Paracelsus-Biogr. v. M. A. In: Cardanus 4 (2004), S. 15–45. Michael Behnen

Adami, Johann Samuel, auch: Misander, * 21.10.1638 Dresden, † 13.3.1713 Pretzschendorf (heutiger Weißeritzkreis/Sachsen). – Pfarrer; Verfasser geistlicher u. profaner Schriften, Übersetzer.

26

ordnet nach dem kirchl. Festkalender, v. a. Predigtzwecken dienen sollte u. zahlreiche »Historien, Sinnbilder und Gleichnisse« enthält (60 Bde., Dresden seit 1690). Zu A.s Lebzeiten sollen 73 von ihm verfasste Druckwerke erschienen sein, darunter geistliche u. profane Traktate, Predigten u. Leichabdankungen, berufsprakt. Schriften für die Hand des Pastors wie Der tröstende Priester im Beicht-Stuhle (Dresden 1695 u. ö., mit einem Porträt des Verfassers), Urteile zu strittigen Fragen, z.B. Untersuchung, ob die Heiden-, Jüden- und Türcken-Kinder seelig werden (Dresden 1704), u. schließlich Arbeiten zur Literatur wie Der vertheidigte, beliebte und gelobte Postillen-Reuter (Dresden 1703) sowie v. a. Misanders Bücher-Freunde und Bücher-Feinde (Dresden 1695), eine Anleitung zum zeitgemäßen Gebrauch gelehrten Lesestoffs. Die Vorrede des Misander knüpft an die beliebten Gesprächswerke über Bücher an (Christian Thomasius, Wilhelm Ernst Tentzel). Besondere Aufmerksamkeit gilt dem ungelehrten Leser u. dem Autodidakten; A. beabsichtigt eine von moralisierenden Wertungen freie Heranführung ans Selbststudium. Das »ingenium« des »vernünftigen Menschen«, nicht nur des Gelehrten, soll geöffnet werden. »Misander«, ein Akronym aus Magister Joh. Sam. Adami Neo-Dresd. Ecclesiast. Rabenau., ist A.s bevorzugtes Pseudonym.

A. kann als typisches Beispiel für den als Autor produktiven Landgeistlichen gelten, der erbaul. Schriften kompiliert u. nebenher Literatur: PGK I, Sp. 744–747. – Gotthard auch auf das literar. Leben einzuwirken Lechler: J. S. A. In: ADB. – DBA 5, 110–129. – Josucht. Dieser Typus ist im 17. Jh. für den hann Matthias Groß: Histor. Lexicon Evang. Jubelaußerakademischen, in die Breite wirkenden Priester. Bd. 3, Schwabach 1746. – Johann Anton literarisch-moral. Diskurs von großer Bedeu- Trinius: Beytrag zu einer Gesch. berühmter u. verdienter Gottesgelehrten auf dem Lande. Bd. 1, tung. Lpz. 1751. – Johann Gottlob Dunkel: HistorischDer Vater, Schreiber bei den Soldaten u. Crit. Nachrichten v. verstorbenen Gelehrten u. despäter Advokat in Dresden, schickte den Sohn ren Schr.en. Bd. 2, Tl. 4. Dessau/Köthen 1756. – auf die dortige Kreuzschule u. auf die Leip- Heiduk/Neumeister S. 6, 133 f., 272 f. – Flood, ziger Universität. Nach Jahren als Präzeptor, Poets Laureate, Bd. 1, S. 22–25. Magister in Wittenberg u. Substitut in RaHerbert Jaumann / Red. benau übernahm A. 1672 die Pfarrstelle in Pretzschendorf. War er zuvor von einem Adami, Tobias, * 30.8.1581 Werdau bei sächs. Rat, der die Würde eines Kaiserlichen Zwickau, † 29.11.1643 Weimar. – Jurist, Pfalzgrafen besaß, zum poeta laureatus geReisender, Hofrat; Philosoph, Herausgekrönt worden, so kennt man A. später als ber. Dichter von Kirchenliedern u. als Übersetzer der Satiren des Persius (1674). Der einer reuß. Beamtenfamilie entstamSein Hauptwerk sind die Deliciae (Ergötz- mende A. – der Vater Matthäus war Sekretär, lichkeiten), eine Realiensammlung, die, ge- Amtsschösser zu Greiz, dann Rat, die Mutter

27

Eva Tochter des reuß. Beamten Joachim Walther – besuchte Schulen in Werdau u. Zwickau, wurde 1597 an der Universität Leipzig immatrikuliert u. studierte dort seit Ostern 1600 über 2 Jahre Philosophie, darauf kurz Medizin u. endlich Jura. 1604–1606/07 unterrichtete u. disputierte er (unter Wilhelm Schmuck), unterstützt durch ein kurfürstl. Stipendium (bis 1616!) u. durch Einkünfte als Präzeptor junger Adliger. Seit 1604 diente er als Hofmeister (des späteren Fruchtbringers) Rudolph von Bünau (1593–1647. FG Nr. 346. 1639) in Hansestädten, seit 1608 an der Universität Altdorf, wo er 1609 Scipio Gentilis u. Conrad Rittershusius traf. 1611 reiste A. mit Bünau von Tirol u. Venedig über den Balkan nach Griechenland, Kleinasien, Zypern, Syrien u. Palästina, Malta u. Neapel (8 Monate). Dort vertraute ihm der eingekerkerte Philosoph Tommaso Campanella viele seiner Werke zur Veröffentlichung an: u. a. Prodromus philosophiae instaurandae [...] De Natura Rerum (Ffm. 1617), De sensu rerum et magia (Ffm. 1620. Paris 1637), Apologia pro Galileo (Ffm. 1622), Realis philosophiae epilogisticae Partes Quatuor (Ffm. 1623; mit Civitas solis. Idea reipublicae philosophicae). Er ehrte A. u. Bünau auch durch Sonette. In Rom traf A. Federico Cesi (Accademia dei Lincei) u. in Florenz Galileo Galilei. Über Venedig u. Frankreich gelangten die Reisenden nach Spanien (9 Monate in Madrid, Zutritt zum Hof), bevor sie nach einem längeren Paris-Aufenthalt über die Span. Niederlande u. England 1616 wieder die Heimat erreichten. A. schlug eine Wittenberger Professur der Geschichte u. Redekunst aus u. trat 1617 in die Dienste Herzog Johann Ernsts d.J. von Sachsen-Weimar (FG 3. 1617), zunächst als Präzeptor auf der Kavalierstour von dessen Brüdern Albrecht (FG 17. 1619) u. Johann Friedrich (FG 18. 1618) durch Frankreich u. die Schweiz (1619–1621, zus. mit Hofmeister Hans Bernd von Botzheim, FG Nr. 28. 1619), u. seit 1626 als Hofrat auch unter seinen Nachfolgern Wilhelm (Weimar; FG Nr. 5. 1617) u. Albrecht (Eisenach). 1618 war A. in Verbindung zu dem mit Gedanken einer Frömmigkeitsu. Weltreform beschäftigten (rosenkreuzerischen) Kreis um Johann Valentin Andreae getreten. Zu diesem Tübinger Zirkel gehörte

Adami

Christoph Besold, der Campanellas Traktat über die Gefahr der span. Weltbeherrschung verdeutschte (1620, mit eigenem Anhang 1623 Von der Spannischen Monarchie) u. Johann Arnd(t) u. A. seinen De verae philosophiae fundamento. Discursus (1619?) widmete. A. dedizierte dagegen 1621 in Paris Besold, Andreae u. dem Italienreisenden Wilhelm von der Wense seine Ausgabe von Campanellas Gedichten (Scelta D’alcune poesie filosofiche. 1622). Dank A. konnte Andreae aus den Poemen schon zuvor (Geistliche Kurtzweil. Straßb. 1619) sechs Sonette verdeutschen. A.s Ausgabe wurde in Köthen auf der Presse Fürst Ludwigs von Anhalt (FG 2. 1617) gedruckt, der A. 1629 in die Fruchtbringende Gesellschaft (FG 181) unter dem Namen »Der Gehärte« aufnahm. A. vermählte sich zweimal, 1628 mit Sabina Catharina Neunobel (1601–1629) u. 1632 mit Martha Brand. Weitere Werke: Triumphus Veneris In Nuptiis [...] Johannis Georgii. Dresden 1604. – Satyra [...] In Cerummanum quendam Poetarum, ejusq. creaturas [...] M D CII. In: Bernhartus Glaserus: Judicium [...] de caussis ruinam regni attrahentibus. Amberg 1605. – Tobiae Adami JC. notae. Ad Salviani libros de gubernatione dei. In: Salviani operum tomus alter. Rec. Cunrado Rittershusio. 1611, S. 237–244. – Strena Tobiae Adami. In: S. Athanasii hypomnematum [...] In Psalmos. Altdorf 1611. Literatur: Bibliografische u. biografische Hilfsmittel: VD 17. – DBA. – Weitere Titel: Michael Piccart: Armilustrium [...] Ad [...] Rudolphum a Bunau [...] Et [...] Tobiam Adamium [...] Cal. Ianuariis. Altdorf 1611. – Wolfgang Waldung: Certamen Senectutis Cum Adolescentia. Altdorf 1611. – Propemptica amicorum in discessum [...] Rudolphi a Binau [...] & Tob. Adami [...] cum Altorfio in Italiam abirent. Altdorf 1611. – Fridericus Lange: Status Christianorum. Erfurt o. J. (Leichenpredigt auf A. Stolberg Nr. 3650). – Conermann FG, Bd. 1, Nr. 181 u. Bd. 3, S. 183 f. u. 396 f. – Luigi Firpo: Tobia Adami e la fortuna del Campanella in Germania. In: Storia e cultura del mezzogiorno. Neapel 1979, S. 77–118. – Carlos Gilly: Campanella and the Rosicrucians. In: Rosenkreuz als europ. Phänomen im 17. Jh. Amsterd. 2002, S. 190–211. Klaus Conermann

Adelmann von Adelmannsfelden

Adelmann von Adelmannsfelden, Bernhard, * 27.5.1459 Schechingen oder Neubronn/Ostalbkreis (?), † 16.12.1523 Eichstätt; Epitaph in der Sebastian-Kirche. – Theologe, Humanist. A. stammte aus einem väterlicherseits schwäbischen, mütterlicherseits fränkischen, in der Umgebung von Aalen begüterten Adelsgeschlecht, dessen Mitglieder im 15. u. 16. Jh. im Dienst süddt. Territorialfürsten, in Domkapiteln oder Ritterorden nachweisbar sind, so Bernhards Brüder Johann († 1515) als Deutschordensmeister oder Kaspar († 1541) u. Konrad († 1547) als Eichstätter bzw. Augsburger Kanoniker. A. wurde 1472 als »canonicus ecclesie Eystetensis« in Heidelberg immatrikuliert, ist 1476 an der Universität Basel bezeugt u. studierte 1481/82 in Ferrara, ohne jedoch einen akadem. Abschluss zu erreichen. Seit 1486 Mitgl. des Eichstätter Domkapitels, war er mehrfach Vertreter des Bistums auf Ständeversammlungen u. bei diplomatischen Missionen sowie 1498 Domherr in Augsburg u. Propst des Stiftes St. Gertrud. Seit 1505 oblag ihm als »summus scholasticus« die Oberaufsicht über die Kleriker der Augsburger Domschule; 1515 war er Kantor in Eichstätt u. wurde 1505 u. 1517 als Kandidat für den Augsburger Bischofsstuhl gehandelt. Seine Unterstützung für Johannes Reuchlin, seine Gegnerschaft gegen Johannes Eck u. seine Sympathien für Luther verwickelten ihn in die Auseinandersetzungen um die frühe Reformation. Sein Name wird von Eck in die päpstliche Bannbulle Exsurge Domine gegen Luther (1520) aufgenommen. Von der Androhung des Banns konnte er sich nur befreien, indem er seine Treue zur alten Kirche versicherte (Absolutionsdekret, 9.11.1520), was ihn nicht hinderte, weiter Luthers u. seiner Freunde Sache anzuhängen. Spätestens in Basel kam A. mit den Anfängen des Humanismus nördlich der Alpen in Berührung; in Italien lernte er ihn in seiner vollen Entfaltung kennen. Angesichts dieses Maßstabs blieb er skeptisch gegenüber den dt. Universitäten, in denen v. a. die »bonae litterae« wenig angesehen seien (an Reuchlin 1484). A. ist nicht als Verfasser eigener literar.

28

oder wiss. Werke hervorgetreten (ein scheinbar entgegenstehendes Zeugnis widerlegt Martínek) – er berief sich auf das sokrat. »scio me nihil scire« (an Reuchlin, 3. Nov. 1490; s. Pirckheimer an A., Nov. 1516) –, sondern v. a. als Briefschreiber. Er war Briefpartner zahlreicher humanist. Gelehrter v. a. im süddt. Raum. Dabei schrieb er einen gewandten lat. Stil, der seine Briefe, obwohl er sie, anders als viele Zeitgenossen, nicht planmäßig sammelte, zu einem repräsentativen Korpus früher humanist. Sodalität macht. V. a. die Briefwechsel mit Bohuslav von Hassenstein (den er seit Ferrara kannte) u. Willibald Pirckheimer (dessen Vater Johannes Kanzler des Bischofs von Eichstätt war) spiegeln humanist. Freundschaftskult im Austausch über persönl. Lebensumstände, größere u. kleinere Erlebnisse, Nachrichten über Bekannte, Freunde u. Gegner, Reisen, Gelesenes, Lektürewünsche, gemeinsam interessierende wiss. oder literar. Themen, polit., später dann zunehmend auch religiöse Fragen. Distanziert gegenüber naturwiss. Fragen, interessierte sich A. bes. für die »humanarum literarum studia«, verteidigte mit den übl. Argumenten die Poeten (an Reuchlin 1484) u. förderte v. a. lat. Übersetzungen von Werken aus der christl. griech. Spätantike. Seine Briefe zeigen ihn als unermüdl. Vermittler von Büchern, als Anreger von Übersetzungen (auch aus dem Italienischen) u. als Herausgeber der Werke anderer, schließlich als Widmungsträger gelehrter, später auch religiöser Schriften (Heinrich Bebels De laude, antiquitate, imperio, victoriis, rebusque gestis veterum Germanorum; Pirckheimers PlutarchÜbersetzung De vitanda usura; seine Übersetzung [pseudo-]platon. Dialoge; verschiedene Übersetzungen des Oecolampadius aus dem Griechischen, dessen Schriften über Beichte u. Eucharistie). Man bemühte sich um A.s Hilfe bei der Suche nach Druckern oder um seinen Schutz gegen Kritiker u. Konkurrenten. Nicht immer waren die Versuche erfolgreich (so nicht bei Nikolaus Ellenbogs Epitome platonica). A. nannte Reuchlin seinen »præceptor« (1484). Er gehörte mit einigen Klerikern (u. a. seinem Bruder Konrad) u. Patriziern (u. a. Konrad Peutinger) dem Augsburger Huma-

29

Adelung

nistenzirkel an. Diese Sodalitas Augustana sich bestätigt. Ecks Bemerkung, nur einige scheint aber kaum eine feste Institution, eher »canonici indocti« unterstützten Luther, eine recht lockere Verbindung gewesen zu verstand er als auf sich gemünzt. Er beförsein (Müller). Sie trat bei Peutingers Publi- derte 1519 Oecolampadius’ Gegenschrift kation röm. Inschriften im Augsburger Raum über die Indocti canonici Lutherani, die auch in (1505) auf – in der handschriftl. Fassung des die Volkssprache übersetzt wurde, zum Werks (Clm 4028) findet sich sogar ein Epi- Druck. Das Werk wurde A. selbst zugegramm aus A.s Feder, das wie fast alle übri- schrieben, was das Klima weiter vergiftete. gen empfehlenden Verse im Druck fehlt –, Wo Eck mit »doctus« die wissenschaftlichdann in den Sermones convivales, die Peutinger, theolog. Ausbildung meinte (die A. zeitlebens ebenfalls 1505, im Druck bekannt machte. fehlte), war für A. u. seine Freunde »doctus« 1507 sorgte A. in ihrem Namen für die Ver- auf antikes Bildungswissen bezogen. Nachöffentlichung des Ligurinus. Sonst aber fehlen dem er u. a. mit Hilfe der bayer. Herzöge die Nachrichten vom Wirken der Sodalitas. A.s Absolution vom Bann erhalten hatte, brach er Briefwechsel belegt eher Animositäten gegen die Beziehungen zu den Reformatoren keiden »archigrammateus« Peutinger, die sich neswegs ab. Sein Tod bewahrte ihn davor, in mit beider unterschiedl. Positionen in der der sich verschärfenden Auseinandersetzung Zinsdebatte, später auch wohl im Zuge der deutlicher Stellung beziehen zu müssen – wie religiösen Auseinandersetzungen verschärf- sein Bruder Konrad, der zuletzt als Anhänger der alten Kirche Augsburg sogar verlassen ten. 1514 war A. einer der »viri illustres« aus musste. ganz Europa, deren Briefe gesammelt herLiteratur: Franz Anton Veith: Bibliotheca Auausgegeben wurden, um Reuchlin in seinem gustana. Bd. 2, Augsb. 1786, S. 1–17. – Hermann Streit mit Pfefferkorn u. den Kölner Domi- Arthur Lier: Der Augsburger Humanistenkreis mit nikanern zu stützen, u. denen 1515/16 die bes. Berücksichtigung B. A.s v. A. In: Ztschr. des Epistolae obscurorum virorum folgten. In seinen histor. Vereins für Schwaben u. Neuburg 7 (1860), letzten Lebensjahren stand A. in Kontakt mit S. 85–108. – Franz Xaver Thurnhofer: B. A. v. A., Humanist u. Luthers Freund. Freib. i. Br. 1900. – Luther, Oecolampadius, dem späteren Basler Joseph Zeller: Die Brüder B., Konrad u. Kaspar A. v. Reformator, u. anderen Gefolgsleuten der A. als Stiftsherren v. Ellwangen. In: Ellwanger Jb. 8 neuen Lehre. Seine Pfründen erlaubten A. wie (1922/23), S. 75–84. – Georg Sigmund Graf AdelKonrad Mutian ein »otium cum dignitate«, mann v. Adelmannsfelden: B. A. v. A. In: NDB. – A. das nur selten wegen kirchlicher, polit. oder v. A. In: Bautz. – Bohvslai Hassensteinii a Lobdiplomat. Aufgaben (z.B. 1492 im Auftrag kowicz epistvlae. Hg. Jan Martínek u. Dana Mardes Eichstätter Bischofs am engl. Hof) unter- tínková. Bd. 2, Lpz. 1980. – J. Martínek: De falsa brochen wurde. Aus den Lebensumständen litterarum gloria Bernhardo Adelmanno adficta. In: eines adeligen Domherrn, der von seinen Listy Filologické 108 (1985), S. 204–217. – Eckhard Pfründen lebte, erklärt sich seine Gegner- Bernstein: B. A. v. A. In: DDL (hier auch Angaben publizierter Briefe u. weiterer Lit.). – Jan-Dirk schaft zu den Repräsentanten einer neuen Müller: Konrad Peutinger u. die Sodalitas PeuteWirtschaftsform in der Augsburger Kauf- ringiana. In: Pirckheimer-Jb. 12 (1997), S. 167–186. mannschaft, bes. zu den Fuggern; er wandte Jan-Dirk Müller sich, zumal in seinem Briefwechsel mit Pirckheimer, gegen deren Versuche, Gelehrte Adelphus ! Muling, Johann Adelphus für eine Lockerung des kanonischen Zinsverbots einzuspannen (wie Eck 1514 in der Adelung, Johann Christoph, * 8.8.1732 Augsburger Disputation; dagegen 1515 die Spantekow bei Anklam/Vorpommern, A. gewidmete Übersetzung Pirckheimers von † 10.9.1806 Dresden. – Sprachforscher u. Plutarchs Schrift De vitanda usura). Lexikograf. A. äußerte schon früh Kritik am Niedergang der Kirche; 1517 plante er, seine A., Sohn eines evang. Pfarrers, studierte nach Pfründen aufzugeben u. in ein Kloster ein- der Gymnasialzeit (in Anklam u. – gleichzeizutreten. Durch das Auftreten Luthers sah er tig mit Wieland – Klosterbergen bei Magde-

Adelung

burg) seit dem Sommersemester 1752 evang. Theologie an der Universität Halle. Ob u. wann er ein Abschlussexamen abgelegt hat, ist nicht bekannt: Die Hallenser Theologiestudenten hatten das Privileg, auch ohne Examen Pfarrer werden zu können. Vermutlich war er nach dem Studium für kurze Zeit Privatlehrer (»Hofmeister«). Ab 1758 lehrte er Poesie am evang. Ratsgymnasium in Erfurt. Bei einem Jahresgehalt von nur 75 Talern betätigte er sich daneben als Übersetzer u. Herausgeber v. a. von histor. Werken – dadurch hatte er bereits sein Studium finanziert. 1762 reichte er aus nicht bekannten Gründen sein Entlassungsgesuch ein, ohne eine andere Stelle in Aussicht zu haben. Über die folgenden drei Jahre in A.s Leben ist nichts bekannt. Von 1765 an arbeitete er in Leipzig über 20 Jahre lang als Journalist, Übersetzer, Kritiker, Herausgeber, Rezensent, wiss. Schriftsteller u. Privatgelehrter. In dieser Zeit verfasste er seine bedeutendsten sprachwiss. Arbeiten u. namentlich sein großes Wörterbuch. 1787 wurde er als Oberbibliothekar an die Dresdner Hofbibliothek, die er dann für alle Stände öffnete, berufen u. zum Hofrat ernannt, mit einem Jahreseinkommen von 1000 Talern – erstmals ausreichend für seinen Lebensunterhalt. Jetzt widmete er sich v. a. historischen Arbeiten. Sein Ansehen als Gelehrter verbreitete sich allgemein. Durchreisende von Rang versäumten es gewöhnlich nicht, bei dem immer mehr zum Typ des Stubengelehrten werdenden »Vater Adelung« vorzusprechen (1790 etwa Goethe). A. hat nicht geheiratet: Sein Schreibtisch sei seine Frau u. 70 Bücher seine Kinder, sagte er selbst. Sein Grab in Dresden ist nicht mehr auffindbar. Für die traditionelle Wissenschaftsgeschichtsschreibung (Jellinek) galt A. als der Schlusspunkt der Sprachwissenschaft alten Stils, wogegen Jacob Grimm den Beginn der neueren dt. Sprachwissenschaft markiere. Neuere Texte (Henne, Neumann, Bahner/ Neumann, Regener, Naumann) sehen in ihm eher den Übergang zwischen zwei sprachwiss. Paradigmen, der rationalist., universalist. Spekulation über Sprache im Allgemeinen u. der konkreten, empirist. Beschreibung des Deutschen im Besonderen.

30

A.s bedeutendste sprachwiss. Leistung war die Erarbeitung des ersten brauchbaren großen Wörterbuchs der dt. Sprache (Versuch eines vollständigen grammatisch-kritischen Wörterbuches der Hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der Oberdeutschen). Es erschien in fünf Quartbänden zwischen 1774 u. 1786 bei Breitkopf in Leipzig (Neudr. Hildesh. 1970. 2. erw. Aufl. in 4. Bdn., Lpz. 1793–1801). Das von ihm als musterhaft herangezogene Material war das gesprochene u. geschriebene Meißnische Deutsch der gebildeten Stände Obersachsens, denn diese Sprache sei »die Mittelstraße zwischen dem weitschweifigen Schwulste und rauhem Wortgepränge des Oberdeutschen und zwischen der schlüpfrigen Weichlichkeit [...] des Niedersächsischen« (Vorrede 1774, S. X). A. unterschied in der Lexik des Deutschen hierarchisch fünf Stilschichten: »1. die höhere oder erhabene Schreibart, 2. die edle, 3. die Sprechart des gemeinen Lebens und vertraulichen Umgangs, 4. die niedrige, und 5. die ganz pöbelhafte« (ebd., S. XIV). Die Vulgarismen der untersten Stilschicht schied A. als nicht aufnahmewürdig aus seinem Wörterbuch aus, hingegen nahm er – anders als das spätere Grimm’sche Wörterbuch – Fremdwörter durchaus auf. Jedes Lexem wird »grammatisch« definiert (nach Wortart, Wortbildung, Flexion u. Lautung), wenn möglich etymologisch erklärt u. v. a. in seinem Bedeutungsumfang beschrieben (Paraphrasierung; Angabe von Synonymen, Kontexten, verschiedenen Bedeutungen; phraseolog. Verbindungen). Alle bedeutenden Schriftsteller der Zeit haben A.s Wörterbuch benutzt u. hoch geschätzt – Goethe u. Schiller etwa, die darüber korrespondiert haben. Gängig war das Kompliment, er habe allein gleich viel geleistet wie sonst nur ganze Akademien. Kontrovers beurteilt wurde erst die zweite Auflage, weil A., entschiedener Anhänger Gellerts, sich geweigert hatte, die nach 1760 erschienenen Werke der dt. Literatur, also die Werke des Sturm u. Drang u. der Klassik, für sein Wörterbuch zu berücksichtigen. Zudem setzte er jetzt die dt. Literatursprache schlechthin mit der Sprache »der gebildeten Stände« Ober-

31

sachsens gleich, was viele befremden musste: Goethe, Schiller, Wieland u. a. äußerten sich dazu spöttisch oder mit Nachsicht. In den Jahren 1781/82 erschienen A.s dt. Grammatiken, zunächst die Schulgrammatik (Deutsche Sprachlehre. Zum Gebrauche der Schulen in den Königlich Preußischen Landen. Bln. 1781. 6 1816. Neudr. Hildesh. 1977), verfasst im Auftrag des preuß. Unterrichtsministers Karl Abraham von Zedlitz, dann eine Kurzfassung davon (Auszug aus der Deutschen Sprachlehre für Schulen. Bln. 1781) u. schließlich das große Umständliche Lehrgebäude der Deutschen Sprache zur Erläuterung der Deutschen Sprachlehre (2 Bde., Lpz. 1782. Neudr. Hildesh. 1971). A. machte in diesen Arbeiten die Auffassungen der zeitgenössischen philosoph. Grammatik (v. a. Johann Werner Meiners Philosophischer Sprachlehre von 1781) für die dt. Grammatikschreibung nutzbar. Er definierte die Morphemkategorien (Genus, Kasus, Numerus, Person, Tempus, Modus, Genus Verbi) u. die Wortarten nach kategorialsemant. Kriterien, d.h. als sprachl. Reflex der universalen Denkmöglichkeiten des Menschen (als Ausdruck von Substanz, Qualität, Quantität, Relation, Modalität, Temporalität etc.). Damit entsprach er dem »aufgeklärten« Denken seiner Zeit, wonach in der Sprache vernünftiges Denken gespiegelt erscheine u. Sprachunterricht dementsprechend Übung im log. Denken sein sollte. Dieses Prinzip dominierte den dt. Sprachunterricht im 19. Jh. u. ist z.T. noch heute wirksam. Bei der grammat. Beschreibung des Deutschen hielt A. sich, anders als seine Vorgänger, nicht mehr im Detail, sondern nur noch in den allg. Grundsätzen an das Modell der lat. Grammatik. Er behielt indes die lat. Grammatiktermini bei, weil diese »einmahl allgemein bekannt sind, man an ihren Wortverstand selten mehr denkt, und daher jeden Begriff ohne viel Mühe mit ihnen verbinden kann« (Bd. 2, 1782, S. XII), ein auch heute noch vertretener Standpunkt. Im Vordergrund stand für ihn die genaue Beschreibung der formalen Gegebenheiten des Deutschen ohne Rekurs auf das Lateinische. Damit hat er Ergebnisse erzielt, die seit 200 Jahren von Grammatiken des Gegenwartsdeutschen benutzt werden. In der Sprachwissenschaft geht das, was heute

Adelung

allg. »traditionelle Grammatik« genannt wird, weitgehend auf A.s Arbeiten zurück: »Adelung ist ein Markstein in der Geschichte der deutschen Grammatik. In seinen Arbeiten strömen beinahe alle Anregungen und Erkenntnisse der nachgottschedschen Zeit zusammen. Dadurch machte er die Schriften seiner Vorgänger überflüssig, und ihre Namen gerieten in Vergessenheit. Was die Spätern an Errungenschaften der älteren nhd. Grammatik übernahmen – und das ist nicht ganz wenig –, empfingen sie durch das Mittel der Adelungschen Schriften« (Jellinek 1913, S. 331). 1785 u. 1788 erschienen, über frühere Arbeiten noch hinausgehend, die Handbücher zur Stilistik (Über den Deutschen Styl. 2 Bde., Bln. Neudr. Hildesh. 1974) u. Orthografie (Vollständige Anweisung zur Deutschen Orthographie, nebst einem kleinen Wörterbuche für die Aussprache, Orthographie, Biegung u. Ableitung. Lpz. Neudr. Hildesh. 1978), das sog. »Stylbuch«. »Die Form der Rede ist sowohl ein Gegenstand der Sprachlehre als der Lehre vom Style oder der Schreibart, doch so, daß es jene bloß mit der Richtigkeit des Ausdrucks durch Worte nach Maßgebung des besten Sprachgebrauchs, diese aber mit dem zweckmäßigen, schönen Ausdrucke zu thun hat.« (Bd. 1, S. 25). Damit grenzte A. Grammatik u. die damals noch junge Disziplin der Stilistik in noch heute gültiger Form voneinander ab u. beschrieb zgl. zwei zentrale Stilaspekte: Zweckmäßigkeit u. Schönheit; die kommunikative Seite sprachlicher Äußerungen (heute v. a. Gegenstand der »Funktionalstilistik«) u. die ästhetische (Aufgabenbereich der literar. Stilistik). In seinen orthograf. Texten diskutierte er die verschiedenen Prinzipien der Rechtschreibung u. die sprachhistor. Gründe für die Unstimmigkeiten im Verhältnis Phonem/Graphem bzw. zwischen gesprochener u. geschriebener Sprache, die dem Sprachbenutzer (v. a. in der Schule) Schwierigkeiten bereiten. Als sich um 1800 das Interesse der Sprachwissenschaft der Erforschung von Struktur u. Genese von Einzelsprachen zuwandte, begann A. einen Sprachvergleich von 500 damals bekannten Sprachen nach morpholog. Gesichtspunkten. Nach Fertigstellung des

Adelung

ersten Bandes des Mithridates, oder allgemeine Sprachenkunde, mit dem Vater Unser als Sprachprobe in bey nahe fünf hundert Sprachen und Mundarten (4 Tle., Bln. 1806–17. Neudr. Hildesh. 1970) starb er; die übrigen drei Bände besorgte der Orientalist Johann Severin Vater. Im zweiten Band wurde die erste umfassende, noch heute gültige Beschreibung des Baskischen aufgenommen, Verfasser war Wilhelm von Humboldt. Dass A. von den Sprachhistorikern des 19. Jh. nicht sehr geschätzt wurde, beruht v. a. auf diesem, wiewohl gewaltigen, Werk, in dem er aus theoret. Gründen zu fragwürdigen Einschätzungen kam (Abwertung des Chinesischen gegenüber der Sprache der Huronen). Eine groß angelegte Geschichte der dt. Sprache schließlich (Älteste Geschichte der Deutschen, ihrer Sprache und Litteratur bis zur Völkerwanderung. Lpz.) konnte A. ebenfalls nicht mehr vollenden. Ein erster Band, der A.s zentrales Theorem der Sprachgeschichte als Spiegel der Kulturgeschichte weiterführt u. bis zur Zeit der Völkerwanderung reicht (also noch vor Einsetzen der ältesten dt. Sprachüberlieferung endet), erschien 1806. Der Fortschritt – zentrale Denkfigur des Aufklärers A. – manifestiert sich ihm zufolge in allen Aspekten von Sprache: Überall ist eine Bewegung vom Niederen zum Höheren erkennbar. Das erkenntnistheoret. Modell steigt von der »Empfindung« über die »Vorstellung« zum »Begriff«. Der Sprachursprung (A.s an Herder anknüpfende Sprachursprungshypothese) nimmt seinen Ausgang vom Onomatopoetischen, um zu immer klareren Begriffen emporzusteigen. Dieser Sprachprozess korrespondiert mit der Entwicklung der »Cultur«. Den Unterschied der sozialen Klassen interpretiert A. als unterschiedl. Grad in der Reinheit des jeweiligen Soziolekts. Dieser Staffelung entsprechen die Stilschichten, mit denen A.s Wörterbuch arbeitet. Die Standardsprache ist identisch mit dem Soziolekt der höheren Klasse in der kulturell fortgeschrittensten Provinz – das Meißnische Deutsch Obersachsens. A. wendet den Fortschrittsgedanken überall an, sogar auf die Literatur. In seiner literar. Wertschätzung blieb er bei Gellert stehen – Goethe trat nicht in seinen Horizont.

32 Weitere Werke: Magazin für die dt. Sprache. Hg. J. C. A. 2 Bde., Lpz. 1782 u. 1784. Neudr. Hildesh. 1969. – Versuch einer Gesch. der Cultur des menschl. Geschlechts. Lpz. 1782. 21800. Neudr. Königst./Ts. 1979. – Christian Gottlieb Jöcher: Allg. Gelehrten-Lexikon. Fortgesetzt u. erg. v. J. C. A. 2 Tle., Lpz. 1784 u. 1787. Neudr. Hildesh. 1960/ 61. Literatur: Max Hermann Jellinek: Gesch. der nhd. Grammatik v. den Anfängen bis auf A. 2 Bde., Heidelb. 1913/14. – Karl-Ernst Sickel: J. C. A. Seine Persönlichkeit u. seine Geschichtsauffassung. Lpz. 1933. – Marie Louise Linn: Zur Stellung der Rhetorik u. Stilistik in der dt. Sprachlehre u. Sprachwiss. des 19. Jh. Marburg 1963. – Helmut Henne: Einf. u. Bibliogr. zu J. C. A., ›Grammatisch-krit. Wörterbuch der Hochdt. Mundart‹. Hildesh. 1970. – Michael Schlaefer: Grundzüge der dt. Orthographiegesch. vom Jahr 1800 bis zum Jahr 1870. In: Sprachwiss. 5 (1980), S. 276–319. – Wilhelm Vesper: Dt. Schulgrammatik. Zur Begründung einer hist.-krit. Sprachdidaktik. Tüb. 1980. – Irina Regener: J. C. A. – Zwischen Konservativismus u. Progressivität. In: Linguist. Studien. Reihe A, Bd. 113,2, Bln./DDR 1983, S. 122–131. – Werner Neumann: Bis auf A.? – Schlußpunkt oder Übergang? In: Abh.en der Sächs. Akademie der Wiss. zu Lpz. Philologisch-histor. Klasse. Bd. 70, Bln./DDR 1984, S. 89–97. – Brigitte Döring: Zum Zusammenhang v. Sprachgesch. u. Gesch. der Gesellsch. bei J. C. A. u. Jacob Grimm. In: ZfG 2 (1984), v. a. S. 159–166. – Marianne Strohbach: J. C. A. Ein Beitr. zu seinem germanist. Schaffen mit einer Bibliogr. seines Gesamtwerkes. Bln. 1984. – Bernd Naumann: J. C. A. u. Jacob Grimms Auffassungen v. Sprachentstehung u. Sprachentwicklung. In: Germanistik. Forschungsstand u. Perspektiven. Hg. Georg Stötzel. Bln. 1985. – Werner Bahner u. Werner Neumann (Hg.): Sprachwiss. Germanistik. Ihre Herausbildung u. Begründung. Bln. 1985. – B. Naumann: Grammatik der dt. Sprache zwischen 1781 u. 1856. Die Kategorien der dt. Grammatik in der Tradition v. Johann Werner Meiner u. J. C. A. Bln. 1986. – Dieter Nerius: Die Rolle J. C. A.s in der dt. Orthographie. In: Sprachwiss. Hg. R. Bergmann u. a. Bd. 14, Heidelb. 1989. – Petra Ewald: J. C. A. als Lexikograph. Beitr. zu einem Modell für die Analyse hist. Regelwerke der dt. Orthographie. Habil.-Schr. Rostock 1991. – Herbert E. Brekle u. a. (Hg.): Bio-bibliogr. Hdb. zur Sprachwiss. des 18. Jh. Die Grammatiker, Lexikographen u. Sprachtheoretiker des deutschsprachigen Raums mit Beschreibung ihrer Werke. Bd. 1, Tüb. 1992. – Gerhard Dill: J. C. A.s ›Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart‹. Untersuchungen zur lexikograph. Kon-

Adler

33 zeption. Bln./Bern 1992. – Wilhelm Kühlmann: Biogr. Methode u. aufgeklärte Revision der Gesch. – J. C. A.s Paracelsusbiogr. In: Analecta Paracelsica. Hg. Joachim Telle. Stgt. 1994, S. 541–556. – JeanLouis Risse: Bemerkungen zu A.s Lexik u. Sprache im Lehrgebäude u. in der Stilistik. In: Rand u. Band: Abgrenzung u. Verknüpfung als Grundtendenzen des Deutschen. FS Eugene Faucher. Hg. René Métrich u. Marcel Vuillaume. Tüb. 1995, S. 55–69. – Andreas Gardt: Gesch. der Sprachwiss. in Dtschld. Bln./New York 1999. – Ulrike HaßZumkehr: Die kulturelle Dimension in der Lexikographie am Beispiel der Wörterbücher v. A. u. Campe. In: Sprachgesch. als Kulturgesch. Hg. A. Gardt. Bln./New York 1999, S. 247–265. – Claudia Stockinger: A. In: Internat. Germanistenlexikon. Hg. Christoph König. Bd. 1, Bln./New York 2003, S. 4–6. – Walter Dengler: J. C. A.s Sprachkonzeption. Ffm. 2003.

Weitere Werke: Trewer Ehegatt uff Herrn Simon Dachen u. Junfr. Reginen Pohlin Hochzeitlichen Ehren-Tag. Königsb. 1641. – Liebe-Testament zwischen Lidius u. Lilla [...]. Königsb. 1644. Ausgabe: Gedichte des Königsberger Dichterkreises. Hg. Leopold Herrmann Fischer. Halle 1883 (Register S. XI). – Fischer-Tümpel 3, S. 99–102. Literatur: Briefe Georg Michael Lingelheims, Matthias Berneggers u. ihrer Freunde. Hg. Alexander Reifferscheid. Heilbr. 1889. – Altpr. Biogr. 1, S. 4 (E. Weise). – Kurt Forstreuter: A. A. In: NDB. – Alfred Kelletat: Simon Dach u. der Königsberger Dichterkreis. Stgt. 1986. Ulrich Maché / Red.

Adler, Bruno, auch: Urban Roedl, * 14.10. 1888 Karlsbad, † 27.12.1968 London. – Kunsthistoriker, Verfasser von Biografien, Bernd Naumann / Walter Dengler Herausgeber.

Adersbach, Andreas, auch: Barchedas, * 1.8.1610 Königsberg, † 24.6.1660 Königsberg. – Lyriker u. Mitglied des Königsberger Dichterkreises. Im Haus seines Vaters Michael Adersbach, eines wohlhabenden Kaufmanns u. kurfürstl. Rats, trafen sich Königsberger Kunstfreunde u. Künstler. A. selbst genoss eine sorgfältige Erziehung. Nach dem Besuch der Pfarrschule in der Königsberger Altstadt studierte er Jura an der heimischen Universität (Immatrikulation 20.3.1624), später in Helmstedt. Von 1629 an bereiste er (begleitet u. geführt von Robert Roberthin) Deutschland, Frankreich, Belgien, Italien u. England. Nach seiner Rückkehr wurde er vom Vater in dessen kaufmännische u. diplomat. Geschäfte eingeführt. Wie dieser wurde er schließlich Waldfaktor des poln. Königs. Von 1645 an stand er im diplomat. Dienst der brandenburg. Kurfürsten u. wurde im folgenden Jahr Mitarbeiter des brandenburg. Gesandten am poln. Hof. Der Herzog von Kurland ernannte ihn außerdem zu seinem Rat. Seine Gedichte weisen A. als typischen Nachfolger von Opitz aus. A.s Verbundenheit mit dem Königsberger Künstlerkreis ist durch Gelegenheitsdrucke u. die Vertonung einiger seiner Gedichte in Heinrich Albrechts Arien u. Johann Strobäus’ Totensäulen bezeugt.

Nach dem Schulbesuch in Prag studierte A. Kunstgeschichte in Wien, Erlangen u. zuletzt in München, wo er die Künstlergemeinschaft »Blauer Reiter« kennenlernte. Seit 1919 hielt er sich in Weimar auf u. stand dort in engem Kontakt zu Mitgliedern des Bauhauses. Das von ihm herausgegebene programmat. Jahrbuch »Utopia« (Weimar 1921), das die künstler. Moderne in einen Zusammenhang mit Kulturen verschiedenster Epochen stellt, sollte Notwendigkeit u. Grenzen utopischen Denkens für die Gestaltung der Realität aufzeigen. Es folgten eine Ausgabe der Studien Adalbert Stifters (Bde. 1–3, Bln. 1922) u. der Werke von Matthias Claudius (Bde. 1–3, Weimar 1924). 1934 erschien unter dem anagrammat. Pseudonym, das er als Jude angenommen hatte, um weiterhin publizieren zu können, bei Kurt Wolff in Berlin die Biografie Matthias Claudius. 1934 emigrierte er nach Prag. Die Biografie von Adalbert Stifter (Bln. 1936), zunächst von der Kritik hochgerühmt, hatte nach einer Denunziation A.s einen Skandal zur Folge, der zur Vernichtung der Restauflage u. zur Eröffnung eines Verfahrens gegen den Verleger Ernst Rowohlt führte. Ziel war es, ihn aus seinem Berufsverband auszuschließen u. seine Tätigkeit als Verleger unmöglich zu machen. 1938 emigrierte A. nach London u. war dort für den Deutschen Dienst der BBC tätig. Nach dem Zweiten Weltkrieg beschäftigte er sich weiter

Adler

34

mit Stifter u. arbeitete an einer Monografie über den Maler Hans von Marées, die jedoch unvollendet blieb. Weitere Werke: Frau Wernicke. Komm.e einer ›Volksjenossin‹. Hg. u. mit einem Nachw. vers. v. Uwe Naumann. Mannh. 1990. Literatur: Kurt Gerhard Fischer: Urban Roedl – B. A. In: Adalbert-Stifter-Institut des Landes Oberösterr. Vjs., Jg. 18 (1969), F. 3/4, S. 93–95. – Jennifer Taylor: The ›Endsieg‹ as ever-receding goal: literary propaganda by B. A. and Robert Lucas for BBC Radio. In: German-speaking exiles in Great Britain. Hg. Ian Wallace. Amsterd. 1999, S. 43–57. – Joachim Wolfgang Storck: Adalbert Stifter im Exil. Urban Roedl (B. A.) als Stifter-Biograph u. Stifter-Interpret. In: Adalbert Stifter. Hg. Johann Lachinger. Linz 2002, S. 61–74. Elisabeth Willnat / Red.

Adler, Friedrich, * 13.2.1857 Amschelberg/Böhmen, † 2.2.1938 Prag. – Lyriker, Dramatiker u. Übersetzer.

der sich um die Jahrhundertwende die Dichtervereinigung »Jung-Prag« bewusst distanzierte. A., der sieben Sprachen beherrschte, machte sich als Übersetzer aus dem Spanischen, Italienischen u. bes. dem Tschechischen einen Namen. So stellte er z.B. die Gedichte (Lpz. 1895) seines Freundes Jaroslav Vrchlicky´ dem dt. Publikum vor. A.s Dramen, sämtlich in freien Versen abgefasst, entlehnen ihre Motive meist der span. Literatur: Zwei Eisen im Feuer (Stgt./Bln. 1899) nach Calderón wurde ein Bühnenerfolg. Weitere Werke: Neue Gedichte. Lpz. 1899. – Sport. Stgt./Bln. 1899 (D.). – Don Gil (nach Tirso de Molina). Stgt./Bln. 1902 (D.). – Freiheit. Drei Einakter. Stgt./Bln. 1904. – Der gläserne Magister. Stgt./Bln. 1910 (D.). – Kriegsgedichte. Prag 1916. Literatur: Max Fleischer: F. A. In: Slg. gemeinnütziger Vorträge. Bd. 365/66, Prag 1909, S. 11–42. – Carl Thiemann: F. A. In: Sudetendt. Kulturalmanach 5 (1964), S. 47–51. – Max Brod: Der Prager Kreis. Ffm. 1979, S. 80–83.

A., Sohn eines Gastwirts u. Seifensieders jüAgnes Krup-Ebert / Red. discher Herkunft, verwaiste früh u. besuchte unter großen finanziellen Schwierigkeiten Adler, H(ans) G(ünther), * 2.7.1910 Prag, das Gymnasium in Prag. An der dortigen † 21.8.1988 London. – Soziologe u. ErKarlsuniversität studierte er Jura u. promozähler. vierte 1883; sein Interesse galt auch den oriental. Sprachen. 1891 ließ er sich in Prag als A. legte seinen Vornamen Hans Günther deRechtsanwalt nieder, schloss jedoch 1896 monstrativ ab, weil Adolf Eichmanns Vertreseine Praxis, um Sekretär des Prager Han- ter für das tschechische Protektorat ebenso delsgremiums zu werden. Daneben war er hieß. Die frühe Erzählung Mein Freund Desider Mitarbeiter beim »Prager Tagblatt«, seit 1900 (in: Ereignisse. Kleine Erzählungen und Novellen. bei der »Bohemia«. Er arbeitete als Lehrbe- Olten/Freib. i. Br. 1969) handelt vom auftragter für roman. Philologie an der Pra- schlimmen Namen. Als Sohn eines Buchbinger Deutschen Universität u. war 1918 Dol- dermeisters gehörte A. einer doppelten Minmetscher bei der tschechoslowak. National- derheit an: der deutsch sprechenden u. der versammlung. jüdischen. Schon als junger Mensch erwarb er Mit dem Band Gedichte (Bln. 1893) bestä- ausgezeichnete Kenntnisse der tschech. tigte A. seine Affinität zum Frühnaturalis- Sprache u. Literatur. Im assimilierten, libemus, die sich schon in seiner Mitarbeit an der ralen Judentum aufgewachsen, ist A. nie zu 1885 von Wilhelm Arent zusammengestell- einem orthodoxen Juden im traditionellen ten Lyrik-Anthologie Moderne Dichtercharaktere Sinn geworden; er bekannte sich stattdessen gezeigt hatte. Wie bei anderen Vertretern zur »Orthodoxie des Herzens«, zur Partei der dieser literar. Richtung ist die Form seiner Menschlichkeit. Die Schriften der Mystiker, Gedichte, die häufig auf soziale Probleme im v. a. Meister Eckharts u. Jacob Böhmes, las er Zeitalter der Industrialisierung eingehen, früh. Der Sündenfall der Menschheit wurde traditionell: Vom goldenen Kragen (Prag 1907) ihm wie das Schuldigwerden des Einzelnen etwa ist eine Sammlung von 30 Sonetten. Mit zur Gewissheit. Hugo Salus war A. tonangebend in der konservativen literar. Gruppe »Concordia«, von

35

A. besuchte dt. Schulen, darunter das Internat in Dresden-Riesen – erinnert als Schreckenszeit im Roman Panorama (Olten/ Freib. i. Br. 1968) – u. das Deutsche Staatsrealgymnasium in Prag. Dort bildete sich um ihn u. Franz Baermann Steiner († 27.11.1954 in Oxford) ein literarischer Kreis. Nach dem Abitur studierte er 1930–1935 Musik- u. Literaturwissenschaft, Soziologie u. Philosophie an der Deutschen Universität Prag u. promovierte mit einer Arbeit zum Thema Der musikalische Rhythmus als Erkenntnisquelle (Prag 1935). Musik u. Musikertum spielten in seinen Erzählungen eine nicht unwichtige Rolle, z.B. in den Aufzeichnungen einer Displaced Person (in: Ereignisse. Kleine Erzählungen und Novellen). 1935–1941 arbeitete A. als Sekretär u. Lehrer am Volksbildungshaus Urania in Prag. Neben Gedichten in der Nachfolge Eichendorffs entstanden andere – Vorahnungen des Untergangs. Im Aug./Nov. 1941 wurde A. in ein Arbeitslager zum Eisenbahnbau verschleppt, im Winter 1941/42 zwangsverpflichtet für das Bücherlager der Jüdischen Gemeinde in Prag. Er heiratete die Ärztin Gertrud Klepetar († 14.10.1944 in Auschwitz). Es folgten im Herbst 1942 die Deportation nach Theresienstadt, am 12.10.1944 nach Auschwitz-Birkenau, dann ins Konzentrationslager Buchenwald-Niederorschel, zuletzt in das Lager Langenstein-Zwieberge. Nach der Befreiung 1945 kehrte A. nach Prag zurück u. war als Erzieher von Waisenkindern u. als Mitarbeiter des Jüdischen Museums von Prag tätig. Da das Deutsche für die Tschechen keinen Platz mehr in ihrem Land hatte, A. sich weiterhin der dt. Kultur zugehörig fühlte, aber nicht in Deutschland, dem Land der Verfolger, leben wollte, emigrierte er 1947 nach London. Seit dieser Zeit war er mit Bettina Gross, mit der er einen Sohn hatte, verheiratet. Heimatlosigkeit wurde für A. zum Schicksal. Von Heimatlosigkeit u. Isoliertsein, vom Identitätsverlust durch Unterdrückung handeln seine Novellen u. Erzählungen. Er schrieb stets auf Deutsch; Reisen nach Deutschland u. Österreich, wo er 1977 den Professorentitel erlangte, hielten seine Sprache geschmeidig. A. arbeitete mit Wortwitz, erspürte Verlogenheit u. Menschenverach-

Adler

tung in manchen neu geprägten Worten u. geißelte sie in seinen Satiren. Seine eigene Sprache war vom Prager Deutsch geprägt. Parabeln u. Erzählungen erinnern zuweilen an Franz Kafka, doch besitzen sie ihren eigenen unverwechselbaren Ton. Der Realismus der Erzählung wird gelegentlich von der Fantasie überhöht. Aber auch ohne dass der Name Auschwitz fällt, ist fraglos, dass Eine Reise (Bonn 1962) dorthin führt. Autobiografische Züge sind in seiner Lyrik, seinen Erzählungen, in seinen Romanen unverkennbar. Der Roman Panorama, für den er 1969 den Charles-Veillon-Preis erhielt, schildert die Stationen eines Lebenswegs: Josefs Kindheit, seine Internatszeit u. Hauslehrertätigkeit, Konzentrationslager u. Emigration. Auch A.s wiss. Werk ist von seinen Erfahrungen u. Erlebnissen geprägt. Als Soziologe u. Sozialpsychologe beschrieb er Struktur u. Funktion von Theresienstadt als Zwangsgemeinschaft. 1958 erhielt er für Theresienstadt 1941–1945. Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft (Tüb. 1955) den Leo-Baeck-Preis. Das Studium des Verwaltungsrechts befähigte ihn zu dem Opus magnum Der verwaltete Mensch. Studien zur Deportation der Juden aus Deutschland (Tüb. 1974), für das er 1974 die Buber-Rosenzweig-Medaille erhielt. Der 1954 vollendete, aber erst postum 1989 veröffentlichte Roman Die unsichtbare Wand (Wien/Darmst.), ist A.s literarisches Hauptwerk u. spielt abwechselnd in Prag u. London. Der Roman handelt von der Geschichte des die Vernichtung überlebenden Artur Landau, durch den sich A. artikuliert. Das Wiederauftauchen des Opfers ist ein Skandal für die Verfolger, ein Ärgernis jedoch auch für alle anderen, einschließlich der Emigranten der ersten Stunde. »Jede Gesellschaft wird dicht, wenn sich ein Verirrter einstellt«, erkennt Artur Landau. Der »Heimkehrer« bleibt der Vernichtung, der er entronnen ist, verhaftet: Überleben wird als Schuld den Toten gegenüber erfahren. Der Verirrte, den der Tod verschonte, bekennt: »Ich bin unnütz geworden, mein Alter ist in den Stunden des unbekannten Gerichts unentschieden geblieben.« Aber da sind die Frauen, die ihn retteten; die erste, die sich im Konzentrationslager für ihn opferte, die zweite, die ihm

Adler

36

nach der Rückkehr erst das Leben ermög- Adler, Paul, * 4.4.1878 Prag, † 8.6.1946 lichte, indem sie ihm die Zunge löste. Im Prag; Grabstätte: ebd., Jüdischer FriedRoman heißen sie Franziska u. Johanna. Im hof. – Erzähler u. Sachbuchautor. Leben A.s waren es Gertrud Klepetar u. Bettina Gross, u. Letztere war es v. a., die A. A. stammte aus einer jüd. Kaufmannsfamilie in Prag. Nach dem Jurastudium ging er 1901 wieder zu sich selbst finden ließ. nach Wien, wo er am k. u. k. Gericht arbeitete. Weitere Werke: Die verheimlichte Wahrheit: Als er die Gesetze zugunsten einer NähmaTheresienstädter Dokumente. Tüb. 1958. – Die Juden in Dtschld. Von der Aufklärung bis zum schinenfirma gegen eine Näherin hätte anNationalsozialismus. Mchn. 1960. 21987. Engl. The wenden müssen, legte er sein Amt nieder. Es Jews in Germany. Notre Dame/London 1969. – folgten sieben Wanderjahre mit seinem Unser Georg. Und andere Erzählungen. Wien 1961. Freund u. späteren Verleger Jakob Hegner – Der Fürst des Segens. Parabeln – Betrachtungen – nach Italien, wo er Theodor Däubler traf, Gleichnisse. Bonn 1964. – Die Erfahrung der dessen Dichtungen er sehr schätzte. Nach Ohnmacht. Beiträge zur Soziologie unserer Zeit. Zwischenstationen in Wien u. Berlin lebte er Ffm. 1964. – Sodoms Untergang. Bagatellen. Bonn 1912–1920 in der Künstlerkolonie Hellerau 1965. – Fenster. London 1974 (L.). – Viele Jahresbei Dresden. Während des Krieges trat A. als zeiten. Wien/Mchn. 1975 (L.). – Die Freiheit des Menschen. Aufsätze zur Soziologie u. Gesch. Tüb. Pazifist u. Kriegsgegner hervor. Er setzte mit 1976. – Blicke. Gedichte 1947–51. Bln. 1979. – anderen Expressionisten große Hoffnungen Stimme u. Zuruf. Hbg. 1980 (L.). – Vorschule für in die Revolution u. zog sich nach deren eine Experimentaltheologie. Betrachtungen über Scheitern resigniert zurück. In den 1920er Wirklichkeit u. Sein. Wiesb./Stgt. 1987. – Heraus- Jahren verfasste er journalistische u. wiss. geber: Franz Baermann Steiner: Unruhe ohne Uhr. Arbeiten, u. a. über japan. Literatur. 1933 Ausgew. Gedichte aus dem Nachl. Mit einem vertrieben ihn die Nationalsozialisten aus Nachw. v. H. G. A. Heidelb. 1954. – Ders.: ErobeHellerau. Ihre Herrschaft überlebte er, nach rungen. Ein lyr. Zyklus. Mit einem Nachw. v. H. G. einem Schlaganfall gelähmt, in einem VerA. Heidelb. 1964. steck. 1946 starb A. an Herzversagen. Literatur: Willehad Paul Eckert u. Wilhelm Das literar. Werk A.s ist wegen seiner forUnger (Hg.): H. G. A. Buch der Freunde. Stimmen malen Neuerungen bedeutend. Vor allem die über den Dichter u. Gelehrten mit unveröffentl. Lyrik. Köln 1975. – Alfred Otto Lanz: ›Panorama‹ v. Erzählung Nämlich (Dresden-Hellerau 1915) H. G. A. – ein ›moderner Roman‹. Bern 1984. – H. u. der Roman Die Zauberflöte (Dresden-HelG. A. zum 75. Geburtstag mit Beiträgen v. Ilse Ai- lerau 1916) nehmen Gestaltungsprinzipien chinger u. a. In: Europ. Ideen 60 (1985). – Heinrich des Experimentalromans vorweg. Hubmann u. A. O. Lanz (Hg.): Zu Hause im Exil: Zu Werk u. Person H. G. A.s. Wiesb./Stgt. 1987. – Jürgen Serke: Böhm. Dörfer. Wanderungen durch eine verlassene literar. Landschaft. Wien/Hbg. 1987, S. 326–343, 460. – Ders.: Weniger geborgen als für immer versteckt. In: Jüd. Almanach des LeoBaeck-Instituts. Ffm. 1994, S. 82–102. – Jeremy Adler: H. G. A. A Prague writer in London. In: Keine Klage über England? Dt. u. österr. Exilerfahrungen in Großbritannien 1933–45. Hg. Charmian Brinson. Mchn. 1998, S. 13–30. – Peter Staengle: H. G. A. In: KLG. – Marcel Atze: H. G. A. In: LGL. – Heinz Ludwig Arnold (Hg.): H. G. A. Mchn. 2004 (Text + Kritik, Bd. 163). Willehad Paul Eckert † / Red.

Weitere Werke: Elohim. Dresden-Hellerau 1914 (symbol. Geschichtenkreis). – Vom Geist der Volkswirtschaft. Lpz. 1917 (Ess.). – Sachwörterbuch zur japan. Lit. Ffm./Bln. 1925. – Japan. Literaturgesch. u. Ausw. v. den Anfängen bis zur neuesten Zeit (zus. mit Michael Revon). Ffm./Bln. 1926. Literatur: Ludo Abicht: P. A., ein Dichter aus Prag. Wiesb./Ffm. 1972 (mit Bibliogr.). – Jürgen Egyptien: Mythen-Synkretismus u. apokryphes Kerygma. P. A.s Werk als Projekt einer Resakralisierung der Welt. In: Expressionismus in Österr. Hg. Klaus Amann u. Armin A. Wallas. Wien 1994, S. 379–395. – Erich Kleinschmidt: Schreiben auf der Grenze v. Welt u. Sprache. Radikale Poetik in P. A.s ›Nämlich‹. In: DVjs 73 (1999) H. 3, S. 457–477. – Andreas Herzog: Der vergessene Dichter P. A. Ein jüd. Sozialist im Spiegel seiner Essayistik (1913–21). In: Aschkenas 9 (1999) H. 2, S. 489–502. Walter Ruprechter / Red.

Admonter Passionsspiel

37

Adlersfeld-Ballestrem, Eufemia von, Admonter Passionsspiel, aufgezeichnet * 18.8.1854 Ratibor, † 21.4.1941 Mün- zweite Hälfte des 16. Jh. – Frühneuzeitchen. – Unterhaltungsautorin, Verfasse- liches Osterspiel. rin und Übersetzerin von historischen Das Passionsspiel wurde in der zweiten Hälfte Werken. Die Tochter des oberschles. Landschaftsdirektors Alexander Karl Wolfgang Graf von Ballestrem heiratete 1884 den Rittmeister Joseph F. von Adlersfeld († 1907). Sie genoss eine umfangreiche Förderung durch das Elternhaus u. begann schon mit 17 Jahren zu veröffentlichen; selbstbewusst benutzte sie nie ein Pseudonym. A. verfasste Gedichte, Erzählungen, Humoresken u. über 40 Romane. Das Werk spielt vorwiegend in Adelskreisen u. ist vielfach Zeugnis ihrer ausgeprägten Italienleidenschaft. Besonders populär waren die Humoreske Komtesse Käthe (Dresden 1894) u. die Romane Die weißen Rosen von Ravensberg (Lpz. 1896) u. Trix (Lpz. 1903). Das Romanwerk verbindet Elemente des Liebes-, Kriminal- u. Schauerromans; die zentrale Figur der trotzigen jungen Dame wurde von E. Marlitt entlehnt. Gattungswidrig befriedigt A. das Gerechtigkeitsempfinden des Publikums nur partiell: Manche unschuldige Protagonistin muss sterben, während die Mörder ungestraft davonkommen. A. trat auch als Historiografin hervor. Ihre Ahnentafeln zur Geschichte europäischer Dynastien (Grossenhain 1901) erfreuten sich hoher Wertschätzung bei Kennern, die Biografie Elisabeth Christine, Königin von Preußen, Herzogin von Braunschweig-Lüneburg (Bln. 1908) wurde von König Karl von Württemberg mit der goldenen Medaille für Kunst u. Wissenschaft ausgezeichnet. Literatur: Goedeke Forts. – Robert N. Bloch: E. v. A. In: Bibliogr. Lexikon der utopisch-phantast. Lit. Hg. Joachim Körber. Meitingen. 53. Erg.-Lfg. April 1998 (umfangreiche Werkbibliogr.). – Urszula Bonter: Der Populärroman in der Nachfolge v. E. Marlitt. Wilhelmine Heimburg, Valeska Gräfin Bethusy-Huc, E. v. A. Würzb. 2005. Urszula Bonter

des 16. Jh. (nach 1561, vor etwa 1590) im bayer. Sprachgebiet (vielleicht im Benediktinerkloster Admont selbst) als Reinschrift (Ms., 124 Bll., Admont, Stiftsbibl., cod. 812) aufgezeichnet, d.h. wohl zum Lese-, nicht aber unmittelbar zum Aufführungszweck; es umfasst 1600 Verse. Die intendierte, aber unbewiesene Inszenierung des eintägigen Spiels hätte mehr als 80 Darsteller erfordert. Das A. P. behandelt das Passions- u. Ostergeschehen u. schließt mit der Himmelfahrt Christi. Der anonyme Verfasser bzw. Bearbeiter war aller Wahrscheinlichkeit nach ein kath. Geistlicher mit ausgezeichneter Bibelkenntnis u. großer liturgisch-musikal. Erfahrung. Durch kontinuierliche Einfügung u. intensive Betonung der lateinisch-liturg. Gesangspartien sowie vielfache Stilisierungen in Text u. Aufführungspraxis suchte der Verfasser für das A. P. jenen sakralen Charakter zurückzugewinnen, den die meisten geistl. Spiele des 15. u. 16. Jh. durch die Verschiebung der Bedeutungs- u. Wirkungsakzente auf eine subjektive Frömmigkeit hin weitgehend verloren haben. Dieser Grundhaltung gegenüber Komposition, Text u. Bühnenrealisation korrespondiert der vollständige Verzicht auf derbe Komik oder breit u. drastisch ausgestaltete Schilderungen z.B. der Marter Christi, wie sie in fast allen späten Passionsspielen vorkommen. So wird durch die Rückbesinnung auf die ursprüngl. Einbindung der Spiele in einen gottesdienstl. Kontext das Ziel erreicht, »religiöse Erbauung und Erhebung, die Festigung des katholischen Glaubens« (Polheim Bd. 3, S. 225) u. liturg. Sinnführung als das Spiel beherrschende Elemente wieder in den Vordergrund treten zu lassen. Umso mehr überrascht, dass der Verfasser bzw. Bearbeiter des A. P. zu diesem Zweck nicht etwa nur – wie aufgrund seiner Rückwärtsgewandtheit, seiner Tendenz zum Beharren auf liturg. Traditionen u. seines theolog. Standorts zu erwarten wäre – auf die vier Evangelien, auf

Adolph

Antiphonen, Responsorien, Hymnen usw., auf lat. Osterfeiern oder auch ihm zweifellos bekannte Spieltraditionen zurückgegriffen hat: Eine seiner Hauptquellen war vielmehr das Passionsspiel des Protestanten Hans Sachs (Fassung von 1561), aus dem er für den Passionsteil des A. P. ungefähr zwei Drittel des dt. Textes z.T. wörtlich übernahm. Ausgabe: Karl Konrad Polheim: Das A. P. Bd. 1, Mchn./Paderb./Wien 1972. Literatur: Karl Konrad Polheim: Das A. P. Bde. 2 u. 3, Paderb./Wien/Zürich 1980. – Rolf Bergmann: Kat. der deutschsprachigen geistl. Spiele u. Marienklagen des MA. Mchn. 1986, S. 39–41. – K. K. Polheim in: DDL. – Ursula Hennig: Die Osterereignisse in den dt. Passionsspielen. In: Osterspiele. Texte u. Musik. Hg. Max Siller. Innsbr. 1994, S. 99–108. – Dies.: Der Descensus Jesu’ ad Inferos in den Spielen des 16. Jh. In: Mittelalterl. Schauspiel. FS Hansjürgen Linke. Hg. Ulrich Mehler u. Anton H. Touber. Amsterd./Atlanta 1994, S. 199–212. Bernd Neumann / Red.

Adolph, Adolff, Johann Baptist, * 25.3.1657 Liegnitz/Schlesien, † 14.9.1708 Wien. – Jesuit; Polyhistor u. Dramatiker. Über A.s Herkunft, Kindheit u. Jugend ist nichts bekannt. Am 21.10.1677 trat er in Raab/Österreich in den Jesuitenorden ein. In der österr. Ordensprovinz übernahm er entsprechend der übl. Ordenslaufbahn verschiedene geistliche u. pädagog. Aufgaben. A. ist der wichtigste Vertreter des spätbarocken Jesuitendramas in Österreich. 1696 ist er erstmals in Wien als Praefectus Scholarum nachweisbar. Neben der Unterweisung der adeligen Schüler oblag ihm als Nachfolger Avancinis, des Vollenders der Ludi Caesarei, die Anfertigung der Schuldramen u. ihre Aufführung vor dem kaiserl. Publikum. Man lobte seine Begabung sowohl für das tragische als auch für das komische Genre wie überhaupt seine den rhetor. Regeln perfekt entsprechende literar. Produktion. A.s Werke sind nur handschriftlich überliefert: Die Memoria posthuma Magni Caesaris Leopoldi Primi (Letztes Gedenken an den großen Kaiser Leopold I. Cod. Pal. Vindob. 7703–7704) behandelt, nach Dekaden unterteilt u. annalistisch gegliedert, den Zeitraum 1640–1679 der Kaiservita. Münzabbildungen

38

u. argut formulierte Inschriften unterstreichen den gelehrten Charakter. Von polyhistorisch eklekt. Charakter sind die Notata historica de Imperatoribus Romanis, Graecis, Turcis [...] (Histor. Aufzeichnungen über die römischen, griech. u. türk. Kaiser. Cod. Pal. Vindob. 9010). Die fünf Bände füllenden Dramata Augustissimi Caesari Leopoldo I. Exhibita (Dramen zu Ehren Kaiser Leopolds. I. aufgeführt. Cod. Pal. Vindob. 9809–9813) zeigen in inszenierungstechn. Hinsicht den Einfluss Avancinis, in Dramaturgie u. Dialogführung aber auch den Übergang zum Rokoko. Sie präsentieren nicht mehr vornehmlich ein politisches Geschehen, durch das auf allegor. Weise das Haus Habsburg sowohl gerühmt als auch mit übergeschichtl. Normen des polit. Handelns konfrontiert wird; in den Vordergrund rückt vielmehr das individuelle Schicksal der dramatis personae. Dabei behält A. die erprobte Form des Barockdramas mit Gegenüberstellung von Haupthandlung u. allegor. Zwischenspielen bei. Mit Recht wurde in diesen mit Musik u. Tanz ausgeführten Zwischenspielen eine Vorstufe des späteren Wiener Volksspiels gesehen. Gern charakterisiert A. seine Stücke im Titel mit Bezeichnungen wie »Drama morale«, »Drama historico-morale« oder »Drama politico-morale«. Neben den allegor. Einlagen gibt es in A.s Dramen – v. a. in seinen Fastnachtspielen – auch Interludien, die das Geschehen der Haupthandlung durch einfache Menschen spiegeln lassen. Hier tauchen auch dt. Lieder im Wiener Dialekt auf. Mimik u. Gestik, aber auch die Bühnendekoration werden in Regieanweisungen festgehalten. Dabei kommt dem Kriterium der Wahrscheinlichkeit eine entscheidende Rolle zu. Literatur: Wilhelm Fieber: P. J. B. A., S. J. Diss. Wien 1917. – Otto Rommel: Rokoko in den Wiener Kaiserspielen. In: Maske u. Kothurn 1 (1955), S. 30–46. – Kurt Adel: Die Dramen des P. J. B. A. S. J. In: Jb. der Gesellsch. für Wiener Theaterforsch. 10 (1957), S. 5–89. – Ders.: Das Wiener Jesuitentheater u. die europ. Barockdramatik. Wien 1960. – Franz Günter Sieveke: J. B. A. Studien zum spätbarocken Wiener Jesuitendrama. Diss. Köln 1966 (mit Bibliogr.). – Jean-Marie Valentin: Le théâtre des Jésuites dans les pays de langue allemande (1554–1680). 3 Bde., Bern u. a. 1978. – Ruprecht

39 Wimmer: Constantinus redivivus. Habsburg im Jesuitendrama des 17. Jh. In: Die österr. Lit. Ihr Profil v. den Anfängen im MA bis ins 18. Jh. (1050–1750). Hg. Herbert Zeman. Tl. 2, Graz 1986, S. 1093–1116. – Richard Korzenszky: Die lat. Epigramme v. J. B. A. In: Laurus Austriaco-Hungarica: Liter. Gattungen u. Politik in der zweiten Hälfte des 17. Jh. Hg. Bela Köpeczi u. Andor Tarnai. Wien 1988, S. 81–118. Franz Günter Sieveke / Red.

Adolph, Karl, * 19.5.1869 Wien, † 22.11. 1931 Wien. – Romancier. A. absolvierte eine Zimmermalerlehre u. war zeitweilig als Redakteur tätig; 1919 nahm er zur Sicherung seines Lebensunterhalts eine Stelle als Kanzleigehilfe an. Nach literarisch unbedeutenden, an Lenau u. Herwegh orientierten lyr. Anfängen trat A. 1908 erfolgreich als Romanautor in Erscheinung u. erhielt 1909 für Haus Nummer 37 (Wien 1908) den Bauernfeld-Preis. Der von ihm vertretene Typus des sentimental-naturalist. »Wiener Romans«, in welchem er die z.T. noch biedermeierl. Idyllik des Vorstadtmilieus mit der Expansion des gründerzeitl. Wien konfrontierte u. das Abgleiten der kleinbürgerl. Schichten in das Lumpenproletariat schilderte, erhält sein Gepräge durch die Mischung von humorvollen u. satirisch-sozialkrit. Zügen sowie durch die effektvolle Dialoggestaltung u. die lebensnahe Zeichnung der Personen. Weitere Werke: Lyrisches. Lpz. 1897. – Schackerl. Eine Wiener Gesch. Dresden 1912. – Töchter. Ein Wiener Roman. Wien 1914. – Am 1. Mai. Eine Tragikomödie der Arbeit aus Friedenstagen. Wien/ Lpz. 1919. – Von früher u. heute. Wiener Skizzen. Wien/Lpz. 1924. Literatur: Elfriede Harrer: K. A. Versuch einer Monogr. Diss. Wien 1949. – Felix Czeike (Hg.): Histor. Lexikon Wien. Wien 1992–97. Ernst Fischer / Red.

Adorno

Adorno, Theodor W(iesengrund), * 11.9. 1903 Frankfurt/M., † 6.8.1969 Visp/Kt. Wallis/Schweiz; Grabstätte: Frankfurt/ M., Hauptfriedhof. – Philosoph, Soziologe, Essayist, Musiktheoretiker u. Komponist. A. studierte Philosophie, Musikwissenschaft, Psychologie u. Soziologie in Frankfurt/M.; 1924 wurde er mit einer noch ganz dem transzendentalen Idealismus seines Lehrers Hans Cornelius verpflicheten Arbeit über die Transzendenz des Dinglichen und Noematischen in Husserls Phänomenologie promoviert. 1925 erhielt A. Kompositionsunterricht bei Alban Berg in Wien. 1928–1931 leitete er die Wiener Musikzeitschrift »Anbruch« u. trug seither Bausteine zu einer Philosophie der neuen Musik zusammen. Eine theoret. Neuorientierung fand A. in der Mitarbeit am 1923 gegründeten Frankfurter Institut für Sozialforschung. Im Febr. 1931 habilitierte sich A. in Frankfurt/M. bei Paul Tillich mit einer Studie über Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen (Tüb. 1933); das Buch erschien am Tag der Machtergreifung Hitlers. Die faschist. Machthaber entzogen ihm 1933 die Venia legendi. A. arbeitete 1934–1937 abwechselnd in Deutschland u. Oxford/England; 1938 folgte er dem nach New York übergesiedelten Institut für Sozialforschung u. leitete die musikal. Abteilung des Princeton Radio Research Project. 1941 zog A. mit seinem Freund u. Mentor Max Horkheimer nach Los Angeles. Hier schrieb er zus. mit Horkheimer die Texte der 1947 veröffentlichten Dialektik der Aufklärung (Amsterd.) u. leitete 1944–1949 das Berkeley Project on the Nature and Extent of Antisemitism, dessen Resultat, der Band The Authoritarian Personality, 1950 in New York erschien. 1949 kehrte A. nach Frankfurt/M. zurück u. wurde dort ein Jahr später außerplanmäßiger Professor für Philosophie u. Soziologie an der JohannWolfgang-Goethe-Universität u. Mitdirektor des Instituts für Sozialforschung. 1956 erfolgte die Ernennung zum o. Professor. In den 1950er u. 1960er Jahren entstanden die philosoph. Hauptwerke A.s, daneben aber auch eine Vielzahl von Essays, Vorträgen u. Gesprächen, durch die A. die intellektuelle

Adorno

Szene dieser Jahre in der Bundesrepublik geprägt hat: zur neuen Musik, zur Rezeption traditioneller Musik, zur Kunst- u. Literatursoziologie; einem außeruniversitären Publikum wurde er nicht zuletzt durch die pointierte Beschäftigung mit großen ästhet. u. theoret. Entwürfen bekannt, mit der Arbeit Brechts, Strawinskys, Lukács’, Gehlens oder Heideggers, dessen Philosophie im Zentrum von A.s sprach- u. ideologiekrit. Essay Jargon der Eigentlichkeit (Ffm. 1964) steht. Während eines Urlaubs in der Schweiz starb A. an einem Herzinfarkt. Zwischen den beiden Polen Philosophie u. Musik ist A.s Werk als vielseitig wirkende Summe soziologischer, pädagog., kultur- u. gesellschaftskrit. Schriften angesiedelt. In den späten 1960er Jahren trug deren prononciert kritischer Impetus auch dazu bei, das aufgestaute Unbehagen der ersten Nachkriegsgeneration in der student. Protestbewegung freizusetzen. Zusammen mit Horkheimer hat A. eine durch die Erfahrung von Faschismus u. Stalinismus wie auch durch die Rezeption der Freud’schen Psychoanalyse gebrochene Form des Marxismus entwickelt, die als Kritische Theorie schulbildend wurde. Geschichtsphilosophisch reflektiert die Kritische Theorie den Umschlag von Aufklärung in positivistisches Denken als Mythos, d.h. »falsche Klarheit« (Adorno/Horkheimer) dessen, was der Fall ist. Die Welt zerfalle in Tatsachen u. dieser Zerfall markiere den Endpunkt der abendländ. Rationalität. Nur wenn die Tatsachen sich ändern lassen, wenn Menschen zu realen Subjekten der Geschichte werden, ist die Welt, wie sie ist, nicht alles. Die Praktiken der Selbstbehauptung gegen die Natur, der gesellschaftliche u. techn. Fortschritt, haben nur immer tiefer in die Gefangenschaft der Naturgeschichte hineingeführt. So erscheint für A. die Menschheit als »ein endloser Zug gebeugt aneinander Geketteter«. Erkenntnistheoretisch u. methodologisch geht es der Kritischen Theorie A.s u. Horkheimers um das Verhältnis von Empirie, materialistischer Theorie der Gesellschaft u. der individuellen Erfahrung des reflektierenden Subjekts. Einerseits soll die Macht idealistischer Abstraktionen gebrochen werden durch

40

Begriffe gegenständl. Wahrheit, andererseits Erfahrung »gegen ihre empiristische Zurichtung« wiederhergestellt werden. In den Untersuchungen über Probleme des Antisemitismus (The Authoritarian Personality) analysiert A. zus. mit amerikan. Psychoanalytikern die Beziehung zwischen »antisemitischer und antidemokratischer« Ideologie u. Charakterstruktur. Die Forscher hofften, dem Wissen um die Natur antidemokratischer Potentiale konkrete Anweisungen für demokrat. Handeln entnehmen zu können. A.s Begriff des manipulierten Charakters, der sich blind in Kollektive einordne, zum Material der Herrschaft mache u. als selbstbestimmtes Wesen auslösche, eröffnet auch den Horizont der späteren kulturkrit. Schriften. »Die Forderung, daß Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung.« Auschwitz ist für A. zum konkreten Apriori allen Denkens geworden, denn es war kein Betriebsunfall der Geschichte, sondern die Regel einer katastrophischen Moderne. In der Dialektik der Aufklärung skizziert A. die Geschichte des Bürgerlichen »von Homer bis zur Moderne« als unglückl. Weltlauf. Dass schon Mythos Aufklärung sei u. diese in jenen zurückschlage, sei das Schema, nach dem die abendländ. Rationalisierung u. Entzauberung der Welt fortschreite. Die Dialektik der Aufklärung wiederholt hier Max Webers Thesen zur Weltentzauberung Aug’ in Aug’ mit dem Faschismus: Fortschreitende Rationalisierung verleihe der Welt wieder Züge myth. Zwangs. Entzauberung selbst erweist sich als der undurchdringlichste Zauber, u. das Zentrum dieses Unheilsgeschehens liege im Subjekt. Bürgerlichkeit sei nichts als mythisch verstrickte Selbstbehauptung. An Homers Odysseus zeigt A., wie sich zivilisator. Vernunft die Ohren gegen die Stimme der Natur verstopfe; das mache sie ziellos. Nehme sie aber einmal das Wachs aus den Ohren, so habe sie der Gefahr der Lockung doch immer schon vorgebeugt durch die Vorbehalte einer rein ästhet. Haltung. Zgl. aber ist die ästhet. Sphäre für A. die einzige, in der es unverschandelte Dinge u. unversehrte Intersubjektivität, also Versöhnung gibt. Nur das Kunstwerk verbürge, dass messian. Splitter ins negative Ganze eingestreut seien; es habe

41

die »Würde des Absoluten«. Auch die theolog. Fluchtlinien von A.s Denken führen ins Ästhetische. Der abendländ. Prozess der Rationalisierung u. Entzauberung der Welt schafft fortschreitend alle vorgegebenen Ordnungskategorien ab. »Kunst ist einbezogen in den Gesamtprozeß des vordringenden Nominalismus, seitdem der mittelalterliche ordo gesprengt ward.« Die überzeugendste Analyse dieses Grundvorgangs der ästhet. Moderne hat A. in seiner Philosophie der neuen Musik (Tüb. 1949) geleistet. Ausgangspunkt ist der Verlust substantieller Formeinheiten, deren Idee durch Beethoven entscheidend erschüttert wird. Weil sich dem Künstler die Form nicht mehr selbstverständlich zur Einheit runde, müsse er sie gewaltsam, aus eigener Konstruktivität heraus setzen. Mit Wagners Tristan greife der Nominalismus auf die Musiksprache über; Wagner befreie das Tonmaterial u. setze einen innermusikal. Sprachwandel in Gang, den schließlich Schönberg zu einer »zum Absoluten fortschreitenden musikalischen Naturbeherrschung« steigere. A. verfolgt diesen Prozess bis zu dem Punkt, an dem sich die Idee der offenen Form, die aus dem Protest gegen das musikal. Allgemeine entsprang, selbst noch einmal kritisch reflektiert. Denn A. zielt auf eine allgemeine ästhet. Theorie des radikal Besonderen. »Was aber noch nicht war, ist das Konkrete.« A. charakterisiert es als »friedliche Bestimmtheit des Seienden«. A.s methodolog. Hauptwerk, die Negative Dialektik (Ffm. 1966), eröffnet der Satz: »Philosophie, die einmal überholt schien, erhält sich am Leben, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward.« A. meint hier den histor. Augenblick, der einmal die Möglichkeit praxismächtiger Kritik an einer Theorie, die die Welt nur interpretiert hatte, zu verbürgen schien. Dass diese Chance in der Geschichte versäumt wurde, zwingt den Erkennenden zur Solidarität mit jener Philosophie, die ihre Wahrheit doch nur in ihrer Verwirklichung gefunden hätte. Es geht also um Solidarität mit der »Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes«. Denn wahr sei sie nur noch im Moment ihres Zerfalls, dem Gegenbild ihrer Aufhebung. Diese negative

Adorno

Dialektik bringt A. auf dem Schauplatz des Ästhetischen zur histor. Selbstreflexion. Für A. ist die Gegenwart durch einen unheilbaren Riss zwischen Theorie u. Praxis, Subjekt u. Objekt gekennzeichnet. Um diesen Abgrund artistisch u. modellhaft zu überbrücken, versucht A., eine wahrheitsmächtige ästhet. Theorieform von den traditionellen Erkenntnisformen abzulösen. Das verleiht seinem Werk den Charakter eines Ensembles von Modellanalysen, die sich zu einem essayist. Mosaik ordnen. Sie entziffern ästhet. Formen als geschichtlich abgelagerte Inhalte u. bestimmen ihren gesellschaftl. Erfahrungsgehalt. Im krit. Verweilen vor dem ästhet. Rätsel verwandle sich Wahrheit zur säkularen Transzendenz, die sie dem Zugriff positiver Theorie entziehe. A.s Interpretationen sind nicht auf eine systemat. Ästhetik hin ausgerichtet, sondern verbinden wirkungsgeschichtl. Feldlinien in Nervenpunkten einer geheimen Geschichtsphilosophie, die in Gestalt einer Ästhetischen Theorie (Ffm. 1970) auftritt. Sie orientiert sich ausschließlich im Raum der bürgerl. Moderne, weil nur für ihn die Kategorien jener Metaphysik gelten, deren Zerfallsspur A. folgt. Zwischen Baudelaires Fleurs du mal u. Becketts Endspiel, zwischen dem Ende der bürgerl. Befreiungsbewegung in der Junirevolution u. Auschwitz erstreckt sich A.s Moderne als Katastrophe. Diesem Begriff von Moderne entspricht ein Begriff von Kritik als Rettung. So versuchen A.s Essays der Forderung Benjamins, seines Lehrers u. Freundes, zu entsprechen: Kunstwerke, die einen abgegoltenen Anspruch an die Gegenwart haben, aus der Geschichte herauszusprengen u. zu retten. Die hieraus sich ergebenden Konstellationen von geschichtl. Erfahrung, künstlerischer Form u. krit. Begriff sollen als Sternbilder einer Geschichtsphilosophie des Ästhetischen lesbar werden. »Die gestaltlose Flut des Mythos ist das Immergleiche, das Telos der Erzählung jedoch das Verschiedene.« A. versteht also die epischen Formen vom Ursprung her als Nachahmung des Mythischen mit dem Ziel, es zu besänftigen. In der Anstrengung epischer Naivität, »das Wirkliche rein, unverstört von der Gewalt der Ordnungen hervor-

Adorno

treten zu lassen«, erkennt A. ein entscheidendes vernunftkrit. Motiv. Gegen das Einerlei des Mythos u. die starre Identität des Begriffs gewähre Erzählen das Verschiedene. Seine Utopie sei die Selbstaufhebung der Sprache in Namen u. Bild. Im Erzählen soll zur Sprache kommen, was jenseits der Sprache wäre. So wird es zur »Gnade, die in der Sprache vorm Recht des Urteils ergeht«. In der Moderne wird Nachahmung problematisch, weil die Sprache an den verhärteten, entfremdeten Gegenständen abprallt. Moderne Poesie ist für A. nicht mehr Nachahmung eines Gegenständlichen, sondern reines mimet. Verhalten: Sprache ahmt sich selbst nach. Diese ungegenständl. Mimesis will »Nachahmung der Sprache der Dinge selber« sein. Wie der Titel der Essay-Sammlung Noten zur Literatur (Bde. 1–3, Ffm. 1958, 1961, 1965) insgeheim anzeigt, bestimmt A. die Sprache großer Dichtung aus der Perspektive musikal. Kompositionslogik. Befreit vom Bedeutungszwang der Sprachzeichen, fügen sich die musikal. Momente zu einer Synthese ohne Urteil. Statt prädikativ urteile Kunst gewaltlos durch ihre Stimmigkeit. Sie habe Wirkliches nicht unmittelbar zum Gegenstand, sondern zeige »die im Innenraum entgegenständlichte Welt noch einmal«. Doch im Unterschied zur großen klass. Musik ziele moderne Poesie nicht auf Totalität u. Integration. »Anders als in Musik, kehrt in der Dichtung die begriffslose Synthesis sich wider das Medium: sie wird zur konstitutiven Dissoziation.« Poesie sei ein Ausatmen der Sprache. Am »Klassizismus von Goethes Iphigenie« hat A. 1967 die rettende Kraft der Sprache als des Mediums der Wahrheit u. Besänftigung aufgezeigt. Indem hier Sprache die Verschlungenheit von Zivilisation u. Barbarei entwirre, der tödlichen Folge alter Bräuche ausweiche u. das Opfer aufschiebe, begründe der Inhalt selbst die Humanität des Dramas, die »Verselbständigung der Form«. Der für die moderne Poesie charakterist. Widerspruch zwischen befreiter Sprache u. sprachlich gegenwärtigem Zwang werde in Sprache selbst ausgetragen. »Sprache wird zum Stellvertreter von Ordnung und produziert gleichzeitig Ordnung aus Freiheit.« Mit dem

42

Fortschreiten der Moderne schlichtet sich der Widerspruch nicht, sondern spitzt sich zu: Die Sprachutopie verschwindet in der Gestaltung ihrer Unmöglichkeit. Ihre entscheidenden Augenblicke liegen für A. da, wo die »aktive Sprache passivisch wird. Dann tönt aus dem Deutschen die jüdisch-messianische Stimme.« Deshalb sollte A.s literarästhet. Essay-Sammlung ursprünglich »Mit dem Ohr gedacht« heißen. Dass die messian. Stimme am Rande des Verstummens verlaute u. die Sprachutopie der Kunst nur noch im Verschwinden erscheine, gehört zu den paradoxalen Formeln, in denen sich A. den geschichtsphilosoph. Stand des Ästhetischen vergegenwärtigt: Die Sprache moderner Kunst ist ein Differential des Schweigens; wie die Höhlenzeichnungen der ersten Menschen vorsprachlich zu sprechen scheinen, so auch das Schweigen der letzten, das Beckett protokolliert. Stummheit ist für A. aber nicht nur die flüchtige Gestalt einer wahren Sprache, sondern auch der Verdichtungspunkt eines Entsetzens, dem es die Sprache verschlägt. Deshalb nötige die Utopie ästhet. Transzendenz zur fortschreitenden Entzauberung des schönen Scheins. »Weil es in der Welt noch keinen Fortschritt gibt, gibt es einen in der Kunst.« Für A. ist Beckett der bewussteste Vertreter der katastrophischen Moderne. Seine Werke inszenieren den Zerfall der Dramenform als Allegorie der Geschichte. Durch die Zerstörung des eigenen Sinnzusammenhangs erreicht Becketts Werk die paradoxe Sinngestalt »organisierter Sinnlosigkeit«. Dieser poet. »Konstruktion des Sinnlosen« entspricht aufseiten des Interpreten die analyt. Aufgabe, die Unverständlichkeit selbst zu verstehen. Dass sich in A.s Beschreibung moderner Kunst Paradoxien, die Zerfallsprodukte der Dialektik, vordrängen, zeigt, dass jene mit den theoret. Mitteln der idealist. Ästhetik nicht mehr begriffen werden kann. So reduziert Becketts Endspiel die Szene auf einen Innenraum, der zgl. Totenkopf u. Gefängnis ist; Anfang u. Ende gibt es so wenig wie dramat. Verlauf. »Dialektik pendelt aus.« Beckett inszeniert die Moderne in Gefängnisräumen als Phantasmagorien aussichtslosen Gebanntseins u. qualvoller Wiederholung. Sie bilden das Schlusstableau

43

von A.s Geschichtsphilosophie des Ästhetischen: Der Kopf des letzten Menschen hat sich in eine Gefängniszelle verwandelt; er steht am Endpunkt eines weltgeschichtl. Abbaus von Subjektivität. Leiderfahrung als Maß der Erkenntnis ist die Grundformel der A.’schen Dialektik. A. begründet ihre ästhet. Ausrichtung damit, dass Schmerz in der rationalen Rede wohl thematisiert werden, aber nicht zum Ausdruck kommen kann. Leid ist für A. zgl. Ausdruck u. Formsubstanz der Kunst. Problematisch werde dabei das Verhältnis von Leid u. schönem Schein. Denn soweit es Schein sei, liege in allem Ästhetischen ein Anaestheticum. Deshalb verstärken moderne Kunstwerke das Moment des Leidausdrucks gegen den Schein des Schönen. A.s Konzept eines ästhet. Negativismus besagt, »daß die Utopie eingeht in die Kraft der Negation, ins Verbot ihres Namens; daß das Bunte gerettet wird im Dunklen, das Glück in der Askese, die Versöhnung in der Dissonanz«. So gibt es für A. nur e in e ehrliche Geschichtsbetrachtung: die absichts- u. bewusstlose der Kunst. Indem sie das Dissonante ehre, halte moderne Kunst Bilder gequälter Menschen fest. Konsequent gipfelt A.s »Philosophie der neuen Musik« in einer Christologie der Kunst: Sie opfere sich der Sinnlosigkeit, nehme die Schuld der Welt auf sich u. versage sich dem schönen Schein. »Keiner will mit ihr etwas zu tun haben. Sie verhallt ungehört, ohne Echo.« So besetzt in A.s Denken das moderne Kunstwerk die vakante Stelle Christi; seine Philosophie der Kunst ist eine Lehre vom ästhet. Kreuz. Dieser Ästhetisierung der Erlösung entspricht eine radikale Reduktion des ästhet. Bilderreichs. Die Erfahrung des totalen Banns der Welt zwinge die Kunst an den Nullpunkt der Konkretion. Dort entspringe eine »zweite Welt von Bildern« aus Beschädigung u. Hohlraum: das »Negative der verwalteten Welt«. Kunst überblende die reale, aber gefesselte Möglichkeit von Utopie durch die Möglichkeit der totalen Katastrophe. Am Ende der Reflexionen aus dem beschädigten Leben, die 1951 u. d. T. Minima Moralia (Ffm.) erschienen, schreibt A.: »Philosophie, wie sie im Angesicht der Verzweiflung einzig noch zu verantworten ist, wäre der Versuch, alle

Adorno

Dinge so zu betrachten, wie sie vom Standpunkt der Erlösung aus sich darstellten.« Die Entzauberung der Welt durchs messian. Licht soll den Bann ihrer rationalist. Entzauberung sprengen. Diesem Licht antworten die Menschen im kreatürl. Ausdruck u. im Eingedenken. Auf den Dingen liege es als Aura, u. in den Texten zeige es sich, wo sie gelesen werden, als ob sie heilige seien. So geht für A. die Erkenntnis der Gefangenschaft in eine Zeichendeutung der Erlösung über. Eine unanschauliche, nur in allegor. Gebrochenheit zu fassende Beziehung dessen, was ist, zum erlösenden Fremden bestimmt A.s neues Subjekt der Erkenntnis. Das sei die Verheißung des Ästhetischen. Denn Kunstwerke sind für A. nicht Gegenstände des Genusses oder der Kontemplation, sondern Modelle richtigen Verhaltens in einer falschen Welt. Weitere Werke: Philosoph. Terminologie. Bd. 1 u. 2, Ffm. 1973 u. 1974. – Aufarbeitung der Vergangenheit. Reden u. Gespräche. Ausw. u. Begleittext v. Rolf Tiedemann. Mchn. 1999 (5 CDs). – Traumprotokolle. Hg. Christoph Gödde u. Henri Lonitz. Ffm. 2005. Ausgaben: Ges. Schr.en in 20 Bdn. Hg. Rolf Tiedemann. Ffm. 1970 ff. – Nachgelassene Schr.en. Hg. vom T. W. A.-Archiv. Ffm. 1993 ff. (bisher erschienen: 10 Bde.). – Briefe u. Briefw. Hg. vom T. W. A.-Archiv. Ffm 1994 ff. (bisher erschienen: 6 Bde.). Literatur: Bibliografien: René Görtzen: T. W. A. Vorläufige Bibliogr. seiner Schr.en u. der Sekundärlit. In: A.-Konferenz 1983. Hg. Ludwig v. Friedeburg u. Jürgen Habermas. Ffm. 1983, S. 402–471. – Weitere Titel: Thomas Baumeister u. Jens Kulenkampff: Geschichtsphilosophie u. philosoph. Ästhetik. In: Neue Hefte für Philosophie 5 (1973), S. 74–104. – Gerhard Kaiser: Benjamin, A. Zwei Studien. Ffm. 1974. – Friedemann Grenz: A.s Philosophie in Grundbegriffen. Ffm. 1974. – Peter Bürger: Theorie der Avantgarde. Ffm. 1974. – Hans-Dietrich Sander: Marxist. Ideologie u. allg. Kunsttheorie. Tüb. 21975. – Hans Robert Jauß: Ästhet. Erfahrung u. literar. Hermeneutik. Ffm. 1982. – Norbert Bolz: Geschichtsphilosophie des Ästhetischen. Hildesh. 1979. – Burkhardt Lindner u. Martin Lüdke (Hg.): Materialien zur ästhet. Theorie A.s. Konstruktion der Moderne. Ffm. 1980. – Hermann Mörchen: A. u. Heidegger. Untersuchungen einer philosoph. Kommunikationsverweigerung. Stgt. 1981. – L. v. Friedeburg u. J. Habermas (Hg.): A.-Konferenz 1983. Ffm. 1983. – Al-

Adrian

44

brecht Wellmer: Zur Dialektik v. Moderne u. Postmoderne. Vernunftkritik nach A. Ffm. 1985. – Rolf Wiggershaus: Die Frankfurter Schule. Gesch., Theoret. Entwicklung, Polit. Bedeutung. Mchn. 1986. – Josef Früchtl: Mimesis. Konstellation eines Zentralbegriffs bei A. Würzb. 1986. – Axel Honneth u. A. Wellmer (Hg.): Die Frankfurter Schule u. die Folgen. Bln./New York 1986. – Willem van Reijen u. Gunzelin Schmid Noerr (Hg.): Vierzig Jahre Flaschenpost: ›Dialektik der Aufklärung‹ 1947–87. Ffm. 1987. – R. Wiggershaus: T. W. A. Mchn. 1987. 2., überarb. Aufl. 1998. – Anke Thyen: Negative Dialektik u. Erfahrung. Zur Rationalität des Nichtidentischen bei A. Ffm. 1989. – Christoph Menke: Die Souveränität der Kunst. Ästhet. Erfahrung nach A. u. Derrida. Ffm. 1991. – Rolf Tiedemann (Hg.): Frankfurter Adorno-Blätter. 8 Bde., Ffm. 1992–2003. – Max Paddison: A.’s Aesthetics of Music. Cambridge 1993. – Christoph Demmerling: Sprache u. Verdinglichung. Wittgenstein, A. u. das Projekt einer krit. Theorie. Ffm. 1994. – Stefan Müller-Doohm u. a. (Hg.): Die Gesellschaftstheorie A.s. Themen u. Grundbegriffe. Darmst. 1998. – Ders.: A. Eine Biogr. Ffm. 2003. – Dirk Auer u. a. (Hg.): Arendt u. A. Ffm. 2003. – Martin Seel: A.s Philosophie der Kontemplation. Ffm. 2004. – Moshe Zuckermann: T. W. A. – Philosoph des beschädigten Lebens. Gött. 2004. – Tom Huhn (Hg.): The Cambridge Companion to A. Cambridge 2004. – Wolfram Ette u. a. (Hg): A. im Widerstreit. Zur Präsenz seines Denkes. Freib. i. Br./Mchn. 2004. – A. Honneth u. C. Menke (Hg.): T.W.A.: Negative Dialektik. Bln. 2006. – R. Tiedemann (Hg.): Niemandsland: Studien mit, über u. um T. W. A. Mchn. 2007. Norbert Bolz / Carsten Dutt

Adrian, Marc, * 4.12.1930 Wien. – Experimenteller Schriftsteller u. Künstler. A., der bei Fritz Wotruba in Wien u. Ossip Zadkine in Paris Bildhauerei studierte, hielt sich seit der Studienzeit immer wieder im Ausland auf, um Ausstellungen, Aufträge u. Projekte durchzuführen. Seit 1970 war er auch als Hochschullehrer in der Bundesrepublik Deutschland, den USA u. Wien tätig. A. arbeitet als experimenteller Künstler zwischen den Bereichen Grafik, Plastik, Foto, Film, konstruiert Licht-, Farb- u. Bewegungsobjekte u. experimentiert auch mit Sprache. Der wichtigste Beitrag A.s zur Literatur ist seine Entwicklung einer Methode zur Text-

herstellung. Diese »Inventionismus« genannte Methode, die auch von der Wiener Gruppe angewandt wurde, besteht darin, aus einem durch organisierten Zufall gewonnenen Wortmaterial mittels mathematisch erstellter Verfahren Texte zu generieren u. somit das Schöpferische in ein für jedermann einsehbares Kalkül umzuwandeln. A. hat außerdem Kenneth Patchens Roman Schläfer erwacht (1946) übersetzt, der viele Verfahrensweisen der experimentellen u. konkreten Literatur vorwegnahm. Seit den 1960er Jahren verfasst A. auch Computertexte. Weitere Werke: kurzgefaßte theorie des methodischen inventionismus. Wien 1957 (Flugschr.), – syspot. ein computerstück. Wien 1970. – inventionen. Linz 1980. – Die Wunschpumpe. Eine Wiener Montage. Wien 1991. Literatur: Otto Mörth (Hg.): M. A. Das filmische Werk. Wien 1999. Walter Ruprechter / Red.

Aebli, Kurt, * 20.10.1955 Rüti (Kt. Zürich). – Verfasser von sprachexperimenteller Lyrik u. Prosa. Nach einem Studium an der Universität Basel u. mehreren Auslandaufenthalten lebt A. heute in der Nähe von Zürich. Seit seinem literar. Debüt, dem Gedichtband Der perfekte Passagier (Basel 1983), kreist sein Werk ganz um die Sprache. Sie ist Medium seiner filigranen Selbst- wie Welterkundung, wobei stets mit reflektiert wird, dass die Sprache selbst Teil des Erkennens ist. »Zwischen den Worten kann man / den Himmel sehen«, heißt es in Ameisenjagd (Ffm. 2004). A. liebt die lakonische Verknappung u. das experimentelle Spiel mit Worten u. Sätzen, deren Möglichkeiten u. Grenzen er neu abzustecken versucht. »Aufhören mit dem symbolischen Gerede, dem Gemunkel der Zeichen, Schluss, Vorhang, aus«, schreibt er im Prosaband Die Vitrine (Zürich 1988). Sind die frühen Texte gezeichnet von kryptischen Formulierungen, in denen sich Weltekel u. Selbstzweifel ausdrücken, findet A. spätestens mit dem Gedichtband Die Uhr (Ffm. 2000) zu einer Poesie der Gelassenheit. Noch immer schätzt er die rhetor. Form des Paradoxes, hält sie nun aber heroisch aus. »Ein dichterisches Werk entsteht nicht durch

45

Arbeit, sondern durch Aufmerksamkeit«, formuliert er in Der ins Herz getroffene Punkt (Basel/Weil am Rhein 2005), worin sich pointierte Aphorismen u. längere, mäandernde Selbstreflexionen locker aneinanderreihen. Seine Erzählerfigur wehrt sich gegen alle Formen der Überzeugung, die er für unrein hält. Er gibt sich den wechselnden Launen hin, die ihm das Maß seiner Aufmerksamkeit diktieren. Weitere Werke: Die Flucht aus den Wörtern. Zürich 1983 (P.). – Küß mich einmal ordentlich. Ffm. 1990 (P.). – Mein Arkadien. Ffm. 1994 (P.). – Frederik. Ffm. 1997 (E.). Literatur: Bruno Steiger: Vom Duft der Transparenz. In: Frankfurter Rundschau, 1.2.2001. – Beat Mazenauer: K. A. In: LGL. – Samuel Moser: Die Welt als Spielbrett. In: NZZ, 24.1.2004. – Andreas Langenbacher: In giftgrüner Gegenwart. In: NZZ, 17.5.2005. Beat Mazenauer

Ältere Judith ! Judith, Ältere Aemilia Juliane, Aemilie J., Gräfin zu Schwarzburg-Rudolstadt, geb. Gräfin zu Barby, * 19.8.1637 Rudolstadt, † 3.12. 1706 Rudolstadt. – Verfasserin von geistlichen Liedern, Gebeten u. Andachten. A. wurde auf der Heidecksburg geboren, wohin ihre Eltern vor dem Krieg ausgewichen waren. Nach dem Tod der Mutter 1642 kam sie als Waise nach Rudolstadt u. erhielt gemeinsam mit den Rudolstädter Prinzessinnen, darunter Ludaemilia Elisabeth, eine fromm-lutherische, in Teilen gelehrte Erziehung. 1665 heiratete sie ihren Vetter, den Grafen Albert Anton von Schwarzburg-Rudolstadt. A. schrieb v. a. geistl. Lieder, die von der Haltung landesmütterlicher Fürsorge geprägt sind. Im Geist des frühen Pietismus erwuchsen sie aus bewusster Verantwortung für eine vorbildliche Lebensführung. Mit ihrer geistl. Dichtung gehört A. in den Zusammenhang einer Frömmigkeit, wie sie am eng verbundenen Wolfenbütteler Hof unter Herzog Rudolf August u. um den Rudolstädter Kanzler Ahasver Fritsch gepflegt wurde, ohne dass sie dessen Fruchtbringender Jesus-Gesellschaft angehört hätte.

Aemilius Weitere Werke: Geistl. Weiber-Aqua-Vit. Rudolstadt 1683. 21714. – Tägl. Morgen- Mittags- u. Abend-Opffer. Rudolstadt 1685. 31714. – Kühlwasser in großer Hitze des Creutzes. Rudolstadt 1685. 31714. Ausgabe: Fischer-Tümpel 5, S. 548–570. – EKG 236, 331. Literatur: Schwartzburg. Denckmahl (Leichenpredigten für A.). Rudolstadt 1707. – Frels, S. 4. – Paul Gabriel: A. J. v. S.-R. In: NDB. – Brigitte E. Z. Archibald: Ludaemilia Elisabeth, Gräfin v. Schwarzburg-Honstein and A. J. v. S.-R. Two poets of the 17th century. Diss. University of Tennessee 1975. – Martin H. Jung: Frauen des Pietismus. Zehn Porträts [...]. Gütersloh 1998. – Judith P. Aikin: Der Weg zur Mündigkeit in einem Frauenleben aus dem 17. Jh. Genesis u. Publikationsgesch. der geistl. Lieder der Gräfin Aemilie J. v. S.-R. In: Wolfenbütteler Barock-Nachrichten 29 (2002), S. 33–59. – Ernst Koch: Die ›Neue geistlichfruchtbringende Jesus-Gesellschaft‹ in Rudolstadt. In: PuN 31 (2005), S. 21–59. – Susanne Schuster: A. J. v. S.-R. u. Ahasver Fritsch. Eine Untersuchung zur Jesusfrömmigkeit im späten 17. Jh. Lpz. 2006. – J. P. Aikin: ›Wer weiß, wie nahe mir mein Ende‹. Todesbereitschaft im Leben u. Dichten der Gräfin Aemilie J. v. S.-R. In: Blätter der Gesellsch. für Buchkultur u. Gesch. 10 (2006), S. 37–61. Jochen Bepler

Aemilius, Georg, eigentl.: Oemler, Omler, Öhmler, * 25.6.1517 Mansfeld, † 22.5. 1569 Stolberg/Harz. – Lyriker, Verfasser von Bibelepik. A. stammte aus einer Bergmanns- u. Köhlerfamilie u. studierte nach dem Besuch einer Lateinschule (wahrscheinlich in Stolberg) Theologie in Wittenberg (1532–1540), wo er auf Anregung Philipp Melanchthons seinen Namen latinisierte u. lat. Dichtungen abzufassen begann. Nach der Promotion zum Magister artium (1537) leitete er in Wittenberg eine Privatschule u. dann 1540–1553 als Rektor die Lateinschule in Siegen. Für seine Schüler schrieb er zahlreiche lat. Werke. Von 1553 bis zu seinem Tod war er als erster Superintendent in der Grafschaft Stolberg tätig; 1554 promovierte er in Wittenberg zum Doktor der Theologie; nebenbei befasste er sich mit Botanik. A. schrieb in Wittenberg, wo er zus. mit Georg Sabinus, Johannes Stigelius, Simon Lemnius, Melchior Acontius

Äsop

u. a. dem älteren Wittenberger Dichterkreis angehörte, zunächst Gelegenheitsgedichte u. wandte sich dann, angeregt von Melanchthon u. Martin Luther, der Bibelepik zu. Er verfasste u. a. Versifizierungen sämtlicher Evangelien (Köln 1549) u. der Episteln der Sonnu. Feiertage des Kirchenjahres (Basel 1551); eng mit diesen Dichtungen verwandt sind Übertragungen zeitgenössischer frz. u. dt. Verse. Über zwanzigmal nachgedruckt wurde seine Latinisierung der frz. Bildunterschriften (von Gilles Corrozet) zu den erstmals 1538 im Druck erschienenen Bildern des Todes von Hans Holbein d.J. (Imagines de morte. Lyon 1542. Vorlage u. Vorbild für Johann Vogels Icones mortis. o. O. u. J. [Nürnb. 1648]. Neudr. hg. v. G. Dünnhaupt. Stgt. 1998). Kurz vor seinem Tod publizierte er eine lat.-dt. Bilingue der Kirchenlieder Luthers (Basel 1568). Weniger bedeutend als die z. T. sehr gekonnten lat. Dichtungen sind A.s Versuche in dt. Versen u. seine theolog. Schriften. Ausgabe: Wackernagel 1, Nr. 576–579; 4, Nr. 181–184. – W. S. Watt: Two unpublished (?) poems of G. A. In: BHR 53 (1991), 1, S. 119–121. Literatur: VD 16, A 329–346. – Joachim Kirchner: G. A. In: NDB. – Ellinger 2, S. 110–114. – Niklas Holzberg: G. A. In: DDL (mit Bibliogr.). – Ders.: Ein vergessener Schüler Philipp Melanchthons: G. A. (1517–69). In: ARG 73 (1982), S. 94–122. Niklas Holzberg

Magdeburger Äsop ! Magdeburger Äsop Aesthicampius ! Rhagius, Johannes Agricola, Georgius, eigentl.: Georg Pawer, * 24.3.1494 Glauchau, † 21.11.1555 Chemnitz; Grabstätte: Zeitz, Schlosskirche. – Begründer der Mineralogie u. der Montanwissenschaften in Deutschland; Verfasser montankundlicher, metrologischer, grammatischer, medizinischer u. politischer Schriften. A. entstammte einer Tuchmacherfamilie, die der Grundherrschaft von Schönburg-Glaucha fronpflichtig war. Als 19-Jähriger ging er an die Universität Leipzig, wo er sich nach dem Examen zum Baccalaureus artium (1515) philologisch-philosoph. Studien zuwandte.

46

Unter seinen Lehrern waren so bekannte Humanisten wie Petrus Mosellanus (Peter Schade), der Engländer Richard Croke, ein bedeutender Gräzist, sowie später auch der Mediziner Heinrich Stromer von Auerbach. Im Frühjahr 1518 ging A. als Griechischlehrer an die Zwickauer Lateinschule, ein Jahr später übernahm er die Stelle des Schulmeisters der neu gegründeten Ratsschule, einer Griechischschule, die 1520 mit der Lateinschule vereinigt wurde. Im gleichen Jahr veröffentlichte A. in Leipzig sein Erstlingswerk Libellus de prima ac simplici institutione grammatica. Es enthält u. a. die von humanist. Bildungsidealen geprägten pädagog. Grundanschauungen A.s sowie eine damals neue Schreib-Lese-Methode. Zwickau erlebte in diesen Jahren heftige Auseinandersetzungen zwischen den radikaleren reformator. Kräften um den bis 1521 dort wirkenden Prediger Thomas Müntzer u. den gemäßigten Anhängern Luthers, der sich 1520 in Zwickau gegen die »Schwärmer« wandte. A., der Erasmus von Rotterdam nahestand u. die Reformation nach anfängl. Sympathien nicht mitvollzog, ging 1522 wieder nach Leipzig, um sich in den Sprachen u. in der medizin. Wissenschaft weiterzubilden. Das Streben nach enzyklopäd. Bildung auf naturkundl. Grundlage führte ihn ein Jahr später nach Italien, wo er in Bologna, Padua u. wohl auch Ferrara Medizin, Naturwissenschaften u. Sprachen hörte u. den medizin. Doktorgrad erwarb. 1524 wurde A. wiss. Mitarbeiter der berühmten Drucker- u. Verlegerfamilie Manutius-Asulanus in Venedig. Er wirkte an der griech. Erstausgabe der Werke des Galen (1525) u. einer Hippokrates-Ausgabe (1526) mit. Von Reisen nach Rom u. Neapel, die ihm eine große Ausbeute an Fakten für seine späteren wiss. Arbeiten einbrachten, kehrte A. Ende 1526 nach Sachsen zurück. Bald darauf heiratete er in Chemnitz, wohl noch bevor er sich im Herbst 1527 als Stadtarzt u. Stadtapotheker im böhm. St. Joachimsthal niederließ, das sich bereits elf Jahre nach seiner Gründung zu einem montanist. Zentrum europ. Ranges entwickelt hatte. Hier widmete er sich neben seiner Arbeit mit »ganzer geistiger Kraft« u. »glühendem Ei-

47

fer« dem Studium der Natur u. der bergmänn. Erfahrungswelt. Ein vorrangiges Anliegen des Humanisten war zunächst, antikes Wissensgut im Bereich mineral. Heilmittel mit Hilfe der prakt. Kenntnisse montankundiger u. metallurg. Spezialisten zu rekonstruieren u. es schließlich zu popularisieren. A. blieb nicht bei der Suche nach mineralischen, für die ärztl. Praxis geeigneten Stoffen stehen; er dehnte seine Forschungen aus auf metallurgische u. geologisch-mineralog., auch montanhistor. u. montanwirtschaftl., metrolog. u. markscheiderische sowie nicht zuletzt auf montantechn. Fragen. Er fuhr selbst in Schächte u. Stollen ein, sah sich in Aufbereitungsanlagen u. Schmelzhütten um, beobachtete die Arbeiten der Bergbeamten, der Markscheider u. Probiermeister. Schließlich erwarb er auch Anteile an einer später sehr ertragreichen Silbergrube. Frucht dieser Studien war das montankundl. Erstlingswerk Bermannus sive de re metallica dialogus (Basel 1530. Paris 1541. Lpz. 1546 u. ö.). Die wiss. Programmschrift, mit der A. die Aufmerksamkeit der Humanisten auf das noch weithin unerschlossene Feld prakt. Erfahrungswissens im Bergbau der Zeit lenken wollte, wurde zum meistgelesenen Werk A.s im 16. Jh. Erasmus schrieb in einem Geleitwort, das »Neuartige des Gegenstandes« habe ihm sehr gefallen. 1531 ließ sich A. in Chemnitz nieder, wo er bis zu seinem Tod als Stadtphysikus u. mehrfach als Bürgermeister tätig war, oftmals – obwohl Katholik – auch in diplomat. Mission seines Landesherrn, des Herzogs Moritz von Sachsen. Hier schrieb oder vollendete er die meisten seiner Werke. Aus aktuellem Anlass verfasste er nach der Belagerung Wiens durch die Türken 1529 die an König Ferdinand II. gerichtete Oratio de bello adversus Turcam suscipiendo (Basel 1538. Lpz. 1594. 1595. 1603. Internet-Ed.: CAMENA). Sie erschien zuerst in dt. Übersetzung u. d. T. Oration, anrede und vormanunge [...] von Kriegsrüstung und Heerzuge widder den Türcken 1531 zugleich in Dresden u. Nürnberg (dt. noch einmal Ffm. 1597). Die Rede weist ihren Verfasser als einen Mann mit Weitblick aus, der die größeren polit. Zusammenhänge sei-

Agricola

ner von konfessionellen Wirren geprägten Zeit durchschaute. Seinen Interessen als Arzt u. vormaligem Stadtapotheker dienten umfangreiche Studien über Maße u. Gewichte u. deren Entwicklung seit der Antike, ein weiteres aktuelles Problem seiner Zeit. Ein erstes Ergebnis legte A. in dem metrolog. Werk Libri quinque de mensuris et ponderibus (Basel 1533. Paris 1533. Venedig 1535) vor, das seinen Ruf als Chemnitzer Gelehrter begründete. Erst 13 Jahre darauf trat er mit einem Sammelband zu mineralogisch-geolog. Fragen wieder an die Öffentlichkeit. Er enthält die Werke, die A. den Ehrennamen »Begründer der Mineralogie in Deutschland« einbrachten: De ortu et causis subterraneorum libri V. De natura eorum quae effluunt ex terra libri IV. De natura fossilium libri X. De veteribus et novis metallis libri II. Epistula ad Meurerum (Basel 1546. Ital. Ausg. Venedig 1550 u. ö., teilweise oder zus. mit anderen Schriften). A. versucht, die Fülle der Minerale, Gesteine, Wässer in ein neues Ordnungssystem zu bringen, das ihrer Zusammensetzung u. ihren physikalischen u. chem. Eigenschaften u. ihrem Verhalten entspricht, wie sie sich aus Beobachtung, Erfahrung u. darauf beruhender theoret. Ableitung ergeben. Eine umfangreiche Mineraliensammlung mit Belegstücken aus allen bedeutenden Revieren des In- u. Auslands bildete hierzu eine Grundlage. In diesen wissenschaftsbegründenden Arbeiten betrat A. vielfach schon den Weg von der Einzelerfahrung zur Erfahrungswissenschaft, zu der von scholast. Zwängen freien »Scienza Nuova« der Galilei-Zeit. Mit De veteribus et novis metallis begründete A. die neuzeitl. Montangeschichtsschreibung; darüber hinaus leistete er damit einen wegweisenden Beitrag zur Lagerstättenkunde. Nach einer kleineren zoolog. Schrift De animantibus subterraneis Liber (Basel 1549), die später dem montanist. Hauptwerk A.s beigefügt wurde, veröffentlichte A. zus. mit einer Neubearbeitung seines ersten metrolog. Werks in einem weiteren Sammelband (De mensuris et ponderibus Romanorum atque Graecorum Libri V. De externis mensuris et ponderibus Libri II. Ad ea, quae Andreas Alciatus denuo disputavit de mensuris et ponderibus, brevis defensio

Agricola

Liber I. De restituendis ponderibus atque mensuris Liber I. De precio metallorum et monetis Libri III. Basel 1550) weitere Abhandlungen über Maße u. Gewichte sowie eine anspruchsvolle volkswirtschaftl. Auseinandersetzung mit dem aktuellen Problem des Metall- u. Münzwesens. In De precio [...] untersucht er systematisch die Verwendungsmöglichkeiten der Metalle Gold, Silber, Kupfer, Eisen, Zinn, Wismut u. Quecksilber, um schließlich auf ihre Bedeutung für das Münzwesen einzugehen u. dabei das Übel der Münzfälscherei zu geißeln. Als 1552/53 die Pest in Sachsen wütete, bemühte sich A. darum, sein Werk De peste libri III fertigzustellen. Politische Verpflichtungen u. andere literar. Aufgaben führten jedoch dazu, dass diese Schrift, der noch andere medizin. Abhandlungen folgen sollten, erst 1554 die Druckerei – wie fast alle Werke A.s im Verlagshaus Froben in Basel – verließ. Sein bedeutendstes montanist. Werk, die »Zwölf Bücher über den Bergbau« De re metallica libri XII, das A. bereits in seiner Joachimsthaler Zeit konzipiert u. seit Langem angekündigt hatte, lag 1553 in Text u. Bild endlich abgeschlossen beim Verleger in Basel. A. starb jedoch ein halbes Jahr vor der Drucklegung nach kurzer Krankheit in Chemnitz. Dort wurde den Angehörigen des katholisch gebliebenen Gelehrten eine kirchl. Beisetzung verwehrt, weshalb das Begräbnis im St.-Peter-Pauls-Dom zu Zeitz erfolgte. Das montanist. Hauptwerk A.s von 1556 erschien bereits im folgenden Jahr bei Froben in der dt. Übersetzung von Philippus Bechius (weitere Ausg.: Ital. Basel 1561. 1563. Dt. Ffm. 1580. Dt. u. lat. Basel 1621. 1657). A. hatte das Kompendium des Bergbaus u. Hüttenwesens seiner Zeit unter großen Mühen mit 292 Holzschnitten illustrieren lassen. Dieses »opus nobilissimum«, wie es Petrus Albinus später rühmte, ist das umfassendste u. von seiner Systematik her vorbildlichste Werk der frühneuzeitl. Bergbauliteratur. Es wurde – nicht zuletzt in seinen Bearbeitungen (z.B. bei Alvaro Barba) – für eineinhalb Jahrhunderte zum »Buch der Bücher« für Montanbeflissene u. Metallurgen. Heute ist es eine einzigartige Quelle des Montanwesens im Zeitalter der Renaissance. Vor allem mit

48

diesem Werk hat A. nicht nur Montangeschichte geschrieben, er hat Montangeschichte gemacht. Ausgaben: De mensuris et ponderibus. Neudr. der Ausg. Basel 1550: Ffm. 1982. – De re metallica. Neudr. der Ausg. Basel 1556: Brüssel 1967. Neudr. der Ausg. Basel 1621 (darin auch: De animantibus subterraneis): Ffm. 1980. Neudr. der ersten dt. Ausg. Basel 1557: Ffm. 1981. Essen 1985 (mit begleitendem Text v. Wilhelm Treue). Lpz./Weinheim 1985 (mit Kommentarbd. v. Hans Prescher). Neuübers. u. bearb. v. Carl v. Schiffner u. a. Mchn. 5 1978. Nachdr. 2003. – G. A.: Ausgew. Werke. Hg. Hans Prescher. Bln./DDR 1955 ff. (darin alle Hauptschr.en A.s in dt. Übers. Bd. 1: Helmut Wilsdorf: G. A. u. seine Zeit. Fritz J. Obst (Hg.): Generalregister der Bde. I-IX. Bln. 1996). Literatur: Bibliografien: Rolf Michaëlis u. Hans Prescher: A.-Bibliogr. 1520–63. Bln./DDR 1971 (Quellen u. Forschungslit.). – Martina Jähn u. Stadtbibl. Chemnitz: A.-Bibliogr. 1964–1999. Forts. v. Michaëlis/Prescher. CD-ROM. Chemnitz 2005. – Guido Jüttner: G. A. In: DDL (Verz. der Drucke, Briefe, zeitgenöss. Äußerungen u. der Forschungslit.). – Weitere Titel: Lothar Suhling: Bergbau u. Hüttenwesen in Mitteleuropa zur A.Zeit. In: G. A.: Zwölf Bücher vom Berg- u. Hüttenwesen. Mchn. 1977, S. 570–584. – Gisela-Ruth Engewald: G. A. Lpz. 1982. Stgt. 21994. – Ulrich Horst: Stammfolge der Familie des sächs. Humanisten Dr. G. A., des ›Vaters der Mineralogie‹, u. die Frage seiner Nachkommenschaft. In: Mitteldt. Familienkunde 24 (1983), S. 359–378. – Roland Ladwig: Ökonom. Denken bei G. A. Freiberg 1990. – Friedrich Naumann (Hg.): G. A. 500 Jahre. Wiss. Konferenz vom 25.-27. März 1994 in Chemnitz. Basel/Boston/Bln. 1994. – Hans Prescher u. Otfried Wagenbreth: G. A. – seine Zeit u. ihre Spuren. Lpz./ Stgt. 1994. – Bernd Ernsting (Hg.): G. A. Bergwelten 1494–1994. Essen 1994. – Werner Kroker u. G. A.-Gesellsch. (Hg.): A.-Vorträge Chemnitz 1994. Bochum 1995. – Helmar Junghans: G. A. zwischen Papsttreuen, Humanisten u. Evangelischen. In: Herbergen der Christenheit. Jb. für dt. Kirchengesch. 19 (1995), S. 117–145. – Regine Metzler: ›So ruestet euch mit waffen wider den Türcken‹. Martin Luthers u. G. A.s Schr.en für den Krieg gegen die Türken. In: Sprachgesch. als Textsortengesch. Hg. Irmhild Barz u. a. Ffm. u. a. 2000, S. 297–319. – Marie-Claude Déprez-Masson: Technique, mot et image. Le ›De re metallica‹ d’A. Diss. Montréal 1997. Turnhout 2006. Lothar Suhling / Norman Pohl

49

Agricola, Johannes, auch: Islebius, Eisleben, eigentl.: Johannes Schneider, Spottname: Grikkel, * 20.4.1494 (?) Eisleben, † 22.9.1566 Berlin. – Verfasser geistlicher Schriften, Übersetzer, Sprichwortsammler.

Agricola

1529 enthält namentl. Polemik gegen Herzog Ulrich von Württemberg, die A. unter dem Druck öffentlicher (Ludwig von Passavant) u. nichtöffentl. Kritik in der zweiten Auflage tilgen musste. Ausgaben: Ferdinand Cohrs: Die evang. Katechismusversuche. Bd. 2, Bln. 1900. Neudr. Hildesh. 1978. – J. A.: Die Sprichwörterslg.en. Hg. Sander L. Gilman. 2 Bde., Bln./New York 1971. – Flugschr.en der Bauernkriegszeit. Hg. Adolf Laube u. Hans W. Seiffert. Bln./DDR 1975. 21978. – J. A.: Ausgew. Texte. Bern/Ffm./New York 1986. – J. A.: Die Historia des Leidens u. Sterbens Jhesu Christi. Neudr. der Ausg. Bln. 1543. Bern/Ffm./New York 1986. – Wackernagel 3. Literatur: Bibliografien: VD 16. – Koch. – Siehe auch Rogge. – Weitere Titel: Hans Volz: A. In: Handwörterbuch der Sage. Hg. Will-Erich Peuckert. Lfg. 1, 1961, Sp. 170–173. – Heinz-Dieter Grau: Die Leistung J. A.s als Sprichwortsammler. Diss. Tüb. 1968. – Joachim Rogge: A. In: TRE. – Ernst Koch: A. In: DDL. – Hans-Gert Roloff: Quelle – Text – Ed.: J. A.s ›Tragedia Johannis Huss‹. In: Editio 11 (1997), S. 78–85. – Thomas Althaus: Kleine Prosa der Frühen Neuzeit: die ›Adagia‹ des Erasmus v. Rotterdam in ihrer Wirkung auf J. A. u. Sebastian Franck. In: Jb. der Oswald-v.-Wolkenstein-Gesellsch. 11 (1999), S. 317–331. – Heinz Scheible: Melanchthons Briefw. Bd. 11, Stgt. 2003, S. 41 (Lit.). Heinz Scheible

Nach dem Studium in Leipzig ab 1509 wurde A. 1514 Lehrer in Braunschweig u. setzte 1515/16 sein Studium in Wittenberg fort, wo er am 11.2.1518 Magister wurde. Er war Schüler u. Helfer Luthers u. Freund Melanchthons. Am 19.9.1519 wurde er Baccalaureus bibliae, am 15.10.1519 Mitgl. des Senats der Artistenfakultät. Seit 1523 war er auch Katechet an der Stadtkirche. 1525 wurde A. in Eisleben Rektor der Lateinschule u. Prediger an St. Nicolai. Dem Kurfürsten von Sachsen diente er als Reichstagsprediger. Im Dez. 1536 kehrte A. nach Wittenberg zurück. Über der Frage nach Gültigkeit u. Funktion des Gesetzes gegenüber dem Evangelium kam es zum Zerwürfnis mit Luther (Antinomistenstreit). A. floh 1540 nach Berlin u. wurde Hofprediger des Kurfürsten Joachim II. von Brandenburg, 1543 auch Generalsuperintendent der Kurmark. Er besuchte die Reichstage in Regensburg 1541 u. Augsburg 1547/48, wo er Mitverfasser des Interims war, u. begleitete seinen Kurfürsten auch 1542 im TürkenfeldAgricola, Rodolphus A. Phrisius, eigentl.: zug in Ungarn. A.s literar. Werk zeigt wie bei Hutten u. Roelof Huisman, * 17.2.1444 (oder etwa Luther den bewussten Übergang vom Latei- Aug. 1443) Baflo bei Groningen, † 27.10. nischen zum Deutschen. Es umfasst lat. Bi- 1485 Heidelberg; Grabstätte: Franziskabelkommentare, lat. u. dt. Kirchenlieder, nerkirche zu Heidelberg. – Humanist; Flugschriften, Predigten, ein Drama sowie Verfasser philosophischer, rhetorischer u. Übersetzungen aus dem Lateinischen. Be- pädagogischer Schriften. achtenswert sind A.s kommentierte Samm- A. »hätte in Italien der erste sein können, aber lungen deutscher Sprichwörter (beginnend er zog Deutschland vor«, schrieb Erasmus. mit: Drey hundert Gemeyner Sprichwörter / der wir Als erster Nichtitaliener konnte A. als VerDeutschen uns gebrauchen / und doch nicht wissen körperung des Renaissance-Ideals des »uomo woher sie kommen. Hagenau 1529; fortgeführt universale« gelten. In Deutschland vertrat durch 1534 in Hagenau u. 1548 o. O. [Augsb.] kein Zeitgenosse das neue Denken wirersch. Sammlungen), die von A. als dt. Ent- kungsvoller. Zu A.s Schülern zählen der sprechung zu den Adagia des Erasmus ver- deutsche »Erzhumanist« Konrad Celtis u. standen wurden, aber auch in der Nachfolge Alexander Hegius, der Lehrer des Erasmus. von Heinrich Bebel u. a. stehen u. ihrerseits A.s Vater Hendrik Vries war Pfarrer der von Sebastian Franck übernommen u. wei- wichtigen Kirche von Baflo u. 1444–1480 Abt terentwickelt wurden. Doch A. ist »der erste des Benediktinerinnenklosters von Selwert in Sprichwortsammler im Dienste der deut- der Nähe von Groningen. Von den Einkünfschen Sprachpflege« (Grau). Die erste Edition ten einer persönl. Domäne des Bischofs von

Agricola

Münster bei Baflo lebte A. ab 1454. A.s Mutter Zycke (Sijke) gehörte wahrscheinlich einer wohlhabenden Familie namens Huisman an; diesen Namen latinisierte A. zu Agricola. Er besuchte wohl die Schule der St.-MartinusKirche in Groningen. (Die Annahme, diese Schule sei von den Brüdern vom gemeinsamen Leben geführt worden, ist falsch; Leben u. Werk A.s zeigen kaum Spuren des geistigen Lebens der »devotio moderna«.) A. studierte 1456–1458 in Erfurt – hier schloss er Freundschaft mit Rudolf von Langen – u. erwarb 1465 in Löwen mit höchster Auszeichnung den Magister-Titel. Ein Studium in Köln ist nicht eindeutig belegbar. 1469 studierte er in Pavia »ius civile« (röm. Recht), 1475 begab er sich nach Ferrara, das unter der Herrschaft der d’Este zu einem der Zentren des ital. Humanismus geworden war. Der begabte Musiker war von 1475 an als bezahlter Organist der Kapelle des Herzogs Ercole I. d’Este angestellt. In Ferrara verbrachte A. seine glücklichsten u. fruchtbarsten Jahre. Er lernte Griechisch u. übersetzte aus dem Griechischen ins Lateinische, er hielt die programmat. Rede Oratio in laudem philosophiae et reliquarum artium. 1479 kehrte er nach Groningen zurück, wo er 1479/80–1484 die Stelle eines Sekretärs, d.h. eines juristischen u. diplomat. Vertreters der Stadt innehatte. Groningen stand in dieser Zeit auf dem Höhepunkt seiner Macht. Das Amt sollte sowohl A.s Ansehen wie das der Stadt vergrößern; dennoch meinte A., wissenschaftliche u. gesellschaftl. Chancen zu versäumen. Er begab sich im April 1484 nach Heidelberg u. ließ sich am Hof seines ehemaligen Studienfreundes Johann von Dalberg nieder, der 1482 Bischof von Worms geworden war. In Heidelberg hatte man ihm die geforderte völlige Unabhängigkeit zugesichert. Er studierte Hebräisch u. nahm am akadem. Leben teil; bei Kurfürst Philipp erfreute er sich hohen Ansehens. Im Mai 1485 begleitete er den Bischof auf einer Reise nach Rom. Er erkrankte auf dem Rückweg u. starb in Heidelberg. A. wurde wegen seiner liebenswürdigen u. durchaus modernen Persönlichkeit, seiner Lebensführung u. seiner Gelehrsamkeit überall bewundert u. geliebt. In der Vielsei-

50

tigkeit seiner Interessen u. Tätigkeiten lässt sich A. nur mit den prominenten ital. Humanisten vergleichen. Neue humanist. Studien regte er an: in Groningen u. Adwert, wo in der Zisterzienserabtei unter Hendrik van Rees (Abt 1449–1485) bereits 1469 Versammlungen von Gelehrten stattfanden, in Antwerpen u. am Hof Kaiser Maximilians, in Heidelberg u. in Augsburg, in Deventer, Nimwegen, ’s Heerensberg u. Roermond, in Straßburg u. Köln. Die Vielseitigkeit A.s spiegelt sich in einem Werk, das noch immer auf eine philolog. Erschließung wartet. Neben Schriften zur Rhetorik u. zur Dialektik verfasste er Übersetzungen, Reden, Gedichte u. war auch philologisch tätig. Den Anspruch einer allgemeinen Reform der Wissenschaft erhebt A. in seinem philosoph. Hauptwerk, den drei Büchern von De inventione dialectica (entstanden 1479 in Ferrara u. Dillingen). Es zeigt das neu erwachte Interesse an der antiken Rhetorik u. richtet sich gegen die spätscholast. Schullogik, die den Humanisten als zum Selbstzweck gewordene Begriffszergliederung erschien. Auf den Erstdruck (Löwen 1515) folgten im 16. Jh. über 50 weitere Drucke. A. gelangt zu einer neuen Definition der scholast. Rhetorik, in die er die Technik der »inventio«, des Findens der besten Argumente, als konstitutives Element einbezieht. Er verbesserte das System der loci communes, das er bei Aristoteles, Cicero, Quintilian u. Boethius vorfand, u. bezog es enger auf Kenntnis u. Erfahrung der Wirklichkeit. Zudem behandelte A. im Rahmen seiner persuasiven Dialektik die Theorie der »passiones« u. die »dispositio« (die wirkungsvolle Gliederung des Materials). Im 16. Jh. war das Werk folgenreich für die Systematisierung der humanist. Lehrprogramme. Eine große Nachwirkung in Deutschland war ihm beschieden, weil Melanchthon auf A.s Methode zurückgriff, zunächst die Grundbegriffe festzustellen u. die Gliederung einer wiss. Darstellung aus ihnen abzuleiten. Acht erhaltene orationes zeugen von A.s eigenen Fähigkeiten in der Kunst der schön gefeilten Rede. Anlass der ersten drei überlieferten Reden war jeweils der Amtsantritt

51

eines neuen Rektors der Universität in Pavia. Die Oratio in laudem philosophiae et reliquarum artium (Rede zum Lob der Philosophie u. der übrigen Künste), mit der A. das akadem. Jahr 1476/77 an der Universität Ferrara inaugurierte, machte großen Eindruck u. begründete seinen europ. Ruhm. In glänzender Form formulierte A. darin das gesamte Programm der universitären u. humanist. Wissenschaften seiner Epoche. In der Oratio de vita Petrarchae (entstanden 1474–1477[?]) gestaltet A. seine Ideale u. sein Lebensgefühl, indem er Petrarca als Exempel humanistischer Lebensführung zeigt. Drei weitere Reden verfasste A. zu zeremoniellen Zwecken im Dienst des Bischofs von Worms. Als erster nichtitalienischer Humanist verfügte A. über eine gründl. Kenntnis der griech. Sprache u. Literatur. Davon zeugen sechs erhaltene Übersetzungen ins Lateinische, darunter der pseudoplaton. Axiochus, De contemnenda morte (Erstdr. Löwen um 1483), die Praecepta ad demonicum des Pseudo-Isokrates (Erstdr. um 1480) u. die Progymnasmata des Aphthonius (Erstdr. Köln 1532, 26 weitere Einzeldr.e im 16. Jh.). Erhalten haben sich auch 50 Briefe A.s an 17 humanist. Freunde aus Deutschland u. den Niederlanden sowie an Antonio Scrovegni. Es handelt sich um »epistulae familiares«, selektiv in der Auswahl von Korrespondenten u. Stoff, aber abwechslungsreich in ihrer Thematik. Sie geben ein interessantes Bild des intellektuellen Lebens der Epoche u. der Persönlichkeit des Autors, nicht zuletzt durch dessen Begabung zur Selbstbeobachtung. Immer wieder fordert A. in seinen Briefen eine Erneuerung der Studien auch in Deutschland. Der u. d. T. De formando studio (geschrieben 1484) bekannt gewordene Brief an Jakob Barbirianus, eine Verteidigung der humanist. Studien, ist wohl die erste pädagog. Schrift des dt. Humanismus. Abgefasst sind A.s Briefe in einem kunstvollen, präzisen u. korrekten Latein; der Stil ist geschliffen, sehr rhythmisch, charakterisiert durch Parallelismus u. Antithese. Als Stilmuster zog A. zumeist die Briefe des Plinius den Reden Ciceros vor. Die auch im vorromant. Sinn wenig inspirierte Poesie A.s folgt metrisch, prosodisch u.

Agricola

sprachlich klass. Normen mit einer Perfektion, die A. das Lob seiner Zeitgenossen eintrug. Wir kennen noch 26 seiner Gedichte; fast alle entstanden im Norden. Es handelt sich einerseits um längere religiöse Hymnen – wie die Anna mater (Erstdr. 1483 mit einem Epicedion auf Graf Moritz von Spiegelberg u. Epigrammen A.s; acht weitere Drucke bis 1517), die Vita divi Judoci u. den Hymnus de diva Katharina – andererseits um Gelegenheitsgedichte. Nicht erhalten hat sich eine Epitome der Weltgeschichte, die A. in Heidelberg für den Kurfürsten verfasste. Darüber hinaus soll A. Übersetzungen des Psalters u. des Dionysius (Pseudo-)Areopagita verfasst haben. Sicher zu Unrecht wurden ihm Übersetzungen von Eucherius’ De contemptu mundi, der Orationes des Demosthenes u. Aeschines u. der Praeexercitamenta des Hermogenes zugeschrieben. Auch in niederländischer Sprache u. – einer humanist. Vita zufolge – in anderen modernen Sprachen verfasste A. Gedichte. In De formando studio empfiehlt er dem Adressaten, beim Studium von der Vulgärsprache Gebrauch zu machen – jedoch nur zum Zweck des Lateinlernens. Seine Lieblingsautoren u. seine lat. Übersetzungen griechischer Autoren wurden bald ins Deutsche übersetzt. A. bleibt jedoch in erster Linie ein latinisierender Humanist. Sein Auftreten markiert den Beginn eines neuen Elans der lat. Kultur in Nordeuropa, der dann auch zum Aufschwung der nationalsprachl. Literaturen beitrug. A.s Leben war viele Male Gegenstand einer kürzeren humanist. Vita: Johannes Trithemius (1494), Johann von Pleningen (um 1500), Goswinus van Halen (um 1525), Gerard Geldenhouwer (1536), Philipp Melanchthon (zweimal 1539). Die Leichenrede von Johannes Reuchlin (1485) u. eine Vita von Regnerus Praedinius gingen verloren. Erasmus würdigt A. in seinem Quid cani et balneo. Ausgaben: (Die meisten Texte A.s sind in zwei Sammlungen überliefert, einem Codex der Württemberg. Landesbibl. Stuttgart, hergestellt v. A.s Freunden Dietrich u. Johann v. Pleningen u. geschrieben v. Johann Pfeutzer, sowie in der 1539 in Köln erschienenen zweibändigen Ausg. des Alardus Aemstelredamus: De inventione dialectica. Lucu-

Agrippa von Nettesheim brationes.) – De inventione dialectica. Lucubrationes. Neudr. der Ausg. Köln 1539. Nieuwkoop 1967. – De inventione dialectica libri omnes. Neudr. der Ausg. Köln 1523 [1539]. Ffm. 1967. – Opuscula, Orationes, Epistolae. Neudr. der Ausg. Köln 1539. Ffm. 1975. – De inventione dialectica libri 3. Vorw. v. Wilhelm Risse. Neudr. der Ausg. Köln 1528. Hildesh./New York 1976. – De inventione dialectica libri tres. Lat. u. dt. Hg. Lothar Mundt. Tüb. 1992. – Letters. Edited and translated with notes by Adrie van der Laan and Fokke Akkermann. Tempe (AZ) 2002. Literatur: Bibliografie: Gerda C. Huisman: R. A. A Bibliography of printed Works and Translations. Nieuwkoop 1985. – Akkerman u. Vanderjagt (s. u.). – Weitere Titel: H. E. J. M. van der Velden: R. A. (Roelof Huusman), een Nederlandsch humanist der vijftiende eeuw. Leiden o. J. [1911]. – M. A. Nauwelaerts: R. A. Den Haag 1963. – Franz Josef Worstbrock: A. In: VL. – R. A., Gronings humanist 1485–1985. Groningen 1985 (Ausstellungskat.). – Fokke Akkermann u. Arie Johan Vanderjagt (Hg.): R. A. Phrisius. Proceedings of the International Conference at the University of Groningen 28–30 October 1985. – C. G van Leijenhorst: A. In: Contemporaries. – Wilhelm Kühlmann (Hg.): R. A. 1444–85. Protagonist des nordeurop. Humanismus. Bern u. a. 1995. – Arend Hendrik van der Laan: Anatomie van een Taal. Rodolphus A. en Antonius Liber aan de wieg von het humanistische Latijn in de Lage Landen (1469–85). Groningen 1998. – Peter Walter: R. A.s Rektoratsrede für Johannes v. Dalberg. In: Nova de Veteribus. Mittel- u. nlat. Studien für P. G. Schmidt. Hg. Andreas Bihrer u. Elisabeth Stein. Lpz. 2004, S. 762–786. – Jaumann Hdb. Fokke Akkermann / Wilhelm Kühlmann

Agrippa von Nettesheim, eigentl.: Heinrich Cornelius, * 14.9.1486 Köln, † 1535 Grenoble. – Gelehrter u. Philosoph. Über A.s Familie ist wenig bekannt; der selbst zugelegte Adelstitel diente sozialer Erhöhung. Am 22.7.1499 nahm A. das Studium der Artes in Köln auf u. verließ die Universität am 14.3.1502 als Magister artium. Außer Paris sind weitere Aufenthaltsorte bis 1507 unbekannt. 1509 las A. an der Universität Dôle über Reuchlins De verbo mirifico, wurde aber vom Klerus vertrieben. 1510 hörte er in London bei John Colet u. trat mit Johannes Trithemius in Verbindung; 1511 zog er in

52

militär. Auftrag nach Italien. Wegen seiner Verdienste wurde A. 1512 zum »Eques auratus« geschlagen u. besuchte die Universität Pavia, wo er vermutlich den medizin. Doktorgrad erlangte. Nach Reisen in Italien kehrte er nach Pavia zurück, um über hermet. Themen zu lesen. Nach einem kurzen Zwischenaufenthalt 1516/17 in Casale am Hofe Guglielmos IX. Paleologo, Markgrafen von Monferrato trat er 1518 die Stelle eines Syndikus der Freien Reichsstadt Metz an. Dort verteidigte er eine der Hexerei beschuldigte Frau gegen die Inquisition. Als deshalb gegenüber A. selbst Vorwürfe laut wurden, verließ er die Stadt u. ging 1520 erneut nach Köln. Seit 1522 wirkte A. als Stadtarzt in Genf, seit 1523 in Freiburg/ Schweiz, wo Lorenz Fries für seine Tätigkeit Zeugnis ablegte. Ein höfisches Amt erlangte A. schließlich 1524 als Arzt der Louise von Savoyen, der Mutter des frz. Königs. Mitte 1526 verschlechterte sich A.s Lage am Hof durch seine Weigerung, ein Horoskop für Franz I. zu erstellen. Um einer Verhaftung zu entgehen, floh er im folgenden Jahr über Paris nach Antwerpen, wo er seit 1528 wiederum als Arzt wirkte. Wohl wegen seiner Verdienste als Seuchenarzt beim Ausbruch des »Englischen Schweißes« (1528) erhielt A. 1530 eine Anstellung als Hofhistoriograf in Mecheln, die er nach Kritik an seinem Werk De incertitudine et vanitate scientiarum atque artium seitens der Löwener theolog. Fakultät 1531 aufgab, um nach Köln, dann nach Bonn an den Hof des Erzbischofs Hermann von Wied zu gehen. Hier wechselte er Briefe mit Erasmus, Melanchthon u. anderen Humanisten, wie er auch Verbindung zu Johann Dryander u. Johann Weier aufnahm. Nach Reisen in Deutschland begab sich A. 1535 nach Frankreich, wo er in Lyon verhaftet wurde. Im gleichen Jahr starb A. in Grenoble u. wurde dort in der Dominikanerkirche beigesetzt. Erste Arbeiten A.s waren bereits in Dôle entstanden, so 1509 die Margarete von Österreich gewidmete Schrift De nobilitate et praeexcellentia foeminei sexus, deren Erstdruck 1529 erfolgte. Dieses kleine Werk, das die Überlegenheit des weiblichen über das männl. Geschlecht beschreibt, erfreute sich

53

einer gewissen Beliebtheit, wie es frühe Übertragungen ins Landessprachliche belegen. In der gleichfalls noch in Dôle entstandenen Expostulatio cum Ioanne Catilineti super expositionem libri loannis Capnionis de verbo mirifico, die ebenfalls erstmals 1529 gedruckt wurde, setzte sich A. mit kabbalistischem Gedankengut auseinander. Während seines Aufenthaltes in Italien verfasste A. einige kleinere Schriften zu Hermetismus u. Neuplatonismus, so seine 1515 oder 1516 an der Universität Pavia gehaltenen Vorlesungen zu Pimander (Erstdr. in Opera) u. dem Convivium Platonis (Erstdr. in Opera). Auch De triplici ratione cognoscendi Deum liber (Erstdr. 1529) u. der Dialogus de homine (Ed. Zambelli 1958) verweisen auf die Lehren der »prisca theologia«. Die Schrift De Originali peccato (Erstdr. 1529) berührt ebenso theolog. Themenkreise wie das wohl unter dem Einfluss Lefèvres d’Etaples 1518 in Metz entstandene Werk De beatissimae Annae monogamia (Erstdr. 1534), in dem A. die zweimalige Wiederverheiratung der Hl. Anna bestritt. In Metz stellte A. zudem das dem Kölner Weihbischof Caster zugedachte Regimen aduersus pestilentiam (Contra pestem antidoton. Erstdr. 1529) als wenig originelle Sammlung von bekannten Pestrezepten u. Verhaltensregeln zusammen. In die Lyoner Zeit fallen weitere theolog. Traktate, so die der Margarete von Navarra gewidmete De sacramento matrimonii declamatio (Erstdr. um 1526) u. die Dehortatio gentilis theologiae (Erstdr. 1529), in denen A. die christl. Lehren mit der »prisca theologia« vergleicht. In seiner Eigenschaft als Hofhistoriograf in Mecheln verfasste A. zudem Schriften auf die Kaiserkrönung Karls V. u. den Tod seiner früheren Gönnerin Margarete von Österreich. Die In artem brevem Raymundi Lullii commentaria (Erstdr. 1533) verfasste A. wohl vor 1526. Ein vor 1530 gedrucktes »Prognosticon« weist in seiner Grundhaltung bereits auf den Ton mancher Passagen in A.s Deklamation De incertitudine hin, die er gegen den Löwener Klerus in einer 1533 erschienenen Apologia ebenso verteidigte wie in einem postum erschienenen Sendbrief an den Senat der Stadt Köln, der noch im gleichen Jahr ins Deutsche übersetzt wurde.

Agrippa von Nettesheim

Bereits 1510 ließ A. eine handschriftl. Erstfassung seines Hauptwerks De occulta philosophia Johannes Trithemius zukommen. Bald fanden verfälschte Abschriften Verbreitung, sodass sich A. nach 1530 entschloss, das Werk überarbeitet in Druck gehen zu lassen. 1531 erschien das erste Buch bei Johannes Graphaeus in Antwerpen. Alle drei Bücher kamen 1533 in zwei Typenvarianten bei Johannes Soter zu Köln heraus. (Ein Liber quartus de occulta philosophia, der A. nicht zugeschrieben werden darf, wurde 1559 bei Andreas Kolbe in Marburg herausgegeben.) A. betonte, dass der Mensch vermittels der »occulta philosophia«, die der »magia« gleichzusetzen ist, den Kosmos zu erkennen u. zu beherrschen vermag. Der »magus« bedient sich auch der Dämonen, mit deren Hilfe der Mensch die Ideen des Archetypus manipulieren kann. In De occulta philosophia, späterhin oftmals als ein »Kompendium der Magie« bezeichnet, verarbeitete A. Neuplatonismus u. Hermetismus ebenso wie Astrologie, Zahlenmystik u. Kabbala. In seiner De incertitudine et vanitate scientiarum atque artium, Declamatio invectiva (begonnen 1526, erschienen 1530 bei Johannes Graphaeus in Antwerpen) widmet sich A. den Künsten u. Wissenschaften seiner Zeit. Stilistisch glänzend zeigt er in 99 Monografien die Widersprüchlichkeit der Lehren u. die Streitigkeiten ihrer Lehrmeister. Ausgenommen von diesem Urteil bleibt allein das Studium der Bibel (Kap. 100: De verbo dei). Kein anderes Werk A.s ist von den Zeitgenossen wie der Nachwelt so kontrovers beurteilt worden. Erasmus von Rotterdam erblickte in ihm einen Angriff auf die Kirche, während A. es in seiner Apologia von 1533 als »Paradoxon« bezeichnete. Spätere Biografen A.s sahen in De incertitudine einen Höhepunkt seiner Invektiven oder eine »summa« persönlicher Lebenserfahrung u. wiesen auf die skeptische, wenn nicht gar agnost. Grundhaltung A.s hin. Als literarisches Vorbild wurde einerseits das Fastnachtsspiel angesehen (Nowotny 1967), andererseits zählte man De incertitudine zum Genus der »Declamatio invectiva« (Zambelli 1969); starken Einfluss dürfte auch das Encomion morias des Erasmus ausgeübt haben.

Ahlefeld

Die Opera erschienen 1578 bei Thomas Guarin in Basel, obgleich sie undatiert Lyon als Druckort nennen. Sie bergen neben den Schriften A.s Auszüge aus seinem (heute verschollenen) Briefwechsel. Das Anton von Worms zugeschriebene Bildnis A.s in der Erstausgabe von De occulta philosophia könnte durchaus authentisch sein. Während De occulta philosophia vornehmlich in esoter. Kreisen des 17. u. 18. Jh. rezipiert wurde, fand De incertitudine Aufnahme in die Schriften der Frühaufklärer u. Libertins. A.s unbestechl. Haltung in dem Metzer Hexenprozess wurde im gelehrten Hexenschrifttum diskutiert; die sich um seine Person rankenden Legenden (Erzmagier mit schwarzem Hund) verwoben sich ebenso mit dem FaustStoff wie sie in die Literatur der Romantik eingingen. Ausgaben: Opera Omnia. 2 Bde., Basel 1578. Neudr. mit Einl. v. Richard H. Popkin. Hildesh./ New York 1970. – Einzelausgaben: Magische Werke [...] zum ersten Male vollständig ins Deutsche übersetzt. 5 Bde., Stgt. 1856. Neudr. Wiesb. 21985. – Die Eitelkeit u. Unsicherheit der Wiss. u. die Verteidigungsschr. Hg. Fritz Mauthner. 2 Bde., Mchn./Wien 1913. Neudr. Wiesb. 1969. – Dialogus de Homine. Hg. Paola Zambelli. In: Rivista critica di storia della filosofia 13 (1958), S. 47–71. – De occulta philosophia. Neudr. der Ausg. Köln 1533. Hg. u. erl. v. Karl Anton Nowotny. Graz 1967. – De occulta philosophia. Ausw., Einf. u. Komm. v. Willy Schrödter. Remagen 1967. – De nobilitate et praecellentia foeminei sexus. Hg. R. Antonioli. Genf 1990. – De Occulta Philosophia. Hg. Vittoria Perrone Compagni. Leiden 1992. – Über die Fragwürdigkeit, ja Nichtigkeit der Wiss.en, Künste u. Gewerbe. Übers. v. Gerhard Güpner mit einem Nachw. v. Siegfried Wollgast. Bln. 1993. Literatur: Auguste Prost: Les sciences et les arts occultes au 16ième siècle. Corneille A., sa vie et ses œuvres. 2 Bde., Paris 1881–82. Neudr. Nieuwkoop 1965. – Gerhard Ritter: Ein histor. Urbild zu Goethes ›Faust‹. In: Preuß. Jbb. 114 (1910), S. 300–324. – Erwin Metzke: Die Skepsis des A. In: DVjs 13 (1935), S. 407–420. – Paola Zambelli: A. v. N. In: Archivio di filosofia 1 (1955), S. 108–162. – George H. Daniels Jr.: Knowledge and Faith in the Thought of Cornelius A. In: BHR 26 (1964), S. 326–340. – Charles G. Nauert Jr.: A. and the Crisis of Renaissance Thought. Urbana 1965. – P. Zambelli: A. v. N. in den neueren krit. Studien u. Hss. In: AKG 51 (1969), S. 264–295. – Wolf-Dieter Müller-Jahncke:

54 Magie als Wiss. im frühen 16. Jh. Die Beziehung zwischen Magie, Medizin u. Pharmazie im Werk des A. (1486–1535). Diss. Marburg 1973. – Ders.: Johann Dryander u. A. in ihrem Briefw. In: Hess. Heimat 25 (1975), S. 91–98. – Ders.: The Attitude of A. (1486–1535) towards Alchemy. In: Ambix 22 (1975), S. 134–150. – P. Zambelli: Magic and reformation in A. v. N. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 39 (1976), S. 69–103. – W.-D. Müller-Jahncke: A. in Antwerpen. In: FS Rudolf Schmitz. Graz 1983, S. 243–268. – François Secret: L’originalité du ›De Occulta Philosophia‹. In: Archives de l’Unicorne 2 (1990), S. 57–87. – W.D. Müller-Jahncke: A. v. N. In: DDL. – Charles Zika: A. v. N. and his Appeal to the Cologna Council in 1533. In: Humanismus in Köln. Hg. James V. Mehl. Köln 1991, S. 119–174. – Marc van der Poel: Cornelius A. The humanist theologician and his declamations. Leiden 1997. – W.-D. Müller-Jahncke: A. v. N. In: VL Dt. Hum. Wolf-Dieter Müller-Jahncke

Ahlefeld, Ahlefeldt, Charlotte Elisabeth von, geb. C. Sophie Louise Wilhelmine von Seebach, auch: Elise Selbig, Ernestine, Natalie, * 6.12.1781 Stedten bei Weimar, † 27.7.1849 Teplitz; Grabstätte: ebd., Seume-Park. – Autorin von Unterhaltungsromanen. Als jüngste Tochter eines hannoveran. Regimentskommandanten in Weimar aufgewachsen, wurde A. dort 1798 im Haus der eng befreundeten Charlotte von Stein durch Herder mit dem holsteinischen Gutsbesitzer Rudolf Johann von Ahlefeld getraut. 1807 trennte sie sich wieder von ihm u. lebte fortan als freie Schriftstellerin. Durch literar. Produktivität bei gleichzeitigem großen Publikumserfolg sicherte sie sich ihre Selbständigkeit. Seit 1821 lebte A. wieder in Weimar, seit 1846 in Teplitz. Zeitgenossen wie Frau von Stein u. Ignaz Castelli bezeugten ihre persönl. Ausstrahlung. Populär wurden ihre Unterhaltungsromane aus der Ritterzeit u. die meist in Taschenbüchern u. Almanachen publizierten Erzählungen; bekannte Zeitschriften wie die »Zeitung für die elegante Welt«, »Iduna« u. »Urania« führten A. als Beiträgerin. Bis 1832 erschienen – oft anonym – annähernd 50 leicht lesbare, auf emotionale Resonanz ab-

55

zielende Erzählwerke, auch Reisebeschreibungen u. Gedichte. Bekannt wurde der Roman Marie Müller (Bln. 1798), der einen Liebeskonflikt durch Entsagung enden lässt – ein Erzählmuster, wie es der Frauenroman des späten 18. Jh. vorgab. Doch in den Romanen ihrer mittleren Jahre, wie Erna. Kein Roman (Altona 1820) u. Der Bote von Jerusalem (Altona 1823) gelingt es den Romanfiguren nicht, ihr Schicksal durch Sublimierung ihrer Gefühle (Nenon) zu ertragen. Weitere Werke: Liebe u. Trennung. Weißenfels 1797 (R.). – Gedichte. Bln. 1808. – Ges. E.en. 2 Bde., Schleswig 1822. Literatur: Christine Touaillon: Der dt. Frauenroman des 18. Jh. Wien 1919, S. 501 ff. – Monika Nenon: Der Bote v. Jerusalem. Ein Ritterroman (1823). In: Lexikon deutschsprachiger Epik u. Dramatik v. Autorinnen (1730–1900). Hg. Gudrun Loster-Schneider u. Gaby Pailer. Tüb. 2006, S. 1 f. Eda Sagarra

Ahlsen, Leopold, eigentl.: Helmut Alzmann, * 12.1.1927 München. – Verfasser von Schauspielen, Hör- u. Fernsehspielen.

Ahlwardt

Mit dem Schauspiel Philemon und Baucis (Hbg. 1956), für das er mit dem GerhartHauptmann-Preis ausgezeichnet wurde, gelang A. der Durchbruch. Darin schildert er das Schicksal eines alten griech. Bauernehepaares während der Partisanenkämpfe des Zweiten Weltkriegs. Die beiden müssen ihre Menschlichkeit, mit der sie sowohl den griech. Partisanen wie auch einem dt. Soldaten in der Not beistehen, mit dem Tod bezahlen. Dieses Stück, 1956 in München uraufgeführt, war urspr. ein Hörspiel u. wurde auch erfolgreich verfilmt. Seit 1960 arbeitet A. v. a. für das Fernsehen. Das Fernsehspiel Raskolnikoff (nach Dostojewskij; Erstsendung 1960) schildert am Schicksal der Zentralfigur die dramat. Suche nach Selbsterkenntnis. Auch in den folgenden Werken gestaltet A. die Geschichte großer literar. Figuren neu u. bearbeitet histor. Stoffe aus heutiger Sicht. Der vierteilige Fernsehfilm Des Christoffel von Grimmelshausens Abenteuerlicher Simplizissimus (ZDF/ORF 1975) brachte notwendigerweise Vereinfachungen gegenüber der Vorlage, wurde aber von Fachleuten als bedeutendes Ereignis für die Grimmelshausen-Rezeption im 20. Jh. anerkannt.

Der Sohn eines Beamten absolvierte in München das Abitur. In den letzten Wochen des Weitere Werke: Zwischen den Ufern. Urauff. Zweiten Weltkriegs wurde er als Infanterist eingezogen. Nach dem Krieg studierte er 1952 (D.). – Sie werden sterben, Sire. Urauff. 1964 Germanistik, Philosophie u. Theaterwissen- (D.). – Der arme Mann Luther. Gütersloh 1965 schaft in München u. besuchte die Deutsche (Fernsehfilm). – Berliner Antigone. Erstsendung Schauspielschule. 1947–1949 war A. als 1968 (Fernsehfilm). – Vom Webstuhl zur Weltmacht. Die Gesch. vom unglaubl. Aufstieg der Schauspieler u. Regisseur an süddt. StadtFugger. Dachau 1983 (R.). – Die Wiesingers. Bertheatern u. Tourneebühnen engagiert, gisch-Gladbach 1984 (R.). 1949–1960 war er Lektor der HörspielabteiLiteratur: Henning Rischbieter: L. A. In: Ders.: lung beim Bayerischen Rundfunk. Seit 1960 Dt. Dramatik in West u. Ost. Velber/Hann. 1965. – lebt A. als freier Schriftsteller in München u. Manfred Durzak: Lit. auf dem Bildschirm. Analyarbeitet für Rundfunk, Film, Fernsehen u. sen u. Gespräche mit L. A. u. a. Tüb. 1989. – Helmut Theater. Schanze: Grimmelshausen im Großen Fernsehen. A.s Werk umfasst zahlreiche zeitkrit. Anmerkungen zum ›Simplicissimus‹ in vier Teilen Theaterstücke, Hör- u. Fernsehspiele. In sei- v. L. A. u. Frotz Umgelter (1975). In: Simpliciana 23 nen erfolgreichen, spannenden Stücken be- (2001), S. 235–245. Heinz Vestner / Eva-Maria Gehler handelt er aktuelle Probleme. Insbes. geht es ihm um eine Auseinandersetzung mit der jüngsten dt. Vergangenheit. In den späteren Ahlwardt, Christian Wilhelm August, Werken werden die Vorgänge mit Verzicht * 23.11.1760 Greifswald, † 12.4.1830 auf den zeitgeschichtl. Aspekt ins Allge- Greifswald. – Philologe u. Übersetzer. meingültige erhoben. A. entstammte einer Greifswalder Bürgerfamilie. Nach dem Besuch der Ratsschule

Ahrends

(1769–1778) u. der Universität (1778–1782), die er ohne Abschluss verließ, war er Sprachlehrer in seiner Heimatstadt, Rostock u. Demmin. 1797 wurde er auf Empfehlung von Johann Heinrich Voß Rektor am Oldenburger Gymnasium. Nach der frz. Okkupation verließ er die Stadt 1811 u. übernahm die Leitung der Ratsschule in Greifswald, wo er sechs Jahre später eine Professur für alte Literatur erhielt. A. publizierte zahlreiche Abhandlungen u. Rezensionen zu Fragen der klass. Philologie sowie Übersetzungen von Euripides, Ovid, Ariost u. Camões (u. a. im »Neuen Teutschen Merkur«). Sein Hauptwerk war die Übersetzung der 1807 in London veröffentlichten Poems of Ossian, in the Original Gaelic (Die Gedichte Ossian’s. Aus dem Gaelischen im Sylbenmasse des Originals von C. W. A. 3 Bde., Lpz. 1811). A. warf James Macpherson Übersetzungsfehler vor u. ging davon aus, dass der Schotte Teile der gälischen Manuskripte verloren hatte. Um dennoch eine vollständige Fassung zu bieten, übertrug A. die 1807 ungedruckt gebliebenen Gedichte aus dem Englischen ins Gälische u. verdeutschte sie daraufhin. Seine Edition ist die auflagenstärkste aller vierzehn dt. Gesamtausgaben (1839, 1840, 1846 u. 1861). Weitere Werke: Galische Sprachlehre. Halle 1822. Literatur: August Schröder: C. W. A. In: Zeitgenossen, Biogr.n u. Charakteristiken. 3. Reihe. Bd. 3, Lpz. 1831, S. 55–70 (darin: Nachl.- u. Schriftenverz.). – Josef Möller: Gelehrtenschicksale zu Beginn der frz. Okkupation in Oldenburg. In: Oldenburger Jb. 91 (1991), S. 41–59. – Wolf Gerhard Schmidt: ›Homer des Nordens‹ u. ›Mutter der Romantik‹. James Macphersons Ossian u. seine Rezeption in der deutschsprachigen Lit. 4 Bde. (Bd. 4 zus. mit Howard Gaskill), Bln./New York 2003/04. Wolf Gerhard Schmidt

Ahrends, Martin, * 20.3.1951 Berlin (West). – Verfasser von Romanen u. Erzählungen. Die berufl. Anfänge von A. folgten zunächst den ausgetretenen Pfaden im Kulturbetrieb der DDR. Er studierte in Ostberlin Philosophie u. Musik, arbeitete als Redakteur einer

56

Zeitschrift u. als freier Autor. Versuche, im Theaterbetrieb Fuß zu fassen, scheiterten, denn über A. wurde aus polit. Gründen ein Arbeitsverbot verhängt, das ihn 1984 zur Ausreise u. in die BR Deutschland führte. Zeitgleich zu seiner Tätigkeit als Redakteur für die Wochenzeitung »Die Zeit« entstanden erste Veröffentlichungen, zunächst Bücher über den realsozialist. Sprachgebrauch (z.B. Trabbi, Telespargel und Tränenpavillon. Das Wörterbuch der DDR-Sprache. Mchn. 1986), in nicht durchgängig philologischer, zuweilen locker feuilletonist. Form, die ebenfalls als Einführungen in das realsozialist. Leben gelesen werden können. Ende der Achtzigerjahre wurde A. freier Autor. In den folgenden Jahren erschienen Romane u. Erzählungen (Der märkische Radfahrer. Köln 1992. Mann mit Grübchen. Bln. 1994), in denen eine Biografie unauffällig voranschreitet, bis Partei u. Geheimdienste eingreifen, den Lebenslauf ablenken u. zerstören. Neben der Novelle Verlorenwasser (Gött. 2000) entstanden in der Folge weitere journalist. Arbeiten. Als Schriftsteller trat A. nicht mehr hervor; er sammelte »zwei unverkäufliche Hörspiele, vier unverkäufliche Satiren, ein unverkäufliches Theaterstück, ein unverkäufliches Filmskript, zwei unverkäufliche Kindergeschichten und zwei unverkäufliche Romankapitel« an (Vom Gurkenziehen und fliegenden Fischen. In: Heinz-Ludwig Arnold (Hg.): Da schwimmen manchmal ein paar Sätze vorbei. Ffm. 2001, S. 102) u. haderte mit dem nun gesamtdeutschen Literaturbetrieb. Weitere Werke: Das große Geld. Mchn. 1988. – Allseitig gefestigt. Stichwörter zum Sprachgebrauch der DDR. Mchn. 1989. – Mein Leben, Teil zwei. Ehemalige DDR-Bürger in der Bundesrepublik. Interviews. Köln 1989. – Klirrende Wörter. Sprachglossen. Ffm. 1990. – Ihr verbrauchten Verbraucher. Von der diskreten Hässlichkeit der Westdeutschen. Gött. 1991. – Der König, die Hexe u. das Mädchen. Kakenstorf 1991. – Mit dem Ballon über Ostdeutschland. Hann. 1991. – Der Satz des Philosophen. Ess.s, zus. mit K. Drawert, D. Grünbein, F. F. Weyh. Gött. 1996. – Zwischenland. Gött. 2000. – Szenen aus dem Grenzgebiet. SR 2001 (Hörsp.). Literatur: Mario Scalla: M. A. In: LGL. Mario Scalla

57

Ahrens, Henning, * 22.11.1964 Peine. – Lyriker, Erzähler, Übersetzer u. Kritiker.

Aicher

Hamilton, Colson Whitehead u. Jonathan Safran Foer. Weitere Werke: Tiertage. Ffm. 2007 (R.). –

A. studierte Anglistik, Geschichte u. KunstÜbersetzungen: Guanlong Cao: Lange Schatten. geschichte in Göttingen, London u. Kiel. 1995 Salzb. 1998. – Brooks Hansen: Die Versuchung des Promotion über die Lebensphilosophie von August Perlmann. Mchn./Stgt. 2001. – Peter DickJohn Cowper Powys. A. lebt als freier inson: Die Tränen des Salamanders. Hbg. 2006 (alle Schriftsteller in Handorf bei Peine. 1999 er- aus dem Englischen). Literatur: Stephan Maus: H. A. In: LGL. hielt er den Wolfgang-Weyrauch-Förderpreis, 2000 den Niedersächsischen Förderpreis u. Michael Rölcke 2001 den Hebbelpreis. Von Peter Huchel u. Johannes Bobrowski beeinflusst, debütierte Aicher, Otto, * 1628 Neumarkt-St. Veit/ A. mit dem Lyrikband Lieblied was kommt Niederbayern, † 18. (oder 16.) 1.1705 (Stgt. 1998), dessen Gedichte sich v. a. mit der Salzburg. – Benediktiner; Dramatiker. Natur u. dem bäuerl. Familienhintergrund A. zählt zu den bekanntesten Vertretern des des Autors auseinandersetzen. Der zweite älteren, vom Jesuitendrama u. der ital. Oper Gedichtband Stoppelbrand (Stgt./Mchn. 2000) beeinflussten Benediktinerdramas in der vereint rhythmische Gedichte mit erzähleri- Nachfolge Simon Rettenpachers. Polyhistoschem Einschlag. risch gebildet, lehrte er seit 1657 an der BeIn seinem erstem Roman Lauf Jäger lauf nediktiner-Universität Salzburg Grammatik, (Ffm. 2002) erzählt A. von einer Gruppe von Poetik, Rhetorik, Moraltheologie u. Ge»Widergängern«, die im ominösen Ort schichte. Zu seinen bedeutendsten Schülern Morrzow auf die Rückkehr ihres Erzfeindes zählt Abraham a Sancta Clara. Brandstetter warten. Der zwischen Wahn u. A. hinterließ ein umfangreiches Werk teils Wirklichkeit angesiedelte Handlungsraum in Vers, teils in Prosa. Erhalten sind u. a. in dient nicht nur als Manövergelände für die Periochen (Inhaltsangaben) 12 von 33 auf seltsame Freischärler-Kommune, sondern ist dem Salzburger Akademietheater seit 1670 zgl. Experimentierfeld u. Spielwiese des Er- aufgeführte Stücke, die die rhetor. Affekterzählers. A. jongliert mit Gattungen u. Ver- regung intendieren u. nicht vor der Darstelsatzstücken der Trivialliteratur, er zitiert, lung von Grausamkeiten zurückschrecken: so persifliert u. komponiert Elemente der Fan- z.B. die am 12. Okt. 1676 aufgeführte Athalia, tastik, des Märchens u. der romant. Naturly- die blutige Furie des jüdischen Königreiches. Am rik. Zusammengehalten wird die eigenwillige Schicksal der Hauptperson werden dem ZuVerbindung aus Feuilletonroman u. Jägerla- schauer die Folgen von Freveln gegen Rechttein durch eine rhythmisierte Sprache, einen gläubigkeit (Baalkult), Humanitas u. Herreigenen, magisch-realist. Stil u. ein Konzept, schaftslegitimation (Unterbrechung der Linie das nicht nur die Handlung, sondern auch die Davids) vorgeführt. Barocke Festpracht entForm des Romans wider den ästhet. Zeitgeist faltete A. in seinem am 10. Sept. 1686 zur stellt. A.s poetischer Roman-Raum behauptet 1100-Jahr-Feier der Salzburger Kirche aufgesich als Reservat der literar. Ideen u. Experi- führten Spiel Das goldene Jahrhundert der Kirche und des Sprengels von Salzburg. Hier konnte der mente. In Langsamer Walzer (Ffm. 2004), dem Historiker sein Wissen demonstrieren u. zgl. in einem zerstörten Nachkriegsdeutschland das Poetikpostulat des »prodesse et delectaspielenden Zukunftsroman, der zwischen re« einlösen. A.s Dramen, die die Lehre von Science-Fiction, Sprachspiel u. Exegese anden drei Einheiten häufig wenig beachten, gesiedelt ist, bleibt A. seinem Sujet treu. Mit dafür aber die histor. Ereignisse breit darsouveräner Materialbeherrschung verteidigt stellen, wurden z.T. von bekannten Musikern seine Prosa die Imagination u. stärkt das ar- wie Georg Muffat, Andreas Hofer u. Heinrich chaische, musikal. Potential der Sprache. Ignaz Franz von Biber vertont. A. übersetzte zahlreiche Werke aus dem Englischen, u. a. von Peter Dickinson, Hugo

Aichinger Weitere Werke: Didaktische, historische u. antiquarische Schriften: Iter Poeticum. Salzb. 1674. – Iter oratorium. Salzb. 1675. – Theatrum funebre, exhibens per varias scenas epitaphia nova, antiqua, seria, iocosa [...]. 4 Tle., Salzb. 1673–75. – Hortus variarum inscriptionum [...]. 2 Tle., Salzb. 1676–84. – Brevis institutio de comitiis veterum Romanorum [...]. Salzb. 1678. – Epitome chronologica historiae universalis sacrae et profanae [...]. Salzb. 1689. Köln 1706. – Historia quartae monarchiae sacra et profana. St. Gallen 1691. – Institutiones ethicae. Salzb. 1695. – Zodiacus vitae [...]. Salzb. o. J. Literatur: PGK II, Sp. 442–444. – Weitere Titel: Mangold Ziegelbauer: Historia rei litterariae OSB. Bd. 3, Augsb. 1754, S. 425. – Clemens Aloys Baader: Das gelehrte Baiern. Bd. 1, Nürnb./Sulzbach 1804. Neudr. der erg. Ausg. 1811. Aalen 1988. – Hermann F. Wagner: Das Schuldrama in Salzburg. In: Ztschr. des Salzburger Lehrervereins 1890. – Magnus Sattler: Collectaneenblätter zur Gesch. der Benediktiner-Univ. Salzburg. Kempten 1890, S. 225 ff. – Artur Kutscher: Das Salzburger Barocktheater. Wien 1924. – Anton Dörrer: O. A. In: NDB. – Heiner Boberski: Das Theater der Benediktiner an der alten Univ. Salzburg. Wien 1978, S. 164–166, 323. Franz Günter Sieveke / Red.

Aichinger, Ilse, * 1.11.1921 Wien – Erzählerin, Lyrikerin, Hörspielautorin. Die Zwillingstochter einer jüd. Ärztin u. eines Lehrers verlebte ihre Kindheit in Linz u., nach der frühen Scheidung der Eltern, in Wien. Ihre jüd. Verwandten mütterlicherseits wurden von den Nationalsozialisten verfolgt; A. hatte als Halbjüdin nach der Matura Studienverbot. Erst nach dem Krieg begann sie ein Medizinstudium, brach es aber nach fünf Semestern ab u. ging 1950 als Lektorin zum S. Fischer Verlag nach Frankfurt/M. Sie war auch Mitarbeiterin an der von Inge AicherScholl gegründeten Hochschule für Gestaltung in Ulm. 1953 heiratete A. den Schriftsteller Günter Eich; 1954 wurde ihr Sohn Clemens (ebenfalls Schriftsteller) geboren, 1957 die Tochter Mirjam (Bühnenbildnerin). 1963 übersiedelte die Familie nach GroßGmain bei Salzburg, wo A. auch nach dem Tod von Günter Eich bis zu ihrem Umzug nach Frankfurt/M. 1984 wohnte. 1988 ging sie schließlich nach Wien, wo sie mit Richard Reichensperger († 2004) befreundet war.

58

Nach einer längeren Schaffenspause begann A. erst Ende der 1990er Jahre wieder zu schreiben. A. ist u. a. Mitgl. der Deutschen Akademie für Sprache u. Dichtung u. der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. Sie erhielt u. a. den Preis der Gruppe 47 (1952), den Immermann-Preis der Stadt Düsseldorf (1955), den Literaturpreis der Freien Hansestadt Bremen (1957), den Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste (1961), den Anton-Wildgans-Preis (1968), den Nelly-Sachs-Preis (1971), den Franz-KafkaPreis (1983), den Georg-Trakl-Preis (1979), den Marie-Luise-Kaschnitz-Preis (1984), den Europalia-Literaturpreis der EG (1987) sowie den Joseph-Breitbach-Preis (2000). Mit einem für ihr Werk wegweisenden Aufruf zum Mißtrauen (»Plan«, Jg. 1) trat A. 1946 erstmals an die Öffentlichkeit. Sie warnte darin vor einer gefährl. neuen Selbstsicherheit nach dem Zusammenbruch der nationalsozialist. Herrschaft. Gegen die Tendenz der dt. Nachkriegsliteratur, die der These vom »Kahlschlag« u. der »Stunde Null« folgte, läuft A.s Roman Die größere Hoffnung (Amsterd. 1948. Ffm. 1991. 2000), in dessen Zentrum eine Gruppe jüdischer Kinder im besetzten Wien steht. Das Schicksal der Halbjüdin Ellen spiegelt die frühen Erfahrungen A.s wider; zwischen denjenigen, die das Visum zur Ausreise erhalten, u. denjenigen, die deportiert werden, sucht sie ihre Identität. Sie entdeckt die Angst der Erwachsenen – auch die ihrer »Häscher« – u. entlarvt die eigene als falsche »Angst vor der Angst«. Von der Jüdin Anna lernt sie, was der Davidstern bedeutet: nicht die geringe Hoffnung zu überleben, sondern die größere, die Hoffnung »auf alles«, auf Leben u. Tod. Der Roman fand bei seinem Erscheinen nur wenig Zustimmung. Ellens Annahme des Leidens u. ihr Mut zur Angst waren zu gewagt für die, die eine direkte, anklägerische Darstellung der Kriegszeit erwarteten. Noch weniger entsprach A.s Sprache, die den Visionen der Kinder u. ihrer subjektiven Wirklichkeitserfahrung Ausdruck verleiht, den Forderungen der Zeit. Vieles von dem jedoch, was auch A.s spätere Dichtung inhaltlich u. sprachlich prägt, ist in ihrem Roman bereits

59

angelegt: das Bekenntnis zum Schwachen oder die Skepsis gegenüber einer Sprache, die sie später als die »bessere« vehement abgelehnt hat. Die u. d. T. Der Gefesselte erschienenen Erzählungen (Ffm. 1953 u. ö. Zuletzt 1989. Mehrere Übers.en, u. a. 2001 ins Japanische. 1952 u. d. T. Rede unter dem Galgen) haben die Entwicklung der modernen dt. Kurzgeschichte maßgebend beeinflusst. Parabelhaft formulieren sie Angst u. Entfremdung, die Grunderfahrung des Paradoxen u. der Ambivalenz. Der Gefesselte lernt, sich in seiner Fessel so anmutig zu bewegen, dass er zum Zirkusartisten wird: »Indem er ganz in ihr blieb, wurde er ihrer auch ledig.« Mit der Spiegelgeschichte (in: Der Gefesselte), für die sie 1952 den Preis der Gruppe 47 erhielt, gelang A. der literar. Durchbruch. Sie erzählt darin das Leben rückwärts, von der Bahre bis zur Wiege. Der Tag der Geburt, der Tag, »an dem du schwach genug bist«, ist das Ziel. Es geht darum, alles zu verlernen, insbes. die Sprache. A.s Dichtung ist überhaupt ein Versuch, der Sprache das Schweigen zurückzugewinnen. In einem Aufsatz zu Joseph Conrad schreibt A. über die Wörter: »Um wieder notwendig zu werden, müssen sie die Lautlosigkeit zurückgewinnen, aus der sie notwendig entstanden« (in: Kleist, Moos, Fasane. Ffm. 1987. 1996). In ihren Hörspielen u. Dialogen schafft A. die Realität fast ausschließlich durch die Stimmen. Der Raum bleibt leer. Im 1953 entstandenen Hörspiel Knöpfe (Ffm. 1961) gelingt es nur Ann u. ihrem Freund, dem Schicksal ihrer Arbeitskolleginnen in einer Knopffabrik zu entgehen, die auf geheimnisvolle Weise verschwinden. Sie bezahlt dafür allerdings mit ihrer sozialen Sicherheit. Realität ist hier noch vorhanden, tritt jedoch hinter der allg. Thematik von Anpassung u. Widerstand u. der absurden Unfassbarkeit der Macht zurück. Noch stärker zur Darstellung existentieller Grenzsituationen neigen die Dialoge (Zu keiner Stunde. Ffm. 1957. Erw. Aufl. 1980. 1991). Die Ebene des Alltäglichen wird unterlaufen von einer stärkeren Wirklichkeit. Leise u. aufsässig irritiert z.B. im Titeldialog ein Zwerg einen Schiffbaustudenten, der auf dem Dachboden nur ein Ma-

Aichinger

nuskript suchen will. Das Interesse des Zwerges dagegen gilt einzig der Farbe Grün, u. es gelingt ihm, den Schatten dieses Grüns auch auf die Zukunft des Studenten zu werfen: »Dann empfehle ich Sie an das Grün der See«, ruft er ihm kichernd nach; ein Satz, der wie viele andere A.s zgl. als Bedrohung u. Trost zu verstehen ist. Obschon A. erst spät einen Gedichtband (Verschenkter Rat. Ffm. 1978. 21981) veröffentlichte, nimmt die Lyrik ab 1955 in ihrem Schaffen eine wichtige Position ein. Sie zeichnet sich ebenso durch Reduktion der sprachl. Mittel wie durch die Freilegung vielfacher inhaltl. Möglichkeiten aus. Anders als etwa die experimentellen Lyriker ihrer Zeit hält A. jedoch an der Subjektivität der Erfahrungs- u. Ausdrucksweise fest, mit der sie die Welt kompromisslos neu definiert. »Definieren grenzt an Unterhöhlen und setzt dem Zugriff der Träume aus« (in: Schlechte Wörter. Ffm. 1976. 21977). Insofern stellen ihre Gedichte die Welt u. das Ich in Frage. Die Erzählungen in den Bänden Eliza Eliza (Ffm. 1965) u. Schlechte Wörter verzichten gegenüber den früheren weitgehend auf eine lineare, zielorientierte Geschichte zugunsten der sprachl. Ausleuchtung imaginärer Orte – Dover, Privas, Albany, Port Sing –, in denen sich die Zeit zum Augenblick verdichtet. Mühelos überschreiten sie die Grenzen zwischen Innen- u. Außenwelt, Traum u. Wirklichkeit, Geist u. Materie. Alles wird in ihnen gleichermaßen sinnlich-konkret. Die letzten Dinge der Metaphysik bleiben unbenannt, sind aber stets gegenwärtig. Ohne Symbolik u. Metaphorik setzen sie Hoffnung u. Angst, Trost u. Trauer in Sprache um. Vitalität beziehen sie aus der Klarheit, mit der sie das Ende bedenken, das niemals jenseits, sondern eine Wirklichkeit dieser Welt ist. Schreiben heißt für A. hier nicht mehr wie früher, immer mehr wegzulassen, sondern die Wörter u. Dinge sich selber zu überlassen. »Niemand kann von mir verlangen, daß ich Zusammenhänge herstelle, solange sie vermeidbar sind« (Schlechte Wörter). So führt etwa Der Querbalken (in: Eliza Eliza) nur zur Frage: »Was ist er?« u. zum Satz: »Denn ich will ihn nicht mehr nennen.« Wie schon in den im Band Auckland (Ffm. 1969) versammelten

Aigner

60

Hörspielen führt in den späten Erzählungen Mystik in der Prosa v. I. A. Freib. i. Br. 2000. – die an die Spiegelgeschichte erinnernde Devise Annette Ratmann: Spiegelungen, ein Tanz. Unter»immer weniger zu wissen« (Der grüne Esel. suchungen zur Prosa u. Lyrik I. A.s. Würzb. 2001. – In: Eliza Eliza) auch zur Destruktion der Simone Fässler: I. A. In: LGL. – Eleonore De Filip: Die Zumutung einer Sprache ohne alle Gewähr. I. Form. Gleichzeitig eröffnen sich spielerischA.s Szenen u. Dialoge ›Zu keiner Stunde‹. Innsbr. assoziativ neue Dimensionen. Der Prozess des 2005. Samuel Moser / Red. Lesens nähert sich dem des Schreibens an. An die Stelle des Wissens treten die »genauen Ahnungen« (Dover. In: Schlechte Wörter), an Aigner, Christoph Wilhelm, * 18.11.1954 diejenige des Findens tritt das Suchen. InWels/Oberösterreich – Lyriker, Erzähler, tensives Erinnern u. Vergessen werden idenRomancier, Essayist, Übersetzer. tisch. So fallen in Dover, das keine Endstation ist, wohl aber den Blick auf das Ende er- A. wuchs in Wels auf, studierte in Salzburg möglicht, das Schwierige u. das Einfache zu- Germanistik, Sport u. Publizistik. Er arbeisammen. Im Hörspiel Gare maritime (in: tete als Journalist, ist seit 1985 freier Autor. Schlechte Wörter) erwacht ähnlich wie in dem Nach langen Jahren in Salzburg lebt er heute Roman Die größere Hoffnung aus der Zerstö- auf dem Land in Italien. A. gehört zu den wenigen Lyrikern unserer rung neue Kraft. Die beiden Hauptfiguren Joan u. Joe sind Skelette, die ins Museum Tage, die eine fast ungebrochene, aber dengebracht, verhöhnt u. zusammengeschlagen noch überzeugende Naturlyrik schreiben. werden. Dann jedoch brechen sie nochmals Der früh von Erich Fried u. Sarah Kirsch geförderte Autor weiß um die Bedrohung u. auf; mühsam, aber unwiderruflich. Auch in den jüngsten Prosawerken hält A. vielfache Beschädigung der Natur u. zeigt sie am Prinzip des skizzenhaften, dezentrierten zgl. als letzten Ort, in dem man »aufgehen« u. sprachreflexiven Erzählens fest. In Film und kann. Im Lauf der Jahre gibt es immer mehr Verhängnis. Blitzlichter auf ein Leben (Ffm. 2001) Gedichte, die bei aller Skepsis von einer Natur werden, kombiniert mit Reflexionen über sprechen, die unabhängig vom Menschen für Filme, dichte u. suggestive Blitzlichter auf A.s sich selbst steht; oder einer Natur, in welcher Leben zwischen 1921 u. 1945 geworfen; nach der Mensch sich zwar bewegt, sie aber nicht dem Erscheinen wurde A. in der »Frankfurter zerstört; u. schließlich auch von Situationen Rundschau« als eine der »luzidesten Prosa- u. Momenten, die man in der kurzen Abwesenheit von Schmerz fast als »heil« bezeichAutorinnen« der Gegenwart bezeichnet. Weitere Werke: Besuch im Pfarrhaus. Ffm. nen könnte. »Sehr beeindruckt mich / das 1961 (Hörsp.). – Wo ich wohne. Ffm. 1963 (E.en, spürbar Unsichtbare« heißt es in dem Band L.). – Nachricht vom Tag. Ffm. 1970 (E.en). – Dia- Landsolo (Salzb. 1993), einem ersten Höheloge. Stgt. 1971 (E.en, L.). – Meine Sprache u. ich. punkt in A.s Lyrik. Den Autor interessiert die Ffm. 1978 (E.en). – Unglaubwürdige Reisen. Hg. Metaphysik, er spürt den Bezügen zwischen Simone Fässler u. Franz Hammerbacher. Ffm. den Dingen nach u. dem, was über das kon2005. 2007 (Erinnerungen). kret Gegebene hinausweist. Dennoch gibt es Ausgabe: Werke in acht Bdn. Hg. Richard kein feierliches »Raunen« bei ihm – seine Reichensperger. Ffm. 1991/92 (sowie spätere Gedichte sind im besten Sinn einfach, wirken Nachdr.e einiger Bde.). wie mühelos hingesagt. Vom »spürbar UnLiteratur: Wolfgang Hildesheimer: Das absur- sichtbaren« auf diese Weise zu sprechen u. de Ich. In: Ders.: Interpr.en. Ffm. 1969. – Dagmar dennoch dem Geheimnis u. den Bezügen der D. G. Lorenz: I. A. Königst./Ts. 1981. – Gisela Dinge gerecht zu werden, das v. a. zeichnet Lindemann: I. A. Mchn. 1988. – Heinz F. Schafseine Lyrik aus. Seit A.s Debüt Katzenspur roth: I. A. In: KLG. – Samuel Moser: I. A. Leben u. Werk. Ffm. 1990. – Catherine Purdie: ›Wenn ihr (Salzb. 1985) hat er drei große Themen, allenicht werdet wie die Kinder‹. The significance of samt lyr. Klassiker: Natur, Einsamkeit als the child in the world-view of I. A. Ffm. 1998. – menschl. Grundbefindlichkeit u. (kaum je Barbara Thums: ›Den Ankünften nicht glauben glückende) Liebe. Die Gedichte sind knapp, wahr sind die Abschiede‹. Mythos, Gedächtnis u. meist reimlos, nur lose rhythmisiert, selten

61

Alardus

finden sich Binnen- oder Stabreim. Sie um- Frau zu sich u. der Literatur findet. Der umreißen kurz eine Situation, sprechen lako- fangreiche, sinnlich-barock erzählte Roman – nisch, auch mehrdeutig von Empfindungen nun gleichsam ein Widerspruch zu A.s Geoder Natureindrücken. A. arbeitet mit Dop- dichten – ist ein veritables Sprachkunstwerk, pel- u. Mehrdeutigkeiten, er kombiniert un- das gekonnt Dialekt u. Alltagssprache eingewöhnliche, jedoch nie gezwungen ver- bindet u. die Tradition des Bildungsromans blüffende Bilder, deren allegorisches oder noch einmal eindrucksvoll belebt. synästhetisches Neben- u. Ineinander glaubWerke: Gedichte: Weiterleben. Salzb. 1988. – haft erscheint, gerade in seiner späteren, ex- Drei Sätze. Salzb. 1991. – Das Verneinen der Pentrem verknappten Lyrik in Vom Schwimmen im deluhr. Stgt. 1996. – Die Berührung. Stgt. 1998. – Glück (Stgt./Mchn. 2001) u. Kurze Geschichte Prosa, Essay: Mensch. Verwandlungen. Stgt. 1999. – vom ersten Verliebtsein (Mchn. 2005). Die Jah- Engel der Dichtung. Eine Lesereise. Stgt./Mchn. reszeiten, die Phänomene der Natur, die ge- 2000. – Logik der Wolken. Mchn. 2004. – Übersetzungen: Der Mönch von Salzburg. Die weltl. Dichnau gesehen werden, ein unsicheres u. trautung. Salzb. 1995. – Federigo Tozzi: Tiere, Dinge, riges Ich, ein gewünschtes u. nie erreichtes Menschen. Mchn. 1997. – Giuseppe Ungaretti: Du sind Themen dieser Poesie. Natur wird als Zeitspüren. Gedichte. Stgt./Mchn. 2003. – HerausOrt der Dauer begriffen, als Ort auch, in dem geber: Sarah Kirsch: ›Beim Malen bin ich weggesich das Ich geborgen finden, aber ebenso treten‹. Stgt./Mchn. 2000. verlieren kann. Sie erscheint als Rätsel wie als Literatur: Matthias Kußmann: C. W. A. In: Stätte der Vergewisserung, als Zuflucht wie KLG. – Thomas Kraft: C. W. A. In: LGL. als Bedrohung. Auch ganz eigenständige Matthias Kußmann Liebesgedichte gelingen A. zunehmend. Wehmut, Trauer u. Melancholie sprechen aus Alardus, Guilielmus, eigentl.: Wilhelm ihnen – u. manchmal eine Ahnung von Alard, * 22.11.1572 Wilster/SchleswigGlück: »Aber der Mond heute dünn / wie eine Holstein, † 8.5.1645 Krempe/SchleswigSträhne deiner Haare / ist mir in die Stirn Holstein. – Lyriker u. Verfasser von Pregefallen // Das Meer hob und senkte sich / digtsammlungen. Deine Brust im Schlaf // Jede Welle kam als Lächeln / in die Umarmung der Bucht« (Abend A. gehörte zu einer bekannten Gelehrtenfaam Meer). milie. Er besuchte die Gymnasien in Itzehoe 1994 erschien mit Anti Amor (Stgt.) eine (1582–1588) u. Lüneburg (1588–1593), stugrößere Erzählung, ein anspruchsvoll auf dierte in Wittenberg (1593–1595) u. lebte seit mehreren Ebenen angelegter Text, dessen 1596 als Konrektor, später Pfarradjunkt u. ruhige, unprätentiöse, aber streng durchge- schließlich Pfarrer in dem kleinen Ort arbeitete Sprache auf A.s Gedichte verweist. Krempe. Als lat. Dichter (»poeta laureatus« Ein Physiker zieht sich nach Italien zurück, 1605) machte er sich v. a. durch Lyrik in anaum an einer Studie über die Quanten zu ar- kreont. Stil einen Namen (Excubiarum piarum beiten. Dort gerät seine positivistische Welt- Centuria Una-Tertia. Ffm./Lpz. 1607–30. Tursicht ins Wanken. Nach Gesprächen mit ei- mae sacrae, seu Anacreon Latinus, idemque Chrisnem Bienenzüchter, der eine Anti-Liebes- tianus. Hbg. 1613 u. Lpz. 1624). Dabei übertheorie entwirft (daher der Buchtitel), er- nahm er Anregungen des Wittenberger Poekennt er, dass die sich selbst organisierende tikprofessors u. gefeierten Dichters Friedrich Natur letztlich von (hybridem, zerstöreri- Taubmann (1565–1613). Im Sinne christlischem) Verstand nicht erklärt werden kann u. cher »Parodien« verband A. die Formkonauch ohne den Menschen existiert. ventionen der anakreont. »musa iocosa« A.s erster Roman Die schönen bitteren Wochen (Wortspiele, Klangvarianten, Diminutive, des Johann Nepomuk (Mchn. 2006) erzählt von syntakt. Parallelismen) mit religiösem Gehalt einem fußballverrückten Jugendlichen in der u. erbaul. Wirkungsabsichten. Hier wie auch österr. Provinz, der in den 1960er Jahren in sonst schöpft er aus der Überlieferung der einem lieblos-proletar. Elternhaus aufwächst Kirchenväter u. der altchristl. Hymnendichu. durch die Liebe zu einer gehbehinderten tung. Der Seelsorge dienten umfangreiche,

Alber

62

z.T. mehrfach nachgedruckte Predigtsammlungen, in denen A. zunächst noch die niederdt. Sprache benutzte: Bußpredigten vornehmlich über Texte des AT, Wetterpredigten, Katechismuserläuterungen, Liedpredigten zur christl. Sterbekunst. Dazu kommen nicht homiletisch gebundene Meditationszyklen u. Gebetssammlungen. Auf den Friedensschluss zwischen dem Kaiser u. Dänemark (1629) bezieht sich eine Reihe von Dankpredigten (Concionum Eucharisticarum Triades VI. Lpz. 1631 u. 1649). A.’ geistl. Lieder wurden auch in Gesangbücher übernommen. Weitere Werke: Panacea Sacra, das ist Heylsame [...] Seelenartney, gegen die Pestilentz. Hbg. 1604. – Söss Christlike Predigten. Hbg. 1604. – Gülden A. B. C. der fürnembsten [...] Namen Christi Jesu. Lpz. 1619–23. – Der gecreutzigte Christ. Lpz. 1634. – IV Wetterpredigten, vom schreckl. Donner u. Blitze. Lpz. 1636. Ffm. 1675. – Concionum poenitentialium quarternio oder Vier christl. Bußpredigten. Hbg. 1639. – Fischer-Tümpel 2, S. 142–161. Literatur: Bibliografie: Johann Moller: Cimbria Litterata. Bd. 1, Kopenhagen 1744, S. 4–7 (bestes Werkverz.). – Weitere Titel: ADB (zur Familie). – Nicolin Still: A. In: BLSHL. – Wilhelm Kühlmann: ›Amor liberalis‹. Ästhet. Lebensentwurf u. Christianisierung der nlat. Anakreontik. In: Das Ende der Renaissance: Europ. Kultur um 1600. Hg. August Buck u. Tibor Klaniczay. Wiesb. 1987, S. 165–186. – Ders. in: DDL. – Thomas Haye (Hg.): Humanismus in Schleswig-Holstein. Kiel 2001. – Flood, Poets Laureate, Bd. 1, S. 40–43. Wilhelm Kühlmann

Alber, † um 1200. – Verfasser der Verslegende Tundalus (um 1190). Zwei Kanoniker des Namens A. starben um 1200, am 17.4. bzw. 26.5., im Prämonstratenser-Stift Windberg; sie stehen in den Sterbelisten des niederbayer. Klosters bei Straubing verzeichnet. Einer von ihnen war der Verfasser der mhd. Verslegende Tundalus in 2192 Reimzeilen. Darauf verweisen die Angaben des Dichters: Im Epilog bezeichnet sich A. selbst als Priester; der Anreger seines Werkes, ein adliger Bruder Konrad aus Windberg, dürfte mit dem 1191 eingesetzten Abt des Klosters identisch sein. Die Abfas-

sungszeit liegt entsprechend um 1190. Vorlage für die Jenseitsreise des irischen Ritters Tundalus (eine spätere Namensvereinfachung aus Tnugdal) war die lat. Visio Tnugdali; ein Bruder Marcus hatte sie im Regensburger Schottenkloster, das Beziehungen nach Irland unterhielt, vor 1153 in Prosa niedergeschrieben. Während eines dreitägigen Scheintodes wird die Seele des sündigen Ritters von einem Engel zuerst durch die Hölle geführt. Dort erfährt sie die ungewöhnlich drastisch dargestellten Qualen, mit denen die Verdammten für ihre Verfehlungen bestraft werden. Im Himmel legt dann der irische Heilige Brandan Fürsprache für sie ein, sodass ihr schließlich die unmittelbare Schau Gottes zuteil wird. Die vollkommen gewandelte Seele kehrt mit dem Auftrag, zur Buße zu mahnen, zur Erde zurück. Dabei wird die Absicht des Autors, sein weltlich-ritterliches Publikum zur »bezzerunge«, zu einem von geistl. Werten bestimmten Leben hinzuführen, deutlich ausgesprochen. Weitere direkte Anreden u. Kommentare zum rechten Leben eines Ritters, aber auch der Gegensatz von Himmel u. Hölle, in deren tiefstem Teil gerade lasterhafte Ritter u. Adlige gequält werden, stellen das gesamte Werk unter diese einheitl. Konzeption. A. u. seine Vorlage leiten eine breite Rezeption dieser Jenseitsvision ein, die in Übersetzungen, Kurzfassungen u. Drucken bis ins 16. Jh. über ganz Europa verbreitet war. Ausgaben: Albrecht Wagner (Hg.): Visio Tnugdali. Lat. u. altdt. Erlangen 1882 (mit Einl. u. Lit.). Literatur: Elisabeth Peters: Quellen u. Charakter der Paradiesesvorstellungen in der dt. Dichtung vom 9. bis 12. Jh. Breslau 1915. – Hans-W. Rathjen: Die Höllenvorstellungen in der mhd. Lit. Diss. Freib. i. Br. 1956. – Reinhard Krebs: Zu den Tundalusvisionen des Marcus u. A. In: Mlat. Jb. 12 (1977), S. 164–198. – Wiebke Freytag: A. In: VL. – Peter Dinzelbacher: Vision u. Visionslit. im MA. Stgt. 1981. – Nigel F. Palmer: ›Visio Tnugdali‹. The German and Dutch Translations and their Circulation in the Later Middle Ages. Mchn. 1982. – Ders.: Die Hs. der niederrhein. ›Tundalus‹-Bruchstücke. In: Lit. u. Sprache im rheinisch-maasländ. Raum zwischen 1150 u. 1450. Besorgt v. Helmut Tervooren u. Hartmut Beckers. Bln. 1989, S. 115–131.

63 – Brigitte Pfeil: Die ›Vision des Tnugdalus‹ A.s v. Windberg. Lit.- u. Frömmigkeitsgesch. im ausgehenden 12. Jh. Mit einer Ed. der lat. ›Visio Tnugdali‹ aus Clm 22254. Ffm. u. a. 1999. – Dies.: Mittelalterl. Jenseitsvorstellungen u. Jenseitsreisen mit bes. Berücksichtigung des Mönches A. v. Windberg. Straubing 2002. Anette Syndikus / Red.

Albert von Stade ! Stade, Albert von Albert, Heinrich, * 8.7.1604 Lobenstein/ Reuß, † 6.10.1651 Königsberg. – Komponist u. Lieddichter. A. entstammte einer angesehenen reuß. Familie. Sein Vater Johann Albert war Amtsschösser, seine Mutter die Tochter eines Geraer Bürgermeisters; zu seinen Paten gehörte der Landesherr Heinrich Posthumus von Reuß. Nach dem Besuch des Gymnasiums in Gera begab sich A. 1622 nach Dresden, um bei seinem Vetter Heinrich Schütz Komposition zu studieren; mit Schütz blieb er zeitlebens verbunden. Auf Verlangen der Eltern nahm er 1623 an der Universität Leipzig das Jurastudium auf; schon hier komponierte er zahlreiche seiner Arien, vermutlich beeinflusst von dem damaligen Thomaskantor Johann Hermann Schein, der mit seinen Wald-Liederlein (Musica boscareccia. 3 Tle., 1621–28) zu den Hauptvertretern der frühdt. Liedkomposition gehörte. 1626 setzte A. sein Studium in Königsberg fort. Bei einer Reise mit einer holländ. Friedensdelegation nach Warschau 1627 geriet er in einjährige schwed. Gefangenschaft. Nach Königsberg zurückgekehrt, widmete er sich der Befestigungskunde. Die endgültige Entscheidung zum Musikerberuf erfolgte 1630 mit seiner Anstellung als Domorganist; bei dem Königsberger Hofkapellmeister Johann Stobaeus nahm er nochmals Kompositionsunterricht. 1634 traf er in Kopenhagen mit Schütz zusammen, dem er 1640 den zweiten Teil seiner Arien widmete. A.s Hauptwerke sind seine Arien, die 1638–1650 in acht Teilen im Selbstverlag in Königsberg erschienen, insg. 190 ein- u. mehrstimmige geistl. u. weltl. Lieder u. Gesänge mit Generalbass. Laut ihrer Titelblätter sind sie »zur Andacht, guten Sitten, Liebe und Lust« (4. Tl., 1641), »zum Trost [...] wie

Albert

auch zur Erweckung seligen Sterbens Lust« (7. Tl., 1648), »zu ehrlicher Liebe und geziemender Ergetzlichkeit« (8. Tl.) bestimmt. Mit diesen Liedern steht A. (der auch 18 Texte selbst verfasste) als Komponist neben dem Dichter Simon Dach (von dem er etwa 120 Gedichte vertonte) im Mittelpunkt des Königsberger Dichterkreises, dem u. a. auch Robert Roberthin (15 Vertonungen), Andreas Adersbach, Johann Peter Titz u. Christoph Kaldenbach zugehörten. Poetisch an Martin Opitz orientiert (3 Vertonungen), den A. bei seinem Besuch in Königsberg 1638 mit einem kantatenhaften Festgesang begrüßte (Arien, Tl. 2, Nr. 20), war dieser Freundeskreis, der sich auch »Kürbs-Hütte« (Kürbis-Hütte) nannte, in das bürgerl. Leben der Stadt integriert: Etwa 50 Prozent der Arien entstanden nachweislich als Gelegenheitsarbeiten für Hochzeiten u. Begräbnisse, akadem. u. polit. Festlichkeiten, gesellige Anlässe aller Art. Viele dieser Kompositionen erschienen zunächst als Chorlieder in Einzeldrucken, bevor sie, oft zu einstimmigen Liedern reduziert, in die Arien-Sammlungen aufgenommen wurden. Dem Ton der Gedichte, ihrer Fähigkeit zum Ausdruck echten Empfindens, religiöser Innigkeit, des aufkeimenden Naturgefühls u. besinnl. Lebensfreude entspricht in A.s Vertonung das Überwiegen der schlicht strophischen Form u. der syllabisch gesangl. Melodik; nur relativ wenige Gesänge sind kontrapunktisch ausgearbeitet u. mit textbezogenem Melismenschmuck versehen. 25 Lieder greifen ausländ. Melodien auf, v. a. aus Frankreich, Holland u. Polen. Die zahlreichen autorisierten Neuauflagen, die Aufnahme vieler Arien in gedruckte u. handschriftl. Liedersammlungen des 17. Jh. u. in die evang. Gesangbücher u. nicht zuletzt die reichlich überlieferten Raubdrucke bezeugen die große Beliebtheit der Lieder A.s, mit denen er in der Frühgeschichte des dt. Sololieds eine eigenständige Stufe ausprägte zwischen Johann Hermann Schein u. der um 1630 geborenen Generation, die am überzeugendsten Adam Krieger vertrat. Ganz vom Geist des Königsberger Kreises erfüllt ist auch die 1641 erschienene Musikalische Kürbis-Hütte, welche uns erinnert menschli-

Albert

cher Hinfälligkeit, ein zwölfteiliger Zyklus dreistimmiger Gesänge mit Generalbass auf eigene Texte. Zur Frühgeschichte der dt. Oper zählen zwei fünfaktige Werke, von denen (außer zwei Stücken, die in die Arien aufgenommen wurden) nur Textbücher von Simon Dach erhalten sind: die Oper Cleomedes, geschrieben 1635 anlässlich des Besuchs des poln. Königs Wladislaw IV. am Königsberger Hof, u. das Singspiel Prussiarchus oder Sorbuisa zur 100. Jubelfeier der Königsberger Universität 1645. Eine knappe Generalbasslehre findet sich im 2. Teil der Arien (1640). Vier Motetten sowie ein Tedeum von 1647 stehen eher am Rande von A.s Schaffen. Ausgaben: Arien. Hg. Eduard Bernoulli. 2 Bde., Lpz. 1903/04. Neu hg. u. erg. v. Hans Joachim Moser. 2 Bde., Wiesb. 1958. – Denkmäler Deutscher Tonkunst. Bd. 12 u. 13, Lpz. 1903/04. – Musikal. Kürbishütte. Hg. Joseph M. Müller-Blattau. Kassel 1932. – Faksimile-Ed. H. A. (FEAlb). Stgt. 2001 ff. Literatur: Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 1, S. 170–190 (Bibliogr.). – Weitere Titel: Helmuth Osthoff: H. A. In: MGG. – Joseph M. Müller-Blattau: H. A. u. das Barocklied. In: DVjs 25 (1951). – Günter Kraft (Hg.): FS zur Ehrung v. H. A. (1604–51). Weimar 1954. – Richard Hinton Thomas: Poetry and Song in the German Baroque. Oxford 1963. – John Herschel Baron: Foreign Influences on the German Secular Solo Continuo Lied of the Midseventeenth Century. Diss. Brandeis University 1967. – Anthony J. Harper: German secular song-books of the mid-seventeenth century. Aldershot 2003. – Werner Braun: Thöne u. Melodeyen, Arien u. Canzonetten: zur Musik des dt. Barockliedes. Tüb. 2004. Hans Heinrich Eggebrecht † / Werner Braun

Albert, Michael, * 21.10.1836 Trappold (heute: Apold), † 21.4.1893 Schäßburg (heute: Sighis¸ oara). – Rumäniendeutscher Dramatiker, Lyriker u. Erzähler. A., Sohn eines Großbauern, wurde nach einem Theologie- u. Germanistikstudium 1861 Gymnasiallehrer in Schäßburg. Als Lyriker trat A., der der fortschrittlich-liberalen Autorengruppe der »Jungsachsen« angehörte, bereits in den 1850er Jahren mit an Heine angelehnten Texten hervor. Als Publizist begann A. sich der Erforschung siebenbürgisch-sächsischer Literatur

64

zu widmen. Gesellschaftskritischen Themen wandte er sich in den 1860er Jahren zu: In seinen Erzählungen beschrieb er realistisch Handwerker- u. Großbauerntum sowie konservativ-borniertes Patriziat (Die Dorfschule. Hermannstadt 1866. Die Candidaten. Hermannstadt 1872). Mit der Geschichte der Siebenbürger Sachsen beschäftigen sich A.s Dramen Die Flandrer am Alt (Lpz. 1883) u. Harteneck (Hermannstadt 1886), wobei die Druckfassungen gegenüber den handschriftlichen eine Abkehr von A.s liberalem Standpunkt hin zum damals verbreiteten Nationalkonservatismus bezeugen. In der eigenen Volksgruppe erwies sich A. als ein »Klassiker« der rumäniendeutschen Literatur u. als Vorbild für zahlreiche Autoren. Weitere Werke: Traugott. Hermannstadt 1874 (N.). – Ohn’ Sterben kommt man nicht zum Leben. Hagen 1884 (N.). – Angelina oder die Türken vor Schäßburg. Schäßburg 1887 (Operette). – Gedichte. Hermannstadt 1893. Ausgabe: Gedichte u. Prosa. Hg. Richard u. Roland Albert. Mchn. 1986. Literatur: Adolf Schullerus: M. A., sein Leben u. Dichten. Hermannstadt 1898. – Wilhelm Bruckner: Zum 150. Geburtstag v. M. A. In: Südostdt. Vierteljahresblätter 35 (1986), S. 256–263. – Dieter Keßler: M. A. u. die siebenbürgisch-sächs. Lit. in der zweiten Hälfte des 19. Jh. Ebd. 36 (1987), S. 34–40. Christian Schwarz / Red.

Alberti, Konrad, eigentl.: K. Sittenfeld, * 9.7.1862 Breslau, † 24.6.1918 Berlin. – Romanautor, Dramatiker u. Journalist. Nach der Gymnasialzeit, einem Studium der Literatur- u. Kulturgeschichte in Breslau u. Berlin war A. Schauspieler bei Wanderbühnen, dann freier Schriftsteller, ab 1900 Schriftleiter der »Berliner Morgenpost«. Der heute weitgehend vergessene A. war in den letzten Jahrzehnten des 19. Jh. einer der am meisten beachteten, weil entschiedensten Sprecher des dt. Naturalismus. Er begann mit polem. Schriften, v. a. gegen die zeitgenöss. Theaterpraxis (Herr L’Arronge und das Deutsche Theater. Lpz. 1884) u. gegen Paul Heyse, sowie mit Biografien über Bettine von Arnim (Lpz. 1885), Ludwig Börne (Lpz. 1885) u. Gustav

65

Alberti

Nach 1900 verfasste A. insbes. eine komFreytag (Lpz. 1886). A. verstand sich in der Nachfolge des Sturm u. Drang u. richtete mentierte Anthologie der wichtigsten Texte seine Angriffe gegen die vom Bürgertum eif- der menschl. Geistesgeschichte (Der Weg der rig gelesenen »idealisierenden« Klassiker- Menschheit. 4 Bde., Bln. 1906–12). Epigonen. Seine Novellensammlungen Riesen Weitere Werke: Brot. Lpz. 1888 (Schausp.). – und Zwerge (Lpz. 1886) sowie Plebs (Lpz. 1886), Das Recht auf Liebe. Lpz. 1890 (R.). – Im Suff! Eine die Romane Wer ist der Stärkere? (Lpz. 1888) u. naturalist. Spitalkatastrophe. Bln. 1890 (Parodie Die Alten und die Jungen (Lpz. 1889), aus der auf Gerhart Hauptmanns ›Vor Sonnenaufgang‹). – sechsteiligen Romanserie Der Kampf ums Da- Maschinen. Lpz. 1895 (R.). – Der eigene Herd. Ein Vagantenstück. Köln 1905. sein, thematisieren Generationenkonflikt, Literatur: Paul Fechter: C. A. In: NDB. – Kamoderne Boheme, wirtschaftl. Aufstieg der therine Larson Roper: Conrad A.’s Kampf ums Gründerzeit u. die gesellschaftl. Rolle der Dasein: The Writer in Imperial Berlin. In: German Frau. A.s Position eines vom Darwinismus Studies Review 7 (1984), S. 65–88. – Peter Sprengel: (Wilhelm Bölsche, Ernst Haeckel) inspirierten Gesch. der deutschsprachigen Lit. 1870–1900. kämpferischen Individualismus schwankte Mchn. 1998, bes. S. 145 f., 380–382. zwischen Optimismus (journalistische Texte) Christian Schwarz / Philip Ajouri u. Pessimismus (fiktionale Texte) u. konnte sowohl konservativ-bürgerliche als auch ra- Alberti, Valentin, auch: Vater Paul, Pater dikal-emanzipator. Züge annehmen. Paulus, Butler e Lusitania, Christiano Erzähltechnisch sind die Werke nach Aletophilo, * 15.12.1635 Lähn (Lehna) bei Freytags Musteranweisungen aufgebaut, fol- Löwenberg, † 15.9.1697 Leipzig. – Lugen in der Detailschilderung Émile Zola u. therisch-orthodoxer Theologe; Lyriker. bieten Erotisches in der Manier Hermann A. stammte aus einer Pastorenfamilie; seine Conradis; wie die meisten Romane des NaEltern verlor er früh. Nach dem Besuch des turalismus leisten sie keine überzeugende Gymnasiums in Lauban studierte A. ab 1653 gesellschaftl. Analyse u. wirken formlos. Philosophie u. Theologie in Leipzig. 1656 Dennoch sind sie für das zwiespältige, am wurde er dort Magister artium, 1661 AssesVorbild Zolas scheiternde Selbstverständnis sor, 1663 Professor der Logik u. Metaphysik, der naturalist. »Moderne« ebenso wichtige 1668 Lizentiat der Theologie, 1672 a. o. ProDokumente wie für die Vorstellungen der fessor der Theologie, 1678 Dr. theol. Er hei»fortschrittlichen« bürgerl. Leserschaft jener ratete 1665 die Leipzigerin Maria Preibisius, Zeit. Diese wurde noch zusätzlich auf A. Tochter eines Richters. Aus der Ehe gingen hingewiesen durch den sog. Leipziger Rea- sieben Kinder hervor. listenprozess (1890), in dem Romane von A., A. sah sich unter dem Einfluss seines LehWilhelm Walloth u. Conradi für unzüchtig rers u. Kollegen Johann Adam Schertzer als befunden wurden (Der Realismus vor Gericht. überzeugten Gegner der Mystiker (Angelus Lpz. 1890). Silesius), der Pietisten (Philipp Jacob Spener) A.s publizist. Plattform bildete Michael u. der Frühaufklärer (Samuel Pufendorf, Georg Conrads Zeitschrift »Die Gesellschaft«, Christian Thomasius). Sein philosoph. Werk das Organ der Münchner Naturalisten. Hier Compendium juris naturae orthodoxae naturae erschienen A.s programmat. Schriften wie Die theologiae conformatum (Lpz. 1678) griff die zwölf Artikel des Realismus (gesammelt in Natur wichtigste Streitfrage seiner Zeit auf, den und Kunst. Lpz. 1890), von hier aus polemi- Gegensatz von Naturrecht u. theolog. Weltsierte er gegen die Berliner Naturalisten u. die deutung. A. betreute einen großen Kreis Freie Volksbühne. A. zufolge war Kunst eine evangelischer schles. Studenten, die sich als in Evolution begriffene Fähigkeit des Men- Exulanten in Leipzig aufhielten. Er war beschen, hatte alles Natürliche u. Gesetzmäßige freundet mit Johann Christoph Beckmann, zum Inhalt u. erfüllte so ihren Zweck, zur Christian Weise, Johann Gottlieb Meister u. Erkenntnis der Natur u. damit zum Kultur- Erdmann Neumeister. Neben zahlreichen fortschritt beizutragen. theolog. u. philosoph. Schriften verfasste A.,

Albertini

im Freundeskreis »Philosoph u. vollendeter Dichter« genannt, auch Festreden, Disputationen, Epicedien u. Glückwunschgedichte (als Einzeldrucke u. in zeitgenöss. Anthologien veröffentlicht). Er sammelte Abschriften u. Drucke frühbarocker Literatur (z.B. Simon Dach u. Heinrich Albert). Aus dem Nachlass A.s wurden im 5. Teil der Neukirchschen Sammlung (1705) unter Mithilfe Daniel Müßigbrodts der literar. Welt eine große Anzahl seiner Gelegenheitsgedichte nach Einzeldrucken vorgestellt. Mit seinem Schwiegersohn Johann Günther beeinflusste A. lange Zeit erfolgreich dogmatisch u. durch Verwendung schlichter Strophenformen auch die weitere Entwicklung der Casualcarmina u. der galanten Lyrik nach dem Vorbild von Martin Opitz, dem »Meister deutscher Lieder«. Weitere Werke: Gründtl. Antwort auf Christiani Conscientiosi [Angelus Silesius] in Schlesien gedrucktes Send-Schreiben. Lpz. 1670. – Gründl. Widerlegung eines päpstl. Buches Augustana et anti-augustana Confessio genennet. Lpz. 1684. – Vindiciae exegeticae [...] inprimis contra Enthusiastas eorumque visiones et prophetiaes: In praefatione autor etiam, quid de pietismo, chiliasmo [...] sentiat [...] proponit. Lpz. 1695. – Ausführl. Gegenantwort auf Speners sog. gründl. Vertheidigung seiner u. der Pietisten Unschuld. Lpz. 1696. Literatur: Bibliografie: Heiduk/Neumeister. – Weitere Titel: R[obert]. C[harles]. Jenkins: The Life of V. A. London 1889. – Jochen Ihmels: Das Naturrecht bei V. A. Diss. Lpz. 1957. – Franz Heiduk: Die Dichter der galanten Lyrik. Studien zur Neukirchschen Slg. Bern/Mchn. 1971. – Friedrich Wilhelm Bautz: V. A. In: Bautz. – Mario Bertelli: Diritto di natura e luteranesimo in V. A. In: Rivista di filosofia 3 (2005), S. 351–374. Erika A. Metzger

Albertini, Johann Baptist von, * 7.2.1769 Neuwied/Rhein, † 6.12.1831 Bethelsdorf bei Herrnhut. – Theologe, pietistischer Prediger u. Liederdichter. Der Sohn eines Hauptmanns in österr. Diensten, der mit seiner Frau Margaretha, geb. von Salis-Planta, von Graubünden zur Brüdergemeine gezogen war, studierte (mit Friedrich Schleiermacher) am theolog. Seminarium in Barby bes. orientalische Sprachen, Mathematik u. Botanik u. wandte sich dann der Theologie zu. Seit 1788 war A. Lehrer in

66

Niesky, 1804 Prediger hier, 1814 in Gnadenberg u. 1818 in Gnadenfrei, zuletzt Bischof (geweiht 1814) u. Leiter der Unitäts-Ältestenkonferenz. A. verfasste etwa 400 geistl. Lieder von oft nur ein oder zwei Strophen nach bekannten Melodien, veröffentlicht in: Geistliche Lieder für Mitglieder und Freunde der Brüdergemeine (Bunzlau 1821. 21827. 3. unveränderte Aufl. u. d. T. Geistliche Lieder mit Bild u. Faks. v. Psalm 31,25. Bunzlau 1835. Daraus Ausw., Basel 1883). Formal nicht ausgereift, inhaltlich ganz vom Pietismus geprägt, eigneten sich die Lieder eher zur privaten Andacht u. fanden selten Aufnahme ins öffentl. Gesangbuch, dienten als festl. Psalmen jedoch der Liturgie der Herrnhuter. Am bekanntesten sind: Mit deiner Glut erhitze mich; O Grab, du finstre Schreckensstätte; Schlaf, du liebes Kind; Wachet auf im Schoß der Erde. Weitere Werke: J. B. A. et Ludwig David de Schweinitz: Conspectus fungorum in Lusatiae superioris agro Niskiensi crescentium [...]. Lpz. 1805. – 30 Predigten für Mitglieder u. Freunde der Brüdergemeine. Gnadau 1805. 31829. – 36 Reden an die Gemeine in Herrnhut. Gnadau 1832. Literatur: Koch 7, S. 330–334. – RGG (mit weiterer Lit.). – Bautz. Heimo Reinitzer / Red.

Albertinus, Aegidius, ursprünglich wohl Jelle Abertszoon, * 1560 Deventer/Niederlande, † 9.3.1620 München. – Übersetzer u. Verfasser von Kompilationen aus romanischen Sprachen u. dem Lateinischen. Über A.’ Leben vor 1593, als Herzog Wilhelm V. von Bayern ihn zum Hofkanzlisten ernannte, sind nur Vermutungen aufgrund von Andeutungen in seinen Schriften u. Briefen möglich. Seine Vaterstadt Deventer verließ A. wohl zwischen 1570 u. 1580, als sie zum Schauplatz heftiger konfessioneller Auseinandersetzungen wurde, die der Einführung der Reformation vorausgingen. Er dürfte über die südl. Niederlande nach Spanien gezogen u. von dort in die österr. Erblande bzw. ins Erzstift Salzburg gelangt sein. Aus seinem umfassenden Wissen lässt sich auf eine gründl. Ausbildung schließen: Neben den Humaniorafächern beherrschte er die

67

Fremdsprachen Französisch, Italienisch sowie Spanisch u. verfügte über theolog. Grundkenntnisse. Dass er, wie oft behauptet, eine Jesuitenschule besucht hat, ist unwahrscheinlich. 1595 rückte er zum Sekretär am Geheimen Rat, 1597 zum Hofratssekretär auf. 1601–1606 stand er der Hofbibliothek vor, aus deren Beständen er für seine Werke schöpfen konnte. 1612 übertrug Herzog Maximilian ihm zusätzlich das Sekretariat des Geistlichen Rats, das A. Ende 1619 aus Krankheitsgründen niederlegte. 1594 erschien in München A.’ Erstlingswerk Deß Irrenden Ritters Raiß, die Übersetzung einer frz. Vorlage von Jean de Cartheny. Der allegor. Ritterroman der Anti-AmadísTradition stellt die drei Stufen der Bekehrung als geistl. Ritterschaft dar. Es folgten 51 weitere, meist mehrfach aufgelegte Schriften. Großenteils sind es Übersetzungen, v. a. aus dem Spanischen, aber auch aus dem Italienischen, dem Französischen u. dem Lateinischen. Einige sind eher als Kompilationen aus mehreren Quellen mit eigenen Zutaten zu betrachten. Die Grenze zwischen Übersetzung u. Kompilation ist jedoch immer fließend. A., der die Fremdsprachen bis ins kleinste Detail beherrschte, übersetzte sehr frei: Einerseits kürzte er oft stark u. ließ den gelehrten Apparat seiner Vorlage durchweg aus; andererseits fügte er kürzere oder längere Abschnitte aus anderen Quellen oder aus eigener Feder ein. Er reduzierte so systematisch die Stillage des Originals auf das genus humile, den niederen Stil, um den Anteil der Didaxis prononcierter hervortreten zu lassen. Dieses Verfahren hat ihm später den Ruf der Volkstümlichkeit eingetragen. A.’ Schriften gehören nahezu ausnahmslos in den Bereich der geistl. Literatur, die sich durch ihre praktisch-gesellschaftl. Ausrichtung von der Erbauungsliteratur im engeren Sinne unterscheidet. Fast alle erschienen bei Adam Berg u. Nicolaus Heinrich in München, deren Offizinen Hochburgen gegenreformator. Buchproduktion waren. Der große Durchbruch gelang A. um 1600 mit der Übersetzung der Werke des Hofpredigers Karls V., Antonio de Guevara. Sie, bes. Guldene Sendtschreiben (1598/99), Contemptus vitae aulicae (1598. Neudr., hg. v. Christoph E.

Albertinus

Schweitzer. Bern/Ffm./New York 1986), Lustgarten und Weckuhr (1599) u. Institutiones vitae aulicae oder Hofschul (1600. Neudr., hg. v. Michael M. Metzger u. Erika A. Metzger. Bern/Ffm./Las Vegas 1978), leisteten einen wesentl. Beitrag zur Herausbildung einer höfisch-barocken Geistigkeit im dt. Sprachraum u. waren derart beliebt, dass sie noch bis etwa 1750 Neuauflagen erlebten. Weitere span. Autoren, denen A. sich zuwandte, sind Francisco de Osuna OFM u. Pedro de Ribadeneyra SJ, von denen A. Trostbücher übersetzte, Alonso de Orozco OSA, der mit Meditationsbüchern vertreten ist, Luis de Malvenda u. Juan de la Cerda, die Standesspiegel verfasst haben, sowie Luis de León, Luis de Escobar, Lorenzo de Zamora, Pedro de Medina, Pedro Malón de Chaide u. Pedro Sanchez SJ, dessen Exempelsammlung Reich Gottes (1609) A. anonym veröffentlichte. Aus dem Italienischen übersetzte A. u. a. eine Ars moriendi von Agostino Vivo OSA, einen Standesspiegel für Ordensleute von Luca Pinelli, die anthropogeograf. Weltbeschreibung von Giovanni Botero u. Hagiografien von Antonio Gallonio u. Ambrosio Frigerio, aus dem Französischen u. dem Lateinischen Predigten von Pierre de Besse, die Reformationsgeschichte von Florimond de Rémond sowie die Tugendspiegel der Niederländer Antonius Hulstius OSA u. Adriaen de Witte SJ. Wie die Guevara-Übersetzungen die Frühzeit von A.’ Schaffen kennzeichnen, so markiert der Besse-Komplex die Spätphase. Zu den Kompilationen zählen die Ständespiegel Haußpolicey (1602) u. Der Welt Thurnierplatz (1614. Neudr. Lpz. 1975), die Weltgeschichte in Einzelbiografien Der Teutschen recreation (1612/13), die Naturgeschichte in der Physiologus-Tradition Der Welt Tummelund Schaw-Platz (Augsb. 1612) sowie der Lasterspiegel Lucifers Königreich (1616. Neuausg. 1883) u. der Tugendspiegel Christi Königreich (1618. Neudr., hg. v. Rainulf A. Stelzmann. Bern/Ffm./New York 1983), die sich als komplementäre Gegenstücke mit den Hauptsünden bzw. dem Tugendsystem u. der grundlegenden Bedeutung der Selbsterkenntnis befassen. Ihnen kommt eine Schlüsselfunktion in A.’ Frömmigkeit zu.

Albertinus

Die Frömmigkeitsauffassung, die A. seinen Übersetzungen wie den Kompilationen zu unterlegen versuchte, verbindet die recht heterogenen Komponenten seines Werks zu einer Einheit. Biblisches u. patrist. Gedankengut aufgreifend, betrachtet A. das Leben des Menschen als einen ständigen Kampf mit den drei Feinden Welt, Fleisch u. Teufel, die jeweils durch ein eigenes Mittel zu überwinden sind: die Welt durch Erkenntnis der Vergänglichkeit alles Irdischen im beständigen Denken an den Tod, das Fleisch durch Beherrschung der »Sinnlichkeit« (passiones) mit Hilfe der »Billigkeit« (ratio) u. der Teufel, der sich der Ursünde der Hoffart bedient, durch Selbsterkenntnis. Vor dem Hintergrund dieser Frömmigkeitsauffassung ist auch das Werk einzustufen, durch das A. in erster Linie bekannt geblieben ist, die Übertragung von Mateo Alemáns Schelmenroman Guzmán de Alfarache, die 1615 u. d. T. Der Landtstörtzer: Gusman von Alfarache (Neudr., mit einem Nachw. v. Jürgen Mayer. Hildesh./New York 1975) erschien. A. hat seine span. Vorlagen, Alemáns ersten Teil u. Juan Martís apokryphen zweiten Teil, bedeutend erweitert, indem er, unter Verwertung von Geiler von Kaysersbergs Peregrinus (1513), einen neuen zweiten Teil, die Beschreibung einer allegor. Pilgerfahrt ins himml. Jerusalem, anhängte. Das Werk wird so zu einer Bußparabel umfunktioniert, die die tridentin. Rechtfertigungslehre propagiert. Viel ausgeprägter als der span. Guzmán ist A.’ Gusman ein Opfer der acedia (Trägheit), ein dem Diesseits verhafteter Melancholiker, der dessen Vergänglichkeit nicht berücksichtigt u. sich aus mangelnder Selbsterkenntnis immer wieder versündigt. Seine zuerst aus Not u. dann aus Liebe erfolgende Bekehrung vollzieht sich mustergültig in dem Dreischritt der Buße: contritio (Reue), confessio (Beichte) u. satisfactio (Genugtuung). Gusman ist so zu einer Parallelgestalt des irrenden Ritters aus A.’ Erstlingswerk geworden; das span. Schelmenromangeschehen wird zum bloßen Exempel ex negativo, zur Stufe der Versündigung, reduziert. Mit seinem moralisch-didakt. Œuvre, in das sich auch seine Schelmenromanverdeutschung lückenlos fügt, ist A. zum bedeu-

68

tendsten Vermittler romanischer gegenreformator. Geistigkeit im dt. Sprachgebiet um 1600 geworden, zgl. aber auch zu einem der wirksamsten Propagandisten des Reformprogramms seines Landesherrn Herzog Maximilians von Bayern, dessen Erlasse sich in einzelnen Schriften A.’ widerspiegeln. Seine Wirkung beschränkte sich jedoch nicht auf die kath. Territorien des dt. Sprachraums; die Guevera-Übersetzungen u. der Gusman wurden auch in den protestant. Gebieten intensiv rezipiert, von der La Cerda-Übersetzung Weiblicher Lustgarten (1605) erschien sogar eine protestant. Bearbeitung (1620), die wiederum ins Schwedische übertragen wurde. Weitere Werke: (Erscheinungsort ist jeweils München) De conviviis. 1598. Neudr., hg. v. Herbert Walz. Bern/Ffm./New York 1983. – Fons vitae. 1600. – Mons Calvariae. 1600. – Triumph über die Welt. 1601. – Studium verae sapientiae. 1601. – Trost der armen. 1602. – Flagellum Diaboll. 1602. – Spiegel der Reichen. 1603. – Buech der Warheit. 1603. – Zeitkürtzer. 1603. – Von den sonderbaren Geheimnussen deß Antichristo. 1604. – Spiegel eines christl. Fürsten. 1604. – Vom dryfachen Standt der H. Mariae Magdalenae. 1604. – Paedia Religiosorum. 1605. – Hortus sacer. 1605. – Buch der Geistl. Vermählung. 1605. – Weibl. Lustgarten. 1605. – Nosce te ipsum. 1607. – Allg. Histor. Weltbeschreibung. 1611. – Himml. Frawenzimmer. 1611. – Triumph Christi. 1612. – Historia vom Ursprung [...] der Ketzereyen. 1614. – Postill. 1616. – Unser L. Frawen Triumph. 1617. – Der Seelen Compaß. 1617. – Von dem wunderbarl. [...] Pancket. 1618. – Newes [...] Closter- u. Hofleben. 1618. – Hirenschleifer. 1618. Krit. Ausg. hg. v. Lawrence S. Larsen. Stgt. 1977. – Himml. Cammerhern. 1645. Literatur: Guillaume van Gemert: Die Werke des A. A. (1560–1620). Amsterd. 1979. – Herbert Walz: Der Moralist im Dienste des Hofes. Ffm./ Bern/New York 1984. – Ansgar M. Cordie: Raum u. Zeit des Vaganten. Formen der Weltaneignung im dt. Schelmenroman des 17. Jh. Bln./New York 2001, S. 37–176. – G. van Gemert: Zum geistl. Traktat im 16. u. 17. Jh.: Beobachtungen zu Erscheinungsweise, Stellenwert u. Funktionalität der histor. Textsorte an den Schr.en des A. A. (1560–1620). In: Textsorten dt. Prosa vom 12./13. bis 18. Jh. u. ihre Merkmale. Hg. Franz Simmler. Bern u. a. 2002, S. 229–242. Guillaume van Gemert

69

Albertus Magnus, * vor 1200 Lauingen/ Schwaben, † 15.11.1280 Köln; Grabstätte: ebd., St. Andreas; Heiligsprechung: 1931. – Philosoph u. Dominikanertheologe. Der vielleicht größte dt. Universalgelehrte des MA studierte in Padua, trat dort 1223 in den gerade erst bestätigten Dominikanerorden ein u. lebte dann überwiegend in Köln (daher die häufige Bezeichnung als »de Colonia«), unterbrochen von Aufenthalten als Konventslektor in Hildesheim, Freiburg, Regensburg, Straßburg u. Paris. In Paris wurde er nach den vorgeschriebenen Vorlesungen über die Sentenzen des Petrus Lombardus 1245 zum Doktor der Theologie promoviert u. hatte bis 1247 den Lehrstuhl der Dominikaner inne. 1248 nach Köln zurückgekehrt, begann er mit dem Aufbau eines für den rasant wachsenden Dominikanerorden wichtigen Generalstudiums, einer Vorläuferinstitution der späteren Universität. Im Folgenden stand er als Provinzial der dt. Ordensprovinz vor (1254–1257) u. trat 1256, von Alexander IV. an den päpstl. Hof in Anagni berufen, als Verteidiger der Bettelorden auf. Er wandte sich erfolgreich gegen die Schrift De periculis novissorum temporum des Wilhelm von Saint Amour, Hauptvertreter einer Partei, die auf Ausschluss der Bettelmönche von der Pariser Universität drang, lehrte ab 1258 wieder in Köln u. war seit 1260 auch für kurze Zeit als Bischof von Regensburg tätig. Teilweise in Würzburg, teilweise in Straßburg lebend, betraut (an der Seite Bertholds von Regensburg) mit der Kreuzpredigt u. immer wieder mit Schlichtungen zwischen Bürgerschaft u. Erzbischof in Köln, zog er sich erst im hohen Alter aus der Öffentlichkeit zurück. Das vielfältige Wirken für den eigenen Orden ist begleitet von einem nicht weniger vielfältigen wiss. Werk, das in alle zeitgenöss. Themengebiete hineinreicht. Die im eigentl. Sinne theologischen, d.h. vor allem exeget. Werke – der Sentenzenkommentar, die Auslegungen der Evangelien u. der alttestamentl. Propheten – werden an Zahl von den philosophischen u. naturwissenschaftlichen weit übertroffen. Schon am Anfang seiner Lehrtätigkeit in Köln, 1248, erweiterte A. den übli-

Albertus Magnus

chen Gegenstand, Bibel u. Sentenzen des Petrus Lombardus, in spektakulärer Weise, indem er das gesamte Korpus der pseudo-dionysischen Schriften kommentierte. Zwei Jahre später behandelte er dann die erst kurz zuvor von Robert Grosseteste übersetzte u. noch kaum bekannte Nikomachische Ethik des Aristoteles. Beides zusammen markiert den Auftakt zu einer philosophisch-wiss. Systematik epochalen Charakters. A. versteht sein Wissenschaftsmodell als Lehre von der Wirklichkeit im Ganzen u. gründet es auf der Eigenständigkeit der Philosophie, die gerade auch im Bereich der Naturerkenntnis aus der Bindung an die Theologie gelöst u. in ihrem eigenen Erkenntnisanspruch legitimiert wird. Dazu dient in den folgenden eineinhalb Jahrzehnten eine systematisch-chronolog. Kommentierung u. Paraphrasierung sämtlicher aristotelischen Schriften, derjenigen zur Realphilosophie (Naturphilosophie, Mathematik, Metaphysik), derjenigen zur Moralphilosophie u. derjenigen zur Logik. Unvollständige Teile oder Lücken im aristotel. Korpus werden durch eigene Texte ergänzt. Gekrönt wird das Unternehmen durch einen Kommentar zur aristotel. Metaphysik (1264) u. einen zum neuplatonisch geprägten Liber de causis, den A. als deren Fortsetzung u. Vollendung begreift. In Ersterem entwirft er das Programm einer »scientia libera«, einer in jeder Hinsicht unabhängigen Wissenschaft, die über die nur bedingte Freiheit der »artes liberales« hinausweist. Verabschiedet ist damit die Idee der Grammatik als Basiswissenschaft. In den Blick rücken stattdessen naturwissenschaftliche u. methodolog. Zugänge. Sich von der Tradition entfernend, entwickelt A. in Astrologie, Geologie, Mineralogie, Zoologie oder Botanik (wo er für die Rekonstruktion früherer Artenvielfalt oft die Hauptquelle darstellt) Ansätze zur genauen Beobachtung u. zum prakt. Experiment, Versuche der Prinzipienlehre u. der Systematik. Sie helfen wiederum die Position des Menschen bestimmen, der seine vernünftige Naturanlage in der vernunftgemäßen Beschreibung der Welt auf ideale Weise realisiert: Unter Anknüpfung an Adelard von Bath, Wilhelm von Conches oder Thierry von Chartres versteht A. den Menschen als Na-

Albertus Magnus

turwesen, das sich gleichwohl durch die ihm gegebene Freiheit u. Verantwortung von der »gleichförmigen« Zielgerichtetheit aller Arten unterscheide. A. operiert mit keiner Opposition zwischen theologischer u. philosoph. Wissenschaft. Er sieht beide in einem Ergänzungsverhältnis u. eröffnet damit der Rationalisierung auch theologischer Lehrinhalte neue Dimensionen. Zwar beklagten schon früh Gegner, dass A. in den Universitäten gleichauf mit Aristoteles, Avicenna oder Averroes behandelt würde. Doch seiner Wirkung tat dies keinen Abbruch. »Vir in omni scientia adeo divinus« nannte ihn sein Schüler Ulrich von Straßburg; seit dem 14. Jh. wurde ihm der Beiname »magnus (philosophus)« zuteil; seine Aristoteleskommentare lagen als Reader an den Universitäten aus; die Naturwissenschaft u. -philosophie der Folgezeit ist ohne A. nicht denkbar. Während in der Theologie v. a. pseudo-albertin. Schriften fortleben, wird der christl. Aristotelismus, modifiziert, durch den größten A.-Schüler Thomas von Aquin weiterentwickelt, dessen systematisierende Synthese allerdings auch die Rezeption mancher Ansätze seines Lehrers (wie etwa der Averroes nahestehenden Intellekttheorie) beschnitt. Am stärksten ist die Resonanz in der dt. Dominikanerschule, zunächst bei Ulrich von Straßburg, danach bei Dietrich von Freiberg u. Berthold von Moosburg. Andere Dominikaner wie Hugo Ripelin von Straßburg, Vinzenz von Beauvais oder Petrus von Dacien erstellen aus A.’ Werken neue Schriften. Meister Eckhart geht auf dem Weg eines die absolute Transzendenz betonenden Denkens weiter. Ein regelrechter Albertismus entsteht im spätmittelalterl. Kölner Umkreis von Johannes de Nova Doma oder Heymericus de Campo, durch den Nikolaus von Kues die Schriften sowohl von Dionysius wie von A. kennenlernte. Volkssprachig galt A. als hochgelehrter Meister, der »in der gotlichen und auch der naturlichen kunst« viele vorbildhafte Schriften hinterlassen habe. Sein nicht allegorisierender, sondern rationalisierender Doppeltraktat Super missam wirkte auf zahlreiche Eucharistieauslegungen u. Messerklärungen des späten MA. Seine naturkundl. Schriften

70

wurden in sach- u. gebrauchsorientierten Übersetzungen am Heidelberger Hof gelesen. Sie bildeten eine wichtige Quelle für das viel benutzte Buch von den natürlichen Dingen Konrads von Megenberg, der neben dem oft A. zugeschriebenen Liber de natura rerum des Thomas von Cantimpré auch originale A.Texte benutzte. Wahre »Bestseller« wurden an der Schwelle zur Neuzeit pseudo-albertinische Schriften, welche die Geheimnisse der Natur zu erklären versprachen: ein Buch über Empfängnis u. Geburt (De secretis mulierum et virorum) u. eines über die verborgenen Kräfte u. Eigenschaften der Pflanzen, Steine u. Tiere (Liber aggregationis seu secretorum de virtutibus herbarum, lapidum et animalium quorundam), dem häufig eine weitere Schrift über Substanzen u. Verbindungen sowie ihre therapeutische u. magische Funktion beigegeben war (De mirabilibus mundi). Sie wurden in der Inkunabelzeit lateinisch u. deutsch jeweils über 50-mal gedruckt u. bis ins 17. Jh. hinein immer wieder aufgelegt. Ausgaben: Opera. Hg. Auguste Borgnet. 38 Bde., Paris 1890–99. – Opera omnia. Editio Coloniensis. Münster 1951 ff. (41 Bde. geplant; jeweils aktualisierte Bibliogr.). – Ausgew. Texte. Lat.-dt. Hg. Albert Fries. Darmst. 21987. 31994. – Über die Natur u. den Ursprung der Seele. Lat./dt. Hg. Henryk Anzulewicz. Freib. i. Br. 2006. – Über den Menschen. Lat.-dt. Hg. ders. u. Joachim R. Söder. Hbg. 2006. – Buch über die Ursachen u. den Hervorgang v. allem aus der ersten Ursache. Liber primus. Lat./dt. Hg. ders. u. a. Hbg. 2006. Literatur: Bibliografie: Kenneth F. Kitchell u. Irven M. Resnick (Hg.): A. A selectively annotated bibliography (1900–2000). Tempe 2004. – Weitere Titel: Georg Wieland: Untersuchungen zum Seinsbegriff im Metaphysikkommentar A.’. Münster 1972. 21992. – Kurt Illing: A.’ ›super missam‹Traktat in mhd. Übers. Mchn. 1975. – Heribert C. Schneeben: A. Köln 31980. – Albert Fries u. ders.: A. M. In: VL. – Gerbert Meyer (Hg.): A. – Doctor universalis 1280–1980. Mainz 1980. – Albert Zimmermann (Hg.): A. Seine Zeit, sein Werk, seine Wirkung. Bln./New York 1981. – Winfried Fauser: Die Werke des A. in ihrer handschriftl. Überlieferung. Mchn. 1982. – Paul Hoßfeld: A. als Naturphilosoph u. Naturwissenschaftler. Bonn 1983. – Loris Sturlese: Die dt. Philosophie im MA. Von Bonifatius bis zu A. Mchn. 1993, S. 324–388. – JanDirk Müller: Naturkunde für den Hof. In: Wissen für den Hof. Hg. ders. Mchn. 1994, S. 121–168. –

71 Maarten J. F. M. Hoenen u. Alain de Libera (Hg.): A. u. der Albertismus. Dt. philosoph. Kultur des MA. Leiden/New York 1995. – David B. Twetten: Albert the Great, Double Truth and Celestial Causality. In: Documenti e studi sulla tradizione filosofica medievale 12 (2001), S. 275–358. – Walter Senner (Hg.): A. Bln. 2001. – Andreas Bächli-Hinz: Monotheismus u. neuplaton. Philosophie. Eine Untersuchung zum pseudo-aristotel. ›Liber de causis‹ u. dessen Rezeption durch A. St. Augustin 2003. – Dagmar Gottschall: Konrad v. Megenbergs ›Buch von den natürlichen Dingen‹. Ein Dokument deutschsprachiger A.-Rezeption im 14. Jh. Leiden u. a. 2004. – Gerhard Endreß: Der arab. Aristoteles u. sein Leser. Physik u. Theologie im Weltbild A.s. Münster 2004. – L. Sturlese: Vernunft u. Glück. Die Lehre vom ›intellectus adeptus‹ u. die menschl. Glückseligkeit bei A. Münster 2005. – Alain de Libera: Métaphysique et noétique. Paris 2005. – Marc-Aeilko Aris: A. In: Lat. Lehrer Europas. Hg. Wolfram Ax. Köln/Weimar/Wien 2005, S. 313–329. – Ludger Honnefelder u. a. (Hg.): A. u. die Anfänge der Aristoteles-Rezeption im lat. MA. Münster 2005. Christian Kiening

Albertus von Augsburg, um 1200. – Verfasser der Vita des Augsburger Stadtpatrons St. Ulrich. Der Name des Dichters (»Albertus«) geht aus einem Akrostichon am Anfang der Legende hervor. Es ist anzunehmen, dass er Mönch im Augsburger Benediktinerstift St. Ulrich und Afra war. Er ist vielleicht identisch mit dem 1240 gestorbenen Prior des Klosters, Adilbert von Augsburg, der auch als Überarbeiter von lat. Legenden bekannt ist. Die einzige Handschrift stammt ebenfalls aus diesem Stift. Adressaten waren »die geistlichen kint«, also wahrscheinlich Klosterfrauen, die A. zu betreuen hatte. A.’ Legende ist eine recht genaue Versübersetzung der 1030 entstandenen Vita sancti Uodalrici des Reichenauer Abtes Berno (1605 Verse). Für die postumen Wunder des Heiligen verwendete A. eine weitere, bisher noch nicht entdeckte Quelle. Obwohl in der Wortwahl Anklänge an die höf. Dichtung zu erkennen sind, kann kaum von einem größeren Einfluss dieser Literatur auf A. die Rede sein. Ausgaben: Karl-Ernst Geith (Hg.): A. v. A. Das Leben des hl. Ulrich. Bln./New York 1971 (mit Bibliogr.).

Alberus Literatur: Eduard Schröder: Der ›Hl. Ulrich‹ des A. v. A. In: Nachrichten der Gesellsch. der Wiss. zu Gött., phil.-histor. Klasse, Fachgr. 4, N. F. 2. Gött. 1938, S. 139–146. – Werner Wolf: Von der Ulrichsvita zur Ulrichslegende. Diss. Mchn. 1967. – Karl-Ernst Geith: A. v. A. In: VL. Werner Williams-Krapp / Red.

Alberus, Erasmus, * um 1499/1500 Bruchenbrücken (heute Stadtteil von Friedberg) (?) in der Wetterau/Hessen, † 5.6. 1553 Neubrandenburg. – Theologe, Pädagoge u. Fabelautor. Am 19.6.1520 immatrikulierte sich A. als Theologiestudent in Wittenberg; er wurde dort zum überzeugten Anhänger der Reformation Luthers. Über die früheren Jahre erfährt man nur Ungesichertes (u. a. Schulbesuch in Nidda u. Weilburg) aus den zahlreichen autobiogr. Elementen seiner späteren Schriften. So hat er wohl auch in Mainz studiert; dort dürfte er seine humanist. Prägung erhalten haben, die sich u. a. in der lebenslangen Hochschätzung der »Poeterey« u. der »Musae« (40. u. 48. Fabel) zeigt. Deren Pflege stellt er als eine Errungenschaft der Reformation neben das Studium der Hl. Schrift. Nach dem Studium wirkte er, bald verheiratet, ab 1522 als Lehrer in Büdingen, Oberursel (als Gründer der Lateinschule), Eisenach; ab 1529 elf Jahre lang als Pfarrer in Sprendlingen, unterbrochen durch ein Jahr reformatorischer Tätigkeit in der Neumark. Dieses Pfarramt gab er auf u. fand dann keine dauerhafte Stellung mehr. Seine unbedingte, eifernde Art ließ ihn allzu leicht mit den Regierenden in Konflikt geraten. Weitere Stationen seiner Pfarrtätigkeit waren Brandenburg-Neustadt 1541/42 (dort auch Wiederverheiratung nach dem Tod der ersten Frau), Staden 1543, Babenhausen 1544/45. Mehrfach fand er Zuflucht bei Luther u. Melanchthon in Wittenberg, wo er 1543 zum Dr. theol. promoviert wurde. 1548 ging er nach Magdeburg, um von dort aus gegen das Augsburger Interim zu schreiben. Nach der Eroberung der Stadt durch Kurfürst Moritz von Sachsen ließ dieser ihn wegen allzu grober publizistischer Attacken ausweisen. Zunächst ging A. nach Lübeck u. Hamburg – in

Alberus

dem Bewusstsein, in gerechter Ausübung des geistl. Strafamts zum »Exul Christi« geworden zu sein. Dann wurde er Pfarrer in Neubrandenburg, wo er nach einem Jahr starb. Obwohl A. im theolog. Amt, der Verteidigung der Lehre Luthers, offenbar seine eigentl. Berufung sah, lag seine besondere Begabung doch eher auf pädagog. Gebiet. Er schreibt eine gute, klar u. pointiert formulierte, bildhafte dt. Prosa u. legt zgl. großen Wert auf eine solide Latinität. Literarhistorische Beachtung erlangte er vornehmlich als Fabeldichter, doch ist seine literar. Hinterlassenschaft wesentlich umfangreicher u. vielgestaltiger. Sein gesamtes literar. Werk ist durchgängig dem theolog. Wirken u. der katechetisch-didakt. Arbeit verpflichtet. A.’ satirisches Talent entfaltet sich, geschult an der Humanistensatire, in der Auseinandersetzung mit den Gegnern der Reformation (u. a. Witzel), mit Mönchtum, Papsttum, Unbildung u. religiös bemänteltem Aberglauben (Der Barfuser Mu8 nche Eulenspiegel vnd Alcoran. Wittenb. 1542, mit einer Vorrede Luthers; glossierte Auswahlausg. einer franziskan. Legendenslg.). Einige anonyme satir. Flugschriften der 1520er Jahre wurden ihm zugeschrieben. Im späteren Kampf gegen die vermeintl. Apostaten der eigenen Konfession bricht sich dann eine aggressive, in ihren Argumenten wenig tiefe Polemik Bahn. Doch gleichzeitig schrieb A. seit der Magdeburger Zeit auch fröhliche, von drängender Endzeiterwartung erfüllte geistl. Lieder (Ir lieben Christen freut euch nun. Steht auf ir lieben Kinderlein. Christe du bist der helle tag u. a.) u. das Mahnlied Von den Zeichen des Jüngsten Tags. Er beteiligte sich an der aktuellen Publizistik mit dem Dialogus, oder Gespräch etlicher Personen vom Interim (o. O. 1548) u. Liedern wie Ein new lied von der belegerung der werden Stadt Megdeburg (Rochus von Liliencron: Die historischen Volkslieder der Deutschen vom 13. bis 16. Jh. Bd. 4, Lpz. 1869, Nr. 589, s. auch Nr. 587) u. Von Grickel Interim (Wackernagel 3, Nr. 1053). Unberührt vom theolog. Parteienstreit sind A.’ reizvolle katechet. u. schuldidakt. Schriften für Kleinkinder (Zehen Dialogi Für die Kinder / so anfangen zu reden / vnd vernemen können. Entstanden etwa 1552), Jugendliche (Vtilissi-

72

ma Praecepta Morvm, ex optimis autoribus collecta [...] in gratiam incipientium puerorum. Hagenau 1546 u. ö. Novum Dictionarii Genus. Ffm. 1540. Neudr. Hildesh./New York 1975, ein dt.-lat. Reimwörterbuch mit ausführl. gelehrten Erläuterungen) u. Erwachsene (Von der Schlangen Verfürung, vnd Gnade Christi vnsers Heilands. Ein gesprech zwischen Gott, Adam, Eua, Abel, Cain. Bln. 1541. Neudr. 1889. Hg. Ernst Matthias. In: ZfdPh 21). Zu diesem Teil seines Werks gehören auch seine Schriften über die Ehe, bearbeitende Übersetzungen humanistischer. Texte. Aus den Fabeln (Etliche fabel Esopi verteutscht vnnd ynn Rheymen bracht. Hagenau 1534. 2. verm. Ausg. u. d. T. Das Buch von der Tugent vnd Weißheit. Ffm. 1550 u. ö. Neuausg. Hg. Wilhelm Braune. Halle 1892. Kommentierte Ausg. beider Fassungen hg. v. Wolfgang Harms u. Herfried Vögel. Tüb. 1997) kann man laut erster Vorrede ebenfalls »Moralia« lernen, doch »lachends munds«, vermittelt also durch unterhaltsame, schwankhaft erzählte Geschichten. A. erweitert dazu die schon durch breit ausgeführte Reden der Tiere angeschwollene Fabelerzählung durch z.T. umfangreiche Einschübe eines Ich-Erzählers. Sie enthalten historisch-topograf. Beschreibungen der Gegend, in der die angeblich nicht fiktive Fabelhandlung lokalisiert wird, Schilderungen kirchlicher Missstände u. anekdotisch-novellist. Episoden oder leiten den Leser zu Reflexionen an. Die oft nur oberflächlich anmutende Verknüpfung so disparater Bestandteile unterstreicht die Aktualität der Fabel u. kann dazu dienen, das betrügerische Wesen der Papstkirche in Rom vor dem Hintergrund der tierischen Täuschungsmanöver zu enthüllen (Fabeln Nr. 10, 30, 33, 39). Zentrale Stücke der Sammlung werden zu regelrechten Satiren u. a. auf kirchl. Bußpraxis, Aberglauben, Obrigkeit u. Ständehierarchie (u. a. Nr. 5, 7, 10, 13), konkurrierende Reformbewegungen (u. a. Nr. 16, 20, 21, 23, 46) u. gesteuerte Unbildung (Nr. 11, 21, 33, 40). Neben zeitgeschichtl. Bezügen erhalten aber auch überzeitl. Themen u. Belehrungen eigenen Raum. A.’ späte, in einer Zeit äußerster Bedrängnis vornehmlich zur tröstl. Betrachtung ent-

Albinus

73

standene Schriften Der Holdseligen Blummen der Natur, Gesellsch., Moral u. die Ambivalenz der Treyfeltigkeyt bedeutung (o. O. 1550), Vom Win- Sprache in Fabeln des E. A. In: Ordnung u. Untervogel Halcyon (Hbg. 1552) u. Vom Basilisken ordnung in der Lit. des MA. Hg. W. Harms u. a. zu Magedeburg (Hbg. o. J.) legen im Sinne der Stgt. 2003, S. 207–223. Ute Mennecke-Haustein / Wolfgang Harms mittelalterl. Naturallegorese Erscheinungen der Tier- u. Pflanzenwelt – in denen sich Gott ebenso wie im Wort offenbart habe – auf ihre Albinus, Albini, Johann Georg d.Ä., Vater geistl. Bedeutung hin aus u. führen damit von Johann Georg Albinus d.J., * 6.3.1624 eine Tradition fort, die in der barocken ErUnter-Nessa (Unter-Neißa) bei Weißenbauungsliteratur (z.B. in Johann Arndts fels/Saale, † 25.5.1697 St. Othmar/Naumviertem Buch vom wahren Christentum) breite burg. – Evangelischer Theologe; Verfasser Aufnahme beim Publikum finden wird.

geistlicher u. weltlicher Lyrik.

Weitere Werke: Eyn gu8 t bu8 ch v. der Ehe. o. O. e [Hagenau] 1536. – Das Ehbuchlin. o. O. 1539. – Vom Underscheid der Evang. vnd Papist. Messz, für die einfeltigen. o. O. 1539. – Das der Glaub an Jesum Christum alleyn gerecht vnd selig mach, widder Jörg Witzeln [...], vnd dabei Ludus Sylvani verdeudscht, ser kurtzweilig zu lesen. o. O. 1539. – Eilend aber doch wol getroffen Controfactur, da Jörg Witzel abgemalet ist [...]. Ein anders v. einem Pfaffen hat sich zu todt gefallen. o. O. Etwa 1539/ 40. – Newe zeittung v. Rom, Woher das Mordbrennen komme? o. O. 1541 (enthält: Ein new Te Deum laudamus. Vom Bapst Paulo dem dritten). – Geistl. Lieder. Hg. Christian Wilhelm Stromberger. Halle/S. 1857. – Wackernagel 3, Nr. 1032–1054. – Lob der Wetterau. Hg. Helmut Bode. Ffm. 1978 (Auswahlausg. in nhd. Übers.). Literatur: Bibliografie: Schottenloher 1, S. 8–10. VII, S. 7. – Weitere Titel: Franz Schnorr v. Carolsfeld: E. A. Dresden 1893 (mit bibliogr. Nachträgen zu Goedeke 2, S. 437–447). – Alfred Götze: E. A.’ Anfänge. In: ARG 5 (1908), S. 46–68. – Hdb. zum EKG Bd. 1,2 (1965), S. 29 f., 495 f., 512, 535. Bd. 3 (1970), S. 123 ff. – Wolfgang Harms: Der Eisvogel u. die halkyon. Tage. In: FS Friedrich Ohly. Hg. Hans Fromm u. a. Bd. 1, Mchn. 1975, S. 477–515. – Ernst-Wilhelm Kohls: E. A. In: TRE. – Ross Vander Meulen: Luther’s ›Betriegen zur warheit‹ and the fables of E. A. In: GR 52 (1977), S. 5–15. – Peter Hasubek: Grenzfall der Fabel? Fiktion u. Wirklichkeit in den Fabeln des E. A. In: Die Fabel. Hg. ders. Bln. 1982, S. 43–58 (dort weitere Lit. zur Fabel). – Wilfried Dörstel: E. A.: Das buch von der Tugent vnd Weißheit. Ffm. 1550. In: HKJL, Vom Beginn des Buchdrucks bis 1570 (1987), Sp. 810–841. – Barbara Könneker: E. Alber. In: DDL. – Wilhelm Kühlmann: Magdeburg in der zeitgeschichtl. Verspublizistik (1551/1631). In: Prolegomena zur Kultur- u. Literaturgesch. des Magdeburger Raumes. Hg. Gunther Schandera u. Michael Schilling. Magdeb. 1999, S. 79–106. Auch in: Kühlmann (2006), S. 231–255. – Herfried Vögel:

A.’ Vater Zacharias war Pfarrer in UnterNessa; er starb 1635. Die Jahre 1638–1643 verbrachte A. bei einem Vetter in Leipzig, der ihn unterrichten ließ; nach dessen Tod nahm sich Johann Sebastian Mitternacht, Schulrektor in Naumburg, seiner an. 1645–1653 besuchte A. die Universität Leipzig. Neben dem Studium der Theologie widmete er sich der Dichtkunst. Außerdem war er Informator der Kinder seines Schwagers, des Bürgermeisters von Leipzig. In diesen Jahren veröffentlichte er mehrere Erbauungsschriften. 1653 wurde A. Rektor der Domschule in Naumburg, 1657 Pfarrer der evang. Kirche St. Othmar; dort blieb er bis zu seinem Tod in innerkirchl. Streitigkeiten mit seinen Amtsbrüdern der St.-Wenzels-Kirche verwickelt. A. verfasste v. a. Gedichte u. Kirchenlieder; dabei wurde er von der Jesuitenpoesie u. den Pegnitzschäfern beeinflusst. Seine Dichtungen verzichten nicht auf den zeitgenöss. »Schwulst« u. nehmen in ihrem Manierismus eine Zwischenstellung zwischen den Pegnitzschäfern u. den Dichtern der zweiten Schlesischen Schule (Lohenstein, Hoffmannswaldau) ein. Er veröffentlichte eine Bearbeitung des Holländers Jacob Cats (Des Königlichen Printzen Erofilos Hirten-Liebe. Lpz. 1652) u. übersetzte das Hohe Lied (Salomons Engeddisches-Gartenlied. Lpz. 1652) sowie die Pia Desideria des Jesuiten Hermann Hugo (Himmel-flammende Seelen-Lust [...], D. i.: Gottselige Begierden [...]. Ffm. 1675). Bedeutsam für die Literaturtheorie des 17. Jh. wurde die Überarbeitung der Rhetorica von Johann Matthaeus Meyfart im Jahr 1653. 1654 wurde A. Mitgl. der Fruchtbringenden Gesellschaft (»der Blühende«); außerdem

Albinus

trat er der »Teutschgesinneten Genossenschaft« des Philipp von Zesen bei. A. werden einige bekannte Kirchenlieder zugeschrieben. Seine Autorenschaft von Alle Menschen müssen sterben, Straf mich nicht in deinem Zorn u. Welt, ade, ich bin dein müde (EKG 176 u. 329) ist allerdings nicht gesichert. An Paul Gerhardts Abendlied Nun ruhen alle Wälder lehnt sich Der Tag ist nun vergangen an. Weitere Werke: Trauriger Cypressen-Krantz aus den hl. fünff Wunden Jesu. o. O. 1650. 21653. – Immer grünendes Lob der Christl. Kaufmannschaft. Lpz. 1652. – Quaal der Verdammten. Lpz. 1653. – Jüngstes-Gerichte. Lpz. 1653. – Freude des Ewigen Lebens. Lpz. 1653. – Geistl. Nachtharfe, o. O. u. J. – Eumelio. Poema dramaticum. Naumb. 1657. – Geistliche- u. Weltl. Gedichte. Lpz. 1659. – Geistlich-geharnischter Krieges-Held oder Felderfrischende Soldaten Lieder Andachten u. Gebethe. Lpz. 1657. – Der Himmel-wandernden Philuranien Sterbe-Thon, d. i. Sterbelieder der Freunde des Himmels. o. O. 1679. Ausgabe: Fischer-Tümpel 4, S. 270–277. Literatur: Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 1, S. 239–250 (Bibliogr.). – Weitere Titel: Johann Bernhard Liebler: Nachricht v. des Io. Georg. Albini Leben u. Liedern. Naumb. 1728. – Paul Gabriel: J. A. In: NDB. – Dietrich Korn: Das Thema des jüngsten Tages in der dt. Lit. des 17. Jh. Tüb. 1957. – Heiduk/Neumeister, S. 6, 134, 275 f. – Die Dt. Akademie des 17. Jh. Fruchtbringende Gesellsch. Krit. Ausg. [...]. R. II, Abt. C, Bd. 1. Hg. Martin Bircher u. Andreas Herz. Tüb. 1997 (Register). – Ingo Bach: J. G. A. aus Unternessa. Zu dessen 375. Geb. In: Der Nessaer Drache. Hg. Dietmar Böhme. Nessa 2000, S. 21–26. – Udo Sachse: Zu Leben u. Dichtung des Naumburger Pfarrers J. G. A. (1624–1679). In: Saale-Unstrut-Jb. 5 (2000), S. 76–84. Jutta Sandstede / Red.

Albinus, Albini, Johann Georg d.J., * 11.4. 1659 Naumburg, † 1714 Jena (?). – Jurist; Dramatiker u. Lyriker. Der einer Pastorenfamilie entstammende A. studierte Jura an den Universitäten Leipzig (1674) u. Jena (1678) u. erwarb 1695 in Erfurt das Lizentiat. Während seine jurist. Schriften De Jure miserabilium. Vom Rechte der Armseligen und Nothbedrängten (Jena 1680) u. Delinquens defensus. Der vertheidigte Missethäter (Erfurt 1695) mehrfach aufgelegt wurden, konnte er mit seinen poet. Arbeiten dem Ruhm seines

74

Vaters, Johann Georg Albinus d.Ä., nicht gleichkommen. Die Sammlung Der Jungfern und Junggesellen kurtzweilige Erquickstunden (Zeitz 1683) enthält neben Liedern, einigen gereimten Rätseln u. Historien auch ein Lustspiel (Die im Reisen betrübte Eugenia). Auch sein zweites Werk, die Chursächsische Venus (Naumb. 1686), bietet ein (personenreiches) Schauspiel, die Churfürstlich-Sächsisch-Altenburgische Printzen-Entführung. 1685 besorgte A. eine Ausgabe der Gedichte Paul Flemings. Erdmann Neumeisters vernichtendes Urteil über A.s Dichtungen führte 1695 zu einer erbitterten Auseinandersetzung mit Streitschriften auf beiden Seiten; erst ein Gremium der Leipziger Universität konnte diesen Streit schlichten. Vermutlich veranlasste diese Fehde A. zum Verzicht auf die Publikation weiterer poet. Werke. Weitere Werke: Ehrenvertheidigung wider M. Erdmann Neumeisters [...] Schmierament. Erfurt 1695. Literatur: Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 1, S. 251–254 (Bibliogr.). – Lemcke: J. G. A. In: ADB. – Heiduk/Neumeister, S. 6 f., 134 f., 276. Dietmar Peil / Red.

Albinus, Michael, auch: Michael Weiss, * Sept. 1610 Pröbbernau/Frische Nehrung, † 21.8.1653 Danzig. – Lyriker u. Verfasser von Erbauungsprosa u. Gelegenheitsgedichten. Danziger Bürger kümmerten sich um die Weiterbildung des früh verwaisten Landpredigersohns u. langjährigen Kinderhauszöglings. Der Bierbrauer Abraham Höwelcke, Vater des Danziger Astronomen Johann Hevelius, brachte ihn 1628 zur Erziehung bei Johann Plavius unter, einem versierten Hochzeitspoeten u. Sonettendichter. Bedeutsam für die geistige Entwicklung A.’ wurde die Freundschaft mit dem Comenius-Übersetzer u. Opitz-Intimus Johann Mochinger, seit 1630 Professor der Rhetorik am Danziger Akademischen Gymnasium. Nach Studienaufenthalten in Thorn (1630), Königsberg (1631), Stettin u. Frankfurt/O. (1632) fand der Theologiekandidat 1633 eine Predigerstelle in Wossitz bei Danzig. In dem »Purgatorium ministrorum« (Fegefeuer der Diener Gottes),

75

Albrecht

wie er seine Pfarrstelle in dem Dorf bezeich- nach seinem Tod versagt. Die meisten benete, schrieb er u. a. Lob des Feld Lebens (Danzig deutenden Kritiker des Jahrhunderts erwäh1638), ein pastoral-theolog. Traktat für den nen seinen Namen nicht. Erdmann Neubäuerl. Berufsstand. Seit 1638 Mochingers meisters abschätziges Urteil scheint mit verDiakon an der Altstädter St.-Katharinen-Kir- antwortlich für die geringe Zahl u. die Folche in Danzig, entwickelte A. sich zu einem genlosigkeit späterer Wiederbelebungsversuder vielseitigsten Autoren im kirchlichen u. che. So macht sein spezifisch auf die engere schulischen Umfeld des Danziger Literaturbarock. Seine dichter. Produktion ist getra- Heimat bezogenes Dichtertum den eigentl. gen von der Verantwortung für das geistl. Stellenwert dieses preuß. Opitzianers in der Wohl seiner Mitbürger (exemplarisch: Hert- dt. Literatur aus. Im Rahmen des wachsenden Interesses für das Phänomen der städt. Gelezens-Wekker. Danzig 1650). Zu Lebzeiten war A. wohl auch jenseits der genheitsdichtung erfreut sich A. einer erGrenzen seiner Vaterstadt bekannt. Vermut- neuten Zuwendung der Forschung. Auch lich kannte Opitz das kunstreich stilisierte eignete sich gerade sein Werk für eine exAlexandrinerwerk Die Allerheiligste Empfäng- emplarische sozial- u. funktionsanalyt. Benus (Danzig 1636), mit dem sich A. im Sinne schreibung des Beziehungsgeflechts von Lider von ihm selbst aufgestellten Forderung teratur u. städt. Gesellschaft im 17. Jh. nach einem »Geistlich-Poetisch-Deutsch« zu Ausgabe: Fischer-Tümpel 3, S. 51–57. profilieren suchte. Zu A.’ engerem FreundesLiteratur: Lemcke: M. A. In: ADB. – Leonhard u. Kollegenkreis zählte eine Reihe schlesi- Neubaur: M. A., ein Danziger Dichter des 17. Jh. scher Autoren, darunter Adam u. Friedrich In: Ztschr. des Westpreuß. Geschichtsvereins 53 Bythner, Georg Daniel Koschwitz, Johann (1911), S. 50–84. – Walter Raschke: Der Danziger Peter Titz, Georg Tschirtner. Auch müssen Dichterkreis des 17. Jh. Diss. Rostock 1921, ihm zahllose von außen zureisende Literaten, S. 19–37. – Heinz Kindermann: Danziger Barockso Andreas Tscherning, Georg Greflinger, dichtung. Lpz. 1939. – Joseph Leighton: Gelegenheitssonette aus Breslau u. Danzig in der Zeit zwiAbraham von Franckenberg, begegnet sein. schen 1624 u. 1675. In: Stadt – Schule – Univ. – Seine vom Kantor der Katharinenkirche, Buchwesen u. die dt. Lit. im 17. Jh. Hg. Albrecht Christoph Werner, vertonten Heiligen Lieb- und Schöne. Mchn. 1976, S. 536–548. – Heiduk/NeuLob-Lieder (Danzig/Königsb. 1648/49) drangen meister, S. 7, 135, 276. – Martin Bircher: M. A. in nach Königsberg in den Dichterkreis um Si- der Herzog-August-Bibl. In: Wolfenbütteler Bamon Dach u. Heinrich Albert. Eine seiner vier rocknachrichten 13/2 (1986), S. 77 f. – Dick van Bibelepigramm-Kollektionen, Güldene Rose Stekelenburg: M. A. ›Dantiscanus‹ (1610–53). Eine von sechsmal sechtzig poetischen Sinnsprüchen Fallstudie zum Danziger Literaturbarock. Amsterd. (Danzig 1651), widmete er mit Bezugnahme 1988 (mit kommentierter Bibliogr.). – Edmund auf den Hallenser Domprediger Johann Kotarski: Die Danziger Lit. im 17. Jh. Eine Übersicht. In: Stadt u. Lit. im dt. Sprachraum der FrüOlearius dem Herzog August von Sachsenhen Neuzeit. Hg. Klaus Garber. Bd. 2, Tüb. 1998, Weißenfels; seinen von Georg Neumark, S. 769–785. Dick van Stekelenburg / Red. Mitgl. der Fruchtbringenden Gesellschaft, gelobten allegor. Roman Geheimer Nachricht Sionitischer Walfart (Ffm. 1653) gar der Albrecht, um die Mitte des 13. Jh., bis schwed. Königin Christina. 1654 erlebte das etwa 1280. – Verfasser des Jüngeren Titurel. im Auftrag des Danziger Bürgermeisters Adrian III. von der Linde zusammengestellte A. gilt als Dichter des lehrhaften arthurischen Gebetbuch Biblische Linde (Danzig 1645) in Gralromans Der Jüngere Titurel (JT). Die IdenFrankfurt/M. eine zweite Auflage. Schließlich tifikation A.s. mit Albrecht von Scharfenberg beschränkt sich auch die Rezeption von A.’ wird inzwischen verworfen. Der neuzeitl. zahlreichen Gelegenheitsgedichten nicht auf Titel orientiert sich an den Titurel-Fragmenden Danziger Adressatenkreis allein. ten (Tit) Wolframs von Eschenbach, die A. Dennoch blieb A. ein wirklicher, die Lo- seinem Epos einverleibt hat. Überliefert ist kalsphäre sprengender Durchbruch auch ferner ein »Verfasserfragment« (VF) genann-

Albrecht

tes u. wohl unabhängig vom JT tradiertes Bruchstück (23 z.T. verstümmelte Strophen), in dem ein sich A. nennender Dichter über seinen JT u. Wolfram spricht u. das wohl an Ludwig II. von Bayern († 1294) gerichtet ist. Gemeinhin wird der JT, mit einiger Unsicherheit, um 1260–1272/73 datiert. Historische Daten über das Leben A.s fehlen. Sein Name fällt, z.T. an unterschiedl. Stellen, nur in den Handschriften ABCE, im Druck J u. im VF (also nicht, soweit die Lückenhaftigkeit von H u. W diesen Schluss zulassen, in den Handschriften DHWXYZ, s. u. Handschrift K bedarf hier noch genauerer Untersuchung). Darüber hinausgehende frühere Vermutungen basieren auf Äußerungen des Erzählers des JT u. sind mit Skepsis zu bewerten, insbes. was die sog. Gönnerfrage betrifft. An mehreren Stellen spricht der Erzähler des JT von seinen Mäzenen, die mit mäßigem Erfolg zu identifizieren versucht worden sind. Inzwischen schenkt man der Überlegung, es könne sich um ein literarisch-rhetorisches Spiel mit fiktiven Mäzenen handeln, mehr Aufmerksamkeit. Die Einschätzungen über die Heimat A.s schwanken, erwogen wurde bayerische, mitteldt. u. ostmitteldt. Herkunft. Wie der JT ausweist, beherrschte A. Latein, wohl auch Altfranzösisch, u. verfügte über ein breites poetologisches, rhetor., theolog., eth. u. naturkundl. Wissen. Es gibt 11 mehr oder weniger vollständige Handschriften des JT, einen Druck von 1477 (J) sowie zahlreiche Fragmente. Wenigstens zwei deutlich voneinander abgrenzbare Überlieferungszweige können unterschieden werden: I: ABCDE (C erst ab Str. 3558; D ab Str. 4958 stark gekürzt); II: WXYZ (W erst ab Str. 2822). Handschrift K hatte wohl mit J eine gemeinsame Vorlage, beide stellen sich in der Regel zu II. Das Verhältnis der Handschrift H, die große Blattverluste aufweist u. als einführender Lesetext völlig ungeeignet ist, zu I u. II ist umstritten. Eine umfassende textkrit. Untersuchung fehlt u. muss als dringendstes Desiderat der Forschung gelten. Die heute maßgebl. Ausgabe von Wolf/Nyholm bietet auf der Grundlage der Leithandschrift A einen krit. Text nur des Zweiges I (6327 Str.en); in einem zweiten Apparat wird die Handschrift X stellvertretend für den

76

Zweig II abgedruckt, der weitgehend unerforscht ist (vgl. aber Neukirchen 2006). Der JT ist maßgeblich durch sein Verhältnis zu Wolfram von Eschenbach bestimmt. Dies betrifft die Strophenform des Epos, eine Weiterentwicklung der Tit-Strophe, die Übernahme der Tit-Fragmente, auf die in einigen Handschriften sog. Hinweisstrophen hindeuten (nicht in I), die nicht zu überschätzende Bedeutung des Parzival (Pz) Wolframs u. die spezif. Rolle des Erzählers: Er nennt sich Wolfram von Eschenbach. Erst in Str. 5961 erhebt im Zweig I (von Handschrift D abgesehen) ein zweiter Erzähler (»ich, Albreht«) seine Stimme. Im Prolog des JT fokussiert der von A. konzipierte fiktive Erzähler Wolfram v. a. religiöse u. heilsgeschichtl. Themen u. a. im Rückgriff auf den Willehalm (Wh) Wolframs u. Berthold von Regensburg; das poetolog. Thema ist allerdings sein in narrativer u. eth. Hinsicht als korrekturbedürftig vorgestellter Pz: Die erzählerische Struktur des Pz sei eigentlich nichts als eine Lehre, nur sei diese dort nicht angemessen vermittelt worden; dies möchte der fiktive Wolfram im JT selbstkritisch verbessern. Die bisherige Forschung hat diese Aussage auf den JT bezogen, der angeblich nichts als eine Lehre sei. Der Tit Wolframs spielt im Prolog des JT, aber auch in den späteren Äußerungen des Erzählers A., mit denen er auf Kritik an Pz u. Wh von seiten Dritter rekurriert, bezeichnenderweise keine Rolle. Der Inhalt des JT lässt sich wie folgt zusammenfassen: 1. Geschichte des Gralkönigtums u. seiner Genealogie; 2. Geburt Sigunes, Liebe zwischen Sigune u. Tschinotulander (Tsch.); Lager Sigunes u. Tsch.s nach seiner Schwertleite, plötzliches Auftauchen eines Bracken, der eine mit einer Inschrift versehene Hundeleine trägt; Sigunes Lektüre der Inschrift, die unterbrochen wird, da der Hund sich losreißt u. wegläuft; Sigunes unbändiger Wunsch, die Inschrift weiterzulesen; Suche Tsch.s nach dem Brackenseil, um der Minne Sigunes teilhaftig zu werden; Aufnahme Tsch.s am Artushof, Besitzstreit zwischen Ekunat, dem eigentl. Besitzer des Brackenseils, u. Orilus, dem durch Zufall das Seil in die Hände gefallen ist; endgültige

77

Verlesung der auf dem Brackenseil verzeichneten Tugendlehre am Artushof, ohne dass Tsch. es erworben hätte; 3. der siegreiche Krieg des Baruc Ackerin gegen seine Feinde u. die Rache Tsch.s für den Tod Gamurets; 4. die Rückkehr Tsch.s aus dem Orient, seine Konflikte mit Orilus u. Lehelin u. seine eigensinnigen Versuche, das Seil bzw. die Minne Sigunes durch ritterl. Taten zu erwerben; die Übergabe des Brackenseils an Sigune durch die Gemahlin des Orilus; Tsch.s Tod im Kampf gegen Orilus u. die Trauer Sigunes; die Aventiure-Reisen Parzifals u. der Tod Sigunes; der als Rache für den Tod Tsch.s verstandene Endkampf Ekunats mit Orilus, in dem Orilus stirbt u. das Brackenseil mit seiner Tugendlehre vernichtet wird, u. die Berufung Parzifals zum Gralkönig; 5. der Wechsel des Erzählers Wolfram zum Erzähler A. (nur in I); die Geschichte Lohrangrins u. das Geschick des Grals, der als Abendmahlschüssel Jesu verstanden u. wegen der Sündhaftigkeit der Christenheit in den Orient verbracht wird, sowie die Rolle des Priesterkönigs Johan. Am Ende übernimmt der Sohn von Parzifals Halbbruder Feirefiz das Gralkönigtum. Von den genannten Teilen sind 2, 3 u. 4 außerhalb des Gralreiches angesiedelt. Durchsetzt ist das Epos mit zahlreichen lehrhaften Passagen. Bisher galt A. als Wolfram-Verehrer bzw. Plagiator, der im Rückgriff auf den Pz mit dem JT eine Fortsetzung des Tit ins Werk gesetzt habe, der ein schlechter Erzähler gewesen u. dem es nur um Lehrhaftes u. Kommentare gegangen sei. Heute hingegen gewinnt die Vorstellung an Boden, A. sei ein Kritiker der aus seiner Sicht erzählerischen u. eth. Mangelhaftigkeit des Pz Wolframs. Auch die Auffassung, der JT sei in der Hauptsache eine Fortsetzung des Tit, wird mittlerweile in Zweifel gezogen, A. habe vielmehr Tit u. Pz vervollständigt (Lorenz) bzw. den Pz mit Hilfe der Tit-Fragmente u. ihrer strophischen Form kritisch vervollkommnet u. fortgesetzt (Neukirchen 2006). Das Verhältnis zwischen Narrativem u. Lehrhaftem wurde bislang zuungunsten des Erzählens bestimmt, das im JT einen sekundären, substanzlosen Prozess darstelle, der dem aus sich heraus verständlichen Lehrhaften, wie es z.B. bes. prägnant in

Albrecht

der Tugendlehre der Brackenseilinschrift ausgeprägt ist, völlig untergeordnet sei. Aber auch hier lässt sich inzwischen einsichtig machen, dass A. anhand seines Personals immer wieder gerade die Schwierigkeit aufzeigt, moralische u. eth. Lehren zu verstehen. In diesem Kontext lässt sich der JT als Versuch begreifen, für den Rezipienten fiktionale, volkssprachl. Dichtung als hermeneut. Form ebensolcher auslegungsbedürftigen Lehren zur Geltung zu bringen. Die Forschung war in der Vergangenheit oft zu sehr auf bestimmte Bereiche fixiert, z.B. auf den Graltempel, die Tit-Fragmente oder die Gönnerfrage. Erst in jüngster Zeit sind wieder Arbeiten vorgelegt worden, die den Text in seiner Gesamtheit in den Blick nehmen (Lorenz, Neukirchen 2006). Zahlreiche Passagen u. Themenbereiche harren noch einer Erforschung. Weitere Quellen neben Pz, Tit, Wh u. Berthold sind z.B. Geoffrey of Monmouth, der Brief des Presbyters Johannes u. die frz. Gral- u. Artustradition; der Einfluss anderer deutschsprachiger Texte ist evident (A. kennt etwa Heinrich von Veldeke, Hartmann, Walther, Heinrich von dem Türlin u. v. a. m.). Eine gründl. Aufarbeitung der deutsch- u. fremdsprachigen Quellen aber fehlt. Wahrscheinlich v. a. wegen der Handschriften des Zweiges II sowie der Handschrift D (I), in denen die Namennennung A.s fehlt (zu Handschrift K vgl. oben), galt der JT lange Zeit als Werk Wolframs, woraus sich wohl die lang andauernde Wertschätzung des Werkes erklärt, die sich u. a. in der Verwendung der JT-Strophe in zahlreichen Werken des Spätmittelalters ausdrückt. Erst zu Beginn des 19. Jh. wurde erkannt, dass der JT nicht auf Wolfram zurückgehen konnte u. nur die Tit-Fragmente von ihm stammten. Seit dieser Erkenntnis u. der äußerst negativen Einschätzung des JT durch Karl Lachmann (1829) sind A. u. sein JT in der Regel ablehnend, um nicht zu sagen abfällig beurteilt worden. Heute gilt wieder zu Recht die Ansicht, dass der JT A.s eines der bedeutendsten u. wichtigsten epischen Werke des 13. Jh. ist (Bumke). Ausgaben: Der JT. Hg. K. A. Hahn. Quedlinburg/Lpz. 1842 [Hs. B]. – Erich Petzet: Über das Heidelberger Bruchstück des JT. In: Sitzungsber.e

Albrecht von Bonstetten der philosoph. u. der histor. Klasse der Kgl. Bayer. Akademie der Wiss. zu München, Jg. 1903. Mchn. 1904, S. 287–320, hier S. 292–297 sowie Tafel I u. II [maßgebl. diplomat. Abdruck des VF]. – A.s v. Scharfenberg [!] JT. Nach den ältesten u. besten Hss. kritisch hg. v. Werner Wolf. Bde. 1–2,2, Bln. 1955, 1964 u. 1968. – A.s JT. Nach den Grundsätzen v. W. Wolf kritisch hg. v. Kurt Nyholm. Bde. 3,1 u. 2, Bln. 1985–92 [mit Namenverz.]. Bd. 4: Textfassungen v. Hss. der Mittelgruppe. Bln. 1995 [diplomat. Abdrucke der Hs. H u. einiger Fragmente]. – Die Heidelberger Hs. H (cpg 141) des JT. Hg. Werner Schröder. 3 Bde., Stgt. 1994/95. – Wolfram v. Eschenbach: Tit. Hg., übers. u. mit einem Komm. u. Materialien vers. v. Helmut Brackert u. Stephan Fuchs-Jolie. Bln./New York 2002. – Ders.: Tit. Mit der ges. Parallelüberlieferung des JT. Kritisch hg., übers. u. komm. v. Joachim Bumke u. Joachim Heinzle. Tüb. 2006. Literatur: Bibliografie: Dietrich Huschenbett: Bibliogr. zum JT. In: Wolfram-Studien 8 (1984), S. 169–176 [ebd. 9 Vorträge über den JT]. – Thomas Neukirchen: Bibliogr. zum JT 1984–2002. In: Wolfram Studien 18 (2004), S. 405–424. – Weitere Titel: Walter Röll: Studien zu Text u. Überlieferung des sog. JT. Heidelb. 1964. – Hedda Ragotzky: Studien zur Wolfram-Rezeption. Die Entstehung u. Verwandlung der Wolfram-Rolle in der dt. Lit. des 13. Jh. Stgt. u. a. 1971. – Klaus Zatloukal: Salvaterre. Studien zu Sinn u. Funktion des Gralsbereichs im JT. Wien 1978. – Dietrich Huschenbett: A., Dichter des JT. In: VL. – Ders.: A.s JT. Zu Stil u. Komposition. Mchn. 1979. – Werner Schröder: Wolfram-Nachfolge im JT. Devotion oder Arroganz. Ffm. 1982. – Rüdiger Krüger: Studien zur Rezeption des JT. Stgt. 1986. – Volker Mertens: Der dt. Artusroman. Stgt. 1998, S. 262–287. – Steffen Brokmann: Die Beschreibung des Graltempels in A.s JT. Diss. Bochum 1999 (www-brs.ub.ruhr-unibochum.de/netahtml/HSS/Diss/BrokmannSteffen/ diss.pdf). – Andrea Lorenz: Der JT als WolframForts. Eine Reise zum Mittelpunkt des Werks. Bln. u. a. 2002. – Katrin Woesner: Begriffsglossar u. Index zu A.s JT. 4 Tle., Tüb. 2003. – Helmut Birkhan (Hg.): Motif-Index of German Secular Narratives from the Beginning to 1400. Bd. 1, Bln. 2005, S. 1–22. – V. Mertens: Wolfram als Rolle u. Vorstellung. Zur Poetologie der Authentizität im JT. In: Geltung der Lit. Formen ihrer Autorisierung u. Legitimierung im MA. Hg. Beate Kellner u. a. Bln. 2005, S. 203–226. – T. Neukirchen: Die ganze aventiure u. ihre lere. Der JT A.s als Kritik u. Vervollkommnung des Pz Wolframs v. Eschenbach. Heidelb. 2006. – Tagungsband zur Internat. Tagung über den JT (17.-20.5.2007, Zug/Schweiz).

78 Hg. Martin Baisch, Johannes Keller u. Matthias Meyer. Gött. [erscheint 2008]. Thomas Neukirchen

Albrecht von Bonstetten, * um 1442/43 Uster/Kt. Zürich, † um 1504. – Historiograf, Hagiograf u. Übersetzer. A. entstammt einem alten Zürcher Freiherrengeschlecht. Er trat 1465 ins Benediktinerstift Einsiedeln ein, studierte in Freiburg i. Br. (1466), Basel (bis 1468) u. Pavia (1471–1474). 1470 war er Dekan von Einsiedeln u. wurde 1474 zum Priester geweiht. Friedrich III. ernannte ihn 1482 zum Hofpfalzgrafen u. Hofkaplan. A. stand in enger Verbindung zu Humanistenkreisen, etwa brieflich zu dem einflussreichen Literaten Nikolaus von Wyle (seit 1469), der A. an die Werke des Papstes Pius II., Enea Silvio Piccolomini, heranführte. Auch in A.s Übersetzungsstil hat sich der Einfluss Wyles deutlich niedergeschlagen. A. verfügte daneben über sehr gute Verbindungen zu den Mächtigen seiner Zeit. Seine Schriften wurden von Persönlichkeiten wie etwa Friedrich III., Maximilian I., Herzog Sigismund von Tirol u. dem König von Frankreich in Auftrag gegeben. A.s zahlreiche Werke sind vorwiegend historiografischer Art. So verfasste er eine Geschichte des Burgunderkriegs, des Stifts Einsiedeln, der Habsburgischen Dynastie sowie mehrere hagiograf. Schriften, die sich vorwiegend mit Heiligen der Schweiz befassen (Nikolaus von Flüe, Ida von Toggenburg, Gerold). Von den meisten seiner ursprünglich lat. verfassten Werke fertigte A. auch dt. Übersetzungen an. Die Ida-Legende ist aber ein ursprünglich dt. Werk u. stellt dadurch eine Ausnahme zu den streng an der »veritas latina« orientierten mittelalterl. Hagiografien dar. Eine eingehende Würdigung von A.s Schaffen steht noch aus. Ausgabe: Der gute Gerhart Rudolfs v. Ems in einer anonymen Prosaauflösung u. die lat. u. dt. Fassung der Gerold-Legende A.s v. B. Nach den Hss. Reg. O 157 u. Reg. O 29A u. B im Thüringischen Hauptstaatsarchiv Weimar. Hg. Rudolf Bentzinger u. a. Bln. 2001, S. 75–167 (Ed. der lat. u. dt. Legende, Komm., Namensverz. u. Glossar).

Albrecht von Eyb

79 Literatur: Alphons Lhotsky: Quellenkunde zur mittelalterl. Gesch. Österr.s. Graz/Köln 1963, S. 422 ff. – Werner Williams-Krapp: Die dt. IdaLegende des schweizer. Humanisten A. v. B. In: Ztschr. für Gesch. des Oberrheins 130 (1982), S. 71–80. – Hans Fueglister: A. v. B. In: VL. – Wilfried Kettler: Trewlich ins Teütsch gebracht. Lat.dt. Übersetzungsschrifttum im Umkreis des schweizer. Humanismus. Bern u. a. 2002. Werner Williams-Krapp / Red.

Albrecht von Eyb, * 24.8.1420 Schloss Sommersdorf bei Ansbach, † 24.7.1475 Eichstätt; Grabstätte: ebd., Dom. – Verfasser u. Herausgeber lateinischer u. deutscher humanistischer Literatur, Übersetzer; Jurist. A., der aus einer fränk. Adelsfamilie stammte u. als dritter Sohn der Familie zum Geistlichen bestimmt war, studierte ab 1436 an der Universität Erfurt, musste sie aber ein Jahr nach dem Tod seines Vaters (1438) verlassen u. besuchte ab 1439 auf Geheiß des älteren Bruders Ludwig vier Jahre die Lateinschule in Rothenburg/Tauber. Nach einem weiteren Semester in Erfurt (1443/44) hielt er sich in den folgenden 15 Jahren, unterbrochen nur von einem einjährigen Aufenthalt in Bamberg, an den ital. Universitäten Bologna, Padua u. Pavia auf, wo er 1459 den Doktor beider Rechte erlangte. Dieser Aufenthalt in Italien, v. a. die Begegnung mit Vertretern des Humanismus (z.B. Balthasar Rasinus in Pavia sowie Johannes Lamola u. Cato Sacco in Bologna), prägten A.s Tätigkeit nachhaltig. Die vier lat. Texte, die A. nach seiner Rückkehr aus Italien 1451 während seines Bamberger Jahres verfasste (er musste die Domherrenstelle antreten, auf die sich Ludwig für seinen Bruder 1449 beworben hatte), belegen sein Bemühen, wie seine Vorbilder umfassend belesen zu sein u. mehreren berufl. Anforderungen gleichzeitig zu entsprechen. Während der Tractatus de speciositate Barbarae puellulae (Text bei Herrmann 1893, S. 100–102) das fiktive oder reale Bamberger Mädchen Barbara u. ihre Vorzüge preist, ist die als Gerichtsverhandlung aufgezogene Appellacio mulierum Bambergensium (Text bei Herrmann 1893, S. 104–107) eine misogyne Satire auf die angebl. Sittenlosigkeit der Bambergerin-

nen. Als Gegenstück dazu ist Ad laudem et commendationem Bambergae civitatis oratio (Text in: William Hammer: A. v. E., Eulogist of Bamberg. In: GR 17, 1942, S. 14–19) konzipiert, ein im Sinne italienisch-humanistischer Städtelobpreisungen gehaltenes Lob auf Bamberg u. seine Umgebung. Bei De Commendatione dignissimi et divinissimi Eucharistiae sacramento Oratio könnte es sich um die Einführungspredigt A.s als Domherr handeln. Das Jahr in Bamberg u. das Versprechen gegenüber Ludwig, sich nach dem Ende des Studiums in Deutschland niederzulassen, verstärkte A.s Bemühungen, sich noch in Italien für die Zeit danach zu wappnen: Er »erschrieb« sich eine Bibliothek, die ihm die Möglichkeit geben sollte, auf annähernd gleichem Niveau wie in Italien seinen Forschungen u. Interessen nachzugehen. Die Bedeutung dieser Sammlung zeigt sich z.B. daran, dass noch zehn Jahre nach A.s Tod der Nürnberger Hartmann Schedel nach Eichstätt reiste, um Handschriften aus A.s Nachlass zu kopieren. Der Sicherung u. Bereitstellung von humanistischem Wissen dient auch A.s lat. Hauptwerk, die bereits 1459 abgefasste, aber erst 1472 in Nürnberg gedruckte Margarita Poetica. Mit dieser groß angelegten Anthologie wollte A. seinen Zeitgenossen ein Buch zur Verfügung stellen, welches das Beste römischer, patrististischer u. humanist. Schriftsteller enthalten sollte. Dreißig Reden wurden als Muster humanistischer Rhetorik angefügt. 1459 schrieb A. aber nicht nur die Margarita, er schloss auch sein Studium ab, verließ Italien u. lebte von da an als Domherr in Eichstätt. Italien sah er nur 1461 u. 1462 anlässlich zweier Romreisen wieder. Wie auch schon während seiner Studienzeit finanzierte er sich über Pfründen (Domherr zu Eichstätt, Bamberg u. Würzburg; Kämmerer des Papstes; Inhaber des Archidiakonats Iphofen) u. war als juristischer Gutachter für verschiedene dt. Städte u. Fürsten tätig. Im Rahmen dieser Gutachtertätigkeit, die noch auf eine eingehende Untersuchung wartet, hatte A. häufig in Eherechtsfragen Stellung zu beziehen. Insofern wundert es nicht, wenn er sich auch in eigenen Texten mit dem Themenbereich »Frau und Ehe« beschäftigt.

Albrecht von Halberstadt

80

1459/60 entstanden in Eichstätt drei lat. ging es ihm lediglich um die umfassende SiTraktate An viro sapienti uxor sit ducenda, Cla- cherung von Wissen. A. hatte als Übersetzer u. Vermittler frührissimarum feminarum laudacio u. Invectiva in lenam, die sich dem beliebten u. mehrfach humanistischen Wissens großen Einfluss auf diskutierten humanist. Problem widmen, ob die Rezeption des ital. Humanismus u. antiFrauen schlecht sind u. Übel bringen u. ob ker Literatur in Deutschland. Hans Sachs’ man heiraten solle oder nicht. Auch wenn es Versbearbeitung des Menaechmi von 1540 z.B. sich dabei um ein typisches Gelehrtenthema fußt auf A.s Übersetzung. handelt, das daher meist auf Latein verhanAusgaben: Dt. Schr.en. Hg. u. eingel. v. Max delt wird, scheint Bedarf an einer ähnl. Ab- Herrmann. Bd. 1: Das Ehebüchlein. Bd. 2: Die handlung auf Deutsch bestanden zu haben. Dramenübertragungen. Bln. 1890. Neudr. HilEine solche verfasste A. u. d. T. Ob einem manne desh./Zürich 1984. – Ob einem manne sey zunemen sey zunemen ein eelichs weyb oder nicht. Sie wurde ein eelichs weyb oder nicht. Mit einer Einf. v. Hel1472 in Nürnberg gedruckt u. ist dem mut Weinacht. Darmst. 1982 (Faksimile). – Die Plautus-Übers.en. Lat.-dt. Textausg. Hg. Peter AnNürnberger Rat gewidmet. Dieses sog. Ehedreas Litwan. Bern/Ffm./New York 1984. – Spiegel büchlein untersucht die gestellte Frage unter der Sitten. Hg. Gerhard Klecha. Bln. 1989. theologischen, moralphilosoph. u. jurist. Literatur: Max Herrmann: A. v. E. u. die Gesichtspunkten u. bejaht sie schließlich. Frühzeit des dt. Humanismus. Bln. 1893. – Karl Christliche u. humanist. Geschichten u. Zi- Otto Conrady: Zu den dt. Plautusübertragungen. tate stehen dabei gleichberechtigt nebenein- In: Euph. 48 (1954), S. 373–396. – Joseph A. Hiller: ander u. belegen die Vielfalt u. Offenheit des A. v. E. New York 1939. – Helmut Weinacht: A. v. E. Themas, das sich von unterschiedl. Perspek- In: Fränk. Klassiker. Hg. Wolfgang Buhl. Nürnb. tiven sinnvoll betrachten lässt, auch litera- 1971, S. 170–182. – Eckhard Bernstein: Die Lit. des risch. Entsprechend finden sich drei Erzähl- dt. Frühhumanismus. Stgt. 1978, S. 62–75. – Gertexte (zwei Novellen u. eine Legende). Die hard Klecha: A. v. E. In: VL. – William Melczer: A. erste Novelle, Guiscardus und Sigismunda, geht v. E. (1420–75) et les racines italiennes du premier humanisme allemand. In: L’humanisme allemand auf Boccaccios Decameron (IV, 1) zurück, stellt (1480–1540). Paris/Mchn. 1979, S. 31–44. – Reinaber eine Bearbeitung der lat. Übersetzung hard K. Hennig: A.s v. E. ›Lob der Ehe‹ u. seine dieser ursprünglich ital. Novelle durch Leo- Vorlage. In: JEGPh 84 (1985), S. 364–373. – E. nardo Bruni dar. Die zweite Novelle ist eine Bernstein: A. v. E. In: Füssel, Dt. Dichter, dt. Fassung der anonymen lat. Marina. Die S. 96–110. – Edith Feistner: Form u. Funktion der Albanus-Legende hat A. ebenfalls aus dem Quaestio bei A. v. E. In: GRM 45 (1995), S. 268–278. – Ursula Kocher: Boccaccio u. die dt. Novellistik. Lateinischen übertragen. Dass A. an gefälligen Übersetzungen gele- Amsterd./New York 2005, S. 203–263. Eckhard Bernstein / Ursula Kocher gen war, um wichtige Texte u. Autoren auf Deutsch bekannt zu machen, schreibt er zu Beginn des vierten Teils seines Spiegel der Sitten Albrecht von Halberstadt, um 1200. – (bereits 1474 verfasst, aber erst 1511 postum Übersetzer von Ovids Metamorphosen. in Augsburg veröffentlicht). Drei in den Druck aufgenommene Übersetzungen, zwei Das ursprünglich etwa 20.000 Verse umfasPlautus-Komödien (Menaechmi u. Bacchides) sende Werk A.s ist bis auf fünf Fragmente aus sowie die Philogenia des Ugolino von Pisa, einer Handschrift des 13. Jh. verloren, aber in belegen A.s Vermittlungsarbeit. Dieses zweite einer eingreifenden Umarbeitung durch Jörg deutschsprachige Buch A.s ist eine Tugend- u. Wickram von 1544 indirekt zu fassen. Der Ständelehre. Es handelt im ersten Teil von Colmarer Dichter Wickram überlieferte zur den sieben Todsünden u. den entsprechenden Demonstration der Unverständlichkeit des Tugenden, im zweiten von den »ständen vnd älteren Werkes A.s Prolog u. damit einige ämptern mancherley personen«. Diese the- Daten zu Autor, Gönner, Entstehung u. Inmat. Ausrichtung macht es unmöglich, A. tention der Dichtung. eindeutig als mittelalterlichen oder humaA. war Sachse, in Halberstadt geboren, u. nist. Gelehrten auszuweisen. Offensichtlich schrieb im Auftrag des bedeutenden Litera-

81

Albrecht von Johansdorf

turförderers Landgraf Hermann von Thürin- morphosenverdeutschung des A. v. H. In: Dô tagte gen (1190–1217) auf der »Zechenburg« (nach ez. Hg. Andrea Seidel u. Hans-Joachim Solms. Jacob Grimm u. schon Cyriakus Spangenberg Dössel/Saalekreis 2003, S. 97–112. Christoph Huber / Red. das Stift Jechaburg bei Sondershausen/Thüringen). Der Prolog nennt als Datum 1190 oder, bei anderer Auffassung der Stelle, 1210 Albrecht von Johansdorf, Johannsdorf, (»Zwelff hundert jor / und zehene bevorn«). urkundlich erwähnt 1185–1209 (?). – Für die Abfassungszeit sind in Halberstadt Minnesänger. wie auf der Jechaburg Träger des Namens A. bezeugt. Im Umkreis Hermanns ist das Werk Von A. ist ein Korpus von 13 Minneliedern zu den Antikenromanen Heinrichs von (42 Strophen), darunter fünf Lieder mit Veldeke (Eneit) u. Herborts von Fritzlar (Liet Kreuzzugsthematik, überliefert. von Troye) zu stellen. Dies unterstützt die Von den Trägern des Namens, die zwischen Frühdatierung. 1172 u. 1255 urkunden, hält die Forschung Im Prolog beschreibt A. in einer weltge- gemeinhin den um 1200 bezeugten A. für den schichtl. Skizze die Entstehung des Götter- Minnesänger. Er wurde wohl kaum später als glaubens u. distanziert sich von der mytho- 1165 geboren u. stammte aus einem niederlog. Handlung, die »leyen und pfaffen / Un- bayer. Ministerialengeschlecht, das in Bezieglaublich ist« (v. 12 f.). Wickram fügt in sei- hungen zu den Bistümern Bamberg u. Passau ner Vorrede eine euhemeristische Deutung stand. Der Ortsname Johansdorf wurde bis der Mythen an. Auch habe schon Ovid die heute nicht zweifelsfrei identifiziert. Man religiösen Inhalte seiner Erzählung nicht nimmt an, dass A. am Barbarossa-Kreuzzug 1189/90 teilnahm; daneben wird auch eine mehr ernst genommen. Abweichungen von der klass. Vorlage Teilnahme am Kreuzzug von 1197 erwogen. wurden für A. z.T. mit der Benutzung einer Die Verwendung eines Ende des 12. Jh. beglossierten Ovid-Handschrift erklärt. Ande- reits gängigen Liedtyps wie des Kreuzliedes rerseits modernisierte A., tilgte Unverständ- beweist allerdings nicht eindeutig eine liches u. trug höf. Kolorit auf. Wickram er- Kreuzzugsteilnahme des Verfassers. Das Toweiterte mit Hilfe neuer Quellen. Nach eige- desdatum ist unbekannt; eine Reinmar von ner Angabe benutzte er Boccaccios De claris Brennenberg zugeschriebene Strophe aus der mulieribus in der dt. Übersetzung durch Mitte des 13. Jh. beklagt den Minnesänger A. Steinhöwel. Seine Version hatte im Gegensatz als tot. Die in den großen alemann. Liederhandzu derjenigen A.s großen Erfolg. Sie wurde kommentiert u. bis 1631 mindestens fünfmal schriften des 13. u. 14. Jh. überlieferten Lieaufgelegt. Sie wirkte auch auf die Meister- der gehören nach Formen u. Themen der Zeit um 1190 an. Sie sind überwiegend heterosänger Hans Sachs u. Ambrosius Metzger. Ausgaben: Editionen der Fragmente: August Lüb- metrisch u. weisen häufig stroph. Großforben. In: Germania 10 (1865), S. 237–245. – Wil- men auf. Im Strophenbau werden Langzeilen, helm Leverkus. In: ZfdA 11 (1859), S. 358–374. – teils noch untergliedert (donauländ. TraditiMartin Last. In: Oldenburger Jb. 65 (1966), on), Sechstakter, Daktylen u. vokal. ReimS. 41–60. – Umarbeitung durch Wickram: Jörg Wick- bindungen zur Strophenverklammerung beram. Sämtl. Werke. Hg. Hans-Gert Roloff. Bln./ vorzugt. New York. Bd. 13, 1. u. 2. Tl. (1990): Ovids MetaNeben dem v. a. im frühen Minnesang morphosen. – (Der Rekonstruktionsversuch v. Karl verbreiteten Liedtyp des Wechsels (VIII, XIII) Bartsch, A. v. H. u. Ovid im MA, Quedlinb./Lpz. setzt A. auch dialog. Formen in seinem 1861. Neudr. 1965, muss als gescheitert gelten.) überwiegend monologischen Œuvre ein. Ein Literatur: Günther Heinzmann; A. v. H. u. Jörg Beispiel dafür ist der wohl von einem proWickram. Diss. Mchn. 1969. – Karl Stackmann: A. v. H. In: VL. – Brigitte Rücker: Die Bearbeitung v. venzal. Dialoglied beeinflusste WerbungsOvids ›Metamorphosen‹ durch A. v. H. u. Jörg dialog (XII). Witzig-pointiert formuliert die Wickram u. ihre Kommentierung durch Gerhard Frau hier den im Rahmen hohen Minnesangs Lorichius. Göpp. 1997. – Heike Link: Die Meta- zu erwartenden Minnelohn für den Werben-

Albrecht von Kemenaten

den: Steigerung seines Ansehens u. Selbstwertgefühls. Im Zentrum von A.s Schaffen steht das Kreuzzugsthema: Die Lieder I, II (nach Conon de Béthune), III, V u. XIII sind Kreuzlieder. Anders als etwa Friedrich von Hausen oder Hartmann von Aue, bei denen die Kreuznahme zur Minneabsage führt, gelingt A. die Vereinbarung von Kreuzzugsverpflichtung u. Minnebeziehung; seine Kreuzlieder behandeln die Kreuzzugsproblematik immer im Zusammenhang mit der Bindung an die Geliebte. A. verwendet traditionelle Motive wie die Liebe von Kind an (VI), die absolute Treuebindung an nur eine Geliebte (I, IV) u. die läuternde Kraft der Minne (III, XII); ein starres Rollenbild der umworbenen Dame u. die Problematik der Minnebeziehung wie noch im Umkreis Hausens sind seiner Lyrik jedoch fremd. Ausgaben: Minnesangs Frühling 1, S. 178–195. – Günther Schweikle (Hg.): Die mhd. Minnelyrik 1 (mit nhd. Übertragung u. Komm.). Darmst. 1977, S. 326–351 u. S. 546–564. – Ingrid Kasten (Hg.): Dt. Lyrik des frühen u. hohen MA (Ed. u. Komm. v. I. K.; Übers. v. Margherita Kuhn). Ffm. 1995, S. 164–183 u. S. 683–700. – Olive Sayce (Hg.): Romanisch beeinflusste Lieder des Minnesangs. Mit Übers., Komm. u. Glossar. Göpp. 1999. Literatur: Bibliografie (bis 1969): Tervooren, Nr. 556–564. – Weitere Titel: Robert Bergmann: Untersuchungen zu den Liedern A.s v. J. Diss. Freib. i. Br. 1963. – David P. Sudermann: The Minnelieder of A. v. J. Diss. Göpp. 1976. – Karl-Heinz Schirmer: A. v. J. In: VL. – Uwe Meves: Zur urkundl. Bezeugung A.s v. J. In: Euph. 75 (1981), S. 103 f. – Karl-Hubert Fischer: Zwischen Minne u. Gott. Diss. Ffm./Bern/ New York 1985, S. 232–244. –Christa Ortmann u. Hedda Ragotzky: Das Kreuzlied: Minne u. Kreuzfahrt. A. v. J.: ›Guote liute, holt die gâbe‹. In: Gedichte u. Interpr.en. MA. Hg. Helmut Tervooren. Stgt. 1993, S. 169–190. – Silvia Ranawake: A. v. J., ein Wegbereiter Walthers v. der Vogelweide? In: Wolfger v. Erla. Hg. Egon Boshof u. Fritz Peter Knapp. Heidelb. 1994, S. 249–280. Claudia Händl / Red.

Albrecht von Kemenaten, um 1230/40. – Vermutlicher Verfasser des Dietrichepos Goldemar. Im nur als Fragment überlieferten Goldemar wird gegen die gattungstyp. Anonymität der

82

Heldenepik in Str. 2,2 f. »von Kemenâten Albrecht« als Autor der Dichtung genannt. Er ist sehr wahrscheinlich identisch mit dem von Rudolf von Ems im Alexander (um 1230, V. 3252 f.) u. im Willehalm von Orlens (um 1235/ 40, V. 2243 ff.) gepriesenen Dichter gleichen Namens. Aus diesen Erwähnungen ist zu schließen, dass er wohl schon vor 1230 als Dichter tätig war; seine Herkunft ist trotz verschiedener Zuweisungsversuche (Thurgau, Schwaben, Südtirol) nach wie vor ungeklärt, da Kemenaten ein häufiger Orts- bzw. Familiennamen war u. histor. Zeugnisse fehlen. Die Annahme der älteren Forschung, A. sei auch der Autor der anderen in der Strophenform des sog. Bernertons verfassten Dietrichepen Eckenlied (1. Drittel 13. Jh.), Sigenot (vor 1300) u. Virginal (vor 1300), gilt heute als abwegig. Nur der Anfang (9 Strophen) des Goldemar ist überliefert (Nürnb., Germ. Nationalmuseum, Hs. 80; um 1355): Als man Dietrich von ungeschlachten Riesen im Wald des Gebirges Trutmunt erzählt, bricht er auf, um diese erstaunl. Wesen in Augenschein zu nehmen (»diu wunder wolte er gerne spehen«, Str. 4,12). Er begegnet dort einer Gruppe wehrhafter Zwerge, die sich in/auf einem Berg eine Behausung errichtet haben. Bei ihnen befindet sich ein Mädchen, das sie vor ihm zu verbergen suchen u. dessen Schönheit in ihm sofort ein Minnebegehren (»senden muot«, Str. 7,2) entfacht. Dietrich will Näheres über das Mädchen erfahren u. ist verwundert, dass weder die Splitter von im Frauendienst verstochenen Speeren herumliegen (Str. 7,6–13), noch ein adliger Herrn sich sehen lässt, der sein Besitzrecht zu erkennen gibt (»der gewaltec dirre vrouwe si«, Str. 7,9). Der Zwergenkönig, Goldemar, weist Dietrichs implizite Kampfaufforderung zurück (Str. 9) u. beginnt eine erklärende Rede über das Mädchen, nach deren einleitender Formulierung (Str. 10,1–3) der Text jedoch abbricht. Den vermutl. Fortgang der Geschichte kennen wir aus der sog. Heldenbuch-Prosa des Straßburger Heldenbuchs (Hs. des Diebolt von Hanowe, um 1480, ehem. Stadtbibl./Seminarbibl. Straßburg, 1870 verbrannt, erhalten sind Abschriften des 19. Jh.): Demnach handelt es sich bei dem Mädchen um die portugies.

83

Albrecht von Scharfenberg

Königstochter Hertlin, die von Goldemar dichtung. Mchn. 1978, bes. S. 40–44. – Ders.: A. v. entführt wurde, sich aber ihre Jungfräulich- K. In: VL. – Ders.: Einf. in die mhd. Dietrichepik. keit bewahren konnte. Dietrich befreit sie Bln./New York 1999, S. 100–103 (Bernerton) u. nach mühevollen Kämpfen gegen Goldemar 104–107 (›Goldemar‹). Michael Mecklenburg u. die mit ihm verbündeten Riesen u. heiratet sie vor Herrat in erster Ehe. Dieser Handlungsverlauf wird bestätigt durch eine An- Albrecht von Scharfenberg, zweite spielung auf den Kampf Dietrichs u. seiner Hälfte des 13. Jh. – Vermutlich Verfasser Gesellen mit Goldemar u. den Riesen im höfischer Abenteuerromane. späthöf. Roman Reinfrid von Braunschweig (V. Kein Werk A.s hat sich erhalten; urkundlich 25274 ff.; Ende 13. Jh.). Das Bruchstück des Goldemar ist literarhis- ist er nicht bezeugt. Überliefert wurde sein torisch bedeutsam wegen seiner Polemik ge- Name nur von Ulrich Fuetrer, der in sein Buch gen das Draufgängertum der älteren Hel- der Abenteuer (eine um 1475 verfasste Kompidendichtung u. wegen des programmat. Be- lation höfischer Romane) Bearbeitungen von zugs auf das höf. Minneritterideal. Die Er- zwei Werken eines A. v. S., Merlin u. Seifrid de zählschemata der Herausforderung u. der Ardemont, aufnimmt u. außerdem einen Befreiung teilt der Goldemar zwar ebenso mit »Fraw Eren hof« erwähnt, den A. »thu8 et mit der aventiurehaften Dietrichepik wie die chunst und warten so hohe krœnenn«. FueTendenz zur höfisierenden Bearbeitung älte- trer stellt die Kunst A.s neben die Gottfrieds rer Sagenstoffe. Die Verbindung von Kampf von Straßburg u. Wolframs von Eschenbach. Die Forschung untersuchte v. a., ob A. mit u. Minne aber ist konstitutiv für den höf. Roman u. wird von A. in seiner Stilisierung dem Dichter des Jüngeren Titurel, der sich in Dietrichs zum Minneritter gegen die Diet- seinem Werk mehrmals Albrecht nennt, rich- u. Heldenepik insg. in Stellung ge- identisch sei. Fuetrer benutzte in der Tat den bracht. Während im Rosengarten D die Klage Jüngeren Titurel sowohl inhaltlich wie formal Dietrichs, die Damen ließen ihre Verehrer (Jüngere Titurel-Strophe) als Grundlage für nicht mehr in ihr Bett, bevor diese nicht mit sein Werk. Wenn man aber mit Kurt Nyholm ihm gekämpft hätten (Str. 69 f.), ironisch auf davon ausgeht, dass Fraw Eren hof weder im den höf. Frauendienst bezogen ist, beruft Ganzen noch teilweise mit dem Jüngeren TiDietrich sich hier selber auf die Normen hö- turel identisch ist, ergibt sich, dass für eine fisch-ritterlicher Idealität. Wenn er schließ- Verbindung zwischen A. u. dem Jüngeren Tilich die Vermutung äußert, das ihm unbe- turel auch bei Fuetrer kein Beleg vorliegt. kannte Mädchen sei vielleicht mit ihrem Zwar weisen Stoff, benutzte Quellen u. Minneritter in die Wildnis gezogen, wie das wahrscheinl. Abfassungszeit (zweite Hälfte schon früher schöne Damen getan hätten (Str. des 13. Jh.) auf Berührungspunkte zwischen 8,7–11), dann ist das vielleicht eine Anspie- den beiden Albrechten hin, doch ohne neu lung auf Hartmanns von Aue Erec. Man mag hinzutretendes Material sollte wohl von zwei den Goldemar als eine Wortmeldung im Rah- verschiedenen Autorpersönlichkeiten ausgemen eines zeitgenössischen literar. Diskurses gangen werden. Die Beurteilung der literar. Leistung des A. über konkurrierende Männlichkeitsmodelle lesen, kann ihn aber auch als Versuch A.s ist deshalb problematisch. Über den Inhalt werten, die populärste Figur der germanisch- von Fraw Eren hof lassen sich nur Vermutundt. Heldensage für den höf. Roman zu ver- gen anstellen, aber auch die Möglichkeiten der Rekonstruktion der beiden anderen einnahmen. Ausgabe: Julius Zupitza (Hg.): Dt. Heldenbuch. Werke, von denen gleichfalls keine Primär5. Tl., Bln. 1870. Neudr. Dublin/Zürich 1968, überlieferung vorliegt, müssen beschränkt bleiben; Orientierung ist nur über die S. 202–204. Literatur: Moriz Haupt: ›Goldemar‹ v. A. v. K. Kenntnis der zugrunde liegenden altfrz. In: ZfdA 6 (1848), S. 524–529, Textabdr. Quellen u. von Fuetrers BearbeitungsmethoS. 520–524. – Joachim Heinzle: Mhd. Dietrich- de im Allgemeinen zu gewinnen. Zumindest

Albrecht

84

für den Merlin zeigt sich dabei, dass A. der nis höf. Traditionen erst auf Fuetrers Konto geht. Vorlage ziemlich genau gefolgt sein dürfte. Im Merlin wird, von Ulrich Fuetrer eingeAusgaben: Friedrich Panzer (Hg.): Merlin u. bettet in Erzählungen der Artusrunde u. des Seifrid de Ardemont v. A. v. S. in der Bearb. Ulrich Gralsgeschlechts, die gesamte Lebensge- Fuetrers. Tüb. 1902. – Kurt Nyholm (Hg.): Die schichte des Zauberers dargeboten, angefan- Gralepen in Ulrich Fuetrers Bearb. (Buch der gen von der Zeugung durch den Satan, fort- Abenteuer). Bln. 1964. – Heinz Thoelen (Hg.): Ulrich Füetrer: Das Buch der Abenteuer. Tl. 1–2. geführt über sein Wirken u. seine PropheNach der Hs. A (Cgm. 1 der Bayer. Staatsbibl.) in zeiungen bis hin zu Artus, dessen Kommen u. Zus. mit Bernd Bastert. Göpp. 1997. zukünftige Königsrolle Merlin ankündigt, Literatur: Werner Wolf: Wer war der Dichter um dann zu verschwinden u. nie mehr gese- des ›Jüngeren Titurel‹? In: ZfdA 84 (1952/53), hen zu werden. Dem Text ging wohl schon S. 309–346. – Kurt Nyholm: A.s v. S. ›Merlin‹. Åbo bei A. eine Zusammenfassung des sog. Grand- 1967. – Hans-Georg Maak: Zu Fuetrers ›Fraw Eren Saint-Graal voraus; der Hauptteil beruht dann hof‹ u. der Frage nach dem Verf. des ›Jüngeren Tiauf einer Bearbeitung der einflussreichen turel‹. In: ZfdPh 87 (1968), S. 42–46. – Ulrike KilMerlinfassung des Robert de Boron (Ende des ler: Untersuchungen zu Ulrich Fuetrers ›Buch der 12. Jh.). Das verlorene Werk A.s stellt damit, Abenteuer‹. Diss. Würzb. 1971. – Dietrich Huschenbett: A. v. S. In: VL. – Thomas Neukirchen: wenn man den Aussagen Ulrich Fuetrers Bibliogr. zum ›Jüngeren Titurel‹ 1984–2002. In: glauben darf, bis ins 15. Jh. hinein die einzige Erzähltechnik u. Erzählstrategien in der dt. Lit. des dt. Bearbeitung des Merlinstoffes dar, die MA. Hg. Wolfgang Haubrichs u. a. Bln. 2004, aber anscheinend wirkungslos geblieben ist. S. 405–424. Christian Kiening / Red. Sie war vermutlich – den Vorlagen entsprechend – sogar in Prosa abgefasst u. tritt so vielleicht neben den ansonsten relativ iso- Albrecht, Johann, auch: Albertus, gen. lierten Prosa-Lanzelot. Wimpinaeus (von Wimpfen), * um 1539, Das andere Werk A.s, der Seifrid de Ardemont † nach 1576. – Alchemomediziner u. pa(wohl rd. 3600 Verse), hat zum Kern die Ge- racelsistischer Fachbuchpublizist (nicht schichte der Beziehung zwischen Mensch identisch mit Johannes Albertus Wimpi(Seifrid) u. überirdisch »elbischer« Frau nensis, in den 1560er Jahren Ingolstädter (Mundirosa), dem in allen Kulturen zu fin- Universitätslehrer). denden literar. Typus der (gestörten) sog. Nach Studien in Ingolstadt (1561) u. Italien Mahrtenehe entsprechend. Um die Zentral- (Promotion zum Dr. med.) sowie Aufenthalt handlung herum, die dem Schema von Be- in Polen trat A. zur Zeit seiner »Paracelsigegnung, Verlust u. Wiederbegegnung (mit schen Wende« (um 1565) in das nähere dauerhafter Partnerschaft) folgt, sind vielfäl- Blickfeld des bayer. Herrscherhauses. Er tige Erlebnisse des Protagonisten gelagert fasste Fuß am Münchner Hof Albrechts V. u. (Drachenkampf, Befreiungsabenteuer, Ein- begleitete Albrechts Sohn Ernst nach Rom siedlereinkehr), die deutlich den Einfluss des (1574). Aufgrund seiner »Theophrastischen klassischen u. nachklass. höf. Romans, auch Arznei« erwuchsen ihm am Münchner Hof der »Spielmannsepik«, verraten. aber bald scharfe ärztl. Gegner, denen A. Gerade die Mischung von Elementen ver- während der 1570er Jahre schließlich unterschiedener Gattungen macht die literar. lag. Einen engen Freund fand A. spätestens Ausgangssituation des Schaffens von A. 1569 in einem namhaften Paracelsisten, dem deutlich, weist auf die literar. Expansion u. Nürnberger Stadtarzt Heinrich Wolff. Gattungsdurchdringung des 13. Jh. hin, wie A. beteiligte sich an der frühen Paracelsie sich ähnlich an den Werken des Pleier sicapublizistik (Paracelsus: Archidoxa [u. a. ablesen lässt, der vielleicht sogar den Seifrid Paracelsica]. Mchn. 1570. Etliche Tractetlein zur gekannt hat. Auch hier muss allerdings of- Archidoxa gehörig. Mchn. 1570) u. plante eine fenbleiben, welches Maß an Berührung zwi- kompendiöse Schrift zur Paracelsischen Naschen den Texten, an Bearbeitung u. Kennt- turlehre, Medizin u. Alchemia medica (Corpus

85

Theophrasticae Philosophiae et Medicinae). Nachruhm sicherte ihm vorab seine Stellungnahme zum galenistisch-paracelsist. Wegestreit seiner Zeit (De concordia Hippocraticorum et Paracelsistarum. Mchn. 1569. Straßb. 1615). Sie eröffnete eine Reihe kulturhistorisch bedeutsamer Werke etwa eines Johann Winter, Andreas Libavius, Joachim Tancke oder Daniel Sennert, alles namhafte Autoren, die mit ihren Darlegungen zum Verhältnis der antikmittelalterl. Naturkunde u. Medizin zur »Medicina nova« Hohenheims das vielfältigweitläufige Schrifttum der epochalen »Querelle des anciens et des modernes« im frühneuzeitl. Europa maßgeblich bereicherten. De concordia macht in A. einen Eklektiker kenntlich, der zwar zwischen den Fronten lavierte u. dabei antik-mittelalterliches Erbe gelten ließ, andererseits aber an der Überlegenheit der alchem. Materia medica des neuen »Trismegistus« Paracelsus über die galenist. Pharmakontherapie durchaus keine Zweifel trug, sodass der stramme Alchemoparacelsist A. oftmals über den »Konziliator« obsiegte. Ausgabe: CP II, Nr. 92–94 (Widmung an Herzog Wilhelm v. Bayern, 1568; Briefe an Herzog Albrecht V. v. Bayern, 1570, u. an Kurfürst August v. Sachsen, 1570). Literatur: Karl Sudhoff: Ein Beitr. zur Bibliogr. der Paracelsisten. In: ZfB 10 (1893), S. 316, 326, 385–407, hier S. 401 f. – Ders.: Versuch einer Kritik der Echtheit der Paracels. Schr.en. 1. Theil: Die unter Hohenheim’s Namen erschienenen Druckschr.en. Bln. 1894 (reprograf. Nachdr. Graz 1958 u. d. T.: Bibliographia Paracelsica. Besprechung der unter Theophrast v. Hohenheims Namen 1527–1893 erschienenen Druckschr.en), Nr. 119, 128, 129. – T. G. M. van Oorschot: A. In: DDL. – CP II, S. 964–1017 (mit weiterer Lit.). Joachim Telle

Albrecht, Johann Friedrich Ernst, auch: J. F. A. Stade, * 11.5.1752 Stade, † 11.3.1814 Altona. – Erfolgsautor von Unterhaltungs- u. Ratgeberliteratur. Der Sohn eines Hofarztes u. Landphysikus studierte ab 1768 in Erfurt Medizin. Nach der Promotion (1772) lehrte er an der dortigen Universität als Privatdozent. 1772 heiratete er Sophie Baumer, die sich als Schauspielerin u. Schriftstellerin – teils in Zusammenarbeit mit A. – einen Namen machte. Die Ehe wurde

Albrecht

1798 geschieden. 1776–1780 war A. Leibarzt beim Grafen Manteuffel in Reval. Nach seiner Rückkehr lebte er als freier Schriftsteller in Erfurt, Leipzig, Dresden u. Frankfurt/M. Seit 1782 begleitete er seine Frau auf ihren Theaterreisen u. lernte über sie auch Schiller kennen, dessen Prosafassung des Dom Karlos, Infant von Spanien er später herausgab (Hbg. 1808). Bevor A. 1796–1800 u. erneut zwischen 1802 u. 1806 als Theaterprinzipal im damals dän. Altona wirkte, war er Buchhändler in Prag (seit 1793). Schließlich ließ er sich als Arzt in Hamburg nieder. Er starb bei der Bekämpfung einer Typhusepidemie. A. zählt zu den erfolgreichsten Autoren von Unterhaltungsliteratur in der dt. Spätaufklärung. Sein ebenso umfangreiches wie vielseitiges Werk, das auch die Übersetzung von Rousseaus Philosophischen Werken (3 Bde., Reval 1779–82) einschließt, besteht zum überwiegenden Teil aus Theaterstücken u. Romanen fast aller seinerzeit beliebten Gattungen (wie empfindsame Briefromane, Kloster-, Geister- u. Inquisitionsgeschichten). Neben die selbst verfassten Schauspiele treten zahlreiche Bearbeitungen (darunter Goethes Die Mitschuldigen u. d. T. Alle strafbar. Lpz. 1795) für die Schauspielertruppen, denen seine Frau jeweils angehörte. Als »belletristischer Tagelöhner« (J. W. Appell) knüpfte A. vielfach an Texte bekannter Autoren an, wie z.B. Christian Heinrich Spieß (Neue Biographien der Selbstmörder. 3 Tle., Halle 1788/89), JeanJacques Rousseau (Lauretta Pisana oder Leben einer italienischen Buhlerin, aus Rousseaus Schriften und Papieren dramatisch bearbeitet. 2 Tle., Lpz. 1789), Friedrich Schiller (Die Familie Eboli. 4 Tle., Dresden 1791/92) oder Christian August Vulpius (Dolko, der Bandit, Zeitgenosse Rinaldinis. Hbg. 1801). Besondere Beachtung verdienen seine seit 1780 erschienenen polit. Romane. Nicht ohne Sympathie für die Französische Revolution übt A. vom Standpunkt des aufgeklärten Absolutismus Kritik an Europas Regenten, die in leicht aufzulösender Verschlüsselung diese Reiseromane u. Biografien A.s bevölkern. Der sich auf Potjomkin u. Katharina II. beziehende Roman Pansalvin, Fürst der Finsterniß, und seine Geliebte (Germanien, recte Gera 1794) wurde in Preußen sogar verboten.

Albrecht

Seit 1808 verlagerte A. seine schriftsteller. Produktion fast ausschließlich auf populärmedizin. Ratgeberliteratur, die bis weit ins 19. Jh. hinein vielfache Neuauflagen erfuhr. Weitere Werke: Der unnatürl. Vater. Erfurt 1776 (D.). – Waller u. Natalie, eine Gesch. in Briefen. 3 Bde., Wesenberg 1779/80. – Henriette oder Fürsten sind oft am unglücklichsten. Ffm. 1785 (R.). – Die Regenten des Thierreichs. 4 Bde., Bln. 1790–96 (R.). – Leben Uraniens, Königin v. Sardanapalien, im Planeten Sirius, o. O. [Hbg.] 1790 (R.). – Neue Schauspiele des sächs. Hoftheaters. 2 Bde., Lpz. 1795. – Miranda, Königin im Norden, Geliebte Pansalvins. Germanien, recte Erfurt 1798 (R.). – Europens Götter im Fleisch. Paris/Lpz., recte Erfurt 1799 (R.). – Altona vor 100 Jahren. Hbg. 1804 (D.). – Rathgeber für Schwangere, Gebährende u. Stillende. Hbg. 1808. – Die Heimlichkeiten der Frauenzimmer; nebst Mitteln gegen alle geheimen Krankheiten u. Schwächen. Hbg. 1809. Literatur: Johann Wilhelm Appell: Die Ritter-, Räuber- u. Schauerromantik. Lpz. 1859, S. 55 ff. – Otto Hartz; J. F. E. A.s literar. Tätigkeit in seiner Altonaer Zeit. In: Altonaische Ztschr. für Gesch. u. Heimatkunde 4 (1935), S. 112–137. – Michael Thiel: J. F. E. A. (1752–1814): Arzt, medizin. Volksschriftsteller, polit. Belletrist. Diss. Bln. 1970. – Harro Zimmermann: Streifzüge durch das Zeitalter der Revolution. Zu den polit. Reiseromanen J. F. E. A.s. In: Reisen im 18. Jh. Hg. Wolfgang Griep u. Hans-Wolf Jäger. Heidelb. 1986, S. 200–223. – Gabrielle Bersier: Nation contra König: Die Frz. Revolution im Spiegel der spätaufklärer. Utopie. In: Der dt. Roman der Spätaufklärung. Hg. H. Zimmermann. Heidelb. 1990, S. 154–170. – Walter Grab: J. F. E. A. Ein norddt. Demokrat. In: Ders.: Zwei Seiten einer Medaille. Köln 2000, S. 54–65. – Hans-Werner Engels: J. F. E. A. (1752–1814). Bemerkungen zu seinem Leben, seinen polit. Romanen u. seiner Publizistik. In: FS Günter Mühlpfordt. Bd. 6, Weimar 2002, S. 686–719. – Ruth Dawson: Eighteenth-Century Libertinism in a Time of Change: Representations of Catherine the Great. In: Women in German Yearbook 18 (2002), S. 67–88. Holger Dainat / Red.

Albrecht, (Johanne) Sophie (Dorothea), geb. Baumer, * Dez. 1757 Erfurt, † 16.11. 1840 Hamburg. – Schauspielerin u. Schriftstellerin. A., Tochter eines Medizinprofessors, heiratete 1772 den späteren Unterhaltungsschriftsteller Johann Friedrich Ernst Al-

86

brecht, ließ sich 1798 von ihm scheiden u. heiratete ihn nach dem Tod ihres zweiten Gatten erneut. A. war neben ihrer Schriftstellerei als Schauspielerin bes. erfolgreich: So spielte sie die Eboli in der Premiere des Don Karlos (1787) von Schiller, mit dem sie befreundet war. 1783–1800 gehörte sie verschiedenen Theatergesellschaften an, u. a. der Bondinischen in Dresden u. Leipzig 1785–1795. Als später der Erfolg nachließ, musste A. mit Gelegenheitsgedichten (u. a. zu Hochzeiten) u. -arbeiten (als Wäscherin u. Dienstbotin) ihren Unterhalt verdienen. Ihr literarisches Werk umfasst Lyrik (z.T. im Voß’schen »Musenalmanach« u. in Schillers »Thalia« publiziert), Dramen (meist Bearbeitungen für den Bühnenbedarf) sowie Geister-, Ritter- u. Räubergeschichten. A.s Texten liegt häufig die Motivkonstellation Liebessehnsucht, enttäuschte Liebe u. daraus erwachsendes Todesverlangen zugrunde. Weitere Werke: Gedichte u. Schauspiele. 3 Tle., Erfurt/Dresden 1781–91. 21791. – Aramena, eine syr. Gesch., ganz für unsere Zeiten umgearbeitet. (Nach Hzg. Anton Ulrich.) 3 Bde., Bln. 1783–87. – Ida v. Duba, das Mädchen im Walde. Eine romant. Gesch. Altona 1805. – Anth. aus den Poesien v. S. A. Hg. Friedrich Clemens. Altona 1841. Literatur: Adalbert v. Hanstein: Die Frauen in der Gesch. des dt. Geisteslebens des 18. u. 19. Jh. Bd. 2, Lpz. 1900. – Ludwig Eisenberg: Großes biogr. Lexikon der dt. Bühne im 19. Jh. Lpz. 1903. – Berit C. R. Royer: S. A. im Kreis der Schriftstellerinnen um 1800. Eine literatur- u. kulturwiss. Werk-Monogr. Ann Arbor 1999. – Petra Andreiewski u. Bianca Schmalfuß: S. A. Eine vergessene Freundin Schillers. Dresden 2006. Bettina Eschenhagen / Red.

Albus, Anita, * 9.10.1942 München. – Künstlerin, Kunsthistorikerin, Schriftstellerin. Nach einem Grafikstudium an der Folkwangschule in Essen begann A. ihre künstlerische Laufbahn als Buchillustratorin. A. lebt in München u. im Burgund. 2001 erhielt sie das Bundesverdienstkreuz, 2002 den Friedrich-Märker-Preis für Essayistik, 2004 den Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay.

87

Bekannt wurde A. mit kunstgeschichtl. Abhandlungen zur Malerei des 16. bis 18. Jh. in der Nachfolge Erwin Panofskys. Ihre Auseinandersetzung mit der Literatur des 19. Jh. (Gebrüder Goncourt, Marcel Proust) prägt ihr schriftstellerisches Werk, das sich als postmoderne Textcamouflage präsentiert. Im Briefroman Farfallone (Mchn./Wien 1989. Ffm. 1991) inszeniert sie die Geschichte der verheirateten Insektenforscherin Philippa Iselin, die dem Architekten Sebastian Zettel verfallen ist u. an dieser Liebe wider besseren Wissens zugrunde gehen wird. Auch der Erzählungsband Liebesbande (Mchn./Wien 1993) thematisiert psycho- wie physiologische Abarten des Verlangens. A.’ Erzählungen von Inzest, Päderastie, Masturbation u. Ehebruch verweigern – wie auch der Roman Farfallone – jedes moral. Urteil. Die Irritationskraft von A.’ kulturkonservativen Schriften entwickelt sich aus der unbestechl. Beobachtungsgabe, die sezierend menschliches Miteinander bloßlegt. Ihr Schreiben, das sie als Handwerk begreift, ist geschult an Meistererzählungen der klass. Moderne wie Marcel Proust, Walter Benjamin oder Vladimir Nabokov, deren Texte sie zitierend zu einem narrativen Trompe-l’œil vereint. Werke: Der Himmel ist mein Hut, die Erde ist mein Schuh. Ffm. 1973. 1980. – Der Garten der Lieder. Ffm. 1974. – Eia popeia et cetera. Ffm. 1978. 1987. – Das Botanische Schauspiel. Nördlingen 1987. Ffm. 2007. – Die Kunst der Künste. Erinnerungen an die Malerei. Ffm. 1997. 22005. – Paradies u. Paradox. Wunderwerke aus fünf Jahrhunderten. Ffm. 2002. 2003. – Von seltenen Vögeln. Ffm. 2005. Literatur: Gunna Wendt: A. A. In: LGL. Christoph Schmitt-Maaß

Aler, Paul, * 9.11.1656 St. Vith/Eifel, † 2.5. 1727 Düren. – Jesuit, Verfasser von philosophischen Lehrbüchern u. Dramen. Nach dem Besuch des Tricoronatums (Dreikönigsgymnasiums) u. der Universität in Köln (Immatrikulation am 30.4.1674) trat A. als Magister artium am 6.11.1676 in Trier in den Jesuitenorden ein. Er war jedoch weiterhin hauptsächlich am Gymnasium tätig:

Aler

1692–1703 als Subregent, bis 1713 als Regent. Die Geschicke dieser Bildungsanstalt bestimmte er maßgeblich sowohl hinsichtlich der Beachtung der Schuldisziplin als auch bei der Wahrung der Schulinteressen gegenüber anderen Gymnasien der Stadt u. der Universität. Nach der Tätigkeit als Gymnasiallehrer u. der Vollendung der theolog. Studien dozierte er Philosophie u. Moraltheologie zunächst in Trier (1713–1717), dann in Aachen, Münstereifel u. Jülich. Diese Tätigkeit fand – nach den bereits 1692 in Köln erschienenen Conclusiones Ex Universa Philosophia – in der auf diesen basierenden Philosophia tripartita ad mentem Philosophi, et Doctoris Angelici explicata (Köln 21710–24), einem Lehrbuch der Logik, Physik, Seelenlehre u. Metaphysik, ihren Niederschlag. A. dramatisierte für den Schulgebrauch beliebte histor. u. bibl. Stoffe, so in der als »Tragödie« bezeichneten Josephs-Trilogie (Joseph Venditus. Köln 1703. Joseph agnitus. Köln 1704. Joseph patrem excipiens. Köln 1705) oder den beiden Marienopern (Regina Gratiae, Maria. Köln 1696. Regina pacis, Maria. Köln 1697). Er modernisierte für seine Dramen u. Opern das Schultheater: Ganz nach dem Geschmack der Zeit setzte er Maschinen zur Erzielung schneller szenischer Verwandlungen u. Flugapparate ein. Rezeptionsgeschichtlich bedeutsamer waren seine Poetik (Praxis poetica, sive methodus quodcumque genus carminis facile et eleganter componendi. Köln 1683. 61746), sein dem anonymen Pariser Novus syonymorum [...] thesaurus (Paris 1659 u. ö.) nachgebildetes Wörterbuch poetisch zu nutzender Redewendungen (Gradus ad Parnassum [...]. Köln 1699. 21702 u. ö.) u. sein deutsch-lat. Wörterbuch (Dictionarium germanico-latinum. Köln 1717 u. ö.). Literatur: Backer/Sommervogel I, Sp. 160–167; II, Sp. 1093 (Bibliogr.). – Jean-Marie Valentin: Le théâtre des Jésuites dans les pays de langue allemande. Répertoire bibliographique. Stgt. 1983/84 (Register). – Weitere Titel: Josef Hartzheim: Bibl. Coloniensis. Köln 1747, S. 263–265. – Alfons Fritz: P. A. In: Das Marzellen-Gymnasium in Köln 1450–1911. Hg. Joseph Klinkenberg. Köln 1911, S. 123–139. – Duhr, Jesuiten, Bd. 4, S. 31–33. – Nikolaus Scheid: Das lat. Jesuitendrama im dt. Sprachgebiet. Ein literaturgeschichtl. Abriß. In: LitJb 5 (1930), S. 73–75. – Joseph Kuckhoff: Die

Alexan

88

Gesch. des Gymnasiums Tricoronatum. Köln 1931, S. 458–519. – Wilhelm Kratz SJ in: NDB. – Ruprecht Wimmer: Jesuitentheater. Didaktik u. Fest. Das Exemplum des ägypt. Joseph auf den dt. Bühnen der Gesellsch. Jesu. Ffm. 1982, S. 437–444. – HKJL. Von 1570 bis 1750, Sp. 1038 f. Franz Günter Sieveke / Red.

Alexan, Georg Friedrich, eigentl.: Alexander Kupfermann, * 12.7.1901 Mannheim, † 11.1.1995 Berlin. – Schriftsteller, Publizist, Übersetzer. Als viertes von sechs Kindern des orthodoxjüd. Möbelhändlers Baruch Kupfermann u. seiner Frau Salie in Mannheim geboren, führte A. nach einer kaufmänn. Ausbildung seit 1931 mit seinem ältesten Bruder das elterl. Geschäft, das trotz des Konkurses 1932 bis 1935 in Familienbesitz blieb. Der in Erinnerungen von Zeitzeugen häufiger genannte bürgerl. Name Alexander Kup(p)ermann (nach H.-A. Walter) resultiert aus einem Übertragungsfehler bei der Einbürgerung A.s nach dem Zweiten Weltkrieg, während der Name Friedrich George (nach W. Sternfeld u. E. Tiedemann) auf falscher Überlieferung beruht. A. hatte im amerikan. Exil im Gedenken an seinen Bruder Georg, der im russ. Exil vermutlich ums Leben kam, dessen Namen angenommen u. schrieb fortan unter Pseudonym. A. ging Ende 1932 ins frz. Exil u. begann zu schreiben. Dank seiner finanziellen Mittel bestimmte er mit seinem Cousin die Verlagspolitik der Pariser Editions Météor, sodass neben W. Hallgartens Vorkriegsimperialismus mit Mit uns die Sintflut. Fibel der Zeit (Paris 1935. Hildesh. 1980. Ffm. 1987) einer Sammlung pamphletistischer Kurztexte, u. der autobiogr. Schrift Im Schützengraben der Heimat. Geschichte einer Generation (Paris 1937) zwei eigene Schriften erscheinen konnten, in denen A. den Sozialismus als Heilsreligion feiert. 1937 reiste A. anlässlich des Bar-Mizwa-Festes seiner Neffen nach Tel Aviv, wo er Maria Krotz, Tochter einer jüd. Arbeiterfamilie, heiratete, die ihn nach Paris begleitet hatte. 1939 emigrierte er in die USA u. veranstaltete in einem Laden in der Subway Station 42th Street von Manhattan exklusive

Ausstellungen (u. a. Werke von Käthe Kollwitz) u. literar. Abende. 1939/40 war A. Kassierer u. Vorstandsmitgl. der am 7.10.1938 gegründeten German American Writers Association, 1941 Mitbegründer u. 1942–1945 Sekretär der kommunist. Tribüne für freie deutsche Literatur und Kunst, welche die Grundlage für Wieland Herzfeldes – wegen seines kommunist. Hintergrundes bei Exilautoren allerdings erfolglosen – Aurora-Verlag bildete. 1942 rief A. für den deutschsprachigen Exil-Rundfunk von Peter M. Lindt die Sendung »Deutsches Panoptikum 1942« ins Leben, am 6.3.1943 machte er anlässlich einer Bert-Brecht-Veranstaltung den Autor mit Paul Dessau bekannt. 1945–1949 leitete A. die Tribune Art Gallery. Nach seiner Übersiedelung in die DDR 1949 arbeitete A. kurze Zeit in Leipzig, dann in Ostberlin als Journalist u. Übersetzer, übernahm im selben Jahr die Leitung der Abteilung für Fragen des amerikan. Imperialismus im Amt für Information der DDR u. publizierte eine Reihe antiamerikanischer Schriften. 1950–1954 war er Chefredakteur der Monatsschrift »USA in Wort und Bild«. Später arbeitete er dank der Vermittlung von Gerhart Eisler freiberuflich im Rundfunk. Als Vorsitzender des Paul-Robeson-Komitees kämpfte er über viele Jahre für die polit. Rechte des kommunistischen, afroamerikan. Sängers. A.s Tochter Irene Runge (geb. 1942) ist Soziologin u. Publizistin. Sein Nachlass befindet sich in der Akademie der Künste in Berlin. Weitere Werke: Übersetzungen: Harvey Marshall Matusow: Der Zweifingermann. Bekenntnisse eines FBI-Spitzels [False Witness]. Bln./DDR 1955 (Übers. u. Nachw.). – Barrie Stavis: Joe Hill, der Mann der niemals starb. [The Man who never died]. Bln./DDR 1956 (Übers. u. Vorw.). – Steve Nelson: Der 13. Geschworene. Die wahre Gesch. meines Prozesses [The 13th Juror]. Bln./DDR 1956 (Übers. u. Nachw.). – Paul Robeson: Mein Lied – meine Waffe [Here I stand]. Bln./DDR 1958. – Agnes Smedley: Der große Weg [The great road]. Bln./ DDR 1958. – Earl Robinson u. Waldo Salt: Sandhog. Die Maulwürfe v. Manhattan. Proletar. Volksoper in 3 Akten. Nach der Erzählung ›St. Columbus und der Fluss‹ v. Theodore Dreiser. Bln./ DDR 1959. – Herbert Aptheker (Hg.): Abrüstung in den USA. Ein Symposium [Disarmament and the

89 American economy]. Bln./DDR 1961. – Carl Marzani: Dollars u. Abrüstung [Dollars and sense of disarmament]. Bln./DDR 1961. – William E. Dodd: Diplomat auf heißem Boden. Tgb. des USA-Botschafters in Bln. 1933–38 [Ambassador Dodd’s Diary]. Bln./DDR 1962. – (Zus. mit Eva Lippold:) Ich höre Amerika singen. Amerikan. Volkslieder. Bln./DDR 1962 (Vorw.). – Arthur D. Kahn: Offiziere, Kardinäle u. Konzerne. Ein Amerikaner über Dtschld. [Betrayal]. Bln./DDR 1964. Ralf Georg Czapla

Alexander ! Herbeck, Ernst Der Große Alexander, auch: Wernigeroder Alexander, 14. Jh. – Mittelhochdeutsches Reimpaarepos.

Alexander

nach Meinung des Dichters Hinweise auf Alexanders Hochmut (vv. 6259–6270). Der Hochmut, die superbia der christl. Lehre von den Lastern, ist das zentrale Thema des Epos. Ihn demonstriert zunächst die Hoffart des Darius, der sich den Göttern gleichstellt u. doch von Alexander besiegt wird u. von der Hand seiner eigenen Leute stirbt, dann aber auch das Verhalten Alexanders, insbes. in der Greifen- u. Tauchepisode, beim Bau des überdimensionalen prächtigen Throns mit den 43 eingravierten Namen der eroberten Länder (vv. 5826–5915) u. bei der überhebl. Gleichstellung mit Jupiter (vv. 5916 ff.). Das Epos endet mit einem drast. Hinweis auf die irdische Vergänglichkeit: »Der kayser wirt zu ainem mist« (v. 6452). Die romanhafte Ausgestaltung eines abenteuerl. Alexanderlebens überwiegt seit der Spätantike die historiograf. Beschäftigung mit der Herrschergestalt. Der G. A. steht in einer langen Tradition von spätantiken u. mittelalterl. Bearbeitungen des Alexanderstoffs. Nach Seifrids Alexanderroman ist der G. A. die letzte dt. Alexanderdichtung in Reimen, es folgen Prosabearbeitungen u. dramat. Gestaltungen des Stoffs.

Das puch der größ Allexander ist in einer einzigen, in Krakau aufbewahrten Handschrift überliefert, die ein bair. Schreiber 1397 vollendet hat. Die bair. Fassung geht auf ein alemann. Original des 14. Jh. zurück, dessen anonymer Dichter sich auf eine im Text nicht näher bezeichnete lat. Vorlage beruft. Hierbei handelt es sich um die 1236–1238 fertiggestellte Historia Alexandri des Quilichinus von Spoleto, die der alemann. Dichter unter Verzicht auf die vorgegebene Bucheinteilung Ausgaben: Gustav Guth: Der G. A. Bln. 1908. übersetzt. Literatur: Herwig Buntz: Die dt. AlexanderErzählt wird der von Welteroberung u. dichtungen des MA. Stgt. 1973, S. 31 f. – Kurt Ruh: -entdeckung geprägte Lebensweg Alexanders Ep. Lit. des dt. SpätMA. In: Neues Hdb. der Litedes Großen. Anders als frühere Gestalter des raturwiss. Bd. 8: Europ. SpätMA. Hg. Willi ErzStoffs, die die glanzvollen Taten des Helden gräber. Wiesb. 1978, S. 149 f. – Alfred Ebenbauer: breit schildern, beschränkt sich der Autor auf Antike Stoffe. In: Ep. Stoffe des MA. Hg. Volker einen nüchternen Bericht. Höhepunkte der Mertens u. Ulrich Müller. Stgt. 1984, S. 278 f. – Trude Ehlert: Deutschsprachige AlexanderdichEroberungsfahrten sind die Unterwerfung tung des MA. Zum Verhältnis v. Lit. u. Gesch. Ffm. des pers. Reiches u. der Sieg über Porrus von 1989. – Alexanderdichtung im MA. Kulturelle Indien; darauf rücken die Entdeckungsfahr- Selbstbestimmung im Kontext literar. Beziehunten in den Vordergrund, denen keine Gren- gen. Hg. Jan Cölln u. a. Gött. 2000. zen gesetzt zu sein scheinen. Alexander trifft Claudia Händl / Red. nicht nur zu Lande auf merkwürdige Völker, Tiere u. Naturphänomene, er erkundet auch Der Wilde Alexander, auch: Meister A., die Luft in einer spektakulären Greifenfahrt * Mitte oder gegen Ende des 13. Jh. – u. den Meeresboden mittels einer eigens Oberdeutscher, vielleicht alemannischer konstruierten Taucherglocke. Selbst das Sangspruch-, Lied- u. Leichdichter. Wissen um seinen frühen Tod u. den späteren Verfall seines Weltreichs hält seinen Macht- u. Unter dem Namen »Meister Alexander« Wissensdrang nicht auf. In nur zwölf Jahren überliefert die Jenaer Liederhandschrift (J, um vollbringt er seine Taten u. stirbt, wie ihm 1330?) großenteils unikal das lyrische Werk geweissagt wurde, durch Gift. Donner, Blitz eines offensichtlich fahrenden Dichters, das u. Erdbeben, die seinen Tod begleiten, sind die Große Heidelberger oder Manessische Lieder-

Alexander

90

handschrift (C, 1. Drittel 14. Jh.) unter »Der Das Kindheitslied des Wilden A. u. die Alterslyrik wilde Alexander« zu Teilen auch enthält u. Walthers v. der Vogelweide. In: Methodisch reum ein Minnelied (III) ergänzt. Einzelüber- flektiertes Interpretieren. FS für Hartmut Lauflieferung findet sich unter letzterem Namen hütte zum 60. Geburtstag. Hg. Hans-Peter Ecker. Passau 1997, S. 61–74. – Christina Kreibich: Der in der Wiener Leichhandschrift (W, ca. 1340–60) mhd. Minneleich. Würzb. 2000. – Wolfgang Achsowie anonym in der Niederrheinischen Lieder- nitz: Ein wunder in der werlde vert. Zur Pragmatik handschrift (n, spätes 14. Jh.). Melodien, wohl einer Strophenfolge des Wilden A. In: ZfdPh 121 die A.s als Autor u. Vortragender, enthalten J (2002), S. 34–53. Sabine Schmolinsky u. W. A.s schmales Œuvre ist vielgestaltig, formal virtuos u. deutschen sowie lat. DichtungsAlexander, Elisabeth, * 21.8.1922 (nach traditionen verbunden. In 24 Sangspruchfrüheren Angaben 1932) Linz am Rhein. – strophen eines Tons (II, Strophengruppen u. Schriftstellerin. Einzelstrophen) behandelt er moralisch-didakt. Themen, oft in geistlicher Perspektive, Aus einer kath. Handwerkerfamilie stamreflektiert verschlüsselt Zeitgeschichte, Min- mend, wurde A. in einer Mädchenschule erneprobleme, die Lage der Dicht- u. Vortrags- zogen, absolvierte eine Hauswirtschaftslehre kunst. Rhetor. Figuren u. allegor. Verfahren in einem Kloster u. war während des Zweiten prägen seinen Stil; die von ihm so benannte Weltkriegs als Haushaltsgehilfin, Kinder»wilde rede« (II 19,1 im sog. Antichristgedicht) mädchen u. Buchhalterin tätig. Nach dem offenbart in der Allegorese einen geistl. Sinn Krieg arbeitete sie im Hauptquartier der USTruppen in Heidelberg in verschiedenen mit didaktischem Anspruch. A.s Lieder umfassen das sog. Weihnachtslied Funktionen u. ließ sich auf Dauer in Heidel(I), das früheste deutsche seiner Art, ein kon- berg nieder. 1947 heiratete A., besuchte das ventionelles Minnelied (III), zwei Klagestro- Abendgymnasium u. die Heidelberger phen verschiedenen Inhalts (IV,1 u. IV,2), eine Hochschule für Musik u. Theater, bekam drei Minneklage (VI), deren Minnekonzept von Kinder u. begann mit dem Schreiben. 1963 der in J bzw. CW variierenden Überlieferung ließ sie sich scheiden u. lebte fortan als alabhängt, u. das häufig untersuchte sog. leinerziehende Mutter mit literar. AmbitioKindheitslied (V), in dem aus zwei Eklogen- nen. Erste Gedichte erschienen 1971. Der versen Vergils eine Allegorie auf Orientie- Durchbruch zu überregionaler Bekanntheit rungen im Lebensverlauf entwickelt wird. In gelang ihr 1970 mit einer aufsehenerregeneinem Minneleich mit Melodie (VII) verbin- den Straßenlesung vor der alten Heidelberger det A. Minneklage mit allegor. Minneausle- Anatomie. Von 1975 bis 1982 war A. freie Mitarbeiterin im Feuilleton des »Heidelbergung. Ausgaben: KLD 1, S. 1–19. – KLD 2, S. 1–17 ger Tageblatts«; als Rezensentin schrieb sie (Komm.). – Dt. Lyrik des späten MA. Hg. Burghart auch für andere Zeitungen. Vortragsreisen Wachinger. Ffm. 2006, S. 284–301 (mit Übers.), führten sie durch Europa u. in die USA. Ver775–784 (Komm.). – Die Jenaer Liederhs. In Abb. schiedentlich war sie an dt. u. ausländ. hg. v. Helmut Tervooren u. Ulrich Müller. Göpp. Hochschulen als Leiterin von Schreibsemina1972, fol. 21vb-28rb. – Online: Faks. C: http: ren tätig. Seit 1979 erhielt A. mehrere För//digi.ub.uni-heidelberg.de/cpg848 (fol. 412r-413r). derstipendien, im Jahr 1997 die VerdienstLiteratur: Ingeborg Glier: Meister A. (Der medaille des Landes Baden-Württemberg; Wilde A.). In: VL. – RSM 3, S. 3–6. – Horst Brunner: 1996 war sie Ehrengast der Villa Massimo in A. (Meister). In: MGG 2. Aufl. – Helmut Tervooren: Rom. Sangspruchdichtung. Stgt./Weimar 1995. – BarbaSeit ihrem performanceartigen Auftritt von ra Weber: Œuvre-Zusammensetzungen bei den 1970 galt A. als eine betont unkonventionelle Minnesängern des 13. Jh. Göpp. 1995. – Franz Josef Worstbrock: Lied VI des Wilden A. Überlieferung, u. mutige Autorin, die sich mit ihrer Zeit u. Interpr. u. Literarhistorie. In: PBB 118 (1996), ihrer Existenz auf eine sehr eigenständige u. S. 183–204. Wieder in: Ders.: Ausgew. Schr.en. ganz unverwechselbare Weise auseinanderBd. 1, Stgt. 2004, S. 119–136. – Fritz Peter Knapp: setzte. Als Rebellin u. Plebejerin wurde sie

91

Alexis

Weitere Werke: Am Fußende des Bettes. Trier bezeichnet, aber auch als Pornografin. Für Gerhard Zwerenz war sie eine »phänomenale 1999 (L.). Literatur: Frederick Alfred Lubich: The MoWortkünstlerin« mit einer großen Begabung für treffende Wortneuschöpfungen; andere ther Courage of German postwar literature. Intersahen in ihr eine Autorin von letztlich nur view with E. A. (Heidelberg, Aug. 1995). In: Wendewelten. Hg. ders. Würzb. 2002, S. 135–146. – zweifelhaftem literar. Vermögen mit einem Dieter M. Gräf: E. A. In: KLG. Helmuth Kiesel Werk von sehr unterschiedlicher Qualität. In der Tat steht vorzüglich Gelungenes neben weniger Überzeugendem, u. entsprechend Alexis, Willibald, eigentl.: Georg Wilhelm groß ist die Divergenz der Wertungen seitens Heinrich Haering (Häring), * 29.6.1798 der Literaturkritik. Unbestritten ist, dass A. Breslau, † 16.12.1871 Arnstadt/Thürineine Meisterin der kurzen Form ist, was sich gen; Grabstätte: ebd., Alter Friedhof. – nicht nur in der Pointiertheit ihrer meist sehr Begründer des realistischen historischen knappen Geschichten zeigt, sondern auch in Romans in der deutschen Literatur. der Struktur ihrer Romane. A.s Werk lässt sich nicht auf »Damenge- A.’ Vater, Georg Wilhelm Häring, Kanzleidischichten« reduzieren (so der Titel eines rektor u. geheimer Kammersekretär in Bresschmalen Bandes mit zwölf Erzählungen; lau, starb bereits 1802. Seine Mutter, HenriTrier 1987); die Lebensverhältnisse der letz- ette Juliane Louise Charlotte, war die Tochter ten Jahrzehnte des 20. Jh., insbes. der Zeit um des Berliner Buchhändlers Karl Friedrich Rellstab. 1968, werden in erzählerischen wie lyr. TexDie Belagerung Breslaus im Nov. u. Dez. ten breit aufgefächert u. kritisch reflektiert. 1806 erlebte der junge Wilhelm im dortigen Im Zentrum zumal auch der drei größeren u. Nonnenkloster zur Heiligen Katharina. Daeine Trilogie bildenden Romane Die törichte nach übersiedelte die Mutter mit den Kindern Jungfrau (Köln 1978), Sie hätte ihre Kinder töten Wilhelm, seiner zwei Jahre jüngeren sollen (Düsseld. 1982) u. Bauchschuß (Trier Schwester u. der 20 Jahre älteren Stief1992) stehen indessen doch Probleme der schwester Florentine nach Berlin. Sie zog in weibl. Existenz in der Zeit der Auflösung der das Haus ihres Bruders, des Buchdruckers u. bürgerl. Ordnung u. der EmanzipationsbeMusikalienhändlers Rellstab, in der Jägerwegung der Jahre um 1968. A.s besonderer straße. Blick auf diese Zeit resultiert daraus, dass sie Seit 1810 besuchte Wilhelm wie sein Couzwischen den beiden Lagern stand: die sin Ludwig Rellstab das Friedrichswerdersche bürgerl. Sphäre verlassen hatte, als Mutter Gymnasium. 1815, mit 17 Jahren, nahm er als mit drei kleinen Kindern aber keinen An- Freiwilliger im Regiment Kolberg am Feldschluss an die Heidelberger Studentenbewe- zug nach Frankreich u. an der Belagerung der gung finden konnte. Bei allen Sympathien Ardennenfestungen teil. Anfang 1816 zumit der Studentenbewegung wie mit dem rückgekehrt, setzte er die Schulausbildung Feminismus blieb sie eine Außenseiterin, die fort. Ostern 1817 bestand er die Abiturprüsich jeder ideolog. Vereinnahmung entzog u. fung u. studierte in Berlin u. Breslau Rechtsmit ihren extrem subjektiven, bekenntnis- wissenschaft. 1820 legte er die erste jurist. haften u. oft drastisch formulierten Texten Prüfung ab u. arbeitete als Auskultator u. nach allen Seiten hin provozierte. Referendar beim Kriminalsenat des KamDer zeitdiagnostische Wert ihrer meist mergerichts. Sein Interesse für Geschichte u. kurzen Texte führte dazu, dass A. in viele Literatur war bereits während des Studiums Anthologien aufgenommen wurde u. in den vorhanden, denn er besuchte auch philoso1970er u. 1980er Jahren als eine bemerkens- phische, histor. u. literar. Vorlesungen. Erste werte Stimme galt. Aber mit keinem ihrer Gedichte u. Balladen entstanden Anfang der Werke konnte sie einen der führenden Lite- 1820er Jahre. Seine Werke veröffentlichte er raturverlage für sich gewinnen, u. ein großer unter dem Pseudonym »W. A.« Seine KomPublikumserfolg gelang ihr nicht. militonen gaben ihm diesen Namen, da die

Alexis

Übersetzung von »Häring« ins Lateinische »alex« ergibt. 1820 erschien in Berlin Die Treibjagd – Ein scherzhaft idyllisches Epos in vier Gesängen. V. a. mit seinen Novellen u. Reisebeschreibungen machte sich A. in den 1820er u. 1830er Jahren einen Namen (1823 Die Schlacht bei Torgau u. Der Schatz der Tempelherren. 1825 Die ehrlichen Leute u. Die Geächteten. 1828 Herbstreise durch Skandinavien. 1833 Wiener Bilder). »Als die nachzuahmenden Meister in der Darstellung erschienen ihm (A.) unter den Novellendichtern Cervantes, Göthe – und Tieck!« (Goedeke, S. 457). Der Erfolg des 1823 erschienen Walladmor (Neudr. Lpz. 1967) führte zur Aufgabe seiner Stelle als Referendar. Ab 1820 lässt sich eine umfangreiche Rezensententätigkeit nachweisen. A. hatte die polit. Bedeutung u. Wirkung der publizierten Theaterkritik erkannt u. schrieb selbst literatur- u. theaterkrit. Aufsätze. 1827 wurde er Mitbegründer des »Berliner Conversationsblattes« u. redigierte drei Jahre dessen belletrist. Teil. Außerdem übersetzte er engl. Romane, schrieb für die »Brockhaus’schen Blätter« zahlreiche Rezensionen u. für Taschenbücher Gedichte u. Erzählungen. 1830 erschien der erste Band Willibald Alexis gesammelte Novellen (Bln.), 1836 folgte der zweite Band Willibald Alexis neue Novellen (Bln.). 1829 ernannte ihn die Universität Halle zum Ehrendoktor der Philosophie. Im Mai 1838 heiratete er die Engländerin Lätitia Perceval u. kaufte sich ein Haus in der Wilhelmstraße. 1830 bis 1835 übernahm A. allein die Redaktion der beiden Zeitschriften »Conversationsblatt« u. der »Freimüthige«, die er zur Zeitschrift »Der Freimüthige oder Berliner Conversationsblatt« vereinigte. Danach schrieb er bis 1859 nur noch für die »Blätter für literarische Unterhaltung«, für das »Cotta’sche Morgenblatt« u. die »Vossische Zeitung«. Bereits 1829 verfasste A. eine Programmerklärung für den »Freimüthigen«, in der er sich für »eine ausreichende Würdigung der Tagesgeschichte« einsetzte. 1843 trat A. als Kritiker gegen die Zensurbestrebungen unter dem seit 1840 regierenden König Friedrich Wilhelm IV. auf. Er kritisierte die »Schönredner der Zensur« u. entgegnete: »Die gute Presse wird in dem Au-

92

genblick auftreten, das sagen wir mit guter Überzeugung, wo man die schlechte Presse freigeben wird« (Berger in: Beutin/Stein 2000, S. 149). Als Journalist zeigte A. polit. Engagement. Er trat für eine im Dienst der Öffentlichkeit stehende Journalistik ein, er kämpfte für eine unabhängige Presse u. für eine damit verbundene Aufklärung des Volkes. Seine jurist. Fachkenntnisse werden ihm dabei mit Sicherheit behilflich gewesen sein. Aufgrund polit. Unstimmigkeiten entsagte A. für einige Jahre seiner Mitarbeit an der »Vossischen Zeitung«. Erst nach seiner Italienreise wurde er 1849 noch einmal für sechs Monate Mitredakteur des polit. Teils dieses Blattes. Nach seinem endgültigen Ausscheiden aus der Redaktion widmete sich A. nur noch der freien schriftsteller. Arbeit. Vorzugsweise wurden u. werden seine historischen (vaterländ.) Romane gewürdigt. Sie sind der wichtigste Teil aus dem umfangreichen Gesamtschaffen von A. »Will man den Gedanken- und Problemgehalt der acht Romane angemessen würdigen, muß man die jeweilige Romanhandlung und die in dieser vergegenwärtigte historische Konfliktsituation in Bezug setzen zur Entstehungszeit samt der enthaltenen politischen Problematik« (Beutin. In: Beutin/Stein 2000, S. 179). 1832 erschien Cabanis (Bln.), 1840 Der Roland von Berlin (3 Bde., Lpz.), 1842 Der falsche Woldemar (3 Bde., Bln. 2 Bde., Lpz. [1919]), 1846 Die Hosen des Herrn von Bredow I: Hans Jürgen und Hans Jochem (Bln.), 1848 Die Hosen des Herrn von Bredow II: Der Werwolf (Bln.), 1852 Ruhe ist die erste Bürgerpflicht (5 Bde., Bln. 2 Bde., Bln. 1938. Neudr. Bln. 1968), 1854 Isegrimm (3 Bde., Bln.), 1856 Dorothee (3 Bde., Bln.). Von diesen acht Romanen spielen zwei im späten MA, zwei in der Zeit um 1500, je einer im 17. u. 18. Jh. u. zwei in der Epoche der Napoleonischen Kriege. Diese Werke stehen jedoch nicht losgelöst von seinem gesamten epischen Schaffen. Nach Walladmor erschien 1827 Schloß Avalon (Lpz.), gefolgt von zwei Zeitromanen, die mit den jungdt. Romanen vergleichbar sind, Haus Düsterweg (Lpz. 1835) u. Zwölf Nächte (3 Bde., Bln. 1838), sowie von Urban Grandier (2 Bde., Bln. 1843). 1860 erschien die Novelle Ja in Neapel (Bln.) aals Teil eines größeren Romans, an dem A.

93

Alfeldt

seit 1856 arbeitete. Da A. nur wenige Wochen bliogr.). – Wolfgang Beutin: Königtum u. Adel in nach dem Erscheinen der Novelle seinen den histor. Romanen v. W. A. Bln. 1966. – Fritz Dt. Lit. im bürgerl. Realismus 1848–98. zweiten Schlaganfall erlitt, blieb sie seine Martini: 3 Stgt. 1974, S. 440 ff. – Hans Dieter Huber: Histor. letzte literar. Arbeit. Enttäuscht vom AusRomane in der ersten Hälfte des 19. Jh. Mchn. gang der revolutionären Ereignisse verließ A. 1978, passim. – Lynne Tatlock: A. and ›Young Berlin u. suchte im thüring. Arnstadt Ruhe u. Germany‹: A closer Look. In: GLL 34 (1980), Erholung. Das Haus, das er sich dort bauen S. 359–373. – W. Beutin: A.: ›Ruhe ist die erste ließ, war als Sommerwohnsitz gedacht u. Bürgerpflicht‹ (1852). In: Romane u. E.en des wurde so auch von 1853 bis 1858 genutzt. bürgerl. Realismus. Neue Interpr.en. Hg. Horst Doch der infolge eines ersten Schlaganfalls Denkler. Stgt. 1980, S. 65–79. – Anni Carlsson: A. – von 1856 ständig kranke A. war bald ge- Ein Bahnbrecher des dt. Romans. In: ZfdPh 102 zwungen, seinen Berliner Wohnsitz aufzu- (1983), S. 541–563. – Lynne Tatlock: Der zweigeben. Nach einem erneuten Schlaganfall war schichtige Gehalt zweier mittelalterl. Romane des A. In: Das Weiterleben des MA in der dt. Lit. Hg. er seit 1860 an den Rollstuhl gefesselt. Er James F. Poag u. Gerhild Scholz-Williams. Köführte in Arnstadt ein ruhiges u. von der Öf- nigst./Ts. 1983. – Eberhard Scheiffele: Brandenfentlichkeit zurückgezogenes Leben bis zu burgisches Welttheater. Zu den ›Vaterländ. Romaseinem Tod am 16.12.1871. nen‹ v. W. A. In: DVjs 61 (1987), S. 480–509. – A. ist trotz unterschiedlicher Meinungen Michael Limlei: Gesch. als Ort der Bewährung. zur Wertigkeit seiner Werke aus dem literar. Menschenbild u. Gesellschaftsverständnis in den Erbe des 19. Jh. nicht wegzudenken. »Seine dt. histor. Romanen (1820–90). Ffm. u. a. 1988, bes. brandenburgisch-preußischen Romane ha- S. 77–122. – Hugo Aust: Der histor. Roman. Stgt. ben sich die Stellung in der deutschen Lite- 1994, passim. – Jochen Golz: W. A.: Walladmor. In: Dt. Erzählprosa der frühen Restaurationszeit. Hg. ratur zu erobern gewusst ...« (F. Mehring: Bernd Leistner. Tüb. 1995, S. 253–257. – W. Beutin Ges. Schr.en. Bd. 11, Bln. 1961, S. 7 f.). Im 19. u. Peter Stein (Hg.): W. A. (1798–1871). Ein Autor Jh. galt A. im Wesentlichen als Verherrlicher des Vor- u. Nachmärz. Bielef. 2000. – Janny DitPreußens. Erst allmählich wurden die wirkl. trich: W. A. in Arnstadt. Geschichts- u. literaturGrundzüge der Autorenpersönlichkeit u. des wiss. Untersuchungen über ein Dichterleben in der Werkes sichtbar. Die im letzten Drittel des 20. zweiten Hälfte des 19. Jh. Ffm. 2001 (Diss. Univ. Jh. vollzogene Wandlung in der internat. A.- Hamburg). – Michael Niehaus: Autoren unter sich. Forschung legt offen, dass die Preußenver- Walter Scott, W. A., Wilhelm Hauff u. andere in herrlichung nur in den Köpfen der A.-Kriti- einer literar. Affäre. Heidelb. 2002. – Wilhelm ker stattfand, während der Dichter selbst ein Kühlmann: Schiffbruch, Notstand u. rechtsfreier Raum. Zum epochalen u. diskursiven Gehalt der äußerst kritischer Beurteiler der Geschichte Ballade ›Die Vergeltung‹ v. A. v. Droste-Hülshoff u. u. Gegenwart Preußens u. seiner Zeit über- eines frühen Romans v. W. A. In: IASL 31 (2006), haupt war. Beginnend mit Cabanis erhält das S. 228–239. Janny Dittrich histor. Erzählen ein neues Gepräge. Es erfolgt die Darstellung der von Geschichte in erster Linie Betroffenen u. der Ermittlung von de- Alfeldt, Alveld, Alveldt, Alfeld, Augustin ren Aktionsradius. A. nutzte die Form des von, * in Alfeld bei Hildesheim, † um histor. Romans, um oppositionelles Gedan- 1535. – Verfasser gegenreformatorischer kengut zu verbreiten, v. a. solches, das im Schriften. Vor- u. Nachmärz der Unterdrückung verfiel. Über die Jugend- u. Studienzeit wie über das Ausgaben: Max Ewert (Hg.): W. A. ErinnerunLebensende A.s fehlen die Quellen. Sein Buch gen. Bln. 1900. – Eine Jugend in Preußen. Erinnerungen. Mit einem Nachw. u. Anmerkungen v. Super apostolica sede, das 1520 erschien, kündigte er Luther in einem Brief an. Damals war Carsten Wurm. Bln. 1991. Literatur: Gustav Freytag: W. A. ›Isegrimm‹ A. Franziskaner u. Lektor der Hl. Schrift im (1854). In: Aufsätze zur Gesch., Lit. u. Kunst. Lpz. Leipziger Franziskanerkloster. Von 1520 an 2 1888. – Goedeke 8, Abt. 2. – Theodor Fontane: A. setzte er sich intensiv für die Verteidigung (1872). In: Literar. Ess.s u. Studien, 1. Tl., Mchn. des alten Glaubens ein. 1520 veröffentlichte 1963. – Lionel Thomas: A. Oxford 1964 (mit Bi- A. Abschriften gegen die Glaubenserneue-

Allemann

94

rung. Im Jan. 1522 beteiligte er sich an einer Liebesgebots. Seine Schriften zeigten bes. in Disputation in Weimar über das Ordensleben der sächs. Gegenreformation Wirkung. u. über die Freiheit eines Christenmenschen. Ausgaben: Kritische Neuausgaben: Käthe BüschSeit 1524 ist er als Guardian in Halle nach- gens (Hg.): Wyder den Wittenbergischen Abgot weisbar. Aus seinem Briefwechsel mit Fürstin Martin Luther. Dresden 1524. Neudr. Münster Margarethe von Anhalt geht hervor, dass A. 1926. – Leonhard Lemmens (Hg.): Eyn vorklerunge 1528 die zweite Auflage der Übersetzung des aus heller warheit, ob das Salve regina misericordie eyn Christl. lobesang sey oder nicht. Lpz. 1527. NT von Hieronymus Emser revidierte. Münster 1926. – Ders. (Hg.): Aus ungedr. Franzis1529–1532 war er Provinzial der Sächsischen kanerbriefen des 16. Jh. Münster 1911. Franziskanerprovinz. In einem AbschiedsLiteratur: Bibliografie: Klaiber, Nr. 69–83 (s. brief als scheidender Provinzial ermahnte er auch Smolinsky 1983, S. 422–426). – Weitere Titel: seine Mitbrüder zur Treue zum Evangelium, Leonhard Lemmens: Pater A. v. Alfeld. Freib. i. Br. zur Ordensregel u. den Ordensgelübden. 1899. – Gerold Hesse: A. v. Alfeld, Verteidiger des 1533/34 verfasste er einen Kommentar zur Apostol. Stuhles. In: Arbeiten des kirchenhistor. Regel der Klarissen, der in verkürzter Form Seminars der Franziskaner zu Paderborn. Hg. Fer1535 in dt. Sprache zusammengefasst wurde. dinand Doelle. Münster 1930, S. 57–75. – Heribert Sein literar. Werk beschäftigte sich bes. mit Smolinsky: A. v. Alveldt u. H. Emser. Münster 1983. – Ders.: Kath. Theologen der Reformationsder Ekklesiologie u. der Sakramentenlehre. zeit. Bd. 1, Münster 1984, S. 47–55. In seiner Schrift Super apostolica sede (Lpz. Remigius Bäumer † / Heribert Smolinsky 1520), die auch in dt. Übersetzung u. d. T. Ein gar fruchtbar und nutzbarlich buchleyn von dem bapstlichen stule (Lpz. 1520) erschienen ist, Allemann, Urs, * 1.4.1948 Schlieren bei betonte A. die Einsetzung des päpstl. Primats Zürich. – Lyriker u. Erzähler. durch Christus: Die Kirche bedürfe zur BeMit der »größten preisgekrönten Schweinewahrung ihrer Einheit eines sichtbaren rei« – so ein Kärntner Landespolitiker – proOberhaupts. Die Vorrangstellung des Papstes vozierte A. beim Ingeborg-Bachmann-Wettbegründete A. mit den Schriftstellen Mt. 16, bewerb 1991 die literar. Öffentlichkeit. Der 18 f. u. Jo. 21, 17. Luther antwortete mit seierste Satz seines Textes verstieß gegen alle ner Schrift Von dem Papsttum in Rom wider den nur denkbaren moral. u. literar. Tabus: »Ich hochberühmten Romanisten in Leipzig. Im gleificke Babys.« Der autistisch wirkende Ichchen Jahr veröffentlichte A. in Leipzig eine Erzähler dieses Textes lebt zurückgezogen in Schrift über die Kommunion unter beiden einer gegen die Außenwelt völlig verschlosGestalten, die Luthers Schrift Von der babylo- senen Mansarde u. imaginiert sich in die nischen Gefangenschaft auslöste. In seinem Wahnwelt eines Sexualtäters. Was der Autor Nachwort zu der Schrift Von dem elichen Standt als verstörenden Monolog eines in morbide (Lpz. 1520?) bedauert A., dass Luther die Fantasien eingeschlossenen Menschen konRömische Kirche u. die Sieben Sakramente zipiert hatte, las die Kritik als Wunschfantaverachte. Er kritisiert bes. Luthers unmäßiges sie eines perversen Zynikers. Das Rollen-Ich Schimpfen, das dem Geist des NT wider- des Textes wurde auf skandalöse Weise mit spreche. Luther setze seine Aussagen mit der dem empir. Ich des Autors gleichgesetzt. Hl. Schrift gleich u. erkläre sich selbst für Nach seinem Studium der Soziologie u. irrtumsfrei. Sozialpsychologie in Hannover hatte A. seiVon A.s spirituellen Schriften sind zu nen- nen literar. Lebensweg als Redakteur bei nen: die Verteidigung des Salve Regina (As- »Theater heute« u. bei der »Basler Zeitung« sertio [...] in canticum salve Regina. Lpz. 1527), (1986–2004) begonnen. Der im Journalismus eine Erklärung des 50. Psalmes u. der Sermon gängige instrumentelle Umgang mit der vom christlichen Begräbnis (Letztere zus. 1530 in Sprache des Alltags, so erzählte A. einem InDresden erschienen). In seinem Kommentar terviewer, führe bei ihm zu einem »ganz zur Regel des hl. Franz betonte A. die Be- starken Derealisierungsgefühl«. So entstandeutung der Armut für die Erfüllung des den – als poetisches Selbsterrettungspro-

95

gramm – seine ersten Gedichte (Fuzzhase. Zürich 1988). Aus der »Knechtschaft der (Sprach)Zeichen« (Roland Barthes) versuchen sich A.s Figuren durch vokabuläre Entgrenzungen zu befreien. In den »sieben fernmündlichen Delirien« des ersten Prosabandes öz & kco. (Zürich 1990) drängen die Protagonisten in »schizoiden Fluchtlinien« heraus aus den hermetisch verschlossenen Bunkern u. Türmen einer kommunikationsfeindl. Lebenswelt. A.s lyr. Texte erproben eine formale u. motivische Revitalisierung antiker Formen (der Ode, der Elegie, u. Ä.), gewinnen aus der Zertrümmerung der alten Tonlagen neue Artikulationsmöglichkeiten. Hier konstituiert sich nicht eine Sprache der Würde u. Feierlichkeit, wie sie die alte Regelpoetik von der Ode fordert, sondern eine fragmentierte Sprache der Verstörung u. eine anarch. Glossolalie. Ein Strudel aus Klang u. Rhythmus verwirbelt die Welt der vertrauten Liebesworte, der alten Emphasen u. poet. Erhabenheiten. Gegen die drohende »Derealisierung« der Welt setzt der Dichter seine Sprache der schmerzhaften Fragmentierung. Die metrischen Schemata werden in diesen »traurigen Trochäenbröseln« u. hinkfüßigen Oden streng eingehalten, aber zgl. werden die alten Formen von innen her durch eine zerklüftete Sprachbewegung aufgesprengt. Weitere Werke: Der alte Mann u. die Bank. Ein Fünfmonatsgequassel. Wien 1993 (P.). – schoen schoen. Basel 2003 (L.). Literatur: U. A.: ICH NICHT DU NICHT. Gespräch mit Dietmar Schellin. In: Schreibh. 39 (1992), S. 199 ff. – Martin Maurach: U. A. In: KLG. – Michael Braun: U. A. In: LGL. Michael Braun

Allmers, Hermann, * 11.2.1821 Rechtenfleth bei Bremen, † 9.3.1902 Rechtenfleth bei Bremen; Grabstätte: ebd., Friedhof. – Verfasser von Reisebeschreibungen u. Mitbegründer der Heimatbewegung. A. zählt zu den Initiatoren der Heimatbewegung des späten 19. Jh. Er entstammte einer vermögenden fries. Bauernfamilie u. brauchte zeitlebens nicht zu arbeiten, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Zwischen

Allmers

1856 u. 1859 unternahm er größere Bildungsreisen in die Schweiz sowie nach Oberitalien u. lebte längere Zeit in Rom. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland stand A. in enger Verbindung mit führenden Personen des kulturellen Lebens seiner Zeit wie Ludwig Uhland, Emanuel Geibel u. Paul Heyse. Er unterhielt in Rechtenfleth ein offenes Haus für Literaten, Musiker u. bildende Künstler u. zählte zu den frühen Förderern der Worpsweder Maler. Der Anhänger der Revolution von 1848 stand den modernen geistesgeschichtl. Strömungen seiner Zeit aufgeschlossen gegenüber. Eng befreundet war er mit dem Naturphilosophen Ernst Haeckel (vgl. Haeckel und Allmers; die Geschichte einer Freundschaft in Briefen der Freunde. Hg. Rudolph Koop. Bremen 1941). Ein literarisches Ergebnis von A.’ RomAufenthalt waren die Römischen Schlendertage (Oldenb. 1869. 111904), Aufzeichnungen in Tagebuchform, die seine schwelgerische Italienbegeisterung bezeugen u. auf ein breites Publikumsinteresse stießen. In der Wirkungsgeschichte bedeutsam war sein bereits 1858 erschienenes Marschenbuch (Gotha 41902. Neudr. Leer 1979). Das eher kulturhistorisch als literarisch bemerkenswerte Werk beschreibt die Geografie, die Geschichte, die Sprache sowie Sitten u. Gebräuche seiner heimatlichen norddt. Bauernlandschaft. Sachinformationen werden hier mit oft pathetisch aufgeladenen fiktionalen Texten verknüpft. Das Marschenbuch wurde zum Muster einer Unzahl von »Heimatgeschichten«. Außerdem verfasste A. patriot. Heimatgedichte u. versuchte sich auch an plattdt. Versen, hielt das Niederdeutsche aber grundsätzlich nicht für literaturfähig. Sein von naturwiss. Entdeckungen jener Jahre geförderter Fortschrittsglaube ließ ihm den Dialekt als fortschrittsfeindlich erscheinen. A., als Schriftsteller von zweitrangiger Bedeutung, hat sich als Journalist u. Mäzen der Heimatbewegung einen Namen gemacht. 1901 verlieh ihm die Universität Heidelberg die Ehrendoktorwürde. Ausgaben: Dichtungen. Bremen 1860. 51903. – Sämtl. Werke. 6 Bde., Oldenb. 1891–95. – Werke. Hg. Kurd Schulz. Gött. 1965. Nachdr. Bremerhaven 2000. – Briefe. Hg. ders. Gött. 1968.

Aloni Literatur: Hans Müller-Brauel: Der Marschendichter H. A. Eine literarisch-biogr. Skizze. Bremen 1897. – Theodor Siebs: H. A. Sein Leben u. Dichten. Bln. 1915. Bremerhaven 21982. – Goedeke Forts. – Ulf Fiedler: Dichter an Strom u. Deich. Bremen 1995. – H. A. zum 175. Geburtstag. Rechtenfleth 1996. – Peter Schütt: Der verkannte ›Marschendichter‹. Zum 100. Todestag v. H. A. In: Quickborn 92 (2002), S. 30 f. – Helga Ramge: Das Friesenlied v. H. A. In: Nordfries. Jb. 20 (2004), S. 77–103. Jörg Schilling / Red.

Aloni, Jenny, geb. Rosenbaum, * 7.9.1917 Paderborn, † 30.9.1993 Ganei Yehuda/Israel. – Erzählerin, Lyrikerin. Die Tochter eines jüd. Kaufmanns verließ das kath. Lyceum St. Michael ihrer Heimatstadt 1935, um sich in einem Lager der Jugendalijah (Gut Winkel, Brandenburg) auf die Auswanderung nach Palästina vorzubereiten. 1936–1939 lebte sie in Berlin in zionistischsozialist. Gruppen. Nach dem Abitur am Oberlyceum der Adasz Jisroel Anfang 1939 ging sie als Jugendleiterin in das Alijahlager Schniebinchen (Lausitz). Im Nov. 1939 führte sie eine Gruppe Jugendlicher nach Palästina. Sie begann ein Studium an der Hebräischen Universität Jerusalem, arbeitete daneben als Dienstmädchen u. Putzfrau; 1942–1946 war sie in der brit. Armee in Palästina tätig (Auxiliary Troup Service), v. a. als Krankenpflegerin; danach arbeitete sie als Jugendfürsorgerin. 1948 heiratete sie Esra Aloni (Erich Eichengrün, seit 1934 in Palästina), seit 1957 lebte sie in Ganei Yehuda bei Tel Aviv. Bereits in Deutschland hatte A. zu schreiben begonnen, seit 1935 führte sie Tagebuch, sodass wir über diese schriftstellerischen Ansätze ebenso informiert sind wie über das Leben u. die Gefühle der jungen Frau in den Jahren der zunehmenden Ausgrenzung, Gefährdung u. Verfolgung im Nazideutschland, die Kriegszeit im engl. Mandatsgebiet, die Entwicklung des Staates Israel in Jahrzehnten von Not u. bescheidenem Wohlstand, von Kriegen, Bedrohung u. Friedenssehnsucht. Von Beginn an ist das Tagebuch auch der Ort der Reflexion über das eigene Schreiben u. dessen Bedingungen. Dabei spielt anfangs das Problem der Sprache eine wichtige Rolle. Nach einigen Versuchen u. ersten Publika-

96

tionen in Ivrith, das sie bereits in Deutschland gelernt hat, wählt sie schließlich vorwiegend Deutsch, denn sie sieht (bestärkt durch die Erfahrungen ihrer ersten Deutschland-Aufenthalte nach dem Krieg 1947 u. 1955) ihre Aufgabe darin, gerade dt. Lesern über die Zeit zu berichten. Nach einem schmalen Band Gedichte (Ratingen 1956) folgt in den 1960er Jahren die Publikation zahlreicher Erzählungen – z.T. gesammelt in Jenseits der Wüste (Witten/Bln. 1963) u. Die silbernen Vögel (Mchn. 1967) – sowie von drei Romanen. Die Erzählungen zeigen öfter jüd. Mädchen u. junge Frauen, oft Ich-Erzählerinnen, die in der Zeit des anwachsenden Nationalsozialismus leben: Sie beobachten die Vergiftung der Atmosphäre, aber auch, wie das Bewusstsein einer jüd. Identität in ihnen entsteht, ihr Denken u. Leben zu prägen beginnt (Der Fackelzug, Die Synagoge und der Dom). Andere Erzählungen spielen in der Gegenwart, zeigen die Rückkehr einer Jüdin in das Nachkriegsdeutschland, die erschreckende Begegnung mit Menschen, die vergessen u. ihr eigenes Leid aufrechnen wollen (Fahrt in die Erinnerung, Der weiße Kittel). Neben die dt. Geschichte u. Gegenwart tritt immer stärker die neue, längere Zeit noch fremde Heimat: das karge Land, die herbe, aber faszinierende Natur, der Alltag mit seinen fremdartigen Lebensformen von Menschen aus vielen Ländern in einer teilweise orientalisch geprägten Welt. Zahlreiche dieser Prosatexte verarbeiten autobiogr. Material, so auch der erste Roman Zypressen zerbrechen nicht (Witten/Bln. 1961). Er schildert die Erlebnisse u. Erfahrungen einer nach Kriegsbeginn aus Deutschland eingewanderten jungen jüd. Frau, v. a. die Probleme u. Schwierigkeiten des Alltags – ein realistisches Gegenbild gegen die üblicherweise verklärenden Berichte über diese Pionierjahre. Ein durchgehendes Thema sind die Spannungen eines Lebens zwischen der Vergangenheit mit ihren Schrecken u. einer ungewissen Zukunft sowie die daraus entstehenden Zwiespälte, Ängste, Traumata. Einen weiteren Bogen spannt der Roman Der blühende Busch (Witten/ Bln. 1964), der in zahlreichen Rückgriffen die Geschichte eines Dorfes in den judäischen

97

Alpharts Tod

Bergen u. seiner Bewohner über drei Gene- Alpharts Tod. – Mittelhochdeutsches rationen hinweg, von der Jahrhundertwende Kleinepos der historischen Dietrichepik, bis zur Gegenwart, erzählt. In den späteren anonym, vermutlich Ende 13. Jh. oder Romanen Der Wartesaal (Freib. i. Br. 1969) u. später. Korridore oder Das Gebäude mit der weißen Maus (entstanden 1966–69, ersch. Paderb. 1996) Eine einzige Handschrift (Papier, 15. Jh., stehen einzelne Personen am Rande der Ge- Staatsbibl. Berlin, Ms. germ. fol. 856) übersellschaft im Vordergrund. An die Stelle des liefert das Epos (»heyst Alparts dot«, V. 1871), zuvor eher traditionellen Erzählens treten von ursprünglich 46 Blättern sind aber nur 32 komplexere Verfahren. Die Ordnungskate- erhalten (es fehlen 1, 18, 23–34). Sie sind gorien von Raum, Zeit u. Kausalität werden Bestandteil einer größeren Sammelhandweitgehend aufgehoben, die Realitätsebenen schrift – auf A. T. folgen das Nibelungenlied n übereinander geschoben. Die gleichzeitige (Hess. Universitäts- u. Landesbibl. DarmReduktion in der Sprache geht in der Lyrik (In stadt, Hs. 4257) u. Johanns von Würzburg den schmalen Stunden der Nacht. Ganei Yehuda Wilhelm von Österreich (Hess. Universitäts- u. 1980) noch weiter: Unwesentliche Satzteile Landesbibl. Darmstadt, Hs. 4314) – u. überwerden ausgespart, die Sätze verkürzt, ver- liefern 1871 paargereimte, durch Reimpunkte abgesetzte Langzeilen. A. T. ist in knappt zum Spruchartigen. Seit den 1960er Jahren galt A. als die Nibelungenstrophen (z.T. auch Hildewichtigste Stimme der jüngeren deutsch- brandston) abgefasst, die aber nur durch sprachigen Literatur in Israel; erst gegen Eingriffe in den überlieferten Wortlaut zu Ende ihres Lebens fand ihr Werk jedoch grö- rekonstruieren sind, sodass man auf 469 von ßere Anerkennung: mit zwei Literaturpreisen ursprünglich etwa 700 Strophen käme (vgl. 1991 (Meersburger Drostepreis, Großer hierzu Lienert/Meyer: A. T.-Ausg. 2007, westfälischer Literaturpreis) u. mit einer S. 5 f.). Das Epos ist vermutlich Ende des 13. umfangreichen Werkausgabe (mit zahlrei- Jh. entstanden, könnte aber auch etwas jünchen bis dahin unveröffentlichten Texten) ger sein; eine gesicherte Lokalisierung ist 1990–1997, ergänzt 2006 durch die Tagebü- ebenfalls unmöglich. Der Autor hatte keicher, ein einmaliges Zeugnis nicht nur der nerlei Vorlage u. war ein Kenner der DietEntwicklung einer Schriftstellerin, sondern richsage, er macht Anspielungen auf Details, auch von über 50 Jahren deutscher u. jüd. die nur außerhalb der mhd. Dietrichepik überliefert sind, u. ordnet die Handlung seiKultur u. Geschichte. Weiteres Werk: Die braunen Pakete. Ganei nes Epos fast widerspruchsfrei in den zeitl. Raum zwischen Buch von Bern (Dietrichs Flucht) Yehuda 1983 (E.en). Ausgaben: Ges. Werke in Einzelausg.n. Hg. u. Rabenschlacht ein, in denen Alphart ebenFriedrich Kienecker u. Hartmut Steinecke. 10 Bde., falls erwähnt wird. Erzählerische UngePaderb. 1990–97. – ›Ich muss mir diese Zeit von der reimtheiten sowie metrische u. sprachl. FehSeele schreiben...‹. Die Tagebücher 1935–93: ler oder Lücken sind schwer einzuschätzen: Je Dtschld. – Palästina – Israel. Hg. H. Steinecke. Pa- nach Datierung wird man Verderbnis der derb. u. a. 2006. Überlieferung oder zunehmende Unkenntnis Literatur: Hartmut Steinecke: ›Um zu erleben, der alten literar. Form annehmen. was Geschichte ist, muss man Jude sein‹. J. A. – Trotz der fehlenden Teile ist eine klar Lebensweg u. Werk. In: J. A.: ›...man müsste einer strukturierte Handlung zu erkennen: Als der späteren Generation Bericht geben‹. Ein literar. röm. Kaiser Ermenrich den bereits aus dem Lesebuch. Paderb. 21995, S. 131–169. – Ders.: J. A. größten Teil seiner Erblande vertriebenen In: KLG. – Ders. (Hg.): ›Warum immer Vergangenheit?‹ Leben u. Werk J. A.s. Münster 1999. – Dietrich auch aus Verona (mhd.: Bern) verjaPetra Renneke: Das verlorene, verlassene Haus. gen will, schickt er Heime als Boten zu ihm. Sprache u. Metapher in der Prosa J. A.s. Bielef. Heime entledigt sich seines Auftrags, sichert 2003. – H. Steinecke: J. A. In: LGL. – Internet: Dietrich aber wegen der gemeinsamen Verwww.juedischeliteraturwestfalen.de. gangenheit zu, dass er u. Witege in der droHartmut Steinecke henden Schlacht nicht gegen ihn kämpfen

Alpharts Tod

werden. Dieser Exposition folgt der erste Hauptteil: Im Rahmen der Schlachtvorbereitungen macht Wolfharts junger Bruder Alphart den Vorschlag, auf Wartritt zu gehen. Dietrich, Wolfhart, Hildebrand u. seine Braut Amelgard versuchen, ihn davon abzubringen, doch Alphart reitet voller Vertrauen auf seine Kampfstärke aus. Hildebrand unternimmt einen letzten Versuch ihn zurückzuhalten, indem er Alphart vor der Stadt mit verdecktem Wappen herausfordert. Doch statt ihn besiegt zurückzuführen, wird er selber vom Pferd gestoßen u. kann nur durch die Aufdeckung seiner Identität in letzter Sekunde dem Tod entrinnen. Auf dem Wartritt begegnet Alphart, der ebenfalls sein Wappen verdeckt hat, zunächst Wolfing u. achtzig Rittern, die er fast alle tötet, weil »eyn alder rytter« (645) unter den Feinden darauf besteht, dass man nur Mann gegen Mann kämpfen dürfe, »als ys recht sy gewesen« (645). Acht Ritter können fliehen u. berichten Ermenrich von der Niederlage, der nun Witege gegen den übermächtigen Fremden ausschickt; Heime folgt ihm heimlich. Als Witege von Alphart besiegt wird, tritt Heime vor, die Lücke der Handschrift lässt uns über den genauen Fortgang im Unklaren. Der überlieferte Text setzt wieder ein mit einem Gespräch, in dem Heime vorschlägt, den Kampf endgültig abzubrechen. Alphart lehnt ab, Witege u. Heime greifen ihn gemeinsam an, folgen dann aber Alpharts Aufforderung zum Einzelkampf. Erst als ihnen die Niederlage droht, nutzen sie ihre Überzahl u. töten Alphart. In den verlorenen 10 Blättern wird vermutlich von Alpharts Bestattung u. der Fahrt Hildebrands nach Breisach erzählt worden sein, die den zweiten Handlungsteil eröffnet. Der überlieferte Text setzt wieder ein mit der Begrüßung Hildebrands in Breisach, man stellt die Hilfstruppen zusammen u. bricht Richtung Verona auf. Unterwegs trifft man auf eine feindl. Heeresabteilung, Hildebrand geht mit vier weiteren Helden auf Wartritt u. greift schließlich die 6000 Gegner allein an. Auf sein Hornsignal hin kommen die Verbündeten zu Hilfe u. man schlägt die Feinde vernichtend. Vor Verona angekommen, lässt Hildebrand das Heer die Schilde verdecken, weil er die Kampfbereitschaft von

98

Dietrich u. seinen Leuten erproben möchte. Prompt hält man die vor der Stadt lagernden Truppen für Feinde, Wolfhart reitet aus, um sie alleine anzugreifen, doch Hildebrand gibt sich rechtzeitig zu erkennen. Es folgen Begrüßung, erneute Kampfvorbereitungen u. die breit ausgemalte Schlacht gegen den heranziehenden Ermenrich vor Verona. Das Epos endet mit dem Sieg Dietrichs, Ermenrichs Flucht u. der Verteilung der erbeuteten Schätze. Die Frage nach der ehrenvollen Kampfform (nur Einer gegen Einen) u. das Erkennen u. Verkennen von Freund u. Feind sind die zentralen Themen in A. T. Die ältere Forschung verstand das Epos in erster Linie als Warnung vor jugendlichem Übermut, doch der genauere Blick, v. a. die Berücksichtigung von Hildebrands Verhalten im meist wenig berücksichtigten zweiten Teil, zeigen, dass Alpharts Handeln weder starrsinnig noch übermütig ist. Er verlässt sich lediglich auf die Gültigkeit eines altehrwürdigen (»als ys von alter her recht yst gewesen«, V. 392) ritterl. Normenkodex u. beharrt auf dessen Einhaltung. Dass seine Gegner dagegen verstoßen, ist ihm nicht anzulasten u. resultiert auch nicht einfach aus deren Bosheit oder Hinterlist. Vielmehr führen bei Witege u. Heime Todesangst u. ein gewisser Pragmatismus zum widerwillig u. beschämt vollzogenen Bruch der Normen ritterl. Kämpfens. Die Thematisierung des Konflikts zwischen ritterl. Idealen u. kriegerischer Realität ist für einen heldenepischen Text ungewöhnlich, verweist aber auf die zeitgenöss. Realität der Entstehungszeit an der Wende zum 14. Jh. Eng mit der Thematik des ritterl. Kampfideals verknüpft ist das Motiv des Erkennens u. Verkennens. So führt Hildebrands Inkognito zum Kampf zwischen Freunden u. Verwandten, einem in der mhd. Literatur verbreiteten Motiv, das entweder trag. Zuspitzungen oder den Erweis kämpferischer Ebenbürtigkeit ermöglicht. Die Logik des Motivs basiert auf der versehentl. Verkennung, Hildebrand führt sie in A. T. aber absichtlich herbei. Er begründet das damit, dass er Mut u. Kampfbereitschaft der eigenen Leute auf die Probe stellen wolle (1552 ff.); der Versuch, Alphart zurückzuhalten, dient durch den für Hilde-

Alsfelder Passionsspiel

99

brand schmachvollen Ausgang der Bestätigung des jungen Helden (V. 479 ff.). Alphart wiederum weigert sich, Heime u. Witege seinen Namen zu nennen, weil das schändlich sei (V. 1048 ff.), ein aus dem höf. Roman stammendes Motiv, in dem die Namensnennung als Unterwerfung gilt. Zwar vermuten beide, dass er mit Dietrich verwandt ist (V. 1036 ff.), u. stellen in Aussicht, in diesem Falle nicht mehr gegen ihn kämpfen zu wollen, aber genau das hatte Alphart vorhergesehen u. das Wappen auf seinem Schild verdecken lassen (V. 371 ff.), damit niemand Grund hat, vom Kampf zurückzutreten. Mit der für den Heroen typischen tödl. Kompromisslosigkeit tritt Alphart für die Einhaltung einer höfisch-ritterl. Kampfethik ein u. gerät so zu einer außergewöhnlichen literar. Figur, die in sich vereint, was in der mhd. Literatur sonst klar getrennt wird. Ausgaben: A. T. Dietrich u. Wenezlan. Hg. Elisabeth Lienert u. Viola Meyer. Tüb. 2007, S. 1–84. Literatur: Uwe Zimmer: Studien zu A. T. nebst einem verb. Abdr. der Hs. Göpp. 1972. – Hellmut Rosenfeld: A. T. In: VL. – Günter Zimmermann: Wo beginnt der Übermut? Zu A. T. In: 2. Pöchlarner Heldenliedgespräch. Die histor. Dietrichepik. Hg. Klaus Zatloukal. Wien 1992, S. 165–182. – Hans-Joachim Behr: Der Held u. seine Krieger oder über die Schwierigkeiten ein Gefolgsherr zu sein. Überlegungen zu A. T. Ebd., S. 13–23. – Joachim Heinzle: Einf. in die histor. Dietrichepik. Bln./New York 1999, S. 83–94. – Michael Mecklenburg: Parodie u. Pathos. Heldensagenrezeption in der histor. Dietrichepik. Mchn. 2002, S. 33–51. Michael Mecklenburg

Alsfelder Passionsspiel, 1501, 1511 u. 1517 aufgeführt. – Geistliches Spiel von 8095 Versen. Das A. P. gehört zusammen mit der Frankfurter Dirigierrolle, dem Frankfurter Passions- oder Osterspielfragment (beide Anfang 14. Jh.), einem weiteren Frankfurter Passionsspieltext (1493), der (verschollenen) Friedberger Dirigierrolle eines Passionsspiels (15. Jh.), dem Fritzlarer Passionsspielfragment (um 1460) u. dem Heidelberger Passionsspiel (1514) zur eng miteinander verwandten rheinfränkisch-hess. Spielgruppe. Mit 8095 Versen war das A. P. eines der umfangreichsten geistl. Spiele im

dt. Sprachgebiet des MA. Seine Aufführung nahm drei Tage in Anspruch; benötigt wurden, folgt man den Rollenangaben im Text, rund 190 Darsteller. Mit dem Spiel war eine Prozession verbunden, deren Ordnung am Schluss der Handschrift überliefert ist. Aus dieser Ordnung geht hervor, dass die wirkliche Zahl der Mitwirkenden noch weitaus höher war. Aufführungen dieses in jeder Hinsicht höchst aufwendigen spätmittelalterl. Großspiels in Alsfeld sind für die Jahre 1501, 1511 u. 1517 bezeugt. Die im ausgehenden 15. Jh. möglicherweise gar nicht in Alsfeld, sondern im benachbarten Friedberg entstandene Handschrift des Spiels weist vielfache Bearbeitungsspuren auf, die zeigen, dass – und wie – der Text im Laufe der Zeit immer wieder verändert wurde (z.B. Handlungserweiterungen, Einfügen neuer Rollen, Stilwandel durch Einschub liturgischer Passagen usw.). Neben dem anonymen Hauptschreiber A waren wenigstens noch drei weitere Redaktoren daran beteiligt (B, C, D); als Bearbeiter identifiziert werden konnte aber bislang nur He(i)nrich Hültscher, Priester u. Notar in Alsfeld seit 1506, gestorben 1547 (Schreiber B, zahlreiche Zusätze zu A). Von C wissen wir aber, dass er die eng mit dem A. P. verbundene Alsfelder Dirigierrolle anfertigte (Ende 15./Anfang 16. Jh.), deren Schluss Hültscher seinerseits mit einem Zusatz versah. Als Regiebuch für den Spielleiter überliefert die Alsfelder Dirigierrolle – anders als das A. P. – nicht den vollständigen Spieltext, sondern nur die (lat.) Regieanweisungen u. den jeweils ersten Vers der ihnen folgenden Gesangs- oder Sprechtexte (insg. 1045 Versanfänge). Da die Alsfelder Dirigierrolle in mehreren Punkten vom A. P. abweicht, bleibt die mögliche Verwendung bei einer der bezeugten Alsfelder Aufführungen jedoch ungewiss. Erhalten haben sich auch verschiedene Textauszüge für einen einzelnen Darsteller (Einzelrollen): eine Johannes-Rolle (Hand C, Anfang 16. Jh.), eine Mercator- und Synagoga-Rolle von der Hand Hültschers (Anfang 16. Jh.) sowie eine Luzifer-Rolle (um 1500) u. eine BarrabasRolle (Hand C, Anfang 16. Jh.). Damit verfügt Alsfeld über ein – gemessen an der allg. Überlieferungssituation geistlicher Spiele – erstaunlich breites Textmaterial, das noch

Alsted

100

Übersetzungen: The ›Alsfeld passion play‹. entscheidend ergänzt wird durch einen Bühnenplan für den dritten Spieltag u. durch Translation with an introduction by Larry E. West. ein nur mehr fragmentarisches Darsteller- Lewiston u. a. 1997 (engl. Übers.). Literatur: Ernst W. Zimmermann: Das A. P. u. verzeichnis. Das im Freien auf einer Simultanbühne die Wetterauer Spielgruppe. Diss. Gött. 1909. – aufgeführte Spiel beginnt mit einer Teufels- Karl Dreimüller: Die Musik des A. P. Bde. 1–3, Diss. Wien 1936. – Rolf Steinbach: Die dt. Oster- u. versammlung, leitet über zu »Szenen« aus Passionsspiele des MA. Köln/Wien 1970. – Hansdem öffentl. Leben Jesu, behandelt dann alle jürgen Linke: A. P. In: VL. – Rolf Bergmann: Kat. wichtigen Stationen des Passions- u. Oster- der deutschsprachigen geistl. Spiele u. Marienklageschehens u. endet mit der Himmelfahrt gen des MA. Mchn. 1986. – Christoph Treutwein: Christi, der Ausgießung des Hl. Geistes u. der Das A. P. Untersuchungen zu Überlieferung u. Divisio Apostolorum. Bezeichnend für die Sprache. Heidelb. 1987. – Bernd Neumann: Geistl. Textgestaltung ist die Abkehr von liturgi- Schauspiel im Zeugnis der Zeit. 2 Bde., Mchn. scher Knappheit, Einfachheit, Überzeitlich- 1987. – Johan Nowé: Die Regie als gestaltende u. keit u. Distanz. An ihre Stelle treten – unter symbolstiftende Instanz des A. P. In: GRM 45 dem Aspekt unmittelbaren persönl. Einbe- (1995), H. 1, 3/23. Bernd Neumann / Red. zugs u. Nachvollzugs – lange Reihungen realistischer Bilder, vielfache WiederholunAlsted, Johann Heinrich, * Mitte März gen u. Zergliederungen dinglicher Einzel1588 Ballersbach bei Herborn, † 8.11. heiten, fortwährende Rückgriffe auf die Ge1638 Weißenburg/Siebenbürgen. – Polygenwartswirklichkeit u. ständige Appelle an histor, Philosoph, Theologe, Rhetorikdie Zuschauer. Sie äußern sich in z.T. extrem theoretiker u. Enzyklopädist. gefühlsbetonten Aufforderungen zur Buße, Andacht u. Compassio, aber auch in dauern- A. erhielt zunächst Privatunterricht von seiden Ermahnungen u. Belehrungen, u. offen- nem Vater, dem westfäl. Prediger Jakob Albaren so den gleichermaßen didakt. Impetus sted, der mit der Tochter des Theologen Jodes Spiels. Er drückt sich bes. deutlich in den hannes Pincier, Rebecca, verheiratet war. z.T. stark predigthaften Exkursen der ver- Nach dem Besuch des Pädagogiums der Herschiedenen allegor. Figuren u. Personifika- borner Hochschule (1601) studierte er seit tionen aus. Christus selbst wird weniger als dem 2.7.1602 an der gleichen Hochschule – Dominus denn als histor. Gestalt gezeichnet, u. a. bei dem Rechts- u. Staatslehrer Johannes deren Lebensweg ganz realistisch unter Ein- Althusius, dem Theologen u. Philosophen beziehung selbst kleinster Details bis ins Johannes Piscator u. dem reformierten KirEinzelne nachempfunden wird. Wie aber chenrechtler Wilhelm Zepper. Hier erfolgte spätere Zusätze liturgischer Passagen von der auch seine Begegnung mit dem Ramismus, Hand Hültschers zeigen, suchte man Anfang der sein späteres enzyklopäd. Bemühen bedes 16. Jh. doch auch wieder eine größere einflusste. Ein Stipendium des Landesherrn Nähe zur liturg. Wesensform. So kommt es ermöglichte ihm 1605 eine Studienreise nach im A. P. durchweg zu einer erhebl. Unein- Marburg, Basel u. Heidelberg, auf der er eine heitlichkeit der Stilhaltung: Stilisierte u. in- Reihe wichtiger Anregungen erhielt: so die dividualisierte Gestaltungsweisen stehen un- Gedanken des Antiramisten u. Aristotelesverbunden nebeneinander. kommentators Jakobus Zabarella sowie die Ausgaben: Richard Froning: Das Drama des MA. des Wissenschaftsmethodologen BartholoStgt. 1891/92. Neudr. Darmst. 1964, S. 547–864. – mäus Keckermann, der seine »analytische« Christoph Treutwein: Das A. P. Untersuchungen Methode auch auf die Theologie angewandt zur Überlieferung u. Sprache. Ed. der Alsfelder wissen wollte. Nachhaltig beeinflusste A. Dirigierrolle. Heidelb. 1987. – Die hess. Passions- auch die Adaption der Kombinatorik des spielgruppe: Ed. im Paralleltext. Hg. Johannes Ja- Raimundus Lullus. 1608 kehrte er wieder nota. 3 Bde. u. Erg.-Bd., Tüb. 1996–2004. nach Herborn zurück u. begann 1609 dort seine wiss. Laufbahn als Lehrer des Pädagogiums. Die theolog. Fakultät übernahm ihn

101

1610 als a. o. Professor, 1615 wurde er o. Professor für Philosophie. In dieser Zeit heiratete A. die älteste Tochter des Buchdruckers Georg Raab (Corvinus), Anna Katharina. 1618 wurde er zur Dordrechter Synode entsandt, wo er in der Kontroverse der Calvinisten u. Remonstranten über die Prädestinationslehre den gemäßigten orthodoxen Flügel unterstützte. Nach 1619 lehrte er auch Theologie u. leitete als Rektor – ein Amtsvorgänger war Althusius – die Herborner Hochschule bis 1629. Wegen der Beeinträchtigung des dortigen Wissenschaftsbetriebs durch den Dreißigjährigen Krieg folgte er 1629 einem Ruf an die neu gegründete reformierte Hochschule in Weißenborn. A. verkörpert den barocken Polyhistor, der das gesamte Wissen der Zeit erfassen u. darstellen will, also neben den mittelalterl. artes liberales Ethik, Pädagogik, Politik, Ökonomik, Geografie, Geschichte, Jurisprudenz, Medizin, Theologie u. v. m. A. strebte nach einer Wissenschaftssystematik, die auch als Methode lehrbar sein u. die Kontroverse von Aristotelismus u. Ramismus aufheben sollte. Diesem Bemühen galten seine enzyklopäd. Werke. In Clavis artis Lullianae, et verae logices duos in libellos tributa (Straßb. 1609) konstruierte er für die einzelnen Gruppen des lullschen »Alphabets« eigene Zirkel u. bezog zur Vervollständigung der wiss. Leitbegriffe die aristotel. Kategorien in das System ein. Durch diese Verbindung von Topik u. Kombinatorik etablierte er den Lullismus als Fundamentalwissenschaft. Auf diese methodolog. Grundlegung folgte mit dem Systema mnemonicum duplex (Ffm. 1610) der erste enzyklopäd. Entwurf, in dem der Memoria für die Findungskunst hinsichtlich alles Wissens grundlegende Bedeutung zukam. Seine Universaltopik Trigae canonicae, quarum prima, est dilucida artis mnemonologicae, [...] secunda, est artis Lullianae, [...] tertia, est artis oratoriae (Ffm. 1612) bildet den Abschluss dieser frühen enzyklopäd. Arbeiten. Durch die Aufgabe sowohl des Axioms von der Teilhabe am göttl. Wissen wie der lullist. Grundlage verliert die Mnemonik ihre fundamentale Bedeutung; die Einheit der Philosophie wird jetzt als abhängig von verschiedenen Vermögen gesehen. Die Memoria

Alsted

behält ihre Geltung in dem 1620 in Herborn veröffentlichten Cursus encyclopaediae libris XXVII complectens universae philosophiae methodum serie praeceptorum, regularum et commentariorum perpetua nur noch in der Poetica als topisches Verfahren. Auch wird die Theologie jetzt streng von der Philosophie geschieden. Eine Schulfassung des Werks mit einem philosoph. Wörterbuch (Compendium philosophicum) erschien 1626 in Herborn. Die letzte Stufe der enzyklopäd. Arbeit hatte 1630 einen Stand erreicht, den Leibniz für sein nie publiziertes Projekt gleichen Namens als Grundlage avisieren konnte. A.s in diesem Jahr veröffentlichte Encyclopaedia septem tomis distincta (Herborn 1630. »Diligenter expurgata« Lyon 1649) ist von nicht zu unterschätzender Bedeutung für die Geschichte der Wissenschaft. Sie erfasst alle Universitätsfächer (alles in diesem Leben Lernbare) in einem großen System (»methodica comprehensio«) mit allg. Kompetenz – auch die Theologie – u. bescheinigt dem Verf. einen fundierten Durchblick durch das Wissen der Zeit. Unter didakt. Aspekt kommen Inventio, Judicium u. Memoria wieder zu ihrem Recht. Eine Hierarchie des Wissens wird aufgegeben, nur das Fassungsvermögen der menschl. Ratio bestimmt die Grenzen des Wissens. Dieses Werk ist die bedeutendste Enzyklopädie des 17. Jh. Durch den Lyoner Nachdruck wirkte das Werk auch in Italien u. Frankreich. Seine Bedeutung im 18. Jh. bezeugt die Indizierung durch die kath. Kirche 1757 (Schmidt-Biggemann). A.s Schüler Comenius blieb die Verbreitung u. Weiterentwicklung seiner Gedanken vorbehalten. Große Resonanz in Europa, v. a. im puritan. England, fand auch A.s chiliast. Werk Diatribe de mille annis apocalypticis, non illis chiliastarum & phantastarum, sed B. B. Danielis & Johannis (Herborn 1627. Dt. 1630. Engl. 1643. Neudr. 1927), in dem er für 1694 den Beginn des tausendjährigen Reichs vorausberechnete. Schon durch Piscator war A. mit der Thematik konfrontiert worden. Ebenso wie mit der großen Enzyklopädie setzte sich auch mit diesem Werk Leibniz intensiv auseinander. Ausgaben: Nachdrucke: Clavis Artis Lullianae, et verae Logices Duos in libellos tributa. Hildesh. u. a. 1983. – Encyclopaedia. Faks.-Neudr. der Ausg.

Alt Herborn 1630 mit einem Vorw. v. Wilhelm Schmidt-Biggemann u. einer Bibliogr. [Werkeverz. mit Fundortverz.] v. Jörg Jungmayr. 7 in 4 Bdn. Stgt.-Bad Cannstatt 1989/90. – Alsted and Leibniz on God, the magistrate and the millenium. Hg., mit einer Einl. vers. u. komm. v. Maria Rosa Antognazza u. Howard Hoston. Wiesb. 1999 [= Teile v. vier v. Leibniz mit Hervorhebungen u. handschriftl. Zusätzen versehenen Schr.en A.s: Definitiones theologicae (1626). Distinctiones per universam theologiam (1626). Quaestiones theologicae breviter propositae et expositae (1627). Diatribe de mille annis apocalypticis (1627)]. – Internet-Ed. diverser Texte in: The Digital Library of Classic Protestant Texts (http://solomon.tcpt.alexanderstreet.com/). Literatur: Bibliografie: Siehe Schultz u. Michel. – Weitere Titel: F. W. E. Roth: J. H. A. (1588–1638). Sein Leben u. seine Schr.en. In: Monatsh. der Comenius-Gesellsch. 4 (1895), S.29–44. – Max Lippert: J. H. A.s pädagogisch-didakt. Reformbestrebungen u. ihr Einfluß auf Johann Amos Comenius. Diss. Lpz. 1898/99. – Percival Richard Cole: A neglected educator: J. H. A. Translations, etc. from the Latin of his Encyclopaedia. Sydney 1910. – Heinrich Schlosser: J. H. A. um 1550 [!] bis 1638. In: Nassau. Lebensbilder 2. Wiesb. 1943, S. 28–39 (mit Lit.). – Robert G. Clouse: The Influence of J. H. A. on English Millenerian Thought in the Seventeenth Century. Diss. State University of Iowa 1963. – Paul Althaus: Die Prinzipien der dt. reformator. Dogmatik im Zeitalter der aristotel. Scholastik. Darmst. 1967. – Ingo Schultz: Studien zur Musikanschauung u. Musiklehre J. H. A.s. Diss. Marburg 1967. – Walter Michel: Der Herborner Philosoph J. H. A. u. die Tradition. Diss. Ffm. 1969. – G. Menk: Die Hohe Schule Herborn in ihrer Frühzeit (1584–1660). Ein Beitr. zum Hochschulwesen des dt. Kalvinismus im Zeitalter der Gegenreformation. Wiesb. 1981. – Wilhelm SchmidtBiggemann: Topica universalis. Eine Modellgesch. humanist. u. barocker Wiss. Hbg. 1983. – Ders.: Apokalypt. Universalwiss. J. H. A.s ›Diatribe de mille annis apocalypticis‹. In: PuN 14 (1988), S. 50–71. – Ders. in: DDL. – Wilhelm Kühlmann: Kunst als Spiel. Das Figurengedicht (Technopaegnium) in der Poetik des 17. Jh. In: Daphnis 20 (1991), S. 505–529. Auch in: Kühlmann (2006), S. 424–440. – Howard Hoston: J. H. A., 1588–1638. Between renaissance, reformation and universal reform. Oxford 2000. – Ders.: Paradise postponed. J. H. and the birth of the Calvinist millenarianism. Dordrecht u. a. 2000. – Thomas Leinkauf: ›Systema mnemonicum‹ u. ›circulus encyclopaediae‹. J. H. A.s Versuch einer Fundierung des universalen

102 Wissens in der ›ars memorativa‹. In: Seelenmaschinen. Gattungstraditionen, Funktionen u. Leistungsgrenzen der Mnemotechniken vom späten MA bis zum Beginn der Moderne. Hg. Jörg Jochen Berns u. Wolfgang Neuber. Wien 2000, S. 279–307. – Martin Schierbaum: Vorbildhaftigkeit – Konkurrenz – Kontinuität. Probleme der Antikenrezeption in den Bibliogr.n u. Enzyklopädien der frühen Neuzeit (Gesner, Possevino, A.). In: Autorität der Form – Autorisierung – Institutionelle Autorität. Hg. Wulf Oesterreicher u. a. Münster 2003, S. 85–104. – Wolf Peter Klein: Gab es eine Fachsprachenforsch. im 17. Jh.? Versuch einer Antwort mit bes. Berücksichtigung v. J. H. A. In: Historiographica linguistica 31 (2004) 2/3, S. 297–327. Franz Günter Sieveke

Alt, Franz, * 17.7.1938 Untergrombach. – Journalist, Publizist. A. studierte Politologie, Geschichte, Philosophie u. Theologie u. wurde 1967 mit einer Dissertation über Konrad Adenauer promoviert. Von 1968–2003 war er als Reporter u. Redakteur beim Südwestrundfunk (SWR) tätig u. moderierte für den Sender von 1972–1992 das Politmagazin »Report«. Von 1992–2003 war er Leiter der Zukunftsredaktion »Zeitsprung« im SWR u. ab 1997 zusätzlich Leiter der Magazine »Quer-denker« u. »Grenzenlos« im Fernsehsender 3sat. Seit 2003 schreibt A. Kommentare u. Hintergrundberichte für zahlreiche Zeitungen u. Zeitschriften. Die Veröffentlichung seines ersten Buches Frieden ist möglich. Die Politik der Bergpredigt (Mchn. 1983), in dem er Zweifel an der Politik der Nachrüstung äußerte, führte zu jahrelangen jurist. Auseinandersetzungen zwischen dem Autor u. seinem Sender. A. war bis zur Katastrophe von Tschernobyl 1986 Mitgl. der CDU. In seinen Büchern äußert er sich immer wieder zur politischen, sozialen, ökolog. u. religiösen Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland u. der Welt. Dabei fokussiert er die Themen Klimawandel, Klimapolitik, Ökologie u. Verkehr, Wasser- u. Landwirtschaft, Steuerreform, Menschenrechte u. Frieden. A.s Ziel ist die »solare Weltrevolution«. In Zukunft Erde. Wie wollen wir leben und arbeiten? (Bln. 2006) stellt er Alternativen zur herkömml. Energieerzeugung vor wie z.B. erneuerbare Energien, solares

103

Alt

Bauen u. Wirtschaften. Immer wieder nimmt Die Sonne schickt uns keine Rechnung. Neue er Bezug auf konkrete Projekte, um die Rea- Energie. Neue Arbeit. Mchn. 2004. – Tibet. Weites lisierungsmöglichkeit seiner Forderungen zu Land zwischen Himmel u. Erde. Ffm. 2005 (Bildbd.). – Eine bessere Welt ist möglich. Ein Marunterstreichen. shallplan für Arbeit, Entwicklung u. Freiheit. A. wurde für seine Arbeiten mit zahlrei- Mchn. 2005. – Dtschld. ist erneuerbar. Bad Schuschen Fernseh- u. Umweltpreisen ausgezeich- senried 2007. net, u. a. 1997 mit dem Adolf-Grimme-Preis Literatur: Micha Brumlik: Der Anti-Alt. Wider u. der Goldenen Kamera, 1994 mit dem die furchtbare Friedfertigkeit. Ffm. 1991. – Heinz Deutschen u. 1997 mit dem Europäischen Gess: Vom Faschismus zum Neuen Denken. C. G. Solarpreis, 2004 mit dem Umweltpreis der Jungs Theorie im Wandel der Zeit. Lüneb. 1994. Deutschen Wirtschaft. A. erntet für seine Eva-Maria Gehler Werke von unterschiedl. Seiten auch Kritik. Umweltexperten meinen, dass der Autor Alt, Georg, * 1450 Augsburg (?), † 28.7. häufig unausgegorene Ideen u. Scheinlösun- 1510 Nürnberg. – Stadtschreiber u. gen propagiere, weil er ökologische u. sons- Übersetzer. tige Bedenken etwa aus anderen Fachrichtungen nicht oder nur unzureichend be- A. studierte 1466 in Erfurt, sofern ein Eintrag rücksichtige. Im Weiteren wird A. vorgewor- in der Erfurter Universitätsmatrikel (»Georfen, dass er sich nicht ausreichend von rech- gius Alte nihil propter paupertatem«) sich auf ten Ideologien abgrenze; wenn er in Zeit- ihn bezieht. 1473 erwarb er als Schreiber in schriften wie »Junge Freiheit« u. »National- Nürnberg das Bürgerrecht; er ist dort 1476 zeitung« veröffentliche, nehme er in Kauf, als kaiserl. Notar u. Prokurator, 1478 als dass seine Prominenz für die Imagewerbung Kanzleischreiber bezeugt. Am 21.2.1485 rechtsextremer Organisationen missbraucht wurde er für 20 Jahre zum Losungschreiber werde. A. besteht aber auf der Notwendigkeit der Stadt ernannt u. hatte als solcher die einer Auseinandersetzung mit derartigen städt. Einnahmen u. Ausgaben zu registrieGruppierungen vor dem Hintergrund seiner ren. Aus den Jahren nach 1500 weiß man wenig von ihm (1000 Gulden Vermögen, persönl. Distanz zu ihnen. Heirat 1506). Eine Liste der Losungschreiber Vertreter des jüdisch-christl. Dialogs u. Juvermerkt, er sei »stets kranck« gewesen. den kritisieren seit den 1980er Jahren, dass A.s literarhistorisch bedeutsames Wirken A.s Bücher antisemitisch wirkten. Wenn der fällt in die Zeit um 1493. Zwei 1492 von ihm Autor den neutestamentl. Gott der Liebe geverfasste Nürnberg-Beschreibungen, eine lagen den alttestamentl. Gott der Rache u. des teinische u. eine deutsche, bezeugen, dass er Krieges ausspiele, impliziere dies eine negafrühzeitig an den Vorarbeiten zu Hartmann tive Wertung des Judentums. Daneben kritiSchedels Weltchronik beteiligt war (Abdr. bei sieren Theologen u. Bibelwissenschaftler A.s Mummenhoff, S. 106–111). Diese Chronik ist Jesusbild, das nur eine banale Projektion akein frühes Beispiel für ein verlegerisches tueller ideolog. Vorstellungen sei: der paziGroßprojekt. Ihre dt. Fassung, das Buch der fistische Jesus, der ökolog. Jesus, der feminist. Croniken vnd geschickten [...] (Nürnb.: Koberger Jesus (Jesus. Der erste neue Mann. Mchn. 1989). 1493), ist A.s Hauptwerk. Von vornherein als Weitere Werke: Es begann mit Adenauer. Parallelausgabe zum lat. Liber chronicarum Freib. i. Br. 1975. – Liebe ist möglich. Mchn. 1985. (Nürnb. 1493) angelegt, hatte sie nicht nur – Das ökolog. Wirtschaftswunder. Bln. 1997. – den Text des lat. Werks deutsch wiederzugeWindiger Protest. Konflikte um das Zukunftspoben, sondern weitestgehend auch dessen Seitential der Windkraft. Bochum 1998. – Der ökolog. tenaufteilung u. Illustrationenfolge zu überJesus. Mchn. 1999. – Agrarwende jetzt. Gesunde Lebensmittel für alle. Mchn. 2000. – Krieg um Öl nehmen, u. sie sollte mit möglichst geringem oder Frieden durch die Sonne. Mchn. 2002. – Wege Zeitabstand erscheinen. (Die lat. Ausgabe war zur ökolog. Zeitenwende. Visionen u. Reformal- am 12.7., die dt. am 23.12.1493 ausgedruckt.) ternativen für ein zukunftsfähiges Kultursystem. Diese Zwänge erklären, weshalb A. seine Bln. 2002. – Die Schöpfung. Bln. 2003 (Bildbd.). – Vorlage oft recht frei behandelt, sie »zu zeiten

Altdeutsche Exoduse

104

von maynung zu maynung, vnnd beyweylen Altenberg, Peter, eigentl.: Richard Eng(nit on vrsach) außzugs weise in diß teütsch länder, * 9.3.1859 Wien, † 8.1.1919 Wien; gebracht« hat. Dass sein Text auf manches Grabstätte: ebd., Zentralfriedhof. – Vergelehrte Beiwerk der Vorlage verzichtete (die fasser von Kurzprosa. meisten Literaturbelege, fremde Namen u. eingeschobene Gedichte entfielen), dürfte Mit der Veröffentlichung von Wie ich es sehe mehr über das Publikum als über das Bil- (Bln. 1896), seiner ersten Sammlung von Prosagedichten u. Skizzen, löste der 37-jähdungsniveau des Übersetzers aussagen. 1493 übersetzte A. auch den angeblich von rige Spätzünder P. A. den gescheiterten jüd. Bartolus de Saxoferrato verfassten Processus Kaufmannssohn Richard Engländer endgülSathanae (Ein nützlicher gerichtes handel vor got tig ab. Gerhart Hauptmann schrieb an Arthur dem almechtigen [...]. o. O. u. J. [Lpz. um 1493]), Schnitzler, seit Jahren habe kein Buch einen in dem der Teufel als Ankläger, Maria als so großen Eindruck auf ihn gemacht. Im Verteidigerin u. Christus als Richter der jungen Thomas Mann erweckte die Lektüre Menschheit auftreten. Die Verdeutschung »Liebe auf den ersten Laut«. Bis zu seinem von Konrad Celtis’ Norimberga, die A. 1495 im Tode 1919 brachte der häufig als »Schnorrer« Auftrag des Nürnberger Rats u. zum Miss- abgeschriebene, alkohol- u. rauschgiftsüchtifallen des lat. Autors anfertigte (aufbewahrt ge Bohemien u. Gesundheitsfanatiker, der in der Stadtbibliothek Nürnberg), blieb un- aus seiner Vorliebe für halbwüchsige Mädchen nie ein Hehl machte, weitere elf Bände gedruckt. experimentelle, oft bahnbrechende KurzproAusgaben: Faksimiles der deutschen Fassung von Hartmann Schedels Weltchronik: Das buch der Croni- sa heraus. In einem poet. Nachruf an seinen ken. Lpz. 1933. – Das buch der Croniken. Hg. v. der toten Freund schrieb Karl Kraus: »ein Narr Bibl. der Abtei Niederaltaich. 1967–70. – Das buch verließ die Welt, und sie bleibt dumm«. Für der Croniken. Mchn. 1965. Alfred Polgar war der Kleinkünstler A. Literatur: Otto Puchner: G. A. In: NDB (dort »Gulliver unter den Zwergen« gewesen. ältere Lit. u. archival. Quellen). – Roderich StintVielleicht durch seine unorthodoxe Lezing: Gesch. der populären Lit. des römisch-kanon. bensbahn übermäßig beeinflusst, war die LiRechts. Lpz. 1867, S. 262–271 (zum Processus teraturkritik jahrzehntelang unwillig oder Sathanae). – Paul Joachimsohn: Die humanist. Ge- unfähig, A.s künstler. Leistung zu würdigen. schichtsschreiber in Dtschld. Bonn 1895, A. selbst war an dieser Unterschätzung maßS. 248–253. – Michael Haitz: Hartmann Schedels geblich beteiligt. In einem Brief an Schnitzler Weltchronik. Mchn. 1899. – Ernst Mummenhoff: Nürnbergs Ursprung u. Alter. Nürnb. 1908. – Al- (1894) bezeichnete er sich als »nur ein bert Werminghoff: Conrad Celtis u. sein Buch über Schreiber von ›Muster ohne Wert‹ [...] so ein Nürnberg. Freib. i. Br. 1921 (S. 205–208: Abdr. des kleiner Handspiegel, Toilettespiegel, kein 1. Kap. v. A.s Übers.). – Hans Rupprich (Hg.): Der Welten-Spiegel.« Heute aber überwiegen die Briefw. des Konrad Celtis. Mchn. 1934 (Briefe Nr. positiven Stimmen, die A.s Schlüsselrolle in 95–97, 166 v. u. über A.). – Elisabeth Rücker: Die der Wiener Kultur um 1900 anerkennen. Schedelsche Weltchronik. Mchn. 1973. – Hartmut 1984 bezeichnete ihn »Die Zeit« sogar als Kugler: G. A. In: VL (Nachträge u. Korrekturen). – »die wahre Eminenz von Wien«. In den früKlaus Arnold: Die ›Norinberga‹ des Konrad Celtis – hen Jahren des 20. Jh. wurde der »erste Verihre Entstehung u. Aufnahme in Nürnb. In: Konrad Celtis u. Nürnb. Hg. Franz Fuchs. Wiesb. 2004, künder des modernen Wien« (Rilke) so sehr bewundert, dass er 1914 zus. mit Schnitzler S. 100–116. Hartmut Kugler / Red. für den wegen Kriegsausbruchs nicht vergebenen Nobelpreis nominiert wurde. Altdeutsche Exoduse ! Exodus A.s Miniaturen, die die Magie des Alltags heraufbeschwören wollten (Märchen des Lebens Altdeutsche Genesis ! Genesis, Alt- heißt ein 1907 erschienener Band), waren deutsche stark geprägt vom Visuellen u. der Fotografie: »Die größte Künstlerin vor allem ist die Der Alte Stolle ! Stolle Natur und mit einem Kodak in einer wirklich

105

menschlich-zärtlichen Hand erwirbt man mühelos ihre Schätze« (Wie ich es sehe. Bln. 4 1904). A. übte großen Einfluss auf prominente Zeitgenossen wie Robert Musil aus, der noch in den dreißiger Jahren A. für den »besten Dichter« der Jahrhundertwende hielt. Ohne A.s Vorbild wäre Thomas Manns Tristan (1903) nie zustande gekommen. Franz Kafka, heute v. a. für die Originalität seines Schaffens gepriesen, stützte sich in zwei seiner bekanntesten Erzählungen auf seinen Wiener Vorläufer: Ein Bericht für eine Akademie (1917), Kafkas parabolischer Beitrag zum anhaltenden Assimilations-Diskurs unter den Westjuden, weist offenkundige Parallelen zu A.s Skizze Der Affe Peter in Neues Altes (Bln. 1911) auf. A.s Skizze Die Hungerkünstlerin in Bilderbögen des kleinen Lebens (Bln. 1909) thematisiert die Verbindung zwischen dem Hungern u. dem Schaffensprozess, die dann Kafkas Ein Hungerkünstler (1922) zugrunde liegt. A. bezeichnete sich gern als »Sofortkünstler«, der einfach »die Extrake des Lebens« niederschrieb, die ihm seine Augen, der »Rothschildbesitz des Menschen«, lieferten (Was der Tag mir zuträgt. Bln. 1901). In Wirklichkeit war er ein sorgfältiger Produzent von Texten, die er nicht selten überarbeitete u. verbesserte. Die Erstveröffentlichung erfolgte meistens in der Wiener Tagespresse, erst später wurden die Texte geordnet u. an den Berliner S. Fischer Verlag verschickt, der mit zwei Ausnahmen alle Bücher A.s herausbrachte. Dies machte die öffentl. Seite von A.s schriftstellerischer Tätigkeit aus. Hiermit versuchte der vermeintlich in Armut lebende Dichter (man hielt ihn für arm, als aber die Einzelheiten seines Testaments bekannt wurden, stellte sich heraus, dass er der Wiener Kinderschutz- und Rettungs-Gesellschaft 107.834 Kronen hinterlassen hatte) sein Einkommen zu verdienen. Im Privaten widmete er sich seiner riesigen Sammlung von Ansichtskarten, Porträt- u. Aktfotografien (oft von renommierten Wiener Fotografen). Besonders innovativ war die Beschriftung dieser Karten u. Fotos; das Ergebnis war eine neuartige Fusion von Text u. Bild. Die beschrifteten Bilder hat A. häufig in Alben gesammelt u. damit »ein zweites Oeuvre« geschaffen

Altenberg

(Lensing). Von überaus großer Bedeutung war A.s Verfahren mit dem Buch Semmering 1912 (Bln. 1913), das nach seinem längerem Aufenthalt in der Wiener Anstalt für Geisteskranke »Am Steinhof« erschien. Das Buch handelte von A.s hoffnungsloser Liebe zu Klara Panhans, einer minderjährigen Hotelierstochter, die seinen Zusammenbruch verursachte. 1916 hat er zu privaten Zwecken (das Mädchen war frisch verlobt) ein Album mit dem Titel Semmering 1912 zusammengestellt, das den Inhalt des gleichnamigen Buches mittels lauter beschrifteter Bilder wiedergibt. Die beiden Fassungen von Semmering 1912 erschienen erstmalig 2002 zusammen. Nicht selten aber erschienen in den veröffentlichten Büchern Texte ohne die Bilder, die sie ursprünglich angeregt hatten. Der Wiener Schönberg-Schüler Alban Berg berief sich auf solche Texte ohne Bilder in den Fünf Liedern nach Ansichtskartentexten von P. A., op. 4 (1912), die Igor Strawinski zu den schönsten Kompositionen des 20. Jh. überhaupt zählte. Unter den Tausenden von Briefen, die A. verfasste, sind nur diejenigen an Kraus in wissenschaftlicher Form veröffentlicht worden (Barker u. Lensing). Für A. waren aber die Briefe ein wichtiger Bestandteil seines Schaffens. An Bessie Bruce, die engl. Lebensgefährtin seines Architektenfreundes Adolf Loos, schrieb A.: »My letters, dearest, are my soul«. 1934 war es so weit, dass eine Briefausgabe erscheinen sollte, aber die polit. Ereignisse in Österreich (Februartage, DollfussMord) änderten das kulturelle Klima radikal u. machten dem Projekt ein jähes Ende. Nach dem Anschluss 1938 konnte der Wiener Kunsthändler Otto Kallir-Nirenstein viele von A.s Manuskripten nach New York hinüberretten, andere blieben in der Obhut Franz Glücks, des Nachkriegsdirektors des Historischen Museums der Stadt Wien. Nach dem Zweiten Weltkrieg erlebten einige jüd. Autoren (z.B. Kafka, Schnitzler) eine Renaissance. Ab den 1960er Jahren kam zwar erneutes krit. Interesse an dem »Verlaine der Ringstraße« (Alfred Kerr) auf, aber in den 1980er Jahren blieb Werner J. Schweigers geplante 5-bändige krit. Neuausgabe unvollständig. Die Veröffentlichung von Dagmar Lorenz’ Studie Wiener Moderne (Stgt. 1995)

Altenburg

106

untermauerte jedoch A.s Position im Kanon der Wiener Literatur. A.s Werke waren aber nie wirklich vergessen worden. Noch in der DDR konstatierte Uwe Johnson 1958: »Nun aber ist offenbar wirklich eine bis heute nicht verdorbene Zulänglichkeit von Bemerkenswert erreicht in solchen Stücken, in denen die andächtige Richtung des Subjekts auf die Welt ohne lehrhaften Anspruch ausgeprägt ist. In der feinnervigen und gierigen Aufnahme von Eindrücken findet sich mitunter ein menschlicher Gestus so bündig aufbewahrt, dass die Form plötzlich wieder mehr als poetisch: wahr vorkommt.«

versteht sich als Vertreter eines neuen literar. Realismus, der sich als betont lakonischer Stil in seiner Novelle Die Toten von Laroque (Ffm. 1994) niederschlägt. In der Figurenperspektive seines Romans Landschaft mit Wölfen (Köln 1997) radikalisiert sich die Lakonie zu einem aggressiven, menschenverachtenden Nihilismus. 1998 erhielt A. den Marburger Literaturpreis. Unter dem Pseudonym Jan Seghers veröffentlicht A. von der Kritik beifällig aufgenommene Kriminalromane, in denen die Figur des Kommissars Marthaler im Mittelpunkt steht: Ein allzu schönes Mädchen (Hbg. 2004) u. Die Braut im Schnee (Hbg. 2005).

Weitere Werke: Ashantee. Bln. 1897. – Prodromos. Bln. 1905. – Fechsung. Bln. 1915 – Nachfechsung. Bln. 1916. – Vita ipsa. Bln. 1918. – Mein Lebensabend. Bln. 1919. – Der Nachl. Bln. 1925. – Nachlese. Wien 1930.

Weitere Werke: Alles wird gut. Eine Sommerkomödie. Ffm. 1995. Urauff. Bremen 1997. – Irgendwie alles Sex. Köln 2002. – Partisanen der Schönheit. Münster 2002.

Ausgabe: Karl Kraus (Hg): P. A. Ausw. Wien 1932. – P. A. Ges. Werke. Hg. Werner J. Schweiger. 2 Bde., Wien/Ffm. 1987. Literatur: Egon Friedell: Ecce Poeta. Bln. 1912. – Gisela v. Wysocki: P. A. Mchn. 1979. – Hans Christian Kosler (Hg.): P. A. Leben u. Werk in Texten u. Bildern. Mchn. 1984. – Stefan Nienhaus: Das Prosagedicht. Bln. 1986. – Hans Bisanz: P. A. Mein äußerstes Ideal. Wien 1987. – Burkhard Spinnen. Schriftbilder. Münster 1991. – Bernd Neumann (Hg.): Uwe Johnson: ›Wo ist der Erzähler auffindbar?‹ Ffm. 1992. – Dagmar Lorenz. Wiener Moderne. Stgt. 1995. – Andrew Barker u. Leo Lensing: P. A. Rezept die Welt zu sehen. Wien 1995. – A. Barker: Telegrammstil der Seele. Wien 1998. – L. Lensing u. A. Barker: Semmering 1912. Wien 2002. – Heinz Lunzer u. a.: P. A. Extracte des Lebens. Salzb. 2003. – Verfilmung: Felix Mitterer: Der Narr v. Wien. Salzb. 1982 (Drehb). Andrew Barker

Altenburg, Matthias, auch: Jan Seghers, * 14.12.1958 Fulda. – Romancier, Kritiker, Essayist. Nach einem Studium der Literaturwissenschaft, Publizistik u. Kunstgeschichte in Göttingen arbeitete A. von 1987 bis 1996 als Lektor beim Verlag der Autoren in Frankfurt/ M. Seitdem lebt er dort als freier Schriftsteller. 1992 debütierte A. mit dem Roman Die Liebe der Menschenfresser (Mchn./Zürich). Er

Literatur: Enno Stahl: M. A. In: KGL. – Stefan Sprang: M. A. In: LGL. Tim Lörke

Altendorf, Wolfgang, * 23.3.1921 Mainz, † 18.1.2007 Freudenstadt. – Verfasser von Romanen, Dramen, Hör- u. Fernsehspielen; Verleger u. Maler. Der Sohn eines Rechtsanwalts nahm im Zweiten Weltkrieg mit 19 Jahren am Russlandfeldzug teil, kehrte mehrfach verwundet zurück u. wurde als erster dt. Soldat aus der amerikan. Kriegsgefangenschaft entlassen. Nach dem Krieg war A. zunächst als Journalist tätig u. Mitbegründer der »Rheinischen Zeitung« in Köln, seit 1946 freiberuflicher Autor. Zusammen mit seiner Frau Irmeli Altendorf, geb. Seiwert, gründete er einen eigenen Verlag, später eine Galerie, 1962 zog er in das bei Freudenstadt gelegene Wittlensweiler. A. nutzte von Lyrik über Erzählung, Drama u. Essay fast alle literar. Ausdrucksmöglichkeiten, wandte sich auch immer wieder der Malerei zu u. veröffentlichte – überwiegend im Selbstverlag – Gemälde, Zeichnungen u. Gebrauchsgrafiken. Anerkennung erfuhr er v. a. als Dramatiker, Hör- u. Fernsehspielautor: Nach mehreren vorausgehenden Ehrungen wurde ihm (zus. mit Theodor Schübel) 1957 für seine ersten neun Stücke der Berliner Gerhart-Hauptmann-Preis der Freien

107

Altenstaig

Volksbühne Berlin verliehen; er war erster Niemandsland einer Grenze spielt u. das »Turmschreiber«-Preisträger der Stadt Dei- Problem der dt. Teilung enthüllt: Ein desheim in Rheinland-Pfalz; 1982 wurde ihm Schleusenwärter wird erschossen, während er der Literarische Hambachpreis zugespro- Flüchtlingen hilft. Der Science-Fiction-Rochen. A. schrieb insg. über 300 Hörspiele, an man Das Stahlmolekül (Mchn. 1983) knüpft an die 70 Theaterstücke, Gedichte u. Kurzge- E. T. A. Hoffmanns »Automatenmenschen« schichten, Übersetzungen seiner Werke er- an, nimmt aber auch aktuelle Debatten über schienen in 16 Sprachen, die Gesamtauflage die techn. Möglichkeit einer Duplizierung seiner Bücher beträgt über 750.000 Exem- des Menschen auf. plare. Als Maler u. Bildhauer mit einem Weitere Werke: Leichtbau. Krefeld 1957 (L.). – Œuvre von über 1500 Objekten gilt er als ein Landhausnovelle. Gütersloh 1957. – Der Transport. Begründer eines »linear-dynamischen Rea- Braunschw. 1959. 21960. Ital. La tradotta. Turin lismus«. 1971 gründete A. die Altendorf- 1963 (R.). – Die geheime Jagdgesellsch. Essen 1961. Frz. Le cas Merkelbach. Paris 1963 (R.). – Hiob im Kulturstiftung. A.s dramatisches Œuvre umfasst Schwank- Weinberg. Freudenstadt/Wittlensweiler 1962. Neudr. ca. 1989 (E.). – Morgenrot der Partisanen. u. Lustspielformen ebenso wie Zeit-, ProFreudenstadt/Wittlensweiler 1967 (R.). – Vom Koch blemstücke u. Tragödien. Oft humorvoll u. der sich selbst zubereitete. 12 Psychos. Zürich 1973. lebensnah befasst er sich mit allgemeinen – Kriminalprozeß Oppenheimer Rose. Freudenmenschl. Verhaltensweisen, bes. in Extrem- stadt/Wittlensweiler 1984 (D.). situationen, behandelt aber auch verschieLiteratur: Irmeli Altendorf (Hg.): W. A. zum dentlich die Problematik von Nationalsozia- 65. Freudenstadt. Freudenstadt 1986. – Robert N. lismus, Krieg u. geteiltem Deutschland. Das Bloch: W. A. In: Bibliogr. Lexikon der utopischNebeneinander von tragischen u. humorist. phantast. Lit. Meitingen 1996 (mit Bibliogr.). Themenstellungen, die auch den autobiogr. Heinz Vestner / Hansgeorg Schmidt-Bergmann Roman einer Deutschlandreise im April 1945 (Odyssee zu zweit. Braunschw. 1957) prägen, Altenstaig, Alfensteig, Johannes, * um 1482 illustrieren zwei Stücke aus den Jahren 1952/ Mindelheim, † um 1525 Mindelheim . – 53: Während das frühere, Der arme Mensch, Verfasser von Schulschriften; Theologe. anhand zweier zum Tode verurteilter Soldaten in einem Militärgefängnis die Gewalt u. A. studierte seit 1497 in Tübingen, wurde Ausweglosigkeit des Krieges demonstriert, 1502 Magister artium u. 1507 Baccalaureus kann in der Komödie Die Mücke und der Elefant biblicus. Sein prägender Lehrer wurde der ein Leutnant den Ruf der Armee retten, in- Humanist u. Poetik-Dozent Heinrich Bebel, dem er den Befehl zur Erschießung von Gei- dessen Schüler Johannes Brassicanus, Johanseln mit Platzpatronen ausführen lässt. In nes Eck u. Jakob Heinrichmann A.s Freunweiteren Stücken offenbaren sich dunkle As- deskreis bildeten. 1509 folgte er einem Ruf pekte politischen Handelns einmal an der als Leiter an die Schule des Augustinernegativen Figur eines Staatssekretärs (Der Chorherrenstifts Polling/Obb. 1511 zum Puppenspieler. 1953), zum anderen an der po- Priester geweiht, kehrte er Ende 1512 als sitiven Gestalt eines Waffenhändlers, der Messpfründner u. Seelsorger nach Mindelkriegswütige Gegner mit Weizen anstatt mit heim zurück. Um 1525 dürfte er gestorben Waffen schachmatt setzt (Die Feuer verlöschen. sein. 1954). Noch in Tübingen kommentierte A. das Größere Erfolge erzielte A. mit dem kleruskritische allegor. Epos Triumphus VeneSchauspiel Das Dunkel (1956), dessen Szenen ris seines Lehrers Bebel (gedr. Straßb. 1515). zwischen drei in einem verschütteten Schacht In der Pollinger Zeit entstanden Hilfsmittel eingeschlossenen Bergleuten u. drei warten- für den Lateinunterricht. Der Vocabularius voden Frauen wechseln u. dabei zeigen, wie cum (Straßb. 1508) erläutert das Vokabular Menschen in der Situation äußerster Not auf der Grammatiken des Brassicanus u. Heinsich selbst verwiesen sind. Bekannt wurde richmanns, das Opus pro conficiundis epistolis auch das Drama Die Schleuse (1958), das im (Hagenau 1512) ist eine ausführliche huma-

Althamer

nist. Brieflehre nebst Stilistik, die Dialectica (Hagenau 1514) dagegen steht ganz in der in Tübingen gepflegten nominalist. Tradition der Logik. Als Priester wandte sich A. theologischen u. philosoph. Themen zu, stellte ein Begriffslexikon (Vocabularium theologie. Hagenau 1517) zusammen u. schrieb Traktate über irdische u. jenseitige Glückseligkeit (De felicitate triplici. Hagenau 1519) sowie wahre u. falsche Freundschaft (De amicitia. Hagenau 1519). Für seinen Gönner Johann von Frundsberg übersetzte er Isokrates’ De regni administratione ad Nicoclem nach lat. Vorlage ins Deutsche (Isocrates von dem Reich. Augsb. 1517), verteidigte in dt. Sprache die Heilsnotwendigkeit guter Werke gegen die Reformation (Underricht was ain Christen mensch thun oder lassen sol. Augsb. 1523) u. schrieb gegen das Laster der Völlerei (Von der füllerey. Straßb. 1525). In allen Schaffensbereichen verstand sich A. als Kompilator ohne Anspruch auf Originalität, bewies als solcher aber umfassende Belesenheit auch in der jungen humanist. Tradition. Nennenswerte Wirkung hatten allein seine Wörterbücher, der Vocabularius theologie in mindestens 22 Drucken gar bis 1619 (Neudr. der Ausg. Köln 1619 u. d. T. Lexicon theologicum. Hildesh. 1974). Literatur: Friedrich Zoepfl: J. A. Münster 1918. – Marcel Angres: Triumphus Veneris. Münster 2003. – Jan Noble Pendergrass: Humanismus u. Theologie in J. A.s ›Opus pro conficiundis epistolis‹ (1512). In: Germania latina – Latinitas teutonica. Hg. Eckhard Keßler u. Heinrich C. Kuhn. Bd. 1, Mchn. 2003. – Franz Josef Worstbrock: J. A. In: VL Dt. Hum. J. Klaus Kipf

Althamer, Andreas, auch: Palaeosphyra, * ca. 1500 Brenz bei Heidenheim, † wohl Sommer 1539 Ansbach. – Reformator, Humanist, Pastor u. theologischer Schriftsteller. Nach dem Besuch der Lateinschule in Augsburg studierte A. in Leipzig (Immatrikulation Sommer 1516) u. in Tübingen (Immatrikulation 8.5.1518), wo er Philipp Melanchthon kennenlernte u. am 18.9.1518 zum baccalaureus artium promoviert wurde. Sodann war A. als Lehrgehilfe tätig, zunächst in Tü-

108

bingen, dann (1520) in Reutlingen, woraufhin er sich vom Sommer 1520 bis zum Frühjahr 1521 wieder in Leipzig aufhielt. Danach war er erneut als Lehrgehilfe tätig, erst in Halle/S. (bis Frühjahr 1522), sodann (von Frühjahr 1523 an) in Ulm. Nach der Priesterweihe im Frühjahr 1523 (Ort unbekannt) war A. in der ersten Jahreshälfte 1524 als Gehilfe des Stadtpfarrers in Schwäbisch Gmünd tätig u. wirkte hier bereits im Sinne der reformator. Botschaft, der er sich vermutlich infolge seines Kontaktes mit Johannes Hornburg (Rothenburg/Tauber) zugewandt hatte. A., der (wohl Anfang Juni 1525) in den Stand der Ehe getreten war – seine Frau hieß Anna u. ist vermutlich 1535 oder 1536 in Ansbach gestorben –, wurde am 4.7.1525 wegen seiner Verheiratung seines Dienstes enthoben u. musste im Zuge der Unterdrückung der reformator. Bewegung nach der Niederwerfung der Bauernaufstände aus Schwäbisch Gmünd fliehen; seine Frau blieb zurück. Am 18.10.1525 wurde A. in Wittenberg immatrikuliert. 1526 begab er sich nach Nürnberg u. trat 1527 eine Pfarrstelle im nürnberg. Eltersdorf an, am 22.3.1528 wurde er Diakon an St. Sebald in Nürnberg. A. nahm im Januar 1528 an der Berner Disputation teil, in deren Folge die Reformation in Bern eingeführt wurde. Markgraf Georg von Brandenburg berief ihn im Mai desselben Jahres auf eine Pfarrstelle nach Ansbach. A. wurde gemeinsam mit dem Ansbacher Stiftsprediger Johann Rurer u. anderen damit beauftragt, Visitationen in den Markgrafschaften Ansbach u. Kulmbach durchzuführen u. die Brandenburg-Nürnbergische Kirchenordnung abzufassen, die allerdings erst im Jahre 1533 im Druck erschien. Zudem verfassten A. u. Rurer einen Katechismus (Catechismus. Das ist Vnterricht zum Christlichen Glauben/ wie man die jugent leren vnd ziehen sol. Nürnb. 1528). Im Jahre 1537 tat sich für A. nochmals ein neues Tätigkeitsfeld auf, als er von Markgraf Johann I. von Brandenburg-Küstrin damit beauftragt wurde, in der Neumark die Reformation einzuführen, woraufhin er wohl wieder nach Ansbach zurückgekehrt ist. Das gedruckte Werk, das A. hinterlassen hat, ist schmal, jedoch fällt die recht hohe

109

Althaus

Auflagendichte seiner Schriften auf. A.s scher. In: Württemberg. Vierteljahresh.e für LanErstling beschreibt die Gründungsgeschichte desgesch. 19 (1910), S. 428–446. – Hermann Ehdes Klosters Ettal (Historia monasterii Etal. ca. mer: A. A. u. die gescheiterte Reformation in 1520), während die Scholia in Cornelium Ta- Schwäbisch Gmünd. In: BWKG 78 (1978), S. 46–72. – Ders.: A. In: DDL (mit Verz. der Briefe v. u. an A.). citum (Nürnb. 1529) einen Kommentar zu – Bernd Christian Schneider: A. A. u. sein VierTacitus’ Germania darstellen, den A. später frontenkrieg. In: Ztschr. für bayer. Kirchengesch. erweiterte. 71 (2002), S. 48–68. Johann Anselm Steiger A.s theolog. Werke sind großenteils Gelegenheitsschriften. So stellte er sich mit seinem Traktat Von dem Hochwirdigen Sacrament Althaus, Peter Paul, * 28.7.1892 Münster, des leibs vnd bluts vnnsers Herrn Jesu Christi (o. O. † 16.9.1965 München. – Journalist, Lyri[Nürnb.] 1526) innerhalb der Auseinanderker, Rundfunkdramaturg u. Kabarettist. setzungen Luthers mit Zwingli deutlich auf die Seite des Wittenberger Reformators u. Der Sohn eines Kaufmanns begann nach verfocht (wie Johannes Brenz) die Lehre von mehreren Schulwechseln 21-jährig eine Apoder leibl. Präsenz Christi im Abendmahl. A.s thekerlehre, die er jedoch abbrach, um als Schrift Das vnser Christus Jesus warer Gott sey Kriegsfreiwilliger am Ersten Weltkrieg teil(Nürnb. 1526) steht im Kontext des 1525 in zunehmen. Er machte die Literatur schon Nürnberg gegen Hans Denk u. die »drei früh zu seinem Lebensinhalt, mit studentigottlosen Maler« anhängigen Prozesses, die schen Literaturzeitschriften, einem eigenen die Gottheit Jesu leugneten, während seine kleinen Verlag u. der Gründung literarischer Diallage, hoc est, conciliatio locorum scripturae Freundeskreise. Seit 1922 lebte er in Mün(Nürnb. 1527) hundert sich scheinbar (»pri- chen, wo er in Schwabinger Zirkeln mit Karl ma facie«) widersprechende Bibelstellen har- Wolfskehl, Klaus Mann, Frank Wedekind u. monisierend interpretiert u. somit die Be- Joachim Ringelnatz bekannt wurde. A. fand hauptung Denks, die Hl. Schrift sei wegen im Journalismus seinen ersten Brotberuf. Er ihrer Widersprüchlichkeit als Grundlage des schrieb u. a. Glossen für die »Welt am SonnGlaubens ungeeignet, vielmehr sei eine di- tag« u. Reportagen für die Illustrierte »Rerekte illuminatio des Menschen durch den vue«. Hinzu kamen Übersetzer- u. LektoHl. Geist notwendig, zu widerlegen bestrebt ratstätigkeiten sowie, noch aus früher Zeit, ist. Die Diallage wurde häufig gedruckt u. von die Bürgerschreck-Gedichte à la Frank WeSebastian Franck, der später mit seinen Pa- dekind Jack der Aufschlitzer (Bln. 1924). Sein radoxa (1534) ebenfalls (allerdings mit entge- zweites berufl. Standbein fand A. beim gengesetzter Zielrichtung) einander wider- Rundfunk, für den er seit 1928 arbeitete u. streitende Bibelstellen zur Diskussion stellte, »unendlich viele Hörspiele und bunte Abende« moderierte. Er arbeitete für den Bayeribereits 1528 ins Deutsche übertragen. Weitere Werke (in Auswahl, vgl. VD 16): Ain schen Rundfunk u. als Chefdramaturg u. Sermon von dem eelichen stand. o. O. 1525. – Oberspielleiter beim Berliner DeutschlandAnzeygung warumb Got die wellt so lang hab las- sender. 1941 betrieb Goebbels seine Entlassen jrrhen. Nürnb. 1526. – Annotationes in Epis- sung u. A. wurde bis 1945 zum Kriegsdienst tolam beati Iacobi. Straßb. 1527. – Annotationes in einberufen. 1945 kehrte er nach München posteriores duas Ioannis presbyteri Epistolae. zurück, wo er maßgeblich an der WiederbeNürnb. 1528. – Sylva biblicorum nominum. lebung der »Brettl«-Bewegung beteiligt war Nürnb. 1530. u. eigene Kabaretts ins Leben rief. Literatur: Johann Arnold Ballenstedt: Andreae In München war A. lange Zeit unvergessen Althameri Vita. Wolfenb. 1740. – Theodor Kolde: u. galt als »Inkarnation« des Schwabinger A. A., der Humanist u. Reformator in BrandenBoheme-Lebens schlechthin. A. literarisches burg-Ansbach. Erlangen 1895. Neudr. Nieukoop 1967. – Ders.: Zur Gesch. Billicans u. A.s u. der Vermächtnis bilden fünf Gedichtbände, die Nördlinger Kirchenordnung vom Jahre 1525. In: seit 1951 in einer bibliophilen Edition des Beiträge zur bayer. Kirchengesch. 10 (1904), Karlsruher Stahlberg-Verlags erschienen. S. 28–40. – Joseph Zeller: A. A. als Altertumsfor- Diese Lyrik versprüht den Charme eines

Althochdeutsche Benediktinerregel

110

formgewandten Fabulierers, der mit Witz u. Georg Bühren (Hg.): Ansichten aus der Traumstadt. Esprit seinen literar. Vorbildern Ringelnatz Der Dichter P. P. A. (1892–1965). Münster 1992. Walter Gödden u. Morgenstern nacheiferte, dabei aber einen eigenen Ton fand. A.’ Gedichte leben von ihrem unschuldigen Fantasiereichtum u. sind Althochdeutsche Benediktinerregel charakterisiert durch überraschende Reime, ! Benediktinerregel, Althochdeutsche Formenvielfalt, weitreichende rhythmische Spannungsbögen u. Lautmalerei. Es begegAlthusius, Johannes, eigentl.: Althaus, nen surreale Bildkompositionen, die von Ge* 1563 Diedenhausen (Grafschaft Saynmälden Kokoschkas, Kandinskys, Klees u. Wittgenstein), † 12.8.1638 Emden. – ReChagalls inspiriert zu sein scheinen. In A.’ formierter Jurist u. politischer Schriftspäten Gedichten dominiert das resignative steller. Resümee eines Autors, der sich fehl am Platz fühlte u. nach dem letzten »Wohin« fragte: A. stammte aus einer wohlhabenden Familie »Wir sind ein Häuflein ausgebrannter Schla- aus der Grafschaft Sayn-Wittgenstein, becken; / wir sanften Irren tragen Schlüssel in suchte das Gymnasium in Marburg u. die den Taschen unserer Jacken / für Türen, die es philosoph. Fakultät in Köln. Er studierte nicht mehr gibt.« dann Jura in Basel bei Basilius Amerbach, bei A. wurden zahlreiche Ehrungen zuteil, u. a. dem er 1586 promovierte, u. in Genf bei der Schwabinger Kunstpreis (1961), die Dionysius Gothofredus. Nach der Promotion Goldmedaille des Bayerischen Rundfunks wurde er als erster Jurist an die Hohe Schule (1962), eine Laudatio von Theodor Heuss zu Herborn berufen. Grund seines wiss. Ruhmes A.’ 70. Geburtstag im Rundfunk u. ein Eh- waren die Iuris Romani libri duo (Basel 1586), rengrab auf dem Münchener Nordfriedhof. die er später u.d.T. Iurisprudentiae Romanae 1971 Gründung des »Klubs der sanften Ir- methodice digestae libri duo drucken ließ (51623), ren« in Essen durch den A.’-Biografen Karl u. in denen er ein Rechtssystem nach der Norbisrath. Es finden noch heute »Traum- »definitorischen« Methode des Petrus Ramus stadt-Abende« statt, nun bei A.’ Neffen, Hans aufstellte. Der dichotom. Anordnung folAlthaus, in Köln. gend, teilte A. die Behandlung in einen allWeitere Werke: In der Traumstadt. Karlsr. gemeinen u. einen besonderen Teil. Ersterer 1951. – Dr. Enzian. Karlsr. 1952. – Flower Tales. umfasste die Begründung des Rechtes als »ius Laßt Blumen sprechen. Karlsr. 1953. – Wir sanften naturae« u. »ius civile«; letzterer gliederte Irren. Karlsr. 1956. – Seelenwandertouren. Karlsr. sich wiederum in Rechtsprechung u. Pro1961. – P. P. A. läßt nochmals grüßen. Gedichte aus zessrecht. Inhaltlich war die Iurisprudentia dem Nachl. Karlsr. 1966. – P. P. A. Ein Schwabinger Romana der zeitgenöss. Literatur eng verDichter aus Westfalen. Münster 1968. – Traumpflichtet, wie es in der Darstellung des öfstadt u. Umgebung. Sämtl. Gedichte. Mchn. 1975. fentl. Rechtes deutlich wird, die sich wesent– P. P. A.-Lesebuch. Köln 2002. – P. P. A. läßt grüßen. Die Traumstadtgedichte v. P. P. A. Bielef. lich auf Bodin stützt. Die späteren Dicaeologi3 2003. Sowie zahlreiche Herausgeberschaften u. cae libri tres (Ffm. 1617. 1649 Neudr. Aalen 1967) lehnten diese Einflüsse entschieden ab, Übersetzungen, s. die unter Literatur angeführte Bibliogr. – Hörbücher: Der Dichter P. P. A. behielten aber das method. Schema bei u. (1892–1965). Ansichten aus der Traumstadt. Bielef. entwickelten es mit strenger Konsequenz. In 1998. – Ein Spaziergang durch die Traumstadt. Herborn ließ A. auch eine polit. Disputation Bielef. 2001. – Flower Tales. Bielef. 2002. – P. P. A. De regno instituendo et recte administrando (Herlässt grüßen. Bielef. 2003. born 1602. Neuausg. in: Quaderni fiorentini Literatur: Westf. Autorenlex. 3, S. 13–28 (Bi- 1996) verteidigen, in der er seine polit. Lehre bliogr. mit einem umfangreichen Verz. unselb- in gedrängter Fassung umriss. 1603 veröfständiger Lit. v. u. über A. (auch online: www.litefentlichte er seine Politica methodice digesta raturkommission.de/alex). – Walter Gödden u. (Herborn), die er in zwei darauffolgenden Auflagen (Arnheim 1610. Herborn 1614. 4 1625. Dt. Teilübers. Bln. 2003) durch die

111

eigenen Erfahrungen bereicherte, um wichtige Argumente gegen die Anhänger Jean Bodins, bes. gegen Henning Arnisaeus, ergänzte u. zu einer polit. Theologie calvinistischer Prägung gestaltete. Mit den polit. Autoren seiner Zeit teilte A. die Überzeugung, dass eine einzige gottgewollte u. natürl. Ordnung über die ganze Welt herrscht u. allen Menschen in verschiedenen Graden zugänglich ist. Daraus folgt, dass jede Gemeinschaftsform auf Konsens beruhen muss. In der polit. Gesellschaft kommunizieren die Menschen ihre materiellen u. geistigen Güter, die Waren, die Künste, die Tugenden, die Rechte u. die Pflichten, denn jeder benötigt die Mitwirkung der anderen, um die Selbstgenügsamkeit zu erreichen u. ein tugendhaftes Leben zu führen. Der Vertrag ist das jurist. Mittel, mit dem die Menschen die Ordnung der Gerechtigkeit anerkennen u. die polit. Gemeinschaft zustande bringen. A. entwarf eine vollständige Lehre des Vertrags schon in der Disputation aus dem Jahre 1602 u. wandte sie ab der zweiten Auflage der Politica systematisch auf alle Ebenen des Soziallebens (Familie, Nachbarschaft, Dorf, Stadt, Provinz, Königreich) an. Er bildete eine Pyramide aus Gesellschaften, in der jede übergeordnete Form aus dem vertragsmäßigen Zusammenschluss der unmittelbar untergeordneten Elemente entsteht. Am unteren Ende der Hierarchie befinden sich die Familien, die sich in die Sippengemeinschaft assoziieren. Es folgen die Nachbarschaften u. die Genossenschaften, die in die Stadt, die erste polit. Gesellschaft im eigentl. Sinne, eingehen. Mehrere Städte, Dörfer u. Burgen unter derselben Verwaltung bilden die Provinzen, die sich zuletzt ins Königreich vereinigen, das den höchsten Grad der Selbstgenügsamkeit erreicht. Diese aus verschiedenen u. sukzessiven Verträgen hervorgehende polit. Gesellschaft heißt nach dem Wortlaut der aristotel. u. reformierten Überlieferung »koinonia« oder »simbiosis« u. ihre Mitglieder sind die »simbiotici«, ein Terminus, der keineswegs Individuen, sondern Gesellschaften oder Gesellschaften von Gesellschaften bezeichnet. Das Harmonie- u. Ordnungsgesetz, das sich in allen Bereichen der Schöpfung manifestiert, gilt auch für die

Althusius

Gemeinschaften; in ihnen ist daher immer ein Prinzip tätig, das alle anderen Mitglieder leitet u. sie zur Verwirklichung des tugendhaften Lebens führt. Nichtsdestoweniger haben die untergeordneten Teile Einblick in die Ordnung des Guten u. können anerkennen, ob ein Gebot des Übergeordneten gerecht oder ungerecht ist. Insofern ist ihnen auch möglich, dem Herrschenden zu widerstehen, wenn er die Gerechtigkeit schwer verletzt. Dieses Prinzip ist bes. deutlich im Falle des Königreichs, der einzigen wahrhaft selbständigen menschl. Gesellschaft, die durch einen dreifachen Vertrag entsteht. Zuerst vereinbaren alle Mitglieder des Gemeinwesens, eine gemeinsame Gesellschaft zu begründen, in der sie ihre Güter u. Handlungen wechselseitig tauschen. Dann wird ein Vertrag zwischen dem schon konstituierten Volk u. dem Magistrat geschlossen, dem die Vertreter des Volkes, die unteren Würdenträger, die höchste Gewalt u. die Verwaltung des Reiches anvertrauen, damit er nach bestimmten Bedingungen regiert. Zuletzt verpflichten sich Volk u. höchster Magistrat in einem dritten Bund mit Gott u. versprechen ihm, dass sie ihn als Herrscher anerkennen u. seinen Geboten folgen werden. In diesem Fall erscheinen Volk u. Magistrat als zwei »Mitschuldige« oder »correi«, denn jeder von ihnen ist auch für die Fehler des anderen verantwortlich u. dazu verpflichtet, die ganze Schuld zu leisten. Folglich wird das Volk Gott auch für das Handeln des Magistrats Rechenschaft ablegen u. darf ihm daher auch mit Gewalt widerstehen, wenn jener den göttl. Willen offensichtlich verletzt. Das Widerstandsrecht wird aber nicht direkt von den einzelnen Untertanen, sondern durch dessen Vertreter, den Adel oder die Ephoren, ausgeübt, die auch in der Gründung des Königreiches das Volk repräsentieren. Schon 1604 erhielt A. einen Ruf als Syndikus der Stadt Emden, eines Ausstrahlungszentrums des Calvinismus im Norden. Hier wurde A. einerseits mit den föderalist. Bestrebungen der benachbarten niederländ. Provinzen u. andererseits mit den territorialen Ansprüchen des Grafen von Oldenburg konfrontiert. Auch diese Erfahrungen wurden in die Politica methodice digesta aufge-

Altmann

112

nommen, der das wiss. Interesse des A. wäh- Altmann, Matthias (Augustin), * 24.2. rend der ersten Amtsjahre galt. Nach der 1790 Erlach (Kallham)/Oberösterreich, Veröffentlichung der Dicaeologica versiegte † 28.4.1880 Neumarkt/Oberösterreich. – seine literar. Tätigkeit. 1617 wurde er Kir- Lehrdichter u. Idylliker. chenältester u. bis zu seinem Tod leitete er A., Sohn eines Beamten, besuchte die Schule den Geheimen Rat, der nach der Abschaffung der Benediktiner in Kremsmünster. In den der Kontrolle durch die Bürgerschaft die Renapoleon. Kriegen kämpfte er zunächst für gierung der Stadt Emden ausübte. Österreich, ab 1813 gezwungenermaßen für Das Werk des A. wurde erst Ende des 19. Jh. Bayern (nachdem das Innviertel bayerisch von Otto Gierke wiederentdeckt, der ihn als geworden war). Nach dem Wiener Kongress einen wichtigen Vertreter des dt. Genossenstand er wieder in österr. Diensten u. rückte schaftsrechts u. als den Begründer des mozum Offizier auf. 1821 erwarb er einen Baudernen Naturrechts betrachtete. Die neuere ernhof (»Nigelgut« zu Damberg) in der Pfarre Literatur hat aber gezeigt, dass die VertragsTaufkirchen/Trattnach u. war bis Ende der lehre, die Unabhängigkeit des Volkes gegen1850er Jahre als Landwirt tätig. über dem Magistrat u. die Mitverantwortung Nach 1828 verfasste A. ein Oberösterreichibeider vor Gott mit der modernen Volkssousches Georgicon. Ein Lehrgedicht, dargestellt in eiveränität nicht verwechselt werden dürfen, nem Familiengemälde (Neudr. o. O. 1966), das sondern als eine Form des frühneuzeitl. zunächst nur zur Lektüre im geselligen Kreis Aristotelismus u. der reformierten polit. von Beamten, Geistlichen u. Bauern diente, Theologie anzusehen sind. 1845 jedoch auf Veranlassung von Erzherzog Weitere Werke: Civilis conversationis libri duo. Johann in Wien veröffentlicht wurde. Es 2 Hg. Philipp Althusius. Hanau 1601. 1611. – Trahandelt sich um eine Dichtung in der Nachctatus tres (De poenis. De rebus fungibilibus. De folge von Vergils Lobpreis des Landlebens iure retentionis). Kassel 1611. (Georgica), die auch Einflüsse von Johann Literatur: Hans-Ulrich Scupin u. Ulrich Scheuner: A.-Bibliogr. Bln. 1973. – Otto Gierke: J. Heinrich Voß’ Luise u. Goethes Hermann und A. u. die Entwicklung der naturrechtl. Staatstheo- Dorothea aufweist. A.s in 15 Gesänge unterrien. Breslau 1880. Aalen 61968. – Ernst Reibstein: teiltes Lehrgedicht in Hexametern ist betont J. A. als Fortsetzer der Schule v. Salamanca. Karlsr. autobiografisch u. didaktisch, eine realisti1955. – Heinz Antholz: Die polit. Wirksamkeit des sche, die bäuerl. Lebenswelt des HausruckJ. A. in Emden. Aurich 1955. – Peter Jochen Win- Viertels literarisierende Idylle. In A.s Georgiters: Die Politik des J. Althusius u. ihre zeitgenöss. con, einem Spätprodukt literarischer VolksQuellen. Freib. i. Br. 1963. – Karl-Wilhelm Dahm, aufklärung, verbindet sich eine optimistische Werner Krawietz u. Dieter Wyduckel (Hg.): Polit. aufklärer. Anthropologie mit einer entschieTheorie des J. A. Bln. 1988. – Giuseppe Duso, W. denen christl. Ethik. Krawietz u. D. Wyduckel (Hg.): Konsens u. Konsoziation in der polit. Theorie des frühen Föderalismus. Bln. 1997. – Emilio Bonfatti, G. Duso u. Merio Scattola (Hg.): Polit. Begriffe u. histor. Umfeld in der ›Politica methodice digesta‹ des J. A. Wiesb. 2003. – Frederick S. Carney, Heinz Schilling u. D. Wyduckel (Hg.): Jurisprudenz, polit. Theorie u. polit. Theologie. Bln. 2004. – Francesco Ingravalle u. Corrado Malandrino (Hg.): Il lessico della ›Politica‹ di J. A. Florenz 2005. Merio Scattola

Literatur: A. In: Ferdinand Krackowitzer u. Franz Berger: Biogr. Lexikon des Landes Österr. ob der Enns. Passau / Linz 1931, S. 8. Wilhelm Haefs

Altmann, Rene, * 9.7.1929 Luzern, † 3.4. 1978 Wien; Grabstätte: ebd., Friedhof Neustift am Wald. – Verfasser von Kurzprosa u. Lyrik. 1941 übersiedelte A.s Familie von Luzern nach Wien. Nach einem abgebrochenen Studium der Zeitungswissenschaften arbeitete A. als kaufmännischer Angestellter bei verschiedenen Firmen. Das Studium der Staatswissenschaften schloss er 1957 ab u. arbeitete

Alvensleben

113

anschließend im Bundesministerium für Soziale Verwaltung. 1949 lernte er H. C. Artmann kennen, der ihn zu eigener literar. Arbeit ermutigte. Seit 1950 publizierte A. in der Wiener Zeitschrift »neue wege« u. zählte sich dort mit Artmann u. Hanns Weissenborn zur Gruppe der »Surrealisten«. A. schrieb v. a. Gedichte, die er in Zeitschriften (»neue wege«, »publikationen«, »alpha«, »Wort in der Zeit«, »manuskripte«, »Protokolle« u. a.) u. Anthologien (Stimmen der Gegenwart 1952, Transit, Continuum u. a.) veröffentlichte. Von der Trümmerlyrik der 1950er Jahre fand er zu absurden, grotesken, oft skizzenhaften Texten. Besonders seine späteren Gedichte sind durch surreale u. assoziative Elemente gekennzeichnet. Postum erschien eine – vom Autor noch selbst zusammengestellte – Auswahl aus seinen rd. 700 Einzeltexten als Sonderband der Zeitschrift »Protokolle« u. d. T. Unsinnige Welt. Literarische Texte 1949–1975 (Wien/Mchn. 1979). Ausgabe: Wir werden uns kaum mehr kennen. Das poet. Werk. Hg. u. mit einem Nachw. vers. v. Max Blaeulich. Klagenf. 1993. Literatur: Hanns Weissenborn: R. A., der unbekannte Dichter. Erinnerungen an einen verstorbenen Freund, mit Beispielen aus seinem Werk. In: Freibord 12 (1987), H. 57, S. 64–73. Kristina Pfoser-Schewig / Red.

Meister Altswert, zweite Hälfte des 14. Jh. – Verfasser von Minnereden.

dender Form eine Mischung aus Frauenpreis u. lehrhafter Reflexion über Freude u. Leid der Minne. In beiden Minnereden bleibt die Dame ungenannt, während sie in den anderen Gedichten jeweils als »min G« apostrophiert wird. Der Kittel wie Der Tugenden Schatz folgen nach vorgeschalteten Prologen dem Modell der Traumerzählung; der gattungsbekannte Traumspaziergang wird aber mehr u. mehr zur Aventiurefahrt mit Verirrungen, Begegnungen mit wilden Tieren usw. Der Eintritt in das Venusreich (den Venusberg in Der Tugenden Schatz) kommt dann dem Erreichen eines paradiesischen Zustands gleich; stufenweise dringt der Dichter nun über verschiedene Personifikationen (»truwe«, »stete«, »liebe«) zu Frau Ere u. Frau Venus vor. Zugeordnete Farb- u. Edelsteinreihen stehen sinnbildlich für diese als Märchenland u. Weltmittelpunkt in einem repräsentierte Idee höchster Vollkommenheit (Der Kittel). Frauenpreis u. katalogartig formulierte Verhaltensnormen ergänzen die dargestellte Welt im Sinne eines umfassenden minnedidakt. Programms, dem A.s Sprache allerdings kaum gerecht zu werden vermag. Es dürfte jedoch gerade die Kombination aus scheinbar entrückter Personifikation u. Bezugnahme auf konkrete Missstände der Zeit, wie sie sich etwa auch bei Peter Suchenwirt findet, für die Beliebtheit dieser Art der Minnerede verantwortlich gewesen sein. Ausgaben: Wilhelm Holland u. Adelbert v. Keller (Hg.): M. A. Stgt. 1850. Literatur: Karl Meyer: M. A. Diss. Gött. 1889. –

Nur die erste von vier Minnereden – Das alte Walter Blank: Die dt. Minneallegorie. Stgt. 1970, Schwert – ist auch unter dem Namen des ur- S. 176–179. – Ingeborg Glier: Artes amandi. Mchn. kundlich nicht nachgewiesenen A. überlie- 1971, S. 216–225. – Dies: M. A. In: VL. – Wolfgang fert; die drei anderen – Der Kittel, Der Tugenden Achnitz: Minnereden. In: Forschungsber.e zur InSchatz u. Der Spiegel – lassen sich ihm aufgrund ternat. Germanistik. Germanist. Mediävistik. Hg. Hans-Joachim Schiewer. Bd. 2, Bln. 2003, von gemeinsamer Tradierung u. sprachlichen S. 197–255. Christian Kiening / Red. sowie themat. Übereinstimmungen fast sicher zuschreiben. Kritische Bemerkungen zu Zeitverhältnissen u. Kleidermoden im Elsass Alvensleben, (Karl) Ludwig (Friedrich deuten auf eine Entstehung in der zweiten Wilhelm Gustav) von, auch: Gustav SelHälfte des 14. Jh. im oberrhein. Raum hin. len, Chlodwig, * 3.5.1800 Berlin, † 4.8. Das alte Schwert zeigt – einleitungslos – den 1868 Wien. – Übersetzer u. UnterhalDichter im Gespräch mit Frau Venus; Der tungsschriftsteller. Spiegel hingegen bringt nach ausführlicher, aber isolierter Einleitung in manchmal be- Von den Eltern für die militär. Laufbahn berichtender, manchmal die Dame direkt anre- stimmt, nahm A. schon 1813 als Kadett an

Alverdes

den Befreiungskriegen teil. 1823 quittierte er als Offizier den Dienst u. studierte 1825–1828 in Leipzig Rechtswissenschaften. Seit 1828 lebte er als freier Schriftsteller in Leipzig, Meiningen u. Wien. 1836 war A. für kurze Zeit Leiter des für seine histor. Aufführungen berühmten Hoftheaters in Meiningen. Noch heute theatergeschichtlich bedeutsam ist die 1832 von ihm in Leipzig gegründete Zeitschrift »Allgemeine TheaterChronik«, die bis 1873 erschien (A. gab 1837 die Redaktion ab). 1848 wurde A., der dem »Jungen Deutschland« nahestand, wegen »revolutionärer Umtriebe« in Wien festgenommen u. zu einem Jahr Festungshaft verurteilt. Bekannt wurde A. v. a. durch seine Übersetzungen aus dem Englischen u. Französischen, darunter Napoleons Werke (6 Bde., Chemnitz 1840), Eugène Sues Sämmtliche Werke (Lpz. 1838–46) in 24 Bänden sowie Werke Balzacs, Molières, Dumas’, Swifts, Defoes u. viele andere. Daneben verfasste er selbst zahlreiche Romane u. populäre Gebrauchsliteratur (z.B. Polterabend-Scherze. Quedlinb. 1858. 91888). Weitere Werke: Erzählungen. Halberst. 1830. – Novellen u. Erzählungen. 2 Tle., Nürnb. 1831. – Lebens- u. Reisebilder u. Novellen. Lpz. 1841. – Garibaldi. Weimar 1859 (Biogr.). – Fürst Lobkowitz oder: Rache bis über das Grab. Histor. Roman. 3 Bde., Wien 1862/63. – Allg. Weltgesch. für dis Volk. 3 Bde., Wien 1865–72. – Enzyklopädie der Gesellschafts-Spiele. Lpz. 1853. 91893. Literatur: Goedeke 10 (1913), S. 416–425 (mit umfangreicher Bibliogr.). – Udo v. Alvensleben: A. In: NDB. Cornelia Lutz / Red.

Alverdes, Paul, * 6.5.1897 Straßburg, † 28.2.1979 München. – Verfasser von Erzählungen u. Hörspielen. A. war Sohn eines Offiziers. Als 17-jähriger Freiwilliger ging er in den Ersten Weltkrieg, aus dem er mit einer schweren Kehlkopfverwundung zurückkehrte. Nach dem Krieg studierte er in München Jura, Germanistik u. Kunstgeschichte u. promovierte mit einer Arbeit über die Lyrik des Pietismus. Ab 1922 arbeitete A. als freier Schriftsteller in u. bei München. Er schrieb epische, dramat. u. ly-

114

rische Texte, seiner Begabung entsprachen v. a. die kleineren epischen Formen. 1934–1944 gab er zus. mit Karl Benno von Mechow die Monatsschrift »Das Innere Reich« heraus, eine literar. Zeitschrift, die trotz einiger Versuche, sich einen gewissen polit. Freiraum zu wahren, insg. betrachtet doch die kulturpolit. Ziele des Nationalsozialismus vertrat. Sie bot einigen jungen, später in beiden dt. Staaten bekannt gewordenen Schriftstellern erste Publikationsmöglichkeiten. A. stand der Jugendbewegung nahe. Wie Edwin Erich Dwinger, Werner Beumelburg oder Hanns Johst wurde er durch völkischnationale Kriegsdichtungen bekannt, bes. durch seine knappe autobiogr. Erzählung Die Pfeiferstube (Ffm. 1929. Neuausg. Mchn. 1986), die er Hans Carossa widmete. Zu den Kriegsdichtungen gehört auch die Novellensammlung Reinhold – oder die Verwandelten (Mchn. 1931). Die Titelgeschichte will am Beispiel eines jungen Soldaten die schicksalhafte Erfahrung des Krieges zeigen. Eine ähnl. Thematik behandeln auch A.’ Hörspiele Die Freiwilligen (Mchn. 1934) u. Das Winterlager (Mchn. 1935. 1943), während er sich in der Erzählung Das Zwiegesicht (Mchn. 1937. 1954 u. ö.) u. der Karl Heinrich Waggerl gewidmeten Erzählung Grimbarts Haus (Konstanz 1949. 21963) mit den Problemen der Überlebenden befasste, z.B. dem Schicksal eines Vaters, der im Ersten Weltkrieg vier Söhne verliert. A. bevorzugte in seinen Erzählungen eine verhaltene Darstellung psychischer Vorgänge, wobei er gerade dem Alltäglichen u. Unscheinbaren bes. Bedeutung zumaß. Auch als Märchenerzähler für Kinder u. als Herausgeber u. Bearbeiter von Anekdoten, Volksmärchen, Fabeln u. Schelmengeschichten trat A. hervor. Für seine Übersetzung u. Bearbeitung von James F. Coopers Wildtöter (Potsdam 1928. Ravensburg 1967 u. ö.) wurde er 1961 mit dem Sonderpreis des Deutschen Jugendbuchpreises ausgezeichnet. Weitere Werke: Die Nördlichen. Bln. 1922. 1934 (L.). – Kilian. Bln. 1922. Neue, durchges. Aufl. Potsdam 1934 (N.). – Die feindl. Brüder. Bln. 1923 (D.). – Novellen. Bln. 1923. Erw. u. d. T.: Die Flucht. Potsdam 1935. – Dank u. Dienst. Mchn. 1939 (Reden u. Aufsätze). – Jette im Wald. Mchn.

2

115 1942 (E.). – Eine Infanterie-Division bricht durch. Mchn. 1943 (Ber.). – Stiefelmanns Kinder. Konstanz 1949 (M.). – Amundsens Fahrt an den Südpol. Hann. 1949 (Ber.). – Die Grotte der Egeria. Tage in Rom u. Oberitalien. Konstanz 1950 (Tgb.). – Das Zirflein. Darmst. 1951 (M.). – Vom Unzerstörbaren. Stgt. 1952 (Ess.s). Literatur: Horst Denkler u. Karl Prümm (Hg.): Die dt. Lit. im Dritten Reich. Themen – Traditionen – Wirkungen. Stgt. 1976. – Marion Mallmann: ›Das Innere Reich‹. Analyse einer konservativen Kulturzeitschrift im Dritten Reich. Bonn 1978. – Das Innere Reich. 1934–44. Eine Ztschr. für Dichtung, Kunst u. dt. Leben. Ein Verz. der Beiträge. Marbacher Magazin 26 (1983). – Wolfram Wessels: Hörspiele im Dritten Reich. Zur Institutionen-, Theorie- u. Literaturgesch. Bonn 1985. Bettina Hurrelmann / Red.

Alves, Eva-Maria, * 27.9.1940 Osnabrück. – Schriftstellerin u. Journalistin. A.’ Kindheit u. Jugend war durch die Erfahrung von Krieg u. Besatzung sowie durch die starke Religiosität des Umfeldes (kath. Elternhaus, Besuch einer Ursulinenschule) geprägt. Nach dem Abitur 1960 absolvierte sie eine Ausbildung zur Redakteurin u. ist seither als Journalistin tätig. Sie gestaltete zahlreiche Rundfunkfeatures zu literarischen, theolog. u. psychoanalyt. Themen u. ist Herausgeberin mehrerer Anthologien u. Sammelbände. Ihr literarisches Debüt feierte sie nach einigen ersten Veröffentlichungen v. a. mit den 1981 bei Suhrkamp u.d.T. Versuch einer Vermeidung publizierten Erzählungen Abgerissene Blumenköpfe u. Transition. Es folgten zahlreiche weitere Erzähltexte (u. a. Maanja. Ffm. 1982. Die Bleistiftdiebin. Bln. 1996. Eisfrauen. Hbg. 1996) sowie einige Hörspiele (u. a. Die wilde Braut. SR 2004). A.’ Texte tragen eine charakterist. Handschrift, die sich durch eine lyrisch verdichtete, zum Teil manieristisch anmutende Sprache u. eine streng durchkomponierte, kunstvolle Form auszeichnet. Die formale Stringenz schafft den Zusammenhalt für diskontinuierlich erzählte, collagenhaft zusammengefügte Momentaufnahmen. Im themat. Zentrum der Texte steht das innere, von Entfremdungserfahrungen geprägte Erleben von

Alxinger

Frauen, das in allgemeine, gesellschafts- u. sprachkrit. Reflexionen eingewoben ist. Die amimetische Darstellungsweise sowie die Erkenntnis- u. Ausdrucksskepsis sind der klass. Moderne verpflichtet u. stehen im Gegensatz zu dem seit den 1980er Jahren verbreiteten Trend zur »neuen Erzählbarkeit«. Für den Roman Schwärzer (Bln. 1993) erhielt A. den Literaturförderpreis der Stadt Hamburg. Nach diversen Auslandsaufenthalten u. a. in Prag, Wien u. Moskau lebt sie seit 1979 in Hamburg. Weitere Werke: Caput mortuum. In: Von nun an. Ffm. 1980. – [ohne Titel] In: manuskripte 162 (2003). – Alles fliegt. In: manuskripte 163 (2004). – Hörspiele: Transition (NDR 1983). – Alstervergnügen (NDR 1989). Literatur: Patricia Hallstein: E. A. In: LGL. Christine Steinhoff

Alxinger, Johann Baptist Edler von, * 24.1.1755 Wien, † 1.5.1797 Wien. – Jurist; Lyriker u. Epiker. A., Sohn eines Wiener Konsistorialrats, besuchte zunächst das Jesuitengymnasium, wo er u. a. von dem Numismatiker Johann Joseph Hilarius Eckhel u. dem Literaten Johann Christoph Regelsberger unterrichtet wurde, u. studierte dann an der Universität Wien die Rechte (Promotion 1780). Eine Stelle als Hofagent konnte er infolge seines väterl. Erbes bald aufgeben u. sich in völliger finanzieller Unabhängigkeit ausschließlich seinen literar. Interessen widmen. A.s Mentor auf dem literar. Gebiet war der nachmals bekannte Hochstil-Lyriker Lorenz Leopold Haschka, der den Kontakt zu Friedrich Just Riedel herstellte: In dessen Zeitschrift »Litterarische Monate« (Wien 1776/ 77), dem Publikationsorgan der um Johann Michael Cosmas Denis gescharten jungen Wiener Literaten wie Haschka u. Joseph von Retzer, erschienen A.s erste Veröffentlichungen, u. bereits 1780 gab Riedel A.s ersten Gedichtband (Gedichte. Halle 1780) heraus. Seit den frühen 1780er Jahren schloss sich A. immer stärker einer Gruppe an, die den »Litterarischen Monaten« gegenüber anfangs krit. Distanz eingenommen hatte: Es sind dies die um Aloys Blumauer u. Joseph Franz

Alxinger

Ratschky versammelten Beiträger zum »Wienerischen [ab 1786: Wiener] Musenalmanach«, u. a. Gottlieb Leon u. Martin Joseph Prandstetter. Diese Literaten, die alle der Generation A.s angehörten, fühlten sich der nord- u. mitteldt. Literatur der Jahrhundertmitte (Gleim, Uz, Wieland) verpflichtet, strebten eine urbane literar. Kultur für Wien an (Leitbild war das London Popes u. Swifts) u. betrachteten sich als Parteigänger der aufgeklärten Reformpolitik Kaiser Josephs II., die sie publizistisch unterstützten. Sie waren allesamt Freimaurer u. fanden in der von Ignaz von Born geleiteten Loge »Zur wahren Eintracht« ihre geistige Heimat; der Salon des hohen Beamten Franz Sales von Greiner entwickelte sich zu ihrem literar. Zentrum. Neben Blumauer war A. bald der im dt. Sprachraum anerkannteste Repräsentant dieser Wiener Literaten; im Gegensatz zu Blumauer, der die spezif. Situation der österr. Literatur stets betonte, orientierte sich A. (darin seinem Freund Retzer vergleichbar) jedoch ausschließlich an den ästhet. Normen, wie sie die nord- u. mitteldt. Aufklärung vorgegeben hatte. So führte er einen ausgedehnten Briefwechsel mit Friedrich Nicolai u. mit Wieland (dessen Schwiegersohn, der Philosoph Karl Leonhard Reinhold, ein Schulfreund A.s war). Das Scheitern der josephin. Reformpolitik u. die Französische Revolution führten in Österreich zu einer neuen polit. Konstellation. Das Misstrauen, das man den »Josephinern« nun entgegenbrachte, traf auch A. Seine Bewerbung um den Lehrstuhl für Ästhetik an der Universität Wien wurde 1791 abgelehnt. Ab 1792 griff er in die publizist. Auseinandersetzungen um den Zusammenhang von Aufklärung u. Französischer Revolution ein, zunächst mit dem nicht nur im Titel an Lessings Anti-Goeze erinnernden AntiHoffmann (Wien 1792), einer Polemik gegen den Herausgeber der reaktionären »Wiener Zeitschrift«, Leopold Alois Hoffmann. 1793/ 94 versuchte er dann in der gemeinsam mit Ratschky, Joseph Schreyvogel u. a. herausgegebenen »Österreichischen Monathsschrift«, im Geist der josephin. Aufklärung (die durchaus revolutionsfeindlich war) gegen Hoffmann u. das von Felix Franz Hofstätter

116

geleitete, die Aufklärung denunzierende »Magazin der Kunst und Litteratur« vorzugehen. Die »Monathsschrift« musste jedoch – wohl wegen Schwierigkeiten mit der Zensurbehörde – ihr Erscheinen schon bald einstellen, u. A. resignierte in zunehmendem Maße. Sein kurzes Gastspiel als Sekretär des Wiener Hoftheaters (1796) blieb erfolglos; er konnte sich – im Gegensatz zu dem später auf diesem Posten äußerst erfolgreichen Schreyvogel – nicht durchsetzen. Nach längerer Krankheit starb A. 1797. Sein Schädel wird in der Gallschen Sammlung in Paris aufbewahrt. A.s dichterisches Werk ist im Kontext der josephin. Literatur zu sehen. In der literar. Aufbruchsstimmung der 1780er Jahre wollte man in Österreich an die vorangeschrittene Kultur der nord- u. mitteldt. Aufklärung anschließen. Der »Sturm und Drang«, aber auch die sich abzeichnende Weimarer Klassik u. die spätere dt. Romantik blieben daher außerhalb des Horizonts jener Wiener Dichter, die im Gegensatz zu den zeitgenöss. Broschüren- u. Romanautoren auf den literar. Markt nicht angewiesen waren u. eine urbane, aufklärerisch engagierte Literatur pflegten. In diesem Sinne versuchte sich A. in allen drei literar. Gattungen. Sein dramat. Œuvre, das hauptsächlich aus Bearbeitungen u. Übersetzungen besteht, ist nicht sehr bedeutend; hervorzuheben bleibt die 1781 in Zusammenarbeit mit Christoph Willibald Gluck entstandene Übersetzung Iphigenia auf Tauris (Wien 1781) des Librettos von Nicolas-François Guillard. Wesentlich wichtiger ist A.s lebenslanges lyrisches Schaffen: Gedichte von ihm erschienen im »Wiener(ischen) Musenalmanach«, in Boies »Deutschem Museum« u. in Voß’ »Hamburger Musenalmanach« sowie als Einzeldrucke u. in Sammlungen. A. beherrschte die verschiedensten Stillagen: Neben scharfen Satiren im Geist des Josephinismus finden sich Gelegenheitsgedichte (bes. in Neueste Gedichte. Wien 1794), neben Übertragungen u. Bearbeitungen lateinischer Vorlagen (Horaz, Ovid, Johannes Secundus) didakt. Freimaurergesänge. Empfindsame Texte bilden jedoch die größte Gruppe, ein Dokument der

117

Am Ende

starken Rezeption der dt. Empfindsamkeit in Ludwig Heinrich Nicolay in St. Petersburg u. Friedrich Nicolai in Berlin (1776–1811). Erg. um der österr. Literatur der josephin. Ära. Seinem normativen Literaturverständnis weitere Briefe v. u. an Karl Wilhelm Ramler, Johann entsprechend sah A. in seinen epischen Wer- Georg Schlosser, Friedrich Leopold Graf zu Stolberg, Johann Heinrich Voss u. J. B. v. A. Hg. u. ken die Krönung seines dichter. Schaffens. komm. v. Heinz Ischreyt. Lüneb. 1989. Unermüdlich feilte er an seinen Epen: Den Literatur: Karl Bulling: A. Diss. Lpz. 1914. – 1787 in Wien erstmals erschienenen Doolin Erwin Frank Ritter: J. B. v. A. and the Austrian von Maynz schrieb er in jahrelanger Arbeit für Enlightenment. Bern 1970. – Roger Bauer: J. B. v. die Neuauflage bei Goeschen (Lpz. 1797) um. A.s ›Rittergedichte‹ oder der Abschied vom ›alten Eine geplante Umarbeitung des Bliomberis romantischen Land‹. In: Ders.: Laßt sie koaxen, Die (Lpz. 1791) kam nicht mehr zustande. A.s krit. Frosch’ in Preußen u. Sachsen! Zwei Jh. Lit. in beide Rittergedichte – so ihr Untertitel – sind Österr. Wien 1977, S. 35–46. – Friedrich Sengle: J. formal, in der Behandlung der Stanze, an B. v. A. (1755–97). In: Die österr. Lit. Ihr Profil an Wieland geschult; es fehlt ihnen aber der für der Wende vom 18. zum 19. Jh. (1750–1830). Hg. Wieland (vgl. dessen Oberon) charakteristische Herbert Zeman. Graz 1979, S. 773–803. – Roger iron. Zug. Vielmehr versucht A. eine ernst- Bauer: Otaheiti, von Wien aus erfahren. In: Euph. 82 (1988), S. 270–280. – Stephan Füssel: Johann hafte Wiederbelebung des traditionellen Gottfried Seume als Lektor v. J. B. v. A.s ›BliomEpos. Die märchenhafte Erzählung von den beris‹. In: ›Wo man aufgehört hat zu handeln, fängt Heldentaten des tapferen Ritters Doolin am man gewöhnlich an zu schreiben‹. Hg. Jörg Drews. Hof Karls des Großen u. im Kampf gegen die Bielef. 1991, S. 157–185. – Veronika Bernard: heidn. Sachsen schwingt zwischen den bei- ›Beatus ille ...‹. Die zweite Epode des Horaz in diden Polen detailliert geschilderter Grausam- versen dt. Übertragungen zwischen Johann Fikeiten (wobei auch krasse Effekte u. das Ab- schart u. J. B. A. als Zeit-Spiegel deutschsprachiger gleiten auf eine niedrigere Stilebene bewusst Kultur. In: Akten des X. Internat. Germanisteneingesetzt werden) u. empfindsam-senti- kongresses. Bd. 11, Wien 2000, S. 23–28. Wynfrid Kriegleder / Red. mentaler Liebesszenen. Bereits bei der zeitgenöss. Leserschaft wurde A.s Werk an dem ausgeglicheneren Am Ende, Johann Joachim Gottlob, * 16.5. Stilideal Wielands gemessen u. erfuhr – v. a. 1704 Gräfenhainichen, † 2.5.1777 Dresin der norddt. Kritik – deutl. Ablehnung. den. – Evangelischer Theologe, Dichter, Diese den Eigenwert dieses »repräsentativen Pädagoge, Übersetzer. josephinischen Dichters« (Sengle) außer Acht lassende Bewertung, die aufgrund der Nor- A., Sohn des Gräfenhainicher Diakons Johann men des literar. Weimar zustande gekommen Christian Am Ende u. der Pfarrerstochter war, prägte auch die wiss. Behandlung A.s bis Anna Dorothea Richter, nahm nach dem Besuch der Fürstenschule zu Grimma 1724 das in die 1970er Jahre. Weitere Werke: Eduard der Dritte. Ein Trau- Studium der Theologie in Wittenberg auf, ersp. in 5 Aufzügen. Nach dem Frz. des Gresset. das er durch Vorlesungen aus dem Bereich der Wien 1784. – Hero u. Leander. Nach dem Musäus. Philologien, Philosophie, Physik u. Medizin Wien 1785. – Numa Pompilius, nach Florian. Wien ergänzte u. 1727 mit dem Magister abschloss. 1791. – Die gute Mutter. Eine com. Oper. Wien 1730 wurde er Substitut, 1732 Amtsnachfol1795. ger seines Vaters. Mehr noch als durch seine Ausgaben: Gesamtausgaben: Sämmtl. poet. kommentierte Übersetzung des SchlusskapiSchr.en. Lpz. 1784. – Sämtl. Werke. 10 Bde., Wien tels von La Bruyères 1688 anonym veröffent1812. – Teilausgaben: Sämmtl. Gedichte. 2 Tle., lichten Les caractères de Théophraste, Des Herrn Klagenf. u. Laibach 1788. – Briefe: Briefe des DichJean de la Bruyère vernünftige und sinnreiche Geters J. B. v. A. Hg. Gustav Wilhelm. Wien 1898. – danken von Gott und der Religion (Danzig 1739), Walter Obermaier J. B. v. A. (1755–97). Ein Regestverz. der in der Handschriftenslg. der Wiener zog er durch die 1748 in Wittenberg erschieStadt- u. Landesbibl. befindl. Briefautografen. In: nene Commentatio de homine poetica (Leiden 2 1751), die erste Übertragung von Alexander Jb. des Wiener Goethe-Vereins 84/85 (1980/81), S. 185–206. – Die beiden Nicolai. Briefw. zwischen Popes Essay on Man in lat. Hexameter, die

Am Wald

118

Aufmerksamkeit der Gelehrten auf sich. Seit Jahrhunderte, zgl. ein Beitr. zur Gesch. Dresdens, 1744 wirkte A. als Lehrer – u. a. Klopstocks – auf Grund familiengeschichtl. Slg.en. Nebst einer u. geistlicher Inspektor in Schulpforta. 1748 Bibliotheca am Endiana. Dresden 1871. – Ralf Gewurde er Superintendent in Freyburg/Un- org Czapla: Schulpforta u. die Bibelepik des 18. Jh. Klopstocks Lehrer J. J. G. A. als Dichter u. Theologe. strut, in gleicher Funktion ging er 1750 als In: Daphnis 34 (2005), S. 287–326. – Ders.: J. J. G. Nachfolger Valentin Ernst Löschers nach A.s ›Christeis‹, eine Bibeldichtung aus der Zeit des Dresden, nachdem er 1749 zum Dr. theol. Siebenjährigen Krieges. Annäherungen an den lipromoviert worden war. Während des Sie- teratursoziolog. Horizont v. Klopstocks ›Messias‹. benjährigen Krieges erwarb sich A. die In: Bibeldichtung. Hg. Volker Kapp u. Dorothea Wertschätzung Friedrichs II., der Ende 1756 Scholl. Bln. 2006, S. 301–323. Ralf Georg Czapla zweimal seine Predigten in der Kreuzkirche besuchte u. sie zu drucken befahl. Am Wald, Georg, eigentl.: Georg BaldiDurch seine patriot. Haltung gegenüber nus, * 1554 Passau, † 20.10.1616 Gut Sachsen, seinen zivilen Ungehorsam gegen Thürnhofen bei Feuchtwangen. – Arzt u. die preuß. Besatzer, seine Wohltätigkeit u. Unternehmer; medizinischer Fachseine Predigten erwarb sich der orthodoxe, schriftsteller. dabei aber nicht streng dogmat. Lutheraner die Anerkennung der Dresdner Bürger. Mit G. Baldinus, der sich spätestens seit 1573 Am der Christeis (Wittenb. 1759), einer epischen Wald nannte, stammte aus einer Passauer Paraphrase der Apostelgeschichte, gelang A. Buchbinderfamilie. 1573 erlangte er an der eine dichter. Leistung, die als Adhortations- Universität Basel den Titel eines Licentiaten schrift für die Dresdner Bürger während des der Rechte u. immatrikulierte sich 1577 in Siebenjährigen Krieges sogar noch seine der Artesfakultät der Universität Pavia. Nach Übersetzungen von La Bruyères u. Popes der Hochzeit mit Margarete Geßler 1578 übertraf. A.s Predigten, die z.T. auch von promovierte A. im selben Jahr in Pavia zum landes- u. stadtgeschichtlicher Bedeutung Doktor der Philosophie u. Medizin, um 1580 sind, wurden häufig nachgedruckt u. über- in Donauwörth den Arztberuf auszuüben. Nach der Veröffentlichung einiger jurist. setzt u. blieben nicht ohne Einfluss auf die Schriften erlangte er bald Ruhm mit seinem Erneuerung der Homiletik. A. stand in Kontakt zu den Dichtern (u. a. Universalheilmittel »Terra sigillata AmwalHagedorn) u. Gelehrten seiner Zeit. Anläss- dina«, die er in den Schriften Bericht und Erlich seiner Beisetzung am 1.6.1777 kompo- klerung (1581, 1582) propagierte. Von Donierte der Dresdner Kreuzkantor u. Bach- nauwörth nach Augsburg vertrieben, von Schüler Gottfried August Homilius eine dort aus aber wieder nach Donauwörth zuTrauerode. Kinderlos, hinterließ A. ansehnl. rückgekehrt, wurde A. wegen theologischer Streitigkeiten 1590 aus städtischem Dienst Stiftungen. Weitere Werke: Sententia de tertia hominis entlassen. In Nürnberg veröffentlichte er eiparte. Wittenb. 1725. – Orator ex animi corporis- nen Einblattdruck Newe wundergesicht vnd zeique notitia informatus. Wittenb. 1728. – Predigt chen, in dem er die politischen u. religiösen über das ordentl. Evangelium am 23. Sonntage n. Zustände in Donauwörth astrologisch zu Trin., welche in höchster Gegenwart Sr. Königl. deuten suchte. 1591 ging A. nach Schwabach Majestät in Preußen [...] am 21. Nov. 1756 gehalten u. nahm dort die Publikation seiner Panacea u. [...] dem Druck übergeben worden. Dresden Amwaldina-Schriften Kurzer Bericht (1591, 1756. – Christl. Denkmahl des am 19. u. 20. Juli d.J. 1592, 1594), Vortrab (1595) u. Gemehrter Bericht über Dreßden gebrachten schreckl. Feuers [...], (1601) auf. Von 1593 bis zu seinem Tod lebte nebst einer histor. Nachricht v. der zgl. mit eingeA. auf Gut Thürnhofen bei Feuchtwangen; äscherten Kirche zum hl. Kreuz. Dresden 1760 (vollständige Bibliogr. bei Am Ende (s. u.), 1594 ging er nach dem Tod seiner ersten Frau eine zweite Ehe ein. S. 39–45). A. machte mit seinen UniversalarzneimitLiteratur: Christian Gottlob Ernst Am Ende: Dr. J. J. G. A. E., verstorben 1777 als Superinten- teln ein Vermögen, war aber ständigen Andent zu Dresden. Ein Lebensbild aus dem 18. griffen ausgesetzt. Da er sich zu Paracelsus

Amadis

119

bekannte, war ihm Kritik seitens dessen Gegner gewiss, u. a. von Andreas Libavius, J. Postius, Joachim Camerarius d.J. u. Johannes Crato von Kraftheim. Insbesondere Libavius bekämpfte in verschiedenen Schriften, auf die A. stets antwortete, dessen Panaceen u. deren »krämerischen« Vertrieb. In der Tat hatte es A. nicht versäumt, Dankesbriefe in seinen Büchern zu veröffentlichen, u. er hatte Landgraf Georg v. Hessen zu überzeugen versucht, die Panacee umsonst an Arme abzugeben. A. kann als einer der ersten Ärzte der Frühen Neuzeit gelten, die mit außerhalb der Apotheken vertriebenen Arzneimitteln unter dem Einsatz prämoderner Werbung ohne ärztl. Praxis ihren Lebensunterhalt bestritten. Weitere Werke: Gerichts Teuffel. St. Gallen 1580. – Gerichtl. Prozeß. Ffm. 1586. – Summar. Instructio. Hanau 1596. Literatur: Lore Grohsmann: Vor 400 Jahren... Wundergesicht u. Zeichen am Donauwörther Himmel. In: Mitt.en des Histor. Vereins für Donauwörth u. Umgebung 1990, S. 74–77. – WolfDieter Müller-Jahncke: G. A. (1554–1616). Arzt u. Unternehmer. In: Analecta Paracelsica. Studien zum Nachleben Theophrast v. Hohenheim im dt. Kulturgebiet der frühen Neuzeit. Hg. Joachim Telle. Stgt. 1994, S. 213–304. – Gertraud K. Eichhorn: Beichtzettel u. Bürgerrecht in Passau 1570–1630. Die administrativen Praktiken der Passauer Gegenreformation unter den Fürstbischöfen Urban v. Trenbach u. Leopold I., Erzherzog v. Österr. Passau 1997. – Didier Kahn: Les sources labyrinthiques du ›Discours d’autheur incertain sur la pierre des philosophes‹ (1590). In: La transmission des savoirs au Moyen Âge et à la Renaissance. Bd. 2, Besançon 2005, S. 223–257. Wolf-Dieter Müller-Jahncke

Amadis. – 1569–1595 erschienene deutsche Version einer europäischen Bestseller-Serie von Ritterromanen in Prosa. Der A. ist wahrscheinlich in der ersten Hälfte des 14. Jh. in Spanien unter dem Einfluss der Artusepik entstanden. Erhalten sind handschriftl. Fragmente eines kastil. A. aus der Zeit um 1420. Die Geschichte der span. A.Drucke beginnt 1492–1504 mit den vier Büchern des Garci-Rodríguez de Montalvo, von

dem auch die erste Fortsetzung, die Sergas de Esplandián (1510), stammt. Genealogische Verknüpfung der Titelhelden verbindet die Teile miteinander. Nach diesem Prinzip wurde die Reihe bis 1551 um sieben weitere Bücher vermehrt, v. a. von Feliciano de Silva (Lisuarte de Grecia. Amadis de Grecia. Florisel de Niquea. Rogel de Grecia). 1546–1551 wurde die Reihe ins Italienische übersetzt. Mambrino Roseo da Fabriano setzte sie mit dem Sferamundi di Grecia u. sieben weiteren Büchern fort, sodass sich bis 1568 der ursprüngl. Bestand verdoppelte. 1540–1574 wurden die spanischen, 1577–1581 z.T. die ital. Bücher von Nicolas d’Herberay des Essars, Jacques Gohory, Gabriel Chappuys u. a. ins Französische übersetzt. Die frz. Bücher I-XXI wurden ihrerseits zur Vorlage der entsprechenden niederländ., engl. u. dt. Übersetzungen. 1569–1575 erschienen in Frankfurt/M. bei Sigmund Feyerabend dt. Übersetzungen der frz. Bücher I-XIII (Nachdr. der Bücher 1–6. Bern 1988), während 1578 in Augsburg zwei ital. Supplemente zum IV. u. V. Buch übersetzt wurden. 1590–1593 brachte Jakob Foillet in Montbéliard – in Zusammenarbeit mit den Feyerabend-Erben – Übersetzungen der frz. Bücher XIV-XXI heraus. 1594/95 wurde die Reihe mit den Büchern XXII-XXIV um drei dt. Originale erweitert. 1596 veröffentlichte Lazarus Zetzner in Straßburg noch die A.-Schatzkammer, eine Auswahl rhetorischer Prunkstücke aus den 24 dt. Büchern nach dem Vorbild der frz. Trésors d’Amadis. Dem A. eilte der Ruf eines Buches voller Lügen u. Unmoral voraus. Wohl nicht zuletzt deshalb hüllten sich die dt. Übersetzer entweder völlig in Anonymität oder sie gaben sich nur mit ihren Initialen zu erkennen, die sich jedoch z.T. dechiffrieren lassen: I. W. V. L. (1570 bis 1573). J. F. M. G. [Johann Fischart Mentzer Genannt] (Buch VI, 1572), C. E. V. W. [Conrad Egenberger Von Wertheim] (Buch XI, 1574), J. R. V. S. [Jacob Rathgeb Von Speyer] (Buch XIV-XVIII, 1590–1592), F. C. V. B. [Fridrich Castalio Von Basel] (Buch XX u. XXI, 1593). Die Verfasser der dt. Originalbände zeichnen mit E. B. D. J. bzw. E. D. B. J. (1594) u. E. M. B. M. (1595); hinter dem A. F. V. L. der beiden Augsburger Drucke verbirgt sich

Amadis

vielleicht Andreas Fabricius von Lüttich. Die dt. Übersetzer, selbst Fischart, bemühten sich um wörtl. Übertragungen; die letzten drei dt. »Originale« sind Kompilationen aus den vorangegangenen Büchern. In der Geschichte des Romans steht der A. zwischen der höf. Epik des MA u. dem höfisch-histor. Roman des Barock. Einfluss der Artusepik verrät v. a. die Übernahme des Aventure-Schemas u. die durch den Tristan u. Lancelot vorgegebene Tendenz zur Verabsolutierung der Liebe. Bei Montalvo geht die Liebe des A. de Gaula zu Oriana dem ersten Abenteueraufbruch voran, der allein um ihretwillen unternommen wird. Die erste Abenteuerreihe trägt A. den Ruf des besten aller Ritter ein, u. alle folgenden Taten bestätigen diesen Ruf nur immer wieder: Ritteridealität wird im A. prätendiert, nicht problematisiert. Dass gerade gegen den bösen Zauberer Arcalaus die ritterl. Waffentat nichts mehr auszurichten vermag, dem Helden hier vielmehr die gute Fee Urganda helfen muss, schränkt einerseits den Entscheidungscharakter des Abenteuers ein, andererseits aber auch die Funktion als »Ordnungstat« (Hans-Jörg Neuschäfer). Auf immer nur partielle Erfolge beschränkt, wird die Abenteuerhandlung ziellos. Infolgedessen häufen sich die Abenteuer, zumal neben dem Protagonisten auch andere Ritter unterwegs sind. Der großbritann. Hof fungiert als räumlicher Fixpunkt, nicht als exemplarisch gesellschaftl. Mittelpunkt wie der Artushof. Er bleibt aber für den Helden der Sitz seiner Dame: Orientierungspunkt des Geschehens ist nicht mehr ein gesellschaftliches Ideal, sondern allein die Liebe. Sie bleibt für den Helden das eigentl. Feld der Bewährung in Treue u. Gehorsam. Absolut gesetzt, reicht die Macht der Dame aus, A. ritterl. Taten zu verbieten; eine ungerechtfertigte Absage der eifersüchtigen Oriana entzieht ihm die Basis der Existenz überhaupt (Beltenebrós-Episode). Den Abschluss der Handlung verzögert das Motiv der konsequenten Heimlichkeit der Liebe (Geburt Esplandiáns vor der Ehe). Erst äußere Kriegsereignisse führen durch Vermittlung eines Einsiedlers die Vermählung herbei. Exemplarische Abrundung ist

120

eine Tugendprobe, die A. u. Oriana als vollkommenes Paar bestätigt. Eine Neufundierung der ritterl. Existenz beabsichtigt Montalvos V. Buch, das dem weltl. Abenteuer den Glaubenskrieg, dem Aventureritter A. den miles christianus Esplandián gegenüberstellt. Die Fortsetzungen führen beide Protagonistentypen u. die entsprechenden Handlungsmuster nebeneinander weiter, mit der Konsequenz ihrer gegenseitigen Relativierung. Mit der bevorzugten Übernahme eines dritten Typs, des durch zahlreiche Liebesabenteuer gekennzeichneten A.-Bruders Galaor, verstärkt sich die Tendenz zur Versinnlichung der Liebe. Der entsprechend vagen Idealität der A.-Ritter korrespondiert die zunehmende Entgrenzung der ritterl. Welt ins Fantastisch-Exotische. Die A.-Sippe verbreitet sich über nahezu alle christl. Länder u. andere fabulöse Reiche. Im festen räuml. Bezugsnetz (u. a. mit Konstantinopel, Trapezunt u. Nicäa) geht die Aventure über in eine »Reise« (mit Schiffbrüchen usw.). Auch antike u. aktuelle Literatur wird adaptiert, so im XX. Buch Heliodor, im IX. der Schäferroman. Die Technik der linearen Erzählung ab ovo bleibt weiterhin bestimmend. Im Don Quijote wird die Struktur des Ritterromans parodiert. Den Brückenschlag zum Barockroman ermöglichen die Multiplizierung der Handlungsstränge (vgl. etwa die Romane Anton Ulrichs von BraunschweigWolfenbüttel u. Lohensteins), die höf. Haltung u. die Tendenz zur Verlagerung der Bewährung »nach innen«. Die Neubestimmung des z.T. ident. Erzählstoffs geht dann von der Ablösung des fahrenden Ritters durch die Staatsperson aus. Während des 16. u. 17. Jh. war der A. in Europa in nahezu 600 Auflagen verbreitet, was einer Gesamtzahl von rund 650.000 Exemplaren entsprechen könnte. Der A. war in Spanien u. Frankreich früher populär als in Italien, Deutschland, England u. in den Niederlanden. Für den Erfolg sind bislang nur Teilerklärungen (z.B. Verweis auf die Reconquista) geboten worden; eine Analyse der europ. Wirkung des A. steht noch aus. In Deutschland wurde der A. v. a. von Angehörigen der adeligen u. bürgerlich-gelehrten

121

Aman

Literatur: Grace Sarah Williams: The A. QueFührungsschicht rezipiert. An den Höfen der Territorialfürsten wurden Ritterspiele im stion. In: Revue Hispanique 21 (1909), S. 1–67. – Kostüm der A.-Romane aufgeführt, hier William J. Entwistle: The Arthurian Legend in the agierten engl. Komödianten mit A.-Stücken. Literatures of the Spanish Peninsula. London/Toronto/New York 1925. – Maria Rosa Lida de MalSeit Ludwig XIV. gab der A. das Vorbild ab für kiel: A. In: Arthurian Literature in the Middle Ages. Libretti der Opera seria (Jean-Baptiste Lully/ Hg. Roger Sherman Loomis. Oxford 1959, Philippe Quinault, André Cardinal Destou- S. 406–418. – Anthony Mottola: The A. in Spain ches/Antoine Houˇdar de La Motte, Georg and in France. Diss. Fordham 1962. – Hans-Jörg Friedrich Händel/John James Heidegger) u. Neuschäfer: Der Sinn der Parodie im Don Quijote. der Opera buffa sowie für Singspiele. Heidelb. 1963. – Frida Weber de Kurlat: Estructura Gegen Ende des 16. u. zu Beginn des 17. Jh. novelesca del A. de Gaula. In: Revista de Literaturas setzt der A. neue Maßstäbe für die Möglich- Modernas 5 (1967), S. 29–54. – Hilkert Weddige: keiten dt. Prosa. Sein »zierlicher« Stil gilt als Die ›Historien vom A. aus Franckreich‹. Dokuvorbildlich (Martin Opitz); die A.-Schatzkam- mentar. Grundlegung zur Entstehung u. Rezeption. Wiesb. 1975 (Verz. der A.-Drucke u. ausführl. mern werden als Komplimentierbuch verLiteraturverweise). – Frank Pierce: A. de Gaula. standen, im weiteren Verlauf des 17. Jh. spielt Boston 1976. – Erich Valentin: L’A. espagnol et sa der A. als Hauptvertreter des »alten« Romans traduction française. In: Linguistica Antverpensia eine Schlüsselrolle in der Diskussion um eine 10 (1976), S. 149–167. – Sigmund J. Barber: ›A. de neue Einschätzung der Gattung Roman. Ne- Gaule‹ and the German enlightenment. Bern u. a. ben religiös-moralisch begründeter Kritik an 1984. – Michel Simonin: La disgrâce d’A. In: Studi Zauberei u. unerlaubter Liebe wird die man- Francesi 28 (1984), S. 1–35. – Jean-Philippe Beaugelnde histor. Einbettung des Geschehens lieu: ›Perceforest‹ et ›A. de Gaule‹, le roman chegetadelt. Dem Calvinisten Gotthard Heideg- valeresque de la Renaissance. In: Renaissance et ger (1698) gilt der A. als Paradigma für die réforme 15 (1991), S. 187–197. – HKJL. Von 1570 bis 1750, Sp. 1040–1050. – Lilia E. F. de Orduna Nichtigkeit der Romangattung überhaupt, (Hg.): A. de Gaula. Estudios sobre narrativa cabaden Verfechtern des höfisch-histor. Barock- lleresca castellana en la primera mitad del siglo XVI. romans dient er als kontrastiver Hinter- Kassel 1992. – Marian Rothstein: Reading in the grund; Pierre-Daniel Huet argumentiert vom Renaissance. ›A. de Gaule‹ and the Lessons of Wahrscheinlichkeitspostulat der »doctrine Memory. Newark/London 1999. – Centre V. L. classique« her gegen den »amas confus« Saulnier (Hg.): Les ›A.‹ en France au XVIe siècle. (1670). Die Vehemenz der Kritik an diesem Paris 2002. – Charles Dédéyan: Le Chevalier Berger »Welt-, Buhl- u. Lügenbuch« verrät zugleich, ou de l’A. à l’›Astrée‹. Fortune, critique et création. dass es gerade der reine Unterhaltungswert Paris 2002. – Wim van Androoij: Ridderromans uit war, der den Erfolg des A. mit seiner bunten de late Middeleeuwen en Vroegmoderne Tijd. En internationaal onderzoeksthema in opkomst. In: Stofffülle u. seinen unbefangenen erot. Queeste 11 (2004), S. 163–183. Schilderungen begründete: Indiz einer neuen Hilkert Weddige / Udo Roth Lesehaltung. Ende des 18. Jh. kam abermals aus Frankreich der Anstoß zu Neubearbeitungen des A. Aman, Elisabeth, * 11.1.1888 Winterthur, im galanten Stil: 1782 u. 1790 übersetzte † 22.1.1966 Kilchberg bei Zürich; GrabWilhelm Christhelf Mylius für Reichards Bi- stätte: Zürich, Friedhof Enzenbühl. – Erbliothek der Romane Auszüge aus den Büchern zählerin. I-V u. VI-VIII von Louis-Elisabeth de La Vergne, comte de Tressan u. Charles Joseph de Tochter aus begütertem Haus, wuchs Lilly Mayer. Wielands Neuer Amadis (1771) hat da- Elisabeth Volkart in Winterthur auf u. kam gegen aus dem alten A. nur mehr »den Nah- durch die Mäzenatentätigkeit ihrer Familie (ihre Schwester, Nanny Wunderly-Volkart, men geschöpft«. Ausgaben: Adelbert v. Keller. (Hg.): A., erstes war eine langjährige Gönnerin u. KorreBuch. 1857. Neudr. Darmst. 1963. – A. v. Gallien. spondentin Rainer Maria Rilkes) früh in Übers. aus dem Spanischen v. Fritz Rudolf Fries. 2 Kontakt mit bedeutenden Schriftstellern u. Bde., Stgt. 1977. Lpz. 21988. Künstlern. Selbst begann sie erst spät, als

Amandus von Graz

122

Gattin eines Zürcher Rechtsanwalts u. Mutter von fünf Kindern, zu schreiben u. veröffentlichte ihren einzigen großen Roman Das Vermächtnis. Die Schicksale des Comte d’Egrenay, genannt Dreifuß nach jahrzehntelanger Vorarbeit 1951 im Münchner Verlag Hermann Rinn (Nachdr. Bern 1997). Dort erschien 1952 auch ihre Erzählung Manuel und das Mädchen (Nachdr. Bern 2003). Das Vermächtnis ist ein quer zu zeitgenöss. Literaturtendenzen stehendes Buch, in dem sich eine an der Tradition des 19. Jh. u. v. a. an Rilke geschulte Erzählweise mit modernsten, psychologisch motivierten, z.T. auch surrealist. Gedankengängen verbindet. Obwohl dem Protagonisten historisch fixierbare Lebensdaten (Comte d’Egrenay lebte 1854–1900) zugewiesen sind u. das Geschehen in ein Dorf namens Estoublon in der frz. Provence verlegt ist, bewahrt die vielfältig aufgefächerte, zahlreiche Nebenfiguren einbeziehende u. virtuos ineinander verschlüsselte Geschichte von dem unter Mordverdacht verhafteten u. zu Unrecht verurteilten Edelmann Dreifuß bis zuletzt ihr Geheimnis. Charles Linsmayer / Red.

Amandus von Graz, * 1637 Graz, † 20.2. 1700 Graz. – Prediger.

digten lieferte A. einen zweiteiligen Jahreszyklus Seelen-Wayde Der Christlichen Schäfflen, Das ist: Ordinari Predigen Auff alle Sonn- vnd Feyer-Täg des gantzen Jahrs gerichtet (Klagenf. 1695/96. Augsb. 1699. 1708). Die Predigtsammlungen sind nicht nur für eine erbauliche Lektüre konzipiert, sondern sollen explizit auch anderen Kanzelrednern als Vorbild u. Materialsammlung dienen. Außerdem übersetzte A. religiöse Gebrauchsliteratur aus dem Italienischen. Vom Grundstoff jeder Predigt wie Bibelexegese, Gleichnissen, Sentenzen der Kirchenväter usw. ausgehend, bezieht sich A. moralisierend auf die unterschiedlichsten Bereiche des öffentl. u. privaten Lebens. Das Verhalten der Obrigkeit, Kriegsnöte, das Ständewesen, die aus seiner Sicht grassierende Sittenverderbnis, Ehe u. Kindererziehung sind häufige Themen. Die Texte üben ebenso Kritik an der Verschwendungssucht u. Dünkelhaftigkeit des Adels wie sie sozialdisziplinierende Funktionen in Richtung auf das alltägl. Verhalten der breiten Bevölkerung erfüllen (Textbeispiel in: Predigten der Barockzeit. Hg. Werner Welzig. Wien 1995, S. 413–425). Vom Predigtstil her war A. bemüht, die Gebildeten wie die »Ainfältigen« u. »Gemainen« unter seiner Zuhörerschaft anzusprechen. Barocke Gelehrsamkeit verbindet sich daher stets mit dem Gebrauch von Sprichwörtern, umgangssprachl. Wendungen, anschaul. Exempeln u. Fabeln.

Nach der handschriftl. Chronik des Grazer Klosters war der früh verwaiste A. zum Betteln gezwungen, bis ihm ein Gönner den Besuch des Jesuitengymnasiums ermöglichte. Literatur: Leopold Kretzenbacher: P. A. v. G. 1653 wurde er in den Orden aufgenommen, OMCap. In: Aus Archiv u. Chronik. Bl. für Seckauer 1659 zum Priester geweiht, danach mit dem Diözesangesch. 3 (1950), S. 19–25, 44–55, 127–129. Predigtamt in Graz, Klagenfurt u. Laibach – Walter Zitzenbacher: Grazer Barockprediger. betraut. Seine große Begabung zum Kanzel- Graz/Wien 1973, S. 34–60. Elfriede Moser-Rath † / Ralf Georg Bogner redner ließ ihn eine Ordenskarriere machen, die vom Amt des Guardians über das des Definitors bis zu dem des Provinzials führte. Amann, Jürg, * 2.7.1947 Winterthur. – Im Druck erschienen außer EinzelpredigErzähler u. Dramatiker. ten vier jeweils mehrfach aufgelegte Bände u. d. T. Fasten-Banquets Der Christlichen Seelen Nach dem Studium der Germanistik, europ. Erste [bis Vierdte] Aufftracht mit verschiedenen Volksliteratur u. Publizistik in Zürich u. Untertiteln: Bd. 1: Von der Geistlichen Schlaff- Westberlin arbeitete A. 1974–1976 als Drasucht (Salzb. 1691. 1698. Augsb. 1718), Bd. 2: maturg am Schauspielhaus Zürich. 1982 erVon dem Gewissen (Graz 1702), Bd. 3: Von der hielt er den Ingeborg-Bachmann-Preis (für Menschlichen Seel (Graz 1705/06), Bd. 4: Von der das Prosastück Rondo), 1983 den Conrad-Ferchristlichen Pilgerfahrt gen Himmel (Graz 1707. dinand-Meyer-Preis, 1989 den Kunstpreis der 1712. 1713. 1730). Außer diesen Fastenpre- Stadt Winterthur, 1989 u. 2001 den Preis der

123

Amanshauser

Schweizerischen Schillerstiftung sowie 2003 Mchn./Zürich 1985 (E.en). – Ach, diese Wege sind die Ehrengabe des Kantons Zürich. A. lebt sehr dunkel. Drei Stücke. Mchn. 1985. – Nach dem Fest. Drei Stücke. Mchn. 1988. – Tod Weidigs. heute als freier Schriftsteller in Zürich. A. promovierte mit einer Studie über Mchn. 1989 (E.en). – Der Vater der Mutter u. der Vater des Vaters. Düsseld. 1990 (E.en). – Der Anfang Selbstaussagen Kafkas (Das Symbol Kafkas. der Angst. Aus einer glückl. Kindheit. Düsseld. Bern/Mchn. 1974. Neuausg. u. d. T. Franz 1991. – Zwei oder drei Dinge. Innsbr. 1993 (N.). – Kafka. Mchn. 1983). Sein literarisches Werk Über die Jahre. Innsbr. 1994 (R.). – Und über die bildet eine Fortsetzung seiner literaturwiss. Liebe wäre wieder zu sprechen. Gedicht. Innsbr. Arbeit: A. schafft Literatur über Literatur. 1994. – Schöne Aussicht. Innsbr. 1997 (P.). – IphiUnter Verwendung authentischer Zitate genie oder Operation Meereswind. Düsseld. 1998 skizziert er die Lebenssituation von Novalis (Trag.). – Ikarus. Zürich 1998 (R.). – Golomir. (Hardenberg. Romantische Erzählung nach dem Weitra 1999 (R.). – Kafka. Wort-Bild-Essay. Innsbr. Nachlaß des Novalis. Aarau/Ffm. 1978) u. Ro- 2000 (zus. mit A. T. Schaefer). – Kein Weg nach bert Walser (Verirren oder das plötzliche Schwei- Rom. Ein Reisebuch. Düsseld. 2002. – Mutter töten. Innsbr. 2003 (E.). – Pornograph. Novelle. Köln gen des Robert Walser. Aarau/Ffm. 1978. Neu2005. – Wind u. Weh. Abschied v. den Eltern. ausg. Hbg. 2003). Walser, mit dem sich A. Düsseld. 2005. – Übermalungen. Überspitzungen. durch eine Art geistiger Verwandtschaft ver- Van-Gogh-Variationen. Innsbr. 2005. – Zimmer bunden fühlt, steht auch im Mittelpunkt zum Hof. Innsbr. 2006 (E.en). späterer Werke: Robert Walser. Auf der Suche Literatur: Thomas Kraft: J. A. In: LGL. – Rhys nach einem verlorenen Sohn. Porträt (Mchn. 1985) Williams u. Elisabeth Kapferer: J. A. In: KLG. u. Robert Walser. Eine literarische Biographie in Dominik Müller / Red. Texten und Bildern (Zürich 1995). Hier wie in seinen Texten u. Studien zu Novalis u. Kafka Amanshauser, Gerhard, * 2.1.1928 Salzgeht es A. weniger um eine detailgetreue burg, † 2.9.2006 Salzburg. – Verfasser von Darstellung historisch-biografischer Fakten Essays, Gedichten u. Romanen. als vielmehr um eine Neugestaltung des Materials anhand der für ihn bedeutenden Mo- A. besuchte die TH Graz u. studierte antive. Kleist, Hölderlin, Keller, Kafka u. a. sind schließend Germanistik u. Anglistik in Wien. – neben dem Autor selbst – die Gestalten, Nach einjähriger Berufstätigkeit als Hauptwelche im Band Nachgerufen. Elf Monologe und schullehrer setzte er sein Studium in Mareine Novelle (Mchn. 1983) jeweils aus der Sicht burg fort. Seit 1953 lebte er als freier einer ihnen befreundeten Frau porträtiert Schriftsteller in Salzburg. Er erhielt zahlreiwerden. In der »Brieferzählung« Fort (Mchn./ che Auszeichnungen, u. a. den Georg-TraklZürich 1987) greift A. zurück auf die Form Preis für Lyrik (Anerkennungspreis, 1952), des Briefromans, um den vergebl. Versuch den Preis der Theodor-Körner-Stiftung (1970) eines jungen Wissenschaftlers zu schildern, u. den österr. Würdigungspreis für Literatur aus seiner Welt der Literatur auszubrechen u. (1994). Erstmals veröffentlichte A. in den 1950er anderswo heimisch zu werden. Auch in anderen Werken gilt A.s Interesse v. a. gebro- Jahren in Hans Weigels Anthologie Stimmen chenen Existenzen – insbes. der zweifelnden der Gegenwart (Wien 1952) u. in der Wiener u. gescheiterten Künstlerpersönlichkeit – so- Zeitschrift »neue wege«. Seine Texte bewewie Außenseitern u. Grenzgängern. So stehen gen sich zwischen den Kleinformen Traktat, ein Sterbender, seine Lebenserinnerungen u. Satire u. Essay, Lyrik u. Aphorismus, Erzähsein Abschiednehmen im Mittelpunkt der lung u. Reflexion, ohne klare GattungsbeErzählung Am Ufer des Flusses (Innsbr. 2001). stimmungen zu erlauben. Vor dem HinterA. hat mehrere seiner Prosatexte für die grund der persönl. Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus meidet A. Parolen u. Bühne u. für den Hörfunk bearbeitet. Weitere Werke: Die Kunst des wirkungsvollen Programme u. stellt sich gegen starre politiAbgangs. Aarau/Ffm./Salzb. 1979. Ffm. 1983 sche u. moral. Konzepte. Aufgrund seiner (E.en). – Die Baumschule. Berichte aus dem Réduit. großen Belesenheit u. eindringl. BeschäftiMchn./Zürich 1982. 31984 (E.en). – Patagonien. gung mit den Naturwissenschaften gelingt es

Ambraser Heldenbuch

124

dem spöttischen Einzelgänger der österr. senbuch. Weitra 2003 (P.). – Entlarvung der flüchKulturszene, in seinen Satiren die Mechanis- tig skizzierten Herzen. Salzb. 2003. – Die taoist. men des Kulturbetriebs (Schloß mit späten Powidlstimmung der Österreicher: Briefw. Gästen. Satirischer Roman. Salzb. 1975. Mchn. 1953–86. G. A. u. Hermann Hakel. Hg. Hans Höller. Weitra 2005. 1978. Weitra u. a. [1997]), des WissenschaftsLiteratur: Walter Weiss: Beobachter u. Deserbetriebs (Aufzeichnungen einer Sonde. Parodien. teur. Zur Prosa des Salzburger Autors G. A. In: Salzb. 1979) u. der Kirche (Der neue Salzburger Peripherie u. Zentrum. Studien zur österr. Lit. Hg. Kirchenführer. Salzb. 1987) zu entlarven. Gerlinde Weiss u. Klaus Zelewitz. Salzb./Stgt./ZüIn seinen Essays führt A. Traditionen ös- rich 1971, S. 335–345. – Clement Reichholf: G. A. terr. Sprachkultur weiter: die geschliffene Ironie u. Satire. Stgt. 1986. – Joseph Donnenberg Pointe u. das Sprachspiel. Die Themenkons- (Hg.): G. A. Gegen-Sätze. Salzb. 1993. – Kurt Milltanten seiner Erzählungen – Außenseiter- ner: G. A. Reflexionsprosa u. Poetik. Salzb. 1996 tum, Zerstörung u. Verfall – werden mit Iro- (Diss.). – Günther Stocker: Aufzeichnungen aus der nie u. bissigem Humor variiert, sodass eine Distanz. Über das ›Terrassenbuch‹ u. das ›Mansardenbuch‹ v. G. A. In: Sprachkunst 32 (2001), H. 2, große Kontinuität im Gesamtwerk A.s entS. 257–277. – Anton Thuswaldner u. Günther steht. Dies zeigt sich v. a. im Mansardenbuch Stocker: G. A. In: KLG. – Petra Ernst: G. A. In: LGL. (Weitra 1999), der Fortsetzung des bereits Kristina Pfoser-Schewig / Eva-Maria Gehler 1966 erstmals erschienenen Terrassenbuch (Weitra). Die Beschäftigung mit der Vergänglichkeit der Werte u. der Relativierung Ambraser Heldenbuch, verfasst der anthropomorphen Vorstellungen des 1504–1515/16. – Sammlung klassischer u. Christentums zeigt A.s Kulturpessimismus, nachklassischer mhd. Dichtung. der mit oft melancholischem Witz umgesetzt Die in der Österreichischen Nationalbibliowird. thek in Wien befindl. Handschrift (Cod. s.n. Im Gegensatz zu seinen Essays sind A.s 2663) trägt ihren Namen nach dem AufbeGedichte (Salzb. 1986) formal konventionell wahrungsort bis 1806, Schloss Ambras bei gestaltet, dennoch spiegelt der nachdenklichInnsbruck; im Inventar der dortigen »Kunstschwermütige Grundton den Skeptizismus und Wunderkammer« von 1596 wird sie »das des Verfassers deutlich wider. hölden Puech« genannt. Auch das InhaltsWeitere Werke: Aus dem Leben der Quaden. verzeichnis der Handschrift ist mit »HeldenEine Satire. Salzb. 1968. Weitra [1998]. – Der Depuch« überschrieben. Die Urkunden, die serteur. Salzb. 1970 (E.en). – Satz u. Gegensatz. über ihr Zustandekommen berichten, nennen Salzb. 1972. Weitra [2006] u. ö. (Ess.s). – Ärgernisse eines Zauberers. Satiren u. Marginalien. Salzb. sie daneben »Riesenpuech«, was verschiedene 1973. – Grenzen. Aufzeichnungen. Salzb. 1977. – themat. Komplexe bezeichnen kann (Riese = List der Illusionen. Salzb. 1985. Weitra [2001] (P.). – Held, Recke; oder: Riese = Fürst wie im geFahrt zur verbotenen Stadt. 1987 (Satiren). – Der druckten Heldenbuch von 1477), vielleicht Ohne-Namen-See. Chines. Impressionen. Zürich aber auch auf Umfang u. Format anspielt. 1988. – Moloch horridus, Aufzeichnungen. Salzb. Über die Entstehung keiner anderen spät1989. Weitra [2000]. – Das Erschlagen v. Stech- mittelalterl. Handschrift liegen mehr zeitgemücken. Verstiegene Gesch.n. Hg. Dante Andera nöss. Informationen vor; in 22 Archivalien ist Franzetti. Zürich 1993. – Gegen-Sätze. Hg. Josef ihr Herstellungsprozess erwähnt. Der Donnenberg. Salzb. 1993. – Tische, Stühle & Bier- prachtvolle, 234 Pergamentblätter starke, 46 seidel. Vorträge. Hg. Richard Pils. Weitra 1997. – x 36 cm große, dreispaltige Kodex wurde Artistengespäck. Weitra 1998 (E.en). – Reinhard 1504–1515/16 im Auftrag Kaiser MaximiliMlineritsch: Wie ein Fremder. Fotografien ans I. von Hans Ried, seit 1496 in Maximili1992–98, Texte v. G. A. Salzb. 1999. – Der Sprung ins Dritte Jahrtausend. Zus. mit Martin Amans- ans Kanzlei urkundlich bezeugt, geschrieben. hauser. Weitra 2000. – Als Barbar im Prater. Auto- Ried, seit 1500 Zöllner am Eisack bei Bozen, biogr. einer Jugend. Salzb. 2001. – Ohrenwurst für gab 1508 sein Amt auf, um die Niederschrift Österr. Weitra 2001 (Satiren). – Der rote Mann wird intensiv vorantreiben zu können. Noch 1515, eingeschneit. Weitra 2001 (Kinderbuch). – Fran- zwischenzeitlich wieder in der Innsbrucker

125

Kanzlei u. beim Zoll am Eisack tätig, war er damit beschäftigt; vermutlich Ende Febr./ Anfang März 1516 ist er gestorben. Die mit roten Überschriften u. vergoldeten Initialen ausgestattete Handschrift ist an 118 Blatträndern mit Miniaturen von Pflanzen, Schmetterlingen u. a. Tieren illustriert. Das Titelbild zeigt zwei geharnischte Riesen u. das Tiroler Landeswappen. Die Illumination, die v. a. westl. Vorbilder u. auch Merkmale des Donaustils erkennen lässt u. ohne direkten Bezug zum Text ist, entstand wohl 1517: Mit dieser Jahreszahl signiert auf Blatt 215r ein Maler »V F« die Darstellung einer nackten Frau mit Geige, vermutlich Ulrich Funk d.Ä. oder Valentin/Veit Fiedler. Das A. H. enthält insg. 25 z.T. fragmentarisch überlieferte Texte: 1. Stricker: Frauenehre; 2. Moriz von Craûn; 3. Hartmann von Aue: Iwein; 4. ders.: Die Klage (Büchlein); 5. Das (sog. zweite) Büchlein; 6. Heinrich von dem Türlin: Der Mantel; 7. Hartmann von Aue: Erec; 8. Dietrichs Flucht; 9. Rabenschlacht; 10. Nibelungenlied; 11. Nibelungenklage; 12. Kudrun; 13. Biterolf und Dietleib; 14. Ortnit A; 15. Wolfdietrich A; 16. Die böse Frau; 17.-20. die vier Verserzählungen Herrands von Wildonie; 21. Ulrich von Lichtenstein: Frauenbuch; 22. Wernher der Gärtner: Helmbrecht; 23. Stricker: Pfaffe Amis; 24. Wolfram von Eschenbach: Titurel; 25. Brief des Priesterkönigs Johannes. 15 Texte (mit Einschluss des sonst nur in Fragmenten des 13. u. 14. Jh. erhaltenen Erec Hartmanns die Nrn. 2–7, 12, 13, 15–21 u. 25) sind nur hier überliefert. Die Zusammenstellung folgt, selbst wenn mit Verunklärungen wegen der langen Entstehungszeit zu rechnen ist, einem bewussten Programm, das als die Variation eines bestimmten Typs mehrteiliger Sammelhandschriften von Maximilians Geschichtsverständnis geprägt ist: Der 1. Teil (Nr. 1–7) vereinigt Höfisches mit dem Schwergewicht auf Hartmanns Artusromanen, der 2. (Haupt-)Teil (Nr. 8–15), auf den allein der Terminus »Heldenbuch« im engeren Sinne zutrifft, Heldenepik, der 3. (Nr. 16–23) mit Ausnahme des Pfaffen Amis Kleinepik. Wohl als Anhang kamen die Texte 24 u. 25 hinzu. Streng literar. Gattungs-Sammelprinzipien stehen jedoch nur hinter dem

Ambraser Heldenbuch

Hauptteil mit den acht Heldenepen. In Teil 1 durchdringen sich Interesse am höf. Epos u. an der höf. Minnelehre, u. der kleinepische 3. Teil folgt statt einem Gattungsaspekt eher dem Prinzip, »Lokales« österr. Provenienz zu vereinen, das man bei der Suche nach »Altem« in österr. Adelsbibliotheken fand: Zumal Ulrichs dort eingefügtes Frauenbuch würde nach seiner Gattung besser zu den höfisch-didakt. Texten des 1. Teils passen. Solche »Unschärfen« in der Zusammenstellung sind auch aus der unterschiedl. Herkunftssituation der Texte erklärbar. Nur der Hauptteil, das eigentl. »Heldenbuch«, geht wohl auf eine einzige Vorlage, das 1502 urkundlich bezeugte, verlorene »helldenpuch an der Etsch«, zurück. Der übrige Bestand scheint dagegen aus kleineren Textsammlungen oder Einzelmanuskripten geschöpft. Die Frage der textl. Verlässlichkeit der Abschrift (bzw. ihrer Vorlagen) stellte sich zumal bei den Unica, konnte aber gerade hier naturgemäß am wenigsten beantwortet werden. In den letzten Jahrzehnten hat sich ein tiefgreifender Wandel in der Beurteilung der Schreibleistung Hans Rieds vollzogen. Schob man dem »raffinierten Faulpelz« früher jede Entstellung zu oder strich nach Gutdünken seine vermeintl. Flickverse heraus, wird das Kopierverhalten des Kanzleischreibers neuerdings als eher konservativ u. die Qualität seiner Arbeit als insg. hoch bewertet. Mit Ried fand Maximilian den geeigneten Mann, um ein Buch mit »alten« Texten des ausgehenden 12. u. 13. Jh. unter Verzicht auf zeitgenöss. Literatur u. »moderne« Bearbeitung höfischer u. heldenepischer Stoffe in homogener Schreibart u. einer eigens hierfür generierten Schrift zu präsentieren. Dabei sind in der Auswahl aus dem Dietrich-Sagenkreis stärker histor. Epen bevorzugt u. in den Titelankündigungen mehrerer Texte die für Maximilians dynast. Legitimation wichtigen »historischen« Könige (wie Artus, Dietwart, Nero) herausgehoben. Maximilians von seinen literar. Ratgebern beeinflusste Konzeption von Geschichte lässt sich ähnlich an dem unter ihm renovierten Freskenzyklus auf Runkelstein bei Bozen oder an seinem Innsbrucker Grabmal ablesen: Der Rückgriff auf literarisch geformte

Ambrosi

126

Geschichte wird zum Mittel der Selbstrepräsentation u. -vergewisserung, dient als Möglichkeit der Sicherung des eigenen »gedechtnus«, aber auch zur Begründung eigener Herrschaft über die Orientierung vermittelnde Integration von Vergangenheit. Mit dem Priesterkönig Johannes steht eine staatspolit. Utopie am Ende der Sammlung, die den – allerdings vergeblichen – Versuch eines Kaisers beschreibt, zugleich Papst zu werden. Ausgabe: A. H. Vollst. Faks. im Originalformat. Komm. v. Franz Unterkirchner. Graz 1973 (mit Lit.). Literatur: Albert Leitzmann: Die Ambraser Erecüberlieferung. In: PBB 59 (1935), S. 143–234. – Franz Unterkircher: Das A. H. In: Der Schlern 28 (1954), S. 4–14. – Hermann Menhardt: Das Heldenbuch an der Etsch. In: Der Schlern 32 (1958), S. 318–321. – Thomas B. Thornton: Die Schreibgewohnheiten Hans Rieds im A. H. In: ZfdPh 81 (1962), S. 52–82. – Ingeborg Glier: Artes amandi. Mchn. 1971, S. 389–392. – Martin Wierschin: Das A. H. Maximilians I. In: Der Schlern 50 (1976), S. 429–441, 493–507, 557–570. – Johannes Janota: A. H. In: VL. – Jan-Dirk Müller: Gedechtnus. Lit. u. Hofgesellsch. um Maximilian I. Mchn. 1982 (passim). – Erich Egg: Der Meister der Miniaturen des A. H.s. In: Domus Austriae. FS Hermann Wiesflecker. Hg. Walter Höflechner u. a. Graz 1983, S. 99–103. – Heimo Reinitzer: Mauritius v. Craûn. Komm. Stgt. 1999. – Bettina Wagner: Die ›Epistola presbiteri Johannis‹ lat. u. dt. Tüb. 2000, S. 524–548. – Renate Achenbach: Hss. u. ihre Texte. ›Dietrichs Flucht‹ u. ›Rabenschlacht‹ im Spannungsfeld v. Überlieferung u. Textkritik. Ffm. 2004, S. 75–115. Norbert H. Ott / Christoph Fasbender

Ambrosi, Gustinus, * 24.2.1893 Eisenstadt/Burgenland, † 1.7.1975 Wien (Freitod). – Bildhauer u. Lyriker. Der musikalisch begabte Sohn eines österr. Militärschul-Lehrers u. einer Ungarin ertaubte 1900, erlernte das Bildhauerhandwerk u. trat noch während seiner 1911 in Graz beendeten Lehre mit Skulpturen hervor. Als Gaststudent der Wiener Akademie der Bildenden Künste erhielt A. 1912 den Staatspreis für Plastik u. 1913 ein Staatsatelier auf Lebenszeit. Vielfach ausgezeichnet, schuf A. über 2000 Skulpturen in Stein u. Bronze, v. a. realist. Porträts von Päpsten, Politikern u.

Industriellen sowie von zeitgenöss. Schriftstellern, Komponisten u. Künstlern (darunter Rainer Maria Rilke, Richard Strauss u. Stefan Zweig). Von Michelangelo u. Rodin beeinflusst, gestaltete A. ferner mythologisch-allegor. Figuren u. Ensembles, die neben erotischen Sujets (Der ewige Frühling. 1916) immer wieder das Thema menschlicher Tragik darstellen (Promethidenlos. 1918. Kain. 1922. Ikaros. 1923). Skulpturen zeigen die Gustinus Ambrosi-Museen in Wien u. Stallhofen/Steiermark. Wenig öffentliche Resonanz fand dagegen A.s dichter. Werk. Zu Lebzeiten des Künstlers erschienen fünf selbstständige Gedichtbücher; den schriftl. Nachlass mit zahlreichen ungedruckten Gedichten, novellistischen u. dramat. Texten (Die Nike des Paionios. 1915/18. Michelangelo, Drama eines Genies. 1921. Rembrandt van Rijn. 1933), Tagebüchern u. Briefen verwaltet die Gustinus Ambrosi-Gesellschaft in Wien. Im Zentrum des lyr. Werks, das sich – wie das bildhauerische Œuvre – modischen Strömungen zunehmend verschließt, stehen Sonettzyklen (Sonette an Gott. Zürich/Lpz./ Wien 1923. Die Sonette an Beethoven. Wien 1974), in denen A. die Wahlverwandtschaft mit großen Künstlern der Vergangenheit beschwört u. im hohen lyr. Ton von einer künstl. Ichfindung kündet, die das »ganze Weltleid« zu sublimieren vermag. Weitere Werke: Die Sonette vom Grabe einer Liebe. Wien 1926. – Einer Toten. Ein Zyklus des Erinnerns. Wien 1937. – Das Buch der Einschau. Wien 1959. – Das Buch der kleinen Lieder. MCMIXMCMXIX. Hg. v. der G. A.-Gesellsch. Wien 1995. Literatur: Elisabeth Zerlauth: Das dichter. Schaffen v. G. A. Diss. Innsbr. 1982. – Franz Renisch: G. A. Bd. 1 (in 2 Tln.), Wien 1990 (S. 137–145: Dichtungen u. Schr.en v. G. A.). – Harry Zohn: G. A. The scupltor, the poet and the man. In: Ders.: Austriaca and Judaica. New York u. a. 1995, S. 101–110 (zuerst 1989). – Reihe: Mitt.en der G. A.-Gesellsch. Wien 1978 ff. Dieter Martin

127

Ambühl, Am Bühl, Johann Ludwig, auch: Johann Jakob Altdorfer, * 13.2.1750 Wattwil/Kt. St. Gallen, † 22.4.1800 Altstätten/Kt. St. Gallen. – Lyriker u. Dramatiker.

Amerbach

Johannes Bürkli u. a. finden u. die hauptsächlich die Alpenlandschaft u. das Lob des einfachen Lebens zum Thema haben. In seiner Zeitschrift »Die Brieftasche aus den Alpen« (4 H.e, Zürich 1780–85) druckte A. erstmals Texte seines Freundes Ulrich Bräker.

Der von seinem 12. Lebensjahr an täglich Weitere Werke: Neue Schweizer Lieder nebst sechs bis sieben Schulstunden unterrichtende einigen andern Gedichten. Bern 1776. – Der Sohn eines erblindenden Dorfschullehrers Schweizerbund. Zürich 1779 (D.). – Angeline. Zümusste nach dem Tod der Mutter für die rich/St. Gallen 1780 (D.). – Die Mordnacht in Züverschuldete Familie sorgen. Schadlos hielt er rich. Zürich 1781 (D.). – Briefe einer befreyten sich einzig durch Musizieren u. Lesen (analog Nonne. St. Gallen 1784. – Hans v. Schwaben oder zu Ulrich Bräker, Karl Philipp Moritz u. a.). Kaiser Albrechts Tod. Zürich 1784 (D.). – Schweizer Sein moralischer Rigorismus machte den ge- Freyheitsgesang. St. Gallen/Lpz. 1789. – Gedichte. selligen Umgang mit ihm nicht einfach u. St. Gallen/Lpz. 1803. – Gesch. des Rheinthals. St. hinderte ihn am Heiraten. Um bei den Be- Gallen 1805. Literatur: Gregorius Grob: Biogr. J. L. A.s. In: hörden keinen Anstoß zu erregen, ließ er seine schriftsteller. Werke anonym drucken. [A.s] Gedichte. St. Gallen 1803, S. 3–96. – Ernst Ludwig Rochholz: Tell u. Gessler in Sage u. Gesch. Seine Verhältnisse besserten sich, als ihn 1783 Heilbr. 1877, S. 250–265. – Samuel Voellmy: Der die befreundete Familie Custer zum Haus- Wattwiler Lehrer u. Dichter J. L. A. In: Toggenlehrer der einzigen Stieftochter berief. In burger Heimat-Jb. 1950, S. 109–124. – Peter Utz: dieser Funktion konnte er auch einige Reisen Die ausgehöhlte Gasse. Stationen der Wirkungsgeunternehmen. So verbrachte er fast zwei Jahre sch. v. Schillers ›Wilhelm Tell‹. Königst./Ts. 1984, in Straßburg, 1788 ein Jahr in Genf, u. 1790 S. 29 f. – Ders.: Nachw. In: Telldramen des 18. Jh. bereiste er mit dem Vater seines Zöglings fast Bern/Stgt. 1985, S. 189–210. – Schweizer Lexikon ganz Italien. 1796 endete seine Aufgabe als in sechs Bänden. Bd. 1, Luzern 1991. Christoph Siegrist / Red. Hauslehrer, doch blieb er (mit wenig Pflichten belastet) im Dienste der Familie, die ihm in Altstätten ein Haus zur Verfügung stellte. Von Anfang an hatte A. die Vorgänge im re- Amerbach, Johann, in Basler Akten auch: volutionären Frankreich mit Interesse ver- Hans Venediger, Hans Trucker, Hans von folgt; im Zuge der frz. Eroberung der A.; im Heimatort Amorbach nur: Hans Schweiz wurde er 1799 von seinen Mitbür- Welcker, ebenso in Pariser Universitätsgern zum Bezirksstatthalter des neu ge- akten, * um 1441/42 Amorbach/Odenschaffenen Kantons Säntis gewählt. Infolge wald, † 25.12.1513 Basel; Grabstätte: ebd. der Strenge, mit der er auch dieser Pflicht Kartäuserkloster. – Drucker u. Verleger. nachkam, verzehrte er seine Kräfte rasch u. A., wahrscheinlich der Sohn des Amorbacher starb nach kurzer Krankheit. Bürgermeisters Peter Welcker, zog etwa 1458 A.s schriftstellerisches Werk umfasste in nach Paris u. wurde dort 1462 Magister. Er der Nachfolge von Bodmers Schweizerischen befreundete sich mit seinem Lehrer Johann Schauspielen (1775) fünf (Lese-)Dramen pa- Heynlin vom Stein (Johannes de Lapide), der triotischen Inhalts, wobei v. a. sein (1793 von später Rektor der Sorbonne, Professor, KanZürcher Knaben aufgeführter) Wilhelm Tell zelredner u. Kartäuser in Basel (1487) wurde. (Zürich 1792. Neudr. in: Telldramen des 18. Möglicherweise arbeiteten A. u. Heynlin Jahrhunderts. Bern/Stgt. 1985) Interesse ver- schon in der ersten Druckerei Frankreichs, dient, da er der Schiller’schen Version nahe- der Offizin der Universität Paris. Sicher ersteht. (Schiller hat A. mit seiner Figur des warb sich A. von 1462 bis Mitte der 1470er »Burkhardt am Bühl« eine verdeckte Hom- Jahre in Italien, bes. in Venedig, eine gründl. mage erwiesen.) A.s Lyrik steht im Zeichen Kenntnis des Buchdrucks. Bald nach 1475 der durch Lavater initiierten Schweizerlieder, ließ er sich definitiv in Basel nieder, wurde wie sie sich auch bei Johann Heinrich Füssli, hier 1481 Zunftgenosse, kaufte 1482 ein

Amerbach

128

stattliches Haus, heiratete 1483 die wohlha- senhafter Geschäftspartner geachtet wurde. bende Witwe Barbara Ortenberg u. erwarb im In den Briefen an seine in Paris studierenden Söhne spricht der strenge Vater, von dem sie Mai 1484 das Bürgerrecht. Dass Basel am Anfang des 16. Jh. eine be- nur Geld erwarten dürfen, wenn sie fleißig rühmte Stadt des Buchdrucks wurde, die so- humanist. Studien betreiben. Grundzug seigar einen Erasmus von Rotterdam anzog, nes Charakters ist die Frömmigkeit. Er arverdankt es weitgehend der Offizin A.s. Er beite, wie er im Vorwort einer kommentierselbst war zwar nicht literarisch tätig, be- ten lat. Bibel drucken lässt, nicht für seinen herrschte aber das Lateinische u. besaß eine Gewinn, sondern zur Ehre Gottes. Die enge gründliche humanist. Bildung, wie sein Verbundenheit mit der in der Nähe seines Briefwechsel mit Sebastian Brant, Johannes Wohnhauses liegenden Kartause bezeugen Reuchlin, Beatus Rhenanus, Johannes Tri- die vielen Bücher u. anderen Geschenke, die themius oder Jacob Wimpfeling zeigt. Fast er den Mönchen zukommen ließ. Die Mönche die ganze private u. geschäftl. Korrespondenz stellten dem »venerabilis magister« ihren ist erhalten u. publiziert. Sie stellt im Kreuzgang als Grablege zur Verfügung. Ob deutschsprachigen Raum eine erstrangige uns ein Bild in der öffentl. Kunstsammlung Quelle für die Geschichte des Buchdrucks wie Basel sein Porträt überliefert, steht nicht mit für die Erforschung des Alltags einer Bür- letzter Sicherheit fest. gerfamilie des frühen 16. Jh. dar. Ausgaben: Die A.-Korrespondenz. Hg. Alfred In Basel baute A. ein großes Drucker- u. Hartmann. Bd. 1: 1481–1513, Basel 1942 (mit Verlagsgeschäft auf, zuerst als Alleininhaber, biogr. Einl.). Nachtr. in Bd. 4, Basel 1953. (Korresvon 1500 an in Gemeinschaft mit seinen pondenz weiterer Familienmitglieder in den übrifränk. Landsleuten Johann Petri u. Johann gen Bänden.) Literatur: Karl Stehlin: Regesten zur Gesch. Froben. 1478–1500 erschienen nach dem Basler Buchdruckerkatalog 90, bis 1513 wei- des Buchdrucks bis zum Jahr 1500. In: Archiv für tere 21 Werke aus seiner Offizin. Die große Gesch. des dt. Buchhandels 11 (1888), S. 5–182. 12 (1889), S. 6–70. 14 (1891), S. 10–98. – Theophil Zahl von wichtigen Erstausgaben brachte Burckhardt-Biedermann: H. A. u. seine Familie. In: ihm die Bezeichnung »König der Primitial- Histor. Festbuch zur Basler Vereinigungsfeier drucker« ein (Gerhard Piccard). Dem wohl 1892. Basel 1892. – Gerhard Piccard: Papiererzeuersten Druck, einem Kalenderblatt des Jahres gung u. Buchdruck in Basel bis zum Beginn des 16. 1478, folgten immer größere Folianten. 1496 Jh. In: AGB 8 (1966), Sp. 25–322. – Ferdinand realisierte A., wohl unter Mitwirkung Sebas- Geldner: A.-Studien. In: AGB 23 (1982), Sp. tian Brants u. nach Vorlagen der Kartäuser, 661–692. – Barbara C. Halporn: J. A.’s collected die erste Petrarca-Gesamtausgabe überhaupt. editions of St. Ambrose, St. Augustine, and St. JeDie elfbändige Augustinus-Ausgabe, die no- rome. Ann Arbor 1989. – Dies.: The correspondminell Johann Petri 1506 veranstaltete, fußte ence of J. A. Early printing in its social context. Ann Arbor 2000. – Jürgen Geiß: Zentren der Petrarcaauf A.s Teilausgaben (seit 1489). Bei A.s Tod Rezeption in Dtschld. (um 1470–1525). Wiesb. lagen die ersten Bände einer zunächst vom 2002, S. 101–118. Freiburger Kartäuser Gregor Reisch betreuRené Teuteberg / Christoph Fasbender ten Hieronymus-Ausgabe vor; Froben u. Erasmus haben sie beendet. Mit einigen seiAmerbach, Amerpach, Veit, latinisiert: Viner großen Werke beherrschte A. – untertus Amerpachius, eigentl.: Trolmann, stützt von dem befreundeten Anton Koberger * 1503 Wemding/Bayerisch Schwaben, – den europ. Büchermarkt. Das lesende Pu† 13.9.1557 Ingolstadt. – Humanistischer blikum schätzte den sorgfältigen Druck seiGelehrter u. Lyriker. ner Offizin. Die allmähliche Verwendung der Antiqua-Schrift neben der herkömmlichen A., Sohn eines Bauern, studierte in Ingolgot. erleichterte das Lesen. stadt, Freiburg i. Br. u. Wittenberg. Als AnDen Menschen A. spiegeln seine Briefe. Er hänger der Reformation Luthers war er als war ein Unternehmer, der Risiken einging, Lehrer in Eisleben u. ab 1530 als Professor an doch scharf rechnete u. als redlicher, gewis- der philosoph. Fakultät in Wittenberg für die

129

Amery

Ausgaben: ›Precatio ad deum pro salute coniuFächer »Phisica« u. »Oratoria« tätig; spätestens seit 1541 war er Mitgl. des Wittenberger gis‹. In: Bayer. Bibl. Bd. 1: MA u. Humanismus. Konsistoriums. Doch zwei Jahre später ver- Hg. Hans Pörnbacher. Mchn. 1978, S. 868 ff. Literatur: Carl Prantl: Gesch. der Ludwig-Maließ A. Wittenberg, weil er aufgrund des Studiums der Kirchenväter u. der Tradition ximilians-Univ. 2 Bde., Mchn. 1872. Neudr. Aalen Luthers Lehre als irrig beurteilte. Er wurde 1968 (vgl. Register). – Wetzer u. Welte’s Kirchenlexikon. Bd. 1, Freib. i. Br. 1882, S. 706–711 (mit wieder katholisch u. erhielt 1543 erst eine ausführl. Bibliogr.). – Ludwig Fischer: Trolmann Stelle am Gymnasium in Eichstätt, bald aber als Prof. in Wittenberg. Freib. i. Br. 1926. – Ellinger eine Professur in Ingolstadt, wo er Philoso- 2, S. 208 ff. – Wilfried Trusen: A. In: NDB. – Wilphie u. Rhetorik lehrte. Er genoss Ansehen helm Kühlmann: A. In: DDL. Hans Pörnbacher unter seinen Kollegen u. war als Wissenschaftler weit über Ingolstadt hinaus bekannt. Der anregende Lehrer inspirierte viele Amery, Carl, eigentl.: Christian Mayer, seiner Schüler, darunter auch Johann Aur- * 9.4.1922 München, † 24.5.2005 Münpach, zu eigener literar. Tätigkeit. chen. – Publizist, Essayist, Hörspiel- u. Zu Unrecht tat man ihn gelegentlich als Romanautor. Querulanten ab: Im Umgang mit Andersdenkenden – auch mit seinen ehemaligen A., Sohn eines Historikers, wuchs in einer Wittenberger Freunden – zeichneten ihn katholisch geprägten Umgebung in Bayern Diskretion u. Vornehmheit aus; er litt unter auf. Nachdem er in Freising u. Passau huder Schmähsucht u. dem Grobianismus sei- manist. Gymnasien besucht hatte, widerner Zeit. Von Kaiser Karl V. erhoffte er setzte er sich erfolgreich dem Eintritt in die Schritte zur Einheit durch ein von ihm ein- Hitler-Jugend, was seine Einberufung in die zuberufendes Konzil. Der Schwerpunkt von Wehrmacht jedoch nicht verhindern konnte. A.s wiss. Arbeiten liegt in den Kommentaren Mit 21 geriet er in amerikan. Kriegsgefanzu lat. Klassikern wie Cicero (Straßb. 1538. genschaft, aus der er 1946 nach München Basel 1548 u. 1550), Horaz (Straßb. 1543), zurückkehrte. Das dort begonnene Studium Ovid (Basel 1549. 1550. 1553) u. in philosoph. der Neuphilologie führte ihn 1948 wieder für Schriften wie seinem wohl v. a. gegen Me- ein Jahr nach Übersee an die Catholic Unilanchthons Commentarius de anima gerichteten versity of America (Washington), wo er sich Quatuor libri de anima (Straßb. 1542) oder De dank eines Stipendiums mit Literaturtheorie u. -kritik befassen konnte. Verheiratet mit philosophia naturali (Basel 1549). Weniger geschätzt werden A.s Dichtungen einer Amerikanerin (fünf Kinder), lebte er (poet. Briefe; Variorum Carminum liber. Basel dann als freier Schriftsteller in München. Ab 1954 fand er Anschluss an die Gruppe 1550), wenngleich ihm die Forschung eine für seine Person durchaus charakterist. Aus- 47 u. arbeitete zeitweise als Dramaturg u. drucksweise zugesteht. Drei Gedichte ragen Redakteur. Von 1967 bis 1971 war er Direktor durch ihre literar. Qualität u. ihre Aussage- der Städtischen Bibliotheken in München. kraft über die anderen hinaus: das Gebet für Gleichzeitig engagierte er sich im PEN-Zentrum u. im Verband deutscher Schriftsteller, Frau u. Kinder mit einem Preis auf die Heideren Vorsitzender er 1976/77 war. matliebe (Variorum Carm. lib.) u. die beiden Als so genannter Linkskatholik u. »WertAufrufe an Kaiser Karl (in: Praecipue Constitukonservativer« war A.s schriftsteller. Tätigtiones Caroli Magni. o. O. [Ingolst.] 1555). keit von Anfang an eng mit seinem krit. EnWeitere Werke: Oratio de doctoratu Philosogagement in politisch entscheidenden Phasen phico. In: Valentin Rotmar: Tomus I Orationum der Bundesrepublik Deutschland verknüpft: Ingolstadiensium. Ingolst. 1571, Bl. 351 f. – Drei Briefe an Julius Pflug 1548/49. In: Christian Gott- Er war Gründungsmitgl. von Gustav Heinefried Müller: Epistolae Petri Mosellani [...] ad Ju- manns Gesamtdeutscher Volkspartei, gehörte lium Pflugium [...]. Lpz. 1802, S. 119–125. – Lat. dem Komitee gegen Atomrüstung an u. unGedichte. In: Deliciae Poetarum Germanorum. 4 terstützte in den 1960er Jahren die Politik Bde., Ffm. 1612. Internet-Ed.: CAMENA. gesellschaftlicher Reformen. 1967 trat er in

Amery

die SPD ein. Nach seinem Austritt 1974 gehörte er zu den Mitbegründern der Partei Die Grünen. Seine Stellungnahmen formulierte er in den traditionellen Formen des Essays, der Abhandlung oder des Gesprächs. Er verstand es, sie v. a. den medialen Anforderungen des Hörfunks anzupassen. In Interviews, Hörbildern u. Hörspielen artikulierte er seine krit. Fragen an den dt. Katholizismus. Er warf den Katholiken vor, sich in unkritischer Weise mit den polit. Verhältnissen des Wirtschaftswunderlands zu arrangieren. Seine viel beachtete Streitschrift Die Kapitulation oder Deutscher Katholizismus heute (Reinb. 1963. Mehrere Aufl.n sowie Übers.en ins Spanische, Italienische u. Englische) versammelt seine Gedanken zu dieser Thematik. Sie wurde von seinem Freund Heinrich Böll als genaue, aber nicht unversöhnl. Analyse gelobt. Kritisch zu verstehen ist auch der Roman Der Wettbewerb (Mchn. 1954), mit dem A. debütierte. Später wählte er, sein humoristisches Talent entdeckend, satirische u. parodistische Einkleidungen für seine Kritik. Sein Roman Die große deutsche Tour (Mchn. 1958. 1964. 1989) richtet sich gegen die prosperierende, materiell orientierte Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland in den 1950er Jahren. Ein ebenso originelles Beispiel für zeitkrit. Publizistik ist seine spätere Satirensammlung Die starke Position oder Ganz normale MAMUS (Mchn. 1985. 1990), in der er die Technik-Verliebtheit der frühen 1980er Jahre geißelt. Ohne das Thema »Katholizismus« je ganz aufzugeben (Fragen an Welt und Kirche. Reinb. 1967, übers. ins Spanische u. Italienische. Das Ende der Vorsehung. Die gnadenlosen Folgen des Christentums. Reinb. 1972. 1974. 1987 u. ö.), fand A. als einer der Ersten in ökolog. Fragestellungen einen neuen Themenschwerpunkt. In Natur als Politik (Reinb. 1976. 1980 u. ö.) betont er entschieden die Notwendigkeit des Übergangs vom ökonomischen zum ökolog. Denken. Gleichzeitig zeigt die in den Gesammelten Werken in Einzelausgaben (Mchn. 1985 ff.) u. d. T. Die ökologische Chance erschienene Zusammenfassung von Ende der Vorsehung u. Natur als Politik, dass zwischen altem u. neuem Themenschwerpunkt durchaus ein Zusammenhang besteht: Ökologi-

130

sches Denken sei auch Kritik an dem durch die Bibel begründeten Herrschaftsanspruch des Menschen über die Natur. In der kulturkrit. Schrift Global Exit (Mchn. 2002) nimmt A. dann das Dogma vom totalen Markt ins Visier, um ihn als menschenfeindl. Irrglauben zu entlarven: Hinter der Maske seiner ökonom. Rituale offenbarte sich der globale Kapitalismus als eine neuheidn. Religion der Reichen, die in dem Maße, wie sie den Menschen zur Anbetung des Geldes antreibt, seine geistig-seel. Integrität untergräbt. Nach längerer Pause im Bereich der Belletristik begann A., angeregt durch seine Auseinandersetzung mit G. K. Chesterton, mit dem Roman Das Königsprojekt (Mchn. 1974) seine krit. Anliegen in der Form exakt konstruierter, fantastischer Historienromane vorzubringen. Zu Humor, Satire u. Parodie gesellten sich nun die Darstellungsmittel der Science-Fiction-Literatur wie Zeitreise, Mehrfach- oder Parallelwelten. So gestaltete er den theoret. Diskurs wieder zunehmend zum poet. Text um, der Geschichte aus überraschenden Perspektiven neu aufarbeitet. Nach der Erprobung dieser neuen Mittel in dem Science-Fiction-Roman Der Untergang der Stadt Passau (Mchn. 1975. 171995. Waldkirchen 2004) perfektionierten die beiden großen Romane An den Feuern der Leyermark (Mchn. 1979. 31988. Neuaufl. 1994) u. Die Wallfahrer (Mchn. 1986. 2002) A.s Erzählweise, in denen er in unserer Zeit Kritik, Pamphlet u. Appell als poet. Rede eines abwesenden Gottes an eine uneinsichtige Menschheit präsentiert. Blieben all diese Werke thematisch der Liebe A.s zu Bayern verpflichtet, so wird auch sein letzter – in Freising spielender – Roman Das Geheimnis der Krypta (Mchn. 1990. 2003 u. ö.) vom Lokalkolorit seiner Heimat geprägt. Die in den Romanen eingeschlagene Richtung verfolgt A. in seinen Erzählungen (z.B. Im Namen Allahs des Allbarmherzigen. Mchn. 1981) oder Hörspielen (z.B. Finale Rettung Michigan. WDR/BR 1982. In: Heyne Science Fiction Magazin 6, Mchn. 1983) weiter. A. war stets auch als Herausgeber, Übersetzer u. Beiträger zu Anthologien tätig, schrieb Filmtexte, histor. Porträts, Features u. Zeitungskolumnen. Neben zahlreichen literar.

131

Preisen wie dem Tukanpreis der Landeshauptstadt München (1979) u. dem Deutschen Fantasy-Preis (1997) erhielt er 1987 den Verdienstorden erster Klasse der Bundesrepublik Deutschland. Der vom Verband deutscher Schriftsteller in Bayern verliehene Carl-Amery-Literaturpreis, mit dem im März 2007 zum ersten Mal der türkisch-dt. Schriftsteller Feridun Zaimoglu ausgezeichnet wurde, soll alle zwei Jahre an zeitkrit. Autoren vergeben werden, die neue ästhet. Wege gehen. Weitere Werke: Der Katholik u. die Atomrüstung. Antwort an die sieben Moraltheologen. Mchn. 1958. – Ich stehe zur Verfügung. BR 1966 (Hörsp.) u. Münchner Kammerspiele 1967 (D.). – Leb wohl geliebtes Volk der Bayern. Ein Requiem für die Wittelsbacher, ihre Beamten, Untertanen u. Erben. Mchn. 1980 (Ess.). – Gilbert Keith Chesterton oder der Kampf gegen die Kälte. Freib. i. Br. 1981 (Ess.). – Das Penthouse-Protokoll. BR 1987 (Hörsp.). – Die Botschaft des Jahrtausends. Von Leben, Tod u. Würde. Mchn. 1994 (Ess.). – Hitler als Vorläufer. Auschwitz – der Beginn des 21. Jh. Mchn. 1998 (Ess.). – Das Kreuz u. die Macht: In hoc signo vinces. Köln 1997 (Vortrag). – Klimawechsel. Von der fossilen zur solaren Kultur. Ein Gespräch mit Christiane Greve. Zus. mit Hermann Scheer. Mchn. 2001. – Fleuves & turbulences = Strömungen & Wirbel. Zwischenernte eines reichgeschüttelten Reimlebens. Mchn. 2000 (L.). – Arbeit an der Zukunft. Hg. Joseph Kiermeier-Debre. Mchn. 2007 (Ess.s). – Herausgeber: Die Provinz. Kritik einer Lebensform. Mchn. 1964 (Ess.). – A. u. Jochen Kölsch: Bayern – ein Rechtsstaat? Das polit. Porträt eines dt. Bundeslandes. Reinb. 1974. – Briefe an den Reichtum. Mchn. 2005. – Biografie: Dortmals. Ein Leben in Bayern vor hundert Jahren. Mchn. 1975. Literatur: Stephen W. Smith u. Michael Töteberg: C. A. In: KLG. – Dieter Hasselblatt: A.s Amerika-Science-Fiction-Hörsp. In: HSFM 6 (Heyne Science Fiction Magazin). Mchn. 1983. – Ute Bauer u. a.: Interview mit C. A. In: HSFM 10, Mchn. 1984. – Joseph Kiermeier-Debre: Theater u. Science Fiction. Kleiner Nachtr. zum Versuch, A.s ›Königsprojekt‹ auf die Bühne zu bringen. Ebd., S. 137–151. – Ders.: Dichtung u. Gesch. Versuch über C. A.s Romane seriös zu reden. In: Arbitrium 1 (1984), S. 90–97. – Friedrich Leiner: C. A. Der Untergang der Stadt Passau. Science-Fiction-Roman. In: Dt. Romane v. Grimmelshausen bis Walser. Interpr.en für den Literaturunterricht. Hg. Jacob Lehmann. Bd. 2, Ffm. 31986, S. 525–543. – Hans Werner Richter: ›Krisjahn im dreizehnten Stock‹.

Améry In: Ders.: Im Etablissement der Schmetterlinge. Mchn. 1986, S. 20–27. – Paul Konrad Kurz: Apokalypt. Zeit zu Füßen der ›Patrona Bavariae‹. In: Ders.: Apokalypt. Zeit. Ffm. 1987, S. 160–168. – J. Kiermeier-Debre: C. A.: ›... ahnen, wie das alles gemeint war‹. Ausstellung eines Werkes. Mchn. 1996. – Armin Rößler: C. A.s ›Der Untergang der Stadt Passau‹. Eine Untersuchung der zentralen Themenkomplexe. Passau 2001. – Axel Goodbody: Writing Environmental Crisis. The Example of C. A. In: The Culture of German Environmentalism. Hg. ders. New York/Oxford 2002, S. 129–152. – Bernhard Setzwein: C. A. In: LGL. Joseph Kiermeier-Debre / Christoph Bartscherer

Améry, Jean, eigentl.: Hans Maier (jüdischer Vorname: Chaim), weitere Pseudonyme: Han(n)s Mayer, Roger Lippens, * 31.10.1912 Wien, † 17.10.1978 Salzburg (Freitod); Grabstätte: Wien, Ehrengrab auf dem Zentralfriedhof. – Essayist u. Journalist. Nur »zufällig« in Wien geboren, wuchs der von seiner verwitweten Mutter Valerie, geb. Goldschmidt, katholisch erzogene A. im Salzkammergut auf. In Wien studierte er nach einer Buchhandelslehre »unregelmäßig« Literatur u. Philosophie. Nachhaltig beeinflusste ihn der logisch-empir. Erkenntnisstil der Neo-Positivisten des Wiener Kreises um Moritz Schlick u. Rudolf Carnap, den er später in seinen Essays mit kritisch-marxistischer u. existenzphilosoph. Argumentation verband. A. schrieb zunächst meist unveröffentlichte Erzählungen u. Gedichte u. gab 1934 die literar. Zeitschrift »Die Brücke« heraus. Unter dem Schock der nationalsozialist. Machtergreifung u. des österr. »KlerikoFaschismus« entstand der von Robert Musil positiv begutachtete Roman Die Schiffbrüchigen (Neuausg. v. Irene Heidelberger-Leonard. Stgt. 2007: Werke, Bd. 1). Ein Auszug daraus erschien u. d. T. Die Entwurzelten (in: Jahrbuch 1935. Wien). Diese u. weitere Stationen seines entwurzelten Lebens, das als Grunderfahrung jüdischer Existenz keine Heimat, sondern nur »Örtlichkeiten« kannte, hat A., der »Reisende in die eigene Biographie«, 1974/75 für den Deutschlandfunk in sechs Sendemanuskripten nachgezeichnet (Örtlichkeiten. Hg. u.

Améry

Nachw. v. Manfred Franke. Stgt. 1980. Neuausg. v. I. Heidelberger-Leonard u. Gerhard Scheit. Stgt. 2002: Werke, Bd. 2). 1938 ging er nach Belgien ins Exil, wo er 1940 als »feindlicher Ausländer« festgenommen wurde. Er floh 1941 aus dem berüchtigten Internierungslager Gurs nach Brüssel u. schloss sich einer kommunistischen deutschsprachigen Gruppe innerhalb der belg. Widerstandsbewegung an. 1943 verhaftete ihn die Gestapo wegen »Zersetzung der Wehrkraft«. Monatelang in Einzelhaft gehalten, gab der polit. Häftling auch unter der Folter die Namen seiner Gefährten nicht preis. Nachdem ihn die SS als Juden identifiziert hatte, wurde er ins Konzentrationslager Auschwitz u. später nach Buchenwald u. Bergen-Belsen deportiert. 1945 nach Brüssel zurückgekehrt, schrieb A. fast 20 Jahre lang als Journalist ausschließlich für Schweizer Zeitungen. Seine Artikel über tagespolitische, kulturelle u. literar. Themen signierte er seit 1955 mit dem anagrammat. Pseudonym Jean Améry. Das bedeutete eine geistige Verneigung vor Frankreich, dem Land der Aufklärung u. einer großen bürgerl. Revolution, die er in Deutschland vermisste. Ihren Freiheits- u. Gerechtigkeitsidealen blieb A. als ein militanter Humanist zeitlebens verpflichtet. In der Bundesrepublik Deutschland, wo zu publizieren er sich bislang geweigert hatte, wurde A. erst 1966 mit dem aus Funksendungen hervorgegangenen Essay-Band Jenseits von Schuld und Sühne (Mchn. Neuausg.: Werke, Bd. 2) bekannt. In diesen Bewältigungsversuchen eines Überwältigten, so der Untertitel, legte er als jüdischer KZ-Häftling u. linksintellektueller Überlebender des »radikal Bösen« im Namen aller Opfer des NS-Regimes »ein Stück geschichtlicher Zeugenschaft« vor. Er schrieb gegen das der vergehenden Zeit immanente Vergessen u. über »die Situation des Intellektuellen im Konzentrationslager«, der dort An den Grenzen des Geistes erfuhr, wie dieser »urplötzlich seine Grundqualität verlor, die Transzendenz«. Metaphysische Probleme, wie etwa die Idee einer geistigen Welt, wurden für A. nach diesem Erlebnis ebenso gegenstandslos wie der Glaube an die transzendierende Macht des Wortes. Nicht nur

132

Philosopheme wie »das Sein«, sondern auch tradierte literar. Todesvorstellungen werden angesichts der Realität des KZs zur sinnentleerten Sprachchiffre: »Es führt keine Brücke vom Tod in Auschwitz zum Tod in Venedig«. A., der als Agnostiker die Konzentrationslager betreten hatte u. als Gefolterter einen »irreversiblen Einsturz des Weltvertrauens« erlitt, verließ das »Inferno« der Shoa auch wieder als Agnostiker. »Die Unvernunft des Wirklichen«, die sich im Holocaust manifestiert hatte, machte ihn zum Verfechter der Sartre’schen Philosophie von der existentiellen Absurdität. Die naheliegende Frage Weiterleben – aber wie? (Essays 1968–78. Hg. u. Nachw. v. Gisela Lindemann. Stgt. 1982) beantwortete A. mit der Forderung nach Aufklärung als philosophia perennis: »Wer die Aufklärung verleugnet, verzichtet auf die Erziehung des Menschengeschlechts« (Rede zur Verleihung des Lessingpreises der Stadt Hamburg 1977). Das Bedürfnis aufzuklären, d.h. der Wunsch, der Vernunft gegen das Trostbedürfnis seiner geschichtsvergessenen Zeitgenossen doch noch einen Weg zu bahnen, ist in fast allen Aufsätzen u. Literaturkritiken A.s spürbar, vornehmlich in: Der integrale Humanismus (Aufsätze und Kritiken eines Lesers 1966–1978. Hg. Helmut Heißenbüttel. Stgt. 1985). Mit der Skepsis eines Rationalisten in der Nachfolge Voltaires warnte er vor einem neuen Obskurantismus ebenso wie vor der irrationalen Dogmatisierung des Marxismus u. der Psychoanalyse. Als »radikaler Liberaler«, der alle Ideologien skeptisch hinterfragte, war ihm der Absolutheitsanspruch jeder mit Objektivität operierenden Lehre suspekt. Eher emotional reagierte er auf den Strukturalismus, in welchem er den Menschen zu »Schall, Rauch und Ziffer verblassen« sah. Denn A., der sich selbst als »halblinker Kulturkonservativer« verstand, hielt – neben seinem Vertrauen in die realitätsvermittelnde Kraft der Sprache – ein Leben lang an der individuellen Würde des einzelnen Menschen fest. Doch diesen anthropolog. Grundwert sah er durch die entmenschlichte Literatur der Moderne unterhöhlt. Den »selbstgefälligen Kultur- und Sozialpessimismus« (A.) der frz. »nouveaux philosophes« lehnte er deshalb mit der glei-

133

Ammersbach

Weitere Werke: Karrieren u. Köpfe. Bildnisse chen Entschiedenheit ab wie das PseudoWissen einer angeblich »informierten Ge- berühmter Zeitgenossen. Zürich 1955. – TeenagerStars. Idole unserer Zeit. Zürich 1960. – Im Banne sellschaft«. Dass seine auf humane Emanzipation ab- des Jazz. Bildnisse großer Jazz-Musiker. Zürich 1961. – Geburt der Gegenwart. Gestalten u. Gezielende Intellektualität sich gelegentlich in staltungen der westl. Zivilisation seit Kriegsende. Widersprüche (Stgt. 1971. Mchn. 1990 u. ö.) Olten/Freib. i. Br. 1961. – Gerhart Hauptmann. Der verwickelte, verstärkte seine Glaubwürdig- ewige Deutsche. Mühlacker 1963. – Winston S. keit als Zeitzeuge. Mit rigoroser Redlichkeit Churchill. Ein Jh. Zeitgesch. Luzern/Ffm. 1965. – revidierte A. seine linksintellektuelle Position Unmeisterl. Wanderjahre. Stgt. 1971. – Lefeu oder zu Revolte u. Gewalt, wenn sie den Kriterien der Abbruch. Stgt. 1974 (R.-Ess.). – Lessingscher der Vernunft u. der Moral nicht mehr stand- Geist u. die Welt v. heute. Rede zur Eröffnung des hielt. Bei der überfälligen Neubestimmung Wolfenbütteler Lessinghauses am 15.4.1978. Bredes Begriffs »links«, »der für mich weiterhin men/Wolfenb. 1978. – Bücher aus der Jugend unein positiver Begriff ist« (ZDF-Fernsehinter- seres Jahrhunderts. Vorw. v. Gisela Lindemann. Stgt. 1981. – Rendezvous in Oudenaarde. Projekt view mit Ingo Hermann, 1978), fühlte er sich einer Novelle. Nachw. v. Franz J. van der Grinten. allerdings von dem, »was sich heute zur Original-Gravuren v. Rudolf Schoofs. Stgt. 1983. Linken zählt«, verlassen. Der Kampf gegen Ausgabe: Werke (in neun Bdn). Hg. Irene Heidie zunehmende Entfremdung des alternden delberger. Stgt. 2002 ff. Menschen, über den er in seinem Essay Über Literatur: Elisabeth Pulver, Eberhard Koch u. das Altern. Revolte und Resignation (Stgt. 1968. Julia Kabierske: J. A. In: KLG. – Birgit R. Erdle: J. A. 5 7 1979. 2001. Mehrere Übers.en) noch im In: KindlerNeu. – J. A. Unterwegs nach OudenaarZeichen existentialistischer Revolte reflek- de. Bearb. v. Friedrich Pfäfflin. Marbacher Magazin tiert hatte, war konkret nur in der Verwirk- 24 (1982). – J. A. In: Text + Kritik 99 (1988) (mit lichung der Freiheit zum Tode zu gewinnen. Bibliogr.). – Dagmar Lorenz: Scheitern als Ereignis. In seinem Essay Hand an sich legen. Diskurs Der Autor J. A. im Kontext europ. Kulturkritik. über den Freitod (Stgt. 1976. 71994. Mehrere Ffm. 1991. – Siegbert Wolf: Von der VerwundbarÜbers.en) hatte er diese Freiheit zum »Ab- keit des Humanismus. Über J. A. Ffm. 1995. – Petra sprung« als »ein Privileg des Humanen« S. Fiero: Schreiben gegen das Schweigen. Grenzerfahrungen in J. A.s autobiogr. Werk. Hildesh. u. a. jenseits von Psychologie u. Soziologie für alle 1997. – Irene Heidelberger-Leonhard: J. A. im eingefordert: als äußerste Manifestation Dialog mit der zeitgenöss. Lit. Essays. Hg. Hans menschlicher Würde. Gegen die sittlich-reli- Höller. Stgt. 2002. – Walter Schmitz (Hg.): Eringiöse Verketzerung des »Suizidärs« rechtfer- nerte Shoa. Die Lit. der Überlebenden. Dresden tigt er den Freitod als Möglichkeit des Ein- 2003. – Klaus Böldl: J. A. In: LGL. – Wolfgang zelnen, aus der Zwanghaftigkeit eines aus- Klaghofer-Treitler: Die Fragen der Toten. Elias sichtslosen Lebens auszubrechen, um seine Canetti – J. A. – Elie Wiesel. Mainz 2004. – I. Heipersönl. Dignität zu bewahren. Sein letztes, delberger-Leonhard: J. A. Revolte in der Resignakurz vor seinem Freitod veröffentlichtes Buch tion. Stgt. 2004 (Biogr.). – Matthias Bormuth u. Charles Bovary, Landarzt. Porträt eines einfachen Susan Nurmi-Schomers (Hg.): Kritik aus Passion. Studien zu J. A. Gött. 2005. Mannes (Stgt. 1978. Neuausg. v. Hanjo KesUte Stempel / Christoph Bartscherer ting. Stgt. 2006: Werke, Bd. 4), das – im Widerspruch zu Flauberts u. Sartres Überzeugung – selbst dem gewöhnl. Spießbürger die Ammersbach, Heinrich, auch: Heinrich Freiheit einräumt, aus seiner MittelmäßigHansen, Christian Warner, * 17.10.1632 keit auszubrechen u. die engen Grenzen seiHalberstadt, † 17.7.1691 Halberstadt. – ner Welt zu überschreiten, schließt mit den Evangelischer Theologe, ErbauungsSätzen: »Mag sein, es war alles ein Irrtum mit schriftsteller, Herausgeber u. Übersetzer. den Menschen- und Bürgerrechten [...]. Es ist mir recht, dass ich zu Boden falle. Hier liege Der Sohn des Handelsmanns Johann Amich: Continua viam viator.« mersbach begann sein Studium der Theologie in Wittenberg im April 1650, nachdem er bereits im Sommer 1642 in die Matrikel der

Ammon

134

A.s Bemühen, sich Philipp Jacob Spener als Universität zu Leipzig eingetragen worden war. Im Sommersemester 1652 wechselte er Mitstreiter anzubieten (unautorisierte Heran die Universität Jena, wo er im Aug. 1653 ausgabe von Speners Schriften Abgenöthigte den Magistergrad erwarb. Am 14.12.1655 Erörterung dreyer Lehr-Puncten. Merseburg wurde A. zum Pfarrer an St. Petri u. Pauli in 1678, sowie Rettung der reinen Lehre Lutheri, Halberstadt gewählt. Am 5.7.1659 heiratete Meisneri, Speneri. Ffm. 1678), begegnete dieser er die Pfarrerstochter Anna Elisabeth Vielitz ablehnend. Mit seinem Bekenntnis zum aus Quedlinburg. Nach deren Tod ging A. am Chiliasmus u. zu den Lehren von Paul Egar25.10.1682 eine zweite Ehe mit Catharina dus, Georg Lorenz Seidenbecher u. Friedrich Elisabetha, Tochter von Johann von Som- Breckling (Geheimniß der letzten Zeiten. o. O. 1665. Betrachtung der gegenwärtigen u. künfftigen merlatten, ein. Seit Beginn der 1660er Jahre entwickelte Zeiten. o. O. 1665) verließ A. die Grenzen des sich A. zu einem der schärfsten Kirchenkriti- orthodoxen Luthertums. Dass er trotz unabker innerhalb des dt. Luthertums. In derb lässiger literar. Fehden (Hauptgegner: Georg polem. Schriften, viele davon im Selbstverlag Conrad Dilfeld u. Johann Conrad Schneider) herausgebracht, prangerte er das unchristl. u. theolog. Gutachten, die seine AmtsentheLeben der Christen an (Philosophischer Sauff- bung u. Landesverweisung befürworteten, Mantel. Quedlinb. 1663. Evangelische Buß-Po- seine Stellung behaupten konnte, verdankte saune. Quedlinb. 1663. Teutscher Vielfraß, des A. der Protektion des Kurfürsten von BranTeufels Leibpferd. Jena 1664 u. v. a.) u. atta- denburg. Weitere Werke: Heptas theorematum metackierte die orthodoxe Theologenschaft (Cathedra Mosis: Das ist Mosis Stuel auff welchem die physicorum naturam necessarii et contingentis illustrantium [...]. 27. März. Wittenb. 1652 (Praes.: Pharisäer u. Schrifftgelehrten sitzen. o. O. 1671). Christian Trentsch, Aut.-Resp.: H. A.). – Disp. A. kämpfte gegen die »späte Buße« (Cras cor- theol. de fide secunda, quae adhuc est de causa fidei vinum, oder Raben-Stimme. Quedlinb. 1665) – efficiente [...]. Jena 1653 (Praes.: Johann Musaeus, damit gehört er in die Vorgeschichte des Resp.: H. A.). »Terministischen Streits« um die dem MenLiteratur: PGK 4, Sp. 38–41. – Laurea magischen zur Bekehrung gesetzte Gnadenfrist – stralis in florentissima propter Salam Academia u. verwarf den Missbrauch der lobhudelnden Rectore [...] M. Johann Frischmuth [...] Dn. H. A. Leichenpredigten (Neuer Abgott, alter Teuffel, [...] collata. Jena o. J. (1653). – Gottfried Arnold: oder fliegender Brieff, nach welchem [...] alle Diebe Unparteyische Kirchen- u. Ketzerhistorie. 3. Tl., Ffm. 1699/1700, Kap. 14, § 14–20. – P. Pressel: H. und Meineidige fromm gesprochen werden. HalA. In: ADB. – Johannes Wallmann: Zwischen Reberst. 1665). Er übersetzte u. edierte ältere formation u. Pietismus. In: FS Gerhard Ebeling. kirchenkrit. Literatur, warb für die myst. Tüb. 1982, S. 187–205, bes. 202–204 (zu A.s ChiliTheologie, pries Johannes Tauler (Kern- und asmus). – Gesch. Piet. Bd. 1 (1993). – Noack/Splett 3 Kraft-Lehre des grossen teuren Mannes [...] Johan- (2001), S. 20–35 (mit Werkverz. einschl. Nachlass). nis Tauleri. Amsterd./Ffm. 1676), verteidigte – Udo Sträter in: RGG 4. Aufl. Bd. 1, Sp. 413. Udo Sträter / Red. die Schriften des Stephan Praetorius (Apologia oder Ehren-Rettung der beyden getreuen Lehrer, Stephani Praetorii und Martini Statii. Halberst. 1677), gab die Offenbarung der göttlichen Ma- Ammon, Christoph Friedrich von, * 16.1. jestät (Halberst. 1675) des als Rosenkreuzer 1766 Bayreuth, † 21.5.1850 Dresden. – geltenden Aegidius Guthmann heraus, Polyhistor u. Theologe. wandte sich gegen die Lehrverurteilung Der Sohn eines preuß. Kammerrates zeigte Christian Hoburgs (Kurze Erörterung einer [...] ungewöhnl. Begabungen schon als Student in Censur über Christian Hoburgs Postillam evange- Erlangen, wo er 1789 eine a. o. Professur für liorum mysticam. o. O. 1677) u. war vermutlich Philosophie, 1790 für Theologie erhielt. Hier beteiligt an der von Henricus Betkius be- wurde er Universitätsprediger. 1794 wechsorgten Ausgabe der Theosophischen Schrifften selte er als solcher nach Göttingen, wo er bis Jacob Böhmes (Amsterd./Ffm. 1675). 1804 auch als Professor für Theologie wirkte.

135

Er kehrte danach an die Universität Erlangen zurück u. folgte 1813 dem Dresdener Oberhofprediger Franz Volkmar Reinhard im Amt nach. A. verfasste zahlreiche Predigten, homiletische Schriften u. exeget. Traktate. Sein Entwurf einer rein biblischen Theologie (Erlangen 1792. 2. Aufl. u. d. T. Biblische Theologie. Erlangen 1801/02) galt als Grundlegung des historisch-krit. Rationalismus. In der Fortbildung des Christentums zur Weltreligion (Lpz. 1833–40) stellte er das Christentum dar als Produkt u. Teil einer allg. Kulturentwicklung des Menschen. Über der Verteidigung der Reformationsthesen des Claus Harms geriet er 1817 mit dem evang. Theologen Schleiermacher in Streit (Bittere Arznei für die Glaubensschwäche der Zeit [...]. Hann. u. Lpz. 1817. 4 1818). Weitere Werke: Commentatio de versionis V. T. Venetae Graecae usu, indole et aetate [...]. Erlangen 1791. – Entwurf einer Christologie des AT [...]. Erlangen 1794. – Entwurf einer wissenschaftlich-prakt. Theologie [...]. Gött. 1797. – Anleitung zur Kanzelberedsamkeit [...]. Gött. 1799. – Summa theologiae christianae. Gött. 1803. – Gesch. der prakt. Theologie [...]. Bd. 1, Gött. 1804. – Inbegriff der evang. Glaubenslehre. Gött. 1805. – Zeit- u. Festpredigten [...]. Nürnb. 1810. – Das weise Wohlwollen des frommen Menschen gegen die Tiere. Dresden 1829 (Predigt). – Die wahre u. falsche Orthodoxie. Lpz. 1849. Literatur: Ernst Heinrich Pfeilschmidt: C. F. v. A. nach seinem Leben, Ansichten u. Wirken. Lpz. 1850. – Johann Dietrich Schmidt: Die theolog. Wandlungen des C. F. v. A. Diss. Erlangen 1953. – Martin Schmidt: A. In: TRE. – RGG 3. Aufl. Bd. 1, S. 326. – Bautz. Heimo Reinitzer / Red.

Amnicola Kemnicianus ! Bachmann, Paul Amort, Eusebius, * 5.11.1692 bei Tölz/ Oberbayern, † 5.2.1775 Kloster Polling. – Katholischer Gelehrter, Philosoph, Theologe u. Kanoniker. Der Sohn eines Müllers besuchte das Jesuitengymnasium in München u. trat anschließend in das Augustiner-Chorherrenstift Polling ein, wo er 1709 das Gelübde ablegte. Er

Amort

lehrte dort seit 1717 als Professor der Philosophie, Theologie u. des kanon. Rechts. A. war maßgeblich an der Gründung der gelehrten Sozietät Der bayerische Musenberg (gegr. 1720) u. dem von dieser publizierten deutschsprachigen Journal »Parnassus Boicus« (1722–27, mit längeren Unterbrechungen bis 1740) beteiligt, zu dem er mehrere Abhandlungen beigetragen hat. Diese Sozietät u. ihr publizistisches Organ, die period. Zeitschrift, wie auch die 1758 gegründete Baierische gelehrte Gesellschaft sind hervorragende Beispiele für oft übersehene Bemühungen der ins Abseits geratenen süddeutsch-kath. Kultur, mit der mitteldeutschprotestantisch geprägten Frühaufklärung der Epoche Gottscheds durch eigenständige Aktivitäten Schritt zu halten. Im Jahre 1759 war A. dann Mitbegründer der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Zuvor hielt er sich längere Zeit in Rom auf, trat in Kontakt zu dem gelehrten Papst Benedikt XIV. († 1758), der als Gegner der Jesuiten hervorgetreten ist, sowie zu ital. Gelehrten wie dem bedeutenden Lodovico Muratori in Modena u. wurde theologischer Berater des Augsburger Bischofs. Im Sinne einer frühen innerkath. Aufklärung suchte er einzelnen Erscheinungen des Volks- u. Wunderglaubens u. dem religiösen Fanatismus entgegenzuwirken. Anfeindungen von kirchlicher Seite erregten seine krit. Schriften in den Auseinandersetzungen um die Visionen der Kreszentia von Kaufbeuren u. die myst. »Privatoffenbarungen« der span. Klarissin Maria von Agreda (im sog. »Agredastreit«) sowie seine Stellungnahmen zur Ablassfrage. Sein philosophisches Hauptwerk, die Philosophia Pollingana, steht in der Nachfolge des frz., vom Jansenismus beeinflussten Oratorianers Jean-Baptiste Du Hamel (u. dessen 1678 zuerst erschienener Philosophia vetus et nova, auch Philosophia Burgundica genannt) u. ist ein Markstein in der theolog. Entfaltung der kath. Frühaufklärung (Hammermayer). Daneben sind mehrere Schriften zur Kritik u. Hermeneutik hervorzuheben (z.B. eine Ars critica von ca. 1720–30, das Ms. in der Bayerischen Staatsbibl. München). Als Moraltheologe wandte A. sich gegen den Rigorismus u. kritisierte den Probabilis-

Amsdorff

mus des Alphons von Liguori; er selbst ist mit einem eklekt. »Aequiprobabilismus« in die Geschichte der Disziplin eingegangen. A. setzte sich auch mit dem »gallikanischen« Bischof Nikolaus von Hontheim auseinander, der in Trier unter dem Namen »Febronius« gegen den röm. Primat aufgetreten war, u. intervenierte mit sehr wirkungsvollen, klärenden Abhandlungen in dem langwierigen, bes. von Ordenstheologen geführten Streit um die Überlieferung u. Autorschaft der Imitatio Christi. Mit noch heute überzeugenden Gründen trat er dabei für Thomas von Kempen als Verfasser dieses schon damals klass. Buches der vorreformator. Erbauungsliteratur ein. Wie die weitläufige gelehrte Korrespondenz sind viele Schriften A.s ungedruckt. Die Manuskripte befinden sich in der Bayerischen Staatsbibliothek in München. Werke: Herausgeber u. Mitautor: Parnassus Boicus, oder Neu-eröffneter Musen-Berg, worauff verschiedene Denck- u. Les-Würdigkeiten aus der gelehrten Welt, zumalen aber aus dem Lande Bayern, abgehandlet werden. Mchn. 1722–27. 1736. 1740. – Nova philosophiae, planetarum et artis criticae systemata. Nürnb. 1723. – Plena ac succincta informatio de statu totius controversiae, quae de autore libelli de imitatione Christi inter Thomae Kempensis et Joannis Gersenis patronos jam a centum annis agitatur. Ubi simul utriusque partis argumenta juxta leges Artis Criticae expenduntur. Augsb. 1725. – Polycrates Gersensis exauthoratus. Seu causa Kempensis victrix. Mchn. 1729. – Dictionarium selectorum casuum conscientiae, 2 Bde., Augsb. 1733. – Philosophia Pollingana ad normam Burgundicae. Augsb. 1730. – De origine, progressu, valore ac fructu Indulgentiarum. Augsb. 1735. – Demonstratio critica religionis Catholicae. Venedig 1744. – De revelationibus, visionibus et apparitionibus privatis regulae tutae ex Scriptura, Conciliis, SS. Patribus aliisque optimis authoribus collectae, explicatae, exemplis illustratae. Augsb. 1744. Erw. u. Forts. 1749. – Iudicia de Wolfiana philosophia et logica et de Leibnitii physica seu monadologia. Ffm. 1747. – Nova demonstratio de falsitate revelationum Agredanarum cum parallelo inter pseudoevangelica et easdem revelationes. Augsb. u. Würzb. 1751. – Theologia eclectica moralis et scholastica. 4 Bde., Augsb. 1752. – Jus canonicum vetus ac modernum (Elementa juris canonici). Augsb. 1757. – Theologia moralis inter rigorem et laxitatem media. Venedig 1757. – Deductio critica

136 qua juxta sanioris criticae leges moraliter certum redditur Venerabilem Thomam Kempensem librorum de Imitatione Christi authorem esse. Cum responsione ad oppositiones Gersenistae Schyrensis frivolas. Augsb. 1761. – Leges Imperiales et Ecclesiasticae de non edendis, imprimendis, distrahendis, retinendis, vel legendis libris famosis. o. O. 1764. – Moralis certitudo pro Venerabili Thoma Kempensi contra exceptiones novi Gersenistae Ratisbonensis. Augsb. 1764. – Beiträge zur Kirchengesch. des 18. Jh. Aus dem handschriftl. Nachl. des regulären Chorherrn E. A. Zusammmengestellt v. Johann Friedrich. Mchn. 1876. Literatur: Franz Xaver Seppelt: E. A. In: NDB. – LThK. – Wilhelm Deinhardt: Der Jansenismus in dt. Landen. Mchn. 1929. Nachdr. Hildesh. 1976. – Bernhard Jansen: Die Philosophia Pollingana des E. A. In: ZKTh 26 (1938), S. 569–74. – Gustav Schnürer: Kath. Kirche u. Kultur im 18. Jh. Paderb. 1941. – Hermann Lais: E. A. u. seine Lehre über die Privatoffenbarungen. Ein hist.-krit. Beitr. zur Gesch. der Mystik. Freib. i. Br. 1941. – Georg Rückert: E. A. u. das bayer. Geistesleben im 18. Jh. Mit einem Verz. seiner Werke. Mchn. 1956. – Ludwig Hammermayer: Gründungs- u. Frühgesch. der Bayer. Akademie der Wiss.en. Kallmünz 1959. – Otto Schaffner: E. A. (1692–1775) als Moraltheologe. Paderb. 1963. – Egon Albert Bauer: E. A. Ein Vortrag. Murnau 1975. – Reinhard Wittmann: Der Parnassus Boicus u. andere Musenhügel. Bayer. Ztschr.en des 18. Jh. In: Aus dem Antiquariat 1980, H. 7, A 293-A 303. – Georg Heilingsetzer: Die Benediktiner im 18. Jh. Wiss. u. Gelehrsamkeit im süddt.-österr. Raum. In: Kath. Aufklärung, Aufklärung im kath. Dtschld. Hg. Harm Klueting. Hbg. 1993, S. 208–24. – Herbert Jaumann: Critica. Untersuchungen zur Gesch. der Literaturkritik zwischen Quintilian u. Thomasius. Leiden 1995, bes. S. 180–81. – L. Hammermayer: Zur Genese u. Entfaltung v. Aufklärung u. Akademiebewegung im kath. Oberdtschld. [...]. In: Europa in der Frühen Neuzeit. FS Günter Mühlpfordt. Hg. E. Donnert. Bd. 2, Weimar/Köln 1997, S. 481–507. – Ders.: Das Augustiner-Chorherrenstift Polling u. sein Anteil an Entstehung u. Entfaltung v. Aufklärung u. Akademie- u. Sozietätsbewegung im süddt.-kath. Raum (ca. 1717–87). Paring 1997. Herbert Jaumann

Amsdorff, Nikolaus von, * 3.12.1483 Torgau, † 14.5.1565 Eisenach. – Reformator, lutherischer Theologe. Der Spross eines alten thüring. Adelsgeschlechts war mütterlicherseits mit Johannes

137

von Staupitz verwandt, der 1503 Generalvikar der observanten Augustinereremitenkongregation wurde. A. studierte seit 1500 in Leipzig u. seit 1502 an der gerade gegründeten Universität Wittenberg, an der er 1511 das theolog. Lizentiat erwarb. Seit 1507 lehrte er an der dortigen Artistenfakultät, 1508 erhielt er eine Kanonikerpfründe am Allerheiligenstift. 1510 u. 1511 wurde er zum Dekan der Philosophen, 1513 u. 1522 zum Rektor der Universität gewählt. Als akadem. Lehrer orientierte er sich an Johannes Duns Scotus, nach dessen Art er die aristotel. Logik u. Metaphysik auslegte. Freundschaftlich verbunden war A. in diesen Jahren mit Lucas Cranach u. seinen Kollegen Andreas Bodenstein von Karlstadt, Jodocus Trutfetter, dem Logiklehrer Luthers, v. a. mit dem Juristen Christoph Scheurl u. später auch mit Philipp Melanchthon. Für Luther wurde er durch eine im Sept. 1516 abgehaltene SententiarDisputation gewonnen (vgl. WA, Bd. 1, S. 142: Quaestio de viribus et voluntate hominis sine gratia) u. gehörte bald zu dessen treuesten Gefolgsleuten: Er begleitete ihn nach Leipzig (1519), zum Wormser Reichstag (1521) u. blieb auch nach seiner Berufung zum Superintendenten an St. Ulrich in Magdeburg (1524) u. zum ersten evang. Bischof in Naumburg-Zeitz (durch Luther am 20.1.1542 im Dom ordiniert) durch Briefe u. Reisen in ständigem Kontakt mit ihm; Luther, der ihm 1520 seine Schrift An den christlichen Adel deutscher Nation widmete, nannte ihn einen rechten »Theologen von Natur« (»physiotheologos«, WA Tr, Bd. 5, S. 493). Die Niederlage des Schmalkaldischen Bundes 1547 hatte A.s Vertreibung aus Naumburg zur Folge u. die Rückkehr seines einstigen Konkurrenten um das Bischofsamt, des reformkathol. Domprobstes Julius Pflug. Seit 1548 wieder in Magdeburg u. seit 1552 in Eisenach, wirkte A. in einer Vielzahl von Funktionen unbeirrt weiter: u. a. als kirchlicher Berater der ernestin. Herzöge, als Mitherausgeber der Jenaer Lutherausgabe (1555 ff.) u. als Mitinitiator der Jenaer Universität (gegr. 1558). A.s wahrscheinlich über 110 meist polemische theolog. Traktate, die sich – in der Regel in dt. Sprache – vorwiegend an breite

Amsdorff

Massen richteten, bewahrten Luthers radikale Kritik an der spätmittelalterl. Theologie, reduziert auf wenige Thesen. »Ausführliche selbständige Schriftexegesen gibt es von ihm kaum [...]. Große systematische Zusammenhänge behandelt A. selten« (Rogge, S. 496). Der Ausgangspunkt seiner Thesen ist die einzigartige Souveränität Gottes u. seine alleinige Wirksamkeit bei der Rechtfertigung des Menschen. Ihr gegenüber steht die durch die Erbsünde völlig vergiftete menschl. Natur, die zu ihrer Erlösung von sich aus nicht den geringsten Beitrag leisten kann. Mehrfach führte A. für das Verhältnis von Gott u. Mensch das bibl. Bild von Gott als dem Töpfer u. dem Menschen als dem von ihm geformten Gefäß an. In vielen literar. Fehden focht der Mann des Buchstabens kompromiss- u. oftmals unterschiedslos gegen die röm. Kirche u. alle Abweichungen von der reinen Lehre im reformatorischen Lager, v. a. gegen alle synergist. Tendenzen bei den Oberdeutschen u. Schweizern, aber auch bei den alten Freunden Melanchthon, Johannes Bugenhagen u. Georg Major: Jede Zuversicht auf die eigenen Werke hindere den Menschen an dem Vertrauen auf Christus als einzige Quelle der Erlösung. In den heftigen Auseinandersetzungen um die Einführung des »Interim« (1548) in den Territorien der Augsburger Konfession gehörte A. neben Matthias Flacius u. Nikolaus Gallus zu den Wortführern der Ablehnungsfront der Gnesiolutheraner. Er gilt als einer der maßgebl. Wegbereiter der luth. Orthodoxie. Weitere Werke: Das die werck nicht rechtfertigen, sondern der glaub allein [...]. Magdeb. 1528. – A. u. Martin Luther: Epistolae [...] de Erasmo Roterodamo. Witt. 1534. – Antwort, Glaub u. Bekentnis auff das schöne u. liebl. Interim [...] des veriagten Bischoffs zur Naumburg. o. O. 1548. – A. u. N. Gallus: Confessio et apologia pastorum et reliquorum ministrorum ecclesiae Magdeburgensis. Magdeb. 1550. – Das Doctor Pomer [= Bugenhagen] u. Doctor Maior mit iren Adiaphoristen ergernis u. zur trennung angericht u. den Kirchen Christi, unüberwintl. schaden gethan haben [...]. Magdeb. 1551. – Offentl. Bekentnis der reinen lere des Evangelij, u. Confutatio der jtzigen Schwermer. Jena 1558. – Das die Propositio ›Gute werck sind zur Seligkeit schedlich‹ ein rechte ware Christl. Propositio sey, durch die hl. Paulum u. Lutherum

Amthor gelert u. geprediget. Magdeb. 1559. – Eine Vermanung u. Gebet, wider den Bapst u. seinen Anhang. Jena 1562. – Wider die Synergia Victorini [Strigel] [...]. Eisleben 1564. – Herausgeber: Lazarus Spengler: Die Hauptartikel [...]. (Wittenb. 1522). In: Ders. Schr.en. Bd. 1, Gütersloh 1995, S. 298–339. Ausgaben: Ausgew. Schr.en. Eingel. u. hg. v. Otto Lerche. Gütersloh 1938 (8 Schr.en, davon 3 aus der Hs.: Das die guten wergk in doctrina legis nit v. nöten seint [...] [1558], Mein Testament u. letzter Wille [1558], u. Vom freien Willen [1562]). – HansUlrich Delius: Der Briefw. des N. v. A. als Bischof v. Naumburg-Zeitz (1542–46). Theol. Habil.-Schr. Lpz. 1968. – Zahlreiche Schr.en in: Flugschr.en des frühen 16. Jh. Mikrofiche-Ed. Hg. Hans-Joachim Köhler. Leiden 1978–87, u. Flugschr.en des späteren 16. Jh. Milrofiche-Ed. Hg. ders. Leiden 1990–98. – Ursache, warum die beiden Prädikanten Johann Grawert u. Heinrich Knigge aus Goslar vertrieben sind (1531). In: Flugschr.en vom Bauernkrieg zum Täuferreich (1526–1535). Hg. Adolf Laube. Bd. 1, Bln. 1992, S. 305–313. – Wider die Wiedertäufer u. Sakramentierer (1535). Tl. II. Ebd., S. 326–331; Tl. I. Ebd., Bd. 2, S. 1423–1433. – Dass. (inkl. der lat. Fassung: Contra Zwinglianos et Anabaptistas Themata [1534]). In: Die Schr.en der Münsterischen Täufer u. ihrer Gegner. Hg. Robert Stupperich. Tl. 3, Münster 1983, S. 68–82. Literatur: Bibliografien: PGK. – VD 16. – Weitere Titel: Hermann Wendorf: N. v. A. In: NDB. – ErnstOtto Reichert: A. u. das Interim. Erstausg. seiner Schr.en zum Interim mit Komm. u. histor. Einl. Masch. Diss. theol. Halle-Wittenb. 1955. – Peter Brunner: N. v. A. als Bischof v. Naumburg. Eine Untersuchung zur Gestalt des evang. Bischofsamtes in der Reformationszeit. Gütersloh 1961. – Robert Kolb: N. v. A. (1483–1565). Popular polemics in the preservation of Luther’s legacy. Nieuwkoop 1978. – Joachim Rogge: N. v. A. In: TRE (mit Lit.). – Michael Beyer: N. v. A. In: RGG 4. Aufl., Bd. 1, Sp. 421. – R. Kolb: Kollege u. Schüler: N. v. A.s Einsatz für die Theologie Martin Luthers auf dem Hintergrund des Wittenberger bibl. Humanismus. In: Luth. Theologie u. Kirche 22 (1998), S. 137–150. – Thomas Kaufmann: Das Ende der Reformation. Magdeburgs ›Herrgotts Kanzlei‹ (1548–51/52). Tüb. 2003, passim. Karl-Heinz Bokeloh / Red.

138

Amthor, Christoph Heinrich, auch: Anastasius Sincerus, getauft 14.12.1677 Stolberg/Harz, † 21.2.1721 Kopenhagen. – Jurist, politischer Schriftsteller u. Lyriker. Der Sohn eines gräflich Stolbergischen Hofrats u. späteren Kanzlers wuchs in Glückstadt u. Rendsburg im Haus des Onkels, eines dän. Etatsrats, auf. Er studierte Rechts- u. Staatswissenschaften sowie Geschichte an der Universität Kiel (Immatrikulation 16.8.1694), Jena (Immatrikulation 26.9.1695) u. an anderen dt. Universitäten. 1703 wurde a. o. Professor der Philosophia civilis u. Extraordinarius des Privatrechts in Kiel u. damit Nachfolger des Staatsrechtlers Nicolaus Martini, dessen Tochter Anna Sophia er nach dem Tod (1702) seiner ersten Frau Anna heiratete. 1708 verfasste A. im Geiste des Thomasius eine Dissertatio politica de habitu superstitionis ad vitam civilem (Kiel), deren Kritik am Aberglauben von der orthodoxen Geistlichkeit als Provokation verstanden wurde u. ihm den Vorwurf des Indifferentismus u. Atheismus eintrug. 1712 erhielt er in Kiel den neu geschaffenen Lehrstuhl für vaterländisches Recht. A.s Lobgedichte auf dän. Minister, sein Eintreten für die dän. Sache u. die mit regem polit. Interesse verbundene entschiedene Parteinahme gegen Schleswig-Holstein-Gottorf führten dazu, dass er am Gottorfischen Hof in Ungnade fiel, verschafften ihm dafür aber die Gunst des dän. Königshauses. So trat A. im Alter von 35 Jahren mit der Ernennung zum Kgl. Kanzleirat im Aug. 1713 in dän. Dienste u. verließ Kiel wenig später, um seine Arbeit am Obergericht in Gottorf aufzunehmen (Dänemark war in den nordischen Krieg gegen Schweden verwickelt u. hielt seit 1711 das gesamte Gottorfische Gebiet besetzt). 1714 wurde A. königlich dänischer Historiograf u. Präsident in Rendsburg, wo er eine Polizei- u. Stadtordnung ausarbeitete. In diesem Jahr erschien auch sein Historischer Bericht von dem vormahligen und gegenwärtigen Zustande der schleßwig-hollsteinischen Ritterschafft und ihrer Privilegien (o. O.). Im Interesse Friedrichs IV. von Dänemark veröffentlichte A. 1715 in Kopenhagen seinen In jure et facto gegründeten Beweis der vielfältigen Treulosigkeiten, so das jetzt regierende allerdurchlauchtigste Königl.

139

Anacker

Dähnische Haus von dem Fürstl. Holstein-Got- haben A. ihre Anerkennung nicht vorenthaltorfschen bisher erlitten [...] – die Frucht seiner ten. Diese Wertschätzung A.s endete, als der in im kgl. Auftrag in Gottorf geleisteten Archivarbeit. Die in diesen Schriften behandel- Frankreich erfolgte Schwenk vom preziösen ten Sachverhalte waren für die Frage der zum klass. Geschmack sich auch auf schleswig-holstein. Erbfolge von Bedeutung. Deutschland auswirkte. Bezeichnend ist da1715 bereits sollte A. sich im Sinne einer bei das Urteil eines Johann Ulrich von König, Beförderung zur Übernahme gewichtigerer der, ursprünglich selbst ein Vertreter der Lokgl. Ämter nach Kopenhagen begeben, was er hensteinischen Schule, in einem Brief an Joindessen unter Hinweis auf seine Gichtbrü- hann Jakob Bodmer vom 28.3.1728 an A.s chigkeit ablehnte. Als A. aber 1716 auch noch Gedichten übertriebene Metaphorik, unzuden Gedichtband Der in allen seinen Zweigen längl. Wortwahl, Mangel an Einfachheit, geverherrlichte königlich oldenburgische Stammbaum sucht wirkende Pointen u. allzu vordergrünherausbrachte, wurde der 39-jährige Verfas- dige Wortspiele tadelt. A. geriet, wie die ser in Anerkennung seiner Verdienste defi- meisten dt. Dichter zwischen 1680 u. 1740, nitiv als Justizrat nach Kopenhagen berufen, nach seinem Tod ganz in Vergessenheit. Weitere Werke: Collegium homileticum de wohin er 1718 übersiedelte. Er erhielt dort eine Wohnung auf Schloss Rosenborg, wo er jure decori, oder eine Wiss., die da lehret, wie man sich in Conversation mit allerhand Leuten manierdrei Jahre später starb. lich u. wohl-anständig aufführen soll [...]. Lpz./ A. hinterließ im Manuskript den Text Die Kopenhagen 1730. – C. H. A.s, Kgl. Dän. HistorioRegierung und Thaten Königs Friedrich IV. zu graphs u. Cantzley-Raths, Teutsche Gedichte u. Dennemarck und Norwegen aus zuverlässigen so- Uebers.en [...]. 2. erw. Aufl., Rendsburg 1734. – wohl geheimen als auch öffentlichen Uhrkunden Philosophia moralis seu doctrina de iusto, honesto und Originalien beschrieben. Diese Schrift blieb et decoro [...]. Hg. Friedrich Gerhard Voss. Lpz. ungedruckt u. befindet sich heute im Rigs- 1738. Literatur: PGK 4, Sp. 133–136. – Weitere Titel: arkivet in Kopenhagen. A.s Vielseitigkeit u. zeitgenöss. Aktualität Johannes Moller: Cimbria literata [...]. Bd. 2. Kodemonstrieren sein Project der Oeconomie in penhagen 1744, S. 36–38. – Eugen Wohlhaupter: Gesch. der Jurist. Fakultät. In: FS zum 275jährigen Form einer Wissenschaft; nebst einem unmaßgebBestehen der Christian-Albrechts-Univ. Kiel. Lpz. lichen Bedencken, wie diese Wissenschaft beydes in 1940. – Gerhard Eis: C. H. A. In: NDB. – Claus Theoria und Praxi mit mehreren Fleiß und Nutz Wulf: C. H. A. In: Rendsburger heimatkundl. Jb. 9 getrieben werden könne (Ffm./Lpz. 1716) ebenso (1959), S. 100–108. – Hermann Kellenbenz: C. H. wie die Übersetzung des 1. u. 4. Buches von A. In: BLSHL. – Christian Friedrich Weichmanns Vergils Aeneis (Poetischer Versuch einiger teutschen Poesie der Nieder-Sachsen. Hbg. 1721–38. NeuGedichte. Flensburg 1717). Als Hof- u. Gele- ausg. hg. v. Christoph Perels, Jürgen Rathje u. genheitsdichter stand A. bei seinen Zeitge- Jürgen Stenzel. Nachweise u. Register. Wolfenb. 1983, S. 45–47. Jürgen Rathje / Red. nossen in hohem Ansehen. Daniel Wilhelm Triller zählte ihn mit Martin Opitz, Paul Fleming, Simon Dach, Andreas Tscherning, Andreas u. Christian Gryphius, Barthold Anacker, Heinrich, * 29.1.1901 Aarau/ Heinrich Brockes, Johann Christian Günther Schweiz, † 14.1.1971 Wasserburg/Bodenu. einigen anderen zu den vornehmsten dt. see . – Lyriker. Dichtern; Günther sah Schlesiens Poesie, au- A., Sohn eines Fabrikanten, studierte Literaßer von Brockes, v. a. durch A. in den Schatten turwissenschaften in Zürich u. Wien. Er gestellt, u. Brockes seinerseits erblickte in durchwanderte Deutschland, Italien u. Unihm gar den Vergil des dän. Augustus. 13 garn. Nach dem Studium lebte er zunächst Gedichte A.s nahm Christian Friedrich einige Jahre als Kaufmann in Zürich, bis er Weichmann in seine Poesie der Nieder-Sachsen sich 1933 für eine Existenz als freier Schrift(1721–38) auf, u. selbst Johann Christoph steller in Berlin entschied. Nach 1945 ließ er Gottscheds Vernünftige Tadlerinnen (1725/26) sich in Saalbach/Württemberg nieder.

Anders

140

Bereits 1924 war er Mitgl. der NSDAP ge- Deutschsprachige Schriftsteller 1919–45 u. ihr Bild worden, bald darauf gehörte er zur Gruppe vom ›Führer‹. Bonn 1993. Wolfgang Weismantel / Red. der jungen Parteidichter, die sich an Hanns Johst u. dem Journalisten Dietrich Eckart, Autor des Kampfliedes Sturm, Sturm, Sturm Anders, Günther, eigentl.: Günther Stern, mit dem Refrain »Deutschland erwache« * 12.7.1902 Breslau, † 17.12.1992 Wien. – orientierten. A. galt als sehr produktiver u. im Philosoph, Essayist, Erzähler u. Lyriker. Sinne der Nationalsozialisten vorbildl. Lyriker, der SA- u. HJ-Lieder im Grundton der Der Sohn des bedeutenden jüd. Psychologen geforderten »stählernen Romantik« verfass- u. Pädagogen William Stern u. seiner Frau te. 1934 wurde er mit dem Dietrich-Eckart- Clara studierte Philosophie bei Cassirer, Preis ausgezeichnet, 1936 erhielt er auf dem Husserl u. Heidegger. 1923 promovierte er Reichsparteitag den Kunstpreis der NSDAP. bei Husserl in Freiburg, mit 25 publizierte er Die Verbindung von Innerlichkeit u. völki- seine erste größere philosoph. Schrift Über das schem Heroismus kennzeichnet seine häufig Haben. Sieben Kapitel zur Ontologie der Erkenntnis emphat. Texte, die der geistigen Erneuerung, (Bonn 1928). Zwischenzeitlich verbrachte er, der »Mobilisierung der deutschen Seele« gleichsam seine außerakadem. Karriere als dienen sollten. Kampf- u. Aufbruchstim- Philosoph vorwegnehmend, abenteuerl. mung sowie ein weihevoller, pseudoreligiö- Wanderjahre in Frankreich u. England, ser Führerkult bestimmten die Texte in wollte lieber Maler werden u. gab die kurzSammelbänden wie Die Trommel. SA-Gedichte lebige Literaturzeitschrift »Das Dreieck« (1931. Mchn. 41936), Die Fanfare. Gedichte zur heraus. Nach seiner Rückkehr nach Berlin deutschen Erhebung (1933. Mchn. 41936), Der 1928 heiratete er Hannah Arendt, mit der er Aufbau (Mchn. 1935), Ein Volk, ein Reich, ein bis 1937 zusammenlebte. Seine Absicht, sich Führer. Gedichte um Österreichs Heimkehr (Mchn. bei Paul Tillich in Frankfurt mit der Ab1938). Getragen von nationaler u. antifrz. handlung Philosophische Untersuchungen über Einstellung, verfasste A. 1940 den Gedicht- musikalische Situationen zu habilitieren u. eine band Über die Maas, über Schelde und Rhein akadem. Laufbahn einzuschlagen, scheiterte am Rat seines Mentors, lieber zu warten, »bis (Mchn.). Als prominenter Parteidichter stand A. ne- der Nazi-Unfug vorüber ist«. Den Lebensunben »Lyrikern der braunen Front« wie Hans terhalt in diesen Jahren verdiente er sich mit Baumann, Herbert Böhme, Baldur von Schi- journalistischen u. belletrist. Arbeiten für rach, Gerhard Schumann, Eberhard Wolf- Zeitungen u. Radiosender von Paris bis Bergang Möller, Herybert Menzel. Durch Auf- lin. Die Zahl seiner für den Berliner »Börsennahme seiner Gedichte in den NS-Lektüre- Courier« verfassten Beiträge nahm dabei so Kanon für Volksbüchereien u. Schulen er- auffällig überhand, dass ihm der Feuilletonreichten diese rasch massenhafte Verbrei- chef Herbert Ihering riet, einen Teil seiner tung. Man stilisierte A. zum »Sänger unserer Beiträge unter dem Pseudonym »Anders« zu Zeit«, dessen Texte »wahrhafte Volkslieder« veröffentlichen. Unter dem Eindruck der Machtergreifung werden sollten. Während zahlreiche nationalsozialist. Dichter nach 1945 »innerlich Hitlers emigrierte A. bereits im März 1933 gewandelt« weiter veröffentlichten, trat A. nach Paris. Dort nahm er die Arbeit an seinem nicht mehr hervor. Im Zuge der Entnazifi- 1930 begonnenen, aber erst postum veröfzierung wurde er als »Minderbelasteter« fentlichten (Mchn. 1992) Roman Die molussische Katakombe wieder auf, um das Manueingestuft. Weitere Werke: Lyrik: Klinge kleines Früh- skript entsprechend zu straffen. Obgleich der lingslied. Aarau 1921. – Werdezeit. Wien 1923. – aus einzelnen Geschichten komponierte RoAuf Wanderwegen. Aarau 1924. – Sonne. Aarau man einen antifaschist. Kurs verfolgt u. die 1926. – Ebbe u. Flut. Aarau 1927. Wirkmechanismen des Nationalsozialismus Literatur: Paul Gerhardt Dippel: H. A. Mchn. aufdeckt, wurde er von Manès Sperber, der 1937. – Günter Scholdt: Autoren über Hitler. damals als parteihöriger Marxist das Lektorat

141

des einzigen in Paris verbliebenen deutschsprachigen Verlags innehatte, wegen mangelnder Linientreue abgelehnt. Auch für die im Frühjahr 1933 entstandene Novelle Learsi über die Außenseiterrolle der jüd. Menschen fand A. keinen Verleger. Alleine den Vortragstext »Recherches Philosophiques« konnte er 1936 in der Fachzeitschrift Pathologie de la Liberté (unter: G. Stern) unterbringen. Dieser Aufsatz beeinflusste das Denken Sartres, wie dieser 30 Jahre später berichtete, als er A. auf dem Russel-Tribunal gegen den amerikan. Völkermord in Vietnam kennenlernte. 1936 siedelte A. gegen den Widerstand der US-Behörden, die in ihm einen Linken vermuteten u. ihm deshalb jahrelang die Einbürgerungspapiere verweigerten, nach Amerika über. Seine u. Hannah Arendts Wege trennten sich dabei. In den Jahren des Exils in den USA (1936–1950) verfasste A. zunächst v. a. Lyrik. Zahllose Gedichte erschienen in der deutschsprachigen New Yorker Zeitschrift »Aufbau«. Eine Auswahl wurde erst 1985 wieder aufgelegt. Obwohl A. in dieser Zeit auch einige theoret. Arbeiten verfasste (z.B. On the PseudoConcreteness of Heidegger’s Philosophy. In: Philosophy and Phenomenological Research. Bd. 3, 31948 unter G. Stern/A.), verdankte er seine schriftsteller. Bedeutung im Kreise der mit ihm in Kontakt stehenden Exilanten (Adorno, Marcuse, Horkheimer, Eisler, die Mann-Brüder u. a.) seinen Gedichten sowie seinen Fabeln, die in ihrer Erzähltechnik an Brecht erinnern. Die 14 Jahre, die A. im amerikan. Exil zubrachte, waren weitgehend durch berufl. Erfolglosigkeit gekennzeichnet. Einzig seine Position als Dozent (Lecturer) für die New School for Social Research in New York, an der er nicht unumstrittene Vorlesungen u. Seminare zur Philosophie der Kunst anbot, entsprach seinen intellektuellen Ambitionen. Ansonsten musste er seinen Lebensunterhalt mit diversen Gelegenheitsarbeiten bestreiten. A. war u. a. Hauslehrer bei Irving Berlin, Museumsangestellter, Fabrikarbeiter in Los Angeles, erfolgloser Drehbuchautor in Hollywood u. kurzfristig auch für das »Office for War Information« (OWI) tätig. Die dabei gesammelten Erfahrungen sollten später

Anders

grundlegend für seine bedeutendste Schrift Die Antiquiertheit des Menschen. Über die Seele im Zeitalter der 2. industriellen Revolution (Mchn. 1956. Mehrere Übers.en) sein. Bevor diese Untersuchungen, die verschiedene themat. Blöcke zur Darstellung der conditio humana zusammenfassen u. 1980 um einen zweiten Band erweitert wurden (Die Antiquiertheit des Menschen. Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der 3. industriellen Revolution. Mchn. Mehrere Übers.en), 1956 herauskamen, veröffentlichte A. als erstes Nachkriegsbuch eine Arbeit über Kafka (Kafka – Pro und contra. Mchn. 1951. 31967), aus der ein Kapitel bereits 1943 erschienen war. In ihr greift er seinen zentralen Gedanken auf, den der Titel seiner in einem Band versammelten kunst- u. literaturkrit. Schriften nennt: Mensch ohne Welt (Mchn. 1984. Übers.en ins Italienische, Spanische u. Japanische). A. nimmt Kafkas Dichtung vor allen pseudo-religiösen u. symbolisch überhöhenden Auslegungen in Schutz. An Kafka entdeckt er den »Realisten der entmenschten Welt«, eine Formel, die den Gedanken der Weltlosigkeit durch seine Umkehrung noch zuspitzt. Freilich verschärft A. seine eigene Deutung zu der Kritik, Kafka habe es versäumt, »die in seinen Werken investierten Nihilismen so durchzuerklären, dass sie ihre Lockung einbüßen«. Der konstatierte Schrecken vor einer entmenschten Welt muss für A. von der Warnung vor derselben begleitet sein. 1950 kehrte A. nach Europa zurück. Statt sich in der Bundesrepublik oder der DDR niederzulassen, beschloss er, im polit. »Weder-noch«, nämlich in Wien zu bleiben. Eine ihm von Bloch reservierte Professur für Philosophie in Halle/S. schlug er ebenso aus wie den an ihn 1959 ergehenden Ruf auf einen Lehrstuhl an der Freien Universität Berlin. Zu tief saß A.’ Misstrauen gegen jede Art von akademischer Philosophie, u. zu sehr war für ihn die Stellung des Menschen auf der Welt gefährdet, dass er es gleichsam als moral. Verpflichtung ansah, »Gelegenheitsphilosophie« zu betreiben, d.h. für die veränderte Situation eine verständl. Sprache zu finden. Der Abwurf der ersten Atombombe am 6.8.1945 auf Hiroshima wurde für A. zur wichtigsten Zäsur in seinem Leben. Hatten

Anders

bis dahin der Anblick der Verstümmelten des Ersten Weltkrieges u. die Nachricht über die Errichtung der Konzentrationslager sein Selbstverständnis bestimmt, indem sie ihn zum entschiedenen Kriegsgegner u. polit. Autor machten, so widerfuhr ihm nun ein drittes Schlüsselerlebnis, das sein Weltbild grundlegend wandelte. Allerdings gelang es ihm erst 1950, schriftstellerisch auf dieses einschneidende Ereignis zu reagieren: nämlich in dem Kapitel Über die Bombe und die Wurzeln unserer Apokalypseblindheit aus seinem Hauptwerk Die Antiquiertheit des Menschen. A. argumentiert darin folgendermaßen: Die von ihm diagnostizierte Apokalypseblindheit ist das Resultat eines immer größer werdenden Abstandes zwischen dem, was wir herstellen können, u. unserer Fähigkeit, sich die Konsequenzen des Hergestellten vorzustellen – eine Disproportion, die A. auch das »prometheische Gefälle« nennt. Sie läuft auf unsere Unfähigkeit hinaus, das der Atombombe immanente apokalypt. Vernichtungspotential überhaupt noch zu realisieren, da wir die Auswirkungen der vom Menschen erfundenen Maschinen nicht mehr überblicken. Denn weder die Wahrnehmung noch das Fühlen haben für A. mit dem Entwicklungstempo des menschl. Denkvermögens Schritt halten können. Gegen dieses historisch gewordene Versagen stellt er deshalb das Gebot einer Erweiterung der Fantasie bzw. des Vorstellungsvermögens als »Organ der Wahrheit«: »Erweitere deine Vorstellungskraft, damit du weißt, was du tust«, denn »um der Empirie gewachsen zu bleiben, haben wir, wie paradox das auch klingen mag, Phantasie aufzubringen.« Konkret bedeutet dieses Gebot, unsere Ängste bis an die Grenzen unserer Einbildungskraft zu steigern: »Habe keine Angst vor der Angst, habe Mut zur Angst. Auch den Mut, Angst zu machen. Ängstige deinen Nachbarn wie dich selbst.« Zahlreich sind A.’ Versuche, schriftstellerisch die von der atomaren Situation ausgehende Bedrohung zu erhellen u. selbst dem Angstgebot zu folgen. Außer den detaillierten Analysen in seinem Hauptwerk seien z.B. sein 1959 u. d. T. Der Mann auf der Brücke (Mchn.) erschienenes Tagebuch aus Hiroshima u. Nagasaki erwähnt sowie sein offener

142

Briefwechsel mit dem suizidgefährdeten Hiroshima-Piloten Claude Eatherly (Off limits für das Gewissen. Hbg. 1961. 51964. Zahlreiche Übers.en), der, wenngleich er für den Abwurf der Atombombe nicht verantwortlich war, von traumat. Schuldgefühlen verfolgt wurde. Philosophisches Argumentieren bleibt für A., der zu den Gründerfiguren der ersten internat. Anti-Atombewegung gehörte, jedoch nicht auf die Formen der wiss. Abhandlung u. des Essays beschränkt. Als »Gelegenheitsphilosoph« variiert er die literar. Stilformen den Anlässen gemäß, was ihm erlaubt, in der Verbindung von größtmöglicher Verständlichkeit u. gedankl. Schärfe sein eigenes Anliegen – den unverstellten Blick auf Zerstörung u. Gefährdung des Menschen – zu dem des Lesers werden zu lassen. Dabei gelingt es ihm, die Formen des Gedichts u. der Erzählung (Kosmologische Humoreske. Ffm. 1978) ebenso einzusetzen wie die Parabel u. den Dialog (Ketzereien. Mchn. 1982. Erw. Aufl. 1991). Trotz zahlreicher Ehrungen u. Preise setzte die wiss. Erschließung seiner Texte erst richtig gegen A.’ Lebensende u. nach seinem Tod ein. Sein wichtigstes Werk Die Antiquiertheit des Menschen stieß zwar bei Erscheinen 1956 auf Beachtung u. freundl. Resonanz in den Feuilletons. Doch ebenso wie das Unerhörte seines Gegenstandes wurde das Buch selbst verdrängt. Es dauerte fast 30 Jahre, bis im Zuge der Anti-Atombewegung der 1980er Jahre die Gedanken von A. zur atomaren Situation wieder vermehrt Gehör fanden. A. selbst hat in diese neu auflebende Diskussion wiederholt eingegriffen u. zuletzt mit der Frage nach den Grenzen des gewaltlosen Widerstands sowie der hypothet. Notwendigkeit, die Verantwortlichen des künftigen »Globozids« zu töten, eine heftige Kontroverse ausgelöst, die sich in der Textsammlung Gewalt – ja oder nein. Eine notwendige Diskussion (Hg. Manfred Bissinger. Mchn. 1987), in den Gesprächsbeiträgen Günther Anders antwortet. Interviews u. Erklärungen (Hg. Elke Schubert. Bln. 1987) u. in seinen Ausführungen zu der Frage Reicht der gewaltlose Protest? (in: Forum, H. 397/398, 1987) dokumentiert findet. A. erhielt verschiedene Preise, u. a. den Novellenpreis der Emigration (1936), den

143

Premio Omegna der Resistenza Italiana (1962), den Deutschen Kritikerpreis (1967), den Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste (1978), den österr. Staatspreis für Kulturpublizistik (1979), den Preis der Stadt Wien (1980), den Theodor-W.Adorno-Preis der Stadt Frankfurt (1983) u. den Sigmund-Freud-Preis (1992). Weitere Werke: George Grosz. Zürich 1961. Frz. u. span. Übers. 2005. – Bert Brecht. Gespräche u. Erinnerungen. Zürich 1962. – Wir Eichmannsöhne. Offener Brief an Klaus Eichmann. Mchn. 1964. 32002. Mehrere Übers.en. – Philosoph. Stenogramme. Mchn. 1965. 32002. – Die Schrift an der Wand. Tagebücher 1941–66. Mchn. 1967. Bln./ DDR 1969. – Der Blick vom Turm, Fabeln. Mchn. 1968. 31988. Lpz./Weimar 1984. – Visit beautiful Vietnam. Köln 1968. – Der Blick vom Mond. Reflexionen über Weltraumflüge. Mchn. 1970. 21994. – Endzeit u. Zeitenende. Gedanken zur atomaren Situation. Mchn. 1972 (ab 1981 u. d. T.: Die atomare Drohung. Radikale Überlegungen zum atomaren Zeitalter. Mchn.). – Besuch im Hades. Auschwitz u. Breslau 1966. Nach ›Holocaust‹ 1979. Mchn. 1979. 31996. – Hiroshima ist überall. Mchn. 1982. Nachdr. 1995. – Das G.-A.-Lesebuch. Zürich 1984. 21989. – Tagebücher u. Gedichte. Mchn. 1985. – Lieben gestern. Notizen zur Gesch. des Fühlens. Mchn. 1986. 2. durchges. Aufl. 1989. Ital. Amare, ieri. Turin 2004. – Mariechen. Eine Gutenachtgesch. für Liebende, Philosophen u. Angehörige anderer Berufsgruppen. Mchn. 1987. 21994. – Über Heidegger. Mchn. 2001 (aus dem Nachl. veröffentlicht). – Übertreibungen in Richtung Wahrheit. Stenogramme, Glossen, Aphorismen. Hg. u. Vorw. v. Ludger Lütkehaus. Mchn. 2002. – Tagesnotizen: Aufzeichnungen 1941–79. Ausw. u. Nachw. v. Volker Hage. Ffm. 2006. Literatur: Werner Fuld u. Jan Strümpel: G. A. In: KLG. – Paul Assal: Über die Zerstörung des Menschen u. des Lebens. Die Notwendigkeit, an G. A. zu erinnern. In: FH, H. 8 (1981), S. 24–32. – Gabriele Althaus: Der Blick vom Mond. Zur Philosophie v. G. A. In: Merkur 39 (1985), S. 15–24. – Jürgen Langenbach: G. A. Eine Monogr. Mchn. 1988. – Konrad P. Liessmann: G. A. zur Einf. Hbg. 1988. 2. erw. Aufl. 1993. – G. Althaus: Leben zwischen Sein u. Nichts. Drei Studien zu G. A. Bln. 1989. – Werner Reimann: Verweigerte Versöhnung. Zur Philosophie v. G. A. Wien 1990. – Hans L. Arnold (Hg.): G. A. In: Text + Kritik 115 (1992). – Ludger Lütkehaus: Philosophieren nach Hiroshima. Über G. A. Ffm. 1992. Neuaufl. u. d. T. Schwarze Ontologie. Über G. A. Lüneb. 2002. –

Anders Margret Lohmann: Philosophieren in der Endzeit. Zur Gegenwartsanalyse v. G. A. Mchn. 1996. – Sabine Palandt: Die Kunst der Vorschau. G. A.’ method. u. psycholog. Ansätze zur Technikkritik. Bln. 1999. – Volker Kempf: G. A. – Anschlusstheoretiker an Georg Simmel? Ffm. 2000. – K. P. Liessmann: G. A. Philosophieren im Zeitalter der technolog. Revolutionen. Mchn. 2002. – Dirk Röpcke u. Raimund Bahr (Hg.): Geheimagent der Masseneremiten. G. A. Hbg. 2003. – Berthold Wiesenberger: Enzyklopädie der apokalypt. Welt: Kulturphilosophie, Gesellschaftstheorie u. Zeitdiagnose bei G. A. u. T. W. Adorno. Mchn. 2003. – Christian Dries: Technik als Subjekt der Gesch.? Technik u. Gesellschaftsphilosophie bei G. A. Darstellung u. Kritik. Freib. 2004. – R. Bahr (Hg.): Urlaub vom Nichts. Dokumentation des gleichnamigen Symposions zum 100. Geburtstag v. G. A. im Juni 2002 in Wien. St. Wolfgang 2005. – Sven Sohr: Quo vadis, Prometheus? Die Philosophen Jonas u. A. zur Zukunft der Zukunft. Bln. 2006. Michael Leusch / Christoph Bartscherer

Anders, Richard, * 25.4.1928 Ortelsburg/ Ostpreußen, heute Szczytno/Polen. – Lyriker, Prosaautor u. Essayist. A. wuchs in einer großbürgerl. Familie auf. Am Ende des Zweiten Weltkriegs wurde er zum Volkssturm eingezogen u. geriet kurzzeitig in brit. Gefangenschaft. Ab 1953 studierte er Germanistik u. Geografie in Münster u. Hamburg, wo er erste Texte in Rühmkorfs u. Riegels Zeitschrift »Zwischen den Kriegen« publizierte. In Hamburg stand er auch in Kontakt mit Hans Henny Jahnn, über dessen Dramen er 1959 seine Examensarbeit schrieb. Danach arbeitete A. als Deutschlehrer in Athen u. als Lektor in Zagreb. Dort lernte er Radovan Ivsic kennen, der ihn in den Pariser Surrealistenzirkel einführte. Diese Begegnung war weichenstellend für A.s literar. Entwicklung, die ihn zum »letzten Surrealisten« (G. Killert) machte. Von 1965 bis 1969 arbeitete er als Dokumentationsjournalist für den »Spiegel« u. die »Welt«, bevor er mit Erscheinen seines ersten Gedichtbands Die Entkleidung des Meeres (Hbg. 1969) freier Autor wurde. A. experimentierte mit der Methode automat. Schreibens u. setzte dazu auch bewusstseinserweiternde Drogen ein. Viele seiner Werke speisen sich aus der Bildlichkeit

Andersch

sog. hypnagoger Halluzinationen, deren frühes Auftreten er in seinem autobiogr. Roman Ein Lieblingssohn (Ffm./Bln./Wien 1981. Erw. u. d. T. Klackamusa. Luxemburg 2004) schildert u. deren künstlerischer Funktion er in historischen u. poetolog. Essays (Wolkenlesen. Greifsw. 2003) nachgegangen ist. A erhielt 1998 den Wolfgang-Koeppen-Literaturpreis u. 2007 den F.-C.-WeiskopfPreis. Weitere Werke: Preuß. Zimmer. Darmst. 1975 (L.). – Zeck. Bln. 1979. Erw. 1999 (P.). – Ödipus u. die heilige Kuh. Bln. 1979 (P.). – Über der Stadtautobahn. Bln. 1980. Erw. 1985 (L.). – Begegnung mit Hans Henny Jahnn. Aachen 1989. – Verscherzte Trümpfe. Bln. 1993 (P.). – Kopfrollen. Köln 1993 (P.). – SchattenMundReden. Bln. 1995 (P.). – Weißes Entsetzen. Bln. 1996 (L.). – Fußspuren eines Nichtaufgetretenen. Warmbronn 1996 (P.). – Das entzweite Gesicht. Bln. 1996 (Ausw.). – Hörig. Bln. 1997 (P.). – Marihuana hypnagogica. Bln. 1997. Erw. 2002 (P.). – Die Pendeluhren haben Ausgangssperre. Bln. 1998 (L.). – Mit Gita in Indien. Luxemburg 2005 (Erz.). – Niemands Auge. Dresden 2006 (L.) Literatur: Gabriele Killert: Der letzte Surrealist. In: NZZ, 25.4.1998. – Andrew Niedermeiser: R. A. In: KLG. – Jürgen Egyptien: Im Dschungel des Unmöglichen. Über R. A. In: die horen, H. 211 (2003), S. 92–99. Jürgen Egyptien

Andersch, Alfred, * 4.2.1914 München, † 21.2.1980 Berzona/Tessin; Grabstätte: ebd. – Autor von Romanen, Erzählungen, Reiseberichten u. Hörspielen, Publizist u. Übersetzer. A., Sohn eines Antiquars u. Offiziers, verließ 1928 nach der Untertertia das Wittelsbacher Gymnasium in München u. absolvierte eine Lehre als Buchhändler. Seit 1931 Organisationsleiter des Kommunistischen Jugendverbandes (KJV) von Südbayern, wurde er nach dem Reichstagsbrand am 27.2.1933 ein Vierteljahr im KZ Dachau inhaftiert, kam jedoch durch die Intervention seiner Mutter frei. Nach seiner zweiten Internierung im Sept. 1933 verließ A. die KPD u. arbeitete bis 1937 in München als Angestellter in der Industrie, danach in Hamburg als Werbetexter u. Angestellter einer Fotopapierfabrik. Als Soldat desertierte er am 6.6.1944 an der Italienfront

144

u. geriet in amerikan. Gefangenschaft. 1946 arbeitete A. kurzfristig als Redaktionsassistent von Erich Kästner bei der »Neuen Zeitung« in München u. gab zus. mit Hans Werner Richter die Zeitschrift »Der Ruf – Unabhängige Blätter der jungen Generation« heraus, ehe er von der amerikan. Militärregierung aus polit. Gründen entlassen wurde. Im Aug. 1947 wurde er Mitarbeiter bei den »Frankfurter Heften« u. nahm an den ersten Tagungen der Gruppe 47 teil. Seit 1948 war er beim Rundfunk tätig (Abendstudio Frankfurt/M.; 1951–1953 Feature-Redaktion Frankfurt/M. u. Hamburg; 1955–1958 Radio-Essay Stuttgart zus. mit Hans Magnus Enzensberger) u. gab die Buchreihe »studio frankfurt« (1951–1953) sowie die Zeitschrift »Texte und Zeichen« (1955–1957) heraus. 1958 ließ sich A. als freier Schriftsteller in Berzona/Tessin nieder u. nahm 1972 die schweizer. Staatsbürgerschaft an. Bis zu seiner schweren Nierenerkrankung, die im Febr. 1980 zum Tode führte, unternahm A. ausgedehnte Reisen (u. a. 1965 als Leiter einer Fernseh-Expedition in die Arktis; 1972 nach Mexiko; 1975 nach Spanien u. Portugal). A.s Nachlass befindet sich im Deutschen Literaturarchiv in Marbach. In der Adenauer-Ära avancierte A. zu einem der einflussreichsten Gegner der polit. Restauration, ohne aber einem Realitätsverlust zu verfallen. Sein Werk zentriert sich um die Idee von der Selbstbefreiung der Menschen aus den Reglementierungen durch Familie, Partei, Staat u. Institutionen. Bereits in Die Kirschen der Freiheit (Ffm. 1952. Zahlreiche Aufl.n, zuletzt Zürich 2006, u. Übers.en), einem autobiogr. »Bericht«, thematisiert A. mit der Fahnenflucht u. der Hinwendung zur Kunst Formen der Behauptung geistiger Autonomie u. der Emanzipation von der Bevormundung durch scheinmoral. Ehrenkodizes u. Eidesverpflichtungen. Freiheit, so zeigt er am Beispiel des auf dem Fahrrad von Lager zu Lager flüchtenden Deserteurs Franz Kien, der bis ins Spätwerk sein »alter ego« bleiben sollte, ist immer nur als Augenblick zwischen zwei Gefangenschaften realisierbar, als der Moment, welcher »der Sekunde der Entscheidung vorausgeht«. In geistiger Nähe zu Jean-Paul Sartre entwirft A. eine existen-

145

tialist. Freiheitsmeditation, die mit der Einheit von Politik, Kunst u. Leben zgl. einen Grundzug seines ästhet. Konzeptes formuliert. In dem gleichfalls autobiografisch grundierten Roman Sansibar oder der letzte Grund (Freib. i. Br. 1957. Zahlreiche Aufl.n, zuletzt Zürich 2006 u. 2007, u. Übers.en), verfilmt von Leopold Ahlsen (1961) u. Bernhard Wicki (1987), führt A. diese Thematik fort. Um die Figur des »Lesenden Klosterschülers« – eine Anspielung auf eine Plastik von Ernst Barlach –, die, wiewohl Kirchenbesitz, als »entartete Kunst« vernichtet werden soll, findet sich 1937 in dem Ostseestädtchen Rerik mit dem jungen desillusionierten Kommunisten Gregor, der dt. Jüdin Judith Levin, dem parteimüden kommunist. Fischer Knudsen, seinem von Sansibar u. der Freiheit träumenden Schiffsjungen u. dem Pfarrer Helander eine Gruppe geistig renitenter Menschen zusammen, die jeder für sich u. gemeinsam für die bedrohte Plastik nach einer Fluchtmöglichkeit suchen. In der Figur des Klosterschülers, der einerseits den konzentrierten, dabei aber aufmerksamen, krit. u. selbstbestimmten Leser symbolisiert, andererseits die freie, gleichwohl aber bedrohte Kunst, konkretisiert sich für sie die Dialektik von ästhetischem Empfinden u. polit. Handeln. Was die Plastik vergegenwärtigt, bestätigt sich schließlich im Handeln der Figuren. Sie entscheiden frei, auch wenn dies im Falle des Schiffsjungen die Preisgabe eines Traumes u. im Falle des Pfarrers die seines Lebens bedeutet. Mit Blick auf die Verhältnisse in der Adenauer-Gesellschaft übt A. in seinem Roman Kritik an der Determination des Menschen durch Formen des Systemdenkens u. folgt, indem er die Wirklichkeit durch Literatur glaubt verändern zu können, Sartres Konzept einer »littérature engagée« ebenso wie dem des ital. Neorealismus, insbes. Elio Vittorinis, von dessen Roman Uomini e no (1945) sich Sansibar motivisch u. strukturell beeinflusst zeigt. Wie sorgsam A. die geistigen Strömungen in Italien registrierte u. aufzunehmen suchte, veranschaulicht der Roman Die Rote (Freib. i. Br. 1960. Zahlreiche Aufl.n, zuletzt Zürich 2006, u. Übers.en; verfilmt 1962 durch Hel-

Andersch

mut Käutner), der mit der Figur des Musikers Fabio Crepaz, eines ehem. Partisanen, zgl. auch ein veristisches Bild von der sozialen Situation proletarischer Menschen im postfaschist. Italien entwirft. Crepaz’ Lebensumstände kontrastieren der mondänen Lebenswelt der 30-jährigen Franziska, die, gezwungen, sich zwischen ihrem Liebhaber Joachim u. ihrem Ehemann Herbert, der zgl. Joachims Angestellter ist, zu entscheiden, aus Deutschland nach Venedig flieht, wo sie erneut in das Machtspiel zweier Männer gerät, des Gestapo-Mannes Kramer u. des brit. Offiziers O’Malley, der sich an Kramer rächen will. Beide Männer bieten ihr die Möglichkeit zu einer gemeinsamen Zukunft, die sie aber nach Kramers Ermordung zugunsten eines dritten, selbstbestimmten Weges ausschlägt. Ihre Entscheidung für Crepaz ist zgl. eine Entscheidung zugunsten des einfachen Lebens u. der Kunst gegen das Leben in einer kapitalistisch reorganisierten Gesellschaft, in der wieder Züge einer bewältigt geglaubten Vergangenheit sichtbar werden. Ungeachtet der Kritik, A. habe das Grundmotiv der Flucht im Stile eines Kriminal- oder Illustriertenromans als Beziehungsproblem trivialisiert, wurde das Buch ein Publikumserfolg. In einer revidierten Fassung (1972) verzichtete A. auf den versöhnlichen Schluss u. ließ Franziskas Flucht offen enden. Vereinsamung als negative Folge von Flucht thematisiert A. in dem Roman Efraim (Zürich 1967. Neuausg. v. Dieter Lamping in: Gesammelte Werke. Bd. 2, Zürich 2004. Zahlreiche Übers.en), dessen Hauptfigur, ein emigrierter u. nun als Korrespondent für eine engl. Zeitung tätiger Jude, weder in Gesellschaft u. Familie noch in der Sprache eine Heimat findet. Zur Zeit der Kuba-Krise kehrt Efraim nach Berlin, den Ort seiner Kindheit, zurück, um dort nicht nur vom polit. Tagesgeschehen zu berichten, sondern um Gewissheit über das Schicksal von Esther Bloch, der unehelichen Tochter seines Chefs u. väterl. Gönners Kier Horne, zu erlangen. Seine Reportage über die weltpolit. Krise gerät zum persönl. Bericht über eine Identitätskrise. Sie ist die Trauerarbeit eines entwurzelten u. orientierungslosen Menschen im – säkularisierten – Bild des »ewigen Juden«. Efraims

Andersch

Beschäftigung mit der Vergangenheit erscheint dabei (im Sinne von Mitscherlichs »Unfähigkeit zu trauern«) als Auseinandersetzung mit der Vaterfigur Kier Horne, dessen Verhältnis zu Efraims Frau Meg die ödipale Konfliktsituation wiederholt. Im Verlauf seines Berliner Aufenthalts spielt Efraim die Dreieckskonstellation mit seiner Geliebten Anna Krystek u. ihrem Freund Hornborstel nach u. emanzipiert sich, was sein Berufswechsel vom Reporter zum Schriftsteller signalisiert. Indem er von sich schreibt, was dem Leser als Buch vorliegt, vollzieht sich eine Selbstbefreiung in dem Sinne, dass »unter allen Masken, aus denen man wählen kann, das Ich die beste« ist. In Winterspelt (Zürich 1974. Zahlreiche Aufl.n, zuletzt Zürich 2006, u. Übers.en) führt A. die vertrauten Themen der Flucht, der Dreierbeziehung, des entscheidenden Augenblicks, der Spannung zwischen Reflexion u. Erfahrung, zwischen politischer u. privater Existenz im Genre eines histor. Romans zusammen, der erzähltechnisch Anleihen sowohl bei Joyce als auch bei Fontane u. Thomas Mann nimmt. Durch Rückblenden, Vorausdeutungen u. Perspektivwechsel sowie die Montage von Versatzstücken aus der Dokumentations- u. Sachbuchliteratur gerät er zu einer polyphonen Collage: Im Eifeldorf Winterspelt plant am Vorabend der Ardennenoffensive im Okt. 1944 der halbinvalide Ritterkreuzträger Major Dincklage, der sowohl an Generaloberst Gerd von Rundstedt als auch an Ernst Jünger u. an A. selbst erinnert, sein Bataillon kampflos den Amerikanern zu übergeben. Zur treibenden Kraft bei der Ausführung dieses Plans wird die aus Berlin geflohene Lehrerin Käthe Lenk, der Wenzel Hainstock, ein böhm. Kommunist, u. als Verbindungsmann zu den Amerikanern u. deren Major Kimbrough der Kunsthistoriker Schefold zur Seite stehen. Doch kurz vor dem Ziel wird Schefold beim Durchbrechen der Front von dem Gefreiten Reidel erschossen u. das kühne Vorhaben vereitelt. Winterspelt rekonstruiert trotz des Rekurses auf die Geschichte nicht Wirklichkeit, sondern spielt als literarischer Text, als »Gegen-Geschichte«, einen versäumten, gleichwohl aber möglichen histor. Moment durch.

146

Mit der postum erschienenen autobiogr. »Schulgeschichte« Der Vater eines Mörders (Zürich 1980. Zahlreiche Aufl.n, zuletzt Zürich 2006, u. Übers.en) schließt sich der Kreis zum Frühwerk. A. erzählt von einer Griechischstunde am Wittelsbacher Gymnasium im Mai 1928. Rektor Himmler, der Vater des späteren Reichsführers-SS, inspiziert die Untertertia, versetzt die Klasse nebst ihren Lehrer in Angst versetzt u. demonstriert unter dem Deckmantel des humanist. Gelehrten seine Macht an dem gelangweilten Schüler Franz Kien, der daraufhin die Schule verlässt. A. fragt nach dem Verbindenden zwischen der humanist. Bildungsattitüde des Schulmannes u. der Unmenschlichkeit des Massenmörders. Eine Antwort darauf gibt er nicht. Sie zu finden, ist sein literarisches u. polit. Vermächtnis an den Leser. Weitere Werke: Dt. Lit. in der Entscheidung. Karlsr. 1948. – Fahrerflucht. Hbg. 1958. Zahlreiche Nachdr.e u. Neuausg.n, zuletzt Paderb. 2000 (Hörsp.). – Wanderungen im Norden. Olten/Freib. 1962. Zürich 51970 u. ö. (Reisebuch). – Die Blindheit des Kunstwerks u. andere Aufsätze. Ffm. 1965. Zürich 1979. 1990. Ital. La cecità dell’opera d’arte. Lugano 1968. – Aus einem röm. Winter. Olten/ Freib. 1966. Neuaufl. Zürich 1985 (Reisebilder). – Norden Süden rechts u. links. Von Reisen u. Büchern 1951–71. Zürich 1972. – Weltreise auf dt. Art. Zürich 1977. Bln./Weimar 1985. – empört euch der himmel ist blau. Zürich 1977. 1990. Bln./Weimar 1980 (L.). – Mein Lesebuch oder Lehrbuch der Beschreibungen. Ffm. 1978. – Flucht in Etrurien. Zürich 1981 (E.). – Es gibt kein fremdes Land. Briefe u. Ess.s zu Krieg u. Frieden v. A. A. u. Konstantin Simonow. Schwifting 1981. – Arno Schmidt u. A. A. Der Briefw. Zürich 1985. – ›...einmal wirklich leben‹. Ein Tgb. in Briefen an Hedwig Andersch. 1943–75. Zürich 1986. Gesamtausgabe: Ges. Werke. 10 Bde., Zürich 2004. Literatur: Erhard Schütz: A. A. Mchn. 1980. – Volker Wehdeking (Hg.): A. A. Stgt. 1983. – Irene Heidelberger-Leonard: A. A. Die ästhet. Position als polit. Gewissen. Zu den Wechselbeziehungen zwischen Kunst u. Wirklichkeit in den Romanen. Ffm. 1986. – Gerd Haffmans (Hg.): Über A. A. Zürich 3 1987. – Matthias Liebe: A. A. u. sein ›Radio-Essay‹. Ffm 1990. – Stephan Reinhardt: A. A. Eine Biogr. Zürich 1990. – Margret Littler: A. A. (1914–80) and the Reception of French Thought in the Federal Republic of Germany. Lewiston 1991. – I. Heidel-

Anderson

147 berger-Leonard u. V. Wehdeking (Hg.): A. A. Perspektiven zu Leben u. Werk. Opladen 1994. – Maria Elisabeth Brunner: ›Daß nichts dunkel gesagt werden darf, was auch klar gesagt werden kann‹. Der Deserteur u. Erzähler A. A. Ffm. 1997. – Rüdiger Heßling: Autobiogr. in Erzählungen. Studien u. Interpr.en zu den Franz-Kien-Gesch.n v. A. A. Bln. u. a. 2000. – Winfried Stephan (Hg.): ›Die Kirschen der Freiheit‹ v. A. A. Materialien zu einem Buch u. seiner Gesch. Zürich 2002. – Alexander Ritter: A. A., ›Sansibar [...]‹. Stgt. 2003. – Thomas Koebner u. S. Reinhardt: A. A. In: LGL. – Günther Stocker: Lesen als Utopie der Freiheit. A. A.s ›Sansibar [...]‹. In: ZfdPh 123 (2004), S. 264–285. Wolfgang Rath / Ralf Georg Czapla

Anderson, Sascha, * 24.8.1953 Weimar. – Lyriker, Verfasser von Songtexten. Nach einer Schriftsetzerlehre wurde A. in Ostberlin zu einer Leitfigur der alternativen DDR-Kulturszene in Prenzlauer Berg. Von DDR-Verlagen abgelehnt, konnte A. – wie viele Autoren seiner Generation – nur in der damaligen Bundesrepublik publizieren, wo 1982 seine erste Lyriksammlung Jeder Satellit hat einen Killersatelliten (Bln./West) erschien. Er schrieb Songtexte für Rock-Bands, organisierte Ausstellungen u. gab im Selbstverlag Buchkunstwerke heraus; 1986 siedelte er nach Westberlin über. Im Dez. 1989 gründete er mit Rainer Schedlinski den Verlag Druckhaus Galrev. Im Herbst 1991 sprach Wolf Biermann in seiner Büchner-Preisrede von »Sascha Arschloch, ein[em] Stasi-Spitzel«, u. Jürgen Fuchs enttarnte A. im »Spiegel« als seit 1975 von der Staatssicherheit geführten IM »David Menzer«, der 1981 zum IMB befördert worden war u. später als »Fritz Müller« sowie als »Peters« aus der DDR u. auch noch aus Westberlin berichtet hatte. Nach anfänglichem Abstreiten gestand A. nach u. nach seine Verstrickung. Nachdem öffentlich wurde, dass auch Schedlinski für die Staatssicherheit tätig war, entstand das Bild, die gesamte Kulturszene in Prenzlauer Berg der 1980er Jahre sei eine Stasi-Inszenierung. Schedlinski u. A. traten im Jan. 1992 aus der Geschäftsführung des Verlags zurück. Als sie sechs Monate darauf zurückkehrten, musste Klaus Michael, der im Auftrag des Galrev-Verlags

die Verstrickungen der Szene mit der Stasi untersuchte, mit seiner Publikation Machtspiele. Literatur und Staatssicherheit (Lpz. 1993) in den Reclam Verlag ausweichen. Im Druckhaus Galrev veröffentlichte A. die Gedichtbände Rosa Indica Vulgaris (Bln. 1994) u. Herbstzerreißen (Bln. 1997). In seinem »autobiografischen Versuch« Sascha Anderson (Köln 2002) setzt er seiner über zwanzigjährigen Stasi-Tätigkeit Kindheit u. künstlerischen Werdegang entgegen. In der Novelle Totenhaus (Ffm. 2006) befasst sich A. literarisch mit dem Thema: Ein Dreißigjähriger, der aus Dresden nach Prenzlauer Berg gezogen war, kehrt Mitte der 1980er Jahre nach der Besichtigung eines zum Verkauf stehenden Hauses südlich von Berlin in seine sächs. Heimat zurück, wo er als Stasi-Spitzel in eine verdeckte Operation eingebunden wird. Der zeitgleich erscheinende Lyrikband Crime Sites. Nach Heraklit (Ffm. 2006) versammelt Gedichte der Zeit von 1998 bis 2005. Beide Bücher erschienen in einer neu geschaffenen literar. Reihe des Gutleut Verlags, die redaktionell von A. u. seinem langjährigen Weggefährten, dem Lyriker Bert Papenfuß-Gorek, betreut wird. Weitere Werke: die tage sind gezählt. Dresden 1983 (L. v. fünf Autoren). – totenreklame. eine reise. Bln./West 1983. – Waldmaschine. Bln./West 1984 (L. u. Grafik zus. mit Rüdiger Kerbach, Cornelia Schleime u. Michael Wildenhain). – O. T. Bln./ West 1985 (L. u. Grafik zus. mit Helge Leiberg). – Ich fühle mich in Grenzen wohl. Fünfzehn dt. Sonette. Bln./West 1985 (zus. mit Stefan Döring u. Bert Papenfuß-Gorek). – A. u. Elke Erb (Hg.): Berührung ist nur eine Randerscheinung. Köln 1985 (Anth.). – brunnen, randvoll. Mit Holzschnitten v. Ralf Kerbach. Bln./West 1988. – Jewish Jetset. Bln. 1991 (zus. mit A. R. Penck). Erw. Fassung Bln. 1991. – Proë. Bln. 1992 (zus. mit Gerhard Falkner, Thomas Kling, B. Papenfuß-Gorek, S. Döring, Durs Grünbein, Peter Waterhouse). Literatur: Christine Cosentino: Noch einmal S. A. Amsterd. 1993. – Gerrit-Jan Berendse: S. A. In: KLG. – Sacha Szabo: S. Arschloch. Verrat der Ästhetik, Ästhetik des Verrats. Das Werk des Lyrikers S. A. im Spannungsfeld v. Poesie u. Politik. Marburg 2002. – Petra Ernst: S. A. In: LGL. Fridtjof Küchemann

André

André, Johann, * 28.3.1741 Offenbach, † 18.6.1799 Offenbach. – Verleger u. Komponist. Aus einer Hugenottenfamilie stammend, wandte sich A. ab 1761 der Übersetzung frz. »opéras comiques« u. der Vertonung dt. Singspieltexte (u. a. Erwin u. Elmire von Goethe, 1775) zu. 1776 übersiedelte A. nach Berlin, wo er neben Vertonungen, u. a. von Bretzners Entführung aus dem Serail u. Beaumarchais’ Barbier von Sevilien, auch Schauspielmusiken zu Shakespeare u. vermehrt Liedkompositionen in Anlehnung an die Berliner Schule schuf. A.s 14 Bühnenmusiken, geschrieben zwischen 1776 u. 1782, wurden mit einer Ausnahme sämtlich in Berlin aufgeführt. Seine sechs Liedsammlungen erschienen zwischen 1774 u. 1784, seine 18 Singspiele zwischen 1773 u. 1796. 1784 übernahm A. die Leitung einer Offenbacher Notenstecherei, die er zu einem der wichtigsten Musikverlage der Zeit ausbaute. Sein Sohn Johann Anton André (geb. 1775), der nach dem Tod des Vaters den Verlag weiterführte, erwarb sich große Verdienste um das Werk Mozarts. Literatur: Wolfgang Plath: A. In: New Grove. – Wolfgang Matthaeus: J. A., Musikverlag zu Offenbach am Main. Verlagsgesch. u. Bibliogr., 1772–1800. Tutzing 1980. – Britta Constapel: Der Musikverlag J. A. u. Verz. der Musikalien v. 1800 bis 1840. Tutzing 1998. Erich Tremmel / Red.

Andreae, Gottlieb, * 16.9.1622 Calw/ Württemberg, † 10.12.1683 Weilheim unter Teck/Württemberg. – Neulateinischer Dichter, Verfasser u. Herausgeber von religiöser Gebrauchsliteratur.

148

Wangen bei Stuttgart, 1659 bis zu seinem Tode in Weilheim. Während seiner Zeit in Wangen bekam A. zunehmend Schwierigkeiten mit Gemeinde u. Konsistorium, das ihn als Melancholicus nachsichtig behandelte, z.T. geriet er auch durch umlaufende Gerüchte in Verruf, nicht zuletzt bei dem mit seinem Vater befreundeten Herzog August von Braunschweig-Lüneburg. In völliger Fehleinschätzung seiner Persönlichkeit u. in Verkennung seiner literarisch-histor. Verdienste hat die ältere Forschung A. das Etikett des Epigonen angehängt. In Anerkennung seiner dichter. Fähigkeiten wurde A. 1643 von Johann Henisius der Titel eines poeta laureatus verliehen. A.s neulateinische u. dt. Gelegenheitsdichtungen sind in Sammlungen, teils auch als Epicedien in Leichenreden überliefert. Es wird daraus seine Verbindung mit den ebenfalls dichtenden Kollegen Levin Sutor u. Georg Konrad Maicler ersichtlich. Die von A. herausgegebene Gedenkschrift für seinen berühmten Vater gewährt Einblicke in Teile des noch verbleibenden Netzwerkes, das J. V. Andreae im Laufe seines Lebens aufgebaut hatte. Werke: Auguste numen inclytum Germaniae. In: Serenissimi et potentiß. D. Augusti Brunsvuicensium et Lüneburg: Ducis incluti. Stgt. 1642, S. 1–46. – Johannis Sauberti exuviae. Stgt. 1647. – Bonus odor suave-olens nominis Andreani. Stgt. 1654. – Christl. Zeitvertreiber. Stgt. 1650. – Christl. Feld-Betrachtung. o. O. 1667. Literatur: Wilhelm Gonser: G. Andreä – ein Epigonenschicksal. In: BWKG 37 (1933), S. 228–250. – Sabine Koloch, unter Mitarb. v. Frank Böhling u. Hermann Ehmer: Akkumulation v. Ansehenskapital. Die Gedenkschr. für Johann Valentin Andreae – Ed. mit einer Bibliogr. der gedr. Werke v. G. A. In: Daphnis 35 (2006), S. 51–132. – Flood, Poets Laureate, Bd. 1, S. 65 f.

Der begabte, einzige überlebende Sohn von Hermann Ehmer / Sabine Koloch Johann Valentin Andreae erhielt seine schulische Ausbildung 1637–1639 am GymnasiAndreae, Jacob, Jakob, auch: Schmi(e)dlin, um in Nürnberg, wo er im Hause von JoFaber, * 25.3.1528 Waiblingen/Württemhannes Saubert d.Ä., seinem späteren berg, † 7.1.1590 Tübingen; Grabstätte u. Schwiegervater, wohnte. Als Angehöriger des Epitaph: ebd., Stiftskirche. – Theologe; Stifts studierte er 1639–1640 in Tübingen, Mitbegründer des Luthertums als Kondiente 1640–1642 als Hauslehrer u. wirkte fession. dann im württembergischen Kirchendienst: 1642 Vikar an der Stuttgarter Hospitalkirche, A.s gleichnamiger Vater (dt. Namensform: 1643 Diakonus in Cannstatt, 1650 Pfarrer in Endris[s]), ein Schmied, stammte aus Mö-

149

ckenlohe bei Eichstätt, seine Vorfahren aus Ingolstadt; seine Mutter, Anna Weißkopf, aus Gundelfingen/Oberpfalz. Gefördert u. lutherisch geprägt von Erhard Schnepf, stieg A. nach kurzem Studium u. tapferem illegalem Kirchendienst in Stuttgart u. Tübingen während der Rekatholisierungsphase unter kaiserl. Militärherrschaft (1546–1552) bereits 1553 in das neu geschaffene Amt des Generalsuperintendenten von Göppingen auf (Dr. theol. 19.4.). 1554 war er beteiligt an dem am Widerspruch von Johannes Brenz gescheiterten Versuch seines Schwagers Caspar Leyser, in Nürtingen ein Kirchenzuchtverfahren nach Genfer Muster einzuführen (um der aktuellen Kritik Schwenckfelds u. der Täufer zu begegnen). Seit dieser Niederlage hat A. niemals mehr die Alleinzuständigkeit des landesherrl. Kirchenregiments für die Kirchenordnung infrage gestellt. Im Einklang mit der Kirchenpolitik Herzog Christophs von Württemberg äußerte sich A. in seiner ersten Druckschrift Kurtzer vnnd einfeltiger Bericht von des Herrn Nachtmal / vnnd wie sich ein einfeltiger Christ inn die langwirige zwispalt / so sich darüber erhebt / schicken sol (Tüb. 1557), die von Brenz durch ein Vorwort autorisiert wurde, noch konziliant gegenüber den Schweizern. Im selben Jahr wurde er für das letzte reichsöffentl. Religionsgespräch in Worms neben Paul Eber als Notar bestimmt (zu A.s Protokoll s. von Bundschuh). Ende 1559 wurde A. beauftragt, die Verhandlung mit dem sich als Calvinist erweisenden u. sich dafür (zurecht) auf Melanchthon berufenden Hofprediger der Herzoginmutter Sabine, Bartholomäus Hagen, zu führen, aus welcher Bekanntnus vnnd Bericht der Theologen vnd Kirchendiener im Fürstenthumb Würtemberg / von der warhafftigen gegenwertigkeit des Leibs vnnd Bluts Jesu Christi im heiligen Nachtmal (Tüb. 1560) erwuchs – der eigenständige Beitrag Württembergs zur sich auch im niedersächs. Reichskreis u. in Thüringen unterschiedlich formierenden luth. Sammlungsbewegung in Abgrenzung zur Schweizer Reformation u. zum alten Melanchthon. 1561/62 nahm A. an (illusorischen) Verhandlungen in Frankreich teil, welche die frz. Hugenotten an das Augsburgische Bekenntnis binden sollten. 1562 wurde er zum Propst von Tübingen,

Andreae

zum Professor an der Universität u. zu ihrem Kanzler ernannt – auf dieser führenden Stellung beruhte künftig seine Autorität nach innen wie außen. 1563 führte er in Straßburg die Verhandlungen mit Hieronymus Zanchi über die Prädestinationslehre (sie erschien noch nicht als strittig). 1564 war A. beim Maulbronner Religionsgespräch, welches durch das Erscheinen des »calvinistischen« Heidelberger Katechismus im Jan. 1563 veranlasst wurde, gegenüber den kurpfälz. Theologen der alleinige Wortführer der Württemberger u. verteidigte die 1561–1564 gegen Melanchthon u. Heinrich Bullinger entwickelte Christologie von Brenz (dem »getrewen nachvolgern D. Luthers«), als dessen Erbe u. Anwalt er sich zeitlebens verstand (Brenz versicherte A. bereits 1550 seiner »Freundschaft«). In dieser Zeit brachte er sein Selbstverständnis als Theologe u. Diplomat klassisch zum Ausdruck: »Immer und überall muß ich Friedensstifter sein« (»Passim et ubique oportet me esse pacificatorem«), hatte er doch seit seiner Göppinger Zeit zahlreiche Reformationen, kirchenordnende oder streitschlichtende Maßnahmen in vielen kleineren Territorien u. Städten, innerhalb u. außerhalb Württembergs, durchgeführt – stets in öffentlichem Auftrag, wie er gegenüber seinen Gegnern betont. Die Berufung durch Herzog Julius zur Reformation von Braunschweig-Wolfenbüttel im Juli 1568 aber bot A. die »Gelegenheit«, das wohl schon seit einem wegweisenden Gutachten von Brenz von 1561 geplante »Konkordienwerk« (wie er es häufig nannte), d.h. die umfassende Einigung des seit 1548 zerstrittenen »Luthertums«, »anzufahen«. Mit fünf Lehrartikeln, welche die »Einigkeit« in den kontroversen Lehren (Rechtfertigung, gute Werke, freier Wille, Adiaphora, Abendmahl u. die diesem nach Luthers Vorbild verbundene Christologie) feststellen, warb A. 1569/70 auf diplomat. Reisen durch Norddeutschland um Zustimmung. Dieser Versuch scheiterte im Mai 1570, da A. die kursächs. (Wittenberger) Melanchthonianer (zuerst 1571 öffentlich als »heimliche Calvinisten« bezeichnet) einzubeziehen versuchte, was ihm erhebl. Vorbehalte bei Martin Chemnitz, dem maßgebenden niederdt.

Andreae

Theologen, u. unverhohlene Ablehnung seitens der thüringischen (herzoglich-sächs.) Theologen eintrug. Erst Ende 1572 gab A. die Hoffnung auf, die Wittenberger Melanchthonianer (die sich ihrerseits seit 1571 konsequent von allen Richtungen der luth. Sammlungsbewegung distanzierten u. damit isolierten) gewinnen zu können, startete aber mit seinen Herzog Julius gewidmeten (fingierten) Sechs Christlicher Predig / Von den Spaltungen / so sich zwischen den Theologen Augspurgischer Confession [...] erhaben / Wie sich ein einfältiger Pfarrer und gemeiner Christlicher Leye [...] auß seinem Catechismo darein schicken soll (Tüb. 1573) einen neuen, nun auf die Achse Württemberg-Niedersachsen gestützten Versuch. Da A. dem Vorschlag von Chemnitz folgte, die sechs Predigten in Lehrartikel umzuarbeiten, entstand 1574 seine sog. Schwäbische Konkordie, für die nun Chemnitz 1574/75, Norddeutschland bereisend, eine erfolgreiche Werbung entfaltete. Ihre Umarbeitung durch David Chytraeus u. Chemnitz zur sog. Sächsisch-Schwäbischen Konkordie befürwortete A. aber aus formalen Gründen nicht. Der drohende Stillstand wurde dadurch behoben, dass Kurfürst August, der seit 1573 Thüringen vormundschaftlich regierte, die dortigen anti-philippist. luth. Theologen, 1574 aber auch die Wittenberger Melanchthonianer, von denen er sich hoch- u. landesverräterisch hintergangen glaubte, entließ, in das Konkordienwerk eintrat u. A. im März 1576 als »Generalinspektor aller Kirchen und Schulen im Kurfürstentum Sachsen« zur Neuordnung der Verhältnisse berief. (A. wohnte mit seiner Familie zunächst in Leipzig, dann in Wittenberg.) Diese Machtposition machte es A. möglich, das Konkordienwerk bis zur Veröffentlichung des Konkordienbuchs 1580 zu Ende zu führen: 1576 entstand das aus der Sächsisch-Schwäbischen Konkordie u. der alternativen Maulbronner Formel zusammengearbeitete u. von A., Chemnitz, Chytraeus, Nikolaus Selnecker u. den Brandenburgern Christoph Corner u. Andreas Musculus unterzeichnete sog. Torgische Buch (Bekenntnisschriften, 1100), für das wiederum Chemnitz in Norddeutschland um Zustimmung warb; die Endredaktion zum sog. Bergischen Buch durch dieselbe Kommission erfolgte

150

daraufhin 1577. Im selben Jahr vermochte A. auch eine umfassende kursächs. Kirchenordnung (nach württemberg. Muster) in Kraft zu setzen. In Leipzig hielt er 1576 eine Oratio de studio sacrarum literarum, in Wittenberg 1577 eine Oratio de instauratione studii theologici, in Academia Witebergensi, ad eam puritatem Doctrinae coelestis, in qua, viuente D. Luthero, Doctores Sacrarum Literarum piè consenserunt (beide Tüb. 1577). Diese programmat. Reden kassierten zwar den von Melanchthon noch kurz vor seinem Tode mit seinem Corpus doctrinae christianae (Wittenb. 1560; in Kursachsen verbindlich seit 1566) gegenüber seinen auf Luther zurückgreifenden Kritikern erhobenen normativen Anspruch. Gleichwohl bleibt Melanchthon Lehrer des Luthertums, denn A. bestimmt: »Der vierte [Theologie-]Professor wird die Vorlesung über die ›Loci communes‹ Melanchthons wahrnehmen, die Luther [in der Fassung von 1543] gesehen, gebilligt, empfohlen hat.« Wegen Differenzen mit Kurfürst August, die bei der Visitation der Universität Jena aufkamen, da A. einige der 1573 vertriebenen Lutheraner restituierte, wurde A. aber 1581 entlassen. In seine letzten Tübinger Lebensjahre fallen noch folgenreiche kirchenpolit. Ereignisse, v. a. 1586 das Religionsgespräch im württemberg. Mömpelgard zwischen A. u. Theodor Beza, das erstmals die Differenz im Prädestinationsverständnis öffentlich unübersehbar machte. A. begann seine (leider unvollendete) Autobiografie zu schreiben. A.s kirchenpolitischer Erfolg beruhte auf seiner Fähigkeit, zwischen seiner Person u. seinem Werk zu unterscheiden, seiner (zutreffenden) unerschütterl. Annahme eines luth. Grundkonsenses, seiner Formulierungskunst, seinem diplomat. Geschick u. seinem (von seinen Gegnern fälschlich mit einem »angemasten newen Primat« identifizierten) Überlegenheitsgefühl, das freilich gelegentlich zensorenhaft wirkt (A. verhinderte die Wiederanstellung von Nikodemus Frischlin u. maßregelte 1585 den Philosophen Jakob Schegk). Ohne A.s unermüdliches Wirken wäre die weitgehende Einigung des Luthertums auf der Basis der Konkordienformel nicht zustande gekommen. Deren schließl. Gestalt ist zwar hauptsächlich durch

151

die Theologie von Chemnitz (u. Chytraeus) geprägt. Gleichwohl setzt ihr 1576 von A. allein verfasster, voranstehender Summarischer Begriff württembergische theolog. Akzente. Dies zentrale Dokument der Identität des Luthertums vollendete zgl. die Abgrenzung von den Kirchen, die sich, außerhalb u. innerhalb Deutschlands, entsprechend nunmehr exklusiv als »reformierte« zu bezeichnen beginnen u. die Lutheraner im »Papismus« stecken geblieben sehen. A. selbst verurteilte Lehre u. Kultus der röm. Kirche stets als »Abgötterey«. Weitergehende Pläne der Einigung mit der östlich-orthodoxen Kirche scheiterten. A.s umfangreiches literar. Werk besteht zum größten Teil aus Predigten, daneben aus (häufig dt.) Kontroversschriften u. (lat.) Disputationen. Sie zeichnen sich durch Schlichtheit, Klarheit u. Anschaulichkeit aus u. sind eine bedeutende kulturgeschichtl. Quelle. Sie spiegeln A.s zentral an der Weltgegenwart (»Ubiquität«) Jesu orientierte Frömmigkeit (»ja diesen gantzen Christum haben vnnd tragen E.F.G. in jhrem hertzen / sie seyen wa sie wöllen«), deren Maßstab Luthers Katechismus ist (»so hat ein jeder Christ seine sechs Hauptstuck Christlicher Lehr / als eine gewisse Richtschnur alles rechten vnd vnrechten verstands der heiligen Schrifft«). Gelegentlich benutzt A. das Stilmittel der Ironie (Gratulation / Das die Prediger vnd Lehrer im Herzogthumb Bayern Lutherisch worden. Tüb. 1568) u. des Dialogs (Ein Christlich Gespräch [...] Von der Catholischen Apostolischen Christlichen Kirchen [...]. Postum Tüb. 1590). Die im Zusammenhang mit der Türkengefahr zu sehenden Dreyzehen Predigen vom Türcken (Tüb. 1568) beruhen auch auf von Primus Truber im Auftrag von A. in Laibach »bey den [kriegs]gefangnen Türcken« angestellten Umfragen, »was heutigs tags der Türcken Religion und Glaub seie«, u. stellen so den Beginn einer Islamistik im Luthertum dar. Zeittypisch ist das von A. auffallend gefühllos beschriebene »erbärmliche Schauspiel« der Tortur, Bekehrung u. Hinrichtung eines straffälligen Juden in Weißenstein im Jahr 1550 (Leben, 92–97). Eine nach A.s Tod von seinem Neffen Polykarp Leyser in bearbeiteter Form geplante

Andreae

Werkausgabe kam ebenso wenig zustande wie die von seinem Enkel Johann Valentin Andreae aufgrund reichen gesammelten Materials beabsichtigte, als deren Grundlage er die bis heute unentbehrliche Fama Andreana verstand (Straßb. 1630; enthält zu Beginn A.s Autobiografie u. die Memorialreden von Polykarp Leyser, Jakob Heerbrand, Anton Varenbüler u. Lukas Osiander sowie als Vorausveröffentlichung wenige von »einigen hundert« Briefen an A.). Das literar. Werk A.s erwies sich offensichtlich als zu zeitgebunden u. mehr bewahrend als schöpferisch. Ausgabe: Leben des Jakob A., Doktor der Theologie, von ihm selbst mit großer Treue u. Aufrichtigkeit beschrieben, bis auf das Jahr Christi 1562. Lat. u. dt. Eingel., hg., komm. u. übers. v. Hermann Ehmer. Stgt. 1991. Literatur: Bibliografie: VD 16 A 2479–2726 (ergänzungsbedürftig, z.B. um die v. A. selbst geplante, v. Jakob Heerbrand 1593 [1596 nochmals u. d. T. ›Opus Theologicvm‹] systematisch geordnet hg. Slg. seiner ›Disputationes Theologicae‹). – Biografie: fehlt (Theodor Pressels ›Leben und Wirken von Dr. Jakob Andreae‹ blieb unvollendet [Württemberg. Landesbibl., Cod. hist. Fol. 898]; Vorausveröffentlichungen in: Jbb. für dt. Theologie 11 [1866], S. 640–742 u. 22 [1877], S. 1–64, 207–264). – Weitere Titel: Die Bekenntnisschr.en der evang.luth. Kirche (1930). Gött. 121998 (XXXII-XLIV, 735–1135). – Martin Brecht: J. A. In: TRE (Lit.). – Dorothea Wendebourg: Reformation u. Orthodoxie. Der ökumen. Briefw. zwischen der Leitung der Württemberg. Kirche u. Patriarch Jeremias II. v. Konstantinopel in den Jahren 1573–81. Gött. 1986. – Benno v. Bundschuh: Das Wormser Religionsgespräch v. 1557 unter bes. Berücksichtigung der kaiserl. Religionspolitik. Münster 1988. – Jörg Baur: Luther u. seine klass. Erben. Tüb. 1993 (bes. S. 307–335). – Inge Mager: Die Konkordienformel im Fürstentum Braunschweig-Wolfenbüttel. Entstehungsbeitrag – Rezeption – Geltung. Gött. 1993 (Lit.). – Ernst Koch: Später Philippismus in Jena. Zur Gesch. der Theolog. Fakultät zwischen 1573 u. 1580. In: Dona Melanchthoniana. FS Heinz Scheible. Hg. Johanna Loehr. Stgt.-Bad Cannstatt 22005, S. 217–246. – Johannes Hund: Das Wort ward Fleisch. Eine systematisch-theolog. Untersuchung zur Debatte um die Wittenberger Christologie u. Abendmahlslehre in den Jahren 1567 bis 1574. Gött. 2006. Theodor Mahlmann

Andreae

Andreae, Johann Valentin, auch: Alitophilus, Florentinus de Valentia, * 17.8. 1586 Herrenberg/Württemberg, † 27.6. 1654 Stuttgart. – Verfasser theologischer, satirischer u. utopischer Schriften. Durch Herkunft u. Heirat gehörte A. zu den angesehensten Familien der württemberg. Intelligenz. Sein Vater, der Pfarrer u. Superintendent Johann Andreae, widmete sich auch den mechan. Künsten u. tüftelte an alchem. Projekten. A.s lebenslanges Grundanliegen, die harmon. Versöhnung eines prakt. Christentums mit den Herausforderungen der Naturerkenntnis, wurde davon wahrscheinlich beeinflusst. Schwieriger gestaltete sich das innere Verhältnis zum geistigen Erbe des Großvaters. Jacob Andreae, der Urheber der luth. Konkordienformel, war eine Leitgestalt der sich in kontroverstheolog. Kämpfe verbeißenden Orthodoxie. Von deren Vertretern wurde A. gerade in Tübingen immer wieder mangelnder Rechtgläubigkeit verdächtigt. Dies nicht ohne Grund, denn A. interessierte sich kaum für die dogmat. u. exeget. Frontstellungen. Ihm ging es um eine neue Synthese zwischen christlicher Lebensführung, gesellschaftl. Reform u. wiss. Weltoffenheit. Anregungen des Calvinismus nahm er dabei ohne Bedenken ebenso auf wie die transkonfessionellen Strömungen des europ. Humanismus u. die gesellschaftskritisch akzentuierten Grübeleien der Mystiker, Häretiker u. Spiritualisten. Die Enge der vom Staatsinteresse beherrschten Amtskirche empfand er als bedrückend. Historisch überfällig erschien ihm eine zweite, eine radikale Reformation: mit durchgreifenden Reformen der Kirche, des Lehr- u. Wissenschaftsbetriebs, des öffentl. u. privaten Lebens. A. gestaltete u. durchlitt die Wissens- u. Frömmigkeitskrise einer Epoche des geistigen Umbruchs. Schon während seines Studiums in Tübingen (1602–1607, Magister 1605), im Kreis befreundeter Hochschullehrer (u. a. Michael Mästlin, David Magirus, Matthias Haffenreffer), vertiefte er sich in Wissensbezirke, die mit dem Berufsbild eines Theologen wenig zu tun hatten. Immer wieder hat sich A. mit dem Reiz u. den Gefahren der wiss. Neugier (»curiositas«), des Prinzips

152

neuzeitlicher Weltaneignung, auseinandergesetzt. Davon handelte eine frühe autobiogr. Schrift (Mora philologica, entstanden 1609, zus. u. a. mit Vale Academiae Tubingensi, entstanden 1607. In: In bene meritos gratitudo. Straßb. 1633) sowie das satirisch-komische Drama Turbo, sive moleste et frustra per cuncta divagans ingenium (ersch. Straßb. 1616. Dt. v. Wilhelm Süß. Tüb. 1907). Hier wie auch in einem verlorenen Jugendwerk beweist A. die Kenntnis der engl. Wanderbühnen. In der Titelfigur verkörpert sich die Suche nach Wahrheit der Erkenntnis u. nach einem glückl. Leben, zgl. aber der Prozess dauernder Desillusionierung. In den Wissenschaften seiner Zeit findet Turbo Trug, Wahn u. Leere, in der ihn umgebenden Gesellschaft Anmaßung u. Heuchelei. Gegen Skepsis u. Resignation steht am Ende nur der Wille zur moral. Integrität des eigenen Lebens in der Nachfolge Christi. Schon hier zeigt sich: Der christozentr. Akzent von A.s Gesamtwerk entsprang bei ihm wie bei vielen Zeitgenossen der Suche nach einem Ausweg aus dem unlösbar scheinenden Konflikt zwischen christlich-moralischer Überzeugung u. säkularer Welterfahrung. Diesen Konflikt umkreist A. später in satirischer Aggression, in utop. Visionen, in erbaul. Bemühungen u. in der konkreten Arbeit an der christl. Reorganisation des prakt. Zusammenlebens. Infolge einer Skandalaffäre – es ging um »Buhlschaften« u. um eine Schmähschrift gegen den württemberg. Kanzler – musste A. 1607 ein begonnenes Theologiestudium abbrechen. Er verdingte sich als Hauslehrer, verkehrte in Kreisen der Handwerker, gewann die Freundschaft von Gelehrten abseits der akadem. Zunft. Reisen öffneten seinen Horizont: an den Oberrhein (u. a. nach Heidelberg u. Straßburg, 1607, 1610), in die Schweiz u. nach Frankreich (u. a. Genf u. Paris, 1610/11), nach Oberösterreich u. Italien (u. a. Padua, Venedig u. Rom, 1612). Schließlich gelang es A. 1613, sein Studium wieder aufzunehmen u. im folgenden Jahr abzuschließen. Als Diakon wirkte er zunächst in Vaihingen/Enz (1614–1620) u. wurde dann zum Superintendenten von Calw ernannt. Die in diesen Jahren verfassten Schriften profilieren ihn als eine herausragende geisti-

153

ge Gestalt des frühneuzeitl. Deutschland. Doch stand A. nicht allein, sondern er war der Repräsentant eines kleinen Zirkels unzufriedener Intellektueller. Zwei Persönlichkeiten v. a. wusste sich A. verpflichtet: dem aus Nürnberg stammenden Pansophen u. Theosophen Tobias Heß u. dem Tübinger Juristen Christoph Besoldus. Heß galt vielen als anrüchig: verbohrt in apokalypt. Berechnungen, ein eifriger Anhänger des Paracelsus u. der hermet. Philosophie, der die akadem. Medizin durch eigenwillige Heilmethoden gegen sich aufbrachte, ein arglos-frommer Mensch, der hartnäckig an einem perpetuum mobile bastelte. A. hat sich seiner wiederholt erinnert u. einen liebevollen Nachruf geschrieben (Tobiae Hessi viri incomparabilis immortalitas. Verf. 1614, ersch. Straßb. 1619). Durch Besoldus fand A. nicht nur Zugang zur Literatur der Romania (Tommaso Campanella, Trajano Boccalini), sondern auch die Bekanntschaft mit den Schriften der Mystiker, Schwärmer u. Dissidenten aller Schattierungen. A. u. Besoldus verband auch eine Vorliebe für die gerade in Tübingen verketzerten Schriften Johann Arndts. A. legte daraus lat. Übersetzungen vor. Hier fanden beide die Mystik eines Tauler wieder, den Spiritualismus eines Valentin Weigel, auch den dt. Neuplatonismus des Paracelsus. Was A. in diesen Jahren las, floss ein in die drei berühmten Rosenkreuzermanifeste. Sie verursachten nicht nur in Deutschland eine literarisch ausgetragene Debatte von unerhörter Breite u. Intensität (etwa 200 Schriften in wenigen Jahren). Am Beginn dieser Debatte stand die Fama fraternitatis, die bereits im Titel das Stichwort einer »Generalreformation der gantzen weiten Welt« ausgab. Seit 1609 zirkulierte das Werk in eingeweihten Kreisen als Handschrift; ein anonymer Herausgeber brachte es 1614 zum Druck (Allgemeine und General Reformation der gantzen weiten Welt. Neben der Fama fraternitatis, deß löblichen Ordens des Rosenkreutzes, an alle Gelehrte und Häupter Europae geschrieben. Kassel 1614 u. ö. Engl. 1652. Neudr. in: Fama Fraternitatis, Confessio Fraternitatis, Chymische Hochzeit. Hg. Richard van Dülmen. Stgt. 1973). An die Gelehrten Europas erging hier der Appell, in die Fußstapfen

Andreae

einer mythisch-fiktiven Gestalt zu treten. Der Leser begegnet der Legende des Christian Rosenkreuz, dessen Namen auf A.s Familienwappen anspielte. Vor über 120 Jahren habe er gelebt, im Orient das Wissen um die Geheimnisse des Mikro- u. Makrokosmos gesammelt, allerdings nur an wenige Auserwählte weitergegeben. In der nun anbrechenden Endzeit aber, einer Epoche millenarischer Erfüllung, sollen »Falschheit, Lüge und Finsternis« weichen. Der Mensch schickt sich an, in »Wahrheit und Licht« das im Paradies verlorene Wissen zurückzugewinnen. Gott in der Welt, die Welt in Gott zu finden, dieses theosoph. Streben soll dem Nächsten dienen. Das aufhorchende Publikum wurde alsbald weiter in solche Gedankengänge hineingezogen, zunächst durch die Confessio Fraternitatis (enthalten in einem Neudr. der Fama. Kassel 1615), dann durch die Chemische Hochzeit Christiani Rosencreutz Anno 1459 (Straßb. 1616). Nur zu diesem Werk hat sich A. ausdrücklich bekannt, einem hintergründigen Märchen, das in esoterisch verrätselten Chiffren die Prüfungen u. die Einweihung des wahren Christen behandelte. Doch auch an den anderen Rosenkreuzerschriften hatte A. zumindest maßgebl. Anteil, mögen auch Einzelfragen der Urheberschaft nach wie vor strittig bleiben. Viel spricht dafür, dass sich A. von den schwärmer. Seiten der Rosenkreuzerutopie bald innerlich distanzierte. Gegen das publizist. Getöse der Weltverbesserer u. Fantasten ließ er jedenfalls alsbald eine ernüchternde Gegenschrift erscheinen (Turris Babel sive Judiciorum de Fraternitate Rosaceae Crucis Chaos. Straßb. 1619). Doch die ursprüngl. Motive der rosenkreuzerischen »Generalreformation« behielten für A. weiterhin Gültigkeit. Man findet sie zunächst im Menippus, einer anonym u. unter Umgehung der Zensur gedruckten satir. Schrift in Dialogform (Menippus sive dialogorum satyricorum centuria inanitatum nostratium speculum. Cum quibusdam aliis liberioribus. Straßb. 1617 u. ö.). Nie hat sich A. weiter vorgewagt als in dieser schneidenden Abrechnung mit den Missständen in Kirche, Schule u. Staat. Was er hier vortrug, musste konservative Kräfte gegen ihn aufbringen: Das gelehrte Treiben habe nichts mit Chris-

Andreae

tentum zu tun; die Naturwissenschaften seien kein Hexenwerk, vielmehr ein Bemühen um die Entzifferung des gottgeschaffenen »liber naturae«. Unchristlich sei die Verfolgung der Hexen; statt der kleinen Kriminellen solle man die wirklich Schuldigen bestrafen. Statt der Streittheologie gebühre dem Christen Toleranz; viele würden künstlich zu Ketzern gemacht. Die Wiedertäufer seien die »boni«, die nicht zu Wort kommen, u. bei den Waldensern finde man die Einheit von Wort u. Leben. Gerade diese unzensierte Schrift zeigt A.s eigentl. Position in der Vermittlung heterodoxer Reformbewegungen des 16. u. des 17. Jh. Der Satire gesellte sich als Komplement die Utopie, A.s nicht ohne Kenntnis Campanellas geschriebene Christianopolis: eine Welt für sich, eine geometrisch angeordnete Gottesstadt, fleischgewordenes himml. Jerusalem (Reipublicae Christianopolitanae Descriptio. Straßb. 1619. Dt. Esslingen 1741. Lat. u. dt. Neudr. Hg. R. van Dülmen. Stgt. 1975. Dt. Übers. v. Wolfgang Biesterfeld. Stgt. 1975). Es ist die erträumte Heimat des Menschen; ohne sie muss er als Fremdling in der Welt herumirren (so u. a. geschildert in Peregrini in Patria Errores. Straßb. 1618). A.s Gottesstadt verwirklicht ein Christentum der Tat, v. a. aber sind in ihr die Laboratorien der Gelehrten u. die Werkstätten der Handwerker zu einer Art wohl geordneter Manufaktur vereinigt. In literarischer Vision ließ sich zur Deckung bringen, was im Leben A.s allenfalls in kleinen Schritten angestrebt werden konnte. Aus den utop. Plänen entwickelte sich das Verlangen nach einer christl. »Sozietät«, zu dem A. die Brüder im Glauben aufrief (Invitatio fraternitatis Christi ad sacri amoris candidatos. Straßb. 1617 u. ö.). Aus der Reform des Wissenschaftsbetriebs speiste sich das pädagog. Anliegen des Theophilus (entstanden 1622, ersch. u. d. T. Theophilus, sive de christiana religione sanctius colenda, vita temperantius instituenda, et literatura rationabilius docenda consilium. Stgt. 1649. Dt. u. lat. Hg. R. van Dülmen. Stgt. 1972). Amos Comenius, ein großer Verehrer A.s, hatte davon eine Abschrift genommen. A.s Arbeit in Calw war überschattet von Kriegsnöten u. mancherlei Auseinanderset-

154

zungen. Auch als Inhaber eines geistl. Amtes ließ A. nicht davon ab, die Ärgernisse des Staatskirchentums beim Namen zu nennen (Apap proditus. In: Opuscula de Restitutione Reipublicae Christianae in Germania. Nürnb. 1633). Mit der inneren u. äußeren Reorganisation der Landeskirche beschäftigten sich kirchenrechtl. u. geistl. Schriften, ohne dass A. sich auf die gängigen Publikationsmedien seiner Amtskollegen (Predigtreihen u. dergleichen) eingelassen hätte. Statt dessen entwarf er die Konstitution der bis in die Moderne bestehenden wohltätigen »Färberstiftung« zu Calw (1621). Engen Kontakt hielt er mit ähnlich gesonnenen Vertretern der Reformorthodoxie (z.B. Johann Saubert in Nürnberg), fand gerade im Alter immer stärkeren Rückhalt auch in der sich anbahnenden Freundschaft mit Herzog August von Braunschweig-Lüneburg (ausgew. Briefw. u. d. T. Seleniana Augustalia. Ulm 1649). Der Herzog sorgte dafür, dass A. 1646 mit dem Beinamen »Der Mürbe« in die Fruchtbringende Gesellschaft aufgenommen wurde. Ehrungen u. Rufe blieben nicht aus: Seit 1639 amtierte A. als Hofprediger u. Konsistorialrat in Stuttgart, trug schließlich auch den Titel eines Abts u. Prälaten von Bebenhausen (1650) u. Adelsberg (1654). In stetiger Erinnerung blieb das uneingelöste Vermächtnis des von ihm mitgetragenen intellektuellen Aufbruchs. Thomasius gedachte des Menippus u. Herder veröffentlichte noch im 18. Jh. u. a. Auszüge aus den parabol. Geschichten der Mythologiae Christianae libri III (Straßb. 1619). Herder sah in A. den Menschenfreund u. einen Vorläufer der Aufklärung, der sich in der »Verbesserung der Welt« verzehrt habe u. an ihr verzweifelt sei. Das lässt sich nur von wenigen Autoren des 17. Jh. behaupten. Weitere Werke: Collectaneorum mathematicorum decades XI. Tüb. 1614. – De christiani cosmoxeni genitura Judicium. Mömpelgard 1615. – Herculis christiani Luctae XXIV. Straßb. 1615. – Theca gladii Spiritus, sententias quasdam breves, vereque philosophicas continens. Straßb. 1616. – Civis christianus, sive peregrini quondam errantis restitutiones. Straßb. 1619. – Geistl. Kurtzweil. Straßb. 1619. – De Curiositatis Pernicie Syntagma. Ad singularitatis studiosos. Stgt. 1620. – Christl.

155 Evang. Kinderlehr. Tüb. 1621. – Fama Andreana Reflorescens. Straßb. 1630. – Threni Calvenses. Straßb. 1635. – Arca Noha sive domus Dei in hoc mundi pelago fluctuantis oeconomia. Tüb. 1642. – Vita ab ipso conscripta. Ex autographo. Hg. Friedrich Heinrich Rheinwald. Bln. 1849. Dt. Übers. v. David Christoph Seybold. Winterthur 1799. Ausgaben und weitere Quellen: Ges. Schr.en. Hg. Wilhelm Schmidt-Biggemann u. a. Stgt.-Bad Cannstatt 1994 ff. (bisher 5 Bde.). – Reinhard Breymayer (Hg.): J. V. A.: Ein geistl. Gemälde. Nach dem Urdruck v. 1615. Tüb. 1992. – Wilhelm Kühlmann: Johann Michael Moscherosch in den Jahren 1648–51. Die Briefe an J. V. A. In: Kühlmann/Schäfer (2001), S. 201–226. – Sabine Koloch u. a.: Akkumulation v. Ansehenskapital. Die Gedenkschr. für J. V. A. Ed. mit einer Bibliogr. der gedruckten Werke v. Gottlieb A. In: Daphnis 35 (2006), S. 51–132. Literatur: Bibliografien: Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 1, S. 255–293. – Gottfried Mälzer: Die Werke der württemberg. Pietisten des 17. u. 18. Jh. Bln./ New York 1972, S. 211–214. – Weitere Bibliogr.n (u. a. Hinweise auf handschriftl. Korrespondenz) s. Montgomery u. van Dülmen. – Weitere Titel: Wilhelm Hoßbach: J. V. A. u. sein Zeitalter. Bln. 1819. Neudr. Lpz. 1978. – Richard Kienast: J. V. A. u. die vier echten Rosenkreutzer-Schr.en. Lpz. 1926. – Will-Erich Peuckert: Die Rosenkreuzer. Jena 1928. Bln. 21973. – Hans Schick: Das ältere Rosenkreuzertum. Bln. 1942. Neudr. Bremen o. J. – Harald Scholtz: Evang. Utopismus bei J. V. A. Ein geistiges Vorspiel zum Pietismus. Stgt. 1957. – Walter Raberger: Formgebung u. dichter. Gestalt im Werk J. V. A.s. Diss. Wien 1964. – John Warwick Montgomery: Cross and Crucible. J. V. A. (1586–1654), Phoenix of the Theologians. 2 Bde., Den Haag 1973. – Frances A. Yates: Aufklärung im Zeichen des Rosenkreuzes. Engl. 1972. Stgt. 1975. – Martin Brecht: J. V. A. Weg u. Programm eines Reformers zwischen Reformation u. Moderne. In: Theologen u. Theologie an der Univ. Tübingen. Hg. ders. Tüb. 1977, S. 270–342. Wieder in: Ders.: Ausgew. Aufsätze. Bd. 2, Stgt. 1997, S. 35–107. – Richard van Dülmen: Die Utopie einer christl. Gesellsch. Tl. 1 (mehr nicht erschienen), Stgt. 1978. – M. Brecht: Kritik u. Reform der Wiss.en bei J. V. A. In: Wissenschaftsgesch. um Wilhelm Schickard. Hg. Friedrich Seck. Tüb. 1981, S. 129–151. – Roland Edighoffer: J. V. A. Vom Rosenkreuz zur Pantopie. In: Daphnis 10 (1981), S. 211–239. – Ders.: RoseCroix et société idéale selon J. V. A. Bd. 1, Paris 1982. – J. V. A. 1586–1654. Ausstellungskat. Bad Liebenzell 1986. – J. V. A. 1586–1986. Ausstellungskat. Bearb. Carlos Gilly. Amsterd. 1986. –

Andreae Bettina Wirsching: A. u. Herder. In: PuN 14 (1988), S. 221–229. – Regine Frey-Jaun: Die Berufung des Türhüters. Zur ›Chymischen Hochzeit Christiani Rosencreutz‹ v. J. V. A. (1586–1654). Ffm. u. a. 1989. – Wilhelm Kühlmann: Die Symptomatik des Privaten. Zu den autobiogr. Schr.en J. V. A.s (1586–1654). In: Biogr. zwischen Renaissance u. Barock. Hg. Walter Berschin. Heidelb. 1993, S. 191–219. – M. Brecht: J. V. A. u. die Generalreformation. In: Gesch. Piet. Bd. 1, 1993, S. 151–166. – Cimelia Rhodostaurotica, passim (Register!). – Donald R. Dickson: Johannes Saubert, J. V. A. and the ›Unio Christina‹. In: GLL 49 (1996), S. 18–31. – W. Kühlmann: Rosenkreuzerbewegung u. zweite Reformation. In: Europ. Sozietätsbewegung u. demokrat. Tradition. Hg. Klaus Garber u. a. Tüb. 1996, S. 1124–1151. – D. R. Dickson: J. V. Andreae’s Utopian Brotherhoods. In: Ren. Quarterly 49 (1996), S. 760–802. – Roland Edighoffer: Mythologia comica. Über Rabelais’ Einfluß auf J. V. A. In: PuN 24 (1998), S. 48–64. – Christoph Neeb: Christl. Haß wider die Welt. Philosophie u. Staatstheorie des J. V. A. (1586–1654). Ffm. u. a. 1999. – Rudolf Schlögl: Von der Weisheit zur Esoterik. Themen u. Paradoxien im frühen Rosenkreuzerdiskurs. In: Aufklärung u. Esoterik. Hg. Monika Neugebauer-Wölk. Hbg. 1999, S. 53–86. – R. Edighoffer: ›Menippus redivivus‹. J. V. A. als Satiriker. In: Simpliciana 22 (2000), S. 189–200. – Wolf-Friedrich Schäufele: ›Turris Andreana‹. J. V. A. u. die kabbalist. Lehrtafel der Prinzessin Antonie Antonie in Teinach. In: Frömmigkeit unter den Bedingungen der Neuzeit. Hg. ders. u. Reiner Braun. Darmst. u. a. 2001, S. 69–78. – M. Brecht: J. V. A. u. Herzog August zu Braunschweig-Lüneburg. Ihr Briefw. u. ihr Umfeld. Stgt.-Bad Cannstatt 2002. – Rosenkreuz als europ. Phänomen im 17. Jh. Hg. C. Gilly. Amsterd./Stgt.-Bad Cannstatt 2002. – M. Brecht: David Magirus, ›der andere Vater und einzige unter den Lehrern‹ J. V. A.s. In: PuN 29 (2003), S. 201–214. – Dirk Werle: Ordnungsmodell, Naturerforsch. u. Religionsvorstellung in J. V. A.s ›Christianopolis‹. In: Scientia poetica 7 (2003), S. 31–48. – M. Brecht: J. V. A.s Klagelied über die Katastrophe Calws 1634/35. In: Ders., Hermann Ehmer u. Matthias Schönthaler: Mit Gott gewagt, niemals verzagt. Drei Vorträge zu J. V. A.s 350. Todesjahr. Calw 2004, S. 43–78. – Conermann FG. – W. Kühlmann: Rosenkreutzer. In: TRE. – Gerhard Schäfer: J. V. A. In: DBE. – Jaumann Hdb. – Claus Bernet: J. V. A.s Utopie Christianopolis als Himml. Jerusalem. Ein Deutungsversuch. In: Ztschr. für Württemberg. Landesgesch. 66 (2007), S. 147–182. Wilhelm Kühlmann

Andreas Capellanus

Andreas Capellanus, um 1200. – Verfasser eines lateinischen liebestheoretischen Traktats. Die Lebenszeit des A. C. u. die Datierung seines Traktats De amore sind unsicher. Der Text setzt einen Brief auf 1174; die früheste Erwähnung des Werks findet sich bei Albert von Brescia 1238. Ein A. C. wurde in Urkunden des Hofs von Champagne 1182–1186 nachgewiesen. Da Marie de Champagne u. ein Kreis ihr nahestehender Damen in dem Traktat genannt werden u. die Liebesthematik in der Literatur dieser Höfe eine zentrale Rolle spielt, liegt es nahe, den Autor hier zu suchen. Dagegen weisen die Namensnennungen einiger Handschriften an den frz. Königshof, Indizien im Text könnten aber auch auf den anglo-normann. Königshof deuten. Jedenfalls hat man sich als Publikum eine lateinisch sprechende, theologisch gebildete Schicht vorzustellen, deren Kontakte auch zur volkssprachl. Literatur der Höfe reichen. Anregungen kommen v. a. von Ovid u. aus der mittelalterlichen schulmäßigen Disputationskultur, dazu aus dem jurist. Bereich. Der einem nicht identifizierten Gualterius (Walther) gewidmete Traktat gliedert sich in drei Bücher, die der Begründung, der Erhaltung u. der Beendigung eines Liebesverhältnisses gelten. Bei weitem der größte Raum ist dem ersten Thema gewidmet. Das Buch beginnt mit einer Definition von Liebe als Passion. (»Liebe ist ein angeborenes Erleiden. Sie entspringt dem Blick und der übermäßigen gedanklichen Beschäftigung mit der Erscheinung des anderen Geschlechts, durch die man über alles begehrt, sich der Umarmungen des Partners zu bemächtigen und in Übereinstimmung mit seinem Willen in seiner Umarmung alle Vorschriften der Liebe zu erfüllen« I, 1, 1). Nach der Beschreibung ihrer affektiven Seite werden die moralisierende Wirkung der Liebe als Quelle u. Ursprung aller Güter u. ihr Rang als höchster ird. Wert festgehalten. Dann wird in acht Musterdialogen die Gewinnung einer Geliebten vorgeführt. Die Zusammenstellung der Paare u. die Wahl der Gesprächsstrategie sind ständisch bestimmt. Es sprechen hochadlige, adlige u.

156

patrizische Partner in allen mögl. Kombinationen. Weitere Anweisungen gelten für Kleriker, Mönche, Bauern u. Dirnen. Käufliche Liebe wird grundsätzlich verworfen. In den Text eingelagert ist eine Allegorie des Liebespalastes mit der Bestrafung liebesunwilliger Damen durch den Gott Amor; ferner das Urteil der Marie de Champagne in einem Minne-Rechtsstreit mit der Entscheidung, Liebe sei nur außerhalb der Ehe oder neben ihr möglich. Das zweite Buch, das die Fortsetzung der Liebesbeziehung behandelt, stellt die Bedingungen für Mehrung, Minderung oder Beendigung der Liebe dar. Einzelfragen, z.B. »Wenn ein Liebender dem anderen die Treue bricht«, werden durch Urteilssprüche (iudicia amoris) geklärt. Den Schluss des Buches bildet eine Erzählung aus dem Artus-Stoffkreis. Ein bretonischer Ritter erwirbt mit Hilfe einer Fee den Sperber des Königs für seine Dame u. zgl. einen Katalog von 31 Liebesregeln. Das dritte Buch gibt Anweisungen zur Beendigung der Liebe u. führt neben religiösen u. moral. Argumenten eine lange Liste misogyner Topoi gegen die Liebe an. Das Hauptproblem der Interpretation ist der Stellenwert dieses letzten Buches u. die Möglichkeit einer übergreifenden Liebeskonzeption des Traktats. In der Forschung wurde der Akzent mehr auf die positive Sicht der Liebe im ersten oder auf ihre Verdammung im dritten Buch gelegt u. je nachdem eine höfische oder eine geistl. Wertorientierung betont. Oder man ließ die Widersprüche unaufgelöst u. suchte ihre Vermittlung im Ansatz einer doppelten Wahrheit, einer gradualistischen Lösung oder satirischer bzw. iron. Brechung. Ein theologischer Standpunkt, der den Traktat zum Beleg sündhafter Begierde (cupiditas) heranzog, hielt sich vom 13. Jh. bis ins Spätmittelalter. Mit Verspätung setzte sich die positive Bewertung der dargestellten Liebe in den Volkssprachen durch. Die erste Übersetzung erfolgte 1290 in altfrz. achtsilbige Reimpaare durch den Geistlichen Drouart de la Vache. Eine katalanische u. zwei toskan. Übersetzungen folgten später. In Deutschland wurde De amore erst im 15. Jh. nachweislich rezipiert. Eine 1440 abge-

157

Andreas-Salomé

schlossene Gesamtübersetzung in Prosa ver- Übers. aus dem Englischen v. Inga-Brita Thiele. fertigte Johannes Hartlieb für Albrecht VI. Köln 2000. – Kathleen Andersen-Wyman: A. C. on von Österreich unter dem Titel daz puech Ouidy Love? Desire, Seduction, and Subversion in a [Ovids!] von der lieb. Das liebes- u. frauen- Twelfth-Century Latin Text. New York 2007. Christoph Huber feindliche dritte Buch lieferte der Übersetzer nur auf Anforderung u. mit der Versicherung, sein höfisches Publikum werde von den Vor- Andreas, Fred, auch: Walter Röhl, * 3.2. würfen keineswegs betroffen. Breite Passagen 1898 Halle/Saale, † unbekannt. – Unterdes Traktats hatte bereits 1404 der Mindener haltungsschriftsteller. Kanonikus Eberhard von Cersne in eine groß Nach dem Besuch des Gymnasiums u. der angelegte Minnerede mit dem Titel Der Minne Universität in Halle (Studium der GermanisRegel inkorporiert. Nach einer Einleitung im tik) arbeitete A. 1920–1925 als Dramaturg u. Stil des Genres, die den Autor zur Königin der Regisseur, danach einige Zeit als Journalist. Minne führt, erhält dieser Belehrungen, die Sein erster Kriminalroman Die Flucht ins der Schrift des A. C. entstammen. Als Ab- Dunkle, der 1927 zunächst als Fortsetzungsschluss dient die Erzählung von dem Breto- roman in der »Berliner Morgenpost« erschien nen, der samt dem Sperber des Königs (hier (Pseudonym Walter Röhl), danach in der Sydras, nicht Artus) die Liebesregeln er- Reihe der gelben Ullsteinbücher (Bln.), ließ kämpft. Nicht vor 1460 ist die anonyme sog. ihn auf Anhieb zum gefeierten »MillionenWarnung an hartherzige Frauen verfasst. Der autor« werden. Seinen Ruf als UnterhalAutor bezeichnet sich als »armer schofftor« tungsschriftsteller von Rang mit einer Vor(Schafthor?). Sie bearbeitet den 5. Dialog von liebe für psychologisch raffinierte KriminalDe amore mit seiner allegor. Palastbeschrei- erzählungen, aber ohne den Ehrgeiz eines bung. Ebenfalls um die Jahrhundertmitte Dichters, festigte er in den folgenden Jahren greift der Elende Knabe in Der Minne Gericht v. a. mit den Romanen Die Sache mit Schorrsiegel auf die Vorschriften des A. C. zurück. Die (Bln. 1928) u. Prozeß Gregor Kaska (Bln. 1930). Minnerede Der neuen Liebe Buch (oder Vergleich 1929 rühmte Ernst Weiß ihn anlässlich einer der Liebe mit der Jagd) zitiert den Traktat eines Besprechung des Romans Das große Sorgenkind Gwalterus, mit der »amor est passio«-Defi- (Bln. 1929): »Dieser Autor [...] hat zu allem nition. Das 1486 verfasste Gedicht ist nur als anderen einen so glänzenden Stil, weiß alles Ulmer Inkunabel-Druck von 1487/88 über- so hinzusetzen, was er sagen will, mit einem liefert u. stammt aus schwäb. Humanisten- nachlässigen, aber nur um so virtuoseren kreisen. Für die neuzeitl. Rezeption gab Pinselstrich, einer wehmütigen, männlich Stendhal in seiner Abhandlung De l’amour zusammengehaltenen, ehrlichen und gütigen Ironie.« (1822) einen wichtigen Impuls. Ausgaben: Andreae Capellani Regii Francorum De Amore libri tres. Hg. Emil Trojel. Hauniae (Kopenhagen) 1892. Neudr. Mchn. 1964 u. 1972. Übersetzung: A., kgl. Hofkaplan: Von der Liebe drei Bücher. Übers. u. mit Anm. u. einem Nachw. vers. v. Fritz Peter Knapp. Bln./New York 2006 (dt. Übers. mit Auswahlbibliogr.). Literatur: Felix Schlösser: A. C. Bonn 1960. – Alfred Karnein: ›De Amore‹ deutsch. Der Tractatus des A. C. in der Übers. Johannes Hartliebs. Mchn. 1970. – Rüdiger Schnell: A. C. Zur Rezeption des röm. u. kanon. Rechts in ›De amore‹. Mchn. 1982. – Ders.: ›De Amore‹ in volkssprachl. Lit. Heidelb. 1985. – Don A. Monson: A. C.’s Scholastic Definition of Love. In: Viator 25 (1994), S. 187–214. – Michael Camille: Die Kunst der Liebe im MA.

Weitere Werke: Rastakoff zwischen den Liebenden. Bln. 1930 (R.). – Der Mann, der zweimal leben wollte. Bln. 1932 (R.). – Die fremde Geliebte. Bln. 1938 (R.). – Arm, häßlich, böse. Hbg. 1943 (R.). – Das vollkommene Verbrechen. Bln. 1944 (R.). – Die Hexe. Mchn. 1952 (R.). – Tödl. Carneval. Mchn. 1953 (R.). Peter König / Red.

Andreas-Salomé, Lou(ise), auch: Henry Lou, * 12.2. (= 31.1. alten Stils) 1861 St. Petersburg, † 5.1.1937 Göttingen; Grabstätte: ebd., Stadtfriedhof. – Erzählerin, Essayistin u. Psychoanalytikerin. Als jüngstes Kind des hohen russ. Staatsbeamten u. Generals Gustav von Salomé u. sei-

Andreas-Salomé

ner dt.-dän. Frau Louise, geb. Wilms, wuchs A. in St. Petersburg zweisprachig auf (Deutsch u. Französisch), besuchte eine engl. Privatschule, dann das reformierte St.-PetriGymnasium, wo sie Russisch lernte. Sie verlebte im geistig anregenden, patriarchalisch geführten Elternhaus eine glückl. Kindheit, die sie in ihrem Lebensrückblick (Wiesb. 1951. Neuausg. hg. v. Ernst Pfeiffer. Ffm. 1968) »voll phantastischer Einsamkeit« nannte. Die Begegnung der ungewöhnlich belesenen 17-jährigen A. mit dem holländ. reformierten Prediger Hendrik Gillot im Konfirmationsunterricht wurde zu einem schicksalhaften geistigen u. emotionellen Erlebnis. Die gemeinsamen philosoph. u. religionsgeschichtl. Studien führten bei ihr zum Glaubensverlust, eröffneten ihr aber zgl. ein lebenslanges Interesse am Gottesproblem im Menschen. Im Lebensrückblick bezeichnete A. Gillot als »Herr und Werkzeug, Führer und Verführer zu meinen eigensten Absichten« u. gestaltete das Erlebnis später in der Erzählung Ruth (Stgt. 1895). 1881 verließ sie mit ihrer Mutter Russland u. studierte in Zürich Philosophie u. Religionsgeschichte; in dieser Zeit entstanden Gedichte wie das von Nietzsche vertonte Lebensgebet u. das von ihm bewunderte An den Schmerz. In Rom vermittelte Malwida von Meysenbug 1882 die Bekanntschaft mit dem Philosophen u. späteren Arzt Paul Rée u. seinem Freund Nietzsche. Mit diesem verbrachte sie in Tautenburg/Thüringen mehrere Wochen in intensivstem Gedankenaustausch. Ihm verdankte sie die Selbstbestätigung als intellektuelle Frau u. die Förderung ihres systemat. Denkens über Fragen der Religionsphilosophie, womit er zgl. den Grund für ihre Beschäftigung mit der Psychologie legte, die sie später zu Freud u. zur Psychoanalyse führte. Pointiert formuliert, könnte ihr Leben als Verwirklichung von Nietzsches Fröhlicher Wissenschaft (1882) bezeichnet werden (deren zweiten Teil er nach der Trennung von ihr schrieb): In ihrem selbstsicheren Setzen der eigenen Werte, ihrer unbefangenen Selbsthingabe u. -behauptung in ihren vielen Freundschaften; »in erotis« u. überhaupt in ihrem Lebensentwurf war A. von seltener

158

Selbständigkeit u. Unbefangenheit u. ohne Schuldgefühle. 1882–1885 lebte sie in Berlin in gemeinsamem Haushalt mit Rée u. verkehrte im Kreis von Wissenschaftlern wie Ferdinand Tönnies, Georg Brandes u. Hermann Ebbinghaus. Ihre ersten literar. Werke (z.B. die Erzählung Im Kampfe um Gott. Lpz./Bln. 1885) behandeln das Gotteserlebnis junger Menschen; der Religion galten auch eine Reihe von Aufsätzen aus den 1890er Jahren, von denen Jesus der Jude (»Neue Deutsche Rundschau« 1896) die weiteste Wirkung entfaltete. 1887 heiratete sie den um 15 Jahre älteren Orientalisten Friedrich Carl Andreas, mit dem sie bis zu seinem Tod 1930 eine platon. Ehe führte. Gemeinsam verkehrten sie im Kreis der Naturalisten, von denen namentlich Wilhelm Bölsche ihr philosophisches u. psycholog. Denken anregte (vgl. ihre späteren Arbeiten zu Wesen u. Sexualität der Frau). 1892 erschien ihr Essay Henrik Ibsens FrauenGestalten (Bln.), der jedoch weniger der Emanzipation der Frau als vielmehr der der gesamten Menschheit galt. Ihre geistreiche Studie Friedrich Nietzsche in seinen Werken (Wien 1894) war zgl. die erste wiss. Beschäftigung mit ihm. Daneben veröffentlichte sie eine Vielzahl von Aufsätzen in führenden Zeitschriften (u. a. »Die Freie Bühne«, »Die Frau«). In Paris machte sie Bekanntschaft mit Frank Wedekind (vgl. ihre Erzählung Fenitschka. Stgt. 1898), in Wien mit Richard BeerHofmann, Arthur Schnitzler u. Hugo v. Hofmannsthal. 1897 lernte A. in München – neben Max Halbe u. Jakob Wassermann – Rilke kennen, dessen Geliebte sie wurde; gemeinsam unternahmen sie 1899 u. 1900 Russlandreisen (mit Besuch bei Tolstoj). Sie blieb ihm auch nach der Trennung (1901) verbunden u. widmete ihm das Gedenkbuch Rainer Maria Rilke (Lpz. 1928). »War ich jahrelang Deine Frau«, schrieb sie 1934 im Lebensrückblick, »so deshalb, weil Du mir das erstmalig Wirkliche gewesen bist, Leib und Mensch«. Aus der gemeinsamen Zeit mit Rilke stammen ihre wichtigen Aufsätze zur Frauenfrage u. weibl. Sexualität, Der Mensch als Weib u. Gedanken über das Liebesproblem (In: »Neue Deutsche Rundschau« 1899 u. 1900). Als Wesens-

159

Andres

merkmal der Frau bestimmt A. das Moment Beziehungsgestaltung. Hg. Hermann Staats. Gött. des stets Aktiven, des Elementaren u. Le- 2004, S. 142–168. – Cornelia Pechota Vuilleumier: bensbejahenden schlechthin, was u. a. im O Vater, laß uns ziehen. Hildesh. 2005. – Gudrun Geschlechtsakt zum Ausdruck komme. Ihr Ortjahr: Das Paradies, Fenitschka, Ruth. In: Lexikon deutschsprachiger Epik u. Dramatik v. AutoDesinteresse an sozialpolit. Aspekten der rinnen (1730–1900). Hg. Gudrun Loster-Schneider Frauenfrage – auch wenn sie mit Helena u. Gaby Pailer. Tüb. 2006, S. 8 f., 9–11, 12–14. – Stöcker persönl. Freundschaft pflegte – Gisela Brude-Firnau: Im Kampf um Gott. Ebd., führte zu herber Kritik vonseiten engagierter S. 10–12. Eda Sagarra Frauenrechtlerinnen wie Hedwig Dohm. Die zweite Lebensepoche A.s, die seit 1903 Andres, Stefan, * 26.6.1906 Breitwies bei in Göttingen lebte, war durch die Begegnung Trier, † 29.6.1970 Rom; Grabstätte: ebd., mit Freud geprägt, an dessen MittwochssitCampo Santo Teutonico der Vatikanstadt. zungen sie 1912/13 teilnahm; 1914 wurde sie – Erzähler, Lyriker, Dramatiker. hauptberuflich Psychoanalytikerin. Abhandlungen zur psychoanalyt. Theorie wie ›Anal‹ Nach Schulzeit am von Redemptoristen geund ›Sexual‹ (in: »Imago« 1916) gewannen die führten Collegium Josephinum in Holland Anerkennung Freuds, der ihr Patienten (1918–1920), Krankenpflegerdienst bei den schickte u. ihr später auch finanzielle Unter- Barmherzigen Brüdern in Trier (1921) u. Juvenat bei den Armen Brüdern vom Hl. Franz stützung zukommen ließ. A. maß ihrer Dichtung, die aus 30 längeren von Sales bei Aachen (1921–1924) trat A. in Erzählungen, acht Romanen u. drei Schau- das Kapuzinerkloster in Krefeld ein spielen besteht, selbst keinen allzu hohen (1926–1928), brach aber das Noviziat ab. Wert bei. Zulasten der konzeptionellen Ge- Nach einem Studium der Germanistik, schlossenheit u. partiellen inhaltl. Originali- Kunstgeschichte u. Philosophie in Köln, Jena tät ist sie oft mit Bildern überfrachtet u. äu- u. Berlin (1929–1932) ohne Abschluss wurde ßerst konventionell in der Erzählhaltung. Die er freier Schriftsteller. Im Sept. 1932 heiratete Themen ihrer Erzählwerke korrespondieren er Dorothee Freudiger. Aufgrund der jüd. mit denen ihrer wiss. Beschäftigung: Bevor- Herkunft seiner Frau verlor A. 1935 seine zugte Sujets sind Gotteserfahrung (vgl. den Anstellung beim Reichssender Köln. Er zog Erzählzyklus Menschenkinder. Stgt. 1899) u. sich mit seiner Familie (die Töchter wurden Liebesproblematik, die Im Zwischenland. Fünf 1933, 1934 u. 1939 geboren) zu den SchwieGeschichten aus dem Seelenleben halbwüchsiger gereltern nach Lomnitz im Riesengebirge Mädchen (Stgt./Bln. 1902) einfühlsam u. mit zurück. Nach einem folgen- u. erfolglosen Gastspiel beim provölk. »Bamberger Dichfeinem Humor dargestellt wird. Weitere Werke: Aus fremder Seele. Eine Spät- terkreis« fand er im Herbst 1937 eine Zuherbstgesch. Stgt. 1901. – Ma. Ein Porträt. Stgt. flucht in Italien. In Positano im Golf von Sa1901 (E.). – Die Erotik. Ffm. 1910 (Ess.). – Ródinka. lerno, zeitweilig in Rom, überstand A. die Eine russ. Erinnerung. Jena 1923 (E.). – Mein Dank Jahre des »Dritten Reichs« trotz wiederholter an Freud. Offener Brief an Prof. Sigmund Freud zu Denunziation u. desolater finanzieller Lage. seinem 75. Geburtstag. Wien 1931. – Briefe: Briefw. Bis 1943 konnte er, obgleich ausgeschlossen mit Rilke. Hg. Ernst Pfeiffer. Wiesb. 1951. Ffm. aus der Reichsschrifttumskammer, z.T. mit 2 1968. – Briefw. mit Sigmund Freud. Hg. Ernst Sondergenehmigungen des PropagandamiPfeiffer. Ffm. 1966. nisteriums in Deutschland weiterhin publiLiteratur: Angela Livingstone: L. A. London zieren, an Orten der kulturellen Dissidenz 1984. – Cordula Koepcke: L. A. Leben. Persönlichwie der »Frankfurter Zeitung« ebenso wie in keit. Werk. Ffm. 1986. – Ursula Welsch u. Michaela nationalsozialistischen Medien (»Völkischer Wiesner: L. A. Vom ›Lebensgrund‹ zur Psychoanalyse. Mchn./Wien 1988. – Irmgard Hülsemann: Beobachter«, »Krakauer Zeitung«). Seit 1950 Lou. Mchn. 1998. – Chantal Gahlinger: Der Weg lebte er in Unkel am Rhein, von 1961 bis zu zur weibl. Autonomie. Bern 2001. – Heide Rohse: seinem Tod in Rom nahe dem Vatikan. ›Sieh, ich bin mal so‹. Die Schriftstellerin L. A. zwischen Lit. u. Psychoanalyse. In: Innere Welt u.

Andres

Aufgrund seiner moselländisch-kath. Herkunft u. der monast. Erziehung mit dem Ziel, Priester zu werden, ist der zentrale geistige Bezugspunkt A.’ das kath. Christentum, obwohl er Machtansprüche u. Machthaber der Kirche immer wieder vehement kritisiert. Er fordert von ihr die undogmat. Verwirklichung der Liebes- u. Versöhnungsbotschaft des Evangeliums. In seinem »christlichen Humanismus« (J. Klapper) stützt sich A. bes. auf die bibl. Geschichten (z.B. in den NoahLegenden der Sintflut-Trilogie) u. auf das Gedankengut der Neuplatoniker u. der Kirchenväter, mit deren Werken er gut vertraut war. Obwohl er sich in seinen späteren Werken eindringlich mit seiner eigenen Zeit auseinandergesetzt hat, ging es ihm auch in seinen zeitkrit. Romanen nach 1945 darum, die verborgene »religiöse Ordnung der Welt« sichtbar zu machen. Der Dichter ist seiner Ansicht nach dazu berufen, mit den klass. Kategorien von »Maß« u. »Sinn für Schönheit« der Aufgabe zweckfreier, gewissenhafter Durchdringung der Zeit u. Entlarvung ihrer »Dämonien« nachzukommen. Mit seiner kritisch-geistigen Fundierung im Katholizismus gehört A. in die Reihe kath. Schriftsteller von Bergengruen über Langgässer bis Schneider, in deren Werken die Protagonisten existentiellen Grenz- u. Glaubenssituationen ausgesetzt sind. Nach beachtl. Anfangserfolgen (z.B. El Greco malt den Großinquisitor. Lpz. 1936. Neuausg. mit Nachw. v. Wilhelm Grosse. Stgt. 1994. Moselländische Novellen. Lpz. 1937 u. ö. Wir sind Utopia. Bln. 1943 u. ö., zuletzt Mchn. 2006) u. der schwierigen Publikationslage der »Inneren Emigration« wurde A. erst Anfang der 1950er Jahre mit seinen Novellen weiteren Kreisen bekannt. Er entwickelte sich zu einem »Populärautor mit katholischem Gewissen« (H. Wagener). Als Anfang der 1960er Jahre die Phase der passiven, religiös motivierten Faschismuskritik u. konservativen Wertorientierung einer historisch-dokumentar. Auseinandersetzung mit der jüngsten Vergangenheit wich, war damit auch der Höhepunkt der Wirkung A.’ überschritten. A.’ umfängliches Werk besteht v. a. aus Prosa, Romanen u. Novellen, hinzu kommen Reden u. Essays, Lyrik u. Dramatik. Es lassen

160

sich an ihm drei Entwicklungsstufen ablesen. Am Anfang stehen autobiografisch inspirierte, apolitische Themen aus dem heimatlichmoselländ. Bereich. Die Protagonisten der frühen Romane Bruder Lucifer (Jena 1933. Düsseld./Köln 1950), Eberhard im Kontrapunkt (Köln 1933) u. Die unsichtbare Mauer (Jena 1934) suchen nach einem Ort zwischen bäuerlicher Herkunft, künstlerischer Begabung u. techn. Moderne; sie sind schematische, aber unideologisch gezeichnete Stellvertreterfiguren für die Heimat- u. Identitätssuche des Autors. Den Romanen u. Novellen der folgenden Jahre, die zum großen Teil im Mittelmeerraum spielen (Der Mann von Asteri. Bln. 1939. Mchn. 21976. Das Grab des Neides. Bln. 1940. Mchn. 1956. Der gefrorene Dionysos. Bln. 1942. Das goldene Gitter. Bln. 1943. Mchn. 1964 u. ö. Die Reise nach Portiuncula. Mchn. 1954. 31975. Positano. Geschichten aus einer Stadt am Meer. Mchn. 1957. Mchn./Zürich 51984. 1990), fehlen weitgehend polit. Bezüge (Ausnahme ist die Zeit- u. Sozialkritik in dem NeapelRoman Ritter der Gerechtigkeit. Zürich 1948. 2 1975). Der intellektuelle Katholizismus des Frühwerks wird in existentialist. Bahnen gelenkt. Grundthema ist das Schuldigwerden eines Menschen, der seine Fehltritte »erinnern, wiederholen, durcharbeiten« muss, um sie, teils in einsiedlerischer Isolation, teils mithilfe eines »Boten aus der Außenwelt«, in einem erlösenden Schlussakt zu bewältigen. Im Mittelpunkt dabei steht der Konflikt zwischen Utopie u. Welterfahrung einerseits, zwischen sozialer Verantwortung u. religiöser Heilserwartung andererseits. Dies gilt schon für den in den 1930er Jahren entstandenen, von der NS-Zensur unterdrückten dt.frz. Verständigungsroman Die Hochzeit der Feinde (Zürich 1947 u. ö., zuletzt Ffm./Bln. 1992), ein »Buch der politischen Entspannung« (H. Wagener). Mit dem »Dritten Reich« setzt sich A. in der histor. Novelle El Greco malt den Großinquisitor auseinander, die der polit. Diktatur mit dem Postulat der Autonomie von Kunst u. Künstler einen Spiegel vorhält. Parabolisch verdichtet, mit symbol. Farben u. anspielungsreichen Bilddetails wird am Verhältnis zwischen Künstler u. Auftraggeber, der zgl.

161

Modell ist, die Stellung des Autors zu Staat u. Macht demonstriert. Widerstandsdichtung ist auch seine im span. Bürgerkrieg spielende – dramatisierte u. mehrfach verfilmte – Novelle Wir sind Utopia. Der 1942 in der »Frankfurter Zeitung« vorabgedruckte Text, A.’ bekanntester u. bedeutendster, reflektiert das Problem von Gewaltverzicht, Religion u. Fundamentalismus in einem hochdramat. Gewissensduell zwischen dem Ex-Juristen u. Leutnant Pedro u. dem gefangenen ExPriester Paco, der, obwohl im Besitz eines Messers, letztlich auf aktiven Widerstand u. Tyrannenmord verzichtet, obwohl er damit die Exekution seiner Mitgefangenen in Kauf nimmt. Beide Novellen sind mit ihrer subtilen »Technik zeit- und raumversetzten Erzählens« (Guntermann) Paradebeispiele der verdeckten Schreibweise der »inneren Emigration«. In der Trilogie Die Sintflut (Mchn. 1949. 1951. 1959) wird der Nationalsozialismus unter dem Namen »Normbewegung« als apokalypt. Ersatzreligion allegorisiert; von ihrem Aufstieg u. Fall wird mit einem Großaufgebot an Romanpersonal, religiöser Symbolik u. Metaphorik erzählt, ohne dass es zu einer eindeutig-positiven Lösung kommt. Am Horizont der Nachkriegszeit steht – so der Titel des Schlussbandes – ein »grauer Regenbogen«. Die über 2000-seitige, später vom Autor selbst auf ein Drittel gekürzte Trilogie, A.’ Hauptwerk aus der ital. Emigration, wagt den Spagat zwischen religiöser Allegorie u. polit. Zeitroman. Das Spätwerk von A. konzentriert sich auf polit. Themen der Gegenwart. Der Mann im Fisch (Mchn. 1963), ein bibl. Abenteuerroman, beschäftigt sich auf der Folie der JonaGeschichte mit der Verantwortung des Künstler-Propheten angesichts der globalen Bedrohung durch die Atombombe; der Zeitroman Die Dumme (Mchn. 1969. 31976), eine moritatenhafte Parabel von der Einfalt, behandelt das Ungenügen an der polit. Teilung Deutschlands. Zgl. kehrt A. zurück zu seinen autobiogr. Anfängen: Der Roman Der Taubenturm (Mchn. 1966 u. ö. Neuausg. Mchn. 1991) liefert ein Kompendium der »inneren Emigration« im faschist. Italien, nachdem der Roman Der Knabe im Brunnen (Mchn. 1953 u. ö., zuletzt 2006) zuvor auf ebenso origi-

Andres

nelle wie unsentimentale Weise die Geschichte der eigenen moselländ. Kindheit behandelt hat. In seinem letzten, vermächtnishaften Werk Die Versuchung des Synesios (postum Mchn. 1971 u. ö. Neuausg. Mchn. 1990) wird der von der Politik enttäuschte Dichter zum Philosophen; abermals geht es, im Gewand des spätantiken Bischofs, Feldherrn u. neuplaton. Philosophen Synesios von Kyrene, um A.’ Lebensthema, um die Wahrheits- u. Gottsuche des Menschen, der sein irdisches Utopia gewinnen u. verlieren kann. A.’ Lyrik liegt vor in den Sammlungen Die Löwenkanzel (Köln 1933) mit – von der ersten Italienreise 1933 beeinflussten – Reise- u. Naturgedichten u. in Der Granatapfel (Mchn. 1950. Neuausg. mit Nachw. v. Günther Nicolin. Hbg. 1995) mit nachdenklicheren, symbolhaften Gedichten. A. bevorzugt die klass. Formen der Ode, der Hymne, des Sonetts; Grundthemen sind die Erfahrung Gottes, des Todes u. der Natur. In seinen von Schillers Ideentheater beeinflussten Dramen (Tanz durchs Labyrinth. Mchn. 1948. Sperrzonen. Bln. 1957) wird, oft in symbol. Bilderreihen, die »Tragödie des christlichen Gewissens gegenüber der Macht« (R. Schneider) inszeniert; aber auf dem Theater, das für A. moralische Anstalt u. Tribunal war, hatte er wenig Fortune; sein erfolgreichstes Stück ist Gottes Utopia (Bln. 1949), das Gründgens 1950 in Düsseldorf aufführte. Literatur: Charlotte Adenauer: Zeitmorpholog. Untersuchung des Romans ›Ritter der Gerechtigkeit‹. Bonn 1953. – Hans Hennecke u. a. (Hg.): S. A. Eine Einf. in sein Werk. Mchn. 1962. – Interpr.en zu S. A. Mchn. 1969. – Utopia u. Welterfahrung. S. A. u. sein Werk im Gedächtnis seiner Freunde. Mchn. 1972. – Hans Wagener: S. A. Bln. 1974. – Wilhelm Große (Hg.): S. A. Ein Reader zu Person u. Werk. Trier 1980. – Christa Basten u. a. (Hg.): ›Mein Thema ist der Mensch‹. S. A. Mchn. 1990. – Aquädukte der Erinnerung: S. A. 1906–70. Hg. G. Nicolin. Bonn 1995. – Michael Braun: S. A. Leben u. Werk. Bonn 1997. 2. verb. Aufl. 2006. – John Klapper: S. A. Der christl. Humanist als Kritiker seiner Zeit. Bern 1998 (engl. Erstausg. ebd. 1995). – M. Braun u. a. (Hg.): S. A. – Zeitzeuge des 20. Jh. Ffm. 1999. – Heidrun Ehrke-Rotermund u. Erwin Rotermund: Zwischenreiche u. Gegenwelten. Texte u. Vorstudien zur ›Verdeckten Schreibweise‹ im ›Dritten Reich‹. Mchn. 1999. – Sieghild v.

Andrian-Werburg Blumenthal: Christentum u. Antike im Werk v. S. A. Hbg. 1999. – Eric Sigurd Gabe: Macht u. Religion. Analogie zum Dritten Reich in S. A.’ Trilogie ›Die Sintflut‹. Bern 2000. – Wilhelm Kühlmann: Endzeitl. Parabolik? Bemerkungen zu S. A.’ Synesios-Biogr. (1971). In: Fakten u. Fiktionen. Strategien fiktionalbiogr. Dichterdarstellungen im Roman, Drama u. Film seit 1970. Hg. Christian v. Zimmermann. Tüb. 2000, S. 119–129. – M. Braun u. Georg Guntermann (Hg.): Neue Annäherungen an die Lit. der ›Inneren Emigration‹. Ffm. u. a. 2007. – Reihe: Mitt.en der S.-A.-Gesellsch. Hg. C. Basten u. Hermann Erschens. Schweich 1980 ff. Hans Wagener / Michael U. Braun

Andrian-Werburg, Leopold Frhr. von, * 9.5.1875 Berlin, † 19.11.1951 Fribourg/ Schweiz; Grabstätte: Altaussee/Steiermark, Friedhof. – Erzähler u. Essayist. A. entstammte väterlicherseits einer angesehenen, gesellschaftlich u. auch politisch einflussreichen österr. Familie. Der Vater, Ferdinand von Andrian-Werburg, war Geologe u. Anthropologe u. gründete im Jahre 1870 die Wiener Anthropologische Gesellschaft. Die Mutter, Cäcilie von Andrian, war die Tochter des jüd. Komponisten Giacomo Meyerbeer. Finanziell sorgenfrei u. mit reichlich symbolischem Kapital ausgestattet, empfand A. doch seine Herkunft aus diesen verschiedenen Familientraditionen stets als problematisch u. durchlitt immer wieder psych. Krisen. Das zehnte bis dreizehnte Lebensjahr verbrachte er im renommierten Jesuitenstift in Kalksburg bei Wien u. erhielt ab 1887 wegen gesundheitlicher Probleme Unterricht von einem Hauslehrer, dem späteren Literaturwissenschaftler Oskar Walzel. Mit diesem verbrachte er den Winter 1888/89 in Venedig u. wohnte ab 1890 in dessen Hause. Die letzten Schuljahre absolvierte A. auf dem Wiener Schottengymnasium, wo er im Jahre 1893 maturierte. Nach dem Studium in Wien (Dr. jur.) trat er 1899 in den diplomat. Dienst ein. Schon früh verfasste A. Gedichte, beispielsweise Hannibal. Romanenzyklus (Venedig 1888). Im Jahre 1893 lernte er Hugo von Hofmannsthal kennen u. trat in Kontakt mit dem sog. »Jung Wien«, dem u. a. Arthur Schnitzler, Richard Beer-Hofmann u. Her-

162

mann Bahr angehörten. Die produktivste Zeit fällt in die Jahre 1893–1895. Der Kontakt zum Kreis um Stefan George ermöglichte es A., einige Gedichte in der Zeitschrift »Blätter für die Kunst« zu veröffentlichen. Viele jedoch blieben Entwürfe u. unveröffentlicht. Große Aufmerksamkeit erregte A. mit der Erzählung Der Garten der Erkenntnis (Bln. 1895. Neuausg. mit einem Nachw. v. Dieter Sudhoff. Oldenb. 2003). Es blieb A.s einziges abgeschlossenes dichter. Werk u. wurde von namhaften zeitgenöss. Dichterkollegen (u. a. Bahr, Hofmannsthal, George) zwar außerordentlich geschätzt, provozierte aber auch heftige Ablehnung (Schaukal, Schnitzler, Kraus). Prägnant zeichnet es das von permanenter Reflexivität bestimmte Dasein eines typ. Ästheten. Dem Protagonisten Erwin gelingt es nicht, »das Geheimnis des Lebens» zu lösen u. »seine Sehnsucht nach Erkenntnis» zu stillen, sodass er am Ende desillusioniert stirbt. Wegen eigener tiefgreifender psych. Krisen u. Hypochondrien ging A. 1897 in ein Sanatorium. Nach der Jahrhundertwende verpflichtete ihn der diplomat. Dienst zu etlichen Aufenthalten im Ausland. Als Attaché arbeitete er in Athen, Rio de Janeiro u. Buenos Aires, St. Petersburg u. Bukarest. 1911 übernahm er das Amt des Generalkonsuls in Warschau. Auch im literarischen u. kulturellen Leben spielte er eine wichtige Rolle, wurde Mitbegründer der Österreichischen Bibliothek u. nach seinem Ausscheiden aus dem diplomat. Dienst 1918 Generalintendant der Wiener Hoftheater. Im Nov. desselben Jahres jedoch, nach dem Untergang der Habsburger Monarchie, legte er dieses Amt nieder u. ging nach Liechtenstein ins Exil, lebte vom privaten ererbten Vermögen u. verbrachte unruhige Jahre auf Reisen u. an verschiedenen Wohnorten. Unter dem Eindruck der polit. Umwälzungen verfasste A. nach langen Jahren schriftstellerischer Pause politisch-philosoph. Essays, die von einem konservativen u. religiös-kath. Duktus geprägt sind (Die Ständeordnung des Alls. Rationales Weltbild eines katholischen Dichters. Mchn. 1930. Österreich im Prisma der Idee. Graz 1937). Nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges emigrierte A. nach Bra-

163

silien, kehrte 1946 nach Europa zurück u. starb 1951 in Fribourg. Weiteres Werk: Das Fest der Jugend, des Gartens der Erkenntnis erster Teil, u. die Jugendgedichte. Bln. 1919. Ausgaben: Hugo v. Hofmannsthal, L. v. A. Briefw. Hg. Walter H. Perl. Ffm. 1968. – Frühe Gedichte. Hg. W. H. Perl. Hbg. 1972. – L. v. A. (1875–1951). Korrespondenzen, Notizen, Essays, Berichte. Hg. Ursula Prutsch u. Klaus Zyringer. Wien u. a. 2003. Literatur: Horst Schumacher: L. A. Werk u. Weltbild eines österr. Dichters. Wien 1967. – Ursula Renner: L. v. A.s ›Garten der Erkenntnis‹. Literar. Paradigma einer Identitätskrise in Wien um 1900. Ffm./Bern 1981. – Jens Rieckmann: L. v. A. u. der österr. Gedanke. In: Austrian writers and the Anschluß: understanding the past, overcoming the past. Hg. Donald G. Daviau. Riverside 1991, S. 1–8. – Cathrine Theodorsen: L. A., seine Erzählung ›Der Garten der Erkenntnis‹ u. der Dilletantismus in Wien um 1900. Werhahn 2006. – Rodney Taylor: The spectre in L. Andrian’s Garden of knowledge. In: Seminar 42, H. 1 (2006), S. 33–57. Eva Weisz / Stefanie Arend

Anegenge, um 1170/80. – Frühmittelhochdeutsches Lehrgedicht von 3242 Reimpaarversen. Vermutlich entstand das A. (»Anfang«), eines der ersten Lehrgedichte, das auch schwierige theolog. Fragen in dt. Sprache wiedergibt, im mittelbair. Sprachgebiet. Sollte – was nicht eindeutig belegbar ist – die Historia scholastica des Petrus Comestor eine der Quellen des A. darstellen, muss der Text nach 1173 verfasst worden sein. Überliefert ist er nur in einer Wiener Sammelhandschrift vom Anfang des 14. Jh. Der anonyme Verfasser stellt, ganz in der Tradition der Patristik u. Scholastik stehend, die christl. Heilsgeschichte von der Schöpfung bis zur Erlösung dar. Seine Adressaten sind wohl Laien. Am Beginn des A. steht die Bitte an Gott um Hilfe für die Dichtung (vv. 1–88). Der Dichter stellt sich als gelehrten Theologen dar. Die Verse 89–859 sind dem Sein Gottes vor der Schöpfung, der Schöpfung, der Erschaffung der Engel, dem Engelsturz, der Trinität u. der Sintflut gewidmet. Ab Vers 833 werden die Ereignisse von

Anegenge

der Erschaffung der Welt bis zur Sintflut nach der Chronologie der Bibel erzählt. Mit Vers 2230 beginnt die Erzählung von der Menschwerdung u. Passion Christi u. der Erlösung der Menschen. Gottes Gerechtigkeit gibt den Ausschlag für den Beschluss zur Inkarnation. Christus soll durch seine Menschwerdung den durch den Fall Adams erworbenen Anspruch des Teufels auf die Menschheit tilgen. Die Stationen der Lebenswege Christi u. Mariae werden in genauer Parallele zu denen der Lebenswege Adams u. Evas – deren Fehler durch Christus u. Maria wiedergutgemacht werden – erzählt. Die Wiedergabe der Heilsgeschichte wird immer wieder von Erläuterungen theologischer Fragen für ungeschulte Zuhörer bzw. Leser unterbrochen: Insg. machen diese explizierenden u. sich teilweise polemisch mit Irrtümern auseinandersetzenden Partien etwa zwei Drittel des Textes aus. Dabei bedient sich der Verfasser der scholast. Form der »disputatio« u. zitiert eine große Zahl von Autoritäten. Das A., das predigthafte Züge trägt, verwendet in der zeitgenössischen theolog. Literatur gängige Mittel zur Veranschaulichung u. Erläuterung des Heilsgeschehens. So ist der Entschluss zur Erschaffung der Welt das Ergebnis eines Gesprächs der drei göttl. Personen. Die Inkarnation wird in Anlehnung an Bernhard von Clairvaux eingeleitet durch einen »Streit der Töchter Gottes«, also der Allegorien von Barmherzigkeit, Wahrheit, Friede u. Gerechtigkeit. Für die Darstellung der komplizierten theolog. Sachverhalte entwickelte die dt. Sprache erst zu dieser Zeit die entsprechenden sprachl. u. stilist. Mittel. So gelang dem Dichter, dessen Vertrautheit mit den Stilmitteln der lat. theolog. Literatur, bes. der Scholastik, deutlich zutage tritt, die Umsetzung mithilfe der ihm zur Verfügung stehenden rhetor. u. sprachl. Mittel nicht immer. Das an der Scholastik mehr in der Form als in der begriffl. Durchdringung des Dargestellten orientierte A. hat keine direkten Vorbilder. Der Dichter verwendet – z.T. wohl unvollkommen verstandenes – theolog. Gemeingut der Zeit. Die Überlieferung des A. in

Angel

164

nur einer Handschrift spricht auch gegen eine größere Wirkung. Es ist ein Dokument des im Laufe des 12. Jh. gewachsenen Interesses an der theolog. Unterweisung der Laien.

Weitere Werke: Edison. Sein Leben u. Erfinden. Bln. 1926 (Biogr.).

Ausgaben: Dieter Neuschäfer (Hg.): Das A. Mchn. 1969.

Walter Ruprechter / Red.

Literatur: Edward Schröder: Das A. Straßb. 1851. – Felix Scheidweiler: Studien zum A. In: ZfdA 80 (1944), S. 11–45. – Heinz Rupp: Dt. religiöse Dichtungen des 11. u. 12. Jh. Freib. i. Br. 1958. Bern/Mchn. 21971. – Brian Murdoch: The Fall of Man in the Early Middle High German Biblical Epic. Göpp. 1972. – Peter-Erich Neuser: A. In: VL. – Maria Sherwood-Smith: Selbstgespräch zu dritt. Innertrinitar. Gespräche im A. u. in der ›Erlösung‹. In: Dialoge. Sprachl. Kommunikation in u. zwischen Texten im dt. MA. Hg. Nikolaus Henkel u. a. Tüb. 2003, S. 213–224.

Angelus Silesius, auch: Johann(es) Angelus (Silesius), Bonamicus, Hierotheus Boranowsky, Christianus Conscientiosus, eigentl.: Johannes Scheffler, Initialen: J. E., J. S., getauft 25.12.1624 Breslau, † 9.7. 1677 Breslau . – Epigrammatiker, Lyriker, katholischer Apologet.

Elisabeth Wunderle / Red.

Angel, Ernst, * 11.8.1894 Wien, † 10.1. 1986 New York. – Lyriker, Kritiker u. Psychologe. A. schrieb als Schüler ein aufsehenerregendes Gedicht Vaterhaus. Weitere Gedichte veröffentlichte er 1914–1919 in expressionist. Zeitschriften u. Anthologien. Im Ersten Weltkrieg war er Soldat u. beteiligte sich danach an der Revolution in Wien. Nach deren Scheitern übersiedelte er nach Berlin, wo er als Theater- u. Filmkritiker tätig war. Gleichzeitig arbeitete er als Lektor in den Verlagen Erich Reiß u. Kiepenheuer, ehe er 1928–1932 einen eigenen Verlag leitete. A.s Interesse während der Berliner Zeit galt dem Film. Neben Regiearbeiten gab er eine Reihe von Film-Skripten u. d. T. Das Drehbuch (Potsdam 1924) heraus, wobei er die Idee des Autorenfilms vorwegnahm. A. veröffentlichte 1920 den spätexpressionist. Gedichtband Sturz nach oben (Wien. Neudr. Nendeln 1973). Der Titel signalisiert das Grundthema seiner Lyrik: das Streben nach Übermenschentum u. Unendlichkeit. Obwohl seine Figuren dabei bisweilen scheitern, ist A.s Lyrik im Grundton optimistisch. 1933 emigrierte A. in die USA, wo er als Psychologe arbeitete; mit 71 Jahren promovierte er. Er schrieb Artikel über Psychoanalyse u. zuletzt über die Psychologie der atomaren Bedrohung.

Literatur: Hans Jörgen Gerlach: E. A. In: Dt. Exillit. Bd. 3/2 (2001), S. 34–59.

A. S.’ Vater war Stanislaus Scheffler, Herr zu Borowicze, ein poln. Adliger, der 1618 von Krakau nach Breslau übergesiedelt war. A. S. besuchte hier 1636–1643 das ElisabethGymnasium, an dem der Opitzfreund u. Verfechter der neuen Dichtung Christoph Köler Rhetorik u. Poetik unterrichtete. Bereits als Schüler schrieb A. S. erste Gedichte. 1643 ging er nach Straßburg, um dort Medizin u. Staatsrecht zu studieren. Ein Jahr später setzte er in Leiden sein Studium fort. 1647 bezog A. S. die Universität Padua, wo er im folgenden Jahr den Doktorgrad der Philosophie u. Medizin erhielt. Im Nov. 1649 trat A. S. als Hof- u. Leibmedicus in den Dienst des lutherisch-orthodoxen Herzogs Sylvius Nimrod von Württemberg in Oels bei Breslau. Besonderen Einfluss übte damals Abraham von Franckenberg, der Freund u. Biograf Jacob Böhmes, auf ihn aus. Der Verkehr mit Franckenberg u. die Benutzung von dessen Bibliothek erlaubten A. S. eine vertiefende Beschäftigung mit dem Gedankengut der Mystiker u. Pansophen. Wahrscheinlich veranlassten ihn der Tod Franckenbergs (1652) u. das Druckverbot mystischer Texte, die Stelle am Oelser Hof aufzugeben. A. S. ließ sich als Arzt im St. Matthias-Stift in Breslau nieder u. konvertierte zum Katholizismus. Bei der Firmung nahm er den Namen Angelus an. Sein väterl. Erbe nutzte er für Almosen u. für fromme u. wohltätige Stiftungen. 1654 erhielt er von Kaiser Ferdinand III. den Titel des kaiserlichkgl. Hofmedicus. Drei Jahre später publizierte er in Wien seine berühmten Epigramme Geistreiche Sinn- vnd Schlussr[e]ime, die seit

165

der zweiten, um ein sechstes Buch vermehrten Ausgabe den Haupttitel Cherubinischer Wandersmann (1675) tragen. Ebenfalls 1657 erschien in Breslau die Heilige Seelen-Lust Oder Geistliche Hirten-Lieder (2., um ein 5. Buch vermehrte Ausg. Breslau 1668). Den größten Teil der Melodien zu den Liedern schrieb der Breslauer fürstbischöfl. Musikus Georg Joseph. 1661 empfing A. S. mit päpstl. Dispens in Neiße die Priesterweihe. Ein Kreuz u. eine Dornenkrone tragend, nahm er ekstasetrunken an spektakulären Prozessionen teil. 1664–1666 stand A. S. als Rat u. Hofmarschall im Dienst des Breslauer Fürstbischofs Sebastian von Rostock. Das letzte Lebensjahrzehnt verbrachte er wieder im St. Matthias-Stift, wo er als Medicus u. Priester Kranke u. Arme betreute. Seit seiner Konversion setzte sich A. S. in zahlreichen Streitschriften fanatisch für die Rekatholisierung Schlesiens ein. Er führte in ihnen scharfe Polemiken mit den Protestanten u. forderte die Herrscher auf, die Andersgläubigen – auch mit Gewalt – zum Konfessionswechsel zu zwingen. 39 seiner Kampfschriften gab er als Ecclesiologia (Neiße 1677) im Druck heraus. Er veröffentlichte auch »zu heilsamen Schröken und Auffmunterung aller Menschen« eine Sinnliche Beschreibung Der Vier Letzten Dinge (Schweidnitz 1675). Nach langer Krankheit erlag A. S. im 52. Lebensjahr seinen »Lung- und duersichtigen Beschwerden«. Berühmt wurde A. S. durch die »Sinnreime« des Cherubinischen Wandersmanns, einer Sammlung von eineinhalbtausend meist zweizeiligen Sprüchen in gereimten Alexandrinern. Vorbild waren ihm die Epigramme von Abraham von Franckenberg, Daniel Sudermann, Daniel Czepko u. Johann Theodor von Tschesch. Die »geheime Gottes Weißheit« lehrten ihn u. a. Augustinus, Bernhard von Clairvaux, Eckhart, Mechthild u. Gertrud, Johannes vom Kreuz, Jacob Böhme u. Valentin Weigel. Im Vorwort nennt A. S. die myst. Schriften von Ruysbroeck, Tauler, Harphius, Maximilian Sandeus u. de la Puente. Was der Leser »bey jhnen nach der länge gelesen« hat, wird er – so A. S. – in den Sinnreimen »als in einem kurzen Begriff«

Angelus Silesius

finden mit dem Ziel, die »Seele zur göttlichen beschawlichkeit zuleiten«. Viele der im Cherubinischen Wandersmann behandelten Gedanken sind Gemeingut der Mystik. A. S. verdanken wir originelle Formulierungen, die sich durch die Virtuosität des Intensivierung u. Synthese anstrebenden künstler. Ausdrucks, durch knappste, wortstarke, pointierte Verse auszeichnen, z.B. in: Zufall und Wesen: »Mensch werde wesentlich: denn wann die Welt vergeht / So fällt der Zufall weg / das wesen das besteht.« oder in: Die geistliche Goldmachung: »Dann wird das Bley zu Gold / dann fällt der Zufall hin / Wann ich mit GOtt durch GOtt in GOtt verwandelt bin.« Wie die gesamte mystisch-neuplaton. Tradition geht A. davon aus, dass adäquate positive Aussagen über Gott dem Menschen nicht möglich sind. Seine theolog. Spekulationen folgen fast durchgängig der »via negativa«: Der Mensch kann nur erkennen, was Gott nicht ist, nicht was er ist. Die Epigramme versuchen das Wesen des Allerhöchsten, das Unfassbare u. Unaussprechliche, mit Hilfe von Metapher, Wortspiel, Antithese u. Paradoxon zu umschreiben. Strenge Rationalität vereinigte A. S. mit schwärmerischer Religiosität, Selbstbewusstsein mit Demut, Rausch mit Zerknirschung. Das Hauptthema des Cherubinischen Wandersmanns ist die Vereinigung der Seele mit Gott, die »unio mystica«, die »deificatio« des Menschen. Es ist der Weg des Ich zum Kind Gottes. Die »unio« ist vollzogen, wenn die Seele zur Braut Gottes wird oder wenn Gott sich im Menschen »findt«. Die knappen, ausdrucksstarken, oft änigmatischen oder paradoxen Sätze provozierten zum Nachdenken; sie weckten u. a. das Interesse von Leibniz, Schopenhauer, Hegel, Friedrich Schlegel, Brentano u. Annette von DrosteHülshoff. Noch der Expressionist Ernst Stadler zitiert A. S.’ »Mensch, werde wesentlich!« in einem programmat. Gedicht seiner Sammlung Der Aufbruch. Während A. S. in seinem Cherubinischen Wandersmann eine intellektuelle, spekulative Beschauung Gottes anstrebt, möchten die seraphischen Lieder der Heiligen Seelenlust Affekte darstellen u. erregen; beabsichtigt ist

Angelus Silesius

eine anmutige Wirkung. Die Lieder preisen Jesus als Ewige Schönheit, die die Liebe entfacht u. das Verlangen weckt, sich mit ihr zu vereinigen; die Sprache steigert sich bis zum Schwärmerischen. Die Lieder der ersten drei Bücher gelten – in der Ordnung der Ereignisse des Kirchenjahres vom Advent bis zum Osterfest – der Liebe zwischen Psyche-Seele u. Jesus. Die Bücher 4 u. 5 beziehen sich z.T. auf Festtage u. Heilige. A. S. bediente sich der pastoralen Staffage u. der geistl. Erotik. Der »locus amoenus«, die liebl. Gegend, bietet den Hintergrund für die myst. Handlung. Die Erlösungstat Christi tilgt die Erbsünde des Menschen u. stellt den Garten Eden in einem geistigen Sinn wieder her, sodass eine Kommunikation von Gott u. Mensch wie einst im Paradies wieder möglich wird. Im Zentrum des Werks steht die schmachtende Jesusminne; dabei knüpfte A. S. formal an die weltl. Lieder seiner Zeit, aber auch an die Lieder Luthers u. Paul Gerhardts an. Den Liedtypus jedoch bildete er um, indem er ihn zum Ausdruck innerster ekstat. Seelenregungen des Begehrens u. der Hingabe machte. Schon in den Überschriften der Lieder kommt eine Brautmystik zum Ausdruck, die oft weltl. Schäferdichtung christlich parodiert: »Die Psyche begehrt ein Bienelein auff den Wunden Jesu zu seyn«, »Sie schreyet nach dem Kusse seines Mundes«, »Sie begehret verwundet zu seyn von jhrem Geliebten«. Grenzenlose Liebe u. übermächtiges Verlangen führen zur myst. Beschauung Gottes u. zur Unio. In seinem letzten – umstrittenen – poet. Werk Sinnliche Beschreibung Der Vier Letzten Dinge (Schweidnitz 1675) beabsichtigte A. S. eine ausdrucksstarke Schilderung des Todes, des Jüngsten Gerichts, der »ewigen Peinen der Verdammten« u. der »ewigen Freuden der Seligen«. Mit 157 achtzeiligen Strophen baute er bes. den optimistischen 4. Teil der Dichtung aus. Da er sich in ihr als »Missionar« an breiteste Kreise wandte, wählte er den »niederen Stil« u. einfache acht- bzw. siebensilbige jambische Verse. Mit einem Bilderschatz, der der Bibel, dem Gesangbuch u. der zeitgenöss. Malerei entnommen ist, beschrieb A. S. die vier letzten Dinge auf eine allgemeinverständliche »irdische« Weise. Je-

166

des Mittel war ihm recht, um die sündigen Menschen zu erschüttern u. ihre Besserung zu erzwingen. Obwohl A. S. ein streitbarer »Papist« war u. die Regeln der Opitz’schen Verskunst nicht streng befolgte, wurden seine beiden bedeutenden dichter. Werke auch in protestant. Kreisen rezipiert. Etwa 50 der Geistlichen Hirtenlieder gingen in das Hallesche Gesangbuch ein. Um die Wende zum 18. Jh. inspirierten die Verse der Heiligen Seelenlust die Lyrik der Pietisten. Gottfried Arnold gab 1701 u. 1713 den Cherubinischen Wandersmann mit dem Vorwortverweis auf A. S.’ »sehr schöne und kräftige geistreiche Schriften«, heraus. Ein andauerndes Interesse für die Sinnreime des schles. Mystikers initiierten die Romantiker. Weitere Werke: Bonus Consiliarus [...]. Breslau 1642 (352 dt. Alexandriner). – Christl. Ehrengedächtniß Des [...] Herrn Abraham v. Franckenberg. Oels 1652. – Gründtl. Vrsachen v. Motiven, warumb Er Von dem Lutherthumb abgetretten, v. sich zu der Cath. Kyrchen bekennet hat. Ingolst. 21653. Neudr. Mchn. 1912. – Köstl. Evang. Perle. Glatz 1676 (Übers.). – Ecclesiologia Oder Kirche-Beschreibung. 2 Tle., Neiße 1677 (39 antiluth. Streitschr.en, darunter etwa ein Dutzend bislang unveröffentlichte ›Tractätlein‹). – Hl. Seelen-Lust. Hg. Michael Fischer. Nachdr. der Ausg. Breslau 1668. Kassel u. a. 2004. Ausgaben: Sämmtl. poet. Werke. Hg. David August Rosenthal. 2 Bde., Regensb. 1862. – Sämtl. poet. Werke u. eine Ausw. aus seinen Streitschr.en. Hg. Georg Ellinger. 2 Bde., Bln. 1923. – Sämtl. poet. Werke. Hg. Hans Ludwig Held. 3 Bde., Mchn. 3 1949–52. – Cherubin. Wandersmann oder GeistReiche Sinn- u. Schluß-Reime [...] mit dem sechsten Buche vermehrt. Glatz 1675. Glogau 1676. 1689. Ffm. 1701. 1713. Altona 1737 (mit einer Vorrede Gottfried Arnolds) u. ö. Krit. Ausg. Hg. Louise Gnädinger. Stgt. 1984. Übersetzungen: Le Pélerin Chérubinique. Übers. v. Camille Jordens. Paris 1994 (frz.). – Il pellegrino cherubico. Hg. Giovannia Fozzer u. Marco Vannini. Mailand 1989 (ital.). Literatur: Bibliografie: Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 5, S. 3527–3556. – Weitere Titel: Daniel Schwartz, S. J.: Engel-Art [...] Deß [...] Joannis Angeli Scheffler [...]. Breslau 1677. – Karl Friedrich Gaupp: Die röm. Kirche kritisch beleuchtet in einem ihrer Proselyten. Dresden 1840. – Patricius Wittmann: A. S. als Convertite, als myst. Dichter u. als Polemiker. Augsb. 1842. – Karl August Varn-

167 hagen v. Ense: A. S. u. Saint Martin. Bln. 1849. – August Kahlert: A. S. Breslau 1853. – Franz Kern: J. S.’ ›Cherubin. Wandersmann‹. Lpz. 1866. – Paul Mahn: Die Mystik des A. S. Diss. Rostock 1892. – Carl Seltmann: A. S. u. seine Mystik. Breslau 1896. – Richard v. Kralik: A. S. u. die christl. Mystik. Hamm 1902. – Ders.: J. S. als kath. Apologeth u. Polemiker. Trier. 1913. – Georg Ellinger: A. S. Ein Lebensbild. Breslau 1927. – Leonello Vincenti: A. S. Turin 1931. – Edith Eilert: A. S. als Streittheologe seiner Zeit. Dresden 1936. – Rudolf Neuwinger: J. S.’ ›Cherubin. Wandersmann‹ u. die dt. Mystik. Diss. Lpz. 1937. – Paula König: Die myst. Lehre des A. S. Mchn. 1942. – Henri Plard: La mystique d’A. S. Paris 1943. – Walter Dürig: J. S. als Kontroverstheologe u. Seelsorger. Diss. Breslau 1944. – Elisabeth Spörri: Der ›Cherubin. Wandersmann‹ als Kunstwerk. Zürich 1947. – Horst Althaus: J. S.’ ›Cherubin. Wandersmann‹. Mystik u. Dichtung. Diss. Gießen 1956. – Elisabeth Meier-Lefhalm: Das Verhältnis v. myst. Innerlichkeit u. rhetor. Darstellung bei A. S. Diss. Heidelb. 1958. – Jaime Tarraco: A. S. u. die span. Mystik. Diss. Mainz 1959. – Ernst Otto Reichert: J. S. als Streittheologe. Gütersloh 1967. – Jeffrey L. Sammons: A. S. New York 1967. – Hugo Föllmi: Czepko u. Scheffler. Zürich 1968. – Ernst Thomas Schwarz jr.: The Metaphysical Tradition of the ›Cherubin. Wandersmann‹. Diss. University of Maryland 1972. – Walter Dürig: Zum 300. Todestag des A. S. In: Archiv für Schles. Kirchengesch. 35 (1977), S. 115–140. – Luise Gnädinger: A. S. In: Dt. Dichter des 17. Jh. Hg. Harald Steinhagen u. Benno v. Wiese. Bln. 1984, S. 553–575. – John Bruckner: Abraham v. Franckenberg, J. S. u. Johann Theodor v. Tschesch in einem ›Quaker-Buche‹ (1680). In: Lit. u. Volk im 17. Jh. Hg. Wolfgang Bruckner u. a. Wiesb. 1985. – Hans-Georg Kemper: Dt. Lyrik der Frühen Neuzeit. Bd. 3, Tüb. 1988, S. 208–244. – Peter Hess: Das Epigramm. Stgt. 1989. – Joachim Telle (Hg.): Abraham v. Franckenberg. Briefw. Stgt.-Bad Cannstatt 1995 (zum Umkreis). – Thomas Althaus: Epigrammat. Barock. Bln./New York 1996, S. 224–284. – Wilhelm Kühlmann: Johannes Scheffler. In: TRE. – Dieter Breuer: Endzeitl. Ausblicke ins Himml. Jerusalem bei Johann Matthäus Meyfart, A. S. u. Martin v. Cochem. In: MorgenGlantz 10 (2000), S. 67–94. – Michael Fischer: Konfessionalisierung als Paradigma hymnolog. Forsch. Johann Schefflers ›Heilige Seelen-Lust‹ u. ihr histor. Hintergrund. In: Jb. für Liturgik u. Hymnologie 43 (2004), S. 180–204. – Thorsten Unger: Barocke Kußgedichte. Weltl. u. geistl. Os-

Angely culogie bei Paul Fleming u. A. S. In: ZfdPh 123 (2004), S. 183–205. Marian Szyrocki † / Wilhelm Kühlmann

Angely, Louis (Jean Jacques), * 31.1.1787 Leipzig, † 16.11.1835 Berlin; Grabstätte: ebd., Französischer Friedhof Chausseestraße. – Lustspielautor. Der Sohn frz. Refugiés debütierte 1808 als Schauspieler in Stettin. Über deutschsprachige Bühnen des Baltikums (Riga, Reval, Mitau) kam A. 1820 an das Deutsche Hoftheater in St. Petersburg, wo er v. a. komische Rollen spielte. Seit 1822 in Berlin, wurde er 1828 Mitgl. des 1824 auf Aktienbasis gegründeten Königstädtischen Theaters. Er war Komiker, Regisseur u. auch Lustspielautor dieses Hauses. 1830 kaufte A. einen Gasthof u. zog sich vom Theater zurück, schrieb aber weiterhin Lustspiele. Zu A.s über 40 Berliner Lokalpossen gehören Die Schneider-Mamsells (Bln. 1824), Das Fest der Handwerker (Bln. 1828), Sieben Mädchen in Uniform (Stettin 1830), Die Reise auf gemeinschaftliche Kosten (Bln. 21853), Paris in Pommern (Bln. 1840). Als Gebrauchsstücke anfangs oft ungedruckt, stabilisierten sie das ab 1829 wirtschaftlich gefährdete Königstädtische Theater. Als Hausautor eines durch Konzession auf Melodram, kom. Oper u. Lustspiel beschränkten Privattheaters entwickelte A. eine Frühform der Berliner Lokalposse. Seine Dialekteinakter – meist nach frz. Vorlagen – brechen die Fiktion durch die typ. Possenlieder (Vaudevilles; auch Bezeichnung für die Dramengattung), die das Publikum zum Mitsingen reizen. Um Volkstümlichkeit bemüht, schuf A. in seinen Lustspielen den Typ des Berliners. Kritiklust, witzige Einfälle (»Raffinemang«), Selbstironie u. dabei Verletzlichkeit prägen die stehende Figur. Mit der Betonung ständischen Zusammengehörigkeitsgefühls in den Handwerkerpossen sind A.s Stücke dem biedermeierl. Weltbild verpflichtet. Weitere Werke: Vaudevilles u. Lustspiele. 3 Bde., Bln. 1828–34. 21842 in 4 Bdn. – Neuestes kom. Theater. 3 Bde., Bielef. 1836–41.

Ani

168

Literatur: Wilhelm Eylitz: Das Königstädt. Theater zu Berlin. Diss. Rostock 1940. – Gerhard Wahnrau: Berlin, Stadt der Theater. Bln. 1957. – Horst Denkler: Restauration u. Revolution. Polit. Tendenzen im dt. Drama zwischen Wiener Kongreß u. Märzrevolution. Mchn. 1973. – Volker Klotz: Bürgerl. Lachtheater. Mchn. 1980. – Theater im ›kupferne(n) Zeitalter‹. ›Eine Wohnung ist zu vermiethen ...‹ Mehrere ›Wohnungen zu vermiethen!‹ (Roche/Duflot, A., Malß, Nestroy). In: Nestroyana 17 (1997), S. 77–97. – Ekkehard Pluta: Komödienstoffe zu vermieten. Vom Vaudeville zur Gesellschaftssatire. Metamorphosen eines frz. SingSpiels im dt. Theater des Vormärz. In: Theaterverhältnisse im Vormärz. Hg. Maria Porrmann u. Florian Vaßen. Bielef. 2002, S. 175–196. Alain Michel / Red.

Ani, Friedrich, * 7.1.1959 Kochel am See. – Romancier, Dramatiker, Hörspielautor, Drehbuchautor, Kinder- u. Jugendbuchautor. Nach dem Abitur studierte A. an der Münchner Hochschule für Film u. Fernsehen. Daran schloss sich ein Volontariat beim »Münchner Merkur« an. A. arbeitete einige Jahre als Polizeireporter. Er schrieb zunächst Drehbücher für verschiedene TV-Serien wie Ein Fall für Zwei, Faust oder Tatort, bevor er 1996 seinen ersten in München angesiedelten Kriminalroman Killing Giesing (Köln) vorlegte. 1997 folgte Abknallen (Köln). In den ersten Romanen zeigt sich bereits A.s Interesse an den psycholog. Hintergründen eines Verbrechens, die stärker im Vordergrund der Romanhandlung stehen. Seine Kriminalromane zeichnen sich durch eine Mischung aus Melancholie u. Empathie aus, wie bes. die 10 Bände umfassende Reihe um den Kommissar Tabor Süden (2001–2005) beweist. Weitere Werke: Alte Liebe. 1988 (Hörsp.). – Der Mann, der Olsdorfer erschoß. 1989 (Hörsp.). – Die unerreichbaren Frauen. 1991 (Hörsp.). – Ein Fall für Zwei: Weißes Land. ZDF 1995 (Drehb., zus. mit Markus Bräutigam). – Das geliebte süße Leben. Mchn. 1996. – Faust: Diebin des Feuers. ZDF 1996 (Drehb., zus. mit M. Bräutigam). – Faust: Tote weinen nicht. ZDF 1997 (Drehb.). – Brennender Schnee. Mchn. 1998. – Die Erfindung des Abschieds. Mchn. 1998. – Tatort: Das Glockenbachgeheimnis. ARD 1999. – Durch die Nacht, unbeirrt.

Jugendbuch. Mchn. 2000. – German Angst. Mchn. 2000. – Süden u. das Gelöbnis des gefallenen Engels. Mchn. 2001. – Süden u. der Mann im schwarzen Mantel. Mchn. 2005. – Idylle der Hyänen. Wien 2006. Literatur: Volker Isfort: F. A. In: LGL. Tim Lörke

Anna Sophia, Landgräfin von HessenDarmstadt, * 17.12.1638 Marburg, † 13.12.1683 Quedlinburg. – Verfasserin eines Andachtsbuchs. Mit 17 Jahren übersiedelte A. S., Tochter des Landgrafen Georg u. von Hessen-Darmstadt u. seiner Frau Sophie Eleonore, Tochter des Kurfürsten von Sachsen Johann Georg I., zu den Großeltern an den kurfürstl. Hof in Dresden. Ab 1657 war sie Pröbstin des kaiserlich freien weltl. Stifts Quedlinburg. 1661 stellten sich Glaubenszweifel ein, u. A. S. bereitete ihre Flucht in das kath. Pfalz-Neuburg vor. Mit Hilfe von A. S.s evang. Verwandten aus Darmstadt u. Dresden gelang es der Äbtissin des Stifts, A. S.s Pläne zu durchkreuzen u. sie von der Richtigkeit des protestant. Glaubens zu überzeugen. 1681–1683 war A. S. Äbtissin von Quedlinburg. Literarisch wirksam wurde sie durch ihr Andachtsbuch Der treue Seelenfreund Christus Jesus, mit nachdenklichen Sinn-Gemählden, anmuhtigen Lehrgedichten, und neuen geistreichen Gesängen (Dresden/Jena 1658. Ffm./Lpz. 2 1675 mit Ergänzungen u. einer Stellungnahme zu der Kritik, die das Buch in reformierten Kreisen hervorgerufen hatte). Das Werk ist mit Emblemen ausgestattet u. enthält zwölf geistl. Betrachtungen über die Freundschaft der Seele mit Gott. Lieder, Lehrgedichte u. Erklärungen der Sinnbilder ergänzen jede Betrachtung. In einem Anhang werden weitere Liedtexte u. belehrende Bibelparaphrasen mitgeteilt. Der Seelenfreund wandte sich v. a. an fromme Frauen, die er zu einem gottgefälligen Lebenswandel anleiten sollte. Von den zahlreichen Liedtexten (die 1. Aufl. hat insg. 32, die 2. Aufl. 40 Lieder, sämtlich verzeichnet bei Stromberger) wur-

Anneke

169

den einige in zeitgenössische evang. Gesangbücher aufgenommen. Die Lieder Was Dank soll ich dir geben u. Du liebster Jesu bist mein Trost mein Leben (im Anhang) finden sich auf einem illustrierten Flugblatt aus der Mitte des 17. Jh. Ausgabe: Fischer-Tümpel 5, S. 196–212. – Flugbl. Bd. 3, Nr. 20. Literatur: Friedrich E. Kettner: Kirchen- u. Reformations-Historie des kayserl. freyen weltl. Stiffts Quedlinburg. Quedlinb. 1710, S. 162–164 (Porträt A. S.s zwischen S. 156/157). – Der Landgräfin A. v. H.-D. Leben u. Lieder. Hg. ChristianWilhelm Stromberger. Halle 1856. – P. Pressel: A. S. In: ADB. – Ernst Kiehl: Die Liederdichterin A. S., Landgräfin v. Hessen, Äbtissin zu Quedlinburg. In: Sachsen-Anhalt 11 (2002), S. 2–7. Eva-Maria Bangerter-Schmid / Red.

Anneke, Mathilde Franziska, auch: M. F. von Tabouillot, * 3.4.1817 Leveringhausen bei Blankenstein, † 25.11.1884 Milwaukee/USA; Grabstätte: ebd., Forest Home Cemetary. – Erzählerin u. Journalistin. Die Tochter der Elisabeth Hülswitt u. des Domänenrats Karl Giesler wuchs zunächst auf dem Gut der Großeltern zu Leveringhausen, später in Blankenstein u. Hattingen/ Ruhr auf. Sie erhielt Privatunterricht u. empfing vielseitige Anregungen durch den gebildeten Freundeskreis der Eltern. 1836 heiratete A. den begüterten Weinhändler Alfred von Tabouillot, von dem sie 1843 schuldlos geschieden wurde. Während des langwierigen Scheidungsprozesses begann sie für sich u. die Tochter den Lebensunterhalt durch schriftstellerische u. journalist. Tätigkeit zu verdienen. A.s literar. Aktivitäten beschränkten sich mit der Edition von Gebets- u. Taschenbüchern (Des Christen freudiger Aufblick zum ewigen Vater. Wesel 1839. Westfälisches Jahrbuch. Producte der Rothen Erde. Münster 1846) zunächst auf traditionelle Frauenliteratur. 1842 erschien in Wesel ihr (auch später in den USA) mit Erfolg aufgeführtes Künstlerdrama Oithono oder die Tempelweihe, das an einem oberital. Fürstenhof spielt u. Parallelen zu Goethes Tasso aufweist. 1847 äußerte sie sich in einer Flugschrift zur Verteidigung der

Vormärz-Schriftstellerin Louise Aston mit dem Titel Das Weib im Conflikt mit den socialen Verhältnissen erstmals zur Frauenfrage u. schloss sich der Revolution an. Im Münsteraner »Demokratischen Verein« lernte sie den ehemaligen preuß. Offizier Fritz Anneke kennen, den sie 1847 heiratete (zwei Söhne u. Zwillingstöchter). Mit ihm entfaltete sie eine rege Tätigkeit in der sozialistisch-republikan. Bewegung. In Köln waren die Annekes Mittelpunkt eines Kreises Gleichgesinnter. Als Fritz Anneke 1848 verhaftet wurde, gab A. die von beiden begründete »Neue Kölnische Zeitung« allein heraus – wegen der Zensur zeitweise u. d. T. »Frauen-Zeitung«. Nach Annekes Entlassung nahmen sie 1849 gemeinsam an der Revolution in Baden u. der Pfalz teil, flohen dann nach Straßburg, in die Schweiz u. schließlich in die USA. Dort gründete A. 1852 die erste »Deutsche FrauenZeitung« u. veröffentlichte ihre Memoiren einer Frau aus dem badisch-pfälzischen Feldzuge (Newark 1853. Neudr. Münster 1982). 1860–1865 lebte sie mit der Freundin Mary Booth in der Schweiz, wo A. Erzählungen im Geist der Anti-Sklavenbewegung schrieb, in denen sie insbes. die schutzlos der männl. Lüsternheit preisgegebene Sklavin thematisiert (Die Sclaven-Auction. Gebrochene Ketten. Uhland in Texas. Neudr. in: Gebrochene Ketten. Erzählungen, Reportagen u. Reden 1861–1873. Hg. Maria Wagner. Stgt. 1983). Zu A.s Freundeskreis gehörten Freiligrath, Emma u. Georg Herwegh, Ferdinand Lassalle u. Gräfin Hatzfeld. Nach ihrer Rückkehr in die USA war sie Mitbegründerin einer Mädchenerziehungsanstalt in Milwaukee. In der amerikan. Frauenbewegung stark engagiert, trat A. für Gleichberechtigung u. Stimmrecht der Frau ein. Sie verfasste Erzählungen, Novellen, Gedichte, Kindergeschichten u. Märchen – »[Gebrauchsliteratur] von primär historischem und soziologischem Interesse« (Schäfer, S. 259) –, sowie zahllose Artikel zu Politik, Literatur u. den Frauenrechten in dt. u. amerikan. Periodika. Weitere Werke: Das Geisterhaus v. New York. Jena/Lpz. 1864 (R.). – Herausgeberin: Der Heimatgruß. Wesel 1840. – Der Meister ist da u. rufet Dich.

Annolied Wesel u. Borken 1841. – Damenalmanach. Wesel 1842. Literatur: Regina Ruben: M. F. A., die erste große Verfechterin des Frauenrechts. Hbg. 1906. – Albert Faust: M. F. A.: ›Memoiren einer Frau aus dem Badisch-Pfälzischen Feldzuge‹ and a Sketch of her Career. In: German American Annals. New Series 16 (1918), S. 73–140. – Martin Henkel u. Rolf Taubert: ›Das Weib im Conflict mit den socialen Verhältnissen‹. M. F. A. u. die erste dt. Frauenztg. Bochum 1976. – Maria Wagner: M. F. A. in Selbstzeugnissen u. Dokumenten. Ffm. 1980. – Manfred Gebhardt: M. F. A., Madame, Offizier, Sufragette. Bln./DDR 1980. – Goedeke Forts. – Susanne Kill: Wach geküßt von der Poesie: eine Strategie weibl. Emanzipation in der westfäl. Provinz. In: Bürgerkultur im 19. Jh. Hg. Dieter Hain u. Andreas Schulz. Mchn. 1996, S. 53–65, 318–320. – Gudrun Schäfer: ›Das Weib in Conflict mit den sozialen Verhältnissen‹: M. F. A. (1817–84). In: Perspektiven der Frauenforsch. Hg. Renate v. Bardenleben u. Patricia Plummer. Tüb. 1998, S. 249–264. – Klaus Schmidt: M. F. u. Fritz A. Aus der Pionierzeit v. Demokratie u. Frauenbewegung. Eine Biogr. Köln 1999. – Marion Freund: ›Mag der Thron in Flammen glühn!‹ Schriftstellerinnen u. die Revolution v. 1848/49. Königst./Ts. 2004, S. 37–64. – Susan L. Piepke: M. F. A. (1817–84): The Works and Life of a German Activist. New York 2006. Gisela Brinker-Gabler / Karin Vorderstemann

Annolied, entstanden zwischen 1077 u. 1081. – Frühmittelhochdeutsches Geschichtsepos von 878 Versen. Gegenstand u. Titelfigur des anonym überlieferten A. ist die histor. Person des Kölner Erzbischofs Anno († 1075). Er repräsentierte den in otton. Zeit entstandenen Typus des klass. Reichsbischofs, führte in solcher Funktion 1062–1064 die Reichsgeschäfte, war als Erzieher des jungen Heinrich IV. tätig u. trat durch verschiedene Klostergründungen hervor (die wichtigste: Siegburg 1064). So konfliktreich sein Wirken war, so zwiespältig sein Bild bei den Zeitgenossen: hier der fromme Reformer, Kirchen- u. Klosterbauer, dort der habgierige Machtpolitiker, der den von ihm selbst hauptverschuldeten Kölner Aufstand von 1074 brutal niedergeschlagen hatte; noch die 1183/86 vollzogene Heiligsprechung war anscheinend heftig umstrit-

170

ten. Da im Text von der augenblicklich in Mainz stattfindenden Königsweihe die Rede ist (31, 13), dürfte das A. zwischen 1077 (Krönung des Gegenkönigs Rudolf von Rheinfelden in Mainz) u. 1081 (Krönung des Gegenkönigs Hermann von Salm in Goslar) entstanden sein – vielleicht im Siegburger Umkreis, aber mit Blick einerseits auf das Kölner Stadtbürgertum (Abschnitt 7 bietet eine ausführl. Eloge auf Köln), andererseits auf eine überregionale Wirkung (die Mundart deutet nicht auf den mittelfränk. Köln-Siegburger Raum, sondern auf den osthessischthüringischen zwischen Hersfeld, Saalfeld u. Bamberg). Das A. ist in keiner mittelalterl. Handschrift, sondern erst in frühneuzeitl. Editionen erhalten: 50 Verse bei dem Humanisten Bonaventura Vulcanius (1597), 878 Verse, wohl der vollständige Text, in einer philologisch eindrucksvollen Ausgabe durch den schles. Dichter u. Gelehrten Martin Opitz (1639). Beide bezeichnen den Text als »rhythmus« u. stellen ihn damit in die Nähe der akzentuierend-alternierend verfassten mlat. Versdichtung. Vermutlich schon dem Originaltext zu eigen war eine Unterteilung in 49 Abschnitte wechselnder Länge (6–28 Verse). Sie dient u. a. der Markierung der drei Teile des Textes, in denen Traditionen der Weltchronistik, der Kirchengeschichte u. der Hagiografie zusammenlaufen: Im siebten Abschnitt, am Scharnier zwischen der zunächst allgemein entwickelten Heilsgeschichte (2–7) u. der dann folgenden Weltgeschichte (8–33), nennt der Autor Anno als hl. Bischof von Köln, später erweist er sich als siebter Heiliger unter den Nachfolgern der zur Mission ausgesandten Frankenapostel; im 17. Abschnitt, in der Mitte der ersten beiden historiograf. Durchgänge, erfolgt ein Ausblick auf die Endzeit; im 33. Abschnitt, am Übergang einerseits vom letzten Weltreich zum Imperium christianum, andererseits vom historio- zum hagiograf. Teil (34–49), wird Anno als 33. Bischof von Köln präsentiert. Einen programmat. Anspruch auf die Verknüpfung von Heils-, Welt- u. Lokalgeschichte formuliert bereits der Prolog. Heldenepische Dichtung (»Wir hôrten ie dikke

171

singen / von alten dingen«, 1, 1 f.) erscheint hier als traditionelle Form, Vergangenheit u. Veränderlichkeit (Zerstörung von Burgen, Ende von Freundschaften, Untergang von Königsmacht) zu erfassen. Von dieser Form her wird die Notwendigkeit begründet, nicht nur an die Vergangenheit, sondern auch an die Zukunft zu denken, konkret: sich auf die von Christus u. in dessen Nachfolge von Anno als »Cristis bilide« sinnhaft vorgelebte Heilsu. Erlösungserwartung zu konzentrieren. Es deutet sich damit eine Durchdringung der Zeitstufen an, die das A. im Ganzen prägt u. die im Rahmen der im zweiten Abschnitt erzählten Schöpfungsgeschichte eine theologisch-anthropolog. Basis erhält: Zwei Welten hat Gott geschaffen, eine sinnlich-materielle u. eine übersinnlich-geistige, zusammengeführt u. aufgehoben im Menschen, der gemäß dem Johannesevangelium an beiden Anteil hat, als Mikrokosmos eine Körper u. Geist vereinende »dritte werilde« ist. Dies wird im Folgenden im Doppelschritt von Welt- u. Heilsgeschichte, von universalem Zeitenplan u. individuellem Heilsweg entfaltet. In Anno als privilegiertem Medium zwischen Mensch u. Gott realisiert sich die Wiedergewinnung der Erlösung, kommt die durch den menschl. Sündenfall bewirkte Unordnung der Schöpfung (Abschnitte 3/4) zur Aufhebung. In direktem Anschluss sind aber auch mit Christus, den Aposteln u. den trojan. Franken die tragenden Größen der christl. Weltgeschichte im Blick. Der profanhistor. Teil beginnt mit Ninus, dem sagenhaften Begründer des assyr. Reichs, fährt fort mit Nimrod u. dem Bau des babylon. Turms u. erzählt die weitere Geschichte (darunter die als veritabler Miniaturroman gebotene Herrschaft Alexanders des Großen) bis hin zum röm. Reich als Vision Daniels von den vier apokalypt. Tieren (Dan. 7) u. den ihnen entsprechenden Reichen. Das A. bietet seit der Spätantike die erste Anverwandlung dieser Tradition u. setzt zgl. eigene Akzente: Die Folge der Reiche wird eher als Entwicklungs- denn als Verfallsgeschichte geboten u. das mit ihnen verknüpfte Motiv der zehn Hörner gegen die exeget. Tradition nicht auf die endzeitl. Nachfolger des zerbrechenden Römerreichs gedeutet. Eigen-

Annolied

willig ist auch das Folgende: eine lockere Inbezugsetzung der vier Reiche zu vier Völkern aus »deutschen Landen« – Schwaben, Baiern, Sachsen, Franken –, für die das A. teilweise die älteste Überlieferung von Ursprungssagen bietet. Diese vier Völker, kulminierend im Reichsvolk der Franken, seien nach ihrer Unterwerfung durch Caesar diesem bei der Errichtung des röm. Imperiums zu Hilfe gekommen u. hätten so wesentlich zur Konstitution des Hl. Röm. Reiches beigetragen. Der Gedanke einer »translatio imperii« erübrigt sich damit. Auch der Papst als Vermittlungsinstanz kann aus dem Spiel bleiben. Das A. stiftet eine zgl. historische u. gegenwartsbezogene Kontinuität, die keine Brüche u. Neuanfänge kennt, sich vielmehr als Verflechtung geistlicher u. weltl. Mächte vollzieht. In diesem Sinne tritt mit der Geburt Christi zur Zeit des Augustus die Kirchengeschichte in den Vordergrund (31), beginnt ein »niuwes kunincrîchi«, das alle anderen überragt u. transzendiert. Seine Verkörperung findet es in der Geschichte Annos, der – als »spiegil« u. »bîspili« – in seiner individuellen Frömmigkeit u. der Selbstüberwindung zur Demutshaltung (gegenüber den aufsässigen Kölner Bürgern) den Weg weist in das »paradysi lante« (Schluss). Während das A. für die ersten beiden Teile auf allgemeines mittelalterl. Bildungsgut zurückgreift (Vergil, Lucan, Boethius, Alexanderroman), steht der Annoteil mit zeitgenössischer Historiografie in Verbindung: der rheinisch-lothring. Bistums- u. Klosterchronistik, insbes. den Annalen des Lampert von Hersfeld u. der älteren (wohl schon bald nach Annos Tod geschriebenen) Vita Annonis des Siegburger Abtes Reginhard. Auffällig ist indes allenthalben die eigenständige Aufnahme, Verfugung u. Zuspitzung der Muster im A. Die jüngere lat. Vita (kurz vor 1105) u. die Gesta Treverorum (kurz vor 1100) scheinen dann ihrerseits den dt. Text benutzt zu haben – wie auch die Kaiserchronik (um 1150), die 225 Verse für den Eingangsteil (zum Verhältnis zwischen Caesar u. den Völkern aus »deutschen Landen«) übernahm u. damit einem der originellsten Momente des Textes auch noch im Spätmittelalter einige indirekte Wirkung verschaffte. Dass die im Zuge der

Anonymus Neveleti

172

Heiligsprechung 1183/86 entstandenen Texte keinen Rückgriff auf das A. erkennen lassen, zeigt aber auch, in welchen Grenzen die Ausstrahlung dieses singulären Stücks lokaler u. zgl. globaler Geschichtsschreibung verlief. Ausgaben: Das A. Hg. Martin Opitz. Ulm 1639. Diplomat. Abdr. besorgt v. Walter Bulst. Heidelb. 3 1976. – Das A. Mhd. u. nhd. hg., übers. u. komm. v. Eberhard Nellmann. Stgt. 41994. – A. In: Frühe dt. u. lat. Lit. in Dtschld. 800–1150. Hg. Walter Haug u. Benedikt Konrad Vollmann. Ffm. 1991, S. 596–647, 1425–1449 (mit Übers.). Literatur: Doris Knab: Das A. Probleme seiner literar. Einordnung. Tüb. 1962. – Hans-Friedrich Reske: Das A. In: FS Wolfgang Mohr. Göpp. 1972, S. 27–69. – Heinz Thomas: Bemerkungen zu Datierung, Gestalt u. Gehalt des A. In: ZfdPh 97 (1977), S. 24–61. – Eberhard Nellmann: A. In: VL. – Ursula Liebertz-Grün: Zum A. In: Euph. 74 (1980), S. 223–256. – Thomas Klein: Zur Sprache u. Herkunft des A. In: FS E. Nellmann. Göpp. 1995, S. 1–36. – Stephanie Coué: Hagiographie im Kontext. Bln./New York 1997. – Stephan Müller: Vom A. zur Kaiserchronik. Heidelb. 1999. – Mathias Herweg: Ludwigslied, De Heinrico, A. Wiesb. 2002. – Susanne Bürkle: Erzählen vom Ursprung. In: Präsenz des Mythos. Hg. Udo Friedrich u. Bruno Quast. Bln./New York 2004, S. 99–130. – Uta Goerlitz: [...]. Analysen u. Interpr.en zur literar. Konstruktion (vor-)nationaler Identität in der dt. Lit. seit dem A. (11.-16. Jh). Bln./New York 2007. Christian Kiening

Anonymus Neveleti, zweite Hälfte 12. Jh. – Mittelalterliche Fabelsammlung. Die Fabelsammlung – eine der wirkungsmächtigsten des MA – verdankt ihre Bezeichnung dem Herausgeber Isaac Neveletus, der sie in seine Mythologia Aesopica (Ffm. 1610) aufnahm. Der Verfasser, in Handschriften vereinzelt als Gualterus Anglicus (Walther von England) bezeichnet, wurde wiederholt mit dem Hofkaplan Heinrichs II. von England identifiziert, dieser wiederum – zu Unrecht – mit Walther, Bischof von Palermo. Solche Annahmen beruhen, wie bereits Lessing erkannte, auf unsicheren Grundlagen. Vorlage für die 60 lat. Kurzgedichte in Distichen war der sog. Romulus, eine vermutlich im 5. Jh. in Gallien entstandene Zusammenstellung von 98 Prosafabeln, in de-

nen der röm. Dichter Phaedrus paraphrasiert wird. Vor allem in der Versifizierung des A. N. bildete der Romulus die einzige Quelle, durch die Phaedrus im MA fortlebte. Denn nachdem die – einem anderen Überlieferungszweig entstammende – Fabelsammlung Avians (Ende 4. Jh.) als Schullektüre diskreditiert worden war, galten die Fabeln des A. N. dem späteren MA als »der Äsop« schlechthin. Dies bezeugen alle wichtigen Unterrichtsprogramme u. Lektürelisten (u. a. bei Hugo von Trimberg u. Eberhardus Alemannus) ebenso wie die Aufnahme in das Schulbuch Octo Auctores sowie annähernd 200 Handschriften (oft mit Verständnishilfen für den Lateinunterricht) u. etwa 34 Inkunabeln. Auch für die volkssprachl. Rezeption der Fabeln des »Äsop« (mit Übersetzungen ins Altfranzösische, Italienische u. Spanische) ist der A. N. von entscheidender Bedeutung. In der deutschsprachigen Literatur wirkte er als eine der Hauptquellen von Boners Fabelsammlung Der Edelstein weiter (Mitte 14. Jh.); über das MA hinaus fand daneben eine dt. Übersetzung in Heinrich Steinhöwels Esopus (um 1476) weite Verbreitung. Ausgaben: Wendelin Foerster (Hg.): Lyoner Yzopet. Altfrz. Übers. des 13. Jh. Mit dem krit. Text des lat. Originals, sog. A. N. Heilbr. 1882. Neudr. Wiesb. 1968, S. 96–137 (u. a. unter: www1.unihamburg.de/disticha-catonis/homepage/anonymus.html). – Léopold Hervieux (Hg.): Les fabulistes latins. Paris 1884. 21893/94. Neudr. Hildesh. 1970. Bd. 1, S. 472–668; Bd. 2, S. 316–392. – Georg Thiele (Hg.): Der Lat. Äsop des Romulus u. die Prosa-Fassungen des Phaedrus. Heidelb. 1910 (krit. Ausg.). – Aaron E. Wright (Hg.): Gualterus Anglicus. The Fables of ›Walter of England‹. Edited from Wolfenb. Codex Guelf. 185 Helmst. Toronto 1997 (mit Einl., Lit. sowie den Glossen u. Kommentaren des Kodex). – Ronald E. Pepin (Hg.): An English Translation of ›Auctores Octo‹, a Medieval Reader. Lewiston u. a. 1999, S. 177–212 (engl. Übers. des A. N.). Literatur: Gotthold E. Lessing: Ueber den Anonymus des Nevelet. (Zur Gesch. u. Litteratur. Fünfter Beytrag. Nr. 22). In: Sämtl. Schr.en. Hg. Karl Lachmann. Bd. 14, Stgt. 31898, S. 33–42. – Klaus Grubmüller: Meister Esopus. Mchn. 1977, S. 58–85. – Bruno W. Häuptli: Walter v. Palermo. In: Bautz. – Gerd Dicke: Äsop. In: VL (Nachträge u. Korrekturen). Anette Syndikus

173

Anshelm, Valerius, eigentl.: Valerius Rüd oder Ryd, * um 1475 Rottweil, † zwischen 1.8.1546 u. 21.2.1547 Bern. – Humanist u. Berner Chronist.

Anton Ulrich Literatur: Marianne Cornely: V. A. u. seine Berner Chronik. Diss. Heidelb. 1946. – Franz Moser: V. A.s Staats- u. Geschichtsauffassung. In: Archiv des Histor. Vereins des Kantons Bern 39 (1948), S. 273–289. – Franz Moser: V. A. In: NDB. – Maria Grazia Huber-Ravazzi: Die Darstellung der Umwelt der Eidgenossenschaft [...] in der Berner Chronik des V. A. Diss. Zürich 1976. – Richard Feller u. Edgar Bonjour: V. A. In: Dies.: Geschichtsschreibung der Schweiz [...]. Bd. 1, Basel/ Stgt. 21979, S. 165–174. – Pia Holenstein in: DDL. – Arnold Esch: Wahrnehmung sozialen u. polit. Wandels in Bern an der Wende v. MA zur Neuzeit: Thüring Fricker u. V. A. In: Alltag der Entscheidung. Beiträge zur Gesch. der Schweiz an der Wende vom MA zur Neuzeit. Bern u. a. 1998, S. 87–136. – Ernst Schläppi: Vom Freiheitstraum zum Glaubensstreit. Reformationszeit im Berneroberland [...]. Interlaken 2000. – Urs Martin Zahnd: ›Wir sind willens ein kronick beschriben ze lassen‹. Bernische Geschichtsschreibung im 16. u. 17. Jh. In: Berner Ztschr. für Gesch. u. Heimatkunde 67/1 (2005), S. 37–61. Hellmut Thomke / Red.

A. studierte in Krakau (1493–1495) u. Tübingen (1496–1499). 1501 folgte ein Studienaufenthalt in Lyon. 1505 wurde A. Vorsteher der Lateinschule in Bern, von 1509 bis 1520 amtierte er als Stadtarzt. A. gehörte zu den ersten Befürwortern der Reformation u. wurde 1525 aus Bern vertrieben; er war mit Berchtold Haller u. Niklaus Manuel, auch mit Huldrych Zwingli u. Joachim Vadianus befreundet. 1529 nach Bern, das 1528 für die Reformation gewonnen wurde, zurückgerufen, begann A., im Auftrag des Rates die amtl. Berner Chronik (sie umfasst die Zeit von 1036 bis 1536) fortzuführen; in den Jahren 1535–1537 amtierte er erneut als Stadtarzt. A.s Berner Chronik (Hg. Eduard Bloesch. Bde. 1–6, Bern 1884–1901. Erg. durch Theodor de Quervain: Kirchliche und soziale Zustände in Bern unmittelbar nach der Reformation. Bern 1906, S. 247–275; vorher ungedruckt) gehört Anton Ulrich , Herzog zu Braunschweig zu den hervorragenden Zeugnissen der und Lüneburg, * 4.10.1633 Hitzacker, schweizerischen Chronistik. In der Darstel- † 27.3.1714 Salzdahlum bei Wolfenbütlung der älteren Zeiten brachte A. v. a. Nach- tel; Grabstätte: Wolfenbüttel, herzogliche träge u. Korrekturen zu den Chroniken Gruft in der Kirche Beatae Mariae VirgiKonrad Justingers u. Diebold Schillings. Der nis. – Verfasser von geistlichen Liedern, Bericht über die Zeit von den Burgunder- Theaterstücken u. Romanen. kriegen bis zur Reformation (1477–1526, lü- A. U. war der zweite (überlebende) Sohn ckenhaft weitergeführt bis 1536) ist sein ei- Herzog Augusts d.J., der 1635 die Regierung gentliches Werk. angetreten hatte u. zunächst in BraunDie Schulung an antiken Vorbildern verrät schweig, dann von 1643 an in Wolfenbüttel sich in Syntax u. Rhetorik der zuweilen stei- residierte. August machte Wolfenbüttel zu fen, aber doch eindrücklichen alemann. Pro- einem kulturellen Mittelpunkt u. ließ seinen sa. Gestützt auf Urkunden, literar. u. mündl. Kindern eine anspruchsvolle Erziehung anÜberlieferung, vermittelt A.s annalist. Chro- gedeihen. 1638 holte er Justus Georg Schotnik ein von reformatorischem Geist u. sittl. telius als Lehrer an den Hof; 1645 wurde Ernst geprägtes Bild erlebter Berner Ge- dazu noch Sigmund von Birken vorübergeschichte im Rahmen der Weltgeschichte. Mit hend mit Erziehungsaufgaben betraut. Auch dem Bemühen um geschichtl. Treue verbin- die Kavalierstour, die A. U. 1655/56 über det sich der Zorn über Missstände der Zeit, Straßburg nach Paris führte, brachte künstzumal über den Reislauf (Dienst von lerische u. literar. Anregungen: Er kaufte Schweizern in Söldnertruppen fremder Staa- Gemälde u. andere Kunstgegenstände, besuchte häufig das Theater u. lernte Madeleine ten) u. die Unterwerfung unter Frankreich. Weitere Werke: Einblattkalender auf das Jahr de Scudéry, die berühmte Romanschriftstel1539. Bern o. J. (1538); Abb. in: DDL. – Catalogus lerin, kennen. Zgl. bemühte er sich, die Reiannorum et principum [...]. Bern 1540 (nach der sekasse überfordernd, sein kleines HerzogVorr. abgef. seit 1510). 21550. Ital. Venedig 1544. tum würdig zu vertreten: »Es gehet mir ietz

Anton Ulrich

gar zu elend, da ich etliche wochen ohne geld hie leben müssen, und noch von einem neüen wexel weder höre noch sehe. Wo ich nicht bald hülf bekomme, weis ich mich für schimpf nicht länger zu erretten«, schrieb er 1655. Die Begegnung mit der überlegenen frz. höf. Kultur führte zunächst zu einer Hinwendung zum Theater: Nach der Rückkehr aus Paris schrieb er anlässlich seiner Hochzeit (17.8.1656) mit Elisabeth Juliane von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Norburg sein erstes Bühnenwerk. Auch bei Bauprojekten orientierte sich A. U. am Lebensstil des frz. Absolutismus. Daneben freilich traten, durch Reisen nach Venedig u. Rom angeregt, ital. Einflüsse (Aufführungen ital. Opern in Wolfenbüttel, Bau von Opernhäusern in Wolfenbüttel u. Braunschweig sowie des Schlosses Salzdahlum). Als sein Vater 1666 starb, übernahm der älteste Sohn Rudolf August die Herrschaft, doch wurde A. U. in die Leitung der Staatsgeschäfte einbezogen, zunächst inoffiziell, seit 1685 als Mitregent. Er spielte bald die führende Rolle; nach dem Tod seines Bruders übernahm er 1704 die alleinige Regentschaft. 1710 trat er öffentlich zum Katholizismus über: »dazu hat mein Gewissen mich getrieben«, schrieb er selbst am 11.4.1710, polit. Beweggründe – Hoffnung auf das Bistum Hildesheim bzw. auf das Erzbistum Köln mit der damit verbundenen Kurwürde – vermuteten Zeitgenossen. Der Glaubenswechsel betraf seine Untertanen nicht, ist aber durchaus im Zusammenhang mit dynast. Ambitionen zu sehen, die nicht zuletzt dazu führten, dass die Enkelin A. U.s Ehefrau Karls VI. werden konnte. Am Anfang des literar. Schaffens A. U.s steht die Lieddichtung, ein handschriftl. Band Himlischer Lieder, die der streng lutherisch erzogene Prinz seinem Vater zum Neujahrstag 1655 überreichte: 34 Texte zur Andacht u. Meditation mit Anklängen an die Brautmystik des Hohenliedes, Psalmenparaphrasen, fromme Lebensmaximen, Selbstreflexionen, Gedanken über die Unbeständigkeit u. Vergänglichkeit der Welt, Todesbetrachtungen. Diese Liedersammlung wurde mit einigen zusätzl. Texten 1665 gedruckt; weitere, wiederum vermehrte u. von Birken

174

stilistisch geglättete Ausgaben erschienen seit 1667 in Nürnberg unter dem neuen Titel Christ-Fürstliches Davids-Harpfen-Spiel. A. U.s Stiefmutter Sophie Elisabeth komponierte die Melodien (vgl. Krummacher 2005, S. 5 f. u. 26 ff.). Mit dem Frühlings-Ballet (Wolfenb. 1656) zu seiner Hochzeit beginnt die Reihe von A. U.s Balletten u. Singspielen. Diese Gelegenheitsarbeiten geben einen Eindruck von den kulturellen Bemühungen an einem kleinen dt. Hof im Zeitalter des Absolutismus u. zeigen, wie man sich an den mod. Formen des höf. Theaters (Singspiel, Sing-Ballett, »Masquerade«) orientierte. A. U. greift dabei neben christlich-allegorischen, bibl. u. antiken auch dt. Stoffe auf (Die Verstörte Irmenseul; oder Das Bekehrte Sachsenland. o. O. um 1670). Alle Stücke erschienen anonym; für einige der 17 Texte, die in der krit. Ausgabe enthalten sind, ist A. U.s Verfasserschaft nicht zweifelsfrei gesichert. Seine letzte Schaffensperiode ist zwei großen Romanen gewidmet, die zu den bedeutendsten Leistungen der Romankunst des 17. Jh. gehören: Die Durchleuchtige Syrerinn Aramena (Nürnb. 1669–73) u. Octavia Römische Geschichte (Nürnb. 1677 ff.). Dabei muss als Mitarbeiter wieder Birken genannt werden, der in Nürnberg die Manuskripte für den Druck überarbeitete. (Tagebucheintrag vom 16.1.1671: »An Aram. 6 Bl. ümgeschrieben«; vom 17.1.1671: »An Aram. 2 Bl. revidirt«; auch an anderen Stellen in Birkens Tagebüchern sowie in dessen Korrespondenz mit C. R. von Greiffenberg finden sich wichtige, seinen Einfluss dokumentierende Hinweise.) Überdies leitete er die Aramena mit einer romantheoretisch beachtl. »Vor-Ansprache« ein. Dass die Arbeit an der Octavia nach dem 3. Band (1679) zunächst unterbrochen wurde – die folgenden Bände erschienen erst von 1703 an –, mag u. a. auch mit Birkens Tod (1681) zusammenhängen. Die komplexe Handlung der Aramena (5 Bde., über 3800 S.) führt in den Nahen Osten – vorwiegend nach Syrien u. Mesopotamien – u. spielt zur Zeit der alttestamentar. Patriarchen (Bd. 5, Mesopotamische Schäferei überschrieben, enthält »Biblische Geschichten« um Jacob, Rahel, Lea u. a.). Vorbild für die

175

(scheinbar) verwirrende Romankomposition war das Werk des frz. Romanciers Gautier Coste de La Calprenède, der das für den höf. Barockroman grundlegende Handlungs- u. Formschema des hellenist. Romans – als Muster galt Heliodors Aithiopika aus dem 3. Jh. n. Chr. – entscheidend erweiterte. Statt von Trennung, Abenteuern u. glückl. Vereinigung nur eines Liebespaares erzählt nun die Aramena die Geschicke von 27 Paaren – darunter die der syr. Prinzessin Aramena u. des dt. Keltenfürsten Marsius. Ihre Lebensgeschichten werden kunstvoll miteinander verflochten u. abschließenden Massenhochzeiten zugeführt, wobei die Liebeshandlungen durch die hohe Stellung der Personen immer auch polit. Implikationen haben. Die Aramena enthält insg. 36 Vor- oder Lebensgeschichten, die durch den Einsatz der Romanhandlung mitten im schon weit fortgeschrittenen Geschehen (Einsatz mediis in rebus) erforderlich werden. Sie dienen – neben eingeplanter weiterer Verwirrung des Lesers u. der betroffenen Romanpersonen – letztlich der allmähl. Enthüllung zurückliegenden Geschehens u. verborgener Zusammenhänge, bis schließlich alle verwirrungstiftenden Identitätsprobleme gelöst, das Spiel mit Sein u. Schein beendet u. hinter der scheinbar chaot. Welt das Wirken der Providenz sichtbar wird. Erst vom Schluss her erhält die kombinator. Struktur des Romans ihren Sinn. Dass dieses »künstliche zerrütten / voll schönster ordnung ist«, erkannten schon zeitgenöss. Leser wie Catharina Regina von Greiffenberg, die das Werk in einem dem dritten Band (1671) vorangestellten Gedicht als Abbild der göttl. Weltordnung beschreibt. Ihre Gedanken über den Roman als dichter. Theodizee werden später von Gottfried Wilhelm Leibniz weitergeführt, wenn er in Briefen an A. U. auf die Parallelität von kunstvoller Romanstruktur u. Geschichte, von allwissendem Romanautor u. Gott zu sprechen kommt. Die Octavia, A. U.s zweites u. noch ehrgeizigeres Romanprojekt, blieb sowohl in der Nürnberger Ausgabe von 1677–1707 als auch in der überarbeiteten u. vermehrten Fassung von 1712 unvollendet. Der die zahllosen Handlungsfäden zusammenführende Ab-

Anton Ulrich

schluss ist auch nach annähernd 7000 Seiten nicht erreicht (vgl. zu den Umständen der Entstehung sowie zur Druckgeschichte u. Überlieferung HKA III,1, S. XX-CXXIII). Eine stärker psychologisierende Darstellungsweise u. v. a. die histor. Fundierung des Geschehens unterscheiden die Römische Geschichte, in deren Mittelpunkt die Liebe des armen. Königs Tyridates u. der Kaiserin Octavia steht, von dem früheren Roman. Durch die komplexen persönl. Verflechtungen weitet sich die Darstellung Roms unter Nero u. seinen Nachfolgern zu einer Geschichte der damals bekannten Welt. Verbunden damit ist die Geschichte der christl. Gemeinden der Zeit, die sich in Rom u. einigen Städten des nahen Ostens in Katakomben zurückgezogen haben, um den Verfolgungen zu entgehen u. den Sieg des christl. Glaubens vorzubereiten. Die geschichtl. Fakten, die A. U. röm. Geschichtsschreibern u. Antonio Bosios Darstellung des unterirdischen Roms (Roma sotterranea. 1632) verdankt, werden in die kombinator. Romankomposition hineingenommen. Dabei steigert A. U. das verwirrende Spiel noch dadurch, dass er Personen u. Ereignisse der Gegenwart, aktuelle Hofgeschichten verschlüsselt einarbeitet. Wenn Birken in der Vor-Ansprache zur Aramena die »Fürstlichen Geschichten« als »rechte Hofund Adels-Schulen«, als »Hof- und WeltSpiegel« u. »Staats-Lehrstul« beschreibt, so gilt das auch für die Octavia. Die höf. Kultur ist selbstverständl. Grundlage für A. U.s Romane. Was die Greiffenberg u. Leibniz als Roman der Theodizee interpretieren, ist zgl. bewusste Standeskunst, idealisierte Selbstdarstellung der fürstlich-absolutist. Welt. Diese Kunst stieß hundert Jahre später nur noch auf wenig Verständnis. Der Versuch Sophie Albrechts, die Aramena [...] ganz für unsre Zeiten zu bearbeiten, wurde von der aufklärer. Kritik verworfen. Ausgaben: Historisch-kritische Ausgaben: Werke. Im Auftrag der Akademie der Wiss.en u. der Lit. zu Mainz u. der Herzog August Bibl. Wolfenbüttel hg. v. Rolf Tarot in Verb. mit Hans-Henrik Krummacher Stgt. 1982 ff. – Briefe: Leibnizens Briefw. mit dem Hzg. A. U. v. B.-Wolfenbüttel. Hg. Eduard Bodemann. In: Ztschr. des histor. Vereins für Niedersachsen 1888, S. 73–244. – Einzelwerke, spätere

Anton Ulrich Ausgaben: Aramena eine Syr. Gesch. ganz für unsre Zeiten umgearbeitet v. S. A. (= Sophie Albrecht). 3 Bde., Bln. 1782–86. – Geistl. Lieder. Ausgew. u. hg. v. Hermann Wendebourg. Halle 1856. – Der Hoffman Daniel. In: Dt. Lit. in Entwicklungsreihen, Barockdrama. Bd. 5: Die Oper. Hg. Willi Flemming. 1933. 21965. – Iphigenia. Ein Singe-Spiel. Hg. Bernhard Mewes. Braunschw. 1965. – Himl. Lieder. Christfürstl. Davids-Harpfen-Spiel. Mit einer Einf. v. Blake Lee Spahr. New York/London 1969. – Die durchleuchtige Syrerinn Aramena. Hg. ders. 5 Bde., Bern/Ffm./Las Vegas 1975–83. – A. U. Hzg. v. B.-L.: Solane u. Rhodogune: die zwei Gesch.n der einen Sophie Dorothée Prinzessin v. Ahlden. Mit einem editor. Vorbericht hg. v. Jeanne Vandré; Überleitungen u. Anhang v. Maria Munding. Hann. 1996. Literatur: Bibliografien: Wolfgang Bender: Hzg. A. U. v. B.-Wolfenbüttel. Biogr. u. Bibliogr. zu seinem 250. Todestag. In: Philobiblon 8 (1964), S. 166–187. – Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 1, S. 294–313. – Pyritz 2, S. 25–29. – Weitere Titel: Leo Cholevius: Die bedeutendsten dt. Romane des 17. Jh. Lpz. 1866. Neudr. Darmst. 1965, S. 176–310. – Clemens Lugowski: Die märchenhafte Enträtselung der Wirklichkeit im heroisch-galanten Roman. In: Ders.: Wirklichkeit u. Dichtung. Untersuchungen zur Wirklichkeitsauffassung Heinrich v. Kleists. Ffm. 1936, S. 1–25. – Elisabeth Erbeling: Frauengestalten in der ›Octavia‹ des A. U. v. B. Bln. 1939. Neudr. Nendeln 1967. – Clemens Heselhaus: A. U.s ›Aramena‹. Studien zur dichter. Struktur des dt.-barocken ›Geschichtgedicht‹. Würzb. 1939. – W. Bender: Verwirrung u. Entwirrung in der ›Octavia/Roemische Geschichte‹ Hzg. A. U.s v. B. Diss. Köln 1964. – Blake Lee Spahr: A. U. and Aramena: the genesis and development of a baroque novel. Berkeley/Los Angeles 1966. – Adolf Haslinger: Ep. Formen im höf. Barockroman. A. U.s Romane als Modell. Mchn. 1970. – Fritz Martini: Der Tod Neros. Suetonius, A. U. v. B., Sigmund v. Birken oder: Histor. Bericht, erzähler. Fiktion u. Stil der frühen Aufklärung. In: Probleme des Erzählens in der Weltlit. FS Käte Hamburger. Hg. ders. Stgt. 1971, S. 22–86. – Gerhard Gerkens: Das fürstl. Lustschloß Salzdahlum u. sein Erbauer Hzg. A. U. v. B.Wolfenbüttel. Braunschw. 1974. – Maria Munding: Zur Entstehung der Römischen Octavia. Diss. Mchn. 1974. – Giles R. Hoyt: The development of A. U.’s narrative prose on the basis of surviving ›Octavia‹ manuscripts and prints. Bonn 1977. – Etienne Mazingue: A. U. duc de B.-Wolfenbüttel (1633–1714) un prince romancier au XVIIe siècle. 2 Bde., Bern/Ffm. 1978. – Hzg. A. U. v. B.: Leben u. Regieren mit der Kunst. Braunschw. 1983 (Aus-

176 stellungskat.). – Blake Lee Spahr: Hzg. A. U. v. B.-L. In: Dt. Dichter des 17. Jh. Hg. Harald Steinhagen u. Benno v. Wiese. Bln. 1984, S. 597–614. – Sara C. Dewhirst: The provoked prince, or: Virtue tested: politics and festivities in the Duchy of BrunswickWolfenbüttel. In: MLR 80 (1985), S. 80–89. – JeanMarie Valentin (Hg.): ›Monarchus Poeta‹. Studien zum Leben u. Werk A. U.s v. B.-L. Amsterd. 1985. – Hans Pleschinski: Der Holzvulkan. Bericht einer Biogr. Zürich 1986. Braunschw. 1995. – M. Munding: A. U.s v. B.-L. ›Octavia‹-Roman: zu den drei Fassungen u. ihrer Präsentation in der Hist.-krit. Ausg. In: Editio 1 (1987), S. 159–183. – Rolf Tarot: Die Ed. der handschriftl. Urfassung v. A. U.s ›Römischer Octavia‹. In: Edition et manuscrits – Probleme der Prosa-Ed. Hg. Michael Werner u. Winfried Woesler. Bern 1987, S. 176–281. – W. F. Bender: A. U. Hzg. v. B.-L. In: Dt. Dichter. Hg. Gunter E. Grimm u. Frank Rainer Max. Bd. 2, Stgt. 1988, S. 331–340. – Gudrun Busch: Herzogin Elisabeth u. die Musik der Lieder in den Singspielen Hzg. A. U.s zu B. u. L. In: Studien zum dt. weltl. Kunstlied des 17. u. 18. Jh. Hg. dies. u. Anthony J. Harper. Amsterd. 1992, S. 127–182. – Karl Wilhelm Geck: Sophie Elisabeth Herzogin zu Braunschweig u. Lüneburg (1613–76) als Musikerin. Saarbr. 1992 (bes. S. 226–264). – Hans-Henrik Krummacher: A. U. In: LThK 31993, Bd. 1, Sp. 780. – M. Munding: A. U. In: Reclams Romanlexikon. Hg. Frank R. Max u. Christine Ruhrberg. Bd. 1, Stgt. 1998, S. 226–231. – H.-H. Krummacher: Der Autor u. sein Text im 17. Jh. Probleme der Überlieferung u. der Autorisation am Beispiel des Hzg.s A. U. v. B.-L. u. anderer Autoren. In: Zur Überlieferung, Kritik u. Ed. alter u. neuerer Texte. Hg. Kurt Gärtner u. ders. Mainz 2000, S. 189–222. – Martin Disselkamp: Barockheroismus: Konzeptionen ›politischer‹ Größe in Lit. u. Traktatistik des 17. Jh. Tüb. 2002. – Stephan Kraft: Höf. Barockroman u. gelehrter Traktat: Gratwanderungen zwischen honnêté u. Pedanterie. In: Zeitsprünge 4 (2000), H. 3, S. 211–229. – Arnd Beise: Die Hofbühne als pädagog. Anstalt: Stieler, A. U., Knorr v. Rosenroth. In: Morgen-Glantz 12 (2002), S. 167–187. – J.-M. Valentin: Saxonia conversa: les avatars d’un thème politique et littéraire au XVIIe siècle en Europe; Caussin, Avancini, A. U. In: Ders.: L’école, la ville, la cour [...]. Paris 2004, S. 291–386. – S. Kraft: Geschlossenheit u. Offenheit der ›Römischen Octavia‹ v. Hzg. A. U.: ›der roman macht ahn die ewigkeit gedencken, den er nimbt kein endt‹. Würzb. 2004. – Kurt Adel: Novellen des Hzg.s A. U. v. B.-Wolfenbüttel. In: Ders.: Von Sprache u. Dichtung. Ffm. 2004, S. 141–165. – H.-H. Krummacher: Exercitia artis et pietatis: die geistl. Gedichte des Hzg.s A. U. zu B.-L. Wien 2005. – Regine

177 Marth: A. U. In: Braunschweig. Biogr. Lexikon. Hg. Horst-Rüdiger Jarck u. a. Braunschw. 2006, S. 46–47. – M. Munding: Die Pfalzgräfin Elisabeth u. Hzg. A. U. In: Akten der Tagung zur Pfalzgräfin Elisabeth (in Vorb.). Volker Meid / Anett Lütteken

Antonius von Pforr, * in Breisach, † 1483. – Übersetzer. Angesehenem Breisacher Patriziergeschlecht entstammend, ist A. 1436 zum ersten Mal in Jechtingen als Kaplan, seit 1455 dann auch als Dekan u. Kirchherr am Oberrhein (v. a. in Endingen u. Müllheim) urkundlich nachgewiesen. Von den 1460er Jahren an war er als geistlicher Rat, Rechtsberater u. Schlichter im Dienste von Herzog Albrecht von Österreich u. v. a. von dessen Frau Erzherzogin Mechthild tätig. In ihrem der Literaturpflege gewidmeten Rottenburger Umfeld mag er in Kontakt mit dem Rektor der Freiburger Universität Matthäus Hummel u. vielleicht auch dem Esslinger Stadtschreiber Niklas von Wyle gekommen sein. Mechthild setzte A. zu einem ihrer Testamentsvollstrecker ein u. sicherte ihm nach seinem Ausscheiden als Rottenburger Kirchherr (1477) eine Pension; 1483 starb er in hohem Alter. Nur ein einziges (nicht genauer datierbares) literar. Werk aus A.’ Feder ist erhalten: das Buch der Beispiele der alten Weisen, das seinen Namen in einem Akrostichon nennt u. in der Handschrift von Chantilly mit einem Familienwappen versehen ist. Spiritus rector des Werks ist Mechthilds Sohn Eberhard im Barte, Graf von Württemberg u. Gründer der Tübinger Universität, der mit dt. Humanisten (Reuchlin, Wimpfeling, Wyle) wie mit italienischen (u. a. Lorenzo di Medici) in Verbindung stand. Als Anreger humanist. Übersetzungsliteratur bekannt, enthält auch das Buch der Beispiele im Akrostichon seinen Namen u. Wahlspruch (EBERHART GRAF Z WIRTENBERG ATTEMPTO); eine der ältesten der acht überlieferten Handschriften (Heidelb., um 1475/1482) zeigt sein Wappen u. seine Devise in einer Exlibris-Zeichnung. Generell sind die Handschriften u. die frühen Drucke Paradebeispiele einer umfassenden u. relativ homogenen (wohl schon von lat.

Antonius von Pforr

Handschriften geprägten) Illustrationstradition. Das Buch der Beispiele steht in der Tradition des ind. Pancatantra, des bedeutendsten Werks der ind. Fabelliteratur, das Regeln der Staatskunst u. der Weltklugheit in einem Fürstenspiegel anhand von Fabeln – zumeist Tierfabeln – lehrt. Entstanden zwischen dem 3. u. 6. Jh., ist es in etwa 200 Versionen in 64 Sprachen überliefert. Wichtigster abendländ. Vertreter der Tradition ist der Liber Kalilae et Dimnae (auch: Directorium vitae humanae) des Johann von Capua (zweite Hälfte des 13. Jh.), der über Zwischenstufen auch als Vorlage für das Buch der Beispiele gelten kann. Dieses erörtert in einer Vorrede anhand der Herkunft des Buches aus dem Indischen über das Persische, Arabische, Hebräische u. Lateinische selbst schon in Beispielen die traditionellen Intentionen des Werks, nämlich Mitteilung von Weisheit, Unterhaltung u. Unterweisung der Lernenden. Zgl. skizziert es Bedingungen rechten Verstehens: die Erfassung mehrfacher Sinnebenen u. die Umsetzung der Lehre in konkretes Handeln. Im ersten Kapitel berichtet Berosias, ein Arzt u. Weiser aus Edom, in Ichform, wie er das Buch aus dem Indischen ins Persische übersetzte, u. leitet damit die eigentl. Sammlung ein. Als deren Erzählrahmen fungiert der Auftrag des Königs Dißles von Indien an seinen Weisen Sendebar, Beispiele u. Gleichnisse zu mannigfachen Themen vorzuführen: Betrug u. Neid, Schadenfreude, Untreue u. Leichtgläubigkeit, Zorn, Tugendhaftigkeit, Untugend u. göttl. Vorsehung. Zentral bei den Beispielen ist der Gegensatz von voreiligem u. überlegtem Handeln, das allein dem Prinzip der Lebensklugheit entspricht. Demonstriert wird dies an Agierenden aus der Tierwelt, wobei die einzelnen Beispiele sich oft in weitere Binnenexempel verzweigen u. eine prinzipielle Offenheit der Textform implizieren. Verglichen mit dem Directorium gewinnt die rhetor. Mehrstimmigkeit u. Mehrsinnigkeit an Bedeutung. Durch aktive Lektüre macht sich der Leser des deutschsprachigen Textes die Ethik der »fürsichtigkeit« zu eigen. A. folgte mit seiner anspruchsvollen Prosaübersetzung dem Interesse der Zeit an Fa-

Anzengruber

belsammlungen, wie es u. a. durch Steinhöwels Esopus (um 1476/77) dokumentiert ist. Dass er mit den Übersetzerkollegen nicht konkurrieren wollte, mag aus der versteckten Autornennung geschlossen werden, die dazu führte, dass Eberhard im Barte im Nachruf des Konrad Summenhard von Calw selbst als Übersetzer des Buchs gewürdigt wurde. An Wirkung steht allerdings sein Buch dem Esopus kaum nach: Es wurde zwischen 1482 u. 1592 17-mal gedruckt, ins Dänische, Niederländische u. Isländische übersetzt u. auch in Exempel- u. Schwanksammlungen des 16. Jh. verwendet. Ausgaben: Krit. Ausg. nach der Straßburger Hs. mit den Lesarten aller bekannten Drucke des 15. u. 16. Jh. Hg. Friedmar Geissler. 2 Bde., Bln./DDR 1964 u. 1974. Literatur: Friedmar Geissler: A. v. P., der Übersetzer des Buchs der Beispiele. In: Ztschr. für Württemberg. Landesgesch. 23 (1964), S. 141–156. – Udo Gerdes: A. v. P. In: VL. – Franz Piontek: Ein Fürst u. sein Buch. Göpp. 1997. – Ulrike Bodemann: Bildprogramm u. Überlieferungsgesch. Die illustrierten Hss. u. Frühdr.e des ›Buchs der Beispiele der alten Weisen‹ A.s. In: PBB 119 (1997), S. 67–129. – Michael Bärmann: A. u. Matthäus Hummel: Zwei gelehrte Autoren des 15. Jh. im Spiegel hist. Zeugnisse. In: Daphnis 29 (2000), S. 37–59. – Sabine Obermaier: Das Fabelbuch als Rahmenerzählung. Heidelb. 2004. Christian Kiening

Anzengruber, Ludwig, auch: L. Gruber, Momus, * 29.11.1839 Wien, † 10.12.1889 Wien; Grabstätte: ebd., Zentralfriedhof. – Dramatiker, Erzähler u. Publizist. Als Sohn des k. u. k. Ingrossisten Johann A. u. der Maria Herbich, Tochter eines Apothekenprovisors, wuchs A. in den einfachen Verhältnissen des Wiener Kleinbürgertums auf. Der Vater, der den Bauernhof seiner Eltern in Oberösterreich verließ u. nach Wien zog, dilettierte als Dramatiker u. führte den Sohn an die Literatur heran. Nachdem der Vater 1844 früh verstorben war, geriet die Familie in finanzielle Schwierigkeiten, die sich nach dem Tod der Großmutter (1854) noch verschärften. A. verließ daraufhin die Oberrealschule vorzeitig u. begann 1855 eine Lehre als Buchhändler. Sein Ehrgeiz galt je-

178

doch dem Theater, weshalb er 1858 die kaufmänn. Ausbildung abbrach u. sich als Schauspieler zunächst am Theater Wiener Neustadt, später bei Wandertruppen u. an Provinzbühnen durchschlug. Seit 1866 lebte er in Wien als freier Schriftsteller. A. schrieb u. a. für die Zeitschrift »Wanderer« u. das Witzblatt »Kikeriki«. Mit dem Faschings-Einakter Der Reformtürk, dem Kindermärchen Die Libelle u. dem Singspiel Der Sackpfeifer brachte er erste Stücke mit wenig Erfolg auf die Bühne. Finanzielle Not zwang ihn, 1869 eine Stelle als Kanzlist in der Wiener Polizeidirektion anzunehmen. Kurze Zeit später gelang ihm 1870 mit der Aufführung des antiklerikalen Tendenzstücks Der Pfarrer von Kirchfeld (Wien 1871) überraschend der Durchbruch. Der große Publikumserfolg des »Volksstücks mit Gesang«, mit dem A. neun Jahre nach Nestroys Tod die Tradition des Wiener Volksstückes neu belebte, hatte im Wesentlichen zwei Ursachen: Einerseits stieß die pointierte Dramatisierung des ultramontanen Dogmatismus im Umfeld des österr. Kulturkampfs auf besondere Akzeptanz; andererseits überzeugte die volksaufklärer. Intention, die im »edlen moralischen Ernste« des Verfassers gründete, wie Laube hervorhob. Ermutigt durch den Erfolg u. die Anerkennung u. a. von Rosegger, mit dem ihn seither eine literar. Freundschaft verband, verließ A. 1871 den Polizeidienst u. wechselte als Autor an das Theater an der Wien. In die anschließende Schaffensphase fiel 1873 auch die Heirat mit der sechzehnjährigen Adeline Lipka. Aus der unglückl. Ehe, die 1889 geschieden wurde, gingen drei Kinder hervor. In rascher Folge schrieb A. mit der Tragödie Der Meineidbauer (Wien 1871) u. den Lustspielen Die Kreuzelschreiber (Wien 1872), Der G’wissenswurm (Wien 1874) sowie Doppelselbstmord (Wien 1876) weitere Dramen, die im bäuerl. Milieu angesiedelt sind u. sich, wie die Wiener Lokalposse Aus’m g’wohnten Gleis (Wien 1880), stilistisch wie in ihrer Bauform eng an Nestroy anlehnen. A. führt wiederholt lebensfeindl. Zwänge vor, denen sich unmündige Menschen in falsch verstandener Religiosität u. dogmatischer Moral meist selbst unterwerfen. Gerade die bodenständi-

179

gen Figuren, die A. in einer stilisierten Mundart sprechen lässt, veranschaulichen, welche inhumanen Deformationen pervertierte Normen nach sich ziehen. Mit den Hansl-Liedern, die 1873 u. 1874 in den »Humoristischen Blättern« erschienen, nimmt A. auch als Journalist eine antiklerikale Position im Kulturkampf ein u. fordert eine liberale Reform der Gesellschaft. Der didakt. Optimismus, der die Werke der 1870er Jahre kennzeichnet, kommt am deutlichsten in der populären Figur des Steinklopferhanns zum Ausdruck, der erstmals im Lustspiel Die Kreuzelschreiber auftrat u. in der Tradition des Staberl zur komischen Reflexionsfigur des Publikums wurde. Dem populären Charakter widmete A. mit den zwischen 1872 u. 1875 entstandenen Märchen des Steinklopferhanns (Lahr 1884) schließlich eine aufklärer. Sammlung. Auch wenn A. 1871 mit der Charaktertragödie Der Meineidbauer kompositorisch wie durch die Zeichnung des negativen Helden eines seiner besten Dramen gelang, konnte er nicht mehr an den Publikumserfolg des Pfarrers von Kirchfeld anknüpfen. Insbesondere die hochdeutschen, im bürgerl. Milieu angesiedelten Gesellschaftsdramen Elfriede (Wien 1873) u. Hand und Herz (Wien 1875), in denen A. die prekäre Geschlechterbeziehung u. das kath. Dogma der unauflöslichen Ehe problematisiert, fanden wenig Beifall. Lediglich das Wiener Sittenstück Das vierte Gebot (Wien 1878) erregte größeres Aufsehen. Mit der unverklärten, »unbarmherzigen Natürlichkeit«, mit der A. darin die patriarchale Autorität desavouiert, zielt er auf die Brüchigkeit der gesellschaftl. Ordnung insgesamt. Enttäuscht von der Operettisierung des Wiener Volksstücks, dem Verlangen der Theaterdirektoren nach »Kassastücken« u. den entstellenden Eingriffen der Zensur sah sich A. Anfang der 1880er Jahre gescheitert, das Volksstück für ein engagiertes Theater zu reformieren. Er blieb zwar den Themen seiner Dramen u. dem Theater als erzieherische Schaubühne verpflichtet, wandte sich jedoch vermehrt der erzählenden Literatur zu. Die epische Tendenz seiner meisten Stücke bereitete den Gattungswechsel bereits vor, wie umgekehrt spätere Dramatisierungen, etwa

Anzengruber

das Volksstück Stahl und Stein (Dresden 1887), das auf die Erzählung Der Einsam (1881) zurückgeht, eine themat. Nähe zu Bühnenstoffen bekräftigt. Neben einer großen Zahl an Dorf- u. Kalendergeschichten hielt A. mit den Genrebildern aus der Vorstadt, Bekannte von der Straße (Lpz. 1881) u. Die Kameradin (Dresden 1883), auch dem Wiener Publikum einen Spiegel vor. Der detailgenaue Realismus seiner Dorfgeschichten geht in den beiden Romanen Der Schandfleck (Wien 1877. Überarb. Lpz. 1884) u. Der Sternsteinhof (Lpz. 1884) ansatzweise in naturalistisches Erzählen über. Beide Romane handeln vom Aufstieg einer Außenseiterin, die sich über dörfl. Konventionen u. moral. Skrupel hinwegsetzt. In den Charakterisierungen deutet sich an, dass an die Stelle des aufgeklärten Optimismus ein Darwinismus pessimistischer Prägung getreten ist. In Anlehnung an Schopenhauer formuliert A. im allegor. Märchen Jaggernaut (1880) bereits einen unverblümten Fortschrittspessimismus. Der Mensch wird darin ziellos von »sehnsuchtskrankem Wollen« angetrieben, den todbringenden Gottheiten »Freiheit« u. »Fortschritt« zu huldigen. Die postum veröffentlichten Aphorismen, in denen sich »die innere Zerfahrenheit und Zerrissenheit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts« spiegeln, dokumentieren anschaulich seine Entwicklung zu einem pessimist. Fatalismus. Trotz der Auszeichnung mit dem SchillerPreis (1878) u. dem Grillparzer-Preis (1887) redigierte A. neben journalist. Arbeiten das illustrierte Familienblatt »Die Heimat« u. ab 1884 den humorist. »Figaro«, um seinen Lebensunterhalt zu sichern. Paul Heyses Vorschlag, A. in den Bayrischen MaximiliansOrden aufzunehmen, scheiterte an klerikalen Protesten. Kurz vor seinem Tod wurde A. 1888 an das neu gegründete Deutsche Volkstheater als Hausautor berufen. Obwohl der Berliner Theaterverein »Freie Bühne« Das vierte Gebot im März 1890 als naturalistisches Stück avant la lettre aufführte u. Fontane die Familientragödie als »dramatische Schöpfung aller ersten Ranges« feierte, blieb die Wirkung A.s, den Freud als »einen unserer besten Dichter« bezeichnete, weitgehend auf die Bauernkomödie be-

Apel

180

schränkt. Das Klischee vom Heimatdichter Stage. In: Viennese Popular Theatre. Hg. W. E. hat die Erforschung der Erzählungen ebenso Yates u. John R. P. McKenzie. Exeter 1985, wie die produktive Rezeption seiner Dramen S. 139–152. – Johanna Maria Rachinger: Das Wiebehindert. So nahm das »neue Volksstück« ner Volkstheater in der zweiten Hälfte des 19. Jh. unter bes. Berücksichtigung des Dramatikers L. A. zwar formal Anleihen bei A., AktualisierunDiss. Wien 1986. – Franz Baumer: L. A. Volksgen wie Kroetz’ Bauernmusical Der Gwissens- dichter u. Aufklärer. Ein Lebensbild. Weilheim wurm sind jedoch seltene Ausnahmen. Er- 1989. – Karlheinz Rossbacher: Lit. u. Liberalismus. folgreicher waren die mehrfach ausgezeich- Zur Kultur der Ringstraßenzeit in Wien. Wien neten Verfilmungen Der Sternsteinhof (1976) 1992. – Peter Sprengel: Darwin oder Schopenhauvon Hans W. Geißendörfer u. Der Schandfleck er? Fortschrittspessimismus u. Pessimismus-Kritik (1999) von Julian Roman Pölsler, die auf eine in der österr. Lit. (A., Kürnberger, Sacher-Masoch, unsentimentale Erneuerung des Heimatfilms Hamerling). In: Literar. Leben in Österr. 1848–90. Hg. Klaus Amann u. a. Wien/Köln u. a. 2000, zielen. Dagegen bedienen die NeubearbeiS. 60–93. Thorsten Fitzon tungen von André Mairock, so etwa Der Meineidbauer u. Der Sternsteinhof (Rosenheim 2005), den breiteren Publikumsgeschmack. Apel, (Johann) August, * 17.9.1771 LeipWeitere Werke: Die Tochter des Wucherers. Wien 1873 (D.). – Der ledige Hof. Wien 1877 (D.). – Ein Faustschlag. Wien 1878 (D.). – Alte Wiener. Wien 1879 (Volksst.). – Dorfgänge. Ges. Bauerngesch.n. 2 Bde., Wien 1879. – Feldrain u. Waldweg. Stgt. 1882 (E.en). – Launiger Zuspruch u. ernste Red’. Kalender-Gesch.n. Lahr 1882. – Allerhand Humore. Lpz. 1883 (E.en). – Wolken u. Sunnschein. Bln./Stgt. 1888 (Ges. E.en). – Der Fleck auf der Ehr’. Dresden 1889 (Volksst.). – Letzte Dorfgänge. Kalendergesch.n u. Skizzen aus dem Nachl. Stgt. 1894. Ausgaben: Ges. Werke. Hg. Anton Bettelheim u. a. 10 Bde., Stgt. 1890. 31896. – Sämtl. Werke. Krit. Ausg. Hg. Rudolf Latzke u. Otto Rommel. 17 Bde., Wien 1920–22. Neudr. Nendeln/Lichtenstein 1976. – Werke. Hg. Manfred Kühne. 2 Bde., Bln./ Weimar 1971. – Briefe: Briefe. Hg. A. Bettelheim. 2 Bde., Stgt./Bln. 1902. – Peter Rosegger – L. A. Briefw. 1871–89. Hg. Konstanze Fliedl u. Karl Wagner. Wien/Köln u. a. 1995. Literatur: Bibliografie: Goedeke Forts. – Weitere Titel: Anton Bettelheim: L. A. Bln. 1891. 21898. – Louis Koessler: L. A., auteur dramatique. Diss. Straßb. 1943. – Elisabeth Hanke: L. A.s Kalendergesch.n. Diss. Wien 1950. – Aloys Klocke: Die religiöse u. weltanschaulich-eth. Problematik bei L. A. Diss. Freib. i. Br. 1955. – Werner Martin: Der kämpfer. Atheismus bei A. Bln./DDR 1960. – Edward McInnes: L. A. and the popular dramatic tradition. In: Maske u. Kothurn 21 (1975), S. 135–152. – Karlheinz Rossbacher:L. A. Die Märchen des Steinklopferhanns (1875/79). Poesie der Dissonanz als Weg zur Volksaufklärung. In: Romane u. Erzählungen des bürgerl. Realismus. Hg. Horst Denkler. Stgt. 1980, S. 231–245. – Patricia Howe: End of a Line. A. and the Viennese

zig, † 9.8.1816 Leipzig. – Erzähler, Lyriker, Dramatiker, Musik- u. Metrikforscher. A., Sohn des Bürgermeisters von Leipzig, studierte die Rechte, Philosophie u. Naturwissenschaften in Leipzig u. Wittenberg (1795 Dr. jur.), beschäftigte sich daneben mit Musik u. Musiktheorie, ließ sich als Rechtsanwalt in Leipzig nieder u. wurde 1801 zum Ratsherrn gewählt. Er war u. a. mit Fouqué, Friedrich Kind u. Friedrich Laun befreundet. Bedeutendes leistete A. auf dem Gebiet der Metrikforschung. Er entwarf eine heute noch weitgehend gültige Theorie des Zusammenhangs von Gedichtmetrum u. Rhythmus u. wies die Analogie von antiken u. modernen Rhythmen auf (Metrik. 2 Bde., Lpz. 1814 u. 1816. 21824). Seine Laufbahn als Schriftsteller begann A. mit Aufsätzen u. Rezensionen (u. a. zu Schillers Jungfrau von Orléans) u. mit klassizist. Dramen (Polyïdos. Lpz. 1805. Die Aitolier. Lpz. 1806. Kalliroë. Lpz. 1806; alle anonym erschienen), wobei die antikisierende Einkleidung mitunter die Darstellung aktueller polit. Vorgänge (Druck der frz. Besatzungsmacht auf Leipzig) tarnen sollte. Dies gilt auch für einige seiner meist epigrammatisch zugespitzten Gedichte, die unter dem Titel Cicaden (3 Bde., Bln. 1810/11) erschienen. Als Novellist u. Erzähler trat A. ab 1806 hervor, indem er Schauriges aus Volkssagen melodramatisch ausgestaltete (Gespensterbuch. 4 Bde., Lpz. 1810–12, zus. mit Friedrich

Aperbachius

181

Laun. Wunderbuch. 3 Bde., Lpz. 1815–17. Bde. 1 u. 2 zus. mit Laun. Bd. 3 verf. v. Laun u. Fouqué). Die Erzählung Der Freischütz (zuerst in Bd. 1 des Gespensterbuchs, separat Lpz. 1823) bildete die stoffl. Grundlage für Friedrich Kinds Libretto zu Webers gleichnamiger Oper (1817); auch Clemens Brentano schöpfte wiederholt aus dem Gespensterbuch. A.s Mitwirkung an Johann Friedrich Wilhelm Pustkuchens Wanderjahren (1821 ff.) ist nicht eindeutig nachweisbar. Weitere Werke: Kunz v. Kauffungen. Vaterland. Trauersp. Lpz. 1809. – Der Brautring. In: Die Musen. Bd. 1, 1812 (N.). – Die Zeitlosen. Bln. 1817, recte 1816 (E. u. L.). – Das Weltgericht. Weimar 1821 (zahlreiche Aufl.n) (Oratorium, Musik: Friedrich Schneider). Literatur: Otto Eduard Schmidt: Fouqué, A., Miltitz. Lpz. 1908. – Hermann Ziemke: J. A. A. Diss. Greifsw. 1933. – Lutz Walther: A., Kind, Wilson. Aspekte des Freischützstoffes. In: Forum Modernes Theater 12 (1997), S. 91–99. – Christina Gallo. Untersuchungen zum ›Gespensterbuch‹ (1810–12) v. Friedrich Laun u. A. A. Taunusstein 2006. Christian Schwarz / Red.

Apelles von Löwenstern auf Langenhof, Matthäus, auch: Matthaeo Leonastro de Longueville Neapolitano, eigentl.: Matthäus Appel oder Appelt, * 20.4.1594 Neustadt/Oberschlesien, † 11.4.1648 Breslau. – Kirchenlieddichter, Lyriker u. Komponist.

Tscherning). A. unterhielt enge Beziehungen zu Czepko, Harsdörffer, Rist u. Scherffer. Als Dichter ist A. mit lat. Gedichten, Gelegenheitslyrik u. v. a. mit Kirchenliedern hervorgetreten. Seine Liedersammlung Symbola/ Oder Gedenck-Sprüche [...] Fürstlicher Personen [...] Zusammt [...] Geistlichen Oden ging als eigenständiger Teil ins Breslauer Gesangbuch Geistliche Kirchen- und Hauß Music (1644) ein, ebenso wie noch im selben Jahr ihre erweiterte Fassung mit dem Titel Frühlings-Mayen (spätere Ausg. Kiel 1678). Zwei Apelleslieder finden sich noch heute im EKG. Beachtenswert ist der Versuch, antike Versmaße u. Strophenformen auf das dt. Kirchenlied zu übertragen. Mit drei Ausnahmen vertonte A. seine Lieder selbst; daneben schrieb er Motetten u. Kirchenkonzerte u. komponierte die Chöre für Opitzens Judith (Rostock 1646). Johann Sebastian Bach benutzte Melodien von A. für einige seiner Choralbearbeitungen. Literatur: Christoph Köler: Ehren-Geticht an [...] Herrn M. A. v. L. Breslau 1642. – Hugo Steinitz: Ueber das Leben u. die Compositionen des Matthaeus v. Löwenstern. Breslau 1892. – Peter Epstein: Weltl. Lieder. In: Ztschr. für Musikwiss. 10 (1928), S. 263–273. – Ders.: A. v. L. Mit einer Neuausg. der Chöre zu Martin Opitz’ ›Judith‹. Breslau 1929. – Wilhelm Lueken: Lebensbilder der Liederdichter u. Melodisten. In: Hdb. zum EKG 2.1. Hg. Christhard Mahrenholz u. Oskar Söhngen. Gött. 1957, S. 144–146. – Paul Derks: Die sapphische Ode in der dt. Dichtung des 17. Jh. Diss. Münster 1969, S. 117–120. – MGG 8, S. 1117–1121. – Franz Heiduk: Oberschles. Lit.Lexikon 1. Bln. 1990, S. 10. – Lothar HoffmannErbrecht (Hg.): Schles. Musiklexikon. Augsb. 2001, S. 12 f. – Franz Josef Ratte: Die musikal. Werke des M. A. v. L. In: Die oberschles. Literaturlandschaft im 17. Jh. Hg. Gerhard Kosellek. Bielef. 2001, S. 357–387. – Jörg-Ulrich Fechner: Ein poet. Nachrichtenbrief v. Andreas Tscherning nach Breslau. Zu einer vergessenen Gattung des dt. Barock. In: Memoria Silesiae. Leben u. Tod, Kriegserlebnis u. Friedenssehnsucht in der literar. Kultur des Barock. Zum Gedenken an Marian Szyrocki (1928–92). Hg. Miroslawa Czarnecka u. a. Wroclaw 2003, S. 271–280. Marian Szyrocki † / Ewa Pietrzak

Der Sohn eines Sattlers besuchte das Gymnasium in Brieg. Zunächst Lehrer u. Kantor in Leobschütz, wurde er 1625 Rentmeister u. Leiter der Hofkapelle am Hof des Herzogs Heinrich Wenzel von Münsterberg-Oels in Bernstadt. 1625 übernahm er das Amt des Schulpräses. 1631 erhielt er den Titel des Fürstlichen, dann auch den des Kaiserlichen Rats. Ferdinand II. erhob ihn in den Ritterstand. Vermögen u. Landbesitz seiner zweiten Frau erlaubten es ihm, sich als Mäzen – u. a. Andreas Tschernings – zu betätigen. Nach Heinrich Wenzels Tod ging A. nach Breslau, wo der Oelser Hof wegen der Kriegswirren residierte. In seinem Haus traf Aperbachius, Peter ! Eberbach, Peter sich ein Kreis von Gelehrten u. Dichtern (Köler, Hoffmann von Hoffmannswaldau, /

/

Apian

Apian, Apianus, Peter, eigentl.: P. Bienewitz, Bennewitz, * 16.4.1495 (1501?) Leisnig/Sachsen, † 21.4.1552 Ingolstadt. – Astronom, Kartograf u. Buchdrucker. Als Kaiser Karl V. seinen Hofmathematicus A. in den Reichsritterstand erhob (Adels- u. Wappenbrief: Regensburg, 20.7.1541) u. die Würde eines Hofpfalzgrafen verlieh (1542), wurde ein Mann geehrt, den überdurchschnittlich hohes Können, hervorragendes techn. Geschick u. vorzügl. Beobachtungsgabe auszeichneten, aber auch ein vielseitiger Schriftsteller, der von 1527 bis zu seinem Tode an der Universität Ingolstadt als Professor der Mathematik tätig gewesen ist. Zu A.s Lehrern zählte Georg Tannstetter (Wien), zu seinen Gönnern u. Freunden Raimund Fugger u. Johannes Aventinus. A. mehrte die Zahl landessprachiger »Rechenbücher« (Vnderweysung aller Kauffmanß Rechnung. Ingolst. 1527) u. machte »spitzfündige« Nichtlateiner mit »Mathematischen [astronomischen] künsten« bekannt (Instrument Buch. Ingolst. 1533). Seine häufig gedruckte Kosmografie (Cosmographicus liber. Landshut 1524) sicherte A. den Rang einer navigationskundl. Autorität. Durch die Projektion der gesamten Erdoberfläche auf ein einziges Kartenblatt erwarb er sich Verdienste auf dem Gebiet der Kartografie; ebenso leistungsfähig erwies sich A. bei der Konstruktion u. Herstellung von astronomischen u. geodät. Beobachtungs- u. Messinstrumenten u. der Kometenkunde. Nachruhm sicherten ihm insbes. seine Erkenntnis, dass sich Kometenschweife von der Sonne abkehren, zum anderen seine bei Beobachtungen des Kometen von 1531 gewonnenen Daten, die später Edmond Halley die Entdeckung der Periodizität dieses nach Halley benannten Kometen ermöglichten. Wahrscheinlich kannte A. die neue Lehre des Kopernikus; wie viele andere Astronomen seiner Zeit versuchte er aber nicht, an sie anzuschließen. A.s Hauptwerk, das in seiner eigenen Hausdruckerei entstandene u. zu den typografisch-buchtechn. Zimelien des 16. Jh. zählende Astronomicum Caesareum (Ingolst. 1540), birgt eine der letzten astronom. Hochleistungen, erbracht auf Grundlage der

182

ptolemäisch-geozentrischen Kosmologie. Teil 2 bietet Darlegungen zur Beobachtungskunst am Torquetum u. Quadranten u. zur Kometenkunde, während das Astronomicum-Kernstück (Tl. 1) A.s Bemühen bezeugt, die astronom. Orts- u. Zeitbestimmungen zu vereinfachen. Um einer Entfremdung zwischen der mathematisch hohe Anforderungen stellenden Sternkunde u. deren mathematisch unzulänglich gerüsteten Anhängern zu wehren, hatte es sich A. zur Hauptaufgabe gemacht, einem rechnerisch unzureichend geschulten Astronomen schwierige Berechnungen der Gestirnbewegungen u. den Gebrauch astronomischer Tafelwerke zu ersparen. Mit Blick auf ein wohl vorwiegend astrologisch interessiertes »Layen«-Publikum, das an der Lösung sphärisch-trigonometrischer Probleme zu scheitern drohte, ersetzte A. astronomisches Kalkül durch mechan. Operationen u. schuf unter Anwendung des Prinzips des planisphärischen Astrolabs (stereograf. Projektion) eine Reihe beweglicher Pappscheiben, von denen man gesuchte Rechenwerte u. Gestirnkonstellationen wie von einem Uhrwerk ablesen konnte. Doch sollte nicht nur der Fortfall der Schrecken des Kalküls, sondern auch eine dt. Fassung des ersten Teils des Astronomicum (Außlegung des Buchs Astronomici Caesarei. Ingolst. 1540) eine Teilhabe der vielen »künstlichen und subtilen köpff« unter den »Layen« an der Astronomie sichern. Neue Grundlagen zur Berechnung astronomischer Tafeln, wie sie sich aus der kopernikan. Lehre ergaben, machten die mühevolle Arbeit A.s bald überflüssig. Nachdem schon der Herold des Kopernikus, Georg Joachim Rheticus, unter Anspielung auf die mit Fäden einstellbaren Scheiben A.s gespottet hatte, das Astronomicum böte verächtl. »Fadenkunst«, vermochte auch Johannes Kepler im Hauptwerk A.s nichts als das Ergebnis eines »kläglichen Fleißes« (»industria miserabilis«) zu erkennen, in A.s »künstlichen Konstruktionen« nichts als Schadenstifter u. ein »Labyrinth von höchst verwickelten Windungen«, die »die Natur in keiner Weise als ihr eigenes Bild gelten« ließe (Astronomia nova. Tl. 2, Kap. 14, 1609).

183 Ausgaben: Astronomicum Caesareum. Neudr. Lpz. 1967 (Bd. 1: Faks. der Ausg. Ingolst. 1540. Bd. 2: Diedrich Wattenberg: P. A. u. sein Astronomicum Caesareum). – Abbreviationes vetustorum monumentorum in ordinem alphabeticum digestae. Neudr. (Teilausg. v.: Inscriptiones sacrosanctae vetustatis. Ingolst. 1534. Nachw. Johannes Müller). Mchn. 1968. – Instrument Buch (Ingolst. 1533). Nachdr. Lpz. 1989 (Nachw. v. Jürgen Hamel). – Eyn Newe [...] vnderweysung aller Kauffmanß Rechnung (Ingolst. 1527). Nachdr. Buxheim/ Eichstätt 1995 (Einf. v. Wolfgang Kaunzner). – J. Hamel: Gesch. der Astronomie. In Texten v. Hesiod bis Hubble. Essen 22004, S. 149–153 (Abschnitte aus: Instrument Buch, 1533). Literatur: Bibliografie: Fernand van Ortroy: Bibliographie de l’œuvre de Pierre A. In: Le Bibliographe moderne, Jg. 5 (1901), S. 89–156, 284–333. – Christoph Schöner: A. In: DDL. – Weitere Titel: Siegmund Günther: P. u. Philipp A., zwei dt. Mathematiker u. Kartographen. Ein Beitr. zur Gelehrten-Gesch. des XVI. Jh. Prag 1882. Neudr. Amsterd. 1967. – Willy Hartner: A. In: NDB. – Ernst Zinner: Dt. u. niederländ. astronom. Instrumente des 11.-18. Jh. Mchn. 21967. – George Kish: A. In: DSB, Bd. 1 (1970), S. 178 f. – Erwin Panofsky: Die Illustrationen der Apianischen ›Inscriptiones‹ in ihrem Verhältnis zu Dürer (Exkurs I in: Dürers Stellung zur Antike [11922]). In: Ders.: Sinn u. Deutung in der bildenden Kunst. Köln 1975, S. 274–350, hier S. 305–313. – Josef Benzing: Die Buchdrucker des 16. u. 17. Jh. im dt. Sprachgebiet. Wiesb. 21982, S. 213 f. – Ilse Guenther: A. In: Contemporaries, Bd. 1 (1985), S. 66 f. – Irmgard Bezzel: A. In: Lexikon des gesamten Buchwesens. Hg. Severin Corsten u. a. Bd. 1 (1987), S. 112. – Wilhelm Füssl: Der Nachl. P. A.s. Eine Erbstreitigkeit vor dem Reichskammergericht. In: Dt. Museum. Wiss. Jb. 1991, S. 99–130. – Wolfgang Kokott: Die Kometen der Jahre 1531 u. 1539 u. ihre Bedeutung für die spätere Entwicklung der Kometenforsch. Stgt. 1994, S. 56–72. – Christoph Schöner: Mathematik u. Astronomie an der Univ. Ingolstadt im 15. u. 16. Jh. Bln. 1994, S. 358–429, 500–505. – P. A. Astronomie, Kosmographie u. Mathematik am Beginn der Neuzeit. Hg. Karl Röttel. Buxheim/Eichstätt 1995 (Ausstellungskat.). – K. Röttel: Der Beitr. des P. A. zur Mathematik, Astronomie, Geographie u. Physik. In: Rechenmeister u. Cossisten der frühen Neuzeit. Hg. Rainer Gebhardt u. Helmuth Albrecht. o. O. [AnnabergBuchholz] o. J. [1997], S. 139–158. – Christoph Schöner: A. In: Biogr. Lex. LMU, Tl. 1, S. 15 f. – Fritz Krafft: A. In: Vorstoß ins Unbekannte. Lexikon großer Naturwissenschaftler. Hg. ders. Wein-

Apitz heim 1999, S. 17 f. – Melanchthons Briefw. Bd. 11: Personen A-E. Bearb. v. Heinz Scheible. Stgt.-Bad Cannstatt 2003, S. 81. – Jaumann Hdb. Joachim Telle

Apitz, Bruno, * 28.4.1900 Leipzig, † 7.4. 1979 Berlin/DDR; Grabstätte: Berlin, Städtischer Zentralfriedhof Friedrichsfelde. – Romanautor. A., zwölftes Kind eines Wachstuchdruckers u. einer Wäscherin, engagierte sich seit 1914 in diversen kommunist. Jugendorganisationen, ehe er 1927 der Partei beitrat. Propagandistische Aktionen gegen den Krieg u. den KappPutsch trugen dem gelernten Stempelschneider u. späteren Buchhändler Haft ein u. brachten ihn wiederholt um seine Stellung. Versuche, sich als Schauspieler zu etablieren, blieben glücklos. Seit 1930 war A. im Bund Proletarisch-Revolutionärer Schriftsteller organisiert. Er leitete den Zentralverlag der »Roten Hilfe« u. arbeitete für die KPD als Referent u. Agitprop-Funktionär. Nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten wurde er mehrmals verhaftet. Die Jahre 1934–1938 verbrachte er im Zuchthaus Waldheim, anschließend war er bis 1945 im KZ Buchenwald interniert. Als Antifaschist geachtet, arbeitete A. nach dem Krieg als Redakteur der »Leipziger Volkszeitung«, als Verwaltungsdirektor der Städtischen Bühnen Leipzig u. als Dramaturg der DEFA. Seit 1955 lebte er als freier Schriftsteller in Ostberlin u. verarbeitete in Nackt unter Wölfen (Halle 1958. 551989. Reinb. 1961. Zuletzt Bln. 1998. Übers. in zahlreiche Sprachen) seine Buchenwald-Erfahrungen. Der Roman, der trotz gelegentl. Abgleitens in das Genre des Abenteuerromans wegen seiner Authentizität zum Welterfolg wurde, bildet mit Der Regenbogen (Halle 1976. 51984) u. dem von Wolfgang Weiß vollendeten Fragment Der Schwelbrand (Halle 1984) einen Zyklus, der die Geschichte der Deutschen Arbeiterbewegung bis 1945 nachzeichnen will, dabei die zunehmende Politisierung der Arbeiterschaft ebenso in den Blick nimmt wie den Zwiespalt der polit. Linken zwischen Parteiarbeit u. revolutionärem Kampf. Während sich die Leitung der illegalen antifaschist. Widerstands-

Apokalypse

184

organisation des Lagers auf den bewaffneten Aufstand gegen die SS-Wachkommandos vorbereitet, droht ein ins Lager geschmuggeltes poln. Waisenkind, das nach Frank Beyers Romanverfilmung 1964 wiederentdeckt u. als Stefan Jerzy Zweig identifiziert wurde, die Aktion u. ihre Drahtzieher zu gefährden. Gegen jede polit. Raison wird es von den Häftlingen versteckt u. versorgt. Das Kind erschließt dem Leser nicht nur die Topografie des Lagerlebens, sondern es stärkt auch, von A. als Symbol »neuen Lebens« begriffen, den Widerstandsgeist der Häftlinge, sodass schließlich die Befreiung gelingt. Der Roman wurde in 30 Sprachen übersetzt, von der DEFA verfilmt (1963) u. von A. 1960 zu einem Hörspiel umgearbeitet. Literatur: Ingrid Hähnel u. Elisabeth Lemke: Millionen lesen einen Roman. B. A.: ›Nackt unter Wölfen‹. In: Werke u. Wirkungen. DDR-Lit. in der Diskussion. Hg. Inge Münz-Koenen. Lpz. 1987, S. 21–60. – Walfried Hartinger: B. A., ›Nackt unter Wölfen‹. Zur zeitgeschichtl. Relevanz u. langdauernden Wirkung des Romans. In: Erich-Maria-Remarque-Jb. 6 (1995), S. 5–18. – Susanne zur Nieden: ›... stärker als der Tod‹. – B. A.’ Roman ›Nackt unter Wölfen‹ u. die Holocaust-Rezeption der DDR. In: Bilder des Holocaust. Hg. Manuel Köppen u. Klaus R. Scherpe. Köln/Wien 1997, S. 97–108. – Thomas Jung: Poet. Wahrheiten vor religiöser Folie in B. A.’ Novelle ›Esther‹. In: Jews in German literature since 1945. German-jewish literature? Hg. Pól O’Dochartaigh. Amsterd. 2000. – Claude Conter: B. A. Im Auftrag des Antifaschismus. In: Centre Universitaire de Luxembourg 15 (2001), S. 39–69. Verena Dohrn / Ralf Georg Czapla

Mittelniederdeutsche Apokalypse, Mitte des 13. Jh. – Bibeldichtung. Im Zuge des Wiedererstarkens der mittelniederdt. Literaturpoduktion entsteht um die Mitte des 13. Jh. (wahrscheinlich nach der Sächsischen Weltchronik) eine dichterische Darstellung der in der Offenbarung beschriebenen Vorgänge, verbunden mit einer gereimten Exegese. Der Text umfasst – in seiner »dichterischen« Fassung – 2566 Verse u. bearbeitet Off 1,10 bis 22,9. Von diesem Text hat Psilander 1901 eine Ausgabe vorgelegt, der 1905 eine Ergänzungsausgabe der damals bekannten Textfragmente folgte. Psilander

konnte für seine Ausgaben auf neun der heute bekannten 16 (resp. 17) Textzeugen dieser Apokalypsennachdichtung zurückgreifen. In einigen Punkten sind diese Ausgaben revisionsbedürftig. Die vom Herausgeber angekündigten Kommentare sind nicht mehr erschienen. Seither hat es in der Forschung zwei wesentl. Forschungsstränge gegeben. Zum einen bildeten der Nachweis weiterer Textzeugen, Untersuchungen zur Überlieferungsgeschichte sowie Überlegungen zur literatur- u. stoffgeschichtl. Einordnung des Textes das vornehml. Interesse der Forschung (Christ, Beckers, Plate). Zum anderen hat diese volkssprachl. Bearbeitung der Apokalypse v. a. Sprachwissenschaftler herausgefordert, die hofften, aus der bemerkenswerten Mischung mittelniederdeutscher u. mittelhochdeutscher Sprachelemente eine mögl. Heimat für die Entstehung des Textes ermitteln zu können (Bischoff, Rooth). Beckers (1982) verortet mit Rooth den Entstehungstext im westniederdeutschen/westfäl. Raum. Eine monograf. Darstellung zur mittelniederdt. A. steht aus. Text u. Überlieferungsgeschichte geben Einblick in die Vielschichtigkeit literarischer Vermittlungsvorgänge des MA. Die Dichtung lehnt sich neben der Bibel an theolog. Kommentare (Beda, Hrabanus, Rupert von Deutz) aus dem 9. u. 11./12. Jh. an, bezieht wenige Male Passagen aus dem deutschsprachigen Physiologus u. der Sächsischen Weltchronik mit ein, strahlt aber auch seinerseits auf spätere Werke weiter aus, wie z.B. auf die Apokalypse Heinrich Heslers. Wie mittelalterl. Texte den jeweiligen Intentionen ihrer Auftraggeber, Funktion u. Rezipienten angepasst wurden, wird an den vier Rezeptionsgruppen dieser exeget. Bearbeitung der Apokalypse erkennbar. Alle Gruppen gehen auf eine gemeinsame Textauswahl zurück, heben sich jedoch durch ihre sprachl. Merkmale, aber v. a. durch die jeweils eigene, redaktionelle Überarbeitungstendenz deutlich voneinander ab. Neben der ausführlichen, »dichterischen Exegese« der Apokalypse steht eine zweite Rezeptionsgruppe, die der Mitte des 14. Jh. entstammt u. Züge einer laienfrömmigen Bearbeitungsintention trägt, die an Tenden-

185

Aquila

zen der »devotio moderna« denken lässt. Aquila, Kaspar, * 7.8.1488 Augsburg, Eine dritte Gruppe, die nach 1465 wahr- † 12.11.1560 Saalfeld. – Lutherischer scheinlich im Umfeld der norddt. Zisterzi- Pastor, theologischer Fachschriftsteller, enser geschaffen wurde, bietet eine »retheo- kirchenleitender Theologe. logisierte«, jedoch nicht auf Gelehrsamkeit ausgerichtete Version. Sichtbar wird, wie sich A. besuchte die Schule in Augsburg u. seit der Text wieder stärker an der bibl. Überlie- 1502 in Ulm, studierte vom Wintersemester ferung orientiert. Diese Handschriften dürf- 1510 an in Leipzig u. dann in Wittenberg ten als Vorlagen für Predigten genutzt wor- (Immatrikulation 7.2.1513, Promotion zum den sein. Noch bis ins 16. Jh. hinein hatte die Baccalaureus 3.3.1513). In den Jahren 1515/ mittelniederdt. A. Wirkung, indem sich eine 16 stand A. als Feldprediger in den Diensten umfangreiche Gruppe von Handschriften Franz von Sickingens u. nahm an dessen zusammenschließt, die Psilander als L* (Lü- Privatfehden gegen Worms u. Metz teil. 1516 neburg, Lübeck, Wolfenbüttel) bezeichnet. wurde A. Pfarrer in Jengen bei Kaufbeuren u. Sie ist noch nicht genauer untersucht worden, heiratete. Nachdem A. mit Schriften Luthers sodass nähere Angaben zur Bearbeitungsten- bekannt geworden war, begann er, in dessen Sinne zu predigen, weswegen er (wohl 1520) denz derzeit noch ausstehen. für ein halbes Jahr in Dillingen inhaftiert Ausgaben: H. Psilander: Die niederdt. A. Uppsala 1901. – Ders.: Hochdt. u. niederdt. Fragmente. wurde. A. ging erneut nach Wittenberg (Promotion zum Magister 24.1.1521) u. diente A. Antichrist. Leben der Apostel. Uppsala 1905. Literatur: Hoffmann v. Fallersleben: Aus einer 1522/23 nochmals Sickingen, diesmal als Ermittelniederdt. Auslegung der Offenbarung Jo- zieher von dessen Söhnen. A. blieb auf der hannes. In: Altdt. Blätter 1 (1836), S. 283–286. – H. Ebernburg, als Philipp von Hessen, Kurfürst F. Massmann: Mittelhochdt. u. mittelniederdt. Ludwig V. von der Pfalz u. der Erzbischof von Bruchstücke. In: Germania 10 (1846), S. 125–184. – Trier Sickingen den Krieg erklärten. Die Robert Priebsch: Dt. Hss. in England. Bd. 2, Er- Niederlage Sickingens am 6.6.1523 erlebte A. langen 1901, S. 173 f., Nr. 198. – Karl Christ: mit. Danach begab er sich nach Wittenberg, Münsterische Bruchstücke der niederdt. A. In: wo er Hebräisch unterrichtete u. Luther bei ZfdA 51 (1910), S. 269–276. – Karl Bischoff: Elbder Übersetzung des Alten Testamentes half. ostfäl. Studien. Halle 1954, S. 37 ff. – Erik Rooth: Studien zur niederdt. A. In: Ztschr. für Mundart- 1527 übernahm A. eine Pfarrstelle in Saalfeld forsch. 23 (1955), S. 45–59. – Hartmut Beckers: u. wurde dort 1528 Superintendent. A. stand dem sog. Antinomismus Johannes Desse boke de horn den greve von der Hoies unde sint altomale dudesk. In: Niederdt. Wort 16 (1976) Agricolas nahe, der sich mit seiner Ansicht, S. 126–143. – Ders.: Neues zur Überlieferung der das mosaische Gesetz sei nur eine vorchristl. mittelniederdt. A. In: ZfdA 105 (1976) S. 263–273. Zuchtordnung, gegen Luther u. Melanchthon – Ders.: Zum Wandel der Erscheinungsformen der richtete. Zwischen A. u. Luther kam es jedoch dt. Schreib- u. Literatursprache Norddeutschlands ob dieser Differenzen weder zum Streit noch im ausgehenden Hoch- u. beginnenden SpätMA. zu einem Bruch. Von Agricola wandte sich A. In: Niederdt. Wort 22 (1982), S. 1–39. – Karin Schneider: Got. Schr.en in dt. Sprache. Vom späten zu dem Zeitpunkt ab, als jener sich für die 12. Jh. bis um 1300. 2 Bde., Wiesb. 1987, Bd. 1, Durchsetzung des von ihm mitkonzipierten S. 264 f.; Bd. 2 Abb. 162. – Ralf Plate: Neues zur Leipziger Interims einsetzte, das den ProtesÜberlieferung u. Textkritik der ›niederdt. A.‹. In: tanten zwar Laienkelch u. Priesterehe konVestigia bibliae 9/10 (1987/88) S. 181–215. – Frei- zedierte, sonst aber die Wiedereinführung mut Löser: Der Apokalypse-Komm. des Georg altgläubiger Zeremonien vorsah. A. war nach Kreckwitz u. die Tradition deutschsprachiger Melanchthon der Erste, der eine scharfe Übers.en der Johannes-Apokalypse im MA. In: Schrift gegen Agricola in den Druck gab (WiChloe. Beih. zu Daphnis: Editionsdesiderata zur der den spöttischen Lügner. o. O. [Magdeb.] Frühen Neuzeit 25 (1997), S. 637–668. 1548). A.s Bekämpfung des Interims entMartin-M. Langner sprang u. a. auch das Lied Ach Gott vom Himmel, sich darein. Nachdem der Kaiser ein Kopfgeld auf A. ausgesetzt hatte, fand dieser

Archenholtz

186

Zuflucht auf Schloss Rudolstadt u. später bei den Grafen von Henneberg in Untermaßfeld, die ihn 1550 als Dekan ans Kollegiatsstift nach Schmalkalden beriefen. Nach der Entlassung des im Schmalkaldischen Krieg inhaftierten Kurfürsten Johann Friedrich I. wurde A. nach Saalfeld zurückberufen (Abschiedspredigt in Schmalkalden 27.9.1552). Weitere Werke (in Auswahl): Ein schone trostl. ermanung. Straßb. 1524. – Von Almosen geben. Wittenb. 1533. – Ein Christl. Erklerung des kleynen Catechismi. Augsb. 1538 – Eyn sehr hoch nötige Ermanung an das [...] Christlich heufflein. Magdeb. 1548. – Ein fröl. Trostpredigt. Magdeb. 1550. Literatur: VD 16 A 250–281 (Bibliogr.). – Georg Biundo: K. A. u. das Interim. In: Theolog. Literaturztg. 74 (1949), S. 587–592. – Ders.: K. A. Ein Kämpfer für das Evangelium. o. O. 1963. – Otto Böcher: Die Theologen der Ebernburg. K. A., M. Bucer, J. Oekolampad u. J. Schwebel. In: BPfKG 66/ 67 (1999/2000), S. 403–423. Johann Anselm Steiger

Archenholtz, Archenholz, Johann Wilhelm von, * 3.9.1743 Langfuhr bei Danzig, † 28.2.1812 Öjendorf/Hamburg. – Historiker, Publizist u. Herausgeber. Der früh verstorbene Vater Daniel Archenholtz war Leutnant in Diensten der Freien Stadt Danzig, die Mutter Charlotte Luise Tochter eines preuß. Offiziers. Diese familiären Vorbilder bestimmten auch den Sohn zur militär. Laufbahn. Nach der Ausbildung in der Berliner Kadettenanstalt nahm er auf preuß. Seite am Siebenjährigen Krieg teil u. avancierte schnell zum Offizier. Seine Karriere endete jedoch jäh nach dem Hubertusburger Frieden 1763, offiziell mit einem ehrenvollen Abschied als Hauptmann, tatsächlich wegen seiner übergroßen Leidenschaft für das Glücksspiel. Die folgenden 16 Jahre verbrachte er mit ausgedehnten Reisen durch fast alle europ. Länder. 1780 verletzte er sich in Rom so schwer am Fuß, dass er zeitlebens lahm blieb. Geldnot zwang ihn nun zur Rückkehr nach Deutschland u. zum Broterwerb durch publizist. Tätigkeit. Bereits sein erstes Zeitschriftenprojekt »Litteratur und Völkerkunde« (Dessau 1782–86. Fortgesetzt Lpz. 1787–91 als »Neue

Litteratur und Völkerkunde«) war so erfolgreich, dass A. vom Ertrag leben konnte. Die Monatsschrift profitierte nicht nur von seiner umfassenden Belesenheit u. den langjährigen Reiseerfahrungen, sondern ebenso von seiner geschickten Hand bei der Auswahl von Themen u. Mitarbeitern. Als scharfsichtiger Beobachter zeigte A. sich in der vergleichenden Charakteristik des sozialen u. polit. Lebens in England und Italien (3 Tle., Lpz. 1785. Neue Ausg. in 5 Bdn., 1787. Mehrfach übers. u. nachgedruckt. Neuausg. 1993), in der er England als Beispiel eines aufgeklärten, fortschrittl. Staatswesens, Italien als dessen Gegenbild malte. Das Werk begründete seinen Ruhm, obwohl ihm Kritiker, unter ihnen auch Goethe, übermäßiges Lob auf der einen u. »großtuenden« Tadel auf der anderen Seite vorwarfen. Gleich drei Zeitschriften schlossen an den Erfolg von England und Italien an: »The British Mercury« (12 Bde., Hbg. 1787–90). »The English Lyceum« (1 Jg., Hbg. 1787), ein Nachdruck ausgewählter Artikel aus engl. Blättern, u. die historisch-politisch-sozialen »Annalen der brittischen Geschichte« (20 Bde., Braunschw./Hbg./Tüb. 1789–1800). Sein erfolgreichstes Werk, die »für alle Volksklassen« geschriebene Geschichte des Siebenjährigen Krieges in Deutschland, zuerst im »Historisch-genealogischen Calender für 1789« (Lpz./Bln. 1788) erschienen, dann separat (Mannh. 1788), galt über 100 Jahre als Standardwerk (141893), obwohl A. kaum quellenkritisch gearbeitet hat. Er bewahrte allerdings trotz seiner unveränderten Hochachtung für Friedrich II. (dem er das Buch widmete) einen überparteilichen, krit. Standpunkt u. nutzte für die Darstellung zahlreiche briefl. u. mündl. Berichte ehemaliger Mitkämpfer. Zeitgenossen rühmten seine Meisterschaft in den histor. Schriften, Leser zu fesseln, »die mehr durch ein schönes Gemälde des Ganzen angenehm unterhalten, als durch eine bis auf Kleinigkeiten genaue Zergliederung des Einzelnen beschäftigt sein wollen« (F. C. Baur). Mit Wieland, seinem literar. Vorbild, gab er den »Historischen Kalender für die Damen auf 1790« heraus; gute, teils freundschaftl. Kontakte verbanden ihn u. a. auch mit Schil-

187

Archipoeta

ler, Johann Wilhelm Ludwig Gleim, August Zeit war, ist sein Werk in der neueren GeGottlieb Meißner, Johann Gottfried Seume, schichtsschreibung erst ansatzweise gewürJoachim Heinrich Campe, Christian Friedrich digt worden, lediglich in der ReiseliteraturDaniel Schubart, Johann Joachim Eschenburg forschung findet A. stärkere Beachtung; u. Georg Forster. A. war ein unermüdlicher u. Nachlass u. Briefe sind noch weitgehend unproduktiver Arbeiter. Zeitweise redigierte u. ausgewertet. schrieb er drei Monatsschriften gleichzeitig Weitere Werke: Gesch. der Königin Elisabeth v. u. so schnell, dass er mit Satz u. Herstellung England. Lpz. 1789. – Kleine histor. Schr.en. Bln. mehrere Druckereien zugleich betrauen 1791. Tüb. 21803 (in 2 Bdn.). – Gesch. des Königs musste. Sein praktischer Geschäftssinn ließ Gustav Wasa. 2 Bde., Tüb. 1801. Neuere Ausgabe: England u. Italien. Nachdr. ihn von Beginn an als eigenen Verleger tätig werden u. verschaffte ihm rasch die finanzi- der dreiteiligen Erstausg. 1785 mit Varianten der elle Grundlage, um 1786 in Dresden Sophie fünfteiligen Ausg. 1787. Materialien u. Untersuchungen der Text- u. Wirkungsgesch., Bibliogr. u. Friederike von Roksch zu heiraten. Nachw. Hg. Michael Maurer. Heidelb. 1993. Zensurschwierigkeiten zwangen ihn in den Literatur: Friedrich Christian Baur: A. In: folgenden Jahren, häufig umzuziehen: 1787 Ersch/Gruber 6 (1821), S. 134 f. – Friedrich Ruof: J. nach Hamburg, 1788 nach Braunschweig, W. v. A. Ein dt. Schriftsteller zur Zeit der Frz. Re1789 nach Berlin. Die Französische Revolu- volution u. Napoleons (1741–1812). Bln. 1915. – tion zog ihn, wie viele andere Revolutions- Emil Dovifat: J. W. v. A. In: NDB. – Michael Maufreunde, im Sommer 1791 mit seiner Familie rer: A. In: Ders.: Aufklärung u. Anglophilie in nach Paris. Er bemerkte allerdings schnell, Dtschld. Gött. 1987, S. 182–217. – Ders.: Nachw. dass seine revolutionären Ideale mit der rea- In: England u. Italien. Bd. 3: Materialien u. Varilen polit. Situation immer weniger in Ein- anten. Heidelb. 1993, S. 509–559. – Italo M. klang zu bringen waren; die »terreur« der Battafarano: Der Weimarer Italienmythos u. seine Jakobiner erschreckte ihn zutiefst. Im Juni Negation. Traum-Verweigerung bei A. u. Nicolai. 1792 verließ er darum Frankreich, zog in die In: Italienbeziehungen des klass. Weimar. Hg. Klaus Manger. Tüb. 1997, S. 39–60. – Peter GenUmgebung Hamburgs u. blieb dort bis zu dolla: Arkadien. Zum Italienbild v. A. bis Heine. seinem Lebensende. Noch in Paris hatte er Ffm. 2003. Wolfgang Griep / Bernhard Walcher 1792 die Monatsschrift »Minerva, ein Journal historischen und politischen Inhalts« gegründet, die zur bedeutendsten aufkläreArchipoeta. – Lateinischer Dichter des 12. risch-liberalen polit. Zeitschrift um die Jh. Wende zum 19. Jh. werden sollte (67 Jahrgänge, 1792 bis 1858). A., der auch weiterhin Der A. gilt nach einhelliger Meinung als einer an seinen freiheitlich-republikan. Grundsät- der bedeutendsten Dichter des lat. MA. Zuzen festhielt, veröffentlichte darin zunächst dem ist er als einer von wenigen mlat. Dichfast ausschließlich Augenzeugenberichte tern durch Orffs eingängige Vertonung seiner über die revolutionären Ereignisse in Frank- sog. Vagantenbeichte (»Estuans intrensicus...«) reich, weitete bald aber die Berichterstattung in den Carmina Burana auch einem Publikum auch auf andere Länder aus, dokumentierte außerhalb der engeren Fachgrenzen bekannt. zudem, oft nicht ohne ZensurschwierigkeiIm Gegensatz zur Bedeutung des A. ist die ten, Aktenstücke, seltene Flugschriften u. Zahl der auf uns gekommenen Texte bedauAuszüge aus kurzlebigen Zeitungen. Einige erlich klein. Von ihm überliefert sind ledigBerichte, die für die »Minerva« zu umfang- lich 10 Lieder, die mit großer Wahrscheinreich waren, erschienen separat in den Mis- lichkeit nicht sein gesamtes Werk ausmachen cellen zur Geschichte des Tages (2 Bde., Hbg./ dürften. Versuche, aus der großen Zahl anGött. 1795. Neudr. Kronberg 1979). onym überlieferter Texte einige seinem Noch zu seinen Lebzeiten, 1809, übergab Œuvre einzuverleiben, sind jedoch über mehr A. die Redaktion seinem langjährigen Mitar- oder (zumeist) weniger ansprechende Verbeiter Friedrich Alexander Bran. Obwohl A. mutungen nicht hinausgekommen u. können einer der bedeutendsten Publizisten seiner von daher keine allzu große Autorität für sich

Archipoeta

beanspruchen. Mittelalterlichen Lesern u. Hörern war der A. v. a. durch die genannte Vagantenbeichte (Lied X) bekannt, die mit mehr als 40, den Text allerdings mit höchst unterschiedlichem Strophenbestand u. differierender Strophenreihenfolge präsentierenden, Überlieferungszeugen zu den meistüberlieferten Texten des MA gehört. Demgegenüber sind die Lieder II, III, V, VI nur in einer, die Lieder IV, VII u. IX in zwei u. Lied I immerhin in drei Handschriften aufzufinden. Die wichtigste Quelle für das dichter. Schaffen des A. ist die vor 1200 entstandene Göttinger Handschrift (Go, UB Göttingen cod. phil 170), der wir nicht nur die Überlieferung von acht Liedern verdanken, sondern auch die namentliche oder besser pseudonyme Zuschreibung an den »Archipoeta«, der in sieben der acht Lieder als Autor genannt wird. (Dass diese Zuschreibung in Lied I fehlt, ist allerdings mit Sicherheit nur auf eine fehlerhafte Beschneidung des Manuskripts zurückzuführen.) Wer sich hinter dem in der Folgezeit auch für andere Dichter (Krefeld/Watenphul, Einl., S. 20 f.) verwendeten Pseudonym »Archipoeta« (Erzpoet) verbirgt u. warum er gerade so genannt wird, ist unklar. Vieles spricht dafür, dass es im Falle unseres A. v. a. um eine Namensangleichung an den Erzkanzler (Archicancellarius) Friedrichs I., Rainald von Dassel (Reichskanzler 1156–1167, Erzbischof von Köln u. Erzkanzler von Italien 1159–1167) ging, in dessen unmittelbarer Umgebung sich der Dichter offenbar bewegt hat u. an den er seine Lieder richtet. Ob er darüber hinaus in irgendeinem Dienstverhältnis zu Reinald gestanden hat, etwa als »Beamter oder untergeordneter Diplomat im Dienste des kaiserlichen Kanzlers« (Dronke 1977, S. 10), kann man nur vermuten. Die vor einigen Jahren unternommenen Versuche, den A. entweder mit einem »notarius Rodulfus« oder einem zufällig gleichnamigen, mit der Kölner Kathedralschule in Verbindung stehenden zweiten Rodulfus zu identifizieren, haben nicht recht überzeugt (Schieffer, Fried, dagegen Dronke 1994, S. XX f.). Wie es bei einem Dichter nicht verwundert, der es vorzieht, anonym zu bleiben (»Nomen

188

vatis vel personam / manifeste non exponam«; »Namen und Person des Dichters werde ich nicht klar kundtun«; II, 17–18), sind auch die Informationen, die wir über Leben, Stand u. Herkunft des A. haben, äußerst spärlich. Da er in Lied I, 35 behauptet, kein »puer« mehr zu sein u. sich in Lied X, 7 zu den »iuvenes« zählt, was nach gängigem, aber nicht eindeutig festgelegtem Sprachgebrauch einem Lebensalter zwischen dem 28. u. 49. Lebensjahr entspräche, hat man ein Geburtsdatum um 1130 angenommen. Sicher ist das jedoch nicht. Auch ob er zus. mit Rainald von Dassel u. einem Teil des kaiserl. Heeres an einer 1167 vor Rom ausgebrochenen Malaria-Epidemie gestorben ist, entzieht sich unseren Kenntnissen. Jedenfalls verstummt für uns mit dem Tod des Erzkanzlers auch der Erzpoet. Die – in der Vergangenheit bisweilen unangenehme Züge tragende – Diskussion (Langosch 1935), ob der A. ein Deutscher, Italiener oder Franzose sei, trug bislang nicht zur endgültigen Klärung seiner Herkunft bei. Da in seinem Latein keine volkssprachl. Eigentümlichkeiten auffindbar sind, gehen alle Überlegungen von der an Rainald gerichteten Liedzeile aus: »Et transmontanos, vir transmontane, iuva no[s]« (»und hilf uns Transmontanen, Herr, der Du auch ein Transmontane bist«; III, 14; Übertragung Krefeld). Ob aber dieses »transmontanus« das tatsächliche, Rainald u. dem A. gemeinsame Geburtsland (Deutschland) angibt oder den vom Geburtsland unabhängigen Ort seines Auftretens (Köln) benennt oder ob der A. damit lediglich eine transalpine, d.h. kaisertreue, antipapistische Gesinnung kennzeichnen will, die er – wiederum unabhängig von seiner Herkunft – mit Rainald teilt (Godman 2000, S. 79 f.), bleibt unklar. Folgt man dem, was den Liedern ansonsten zu entnehmen ist, so entstammt er einem Ritter-Geschlecht: »Fodere non debeo, quia sum scolaris / ortus ex militibus preliandi gnaris; / sed quia me terruit labor militaris, / malui Virgilium sequi quam te, Paris« (»Feldarbeit muss ich nicht verrichten, weil ich ein Scholar bin und von kampferfahrenen Rittern abstamme. Aber da mich das Kriegshandwerk abschreckte, wollte ich lieber dem

189

Vergil folgen als Dir, Paris«; Lied IV, 18, 1–4; Übertragung J. P.). In Lied VI berichtet er, dass er den Plan, in Salerno Medizin zu studieren, wegen einer Fieberkrankheit habe aufgeben müssen u., wie er in einem auf Deutsch nicht angemessen wiederzugebenden Wortspiel schreibt, nun zu den Bettlern statt zu den Ärzten gehöre (»Nunc mendicorum socius sum, non medicorum«; VI, 17). Als mögl. Aufenthaltsorte nennt er neben Köln Vienne (in einem genialen Kunstgriff in der sog. Jonas-Beichte zudem auch als Anagramm im Namen Ninive verborgen; II, 70). Pavia u. Novarra werden als kaisertreue Städte im sog. Kaiserhymnus (IX, 18 f.) gelobt. Mailand, das Barbarossa 1158 erobert u. 1162 zerstören lässt, wird im selben Text getadelt (Lied II, 22 ff.). In der Vagantenbeichte erscheint Pavia noch einmal als Ort, in dem alle Wege ins Bett der Venus führen (»Veneris in thalamos ducunt omnes vie«; X, 9, 3). Mehr ist über das Leben des A. nicht zu erfahren. Deutlicher tritt uns die exquisite Bildung des A. vor Augen. Bibelkenntnisse verbindet er mit souveräner Beherrschung der lat. Klassiker; in Theologie u. Philosophie scheint er ebenfalls gut bewandert zu sein. Typisch »vagantische« Themen der Weltfreude wie Wein, Spiel u. Liebe, aber auch Klagen über Armut u. Krankheiten sowie Bitten um Geld oder Kleidung kombiniert er höchst kunstvoll mit kirchl. Formen wie Vision (Lied V) oder Beichte (Lieder II u. X). Dass in diese wiederum Anspielungen aus der paganen antiken Literatur eingestreut werden, verstärkt den parodist. Charakter. All dies dichtet er in einem äußerst eleganten u. geschmeidigen Latein, dem an keiner Stelle dichter. Anstrengung anzumerken ist. Ob der A. sich wie sein Zeitgenosse Walther von Châtillon weiterer literar. Formen bedient hat, ist unbekannt. Ein Barbarossa-Epos zu schreiben, wozu er offenbar aufgefordert worden war, lehnt er aufgrund des allzu eng gesetzten Zeitrahmens ab (Lied IV, 3 ff.). Er könne innerhalb eines kurzen Zeitraums nicht leisten, wozu selbst ein Homer, Vergil oder Lucan fünf Jahre benötigen würden. Abgesehen davon ist das poet. Selbstbewusstsein des A. groß. Er beklagt, dass Gaukler allzu reichen Lohn zu erwarten hät-

Archipoeta

ten (II, 7 ff.) u. verspricht im Gegenzug: »inauditas poetrias / scribam tibi, si me ditas« (»ungehörte / unerhörte Dichtungen, werde ich für Dich schreiben, wenn Du mich reichlich entlohnst«; II, 74 f.). Dichten, heißt es in gleich zwei Liedern, könne er allerdings nur nach Maßgabe der Qualität des getrunkenen Weins. Wenn Bacchus in seinem Kopf herrsche, so fahre Apollo in ihn ein u. verkünde Wunderbares (»dum in arce cerebri Bacchus dominatur, / in me Phebus irruit et miranda fatur«; IV, 15, 17–18 bzw. X, 19, 21–22). Geschickt spielt der A. hier mit der Doppelbedeutung des »vates« als Dichter u. Seher. Durch den Wein werden beide eins, der »vates vatum« (»Dichter der Dichter«; II, 59) ist auf dem Gipfel seiner poet. Kunst. Ausgaben und Übersetzungen (in Auswahl): Heinrich Watenphul u. Heinrich Krefeld (Hg.): Die Gedichte des A. Mit Einf. u. Komm. Heidelb. 1958 (zit.) [dazu Rez. v. Walther Bulst in: AfdA 72 (1961), S. 145–159]. – Karl Langosch (Hg.): Die Lieder des A. Lat. u. Dt. Stgt. 1965. – Der A. Lat. u. dt. v. H. Krefeld. Bln. 1992. Literatur: Karl Langosch: Der A. war ein Deutscher! (Auch einiges Grundsätzliche zur mlat. Dichtung u. zur nat. Wiss.). In: Histor. Vjs. 30 (1935), S. 493–547. – Otto Schumann: A. In: 1VL. – Walter Stach: Salve, mundi domine! Kommentierende Betrachtungen zum Kaiserhymnus des A. In: Ber.e über die Verhandlungen der Sächs. Akademie der Wiss., Phil.-Histor. Kl. 91 (1939), H. 3. – Ernst R. Curtius: Der A. u. der Stil der mittelalterl. Dichtung. In: Roman. Forsch.en 54 (1940), S. 105–164. – K. Langosch: Studien zum A. I-II, in: Dt. Archiv für die Gesch. des MA 5 (1942), S. 387–418. Wieder in: Ders.: Kleine Schr.en. Hg. Paul Klopsch u. a. Hildesh./Mchn. 1986, S. 205–236. – Ders.: Polit. Dichtung um Kaiser Friedrich Barbarossa. Bln. 1943. – Willibrord Heckenbach: Zur Parodie beim A. In: Mlat. Jb. 4 (1967), S. 145–154. – P. Klopsch: Zu ›Kaiserhymnus‹ u. ›Beichte‹ des A. Ebd., S. 161–166. – K. Langosch: Zur ›Bittpredigt‹ des A. Ebd., S. 155–160. Wieder in: Ders.: Kleine Schr.en, S. 257–262). – Peter Dronke: Die Lyrik des MA. Mchn. 1977. Engl. 1968. – Fritz Wagner: Colores rhetorici in der ›Vagantenbeichte‹ des A. In: Mlat. Jb. 10 (1975), S. 100–105. – William T. H. Jackson: The Politics of a Poet: The A. as Revealed by his Imagery. In: Philosophy and Humanism. Hg. Edward P. Mahoney. New York 1976, S. 320–338. – Anne Betten: Lat. Bettellyrik: literar. Topik oder

Arconatus Ausdruck existentieller Not? Eine vergleichende Skizze über Martial u. den A. In: Mlat. Jb. 11 (1976), S. 143–150. – Günter Bernt: A. In: 2VL. – Francis Cairns: The A.’s Confession. In: Mlat. Jb. 15 (1980), S. 87–103. – Ders.: The A.’s ›Jonah-Confession‹. In: Mlat. Jb. 18 (1983), S. 168–193. – Johannes Hamacher: Die ›Vagantenbeichte‹ u. ihre Quellen. Ebd., S. 160–167. – Rudolf Schieffer: Bleibt der A. anonym? In: MIÖG 98 (1990), S. 59–79. – Johannes Fried: Der A. – ein Kölner Scholaster? In: Ex ipsis rerum documentis. Beiträge zur Mediävistik. FS Harald Zimmermann. Hg. Klaus Herbers, Hans-Henning Kortüm u. Carlo Servatius. Sigmaringen 1991, S. 85–90 – P. Dronke: Hugh Primas and The Archpoet: some historical (and unhistorical) testimonies, In: Hugh Primas and the Archpoet. Translated and edited by Fleur Adcock. Cambridge 1994, S. XVII-XXII. – Thomas Cramer: Das Genie u. die Physik: zu ›Estuans intrinsecus‹ des A. In: Der fremdgewordene Text: FS Helmut Brackert. Hg. Silvia Bovenschen. Bln. u. a. 1997, S. 1–10. – Peter Godmann: Archness: The Archpoet and the Arch-Chancellor. In: Geistliches in weltl. u. Weltliches in geistl. Lit. Hg. Christoph Huber, Burghart Wachinger u. Hans-Joachim Ziegler. Tüb. 2000, S. 51–89. Jens Pfeiffer

Arconatus, Hieronymus, * 27.4.1553 Löwenberg/Schlesien (danach der Beiname Leorinus), † 18.6.1599 Wien. – Lyriker.

190

Türken wird hier in Parallele zu den Kämpfen der Völkerwanderungszeit gesetzt. A. beherrschte den Formenkreis der humanist. Lyrik. Seine Gedichte verarbeiten autobiogr. Erfahrungen (u. a. erot. Erlebnisse) u. illustrieren die personalen Beziehungen im Umkreis des böhmischen bzw. schles. Späthumanismus. Enge literar. Kontakte unterhielt A. auch zu dem oberösterr. Adligen Christoph von Schallenberg sowie zu dem in Linz lebenden Lyriker u. Dramatiker Georg Calaminus. Weitere Werke: Carminum [...] farrago. Wien 1592. – Poematum recentiorum volumen, in quo continentur epigrammata, elegiae et carmina heroica. Wien 1591. – Deliciae poetarum Germanorum. Hg. Janus Gruter. Bd. 1, Ffm. 1612, S. 386–394. Internet-Ed.: CAMENA. – Briefe A.’ in der Österr. Nationalbibl. Wien. Ausgaben: Briefe u. Gedichte. In: Georg Calaminus: Sämtl. Werke. Hg. Robert Hinterndorfer. Bd. 1–4, Wien 1998, bes. Bd. 4, S. 2001–2006. – Textausw. in: CAMENA. Literatur: Wilhelm Saliger: H. A. In: Programm des dt. Gymnasiums in Olmütz. 1880, S. 33–40. – Alfred Rüffler: H. A., ein schles. Dichter des 16. Jh. In: Ztschr. des Vereins für die Gesch. Schlesiens 71 (1937), S. 211–224 (bestes Werkverz.). – Helmut Slaby: Magister Georg Calaminus u. sein Freundeskreis. In: Histor. Jb. der Stadt Linz 1958, S. 73–139 (passim). – Heinrich Kunstmann: Die Univ. Altdorf u. Böhmen. Köln/Graz 1963, S. 39–42. – Enchiridion renatae poesis Latinae in Bohemia et Moravia cultae. Hg. Antonius Truhlárˇ u. a. Bd. 1, Prag 1966, S. 101. – Richard J. W. Evans: Rudolf II. Ohnmacht u. Einsamkeit (dt.). Graz 1980, S. 104, III. – Manfred P. Fleischer: Eine Elegie auf die Insel Kreta u. die Welt Rudolfs II. (engl. 1980). In: Ders.: Späthumanismus in Schlesien. Mchn. 1984, S. 236–245. – Erich Trunz: Pansophie u. Manierismus im Kreise Rudolfs II. In: Die österr. Lit. Ihr Profil von den Anfängen im MA bis ins 18. Jh. (1050–1750). Hg. Herbert Zeman. Graz 1986, S. 865–983 (mit Hinweisen auf tschech. Lit.).

Der Sohn eines aus Mailand stammenden Festungsbaumeisters besuchte ein Gymnasium in Breslau, wandte sich zum Studium jedoch nach Padua (1570). Im Dienst Venedigs nahm A. an der Seeschlacht von Lepanto (1571) teil, über die er eine poet. Darstellung verfasste. Dann verbrachte er zwei Jahre auf Kreta (Gedicht: De Insula Creta. Abgedr. bei Fleischer 1984, S. 244–245). Auf Bildungsreisen lernte er Paris, die Schweiz u. Holland sowie London kennen. Im Dienst des Kaisers lebte A. von 1579 bis 1583/84 in Wien (Besuche in Linz bezeugt) u. trat hier v. a. in Wilhelm Kühlmann Kontakt zu dem Gelehrtenkreis um den Hofbibliothekar Hugo Blotius. 1593–1597 hielt sich A. als Sekretär des Hofkriegsrats in Arends, Wilhelm Erasmus, * 5.2.1677 Prag auf. Die internat. Atmosphäre der Prager Langenstein/Harz, † 16.5.1721 HalberKultur spiegelt sich in der Oratio S. Patris Austadt. – Pastor u. Kirchenlieddichter. gustini [...] versibus latinis, italicis, germanicis et bohemicis expressa (komm. v. dem Augustiner Der Sohn eines früh verstorbenen Pfarrers Jacobus Lambertus Aretinus, hg. v. A. Prag wählte den Beruf des Vaters, studierte u. a. bei 1596). Die Bedrohung Ungarns durch die August Hermann Francke in Halle (Imma-

191

trikulation 18.4.1698), war Erzieher von Christlieb Leberecht von Exter, Pastor in Crottorf im Fürstentum Halberstadt u. von 1718 bis zu seinem frühen Tod Erster Pfarrer an der Peter-Pauls-Kirche (heute: Martini) in Halberstadt. A. verfasste pietist. Lieder wie Wenn das nagende Gewissen (nach Rom. 5, 1ff.) u. wohl auch das an Eph. 6, 10 anklingende Lied Rüstet euch, ihr Christenleute (EKG 267), das zur geistl. Ritterschaft aufruft. Weitere Werke: Eines zehen-jährigen Knabens Christlieb Leberecht v. Exter [...] Lebens-Lauff [...]. Zum öffentl. Druck gegeben v. August Hermann Francke. Halle: Waisenhaus 21708. 51757. – Gründl. u. sehr heilsames Erkäntniß der Leiden dieser Zeit [...] betrachtet nach ihrer unvermeidl. Nothwendigkeit u. unschätzbaren Nutzbarkeit [...]. o. O. 1724. Literatur: Paul Pressel: W. E. A. In: ADB. – Bautz. – DBA 30, 390–392. – HKJL. Von 1570 bis 1750, Sp. 1065 f. Heimo Reinitzer / Red.

Arendt, Erich, * 15.4.1903 Neuruppin, † 25.9.1984 Wilhelmshorst bei Potsdam; Grabstätte: Berlin, Dorotheenstädtischer Friedhof. – Lyriker u. Übersetzer. Nach der Mittelschule besuchte A., Sohn eines Heizers u. Hausmeisters, das Lehrerseminar seiner Vaterstadt. Als Lehrer stellenlos, wurde er Bankangestellter, Kulissenmaler, Hilfsredakteur. Auf Besuchsreisen nach Berlin lernte er Bilder von Klee, Beckmann, Marc u. Chagall kennen, was für ihn, der nur das Kleinstadtmilieu kannte, zum entscheidenden künstler. Erlebnis wurde. Nach 1926 ging er nach Berlin, trat der KPD bei u. wurde Lehrer an einer sozialistisch bestimmten Volksschule. Die ersten, der Poetik des »Total-Wortes« August Stramms verpflichteten Gedichte erschienen in Herwarth Waldens Zeitschrift »Der Sturm«. Wortreihungen, Neologismen u. Expressivität charakterisieren den Stil dieser frühen Gedichte, in denen der syntakt. Bedeutungszusammenhang zugunsten der Isolierung des Einzelwortes aufgelöst wird. A. wurde 1928 Mitgl. im »Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller«, dessen durch Johannes R. Becher formulierte Forderung nach einer politischen, jedermann verständl. Dichtung den an andere künstler.

Arendt

Wurzeln gebundenen A. in eine Schaffenskrise führte. A. emigrierte 1933 mit seiner Frau Katja Hayek (seit 1930 verheiratet) in die Schweiz, 1934 nach Spanien. Dort wurde er Berichterstatter der republikan. Division »Carlos Marx«. Texte aus dieser Zeit, u. a. Héroes (mit Joaquin Morera i Falcó) sind, aus dem Spanischen bzw. Katalanischen übersetzt (dt. Originale verschollen), in der Spanien-Akte Arendt (Rostock 1986) wiedergegeben. Nach dem Fall Madrids floh A. über die Pyrenäen u. wurde zu Beginn des Zweiten Weltkriegs in frz. Lagern interniert; ihm gelang 1941 über Spanien die Ausreise nach Kolumbien. Aus gesundheitl. u. polit. Gründen kehrten die Arendts 1950 nach Berlin zurück. Für die Gedichtbände der Emigrationszeit (Trug doch die Nacht den Albatros. Bln./DDR 1951. Bergwindballade. Bln./DDR 1952) erhielt A. den Nationalpreis der DDR III. Klasse. Sie sind in Form u. Sprachhaltung konventionell, zu den frühen »Sturm«-Texten besteht kaum eine Verbindung. In jenen Jahren entstanden die meisten von A.s Nachdichtungen spanischer u. lateinamerikan. Lyrik. Wie wohl keinem anderen dt. Übersetzer gelang es A. mit seinen Übertragungen Rafael Albertis, Vicente Aleixandres u. v. a. Pablo Nerudas, dem dt. Leser einen lyr. Kontinent zu erobern. In eigenwillig gehobener Sprache folgte A. dem Original in Bild, Wort u. Gedanken, doch verzichtete er auf die genaue Beachtung der in den roman. Sprachen wichtigen Silbenzahl – u. damit auf den Sprachrhythmus des Originals –, auf den Reim u. gelegentlich auf die genaue Strophengliederung. Die Übersetzungen, deren Stil sich wesentlich von seinem Früh- u. Spätwerk unterscheidet, machten A. auch im Westen Deutschlands bekannt, wo sein lyrisches Werk bis heute kaum verlegt u. gelesen wird. Durch ausgedehnte Reisen, die ihn – wie schon in den 1920er Jahren – durch fast alle europ. Länder u. nach Algerien führten, erschloss sich A. die für seine spätere Dichtung wichtige südlich-maritime Landschaft. Mit den Landschaftsgedichten Flug-Oden (Lpz. u. Wiesb. 1959) u. Ägäis (Lpz. 1967) – deren Ästhetik von der modernen spanischsprachigen

Arendt

u. frz. Poesie u. der Dichtung Celans beeinflusst wurde – hatte A. schließlich seinen unverwechselbaren Ton u. seine eigene, geografisch u. mythisch orientierte Sprache gefunden. Im Mediterranen sah er Spuren einer »Elementarlandschaft, zeitlos, von Menschenhand ungeprägt«, u. das Fortleben der griech. Mythen in Mensch u. Landschaft. Stein, Ödnis, Unwirtlichkeit, Kargheit, Einsamkeit u. »Lebensverherrlichung, ein Preisen der Daseinsschönheit im Geschlecht«, Evozierung des Mutterrechts, Tod u. Eros durchdringen einander. Ellipsen, Wortzusammenziehung u. Partizipialschöpfungen charakterisieren den Duktus (»meernachtgeworfen«, »zeitschattenblind«, »staubentschwiegen«). Das Verb tritt zurück, die Zeilenbrechung erfolgt häufig im Wort u. führt, den Sinnzusammenhang auflösend, zu neuen Sinnfeldern. Das Oxymoron (»Trauerschwärze des Lichts«, »ein Schreien, stumm«) kennzeichnet das wachsende semant. Gewicht des Einzelworts in A.s späten Gedichten, adverbiale Formen werden substantivisch gebraucht. Dadurch verwandelt sich die Metapher ins bewegte lyr. Bild (»das gräserne Zart«, »gerichtetes Zeitlos«), das zunehmend – seit den Flug-Oden in freier Rhythmik – zur »Sprach-Bewegung« (Gregor Laschen) wird. In den abschließenden Gedichtbänden Feuerhalm (Lpz. 1973) bis entgrenzen (Lpz. u. Bln./ West 1981. Erw. Ausg. Lpz. 1983) wird – Worte vom »Ausgeträumt / des Himmels« wiederaufnehmend, die sich bereits in Ägäis finden – der wachsende Zweifel A.s am Mythos u. an der Kraft des Humanen, die Bedrohung durch Vernichtung u. Nichts in Worte gefasst. Weitere Werke: Tropenland Kolumbien. Lpz. 1954 (Bildbd.). – Tolú. Lpz. 1956 (L.). – Über Asche u. Zeit. Bln./DDR 1957 (L.). – Gesang der sieben Inseln. Bln./DDR 1957 (L.). – Inseln des Mittelmeeres. Lpz. 1959 (Bildbd. mit Katja HayekArendt). – Griech. Inselwelt. Lpz. 1962 (Bildbd. mit ders.). – Säule Kubus Gesicht. Dresden 1966 (Bildbd.). – Unter den Hufen des Windes. Reinb. 1966 (L.-Ausw.). – Aus fünf Jahrzehnten. Rostock 1968 (L.-Ausw.). – Griech. Tempel. Lpz. 1970 (Bildbd.). – Gedichte. Lpz. 1973. Erw. Ausg. 1976 u. 1983 (L.Ausw.). – Poesie Album 76. Bln./DDR 1974 (L.Ausw.). – Memento u. Bild. Lpz. 1976. Darmst. 1977 (L.). – Zeitsaum. Lpz. u. Bln./West 1978 (L.). –

192 Starrend v. Zeit u. Helle. Lpz. u. Mchn. 1980 (L.). – Das zweifingrige Lachen. Düsseld. 1981 (L.-Ausw.). – Entgrenzen. Lpz. u. a. 1981 (G.). – Reise in die Provence – unterwegs. Tagebuchnotiz aus dem Jahre 1929, mit Radierungen v. Christoph Meckel. Bln. u. a. 1983. – Übersetzungen (die meisten zus. mit K. Hayek-Arendt): Die Indios steigen vom Mixco nieder. Bln./DDR 1951 (Anth. süd-amerikan. L.). – Rafael Alberti: Stimme aus Nesselerde u. Gitarre. Bln./DDR 1959. – Ders.: In der Morgenfrühe der Levkoje. Lpz. 1964. – Ders.: An die Malerei. Dresden 1977. – Vicente Aleixandre: Nackt wie der glühende Stein. Reinb. 1963. – Ders.: Gedichte (zus. mit Fritz Rudolf Fries). Lpz. 1980. – Jean Cassou: Das lyr. Werk. St. Gallen 1971. – Luis de Cernuda: Das Wirkliche u. das Verlangen. Lpz. 1978. – Luis de Góngora: Soledades. Lpz. 1973. Düsseld. 1974. – Miguel Hernández: Gedichte. Köln 1965. – Pablo Neruda: Der große Gesang. Bln./DDR 1953. Darmst. 1984. – Ders.: Die Trauben u. der Wind. Bln./DDR 1955. Darmst. 1986. – Ders.: 20 Liebesgedichte. Lpz. 1958. – Ders.: Aufenthalt auf Erden. Hbg. 1960. – Ders.: Elementare Oden. Bln./DDR 1961. Darmst. 1985. – Ders.: Extravaganzenbrevier. Bln./DDR 1967. Darmst. 1984. – Ders.: Dichtungen. 2 Bde., Neuwied 1967. – Ders.: Viele sind wir. Neuwied 1972. – Ders.: Memorial v. Isla Negra. Bln./DDR 1976. Darmst. 1985. – Saint-John Perse: Anabasis Winde. Bln./DDR 1981. – César Vallejo: Funken wie Weizenkörner (zus. mit Hans Magnus Enzensberger u. F. R. Fries). Bln./DDR 1971. – Walt Whitman: Lyrik u. Prosa. Bln./DDR 1966. – Jorge Zalamea: Der große Burundún-Burundá ist tot. Bln./DDR 1957. Ausgabe: Krit. Werkausg. Hg. Manfred Schlösser. Bln. 2003, Bd. 1: Gedichte 1925–59; Bd. 2: Gedichte 1960–82. Literatur: Gregor Laschen: Zu den Gedichten E. A.s. In: Ders.: Lyrik in der DDR. Ffm. 1971, S. 9–37. – Ders. u. Manfred Schlösser (Hg.): Der zerstückte Traum. Für E. A. zum 75. Geburtstag. Bln./West 1978 (mit Bibliogr.). – Text + Kritik 82/ 83 (1984) (mit Bibliogr.). – Suzanne Shipley Toliver: Exile and the Elemental in the Poetry of E. A. Las Vegas u. a. 1984. – Silvia Schlenstedt (Hg.): Spanien – Akte A. Aufgefundene Texte E. A.s aus dem Spanienkrieg. Rostock 1986. – Imca Rumold: E. A., a Poet between Continents. Federico Garcia Lorca and Pablo Neruda in A.’s Poetry. In: Kulturelle Wechselbeziehungen im Exil. Hg. Helmut F. Pfanner. Bonn 1986, S. 180–189. – Gerhard Wolf: Skizzen für ein Porträt E. A.s. In: Ders.: Wortlaut. Wortbruch. Wortlust. Dialog mit der Dichtung. Lpz. 1988, S. 134–184 (mit einem Brief A.s). – Vivetta Vivarelli: Hölderlin-Motive in den Gedichten

193 E. A.s. In: Die Lit. der DDR 1976–86. Hg. Anna Chiarloni u. a. Pisa 1988, S. 253–264. – Adolf E. Ender: Notizen anläßlich der Neuausg. v. E. A. ›Tólù‹. In: Ders: Den Tiger reiten. Aufsätze, Polemiken u. Notizen zur Lyrik in der DDR. Hg. Manfred Behn. Ffm. 1990, S. 82–108. – Theo Buck: ›Ein Wort, mit all seinem Grün‹. Zu einem lyr.-poetolog. Dialog E. A.s u. Ernst Meisters mit Paul Celan. In: Celan-Jb. 4 (1991), S. 151–184. – Silvia Schlenstedt: Die Rückkehr E. A.s aus dem Exil. In: Exilforsch. 9 (1991), S. 81–89. – Hendrik Röder (Hg.): Vagant, der ich bin. E. A. zum 90. Geburtstag. Texte u. Beiträge zu seinem Werk. Bln. 1993. – Wolfgang Emmerich: E. A. – Paul Celan. Korrespondenzen u. Differenzen. In: Celan-Jb. 6 (1995), S. 181–206. – Volker Riedel: Literar. Antikerezeption. Jena 1996, S. 226–253. – Wulf Koepke: Hölderlin im Gepäck bei der Rückkehr aus dem Exil. Stephan Hermlins u. E. A.s Appell an künftige Leser. In: Deutschsprachige Exillyrik v. 1933 bis zur Nachkriegszeit. Hg. Jörg Thunecke. Amsterd./Atlanta 1998, S. 83–100. – Edgar Bazing: Internat. Lyrik zum Span. Bürgerkrieg (1936–39). Ästhet. u. polit. Tendenzen. St. Ingbert 2001, S. 76–93, 193–223 u. ö. – Fritz J. Raddatz: E. A. In: LGL. – W. Emmerich: E. A. In: KLG. Uwe Grüning / Wilhelm Kühlmann

Arendt, Hannah, * 14.10.1906 Hannover, † 4.12.1975 New York. – Philosophin u. politische Essayistin. Die Eltern A.s, Martha Arendt, geb. Cohn, u. der Ingenieur Paul Arendt, stammten aus Königsberg. Die Familie gehörte dem von aufklärerischer Tradition geprägten dt. Judentum mit osteurop. Hintergrund an. Politisch sozialdemokratisch orientiert u. dem Reformjudentum zugewandt, erfuhr A. eine ausgesprochen säkulare Erziehung. Sie entwickelte in jungen Jahren ein intensives Interesse für Philosophie. Nach Differenzen mit dem Lehrer verließ sie die Schule in Königsberg u. legte 1924 ihr Abitur extern ab. Von Romano Guardini beeinflusst, nahm sie ihr Studium in Marburg auf: Philosophie bei Martin Heidegger, zu dem sie auch in eine romant. Beziehung trat, u. Theologie bei Rudolf Bultmann. 1925 setzte sie das Studium bei Edmund Husserl in Freiburg i. Br. fort, 1926 ging sie zu Karl Jaspers nach Heidelberg. Freundschaften verbanden sie mit Benno von Wiese, Hans Jonas u. dem dt.

Arendt

Zionisten Kurt Blumenfeld. 1928 promovierte sie bei Jaspers mit der Dissertation zum Thema: Der Liebesbegriff bei Augustin (Bln. 1929). Die Arbeit ist stark dem Denk- u. Sprachstil Heideggers verpflichtet. 1929 heiratete A. Günther Stern (Anders) u. begann mit der Arbeit über Rahel Varnhagen: Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik (Engl. London 1958. Dt. Mchn. 1959). Die Untersuchung, die sich mit der jüd. Assimilationsproblematik auseinandersetzte, wurde erst 1938 fertiggestellt. Seit der Nationalsozialismus Einfluss gewann, wurde für A. die jüd. Herkunft wichtig: 1933 Flucht aus Berlin über Prag u. Genf nach Paris; Tätigkeit bei jüdischen u. zionist. Hilfsorganisationen; 1935 Mitarbeit an der Organisation für den Transport jüd. Kinder nach Palästina. 1937 von Stern geschieden, heiratete A. 1940 Heinrich Blücher, mit dem sie bis zu dessen Tod 1970 zusammenlebte. Freundschaft verband sie auch mit Walter Benjamin, dessen Thesen Über den Begriff der Geschichte sie im Mai 1941 in die USA brachte. In New York kam es zu spannungsvollen Begegnungen mit Max Horkheimer u. Theodor W. Adorno. In den USA arbeitete A. als Journalistin, v. a. bei der dt.-jüd. Wochenzeitung »Aufbau«. Während des Krieges plädierte A. für die Aufstellung einer jüd. Armee gegen Hitler. Im Palästina-Konflikt bis zur Staatsgründung befürwortete sie die Schaffung eines binationalen jüdisch-arab. Staates. 1946–1949 war sie Cheflektorin im Schocken Verlag in New York; 1948–1952 führte sie die Geschäfte der »Jewish Cultural Reconstruction, Inc.«, die mit der Sichtung u. Rückführung von Büchern aus Deutschland an ihre rechtmäßigen Besitzer bzw. an jüd. Organisationen befasst war. Nach 1945 nahm A. wieder Kontakt mit Jaspers auf, u. 1946 fand eine Wiederbegegnung mit Heidegger statt, dem sie zeitweise persönlich recht nahestand. 1951 erschien ihr viel beachtetes Werk The Origins of Totalitarianism (New York. Dt.: Elemente u. Ursprünge totaler Herrschaft. Ffm. 1955). 1961 reiste A. nach Jerusalem zur Berichterstattung über den Eichmann-Prozess. Ergebnis ihrer Beobachtung nach Abdruck als Serie im »New Yorker« ist das Buch Eichmann in Jerusalem: A

Arendt

Report on the Banality of Evil (New York 1963. Im selben Jahr dt.). 1963–1967 nahm A. eine Professur an der Universität von Chicago wahr; von 1967 bis zu ihrem Tod 1975 lehrte sie als Professorin an der New School for Social Research in New York. A. war Trägerin hoher Auszeichnungen (Lessing-Preis der Stadt Hamburg, Sigmund-Freud-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Sonning-Preis der Universität Kopenhagen für Verdienste um die europ. Kultur). In A.s Werk lassen sich drei Hauptstränge unterscheiden: Philosophie, polit. Theorie u. die Reflexion über das jüd. Schicksal. Freilich gehen die verschiedenen Elemente auch ineinander über. Das Buch über Rahel Varnhagen hat stark autobiogr. Züge u. enthält eine Absage an die jüd. Assimilation. Der assimilierte Jude verharre zwischen der Rolle des Paria u. der des Parvenüs. In der Aufsatzsammlung Die verborgene Tradition (Ffm. 1976) geht sie in Einzelstudien der jüd. Außenseiterposition am Beispiel von Heine, Chaplin, Kafka u. Bernard Lazare nach. Sie gelangt zum apodiktisch anmutenden Schluss: Fremd sein ist gut. In ihrem Hauptwerk Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft führt sie im Antisemitismus-Kapitel die Thematik weiter fort, lässt sie universalisierend im Teil Imperialismus als Rassismus-Problematik einmünden, um sie nochmals im dritten Teil (Totale Herrschaft) wieder aufzunehmen. In dessen Zentrum steht das Phänomen des Konzentrations- u. Massenvernichtungslagers als negative Apotheose der Moderne. Es ist ein Laboratorium, in dem alles möglich werden kann, beginnend mit der Zerstörung jenes zivilisatorisch-institutionellen Schutzes des Menschen, das ihn zum Individuum macht: der Form der jurist. Person. Dieser »Tod des Rechtssubjekts« (Seyla Benhabib) lässt mithin das menschl. Wesen überflüssig erscheinen. Es kann folglich ohne Bedenken vernichtet werden. A. macht deutlich, dass die Zerstörung des Individuums u. des Individuellen, entgesellschaftlichende Isoliertheit u. Einsamkeit zum Grund des Terrors, dem Wesen der totalitären Herrschaft wird. Dies wiederum stehe in enger Verbindung mit »Entwurzelung und Überflüssigsein, die seit dem Be-

194

ginn der industriellen Revolution der Fluch der modernen Massen gewesen sind und die mit dem Aufstieg des Imperialismus am Ende des letzten Jahrhunderts und dem Zusammenbruch der politischen Institutionen und sozialen Traditionen in unserer Zeit akut geworden sind. Entwurzelt sein heißt, keinen Platz in der Welt zu haben, der von anderen anerkannt und garantiert wird: überflüssig sein heißt, überhaupt nicht zur Welt zu gehören« (in: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft). Die generalisierende Formel von der »totalen Herrschaft« mündet in einen Vergleich zwischen Nationalsozialismus u. Stalinismus. Die Stellungnahme von A. war dabei nicht eindeutig. Die Gleichsetzung löst sich auf in ihrem Eichmann-Buch durch den Hinweis auf das absolut Neue an Auschwitz: die bürokrat. u. industrielle Vernichtung. Die von ihr dabei geprägte Charakterisierung des alltägl. Grauens als »Banalität des Bösen« löste heftige Reaktionen aus, die sie zutiefst verletzten. Mit der Kennzeichnung Eichmanns als »Verwaltungsmörder« traf sie jedoch ein bedeutsames Phänomen einer auf Arbeitsteilung beruhenden Gesellschaft, die in einer bestimmten Konstellation durch »Gedankenlosigkeit« u. Gleichgültigkeit moralisch korrumpiert werden kann. Walter Benjamin, dem sie einen längeren Essay widmete (Einleitung zu Illuminations. New York 1968), war sie in der Auffassung verbunden, der Bruch der als »Tradition« bezeichneten Gewissheit im 20. Jh. sei irreparabel geworden. Paradoxerweise gelte es aber, aus Einzelmomenten verlorener Traditionsbezüge das zu bewahren, was als »fragmentierte« Vergangenheit gelten kann; eine Vergangenheit, die in jedem Fall die Sicherheit ihrer Wesensbestimmung verloren hat (Vom Leben des Geistes 1. New York 1978. Dt. Mchn. 1979). Positive Geschichtsphilosophie, jede Anerkennung zweckgerichteter Kontinuität ist mithin unmöglich geworden. Was bleibt, ist die erzählerische Wiederaufnahme des historisch Verlorenen, jener dem Vergessen zu entreißenden, zerbrochenen Elemente von Sinn, die sich aus den Bruchstücken der Diskontinuität neu fügen mögen; eben jene verlorenen Bestandteile von Tradition, deren

195

Weitertragen die Theoretikerin in eine Erzählerin verwandelt. Das Weitertragen verborgener Bruchstücke einer untergegangenen Welt mag als vereinheitlichendes, durchgängiges Prinzip in A.s Werk gelten. Es zieht sich durch ihre politischen wie philosoph. Schriften gleichermaßen. Es strukturiert das systematische u. histor. Perspektiven sprengende Hauptwerk Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft u. kontextuiert ihre Reflexionen über die Französische u. Amerikanische Revolution – bis hin zu ihrer Spätschrift Vom Leben des Geistes. A. erweist sich als durchaus konservative Denkerin in ihrer ständigen Absicht, v. a. Freiheit zu wahren. In Vita activa oder Vom tätigen Leben (Chicago 1958. Dt. Stgt. 1960) beklagt sie den Verfall der freiheitstiftenden Unterscheidung zwischen »Privatem« u. »Öffentlichem« am Beginn der Massengesellschaft u. überhöht das Ideal der griech. Polis als jenen Raum, in dem sich eine Garantie gegen Vergeblichkeit u. Vergänglichkeit des Lebens auszubilden vermag; ein Raum, in dem Freiheit geboren wird. Damit ist aber jede gesellschaftl. Veränderung politisch bewertet: Erweitert oder verengt sie den gesellschaftlich oder ökonomisch bedrohten Raum der Öffentlichkeit als Ort polit. Partizipation? Ein Primat des Politischen wird so deutlich ausgesprochen: Nur aufgrund der Möglichkeit, sich in Freiheit zu bewegen, wird das »politische Wir« erreicht u. damit eine wahre Pluralität des Handelns. Was A.s Denken charakterisiert, hat seine Analogie in der Art der Darstellung. Nicht die systematische, die Geschlossenheit anstrebende Deutung ist ihre Methode, sondern das Denken in Bruchstücken, in Assoziationen, die sich durch das labyrinthische Chaos der Wirklichkeit einen Weg zu bahnen suchen. Was sich mitteilen soll, ist im Detail aufgehoben. So entwickelt A. kein selbständiges philosoph. System, sondern denkt Vorausgedachtes neu: Platon, Aristoteles, Augustinus, Kant, Heidegger. Nicht zufällig ist sie in den Disziplinen kaum einzuordnen: Erzählerin, Historikerin, Philosophin, Literatin, Essayistin. Ihr Denken sucht sich das ihm jeweils angemessene Kleid der Form, ohne grenzsetzenden Zwang – letztlich ist es aphoris-

Arendt

tisch, dialogisch u. spontan. Ihr Selbstverständnis als Außenseiterin, als Fremde ohne dauerhaften Ort, findet sich so in der Art der Darstellung wieder. Die Erschütterung zivilisatorischen Grundvertrauens in den Geschichtsverlauf im 20. Jh. lässt A. eher Halt suchen im angelsächs. Pragmatismus u. seinen DemokratieTraditionen. In solchem Kontext stehen die Schriften Über die Revolution (Dt. Mchn. 1963), Macht und Gewalt (New York 1970. Dt. Mchn. 1975) u. die Krise der Republik (New York 1972. Dt. Mchn. 1975). Nach ihrem Tod erschienen ihre Kantvorlesungen (Das Urteilen. Texte zu Kants politischer Philosophie. Chicago 1982. Dt. Mchn. 1985). Ihr Briefwechsel mit Karl Jaspers (Mchn. 1985), die Jahre 1926–1969 umspannend, erlaubt einen tiefen Einblick in das bewegte u. gleichzeitig reflektierte Leben einer ungewöhnl. Schriftstellerin des vergangenen Jahrhunderts. Weitere Werke: Rahel Varnhagen. London 1958. – The Human Condition. Chicago 1958. Ausgaben: On Revolution. New York 1963. – Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachl. Mchn. 1993 – Carol Brightman (Hg.): Between Friends. The Correspondence of H. A. and Mary McCarthy 1949–75. New York 1995. – Lotte Köhler (Hg.): H. A. u. Heinrich Blücher. Briefe 1936–68. Mchn. 1996. – Ursula Ludz (Hg.): H. A. u. Martin Heidegger. Briefe 1925–75 u. a. Zeugnisse. Aus den Nachlässen. Ffm. 1998. – Denktgb. 1950–73. 2 Bde., Mchn. 2002. – H. A. – Uwe Johnson. Der Briefw. 1967–75. Ffm. 2004. – Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik. Mchn. u. Zürich 2006. – H. A. – das private Adressbuch 1951–75: ›mir ist, als müsste ich mich selbst suchen gehen‹. Hg. u. komm. v. Christine Fischer-Defoy. Lpz. 2007. Literatur: Bibliografie: http://hannaharendt. net/bibliography/biblio_Prim.html (zuletzt aufgerufen: 7.8.2007). – Weitere Titel: Adalbert Reif (Hg.): H. A. Materialien zu ihrem Werk. Wien/ Mchn./Zürich 1979. – Bikhu Parekh: H. A. and the Search for a New Political Philosophy. New York 1981. – Friedrich Georg Friedmann: H. A. Eine dt. Jüdin im Zeitalter des Totalitarismus. Mchn. 1985. – Elisabeth Young-Bruehl: H. A. Leben, Werk u. Zeit. Ffm. 1986. – Seyla Benhabib: H. A. u. die erlösende Kraft des Erzählens. In: Dan Diner: Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz. Ffm. 1988. – Iris Pilling: Denken u. Handeln als Jüdin: H. A.s Theorie vor 1950. Ffm. 1996. – Ingeborg Gleichauf:

Arens H. A. Mchn. 2000. – Dana Richard Villa (Hg.): The Cambridge Companion to H. A. Cambr. 2000. – Julia Kristeva: Das weibl. Genie. Das Leben, der Wahn, die Wörter. Bd. 1: H. A. Bln. 2002. – Claudia Christophersen: ›... es ist mit dem Leben etwas gemeint‹. H. A. über Rahel Vernhagen. Königst./Ts. 2002. – Elisabeth Young-Bruehl: H. A.: Leben, Werk u. Zeit. Ffm. 2004. – Tina Kuberka: Versuche, in der Welt zu Hause zu sein. H. A.: Schreiben als Verstehen. Ffm. 2005. – S. Benhabib: H. A. Die melanchol. Denkerin der Moderne. Ffm. 2006. – Kurt Sontheimer: H.A. Der Weg einer großen Denkerin. Mchn. 2006 – Julia Schulze Wessel: Ideologie der Sachlichkeit. H.As. polit. Theorie des Antisemitismus. Ffm. 2006. Dan Diner / Carsten Dutt

Arens, Birgitta, * 16.11.1948 Oeventrop/ Sauerland. – Verfasserin von Prosatexten u. Romanautorin.

196

daran glauben, daß es die Wahrheit ist«, doch sie erkennt die Unmöglichkeit, ihren »Gitterkäfig« zu verlassen, die Subjektivität ihres Zugriffs auf ihr Material zu überwinden. Konsequent verwirft sie mehrfach das eben Erzählte als Lüge u. verteidigt auf der anderen Seite eine Wahrheit der Fiktion. Innerhalb des überwiegend positiven Presseechos wurde die Darstellung der Verfolgung jüdischer Dorfbewohner im Nationalsozialismus wegen einer zu illustrativ u. oberflächlich empfundenen Einbettung in die Dichtung ambivalent aufgenommen. Von dem von A. angekündigten Roman Marias Zelle, der von einer traumatisierten Schriftstellerin erzählen soll, ist 1996 nur das erste Kapitel in der Zeitschrift »Neue Sirene« erschienen. 2001 veröffentlichte A. den kinderbuchartig gestalteten Kurztext Streunereien im Advent. Ein Roman in 24 Briefen und Bildern (Mchn.), den der Münchener Buchillustrator Reinhard Michl bebilderte.

Nach dem Realschulabschluss u. einer zweijährigen Tätigkeit als Schwesternhelferin holte A. ihr Abitur nach u. studierte Literatur: Carin Gentner: ›Katzengold‹ in der 1970–1975, zeitgleich zur Arbeit bei ver- Presse. Echo auf das Erstlingswerk einer Sauerlänschiedenen Zeitungen, Germanistik, Ge- derin. In: Sauerland (1983), H. 1, S. 24–26. – Petra schichte u. Publizistik an der Universität Ernst: B. A. In: LGL. – Siegfried Kessemeier: Eine Münster. 1975–1978 war sie beim WDR in Spur in B. A.’ Roman ›Katzengold‹. In: Jüd. Lit. in Köln tätig. Nach ihrer Heirat zog sie 1978 Westfalen. Spuren jüd. Lebens in der westfäl. Lit. Hg. Hartmut Steinecke. Bielef. 2004, S. 237–244. nach Berlin u. veröffentlichte ab 1980 erste Raffaele Louis Prosatexte in Zeitschriften; heute lebt A. in München. Für ihren bisher einzigen Roman Katzengold Aristoteles und Phyllis. – Anonym (Mchn. 1982) – bis 2007 zehnmal aufgelegt – überliefertes Märe des 13. Jh. erhielt A. 1982 beim Ingeborg-BachmannWettbewerb den Preis der Klagenfurter Jury Aristoteles unterrichtet am Hof des griech. sowie mehrere Literatur-Stipendien. Spiele- Königs den hochbegabten Alexander. Als er risch u. fantasievoll verwebt A.’ Roman dessen Liebe zur Hofdame Phyllis bemerkt, Kindheits- u. Jugenderlebnisse der Ich-Er- sorgt er für die Trennung der beiden. Phyllis zählerin mit fiktiven u. histor. Geschehnissen sinnt auf Rache. Kostbar gekleidet u. mit aus u. um das westfäl. Dorf Ulentrop, ein bloßen Füßen stellt sie vor dem Haus Arisprovinzielles, scheinheiliges u. von latenter toteles beim Blumenpflücken ihre körperl. Gewalt gezeichnetes Milieu, zu einem dicht Reize zur Schau. Der Weise verfällt ihnen geflochtenen Ganzen. Das vermeintlich ge- augenblicklich. Mit der Aussicht auf Liebesfundene Glück erweist sich hier oftmals als freuden willigt er ein, sich von Phyllis mit Katzengold. Aufgrund der punktuellen Ana- Sattel u. Zaumzeug reiten zu lassen. Auf allen logie des Lebenswegs der Ich-Erzählerin zu vieren kriecht er im Garten u. trägt die junge, A.’ Werdegang gilt der Roman als autobio- ein Minnelied trällernde Schöne. Doch statt grafisch motiviert. Diese Etikette verdeckt des erhofften Minnelohns verliert der Alte all jedoch die von A. klar markierte Spannungs- seine Weisheit u. erntet Hohn u. Spott, zumal linie zwischen Wahrheit u. Fiktion. Die Er- auch Alexander oder – je nach Version – Közählerin will die »Wahrheit schreiben und nig u. Königin mit ihrem Hofstaat die er-

197

Arjouni

niedrigende Szene beobachten. Beschämt ist, alle Formen des Zusammenlebens prägt zieht sich Aristoteles aus der Welt zurück, um u. das noch immer gefährdet ist, weil der ein Buch von der Weiberlist zu schreiben, der »Wille zur Macht« das starre System unterselbst der weiseste Mann nicht zu entrinnen läuft. vermag. Ausgaben: Novellistik des MA. Hg. Klaus Das Motiv des gerittenen Liebhabers ist in Grubmüller. Ffm. 1996, S. 493–523 (mit Übers.). – der oriental. Literatur bekannt u. evtl. über Jürgen Schulz-Grobert: Kleine mhd. Verserzähdie Kreuzzüge nach Europa gelangt. Warum lungen. Stgt. 2006, S. 28–59 (mit Übers.). Literatur: Joachim Storost: Zur Aristotelesseit dem Ende des 12. Jh. Aristoteles diese Rolle zugewiesen wird, ist nur zu vermuten. Sage im MA. In: Monumentum Bambergense. Denkbar ist sowohl die gewollte Verun- Mchn. 1955, S. 298–348. – Hellmut Rosenfeld: A. glimpfung durch klerikale Gegner der Aris- u. P. In: VL. – Sibylle Jefferis: Das Spiel ›Aristoteles und die Königin‹: Ein Vergleich mit seiner Haupttoteles-Rezeption als auch die Beweisführung vorlage, dem Märe ›A. u. Phillis‹. In: Fifteenth für die im pseudo-aristotel. Secretum Secreto- Century Studies 15 (1989), S. 165–181. – Cornelia rum behauptete Gefährlichkeit der Frauen. Herrmann: Der ›Gerittene Aristoteles‹. PfaffenGeistliche wie weltl. Literatur greift den Stoff weiler 1991. – Hedda Ragotzky: Der weise Aristoauf. Die frühesten deutschsprachigen Bear- teles als Opfer weibl. Verführungskunst. In: Eros – beitungen finden sich in zwei mhd. Mären Macht – Askese. Hg. Helga Sciurie u. a. Trier 1996, aus dem 13. (fragmentarisch) u. 14. Jh. (voll- S. 279–301. – Claudia Brinker-von der Heyde: ständig). Aufgenommen ist die Episode im Weiber-Herrschaft oder: Wer reitet wen? In: ManAlexanderroman (um 1287) Ulrichs von lîchiu wîp, wîplîch man. Hg. Ingrid Bennewitz u. Eschenbach, dramat. Bearbeitungen folgen Helmut Tervooren. Bln. 1999, S. 47–66. Claudia Brinker-von der Heyde im Spätmittelalter. Anspielungen finden sich in Minnesang, Spruchdichtung u. Legende, meist im Kontext einer Aufzählung der beArjouni, Jakob, eigentl.: Jakob Michelsen, rühmten Minnesklaven. * 8.10.1964 Frankfurt/Main. – Verfasser Eine überzeugende Rekonstruktion der von Kriminalromanen, Erzählungen u. Abhängigkeitsverhältnisse u. Quellen der Theaterstücken. verschiedenen Versionen ist bisher nicht gelungen. Eine Sonderstellung nehmen zwei- A., Sohn des Dramatikers Hans Günter Mifellos die beiden Fassungen des Märes ein. chelsen, machte 1983 Abitur in Heppenheim, Nur hier erhält die Verführerin den Namen lebte zunächst einige Jahre als GelegenheitsPhyllis u. ist weder die Frau Alexanders noch arbeiter in Montpellier (Frankreich), seither eine Königin. Intertextuelle Bezüge zu zeit- überwiegend in Berlin, wo er 1986 kurzzeitig genöss. Romanen (v. a. Erec, Tristan) sind un- Schauspiel studierte. Den marokkanischen übersehbar. Die Verkehrung der Geschlech- Namen Arjouni übernahm er von seiner daterhierarchie erweitert sich zu einem eigentl. maligen Ehefrau. Minnekasus. Die zentrale Aussage der ReitA. hat sich v. a. als Kriminalautor einen szene als einer Missachtung normativer Namen gemacht. Mit seinem 1985 in HamMachtverhältnisse bleibt dennoch unberührt. burg veröffentlichten Debütroman Happy Sie erlaubt es, das Motiv in bildender Kunst Birthday, Türke! modernisierte er das Genre, überall dort einzusetzen, wo Ordnung ge- indem er eine aktuelle Problematik aufgriff: fordert bzw. Unordnung moniert wird: auf Der türkischstämmige Privatdetektiv KayanAlltagsgeräten, Minnekästchen, Bildteppi- kaya ermittelt in einem Mordfall im Frankchen, Sätteln u. Grabmälern der Adeligen furter Milieu u. gerät dabei in eine Identitätssowie an den Wänden von Rathaussälen, u. Autoritätskrise: Unter Türken gilt er als Kirchen oder den Schlafzimmern hoher Deutscher, unter Deutschen als Türke. Der Würdenträger. Bilder wie Texte sind lesbar große Erfolg des Buchs führte 1991 zu einer als symbolischer Ausdruck für eine ideal ge- Verfilmung durch Doris Dörrie sowie zu drei dachte Sozialordnung, in der das Prinzip des Fortsetzungsromanen, deren letzter, Kismet, Befehlens u. Gehorchens das einzig Denkbare 2001 in Zürich erschien.

Arlati

198

Missstände der Ausländerpolitik prangerte A. im 1990 in Mainz uraufgeführten Theaterstück Nazim schiebt ab über die Abschiebung eines Palästinensers an, für das er den Baden-Württembergischen Jugendtheaterpreis erhielt. Anders als das stark polit. Drama sind die Erzähltexte A.s in den meisten Fällen humoristisch getönte Milieustudien, wie etwa der Berlin-Roman Magic Hoffmann (Zürich 1996), in dem ein Jugendlicher nach der Haftentlassung zu seinen Komplizen nach Berlin aufbricht u. dort um Freundschaft u. Heimat ringt. Der in einem ungemein leichtfüßigen Stil verfasste Erzählband Idioten (Zürich 2003) versammelt fünf moderne »Märchen«, in denen eine Fee in den Alltag kleiner Angestellter tritt. Daraus ergibt sich ein ironisches Spiel mit dem Verhältnis von Wunsch u. Wirklichkeit, das die brüchige Moral der scheinbaren Normalität aufbricht. Von den Lebenslügen eines nach außen um polit. Korrektheit bemühten Pädagogen handelt der darauffolgende Roman Hausaufgaben (Zürich 2004), dem die Kritik einen Hang zur klischeehaften Darstellung bescheinigte. Ansonsten jedoch wurde A.s Werk mit mehreren Auszeichnungen u. Übersetzungen bedacht. Weitere Werke: Die Garagen. Theaterstück. Urauff. 1988 in München. – Ein Mann, ein Mord. Zürich 1991. – Edelmanns Tochter. Urauff. 1996 in Wuppertal. – Ein Freund. Gesch.n. Zürich 1998. Literatur: Reinhard Wilczek: Die hässl. Seite der Wohlstandsgesellsch. In: Das Fremde u. das Andere. Hg. Petra Büker. Weinheim 2003, S. 217–233. – Heidi Rehn: J. A. In: LGL. – Thomas Kniesche: Vom Modell Dtschld. zum Bordell Dtschld. In: Mord als kreativer Prozess. Hg. Sandro Moraldo. Heidelb. 2005, S. 21–39. Roman Luckscheiter

Arlati, Renato P., * 29.3.1936 Zürich, † 31.3.2005 Baden/Schweiz. – Verfasser von Kurzprosa. Bevor sich A. 1985 ausschließlich der Schriftstellerei widmete, arbeitete er nebenbei als Grafiker u. Fachlehrer für Zeichnen. Bei seinem späten Debüt mit Und spür ich im Aufstehen im Gras eine Wendung (Aarau/Ffm. 1977) wurde A. als literar. Entdeckung gefeiert. Dem Erstling folgten weitere Bände

mit Kurzprosa: Fremd und abweisend ist das Gewölbe der Nacht (Ffm. 1983), Das Haus und die Glocken die läuten (Ffm. 1985) u. Hast Du mein Gesicht gesehen? (Villingen 1988). Das ihnen gemeinsame zentrale Motiv des Spiegels wird auf unterschiedl. Weise umgesetzt. 1996 erhielt A. den Gesamtwerkpreis der Schweizerischen Schillerstiftung. A.s Texte erzählen keine Geschichten, sondern evozieren mit einer kunstvoll einfachen Sprache Szenen oder Zustände, in denen die Grenzen zwischen äußerer u. innerer Welt zerfließen: Beobachtungen, Halluzinationen, Träume. Sein »Surrealismus der einfachen Formen« erinnert dabei eher an Giorgio de Chirico oder Magritte als an literar. Vorbilder. In Des Mündels Tag- und Nachtgeschichte (Ffm. 1987) werden die Prosastücke zu locker aneinandergereihten Kapiteln des Tage- oder Traumbuchs eines aus psychiatr. Gründen unter Vormundschaft gestellten Mannes. Zentrales Thema ist das von Misstrauen u. Ängsten geprägte Verhältnis zwischen Mündel u. Vormund. Weitere Werke: Dies unbeschreiblich helle Licht im Fenster. Villingen 1991. – Liebe Lea. Villingen 1995 (R.). – An E. Alle Gedichte. Basel/Weil a. R. 2005. Literatur: Jürgen Egyptien: R. P. A. In: KLG. Dominik Müller / Eva-Maria Gehler

Armbruster, Johann Michael, * 1.11.1761 Sulz am Neckar/Württemberg, † 14.1. 1814 Wien. – Verfasser physiognomischer Schriften, Kinder- u. Jugendbuchautor, Journalist, Vermittler zwischen den Kulturen der Aufklärung. Als Karlsschüler stand A. zunächst in zeitlicher u. räuml. Nähe zu Friedrich Schiller, war dann in der Schweiz Sekretär bei Johann Caspar Lavater u. gelangte schließlich in Österreich zunächst durch Bekanntschaft mit Dichtern der josephin. Aufklärung u. dann durch politisches u. journalist. Engagement in die Dienste des österr. Kaiserhauses bzw. des Fürsten Metternich. 1784 gab A. in St. Gallen ein Poetisches Portefeuille heraus, das v. a. Beiträge schwäbischer Dichter enthielt, aber auch bereits Gedichte der Österreicher Lorenz Leopold

199

Haschka u. Johann Baptist Alxinger. A.s erste lyr. Versuche standen im Zeichen der Verehrung Klopstocks; in einer nachfolgenden Phase versuchte er, Lavaters religiösen Ton zu treffen, bald aber prägten seine Gedichte Glaubenszweifel u. Tyrannenhass. Durch politisches Engagement im Zusammenhang mit der Idee eines schweizer. Freistaates Solothurn erregte A. den Unwillen der Zürcher Obrigkeit u. wurde inhaftiert. Lavater setzte sich für ihn ein, aber schließlich konnte auch er nicht mehr verhindern, dass A. aus der Schweiz ausgewiesen wurde. Während der folgenden Jahre in Konstanz entwickelte A. sein eigentliches Kinderbuchschaffen, zuerst nach dem Vorbild Lavaters, dann aber in zunehmender Distanz zu ihm. Nach der Ausweisung aus der Schweiz war A. wohl von Anfang an bestrebt, nach Wien zu gelangen, wobei der Salon der Frau von Greiner sein Ziel war, bei der er sich wiederholt von Lavater Fürsprache erbeten hatte. Nicht nur in den Romantischen Erzählungen (St. Gallen 1790), sondern auch in der NovellenSammlung Das rothe Blatt (Bln. 1791) befasst er sich mit Stoffen, Themen u. Motiven der zeitgenöss. Romantik. 1801 kam A. nach Wien, 1805 wurde er zum Wirklichen Hofsekretär der PolizeiHofstelle in Wien ernannt u. mit der Redaktion des Inlandartikels der »Wiener Zeitung« betraut. Dieses Amt hatte er, mit zwei Unterbrechungen, als Napoleon sich der Zeitung bemächtigte, bis 1810 inne, als er es wegen der Zwistigkeiten mit den Van Ghel’schen Erben zurücklegte. Diese versuchten auch, die Herausgabe der »Vaterländischen Blätter für den österreichischen Kaiserstaat« (1808–20) zu hintertreiben, die A. ab 1808 bis zu seinem Freitod 1814 redigierte. 1809 erschienen drei Probenummern des »Wanderers«, der nach Metternichs Entscheid 1813 (anlässlich des Kampfes gegen Napoleon) wieder aufgenommen wurde. Die Bewahrung der Kinderbücher A.s ist wohl dem Umstand zu verdanken, dass einer seiner Söhne, Carl Armbruster, der in Wien einen Verlag u. eine Leihbibliothek führte, mit der Schwester des Malers Moritz von Schwind, Friederike, verheiratet war. Als Verleger nützte er die Kontakte zu von

Armbruster

Schwind u. dessen Lehrer Ludwig Schnorr von Carolsfeld, brachte von diesen illustrierte Ausgaben der Kinderbücher seines Vaters heraus u. trug so zu dessen Popularität bei. Als Jugendschriftsteller orientierte A. sich an der Avantgarde der Wiener Jugendliteratur, etwa mit einer seiner erfolgreichsten u. wiederholt neu aufgelegten Kinderschriften, den Rosenblättern (1791). A. verfasste überdies zwei Kinderschauspiele, von denen das erste, Louise Müller, 1789, eine auffallende Titelähnlichkeit mit Schillers bürgerl. Trauerspiel hat. A.s pädagog. Haltung, das Postulat der Beherrschung von Leidenschaften, erinnert an die Prinzipien der antijesuitischen, innerkath. Reformbewegung des Jansenismus, die in der Zeit der Aufklärung aus Frankreich nach Österreich übernommen wurde u. im Herrscherhaus u. bei den höheren Beamten weite Verbreitung fand. Zu A.s Werdegang gibt es wohl mehrere biogr. Annäherungen, jedoch bislang keine zusammenfassende Würdigung. Er wird heute zum einen als Journalist, als Begründer der volkstümlich polit. Presse in Österreich in einer politisch brisanten Zeit rezipiert, zum anderen als Kinderbuchautor, ist aber auch durch Lyrik u. Epik für Erwachsene hervorgetreten. Durch seine Präsenz in allen drei deutschsprachigen Ländern wird er von deutscher, von schweizer. u. von österr. Seite jeweils in einem unterschiedl. Licht gesehen, u. es ist festzustellen, dass die entsprechend verschiedenen biogr. Ansätze kaum voneinander Notiz nehmen. Ausgaben: Schwäb. Museum. Kempten 1785. – Gedichte. Kempten 1785. – Moral. Erzählungen u. kleine Romane für Kinder jedes Standes. Bregenz 1787. – Vermischte Gedichte. Bregenz 1788. – Angenehme u. Lehrreiche Erzählungen, Lieder u. kleine Schauspiele für Kinder, zur Bildung eines edlen Herzens. Zürich 1786. – Erzählungen für Kinder u. Kinderfreunde. 2 Bde., 1789–92. – Goldener Spiegel zum Nutzen u. Vergnügen für Kinder u. Kinderfreunde. 1790. – Auswahl der vorzüglichsten Kinder-Lieder, nebst einem Zuruf u. Anhange v. Lebensregeln. Augsb. 1790. – Rosenblätter. Neue Erzählungen u. Lieder für Kinder. Nürnb. u. a. 1791–94. – Kindererzählungen. 1793. – Auserlesene Kinder-Erzählungen zur Bildung des Herzens u. des Geistes: vorzüglich für Schulen u.

Armer Hartmann die Landjugend bestimmt. Bischofszell 1793–95. – Moral in Beyspielen, bestehend: aus 100 auserlesenen Aesopischen u. anderen Fabeln für die Jugend mit Kupfern. Nürnb. 1796. – Feyerstunden: kleine Romane, Schwänke u. Erzählungen. St. Gallen 1797. – Kleine Sitten-Gemälde für Kinder. Wien 1799. Literatur: Karl Zimmermann: J. M. A. der Karlsschüler. Seine Beziehungen zu Lavater. In: Chronik des Wiener Goethe-Vereins 40 (1935), S. 16–23. – Cornelia Kritsch u. Heinz Sichrovsky: Die Korrespondenz zwischen Karolina Greiner, Lorenz Leopold Haschka u. Johann Caspar Lavater. In: Joseph Haydn u. die Lit. seiner Zeit. Hg. Herbert Zeman. Eisenstadt 1976, S. 209–257. – Hans-Heino Ewers: Johann Kaspar Lavater als Autor v. Kinderbüchern. In: Die Schiefertafel, Jg. III, H. 3, Dez. 1980, S. 107–121. – Maria Michels: Bibliogr. der Kinder- u. Jugendbücher v. Johann Kaspar Lavater. Ebd., S. 122–125. – Ernst Seibert: Jugendlit. im Übergang vom Josephinismus zur Restauration. Wien 1987. – H.-H. Ewers u. E. Seibert: Gesch. der österr. Kinder- u. Jugendlit. vom 18. Jh. bis zur Gegenwart. Wien 1997. – E. Seibert: J. M. A. – Botschafter zwischen den Kulturen der Aufklärung. In: Nebenan. Der Anteil der Schweiz an der deutschsprachigen Kinder- u. Jugendlit. Zürich 1999, S. 287–302. Ernst Seibert

Armer Hartmann. – Verfasser des religiösen Lehrgedichts Rede vom heiligen Glauben, um 1150.

200

bensbekenntnisses. Der Text ist in drei unterschiedlich lange Abschnitte unterteilt, die die göttl. Personen behandeln. Dabei werden die Glaubensartikel zunächst lateinisch zitiert. Nur kurz geht der Autor auf den Vater ein (123 Verse), dessen Unermesslichkeit gepriesen wird. Der zweite, wesentlich längere, Christus gewidmete Teil (1462 Verse) behandelt das Erlösungswerk als Kampf Gottes mit dem Teufel. Der Abschnitt über den Hl. Geist umfasst knapp die Hälfte des Gedichts (1988 Verse). Hier wird die Bußthematik umfassend erörtert u. durch die Erzählung von der Rettung je dreier männl. u. weibl. Erzsünder exemplifiziert. Auf die Gegenwart bezogen stellt der A. H. dem weltl. Leben der Reichen das des Asketen gegenüber, der auf Habe u. Familie verzichtet, um als Klausner oder Klosterbruder Buße zu tun. Intention dürfte weniger die Propagierung einer absoluten Weltabkehr als die Ermutigung zu einem gottzentrierten Leben gewesen sein. Ausgaben: Hans F. Massmann (Hg.): Dt. Gedichte des 12. Jh. u. der nächstverwandten Zeit. Quedlinb./Lpz. 1837. Neudr. Hildesh. 1969. – Friedrich Maurer (Hg.): Die religiösen Dichtungen des 11. u. 12. Jh. Bd. 2, Tüb. 1964–70, S. 573–628 (hier wird der Text nicht in Verspaaren, sondern in ›binnengereimten Langzeilen‹ u. ungleichen, sog. ›Laissenstrophen‹ ediert. Die ältere Ausg. ist vorzuziehen.) Literatur: Karl Reißenberger: Über H.s Rede vom Glauben. Hermannstadt 1871. – Hans Rupp: Dt. religiöse Dichtungen des 11. u.12. Jh. Bern/ Mchn. 21971, S. 134–216. – Gerhard Meissburger: Grundlagen zum Verständnis der dt. Mönchsdichtung im 11. u. 12. Jh. Mchn. 1970, S. 192–196. – Doris Walch: Caritas. Zur Rezeption des ›mandatum novum‹ in altdt. Texten. Göpp. 1973, S. 51–58, 69 f. – Bernd Naumann: Ein- u. Ausgänge frühmhd. Gedichte u. der Predigt des 12. Jh. In: Studien zur frühmhd. Lit. Bln. 1974, S. 37–57. – Konrad Kunze: Der A. H. In: VL. Werner Williams-Krapp / Red.

Als Verfasser der 3800 Kurzverse umfassenden Rede vom heiligen Glauben nennt sich im Sinne einer Demutsformel ein nicht näher zu identifizierender Armer Hartmann. Nach sprachl. Kriterien stammte er vermutlich aus dem Westmitteldeutschen. Obwohl der A. H. eindeutig über Kenntnisse des Lateinischen u. der Theologie verfügte, gehörte er nach eigener Aussage nicht dem geistl. Stand an. Er war einer der ersten dt. Laiendichter, der religiöse Texte verfasste. Wahrscheinlich waren er u. seine Adressaten adlige Laienbrüder. Die Rede vom heiligen Glauben ist nur in einer 1870 verbrannten Straßburger Handschrift Arnau, Frank, * 9.3.1894 Wien, † 11.2. (um 1187 geschrieben) überliefert, der durch 1976 München. – Autor von KriminalroBlattverlust etwa 400 Verse des Textes fehlen. manen, Sachbüchern u. politischen EsEs handelt sich um einen sorgfältig konzisays. pierten Traktat, in dessen Mittelpunkt die Bußthematik steht. Gegliedert wird das Werk A. war vom 17. Lebensjahr an als Polizei- u. durch die drei Artikel des Nizäischen Glau- Gerichtsreporter tätig, studierte Rechtswis-

201

Arndt

senschaft, Physik u. Chemie u. besuchte Arndt, Ernst Moritz, * 26.12.1769 Schogleichzeitig kriminolog. Vorlesungen. 1933 ritz/Rügen (damals schwedisch), † 29.1. ging er zunächst nach Frankreich ins Exil u. 1860 Bonn; Grabstätte: ebd., Alter lebte 1939–1955 in Brasilien. Während des Friedhof. – Historiker u. politischer PuZweiten Weltkriegs war er in Rio de Janeiro blizist, Autor von patriotischer, religiöser Berater des dortigen Nachrichtendienstes. Lyrik u. Gebrauchslyrik, Verfasser histo1955 kehrte er in die Bundesrepublik rischer u. zeitgeschichtlicher Schriften, Deutschland zurück u. arbeitete als Redak- autobiografischer u. Reiseliteratur. teur der Hamburger Illustrierten »Stern«, Der Sohn eines freigekauften Leibeigenen u. dann der »Abendzeitung« in München. A. später erfolgreichen Gutspächters studierte war Präsident der »Deutschen Liga für Men1791–1794 in Greifswald u. Jena Theologie, schenrechte«; er erhielt 1968 die EhrendokPhilosophie u. Geschichte. Nach erfolgreitorwürde der Humboldt-Universität Berlin. chem Greifswalder Examen wirkte er Der Autor erfolgreicher Kriminalromane 1796–1798 als Hauslehrer bei dem Pfarrer u. wie Lautlos wie sein Schatten (Mchn. 1931. Hbg. bekannten Poeten Gotthard Ludwig Kose1984), Der perfekte Mord (Bad Wörishofen garten am rügenschen Nordkap Arkona. Dort 1960) u. Die Dame im Chinchilla (Ffm./Bln. entschied er sich gegen eine kirchl. Laufbahn. 1961. Bergisch Gladbach 1974) verarbeitete in Erlebnisse u. Eindrücke seiner ersten Bilseinen Büchern seine Kenntnisse als krimi- dungsreise schilderte er in Reisen durch einen nologischer u. kriminaltechn. Gutachter. Theil Teutschlands, Ungarns, Italiens und FrankSeine 26 teilweise unter Pseudonym veröf- reichs in den Jahren 1798 und 1799 (3 Tle., Lpz. fentlichten Kriminalromane wurden in 17 1801–03. 21804. Mikrofiche-Ed. Mchn. u. a. Sprachen übersetzt u. erreichten eine Ge- 1990–94). Nach Magisterprüfung u. Promosamtauflage von über einer Million Exem- tion wurde der ehrgeizige A. – verliebt u. vor plaren. der Ehe stehend – in schneller Folge 1800 Ein breites Themenspektrum umfassen A.s Privatdozent, 1801 Dozent u. 1806 a. o. Prof. fachwiss. Publikationen. Er ist Autor des für Geschichte u. Philosophie an der UniverGrundlagenwerks Kunst der Fälscher, Fälscher sität Greifswald (seit 1933 Ernst-Moritzder Kunst. Dreitausend Jahre Betrug mit Antiqui- Arndt-Universität). 1801 verstarb seine Frau täten (Düsseld. 1959. 2., neu bearb. Aufl. Charlotte im Kindbett, er flüchtete sich in 1969), einer Geschichte der Kriminalpolizei: Arbeit. Das Auge des Gesetzes (Düsseld./Wien 1962. Sein Buch Versuch einer Geschichte der LeibeiErw. Ausg. Mchn. 1965) sowie der Studien genschaft in Pommern und Rügen (Bln. 1803) erWarum Menschen Menschen töten (Düsseld./ regte in Schwedisch-Pommern u. Stockholm Wien 1964) u. Tatmotiv Leidenschaft (Stgt. manches Aufsehen (siehe auch E. M. A.: 1971). In engagierten polit. Essays richtete er Agrarpolitische Schriften. Hg. W. O. W. Terstegen. sich u. a. gegen die Zerstörung des brasilian. Goslar 1938 u. 1942). In Germanien und Europa Urwalds – sein Bericht Der verchromte Urwald (Altona 1803) fasste A. seine Auffassungen (Ffm. 1956) wurde zum Standardwerk – u. über die europ. Geschichte zusammen, zgl. gegen neofaschist. Tendenzen in Deutsch- enthielt es seine erste längere Analyse des land (Straf-Unrechtspflege in der Bundesrepublik. Militärdespotismus Napoleons. Schon früh bewegten sich A.s Arbeiten zwischen wissenMchn. 1967). Weitere Werke: Souterrain. Bln. 1930 (D.). – schaftlicher Darstellung u. politisch-pädaStahl u. Blut. Baden-Baden 1931 (R.). – Die braune gog. Publizistik. 1803/04 erschien das bis Pest. Saarbr. 1934 (R.). – Rue blanche 7. Bln. 1949 heute in Schweden geschätzte Buch Ernst (R.). Moritz Arndt’s Reise durch Schweden im Jahr 1804 Literatur: Richard Albrecht: ›Die braune Pest (4 Tle., Bln. 1806. Gekürzte Neuausg. Tüb./ kommt....‹ Aspekte der Verfolgung F. A.s im Exil Basel 1976. Mikrofiche-Ed. Bln. 1998). Mit 1933/34. In: Exilforsch. 3 (1985), S. 158–172. seinen beiden ausführl. Reiseberichten, die Eva Weisz / Red. vielfältiges geograf., histor., zeitgeschichtl.

Arndt

u. volkskundl. Material enthalten, bereicherte A. die bürgerl. Reiseliteratur am Beginn des 19. Jh. Der erste Band der später vierteiligen Aufsatzsammlung Geist der Zeit (Altona 1806) setzte sich vehement mit dem Niedergang der europ. Politik auseinander u. vertiefte A.s Napoleon-Kritik. Seine antifrz. Ressentiments waren zgl. in seiner frühen Ablehnung des frz. Rationalismus u. der Revolution von 1789 begründet. Im Gefühl persönlicher Bedrohung floh er nach der Niederlage Preußens von 1806 vor den herannahenden Franzosen nach Schweden. In dieser Zeit wirkte er im Regierungsauftrag als Übersetzer u. 1808/09 als Herausgeber der antinapoleon. Zeitschrift »Der Nordische Kontrolleur«, die illegal in den französisch besetzten dt. Gebieten verteilt wurde. Anonym erschienen zwei weitere Teile von Geist der Zeit (Stockholm 1808. Bln. 1814), die in außerordentlicher Schärfe das Versagen des dt. Partikularismus wie das napoleon. Herrschaftsstreben geißelten. 1809/10 hatte der illegal nach Deutschland zurückgekehrte, bisher gegenüber Preußen u. dessen Geschichte kritisch eingestellte A. Verbindung mit preuß. Patrioten, Militärs u. Reformern aufgenommen. In der Hoffnung auf eine an Preußen orientierte dt. Volkserhebung u. auf eine europäische antinapoleon. Allianz wirkte er ab 1812 als Privatsekretär des Reichsfreiherrn vom und zum Stein. In zwei bewegten Jahren, die A. nach Russland u. später hinter den fliehenden frz. Truppen bis zur Leipziger Völkerschlacht führten, arbeitete er als Organisator u. Verbindungsmann Steins u. v. a. als stimmgewaltiger Publizist der Befreiungskriege. Mit zahlreichen Liedern u. Gedichten, Flugblättern u. propagandist. Schriften wurde er der wohl populärste Dichter jener Zeit. So gehörten beispielsweise seine vom Volk geschätzten Gedichte Der Gott, der Eisen wachsen ließ (1812) u. Des Teutschen Vaterland (1813) bis 1945 zum Kanon von Schule u. Öffentlichkeit. Der für die dt. Legion in Russland erarbeitete Katechismus für teutsche Soldaten (St. Petersburg 1812) mit der Absage an die historisch gescheiterten dt. Fürsten u. der Aufforderung an das Volk, die Befreiung selbst zu vollziehen, wurde A.s

202

vielleicht radikalste Publikation. In Deutschland wirkte seine aus militärstrategischer u. polit. Sicht entstandene, zur Rückgewinnung der linksrheinischen Gebiete aufrufende Schrift Der Rhein, Teutschlands Strom, aber nicht Teutschlands Gränze (Lpz. 1813) über das 19. Jh. hinaus. A. appellierte an das Freiheitsgefühl der Deutschen u. entwarf damals immer aufs Neue sein kultur- u. sprachhistorisch begründetes Bild von der dt. Nation. Hier näherte er sich – wie schon bei seinen Auseinandersetzungen mit der Aufklärung u. wie beim Aufarbeiten von Volksliedern u. -erzählungen – wesentl. Auffassungen der Romantik. A.s Appelle an die Soldaten, an Preußen u. Deutsche beriefen sich auf Gott, Freiheit u. Vaterland. Indem er – an Luthers Bibelsprache geschult – bildhaft, anschaulich, auch volkstümlich-derb u. emotional schrieb, erreichte er seine Leser u. Hörer. Mit agitatorischem Ziel, aber unbedingter Ehrlichkeit überhöhte A. oft Inhalt u. Ton: Er bestärkte den Hass auf Frankreich u. alles »Welsche«. Zgl. entwickelte er einen aus europäischer u. german. Geschichte abgeleiteten gott- u. schicksalsgewollten Führungsanspruch der Deutschen in Europa. Bis 1945 dienten manche seiner Texte u. Gedanken der Legitimierung aggressiver völkischer Ideologeme. Dennoch oder auch deshalb blieb A. bis zur Mitte des 20. Jh. in lebendiger Erinnerung. Nach seiner Hochzeit mit Nanna Maria Schleiermacher, der Halbschwester des Theologen Friedrich Schleiermacher, siedelte A. 1817 nach Bonn über, wo er 1818 an der neu gegründeten preuß. Universität zum o. Prof. für neuere Geschichte berufen wurde. In der Zwischenzeit schrieb A. ihm in Kindheit u. Jugend mitgeteilte Sagen, märchenähnliche Geschichten u. rügenschen Aberglauben als Mährchen und Jugenderinnerungen (Bln. 1818) nieder. Erst 1843 konnte ein zweiter, vorpommerscher Teil dieser bis heute wichtigen volkskundl. Quelle folgen. Mit der kleinen Streitschrift Von dem Wort und dem Kirchenliede nebst geistlichen Liedern (Bonn 1819) bereitete A. in gewisser Weise die spätere Reform des evang. Kirchengesangs vor. Schon Jahre zuvor hatte der in politischen u. Lebenskrisen an seinem Glauben

203

zweifelnde Lutheraner im Gebetbuch für zwey fromme Kinder (Ms. 1809. Erst Bln. 1889: Spät erblüht. Aufgefundene Gedichte) eindrucksvolle geistl. Gedichte für Kinder u. Erwachsene geschrieben. Zahlreiche tief empfundene religiöse Gedichte u. Lieder entstammen seiner Feder (Geistliche Lieder. Bln. 1855. Auch heute viel gesungen: Ich weiß, woran ich glaube). Der im Volk, bei Studenten u. Burschenschaftern sehr populäre A. trat – unzufrieden mit den Folgen des Wiener Kongresses u. der einsetzenden Restauration – inzwischen entschieden für die Einheit der dt. Staaten, für Verfassung, demokrat. Grundrechte des Volkes u. Pressefreiheit ein. Der mutige vierte Teil von Geist der Zeit (Bln. 1818) löste Untersuchungen der preuß. Polizei u. allerhöchste Ermahnungen für A. aus. Im habsburg. Machtbereich verbot man viele seiner Publikationen. Immerhin schienen den Autoren des Jungen Deutschland u. des Vormärz in manchen seiner begeistert aufgenommenen Texte künftige revolutionäre Forderungen vorweggenommen. Nach dem Mord an Kotzebue wurde A. 1819 während der sog. Demagogenverfolgung kurzzeitig verhaftet. Es folgten Haussuchungen, monatelange Verhöre (bis Sommer 1822), Anklagen wegen geheimer Umtriebe u. Aufwiegelung des Volkes u. schließlich ohne Gerichtsurteil 1820 die Suspendierung vom Lehramt. In den nächsten Jahren erschienen bis auf A.s eigenständigstes histor. Werk Schwedische Geschichten unter Gustav dem Dritten, vorzüglich aber unter Gustav dem Vierten Adolf (Lpz. 1838) weniger bedeutende publizist. u. literar. Arbeiten. Mit den nüchtern, aber eindringlich erzählten Erinnerungen aus dem äußeren Leben (Lpz. 1840) legte er eine wichtige Autobiografie vor. Indem er die Bedeutung seiner Person vor dem Panorama von Zeitgeschehen, Alltagsleben (bes. in Vorpommern) u. geistigen Strömungen zurücknahm u. Situationen wie Ereignisse offensichtlich realistisch abbildete, schuf er eine wichtige Quelle für die Geschichte des späten 18. u. des frühen 19. Jh. Das trifft ebenso zu für sein weiteres Alterswerk, Meine Wanderungen und Wandelungen mit dem Reichsfreiherrn Heinrich Karl Friedrich vom Stein (Bln. 1858), u. für die Briefausgaben (Briefe. Hg. Albrecht Dühr.

Arndt

Darmst. 1972–75. Unveröffentlichte Briefe. Hg. Hans-Joachim Hacker u. a. Bonn 1995). Erst 1840 wurde A. durch Friedrich Wilhelm IV. rehabilitiert, unter dem Jubel der studentischen Jugend u. der Bonner Öffentlichkeit in sein Lehramt eingesetzt u. wenig später zum Rektor der Universität gewählt. Doch so wie ihn die vergangenen zwei Jahrzehnte in einen wiss. »Halbschlaf« versetzt hatten, so fand er jetzt nur noch wenig Freude an der Vorlesungstätigkeit. Als »gutes altes deutsches Gewissen« wirkte A. 1848/49 im Frankfurter Parlament mit. Im rechten Zentrum sah er sich als Bewahrer stabilisierender Traditionen u. als Warner vor republikan. Programmen. Wenn er auch weithin als Symbolfigur für dt. Freiheits- u. Einheitsstreben galt, so blieben ihm doch demokrat. Ideen, Industrialisierung u. Proletarisierung fremd. Als der preuß. König die Kaiserkrone ablehnte, zog sich A. enttäuscht zurück. Bis zu seinem 84. Lebensjahr lehrte er wieder als Professor in Bonn. In A.s Todesjahr erschien als Ausgabe letzter Hand Gedichte. Vollständige Sammlung (Bln. 1860). Sie belegt die Breite seines von tiefem eigenen Erleben u. vom Zeitgeschmack geprägten lyr. Schaffens, nicht selten poet. Mittelmaß, v. a. aber Aufrichtigkeit u. Mut eines wirkmächtigen Schriftstellers. Die spätere Nutzung nationalistischen, chauvinist. u. rassist. Gedankengutes – v. a. der Missbrauch im Dritten Reich – hat nach 1945 u. bes. seit den 1960er Jahren seitens Wissenschaft u. Publizistik verstärkt zu einer kritisch-ablehnenden Auseinandersetzung mit A. u. seinem Werk, zgl. in der breiten Leserschaft durch Streichungen im Schulstoff zu allmählicher Unkenntnis geführt. Weitere Werke: Ein menschl. Wort über die Freiheit der alten Republiken. Greifsw. 1800. – Fragmente über Menschenbildung. 3 Bde., Altona 1805 (Tl. 1/2) u. 1819 (Tl. 3). – Gedichte. Greifsw. 1811. Neue Ausw. Lpz. 1850. Nachdr. Hildesh. 1983 u. 1992. – Was bedeutet Landsturm u. Landwehr? Königsb. 1813. – Zwei Worte über die Entstehung u. Bestimmung der Teutschen Legion. Königsb. 1813. – Über Volkshaß u. über den Gebrauch einer fremden Sprache. Lpz. 1813. – Beherzigungen vor dem Wiener Kongreß. Ffm. 1814. – Blick aus der Zeit auf die Zeit. Ffm. 1815. – Ver-

Arndt such in vergleichender Völkergeschichte. Lpz. 1843. – Schr.en für u. an seine lieben Deutschen. Bd. 1–3, Bln. 1845; Bd. 4, Lpz. 1855. – Pro Populo germanico. Bln. 1854. Ausgaben: Ausgew. Werke. Hg. Hugo Rösch, Heinrich Meisner u. a. 14 Bde., Lpz./Magdeb. 1892–1909. – Ausgew. Werke. Hg. H. Meisner u. Robert Geerds. 16 Bde., Lpz. 1908. – Ausgew. Werke. Hg. August Leffson u. Wilhelm Steffens. 12 Tle., Bln. u. a. 1912. – Ausgew. Werke. Hg. Gustav Erdmann. Bln./DDR 1969. – Erinnerungen 1769–1815. Hg. Rolf Weber. Bln./DDR 1985. Literatur: Bibliografie: Gerhard Loh: A.-Bibliogr. Greifsw./Bln. 1969. – Karl Heinz Schäfer u. Josef Schawe: E. M. A. Ein bibliogr. Hdb. 1769–1969. Bonn 1971. – Weitere Titel: Paul Czygan: Zur Gesch. der Tageslit. während der Befreiungskriege. 2 Bde., Lpz. 1911. – Ernst Müsebeck: E. M. A. Ein Lebensbild. 1. Buch: 1769–1815. Gotha 1914. – Hans Frömbgen: E. M. A. u. die dt. Romantik. Diss. Münster 1926. – Emmy Cremer: E. M. A. als Geschichtsschreiber. Potsdam 1927. – Paul Hermann Ruth: A. u. die Gesch. Mchn./Bln. 1930. – Richard Wolfram: E. M. A. u. Schweden. Zur Gesch. der dt. Nordsehnsucht. Weimar 1933. Neudr. Hildesh. 1978. – Uno Willers: E. M. A. och hans svenska förbindelser. Stockholm 1945. – Lotte Haas: A. u. Stein. Diss. Bonn 1946. – Ingeborg Wollesen: E. M. A.s Anschauung vom Wesen des Volkes. Diss. Hbg. 1947. – Friedrich Seebaß: E. M. A. Deutscher u. Christ. Gießen/Basel 1958. – Gustav Erdmann: E. M. A. Freiheitssänger u. Patriot. Stralsund/ Greifsw./Rügen 1960. – Günther Ott: E. M. A. Religion, Christentum u. Kirche in der Entwicklung des dt. Publizisten u. Patrioten. Düsseld. 1966. – E. M. A. 1769–1969. FS hg. v. der Hg. E.-M.-A.-Univ. Greifsw. 1969. – Karl Heinz Schäfer: E. M. A. als polit. Publizist. Bonn 1974. – Gustav Sichelschmidt: E. M. A. Bln. 1981. – Ingrid Hruby: Imago mundi. Eine Studie zur Bildungslehre E. M. A.s. Ffm./Bonn 1981. – E. M. A. Konferenzband. Greifsw. 1985. – Günther Petersen: E. M. A. u. sein Bild v. öffentl. Meinung. Freib. i. Br. 1997. – Wiebke Otte: A. u. ein Europa der Feinde? Europagedanke u. Nationalismus in den Schr.en E. M. A.s. Marburg 2007 (Diss. Greifsw. 2007). – Sylvia Knöpfel (Hg.): Rudere vorsichtig, es gibt der Klippen u. Sandbänke viele. Festgabe zum 70jährigen Bestehen des E.-M.-A.-Museums Garz/Rügen. Garz 2007. – Walter Erhart u. Arne Koch (Hg.): E. M. A. (1769–1860). Dt. Nationalismus – Europa – Transatlant. Perspektiven. Tüb. 2007. – Reihe: (Wiss.) H.e der E.-M.-A.-Gesellsch. 1–10. Groß Schoritz/Rügen 1992–2006. Karl-Ewald Tietz

204

Arndt, Arnd, Johann, * 27.12.1555 Edderitz bei Köthen, † 11.5.1621 Celle. – Theologe, Verfasser von Erbauungs- u. Gebetbüchern. Der Sohn eines luth. Pfarrers im Fürstentum Anhalt studierte 1575–1581 in Helmstedt, Wittenberg (?), Straßburg u. Basel Theologie u. Medizin. Seine Bildung prägten der Späthumanismus u. der Paracelsismus, nicht aber der Aristotelismus der protestant. Schulphilosophie. Die Schriften des Martin Chemnitz vermittelten ihm die Theologie der luth. Orthodoxie. In seine anhaltische Heimat zurückgekehrt, wurde A. 1582 Schullehrer in Ballenstedt, 1584 Pfarrer in Badeborn. 1582 schloss er mit Anna Wagner eine kinderlos gebliebene Ehe. Als der dem Calvinismus zuneigende Fürst Johann Georg von Anhalt (1586–1618) von seinen Pfarrern die Abschaffung des Taufexorzismus verlangte, verweigerte A. den Gehorsam u. verlor 1590 sein Amt. An die Nikolaikirche in Quedlinburg berufen (1590–1599), veröffentlichte A. eine gegen die calvinist. Bilderfeindlichkeit gerichtete Iconographia, Gründlicher und Christlicher Bericht von Bildern (Halberst. 1596), seinen einzigen Beitrag zur Polemik des konfessionellen Zeitalters. Unter dem Eindruck der in Quedlinburg grassierenden Pest schrieb A. Predigten (Von den zehn ägyptischen Plagen. Erhalten nur in einem Druck: Ffm. 1657) u. gab die Theologia deutsch (Halberst. 1597) erneut heraus, die erste einer Reihe lutherisch bearbeiteter Neuausgaben von Texten der dt. Mystik (Nachfolge Christi, Johann von Staupitz, Johannes Tauler u. a.). 1599 an die Martinikirche in Braunschweig berufen, veröffentlichte er Von wahrem Christentumb [...]. Das erste Buch (Ffm. 1605. Krit. Neuausg. hg. v. Johann Anselm Steiger. Hildesh. u. a. 2005). Einige Passagen, die mit der Lehre vom unfreien Willen u. von der Erbsünde unverträglich schienen, erregten Anstoß, sodass A. mehrfach änderte (endgültiger Text: Jena 1607). Auf vielfaches Drängen gab A. schließlich alle Vier Bücher vom wahren Christentum (Magdeb. 1610. Neudr. hg. v. J. A. Steiger. 3 Bde., Hildesh. u. a. 2007) heraus. Sie traten einen einzigartigen literar. Sieges-

205

zug an. Seine Leser hatte A. im gebildeten Bürgertum der protestant. Städte gesucht, daneben unter den Pfarrern u. Theologiestudenten, die er von der konfessionellen Polemik abwenden u. belehren wollte, dass Theologie keine »Wissenschaft und Wortkunst«, sondern eine »lebendige Erfahrung und Übung« sei. Darüber hinaus ist das Wahre Christentum in den nach A.s Tod vollständig verdeutschten Ausgaben zu einem Erbauungsbuch für alle Stände geworden, hochgeschätzt bes. im Pietismus. Im 17. u. 18. Jh. ist es in zahlreichen, bibliografisch noch nicht erfassten Auflagen an mehr als 30 Druckorten erschienen. Es wurde in die meisten europ. Sprachen übersetzt. Bis zum 20. Jh. schätzt man mehr als 300 Auflagen. Seit dem Ende des 17. Jh. wurden aus einzelnen Traktaten u. Briefen A.s ein fünftes u. sechstes Buch vom Wahren Christentum hinzugefügt. Seit der Ausgabe Riga 1679 sind vielen der Neudrucke reicher emblemat. Bildschmuck u. den einzelnen Kapiteln Gebete (verfasst vom Rigaer Superintendenten Johann Fischer) beigegeben worden. Unter »wahrem Christentum« versteht A. eine den Menschen innerlich verwandelnde Herzensfrömmigkeit. Die ersten drei Bücher leiten zur Verinnerlichung u. persönl. Erfahrung des Glaubens an. Im Aufbau sollen sie dem Dreischritt der Stufenmystik »Reinigung – Erleuchtung – Vereinigung mit Gott« entsprechen. A. greift auf Gedanken u. Begriffe der mittelalterl. Mystik (Selbstverleugnung, Absterben des Eigenwillens, Reinigung des Herzens von der Weltliebe, Demut, Gelassenheit, Vereinigung der Seele mit Gott) zurück u. verarbeitet deren Texte (Theologia deutsch, Nachfolge Christi, Angela da Foligno, im dritten Buch bes. Johannes Tauler). A. nahm große Teile des Gebetbüchleins von Valentin Weigel auf (Buch 2, Kap. 34), ohne den – erst 1617 bekannt gewordenen – Verfasser zu kennen, von dessen Heterodoxie er sich später klar distanzierte. Diese Texte sind von A. so bearbeitet worden, dass aus dem myst. Weg zur Gotteserkenntnis eine den luth. Rechtfertigungsglauben voraussetzende Anleitung zur Heiligungsfrömmigkeit u. zur »näheren Vereinigung« mit Gott wird.

Arndt

Das vierte Buch richtet den Blick auf das »Buch der Natur«. Stark beeinflusst von neuplatonisch-paracelsischer Naturspekulation (»Makrokosmos-Mikrokosmos«), lehrt A., in der Natur ebenso wie im Menschen Gott zu erkennen – eine eigentümliche, den Verweischarakter der sichtbaren Schöpfung auf das Unsichtbare betonende »natürliche Theologie«, die die geistl. Dichtung des 17. Jh. anregte (vgl. Paul Gerhardts Geh aus mein Herz und suche Freud). Auch wenn nicht erst A. die seit der Reformation aus dem kirchl. Protestantismus abgedrängte Tradition der Mystik der luth. Kirche wieder zuführte (vor ihm etwa Martin Moller), so hat doch A.s Wahres Christentum zu einer Renaissance der Mystik im Luthertum geführt, deren Spuren sich vielfältig im geistl. Lied u. in der Erbauungsliteratur des 17. Jh. ebenso wie in der lutherisch-orthodoxen Theologie (Aufnahme der »Unio mystica« in die Lehre der Heilsordnung) finden. Nach dem Intermezzo einer zweijährigen Pfarramtszeit in Eisleben (1609–1611), seit 1611 Generalsuperintendent des Fürstentums Braunschweig-Lüneburg, entfaltete A. eine umfangreiche amtl. Tätigkeit. Von seinen Schriften kommt das Paradiesgärtlein voller christlicher Tugenden (Magdeb. 1612), ein zu andächtiger Herzensfrömmigkeit anhaltendes Gebetbuch, an Verbreitung nahe an das Wahre Christentum heran. Häufig aufgelegt wurden auch die großen Predigtbände Postille über die Evangelien (Jena 1616), Katechismuspredigten (Jena 1616) u. Auslegung des gantzen Psalters Davids (Jena 1617). Gegenüber Angriffen der luth. Orthodoxie auf seine Rechtgläubigkeit verteidigte sich A. in einer Reihe von Traktaten: Lehr- und Trostbüchlein vom wahren Glauben und heiligen Leben (Magdeb. 1620), De unione credentium (Magdeb. 1620) u. Repetitio apologetica (Magdeb. 1620). Im letzten Lebensjahr besorgte er eine Neuausgabe der Postille Johannes Taulers (Hbg. 1621), eine Sammlung kleiner Schriften des Stephan Praetorius Von der güldenen Zeit (Goslar 1622) u. veröffentlichte auf Bitten des braunschweigischen Herzogs August d.J. ein gegen das Papsttum gerichtetes Manuskript von Johannes Busenreuth, Reformatio Papatus (Goslar 1621). Nach seinem Tod gab sein

Arndt

Schüler Melchior Breler weitere kleine Schriften u. Briefe, darunter das Informatorium biblicum (Straßb. 1632), heraus. Der Streit um A.s Rechtgläubigkeit erreichte den Höhepunkt in einem Angriff Lucas Osianders (Theologisches Bedenken und christlich-treuherzige Erinnerung [...] über A.s ›Wahres Christentum‹. Tüb. 1623). Auf den Vorwurf, A.s Wahres Christentum sei ein »Wahres Taulertum«, antworteten neben dem holstein. Prediger Paul Egard (Ehrenrettung Johann Arndten. Lüneb. 1624) der lutherisch-orthodoxe Hofprediger Herzog Augusts d.J., Heinrich Varenius (Rettung der Vier Bücher vom wahren Christentum. Lüneb. 1624) u. der paracelsistische, von der luth. Orthodoxie als »Weigelianer« verketzerte Leibarzt Herzog Augusts, Melchior Breler (Wahrhaftiger [...] Bericht von den vier Büchern vom wahren Christentum. Lüneb. 1624). Die Unterschiedlichkeit dieser Apologeten lässt bereits erkennen, in welcher Breite A.s Gedanken im kirchl. Protestantismus (Orthodoxie, Pietismus) ebenso wie in den außerkirchl. Randströmungen (mystischer Spiritualismus, radikaler Pietismus) weitergewirkt haben. Ausgaben: Geistreiche Schr.en u. Werke. Hg. Johann Jakob Rambach. 3 Bde., Lpz./Görlitz 1734–36 (Gesamtausg.). – Vier Bücher von wahrem Christenthumb. Magdeb. 1610. Neudr. in 3 Bdn. Hildesh. 2007. Literatur: Wilhelm Koepp: J. A. Eine Untersuchung über die Mystik im Luthertum. Bln. 1912. Neudr. Aalen 1973 (mit Werkbibliogr.). – Elke Müller-Mees: Die Rolle der Emblematik im Erbauungsbuch, aufgezeigt an J. A.s ›Vier Bücher vom wahren Christentum‹. Düsseld. 1974. – Dietmar Peil: Zur Illustrationsgesch. v. J. A.s ›Vom wahren Christentum‹. Mit einer Bibliogr. In: AGB 18 (1977/78), S. 963–1066. – Edmund Weber: J. A.s ›Vier Bücher vom Wahren Christentum‹ als Beitr. zur protestant. Irenik des 17. Jh. Eine quellenkrit. Untersuchung. Hildesh. 31978. – Johannes Wallmann: Hzg. August zu Braunschweig u. Lüneburg als Gestalt der Kirchengesch. Unter bes. Berücksichtigung seines Verhältnisses zu J. A. In: PuN 6 (1980), S. 9–32. – Ders.: J. A. u. die protestant. Frömmigkeit. Zur Rezeption der mittelalterl. Mystik im Luthertum. In: Frömmigkeit in der frühen Neuzeit. Amsterd. 1984, S. 50–74 (beide Aufsätze abgedruckt in: Ders.: Theologie u.

206 Frömmigkeit im Zeitalter des Barock. Ges. Aufsätze. Tüb. 1995, S. 20–45 bzw. 1–19). – Wolfgang Sommer: Gottesfurcht u. Fürstenherrschaft. Studien zum Verständnis J. A.s u. luth. Hofprediger zur Zeit der Orthodoxie. Gött. 1988. – Hans Schneider: J. A. als Lutheraner? In: Die luth. Konfessionalisierung in Dtschld. Hg. Christoph Rublack. Gütersloh 1992, S. 274–284. – Martin Brecht: Das Aufkommen der neuen Frömmigkeitsbewegung in Dtschld. In: Gesch. Piet. Bd. 1, S. 113–204. – Ders.: Die dt. Spiritualisten des 17. Jh. Ebd., S. 205–241, hier S. 221–240: ›Die radikalen Arndtianer‹ (zu Betke, Hoburg, Breckling, Gichtel u. a.). – Elke Axmacher: Das Spiegelbild Gottes. J. A.s theolog. Anthropologie. In: Belehrter Glaube. FS Johannes Wirsching. Hg. dies. u. Klaus Schwarzwäller. Ffm. 1994, S. 11–43. – H. Schneider: J. A. als Paracelsist. In: Neue Beiträge zur Paracelsus-Forsch. Hg. Peter Dilg u. Hartmut Rudolph. Stgt. 1995, S. 89–110. – Ders.: J. A.s ›verschollene‹ Frühschr.en. In: PuN 21 (1995), S. 29– 68. – Ferdinand van Ingen: Die Wiederaufnahme der Devotio Moderna bei J. A. u. Philipp von Zesen. In: Religion u. Religiosität im Zeitalter des Barock. Hg. Dieter Breuer. Wiesb. 1995, S. 467–475. – Carlos Gilly: Johannes A. u. die ›dritte Reformation‹ im Zeichen des Paracelsus. In: Nova Acta Paracelsica N. F. 11 (1997), S. 60–77. – H. Schneider: J. A.s ›Vier Bücher von wahrem Christentum‹. Offene Fragen der Quellen- u. Redaktionskritik. In: Pietas in der luth. Orthodoxie. Hg. Udo Sträter. Wittenb. 1998, S. 61–77. – Birgit Gruebner: Gott u. die Lebendigkeit in der Natur. Eine Interpr. des Dritten u. Vierten Buches v. J. A.s ›Wahrem Christentum‹. Rheinbach 1998. – W. Sommer: Politik, Theologie u. Frömmigkeit im Luthertum der Frühen Neuzeit. Gött. 1999. – Hermann Geyer: Verborgene Weisheit. J. A.s ›Vier Bücher vom Wahren Christentum‹ als Programm einer spiritualistisch-hermet. Theologie. 3 Tle. in 2 Bdn., Bln. 2001. – Werner Anetsberger: Tröstende Lehre. Die Theologie J. A.s in seinen Predigtwerken. Mchn. 2001. – E. Axmacher: J. A. u. Paul Gerhardt. Studien zur Theologie, Frömmigkeit u. geistl. Dichtung des 17. Jh. Tüb. u. a. 2001. – C. Gilly: Hermes or Luther? The search for J. A.’s ›De antiqua philosophia et divina veterum magorum sapientia recuperanda‹. In: Magic, Alchemy and Science, 15th-18th Centuries. The Influence of Hermes Trismegistus. Hg. ders. u. Cis van Heertum. Bd. 1, Venedig/Amsterd. 2002, S. 376–398. – Hanns-Peter Neumann: Natura sagax – Die Geistige Natur. Zum Zusammenhang v. Naturphilosophie u. Mystik in der frühen Neuzeit am Beispiel J. A.s. Tüb. 2004. – J. Wallmann: J. A. (1555–1621). In: The Pietist Theologians. An Introduction to Theology in the Seventeenth and

207 Eighteenth Centuries. Hg. Carter Lindberg. Oxford 2005, S. 21–37. – H. Schneider: Der fremde A. Studien zu Leben, Werk u. Wirkung J. A.s. Gött. 2006. – Joachim Telle: J. A. – ein alchem. Lehrdichter? Bemerkungen zu Alexander v. Suchtens ›De lapide philosophorum‹ (1572). In: Strenae Nataliciae. Hg. Hermann Wiegand. Heidelb. 2006, S. 231–246. – Anselm Steiger: J. A.s ›Wahres Christentum‹, Lukas Osianders Kritik u. Heinrich Varenius’ A.-Apologie. In: Frömmigkeit oder Theologie. Hg. Hans Otte u. Hans Schneider. Gött. 2007, S. 263–291. Johannes Wallmann

Arnheim, Rudolf, * 15.7.1904 Berlin, † 9.6.2007 Ann Arbor/Michigan. – Kunstpsychologe u. Filmtheoretiker. Der Sohn des jüd. Fabrikanten Georg Arnheim studierte nach dem Abitur 1923 Psychologie, Philosophie, Kunst- u. Musikgeschichte am Psychologischen Institut der Universität Berlin (u. a. bei den Gestaltpsychologen Max Wertheimer, Wolfgang Köhler u. Kurt Lewin). 1925 veröffentlichte er seine ersten Filmkritiken in der satir. Zeitschrift »Das Stachelschwein« (Hg. Hans Reimann). Nachdem er 1928 mit einer Arbeit über Experimentell-psychologische Untersuchungen zum Ausdrucksproblem promoviert hatte, ging er zur »Weltbühne«, wo er unter Carl von Ossietzky u. Kurt Tucholsky als Filmkritiker u. Redakteur des kulturellen Teils der Zeitschrift tätig war. Im Herbst 1932 erschien sein Buch Film als Kunst (Bln. Neudr. Ffm. 1979 u. 2002), in dem er eine am Stummfilm entwickelte Theorie der visuellen Ausdrucksmittel des Films vorstellte: Das Kunstpotential des Films wird hier aus der Differenz zwischen Realität u. kinematografischem Bild abgeleitet; die Beschränkungen des zweidimensionalen, begrenzten Filmbilds gegenüber der Realitätswahrnehmung zwingen zur expressiven künstler. Ausdrucksform. Die Auseinandersetzung mit dem Medium Film wurde zum Ausgangspunkt für die Beschäftigung mit allgemeinen ästhet. u. kunsthistor. Problemen u. deren ausdrucks- u. wahrnehmungspsycholog. Aspekten. Auf Einladung des Internationalen Lehrfilminstituts des Völkerbunds reiste A. im Aug. 1933 nach Rom, um dort in den folgenden Jahren, mittlerweile von den dt. Be-

Arnheim

hörden »ausgebürgert«, als Redakteur u. Übersetzer sowie als Mitherausgeber der geplanten, aber nie realisierten internat. Enciclopedia del Cinema zu arbeiten. 1936 konnte er bei einem Londoner Verlag u. d. T. Radio (in der engl. Übersetzung von Herbert Read) sein bereits 1933 entstandenes Buch zur Ästhetik des Hörfunks publizieren (die dt. Originalfassung Rundfunk als Hörkunst erschien erst 1979 in Mchn./Wien. Neudr. Ffm. 2001). Im Anschluss an seine filmtheoret. Arbeiten untersuchte A. hier die besonderen Gestaltungsmöglichkeiten, die Bedingungen u. Elemente einer Kunstform, die allein mit akustischem Material arbeitet. 1939 lebte er als Übersetzer für den deutschsprachigen Nachrichtendienst der BBC in London. Ein Jahr später gelang ihm die Emigration in die USA, deren Staatsbürger er 1946 wurde. Nach 1943 lehrte A. an verschiedenen amerikan. u. japan. Universitäten Theoretische Psychologie u. Kunstpsychologie, ab 1968 an der Harvard University in Cambridge/Massachusetts u. nach der Emeritierung von 1974 bis 1984 als Gastprofessor an der University of Michigan in Ann Arbor. Mit seinen auf der Gestalttheorie aufbauenden Analysen der sinnl. Wahrnehmung gelangte A. zu einer generellen Ästhetik u. Gestaltungslehre der bildenden Künste (Art and Visual Perception: A Psychology of the Creative Eye. Berkeley/Los Angeles 1954. Dt. Kunst und Sehen. Eine Psychologie des schöpferischen Auges. Bln./New York 1978) sowie zu einer allg. Theorie des bildhaften Denkens u. der Verknüpfung sinnlicher Perzeption u. begrifflicher Abstraktion (Visual Thinking. Berkeley/Los Angeles 1969. Dt. Anschauliches Denken. Zur Einheit von Bild und Begriff. Köln 1972. Neudr. 1996). 1978 erhielt A. den Deutschen Filmpreis (Filmband in Gold) »für langjähriges und hervorragendes Wirken im deutschen Film«, 1999 den Helmut Käutner-Preis der Stadt Düsseldorf. Die Carl-von-Ossietzky-Universität in Oldenburg verlieh ihm 1995 die Ehrendoktorwürde. Weitere Werke: Picasso’s Guernica. The Genesis of a Painting. Berkeley/Los Angeles 1962. – Toward a Psychology of Art. Berkeley/Los Angeles 1966. – Entropy and Art. Berkeley/Los Angeles/ London 1971. – The Dynamics of Architectural

Arnim

208

Form. Berkeley/Los Angeles 1977. – Kritiken u. Aufsätze zum Film. Hg. Helmut H. Diederichs. Mchn./Wien 1977. – The Power of the Center: A Study of Composition in the Visual Arts. Berkeley/ Los Angeles 1982. – Zwischenrufe: Kleine Aufsätze aus den Jahren 1926 bis 1940. Lpz. 1985. – New Essays on the Psychology of Art. Berkeley/Los Angeles 1986. – Thoughts on Art Education. Los Angeles 1990. – Eine verkehrte Welt. Phantast. Roman. Hürth/Köln 1997. – Stimme v. der Galerie. 25 kleine Aufsätze zur Kultur der Zeit. Hg. Michael Diers. Bln. 2004. – Die Seele in der Silberschicht. Medientheoret. Schr.en. Hg. H. H. Diederichs. Ffm. 2004. Literatur: Cinegraph. Lexikon zum deutschsprachigen Film. Hg. Hans Michael Bock. Mchn. 1985. – Thomas Meder: ›Ich bin einer der unpolitischsten Menschen, die ich kenne‹. Ein Gespräch mit R. A. In: Filmexil, Nr. 8, Nov. 1996, S. 57–69. – Kent Kleinmann u. Leslie Van Duzer (Hg.): R. A. – Revealing Vision. Ann Arbor 1997. – Christian G. Allesch u. Otto Neumaier (Hg.): R. A. oder die Kunst der Wahrnehmung. Ein interdisziplinäres Projekt. Wien 2004. – Gestalt Theory, Nr. 2, Juni 2004 (Bd. 26), Special A. Issue: In honor of his 100th birthday. – Ian Verstegen: A., Gestalt and Art. A Psychological Theory. Wien/New York 2005. Peter König / Matthias Hurst

Arnim, (Ludwig) Achim (eigentl.: Carl Joachim Friedrich Ludwig) von, * 26.1. 1781 Berlin, † 21.1.1831 Wiepersdorf/ Kreis Jüterbog; Grabstätte: ebd. – Erzähler, Lyriker, Dramatiker u. Publizist. Joachim Erdmann von Arnim, zeitweilig preuß. Gesandter u. Intendant Friedrichs des Großen, verlor seine Frau Amalie Caroline bei der Geburt des Sohnes Achim. Er übergab ihn u. seinen älteren Bruder Carl Otto der Schwiegermutter Caroline von Labes, geb. Daum. Sie ermöglichte den Brüdern eine großbürgerl. Erziehung in Berlin u. auf dem Gut Zernikow. Von dem aufklärer. Geist des Joachimsthalschen Gymnasiums zu Berlin, das A. besuchte, zeugen einige frühe Schülerarbeiten, die 2004 im 1. Band der hist.-krit. Weimarer A.-Ausgabe vollständig ediert wurden (Tüb.). Seit 1798 Student der Rechtswissenschaften in Halle, wo er zudem Vorlesungen zu Physik, Mathematik u. Chemie hörte, wechselte A. zwei Jahre später zum Studium der Mathematik nach Göttingen.

Die erste Publikation, Versuch einer Theorie der elektrischen Erscheinungen (Halle 1799), eröffnete eine Folge von physikal. Beiträgen v. a. in den »Annalen der Physik« (bis 1807). Diese durchaus erfolgreichen Anfänge standen nicht im Gegensatz zu seinem späteren dichter. Werk, wie die Themen der Aufsätze zeigen, die sich immer wieder den Grenzbereichen der Naturwissenschaften zuwenden. Naturwissenschaftliche Motive u. Verfahren bleiben ein wesentliches Moment auch in den poet. Schriften A.s. In Göttingen lernte A. literar. Freunde kennen; u. a. Clemens Brentano, mit dem ihn für die kommenden Jahre eine intensive Freundschaft verband u. der wesentl. Einfluss auf A.s dichter. Entwicklung nahm; ein schwärmerischer Briefwechsel zeugt davon. Hier begegnete er auch zum ersten Mal Goethe, über den er immer ein aus Hochachtung u. Widerspruch gemischtes Urteil behielt (»[...] ich bin fast niemals ohne eine Art Verzweifelung von ihm gegangen, indem ich deutlich fühlte, er habe unrecht, aber ich sei nicht der, welcher es ihm beweisen solle.« An Wilhelm Grimm, 22.9.1811). Am Ende der Göttinger Zeit entstand sein erster, an Goethes Werther orientierter Roman Hollin’s Liebeleben (Gött. 1802). 1801–1804 unternahm A. mit seinem Bruder die seinerzeit für junge Adelige obligator. Bildungsreise durch Europa, die er im Sommer 1802 zu einem Besuch bei Clemens Brentano in Frankfurt unterbrach, wo er Bekanntschaft mit dessen Schwester Bettine schloss. 1805 begannen A. u. Brentano in Heidelberg mit der Sammlung u. Herausgabe »alter deutscher Lieder«, die u. d. T. Des Knaben Wunderhorn (3 Bde., Heidelb. 1805 u. 1808) erschienen. Heftige, öffentlich ausgetragene Auseinandersetzungen A.s u. seiner Heidelberger Freunde mit Johann Heinrich Voß sowie sein unkonventioneller Lebensstil vereitelten eine Karriere in preuß. Diensten. Seit 1809 wieder in Berlin, entschloss er sich 1810 nach dem Tod der Großmutter, deren Testament einen Fideikommiss festlegte, der »sich erst zum Besten meiner Kinder auflöst«, wie Arnim formulierte, zu einem Heiratsantrag an Bettine Brentano. Am 4.12.1810 verlobten sie sich, am 11.3.1811 fand die heimliche Trau-

209

ung in Berlin statt. Aus dieser Ehe gingen zwischen 1812 u. 1827 sieben Kinder hervor. Der Briefwechsel der beiden Eheleute gehört zu den schönsten Zeugnissen der dt. Briefliteratur. In Berlin gründete A. eine politisch-literar. »deutsche Tischgesellschaft«, die einen illustren Kreis der Berliner Gesellschaft zusammenführte, Juden jedoch ausschloss. 1814 siedelte die Familie A., u. a. aus finanziellen Gründen, nach Wiepersdorf über, dem Hauptort der Arnim’schen Besitzung Bärwalde, das Bettine mit den Kindern jedoch schon bald wieder mit Berlin vertauschte. A., der sich von der Berliner Gesellschaft abgestoßen fühlte, obwohl er an deren öffentl. Auseinandersetzungen lebhaft beteiligt war, kam bis zu seinem Tod gewissenhaft seinen Aufgaben als Gutsherr nach. Dennoch entwickelte er in Wiepersdorf eine beträchtliche literar. u. publizist. Tätigkeit. In den Jahren nach 1809 erschienen alle bedeutenden Werke A.s – also nach der Zeit einer geselligen »Heidelberger Romantik«. Seinen literar. Arbeiten war kein großer Erfolg bei Kritik u. Lesepublikum beschieden, ein Sachverhalt, der A. bedrückte u. verbitterte. Kurz vor seinem 50. Geburtstag starb er plötzlich infolge eines Gehirnschlags in Wiepersdorf. Nach seinem Tod kümmerte sich Bettine um die Herausgabe der Werke ihres Mannes. Bis 1856 erschienen 22 Bände, zum größten Teil im Selbstverlag u. auf eigene Kosten. Wilhelm Grimm steuerte ein Vorwort bei u. firmierte von Band 1–12 als Herausgeber. A., v. a. als Mitherausgeber des Wunderhorns u. als Autor einiger Erzählungen bekannt, ist in allen literar. Formen hervorgetreten. Wie für andere Dichter seiner Zeit ist auch für ihn der Versuch einer gattungsübergreifenden Werkschöpfung charakteristisch. Im Frühwerk Ariel’s Offenbarungen (Gött. 1804) mit der iron. Bezeichnung »Roman« ist dies ebenso erkennbar wie in der zu A.s Lebzeiten unveröffentlichten Päpstin Johanna (entstanden 1812–13), die meist als Drama kategorisiert wird, tatsächlich aber gleichermaßen Roman ist. Diese nur vage an die mittelalterl. Sage vom weibl. Papst angelehnte Dichtung, in der die jüngere Forschung ein Hauptwerk A.s sieht, lag lange Zeit allein in der Bearbeitung

Arnim

Bettines für ihre Gesamtausgabe (Bln. 1846) vor u. wurde erst im Rahmen der hist.-krit. Weimarer A.-Ausgabe vollständig nach den Handschriften ediert (Tüb. 2006). Ein Gesamtkunstwerk eigener Art war auch die als Alternative zu den gängigen Almanachen u. Zeitschriften geplante »Zeitung für Einsiedler«, die A. vom 1.4. bis zum 30.8.1808 in Heidelberg herausgab. Diese Zusammenstellung humorvoller, spött. u. ernster Texte von Brentano, Görres, Tieck, Friedrich Schlegel, Jacob u. Wilhelm Grimm, Uhland, Justinus Kerner, A. selbst u. a. war ein verlegerischer Misserfolg. Sie erschien noch im gleichen Jahr in Buchform u. d. T. Tröst Einsamkeit (Heidelb.), mit dem A. die für Biografie u. Werk bedeutsame Einsiedlermetapher präzisierte. Ohne Zweifel sind seine erfolgreichsten Werke die Novellen, unter denen die zunächst in Sammlungen erschienenen Isabella von Ägypten (Bln. 1812), Der tolle Invalide auf dem Fort Ratonneau (Bln. 1818) u. Die MajoratsHerren (Wien 1819) die bekanntesten sind. Der Stil ist, obwohl artifiziell, am mündl. Erzählen orientiert, wie etwa am Beginn der Isabella: »Barka, die alte Zigeunerin im zerlumpten roten Mantel, hatte kaum ihr drittes Vaterunser vor dem Fenster abgeschnurrt, wie sie es zum Zeichen verabredet hatte, als Bella schon den lieben vollen dunkelgelockten Kopf mit den glänzenden schwarzen Augen zum Schieber hinaus in den Schein des vollen Mondes streckte, der glühend wie ein halbgelöschtes Eisen aus dem Duft und den Fluten der Schelde eben hervor kam, um in der Luft immer heller wieder aus seinem Innern heraus zu glühen.« Oft wechselt surreale, traumhafte oder aus alten Stoffen entlehnte Fantastik mit heiteren oder krit. Passagen ab. Drastische Groteske u. ernst-religiöse Symbolsprache stehen unvermittelt nebeneinander, weil sich – wie A. selbst ausführt – diese an jener zu bewähren habe. Fiktion u. Realität, Sage u. Historie, Märchenstoff u. Nachrichten des Tages werden ineinander verwoben. Symbolische, auch allegor. Konstruktion u. lakon. Knappheit stehen im Kontrast zu gelegentlich weit ausgeführten Dialogen. Alle Erzählungen enthalten in ihrer themat. oder histor. Einkleidung A.s Auseinandersetzung mit der

Arnim

Schwellensituation seines Zeitalters, wobei er sich nicht scheut, dies durch die Einfügung zeitgenössischer Personen oder aktueller Umstände zu verdeutlichen (vgl. etwa das Auftreten »Winkelmanns« in Angelika, die Genueserin und Cosmus, der Seilspringer. Bln. 1812. A. stritt die Identität dieser Figur mit Johann Joachim Winckelmann gegenüber den Brüdern Grimm allerdings ab). Ein enger Zeitbezug liegt zumal im Novellenzyklus Der Wintergarten (Bln. 1809) vor. Dies ist zgl. die einzige Sammlung, deren Texte A. durch eine Rahmenhandlung verband, obwohl er dies ursprünglich auch für die letztlich ohne Gesamttitel erschienene Novellensammlung von 1812 (Bln.) u. das Landhausleben (Lpz. 1826) geplant hatte. A. verfasste zwei große Romane. In Armuth, Reichthum, Schuld und Buße der Gräfin Dolores (Bln. 1810) suchte er die synästhet. Verschmelzung verschiedener Kunstformen durch reiche Verseinlagen, »Scheinprosa«, Notenbeilagen u. dramat. Einschübe zu erreichen. Die »wahre Geschichte zur lehrreichen Unterhaltung armer Fräulein« (so der Untertitel) ist ein Zeitroman, der mit großem Ernst nationale u. gesellschaftl. Probleme aufgreift. In der Geschichte der Ehe zwischen Dolores, die bis zur Heirat verarmt mit ihrer Schwester Clelia u. dem Vater in einem verfallenden Haus gelebt hatte, u. dem idealisierten Grafen Karl, der Dolores die Gelegenheit zu einem reichen Leben eröffnet, wird die polit. Situation zu Beginn des 19. Jh. allegorisch gespiegelt. 1817 erschien in Berlin der erste u. allein fertiggestellte Teil des Romans Die Kronenwächter, der die Zeit der Reformation als Paradigma u. Folie der eigenen Epoche begreift, u. d. T. Berthold’s erstes und zweites Leben. Die – oft groteske – Geschichte des Antihelden Berthold, der als bürgerl. Tuchfabrikant u. Bürgermeister von Waiblingen durch den Arzt u. Abenteurer Faust vermittels einer Bluttransfusion ein neues Leben erhalten hat, ist verwoben mit den Machenschaften der sagenhaften Kronenwächter, die mit terrorist. Methoden die Herrschaft der Hohenstaufen erneuern wollen. Die Zwiespältigkeit dieser Bestrebungen ist symbolisiert im Gegensatz der idealen Kronenburg als Vision

210

einer gerechten Regierung zu der verkommenen Burg Hohenstock, eine Kritik an A.s Zeit u. der Degeneration des Adels. A. versucht in dieser Dichtung Nation u. Geschichte zu deuten. In der Vorrede findet sich ein Bekenntnis zur Aufgabe der Poesie: »Dichtungen sind nicht Wahrheit, wie wir sie von der Geschichte und dem Verkehr mit Zeitgenossen fordern, sie wären nicht das, was wir suchen, was uns sucht, wenn sie der Erde in Wirklichkeit ganz gehören könnten, denn sie alle führen die irdisch entfremdete Welt zu ewiger Gemeinschaft zurück.« A. verwendet dazu traditionelle romant. Motive (die Hohenstaufenüberlieferung, den Fauststoff etc.), die aber eigenständig verändert werden u. im Dienst einer umfassenden symbol. Konzeption stehen. Wie bei anderen romant. Projekten dieser Art blieb das Werk Fragment. Den unabgeschlossenen Ansatz zu einem zweiten Band, der einer früheren Werkstufe als die publizierte Fassung des ersten Teils entstammt, hat Bettine mit Notizen A.s zu dessen Fortsetzung u. zum Konzept des Gesamtromans 1854 im Rahmen der Gesamtausgabe zum Druck gegeben; die Handschrift wurde im Zweiten Weltkrieg vernichtet. Die früher von der Forschung eher vernachlässigten Kronenwächter haben in jüngster Zeit starke Resonanz gefunden, wie die beachtl. Zahl neuer Monografien u. Aufsätze zu dem Roman belegt. Die reiche Lyrik A.s wurde oft unterschätzt. Gedichte sind in nahezu alle literar. Werke eingestreut, aber auch in Taschenbüchern oder zu Zyklen verbunden veröffentlicht worden. Von den durch Karl August Varnhagen von Ense für Bettines Gesamtausgabe zusammengestellten Gedichten A.s erschien 1856 in Berlin nur der erste Teil, der zweite Band wurde erst 1976 (in Tübingen) publiziert. Die Ausgabe versammelt qualitativ u. thematisch höchst unterschiedl. Arbeiten. Neben kleinen Gelegenheitsgedichten u. zeitkrit. Texten, neben Gebeten u. kontextgebundenen Liedern finden sich leicht wirkende, scheinbar spontane Gedichte, deren Qualitäten in der Musikalität ihrer Form, den eigentümlichen, prägnanten Worterfindungen, den Allegorien u. der spezif. Verfremdung bereits tradierter romant. Motive sowie

211

einer hoch entwickelten Assoziationstechnik liegen. Ins Wunderhorn, die bedeutendste dt. Liederanthologie, hat A. nach neueren Forschungen keine gänzlich selbsterfundenen Texte aufgenommen. Die Edition – lange Zeit als Sammlung im Volk gesungener Lieder missverstanden – ist ein romant. Kunstwerk u. dokumentiert A.s Haltung zur Volkskunst, wie sie im brieflich geführten Streit mit den Brüdern Grimm über deren Volkstums- u. Ursprünglichkeitsideologie deutlich wird. In der Auseinandersetzung nahm A. vehement die Gegenwartskunst gegen jede Verfallstheorie in Schutz u. wies auf die Relativität angeblichen Volksschaffens hin. Die Lieder wurden als fern von allen Kunstregeln aus der Kenntnis u. der Mitte des Volkes entstandene Produkte bestimmter, wenn auch oft unbekannter Autoren aufgefasst; ein Prozess, der sich jederzeit wiederholen könne u. Anpassungen an die Gegenwart erlaube, die A. denn auch bei den Wunderhorn-Texten teilweise radikaler als Brentano vornahm. Der Wunsch, diesem Ideal nahezukommen, bestimmte A.s eigene lyr. Produktion. Darüber hinaus sah er die Anthologie im Kontext größerer Pläne zur Volksbildung durch billige Editionen bedeutender Literatur. Die an Herder orientierten Gedanken Von Volksliedern hat A. dem ersten Band der Sammlung angefügt. Die Schauspiele sind nahezu vergessen. Der Band Schaubühne (Bln. 1813) bringt freie Bearbeitungen älterer Stoffe u. Stücke. Neben derbe Possen treten Stücke wie Die Vertreibung der Spanier aus Wesel im Jahre 1629, Der Auerhahn u. Die Appelmänner, die von Clemens Brentano hoch gelobt wurden. Dem Doppelschauspiel Halle und Jerusalem (Heidelb. 1811) liegt im ersten Teil Halle Gryphius’ Trauerspiel Cardenio und Celinde zugrunde; die Fortsetzung Jerusalem läuft in ein romant. Universaldrama aus. Das A. immer wieder beschäftigende Thema des Mannes zwischen zwei Frauen bildete den Stoff des Schicksalsdramas Die Gleichen (Bln. 1819), eines psychologisierenden Lesedramas, das in der Kreuzzugszeit spielt. Wie viele andere Dramen der Zeit stehen auch die von A. im Grenzbereich zwischen den Gattungen. A.s Versuche, die Stücke der Schaubühne, v. a. Die Vertreibung der

Arnim

Spanier aus Wesel, zur Aufführung zu bringen, scheiterten; eine von Brentano im Winter 1813/14 angeregte Inszenierung in Wien wurde durch die Zensur vereitelt. Daneben entfaltete A. eine umfängliche publizist. Tätigkeit für verschiedene Organe: für den »Preußischen Correspondenten«, dessen Redaktion er 1813 für einige Monate von Schleiermacher übernahm, für die »Vossische Zeitung«, Kleists »Berliner Abendblätter« u. v. a. für den »Gesellschafter«. Ein großer Teil der meist anonym erschienenen Artikel wurde 1996 im 6. Band der A.-Studienausgabe zusammengestellt (Ffm.). Aus der umfangreichen Korrespondenz liegen wichtige Briefe in tendenziösen älteren, andere in sorgfältig kommentierten neueren Ausgaben vor. Die hist.-krit. Weimarer A.-Ausgabe soll den gesamten Briefwechsel A.s enthalten; bisher sind zwei Bände mit den Briefen von 1781–1801 u. von 1802–1804 erschienen (Tüb. 2000 u. 2004). Alle literar. Arbeiten A.s sind von dem Versuch bestimmt, eine traditionelle Bildlichkeit in dem jeweiligen Werkkontext neu zu beleben, Bilder u. Symbole in der Handlung zu entfalten u. zu konkretisieren u. zgl. die private oder gesellschaftl. Realität zu allegorisieren. Sie spiegeln die Umbruchsituation des Revolutionszeitalters, dessen Antagonismen A. in einer höheren, für den gläubigen, toleranten Protestanten letztlich religiös erfahrenen Wahrheit zu harmonisieren sucht. Diese Wahrheit in Natur u. Geschichte aufzuspüren, ist Aufgabe der ahnenden Fantasie des Dichters, der damit in einen geradezu priesterlichen u. prophet. Status rückt. So heißt es in den Majorats-Herren: »[...] und es erschien überall durch den Bau dieser Welt eine höhere, welche den Sinnen nur in der Fantasie erkenntlich wird: in der Fantasie, die zwischen beiden Welten als Vermittlerin steht, und immer neu den toten Stoff der Umhüllung zu lebender Gestaltung vergeistigt, indem sie das Höhere verkörpert.« Weder in historistischer Distanz noch in überzeitl. Klassizität werden Potentiale geglückter Vergangenheit als utopischer Entwurf für die Gegenwart nutzbar gemacht. Leidvoll erfahrene Zeit gilt es in vielfältigen Formen zu überwinden; in Bildern des Tan-

Arnim

zes u. des Rausches (»Zeitengefieder rauschet beim Wein«) wird dies versucht, in der Harmonie erfüllender u. die höhere Welt antizipierender Liebe wird es erreicht. Neben Brentano waren A.s Vorbilder so unterschiedl. Autoren wie Hölderlin, Abraham a Sancta Clara u. Walter Scott; Herders poet. Theorie war von ähnlich nachhaltigem Einfluss wie die dt. Mystik. A. war ein großer Anreger, v. a. mit seinen Erzählungen, ohne dass dies von seinen Epigonen genügend gewürdigt worden wäre. Trotz rühmender Nachrufe hat sich das Werk A.s nicht durchgesetzt. Gegen das hohe Lob Heines in der Romantischen Schule, dasjenige Görres’ oder das immer wieder erneuerte Bettines wurde stets das Urteil Goethes gehalten, A.s Dichtung gleiche einem Fass, an dem der Küfer vergessen habe, die Reifen festzuschlagen. Mit diesem Vorwurf der Formlosigkeit traf A. das Verdikt aller romant. Poesie durch ein an klass. Formen orientiertes Poesieverständnis. Spätere Bearbeiter des Werkes versuchten, aus A. einen monarchistischen, konservativen Junker zu machen u. ihn so politisch zu vereinnahmen. André Breton stilisierte ihn wegen seiner Tendenz zu Fantastik u. Traumdichtung, zu Rausch u. Ekstase zu einem Ahnherrn des Surrealismus. Seit den 1990er Jahren ist ein deutlich verstärktes wiss. Bemühen um A.s Werk zu registrieren, das sich in einer Fülle neuer Publikationen niederschlägt. Gerade die Abweichung von klassizist. Normen sowie die durchgehende Tendenz zu »Ambiguität und Ambivalenz«, die in der älteren Rezeption meist Befremden u. Kritik hervorgerufen hatten, stoßen nun auf besonderes Interesse, nicht zuletzt bei jüngeren Forschungsrichtungen wie beispielsweise dem Poststrukturalismus. Bedeutsame Impulse gehen von zwei editor. Projekten aus: Die sechsbändige kommentierte Studienausgabe (Ffm. 1989–94) bot erstmals eine größere Auswahl auch aus bislang wenig oder gar nicht bekannten Werkgruppen wie den publizist. Arbeiten u. der Lyrik A.s u. edierte die Erzählungen vollständiger u. zuverlässiger als alle früheren Ausgaben. Seit 2000 erscheint in Tübingen die hist.-krit. Weimarer A.-Ausga-

212

be, die in 40 Bänden sämtl. Schriften A.s sowie den Briefwechsel in verlässlicher Textgestalt u. mit ausführl. Kommentaren vorlegen soll. Das »Millenniumsjahr« 2000 erwies sich überhaupt als fruchtbar für die A.-Rezeption: In diesem Jahr begannen auch das Mitteilungsblatt der neu gegründeten Internationalen A.-Gesellschaft, die »Neue Zeitung für Einsiedler«, sowie die »Schriften der Internationalen A.-Gesellschaft« zu erscheinen, deren bislang publizierte Bände die Vorträge der regelmäßig abgehaltenen Kolloquien der Gesellschaft zu verschiedenen Schaffensphasen A.s u. zu seiner Stellung im Kontext der romant. Dichtung enthalten. Ausgaben: Sämmtl. Werke. Hg. Wilhelm Grimm (eigentl.: Bettine v. Arnim). 22 Bde., Bln. 1839–56 (Nachtragsbd., Tüb. 1976). Neudr. der 3. Ausg. (Bln. 1857): Hildesh. u. a. 1982. – Sämtl. Romane u. Erzählungen. Hg. Walter Migge. 3 Bde., Mchn. 1962–65. – Werke in einem Bd. Hg. Karl-Heinz Hahn. Bln./Weimar 1981. – ›Mir ist zu licht zum Schlafen.‹ Gedichte – Prosa – Stücke – Briefe. Hg. Gerhard Wolf. Bln. 1983 u. Ffm. 1984. – Dramen. Hg. Paul Kluckhohn. In: Dt. Lit. in Entwicklungsreihen. Romantik 21–23. Lpz. 1938. Neudr. Darmst. 1969. – Ztg. für Einsiedler. Neu hg. v. Hans Jessen. Stgt. 1962. – Werke in sechs Bdn. Hg. Roswitha Burwick, Jürgen Knaack, Paul Michael Lützeler, Renate Moering, Ulfert Ricklefs u. Hermann F. Weiss (Bd. 1 u. 2: Romane; Bd. 3 u. 4: Sämtl. Erzählungen; Bd. 5: Gedichte; Bd. 6: Schr.en). Ffm. 1989–94. – Werke u. Briefw. Hist.krit. Ausg. (= Weimarer Ausg.). Hg. R. Burwick, Lothar Ehrlich, Heinz Härtl, R. Moering, U. Ricklefs u. Christof Wingertszahn. 40 Bde., Tüb. 2000 ff. (Bis 2006 erschienen: Bd. 1: Schr.en der Schüler- u. Studentenzeit. Hg. Sheila Dickson. 2004. Bd. 10: Die Päpstin Johanna. Hg. Johannes Barth. 2006. Bd. 30 u. 31: Briefw. 1788–1801 u. 1801–04. Hg. H. Härtl. 2000 u. 2004). – Briefe: A. v. A. u. die ihm nahestanden. Hg. Reinhold Steig. Bd. 1: A. v. A. u. Clemens Brentano. Stgt. 1894 (Korrekturen: Ernst Beutler in JbFDH 1934/35, S. 367–429). Bd. 2: A. v. A. u. Bettine Brentano. Stgt./Bln. 1913. Bd. 3: A. v. A. u. Jakob u. Wilhelm Grimm. Stgt./Bln. 1904. Neudr. aller 3 Bde. Bern 1970. – Achim u. Bettina in ihren Briefen. Hg. Werner Vordtriede. 2 Bde., Ffm. 1961. 21981. – A.s Briefe an Savigny. Hg. H. Härtl. Weimar 1982. – Unveröffentlichte Briefe A. v. A.s. Hg. Hermann F. Weiss. In: LitJb N. F. 21 (1980), S. 89–169. 22 (1981), S. 71–154. – Briefe. Hg. H. Härtl. In: Impulse 6 (1983), S. 252–343. 8 (1985), S. 242–279. –

213 Unbekannte Briefe v. u. an A. v. A. Hg. H. F. Weiss. Bln. 1986. – Bettine u. A. Briefe der Freundschaft u. Liebe 1806–08. 1808–11. Hg. Otto Betz u. Veronika Straub. 2 Bde., Ffm. 1986/87. – Unveröffentlichte Briefe A. v. A.s. Hg. H. F. Weiss. In: JbFDH 1987, S. 260–313. – A. v. A. u. Clemens Brentano: Freundschaftsbriefe. Hg. Hartwig Schultz. 2 Bde., Ffm. 1998. Literatur: Bibliografien und Forschungsberichte: Otto Mallon: A.-Bibliogr. Bln. 1925. Neudr. Hildesh. 1965. – Volker Hoffmann: Die A.-Forsch. 1945–72. In: DVjs. Sonderh. (1973), S. 270–342. – Johannes Barth: A.-Bibliogr. 1925–95. In: Universelle Entwürfe – Integration – Rückzug: A.s Berliner Zeit (1809–14). Hg. Ulfert Ricklefs. Schr.en der Internat. A.-Gesellsch. Bd. 1. Tüb. 2000, S. 245–300. – Biografien: René Guignard: A. v. A. 1781–1831. Paris 1936. – Helene M. Kastinger Riley: A. v. A. Reinb. 1979. – Konrad Kratzsch: L. A. v. A., das Leben eines romant. Dichters. Bln. 1981. – A. v. A. 1781–1831. Ausstellungskat. FDH. Ffm. 1981. – Drama: Lothar Ehrlich: L. A. v. A. als Dramatiker. Diss. Halle 1970. – Roswitha Burwick: A. v. A.s Verhältnis zur Bühne u. seine Dramen. Diss. Los Angeles 1972. – U. Ricklefs: Magie u. Grenze. A.s ›Päpstin Johanna‹-Dichtung. Gött. 1990. – Roman: Renate Moering: Die offene Romanform v. A.s ›Gräfin Dolores‹. Heidelb. 1978. – Hans Vilmar Geppert: A. v. A.s Romanfragment ›Die Kronenwächter‹. Tüb. 1979. – Helga Halbfass: Kom. Geschichte(n). Der iron. Historismus in A. v. A.s Roman ›Die Kronenwächter‹. New York u. a. 1993. – Martin Neuhold: A. v. A.s Kunsttheorie u. sein Roman ›Die Kronenwächter‹ im Kontext ihrer Epoche. Tüb. 1994. – Erzählung: Wolfdietrich Rasch: A. v. A.s Erzählkunst. In: DU 7 (1955), S. 38–55. – Konrad Kratzsch: Untersuchungen zur Genese u. Struktur der E.en L. A. v. A.s. Diss. Jena 1968. – Bernd Fischer: Lit. u. Politik. Die ›Novellensammlung von 1812‹ u. das ›Landhausleben‹ v. A. v. A. Ffm./Bern 1983. – Peter Staengle: A. v. A.s poet. Selbstbesinnung. Studien über Subjektivitätskritik, poetolog. Programmatik u. existentielle Selbstauslegung im Erzählwerk. Ffm./Bern u. a. 1988. – Christof Wingertszahn: Ambiguität u. Ambivalenz im erzähler. Werk A. v. A.s. St. Ingbert 1990. – Michael Andermatt: Verkümmertes Leben, Glück u. Apotheose. Die Ordnung der Motive in A. v. A.s Erzählwerk. Ffm./Bern 1996. – Lyrik: U. Ricklefs: A.s lyr. Werk. Register der Hss. u. Drucke. Tüb. 1980. – Thomas Sternberg: Die Lyrik A. v. A.s. Bonn 1983. – Publizistisches: Jürgen Knaack: A. v. A. – Nicht nur Poet. Die polit. Anschauungen A.s in ihrer Entwicklung. Darmst. 1976. – Übergreifende Fragestellungen: R. Burwick: Dichtung u. Malerei bei

Arnim A. v. A. Bln. u. a. 1989. – U. Ricklefs: Kunstthematik u. Diskurskritik. Das poet. Werk des jungen A. u. die eschatolog. Wirklichkeit der ›Kronenwächter‹. Tüb. 1990. – Claudia Nitschke: Utopie u. Krieg bei L. A. v. A. Tüb. 2004. – Beziehungen: Heinz Härtl: A. u. Goethe. Diss. Halle 1971. – Stefan Nienhaus: Gesch. der dt. Tischgesellsch. Tüb. 2003. – Vermischte Beiträge: Aurora 45 (1985) u. 46 (1986). – R. Burwick u. Bernd Fischer (Hg.): Neue Tendenzen der A.-Forsch. Ed., Biogr., Interpr., mit unbekannten Dokumenten. Ffm./Bern/New York 1990. – H. Härtl u. Hartwig Schultz (Hg.): ›Die Erfahrung anderer Länder‹. Beiträge eines Wiepersdorfer Kolloquiums zu A. u. Bettina v. A. Bln. u. a. 1994. – Michael Andermatt (Hg.): Grenzgänge. Studien zu L. A. v. A. Bonn 1994. – Reihen: Schr.en der Internat. A.-Gesellsch. Tüb. 2000 ff. (bis 2006 erschienen: 5 Bde.). Hg. U. Ricklefs (Bd. 1), R. Burwick u. H. Härtl (Bd. 2), Walter Pape (ab Bd. 3; Bd. 4 mit hg. v. Sheila Dickson). – Neue Ztg. für Einsiedler. Mitt.en der Internat. A.-Gesellsch. Hg. W. Pape. Köln 2000 ff. Thomas Sternberg / Johannes Barth

Arnim, Bettine von (getauft: Catharina Elisabetha Ludovica Magdalena), * 4.4. 1785 Frankfurt/M., † 20.1.1859 Berlin; Grabstätte: Wiepersdorf/Jüterbog. – Erzählerin. A. stammte aus einer in Frankfurt/M. etablierten ital. Familie. Der Vater Peter Anton Brentano hatte in zweiter Ehe die Tochter Sophie von La Roches, Maximiliane, geheiratet. Das später von A.s Brüdern geleitete »Haus zum Goldenen Kopf« war die Zentrale einer prosperierenden Ex- u. Importfirma, von der ein beträchtl. Erbteil auf A. überging. Nach dem Tod der Mutter wurde A. zunächst (seit 1794) im Pensionat des Ursulinenklosters in Fritzlar, dann (seit 1797) von ihrer Großmutter La Roche in Offenbach erzogen. Seit 1802 lebte sie überwiegend in Frankfurt, wo sie Privatunterricht (u. a. in Kompositionslehre u. Zeichnen) erhielt. Wesentlich für ihren Werdegang war die sich 1799 entwickelnde intensive Geschwisterliebe zu Clemens, die im Jugendbriefwechsel der beiden dokumentiert ist. Später veröffentlichte A. selbst diese Korrespondenz u. d. T. Clemens Brentanos Frühlingskranz aus Jugendbriefen ihm geflochten, wie er selbst schriftlich verlangte (Charlottenburg 1844). Seit 1799 war sie auch mit der Schriftstellerin Karoline von Gün-

Arnim

derrode eng befreundet, deren Freitod in Winkel am Rhein (1806) sie sehr bewegte. Briefwechsel u. Gespräche mit ihr sind Grundlage von Die Günderode (2 Bde., Grünberg u. Lpz. 1840). Eine enge Beziehung entwickelte sie zu Goethes Mutter (seit 1806) u. auch zu Goethe selbst. Sie besuchte ihn 1807 zweimal in Weimar, begegnete ihm 1810 u. 1812 in Teplitz u. suchte ihn 1811 gemeinsam mit Achim von Arnim erneut in Weimar auf. Bei diesem Besuch des jungen Paares kam es zu einem vermutlich eifersuchtsbedingten spektakulären Auftritt mit Goethes Frau Christiane; Goethe brach danach den Kontakt ab, ging 1812 in Teplitz den »Tollhäuslern«, wie er sie in einem Brief an Christiane nennt, aus dem Wege u. beantwortete bis zu seinem Tode keinen Brief A.s mehr, obwohl sie sich nach dem Tode Christianes erneut intensiv um die Zuneigung des Dichters bemühte. Auf Durchreisen zur Frankfurter Verwandtschaft besuchte sie den Witwer unangemeldet 1821, zeigte ihm 1824 das Gipsmodell eines von ihr entworfenen Goethe-Denkmals. Bei einem weiteren Besuch 1826 bezeichnete er sie als »leidige Bremse«, 1829 u. 1830 empfing er sie nicht mehr. Ihre gleichwohl ungebrochene schwärmer. Verehrung des Dichters ist Grundlage der bekanntesten Publikation A.s: Goethes Briefwechsel mit einem Kinde (3 Bde., Bln. 1835). Der Briefwechsel ist – ebenso wie die beiden zuvor genannten – stark überarbeitet u. um später entstandene Teile wie das Buch der Liebe genannte Tagebuch ergänzt. Die zugrunde liegenden Originalbriefe u. zwei Liebessonette Goethes an sie – die der Dichter allerdings nahezu gleichlautend an Minna Herzlieb richtete – haben sich erhalten, sodass allen Spekulationen über Erfindungen u. Fälschungen der Autorin der Boden entzogen wurde: Goethe ließ sich die Verehrung der jungen Frau anfangs gefallen u. bat sie auch, ihm Material für seine Autobiografie aus den Erzählungen seiner Mutter zu übermitteln, das in Dichtung und Wahrheit einging. Achim von Arnim hatte A. durch ihren Bruder Clemens bereits 1802 kennengelernt u. mit ihm seit 1806 regelmäßig Briefe gewechselt; doch erst 1811 kam es zur Heirat.

214

Das Leben A.s lässt sich in drei Phasen einteilen: die Kindheit u. Jugend mit den beschriebenen prägenden Begegnungen, die Zeit der Ehe (mit sieben Kindern), die sie zunächst auf dem Gut Arnims (Wiepersdorf), dann seit 1817 – meist getrennt von Arnim – in Berlin verlebte (1811–1831), u. die Zeit ihrer schriftsteller. Aktivitäten. Erst nach dem Tod Achim von Arnims (1831) publizierte sie die frühen Briefwechsel. Mit dem Goethe-Buch, das den Beginn des aufkommenden Goethe-Kults im 19. Jh. markiert, aber auch bei den Jungdeutschen als Äußerung einer unkonventionell denkenden, streitbaren Frau Anerkennung fand, wurde sie schnell berühmt. Ihre weiteren Aktivitäten u. Publikationen zeigen starkes polit. Engagement. A. setzte sich für die Wiedereinstellung der in Göttingen entlassenen Brüder Grimm ein u. erwirkte, dass der preuß. König Friedrich Wilhelm IV. unmittelbar nach seiner Inthronisation (1840) die beiden nach Berlin berief. Dem preuß. König, mit dem A. seither korrespondierte, widmete sie Dies Buch gehört dem König (2 Bde., Bln. 1843), ein Werk, das sich durch sozialkrit. Ansätze auszeichnet. Nach einem einleitenden Teil mit Reminiszenzen an die Begegnung von Goethes Mutter mit der Mutter des preuß. Königs (Luise) werden soziale Probleme in Preußen (Armut, Gefängnisreform, Demagogenverfolgung, Todesstrafe) in fiktiven Gesprächen bekannter Frankfurter Persönlichkeiten diskutiert. In einem Anhang veröffentlichte A. den Bericht des schweizerischen Studenten Heinrich Grunholzer über die Situation der Armen in der Berliner Vorstadt Voigtland. Das in einer Rezension Karl Gutzkows als »communistisch« bezeichnete u. bejubelte Werk wurde in Bayern verboten, eine verkürzte Fassung auch in Preußen. Zur Armenfrage plante A. 1844 eine umfassende Dokumentation (Armenbuch). Aus ganz Deutschland, bes. aber aus Schlesien, wo die Weber durch die Mechanisierung der Webstühle verarmten, wurden ihr Armenlisten zugeschickt, in denen die Lebensumstände einzelner Familien tabellarisch erfasst sind. Ein beträchtl. Teil der geplanten Veröffentlichung war bereits gesetzt, als 1844 der Weberaufstand in Schlesien ausbrach. In Berlin

215

wurde A. der Anstiftung zu diesem Aufstand bezichtigt, weshalb Alexander von Humboldt, ihr Fürsprecher am preuß. Hof, ihr dringend riet, auf die Publikation zu verzichten. Die Zensur hätte diese Publikation unterbunden, die Autorin wäre vermutlich verfolgt worden. Die Handschriften (Armenlisten u. ein fragmentar. Nachwort) sowie zahlreiche Materialien zu dem Projekt haben sich erhalten u. wurden erstmals von Werner Vordtriede, danach vollständig in der Edition des Deutschen Klassiker Verlags veröffentlicht. In Berlin nahm A. die Ereignisse von 1848 aufmerksam wahr u. begrüßte den Aufstand; im gleichen Jahr veröffentlichte sie anonym eine Polen-Denkschrift (An die aufgelöste Preußische National-Versammlung. Paris/Bln.). 1852 erschien in Berlin eine Fortsetzung des Königsbuchs (Gespräche mit Dämonen. Des Königsbuches zweiter Band), die jedoch – wie auch der Briefwechsel mit einem jungen Freund Philipp Nathusius (Ilius Pamphilius und die Ambrosia. 2 Bde., Lpz. 1847/48) – ohne größere Resonanz blieb. A. stand den Ideen der Frühsozialisten nahe (sie traf vermutlich 1842 in Kreuznach mit Karl Marx zusammen), hielt jedoch zgl. an der romant. Idee eines starken »Volkskönigs« fest, die sie im Dämonenbuch u. a. einem »Proletarier« in den Mund legte. Als eigene Aufgabe sah sie die Erneuerung der durch die Kamarilla gestörte Kommunikation von Volk u. König. A.s Bedeutung liegt darin, dass sie die frühromant. Ideen einer spontanen, fantasievollen u. manchmal provokativen Jugendlichkeit in die Zeit der Restauration u. des Vormärz hinüberrettete u. dabei ohne Bedenken politisch brisante Themen aufgriff u. publizistisch wirksam vertrat. Bei den Jungdeutschen stand sie deshalb in hohem Ansehen; die etablierte Berliner Gesellschaft vereinnahmte sie als »das Kind«, als polit. »enfant terrible«, das durch provokative u. geistreiche Auftritte beeindruckte. Verwandtschaftliche u. freundschaftl. Verbindungen mit einflussreichen Persönlichkeiten in Preußen (Savigny, Alexander von Humboldt, Varnhagen, Friedrich Wilhelm IV.) bewahrten sie wiederholt vor Eingriffen der Polizei- u. Zensurbehörden, die sie mit ver-

Arnim

ächtlichem Stolz attackierte. Ihr Engagement ging meist von persönl. Erfahrungen aus u. galt bes. benachteiligten sozialen Gruppen wie Juden u. Armen sowie politisch Verfolgten wie etwa Gottfried Kinkel. Ihr Wirken ist das Beispiel einer gelebten Emanzipation, jedoch spielen in ihrem Werk Fragen zur Stellung der Frau nur eine untergeordnete Rolle (im Königsbuch); mit Selbstverständlichkeit u. Zivilcourage nahm sie alle Rechte einer unabhängigen Bürgerin wahr u. trat selbstbewusst u. kämpferisch auf. Die dem Tode A.s folgende Wilhelmin. Ära verdrängte die Erinnerung an die selbständig politisch denkende u. handelnde Schriftstellerin u. schuf in philisterhaftem Harmonisierungsdrang das fleckenlose Bild der Ehefrau u. Mutter, der reinen Liebenden, der mitleidigen Seele. Die sog. Neuromantik reklamierte, beginnend mit Ricarda Huchs zweibändigem Romantik-Werk (Lpz. 1899/ 1902), A. für sich u. überhöhte sie zum romant. Mythos: zum dämon. Elementargeist (Huch), zur großen (narzisstisch) Liebenden (Rilke: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. Lpz. 1910). Margarete Susman (Frauen der Romantik. Jena 1929) stilisierte A. gar zur klass. Kunstfigur, die im Sinne Stefan Georges »heldisch« u. »schauend« die bürgerl. Welt überragt. Von Richard Benz wurde ihr Leben als »wesentliche Erprobung« romant. Ideen von einem »poetisierten Leben« (Novalis) verstanden. Erst nach 1945 wurde die polit. Schriftstellerin A. wiederentdeckt. Sarah Kirsch versteht Wiepersdorf in ihrem gleichnamigen Gedichtzyklus (in: Rückenwind. Bln./Weimar 1976) auch als Ort der Auseinandersetzung mit den Mächtigen – jenen von 1848 u. denen der DDR. Während Christa Wolf in ihrem Bettine-Essay (in: Lesen und Schreiben. Darmst./ Neuwied 1980) A.s Günderrode-Buch als utopisches Experiment einer Frauensolidarität in der Männergesellschaft deutet, zeichnet Ingeborg Drewitz das Gesamtbild der politisch aktiven A., die im Spannungsfeld von Konvention u. Revolution den bürgerl. Freiheiten zuarbeitet. Für Ulrike Landfester ist Platons Vorstellung von der »schöpferischen Selbstsorge« ihre Leitidee, die sie davor be-

Arnim

wahrt, sich einer polit. Partei oder Gruppe anzuschließen. Weitere Werke: Kompositionen: B. v. A.: Lieder u. Duette für Singstimmen u. Klavier. Hss. Drucke. Bearbeitungen. Hg. Renate Moering. Kassel 1996. – Goethe-Vertonungen für Singstimme u. Klavier. Hg. dies. u. Reinhard Schmiedel. Kassel 1999. Ausgaben: Werkausgaben: B. v. A.s Sämtl. Werke. Hg. Waldemar Oehlke. 7 Bde., Bln. 1920–22. – Werke u. Briefe. Hg. Gustav Konrad u. Joachim Müller. 5 Bde., Frechen 1958–63. – Werke. Hg. Heinz Härtl. 2 Bde., Weimar 1986/89. – Werke u. Briefe. Hg. Walter Schmitz, Sibylle v. Steinsdorff u. a. 4 Bde., Ffm. 1986–2004. – Briefe: Achim v. Arnim u. B. Brentano. Hg. Reinhold Steig. Stgt./ Bln. 1913. – Bettinas Briefw. mit Goethe. Hg. ders. Lpz. 1922. – Bettinas Leben u. Briefw. mit Goethe. Hg. Fritz Bergemann. Lpz. 1927. – Die Andacht zum Menschenbild. Hg. Wilhelm Schellberg u. Friedrich Fuchs. Jena 1942. – Achim u. Bettina in ihren Briefen. Hg. Werner Vordtriede. Ffm. 1961. – B. v. A.s Briefe an Julius Döring. Hg. ders. In: JbFDH 1963, S. 341–488. – Der Briefw. zwischen B. Brentano u. Max Prokop v. Freyberg. Hg. S. v. Steinsdorff. Bln./New York 1972. – Der Briefw. B. v. A.s mit den Brüdern Grimm 1838–41. Hg. Hartwig Schultz. Ffm. 1985. – Bettine u. Arnim. Briefe der Freundschaft u. Liebe. Hg. Otto Betz u. Veronika Straub. 2 Bde., Ffm. 1986/87. – B. v. A. u. Heinrich Bernhard Oppenheim. Briefe 1841–49. Hg. Ursula Püschel. Bln. 1990. – Briefe an Philipp Hössli, nebst dessen Gegenbriefen u. Tagebuchnotizen. Hg. Kurt Wanner. Ffm./Lpz. 1996. – Briefw. zwischen B. v. A. u. Julius v. Hardegg. Hg. Ulrike Landfester u. Friderike Loos. Heidelb. 1998. – B. v. A.s Briefw. mit ihrem Sohn Freimund. Hg. Wolfgang Bunzel u. U. Landfester. Gött. 1999. – B. v. A. – Hermann v. Pückler-Muskau. Briefw. 1832–1844. Hg. Enid u. Bernhard Gajek. Stgt. 2001. – B. v. A.s Briefw. mit ihrem Sohn Friedmund. Hg. W. Bunzel u. U. Landfester. Gött. 2001. – Der Briefw. zwischen B. v. A. u. Friedrich Wilhelm IV. Hg. U. Püschel. 2 Bde., Bielef. 2001. Literatur: Bibliografie: Otto Mallon in: Imprimatur 4 (1933), S. 141–156. Fortlaufend im Internat. Jb. der B. v. A.-Gesellsch. seit 1993. – Weitere Titel: Waldemar Oehlke: B. v. A.s Briefromane. Bln. 1905. – Hilde Wyss: B. v. A.s Stellung zwischen der Romantik u. dem Jungen Dtschld. Bern/Lpz. 1935. – Maria Zimmermann: B. v. A. als Dichterin. Basel 1958. – Karl-Heinz Hahn: B. v. A. in ihrem Verhältnis zu Staat u. Politik. Weimar 1959. – Gertrud Meyer-Hepner: Der Magistratsprozeß der B. v. A. Weimar 1960. – Ursula Püschel: B. v. A.s polit. Schr.en. Diss. Bln. 1965. – Werner Milch: Die junge

216 Bettine 1785–1811. Heidelb. 1968. – Ingeborg Drewitz: B. v. A. Romantik – Revolution – Utopie. Köln 1969. Hildesh. 61992. – Frieda Margarete Reuschle: An der Grenze einer neuen Welt. B. v. A.s Botschaft vom freien Geist. Stgt. 1977. – Gisela Dischner: B. v. A. Eine weibl. Sozialbiogr. aus dem 19. Jh. Bln. 1977. – Gertrud Mander: B. v. A. Bln. 1982. – Christoph Perels (Hg.): Herzhaft in die Dornen der Zeit greifen [...]. Ffm. 1985 (Ausstellungskat. FDH). – Fritz Böttger: B. v. A. Ein Leben zwischen Tag u. Traum. Bln. 1986. – Konstanze Bäumer: ›Bettine, Psyche, Mignon‹. B. v. A. u. Goethe. Stgt. 1986. – B. v. A. Romantik u. Sozialismus (1831–59). Schr.en aus dem Karl-Marx-Haus Trier 35 (1987). – Helmut Hirsch: B. v. A. Reinb. 1987. – Ursula Liebertz-Grün: Ordnung im Chaos. Studien zur Poetik der B. Brentano-A. Heidelb. 1989. – Solveig Ockenfuß: B. v. A.s Briefromane. Opladen 1992. – ›Der Geist muß Freiheit genießen ...!‹ Studien zu Werk u. Bildungsprogramm B. v. A.s. Hg. Walter Schmitz u. Sibylle v. Steinsdorff. Bln. 1992. – Sabine Schormann: B. v. A. Die Bedeutung Schleiermachers für ihr Leben u. Werk. Tüb. 1993. – F. Böttger: B. v. A. zwischen Romantik u. Revolution. Mchn. 1994. – K. Bäumer u. Hartwig Schultz: B. v. A. Stgt./Weimar 1995. – B. Brentanov. A. Gender and politics. Hg. Elke P. Frederiksen u. Katherine R. Goodman. Detroit 1995. – U. Püschel: ›...wider die Philister und die bleierne Zeit‹. Untersuchungen, Essays, Aufsätze über B. v. A. Bln. 1996. – Dagmar v. Gersdorff: B. u. Achim v. A. Eine fast romant. Ehe. Bln. 1997. – Hildegard Baumgart: B. Brentano u. Achim v. Arnim. Lehrjahre einer Liebe. Bln. 1999. – Hedwig Pompe: Der Wille zum Glück. B. v. A.s Poetik der Naivität im Briefroman ›Die Günderode‹. Bielef. 1999. – Ulrike Landfester: Selbstsorge als Staatskunst. B. v. A.s polit. Werk. Würzb. 2000. – Angela Thamm: Romant. Inszenierungen in Briefen. Der Lebenstext der B. v. A. geb. Brentano. Bln. 2000. – H. Schultz: Die Frankfurter Brentanos. Stgt./Mchn. 2001. – Michaela Diers: B. v. A. Mchn. 2001. – Ulrike Growe: Das Briefleben B. v. A.s – Vom Musenaufruf zur Selbstreflexion. Würzb. 2003. – H. Schultz: ›Unsre Lieb aber ist außerkohren‹. Die Gesch. der Geschwister Clemens u. B. Brentano. Ffm. 2004. – Gabriele Sellner: ›Die Sterne haben mirs gesagt für dich‹. Vereinigung u. Poesie in B. v. A.s ›Die Günderode‹. Bln. 2007. – Periodikum: Internat. Jb. der B. v. A.-Gesellsch. Bln. 1987 ff. Hartwig Schultz

Arnisaeus

217

Arnim, Gisela von, verh. Grimm, auch: Marilla Fittchersvogel, * 30.8.1827 Berlin, † 4.4.1889 Florenz; Grabstätte: ebd., Evangelischer Kirchhof. – Dramen- u. Märchenautorin. Als jüngste Tochter Bettines heiratete A. erst nach deren Tod 1859 den Sohn Wilhelm Grimms, Herman, mit dem sie schon 1843 eine satir. »Häringszeitung« verfasst hatte. Bei den Zeitgenossen bekannt durch genialischen Übermut u. Extravaganz, sind diese Wesenszüge A.s auch an ihren – gleichwohl sprachlich schlichten – Kunstmärchen ablesbar, die sie z.T. gemeinsam mit Bettine schrieb u. mit Herman u. ihrer Schwester Maxe auch illustrierte: Aus den Papieren eines Spatzen. Märchen für eine Morgenstunde (Charlottenburg 1844) u. Mondkönigstochter. Märchen für eine Abendstunde (Bln. 1849). Ihre Dramatischen Werke (2 Bde., Bonn 1857. 3. u. 4. Bd., Bln. 1865 u. 1875) behandeln durch die Romantik vermittelte Sagenstoffe. A.s um 1840 gemeinsam mit Bettine verfasstes Märchen Das Leben der Hochgräfin Gritta von Rattenzuhausbeiuns, dessen Schluss erst nach dem Zweiten Weltkrieg aufgefunden wurde, erschien 1986 in Frankfurt/M. Weitere Werke: Das Heimelchen. Dämmermärchen v. Allerlei-Rauh. o. O. 1848. – Ein Brief über Rom u. Berlin. Bln. 1887. – Alt Schottland. o. O. 1889 (D.). – Märchenbriefe an Achim. Hg. Shawn C. Jarvis. Ffm. 1991. Literatur: Lüba Dramaliewa: G. v. A. – Leben, Persönlichkeit u. Schaffen. Diss. Lpz. 1925. – Ingeborg Drewitz: Bettine v. Arnim. Köln 1969. – Eva Mey: Ich gleiche einem Stern um Mitternacht. Die Schriftstellerin G. v. A. Stgt. 2004. Eda Sagarra / Red.

Arnisaeus, Henning, latinisiert aus Arentsehe oder Arensehe, * um 1575 Schlanstedt bei Halberstadt, † 1636 Hilleroed bei Kopenhagen. – Politischer Schriftsteller u. Mediziner. Über die Familie u. die Kindheit des A. ist nichts bekannt. 1589 immatrikulierte er sich in Helmstedt als 14-Jähriger u. besuchte die philosoph. Fakultät bis 1599, um dann das Studium der Medizin bei Johannes Siegfried aufzunehmen. 1602 wechselte er nach

Frankfurt/O., wo er auch seine ersten Privatvorlesungen gab. 1605 kehrte A. nach Helmstedt zurück u. leitete ein »collegium politicum« aus dreizehn Disputationen, das er zuerst in getrennter Reihenfolge u. dann 1606 als selbständigen Traktat unter dem Titel Doctrina politica in genuinam methodum, quae est Aristotelis, reducta (Frankf./O. 71651) veröffentlichte. In dieser Schrift, die als ein Muster des »politischen Aristotelismus« protestantischer Prägung gilt, entwarf er die Grundlinien seiner Lehre, die er in den späteren Werken ausbaute. Die method. Voraussetzungen für die Politik entlieh er der Lehre Giacomo Zabarellas, die er als die wahre Auffassung der aristotel. Logik verstand. Sie verlangte, dass man für die Gegenstände der prakt. Philosophie nur die analyt. Methode verwandte u. die ramist. Anordnung verwarf. In der Darstellung der Politik sollte man mit dem Komplex des Gemeinwesens beginnen u. ihn in seine Bestandteile auflösen. In der Definition der Republik findet man aber das Merkmal, das ihr ganzes Wesen bestimmt, denn ein Gemeinwesen ist ein Ordnungsverhältnis, u. jedes Verhältnis geht auf ein Eines u. Erstes zurück. Das Eine in jeder Verfassungsform ist die Souveränität, von der die ganze Ordnung einer polit. Gesellschaft abhängt. Aus diesen Prämissen zog A. die letzten Konsequenzen u. schloss, dass der Souverän frei vom Zwang der menschl. Gesetze sein soll u. dass kein Widerstand den Untertanen zulässig ist. Trotz seiner Veröffentlichungen zur Logik u. Metaphysik (Epitome metaphysices. Frankf./O. 1606) erhielt A. zunächst keine Berufung nach Helmstedt. 1606–1608 begleitete er die Grafen von Steinberg auf ihrer Bildungsreise ins Ausland. 1608 erhielt er eine Einladung nach Frankfurt/O. als Professor der Medizin. Hier veröffentlichte er 1610 seine Schriften zur legitimen Geburt, zu Schlaganfall, Fallsucht, Syphilis u. Pest neben einer Reihe von polit. Abhandlungen, in denen er einige höchst aktuelle Fragestellungen erörterte. Die Disputatio politica de tribus essentialibus iuribus maiestatis (Frankf./O. 1609) sammelte die Erkenntnisse aus der Bildungsreise u. wurde im Traktat De iure maiestatis libri tres 1610 (Frankf./O. Amsterd. 31651. Internet-

Arnold von Lübeck

Ed.: CAMENA. 51689) erweitert; die Disputatio politica de autoritate summorum principum in populum et subditos (Frankf./O. 1611) bekämpfte die Argumente der Monarchomachen, v. a. des Johannes Althusius, u. wurde durch den Traktat De autoritate principum in populum semper inviolabili (Frankf./O. 1612. Internet-Ed.: CAMENA. 51689) vervollständigt; die drei Abhandlungen De subiectione et exemptione clericorum, item de potestate temporali pontificis in principes et denique de translatione imperii Romani (Frankf./O. 1612. Internet-Ed.: CAMENA. 41689) griffen direkt in die Kontroverse zwischen Jakob I. von England u. Bellarmin ein, um die kgl. Rechte zu verteidigen. 1613 wurde A. endlich nach Helmstedt als Professor der Medizin u. Ethik berufen. 1614 erschien sein Liber de generatione hominis u. 1615 die De republica seu relectionis politicae libri duo (Frankf./O. 21636. InternetEd.: CAMENA), die ersten zwei Bücher einer groß angelegten Enzyklopädie der Politik in sechs Teilen, die aber unvollständig blieb. In Helmstedt führte A. neben der Lehrtätigkeit seine medizin. Praxis weiter; 1620 übersiedelte er nach Kopenhagen als Leibarzt des Königs Christian IV. In Dänemark, wo er bis zu seinem Tod 1636 blieb, wirkte er als Arzt u. Berater am Hof, unterbrach aber fast vollständig seine literar. Tätigkeit. Weitere Werke: Opera politica omnia duobus tomis distincta. Straßb. 1648. Literatur: Horst Dreitzel: Protestant. Aristotelismus u. absoluter Staat. Wiesb. 1970. – Merio Scattola: A., Zabarella e Piccolomini. In: La presenza dell’aristotelismo padovano nella filosofia della prima modernità. Hg. Gregorio Piaia. Rom 2002, S. 273–309. – Ders.: ›Controversia de vi in principem‹. Vertrag, Tyrannis u. Widerstand in der Auseinandersetzung zwischen Johannes Althusius u. H. A. In: Wissen, Gewissen u. Wiss. im Widerstandsrecht. Hg. Angela De Benedictis u. KarlHeinz Lingens. Ffm. 2003, S. 175–249. Merio Scattola

Arnold von Lübeck, * um 1150, † 1211 oder 1214. – Chronist u. Übersetzer. Nach der Ausbildung im St.-Ägidien-Kloster in Braunschweig nahm Arnold vielleicht 1172 an Heinrichs des Löwen Palästinafahrt teil u. wurde 1177 erster Abt des Johannis-

218

klosters in Lübeck. Er verfasste 1210 in Fortsetzung der Slawenchronik Helmolds von Bosau eine pro-welfische lat. Chronica, die sich neben Reichs- u. Kreuzzugsthematik v. a. der nordelbischen Regionalgeschichte widmet. Herzog Wilhelm von Lüneburg, Sohn Heinrichs des Löwen, erteilte A. wohl aus genealog. Interessen den Auftrag, Hartmanns von Aue Gregorius ins Lateinische zu übertragen. A.s Gesta Gregorii peccatoris (1210/13) sind, abgesehen von einem verschollenen Fragment, unikal in einer 1981 gestohlenen Paderborner Handschrift aus dem 15. Jh. überliefert. A. orientierte sich neben anfängl. Versuchen mit leoninischen Hexametern u. akzentrhythmischen Versen an der vierhebigen Reimpaarversmetrik der dt. Vorlage. Er bietet eine eigenständige, seiner klerikalen Bildung entsprechende Bearbeitung, die dem Ausgangstext bibl. Reminiszenzen u. deren Auslegung ebenso wie antike Zitate (Horaz, Vergil, Statius) hinzufügt, Ambivalenzen mitunter vereindeutigt. A. richtete sich wie Hartmann an ein Laienpublikum; das im Prolog geäußerte Unbehagen gegenüber der unbekannten Dichtungsart (»modus locucionis incognitus«) bezieht sich wohl weniger auf mangelndes Verständnis des Hochdeutschen als auf den ungewohnten Übertragungsweg von der Volkssprache in die lat. Bildungssprache. Ausgaben: ›Chronica‹: Georg Heinrich Pertz (Hg.): Arnoldi Chronica Slavorum. Hann. 1868 (MGH SS rer. Germ. in us. schol. 14.). – Oliver Auge, Christian Lübke u. Matthias Hardt (Hg.): Ed. u. Übers. der ›Chronica Slavorum‹ des A. v. L. (in Vorb.). – ›Gregorius‹: Johannes Schilling (Hg.): A. v. L., Gesta Gregorii Peccatoris. Untersuchungen u. Ed. Gött. 1986. Literatur: Peter F. Ganz: Dienstmann u. Abt. ›Gregorius Peccator‹ bei Hartmann v. Aue u. A. v. L. In: FS Werner Schröder. Bln. 1974, S. 250–275. – Dieter Berg u. Franz Josef Worstbrock: A. v. L. In: VL. – Volker Scior: Das Eigene u. das Fremde. Identität u. Fremdheit in den Chroniken Adams v. Bremen, Helmolds v. Bosau u. A.s v. L. Bln. 2002. – Sylvia Kohushölter: Die lat. u. dt. Rezeption v. Hartmanns v. Aue ›Gregorius‹ im MA. Untersuchungen u. Ed. Tüb. 2006. Norbert H. Ott / Sandra Linden

219

Arnold, Christoph, * 13.4.1627 Hersbruck bei Nürnberg, † 30.6.1685 Nürnberg. – Philologe u. Historiker. Nach dem Besuch des Egidiengymnasiums in Nürnberg begann der Sohn des Pfarrers Kaspar Arnold 1638 sein Studium an der Universität Altdorf (Magister 1649). 1645 wurde er als »Lerian« in den Pegnesischen Blumenorden aufgenommen, arbeitete an Harsdörffers Frauenzimmer Gesprechspielen mit u. verfasste sprachtheoret. Abhandlungen (Janus oratione philologicae. Nürnb. 1648. Septem quaestiunculae philosophicae. Altdorf 1648. Kunstspiegel hoch-Teutscher Sprache. Nürnb. 1649). Ende 1649 trat er eine längere Reise in die Niederlande u. nach England an. 1650 veröffentlichte er in Leiden eine Rede, Templum pacis Germanicae seu panegyricus de pacificatione Norimbergensis. 1652 kehrte A. nach Nürnberg zurück, wurde Diakon an der Frauenkirche u. Professor für Poesie, Eloquenz u. griech. Sprache am Egidiengymnasium. A. verfasste v. a. philologisch-histor. Arbeiten. Sein Interesse galt gleichermaßen archäologischen, geograf., religionsphilosoph. u. historiograf. Themen. A. edierte Werke seines Lehrers Christoph Adam Rupert, verfasste Biografien (u. a. über den Juristen Georg Richter u. den Historiker Marcus Welser) u. schrieb – teils für Kaiser Leopold, der ihm 1665 den Auftrag erteilte, den Druck der Commentaria Bibliothecae Caesareae Vindobonensis des Petrus Lambecius zu beaufsichtigen, oder Herzog Anton Ulrich von BraunschweigWolfenbüttel – Vorreden u. Kommentare zu Ausgaben antiker Autoren, zu Reisebeschreibungen u. zu numismat. Werken. In engem Kontakt mit seinem Londoner Freundeskreis (John Selden, John Dury u. a.) gab A. als einer der Ersten in Deutschland eine Reihe von Übersetzungen engl. Autoren heraus (u. a. Diggory Whear u. Thomas Browne). Werke wie die Offne Thür zu dem verborgenen Heydenthum (Nürnb. 1663) nach einer Vorlage von Abraham Rogers oder die von ihm mit einem Anhang etzliche alt-sächsische Wochen- und andere teutsche Götzenbilder betreffend versehene religionstypologische Schrift Unterschiedliche Gottesdienste in der gantzen Welt (Heidelb. 1674) des Schotten

Arnold

Alexander Ross kamen dem Interesse des Publikums an Exotischem u. Kuriosem entgegen; sie dienten Ende des 17. Jh. Heinrich Anselm von Ziegler und Kliphausen als Quellen für seine Asiatische Banise. Weit verbreitet war A.s Einführung in die lat. Sprache Linguae latinae ornatus (Nürnb. 1657). In Anerkennung seiner Verdienste als Übersetzer u. Herausgeber wurde A. 1678 in die Accademia dei Ricoverati in Padua aufgenommen. In Nürnberg verfasste er außerdem zahlreiche Beiträge für Trauer- u. Hochzeitsschriften sowie über hundert geistl. Lieder, die u. a. 1661 in Johann Michael Dilherrs Augen- und Hertzens-Lust gedruckt wurden. Teile seines umfassenden Briefwechsels (u. a. mit Antonio Magliabechi, Heinrich Meibom d.J., Conrad Samuel Schurzfleisch, Henning Witte u. Johann Christoph Wagenseil) sind erhalten. Seine bes. an engl. Drucken überaus reiche Bibliothek wurde 1728 versteigert. Weitere Werke: Bearbeitungen: Wahrhafftige Beschreibungen dreyer mächtigen Königreich, Japan, Siam u. Corea (nach François Carron). Nürnb. 1663. Erw. Ausg. 1672. – Vier Sendschreiben der türk. Bottschaft (nach Augerius Gislenius Busbequius). Nürnb. 1664. – De hydriotaphia, h.e. urnis sepulchralibus in agro Angliorum nortfolciensi repertis, epistola (nach Robert Brown). Nürnb. 1663. 2 1674. – Admiranda sculpturae seu statuariae veterum (nach Joachim v. Sandrart). Nürnb. 1680. – Editionen: Nicolaus Vernulaeus: De arte dicendi libri tres. Nürnb. 1658. – Epistolae philologicae et historicae de Flavii Josephi testimonio. Nürnb. 1661. – Philipp Caroli: Animadversiones historicae in Noctes Atticas Agellii et Q. Curtii Historiam. Nürnb. 1663. – Petronius Arbiter: Fragmentum Traguriense. Nürnb. 1667. – Conrad Fronmüller: De diversiis sententiis Rabbinorum. Altdorf 1679. – Prospero Parisio: Rariora Magnae Graeciae Numismata. Nürnb. 1683. Literatur: Johann Herdegen: Histor. Nachricht v. deß löblichen Hirten- u. Blumen-Ordens an der Pegnitz [...]. Nürnb. 1744, S. 245–249. – Georg A. Will u. Christian K. Nopitsch: Nürnberg. Gelehrten-Lexikon. Nürnb. 1755–1808: Bd. 1, S. 38–41, Bd. 5, S. 38 f. – Adelung 1, 1119/20. – Koch 3, S. 486 f. – Fischer-Tümpel 5, S. 103–108. – Franciscus Joannes Maria Blom: Christoph & Andreas Arnold and England, The travels and book-collections of two seventeenth-century Nurembergers. Nürnb. 1982. – Dick van Stekelenburg: Templvm

Arnold

220

Pacis Germanicae. Eine Leidener Rede über das Achte Weltwunder v. Nürnb. In: Brückenschläge (1995), S. 89–126. – Renate Jürgensen: Melos conspirant singuli in unum. Wiesb. 2006, S. 105–128. – Zur Bibliothek: Dies.: Bibliotheca Norica. Patrizier u. Gelehrtenbibl.en in Nürnb. zwischen MA u. Aufklärung. Wiesb. 2002, S. 532–798. Renate Jürgensen

Arnold, (Johann) Georg Daniel, * 18.2. 1780 Straßburg, † 18.2.1829 Straßburg; Grabstätte: ebd., Evangelischer Friedhof St. Gallus. – Dramatiker u. Lyriker. A., Sohn eines Küfermeisters, studierte in Straßburg (1794, 1798–1801) u. Göttingen (1801–1803) Rechts- u. Geschichtswissenschaft. 1806–1809 hatte A. den Lehrstuhl für Zivilrecht in Koblenz inne, danach lehrte er in Straßburg Geschichte u. röm. Recht; außerdem versah er Aufgaben als Verwaltungsbeamter, Kirchenrat u. Privatlehrer. Auf einer Bildungsreise lernte er 1803 in Weimar Schiller u. Goethe kennen. Neben jurist. Arbeiten verfasste A. einige zeittypisch empfindsame Gedichte. Mit seinem Lustspiel Der Pfingstmontag (Straßb. 1816) verfolgte er v. a. volkskundl. Absichten zur Bewahrung deutschsprachiger Traditionen der ehemaligen freien Reichsstadt; virtuos setzte er dabei den Alexandrinervers in Straßburger u. oberelsässischer Mundart ein. Goethe widmete dem Autor eine anerkennende Rezension (Über Kunst und Altertum. Bd. 2, Stgt. 1820, S. 122–155), in der er A.s vorbildhaft »geistreiche Darstellung unendlicher Einzelheiten« hervorhob. 1878 wurde A. in Straßburg ein Denkmal errichtet. Das lebendige Interesse an seinem Werk belegen mehrere Veranstaltungen anlässlich seines 200. Geburtstags. Literatur: Karl Goedeke: J. G. D. A. In: ADB. – Walter Kunze: J. G. D. A. In: NDB. – Georges D. A. 1780–1980. Straßb. 1980 (Kat. mit Werkbibliogr., S. 17–19). – Actes du Colloque de Strasbourg 1980: Georges D. A. Colmar 1981, S. 169–184 (mit umfassender Bibliogr.). Adrian Hummel / Red.

Arnold, Arnoldi, Gottfried, auch: Christophorus Irenaeus, * 5.9.1666 Annaberg/ Meißen, † 30.5.1714 Perleberg. – Pietistischer Theologe, Kirchenhistoriker u. Verfasser geistlicher Lyrik. Nach dem Besuch des Gymnasiums in Gera 1682–1685 immatrikulierte sich A. 1685 an der Universität Wittenberg, wo er philolog. Fächer u. Theologie studierte. 1689 verschaffte ihm Philipp Jacob Spener, Oberhofprediger in Dresden u. dort um kirchl. Reformen im später »pietistisch« genannten Sinn bemüht, an seinem Wirkungsort Erzieherstellen in vornehmen Offiziershäusern. Nachdem A. seine Tätigkeit in Dresden hatte aufgeben müssen, konnte er 1693, ebenfalls dank der Unterstützung Speners, dieselbe Funktion im Haus des Stiftshauptmanns von Stammer in Quedlinburg ausüben. Hier lernte er auch den Hofprediger Johann Heinrich Sprögel u. dessen Frau Susanna kennen, die zu den Hauptrepräsentanten der v. a. an Jakob Böhme orientierten Quedlinburger Separatisten gehörten. Anfang Sept. 1697 trat A. an der Universität Gießen eine Professur für Geschichte an, die er aber schon im März 1698 aus Unzufriedenheit mit der seiner Ansicht nach von Gott ablenkenden Universitätswissenschaft aufgab. Eine Rechtfertigung dieses Schritts enthält seine Offenhertzige Bekandtnuss (o. O. 1698 u. ö.). A. kehrte nach Quedlinburg ins Haus Sprögel zurück u. konnte dort, abseits von der ihm verhassten Welt u. von institutionellen Verpflichtungen befreit, als Privatgelehrter seinen myst. Interessen nachgehen. Am 5.9.1701 heiratete A. Anna Maria Sprögel, die Tochter seines Gastgebers, u. entfremdete sich dadurch gänzlich seinem Freund, dem Spiritualisten Johann Georg Gichtel. Noch in A.s 1701 in Leipzig erschienenem Geheimnis der göttlichen Sophia (Neudr. Stgt. 1963) charakterisierte Ehelosigkeit den wahrhaft Gläubigen. Im Jan. 1702 erhielt A. eine Stelle als Hofprediger bei der verwitweten Herzogin SophieCharlotte von Sachsen-Eisenach in Allstedt, wo er 1702–1705 – zwar wiederholt von Gegnern attackiert, aber unter dem Schutz des preuß. Königs – wirken konnte. 1705 wurde er als Nachfolger seines Schwiegerva-

221

ters Pfarrer u. Inspektor in Werben/Altmark. Von 1707 an war A. Pfarrer u. Diözesaninspektor in Perleberg. Als ihm 1714 preuß. Soldatenwerber Konfirmanden gewaltsam aus dem Pfingstgottesdienst zu den Fahnen holten, erlitt er einen Schock, der den baldigen Tod zur Folge hatte. Frühere Biografen (Seeberg 1923) stellten einen dreifachen Bruch in A.s Leben fest: den konversionsartigen Anschluss an den Pietismus nach der Wittenberger Studienzeit, den Übergang zum radikalen Spiritualismus, die Entscheidung zur Heirat u. zur Übernahme von Pfarrstellen. Gegenwärtig wird die Kontinuität der verschiedenen Lebensabschnitte stärker hervorgehoben, ohne dass freilich die Positionswechsel A.s – z.B. in der Ehefrage – vernachlässigt werden. Die Unpartheyische Kirchen- und Ketzerhistorie (Ffm. 1699/1700. Schaffhausen 41740–42. Hildesh. 1967. Neudr. der Ausg. Ffm. 1729), das wirkungsgeschichtlich bedeutsamste Werk A.s (vgl. etwa das 8. Buch von Goethes Dichtung u. Wahrheit), ist wohl zwischen 1694 u. 1699 entstanden u. geht von der in Wahre Abbildung Der Ersten Christen (Ffm. 1696. Lpz. 6 1740) schon entwickelten Kirchenauffassung aus. Die Kirchen- und Ketzerhistorie schildert, ausgehend von der Goldenen Zeit der Urkirche, den ungefähr seit dem 3. Jh. bemerkbaren Zerfall (bes. ausgeprägt unter Konstantin), der sich in einer nie mehr aufgehobenen Diskrepanz zwischen dem vom Hl. Geist geforderten christl. Lebenswandel u. dem institutionalisierten äußerl. Christentum der verschiedenen Kirchen ausdrückt. Geist u. Welt, Innen u. Außen, Gott u. Mensch befinden sich nicht mehr wie in den Anfängen des Christentums in Übereinstimmung. Die Zerfallserscheinungen sind über die Jahrhunderte hinweg empirisch belegbar, ohne dass die Hoffnung auf bessere Zeiten deshalb verabschiedet werden müsste. So bewegt sich die Kirchen- und Ketzerhistorie im Spannungsfeld zwischen der diskreditierten histor. u. zeitgenöss. Wirklichkeit, deren Mängel sie schonungslos aufdeckt, u. der messianischspiritualist. Utopie eines mit Gott u. dem Hl. Geist versöhnten Lebens erleuchteter Christen.

Arnold

Mit einem für einen Pietisten ungewöhnl. Aufwand an Gelehrsamkeit behauptet A. in seinem Hauptwerk die Erfüllbarkeit der Zukunftshoffnungen, um so die im Geschichtsverlauf nachgewiesene Dichotomie von Mangelhaftigkeit u. vollkommenem Zustand zu entschärfen. Die Wiederkehr der Harmonie der Menschen mit Gott im Zeichen des Geistes ist nicht an eine bestimmte Kirche oder Konfession gebunden, weshalb A. seinen eigenen Standpunkt, obwohl entschieden Partei genommen wird, als »unpartheyisch« bezeichnen kann. Auch damit steht er in der Tradition des myst. Spiritualismus, der die Konfessionen als »Parteien« bezeichnete. Richtig u. gerecht, als Sprachrohr Gottes, urteilt für A. nur der »Erleuchtete«, der von seiner Selbstheit zu Gott hin befreit ist u. deswegen nicht selten als Ketzer verschrien u. geächtet wird; in Erscheinung treten kann er als Zeitgenosse aller Zeiten, auch solcher der äußersten Gott- bzw. Geistferne. Er ist gesandt, Gottes Wirken unmittelbar zu bezeugen u. damit die unsichtbare, wahre Kirche am Leben zu erhalten. A. geht weder von dem Modell eines sukzessiv voranschreitenden Verfalls aus noch von einem teleolog. Konzept allmählichen geistl. Fortschritts; die Kontingenz der Wirksamkeit des Hl. Geistes wird durch nichts eingeschränkt. Deshalb bilden der einzelne Erleuchtete u. seine Biografie, der individuelle Gnadenweg, an dessen Ende das entindividualisierte, von Gott durchdrungene Subjekt steht, einen Hauptgegenstand von A.s Kirchen- und Ketzerhistorie. A.s geistl. Lyrik gehört der radikalen Schaffensphase an, in der er die Wiedergeburt beschreibt u. »unio mystica«, Abkehr von der Welt u. Zuwendung zum Hl. Geist göttlicher Weisheit propagiert u. den weltl. Lebenswandel sowie die Verdorbenheit der Institutionen Schule u. Kirche brandmarkt. Ein Kulminationspunkt der Kritik an der Orthodoxie ist mit Babels Grab-Lied (In: G. A.s sämmtliche geistliche Lieder. Hg. Karl Christian Eberhard Ehmann. Stgt. 1856) erreicht. Die myst. Gedichte verfolgen ein pädagogischdidakt. Ziel; sie wollen zur Bekehrung anregen u. die Zahl der Erwählten unter den Rezipienten vergrößern: Das äußere Wort, der Buchstabe, setzt sich seine eigene Aufhebung

Arnold

222

zum Ziel, nämlich die durch das Schweigen zu Werk u. Werdegang wurde dadurch biserst ermöglichte innere Sammlung, das Hö- lang eher erschwert als gefördert. ren der Stimme Gottes, des wortlosen GotWeitere Werke: Theologia Experimentalis, Das tesworts im Innern des Menschen. Die Quel- ist: Geistl. Erfahrungslehre. Ffm. 1715. len aus der myst. Tradition sind äußerst heLiteratur: Bibliografie: Dünnhaupt 2. Aufl. terogen u. im Einzelnen nicht leicht eindeu- Bd. 1, S. 314–352. – Weitere Titel: Erich Seeberg: G. tig auszumachen. Sie reichen von der mittel- A., die Wiss. u. die Mystik seiner Zeit. Meerane alterl. Mystik, v. a. Tauler u. Pseudo-Tauler 1923. Neudr. Darmst. 1964. – G. A. (1666–1714). sowie deren frühneuzeitl. Vermittler Daniel Mit einer Bibliogr. der A.-Lit. ab 1714 [bis 1993]. Hg. Dietrich Blaufuß u. Friedrich Niewöhner. Sudermann, über Sebastian Franck bis hin zu Wiesb. 1995. – Barbara Hoffmann: ›Das ganze leJacob Böhme, der philadelph. Sozietät, Mi- ben und wandel war vor dem angesicht Gottes ein chael Molinos, Peter Poiret u. insbes. Angelus gebet‹: Die Rezeption v. G. A.s ›Erste Liebe‹ in raSilesius, dessen Cherubinischen Wandersmann dikalpietist. Gruppen. In: Gebetslit. der Frühen A. mit einer eigenen Vorrede herausgab (Ffm. Neuzeit als Hausfrömmigkeit: Funktionen u. Formen in Dtschld. u. den Niederlanden. Hg. Ferdi1701). Mystiktheorie, poetisch umgesetzt, u. ei- nand van Ingen u. Cornelia Niekus Moore. Wiesb. gene myst. Erfahrungen gehen in vielen Ge- 2001, S. 167–178. – Rudolf Schlögl: Hermetismus als Sprache der ›unsichtbaren Kirche‹: Luther, Padichten A.s ein unauflösbares Bündnis ein. racelsus u. die Neutralisten in der ›Kirchen- und Von der gelehrten Aufarbeitung der myst. Ketzerhistorie‹ G. A.s. In: Antike Weisheit u. kulTradition zeugt A.s Historie und Beschreibung turelle Praxis. Hg. Anne-Charlott Trepp u. HartDer Mystischen Theologie (Ffm. 1703. Neudr. mut Lehmann. Gött. 2001, S. 165–188. – Hans Stgt.-Bad Cannstatt 1970. Zunächst Ffm. Schneider: ›Mit Kirchengeschichte, was hab’ ich zu 1702 u. d. T. Historia et descriptio theologiae schaffen?‹ Goethes Begegnung mit G. A.s ›Kirchenmysticae), eine bissige Polemik gegen die der und Ketzerhistorie‹. In: Goethe u. der Pietismus. Hg. Hans-Georg Kemper u. H. Schneider. Halle Gotteserfahrung feindl. Schultheologie. 2001, S. 79–110. – Andreas Urs Sommer: FragA. zählt zu den wichtigsten Verbreitern mentarisierte (Heils-)Gesch.? Bemerkungen zu G. mystischen Gedankenguts innerhalb des Pie- A. In: Interdisziplinäre Pietismusforsch.en. Beiträtismus, zu dessen radikalen Exponenten man ge zum Ersten Internat. Kongress für Pietismusihn nicht zuletzt aufgrund dieser Vermitt- forsch. 2001. Hg. Udo Sträter u. a. Halle/Tüb. 2005, lerrolle rechnet. Neben der Kirchen- und Ket- S. 135–144. – Hanspeter Marti: G. A.-Forsch.en zerhistorie, den myst. Schriften u. der Lyrik, (erscheint 2008). Hanspeter Marti namentlich den Kirchenliedern, verdienen die Predigten A.s u. sein Predigerhandbuch Die geistliche Gestalt Eines Evangelischen Lehrers Arnold, Igna(t)z Ferdinand, auch: Theo(Halle 1704) Beachtung. Obwohl er der Ho- dor Ferdinand Kajetan A., * 4.4.1774 Ermiletik eine propädeutische Bedeutung bei- furt, † 13.10.1812 Erfurt – Unterhalmisst u. selbst eine beachtliche Anzahl von tungsschriftsteller u. Biograf. Lehrbüchern besessen hat, wendet er sich Der Sohn eines kurfürstl. Oberkämmerers u. gegen eine gemäß den Vorschriften der rhe- Vormundschaftsbeamten absolvierte nach torischen »dispositio« (Gliederung) aufge- dem kath. Gymnasium das Studium der setzte Predigt. Der erleuchtete Prediger, aus Rechtswissenschaft u. Philosophie in Erfurt dessen Herz der Hl. Geist spricht, bedarf jeweils mit der Promotion. In seiner Heinämlich der Kunstgriffe der Rhetorik nicht. matstadt betätigte sich der vielseitig talenEr kann sich der spontanen Eingebung an- tierte A. dann als Rechtsanwalt, Universivertrauen u. damit den Anforderungen der tätssekretär, Organist u. Musiklehrer. Die »methodus heroica«, des unvorbereiteten materielle Not nach dem Tod seines Vaters Vortrags, genügen. zwang ihn zur verstärkten RomanproduktiA.s Persönlichkeit ist vielfach auf scharfe on, die er »oft mit herzlichem Widerwillen« Ablehnung oder auf enthusiast. Zustimmung betrieb (vgl. den Vorbericht zu Amalie Balbi. gestoßen. Ein unvoreingenommener Zugang Eine wunderbare Vision, die ich selbst gehabt habe.

223

Arnoldt

Erfurt 1805, S. 15). Kurze Zeit nach seiner zum Ort der Handlung u. zur Frage nach dem Verf. Eheschließung (1800) mit Maria Anna See- In: Aurora 42 (1982), S. 143–165. Holger Dainat / Red. huber erlitt A. einen Nervenzusammenbruch, der zur Einweisung in eine Irrenanstalt führte. Kaum erholt, studierte A. Medizin u. Arnoldt, Daniel Heinrich, * 7.12.1706 hielt als Privatdozent viel besuchte Vorle- Königsberg, † 30.7.1775 Königsberg. – sungen über Erfahrungsseelenkunde, Politik, Dichter u. Kirchenhistoriker. Ästhetik u. Poetik. Seine ökonom. Lage indes A., der einer Kaufmannsfamilie entstammte, verbesserte sich nicht; einem amtl. Bericht studierte ab 1721 in Königsberg u. zufolge soll er »im eigentlichen Sinne ver1724–1728 in Halle, wo er den Magistertitel hungert« sein. erwarb. In Königsberg wurde er 1729 a. o. A., der bereits in frühen Jahren einen »beProfessor der prakt. Philosophie; 1732 prosonderen Hang zur Magie und den sogemovierte er dort zum Dr. theol. u. wurde nannten geheimen Wissenschaften« in sich Konsistorialrat, 1733 a. o. Professor der verspürte, schrieb zahlreiche Schauer- u. GeTheologie u. stellvertretender Pfarrer an der spensterromane. In ihnen gelingt zwar meist Altstädtischen Kirche, 1734 o. Professor der die Aufklärung geheimer Verschwörungen u. Theologie u. Zweiter Königlicher Hofprediinszenierter Geistererscheinungen, jedoch ger an der Schlosskirche, 1770 schließlich kann damit der Sieg des Bösen nicht verhinStellvertreter des Ersten Königlichen Oberdert werden. Viele der Helden verfallen darhofpredigers, dessen Amt er 1772 übernahm. über in Schwermut u. Wahnsinn. A. entfaltete eine umfangreiche schriftSexualität u. Kriminalität prägen die Insteller. Tätigkeit auf dem Gebiet der Philohalte seiner Räuberromane. Prototyp ist Der sophie, der Theologie u. der Geschichtswisschwarze Jonas, Kapuziner, Räuber und Mordsenschaft. Für die dt. Literatur ist er durch brenner (Erfurt 1805. Neudr. Hildesh. 1972), seine Gelegenheitsgedichte von Interesse, von worin A. ein – vorgeblich auf einer histor. denen acht Epicedia (Trauergedichte) in Vorlage basierendes – sadistisches Ungeheuer Christian Friedrich Weichmanns Poesie der präsentiert, das in scharfem Kontrast zu den Nieder-Sachsen (Hbg. 1721–38) aufgenommen meist edlen Helden der Gattung steht. wurden. Zwei seiner Königsberger Arbeiten Neben diesen Romanen, einigen Gedichzeugen von A.s Verdiensten um die ostpreuß. ten, Lustspielen u. lokalhistor. Arbeiten verGeschichtsschreibung: die Ausführliche und fasste A. eine ganze Reihe von Musikerbiomit Urkunden versehene Historie der Königsbergigrafien: Mozarts Geist (Erfurt 1803); Haydn schen Universität (2 Tle., Königsb. 1746. Zu(Erfurt 1810); Dittersdorf (Erfurt 1810). Auch sätze zu seiner Historie. ebd. 1756. Fortgesetzte als Verfasser der Nachtwachen des Bonaventura Zusätze. ebd. 1769. Nachdr. Aalen 1994) u. (1804) stand A. zur Diskussion. seine Kurzgefaßte Kirchengeschichte des KönigWeitere Werke: Der Mann mit dem rothen reichs Preußen (Königsb. 1769) Ermel. Geistergesch. 2 Tle., Gotha 1798/99. – Das A. war v. a. Gelehrter, die theolog. Praxis Bildniß mit dem Blutflecken. Zerbst 1800 (R.). – lag ihm weniger. Er machte den Wolff’schen Mirakuloso oder der Schreckensbund der IllumiRationalismus in Königsberg heimisch, wo er naten. Coburg 1802 (R.). – Die Grafen v. Moor. Ein Familiengemählde. 2 Tle., Rudolstadt 1802 (R.). – dem sowohl pietistischen als auch rationalist. Euridane, die Tochter der Hölle. 3 Tle., Hbg. Bestrebungen nahestehenden Kreis seines 1803–09 (R.). – Gallerie der berühmtesten Ton- Förderers Franz Albert Schultz angehörte. künstler des 18. u. 19. Jh. 2 Tle., Erfurt 1810. Nachdr. 1984. Literatur: Hans-Friedrich Foltin: Vorw. zu ›Der schwarze Jonas‹. Neudr. Hildesh. 1972. – Lorenz Frhr. v. Stackelberg: Die dt. Gespenstergesch. in der Zeit der Spätaufklärung u. der Romantik (1787–1820). Diss. Mchn. 1982. – Franz Heiduk: ›Bonaventuras Nachtwachen‹. Erste Bemerkungen

Weitere Werke: Versuch einer systemat. Anleitung zur dt. Poesie überhaupt. Königsb. 1732 (verm. u. verb. Aufl. u. d. T.: Versuch einer, nach demonstrativer Lehrart entworfnen, Anleitung zur Poesie der Teutschen. Königsb. 1741). – Kirchenrecht des Königreichs Preußen. Königsb. 1771. – Kurzgefaßte Nachrichten v. allen seit der Reformation an den luth. Kirchen in Ostpreußen ge-

Arnolt

224

standenen Predigern. Hg. Fr. Wilhelm Benefeldt. Königsb. 1777. Ausgabe: Letzte Gedancken Herrn J. G. Gottscheds bey seinem Abschied aus dieser Zeitlichkeit entworffen v. D. H. A. (1726). In: Neukirch, Tl. VII, S. 418–422. Literatur: http://www.forschungen-engi.ch/ projekte/koenigsberg.htm (Verz. der Dissertationen). – PGK 7, Sp. 200–202. – Bio-bibliogr. Hdb. zur Sprachwiss. des 18. Jh. Hg. Herbert E. Brekle u. a. Bd. 1, Tüb. 1992, S. 111 f. – Weitere Titel: Christian Friedrich Weichmanns Poesie der NiederSachsen. Hbg. 1721–38. Neuausg. hg. v. Christoph Perels, Jürgen Rathje u. Jürgen Stenzel. Nachweise u. Register. Wolfenb. 1983, S. 48–50. – Georg Christoph Pisanski: Entwurf einer preuß. Literärgesch. [zuerst 1791–1853]. Hg. Rudolf Philippi. Königsb. 1886. Nachdr. Hbg. 1994. – Ludwig v. Baczko (Hg.): Annalen des Königreichs Preußen. Königsb. 1793, S. 45–73. – Heinrich Wilhelm Erbkam: D. H. A. In: ADB. – Gerhard Kessler: D. D. H. A. u. der Pietistenkreis in Königsberg (mit Anlagen: Ahnen u. Nachkommen A.s). In: Altpreuß. Geschlechterkunde 8 (1934), S. 9–35. – Götz v. Selle: D. H. A. In: NDB. – Klaus Messmer: Die Königsberger Professoren Reinhold Friedrich v. Sahme, D. H. A. u. Martin Knutzen. In: Altpreuß. Geschlechterkunde 49 (2001), S. 221–239. Jürgen Rathje / Red.

Priester Arnolt – Name eines geistlichen Verfassers zweier frühmittelhochdeutscher Dichtungen des 12. Jh.

dichts handelte es sich um eine stereotype Jungfrauenlegende. Juliane wendet sich vom heidn. Glauben ab u. will ihren Verlobten nur heiraten, wenn er bereit ist, sich zum Christentum zu bekennen. Sie wird eingesperrt. Im Kerker wird sie vom Teufel heimgesucht, widersteht ihm u. wird schließlich hingerichtet. A.s Gedicht hält sich streng an die Erzählfabel, nur selten fügt er Eigenständiges hinzu. Das zweite Gedicht Von der Siebenzahl ist ein Loblied auf den traditionell durch die Zahl Sieben symbolisierten Hl. Geist. Die Sieben Gaben des Hl. Geistes (Isaias II, 2–3) sind der Ausgangspunkt für weitere Betrachtungen über die Siebenzahl: die sieben Bitten des Vaterunsers, die sieben Siegel der Apokalypse, die sieben Zeichen bei der Geburt Christi usw. Das Gedicht wollte anspruchsloses theolog. Wissen an die »vil tumpen leigen« (Laien) vermitteln. Es ist in Reimpaarstrophen mit insg. 955 Versen abgefasst u. zeigt Ansätze zu einer bewusst symmetr. Anlage. Wahrscheinlich entstand es vor der Jahrhundertmitte, da 55 Verse des Gedichts auch in der Kaiserchronik enthalten sind. Etwa um die gleiche Zeit entstanden zwei weitere Gedichte über die Siebenzahl. Ausgaben: ›Juliane‹: Karl-Ernst Geith: P. A.s Legende v. der hl. Juliane. Diss. Freib. i. Br. 1965. – Friedrich Maurer (Hg.): Die religiösen Dichtungen des 11. u. 12. Jh. Bd. 3, Tüb. 1970, S. 10–51. – ›Siebenzahl‹: Ebd., S. 57–85.

Zwei Versdichtungen des 12. Jh. tragen den Literatur: Peter Ganz: P. A. In: VL. – Wolfgang Verfassernamen Priester A. Ob zwei Geistliche dahinterstehen oder nur einer, lässt sich Mohr: Vorstudien zum Aufbau v. P. A.s ›Loblied nicht eindeutig klären. Die Schreibart beider auf den Hl. Geist‹. in: FS Friedrich Maurer. Stgt. 1963, S. 320–351. – Barbara Tillmanns: Die sieben Werke ist bairisch, auch die beiden HandGaben des Hl. Geistes in der dt. Lit. des MA. Diss. schriften, die die Gedichte überliefern, sind Kiel 1963, S.73–78. – Sieglinde Hofmann: Reimin diesem Sprachraum entstanden. Karl-Ernst technik u. Formkunst des P.s A. Studien zum Geith sieht im Verfasser der Juliane den ›Loblied auf den Hl. Geist‹ u. zur ›Legende von der praepositus Arnoldus († 1163) des Prämons- hl. Juliana‹. 1975 (Diss. Freib. i. Br. 1973). tratenserklosters Schäftlarn, da die ansonsten Werner Williams-Krapp / Red. kultisch kaum verehrte Heilige dort seit 1140 Patronin war. Dass aber auch die Legende – Arnschwanger, Johann Christoph, wie von dieser Annahme vorausgesetzt – tat* 28.12.1625 Nürnberg, † 10.12.1696 sächlich aus dem 12. Jh. stammt, ist nicht siNürnberg. – Evangelischer Theologe; cher. Verfasser von Kirchenliedern u. geistliDie Juliane ist eine 628 Verse umfassende chen Schriften. Legende, die vom Martyrium der Jungfrau in der Zeit der Christenverfolgung relativ Der Sohn des Crailsheimer Kaufmanns Georg kunstlos erzählt. Bei der lat. Vorlage des Ge- Arnschwanger studierte nach dem Besuch des

225

Arnsteiner Mariengebet

Egidiengymnasiums in Nürnberg seit 1644 Ausg. [...]. R. II, Abt. C, Bd. 2: Die Fruchtbringende Theologie an den Universitäten Altdorf Gesellsch. unter Hzg. August v. Sachsen-Weißen(nachdem er bereits am 24.8.1637 als 11- fels. Süddt. u. österr. Mitgl.er. Hg. Martin Bircher Jähriger in die Matrikel eingetragen wurde), u. Andreas Herz. Tüb. 1997, S. 33–127 (Biogr. u. Bibliogr.). – Lini Hübsch-Pfleger in: New Grove 2, Jena (Immatrikulation 1.7.1647, MagisterS. 59 f. – Hans-Otto Korth [Konrad Ameln] in: MGG promotion am 9.8.1647) u. Helmstedt (Im- 2. Aufl. Bd. 1, Sp. 1011 f. Renate Jürgensen / Red. matrikulation 17.10.1648). Nach Reisen durch Sachsen u. Norddeutschland trat er 1651 in Nürnberger Kirchendienste, zu- Arnsteiner Mariengebet, Mitte des 12. nächst als Stadtvikar, 1652 als Diakon an St. Jh. – Frühmittelhochdeutsches Gebet. Egidien, 1654 als Frühprediger an St. Wal- Das A. M. (327 Verse) ist in einer aus dem purgis, 1659 als Pfarrer u. schließlich von Prämonstratenserkloster Arnstein stammen1690 bis zu seinem Tod als Schaffer (ältester den Handschrift aus der zweiten Hälfte des Diakon) an der Hauptkirche St. Lorenz. Am 12. Jh. überliefert. Es wurde von einer Frau, 4.8.1675 wurde A. als »der Unschuldige« vielleicht von Guda von Arnstein († nach Mitgl. der Fruchtbringenden Gesellschaft; 1179), verfasst. Das A. M. beginnt mit Verdem Pegnesischen Blumenorden gehörte er anschaulichungen der Jungfrauengeburt; nicht an. alttestamentl. Prophezeiungen u. PräfiguraSein dichter. Schaffen stand nach frühen tionen folgen. Ein Lobpreis auf die Tugenden polit. Gelegenheitsarbeiten im Auftrag des Mariae beendet den ersten Teil. Maria erNürnberger Rats (Memoria secularis, paci Car- scheint, anders als in älteren Mariendichtunmine hexametro instaurata. Nürnb. 1655) v. a. gen, als moralisches Vorbild. Mehrere Gebete im Dienst der protestant. Kirche. A. verfasste schließen sich an, am Schluss steht wie am über 400 geistl. Lieder u. Grabgesänge in Anfang ein Marienpreis; Ave Maria u. Salve schlichter Sprache zu bekannten Melodien, Regina werden zitiert. die für Solovioline u. Continuo neu gesetzt Als erste dt. Mariendichtung gibt das A. M. wurden (Neue geistliche Lieder. Nürnb. 1659. persönlich-emotionaler Frömmigkeit AusHeilige Palmen und christl. Psalmen. Nürnb. druck (Konrad Kunze). Wie das Melker Mari1680). Außerdem schrieb er in der Tradition enlied, die Mariensequenz von St. Lambrecht (oder der Dilherr’schen Andachtsbücher Evangeli- Seckau) u. die Mariensequenz aus Muri ist es sche Spruch- und Gebetsreime (Nürnb. 1653), Zeugnis einer auf die Erfahrung des EinzelFasten-Predigten u. Beicht- u. Kommunion- nen bezogenen Religiosität, wie sie sich seit bücher. Viele seiner Lieder finden sich noch der Mitte des 12. Jh. entfaltete. heute in den Gesangbüchern der luth. Kirche. Ausgaben: Albert Waag u. Werner Schröder Weitere Werke: Exegesis trigae locorum, ex Mose, Prophetis et Psalmis desumtorum (Praes.: Theodor Hackspan, Resp. J. C. A.). Altdorf 1646. – De conversione hominis peccatoris ad deum, disp. tertia (Praes.: Johannes Musaeus, Resp. M[agister]. J. C. A.). Jena 1648. – De peccato originali exercitatio (Praes.: Georg Calixt, Resp.: M. J. C. A.). Helmst. 1649. – Devota cabbala. Nürnb. 1662. – Anweisung zur Gottseligkeit. Nürnb. 1663. – Hl. epistol. Berichte. Nürnb. 1663. Ausgabe: Fischer-Tümpel 5, S. 265–299. Literatur: Jöcher 1, S. 1127. – Georg A. Will u. Christian K. Nopitsch: Nürnberg. Gelehrten-Lexikon. Nürnb. 1755–1808. Bd. 1, S. 42–44. Bd. 5, S. 40 f. – PGK 7, 235 f. – Koch 3, S. 517–520. – Frels, S. 13. – Karl Schornbaum: J. C. A. In: NDB. – Heiduk/Neumeister, S. 9, 137, 286 f. – Die Dt. Akademie des 17. Jh. Fruchtbringende Gesellsch. Krit.

(Hg.): Kleinere dt. Gedichte des 11. u. 12. Jh. Bd. 1, Tüb. 1964, S. 438–452. Übersetzung: Dt. Mariendichtung aus neun Jahrhunderten. Hg. u. erl. v. Eberhard Haufe. Ffm. 1989, S. 22–26 (nhd.). Literatur: Werner Schröder: Versuch zur metr. Beschreibung eines frühmhd. Gedichts. In: ZfdA 94 (1965), S. 196–213. – Gerhard M. Schäfer: Untersuchungen zur deutschsprachigen Marienlyrik im 12. u. 13. Jh. Göpp. 1971. – Konrad Kunze: A. M. In: VL. – Karl Stackmann: Magd u. Königin. Dt. Mariendichtung des MA. Gött. 1988, S. 8–10. Elisabeth Wunderle / Red.

Arp

Arp, Hans, auch: Jean A., * 16.9.1886 Straßburg, † 7.6.1966 Basel; Grabstätte: Locarno, Cimitero di Locarno. – Lyriker, Maler u. Bildhauer. A.s Zweisprachigkeit, sein Vater stammte aus Kiel, seine Mutter aus dem Elsass, war für seine dichter. Entwicklung zeitlebens von Bedeutung. Bereits während der Schulzeit begann er sich für romant. Dichtung, u. a. für Clemens Brentano, aber auch für die zeitgenöss. Literatur zu interessieren. Wie nur wenigen anderen Künstlern gelang es ihm, seine Doppelbegabung – für die bildende Kunst u. die Poesie – auszubilden u. in beiden Sphären kreativ zu sein. 1901–1909 besuchte A. verschiedene Kunstakademien: die Kunstgewerbeschule in Straßburg, die Großherzogliche Kunsthochschule in Weimar u. die Académie Julian in Paris. 1903 veröffentlichte er erste Gedichte in elsässischem Dialekt. 1910 ist er Mitbegründer der schweizerischen Künstlergruppe »Der Moderne Bund«. 1912 traf A. Kandinsky u. beteiligte sich an der zweiten Ausstellung des »Blauen Reiters« in München. 1913 arbeitete er in Herwarth Waldens Galerie »Der Sturm« u. publizierte in der gleichnamigen Zeitschrift. Zus. mit L. H. Neitzel veröffentlichte er das Buch Neue französische Malerei (Lpz.). 1914 lernte er in Köln Max Ernst kennen, mit dem ihn zeitlebens eine enge Freundschaft verband. Vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs ging A. nach Paris, wo er mit Künstlern u. Dichtern wie Apollinaire, Max Jacob, Picasso, Robert u. Sonja Delaunay u. Modigliani zusammentraf. 1915 fand eine erste Ausstellung seiner Werke mit denen des Ehepaars van Rees in der Galerie Tanner in Zürich statt, für deren Katalog er einen programmt. Text schrieb. Dort lernte er Sophie Taeuber kennen (1922 Heirat). 1916 am 5. Feb. eröffnete Hugo Ball in Zürich das Cabaret Voltaire. Es war die Wiege des Dadaismus, zu dessen Gründern A., Ball, Tristan Tzara, Marcel Janco u. Richard Huelsenbeck zählten, u. Bühne zahlreicher Aktionen der Dada-Künstler. 1917 trug A. dort zum ersten Mal eigene Gedichte öffentlich vor, die 1920 in den Band Die Wolkenpumpe

226

(Hann.) aufgenommen wurden. 1918 lernte A. bei einem Aufenthalt in Berlin Kurt Schwitters kennen, der 1923 in seinem MerzVerlag die Mappe 7 Arpaden mit Lithografien A.s herausbrachte. Zus. mit Max Ernst engagierte sich A. 1919/20 in der Kölner DadaBewegung; gemeinsam nahmen sie 1921 u. 1922 am Dada-Treffen in Tarrenz/Tirol teil. 1920 veröffentlichte A. den Gedichtband Der Vogel Selbdritt (Bln.), den er mit eigenen Holzschnitten illustrierte. Beim Kongress der Konstruktivisten u. Dadaisten in Weimar 1922 lernte er Theo van Doesburg kennen. Mit El Lissitzky brachte er 1925 Die Kunstismen (Erlenbach-Zürich u. a.) heraus. 1925 mietete A. ein Atelier in Paris u. wandte sich verstärkt den Konstruktivisten u. Surrealisten zu (Zusammentreffen mit Vertretern der niederländ. Künstlergruppe »De Stijl«, u. a. Piet Mondrian). 1926 erhielt er die frz. Staatsbürgerschaft. Bis 1928 arbeitete er zus. mit Sophie Taeuber u. Theo van Doesburg an der Ausmalung des Vergnügungslokals L’Aubette in Straßburg. 1928 entstand nach Entwürfen von Sophie Taeuber in Clamart bei Paris ihr eigenes Haus (heute Sitz der Fondation Arp; in Deutschland gibt es die Stiftung Hans Arp und Sophie Taeuber-Arp e.V., in Rolandseck u. in der Schweiz die Fondazione Marguerite Arp-Hagenbach in Locarno). 1930 war A. Gründungsmitgl. der Gruppe »Cercle et Carré« u. 1931 der Künstlervereinigung »Abstraction-Création«. Zu Beginn der 1930er Jahre widmete er sich wieder verstärkt der Bildhauerei. 1936 wurde er Mitgl. der schweizer. Gruppe »Allianz« u. begann, seine Gedichte in frz. Sprache zu schreiben. 1940 floh A. mit Sophie Taeuber nach Grasse in Südfrankreich, Ende 1942 gingen sie in die Schweiz. Sophie Taeuber starb 1943 in Zürich. A. lebte bis zum Kriegsende in Basel u. Zürich. In dieser Zeit entstanden u. a. Gedichte, in denen er versuchte, den Tod Sophie Taeubers zu verarbeiten u. darüber hinaus »das Grauen der Zeit« zu artikulieren. 1946 kehrte er nach Clamart zurück. Eine erste größere Zusammenfassung seiner dichter. wie bildner. Auffassungen erschien 1948 in New York unter dem Titel On my way. Poetry and essays 1912–1947. In den folgenden Jahren führten

227

Arpe

ihn Reisen u. a. in die USA, nach Mexiko, nende Flammen (Zürich) publizierte, was seit Griechenland u. Ägypten u. beeinflussten Hiroshima u. den sich anschließenden weltsein künstler. Werk nachhaltig. 1959 heira- weiten Atomversuchen möglich geworden tete A. Marguerite Hagenbach; Solduno bei war. Sein Gedicht wird, ohne die frühe anarLocarno wurde sein zweiter Wohnsitz. 1954 erhielt er den Großen Preis für Bild- chist. Aufständigkeit u. Revolte gegen überhauerei der Biennale in Venedig, 1957 schuf kommene Sprachverfassungen, Denk- u. er das Bronzerelief für das UNESCO-Haupt- Sehweisen aufgeben zu müssen, die er sich quartier. Eine Reihe von internat. Preisen u. seit Dada erschrieben hatte, immer mehr zum Ehrungen folgte in den Jahren darauf, u. a. Warn-Gedicht vor bestimmten gesellschaftl., 1963 der Grand Prix National des Arts, Paris; technolog. Entwicklungen, die Natur wie 1964 der Große Kunstpreis des Landes Kunst gleichermaßen u. endgültig bedrohen. Nordrhein-Westfalen; der Carnegie-Preis, Das Ziel des Widerstands ist deutlich: »Was Pittsburgh; 1965 der Hansische Goethe-Preis gäbe das für einen brausenden Ruck / im der Universität Hamburg. Im Todesjahr 1966 Siegeslauf des Fortschritts / wenn plötzlich erschien bei Gallimard Jours effeuillés. Poèmes, die Überroboter / mitsamt ihren kindischen / essais, souvenirs 1920–1965, eine Sammlung überfortschrittlichen Übermaschinen / in den bodenlosen Lokus / gestürzt würden!« seiner frz. Texte. Abgesehen von A.s Bedeutung für die Weiteres Werk: Unsern tägl. Traum. Erinnebildkünstler. Entwicklungen im Bereich der rungen, Dichtungen u. Betrachtungen aus den europ. Moderne zu Beginn des 20. Jh. u. ihrer Jahren 1914–54. Zürich 1955. Neuausg. 1995. vielfältigen Ausprägungen bis in die GegenAusgabe: Ges. Gedichte. Hg. H. A., Marguerite wart hinein, ist erst neuerdings deutlicher Arp-Hagenbach u. Peter Schifferli. 3 Bde., Zürich u. geworden, dass auch das dichter. Werk A.s Wiesb. 1963. 1974. 1983. Literatur: Reinhard Döhl: Das literar. Werk H. maßgebl. Einfluss genommen hat auf verschiedene lyr. Strömungen, auch nach dem A.s 1903–30. Zur poet. Vorstellungswelt des DaZweiten Weltkrieg. Was sich nach 1945 unter daismus. Stgt. 1967. – Text + Kritik 92 (1986). – dem Stichwort »konkrete Poesie« in der Gregor Laschen (Hg.): Zerstreuung des Alphabets. Hommage à A. Bremerhaven 1986. – Hans Bolliger, Bundesrepublik Deutschland manifestierte, Guido Magnaguagno u. Christian Witzig (Hg.): H. ist ohne das lyr. Sprechen A.s kaum denkbar. A. zum 100. Geburtstag (1886–1986) – Ein Lese- u. Andererseits dürfte auch jene Lyrik, der ge- Bilderbuch. Rolandseck/Zürich 1986. – Judith meinhin mit dem Begriff »hermetisch« be- Winkelmann: Abstraktion als stilbildendes Prinzip gegnet wird, von der ungeheuren Bilderflut, in der Lyrik v. H. A. u. Kurt Schwitters. Ffm. u. a. der Unerschöpflichkeit metaphor. Sprechens 1995. – Christine Hopfengart (Hg.): H. A. Nürnb. u. seinen Wendungen ins Absurde wie in 1995. – Juliane Dülpers: Voulez-vous voler avec deutlich gesellschaftskrit. Zonen bei A. pro- moi. Eine Studie zur französischsprachigen Dichfitiert haben. Die berühmt gewordenen Ge- tung H. A.s. Ffm. u. a. 1997. – Hartwig Fischer dichte weh unser guter kaspar ist tot, Weißt du (Hg.): Schwitters – A. Basel 2004. – Eric Robertson: A. Painter Poet Sculptor. New Haven/London 2006. schwarzt du, Opus Null mit dem Einsatz Ich bin – Stefan Wieczorek: H./Jean A. In: Deutschsprader große DerDieDas oder auch die Konfiguration chige Lyriker des 20. Jh. Hg. Ursula Heukenkamp genannten Gedichte u. Gedichtzyklen, dar- u. Peter Geist. Bln. 2007, S. 127–135. unter die Straßburgkonfiguration, gesteuert von Gregor Laschen / Walburga Krupp einer unwahrscheinlich gelenkigen Sprachspiel- u. Bildkraft, die viele sprachl. InnovaArpe, Peter Friedrich, * 10.5.1682 Kiel, tionen hervorbrachte, haben lange das Bild † 4.11.1740 Schwerin. – Jurist, Historiker, dieses Dichters geprägt u. dabei verdeckt, wie Antiquar, Sammler von heterodoxer Lizivilisationskritisch dieser »Sprachspieler« teratur. war, welch genaue Skepsis er der Fortschrittsgläubigkeit ringsum entgegensetzte. Sohn eines Kieler Bürgermeisters, besuchte A. A. wusste, u. nicht erst seit 1961, als er den das Gymnasium in Lüneburg, studierte von 42teiligen Gedichtzyklus mit dem Titel Sin- 1699 bis ca. 1704 in Kiel Jura, wo er zgl. den

Arpe

Sohn des Rechtsprofessors u. Conring-Schülers Nicolaus Martini beaufsichtigte u. Mitgl. der von Johann Burkhard May (Majus) gegründeten »societas scrutantium« war. Prägend für A. wurde sein Aufenthalt von ca. 1705 bis 1710 in Kopenhagen u. Soroe, wo er im Umgang mit den Gelehrten Reitzer, Worm, Sperling, Weghorst, Rostgaard u. Lintrup lebte, aber auch Zugang zum Hof hatte. Georg Ernst Franck von Frankenau ließ ihn in der Bibliothek seines verstorbenen Vaters arbeiten. Hier schrieb A. die aufsehenerregende Apologia pro Vanino, in der er den 1619 als Atheist verbrannten Lucilio Vanini verteidigte. Er war anschließend Hauslehrer beim dän. Diplomaten Johann Heinrich von Ahlefeldt. In dieser Funktion kam er 1710/11 nach Wolfenbüttel u. 1712–1714 nach Holland. Dort veröffentlichte er 1712 (in Rotterdam) nicht nur anonym die Apologia, sondern auch ein Theatrum Fati. 1716 wurde er (fälschlich) verdächtigt, in die Produktion des atheist. Traktats Traité des trois imposteurs verwickelt zu sein. Während des Höhepunktes des Nordischen Krieges (1713 wurde Altona niedergebrannt) lebte A. in Kiel. Seine bemerkenswerten Studien dieser Jahre beschäftigen sich mit dem histor. Pyrrhonismus (1716), der Literatur über Talismanmagie (1717) u. dem Laienrecht in Religionsfragen (1717). Er war Jugendfreund von Johann Lorenz Mosheim. 1719 wurde er als Professor für öffentliches u. vaterländ. Recht in Kiel bestellt; er lehrte nach dem Frieden zwischen Dänemark u. Schweden von 1721–24, dann wurde er entlassen. A. ging nach Hamburg, wo er seine Projekte weiterverfolgte u. clandestine heterodoxe Schriften sammelte (»Bibliotheca curiosa«). Durch seine Patrone u. guten Verbindungen war er jederzeit in der Lage, sich Kopien von Staatsdokumenten zu machen. Er legte sich eine auf 100 Bände berechnete Dokumentensammlung an (»Cimbria illustrata«). Als eines der Hauptwerke A.s, neben der Apologia, muss daher sein ungedrucktes Das verwirrte Cimbrien gelten, eine um Henning Friedrich von Bassewitz zentrierte Zeitgeschichte Schleswig-Holsteins (Ms. S.H. 74 der UB Kiel, 1774 teilweise gedr. als: Geschichte des

228

Herzoglich Schleswig-Holstein-Gottorfischen Hofes und dessen vornehmster Staatsbedienten). Neben Zeitgeschichtlichem sammelte A. Dokumente zur Schleswig-Holsteinischen u. Mecklenburgischen Rechtsgeschichte; diese Forschungen flossen in sein Werk Themis cimbrica (Hbg. 1737) ein. Schon zwischen 1715 u. 1720 hatte er zus. mit seinem Kollegen Johann Heinrich Heubel u. in Kontakt zum Polyhistor Johann Albert Fabricius an einer nie realisierten Bibliotheca Germaniae historica seu scriptorum rerum Germanicarum omnium notitia chronologica et geographica gearbeitet. Heubel wiederum konnte A. mit Informationen zu Bassewitz versorgen, da er ihn auf Gesandtschaften nach Schweden, Russland u. Soissons (1728) begleitete. Nach seiner Entlassung lebte A. seit ca. 1725 in schwierigen finanziellen Bedingungen in Hamburg, wo er mit Wechseln Geldgeschäfte zu machen versuchte u. von 1729–1731 Wolfenbüttelscher Legationsrat war – von Wedderkopp ebenso vermittelt wie sein Freund Christian Friedrich Weichmann. 1733 verließ A. Hamburg, weil er in Schwerin eine Anstellung als Justizrat bei Herzog Christian Ludwig von Mecklenburg fand. Dort starb er 1740. A. gehört zu den Verbreitern der Hallenser Frühaufklärung in Norddeutschland u. ist einer der bemerkenswertesten dt. Intellektuellen des frühen 18. Jh.: Sympathisant heterodoxer u. atheist. Autoren, Kenner von verbotenen Schriften, antiklerikaler Theoretiker, quellengesättigter Zeitgeschichtler, aber auch Vertreter einer Spätform von Renaissancenaturalismus (Fatum, Magia naturalis) innerhalb einer späthumanist. Latinität, Geschichtstheoretiker mit religionsgeschichtl. Interessen, Unterstützer der deutschrechtl. Strömung in der Jurisprudenz. Die Wirkung der Apologia pro Vanino scheint beträchtlich gewesen zu sein. Freidenkerische Autoren wie Theodor Ludwig Lau oder Urban Gottfried Bucher haben sich von ihr ermutigen lassen, ihre eigenen Werke zu verfassen. Weitere Werke: Bibliotheca fatidica sive Musaeum scriptorum de divinatione. [Wolfenb.] 1711. – Pyrrho, sive dubia et incerta historiae et historicorum veterum fide argumentum. Kiel 1716. – De prodigiosis naturae et artis operibus, Talismanes et

229 Amuleta dictis. Hbg. 1717. – Laicus veritatis vindex. Kiel 1717. – Feriae aestivales. Hbg. 1726. Literatur: Martin Mulsow: Eine handschriftl. Slg. zur Gesch. Schleswig-Holsteins aus dem frühen 18. Jh. In: Ztschr. der Gesellsch. für SchleswigHolstein. Gesch. 120 (1995), S. 201–206. – Ders.: Freethinking in Early 18th Century Protestant Germany. In: Heterodoxy, Spinozism and FreeThought in Early Eighteenth Century Europe. Hg. Silvia Berti u. a. Dordrecht 1996, S. 193–239 (mit älterer Lit.). – Ders.: Ignorabat Deum. Scetticismo, libertinismo ed ermetismo nell’interpretazione arpiana del concetto vaniniano di Dio. In: Giulio Cesare Vanini e il libertinismo. Hg. Francesco Raimondi. Galatina 2000, S. 171–182. Martin Mulsow

Arresto, Christlieb Georg Heinrich, gen. Burchardi, getauft am 14.3.1768 Schwerin, † 22.7.1817 Doberan. – Schauspieler, Theaterdirektor, Dramatiker.

d’Artis

blikum kontrovers aufgenommen. Auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen, die A. selbst noch durch polemische Stellungnahmen über die mangelnde Urteilskraft der Kritiker befeuerte, verließ er Hamburg u. ging im Jahr 1804 als Schauspieler nach St. Petersburg, um dort von 1805 bis zum Jahr 1808 das Deutsche Theater zu leiten. 1810–1811 erscheint er als Leiter einer eigenen Truppe in Mitau u. Libau, es folgten Gastspiele 1812 in Königsberg u. 1813 in Güstrow. Im selben Jahr bemühte er sich, wiederum erfolglos, um eine sichere Anstellung als Kanzlist in mecklenburgischen Diensten. A. erhielt schließlich stattdessen die Konzession für das Theater in Doberan, das er bis zu seinem Tod im Jahr 1817 leitete. Als Schauspieler war A. durchaus erfolgreich, seine Dramen nach zeitgenössischem Geschmack konnten sich dagegen nur kurz im Repertoire halten. Er ist außerdem der Verfasser der mecklenburgischen Volkshymne.

Der Sohn des mecklenburgischen Geheimkanzlisten Carl Rudolf Arresto wurde nach der Scheidung der Eltern im Jahr 1771 u. den Weitere Werke: (vollständiges Verz. Voß 1901, folgenden familiären Streitigkeiten ab 1779 s. u., S. 214–216; Goedeke 14, 18 f.). – Das Ländl. im Hallenser Waisenhaus erzogen, studierte Fest. Schwerin 1789. – Vergehen u. Größe. Ffm. 1786–1788 in Rostock u. Bützow die Rechte. 1796. – Frohe Laune. Hbg. 1800. – Der IndienNach ersten Bemühungen seines Vaters, ihm fahrer. Hbg. 1803. – Der Plan. Leenwarden 1804. – die Stelle eines Kanzlisten zu verschaffen, Poscharsky u. Minin. Reval 1809. Literatur: Wilhelm Voß: C. G. H. A. Sein Leben wurde er 1788 in Schwerin wegen eines u. seine Werke. In: Jbb. des Vereins für mecklenRaufhandels zu einer Geldstrafe u. sechs burg. Gesch. u. Altertumskunde 66 (1901), Wochen Festungshaft verurteilt. Um die S. 192–216. Claudius Sittig Haftstrafe nicht abbüßen zu müssen, bat er um Aufnahme ins Militär u. diente anschließend zwei Jahre in den Niederlanden bis zu d’Artis, Gabriel, * um 1660 Milhaut/Roseiner Desertion im Jahr 1791. Danach ist er uergue, Dép. Aveyron, † um 1730 vielerst ab dem Jahr 1794 wieder greifbar: als leicht London/England. – ReformatoriSchauspieler am Stuttgarter Hoftheater unter scher Pastor; Journalist u. theologischer dem Namen Burchardi (ab 1797 führte er Schriftsteller. wohl wieder den Namen Aresto oder Arestov), vermutlich war er kurz mit einer Schauspie- Aus einer hugenott. Adelsfamilie stammend, lerin am selben Theater verheiratet. 1798 trat studierte d’A. 1680–1682 an den südfz. proer als Mitgl. der Großmann’schen Schau- testant. Akademien in Montauban u. Puyspieltruppe in Hannover, Bremen u. Pyrmont laurens, wurde Marineoffizier u. ging ins auf, wo sein Lustspiel Frohe Laune erstmals Ausland, wahrscheinlich nachdem er einen erfolgreich aufgeführt wurde. Es folgten Gegner im Duell getötet hatte. 1685 überAuftritte in Stuttgart, Leipzig, Schwerin u. nahm er die Stelle eines Pastors der frz. KoDoberan u. 1801–1804 schließlich wieder ein lonie in Berlin u. amtierte dort neben Kollefestes Engagement in Hamburg. Dort wurden gen wie Jacques Abbadie u. Charles Ancillon, seine Soldaten (1803) u. ihre Fortsetzung Der der zeitlebens sein Gegner war. Konflikte mit feindiche Sohn (1804) uraufgeführt u. vom Pu- Amtsbrüdern u. seine krit. Intervention (bes.

Artmann

230

gegen Élie Benoît) in der öffentl. Debatte der Sozinianer, Deisten u. andere Häretiker (z.B.: späten 1680er Jahre um die pastorale Legiti- Lettres de M. Dartis et de M. Lenfant sur les mität der Flucht reformatorischer Pastoren matières du socinianisme. Bln. 1719), für deren vor der Verfolgung in Frankreich (»la retrai- Wirkungszentrum er schon immer Berlin te«), in der er die Flüchtlinge als pflichtver- gehalten hatte. Sein orthodoxer Standpunkt gessene Hirten streng verurteilte, führten brachte ihm sogar die Anerkennung der Jezum Verlust des Berliner Amtes. D’A. heira- suiten ein, gegen die er sich aber mit einem tete 1692 in Hamburg u. arbeitete dann seit Pamphlet dann doch zur Wehr setzte. 1693 in Amsterdam als Journalist. Dort orWeitere Werke: Sentiments des-interessés sur ganisierte u. schrieb er das Journal d’Amster- la retraite des pasteurs de France. Deventer 1688 dam, das er wenig später in Hamburg u. d. T. (gegen Élie Benoît). – (Als wahrscheinlicher MitJournal de Hambourg 1694–96 (4 Bde.) weiter- autor:) Journal littéraire. Hg. J. van Effen u. Prosper führte. Neben Berlin war Hamburg um diese Marchand. Den Haag 1713(-37). – La maîtresse clé Zeit das zweite große städt. Zentrum der du royaume des cieux, qui est une clé d’or, d’Ophir [...], ou Diss. contre le papisme. London ca. 1730 hugenott. Kultur in Deutschland. D’A. – ein (lag nicht vor). typischer Repräsentant dieses intellektuellen Literatur: Fedor Wehl: Hamburgs LiteraturleMilieus – hielt engen Kontakt zu Pierre Bayle ben im 18. Jh. Lpz. 1856. – Helmut Erbe: Die Huin Rotterdam u. zeitweise zu Leibniz in genotten in Dtschld. Essen 1937. – R. Huetz de Hannover, der sein Journal unterstützte Lemps in: Dictionnaire de Biographie Française. (Briefwechsel im Jahre 1695, die Angaben bei Bd. 3, Paris 1939, Sp. 1192–97. – Erich Haase: Einf. Schröcker 1977). Bd. 2 des Hamburger Jour- in die Lit. des Refuge. Bln. 1959. – Alfred Schrönals ist dem Wolfenbütteler Herzog Anton cker: G. d’A., Leibniz u. das Journal de Hambourg. Ulrich von Braunschweig-Lüneburg gewid- In: Niedersächs. Jb. für Landesgesch. 49 (1977), met. Mehrere Ortswechsel u. Reisen führten S. 109–129. – Jean Sgard: Journal d’Amsterdam, den unruhigen d’A., der seine theologische u. Journal de Hambourg (1694–1696). In: Ders.: Dickonfessionspolit. Position, die auf durchaus tionnaire des Journaux 1600–1789. Bd. 1, Paris 1991, S. 568 f. – Herbert Jaumann: Critica. Untereigenständige Weise orthodox war, freimütig suchungen zur Gesch. der Literaturkritik zwischen vertrat u. sich damit viele Feinde machte, um Quintilian u. Thomasius. Leiden 1995. – G. d’A. In: 1700 erneut nach Holland u. dann nach Ber- Dictionnaire des Journalistes 1600–1789. Hg. J. lin zurück. Um diese Zeit scheint er eine Sgard. Bd. 1, Oxford 1999, S. 24 f. – Sandra Pott: Denkschrift mit dem Plan einer Reform- Reformierte Morallehren u. dt. Lit. v. Jean Barbeschule vorgelegt zu haben: In der Provinz yrac bis Christoph Martin Wieland. Tüb. 2002. – H. Over-Ijssel, wohl in Zwolle, wollte er ein Jaumann: Der Refuge u. der Journalismus um Institut für junge Refugiés gründen, speziell 1700: G. d’A. (ca. 1650-ca. 1730). In: The Berlin für die Schulung im Kampf gegen Deisten u. Refuge 1680–1780. Learning and Science in EuroLibertins, v. a. gegen die Sozinianer, die er für pean Context. Hg. S. Pott, Martin Mulsow u. Lutz Danneberg. Leiden 2003, S. 155–82. die Hauptfeinde des wahren reformierten Herbert Jaumann Glaubens hielt. Schließlich gelangte er über Schweden, wohin seine Schwester geheiratet hatte, nach England, wo er an St. James in Artmann, H(ans) C(arl), * 12.6.1921 Wien, London noch einmal ein Pastorenamt be† 4.12.2000 Wien. – Schriftsteller u. kleidet haben soll. Gerade London ist (neben Übersetzer. Graubünden) seit dem späten 16. Jh. ein wichtiger Zufluchtsort protestantischer Im Wiener Vorort Breitensee wurde A. als Flüchtlinge u. Häretiker verschiedener Art u. Sohn eines Handwerkers geboren. Nach der Radikalität gewesen. Gegen Ende seines Le- Hauptschule begann er eine Schuhmacherbens verlieren sich seine Spuren. lehre sowie autodidaktisch das Studium Unter den theolog. Schriften, die heute nur exotischer Sprachen – Assyrisch, Malayisch, schwer auffindbar sind, ragen hervor die Diss. Walisisch –, aber auch des Schwedischen. Zgl. sur la théocratie d’Israël (Den Haag o. J.) sowie las u. schrieb er Detektivgeschichten. 1940 einige Streitschriften u. Lettres pastorales gegen wurde er in die Wehrmacht eingezogen u.

231

geriet in amerikan. Kriegsgefangenschaft. Nach dem Krieg lebte er zunächst in Wien, wo er 1949 zum Literatenkreis um die Zeitschrift »Neue Wege« stieß. A. wirkte darin als Anreger u. Vermittler verschiedenster deutsch- u. fremdsprachiger liter. Traditionen, v. a. des Surrealismus. Als 1951 der »ArtClub« sein Ausstellungslokal »Strohkoffer« eröffnete, veranstaltete A. dort mit anderen Autoren der »Neuen Wege« Lesungen. 1952 lernte er Gerhard Rühm u. Konrad Bayer kennen. An dem nun einsetzenden intensiven literar. Austausch nahmen bald auch Oswald Wiener u. Friedrich Achleitner teil. A.s achtpunkte-proklamation des poetischen actes, verkündet im April 1953 (gedr. in: Die Wiener Gruppe. Hg. G. Rühm. Reinb. 1967. Vorw.), eine seiner wenigen theoretisch-programmat. Äußerungen, galt den nun zur Wiener Gruppe sich formierenden Autoren als Rahmen für ein über alle Konventionen hinausgehendes dichter. Selbstverständnis. Die Zusammenarbeit in der Gruppe dauerte bis Ende der 1950er Jahre u. dokumentiert sich in einer Reihe von Werken im Zeichen »erweiterter poesie«, die Grammatik, Metaphorik u. Sinn ignorierten. Es entstanden Lautgedichte unter Verwendung fremdsprachiger phonet. Elemente u. Wortneuschöpfungen sowie sog. Inventionen u. Theaterstücke. Mit Bayer u. Rühm entwickelte A. die Montagetechnik weiter u. hatte damit eine Grundlage für Gemeinschaftsarbeiten gefunden. Die Reize des Wiener Dialekts wurden entdeckt u. von A. im Zeichen des Makabren u. des schwarzen Humors zu artifiziellen Gedichten verarbeitet, die 1958 u. d. T. med ana schwoazzn dintn. gedichta r aus bradnsee (Salzb. 81979) erschienen u. bald zum Bestseller wurden. Dieser Erfolg schien im Widerspruch zu gewissen Grundsätzen u. zur Exklusivität der Gruppe zu stehen. In der Folge distanzierte sich A. von ihr bzw. wurde darin nicht mehr geduldet. A. verließ bald darauf Österreich. In den Jahren 1954/55 hatte er Reisen nach Holland, Belgien, Frankreich, Italien u. Spanien unternommen. 1958 reiste er nach Irland u. lernte in London Elias Canetti u. Erich Fried kenen. 1961 übersiedelte er nach Schweden, wo er bis 1965 lebte. Angeregt durch die Be-

Artmann

schäftigung mit dem Diarium des Naturforschers Carl von Linné, das er übersetzte u. 1964 mit eigenen Zeichnungen als Lappländische Reise (Ffm.) herausbrachte, schrieb er dort sein stark stilisiertes Tagebuch mit dem Titel das suchen nach dem gestrigen tag oder schnee auf einem heißen brotwecken. Eintragungen eines bizarren liebhabers (Olten/Freib. i. Br. 1964 u. ö. Mchn./Salzb. 1997). Die reale Alltagssituation des Autors ist hier allerdings nur Ausgangspunkt für seine schweifende Fantasie, die sich – wie immer bei A. – an der Sprache entzündet. 1965 verließ er Malmö, wo er zuletzt wohnte. Nach einjährigem Aufenthalt in Berlin übersiedelte er 1966 nach Graz, kehrte aber 1968 nach Berlin zurück, wo er seit den 1960er Jahren immer größeren Einfluss auf Literaten gewonnen hatte. Von 1972 bis zu seinem Tode lebte u. wirkte er hauptsächlich in Österreich. Von 1973 bis 78 stand er der »Grazer Autorenversammlung«, die als alternative Schriftstellervereinigung gegen den konservativen PEN-Club von ihm mitbegründet wurde, als erster Präsident vor. Von den zahlreichen Auszeichnungen sind die wichtigsten der Große Österreichische Staatspreis (1974), der Franz-Nabl-Literaturpreis (1989), die Ehrendoktorwürde der Universität Salzburg sowie das Österreichische Ehrenzeichen für Wissenschaft und Kunst (1991), der Ehrenpreis des österreichischen Buchhandels u. der Georg-Büchner-Preis (1997). A.s Texte sind teilweise in Sammelbänden zugänglich. 1969 erschienen ein lilienweißer brief aus lincolnshire. gedichte aus 21 Jahren (Ffm. 3 1987) sowie die fahrt zur insel nantucket. theater (Neuwied/Bln.), die einen guten Überblick über A.s bis dahin vorliegende lyr. u. dramat. Produktion bieten. Ein Jahr später wurde seine frühe Prosa u. d. T. Das im Walde verlorene Totem. Prosadichtungen 1949–1953 (Salzb.) veröffentlicht. Eine Gesamtausgabe seiner Prosa erschien 1979 in drei Bänden u. d. T. Grammatik der Rosen (Salzb.) u. 1997 in vier Bänden unter dem Titel Gesammelte Prosa (Salzb.). Deren Herausgeber Klaus Reichert besorgte auch die 10-bändige Ausgabe Das poetische Werk (Mchn. u. Salzb. 1993) sowie Sämtliche Gedichte (Mchn. 2003). Schon 1970 hat Rei-

Artmann

chert einen Sammelband mit dem Titel Best of H. C. Artmann (Ffm.) zusammengestellt u. eine Popularität zu beschwören versucht, für die A.s Dichtung, aber noch mehr seine Posen prädestiniert zu sein scheinen. Von A.s Posen wird gern gesagt, sie verhinderten eine konzentrierte Beschäftigung mit dem Werk; immer käme die reale Person A.s in die Quere, allerdings nicht der Autor mit seiner Biografie, sondern der Dichter mit seinem Nimbus. Daran wirkte A. selbst mit, u. seine besten Freunde, Kenner u. Herausgeber seiner Werke haben ihn dabei unterstützt. Die Unterscheidung von künstlerischer u. bürgerl. Existenz vergisst, dass A. stets als Dichter agiert u. seine Sprechweise immer Maskerade, Imitation u. damit uneigentlich ist. A. spricht spielerisch fiktiv: Seine Sprachbegabung u. die Lust an Spiel u. Schein lassen ihn in beliebige Rollen schlüpfen u. als Mime u. Dichter verschiedenster Zeiten, Orte u. Sprachen agieren. Mit Vorliebe wählt er dabei starke Identifikationsfiguren aus, die seiner Rollenflucht durch »feste« Charaktere, »echte« Werte u. »wahre« Abenteuer den nötigen Halt entgegensetzen. Er findet seine Helden in Troubadourdichtung, Schelmenroman u. Schäfergedicht, in Detektiv-, Wildwest- u. Abenteuergeschichten, in Kasperl- u. Zauberspielen, Schwänken u. Comics. Auch »einfache Formen« wie Kalendergeschichten oder Schulfibeln haben in A.s Literaturkonzept Platz. Die Anverwandlung verschiedenster, trivialer wie hoher, aber auch außerliterar. Genres u. Schemata geschieht bei A. immer artifiziell u. ironisch. Die Rollen-, Stil- u. Bilderflucht in A.s Dichtung ist gelegentlich als Ausdruck der Vergänglichkeits- u. Todesproblematik gedeutet worden, die sich aus der barocken Tradition Österreichs herschreibt. Dies ist richtig u. macht A. dennoch zu keiner anachronist. Erscheinung, da es ihm gelingt, uralte Ansprüche der Dichtung mit aktuellen sprachsphilosoph. Auffassungen zu verbinden u. einsehbar zu machen, so Reichert, »dass sich alles in Sprache (Literatur) verwandeln lässt, und dass reziprok mit Sprache alles angestellt werden kann«.

232 Weitere Werke: hosn rosn baa (zus. mit Friedrich Achleitner u. Gerhard Rühm). Wien 1959. 2 1968 (L.). – Von denen Husaren u. a. Seil-Tänzern. Mchn. 1959. Ffm. 1971 (P.). – montagen 1956 (zus. mit Konrad Bayer u. G. Rühm). Bleiburg/Kärnten 1964. (L.). – dracula, dracula. ein transsylvan. abenteuer. Bln. 1966 (E.). – verbarium. Olten/Freib. i. Br. 1966 (L.) – artmann-brief. Bad Homburg 1966. Neuausg. Mchn. 1991. – pers. qvatrainen. Hommerich 1966. – allerleirausch. Bln. 1967 u. ö. Mchn. 1997. Bozen 1999 (L.). – auf den leib geschrieben. Hbg. 1967 (L.). – Grünverschlossene Botschaft. 90 Träume. Gezeichnet v. Ernst Fuchs. Salzb. 1967 u. ö. Neuaufl. Salzb. u. a. 1990. – Fleiß u. Industrie. Ffm. 1967 u. ö. Salzb. 2006 (P.). – tök ph’rong süleng. Mchn. 1967 (E.). – der handkolorierte menschenfresser. Illustriert v. Patrick Artmann Stgt. 1968. Bln./DDR 1984. Lpz. 1997 (Kinderbuch). – Die Anfangsbuchstaben der Flagge. Salzb. 1969. 21971 (P.). – überall wo hamlet hinkam. Stgt. 1969. (P.). – Frankenstein in Sussex. Ffm. 1969. 31972 (P.). – Mein Erbteil v. Vater u. Mutter. Überlieferungen u. Mythen aus Lappland. Hbg. 1969. Gifkendorf 21995. – Yeti oder John, ich reise... (zus. mit Rainer Pichler u. Hannes Schneider). Mchn. 1970. – How much, schatzi? Ffm. 1971. 10 1993. Veränderte Aufl. Ffm. 2000 (E.). – H. C. A. (Hg.): Detective Magazine der 13. Salzb. 1971 (P.). – Von der Wiener Seite. Bln. 1972 (P.). – Der aeronaut. Sindtbart oder Seltsame Luftreise v. Niedercalifornien nach Crain. Salzb. 1972 u. ö. Lahnstein 1987 (P.). – kleinere taschenkunststücke. fast eine chinoiserie. Wien 1969. Wollerau/Wien/Mchn. 1973 (D.). – Ompül. Zürich/Mchn. 1974 (Kinderbuch). – Unter der Bedeckung eines Hutes. Montagen u. Sequenzen. Salzb. 1974. Ffm. 1976. – Christopher u. Peregrin u. was weiter geschah. Ein Bären-Roman in drei Kap.n (zus. mit Barbara Wehr). Bilder v. Georg Martyn. Ffm. 1975. 1996 u. ö. – Gedichte über die Liebe u. Lasterhaftigkeit. Ausw. v. Elisabeth Borchers. Ffm. 1975. 21992. – Aus meiner Botanisiertrommel. Salzb. 1975 (L.). – sämtl. pers. qvatrainen. Stgt. 1977. – Die Heimholung des Hammers (zus. mit Uwe Bremer). Wien 1977 (D.). – Die Jagd nach Dr. U oder Ein seltsamer Spiegel, in dem sich der Tag reflektiert. Salzb. 1977. Mchn. 1980 (R.). – Nachrichten aus Nord u. Süd. Salzb./Wien 1978 (R.). – Die Wanderer. Erlangen/Mchn. 1979 (E.). – Kein Pfeffer für Czermak. Wien/Mchn. 1980 (D.). – Die Sonne war ein grünes Ei. Von der Erschaffung der Welt u. ihren Dingen. Salzb./Wien 1982. 31997 (P.). – Im Schatten der Burenwurst. Skizzen aus Wien. Salzb./Wien 1983. 51991. Neuaufl. 2003. – das prahlen des urwalds im dschungel. Bln. 1983 (L.). – Nachtwindsucher. 61 österr. haikus. Bln. 1984. Nachdr. 1986.

233 – wer dichten kann, ist dichtersmann. Ausw. v. Christina Weiß u. Karl Riha. Stgt. 1986. – Interviews: Lars Brandt: H. C. A. Ein Gespräch. Salzb. u. a. 2001. Literatur: Gerald Bisinger (Hg.): Über H. C. A. Ffm. 1972 (mit Bibliogr.). – Jochen Jung (Hg.): H. C. A., Dichter. Ein Album mit alten Bildern u. neuen Texten. Salzb. 1986. – H. C. A. manuskripte H. 114 (1991) (Beiträge zum 70. Geburtstag). – Karl Riha: H. C. A. In: KGL. – Gerhard Fuchs u. Rüdiger Wischenbart (Hg.): H. C. A. (aus der Reihe: Dossier). Graz 1992. – Michael Bauer: Verz. der Schr.en H. C. A.s v. 1950–96. Wien 1997. – Helene Röbl: ›Die Fahrt zur Insel Nantucket‹: einige ausgew. Theaterstücke als Beispiel für H. C. A.s poet. Verfahren. Stgt. 1998. – Wieland Schmied: H. C. A.: 1921–2000. Erinnerungen u. Ess.s. Aachen 2001. – Die Positionierung H. C. A.s in der europ. Lit.: Symposium zum 80. Geburtstag v. H. C. A. am 12. Juni 2001 im Burgtheater. In: manuskripte 41 (2001), H. 153. – Jörg Drews: H. C. A. In: LGL. – Sonja Kaar: H. C. A. Texte u. Materialien zum dramat. Werk. Wien 2004. – Marcel Atze u. Hermann Böhm (Hg.): ›Wann ordnest Du Deine Bücher‹. Die Bibl. H. C. A. Wien 2006. Walter Ruprechter

Artner, Maria Theresia (Therese) von, Pseud.: Theone, * 19.4.1772 Schintau/ Ungarn, † 25.11.1829 Agram (Zagreb). – Dramatikerin, Lyrikerin.

Arvinianus

einem natürlicheren, der Spätaufklärung verpflichteten lyr. Ton. 1812 vollendete A. das groß angelegte patriot. Epos Die Schlacht von Aspern. Das in Stanzen verfasste Werk verarbeitet den erst drei Jahre zurückliegenden Sieg Österreichs über Napoleon u. erschien in Fragmenten. Die eigentl. Drucklegung wurde von Metternich sowohl aus politischen als auch ästhet. Gründen (er nannte es »ohne eigentl. poetischen Werth«) verhindert. Das Manuskript ist heute verschollen. Seit 1815 in engerem Kontakt mit der Wiener Schriftstellerin Caroline Pichler, wandte sich A. stärker dem Drama zu. Ihr Trauerspiel Die That (Lpz. 1817) hat die Vorgeschichte von Adolf Müllners Drama Die Schuld (1816) zum Thema. Dem Lustspiel Rettung und Lohn (Agram 1823) folgen noch die Schauspiele Stille Größe (Kaschau 1824) u. Rogneda und Wladimir (Kaschau 1824). Ihren Lebensabend verbrachte A. in Agram (Zagreb), wo sie mit den Briefen über einen Theil von Croatien und Italien an Caroline Pichler (Pest 1830) bis zu ihrem Tode schriftstellerisch tätig blieb. Weitere Werke: Das Fest der Tugend, ein Schäferspiel mit Chören. Oedenburg 1798. – Gedichte. 2 Bde., Lpz. 1818. – Zur feyerl. Jubelfeyer Sr. Excellenz des hochw. Herrn Maximilian Verhovacz v. Rakitovitz, Bischof v. Agram. Agram 1826. Literatur: Ivan Pederin: T. v. A. u. die österr. Lit. des Biedermeiers in Zagreb. In: Österr. in Gesch. u. Lit. 28 (1984), S. 300–312. – Magdalena Bauer: T. v. A. u. Marianne v. Meißenthal. Diss. Wien 1993. – Achim Aurnhammer u. C. J. Andreas Klein: Johann Georg Jacobi in Freiburg u. sein oberrhein. Dichterkreis. Freib. i. Br. 22001. – Wynfrid Kriegleder: T. v. A. u. ihr vaterländ. Heldengedicht ›Die Schlacht von Aspern‹. In: Dt. Sprache u. Kultur, Lit. u. Presse in Westungarn/ Burgenland. Hg. ders. Bremen 2004, S. 249–268.

A. wuchs als Tochter eines österr. Offiziers im ungar. Oedenburg auf. Ein frühes Interesse an den Dichtungen der Göttinger Schule um Klopstock inspirierte sie u. ihre Jugendfreundin Marianne von Tiell zu eigenen Gedichten, die 1800 pseudonym u. d. T. Feldblumen, auf Ungarns Fluren gesammelt, von Minna und Theone in Jena erschienen. Nach dem Tod ihrer Eltern verkehrte A. in verschiedenen literar. Zirkeln der Zeit u. wohnte zunächst bei der ungar. Dichterin Marie Elisabeth Gräfin Zay von Csömör. 1803 trat sie während eines Philipp Gresser halbjährigen Besuchs bei ihrer Schwester dem Freiburger Dichterkreis um Johann Georg Jacobi bei. 1806 erschienen bei Cotta in Artus Tod ! Lancelot Tübingen die größtenteils in Freiburg entstandenen Neueren Gedichte von Theone, die Arvinianus, Gregorius ! Publius Vigideutlich den Einfluss Jacobis u. seiner lantius Freunde zeigen. In ihnen beschwört A. den empfindsamen Freundschaftskult, greift aber auch auf antike Muster zurück u. findet zu

Arx

Arx, Cäsar von, * 23.5.1895 Basel, † 14.7. 1949 Nieder-Erlinsbach (Freitod); Grabstätte: ebd. – Dramatiker u. Festspielautor.

234

1944) den Freiheitskampf der Schwyzer in der Konfrontation zwischen Papst u. Kaiser um 1240 darstellt, dramatisiert A.’ letztes Bühnenstück Brüder in Christo (Urauff. Zürich 1947) den Kampf Zwinglis gegen die Wiedertäufer. Nach 1945, als die Dramen von Max Frisch erste Erfolge errangen, empfand A. seine Bühnenkunst selbst als überlebt.

Der Sohn eines Schriftsetzers besuchte in Basel die Volksschule u. das Realgymnasium; früh begeistert für Shakespeare u. Arnold Ott, gelang ihm noch als Schüler ein erster präWeitere Werke: Hist.-krit. Ausg. in vier Bdn. gender Erfolg als Festspielautor, als 1914 sein Hg. Armin Arnold, Viktor Kamber u. Rolf Röthlispatriotisches Stück Laupen an der Berner berger. Olten i. Br. 1986 ff. Landesausstellung gezeigt wurde. Bis 1919 Literatur: Ernst Prodolliet: C. v. A. Leben u. studierte A. in Basel Geschichte u. dt. Litera- Werk. Diss. Zürich 1953. – Josef Moser: Studien zur tur. Seit 1918 war er Inspizient am Basler Dramentheorie v. C. v. A. 1895–1949. Diss. FreiStadttheater, ab 1920 Regieassistent in Leip- burg (Schweiz) 1956. – Rolf Röthlisberger: Die zig, wo er 1921 sein erstes ernst zu nehmen- Festspiele des Schweizer Dramatikers C. v. A. des Stück Die Rot Schwizerin (Lpz. 1921) ur- (1895–1949). Eine Nachl.-Dokumentation mit einaufführte: Eine Frau büßt im Freitod die leitender Biogr. Bern 1984. – Urs Viktor Kamber: Schuld ihrer Eltern, die sie u. ihren zum Va- Der Existenzkampf des Schweizer Dramatikers C. v. A. Im Spiegel der Überlieferung des Reichsmitermörder gewordenen Halbbruder nicht nisteriums für Volksaufklärung u. Propaganda, über die wahren Verwandtschaftsverhältnisse 1934–41. Niederlinsbach 2001. – Ursula Amrein: aufklärten. ›Los von Berlin!‹ Die Literatur- u. Theaterpolitik A. nahm die hier erkennbare expressionist. der Schweiz u. das ›Dritte Reich‹. Zürich 2004. Tendenz später nicht wieder auf u. wurde Charles Linsmayer / Red. nach seiner Heimkehr in die Schweiz für zwei Jahrzehnte zum führenden Autor der damals in Blüte stehenden patriotischen Festspiel- Asch, Schalom, * 1.1.1880 Kutno/Polen, kultur. Höhepunkt war dabei 1941 die Auf- † 10.7.1957 London. – Jiddischer Erzähtragsarbeit Bundesfeierspiel zur 650. Wieder- ler, Dramatiker u. Übersetzer. kehr der Gründung der Eidgenossenschaft in Als zehntes Kind armer Kaufleute wurde A. Schwyz. Neben diesen für große Laienen- traditionell orthodox erzogen, ging mit 19 sembles im Zeichen der »geistigen Landes- Jahren nach Warschau, wo er zu schreiben verteidigung« geschriebenen chorischen Bil- begann u. zunächst in Hebräisch u. Jiddisch derbogen mit wenig dramat. Handlung ar- publizierte. 1906–1910 lebte er in Palästina, beitete A. aber auch weiterhin für die Be- danach in den USA, in England u. ab 1954 in rufsbühne u. war zwischen 1930 u. 1944 mit Israel. A., der später auch in Englisch u. Stücken wie Die Geschichte vom General Johann Deutsch veröffentlichte, gehört zu den beAugust Suter, Opernball 13 oder Dreikampf der kanntesten Vertretern des jidd. Schrifttums meistgespielte Bühnenautor der Schweiz. im 20. Jh. Nach dem Misserfolg von General Suter in A. begann mit pantheist. NaturschildeBerlin (Premiere 5.12.1932 im Theater am rungen u. einfachen, die Realität romantisch Schiffbauerdamm) engte A. sein Schaffen verklärenden Skizzen u. Erzählungen aus immer mehr auf histor. schweizerische Stoffe dem jüd. Kleinstadtmilieu des Ostens (Dos ein. So behandelt sein erfolgreichstes Stück Schtetl. Das Städtchen. Übers. Bln. 1909). Er Der Verrat von Novara (Urauff. Zürich 1934) wandte sich auch der Bühne zu, für die er eine eine Episode aus den Jahren 1499–1501, als Reihe von Dramen u. Komödien schrieb, die die Schweizer an den Kämpfen um Mailand in Petersburg, Warschau u. Berlin (u. a. von beteiligt waren. Der heilige Held (Urauff. Zü- Max Reinhardt) aufgeführt wurden u. Höherich 1936) thematisiert Leben u. Wirken des punkte in der Entwicklung des jidd. Dramas Schweizer Nationalheiligen Bruder Klaus; gewesen sind. Das erfolgreichste seiner 21 während Land ohne Himmel (Urauff. Zürich Bühnenstücke ist das Drama Der Got fun Ne-

235

kome (Der Gott der Rache. Übers. Bln. 1907). Später befasste sich A. in seinen Romanen sowohl mit histor. Ereignissen wie auch mit zeitgenössischen gesellschaftl. Problemen. Kiddusch ha-Schem (Ein Glaubensmartyrium. Übers. Bln. 1926) ist einer der frühesten histor. Romane der modernen jidd. Literatur; erzählt wird die Geschichte jüdischen Märtyrertums in der Mitte des 17. Jh. In Der man fun Notzeres (1939. Der Nazarener. Übers. Bln. 1950), dem ersten Teil seiner christolog. Romantrilogie, u. in anderen Spätwerken bearbeitete A. den Konflikt zwischen Judentum u. Christentum, wobei er sich starken Angriffen konservativer jüd. Kreise aussetzte. Weitere Werke: Die Familie Großglück. Bln. 1909 (Kom.). – Amerika. Bln. 1911 (R.). – Die Jüngsten. Bln. 1912 (R.). – Der Bund der Schwachen. Bln. 1913. – Kleine Gesch.n aus der Bibel. Bln. 1914. – Mottke, der Dieb. Bln. 1925 (Volksst.). – Woran ich glaube. Konstanz 1932 (Ess.). – Der Trost des Volkes. Zürich 1934 (R.). – Kinder in der Fremde. Amsterd. 1935 (R.). – Reise durch die Nacht. Konstanz 1955 (R.). Literatur: Chaim Liebermann: The Christianity of S. A. An appraisal from the Jewish viewpoint. New York 1953. – Tamara Guggenheim: Die Darstellung der Gesch. Jesus in den Romanen v. S. A. ›Der Nazarener‹ u. Aaron Abraham Kabak. Mag. Heidelb. 1996. Heinz Vestner / Red.

Ascher, Saul, auch: Theodiskus, Auslachers (Anagramm), * 6.2.1767 Berlin, † 8.12.1822 Berlin. – Erzähler u. Publizist. A. entstammte einer wohlhabenden jüd. Familie Berlins. 1789 heiratete er Rachel Spanier, eine Tochter des Vorsitzenden der Ravensberger Landjudenschaft. Der hochgebildete A. war bis 1811 Buchhändler in Berlin; danach wirkte er dort als freier Schriftsteller. A. publizierte insg. 25 Werke: außer Belletristik Schriften mit religionskritischen, polit., staatstheoret. u. geschichtsphilosoph. Fragestellungen; daneben begründete A. auch mehrere, meist kurzlebige Zeitschriften (z.B. »Ephemeren«. Bln. 1797). In seinen theoret. Schriften widmete sich A. zeitlebens dem Kampf um die gesellschaftl. Emanzipation u. Integration des dt. Judentums (Bemerkungen über die bürgerliche Verbesse-

Ascher

rung der Juden. Frankf./O. 1788). Im Geist der Spätaufklärung warb er für die Ideale religiöser Toleranz u. bürgerl. Gleichberechtigung. Revolutionsbegeisterung u. kosmopolit. Gesinnung machten ihn zum Parteigänger Napoleons (Napoleon oder über die Fortschritte der Regierung. Bln. 1808); 1810 wurde A. deshalb vorübergehend inhaftiert. Dieser Überzeugung wegen stand A. auch in entschiedenem Gegensatz zu romantisch-restaurativen Kreisen wie der ›Christlich-Deutschen Tischgesellschaft‹ (Mitglieder waren u. a. Arnim, Brentano u. Kleist). A.s Tendenzschrift gegen antisemit. Auffassungen (Die Germanomanie. Skizze zu einem Zeitgemälde. Bln. 1815) wurde auf dem Wartburgfest der Burschenschaften 1817 verbrannt. Moralisierende u. rationalist. Züge kennzeichnen die nur selten originellen belletrist. Versuche A.s (Romane, Erzählungen und Mährchen. 2 Bde., Lpz. 1811/12). Heinrich Heine attestierte A. »Materialismus von reinstem Wasser« u. persiflierte dessen Vernunftgläubigkeit in der Harzreise. A.s Werk blieb lange unbeachtet oder verkannt. Erst in den 1960er u. 1970er Jahren gewannen seine konsequenten Warnungen vor den Folgen nationalistischer Verengung wieder zunehmendes Interesse, vornehmlich in der jüd. Forschung. Weitere Werke: Leviathan oder über Religion in Rücksicht des Judenthums. Bln. 1792. – Ideen zur natürl. Gesch. der polit. Revolutionen. o. O. 1802. Neudr. Kronberg/Ts. 1975. – Der dt. Geistesaristokratismus. Lpz. 1819. Ausgabe: 4 Flugschr.en. Bln. 1991 (enthält ›Eisenmenger‹, ›Germanomanie‹, ›Napoleon‹ u. ›Wartburgfeier‹). Literatur: Ellen Littmann: S. A. In: Publications of the Leo Baeck Institute. Yearbook 5 (1960), S. 107–121 (mit umfassender Bibliogr.). – Walter Grab: S. A. In: Jb. des Instituts für dt. Gesch. (Tel Aviv) 6 (1977), S. 131–179. – Ders.: Radikale Lebensläufe. Bln. 1980. – Jonathan M. Hess: Germans, Jews and the claims of modernity. New Haven 2002. – Marco Puschner: Jüd. Aufklärung u. Polit. Romantik. Konstruktionen nat. Identität bei S. A. u. Ernst Moritz Arndt. In: Aurora 65 (2005), S. 157–174. Adrian Hummel / Red.

Askan

Askan, Katrin, * 21.2.1966 Berlin/DDR. – Verfasserin von Romanen u. Erzählungen.

236

2002), darunter die Erzählung Landläufig, für die A. beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt 2001 der 3sat-Preis zugesprochen wurde, enthält lakonisch-freche Liebesu. Mordgeschichten. Unlösbare Spannungen zwischen Zufalls- u. Schicksalsgläubigkeit, Kunst u. Wirklichkeit, Lebensentwürfen u. ihrem Scheitern prägen A.s Arbeiten. Mittels einer wiederkehrenden Krankheitsmetaphorik stellt A. die Fremdheit ihrer Figuren im eigenen Körper u. im eigenen Land dar.

Nach dem Abitur arbeitete A. im Krankenhaus u. im Buchhandel. 1986 floh sie im Kofferraum eines Pkws in den Westen u. nahm an der FU Berlin das Studium der Fächer Philosophie u. Germanistik auf. Ihre Semesterferien verbrachte sie meist in Schweden. Seit 1998 lebt A. als freie Schriftstellerin u. Übersetzerin des Schwedischen in Köln. Literatur: Thomas Kraft: K. A. In: LGL. A.s autobiografisch geprägte Romane Raffaele Louis spielen im geteilten u. wiedervereinigten Berlin: Ihr Debütwerk A-Dur (Halle 1996) zeigt Ausschnitte aus dem Leben der krebs- Asmodi, Herbert, eigentl.: Herbert Kaiser, kranken Katja, der abergläub. Pia u. der von * 30.3.1923 Heilbronn, † 3.3.2007 Münihrem DDR-flüchtigen Partner verlassenen chen. – Verfasser von Lustspielen, ErzähToni. Die allgemeine Orientierungslosigkeit lungen, Lyrik u. Kinderliteratur. nach der Wende fällt mit dem Zerbrechen Nach Kriegsteilnahme u. Gefangenschaft individueller Träume zusammen. Szenen ei- (1942–1947) studierte A. bis 1952 Germanisnes vom Vater Tonis produzierten, aber von tik, Philosophie u. Kunstgeschichte in Heiihr nicht freigegeben Videofilms über die delberg. Seitdem lebte er als freier SchriftStasi-Verhöre an seiner Tochter unterlaufen steller in München. A. erhielt 1954 den Gerimmer wieder die Chronologie. A. mischt in hart-Hauptmann-Preis der Freien VolksbühA-Dur Zukunftsängste der Figuren mit leiser ne Berlin u. 1971 den Tukan-Preis der Stadt Hoffnung. München. Der Roman Eisenengel (Halle 1998), der in Die Uraufführung seiner ersten Komödie den 1990er Jahren in Berlin spielt, entwickelt Jenseits vom Paradies (verf. 1954) fand 1955 in eine für A. typ. Ästhetik der Kälte. Er erzählt Göttingen statt. Es folgten Pardon wird nicht anhand der Konflikte zwischen Ina, einer gegeben (Urauff. Mchn. 30.7.1958), Tigerjagd u. Aussteigerin in ein Betäubung gewährendes Die Menschenfresser (Urauff. Bochum u. menschl. Härte erzwingendes Punk-Mi- 31.12.1961), bis schließlich Nachsaison, eine lieu, u. dem Arzt Achim, der ihr zu einer ge- Bürgersatire in der parodist. Einkleidung eiordneten Existenz verhelfen will, von Frei- ner obsoleten k. u. k. Hofadelsklamotte heit, Abhängigkeit u. (Selbst-)Zerstörung. (1959. Ersch. Hbg. 1977) breiteren PubliDer emotionslose Erzählton entspricht dem kumserfolg einspielte. Mit diesem Titel Wesen ihrer Figur Ina, deren selbstgewählte glaubte denn auch die Kritik, A. rubrizieren Beziehungslosigkeit die Autorin passagen- zu können. Man sah ihn als einen verspäteten weise aus der Sicht der zugehörigen Ratte Fin-de-siècle-Zyniker, einen »Dramatiker der beleuchtet. zweiten Restauration« (Marianne Kesting im 1998 erhielt A. den Hölderlin-Förderpreis Nachwort zu Nachsaison), der bei Wedekind u. der Stadt Bad Homburg u. 1999 das Rolf- Sternheim in die Schule gegangen sei. DemDieter-Brinkmann-Stipendium der Stadt gemäß attestierte man dem Bühnenautor A., Köln. 2000 erschien mit Aus dem Schneider bei aller Dialogsicherheit u. Virtuosität im (Bln.) ein Roman mit verstärkt biogr. Zügen: Umgang mit den abgelebten Schemata des Kurz vor ihrer Flucht in den Westen lässt die Konversations- u. Salonstücks, einen gewisIch-Erzählerin während eines letzten Streif- sen Epigonalismus in Stil u. Sujetwahl. zugs durch das Elternhaus die FamiliengeAuch als sich A. in den Spielen Mohrenwäschichte dreier Generationen Revue passie- sche (Urauff. Stgt. 1965) u. Stirb & Werde ren. A.s Erzählband Wiederholungstäter (Bln. (Urauff. Stgt. 1967) dezidierter auf die bun-

237

Assig

desrepublikan. Gegenwart einließ, blieb der heit oder Der Pestalozzi-Preis. Hbg. 1969. – Nasrin Vorbehalt. Beide Stücke brächten sich – so die oder die Kunst zu träumen. Romant. Komödie. Mehrheitsmeinung der Kritik – durch Über- Hbg. 1970. – Marie v. Brinvilliers, Liebende, Giftstilisierung der klass. Komödientopoi u. ma- mischerin u. Marquise. Hbg. 1971 (Kom.). – Geld. Hbg. 1973 (Kom.). – Die Dame aus den Tuilerien nieristische Häufung grotesker Coups u. aboder die Tollheit der Liebe. Bln. 2004 (R.). gedroschener Camouflagemotive selbst um Friedhelm Sikora / Eva-Maria Gehler die intendierte Wirkung. Solche Einwände übersehen freilich, mehr oder minder beAssig, Hans von, auch: Hannß von Aßig u. wusst, A.s vielfach betonte Arbeitshypothese, Siegersdorff, * 8.3.1650 Breslau, † 5.8. dass er Theaterwahrheit als ein kalkuliertes 1694 Schwiebus. – Lyriker. Kunstprodukt verstehe, dem nicht durch die Illusion vermeintlicher »Lebensnähe«, son- A., Sohn eines 1670 geadelten kaiserl. Rats u. dern einzig durch möglichst wirkungsvolle Oberstadtsyndikus, studierte seit dem SomPlazierung von Kunstmitteln näherzukom- mersemester 1669 Jura in Leipzig. Ab 1674 men sei. diente er zwei Jahre lang als Offizier in der A.s Werk steht in der Tradition der (vor- schwed. Marine u. nahm an Seeschlachten wiegend süddt.-österr.) krit. Volkskomödie, teil. Versuche, nach dem Tod seines Vaters die, gemäß ihrer Herkunft aus der Commedia 1676 in Breslau Fuß zu fassen, scheiterten aus dell’arte, Stegreifgroteske u. Puppenspiel, konfessionellen Gründen. A. nahm deshalb weniger naturalist. Weltabbildung ist, viel- die Stellung eines Hauptmanns im kurbranmehr durch gezielt übertreibende Typen-Sa- denburgischen Heer an. 1692 wurde er zum tire aufklärend wirken will. Insoweit ist der Schlosshauptmann, Burglehns- u. Kammerschuftige Lakai Joseph in Nachsaison wenigs- direktor in Schwiebus befördert. Die geistl. Gedichte A.s zeichnen sich durch tens so eng verwandt mit Nestroys Herrschaftsdiener Muffl aus Frühere Verhältnisse eindringl. Ton aus u. behandeln vielfach wie mit Hofmannsthals »unbestechlichem« ethische Probleme, so z.B. Freud’ u. Trauren der Theodor im Lustspiel Der Unbestechliche, der Tochter Jephta, das wie einige andere Texte bigotte Parvenü Otto Xanter (Stirb & Werde) nach A.s Tod im zweiten bis vierten Band der kaum zu denken ohne Ludwig Thomas Ren- Neukirch’schen Anthologie erschien (Neutier Beermann aus der Komödie Moral. A.s kirch, Tl. 2, S. 191–195; Tl. 3, S. 201–204; Gesangseinlagen stehen den Bänkelliedern Tl. 4, S. 355–357). Cupidinis testament war das Wedekinds oder Brechts nicht näher als den einzige weltl. Gedicht A.s in dieser Sammlung, die ihn jedoch wie andere schles. DichCouplets Raimunds u. Nestroys. Seit dem Ende der 1960er Jahre wandte ter berühmt machte. Etliche seiner Kirchensich A. von der Bühnenarbeit ab. Hatte er sich lieder wurden in evang. Gesangbüchern geschon zuvor als Mitarbeiter an Kunsteditio- druckt u. blieben bekannt. nen, als Kinderbuchautor u. Kritiker betätigt, Weitere Werke: Herrn Hannß v. Aßig Geso galt sein Hauptinteresse jetzt der Produk- sammlete Schrifften [...]. Breslau 1719. tion u. Bearbeitung von Fernsehspielen. Ausgabe: Zweite schles. Schule I (Dt. Nat.-Litt. Mit dem im Sept. 1987 erschienenen Er- Bd. 36.). Hg. Felix Bobertag. Stgt. 1885. Neudr. zählband Das Lächeln der Harpyien (Stgt.) er- Tokio/Tüb. 1974, S. 353–359 (Ausw.). – Fischerprobte A. erstmalig seine Desillusionie- Tümpel 5, S. 446 f. Literatur: Jöcher 1, Sp. 598. – Hermann Palm: rungstechnik im Prosagenre, unter Beibehaltung seiner Lieblingsmilieus um dekadente H. v. A. In: ADB. – Paul Gabriel: H. v. A. In: NDB. Erika A. Metzger / Red. Oberschichtler u. monomane Gewinnsüchtige. Weitere Werke: Palace-Hotel. 1969 verf. (Fernsehsp.). – Jokers Gala + Jokers Farewell. Stgt. 1981 (L.). – Räuber u. Gendarm. Köln 1968 (Kinderbuch). – Vincent van Gogh. Sonne u. Erde. Feldafing 1960 (Kunstbuch). – Dichtung u. Wahr-

Assing

Assing, David (Assur), eigentl.: David Assur, verh. mit Rosa Maria Assing, * 12.12. 1787 Königsberg, † 25.4.1842 Hamburg. – Lyriker.

238

als Kriegs-, Schiffer-, Trink- u. Tanzlieder sowie Minne- u. Jagdgedichte. Die häufig begegnende Todesthematik geht auf biogr. Erlebnisse zurück. Daneben sind Kriegsteilnahme u. Konversion, die beiden entscheidenden Eindrücke in A.s Leben, bestimmende Faktoren seiner Dichtung.

Der Sohn jüd. Eltern studierte Medizin in Göttingen, Halle u. Tübingen, erhielt seine prakt. Ausbildung in Wien u. promovierte Literatur: Karl Gutzkow: D. A. A. In: Neues 1807 in Königsberg. David Assur, wie sein Europa 1,2 (1845), S. 17–22. – Sidney Osborne: ursprüngl. Name lautet, konvertierte 1813 Germany and her Jews. Oxford 1939. zum Katholizismus u. nannte sich von da an Wolfgang Bunzel / Red. A. Er nahm an den Freiheitskriegen zuerst in russ., dann in preuß. Diensten als Militärarzt teil. 1815 heiratete er Rosa Maria Varnhagen Assing, Rosa Ludmilla, auch: Achim Lou. zog zu ihr nach Hamburg, wo er den Rest thar, Talora, * 22.2.1821 Hamburg, seines Lebens als praktischer Arzt verbrachte. † 25.3.1880 Florenz; Grabstätte: ebd., A.s im Zeichen der Romantik stehende Friedhof Gli Allori. – Schriftstellerin, Gelegenheitsgedichte erschienen verstreut in Biografin, Journalistin, Übersetzerin u. verschiedenen Almanachen, so 1813 in Ker- Herausgeberin. ners »Deutschem Dichterwald« (Neudr. A. war Tochter des jüd. Arztes David (Assur) Mchn. 1923), 1816 in Isidorus’ (= Otto Hein- Assing u. der Rosa Maria Assing, geborene rich von Loeben) »Hesperiden« (Neudr. Varnhagen, der Schwester von Karl August Nendeln 1971) u. 1818 in Helmina von Ché- Varnhagen von Ense. Mit ihrer Schwester zys »Aurikeln«, später in dem von Chamisso Ottilie, mit der sich A. später zerstreiten sollte u. Schwab herausgegebenen »Deutschen u. die 1853 nach Amerika auswanderte, Musenalmanach« (1833, 1834, 1836, 1837) wuchs sie in einer kulturell regen Umgebung sowie im »Rheinischen Odeon«. In den auf. Die Mutter, selbst schriftstellerisch tätig, 1830er Jahren publizierte er auch Gedichte in pflegte Kontakte zum Kreis der schwäb. RoCottas »Morgenblatt für gebildete Stände« mantiker um Ludwig Uhland u. Justinus sowie in einigen norddt. Lokalzeitungen Kerner sowie zu Vertretern des Jungen (»Bremer Lesefrüchte«, »Preußischer Volks- Deutschland wie Karl Gutzkow, Ludolf freund«, »Nordalbingischer Telegraph«, Wienbarg u. Theodor Mundt. In Hamburg »Literarische und kritische Blätter der Bör- führte sie einen kleinen literar. Salon. Erste senhalle«). Nach dem Tod seiner Frau gab A. Schreibversuche der Tochter belegen ihr Taderen Poetischen Nachlaß (Altona 1840) heraus. gebuch, in dem sie als Zwölfjährige von den Außerdem veröffentlichte er Nenien nach dem häusl. Salonabenden u. den literar. TätigkeiTode Rosa Maria’s (Hbg. 1840. Vermehrte Aufl. ten ihrer Besucher berichtete. Intensiver 1841). Diese der romant. Geselligkeitskultur wurde der Kontakt zur romant. Salonkultur verpflichtete Publikation erschien als in der nach dem Tod der Eltern, als A. mit ihrer Handschrift gedrucktes Erinnerungsbuch für Schwester 1842 zu ihrem Onkel nach Berlin Freunde. Eine von seinen Töchtern geplante zog. Dort führte sie den berühmten Salon Sammlung seiner eigenen verstreuten Ge- ihrer bereits 1833 verstorbenen Tante Rahel dichte unterblieb allerdings. Varnhagen fort, in dem namhafte Dichter, A.s frühe Kontakte zu Vertretern der Künstler, Philosophen u. Staatsmänner verSchwäbischen (Kerner, Schwab, Uhland) u. kehrten. der Berliner Romantik (Chamisso, Fouqué, Mit Gräfin Elisa von Ahlefeldt, die Gattin Varnhagen) prägten Formen u. Inhalte seiner Adolph von Lützow, die Freundin Immermann’s Dichtung. Er bevorzugte für seine Lyrik ein- (Bln. 1857) u. Sophie von LaRoche, die Freundin fache, volksliedhafte Formen. A.s Casualcar- Wieland’s (Bln. 1859) veröffentlichte sie in der mina sind thematisch gebunden u. bewegen Berliner Zeit ihre ersten Werke. Dabei hansich innerhalb vorgegebener Genregrenzen delt es sich um ganz in der romant. Tradition

239

Assing

stehende Frauenbiografien. Nach dem Tod Gatter. In: Wenn die Gesch. um die Ecke geht. Hg. ihres Onkels 1858 verwaltete sie dessen N. Gatter. Bln. 2000, S. 77–163. – Herausgeberin: Nachlass u. begann seit 1860 mit dessen Pu- Briefe v. Alexander v. Humboldt an Varnhagen v. blikation (Aus dem Nachlaß Varnhagen’s von Ense. Lpz. 1860. Literatur: Goedeke Forts. – L. A. in Florenz Ense). Aufgrund darin enthaltener regierungsfeindlicher Äußerungen wurde sie 1862 (1861–1880). Colloquium 21.-22.4.2000. Villa Romana, Firenze. In: Makkaroni u. Geistesspeise. Hg. u. 1864 in Abwesenheit zu Freiheitsstrafen Nikolaus Gatter. Bln. 2002, S. 297–377. – Maria von zwei Jahren u. acht Monaten verurteilt. Chiara Mocali: Le scrittrici L. A., Malwida v. MeyDiesen konnte sie sich entziehen, indem sie senbug, Ricarda Huch. In: Cultura tedesca a Fivon einer 1861 unternommenen Reise in die renze. Scrittrici e artiste tra Otto e Novecento. Hg. Schweiz u. nach Italien nicht mehr zurück- dies. u. Claudia Vitale. Florenz 2005, S. 141–169. kehrte. In dieser Zeit traf sie u. a. mit RevoKatrin Korch lutionsanhängern wie Ferdinand Lassalle u. Georg u. Emma Herwegh zusammen, die sie Assing, Rosa Maria (Antoinette Pauline), ermunterten, sich in eigenen journalist. Beiauch: Rosa Maria, * 28.5.1783 Düsseldorf, trägen auch als polit. Schriftstellerin zu be† 22.1.1840 Hamburg. – Lyrikerin u. Ertätigen. An ihrem neuen Wohnsitz Florenz zählerin. führte sie die dt. Salonkultur fort u. versammelte in ihrer Wohnung neben ital. Risorgi- Die ältere Schwester Karl August Varnhagens mento-Aktivisten auch politisch links orien- wuchs zunächst bei ihrer Mutter in Straßburg tierte Ausländer. Sie verfasste eine Lebensbe- auf, folgte 1796 dem Vater nach Hamburg, schreibung des italien. Freiheitskämpfers der kurze Zeit später starb. A. war dann ErPiero Cironi (Vita di Piero Cironi. Prato 1865. zieherin in einem Hamburger Patrizierhaus, Dt. Übers. Lpz. 1867), mit dem sie eine kurze bis sie 1815 den Arzt David Assing heiratete. Liebesepisode verband. In dieser Biografie Sie brachte zwei Töchter, Ottilie Davide u. setzt sie sich nicht nur für dessen Freiheits- Ludmilla, u. einen Sohn zur Welt. Freundideale u. die Loslösung vom Feudalismus, schaftliche Beziehungen verbanden sie mit sondern auch für die Frauenemanzipation Amalie Schoppe u. Fanny Tarnow, mit Kerner ein. Diese Themen beschäftigten sie bis zu u. Uhland, mit Chamisso u. Fouqué. Die ihrem Lebensende u. sie versuchte von Italien Berliner u. die Schwäbische Romantik blieaus, sich auch in Deutschland für diese Ideale ben für sie als geistige Bezugspunkte lebenseinzusetzen. So übersetzte sie zahlreiche lang verbindlich. In Hamburg unterhielt sie Schriften u. Pamphlete von Cironi u. Giu- einen kleinen Salon, in dem in den 1830er seppe Mazzini ins Deutsche u. veröffentlichte Jahren u. a. Gutzkow, Hebbel u. Heinrich auch eigene Beiträge, u. a. in der »Frankfurter Heine verkehrten. A.s erste poet. Versuche wurden unter ihZeitung«. Darin vermittelt sie ferner ein neues dt. Italienbild, das mit der antikisie- ren Vornamen in verschiedenen Almanachen renden Tradition Winckelmanns bricht u. der Freunde gedruckt, so im sog. »Grünen statt Rom Florenz als Inbegriff eines neuen Musenalmanach« (1806. Hg. Chamisso u. Freiheitsbewusstseins in den Mittelpunkt Varnhagen), in »Erzählungen und Spiele« rückt. Ihr Erbe bestimmte A., die unverhei- (1807. Hg. Varnhagen u. Wilhelm Neumann), ratet blieb, der Einrichtung einer Mädchen- im »Poetischen Taschenbuch« u. im »Deutschule, in der nach demokrat. Grundsätzen schen Dichterwald« Kerners (1813. Neudr. unterrichtet werden sollte. Diese »Scuola Mchn. 1923) sowie in Helmina von Chézys Ludmilla Assing« bestand bis zu ihrer Ver- »Aurikeln« (1816). Danach erschienen in staatlichung unter Mussolini im Jahr 1936 Gubitz’ Zeitschrift »Der Gesellschafter« einige Gedichte (1826, 1830), v. a. aber die Erfort. Weitere Werke: Fürst Hermann v. Pückler- zählungen Herr Thomas Brown und seine NachMuskau. 2 Bde., Hbg. 1873/74. Nachdr. Hildesh. barn (1823. Neudr. Bln. 1847), Der Schorn2004. – Die Märztage Berlins. Aus dem Tagebuche steinfeger (1824. Mehrere Neudr.e: letztmals einer dt. Frau aus Ungedrucktem erg. v. Nikolaus Zürich 1894) u. Clara (1827). Almanache u.

Ast

240

Zeitungen enthalten auch A.s Lyrik der 1830er Jahre, so der »Deutsche Musenalmanach«, der »Rheinische Odeon«, das »Morgenblatt für gebildete Stände«, der »Preußische Volksfreund« u. die »Literarischen und kritischen Blätter der Börsenhalle«. Nach ihrem Tod wurde ein Großteil dieser verstreuten Dichtungen zus. mit einigen unpublizierten Gedichten von ihrem Mann David als Poetischer Nachlaß (Altona 1840) herausgegeben. A.s Gedichte bewegen sich im Rahmen konventioneller Liebes- u. Gelegenheitslyrik. Formal dominieren das Sonett u. die Liedform. Daneben finden sich zahlreiche Nachdichtungen frz. Vorlagen. Die Erzählungen variieren die Themen u. Muster damals verbreiteter Unterhaltungsliteratur. A.s Dichtungen sind nicht in erster Linie eigenständige schöpferische Produkte, sondern Ausdruck eines romant. Geselligkeitsverständnisses, das sich im persönl. Austausch mit Freunden artikuliert. Die poet. Texte bilden dabei nur einen kleinen Ausschnitt dieser Salongeselligkeit. Als gleichrangig neben ihnen sind A.s Fertigkeiten als Briefschreiberin, Scherenschnittkünstlerin u. Sammlerin biografischer Materialien zu sehen. In ihrem Anspruch auf eine umfassende künstler. Durchdringung der Lebenswirklichkeit zeigt sich A. als eine späte Vertreterin romantischer Geselligkeitskultur. Literatur: Karl Gutzkow: Erinnerung an R. M. A., geb. Varnhagen v. Ense. In: Telegraph 27/28 (1840). Auch in: Vermischte Schr.en. Bd. 3., Lpz. 1842, S. 133–147. – Joachim Kirchner (Hg.): Silhouetten aus dem Nachl. v. Varnhagen v. Ense. Bln. o. J. [1925]. – Lex. dt.-jüd. Autoren, Bd. 1, S. 217–221. – Nikolaus Gatter: R. M. A. (1783–1840) Heines Freundin Rosa Maria. In: Vom Salon zur Barrikade. Frauen der Heinezeit. Hg. Irina Hundt. Stgt. 2002, S. 91–110. Wolfgang Bunzel / Red.

Ast, (Georg Anton) Friedrich, * 29.12.1778 Gotha, † 31.10.1841 München. – Klassischer Philologe u. Philosoph, Mitbegründer der modernen Hermeneutik. Bereits am Gymnasium seiner Heimatstadt Gotha lernte A. von berühmten Lehrern wie Friedrich Jacobs u. Friedrich Schlichtegroll

die Welt der Antike kennen. Nach anfänglichem Studium der Theologie bei Johann Jakob Griesbach u. Heinrich Eberhard Gottlob Paulus in Jena wechselte A. unter dem Einfluss Heinrich Karl Eichstädts zur klass. Philologie. Als Schüler Fichtes, Schellings u. der beiden Schlegels wurde A. mit philologischen u. ästhet. Fragen vertraut u. kam früh mit der romant. Bewegung in Berührung. 1802 promovierte er zum Doktor der Philosophie. Nach drei Jahren Lehrtätigkeit nahm er im Alter von nicht einmal 27 Jahren mit der Antrittsrede Ueber den Geist des Alterthums, und dessen Bedeutung für unser Zeitalter 1805 sein Amt als o. Professor der klass. Philologie an der Universität Landshut auf. Als König Ludwig I. den Sitz der Universität 1826, ein Jahr nach seiner Thronbesteigung, von Landshut in die Residenzstadt München verlegte, zog A. mit um. Hier lebte u. lehrte er bis zu seinem Tod. Seit 1805 war A. kgl. bayrischer Hofrath, 1827 wurde er ordentliches Mitgl. der Königlich Bayerischen Akademie der Wissenschaften. A. ist ein wichtiger Vertreter des Neuhumanismus in Bayern u. hat v. a. als Mitbegründer der Hermeneutik Bekanntheit erlangt. Sein Werk bildet drei Schwerpunkte: 1. wiss. Schriften (altphilologische, ästhet. u. philosophiegeschichtl. Arbeiten), 2. Übersetzungen (Platon, Sophokles, Achilleus Tatios), 3. eigene Dichtungen u. die Herausgeberschaft einer Zeitschrift. Durch sein System der Kunstlehre, oder Lehr- und Handbuch der Aesthetik (Lpz. 1805) schuf A. die erste romant. Ästhetik u. trug zur Popularisierung Schelling’scher Gedanken über Symbol u. Allegorie bei. In Berührung mit Ideen Friedrich Schlegels u. der Identitätsphilosophie Schellings bildete A. in den Werken Grundlinien der Grammatik, Hermeneutik und Kritik u. Grundriß der Philologie (beide Landshut 1808) seine eigene Theorie des Verstehens aus, in deren Zentrum der Begriff des »Geistes« steht. Schleiermachers Konzept der Hermeneutik entstand u. a. in direkter Auseinandersetzung mit A.s Theorien, denen er ablehnend gegenübertrat. In Landshut gehörte A. zum Kreis der Romantiker um den Theologen Johann Michael Sailer u. den Rechtshistoriker Carl von Savi-

241

gny, zu dem auch Clemens u. Bettina Brentano zählten. In München war er Kollege von Franz von Baader u. Schelling. Zwischen 1808 u. 1810 gab A. die »Zeitschrift für Wissenschaft und Kunst« (Neudr. Nendeln/ Liechtenstein 1971) heraus, in der u. a. Joseph von Eichendorff unter dem Pseudonym Floris als Lyriker debütierte. Auch Friedrich Schlegel u. Otto Heinrich von Loeben waren Beiträger des Projektes, das sich in seinem Programm einer Vereinbarkeit des scheinbar Unvereinbaren als dezidiert romantisch ausgibt: Mythologie steht neben Minneliedern Walthers von der Vogelweide. Als bekennender Anhänger der Frühromantik im Kontext der Novalis-Nachfolge trat A. in Widerspruch zum Weimarer Klassizismus u. wurde so beliebtes Angriffsziel der Polemik eines Johann Heinrich Voß. Mit dem Trauerspiel Krösus (Lpz. 1805) versuchte sich A. selbst als Dichter eines antiken Stoffes. Das Stück, das in der Tradition von August Wilhelm Schlegels Ion u. Friedrich Schlegels Alarcos steht, fand keine positive Resonanz u. wurde von Goethe u. Nicolai vehement kritisiert. A.s Wirken fällt in eine Zeit, in der mit Friedrich August Wolfs Darstellung der Altertumswissenschaft (1807) eine Neukonstituierung als eigenständige universitäre Disziplin erreicht wurde u. die Spezialisierung in einzelne Fachgebiete einsetzte. Als Altphilologe favorisiert A. mehr als die römische die griech. Antike u. steht den romant. Mythografen wie Friedrich Creuzer u. Johann Arnold Kanne insofern nahe, als er ganz im Sinne Friedrich Schlegels Indien als das Ursprungsland von Sprache, Mythos u. Geschichte ansieht. Nicht mehr die Kunst der Antike steht im Zentrum des Interesses, sondern die Religion, bei A. stets in Verbindung mit Philosophie u. Philosophiegeschichte. A. propagiert ein zyklisches Geschichtsmodell u. versteht die Perioden der Menschheitsgeschichte als log. Bildungskreis, als Transformationen eines »Geistes«. Geschichte entsteht für ihn dadurch, dass sich das Unendliche immer wieder im Endlichen spiegelt. Das klass. Altertum ist ihm ästhet. Norm, an dem sich die Gegenwart orientieren muss, um zu eigener kultureller Identität zu

Ast

finden. Zeittypisch ist auch A.s Auffassung einer unmittelbaren Relation zwischen der griech. u. dt. Sprache. Bleibende Verdienste kommen A. als Platonforscher zu. Er übersetzte das Werk Platons ins Lateinische (Platonis opera. 9 Bde. u. 2 Bde. Komm., Lpz. 1819–32), schrieb eine der ersten Platonbiografien des 19. Jh. (Platons Leben und Schriften. Lpz. 1816) u. verfasste mit seinem dreibändigen Lexicon Platonicum (Lpz. 1835–38. Neudr. Bln. 1908 u. Darmst. 1956) ein lange Zeit gültiges Standardwerk. Weitere Werke: Grundlinien der Philosophie. Landshut 1807. 21809. Neudr. Saarbr. 2006. – Grundriß einer Gesch. der Philosophie. Landshut 1807. 21825. – Grundriß der Aesthetik. Landshut 1807. – Entwurf der Universalgesch. Landshut 1808. 21810. – Grundlinien der Aesthetik. Landshut 1813. – Hauptmomente der Gesch. der Philosophie. Mchn. 1829. Literatur: Johann Hermann: F. A. als Neuhumanist. Diss. Mchn. 1911 (mit Bibliogr.). – Hans Eichner: F. A. u. die Wiener Allg. Lit.-Ztg. In: JbDSG 4 (1960), S. 343–357. – Joachim Wach: Das Verstehen. Grundzüge einer Gesch. der hermeneut. Theorie im 19. Jh. Bd. 1: Die großen Systeme. Tüb. 1926. Neudr. Hildesh. 1966 u. 1984, S. 31–82. – Klaus Willimczik: F. A.s Geschichtsphilosophie im Rahmen seiner Gesamtphilosophie. Meisenheim/ Glan 1967. – Peter Szondi: Einf. in die literar. Hermeneutik. Ffm. 1975. Neudr. Ffm. 2001, S. 139–160. – Hans-Georg Gadamer u. Gottfried Boehm (Hg.): Seminar: Philosoph. Hermeneutik. Ffm. 1976, S. 111–166 (Auszüge aus A.s ›Grundlinien der Grammatik‹ u. Schleiermachers Stellungnahme). – Hermann Patsch: F. A.s ›Krösus‹ – ein vergessenes Trauersp. aus dem Kreis der Jenaer Romantik. In: Geist u. Zeichen. FS Arthur Henkel. Hg. Herbert Anton u. a. Heidelb. 1977, S. 105–119. – Hellmut Flashar: Die methodisch-hermeneut. Ansätze v. Friedrich August Wolf u. F. A. In: Philologie u. Hermeneutik im 19. Jh. Hg. ders. u. a. Gött. 1979, S. 21–31. Wieder abgedr. in: Ders.: Eidola. Bln. 1989, S. 529–539. – Karlheinz Stierle: Altertumswiss. Hermeneutik u. die Entstehung der Neuphilologie. In: Philologie u. Hermeneutik im 19. Jh. Gött. 1979, S. 260–288. – Hermann Patsch: F. A. Wolf u. F. A: Die Hermeneutik als Appendix der Philologie. In: Klassiker der Hermeneutik. Hg. U. Nassen. Paderb. u. a. 1982, S. 76–107. – Marco Ravera u. a. (Hg.): F. A. Estetica ed ermeneutica. Palermo 1987. – Hermann Patsch: F. A.s ›Euthyphron‹-Übers. im Nachl. F. Schlegels. Ein Beitr. zur Platon-Rezeption in der Frühromantik. In:

Astel JbFDH 1988, S. 112–127. – Federico Vercellone: Lo spirito e il suo altro. L’ermeneutica di F. A. In: Ders.: Identità dell’antico. L’idea del classico nella cultura tedesca del primo ottocento. Turin 1988, S. 48–65. – Gayle L. Ormiston u. Alan D. Schrift (Hg.): From A. to Ricœur. New York 1990. – Alfons Beckenbauer: Die LMU in ihrer Landshuter Epoche 1800–26. Mchn. 1992. – Jean Greisch: Hermeneutik u. Metaphysik. Eine Problemgesch. Mchn. 1993, bes. S. 134–138. – Denis Thouard (Hg.): Critique et herméneutique dans le premier romantisme allemand. Textes de F. A., W. Schlegel, F. Bernhardi, W. Dilthey. Villeneuve d’Ascq 1996. Michael Kreß

Astel, (Hans) Arnfrid, auch: Hanns Ramus, * 9.7.1933 München. – Lyriker u. Epigrammatiker. A., Sohn eines Medizinprofessors, verbrachte seine Kindheit in Weimar, die Jugend in einem evang. Internat in Windsbach/Mittelfranken. Er studierte Literaturwissenschaft u. Biologie in Freiburg i. Br. u. Heidelberg; dort arbeitete er anschließend acht Jahre als Lehrer in einem Internat. 1959–1971 gab er in Heidelberg die »Lyrischen Hefte« heraus, in denen er – anfangs unter dem Pseudonym Hanns Ramus – auch eigene Gedichte veröffentlichte. In den 1950er Jahren zeigen seine »Stilleben-Gedichte« Vertrautheit mit dem jap. Haiku, um 1961 schreibt er, beeindruckt von der atomaren Bewaffnung, die ersten polit. Gedichte. Seine Texte meiden jede Dogmatik. A. war 1966 Verlagslektor in Köln, 1967–1971 arbeitete er als Lektor der Literaturabteilung des Saarländischen Rundfunks. In seinem ersten Gedichtband Notstand (Wuppertal 1968) nimmt er mit List u. Skepsis in teilweise epigrammatischer Form falsche Sprach- u. Denkgewohnheiten aufs Korn. Er befasst sich mit den Themen der Studentenbewegung (Notstandsgesetze, Kinder u. Schule), Religion u. klassischer Literatur u. daneben immer mit der unbewältigten dt. Vergangenheit. Mit seinem zweiten Gedichtband Kläranlage (Mchn. 1970) konnte sich A. als Lyriker des krit. Einspruchs u. der anarchischen Geste durchsetzen – gegen die darin formulierte Selbstironie: »Der Astel kommt auf keinen grünen Zweig«. Er thematisiert seine krit. Haltung zur Religion, geht sexuelle Tabus an u. karikiert den Lite-

242

raturbetrieb. Als ihn der damalige Intendant des Saarländischen Rundfunks 1971 aus polit. Gründen fristlos entließ, klagte A., gewann den Prozess u. konnte 1973 an seinen Arbeitsplatz zurückkehren – ein Ereignis, das ihn auch außerhalb der literar. Szene bekannt machte. Er kommentierte es mit 118 polit. Epigrammen u. einer Sammlung von Zeitungsausschnitten u. Arbeitsgerichtsurteilen (Zwischen den Stühlen sitzt der Liberale auf seinem Sessel. Darmst. 1974). A.s literar. u. polit. Entwicklung – in fast 1000 Epigrammen – gibt die vollständige Gedichtsammlung Neues (& altes) vom Rechtsstaat & von mir (Ffm. 1978) wieder. Darin setzt er sich mit der Gewaltfrage (RAF u. »Deutscher Herbst« 1977) auseinander, was ihm von Seiten konservativer Kritiker den Sympathisanten-Vorwurf einbrachte. In dem Band Die Faust meines Großvaters und andere Freiübungen (Heidelb. 1979) knüpft A. an Themen seiner frühen Gedichte über Landschaft u. Liebe an; in seinen zuletzt erschienen Bänden setzt sich die Abkehr von polit. Themen u. die Zuwendung zu mytholog. Stoffen u. Naturbeobachtungen fort. A. lebt u. arbeitet in Saarbrücken. Im Jahr 2000 erhielt er den Kunstpreis des Saarlandes für Literatur. Weitere Werke: Die Amsel fliegt auf. Der Zweig winkt ihr nach. Heidelb. 1982 (L.). – Kopf Stein Pflaster. 1982 (Toncassette). – Wohin der Hase läuft. Lpz. 1992. – Jambe(n) u. Schmetterling(e) oder Amor u. Psyche. Neue Epigramme. Heidelb. 1993. – Im Chaos schwimmt der aufgeräumte Kopf. Freie Reden u. Gespräche. Saarbr. 2004. Literatur: In Karin Struck: Klassenliebe (Ffm. 1973) ist A. A. das Vorbild der Hauptperson Z. – Jane Fröhlich: Lit. intim. A. A. Der Literat in der Windjacke. In: das da. H. 5 (1977). – Hubert Fichte: Ein neuer Martial. Anmerkungen zum Werk A. A.s In: Ders.: Homosexualität u. Lit. Hg. Thorsten Teichert. Bd. 2 (1988), S. 61–74. – Michael Buselmeier: A. A. In: KLG. – Ders.: Seit ein Gespräch wir sind. Ein Buch über A. A. Blieskastel 2003. – Michael Braun: A. A. In: LGL. Heinz Vestner / Red.

243

Aston, Louise, geb. L. Franziska Hoche, später Aston-Meier, * 26.11.1814 Gröningen bei Halberstadt, † 21.12.1871 Wangen/Allgäu. – Lyrikerin, Publizistin u. Frauenrechtlerin.

Atabay

Freischärler-Reminiscenzen. Zwölf Gedichte (Lpz. 1850), wo die in der tradierten Frauenliteratur üblichen Entsagungsmuster aufgekündigt u. im effektvoll durchkomponierten Versrhythmus Leid u. Freiheitskampf (Beispiel: Lied einer schlesischen Weberin) evoziert werden. A.s Exzentrizität verhinderte eine angemessene Rezeption in der zeitgenöss. Frauenbewegung; erst im Rahmen des modernen Feminismus stieß ihr Werk auf ein vermehrtes Interesse.

A., Tochter eines Konsistorialrats, musste 1835 gegen ihren Willen eine Konvenienzehe mit dem in Magdeburg lebenden engl. Fabrikanten Samuel Aston eingehen u. entwickelte sich zu einer der konsequentesten Frauenrechtlerinnen des 19. Jh. Aus nächster Weitere Werke: Lydia. Magdeb. 1848 (R.). – Ein Nähe lernte sie die soziale Not der Arbeiter Lesebuch: Gedichte, Romane, Schr.en in Ausw. kennen, die sie in ihrem autobiogr. Roman (1846–49). Hg. Karlheinz Fingerhut. Stgt. 1983. Aus dem Leben einer Frau (Hbg. 1847. Neudr. Literatur: Germaine Goetzinger: Für die Stgt. 1982) ebenso thematisierte wie die von Selbstverwirklichung der Frau. L. A. in Selbstihr verfochtene Gleichberechtigung von zeugnissen u. Bilddokumenten. Ffm. 1983. – Sigrid Mann u. Frau. Nach ihrer zweiten Scheidung Weigel u. Inge Stephan: Die verborgene Frau. 6 zog A. 1845 nach Berlin u. lebte mit Rudolf Beiträge zu einer feminist. Literaturwiss. Bln. 1983, Gottschall zusammen, der ihr den die freie S. 83–152. – Barbara Wimmer: Die VormärzLiebe propagierenden Gedichtband Madonna schriftstellerin L. A. Ffm. 1993. – Goedeke Forts. – und Magdalena (1845) widmete; ihr Nonkon- Gudrun Loster-Schneider: Flintenweiber mit Glorienschein? In: Legenden. Hg. Hans-Peter Ecker. formismus (u. a. trug sie wie George Sand Passau 2003, S. 141–162. – Marion Freund: ›Mag Männerkleidung) u. ihre zur Schau getragene der Thron in Flammen glühn!‹ Schriftstellerinnen Verneinung jeder Form von organisierter u. die Revolution v. 1848/49. Königst./Ts. 2004, Religion führten 1846 zu ihrer Ausweisung S. 65–92, 367–406. – Lia Secci: Aus dem Leben eials »staatsgefährliche Person« (vgl. Meine ner Frau. In: Lexikon deutschsprachiger Epik u. Emancipation, Verweisung und Rechtfertigung. Dramatik v. Autorinnen (1730–1900). Hg. G. LosBrüssel 1846). 1848 nahm A. sowohl an den ter-Schneider u. Gaby Pailer. Tüb. 2006, S. 27–29. – Unruhen in Schleswig-Holstein gegen Däne- Katharina v. Hammerstein: Lydia. Ebd. S. 27–30. Eda Sagarra mark wie auch an den Barrikadenkämpfen in Berlin teil; gleichzeitig gab sie die agitator. Zeitschrift »Der Freischärler. Für Kunst und sociales Leben« (1. Nov.-16. Dez. 1848: Nr. Atabay, Cyrus, * 6.9.1929 Sadabad bei Te1–7) heraus. Das Scheitern der Revolution heran, † 26.1.1996 München. – Verfasser beschreibt ihr dreibändiger Roman Revolution von Lyrik u. lyrischer Prosa, Übersetzer und Contrerevolution (Mannh. 1849). Nach er- persischer Lyrik. neuter Ausweisung heiratete A. 1850 einen Der Enkel des Risa Schah Pehlewi kam schon Bremer Arzt u. lebte mit ihm – diesmal aus als Kind nach Deutschland u. besuchte eine Bremen ausgewiesen – u. a. in Odessa u. Sie- Berliner Schule. Nach Kriegsende lebte A. in benbürgen. Sie starb verarmt u. politisch re- Persien u. in der Schweiz, wo Max Rychner signiert. seine lyr. Begabung förderte. 1951 kehrte A. Ihre Schriften, alle binnen Kurzem publi- nach Deutschland zurück u. studierte bis ziert, weisen A. als extrem konsequente Vor- 1960 in München Literaturwissenschaft, kämpferin der Frauenemanzipation aus, die ohne jedoch einen bürgerl. Beruf anzustresie als Voraussetzung für eine strukturelle ben. Einem längeren Aufenthalt in Teheran Veränderung der gesamten sozialen Ordnung machte die iran. Revolution ein Ende. Seit begriff. Überzeugend sind u. a. die Gedicht- 1978 lebte A. in London; 1983 ließ er sich, bände Wilde Rosen. Zwölf Gedichte (Bln. 1846) – nachdem ihm als dem Neffen des gestürzten Thema ist die Identitätssuche einer auch in Schah das Visum für einen Daueraufenthalt Liebesdingen selbstbestimmenden Frau – u. in der Bundesrepublik zunächst verweigert

Atabay

worden war, wieder in München nieder. Er wurde 1983 Mitgl. der Bayerischen Akademie der Schönen Künste u. der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Nach drei frühen Literaturpreisen erhielt er 1990 den Adelbert-von-Chamisso-Preis. Schon in der ersten Publikation des von Anfang an deutsch schreibenden pers. Prinzen, dem schmalen Limes-Heft Einige Schatten, das 1956, im Todesjahr Gottfried Benns, in Wiesbaden erschien, taucht gleich zu Beginn eine Insel auf: Der Dichter bezieht seinen imaginären Standort, ein Souverän um den Preis des Verbannt- u. Verschlagenseins. Sein konsequent auf das Gedicht u. die kurze lyr. Prosa sich konzentrierendes Werk versammelt eine große Schar von Spiegelfiguren, verwandten Lebens-Irrläufen: Robinson, exemplarischer Typus der »figure isolée«, verbirgt sich in der Maske zahlreicher Doppelgänger. Der Leser trifft auf eine buntgemischte u. doch durch die Verwandtschaft mit ihrem Autor eng zusammengehörige Gesellschaft von Unbehausten, Flüchtlingen, Gescheiterten u. Einzelgängern: Da begegnet der Dichter Paul Fleming in Isfahan dem als taumelnden Derwisch vermummten Tod, treibt die Strömung den jungen Maler Carl Philipp Fohr den Tiber hinab, in dem er ertrinkt, entsagt der alte Zauberer Prospero, auch er eine Robinson-Metamorphose, seiner Magie. In A.s elftem Gedichtband Prosperos Tagebuch (Düsseld. 1985) wird er zur Leitfigur. Im Kraftfeld, das sich zwischen Kaliban u. Ariel, Erde u. Himmel erstreckt, haben die Dinge ihre Undurchsichtigkeit verloren, die dem lyr. Willen zur Metapher, zur Aufhebung der kompakten Einzelheiten in einen Bedeutungszusammenhang entgegensteht. In der Reichweite von Prosperos einsamer Herrschaft sind die Gegenstände schwerelos genug, um aufeinander verweisen, sich selber meinen u. zgl. Bild u. Zeichen werden zu können. In allen Bänden A.s geht die Szenerie in »Landschaften des Inneren« über, ohne dass sie etwas von der Schärfe ihrer Konturen verliert. Wirklichkeit u. Traum befehden, verschränken u. ergänzen sich. Prosperos Absage bedeutet Resignation u. Läuterung. Im Scheitern liegt die Rettung – ein Motiv, das sich durch A.s Lyrik, der keine

244

Entwicklung im westl. Sinn abzulesen ist, hindurchzieht. Das lyr. Ich, unterwegs zwischen Orient u. Okzident, kennt weder Bleibe noch Besitz. Seine Parole heißt, sich schwebend bereithalten »für Fortgang und Aufschwung«. Das gilt auch für A.s Verhältnis zur Sprache. Er fühlt sich, ein »gelernter Deutschböhme«, jenen Dichtern verwandt, die wie Kafka, Werfel, Urzidil in der Prager Sprach-Diaspora lebten. A. lernte als Erwachsener seine pers. Muttersprache neu, um Hafis, aber auch moderne iran. Lyrik zu übersetzen. Seine Gedichte u. seine poet. Existenz nehmen die von Hebbel prophezeite Zeit vorweg, da »man persisch bei uns dichtet, in Persien deutsch«. Da A. sich nie für Verbreitung u. Wirkung seiner Werke interessiert hat, sind die Auflagen seiner Werke niedrig geblieben, ist der Autor fast nur in Kreisen von Experten bekannt, dort allerdings hoch geschätzt. Die Sammlung seiner Gedichte, die den größten Teil seiner verstreut erschienen Gedichtbände zusammenfasst, erleichtert den Zugang zu seinem Werk. Sein Nachlass mit Manuskripten, Briefen, Dokumenten u. Zeitungsausschnitten liegt im Archiv der Monacensia Bibliothek in München u. wartet auf die wiss. Aufarbeitung. Weitere Werke: An- u. Abflüge. Mchn. 1958. – Meditation am Webstuhl. Mchn. 1960. – Gegenüber der Sonne. Hbg./Düsseld. 1964. – Doppelte Wahrheit. Hbg./Düsseld. 1969. – An diesem Tag lasen wir keine Zeile mehr. Ffm. 1974. – Das Auftauchen an einem anderen Ort. Ffm. 1977. – Die Leidenschaft der Neugierde. Düsseld. 1981. – Salut den Tieren. Ein Bestiarium. Düsseld. 1983. – Stadtplan v. Samarkand. Düsseld. 1983. – Die Linien des Lebens. Düsseld. 1986. – Puschkiniana. Düsseld. 1990 (G.e). – Gedichte. Ffm./Lpz. 1991. – Leise Revolten. Kleine Prosa aus drei Jahrzehnten. Düsseld. 1992. – Die Wege des Leichtsinns. Zerstreutes äol. Material. Düsseld. 1994 (G.e). – Übersetzungen: Gesänge v. Morgen. Neue iran. Lyrik. Hbg./Düsseld. 1968. – Die Worte der Ameisen. Pers. Mystik in Versen u. Prosa. Hbg./Düsseld. 1971. Ffm. 1993. – Hafis: Liebesgedichte. Hbg. 1965. Ffm. 1980. – Omar Chajjams: Wie Wasser strömen wir. Düsseld. 1984. – Obeyd-e-Zakani: Mäuse gegen Katzen. Fabel. Düsseld. 1986. – Hafis: Offenbares Geheimnis. Fünfzig Gedichte aus dem Divan. Düsseld. 1987. – Dschalal ed-din Rumi: Die

245 Sonne v. Tabriz. Düsseld. 1988 (G.e). – Abul Ala AlMa’arri. Die Notwendigkeit des Unnützen. Düsseld. 1993 (G.e). – Dschalal ed-din Rumi: Ich sprach zur Nacht. Hundert Vierzeiler. Düsseld. 1996. – Die schönsten Gedichte aus dem klass. Persien. Hg. Kurt Scharf. Mchn. 1998. Literatur: Walter Helmut Fritz: C. A. An- u. Abflüge. In: Welt u. Wort (Nov. 1958). – Ulrich Schnappauff: Motive aus Traum u. Meer. Gespräche mit dem pers. Lyriker C. A. In: Die Welt, 20.9.1965. – Albert v. Schirnding u. Birgit Otte: C. A. In: KLG. – Werner Ross (Hg.): Poet u. Vagant. Der Dichter C. A. 1929–96. Mchn. 1997. – Kurt Scharf: ›Auf der Suche nach einem unauffindbaren Echo‹. Über den Übersetzer C. A. In: Die schönsten Gedichte aus dem klass. Persien. Hg. ders. Mchn. 1998, S. 209–217. – Roman Bucheli: Unterwegs nach Samarkand. Der pers. Dichter dt. Sprache C.A. In: NZZ, 29./30.4.2000, S. 83. – Irmgard Ackermann: Eine dt. Stimme aus dem Iran: Der Lyriker C. A. In: Iranistik. Dt. Ztschr. für iranist. Studien. Jg. 1, H. 1 (2002), S. 55–66. – Petra Ernst: C. A. In: LGL. Albert von Schirnding / Irmgard Ackermann

Athanasius von Dillingen, bürgerlich: Johannes Hofacker, * 23.1.1635 Dillingen, † 7.12.1714 Augsburg. – Kapuziner, Prediger.

Athis und Prophilias

wohlzeitigen und außerlesnen Trauben (Dillingen 1692), schließlich noch einen Dominical- u. Festivalband Campus elysius [...] Auserlesenes und weitschüchtiges Feldt sonntäglicher und feyertäglicher Predigen trachtbar (Sulzbach/Nürnb. 1694. 1696). Diese Werke waren in erster Linie als Handreichung für andere Prediger gedacht, zgl. auch für »deren Pfarr-Kinderen zu einer Seelen-Erquickung«, also für die häusl. Lektüre; allerdings dürften sie dafür zu umfangreich u. anspruchsvoll gewesen sein. Der barocken Mode entsprechend, waren die Kanzelreden des A. überreich an weitläufig ausgelegten Zitaten aus der Bibel, aus antiken Autoren, aus Schriften der Kirchenväter, Scholastiker u. Mystiker; ebenso gern benutzte A. Historien, Sagen, Legenden, auch Schwänke als Ostermärlein mit moralisierender Nutzanwendung. Der häufige Bezug zu Brauchtum u. Alltagsleben verdient das Interesse der Kulturhistoriker u. der Volkskundler. Literatur: Kat. gedr. deutschsprachiger kath. Predigtsammlungen. Hg. Werner Welzig. Bd. 1, Wien 1984, S. 202–204; Bd. 2, Wien 1986, S. 576 (Bibliogr.). – Weitere Titel: Elfriede Moser-Rath: Predigtmärlein der Barockzeit. Bln. 1964, S. 108–117 u. 435–438. – Friedrich Zoepfl: Der Kapuziner P. A. v. D. In: Jb. des Vereins Augsburger Bistumsgesch. 2 (1968), S. 83–102. – DBA 38,14. – E. Moser-Rath: Dem Kirchenvolk die Leviten gelesen. Alltag im Spiegel süddt. Barockpredigten. Stgt. 1991, passim. Elfriede Moser-Rath † / Red.

Als Sohn des Wagners Bartholomäus Hofacker besuchte er schon mit neun Jahren die Prinzipisten- (Anfänger-)Klasse des Jesuitenkollegs seiner Geburtsstadt, absolvierte dort auch das Gymnasium u. das Universitätsstudium u. trat 1653 in ein vermutlich schwäbisches Kloster der tirolisch-bayer. Kapuzinerprovinz ein. Wie zahlreiche Drucke von Athis und Prophilias, um 1210. – MitEinzelpredigten zu verschiedenen Anlässen telalterliches fragmentarisches Versepos. zeigen, war A. ein in hochherrschaftl. Kreisen geschätzter Kanzelredner; u. a. wirkte er als Das anonym überlieferte Gedicht, das nach Hofprediger in Günzburg, 1668–1676 als Sprache (Westmitteldeutsch) u. Stil um 1210 Lektor der Philosophie u. Theologie in Salz- entstanden sein dürfte, behandelt Ereignisse burg. In nur sieben Jahren brachte A. vier aus der Geschichte Roms u. Athens, in deren Konvolute von Predigten zum Druck: Argo- Mittelpunkt das Freundespaar Athis u. Pronautica spiritu-moralis ex mortali ad immortalem philias steht. Da nur Fragmente dreier [...] Geistliche und sittliche Schiffart auß dem Handschriften erhalten sind (etwa 1550 VerSterblichen in das Unsterbliche (Dillingen 1689), se), ist der ursprüngl. Gesamtentwurf schwer Hortus mysticus [...] Das ist, Geistlicher Lust-Gar- zu erkennen. Deutlich wird aber ein sehr ten, mit außerlesenen Blumen sonntäglicher, feyr- freier Umgang mit der altfrz. Vorlage des täglicher, Kirchweye, Fronleichnams [...] und Alixandre (de Bernay), Li Romanz d’Athis et Leicht-Predigen (Dillingen 1691), einen zwei- Prophilias, die im Ganzen wohl gekürzt, in teiligen Sonn- u. Feiertagszyklus Vinea evan- Einzelnem (v. a. der Beschreibung von gelica [...] Das ist: Evangelischer Weinberg mit Kampfausrüstung) aber auch erweitert wur-

Auburtin

246

de. Der überlieferte Text lässt sich in vier Auburtin, Victor, * 5.9.1870 Berlin, Erzählblöcke ordnen: In einem ersten wird † 28.6.1928 Garmisch-Partenkirchen; berichtet, wie zunächst Athis – enttäuscht Grabstätte: Partenkirchener Friedhof von einer Missachtung durch den Freund – (1978 aufgelassen, Porträtplätte von Karl sich eines nicht begangenen Mordes für Kraus am Grabstein heute im Französischuldig erklärt, den dann Prophilias, als er schen Gymnasium Berlin). – Feuilletonist, davon erfährt, (gleichfalls unschuldigerweise) Journalist, Flaneur. auf sich nimmt, bis schließlich die Situation A., aus einer lothring. Emigrantenfamilie durch die Ergreifung des tatsächl. Mörders (seit den 1830er Jahren in Berlin u. Potsdam) geklärt wird. Ein zweiter schildert die Liebe stammend, besuchte das Französische Gymzwischen Athis u. Gayte; diese ist dem König nasium in Berlin u. studierte dt. Philologie u. Bilas versprochen, der aber von Athis u. seiKunstgeschichte in Berlin, Bonn u. Tübingen. nem Heer besiegt wird – es kommt zur Frühe Theaterleidenschaft; längere Reisen in Hochzeit (3. Block). Der letzte Teil hat dann Italien u. Frankreich; Freundschaft mit AlAthen zum Schauplatz, wo Theseus u. dessen bert Langen, Arthur Eloesser u. Siegfried Sohn Peritheus in Kampfhandlungen verwiJacobsohn; 1906 Heirat mit Hedwig Gudckelt sind. lowsky. Das Bild der Antike ist, auch wo es mit frz. Nach literar. Anfängen (seit 1906) in LanKulturelementen angereichert wird, erstaungens anti-wilhelminischem »Simplicissimus« lich differenziert gezeichnet; der Autor fügt – eine Auswahl der meist ironisch-psycholoverschiedentlich – gegenüber der Vorlage – histor. Details (Schilderung »römischer Ge- gischen, moralist. Novellen u. Skizzen in: Die rechtigkeit«) u. situative Ausschmückungen goldene Kette. Mchn. 1910 bei A. Langen – u. (die Hochzeit zwischen Athis u. Gayte findet journalistischer Lehrzeit (u. a. Theaterkritik im Venustempel statt) hinzu, objektiviert die der »Berliner Börsenzeitung«) war A. ab 1911 Darstellung durch ausführl. Beschreibungen fester Mitarbeiter von Theodor Wolffs libe(bei nur sehr wenigen Erzählerkommenta- ralem »Berliner Tageblatt« (B. T.), im Feuilu. als Auslandskorrespondent ren). Auch die Klage des Athis um den Er- leton (1911–1914 Paris; 1917–1921 Bern; mordeten (A 20–65), die sich angesichts der 1924–1927 Madrid; 1928 Rom). Plötzlichkeit des Todes, des HerausgerissenWährend dramat. Versuche (das Märseins aus tiefsten Bindungen, zur Reflexion chenspiel Der Ring der Wahrheit u. Das Ende, menschlicher Existenz weitet, setzt eigene beide 1910 bei A. Langen) keinen Erfolg hatAkzente. Sie macht – wie auch die Rede des sterbenden Peritheus (F 50–132), die in der ten, wurden seine skeptischen, unaufgeregHaltung zum Tod stoisch-antiken Gedanken ten Causerien im B. T. – über scheinbar Nenahesteht – den Abstand des Textes zum bensächliches u. den Geisteszustand der zeitgenössischen deutschsprachigen Anti- Zeitgenossen, in der Tradition Fontanes (Kurt Tucholsky) – schon vor u. v. a. im Jahrzehnt kenroman offensichtlich. nach dem Ersten Weltkrieg beim gebildeten Ausgaben: Wilhelm Grimm (Hg.): A. u. P. Bln. 1846 (mit ausführl. Einl.). Nachtr. dazu: Bln. 1853. urbanen Publikum populär; Vorbild für das Genre Feuilleton, die »kleine [literarische] Mikrofiche-Ausg. der Ed. Mchn. 1994. Literatur: Wilhelm Grimm: Die Sage v. A. u. P. Form« der Zeitung (Tucholsky zählte 1913 A. In: ZfdA 12 (1865), S. 185–203. – Richard Mertz: zu den »bessern Nummern« der zeitgenöss. Die dt. Bruchstücke v. A. u. P. Diss. Straßb. 1914. – dt. Literatur). 1911 erschien ein weiterer Auswahlband Hertha Franz: Das Bild Griechenlands in den mhd. ep. Erzählungen vor 1250. Bln. 1970. – Peter Ganz: von »Simplicissimus«- u. B. T.-Feuilletons A. u. P. In: VL. – Marjatta Wis: Das ›Nibelungen- (Die Onyxschale, bei A. Langen) sowie (ebd.) die lied‹ u. ›A. et P.‹. Zu den Problemen der Urgesch. heftigen Widerspruch – u. a. von Kurt Pindes Nibelungenliedes. In: Neuphilolog. Mitt. 87 thus u. Tucholsky – auslösende antimoder(1986), S. 4–15. Christian Kiening / Red. nist. Polemik Die Kunst stirbt.

247

Audorf

A.s »glücklichste Jahre« in Paris seit 1911 – – Christiane Zauner-Schneider: Die Kunst zu bamit Freundschaften zu Anatole France u. lancieren / Berlin – Paris. Heidelb. 2006. Peter Moses-Krause Théophile-Alexandre Steinlen sowie zu Paul u. Victor Margueritte u. Pierre Benoît (die er auch übersetzte) – endeten 1914 bei Kriegs- Audorf, Jakob, * 1.8.1835 Hamburg, ausbruch; A. wurde in Korsika interniert u. † 20.6.1898 Hamburg. – Arbeiterdichter 1917 schwer krank in die Schweiz abgescho- u. Journalist. ben. Im Frühjahr 1918 (!) veröffentlichte er A., Sohn eines radikal-demokrat. Haartuch(frz. in Genf u n d dt. in Berlin bei Mosse) webers, erlernte das Schlosserhandwerk, seinen um Verständigung werbenden Bericht wanderte 1857–1862 durch Deutschland, die Was ich in Frankreich erlebte. Schweiz, England, Russland u. Frankreich u. Im Nachkriegs-Berlin knüpfte A., neben engagierte sich in den dortigen ArbeiterbilAlfred Kerr u. Alfred Polgar einer der »Götdungsvereinen. 1863 war A. in Leipzig Deleter« im B. T.-Feuilleton der 1920er Jahre (F. gierter bei der Gründungsversammlung des Hildenbrandt), an den individualist. VorAllgemeinen Deutschen Arbeitervereins u. kriegs-Feuilletonisten an, jetzt mit sozialkriwurde Vorstandsmitglied. 1868–1875 lebte tisch-melancholischem Ton, so in der zum er in Russland u. trat anschließend in die großen Teil aus »Simplicissimus«-Beiträgen Redaktion des sozialdemokrat. »Hamburgzusammengestellten Sammlung Pfauenfedern Altonaer Volksblatts« ein. Das Sozialistengevon 1921 wie 1922 in der Auswahl von neuen setz zwang A., der bereits 1877 nach seiner B. T.-Feuilletons Ein Glas mit Goldfischen (beiNiederlage bei der Reichstagswahl gegen den de bei A. Langen). 1924 folgte (ebd.) Nach Nationalliberalen Heinrich von Sybel für vier Delphi, das im B. T. vorabgedruckte Tagebuch Jahre nach Russland gegangen war, 1881 ereiner krit. »Sehnsuchts-Reise« nach Grieneut dorthin ins Exil zu gehen. 1887 zuchenland, 1928 (ebd.) Einer bläst die Hirtenflöte, rückgekehrt, arbeitete er bis zu seinem Tod die letzte von A. selbst zusammengestellte als Redakteur u. »Wochen-Chroniqueur« für Auswahl von B. T.-Feuilletons (mehrere das Parteiorgan »Hamburger Echo«. Aufl.n bis 1930). 1930 gab der Langen-Lektor Nach ersten polit. Liedern, noch im Umfeld Korfiz Holm postum eine Sammlung von der 48er-Revolution, unterstützte A., der mit Reisefeuilletons u. d. T. Kristalle und Kiesel Georg Herwegh näher bekannt war, literaheraus. risch u. journalistisch die an Reformen oriDer Nachlass A.s wurde in u. nach dem entierte Linie Ferdinand Lassalles, für dessen Zweiten Weltkrieg vernichtet. Totenfeier er 1864 das Lied der deutschen ArLiteratur: Heinz Knobloch (Hg.): Nachw. zu V. beiter verfasste. Diese sog. Arbeitermarseillaise A., Sündenfälle. Neuausg. Bln. 2000 (Erstausg. (mit der Melodie der Marseillaise) löste HerMchn. 1970). – Peter Moses-Krause (Hg.): ›Editor. weghs Bundeslied ab u. wurde zum populärsNotiz[en]‹ zu V. A., Pfauenfedern/Ein Glas mit Goldfischen [WA 1]. Bln. 1994. Die Onyxschale u. ten sozialdemokrat. Kampflied des 19. Jh. Die goldene Kette sowie andere kleine Prosa aus Vom linken Flügel der Arbeiterbewegung dem Simplicissimus bis 1911 [WA 2]. Bln. 1995. wegen mangelnder revolutionärer Schärfe Was ich Frankreich erlebte u. die Literarischen kritisiert, richteten sich A.s Kampf- u. FestKorrespondenzen aus Paris 1911–14 [WA 3]. Bln. gedichte – meist in getragenem Ton u. nach 1996. – Ders. (Hg.): ›Vorwort[e]‹ zu V. A., Herr Brie populären Melodien – als Sammlungsappelle oder Katzen u. andere. Bln. 1998. Durchschnitt an das Proletariat. Dem Genre der Spottdurch Potsdam oder Lob der Langsamkeit. Bln. dichtung gehören dagegen Die Petroleure 1999. Sand u. Sachsen. Bln. 2000. Archimedes u. (Hbg. o. J.) an. Diese oft vielstrophigen Ardas Wasserklosett, Causerien von der Reise nach beiterlieder sind heute ebenso in VergessenDelphi. Bln. 2001. – H. Knobloch u. P. MosesKrause (Hg.): ›Nachbemerkung‹ zu V. A., Aben- heit geraten wie A.s volksliedhafte, spätroteuer mit Fräuleins u. anderen in Berlin. Bln. 2001. mant. Wander- u. Liebeslieder (entstanden 1857–1863).

Auerbach Weitere Werke: Reime eines dt. Arbeiters (Ms.Druck). o. O. 1890. – Gedichte. Stgt. 1893. Literatur: Franz Mehring: Gesch. der dt. Sozialdemokratie. In: Ges. Schr.en, 2. Bde., Bln./DDR 1960. – Lexikon sozialist. dt. Lit. S’Gravenhage 1973. Wolfgang Weismantel / Red.

Auerbach, Alfred, * 9.6.1873 Stuttgart, † 31.1.1954 Stuttgart. – Dramatiker. Der Sohn des jüd. Kaufmanns Benjamin Auerbach besuchte das Realgymnasium in Stuttgart u. die Realschule in Frankfurt/M. Er arbeitete dort zunächst als Kaufmann u. studierte später Musik. 1898–1923 war er Charakterkomiker am dortigen Schauspielhaus. 1906–1933 leitete er am Konservatorium in Frankfurt/M. die Theaterabteilung (Sprechu. Mimikklassen). Er veröffentlichte Komödien u. Volksschwänke sowie theaterpädagog. Lehrbücher (für Mimik u. Pantomime) u. schloss sich in den 1920er Jahren der linken »Sprechchorbewegung« an, die sich um die Entwicklung neuer kollektiver Formen der künstler. Agitation bemühte. Er verfasste selbst eine Anzahl von politisch engagierten Arbeiter-Sprechchören (u. a. Europa. Ffm. 1926. Stimmen der Zeit. Lpz. 1926. Tod der Phrase. Lpz. 1927). A. emigrierte (vermutlich) 1933 u. lebte seit 1941 in den USA, wo er in verschiedenen Berufen (u. a. als Schauspieler u. Drehbuchautor in Hollywood) vergebens Fuß zu fassen versuchte. Anfang der 1950er Jahre kehrte er nach Deutschland zurück. Über seine Erfahrungen im Exil berichtete er in dem Buch Ein Schwabe studiert Amerika (Stgt. 1948). Weitere Werke: Schwobeköpf. Stgt. 1904 (D.). – Mimik. Bln. 1909 (Ess.). – Mimik II. Pantomimen. Bln. 1922 (Ess.). – Der jüd. Goy. Ffm. 1923 (D.). – Schwäb. Miniaturen. Hann. 1925 (D.). – Der Prominente. Halle 1926 (R.). Literatur: Helmut Kreutzer: Zu frühen dt. Hörspielen u. Hörspielkonzeptionen (1924–1927/ 28): ›Radiophantasie‹ u. ›Katastrophen-Finale‹ (A. A. u. a.). In: Ders.: Deutschsprachige Hörspiele 1924–33. Ffm. 2003, S. 9–23. Peter König / Red.

248

Auerbach, Berthold, auch: Theobald Chauber (Anagramm), eigentl.: Moses Baruch Auerbacher, * 28.2.1812 Nordstetten/Schwarzwald, † 8.2.1882 Cannes; Grabstätte: Nordstetten, Jüdischer Friedhof. – Erzähler u. Publizist. A. entstammte einer jüd. Kaufmannsfamilie, die sich im Umfeld der bäuerlich kath. Landbevölkerung Württembergs angesiedelt hatte. Schon früh wollte A. Rabbiner werden; er musste jedoch die Talmudschule aus Kostengründen abbrechen, erhielt Privatunterricht u. besuchte dann das Stuttgarter Gymnasium. 1832 begann er in Tübingen Jura, Philosophie (u. a. bei David Friedrich Strauß) sowie (als einziger Student) jüd. Theologie zu studieren. Als engagierter Teilnehmer am Studenten- u. Burschenschaftsleben geriet er bald in Konflikt mit dem restaurativen Staat, wurde 1833 wegen politischer Umtriebe verhaftet, der Universität verwiesen u. unter Polizeiaufsicht gestellt. Die zweimonatige Festungshaft, zu der er verurteilt wurde, musste er erst 1837 auf dem Hohenasperg verbüßen. 1834 setzte A. sein Studium in Heidelberg fort, wo er 1835 am Rabbinerexamen scheiterte. In dieser Zeit begann er mit ersten journalist. Arbeiten für literar. Zeitschriften u. war 1838–1840 in Frankfurt, Bonn u. Mainz als Rezensent, Redakteur u. Herausgeber tätig. Unter dem Einfluss von Strauß’ Leben Jesu (1835) wandte sich A. verstärkt der Frage der jüd. Emanzipation zu: 1836 publizierte er Das Judenthum und die neueste deutsche Litteratur (Stgt.) u. 1837 einen histor. Roman über Spinoza (Stgt. Nachdr. der Ausg. Stgt. 41860: Tüb. 1980), dessen Werke er auch übersetzte (5 Bde., Stgt. 1841). Den literar. Durchbruch erzielte A. mit seinen Schwarzwälder Dorfgeschichten (4 Bde., Mannh. 1843–54. Ausw. hg. v. Jürgen Hein. Stgt. 1984), die ihn mit einem Schlag weltberühmt machten (so stattete Tolstoj ihm einen Besuch ab). Basierend auf literar. Vorläufern wie Gotthelf oder Immermanns Oberhof-Teil im Münchhausen, setzten A.s Dorfgeschichten doch eigenständige Akzente. Vor der begrenzten Kulisse seines Heimatdorfs realistisch in Szene gesetzt, machen A.s im Geiste des demokrat. Liberalismus abgefasste

249

Auerbach

Dorfgeschichten auf die materiellen Nöte der der Dorfgeschichte, als deren Begründer er Landbevölkerung aufmerksam; der dem anzusehen ist. 1871, als sein Ruhm durch die Werke der Zeitgeschmack entgegenkommende idyllisierende Grundton lässt radikale oder auch Realisten längst verblasst war, trat A. in patragische (vgl. Kellers Romeo und Julia auf dem triot. Begeisterung für den Krieg gegen Dorfe) Entwicklungen nicht zu. In seiner Frankreich u. die Reichsgründung mit seinen Einleitung zu den Dorfgeschichten (vgl. auch Straßburger Tagebüchern Wieder unser! (Stgt. A.s Programmschrift des dt. Realismus Schrift 1871) noch einmal an die Öffentlichkeit. und Volk. Lpz. 1846) erhob A. die Verbindung Doch die Hoffnung, dass der starke Zentralvon volkskundlichem Lokalkolorit mit der staat nicht nur die nat. Frage, sondern auch Verklärung der stoffl. Grundlage u. morali- die Integration der Juden in die Gesellschaft sierendem Tonfall zu seinem Erzählprinzip. durchsetzen werde, trog. Der seit den 1870er Er wollte das bisher in der Literatur weitge- Jahren im neuen Deutschen Reich immer hend ausgeklammerte »ganze häusliche, re- stärker aufkommende Antisemitismus verligiöse, bürgerliche und politische Leben der bitterte ihm, zus. mit einer zunehmend Bauern« in poetischer Gestaltung »zur An- schwächer werdenden Gesundheit, die letzschauung bringen« (Brief an Cotta von 1842). ten Jahre seines Lebens. Seine im Grunde sozialkonservative, wennWeitere Werke: Dichter u. Kaufmann. 2 Bde., gleich gesellschaftskrit. Haltung u. sein Stgt. 1840 (R.). – Joseph im Schnee. Stgt. 1860 (E.). »empfindsamer Liberalismus« (Martini) wei- – Nach dreißig Jahren. Neue Dorfgesch.n. 3 Bde., sen ihm in der Literaturlandschaft des 19. Jh. Stgt. 1876. Literatur: Anton Bettelheim: B. A. Stgt. 1907. – die Nahtstelle zwischen sentimentaler Beschränkung auf die Sozialidylle u. demokra- Werner Hahl: Gesellschaftl. Konservativismus u. tischem Fortschrittsglauben zu. Seine Vor- literar. Realismus. Das Modell einer dt. Sozialverstellungen von »Volksliteratur« fanden noch fassung in den Dorfgesch.n. In: Realismus u. Gründerzeit. Bd. 1, Stgt. 1976. – Jürgen Hein: in der »Heimatkunst« bis nach der JahrhunDorfgesch. Stgt. 1976. – B. A. 1812–82. Bearb. v. dertwende Anhänger. Thomas Scheuffelen. Marbacher Magazin, SonSeinen Erfolg setzte A. mit weiteren Er- derh. 36 (1985). – Bernd Ballmann (Hg.): 150 Jahre zählungen wie Barfüßele (Stgt. 1856), einer Schwarzwälder Dorfgesch.n v. B. A. Horb 1994. – Adaptation des Aschenputtel-Märchens, u. Goedeke Forts. – Galina Thieme: Ivan Turgenev u. dem in der Tradition Hebels stehenden die dt. Lit. Sein Verhältnis zu Goethe u. seine GeVolkskalender (Lpz. 1861–65) fort, der hohe meinsamkeiten mit B. A., Theodor Fontane u. Auflagen hatte u. weiteste Verbreitung fand. Theodor Storm. Ffm. 2000. – Angela Robin GuSchon 1857/58 konnte Cotta 20 Bände der lielmetti: B. A. and the German nation. Ann Arbor gesammelten Schriften erscheinen lassen 2000. – Rosemarie Schuder: Dt. Stiefmutterland. Wege zu B. A. Teetz 2003. – Italo Michele Batta(Neuausg. in 22 Bdn., Stgt. 1883/84). Von den farano: A.s Schwarzwälder Dorfgesch. ›Der LauZeitgenossen erfuhr A. als »Apostel der terbacher‹ (1843) In: Morgen-Glantz 15 (2005), Menschlichkeit« (Tolstoj) u. »Schöpfer der 65–75. – Kerstin Sarnecki: B. A. u. die Grenzen der lebenswahren Idyllen« (Friedrich Theodor jüd. Emanzipation im 19. Jh. Oldenb. 2006. Vischer) nahezu uneingeschränkte AnerkenRolf Selbmann / Red. nung. A.s Romane wie Neues Leben (3 Bde., Auerbach, Erich, * 9.11.1892 Berlin, Mannh. 1851), Auf der Höhe (3 Bde., Stgt. † 13.10.1957 Wallingford, Connecticut/ 1865) u. Das Landhaus am Rhein (5 Bde., Stgt. USA. – Literaturwissenschaftler. 1869) oder seine zahlreichen Theaterstücke wie Andree Hofer (Lpz. 1850), Der Wahlbruder A. promovierte 1921 mit einer Arbeit über die (Dresden 1855), Der Wahrspruch (Lpz. 1859) Technik der Frührenaissancenovelle in Italien und fanden nicht das Echo beim Publikum, das A. Frankreich. 1929 habilitierte er sich in Marsich erhofft hatte. Er blieb, auch als Redak- burg bei Leo Spitzer mit der Schrift Dante als teur der »Deutschen Blätter«, einer Beilage Dichter der irdischen Welt. Von 1930–1935, als der »Gartenlaube«, der volkstüml. Erzähler er wegen seiner jüd. Herkunft zwangspen-

Auernheimer

250

sioniert wurde, war er o. Professor in Mar- Nationalphilologien in Europa. Hg. Frank Fürbeth. burg. 1936 ging A. ins Exil; er lehrte zuerst Tüb. 1999, S. 649–664. – Ulrich Schulz-Buschhaus: als Nachfolger Spitzers in Istanbul, ab 1947 in Curtius u. A. als Kononbildner. In: Begründungen u. Funktionen des Kanons. Hg. Gerhard R. Kaiser den USA. u. Stefan Matuschek. Heidelb. 2001, S. 155–172. – Sein bedeutendstes Buch Mimesis. DargeChristophe Den Tandt: Return to mimesis: Georg stellte Wirklichkeit in der abendländischen Litera- Lukács and E. A. in the wake of postmodernity. In: 9 tur (Bern 1946. Tüb./Basel 1994, zahlreiche Return to postmodernism. FS Ihab Habib Hassan. Übers.en) ist trotz (vielleicht auch wegen) der Hg. Klaus Stierstorfer. Heidelb. 2005, S. 61–78. beschränkten Istanbuler BibliotheksverhältHans-Jörg Neuschäfer / Red. nisse eine der anregendsten Literaturgeschichten, die sich nicht an nationale u. epoAuernheimer, Raoul, auch: R. Heimer, R. chale Grenzen halten: Homer u. die Bibel Otmar, * 15.4.1876 Wien, † 7.1.1948 werden ebenso behandelt wie Virginia Woolf Oakland/Kalifornien. – Erzähler u. Bühu. Marcel Proust. Es verdankt seine Einheit nenschriftsteller. v. a. dem Begriff der Stilmischung, deren Ausprägungen durch die Jahrhunderte ver- Der Sohn eines Kaufmanns u. Cousin Theofolgt werden. Dennoch ist Mimesis keine reine dor Herzls studierte Rechtswissenschaft in Stilgeschichte. Im Gegensatz zu seinem Wien. Er war Burgtheaterkritiker, FeuilletoMentor Spitzer hat A. vielmehr schon früh nist u. Redakteur der konservativen »Neuen (seit der epochemachenden Abhandlung über Freien Presse« in Wien (1908–1933) sowie der »Basler Zeitung« Das französische Publikum des 17. Jahrhunderts. Mitarbeiter Mchn. 1933. 21965) literatursoziolog. Inter- (1920–1948). 1938 wurde A. ins Konzentrationslager Dachau deportiert. 1939 nach Inessen verfolgt. Theoretisch war A. stark von Vico beein- tervention des Schweizer Schriftstellers Emil flusst, dessen Scienza nuova er ins Deutsche Ludwig freigelassen, gelang ihm die Flucht übersetzte (Bln. 1925). Daraus resultierte ein nach New York. Dort versuchte A. gemeinsam auch die eigene Person einbeziehender er- mit Ernst Lothar ein österr. Theater aufzukenntniskrit. Skeptizismus, der sich nicht bauen. In Amerika veröffentlichte er 1940 zuletzt in einem eleganten, auf Imponierge- seinen biogr. Roman Prince Metternich, Stateshabe u. akadem. Jargon verzichtenden man and Lover (Metternich, Staatsmann und KaSchreibstil niederschlug. In einem Aufsatz valier. Wien 1947). A. trat zunächst als Verfasser von liebensüber sermo humilis (in: Literatursprache und Publikum [...]. Bern 1958) rechtfertigte A. diesen würdigen Gesellschaftskomödien u. Szenen Stil auch historisch (unter Rückgriff auf Au- aus dem Wiener Bürgertum unter dem Eingustinus’ Bibelexegese) u. rezeptionstheore- fluss Arthur Schnitzlers u. Guy de Maupastisch (mit Rücksicht auf die Verständnis- sants hervor. In pointierten Dialogen um möglichkeiten eines nicht spezialisierten Pu- Liebe u. Intrigen porträtiert er typ. Figuren der mondänen Wiener Gesellschaft, wie in blikums). Literatur: Luiz Costa Lima: Historie u. meta- der Komödie Casanova in Wien (Mchn. 1924) histor. Kategorien bei E. A. In: Stil. Hg. Hans Ulrich oder der Novelle Gesellschaft. Mondäne SilhouGumbrecht u. K. Ludwig Pfeiffer. Ffm. 1986, etten (Bln. 1910). Der zum weiteren Umfeld S. 289–313. – Hans-Jörg Neuschäfer: Sermo humi- des Jungen Wien gehörende A. blieb selbst lis. Oder: Was wir mit E. A. vertrieben haben. In: einer traditionellen Erzählweise verhaftet, Dt. Romanisten als Verfolgte des Nationalsozialis- die auch Klischees u. stereotype Handlungsmus – Romanistik im Exil. Hg. Manfred Briegel muster nicht vermied. Neben lokalhistor. u. a. Tüb. 1988 (dort weitere Lit.). – Seth Lerer (Hg.): Bändchen über Wien (u. a. Wien. Bild und Literary history and the challenge of philology. The Schicksal. Wien 1938) veröffentlichte A. zwei legacy of E. A. Stanford 1996. – Walter Busch u. Gerhart Pickerodt (Hg.): Wahrnehmen, Lesen, Romane, die im Wien der Ersten Republik Deuten. E. A.s Lektüre der Moderne. Ffm. 1998. – spielen: In dem von Hans Weigel als Chronik H. U. Gumbrecht: ›Pathos des irdischen Verlaufs‹. der Zeit 1985 neu herausgegebenen Roman E. A.s Alltag. In: Zur Gesch. u. Problematik der Die linke und die rechte Hand (Bln. 1927) ist der

251

zeitgeschichtl. Hintergrund nur der Prospekt, vor dem die oberflächlich-saloppe Konversation geführt wird, u. in Das Kapital (Bln. 1923) werden die zeitgenöss. Konflikte von A. in schlichten Rollenklischees von Arbeiterführer u. Kapitalist abgehandelt. Weitere Werke: Die große Leidenschaft. Wien 1904 (D.). – Laurenz Hallers Praterfahrt. Bln. 1913 (N.). – Das Wirtshaus zur verlorenen Zeit. Erlebnisse u. Bekenntnisse. Wien 1948 (Autobiogr.). – Grillparzer. Der Dichter Österreichs. Wien 1948 (biogr. R.). – Aus unserer verlorenen Zeit. Autobiogr. Notizen 1890–1938. Mit einem Nachw. v. Patricia Ann Andres. Wien 2004. Literatur: Donald G. Daviau: Literary and personal responses to the political events of the 1930s in Austria. Stefan Zweig, R. A., and Felix Braun. In: Austria in the thirties. Hg. Kenneth Segar u. John Warren. Riverside 1991, S. 118–150. – Ders.: R. A.s Exillyrik. Die Dokumentation des Leidensweges eines exilierten Schriftstellers. In: Deutschsprachige Exillyrik v. 1933 bis zur Nachkriegszeit. Hg. Jörg Thunecke. Amsterd. 1998, S. 141–156. – Jeffrey B. Berlin: ›War unsre [KZ]Gefangenschaft ein Einzelfall, etwas Monströses-Zufälliges oder war sie die natürliche Folge natürlicher Gegebenheiten?‹ The unpublished exile correspondence between Heinrich Eduard Jacob and R. A. (1939–43). In: GRM 49 (1999), H. 2, S. 209/239 . – D. G. Daviau: R. A.s life and works in exile. In: Lyrik, Kunstprosa, Exil. Hg. Joseph P. Strelka. Tüb. 2004, S. 195–213. Eva Weisz / Red.

Auersperg, Anton Alexander ! Grün, Anastasius Auffenberg, Joseph Frhr. von, * 25.8.1798 Freiburg im Breisgau, † 25.12.1857 Freiburg im Breisgau; Grabstätte: ebd., Alter Friedhof. – Dramatiker. Der Sohn eines fürstenbergischen Hofmarschalls bezog 1813 die Universität Freiburg, wo er sich jedoch weniger seinen jurist. Studien als der Literatur widmete. 1815 brach der 16-Jährige gemeinsam mit einem Freund zu Fuß nach Griechenland auf, um am Befreiungskampf teilzunehmen, musste die Reise aber schon im oberital. Treviso abbrechen. Nach seiner Rückkehr trat A. 1815 in die österr. Armee ein u. entdeckte bei einem Aufenthalt in Wien seine Leidenschaft für das Theater. Sein durch eine Hamlet-Aufführung

Auffenberg

inspiriertes Stück Pizarro, das in nur fünf Nächten entstanden war, wurde von Schreyvogel als Talentprobe gelobt, für die Wiener Bühne jedoch abgelehnt. 1818 trat A. in die badische Garde ein. Im gleichen Jahr wurden der Pizarro u. A.s zweites Drama Die Spartaner vom Karlsruher Hoftheater mit Erfolg aufgeführt. 1822 wurde A. Mitgl. des Hoftheaterkomitees in Karlsruhe, bald darauf auch dessen Präsident. Nachdem bereits 1822 die erste Sammlung seiner Werke – insg. neun Stücke (Dramatische Werke. Bamberg/Würzb. 1822) – erschienen war, wandte sich A. einer als Trilogie konzipierten Dichtung über den Untergang der maur. Herrschaft in Spanien zu (Alhambra. Karlsr. 1829–30). 1832 unternahm er eine Spanienreise, die ihn u. a. an die Schauplätze seines Hauptwerks führte. 1839 wurde A. zum großherzoglich badischen Hofmarschall ernannt, 1842 zum Intendanten des Karlsruher Hoftheaters. Seine Karriere fand ein jähes Ende, als er 1849 bei einem Festbankett hinter dem Rücken des Großherzogs den Polcinell spielte u. deswegen unverzüglich entlassen wurde. A. kehrte daraufhin in seine Geburtsstadt Freiburg zurück, wo er seine letzten Lebensjahre in zunehmender gesellschaftl. Isolation verbrachte. A.s dramat. Werk zeugt gleichermaßen von der enormen Fruchtbarkeit des Dichters u. seinem Mangel an Originalität, den er durch geschickte Stoffwahl ausglich. Sein wichtigstes Vorbild war Schiller, von dem er nicht nur eine Vorliebe für histor. Sujets, sondern auch den hohen Stil sowie diverse Charaktere, Motive u. dramat. Versatzstücke übernahm. Weitere Leitbilder waren die modische Schicksalsdramatik, Victor Hugo, Chateaubriand, Byron u. Walter Scott, dessen Romane A. verschiedentlich dramatisierte (Fergus Mac Ivor. Würzb. 1827. Der Löwe von Kurdistan. Würzb. 1828). Der Vielzahl der Vorbilder entspricht das breite histor. Spektrum von A.s Bühnenwerken von der griech. Antike (Die Syrakuser. Bamberg/Würzb. 1820) bis in die neuere Geschichte (Die Verbannten. Bamberg/ Würzb. 1821), wobei als Grundmotiv stets »der Kampf um das ew’ge Recht der Menschheit« auf Freiheit auszumachen ist. Trotz seines praktisch u. literarisch umge-

Augsburger Georgsspiel

252

Weitere Werke: Die Bartholomäus-Nacht. setzten Philhellenismus (zuletzt in Skanderbeg, 1844) war A. jedoch kein revolutionärer Bamberg/Würzb. 1819. – König Erich. Bamberg/ Freiheitsdichter. Sein Hauptinteresse galt Würzb. 1820. – Das Opfer des Themistokles. Bamdem mittelalterl. Spanien, das den Schau- berg/Würzb. 1821. – Viola. Ein romant. Trauerspiel. Bamberg 1824. – Die Schwestern v. Amiens. platz seines auch als »Epos in dramatischer Karlsr. 1827. – Das böse Haus. Karlsr. 1834. – Das Form« bezeichneten, über 50.000 Verse um- Nordlicht v. Kasan. Ms. 1828. fassenden Monumentalwerks Alhambra Ausgabe: Sämtl. Werke. 1. Aufl. Siegen/Wiesb. (Karlsr. 1829/30) bildet. Wie alle histor. Dra- 1843–47. 2. erw. Aufl. 1846–47. 3. erw. Aufl. men A.s stützt sich das niemals aufgeführte Wiesb. 1855. Werk nicht auf histor. Quellen, sondern auf Literatur: Rudolf Gottschall: Die dt. Nationaleine literar. Bearbeitung des Stoffes, den A. lit. des 19. Jh. Bd. 3, Breslau 31872, S. 436 f. – Karl durch Integration von historischen u. literar. Barsch: J. v. A. In: Bad. Biogr. Hg. Friedrich v. Figuren, darunter Christoph Kolumbus, Fer- Weech. Bd. 1, Heidelb. 1875, S. 14 f. – Ernst Leonando Cortez u. Ponce de Leon, u. ein an die pold Stahl: J. Frhr. v. A. u. das Schauspiel der Trilogie anschließendes »dramatisches Schillerepigonen. Hbg./Lpz. 1910. Nachtgemälde«, Der Renegat von Granada Karin Vorderstemann (Ffm. 1830), ergänzte. Die immense Produktivität A.s hatte negaAugsburger Georgsspiel, kurz vor 1486. tive Auswirkungen auf die Qualität seiner – Spätmittelalterliches Legendenspiel. Stücke. Zu den Techniken des eiligen Vielschreibers gehörten die häufige Verwendung Das A. G., einer der wenigen erhaltenen Texte von erklärenden Monologen u. Visionen, aus der Gruppe der Legendenspiele, ist zus. bühnenwirksamen Massenszenen u. Musik- mit dem Augsburger Heiligkreuzspiel in einer zu bzw. Balletteinlagen. Der pathet. Tonfall Lesezwecken angelegten Sammelhandschrift seiner Stücke, die konventionelle Motivik, die überliefert, die im Übrigen epische Texte u. mangelnde Motivierung der Handlung u. die Fastnachtspiele enthält. In enger Anlehnung wenig überzeugende Charakterzeichnung an die Legenda aurea, aber auch unter Verhaben A. den Spott der Nachwelt eingetragen, wendung anderer Quellen, werden in 1508 beim zeitgenöss. Theater- u. Lesepublikum Versen die Bedrohung einer heidn. Stadt waren seine auf den dramat. Effekt hin an- durch einen Drachen, die Konversion der gelegten Stücke jedoch ausgesprochen be- Königstochter Elia von Libia im Angesicht liebt. des Todes (Drachenopfer), der Kampf Georgs Origineller als seine Dramen sind A.s au- mit dem Drachen, Elias Errettung sowie die tobiogr. Prosaschriften Humoristische Pilger- Missionierung u. Bekehrung der Heiden fahrt nach Granada und Cordoba im Jahre 1832 (2 durch Georg geschildert, nicht aber das Tle., Lpz./Stgt. 1835) u. Das Nordlicht von Martyrium des Heiligen. Wie die Legende ist Karlsruhe. Novellina mit dramatischen Einschieb- auch das Spiel in zwei gleichgewichtige seln (Sämtl. Werke, Bd. 18), die an die Werke Handlungsblöcke aufgeteilt: Im ersten Teil Laurence Sternes erinnern. Die eingeflochte- wird der äußere Handlungsverlauf dynanen Dialoge u. Szenen verraten den Drama- misch vorangetrieben, im zweiten Teil wird tiker, weisen aber für A. ungewöhnliche die langsame Entwicklung innerer Vorgänge lustspielhafte Qualitäten auf. Auch als Ro- gezeigt. Der Text zielt mit seinen predigtmancier hat sich A. versucht (Die Furie von haften u. didakt. Passagen vorrangig auf reToledo. Roman aus der Zeit der westgothischen ligiöse Unterweisung der Zuschauer u. auf Herrschaft in Spanien. 2 Bde., Karlsr. 1835), die Darstellung Georgs als Vorbild, Nothelfer seine eigentliche Gattung blieb jedoch das u. Mittler göttlicher Gnade. Für die AuffühHistoriendrama, zu dem A. nach der Kon- rung waren 32 Sprechrollen zu besetzen, zeption eines weiteren Romans über Giro- hinzu kamen Statisten u. die Personen im lamo Savonarola mit dem Savonarola-Drama Drachen. Aufführungen eines Georgsspiels Der Prophet von Florenz (in: Trauerspiele. Karlsr. sind für Augsburg nicht belegt, wohl aber für 1838) zurückkehrte. Colmar (1443), Dortmund (1497), Wil/

253

Schweiz (15. Jh.), Straßburg (1507, Dauer: 4 Stunden) u. Zabern (1537, 1543). Ausgaben: Elke Ukena: Die dt. Mirakelspiele des SpätMA. Bern/Ffm. 1975, S. 385–439. Literatur: Heinrich Biermann: Die deutschsprachigen Legendenspiele des späten MA u. der frühen Neuzeit. Diss. Köln 1977. – Ders.: A. G. In: VL. – Bernd Neumann: Geistl. Schauspiel im Zeugnis der Zeit. 2 Bde., Mchn. 1987. Bernd Neumann / Red.

Augsburger Heiligkreuzspiel, auch: Südbairisches Heiligkreuzspiel, kurz vor 1494 aufgezeichnet. – Spätmittelalterliches Reliquienspiel.

Augsburger Liederbuch

Gottes stehend, dieser ein Werkzeug des Teufels. Ziel des Verfassers war die Bestärkung der Zuschauer im Glauben u. die Festigung ihres Vertrauens in die Allmacht Gottes, der allein Schutz gewähren kann; darüber hinaus wird hervorgehoben, dass nur der Weg eines solchermaßen gläubigen Christen zu irdischem Erfolg führen könne. Ausgaben: Elke Ukena: Die dt. Mirakelspiele des SpätMA. Bern/Ffm. 1975, S. 473–544. Literatur: Heinrich Biermann: Die deutschsprachigen Legendenspiele des späten MA u. der frühen Neuzeit. Diss. Köln 1977. – Ders.: A. H. In: VL. – Bernd Neumann: Geistl. Schauspiel im Zeugnis der Zeit. 2 Bde., Mchn. 1987. Bernd Neumann / Red.

Zu den wenigen überlieferten Legendenspieltexten des Spätmittelalters zählt das A. Augsburger Liederbuch, 1454. – SpätH., ein Reliquienspiel, das im selben Kodex mittelalterliche Sammlung weltlicher wie das Augsburger Georgsspiel aufgezeichnet Lieder. wurde; seine Niederschrift bezweckte ebenfalls die Lektüre, nicht etwa die unmittelbare Mit dem A. L. wird im engeren Sinne die in Aufführung. Wie die südbair. Sprache des der Handschrift der Bayerischen StaatsbiSpiels zeigt, stammte die Vorlage der Ab- bliothek München (cgm 379) enthaltene schrift nicht aus Augsburg, sondern vermut- Sammlung von 97 Liedern bezeichnet. Diese lich aus Südtirol. Zwar fehlen zu Beginn des wird von Kleindichtungen unterschiedlicher Textes u. kurz vor seinem Schluss längere Art (didakt. Sprüche, Rätsel, Priameln, MäPassagen, doch haben sich immerhin 1927 ren, Schwänke, Minnereden, Liebesbriefe u. Verse erhalten. Ä., aber auch lat., z.T. mit dt. ProsaübersetDargestellt werden Kreuzauffindung u. zung versehene Verse) u. Chronikalischem, -erhöhung; der anonyme Verfasser entnahm das in späterer Zeit (bis ca. 1478) nachgetradabei alle wesentl. Motive der Legenda aurea. gen worden ist, eingerahmt. Das A. L. ist laut Bestrebt, den »disparaten Legendenstoff in Schreiberkolophon auf Bl. 147v am 11. Juli eine schlüssige Handlungskette umzusetzen« 1454 in Augsburg abgeschlossen worden. Der (Biermann), verteilte er das Geschehen auf Schreiber gibt nur die Initialen seines Nazwei Spieltage u. wählte nur jene Ereignisse, mens an: m. k. Ob er die Sammlung aus eidie sich im Hinblick auf Aufbau, Inhalt, Per- genem Interesse angelegt hat oder einen sonal u. Bühnenstände der beiden Hand- Auftraggeber hatte, muss offen bleiben. Die lungsblöcke in unmittelbare Parallele zuein- wenig sorgfältige Gestaltung der Handander setzen ließen. So entstand ein ganz schrift, die sich auch in Abschreibfehlern besymmetrisch gebautes Spiel, das auch in sei- merkbar macht, lässt eher auf eine flüchtige, nen Intentionen einfachen u. klaren Grund- für den momentanen privaten Gebrauch belinien folgt: War das Thema des ersten Tages, stimmte Zusammenstellung schließen. die Kreuzerfindung, eng verbunden mit der Die Anordnung der Lieder folgt keinen erDarstellung der Ausbreitung des Christen- kennbaren Ordnungsprinzipien; lediglich tums unter den Juden, so wurde am zweiten eine Art Rahmen kann festgestellt werden: Tag mit der Kreuzerhöhung das Moment der Der von einem Manne an eine Frau gerichteHeidenmissionierung verknüpft. Beide Tage ten »salutacio« am Anfang entspricht ein in wiederum korrespondieren einander in der Prosa abgefasster Liebesbrief eines Mädchens scharfen Kontrastierung von christlichem u. am Ende. Die Lieder selbst behandeln Theheidn. Herrscher, jener unter dem Schutze men wie Frauenlob, Liebessehnsucht, Wer-

Augsburger Passionsspiel

254

bung, Treueversprechen, Abschieds- u. Augsburger Passionsspiel, letztes VierTrennungsschmerz; daneben finden sich tel des 15. Jh. – Spätmittelalterliches Neujahrsgrüße, Lieder über den Bauernstand Oster- u. Passionsspiel. u. Sprüche (z.B. über die Lebensalter). Die Strophenformen sind meist einfach; kompli- Das vermutlich in Augsburg selbst niedergeziertere Formen, wie sie z.B. im Meisterge- schriebene A. P. ist nur unvollständig übersang gepflegt wurden, finden sich nur selten. liefert; die Handschrift diente, wie der dopHäufig handelt es sich um Rollenlieder: Die pelte Schluss belegt, wohl als ArbeitsmanuFrau spricht den Geliebten oder der Mann die skript im Zusammenhang mit einer geplanGeliebte an. Die Autoren sind größtenteils ten Aufführung. Der Anfang des eintägigen unbekannt; genannt werden u. a. der Günz- Spiels fehlt: Der erhaltene Grundtext (2174 burger, der Harder (Konrad Harder), Hans Verse) setzt mit der Beratung der Juden u. Heselloher, der Mönch von Salzburg, Mus- einer Ankündigung der Leiden Christi ein, katblüt, Oswald von Wolkenstein. Die ältes- führt über das Gastmahl im Haus des Simon ten Lieder stammen aus dem 14. Jh., die Leprosus u. das Abendmahl zur eigentl. Pasjüngsten aus der Zeit des Sammlers. Die un- sion, die sehr ausführlich geschildert wird, u. mittelbaren Vorlagen lassen sich nicht er- endet in der Grablegung sowie einem unverschließen; möglicherweise wurden ältere hältnismäßig kurzen Osterspiel, das lediglich Anthologien benutzt. Melodien sind nicht die Dingung der Grabwächter, die Aufersteüberliefert. hung u. sechs Verse aus der Reihe eines der Neben dem Liederbuch der Klara Hätzlerin ist Wächter umfasst, mit denen ihr Abgang von das A. L. ein wichtiger Zeuge für die Lied- der Bühne motiviert wird. Diesem knappen kultur im Augsburg des 15. Jh. Die beiden Schluss ließ der anonyme Verfasser jedoch Sammlungen – wie auch eine dritte: das Lie- einen Alternativschluss von 430 Versen folderbuch des Jakob Kebicz – legen einen Schwer- gen, der – nun wesentlich ausführlicher u. in punkt auf das Gesellschaftslied, einen Lied- einer für Oster- u. Passionsspiele höchst seltyp, der in dieser Zeit in Ostschwaben offen- tenen dogmat. Korrektheit – Höllenfahrt, sichtlich verbreitet war. Auferstehung, Christi Erscheinung vor Maria Ausgaben: Johannes Bolte (Hg.): Ein A. L. vom u. den Gang der drei Marien zum Grabe beJahre 1454. In: Alemannia 18 (1890), S. 97–127, handelt. 203–237. Während im Passionsteil u. der ersten FasLiteratur: Klaus J. Seidel: Der cgm 379 der sung des Osterteils das musikal. Element fast Bayer. Staatsbibl. u. das A. L. v. 1454. Diss. Augsb. 1972. – Michael Curschmann: A. L. In: VL. – Doris völlig in den Hintergrund getreten ist, finden Sittig: Vyl wonders machet minne. Das dt. Liebes- sich in der Alternativfassung viele lateinischlied in der ersten Hälfte des 15. Jh. Göpp. 1987. – liturg. Gesänge. Neben der Tendenz zu AnJürgen Schulz-Grobert: Dt. Liebesbriefe in spät- schaulichkeit u. Augenfälligkeit, die v. a. in mittelalterl. Hss. Tüb. 1993, S. 71–77. – RSM, Bd. 1 den Regieanweisungen hervortritt, zeigen (1994), S. 199 f. – Johannes Rettelbach: Lied u. sich bes. in der Darstellung der Passion BeLiederbuch im spätmittelalterl. Augsburg. In: Limühungen, Elemente der Alltagsrealität mit terar. Leben in Augsburg während des 15. Jh. Hg. einzubeziehen (z.B. städt. Rechtsgebräuche, Johannes Janota u. Werner Williams-Krapp. Tüb. 1995, S. 281–307. – Christoph März: Die weltl. Sitten u. Gepflogenheiten), um so das GeLieder des Mönchs v. Salzburg. Tüb. 1999, schehen in die Gegenwart zu transponieren u. S. 58–60. – Albrecht Classen: Dt. Liederbücher des die Bedeutung des Leidens u. der Erlösungs15. u. 16. Jh. Münster u. a. 2001, S. 62–74. taten Christi für den Zuschauer im Hier u. Elisabeth Wunderle Heute zu unterstreichen. Das A. P. ist eines der wenigen mittelalterlichen geistl. Spiele, die bis in spätere Zeit fortgewirkt haben: Zus. mit dem Passionsspiel des Augsburger Meistersängers Sebastian Wild war es eine der beiden Grundlagen

Augstein

255

des 1634 initiierten Oberammergauer Passionsspiels. Ausgaben: August Hartmann: Das Oberammergauer Passionsspiel in seiner ältesten Gestalt. Lpz. 1880. Literatur: Rolf Steinbach: Die dt. Oster- u. Passionsspiele des MA. Köln/Wien 1970. – Hansjürgen Linke: A. P. In: VL. – Rolf Bergmann: Kat. der deutschsprachigen geistl. Spiele u. Marienklagen des MA. Mchn. 1986. – Bernd Neumann: Geistl. Schauspiel im Zeugnis der Zeit. 2 Bde., Mchn. 1987. – Antje Knorr: Die Passionsspiele im alemann. Raum. In: Hört, sehet, weint u. liebt. Passionsspiele im alpenländ. Raum. Hg. Michael Henker, Eberhard Dünninger u. Evamaria Brockhoff. Mchn. 1990, S. 49–60. Bernd Neumann / Red.

Augspurger, August, * 3.3.1620 Prag, † 18.11.1675 Weißenfels. – Übersetzer, Lyriker u. Epigrammatiker.

sich darin Vermischtes aus dem »Garten der poetischen Formen und Gegenstände« vereint. Dass dieses Werk für A. selbst nicht zuletzt eine Stilübung im Geiste des opitzianischen Literaturprogramms war, verrät der Schluss des letzten Sonetts: »Hier reibe seinen Zahn der / der es nicht kan lassen / Vrtheilen stehet frey / wir bawen an die Strassen«. Zwei große Übersetzungsarbeiten schlossen sich an. 1642 erschien in dt. Übersetzung Diego de San Pedros Tractado de amores de Arnalte von 1491 (Der von seiner Liebsten ubelgehaltene Amant oder Arnalte und Lucenda. Dresden) u. 1644 Antoine Montchrestiens Bergerie von 1601 (Schäfferey, auß dem Frantzösischen. Dresden). Weitere Werke: Disputatio ethica de amicitia [...] proponit A. A.us Pragensis Magisterii Candidatus (Praes.: Hieronymus Kromayer). [Lpz.] 1638. – Thränen bey dem Creutze Jesu Christi. Dresden 1642. – Der verzweiflende Verräther Judas. Dresden 1642. – Zwo Sonnete. Dem triumphirenden Jesus gesungen. Dresden 1642. Ausgabe: Arnalte u. Lucenda. Neudr. der Ausg. 1644, hg. u. eingel. v. Gerhart Hoffmeister. Bern u. a. 1988.

Die von Rudolf II. geadelte Familie flüchtete im Zuge der Protestantenverfolgungen in Böhmen 1625 nach Dresden. Der Vater A.s, der ehemalige kaiserl. Hofbuchführer Caspar von Augspurger, fand am Dresdener Hof wieder eine Anstellung. Bereits mit 17 Jahren Literatur: Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 1, Vollwaise, begann A., nach vorangegangeS. 353–356 (Bibliogr). – Weitere Titel: Leichenprenem Privatunterricht, ein theologisches u. digt auf A. A. v. Johann Schieferdecker. Weißenfels jurist. Studium an der Universität Leipzig 1676. – Klaus Garber: Der locus amoenus u. der (Aufnahme in die Matrikel im Sommer 1634, locus terribilis. Köln/Wien 1974. – Heiduk/NeuEidesleistung 1636, Magister 24.2.1639). meister, S. 9, 137 f., 287. – Gerhart Hoffmeister: 1640 reiste er über Leiden nach Paris, wo er Diego de San Pedro u. A. A. In: FS Hans-Gert Roüber ein Jahr blieb u. die frz. Sprache erlernte. loff. Hg. James Hardin. Bern 1983, S. 427–442. – 1642 wieder in Dresden, übernahm A. seine DBA 39,345–346. – Christiane Caemmerer: Sieerste Hofmeisterstelle, die ihn bis an den kgl. gender Cupido oder Triumphierende Keuschheit. Hof in Kopenhagen führte. Im Mai 1644 Dt. Schäferspiele des 17. Jh. dargestellt in einzelnen Untersuchungen. Stgt.-Bad Cannstatt 1998, setzte er bei dem Dichtungstheoretiker AuS. 197–242 (u. Register). – Anthony J. Harper: gust Buchner in Wittenberg sein Studium German secular song-books of the mid-seventeenth fort. Seit 1645 wirkte er für die nächsten zehn century. An examination of the texts in collections Jahre als Hofmeister u. Lehrer adliger Zög- of songs published in the german-language area linge vornehmlich in Polen. 1656 heiratete A. between 1624 and 1660. Aldershot u. a. 2003. als Amtsschreiber in Leipzig u. wechselte Bernd Prätorius / Red. 1659 auf die Amtsvogtstelle in Weißenfels. Bis auf einige Gelegenheitsgedichte fällt Augstein, (Karl) Rudolf, auch: Jens Daniel, das literar. Schaffen A.s in die erste Hälfte der Moritz Pfeil, * 5.11.1923 Hannover, 1640er Jahre. Schon während seiner Frank† 7.11.2002 Hamburg. – Journalist, Verreichreise entstand sein Hauptwerk Reisende leger, Publizist. Clio (Dresden 1642), eine Sammlung weltlicher Lyrik u. Epigramme in dt. Sprache. Wie A., dessen Familie kurz vor dem Ersten es der programmat. Titel ankündigt, findet Weltkrieg nach Hannover gezogen war – sein

Augstein

Vater erwarb dort nach dem Verkauf der ererbten Weinhandlung in Bingen eine Fabrik für Fotowaren, schlug sich seit Anfang der 1930er Jahre als Handelsvertreter durch u. eröffnete 1938 ein Fotogeschäft –, wuchs als sechstes von sieben Kindern in einem zutiefst katholisch geprägten Umfeld auf. Nach dem Abitur 1941 war er Volontär beim »Hannoverschen Anzeiger«, nahm seit 1942 am Zweiten Weltkrieg teil, zuletzt als Leutnant, u. befand sich vorübergehend in amerikan. Gefangenschaft. Danach Journalist beim »Hannoverschen Nachrichtenblatt«, wurde er 1946 Deutschland-Ressortchef bei dem unter der Leitung der brit. Besatzungsbehörde gegründeten Nachrichtenmagazin »Diese Woche«, das er seit Anfang 1947 als Lizenzträger zus. mit dem Fotografen Roman Stempka u. dem Kaufmann Gerhard R. Barsch als »Der Spiegel« fortführte. Letztere schieden 1950 bzw. 1952 als Mitgesellschafter aus. Nach dem Vorbild der amerikan. »Time« oder der brit. »News Review« widmete sich »Der Spiegel«, der 1952 von Hannover nach Hamburg umzog, dem investigativen Journalismus. Herausgeber u. Chefredakteur des Nachrichtenmagazins wurde A., dem in der Frühphase des Magazins auch belastete ehemalige Nationalsozialisten als Mitarbeiter willkommen waren. Zum Erfolg des »Spiegel«, der nach dem Story-Prinzip Nachrichten um ein handlungsmächtiges Individuum herum arrangierte, trugen seine prinzipiell krit. Haltung u. sein allgemeinverständlicher, oft sarkast. Stil (»Darstellung der Freiheit im Nein«, Kuby), sein Aufdecken von Korruption u. Machtmissbrauch u. das Infragestellen jedweder Autorität bei. Bis in die 1960er Jahre wurde unter wesentlicher Beteiligung von Hans Detlev Becker, seit 1947 Mitgl. der Redaktion, später Chefredakteur, der »Spiegel«-Jargon entwickelt, »eine eigentümliche, außerhalb ihrer Spalten nicht existierende Sprache« (Enzensberger), zu der u. a. neu gebildete Verben wie »wahlkämpfen«, Lehnübersetzungen aus dem Englischen wie »Weißkragen« u. Wortkompositionen wie »Zukunfts-Kanzler« gehörten. Die polit. Richtung des »Spiegel«, dessen Auflage von rd. 20.000 (1947) auf knapp

256

100.000 im Jahr 1950 anstieg, war, nachdem er die Bestechungsaffäre um die Wahl Bonns zur Bundeshauptstadt aufgedeckt hatte, jahrelang bestimmt von A.s Kritik an Adenauer, dem er eine Politik der verpassten Chancen u. Westintegration auf Kosten der Vereinigung der beiden dt. Staaten vorwarf. In Opposition gegen Adenauer, dessen Regierungsstil er gerne als »katholische Demokratur« bezeichnete, schrieb A. rd. 150 Kommentare unter dem Pseudonym Jens Daniel (z.T. veröffentlicht u. d. T. Deutschland – ein Rheinbund? Darmst. 1953). Im Zentrum des nach einer Reihe von »Spiegel«-Artikeln über korruptionsverdächtige Geschäfte im Umfeld von Franz Josef Strauß 1961 aufgenommenen »Endkampfs« gegen den damaligen Verteidigungsminister standen dessen Rüstungs- u. Militärpolitik, v. a. das Vorhaben, die Bundeswehr mit Atomwaffen auszustatten. Die am 10.10.1962 erschienene, von Conrad Ahlers u. Hans Schmelz verfasste Titelgeschichte Bedingt abwehrbereit über das NATO-Manöver »Fallex 62« war der Auslöser der »Spiegel«Affäre, beginnend mit der Besetzung u. Durchsuchung der Redaktionsräume des »Spiegel« am 26.10.1962. Führende Mitarbeiter des »Spiegel« wurden verhaftet; des Landesverrats beschuldigt, befand sich A. bis Febr. 1963 in Haft. 1965 wurde das Strafverfahren eingestellt. Die Aktionen von Bundesregierung u. Justiz gegen das Nachrichtenmagazin wurden weltweit als Angriff auf die Pressefreiheit kritisiert. Nach wechselnden Eigentumsverhältnissen seit 1969 Alleineigentümer des »Spiegel«, gab A. 1971 die Beteiligung des Verlagshauses Gruner + Jahr mit 25 Prozent bekannt u. führte nach Zurückweisung der Forderung nach einem Redaktionsstatut ein Beteiligungsmodell ein, nach dem 1974 die Hälfte der Anteile des »Spiegel«-Verlags in den Besitz der Mitarbeiter überging. Über die Landesliste Nordrhein-Westfalen kam A., seit 1955 Mitgl. der FPD u. bereits 1957 für ein Mandat vorgesehen, im Nov. 1972 in den Deutschen Bundestag, nahm aber, nachdem sich seine Erwartung, zum Fraktionsvorsitzenden gewählt zu werden, nicht erfüllt hatte, bereits im Jan. 1973 das Ausscheiden von Günter Gaus als Chefre-

257

dakteur des »Spiegel« zum Anlass, sein Mandat niederzulegen. Nach verschiedenen fehlgeschlagenenen Versuchen, Zeitungen oder Zeitschriften neu zu gründen (u. a. »Spiegel-Kurier«, »SportSpiegel«, »Deutsche Allgemeine Zeitung«) oder Beteiligungen zu erreichen (z.B. an »Die Zeit«), u. erfolglosen Unternehmungen wie der »Star-Revue« (1955), die später in der »Brigitte« aufging, wurde 1971 das »Manager Magazin« ins Leben gerufen. Bei zunehmender Distanz zum personalisierten StoryJournalismus führte A. die Formate »Spiegel«-Gespräche (mit Politikern, Philosophen u. Schriftstellern, darunter mit Kissinger, Gorbatschow, Heidegger u. Solschenizyn) u. »Spiegel«-Essays (u. a. von Hannah Arendt, Jean-Paul Sartre, Alexander Mitscherlich, Hans Magnus Enzensberger) sowie namentlich gezeichnete Beiträge von »Spiegel«-Reportern ein. 1977–85 war er Mehrheitsgesellschafter des »Filmverlags der Autoren«. Der durch die Aufdeckung verschiedener polit. Skandale (Flick-Spenden, »Neue Heimat«, Transnuklear, Barschel-Affäre) in seiner Ausnahmestellung gestärkte »Spiegel«, der Ende der 1980er Jahre rd. eine Million Auflage hatte, erfuhr durch die Gründung des »Focus« 1993 eine starke wirtschaftl. Konkurrenz, wurde jedoch durch den 1994 nach langem Kampf gegen die Mitarbeiter KG als Chefredakteur berufenen Stefan Aust, seit 1988 für »Spiegel TV« zuständig, aus der Krise geführt. A. schrieb von aufklärerischem Impetus getragene, von Historikern bzw. Theologen u. Religionswissenschaftlern jedoch z.T. heftig kritisierte, hauptsächlich durch die Menge des verarbeiteten, von mehreren Mitarbeitern der »Spiegel«-Dokumentation vorbereiteten Materials beeindruckende Bücher über Friedrich II. von Preußen (Preußens Friedrich und die Deutschen. Ffm. 1968. Erw. Neuausg. Ffm. 1981) u. Jesus (Jesus Menschensohn. Mchn. 1972. Überarb. Neuausg. Hbg. 1999) u. rückte immer wieder die Gestalt Hitler in das Zentrum seiner publizist. Arbeiten. Während er in Friedrich II. einen in erster Linie von Machtstreben bestimmten Staatsmann sah, der zum Wegbereiter Hitlers wurde – vom Glanz des aufgeklärten Herrschers blieb fast

Augstein

nichts übrig –, versuchte er auf wenig originelle Weise nachzuweisen, dass es den »historischen Jesus«, auf den sich die christl. Kirchen berufen, nicht gegeben haben könne. Neben drei Ehrendoktorwürden wurde A., dessen unerschütterliche nat. Grundhaltung zuletzt in seinen Polemiken gegen das Europa von Maastricht u. den Euro Ausdruck fand, 2000 der Titel »World Press Freedom Hero« des International Press Institute in Boston verliehen; im selben Jahr wurde er zum »Journalisten des Jahrhunderts« gewählt u. 2001 mit dem Ludwig-Börne-Preis ausgezeichnet. Weitere Werke: Die Zeit ist nahe ... Ein szen. Gleichnis. Urauff. Landesbühne Hannover, 1947. – Spiegelungen. Mchn. 1964. – Meinungen zu Dtschld. Ffm. 1967. – R. A. Macht u. Gegenmacht. Gespräch mit Beate Pinkerneil in der Reihe ›Zeugen des Jahrhunderts‹. Hg. Ingo Hermann. Gött. 1992. – Schreiben, was ist. Komm.e, Gespräche, Vorträge. Hg. Jochen Bölsche. Stgt./Mchn. u. Hbg. 2003. – Herausgeber: Überlebensgroß Herr Strauß. Ein Spiegelbild. Reinb. 1980. – Dtschld., einig Vaterland? Ein Streitgespräch mit Günter Grass. Gött. 1990. – Ein dt. Jahrzehnt. Reportagen 1985–95. Hbg. 1995. – Die Welt im Wandel. Reportagen 1980–95. Hbg. 1996. Literatur: Hans Magnus Enzensberger: Die Sprache des ›Spiegel‹ (1957, Zusätze 1962). In: Ders.: Einzelheiten. Ffm. 1962, S. 62–87. – Dieter Just: ›Der Spiegel‹. Arbeitsweise, Inhalt, Wirkung. Hann. 1967. – David Schoenbaum: Ein Abgrund v. Landesverrat. Die Affäre um den ›Spiegel‹. Wien/ Mchn./Zürich 1968. – A.s Jesus. Hg. Rudolf Pesch u. Günter Stachel. Zürich u. a. 1972. – Bodo Zeuner: Veto gegen A. Der Kampf in der ›Spiegel‹-Redaktion um Mitbestimmung. Hbg. 1972. – Leo Brawand: Die Spiegel-Story. Wie alles anfing. Düsseld./Wien/New York 1987. – Erich Kuby: ›Der Spiegel‹ im Spiegel. Das dt. Nachrichtenmagazin. Mchn. 1987. – L. Brawand: R. A. Düsseld. 1995. – Otto Köhler: R. A. Ein Leben für Dtschld. Mchn. 2002. – Lutz Hachmeister: Ein dt. Nachrichtenmagazin. Der frühe ›Spiegel‹ u. sein NS-Personal. In: Die Herren Journalisten. Die Elite der dt. Presse nach 1945. Hg. ders. u. Friedemann Siering. Mchn. 2002, S. 87–120. – Ulrich Greiwe: A. Ein gewisses Doppelleben. Aktualisierte u. erw. Neuausg. Mchn. 2003. – Dieter Schröder: A. Mchn. 2004. – L. Brawand: ›Der Spiegel‹ – ein Besatzungskind. Wie die Pressefreiheit nach Dtschld. kam. Hbg. 2007. – Peter Merseburger: R. A. Biogr. Mchn. 2007. Bruno Jahn

August d.J.

August d.J., Herzog zu Braunschweig u. Lüneburg, auch: Gustavus Selenus, * 10.4. 1579 Dannenberg, † 17.9.1666 Wolfenbüttel; Grabstätte: ebd., Hauptkirche Beatae Mariae Virginis. – Sammler u. Schriftsteller.

258 Weitere Werke: Bibl. Außzug. Lüneb. 1624. – Die Gesch. Von des Herrn Jesu [...] Leyden/Sterben u. Begräbnisse. Lüneb. 1640. 21641. 31650. – Der Briefw. zwischen Philipp Hainhofer u. A. d.J. v. Braunschweig-Lüneburg. Hg. Ronald Gobiet. Mchn. 1984. Literatur: PGK 8, 411–415. – Sammler, Fürst,

Nach dem Studium in Rostock, Tübingen u. Gelehrter. Hzg. A. zu B.-L. 1579–1666. Wolfenb. Straßburg unternahm A. ausgedehnte Kava- 1979 (Ausstellungskat. mit Bibliogr.). – Monika Hueck: Gelegenheitsgedichte auf Hzg. A. v. B.-L. u. liersreisen nach Italien, Frankreich u. Engseine Familie (1579–1666). Ein bibliogr. Verz. der land. Bei seiner Rückkehr wurde ihm die Drucke u. Hss. in der Herzog August Bibl. Wolkleine Herrschaft Hitzacker zugesprochen, fenbüttel. Wolfenb. 1982. – Martin Brecht: J. V. wo er 1604–1634 ein zurückgezogenes Ge- Andreae u. Hzg. A. zu B.-L.: ihr Briefw. u. ihr lehrtendasein führte. Hier legte A. den Umfeld. Stgt.-Bad Cannstatt 2002. – Gilbert Heß: Grundstein zu seiner in Wolfenbüttel als Lit. im Lebenszusammenhang: Text- u. Bedeuachtes Weltwunder bestaunten Bibliothek. tungskonstituierung im Stammbuch Hzg. A.s d.J. v. B.-L. (1579–1666). Ffm. u. a. 2002. – Ulrich JoSchon seit 1613 korrespondierte A. mit dem hannes Schneider: Bücher u. Bewegung in der Bibl. Augsburger Kunstagenten Philipp Hainho- v. Hzg. A. In: Sammeln, Ordnen, Veranschaulifer, der bis zu seinem Tod Bücher u. Kunst- chen: Zur Wissenskompilatorik in der Frühen gegenstände für die herzogl. Sammlungen Neuzeit. Hg. Frank Büttner. Münster 2003, lieferte. Zu den Briefpartnern A.s zählten S. 111–127. – Ders.: Der Ort der Bücher in der Bibl. auch der Stuttgarter Theologe Johann Valen- u. im Kat. am Beispiel v. Hzg. A.s Wolfenbütteler tin Andreae u. der Jesuit Athanasius Kirchner Bücherslg. In: AGB 59 (2005), S. 91–104. Jill Bepler in Rom. In Hitzacker verfasste A. seine zwei wichtigsten Werke: 1616 erschien in Leipzig sein Schachhandbuch Das Schach- oder Königs- Augusta Maria, Markgräfin von BadenSpiel (Neudr. Zürich 1978. Neudr. der Ausg. Durlach, geb. Herzogin von SchleswigFfm. ca. 1690: Lpz. 1972); 1624 wurde sein Holstein, * 6.2.1649 Gottorp, † 25.4.1728 Werk über Geheimschriften Cryptomenices et Augustenburg/Grötzingen. – HerausgeCryptographiae Libri IX in Lüneburg gedruckt. berin u. Kirchenlieddichterin. Als Lebenswerk betrachtete A. selbst seine Von 16 Kindern des Herzogs Friedrich III. Arbeit an der sprachl. Revision der dt. Bibelvon Schleswig-Holstein u. Maria Elisabeth, übersetzung. 1645 erschien die Evangelische Kurprinzessin von Sachsen, kam A. M. als 2 3 Kirchenharmonie ( 1646. 1648) in Wolfenbütletztes zur Welt. Sie erhielt eine vorzügl. Ertel; seine Neuübersetzung des AT (Wolfenb. ziehung, v. a. in Religion u. Fremdsprachen. 1665/66) blieb Fragment. 1634 wurde A. als Die Hochzeit mit dem Erbprinzen Friedrich »der Befreyende« in die Fruchtbringende Magnus von Baden-Durlach fand am 15. (25. Gesellschaft aufgenommen, deren Arbeit er neuen Stils) Mai 1670 statt. Obwohl von den auch finanziell unterstützte. Im gleichen Jahr elf Kindern der Markgräfin sechs in frühen erbte er, inzwischen 54 Jahre alt, das Wol- Jahren starben, war die Ehe glücklich. Freufenbütteler Territorium. A. zog zahlreiche dige Familienereignisse wurden begeistert Gelehrte u. Künstler an seinen Hof u. erwei- gefeiert, u. zu diesem Zweck hat A. M. minterte das Netz der Agenten, die in ganz Eu- destens ein Hoffestspiel geschrieben. Wieropa Bücher für seine Sammlung kauften. derholter Kriege wegen musste die markDer Aufbau dieser Bibliothek, die als Uni- gräfl. Familie jahrelang in Basel residieren. In versalbibliothek konzipiert wurde u. bei sei- dieser Zeit beschäftigte sich die Markgräfin nem Tod 31.000 Bände mit 135.000 Einzel- mit der Herausgabe eines Gesangbuches für schriften zählte, ist die bleibende Kulturleis- ihre Untertanen, das 1697 in Basel erschien. tung des Herzogs, in der sich die Wissens- In der Nacht vom 23. zum 24.2.1698 verbrannte in Basel der »Durlacher Hof«, sodass ordnung der Zeit spiegelt.

Augustin

259

alle Urkunden über die Vorbereitungen des Werks unwiederbringlich verloren gegangen sind. Die Sammlung ist in drei weiteren Auflagen unter verändertem Titel erschienen. Laut Vorrede zur dritten Auflage hat A. M. selbst einige der darin enthaltenen Kirchenlieder verfasst. Mangels zuverlässiger Beweise ist es noch umstritten, welche Texte aus ihrer Feder stammen. Die letzten Lebensjahre verbrachte A. M. fast ununterbrochen in Grötzingen, wo der Gottesdienst zwölfmal pro Woche gehalten wurde. Es erscheint daher angemessen, dass dieses fromme Leben mitten in einem Gottesdienst endete. Weitere Werke: Holstein. Arzneibuch (Hs.). – Ballet auff des Durchl. Fürsten [...] Fridrich Magnus [...] Geburts-Tag, v. der Fürstin [...] A. M. [...] vorgestellt den 23ten Sept. 1694. Ausgabe: Himmlisch gesinnter Jesus-Hertzen Geistl. Seelenfreude. Basel 1697. Karlsr. 41733 u. d. T.: Himml. Seelen-Trost der Traurigen zu Zion. Literatur: Matthäus Merian d.Ä. (Hg.): Möglichst kürtzeste jedoch gründl. Genealog. Herführung [...] beyder Hochfürstl. Häuser Baden u. Holstein. Ffm. 1672. – Karl Dreher: Leben, Lieder u. Liederpflege der A. M., Markgräfin v. B.-D. Bln. 1858. – Georg Hupp: Das erste badische evang. Kirchengesangbuch der Markgräfin A. M. In: Bad. Heimat 32 (1952). – Jean M. Woods: ›Die Pflicht befihlet mir, zu schreiben und zu tichten‹. Drei literarisch tätige Frauen aus dem Hause BadenDurlach. In: Die Frau v. der Reformation zur Romantik. Die Situation der Frau vor dem Hintergrund der Lit.- u. Sozialgesch. Hg. Barbara BeckerCantarino. Bonn 21987, S. 36–57. Jean M. Woods / Red.

Augustin von Hammerstetten, urkundlich erwähnt 1462–1497. – Verfasser einer Minnerede in Prosa.

Thorgau sein Hauptwerk. Nachdem er 1497 noch einmal als Cancellarius in Friedrichs Gefolge in Wien erwähnt wird, verliert sich seine Spur. Die 1496 verfasste Prosadichtung Hystori vom Hirs mit den guldin ghurn und der Fürstin vom pronnen (3 Hss., Dresden, Sächs. Landesbibl., Hs. M 279; gilt als Autograf. Auch aus A.s Besitz mit eigenhändigen Zusätzen: Gotha Landesbibl. B 50 u. B 271; letztere mit umfangreicher Widmung an den Kurfürsten v. Sachsen u. dessen Bruder) ist eine Art Schlüsselroman auf das Liebesverhältnis des Kurfürsten Friedrich von Sachsen mit Gräfin Amelei von Schwarzburg. Die Rahmenerzählung bedient sich in Anlehnung an Altswert u. Hermann von Sachsenheim des Schemas der Minneallegorie mit Traumeingang, zentralem locus amoenus u. Minnegespräch. Die Werbung des Ritters wird zunächst zurückgewiesen; anschließend aber stellt die Dame Forderungen zu seiner Erprobung, verlangt v. a. eine Pilgerfahrt ins Hl. Land. Nach seiner Rückkehr schenkt sie ihm ihr Vertrauen, schickt ihn aber vor ihrer Hingabe zur Vervollkommnung noch an verschiedene Höfe, an denen er so lange bleiben solle, bis sie ihn von dort zurückrufe. Literatur: E. Busse: A. v. H. Diss. Marburg 1902 (mit Textabdr. u. den handschriftl. Zusätzen H.s). – Ingeborg Glier: Artes amandi. Mchn. 1971, S. 357 f. – Walter Blank: A. v. H. In: VL. – Peter F. Kramml: Kaiser Friedrich III. u. die Reichsstadt Konstanz. Sigmaringen 1985, S. 463 f., Nr. 458 a. 471, S. 476, Nr. 33. – Peter Strohschneider: Lebt Artus noch zu8 Karydol, So stünd es in der welte baß. In: LiLi 18, H. 70 (1988), S. 78–80. – Wolfgang Achnitz: Minnereden. In: Forschungsber.e zur Internat. Germanistik. Germanist. Mediävistik. Hg. Hans-Joachim Schiewer. Bd. 2, Bln. 2003, S. 197–255. Walter Blank / Red.

Wohl aus Hammerstetten (Bayerisch-SchwaAugustin, Ernst, * 31.10.1927 Hirschberg/ ben) stammend, begegnet A. erstmals als Schlesien. – Romancier. kaiserlicher Söldner 1462 beim Aufstand der Wiener gegen Friedrich III. Entgegen der Der Sohn eines Oberstudiendirektors wuchs bisherigen Annahme verließ er nicht schon in Magdeburg auf u. studierte Medizin in um 1490 den kaiserl. Dienst, sondern erst Rostock u. Ost-Berlin. Anschließend arbeitete nach Friedrichs Tod (1493), wie aus Kons- er als Facharzt für Psychiatrie u. Neurologie tanzer Regesten hervorgeht. Danach trat er in an der Berliner Charité. 1958–1961 leitete er die Kanzlei des sächs. Kurfürsten Friedrich ein US-Krankenhaus in Afghanistan, später des Weisen ein. 1496 widmete er diesem in praktizierte er an einer Münchener Nerven-

Aurbacher

260

klinik u. wirkte als psychiatrischer Gutachter. Der Schriftsteller E. A. In: die horen 36 (1991), H. 1, A. lebt in München. Er ist sowohl Mitgl. der S. 68–84. – Axel Schalk: When Türmann dropped Bayerischen Akademie der Schönen Künste in the stone. The surreal landscapes of E. A.’s novels. München als auch der Deutschen Akademie In: Whose story? Continuities in contemporary German-language literature. Hg. Julian Preece u. a. für Sprache u. Dichtung in Darmstadt. Bern/Bln. 1998, S. 305–316. – Lutz Hagestedt u. A. äußert in seinen surrealen Romanen Nicolai Riedel: E. A. In: KLG. – L. Hagestedt: E. A. zum einen Zivilisationskritik; zum anderen In: LGL. Heinz Vestner / Eva-Maria Gehler befasst er sich mit den Grenzen des menschl. Seelenlebens, deren Überschreitung zum Tod oder zum Wahnsinn bzw. zur Schizophrenie Aurbacher, Ludwig, * 26.8.1784 Türkführt. Fantastische Verwirrungen, Lebensheim/Allgäu, † 25.5.1847 München. – angst u. Alpträume, der Übergang von Pädagoge u. Volksschriftsteller. Wirklichkeit u. Traum werden in spannender Weise dargestellt. In seinem ersten Roman A., Sohn eines mittellosen Nagelschmieds, Der Kopf (Mchn. 1962) schildert A. den Versi- trat 1801 in das Benediktinerkloster Ottocherungsvertreter Türmann, in dessen Vor- beuren ein u. wechselte nach dessen Auflöstellung sich eine Weltkatastrophe ereignet. sung in das österr. Stift Wiblingen. Durch den Der Roman wurde 1962 mit dem Hermann- Klosterdienst überfordert, wurde er 1804 Hesse-Preis ausgezeichnet. A.s autobiografi- Hofmeister bei einer Ottobeurener Familie u. scher Doppelroman Raumlicht. Der Fall Evelyne erwarb im Selbststudium Kenntnisse in der B. (Ffm. 1976) erzählt von der unkonventio- dt. u. frz. Literatur. 1809–1834 (Rücktritt nellen therapeut. Behandlung einer schizo- wegen Krankheit) war er Professor für Äsphrenen Patientin, deren Lebensgeschichte thetik u. dt. Stil am Kgl. Kadettenkorps in mit der des Arztes verbunden wird. Auch der München, wo er mit Joseph Görres u. Johann Roman Eastend (Ffm. 1982) kreist um das Andreas Schmeller befreundet war. In dieser Problem von Ich-Verlust u. Aufbau einer Stellung verfasste er Lehr- u. Arbeitsbücher neuen Identität, ist dabei aber auch eine Sa- zur Orthografie, Rhetorik, Poetik, Stilistik u. tire auf die sich immer mehr ausbreitenden Literaturgeschichte sowie anonym ein HandSelbsterfahrungsgruppen. Kompositorisch buch zur intellectuellen und moralischen Bildung bevorzugt A. das »Bauprinzip von Thema u. für angehende Officiers (Mchn. 1816), redigierte Variation« (Hagestedt/Riedel), was sich nicht 1829–1832 die »Schulblätter« u. die eigene nur in den Motiven widerspiegelt, sondern Zeitschrift »Philologische Belustigungen« (1824), gab ein Kleines Wörterbuch der deutschen auch in der Triadenstruktur der Romane. Für sein Gesamtwerk wurde A. 1999 mit Sprache (Mchn. 1828), eine Anthologie deutscher dem Literaturpreis der Stadt München aus- katholischer Gesänge aus alter Zeit (Landshut 1831), ferner die Geistlichen Hirtenlieder (Mchn. gezeichnet. 1826) u. den Cherubinischen Wandersmann Weitere Werke: Das Badehaus. Mchn. 1963 (R.). – Mamma. Ffm. 1970 (R.). – Der amerikan. (Mchn. 1827) des Angelus Silesius heraus, an Traum. Ffm. 1989 (R.). – Mahmud der Schlächter dessen Werk auch A.s eigene religiös-philooder Der feine Weg. Ffm. 1992 (R.). – Gutes Geld. soph. Sprüche Perlenschnüre (Luzern 1823) Roman in drei Anleitungen. Ffm. 1996. – Die sie- orientiert sind. In seinem Nachlass fanden ben Sachen des Sikh. Ein Lesebuch. Hg. Lutz sich Die Lalenbürger (veröffentlicht postum Hagestedt. Ffm. 1997. – Die Schule der Nackten. 1847 in den »Münchner Fliegenden BlätMchn. 2003 (R.). – Der Künzler am Werk. Mchn. tern«), Vorarbeiten zu einem Schwäbischen 2004 (E.en). – Badehaus 2. Mchn. 2006 (R.). – Idiotikon u. eine bes. kulturgeschichtlich aufSchönes Abendland. Mchn. 2007 (R.). schlussreiche Autobiografie bis zum Antritt Literatur: Walter Haug: Erec, Enite u. Evelyne des Lehramts. B. In: Ders.: Strukturen als Schlüssel zur Welt. Tüb. A.s bekanntestes Werk, das er nach eigener 1989, S. 464–482. – Sabine Brocher: E. A.: Der Aussage unter einer schweren depressiven Kopf. In: Dies.: Abenteuerl. Elemente im modernen Roman. Mchn./Wien 1981, S. 49–84. – Martin Verstimmung schrieb, wurde sein VolksbüchHielscher: Die dünne Eierschale der Wirklichkeit. lein (2 Tle., Mchn. 1827 u. 1829), das u. a. die

261

Aurea Catena Homeri

Abenteuer von den sieben Schwaben, die Wande- schriftsteller. Köln 1914. – Friedrich Sengle: Bierungen des Spiegelschwaben, Doctor Faustus, die dermeierzeit. 2 Bde., Stgt. 1972, S. 162–165 (zum Geschichte des ewigen Juden u. Ergötzliche und er- ›Volksbüchlein‹). – Charlotte Oberfeld: Der Tod als bauliche Erzählungen enthält. Dieses Werk, Freund. Der arme Junge im Grab’ (KHM 185). L. A. u. die Brüder Grimm. In: Brüder-Grimm-Gedenwelches A. das Urteil der Literaturgeken 5 (1985), S. 130–138. – Alois Epple: Der schichtsschreibung eintrug, »einer der besten schwäb. Volksschriftsteller L. A. In: Lit. in Bayern volkstümlichen Erzähler des Biedermeier- 73 (2003), S. 52–64. – Ders.: L. A.: der Dichter der deutschland« (Sengle) in der Nachfolge He- Sieben Schwaben, ein kath. Romantiker. In: Der bels zu sein, kann als Verwirklichung der von Schwabenspiegel 4–5 (2004), S. 248–257. Görres erhobenen Forderung gelten, altdt. Christian Schwarz / Red. Volksliteratur zu sammeln, die in der Schwank- u. Narrenliteratur, anders als in der Aurea Catena Homeri. – Hauptwerk der Sagenliteratur, als echte Volksdichtung vornaturkundlichen Hermetik des 18. Jh. liege. Indem A. die alte Schwabenschelte aufgreift u. zur Ironisierung des eigenen Die A. C. H. wurde seit Anfang des 18. Jh. in Volksstamms im Rahmen einer Abenteuer- Abschriften verbreitet, dann auch in AbdruKettenerzählung verwendet, folgt er der cken (Ffm./Lpz. 1723. Lpz. 1728. 1738. Jena Gattungstradition des Komischen Epos u. 1757), unter denen Johann Gottfried Jugels u. kommt damit dem im Klassizismus an epi- Johann Christoph Wöllners »Rosenkreuzersche Dichtungsformen gewöhnten Lesepu- ausgabe« (Annulus Platonis. Bln./Lpz. 1781) blikum entgegen. A.s Aussage, die Sieben hervorragt. Hinzu traten Übersetzungen ins Schwaben seien die schwäb. Ilias, während der Lateinische (von Ludovicus Favrat, Ffm./Lpz. Spiegelschwabe der Held einer schwäb. Odyssee 1762. 1763), Französische (La Nature Devoilée. sei, weist in die gleiche Richtung. Paris 1772), Englische (von Sigismund Bac»Biedermeierlich« ist am Volksbüchlein die strom, 1797) u. Russische (von M. I. BagryReduktion der sonst meist weltdurchmes- ansky, 1793). Fortschreibungen (Aurea Catenae senden Abenteuergeschichte auf den kleinen Homeri Dritter Theil De Transmutatione MetalloRaum, wobei Stammeseigenschaften u. das rum. Ffm./Lpz. 1726. Mit Zusätzen: Ffm./ Moment der Ängstlichkeit in der bürgerl. Lpz. 1727. Auch: Schwäbisch Hall 1770. Lebensauffassung humorvoll-satirisch wider- Dritter Theil [...] vom Sale philosophorum. Jena gespiegelt werden. A.s Erzählungen reprä- 1757) u. Streitschriften (Apologia der [...] Aurea sentieren die Schwankform des 19. Jh., indem catena Homeri. 1736) unterstreichen ihre fühsie vor einem die hergebrachte Ordnung be- rende Stellung in der hermet. Literaturprostätigenden Horizont die Schwänke alten duktion des 18. Jh. Wider mancher Ansicht hat die A. C. H. mit Typs rezipieren, jedoch ohne deren Drastik u. Ehrd von Naxagoras’ Experientia [...] secundum Sexualthematik. Weitere Werke: Mein Ausflug an den Ammer- annulos Platonicos, et catenam auream Homeri see u. dessen Umgebung. Mchn. 1813. – Das Fest (Ffm. 1723) nichts Näheres gemein. Die von aller Bayern. Gedichte zur Feier der 25jährigen dem Arzt Anton Joseph Kirchweger († 1740 Regierung Max Josephs. Mchn. 1824. – Dramat. zu Gmunden/Oberösterr.) im Microscopium Versuche. Mchn. 1826. – Büchlein für die Jugend. Basilii Valentini (Bln. 1790) beanspruchte VerStgt. 1834. – Pädagog. Phantasie. Bl. für Erziehung fasserschaft bedarf einer Absicherung. u. Unterricht. Mchn. 1838. – Kunz v. der Rosen. Bereits der Titel, formuliert aus Kenntnis Mchn. 1834 (E.). – Aus dem Leben u. den Schr.en des myth. Bildes vom inneren Zusammendes Magisters Herle u. seines Freundes Mäule. Landshut 1842. – Ges. größere Erzählungen. Aus hang aller Weltbereiche (Homer: Ilias VIII, dem Nachl. hg. v. Joseph Sarreiter. Freib. i. Br. 18–27), verrät, dass in der A. C. H. »die Natur, 1881. – Kleinere Erzählungen u. Schwänke. Hg. wenn auch vielleicht auf phantastische Weise, Joseph Sarreiter. Halle 1903. – Schwäb. Odyssee. in einer schönen Verknüpfung dargestellt« Ausw. hg. v. Curt Vitel. Memmingen 1965. worden ist (Goethe: Dichtung und Wahrheit, Literatur: Joseph Sarreiter: L. A. Mchn. 1880. – Buch 8). Durchaus »physicalisch-chymisch« Wilhelm Kosch: L. A., der bayrisch-schwäb. Volks- geprägt, gilt die A. C. H. der »Zeugung«

Aurpach

262

(Tl. 1) u. »Zerstörung« der »natürlichen Schrader u. Katharine Weder. Tüb. 2004, S. 55–84. Dinge« (Tl. 2); ihre Schöpfungslehren prägt – Renko D. Geffarth: Religion u. arkane Hierarchie. der Gedanke, Animalien, Mineralien u. Ve- Die Orden der Gold- u. Rosenkreuzer als Geheime getabilien seien »ihrem Grundwesen und Kirche im 18. Jh. Leiden/Boston 2007, S. 204 f. Joachim Telle Urstoff nach [...] ein und das nemliche Ding«. Allgemeine Naturerklärungen flankieren laborantisch belangvolle Darlegungen zur Prä- Aurpach, Johann, * 5.2.1531 Niederparation bestimmter Stoffe. Auf das natur- altaich, † 1582. – Lyriker. kundl. Weltbild u. die alchem. Praxis der Nach einem Jurastudium in Ingolstadt, Pavia freimaurerischen »Gold- und Rosenkreuzer« u. in Frankreich (Dr. iur. in Orléans, 1562) übte die A. C. H. maßgebl. Einflüsse aus. stand A. 1562–1565 im Dienste der bayer. Rezeptionsspuren finden sich aber auch im Herzöge in Landshut u. München u. war seit dichter. Werk Jean Pauls (Schulmeisterlein Ma- 1570 fürstbischöfl. Kanzler in Regensburg. ria Wutz) oder Hugo von Hofmannsthals (An- Unter den überragenden Dichterpersönlichdreas). keiten seiner Zeit ist er in Deutschland einer Ausgaben: The golden chain of Homerus. Übers. der wenigen Katholiken, beseelt von echtem v. S. Bactrom. Hg. T. H. Pattinson. In: Lucifer 7/42 »poetischem Drang«, von dem er selber (1891), S. 500–504; 8/44–45 (1891), S. 105–109, spricht. Schon die erste Sammlung des 248–251 (Teilabdr.). – Anton Joseph Kirchweger: Zwanzigjährigen (Poematum libri quatuor. Annulus Platonis (A. C. H.). Bln. 1921. Neudr. der Augsb. 1554) zeigt diese Begabung: vier BüAusg. Bln. 1781. – Die goldene Kette Homers (A. J. cher Gedichte mit Elegien, Trauergedichten, Kirchweger). Stockholm 1972. Nachdr. der Ausg. Ffm./Lpz. 1723. – Liber III. Catenae Aureae Homeri Epigrammen u. Lyrischem (Oden u. Hende transmutatione metallorum. Schwäbisch Hall dekasyllaben) – persönlich gehalten, auch in 1770. Nachdr. Stockholm 1974. – Annulus Plato- der Art der Ausführung, mit vielen Gedichten nis. Rotterdam 1983. Nachdr. der Ausg. Bln. 1781. auf Freunde u. Lehrer, v. a. Veit Amerbach, u. – The Golden Chain of Homerus. A. C. H. Übers. v. mit anmutigen Naturgedichten. S. Bacstrom. San Francisco 1983. – Golden Chain of Die Sammlung Poematum libri II entstand Homer. Hg. A. Kirchweger. Richardson/Texas 1554–1557 in Padua, wo A. von dem be1984. – A. C. H. ou La Nature dévoilée. Paris 1993. freundeten Petrus Lotichius Secundus angeAbdr. der Ausg. Paris 1772. – Homeru8 v zlaty´ reˇteˇz – regt wurde; sie enthält Gedichte, deren TheA. C. H. Prag 2002. – La nature dévoilée. Hg. Yonnel men Freundschaft, Naturbeschreibung, HinGhernaouti. Montélimar 2005 (nach der Ausg. Paris gabe an die Dichtkunst, Liebe u. Religion 1772). sind. 1570 erschien eine Sammlung anaLiteratur: Hermann Kopp: A. C. H. Braunschw. kreontischer Oden (Anacreonticorum Odae. 1880. – Ferdinand Maack: Die Goldene Kette Homers. Ein zum Studium u. zum Verständnis der Mchn. 1570), die auch über seine Familie gesamten hermet. Lit. unentbehrl. Hdb. Lorch Aufschluss gibt; A. besingt den Geburtstag 1905. – Gerard Heym: The A. C. H. In: Ambix 1 des Sohnes, betrauert den Tod der Tochter, (1937), 78–83. – Frithjof Galley: Magie im 18. Jh. rühmt die Hilfe der Gattin u. gibt seiner Transkription u. Analyse einer Hs. des ausgehen- Sehnsucht nach häuslichem Frieden, nach den 18. Jh. mit ›religiös-magisch-alchimistisch- Ruhe u. der Beschäftigung mit Büchern kabbalistisch-kuriosem‹ Inhalt. Diss. rer. nat. Ausdruck. Mchn. 1985, S. 98–136, 189–226. – Friedrich Ohly: A.s Anacreonticorum Odae sind die wohl einZur Goldenen Kette Homers. In: Das Subjekt der zige nlat. Sammlung, die von einem ZeitgeDichtung. FS Gerhard Kaiser. Hg. Gerhard Buhr nossen, dem Ingolstädter Professor Johann u. a. Würzb. 1990, S. 411–495, hier S. 476–480. Auch in ders.: Ausgew. u. neue Schr.en zur Litera- Engerd (1546–1587), als Ganzes ins Deutsche turgesch. u. zur Bedeutungskunde. Hg. Uwe Ru- übersetzt wurde. Seine »juristischen« Briefe, berg u. Dietmar Peil. Stgt./Lpz. 1995, S. 599–678. – die auch seine z.T. weiten Reisen widerspieIrmtraut Sahmland: ›Die Natur in einer schönen geln (1559 Ingolstadt, 1560 Paris u. Orléans, Verknüpfung‹. Goethes Adaptation der ›A. C. H.‹. 1560–1562 Angers, 1562–1564 Landshut, In: Von der Pansophie zur Weltweisheit. Goethes analogisch-philosoph. Konzepte. Hg. Hans-Jürgen

263

1563–1565 München), edierte sein Sohn Hieronymus in 6 Büchern (Ingolst. 1606). Weitere Werke: Iter Patavinum, ex Germania in Italiam. In: Hodoeporicorum Libri VII. Hg. Nikolaus Reusner. Basel 1580, S. 273–296. – Epistolarum juridicarum, quae consiliorum vice esse possunt, Libri IIII. Köln 1566. – Singularium allegationum ad communem rerum usum accomodatarum. Köln. 1571. Ausgaben: Zur Briefausg. s. o. – Anton Englert (Hg.): Johann Engerds Übers. v. J.A.s ›Odae Anacreonticorum‹. In: ZfdPh 34 (1902), S. 375, 396, 563. – Hans Pörnbacher (Hg.): Bayer. Bibl. Bd. 1, Mchn. 1978, S. 857–864. – Ausw. lat./dt. mit Komm. in: HL, S. 654–677, 1136–1355. Literatur: Theodor Muther: J. A. In: ADB. – Georg Westermayer in: Histor.-polit. Blätter 101 (1887), S. 489–505. – Karl v. Reinhardstöttner in: Jb. für Münchner Gesch. 2 (1888), S. 87–97. – Ellinger 2, S. 210–224. – Ulrich Tührauf: J. A. In: NDB. Hans Pörnbacher

Ausländer, Rose, eigentl.: Rosalie Beatrice Ruth A., geb. Scherzer, * 11.5.1901 Czernowitz/Bukowina, † 3.1.1988 Düsseldorf. – Lyrikerin. Als die Jüdin A. geboren wurde, war das »goldene Zeitalter« der Stadt Czernowitz auf seinem Höhepunkt angelangt. Ein Dutzend Ethnien mit ihren Sprachen, Religionen u. Kulturen lebten in friedlichem Nebeneinander an einem bürgerlich geprägten, urbanen Ort, orientiert am Leben in den Metropolen Wien, Prag u. Berlin. Die Mutter, deren Familie aus Berlin kam, weckte in dem Mädchen, das in dt. Muttersprache aufwuchs, das Interesse an Literatur u. Kunst; der Vater, aus chassidischem Milieu stammend, aber ein liberales Judentum lebend, ließ seine Tochter schon früh Jiddisch lernen u. machte sie mit jüd. Kultur, Tradition u. Religion vertraut. Er ließ sie aber auch Hebräisch lernen, damit sie nicht darauf angewiesen sei, sich von Männern die hl. Schriften vorlesen u. auslegen zu lassen. Beide Eltern legten großen Wert auf eine sorgfältige humanist. Schulbildung der Tochter. A. bezeichnete die Kindheit u. Jugend in Czernowitz als die einzige Zeit, in der sie uneingeschränkt glücklich gewesen sei. Im Aug. 1914 begann der Erste Weltkrieg. Die Familie Scherzer floh aus dem von russ.

Ausländer

Truppen besetzten Czernowitz über Budapest nach Wien. Dort absolvierte A. die Germinal Handelsschule u. eine Ausbildung im kaufmänn. Gewerbe. In diese Zeit datieren die ersten Schreibversuche. Der Rückkehr nach Czernowitz 1919 u. der Auswanderung in die USA nach dem Tod des Vaters im Jahr 1921 folgte 1922 die Heirat mit Ignaz Ausländer. A. nahm 1926 die amerikan. Staatsbürgerschaft an, ließ sich 1930 scheiden u. kehrte im folgenden Jahr nach Czernowitz zurück. Ab 1921 publizierte A. erste Gedichte in deutschsprachigen Zeitungen u. Jahrbüchern in den USA. Der Zyklus New York mit expressionist. Gedichten entstand 1928–1930 (Gesamtwerk, Bd. 1, 1986). Nach der Rückkehr fand A. Arbeit als Journalistin u. Englischlehrerin u. veröffentlichte Gedichte in Zeitschriften in Czernowitz, Kronstadt u. Prag. Ab 1934 war A. in Bukarest als Fremdsprachenkorrespondentin angestellt. 1939 erschien in Czernowitz ihr erster Gedichtband Der Regenbogen. Sie schrieb den Gesetzen der Metrik folgend, häufig mit Endreim. Neben klass. Vorbildern empfing sie Anregungen durch Czernowitzer Dichter (Alfred MargulSperber, David Goldfeld, Alfred Kittner). Im Sommer 1940 hielt sich A. zur Pflege ihrer Mutter in Czernowitz auf, als die Stadt von sowjet. Truppen besetzt wurde. Sie arbeitete als Pflegerin in einer Augenklinik u. entging so 1941 nach Rückeroberung der Bukowina durch rumän. Truppen der Deportation in die Ukraine (Transnistrien), wo die Mehrzahl der Juden aus der Bukowina in Gettos u. Lagern ermordet wurden. A. überlebte das Czernowitzer Getto, Zwangsarbeit u. einen extremen Mangel an Nahrung. Sie schrieb in jenen Jahren den Zyklus Gettomotive (Gesamtwerk, Bd. 1, 1986) u. flüchtete vor der unerträgl. Realität in eine »geistige Welt« der Literatur u. Philosophie. 1944 wurden die überlebenden Juden von sowjet. Truppen befreit. Die Lyrikerin übersiedelte nach Bukarest u. gelangte von dort 1946 als »displaced person« wieder nach New York, wo sie bis 1964 im Exil lebte. Von 1947 bis 1956 schrieb sie ihre Gedichte ausschließlich in Englisch. Dabei orientierte sie sich an zeitgenössischen amerikan. Dichtern, mit denen sie bekannt, teilweise befreundet war (E. E.

Ausländer

Cummings, Marianne Moore, Robert Frost u. a.). Durch Krieg, Shoa u. Exil war »der Reim in die Brüche gegangen. Blumenworte welkten. Die Sterne ... erschienen in anderer Konstellation.« Auf dem Weg zu einem eigenen, neuen Stil, heraus aus den Fesseln der Metrik, zu freien Versen u. Rhythmen, bestärkte sie Paul Celan, den sie als Bekannten aus Czernowitz 1957 mehrfach in Paris besuchte. 1964 verließ Ausländer New York, ließ sich für kurze Zeit in Wien nieder, von wo sie wegen schlimmer antisemit. Anwürfe 1965 nach Düsseldorf floh. Dort lebte sie zunächst sieben Jahre in einer Pension u. schließlich bis zu ihrem Tode – die letzten zehn Lebensjahre bettlägerig – im Altenheim der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf. Die Bettlägerigkeit war nicht krankheitsbedingt, sondern vielmehr eine selbst gewählte Isolation, um sich ohne jegl. Ablenkung dem Schreiben hingeben zu können. Verständlich wird dies, wenn man weiß, dass sie ihre gesamte Identität aus ihrem Dichten herleitete: »Wenn ich verzweifelt bin / schreib ich Gedichte // Bin ich fröhlich / schreiben sich Gedichte / in mich // Wer bin ich / wenn ich nicht / schreibe.« 1965 erschien in Wien A.s zweiter Gedichtband Blinder Sommer. Es sind lange Gedichte; sie verwandte für Verse u. Strophen ganze Sätze. Im Laufe der Jahre wurden die Texte verkürzt, über die Ellipse gelangte sie zu immer stärker reduzierten Gedichten, die konzentriert u. knapp schließlich reine Essenz sind. In der Alterslyrik, die als Wortlyrik bezeichnet wird, verließ sie sich ganz auf unser kulturelles Gedächtnis, sodass es ihr möglich wurde, mit wenigen Worten einen ganzen Kosmos auszubreiten. A.s Themen u. Motive sind vielfältig. Als Hauptgruppen lassen sich die Gedichte zur (verlorenen) Heimat, zum Judentum, zur Shoa, zum Exil, zur Heimatfindung in Wort u. Sprache u. schließlich zu Liebe, Alter u. Tod bezeichnen. Ihre Gedichte sind stark biografisch geprägt. A. beherrschte das Dichten als Handwerk perfekt, arbeitete mit Wortschöpfungen, Alliterationen, Pointen, paradoxen Aussagen, Oxymora, frischen Metaphern usw.; sie stattete die Texte mit Melodie u. Rhythmus u. starker Emotion aus.

264

Dabei sind ihre Texte von hoher Rationalität geprägt, die sich bei sorgfältiger Interpretation erschließt. A. war eine besessene Arbeiterin, die ihr Schreiben als triebhaft bezeichnete. In ihrem Nachlass (Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf) finden sich über 20.000 Seiten Manuskripte u. Typoskripte. Es wird deutlich, dass sie bis zu 25 Fassungen eines Gedichtes erstellte u. oftmals viele Jahre daran arbeitete, bis eine Fassung sie zufrieden stellte oder sie auf Weiterarbeit verzichtete u. das Konvolut »dem Papierkorb anvertraute«. Mit dem Band Gesammelte Gedichte (Leverkusen) wurde A. 1976 bekannt, mit den Bänden Mein Atem heißt jetzt (Ffm. 1981. 1995 u. ö.), Mein Venedig versinkt nicht (Ffm. 1982. 1992) u. Ich spiele noch (Ffm. 1987. 1991) berühmt. Zahlreiche Literaturpreise, Orden u. Ehrungen begleiteten ihre letzen Lebensjahre. Als sie 1988 starb, umfasste ihr veröffentlichtes Werk 2500 Gedichte, 60 Kurzprosatexte, kleine Erzählungen u. einige Essays. Ihre Gedichte zählen zum Kanon der Schulliteratur, ihre Bücher wurden bis 2007 mehr als 900.000-mal verkauft u. sind in 26 Ländern u. 24 Sprachen veröffentlicht. A. wird der Schicksalsgemeinschaft der jüd. Dichterinnen – Else Lasker-Schüler, Nelly Sachs, Hilde Domin – zugeordnet, die die Shoa überlebten u. Entwurzelung, Verfolgung, Emigration u. Exil thematisieren. Während sie im Feuilleton von Zeitungen, Zeitschriften, Rundfunk u. Fernsehen in höchsten Tönen gelobt u. als eine der besten u. wichtigsten zeitgenöss. DichterInnen gefeiert wurde – »...hat Rose Ausländer, der Sprache sich hingebend, den Deutschen ein Wortkunstwerk geschenkt, wie es stärker im Ausdruck, feiner in der Form und präziser in der Aussage kaum zu denken ist« (FAZ, 10.11.1995) –, entdeckte die Literaturwissenschaft ihr Werk im Wesentlichen erst nach ihrem Tode. Seitdem sind allerdings etwa 500 Arbeiten – Symposionstexte, Magisterarbeiten, Dissertationen, Beiträge in Sammelbänden u. Fachzeitschriften – zu A.s Gedichten erschienen. Internationale Symposien in Rom, Düsseldorf, Ludwigsburg, Marbach, Czernowitz, Bukarest, Wien, Berlin, Paris u. Münster haben den Stellenwert A.s in der dt.

Autorff

265

Dichtung deutlich gemacht. In der Sekun- Autorff, Ernst Jacob von, auch: Der Verdärbibliografie, die in der Rose Ausländer- gnügte Amydor, * 30.11.1639, † 5.12. Stiftung in Köln geführt wird, sind über 1400 1705. Als Geburtsort kommt der Besitz feuilletonistische u. wiss. Texte verzeichnet des Vaters, Pürbischau bei Trebnitz im (Stand Aug. 2007, abrufbar unter www.rose- schlesischen Fürstentum Oels, in Frage, auslaender-stiftung.de). als Sterbeort A.s eigener Besitz DomatAusgaben: Gesamtwerk in acht Bänden. Ffm. 1984–90. – Gesamtwerk in sechzehn Bänden. Ffm. 1992–96. – Deiner Stimme Schatten – Gedichte, Prosa u. Materialien aus dem Nachl. Ffm. 2007. Literatur: Gabriele Köhl: Die Bedeutung der Sprache in der Lyrik R. A.s. Pfaffenweiler 1993. – Harald Vogel u. Michael Gans: R. A. lesen. Baltmannsweiler 1997. – Helmut Braun: Ich bin fünftausend Jahre jung – Biogr. v. R. A. Stgt. 1999. – Annette Jael Lehmann: Im Zeichen der Shoah – Aspekte der Dichtungs- u. Sprachkrise bei R. A. u. Nelly Sachs. Tüb. 1999. – Jutta Kristensson: Identitätssuche in R. A.s Spätlyrik Rezeptionsvarianten zur Post-Schoah-Lyrik. Ffm. u. a. 2000. – H. Braun (Hg.): Weil Wörter mir diktieren: schreib uns. Literaturwiss. Jb. 1999. Köln 2000. – Kathrin Bower: Ethics and Remembrance in the Poetry of Nelly Sachs and R. A. Richmond 2001. – Jean Firges: R. A.: Ich, Mosestochter. Gedichtinterpr.en. Annweiler 2001. – H. Braun u. Walter Engel (Hg.): ›Gebt unseren Worten / nicht euren Sinn.‹ R. A. Symposion Düsseldorf. 2001. Köln/Bln. 2001. – M. Gans u. a. (Hg.): ›Wörter stellen mir nach / Ich stelle sie vor‹ – Dokumentation des Ludwigsburger Symposions: 100 Jahre R. A. Baltmannsweiler 2002. – Ders. u. H. Vogel (Hg.): ›Immer zurück zum Pruth‹. Dokumentation des Czernowitzer Symposions: 100 Jahre R. A. Baltmannsweiler 2002. – Claire de Oliveira u. Jean-Marie Valentin: R. A. De la Bucovine à l’après-Shoah. EG avril-juin 2003. – H. Braun (Hg.): Meine geträumte Wortwirklichkeit. Röm. Symposion 1999 u. andere Texte. Bln. 2004. –Maria Behre: Eva, wo bist du? Wirkungsmacht des Weiblichen im Werk R. A.s. Bln. 2005. – Michel Lemercier: R. A. Contributions à l’étude de sa vie et de son œuvre. Straßb. 2005. – Jacques Lajarrige u. MarieHélène Quéval (Hg.): Gedichte, R. A. Nantes 2005. – Martin Hainz: Entgöttertes Leid – Zur Lyrik R. A.s unter Berücksichtigung der Poetologien v. Theodor W. Adorno, Peter Szondi u. Jaques Derrida. Tüb. 2007. Helmut Braun

schine, Kreis Oels. – Romancier. A. scheint die militär. Laufbahn eingeschlagen zu haben. Jedenfalls wird er Anfang des 18. Jh. als Hauptmann im Dienst der Stadt Breslau erwähnt; als Ingenieur beschäftigte er sich mit Festungsbau. Er war zweimal verheiratet. Der erste seiner beiden Romane wurde von August Bohse, der den Verfasser nicht kannte, herausgegeben u. um ein weiteres, fünftes Buch vermehrt: Die Durchlauchtigste Olorena, oder warhafftige Staats- und LiebesGeschichte dieser Zeit (Lpz. 1694. 21697. 31708), eine nur leicht verschlüsselte Darstellung der Ereignisse von 1660 bis 1680 (bzw. bis 1690 in Bohses Erweiterung). Der Schwerpunkt liegt auf der Schilderung politisch-militärischer Vorgänge u. einer Liebesbeziehung Herzog Karls IV. von Lothringen (»Carlloreno«) mit der Schwester Kaiser Leopolds I. Eleonora Maria Josefa. A.s zweiter Roman Publius Cornelius Scipio der Africaner Helden und Liebes-Geschichte (2 Tle., Liegnitz 1696–98) ist trotz der eingeschobenen Liebesgeschichten u. der dramat. u. poet. Einlagen letztlich wenig mehr als ein umfangreiches Lehrbuch der röm. Geschichte in Romanform. Damit gehört A. zu den Autoren des späten 17. Jh., die die Form des höf. Romans nur noch als Rahmen für historische, geograf. oder einfach kuriose Materialien verwendet haben. Weitere Werke: Discurs, v. der Krieges-Baukunst, oder Fortification: zwischen Thudesco, einem erfahrenen Ingeunirer: u. Sylvandern, einem jungen Edelmanne [...]. Breslau 1680. Literatur: Franz Heiduk: E. J. v. A. Ein unbekannter schles. Romanautor. In: Schlesien 14 (1969), S. 7–14. Ingeborg Springer-Strand / Red.

Ava

Ava, auch: Frau Ava, † wahrscheinlich 1127. – Verfasserin bibelepischer Dichtungen. Die Verfasserin der Dichtungen Johannes (446 Verse), Leben Jesu (2418 Verse), Antichrist (118 Verse) u. Jüngstes Gericht (406 Verse) ist die erste namentlich bekannte deutsch schreibende Autorin. Wenn man – sicher zu Recht – die »Ava inclusa«, deren Tod die »Melker Annalen« zum Jahre 1127 vermerken, mit der Autorin A. identifiziert, die im Jüngsten Gericht ihren Namen nennt, starb sie um 1127 in der Gegend von Melk/Niederösterreich. Aus der in diesem Werk enthaltenen Schlussbitte um Gebetsgedenken geht auch hervor, dass A. zwei erwachsene Söhne hatte, als sie zu schreiben begann (einer wird als bereits verstorben beklagt). Beide waren offenbar geistlich gebildet u. haben die Mutter theologisch beraten (vgl. Jüngstes Gericht, v. 395). A. hat sich demnach, wie viele andere religiös engagierte Laien ihrer Zeit, nach einem Leben in der Welt einer geistl. Lebensführung zugewandt. Die Gründe für A.s »conversio« lassen sich nur vermuten; ihr Werk aber macht deutlich, dass ihre Zurückgezogenheit nicht zum radikalen »contemptus mundi« führte: Sie hielt auch als Inklusin ein gottgefälliges Leben »in der Welt« für möglich. A. wird in den zeitgenöss. Chroniken mehrfach erwähnt. Sie muss – jedenfalls in ihrer österr. Heimat – eine bekannte u. geschätzte Persönlichkeit gewesen sein, nicht zuletzt wohl aufgrund ihrer Dichtungen. A.s Werke sind zweifach überliefert: in der Vorauer Handschrift aus dem letzten Viertel des 12. Jh. (ohne Johannes) u. in einer seit 1945 verschollenen Handschrift des 14. Jh. Letztere passte den Text dem Reim- u. Versgebrauch ihrer Zeit an. Die Quelle für A.s Werk ist im weitesten Sinn das NT. Die Nachdichtung wählt jedoch aus dem bibl. Material aus, wobei sie sich weitgehend an der Perikopenordnung, d.h. an den sonn- u. feiertags verlesenen Evangelienabschnitten orientiert. Dabei fällt auf, dass vorwiegend die Perikopen des Weihnachts- u. Osterfestes herangezogen werden. Die liturg. Perikopen, ergänzt durch die sie kommentierende Predigt, dürften daher als

266

Hauptquellen gedient haben. Ein Lektionar (u. ein Brevier?) könnten als zusätzliche schriftl. Stütze gedient haben. Die Verwertung lat. Nebenquellen (Bibelkommentare, Adsos Libellus de Antichristo) ist in der Forschung umstritten. Sicher jedoch kannte A. die frühmhd. Bibelepik (Genesis) u. das liturg. Osterspiel. Die vier Werke A.s sind, obwohl relativ selbständig u. jeweils in sich geschlossen, aufeinander bezogen. Sie bilden ein heilsgeschichtliches Kontinuum, das von der Verheißung der Johannesgeburt bis zum Ausbruch der ewigen Herrlichkeit nach dem Jüngsten Gericht reicht (einzige Überschneidung ist die Verkündigungsszene, die im Johannes u. im Leben Jesu – jedoch mit unterschiedl. Akzentuierung – erzählt wird). Der heilsgeschichtl. Aspekt wird zu Beginn des Zyklus durch einen entsprechenden Hinweis betont: »wie die zit aneviench, daz di alte e zergiench« (»wie die Zeit kam, in der der Alte Bund zu Ende ging«, Johannes v. 3 f.). Auch das Erlöserleben, das als heilsgeschichtliches Zentralereignis den größten Raum einnimmt, wird primär unter »historischem« Aspekt erzählt: Wunder u. Lehren treten zurück zugunsten einer einprägsamen Schilderung der Gestalt Jesu, des Heilands, u. seiner entscheidenden Lebensstationen. Selbst die das Leben Jesu abschließende Versreihe über die Sieben Gaben des Hl. Geistes, die meist als selbständiger Anhang betrachtet wird, ordnet sich sinnvoll in den heilsgeschichtl. Ablauf ein: An das Pfingstgeschehen anschließend, steht sie für das Weiterwirken des Geistes in der Kirche u. im einzelnen Gläubigen. Sie überbrückt also den Zeitraum zwischen Pfingsten u. der Herrschaft des Antichrist, die das dritte Werk kurz berichtet, bevor mit dem Jüngsten Gericht das Heilsgeschichtspanorama vollendet wird. Mit der Gestaltung eines »Werk-Zyklus« hat A. einen durchaus eigenständigen Beitrag zur Entwicklung der großepischen Form in der Volkssprache geleistet. Ihre Selbständigkeit zeigt sich auch in vielen kleinen Zügen, die ihr Werk – verglichen mit dem ihrer Zeitgenossen – »persönlicher« erscheinen lassen (individuelle Ausgestaltung der Schlussbitte, Hervorhebung der Frauenge-

267

Avancini

stalten, persönl. Anverwandlung theologi- Avancini, Nicolaus von, S. J., auch: Nicscher Gelehrsamkeit). Diese Autoren-»Indi- colò Avancini; Nicolaus Avancinus, * 1.12. vidualität« – nicht zuletzt bedingt durch die 1611 Brez bei Trient, † 6.12.1686 Rom. – Tatsache, dass eine »laienhafte« Frau zur Neulateinischer Dichter u. Dramatiker. Feder griff – ist selbstverständlich relativ: kleine Variationen im Rahmen einer Traditi- Von der Familie zur geistl. Laufbahn beon, die den Stoff u. seine Deutung ebenso stimmt, besuchte A. das Jesuiten-Kolleg in vorgab wie die Form (locker gefügte u. ge- Graz; dem Orden trat er im Alter von 16 Jahren bei. Nach Vollendung des philosoph. reimte Vierheber). Trienniums unterrichtete er in Triest, Agram Ausgaben: Friedrich Maurer (Hg.): Die Dich(Zagreb) u. Laibach (Ljubljana) Grammatik u. tungen der Frau A. Tüb. 1966. – Kurt Schacks (Hg.): Die Dichtungen der Frau A. Graz 1986. – Walter Rhetorik. In Wien studierte er von 1637 bis Haug u. Benedikt K. Vollmann (Hg.): A.: Das 1640 Theologie, u. gleich im Anschluss lehrte Jüngste Gericht. In: Frühe dt. Lit. u. lat. Lit. in er das Fach nebst Philosophie. 1646 erhielt er Dtschld. 800–1150. Ffm. 1991, S. 728–751 (mit die höhere theolog. Venia u. wirkte annänhd. Übers.). hernd 20 Jahre als Theologieprofessor der Übersetzungen: A.’s New Testament narra- Wiener Universität u. Rektor des Jesuitentives. ›when the old law passed away‹. Introduction, kolleges. In dieser Zeit entstanden die meistranslation, and notes by James A. Rushing. ten Dramen, Gedichte, Lehrwerke u. Reden. Kalamazoo 2003 (engl.). – Arianna Doria: Frau A. Annähernd dieselbe Zeit stand er in den JahForschungsber., Komm. u. Übers. Triest 2003 ren ab 1664 an stets wechselnden Orten in (ital.). verschiedenen Ämtern seinem Orden zur Literatur: Richard Kienast: A.-Studien 1–3. In: Verfügung (als Rektor in Passau, erneut in ZfdA 74 (1937), S. 1–36, 277–308. ZfdA 77 (1940), Wien, Graz; als Visitator für Böhmen, als S. 85–104. – Eoliba Greinemann OSB: Die Gedichte der Frau A. Diss. Freib. i. Br. 1967. – Achim Masser: Provinzial für Österreich, als OrdensgesandBibel, Apokryphen u. Legenden. Bln. 1969. – Edgar ter in Rom). Gestorben ist er als »Assistens Papp: A. In: VL. – Ernst Ralf Hintz: Frau A. In: Germaniae« des Ordensgenerals zu Rom. Semper idem et novus. Hg. Francis G. Gentry. A. war in erste Linie Pädagoge, der die Göpp. 1988, S. 209–230. – Barbara Thoran: Frau Bildung jugendlicher Charaktere durch einen A.s ›Leben Jesu‹ – Quellen u. Einflüsse. Eine konsequent Wissenserwerb, Fleiß u. soziale Nachlese. In: Dt. Lit. u. Sprache v. 1050 bis 1200. Tugenden betonenden Unterricht, durchaus Hg. Annegret Fiebig u. Hans-Jochen Schiewer. Bln. im Sinne einer Eliten-Ausbildung, fördern 1995, S. 321–331. – Barbara Gutfleisch-Ziche: Volkssprachl. u. bildl. Erzählen bibl. Stoffe. Die il- sollte. Gegen Mittelmaß, fehlendes Talent lustrierten Hss. der ›Altdeutschen Genesis‹ u. des setzte er strenge Auslese der Besten. Mehr›Leben Jesu‹ der Frau A. Ffm. u. a. 1997. – Ernst fach monierte er Missstände im Schulwesen: Ralf Hintz: Differing voices and the call to judg- in der Reduktion des Lehrstoffs, der Verment in the poems of ›Frau A.‹. In: Medieval Ger- nachlässigung der Lektüre der Klassiker, der man voices in the 21st century. Hg. Albrecht mangelnden Einübung deklamatorischer u. Classen. Amsterd. 2000, S. 43–60. – Arianna Doria: rhetor. Fertigkeiten. Die regelmäßige AufFrau A. Forschungsber., Komm. u. ital. Übers. führung von Dramen war in diesem Sinne ein Triest 2003. – Bruno Quast: Vom Kult zur Kunst. wirkungsvolles Instrument zur Pflege der Tüb. 2005, S. 90–107, passim. – Manuela Niesner: Sprache wie des Anwendungswissens u. der Deutung durch Erzählung. Zur Heilung des Blindgeborenen in A.s ›Leben Jesu‹. In: Vom viel- erwünschten Außenwirkung der Kollegs. Ein erstes Fazit seiner Dramenproduktion fachen Schriftsinn im MA. Hg. Freimut Löser u. zieht A. auf dem Höhepunkt seiner Arbeit für Ralf G. Päsler. Hbg. 2005, S. 343–364. Gisela Vollmann-Profe / Red. das Wiener Theater in der 60. Ode seiner Poesis Lyrica (Liber 3) mit dem Titel »Author Poesin valere jubet severioribus studiis occupatus«. A. nennt Zeitpunkt u. Anlass der Aufführungen; seine Aufzählung endet (vorläufig) mit dem Theodosius Magnus zu Ehren

Avancini

Ferdinands IV. u. dessen Krönung zum ungar. König. Sein Tod traf alle Mitwirkenden u. den Autor unvermittelt. Dennoch nimmt er die dramat. Arbeit (vgl. die panegyr. erste Ode des Liber 4) nur wenig später wieder auf u. zwar mit seinem Konstantin-Drama, der Pietas victrix. Es zeugt von Sendungsbewusstsein, dass seine Dramen als Muster sorgfältig ausgewählt nun in einem ersten Band seiner Poesis dramatica (1655) vorgelegt wurden, dem in den nächsten Jahrzehnten noch vier weitere Bände folgen sollten (Bd. 1–3: Wien; Bd. 4: Prag; Bd. 5: Köln 1655 ff. Die Bde. 1–4 wurden ab 1675 in Köln nachgedruckt; die 1679 vollendete Werkausgabe enthält 26 Dramen). Wie auch immer man die Dramen aufgeteilt hat (nach Stoffbereichen oder dramaturgischem Aufwand), so zeigen sie die Wandlungsfähigkeit des Autors, der für jeden Spielort u. Anlass das rechte Maß zu finden wusste. Bei den sog. »Ludi Caesarei« zu Ehren des habsburg. Hauses waren repräsentative Inszenierungsmuster nicht nur innerhalb der Akte eingeplant (Triumphe u. Huldigungsszenen), zahlreiche aktionsreiche Einlagen u. allegor. Chöre zielten auf die Überwältigung des Publikums. Allerdings waren sie so umsichtig platziert, dass sie die reflektierenden Monologe u. vom Dialog lebenden Szenen nicht überdeckten. Im Theodosius Magnus u. der Pietas victrix, den bühnentechnisch am aufwendigsten ausgestatteten Dramen, werden den gerechten u. frommen Imperatoren die nicht einsichtsfähigen Tyrannen Eugenius u. Maxentius gegenübergestellt. Offenbar wird hier vorgeführt, dass die Guten zum Heil, die anderen aber, die Ambitio u. Furor nachgeben, zum ewigen Verderben bestimmt sind, allerdings nicht im Sinne der doppelten Prädestination, die von Cornelius Jansen in der Nachfolge der Lehren des Kirchenvaters Augustinus vertreten wurde. Dessen radikale Gnadenlehre unter Ausschaltung des Willens des Einzelnen wird hier unterlaufen: Zwar wählt die göttl. Providentia ihre Werkzeuge aus u. verhilft ihnen gegen ihre Widersacher zum Sieg, doch zeigt A. detailliert den Punkt, wo eine Umkehr noch möglich wäre, wo bloße Einsichtsfähigkeit in das eigene Unrecht das Schicksal (oder die Strafe Gottes) hätte abwenden kön-

268

nen. Wer diese Grenze mutwillig dennoch überschreitet, zieht seinen Untergang nach sich. Auch an anderen Figuren entwickelt A. den Gedanken der freien Willensentscheidung, die den fal sch en Weg bewusst gehen kann, u. die, wenn selbst offensichtl. Warnungen missachtet werden (z.B. von Emanuel Sosa in Ambitio sive Sosa naufragus), nicht nur zurecht den eigenen Untergang befördert, sondern auch Gefolgschaft u. Angehörige der Vernichtung preisgibt. Die Vorsehung Gottes ist nicht unausweichliches Schicksal, denn Prüfungen, die von der »providentia divina« geschickt werden, damit sich der Held eines Besseren besinnt, wären sonst sinnlos. Schwierig ist die Deutung der geschichtl. Dramen Olaus Magnus, Artaxerxes, Canutus u. Alexius Comnenus (die übrigens allesamt nicht aufgeführt wurden). Hier triumphieren bösartige Intriganten scheinbar mühelos über unschuldige Verwandte, die mit Verleumdung u. Mord aus dem Weg geräumt werden, u. niemand hält sie auf, bevor sie ihr Vernichtungswerk zur Gänze vollbracht haben: Erst dann greift die Vorsehung ein. Die unschuldig Verleumdeten werden hier nicht rehabilitiert wie die sich in ihr Martyrium bzw. die Verbannung ergebenden Heldinnen Ansberta, Genovefa u. Eugenia (in den gleichnamigen Dramen). In beiderlei Dramen, den blutrünstigen Tragödien wie den Stücken, die nach langer Prüfung die Eheleute wieder glücklich zusammenführen, stehen die mühelos Betrogenen, die den fingierten Beschuldigungen allzu bereitwillig Ohr u. Willen neigen, im Fokus des Interesses: Dies ist Warnung der Regenten u. Mächtigen vor Intrige, falschem Rat, machiavellistischem Ratio Status-Denken. Ein von sozialer Gerechtigkeit u. Frömmigkeit angetriebenener Regent oder Ratgeber handelt nicht aus Gründen des Machterhalts, des Ehrgeizes oder leicht erregbaren Emotionen (Wut, Neid, Hass). A.s Übersetzungarbeit Tyrannis Idokerdi, seu privati Commodi vulgo Interesse dicti (1675 aufgeführt), zeigt den alles vernichtenden Sieg des Eigennutzes, der unter der Maske der »Ratio Status« erst den Hof für sich gewinnt u. dann die uneingeschränkte Macht. Das tragisch endende, jedoch in der Durchfüh-

269

rung einer burlesken Oper gleichende Stück (es übersetzt ein ital. Libretto von Francesco Sbarra: La Tirannide dell’interesse) wird von der allegor. Gestalt »Bulaea« (Freier Wille) kommentiert als der selbstverschuldete Verlust von Freiheit. Ebenso wie sein dramatisches Werk fasste A. auch seine Predigten, Ansprachen zu offiziellen Anlässen u. Prunkreden in einer (später nicht mehr erweiterten) Mustersammlung zusammen (Orationes. Wien 1656. Bis 1716 erlebte der Band elf Auflagen). Das als Evangelien-Harmonie für alle Tage des Jahres angelegte Leben Jesu mit Anweisungen zur geistl. Meditation, Vita et doctrina Jesu Christi (zuerst Wien 1665), erlebte einen grandiosen Erfolg. Es wurde bereits zwei Jahre später ins Deutsche übersetzt (von Joachim Häring: Leben und Lehr Unsers Herrn Jesu Christi. Wien 1667. Köln 1672 u. ö.) u. später mehrfach erneut ins Deutsche u. in zahlreiche europ. Sprachen übertragen. Die OriginalFassung erfuhr zu Lebzeiten A.s acht u. bis in die Mitte des 20. Jh. 60 Nachdrucke. Die Abschnitte des Buchs sind einfach zu erfassen, die Anweisungen klar u. nachvollziehbar u. ermöglichen so Ordensangehörigen wie (in den Übersetzungen) Laien einen meditativen Nachvollzug des Leben Jesu (ohne myst. Tiefgang). Von den drei Sammelausgaben der Dramen, der Lyrik, des orator. Œuvres, die A. selbst zusammenstellte, haben nur die Dramen-Bände eine stetige Erweiterung durch den Autor erfahren. Die Poesis lyrica erschien 1659 in Wien mit einer Widmung an Kaiser Leopold I. Die ca. 250 Oden u. Epoden sind überwiegend anlassgebunden den Bereichen Hof, Universität u. Schule subsumiert, doch finden sich auch Gedichte an die Mutter Gottes, über Laster (etwa Trägheit eines Schülers) u. Tugenden (»Sapiens in utraque fortuna constans«: Lyr. I, 28 »Ad philosophos«; im Liber epodon, 8 wird Labor u. Sapientia als Brautleuten ein Epithalamion dargebracht). Selbstverständlich enthält die Sammlung über den Amtsbereich u. Panegyrica hinaus auch Freundschaftsgaben, deren Adressaten unter Decknamen verborgen bleiben.

Avancini Ausgaben: Periochen: Jean-Marie Valentin: Programme v. A.s Stücken. In: Literaturwiss. Jb. der Görresgesellsch. N.F. 12 (1971), S. 1–42 (›Franciscus Xaverius‹, ›Joseph‹, ›Ansberta‹, ›Pietas Victrix‹, ›Euergetes‹, ›Cyrus‹). – Elida Maria Szarota (Hg.): Das Jesuitendrama im dt. Sprachgebiet. Eine Periochen-Ed. 4 Bde. in 7 Tln., Mchn. 1979–87, I.1, S. 291–306 (›Cyrus‹); S. 475–482 u. 483–490 (›Clodoaldus‹); II.2, S. 1997–2004 (›Sosa Naufragus‹); III.2, 2187–2189 (›Pietas Victrix‹). – Sonstige Ausgaben: N. v. A.: ›Pietas Victrix, seu Constantinus Magnus‹. In: Das Ordensdrama. Hg. Willi Flemming. Lpz. 1930, S. 184–303; vgl. 367–369. – ›Pietas Victrix‹. Der Sieg der Pietas. Hg., übers. u. eingel. v. Lothar Mundt u. Ulrich Seelbach. Tüb. 2002. – Mikroformen u. Digitalisate: Poesis lyrica. Wien 1659. Poesis dramatica. Tl. I-V. Köln 1675–80. Orationes. Köln 1688 u. a. In: Faber du Faur 1 (Microfilm-Ed.), Nr. 1012–1017. Poesis lyrica. Wien 1670. Poesis dramatica. Tl. I-IV. Köln 1675–1679. In: CAMENA. Literatur: Bibliografie: Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 1, S. 357–377. – Weitere Titel: Nikolaus P. Scheid: N. A., ein österr. Dichter d. 17. Jh. Feldkirch 1899. – Willi Flemming: N. A. In: NDB. – Walter Neuhauser: Zur Lyrik des Tiroler Jesuitendichters N. A. In: Serta philologica Aenipontana 1. Innsbr. 1962, S. 425–456. – Angela Kabiersch: N. A. u. das Wiener Jesuitentheater 1640–85. Diss. [masch.] 1972. – Jean-Marie Valentin: Le théâtre des Jésuites dans les pays de langue allemande (1554–1680). Bd. 2, Bern 1978, S. 839–943; Bd. 3, S. 1287–1312 (Anm.). – Ders.: Die Jesuitendichter Bidermann u. A. In: Dt. Dichter des 17. Jh. Ihr Leben u. Werk. Hg. Harald Steinhagen u. Benno v. Wiese. Bln. 1984, S. 385–414. – Ruprecht Wimmer: Constantinus redivivus. Habsburg im Jesuitendrama d. 17. Jh. In: Die Österr. Lit. Ihr Profil v. den Anfängen im MA bis ins 18. Jh. Hg. Herbert Zeman. Tl. 2, Graz 1986, S. 1093–1116. – J.-M. Valentin: ›Virtus et solium indissociabili, vivunt conjugo.‹ Zu A.s lyr. u. dramat. Werk. In: Zeman (1986), S. 1237–1254. – Franz-Günter Sieveke: ›Actio scaenica u. persuasorischer Perfektionismus‹. Zur Funktion des Theaters bei N. A. Ebd., S. 1255–1282. – Lawrence S. Larsen: N. A. In: German Baroque Writers. 1580–1660. Hg. James Hardin. Detroit 1996, S. 20–28. – Mundt/Seelbach (2002, a. a. O.), Einl. – Sandra Krump: In scenam datus est cum plausu. Das Theater der Jesuiten in Passau (1612–1773). Bd. 1, Bln. 2000 (Kap. 2: N. A. – zu den in Passau aufgeführten Stücken: ›Euergetes‹ u. ›Alphonsus‹). Ulrich Seelbach

Ave maris stella

Ave maris stella und Ave praeclara maris stella. – Zwischen dem 12. u. 16. Jh. mehrfach ins Deutsche übertragene lateinische Mariendichtungen. Der weitverbreitete u. beliebte lat. Hymnus Ave maris stella (älteste Überlieferung ist eine St. Galler Handschrift aus dem 9. Jh.) hat zahlreiche Übersetzungen bzw. Nachdichtungen in der Volkssprache gefunden: 16 dt. u. niederländ. Fassungen sind vom 12. Jh. bis zum Ausgang des MA bekannt geworden. (Die älteste Fassung ist eine Interlinearversion in den Millstätter Psalmen und Hymnen, Ende 12. Jh.) Neben den volkssprachl. Versionen hat der Hymnus auch eine herausragende lat. Dichtung angeregt: Ave praeclara maris stella, eine Hermann dem Lahmen († 1054) zugeschriebene Sequenz von 16 ungleichen Strophen. Dieses Werk hat seinerseits wieder volkssprachl. Nach- u. Umdichtungen in nicht geringer Zahl hervorgerufen. Sie entstammen zumeist dem 12. Jh. u. dem Spätmittelalter (bes. dem 15. Jh.), Zeiten gesteigerter Marienfrömmigkeit. Bereits die frühesten volkssprachl. Fassungen (Mariensequenzen aus Seckau/St. Lambrecht u. aus Muri) zeigen eine große Freiheit gegenüber dem lat. Vorbild, das sie den Vorstellungen eines deutschsprachigen Publikums anzupassen suchen. Literatur: Gerhard M. Schäfer: Untersuchungen zur deutschsprachigen Marienlyrik im 12. u. 13. Jh. Göpp. 1971. – Hennig Brinkmann: ›Ave praeclara‹ in dt. Wiedergabe. In: Studien zur dt. Lit. u. Sprache des MA. FS Hugo Moser. Hg. Werner Besch u. a. Bln. 1974, S. 8–30. – Walther Lipphardt: ›Ave maris stella‹ u. ›Ave praeclara maris stella‹. In: VL. – Gisela Kornrumpf: ›Ave maris stella‹ u. ›Ave praeclara maris stella‹. In: VL (Nachträge u. Korrekturen). Gisela Vollmann-Profe / Red.

Avenarius ! Habermann, Johannes Avenarius, Ferdinand (Ernst Albert), * 20.12.1856 Berlin, † 20. oder 22.9.1923 Kampen/Sylt; Grabstätte: Keitum, Friedhof. – Lyriker, Herausgeber u. Volkspädagoge. A. war Sohn eines Buchhändlers u. Stiefneffe Richard Wagners. Die Schulzeit verbrachte er

270

in Berlin u. Dresden. Wegen Kränklichkeit musste A. ohne Abschluss das Gymnasium verlassen u. sich autodidaktisch weiterbilden. 1877 begann er ein Studium der Naturwissenschaften in Leipzig u. wechselte im Jahr darauf nach Zürich, wo er – ohne einen Abschluss – Philosophie, Literatur u. Kunstgeschichte studierte. In den Ferien wanderte er durch die Schweiz u. Norditalien. Nach einem zweijährigen Aufenthalt in Rom, Neapel u. auf Sizilien ließ er sich 1882 als freier Schriftsteller in Dresden nieder u. lebte ab 1906 überwiegend in Kampen auf Sylt, wo er sich für den Naturschutz einsetzte. 1887 begründete A. die von ihm bis 1923 herausgegebene Zeitschrift »Der Kunstwart« mit dem volkserzieherischen Ziel, »den Laien zum Kunstverständnis heranzubilden«, u. rief 1903 flankierend den »Dürerbund« ins Leben, der durch seine preiswerten Kunstmappen mit Reproduktionen deutscher Malerei, Flugschriften u. v. a. durch den »Literarischen Ratgeber«, in dem Schriftsteller wie Arno Holz, Hebbel, Keller u. Raabe dem Publikum empfohlen wurden, die Erziehung weiter Kreise zu ästhetischer Kultur im Rahmen der Heimatkunstbewegung befördern sollte. So trat A. mit Ausnahme von Max Klinger (Max Klinger als Poet. Mchn. 1917. 5 1923) oder August Böcklin eher für traditionelle Künstler ein, kritisierte als Deutschnationaler (Titelzusatz des »Kunstwarts« seit 1896 war das Diktum Wagners: »Deutsch sein heißt, eine Sache um ihrer selbst willen zu tun«) mit demokratischer Grundeinstellung die intellektuelle Moderne u. propagierte dafür Gemütswerte u. Heimatverbundenheit. Trotz angeblich friedlicher Absicht wirkte die Sammlung der Bild-Propaganda von Deutschlands Kriegsgegnern, die A. am Ende des Ersten Weltkriegs herausgab, politisch aggressiv (Das Bild als Narr. Die Karikatur in der Völkerverhetzung. Mchn. 1918. 31921). Erfolgreich u. wirkungsvoll war A. v. a. als Anthologist. Sein Hausbuch deutscher Lyrik (Mchn. 1902. Lyrikbuch. Stgt. 1952), eine mit Scherenschnitten illustrierte Sammlung deutscher Stimmungsgedichte zur »Vertiefung des seelischen Lebens«, ist nach Themen des menschl. Lebens, nach Tages- u. Jahreszeiten u. Stimmungsbildern geordnet. Es

Aventinus

271

zählte wie das Balladenbuch (Mchn. 1907. [Seit 1927 erneuert von Hans u. Hedwig Böhm] 240. Tsd. Stgt. 1966. Eltville 1978) zu den beliebtesten Lyrik-Anthologien in Deutschland. A.s eigene Lyrik ist weitgehend epigonal (zunächst an Heine orientiert) u. eklektizistisch. Ambitionierter ist sein Gedichtzyklus Lebe! (Lpz. 1893), in dem er eine neuartige »große, lyrische Form« anstrebte u. »das Verhalten einer Menschenseele unter der Einwirkung eines bewegenden Geschehens« als innere Handlung wiedergeben wollte; formal passt sich die metr. Struktur dieser Stimmungsgedichte dem jeweiligen seelischen Zustand an. Anton von Webern vertonte einige von A.s Gedichten (Neudr. Three songs after poems by F. A. For Voice and Piano. New York 1961). Der Dramenzyklus Der Wachsende Gott (Mchn. 1919–21) ist religiösweltanschaul. Themen gewidmet: Er besteht aus den Stücken Baal, Jesus u. Faust. Das als dritter Teil der Tetralogie geplante Drama Julian Apostata blieb unvollendet. Weitere Werke: Wandern u. Werden. Dresden 1881 (L.). – Die Kinder v. Wohldorf. Eine Idylle. Dresden 1887. – Stimmen u. Bilder. Neue Gedichte. Florenz/Lpz. 1898. – Gedichte. Mchn. 1923. – F. A. (Hg.): Balladenbuch. Mchn. 1907. Literatur: Gerhard Heine: A. als Dichter. Lpz. 1904. – Hanns Wegener: F. A., der Dichter, Lpz. 1908. – Herbert Broermann: Der Kunstwart in seiner Eigenart, Entwicklung u. Bedeutung. Diss. Bern 1934. – Gerhard Kratzsch: Kunstwart u. Dürerbund. Gött. 1969. – H. Fred Krause: Der Kunstwart (1887–1937). In: Dt. Ztschr.en des 17.20. Jh. Hg. Heinz-Dietrich Fischer. Pullach 1973, S. 215–227. Angelika Müller / Achim Aurnhammer

Aventinus, Johannes, eigentl.: Johannes Turmair, * 4.7.1477 Abensberg/Niederbayern, † 9.1.1534 Regensburg. – Humanistischer Gelehrter u. Historiograf. A., der Sohn eines Gastwirts, der sich seinen lat. Nachnamen später in Anlehnung an seinen Geburtsort gab, studierte ab 1495 in Ingolstadt, wo er Schüler des Celtis wurde. Nach dem Baccalaureat folgte er diesem Ende 1498 nach Wien u. blieb dort bis Ende 1500. Im Sommer 1501 wechselte er wohl zur Ver-

tiefung mathematischer Studien nach Krakau, musste aber bereits ein Jahr später nach Hause zurückkehren, da der Vater gestorben war. 1503 ging er zum Studium nach Paris, wo er nach einem Jahr zum magister artium promoviert wurde. Zwischen 1505 u. 1507 wiederholt im Umkreis des Celtis in Wien zu greifen, soll er im Wintersemester 1507/08 in Ingolstadt privat u. a. über die Rhetorica ad Herennium u. Ciceros Somnium Scipionis gelehrt haben. Die daran geknüpfte Hoffnung einer dortigen Festanstellung realisierte sich nicht. Stattdessen wurde A. Ende 1508 zum besoldeten Erzieher der bayer. Prinzen Ludwig u. Ernst bestellt. In diese Zeit datiert seine Grammatica nova fundamentalis, die, ab 1512 häufig gedruckt u. mehrfach erweitert, als verbindliches Lehrbuch an der Ingolstädter Artistenfakultät eingeführt wurde. Daneben verfasste er einen musiktheoret. Traktat (Musicae rudimenta. Augsb. 1516) sowie erste kleinere histor. Arbeiten. Mit Ernst ging A. 1515 nach Italien, wo er sich sicher in Mantua u. Rom aufgehalten hat. Wegen dortiger Kriegswirren musste er aber bereits nach drei Monaten zurückkehren. Von der Erziehertätigkeit entbunden, wurde A. 1517 das Amt eines bayer. Hofhistoriografen übertragen. In die folgenden beiden Jahren fallen ausgedehnte Studienreisen, aus denen zunächst kleinere Schriften über die Geschichte von Klöstern (Scheyern, 1517; Ranshofen bei Braunau am Inn, 1517, erw. 1523; Biburg, 1523) u. Städten (Passau, 1517; Altötting, 1518) hervorgingen. Nach ersten Vorstufen, die bis 1511 zurückreichen, begann A. ab 1519 in Abensberg mit der Abfassung seiner Annales ducum Boiariae. Das 1521 fertig gestellte Werk, mit dem sich A. den Ruf eines Vaters der bayer. Historiografie erwarb, beschreibt in sieben Büchern die Geschichte der Bayern von ihren Anfängen bis in die Gegenwart. Bei der bayer. Urgeschichte ließ er sich wie viele seiner Zeitgenossen vom Ps.-Berosus des Annius von Viterbo leiten, durch den er den Ursprung der Bayern bis an die Sintflut zurückführen konnte. Die Annalen bestechen durch die Fülle an verwendetem Quellenmaterial, das in separaten Übersichten zu Beginn jedes Buches in Auswahl verzeichnet ist. In der Auswertung epigrafi-

Aventinus

scher u. numismat. Quellen ist A. Pionier. Wie in der humanist. Geschichtsschreibung üblich, ist A. bestrebt, die behandelten Regionen auch chorografisch zu beschreiben. In der histor. Darstellung gilt A.s Interesse v. a. der Kulturgeschichte in Form von Sitten- u. Religionsgeschichte, der Entwicklung von Künsten u. Wissenschaften sowie der mittelalterl. Rechts- u. Verfassungsgeschichte. Nachdem A. 1522 einen volkssprachl. Auszug der Annalen in Nürnberg hatte drucken lassen, begann er noch im gleichen Jahr mit der Arbeit an einer dt. Ausgabe, die sich bis 1533 hinzog. In konzeptioneller Hinsicht geht A. in ihr weit mehr als in der lat. Fassung über die landesgeschichtl. Perspektive hinaus, wodurch freilich wiederholt Dissonanzen zwischen dieser u. der stärker betonten weltgeschichtl. Betrachtungsweise zutage treten. Eigenes Gepräge erhält die dt. Fassung v. a., indem A. der dt. Sprache weitreichenden Eigenwert zubilligte. So hat er etwa antike Spruchweisheiten durchgehend durch – teilweise auch erfundene – deutsche ersetzt. Einzigartig im zeitgenössischen humanist. Diskurs ist die Einbeziehung volkssprachlicher Entwicklungen in die geschichtl. Darstellung. Als Komplement zu den Chroniken gedacht, aber separat erschienen ist eine Landkarte Bayerns in zwei Ausführungen, mit denen sich A. auch auf dem Gebiet der Regionalkarten als Pionier erwiesen hat. Bei deren Erstellung hat sich A. wahrscheinlich wesentlich der Hilfe Georg Apians bedient, der die Karte auch signierte. Dieser vorangestellt hat A. eine Einleitung, die in deren Gebrauch einführt u. hierauf über den histor. Ursprung von 40 bayer. Städten informiert. In den 1520er Jahren hielt sich A. meistens in seiner Heimat oder in Regensburg auf. Nachdem sich bereits in den Annales heftige Invektiven gegen den Klerus u. das Mönchtum finden, machte ihn sein enger Umgang mit Anhängern der Reformation gegenüber der ab 1527 verschärften antireformator. Politik in Bayern zusätzlich verdächtig. 1528 sogar inhaftiert, wurde A. aber schon nach kurzer Zeit auf Intervention des bayer. Kanzlers Leonhard von Eck, mit dem er freundschaftl. Beziehungen unterhielt, wie-

272

der freigelassen. In der Folge siedelte A. endgültig nach Regensburg über, über dessen Frühgeschichte von der röm. bis zur Karolingerzeit er wohl im Jahr 1528 eine auf profunder Quellenauswertung basierende Schrift verfasste. Ein Jahr später heiratete er; aus der Ehe gingen drei Kinder hervor, von denen nur eine Tochter den Vater überlebte. Als 1529 die Türken vor Wien standen, verfasste A. auf Betreiben des Regensburger Rats eine Schrift über den Türkenkrieg, in dem er die Ursachen der Bedrohung in der Uneinigkeit der Christen verortet u. militärische, polit. u. moral. Ratschläge gegen die Türkengefahr gibt. Nach ausführlicher Reflexion über die bisherigen Erfahrungen Europas mit dem Islam schließt die Schrift mit einer Liste muslimischer Herrscher, die von Mohammed bis zum zeitgenöss. Suleiman II. reicht. Nach Karls V. erfolgreichem Kampf gegen das Vordringen der Türken trug A. 1532 dann vor dem Regensburger Reichstag in dessen Anwesenheit eine Panegyrica oratio ad Carolum V. vor. Ab 1530 unternahm A. wieder Forschungsreisen durch Bayern, die ihn auch zum Augsburger Reichstag führten. 1531 begann er mit der Arbeit an einer Germania illustrata in der Nachfolge seines Lehrers Celtis, die zehn Bücher umfassen sollte, von der aber nur eine bereits 1529 gedruckte Inhaltsangabe (Indiculus Germaniae illustratae) sowie das erste Buch vollendet wurde. Das Werk sollte eine umfassende Darstellung der Geschichte Deutschlands von den german. Anfängen bis in die Gegenwart enthalten. Dabei sollten neben der Kulturgeschichte auch Kirchengeschichte, Sprach- u. Grammatikgeschichte, Technik- u. Münzengeschichte Behandlung finden. 1533 übernahm A. nochmals Erzieheraufgaben u. ging als Mentor von Ecks Sohn nach Ingolstadt. Ende des Jahres befiel A. aber eine nicht genauer bekannte Krankheit, an deren Folgen er im Folgejahr starb. Über sein ganzes Schaffen verteilt hat A. humanist. Gelegenheitsgedichte verfasst, von denen zahlreiche seinen Schriften beigefügt sind. Den Plan einer poet. Gesamtausgabe hat er nicht mehr realisiert. A.s erhaltener Briefwechsel ist angesichts seiner vielen Kontakte

273

Ayren

eher schmal u. lässt auf Verluste schließen. An röm. Vergangenheit Süddeutschlands im 16. Jh. Herausgebertätigkeit sind die Editionen der Kallmünz 2002. – Christoph März: J. A. In: VL Dt. Vita Heinrici IV. Imperatoris (Augsb. 1518 nach Hum. Gernot Michael Müller einer Hs. aus St. Emmeram) sowie von Bedas De computo sive loquela digitorum, dem ersten Axtelmeier, Acxtelmeier, Stanislaus ReinTeil von dessen De temporum ratione (Regensb. hard. – Um 1700 tätiger Polyhistor. 1532, ebenfalls nach einer Emmeramer Hs.), A., zu dessen Biografie keine Quellen behervorzuheben. Charakteristisch für A.s Œuvre ist, dass die kannt sind, hebt in Vorworten seine durch meisten Schriften erst postum gedruckt er- Reisen u. mehrfache Kriegsteilnahme erworschienen sind. Einer Veröffentlichung stan- bene Welterfahrung hervor. Seine zahlreiden wohl zunächst konfessionspolit. Beden- chen, verschiedentlich pseudonym erschieken entgegen; 1564 wurde A.s Gesamtwerk nenen Werke verbinden Prognostik, Kameralistik, Hausväterliteratur, naturkundliches sogar auf den röm. Index gesetzt. Nachdem Wissen u. dessen rhetor. Verwendung mit eine vollständige Edition der Annales wie der einer religiösen Naturbetrachtung, in der sich Bayerischen Chronik erst 1580 in Basel bzw. Auffassungen der Physikotheologie ankünFrankfurt/M. erschien, ließ eine Gesamtausdigen, so bes. in dem mit Emblemen versegabe der Schriften A.s trotz erstarkten Interhenen Ebenbild der Natur (Tl. 1: Augsb. 1699. esses an diesen im 17. u. 18. Jh. sogar bis an Tl. 2: Augsb. 1713). die Wende vom 19. zum 20. Jh. auf sich Weitere Werke: Aber u. Aber der betriegl. Weltwarten. A.s Bedeutung als humanistischer Geist [...]. Salzb. 1683. – Des aus der Unwissenheits Geschichtsschreiber liegt in der ungemein Finsternus erretteten Natur-Liechts [...] Tl. 1 [-6]. breiten Kenntnis u. Auswertung hand- Augsb. 1699–1702 (auch Augsb. 1715). – Das alte u. schriftlicher Quellen, die heute z.T. verloren neue Troia oder die immerdar verbesserte Bevestisind. In dieser Hinsicht ist A. ohne Vorbild. In gungs-Kunst [...]. o. O. 1684 (auch Salzb. 1700 unseiner Kirchen- u. Papstkritik sowie durch ter verschiedenem Titel). – Hokus-Pokeria oder die sein Festhalten an der Tradition des römisch- Verfälschungen der Waaren [...]. Ulm 1703. – Idaea dt. Kaisertums im Anschluss an die »transla- harmonicae correspondentiae superiorum cum intio imperii« ist A. indes ein typischer Vertre- ferioribus, Das ist, Fürbild der [...] Übereinstimter der humanist. Historiografie in Deutsch- mung der obern Kräfften mit denen untern [...]. Augsb. 1706 Mikrofilm-Ausg. New Haven 1973. – land. Ausgabe: Johannes Turmair’s gen. A. Sämmtl. Werke. 6 Bde. hg. v. der Kgl. Akad. der Wiss.en. Mchn. 1881–1908. Literatur: Theodor Wiedemann: J. A., gen. A., Geschichtsschreiber des bayer. Volkes. Nach seinem Leben u. seinen Schr.en dargestellt. Freising 1858. – Gerald Strauss: Historian of an Age of Crisis. The Life and Work of J. A. Cambridge/Mass. 1963. – Eberhard Dünninger: J. A. Leben u. Werk des bayer. Geschichtsschreibers. Rosenheim 1977. – Gerhard H. Sitzmann (Hg.): A. u. seine Zeit (1477–1534). Abensberg 1977. – Alois Schmid: Die histor. Methode des J. A. In: Blätter für dt. Landesgesch. 113 (1977), S. 338–395. – Ders.: J. A. u. die Realienkunde. In: Neue Wege der Ideengesch. Hg. F.-L. Kroll. Paderb. 1996, S. 81–101. – Martin Ott: Röm. Inschr.en u. die humanist. Erschließung der antiken Landschaft. K. Peutinger u. J. A. In: Dt. Landesgeschichtsschreibung im Zeichen des Humanismus. Tüb. 2001, S. 213–226. – Ders.: Die Entdeckung des dt. Altertums. Der Umgang mit der

Calendarium perpetuum universale, Das ist: Immerwährender allg. Calender der Natur u. Zucht Kunst u. Wiss. Tugend u. Gesundheit [...]. Nürnb. u. a. 1707. – Misanthropus audax [...]. Augsb. 1710.

Ausgabe: La metropolitée, ou de l’etablissement des villes capitales [...] par Le Sieur le Maitre. Amsterd. 1682. Neudr. Paris 1973. Literatur: PGK 1, Sp. 686–687. – Bayer. Staatsbibl. Alphabet. Kat. 1501–1840. Bd. 1, Mchn. 1987, S. 189. – DBA 42,45–46. Wolfgang Harms / Red.

Ayren, Armin, * 7.3.1934 FriedrichshafenManzell. – Erzähler, Hörspielautor, Kritiker. Der Sohn eines Ingenieurs wuchs in Oberschwaben u. Esslingen auf u. studierte 1955–1961 kath. Theologie, Germanistik, Romanistik, Kunstgeschichte u. Philosophie in Tübingen, Paris u. München. 1961 Staats-

Ayrenhoff

274

examen u. Promotion in Tübingen; von denstried (Hg.): Lexikon der phantast. Lit. Stgt. u. a. 1962–1970 DAAD-Lektor in Frankreich u. 1998, S. 29. – M. Bosch u. Klaus Isele: A. A. In: KLG. Manfred Bosch Italien. 1970/71 Kulturreferent in Biberach/ Riß; 1971–1993 Gymnasiallehrer in Waldshut. A. lebt in Höchenschwand u. ist verheiAyrenhoff, Cornelius Hermann von, ratet mit der Erzählerin Eva Berberich. * 28.5.1733 Wien, † 15.8.1819 Wien. – A.s literar. Debüt Der Brandstifter und andere Dramatiker. Abweichungen (Wien 1968) verweist bereits im Titel auf ein Schreibverständnis, dem es um Der Sohn eines Kriegsagenten lernte auf der mehr als bloße Realität zu tun ist. A.s Er- Jesuitenschule vornehmlich Latein, während zählen nimmt seinen Ausgang meist beim er zu Hause Unterricht in Französisch u. ItaGewohnten u. Bekannten, um die Handlung lienisch erhielt. Mit 18 Jahren begann A. eine dann auf unerwartete Weise weiterzuführen. militär. Laufbahn, auf der er es bis zum Beliebte Motive A.s sind spurlos Verschwun- Feldmarschalleutnant (1793) brachte (Ruhedene (Der Mann im Kamin. Düsseld. 1980), stand ab 1803). musikal. bzw. musikgeschichtl. Bezüge u. das 1763 mit seinem Regiment für drei Jahre in Schreiben selbst, das ein Spiel mit Sprache Wien stationiert, regten ihn häufige Theaeinschließt (Buhl oder Der Konjunktiv. Tüb. terbesuche dazu an, selbst für die Bühne zu 1982). Voller Vertracktheiten u. fantasievoller dichten. Die Eindrücke einer 1785 begonneLeserirritationen erweisen sich auch die nen Italienreise verarbeitete er in den durchzahlreichen Erzählungen, die in den Bänden aus krit. Briefen über Italien (in: Sämmtliche Das Blaue vom Ei (Bühl-Moos 1985), Der Baden- Werke. Bd. 4, Wien/Lpz. 1789). Seinen von Badener Fenstersturz (Stgt. 1989), Die Trommeln gesundheitl. Leiden überschatteten Lebensvon Mekka (Karlsr. 1990), Der Sautrog (Walds- abend verbrachte A., der zeitlebens Junggehut 2004) u. Die Leiter zu den Sternen (Eggingen selle blieb, in Wien. Über sein Leben berich2005) gesammelt sind. In dem einem fiktiven tete er selbst im Schreiben [...] über Einige seiner geistl. Meister Konrad zugeschriebenen Ni- militärischen und literarischen Begebenheiten. An belungenroman (Bühl-Moos 1987) erzählt der den Herrn Joseph Friedrich Baron von Retzer (o. O. sprachbewusste u. eminent belesene A. das 1810). Epos in heutiger Sprache. Zahlreiche ErzähAls Dramatiker orientierte sich A. am Vorlungen, Anthologiebeiträge u. Hörspiele für bild des frz. Klassizismus; davon zeugen auch SWF/SWR, SDR, WDR u. ORF, Beiträge u. seine Übersetzungen von Boileaus L’art poéKritiken zur Literatur-, Sprach- u. Kunstwis- tique (Die Dichtkunst des Boileau Despreaux. Wien senschaft (Alexander Lernet-Holenia, Elias 1803) u. der Trauerspiele Racines (Andromache, Canetti u. a.) sowie eine vielfältige Mitarbeit Bajazet u. Iphigenie in Aulis. Preßburg 1804). bei überregionalen Feuilletons (Essays, Re- Ohne sich ausdrücklich auf Gottsched zu bezensionen, Glossen) runden sein Werk ab. rufen, wirkte A. auf die Wiener Theaterver1967 erhielt A., der Mitgl. des P.E.N. ist, hältnisse ähnlich wie jener für den Bereich den Georg-Mackensen-Preis für die beste dt. der dt. Bühne. Das durch Stegreifspiel herKurzgeschichte. untergekommene Theater sollte in seinem Weitere Werke: Der flambierte Säugling. Niveau gehoben werden, indem ihm regelMchn. 1985. – Über den Konjunktiv. Eggingen hafte, Vernunft u. Tugend des Publikums 1992. – Ein Mann, eine Frau. Mit E. Berberich. ansprechende Dramen vorgesetzt werden. So Freib. i. Br. 1997. – Von der Lust des Vergleichens. hält sich A. in seinen Dramen z.B. weitgehend Aufsätze zur klass. Musik. Eggingen 2003. an die Forderung nach Einhaltung der drei Literatur: Regionales Verz. v. Autorinnen u. Einheiten. Lustspiele wie Erziehung macht den Autoren. Freib. i. Br. 1997. – Manfred Bosch: Der Menschen (Wien 1785) erinnern schon im Titel Schriftsteller A. A. In: Heimat am Hochrhein 11 an das aufklärer. Programm der »Sächsischen (1986), S. 111–114; Autoren in B.-W. Stgt. 1991, Komödie«. Das mit Abstand erfolgreichste S. 29. – Rein A. Zondergeld u. Holger E. WieWerk A.s war sein zweiaktiges Lustspiel Der Postzug oder die noblen Passionen (Wien 1769).

275

das u. a. in Weimar u. Wien hohe Aufführungszahlen erlebte, vielfach gedruckt wurde u. in einer frz. (L’Attelage de Poste. 1784) u. engl. Übertragung (The Seet of Horses. 1792) erschien. Das Lustspiel verfolgt die Absicht, die »noblen Passionen« zu verspotten, so wenn sich ein Graf mit dem sprechenden Namen »Reitbahn« ausschließlich für Pferde interessiert u. die für ihn vorgesehene Braut gegen die »Schäcken« (den »Postzug«) seines Nebenbuhlers eintauscht. Friedrich II. hat A.s Postzug in seinem Traktat zur dt. Literatur De la littérature allemande (Bln. 1780) als eine der wenigen zukunftweisenden dt. Dichtungen hervorgehoben u. den Verfasser des Stücks auf eine Stufe mit Molière gestellt. A. stimmt Friedrichs Thesen im Schreiben eines aufrichtigen Mannes an seinen Freund über das berühmte Werk de la litterature allemande (Ffm./Lpz. 1781) weitgehend zu, insbes. pflichtet er der Kritik des Preußenkönigs an Shakespeare u. der dt. Geniebewegung bei. A. macht hier allerdings auch deutlich, dass er nicht von nationaler Engstirnigkeit bei der Beurteilung von Literatur geleitet worden sei: Während er Milton durchaus schätzt, kritisiert er zgl. Lessings eingehende Beschäftigung mit Diderots Dramen u. Theatertheorie. Satirische Hiebe gegen Shakespeare u. seine dt. Bewunderer verteilt A. auch in seinem Lustspiel Die gelehrte Frau (Wien 1775). In mehreren dramentheoret. Schriften (z.B. Schreiben über Deutschlands Theaterwesen und Kunstrichterey. In: Sämmtliche Werke. Bd. 3, Wien/Lpz. 1789) bekräftigt er seine von Shakespeare abweichende Position. A.s Trauerspiele sind gemäß den klassizist. Prämissen überwiegend auf die Antike bezogen (etwa in seinem Erstling Aurelius oder Wettstreit der Großmuth. Wien 1766. 61782); daneben verfasste er zwei Hermannsdramen (Hermann und Thusnelde. Wien 1768. Tumelicus, oder der gerächte Hermann. Wien 1770) sowie Irene, ein christliches Trauerspiel (Wien 1781), das zur Zeit der Eroberung Konstantinopels (1453) spielt u. den muslimisch-christl. Glaubensgegensatz gestaltet. Formal eine Neuerung stellt das Trauerspiel Virginia oder das abgeschaffte Decemvirat (Wien/Lpz. 1790) dar, worin A. erstmals den Blankvers verwendet, während er bisher das Versmaß des

Ayrenhoff

frz. Klassizismus, den Alexandriner, bevorzugte (Ausnahme: Tumelicus ist in Prosa geschrieben). Außer Dramen u. dramentheoret. Schriften umfasst A.s Werk verstreut erschienene Gedichte, Epigramme u. Fabeln, oft literaturkrit. Inhalts; A. hat sich zudem mit Fragen des zeitgenöss. Balletts beschäftigt (Ueber die theatralischen Tänze, und die Ballettmeister Noverre, Muzzarelli und Vigano. Wien 1799), u. sein Gespräch [...] mit dem Freyherrn Joseph von Retzer, über einen wichtigen Gegenstand der Physik (in: Sämmtliche Werke. Bd. 5, Wien 1803, S. 143–168) ist eine in Dialogform gekleidete Studie geolog. Inhalts. A.s Verdienste liegen auf dramat. Gebiet, wo er mit einigen Stücken nicht unerheblich dazu beitrug, dass die Wiener Bühne den Anschluss an die von Gottsched initiierte Theaterreform in Deutschland fand. Doch seine starre Orientierung am frz. Klassizismus ließ A. den Impuls verkennen, den das dt. Drama ab etwa 1770 durch die verstärkte Shakespeare-Rezeption erfuhr. Bemerkenswert bleibt, dass A. in seinen Lustspielen das Verhalten seiner adligen Standesgenossen der Kritik unterzog u. dass er keinen finanziellen Gewinn aus seiner literar. Tätigkeit davontragen wollte: Die Einnahmen hat er Wiener Schauspielern oder wohltätigen Zwecken zugeführt. Weitere Werke: Die große Batterie. Wien 1770 (Lustsp.). – Antiope. Wien 1772 (Trauersp.). – Alte Liebe rostet wohl! Wien 1780 (Lustsp.). – Das Reich der Mode, oder das künftige Jahrhundert, o. O. 1781 (Lustsp.). – Die Freundschaft der Weiber. Wien 1782 (Lustsp.). – Alceste. Ein Lustsp. des Aristophanes aus dem Griechischen übers. Lpz. 1782. – Kleopatra u. Antonius. Wien 1783 (Trauersp.). – Neuer Beytr. zum regelmäßigen Theater der Deutschen. Wien 1796. – Kleine Gedichte [...] nebst [...] metr. Uebersetzung der ›Art poétique‹ von Boileau-Despreaux. o. O. 1810. Neu verb. u. vermehrte Aufl. Wien 1812. Literatur: Walter Montag: K. v. A. sein Leben u. seine Schr.en. Münster 1908. – E. Horner: C. v. A. Diss. Wien 1984. – Luisa Ricaldone: Un ›amico‹ viennese di Aurelio de’ Giorgi Bertola: C. H. v. A. In: Lettere Italiane 42 (1990), S. 467–474. – Albert Meier: Die Interessantheit der Könige: Der Streit um Emilia Galotti zwischen Anton v. Klein, Johann Friedrich Schink u. C. H. v. A. In: Streitkultur.

Ayrer

276

Strategien des Überzeugens im Werk Lessings. Hg. Wolfram Mauser. Tüb. 1993, S. 363–372. Felix Leibrock / Red.

Ayrer, Jakob, * März 1544 oder 1543 Nürnberg, † 26.3.1605 Nürnberg. – Verfasser von Fastnacht- u. Singspielen. Über A.s Herkunft u. Bildungsweg ist wenig bekannt. Bis 1570 scheint er in Nürnberg eine Eisenhandlung betrieben zu haben. 1570–1593 lebte der Protestant A. im kath. Bamberg u. bildete sich wohl dort zum Gerichtsprokurator fort. Nachdem ihn der Bamberger Bischof wegen seiner Heirat mit einer ehemaligen Nonne, Susanne Neukam, am 25. Febr. ausgewiesen hatte, lebte er von 1593 bis zu seinem Tod mit Bürgerrecht im protestant. Nürnberg als Prokurator u. kaiserl. Notar. Noch in Bamberg verfasste A. eine Reimchronik, Von Ankunfft, vnd Erbauung der Stadt Bamberg (1. Fassung 1570. 2. Fassung u. Erweiterung 1599) u. auch eine Psalter-Übersetzung (1574, unediert, heute in Heidelberg). Von 1592 an entstanden seine mehr als 100 schnell geschriebenen, dennoch bis ins späte 19. Jh. hinein populären Dramen, Fastnacht- u. Singspiele, von denen 66 (30 Dramen, 36 Fastnachtspiele) erhalten sind. Über Aufführungen zu Lebzeiten A.s ist nichts bekannt. Die ersten Werke erschienen seit 1597 im Druck. 1593 besuchte A. ein Gastspiel der engl. Wanderbühnentruppe von Robert Brown, von dem er die komische Figur des »springer« (Jan Clam, Jan Panser, Jan Türck oder »Englischer Narr«) als den Spaßmacher »Jan Posset« übernahm, u. dazu kopierte er die Integration von Singspielen. Letztlich verlor damit das Fastnachtsspiel seine kirchengeschichtl. Funktion (Vorbereitung auf die Fastenzeit) u. wandelte sich zu einem neutralen Schwank- u. Lustspieltheaterstück. Die meisten Dramen waren einzeln schon bis 1610 veröffentlicht worden, u. die Erben ließen insg. 66 Stücke 1618 in Nürnberg nachdrucken, mit denen gegen die Laster Undankbarkeit u. Müßiggang gekämpft werden könne, u. kündigten einen zweiten, nie erschienenen Band mit weiteren 40 Werken an.

Drei Dramen sind nur in einer insg. 22 Werke umfassenden Dresdener Handschrift überliefert. Der Herausgeber gliederte die Werke zunächst nach den Kriterien »Herrscherdramen« u. Possenspiele, dann nach einem chronolog. Schema gemäß der Weltgeschichte. Er griff sowohl auf klass. Autoren (Livius) als auch breiter auf Werke des 15. u. 16. Jh. zurück (Thüring von Ringoltingen, Nicodemus Frischlin, Hans Wilhelm Kirchoff, Ulenspiegel, Valentin und Orsus, Peter Probst u. v. a. Hans Sachs). Die Bedeutung des A.’schen Œuvres liegt zum einen in einigen für die dt. Theatergeschichte zukunftweisenden Neuerungen: Viele Stücke sind mit z.T. ausführl. Bühnenanweisungen versehen oder setzen eine komplizierte Bühnentechnik voraus. Neu sind ferner aufwendige Kulissen u. prächtige Kostüme sowie ein oft mehrere Dutzend Akteure erforderndes Personal, was sich alles sowohl auf den Einfluss der engl. Komödianten als auch der ital. Bühne zurückführen lässt. A. gilt (nach Hans Folz u. Hans Sachs) zum andern als letzter bedeutender Autor von Fastnachtspielen – allerdings eher aufgrund der Quantität als der Qualität seines Schaffens. Kritisiert wird sowohl an den Dramen wie den Spielen mangelnde innere Logik, Überbetonung von Nebenepisoden u. -personen sowie von komischen u. obszönen Elementen, ferner A.s Unfähigkeit, Charaktere darzustellen, u. sein sehr freizügiger Umgang mit den Vorlagen (Livius, Plutarch, Bibel, mittelalterl. Schwankerzählungen u. Ritterromane, Boccaccio, Nicodemus Frischlin, Jörg Wickram, Hans Sachs u. a.). Diese angebl. Schwächen werden bes. augenfällig, stellt man A.s Sidea u. die Comödie von zweyn Brüdern aus Syracusa neben Shakespeares Sturm u. Komödie der Irrungen, mit denen sie die Quellen teilen, aber während Shakespeare auf den Charakter seiner Figuren abzielt, strebt A. an, didakt. u. moral. Lehren zu vermitteln, die oftmals genau wie bei Sachs vom Ehrnholt im Epilog verkündet werden. Deshalb werden didakt. ausdeutbare Nebenepisoden zuungunsten der Haupthandlung eingebaut u. Komik u. Obszönität im Rahmen einer zum Exempel fortentwickelten motivischen

277

Grundlage funktionalisiert. Die besondere Aufmerksamkeit gilt dabei dem hierarchisch gegliederten, harmonisch funktionierenden, den menschl. Gesetzen u. den christl. Geboten, speziell dem Dekalog, verpflichteten Gemeinwesen. Dies setzt voraus, dass jeder bereit ist, den ihm von Gott zugewiesenen Platz einzunehmen, dass niemand (auch der Herrschende nicht) in seinen Rechten geschmälert wird, aber auch jeder (u. gerade der Herrschende u. Besitzende) seinen Pflichten nachkommt, dass die Menschen mildtätig u. fromm sind, dass sie klug u. verständig handeln. Ist das Gemeinwesen so organisiert, spiegelt es einerseits die göttl. Ordnung wider u. bildet andererseits im Großen ab, was Familie u. Ehe im Kleinen ausmacht. Die Geschichte der Melusine zeigt z.B., dass sich Eheleute gegenseitig vertrauen, achten u. lieben sollten; Ortnits Schicksal lehrt, dass man den (Schwieger-)Eltern gehorchen müsse; andere Stücke sollen belegen, dass auch der Weise einen Rat benötigt, dass Richter Arme u. Reiche gleich behandeln sollten, dass man sich nicht leichtfertig wie die mittelalterl. Ritter in Gefahr bringen dürfe oder dass Amtsanmaßung zu einem bösen Ende führen könne. Der Ehrnholt wird nicht müde zu betonen, dass alle diese Gebote lernbar seien; er versichert deshalb auch den Zuschauern, dass er aus »ander leut schaden [...] gscheid« geworden sei, u. fordert sie auf, es ihm gleichzutun, damit »auß vorigem zanck vnd streit« werde »ein ewig einigkeit«. Letztlich

Ayrer

strebt A. an, innerhalb seiner Gesellschaft Harmonie u. Zufriedenheit herzustellen, was seinen Dramen eine wichtige sozialpolit. Aufgabe verleiht. Ausgaben: Opus Thæatricum. Dreißig Außbündtige schöne Comedien vnd Tragedien [...] Sampt noch andern Sechs vnd dreissig schönen lustigen kurtzweiligen Faßnacht oder Possen Spilen [...]. Nürnb. 1618. – J. A.s Bamberger ReimChronik vom Jahre 900–1599. Hg. Joseph Heller. Bamberg 1838. – A.s Dramen. Hg. Adelbert v. Keller. 5 Bde., Stgt. 1865. – Fastnachtspiele des 15. u. 16. Jh. Hg. Dieter Wuttke. Stgt. 41989, S. 262–309. Literatur: Theodor Hampe: Eine Porträtmedaille auf J. A. In: Mitt. aus dem German. Nationalmuseum (1903), S. 161–173. – Carl Hermann Kaulfuß-Diesch: Die Inszenierung des dt. Dramas an der Wende des sechzehnten u. siebzehnten Jh. Lpz. 1905, S. 159–227. – Wilibald Wodick: J. A.s Dramen in ihrem Verhältnis zur einheim. Lit. u. zum Schausp. der engl. Komödianten. Halle/Saale 1912. – Gottfried Höfer: Die Bildung J. A.s. Lpz. 1929. – Karl Fouquet: J. A.s ›Sidea‹, Shakespeares ›Tempest‹ u. das Märchen. Marb. 1929. – Willi Fleming: A. In: NDB (dort weitere Lit.). – Eckehard Catholy: Fastnachtspiel. Stgt. 1966, S. 62–64. – Hans Bertram Bock: J. A. 1543–1605. In: Fränk. Klassiker. Hg. Wolfgang Buhl. Nürnb. 1971, S. 279–288. – Norbert Olf: Der Wortschatz J. A.s. Göpp. 1988. – Jens Haustein: J. A. In: Füssel, Dt. Dichter, S. 575–588. – Jean-Marc Pastré: La Dramaturgie des Jeux Allemands de Carnaval. In: Fifteenth-Century Studies 25 (2000), S. 193–203. Jens Haustein / Albrecht Classen

B Baader, (Benedikt) Franz (Xaver) von (geadelt 1808), * 27.3.1765 München, † 23.5. 1841 München; Grabstätte: ebd., Südfriedhof. – Bergbauingenieur; Philosoph u. Theosoph. Nach einem Medizinstudium in Wien u. Ingolstadt (1786 Dr. med.) studierte B. 1788 bis 1792 Berg- u. Hüttenwesen an der Bergakademie in Freiberg. 1792–1796 arbeitete er als Bergingenieur in England u. Schottland. 1797 trat B. in den bayer. Staatsdienst ein u. wurde 1799 zum Bergrat ernannt, 1807 zum Oberstbergrat. 1808 eröffnete er in Lambach im Bayerischen Wald eine Glashütte, in der er ein neues Verfahren zur Glasgewinnung entwickelte. Im selben Jahr wurde B. ordentl. Mitgl. der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. In dieser Zeit entstanden freundschaftl. Beziehungen zu Johann Wilhelm Ritter, Schelling u. Gotthilf Heinrich Schubert. 1814 leistete B. mit einer Denkschrift an den mit pietist. Erweckungsbewegungen sympathisierenden Zaren Alexander I. (publiziert u. d. T. Über das durch die Französische Revolution herbeigeführte Bedürfniß einer neuen und innigeren Verbindung der Religion mit der Politik. Nürnb. 1815) einen Beitrag zur Gründung der »Heiligen Allianz«. 1818 wurde B. offizieller literar. Korrespondent des russ. Kirchen- u. Kultusministers Alexander Golicyn; ein Lehrbuch für den russ. Klerus, das Golicyn bei ihm in Auftrag gab, hat B. jedoch nicht vollendet. 1820 wurde B. ohne nähere Begründung vom bayer. Staat in den Ruhestand versetzt. 1822 scheiterte er mit seinem Plan, in Petersburg eine Akademie zur Annäherung der christl. Kirchen zu gründen, da sich nach dem Kongress von

Verona eine Revision der russ. Religionspolitik durchgesetzt hatte. Durch die Vermittlung des Regensburger Bischofs Johann Michael Sailer erhielt B. 1826 einen Lehrauftrag als Honorarprofessor für Religions- u. Sozialphilosophie an der neu gegründeten Universität München. Seine Vorlesungen über Spekulative Dogmatik erschienen bei Cotta (5 H.e, Stgt. 1828–38). 1826–1829 war B. in der Redaktion der Zeitschrift »Eos« tätig, ab 1828 gemeinsam mit Joseph Görres, unter dessen Leitung das Blatt zu einem Organ des restaurativen Katholizismus wurde. Nach 1830 beschäftigte sich B. zunehmend mit der sozialen Frage. Als das Kernproblem erkannte er in Über das dermalige Mißverhältnis der Vermögenslosen oder Proletairs zu den Vermögen besitzenden Klassen [...] (Mchn. 1835) den »Abgrund des physischen und moralischen Elends« der Proletarier bei gleichzeitigem Mangel an Rechtsschutz u. Koalitionsfreiheit, was die Gefahr einer »Revolutionierbarkeit« der Gesellschaft heraufbeschwöre. Als Lösung propagierte B. die »Einbürgerung des Proletairs« in eine neue, harmonisch gefügte u. evolutionär sich entwickelnde Ständeordnung. Zgl. setzte sich B. mit der Restaurationsbewegung in der kath. Kirche unter Gregor XVI. (1831–1846) auseinander. Während des Kölner Kirchenstreits (1837) wandte sich B. mit der Forderung nach einer synodal verfassten Kirche offen gegen den Primatsanspruch des Papstes. Ein Ministerialerlass, der allen Nichtklerikern untersagte, an den bayer. Hochschulen über religiöse Themen zu dozieren, machte 1838 B.s universitärer Lehrtätigkeit ein Ende. B. war zweimal verheiratet, 1800–1835 mit Franziska von Reisky, ab 1839 mit dem Dienstmädchen Maria Robel. Die letzten Le-

279

bensjahre B.s wurden von erheblichen finanziellen Schwierigkeiten überschattet. B.s Werk, in einem Zeitraum von 55 Jahren entstanden, enthält keine in sich geschlossenen Abhandlungen, sondern kurze, oft aphoristisch zugespitzte Traktate u. Studien. Der fragmentar. Charakter, der auch seine umfangreicheren Werke prägt, darf jedoch nicht über den systemat. Anspruch seines Denkens hinwegtäuschen. Die Fragmente gelten als Fermenta cognitionis (6 H.e, Bln./Lpz. 1822–25) u. »Samen«, welche die Erkenntnis eines organ. Ganzen vermitteln sollen. B.s eigenwilliger Sprachduktus ist dunkel; sein Satzbau türmt sich zu umständl. Wortgebilden auf. Organische, chem., physiolog., naturphilosoph. u. log. Kategorien verschmelzen miteinander. Themen der christl. Religion, der Naturphilosophie, der Metaphysik u. der Gesellschaftslehre sind eng ineinander verwoben. Auffällig ist die umfangreiche Zitation u. Kommentierung theosophischer Traditionen, bes. der Schriften Jacob Böhmes u. Louis Claude Saint-Martins (1743–1803). B. sieht die Versöhnung von Wissenschaft u. Christentum als zentrale Lebensaufgabe an, wobei er der göttl. Offenbarung den Primat vor der menschl. Vernunft zuweist. Sein Verständnis der christl. Lehre gründet jedoch nicht allein auf den bibl. Zeugnissen u. ihrer Auslegung durch die Kirchen, sondern auf Traditionen eines Christentums, das unmittelbar nach dem Sündenfall Adams gestiftet worden ist. Die Kabbala, alchemistische u. hermet. Überlieferungen gelten als Reflexe der in den Großkirchen vergessenen Urtradition. Einheitspunkt von B.s Denken ist die intuitiv gefasste Idee eines ursprünglich harmon. Verhältnisses von Geist u. Natur. Der Geist ist das Prinzip der Einheit, welches mit Hilfe der Natur zur Selbstdarstellung u. Verleiblichung drängt. Die Natur ist für sich das Prinzip widerstrebender Kräfte, der egoistischen u. der expansiven, die dem Geist subordiniert werden müssen, damit sie sich als gliedernde u. leibgebende Potenzen eines lebendigen Organismus entfalten können. Die christl. Lehre dient dazu, den Ursprung u. die Entfaltung von Geist u. Natur in der kosmischen u. geschichtl. Realität zu konkretisieren. Gott bezeichnet die absolute Identität

Baader

von Geist u. Natur. In der Schöpfung werden Geist u. Natur freigesetzt, damit sie durch den Menschen als Bild Gottes geeint werden. Die Themen der christl. Heilsgeschichte u. der Urtradition, die mit dem Sündenfall Lucifers erfolgte kosm. Katastrophe, die Androgynität des Urmenschen Adam, der doppelte Sündenfall des Menschen u. a. werden als Konstellationen von Geist u. Natur begriffen, welche durch den Missbrauch der geschöpfl. Freiheit einerseits u. durch die Barmherzigkeit Gottes andererseits hervorgebracht werden. Auf dieser gedankl. Grundlage fußt B.s Selbstverständnis in seiner Zeit. Er will dem »Lügengeist«, der »öffentlicher Doctrinair« geworden ist, entgegentreten, die »Lichtwaffe der Intelligenz« entzünden u. auf diese Weise »evolutionäre Kräfte« freisetzen. Die von B. ausgehende starke Wirkung auf seine Zeitgenossen – in Zustimmung wie in Ablehnung – ist vielfach bezeugt. Schelling, Friedrich Schlegel, Hegel, Görres u. a. standen zeitweise unter dem Eindruck des »elektrischen Blitzgenies« (Görres), während Schopenhauer den »abscheulichen Baaderschen Aberwitz« perhorreszierte. B., eine der Zentralgestalten der Münchner Romantik, geriet im späteren 19. Jh. weitgehend in Vergessenheit. So handeln die gängigen Philosophiegeschichten nur selten von ihm; tun sie es dennoch, dann ordnen sie ihn – historisch nicht korrekt – der Schellingschule zu. Neue Aufmerksamkeit findet das organ. Weltbild B.s innerhalb der nach dem Ersten Weltkrieg einsetzenden Wiederbelebung der deutschen Romantik (Ball, Baumgardt u. a.) u. in der Philosophie Ernst Blochs. In der kath. Theologie wird B. als Vorläufer des Sozialkatholizismus, als Inspirator der Ökumene u. als Vordenker einer Versöhnung von Philosophie u. Religion rezipiert. In den Forschungen zur romant. Naturphilosophie (Zovko, Ackermann, Moiso u. a.) sind in den letzten Jahren B.s Verhältnis zu Schelling, seine Böhme-Rezeption u. Theosophie eingehender untersucht worden. Weitere Werke: Vom Wärmestoff. Wien/Lpz. 1786. – Beyträge zur Elementar-Phisiologie. Hbg. 1797.  Über das pythagoreische Quadrat in der Natur oder die vier Weltgegenden. [Tüb.] 1798. 

Baader Über die Analogie des Erkenntnis- u. des Zeugungstriebes. In: Jb. der Medizin 3 (1808), S. 113–124. – Ober die Begründung der Ethik durch die Physik. Mchn. 1813. – Vierzig Sätze einer religiösen Erotik. Mchn. 1831. – Über die Thunlichkeit oder Nichtthunlichkeit einer Emanzipation des Katholizismus v. der röm. Diktatur.  Biografie: Sämmtl. Werke. Bd. 15, Lpz. 1857.  Briefe: Lettres inédites de F. v. B. Hg. Eugène Susini u. a. 6 Bde., Paris u. a. 1942–83.

280 Paderb. u. a. 2004.  Wilhelm Schmidt-Biggemann: Polit. Theologie der Gegenaufklärung. Bln. 2004.  S. Ackermann: F. v. B. In: Naturphilosophie nach Schelling. Hg. Thomas Bach u. Olaf Breidbach. Stgt.-Bad Cannstatt 2005, S. 41–59. Ferdinand Schumacher / Guido Naschert

Baader, Johannes, * 22.6.1875 Stuttgart, † 15.1.1955 Adeldorf/Niederbayern. – Ausgabe: Gesamtausgabe: Sämmtl. Werke. Hg. Architekt u. Verfasser dadaistischer Franz Hoffmann u. a. 16 Bde., Lpz. 1851–60. Schriften. Neudr. Aalen 1963.

Literatur: Hugo Ball: Zur Kritik der dt. Intelligenz. Bern 1919, S. 125–171. – Leo Löwenthal: Die Sozietätsphilosophie F. v. B.s. Diss. Ffm. 1923. – David Baumgardt: F. v. B. u. die philosoph. Romantik. Halle 1927. – Hans Spreckelmeyer: Die philosoph. Deutung des Sündenfalls bei F. B. Diss. Würzb. 1938. – Eugène Susini: F. v. B. et le romantisme mystique. 2 Bde., Paris 1942. – Hans Graßl: F. v. B.s Lehre vom Quarternar u. die Dreiheitsspekulation seiner Zeitgenossen. Diss. Mchn. 1949.  Josef Siegl: F. v. B. Ein Bild seines Lebens u. Wirkens. Mchn. 1957.  Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung. Bd. 2, Ffm. 1959, S. 918–924. – Klaus Hemmerle: F. v. B.s philosoph. Gedanke der Schöpfung. Freib. i. Br. 1963. – Ernst Benz: Les sources mystiques de la philosophie romantique allemande. Paris 1968.  H. Graßl: Aufbruch zur Romantik. Mchn. 1968, S. 367–402. – Friedrich Hartl: F. v. B. u. die Entwicklung seines Kirchenbegriffs. Mchn. 1970. – Lidia Xella Procesi: La dogmatica speculativa di F. v. B. Turin 1977.  Ferdinand Schumacher: Der Begriff der Zeit bei F. v. B. Freib. i. Br. 1983. – José Sanchez: Der Geist der dt. Romantik. Mchn. 1986.  Peter Koslowski (Hg.): Die Theologie, Philosophie u. Gnosis F. v. B.s. Wien 1993.  Marie-Elise Zovko: Natur u. Gott. Das wirkungsgeschichtl. Verhältnis Schellings u. B.s. Würzb. 1996.  Francesco Moiso: Kants naturphilosoph. Erbe bei Schelling u. v. Arnim. In: ›Fessellos durch die Systeme‹. Frühromant. Naturdenken im Umfeld v. Arnim, Ritter u. Schelling. Hg. Walther C. Zimmerli, Klaus Stein u. Michael Gerten. Stgt.-Bad Cannstatt 1997, S. 204–222.  Stefan Ackermann: Organ. Denken. Humberto Maturara u. F. v. B. Würzb. 1998.  Andreas J. Hölscher. Das Urpoem des Menschen. Eine krit. Betrachtung über Kunst u. Ästhetik bei F. v. B. Ffm. u. a. 2001.  Erwin Hinder: Das christlich-soziale Prinzip bei F. v. B. Ffm. u. a. 2001.  P. Koslowski: Philosophien der Offenbarung. Antiker Gnostizismus, F. v. B., Schelling. Paderb. 2001.  Klaus Stein: Naturphilosophie der Frühromantik.

B., Sohn einer Handwerkerfamilie, besuchte 1892–1895 die Staatliche Baugewerbeschule Stuttgart u. studierte 1898/99 Architektur. Bis 1913 arbeitete er als Architekt, wurde 1925 Journalist beim »Hamburgischen Korrespondenten« u. war ab 1941 in Hamburg wieder als Architekt tätig. 1905 gab er öffentlich seinen Plan für den Bau eines »Welttempels« bekannt, der von dem »Internationalen religiösen Menschenbund«, einer Erfindung B.s, finanziert werden sollte. 1914 veröffentlichte er die 14 Briefe Christi (Bln.), in denen er sich als wiedererstandener Christus darstellte. Seinem Selbstverständnis nach trennte B. nicht zwischen künstlerischer u. privater Identität. Raoul Hausmann vermittelte ihn 1917 in den Kreis der Berliner Dadaisten. B. arbeitete daraufhin bei den Zeitschriften »Freie Straße« (Nr. 9 u. 10, Nr. 10 ist ihm gewidmet) u. »Der Dada« (Nr. 1 u. 2) mit. Bereits Mitgl. im »Club Dada«, rief er mit Hausmann 1919 den »Club der Blauen Milchstraße« aus. Auf der Berliner Dada-Messe 1920 stellte B. seine große Assemblage Plasto Dio Dada Drama. Deutschlands Größe und Untergang aus. 1920 verfasste er das HADO, Handbuch des Oberdada, eine Literaturmontage auf Tageszeitungen, u. begründete 1921 die »Erste Intertellurische Akademie« u. die Arbeitsgemeinschaft »Freiland Dada«. Mit Hausmann u. Richard Huelsenbeck unternahm er Dada-Tourneen u. erregte durch antibürgerl. Aktionen (z.B. »Dadaisten gegen Weimar«, 1917), Manifeste, Flugblätter u. Briefe, u. a. an Hitler, Aufsehen. Durch seine Selbstinszenierung als Oberdada stand B. in Konkurrenz zu anderen Dadaisten, u. Hausmann distanzierte sich zunehmend von ihm. B., »einer der wenigen

281

Bab

freien Menschen, die in der Gesellschaft kei- Bab, Julius, * 11.12.1880 Berlin, † 12.2. nen Platz finden« (Raoul Hausmann: J. B. war 1955 Roslyn Heights/Long Island, New dada. In: »manuskripte«, H. 21, 1967, York – Kultur- u. Theaterkritiker, DraS. 20 f.), forderte die Besinnung »auf die maturg u. Theaterpädagoge. Ordnung der Menschheit im Himmel« (in: Die acht Weltsätze. Mühlheim/Donau 1919) u. Der Sohn des jüd. Holzfabrikanten Elkan Bab verlangte, dass »jeder Mensch seine eigene studierte 1902–1905 in Berlin u. Zürich. Sein Religion erkennt« (J.B. [Bln. 1914]. In: Ober- soziales Engagement führte ihn zur Volksdada. Hg. Hanne Bergius, Norbert Miller u. bühne, bei der er bis 1933 in verschiedenen Karl Riha. Gießen 1977, S. 23), wobei sein Funktionen tätig war, v. a. als Dramaturg u. weites Religionsverständnis spirituelle u. Herausgeber der »Dramaturgischen Blätter«. astrolog. Ideen mit einschloss. Durch die be- Er schrieb regelmäßig Theaterkritiken für ständige Inszenierung ist B.s Weltanschau- eine große Zahl von Zeitungen u. Zeitschrifung unklar u. trotz konservativer Führer- ten u. war Dozent an Max Reinhardts ideen erscheint er politisch indifferent. Ge- Schauspielschule, an der Leibniz-Akademie gen revolutionären Radikalismus propagierte u. an der Humboldt-Hochschule. Als TheaB. im Anschluss an die Russische Revolution teranalytiker u. Kulturpädagoge hielt er mit 1918 eine dadaist. Weltrevolution u. in dem großer rhetor. Begabung Vorträge in ganz Text Weltgericht Nürnberg, der aus seinem Deutschland u. in Wien, Prag u. Zürich. B. fühlte sich stets verpflichtet, als SchriftNachlass stammt, verarbeitete er die Kriegsverbrecherprozesse in Nürnberg geschichts- steller auch zu polit. Fragen Stellung zu nehmen. Er hielt eine Gedächtnisrede auf Gustav teleologisch. B.s berühmte Text- u. Bildercollage 373 Landauer (Bln. 1919) u. bekannte sich zur Geheimakten der dadaistischen Bewegung (1921) Demokratie in den Aufsatzsammlungen Das gilt noch immer als verschollen. Mit seinen Erwachen zur Politik (Bln. 1920) u. BefreiungsArbeitsmaterialien u. -techniken weist B. auf schlacht (Stgt. 1928). B. gehörte zu den Gründie moderne Kunst u. Medienpraxis voraus. dungsmitgliedern des »Jüdischen KulturWeitere Werke: Das Oberdada. Mit Nachw. hg. bundes« in Berlin u. leitete das Theaterresv. Karl Riha. Hofheim 1991. – Ich segne die Hölle! sort. 1935 erhielt er von den NationalsoziaGedichte 1915–33. Mit Nachw. hg. v. Dieter Scholz. listen Publikationsverbot u. musste 1939 nach Frankreich emigrieren. Er wurde interSiegen 1995. Literatur: Karl Riha: Da Dada da war ist Dada niert, bis er im Dez. 1940 in die USA ausreida. Mchn./Wien 1980 (mit Porträt J. B.s). – Stephen sen konnte. Dort war es für den ganz im dt. C. Foster: J. B. In: Sinn aus Unsinn. Hg. Wolfgang Kulturleben Verwurzelten schwer, seine FaPaulsen u. a. Bern/Mchn. 1982, S. 153–176. – milie zu versorgen. Erst gegen Ende des Hanne Bergius: Radikale Sanierung des Erd- u. Krieges konnte er für die »New Yorker StaatsWeltballs. ›Oberdada‹ J. B. In: Dies.: Das Lachen Zeitung und Herold« Theater- u. FilmkritiDadas. Die Berliner Dadaisten u. ihre Aktionen. ken gegen Zeilenhonorar schreiben. 1951 u. Bln. 1989, S. 144–161. – Michael Kohtes: Ich u. das Weltall. Zur Ästhetik des Größenwahns (J. B.). In: 1953 besuchte B. noch einmal Deutschland, Ders.: Literar. Abenteurer. Dreizehn Portraits. Ffm. hielt auch eine Reihe von Vorträgen, zu einer 1996, S. 35–48. – Rainer Topitsch: J. B. Das Leben endgültigen Rückkehr konnte er sich nicht als Medienereignis. In: Sprache im techn. Zeitlalter entschließen. Jg. 36, Nr. 146 (Sept. 1998), S. 224–234. – Hubert B. war ein vielseitiger Schriftsteller, bevan den Berg: Avantgarde u. Anarchismus. Dada treute Klassikerausgaben u. sammelte Zürich u. Berlin. Diss. Hbg. 1999. – Karl Riha: Der Kriegslyrik (1914. Der Deutsche Krieg im DeutOberdada im Urteil der Dadaisten. In: Dada Berlin. schen Gedicht. Bln. 1914–18. 1914–1918. Eine Une Révolution culturelle? Hg. Françoise Lartillot. kritische Bibliographie. Stettin 1920). Die umNantes 2004, S. 17–35. fangreiche Biografie des Schriftstellers RiAngelika Müller / Robert Krause chard Dehmel (Lpz. 1926) ist auch heute noch ein Standardwerk. Als Dank an sein Exilland gab B. kurze Einführungen in Amerikas Dichter

Babo

282

der Gegenwart (Bln. 1951) heraus u. übersetzte Tod des dt. Judentums. Bln. 1988 u. 2002. – Die Berliner Bohème. Hg. M. M. Schardt. Paderb. 1994. Amerikas neuere Lyrik (Bad Nauheim 1953). Literatur: Ilse Bab: Der Theaterkritiker J. B. Seine große Liebe aber galt dem Theater. Über zwei Jahrzehnte hinweg verfolgte er die Diss. Bln. 1953. – Akademie der Künste (West-Bln.): gesamte dramat. Produktion (Die Chronik des Wanderausstellung J. B. Kat. 1967/68. – Bruno Alfons Koch: The Theatre in the Light of Sociology. deutschen Dramas. Bln. 1921–26) u. war einer Diss. Michigan 1973. – Ilse Bab: J. B. In: Emuna 9 der prominentesten Kritiker in Berlin. Den (1974), S. 38–46. – Harry Bergholz: J. B. im Exil. In: meisten anderen Publizisten hatte er prakt. Tribüne 14 (1975), S. 6402–6427. – Sylvia RoggeErfahrungen als Dramaturg u. Regisseur Gau: Die doppelte Wurzel des Daseins. J. B. u. der voraus. Die prägenden Eindrücke in seiner Jüd. Kulturbund Berlin. Bln. 1999. – Thomas TaJugend waren die Auftritte der großen terka: ›Der Deutsche Krieg im Deutschen Gedicht‹. Schauspieler Kainz, Matkowsky u. Kayßler. Die dt. Weltkriegslyrik u. ihr Begleiter J. B. In: Ihnen widmete er umfangreiche Studien Krieg u. Lit. 5 (1999), S. 5–20. – Elisabeth Albanis: (Kainz und Matkowsky. Bln. 1912. Friedrich German-Jewish Cultural Identity from 1900 to the Aftermath of the First World War. A comparative Kayßler. Bln. 1920). Den Plan, eine Weltgestudy of Moritz Goldstein, J. B. u. Ernst Lissauer. schichte der Schauspielkunst zu schreiben, Tüb. 2002. Walter Schmähling / Red. konnte er nicht ausführen, lediglich seine Vorarbeiten dazu erschienen u. d. T. Kränze dem Mimen (Emsdetten 1954). Seine in der Babo, Josef Marius von (geadelt 1791), Theaterarbeit gesammelten Erfahrungen * 14.1.1756 Ehrenbreitstein, † 5.2.1822 formulierte er als pädagog. Hinweise für die München; Grabstätte: ebd., Alter SüdSchauspieler (Schauspieler und Schauspielkunst. friedhof. – Dramatiker u. Intendant, PuBln. 21926. Nebenrollen. Bln. 1913). Außerdem blizist. war B. der Erste, der eine Soziologie des B., Sohn eines kurtrierschen Hauptmanns, Theaters zu schreiben versuchte (Das Theater besuchte das Jesuitenkolleg in Koblenz u. im Lichte der Soziologie. Lpz. 1931. Nachdr. betrieb philosophische u. juristische Studien. Stgt. 1974). B.s Nachlass liegt in der Akade1774 wurde er Sekretär am neu gegründeten mie der Künste Berlin u. im Leo-Baeck-InstiMannheimer Hoftheater, 1778 folgte er tut New York. Kurfürst Karl Theodor nach München. Dort Weitere Werke: Ludwig Anzengruber. Bln. versuchte er vergeblich, eine dauerhafte An1904 (Ess.). – Der Andere. Bln. 1907 (D.). – Das Blut. stellung als Gymnasiallehrer zu erhalten, Bln. 1908 (D.). – Kritik der Bühne. Bln. 1908 (Drahielt allerdings einige Vorlesungen über maturgie). – Der Schauspieler u. sein Haus. Bln. 1909 (Vortrag). – Bernard Shaw. Bln. 1910 (Biogr.). Philosophie u. Ästhetik am Münchner Lyze– Der Mensch auf der Bühne. Bln. 1910 (Drama- um. Bis 1784 »privatisierte« er als freier turgie). – Fortinbras oder: Der Kampf des 19. Jh. Schriftsteller u. Publizist. In dieser Zeit vermit dem Geiste der Romantik. Bln. 1914 (6 Reden). fasste er mehrere Dramen u. Singspiele, die – Am Rande der Zeit. Bln. 1915 (Ess.). – Produ- überwiegend der mit ihm befreundete Jozentenanarchie, Sozialismus u. Theater. Bln. 1919 hann Baptist Strobl verlegte, u. gab in Mün(Aufs.). – Die dt. Revolutionslyrik. Wien 1919 chen 1782/83 gemeinsam mit Strobl u. Lo(Anth.). – Wesen u. Weg der Berliner Volksbüh- renz Hübner eine Theaterzeitschrift heraus nenbewegung. Bln. 1919 (Aufs.). – Neue Kritik der (»Der dramatische Censor«). Bühne. Bln. 1920 (Dramaturgie). – Das Leben 1784 wurde B. geheimer Sekretär der verGoethes. Stgt. 1922 (Ess.). – Arbeiterdichtung. Bln. witweten Herzogin Maria Anna. Seit 1789 1924 (Aufs.). – Shakespeare. Wesen u. Werke. Stgt. war er auf Veranlassung seines Freundes 1925. – Goethe u. die Juden. Bln. 1926 (Aufs.). – Benjamin Thompson (Graf Rumford) mitbe2 Schauspieler u. Schauspielkunst. Bln. 1926 (Aufs.). – Polit. Drama. Heilbr. 1927 (Aufs.). – Das Theater teiligt an der Errichtung der Militärakadeder Gegenwart. Lpz. 1928 (Monogr.). – Adalbert mie, der er bis 1799 als Studien-Direktor Matkowsky. Eine Heldensage. Bln. 1932. – Rem- vorstand. Seit 1791 wirkte B. als Zensurrat in kurfürstl. Bücherzensurkommission brandt u. Spinoza. Bln. 1934. – Über den Tag hin- der aus. Heidelb. 1960 (Ausw. mit Bibliogr.). – Leben u. (1799 bis 1803 in der Bücherzensur-Spezial-

283

kommission unter Max IV. Joseph), seit 1792 war er überdies als Theaterkommissar tätig. 1799 übernahm er, als Nachfolger von Joseph Anton Graf von Seeau, die Leitung des Münchner Hoftheaters, die er bis 1810 innehatte. 1807 wurde er als Ordentliches Mitgl. der Akademie der Wissenschaften in München zugewählt. B. war ein produktiver u. überaus erfolgreicher Dramatiker der Goethezeit, dessen Stücke an zahlreichen Schaubühnen Deutschlands, selbst am Weimarer Hoftheater unter Goethes Leitung, aufgeführt wurden. In Berlin erschien 1793 – B. wurde dort v. a. von Johann Jakob Engel protegiert – eine erste Sammelausgabe der wichtigen Dramen (Schauspiele, erster Band). B., der sich stets geschickt den literar. Moden anpasste, sich aber auch durch sein Gespür für eine bühnenwirksame Sprache u. Dramaturgie auszeichnete, veröffentlichte anfangs Militärdramen (Arno. Ffm. u. Lpz. 1776. Das Winterquartier in Amerika. o. O. 1778), danach ein Stück in der Tradition der deutschtümelnden Bardendichtung (Die Römer in Teutschland. Mchn. 1779), schließlich patriot. u. histor. Dramen (Dagobert, der Frankenkönig. Mchn. 1787. Otto von Wittelsbach, Pfalzgraf in Bayern. Mchn. 1782), von denen Oda, die Frau von zween Männern (Mchn. 1782) zgl. als Seitenstück zu Goethes Stella gelten kann. Ab 1783 schrieb B., neben einem umfänglichen histor. Drama über ein Ereignis der russ. Geschichte unter Peter dem Großen (Die Strelitzen. Ffm. u. Lpz. 1790. »Corrigirte« Ausg. in: Schauspiele. 1793), überwiegend Komödien u. kleine Lustspiele. Die patriot. Stücke B.s sind stark beeinflusst von der Sturm-u.-Drang-Dramatik im Stile des Götz von Berlichingen u. der nachfolgend entstandenen Ritterdramen, v. a. von Joseph August von Törring-Cronfelds Agnes Bernauerin (1780). Mit seinem Otto von Wittelsbach wurde B. auch deshalb berühmt, weil der Kurfürst nach zwei Aufführungen Ende 1781 weitere Aufführungen vermutlich wegen jener möglichen polit. Lesart verbot, die das Trauerspiel über den Kaisermord an Philipp von Schwaben als Kampfschrift gegen die Bayern betreffenden Tauschpläne Josephs II. u. Karl Theodors ausweist. B.s bürgerl.

Babo

Komödien wiederum sind unter dem Eindruck zeitgenössischer Kritiken v. a. Lorenz Westenrieders entstanden. In Das Fräulein Wohlerzogen (Mchn. 1783) versuchte B., Westenrieders Forderung nach »einheimischen« Komödien umzusetzen. Er lieferte ein bühnenwirksames Sittengemälde aus München (so der Untertitel), in dem die dominanten ethisch-sozialen Werte der Aufklärung, v. a. Sparsamkeit, Fleiß u. sozialer Utilitarismus, positiv gegen adlige, frankophile Lebensformen gesetzt sind. 1784 erregte B.s anonym erschienene Schrift Über Freymaurer. Erste Warnung (Mchn. 1784) großes Aufsehen. Sie trug die Diskussion um den republikan. Illuminatenorden in die Öffentlichkeit u. leitete die kurfürstl. Verfolgung des Geheimbundes ein, der laut B. als »Staat im Staate« dem Wohl der Allgemeinheit u. dem Kurfürstentum gefährlich geworden sei. Zuvor war, ebenfalls 1784, das Gemälde aus dem Leben der Menschen (Mchn. Neudr. Königst. 1980), mit einem angehängten Fürstenspiegel, veröffentlicht worden. Darin beschreibt der Ich-Erzähler menschliches Elend u. sozialen Abstieg als Resultat des auf gesellschaftl. Ungleichheit u. Ausbeutung basierenden Gegensatzes von Reich u. Arm u. fehlender polit. Reformen im Absolutismus. Der auf die bayer. Verhältnisse bezogene, noch der Empfindsamkeit verpflichtete Prosatext, der zu den besten literar. Werken der Aufklärung in Bayern zu zählen ist, enthält auch scharfe Kritik am antireligiösen Rationalismus u. Sensualismus einer nicht genannten geheimbündlerischen Sekte (gemeint sind die Illuminaten). Mit der Position des Sozialreformen anstrebenden, gemäßigten bayer. Aufklärers empfahl sich B. für jene Aufgaben, die er für die Regierung 1789 übernehmen u. auch in der Zeitschrift »Der baierische Landbote« (Hg. v. B. u. Johann Anton Lipowsky. Mchn. 1791/92) thematisieren sollte. Weitere Werke: Das Lustlager. Mchn. 1783 (Lustsp.). – Die Mahler. Mchn. 1783 (Lustsp.). – Polit. Nummern. Ffm. 1785/86 (Ztschr.). – Ankündigung der kurfürstl. Militärakademie. Mchn. 1790. – Anleitung zur Himmelskunde in leichtfaßl. astronom. Unterhaltungen, für Jugend u. ungelehrte Welt. Mchn. 1792. – Der Frühling, ein Vor-

Babst spiel. Mchn. 1799. – Genua u. die Rache. Bln. 1804. – Der Puls. Bln. 1804 (Lustsp.). Literatur: Ludwig Pfeuffer: J. M. B. als Leiter des Münchner Hoftheaters. Diss. Mchn. 1913. – Wilhelm Trappl: J. M. B. Sein literar. Schaffen u. seine Stellung in der Zeit. Diss. Wien 1970. – Werner Konrad: Patriotendrama – Fürstendrama. Über Anton Nagels ›Bürgeraufruhr in Landshut‹ u. die bayer. Patriotendramen der frühen Karl-Theodor-Zeit. Ffm. u. a. 1995. – Silvia Wimmer: Die bayer.-patriot. Geschichtsdramen. Ein Beitr. zur Gesch. der Lit., der Zensur u. des polit. Bewußtseins unter Kurfürst Karl Theodor. Mchn. 1999. – Dramenlexikon des 18. Jh. Hg. Heide Hollmer u. Albert Meier. Mchn. 2001, S. 18–21. – Michael Schaich: Staat u. Öffentlichkeit im Kurfürstentum Bayern der Spätaufklärung. Mchn. 2001. – Peter Höyng: Die Sterne, die Zensur u. das Vaterland. Gesch. u. Theater im späten 18. Jh. Köln u. a. 2003. – Katharina Meinel: Für Fürst u. Vaterland. Begriff u. Gesch. des Münchner Nationaltheaters im späten 18. Jh. Mchn. 2003. Wilhelm Haefs

Babst, Diederich Georg, * 24.7.1741 Schwerin, † 21.4.1800 Rostock. – Mundartlyriker. Im Anschluss an das in Rostock abgelegte jurist. Staatsexamen arbeitete B., der aus einer alteingesessenen Rostocker Kaufmannsfamilie stammte, am Niedergericht in Rostock. Er zählt zu den Neubegründern der plattdt. Literatur, die nach der Blütezeit des Mittelniederdeutschen ihre literar. Geltung gegen Ende des 18. Jh. nahezu eingebüßt hatte. In den Jahren 1788–1790 gab B. u. d. T. Allerhand schnaaksche Saken tum Tietverdriew (3 Tle., Rostock) zumeist humorvolle, schwankhafte Gedichte in Mecklenburger Mundart heraus. Nach seinem Tod veröffentlichte sein Sohn B.s Uhterlesene Pladdütsche Gedichte (Rostock 1812). B. verstand sich nicht als Dichter. Ihm ging es v. a. um die Schilderung Rostocker Verhältnisse, wodurch seine Gedichte auch kulturhistorisch von Bedeutung sind. Das Plattdeutsche unterstrich dabei lediglich das Lokalkolorit. Im Unterschied zu seinem berühmteren Landsmann Johann Heinrich Voß bediente er sich weitgehend der in Mecklenburg tatsächlich gesprochenen Mundart,

284

während Voß in seinen plattdt. Werken bewusst ein stilisiertes Niederdeutsch verwandte. B.s Gedichte, oft von einem biederen didakt. Impetus getragen, konnten nur regionale Bedeutung erlangen, obgleich von Goethe der Tagebuchvermerk überliefert ist: »Höchst schätzbar sind seine Gelegenheitsgedichte, die uns einen altherkömmlichen Zustand, in festlichen Augenblicken neu belebt, wieder darstellen.« Literatur: Heinrich Klenz: D. G. B. In: ADB. – Adolf Böhmer: D. G. B. Ein Beitr. zur niederdt. Lit. u. Sprache. Diss. Rostock 1923. – Adolf Böhmer: D. G. B. In: NDB. Jörg Schilling / Red.

Babylonische Gefangenschaft, Mitte des 12. Jh. – Frühmittelhochdeutsches, anonymes Gedicht. Das Gedicht ist in einer Sammelhandschrift des Benediktinerstifts St. Paul in Kärnten überliefert. Anfang u. wohl auch Schluss fehlen. Die B. G. entstand wahrscheinlich auf moselfränkischem Gebiet. Das Gedicht legt die Babylonische Gefangenschaft der Israeliten verschieden aus: Zuerst repräsentiert sie die Verdammnis der Unbußfertigen; die Fesseln der Israeliten bezeichnen die Kraft des Teufels, ihr Leid den Tod. Zweimalige Wiederholung unterstreicht die Identifikation von Gefangenschaft u. Verdammnis. In den folgenden Versen erscheint die 70-tägige Bußzeit als Mittel zur Gnadenerlangung – ein Indiz für die Einordnung der B. G. in die Liturgie als Bußaufruf am Beginn der Fastenzeit, dem Sonntag Septuagesima. Vor diesem Sonntag erfolgt die in der B. G. erwähnte »depositio« (Niederlegung) des – in der Fastenliturgie entfallenden – Alleluja. Die zweite Auslegung sieht die Babylonische Gefangenschaft als Zeichen der 70-tägigen Bußzeit vor Ostern; die Fesseln der Israeliten stehen nun für die Kraft Gottes. Gegen Ende hat die B. G. vornehmlich mahnenden Charakter: Sie verweist auf die Erlösung durch den Glauben an Christus u. auf die Liebe Gottes, die die Bußzeit von 70 Jahren auf 70 Tage verkürzt hat. Den Schluss bilden eindringliche Bußaufrufe.

Bach

285

Die Verbindung der Babylonischen Gefangenschaft mit der Fastenzeit war in Predigten zum Sonntag Septuagesima ein gängiges Motiv; eine entsprechende Predigt des Honorius Augustodunensis bildet wohl eine Hauptquelle der B. G. (Speculum ecclesiae Nr. 16. In: PL 172, S. 851–862). Auch stilistisch erinnert die B. G. an Predigten. So ist sie ein Beispiel für die zeittyp. predigtartige Behandlung geistl. Themen, wie sie sich etwa auch beim Armen Hartmann u. bei Heinrich von Melk findet. Ausgaben: Franz J. Mone: Von der Gefangenschaft der Juden. In: Anzeiger für Kunde der dt. Vorzeit 8 (1839), Sp. 55–58. – Friedrich Maurer: Religiöse Dichtungen des 11. u. 12. Jh. Bd. 1, Tüb. 1964, S. 422–425. Literatur: Robert Stoppel: Liturgie u. geistl. Dichtung zwischen 1050 u. 1300. Ffm. 1927, S. 69 f. – Otto Mittler: Untersuchungen über das frühmhd. Bruchstück v. der B. G. u. sein Verhältnis zur mhd. Reimbibel. In: PBB 60 (1936), S. 258–305. – Hermann Menhardt: Zur Herkunft der Maria Saaler Bruchstücke der B. G. In: PBB 82 (1969), S. 70–94. – Edgar Papp: Von der B. G. In: VL. Elisabeth Wunderle / Red.

Bach, Carl Philipp Emanuel, * 8.3.1714 Weimar, † 14.12.1788 Hamburg; Grabstätte: ebd., Hauptkirche St. Michaelis. – Komponist u. Musiktheoretiker.

Poetik vorliegt, ist das Werk, das dem Regelkanon des Barock u. des galanten Stils die Betonung von Fantasie u. Empfindung gegenüberstellt, ein wichtiges Zeugnis nicht nur der musikalischen, sondern auch der literar. Empfindsamkeit. B. sieht die Aufgabe des vortragenden Künstlers darin, »seine Empfindungen zu verstehen« zu geben u. das Publikum »solchergestalt am besten zur Mitempfindung« zu bewegen, um sich dadurch »der Gemüther zu bemeistern« (Das dritte Hauptstück, § 13) u. »das Hertz dahin, wo er will, zu reissen« (ebd., § 1). 1767 erhielt B. einen Ruf als Nachfolger seines Taufpaten Georg Philipp Telemann für das Amt des Musikdirektors der fünf Hamburger Hauptkirchen, wo er u. a. Werke Händels, Glucks u. Haydns aufführte. Weitere Werke: Selbstbiogr. v. C. P. E. B. In: Charles Burney: Tgb. seiner musikal. Reisen. 3. Tl. übers. v. Bode. Hbg. 1773, S. 199–209. Neudr. Kassel 1959. Literatur: Bibliografie: Doris Bosworth Powers: C. P. E. B. A guide to research. New York 2002. – Weitere Titel: Alfred Wotquenne: Themat. Verz. der Werke v. C. P. E. B. Lpz. 1905. Neudr. 1964. – Ernst Fritz Schmid: C. P. E. B. In: MGG. – Peter Cohen: Theorie u. Praxis der Klavierästhetik C. P. E. B.s. Hbg. 1974. – Hans-Günter Ottenberg: C. P. E. B. Lpz. 1982. – Hans Joachim Marx (Hg.): C. P. E. B. u. die europ. Musikkultur des mittleren 18. Jh. Gött. 1990. – Ernst Suchalla (Hg.): C. P. E. B. im Spiegel seiner Zeit. Die Dokumentenslg. Johann Jacob Heinrich Westphals. Hildesh. 1993. – Barbara Wiermann: C. P. E. B. Dokumente zu Leben u. Wirken aus der zeitgenöss. Hamburg. Presse. Hildesh./Zürich 2000. – Martin Geck: Die Bach-Söhne. Reinb. 2003. Erich Tremmel / Red.

Der zweite überlebende Sohn aus Johann Sebastian Bachs erster Ehe wurde nach musikal. Ausbildung durch den Vater 1741 Kammercembalist Friedrichs II. in Berlin. In seiner künstler. Entfaltung durch die Bevorzugung der überkommenen Regelästhetik am Kgl. Hof eingeschränkt, fand B. Förderung im musikal. Salon des Isaak Daniel Itzig sowie Bach, Ernst, * 10.5.1876 Eger/Böhmen durch die Dichter der Empfindsamkeit Gleim (heute: Cheb/Tschechische Republik), u. Ramler. † 1.11.1929 München. – Schwankautor. B.s Bedeutung gründet sich auf seinen bis weit in das 19. Jh. wirkenden Ruhm als Cla- B. wurde Schauspieler in Wien u. debütierte vichordspieler. Sein virtuoses Spiel begrün- 1899 am Raimund-Theater. Ab 1903 war er dete er im Versuch über die wahre Art das Clavier am Residenztheater Berlin u. wechselte dann zu spielen (Bln. 1753. Zweyter Theil. Bln. 1762. 1905 zum Lustspielhaus, wo er 1906 RegisNeudr. Lpz. 1957. Lpz. u. Wiesb. 51981). seur, 1908 Oberregisseur wurde. 1909 beDieser Versuch gibt neben zahlreichen spiel- gründete die Freundschaft mit dem Schautechnischen u. aufführungsprakt. Hinweisen spieler Franz Arnold B.s zweite Karriere als auch einen Abriss der musikal. Ästhetik B.s. Autor. In Partnerarbeit entstanden 14 Stücke, Da aus dieser Zeit keine zusammenhängende u. a. Die spanische Fliege (Bln. 1913), Hurra – ein

Bachér

Junge! (Bln. 1926), Weekend im Paradies (Bln. 1928). Seit 1917 leitete B. das Volkstheater in München u. inszenierte seine Stücke dort. Die Verlegenheiten u. Missverständnisse der Schwankfiguren gipfeln im planvoll herbeigeführten Gag. B. steuerte v. a. diese komischen Effekte zu der von Arnold entworfenen Handlung bei. Weitere Werke: Der große Theophil. Bln. 1902 (Schwank). – Die schwebende Jungfrau. Bln. 1915 (Schwank). – Das Jubiläum. Bln. 1919 (Lustsp.). Literatur: Bernd Wilms: Der Schwank. Diss. Bln. 1969. – Volker Klotz: Bürgerl. Lachtheater. Mchn. 1980. – Frank Wilmes: Weekend im Paradies. Programmh.e des Landestheaters Coburg. Coburg 1990. Alain Michel / Red.

Bachér, Ingrid, eigentl.: I. Schwarze, verh. Erben, * 24.9.1930 Rostock. – Erzählerin, Hör- u. Fernsehspielautorin. B., eine Urenkelin Theodor Storms, verbrachte ihre Kindheit in Berlin, studierte Musik an der Hamburger Hochschule für Musik u. Theater u. arbeitete seit 1949 als Journalistin. Ausgedehnte Reisen führten sie Ende der 1950er Jahre nach Finnland u. Lateinamerika. Ihre dabei gesammelten Eindrücke u. Erfahrungen gingen in ihren Bildbericht Karibische Fahrt (Mchn. 1961) u. in ihre ersten Erzählungen Lasse Lar oder Die Kinderinsel (Wiesb. 1958) u. Schöner Vogel Quetzal (Wiesb. 1959) ein. Nach einem mehrjährigen Aufenthalt in Rom lebte B. als freie Schriftstellerin erst in Krefeld u. München, dann mit ihrem Mann, dem Maler Ulrich Erben, u. ihren drei Kindern in Düsseldorf. Neben einer Reihe von Hör- u. Fernsehspielen (Das Karussell des Einhorns. Erstsendung 1962. Zürich 1979. Ein Tag der Rückkehr. Erstsendung 1966. Verletzung. Erstsendung 1972. Der Fußgänger. Erstsendung 1987. Der Zuhörer. Erstsendung 1999) sowie Jugendbüchern (Das Kinderhaus. Zürich 1965. Gespenster sieht man nicht. Zürich 1975. Morgen werde ich fliegen. Zürich/Köln 1979), die sie v. a. in den 1960er u. 1970er Jahren verfasste, schrieb B. die Romane: Ich und Ich (Ffm. 1964), Das Paar (Hbg. 1980) u. Woldsen oder Es wird keine Ruhe geben (Hbg. 1982), Die Tarotspieler (Hbg. 1986) u. die Erzählung Der Liebesverrat (Köln 2005), in denen

286

sie in einem verhalten lyrischen, nuancierten Stil die Geschichten von Beziehungen (zwischen Freundinnen, zwischen einer Frau u. einem Mann, zwischen Vater u. Sohn), von Schuld, Krankheit, Konflikt u. Suche nach Sinngebung erzählt. In Sieh da, das Alter. Tagebuch einer Annäherung (Köln 2003) wird das Alter zum Thema ihres Werkes. In den 1990er Jahren hat B. an verschiedenen Publikationen zu den bildenden Künsten mitgearbeitet, wie Standpunkt Plastik: Aspekte künstlerischen Denkens heute (Ostfildern-Ruit 1999) oder Austellungskatalogen wie AnblickAusblick: das Museum Kurhaus Kleve (Köln 1997) oder Alexej von Jawlensky – Reisen, Freunde, Wandlungen (Hbg. 1999). Darüber hinaus hat B. zu dem Band Gewissen gegen Gewalt für ein Else-Lasker-Schüler-Zentrum der verfolgten Künste (Wuppertal 1999) beigetragen. B. nahm seit 1958 an den Tagungen der Gruppe 47 teil. Sie erhielt u. a. das VillaMassimo-Stipendium 1960, den Förderpreis der Stadt Düsseldorf 1961, das Arbeitsstipendium für Schriftsteller in NordrheinWestfalen 1973 u. 1979, das Stipendium des Stuttgarter Schriftstellerhauses 1984, den Literaturpreis der GEDOK 1986 u. den Ferdinand-Lange-Preis 1995. Ab 1982 war B. Mitgl. des PEN-Zentrums der Bundesrepublik u. wurde 1995 zu dessen Präsidentin; sie trat aber 1996 aus Protest aus. B. wirkte von 2002 bis 2004 als Vorsitzende der Düsseldorfer Heinrich-Heine-Gesellschaft. Weitere Werke: Ein Weihnachtsabend. Ein Spiel für die Bühne nach Dickens. Reinb. 1957. – Um fünf, die Stunde des Klavierspielers. 1963 (Hörsp.). – Tiger-Tiger. 1964 (Fernsehsp.). – Die Ausgrabung. 1965 (Hörsp.). – Lübeck: die Bengstraße. 1966 (Hörsp.). – Winterl. Rom. 1967 (Hörsp.). – Das Fest der Niederlage. 1967 (Hörsp.). – Mein Kapitän ist tot. 1968 (Hörsp.). – Rekonstruktion einiger Augenblicke aus dem Leben meines Freundes B. am Tag vor seinem Tod. 1973 (Fernsehsp.). – Das war doch immer so. Merkbuch für Jungen u. Mädchen. Weinheim 1976. 1987. 21991. – Unterwegs zum Beginn. Krefeld 1979 (E.) – Mutter Ey. Drehbuch. 1988 (Fernsehsp.). – Assisi verlassen. Düsseld. 1993. 1995 (E.). – Schliemanns Zuhörer. Düsseld. 1995 (E.). – Sarajewo 96. Düsseld. 2001 (E.)

Bacherer

287 Literatur: Jutta Ressel: I. B. In: LGL. – Wilhelm Heinrich Pott: I. B. In: KLG. Peter König / Sonia Goldblum

Bacheracht, Therese von, geb. von Struve, verh. von Lützow, auch: Therese, * 4.7. 1804 Stuttgart, † 16.9.1852 Cilacap/Java. – Reiseschriftstellerin u. Erzählerin.

1848. – Novellen. 2 Tle., Lpz. 1849. – Renate Sternagel (Hg.): T. v. B.: Heute werde ich Absonderliches sehen. Briefe aus Java 1850–52. Königst. 2006. – Herausgeberin: Briefe an eine Freundin [Charlotte Diede] v. Wilhelm v. Humboldt. 2 Tle., Lpz. 1847. – Briefe: Werner Vordtriede (Hg.): T. v. B. u. Karl Gutzkow. Unveröffentlichte Briefe. Mchn. 1971. Literatur: Fanny Lewald: Meine Lebensgesch. 6 Tle., Bln. 1861/62. – Goedeke Forts. – Hugh Powell: Fervor and fiction. T. v. B. and her works. Columbia 1996. – Irmgard Scheitler: Gattung u. Geschlecht: Reisebeschreibungen dt. Frauen 1780–1850. Tüb. 1999. Renate Sternagel

B. erhielt durch ihren Vater, den russ. Gesandten in Hamburg u. begeisterten Amateurmineralogen u. -botaniker Heinrich von Struve, einen damals für Frauen ungewöhnl. Zugang zur Bildung. Nach dem Besuch eines Bacherer, Gustav, auch: Dyonis, * 27.2. kaiserl. Mädchenpensionats für die Angehö1813 Müllheim/Baden, † 4.4.1850 Müllrigen des Hochadels in Petersburg verbrachte heim/Baden. – Dramatiker, Erzähler, sie ein Jahr in Weimar in enger Verbindung Journalist u. Publizist. zu Goethes Freundeskreis u. zum Hof. Die 1825 mit dem Diplomaten Robert von Ba- B. besuchte das Lyzeum in Freiburg i. Br. cheracht geschlossene Ehe war unglücklich. Dort begann er auch das Studium der B. verkehrte in höchsten Gesellschaftskreisen Rechtswissenschaften, das er in München mit ebenso wie mit Künstlern u. Literaten (Liszt, der Promotion abschloss. Er lebte als freier Heine), hatte auch keine Berührungsängste Schriftsteller u. Korrespondent für mehrere gegenüber Persönlichkeiten, die der Revolu- liberale Zeitungen u. a. in Mannheim, Karlstion von 1848 nahestanden (Adolf Stahr, Jo- ruhe, Stuttgart, Frankfurt/M. u. Dresden. In hann Jacoby). Enge Freundschaft verband B. Frankfurt wurde er 1838 in die Freimaurerloge »Zur Einigkeit« aufgenommen. Auf der mit Fanny Lewald. Ihre erste Veröffentlichung, Briefe aus dem Suche nach einer festen Anstellung kam er Süden (Braunschw. 1841. Mikrofiche-Ausg. 1840 als Redakteur zur »Braunschweigischen Mchn. 1994), entstand nach einer Reise durch Morgenzeitung«. Der Versuch, noch im gleiItalien, die Türkei u. Russland. Neben wei- chen Jahr zur »Berliner Staatszeitung« zu teren Reisebüchern folgten zahlreiche No- wechseln, scheiterte. Er unternahm mehrere vellen u. Romane wie Falkenberg (Braunschw. Reisen durch die Schweiz, die Steiermark, 1843. Mikrofiche-Ausg. Mchn. 1994) u. Böhmen u. das Elsass, um die Geschichte u. Heinrich Burkart (Braunschw. 1846. Mikro- polit. Verhältnisse vor Ort zu studieren. fiche-Ausg. Mchn. 1994), in denen B. Frauen Während seines Aufenthalts in der Schweiz schilderte, die unter den Folgen falscher Er- (1842) suchte er Kontakt zu liberalen Exilziehung u. unzureichender Bildung litten, autoren u. beobachtete distanziert die Grupdurch männl. Dominanz u. Standesvorurteile pierungen des kritisch-utop. Sozialismus in an ihrem Glück gehindert wurden. Nach dem der Westschweiz, mit dessen Lehren er zuvor Scheitern der Liebesbeziehung zu Karl Gutz- durch die Herausgabe von August Ludwig kow u. ihrer Ehescheidung heiratete B. 1849 Rochaus Kritischer Darstellung der Socialtheorie ihren Vetter Heinrich von Lützow, Oberst im Fourier’s (Braunschw. 1840) bekannt geworDienst der holländ. Kolonialregierung in den war. Teile seiner Eindrücke aus Böhmen Niederländisch-Indien, dem sie nach Java u. Wien veröffentlichte er im polit. Reisebefolgte. Ihre dortigen Lebensumstände u. richt Schattenrisse und Querstriche aus den ReiseReisen schilderte B. in tagebuchartigen Brie- papieren des Michel Teut (Darmst. 1843), in dem er sich für die slaw. Emanzipation u. gegen fen. Weitere Werke: Ein Tgb. Braunschw. 1842. – den Habsburger Vielvölkerstaat ausspricht. Lydia. Roman. Braunschw. 1844. – Paris u. die Al- 1848 zog er nach Müllheim, wo er bis zu penwelt. Lpz. 1846. – Eine Reise nach Wien. Lpz. seinem Tod lebte.

Bachmann

288

Als Dichter trat B. zunächst mit histor. Dramen, wie der Elisabeth Cromwell (Karlsr. 1836), u. Romanen, wie Die letzten Salier (Kandern 1837), an die Öffentlichkeit. Nach den Parzen und Eumeniden (Ffm. 1838), einer Sammlung alemannischer Erzählungen, wandte sich B. mit den Biografien deutscher Politiker jedoch vermehrt der aktuellen Politik zu (Salon deutscher Zeitgenossen. Ffm. 1838). In seiner polem. Abrechnung Die junge Literatur und der Roman Wally. Ein Vademecum für Herrn Carl Gutzkow (Stgt. 1835) verteidigt er Wolfgang Menzels Angriffe gegen die »junge Literatur«. Als nationalgesinnter Lutheraner fordert er sein »vaterländisches Publikum« dazu auf, sich vom schlechten Geschmack »des zerrissenen französischen Romanticismus und der nachäffenden ›jungen Literatur‹ Deutschlands« abzuwenden, werde sich dieser doch »im Heine’schen Salon zu Hamburg« selbst ruinieren. Trotz seiner zum Teil diffamierenden Kritik suchte er sich 1842 mit Gutzkow auszusöhnen u. vertrat gemeinsam mit seinem Freund Eduard Duller von Darmstadt aus vermehrt national-liberale u. antiklerikale Positionen. Seine polit. Angriffe richteten sich dabei v. a. gegen das ultramontane Österreich Metternichs, während er auf das protestant. Preußen als konstitutionelle Monarchie hoffte. Weitere Werke: Süddt. Rufe aus Norddeutschland. Lpz. 1839. – Sterne u. Meteore in dt. Zukunft u. Gegenwart. Lpz. 1839. – Buch vermischter Bezüge. Lpz. 1840. – Bruchstücke aus dem Erdenwallen eines Dämons. Fragment aus den Papieren eines Blasé. Lpz. 1840. – Duft der Blume der Mitte. Darmst. 1842. – Stellungen u. Verhältnisse. 2 Bde., Karlsr. 1840. – Dt. Zustände im Kriege gegen Frankreich. Lpz. 1841. – Cartons eines dt. Publizisten. Darmst. 1842. Literatur: Literar. Geheimberichte aus dem Vormärz. Hg. Karl Glossy. 2 Bde., Wien 1912/13. – Polit. Avantgarde 1830–40. Eine Dokumentation zum ›Jungen Deutschland‹. Hg. Alfred Estermann. 2 Bde., Ffm. 1972. – Goedeke Forts. (mit Bibliogr.). Thorsten Fitzon

Bachmann, Guido, * 28.1.1940 Luzern, † 19.10.2003 St. Gallen. – Erzähler. Aufgewachsen in Bern, studierte B. Theaterwissenschaft u. Germanistik, nahm Schau-

spielunterricht u. erwarb das Diplom als Konzertpianist. Darüber hinaus arbeitete er als Schauspieler u. Musiker. B. erhielt zahlreiche Auszeichnungen, u. a. den Großen Literaturpreis des Kantons Bern (1971), den Literaturpreis der Stadt Basel für sein Gesamtwerk (1990) sowie zuletzt den Buchpreis des Kantons Bern für den Roman Sommerweide (2003). Im Zentrum seines literar. Werks steht die Romantrilogie Zeit und Ewigkeit, deren fiktiver Erzähler ein hochbegabter, ruheloser Musiker u. Schauspieler ist. Im ersten Teil (Gilgamesch. Wiesb. 1966. Basel 51985. 1998) erzählt er die Geschichte vom Erwachsenwerden seines Freundes u. Alter Ego; in den beiden folgenden Teilen (Die Parabel. Basel 1978. Echnaton. Basel 1982) rekonstruiert er sein eigenes Leben. Das nicht allein im Umfang maßlose Werk (1600 Seiten) vereinigt Züge des Erziehungs-, Künstler- u. Kriminalromans u. schöpft aus altem Geheimwissen u. verschiedensten Mythen. Mathematik u. Musik werden nicht nur thematisiert; sie werden auch für die Form mitbestimmend. Parabelform u. Polyphonie leiten den schreibenden Erzähler, dessen Erzählweise immer kühner u. experimenteller wird. B. zeigt sich als vielseitiger u. souveräner Erzähler. Seine Romane bauen inhaltlich wie formal aufeinander auf u. erscheinen als Teile eines Gesamtwerks. Wegen der Thematisierung von Homosexualität waren sie zur Zeit ihres Erscheinens umstritten. Weitere Werke: Gloria. Wannsee. Zürich/Köln 1970 (E.en). – Die Kriminalnovellen. Basel 1984. – Haiku. (Pseud. Lilananda) Basel 1985. – Der Basilisk. Novelle. Basel 1987. – Selbander. Ein Stück für zwei Personen. Basel 1988. – Dionysos. Basel 1990 (R.). – Kehrseiten. Aufsätze u. Reden. Basel 1991. – Die Wirklichkeitsmaschine. Basel 1994 (R.). – lebenslänglich. Eine Jugend. Basel 1997 (Autobiogr.). – Bedingt entlassen. Basel 2000 (Autobiogr.). – Sommerweide. Basel 2002 (R.). – Herausgeber: Das Ereignis. Chemiekatastrophe am Rhein (zus. mit Peter Burri u. Tonia Maissen). Basel 1986 (Materialien). Literatur: Helmut Puff: Auctor ludens. Zum Werk G. B.s. In: Schnittpunkte, Parallelen. Lit. u. Literaturwiss. im ›Schreibraum Basel‹. Hg. Wolfram Groddeck u. Urs Allemann. Köln 1995, S. 175–198. – Ernest W. B. Hess-Lüttich: Stätten

Bachmann

289 des Stigmas. G. B., Martin Frank, Christoph Geiser, Joseph Winkler: Fremd unter andern in der Ende des Tals. In: Forum Homosexualität u. Lit. H. 36 (2000), S. 43–62. – Ders.: Projektion der Manneskrisen? Stigmatisierungserfahrungen in Werken v. G. B., Martin Frank, Christoph Geiser, Joseph Winkler. In: Figuration, Gender, Lit., Kultur. H. 1 (2002), S. 101–123. – Christoph Siegrist: G. B. In: LGL. – Heinz Hug: G. B. In: KLG. Dominik Müller / Eva-Maria Gehler

Bachmann, Ingeborg, * 25.6.1926 Klagenfurt, † 17.10.1973 Rom; Grabstätte: Klagenfurt, Friedhof Annabichl. – Lyrikerin, Erzählerin, Hörspielautorin u. Librettistin. B., älteste Tochter eines Schuldirektors, studierte ab 1945/46 in Innsbruck u. Graz, dann in Wien Philosophie u. Psychologie als Hauptfächer sowie Germanistik als Nebenfach, zeitweilig auch Staatswissenschaften. Hier bestimmten die divergenten Positionen der Philosophen Alois Dempf, Leo Gabriel u. Victor Kraft sowie der Psychologe Hubert Rohracher u. der Logotherapeut Viktor E. Frankl ihre Ausbildung, was neben ihrem Interesse an psychischen Phänomenen auch ihren Wechsel von christl. Geschichtsphilosophie u. Anthropologie über die Existentialismuskritik hin zur nachhaltigen Rezeption der sprachkrit. Philosophie Wittgensteins erklärt. Ihre Dissertation Die kritische Aufnahme der Existentialphilosophie Martin Heideggers (Promotion bei Kraft, Wien 1950) sowie die späteren Essays Ludwig Wittgenstein (FH, Jg. 8, Ffm. 1953), Sagbares und Unsagbares u. Der Wiener Kreis (Radioessays 1953/54) markieren diese Entwicklung. Die Grundhaltung der »Sprachskepsis« u. Kontakte in Wien mit den von Hermann Hakel u. Hans Weigel geförderten jungen Autoren Ilse Aichinger, Paul Celan, Gerhard Fritsch u. a. regten B. zu ihrem individuellen, literarisches Traditionsgut mit modernen Impulsen verbindenden Sprachstil an. Sie suchte damit ihre im Kriegsu. Nachkriegserlebnis gründende negative Geschichtserfahrung zu vermitteln, ohne sich einseitig dem »Kahlschlag«, der hermetischen Poesie oder dem sprachl. Experiment zu verschreiben.

Neben den in Tageszeitungen u. den Periodika »Lynkeus« u. Stimmen der Gegenwart erschienenen früheren Erzählungen u. Gedichten verfasste sie, 1951–1953 als Lektorin beim Sender »Rot-Weiß-Rot« tätig, ihr erstes Hörspiel Ein Geschäft mit Träumen (1952), übersetzte literar. Texte aus dem Englischen u. vollendete 1952 den Roman Stadt ohne Namen, von dem nur das erste Kapitel erhalten ist. Obwohl also in mehreren literar. Genres erprobt, erzielte sie den entscheidenden Durchbruch 1952 mit ihrer Lyrik bei einer Lesung der Gruppe 47 in Niendorf/Ostsee u. erhielt 1953 dafür auch den Preis der Gruppe 47. Im Anschluss lebte B. als freie Schriftstellerin zunächst in Süditalien, ab 1954 in Rom, wo sie anfangs auch unter dem Pseudonym Ruth Keller als polit. Korrespondentin der »Westdeutschen Allgemeinen Zeitung« schrieb. Es erschienen die Gedichtbände Die gestundete Zeit (Ffm. 1953. 2., geänderte Aufl. Mchn. 1957) u. Anrufung des Großen Bären (Mchn. 1956); zgl. erfolgte die Erstsendung des Hörspiels Die Zikaden mit Musik von Hans Werner Henze (Ffm. 1955), womit die Zusammenarbeit beider Künstler begann. 1955 nahm B. an einem internat. Seminar der Harvard-Universität teil, wodurch auch ihr späteres Hörspiel Der gute Gott von Manhattan (Mchn. 1958) angeregt wurde. Die lyrischen Zyklen, von der Literaturwissenschaft lange nur in ihrem ästhet. Wert begriffen, waren für B. eindringliches Medium der Kritik an den restaurativen Kräften der Nachkriegsgesellschaft: Diese hätten den Kriegszustand nicht gebannt, sondern bloß überdeckt, was sich als Existenzkrise zwischen Individuum u. Umwelt sowie im korrumpierten Zustand der Sprache als deren Vermittlungsinstanz auswirke. Zur Selbstfindung in einem wahrhaftigen Neuanfang müsse der Mensch daher, solange ihm die »Zeit noch gestundet ist«, den Ausbruch aus den gesetzten Grenzen auch ins gefährliche Ungewisse wagen. Im Sinne der »Sprachskepsis« fungiert die eindrucksstarke Bildersprache B.s dabei als Aussagemöglichkeit für das rational Unsagbare. Dieses Konzept des ersten Zyklus wird in der Anrufung des Großen Bären weitergeführt: An mythisch-allegorischen Exempeln wird

Bachmann

die Zerstörung menschlicher Existenzbereiche in der geschichtl. Wirklichkeit deutlich (Wertbewusstsein, Liebesfähigkeit, Geschlechterverhältnis), im mythisch-utop. Bereich aber findet das ausbrechende Individuum auch zur Konfliktlösung (Träume, Androgynie, ästhet. Naturverklärung). Neben den negativen Geschichtsbefund u. den Aufruf zum Widerstand tritt ein an das Bloch’sche »Prinzip Hoffnung« erinnerndes Postulat des ständig neuen Ringens um das utop. Ziel. Dies erklärt auch B.s weiteres Schaffen: Die in der Lyrik festgelegte themat. u. künstler. »Problemkonstante« wird in den folgenden Werken aus immer neuen Perspektiven konkretisiert u. in jeweils anderen literar. Genres vermittelt (Hörspiel, Libretto, Essay, Erzählung, Roman). 1957 mit dem Literaturpreis der Freien Hansestadt Bremen geehrt, wirkte B. bis 1958 als Dramaturgin beim Bayerischen Fernsehen in München u. wurde zum korrespondierenden Mitgl. der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt gewählt. 1958 begann auch ihre bis 1962 währende Beziehung zu Max Frisch mit wechselnden Wohnsitzen in Zürich u. Rom. In diese Periode fielen die Erstsendung des Hörspiels Der gute Gott von Manhattan, für das B. 1959 den Hörspielpreis der Kriegsblinden erhielt, sowie ihre 1959/60 als erste Gastdozentin für Poetik an der Universität Frankfurt gehaltene Vorlesungsreihe »Probleme zeitgenössischer Dichtung«. Während B. in ihrer Rede zur Verleihung des Kriegsblindenpreises Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar die Widerstandsmoral jedes Einzelnen als Möglichkeit zur schrittweisen Sanierung des Geschichtszustands propagierte, übertrug sie diese ethische Maxime in ihren Frankfurter Vorlesungen auf die zeitgemäße Aufgabe der Dichtung: Sie liege nicht im ästhet. Selbstzweck, sondern in der Weltveränderung durch eine neue Sprache, die aus einem »moralischen, erkenntnishaften Ruck« in der »Weltbegegnung« entstehe. Diese Texte stellten auch für B. selbst gleichsam die theoret. Zwischenbilanz ihres bisherigen Schaffens dar u. erhellen bes. ihre spätere Prosa u. Lyrik.

290

Nach der Uraufführung von Henzes Ballettpantomime Der Idiot (veröffentlicht Mainz 1955) u. seiner Oper Der Prinz von Homburg (veröffentlicht Mainz 1960), jeweils mit Textfassungen B.s, erschien neben der Übersetzung von Gedichten Giuseppe Ungarettis (Ffm. 1961) der Erzählband Das dreißigste Jahr (entworfen 1956/57, veröffentlicht Mchn. 1961). Er stellt die »Problemkonstante« an Angehörigen verschiedener Generationen in exemplarischen Formen des Zusammenlebens dar (Kindheit, Familie, Liebesbeziehungen, Korpsgeist, Rechtsstaatlichkeit). Neben der abschreckenden Analyse des latent fortwirkenden Faschismus beglaubigt der autobiogr. Schreibgestus einiger Erzählungen B.s Suche nach einem utop. Gegenentwurf. Nach Zuerkennung des Berliner Kritikerpreises (1961) u. der Trennung von Max Frisch lebte B. bis 1965 in Berlin. Die geteilte Stadt wird im Essay Ein Ort für Zufälle (Bln. 1965; ursprüngl. Dankrede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises 1964) zur Allegorie eines krankhaften Geschichtszustands. Von den Reisen nach Prag, Ägypten u. in den Sudan (1964) zeugen die späte Lyrik u. die damals begonnenen Todesarten-Fragmente. B.s letzter Lebensabschnitt in Rom (1965/ 66–1973) fand äußere Höhepunkte in den Verleihungen des Großen Österreichischen Staatspreises für Literatur (1968) u. des Anton-Wildgans-Preises (1972) sowie in ihrer Polenreise (1973). Diese Zeit war der Arbeit an der späten Prosa gewidmet, von der 1971 der Roman Malina (Ffm.), 1972 der Erzählband Simultan (Mchn.) erschienen. Die Erzählung Gier blieb Fragment, der geplante Romanzyklus Todesarten wurde nach Herauslösung des Malina-Teils aufgegeben u. liegt nun als krit. Edition aller darauf genetisch Bezug nehmenden Texte vor (Todesarten-Projekt. 4 Bde. in 5 Tln., Mchn./Zürich 1995). Insgesamt wirken die späten Prosatexte wie ein breit angelegtes Erzählkontinuum, das die »Problemkonstante« analog musikalischer Kontrapunktik von je verschiedenen themat. Einsätzen zum gleichen Schlussakkord führt. Im Zentrum des jeweils ähnlich strukturierten Figurenensembles stehen immer Frauen, deren im Sinn einer weibl. Identitätsfindung angestrebte Selbstverwirk-

291

lichung als Künstlerin, Intellektuelle oder spontan Liebende von egozentrischen Partnern planmäßig zerstört wird. Diese patriarchal. Machtmechanismen verkörpern für B. die Transformation des latenten politischen zu einem persönl. Faschismus in der Du-Beziehung der Gegenwartsgesellschaft, dem sich das weibl. Ich nur um den Preis der Selbstaufgabe oder im Tod entziehen kann (das ICH in Malina, Fanny Goldmann, Eka Rottwitz, Franza). Doch zeigt B. bes. im Simultan-Zyklus am gegenbildlichen Verhaltensmuster einzelner Hauptfiguren (Nadja, Elisabeth Matrei) Möglichkeiten auf, durch relativierendes Eingehen auf den geschichtl. Zustand die Existenzkrise zu durchschreiten, ohne die Hoffnung auf ein utopisches Ziel aus den Augen zu verlieren. Die allgemein anerkannte Aktualität dieses Menschenbildes in seiner undogmatischen u. doch zwingenden Präsentation sicherte B. bes. in Deutschland u. den USA zunehmende Breitenwirkung u. verlagerte den Forschungsschwerpunkt allmählich von der Lyrik auf das Spätwerk. Dieses wurde im Zuge der literaturwiss. Aufarbeitung frauenspezifischer Sujets seit den 1970er Jahren auch als »Paradigma weiblichen Schreibens« rezipiert. Ausgaben und Weitere Werke: Werke. Hg. Christine Koschel u. a. 4 Bde., Mchn./Zürich 1978. – Ausgew. Werke. 3 Bde., Bln./Weimar 1987. – ›Todesarten‹-Projekt. Krit. Ausg. Unter der Leitung v. Robert Pichl hg. v. Monika Albrecht u. Dirk Göttsche. 4 Bde. in 5 Tln., Mchn./Zürich 1995. – Ergänzende Einzelausgaben aus dem Nachlass: Die krit. Aufnahme der Existentialphilosophie Martin Heideggers. Diss. Wien 1949. Hg. R. Pichl. Mchn./Zürich 1985. – Briefe an Felician. Hg. Isolde Moser. Mchn./Zürich 1991. – Letzte, unveröffentlichte Gedichte, Entwürfe u. Fassungen. Ed. u. Komm. v. Hans Höller. Ffm. 1998. – Ich weiß keine bessere Welt. Unveröffentlichte Gedichte. Hg. I. Moser, Heinz Bachmann, Christian Moser. Mchn./Zürich 2000. – Weitere Einzelausgaben: Giuseppe Ungaretti: Gedichte (ital. u. dt.). Übers. u. Nachw. v. I. B. Ffm. 1961. – Der junge Lord. Mainz 1965 (Libretto). – Wir müssen wahre Sätze finden. Gespräche u. Interviews. Hg. C. Koschel u. Inge v. Weidenbaum. Mchn./Zürich 1983. – Röm. Reportagen. Hg. JörgDieter Kogel. Mchn./Zürich 1998. – Ein Tag wird kommen. Gespräche in Rom. Ein Porträt v. Gerda Haller. Salzb./Wien 2004. – I. B. u. Hans Werner Henze: Briefe einer Freundschaft. Hg. H. Höller.

Bachmann Mchn./Zürich 2004. – Krit. Schr.en. Hg. M. Albrecht u. D. Göttsche. Mchn./Zürich 2005. Literatur: Bibliografien: Otto Bareiss u. Frauke Ohloff: I. B. Eine Bibliogr. (bis 30.9.1977). Mchn./ Zürich 1978. – Fortgesetzt als: I. B.-Bibliogr. 1977/ 78–81/82. In: Jb. Grillparzer-Gesellsch. 3. F., 15 (1983), S. 173–217. – 1981/82-Sommer 1985. Ebd. 16 (1986), S. 201–275. – 1985–88. Ebd. 17(1991), S. 251–327. – Ende 1988–93. In: Krit. Wege der Landnahme. I. B. im Blickfeld der neunziger Jahre. Hg. Robert Pichl u. Alexander Stillmark. Wien 1994, S. 163–303. – Ellen Marga Schmidt: I. B. in Ton- u. Bildaufzeichnungen. In: Werke. Hg. Christine Koschel u. a. Bd. 4, Mchn./Zürich 1975, S. 429–528 (Phonografie). – R. Pichl (Hg.): Registratur des literar. Nachlasses v. I. B. Wien 1981. – I. B.s ›Todesarten‹-Projekt. Neue Teilregistratur des literar. Nachlasses in der Österr. Nationalbibl. Unter der Leitung v. R. Pichl hg. v. Monika Albrecht u. Dirk Göttsche. Wien 1995. – Forschungsberichte: R. Pichl: Voraussetzungen u. Problemhorizont der gegenwärtigen I. B.-Forsch. In: Jb. Grillparzer-Gesellsch. 3. F., 14 (1980), S. 77–93. – Marta Jakubowicz-Pisarek: Stand der Forsch. zum Werk v. I. B. Ffm./Bern/New York 1984. – Biografisches: Uwe Johnson: Eine Reise nach Klagenfurt. Ffm. 1974. – Andreas Hapkemeyer (Hg.): I. B. Bilder aus ihrem Leben. Mchn./Zürich 21987. – Adolf Opel: ›Wo mir das Lachen zurückgekommen ist...‹. Auf Reisen mit I. B. Mchn. 2001. – Sammelbände u. Kongressberichte: Text + Kritik 6 (1964). 51995 (mit neuen Beiträgen). – Text + Kritik Sonderbd. 1984 (mit neuen Beiträgen). – Hans Höller (Hg.): Der dunkle Schatten, dem ich schon seit Anfang folge. Wien/ Mchn. 1982. – I. B.-Symposium Ljubljana. In: Acta Neophilologica 17 (1984), Sonderbd. – I. B. In: MAL 18 (1985), Sonderbd. – C. Koschel u. Inge v. Weidenbaum (Hg.): Kein objektives Urteil – nur ein lebendiges. Texte zum Werk v. I. B. Mchn./Zürich 1989. – Andrea Stoll (Hg.): I. B.s ›Malina‹. Ffm. 1992. – D. Göttsche u. Hubert Ohl (Hg.): I. B. – Neue Beiträge zu ihrem Werk. Würzb. 1993. – du. Die Ztschr. der Kultur. H. 9 (1994). (I. B. Das Lächeln der Sphinx). – Bernhard Böschenstein u. Sigrid Weigel (Hg.): I. B. u. Paul Celan. Poet. Korrespondenzen. Ffm. 1997. – M. Albrecht u. D. Göttsche (Hg.): ›Über die Zeit schreiben‹. Literaturu. kulturwiss. Essays. Bd. 1–3, Würzb. 1998–2003. – Irene Heidelberger-Leonard (Hg.): ›Text-Tollhaus für B.-Süchtige?‹ Lesarten zur Krit. Ausg. v. I. B.s ›Todesarten‹-Projekt. Opladen/Wiesb. 1998. – Primus-Heinz Kucher u. Luigi Reitani (Hg.): ›In die Mulde meiner Stummheit leg ein Wort...‹. Interpr.en zur Lyrik I. B.s. Wien/Köln/Weimar 2000. – Reinhard Baumgart u. Thomas Tebbe (Hg.): Ein-

Bachmann sam sind alle Brücken. Autoren schreiben über I. B. Mchn./Zürich 2001. – M. Albrecht u. D. Göttsche (Hg.): B.-Hdb. Leben – Werk – Wirkung. Stgt./ Weimar 2002. – Mathias Mayer (Hg.): Werke v. I. B. Interpr.en. Stgt. 2002. – R. Pichl u. Barbara Agnese (Hg.): I. B. Eine Europäerin in Rom. Rom 2004. – Gisela Brinker-Gabler u. Markus Zisselberger (Hg.): ›If we had the Word‹. I. B. Views and Reviews. Riverside 2004. – Susanne Kogler u. Andreas Dorschel (Hg.): Die Saite des Schweigens. I. B. u. die Musik. Wien 2006. – Caitríona Leahy u. Bernadette Cronin (Hg.): Re-acting to I. B. New Essays and Performances. Würzb. 2006. – Weitere Titel: Peter Fehl: Sprachskepsis u. Sprachhoffnung im Werk I. B.s. Diss. Mainz 1970. – Ellen Summerfield: I. B. Die Auflösung der Figur in ihrem Roman ›Malina‹. Bonn 1976. – Theo Mechtenberg: Utopie als ästhet. Kategorie. (Zur Lyrik). Stgt. 1978. – Peter Horst Neumann: Vier Gründe einer Befangenheit. Über I. B. In: Merkur 32 (1978), S. 1130–1136. – Ute M. Oelmann: Dt. poetolog. Lyrik nach 1945: I. B., Günter Eich, Paul Celan. Stgt. 1980, S. 1–103. – Andreas Hapkemeyer: I. B.s früheste Prosa. Bonn 1982. – Christa Wolf: Voraussetzungen einer Erzählung: Kassandra. Frankfurter Poetik-Vorlesungen. Darmst. 1983. – Christa Gürtler: Schreiben Frauen anders? Untersuchungen zu I. B. u. Barbara Frischmuth. Stgt. 1983. – R. Pichl: Dr. phil. I. B. In: Jb. Grillparzer-Gesellsch. 3. F., 16 (1986), S. 167–188. – Hermann Weber: An der Grenze der Sprache. Religiöse Dimension der Sprache u. biblisch-christl. Metaphorik im Werk I. B.s. Essen 1986. – H. Höller: I. B. Das Werk. Von den frühesten Gedichten bis zum ›Todesarten‹-Zyklus. Ffm. 1987. – D. Göttsche: Die Produktivität der Sprache in der modernen Prosa. Ffm. 1987, S. 155–222. – M. Albrecht: Die andere Seite. Untersuchungen zu Bedeutung v. Werk u. Person Max Frischs in I. B.s ›Todesarten‹. Würzb. 1989. – Kurt Bartsch: I. B. Stgt. 21997. – Andreas Hapkemeyer: I. B.: Entwicklungslinien in Werk u. Leben. In: Sitzungsber. der philosoph.-histor. Klasse der österr. Akademie der Wiss. Wien 1990. – Elfriede Jelinek: Malina. Ein Filmbuch. Ffm. 1994. – Karen Achberger: Understanding I. B. Columbia 1995. – Holger Gehle: NS-Zeit u. literar. Gegenwart bei I. B. Wiesb. 1995. – B. Agnese: Der Engel der Lit. Zum philosoph. Vermächtnis I. B.s. Wien 1996. – Bettina Bannasch: Von vorletzten Dingen. Schreiben nach ›Malina‹: I. B.s ›Simultan‹-E.en. Würzb. 1997. – Corina Caduff: ›dadim dadam‹ – Figuren der Musik in der Lit. I. B.s. Köln/Weimar/Wien 1998. – H. Höller: I. B. Reinb. 1999. – Ariane Huml: Silben im Oleander, Wort im Akaziengrün. Zum literar. Italienbild I. B.s. Gött. 1999. – Christine Kanz: Angst u. Geschlechterdifferenz. I. B.s ›Todesarten‹-Pro-

292 jekt in Kontexten der Gegenwartslit. Stgt./Weimar 1999. – Jost Schneider: Die Kompositionsmethode I. B.s. Erzählstil u. Engagement in ›Das dreißigste Jahr‹, ›Malina‹ u. ›Simultan‹. Bielef. 1999. – S. Weigel: I. B. Hinterlassenschaften unter Wahrung des Briefgeheimnisses. Wien 1999. – Eva Lindemann: Über die Grenze. Zur späten Prosa I. B.s. Würzb. 2000. – Peter Beicken: I. B. Stgt. 2001. – Joachim Hoell: I. B. Mchn. 2001. – Joachim Eberhardt: ›Es gibt für mich keine Zitate‹. Intertextualität im dichter. Werk I. B.s. Tüb. 2002. – Bettina v. Jagow: Ästhetik des Mythischen. Poetologien des Erinnerns im Werk v. I. B. Köln/Weimar/Wien 2003. – Andrea Kresimon: I. B. u. der Film. Intermedialität u. intermediale Prozesse in Werk u. Rezeption. Ffm. 2004. – Karl Solibakke: Geformte Zeit. Musik als Diskurs u. Struktur bei B. u. Bernhard. Würzb. 2005. – Heike Hendrix: I. B.s ›Todesarten‹-Zyklus: Eine Abrechnung mit der Zeit. Würzb. 2005. – Isabella Rameder: Ich habe die Gedichte verloren. I. B.s lyr. Texte aus dem Nachl. u. ihre Beziehung zum ›Todesarten‹-Projekt. Klagenf. 2006. Robert Pichl

Bachmann, Paul, auch: Amnicola, * um 1465/68 Chemnitz, † 1538 Altzelle. – Zisterzienser, Kontroverstheologe. Nach Eintritt in den Zisterzienserorden studierte B. in Leipzig am Kolleg der Zisterzienser (1492 Immatrikulation, 1505 Baccalaureus in der Artistenfakultät). Im Auftrag der Abtei besuchte er mehrfach das Generalkapitel der Zisterzienser in Cîteaux. Er wurde Prior u. vertrat mehrfach seinen Abt. 1522 wurde B., dem neben großer Gelehrsamkeit auch Geschäftstüchtigkeit nachgesagt wurde, in Altzelle zum Abt gewählt. Das Generalkapitel der Zisterzienser beauftragte ihn 1523 mit der Oberaufsicht über das Leipziger Ordenskolleg u. berief ihn zum Kommissar des Ordens für Ostdeutschland. Hohes Ansehen besaß B. bei Herzog Georg von Sachsen. 1533 leitete er im Auftrag des Herzogs die Abtwahl in Pforta. König Ferdinand beauftragte ihn 1532 mit der Visitation des Klosters Neuzelle. Zu Hieronymus Emser u. Johann Cochlaeus hatte B. enge Verbindungen. Cochlaeus weilte verschiedentlich in der Abtei, u. a. um die dortigen reichen Handschriften zu studieren. Emser ließ verschiedene Schriften B.s drucken.

293

Bachofen

Ausgaben: Martin Luther, wie es ein Mann sei Gegen Luther veröffentlichte B. 16 Flugschriften (1522–1538), in denen er – ganz [...]. In: Flugschr.en gegen die Reformation Mann der Gegenreformation – nachdrücklich (1518–24). Hg. u. bearb. v. Adolf Laube. Bln. 1997, den alten Glauben verteidigte. Am Anfang S. 362–384. – Wider das wild geifernde Eberschwein luther. Ebd., S. 740–755. – Zu Errettung standen Martin luther wy eß eyn man sey und was den schwachen Ordenspersonen eine tröstl. Rede. er fürt im schylde (Lpz. 1522) u. Wyder das wild Ebd., S. 756–777. – Ein Sermon des Abts zu Altgeyffernd Eberschwein Luthern, so ynn dem wein- zelle in Aufnehmung der Reliquien St. Bennos. In: gartte des Herren der krefften wület, grabet [...] Flugschr.en gegen die Reformation (1525–30). Hg. (Dresden 1524). B. rechtfertigte in späteren u. bearb. v. A. Laube. Bd. 1, Bln. 2000, S. 464–483. Schriften u. a. die Heiligenverehrung (Gott – Antwort auf Luthers Sendbrief gen Augsburg. bedürfe zwar nicht unseres Lobes, wolle aber, Ebd. Bd. 2, S. 1248–1258. dass wir seine Gnaden u. Gaben, die er den Literatur: PGK 4, Sp. 78 f. – VD 16, B 11–29. – Heiligen schenkte, loben u. preisen; der ein- Klaiber, Nr. 178–193. – Weitere Titel: Otto Clemen: zige Mittler bleibe Christus) u. das Ordens- P. B., Abt v. Altzelle. In: Neues Archiv für Sächs. leben (die von Luther verkündete Freiheit sei Gesch. u. Altertumskunde 26 (1905), S. 10–40 eine Freiheit des Fleisches; Luther finde des- (Werkverz.). – Bruno Griesser OCist: P. B. In: NDB. – Helmuth Claus: Untersuchungen des Leipziger halb so viele Anhänger, weil er predige, was Buchdrucks v. Luthers Thesenanschlag bis zur Einf. die Welt gerne höre; der Mönch vertraue der Reformation im Hzgt. Sachsen (1517–39). Diss. nicht auf seine eigenen Werke, sondern auf Bln. 1975. – O. Clemen: Kleine Schr.en zur Refordie Verheißung Christi). Der Verteidigung mationsgesch. Bd. 2. Hg. Ernst Koch. Lpz. 1983. – der kath. Messopferlehre widmete er seinen Heribert Smolinsky: Augustin v. Alveldt u. HieroLobgesang auff des Luthers Winckel Messe (Lpz. nymus Emser. Münster 1983. – Theobald Freu1534). Während des Augsburger Reichstags denberger: Hieronymus Dungersheim. Münster 1530 schrieb er eine Antwort auff Luthers 1988, S. 331 u. 381 ff. – Adolf Laube: ›Die Bibel Sendtbrieff (mit einem Vorwort von Cochlaeus) allein‹ oder ›Die Kirche hat immer recht‹. Der u. veröffentlichte einen Auszug aus dem Flugschriftenstreit um die Autorität der Bibel. In: Flugschr.en der Reformationszeit. Colloquium im Reichstagsabschied. Erfurter Augustinerkloster 1999. Hg. Ulman Weiss. Als es 1531 zum Schmalkaldischen Bund Tüb. 2001, S. 71–95. Remigius Bäumer † / Red. kam, äußerte er sich zu Luthers geheimem Ratschlag vom 6.3.1530, dass sich kriegerischer Widerstand nach der Hl. Schrift nicht Bachofen, Johann Jakob, * 22.12.1815 gezieme, u. er sprach von Luthers Sophisterei Basel, † 25.11.1887 Basel; Grabstätte: (Ein Schnoptuchlin auff Luthers Geyfer und unlust. ebd., Wolfgottesacker. – Jurist u. HistoDresden 1533). Solange Luther die Möglichriker. keit gesehen habe, seine Lehren ohne Widerstand zu verbreiten, habe er wie ein Rasender B. entstammte einer Familie, die seit dem getobt u. Papst u. Kaiser angegriffen. Nun, da frühen 18. Jh. in Textilmanufaktur u. -handel er Widerstand fürchte, zeige er erdichtete Vermögen u. Ansehen erworben hatte. Bes. Demut. durch seine Mutter Valeria, geb. Merian, u. 1534 beschwor er die dt. Nation, am alten seine Frau Louise Elisabeth, geb. Burckhardt, Glauben festzuhalten. B. erinnerte an die war B. mit zwei bekannten u. weitverzweigGlaubenstreue der Väter, die sich nicht von ten Basler Politiker- u. Gelehrtenfamilien ihrem Glauben hätten abbringen lassen. Wi- verbunden. der die Natterzungen, Honsprecher und LestermeuNach seiner Schulzeit u. dem Beginn aller verteidigte er die Tatsächlichkeit der tertumswissenschaftlicher, histor. u. jurist. Konstantinischen Schenkung (Dresden 1538). Studien an der Basler Universität (1834/35) B. hat in volkstümlicher Sprache kath. studierte B. in Berlin (1835–1837) u. a. bei Glaubenslehren verständlich dargelegt. Ne- August Boeckh u. Leopold von Ranke, aber ben Alfeldt, Dungersheim, Emser u. Coch- auch bei Friedrich Carl von Savigny, dem er laeus gehört er zu den mutigen Verteidigern zeitlebens verbunden blieb. 1837/38 studierdes alten Glaubens in Sachsen. te er in Göttingen, wo er 1839 zum Dr. jur.

Bachofen

promovierte. Längere Studienaufenthalte in Paris u. England, bes. Cambridge, folgten (1838–1840). 1841 zum o. Professor für Römisches Recht an die Universität Basel berufen, trat er schon 1844 in der Folge politischer, nicht gegen seine Person gerichteter Polemik vom universitären Lehramt zurück. 1845 legte er auch das im Vorjahr erhaltene Mandat im Basler Parlament (»Großer Rat«) nieder. Nur das 1842 übertragene nebenberufl. Richteramt (erst Kriminalrichter, dann Appellationsrichter) bekleidete er bis 1866. Außerdem wirkte er 1855–1858 in der Leitung der Universität (»Kuratel«) u. ab 1879 im Konsistorium der Eglise française. B.s erste wiss. Arbeiten galten in Fortsetzung der Dissertation dem Römischen Recht u. der Geschichte Roms, in die er das Recht einband. Von kleineren wiss. Veröffentlichungen abgesehen, ist das wichtigste Werk dieser Zeit die Geschichte der Römer, deren Bd. 1 er 1851 in Basel zus. mit seinem einstigen Lehrer Franz Dorotheus Gerlach publizierte. Der einzige erschienene Band behandelt Voru. Frühgeschichte; mehr zu schreiben, hinderte nicht so sehr der Ruhm, den sich die seit 1854 erscheinende Römische Geschichte von Theodor Mommsen erworben hatte (von der er sich zeitlebens distanzierte), als vielmehr B.s wachsendes Interesse an der Frühzeit nicht nur Roms, sondern der Menschheit überhaupt. Auch hatte ein erster Romaufenthalt 1842/43 B.s Aufmerksamkeit auf die röm. Sepulkralsymbolik gelenkt. Aus der Verbindung dieser beiden Interessen erwuchs eine Forschungsarbeit, deren Hauptergebnisse der Versuch über die Gräbersymbolik der Alten (Basel 1859) u. Das Mutterrecht (Basel 1861) sind. B.s Nachruhm gründet fast allein auf dem letzteren Werk, doch hängt dieses engstens mit der Symbolforschung zusammen. In der Gräbersymbolik deutete B. zwei Bilder des Columbarium Pamfili in Rom in weitem Ausgreifen auf antikes Vergleichsmaterial u. auf dem Hintergrund einer nie systematisch ausformulierten Mythen- u. Symboltheorie, die stark durch die Symbolik von Friedrich Creuzer beeinflusst war. Danach sind die spätantiken Grabsymbole Fortentwicklungen uralter Symbole, die in einer frühen Zeit der

294

Menschheit entstanden waren, um anders nicht formulierbare Vorstellungen zum Ausdruck zu bringen; dazu wurden Dinge der natürl. Umwelt symbolisch aufgeladen. Ihren ersten verbalen Ausdruck fanden die Symbole in den Mythen; diese deuten sie in Abhängigkeit von den Zeitumständen. Mythen u. Symbole enthalten so die Erinnerung an die geistige Frühgeschichte des Menschen, sind die Hauptquelle der im Mutterrecht vorgelegten Rekonstruktion dieser Geschichte. In B.s Evolutionsmodell zerfällt die Menschheitsgeschichte in zwei Phasen, eine erste, mutterrechtliche, u. die darauf folgende des Vaterrechts. Während Unterphasen zyklisch ablaufen, läuft die Gesamtentwicklung linear auf das von Gott der Geschichte gegebene Ziel zu. Zentrales Kennzeichen der Phasen ist jeweils die Stellung der Frau in Öffentlichkeit u. Familie. In der Urphase (»tellurischer Hetärismus«) dominiert das Weibliche absolut, sind feste Ehen ebenso unbekannt wie jede feste Institution; fest ist allein die Beziehung Mutter-Kind. Daraus entstehen gynaikokratische erste Staatsgebilde; in einem weiteren Schritt wird die Herrschaft der Frau auf Familie u. Erbgang zurückgedrängt, während die polit. Macht an die Männer fällt. Die volle patriarchal. Stufe ist erreicht, wenn der Mann u. Vater auch in der Familie dominiert. Das spätere Werk führt diese Forschungen weiter. Zwei kleinere Arbeiten (Das Lykische Volk. Freib. i. Br. 1862. Der Bär in den Religionen des Althertums. Basel 1863) behandelten Aspekte des Mutterrechts. Die Unsterblichkeitslehre der orphischen Theologie auf den Grabdenkmälern des Althertums (Basel 1867) u. das postum veröffentlichte Werk Römische Grablampen (Basel 1890) gelten der Sepulkralsymbolik. Die Sage von Tanaquil (Heidelb. 1870) untersucht die Überlieferungen um Tanaquil, die etrusk. Seherin, Königin u. Königmacherin, u. leitet sie von den orientalischen mutterrechtl. Traditionen her. Die letzten Jahre galten den ethnograf. Belegen mutterrechtlicher Institutionen; eine Synthese in B.s Geist legte sein Freund Alexis Giraud-Teulon in Les origines de la famille (Genf 1874) vor. B. selber publizierte mehrere auf die Antike ausgerichtete mutterrechtl. Ein-

295

zeluntersuchungen als Antiquarische Briefe vornehmlich zur Kenntnis der ältesten Verwandtschaftsbegriffe (2 Bde., Straßb. 1880 u. 1886). Seit der Gräbersymbolik waren alle Arbeiten B.s schon von der zeitgenöss. Altertumswissenschaft abgelehnt worden; neuere ethnolog. Studien zeigen, dass mutterrechtliche, matriarchal. Gesellschaften oder Institutionen in B.s Sinn nicht existieren. Sein Symbolu. Mythosbegriff hatte bei den »Kosmikern«, bes. bei Ludwig Klages, Anklang gefunden u. eine erste Bachofen-Renaissance bewirkt. B.s Bild einer staatslosen Frühzeit sprach die Theoretiker des Marxismus, bes. Friedrich Engels, an u. beeinflusste so das marxist. Geschichtsbild. Bahnbrechend aber wirkte B.s These, dass die Institution der Ehe nicht vorgegeben, sondern historisch gewachsen sei. Damit regte er sowohl die ethnolog. Forschung wie die moderne Diskussion um Frauenrolle u. Kulturform an. Schon Gerhart Hauptmanns Die Insel der Großen Mutter (Bln. 1924) ironisiert diese Anstöße, doch hat dies die Bedeutung B.s als eines wichtigen Anregers der modernen »Gender Studies« keinen Abbruch getan. Weitere Werke: Die gedr. Werke, Teile des Nachlasses u. die Briefe in: J. J. B.s Ges. Werke. Hg. Karl Meuli. Basel 1943 ff. (geplant 10 Bde., 2005 erschien Bd. 9). – Hermann Blocher (Hg.): Autobiogr. Aufzeichnungen v. Prof. J. J. B. In: Basler Jb. 1917. Basel 1916, S. 295–348. – Georg Schmidt (Hg.): J. J. B. Griech. Reise. Heidelb. 1927. – Textauswahl: J. J. B, Mutterrecht u. Urreligion unter Benutzung der Ausw. v. Rudolf Marx hg. v. Hans G. Kippenberg. Stgt. 1984. Literatur: Bibliografien: Cesana (1983, s. u.), S. 237 f.; Heinrichs (1975, s. u.), S. 447–454, u. Hildebrandt (1988, s. u.). – Goedeke Forts. – Weitere Titel: Carl Albrecht Bernoulli: J. J. B. u. das Natursymbol. Basel 1924. – Alfred Baeumler: B., der Mythologe der Romantik. In: Der Mythos v. Orient u. Occident. Eine Metaphysik der Alten Welt. Hg. Manfred Schroeter. Mchn. 1926, S. 23–294 (= Ders.: Das myth. Weltalter. B.s romant. Deutung des Altertums. Mchn. 1965). – Ders.: B. u. Nietzsche. Zürich 1929. – Adrien Turel: B. – Freud. Zur Emanzipation des Mannes vom Reich der Mütter. Bern 1939. – Walter Muschg: B. als Schriftsteller. Basler Universitätsreden, H. 27, Basel 1949. – Thomas Gelzer: Die B.-Briefe. Betrachtungen zu Vision u. Werk, Wirklichkeit u. Leben J. J. B.s anhand v. Bd. 10 der ›Gesammelten Werke‹. In:

Bacmeister Schweizer Ztschr. für Gesch. 19 (1969), S. 777–869. – Hans-Jürgen Heinrichs (Hg.): Materialien zu B.s ›Mutterrecht‹. Ffm. 1975 (erw. Neuaufl. u. d. T. ›Das Mutterrecht‹ v. J. J. B. in der Diskussion. Ffm. 1987). – Uwe Wesel: Der Mythos vom Matriarchat. Über B.s Mutterrecht u. die Stellung v. Frauen in frühen Gesellsch.en. Ffm. 1980. – Andreas Cesana: J. J. B.s Geschichtsdeutung. Eine Untersuchung ihrer geschichtsphilosoph. Voraussetzungen. Basel 1983. – Barbara Huber-Greub (Hg.): J. J. B. (1815–87). Eine Begleitpublikation zur Ausstellung im Histor. Museum Basel 1987. Basel 1987. – HansJürgen Hildebrandt: J. J. B.: die Primär- u. Sekundärlit. Mit einem Anhang zum gegenwärtigen Stand der Matriarchatsfrage. Aachen 1988. – Annachiara Martello: Il ruolo del femminile nel pensiero di J. J. B. o. O. 1995 (Diss. Rom 1994/95). – Elisabeth Galvan: Zur B.-Rezeption in Thomas Manns ›Joseph‹-Roman. Ffm 1996. – Philippe Borgeaud: La mythologie du matriarcat. L’atelier de J. J. B. Genf 1999. – Roy Garré: Fra diritto romano e giustizia popolare. Il ruolo dell’attività giudiziaria nella vita e nell’opera di J. J. B. (1815–87). Ffm. 1999 (Diss. Bern 1998). – Annamaria Rufino: Diritto e storia: J. J. B. e la cultura giuridica romantica. Neapel 2002. – Lionel Gossman: Basel in the age of Burckhardt: A study in unseasonable ideas. Chicago 2000. Dt.: Basel in der Zeit Jacob Burckhardts. Eine Stadt u. vier unzeitgemässe Denker. Basel 2005. Fritz Graf

Bacmeister, Ernst, auch: Felix Montanus, * 12.11.1874 Bielefeld, † 11.3.1971 Singen; Grabstätte: Wangen, Friedhof. – Dramatiker. Als Sohn eines Verlegers u. sechstes von zwölf Kindern besuchte B. in Eisenach u. Erfurt das Gymnasium, studierte ab 1893 in Leipzig Neuere Sprachen, Philosophie u. Psychologie u. promovierte 1896 mit einer Arbeit über die Grammatik der rumän. Sprache (Die Flexion des rumänischen Substantivums im Singular. Lpz. 1896). Im Sommer desselben Jahres unternahm er eine Studienreise zur Erforschung rumänischer Dialekte u. Volkskultur nach Siebenbürgen. Anschließend führte er ein einsames Wanderleben u. versuchte wiederholt, als Hauslehrer Fuß zu fassen, bevor er sich 1907 in Wangen am Bodensee niederließ. B. wurde u. a. 1940 mit dem Kulturpreis der Stadt Düsseldorf u. 1965 mit dem Kulturpreis der Stadt Bielefeld ausgezeichnet.

Baczko

Sein in zahlreichen Dramen konkretisiertes Konzept einer »neuen Geistestragödie« bemüht sich in der Wendung gegen das psychologisierende Schauspiel um die Exponierung geistiger Gegensätze anhand historischer Wendepunkte. Wegen dieses pathetisch ungenauen Anspruchs wurde er wie auch andere Vertreter des Neu-Klassizismus (Paul Ernst, Wilhelm von Scholz) von den Nationalsozialisten als Vorläufer der »Hohen Tragödie« begrüßt. B. selbst betrachtete, in seinem Selbstverständnis völlig unpolitisch, den Nationalsozialismus als Erfüllung religiöser Hoffnungen. Die gedanklich überladenen u. übertrieben komplizierten Dramen erwiesen sich nach mehreren Aufführungsversuchen als nicht spielbar. Weitere Werke: Die Rheintochter. Wiesb. 1898 (dramat. M.). – Der Graf v. Gleichen. Wiesb. 1898 (D.). – Der Phantast. Bln. 1913 (D.). – Innenmächte. Mchn. 1922 (vier Dramen). – Erlebnis der Stille. Mchn. 1927 (Ess.). – Maheli wider Moses. Bln. 1932 (D.). – Der Kaiser u. der Antichrist. Bln. 1934 (D.). – Wuchs u. Werk. Dessau 1939 (Autobiogr.). – Die Spur. Dessau 1942 (L.). – Lyrik im Lichte. Dessau 1943. – Der dt. Typus der Tragödie. Bln. 1943 (Abh.). – Der ind. Kaiser. Bln. 1944 (D.). – Leonardo da Vinci. Mainz 1950 (D.). Literatur: Erwin Schmidt: Die Tragödien E. B.s. Diss. Wien 1938. – Herbert Walchshöfer: E. B. Grundlinien einer Monogr. Diss. Erlangen 1958. – Manfred Bosch: E. B. In: Württemberg. Biogr.n. Bd. 4, hg. v. Fred Ludwig Sepaintner, Stgt. 2007, S. 6–8. Frank Raepke / Red.

Baczko, Ludwig (Adolf Franz Joseph) von, * 8.6.1756 Lyck/Ostpreußen, † 27.3.1823 Königsberg. – Erzähler u. Historiker. B. war das älteste Kind eines österreichischungar. Offiziers, der in preuß. Dienste getreten war. Von Kindheit an durch eine leichte Lähmung der rechten Körperseite behindert, konnte B. die militär. Laufbahn nicht einschlagen. Er besuchte in Königsberg das Friedrichskolleg u. nahm 1772 das Studium der Jurisprudenz an der dortigen Universität auf. Daneben befasste er sich mit Geschichte, Philologie u. Medizin. Kurz nach Abschluss seines Studiums erblindete B. infolge einer Pockenerkrankung 1777. Da er sich so außerstande sah, einen jurist. Beruf auszuüben,

296

setzte er das Studium der Geschichte u. Literatur fort u. suchte sich als Schriftsteller seinen Lebensunterhalt zu sichern. Mehrere Versuche, einen Lehrstuhl für Geschichte an der Königsberger Universität zu erhalten, blieben erfolglos, wobei neben der Blindheit auch B.s kath. Glaube eine Rolle gespielt haben dürfte. Er verwand diese Zurücksetzung nie, die seiner fachl. Qualifikation nicht gerecht wurde. B. heiratete 1792 Magdalena Johanna von Montowt, mit der er sieben Kinder hatte. Er gab in Königsberg vielfach Privatunterricht, wurde 1799 Geschichtslehrer an der Artillerie-Akademie u. übernahm 1816 die Leitung eines Blindeninstituts. Vor allem wirtschaftl. Not scheint die Antriebskraft für B.s ausgesprochen vielseitige literar. Tätigkeit gewesen zu sein. Er betrieb eine private Leihbibliothek u. betätigte sich als Herausgeber der Zeitschriften »Preußische Tempe« (1780/81) u. »Preußisches Magazin« (1782), die aus einer Mischung von aktueller Berichterstattung, philosophischen u. histor. Betrachtungen sowie literar. Beiträgen bestanden. Diese Publikationen blieben jedoch erfolglos u. gingen trotz finanzieller Zuwendungen adliger Mäzene wieder ein. B.s belletrist. Arbeit reicht von Gelegenheitslyrik über Erzählungen u. Dramen bis zu mehreren Romanen u. ist heute nahezu vergessen. In seinen Werken wendet sich B. wiederholt ebenso gegen ein im Zeichen der literar. Empfindsamkeit stehendes Lebensgefühl wie gegen die »Genieseuche« des Sturm u. Drang. Demgegenüber vertritt er die Auffassung, der Mensch habe sich in eine herrschende Ordnung einzufügen, wie der zweibändige Roman Miller, der Menschenverächter und seine fünf Töchter (Königsb. 1788. Nachdr. Ffm. u. a. 1996) exemplarisch zeigt. Bes. umfangreich ist B.s histor. Werk, das zahlreiche kleinere u. größere Schriften zur Geschichte Preußens u. Königsbergs sowie Abhandlungen zu zeitgenössischen polit. Ereignissen umfasst. Dazu zählen auch zwei histor. Lehrbücher, die B. im staatl. Auftrag für die neuen ostpreuß. Schulen verfasste. Von zentraler Bedeutung ist B.s Geschichte Preußens (Königsb. 1792–1800). Sie blieb je-

297

Bader

doch unvollendet, da B., der das Werk Bln. 1993. – Thomas Studer: L. v. B. Schriftsteller in Friedrich Wilhelm II. gewidmet hatte, über Königsberg um 1800. In: Königsberg. Hg. J. Kohdie geringe Aufmerksamkeit, die es von nen. Ffm. u. a. 1994, S. 299–423. – J. Kohnen: L. v. staatlicher Seite erfuhr, enttäuscht war. Mi- B. (1756–1823). Ein literar. Pionier in Ostpreussen: kleine Biogr. In: Germanistik XIX. Luxemburg nutiös listet B. in den fertiggestellten sechs 2004, S. 1–6. Agnes Krup-Ebert / Red. Bänden die preuß. Geschichte vom MA bis zum Jahr 1740 auf. Mit einem detaillierten Quellennachweis versehen, wird das Werk Bader, Josef, * 20.12.1805 Thiengen/ wiss. Ansprüchen gerecht. »Welche Arbeit für Klettgau, † 7.2.1883 Freiburg/Breisgau. – einen Mann, der zum Aufsuchen das Auge, Historiker, Archivar, Reiseschriftsteller. zum Niederschreiben die Hand eines Andern bedarf!« schätzte B. selbst sein Vorhaben im B. studierte in Freiburg Theologie, später Rechtswissenschaften u. wurde 1824 wegen Vorwort zum ersten Band ein. Mehrfach reflektiert B. in seinem Werk seines Engagements in der Verbindung seine Sehbehinderung. Die Schrift Über mich »Germania« von der Universität relegiert, selbst und meine Unglücksgefährten die Blinden was ihm zunächst eine ordentl. Laufbahn im (Lpz. 1807) u. seine Autobiografie Geschichte Staatsdient verwehrte. Er begann mit intenmeines Lebens (postum Königsb. 1824) enthal- siven histor. Studien u. machte sich als Verten für den heutigen Leser interessante kul- fasser von lokal- u. regionalhistor. Arbeiten einen Namen. Erst 1837 bekam B. eine Anturgeschichtl. Einblicke. stellung als Gehilfe am Generallandesarchiv Weitere Werke: Die Reue. Königsb. 1780 (E.). – Die akadem. Freunde. Königsb./Lpz. 1780 (E.). – Karlsruhe, vier Jahre später als Kanzlist. InHdb. der Gesch. u. Erdbeschreibung Preußens. zwischen hatte ihn die Universität Freiburg Dessau 1784. – Die Folgen einer akadem. Mäd- promoviert. Nach Publikationen über die chenerziehung. Libau 1786. – Karl v. Adlerfeldt Städte Tiengen (Freib. i. Br. 1824) u. Waldsoder Gespräch über das menschl. Glück. Elbing hut (Freib. i. Br. 1833) erschien 1834 seine 1786. – Versuch einer Gesch. u. Beschreibung der Badische Landesgeschichte (Freib. i. Br.), die Stadt Königsb. Königsb. 1787–90. – Conrad Lez- mehrfach aufgelegt u. für den Schulunterkau, Bürgermeister v. Danzig. Königsb. 1791 (D.). – richt bearbeitet wurde. Es folgten Arbeiten Der Ehrentisch oder: Erzählungen aus der Ritter- über die Unruhen im Hauensteinischen (Freib. i. zeit. 2 Bde., Königsb. 1793 u. 1795. – Der Geist Br. 1833), über den Zähringischen Löwen, oder Erichs v. Sickingen. Königsb. 1795 (R.). – Hans v. die Ahnen des fürstlichen Hauses Baden und dessen Boysen. 2 Bde., Thorn/Danzig 1795 (R.). – Leben u. Abenteuer Wilhelm Walthers, eines Emigranten. Gründung (Freib. i. Br. 1837). In den 1840er Königsb. 1795. – Witold. 2 Bde., Königsb. 1796 Jahren thematisierten seine histor. Arbeiten (R.). – Kleine Schr.en aus dem Gebiete der Gesch. u. u. a. die Badischen Volkssitten und Trachten Staatswiss. 2 Bde., Lpz. 1796/97. – Erzählung zur (Karlsr. 1843), den Meister Erwin von Steinbach Beförderung guter Gefühle u. stiller Tugenden. und seine Heimath (Karlsr. 1844) u. die Stifter Königsb. 1804. – Das Kloster zu Vallombrosa. 2 des Klosters Lichtental (Karlsr. 1845). Im VorBde., Königsb. 1805/06 (R.). – Die Mennoniten. wort zu seiner Schrift Die ehemaligen breisKönigsb. 1809 (D.). – Nachtviolen. 2 Bde., Halle gauischen Stände (Karls. 1846) stellt sich B. in 1810 u. 1813 (E.en). – Galozzo Visconti oder Liebe die Tradition einer »politischen« Geu. Edelmut. Halle 1814 (R.). – Die Familie Eisenschichtsschreibung: »Das Ganze bildet eine berg oder: Die Greuel des Krieges. Halle 1815 (D.). politische Geschichte des Breisgaues – größ– Legenden, Volkssagen, Gespenster- u. Zaubergesch.n. 3 Bde., Halle 1815–18. – Bodo u. Laura oder tentheils die Leidensgeschichte dieser schödie drei Perlenschnüre. Halle 1822 (R.). – Erzäh- nen Landschaft«. 1854 wurde B. zum badilungen. 2 Bde., Halle 1822/23. – Poet. Versuche schen Archivrat in Freiburg ernannt, in diese Zeit fiel die Publikation der Archivalien des eines Blinden. Königsb. 1824. Literatur: L. v. B. In: NND 1823, S. 338–407. – Klosters Salem. 1839–1844 u. in neuer Folge Johannes Sembritzki: Die ostpreuß. Dichtung 1859–1864 gab er die von ihm begründete 1770–1800. Königsb. 1908, S. 292–302. – Joseph histor. Zeitschrift »Badenia oder das badische Kohnen (Hg.): Königsberger um Kant. Textausw. Land und Volk, eine Zeitschrift für vaterlän-

Badt-Strauss

298

dische Geschichte und Landeskunde« (Karlsr. u. Freib.) heraus u. verfasste u. a. eine Schrift über die Residenzstadt Karlsruhe – ihre Geschichte und Beschreibung (Karls. 1858). Seine Reisebeschreibungen u. histor. Abhandlungen zeichnen sich durch einen politischen u. sozialen Hintergrund aus, der an der Traditionsbildung nationaler Identität nach 1848 Teil hat u. für die Zeit zwischen 1830 u. 1880 nicht nur dokumentarisch, sondern auch literarisch bedeutsam ist. Weitere Werke: Das Großherzogthum Baden, wie es ward u. wie es ist. Karlsr. 1838. – SkizzenBlätter über Baden’s Fürstenhaus u. dessen geschichtl. Darstellung; zur Feier des Geburtsfestes Seiner Kgl. Hoheit des Regenten. Karlsr. 1854. – Das ehemalige Kloster Sanct Blasien auf dem Schwarzwalde u. seine Gelehrten-Academie. Freib. 1874. – Das maler. u. romant. Baden. Karlsr. o. J. – Gesch. der Stadt Freiburg im Breisgau. Freib. o. J. Literatur: Bad. Biogr.n. Tl. 1, Heidelb. 1875, S. 30 f.; Tl. 4, S. 518 (1891). – Nekrolog: In: Ztschr. für die Gesch. des Oberrheins. Bd. 36, Karlsr. 1883, S. 476–478. – Walter Vetter: Nachw. In: Josef Bader: Fahrten u. Wanderungen im Badnerland. Freib. i. Br. 1976, S. 201–206. Hansgeorg Schmidt-Bergmann

Badt-Strauss, Bertha, auch: Bath Hillel, Bert Bast, geb. Badt, * 7.12.1885 Breslau, † 20.2.1970 Chapel Hill/USA. – Journalistin, Literaturwissenschaftlerin, Romanautorin. Nach dem Studium an den Universitäten Breslau, London u. Berlin promovierte B. mit einer Arbeit über Annette von Droste-Hülshoff, ihre dichterische Entwicklung und ihr Verhältnis zur englischen Literatur (Breslau 1908). Bis 1939 lebte sie, schriftstellerisch u. journalistisch tätig, in Berlin u. war dort bis zum Zeitpunkt ihrer Emigration in intellektuellen Zirkeln aktiv. Neben ihrer Dozententätigkeit an verschiedenen Universitäten in Deutschland verfasste sie von 1912 bis 1933 Beiträge für dt. u. dt.-jüd. Zeitungen u. Zeitschriften wie das »Berliner Tageblatt« u. die »Vossische Zeitung«. 1912 erschien ihr Buch über Rahel und ihre Zeit. Briefe und Zeugnisse (Mchn.), das ebenso wie andere von ihr herausgegebene literaturhistor. Werke, z.B. Jüdinnen (Bln. 1937), die jüdischen intellektuellen Frauen u.

deren gesellschaftl. Zirkel in Berlin zum Thema hatte. 1939 emigrierte B. in die USA, schrieb dort den biogr. Roman White Fire: The Life and Works of Jessie Sampter (New York 1956) u. arbeitete für zahlreiche dt. u. dt.-jüd. Zeitschriften wie »Aufbau« u. »Jüdische Wochenschau«. Weitere Werke: In Bene Berak u. a. Erzählungen. Bln. 1920. – B. B. (Hg.): Fanny Lewald: Prinz Louis Ferdinand. Ein Zeitbild. Bln. 1929. Literatur: Barbara Hahn: B. B. (1885–1970). Die Lust am Unzeitgemäßen. In: Frauen in den Kulturwiss.en. Hg. dies. Mchn. 1994, S. 152–165; 330–338. – Barbara Hahn: Trümmer im Gepäck. Margarete Susman, B. B. u. Hannah Arendt in der Emigration. In: German literature, Jewish critics. Hg. Stephen D. Dowden u. Meike G. Werner. Rochester 2002, S. 98–119. – Martina Steer: B. B. (1885–1970). Eine jüd. Publizistin. Ffm. 2005. Mechthild Hellmig / Red.

Bächler, Wolfgang, auch: Wolfgang Born, * 22.3.1925 Augsburg, † 24.5.2007 München. – Lyriker. Der »unstete Einzimmerbewohner [...] Sozialist ohne Parteibuch, Deutscher ohne Deutschland, Lyriker ohne viel Publikum, Erzähler ohne Sitzfleisch«, der »zu Formlosigkeiten, melancholischen und manischen Aus- und Abschweifungen« neigte, wurde 1943, nach dem Besuch eines humanist. Gymnasiums, Soldat u. 1944 in Frankreich schwer verwundet. 1945–1948 studierte er Germanistik, Romanistik, Kunstgeschichte u. Theaterwissenschaft u. begann mit Veröffentlichungen in Zeitungen, Zeitschriften u. im Rundfunk. 1956–1966 lebte er in Frankreich, im Anschluss, bis zu seinem Tode, überwiegend in München. Nach dem TukanPreis der Stadt München (1975) erhielt er noch zahlreiche andere Literaturpreise. Obwohl B. ein Gründungsmitgl. der Gruppe 47 war, blieb er ihrem anfänglichen literar. Stil, dem »Kahlschlag«, fern u. rezipierte Schriftsteller, die ihm vor 1945 unzugänglich gewesen waren, u. a. Trakl, Heym, Benn. Auch Wolfgang Borcherts Einflüsse auf seine frühen Texte sind zu erkennen. Thomas Mann, Böll, Eich u. Huchel lobten u. förderten ihn. Benn zählte ihn 1949 zu den ganz wenigen neuen Lyrikern, an deren Fortkom-

299

men er glaube. Kritiker sahen bei ihm wenig lyr. Eigenständigkeit, dafür aber modische Angleichung an den Existentialismus der 1950er Jahre. B. verstand sich als Naturlyriker u. polit. Dichter zugleich. Er vertrat einerseits die Auffassung, »daß Zeit- und Gesellschaftskritik Aufgabe der Prosa und nicht der Lyrik sind«, zählte sich aber gleichwohl zu denen, die nach dem Krieg »zwar nicht die Welt, aber Deutschland verändern wollten«. 1950 erschienen seine ersten Gedichte aus den Jahren 1943 bis 1949 u. d. T. Die Zisterne (Esslingen 1950). Sie reichen vom Versuch einer nüchternen Bestandsaufnahme der Gegenwart, z.B. in dem Gedicht mit der viel zitierten Anfangszeile »Die Erde bebt noch von den Stiefeltritten«, bis zu Anklängen an das Menschheitspathos des Expressionismus: »Und zwischen den Sonnen / und Nächten und Himmeln / steht noch der Mensch im Gewölk. [...] und er wird sein, / sein, wie noch niemals / Menschen gewesen sind« (in: Im Chaos). B. selbst hielt später viele dieser Gedichte für »konventionell, zu romantisch, zu glatt klingend«. Sein Werk stand fortan unter einer ihm eigentüml. Spannung: Einerseits unterlag es einem weitreichenden programmat. Anspruch: Das Gedicht »ist Dialog, Kommunikation, Widerspruch und dessen Auflösung [...]. Es versucht, Ordnung und Form ins Chaos zu bringen, Stützpunkte und Schleusen in den Sog der Verzweiflung und Depression zu bauen. Widerstand gegen Leid und Existenzangst [...] zu leisten [...]. Es [hebt] Selbstzerrissenheit und Entfremdung auf [...], ist der einzige Weg zu Augenblicken des Glücks und der Befreiung«. Andererseits erhielten seine Gedichte ihre im Lauf der Jahre zunehmende Konzentration durch eine (mit wechselnder Konsequenz verfolgte) Tendenz, die das Titelgedicht der Anthologie Ausbrechen. Gedichte aus 30 Jahren (Ffm. 1976. 1981) formuliert: »Ausbrechen / aus den Wortzäunen, / den Satzketten, / den Punktesystemen, / den Einklammerungen, / den Rahmen der Selbstbespiegelungen, / den Beistrichen, den Gedankenstrichen / – um die ausweichenden, aufweichenden / Gedankenlosigkeiten gesetzt – / Ausbrechen / in die Freiheit des Schweigens.«

Bächler

Einer der wenigen längeren Prosatexte B.s ist der Roman Der nächtliche Gast (Düsseld. 1950. 21953 u. ö.), eine aus vielen Zufällen konstruierte »umgekehrte Ödipusvariation«, mit der B. beweisen wollte, dass er »auch hart realistisch schreiben« kann u. »nicht vor Tabus und Scheußlichkeiten zurückschreckt«. Der Roman fand deutlich weniger Anerkennung als B.s Lyrik. Um sich von Depressionen u. Schlafstörungen zu heilen, die ihn sein ganzes Leben lang begleiteten u. zu längeren Schaffenspausen führten, zeichnete B. in den Jahren 1954 bis 1969 viele seiner Träume auf, die er kommentarlos u. unbearbeitet 1972 u. d. T. Traumprotokolle. Ein Nachtbuch (Mchn.) erscheinen ließ. Martin Walser schreibt im Nachwort, es sei ein Auskunftsbuch über die Bundesrepublik, gesehen durch einen, der nicht mit ihr fertig wurde. (Die Prosazitate sind dem Text Zwischen den Stühlen. 1955 – erg. in: Stadtbesetzung. Ffm. 1979 – entnommen.) Weitere Werke: Lichtwechsel. Neue Gedichte. Mit Holzschnitten v. H. A. P. Grieshaber. Esslingen 1955. – Lichtwechsel II. Neue Gedichte. Mit Tuschen v. H. A. P. Grieshaber. Mchn./Esslingen 1960. – Türklingel. Balladen, Berichte, Romanzen. Mchn./Esslingen 1962. – Türen aus Rauch. Ffm. 1963 (L.). – Nachtleben. Ffm. 1982 (L.). – Im Schlaf. Traumprosa. Ffm. 1988. – Ich ging der Lichtspur nach. Liebesgedichte. Nachw. v. Peter v. Becker. Ffm. 1988. – Die Erde bebt noch. Frühe Gedichte, 1942–57. Mit einem Nachw. v. Michael Krüger. Ffm. 1988. – Einer, der auszog, sich köpfen zu lassen. Ffm. 1990 (R.). – Wo die Wellenschrift endet. Ausgew. Gedichte aus fünf Jahrzehnten. Denklingen 2000. Literatur: Peter v. Becker: Mein langes Schweigen. Neueste u. ältere Lyrik eines berühmt Unberüchtigten. In: Die Zeit, 1.10.1982. – Renate Wiggershaus: Der verlorene Sohn. Der Lyriker W. B. In: Frankfurter Rundschau, 6.12.1986. – Mechthild Curtius: Gespräch mit W. B. In: Dies.: Autorengespräche. Ffm. 1991, S. 83–96. – Wilhelm Große: W. B. In: KLG. – Michael Bauer: W. B. In: LGL. Walther Kummerow / Red.

Bächtold

Bächtold, Albert, * 3.1.1891 Wilchingen/ Schaffhausen, † 27.10.1981 Grüningen/ Zürich; Grabstätte: Wilchingen/Schaffhausen. – Mundartschriftsteller.

300

1941. 41974), eine Heimkehrergeschichte, die thematisch Dürrenmatts Besuch der alten Dame vorwegnimmt. Versuche, B.s Werke ins Hochdeutsche zu übertragen, sind bisher immer an der Urwüchsigkeit u. Eigenwilligkeit seines bildkräftigen Dialekts gescheitert. Nachdem B. 1964 den Johann Peter HebelPreis u. 1966 den Bodensee-Literaturpreis erhalten hatte, wurde er 1971 schließlich mit dem Gesamtwerkspreis der Schweizerischen Schillerstiftung ausgezeichnet.

Der Sohn des Dorfschullehrers von Wilchingen erlernte in Schaffhausen auch selbst diesen Beruf, übte ihn aber nur zwei Jahre in Merishausen/Schaffhausen aus. 1913 wurde B. Hauslehrer in Kiew u. schlug sich dann, bis die Revolution ihn zur Heimkehr zwang, in verschiedenen Berufen in Russland durch. Weitere Werke: Noosüechle. Schaffh. 1978 Nach zwei Semestern Nationalökonomie in (Anekdoten). – D Sprooch isch de Spiegel vom ene Zürich bereiste B. die Vereinigten Staaten, um Volk. Us siine Büecher. Schaffh. 1988. dort für die verarmten Russland-Schweizer Literatur: Kurt Bächtold: A. B., MundartGeld zu sammeln. Heimgekehrt, kam er als schriftsteller. Schaffh. 1981. Agent einer amerikan. Firma zu Reichtum. Charles Linsmayer / Red. 1930 brachte ihn die Weltwirtschaftskrise um sein Vermögen u. er begann als Journalist zu arbeiten u. erste hochdt. Erzählungen zu Baeck, Leo, * 23.5.1878 Lissa/Posen, schreiben. Angeregt durch Rudolf Jakob † 2.11.1956 London; Grabstätte: ebd., Humm, wechselte er 1937 zur Mundart sei- Friedhof der West London Synagogue, ner Klettgauer Heimat über. Der 1939 von Golden Green. – Judaist. der Büchergilde Gutenberg in Zürich edierte Der Sohn des Rabbiners Samuel Baeck proErstling De Tischtelfink. E Bilderbuech us em movierte nach dem Studium in Breslau u. Chläggi (neue, vom Autor rev. Aufl. Schaffh. Berlin 1895 bei Wilhelm Dilthey. Er wirkte ab 1983) wurde zur Keimzelle eines vielbändi- 1897 als Rabbiner in Oppeln, wo er die Engen Roman-Epos in Klettgauer Dialekt, in kelin seines Vorgängers, Natalie Hamburger, dem B. sein abenteuerliches Leben sowie sei- heiratete († 1937), ab 1907 in Düsseldorf u. ab ne Aufenthalte in Russland u. Amerika ver- 1912 in Berlin. Hier lehrte er als Dozent an arbeitet. War De Tischtelfink dem früh ver- der Hochschule für die Wissenschaft des Justorbenen Vater gewidmet, so behandelte dentums, deren letzter Leiter er gewesen ist. Hannilipeter (Zürich 1940. 4., vom Autor rev. Nach der Rückkehr aus dem Ersten WeltAufl. 1980) die eigene Kindheit u. das Leben krieg, an dem er seit 1914 als Feldrabbiner der Mutter. De Studänt Räbme (Zürich 1947. teilgenommen hatte, war er zeitweise im 2000) gestaltete die Seminarzeit in Schaff- preuß. Kultusministerium als Sachverständihausen, Pjotr Iwanowitsch (2 Bde., Schaffh. ger für jüd. Sprachen zuständig. B. stand 1950. 32004) die Abenteuer in Russland, De auch an der Spitze der mehr als 100 deutschSilberstaab (Schaffh. 1953) die amerikan. Reise jüd. B’nai-B’rith Logen (hebräisch, Söhne des u. De ander Wäg (Schaffh. 1957. 22006) die Bundes). 1933 wurde B. »Präsident der Abkehr vom Reichtum u. den beschwerl. Weg Reichsvertretung der Juden in Deutschland« zum Dialektschriftsteller. Persönliche, intime u. versuchte, bes. von Otto Hirsch unterErfahrungen sind in den beiden Büchern Wält stützt, die Landesvertretungen der Juden u. uhni Liecht (Zürich 1944. 21990. 1996) u. Sisch damit auch alle Juden im Reich während der groote (Schaffh. 1972. 21988) dargestellt: der Herrschaft des Nationalsozialismus vor DisSchrecken vor einer – durch eine Operation kriminierung u. Verfolgung zu schützen. glücklich vermiedenen – Erblindung u. die 1943 wurde B. in das Konzentrationslager Welt des Spitals, wo Krankheit u. Tod als Theresienstadt gebracht. Dort konnte er alltägl. Erfahrungen den alternden Menschen zeitweise Vorlesungen über Kant halten. nachdenklich stimmen. Außerhalb dieser Nach 1945 lebte er v. a. in London u. rief 1954 autobiogr. Reihe steht De goldig Schmid (Zürich das nach ihm benannte Leo-Baeck-Institut für

301

Bäcker

die Erforschung der Geschichte der Juden im seld. 1954. – L.-B.-Institute of Jews in Germany. dt. Sprachraum (Schwerpunkt 19. u. 20. Jh.) Yearbook 1956 ff. – Von Moses Mendelssohn zu mit Parallelgründungen in Jerusalem u. New Franz Rosenzweig. Stgt. 1958. Ausgabe: Werke. Hg. Albert H. Friedlander u. a. York ins Leben. B. war der letzte große Lehrer der Judaistik 6 Bde., Gütersloh 1996–2003. Literatur: Eva Reichmann (Hg.): FS L. B. Lonin Deutschland. Er war gleichermaßen als Wissenschaftler u. polit. Integrationsfigur don 1953. – Theodor Wiener: The Writings of L. B. anerkannt. Als Antwort auf Adolf Harnacks Cincinnati 1953/54. – Reinhold Mayer: Christentum u. Judentum in der Schau B.s. Stgt. 1961. – Das Wesen des Christentums (1900) veröffentAlbert H. Friedlander: L. B. New York 1968. Dt. lichte B. 1905 in Berlin sein Hauptwerk Das Stgt. 1973. Mchn. 1990. Gütersloh 21996. – 4 Wesen des Judentums (Ffm. 1926. Köln u. Leonard Baker: Days of Sorrow and Pain. L. B. and Darmst. 61960 u. ö., zuletzt in Werke. Bd. 1, the Berlin Jews. New York/London 1978. Dt.: Hirt Gütersloh 1998), in dem er das Judentum der Verfolgten. Stgt. 1982. – Werner Licharz (Hg.): gegen den Vorwurf der mangelnden Moder- L. B. Lehrer u. Helfer in schwerer Zeit. Ffm. 1983. – nität verteidigte u. seine Zeitlosigkeit durch Herbert A. Strauss: Die L.-B.-Institute u. die Erdie Jahrtausende betonte. Dem Lehrer der forsch. der dt.-jüd. Gesch. In: Gesch. u. Gesellsch. 9 Homiletik (Geschichte u. Theorie der Predigt) (1983), S. 471 ff. – Ralf Koerrenz: Das Judentum als u. des Midrasch (Auslegung des AT nach den Lerngemeinschaft. Die Konzeption einer pädagog. Religion bei L. B. Weinh. 1992. – Walter Homolka: Regeln der jüd. Schriftgelehrten), eines der Jüd. Identität in der modernen Welt. L. B. u. der dt. Hauptelemente der jüd. Literatur in nachbi- Protestantismus. Gütersloh 1994. – Ders.: L. B.: blischer Zeit, ging es stets auch um die An- zwischen Geheimnis u. Gebot. Auf dem Weg zu wendung der jüd. Lehren in der Praxis des einem progressiven Judentum der Moderne. OsnaGlaubens, ohne dass er sich dabei einer poli- br. 1997. – Ders. u. Elias H. Füllenbach: L. B. Eine tisch verwertbaren Deutung verpflichtete. Skizze seines Lebens. Gütersloh 2006. – W. HoDie Sammlung seiner wiss. Aufsätze (Aus drei molka: L. B. Jüd. Denken. Perspektiven für heute. Jahrtausenden. Wissenschaftliche Untersuchungen Freib. i. Br. 2006. Michael Behnen / Red. und Abhandlungen zur Geschichte des jüdischen Glaubens. Bln. 1938. Tüb. 1958) wurde unBäcker, Heimrad, * 9.5.1925 Kalksburg mittelbar nach ihrem Erscheinen von der bei Wien, † 8.5.2003 Linz. – Verleger, Geheimen Staatspolizei vernichtet. Herausgeber u. Lyriker. B. verstand das Judentum als Klassische Religion im Gegensatz zur Romantischen Religion Nach dem Besuch der Arbeitermittelschule in des Christentums, so der Titel einer Veröf- Graz studierte B. in Wien Philosophie, Völfentlichung (Bln. 1922). In seinen Untersu- kerkunde, Kunstgeschichte u. Germanistik u. chungen u. a. zur jüd. Mystik betonte er die promovierte 1953 mit einer Dissertation über Einheit von Denken u. Glauben, negierte die Karl Jaspers. Er ließ sich in Linz nieder u. Trennung von Transzendenz u. Immanenz u. begann an der dortigen Volkshochschule seihob die recht verstandene Bedeutung von ne Tätigkeit als Fachreferent für Geisteswis»Gesetz«, Riten u. Vorschriften für die Le- senschaften. Seit 1968 gab B. die von ihm bensführung im Alltag hervor. Seine histo- gegründete Zeitschrift »neue texte« heraus, riografisch angelegten Werke kreisten um Österreichs einzige auf die literar. Avantgarden Versuch, die jüd. Geschichte zu inter- de u. experimentelle Literatur spezialisierte pretieren (Dieses Volk. 2 Bde., Ffm. 1955/57. Zeitschrift. 1976 gründete er den Verlag »edition neue texte«. B. war Mitgl. der Grazer Zuletzt in Werke. Bd. 2, Gütersloh 1996). B. hielt in seinen letzten Lebensjahren re- Autorenversammlung u. wurde 1987 deren gelmäßig Gastvorlesungen am Hebrew Uni- Präsident. Bereits 1952 debütierte B. in Hans Weigels on College in Cincinnati/USA. Weitere Werke: Wege im Judentum. Aufsätze Anthologie Stimmen der Gegenwart mit wehu. Reden. Bln. 1933. – The Faith of Paul. In: Journal mütiger Lyrik, vollzog dann aber nach einer of Jewish Studies 3 (1952), S. 93–110. – Maimoni- langen Schreibpause eine radikale Wendung des. Der Mann, sein Werk u. seine Wirkung. Düs- zur konkreten Literatur. In seinen konkret-

Baedeker

302

visuellen Zyklen bezog er sich auf Eugen hannes Schmidt: Lit. u. Authentizität. Das Thema Gomringer u. entwickelte daneben eine kon- H. B.s. In: Ders.: Erfahrungen. Österr. Texte bekrete Fotografie (zyklen leihhaus steglitz, expat- obachtend. Klagenf. 2002, S. 39–54. – Ders. u. riation, melk, referendum, reduktion w 31163, Martin Hochleitner (Hg.): H. B. Graz 2003. – Sabine Zelger: H. B. In: LGL. mauthausen), die er auch auf Ausstellungen Kristina Pfoser-Schewig / Red. zeigte. Seine Texte publizierte er vorwiegend in Zeitschriften u. Anthologien (»manuskripte«, »Protokolle«, »Schwitters JahrbüBaedeker, Karl, * 3.11.1801 Essen, † 4.10. cher«), er gilt aber mehr als Vermittler denn 1859 Koblenz; Grabstätte: ebd., Hauptals Autor experimenteller Literatur. Als einer friedhof. – Verleger u. Autor von Reiseder wichtigsten Anreger u. Förderer der lihandbüchern. terar. Avantgarde versammelte er um seine Zeitschrift »neue texte« renommierte Ver- Angeregt durch seinen Vater, den Essener treter der konkreten Poesie wie Gomringer, Verleger Gottschalk Diederich Baedeker, erdie Wiener Gruppe-Künstler Gerhard Rühm, lernte B. den Beruf des Buchhändlers, u. a. in Konrad Bayer, Friedrich Achleitner, aber auch Heidelberg (bei Jacob Christian Benjamin die »Jungen« Reinhard Priessnitz, Bodo Hell, Mohr) u. Berlin (bei Georg Reimer); er hörte Vorlesungen an der Philosoph. Fakultät der Franz Joseph Czernin u. Anselm Glück. B.s Hauptwerk ist die nachschrift (Linz 1986. Universität Heidelberg (1819/20). In den Nachw. v. Friedrich Achleitner. Überarb. Wander- u. Lehrjahren lernte B. u. a. FreiligAusg. Graz 1993. 1997 erw. um nachschrift 2), rath, Hoffmann von Fallersleben u. Ernst die den schriftl. Spuren der nationalsozialist. Wilhelm Hengstenberg kennen. Am 1.7.1827 eröffnete B. in Koblenz eine Tötungsmaschinerie nachgeht: Zahlen, Exekutionslisten, Verhandlungsprotokolle, Ver- Verlagsbuchhandlung, in der er u. a. Schulbote, Verhaftungsgründe, Beschreibungen bücher, eine theolog. Zeitschrift u. Landmedizinischer Experimente, Befehle werden tagsprotokolle verlegte. Durch Übernahme – im Sprachmaterial unverändert – auf eine des Verlags Röhling 1832 vertrieb er auch Weise montiert, dass sich eine Vielzahl von Schriften u. Ansichten über die Rheingegend. Korrespondenzen ergibt u. mit den sprachli- Davon erschien 1832 als Neudruck B.s – erchen die ideolog. Muster des Massenmords gänzt um eine Rheinlaufkarte – die Rheinreise von Mainz bis Köln von Johann August Klein sichtbar werden. Weitere Werke: seestück. Linz 1985. – refe- auf deutsch u. französisch (mit dem Untertirendum. Wien 1988. – epitaph. Linz 1988. Erw. tel Handbuch für Schnellreisende 1828 erstveröffentlicht). B. entwickelte nun eigene ReiseAusg. Linz 1990. Ausgabe: Gedichte u. Texte. Eine Ausw. aus dem handbücher: 1836 The Traveller’s Manual of 12 Werk. Bln. 1992. – H. B. Fotoband mit Textausw. Conversations [...] ( 1858) für den engl. Touristen; 1839 dann die ersten »klassischen Linz 2003. Literatur: Klaus Amann: Monumenta Germa- Baedeker«: Rheinreise von Straßburg bis Düsselnica Historica. Über H. B.s ›nachschrift‹. In: Ders.: dorf (als 3. Aufl. der Klein’schen Rheinreise. 10 1858), Belgien (51855) u. Holland (31854). B. Die Dichter u. die Politik. Wien 1992, S. 223–234. – Jürgen Nieraad: Shoah-Lit: weder Fiktion noch berichtete in seinen Reisehandbüchern zum Dokument. Alexander Kluges ›Liebesversuch‹ u. H. größten Teil aus eigener Reisetätigkeit. Die B.s ›nachschrift‹. In: In der Sprache der Täter. Neue Leser bekamen die krit. Empfehlung mit auf Lektüren deutschsprachiger Nachkriegs- u. Ge- den Weg, sich anhand dieser Bücher von der genwartslit. Hg. Stephan Braese. Opladen 1998, Bevormundung durch Gastwirte u. LohndieS. 137–148. – Thomas Eder: Sprachskepsis in der ner frei zu machen. Lit.? Zu einigen erkenntnistheoret. VoraussetzunVon seinen zehn Kindern verschafften die gen im Werk v. H. B. u. a. In: MAL 31 (1998), N. 3/4, S. 19–34. – Robert Cohen: Zu H. B.s ›nachschrift‹. Söhne Ernst, Karl u. Fritz dem Verlag, der In: Peter-Weiss-Jb. für Lit., Kunst u. Politik im 20. später in Leipzig (ab 1872/73), Hamburg/ Jh. 8 (1999), S. 141–153. – T. Ender (Red.): Die Malente (ab 1948), Freiburg i. Br. (ab 1956) u. Rampe. Porträt. H. B. Linz 2001. – Siegfried Jo- in Ostfildern/Kemnat (seit 1987) ansässig

Baerholtz

303

wurde, Weltgeltung. Angesichts des sich im 19. Jh. ausweitenden Fremdenverkehrs hatte der Verlag großen Erfolg. Sein Name wurde zu einem Synonym für Reisehandbücher. Weitere Werke: Hdb. für Reisende durch Dtschld. u. den Österr. Kaiserstaat. Koblenz 1842. 8 1858 (mit Teilaufl.n). – Schweiz. Koblenz 1844. 8 1859. – Paris u. Umgebung. Koblenz 1855. 21858. Literatur: Bibliografie: Alex W. Hinrichsen: Baedeker-Kat. als Verz. v. über 1680 Bdn. v. 1832–1987 mit einem Abriß der Verlagsgesch. Holzminden 1988. – Hans Baedeker: Verlag Karl Baedeker. In: Leipziger Jb. 1940, S. 121–124. – Weitere Titel: Peter u. Monika Baumgarten: Baedeker. Ein Name wird zur Weltmarke. Gesch. des Verlags. Ostfildern 1998. – Dorothea Bessen: Buchkultur inmitten der Industrie. 225 Jahre G. D. Baedeker in Essen. Essen 2000. Alex W. Hinrichsen / Red.

Bärfuss, Lukas, * 30.12.1971 Thun/Kt. Bern. – Dramatiker u. Prosa-Autor.

zgl. ihren Platz haben, zeichnen seine dramatischen u. prosaischen Texte aus. Ohne moral. Didaxe beweist B. genaue Beobachtungsgabe. Die schnörkellosen, teils schroffen Dialoge verleihen den Figuren eine überzeugende Authentizität u. zielen darauf, die Interpretation der von ihm angesprochenen Widersprüche Regisseuren, Schauspielern u. dem Publikum zu überlassen. Dass B.s Texte zusätzlich von einem lyr. Rhythmusgespür zeugen, mag ein weiterer Grund dafür sein, dass er neben verschiedenen regionalkulturellen Auszeichnungen bei der Kritikerumfrage der Zeitschrift »Theater heute« für sein Stück Der Bus (Das Zeug einer Heiligen) 2003 zum »Nachwuchsdramatiker des Jahres« gewählt wurde. Seit den Jahren 2003/04 werden B.s Werke mit zunehmender Häufigkeit in der schweizerisch-deutschen Bühnenlandschaft aufgeführt u. liegen auch bereits in verschiedenen Übersetzungen vor. Weitere Werke: Theaterstücke: Siebzehn Uhr

B. wuchs im stark vom Zwinglianismus u. Siebzehn. Urauff. Zürich 2000. – 74 Sekunden – verschiedenen protestant. Sekten geprägten Monolog. Urauff. Zürich 2000. – Vier Frauen. Berner Oberland auf. Nach Ausübung ver- Singspiel. Urauff. Bern 2000. – Medää. 214 Bildschiedener Berufe diplomierte B. als Buch- beschreibungen. Urauff. Wien 2000. – Othello – ein händler, erhielt ein Schriftstellerstipendium BlueMovie. Urauff. Hamburg 2001. – Die Reise v. Klaus u. Edith durch den Schacht zum Mittelpunkt u. avancierte in der freien Theaterszene Züder Erde. Urauff. Bochum 2001. – Vier Bilder der richs unter Mitwirkung des Regisseurs Sa- Liebe. Urauff. Bochum 2002. – Heinrich IV, nach muel Schwarz durch die Gründung der William Shakespeare. Urauff. Bochum 2004. – Die Theatergruppe »400asa« zum Dramatiker. Probe. Urauff. München 2007. – Prosa: Die toten Inzwischen liegen mehr als ein Dutzend Männer. Ffm. 2002 (N.). – Hörspiel: Jemand schreit Stücke vor, von welchen v. a. Meienbergs Tod in unseren Rosen. Produktion: DRS 2, 2004. (Urauff. Basel 2001), Die sexuellen Neurosen Literatur: Michael Schindhelm: L. B. In: LGL. unserer Eltern (Urauff. Basel 2003), Alices Reise Albrecht Viertel in die Schweiz (Urauff. Hamburg 2004) u. Der Bus (Das Zeug einer Heiligen) (Urauff. Hamburg Baerholtz, Bärholz, Daniel, * 5.7.1641 2004) in der Rezeption dominieren. Brisante Elbing, † 25.6.1692 Elbing. – Lyriker. Fragestellungen zu Sterbehilfe, Behindertensexualität, Sehnsucht nach Spiritualität u. Nach dem Besuch des Gymnasiums 1660 in zgl. Ratlosigkeit gegenüber der Popularisie- Danzig (Schule in Elbing u. Stolp) u. dem rung der Religionen sind charakteristisch für Universitätsstudium in Königsberg (1663) u. B.s Stücke, wobei seine literar. Figuren dann Wittenberg war B. Hauslehrer in Lüdunkle innere Abgründe hinter einer schein- beck. 1668 bezog er die Universität Marburg bar heilen Gesellschaft ausleuchten, zuge- u. war gleichzeitig Hauslehrer zweier Grafen wiesene Rollenmuster durchbrechen u. von Solms in Gießen u. eines Grafen Wied. (Schein-)Autoritäten in Frage stellen. Unor- 1670 wurde er Sekretär von Elbing, 1672/73 thodoxes Herangehen an standardisierte Be- war er als Gesandter der Stadt in Schweden, trachtungsweisen u. Verwendung einer ein- 1677 erster Sekretär, 1685 Ratsherr. B. war fachen u. dennoch vielgestaltigen Sprache, in Mitgl. des Elbschwanenordens (1666 als welcher Tragik u. Komik, Pathos u. Banalität »Philoklyt«), der Teutschgesinneten Genos-

Bärmann

304

senschaft (1669 als »Der Sanftmütige«) u. des Pegnesischen Blumenordens (1670 als »Hylas«). Johann Rist verlieh ihm am 1.10.1666 die Würde eines kaiserlich gekrönten Poeten, die mit einem erbl. Adelswappen verbunden war. Für die Teutschgesinnete Genossenschaft betätigte sich B. u. a. durch Aufnahme von Caspar Köhler (14.12.1676). Er besang Rist u. Zesen, verfasste Gedichte auf den Tod von Fleming, Dach u. Rist. Als Dritter im Bunde (neben Johann Georg Pellicer u. Martin Kempe) beteiligte er sich durch Des Hylas Hundert Kling-Gedichte an der Sammlung Balthis Oder Etlicher an dem Belt weidender Schäffer [...] Teutscher Gedichte Drey Theile (Lübeck 1674/ 75. Bremen 21677. 31680); Autobiografisches enthält Des Chariclyts Denkwürdiger Wein-Monath (Hbg. 1670).

historisch-topograf. Schriften, Theaterstücken (Sammlungen: Dolch und Maske. Bremen 1821. G. N. Bärmann’s Theater. 3 Tle., Mainz 1838), Gedichten u. Liedern, darunter die Hymne Hamburgs Stadt Hamburg in der Elbe Auen (1828), v. a. auf ein städtisches Hamburger Publikum gerichtet. In seinen niederdt. Textsammlungen (Rymels un Dichtels. Een Höög- und Häwel-Book för’n plattdüüdschen Börger un’n Buren. 2 Bde., Hbg. 1822/23. Dat grote Höög- und Häwel-Book. Hbg. 1827. Dat sülwern Book. Hbg. 1846) bedient er sich der Sprache weiter Kreise der städt. Bevölkerung sowie des Hamburger Umlandes. Gemeinsam mit Johann Heinrich Voß, nach dessen Vorbild er die Verserzählung Veerlanden (1819) veröffentlichte, gilt B. als Wegbereiter der neuniederdt. Literatur.

Literatur: Leonhard Neubaur: Zur Gesch. des Elbschwanenordens. In: Altpreuß. Monatsschr. 47 (1910), S. 113–126 u. 161–164. – E. Blühm: Ein Dichterbesuch in Hamburg 1668. In: Ztschr. des Vereins für Hamburg. Gesch. 48 (1962). – Heiduk/ Neumeister, S. 11, 140, 289 f. – Christian v. Zimmermann: Regionale u. soziale Identität in der Frühen Neuzeit: Zur Kasuallyrik v. D. Bärholtz. In: Kulturgesch. Preußens kgl. poln. Anteils in der Frühen Neuzeit. Hg. Sabine Beckmann u. Klaus Garber. Tüb. 2005, S. 827–857. – Flood, Poets Laureate, Bd. 1, S. 123–125. Ferdinand van Ingen

Literatur: Bibliografie: Hans Schröder: Lexikon der hamburg. Schriftsteller bis zur Gegenwart. Bd. 1, Hbg. 1851, S. 118–122. – Goedeke Bd. 9 (1910), S. 397–407. – Weitere Titel: v. L.: G. N. B. In: ADB. – Käthe Scheel: G. N. B. In: NDB. – Karl Theodor Gaedertz: Das niederdt. Schauspiel. Bd. 2, Hbg. 1894, S. 7–42. – Hans Teske: G. N. B. In: Ztschr. des Vereins für Hamburg. Gesch. 38 (1939), S. 183–210. – K. Scheel: Der Wortschatz G. N. B.s (1785–1850). In: Nd. Jb. 71/72 (1948/50), S. 192–230. – Norbert Bachleitner: ›Übersetzungsfabriken‹. Das dt. Übersetzungswesen in der ersten Hälfte des 19. Jh. In: IASL 14 (1989), H. 1, S. 1–49.

Ingrid Schröder Bärmann, Georg Nikolaus, auch: Jürgen Niklaas, * 19.5.1785 Hamburg, † 1.3.1850 Hamburg. – Schriftsteller u. Übersetzer. Bäte, Ludwig, * 22.6.1892 Osnabrück, † 30.4.1977 Osnabrück; Grabstätte: ebd., B. zählt zu den produktivsten Übersetzern in Hegerfriedhof. – Erzähler, Lyriker u. der ersten Hälfte des 19. Jh. Als Autodidakt Verfasser von Schriften zur Heimat-, erlangte er 1820 in Halle den Magistertitel u. Kultur- u. Literaturgeschichte.

wurde dort gleichzeitig promoviert. Seinen Lebensunterhalt erwarb er zunächst als Handels- u. Sprachlehrer (ab 1806). 1810 gründete er eine Privatschule, die er bis 1837 leitete. Danach widmete er sich ganz seiner literar. Tätigkeit. Das Gesamtwerk B.s beläuft sich auf etwa 350 Bände, v. a. Übersetzungen aus dem Englischen (u. a. in Werkausgaben von Bulwer-Lytton, Byron, Scott, Smollett), aus dem Französischen u. aus dem Spanischen (Calderón). Zum seinem Œuvre zählen auch mehrere Lehrbücher für den Sprachunterricht. Sein weiteres literar. Schaffen war mit

B. wuchs als Sohn einer alteingesessenen Osnabrücker Handwerkerfamilie auf u. wurde zunächst Lehrer. Seit 1928 leitete er eine Realschule. Sein humanitäres Engagement trug ihm während des Zweiten Weltkriegs Publikationsverbot ein. Nach 1945 war er Kulturdezernent u. Stadtarchivar in Osnabrück. Die lebenslange Verbundenheit mit seiner Heimatstadt u. ihrer Umgebung spiegelt sich in vielen Werken B.s wider, worauf Titel hinweisen wie z.B. Novellen um Osnabrück (Langensalza 1930), Osnabrücker Theater (2 Bde., Osnabr. 1930 u. 1932), Osnabrück und der

305

Westfälische Friede (Essen 1940), Goethe und die Osnabrücker (Bln. 1970). In seinen Novellen u. Gedichten vermochte sich B. nicht von traditionellen Mustern des 18. u. 19. Jh. zu lösen. Er bevorzugte idyllisch-kleinstädtische Sujets u. griff in seiner Lyrik auf Empfindsamkeit u. Romantik zurück (Sommerfahrten. Lpz. 1916. Feldeinsamkeit. Weimar 1917. Mondschein und Giebeldächer. Osnabr. 1919. Weg durch Wiesen. Warendorf 1926. Verklungene Stunden. Halle 1928). Bedeutender sind B.s literatur- u. kulturgeschichtl. Abhandlungen wie z.B. die Biografien Johann Gottfried Herder (Stgt. 1948) u. Justus Möser (Ffm. 1961). Bes. für diesen Teil seines Werks wurde B. mit der Justus-MöserMedaille der Stadt Osnabrück ausgezeichnet. Zudem war B. als Übersetzer u. Herausgeber von Anthologien u. Werken dt. Dichter tätig, wie z.B. Aus Theodor Storms Lebensgarten (Rothenfelde 1921) u. Johannes Schlaf. Leben und Werke (Querfurt 1932). Weitere Werke: Weisen im Walkranz. Hann. 1915 (L.). – Das ewige Vaterland. Rudolstadt 1922 (E.en). – Im alten Zimmer. Mchn. 1923 (E.). – Verschollenes Schicksal. Wernigerode 1927 (E.). – Tilman Riemenschneider. Wernigerode 1928 (N.). – Der Brand in Berka u. a. Gesch.n um Goethe. Breslau 1932. – Der Friede. Bln. 1934 (R.). – Der trunkene Tod. Goslar 1947 (E.). – Der Friedensreiter. Oldenb. 1948. (E.). – Alles ist Wiederkehr. Warendorf 1952 (E.). – Weimarer Elegie. Bln. 1961 (L.). – Franz Hecker. Osnabr. 1963 (Biogr.). – Der tönende Tag. Alte u. neue Gedichte. Hardebek 1967. Ausgabe: Der Friedensreiter u. andere E.en. Ausgew. u. mit einem Nachw. vers. v. Klaus Walther. Bln./DDR 1971. Heino Freiberg / Red.

Bäuerle, Adolf (Johann), auch: Friedrich zur Linde, Otto Horn, Fels, * 9.4.1786 Wien, † 20.9.1859 Basel. – Journalist, Komödien- u. Romanautor. B., mit Karl Meisl u. Joseph Alois Gleich einer der Erneuerer des Wiener Volkstheaters, entstammte einer aus Württemberg zugewanderten Fabrikantenfamilie. Nach dem Schulbesuch war er für kurze Zeit im österr. Staatsdienst u. leitete dann 1806–1859 die »Wiener Theaterzeitung«, das bis 1848 für die öffentl. Meinungsbildung in Österreich einflussreichste Organ. 1809–1828 war B. Sekretär des Theaters in der Leopoldstadt, das

Bäuerle

er zus. mit Ferdinand Raimund für kurze Zeit in Pacht nahm. Seit 1810 arbeitete er auch als freier Schriftsteller. Nach einer Reihe patriotischer Gelegenheitsdichtungen hatte er mit dem Volksstück Die Bürger in Wien (Urauff. Wien 1813) seinen ersten Erfolg. Mit der Figur des »Parapluienmachers Chrysostomus Staberl« löste B. Hanswurst u. Kasperl des älteren Volksstückes ab. »Staberl« wurde später auch von Raimund u. Nestroy gespielt u. für deren eigene Stücke adaptiert. Er ist keine realist. Widerspiegelung der Kleinbürger aus den Wiener Vorstädten, die den Großteil des Theaterpublikums ausmachten, schließt aber an die konkrete Erfahrungswelt dieses Publikums an, kritisiert u. verklärt sie gleichermaßen. Staberl ist großmäulig u. schmarotzerhaft, lässt aber auch Realitätssinn u. bürgerl. Rechtschaffenheit erkennen. Einsicht in die Notwendigkeit sozialer Bescheidung ist die Grundlage für seine – wie auch seines Publikums – bürgerl. Zufriedenheit. An den ersten Erfolg knüpfte B. mit einer Reihe ähnlicher Stücke an, er produzierte auch Zauber- u. Gelegenheitsstücke sowie Parodien (z.B. auf Kotzebue u. Schiller). B.s Orientierung an Staat u. Kaiserhaus erklärt, warum er seine Erfolge im Vormärz nicht wiederholen konnte; er veröffentlichte in der Folge eine Reihe von Theaterromanen (Ferdinand Raimund. 3 Bde., Wien 1853. Direktor Karl. Wien 1856) u. Kriminalgeschichten (Zahlheim. 5 Tle., Wien 1856), die sich an der von Eugène Sue kreierten Mode der Geheimnisromane orientierten. Kurz vor B.s Tod erschienen seine Memoiren (Wien 1858), eine locker gefügte Sammlung von Anekdoten aus seiner Erfolgszeit als Theaterautor. Weitere Werke: Staberls Hochzeit oder Der Courier. Urauff. Wien 1814. Erstdr. Wien 1920. – Staberls Wiedergenesung. Urauff. u. Druck Wien 1815. – Kom. Theater. 6 Bde., Pest 1820–26. – Aline oder Wien in einem anderen Welttheile. Urauff. u. Erstdr. Wien 1826. – Die Grätzer v. Wien oder: Staberls neueste Possen. Urauff. u. Druck Wien 1826. – Therese Krones. 1854 (R.). – Aus den Geheimnissen eines Wiener Advocaten. Wien 1854 (R.). – Die Dame mit dem Todtenkopfe in Wien. Pest 1855 (R.).

Bäumer

306

Ausgabe: Ausgew. Werke. Hg. Otto Rommel. 2 Bde., Teschen 1909–11. Literatur: Rudolf Fürst: Raimunds Vorgänger. B., Meisl, Gleich. Bln. 1907. – Lieselotte Kretzer: Die ›Wiener Allgemeine Theaterzeitung‹ B.s, 1806–60. Diss. Bln. 1941. – Otto Rommel: Die AltWiener Volkskomödie. Ihre Gesch. vom barocken Welt-Theater bis zum Tode Nestroys. Wien 1952. – Gerhard Magenheim: Nestroy u. B. oder: Die beinahe uneigennützige Dankbarkeit. In: Nestroyana 15 (1995), S. 93–95. – Ders.: Kostverächter war er keiner! A. B. u. die nicht immer holde Weiblichkeit. In: Nestroyana 16 (1996), S. 83–88. – Richard Reutner: Lexikal. Studien zum Dialekt im Wiener Volksstück vor Nestroy. Mit einer Ed. v. B.s ›Die Fremden in Wien‹ (1814). Ffm. u. a. 1998. Joachim Linder / Red.

Bäumer, Gertrud, * 12.9.1873 Hohenlimburg/Westfalen, † 25.3.1954 Bethel bei Bielefeld; Grabstätte: ebd., Neuer Zionsfriedhof. – Politikerin u. Verfasserin von historischen Romanen. Nach dem frühen Tod des Vaters, der Pastor u. später Kreisschulinspektor in Hohenlimburg war, lebte B. während ihrer Schulzeit zunächst in Halle u. dann in Magdeburg. Dort wurde sie Volksschullehrerin, später Oberlehrerin u. unterrichtete die Fächer Religion, Geschichte u. Deutsch. 1898 begann sie ein Studium der Germanistik, Philosophie, Sozialwissenschaften, Sozialökonomie u. Theologie, das sie mit einer Dissertation zu dem Thema Goethes Satyros. Eine Studie zur Entwicklungsgeschichte (Bln. 1904) abschloss. Bereits während des Studiums nahm B. Verbindung zu Helene Lange, einer der führenden Persönlichkeiten der Frauenbewegung, auf. Für deren Ziele setzte sie sich von 1910 bis zum Ersten Weltkrieg als Vorsitzende des Bundes Deutscher Frauenvereine ein. Zus. mit Helene Lange gab sie ein fünfbändiges Handbuch der Frauenbewegung heraus (Bln. 1901–06. Weinheim 1980) u. arbeitete an den Zeitungen »Die Frau« u. »Die Hilfe« mit. Nach Kriegsende trat B. der liberalen Deutschen Demokratischen Partei (DDP) bei. Vorsitzender war 1919 ihr Freund Friedrich Naumann. In den folgenden Jahren war B. stellvertretende Vorsitzende. Als 1919 die

staatsbürgerl. Gleichberechtigung der Frau erreicht war, wurde B. Abgeordnete der DDP in der Nationalversammlung u. im Reichstag. Man berief sie auch in die kulturpolit. Abteilung des Reichsministeriums u. beauftragte sie mit der Leitung der Referate Jugendwohlfahrt u. Schulwesen. Die Probleme der Wohlfahrtspflege waren ihr seit Beginn ihrer Berufstätigkeit vertraut. Sie setzte nicht nur auf organisatorische Maßnahmen, sondern auch auf pädagog. Mittel. Nachdem B. 1933 von den Nationalsozialisten aller Ämter enthoben worden war, widmete sie sich ganz ihren publizist. Arbeiten u. schrieb histor. Romane, die sehr populär wurden. In ihren Vorträgen u. Veröffentlichungen äußerte sie sich im Sinne ihrer christl. Überzeugung zu Frauenfragen, zu sozialen u. kulturpolit. Themen. Während des Zweiten Weltkriegs lebte sie in Berlin u. in Schlesien. Von dort musste sie im Winter 1945 flüchten, fand erste Unterkunft in Bamberg u. verbrachte ihre letzten Lebensjahre 1948–1954 mit ihrer Schwester in Bad Godesberg. B. lehnte Agitation, Terror, Rassenkult u. Antisemitismus ab, befürwortete aber, ihrem Nationalgefühl entsprechend, die nationalstaatl. Züge der dt. Politik. Es gelang ihr, während der Hitler-Diktatur den geringen Freiraum zur Meinungsäußerung in der Zeitung »Die Frau«, in ihren Vorträgen u. in ihren Romanen soweit als möglich zu nutzen. In ihren histor. Romanen hielt sie sich eng an die überlieferten Fakten u. wollte die großen Gestalten der Geschichte wieder lebendig erscheinen lassen, z.B. in Wolfram von Eschenbach (Stgt. 1938) u. Die Macht der Liebe. Der Weg des Dante Alighieri (Mchn. 1941). Den interessantesten Stoff für ihre Romane glaubte sie in der Kultur u. den großen Persönlichkeiten des MA zu finden. Deren Glaubenshaltung u. religiöse Lebensordnung waren für sie ein Vorbild der erwünschten nat. Gemeinschaft, die nicht mit der in der Nazi-Zeit offiziell erzwungenen Uniformität gleichgesetzt werden darf. Weitere Werke: Von der Kinderseele. Beiträge zur Kinderpsychologie aus Dichtung u. Biogr. Lpz. 1908. – Die soziale Idee in den Weltanschauungen des 19. Jh. Die Grundzüge der modernen Sozialphilosophie. Heilbr. 1910. – Die Frauengestalt der

Baggesen

307 dt. Frühe. Bln. 1928. – ›Ich kreise um Gott‹. Der Beter Rainer Maria Rilke. Bln. 1935. – Der Park. Gesch. eines Sommers. Bln. 1937 (E.). – Der Berg des Königs. Das Epos des langobard. Volkes. Mchn. 1938. – Gestalt u. Wandel. Frauenbildnisse. Bln. 1939. – Der Jüngling im Sternenmantel. Größe u. Tragik Ottos II. Mchn. 1947 (histor. R.). – Die Reichsidee bei den Ottonen. Heinrich I. u. Otto der Große. Otto III. u. Heinrich II. Nürnb. 1947. – Das geistige Bild Goethes im Licht seiner Werke. Mchn. 1950. – Im Licht der Erinnerung. Tüb. 1953 (Autobiogr.).

zum Syndikalismus tendiert u. in der ersten »anarchistischen« Münchener Räterepublik mitgewirkt, jedoch gab er sein polit. Engagement auf, als er eine Verwirklichung der Diktatur des Proletariats in Deutschland nicht mehr für möglich hielt. Seit 1924 lebte er – erfolglos – als freier Schriftsteller in Berlin.

Literatur: Hilde Lion u. a. (Hg.): Dritte Generation. Für G. B. Bln. 1923. – Vom Gestern zum Morgen. Eine Gabe für G. B. Bln. 1933. – Werner Huber: G. B. Eine polit. Biogr. Diss. Mchn. 1970. – Heidi Beutin: Ein MA für die Frauenbewegung? G. B.s Ottonenzeit-Romane ›Adelheid, Mutter der Königreiche‹ u. ›Der Jüngling im Sternenmantel‹. In: Dies.: Als eine Frau lesen lernte, trat die Frauenfrage in die Welt. Hbg. 1990, S. 54–64. – Helmut Göbel: ›Ach Gott, das ist alles jetzt ein wenig unzeitgemäß...‹: G. B.s historisch-polit. E.en zwischen 1933 u. 1945. In: Geschichte(n)-erzählen. Konstruktionen v. Vergangenheit in literar. Werken deutschsprachiger Autorinnen seit dem 18. Jh. Hg. Marianne Henn u. a. Gött. 2005, S. 68–89.

Literatur: Lothar Peter: Literar. Intelligenz u. Klassenkampf. ›Die Aktion‹ 1911–32. Köln 1972, bes. S. 109–115. – Karin Kuckuk: L. B.: Künstler, Kommunist, Konformist. Eine biogr. Skizze. In: Arbeiterbewegung u. Sozialgesch. Ztschr. für die Regionalgesch. Bremens im 19. u. 20. Jh. 13/14 (2004), S. 57–63. Reinhard Tenberg / Red.

Barbara Handwerker Küchenhoff / Red.

Bäumer, Ludwig, * 1.9.1888 Melle, † 29.8. 1928 Berlin. – Lyriker. Nach dem Abbruch des Jura-Studiums in Göttingen zog B. 1912 nach Worpswede, wo er Freundschaft mit dem Maler Heinrich Vogeler u. seiner Frau Martha schloss. Den Lyrikband Das jüngste Gericht (Bln. 1918) schrieb B., der seit 1913 in Franz Pfemferts Zeitschrift »Die Aktion« Gedichte veröffentlichte, noch unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs. Am 10.1.1919 wurde B. als Vertreter der KPD in den Bremer Rat der Volksbeauftragten gewählt. Zwei Monate vorher hatte er mit Albert Ehrenstein, Carl Zuckmayer u. a. den Aufruf der »Antinationalen Sozialistischen Partei« unterzeichnet, einer Intellektuellengruppe, die in der »Aktion« den Beginn der Revolution propagierte. In seinen späteren Gedichten übte B. Kritik an den polit. Zuständen in Deutschland nach der November-Revolution; seine antimilitarist. Grundhaltung äußert sich in seinen expressionist. Versen. B. hatte um 1918/19 noch

Weitere Werke: Das Wesen des Kommunismus. In: Die Silbergäule. Eine radikale Bücherreihe. Hann. 1919.

Baggesen, Jens (Immanuel), * 15.2.1764 Korsør/Seeland, † 3.10.1826 HamburgAltona; Grabstätte: Kiel. – Dichter u. Literaturkritiker. Aus bescheidenen, pietistisch gefärbten Verhältnissen stammend, gelang es B., aus der provinziellen Enge seiner Heimat auszubrechen u. sich einen Namen nicht nur als literar. Autorität seines Vaterlandes zu machen, sondern zgl. durch enge Verbindung zum dt. Literatur- u. Geistesleben Ansehen u. Einfluss in Deutschland zu gewinnen. Die Stationen seines Lebens zeigen ihn als einen ebenso ruhelosen wie kosmopolit. Geist, der mit anderen Zeitgenossen des dän. Gesamtstaats das Schicksal des Zwischen-den-Kulturen-Stehenden teilte u. daher in einer Zeit wachsenden Nationalbewusstseins zahlreichen Anfeindungen ausgesetzt war. Von der Lateinschule im seeländ. Slagelse (1777) zum Studium nach Kopenhagen gelangt (1782), schrieb er sich – statt dem geplanten Theologie-Studium intensiv nachzugehen – mit seinen Comiske Fortællinger/Komischen Erzählungen (1785. Dt. Kopenhagen/Lpz. 1792) in die dän. Literaturgeschichte ein. Mit Lyrik u. Versepik im spielerisch-frivolen u. empfindsamen Ton Wielands u. des norwegisch-dän. Dichters Johan Herman Wessel sicherte sich B. seine literar. Position in Dänemark, ehe er unter dem Einfluss des Hol-

Baggesen

steinischen Adels (der Reventlows, Stolbergs, Schimmelmanns u. a.) auf Deutsch zu dichten begann (Alpenlied. 1789) u. in einem unsteten Wanderleben zwischen den Kulturen seinen eigenen Weg zu finden suchte. Eine ihm 1811 verliehene Professur für dän. Sprache u. Literatur in Kiel versah B. nur sporadisch. Reisen führten ihn durch Deutschland in die Schweiz, wo er sich mit Albrecht von Hallers Enkelin Sophie vermählte, über das Frankreich der mit Begeisterung begrüßten Revolution in den Weimarer u. Jenaer Kreis von Wieland, Karl Leonhard Reinhold u. Schiller. Hier begründete B. seine intimen Kenntnisse der dt. Literatur (von Wieland, Klopstock u. dem Göttinger Hain bis zu Schiller, dem er 1791 ein Stipendium der Augustenburger u. Schimmelmanns vermittelte) wie auch seine enge Orientierung an dt. Philosophie (zunächst an Kant, nach dem er sich 1791 den Beinamen »Immanuel« zulegte, später in krit. Abkehr an Friedrich Heinrich Jacobi; vgl. Aus dem Briefwechsel mit Karl Leonhard Reinhold und Friedrich Heinrich Jacobi. 2 Bde., Lpz. 1831). Literar. Resultat war sein heute wohl bekanntestes Werk, die Reisebeschreibung Labyrinthen eller Reise giennem Tydskland, Schweitz og Frankerig (1792/93) (dt. Baggesen oder Das Labyrinth. 3 Bde., Altona/Lpz. 1793–95. Neuausg. Mchn. 1986). Scharfe Beobachtungsgabe bei der Begegnung mit den Großen der Zeit (Voß, Klopstock, Gerstenberg, Friedrich Leopold von Stolberg, Forster u. a.), liberalrepublikan. Geist u. soziales Engagement machen das Werk zum Kulturspiegel einer Umbruchszeit; sein literar. Ton schwankt zwischen enthusiast. Naturhuldigung in der Nachfolge Rousseaus u. witzig-iron. Distanz in Sterne’scher Manier u. spiegelt die konkurrierenden literar. Strömungen wider. Aufklärung u. Empfindsamkeit durchkreuzen sich bei B. auf eine Weise, die ihn jeder Epochenzuordnung entzieht (im Alter nähert er sich dem christlich geprägten Biedermeier). Literarische Spiellust u. krit. Nachdenklichkeit verweisen zuallererst auf das gesteigerte Selbstwertgefühl des Intellektuellen der Jahrhundertwende mit ihren literar. u. sozialen Umschichtungen.

308

Selbstbewusste Subjektivität u. Behauptungswille manövrierten B. – in Dänemark wie in Deutschland – zwischen alle literar. Fronten u. verwickelten ihn in zahlreiche Fehden, die seinen Ruhm trübten. Gegen Goethe, der ihn ein »fratzenhaftes Talent« nannte (während Schiller in dankbarer Anerkennung in ihm v. a. den »frischen, feurigen Genius« sah), wandte er sich mit der Satire Der vollendete Faust oder Romanien in Jauer (zuerst postum Lpz. 1836. Neudr. Bern 1985). Voller Spott mischte er sich auf der Seite Voß’ mit Der Karfunkel oder Klingklingel-Almanach. Ein Taschenbuch für vollendete Romantiker und angehende Mystiker (Tüb. 1810. Neudr. Bern 1978) in den Heidelberger Romantikerstreit ein, wofür er in Achim von Arnims Gräfin Dolores (1810) als »Dichter Waller« zur Karikatur wurde. Zgl. allerdings traf er mit seinem dt. Hexameterepos Parthenais oder Die Alpenreise (Hbg./Mainz 1804) in der idyllisierenden Verbindung von bürgerl. Ton u. antiker Heldengedichtform den Geist der Zeit. Zwischen zahlreichen Gattungen wechselnd, politisch eher von Spontanreaktionen gesteuert, im ästhet. Urteil zwischen frz. Klassizismus u. dt. Romantik unentschieden u. philosophisch zwischen Kritizismus u. Theosophie schwankend, entfaltet B.s Spätwerk eine Fülle von poetischen u. philosoph. Ansätzen, aus denen aus dt. Sicht v. a. das Gedicht Adam und Eva, oder die Geschichte des Sündenfalls. Ein humoristisches Epos in zwölf Büchern (Lpz. 1826) herausragt, das in lebhafter Veranschaulichung des bibl. Sujets tiefnachdenkl. Zweifel mit burleskem Humor verknüpft. Es ist der Abschluss eines dän.-dt. Lebenswerks, das sich voll Enthusiasmus den Strömungen der Zeit öffnete u. in diese von einem Standort her einzugreifen suchte, der nat. Enge durch ein weltlit. Programm zu überwinden verstand. Ausgaben: Danske Værker. Hg. Carl Baggesen u. a. 12 Bde., Kopenhagen 1827–32. – Poetiske Skrifter. Hg. A. Arlaud. 5 Bde., Kopenhagen 1889–1903. – Poet. Werke in dt. Sprache. Hg. C. u. August Baggesen. 5 Bde., Lpz. 1836. – Fragmente v. J. B. Aus dem literar. Nachlasse des Verfassers. Hg. A. Baggesen. Kopenhagen/Lpz. 1855. – Philosoph. Nachl. Hg. C. Baggesen. 2 Bde., Zürich 1858–63. – Briefe: Schiller u. der Hzg. v. Augustenburg in

309 Briefen. Hg. Hans Schulz. Lpz. 1905 (darin Briefw. Schiller-B.). – Timoleon u. Immanuel. Briefw. zwischen Friedrich Christian zu Schleswig-Holstein-Augustenburg u. J. B. Hg. H. Schulz. Lpz. 1910. Literatur: Knud Frederik Plesner: B.-Bibliogr. Kopenhagen 1943. – Carl Friedrich Cramer: B. Kiel 1789. – August Baggesen: J. B.s Biogr. Udarbejdet fornemmeligen efter hans egne Haandskrifter og efterladte litteraire Arbejder. 4 Bde., Kopenhagen 1843–56. – Julius Clausen: J. B. En Litterær-psychologisk studie. Kopenhagen 1895. – Otto Ernst Hesse: J. B. u. die dt. Philosophie. Diss. Lpz. 1914. – Romuald Kratochwill: J. B.s ›Vollendeter Faust‹. Diss. Wien 1930. – Aage Henriksen: Den Rejsende. Otte kapitler om B. og hans tid. Kopenhagen 1961. – Leif Ludwig Albertsen: B. zwischen Vorromantik u. Biedermeier. In: ZfdPh 84 (1965), S. 563–580. – Ders.: Odins mjød. En studie i B.s mytiske poetik. Aarhus 1969. – Horst Nägele: Der dt. Idealismus in der existentiellen Kategorie des Humors. Eine Studie zu J. B.s ›Adam u. Eva‹. Neumünster 1971. – Otto Oberholzer: Streifzug in B.s poet. Werken in dt. Sprache. In: Leonie Marx u. Herbert Knust: Grenzerfahrung – Grenzüberschreitung. Studien zu den Lit.en Skandinaviens u. Dtschld.s. Heidelb. 1989, S. 78–87. – Klaus Bohnen u. Sven-Aage Jørgensen: Der dän. Gesamtstaat. Kopenhagen-KielAltona. Tüb. 1992. – Karin Hoff: Die Entdeckung der Zwischenräume. Lit. Projekte der Spätaufklärung zwischen Skandinavien u. Dtschld. Gött. 2003. Klaus Bohnen

Bahr, Hermann, * 19.7.1863 Linz/Donau, † 15.1.1934 München; Grabstätte: Salzburg, Kommunalfriedhof. – Essayist, Kritiker, Dramatiker u. Romancier. B. ist als Zentrumsfigur des »Jungen Wien«, der Autorengruppe um Arthur Schnitzler, Hugo von Hofmannsthal, Richard Beer-Hofmann u. Felix Salten, in die Literaturgeschichte eingegangen. Bekannt wurde er v. a. durch seine vielfältigen Tätigkeiten als Feuilletonist, Autor u. kultureller Organisator um 1900 in Berlin u. schließlich in Wien. Bekannt gemacht haben ihn aber auch die zahlreichen Polemiken, die Karl Kraus in seiner Zeitschrift »Die Fackel« lancierte, sowie die literar. Kritik. Beispielsweise nannte ihn der einflussreiche Berliner Kritiker Maximilian Harden den »Mann von übermorgen«. B. klinkte sich bes. mit seinen zahlrei-

Bahr

chen Essays in die kurrenten ästhet. Debatten ein, die in den verschiedenen literar. Feldern geführt wurden. Sein Ruf als streitbarer Kritiker verlor sich nach dem Ersten Weltkrieg. Bis zu seinem Tod zwar von außerordentlicher Schaffenskraft, sind viele seiner Texte heute fast vergessen. Eine Gesamtausgabe fehlt, wohl weil sich das Interesse bisher zumeist auf jene wirkungsmächtige Zeit um 1900 fokussierte. Die Entwicklung zum einflussreichen Literaturkritiker vollzog sich auf Umwegen, nachdem Bahr erfolglos versucht hatte, ein Studium bzw. eine Dissertation abzuschließen. Zunächst hatte er ab 1881 in Wien u. Czernowitz Klassische Philologie u. Rechtswissenschaften studiert, schließlich in Berlin ab 1884 Nationalökonomie bei Adolf Wagner. Vorübergehend Sympathisant des Deutschnationalen Victor Schönerer, entwickelte er sodann ein ausgeprägtes Interesse für den Sozialismus, das u. a. die kleine Schrift Die Einsichtslosigkeit des Herrn Schäffle (Zürich 1886. Mikrofiche-Ausg. Wildberg 1992) u. sein erstes Drama Die neuen Menschen (Zürich 1887. Urauff. Bln. 1891) belegen. Seine Dissertation bei Wagner konnte Bahr nicht abschließen u. orientierte sich neu. In den Jahren 1888 bis 1890 verbrachte B. längere Zeit in Paris. Diesen Aufenthalt stilisierte er später in seiner Autobiografie Selbstbildnis (Bln. 1923) zu einem Initialereignis. In Paris gewann er im Kontakt mit der frz. Literatur u. Kultur Impulse für seine ästhet. Positionen. Allerdings beweisen seine in der Folgezeit entstandenen Essaybände keine rein affirmative Akzeptanz der modernen frz. Ästhetik, wie sie von Autoren wie Huysmans, Bourget, Barrès, de L’Isle-Adam oder Mendès ausgeprägt wurde, sondern eine durchaus krit. Auseinandersetzung. Die Essaysammlungen Zur Kritik der Moderne (Zürich 1890. Neudr. Weimar 2004), Die Überwindung des Naturalismus (Dresden/Lpz. 1891. Neudr. Weimar 2004) u. Studien zur Kritik der Moderne (Ffm. 1894. Neudr. Weimar 2005) sind keine eindeutigen programmat. Schriften, sondern fragen nach einer Ästhetik, welche der modernen Lebenswelt gerecht wird. Dabei stellt die frz. Literatur u. Kultur eine wichtige Konstante dar, an der B. sich abarbeitet. In

Bahr

der Folge Flauberts u. Bourgets fordert B. beispielsweise eine Kunst, der es nicht, wie im Naturalismus vorgegeben, darum gehe, empir. Wirklichkeit, die »Sachenstände« oder »états de choses«, abzubilden, sondern die Zustände der Seele, »Seelenstände« oder »états d’âmes«, aufzuzeichnen. Sein erster Roman Die gute Schule. Seelenstände (Bln. 1890. 2 1898) folgt dieser Prämisse. Er schildert in erlebter Rede die Stimmungen u. erot. Ausschweifungen eines in Paris lebenden Künstlers u. gilt deshalb als innovativ, weil er es sich nicht, wie der traditionelle dt. Bildungsroman, zur Aufgabe macht, eine Entwicklung des Protagonisten darzustellen. Im Frühjahr 1890 ging B. nach Berlin, um dort gemeinsam mit Otto Brahm, dem damaligen Direktor des Theatervereins Freie Bühne, als Redakteur an der Zeitschrift »Freie Bühne für modernes Leben« zu arbeiten. Die programmatischen Dissenzen waren allerdings so groß, dass die Kooperation bereits im Juli desselben Jahres zerbrach. Als im Jan. 1891 zudem B.s Stück Die neuen Menschen auf der Deutschen Bühne durchfiel, verließ B. Berlin u. ließ sich in Wien nieder, übernahm die Redaktion des Feuilletons der »Zeit«, verfasste zahlreiche Theaterkritiken u. war umtriebiger Organisator des kulturellen Lebens, u. a. engagierte er sich in der Wiener Sezession (Rede über Klimt. Wien 1901). Seinen Unmut über die Sozial- u. Kulturpolitik seiner Stadt äußerte er in einer 1907 verfassten Streitschrift Wien (Wien 2004), deren Erscheinen von der damaligen Zensur verboten wurde. Der Essayband Buch der Jugend (Wien 1908) oder der unter den Eindrücken der Griechenlandreisen entstandene Dialog vom Marsyas (Bln. 1905) sind kulturgeschichtlich interessante Dokumente, die nun zwischen Tradition u. Moderne zu vermitteln suchen. Eine moralist. Stoßrichtung verfolgen schließlich die Novellen Stimmen des Bluts (Bln. 1909) u. der Roman O Mensch! (Bln. 1910. Wien 1946). 1909 heiratete B. die Sopranistin Anna von Mildenburg. 1912 zog er sich nach Salzburg zurück, arbeitete gemeinsam mit Max Reinhardt am Projekt der Salzburger Festspiele u. organisierte die Engagements seiner Frau. Mit ihr lebte er seit 1922 in München, wo sie ab 1920 als Profes-

310

sorin an der Bayrischen Staatsakademie Opernregie lehrte. B.s ausgeprägtes Interesse am Theater schlug sich auch darin nieder, dass er zeitlebens Konversationsstücke u. Komödien verfasste, wie Das Tschapperl (Bln. 1898), Das Konzert (Bln. 1909. Neudr. Stgt. 1975) oder Ehelei (Bln. 1920). Sie sind teilweise an der Tradition des Wiener Volkstheaters ausgerichtet, wie es im 19. Jh. von Nestroy u. Raimund gepflegt wurde. B.s zahlreiche Theaterstücke finden verglichen mit seiner Essayistik heute kaum noch Aufmerksamkeit. Auch die späten Romane, wie Himmelfahrt (Bln. 1916. Wien 1946) oder Österreich in Ewigkeit (Hildesh. 1929), die nationalkonservatives u. christlich-kath. Ideengut in teils pathetischem Duktus vertreten, sind nie zu kanon. Lektüren geworden. Obgleich ein großer Teil von B.s in engerem Sinne literarischem Werk heute wenig Beachtung findet, sind seine Impulse für eine neue Ästhetik der modernen Literatur bes. um 1900 nicht zu unterschätzen. Weitere Werke: Die große Sünde. Zürich 1888 (D.). – Fin de siècle. Bln. 1890 (N.n). – Die Mutter. Bln. 1891 (D.). – Russ. Reise. Dresden 1891. – Der neue Stil. Ffm. 1893 (Ess.). – Der Antisemitismus. Ein internat. Interview. Bln. 1894. Neudr. Weimar 2005. – Renaissance. Neue Studien ›Zur Kritik der Moderne‹. Bln. 1897. – Theater. Bln. 1897 (R.). – Der Star. Bln. 1899 (D.). – Wiener Theater (1892–98). Bln. 1899 (Rez.en). – Der Franzl. Bln. 1900 (D.). – Secession. Wien 1900 (Ess.s). – Premieren. Mchn. 1902 (Rez.en). – Rezensionen. Wiener Theater 1901–03. Bln. 1903. – Dialog vom Marsyas. Bln. 1905 (Ess.). – Josef Kainz. Wien 1906. Neudr. 1984 (Ess.). – Glossen zum Wiener Theater (1903–06). Bln. 1907. – Tgb. (1905–08). Bln. 1909. – Dalmatin. Reise. Bln. 1909. – Wienerinnen. Bonn 1910 (D.). – Austriaca. Bln. 1911 (Ess.s). – Inventur. Bln. 1912 (Ess.s). – Essays. Lpz. 1912. – Erinnerungen an [Max] Burckhard. Bln. 1913. – Expressionismus. Mchn. 1916 (Ess.). – Rudigier. Kempten 1916. Neudr. Linz 1984 (Ess.). – Tgb. (1916–17). Innsbr. 1918. – Die Rotte Korahs. Bln. 1919. Neudr. Wien 1948 (R.). – Adalbert Stifter. Wien 1919 (Ess.). – 1919. Lpz. 1920 (Tgb.). – Burgtheater. Wien 1920 (Rez.en). – Der Unmensch. Bln. 1920 (D.). – Kritik der Gegenwart. Augsb. 1922 (Tgb.). – Schauspielkunst. Lpz. 1923 (Ess.). – Liebe der Lebenden. 3 Bde., Hildesh. 1924 (Tgb.). – Der Zauberstab. Hildesh. 1926 (Tgb.). – Mensch, werde wesentlich.

311 Ausw. v. Anna Bahr-Mildenburg. Graz 1934. – Meister u. Meisterbriefe um B. Wien 1947. – Kulturprofil der Jahrhundertwende. Essays v. B. Wien 1962. – Theater der Jahrhundertwende. Kritiken v. B. Wien 1963. – Zur Überwindung des Naturalismus. Theoret. Schr.en 1887–1904. Stgt. 1968. – B. Briefw. mit seinem Vater. Wien 1971. – Dichter u. Gelehrter. B. u. Josef Redlich in ihren Briefen 1896–1934. Salzb. 1980. – B. Prophet der Moderne. Tagebücher 1888–1904. Wien 1987. – Tagebücher, Skizzenbücher, Notizhefte [1885–1908]. Hg. Moritz Csáky. Bd. 1–5, Wien u. a. 1994–2003. Literatur: Heinz Kindermann: B. Ein Leben für das europ. Theater. Wien 1954 (mit Bibliogr. v. Kurt Thomasberger). – Hermann Nimmervoll: Materialen zu einer Bibliogr. der Zeitschriftenartikel v. H. B. (1881–1910). In: MAL 13, Nr. 2 (1980), S. 27–110. – Donald G. Daviau: Der Mann v. übermorgen. Wien 1984. – Margret Dietrich (Hg.): H.-B.-Symposion. ›Der Herr aus Linz‹. Linz 1987. – Johann Lachinger (Hg.): H. B. – Mittler der europ. Moderne. H. B.-Symposion. Linz 1998. – Peter Sprengel u. Gregor Streim: Berliner u. Wiener Moderne. Vermittlungen u. Abgrenzungen in Lit., Theater, Publizistik. Mit einem Beitr. v. Barbara Noth. Wien/Köln/Weimar 1998, S. 45–114. – Barbara Beßlich: H. B.s Roman ›Die gute Schule‹ u. Goethes ›Werther‹. In: Sprachkunst Jg. 33 (2002), 1. Halbbd., S. 23–40. – Jeanne Benay u. Alfred Pfabigan (Hg.): H. B. – Für eine andere Moderne. Anhang: H. B., ›Lenke‹ (1909). Korrespondenz v. Peter Altenberg an H. B. (1895–1913) (Erstveröffentlichung). Bern 2004. Stefanie Arend

Bahrdt, Carl Friedrich, auch: M. Avenarius, Kasimir Laugl, Nicolai der Jüngere u. a., * 25.8.1740 Bischofswerda/Oberlausitz, † 23.4.1792 Nietleben bei Halle/Saale. – Theologe, Pädagoge u. Schriftsteller der Aufklärung. B.s Vater war Diakon in Bischofswerda, später Superintendent u. Theologieprofessor in Leipzig, seine Mutter die Tochter eines Predigers. Vom Vater zum Studium der Theologie bestimmt, erhielt B. zunächst Privatunterricht, besuchte dann ein Jahr lang die Leipziger Nikolai-Schule u. ging 1751 an die Fürstenschule von Schulpforta, die er 1753 wieder verließ. Er bezog 1757 die Universität Leipzig, legte 1761 die Magisterprüfung der Theolog. Fakultät ab u. wurde 1766 dort a. o. Professor der geistl. Philologie. Neben zahl-

Bahrdt

reichen gedruckten Predigten veröffentlichte B. in dieser Zeit v. a. philolog. Schriften. Wegen einer Vaterschaftsklage verließ er 1768 Leipzig. Er bekam 1769 eine Professur an der Universität Erfurt, wo aus Predigten u. Vorlesungen systematisch-theolog. Werke entstanden, die erste Einflüsse des Rationalismus u. des aufklärer. Toleranzdenkens zeigen. Weil B. damit nicht nur seine Lehrbefugnis als Professor für bibl. Altertümer, sondern auch die Grenzen der Orthodoxie überschritt, zog er sich den Zorn einflussreicher Kollegen zu. 1771 erhielt er auf den Vorschlag Johann Salomo Semlers einen Ruf an die Universität Gießen. Trotz seiner großen Beliebtheit bei den Studenten wurde B. wegen seiner zunehmend rationalist. Schriften u. Lehren bald mit Lehrverbot belegt. Er reagierte mit einer bewusst popularisierenden u. entmystifizierenden Neuübersetzung des NT (Die Neuesten Offenbarungen Gottes in Briefen und Erzählungen. 4 Bde., Riga 1773/74), die ein wichtiges Dokument aufklärerischrationalistischer Theologie darstellt. Die Mitarbeit an den »Frankfurter gelehrten Anzeigen«, die er sogar kurzzeitig herausgab (1773/74), trug ihm die Bekanntschaft mit den jungen Stürmern u. Drängern ein. Auf Vermittlung von Basedow ernannte ihn Karl Ulysses von Salis 1775 zum Leiter des mäßig florierenden Philanthropins in Marschlins/Graubünden. Misserfolge des Instituts, das bald darauf trotz der Bemühungen Lavaters schließen musste, u. Differenzen mit von Salis brachten B. dazu, 1776 dem Ruf des Grafen von Leiningen-Dagsburg zu folgen u. eine Stelle als Superintendent in Dürkheim/Haardt anzunehmen; 1777 gründete er das Heidesheimer Philanthropin, das jedoch durch unqualifiziertes Lehrpersonal u. finanzielle Fehlkalkulationen in Schwierigkeiten geriet. Nach Reisen in die Niederlande u. nach England floh B. 1779 vor einem kaiserlichhofrätl. Publikations- u. Redeverbot (in Religionsfragen) nach Halle. Anstatt, wie ebenfalls vom Hofrat gefordert, ein orthodoxes Glaubensbekenntnis abzulegen, veröffentlichte er dort sein eigenes freidenkerisches Glaubensbekenntnis (1779. Neudr. in: Bibl. der dt. Aufklärer d. 18. Jh. Hg. Martin v. Geismar [=

Bahrdt

Edgar Bauer], 1846/1963, H. 1, S. 26–34). Als unbezahlter Privatdozent hielt er, erneut mit enormem Publikumserfolg, Vorlesungen zur Philosophie u. Rhetorik, an denen, ungewöhnlich für die Zeit, auch Frauen teilnahmen. In dichter Folge erschienen zudem theolog. Werke, u. a. der Kirchen- und Ketzeralmanach aufs Jahr 1781 (Züllichau 1781), die Apologie der Vernunft (Züllichau 1781) u. die Briefe über die Bibel im Volkston (2 Bde., Halle 1782/83), die als »der erste Leben-Jesu-Roman« (Kuhn) angesehen werden können. Zur Sicherung seines Lebensunterhalts eröffnete B. ein Wirtshaus vor den Toren der Stadt u. gründete die Deutsche Union, einen freimaurer. Bund. Als er nach dem Tod Friedrichs II. das satir. Lustspiel Das Religions-Edikt (Thenakel, recte Gera 1789. Neudr. Heidelb. 1985), gerichtet gegen den preuß. Minister Wöllner, veröffentlichte, trug ihm dies ein Jahr Festungshaft in Magdeburg ein. Im Gefängnis schrieb er die Geschichte seines Lebens, seiner Meinungen u. Schicksale (4 Tle., Bln. 1790/ 91. Neudr. Stgt.-Bad Cannstatt 1983 ff.). Nach der Entlassung formulierte B. aufs Neue seine Anschauungen über aufgeklärte Politik u. natürl. Religion, u. a. in Form von satirischen, auch autobiografisch verschlüsselten Romanen, u. a. Ala Lama oder der König unter den Schäfern (2 Bde., Ffm./Lpz. 1790) u. Leben und Thaten des weiland hochwürdigen Pastor Rindvigius (2 Bde., Ochsenhausen, recte Libau 1790). Seine letzten Schriften, die von den Ideen der Französischen Revolution beeinflusst sind, z.B. das System der moralischen Religion, Dritter Teil (Riga 1792), rücken ihn in die Nähe des Jakobinismus. Mit einem Œuvre von etwa 130 (teilweise sehr kurzen) Einzelpublikationen, das neben den genannten Schriften noch zahlreiche Editionen, Übersetzungen, philosoph. u. philolog. Schriften sowie Gedichte umfasst, galt B. zum Zeitpunkt seines Todes als »der produktivste und ideenreichste deutsche Autor vor 1800« (G. Mühlpfordt). Zu Lebzeiten stand er im Brennpunkt theologischer Auseinandersetzungen, stand mit bedeutenden Zeitgenossen wie Basedow, Gerstenberg u. Wieland in Kontakt oder suchte ihn, wie in einem Brief an George Washington (1783). Lessing nahm B.s Übersetzung des Neuen

312

Testaments gegen Johann Melchior Goeze in Schutz; Goethe wandte sich im Prolog zu den neusten Offenbarungen Gottes, verdeutscht durch Dr. Carl Friedrich Bahrdt (1774) satirisch gegen B.s rationalist. Auffassung des Bibeltextes. Wenige Autoren des 18. Jh. haben über die geläufige Publikationsform der Rezension hinaus eine solche Zahl von krit. Reaktionen, Widerlegungen, satirischen u. parodist. Gegenentwürfen hervorgerufen wie B. Im Gegensatz zur älteren Forschung, die ihn immer wieder als »enfant terrible« der Aufklärung titulierte u. seinen zwiespältigen Charakter u. unmoral. Lebenswandel hervorhob, ist man heute geneigt, seinem in den schwierigsten Situationen bewiesenen Mut Respekt zu zollen. B.s Bibelübersetzung, seine Beiträge zur Leben-Jesu-Forschung, seine Kritik der orthodoxen Erbsündelehre u. Christologie sind in der Theologie des 20. Jh. noch präsent. Seine polit. Schriften u. Aktivitäten weisen ihn als Kämpfer für die bürgerl. Emanzipation aus. Für die Pädagogik hat er einen festen Platz in der Geschichte des Philanthropismus. Seine poet. Werke stoßen in der Literaturgeschichtsschreibung auf zunehmendes Interesse. Weitere Werke: Briefe über die systemat. Theologie zur Beförderung der Toleranz. 2 Bde., Erfurt 1770/71 – Philanthropinischer Erziehungsplan. Ffm. 1776. – Hdb. der Moral für den Bürgerstand. Halle 1789. Neudr. Ffm. 1972. – Gesch. u. Tgb. meines Gefängnisses, nebst geheimen Urkunden u. Aufschlüssen über Dt. Union. Bln. 1790. Literatur: Maria R. Bassewitz: Die polem. Romane C. F. B.s. Diss. Würzb. 1923. – Baldur Schyra: C. F. B. Diss. Lpz. 1962. – Sten G. Flygt: The notorious Dr. B. Nashville 1963. – Günter Mühlpfordt: Radikale Aufklärung u. nat. Leserorganisation. Die Dt. Union v. K. F. B. In: Lesegesellsch.en u. bürgerl. Emanzipation. Hg. Otto Dann. Mchn. 1981, S. 103–122. – Otto Jacob u. Ingrid Majewski: K. F. B. Bibliogr. Halle/S. 1992. – Gerhard Sauder u. Christoph Weiß (Hg.): C. F. B. (1740–92). St. Ingbert 1992. – G. Mühlpfordt: 1740, nicht 1741. Zu B.s Geburtsjahr. Ebd., S. 291–305. – Wolfgang Biesterfeld: Theologe, Pädagoge, Literat. C. F. B. (1740–92) als Dramatiker. In: Ders.: Aufklärung u. Utopie. Hbg. 1993, S. 59–71. – Thomas Hoeren: Präjakobiner in D. C. F. B. In: ZRGG 47 (1995), S. 55–72. – Erich Donnert (Hg.): Europa in der

313 Frühen Neuzeit. FS G. Mühlpfordt. Bd. 2, Weimar u. a. 1997, S. 247–430. – Thomas K. Kuhn: C. F. B. Provokativer Aufklärer u. philantrop. Pädagoge. In: Theologen des 17. u. 18. Jh. Hg. Peter Walter u. Martin H. Jung. Darmst. 2003, S. 204–225. Wolfgang Biesterfeld / Björn Spiekermann

Baier, Lothar, * 16.5.1942 Karlsruhe, † 11.7.2004 Montreal/Kanada (erhängt aufgefunden). – Essayist, Literaturkritiker, Redakteur, Herausgeber u. Übersetzer.

Baierl

kulturellen« Deutschland u. den Literaturentwicklungen seit 1960 bis 1990 auseinander u. postuliert die These des verloren gegangenen »Stoffwechsels« zwischen Literatur u. Gesellschaft (Was wird Literatur? Wien 1993. Mchn. 2001). B.s Essays verbinden stets gedankl. Luzidität mit stilistischer Eleganz. 1982 erhielt B. den ersten Jean-Améry-Preis für Essayistik. Weitere Preise für seine publizist. Arbeit folgten. Seit 2003 veröffentlichte B. nur noch spärlich bis zu seinem unerwarteten Freitod 2004. Weitere Werke: Die große Ketzerei. Verfolgung

B. studierte in Frankfurt/M. Germanistik, u. Ausrottung der Katharer durch Kirche u. Wiss. Philosophie u. Soziologie u. veröffentlichte Bln. 1984. Neuausg. 2001. – Gleichheitszeichen. u. a. zahlreiche gegenwartskrit. Essays. Noch Streitschr.en über Abweichung u. Identität. Bln. während des Studiums war er Mitbegründer 1985. – Jahresfrist: Erzählung. Ffm. 1985. – Un der Literaturzeitschrift »Text & Kritik«. Bes. allemand né de la dernière guerre, essai à l’usage des Français. Brüssel 1985. – Firma Frankreich, in den 1970er u. 1980er Jahren gehörte er zu eine Betriebsbesichtigung. Bln. 1988. – Zeichen u. den wichtigsten Autoren in der Bundesrepu- Wunder, Kritiken u. Essays. Bln. 1988. – Die verblik Deutschland. leugnete Utopie, zeitkrit. Texte. Bln. 1993. – B. war seit seiner Jugend leidenschaftlicher Sprachzeiten. Mchn. 1995. – Keine Zeit. Achtzehn Frankreich-Beobachter u. galt spätestens seit Versuche über die Beschleunigung. Mchn. 2000. Französische Zustände (Ffm. 1982) als FrankLiteratur: Bernhard Setzwein: L. B. In: LGL. – reich-Spezialist. Neben der perfekten Be- Thomas Barfuss: [...] Zum Tod v. L. B. In: Das Arherrschung der Sprache zeichnen sich B.s gument 46 (2004), S. 734 f. Albrecht Viertel Schilderungen »französischer Zustände« durch detaillierte Kenntnisse kultureller, Baierl, Helmut, * 23.12.1926 Rumburk/ historischer u. tagespolit. Themen aus. Bis Tschechien, † 12.9.2005 Berlin. – Drama2001 lebte B. in Frankfurt, unterbrochen von tiker, Übersetzer, Drehbuchautor. längeren Reisen, bes. nach Frankreich sowie nach Nordamerika, dort speziell Kanada, D. studierte von 1949 bis 1951 an der Uninach 1990 auch in verschiedene osteurop. versität Halle/S. Slawistik u. war im AnLänder. schluss als Dozent für Russisch in der ErThematischer Schwerpunkt von B.s Essays wachsenenbildung tätig. Seit 1967 lebte er als sind vornehmlich Phänomene der modernen freier Schriftsteller. Bis 1990 bekleidete er das europ. Nachkriegsgesellschaften, etwa Ent- Amt des Vizepräsidenten der Akademie der pluralisierung der Sprachen, Schwund der Künste in Berlin. Nationalitätenvielfalt in Osteuropa u. deren Das an die didakt. Methoden von Brechts Verlagerung nach Nordamerika (Ostwestpas- Lehrstücken anknüpfende Psychodrama Die sagen. Mchn. 1995). Schlüsselwörter in diesem Feststellung war 1958 B.s erster Bühnenerfolg Kontext sind Utopie, Toleranz u. Skepsis, mit dem Berliner Ensemble, an dem er welche er in theoretische u. zeitgeschichtl. 1958–1967 Dramaturg u. Parteisekretär war. Zusammenhänge stellt. Insbes. seit 1990 be- Die Republikflucht u. freiwillige Rückkehr schäftigten B. Themen der gesellschaftl. Be- des Bauern Finze wird in drei Agitationsszeschleunigung, wobei er eine komplexe Ana- nen mit Rollentausch u. jeweils anschließenlyse selbiger fordert u. für die Schaffung von der sog. Feststellung des Dorfchors als pädZeit-Freiräumen plädiert (Volk ohne Zeit. Bln. agogisches Beispiel verwandt, um zu de1990). Kritisch u. mitunter (selbst-)ironisch monstrieren, wie im Sozialismus Privatübersetzt B. sich auch mit zeitgenöss. Diskursen zeugungen u. gesellschaftl. Notwendigkeit in wie u. a. der Kopftuchdebatte, dem »multi- Übereinstimmung gebracht werden. Ähnli-

Baldamus

314

che Szenen- u. Figurentypisierungen finden sich auch in B.s Komödie Frau Flinz (Urauff. 1961), eine Gegenfigur zu Brechts Mutter Courage. Sie muss erkennen, dass ihre bis 1945 berechtigte Lebensklugheit sich im Sozialismus ins Gegenteil verkehrt. »Die Verteidigung der Söhne gegen einen schlechten Staat endet im Verlust der Söhne an einen guten Staat«, stellt Christoph Funke im Nachwort zu B.s Stücken (Bln./DDR 1969) fest. Mit Johanna von Döbeln (Urauff. 1969) versuchte B., Schillers Tragödie der Jungfrau von Orleans für das Dorfleben der DDR zu aktualisieren. Weitere Werke: Ein Wegweiser. Halle 1953 (D.). – Suche nach neuen Antworten. In: ND 1.5.1968, S. 11 (Ess.). – Der lange Weg zu Lenin. Bln./DDR 1970 (Film u. D.). – Leo u. Rosa. Bln./ DDR 1983 (D.). – Übersetzung: Sean O’Casey: Purpurstaub. Zürich 1971 (D.). Detlef Holland / Eva-Maria Gehler

Baldamus, (Max) Karl, auch: Eugen von St. Alban, * 14.10.1784 Roßla/Harz, † 13.12.1852 Wien. – Publizist, Lyriker u. Erzähler.

aber später wieder zur protestant. Kirche zurück. B. trat auch als Übersetzer hervor (u. a. von Mary Shelley u. Lord Byron). Nachdem er sich 1834 erfolglos um eine Professur für Geschichte an der Universität Bern beworben hatte, rächte er sich durch die – unter dem Pseudonym Eugen von St. Alban erschienene – Schmähschrift Bern wie es ist (Lpz. 1835). 1836 erhielt er auf persönl. Intervention Metternichs die Erlaubnis, sich in Wien niederzulassen, wo er, kaum noch schriftstellerisch tätig, bis zu seinem Tod blieb. Weitere Werke: Eranen. Lüneb. 1815 (L.). – Zeitsprossen. Slg. v. Sinngedichten. Hbg. 1818. – Oenotheren. Ein dt. Liederkranz. Lüneb. 1821. – Hippolyte. Lpz. 1822 (R.). – Liebe u. Tod. Lpz. 1826 (R.). – Wahnsinn u. Liebe. Lpz. 1826 (R.). – Klänge nach Oben. Ein christl. Liederkranz. Wien 1828. Literatur: Jakob Baxa: Die Wiener Erlebnisse des Konvertiten M. K. B. im Vormärz. In: Der Wächter 30/31 (1948/49), S. 41–47. – Cedric Hausherr: Philipp Albert Stapfers ›Histoire et description de la ville de Berne‹, erg. durch seine Briefe, u. K. B.’s ›Bern wie es ist‹ in krit. Gegenüberstellung. Liz.-Arbeit Bern 1970 (masch.). Raimund Bezold / Red.

Nach der Schulzeit zu Pforta u. dem JuraBalde, Jacob, * 4.1.1604 Ensisheim/Elsass, studium in Wittenberg (Promotion 1806) war † 9.8.1668 Neuburg/Donau; Grabstätte: B. Bürgermeister in Bleckede/Elbe u. bekleiebd., ehemalige Hofkirche St. Maria dete während der napoleon. Herrschaft ver(Grabtafel). – Lyriker u. Historiograf. schiedene Ämter. Der Mitgliedschaft in der frz. Geheimpolizei verdächtigt, geriet er 1813 B.s Familie gehörte zum kaisertreuen Beamin Untersuchungshaft, wurde aber bald frei- tentum der damals vorderösterr. Verwalgesprochen. B. führte ein unstetes Leben u. tungshauptstadt Ensisheim; an Schulen in wechselte häufig den Wohnort. Belfort u. Molsheim wurde er im Geiste der 1815 erschien in Lüneburg, wo er als Ad- kath. Gegenreformation erzogen; vor den vokat tätig wurde, sein Briefroman Oskar und hereinbrechenden Truppen Mansfelds wich Theone. Es folgte eine rege Produktion für er nach Ingolstadt aus, brach aber ein eben Almanache u. literar. Taschenkalender; B. begonnenes Jurastudium ab, um 1624 in den veröffentlichte in rascher Folge Gedichte u. Jesuitenorden einzutreten. Ausbildung u. Kleinprosa. Ab 1822 lebte er als Schriftsteller Lehrtätigkeit führten ihn nach Landsberg, in Hamburg u. trat publizistisch (Ein Wort zu München (Gymnasiallehrer 1626–1628), Griechenlands Ehrenrettung. Altona 1823) wie in Innsbruck (1628–1630) u. zurück nach InGedichten für den Befreiungskampf der golstadt (Priesterweihe 24.9.1633). Griechen ein (Griechenlieder in: Neueste Ge1637–1650 wirkte B. in München als Prodichte. Hbg. 1823). In Romanen u. Roman- fessor für Rhetorik, als Prinzenerzieher, fragmenten verarbeitete er, das Junge Hofprediger u. (1640–1648) auch als HofhisDeutschland partiell schon antizipierend, toriograf. Zeitgeschichtliche Arbeiten blieben kulturelle Themen u. Zeitfragen. 1825 kon- jedoch ungedruckt bzw. unvollendet, weil B. vertierte B. in Leipzig zum Katholizismus u. die geforderte Vertretung dynastischer Internahm den zweiten Vornamen Max an, kehrte essen nicht mit seinem Wahrheitsverständnis

315

vereinbaren konnte u. sich einer »despotischen Zensur« nicht beugte. Doch unterstützte er literarisch die z.B. im Marienkult religiös fundierte Kulturpolitik Maximilians I. In Reden u. Gedichten, auch in seinem 1637 in Ingolstadt erschienenen frühen Epos Batrachomyomachia (Froschmäusekrieg) kommentierte er die Ereignisse des Dreißigjährigen Krieges (u. a. Gedichte auf Tilly u. anlässlich der Ermordung Wallensteins). Auch der intensive Austausch mit dem frz. Diplomaten Claude de Mesmes, Comte d’Avaux, eine Freundschaft im Zeichen des christl. Humanismus, berührte Motive der bayr. Bündnispolitik. Konfessionelle Polemik trat bei B. jedoch weitgehend in den Hintergrund. Statt dessen beklagte er immer wieder den Zerfall des Reiches, die Erscheinungen der À-la-Mode-Kultur, die Grausamkeiten des Krieges u. – aus eigener Betroffenheit – die erzwungene Emigration (zahlreiche Gedichte auf das heimatl. Elsass). B. zählt zu den wenigen dt. Barockdichtern von internat. Ausstrahlung u. zu den bedeutendsten Autoren lat. Zunge. Sein Werk fand überall im kath. Europa, ja selbst bei kongenialen Dichtern der protestant. Territorien (Kontakte zu dem Niederländer Caspar Barlaeus, dt. Übersetzungen u. a. durch Andreas Gryphius u. Sigmund von Birken) Aufmerksamkeit. Als Hauptwerk des sog. lyr. Jahrzehnts (1637–1647) gelten die Lyricorum libri IV Epodon liber unus (Mchn. 1643. Erw. 1646), gefolgt von den Sylvarum libri VII. Im Anschluss an Konrad Celtis, Paul Schede Melissus u. bes. den poln. Jesuiten Matthias Casimirus Sarbievius stellte sich B. hier bewusst in die Nachfolge des Horaz. Jedoch ging es ihm nicht nur um eine humanist. Nachahmung der antiken Muster, sondern auch um die »novitas« der eigenen künstler. Konzeption. Mit diesem Drängen auf Originalität u. Modernität bei einem ausgesprochen artist. Selbstverständnis, das die scharfsinnige Kombinatorik von Bedeutungsdimensionen u. die ästhet. Funktion der poet. Fantasie in den Mittelpunkt rückte, erwies sich B. als repräsentativer Vertreter des europ. Manierismus. Für B. war der Dichter »sein eigener Kapitän« (»nauta sui«); entsprechend hoch schraubte er die Anforderungen an das le-

Balde

sende Publikum u. den eigenen Ehrgeiz: »Nicht eine schlichte Neuartigkeit wird verlangt, sondern eine raffinierte, und nicht nur das, sondern eine, die in ihrem kenntnisreichen Sprachstil und ihrer leichthändigen und glücklichen Art der Imitatio nach den aromatischen Weinen der Alten duftet, wobei sich die Gegensätze in gewisser Weise gegenseitig steigern. Das verehrungswürdige Altertum ist stets zu berücksichtigen« (aus: De studio poetico. Übers. v. Eckart Schäfer). So distanzierte sich B. de facto in seiner Lyrik von didaktischen, erbaul. u. panegyr. Zwecksetzungen. Indem er sich Sprache, Formen u. die Lebensphilosophie des alten Rom anverwandelte, fand er v. a. den Modus einer komplizierten Selbstverständigung: eingehüllt in tiefsinnige Ironie, bewegt von den Widersprüchen des eigenen Wesens, das er als »proteisch« empfand, schwankend zwischen Askese u. den Versuchungen affektiver Sinnlichkeit. In Faszination u. Widerstand, in Konvergenz u. Divergenz artikulierte er die Spannungen zwischen zeithistor. Erfahrungen u. antiker Weltaneignung, zwischen Heidentum u. christl. Glaubensgewissheit. So gewann er eine Darstellungs- u. Anspielungsfolie für persönl. Reflexion, gebetshafte Frömmigkeit u. oszillierende Zeitkritik. Das im Blick auf Horaz konstruierte fiktive Rollenspiel seiner Texte erlaubte ihm, das eigene Ich, die Belange einer höchst sensiblen Existenz, gleichzeitig zur Geltung zu bringen u. zurückzunehmen. Nicht wenige Gedichte (v. a. zum Themenkomplex der »Melancholie« u. der »Utopie«) erfassen Anlass u. Prozess der emotionalen Bewegung im Verfahren der poet. Imagination: »Eingeschlossen für immer bin ich in Germaniens Grenzen / Altern muß ich auf bayrischem Boden. / Trauriger Machtanspruch hält uns zurück im arktischen Raum, / Übel vertun wir verstümmeltes Leben. / [...] / Ist mir auch noch so sehr ein Kerker das ganze Germanien / Und schlimmer mein Leib als ein Kerker, / Frei ist dennoch der Geist; wo er will, da wohnt er und weht er [...]« (aus der Ode Melancholia. Übers. v. Max Wehrli). Gewiss verfügte B. auch über die Mittel der spirituellen Exegese, über die Topik, die Bildersprache u. den Exempelfundus der seit

Balde

dem MA überkommenen geistl. Rede, nicht zuletzt über die Techniken ignatianischer Meditationspraxis. Doch diese Übungen der geistl. Einbildungskraft intensivierten seine künstler. Inspiration – bis hin an die Grenzen eines »Enthusiasmus«, in dem sich das lyr. Subjekt im freien Flug über die Welt aller Realität enthebt. Dabei weitete sich das stilist. Spektrum horazischer Lyrik aus; die Ode ging in den »Dithyrambus« über. Doch selbst in fiktiven Ekstasen u. poet. Visionen ging B. auf iron. Distanz. Den Großteil seiner elegischen u. satir. Versdichtung schuf B. im Alter. Nach einem Zwischenspiel in Landshut u. Amberg wirkte er seit 1654 als Prediger u. Beichtvater am Hof des Pfalzgrafen Philipp Wilhelm in Neuburg. B.s wiederum von Horaz beeinflusste Satiren kritisierten Widersprüche u. Torheiten der Zeit: so das Unvermögen der Mediziner, den astrolog. Aberglauben, die Habsucht der Zeitgenossen u. in einem poetologisch wichtigen Werk (Expeditio PolemicoPoetica sive Castrum Ignorantiae. Mchn. 1664) auch die barbar. Unkultur der Bildungsfeinde. In seinem Fragmentum satirae ›crisis‹ inscriptae (verf. 1657) setzte sich B. schließlich direkt mit Gegnern auseinander, die er unter den Ordenszensoren fand: »Freunde kommen furchtsam zu mir und teilen es zaudernd mit [...]. Daher die häufigen Lücken in meinen Werken. Trotzdem wollen wir singen; denn wir haben einen Beschützer, das gute Gewissen.« Der Ordenszensur ist es auch zu verdanken, dass B.s groß angelegtes Spätwerk nur verstümmelt überliefert ist, ein Elegienkranz (Urania victrix. Verf. 1656–62. Teiled. Mchn. 1663), der in einem fiktiven Briefwechsel den Kampf zwischen menschlicher Sinnlichkeit u. religiöser Askese zum Thema machte. Hier wie auch in zahlreichen Oden zeigte sich B. als hervorragender Kenner der bildenden Kunst seiner Zeit (Verbindung zu dem Maler u. Künstlerbiografen Joachim Sandrart). Dem Geschmack eines breiteren Publikums entsprach B. v. a. in seinem viel gelesenen Poema de vanitate mundi (Mchn. 1636), das ebenso wie die totentanzartigen Choreae mor-

316

tuales (Mchn. 1649) gängige Vorstellungen religiöser Weltabsage zum Ausdruck brachte. Neben einem Drama (Jephtias. Amberg 1654) veröffentlichte B. auch deutschsprachige Lyrik in seinem Ehrenpreiß [...] Mariä (Mchn. 1638). Weil sich B. hier nicht an die Regeln der von Opitz kodifizierten Dichtersprache hielt, wurde dieses Werk später fast vergessen. B.s Odendichtung fand jedoch in Herder einen Fürsprecher u. namhaften Übersetzer (Terpsichore. 1795/96) u. damit zgl. einen Weg in den Kanon der dt. Dichtung. Ausgaben: Opera poetica omnia. 8 Bde., Mchn. 1729. Nachdr., hg. u. eingel. v. Wilhelm Kühlmann u. Hermann Wiegand. Ffm. 1990. – Carmina lyrica. Hg. P. Benno Müller. Mchn. 1844. Nachdr. Hildesh. 1967. – Interpretatio Somnii de cursu Historiae Bavaricae. Hg. Joseph Bach. Regensb. 1904. – (Ausgew.) Dichtungen. Lat. u. dt. Hg. u. übers. v. Max Wehrli. Köln-Olten 1968. – Jocus Serius Theatralis (1629). Hg. Jean-Marie Valentin. In: Euph. 66 (1972), S. 412–436. – Korrespondenz mit Ferdinand v. Fürstenberg. Hg. W. Kühlmann. In: Euph. 76 (1982), S. 133–155. – Dt. Dichtung. Hg. Rudolf Berger. Amsterd. 1983. – Odes (Lyrica). Livres I-II. Lat. u. frz. Übers. v. Andrée Thill. Straßb. 1987. – Batrachomyomachia (Teilausg. mit Komm. u. Übers.). Hg. Veronika Lukas. Mchn. 2001. – Panegyricus equestris (1628). Ed. u. Übers. Hg. V. Lukas u. Stephanie Haberer. Augsb. 2002. – Urania Victrix (Teilausg. mit Übers. u. Komm.). Hg. Lutz Claren, W. Kühlmannn u. a. Tüb. 2003. – Dissertatio de Studio Poetico (mit Komm. u. Übers.). Hg. Thorsten Burkard. Mchn. 2004. – Textausw. in: CAMENA. Literatur: Bibliografie: Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 1, S. 378–400. – Weitere Titel: Georg Westermayer: J. B., sein Leben u. seine Werke. Mchn. 1868. Nachdr. hg. v. Hans Pörnbacher u. Wilfried Stroh. Amsterd./Maarssen 1998 (im Anhang komplette Bibliogr.). – Joseph Bach: J. B. Freib. i. Br. 1904. – Anton Henrich: Die lyr. Dichtungen J. B.s. Straßb. 1915. – Rudolph Berger: J. B. Die dt. Dichtungen. Bonn 1972. – Jürgen Galle: Die lat. Lyrik J. B.s u. die Gesch. ihrer Übertragungen. Münster 1973. – Urs Herzog: Divina Poesis. Tüb. 1976. – Eckart Schäfer: Dt. Horaz. Wiesb. 1976. – Carl Joachim Classen: [...] zu den medizin. Satiren des [...] J. B. In: Daphnis 5 (1976), S. 76–125. – JeanMarie Valentin: [...] B.s ›Jephtias‹ u. das Problem des christl. Stoizismus. In: Argenis 2 (1978), S. 37–72. – Gisbert Kranz: Zu J. B.s Bildgedichten. In: AKG 60 (1978), S. 305–325. – Dieter Breuer: Oberdt. Lit. 1565–1650. Mchn. 1979. – Günter

Baldemann

317 Hess: ›Fracta Cithara‹ [...]. Zur Allegorisierung der Bekehrungsgesch. J. B.s im 18. Jh. In: Formen u. Funktionen der Allegorie. Hg. Walter Haug. Stgt. 1980, S. 605–631. – Wilhelm Kühlmann: J. B.s Meditationen über Wallensteins Tod. In: Gedichte u. Interpr.en. Hg. Volker Meid. Bd. 1, Stgt. 1982, S. 187–197. – Peter L. Schmidt: ›The Battle of the Books‹ auf Nlat. J. B.s ›Expeditio polemico-poetica‹. In: Der Altsprachl. Unterricht 27 (1984), S. 37–81. – J.-M. Valentin (Hg.): J. B. u. seine Zeit. Bern 1986. – Günter Hess: Ut pictura poesis. J. B.s Beschreibung des Freisinger Hochaltarbildes v. Peter Paul Rubens. In: Hdb. der Lit. in Bayern. Hg. Albrecht Weber. Regensb. 1987, S. 207–220. – Andrée Thill: B.-Forsch. seit 1968. In: Das Ende der Renaissance. Hg. August Buck u. Tibor Klaniczay. Wiesb. 1987, S. 221–230. – Andreas Heider: Spolia Vetustatis. Die Verwandlung der heidnisch-antiken Tradition in J. B.s marian. Wallfahrten: Parthenia, Silvae II, 3 (1643). Mchn. 1992 (mit zweisprachiger komm. Ausg.). – W. Kühlmann: Georg Westermayer u. die bayer. B.-Rezeption des 19. Jh. In: Daphnis 23 (1994), S. 85–108. – Ders.: AlamodeSatire u. jesuit. Reichspatriotimus. Zu einem Gedichtzyklus in den ›Sylvae‹ (1643) des Elsässers J. B. In: Simpliciana 22 (2000), S. 201–226. Wieder in: Kühlmann/Schäfer (2001), S. 77–96. – B. u. Horaz. Hg. Eckard Lefèvre. Tüb. 2002. – Heidrun Führer: Studien zu B.s ›Jephtias‹. Lund 2003. – Wilfried Stroh: Baldeana. Untersuchungen zum Lebenswerk v. Bayerns größtem Dichter. Mchn. 2004. – B. u. die röm. Satire. Hg. Gérard Freyburger u. E. Lefèvre. Tüb. 2005. – Marianne Sammer: J. B. In: DBE. – J. B. im kulturellen Kontext seiner Epoche. Hg. Thorsten Burkard, Günter Hess, W. Kühlmann u. Julius Oswald SJ. Regensb. 2006. – W. Kühlmann: Schlaglichter jesuit. Petrarca-Rezeption. Der ›Italus Vates‹ als Gewährsmann J. B.s SJ (1604–1668). In: Kühlmann (2006), S. 575–584. Wilhelm Kühlmann

Baldemann, Otto. – Verfasser einer 1341 entstandenen politischen Allegorie. Über den Dichter des in vierhebigen Reimpaarversen abgefassten Werks Von dem Romschen Riche eyn clage ist sehr wenig bekannt. In der Clage nennt er sich (v. 7) »Von Karlstat Otte Balteman«, in einer späteren Bearbeitung der Allegorie durch Lupold Hornburg (vor Juli 1348) wird als Quelle ein »Otte Waldemann«, Pfarrer zu Ostheim bei Aschaffenburg, angegeben. Zu dieser Lokalisierung passt die Sprache der Allegorie, die

ost- u. rheinfränk. Züge aufweist. Aus der Clage geht hervor, dass B. nicht nur eine klerikale lat. Bildung genossen hatte, sondern auch die dt. Dichtung sowie den literar. Geschmack der Zeit (geblümter Stil) kannte. Vermutlich gehörte er dem Kreis der »litterati« um den Würzburger Kanzler Michael de Leone an. Bei der Clage handelt es sich um die dt. erweiternde Bearbeitung des Ritmaticum Lupolds von Bebenburg (1353 bis zu seinem Tod 1363 Fürstbischof von Bamberg), eines lat. Klagegedichts in leonin. Hexametern über die bejammernswerte Lage des röm. Reichs deutscher Nation, dessen Verfall in Form einer Allegorie dargestellt wird. Sowohl die Vorlage als auch die Clage selbst sind nur in einer Sammelhandschrift des 14. Jh., im sog. Hausbuch des Michael de Leone, überliefert. Der Umfang der Clage wird in der Vorrede mit 246 »rime« angegeben, was den 492 Versen des Gedichts (andere Zählung bei Valli) genau entspricht. Im Anschluss an die abgesetzte Vorrede erzählt der Dichter, wie er über dem Studium der röm. Reichsgeschichte einschläft u. im Traum einen Spaziergang unternimmt, der ihn zum Thron einer wunderschönen gekrönten Frau führt, die sich als das röm. Reich erweist. Sie preist die Herrschaft der früheren Kaiser von Caesar bis zu Heinrich II., die die Interessen des Reichs gewahrt hätten, um dann den folgenden Verfall u. die Untätigkeit der Verantwortlichen zu beklagen u. die Deutschen zur Umkehr aufzurufen. Ihre lange, nur an wenigen Stellen unterbrochene Rede, die den breitesten Raum innerhalb der Traumerzählung einnimmt, schließt mit der Drohung, sie werde Deutschland wie ehedem schon Griechenland im Stich lassen, wenn die Warnung, deren Verbreitung sie dem Dichter aufträgt, keine Wirkung zeigen sollte. Das Gedicht endet mit einer abgesetzten Nachrede, in der als Zeitpunkt der Niederschrift der St. Michaelstag (29.9.) 1341 angegeben wird. B.s Clage gilt als der erste Versuch, lat. Publizistik in die dt. Volkssprache umzusetzen. Bei der Gestaltung dieser polit. Allegorie könnten sich Einflüsse der Minneburg u. Konrads von Würzburg (Goldene Schmiede u. Klage der Kunst) ausgewirkt haben.

Baldovius Literatur: O. B. Von dem Romschen Riche eyn clage. Hg. Erkki Valli. Helsinki/Wiesb. 1957, S. 77–93 (maßgebl. Ausg. der ›Clage‹ u. Forschungsbericht). – Dazu Rez. v. Kurt Ruh in: PBB 83 (1961/62), S. 398–400. – Dietrich Huschenbett: B. In: VL. Claudia Händl / Red.

318 Literatur: PGK 10, Sp. 257–258. – VD 17. – Weitere Titel: Heinrich D. Overheiden: Die hl. Sterbensbegierde [...]. Bremen 1721 (Leichenpredigt). – Johann v. Seelen: Stada Literata. Stade o. J. – DBA 51,238–255. Jill Bepler / Red.

Balk, Theodor, auch: T. K. Fodor, eigentl.: Fodor Dragutin, * 22.9.1900 Zemun/SerBaldovius, Samuel, * 15.11.1646 Nien- bien (heute Stadtteil von Belgrad, früher burg, † 6.11.1720 Verden. – Verfasser von Semlin/Ungarn), † 25.3.1974 Prag. – geistlicher Lyrik u. Gelegenheitsgedich- Journalist u. Verfasser von Reportagen, autobiografischer Skizzen u. Erzählunten. gen. B.s Vater war Johann Baldovius, Professor der Hebraistik in Helmstedt. Nach Besuch der luth. Domschule in Bremen studierte B. in Helmstedt (Immatrikulation am 27.4.1665) u. Leipzig (seit dem Sommersemester 1667; Bacc. 13.12.1667, Magister 30.1.1668). 1672 kehrte er als Lehrer an der Domschule nach Bremen zurück, wurde 1673 ordiniert u. nahm die Stelle des Hofpredigers bei Herzog Ferdinand Albrecht von Braunschweig-Lüneburg (Bevern) an. In Bevern u. auf Reisen verfasste B. neben seinen Predigten zahlreiche Gelegenheitsgedichte für die herzogl. Familie, die sowohl einzeln als auch in Gedichtsammlungen gedruckt wurden. 1683 nahm er einen Ruf nach Stade als Pastor der St. Cosmae-Kirche an, schrieb auch weiterhin Gedichte für den Hof in Bevern. Der Tod des Herzogs 1687 setzte dieser Tätigkeit ein Ende, u. B. veröffentlichte nur noch einige lat. Funeralcarmina in Stade. 1699 wurde er Pastor der schwed. Etatskirche in Stade, verlor jedoch Stelle u. Habe bei der dän. Beschießung der Stadt 1712. 1713 als Superintendent nach Verden berufen, verfiel B. in Schwermut u. übte das Amt bis zu seinem Tod nie aus.

Werke: Evang. Gebet-Kämmerlein [...]. Gießen 1676. – Reise-Bündlein unterschiedl. Predigten [...]. Gießen 1676. – Poet. geistl. Lust-Garte, am Hofe des Wunderlichen im Frucht-bringen [...] angeleget. Gießen 1676–1677. – Christl. Zeit-vertreiber, für Männer u. für Weiber [...]. Bremen (1683). Ausgabe: Tugend- u. Liebes-Streit: FreudenSpiel, an der [...] Fürstin [...] Christinen Hertzogin zu Braunschweig u. Lüneburg [...] GeburtsTage [...]. o. O. 1677 (Libretto). Internet-Ed.: http://diglib.hab.de/drucke/textb-4f-58/start.htm.

Nach dem Abitur studierte der Sohn eines Handelsagenten Medizin an den Universitäten Zagreb u. Wien. Gegen Ende seines Studiums engagierte er sich in der kommunist. Jugendbewegung. 1925–1929 arbeitete B. als Kassenarzt in Wien. In dieser Zeit begann er für die kommunist. Wiener Presse zu schreiben. 1929 emigrierte er aus Furcht vor der faschist. Monarchie in Jugoslawien nach Berlin. Bis 1933 war B. als Redakteur für die »Linkskurve« u. für andere Blätter tätig. 1933 emigrierte er in die Tschechoslowakei u. ging noch im gleichen Jahr nach Frankreich. 1936–1938 unterstützte B. als Feldarzt die 14. Internationale Brigade im Freiheitskampf gegen die faschist. Truppen Francos. 1939 war er wieder in Frankreich u. wurde dort nach Kriegsausbruch interniert. 1941 kam B. über Nordafrika nach Mexiko, kehrte 1945 nach Jugoslawien zurück u. siedelte 1948 in die Tschechoslowakei über. B. begann seine umfangreiche publizist. Tätigkeit mit Reportagebüchern aus der Welt des Proletariats. Seine engagierte Stellungnahme u. sachliche Darstellungsweise erinnert schon in seinen Werken Baumwolle (Bln. 1931) u. Stickstoff (Bln. 1932) an das Vorbild Egon Erwin Kisch. Einen zweiten Schwerpunkt seiner schriftsteller. Arbeit bilden autobiogr. Skizzen u. Erzählungen; beispielsweise verarbeitete B. mehrere 1929/30 als Schiffsarzt unternommene Reisen nach West- u. Südafrika, Indonesien u. Indien in dem erst 1960 erschienenen Roman Unter dem schwarzen Stern (Bln./ DDR 1960).

319

In seinem bekanntesten Werk, dem autobiogr. Roman Das verlorene Manuskript (Moskau 1935. Erw. Bln. 1949. Neudr. der Ausg. Mexiko 1943: Ffm. 1983), beschreibt er seine Erlebnisse in Spanien, Frankreich u. nach seiner Rückkehr in Jugoslawien. Dabei behält B. seinen reportagehaften Stil bei, setzt jedoch auch Darstellungstechniken des modernen Romans ein. Weitere Werke: Kapitalisten, Bonzen, Metallarbeiter. Bln. 1930 (R.). – Hier spricht die Saar: Ein Land wird interviewt. Zürich 1934. Blieskastel 2005 (Reportage). – Ein Gespenst geht um Paris 1934 (Reportage). – El Mariscal Tito. Mexiko 1944. Matthias Heinzel / Red.

Ball, Hugo, * 22.2.1886 Pirmasens, † 14.9. 1927 Sant’Abbondio bei Lugano/Tessin. – Lyriker, Dramatiker, Prosaist, Journalist, Mitbegründer des Zürcher Dadaismus, Kulturkritiker, Laientheologe. Als Sohn einer streng kath. Mittelstandsfamilie im protestantisch geprägten Pirmasens aufgewachsen, holte B. im Juli 1906, nachdem er die Lehre in einer Pirmasenser Lederhandlung abgebrochen hatte, das Abitur in der Nachbarstadt Zweibrücken nach. Dort erschienen zwischen April u. Nov. 1905 als erste Veröffentlichungen fünf Gedichte in der Zeitschrift »Der Pfälzerwald«. 1906–1910 studierte B. in München u. Heidelberg Philosophie, Germanistik u. Geschichte, ohne sein Studium mit der 1909/10 angefertigten, aber nicht eingereichten Dissertation Nietzsche in Basel abzuschließen. Eine Theaterlaufbahn planend, besuchte B. vom Sept. 1910 bis Mai 1911 die Schauspielschule des Deutschen Theaters in Berlin, arbeitete danach in der Spielzeit 1911/12 am Stadttheater Plauen als Dramaturg, ließ sich am 1. Aug. 1912 in seinem Münchner Polizeimeldebogen als »konfessionslos« eintragen u. wechselte im Sommer 1912 an das von ihm in »Münchener Kammerspiele« umbenannte »Münchener Lustspielhaus«, an dem er seit Beginn der Spielzeit 1912/13 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs als alleiniger Dramaturg engagiert war. Er verfasste 1912/ 13 das expressionistische, aus drei Akten bestehende Schauspiel Der Henker von Brescia u.

Ball

hoffte, im Sommer 1914 noch »1 oder 2 weitere Stücke zu schreiben« (Brief Nr. 37 vom 26.2.1914), publizierte bis Juni 1914 fünf theatral. Beiträge u. plante zus. mit Kandinsky, Franz Marc u. a. Das Neue Theater herauszugeben. Der Erste Weltkrieg machte B.s ambitionierte Theaterpläne zunichte. Nachdem er sich am 6. Aug. 1914 in München als Kriegsfreiwilliger gemeldet hatte, jedoch aus gesundheitl. Gründen zurückgestellt worden war, reiste er Mitte Aug. zu seiner Familie nach Pirmasens u. von dort aus Ende Aug. für einige Tage an die lothring. Front. Über seine Reise an die Front veröffentlichte er am 7. Sept. in der »Pirmasenser Zeitung« den kriegsaffirmativen Bericht Zwischen Dieuze und Luneville. Im Okt. 1914 übersiedelte B. nach Berlin, wo er bis Mai 1915 bei der Wochenschrift »Zeit im Bild« als Redakteur beschäftigt war, für die er 15 Artikel verfasste. In ihnen finden sich vereinzelt futuristischkriegsfreundl. Formulierungen wie: Der Krieg sei »ohne Zweifel eine große Sache«, »ein Erlebnis, eine Ekstase«, bis B. in seinem Brief (Nr. 64) vom 10. März 1915 den Krieg eindeutig negativ als »diese Idiotie, diese Brutalität, diese Bestienvisage« kennzeichnet. Einer Aufforderung zur Mitarbeit an Walter Serners Zeitschrift »Mistral« folgend, emigrierte B. zus. mit seiner Freundin Emmy Hennings Ende Mai 1915 in die neutrale Schweiz nach Zürich, wo er bis in den Frühherbst die wohl entbehrungsreichste Zeit seines Lebens durchmachte. Unter den schlechten Lebens- u. Arbeitsbedingungen litt verständlicherweise die literar. Produktivität B.s. Seine prekäre Situation besserte sich erst, als er im Okt. 1915 ein Engagement als Pianist u. Stückeschreiber beim Varieté-Ensemble »Maxim« erhielt, mit dem er zunächst im Zürcher Niederdorf u. in Basel auftrat. Mit der Eröffnung der »Künstler-Kneipe Voltaire« in der Zürcher Spiegelgasse 1 im Febr. 1916 begann jene relativ kurze, bis Ende Mai 1917 reichende Zeitspanne in B.s Leben u. Schaffen, die ihm einen sicheren Platz in der Literaturgeschichte des 20. Jh. eingebracht hat. Denn der Zürcher Dadais-

Ball

mus wurde in seinen ersten beiden Phasen wesentlich durch B.s vielfältige Aktivitäten geprägt. B. gründete u. eröffnete im Febr. 1916 die später in »Cabaret Voltaire« umbenannte Künstler-Kneipe »Voltaire«; er trug an den Abenden durch zahlreiche Beiträge maßgeblich zum Programm des »Cabarets« bei; er gab die schmale Sammlung Cabaret Voltaire heraus; er rezitierte im »kubistischen Kostüm« seine ersten Lautgedichte u. trug am 14. Juli beim »I. Dada-Abend« außerhalb des »Cabaret Voltaire« ein weiteres Lautgedicht u. Das erste dadaistische Manifest vor. Nach der ersten Phase des Zürcher Dadaismus (bis 14. Juli 1916) zog sich B. für längere Zeit – bis gegen Ende Okt. 1916 – aus Zürich an den Lago Maggiore nach Vira-Magadino u. nach Ascona zurück, wo er sich am 15. Sept. in einem Brief an Tristan Tzara deutlich vom Dadaismus distanzierte u. seinen in der Vor-Dada-Zeit im Milieu des Varieté-Ensembles »Maxim« spielenden, autobiogr. Roman Flametti fertigstellte, der als zweite Buchpublikation im Frühjahr 1918 bei Erich Reiß in Berlin erschien. Nach der Rückkehr aus Ascona u. einem ungefähr dreiwöchigen Aufenthalt in Ermatingen am Untersee ließ sich B. wieder in Zürich nieder, wo er im März 1917 zus. mit Tzara von Han Corray die Räume der früheren »Galerie Corray« in der Bahnhofstraße 19 übernahm u. darin am 17. März 1917 die »Galerie Dada« mit einer »Sturm«-Ausstellung eröffnete. Auch in der zweiten Phase des Zürcher Dadaismus, in der Zeit der »Galerie Dada« (17.3.-27.5.1917), war B. die wichtigste Person unter den »Dadaisten«. Er führte u. organisierte die Galerie nach außen u. nach innen. Er stellte die Programme der Soireen zusammen. Er hielt einen programmat. Vortrag über Kandinsky, trat in Kokoschkas Kuriosum »Sphinx und Strohmann« auf u. trug in fantastischem Kostüm seinen Prosatext Grand Hotel Metaphysik vor. Da sein Galerie-Kompagnon Tzara jedoch »am wenigsten arbeitete« u. »allmählich die ganze Last der neuen Kunstbewegung« auf B. »allein lag« (Brief Nr. 139 vom 26.6.1917), zog sich B. Ende Mai 1917 fluchtartig u. erschöpft von der »Galerie Dada« ins Tessin

320

zurück, während Emmy Hennings in Zürich die Galerie auflöste. Vor allem mit der Arbeit am Bakunin-Brevier beschäftigt, blieb B. knapp drei Monate im Tessin u. übersiedelte dann Anfang Sept. 1917 nach Bern. Der Hauptgrund für B., nach Bern zu gehen, war wahrscheinlich das Angebot René Schickeles, an einer neuen Wochenschrift mitzuarbeiten. Da sich dieser Plan zerschlug, nahm B. Mitte Sept. Kontakt zur zweimal wöchentlich in Bern erscheinenden »Freien Zeitung« auf. Bis zu ihrer Einstellung am 27. März 1920 verfasste B. für sie insg. etwa 40 Artikel, in denen die Hauptschuld Deutschlands am Ersten Weltkrieg zum wichtigsten Thema wird. Zunächst nur freier Mitarbeiter, trat B. im Mai 1918 in die Redaktion der »Freien Zeitung« ein u. wurde im Aug. 1918 als literarischer Leiter des neu gegründeten »Freien Verlags« eingesetzt, in dem er den »Almanach der Freien Zeitung 1917–1918« herausgab. Im »Freien Verlag« erschien dann 1919 B.s polemischer Großessay Zur Kritik der deutschen Intelligenz: in erster Linie »kein politisches, sondern ein religiöses Buch ohne Religion«, ein Buch, das »die verhängnisvollen Folgen der Reformation«, des Protestantismus u. des »Nationalismus in Deutschland« untersucht (Hans Dieter Zimmermann im Nachwort seiner B.Ausgabe 2005, S. 492). Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs reiste B. in den Jahren 1919 u. 1920 mehrmals nach Deutschland – zumeist in Angelegenheiten einer (vergeblichen) Weiterführung der »Freien Zeitung« u. des »Freien Verlags« im Nachkriegsdeutschland –, heiratete am 21. Febr. 1920 in Bern seine langjährige Lebensgefährtin Emmy Hennings, kehrte im Aug. 1920 – nach einem mehrmonatigen Aufenthalt in Flensburg, der Geburtsstadt seiner Frau – in die Schweiz zurück u. ließ sich im Tessiner Dorf Agnuzzo nieder. Die wichtigste Begegnung für B. in den 1920er Jahren war die mit Hermann Hesse, der seit Mai 1919 in Montagnola lebte. Seit ihrem ersten Zusammentreffen Anfang Dez. 1920 entwickelte sich aus der Bekanntschaft recht bald eine enge Freundschaft. Im Byzantinischen Christentum, begonnen 1920/21 (Mchn. 1923. 21931. Einsiedeln

321

1958. Ffm. 1979), stellte B. der verneinenden Tendenz der Kritik der deutschen Intelligenz etwas Positives gegenüber: drei Heiligenleben aus dem palästinisch-syr. Christentum des 5. bis 7. Jh. (Johannes Klimax, Dionysius Areopagita, Symeon der Stylit). B. blieb bis zum 11. Okt. 1921 in Agnuzzo, übersiedelte dann, weil er im Tessin keine finanzielle Unterstützung mehr erhielt, nach München, wo er am 2. März 1922 die Generalbeichte ablegte u. im Mai/Juni 1922 die Arbeit am Byzantinischen Christentum beendete. Mitte Aug. 1922 kehrte er in die Schweiz zurück, ließ sich im Okt. 1922 wieder in Agnuzzo nieder, von wo er im Oktober 1924 nach Italien zog, zunächst nach Rom (bis März 1925) u. danach weiter südlich in die Nähe von Salerno, ehe er im Mai 1926 wieder ins Tessin zurückkehrte. In den in der Nähe von Lugano gelegenen Orten Sorengo, Agnuzzo u. Sant’ Abbondio verbrachte B. die letzte Zeit seines Lebens, das – nach einer erfolglosen Magenkrebs-Operation am 2. Juli 1927 in Zürich – vorzeitig endete. In seinem letzten Tessiner Lebensjahr vor Ausbruch der Krebserkrankung im Mai 1927 veröffentlichte B. außer zwei Aufsätzen noch zwei Bücher: 1. Die Flucht aus der Zeit: die im Jan. 1927 bei Duncker & Humblot erschienene, vom kath. Standpunkt des späten B. abgefasste Bearbeitung u. Umarbeitung seiner Tagebücher 1913–1921; 2. die Hermann Hesse-Biografie, die Anfang Juni 1927 – zu Hesses 50. Geburtstag am 2. Juli 1927 – bei S. Fischer in Berlin erschienen ist. Sie war B.s letztes u. erfolgreichstes Buch. Seit der Erstausgabe hat es bis 2005 eine Gesamtauflage von 73.000 Exemplaren erreicht. Die Rezeptions- u. Wirkungsgeschichte B.s begann nach 1945 in der Schweiz, u. sie hielt dort über 20 Jahre unvermindert an. In BernBümpliz erschien 1946 die von Carola Giedion-Welcker herausgegebene Anthologie Poètes à l’Ecart, in der neun Gedichte von B. abgedruckt sind. Im selben Jahr kam in Luzern B.s Die Flucht aus der Zeit neu heraus. Von 1953 bis 1958 folgten im Benziger Verlag (Einsiedeln, Zürich) die große B.-Biografie Ruf und Echo von Emmy Ball-Hennings (1953), die Briefe B.s aus den Jahren 1911–1927 (1957) u. die zweite Auflage des Byzantinischen

Ball

Christentums (1958). In dem 1957 von Peter Schifferli im Zürcher Verlag »Die Arche« herausgegebenen Dada-Buch erschienen außer den beiden B.-Texten aus dem »Cabaret Voltaire«-Heft auch seine – erstmals zusammen veröffentlichten – sechs Lautgedichte. Im Verlag der Arche wurden dann 1963 B.s Gesammelte Gedichte u. 1967 die Erstausgabe seines Romans Tenderenda der Phantast publiziert. Deutschsprachige Schriftsteller waren lange Zeit v. a. auf die von 1946 bis 1967 in der Schweiz erschienenen B.-Publikationen angewiesen, wenn sie sich mit B. beschäftigen wollten. So weist der Schweizer Essayist, Lyriker u. Übersetzer Ralph Dutli in seiner Dankesrede für den Hugo-Ball-Förderpreis 1996 auf die in seinem Besitz befindliche Zürcher Ausgabe der Gesammelten Gedichte von B. hin. In der Rede präsentiert er außerdem sein frühes Gedicht Postkarte an Hugo Ball (1979), das von drei B.-Gedichten angeregt worden ist, deren Titel Dutli in seinem Poem anführt: Abschied Epitaph/ und Karawane (H. B.Almanach 1997/98, S. 36). In seiner ersten Frankfurter Poetik-Vorlesung (1985) erklärt Ernst Jandl, in der Zeit, als er sich selbst »mit reinen Lautgedichten zu beschäftigen begann«, hätte er »bisweilen Zuflucht zur Tradition von Hugo Ball« genommen, indem er sich, wie dieser für sein Lautgedicht Karawane, »eines Titels bediente, der die Aufgabe hatte, die Assoziationen des Zuhörers zu steuern.« Auch Thomas Kling schätzt in B.s Werk v. a. die Lautgedichte, genauer: die »Performance von Balls Lautgedichten«, die »sein konsequentester Beitrag zum modernen Gedicht« sei (Kling: Itinerar. Ffm. 1997, S. 32). Der Philosoph Peter Sloterdijk weist in seiner ersten Frankfurter Vorlesung (1988) auf die Bedeutung des Tätowierens bei B. hin u. arbeitet heraus, dass B.s »Idee des Zeugen, seine Vision des tätowierten Schriftstellers«, einen »unverkennbaren Hinweis auf die Entblößungsgebärden des philosophischen Satirikers in der Tonne« enthält. B. sei sich darüber im Klaren gewesen, »daß er ein Nachfahre des Diogenes von Sinope war.« Für den »späteren Hugo Ball, der sich vom Dadaisten zum Befreiungstheologen gewandelt« habe, sei »der Künstler, der die Wunden

Ball

322

der Zeit exemplarisch an sich selbst sichtbar Ball, Kurt Herwarth, auch: Joachim macht, halb Kyniker, halb Märtyrer.« B.s Dreetz, * 7.9.1903 Berlin, † 24.4.1977 meistgedrucktes Gedicht Karawane benutzt Leipzig. – Erzähler. Thomas Kapielski als Vorlage für seine Kritik B. stammte aus einer Arbeiterfamilie, war an Erscheinungen des polit. Lebens im Hilfsarbeiter u. lebte seit den 1930er Jahren Deutschland nach der Wiedervereinigung. in Leipzig. Die krit. Stoßrichtung Kapielskis wird schon Der seit den 1920er Jahren schreibende B. an dem von B. übernommenen Titel deutlich, war einer der wenigen dt. Schriftsteller, die den er seinem Gedicht gibt: Zur Kritik der sich in den Jahren nach dem Zweiten Weltdeutschen Intelligenz. krieg dem industriellen Arbeitsalltag zuWeitere Werke: Die Folgen der Reformation. wandten. Die Tradition der Arbeiter-IndusMchn. 1924. – Der Künstler u. die Zeitkrankheit. triereportagen aus der Weimarer Republik Ausgew. Schr.en. Hg. Hans Burckhard Schlichting. Ffm. 1984. – Die Flucht aus der Zeit. Hg. sowie mit aufnehmend, beschrieb B. 1949 in seinem Anmerkungen u. Nachw. vers. v. Bernhard Echte. Roman Halle zwo (Bln./DDR) den ArbeitsallZürich 1992. – Der Henker v. Brescia. Drei Akte der tag in einer Eisengießerei. Thematisch nahm Wahrheit u. Ekstase. Hg. Franz L. Pelgen. Lpz. B. damit eine literar. Entwicklung vorweg, 1995. – Tenderenda der Phantast. Hg. Raimund die in der DDR erst zehn Jahre später mit Meyer u. Julian Schütt. Innsbr. 1999. – Briefe verändertem Akzent auf der ersten Bitterfel1904–1927. Hg. u. komm. v. Gerhard Schaub u. der Konferenz propagiert wurde. Kurz vor Ernst Teubner. Bde. 1–3, Gött. 2003. – Die Folgen seinem Tod fand B., dessen Romane sich der Reformation. Zur Kritik der dt. Intelligenz. Hg. zwischenzeitlich mit gesellschaftl. ProbleHans Dieter Zimmermann. Gött. 2005. – Hermann men beim Aufbau des Sozialismus befasst Hesse. Sein Leben u. sein Werk. Hg. Volker Michels. Gött. 2006. – Gedichte. Hg. Eckhard Faul. Gött. hatten, noch einmal zum Arbeitsalltag in der Schwerindustrie. In launiger Volkstümlich2007. – Dramen. Hg. ders. Gött. 2008. Literatur: Manfred Steinbrenner: ›Flucht aus keit proletarischer Rede löst B. typologisch in der Zeit‹? Anarchismus, Kulturkritik u. christl. Wunder finden nicht alle Tage statt (Bln./DDR Mystik – H. B.s ›Konversionen‹. Ffm. 1985. – H. B. 1976) private Probleme der Arbeitskollegen (1886–1986). Leben u. Werk. Hg. Ernst Teubner. durch einen die Solidarität aller erfordernden Bln. 1986. – Philip Mann: H. B. An Intellectuell Betriebsunfall. Biography. London 1987. – Claudia Rechner-Zimmermann: Die Flucht in die Sprache. H. B.s ›Phantastenroman‹ im kulturgeschichtl. Kontext zwischen 1914 u. 1920. Marburg 1992. – E. Teubner: H. B. Eine Bibliogr. Mainz 1992. – Sabine Werner-Birkenbach: H. B. u. Hermann Hesse – eine Freundschaft, die zu Lit. wird. Komm.e u. Analysen zum Briefw., zu autobiogr. Schr.en u. zu B.s HesseBiogr. Stgt. 1995. – Dionysius DADA Areopagita. H. B. u. die Kritik der Moderne. Hg. Bernd Wacker. Paderb. 1996. – Erdmute Wenzel White: The Magic Bishop. H. B., Dada Poet. Drawer/Columbia 1998. – Cornelius Zehetner: H. B. Porträt einer Philosophie. Wien 2000. – Christoph Schmidt: Die Apokalypse des Subjekts: Ästhet. Subjektivität u. polit. Theologie bei H. B. Bielef. 2003. – H.-B.-Almanach. Hg. Stadt Pirmasens. Bearb. v. E. Teubner. F. 1–30, Pirmasens 1977–2006. Gerhard Schaub

Weitere Werke: Kathrin Wenzel. Bln./DDR 1958 (R.). – Wie du u. ich. Bln./DDR 1960 (R.). – Im Sommer danach. Bln./DDR 1966 (R.). – Ein Menschenleben später. Bln./DDR 1978 (E.). Detlef Holland / Red.

Ball-Hennings, Emmy Emmy

! Hennings,

Balticus, Martinus, * um 1532 München, † 1601 Ulm. – Neulateinischer Dichter, Dramatiker. Der Sohn unbemittelter Eltern wurde von dem Pfarrer Zacharias Weichsner im Lateinischen u. Griechischen unterrichtet. Seine weitere Ausbildung erhielt B. durch den bekannten Humanisten Johannes Mathesius in Joachimsthal, dann kurz in Wittenberg durch den alternden Melanchthon. Obwohl Lutheraner, wurde B. 1553, als Nachfolger von Hieronymus Ziegler, Lehrer für Poesie an der

323

Baluschek

Lateinschule in München. Hier entstanden berichtet. Dagegen führt B. uns auch in das seine Dramen Adelphopolae (Augsb. 1556), Lager Senacheribs, der zum Schluss sein Daniel (Augsb. 1558) u. Tobias (1558, verlo- trauriges Geschick bejammert; dann wird ren). 1559 verließ er als Protestant München selbst der Vatermord vorgeführt. Im Gegenu. siedelte nach Ulm über, wo er bis 1592 als satz zu Birck macht B. den Bösewicht Senacherib zum Helden. Einzig Naogeorg hatte Leiter der Lateinschule wirkte. B. erhielt die Anregung zu seinem dramat. vorher schon in Pyropolinices, in Hamanus u. in Wirken vom Vorgänger Hieronymus Ziegler, Judas Iscariotes den Bösewicht zur Zentralfigur dessen Günstling er wohl war. Ziegler folgte gemacht u. durch den Untergang dieser Figur in seinen späteren Dramen dem Stil der frü- eine »Tragödie« geschaffen. In dieser Form hen Humanisten; da es einzig auf das Wort wirkt der Senacheribus nicht nur weit dramaankam, wurde der Text nicht für das Agieren tischer als die früheren Bühnenstücke von B., von Schauspielern eingerichtet u. lediglich er wendet sich auch von allen seinen Dramen rezitativ vorgetragen. B. weicht im ersten am meisten den Zeitereignissen zu. SenacheDrama Adelphopolae nicht von dieser Praxis ab. rib verkörpert nämlich, wie im Prolog angeDie Behandlung des Joseph-Themas zeigt kündigt, »Turcae et alii Tyranni«. Im Epilog keine Beziehung zu einer der vielen anderen kann B. befriedigt sagen: »Vidistis exitumDramatisierungen desselben Stoffs. Auch B.’ que obitumque tragicum / Magni Tyranni qui Daniel bleibt Rezitation; allerdings fügt B. docet exemplo suo« (Ihr saht den Tod u. den nun Chöre nach einigen Akten ein. Im An- tragischen Untergang des großen Tyrannen, hang zu der Veröffentlichung des Dramas dessen Beispiel lehrt). B. leitete mehrfach Aufführungen der Palgibt B. eine lat. Übersetzung der Tragödie liata (Plautus u. Terenz). Seine lat. Gedichte Cyclops des Euripides. B. hatte als Protestant offenbar versucht, erschienen in den Poematum libri III. Additus est seine Stellung in München abzusichern; so et Epigrammatum libellus (Augsb. ca. 1560. Inwidmete er seine Adelphopolae dem Erzbischof ternet-Ed.: CAMENA: Abt. Poemata). B. vervon Salzburg, Michael Kienberg, seinen Da- fasste auch ein theologisches Werk, die niel dem Benediktinerabt Ludwig. In Ulm Christogonia (Ulm 1589). ließ B. 1579 sein erstes Drama u. d. T. Josephus Literatur: PGK 10, Sp. 497. – VD 16, B u. mit einer Widmung an Johannes Georgius 241–248. – Weitere Titel: Karl v. Reinhardstoettner: aus Freiberg noch einmal drucken. Im selben M. B. Ein Humanistenleben aus dem 16. Jh. BamJahr u. am selben Ort erschien eine eigene dt. berg 1890. – Franz Müller: Die Schulkomödie in Übersetzung. Auch macht er aus seinem Ulm. Diss. Tüb. 1926. – Ellinger 2, S. 224–227. – protestant. Glauben in seinem Widmungs- Ulrich Thürauf: M. B. In: NDB. – W. F. Michael: Das dt. Drama der Reformationszeit. Bern 1984. – brief kein Geheimnis: »homini remissionem DBA 53,52–74. Wolfgang F. Michael † / Red. peccatorum offerente per fidem«. Sein letztes Drama Senacheribus – geschrieben, aufgeführt u. gedruckt in Ulm 1590 – Baluschek, Hans, * 9.5.1870 Breslau, handelt von dem Assyrerkönig, der Jerusalem † 27.9.1935 Berlin; Grabstätte: Stahnsbelagert, aber durch eine Pest im Lager zur dorf (bei Berlin), Wilmersdorfer WaldUmkehr gezwungen u. in Ninive von seinen friedhof. – Maler, Zeichner u. Erzähler. eigenen Söhnen ermordet wird (2 Kön 18/9, 2 B. entstammte einer Breslauer BeamtenfamiChr 32). (Bei Luther heißt der Assyrerkönig lie. Er besuchte 1889–1893 die von Anton von Sanherib, der Judenkönig – bei B. Ezechias – Werner geleitete Berliner Akademie für die Hiskia. In der Bibel sucht der Engel Gottes bildenden Künste. Gleichzeitig hörte er die Assyrer heim.) Sixt Birck benutzte das- volkswirtschaftliche u. medizin. Vorlesunselbe Geschehen für sein erstes, noch dt. gen, um so jene Welt besser verstehen zu Drama Ezechias. Der humanist. Rezitations- können, die er dann mit fast allen seinen charakter zeigt sich in diesem Werk Bircks in Bildern u. Zeichnungen darstellte: die Berliextremer Weise: Die gesamte Handlung wird erzählt, selbst von Pest u. Abzug wird nur

Balzli

ner Vorstadt u. ihre Fabriken, das Leben der Arbeiter, Kleinbürger, Dirnen u. Zuhälter. Die Ausstellungen der Berliner Sezession, an denen B. regelmäßig teilnahm, trugen wesentlich dazu bei, dass sein im Gegensatz zur wilhelmin. Kunstauffassung entstandenes malerisches u. zeichnerisches Werk einem größeren Publikum bekannt wurde. 1924 wurde er Vorsitzender der Großen Berliner Kunstausstellung. Mit der Begründung, ein »marxistischer Künstler« zu sein, wurde B. 1933 von den Nationalsozialisten seines Amtes enthoben u. erhielt Berufsverbot. Seine Werke wurden als »entartete Kunst« gebrandmarkt. Auch B.s Erzählungen, die der Tradition des literar. Naturalismus verpflichtet sind, gehören ins »Bilderbuch des sozialen Lebens«. Sie spielen fast ausschließlich im Arbeiter- oder Kleine-Leute-Milieu u. berichten aus der Perspektive eines Ich-Erzählers auf anrührende Weise, ohne je pathetisch oder tendenziös zu sein, von vergebl. Versuchen, diesem Milieu zu entkommen, von der großen Liebe, die nur eine billige Verführung ist, oder von dem Bemühen, die Tristesse des Alltäglichen zu meistern.

324

später immer häufiger im Dialekt gehaltenen Erzählungen stets mit dem Lehrerberuf u. der Schulstube in Beziehung stehen. Im Zuge der Aufwertung der bäuerl. Volksliteratur verfasste B. auch zahlreiche, in Tonfall u. Thematik an Gotthelf anknüpfende Stücke für die dörfl. Liebhaberbühne. Als Radiomitarbeiter begann er ab 1947, Gotthelfs große Romane zu Dialekthörfolgen umzugestalten. Diese Produktionen fanden landesweit außergewöhnliches Echo, bis es im GotthelfJahr 1954 nach einer harschen Kritik des Literaturwissenschaftlers Walter Muschg an diesen »Gotthelf-Verballhornungen« zu heftigen Diskussionen um das Für u. Wider solcher Dialektbearbeitungen kam, die schließlich zu B.s Rückkehr in den Schuldienst führten. Weitere Werke: Meine Buben. Aarau 1927 (E.en). – Dr Schatte. Aarau 1927 (Dialekt-D.). – Von Blondzöpfen u. Krausköpfen. Aarau 1929 (Jugendbuch). – Burebrot. Aarau 1931 (Dialekt-E.). – Blick uf d’Wält. Bern 1959 (L.). – Bärnerchoscht. 2 Bde., Bern 1975/76. 31981 (Dialekt-E.en). – Meiebluescht. Bern 1979 (Dialekt-L.). – Der Läbchueche. Bern 1985 (Dialekt-L.). Charles Linsmayer / Red.

Weitere Werke: Spreeluft. Bln. 1913 (E.). – Enthüllte Seelen. Hbg./Bln. 1919/20 (E.). – Im Kampf um meine Kunst. In: Gartenlaube 68 (1920), H. 27, S. 448–450 (Ess.). – Großstadtgesch.n. Bln. 1924.

Bamm, Peter, eigentl.: Curt Emmrich, * 20.10.1897 Hochneukirch/Sachsen, † 30.3.1975 Zürich; Grabstätte: Hannover, Friedhof Stöcken. – Arzt; Verfasser Literatur: Günter Meißner: H. B. Dresden kulturhistorischer Schriften.

1985. – Margrit Bröhan: H. B. 1870–1935. Maler – Zeichner – Illustrator. Bln. 22002. Jens Haustein / Red.

Balzli, Ernst, * 10.4.1902 Bolligen bei Bern, † 3.1.1959 Bolligen bei Bern; Grabstätte: ebd., Friedhof Bolligen. – Erzähler, Verfasser von Dialekthörspielen, Jugendbuchautor. Nach einer entbehrungsreichen Jugend bildete sich der Sohn eines Handwerkers in Bern zum Volksschullehrer aus u. wirkte 24 Jahre in Grafenried/Bern, bis er Programmbearbeiter bei Radio Bern wurde. Schon als Seminarist hatte er Gedichte geschrieben, als Landlehrer aber wurde er zum Erzähler, wobei seine zunächst in hochdeutscher Sprache,

1914 zog B. als Freiwilliger in den Krieg, nach dessen Ende er Medizin u. Sinologie studierte. Als Schiffsarzt fuhr er nach Ostasien, Afrika u. Mexiko, als Vertreter einer Firma 1928/29 durch China. 1940–1945 war er Stabsarzt an der Ostfront. Nach dem Zweiten Weltkrieg lebte er als freier Schriftsteller in Süddeutschland u. unternahm Studienreisen in den Vorderen u. Mittleren Orient. 1956 wurde er Mitgl. der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt, 1957 des PEN-Clubs. 1923 begann er in den Feuilletons der »Deutschen Zukunft« u. der »Deutschen Allgemeinen Zeitung« heiter-iron. Betrachtungen zu den verschiedensten Themen, vornehmlich des alltägl. Lebens, zu veröffentlichen. Frühe Sammlungen dieser kurzen

325

Bandemer

Texte, mit denen sich B. in der Tradition opferbereiter Kameradschaft verherrlichen: Raabes, Buschs u. Lichtenbergs befand, waren »Der Kriegsgott entfesselt nicht nur die DäDie kleine Weltlaterne (Stgt. 1935), Der i-Punkt monen. Er macht auch die Engel mobil.« Die (Stgt. 1937) u. Der Hahnenschwanz (Stgt. 1939). Zwiespältigkeit des moral. Anliegens zeigt Das inhaltl. Anliegen dieser feuilletonist. sich bes. deutlich in Schuldbekenntnissen, Betrachtungen wurde in der Reihe seiner die moralisch unverbindlich bleiben: »Es ist Werke deutlicher. 1965 formulierte er es in keiner von uns ganz schuldig am Ausbruch der häufig als Krönung seines Werks be- der Barbarei. Es ist aber auch keiner von uns zeichneten Biografie Alexander oder Die Ver- ganz unschuldig.« wandlung der Welt (Mchn.) als den Wunsch, Weitere Werke: An den Küsten des Lichts. Va»den Geist von Hellas über die Welt zu ver- riationen über das Thema Aegaeis. Bln. 1962. – breiten«. Als Arzt, Wissenschafts- (speziell: Anarchie mit Liebe. Stgt. 1962 (Feuilletons). – Eines Medizin-) Kritiker (Ex ovo. Essays über die Me- Menschen Zeit. Mchn. 1972 (Autobiogr.). – Ein dizin. Hbg. 1948) u. Kulturforscher (Frühe Leben lang. Mit einer Einl. v. Friedrich Luft. Stgt. Stätten der Christenheit. Mchn. 1955. Großdr.- 1976 (Slg.). – Eines Menschen Einfälle. Hg. Walther Stehli. Stgt. 1977 (Slg.). Ausg. Mchn. 2003. Welten des Glaubens. Mchn./ Literatur: Ehrhard Bahr: Defensive KompenZürich 1959) wollte er dazu beitragen, die sation: P. B. ›Die unsichtbare Flagge‹ (1952) u. europ. Bildungstradition, die hellenistische Heinz G. Konsalik ›Der Arzt von Stalingrad‹ (1956). u. die christliche, zu bewahren u. zu ver- In: Von Böll bis Buchheim. Deutsche Kriegsprosa breiten. Von wiss. Seite häufig angegriffen, nach 1945. Hg. Hans Wagener. Amsterd. 1997, fanden seine Werke beim Publikum große S. 199–211. Walther Kummerow † / Red. Zustimmung. Die dt. Gesamtauflage liegt bei über drei Millionen Exemplaren. Zum größten Erfolg wurden für ihn seine Bandemer, Susanne von, geb. von FrankErinnerungen an seine Tätigkeit als Chirurg lin, * 2.3.1751 Berlin, † 30.12.1828 Koan der Ostfront, die 1952 u. d. T. Die unsichtblenz. – Lyrikerin u. Dramatikerin. bare Flagge (Mchn.), gemeint: der Humanität, erschienen. Die stürmische Aufnahme dieses B., eine Nichte Benjamin Franklins, war in Buchs (in zehn Jahren 630.000 verkaufte Ex- erster Ehe mit dem preuß. Major von Banemplare, zuletzt 131994) ist wahrscheinlich demer, nach der Scheidung mit einem Grafen mit dem damals verbreiteten Wunsch zu er- von Bohlen verheiratet. Als auch diese Ehe klären, Zeugnisse von einem »anderen aufgelöst wurde, ging sie zu ihrem ersten Deutschland« zu erhalten, das »soldatisch Mann zurück. B., die mit Karl Wilhelm anständig« geblieben war u. von den natio- Ramler, Anna Louisa Karsch, Wieland u. nalsozialist. Verbrechen nichts wusste. Zwar Herder befreundet war, schrieb v. a. Lyrik wurde an seiner von ihm als Bericht ausge- (Beiträge von ihr wurden u .a. im »Berliner gebenen Autobiografie die menschlich pa- Musenalmanach« u. in Wielands »Neuem ckende Darstellung gerühmt u. betont, dass Teutschen Merkur« gedruckt) u. Dramen. er sogar Humor beweise, doch kann er in Viele der Gedichte sind an ihre Dichterseinem anekdotisch erzählenden Stil nicht freunde gerichtet, in anderen huldigt sie den Anspruch stellen, die Wirklichkeit des Mitgliedern des preuß. Königshauses oder Krieges zu erfassen. In Inhalt u. Stil, in sei- preuß. Staatsmännern. Ein charakteristischer nem distanzierten, tatsächlich leicht humor- Zug der Dichtung B.s, die im Ruf einer gevollen Ton bleibt er ganz der Perspektive lehrten Dichterin stand, sind die Anspielunderjenigen verhaftet, die davongekommen gen auf Figuren der griech. Mythologie u. auf waren. Die histor. Zusammenhänge u. die antike Dichter, die z.T. in Anmerkungen erWirklichkeit derer, die nicht überlebt hatten, läutert werden. Von metrischer Versatilität beachtet er nicht. Vielmehr versteigt sich der zeugen die vielfältigen Gedichtformen u. Verfasser von der Betrachtung seiner zufälli- Reimschemata. gen Erlebnisse zu Sentenzen, die den Krieg Manchmal erweist sich B. als scharfe Kritials Schauplatz postulierter Männlichkeit u. kerin, so in ihrem Gedicht Der Richter, in dem

Bánk

326

sie eine verantwortungslose Rechtsprechung geißelt. Geradezu polemisch ist ihre anonym veröffentlichte Schrift über die langjährige Geliebte Friedrich Wilhelms II. von Preußen, Wilhelmine Enke (verh. Rietz): Biographische Skizze der Madame Ritz jetzigen Gräfinn von Lichtenau (Paris, recte Lpz. 1798). Im selben Jahr erschien ihr empfindsamer Roman Klara von Bourg, eine wahre Geschichte (1. u. einziger Bd., Ffm. 1798), den sie der Verfasserin der Geschichte des Fräuleins von Sternheim, Sophie von La Roche, widmete. Weitere Werke: Poet. u. prosaische Versuche. Bln. 1787. 2. verm. Aufl. Bln. 1802. – Sydney u. Eduard, oder was vermag die Liebe? Hann. 1792 (D.). – Knapp Edmund oder die Wiedervergeltung. Ffm. 1800 (D.). – Neue vermischte Gedichte. Bln. 1802. – Gedichte u. prosaische Kleinigkeiten. Neue Ausg. 2 Tle., Neustrelitz 1811. – Zerstreute Blätter aus dem letzten Zehntheil des abgeschiednen Jh. Koblenz 1821. Literatur: Adalbert v. Hanstein: Die Frauen in der Gesch. des Geisteslebens des 18. u. 19. Jh. Bd. 2, Lpz. 1900, S. 321 ff. – Edith Krull: Das Wirken der Frau im frühen dt. Zeitschriftenwesen. Diss. Charlottenburg 1939, S. 122 f. – Helga Slessarev: S. v. B.s Beitr. zur Entwicklung des Briefromans. In: GoetheJb 30 (1968), S. 132–137. – Hans Bandemer: S. v. B.: Ein Frauenschicksal in der zweiten Hälfte des 18. Jh. In: Ekkhard 7 (2000), S. 109–115. Bettina Eschenhagen / Red.

Bánk, Zsuzsa, * 24.10.1965 Frankfurt/M. – Prosaautorin. B. wuchs als Kind ungarischer Flüchtlinge in Frankfurt/M. auf, wo sie dann als Buchhändlerin arbeitete. Später studierte sie in Mainz u. Washington D.C. Publizistik, Politik- u. Literaturwissenschaft u. lebt heute als freie Schriftstellerin in Frankfurt/M. Für ihre erste Buchpublikation, den Roman Der Schwimmer (Ffm. 2002), erhielt sie mehrere Literaturpreise, u. a. den Aspekte-Literaturpreis (2002), den Deutschen Bücherpreis Kategorie Literarisches Debüt (2003) u. den Adelbert-von-Chamisso-Preis (2004). Für ihre Erzählung Unter Hunden bekam sie den Bettina-von-Arnim-Preis (2003). Der Roman Der Schwimmer ist räumlich in Ungarn, zeitlich zwischen Ungarnaufstand 1956 u. Niederschlagung des Prager Früh-

lings 1968 angesiedelt, aber die histor. Ereignisse geben nur den düsteren Hintergrund für die seel. Verfassung der Figuren u. die Atmosphäre des Stillstands im Ungarn der 1950er u. -60er Jahre. Es geht um ihre Auswirkungen auf das Leben der Familie, in der eine Frau sich von ihrem Mann u. ihren zwei Kindern ohne Abschied getrennt hat u. in den Westen geflohen ist. Der Vater Kálmán verlässt mit den Kindern Haus u. Heimatdorf u. sucht wechselndes Obdach bei Verwandten, zunächst in Budapest, meist aber auf dem Land, verbunden mit mehrfachem Ortswechsel. Der Roman konzentriert sich auf die mosaikartige Darstellung von Personen u. Landschaften aus der Sicht der Icherzählerin Kata, der halbwüchsigen Tochter, die v. a. Hüterin ihres jüngeren Bruders Isti ist u. zu verstehen sucht, was sich um sie herum abspielt. Die Wirklichkeit wird so aus der Perspektive des Kindes in Bruchstücken u. mit vielen Leerstellen wahrgenommen. Der Vater kapselt sich immer mehr ab bis zum vollständigen Verstummen, u. auch Isti lebt in seiner eigenen irrealen Welt. Nur das Leben am Wasser, v. a. am Plattensee, vermittelt ihnen im Schwimmen flüchtige Momente des Glücks, bis Isti, der Schwimmer, seinen Bildern der Fantasie folgend, durch einen Unfall im vereisten Fluss den Tod findet. Weiteres Werk: Heißester Sommer. Ffm. 2005 (E.en). Literatur: Hans-Peter Kunisch: Es waren zwei Ungarnkinder. Vom Aufwachsen in Zeiten der Verlassenheit. Z. B.s erstaunl. Romandebüt ›Der Schwimmer‹. In: Süddt. Ztg., 21./22.9.2002. – Peter Nadas: Ein Lob des doppelten Blicks. Z. B. hat einen herzzerreißenden ungar. Roman geschrieben. In: Zeitlit. Nr. 47, Nov. 2002. – Sibylle Cramer: Der geteilte Himmel über Ungarn. Z. B.s meisterl. Debütroman ›Der Schwimmer‹ über das Zerreißen einer Familie. In: Frankfurter Rundschau, 27.11.2002. – Hubert Spiegel: Sirup u. Jauchegruben. Z. B.s poet. Debütroman. In: FAZ, 3.12.2002. – Thomas Kraft: Z. B. In: LGL. Irmgard Ackermann

327

Bapst (auch: Babst), Michael, * 1540 (getauft am 24.8.) Rochlitz, † 19.4.1603 Mohorn bei Freiberg/Sachsen. – Übersetzer, Dichter, Sachbuchpublizist.

Bar

schriebenen Arznei-, Kunst- u. WunderbuchLiteratur für den »gemeinen Mann«. Literatur: Bibliografie: Eduard Schubert u. Karl Sudhoff: Die Schr.en des M. B. v. Rochlitz. (1540–1603). Eine bibliogr. Studie. In: ZfB 7 (1889), S. 537–549. – Weitere Titel: Wilhelm Scherer u. A. Hirsch: M. B. In: ADB. – E. Schubert u. K. Sudhoff: M. B. v. Rochlitz, Pfarrer zu Mohorn, ein populärer medizin. Schriftsteller des 16. Jh. In: Neues Archiv für Sächs. Gesch. u. Altertumskunde 11 (1890), S. 78–116. – Robert Herrlinger: M. B. In: NDB. – Kosch, Bd. 1 (1968), S. 260 f. – Joachim Telle: Die ›Magia naturalis‹ Wolfgang Hildebrands. In: Sudhoffs Archiv 60 (1976), S. 105–122, hier S. 116 f. Joachim Telle

Nach Besuch der kursächsischen Landesschule Pforta u. der Universität Leipzig (1564) wirkte B. an der Rochlitzer Schule (1569), von 1571 bis zu seinem Tode dann als Pfarrer u. Knabenerzieher in Mohorn. B. beteiligte sich an der dt. Euripides- (Iphigenie-Übersetzung 1584) u. Terenz-Rezeption (Rythmologia. 1590) u. bereicherte das Repertoire des dt. Schultheaters (Der Bawrn Fastnacht. Lpz. 1590). Erfolg u. Nachruhm aber sicherten ihm seine thematisch weit gespannten, teilweise dickleibigen Gebrauchsschriften: B.s Bar, Georg Ludwig von, * 6.1.1701 HanPublizistik galt der Türkengefahr (Türckische nover, † 6.8.1767 Gut Barenaue bei OsChronica. Lpz. 1593. Prognosticon [...] von des nabrück. – Domherr, später Domsenior in Türckischen Reichs Abnemen. Jena 1595. Tür- Minden, Erblanddrost des Stifts Osnackenpredigt. Freiberg 1601), betraf Natur- brück; dichtete in französischer Sprache. kundliches (Wetterspiegel. Lpz. 1589) u. astro- Bs. Vater Heinrich Sigismund B. diente seit nomisch-astrolog. Wissen (Der Sieben Planeten 1698 am kurfürstl. Hof in Hannover, an dem lauff vnnd Wirckung. Lpz. 1594). Außerdem B. aufwuchs u. eine frz. Erziehung erhielt. verfasste B. eine Verhaltenslehre für Soldaten Dort rezipierte er die Literatur der frz. Klas(Speculum belli. Freiberg 1597), mehrte die sik. 1717 begab er sich in Begleitung des Jahrhundertwende-Literatur u. das orthodox- schweizerischen Gelehrten Jean de la Forest protestant. Schrifttum zur Gottesdienstord- auf Europareise. In Utrecht begann er ein nung (Postilla. Eisleben 1603). Echo in der Jurastudium, suchte dann Aufnahme am Hof popularen Wissensliteratur des Barock (J. des Pfalzgrafen Karl Philipp in Heidelberg u. Praetorius, M. Zeiller) fanden vorab B.s wurde Volontäroffizier in Straßburg, bevor er Schriften zur Selbsthilfe für »Hausväter« u. 1721 protestant. Pfründe in Minden erwarb. »Hausmütter« (Leib vnd Wund Artzneybuch. Später wurde er dort kurköllnischer LegatiTle. 1–3, Eisleben 1596/97. Pimelotheca. Eis- onsrat u. Domsenior. Erst 1740 publizierte er leben 1599. Iuniperetum. Hg. Joachim Tancke. sein erstes literar. Werk, die Epîtres diverses sur Eisleben u. Lpz. 1605), aus aktuellen Sach- des sujets différens (London [recte Amsterd.] büchern geschöpfte Exzerptsammlungen, die 1740, 2. Bd. 1745. Mikrofiche-Ed. Wildberg das Verlangen lateinunkundiger »Laien« 1989/90). Die Briefe an literarische u. histor. nach Realienwissen, aber auch nach unter- Persönlichkeiten sind im Alexandriner verhaltsamen Lesestoffen (»Historien«) stillten. fasst. 1755 erschien der 3. Band der Epîtres mit Sie verraten allenorts einen eklekt. Kompila- dem Untertitel Rêveries poétiques. Ab 1741 tor, aber keinen Paracelsisten. Manche dieser lebte B. neun Jahre in Hamburg u. befreunliterar. Hilfen zur Daseinsbewältigung be- dete sich dort mit Friedrich Hagedorn, den er rücksichtigten durchaus mehrere Bereiche als »Sohn« bezeichnete, u. Barthold Heinrich der Haus- u. Hofhaltung, flankierten insofern Brockes. In Briefkontakt stand B. zudem mit die sich deutschsprachig formierende Oeco- Friedrich dem Großen. nomica-Literatur. Mit seinem Ertzney/ Kunst/ Bs. Werke, die alle in frz. Sprache verfasst vnd Wunderbuch ([Lpz.] 1590) u. Gifftjagenden sind, wurden ins Deutsche übersetzt. GottKunst vnnd Haußbuch (Lpz. 1591) schuf B. sched bezeichnete B. als »besten französiPionierwerke der dann bald von Wolfgang schen Dichter Deutschlands«, die Epîtres Hildebrand u. Balthasar Schnurr fortge- brachten ihm die Verehrung Christoph Mar-

Barlach

tin Wielands ein. Neben den belletrist. Werken veröffentlichte B. pädagogische u. volkswirtschaftl. Aufsätze. Werke: Consolations dans l’infortune. Poème en sept chants. Hbg. 1758. – Babioles littéraires et critiques en prose et en vers. 5 Bde., Hbg. 1760–64. – L’Anti-Hegesias, Dialogue en vers sur le suicide. Avec de remarques critiques et historiques. Hbg. 1762. Literatur: Carl Christian Reckert: Beantwortung des Briefes an mein Vaterland an den Freyherrn v. B. Münster/Hamm 1770. – Jöcher/Adelung 1, Sp. 1403 f. – Heinrich Wilhelm Rotermund: Das gelehrte Hannover. Bd. 1, Bremen 1823, S. 92. – B. In: ADB. – Ludwig Schirmeyer: G. L. v. B., ›Der beste frz. Dichter Deutschlands‹, ein Vorbild Wielands u. Freund Mösers. In: Mitt.en des Vereins für Gesch. u. Landeskunde v. Osnabrück 32 (1907), S. 1–71. – Wilhelm Kosch: B. In: Kosch. – L. Schirmeyer: B. In: NDB. Lea Marquart

Barlach, Ernst, * 2.1.1870 Wedel/Holstein, † 24.10.1938 Rostock; Grabstätte: Ratzeburg, Friedhof St. Petri. – Dichter, Bildhauer u. Zeichner. B. wuchs in Wedel, Ratzeburg u. Schönberg bei Lübeck auf. Als 14-Jähriger verlor er, ältester von vier Söhnen, den Vater, der Landarzt war. B. lernte an der Kunstgewerbeschule in Hamburg (1888–1891), studierte an der Kgl. Akademie für bildende Künste in Dresden (1891–1895), lebte in Paris, Friedrichroda, Wedel, Berlin, Florenz u. in Güstrow. Hier entstand von 1910 bis 1938 das Hauptwerk: sämtl. Dramen, alle großen Bildhauerarbeiten, das grafische Werk, die Romane, das Güstrower Tagebuch 1914–1917 (Verden an der Aller 1943). Biografische Voraussetzungen dafür waren: Gewissheit über die eigenen künstler. Möglichkeiten durch eine 1906 unternommene Russlandreise (Russisches Tagebuch. Bln. 1940) u. durch einen Aufenthalt in Florenz (1909); die bewusst gesuchte Verantwortung für den 1906 unehelich geborenen Sohn, um den er zwei Jahre lang prozessierte; ein mit dem Kunsthändler u. Verleger Paul Cassirer 1907 geschlossener Vertrag, der ihm ein monatl. Fixum garantierte, u. die Versorgung von Sohn u. Haushalt durch die Mutter, zu der er 1910 nach Güstrow zog.

328

Güstrow, seine Menschen u. seine Umgebung wurden zum Material seines dichter. Werks. Bes. in seinem Drama Die Echten Sedemunds (Bln. 1920) u. in seinem Roman Der Gestohlene Mond (entstanden 1936/37, ersch. Bln. 1948) zeichnete B. mit grimmigem Humor das Portrait einer veränderungsbedürftigen Gesellschaft. 1924 erhielt er die höchste Ehrung für einen Dramatiker, den KleistPreis. Die Ehrendoktorwürde der Universität Rostock schlug er aus, ebenso Professuren in Berlin u. Dresden. Mit der NS-Herrschaft setzte sein Ruin ein. Im Jan. 1933 sprach er im Deutschlandsender von der Gedankenfreiheit, die eine landesverräterische Ehemaligkeit geworden sei. Im Febr. 1933 wurde er Ritter der Friedensklasse des Ordens Pour le Mérite. Im Mai 1933 verbrannte man seine Bücher. Es folgten Aufführungsverbot, Verleumdung, Verfemung. Seine Bildwerke wurden aus Kirchen u. Museen entfernt u. zerstört oder gegen Devisen verkauft. B.s letzte Jahre waren ein Martyrium. Er starb in einer Rostocker Privatklinik, 68 Jahre alt. Für B.s dichterisches Werk sind die Folgen des Naziterrors bis heute nicht überwunden. Dramen brauchen Aufführungen; Geschriebenes braucht Buchausgaben. Erst 21 Jahre nach seinem Tod lagen seine Schriften zum ersten Mal gesammelt vor (Das dichterische Werk. 3 Bde., Mchn. 1956–59). Die 1969 abgeschlossene Edition seiner nahezu 1500 Briefe zwischen 1888 u. 1938 (Hg. Friedrich Droß. 2 Bde., Mchn. 1968/69) steht an Bedeutung in literarischer wie zeitgeschichtl. Hinsicht anderen großen Briefausgaben wie etwa der Thomas Manns nicht nach. Erst seit 1988 gibt es eine Taschenbuch-Gesamtausgabe seiner Dramen in Einzelbänden, u. deren vollständige Aufführungsgeschichte in einer Gesamtdarstellung ist erst 2007 erschienen. Ein Vergleich zwischen dem Frühwerk u. dem Spätwerk des Bildhauers B. mit dem Frühwerk u. Spätwerk des Schriftstellers B. zeigt, dass B.s Sprachstil wesentlich früher ausgeprägt u. unverwechselbar war. Schon in der ersten Prosa (Reise des Humors und des Beobachtungsgeistes) personifiziert er nicht nur Überzeugungen u. Gefühle; er macht die Elemente zu Gestalten, die Steine reden ihm.

329

Seine Sprache ist deftig-konkret u. zgl. umständlich-genau. Er empfand die »Ungehörigkeiten, die im Bestand der Dinge allzu sicher hausten«, sah die tränenvolle Seele »im Morast ihrer abgründigen Problemlosigkeit« (Der Gestohlene Mond, Romanfragment), hörte, »was das Stillschweigen im Versteck der Worte flüstert« (Der Tote Tag, Drama). Weil es sich oberflächlicher Betrachtung verschließt, taugt B.s Werk nicht zu Verallgemeinerungen. »Man soll immer ›Vertreter‹ von etwas sein, man soll irgendwohin ›gehören‹, als ob es nicht genügte, dass man man selbst ist!« (Brief an August Gaul). Den Urheber solchen Anspruchs hat man »Spökenkieker« geheißen, »Backsteinmystiker«, »Norddeutscher Expressionist«. B. selbst hat sich die weltanschaul. Rubrizierung als »Gottsucher« u. die Verrätselung seiner Werke als »mystisch« schon 1932 in der dän. Zeitung »Politiken« verbeten. B. ist kein Schuld-u.-Sühne-Dramatiker. Es ging ihm um die geschundene Kreatur. »Im Menschenleben werden wir schlimmer zugerichtet als Eisbären, Kondoren, Affen und Löwen« (Seespeck, Romanfragment). Den Menschen hielt er für einen fehlgeschlagenen Versuch der Natur. Die Vorstellung von einem persönl. Gott hielt er für absurd. Wiedergutmachungsbeflissen führte man nach dem Zweiten Weltkrieg B.s Sündflut auf – in krasser Verkehrung seiner Intention. Noah war ja das Porträt des autoritätsgläubigen Menschen, der sich einen Gott nach seinem Bilde gemacht hat; der es für ganz normal hält, dass die Ausrottung anderen zugedacht ist. Als Noahs Widersacher Calan von Erde, Wasser u. Ratten nicht mehr zu unterscheiden ist, erkennt er Gott als das Prinzip, das schafft u. vom Geschaffenen neu geschaffen wird: »An mir wächst Gott und wandelt sich weiter mit mir zu Neuem!« An Calan wächst die Schöpfung, weil er nicht alles Gute »von oben« erwartet. Veränderung ist nur möglich, wenn Menschen sich verantwortlich fühlen für sich selbst u. für den Zustand der Welt. So lange die Chance besteht, Verantwortung abzuschieben, ändern gesellschaftl. Veränderungen nichts an der Natur des Menschen.

Barlach

Im nachgelassenen Roman Der Gestohlene Mond hat B. das Satanische in der Maske des Biedersinns porträtiert. Er formuliert jene ungreifbaren Prozesse, wie in aller Wohlanständigkeit aus Verleumdung Mord wird. Der Gestohlene Mond ist darüber hinaus ein Buch über die offenbar unbegrenzbare Bereitschaft von Menschen, sich mit allem abzufinden, selbst mit dem Verzicht auf das Licht: »Aber die Dunkelheit über uns wird sein, als wäre das Licht nie gewesen, und sie werden sagen, was fragen wir nach Licht – fort mit Licht und Helle [...].« Seine zwanghafte Beschäftigung mit dem Drang nach Höherem hat B. immer auch mit Humor quittiert u. sich u. sein Dauerthema im Drama Der Blaue Boll gründlich auf den Arm genommen. Da schaltet er mit Himmel u. Hölle wie Goethe im Faust, u. auch B.s ewig Strebenden wird das ersehnte Werden zum sauren Müssen. »Teufel und Gott sind Eins. Eins ist Zwei, also« (Theodor Däubler, Prosaschrift). Der Witz, dass Boll nicht Mephisto braucht, um zu wissen, was die Welt im Innersten zusammenhält, u. gleich dahin marschiert, wo Grete ist u. mit ihr die Chance zur Reserve-Erlösung – Grete die Erlösung aber vom Teufel in der Hölle besorgt wird, wodurch ihre Kinder gerettet werden –, u. was dergleichen handfeste Verdrehungen des Kulturgutes mehr sind, muss vielen Regisseuren entgangen sein. Sonst wäre die Aufführungsgeschichte von B.s Dramen nicht auch eine Geschichte der Humorlosigkeit. »Ich bin ein Spieler von Profession« lautet die erste Gedichtzeile B.s Zu einem Selbstbildnis. Die eigene Entwicklung bis 1910 schildert B. ironisch-humorvoll in Ein Selbsterzähltes Leben (Bln. 1928), inzwischen als eine der bedeutendsten Künstler-Autobiografien der Weltliteratur anerkannt. Der Fragment gebliebene Roman Seespeck (Bln. 1920. 1948) behandelt, kaum weniger autobiografisch, B.s Wedeler Tage, die Zeit des Werdens 1901–1904, »immer noch übervoll von Schwäche, Irren, Maßlosigkeit und Verlorengehen an alles durchsichtig Ungestaltbare«. In der Figur des Freundes Theodor Däubler hat er der eigenen, bürgerlich-mühsamen Entwicklung die eruptiv-genial. Künstlerexistenz gegenübergestellt.

Baroth

330

Die Charaktere seiner Dramen sind die Hbg. 1984. – Margarethe Heukäufer: Sprache u. Personifizierung seiner eigenen Widersprü- Gesellsch. im dramat. Werk. E. B.s. Heidelb. 1985. che. Selbst im Drama Der tote Tag (Bln. 1912), – Friedrich Schult: B. im Gespräch. Lpz. 1985. – in der Bildersprache des Mythos, schreibt B. Tom Crepon: Leben u. Leiden des E. B. Rostock 1988. – Ditte Clemens: Marga Böhmer. Schwerin aus autobiogr. Perspektive: Der Sohn zwi1996. – B. u. Goethe. Hg. Jürgen Doppelstein. schen Vater Himmel u. Mutter Erde, zwi- Zwickau 1997. – B. auf der Bühne, Inszenierungen schen geistigem u. leibl. Prinzip. Der Vater- 1919–2006. Hg. Andrea Fromm u. Helga Thieme. Sohn-Konflikt, in dem der Sohn immer auch Hbg./Güstrow 2007. Helmar Harald Fischer die Rechte der Mutter behauptet (z.B. auch im Drama Die Echten Sedemunds), dient B. zgl. Baroth, Hans Dieter, eigentl.: Dieter als Muster für das Duell des Menschen mit Schmidt, * 12.2.1937 Oer-Erkenschwick. sich selbst, eine B.’sche Grunderfahrung: Im – Verfasser von Fernsehfilmen u. RomaDrama Der Arme Vetter (Bln. 1918) ist die nen. »Unzufriedenheit mit dem eigenen Ausmaß« Gestalt geworden, nicht nur in Hans Iver, B. verbrachte Kindheit u. Jugend im Ruhrdem es zu wenig ist, nur »Armer Vetter« im gebiet u. war später in verschiedenen Berufen Kosmos zu sein, sondern auch in dessen tätig. Er arbeitete als Bergmann, nahm Gelebürgerl. Erscheinung Paul Siebenmark, der in genheitsarbeiten an, war Jugendsekretär eisich selbst wie in einer Falle steckt: »Ich ner Gewerkschaft, Pressesprecher, Autor von bringe dich um, du Hund, du Ich!« Die un- Fernsehfilmen u. Chefredakteur der DGBeingeschränkte Aktualität seines Werkes auf Wochenzeitung »Welt der Arbeit«. Sein erster der Bühne erklärt sich auch daraus, dass B. Roman Aber es waren schöne Zeiten (Köln 1978. die unauflösl. Widersprüche seiner Themen Mchn. 1982) handelt von der Kindheit u. Junie in Scheinlösungen aufgehoben hat. Seine gendzeit des Protagonisten in einer kleinen Unabhängigkeit von allem, was zu seiner Zeit Bergarbeitersiedlung am Rande des Ruhrgeim Literaturbetrieb Geltung hatte, macht ihn biets u. erweist B. als einen genauen Kenner der Arbeitswelt des Ruhrgebiets. In seinem heute gegenwärtig. zweiten Roman Streuselkuchen in Ickern (Köln Ausgaben: Das graph. Werk. Bearb. v. Friedrich 1980. Mchn. 1983) schildert B. die Schicksale Schult. Hbg. 1960. – Prosa aus vier Jahrzehnten. einer im nördl. Ruhrgebiet ansässigen BergHg. Elmar Jansen. Bln. 1966. – Das plast. Werk. Bearb. v. F. Schult. Hbg. 1971. – E. B. Dramen. Hg. arbeiterfamilie vor dem Hintergrund der geHelmar Harald Fischer. Tb.-Ausg. in 8 Bdn., Mchn. schichtl. Entwicklung dieser Region. Die 1986–88. – E. B.-Stiftung: Der E. B.-Nachl. in Handlung setzt mit der Einwanderung polGüstrow. Güstrow 1995. – E. B. Sämtl. Werke. Krit. nischer Arbeiter zu Beginn des 20. Jh. ein u. Textausg. Hg. Ulrich Bubrowski u. a. 4 Bde., Lpz. reicht bis in die Gegenwart. B.s Figuren 1998–2002 (ursprünglich 14 Bde. geplant). bleiben ihrer proletarischen Herkunft verLiteratur: Paul Schurek: Begegnungen mit B. haftet, selbst wenn es ihnen gelingt, eine Hbg. 1946. – Walter Muschg: E. B.s Briefe u. der kleinbürgerl. Existenz aufzubauen. Dichter E. B. In: Die Zerstörung der dt. Lit. Bern In den Achtzigerjahren wurden der Fuß3 1958. – Adolf Muschg: Der Dichter u. das Andere. ball im Ruhrgebiet u. seine Geschichte zu E. B.s dichter. Werk aus seinem Problem gedeutet. einem neuen Schwerpunkt in B.s Schaffen. Diss. Zürich 1959. – Karl Barlach: Mein Vetter E. B. 1990 übersiedelte B. in eine Ostberliner Bremen 1960. – Franz Fühmann: E. B. Das Plattenbausiedlung u. berichtete in einem schlimme Jahr. Rostock 1963. – Elmar Jansen: E. B. Reportagebuch über die gesellschaftl. VeränWerk u. Wirkung. Bln. 1972. – Herbert Kaiser: Der derungen im Prozess der Wiedervereinigung Dramatiker E. B. Mchn. 1972. – Naomi JacksonGroves: E. B. Leben im Werk. Königst./Ts. 1972. – (Aber jetzt ist überall Westen. Bln. 1994). Auch Manfred Durzak: Das expressionist. Drama. E. B. heute lebt u. arbeitet er in Berlin. 1992 erhielt B. für sein Gesamtwerk den Ernst Toller. Fritz v. Unruh. Mchn. 1979. – Ernst Piper: E. B. u. die nationalsozialist. Kunstpolitik. Literaturpreis Ruhrgebiet. Eine dokumentar. Darstellung zur entarteten Kunst. Mchn. 1983. – Catherine Krahmer: E. B.

Bartels

331 Weitere Werke: Das Gras wuchs ja umsonst. Köln 1983 (R.). – Das Revierbuch (130 farbige Fotos v. Verf.). Köln 1985. – Mann ohne Namen. Essen 1987 (R.). – Jungens, euch gehört der Himmel. Die Gesch. der Oberliga West zwischen 1947 u. 1963. Essen 1988. Erw. Neuaufl. 2006 (Sachb.). – Des dt. Fußballs wilde Jahre. Essen 1991 (Sachb.). – Unsere letzten Zechen. Mit literar. Texten aus fünf Jahrhunderten. Essen 1991 (Bildbd.). – Als der Fußball laufen lernte. Essen 1992 (Sachb.). – Anpfiff in Ruinen. Essen 1994 (Sachb.). – Das werde ich nie vergessen. Gesch.n aus dem Ruhrgebiet. Essen 2005. – Nie mehr Wattenscheid. Oder: Merkel trägt kein Toupe. Oberhausen 2006 (R.). Literatur: Donna L. Hoffmeister: Interview mit H. D. B. am 9.12.1984. In: Ders.: Vertrauter Alltag, gemischte Gefühle. Bonn 1989, S. 82–97. – Thomas Kraft: M. B. In: LGL. Heino Freiberg / Eva-Maria Gehler

Bartels, Adolf, * 15.11.1862 Wesselburen/ Dithmarschen, † 7.3.1945 Weimar. – Lyriker, Erzähler, Dramatiker, Literaturhistoriker. Der Schlossermeistersohn B. musste mangels finanzieller Mittel das Gymnasium in Meldorf ohne Abschluss verlassen. Er verdingte sich als Privatlehrer in Hamburg, dann als Amtsgerichtsschreiber in Meldorf u. hielt dort Vorlesungen über Literatur u. Geschichte. Von 1885 bis 1887 studierte er in Leipzig u. Berlin Literatur, Geschichte, Kunstgeschichte u. Philosophie. Zwischen 1889 u. 1895 war er Redakteur der »Didaskalia« in Frankfurt u. zeitweise des »Schauenburgschen Volks- und Familien-Kalenders« in Lahr. 1895 ließ er sich als Schriftsteller in Weimar nieder, wo ihn der Großherzog 1905 zum Professor ernannte. B. betätigte sich als Herausgeber deutscher Literatur u. hinterließ ein umfangreiches schriftsteller. Werk: einige Lyrikbände, Erzählungen u. histor. Romane aus der Geschichte Schleswig-Holsteins wie Die Dithmarscher (Kiel 1898. 61935), Dramen über Künstler u. histor. Persönlichkeiten, Aufsätze, Vorträge, Monografien u. a. über Jeremias Gotthelf, Klaus Groth, Gerhart Hauptmann u. Martin Luther, außerdem schrieb er Handbücher zur dt. Literatur. All diese Veröffentlichungen spiegeln B.’ völkisch-rassist.

Einstellung. Seine Geschichte der deutschen Literatur (2 Bde., Lpz. 1901/02. Große Ausg. in 3 Bdn., Lpz. 1924–28) gehörte im Dritten Reich zu den Standardwerken der Literaturgeschichte. 1942 wurde er Ehrenmitgl. der NSDAP u. erhielt das goldene Parteiabzeichen. B. gehörte mit Friedrich Lienhard, Ernst Wackler u. a. der Heimatkunstbewegung an, die sich gegen Stadt, Industrie u. Vergesellschaftung ebenso wandte wie gegen jede avantgardist. Kunstrichtung (Naturalismus, Expressionismus). Ihre Anhänger propagierten den Rückzug ins bäuerl. Milieu u. eine hier verwurzelte, bodenständige Literatur. Mit betonter Heimatliebe verbanden manche von ihnen einen fanat. Antisemitismus. Sie waren die Vorläufer u. Wegbereiter der nationalsozialist. Kulturpolitik. B. behauptete von sich, es sei eines seiner besonderen Verdienste gewesen, die Scheidung zwischen Deutschen u. Juden in der dt. Literaturgeschichte durchgeführt zu haben. Viele seiner Werke galten im Dritten Reich als beispielhaft. Weitere Werke: Dichterleben. Schauenburg 1890 (Dramat. Dichtungen). – Die dt. Dichtung der Gegenwart. Lpz. 1897. – Das Weimarische Hoftheater als Nationalbühne für die dt. Jugend. Weimar 1905 (Denkschr.). – Rasse. Sechzehn Aufsätze zur nat. Weltanschauung. Hbg. 1909. – Judentum u. dt. Lit. Bln. 1912 (Vortrag). – Die Berechtigung des Antisemitismus. Eine Widerlegung der Schr. v. Herrn v. Oppeln-Bronikowski, ›Antisemitismus‹. Lpz. 1921. – Der Nationalsozialismus. Deutschlands Rettung. Lpz. 1924. – Jüd. Herkunft u. Literaturwiss. Lpz. 1925. – Herausgeber: Adelbert v. Chamisso. Sämtl. Werke in 4 Bdn., Lpz. 1898. – Friedrich Hebbel. Sämtl. Werke. Lpz. 1904. Literatur: Karl Otto Conrady: Vor A. B. wird gewarnt. Aus einem Kapitel mißverstandener Heimatliebe. In: Ders.: Lit. u. Germanistik als Herausforderung. Ffm. 1974. – Manfred Stoppel: A. B.’ Weg zur Heimatkunst. Eine revisionist. Betrachtung. Diss. Innsbr. 1989. – Rainer Brändle: Antisemit. Literaturhistorik: A. B. In: Antisemitismus. Zionismus. Antizionismus 1850–1940. Hg. Renate Heuer u. Ralph-Rainer Wuthenow. Ffm. 1995, S. 35–53. – Thomas Rösner: A. B. In: Hdb. zur ›Völkischen Bewegung‹ 1871–1918. Hg. Uwe Puschner u. a. Mchn. 1996, S. 874–894. – Steve N. Fuller: The Nazis’ literary grandfather: A. B. and cultural extremism 1871–1945. New York 1996. –

Barth Thomas Neumann: Völkisch-nat. Hebbelrezeption. A. B. u. die Weimarer Nationalfestspiele. Bielef. 1997. – Manfred Stoppel: A. B.: Eine Bio-Bibliogr. Toppenstedt 2002. Angelika Müller / Red.

Barth, Caspar von, latinisiert: Gasparus Barthius, auch: Tarraeus Hebius, * 22.6. 1587 Küstrin, † 18.9.1658 Sellershausen bei Leipzig. – Verfasser neulateinischer u. deutscher Gedichte; Philologe u. Übersetzer. B. gehörte zu einer ursprünglich aus Süddeutschland zugewanderten adeligen Familie in brandenburgischen Diensten. Sein Vater war Kanzler der Neumark mit Sitz in Küstrin, der Bruder Carl (Übersetzer von d’Urfés Astrée) fiel 1632 im Kampf gegen kaiserl. Truppen. Nach dem Besuch von Schulen in Eisenach u. Gotha immatrikulierte sich B. in Wittenberg (1607) u. erregte dort als frühreifer Wunderknabe (»monstrum ingenii«) die Aufmerksamkeit des namhaften Philologen u. nlat. Dichters Friedrich Taubmann. Bereits aus der Schulzeit stammte B.s mehrfach nachgedruckte sprachtheoret. Epistola de lingua latina (o. O. 1608). Nach kurzem Aufenthalt in Jena begab sich B. auf eine längere Bildungsreise (1609–1618/19), die ihn nach den Niederlanden, Italien, Frankreich, angeblich auch nach England u. Spanien führte. B.s Verehrung u. Freundschaft galt den großen europ. Philologen bzw. späthumanist. Dichtern Isaac Casaubonus, Joseph Scaliger u. Daniel Heinsius. Daneben pflegte er auch Kontakte zu den Jesuiten, den oberrhein. Gelehrtenzirkeln, zu Melchior Goldast in Frankfurt u. zu dem Wittenberger Professor Augustus Buchner. Eine sich anbahnende Freundschaft mit Martin Opitz wurde von B. aufgekündigt, wie er sich überhaupt gegen Ende seines Lebens menschenscheu auf einen engen Kreis von Vertrauten zurückzog (darunter der Zwickauer Rektor Christian Daum; die mit ihm u. anderen Gelehrten unterhaltene Korrespondenz ist größtenteils ungedruckt). Finanziell unabhängig, konnte sich B. ganz seinen gelehrten Arbeiten widmen. B. gehört mit seinem weitläufigen, schwer überschaubaren u. erst in Ansätzen erforschten Werk zu den literar. Schlüsselgestalten

332

des frühen 17. Jh. Poetische Produktivität u. Übersetzertätigkeit standen bei ihm in engem Zusammenhang mit philologischer u. editor. Arbeit. Seine Textausgaben u. Kommentare umfassten nicht nur die antiken, v. a. die kaiserzeitl. Autoren, sondern auch den Bereich der patrist. u. mittelalterl. Literatur: B. edierte u. a. die pseudo-vergilische Ciris (Amberg 1608), die Werke Claudians u. des Statius (postum Lpz. 1664), ferner Nemesian, Calpurnius, Aeneas Gazaeus u. legte Kommentare u. a. zu Petronius’ Satyricon (Ffm. 1610) u. Musaeus (Hero et Leander. Mit lat. Übersetzung. Amberg 1608) vor. In seinen mehr als 3000 Foliospalten umfassenden Adversariorum Libri LX. (Ffm. 1624 u. 1648) präsentierte B. einen riesigen »thesaurus antiquitatis«. Die hier gesammelten Exzerpte, krit. Notizen, Editionen (auch mittelalterl. Handschriften) u. histor. Exkursionen zum Gesamtfeld der abendländ. Literatur fanden bei zahlreichen Gelehrten der nachfolgenden Generationen Verwendung. Als Übersetzer widmete sich B. nicht nur antiken Texten, sondern er vermittelte in lat. Fassungen auch die moderne europ. Literatur. Nach einer span. Version publizierte er u. d. T. Pornodidascalus (Ffm. 1623) die Ragionamenti (Kurtisanengespräche) des Pietro Aretino. Es folgte die lat. Version der Kupplerinnentragödie La Celestina des Spaniers Fernando de Rojas (Pornobodidascalus. Ffm. 1624) u. eine Übertragung der von Gaspar Gil Polo stammenden Fortsetzung des Schäferromans La Diana aus der Feder des Jorge de Montemayor (Erotodidascalus. Ffm. 1625). Auch in seiner lat. Lyrik befreite sich B. zusehends von den kanonischen u. stilist. Zwängen des Schulklassizismus. In artistischer Virtuosität benutzte er lexikalisch den Gesamtbereich der Latinität (archaisches u. neologist. Wortmaterial), scheute sich weder vor der »obscuritas« des kombinator. Concettismus noch vor den manchmal in reinen Klangwirkungen ausgekosteten Möglichkeiten des »insistierenden Nennens« u. der spielerischen Wortakrobatik. Zum weiten Spektrum seines lyr. Werks gehörten Panegyrik, Satire, Invektive (v. a. in seinen bissigen Epigrammsammlungen gegen Caspar Schoppe, die er unter dem Pseud. Tarraeus

333

Hebius schrieb). Es umgriff Elegien, Oden, jambische Gedichte ebenso wie das erot. u. lebensfreundl. Themenarsenal der anakreont. Lyrik, zu der er alsbald auch christl. »Parodien« (»Anacreon Christianus«) veröffentlichte. In Anlehnung an ausländ. Vorgänger erschien ein umfangreiches, moralistisch akzentuiertes Lehrgedicht (Zodiacus vitae Christianae. Ffm. 1623). Diese moralistische Note seines Schaffens, offenbar durchaus mit epikureischen Zügen zu vereinbaren, verstärkte sich im Alter auf dem Hintergrund einer mehr u. mehr verinnerlichten luth. Frömmigkeit. Noch von Autoren des späten Pietismus wurden deshalb B.s religiöse Meditationen (Soliloquia rerum divinarum. Ffm. 1623. Zwickau 1655 u. ö.) gelesen u. übersetzt. Sie führten hin zu einem ehrgeizigen Lehrgedicht in dt. Sprache, dem mit den Mitteln frommer Allegorese konstruierten Deutschen Phoenix (Ffm. 1626. Neudr. 1931), verfasst in noch nicht metrisch korrekt gebauten Alexandrinern: Tod u. Leben des Vogels als Sinnbild christlicher Erlösung u. Lebensführung. Weitere Werke: Iuvenilia. Silvarum Liber I. Sermonum Liber I. Elegiarum Libri III. Lyricorum Liber I. Wittenb. 1607. – Cave Canem. De Vita, Moribus [...] Gasparis Sciopii Apostate, Satiricon. Hanau 1612. – Tarraei HebI [...] Scioppius Excellens [...] Epigrammatum. Hanau 1612. – Opuscula Varia. Hanau 1612. – Amabilium Libri IV. Anacreonte modimperante decantati. Hanau 1612. – Tarraei HebI [...] Amphitheatrum Seriorum Jocorum Libris XXX Epigrammatum constructum. Hanau 1623. – Tarraei HebI Amphitheatrum Sapientiae [...] Decem Libri [...] Choliambis scripti. Hanau 1623. – Fabularum Aesopiarum Libri IV. Phoenix, Psalmi XVII. Erotopaegnion. Satira in Bavium. Alcaeus Latinus, Elegiarum Libri IV. Jamborum Libri II. Lyricorum Libri II. Ffm. 1623. – Epidorpidum Ex Mero Scazonte. Ffm. 1623. Ausgaben: Teilausg. mit Übers. u. Komm. sowie kompletter Bibliogr. der Werke u. der Forsch. In: HL, S. 863–903, 1484–1527. – Textausw. in: CAMENA. Literatur: Bibliografie: Dünnhaupt 2. Aufl., Bd. 1, S. 2401–421. – Weitere Titel: Otto Clemen: Hss. u. Bücher aus dem Besitze K. v. B.s in der Zwickauer Ratsschulbibl. In: Zentralbl. für Bibliothekswesen 38 (1921), S. 267–289. – Adalbert Schroeter: Beiträge zur Gesch. der nlat. Poesie

Barth Dtschld.s u. Hollands. Bln. 1909, S. 267–325. – Johannes Hoffmeister: K. v. B. als dt. Poet. In: ZfdPh 54 (1929), S. 395–400. – Ders.: Dt. Fragmente v. K. v. B. aus der Ratsschulbibl. Zwickau. Heidelb. 1930. – Ders.: K. v. B.s Leben u. sein ›Deutscher Phoenix‹ (mit Neudr. des Textes). Heidelb. 1931. – Marcel Bataillon: K. v. B., interprète de ›La Célestine‹. In: Revue de la littérature comparée 31 (1957), S. 321–340. – Barbara Becker-Cantarino: La Celestina en Alemania [...]. In: La Celestina y su contorno social. Barcelona 1977, S. 377–382. – Dietrich Briesemeister: Zur Theorie der Übers. aus dem Span. in das Neulat. im dt. Barockhumanismus. In: Acta Conventus Neo-Latini Turonensis. Hg. Jean-Claude Margolin. Paris 1980, S. 585–597. – George Schulz-Behrend: C. B. u. sein Exemplar v. Martin Opitz ›Acht Bücher deutscher Poematum‹. In: Daphnis 11 (1982), S.669–681. – Wilhelm Kühlmann: Gelehrtenrepublik u. Fürstenstaat. Tüb. 1982, S. 255–265. – Ders.: ›Amor Liberalis‹. Ästhet. Lebensentwurf u. Christianisierung der nlat. Anakreontik in der Ära des europ. Späthumanismus. In: Das Ende der Renaissance [...]. Hg. August Buck u. Tibor Klaniczay. Wiesb. 1987, S. 165–186. – D. Briesemeister: Kaspar v. B. (1587–1658) u. die Frühgesch. der Hispanistik. In: Beiträge zur Aufnahme der ital. u. span. Lit. in Dtschld. im 16. u. 17. Jh. Hg. Alberto Martino. Amsterd./Atlanta 1990, S. 257–288. – Jaumann Hdb. Wilhelm Kühlmann

Barth, Christian Gottlob, * 31.7.1799 Stuttgart, † 12.11.1862 Calw/Nordschwarzwald. – Pietistischer Theologe; Schriftsteller, Dichter, Verleger, Publizist. B. stammt aus kleinbürgerlich-pietist. Verhältnissen u. besuchte das Stuttgarter Gymnasium, ehe er in Tübingen Evang. Theologie studierte u. sich der antimodernist. Erweckungsbewegung (ca. 1815–1850) anschloss. Von 1824 bis 1838 wirkte er als Pfarrer in Möttlingen. 1833 gründete er den von ihm auch geleiteten Calwer Verlagsverein (seit 1836 Verlags-Buchhandlung; seit 1952 Calwer Verlag) u. siedelte 1838 ins nahe gelegene Calw über, um sich ganz der Bücherproduktion zu widmen. Vielseitig begabt u. von seltener Tatkraft, entfaltete der streng biblizistisch gesinnte B. eine rastlose Betriebsamkeit, die ganz im Zeichen einer christlich-restaurativen »ReichGottes-Arbeit« stand. Nachhaltige Wirkung

Barth

334

zeitigten bes. seine heilsgeschichtlich orien- schließenden) Korrespondentenkreis um sich tierten Volks- (u. a. Christliche Kirchengeschichte. sammelnd, avancierte der originelle SchwaStgt. 1835. 241905. 38 Übers.en) u. Jugend- benkopf zum international bekannten schriften. Letztere machten ihn zum protes- »Reich-Gottes-Manager«. Sein Denken wurtant. Pendant des kath. Bestsellerautors zelt in der biblizist. Tradition des württemChristoph von Schmid u. zu einem der er- berg. Pietismus des 18. Jh. (bes. Friedrich folgreichsten Kinder- u. Jugendbuchautoren Christoph Oetinger) u. ist infolgedessen von der myth. Vorstellung vom eschatologischdes 19. Jh. Als »Verfasser des Armen Heinrich« (be- heilsgeschichtl. Reich Gottes geprägt, in desnannt nach seiner ersten Schrift vom Armen sen Geschichte es »sich hineinzuleben« gelte, Heinrich. Hbg./Stgt. 1828. 91889 u. ö. 5 Über- um sein Kommen zu beschleunigen. Sein s.en) schrieb B. moralische, romant. wie Nachfolger im Verlag wurde der Drawidologe weltentrückende Züge tragende Erzählungen u. Schriftsteller Hermann Gundert, der für Christenkinder. Biedermeierlich-pietist. Großvater Hermann Hesses. Wertvorstellungen vermittelnd, stehen sie Weitere Werke: Christl. Gedichte. Stgt. 1836. – unter dem auf die Bekehrung abzielenden Allg. Weltgesch. Calw 1837. 61861. 10 Übers.en. – Leitgedanken: »Gottes Führungen sind Christl. Kinderschr.en. 4 Bde., Stgt 1838–41. – 6 wunderbar!«. Die Monarchie als gottgewollt Gesch. v. Württemb. Calw/Stgt. 1843. 1898. Nachdr. Stgt. 1986. – Missionslieder. Calw 1864. – anerkennend, blenden sie indes polit. Fragen Quellen: B.-Archiv, Hohenstein bei Tübingen (Prinahezu aus. vat-Archiv Werner Raupp). Sein erfolgreichstes Werk waren die ZweiLiteratur: Werner Raupp: B. In: Bautz (mit mal 52 biblische Geschichten (Calw 1832; das AT Bibliogr.). – Karl Friedrich Werner: C. G. B. 3 Bde., stammt von Ludwig Gottlob Hochstetter), die Calw/Stgt. 1865–69. – Calwer Verlag: Viele Saaten – mit 483 Auflagen (bis 1945) u. mindestens 87 Eine Ernte. FS zum 100-jährigen Bestehen. Stgt. Übersetzungen zu einem der weitest ver- 1933. – Martin Brecht: C. G. B.s ›Zweimal Zweibreiten Bücher der Welt wurden. Viel gelesen undfünfzig biblische Geschichten‹. In: PuN 11 wurden ebenso die Calwer Schulbücher wie (1985), S. 127–138. – Sibylle Fritz-Munz u. Kathaauch die Jugend-Blätter (Stgt. 1836–1951), die rina Kley (Bearbeiter): 150 Jahre Calwer Verlag gleichsam ein pietistisch-aufklärerisches Bil- 1836–1986. Ein bibliogr. Verz. Stgt. 1986. – Rudolf Schenda: Volk ohne Buch. Studien zur Sozialgesch. dungsprogramm darbieten. 3 Auch als Dichter, der bes. die Gattung des der populären Lesestoffe 1770–1910. Ffm. 1988, Missionsliedes mitbegründete, machte sich B. S. 166–170 u. ö. – W. Raupp: C. G. B. Studien zu Leben u. Werk. Stgt. 1998 (Bibliogr.). – Kinderreteinen Namen. Noch heute ist er im EKG tungsanstalt Stammheim: Herbert Kik: Kindervertreten (Der Du in Todesnächten, Nr. 257; seelenrettung u. Hilfen fürs Leben. Calw 2001. Sonne der Gerechtigkeit, Nr., 262/263, Str. 22002. – Klaus Dieter Füller: Erfolgreiche Kinder2,4,5). buchautoren des Biedermeier [...]. Ffm. u. a. 2006, Daneben trat er als gefeierter Erwe- S. 139–162 u. ö. Werner Raupp ckungsprediger wie auch als Förderer der inneren u. äußeren Mission hervor: Er initiBarth, Emil, * 6.7.1900 Haan/Rheinland, ierte 1826 die Kinder-Rettungsanstalt in † 14.7.1958 Düsseldorf; Grabstätte: ebd. Calw-Stammheim (seit 1978 SprachheilzenNordfriedhof. – Lyriker, Romancier u. trum) u. schuf u. a. durch das »Calwer MissiEssayist. onsblatt« (Tüb./Calw 1828–1918) eine neue kirchlich-journalist. Gattung mit. Überdies B.s Eltern waren schles. Handwerker. Nach galt er als »heimlicher Inspektor« der Basler dem Besuch der Mittelschule u. Tätigkeiten Mission (gegr. 1815) u. wurde schließlich bes. im Druck- u. Verlagswesen lebte B. seit 1924 durch seine einzigartige »Naturaliensamm- als freier Schriftsteller v. a. in der »schwerlung« (heute im Museum der Kulturen, Basel) mütigen Landschaft des Niederrheins«, deren als verdienter Sammler bekannt. reale u. sagenhafte Beziehungen zur Antike Einen weltweiten, überkonfessionellen ihm ein Gleichnis für die gefährdete GegenFreundes- u. (auch Staatsoberhäupter ein- wärtigkeit der europ. Tradition waren: ei-

335

Barth

nerseits »reich wie am ersten Tage«, ande- die Tatsache, dass B. als ein typischer u. dabei rerseits durch die moderne Technik u. ein literarisch beachtenswerter Repräsentant der geschichtsloses Bewusstsein vom Untergang »Inneren Emigration« zu gelten hat. In seibedroht. 1953 erhielt er den Großen Kunst- nem Kriegstagebuch Lemuria sieht B. die »Zukunft des deutschen Menschen [...] in preis des Landes Nordrhein-Westfalen. B. sah sein Werk im Dienst der erinnernden seiner Innerlichkeit oder nirgends«. Vergegenwärtigung des Vergangenen. In ihr Weitere Werke: Enkel des Odysseus. Hbg. 1951 fand er das »Glück, das [die Erinnerung] (E.). – Nachtschatten. Dichtungen in Prosa. Bonn spendet«. Sie ist für ihn das »eigentlich 1952. – Linien des Lebens. Bonn 1953 (E.en). – dichterische Element« u. zgl. (in einem aus- Enkel des Odysseus. Mchn. 1961 (E.en u. L.). Ausgabe: Ges. Werke. Hg. Franz Norbert drücklichen Jean-Paul-Zitat) »das Paradies«, denn »die Erinnerung ist das Entgelt für den Mennemeier. 2 Bde., Wiesb. 1960. – Ges. Werke in Tod«. Sie überwindet das »Paradox von ge- Einzelbdn. Hg. Bernhard Albers. Aachen 2001 ff. Literatur: E. B. zum 50. Geburtstag. Hg. v. der genwärtig-glühender Erscheinung und unwiderruflichem Gewesensein« allen Lebens u. Stadt Düsseld. u. Freunden. Düsseld. 1950. – Josef schafft die »Seligkeit welteiniger Augenbli- Ruland: Die Zeit als gehaltl. u. gestaltl. Problem in der Dichtung E. B.s. Diss. Bonn 1952. – Georg cke« (in: Lemuria. Aufzeichnungen und MeditaGussmann: E. B.s Roman ›Das Lorbeerufer‹. Diss. tionen. Hbg. 1946). Bonn 1953. – Karl Zimmermann: E. B. zum GeVerwirklicht wurde dieser poetolog. Ge- denken. In: NDH 6 (1959/60), S. 321–330. – Joseph danke zuerst in den beiden an B.s Biografie A. Kruse (Hg.): E. B. Düsseld. 1981. – Ders. (Hg.): angelehnten Entwicklungsromanen Das ver- Die Brüder E. u. Carl B. Texte u. Bilder. Düsseld. lorene Haus (Hbg. 1936) u. Der Wandelstern 2000. Walther Kummerow † / Red. (Hbg. 1939). Der erste erzählt in Ich-Form die ersten sechs Lebensjahre, der zweite die Jugend eines Mannes im Rheinland. Er endet Barth, Heinrich, * 16.2.1821 Hamburg, mit der eindrucksvollen Beschreibung des † 25.11.1865 Berlin; Grabstätte: ebd., Todes der Mutter u. der Bewältigung dieses Friedhof der Jerusalems- u. Neuen KirTodes durch die Einsicht: »Alles, was wir chengemeinde. – Forschungsreisender u. verlieren und selbst einmal waren, geht zu Geograf. unbegreiflichem Sein und Reifen in uns ein.« Der dritte u. letzte Roman Das Lorbeerufer B. studierte 1839–1844 Altertumswissen(Hbg. 1942) transponiert den antiken Mythos schaft u. Geografie in Berlin. Nach seiner der Sappho ins christl. Sizilien. Er handelt Promotion (1844) unternahm er eine Forvon der trag. Liebe des künstler. Menschen schungsreise nach Spanien u. Nordafrika zum Leben. (1845–1847). Sein Interesse galt dabei der B. selbst hielt seine Gedichte – von der Kulturgeschichte des Mittelmeerraums. frühesten Veröffentlichung (Totenfeier. Mchn. Durch Vermittlung von Carl Ritter konnte B. 1928) bis zu denen aus dem Nachlass – für 1850 an einer engl. Afrika-Expedition teilden wichtigsten Teil seines Werks. Besondere nehmen, die ihn in den Zentralsudan bis zum Anerkennung fanden die Xantener Hymnen Tschadsee u. von dort in den Westsudan bis (Hbg. 1948). Seiner Metaphysik der Erinne- nach Timbuktu führte. Als einziger europ. rung entspricht hier ein strenger Stil, der, Überlebender der Expedition erreichte er geschult an Sterne, Hölderlin, Baudelaire u. 1855 Tripolis. Die Ergebnisse dieser Reise, Trakl (vgl. die vier Essays in den Gesammelten die B. anhand seiner TagebuchaufzeichnunWerken), eine zeitlose Modernität sucht, die gen in fünf Bänden veröffentlichte, stellten Kritiker aber, in unterschiedlicher Bewer- eine bahnbrechende Leistung v. a. auf histotung, v. a. an die zeitgenöss. Goethe-Nach- risch-ethnografischem u. linguist. Gebiet der folge z.B. Carossas erinnerte. Ebenso um- Afrikaforschung dar. Während ihm dies in stritten war sein bewusst unpolitischer, bil- England mit Orden honoriert wurde, bedungsbürgerl. Konservativismus. Unbezwei- dachte ihn die dt. universitäre Wissenschaft felt jedoch blieb seine persönl. Integrität u. mit schroffer Ablehnung. Erst kurz vor sei-

Barth

nem Tod erhielt er eine unbesoldete Professur in Berlin. Weitere Werke: Wanderungen durch die Küstenländer des Mittelmeeres. Bln. 1849. – Reisen u. Entdeckungen in Nord- u. Central-Afrika in den Jahren 1849 bis 1855. 5 Bde., Gotha 1857/58. Engl. Übers. London 1857/58. Frz. Übers. Paris/Brüssel 1860/61. Literatur: Gustav v. Schubert: H. B., der Bahnbrecher der dt. Afrikaforsch. Bln. 1897. – Franz Köhler: B.s Reise durch Kleinasien. Ein komm. Reiseber. Gotha/Stgt. 2000. – Mamadou Diawara, Paulo Farias u. Gerd Spittler (Hg.): H. B. et l’Afrique. Köln 2006. – Peter Kremer: Africanus. Leben u. Reisen des Afrikaforschers H. B. Düren 2007. Wolfgang Stein / Red.

Barth, Karl, 10.5.1886 Basel, 10.12.1968 Basel; Grabstätte: ebd., Hörnli-Friedhof. – Theologe, Prediger. B., ältester Sohn des reformierten Pfarrers Fritz Barth u. der Anna Sartorius, verbrachte Kindheit u. Jugend in Bern, wohin sein Vater 1889 als Professor für Kirchengeschichte u. Neues Testament berufen worden war. Nach der Reifeprüfung studierte B. Theologie in Bern, Berlin, Tübingen u. Marburg. Nach einer Tätigkeit als Hilfsprediger in Genf 1909–1911 wirkte er 1911–1921 als sozial engagierter Pfarrer im aargauischen Industriedorf Safenwil u. heiratete 1913 Nelly Hoffmann. Tief erschütterten ihn 1914 der Chauvinismus u. die Kriegsbegeisterung auch der dt. Theologen u. Christen. Zus. mit seinem Freund Eduard Thurneysen fragte u. suchte er nach der Gegenwartsbedeutung der bibl. Botschaft u. schrieb den radikal religions- u. kulturkrit. Römerbrief (Bern 1919. Überarb. zweite Fassung Mchn. 1922), der die »Theologie der Krisis« begründete u. dessen Diktion einige dem Expressionismus verwandte Stilelemente enthält. 1921 wurde der Dorfpfarrer, der sich für eine akadem. Laufbahn unvorbereitet sah, als Honorarprofessor für reformierte Theologie nach Göttingen berufen. Hier wandte er sich Calvin, Zwingli, den reformierten Bekenntnisschriften u. Schleiermacher zu, um auf diesem Hintergrund seit 1924 seine »Göttinger Dogmatik« Unterricht in der christlichen Religion (in: K. B.Gesamtausg. Abt. II) als Vorstufe der Kirchli-

336

chen Dogmatik zu entwickeln. Immer drängender wurde ihm die Not der Prediger, von Gott reden zu sollen, dies aber nicht zu können, u. er trat dafür ein, im Wissen darum das Wagnis der Predigt einzugehen (Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie. In: K. B.-Gesamtausg. Abt. III). 1925 wechselte er als o. Professor an die Universität Münster u. 1930 an die Universität Bonn. In Vorlesungen, Publikationen u. in der Zweimonatsschrift »Zwischen den Zeiten« (1923–1933) entwickelte B. seine formal dialektische, inhaltlich immer christozentrischer werdende »Theologie des Wortes Gottes«. Gegenüber den Relativierungen des liberalen Historismus u. subjektivist. Neuprotestantismus, erst recht gegen nationalist. Absolutheitsansprüche, insistierte er auf der Gnade u. Autorität des souveränen u. unverfügbaren Gottes, der sich in Jesus Christus offenbart hat. Damit ging er von der Diastase eines unendl. Unterschieds zwischen Gott u. Mensch zu einer in Jesus Christus realisierten Beziehung u. Begegnung beider über. Nach Hitlers Machtantritt formulierte B. 1934 die Theologische Erklärung von Barmen (in: Reformierte Bekenntnisse. Hg. Georg Plasger u. Matthias Freudenberg. Gött. 2005), die wider die deutsch-christl. Geschichtstheologie u. Ideologievergötzung die befreiende Herrschaft Gottes bezeugte u. in Jesus Christus das eine Wort Gottes erkannte. 1935 verlor B. seine Bonner Professur, wurde aber sogleich an die Universität seiner Geburtsstadt Basel berufen, wo er bis zu seiner Emeritierung 1962 lehrte. In Vorträgen u. Schriften unterstützte er unermüdlich den christl. u. polit. Widerstand gegen das Dritte Reich. Vor allem galt seine Arbeitskraft jetzt dem monumentalen Hauptwerk der Kirchlichen Dogmatik, deren 9250 Seiten zählenden 13 Bände 1932–1967 in Zollikon erschienen sind – in enger Zusammenarbeit mit Charlotte von Kirschbaum. Dogmatik verstand B. als »wissenschaftliche Selbstprüfung der christlichen Kirche hinsichtlich des Inhalts der ihr eigentümlichen Rede von Gott« (Leitsatz § 1). Sein Fragen u. Denken umkreist in diesem mit kunstvoller Architektonik ausgeführten Werk das Geheimnis der freien Gnade Gottes. Dabei ist kein starres dogmat.

337

System entstanden. Vielmehr werden die Systeme aufgebrochen zugunsten einer lebendigen Gotteserkenntnis u. Gottesbeziehung, die in der Versöhnungslehre kulminiert: Gott nimmt in Jesus Christus das Gericht auf sich, erniedrigt sich selbst u. begründet ein Verhältnis freier Partnerschaft zwischen sich u. dem Menschen. In ständiger Auseinandersetzung mit den Traditionen des europ. Glaubens u. Denkens entfaltet B. seine Überzeugung von der Menschlichkeit u. Menschenfreundlichkeit Gottes, der den Menschen anredet, sich selbst mitteilt u. darin »ein erfreuliches Wort« sei. Nach dem Zweiten Weltkrieg las B. in den Sommern 1946 u. 1947 als Gastprofessor in Bonn eine Dogmatik im Grundriss u. über den Heidelberger Katechismus. 1948 hielt er auf der ersten Weltkirchenkonferenz in Amsterdam das Hauptreferat: Die Unordnung der Welt und Gottes Heilsplan. Dass christlicher Glaube auch polit. Konsequenzen haben muss, war für ihn immer selbstverständlich gewesen u. führte ihn zu einem Beziehungsmodell von Kirche u. Staat, das von der »Gleichnisfähigkeit und Gleichnisbedürftigkeit des politischen Wesens« zum Reich Gottes bestimmt ist (Christengemeinde und Bürgergemeinde. Zürich 1946). In den 1950er Jahren setzte er sich zus. mit Martin Niemöller u. Gustav Heinemann u. a. gegen die Wiederaufrüstung Westdeutschlands u. gegen jede atomare Rüstung ein. 1956 überraschte B. mit einer Schrift über Mozart, dessen Musik seine Theologie mitinspiriert hatte. In seinen letzten Lebensjahren predigte B., der seine theolog. Arbeit auch als Ermutigung zur kirchl. Verkündigung verstanden hatte, regelmäßig in der Strafanstalt Basel. 1962 hielt er seine Abschiedsvorlesung zum Thema Die Liebe. In Kopenhagen empfing er 1963 den Sonning-Preis für besondere Verdienste um die europ. Kultur. Eine Altersfreundschaft verband ihn mit Carl Zuckmayer (Späte Freundschaft: Carl Zuckmayer, K. B. in Briefen. Zürich 1977). B.s Sprache spiegelt ein erzählendes Denken, dem die Verfolgung geschichtlicher Abläufe u. Zusammenhänge wichtiger ist als die Gedankenfixierung in abstrakten Begriffen.

Barth

In einem seiner letzten Texte formuliert er: »Das letzte Wort, das ich als Theologe ... zu sagen habe, ist nicht ein Begriff wie ›Gnade‹, sondern ist ein Name: Jesus Christus. Er ist die Gnade ...« (Letzte Zeugnisse. Zürich 1969). B., der als der bedeutendste evang. Theologe des 20. Jh. anzusehen ist, hat den theolog. Diskurs nachhaltig geprägt. Er machte die Theologie auf die Wahrnehmung der Wirklichkeit Gottes aufmerksam u. hat zgl. den Menschen als das Wesen bestimmt, auf das Gottes in Liebe zugewandte Freiheit zielt. Das Potenzial dieser Gott u. Mensch in eine Beziehung setzenden Theologie kann als bei Weitem noch nicht ausgeschöpft gelten. Weitere Werke: Bibliogr. K. B. Bd. 1: Veröffentlichungen v. K. B. Hg. Hans Markus Wildi. Zürich 1984. – Das Wort Gottes u. die Theologie. Ges. Vorträge. Mchn. 1924. – Die Auferstehung der Toten. Mchn. 1924. – Die Theologie u. die Kirche. Ges. Vorträge. Mchn. 1928. – Theolog. Existenz heute! Mchn. 1933. – Credo. Zollikon 1935. – Evangelium u. Gesetz. Mchn. 1935. – Gotteserkenntnis u. Gottesdienst. Zollikon 1938. – Rechtfertigung u. Recht. Zollikon 1938. – Eine Schweizer Stimme 1938–45. Ges. Vorträge. Zollikon 1945. – Die protestant. Theologie im 19. Jh. Zollikon 1947. – Dogmatik im Grundriß. Zollikon 1947. – Wolfgang Amadeus Mozart. Zollikon 1956. – Die Menschlichkeit Gottes. Zollikon 1956. – Theolog. Fragen u. Antworten. Zollikon 1957. – ›Der Götze wackelt‹. Zeitkrit. Aufsätze, Reden u. Briefe v. 1930–60. Bln. 1961. – Einf. in die evang. Theologie. Zürich 1962. Ausgabe: K. B.-Gesamtausg. Zürich 1971 ff. (Abt. I: Predigten. Abt. II: Akadem. Werke. Abt. III: Vorträge u. kleinere Arbeiten. Abt. IV: Gespräche. Abt. V: Briefe). Literatur: Bibliogr. K. B. Bd. 2: Veröffentlichungen über K. B. Hg. Hans Markus Wildi. Zürich 1992. – Ztschr. für Dialekt. Theologie, 1985 ff. – Weitere Titel: Otto Weber: K. B.s Kirchl. Dogmatik. Neukirchen 1956. – Eberhard Jüngel: B.-Studien. Zürich u. a. 1982. – Dieter Schellong u. a.: K. B. – Der Störenfried? Mchn. 1986. – Eberhard Jüngel: Gottes Sein ist im Werden. Tüb. 41986. – Michael Beintker: Die Dialektik in der ›dialektischen Theologie‹ K. B.s. Mchn. 1987. – Eberhard Busch: K. B.s Lebenslauf. Gütersloh 51993. Unveränderte Neuaufl. Zürich 2005. – Christofer Frey: Die Theologie K. B.s. Ffm. 21994. – Bertold Klappert: Versöhnung u. Befreiung. Versuche, K. B. kontextuell zu verstehen. Neukirchen-Vluyn 1994. –

Barth Hartmut Genest: K. B. u. die Predigt. NeukirchenVluyn 1995. – Eberhard Busch: Weg u. Werk K. B.s in der neueren Forsch. In: ThR 60 (1995), S. 272–299, 430–470. – Dietrich Korsch: Dialekt. Theologie nach K. B. Tüb. 1996. – Karl Kupisch: K. B. in Selbstzeugnissen u. Bilddokumenten. Stgt. 2 1996. – Matthias Freudenberg: K. B. u. die reformierte Theologie. Neukirchen-Vluyn 1997. – E. Busch: Die große Leidenschaft. Einf. in die Theologie K. B.s. Gütersloh 1998. – Georg Plasger: Die relative Autorität des Bekenntnisses bei K. B. Neukirchen-Vluyn 2000. – M. Beintker (Hg.): K. B. in Dtschld. 1921–35. Zürich 2005. – Bruce L. McCormack: Theolog. Dialektik u. krit. Realismus. Zürich 2006. Kurt Marti / Matthias Freudenberg

Barth, Michael, * 1530 oder 1531 Annaberg/Sachsen, † 1584 Leipzig. – Gelegenheitsdichter des Späthumanismus.

338

1572). Eine Reise von Leipzig nach Travemünde u. zurück beschreibt B. in einem Hodoeporicum (Reisegedicht. Lpz. 1563), in dem zahlreiche norddt. Orte charakterisiert werden (u. a. Mölln – darin eine der frühesten literar. Erwähnungen des Eulenspiegelgrabs –, Braunschweig u. Wolfenbüttel). Das Gedicht spiegelt die Verbundenheit B.s mit seiner Heimat u. sein Interesse an deren mittelalterl. Geschichte (Heinrich der Löwe in Bardowiek u. Braunschweig). Eine epische hexametr. Paraphrase der antiken Vergil-Vitae gibt B. in einer Inaugurationsrede zu seinem Dekanat (De P. Virgilio Marone [...] sermo heroicus. Lpz. 1558); in demselben Druck findet sich ein Gedicht auf eine Sonnen- u. Mondfinsternis, das in dem Naturereignis zeittypisch schlimme Vorzeichen sieht. In den letzten Lebensjahren schließt sich medizinisches Fachschrifttum an.

B. studierte um 1550 in Leipzig, promovierte um 1555 zum Magister artium, wurde 1558 Weitere Werke: Hochzeitsgedichte auf ChrisDekan der Artistenfakultät, 1562/63 Vize- toph Schellenberger u. Gregor Bersmann. In: Janus kanzler u., vermutlich nach einer Italienreise, Gruterus (Hg.): Delitiae Poetarum Germanorum. Bd. 1, Ffm. 1612, S. 420–423. 1570 Professor der Medizin in Leipzig. Literatur: VD 16 (Bibliogr.). – Hermann WieB.s dichterisches Œuvre bewegt sich ganz im Rahmen der nlat. Gelegenheitsdichtung gand: Hodoeporica. Studien zur nlat. Reisedichdes dt. Späthumanismus u. hängt eng mit tung [...]. Baden-Baden 1984, S. 237–241, 444 f. Hermann Wiegand seinen Berufspflichten als Lehrer in der Artistenfakultät der Universität Leipzig zusammen. Eröffnet wird es durch ein episches Barth, Peter, * 2.6.1898 Blumenthal (Mas¸ Gedicht auf die Auferstehung Christi (Sermo loc) im Banat, † 1.3.1984 Timis¸ oara (Tede suscitatione et resurrectione Iesu Christi), zu meswar); Grabstätte: Blumenthal. – Nadessen Veröffentlichung 1551 in Leipzig B.s tur- u. Landschaftslyriker. Lehrer Joachimus Camerarius die Veranlassung gegeben hatte. Weitergeführt wird es Die Mutter Margarethe, geb. Mannherz, durch das in einer Zeit der Amtslosigkeit ge- Tochter des Schneidermeisters u. Urkundenschriebene epische Preisgedicht auf die Va- sammlers Alois Mannherz, war nach dem terstadt Annaberg in drei Büchern (Annaeberga frühen Tod des Vaters die bestimmende Gelibri tres. Basel 1557), das, in der Tradition des stalt im Leben des jungen B. Nach dem Bedt. humanist. Städtelobs (Eoban Hesse, Her- such der Volksschule seines Heimatdorfs trat mann von dem Busche u. a.) stehend, zgl. den er als Zögling in das Franziskanerkloster Stolz auf die Errungenschaften der Bergwis- Radna ein, besuchte von hier aus die Mittelsenschaft der eigenen Zeit ausdrückt. Im Ge- schule in Lippa, setzte seine theolog. Studien folge von Georg Sabinus’ Lobgedichten auf als Novize in Fünfkirchen (Pecs) u. Gyöngyös die dt. Kaiser fügt B. derselben Veröffentli- in Oberungarn fort. 1918 verließ B. das chung Einzeldistichen auf die poln. Könige Kloster, um in Klausenburg (Cluj-Napoca) an, die – wie das Lobgedicht auf Annaberg – Pharmazie zu studieren. Schon während des auch dazu dienen sollen, dem Einkommens- Studiums war B. als Assistent u. Laboratorilosen Gönner zu verschaffen. Ganz ähnl. umsleiter tätig u. in dieser Eigenschaft MitCharakter tragen die Disticha sacra de patriar- verfasser eines Lehrbuchs für Toxikologie. chis, prophetis, apostolis et evangelistis (Lpz. Nach Stationen in Neumarkt (Tîrgu-Mures¸ )

339

Barthel

u. Temeswar (Timis¸oara) ließ er sich 1932 in B. In: Neue Lit. 6 (1978), S. 53–56. – Stefan SieFerdinandsberg (Otelul Rosu) nieder, wo er nerth: P. B. In: Neue Lit. 9 (1986), S. 41–45. Klaus Hensel / Red. bis 1966 als Apotheker wirkte. Den Lebensabend verbrachte er im Heimatdorf Blumenthal im Banat. B. ist von der Literaturkritik in der Zwi- Barthel, Kurt, auch: KuBa, * 8.6.1914 schenkriegszeit wie kein anderer banat-dt. Garnsdorf bei Chemnitz, † 12.11.1967 Dichter mit mehr oder minder schmeichel- Frankfurt/M. – Lyriker, Verfasser von haftem Lob bedacht worden. Versuche der Filmdrehbüchern, Dramatiker. völk. Propaganda, ihn für ihre Zwecke in Der gelernte Dekorationsmaler, Sohn einer Anspruch zu nehmen, verkannten die beHandschuhnäherin u. eines Eisenbahn-Stresondere Heimatverbundenheit von B.s Lyrik, ckenarbeiters, war aktives Mitgl. der »Soziadie dem großdt. Mythos die Idee einer banatlistischen Arbeiterjugend«. Er emigrierte beschwäbischen Eigenständigkeit entgegenreits 1932 in die CˇSR u. ging dann nach Wien, setzte. In seiner Weltanschauungs- u. Gewo er in der Redaktion der »Arbeiter-Illusdankenlyrik entfaltete B. wenig Originalität; trierten-Zeitung« dem Schriftsteller Louis den größten Erfolg hatten seine Natur- u. Fürnberg begegnete. 1939 floh B. über Polen Landschaftsgedichte. Aber auch seine lyr. nach England, Ende 1946 kehrte er nach Stimmungsbilder zeigen, dass er an traditioBerlin zurück. B. leitete die Kulturarbeit in nellen literar. Formen festhielt u. jedes stilist. der Maxhütte Unterwellenborn u. war u. a. Experiment ablehnte. Allerdings gelingen Generalsekretär des Deutschen Schriftstellerihm dort, wo er seiner Naturpoesie myth. verbandes (1951 bis 1953), Mitgl. der VolksDimension verleiht, poet. Visionen, die den kammer (nach 1950) u. des Zentralkomitees zumeist vordergründig-deskriptiven Chader SED (ab 1954). rakter seiner Verse durchbrechen: »Durchs B.s Hauptwerk Gedicht vom Menschen (Bln./ Abendrot steigt eine Dirne / Auf des Berges DDR 1948. Mchn. 1977) – ein Poem in sieben dunkle Stirne / Und schwingt sich auf ein Zyklen, an dem er von 1935 an gearbeitet Schattenrössel. / Sie hält den blauen Himhatte – zeigt am deutlichsten seine Stärken u. melskessel / In ihrem breiten Schoße / Und Schwächen: In dieser Geschichte der schlägt und rührt ins Bodenlose, / Bis Schnee Menschheit aus materialistischer Sicht preist und Schaum / Am Waldessaum / In weißen, der Autor, was dem Aufbau des Sozialismus dichten Wolkenhaufen / Nach allen Flurendient, u. geißelt, was den Sozialismus beenden laufen.« (Ein Mädchen schlägt Schnee. hindert. Seine appellativen, oft nur GemeinIn: Herz der Heimat. Hermannstadt 1935, plätze verdichtenden Verse sind vom OptiS. 66). mismus des Besserwissenden getragen. Der Weitere Werke: Flammengarben. Temeswar Schüler Fürnbergs u. Erich Weinerts nahm 1933 (L.). – Die Erde lebt! Wien u. Lpz. 1939 (L.). – deren Agitprop-Pathos in der Form balladesPurpurnes Schattenspiel. Bukarest 1971 (L.). – Ich ker Idyllik auf, doch die gesuchte Vereinisuche den Sommerpfad. Temeswar 1975 (L.). gung von Volkslied u. Klassik gelang nur Literatur: Anton Valentin: Gott, Mensch, Heiselten. mat. In: Banater Monatsh.e 2 (1933), S. 46–51. – Karl Kurt Klein: Heimische Lyriker. In: Klingsor 6 (1934), S. 244 f. – Bernd Kolf: P. B. Der Übergang zum Tag. In: Interpr.en dt. u. rumäniendt. Lyrik. Hg. Brigitte Tontsch. Klausenburg 1971, S. 300–303. – Hans Diplich: P. B. In: Ders.: Essay. Beiträge zur Gesch. der Donauschwaben. Homburg/Saar 1975, S. 102–108. – Peter Motzan: Heimatverbundener Impressionismus: Der Lyriker P.

Weitere Werke: Kantate auf Stalin. Lpz. 1949 (Musik v. Jean Kurt Forest). – Klaus Störtebeker. Dramat. Einrichtung v. Hanns Anselm Perten. Lpz. 1959. – Gedichte. Rostock 1961. – Das Wirkliche u. das Wahre. Reden u. Aufsätze Halle 1984. Ausgabe: Ged. Werke in Einzelausg.n. 8 Bde., Halle u. a. 1970–87. Literatur: Joseph Pischel: Erinnerung an einen histor. Anspruch. Zu den ›Reden u. Aufsätzen‹ KuBas. In: DDR-Lit. im Gespräch. Bln./DDR 1984/ 85, S. 63–77. – Ruth Barthel (Hg.): ›...tausend neue

Barthel

340

Barthel, Max, * 17.11.1893 Dresden, † 17.6.1975 Waldbröl/Bergisches Land; Grabstätte: Bad Breisig, Waldfriedhof. – Barthel, Ludwig Friedrich, * 12.6.1898 Lyriker, Erzähler u. Dramatiker. Marktbreit/Main, † 14.2.1962 München. Der Sohn eines Maurers besuchte acht Jahre – Erzähler u. Lyriker. die Volksschule u. musste schon mit vierzehn Träume‹. Erinnerungen an den Dichter KuBa. Halle 1985. Konrad Franke / Red.

B. studierte Germanistik in Würzburg u. histor. Hilfswissenschaften in München, wo er 1921 promovierte. Nach der Ausbildung für den höheren Archivdienst war er ab 1930 bis zu seiner Pensionierung beim Staatsarchiv München angestellt. An beiden Weltkriegen musste er als Soldat teilnehmen. Als Meister der Novelle (Die Schi-Novelle. Jena 1938. 1941) u. des lyr. Briefromans (Die goldenen Spiele. Jena 1936. 1944) stand B. unter seinen Zeitgenossen bes. Hans Carossa, Agnes Miegel u. dem langjährigen Freund Rudolf G. Binding nahe (vgl.: Vom Eigentum der Seele. Jena 1941. 1943. Das war Binding. Wien u. a. 1955). Heimat, Kindheit u. Liebe bilden die Themenkreise seiner frühen, musikalisch bildhaften Gedichte der Landschaft (Dresden 1931) u. Gedichte der Versöhnung (Tüb. 1932). Neben formstrengen Gedichten schrieb B. reimlose hymn. Verse. Seine literar. Vorbilder waren Nietzsche u. Hölderlin. Ab 1932 drückte B. seine Hoffnungen auf eine Revolution in Vaterlandsgedichten aus. Nach 1933 konzentrierte er sich auf die Stimmungs- u. Naturlyrik. Der Gedichtzyklus Liebe, du große Gefährtin (Jena 1944) spiegelt B.s dichter. Entwicklung von den Naturgedichten über besinnlich überzeitl. Themen bis hin zur Klagedichtung angesichts des Krieges. Weitere Werke: Sophokles: Antigone. Mchn. 1926 (Übers.). Neubearb. Mchn. 1941. – Runkula. Tgb. eines Karnickels. Mchn. 1954. – Ausklang. Gedichte aus dem Nachl. Köln 1967. – Denn wer die Freude nicht liebt. Ausgew. Gedichte. Hbg. 1978. – Zwischen Zürich u. Locarno. Hg. Sibylle Wallner. Segnitz 2006. Literatur: Christa Schmitt: ›Die Heilrufe werden verstummen u. die Straßen ohne Gepränge dastehen‹. Ein Gedenkblatt auf den Archivar u. Dichter L. F. B. In: Lit. in Bayern 53 (1998), S. 15–24. Angelika Müller / Red.

Jahren in der Fabrik arbeiten. Bis zum Ersten Weltkrieg schlug er sich in zahlreichen Berufen als Gelegenheitsarbeiter durch, führte das Leben eines Vagabunden, wanderte durch West- u. Südeuropa, v. a. durch die Schweiz u. Italien, schloss sich der sozialist. Jugendbewegung an u. begann seit 1910 Gedichte zu schreiben. 1914–1918 kämpfte er als Infanterist an der Westfront. In dieser Zeit veröffentlichte er zwei Bände mit pazifist. Kriegsgedichten (Verse aus den Argonnen. Jena 1916. Freiheit! Jena 1917). Nach dem Krieg ging er nach Stuttgart, wo er der KPD (um Clara Zetkin) beitrat, im Jan. 1919 am Spartakusaufstand teilnahm u. für ein halbes Jahr inhaftiert wurde. Nach seiner Freilassung zog er nach Berlin, wo er sich einen Namen als Dichter revolutionärer, klassenkämpferischer Arbeiterlyrik machte (Revolutionäre Gedichte. Stgt. 1919. Arbeiterseele. Verse von Fabrik, Landstraße, Wanderschaft, Krieg und Revolution. Jena 1920. Die Faust. Potsdam 1920. Lasset uns die Welt gewinnen. Bln. 1920). B. war Mitbegründer der Jugend-Internationale in Wien. Zwischen 1920 u. 1923 reiste er verschiedene Male (auch als Delegierter zum 2. Kongress der Kommunistischen Internationale) nach Russland. 1923 trat er, durch die letzte Reise in seinen polit. Erwartungen enttäuscht, aus der KPD aus. In der Folgezeit lebte er als Journalist u. freier Schriftsteller u. verfasste eine Reihe von Reiseberichten (Deutschland. Bln. 1926. Erde unter den Füßen. Bln. 1929) sowie Erzählungen u. Unterhaltungsromane, in denen er seine Vergangenheit als Tippelbruder, Bohemien u. Revolutionär verarbeitete (Der Platz der Volksrache. Bln. 1924. Blockhaus an der Wolga. Bln. 1930. Der große Fischzug. Stgt. 1931). Nach 1933 bekannte sich B. zunächst offen zum Nationalsozialismus. Er wurde Mitarbeiter der nationalsozialist. Zeitschrift »Angriff« u. war ein Jahr Schriftleiter der in die Arbeitsfront eingegliederten »Büchergilde

341

Bartholinus

Gutenberg«. Nach der Entlassung aus dem Bartholinus, Riccardus, Beiname PerusiVerlag (wegen »Unzuverlässigkeit«) arbeitete nus, eigentl.: Riccardo Bartolini, * um er wieder als Journalist (als Reporter für das 1470 Perugia, † um 1528 Perugia; Grab»Berliner Börsenblatt« bei der Arbeitsfront- stätte: ebd., Kathedrale S. Lorenzo. – LyOrganisation »Kraft durch Freude«-Reisen in riker u. Epiker. Rumänien, Norwegen u. Madeira) u. schrieb Trivialromane im Abenteuer-Genre (z.B. Der B. entstammte einer Nebenlinie der bedeuschwarze Sahib. Dresden 1938). Im Zweiten tenden Peruginer Juristenfamilie Bartolini; Weltkrieg wurde er als Wachtmeister zur nach dem Studium der Theologie u. den Schutzpolizei eingezogen u. war schließlich studia humanitatis übernahm er im Jahr 1500 Kriegsberichterstatter u. Truppenbetreuer in die Pfarrei S. Severo di Platea (bis 1528) u. Skandinavien u. Rumänien. Nach dem Krieg wurde zum Domherrn ernannt. Von seiner geriet er wie andere große Repräsentanten offiziellen Funktion in Kirche u. Stadt Peruder »Arbeiterdichtung« der 1920er Jahre, die gia zeugen archival. Quellen, die u. a. Bedem Nationalsozialismus Konzessionen ge- gräbnisreden für hochgestellte Persönlichmacht hatten (Karl Bröger, Heinrich Lersch), keiten sowie Gesandtschaftsreisen nach Floin Vergessenheit. Neben einer Autobiografie renz u. zum Papst (Oboedienzleistungen (Kein Bedarf an Weltgeschichte. Wiesb. 1950) 1522 u. 1527) belegen. Ein Auslandsaufenthalt an der Seite seines verfasste er in der Nachkriegszeit nur noch Onkels, des päpstl. Nuntius Mariano BartoNatur- u. Kinderlyrik. lini, führte ihn 1504–1506 an den dt. KaiWeitere Werke: Das Herz in erhobener Faust. Potsdam 1920 (L.). – Utopia. Jena 1920 (L.). – Der serhof. In einer Zeit, in der in Italien der rote Ural. Bln. 1921 (R.). – Vom roten Moskau bis Primat der lat. Sprache zugunsten des »volzum Schwarzen Meer. Bln. 1921 (R.). – Die Reise gare« bereits aufgegeben wurde, lernte er nach Rußland. Bln. 1921 (R.). – Das vergitterte nördlich der Alpen in Maximilian I. einen Land. Bln. 1922 (R.). – Überfluß des Herzens. Bln. den Künsten, Wissenschaften u. humanist. 1924 (L.). – Der eiserne Mann. Lpz. 1924 (D.). – Studien aufgeschlossenen Monarchen kenLicht- u. Schattenspiele. 3 Jugendspiele. Bln. 1927 nen, in dessen Umgebung die Idee einer (D.). – Der Ausgleich. Drei Szenen proletar. Geneuen »Goldenen Zeit« diskutiert wurde. rechtigkeit. Lpz. 1928 (D.). – Das unsterbl. Volk. Dadurch angeregt, schrieb B. in den folgenBln. 1933 (R.). – Die Straße der ewigen Sehnsucht. Braunschw. 1941 (R.). – Dreizehn Indianer. Dres- den Jahren das Epos Austrias (Ad divum Maxiden 1943 (R.). – Ins Feld ziehn die Soldaten. Bay- milianum Caesarem Augustum [...] de bello Norico reuth 1943 (L.). – Hutzlibum. Kindl. Verse. Mainz Austriados libri duodecim. Straßb. 1516), mit 1943. – Hans im Glück. Kinderoper. Wolfenb./Zü- dem er 1513 an den Hof zurückkehrte, wo er rich 1966. als Hofkaplan von Kardinal Matthäus Lang Literatur: Fritz Hüser (Hg.): M. B. Dortm. bis zum Tod Maximilians 1519 blieb. 1959. – Stepan Wysocki: Die Arbeiterdichtung M. Den Großteil seiner Schriften publizierte er B.s in der zeitgenöss. Kritik. 1964. – Der Arbeiter- in diesem Jahrzehnt, sodass seine literar. dichter M. B. Ein polit. Modellfall. In: Alternative 7 Wirkung heute weitgehend im Gebiet des (1964). – Michael Hugh Fritton: Lit. u. Politik in Deutschen Reichs zu suchen ist. der Novemberrevolution 1918/19. Theorie u. PraZuvor hatte er zur Wahl von Papst Leo X. xis revolutionärer Schriftsteller in Stuttgart u. 1513 ein Idyllium (Opusculum ad Leonem pontiMünchen (M. B. u. a.). Ffm. 1986. – Karl W. Barthel u. Helga Kirschbaum: Werksverz. M. B. Bln. 2000. ficem, optimum, maximum, de eius creatione nuper Peter König / Red. aeditum. Perugia um 1514) verfasst, das das Konklave nach dem Vorbild der Antike zur Götterversammlung stilisiert. Mit vergilischer u. ovidischer Terminologie gelingt B. darin eine allegor. Gestaltung, in der antikes u. christl. Ethos miteinander harmonieren. 1515 erschien sein Hodoeporicon (Odeporicon idest Itinerarium [...]. Wien), ein Reisebericht,

Bartock

342

der die Vorbereitung u. Durchführung des »summum opus« der höf. Panegyrik; LiteraBündnis- u. Heiratskongresses in Wien turgeschichten u. Gelehrtenlexika der nachnachzeichnet, an dem Maximilian I. u. die folgenden Jahrhunderte räumten ihm den Könige von Polen u. Ungarn teilnahmen. Er gebührenden Platz ein; seine Hauptwerke ist als histor. Quelle von Bedeutung, gibt zgl. wurden in den Sammlungen von Marquard Einblicke in das Leben u. das Selbstver- Freher (Germanicarum rerum scriptores [...]. ständnis der Hofhumanisten, zeigt B.’ enge Tom. II. Ffm. 1637. Straßb. 1717) u. Justus Verbindung zu Jakob Spiegel, Kaspar Ursinus Reuber (Veterum scriptorum [...], Tomus unus. Velius, Johannes Dantiscus u. Joachim Vadi- Ffm. 1584. Hanau 1619. Ffm. 1726) mehrfach anus u. beschreibt in weitreichenden Exkur- nachgedruckt. sen, die wichtige kunst-, kultur- u. literaturLiteratur: Index Aureliensis III, 233–235. – VD geschichtl. Aufschlüsse bieten, die Städte 16 B 562–573. – Weitere Titel: Friedrich Hermann Augsburg, Regensburg, Passau, Wien, Press- Schubert: R. B. Eine Untersuchung zu seinen Werken über den Landshuter Erbfolgekrieg u. den burg u. Salzburg. Den Stoff des Epos Austrias, dessen Gestal- Augsburger Reichstag v. 1518. In: Ztschr. für bayer. tung eng an Vergil u. Statius anschließt, bil- Landesgesch. 19 (1956), S. 95–127. – Mario Santoro: L’Hodoeporicon di R. B. In: L’Umanesimo det Maximilians Sieg im bayerisch-pfälz. Umbro. Perugia 1977, S. 409–449. – Jan-Dirk Erbfolgekrieg 1504/05, das eigentl. Thema ist Müller: Gedechtnus. Lit. u. Hofgesellsch. um Majedoch das Schicksal des Hauses Habsburg: ximilian I. Mchn. 1982 (Register). – Hermann Die Genealogie des Geschlechts, die Haus- Wiegand: Hodoeporica. Studien zur nlat. Reiseheiligen, vergangene u. künftige Taten wer- dichtung des dt. Kulturraums im 16. Jh. Badenden geschildert, die Erbländer ausführlich Baden 1984 (Register). – Stephan Füssel in: Conbeschrieben. Maximilian erscheint in der temporaries 1, S. 97 f. – Ders.: R. B. Perusinus. Rolle eines neuen Augustus, dem ein Vergil Humanist. Panegyrik am Hofe Kaiser Maximilians höchstes Lob zollt u. der alle idealen Hoff- I. Baden-Baden 1987 (mit Drucküberlieferung). – nungen nach neuer Weltzeit erfüllt. Durch Elisabeth Klecker: Kaiser Maximilians Homer. In: Sphairos. FS Hans Schwabl. Wien 1994/95, die umfassende Kommentierung von Jakob S. 613–637. – Dies.: ›Bella nullos habitura triumSpiegel (Straßb. 1531, VD 16 B 563) rückte die phos?‹. Lucans Einfluß auf die Darstellung v. Austrias in die Nähe der klass. Schulautoren. Kriegen im Dt. Reich. In: Die Wahrnehmung u. Mit einem Heroischen Brief, der Epistola Darstellung v. Kriegen im MA u. in der Frühen Ferdinandi (Augsb. u. Rom 1516), schaltete Neuzeit. Hg. Horst Brunner. Wiesb. 2000, sich B. publizistisch höchst wirkungsvoll in S. 115–140. – Dies.: Mit Vergil im Seesturm. Pardie span. Nachfolgefrage ein; im Dienst der odie u. Panegyrik in der ›Austrias‹ des R. B. In: kaiserl. Historiografie beschrieb er – nach ›Parodia‹ u. Parodie. Hg. Reinhold F. Glei u. Robert seiner Dichterkrönung in Antwerpen (1517) – Seidel. Tüb. 2006, S. 321–344. – Franz J. Worstden Augsburger Reichstag von 1518 in einer brock in: VL Dt. Hum. – Flood, Poets Laureate, Bd. 1, S. 125–128. Stephan Füssel / Red. prosaischen »Descriptio« (De conventu Augustensi concinna descriptio [...]. Augsb. 1518) u. verfasste eine Türkenrede (Oratio [...] de expe- Bartock, Willi, * 2.1.1915 Duisburg, ditione contra Turcas suscipienda. Augsb. 1518 u. † 1987. – Dramatiker u. Lyriker. 1519). Den Wahlkampf der Kaiserl. Räte 1519 B. durchlief nach der Schule zunächst eine begleitete er mit Epigrammen (Mainz 1519) kaufmänn. Lehre u. arbeitete dann in einer u. feierte den Sieg Karls V. in einem »carmen« Kokerei, später als Laborant. Seit 1950 war er (Carmen geniale. Straßb. 1519). als Leiter der kulturellen Betreuung der ArIm selben Jahr ging B. nach Perugia zu- beiterschaft einer Gelsenkirchener Schachtrück, um die Nachfolge seines Lehrers anlage tätig. In der ersten Hälfte der 1950er Francesco Maturanzio († 1518) als Professor Jahre veröffentlichte B. erste Gedichtbände; für Rhetorik anzutreten; von dieser Tätigkeit später verfasste er Bühnenstücke. Kurz nach zeugen handschriftlich überlieferte Komihrer Gründung trat B. der Dortmunder Armentare zu Apuleius, Livius u. Vergil. Seine Zeitgenossen feierten ihn als Verfasser des

Bartsch

343

beiterschriftstellervereinigung »Gruppe 61« bei, von der er sich 1970 jedoch wieder löste. Zentrales Thema in B.s Lyrik wie auch in seinen Bühnenstücken sind die Lebensverhältnisse der nachkriegsdeutschen Arbeiterschaft, v. a. der Kohlebergarbeiter im Ruhrgebiet. Durch zurückhaltende Sachlichkeit gelingt ihm ein prägnantes u. in seinen sozialkrit. Zügen zgl. differenziertes Bild des Industriearbeiters in einer sich wandelnden Gesellschaft. Weitere Werke: Kohle, edle Bergmannsbraut. Bergmänn. Jahresfeier für Chor, Sologesang u. Sprecher. Wien 1958. – Nacht, die mich nicht schlafen läßt. Hg. Walter Köpping. Oberhausen 1987. – Einzelne Gedichte in: Dortmunder Gruppe 61 (Hg. W. B.): Neue Industriedichtung. Lyrik u. Prosa v. schreibenden Arbeitern unserer Zeit. Recklinghausen 1963. Matthias Heinzel / Eva-Maria Gehler

Bartsch, Kurt, * 10.7.1937 Berlin. – Epigrammatiker, Satiriker.

Brecht ab. / Und was ich zuschreibe, das stammt / Von den Expressionisten.« Für seinen Roman Wadzeck, der die Biografie eines Rotfrontkämpfers u. Aufbaupioniers bietet, bezog B. Anregungen allerdings auch von Georg Büchner, Alfred Döblin u. Heiner Müller. In seinen DDR-Jahren hat B. als kritisch-parodistischer Begleiter des literar. Schaffens der sog. »Mittleren Generation«, zu der Elke Erb, Thomas Brasch, Volker Braun u. a. gehören, ein fast lückenloses Pandämonium der Literatur der DDR geschaffen. In mehreren Bänden legte er deutsch-deutsche Parodien vor, die in dem Band Die Hölderlinie (Bln./West 1983) eine repräsentative Zusammenfassung fanden. B. lebt u. arbeitet in Berlin. Weitere Werke: Zugluft. Gedichte, Sprüche, Parodien. Bln./DDR 1968. – Die Lachmaschine. Bln./West 1971 (L.). – Kalte Küche. Parodien. Bln./ DDR 1974. – Weihnacht ist u. Wotan reitet. Märchenhafte Gedichte. Bln./West 1985. – Fanny Holzbein. Bln. 2004 (R.) Literatur: Manfred Behn: K. B. In: KLG. – Hans

Nach dem Besuch der Oberschule u. an- Ester u. K. B. Gespräch. In: Dt. Bücher 16 (1989), S. 1–7. – Petra Ernst: K. B. In: LGL. schließenden Aushilfsarbeiten in verschiedeAdolf Endler / Eva-Maria Gehler nen Berufen studierte B. 1964/65 am Johannes R. Becher Literaturinstitut in Leipzig. Ausgangspunkt seiner literar. Entwicklung Bartsch, Rudolf Hans, * 11.2.1873 Graz, ist die Pointe der Witzseiten u. des Kabaretts. † 7.2.1952 St. Peter bei Graz; Grabstätte: In den 1960er Jahren hat vornehmlich die ebd., Pergola auf dem Schlossberg. – Ost-Berliner Zeitschrift »Sonntag« von den Verfasser von Heimatromanen. Talenten des Autors profitiert; in den 1970er Jahren, wie ansatzweise schon vorher, wurde Als Oberleutnant leitete der Sohn eines Milideutlich, dass B.s Ziele weit höher gesteckt täroberarztes 1895–1911 das k. u. k. Kriegswaren: Der Sketch wollte zum schwarzhu- archiv in Wien. Er trat dann als Hauptmann morigen Song-Spiel, zum satir. Schauspiel in den Ruhestand u. lebte seit 1918 als werden (Der Bauch und andere Songspiele. Bln./ Schriftsteller in Graz. DDR 1977), die sarkast. Glosse zum krit. RoVon Peter Rosegger beeinflusst, wurde B. man (Wadzeck. Reinb. 1980), das hurtige, durch seine pseudoromantische u. verkitschte wenn auch schon immer originelle Epi- Darstellung des alten Österreich im Roman gramm zum sezierenden lyr. Report, sozialen Zwölf aus der Steiermark (Lpz. 1908) bekannt. In Sachverhalten u. Befindlichkeiten im Osten dem schon zwei Jahre später als Schulbuch Deutschlands auf der Spur (Kaderakte. Reinb. erschienenen Roman sind Grundzüge dt. 1979). Berlin, besonders die proletarische u. Heimatkunst, die dekadenzfeindl. Betonung lumpenproletar. Seite der Stadt, bleibt auch von »Volkstum«, »Stammeseigenheiten« u. nach der Übersiedlung des Autors in den Bodenständigkeit, bereits unverkennbar. Westteil (1980) sein wesentliches Thema. Auch sein auflagenstarker Roman Schwammerl Seine Poetologie hat B. um 1974 in einen für (Lpz. 1912), 1916 von Heinrich Berté zur ihn charakterist. Vierzeiler gefasst: »Ich Operette Dreimäderlhaus verarbeitet, lieferte schreibe nur ab und zu. / Ich schreibe von ein flaches, bloß gefälliges Bild Franz Schu-

Bartus

berts. Mit seinen Erzählwerken erreichte B. nach der Jahrhundertwende Millionenauflagen u. wurde von dem schon in den 1920er Jahren die deutschnationale Strömung vertretenden Verlag L. Staackmann in Leipzig verlegt. Weitere Werke: Als Österr. zerfiel. Wien 1905 (R.). – Vom sterbenden Rokoko. Lpz. 1909 (N.n). – Ein Deutscher. Lpz. 1933 (R.). – Brüder im Sturm. Graz 1940 (R.). – Wenn Majestäten lieben. Graz/ Wien/Stgt. 1949 (R.). Literatur: Gerhard Pail: R. H. B. u. sein Roman ›Brüder im Sturm‹ (1940). Von den Schwierigkeiten eines monarchiereminiszenten Altösterreichers, den Anschluß nicht zu verpassen. In: Austrian writers and the Anschluß. Hg. Donald G. Daviau. Riverside 1991, S. 168–186. Eva Weisz / Red.

Bartus, Jutta, * 11.1.1926 Breslau. – Hörspiel- u. Fernsehautorin, Lyrikerin u. Erzählerin. Nach ihrem Abitur 1944, Kriegseinsatz u. Arbeit in verschiedenen Berufen wurde B. 1947 an das Deutsche Theaterinstitut Weimar delegiert, das sie im Dez. 1948 wieder verlassen musste. Sie zog 1949 ins Bergische Land, kehrte aber 1955 mit ihrem damaligen Mann Adolf Endler in die DDR zurück. Dort arbeitete B. für Rundfunk u. Fernsehen, schrieb Lyrik u. Prosa. Ab 1975 erhielt B. keine Gelegenheit mehr, in der DDR zu veröffentlichen, u. siedelte im Dez. 1977 erneut in die Bundesrepublik über. Erste Erfolge hatte B. mit dem fünfteiligen Fernsehfilm Geboren unter schwarzen Himmeln (Urauff. 1962. Druck Bln. 1962. Halle 31976) u. dem gleichnamigen Roman (Halle 1963). Diesem von sozialistischer Aufbruchstimmung geprägten Werk folgten Hörspiele, in denen B. die Lage der Frauen in der DDR kritisch beleuchtete, z.B. Die Umfrage der Frau Mitschuleit (Urauff. 1967). Die Frauenthematik stand auch im Zentrum der Ruth-Novellen (Bln./West 1979), Episoden aus dem Leben von drei Frauen, in die B.’ eigene Erfahrungen in drei dt. Staaten einflossen. So entstand ein Porträt Deutschlands zu Beginn des Nationalsozialismus, der Bundesrepublik während der Adenauer-Zeit u. der DDR Anfang der 1970er Jahre. Der unmittelbare, raue Ton

344

u. die entschieden private Perspektive dieser Novellen findet sich auch in B.’ Gedichten der Sammlung Scharfe Kanten. Gedichte aus zwei Dutzend und drei Jahren (Bln./West 1980). Weitere Werke: Die Sorgen der Ruth Jensen. Urauff. 1968 (Hörsp.). – Nachtfahrt. (E.). In: Antworten. Hg. Gerald Zschorsch. Bln./West 1979, S. 34–40. – Vogelfrei. (E.). In: Dissidenten? Hg. Andreas W. Mythze. Europ. Ideen. H. 54/55 (1982), S. 2–12. – Trauermarsch für vier Klaviere. Bln./ West 1986. Lpz. 1991 (R.). Literatur: B. In: Andrea Jäger: Schriftsteller aus der DDR. Ausbürgerungen u. Übersiedlungen v. 1961 bis 1989. Autorenlexikon. Ffm. 1995. Andrea Jäger

Bartuschek, Helmut, * 25.12.1905 Gleiwitz, † 18.5.1984 Leipzig. – Übersetzer u. Lyriker. B. zog 1922 mit seiner Familie nach Leipzig, wo er 1925 das Abitur machte u. nach dem Studium als Bibliothekar arbeitete. Nach dem Zweiten Weltkrieg u. seiner Entlassung aus frz. Kriegsgefangenschaft ließ er sich als Schriftsteller in Leipzig nieder. Bekannt wurde B. als Übersetzer u. Nachdichter frz. Literatur von de Coster über Flaubert, Hugo, Maupassant bis Mérimée. Im Zeichen der Aneignung des weltliterar. Erbes in der DDR während der 1950er u. 1960er Jahre erfüllten B.s Übersetzungen die Aufgabe, dem DDRLeser eine Auswahl aus der literar. Tradition Frankreichs vorzulegen. Seine ersten eigenen Gedichte erschienen 1929 in der von Klaus Mann herausgegebenen Anthologie jüngster Lyrik. N. F. (Hbg.). Der Gedichtband Erde (Lpz. 1938) wurde von Georg Maurer gefördert. Eine Auswahl aus dem umfangreichen lyr. Werk B.s liegt vor in den Bänden Verwandelte Welt (Bln./DDR 1962) u. Die Häutung des Schlangenkönigs (Lpz. 1983). Unterstützung für seine Arbeiten fand B. bei Johannes Bobrowski u. Paul Wiens. Weitere Werke: Der gall. Hahn. Frz. Lyrik v. der Zeit der Troubadours bis in unsere Tage. Übers. v. H. B. Bln./Weimar 1957. – Fährten u. Horizonte. Dülmen/Westf. 1962 (L.). Andrea Jäger

345

Barzaeus, Johannes, eigentl.: J. Bärtschi, * 1592 oder nach 1595 Sursee, † 6.7.1660 Schönenwerd. – Lyriker.

Basedow

lasse. Dabei wird die »Urgeschichte« der Schweiz mit den Tell-, Stauffacher- u. Winkelried-Mythen für die kath. Innerschweiz reklamiert. Zgl. verfolgen B.s »Heldenbriefe« polit. Ziele in der Gegenwart. Der Verfasser preist das frz. Bündnis der Eidgenossenschaft u. widmet sein Werk dem frz. Gesandten, ohne indes eine gegen Österreich gerichtete Politik zu propagieren. Niklaus von der Flüe, der unter den eidgenöss. Orten Frieden stiftete, steht im Mittelpunkt des dritten Buchs. Das Werk erweist sich damit trotz einer gewissen gegenreformator. Tendenz als Mahnung zum inneren Frieden in der spannungsreichen Zeit nach dem Dreißigjährigen Krieg.

B. (Sohn des Klosterschulmeisters u. ludi magister in St. Urban, der unter dem Namen Johannes Bargtius ebenfalls lat. Gedichte verfasste) stammte aus einem Luzerner Geschlecht namens Bärtschi. Der Vater war als kath. Glaubensflüchtling aus Nyon in der Waadt ins Luzernerland zurückgekehrt. B. studierte 1622–1625 in Dillingen, wo er die Magisterwürde erwarb, u. wirkte danach bis 1627 als Provisor an der Stiftsschule Solothurn. Nach einem theolog. Studienjahr in Freiburg i. Br. war er 1628–1634 Priester in verschiedenen Gemeinden von Solothurn u. Literatur: Eugen Egger: Joannis Barzaei HeLuzern. Enge Beziehungen zu den Jesuiten roum Helvetiorum Epistolae. Untersuchung zur sind anzunehmen. 1634 wurde er Lateinleh- Erforsch. der nlat. Epik. Diss. Freiburg/Schweiz rer u. ludi moderator in Solothurn. Von 1639 1947. – Karin Marti-Weissenbach: J. Bärtschi. In: bis zu seinem Tod war er Chorherr im Stift HLS, S. 738. Schönenwerd u. übte die Ämter des Kantors, Hellmut Thomke / Hermann Wiegand des Bauherrn, des Sekretärs, des Kustos u. des Dekans aus. Basedow, Johann Bernhard, auch: Johan Neben einem Epithalamium in Hexametern Berend Bassedau (bis 1748), Bernhard von (Pruntrut 1628) auf die Hochzeit seines Nordalbingien, * 11.9.1724 Hamburg, Gönners Junker Jakob von Staal verfasste B. † 25.7.1790 Magdeburg; Grabstätte: den Hymnus B. V. Mariae (Luzern 1648. 2., ebd., Friedhof der Hl.-Geist-Gemeinde. – veränderte Aufl. u. d. T. Omni die dic Mariae Theologe u. Pädagoge. mea laudes anima. Luzern 1651), eine ÜberB. entstammte einer armen Perückenmatragung eines fälschlich dem hl. Kasimir von cherfamilie, wurde vom Vater zum TheoloPolen zugeschriebenen Marienhymnus aus giestudium bestimmt, besuchte deshalb seit Prosa in deutsche u. klassisch-lat. Verse. B.’ 1732 als Stipendiat das berühmte Hamburger Hauptwerk sind die Heroum Helvetiorum EpiJohanneum u. ab 1743 das Akademische stolae (Freiburg/Schweiz 1657 u. Luzern Gymnasium. Hier war Hermann Samuel 1657). Diese poet. Darstellung der eidgenöss. Reimarus sein Lehrer, der ihn zu seinen PriHeldengeschichte übertrug den Stoff volksvatvorlesungen zugelassen hatte. Es ist ansprachlicher Chroniken u. historisch-polit. zunehmen, dass B. schon während seiner Lieder in antike Form (Hexameter u. DistiSchulzeit mit dem religionskrit. Aufklächen). Sie folgte dem Vorbild von Ovids He- rungsdenken des Reimarus in Berührung roides u. nicht zuletzt jesuit. Anregern wie gekommen ist. 1746 nahm B. sein PhilosoJakob Bidermann, dessen Heroum Epistolae phie- u. Theologiestudium in Leipzig auf, (zuerst 1630) u. Heroidum Epistolae (1642) für studierte aber vorwiegend »auf der Stube« u. poet. »Helden-« bzw. »Heldinnenbriefe« aus wechselte bereits nach zwei Jahren an die der Kirchen- wie Profangeschichte im kath. Universität Kiel. Zgl. wurde er im holsteiniKulturraum prägend wurden u. zahlreiche schen Borghorst Hauslehrer des siebenjähriNachahmer fanden. Im Kontext dieser jesuit. gen Josias von Qualen. Er unterrichtete seiOvid-imitatio sind die »Schweizer Helden- nen jungen Schüler in der lat. Sprache ohne briefe« des B. zu sehen. Die Episteln der drei den übl. Grammatikdrill u. legte seine UnBücher verherrlichen die vaterländ. Geschichte, die Gottes lenkende Hand erkennen

Basedow

terrichtserfahrungen als Dissertation 1752 der Universität Kiel vor. 1753 wurde er auf Empfehlung des Herrn von Qualen u. durch Klopstocks Vermittlung zum Professor »Eloquentiae et Philosophiae moralis« an der Ritterakademie in Sorø in Dänemark ernannt. Als sich seine Lehrtätigkeit von 1757 an auch auf die Theologie ausdehnte, wurde seine aufgeklärt-krit. Religionsauffassung offensichtlich. In seiner Praktischen Philosophie für alle Stände (2 Tle., Kopenhagen u. Lpz. 1758) forderte er Religionsfreiheit, eine konfessionsübergreifende ständisch gegliederte Gesellschaftsordnung u. die freie öffentl. Diskussion der Gelehrten über Religionsmeinungen. Diese aufklärer. Auffassungen erregten den Widerstand des Oberhofmeisters der Ritterakademie, Danneskiold, der B. für einen »irrigen und falschen Lehrer« hielt, weil er vor die kirchl. Glaubenslehren die philosoph. Einsicht in religiöse Grundauffassungen stellte. Danneskiolds Intervention beim dän. Hof führte zu B.s Versetzung an das damals dän. Altonaer Gymnasium. Hier wurde er erneut durch seine Schrift Philalethie. Neue Aussichten in die Wahrheiten und Religion der Vernunft bis in die Gränzen der glaubwürdigen Offenbarung (Altona 1764) in einen intensiven Glaubensstreit mit dem Hamburger Hauptpastor Johann Melchior Goeze verwickelt, in dessen Verlauf seine Bücher verboten u. er u. alle Familienmitglieder vom Abendmahl ausgeschlossen wurden. In der theolog. Auseinandersetzung kritisierte B. auch die herkömmliche religiöse Erziehung der Jugend. Das Nachbeten unverstandener Gebetstexte widersprach B.s Aufklärungsintention, u. in seinem Methodischen Unterricht der Jugend in der Religion und der Sittenlehre der Vernunft (Altona 1764. Neudr. Hildesh. 1985) entwickelte er eine allgemeine Religions- u. Morallehre ohne Bindung an eine bestimmte konfessionelle Auffassung u. forderte die »Duldung der Paradoxie«. Die zermürbenden Auseinandersetzungen mit den Vertretern des orthodoxen Kirchenglaubens verlagerten B.s Aktivitäten auf den bildungspolit. Bereich, da er nur in einer grundlegenden Veränderung des Erziehungssystems die Möglichkeit einer Erzie-

346

hung zur Toleranz u. zur Vernunftmoral erblickte. Seine 1768 in Hamburg erschienene Vorstellung an Menschenfreunde und vermögende Männer über Schulen, Studien und ihren Einfluß in die öffentliche Wohlfahrt stellte den programmat. Erziehungsplan für eine grundlegende Verbesserung der gesellschaftl. Zustände dar, wobei nicht die konfessionelle Bindung den Rahmen der sozialen Ordnung festschrieb, sondern Nützlichkeit u. Tugendhaftigkeit zum bestimmenden Moment der allgemeinen »Glückseligkeit« erklärt wurde. Nach B.s Vorstellungen zur Neuordnung des Bildungswesens sollte die Schulaufsicht den Kirchen entzogen u. einem »Staatskollegium« übertragen werden; ein konfessionsneutraler, von der Vernunfteinsicht geleiteter allgemeinbildender Wissenskanon musste entwickelt u. eine Musterschule sollte gegründet werden, die sich als »menschenfreundlich« oder »philanthropisch« erweisen u. zum mustergültigen Ausgangspunkt einer europ. Bildungsreform werden sollte. Ein »Elementarwerk« sollte nach B.s Vorschlag das allgemeine Grundwissen darstellen. B. konnte ein internat. Publikum zur Subskription dieses umfassenden Bildungswerks gewinnen u. brachte Das Elementarbuch für die Jugend und für ihre Lehrer und Freunde in gesitteten Ständen (Altona u. Bremen 1770) u. 1774 das vierbändige Elementarwerk (Dessau) mit etwa 100 Kupfertafeln von Daniel Chodowiecki heraus. Das Elementarwerk enthält einen »geordneten Vorrath aller nöthigen Erkenntniß zum Unterrichte der Jugend von Anfang bis ins academische Alter«. Diese Weltkenntnisse sollten die Gemeinnützigkeit fördern u. die allgemeine Tugendhaftigkeit begründen. Die umfassende Bildung zur »Weisheit und Tugend« sei jedoch nur für die gesitteten Stände erforderlich, für den »gemeinen Haufen« genüge ein Auszug des Werks. In dieser Unterscheidung wird das ständisch fixierte Aufklärungsverständnis B.s deutlich. Für ihn sind die »gesitteten Stände« die Träger des Allgemeinwohls; von ihnen verlangt er jedoch auch die größere Moralität aufgrund ihrer umfassenderen Einsicht in die gesellschaftl. Zusammenhänge. Die Musterschule fand ihre Gestalt im 1774 in Dessau gegründeten »Philanthropinum«

347

u. gab der nun einsetzenden pädagog. Bewegung den Namen »Philanthropismus«. Die Philanthropen (u. a. Joachim Heinrich Campe, Christian Gotthilf Salzmann, Ernst Christian Trapp) sahen in Anlehnung an Locke, Comenius u. Rousseau in der naturgemäßen Entfaltung der jugendl. Kräfte den entscheidenden Bezugspunkt für alle pädagog. Maßnahmen. Im Philanthropinum sollten die Kinder wohlhabender u. adliger Eltern mit gemeinnützigen Kenntnissen für ihre künftigen Führungsaufgaben ausgerüstet u. die Kinder armer Eltern zu philanthrop. Lehrern u. geschickten Bediensteten herangebildet werden. Unerfahrenheit der angestellten Lehrer, Widersprüche im Verständnis der wahren philanthrop. Lehrart u. eine zunehmende Destabilisierung der Persönlichkeit B.s führten jedoch nach anfängl. Erfolgen zum inneren Verfall dieser Musterschule. 1778 legte B. die Leitung des Philanthropinums nieder. In seinen letzten Lebensjahren veröffentlichte er noch einige weniger beachtete Werke zu theolog. Fragen sowie Lehrbücher, insbes. zum Lesenlernen. B.s herausragende Bedeutung liegt in seinem Aufklärungskampf um Gewissensfreiheit u. Toleranz sowie in seinem unermüdl. Streben nach Verbesserung der Erziehungsformen u. des Schulwesens im Interesse einer von Vernunft u. Moral getragenen, dem Allgemeinwohl verpflichteten Ständegesellschaft. Dennoch ist die histor. Beurteilung seiner Person u. seiner reformerischen Bestrebungen bis in die Gegenwart widersprüchlich geblieben. Seine Gegner warfen ihm Großmannssucht, Projektemacherei, Dilettantismus u. Geldgier vor, was seinen literar. Ausdruck fand in Johann Gottlieb Schummels Roman Spitzbart. Eine komi-tragische Geschichte für unser pädagogisches Jahrhundert (Lpz. 1779). Johann Gottfried Herder nannte B. den »Pontifex Maximus« aus Dessau, dem er keine Kälber, geschweige denn Menschen zur Erziehung überlassen würde. Die neuhumanist. Bildungsphilosophie zu Beginn des 19. Jh. verwarf den gesamten Philanthropismus als utilitaristische u. eudämonist. Anpassungspädagogik, zu der die freie Entfaltung des klassisch gebildeten Subjekts einen Gegensatz bildete. Erst um die

Basedow

Wende zum 20. Jh. erwachte ein neues Interesse an der philanthrop. Pädagogik im Rahmen der historisch-pädagog. Fragestellungen der Reformpädagogik. In der jüngeren Auseinandersetzung um den Zusammenhang von gesellschaftlicher Determination u. individueller Bildung gewann B. trotz seiner problemat. Persönlichkeit erneut stärkere Beachtung. So hob Herwig Blankertz B.s Bedeutung für eine moderne Berufsbildungstheorie hervor, u. Heinz-Joachim Heydorn nannte B. in seinem Buch Über den Widerspruch zwischen Bildung und Herrschaft (Ffm. 1970) sogar »die pädagogische Größe der reifen Zeit« u. einen »deutschen Rousseau«. Weitere Werke: Abgenöthigte polem. Abh. im Jahr 1764. Altona 1764. – Zur Elementarischen Bibl. Das Methodenbuch für Väter u. Mütter der Familien u. Völker. Altona u. Bremen 1770. Neudr. Vaduz 1979. Ausgaben: Elementarwerk. Krit. Bearb. in 3 Bdn., Lpz. 1909. Neudr. Hildesh. 1972. – B.s ausgew. pädagog. Schr.en. Hg. Albert Reble. Paderb. 1965 (mit Bibliogr.). – Anschauende Erkenntnis. Daniel Chodowieckis ›Kupfertafeln‹ zu J. B. ›Elementarwerk‹. Dessau 1999. Literatur: Bibliografie: Meusel I (1802), S. 189–196. – Biografien: Heinrich Rathmann: Beiträge zur Lebensgesch. J. B. B.s. Magdeb. 1791. – Johann Christian Meier: Leben, Charakter u. Schr.en B.s. Hbg. 1791. – Armin Basedow: J. B. B. Langensalza 1924. – Günther Ulbricht: J. B. B. Bln./ DDR 1963. – Weitere Titel: Friedrich Immanuel Niethammer: Der Streit des Philanthropinismus u. Humanismus [...]. Jena 1808. – Max Müller: J. B. B. In: ADB. – Auguste Pinloche: Gesch. des Philanthropinismus. Lpz. 1896. – Otto Friedrich Bollnow: J. B. B. In: NDB. – Herwig Blankertz: Berufsbildung u. Utilitarismus. Düsseld. 1963. – B.-Symposion 1974 in Dessau. Die DDR ehrt J. B. B. In: Jb. für Erziehungs- u. Schulgesch. 16 (1976). – Wiltraut Finzel-Niederstadt: Aneignung u. Zueignung. Eine Untersuchung über Herders Verständnis [...]. Diss. Bielef. 1984. – Horst Krause: Die allgemeinbildende Dimension im Elementarwerk J. B. B.s. In: Zwischen Renaissance u. Aufklärung. Hg. Klaus Garber. Amsterd. 1988, S. 273–298. – Ders.: J. B. B. – Abstand u. Nähe. In: Zwischen Wörlitz u. Mosigkau. Dessau 1991, H. 40, S. 2–11. Horst Krause

Basil

Basil, Otto, auch: Markus Hörmann, Camill Schmall, * 24.12.1901 Wien, † 19.2. 1983 Wien. – Lyriker, Romancier, Essayist, Biograf u. Herausgeber.

348

Reinbek die Monografien Georg Trakl u. Johann Nestroy, 1966 der Roman Wenn das der Führer wüßte (Wien). 1968–1971 verfasste B. für den Rundfunk eine Reihe von Künstler- u. Dichterporträts (u. a. über Edgar Allan Poe, Karl Kraus, Peter Altenberg, Ernst Toller, Adolf Loos, Franz Werfel). Eine Sammlung seiner 1947–1966 geschriebenen Theaterkritiken kam 1981 in Wien u. d. T. Lob und Tadel heraus. 1981 erhielt B. den Österreichischen Staatspreis für Kulturpublizistik.

B. studierte Germanistik u. Paläontologie in Wien u. München, arbeitete als Barpianist u. Bankbeamter. Schon während der Studienzeit begann er Gedichte zu schreiben, die noch unter dem Einfluss von Trakl u. Rilke standen u. z.T. 1918–1920 in den Zeitschriften »Ver«, »Aufschwung«, »Faun« u. »Muskete« erschienen. 1923–1925 schrieb er reWeitere Werke: Zyn. Sonette. Wien 1919. – gelmäßig Artikel über literarische u. polit. Sonette an einen Freund. Wien 1925. – Benja. Wien Themen für die österr. Zeitschrift »Das 1930 (E.). – Die Umkreisung. Wien 1933 (R.). – Die Wort«. Im Dez. 1937 gründete er mit Erleuchtung des Jean-Arthur Rimbaud. Wien 1942 Freunden die Zeitschrift für Literatur, Kunst (P. u. L.). – Anruf ins Ungewisse. Graz/Wien 1963 u. Kulturpolitik »Plan«, die betont antina- (E. u. L.). tionalsozialistisch ausgerichtet war u. nach Literatur: Volker Kaukoreit u. Wendelin dem »Anschluss« Österreichs sofort verboten Schmidt-Dengler (Hg.): O. B. u. die Lit. um 1945. wurde. 1938–1945 erhielt er offizielles Tradition, Kontinuität, Neubeginn. Wien 1998. Peter König / Red. Schreibverbot, doch konnte 1940 die Gedichtsammlung Freund des Orients (mit Holzschnitten von Edgar Jené) als Privatdruck erscheinen. Er übersetzte Rimbaud u. Lautréa- Basilius Valentinus. – Ein fiktiver Benemont u. hielt den Kontakt zu literar. Kreisen diktinermönch, unter dessen Namen seit 1599 ein deutschsprachiges Textkorpus aus der Vorkriegszeit aufrecht. Nach dem Krieg gab er erneut u. zunächst alchemomedizinischen Inhalts erschienen mit großem Erfolg die avantgardist. Zeit- ist. schrift »Plan« heraus. In den 18 Heften, die Die Vermutung, hinter dem Pseudonym »B. von Okt. 1945 bis Febr. 1948 in einem V.« habe sich Joachim Tancke (1557–1609) durchschnittl. Umfang von 80 Seiten auf den verborgen, ließ sich nicht erhärten; auch die Markt gelangten, kamen neben vielen ande- übl. Mutmaßung, Verfasser der B. V.-Schrifren literar. Talenten Ilse Aichinger, Brecht, ten sei der Erstherausgeber Johann Thölde Broch, Christine Busta, Celan, Doderer, Erich (um 1565 bis 1612/14), entbehrt jeder StichFried u. Saint-John Perse zu Wort. Verdienst haltigkeit. der Zeitschrift war auch, dass sie die künstler. Spätestens um 1700 feierten Mediziner u. Bewegung des Surrealismus in Österreich Alchemiker in B. V. einen »weltberühmten bekanntmachte u. wichtige frz., engl., russ., deutschen Scribenten« u. »Princeps« unter tschech., ungar. u. span. Autoren in dt. den »Vätern der Chemie«. Dieser frühneuÜbersetzungen vorstellte. Nach dem Ende zeitl. Ruhm gründete sich auf ein gestaltlich des »Plan« 1948 arbeitete B. als Presserefe- u. inhaltlich inhomogenes Textkorpus, desrent u. Dramaturg für das Volkstheater in sen Kern 1599–1604 von dem FrankenhauWien sowie bis 1964 als Redakteur u. Thea- sener Pfannenherrn u. nachmaligen Kroterkritiker für die Zeitung »Neues Öster- nacher Berghauptmann Johann Thölde ediert reich«. 1945 veröffentlichte er den Band worden ist. Zunächst gab Thölde einen Sternbild der Waage (Wien), 1947 Apokalyptischer Traktat Vom großen Stein der uralten Weisen mit Vers (Wien), beides Sammlungen von Ge- den Zwölf Schlüsseln heraus (Eisleben 1599), dichten aus verschiedenen Zeiten u. in un- den er bald in einer illustrierten, um Lehrterschiedl. Stilen (expressionistisch u. sur- dichtungen (Von der Meisterschaft der sieben realistisch). 1965 u. 1967 erschienen in Planeten, rätselpoet. Rollengedichte) u. andere

349

Basiliana (Vom großen Stein-Anhang. De Microcosmo, Von der grossen Heimlichkeit der Welt) erweiterten Fassung erscheinen ließ (Lpz. 1602). Dann folgten die Schriften De occulta philosophia. Oder Von der heimlichen Wundergeburt der sieben Planeten und Metallen (Lpz. 1603), Von den natürlichen und übernatürlichen Dingen (Lpz. 1603) u. der Triumphwagen Antimonii (Lpz. 1604). Diesen von Thölde besorgten Ausgaben schlossen sich Ausgaben weiterer Basiliana durch andere Herausgeber an. Die näheren Entstehungsumstände des Korpuskerns liegen weitgehend im Dunkel. Manche sprachlichen u. inhaltl. Eigenarten deuten jedoch im Verein mit überlieferungsgeschichtl. Indizien darauf hin, dass die B. V.Schriften aus der Feder von mehreren Verfassern des ausgehenden 16. Jh. stammen. Die wohl einst berühmteste B. V.-Schrift, der Traktat Vom großen Stein mit den Zwölf Schlüsseln, gilt dem laborantischen Gewinn einer alchem. Universalarznei. Es bietet sich ein teilweise »figuratè« verfasstes Werk, in dem sich aus der antik-mittelalterl. Vierelementenlehre u. der Paracelsischen Doktrin von den »drei ersten Dingen« Quecksilber, Schwefel u. Sal, aus neuplaton. Influenzienu. Korrespondenzlehren, aus Theologie u. antiker Mythologie abgeleitetes Wissensgut zu einer opaken Einheit verband. Seine Illustrationen fanden Aufnahme in Emblematabücher von Michael Maier (Atalanta fugiens. Emblem Nr. 24, Oppenheim 1617) u. Daniel Stoltz (Viridarium chymicum. Fig. Nr. 1–13, Ffm. 1624). Kein geringeres Ansehen als Vom großen Stein genoss der Triumphwagen Antimonii, eine auf dem Boden der Paracelsischen Chemiatrie erwachsene Heilmittelmonografie, der ein Werk des Paracelsisten Alexander von Suchten voranging (De secretis antimonii. Straßb. 1570). Im Widerstreit mit der galenist. Universitätsmedizin, die den oralen Gebrauch von Antimontherapeutika strikt ablehnte, lehrte der Triumphwagen, dass man aus Antimon (Spießglas, hier: Antimonsulfid) mit Hilfe alchemischer Verfahren medizinisch hochwirksame Präparate zubereiten könne. Manche Aufbauteile des B. V.-Korpus sind in einem pragmatisch-aperten Funktionalstil

Basilius Valentinus

gefasst. Andere hingegen kennzeichnet eine allegorisierende Schreibart, u. sie bezeugen eine Assimilation mytholog. Erzählguts. Da jedoch die vom Renaissanceplatonismus neu belebte Vorstellung, poet. Rätselrede sei ein sicheres Merkmal tiefster Weisheit, noch weithin Macht über frühneuzeitl. Alchemiker besaß, tat die parabolisch-tecte Rede dem fachl. Ansehen der Basiliana keinen Abbruch. Die Zahl der deutschsprachigen Ausgaben, unter denen die Geheimen Bücher (Straßb. 1645. 1651. 1667. 1712) u. die Chymischen Schriften (Hbg. 1677. 1694. 1700. 1717. 1740. 1769) eine führende Stellung einnahmen, war beträchtlich. Auch die Existenz zahlreicher Übersetzungen u. Kommentare zeigt, dass man bis in das 18. Jh. u. weit über das dt. Sprachgebiet hinaus am fachlich hohen Informationswert des B. V.-Korpus gewöhnlich keine Zweifel trug. Die neuere Chemiegeschichtsschreibung rückt die allegor. Basiliana nur beiläufig ins Blickfeld; sie betont den fachlich hohen Standard u. den Reichtum chem. Wissens im Triumphwagen Antimonii u. zählt B. V. zum kleinen Kreis der »großen Chemiker«. Die Sprach- u. Literaturgeschichtsschreibung lässt das B. V.-Korpus weitgehend außer Acht. Indes erneuerten manche Basiliana in der Arkanpharmazie, anthroposoph. Esoterik, Psychologie (C. G. Jung), Dichtung (Yvan Goll: Le Char Triomphal de l’Antimoine. Paris 1949) u. Bildkunst des 20. Jh. ihre wirkende Kraft. Ausgaben: Seriöse Textwiedergaben fehlen. Allenfalls Behelfe bieten: Chym. Schr.en alle/ so viel derer verhanden/ anitzo Zum Ersten mahl zusammen gedruckt [...] vermehret u. verbessert u. in Zwey Theile verfasset. Nachdr. der Ausg. Hbg. 1677. 2 Bde., Hildesh. 1976. – Dt. Theatrum Chemicum. Hg. Friedrich Roth-Scholtz. Tl. 1, Nürnb. 1728. Nachdr. Hildesh. 1976, Nr. XIII (Triumphwagen). – Alchymia. Die Jungfrau im blauen Gewande. Alchemist. Texte des 16. u. 17. Jh. Hg. Richard Scherer. Mössingen-Talheim 1988, S. 95–113 (Triumphwagen-Textprobe; De Microcosmo; De Macrocosmo; Vorlage: Ausg. 1677). – Theodor Kerckring: Anmerckungen über Basilii Valentini Triumph-Wagen des Antimonii. Nürnb. 1724. Nachdr. Affoltern a. A. o. J. [1987?]. – Jörg Barke: Die Sprache der Chymie. Am Beispiel v. vier Drucken aus der Zeit zwischen 1574–1761. Tüb. 1991, S. 443–474 (Zwölf Schlüssel; Vorlage: Ausg. 1602).

Bassewitz

350

– Daniel Hornfisher: Löwe u. Phönix. Das große Hdb. der prakt. Spagyrik u. Alchemie. Braunschw. 1998, S. 271–294 (Zwölf Schlüssel; ohne Bilder; Vorlage: Ausg. 1677). – T. Kerckring: Anmerckungen über Basilii Valentini Triumph-Wagen des Antimonii. Langen 2000 (Triumphwagen; Vorlage: Ausg. 1724). – Triumphwagen des Antimons. B. V. Kerckring. Kirchweger. Text. Komm.e. Studien. Hg. Hans Gerhard Lenz. Elberfeld 2004, S. 3–94 (Triumphwagen; Vorlage: Ausg. 1604). – Anonymus: Der Schlüssel zu den ›Zwölf Schlüsseln‹ v. Bruder B. V. Tl. 2: B. V.: ›Vom Großen Stein der Uralten‹ u. ›Zwölf Schlüssel der Philosophie‹. Hg. u. übers. v. Martin P. Steiner. Komm. v. P. Martin. Basel 2006. Literatur: John Ferguson: Bibliotheca Chemica. Bd. 1, Glasgow 1906, S. 77–82. – Felix Fritz: B. V. In: Das Buch der großen Chemiker. Hg. Günther Bugge. Bd. 1, Bln. 1929, S. 125–141. – Karl Sudhoff: Die Schr.en des sog. B. V. In: Philobiblon 6 (1933), S. 163–170 (mit Bibliogr.). – John Read: Prelude to chemistry. An outline of alchemy. Cambridge/Mass. u. London 1966. 11936, S. 183–211. – Sten Lindroth: Till frågan om B. V. In: Lychnos. Jg. 1940, S. 325–327. – Gerhard Eis: B. V. In: NDB. – James Riddick Partington: A history of chemistry. Bd. 2, London/New York 1961, S. 183–203. – Allen G. Debus: B.V. In: DSB. – Hans Gerhard Lenz: Johann Thoelde. Ein Paracelsist u. ›Chymicus‹ u. seine Beziehungen zu Landgraf Moritz v. Hessen-Kassel. Diss. Marb. 1981. – Jacques van Lennep: Alchimie. Contribution à l’histoire de l’art alchimique. Brüssel 1984, S. 195–203. – Ulrich Trense: Das Antimon u. seine Verbindungen. Ihre medizin. Bedeutung im 16. u. 17. Jh. Köln 1985. – Claus Priesner: Johann Thoelde u. die Schr.en des B. V. In: Die Alchemie in der europ. Kultur- u. Wissenschaftsgesch. Hg. Christoph Meinel. Wiesb. 1986, S. 107–118. – Lawrence Principe: ›Chemical translation‹ and the role of impurities in alchemy. Examples from Basil Valentine’s ›Triumph-Wagen‹. In: Ambix 34 (1987), S. 21–30. – Claus Priesner: B. V. u. die Labortechnik um 1600. In: Ber.e zur Wissenschaftsgesch. 20 (1997), S. 159–172. – Ders.: B. V. In: Alchemie. Joachim Telle

Bassewitz, Gerdt von, eigentl.: Gerdt Bernhard von Bassewitz-Hohenluckow, * 4.1.1878 Allewind, † 6.2.1923 Berlin. – Verfasser von Dramen u. Märchenspielen. Der Sohn eines hohen preuß. Beamten aus mecklenburgischem Adel war Leutnant in preuß. Diensten, dann Schauspieler, Direkti-

onsassistent am Kölner Stadttheater u. schließlich freier Schriftsteller in Berlin. Er begann mit Dramen im expressionist. Stil, die bei Kurt Wolff in Leipzig erschienen, aber wenig erfolgreich waren. Großen Erfolg brachte ihm dagegen sein Märchenspiel Peterchens Mondfahrt (Lpz. 1912), das am 7.12.1912 im Stadttheater Leipzig uraufgeführt wurde. Nach dem Vorbild von James Matthew Barries Peter Pan (London 1906) u. Richard Dehmels Fitzebutze (Bln. 1907) versetzt B. die Kinder Peterchen u. Anneliese eines Nachts aus ihrem Kinderzimmer in eine fantast. Traumwelt. Auf der Suche nach dem von einem Holzdieb geraubten sechsten Bein des Maikäfers Sumsemann durchfliegen sie den Sternenhimmel, erleben aufregende Abenteuer u. landen schließlich mit einer Rakete auf dem Mondberg. Es gelingt ihnen, den dorthin verbannten Holzdieb zu besiegen u. das Bein zurückzuerobern. Das in kindlicher Sprache verfasste Stück, in dem die Naturerscheinungen des Kosmos zu einer Zauber- u. Feenwelt mystifiziert sind, gehörte in den 1950er u. 1960er Jahren zu den beliebtesten weihnachtl. Kinderstücken westdt. Bühnen. Weitere Werke: Dramen: Schahrazade. Lpz. 1911. – Judas. Lpz. 1911. – Die Sunamitin. Lpz. 1912. Literatur: Melchior Schedler: Kindertheater. Ffm. 31972, S. 113–122. Elisabeth Willnat / Red.

Batberger, Reinhold, * 21.10.1946 Würzburg. – Verfasser von Romanen, Erzählungen u. Hörspielen. B. studierte Germanistik, Philosophie, Geschichte u. promovierte. Seit 1980 lebt er als freier Schriftsteller in Frankfurt/M. 1995 war er »writer in residence« am Allegheny College in Meadville, 1999 an der Bowling Green State University in Columbus/Ohio. 1983 trat B. mit dem Roman Auge (Ffm.) hervor, der bereits alle wesentl. Elemente des B.’schen Erzählkosmos beinhaltet: Schon dieses erzähltechnisch verschachtelte Debüt, in dem ein Detektiv u. ein kleines Mädchen mit undurchschaubaren Aufträgen durch Hotels u. Klöster ziehen u. auf einen seltsamen Mönch treffen, zeigt, dass B. Vertreter

351

Batsányi

einer konsequent antirealistischen u. anti- Batsányi, Bacsányi, Gabriele (Anna Maria psycholog. Literatur in enger Verwandtschaft Elisabeth Christine), geb. von Baumberg, zum Surrealismus ist. Auch die folgenden, * 24.3.1766 Wien, † 24.7.1839 Linz; nicht minder krypt. Werke, die Erzählung Beo Grabstätte: ebd., Städt. Friedhof. – Lyri(Ffm. 1985), der Kurzroman Skalp (Ffm. kerin. 1987), die Erzählsammlung Drei Elephanten (Ffm. 1988) sowie die Erzählung Pirckheimers B., Tochter eines hochstehenden k. u. k. Fall (Ffm. 1995), folgen diesem poetolog. Hofbeamten, galt zu ihrer Zeit als die beProgramm, wobei letztgenannter Text – im deutendste österr. Lyrikerin u. wurde verKern eine bis ins Groteske überspitzte Satire schiedentlich als die »Sappho Wiens« aposauf den Literatur- u. Medienbetrieb – zu den trophiert. Sie genoss eine sorgfältige Erzieam leichtesten zugängl. Werken aus B.s hung in ihrem Elternhaus, in dem sie durch Schaffen zu zählen sein dürfte. 2004 erschien den Umgang mit führenden Schriftstellern eine weitere Sammlung unkonventioneller der josephin. Aufklärung wie Johann Baptist Erzählungen mit dem Titel Blutvergiftung von Alxinger, Aloys Blumauer, Michael De(Ffm.), in die auch Pirckheimers Fall aufge- nis, Gottlieb von Leon u. Joseph Franz von nommen ist. B. schließt darin an die literar. Ratschky zum Dichten angeregt wurde; beVerfahren seiner früheren Werke unmittelbar freundet war sie mit den Schriftstellerinnen an, denn auch in dieser Publikation finden Therese von Artner u. Karoline Pichler. Am sich keine »mimetischen« Texte, dafür viel 10.11.1805 heiratete sie den ungarischen poRätselhaftes, Düsteres u. Verstörendes wie die litisch-patriot. Schriftsteller János Batsányi, Negativutopie Augen, deren Titel auffällig auf der die Proklamation Napoleons vom B.s Erstling verweist. Wie schon der End- 15.5.1809 ins Ungarische übersetzte, in der zeitroman Skalp ist auch diese Geschichte in die Ungarn zum Aufstand gegen das Haus einer unbestimmten, apokalyptisch grun- Habsburg aufgerufen wurden. Nach der Verdierten Zukunft situierbar: Die Menschen treibung der frz. Truppen aus Österreich floh leben hier weitgehend unter der Erde u. sind B. mit ihrem Mann nach Paris u. teilte später zu mehr oder weniger freiwilligen Organ- seine Verbannung in Linz mit ihm. Zu den schreibenden u. geselligen Kreisen Wiens Ersatzteillagern mutiert. Weitere Werke: Buster, Bestie. Ffm. 1994 hatte sie von da an keinen Kontakt mehr. B.s erste Gedichte erschienen 1785 im (Schausp.). – Hörspiele: Buster. SWF 1993. – Fünf Fragen an Joseph Conrad. SWF 1995. – Wir genie- »Wiener Musenalmanach« von Blumauer u. ßen die himml. Freuden. SWF 1995. – Skandal & Ratschky, in dem sie bis 1796 regelmäßig mit Söhne. WDR 1997. – Chinchilla. SWF 1997. – Nur Beiträgen vertreten war. Ihr erstes selbstänWorte. SWR 1998. – Püppi tritt auf. SWR 2002. – dig publiziertes Werk waren die Sämmtlichen Die Schönheitschirurgin. WDR 2003. – Kein Gedichte (Wien 1800). Es folgten ein weiterer Schreien, keine Finsternis. WDR 2003. Lyrikband (Gedichte. Mit einer Abhandlung über Literatur: Bernd Gräf: R. B. (Zu ›Beo‹). In: Dt. die Dichtkunst, von Friedrich Wilhelm Meyer. Romanführer. Hg. ders. u. Jutta Gräf. Bd. 18, Stgt. Wien 1805) u. das 40-seitige Poem Amor und 1987, S. 24. – Klaus Junkes-Kirchen: R. B. (Zu Hymen, ein Gedicht zur Vermählung einer Freun›Skalp‹). Ebd. Bd. 27, Stgt. 1993, S. 32 f. – Lutz Hagestedt: R. B. (Zu ›Pirckheimers Fall‹). In: Re- din (Wien 1807). Ihre Themen u. Motive entclams Romanlexikon. Bd. 5: 20. Jh. III. Hg. Frank stammen der anakreont. Tradition: Liebe u. Rainer Max u. Christine Ruhrberg. Stgt. 2000, Freundschaft, Geselligkeit, Natur u. das Lob S. 449 f. – Stephan Landshuter: R. B. In: LGL. des ländlich-einfachen Lebens. Aber auch Stephan Landshuter aktuelle u. historische polit. Ereignisse – aus der Perspektive einer überzeugten Monarchistin – fanden Eingang in ihre Dichtung. Außerdem verfasste sie Gelegenheitsgedichte für ihren Freundeskreis. Viele der meist leicht u. flüssig geschriebenen Gedichte sind von liedhafter Schlichtheit.

Batsányi

352

Literatur: Angela Neumann: Über Leben u. Werke der G. B. Diss. Wien 1914. – Margarethe Farkas: G. B., geb. Baumberg. Ihr Leben u. dichter. Schaffen. Diss. Wien 1949. – Jószef Grudl: Die Wiener Sappho. In: Jb. der ungar. Germanistik (1993), S. 129–152. – Ders.: ›Höchster Geist‹ u. ›schönste Seele‹. Das Dichterehepaar BaumbergBatsányi u. die Formen des Bonapartismus in der Habsburger Monarchie. In: Schriftsteller zwischen (zwei) Sprachen u. Kulturen. Hg. Antal Mádl. Mchn. 1999, S. 49–57. – Margaret C. Ives: G. B. (1766–1839). In praise and love of marriage. In: Sappho in the shadows. Hg. Anthony J. Harper. Oxford 2000, S. 53–85. Bettina Eschenhagen / Red.

Batsányi, Bacsányi, János (Johann), * 9.5. 1763 Tapolca (Komitat Zala/Ungarn), † 12.5.1845 Linz; Grabstätte: ebd., Städt. Friedhof. – Ungarischer Schriftsteller u. Vermittler der deutschen Aufklärung. Der Sohn eines »Privatmannes« (Batsányi) erhielt seine erste Schulausbildung bei den Piaristen, studierte Jura an der Pester Universität u. wurde 1785 Rechtspraktikant in Kaschau (Kosˇ ice), wo er Mitbegründer der Zeitschrift »Magyar Museum« (Ungar. Museum) wurde, die sich v. a. der Pflege der ungar. Literatur u. der Verbreitung der europ. literar. Aufklärung annahm. B.s eigene Publikationen waren zunächst auch von diesen Gesichtspunkten bestimmt. 1792 wurde die Zeitschrift verboten. Infolge der Jakobinerprozesse 1794/95, in denen B. des Hochverrats angeklagt war, verbüßte er eine einjährige Haftstrafe in Kufstein. Ab 1796 nahm er als Beamter der Hoffinanzkammer in Wien seine schriftsteller. Tätigkeit wieder auf (u. a. ungar. u. lat. Gedichte) u. übte zuweilen heftige Kritik an den polit. Zuständen der Monarchie. Er verkehrte mit der ungar. u. deutschsprachigen bürgerl. Intelligenz Wiens (u. a. Johann Baptist von Alxinger, Aloys Blumauer, Lorenz Leopold Haschka, Joseph von Sonnenfels, Gottfried van Swieten) u. heiratete 1805 Gabriele von Baumberg. B., bereits zuvor als Vermittler frz. u. dt. Literatur in Ungarn hervorgetreten (u. a. von Wieland, Herder u. dt. Ossian-Übertragungen), begann nun auch auf Deutsch zu schreiben. Er ver-

fasste u. a. das in der Endfassung um einen polit. »Kommentar« erweiterte »lyrische Gedicht« Der Kampf, das auszugsweise 1803 in Herders »Adrastea« (Bd. 6, S. 109–131), vollständig 1810 bei Cotta erschien (jeweils anonym); in ihm wird sowohl B.s geschichtsphilosoph. Anlehnung an Herder als auch seine dezidierte Parteinahme für »eine neue Weltordnung« deutlich. Sein Bekenntnis zu demokrat. u. liberalen Vorstellungen ließ ihn für Napoleon Partei ergreifen, dessen Aufruf an die Ungarn (1809) er ins Ungarische übersetzte. B. schloss sich daher den von Wien abziehenden frz. Truppen an, wurde 1814 von den Kaiserlichen in Paris gefangen genommen u. 1816 in Linz interniert, wo er den Rest seines Lebens verbrachte. B.s Bedeutung für die ungar. Literatur ist ebenso unbestritten wie seine Tätigkeit als Kulturvermittler u. als zweisprachiger Schriftsteller u. Dichter. Ausgabe: B. J. összes müvei (J. B.s sämtl. Werke). 4 Bde., Budapest 1957–67. Literatur: Lajos Horánszky: B. J. és kora (J. B. u. seine Zeit). Budapest 1907. – Dezsö Keresztury in: B. J. válogatott müvei (Ausgew. Werke v. J. B.). Hg. D. K. u. Andor Tarnai. Budapest 1956, S. 7–72 (Einl.). – Gyözö Kovács: B. u. Herder. In: Annales Universitatis Scientiarum Budapestinensis, Sectio philologica 7 (1967), S. 117–132. – Moritz Csáky: Die Präsenz der ungar. Lit. in Wien um 1800. In: Die österr. Lit. Ihr Profil an der Wende vom 18. zum 19. Jh. (1750–1830). Hg. Herbert Zeman. Graz 1979, S. 475–489. – Ders.: Von der Aufklärung zum Liberalismus. Studien zum Frühliberalismus in Ungarn. Wien 1981, S. 152 ff. – György Radó: A propos du bicentenaire de la Révolution Française. Trois poètes-traducteurs hongrois enthousiastes de la Révolution Française. In: Babel 36 (1990), S. 223–228. – József Grudl: ›Höchster Geist‹ u. ›schönste Seele‹. Das Dichterehepaar BaumbergBatsányi u. die Formen des Bonapartismus in der Habsburger Monarchie. In: Schriftsteller zwischen (zwei) Sprachen u. Kulturen. Hg. Antal Mádl u. a. Mchn. 1999, S. 49–57. Moritz Csáky / Red.

353

Baudissin, Wolf Heinrich (Friedrich Karl) Graf von, * 30.1.1789 Kopenhagen, † 4.4. 1878 Dresden. – Übersetzer u. Mitarbeiter an der Shakespeare-Ausgabe von SchlegelTieck.

Bauer

zählung von Hartmann von der Aue (Bln. 1845) u. Guy von Waleis der Ritter mit dem Rade – das ist der mhd. Ritterroman Wigalois (Lpz. 1848). B., der acht Sprachen beherrschte, machte den dt. Lesern 66 Dramen, 27 dramat. Sprichwörter, zwei Epen, eine Novelle in Versen u. ein Prosawerk zugänglich. Seine Übersetzungen sind trotz einiger Schwächen heute immer noch vorbildhaft.

Der Sohn eines Offiziers u. Diplomaten, der in sächs. u. dän. Diensten gestanden hatte, wurde früh durch hervorragende Lehrer u. durch den Kreis der Berliner Romantik in die Weitere Werke: Vier Schausp.e v. Shakespeare, Literatur u. die fremden Sprachen eingeführt. übers. v. Ludwig Tieck. Stgt./Tüb. 1836. – Ben Nach dem Studium der Kameralwissenschaf- Jonson u. seine Schule, dargestellt in einer Ausw. v. ten in Kiel, Göttingen u. Heidelberg sowie Lustsp.en u. Trag.n. 2 Bde., Lpz. 1836. – Zwei einem Aufenthalt in der Schweiz wurde B. dramat. Dichtungen v. François Coppée. Lpz. 1874. 1810 dän. Diplomat in Stockholm. Seine – Dramat. Sprichwörter v. Carmontel u. Theodore Weigerung, ein Bündnis zwischen Dänemark Leclercq. 2 Bde., Lpz. 1875. – Ital. Theater. Lpz. u. Napoleon herbeizuführen, büßte er 1813 1877. Literatur: Walther Schulz: Der Anteil des Gramit Festungshaft in Friedrichsort. In dieser Zeit entstand die erste aus einer langen Reihe fen W. B. an der Shakespeareübersetzung Schlegelvon Übersetzungen: Shakespear’s König Hein- Tiecks. In: ZfdPh 59 (1935), S. 52–67. – Bernd Goldmann: W. H. Graf B., Leben u. Werk eines rich der Achte (Hbg. 1818). Von März bis Okt. großen Übersetzers. Hildesh. 1981 (mit hand1814 wirkte er wieder als Diplomat, diesmal schriftl. Quellen u. umfassender Bibliogr.). – Dieter in Paris u. Wien. Nach einem verlorenen Lohmeier: W. Graf v. B. Zur Erinnerung an den Rechtsstreit des holstein. Adels gegen die bedeutenden Übersetzer. In: Ders.: Die weltliterar. dän. Regierung lebte er in Italien Provinz. Heide 2005, S. 165–186 (1820–1823) u. seit 1827 in Dresden, wo er Bernd Goldmann / Red. sich dem Kreis um Ludwig Tieck anschloss, aber auch Verbindung zu jüngeren bedeutenden Autoren des 19. Jh. hielt, u. a. Ander- Bauer, Bruno, * 6.9.1809 Eisenberg/Thüsen, Geibel, Auerbach, Groth, Freytag u. ringen, † 13.4.1882 Rixdorf bei Berlin. – Heyse. B. unternahm Reisen nach Paris, Theologe u. Publizist. Griechenland u. in die Türkei. 1840 erhielt er B. personifizierte die Spaltung der Hedie Ehrendoktorwürde der Universität Kiel. gel’schen Schule in Alt- u. Junghegelianer. Er war in zweiter Ehe verheiratet mit der Der Sohn eines Porzellanmalers u. der TochKinderbuchautorin Sophie Gräfin von Bau- ter eines fürstlich-sächs. Hofadvokaten bedissin, geb. Kaskel. suchte das Berliner Friedrich-WilhelmsB.s Verdienst ist es, die Schlegel-Tieck’sche Gymnasium. Durch Heinrich Gustav Hotho Shakespeare-Übersetzung – er übertrug insg. u. Philipp Konrad Marheineke kam der 13 Dramen aus den Bänden 3 u. 5–9 der Theologiestudent (ab 1828) frühzeitig mit Dramatischen Werke (Bln. 1830–33) – uner- der Philosophie Hegels in Berührung; ihm müdlich vorangetrieben u. gemeinsam mit verdanken wir eine Mitschrift der HeDorothea Tieck vollendet zu haben; den gel’schen Ästhetik. Auf Anregung Hegels erRuhm der Ausgabe überließ er selbstlos hielt er 1829 einen Preis für eine Arbeit über Ludwig Tieck. Außerdem legte er die erste dt. Kants Ästhetik. Förderung erfuhr er auch Übersetzung sämtlicher Lustspiele Molières (4 durch den konservativen Theologen Ernst Bde., Lpz. 1865–67) vor. Darüber hinaus Wilhelm Hengstenberg, unter dessen Dekaübersetzte B. weitere Werke aus dem Fran- nat er 1834 für Religionsphilosophie u. AT zösischen, aber auch aus dem Spanischen Le- promoviert u. habilitiert wurde. bensbeschreibung berühmter Spanier von Manuel Der junge Privatdozent galt rasch als geJosé Quintana (Bln. 1857) u. aus dem Mittel- lungene Synthese aus theolog. Orthodoxie u. hochdeutschen Iwein mit dem Löwen. Eine Er- Hegelianismus. Ihm fiel 1836 die Aufgabe zu,

Bauer

die rechtshegelianische Kritik an David Friedrich Strauß’ Leben Jesu vorzutragen. Die breite Zustimmung zu seiner Kritik ermöglichte es ihm, Mitarbeiter aus allen theolog. Lagern für seine »Zeitschrift für spekulative Theologie« (1836–38) zu gewinnen. In seiner 1838 in Berlin erschienenen zweibändigen Kritik der Geschichte der Offenbarung interpretiert B. die jüd. u. christl. Religionsgeschichte als ein stufenweises Erscheinen des Religionsbegriffs, der auf die Konstitution eines religiösen Selbstbewusstseins abzielte. In Jesus Christus sei dieses Selbstbewusstsein exemplarisch aufgetreten. Zu den damaligen Hörern B.s zählte auch Karl Marx. 1839 habilitierte sich B. auf Anraten Marheinekes u. unter politischer Hilfe des preuß. Kultusministers Frhr. von Stein zum Altenstein nach Bonn um. Seine Hoffnungen auf eine feste Anstellung an der dortigen Universität zerschlugen sich jedoch rasch. Während des Übergangs von Berlin nach Bonn vollzog sich auch die innere Umorientierung B.s vom Alt- zum Junghegelianismus. Philosophischer Ausdruck dieser Umorientierung ist seine parodist. Hegelkritik in der zunächst anonym erschienenen Posaune (Die Posaune des Jüngsten Gerichtes über Hegel, den Atheisten und Antichristen. Ein Ultimatum. Lpz. 1841. Neudr. Aalen 1969), deren zweiter Teil ursprünglich von Marx verfasst werden sollte. In diese Zeit fiel auch B.s Redaktionstätigkeit an der zweiten Auflage von Hegels Religionsphilosophie. Seine Kritik der evangelischen Geschichte der Synoptiker (3 Bde., Lpz. 1841/42. Neudr. Hildesh. 1974) stellt das Leben Jesu als rein schriftstellerisches Produkt eines religiösen Bewusstseins dar. Diese Schrift sowie B.s Teilnahme an der Welcker-Serenade führten 1842 zum Entzug der Licentia docendi. Nach seiner Entlassung zog B. in den Berliner Vorort Rixdorf. Hier wurde er geistiges Haupt des Berliner Doktorenklubs »Die Freien«, zu dem auch Max Stirner, Arnold Ruge, Moses Heß u. Friedrich Engels gehörten. 1842/43 galt B. als Haupt der Junghegelschen Bewegung; danach setzte deren Fraktionierung ein. 1843/44 gab B. mit seinem Bruder Edgar die »Allgemeine Literaturzeitung« heraus. Politisch u. sozial isoliert wandte sich B. der Geschichtsschreibung

354

zu. Neben der russischen interessierte ihn v. a. die frz. Philosophie- u. Literaturgeschichte. Dabei wurde der einstige Linkshegelianer zum konservativen Publizisten, der u. a. an der antisemit. »Berliner Revue« mitarbeitete. Zu den wenigen Lesern seiner späten Schriften gehörte Friedrich Nietzsche. Weitere Werke: Die gute Sache der Freiheit u. meine eigene Angelegenheit. Zürich 1842. Neudr. Aalen 1972. – Die Judenfrage. Braunschw, 1843. – Gesch. der Politik, Cultur u. Aufklärung des 18. Jh. 4 Bde., Charlottenb. 1843–45. Neudr. Aalen 1965. – Gesch. der constitutionellen u. revolutionairen Bewegungen im südl. Dtschld. in den Jahren 1831–34. 3 Bde., Charlottenb./Lpz. 1845. – Gesch. Dtschlds. u. der Frz. Revolution unter der Herrschaft Napoleons. 2 Bde., Charlottenb. 1846. Neudr. Aalen 1972. – Vollst. Gesch. der Parteikämpfe in Dtschld. während der Jahre 1842–46. 3 Bde., Charlottenb. 1847. Neudr. Aalen 1964. – Kritik der Paulin. Briefe. 3 Tle., Bln. 1852. Neudr. Aalen 1972. – Christus u. die Caesaren. Der Ursprung des Christenthums aus dem röm. Griechenthum. Bln. 1879. Neudr. Hildesh. 1968. – Das entdeckte Christentum. Eine Erinnerung an das 18. Jh. u. ein Beitr. zur Krisis des 19. Jh. In: Das entdeckte Christentum im Vormärz. Hg. Ernst Barnikol. Jena 1927. Literatur: Hans-Martin Sass: Untersuchungen zur Religionsphilosophie in der Hegelschule 1830–50. Münster 1962. – Joachim Mehlhausen: Dialektik, Selbstbewußtsein u. Offenbarung. Die Grundlagen der spekulativen Orthodoxie B. B.s in ihrem Zusammenhang mit der Gesch. der theolog. Hegelschule dargestellt. Bonn 1964. – Christopher Dannenmann: B. B. Eine monograph. Untersuchung. Diss. Erlangen 1969. – Lothar Koch: Humanist. Atheismus u. gesellschaftl. Engagement B. B.s ›Krit. Kritik‹. Stgt. 1971. – Ernst Barnikol: B. B.: Studien u. Materialien. Assen 1972. – Godwin Lämmermann: Krit. Theologie u. Selbstbewußtseinstheorie B. B.s Mchn. 1979. – Ruedi Waser: Autonomie des Selbstbewußtseins. Eine Untersuchung zum Verhältnis v. B. B. u. Karl Marx (1835–43). Tüb. 1994. – Rebecca C. Peterson: Early educational reform in North Germany and its effects on post-Reformation German intellectuals. Lewiston 2001. – Douglas Moggach: The philosophy and politics of B. B. Cambridge 2003. Godwin Lämmermann / Red.

Bauer

355

Bauer, Christoph, * 30.3.1956 Luzern. – Bauer, Josef Martin, * 11.3.1901 TaufkirVerfasser von Romanen u. Erzählungen. chen a. d. Vils, † 15.3.1970 Dorfen/Oberbayern. – Erzähler u. Hörspielautor. Nach abgebrochenem Studium der Germanistik u. Kunstgeschichte wurde B. Buchhändler in Fribourg. B.s Romane Ekstase (Zürich 1981) u. Missgeburten (Zürich 1982) stellen wie seine Erzählungen in Harakiri (Zürich 1983) die Welt als Horrorkabinett dar, in dem entfremdete Normalität, Vergewaltigung u. orgiastisch ausbrechende Zerstörungs- u. Selbstzerstörungswut herrschen. Die Geschichten mit katastrophalem Ausgang sind jedoch meist als Phantasmagorien eines Ich angelegt, das, selbst »im Scheitern gescheitert« (Missgeburten), ohne Aussicht auf ein Ende dahinlebt u. sich seine Geschichten als Droge verabreicht. Treffend schreibt Nicolai Riedel: B.s »Augenmerk gilt der Darstellung realer u. fiktiver Extremsituationen in der Alltagsgesellschaft u. den in ihr schlummernden irrationalen Domänen«. Dies gilt auch für die 1993 erschienenen Amoralischen Fabeln (Zürich), in denen Angst u. Verzweiflung jedoch immer wieder mithilfe von Ironie u. Humor durchbrochen werden. In einem Essay über Fernando Pessoa charakterisiert B. indirekt sein eigenes Schaffen: Auch Pessoa stelle den Menschen »als leerstelle inmitten von sinnloser raserei« dar u. verstehe seine Texte als »die im klartext formulierte ausweglosigkeit des unkorrumpierbaren pessimisten« (die pornographische akribie des hilfsbuchhalters [...]. In: drehpunkt 66, 1986).

Weitere Werke: Europ. Totenbuch. Zürich 1984. – Paranormal. Roman einer Strategie der Affirmation. Zürich 1985. – Nahkampf. Ein demokrat. Heimatroman. Zürich 1987. – Volkstüml. Enzyklopädie alltägl. Widerlichkeiten. Zürich 1990. – Mikromelodramen. Zürich 1994. – Die selbstreflexive Endlosschleife. Eine Polemik. Fribourg 1995. – Affengeist. Zug 1996. – Wege verzweigt. Innsbr. 1999 (G.). – Jetzt stillen wir unseren Hunger. Eine Rekursion. Ffm. 2001. Literatur: Nicolai Riedel: C. B. In: LGL. Rudolf Käser / Red.

Als Sohn eines Bäckers wuchs B. im ländl. Oberbayern auf u. legte das Abitur 1920 in Freising ab. 1927 wurde er Lokalredakteur im heimatl. Dorfen. B.s frühe Romane u. Erzählungen, auch Hörspiele u. ein Drama (Der Meier Helmbrecht. Mchn. 1939. 21953), schildern mit dem Blick in die Vergangenheit einzelne Schicksale in dieser bäuerl. Welt. Sie fanden so viel Anklang, dass B. seit 1935 als freiberufl. Schriftsteller leben konnte. Die Erlebnisse als Soldat im Zweiten Weltkrieg führten den Autor zu neuen Akzenten, Wertfragen u. Glaubensproblemen, wie der Roman Am anderen Morgen (Mchn. 1949) u. seine Tagebücher zeigen. Zahlreiche Hörspiele u. Erzählungen verdeutlichen zunehmend B.s Verwurzelung im kath. Glauben. Den größten Erfolg hatte er mit dem Heimkehrerroman So weit die Füße tragen (Mchn. 1955. 401996 u. ö., zuletzt Augsb. 2003. Zahlreiche Übers.en), der auch in Hörspiel- u. Fernsehfolgen umgearbeitet wurde. Er erzählt die Leidensgeschichte u. Flucht des Kriegsgefangenen Clemens Forell aus einem sibir. Lager über den gewaltigen Kontinent bis nach Persien u. seine Heimkehr nach Bayern mit »Narben am Körper und an der Seele«. Es geht um das persönl. Schicksal des Helden, der sich gegen alle Widerstände u. viele Leiden durchsetzt. Der Erfolg dieses Romans u. seiner Adaptionen in den Medien der 1950er Jahre erklärt sich nicht zuletzt aus dieser sehr individuellen Darbietung, die die naheliegende krit. Auseinandersetzung mit dem Geschehen, seinen Ursachen u. dem eigenen Anteil daran ausdrücklich umgeht: Forell sucht die »Gnade des Vergessens«. Dies entsprach recht genau der zeitgemäßen Verdrängungshaltung u. einer Selbstbeschwichtigung, die B. in einem Hörspieltitel als Bekenntnis formulierte: Der Mensch aber ist gut (1955). Weitere Werke: Achtsiedel. Bln. 1930 (R.). – Die Salzstraße. Mchn. 1932 (R.). – Bäuerl. Anabasis. Mchn. 1933 (E.). – Kaukas. Abenteuer. Esslingen 1950 (Tgb.). – Der Kranich mit dem Stein. Mchn.

Bauer 1958 (R.). – Siebtens die Gottesfurcht. Mchn. 1964. (R.). Literatur: Sascha Feuchert: Flucht in den Gegendiskurs. Einige Bemerkungen zu J. M. B.s ›So weit die Füße tragen‹ – einem Bestseller des Wirtschaftswunders. In: Flucht u. Vertreibung in der dt. Lit. Hg. ders. Ffm. 2001, S. 169–181. Hans Peter Bleuel / Red.

Bauer, Ludwig Amandus, * 15.10.1803 Orendelsall/Hohenlohe, † 22.5.1846 Stuttgart. – Evangelischer Pfarrer, Pädagoge u. Dramatiker.

356 Ausgaben: Schr.en. Ausw. hg. v. seinen Freunden [K. Wolff u. a.]. Stgt. 1847. – Werke. Bd. 1: Orplid. Der heiml. Maluff u. Orplids letzte Tage. Bd. 2: Die Überschwänglichen. Kom. Roman. Ludwigsb. 1925 u. 1928. – Briefe an Eduard Mörike. Hg. Bernhard Zeller u. Hans-Ulrich Simon. Marbach 1976. – Du bist Orplid, mein Land. Texte v. Eduard Mörike u. L. B. Hg. Peter Härtling. Darmst. 1982. Literatur: Adalbert Depiny: L. B. Ein Dichterbild aus Schwaben. Triest 1911. – Siegfried Lang: L. A. B.s kom. Roman ›Die Überschwänglichen‹. Diss. Bern 1912. – Herbert Meyer: L. A. B. In: Schwäb. Lebensbilder. Bd. 5. Hg. Max Miller u. a. Stgt. 1950, S. 285–292. – Bernhard Zeller: Zur Einf. In: L. A. B.: Briefe an Eduard Mörike. Marbach 1976, S. 5–16. Dieter Martin

Der Sohn eines württemberg. Pfarrers besuchte die Lateinschule in Brackenheim/ Württemberg, ab 1817 die Klosterschule Blaubeuren u. von 1821 bis 1825 das Evang. Stift Tübingen. Als hervorragender Absolvent Bauer, Walter, * 4.11.1904 Merseburg, bezog B. 1825 die Pfarrstelle von Ernsbach/ † 23.12.1976 Toronto/Kanada. – ErzähHohenlohe, 1831 ging er als Lehrer für Grie- ler, Lyriker, Essayist. chisch u. Latein an die neu gegründete Erziehungsanstalt in Stetten/Remstal, 1835 Nach der Ausbildung zum Volksschullehrer, wurde er Professor für Literatur u. Geschichte einer einjährigen Wanderung im Jahr 1925 am Katharinenstift in Stuttgart, u. 1837 be- durch Deutschland u. Österreich bis nach rief man ihn zum Nachfolger von Gustav Italien u. einigen Semestern Germanistik in Schwab auf die Professur für alte Sprachen Halle/Saale ging B., Sohn eines Fuhrknechts, von 1929–1939 in verschiedenen sächs. Orten am dortigen Oberen Gymnasium. B.s dichter. Anfänge fallen in seine Tübin- seinem Lehrerberuf nach. Obwohl mehrere ger Zeit, wo er Freundschaft mit Wilhelm seiner Bücher verboten wurden, konnte er Waiblinger u. v. a. mit Eduard Mörike nach 1933 weiterhin Gedichte veröffentlischloss, der zeitlebens mit ihm korrespon- chen. Nach dem Zweiten Weltkrieg, an dem dierte. Mit Mörike stiftete B. den (im Maler er als Soldat teilgenommen hatte, ließ sich B. Nolten verarbeiteten) romant. Inselmythos als freier Schriftsteller in Stuttgart nieder. »Orplid«, den B. in zwei Dramen ausgestal- Enttäuscht von der gesellschaftl. Entwicktete. Eine dramat. Trilogie Alexander der Große lung der Bundesrepublik Deutschland, die (Stgt. 1836) verrät Schillers Einfluss. Wäh- seine Hoffnungen auf einen grundsätzl. rend seines pädagog. Wirkens schrieb B. eine Neubeginn innerhalb eines antibürgerlichen, Allgemeine Weltgeschichte (6 Bde. Stgt. 1836–39) sozialist. Rahmens nicht erfüllte, aber auch u. gab eine Auswahl römischer Satyren und Epi- von der Ineffizienz des Literaturbetriebs, gramme (Stgt. 1841) heraus. Zeittypische re- wanderte er 1952 nach Toronto aus. Dort gional- u. nationalpatriot. Tendenzen zeigen absolvierte er 1954–1958 das Studium der die von B. redigierte Aufsatzsammlung Modern Languages and Literatures, lehrte Schwaben, wie es war und ist (Karlsr. 1842) sowie dann zunächst als Instructor, zuletzt als Asdas als »Dichtergabe zum Kölner Dombau« sistant Professor, dt. Sprache u. Literatur am beigesteuerte Drama Kaiser Barbarossa (Stgt./ University College of Toronto. In seinen Anthologien Kameraden, zu euch Tüb. 1842). Werkmanuskripte (teils ungedr. Gedichte u. Dramen: Abälard und Heloise. Fin- spreche ich (Dresden 1929) u. Stimme aus dem rod. Die Hohenstaufen) u. Briefe verwahrt das Leunawerk (Bln. 1930) erhob er in hymn. Versen seine Stimme für die Verwirklichung von Deutsche Literaturarchiv Marbach/N. Menschenwürde u. Gerechtigkeit in der Arbeitswelt u. sprach sich für einen humanen

Bauer

357

Sozialismus aus. Seinem ersten Roman Ein Mann zog in die Stadt (Bln. 1931) liegt das gleiche Anliegen zugrunde. Nach dem Krieg folgten v. a. Essays, Hörspiele, Erzählungen u. Biografien. Für die Biografie Die langen Reisen (Mchn. 1956), die Fridtjof Nansen gewidmet ist u. bes. die humanitären Taten des Forschers u. Politikers würdigt, erhielt er 1956 den Albert-Schweitzer-Buchpreis. In dem Roman Besser zu zweit als allein (Mchn. 1950) setzte er sich kritisch mit der bundesrepublikan. Nachkriegszeit auseinander, in der sich ein Kriegsheimkehrer gemeinsam mit seiner Frau, allen Widrigkeiten zum Trotz, eine neue Existenz aufbaut. B.s Übersiedlung nach Kanada ist Thema seiner Anthologien Mein blaues Oktavheft (Ffm. 1953) u. Nachtwachen des Tellerwäschers (Mchn. 1957). Die Probleme eines an seine Heimat sehr gebundenen intellektuellen Auswanderers, Isolation, Einsamkeit u. Fremdheit, finden Eingang in seine weiteren in Kanada entstandenen Werke wie die Erzählung Fremd in Toronto (Hattingen/Ruhr 1963). B. war Mitgl. der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt. Weitere Werke: Tagebuchbl. aus Frankreich. Dessau 1941. – Die Sonne v. Arles. Das Leben v. Vincent van Gogh. Hattingen/Ruhr 1951. (Biogr.) – Folge dem Pfeil. Mchn. 1956 (Biogr.). – Die Tränen eines Mannes. Mchn. 1958 (E.en). – Die Stimme. Mchn. 1961 (E.en). Literatur: Hartmut Froeschle: W. B. In: Ders.: Deutsch-kanad. Jb 5 (1979), S. 77–100. – Walter Riedel u. Rodney Symington (Hg.): Der Wanderer. Aufsätze zu Leben u. Werk v. W. B. Bern 1994. – Angelika Arend: Mein Gedicht ist mein Bericht. Zum lyr. Werk v. W. B. Halle 2003. – Günter Hess: W. B. Ein Lebensweg v. Merseburg nach Toronto. Eine Biogr. Halle 2004. – H. Froeschle: W. B.s Tagebücher aus Frankreich u. Russland. Zur interkulturellen Problematik der Lit. im Krieg. In: Deutsch-kanad. Jb 18 (2004), S. 121–136. – Ders.: W. B.s kanad. Tgb. ›Ein Jahr‹. Ein interkulturelles Dokument. Ebd., S. 137–151. Elisabeth Willnat / Red.

Bauer, Wolfgang, * 18.3.1941 Graz, † 26.8. 2005 Graz. – Dramatiker u. Lyriker. Der Sohn eines Gymnasiallehrerehepaars studierte Theaterwissenschaft, Romanistik,

Jura u. Philosophie in Graz u. Wien. Seit 1961 war er Mitgl. im Grazer Forum Stadtpark u. seit 1973 der Grazer Autorenversammlung. Er veröffentlichte jahrelang in der Zeitschrift »manuskripte«; von 1992 bis 2001 unterrichtete er als Dozent an der Schule für Dichtung in Wien. Abgesehen von Aufenthalten in Paris u. Wien in den 1960er Jahren u. einem Berlin-Stipendium 1970 lebte Bauer in Graz. 1970 erhielt er den Peter-RoseggerPreis u. den Franz-Theodor-Csokor-Preis, 1979 den Österreichischen Würdigungspreis sowie 1994 den Großen Österreichischen Staatspreis für Literatur. Bereits während der Studienzeit begann B. – von Ionesco beeinflusst – Texte zu schreiben, 1962 wurden erste Einakter im Grazer Forum Stadtpark uraufgeführt (Der Schweinetransport. Zwei Fliegen auf einem Gleis). Geprägt von den Inhalten u. Formen des »absurden Theaters«, tritt hier die Handlung gegenüber der Situation zurück u. führt in modellhaften Konstellationen eine abstrakte Widersprüchlichkeit u. Gegensätzlichkeit von Natur u. Kultur vor. Die Freude an unvereinbaren Bildern, grotesken Übertreibungen u. Zuspitzungen tritt auch in B.s Mikrodramen (Bln. 1964) deutlich zutage. In diesen unaufführbaren Kurzszenen werden Theatergesetze u. Spielregeln missachtet, die Gattungsgrenzen gesprengt, die herkömml. Theaterrezeption samt ihren Vermittlungstechniken attackiert. Als Bindeglied zwischen B.s dramatischem Frühwerk u. seinen späteren Stücken wird sein Volksstück Party for Six (Urauff. Landestheater Innsbruck 1967) bezeichnet: Neben absurden Darstellungsformen tritt auch ein inhaltlich-thematischer Schwerpunkt hervor, wobei die Gattung Volksstück u. die daran geknüpften Zuschauererwartungen verunsichert werden. Die Handlung, d.h. der – allerdings nur vordergründige – »realistische Kontext« dominiert in den Ende der 1960er Jahre geschriebenen Stücken; B. selbst will aber Realismus, Absurdes u. Abstraktes nicht voneinander getrennt wissen. Im Unterschied zu Party for Six, wo die Handlung ohne Spannung u. Pointe verläuft, steuert sie in Magic Afternoon (Urauff. Landestheater Hannover 1968) einem dramat. Höhepunkt zu. Protest gegen das Bildungsbürgertum zeigt

Bauer

sich auf der Bühne in einer Atmosphäre von Frustration, Langeweile, Geblödel. Man raucht Haschisch, spielt eine homosexuelle Szene, bis schließlich die latente Aggression ausbricht u. ein Mord geschieht. In vier Jahren an 50 dt. Bühnen gespielt, machte das Stück B. bekannt. Ebenfalls vor dem Hintergrund der Studentenbewegung zeigt B. in Change (Urauff. Volkstheater Wien 1969) Mechanismen des Kulturbetriebs, die zu einem letalen Ende führen. Beide Stücke waren neben ihren sensationellen Bühnenerfolgen bei der Kritik heftig umstritten u. von Skandalen begleitet. B. »demaskiert« einen Gesellschaftszustand, ohne sozialkrit. Absichten zu hegen; »die Abbildung erweist sich als Ausdruck der Verwirrtheit und Verstörtheit«, wie Peter Handke meint, als Angst- u. Schreckensbild, als Projektion des Autors. Der Dialekt bzw. die Umgangssprache verstärkt B.s illusionslose Ironie. Auch wenn den folgenden Stücken Film und Frau (Urauff. Deutsches Schauspielhaus Hamburg 1971), Silvester oder Das Massaker im Hotel Sacher (Urauff. Volkstheater Wien 1971) nicht der Erfolg der ersten beiden längeren Schauspiele beschieden war, so geriet zumindest die Aufführung der Gespenster (Urauff. Kammerspiele München 1974) in Graz 1975 zu einem handfesten Skandal. Das Missverständnis, dass ein vermuteter Volksstück-Realismus heutigen Zeitgeist widerspiegele, brachte das »gesunde Volksempfinden« gegen die vorgeführte Sinnlosigkeit u. Unmoral auf. Man schimpfte in eindeutigem Vokabular über diese »entartete Kunst« u. forderte per Leserbrief die Einweisung des Autors in ein Arbeitslager. Wenn die Kritik bei den 1975 geschriebenen Magnetküssen (Urauff. Akademietheater Wien 1976) einen Wendepunkt markieren will, so ist dies wohl nicht als Folge einer Läuterung des Autors anzusehen. Statt einer Außenwelt folgt die Handlung der Wahnlogik der Hauptfigur in verzerrender Perspektive. Man sah den Irrsinn, der in den Gespenstern flackerte, hier ausgesprochen. Kritik u. Publikum zeigten sich auch diesmal irritiert u. ratlos. Auch die Aufführung von Das kurze Leben der Schneewolken (Urauff. Staatstheater Stuttgart 1983) veranlasste die Zeit-

358

schrift »Theater heute« zu der Frage »Wann wird Wolfi Bauer wieder nüchtern?« Die Nüchternheit eines Realismus erlangten auch seine späten Stücke nicht: Sie bleiben der Konzeption des Absurden Theaters verpflichtet u. entsprechend schwer zugänglich. Die Resonanz seiner früheren Arbeiten vermochten sie nicht zu erzielen. Neben seinen Stücken hat B. auch Fernsehu. Hörspiele geschrieben, ebenso Gedichte, einen Roman u. Kurzprosa von beachtlicher Qualität; sie wurden allerdings durch die Vielzahl seiner Stücke überdeckt. Weitere Werke: Der Fieberkopf. Roman in Briefen. Ffm. 1967. 1989. Engl. The feverhead. London 1993. – Das stille Schilf. Ein schlechtes Meisterwerk: schlechte Texte mit schlechten Zeichnungen u. einer schlechten Schallplatte. Ffm. 1969. Erw. Neuausg. Wien 1985. – Romeo u. Julia. Mikrodrama. Mchn. 1969. – Katharina Doppelkopf u. andere Eisenbahnstücke. Dornbirn 1973 (Dramen). – Gespenster; Silvester oder das Massaker im Hotel Sacher; Film u. Frau. Nachw. v. Hubert Fichte. Köln 1974 (Dramen). – Die Sumpftänzer. Dramen, Prosa, Lyrik aus zwei Jahrzehnten. Köln 1978. – Pfnacht. Graz 1980 (Kom.). – Batyscaphe 17–26 oder Die Hölle ist oben. Graz 1980. – Ein fröhl. Morgen beim Friseur. Texte, Materialien, Fotos. Hg. Gerhard Melzer u. Michael Muhr. Graz 1983. – In Zeiten wie diesen. Ein Drehb. Salzb./ Wien 1984. – Herr Faust spielt Roulette. Wien 1987. – Das Lächeln des Brian de Palma. Graz 1989. – Graz. Graz 1991. – Falsche Helden. Texte meiner Studenten. Wien 1995. Ausgabe: Werke. Hg. Gerhard Melzer. Graz/ Wien 1986 ff. Bisher erschienen: Bd. 1: Einakter u. frühe Dramen. Bd. 2: Schausp.e 1967–73. Bd. 3: Schausp.e 1975–86. Bd. 4: Der Fieberkopf. Bd. 5: Gedichte. Bd. 6: Kurzprosa, Essays u. Kritiken. Bd. 7: Filme u. Fernsehspiele. Bd. 8: Schaupiele 1988–95. Bd. 9: Foyer u. andere Stücke. Literatur: Text + Kritik 59 (1978). – Gerhard Melzer: W. B. Eine Einf. in das Gesamtwerk. Königst./Ts. 1981. – Torsten Bügner: Annäherungen an die Wirklichkeit. Gattung u. Autoren des ›neuen Volksstücks‹. Ffm./Bern 1986. – Walter Grond u. ders.: W. B. Graz 1994. – Dieter Wenk: Postmodernes Konservationstheater. W. B. Ffm. 1995. – Wendelin Schmidt-Dengler: ›Es ist alles egal‹. Vom Kothurn zum Filzpatschen – Der Begriff des Tragischen u. seine erträgl. Banalisierung in der österr. Lit.: Bernhard, B., Jandl. In: Banal u. erhaben. Hg. Friedrich Aspetsberger u. Günther A. Höfele. Innsbr. 1997, S. 145–158. – Marlene Streruwitz:

Bauernfeld

359 Die Rebarbarisierung der Bühne. Oder: Der Weg zum Licht führt oft durch Dunkel! Eine Untersuchung der Autor-Intention in den Mikrodramen W. B.s. In: Kunst u. Überschreitung. Hg. Christine Rigler u. Klaus Zeyringer. Innsbr. 1999, S. 274–282. – Anthony Waine: Postmodern moods and morals in W. B.s sixties trilogy. ›Party for six‹. ›Magic afternoon‹ and ›Change‹. In: Centre stage. Contemporary drama in Austria. Hg. Frank Finlay and Ralf Jeutter. Amsterd. 1999, S. 41–55. – Kurt Bartsch: W. B. In: Dt. Dramatiker des 20. Jh. Hg. Alo Allkemper u. Norbert O. Eke. Bln. 2000, S. 644–659. – Ders.: W. B. In: Bauernplay. Ein Buch für W. B. Hg. G. Melzer u. Paul Pechmann. Graz 2001, S. 19–44. – Tomas Friedmann: W. B. In: LGL. – In memoriam W. B. In: manuskripte 169 (2005), S. 5–32. – Karol Sauerland u. Michael Töteberg: W. B. In: KLG. – P. Pechmann (Hg.): W. B.: Lektüren u. Dokumente. Klagenf. 2007. Kristina Pfoser-Schewig / Red.

Bauernfeld, Eduard von, auch: Rusticocampius, Feld, * 13.1.1802 Wien, † 9.8. 1890 Oberdöbling bei Wien; Grabstätte: Wien, Zentralfriedhof. – Lustspielautor. Der Sohn eines Arztes studierte in Wien 1818–1821 Philosophie, 1821–1825 Jura u. trat 1826 als Konzeptspraktikant bei der niederösterr. Regierung in den Staatsdienst ein. 1827 in das Kreisamt unter dem Wienerwald versetzt, wurde B. 1830 Hofkammerbeamter. 1843 ging er zur Lottodirektion. Bei seiner Entlassung aus dem Staatsdienst Ende 1849 wegen Teilnahme an der Märzrevolution war B. Direktor des Wiener Lottosteueramtes. Mit Moritz von Schwind, Grillparzer u. Franz Schubert befreundet, lebte B. seitdem als freier Schriftsteller in Wien. Aus dem polit. Engagement hatte er sich schon 1848 wegen einer langwierigen Hautentzündung zurückziehen müssen u. konnte auch die Wahl zum Deputierten für das Frankfurter Paulskirchenparlament nicht annehmen. 1848 ernannte die Wiener Akademie der Wissenschaften B. zu ihrem Mitglied. 1872 erhielt er die Ehrenbürgerwürde u. 1883 den Dr. phil. h. c. der Universität Wien. Als Schöpfer des Wiener Konversationslustspiels löste B. ab 1831 die Stücke Eugène Scribes auf dem Wiener Burgtheater ab, so mit Das Liebes-Protokoll (Wien 1831), Das Ta-

gebuch (Wien 1836), Der Vater (Wien 1837). Sein populärstes Lustspiel Bürgerlich und Romantisch (Wien 1835) führte B. nicht als Antithese aus, denn auch das romant. Paar wählt die bürgerl. Ehe. Doch erscheinen in diesem biedermeierl. Rahmen bereits Ansätze zu polit. Meinungsbildung (bürgerl. Paar) u. zu einer Diskussion u. Kritik der Ehe (romant. Paar). B.s Durchbruch zum polit. Zeitstück ist das Lustspiel Großjährig (o. O. [Wien] 1846. 21849). Ein junger Baron widersetzt sich den Verheiratungs- u. Karriereplänen seines autoritär-patriarchal. Vormunds, um durch selbstbestimmte Arbeit zu reifen. Die Personen verkörpern histor. Figuren des österr. Vormärz. Die Stücke nach der Märzrevolution schließen an die alten Stoffe der 1830er Jahre an. In dem Schauspiel Aus der Gesellschaft (Wien 1867) verlobt sich ein Fürst mit der bürgerl. Pflegetochter seiner Mutter. B. setzt hier »edle Abkunft« u. Bildung gleich, nach dem – falsch verstandenen – engl. Muster »nobility« u. »gentry«. Der Dichter B. steht zwischen Biedermeier u. Vormärz. Mit der Modernität der Stoffe, dem Konversationston der Dialoge u. der gesellschaftstyp. Handlungsführung tastet er sich an Gegenwartsprobleme im Vormärz heran. Seine Dramen leisten einen Beitrag zur polit. Meinungsbildung u. treten für evolutionären Fortschritt ein. Formal lehnt B. sich an Eugène Scribes Konversationsstücke an, rückt aber die hier dominante Rolle der Intrige zugunsten der Dialogführung in den Hintergrund, sodass seine Stücke handlungsarm werden. Das Streben, aktuelle Entwicklungen zu spiegeln, macht ihren antirestaurativen Effekt aus. Echter Gesellschaftskritik nähert sich der großdt. Liberale B. jedoch nie. B. war der erfolgreichste Lustspielautor seiner Zeit in Österreich. Das Wiener Burgtheater ließ bis 1902 über 1100 Aufführungen seiner 43 Stücke über die Bühne gehen. Die B.-Stiftung (gegr. 1894) schreibt einen Preis für Dramatiker aus. Weitere Werke: Die Bekenntnisse. Wien 1834 (Lustsp.). – Der literar. Salon. Wien 1836 (Lustsp.). – Die Republik der Thiere. Wien 1848 (fantast. D.). –

Bauernhochzeit Franz v. Sickingen. o. O. 1849 (Schausp.). – Der kategor. Imperativ. Wien 1852 (Lustsp.). – Landfrieden. Wien 1867 (Schausp.). – Gedichte. Lpz. 1852. 21856. – Die Freigelassenen. 2 Bde., Bln. 1875 (R.). – Novellenkranz. Wien 1884. Literatur: Emil Horner: B. Lpz. 1900. – Wilhelm Zentner: Studien zur Dramaturgie E. v. B.s. Lpz. 1922. – Anna Artaker: E. v. B. in der polit. Bewegung seiner Zeit. Diss. Wien 1942. – Horst Denkler: Restauration u. Revolution. Polit. Tendenzen im dt. Drama zwischen Wiener Kongreß u. Märzrevolution. Mchn. 1973. – Dolores Hornbach Whelan: Gesellsch. im Wandel. Der Engel mausert sich. Das Bild der Frau in den Komödien E. v. B.s. 1830–70. Bern 1978. – Christine Jaschek: E. v. B. als Literaturrezipient. Untersuchungen zu literaturkrit. Äußerungen eines Vormärzschriftstellers. Wien Diss. 1979. – Carl Steiner: E. v. B. (1802–90). Eine vergessene Größe. In: Ders.: Aus alter u. neuer Welt. Wien 1995, S. 19–39. – Christian Menger: Biedermann u. Brandstifter. Der erfolgreichste Wiener Theaterautor des 19. Jh. E. v. B. (1802–90). In: Raimund, Nestroy, Grillparzer – Witz u. Lebensangst. Hg. Ilija Dürhammer u. Pia Jange. Wien 2001, S. 49–70. – Walter Pape: ›Der Schein der Wirklichkeit‹. Monetäre Metaphorik u. monetäre Realität auf dem Wiener Volkstheater u. am Burgtheater – Nestroy u. B. In: Realismus-Studien. Hg. Hans-Peter Ecker u. Michael Titzmann. Würzb. 2002, S. 45–59. Alain Michel / Red.

Bauernhochzeit. – Sammelbezeichnung für zwei anonyme frühneuhochdeutsche Schwänke aus dem 14./15. Jh. Unter dem Titel »Bauernhochzeit« versammelte der Herausgeber Edmund Wiessner zwei inhaltlich nahe verwandte Schwankdichtungen: Die Metzen hochzit mit 680 Versen wurde nur in der sog. Liedersaal-Handschrift des 14. Jh., der Meier Betz, die wohl jüngere Fassung von 417 Versen, in zwei Handschriften des 15. Jh. u. einem Druck aus dem 16. Jh. überliefert. Beide Schwänke schildern verschiedene Stationen eines Hochzeitsgeschehens, an dem das bäuerl. Brautpaar Bärschi (= Betz) u. Metzi u. seine Gäste beteiligt sind. Metzi will dem Bauern nur angehören, wenn er verspricht, sie zu ehelichen. Im Beisein schleunigst herbeigeholter Zeugen wird die Ehe ohne Anwesenheit eines Geistlichen geschlossen u. die Aussteuer überreicht. Das

360

Hochzeitsfest findet am gleichen Abend im Haus des Bräutigams statt u. nimmt bald die Züge eines wilden Gelages an: Die Gäste kommen zahlreich; es wird im Übermaß gegessen u. getrunken. Nach dem Brautraub wird Metzi ins Bett geführt u. das gewalttätige Liebesspiel, das bis ins Morgengrauen andauert, kann beginnen. Als Morgengabe bekommt Metzi eine Sau geschenkt. Vor dem anschließenden Kirchgang wird die Braut geschmückt u. danach der Bräutigam gerauft, wie es der Brauch befiehlt. Nach der Messe wird der Festschmaus fortgesetzt, unterbrochen nur von der Übergabe der meist lächerlich ärml. Geschenke an die Braut. Beim derben Tanz bricht aus nichtigem Anlass eine wilde Schlägerei aus, die viele Todesopfer fordert u. schließlich nur mit Hilfe von Schiedsleuten beigelegt werden kann. Die Version Meier Betz erzählt mit verkürztem u. z.T. verändertem Handlungsverlauf von den Bräuchen des Hochzeitsfestes. Ganz anders wird die Hochzeitsnacht dargestellt: Der betrunkene Bräutigam findet in der Dunkelheit nicht zu seiner Braut; sie bemerkt bissig, dies sei für den Knecht ihres Vaters kein Hindernis gewesen. Die Komik der beiden Schwänke entsteht durch Kontrastierung der übl. Rechtsgänge u. Festbräuche mit dem tölpelhaften u. häufig obszönen Verhalten der dörfl. Hochzeitsgemeinde. Alles verläuft, wenn nicht ganz u. gar gegen die Norm, so doch wenigstens neben ihr. Die vergröbernde Bearbeitung in Meier Betz soll die derbe Situationskomik zu zynisch-aggressivem Bauernspott umformen. Den Höhepunkt der literar. Behandlung des auch in Fastnachtspielen beliebten Stoffs bildet Heinrich Wittenwilers Ring, dem der Bauernhochzeitsschwank als Grundlage diente. Ausgaben: Edmund Wiessner (Hg.): Der Bauernhochzeitsschwank. Meier Betz u. Metzen hochzit. Tüb. 1956. – Horst Brunner (Hg.): Heinrich Wittenwiler. Der Ring. Stgt. 1991, S. 586–645 (mit nhd. Übers.). Literatur: Bruno Boesch: Die B. In: VL. – Hanns Fischer: Studien zur dt. Märendichtung. Tüb. 2 1983, S. 312 f. (Bibliogr.). – Hans-Joachim Ziegeler: Erzählen im SpätMA. Mären im Kontext v. Minnereden, Bispeln u. Romanen. Mchn./Zürich

361 1985, S. 405–421. – Theodor Nolte: Heinrich Wittenwilers ›Ring‹ u. der ›Bauernhochzeitsschwank‹: ein Vergleich am Beispiel des Hochzeitsmahls. In: Deutsch-böhm. Literaturbeziehungen: GermanoBohemica. Hg. Hans-Joachim Behr. Hbg. 2004, S. 182–205. Ulla Williams / Corinna Laude

Bauhin Literatur: Heike Wehren-Zessin: ›norway.today‹ v. I. B. If you are thinking about suicide. In: Praxis Deutsch 181 (2003), S. 51–58. – Stefan Keim: I. B. In: LGL. – Nikolaus Frei: Die Rückkehr der Helden. Dt. Drama der Jahrhundertwende (1994–2001). Tüb. 2006, S. 113–126. Christine Bücken

Bauersima, Igor, * 23.6.1964 Prag. – Dramatiker u. Regisseur. Geboren in der ehemaligen Tschechoslowakei, emigrierte B. mit seiner Familie 1968 in Folge der gewaltsamen Niederschlagung des Prager Frühlings in die Schweiz. Nach seinem Studium der Architektur begann er in den 1990er Jahren seine Tätigkeit als Autor u. Regisseur für Film u. Theater. 1993 gründete B. in Zürich eine der erfolgreichsten freien Theatergruppen seiner Zeit: die »OFF OFF Bühne«, für die er bis zu ihrer Auflösung im Jahr 2004 neun Stücke geschrieben u. inszeniert hat. Sein Durchbruch gelang ihm mit dem Drama norway.today, welches er 2000 am Schauspiel Düsseldorf in eigener Regie uraufführte. Das auf einer wahren Begebenheit basierende Stück über zwei Jugendliche, die sich im Chatroom zum gemeinsamen Selbstmord verabreden, wurde mit Auszeichnungen überhäuft u. avancierte zum meistinszenierten Stück auf dt. Bühnen. Wie in vielen seiner Dramen zeichnet B. in norway.today unter der Oberfläche einer bewusst jugendlich-einfachen, temporeichen Sprache präzise Charakterstudien u. erörtert philosoph. Fragen nach der Freiheit u. Selbstbestimmtheit des Menschen u. der Möglichkeit von zwischenmenschl. Beziehungen in der modernen technisierten Welt. Realität u. Virtualität gehen in B.s Stücken eine Symbiose ein, aus der heraus Geschichten von märchenhafter Poesie u. gleichzeitig radikaler Gesellschaftskritik entstehen, jedoch immer frei von Moralisierung u. ausgestattet mit einem feinen iron. Kolorit. Weitere Werke: Tourist Saga. Urauff. Zürich, OFF OFF Bühne, 1995. – Factory. Urauff. Zürich, Theaterhaus Gessnerallee, 2001. – Oh die See – Die Rock das Boot Show. Urauff. Hamburg, Schauspielhaus, 2006. – Boulevard Sevastopol. Urauff. Wien, Akademietheater, 2006 (mit Réjane Desvignes).

Bauhin, Bauhinus, Caspar (Gaspard), * 14.1.1560 Basel, † 5.12.1624 Basel. – Anatom u. Botaniker; Bauhin, Bauhinus, Johann (Jean), * 12.2.1541 Basel, † 26.10. 1613 Mömpelgard (Montbéliard). – Arzt u. Botaniker. Nach dem Besuch der Lateinschule u. des Pädagogiums seiner Vaterstadt nahm Caspar B. 1572 das Medizinstudium auf, das er nach Aufenthalten in Oberitalien (Padua, Bologna, Florenz) u. Frankreich (Montpellier, Paris) 1581 mit der Promotion zum Dr. med. abschloss. 1582 wurde er zum Ordinarius für Griechisch an der Universität Basel ernannt; 1589 erfolgte die Berufung zum Ordinarius für Anatomie u. Botanik. 1614 wählte ihn der Baseler Magistrat zum Stadtarzt (Polyater) u. zum Professor der Praktischen Medizin. C. B. führte eine freie ärztl. Praxis, beteiligte sich v. a. durch öffentl. Sektionen sowie botan. Exkursionen an der Medizinerausbildung u. trieb die Errichtung des Baseler »Theatrum anatomicum« u. des »Hortus medicus« (1589) voran. C. B.s anatom. Tätigkeit fand ihren literar. Niederschlag in den De corporis humani fabrica: Libri IIII (Basel 1590). Diese Schriften beruhten vornehmlich auf Vorlesungen u. machten mit neueren anatom. Erkenntnissen von Andreas Vesal oder Gabriele Fallopio bekannt. Sie tauchten C. B. in das Licht eines tüchtigen Systematikers u. Nomenklators, dem es indes misslang, eigene Beobachtungen mit tradiertem Lehrgut zu verbinden. Wirkmächtiger waren C. B.s v. a. der Arzneimittellehre gewidmete Werke. Seine Ausgabe der Opera omnia des ital. Arztes u. Dioskorides-Bearbeiters Pietro Andrea Mattioli (Ffm. 1598. Basel 21674) ragt unter den zahlreichen Mattioli-Ausgaben des 17. u. 18. Jh. durch eine gründl. Bearbeitung sowie die Verwendung neuer Pflanzenabbildungen

Baum

362

hervor. Die textlich verbesserte u. um Abbil- eine ausführl. Beschreibung von 5226 Pflandungen bereicherte Ausgabe von Jakob zen meist aus Europa, aber auch aus Amerika Theodors (Tabernaemontanus) New vollkom- u. dem Orient. Mit dem Pinax seines Bruders mentlich Kreuterbuch (Ffm. 1613) fand durch war die Zahl der bekannten Pflanzen von 240 mehrere Ausgaben (21625. Basel 31664. (Brunfels 1532) auf über 6000 gestiegen u. Neudr. Hbg. 1984. 41687. Offenbach 51731. ebnete so den Weg für die botan. SystematiNeudr. Grünwald 1981) weite Verbreitung. In ker des 18. Jh. seinen botan. Hauptwerken, dem auf eigener Weitere Werke: Werke von C. B.: De Lapidis Beobachtung beruhenden Phytopinax seu Enu- Bezaar Orient. et Occident. [...] Ortu, Natura, Difmeratio plantarum ab Herbariis nostro seculo de- ferentiis [...] Liber. Basel 1613. – De Compositione scriptarum (Basel 1596) u. dem Pinax Theatri Medicamentorum [...] ratio et methodus. Offen2 botanici (Basel 1623), versuchte C. B. eine burg 1610. Ffm. 1619. – Prodromos Theatri botanici. Ffm. 1620. – Catalogus plantarum circa Basineue, polynom. Nomenklatur des Pflanzenleam sponte nascentium. Basel 1622. – Wiss. Korreichs zu schaffen. Er unterschied aufgrund respondenz in der Universitätsbibl. Basel. – Werke morphologischer Merkmale zwischen »Gat- von J. B.: Histoire notable de la rage des loups adtung« u. »Art« u. beeinflusste damit die venue l’an MDXC, avec les remèdes pour empescher Ausbildung der binären Nomenklatur durch la rage. Mömpelgard 1591. – De thermis aquisque Carl von Linné. medicatis Europae praecipuis opus succinctum C. B.s älterer Bruder Johann hatte seine Mömpelgard 1600. – De aquis medicatis nova Grundausbildung ebenfalls in Basel erhalten, methodus libri quattuor. Mömpelgard 1607/08. war aber bereits früh von Konrad Gessner 1612. Literatur: Joseph François Michaud: C. B. In: beeinflusst worden. Nach Studienaufenthalten an ausländ. Universitäten, u. a. von 1561 Biographie universelle ancienne et moderne. Bd. 3, 2 bis 1562 in Montpellier, wo er mutmaßlich Paris 1854, S. 301–304. – Heinrich Buess: C. B. In: NDB. – Gweneth Whitteridge: B., Gaspard. In: zum Dr. med. promoviert worden war, ließ DSB. – Charles Webster: B., Jean. Ebd. – Hans-Peter sich J. B. 1563 als Mediziner in Lyon nieder. Fuchs-Eckert: Die Familie B. in Basel. In: Bauhinia Als Protestant musste er 1568 nach Genf ge- 6,1 (1977), S. 13–48. 6,3 (1979), S. 311–329. 7,2 hen, wo er wiederum als Arzt tätig war. 1570 (1982), S. 45–62. – Karen Meier Reeds: Botany in erhielt er eine Anstellung als Professor der Medieval and Renaissance Universities. New York/ Rhetorik in Basel, wechselte aber bereits 1571 London 1991, S. 111–130. als Leibarzt Herzog Friedrichs von WürtWolf-Dieter Müller-Jahncke temberg in die württembergische Exklave Mömpelgard, von der aus er regelmäßig die Baum, Oskar, * 21.1.1883 Pilsen/Böhmen, Residenzstadt Stuttgart besuchte. In beiden † 20.3.1941 Prag. – Erzähler u. DramatiStädten legte er botan. Gärten an u. leitete die ker. archäolog. Sammlungen des Herzogs. 1575 wurde er mit der Errichtung eines Collegium Im Alter von elf Jahren erblindete B. Er ermedicum in Mömpelgard betraut. hielt eine Ausbildung zum Musikreferenten Die botan. Interessen J. B.s beruhten v. a. u. arbeitete später in diesem Beruf sowie als auf dem regen persönlichen u. briefl. Kontakt Organist u. Klavierlehrer. Neben dem autozu Gessner, den er bei den Vorarbeiten des biogr. Roman Das Leben im Dunkeln (Stgt. unvollendeten u. nie zum Druck gekomme- 1909) haben mehrere Romane u. Erzählunnen Werkes Historia plantarum unterstützte. gen B.s die Lebenswelt des Blinden zum Nach Gessners Tod veröffentlichte J. B. eigene Thema. Dem engeren Prager Kreis um Max botan. Werke, so 1591 De plantis a divis sanc- Brod zugehörig, setzte er sich in den Romatisve nomen (Basel), einer Liste der nach Hei- nen Die böse Unschuld (Ffm. 1913) u. Das Volk ligen benannten Pflanzen, u. 1593 De plantis des harten Schlafes (Bln. 1937) mit der zunehAbsynthii nomen (Mömpelgard), in dem er die mend katastrophalen Lage der deutschspranomenklatorische Konfusion der zeitgenöss. chigen Juden auseinander. Der befreundete Botanik aufzeigte. Postum erschien 1650/51 Franz Kafka nannte ihn ein trauriges Symbol die dreibändige Historia plantarum universalis, der sog. dt. Juden in Prag. Interessant sind

363

v. a. B.s zahlreiche Erzählungen u. Glossen, die in den Zeitschriften »Sturm«, »Aktion« u. »Weltbühne« erschienen. In den kurzen Texten, wie auch in seinen persönl. Gesprächen, gelangen dem blinden Autor erstaunlich plast. Schilderungen visueller Eindrücke. Unmittelbar vor der Verschleppung nach Theresienstadt, wo seine Frau ums Leben kam, starb B. an den Folgen einer Operation. Weitere Werke: Uferdasein. Bln. 1898 (R.). – Die Memoiren der Frau Marianne Rollberg. Bln. 1912 (R.). – Zwei Erzählungen. Lpz. 1918. – Das Wunder. Bln. 1920 (D.). – Die Tür ins Unmögliche. Mchn. 1920. Wien/Darmst. 1988 (R.). – Die neue Wirklichkeit. Reichenberg 1921 (R.). – Drei Frauen u. ich. Stgt. 1928 (E.). – Nacht ist umher. Lpz. 1929 (E.). – Erzählungen aus dem Blindenleben. Prag 1999. Literatur: Franz Kafka: O. B. In: Briefe 1902–24. Ffm. 1958. – Franz Kafka: O. B. In: Tagebücher 1910–23. Ffm. 1965. – Max Brod: Der Prager Kreis. Stgt. 1966. – Josef Mühlberger: O. B. In: Gesch. der dt. Lit. in Böhmen. Mchn./Wien 1981. – Sabine Dominik: O. B., ein Schriftsteller des ›Prager Kreises‹. Monograph. Untersuchung zu Leben u. Werk v. O. B. Diss. Würzb. 1988. – Arno A. Gassmann: Lieber Vater, lieber Gott? Der VaterSohn-Konflikt bei den Autoren des engeren Prager Kreises. Oldenb. 2002. Frank Raepke / Red.

Baum, Vicki, * 24.1.1888 Wien, † 29.8. 1960 Hollywood. – Romanautorin. Bis 1904 studierte B. das Fach Harfe am Konservatorium in Wien. Nach der Scheidung von Schriftsteller Max Prels wurde sie 1913 als Harfenistin an das Hoftheater nach Darmstadt engagiert. 1916 heiratete sie den Dirigenten Richard Lert, gab ihren Beruf als Musikerin auf u. bekam zwei Söhne (geb. 1917 u. 1921). Ab 1926 war sie Zeitschriftenredakteurin bei Ullstein. Seit 1932 lebte sie in Hollywood, erwarb 1938 die amerikan. Staatsbürgerschaft u. schrieb von 1941 an in engl. Sprache. In Deutschland waren ihre Bücher seit 1933 verboten. In ihren Unterhaltungsromanen, die aktuelle gesellschaftl. Diskurse aufnehmen u. auf literar. Vorbilder anspielen, zeichnet B. so dokumentarisch genaue wie klischeehaft sentimentale Bilder ihrer Zeit, wobei sie die von ihr verwendeten Formeln u. Schemata

Baum

stets implizit ironisiert. B.s spannende u. am Geschmack eines Massenpublikums orientierte Milieuschilderungen machten ihre Romane bei aktueller Thematik u. psychologischer Charakterprofilierung weltweit bekannt. Sie wurden in 25 Sprachen übersetzt, u. viele dienten als Vorlagen für Kinofilme. Menschen im Hotel (Bln.: Ullstein 1929 u. ö. Neuausg. Köln 2007. Zahlreiche Übers.en), ihr bekanntester Roman, wurde 1929 zunächst als Fortsetzungsgeschichte der »Berliner Illustrirten« abgedruckt, 1930 von ihr selbst dramatisiert u. später verfilmt (1932 von Edmund Goulding, 1959 von Gottfried Reinhardt). In kaleidoskopartigen Szenen mit wechselnden Perspektiven u. Personen schildert B. die Vorgänge in einem Berliner Grand Hotel zur Zeit der Weltwirtschaftskrise. Episoden u. menschl. Schicksale werden durch Begegnungen u. Ereignisse im Hotel miteinander verknüpft – so auch in ihrem Roman Hotel Shanghai (Amsterd. 1939. Neuausg. Köln 1997. 22007). Die Verwischung der gesellschaftl. Unterschiede im zufälligen Nebeneinander der Figuren an einem öffentl. Schauplatz, die auch andere ihrer Romane bestimmt (z.B. Die große Pause. Bermann Fischer Verlag, Stockholm 1941. Zuletzt Mchn. 1987. Engl. Übers. Grand Opera. London 1942), fand in der amerikan. Literaturkritik die Bezeichnung »group novel«. Die dt. »Neue Sachlichkeit«, als deren literar. Prototyp B.s Menschen im Hotel gilt, war gegen das expressionist. Pathos der 1920er Jahre gerichtet u. versuchte in überscharfer Wiedergabe der »Wirklichkeit« sowie in der Zufälligkeit der Begegnungen u. in vollständig gelösten Verbindungen der Figuren, dem großstädt. Rhythmus der Moderne gerecht zu werden. Die dissoziierende Blickführung in diesem Roman ist nicht zufällig Walter Ruttmanns Montagefilm Berlin, die Sinfonie der Großstadt (1927) u. anderen nicht erzählenden, sondern rhythmisch u. kommentarlossachlich orientierten Filmen verwandt. Weitere Werke: Ulle, der Zwerg. Stgt. 1924. Bln. 1931 (R.). – Kautschuk. Köln/Bln. 1943. 1952 u. d. T. Cahuchu. Strom der Tränen. Zuletzt Mchn. 8 1983 (R.). – Vor Rehen wird gewarnt. Köln/Bln. 1953. Zuletzt Mchn. 1984 u. Köln 1986 (R.). – Kristall im Lehm. Köln/Bln. 1953. Zuletzt Mchn.

Baumann 9

1980. – Es war alles ganz anders. Bln./Ffm./Wien 1962. Köln 1987 (Autobiogr.). – Liebe u. Tod auf Bali. Amsterd. 1937. Neuausg. Köln 2007. Literatur: Johann Holzner: Literar. Verfahrensweisen u. Botschaften der V. B. In: Erzählgattungen der Triviallit. Hg. Zdenko Skreb u. Uwe Baur. Innsbr. 1984, S. 233–250. – Lynda J. King: Best-Sellers By Design. V. B. and the House of Ullstein. Detroit 1988. – Nicole Nottelmann: Strategien des Erfolgs. Narratolog. Analysen exemplar. Romane V. B.s. Diss. Univ. Dortm. Würzb. 2002. – Achim Aurnhammer: V. B.s Roman ›Hotel Shanghai‹ (1939) im Kontext der dt. Shanghai-Romane. In: Dt.-chines. Literaturbeziehungen. Hg. Wei Maoping u. Wilhelm Kühlmann. Shanghai 2005, S. 214–235. – Wolfgang Lukas: Hormon u. Geschlecht. Zur Funktionalisierung v. Wiss. in V. B.s Erfolgsroman ›stud. chem. Helene Willfüer‹. In: Abweichende Lebensläufe, poet. Ordnungen. Hg. Thomas Betz u. Franziska Mayer. Mchn. 2005, S. 497–531. – N. Nottelmann: Die Karrieren der V. B. Köln 2007 (Biogr.). Eva Weisz / Nicole Nottelmann

Baumann, Hans, * 22.4.1914 Amberg/ Oberpfalz, † 7.11.1988 Murnau. – Autor von Kinder- u. Jugendliteratur, Lyriker, Dramatiker, Übersetzer u. Komponist.

364

Kopfkissenbuch für Kinder (Mchn. 1972). Außerdem übersetzte er aus dem Russischen. 1956 erhielt B. den Gerstäcker-Preis der Stadt Braunschweig, 1958 den New York Herald Tribune Award. B. gehört zu den national wie international am weitesten verbreiteten Autoren deutschsprachiger Kinderu. Jugendliteratur. Weitere Werke: Dafür kämpfen wir. In: Feldzeitung v. der Maas bis an die Memel. o. O. 1941. – Feuer steh auf dieser Erde. Kantate zur Sonnenwende. In: Junges Volk. Reihe Fahrt u. Feier 5 (1935). – Kampf um die Karawanken. Jena 1938 (Schausp.). – Morgen marschieren wir. Liederbuch der dt. Soldaten. Potsdam 1939. – Die Morgenfrühe. Potsdam 1939 (Lieder). – Der Wandler Krieg. Jena 1943 (Briefgedichte). – Der Sohn des Columbus. Reutl. 1951. Vom Autor neu gefasste Ausg. Mchn. 141999 (R.). – Der rote Pull. Reutl. 1951. Neuausg. Ravensburg 1965. – Die Barke der Brüder. Reutl. 1956. Neuausg. Mchn. 1974. Stgt. 51985 (R.). – Kasperle hat viele Freunde. Reutl. 1965. Neuausg. Ravensburg 1971. 141992. – Löwentor u. Labyrinth. Gütersloh 1966. Neuausg. Mchn. 1987. 6 1994. – Im Lande Ur. Gütersloh 1968. Neuausg. Ravensburg 1972. 41981. – Flügel des Ikaros. Stgt. 1978. Mchn. 71993. Literatur: Marcel Reich-Ranicki: Der Fall H. B. In: Ders.: Literar. Leben in Dtschld. Mchn. 1965. –

B. stieß früh zur Hitlerjugend, arbeitete kurz Winfried Kaminski: Der gebrochene Held. Die als Lehrer, begann Geschichte u. Philosophie Schr.en v. H. B. In: Ders.: Heroische Innerlichkeit. zu studieren u. war in verschiedenen natio- Ffm. 1987. – Sonja Kröger: Schatten der Vergannalsozialist. Institutionen tätig. Neben Dra- genheit. Leben u. Werk H. B.s. Kiel 1994. – Günter men u. Lyrik schrieb B. seit 1933 schneidige Hartung: Nationalsozialist. Kampflieder. Der Lieder für die Hitlerjugend. Als Offizier Dichter H. B. vor u. nach 1945. In: Deutschfaschist. nahm er am Zweiten Weltkrieg teil, geriet in Lit. u. Ästhetik. Hg. ders. Lpz. 2001, S. 222–236. – sowjet. Gefangenschaft u. distanzierte sich Gerhard Haas: Größe u. Macht oder Söhne des vom Nationalsozialismus. Ab 1945 arbeitete Himmels. Beobachtungen zu einem ideolog. Paradigma in drei histor. Jugendromanen H. B.s. In: B. als freiberufl. Autor, Übersetzer u. KomVon der Steinzeit bis zur Gegenwart. Historisches ponist. in der Kinder- u. Jugendlit. Hg. Günter Lange u. Nach 1945 trug er wesentlich zur Erneue- Kurt Franz. Baltmannsweiler 2004, S. 124–137. rung dt. Kinder- u. Jugendliteratur bei. Den Birgit Dankert / Red. Nationalsozialismus arbeitete B. verschlüsselt in histor. Abenteuerromanen wie Steppensöhne Baumbach, Rudolf, auch: Paul Bach, (Reutl. 1954, Neufassung Stgt. 1974. Mchn. * 28.9.1840 Kranichfeld, † 21.9.1905 7 1983) u. Ich zog mit Hannibal (Reutl. 1960. Meiningen; ebd. Grabstätte, Denkmal, 26 Stgt. 1975. Mchn. 2004) sowie in der Fabel Museum. – Belletristischer Schriftsteller Der Bär und seine Brüder (Reutl. 1961. Neuausg. (Lyrik, Prosa, Versepik). 6 Ravensburg 1976. 1986) auf. Er verfasste erzählende Sachbücher wie Die Höhlen der großen B., Sohn eines herzogl. Hofarztes, verbrachte Jäger (Reutl. 1953. Ravensburg 1965. 161988), die Kindheit in der kleinen Residenzstadt Kinderlyrik wie Buchstaben zu verkaufen (Bay- Meiningen. Hier entwickelte sich sein Interreuth 1970) u. Kindergeschichten wie das esse für Naturkunde, bes. Botanik. Nach

365

vierjährigem Studium der Naturwissenschaften in Leipzig u. Würzburg promovierte B. 1864 in Heidelberg u. wurde daraufhin Assistent am Botanischen Institut in Freiburg i. Br. Zwischen 1865 u. 1869 lebte er als Privatgelehrter ohne feste Anstellung in Graz, Wien, Brünn u. Görz. Dank fortwährender Anstellungen als Hauslehrer von 1870 bis 1880 in Triest verfügte er erstmals über ein ausreichendes Einkommen. Nachdem er ab 1873 seine schriftstellerische Begabung in den Dienst des jungen Deutschen und Österreichischen Alpenvereins (DÖAV) gestellt hatte, erlebte B. 1877 mit dem Versepos Zlatorog den internat. Durchbruch, der ihm 1881 den Status eines freiberufl. Autors ermöglichte. Es folgten Gedicht- u. Prosabände sowie Versepen, die gleichfalls den Geschmack eines breiten Publikums trafen. Mit dichter. Gespür für Rhythmik u. Sprachmelodie schuf B. eine Literatur, die sich in ihrer Einfachheit u. Frische einerseits wohltuend von den sentimentalen Vertretern der »Butzenscheibenpoesie« (Paul Heyse) abhob, andererseits die gesellschaftl. Brisanz des zeitgleichen krit. Realismus u. des Naturalismus nie erreichte. Wiederkehrende Themen seiner meist humorist. Dichtungen sind Natur u. Wandern, Berge u. Bergsteigen, Wein u. Weib. Mit der Verarbeitung historischer Sujets u. mitteleurop. Sagen kam B. dem Zeitgeschmack des Historismus entgegen. Er wurde zu einem der Modedichter der Wilhelminischen Ära. Die Popularität einiger seiner Gedichte erhöhte sich noch durch deren Vertonung. So waren B.s Verse im ausgehenden 19. Jh. nicht nur in Alpinistenkreisen, sondern auch bei der Burschenschaft allgegenwärtig. 1885 kehrte B. nach Meiningen zurück. Den Antrag des kunstsinnigen Herzogs Georg II. (1826–1914, »Theaterherzog«), die Leitung der fürstl. Bibliothek zu übernehmen, schlug er aus, um auch weiterhin als freier Autor zu leben. Ausgedehnte Reisen führten den Junggesellen durch Italien, nach Griechenland, an die türk. u. ägypt. Küste – u. immer wieder in die Alpen. 1895 setzte ein Schlaganfall nicht nur diesen Reisen, sondern auch B.s literar. Produktion ein Ende. B.

Baumbach

verstarb zehn Jahre später gelähmt in seinem Meininger Haus. Nach dem Ersten Weltkrieg kam B.s Werk aus der Mode. Heute sind im deutschsprachigen Raum noch manche Vertonungen seiner Gedichte geläufig, allen voran das Lied Hoch auf dem gelben Wagen in der Komposition von Heinz Höhne. In Slowenien hingegen wurde B.s Zlatorog, die sagenhafte Geschichte vom goldgehörnten weißen Gemsbock, zu einer Art Nationalepos – der Name des Verfassers ist jedoch auch dort weithin unbekannt geblieben. Weitere Werke: Trug-Gold. Bln. 1878 (R.). – Lieder eines fahrenden Gesellen. Lpz. 1878 (G.e). – Horand u. Hilde. Lpz. 1878 (Versep.). – Neue Lieder eines fahrenden Gesellen. Lpz. 1880 (G.e). – Frau Holde. Lpz. 1880 (Versep.). – Sommermärchen. Lpz. 1881 (P.). – Spielmannslieder. Lpz. 1881 (G.e). – Von der Landstraße. Lpz. 1882 (G.e). – Mein Frühjahr. Lpz. 1882 (G.e). – Schildereien aus dem Alpenlande. Lpz. 1882 (G.e). – Wanderlieder aus den Alpen. Lpz. 1883 (G.e). – Abenteuer u. Schwänke. Lpz. 1883 (G.e). – Der Pathe des Todes. Lpz. 1884 (Versep.). – Erzählungen u. Märchen. Lpz. 1885. – Krug u. Tintenfaß. Lpz. 1887 (G.e). – Kaiser Max u. seine Jäger. Lpz. 1888 (Versep.). – Es war einmal. Lpz. 1889 (P.). – Thüringer Lieder. Lpz. 1891 (G.e). – Neue Märchen. Lpz. 1892 (P.). – Der Gesangverein Brüllaria. München 1893 (G.). – Aus der Jugendzeit. Lpz. 1893 (P.). – Bunte Blätter. Lpz. 1897 (G.e). Literatur: Adolf Bartels: Gesch. der dt. Lit. Bd. 2, Lpz. 1902, S. 621–624. – Alfred Selka: R. B. Ein Lebensbild. Meiningen 1924. – Peter Rosegger: R. B. In: Gute Kameraden. Ges. Werke. Bd. 36, Lpz. 1924, S. 341–346. – Friedrich Meß: R. B. In: Thüringen 10/1927. Weimar 1927, S. 170–175. – Anton v. Mailly: B. u. der Dichterkreis an der Adria. In: 2. Jahresgabe der B.-Gemeinde. Meiningen 1940, S. 11–15. – Andreas Seifert: Die liebenswürdige Oberflächlichkeit. Vier Kapitel über R. B. (Südthüringer Forschungen H. 22). Meiningen 1987. – Goedeke Forts. – A. Seifert: Der erste Thüringer im Trentatal – R. B. in den Alpen. In: Schaubach, B. u. der Alpenverein. 111 Jahre Sektion Meiningen. FS Meiningen 2000, S. 68–79. Andreas Seifert

Baumgart

Baumgart, Reinhard, * 7.7.1929 BreslauLissa, † 2.7.2003 Berlin. – Erzähler, Kritiker. Seit seiner Dissertation über Das Ironische und die Ironie in den Werken Thomas Manns von 1953 (Mchn. 1964) galt B. als einer der glänzendsten Kritiker der Nachkriegszeit. Der Sohn eines Arztes, dessen Familie sich nach 1945 im Allgäu niederließ, studierte Geschichte, Anglistik u. Germanistik in München, Glasgow u. Freiburg i. Br., war Lektor in Manchester, Verlagslektor beim Piper Verlag (1955–1962) u. lebte seit 1962 mit seiner Familie als freier Schriftsteller in Grünwald bei München u. in Berlin. Er schrieb jahrelang Literatur-Kolumnen für den »Spiegel«, Theater-, Film- u. Literaturkritiken für die »Süddeutsche Zeitung« u. »Die Zeit«; zudem machte er Fernsehfilme u. lehrte von 1990 bis 1997 als Professor für Neuere Literatur an der Technischen Universität Berlin. Er war Mitgl. des PEN u. der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, deren Johann-Heinrich-Merck-Preis für literar. Kritik ihm 1987 verliehen wurde. B.s schriftstellerische Arbeit verlief in drei Phasen: Die erste ist von dem Versuch bestimmt, als ironisch-kritischer Erzähler die gesellschaftl. Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland zu beschreiben. In seinem ersten Roman Der Löwengarten (Olten/Freib. i. Br. 1961. Ffm. 21989) u. in den Erzählungen Panzerkreuzer Potjomkin (Bln./Neuwied 1967) werden die verschiedenen Facetten individueller Haltung vor dem Hintergrund der polit. Konsolidierung der Nachkriegszeit dargestellt, wobei insbes. die Macht der Medien u. die ideolog. Implikationen sprachlicher Formulierungen gezeigt werden. In seinem zweiten Roman Hausmusik. Ein deutsches Familienalbum (Olten/Freib. i. Br. 1962. Ffm. 1989) geht B. den histor. Bedingungen des Nachkriegsbewusstseins nach, indem er seine fiktive Recherche auf die NS-Zeit ausweitet. Einen weiteren Band mit erzählender Prosa legte er kurz vor seinem Tode vor: Glück und Scherben (Mchn. 2002) versammelt Erzählungen, die um die Themen Abschied u. Verlust kreisen.

366

Die zweite Phase von B.s literarischer Arbeit umgreift seine Tätigkeit als Literaturkritiker u. Essayist. Neben unzähligen aktuellen Buchbesprechungen hat er mehrere Bände mit Essays veröffentlicht, die sich, zusammengenommen, wie eine Literaturgeschichte der Nachkriegszeit lesen, mit dem Vorteil, dass die sich ändernde Haltung nicht nachträglich besserwisserisch eingeebnet wurde. So kann man nicht nur die stilistisch glanzvollen, analytisch bestechenden theoretischen u. literaturpolit. Debatten nachvollziehen, die die Literatur begleitet haben, sondern durch die hermeneut. Intelligenz des Kritikers auch das Kunstgesetz der Werke selber, wobei die Entwicklung des Romans in der Moderne im Vordergrund steht. Auch in den Neunzigerjahren befasste er sich in Essays u. Studien mit Literatur u. Literaturkritik u. unternahm dabei zunehmend auch »Abstecher« in die Weltliteratur. Die dritte Phase ist durch dramat. Arbeiten gekennzeichnet. B.s psychologisierende Dramatisierungen (Fernsehbearbeitungen: Goethes Wahlverwandtschaften. 1978. Wilhelm Meisters Lehrjahre. 1978. Wahnfried. Bilder einer Ehe. Mchn. 1985) haben v. a. im Fernsehen Erfolg gehabt, weniger auf der Bühne (Jettchen Geberts Geschichte. Urauff. Bln. 1978). Weitere Werke: Lit. für Zeitgenossen. Ffm. 1966 (Ess.s). – Aussichten des Romans oder Hat Lit. Zukunft? Frankfurter Vorlesungen. Neuwied 1968. – (Hg.): Über Uwe Johnson. Ffm. 1970. – Die verdrängte Phantasie – 20 Essays über Kunst u. Gesellsch. Darmst./Neuwied 1973. – Glücksgeist u. Jammerseele. Über Leben u. Schreiben, Vernunft u. Lit. Mchn. u. a. 1986 (Ess.s). – Selbstvergessenheit. Drei Wege zum Werk. Thomas Mann, Franz Kafka, Bert Brecht. Mchn. 1989. 1993. – Auferstehung u. Tod des Joseph Roth. Mchn. 1991. – Addio. Abschied v. der Lit. Variationen über ein altes Thema. Mchn. 1995 (Ess.s). – Dt. Lit. der Gegenwart. Kritiken, Ess.s, Komm.e. Mchn. 1995. – Liebesspuren. Eine Lesereise durch die Weltlit. Mchn. 2000. – Damals. Ein Leben in Dtschld. 1929–2003. Mchn. 2003. 2007. Literatur: Martin Lüdke: Keine Angst vor Kofferschnäppern. Über R. B. u. die Zukunft der Literaturkritik. In: Ders.: Hans Henny Jahnn. Ein Dossier. Reinb. 1995, S. 176–190. – Thomas Wild: ›Drittens vertraue ich Ihnen aus vollem Halse‹. Uwe Johnson u. R. B., eine Begegnung in Büchern u.

367 Briefen. In: Uwe Johnson. Befreundungen. Gespräche, Dokumente, Ess.s. Hg. Roland Berbig u. a. Bln. 2002, S. 191–236. – Sibylle Cramer: R. B. In: LGL. – Dieter Stolz u. Michael Bielefeld: R. B. In: KLG. Michael Krüger / Red.

Baumgarten, Alexander Gottlieb, * 17.6. 1714 Berlin, † 26.5.1762 Frankfurt/Oder. – Begründer der Ästhetik als philosophische Disziplin. B. gehört philosophiehistorisch zu den Schülern Christian Wolffs u. hat im Zusammenhang der europ. Dichtungstheorie u. der literar. Kritik seinen Platz neben Gottsched u. den Schweizern Bodmer u. Breitinger. Geboren in Berlin als fünfter von sieben Söhnen des Garnisonspredigers Jakob Baumgarten, war sein Bildungsweg durch die Verbindung philosoph. Studien mit dem Studium der »schönen Wissenschaften« (Rhetorik u. Poetik) gekennzeichnet. Diese ungewöhnl. Verbindung – man habe nichts einander so zuwider geglaubt als philosoph. Nachdenken u. Fragen der Kunst, des Geschmacks (Herder: Von Baumgartens Denkart in seinen Schriften. In: Sämtl. Werke. Hg. Bernhard Suphan. Bd. 32, Bln. 1899, S. 178–192) – zeichnete auch seine spätere akadem. Lehrtätigkeit aus u. gab die Perspektive ab, aus der B. die philosoph. Ästhetik begründet hat. Nach kurzzeitigem Besuch des Berliner Gymnasiums absolvierte der früh verwaiste B. – die Mutter starb, als er drei, der Vater, als er acht Jahre alt war – die von dem Pietisten August Hermann Francke geleitete Schule des Waisenhauses in Halle. Dort widmete er sich anschließend der Theologie, studierte die »schönen Wissenschaften« u. hörte an der Jenaer Universität Vorlesungen, um sich mit der Philosophie Wolffs vertraut zu machen, die ihrer Rationalität wegen als atheistisch galt u. während der Regierung Friedrich Wilhelms I. in Halle verboten war. Später lehrte B. selbst zunächst an der Schule des Waisenhauses Poetik u. Logik u. – nachdem er den Grad eines Magister artium erworben hatte – seit 1737 Philosophie an der Friedrichs-Universität in Halle, bis er 1740 auf eine Professur für Philosophie an die Viadrina, eine reformierte Universität in Frankfurt/O.

Baumgarten

berufen wurde, wo er, ein beliebter akadem. Lehrer, bis zu seinem Tod 1762 erfolgreich wirkte (vgl. Fontius). B. begründete die Ästhetik, indem er an Georg Bernhard Bilfinger anknüpfte, der in seinen 1725 veröffentlichten philosoph. Erläuterungen Dilucidationes philosophicae [...], einem weitverbreiteten Lehrbuch der Wolff’schen Philosophie, von dem Desiderat einer Logik der Einbildungskraft gesprochen hatte; B. nahm ferner den Gedanken einer philosoph. Poetik auf, den Bodmer u. Breitinger verfolgt hatten. Bereits in seiner Magisterarbeit, den 1735 in Halle erschienenen Meditationes de nonnullis ad poema pertinentibus (Philosophische Betrachtungen über einige Bedingungen des Gedichts. Lat./dt. Neudr. Hbg. 1983. Ital. Übers.en v. Francesco Piselli, Mailand 1992, sowie Antonio Lamarra u. Pietro Pimpinella, Florenz 1993) umreißt der 21-jährige B. die Aufgabe der Ästhetik. Er definiert das Gedicht als »oratio sensitiva perfecta«, als vollkommene sinnl. Rede, u. entfaltet eine Theorie des poet. Denkens u. des poet. Ausdrucks, die er durch eine neu einzurichtende philosoph. Disziplin auf ein sicheres Fundament stellen will. Er nennt sie Ästhetik, weil ihr die Aufgabe übertragen wird, die »Aistheta«, das durch die Sinne Wahrgenommene, zu untersuchen. Wie die »Noëta«, das durch den Verstand Erkannte, von jeher Gegenstand der Logik sind, so sollen die Aistheta Gegenstand der Ästhetik sein. Die Ästhetik tritt so als zweite Instrumentalphilosophie neben die Logik u. erweitert in dieser Bestimmung den Kreis der philosoph. Disziplinen (encyclopaedia philosophiae). B.s Tendenz, mit der Ästhetik den poetolog. u. rhetor. Bezugsrahmen zu überschreiten, zeigt sein Rückgriff auf die metaphysisch fundierte empir. Psychologie, die er im Zusammenhang seines Lehrbuchs der Metaphysik (Metaphysica. Halle 1739. 71779. Neudr. Hildesh. 1963. Dt. Übers. v. Meier. Halle 1776) schulmäßig abhandelte. Hier bestimmte B. die Ästhetik erstmals als Wissenschaft, etwas sinnlich zu erkennen (»cognoscere«) u. darzustellen (»proponere«). Noch Kant schätzte das Werk, setzte sich mit ihm auseinander u. benutzte es für seine

Baumgarten

Vorlesungen über Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798) (vgl. Gabriel). Mit der Aesthetica (Frankf./O. 1750 u. 1758. Neudr. Hildesh. 1961. Ital. Übers. v. Salvatore Tedesco. Palermo 2000. Lat.-dt. Ausg. hg. v. Dagmar Mirbach. Hbg. 2007. Lat.-dt. Ausg. hg. v. Constanze Peres. Paderb. 2007), die aus seinen Frankfurter Vorlesungen – den ersten über die Ästhetik überhaupt – hervorgegangen sind, arbeitete er die Konzeption der Ästhetik im Sinne einer Grundlegung des poet. Denkens u. des poet. Ausdrucks weiter aus. Die Ästhetik hatte einen theoret. u. einen prakt. Teil erhalten sollen, wobei der theoretische in Anlehnung an die Einteilung der Rhetorik in »inventio«, »dispositio« u. »elocutio« die Erfindung schöner Gedanken (Heuristik), ihre Verknüpfung (Methodologie) u. ihre Bezeichnung (Semiotik) umfassen sollte. Die Ästhetik habe zu zeigen, was bei den Worten u. bei den Zeichen der Worte zu beachten sei u. wie man Wörter so verbindet, dass sie schöne Gedanken schön bezeichnen (Kollegnachschrift). Ein Manuskript der Vorlesung gelangte 1745 nach Halle, wo Meier auf dieser Grundlage seine Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften und Künste (3 Tle., 1748–50) verfasste u. – früher als B. seine Aesthetica – veröffentlichte; dennoch ist B., wie Meier ausdrücklich hervorhebt, als »Haupturheber der Ästhetik« anzusehen. Eine schwere Krankheit hinderte B. nach seinem eigenen Zeugnis im Vorwort zur Aesthetica daran, das Buch wie geplant zu vollenden. So ist die Buchfassung über die unvollständig gebliebene Heuristik nicht hinausgekommen. B. versteht unter »sentire«, »sentio« sowohl innere u. äußere Empfindungen der Seele als auch das sinnl. Wahrnehmen. In den »Philosophischen Briefen von Aletheophilus« (Ffm./Lpz. 1741), einer von ihm selbst im Stil der Moralischen Wochenschriften verfassten Zeitschrift, von der nur ein Jahrgang erschien, findet sich der Plan eines auf die sinnl. Wahrnehmung bezogenen Ästhetik-Projekts, das er in den Gegenstandsbereich der neuen philosoph. Disziplin einbezogen wissen wollte, dann aber nicht weiter verfolgt hat. Bei der von ihm sog. ästhet. Erfahrungskunst (»aesthetica empirica«) dachte B. an eine

368

Hilfswissenschaft für die Erkenntnis der Natur, welche die Sinnlichkeit hinsichtlich ihrer Eignung untersuchen sollte, Gesetzmäßigkeiten in den Naturerscheinungen zu entdecken. Auch wäre sie der Ort, »von den Waffen der Sinnen oder denen Werckzeugen zu sprechen, durch welche wir klar zu empfinden in Stand gesetzt werden, was sonst nur dunckel geblieben wäre«; sie hätte also »die Hülffsmittel, wodurch die Sinne erhöhet und erweitert werden könnten«, zu untersuchen u. müsste an die Untersuchungen eines Robert Boyle oder Francis Bacon anknüpfen. In der Aesthetica begreift B. die Sinnlichkeit als Quelle der künstler. Erkenntnis u. ihres Ausdrucks. Er definiert die Ästhetik als Wissenschaft der sinnl. Erkenntnis (»scientia cognitionis sensitivae«) u. erläutert die neue Disziplin durch die Synonyme: Theorie der freien Künste (»theoria liberalium artium«), untere Erkenntnislehre (»gnoseologia inferior«), Kunst schön zu denken (»ars pulchre cogitandi«), Kunst des Analogons der Vernunft (»ars analogi rationis«). Die Bezeichnung »untere Erkenntnislehre« ist nicht abwertend gemeint. Sie ist an der Unterscheidung zwischen einem oberen u. einem unteren Teil der Erkenntnisfähigkeit orientiert, die Wolff für die von ihm begründete Empirische Psychologie vorgenommen hatte. Die Sinnlichkeit soll bei B. nicht für den log. Gebrauch geschärft, nicht dem Verstand dienstbar gemacht werden, sondern Eigenständigkeit gewinnen. Die sinnl. Vorstellung (»repraesentatio sensitiva«), die er mit Leibniz (De cognitione, veritate et ideis. In: »Acta Eruditorum«. 1686) als komplexe Vorstellung (»cognitio clara et confusa«) bestimmt, deren Merkmale der begriffl. Analyse entzogen sind u. miteinander verbunden bleiben (»confundere«), ist der distinkten, intellektuellen Erkenntnis nicht unterlegen. Bezeichnet der Verstand die vernunftgemäße Fähigkeit zur Abstraktion, so sind für das konkretisierende poet. Denken sensitive Fähigkeiten, insbes. Einbildungskraft (»imaginatio«, »phantasia«), Dichtungskraft (»facultas fingendi«) u. ästhet. Urteilskraft (»judicium sensitivum«) oder Geschmack (»gustus«) maßgebend. Ist mit dem Ziel der Verbesserung u. Ausbildung der sensitiven Fä-

369

higkeiten Schillers Forderung nach einer ästhet. Erziehung bereits vorgezeichnet, so knüpfen die anthropolog. Interpretation der ästhet. Theorie B.s u. seines Verständnisses der Sinnlichkeit im Zusammenhang mit der Vision eines neuen Menschenbildes an diesen aus der empir. Psychologie entlehnten Baustein an (vgl. Groß). Als Wissenschaft der sinnl. Erkenntnis wendet die Ästhetik die Gesetze u. die eigentüml. Vorstellungsform der Sinnlichkeit auf die nichtmechanischen, die freien Künste an, als deren Theorie sie sich daher versteht. Zu den freien Künsten, die Nutznießer der Ästhetik sein sollen u. denen sie ein gesichertes philosoph. Fundament bieten soll, gehören für B. neben der Rhetorik u. Poetik auch die Philologie, Hermeneutik, Musik usw., d.h. solche Künste, deren gemeinsames Merkmal die Mitteilung durch sinnlich artikulierte Zeichen ist bzw. die der Interpretation solcher Mitteilungen dienen. Den Gedanken einer auf der Ästhetik basierenden Hermeneutik, den B. selbst nicht weiter entfaltete, hat Georg Friedrich Meier in seinem Versuch einer allgemeinen Auslegungskunst (1757) aufgegriffen. B. selbst überschreitet den rhetor. u. auch den dichtungstheoret. Argumentationsrahmen, indem er der Kunst eine Erkenntnisfunktion zuweist u. sie als – nichtpropositionale – Erkenntis ausweist. Der Unterschied zwischen Philosophie u. Dichtung, den die dt. Barockpoeten (z.B. August Buchner: Anleitung zur Deutschen Poeterey. 1665) betont hatten, wird nicht verwischt. B. geht vielmehr von diesem Unterschied aus, um ihn philosophisch zu begründen im Rückgriff auf die Natur des Menschen, auf dessen Anlage, sich die Welt nicht nur im Begriff, sondern auch empfindend anzueignen. Im Unterschied zum intellektuellen Denken, das in einem durch die Logik angeleiteten richtigen Denken (»recte cogitare«) seinen angemessenen Ausdruck findet, stellt ein »Schöndenken« (»pulchre cogitare«) den artifiziellen Ausdruck (»effectus pulchre cogitantis«) der sinnl. Vorstellung, einer empfindenden Weltvergegenwärtigung dar. B. versteht den poet. Ausdruck in der Terminologie der Zeit als Leis-

Baumgarten

tung eines »schönen Geistes« (»ingenium venustum«). B. begreift dieses empfindende, poet. Denken als Analogen der Vernunft; aktualisiert durch die Repräsentationskraft, die er mit Leibniz der Seele, einem Spiegel des Universums, zuspricht, stellt das poet. Denken den als vollkommen gedachten Zusammenhang der Dinge (»ordo rerum«) in seiner Komplexität vor. Damit kommen Bestimmungen aus Leibniz’ Metaphysik der bestmögl. Welt in der Ästhetik zum Tragen. Es sind die Erfordernisse des »ordo«, der »harmonia« u. der Übereinstimmung (»consensus«), an denen das poet. Denken sich ausrichtet u. auszurichten hat, um in der Schönheit des Dargestellten, des Kunstwerks, die Vollkommenheit der Welt ästhetisch zu vergegenwärtigen. An der Optimität der Welt findet die poet. Fiktion ihren Maßstab. Damit gibt B. der alten poetolog. Frage nach der Wahrheit der Dichter, die die Schweizer Dichtungstheoretiker (vgl. Breitingers Critische Abhandlung von der Natur, den Absichten und dem Gebrauche der Gleichnisse. 1740) im Anschluss an Wolff aus dem Möglichen begründet hatten, eine neue Wendung. Die Bindung der Kunst an ein metaphysisch fundiertes Schönes verpflichtet das poet. Denken, die künstler. Erkenntnis, auf die metaphys. Wahrheit u. impliziert so ein Verdikt des Absurden, das, als dem Hässlichen zugehörig, von der Kunst ausgeschlossen wird. Die Bindung der Kunst an das Schöne wie auch an die Bestimmung des Gedichtes als »oratio sensitiva perfecta« wird unter Berufung auf B. durch die Popularästhetik des 18. Jh. (vgl. Moses Mendelssohn: Von den Quellen und Verbindungen der schönen Künste. 1757, später u. d. T. Über die Hauptgrundsätze der schönen Künste und Wissenschaften; Johann Georg Sulzer: Allgemeine Theorie der schönen Künste. 4 Bde., 1771–74, Art.: Ästhetik, Häßlich, Schönheit) tradiert u. fixiert. Mit der Konnotation von Kunst u. Schönheit ist aber auch die Lösung der schönen Künste u. der Dichtung, die später Hegel zu einem »Pantheon« der Kunst zusammentreten lässt, aus dem Kreis der freien Künste, deren Bestimmung im 18. Jh. schillernd ist (vgl. Johann G.

Baumgarten

Walchs Philosophisches Lexicon. 31740. Sp. 1599), in B.s Ästhetik tendenziell bereits geleistet. Seine ästhet. Theorie steht in dieser Hinsicht im Kontext der neuzeitlichen europ. Kunstphilosophie, die von der Renaissance bis zum frühen 19. Jh. ausgebildet wurde u. einen Wandel des Kunstbegriffs vorbereitet hat, dessen Entstehung das zentrale Problem der modernen Ästhetik u. ihrer Historiografie darstellt. Die im griech. »aisthanomai«, »aisthesis« angelegte Doppeldeutigkeit von sinnlicher u. ästhet. Wahrnehmung bzw. Empfindung belastet bis heute die Verständigung über den Gegenstand u. die Aufgabe der philosoph. Ästhetik u. damit auch der Ästhetik B.s, insbes. wenn Ästhetik aufgrund einer reduzierten Aufnahme seiner Aesthetica als Wissenschaft der sinnl. Wahrnehmung definiert wird (vgl. Henckmann). Ästhetik – so wird in dieser Hinsicht argumentiert – strebe als philosoph. Disziplin »ein Wissen vom Sinnenhaften« an u. sei daher von B., »ihrem Gründungsvater, als ›episteme aisthetike‹, kurz als Ästhetik bezeichnet worden.« Die spätere Verengung vorwiegend auf die Kunst oder gar aufs Schöne sei rückgängig zu machen zugunsten eines Verständnisses von Ästhetik als Ai st he ti k, d.h. »als Thematisierung von Wahrnehmungen a ll er Art, sinnenhaften ebenso wie geistigen, alltäglichen wie sublimen, lebensweltlichen wie künstlerischen« (vgl. Welsch). B.s Konzeption der Sinnlichkeit u. seine Auffassung des Vollzugs ästhetischer Welterfahrung werden in dieser Sicht entweder abgelöst von ihrem rhetorisch-poet. Kontext u. vor aller Konkretisierung durch die Kunst interpretiert (vgl. Schweizer) oder aber B.s ästhet. Theorie wird als der Tradition der Rhetorik verhaftet angesehen, deren Kontext erst überschritten werde, indem B. »die sinnlichen Apperzeptionsmodi als wesentliche Voraussetzung eines ausgeglichenen, auf der Höhe der Zeit stehenden Menschenbildes ansieht« (Barck/ Henninger/Kliche). Demgegenüber ist der »Doppelcharakter« der Ästhetik als philosoph. Disziplin seit ihrer »Systematisierung durch B.« zu betonen: »Die philosophische Ästhetik war seit der Mitte des 18. Jahrhunderts stets eine spezielle Theorie des Schönen

370

von Kunst und Natur und hat darin zgl. immer auch eine allgemeine, darüber hinaus reichende Theorie menschlicher Vollzüge und Praktiken formuliert – zunächst in Begriffen der Sinnlichkeit, dann in denen des Geistes, der Darstellung oder der Sprache« (Menke). Setzte u. setzt sich die B.-Forschung, die seit den siebziger Jahren des 20. Jh. v. a. in Deutschland u. Italien einen außerordentl. Aufschwung genommen hat, in der interpretator. Spannung zwischen Kunstphilosophie, Erkenntnistheorie u. Anthropologie mit der Hinwendung des Gründungsvaters der Ästhetik zur Sinnlichkeit auseinander, so wendet sich neuerdings das Interesse der Forschung darüber hinaus auch dem Problemfeld der sinnl. Erkenntnis innerhalb der philosoph. Systematik wie auch im Zusammenhang mit der Ethik, dem Naturrecht oder der natürl. Theologie zu, worüber B. als akadem. Lehrer im Stil seiner Zeit ebenso wie zur Ästhetik Kompendien verfasste, die er seinen Vorlesungen zugrunde legte (vgl. z.B. Ethica philosophica. Halle 1740. 31763. Neudr. Hildesh. 1969. Initia philophiae practicae primae acroamatice. Halle 1760. Ius naturae (dictata Iuris naturae ad Koeleri exercitationes iuris naturalis). Postum Halle 1763. Praelectiones theologiae dogmaticae. Eingel. v. Johann Salomo Semler. Postum Halle 1773). Weitere Werke: Acroasis logica. In: Christianum Wolffium dictabat A. G. Baumgartenio. Hg. Toellner. Halle 1761. 21773 (1765? s. Niggli 222). – Sciagraphia encyclopaediae philosophicae. Hg. Johann Christian Foerster. Halle 1769. – Philosophia generalis. Hg. ders. Halle 1770. Neudr. Hildesh. 1968. Literatur: Catalogus librorum Alexandri G. B. suos et amicorum in usus comparatorum (Auktionskat.). Frankf./O. 1762. – Georg Friedrich Meier: Leben des Prof. A. G. B. Halle 1763. – Thomas Abbt: Leben u. Charakter A. G. B.s. 1765. Verändert in: T. Abbts Vermischte Werke. Tl. 4, Bln./Stettin 1780. Neudr. Hildesh. 1978, S. 215 ff. – Bernhard Poppe: A. G. B. Seine Bedeutung u. Stellung in der LeibnizWolffschen Philosophie u. seine Beziehungen zu Kant. Nebst einer dt. Kollegnachschrift einer Ästhetikvorlesung B.s. Diss. Lpz. 1907. – Ursula Franke: Kunst als Erkenntnis. Die Rolle der Sinnlichkeit in der Ästhetik des A. G. B. Wiesb. 1972 (mit weiterer Lit. bis 1970). – Hans Rudolf

371 Schweizer: Ästhetik als Philosophie der sinnl. Erkenntnis. Interpr. der ›Aesthetica‹ B.s mit teilweiser Wiedergabe des lat. Textes u. dt. Übers. Basel 1973. – Theodor Verweyen: Emanzipation der Sinnlichkeit im Rokoko? In: GRM N. F. 25 (1976), S. 276–306. – Michael Jäger: Kommentierende Einf. in B.s ›Aesthetica‹. Hildesh. 1980. – HansMichael Schmidt: Sinnlichkeit u. Verstand. Zur philosoph. u. poetolog. Begründung v. Erfahrung u. Urteil in der dt. Aufklärung. Leibniz, Wolff, Gottsched, Bodmer u. Breitinger, B. Mchn. 1982. – Mary J. Gregor: B.’s Aesthetica. In: Review of Metaphysics 37 (1983), S. 357–385. – Heinz Paetzold: Ästhetik des dt. Idealismus. Zur Idee ästhet. Rationalität bei B., Kant, Schelling, Hegel u. Schopenhauer. Wiesb. 1983. – M. Jäger: Die Ästhetik als Antwort auf das kopernikan. Weltbild. Die Beziehungen zwischen den Naturwiss.en u. der Ästhetik A. G. B.s u. G. F. Meiers. Hildesh. 1984. – Francesco Piselli: Perfectio phaenomenon. Estetica e metafisica nell’opera di A. G. B. Mailand 1988. – Friedrich Solms: Disciplina aesthetica. Zur Frühgesch. der ästhet. Theorie bei B. u. Herder. Stgt. 1990. – Wolfgang Welsch: Ästhetik u. Anästhetik. In: Ders.: Ästhet. Denken. Stgt. 1990, S. 9–40. – Wolfhart Henckmann: Wahrnehmung, ästhetische. In: Ders. u. Konrad Lotter: Lexikon der Ästhetik (1992). 2. erw. Aufl. 2004. – Günter Mühlpfordt: A. G. B. u. die Europawirkung der Frankfurter Aufklärer. In: Die wiss. Größen der Viadrina. Hg. K. Wojciechowski. Frankf./O. 1992, S. 115–134. – Hans Carl Finsen: Evidenz u. Wirkung im ästhet. Werk B.s. Texttheorie zwischen Philosophie u. Rhetorik. In: DVjs 70 (1996), S. 198–212. – U. Franke: Zeichenkonzeptionen in der Kunstphilosophie u. Ästhetik v. der Renaissance bis zum frühen 19. Jh. In: Semiotik / Semiotics. Ein Hdb. zu den zeichentheoret. Grundlagen v. Natur u. Kultur. Hg. Roland Posner, Klaus Robering u. Thomas A. Sebeok. 2. Teilbd., Bln./New York 1998, S. 1232–1262. – Die Vorreden zur Metaphysik. Hg., übers. u. komm. v. Ursula Niggli. Ffm. 1999. – Eberhard Ortland: Dichte u. Fülle. B.s uneingelöstes Projekt der ästhet. Erkenntnis in der symboltheoret. Perspektive Nelson Goodmans. In: Die Zukunft des Wissens. XVIII. Dt. Kongreß für Philosophie Konstanz 1999. Hg. Jürgen Mittelstraß. Konstanz 1999, S. 1330–1337. – Salvatore Tedesco: L’estetica di B. Palermo 1999. – Karheinz Barck, Jörg Henninger u. Dieter Kliche: Ästhetik, ästhetisch. In: Ästhet. Grundbegriffe. Histor. Wörterbuch in 7 Bdn. Hg. Karlheinz Barck, Martin Fontius u. a. Stgt./Weimar 2000, S. 308–400, bes. S. 325–327. – Clemens Schwaiger: Ein ›missing link‹ auf dem Weg v. Wolff zu Kant. Zur Quellen- u. Wirkungsgesch. der prakt. Philosophie v. A. G. B.

Baumgarten In: Jb. für Recht u. Ethik 8 (2000), S. 247–261. – Egbert Witte: Logik ohne Dornen. Die Rezeption v. A. G. B.s Ästhetik im Spannungsfeld v. log. Begriff u. ästhet. Anschauung. Hildesh. u. a. 2000. – Schwerpunkt: Zur Aktualität der Ästhetik v. A. G. B., eingel. v. Christoph Menke. In: Dt. Ztschr. für Philosophie 49 (2001) 2, S. 229–298. – Steffen W. Groß: Felix Aestheticus. Die Ästhetik als Lehre vom Menschen. Zum 250. Jahrestag des Erscheinens v. A. G. B.s ›Aesthetica‹. Würzb. 2001. – C. Menke: Wahrnehmung, Tätigkeit, Selbstreflexion: Zu Genese u. Dialektik der Ästhetik. In: Falsche Gegensätze. Zeitgenöss. Positionen zur philosoph. Ästhetik. Hg. Andrea Kern u. Ruth Sonderegger. Ffm. 2002, S. 19–48, bes. S. 38–40. – Dagmar Mirbach: Neuere Beiträge der ital. Forsch. zu A. G. B. In: Ztschr. für philosoph. Forsch. 56 (2002) S. 606–621. – Eberhard Ostermann: Die Authentizität des Ästhetischen. Studien zur ästhet. Transformation der Rhetorik. Mchn. 2002, zu B.: S. 71–88. – Gottfried Gabriel: Der ›Witz‹ der reflektierenden Urteilskaft. In: Urteilskraft u. Heuristik in den Wiss.en. Beiträge zur Entstehung des Neuen. Hg. Frithjof Rodi. Weilerswist 2003, S. 197–210. – Arbogast Schmitt: Die Entgrenzung der Künste durch ihre Ästhetisierung bei B. In: Ästhet. Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste. Epistem., ästhet. u. religiöse Formen v. Erfahrung im Vergleich. Sonderh. 2004 der Ztschr. für Ästhetik u. Allg. Kunstwiss. Hg. Gert Mattenklott, S. 55–72. – Alexander Eichele: Die Ungewissheit des Gewissens. A. G. B.s forens. Aufklärung der Aufklärungsethik. In: Jb. für Recht u. Ethik 13 (2005), S. 3–30. – Martin Fontius: B. u. die Literaturbriefe. Ein Brief aus Frankf./O. an Louis de Beausobre in Berlin. In: DVjs 80 (2006) 4, S. 553–594. – Alexander Aichele u. D. Mirbach (Hg.): A. G. B. Sinnl. Erkenntnis in der Philosophie des Rationalismus (erscheint 2008). Ursula Franke

Baumgarten, Hermann (Carl August Ludwig), * 28.4.1825 Lesse bei Braunschweig, † 19.6.1893 Straßburg. – Historiker. Der Sohn eines evang. Pastors wurde nach dem Studium der Philologie in Halle, Bonn u. Göttingen im Revolutionsjahr 1848 Redakteur der erbkaiserlich gesinnten »Deutschen Reichszeitung« in Braunschweig. 1852 schloss er sich Georg Gottfried Gervinus in Heidelberg an, den er gegen den Vorwurf des Hochverrats in der anonymen Publikation Gervinus und seine politischen Überzeugungen

Baumgarten

(Lpz. 1853) in Schutz nahm. Seit 1855 lebte B. in München u. widmete sich weiter histor. Studien, ehe er 1861 Professor der Geschichte an der TH Karlsruhe wurde. B. war ein entschiedener Liberaler u. trat für die kleindt. Lösung der nat. Frage ein. 1866 veröffentlichte er in den »Preußischen Jahrbüchern« Der deutsche Liberalismus. Eine Selbstkritik (sep. Bln. 1867. Neuausg. Ffm./ Bln./Wien 1974), die in der Forderung gipfelte: »Der Liberalismus muß regierungsfähig werden«. Der überzeugte Anhänger der Nationalliberalen Partei wirkte ab 1872 an der nunmehr dt. Universität in Straßburg. Als brillanten Stilisten weisen ihn seine Geschichte Spaniens vom Ausbruch der französischen Revolution bis auf unsere Tage (3 Tle., Lpz. 1865–71) sowie seine zahlreichen Aufsätze u. Reden aus, so die 1867 gehaltene War Lessing ein eifriger Patriot? (In: Historische und politische Aufsätze und Reden. Straßb. 1894, S. 217–235). B. distanzierte sich von Bismarcks Machtpolitik u. griff den Antisemitismus Adolf Stoeckers u. die Historiografie Heinrich von Treitschkes an (Treitschke’s Deutsche Geschichte. Straßb. 1883). Weitere Werke: Wie wir wieder ein Volk geworden sind. Lpz. 1870. – Herder u. Georg Müller. In: Preuß. Jbb. 29 (1872), S. 23–52 u. 127–161. – Staatsminister Jolly. Ein Lebensbild (zus. mit Ludwig Jolly). Tüb. 1897. Literatur: Paul Wentzcke u. Julius Heyderhoff: Dt. Liberalismus im Zeitalter Bismarcks. 2 Bde., Bonn/Lpz. 1925/26. – Heinrich Ritter v. Srbik: Geist u. Gesch. vom dt. Humanismus bis zur Gegenwart. Bd. 1, Mchn. 1950. – Wolfgang H. Stark: H. B. (1825–1893). Ein biogr. Beitr. zur Klärung der Ideenwelt des dt. polit. Liberalismus im 19. Jh. Diss. Erlangen-Nürnb. 1973. Michael Behnen / Red.

Baumgarten, Siegmund Jacob, * 14.3. 1706 Wolmirstedt bei Magdeburg, † 4.7. 1757 Halle/Saale. – Verfasser theologischer Schriften, Übersetzer, Publizist. Über seinen Vater, den mit August Hermann Francke eng verbundenen Pfarrer Jacob Baumgarten, entstammte B., der älteste von vier Söhnen (unter ihnen Alexander Gottlieb), dem inneren Kreis des Halleschen Pietismus. Aller Übertreibung abhold, konzentrierte

372

sich die häusl. Frömmigkeit auf die ursprachl. Lektüre der Bibel, auf dt., frz. u. engl. Erbauungsbücher sowie auf luth. Theologen. Außer den Sprachen lernte B. Philosophie u. Historie; er berichtete täglich auch aus der reichen väterl. Bibliothek mit einem »Aufsatz«. Obwohl zeitlebens von schwacher körperl. Konstitution, bewältigte B. ein von Kollegen u. der Öffentlichkeit bewundertes intellektuelles, literar. u. didakt. Arbeitspensum. Nach zwei Jahren im Pädagogium studierte B. seit 1724 in Halle zeitweise Mathematik, v. a. oriental. Sprachen als Hilfsmittel der Bibelexegese. Zgl. unterrichtete er selbst in der Lateinischen Schule u. vertiefte seine philosoph. Kenntnisse, auch im Blick auf die szientif. Methode Christian Wolffs. 1728 wurde B. Predigeradjunkt bei Gotthilf August Francke; zudem hielt er, wie auch später noch, private Erbauungsstunden. Ab 1731 las er als Magister in der Philosophischen Fakultät über philologische u. literarhistor. Themen, wurde aber schon 1732 Adjunkt der Theologischen Fakultät, die in ihm den festeren Konnex von Waisenhaus u. Universität erhoffte. Ihr zuvorkommend, wurde B. 1734 von Friedrich Wilhelm I. zum Ordinarius ernannt. B. gab die bisherigen Ämter ab, heiratete (H. E. von Bomsdorf, fünf Söhne) u. begann eine alle Fächer umspannende, erfolgreiche theolog. Lehrtätigkeit, abgesehen von pflichtmäßig lat. Texten, durchgehend in dt. Sprache. B.s Erfolg ging zulasten des bisher führenden Joachim Lange, der ihm didakt. »Mängel«, v. a. aber das Einschwenken auf die offiziell verbotene Wolff’sche Philosophie ankreidete; eine 1736 versuchte offizielle Maßregelung scheiterte an der kgl. Intervention. In der Tat betonte B. die Wissenschaftlichkeit der Theologie u. führte dies durch die Methode der streng deduktiven Demonstration vor Augen. Mit Wolff teilte B. jetzt auch die Überzeugung, dass die von Vorurteilen gereinigte Vernunft in Übereinstimmung stehe mit der bibl. Offenbarung: Deren Wahrheiten können rational plausibel gemacht werden, einschließlich der Wunder u. des Vernunftbeweises für die Göttlichkeit der Bibel. B. behielt das pietist. Wahrheits-

373

kriterium bei, die persönliche religiöse Erfahrung, allerdings nicht mehr in der Form des »Bußkampfes«, sondern der andauernden, Verstand u. Willen bildenden Bemühung um ein so frommes wie vernünftiges sittl. Leben. Dieser »scientifisch« transformierte Pietismus (»Vereinigung des Menschen mit Gott«) fand seinen Niederschlag zuerst im erfolgreichen Unterricht vom rechtmäßigen Verhalten eines Christen oder Theologische Moral zum academischen Vortrag ausgefertiget (Halle 1738. 61762. Erw. 1767), bestimmte aber auch seine Homiletik (Anweisung zum erbaulichen Predigen. Ffm. 1752. Entwurf verschiedener homiletischer Zergliederungen. Halle 1752. 21754. S. J. B.s gehaltene Predigten. 3 Bde., Halle 1756–59). B.s Bedeutung liegt noch mehr in seiner Hinwendung zur Geschichte. Dieses Interesse war durchaus ein apologetisches, setzte gleichwohl eine relativierende Historisierung in Gang, die bald in »Dogmengeschichtsschreibung« mündete. B. selbst las in diesem Sinn, die Arbeiten von Johann Georg Walch fortsetzend, über die Geschichte der Religionspartheyen (hg. v. Johann Salomon Semler. Halle 1766. Neudr. Hildesh. 1966. Kurzer Begriff der theologischen Streitigkeiten. Ffm. 1750. 4 1771). Seine doktrinal konservative, dabei strikt auf die Bibel rekurrierende Dogmatik tritt als »Glaubenslehre« eines wolffianischen Pietismus auf u. geht in der Hermeneutik neue Wege: Die Bibel ist nicht als Offenbarung verbalinspiriert, sondern als histor. Zeugnis von der ihren Verfassern widerfahrenen Offenbarung (Unterricht von Auslegung der Heiligen Schrift. Halle 1742. 51769. Evangelische Glaubenslehre. 3 Bde., hg. v. Semler. Halle 1759/60. 21764–66). B. verfolgte seine geschichtl. Interessen nicht zuletzt in der Verbreitung der großen kirchen- u. weltgeschichtl. Werke frz. u. engl. Herkunft, die er teils übersetzte, teils übersetzen ließ, ergänzte u. mit Vorworten versah (z.B. Übersetzung der Algemeinen Welthistorie die in Engeland durch eine Geselschaft von Gelehrten ausgefertiget worden. 17 Tle., Halle 1744–58). Der Öffnung des theolog. Horizonts, z.B. auf die weitläufige (Anti-)Deismus-Debatte dienten zwei Literaturzeitschriften (»Nachrichten von einer hallischen Bibliothek«. 8 Bde., 1748–51.

Baumgarten

»Nachrichten von merkwürdigen Büchern«. 12 Bde., Halle 1752–58) sowie Übersetzungen (bzw. deren Veranlassung) von Bibelkommentaren, apologet. Literatur oder Predigten frz., niederländ., v. a. engl. Herkunft. Diese Öffnung knüpfte an die hallensische Internationalität an, bot nun aber einer lesenden Öffentlichkeit in Deutschland religiöse Bildung europ. Zuschnitts an (was eine Erleuterung der kleinen Catechismi D. Martin Luther. Halle 1749. 31764 nicht ausschloss; B. wurde seinerseits aber kaum übersetzt). Entsprechend traten zur literar. Form des umfangreichen Buchs (Vorlesungen oder Bibelkommentare) viele Vorworte, Artikel u. Abhandlungen über aktuelle Themen (Theologische Bedencken. 7 Tle., Halle 1742–50. Untersuchung theologischer Streitigkeiten. 3 Bde., hg. v. Semler. Halle 1762–64). B. stand, bei äußerlich wenig bewegtem Leben, im Schnittpunkt vieler u. auch noch offener Entwicklungen, in denen er teils retardierend, teils innovativ wirkte; er ist daher eine schwer einzuordnende Figur des Übergangs der protestantisch-frühneuzeitl. Gelehrsamkeit (Voltaire u. Lessing schätzten ihn darin deshalb hoch) zur Aufklärung. Dies gilt auch im Blick auf deren Ambivalenz: B. war als der wichtigste Lehrer der folgenden Theologengeneration sowohl in »Neologen« präsent, die für die aufklärer. Interpretation des Christentums eintraten (z.B. Johann Joachim Spalding, der Meisterschüler Johann Salomo Semler, Johann August Eberhard) als auch in »Orthodoxen« (z.B. Johan Melchior Goeze, Johann August Urlsperger, Johann Christoph Wöllner); auch Johann Joachim Winckelmann oder Georg Friedrich Meier waren seine Schüler. Als jene Ambivalenz geklärt schien, geriet B. schnell in Vergessenheit; erst die neuere Forschung würdigt ihn als Schlüsselfigur eines weit nachwirkenden Transformationsprozesses. Literatur: Johann Salomon Semler: Ehrengedächtnis des weiland Hochwürdigen u. Hochgelarten Herrn, Herrn S. J. B. Halle 1758. – Emanuel Hirsch: Gesch. der neuern evang. Theologie. Bd. 2, Gütersloh 1951. 41968, S. 370–388. – Martin Schloemann: S. J. B. System u. Gesch. in der Theologie des Übergangs zum Neuprotestantismus. Gött. 1974 (Werkverz.). – Ders.: Wegbereiter

Baur wider Willen. S. J. B u. die hist.-krit. Bibelforsch. In: Histor. Kritik u. bibl. Kanon in der dt. Aufklärung. Hg. Henning Graf Reventlow, Walter Sparn u. John Woodbridge. Wiesb. 1988, S. 71–89, 149–155. – Lutz Danneberg: S. J. B.s bibl. Hermeneutik. In: Unzeitgemäße Hermeneutik. Verstehen u. Interpretation im Denken der Aufklärung. Hg. Axel Bühler. Ffm. 1994, S. 88–154. – Susanne Ehrhardt-Rein: Zwischen Glaubenslehre u. Vernunftwahrheit. Münster 1996, S. 77–128. – M. Schloemann: S. J. B. In: RGG 4. Aufl. Bd. 1, Sp. 1180 f. – Ulrich Barth: Hallesche Hermeneutik im 18. Jh. In: Die Hermeneutik im Zeitalter der Aufklärung. Hg. Martin Beetz u. Giuseppe Cacciatore. Köln/Weimar/Wien 2000, S. 69–98. – Friedrich Vollhardt: Christl. u. profane Anthropologie im 18. Jh. Beschreibung einer Problemkonstellation im Ausgang v. S. J. B. In: ›Vernünftige Ärzte‹. Hallesche Psychomediziner u. die Anfänge der Anthropologie in der deutschsprachigen Frühaufklärung. Hg. Carsten Zelle. Tüb. 2001, S. 68–90. – Albrecht Beutel: Aufklärung in Dtschld. Gött. 2006, S. 240–247. Walter Sparn

Baur, Margrit, * 9.10.1937 Adliswil bei Zürich. – Erzählerin.

374

ter Hand. Dass es fast nicht möglich ist, gelebtes Leben in Worte zu fassen, dass dies aber umgekehrt überlebensnotwenig sein kann, manifestiert sich in Geschichtenflucht nicht mehr nur in einer aussparungsreichen Sprache, sondern auch in einem kunstvollen mehrstimmigen Erzählarrangement. In den Büchern B.s, die bei aller Verhaltenheit in den 1980er Jahren Marksteine weibl. Schreibens setzten, ist stets hörbar, dass sie dem Verstummen abgetrotzt sind; der Roman Alle Herrlichkeit (Ffm. 1993), der anhand der Irlandreise wiederum einer alleinstehenden Frau erneut den Traum u. die Vergeblichkeit des Ausbrechens thematisiert, ist ihre letzte Veröffentlichung. Für ihr Werk wurde B. mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u. a. 1981 mit dem Preis der Schweizerischen Schillerstiftung, 1983 mit der Ehrengabe des Kantons Zürich u. 1984 mit dem Buchpreis des Kantons Bern. Weitere Werke: Zum Beispiel irgendwie. Basel 1977. Literatur: Werner Morlang: M. B.: ›Geschichtenflucht‹. In: Antworten. Die Lit. der deutschsprachigen Schweiz in den achtziger Jahren. Hg. Beatrice v. Matt. Zürich 1991, S. 190–194. – Linda M. Hess-Liechti: ›Das Gefängnis geht nebenan weiter ...‹. Studien zur mentalen Gefängnisu. Befreiungsthematik in Prosatexten v. M. B., Maja Beutler u. Margrit Schriber. Stgt. 1996. – Elsbeth Pulver: M. B. In: KLG. – Thomas Kraft: M. B. In: LGL. Dominik Müller

Schon mit ihrem verblüffenden, schmalen Erstling, Von Straßen, Plätzen und ferneren Umständen (Zürich/Köln 1971), der gleich drei aphorist. Romane enthält, erweiterte B., die nach Anfängen als Schauspielerin in verschiedenen Berufen arbeitete, den oft beschworenen Lakonismus der Schweizer Literatur (Peter Bichsel, Kurt Marti u. a.) um eine witzige weibl. Spielart. Auch die Bände Überleben (Ffm. 1981) – mit dem sprechenden Bayer, Ingeborg, * 3.7.1927 Frankfurt/M. Untertitel Eine unsystematische Ermittlung gegen – Autorin von Jugendromanen u. histodie Not aller Tage – u. Ausfallzeit (Ffm. 1983) risch-sozialkritischen Werken. bestehen aus einer lockeren Folge präziser u. eindringl. Notate, die, selbstironisch, dem Nach Abitur, Ausbildung u. Tätigkeit als Zweifel abgerungen sind, ob das unspekta- wiss. Bibliothekarin begann B., Medizin u. kuläre Alltags- u. Berufsleben einer allein- Hindi zu studieren, arbeitete als medizinistehenden Frau, von dem sie erzählen, über- sche Archivarin u. lebt seit 1958 als freie Auhaupt aufzeichnenswert sei. Eine »richtige« torin in der Nähe von Freiburg i. Br. Geschichte, die eines Mannes, der aus seinem B. begann ihre schriftsteller. Tätigkeit mit geordneten Leben aussteigt u. ein Jahr in ei- sorgfältig recherchierten histor. Jugendronem griech. Dorf verbringt – eine Obsession manen wie Fliegende Feuer im Jahr ›Zwei Rohr‹ der 68er-Generation – steht im Zentrum von (Stgt. 1963. 1965), in denen sie den Wert Geschichtenflucht (Ffm. 1988). Erzählt wird fremder Kulturen hervorhob. Hinzu kamen indessen weniger die Geschichte selber als psychologisch differenzierte Auseinandersetderen Erzähltwerden, erfahren wir sie doch zungen mit gesellschaftlich bedingten Junur aus zeitlicher Distanz u. zweiter, ja drit- gendproblemen wie Drogensucht in dem

Bayer

375

Roman Die vier Freiheiten der Hanna B. (BadenBaden 1974. Würzb. 61994), für den sie den Österreichischen Staatspreis 1975 erhielt. Seit der Herausgabe des Sammelbandes Ehe alles Legende wird. Das 3. Reich in Erzählungen, Berichten, Dokumenten (Baden-Baden 1979. Erw. Neuausg. Würzb. 1995) beschäftigt sich B. in histor. Romanen mit der dt. Geschichte, z.B. in Der Drachenbaum (Zürich 1982. Würzb. 1988) u. Flug des Milan (Würzb. 1987. 21988), u. in jüngerer Zeit auch mit der Geschichte Italiens: Die Romantrilogie Stadt der tausend Augen (Mchn. 1991. 2005), Stadt der blauen Paläste (Mchn. 2006) u. Stadt der dunklen Masken (Mchn. 2007) ist im Venedig des 17. u. 18. Jh. angesiedelt. Weitere Werke: Johannesgasse 30. Protokolle einer Wohngemeinschaft. Baden-Baden 1975. – Yamba: Gesch. einer Reise v. Liverpool nach Barbados. Baden-Baden 1976 (R.). – B. u. Hans-Georg Noack: David u. Dorothee. Baden-Baden 1977 (Jugendr.). – Die Reise nach Vichy. Würzb. 1986 (R.). – Die Welt beunruhigen. Ber.e vom Schreiben. Stgt. 1987. – Zeit für die Hora. Würzb. 1988. Mchn. 1992 (histor. R. über die Gründung des Staates Israel). – In den Gärten von Monserrate. Mchn. 1993. 1995. – Der brennende Salamander. Mchn. 2000. Birgit Dankert / Red.

Bayer, Konrad, * 17.12.1932 Wien, † 10.10.1964 Wien (Freitod); Grabstätte: ebd., Friedhof Hernals. – Verfasser experimenteller Texte. B. stammte aus einfachen bürgerl. Verhältnissen. Schon während der Schulzeit in Wien schrieb er Gedichte u. gründete mit Freunden einen Künstlerclub mit dem programmat. Namen »Genie und Irrsinn«. Sein Wunsch, an der Akademie Malerei zu studieren, ging nicht in Erfüllung; stattdessen arbeitete er auf Veranlassung seiner Eltern in einer Bank, 1957 kündigte er u. unternahm den Versuch, als freier Schriftsteller u. Künstler zu leben. Bestätigung gab ihm ein kleiner Kreis Gleichgesinnter, der sich Anfang der 1950er Jahre im sog. »Art-Club« traf: Präsident war Albert Paris Gütersloh, Mitglieder waren u. a. H. C. Artmann u. Gerhard Rühm, später auch Oswald Wiener u. Friedrich Achleitner – die inzwischen legendäre Wiener Gruppe. Auch Maler, Musiker, Architekten u. Filmkünstler

rückten unter den damaligen restaurativen Verhältnissen des Wiener Kulturlebens enger zusammen. B. leitete eine Zeitlang die Galerie des Malers Ernst Fuchs, spielte Banjo u. trat auch in Experimentalfilmen von Peter Kubelka u. Ferry Radax auf. Sein literarischer Mentor war H. C. Artmann, bei dem B. seine Neigung zu Surrealismus u. schwarzer Romantik bestätigt fand. 1953 nahm er an der von Artmann initiierten Prozession durch Wien teil, bei der Texte von Baudelaire, Poe, de Nerval, de la Serna u. Trakl, den B. bes. schätzte, rezitiert wurden. B.s literar. Schaffen entstand in sehr engem Austausch mit den Mitgliedern der Wiener Gruppe. Die von den Nationalsozialisten verbotenen u. vernichteten literar. Traditionen wie die des Expressionismus, Dadaismus u. Surrealismus waren wiederzuentdecken, theoret. Fragen wurden erörtert, wobei für B. die Erkenntnisproblematik u. die verschiedenen Positionen der radikalen Erkenntniskritik im Zentrum des Interesses standen. Hier liegt auch der Grund seiner Suche nach Methoden der Bewusstseinserweiterung. B. hat theoret. Fragestellungen stets literarisch artikuliert u. Beispieltexte hergestellt, in die Theoreme eingelassen sind, ohne dass sie auf diese reduzierbar wären (die birne, argumentation vor der bewußtseinsschwelle. In: der sechste sinn. texte. Hg. Gerhard Rühm. Reinb. 1966. Wien 1993. CDs: 2002). Auch der Gestus der Provokation, ein starker Impuls seiner Arbeit, steht z.T. im Zeichen der Erkenntnis, insofern diese im Überschreiten von Grenzen u. Erwartungen zu gewinnen ist. Die Arbeiten der Wiener Gruppe wurden erstmals 1957 in einer Lesung der Öffentlichkeit präsentiert. Den Höhepunkt erreichte die Zusammenarbeit schließlich in den 1958 u. 1959 aufgeführten »literarischen cabarets«, mit denen die Gruppe in Wien zwar einen notorischen Ruf, aber keine Publikationsmöglichkeiten erlangte. Die erste u. zu Lebzeiten B.s einzige Buchpublikation war der stein der weisen (Bln.), 1963 erschienen (21983). Im selben Jahr las B. im Berliner Rundfunk der kopf des vitus bering (Olten/Freib. i. Br. 1965. Stgt. 1989. Tonkassette: 1998). Er wurde auch zu Tagungen der Gruppe 47 eingeladen (1963 u. 1964) u. erhielt von dem

Bayer

Verleger Ledig-Rowohlt einen Vertrag für seinen Roman der sechste sinn, der unvollendet blieb (postum Reinb. 1969). Die Wiener Gruppe bekundete in ihren Texten, Aktionen u. Manifesten einen stark erweiterten Literaturbegriff. Er schließt v. a. jene Haltung des Literaten ein, für die Artmann in seiner acht-punkte-proklamation des poetischen actes (1953) die Definition gegeben hatte, man könne auch Dichter sein, ohne jemals ein Wort geschrieben oder gesprochen zu haben. Für B. galt die Stilisierung der Person in besonderem Maße. Es ist überliefert, wie ihm alltägl. Situationen ständig zu Experimenten mit sich u. anderen gerieten. Begegnungen mit ihm galten als gefährlich, weil er sie zu Machtspielen, deren Mechanismen er dabei studierte, zu benutzen pflegte. Er kultivierte die Haltung des Dandy, der jede Situation zu seinem Arrangement macht. So umfasst B.s Werk einen gelebten, in seiner Wirkung für die Nachwelt verlorenen Teil, der als Ergänzung zu den überlieferten Texten mitzudenken ist. Die Texte, die inzwischen in einer von Gerhard Rühm besorgten Gesamtausgabe vorliegen, sind gattungsmäßig nur schwer zu bestimmen. Sie werden vom Herausgeber zwar unter frühe texte, inventionen und gedichte, chansons, sketches, szenen und theaterstücke, filmszenen, nachdichtungen, gelegenheitsschrifen, prosa u. konkrete texte rubriziert, doch bleibt jede Einteilung problematisch, weil B. die Gattungsgrenzen nicht etwa überschritt, sondern – wie Klaus Ramm bemerkt – in radikaler Zurücknahme aller literar. Konventionen vor ihnen einhielt. Auch hat B. viele Texte gar nicht oder nur für aktuelle Publikationen oder Aufführungen abgeschlossen u. selbst publizierte noch verändert. Einer der wenigen als abgeschlossen geltenden Texte, der kopf des vitus bering, ist ein formal aus zwei Teilen bestehendes Werk. Ein nachgestellter Index enthält eine Montage aus wiss. u. literar. Quellen zum Thema Extremerfahrungen sowie zur histor. Figur des dän. Entdeckungsreisenden Vitus Bering, die im Hauptteil zu unterschiedlich langen Textstücken verarbeitet sind. Aus der Mehrdeutigkeit von Wörtern u. Sätzen wird ein si-

376

multanes, vielschichtiges Geflecht von Aussagen u. Ereignissen erzeugt. In solcher Rückführung auf die Mechanismen der semant. Generierung kann ein Grundprinzip von B.s Schaffen gesehen werden. Nicht das Materiale der Bedeutung, seine Assoziierbarkeit, steht im Zentrum des Interesses, sondern die Frage, wie Bedeutung erzeugt, wie Wörter u. Sätze verstanden werden können. Viele Methoden bis hin zu Algorithmen u. v. a. das für B. zentrale Verfahren der Montage tragen diesem Verstehensproblem Rechnung. Dessen Mechanismen werden oft nur durch kleine Verschiebungen der Perspektiven bewusst gemacht. Im Roman der sechste sinn hat B. damit die Extremerfahrungen des Vitus Bering in Alltagssituationen hereingeholt. Ein Kreis von Leuten u. bes. die autobiografisch gefärbte Hauptfigur Franz Goldberg erleben zumeist nichts Extremes, aber sie erleben extrem. Mit diesem Franz Goldberg hat B. eine literar. Figur des Zerrissenen geschaffen, in deren Erfahrungen, Handlungen, Überlegungen u. Aussagen sich die Haltung des Autors widerspiegelt. Sie ist gekennzeichnet von narzisst. Allmachtswünschen u. unbedingtem Erkenntnisanspruch, zgl. von tiefer Kommunikationsskepsis u. solipsistischer Isolation, von Ich-Auflösungsfantasien u. individualanarchistischem Agieren. B., mit den Extremen vertraut, hat die Widersprüche mit seinem Schreiben nicht harmonisieren oder gar aufheben wollen; durch präzise sprachl. Bearbeitung hat er sie vielmehr erst herausgehoben. Weitere Werke: starker toback. kleine fibel für den ratlosen (zus. mit Oswald Wiener). Paris 1962. 2. veränderte Aufl. 1963. – montagen 1956 (zus. mit H. C. Artmann u. Gerhard Rühm). Bleiburg/ Kärnten 1964. – Die Wiener Gruppe. Achleitner, Artmann, Bayer, Rühm, Wiener. Texte, Gemeinschaftsarbeiten, Aktionen. Hg. G. Rühm. Reinb. 1967. Erw. Neuausg. 1985. – K. B. spricht K. B. Der Kopf des Vitus Bering. Hattingen-Blankenstein 1973 (Tonband). Ausgaben: Das Gesamtwerk. Hg. Gerhard Rühm. Reinb. 1977. – Sämtl. Werke. Hg. ders. 2 Bde., Reinb. 1985. Literatur: Gerhard Rühm (Hg.): konrad bayer symposion wien 1979. Linz 1981. – Ulrich Janetzki:

377 Alphabet u. Welt. Über K. B. Klagenf. 1982. – Die Welt bin ich. Materialien zu K. B. Zusammengestellt v. Wilfried Ihrig u. Ulrich Janetzki. In: protokolle 1 (1983). – Michael Töteberg: K. B. In: KLG. – Franz Schuh: Über (literar.) Radikalität. K. B. u. die fünfziger Jahre. In: Schreibkräfte. Hg. ders. Köln 2000, S. 132–182. – T. Scott: Behind the paravent. A study of K. B.s dramatic texts. Diss. Cork 2002. – Klaus Bonn (Hg.): Entdeckungen. Über Jean Paul, Robert Walser, K. B. u. anderes. Ffm. 2002. – Klaus Kastberger: Alchemie des Ganzen. K. B.s ›sechster Sinn‹. In: Die Teile u. das Ganze. Hg. Bernhard Fetz u. ders. Wien 2003, S. 113–138. – U. Janetzki: K. B. In: LGL. Walter Ruprechter / Red.

Bayr Weitere Werke: Einsam, Zweisam, Dreisam. Eine beinah ›himmlische‹ Liebesgesch. Reinb. 1987 u. ö. Zuletzt Mchn. 2007. – Spatz in der Hand. Ffm. 1992 u. ö. Zuletzt Mchn. 2006 (R.). – Der Himmel fängt über dem Boden an. Ffm. 1994 u. ö. Zuletzt Mchn. 2005 (R.). – Irgendwie das Meer. Ffm. 1995 (G.e u. Lieder). – Der langsame Tanz. Ffm. 1998 u. ö. (R.). – Andrea u. Marie. Mchn. 2001 (R.). – Die gefährl. Frau. Mchn. 2004 (R.). – Eine kurze Gesch. vom Glück. Mchn. 2007. – Fernsehproduktion: Tatort – Brandwunden. ARD 1998. – Ein Weihnachtsmärchen – wenn alle Herzen schmelzen. RTL 1999. – Kinoproduktionen: Neues vom bewegten Mann. Constantin Film 2001. Literatur: Berndt Herrmann: T. B. In: LGL. Ingo Langenbach

Bayer, Thommie, bürgerl.: Thomas BayerHeer, * 22.4.1953 Esslingen/Neckar. – Schriftsteller, Musiker, Maler, Drehbuch- Bayr, Rudolf, * 22.5.1919 Linz, † 17.10. autor, Verfasser von Sketchen u. Glossen 1990 Salzburg. – Dramatiker, Lyriker, für Rundfunk u. Printmedien. Essayist u. Übersetzer. B. wurde als viertes Kind von Annelise u. Karl Bayer geboren. 1960–1971 besuchte er Schulen in Stuttgart u. Tübingen. Nach der Mittleren Reife studierte er freie Malerei an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart (1972–1978). Als Solokünstler u. mit seiner »Thommie Bayer Band« nahm B. Schallplatten auf u. feierte musikal. Erfolge mit Liedern wie Ich hol dir keine Sterne mehr vom Himmel, Der letzte Cowboy u. Alles geregelt. Schon in seinem Debütroman Eine Überdosis Liebe (Reinb. 1985) finden sich die typ. Themen B.s. wie der Generationenkonflikt, das Unglücklich-verliebt-Sein u. der Antiheld aus dem Künstlermilieu. Sein dritter Roman Das Herz ist eine miese Gegend (Reinb. 1991) thematisiert neben einer Jugendliebe deutsche Nachkriegsgeschichte. Der Psycho-Thriller Das Aquarium (Ffm. 2002) behandelt das Entstehen von Zuneigung, Vertrauen u. Liebe über die EMail-Korrespondenz. Mit Singvogel (Mchn.) erschien 2005 B.s neunter Roman. Wegen seines Erzählstils wurde B. Ende der 1980er Jahre in die Riege der Popliteraten gestellt. 1990 war B. Stipendiat der Kunststiftung Baden-Württemberg u. 1992 Preisträger des Thaddäus-Troll-Preises des Förderkreises Deutscher Schriftsteller. Eine wiss. Auseinandersetzung mit dem Gesamtwerk steht noch aus.

Nach dem Studium der Ästhetik, Philosophie, Germanistik u. Musikgeschichte in Wien (Dr. phil.) war B. als Theater- u. Literaturkritiker, später als freier Schriftsteller tätig. 1948–1951 gab er die Zeitschrift »Wiener Literarisches Echo« heraus. Ab 1955 leitete er die Literaturabteilung von Radio Salzburg, später die Hauptabteilung Kultur u. Wissenschaft des ORF. Beim Salzburger Residenz Verlag hatte B. beratende Funktion. Zuletzt war er Intendant des Landesstudios Salzburg. B., der Übersetzungen u. Nachbildungen antiker griech. Dramen veröffentlichte, stellte in seinen u. a. gegen Hölderlins SophoklesInterpretation gerichteten Essays über Dichtung (Wien 1947) die Gültigkeit antiker Dramen wegen ihrer »idealen« sprachl. Gestaltung allgemeiner Ideen fest. Eine solche stünde für das moderne Drama noch aus. In seinen Übersetzungen der Sophokles-Tragödien Antigone (Salzb. 1961) u. Elektra (Salzb. 1963) bemühte er sich um die Schaffung einer neuen, am griech. Vorbild orientierten dichterischen Sprache. In Agamemnon muß sterben (1955) sollte die Rolle des Kommentators – Element des modernen Dramas – den ideal verstandenen antiken Chor nachahmen. B.s im Sprachduktus der griech. Klassik gehaltenes Ideendrama Sappho und Alkaios (1952) u. sein dramat. Gedicht Königslegende (1946) erreichen – auch durch antikisierende Attribute

Beatus Rhenanus

378

u. sprachl. Überfrachtung belastet – nur eine eindimensionale Konfliktdarstellung. Der Autor einer Monografie über Karl Heinrich Waggerl (Salzb. 1947) nähert sich in seinen Prosatexten (Die Schattenuhr. Salzb. 1976) allgemein-menschl. Phänomenen wie Alter, Krankheit u. Tod in unmittelbarer, teilweise humorvoller Weise (Ein Loch im Lehm. Salzb. 1981). B. erhielt 1953 den Grillparzer-Preis, 1959 den Theodor-Körner-Preis, 1960 den Österreichischen Staatspreis für Hörspiel. Weitere Werke: Der Dekalog. Wien 1951 (L.). – Der Wolkenfisch. Salzb. 1965 (L.). – Flugsand u. Schlaf. Salzb. 1988 (L.). – Man liebt nicht auf nüchternen Magen. Salzb. 1989. Ausgabe: Ich habe nichts als mich. Ausw. aus dem Werk. Hg. Brita Steinwendtner unter Mitarb. v. Friedrich Harrer. Salzb. 1999. Literatur: Alfred Pittertschartscher: Mutmaßungen über R. B. In: Postscriptum. Hg. Petra Maria Dallinger. Linz 1996, S. 29–41. Eva Weisz / Red.

Beatus Rhenanus ! Rhenanus, Beatus Bebel, (Ferdinand) August, * 22.2.1840 Deutz bei Köln, † 13.8.1913 Passugg bei Chur. – Sozialdemokratischer Politiker u. politischer Schriftsteller. Nach dem Besuch der Volksschule in Wetzlar begann der Sohn eines Unteroffiziers eine Drechslerlehre; seine Wanderjahre als Geselle führten ihn 1860 nach Leipzig, wo er eine eigene Werkstatt eröffnete u. 1876 mit einem Teilhaber eine kleine Fabrik mit Dampfbetrieb übernahm, deren Anteile er aber 1884 wieder veräußerte, nachdem er während der Sozialistenverfolgungen aus Leipzig ausgewiesen worden war. Seit 1890 lebte B. – inzwischen ausschließlich Politiker u. Schriftsteller – in Berlin, seit 1897 zeitweise in seiner Villa in Zürich. Seit der Gründung 1861 Mitgl. im Leipziger »Gewerblichen Bildungsverein«, 1865–1872 Vorsitzender der stärker politisch orientierten Nachfolgeorganisation »Arbeiterbildungsverein«, wurde B. 1867 Präsident des »Verbandes Deutscher Arbeitervereine« u. im gleichen Jahr Reichstagsabgeordneter

der 1866 gegründeten »Sächsischen Volkspartei«, einer dezentral u. demokratisch organisierten Partei mit antipreußischer Zielrichtung, die sich auch gegen den zentralist. »Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein« Ferdinand Lassalles richtete. Unter zunehmendem Einfluss von Marx u. Engels schlossen B. u. sein Freund Wilhelm Liebknecht 1869 den »Arbeiterbildungsverein« u. die »Sächsische Volkspartei« zur »Sozialdemokratischen Arbeiterpartei« zusammen. Seit ihrer Vereinigung mit der Partei Lassalles zur »Sozialistischen Arbeiterpartei« 1875 in Gotha wurde der polit. Pragmatiker B. trotz Marx’ berühmter Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei, der sog. »Kritik des Gothaer Programms« (Hg. Friedrich Engels. In: »Die Neue Zeit« 9, 1, 1891, S. 561–575), zur vermittelnden Zentralfigur der dt. Sozialdemokratie. B. bewahrte den Zusammenhalt der Partei unter den Bedingungen der Sozialistengesetze (1878–1890) u. der internen Richtungskämpfe (seit 1892 Revisionismusdebatte mit Eduard Bernstein, seit 1905 Diskussion der Massenstreikfrage mit Rosa Luxemburg, 1911 Auseinandersetzungen um die Haltung zur Marokkokrise) u. blieb bis zu seinem Tod ihr unbestrittener Führer. Größte öffentl. Wirkung erzielte B. durch Beiträge für die Parteipresse, mehrere hundert Reden auf Volksversammlungen u. als Mitgl. mehrerer dt. Parlamente (u. a. Reichstagsabgeordneter 1871–1881, 1883–1913), wo er die Forderungen u. Ziele der Arbeiterbewegung dargelegt u. der Politik Bismarcks u. der Wilhelminischen Ära wichtige moralisch-polit. Positionen entgegengehalten hat. Der wiss. Fortbildung dienten B. die Zeiten seiner Haft. 1872–1874 gemeinsam mit Liebknecht interniert, las er unter dessen Anleitung klass. Literatur, naturwiss. Abhandlungen u. die wichtigsten gesellschaftstheoret. Schriften. 1874/75 entstand im Zwickauer Gefängnis Der deutsche Bauernkrieg [...] (Braunschw. 1876), eine populärwiss. Arbeit, die der 1850 erschienenen Studie von Engels stofflich u. methodisch verpflichtet ist. Sie wurde ebenso verboten wie die erste Auflage von B.s Hauptwerk Die Frau und der Sozialismus (Zürich 1879. Mehrfach erw. Neudr. Bln./ DDR 1954. Neudr. Bonn 1977). Das Buch er-

379

Bebel

fuhr selbst illegal eine außerordentl. Ver- Friedrich Adler. Wien 1954. – A. B.s Briefw. mit breitung u. wurde B.s größter literar. Erfolg Friedrich Engels. Hg. Werner Blumenberg. London (52 Aufl.n bis 1913, 1895 bereits in 13 Spra- 1965. – A. B.s Briefw. mit Karl Kautsky. Hg. Karl chen übersetzt). Es provozierte zahlreiche Kautsky Jr. Assen 1972. Literatur: Ernst Schraepler: A. B.-Bibliogr. Polemiken u. Einwände, die zu Neubearbeitungen führten, u. wird noch heute als Düsseld. 1962. – Theodor Heuß: A. B. In: NDB. – Ernst Schraepler: A. B. Sozialdemokrat im Kaiser»Klassiker« der Arbeiter- u. Frauenbewegung reich. Gött. 1966. – Heinrich Gemkow: A. B. Lpz. rezipiert. Die Popularität dieser Schrift be- 1969. – Helmut Hirsch: A. B. Reinb. 1973. – Roruht auf dem besonderen Ansatz B.s, für den switha Burgard u. a.: Die Märchenonkel der Fraudie Frauenfrage »nur eine Seite der allge- enfrage: Friedrich Engels u. A. B. Bln./West 1975. – meinen sozialen Frage« ist, u. auf seiner William H. Maehl: A. B. Shadow Emperor of the weltanschaul. Perspektive, die der Analyse German Workers. Philadelphia 1980. – Werner von Vergangenheit u. Gegenwart die Dar- Jung: A. B. Dt. Patriot u. internat. Sozialist. Pfafstellung einer »sozialistischen Gesellschaft« fenweiler 1986. – Dieter Fricke: A. B. (1840–1913). folgen lässt. Das »Wie« der sozialen Revolu- Ein biogr. Essay. Diss. Jena 1989. – Francis L. Carsten: A. B. u. die Organisation der Massen. Bln. tion aussparend, widmete B. fast ein Drittel 1991. – Ilse Fischer: A. B. u. der Verband Deutscher des Werks jenen Veränderungsprozessen, die Arbeitervereine 1867/68. Brieftgb. u. Dokumente. durch die Vergesellschaftung des Privatei- Bonn 1994. – Werner Lesanovsky: Lernen, lernen u. gentums an Produktionsmitteln bewirkt abermals lernen. A. B. über Volksbildung, Erziewerden sollten. Da mit der Aufhebung des hung u. Pädagogik. Ffm. u. a. 2005. Staats alle gesellschaftl. Institutionen dem Fritz Wahrenburg / Red. Umbau oder Absterben unterlägen, werde die Frau in der neuen Gesellschaft dem Mann als Bebel, Heinrich, * Mitte 1473 Gut BewinFreie, Gleiche u. »Herrin ihrer Geschicke« den bei Justingen, † 31.3.1518 Tübingen. gegenüberstehen. – Verfasser pädagogischer Schriften, Sati1903 begann B. mit Vorarbeiten zu seiner riker, Dramatiker u. Herausgeber. Autobiografie Aus meinem Leben (Stgt. 1910–14. Neuausg. Bonn 1997), in der er die Der Sohn eines oberschwäb. Bauern u. Geschichte der dt. Arbeiterbewegung u. ihrer Schultheißen besuchte eine Lateinschule in führenden Partei bis 1882 beschreibt. Sind Schelklingen u. machte sich mit 16 Jahren auf Gegenstand u. Erzählstil des ersten Teils die akadem. Wanderschaft, die ihn über vernoch durch persönl. Erinnerungen – von der schiedene Stationen 1492 an die Universität Kindheit über die polit. Anfänge bis 1869 – Krakau führte: damals ein Zentrum der hugeprägt, so werden Teil 2 u. 3 zunehmend manist. Studien u. der aufkommenden Nazum Medium der Darstellung u. Legitimati- turwissenschaften, das bedeutende Gelehrte on sozialdemokratischer Parteigeschichte. aus ganz Europa anzog (Corvinus, Celtis, Durch den Abdruck zahlreicher Dokumente Kopernikus, Aventinus). In Krakau, wo er am u. Briefe entwickelte sich B.s Autobiografie 20./23.2.1494 den Grad des Bacc. art. erwarb, immer stärker zum polit. Rechenschaftsbe- wurde B. in seiner dichterischen Begabung u. richt, der sich als repräsentative polit. Me- in seinen humanistisch-philolog. Interessen moirenliteratur vom Genre der Arbeiterau- entschieden gefördert; hier entstanden die ersten lat. Gedichte, die bereits sein übertobiografien deutlich unterscheidet. durchschnittliches stilist. Vermögen bezeuWeitere Werke: Unsere Ziele [...]. Lpz. 1870. gen. Von Krakau zog B. Mitte 1494 nach Basel Neudr. Bln./DDR 1969. – Charles Fourier [...]. Stgt. 1888. Neudr. Bonn 1974. Lpz. 1978. – Herausgeber: (Immatrikulation Mitte 1495), um die Der Briefw. zwischen Karl Marx u. Friedrich En- Drucklegung der Cosmographia dans manductionem in tabulas Ptolemaei (Erdbeschreibung, gels. Stgt. 1913. Ausgaben: Ausgew. Reden u. Schr.en. 6 Bde., die eine Einführung in die Karten des PtoleBln./DDR 1970 ff. – Schr.en 1862–1913. 2 Bde., mäus gibt) seines Krakauer Lehrers LaurenFfm. 1981 (mit Biogr. u. Bibliogr.). – Briefe: Victor tius Corvinus (Lorenz Rabe) zu besorgen (o. O. Adler. Briefw. mit A. B. u. Karl Kautsky [...]. Hg. u. J. [laut Schluss der Vorrede: Basel 1496]). Er

Bebel

fand Anschluss an den Kreis um Sebastian Brant; dies spiegelt sich wider in den kulturkritisch-satir. Tendenzen einiger seiner Schriften u. in seiner historisch-polit. Publizistik, die von Brants »Reichspatriotismus« u. Reformgeist geprägt ist. Von Basel ging B. nach Tübingen (Immatr. 2.4.1496), wo eine seit 1481 nach Baseler Vorbild vorgesehene Lektur für einen Dozenten, »der in Oratorien lyset« (später präzisiert »in oratoria moralibus oder poetrij«), 1496 mit B. erstmals besetzt wurde. Besser gestellt als viele seiner humanist. Zeitgenossen, war B. doch nicht völlig gesichert: Die Lektur musste immer wieder neu genehmigt werden, war schlecht besoldet, stand in der Hierarchie der Universität ganz unten u. wurde seitens der theolog. Fakultät mit Misstrauen betrachtet u. mit Anfeindungen bedacht, die 1507 in dem Vorwurf gipfelten, B. verleite mit seiner Lehre zu »zuchtlosen Studien, wo man mit losem Zügel ohne Weg und Steg umherstreife, wo Gottlosigkeit und Laster regierten«. B.s Ziel war eine Überwindung des scholastisch geprägten u. regional entstellten Lateins durch ein Latein, das an den Autoren der Klassik, bes. an Cicero, Livius, Seneca u. Quintilian orientiert war, aber auch Humanisten wie Petrarca, Boccaccio, Poggio, Valla u. Guarini berücksichtigte. Dieses Ziel hat B. in den ersten Tübinger Jahren durch entsprechende Schriften zu legitimieren u. fördern versucht, v. a. durch die Traktate Commentaria de abusione linguae latinae apud Germanos (Straßb. 1500. Über den schlechten Gebrauch der lateinischen Sprache bei den Germanen), Qui autores legendi sint ad comparandam eloquentiam (Welche Autoren zum Erwerb der Beredsamkeit zu lesen sind), Eloga in defensionem poeticae contra hostes ejusdem (Lobrede zur Verteidigung der Dichtkunst gegen ihre Feinde), die 1503 erstmals im Druck erschienen u. zu B.s Lebzeiten noch siebenmal aufgelegt wurden, wie auch der schon 1495 entstandene, aber erst 1509 gedruckte Hexameterdialog Contra vituperatores poetarum (Straßb. 1509 in dem Sammelbd. Opuscula nova. Gegen die Tadler der Dichter). Demselben Ziel dienten die 1503 gehaltene u. nach 1504 mehrfach publizierte Oratio de utilitate latinitatis (Pforzheim. 1504. Rede über den

380

Nutzen des Lateins) sowie die 1508 gehaltene u. bis zum Druck von 1802 nur handschriftlich überlieferte Oratio de necessitate linguae latinae (Rede über die Notwendigkeit der lateinischen Sprache). Die eindrucksvollste dieser legitimatorischen u. zgl. werbenden Schriften ist die 1501 entstandene u. in Tübingen aufgeführte Comoedia de optimo studio iuvenum (Über die beste Art des Studiums für junge Leute), die 1504 in Pforzheim im Druck erschien, bis 1520 an verschiedenen Orten z.T. unter abweichendem Titel noch viermal gedruckt u. über ganz Europa verbreitet wurde (Neudr. mit Übers. u. Komm. hg. v. Wilfried Barner. Stgt. 1982). In fünf Akten zeigt diese Prosa-Komödie, die im Titel der späteren Ausgaben auch als Dialogus bezeichnet wurde, die Einführung eines lernbegierigen Jünglings bäuerlicher Herkunft in ein »gymnasium universale«: Ortsvorsteher u. Dorfgeistlicher sind behilflich u. machen einen geeigneten Magister ausfindig (Akt 1 u. 2), der dem neuen Schüler die Grundsätze für einen sittlichen student. Lebenswandel vorträgt (Gottesfurcht, Ehrfurcht vor Älteren u. vor den Lehrern, Fleiß, Vernünftigkeit, Umgänglichkeit, Ordentlichkeit) u. (Akt 3) ihm die Studienziele nennt (sauberes Latein, vernünftige Logik, eine durch Poesie veredelte Beredsamkeit). Danach erhält ein kgl. Kanzlist Gelegenheit, gegenüber einem eingebildeten u. spitzfindigen, aber schlecht Latein sprechenden Scholastiker die Überlegenheit des eben entfalteten Bildungsprogramms zu erweisen u. zu bestätigen (Akt 4). Zuletzt wird ein hinzukommender »poeta« von zwei heillos zerstrittenen Repräsentanten zweier philosophischer Schulen zur Vermittlung in einer Disputation aufgefordert; er erkennt die Notwendigkeit des wiss. Streits an, warnt aber vor übertriebenen Spitzfindigkeiten u. starrem Dogmatismus, verweist auf die Vorläufigkeit der meisten Erkenntnisse u. fordert zu Verträglichkeit u. gegenseitiger Achtung auf (Akt 5). Die Comoedia ist im Kontext ähnlicher Stücke von Kerckmeister, Wimpfeling, Grünpeck, Reuchlin u. a. zu sehen u. hält dem Vergleich mit ihnen stand. Neben den legitimatorisch-programmat. Schriften entstanden in den ersten Tübinger Jahren zwei erfolgreiche Lehrbücher: die

381

Commentaria epistolarum conficiendarum (Lehrbuch fürs Briefschreiben), die 1500 in Tübingen erstmals gedruckt u. zu Lebzeiten B.s noch zwölfmal aufgelegt wurden, u. die Ars versificandi et carminum condendorum (Kunst des Versmachens und Gedichteschreibens), die 1506 in Pforzheim erstmals erschien u. ebenfalls zwölf Auflagen erfuhr. Neben diesen Lehrbüchern erschien in Tübingen 1501 der Liber hymnorum in metra noviter redactorum (Buch der neu in Verse gefassten Lieder): eine Sammlung alter Kirchenlieder, die B. umgearbeitet u. z.T. in kunstvolle Strophen gefasst hatte. Gleichzeitig entstanden u. erschienen diverse historisch-polit. Schriften zum Lob Kaiser Maximilians, der B. am 30.5.1501 in Innsbruck zum Dichter krönte. B. bedankte sich mit der 1504 in Pforzheim gedruckten Oratio ad regem Maximilianum de laudibus atque amplitudine Germaniae (Rede an Kaiser Maximilian über die Vorzüge und Größe Deutschlands), in der dargelegt wird, dass Deutschland eine größere Rolle beanspruchen dürfe als ihm augenblicklich eingeräumt werde. Maximilian wird deswegen von der figürlich herbeizitierten u. abgehärmt erscheinenden »Mutter Germania« aufgerufen, den desolaten Zustand des Reichs zu beheben u. die polit. Größe Deutschlands wiederherzustellen. Diesem Ziel diente letztlich auch die 1509 in Pforzheim gedruckte Verssatire Triumphus veneris seu voluptatis contra virtutes, die in sechs Büchern mit insg. fast 2000 Hexametern zeigt, wie alle Stände in die Gefolgschaft der Liebesgöttin drängen u. um die ersten Ränge streiten; als dann die Tugend zum Kampf aufruft, findet sie nur wenige Anhänger, die beim ersten Zusammenstoß mit dem Heer der Venus zerstreut werden. Venus triumphiert als Herrscherin über Mensch u. Tier – ein Zustand, der der Überwindung durch menschl. Anstrengung u. göttl. Beistand bedarf. Das Werk fand bei zeitgenöss. Lesern u. Kritikern einige Anerkennung u. erlebte 1515 eine zweite Auflage, doch wurde es von der späteren Literaturkritik als zu weitläufig, überladen u. unelegant verurteilt. Viel mehr Beachtung u. bleibende Anerkennung fanden B.s Facetiae, die 1508 in Straßburg in zwei Teilen erschienen u. 1512

Bebel

um einen dritten Teil ergänzt wurden: eine Sammlung von etwa 450 Stichwörtern u. Anekdoten, Scherzreden u. Schlüpfrigkeiten, die B. als »Grenzgänger« zwischen Stadt u. Land, Gelehrtentum u. Volk aufgelesen u. in geschliffenes Latein gebracht hatte, um sie »literaturfähig« zu machen (Neudr. 1931. Hildesh. 1969. Übers. Mchn./Lpz. 1907. Neudr. Wurmlingen 1981). B. wollte mit dieser Sammlung, die viele Auflagen erlebte u. 1558 (o. O.) auch ins Deutsche übersetzt wurde (Die Geschwenk Henrici Bebelii), eine Brücke schlagen zwischen Gelehrtentum u. Volk, aber auch auf satir. Weise die gesellschaftl. Laster darstellen u. angreifen. Verwandt mit den Facetiae sind die 1508 erschienenen Proverbia germanica collecta atque in latinum traducta: 600 Sprüche, für die es teils auch dt. Versionen aus B.s Hand gibt: B. hat offensichtlich mehrmals versucht, neben dem Lateinischen das Deutsche dichterisch zu nutzen u. geltend zu machen, hatte damit aber wenig Erfolg. Ausgaben: Proverbia Germanica. Bearb. v. Wilhelm H. D. Suringar. Leiden 1879. Neudr. Hildesh. 1969. – Bebeliana opuscula nova (1508) in: HL, S. 203–219, 1065–1079 (Ausw., mit Komm.). – Marcel Angres: Triumphus Veneris. Ein allegor. Epos v. H. B. Ed., Übers. u. Komm. Münster 2003. – Fazetien. Übers. u. eingel. v. Manfred Fuhrmann. Konstanz 2005. – Liber hymnorum in metra noviter redactorum [...]. (Tüb. 1501). Internet-Ed.: CAMENA: Abt. Poemata. – Haec Bebeliana opuscula nova: Epistola [...] de laudibus [...] veterum Germanorum [...]. [Straßb.] 1508. Internet-Ed.: CAMENA: Abt. Poemata. – Opera Bebeliana sequentia: Triumphus Veneris [...]. Pforzh. 1509. InternetEd.: CAMENA: Abt. Poemata. – Opuscula nova et adolescentiae labores. Straßb. 1512. Internet-Ed.: CAMENA: Abt. Poemata. Literatur: GW 3751. – PGK 14, Sp. 158–164. – VD 16, B 1093–1305. – Weitere Werke: Georg Wilhelm Zapf: H. B. nach seinem Leben u. Schr.en. Augsb. 1802. Nachdr. Lpz. 1973 (darin Erstdruck der ›Oratio de necessitate linguae latinae‹). – Gustav Bebermeyer: Tübinger Dichterhumanisten. B., Frischlin, Flayder. Tüb. 1927. Nachdr. Hildesh. 1967. – Heinrich Grimm: H. B. In: NDB. – Johannes Haller: Die Anfänge der Univ. Tübingen 1477–1537. Bd. 1, Stgt. 1927, S. 212 ff. Bd. 2, Stgt. 1929, S. 76 ff. Nachdr. Aalen 1970. – Günter Hess: Dt.-lat. Narrenzunft. Mchn. 1971, S. 259 ff. – Helmut Binder: H. B. In: Lebensbilder aus Schwaben u.

Becan Franken. Bd. 13, Stgt. 1977, S. 25 ff. – Wilfried Barner: Humanist. Bildungswerbung, schwäbisch. Zu H. B.s ›Comoedia‹ vom Jahre 1501. In: From Wolfram and Petrarch to Goethe and Grass. Studies in Literature in Honour of Leonard Forster. Hg. Dennis Howard Green u. a. Baden-Baden 1982, S. 193–212. – Klaus Graf in: Füssel, Dt. Dichter, S. 281–295. – Anna Mühlherr: Fazete Gewitztheit – Witz der Fazetie. In: Kleinstformen der Lit. Hg. Walter Haug u. Burghart Wachinger. Tüb. 1994, S. 235–246. – Carl Joachim Classen: Zu H. B.s Leben u. Schr.en. Gött. 1997. – Dieter Martens in: RGG 4. Aufl., Bd. 1, Sp. 1197. – W. Barner: Über die Witzfähigkeit des Deutschen. H. B.s lat. Import aus Italien. In: Muster u. Funktionen kultureller Selbst- u. Fremdwahrnehmung. Hg. Ulrike-Christiane Sander u. Fritz Paul. Gött. 2000, S. 303–318. – K. Graf: H. B. (1472–1518): Wider ein barbar. Latein. In: Humanismus im dt. Südwesten: Biogr. Profile. Hg. Paul Gerhard Schmidt. 2., veränderte Aufl. Stgt. 2000, S. 179–194. – Volker Honemann: ›Spätmittelalterliche‹ u. ›humanistische‹ Frömmigkeit: Florian Waldauf v. Waldenstein u. H. B. In: Tradition u. Innovation im Übergang zur frühen Neuzeit. Hg. Rudolf Suntrup u. Jan R. Veenstra. Ffm. 2001, S. 75–97. – Albert Schirrmeister: Triumph des Dichters. Gekrönte Intellektuelle im 16. Jh. Köln u. a. 2003. – Christopher B. Krebs: Negotiatio Germaniae. Tacitus’ ›Germania‹ u. Enea Silvio Piccolomini, Giannantonio Campano, Conrad Celtis u. H. B. Gött. 2005. – D. Mertens: H. B. In: VL Dt. Hum. – Flood, Poets Laureate, Bd. 1, S. 141–145. Helmuth Kiesel / Red.

Becan, Becanus, Martin, auch: Verbeek, Van der Beek, eigentl.: Schellekens, * 1561/ 1562 oder 6.1.1563 (?) Hilvarenbeek/ Nordbrabant, † 24.1.1624 Wien. – Jesuit, Kontroverstheologe. B. besuchte das Kölner Tricoronatum (Magister artium 1583) u. trat anschließend in den Jesuitenorden ein (22.3.1583). An dieser Schule unterrichtete er auch (bes. Philosophie, 1590–1593), ehe er nach theolog. Studien (Promotion in Würzburg 1597) in Würzburg, Mainz u. Wien als Professor für Moraltheologie u. systemat. Theologie dozierte (1597–1619). Hier wirkte er anschließend als Beichtvater Kaiser Ferdinands II. (1620–1623), wobei er aus prakt. Erwägungen ein mildes Vorgehen gegen den Protestantismus befürwortete; u. a. verteidigte er

382

die Duldung der Confessio Augustana in Österreich. Sein Hauptwerk ist die Summa theologiae scholasticae (4 Bde., Mainz 1612–20. Paris 1615 u. ö.), die weitgehend Francisco de Suarez u. Thomas von Aquin folgt. Vor allem trat er durch Streitschriften hervor, die sich bes. gegen die Calvinisten richteten (er galt als »malleus Calvinistarum«) wie auch gegen die Lutheraner u. Anglikaner (Controversia anglicana de potestate regis et pontificis. Mainz 1612 u. ö., die kurzzeitig indiziert wurde). Der Ferdinand II. gewidmete Sammelband Manuale controversiarum (Würzb. 1623 u. ö. Dt. v. Martin Opitz. Mainz/Ffm. 1631 u. ö.) u. bes. dessen verkürztes Compendium manualis controversiarum (Mainz 1623 u. ö., bis Ende des 18. Jh.) fanden europaweit Verbreitung u. riefen zahlreiche »Antibecani« hervor. B. gilt im Zeitalter der Konfessionalisierung nach Robert Bellarmin als bedeutendster Kontroverstheologe, dessen Schriften sich durch sprachl. Klarheit u. Bündigkeit auszeichnen. Weiteres Werk: Analogia Veteris et Novi Testamenti. Mainz 1620 u. ö. Auch in: Jacques Paul Migne: Cursus Scriptorum Sacrae Scripturae. Bd. 2, Paris 1840, S. 9–698. Ausgabe: Opera omnia. 2 Bde., Mainz 1630/31 u. ö. Erw. 1649. Literatur: Bibliografie: Backer/Sommervogel, Bd. 1, Sp. 1091–1111; Bd. 8, 1789 f.; Bd. 11, 1598 f.; Supplementbd., 360, 948. – Jaumann Hdb., Bd. 1, S. 79 f. – Weitere Titel: Ludwig Koch: Jesuiten-Lexikon. Die Gesellsch. Jesu einst u. jetzt. Paderb. 1934. Nachdr. 2 Bde., Löwen-Heverlee 1962, S. 168 f. – Beda Dudik: Korrespondenz Ferdinands II. mit M. B. u. Wilhelm Lamormaini. In: Archiv für österr. Gesch. 54 (1876), S. 219–350 (bes. 226 f. u. 258 f.; einschl. Briefe; auch Separatdr.). – Otto Happel: Kath. u. Protestant. Christentum nach der Polemik des M. B. Diss. Würzb. 1898. – Duhr, Jesuiten, Bd. 2/2, S. 216–225, 365–380 u. ö. – Adolf Dyroff: Zur Willenstheorie der Spätscholastik, bes. des B. Bonn 1914 (= Anh. zu Ernst Maier: Die Willensfreiheit bei L. Valla u. bei P. Pomponatius, S. 105–140). – Richmuth Kerber: M. B. Fragen zu seiner Biogr. u. seiner Toleranzauffassung. [Mchn.] 1962 (masch. Zulassungsarbeit zum Staatsexamen). Werner Raupp

383

Beccau, Joachim, * 12.7.1690 Guttau bei Grömitz/Holstein, † 16.9.1754 Neumünster. – Evangelischer Theologe; Lyriker, Übersetzer u. Opernlibrettist. B. war eines von sechs Kindern des Bannesdorfer (Fehmarn) Organisten Johann Hinrich Beccau, der 1691 nach Burg (Fehmarn) zog u. dort Stadtsekretär u. Ratsherr wurde. B.s Mutter war die Tochter eines Geistlichen. Beim Tod des Vaters 1710 waren vier Kinder noch minderjährig. In Burg wurde B. von dem Präzeptor u. Kantor Martin Heinsius unterrichtet. Am 28.6.1707 in Kiel immatrikuliert, studierte er Theologie u. erwarb sich gleichzeitig weit über sein Fachgebiet hinausgehende Kenntnisse auf historischem u. mytholog. Gebiet. Während seines Studiums trat er auch erstmalig als Gelegenheitsdichter u. Verfasser eines Operntextes hervor. Danach hielt B. sich offensichtlich in verschiedenen Städten Schleswig-Holsteins auf u. in Hamburg wahrscheinlich seit 1713. In diese Zeit fällt der größte Teil seiner Tätigkeit als Librettist u. Dichter. 1719 war er in Flensburg Hauslehrer, 1720 wurde er in Neumünster Rektor der »Öffentlichen Pfarrschule«, 1724 Diakon, 1725 Archidiakon an der dortigen Pfarrkirche St. Bartholomäi, welches Amt er 29 Jahre, bis zu seinem Tod, innehatte. Nach Antritt seines kirchl. Amtes ist B. als Dichter u. Verfasser von Operntexten nicht mehr hervorgetreten. B.s dramatisches Werk, das auf Christian Heinrich Postels u. Christian Friedrich Hunolds Vorbild weist, besteht aus fünf Opern, Holofernes oder L’amor insanguinato (Hbg. 1720. Neudr. in: Judith-Dramen des 16./17. Jahrhunderts. Hg. Martin Sommerfeld. Bln. 1933, S. 134–183) wurde (wahrscheinlich 1716) mit der Musik des herzogl. Hofkapellmeisters u. Kusser-Schülers Georg Kaspar Schürmann in Braunschweig aufgeführt. B.s im Sept. 1717 in Hamburg aufgeführte Oriana, auch Amadis von Gaula genannt, ist eine dt. Übertragung des ital. Textbuchs der Londoner HändelOper Amadigi aus dem Jahr 1715 u. geht inhaltlich auf den Ritterroman Amadís de Gaula (1508) von Garci Rodríguez (oder Ordóñez) de Montalvo zurück. Für sein Blutiges doch muthiges Pegu, oder Banise (Hbg. 1720), das keinen

Beccau

Komponisten fand, lieferte Heinrich Anselm von Zigler und Kliphausens Roman Die asiatische Banise oder das blutig- doch mutige Pegu (1689) die Vorlage. In Hamburg aufgeführt wurde dagegen der 1723 ebd. publizierte Thrazische Printz Floridantes, eine Übersetzung des ital. Librettos von Händels Londoner Oper Floridante (1721), in der die Geschichte der pers. Kaisertochter Elmira erzählt wird, die beim Sturz des väterl. Hauses allein überlebt hat. Im gleichen Jahr wurde B.s Ende der Babylonischen Monarchie oder Belsazar (Hbg. 1723) in der Vertonung Georg Philipp Telemanns auf die Hamburger Opernbühne gebracht. Im Übrigen umfasst B.s dichterisches Werk geistl. u. weltl. Gedichte – Kantaten, Lieder, Oden, Satiren, Epigramme, Epitaphe, moral. u. erot. Gedichte –, Gelegenheitsgedichte, darunter auch niederdeutsche, sowie Übersetzungen aus dem Griechischen, Lateinischen, Italienischen u. Französischen. Stilistisches Vorbild ist hier die Zweite Schlesische Schule, zgl. aber ist die Hinwendung zu einem ungezwungeneren Ton in der Art Christian Weises nachweisbar. Diesem an Motiven reichen dichter. Werk ist ein pessimistischer, auf den span. Philosophen Baltasar Gracián deutender Grundzug eigen. Über B.s menschl. Beziehungen weiß man nur wenig. Fest steht, dass die Arcinde der B.’schen Gedichte seine Gottorfer Kusine M. E. Hohenholtz ist u. dass die Liebenden durch den Tod der 16-Jährigen 1712 getrennt wurden. Eine enge Freundschaft verband B. mit dem Hamburger Buchhändler Theodor Christoph Felginer, in dessen u. in Christian Liebezeits Verlag er 1719/20 seine poetischen u. dramat. Werke (Holofernes, Oriana u. Banise) veröffentlichte. 1721 heiratete B. Sophie Elisabeth Michaëlin. Der Ehe entstammten zwei Söhne u. zwei Töchter. B. ist erst im 20. Jh. wieder eine gewisse Beachtung im Zusammenhang mit dem neu erwachten Interesse für das literar. Barock in Deutschland zuteil geworden. Zuvor war er praktisch vergessen, wenn auch nach Hans Schröders Urteil von 1851 er »unstreitig zu den bessern deutschen Dichtern im ersten Viertel des 18. Jahrhunderts« gehört habe. Ein Anhaltspunkt zur früheren Wirkungsge-

Becher

384

schichte findet sich bei seinem Kollegen Kruse, der ungefähr 50 Jahre nach B.s Tod Pastor in Neumünster war u. zu dessen Epigrammen bemerkt, dass sie nicht ohne Witz u. Stachel seien. Positiv war offenbar auch das Echo bei Hamburger Zeitgenossen: 13 B.Gedichte wurden in Christian Friedrich Weichmanns Poesie der Nieder-Sachsen (1721–38), vier geistl. Lieder in Adam Henrich Lackmanns Geistreichen Gedichten, zur Erweckung heiliger Regungen (Hbg. 1730) abgedruckt. Weitere Werke: Zulässige Verkürzung müsziger Stunden, bestehend in allerhand geistl. Gedichten [...]. Hbg. 1719. – Zulässige Verkürzung müsziger Stunden, bestehend in allerhand weltl. Poesien. Hbg. 1719. – Bey verschiedenen Gelegenheiten entworffene Ehren-Gedichte. Hbg. 1720. – Theatral. Gedichte u. Übers. Hbg. 1720. Literatur: Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 1, S. 422–427. – Alberto Martino: Die ital. Lit. im dt. Sprachraum. Ergänzungen u. Berichtigungen zu F.-R. Hausmanns Bibliogr. Amsterd./Atlanta 1994, S. 29, 225, 266. – Weitere Werke: Hans Schröder: Lexikon der hamburg. Schriftsteller bis zur Gegenwart. Hbg. 1851. – Kurt Schreinert: J. B. In: NDB. – Wilhelm Jürgensen: J. B., ein bedeutender holstein. Dichter der Barockzeit. Neumünster 1957. – Ders.: J. B. In: BLSHL. – Christian Friedrich Weichmanns Poesie der Nieder-Sachsen. Hbg. 1721–38. Neuausg. hg. v. Christoph Perels, Jürgen Rathje u. Jürgen Stenzel. Nachweise u. Register. Wolfenb. 1983, S. 51 f. – DBA 68,164–171. – Irmgard Scheitler: Deutschsprachige Oratorienlibretti v. den Anfängen bis 1730. Paderb. u. a. 2005. Jürgen Rathje / Red.

Becher, Johann Joachim, * 6.5.1635 Speyer, † 4./14.10.1682 London. – Polyhistor, Wirtschaftstheoretiker, Erfinder, Alchemist u. Sprachplaner. B.s die verschiedensten Wissensgebiete erfassendes Werk war zu seinen Lebzeiten umstritten, wird jedoch seit gut hundert Jahren für die Naturwissenschaft, Technikgeschichte, den Übergang von Alchemie zu Chemie wie auch für die Linguistik in ihrer Bedeutung gewürdigt. B.s frühe Lebensjahre erschließen sich nur aus nicht immer zuverlässigen autobiogr. Hinweisen: Sein hochgebildeter Vater Joachim, Pfarrer der luth. St.Georgen-Kirche in Speyer, starb, als B. acht

Jahre alt war. Seine Mutter, eine Pfarrerstochter, zog mit dem Stiefvater u. den Kindern nach Stockholm, wo B. nach 1648 bis 1652 gelebt haben mag u. nach dessen Tod die Mutter u. zwei jüngere Brüder tagsüber durch Lehrtätigkeit unterstützte, während er sich nachts – ohne ausgedehnte Universitätsstudien – autodidaktisch bildete. Auf Reisen durch Deutschland, Holland, Schweden u. Italien hat er wohl wichtige Gelehrte kennengelernt. Für Wien ist B.s Aufenthalt 1655 bis 1657 anzunehmen, als sich Kaiser Ferdinand III. für B.s alchemist. Erfindungen interessierte. Urkundlich wird B. 1658 in Mainz erwähnt, als er zur Konstruktion diverser Maschinerien Förderer suchte. Der Kurerzkanzler von Mainz, Johann Philipp von Schönborn, nahm ihn 1660 als »mathematicus und medicus« in seine Dienste. Im Nov.1661 wurde B. von der medizin. Fakultät der Universität Mainz zum Doktor der Medizin ernannt; 1663 übernahm er die Stelle eines »professor publicus und ordinarius« von Ludwig von Hörnigk, dessen Tochter Veronika B. nach seiner Konversion zum kath. Glauben 1662 geheiratet hatte. B.s umfangreiches Publikationswerk, das ihn als Polyhistor des 17. Jh. ausweist, lässt sich mittels seines 1678 erschienenen Druckverzeichnisses in fünf von ihm aufgestellte Gruppen gliedern: philologische, mathemat., naturwiss., juristisch-kameralist. u. ethisch-theolog. Veröffentlichungen. Aus dieser Fülle seien einige erwähnt. In die ersten Jahre in Mainz, in denen sich B. mit philosophisch-pädagog. Fragen beschäftigte, fällt eine Veröffentlichung, die trotz der engen Anlehnung an ein einschlägiges Manuskript, das dem Erzbischof spätestens 1660 von dem in Rom lebenden dt. Jesuiten Athanasius Kircher übersandt wurde, in einigen Aspekten zukunftsweisend ist: B.s Character, pro Notitia Linguarum Universali (Ffm. 1661) schlägt eine auf dem Lateinischen basierende, schriftlicher Kommunikation dienende Universalsprache vor, die über 10.283 durchnummerierte Wörter verfügt. (Weitere, zu vielsprachiger Kommunikation nötige parallele Listen hat B. nur im Manuskript entworfen.) Jedes dieser Wörter zus. mit Zusatzangaben übermittelt B. in Form

385

von mathematisch-kombinator. Zahlenverbindungen. Hier nun setzen bezeichnende Neuerungen ein: B., der als einer der wenigen Sprachplaner seiner Zeit auch kommerzielle Ziele vor Augen hat u. an den Handel mit China u. Japan denkt, schlägt »neutrale« Strich- u. Punkt-Zeichen zur Umsetzung dieser arab. Zahlenkombinationen vor, die daher auch von Europäern erlernt werden müssten, um Universalität zu gewährleisten. 1961 wurden diese binomialen Zeichen erstmals richtungweisend als Vorläufer computergestützter elektron. Sprachübertragung erkannt. B. verließ 1663 Mainz u. gelangte über Mannheim nach München, wo er Mitte 1664 vom bayer. Kurfürsten Ferdinand Maria zum »Hofmathematikus und Medicus« ernannt wurde. Die fast zehn Jahre, die B. mit Unterbrechungen in München verbrachte, waren die produktivste Zeit seines Schaffens. Hier schrieb er eine dt. Methodus didactica (Mchn. 1668/69. Ffm. 21674. Lat. Ffm. 1669), in der er seine sprachpädagog. Ansichten klarlegte. Die merkantilist. Interessen eines absolutist. Staates spiegelten sich in B.s von Francis Bacon beeinflusstem zweiteiligen Vorschlag, in der Wissensvermittlung den Kindern u. Heranwachsenden durch »rechte Gesinnung« den Wert der herrschaftl. Macht klarzulegen, sowie in der Forderung an die Didaktik, dazu effiziente Lernstrategien zu entwickeln. Wie viele von B.s Reformvorschlägen, die er später utopisch erweiterte (etwa in der Psychosophia, das ist, Seelen-Weißheit. Güstrow 1678. Ffm. 21683. Hbg. 21705 u. ö.), waren sie eklektisch u. polemisch. B.s einflussreichstes naturwiss. Werk entstand ebenfalls in München, wo ihm eines der bestausgestatteten Laboratorien Europas zur Verfügung stand. Zunächst 1669 in Frankfurt/M. lat. als Actorum Laboratorii Chymici Monacensis, seu Physicae subterraneae libri duo publiziert (Ffm. 21681), erschien es dort 1680 in einer dt. Neubearbeitung als Chymisches Laboratorium oder Unter=erdische Naturkündigung (Nachdr. 2 Bde., Hildesh. 2002). Dadurch wollte er das »Buch der Natur« auch dem »gemeinen Mann« zugänglich machen. B. steht am Übergang der Alchemie zur Chemie: Er beschrieb vielfach auch später von der

Becher

Chemie übernommene, replizierbare Versuche – in England, wohin es ihn in seinen letzten Jahren verschlagen hatte, experimentierte er mit der Verkokung von Steinkohle u. der Gewinnung von Leuchtgas, während er in den Textilwirkereien Maschinen verbesserte. Letztlich aber war B. noch der Alchemie verpflichtet; die Theorie von der Transmutation von Metallen, die aus nicht metall. Bestandteilen erzeugt werden könnten, findet sich in weiteren seiner Werke, wobei die Gewinnung von Gold bei seinen diversen adeligen Gönnern immer eine Rolle spielte. Wenn eine Generation später Georg Ernst Stahl B.s lat. Ausgabe neu bearbeitete (Lpz. 1703. 1742), so auch deswegen, weil er darin die von B. in Anlehnung an die drei Prinzipien von Paracelsus vertretene Theorie über die drei Erden vorfand, die Stahl als Begründung für seine Phlogistontheorie verwendete, welche bis Lavoisier galt. Das Verlangen, die Kassen seiner jeweiligen Landesherren durch allerlei merkantilist. Projekte zu füllen, durchzieht B.s ganzes Leben. Dabei vertritt er die fortschrittl. Auffassung, die nat. Politik mit dem Allgemeinwohl, dieses wiederum mit Kommerzien u. staatlich gelenktem Handel zu verbinden. 1664 wird B. als »Kurfürstlicher Rat« nach Holland gesandt, der damals führenden Wirtschaftsnation, um bei der Westindischen Kompanie (erfolglos) den Erwerb bayer. Kolonien in Südamerika zu betreiben u. Teilhaber für eine bayer. Handelsgesellschaft zu finden. Der Kurfürst unterstützte auch B.s Plan, in München eine Seidenmanufaktur zu gründen, die 1665 errichtet wurde, aber mangels tatkräftiger Leitung bald scheiterte. B.s Theorie zur Verwirklichung dieses Merkantilismus findet sich in dem 1668 verfassten Werk Politischer Discurs, Von den eigentlichen Ursachen deß Auff= und Abnehmens der Städt, Länder und Republicken (Ffm. 1668. Faks.-Ausg. Düsseld. 1990. 21673. 31688. Neudr. Glashütten/Ts. 1972). Noch 1754 gab Georg Heinrich Zincke B.s Werk neu heraus, das zus. mit seinen eigenen, B.s Ideen verpflichteten Texten Teil der Kameralistik-Lit. des 18. Jh. blieb (Ffm. u. Lpz. 1754. Ffm. u. Lpz. 1759).

Becher

Schon 1666 verhandelte B. ohne Erfolg in Wien, um für die Münchner Seidenmanufaktur die Verkaufserlaubnis in den Habsburger Erblanden zu erreichen. Da man auch dort an einer Manufaktur interessiert war, wurde B. zum Kommerzienrat ernannt u. in kaiserl. Dienste aufgenommen. B. kehrte jedoch nach München zurück, ehe er 1670 fest an den Wiener Hof ging, um dort seine merkantilist. Projekte zu verfolgen u. Kaiser Leopold I. in alchemist. Fragen zu beraten. Sein Projekt einer Seidenmanufaktur war inzwischen verwirklicht worden (1666–1678); 1667 wurde die 1. Orientalische Handelskompagnie gegründet. Am erfolgreichsten in Wien war B.s Errichtung eines Kunst- u. Werkhauses als Musterwerkstätte, das 1676 bis 1683 bestand. Intrigen verhinderten die Umsetzung eines kaiserl. Edikts vom 7. Mai 1676, das den Import frz. Waren verbot, woraufhin B. 1677 Wien verließ. Die letzten Jahre B.s sind von unstetem Leben gezeichnet: Zunächst versuchte er, am Hof in Mecklenburg-Güstrow, dann in Amsterdam, letztlich 1680 in England Fuß zu fassen, wo die Royal Society ihn 1680 nicht als Mitgl. aufnahm. Immerhin fand B. in Prinz Rupert von der Pfalz einen Gönner, der ihm ein Laboratorium einrichten ließ u. ihn auf eine Inspektionsreise zu den Zinnbergwerken nach Cornwall sandte, was sich in den schon erwähnten Erfindungen niederschlug. In diese Zeit fallen zwei letzte Sammelbände, Chymischer Glücks=Hafen, oder: Grosse Chymische Concordantz u. Collection [...] von funffzehen hundert Chymischen Processen (Ffm. 1682. Nachdr. Hildesh. 1974. Halle 21726, mit Vorwort Stahls. Lpz. 31755) sowie B.s enttäuscht-bittere Rückschau, Närrische Weißheit u. Weise Narrheit [...] ein hundert so Politische alß Physicalische, Mechanische und Mercantilische Concepten und Propositionen (Ffm. 1682. o. O. 2 1700 u. ö.). Hier zählte B. seine Erfindungen oder Innovationen auf, die er für »weise Narrheiten« hielt, da sie zu seinen Lebzeiten als unsinnig betrachtet wurden; zudem rechnete er boshaft mit den Gegnern seiner Projekte ab. Verarmt starb B. 1682 in London. B.s schillernder Charakter erschwert eine abschließende Würdigung. Leibniz, der ihn kannte, sprach von der geistigen Größe des

386

Gelehrten B., verurteilte jedoch seinen eitlen Lebensstil. Das große Interesse, das viele seiner Pläne u. Theorien im 18. Jh. erweckten, ließ sein Werk zunächst nicht in Vergessenheit geraten. Die neuerl. Würdigung seiner wichtigsten Bücher bestätigt ihren histor. Wert auf den verschiedensten Wissensgebieten. Weitere Werke: Natur=Kündigung der Metallen. Ffm. 1661 u. ö. – Parnassus Medicinalis Illustratus. Ulm 1663. Faks.-Ausg. Ulm 1957. – Institutiones Chimicae Prodromae i. e. Oedipus Chimicus. Ffm./Amsterd. 1664. Ffm. 21705. 31716. – Moral Discurs. Ffm. 1669. – Physica subterranea. Ffm. 1669. 21680. Lpz. 31703, Hg. Stahl. 41738. – Trifolium Becherianum Hollandicum. Holländ. Amsterd. 1679. Dt. Übers. Ffm. 1679. – Nicht von Becher: J. J. B.s Kluger Hauß=Vater. Lpz. 1685 u. ö. Faks. der Ausg. 1747 Neustadt/Weinstr. 1979. – Opuscula Chymica Rariora. Hg. Friedrich RothScholz. Nürnb. 1719. – B.-Nachl. in UB Rostock, einzelne Mss. auch in Wien, Oxford, London. Literatur: Bibliografien: Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 1, S. 428–457. – Vgl. auch Hassinger u. Smith (u. a. Hinweise auf Nachl.). – Weitere Titel: Urban Gottfried Bucher: Das Muster eines Nützlich-Gelehrten in der Person Dr. B.s. Nürnb. 1722. – Robert A. W. Erdberg-Krczenciewski: J. J. B. Jena 1896. – Ferdinand A. Steinhüser: J. J. B. u. die Einzelwirtschaft. Nürnb. 1931. – Herbert Hassinger: J. J. B. Wien 1951. – Thorndike 7, S. 576–581. – Walter G. Waffenschmidt (Hg.): Zur mechan. Sprachübers. Ein Programmierungsversuch aus dem Jahre 1661, mit Teilabdr. v. ›Character, pro Notitia Linguarum Universali‹. Stgt. 1962. – Joachim Klaus: J. J. B.s Universalsystem der Staats- u. Wirtschaftspolitik. Düsseld. 1990 (beigef: Joachim Starbatty: J. J. B. – ein merkantilist. Klassiker). – Gotthardt Frühsorge u. Gerhard F. Strasser (Hg.): J. J. B. (1635–82). Wiesb. 1993. – Pamela H. Smith: The Business of Alchemy. Princeton 1994. – Hans Georg Oßwald: Die wegweisenden pädagog. Vorstellungen des J. J. B. Hohengehren 2000. – Friedrich L. Sell: J. J. B. – der Nationalökonom. In: Schriftenreihe der J. J. B.Gesellsch. zu Speyer 10 (2001), H. 14, S. 35–50. Gerhard F. Strasser

387

Becher, Johannes R(obert), * 22.5.1891 München, † 11.10.1958 Berlin/DDR; Grabstätte: Berlin, Dorotheenstädtischer Friedhof. – Lyriker, Romancier, Literaturtheoretiker, Politiker. Angeblich aus sittlichem Idealismus – so die spätere jurist. Rechtfertigung seines Vaters – erschoss B., Sohn eines Landgerichtsdirektors, am 17.4.1910 die sieben Jahre ältere Zigarettenverkäuferin Franziska (»Fanny«) Fuß. Der anschließende Versuch, seinem Vorbild Kleist vollkommen zu entsprechen, misslang: Anstatt sich selbst zu töten, verletzte sich B. nur schwer. Auch B.s erste veröffentlichte Arbeit Der Ringende (Bln. 1911) – eine Hymne im neuromant. Ton Richard Dehmels u. Waldemar Bonsels’ – wollte dem Vorbild Kleist folgen. Von 1912 an arbeitete B. an Franz Pfemferts Zeitschrift »Aktion« mit, von 1913 an war er Mitherausgeber der Zeitschrift »Die Neue Kunst«. 1914 verweigerte B. den Militärdienst. Kurz vor Kriegsausbruch erschien Verfall und Triumph (Bln. 1914. Neudr. Nendeln 1973). In endlosen Hauptwort-Reihungen spiegelt diese Sammlung das expressionist. Lebensgefühl der Vorkriegs-Dichterjugend: »Schimmel. Geächz. Gestöhn. / Unter wimmelnder Himmel Flucht / Furchtbarer Laut ertönt: / Pauke. Tube Gedröhn. / Donner. Wildflammiges Licht. / Zimbel. Schlagender Ton. / Trommelgeschrill. Das zerbricht –« (Verfall). Harry Graf Kessler u. Mechthilde Fürstin Lichnowsky protegierten B. u. vermittelten seine Arbeiten an den Insel Verlag. Im Jahr der von ihm bewunderten russ. Revolution trat B. der USPD bei, 1918 dem Spartakusbund, 1919 der KPD. B.s religiöse Begeisterung für die neue Gesellschaft zeigte sich nun in Gedichten u. in der Prosa im Stakkato von Ausrufezeichen: »Außergewöhnliche! Ungemeine! Auserwählte! Und ohne Übertreibung apostrophiere ich euch: himmlische Armee, Heerschar Gottes!!!« (An die Soldaten der sozialistischen Armee. Aus: Das neue Gedicht. Lpz. 1920). »Ich ströme über. Oft ohne Maß u. Halt«, bemerkte B. 1920 in einem Brief an Ludwig Meidner.

Becher

Er entzog sich nun seiner seit 1914 feststellbaren Morphiumsucht mit Hilfe der Ärztin Käthe Ollendorf, die er 1919 geheiratet hatte u. von der er sich ein Jahr später scheiden ließ. Danach erlebte er eine religiös u. kosmisch bestimmte Phase, doch wandte er sich ab 1923 neu dem Kommunismus zu. Der Gedichtzyklus Der Leichnam auf dem Thron (Bln. 1925) u. der Antikriegsroman Levisite oder Der einzig gerechte Krieg (Wien 1926) führten zu einem Hochverrats-Prozess. Proteste von Maxim Gorkij, Romain Rolland, Thomas Mann u. Bertolt Brecht bewirkten die Verschleppung des Verfahrens, das 1928 durch die sog. »Hindenburg-Amnestie« eingestellt wurde. Literatur war für B. nun »Bestandteil der organisierten, planmäßigen, vereinigten, kommunistischen Parteiarbeit« (1925). Er nahm 1927 am ersten internat. »Kongreß revolutionärer Schriftsteller« in Moskau teil. Zwischen 1927 u. 1929 gab B. die wöchentlich erscheinende »Proletarische FeuilletonKorrespondenz« heraus, 1928 wurde er Erster Vorsitzender des von ihm mit Ludwig Renn, Alexander Abusch u. a. gegründeten »Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller« (BPRS), dessen Zeitschrift »Die Linkskurve« (Bln. 1929–32. Neudr. 4 Bde., Ffm. 1976–78) er herausgab. Dort stellte er 1929 fest: »Das wichtigste Ereignis auf dem Gebiet der Literatur ist die Entstehung einer proletarisch-revolutionären Literatur, einer Literatur, die die Welt vom Standpunkt des revolutionären Proletariats aus sieht und sie gestaltet.« Im April 1933 musste B. emigrieren, von 1935 an lebte er in Moskau. Er war Mitorganisator des Pariser »Internationalen Kongresses der Schriftsteller zur Verteidigung der Kultur« (1935) u. arbeitete in Moskau als Chefredakteur der dt. Ausgabe der Zeitschrift »Internationale Literatur« (ab 1937 mit dem Untertitel »Deutsche Blätter«). Im Moskauer Exil entstand B.s »Deutschland«-Dichtung; er besang, häufig in Sonettform, die Schönheit der dt. Heimat, versuchte, das an die NS-Herrschaft Verlorene ins Gedicht zu retten (Deutschland ruft. Gedichte. Moskau 1942. Erw. Stockholm 1944). »Ich bin in der Zeit meiner Verbannung [...]

Becher

ein anderer geworden. In diesen zwölf Jahren bin ich eigentlich erst zu einem deutschen Dichter geworden«, schrieb B. 1945, einen Monat nach seiner Rückkehr, an seinen alten Verleger Anton Kippenberg. Ein Resümee seiner Jugend wurde B.s in Moskau entstandener Roman Abschied. Einer deutschen Tragödie erster Teil. 1900–1914 (Moskau 1940. Bln. 1945. Mchn. 1987. Bln. 1995). Er schildert Kindheit u. Jugend des Staatsanwaltssohnes Hans Peter Gastl. In dessen bürgerl. Welt ist ein Schneiderssohn als Schulfreund unerwünscht, wird misshandelt u. erst als Helfer in einer Mädchengeschichte wieder gebraucht. Ein jüdischer Schulfreund macht mit sozialist. Theorien vertraut, der Held fällt durchs Abitur, sein Vater fordert ihn auf, sich freiwillig beim Militär zu melden. Der Sohn verweigert sich u. bricht so endgültig mit seiner Familie. Der Roman rechtfertigt B.s Verhalten in der Mordsache Fuß auf eigenwillige Weise; auch macht er begreiflich, wie der Erste Weltkrieg als Rettung aus privater Misere empfunden werden konnte. B. gehörte 1943 zu den Begründern des »Nationalkomitees Freies Deutschland«, im Juni 1945 kehrte er nach Berlin zurück. Dort gründete er den »Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands«, den Aufbau Verlag, die kulturpolit. Monatsschrift »Aufbau«, die Wochenzeitung »Sonntag« u. die Literaturzeitschrift der Akademie der Künste der DDR »Sinn und Form« (1949, mit Paul Wiegler). B. schrieb den Text der DDRNationalhymne (Bln./DDR 1949. Musik Hanns Eisler), amtierte 1952–1956 als Präsident der Deutschen Akademie der Künste u. 1954–1958 als erster Kulturminister der DDR. Das bedeutende, 1955 gegründete Leipziger Literaturinstitut wurde im Jahr 1959 in »Literaturinstitut Johannes R. Becher« umbenannt (1990 wurde es aufgelöst u. 1995 durch das neu gegründete »Deutsche Literaturinstitut« ersetzt); die seit 1961 vom Kulturbund der DDR vergebene Medaille trug den Namen »Johannes-R.-Becher-Medaille« u. zeigte ein Porträt B.s. B.s Versuch einer »Verwirklichung des sozialistischen Menschenbildes« in der Politik, im Gedicht (Neue deutsche Volkslieder. Bln./DDR 1950. Musik Hanns Eisler), in der Prosa (Auf

388

andere Art so große Hoffnung. Tagebuch 1950. Bln./DDR 1951) u. in seinen theoret. Schriften (Verteidigung der Poesie. Bln./DDR 1952) wollte Geist u. Macht, Dichtung u. Öffentlichkeit miteinander versöhnen. B. begriff Literatur nun als kollektive Selbstverständigung: »Indem der Dichter sich selbst gestaltet, gestaltet er das Problem des Jahrhunderts.« Er sammelte, entsprechend der während des Krieges in Moskau festgelegten Konzeption, die bürgerlich-antifaschist. Kräfte, holte viele der exilierten dt. Autoren in die nachmalige DDR zurück u. sperrte, indem er Georg Lukács’ Literaturtheorie für verbindlich erklärte, die »westliche« Avantgarde aus, um eine spezif. Erbe-Tradition durchzusetzen – die Bildungsideale des dt. Bürger- u. Kleinbürgertums sollten sich in einer Literaturgesellschaft erfüllen. B. förderte Künstler durch gezielt vergebene Aufträge u. durch persönl. Ermunterung (z.B. Günter Kunert, Franz Fühmann). Seine Vorstellung von der »ästhetischen Aneignung der neuen Welt« stieß bei Autoren wie Erich Weinert, Friedrich Wolf, Bertolt Brecht, Stephan Hermlin – aus unterschiedl. Gründen – auf wenig Interesse. Schon im Jahr 1947 kritisierte Hermlin den Kollegen: »B. ist in nachklassizistischer Glätte und konventioneller Verseschmiederei gelandet«; Brecht urteilte: »Der Mann hat vier oder fünf gute Gedichte gemacht.« Doch gehörte B. bald zu den Autoren, denen in der DDR ein KlassikerStatus zuerkannt wurde, wodurch die Rezeption seiner heute noch lesenswerten frühen u. späten Gedichte u. der Tagebücher erschwert wird. Weitere Werke: Erde. Bln. 1912 (R.). – Die Gnade eines Frühlings. Bln. 1912 (L.). – De profundis Domine. Mchn. 1913 (L.). – Die hl. Schar. Lpz. 1918 (L.). – Gedichte für das Volk. Lpz. 1919. Neudr. Nendeln 1973. – Gedichte um Lotte. Lpz. 1919. – Um Gott. Lpz. 1921 (L.). – Der Gestorbene. Regensb. 1921 (L.). – Vernichtung, An die Deutschen, Mord. Drei Hymnen. Konstanz 1923. – Am Grab Lenins. Wien 1924 (L.). – Hymnen. Lpz. 1924. – Vorwärts, du rote Front! Prosastücke. Ffm. 1924. – Der Bankier reitet über das Schlachtfeld. Bln. 1925 (E.). – Maschinenrhythmen. Bln. 1926 (L.). – Die hungrige Stadt. Wien 1927 (L.). – Im Schatten der Berge. Bln. 1928 (L.). – Graue Kolonnen. Bln. 1930 (L.). – Dt. Totentanz. Moskau/Leningrad 1933

389 (L.). – Dtschld. Ein Lied vom Köpferollen u. v. den ›nützlichen Gliedern‹. Moskau/Leningrad 1934. – Der verwandelte Platz. Erzählungen u. Gedichte. Zürich 1934. – Dank an Stalingrad. Moskau 1943 (L.). – Die hohe Warte. Dtschld.-Dichtung. Moskau 1944. – Ein Dtschld. ist, soll sein u. bleiben. Bln./ DDR 1954 (Ansprache). – Von der Größe unserer Lit. Ansprache [...] Bln./DDR 1956. – Das poet. Prinzip. Bln/DDR 1957. (Sieben, in den Druckfahnen v. B. gestrichene Aufsätze wurden u. d. T. ›Selbstzensur‹ veröffentlicht in: SuF 3/1988, S. 541–551). Ausgaben: Werkausgaben: Ges. Werke. 18 Bde., Bln./Weimar 1966–81. – Werke in drei Bdn. Bln./ Weimar 1971. – Lyrik: Das neue Gedicht (Ausw. 1912–18). Lpz. 1918. – Ein Mensch unserer Zeit. Ges. Gedichte. Rudolstadt 1929. – Gewißheit des Siegs u. Sicht auf große Tage. Ges. Sonette 1935–38. Moskau 1939. – Vollendung träumend... Ausgew. Gedichte aus dem frühen Werk. Lpz. 1950. – Gedichte 1911–18. Mchn. 1973. – Wolkenloser Sturm. Ahrenshooper Gedichte. Mit einem Nachw. v. Jens-Fietje Dwars. Bucha bei Jena 2004. – Briefe: J. R. B. – Heinrich Bachmaier. Briefw. 1914–20. Ffm. 1981. – Auswahlausgaben: Metamorphosen eines Dichters. Gedichte, Briefe, Dokumente 1909–45. Hg. u. mit einem Vorw. vers. v. Carsten Gansel. Bln. 1992. Literatur: SuF. Zweites Sonderh. J. R. B. 1959 (mit Bibliogr.). – Ingeborg Manderla: Vorläufiges Findbuch des literar. Nachl. v. J. R. B. Bln./DDR 1962. – Norbert Hopster: Das Frühwerk J. R. B.s. Bonn 1970. – Simone Barck: J. R. B.s Publizistik in der Sowjetunion 1935–45. Bln./DDR 1978. – Michael Rohrwasser: Der Weg nach oben – J. R. B. Politiken des Schreibens. Basel 1980. – Rolf Harder u. Ilse Siebert (Hg.): B. u. die Insel. Lpz. 1981. – Horst Haase: J. R. B. – Leben u. Werk. Bln./DDR 1982. – Dieter Schiller u. a. (Hg.): Wandelbar u. stetig. Lesarten zu J. R. B. Halle. 1984. – Rolf Selbmann: Selbstmord als Lit. In: JbDSG 30 (1986), S. 511–532. – Josef T. Feil: ›Verfall u. Triumph‹. J. R. B.s Frühwerk 1911–24. Mchn. 1988. – Rüdiger Ziemann: Poet. Gestalt. Studien zum lyr. Spätwerk J. R. B.s. Ffm. 1992. – Jens-Fietje Dwars: Abgrund des Widerspruchs. Das Leben des J. R. B. Bln. 1998 (Biogr.). – Dieter Schiller: J. R. B. u. die Krise des Kulturbundes 1949–51. Drei Studien. Bln. 2000. – Winfrid Halder: Exilrufe nach Dtschld. Die Rundfunkreden v. Thomas Mann, Paul Tillich u. J. R. B. 1940–45. Münster 2002. – J.-F. Dwars: J. R. B.: Triumph u. Verfall. Eine Biogr. Bln. 2003. – Alexander Behrens: J. R. B.: eine polit. Biogr. Köln 2003. Konrad Franke / Red.

Becher

Becher, Ulrich, * 2.1.1910 Berlin, † 15.4. 1990 Basel. – Dramatiker, Erzähler, Verfasser von Versdichtungen. Der Sohn eines Rechtsanwalts erhielt seine Schulbildung an Gymnasien in Berlin u. Wickersdorf u. studierte ab 1928 die Rechte in Genf u. Berlin. In der dt. Hauptstadt fand er Anschluss an die Künstlerkreise um George Grosz u. Roda Roda, die beide seine eigenen schriftsteller. Arbeiten dauerhaft beeinflussten. Denkmal der lebenslangen Freundschaft mit Grosz ist der von B. u. d. T. Flaschenpost (Basel 1989) publizierte Briefwechsel. Ein erster Band mit Erzählungen u. d. T. Männer machen Fehler erschien 1932 bei Ernst Rowohlt in Berlin. Nach B.s eigenem Zeugnis soll er 1933 ein Opfer der Bücherverbrennung geworden sein. B. siedelte im selben Jahr nach Wien über, wo er Dana, die Tochter Roda Rodas, heiratete. Das 1931 geschriebene sozialkrit. Jesus-Drama Niemand hatte 1936 in Bern seine Uraufführung. Vor dem »Anschluss« Österreichs flüchtete B. in die Schweiz, wo auch sein zweiter Prosaband Die Eroberer (Zürich 1936) erschienen war. 1941 wurde er zur Ausreise aufgefordert. Nachdem Bemühungen um ein US-Visum sich lange hinzogen, gelangte er mit einem gefälschten Pass nach Brasilien. Literarischer Ertrag der Zeit in Südamerika, über die kaum etwas Verlässliches bekannt ist, waren neben journalist. Publikationen in Exilblättern zwei Bände mit Versdichtungen, Reise zum blauen Tag (St. Gallen 1946) u. Brasilianischer Romanzero (Wien/Zürich 1950), sowie das Drama Samba (Bln. 1950). 1944 konnte B. in die USA einreisen, um seinem sterbenden Schwiegervater beizustehen. Sein Amerika-Bild sollte negativ geprägt werden von sozialer Ungleichheit, dem beginnenden McCarthyismus u. der ideolog. Spaltung der Exilanten. Eine nicht zu unterschätzende Rolle spielte dabei der Umstand, dass B. selbst in schwierigen materiellen Verhältnissen u. zeitweise als Gast besser situierter Kollegen lebte, eigene Publikationsmöglichkeiten jedoch weitgehend ausblieben. Der Einfluss amerikanischer Prosa-Autoren wie Dos Passos u. Hemingway auf B.s Schaffen blieb davon aber unberührt.

Bechstein

390

1948 siedelte B. nach Österreich über, ehe Russische, Tschechische u. Ungarische überer 1954 in Basel endgültig eine Heimat fand. setzt wurde. Zwei Jahre zuvor war in Wien das gemeinsam Weitere Werke: Das Herz des Hais. Reinb. 1960 mit dem Schauspieler Peter Preses in New (R.). – Das Profil. Reinb. 1973 (R.). – SIFF. Selektive York verfasste »dramatische Possenspiel« Der Identifizierung v. Freund u. Feind. Zürich/Köln Bockerer erschienen. Das Stück um den schel- 1978. Auch u. d. T. Im Liliputanercafé. Ffm. 1985 menhaften Wiener Metzgermeister Karl Bo- (Publizistik). – Franz Patenkindt. Romanze v. einem dt. Patenkind des François Villon in 15 Bänckerer, der eher aus Gutherzigkeit u. Halskelsängen. Bln. 1979. – Abseits vom Rodeo. Basel starrigkeit denn reflektierend dem seit 1938 1991 (N.). in Österreich herrschenden NationalsozialisLiteratur: DLL, Bd. 1, Sp. 339. – Uwe Naumann mus widersteht, knüpft an die Tradition des u. Michael Töteberg: U. B. In: KLG. – Roland HeVolkstheaters wie des Kabaretts der Zwi- ger: Der österr. Roman des 20. Jh. Bd. 1, Wien/Stgt. schenkriegszeit an. Es erlebte 1948/49 acht- 1971, S. 204 f. – Wilhelm Bortenschlager: Österr. zig Aufführungen auf der Wiener Bühne Dramatiker der Gegenwart. Kreativ-Lexikon. Wien Scala. Dabei handelte es sich um ein marxis- 1976, S. 33–39. – Jacquelin Vansant: Ways of Retisches Theater. Dies wird als Erklärung dafür membering: ›Der Bockerer‹ As Play and Film. In: herangezogen, dass die Rezeption des Stückes Austrian Writers and the Anschluss: Understanding the Past – Overcoming the Past. Hg. Donald G. im Wesentlichen erst wieder, aber umso er- Daviau. Riverside 1991, S. 271–285. – Marijan Bofolgreicher, um 1980 eine Fortsetzung fand. binac: Überlebensstrategien. Zum österr. VolksDoch wurde nun kritisch angemerkt, es per- stück der Nachkriegszeit: U. B., Fritz Kortner u. petuiere – mehr noch in der Verfilmung Arnolt Bronnen. In: Zagreber Germanist. Beiträge durch Franz Antel (1981) – die Mythen von 9 (2000), S. 45–65. – Hilde Haider-Pregler: ›Der Österreich als Opfer des Nationalsozialismus Bockerer‹ u. die Folgen. Varianten u. Mutationen des ›homo viennensis‹. In: Österr. Satire u. vom unverwüstl. Wiener Kleinbürger. Ein vergleichbarer Erfolg war den anderen (1933–2000). Exil – Remigration – Assimilation. Hg. Jeanne Benay, Alfred Pfabigan u. Anne Saint Stücken B.s wie Feuerwasser u. Die Kleinen und Souveur. Bern 2003, S. 363–394. – Valentin Herdie Großen (beide in: Spiele der Zeit. Hbg. 1957) zog: U. B. In: LGL. – Valerie Popp: ›Vielleicht sind nicht beschieden. Durchaus Beachtung fan- die Häuser zu hoch und die Straßen zu lang‹: den seine neuen Prosa-Arbeiten, beginnend Amerikabilder der deutschsprachigen Exillit. In: mit den New Yorker Novellen, die u. a. literar. Die Alchemie des Exils. Exil als schöpfer. Impuls. Porträts von George Grosz u. Richard Hül- Hg. Helga Schreckenberger. Wien 2006, senbeck bieten (zuerst gesammelt u. d. T. S. 109–127. Volker Hartmann Nachtigall will zum Vater fliegen. Wien/Mchn. 1950). Auf die Zeit des Schweizer Exils kommt B.s erfolgreichstes Buch, der als Bechstein, Ludwig, auch: C. Bechstein, »Antikrimi einer kriminellen Epoche« cha- eigentl.: Louis Clairant Hubert B., rakterisierte Roman Murmeljagd (Reinb. 1969) * 24.11.1801 Weimar, † 14.5.1860 Meizurück. Hier wie bei B.s anderen Prosa-Ar- ningen; Grabstätte: ebd., Friedhof. – beiten wurde von den einen als barocke Verfasser u. Sammler von Märchen u. SaSprachgewalt gepriesen, was anderen als gen. Rückfall in längst obsolete expressionist. B. wurde unehelich in Weimar geboren. Als Sprachmuster erschien. An der Möglichkeit Vater gab Johanna Karolina Dorothea Bechdes Künstlers, politisch wirksam zu werden, stein aus Altenburg den aus Fontenay-lezweifelte B. zunehmend, wie v. a. sein letzter Comte in der Vendée stammenden EmigranRoman William’s Ex-Casino (Zürich 1973) be- ten Louis Hubert Dupontreau an. Da sie den legt. Dies änderte jedoch nichts an seinen Beweis, heimlich in Halle/S. getraut zu sein, sozialist. Überzeugungen, die erklären dürf- nicht erbringen konnte, zahlte sie ihre Strafe. ten, warum sein Werk fast vollständig in der Da sie ohne Einkünfte war, gab sie das Kind DDR erschien u. B. nicht nur ins Französische einer Pflegemutter. Seine Kindheitsjahre eru. Italienische, sondern auch ins Polnische, schienen B. in der Erinnerung »wie ein

391

schlimmer Traum«; seine Herkunft, die er als Makel empfand, suchte er gelegentlich durch falsche Angaben zu verschleiern. 1810 wurde B. von seinem Oheim Johann Matthäus Bechstein, dem angesehenen Naturwissenschaftler u. Direktor der Forstakademie Dreißigacker bei Meiningen (einem früheren Lehrer im Salzmannschen Institut in Schnepfenthal), als Pflegekind aufgenommen. Die ehrgeizigen Erziehungspläne hatten freilich nicht den Erfolg, den der Oheim sich erhofft hatte. B. musste das Lyzeum in Meiningen vorzeitig verlassen. Statt Forstbeamter zu werden, trat der 17-Jährige eine Apothekerlehre in Arnstadt an. Dafür hatte er im Umgang mit zwei schriftstellernden Lehrern die Lust, ja die Lesewut zur romant. Literatur entwickelt. Zeugnisse der Vergangenheit, mündl. Überlieferung u. Volksbücher bestimmten seine literar. Vorlieben. Erste Frucht waren die Thüringischen Volksmährchen (Sondershausen 1823) – eher ein von Musäus beeinflusster Wildwuchs als eine literarisch gefasste Überlieferung. Geselliger Umgang mit jungen Leuten, Theaterspiel, Musizieren, Wandern u. Verseschmieden u. nicht zuletzt das Nachsinnen über sagenhafte Verbrechen u. sinnl. Schuldverstrickungen beschäftigten B. weit mehr als sein Brotberuf. Da wurde der junge Herzog Bernhard Erich Freund von Sachsen-Meiningen auf B.s Sonettenkränze (Arnstadt 1828) aufmerksam u. gewährte ihm ein Stipendium (1829–1831), das ihm das Studium der Philosophie, Geschichte, Literatur u. Kunst in Leipzig u. München ermöglichte; den Rest des Stipendiums nutzte er zu einer längeren Wanderung durch Oberbayern sowie einem Aufenthalt in Salzburg. B.s Lehr- u. Studienjahre waren vom geselligen künstler. Umgang bestimmt: mit den Musikern Andreas Zöllner u. Friedrich Nohr u. dem Schriftsteller Ludwig Storch (mit dem er sich 1848 aus polit. Gründen überwarf), mit Wilhelm von Chézy, Karl Spindler, Eduard Duller, Moritz Gottlieb Saphir, Moritz von Schwind u. Hans Ferdinand Maßmann. Inzwischen hatten ihn seine Volksstoffbearbeitungen berühmt gemacht. Literaturkritiker wie Wilhelm von Kotzebue, Garlieb Helwig Merkel u. Wolfgang Menzel lobten

Bechstein

ihn u. bescheinigten ihm die Verwandtschaft mit Byron. Das galt v. a. für Die Weissagung der Libussa (2 Bde., Stgt. 1829), Die Haimons-Kinder (Lpz. 1830), Der Todtentanz (Lpz. 1831) u. sein Epos Luther (Ffm. 1834). Dabei ist B.s Dichtung unverkennbar – bis zu den Titelformulierungen – an Vorbildern wie Musäus u. E. T. A. Hoffmann, der schwäb. Dichterschule u. Heine, Scott u. Willibald Alexis orientiert. Carl Rosenkranz freilich setzte sich 1836 unnachsichtig mit B.s epischen Versuchen auseinander. Er warf ihm v. a. ständigen Wechsel des Metrums, Reimgeklapper u. die Weitschweifigkeit des Reflektierens u. Ausmalens vor. Von München heimgekehrt, wurde B. 1831 zum herzogl. Bibliothekar ernannt; die Übernahme des regionalen Archivs, eine ungeheure Sammeltätigkeit u. vielfältige schriftstellerische Unternehmungen schlossen sich an. 1832 heiratete B.; nach dem Tod seiner Frau heiratete er 1836 noch einmal. Aus seinen Ehen gingen sechs Kinder hervor. Über Thüringen hinaus wurde der volkstüml. Mann rasch zu einer allgemein anerkannten Autorität der Literaturkritik u. Altertumsforschung (vgl. etwa seine Chronik der Stadt Meiningen von 1676 bis 1834. Meiningen 1834/35). Er trat der Meininger Loge bei, hielt enge Freundschaft mit dem Archidiakon der Stadtkirche, August Wilhelm Müller, u. baute mit herzogl. Unterstützung ein Haus, sein geliebtes, gastfreies Tuskulum (mit erlesenem Weinkeller). Die Zinslast, die Kosten für seine Sammelleidenschaft u. das gastfreie Leben machten ihm allerdings zunehmend zu schaffen. Ausgedehnte Wanderungen u. ausgiebige Vereinstätigkeit im Sängerbund, v. a. aber in dem von ihm 1832 gegründeten »Hennebergischen altertumsforschenden Verein« erfüllten sein Leben. Seine vielfältigen lyr. u. epischen Produktionen, seine Biografien u. histor. Romane in der Tradition von Arnims Kronenwächter (z.B. Grimmenthal. Hildburghausen 1833), die Kunstmärchen, Sagenversifikationen, Reisebeschreibungen, Heimat- u. Schauergeschichten nebst all den volkskundl. Untersuchungen sind heute weitgehend vergessen, obgleich Nadler 1928 noch rühmte: »Bechstein war ein gottbegnadetes Gefäß des

Bechstein

volkstümlichen Geistes dieser Landschaft, ein Erforscher altdeutscher Kulturzustände, dem die Türen der Vorzeit wie von selber aufsprangen.« Die Edition mittelalterl. Dichtung, etwa Geschichte und Gedichte des Minnesängers Otto von Botenlauben (Lpz. 1845) u. die Entdeckung u. Erstherausgabe von Heinrich Wittenweilers Ring (Stgt. 1851) waren wichtig für die Erschließung älterer Literaturdenkmäler. Heute noch Bestand haben B.s reiche Sagensammlungen (mit rd. 2300 Texten) u. seine beiden Märchensammlungen (mit etwa 150 Texten). Das gilt vornehmlich für das als fiktive Wanderung durch die Sagenlandschaften angelegte, 1000 Erzählungen umfassende, von Adolf Ehrhardt illustrierte Deutsche Sagenbuch (Lpz. 1853), eine Frucht früherer regionaler Sammlungen, u. das Deutsche Märchenbuch (Lpz. 1845. Ausg. letzter Hand: 131857), das durch Ludwig Richters Illustrationen (seit der 12. Aufl. 1853) zu einem Hausbuch wurde. Während B. sich viele Sagen auf seinen Fußwanderungen hatte erzählen lassen, stützte er sich bei den Märchenbüchern auf Beiträger u. bereits Veröffentlichtes. Zwischen Auftragserteilung (durch seinen Verleger Wigand) u. Ablieferung waren ihm kaum mehr als drei Monate Zeit gegeben. Obgleich B.s Märchen den Brüdern Grimm darin folgen, in naivem Tonfall das Wunderbare herauszuheben, sind auch deutl. Anklänge an Musäus festzustellen, wenn B. fantast. oder zeitkrit. Momente integriert oder auch witzig-großsprecher. Figurenrollen ins Spiel bringt. Der für das Biedermeier charakteristische moralisierende, enterotisierende u. sentimentalisierende Grundzug kennzeichnet auch B.s Märchen; bei der Neuausgabe von 1853 ist B. allerdings um eine eher nüchterne, wirklichkeitsgetreue Darstellung bemüht, wozu ihn die Kritik des schwäb. Märchensammlers Ernst Meier veranlasste, der »manches entschieden Unechte und Selbsterfundene« rügte. Noch über die Jahrhundertwende hinaus erreichten B.s Märchensammlungen um ein Vielfaches höhere Auflagen als die Grimm’schen Märchen. Das änderte sich erst, als die Jugendschriftenbewegung B. vorwarf, er ergänze seine Texte »skrupellos [...] durch

392

völlig unmärchenhafte Züge« (Franz Heyden). Weitere Werke: Mährchenbilder u. E.en. Lpz. 1829. – E.en u. Phantasiestücke. Stgt. 1831. – Der Todtentanz. Lpz. 1831 (Ep.). – Das tolle Jahr. 3 Bde., Stgt. 1933 (histor. R.). – Faustus. Lpz. 1833 (Ep.). – Des Hasses u. der Liebe Kämpfe. Hildburghausen 1835 (D.). – Der Sagenschatz u. die Sagenkreise des Thüringerlandes. 4 Bde., Hildburghausen/Meiningen 1835–38. – Die Reisetage. Aus meinem Leben. 2 Bde., Mannh. 1836. – Gedichte. Ffm. 1836. – Fahrten eines Musikanten. 3 Bde., Schleusingen 1837. Ffm. 21854/55 (nacherzählte Lebenserinnerungen). – Die Volkssagen, Mährchen u. Legenden des Kaiserstaates Oesterr. 4 Bde., Lpz. 1840. – Der Sagenschatz des Frankenlandes. Würzb. 1842. – Berthold der Student oder Deutschlands erste Burschenschaft. 2 Bde., Halle 1850 (histor. R.). – Hexengesch.n. Halle 1854. – Dr. Johann Matthäus Bechstein u. die Forstacademie Dreißigacker. Meiningen 1855 (Biogr.). – Mythe, Sage, Märe u. Fabel im Leben u. Bewusstsein des Dt. Volkes. 3 Bde., Lpz. 1854/55. – Romant. Märchen u. Sagen. Altenburg 1855. – Neues dt. Märchenbuch. Lpz./Pest 1856. – Villa Carlotta. Poet. Reisebilder. Weimar 1857. – Thüringens Sagenbuch. 2 Bde., Wien/Lpz. 1858. – Thüringens Königshaus, sein Fluch u. Fall. Lpz. 1865 (Ep.). Neuere Ausgaben: Sämtl. Märchen. Vollst. Ausg. der Märchen B.s nach der Ausg. letzter Hand unter Berücksichtigung der Erstdr.e. Mit Anmerkungen u. einem Nachw. v. Walter Scherf; mit 187 Illustrationen v. Ludwig Richter. Mchn. 1965. 7 1983. Bearb. Neuausg. (Tb.) Mchn. 1988. Düsseld. u. a. 1999. – Unterwegs im Reisewagen. Bilder u. Skizzen aus Thüringen. Hg. u. mit einem Nachw. vers. v. Georg Menchén. Rudolstadt 1988. – Dt. Märchenbuch mit Stahlstichen v. Carl Wilhelm Schurig u. Andreas Wolfgang Brennhäuser u. ausgew. Holzschnitten nach Originalzeichnungen v. L. Richter. Hg. Hans-Heino Ewers; mit einem Beitr. zu den Illustrationen v. Hans Ries. Stgt. 1996. – Märchenbuch nach der Ausg. v. 1857, textkritisch rev. u. durch Register erschlossen. Hg. Hans-Jörg Uther. Mchn. 1997. – Neues dt. Märchenbuch. Vorlageform nach der Ausg. v. 1856, textkritisch rev. u. durch Register erschlossen. Hg. ders. Mchn. 1997. – L. B. Ein Lesebuch hg. u. komm. v. Andreas Seifert. Bucha bei Jena 2001. Literatur: Bibliografie: Theodor Linschmann: L. B.s Schr.en. Meiningen 1907. Neudr. Lpz. 1972. – Weitere Titel: Kurt Wasserfall: L. B.s Märchenbücher. Diss. Heidelb. 1922. – Franz Heyden: Volksmärchen u. Volksmärchen-Erzähler. Hbg. 1922. – Karl Boost: L. B. Diss. Würzb. 1925. – Klaus

393 Schmidt: Untersuchungen zu den Märchenslg.en v. L. B. Lpz. 1935. – Alfred Fiedler: L. B. als Sagensammler u. Sagenpublizist. In: Dt. Jb. für Volkskunde 12 (1966), S. 243–266. – Werner Bellmann: L. B. In: EM, Bd. 2, Bln./New York 1978, Sp. 15–19. – Rolf-Rüdiger Schneider: B.s ›Dt. Märchenbuch‹. Diss. Wuppertal 1980. – Walter Scherf: Der vergessene Apotheker u. Bibliothekar aus Weimar. In: L. B.: ›Kinder- u. Zaubermärchen‹. Mchn. 1984, S. 5–15. – Ruth B. Bottigheimer: L. B.’s fairy tales, 19th century bestsellers and Bürgerlichkeit. In: IASL 15 (1990), S. 55–88. – Eberhard Grund: Die Darstellung des MA in literaturhistor. Beiträgen L. B.s. In: Otto v. Botenlauben. Minnesänger, Kreuzfahrer, Klostergründer. Würzb. 1994, S. 263–276. – Susanne Schmidt-Knaebel: L. B.s Sagenslg.en in der linguist. Analyse. Die Textanfänge u. Titel der Thüringer Sagen in den Fassungen v. 1835–38 u. 1858. In: Euph. 89 (1995), S. 455–484. – Michael Vogt: ›Vom Hühnchen und Hähnchen‹ u. v. der Sprache bei L. B. u. Gerhard Rühm. In: Märchen u. Moderne. Fallbeispiele einer intertextuellen Relation. Hg. Thomas Eicher. Münster u. a. 1996, S. 165–175. – Dies.: ›Man muß doch jemand haben, gegen den man sich ausspricht‹. L. B.s Briefe an Dr. Ludwig Storch. Aachen 2000. – HennebergischFränkischer Geschichtsverein (Hg.): L. B. Dichter, Sammler, Forscher. FS zum 200. Geburtstag. Bd 1.2, Kloster Veßra u. a. 2001. – Alfred Erck u. Hannelore Schneider: Aus unveröffentlichten Briefen L. B.s. In: Palmbaum 9 (2001), S. 21–28. – Hans-Jörg Uther: L. B. u. seine Märchen. Zur Bedeutung des Märchens um die Mitte des 19. Jh. Ebd., S. 29–53. – Heinrich Weigel: Ein thüring. Dichterleben. Zum 200. Geburtstag v. L. B. Ebd., S. 6–20. – Hanns-Peter Mederer: Stoffe aus Mythen. L. B. als Kulturhistoriker, Novellist u. Romanautor. Wiesb. 2002. – Karin Richter u. Rainer Schlundt (Hg.): Lebendige Märchen- u. Sagenwelt. L. B.s Werk im Wandel der Zeiten. Baltmannsweiler 2003. – Gottfried Mälzer: L. B. als Sammler v. Märchen. In: Imprimatur 18 (2003), S. 121–144. – S. Schmidt-Knaebel: L. B. als Märchenautor. Die vier Anthologien im Überblick. In: Zauber u. Magie. Hg. Wolfgang Haubrichs. Stgt. u. a. 2003, S. 137–160. – Dies.: Direktes u. indirektes Zitieren in L. B.s ›Deutschem Sagenbuch‹. In: Schriftl. u. mündl. Kommunikation. Begriffe – Methoden – Analysen. FS zum 65. Geburtstag v. Klaus Brinker. Hg. Jörg Hagemenn u. Sven F. Sager. Tüb. 2003, S. 207–220. – Christoph Mackert: Wieder aufgefunden. B.s Hs. der ›Mörin‹ Hermanns v. Sachsenheim u. des sog. ›Liederbuchs der Klara Hätzlerin‹. In: ZfdA 133 (2004), S. 486–488. – Burghart Schmidt: L. B. u. die literar. Rezeption frühneuzeitl. Hexenverfolgung im 19. Jh. Hbg. 2004 (zgl.:

Beck Habil.-Schr. Hbg. 2004). – H. Weigel: L. B. in Briefen an Zeitgenossen. Ffm. u. a. 2007. Walter Scherf / Red.

Beck, (Christian) Friedrich, * 21.6.1806 Ebersberg bei München, † 30.8.1888 München. – Lyriker, Erzähler u. Publizist. B., Sohn eines Landgerichtsvorstands, sollte auf dessen Wunsch Lehrer werden u. besuchte nach Abschluss der Schule 1824–1826 das Philolog. Seminar Friedrich Thierschs in München. Nach bestandener Prüfung lebte er von Privatunterricht u. wandte sich der Dichtkunst zu. 1829 erschien in München der erste Band seiner Gedichte. 1836 wurde B. in den Schuldienst übernommen, 1850 zum (Gymnasial-)Professor ernannt (1860 wegen eines Augenleidens pensioniert). Daneben war er 1839–1846 für die »Münchner Politische Zeitung« u. 1857/58 für die »Neue Münchner Zeitung« als Redakteur tätig. B.s Gedichte, darunter viele Gelegenheitsgedichte (z.B. Zur Namensfeier Seiner Majestät des Königs Maximilian II. von Bayern. Mchn. 1851), sind von der Spätromantik beeinflusst. Sein Künstlerroman Geschichte eines deutschen Steinmetzen (Mchn. 1834) entsprach dem Programm altdeutscher Kunstpflege der Münchner »Gesellschaft für deutsche Altertumskunde von den drei Schilden«, der B. angehörte. Er ist an Tiecks Franz Sternbalds Wanderungen orientiert u. versucht, Geschichte u. romant. Kunstauffassung zu vergegenwärtigen. Daneben verfasste B. mehrere Lehrbücher für die Schule (Lehrbuch des deutschen Prosastiles. Mchn. 1861. 71887. Lehrbuch der Poetik. Mchn. 1862). Weitere Werke: Gedichte. Mchn. 1844. – Telephos. Mchn. 1858 (Trag.). – Zeitklänge. Gedichte aus den Jahren 1845–60. Mchn. 1860. – Stilist. Hilfsbuch. Mchn. 1868. Literatur: Hyacinth Holland: F. B. In: ADB. Cornelia Lutz / Red.

Beck, Heinrich, * 19.2.1760 Gotha, † 7.5. 1803 Mannheim. – Schauspieler u. Dramatiker. B., Sohn eines sächs. Hofbeamten, begann seine Bühnenkarriere als Schauspieler 1777

Beck

am renommierten Gothaer Hoftheater gleichzeitig mit seinen Freunden David Beil u. Iffland unter der Direktion Ekhofs. Nach dessen Tod u. der Auflösung des Theaters wechselte er 1779 ans Mannheimer Nationaltheater, dessen Leitung er 1796 von Iffland übernahm. Freundschaft verband B. seit 1782 auch mit Schiller, in dessen Räuber u. Kabale und Liebe er als Erster den Kosinsky bzw. Ferdinand verkörperte. B. zeichnete sich in Liebhaber-, Helden- u. Charakterrollen aus (1788 Preis für seine Darstellung des Marquis Posa). Als Trivialdramatiker betonte B., ähnlich wie Iffland, lustspielhafte Züge in seinen Rührstücken, die auf moralisierend-unterhaltende Weise Probleme der häusl. Sphäre u. das bürgerl. Familienideal thematisieren. Bühnenerfolge wurden seine bis zur Mitte des 19. Jh. häufig aufgeführten Lustspiele Die Schachmaschine (Bln. 1798), Die Quälgeister (Ffm. 1802), eine Bearbeitung von Shakespeares Viel Lärm um nichts, u. Das Chamäleon (Ffm. 1803). Weitere Werke: Dramen: Das Herz behält seine Rechte. Bln. 1788. – Verirrung ohne Laster. Prag 1793. – Alles aus Eigennutz. Prag 1793. – Lohn der Liebe. Lpz. 1799. Literatur: Hans Knudsen: H. B. Lpz. 1912. – Horst Hartmann: ›Moral war mein Augenwerk‹. Der Schauspieler H. B. als Dramatiker. In: WB 37 (1991), S. 527–540. Wolfgang Weismantel / Red.

Beck, Karl Isidor, * 1.5.1817 Baja/Ungarn, † 9.4.1879 Währing bei Wien. – Sozialkritischer Lyriker. Aus einer jüd. Kaufmannsfamilie stammend, wuchs B. in jüdisch-ungarischer Umgebung auf u. lernte erst mit neun Jahren Deutsch. 1829 übersiedelte er mit seinen Eltern nach Pest, besuchte dort das Gymnasium u. begann 1833 in Wien ein Medizinstudium. Wegen einer Krankheit kehrte er 1834 nach Pest zurück; ab 1835 studierte er in Leipzig Philosophie, vernachlässigte aber das Studium bald zugunsten seiner literar. Tätigkeit u. ausgedehnter Reisen. So verkehrte er in Weimar im Hause von Ottilie von Goethe; 1839 lernte er in Hamburg Karl Gutzkow u. Ludolf Wienbarg kennen. Nach längeren

394

Aufenthalten in Leipzig, Pest u. Berlin ließ sich B. 1848 in Wien nieder, wo er die Feuilletonredaktion des ministeriellen Organs »Lloyd« übernahm. Während der Ereignisse des Revolutionsjahres eigentümlich zurückhaltend, führte er nach dem Tod seiner ersten Frau (1849) wieder ein unstetes Wanderleben. Seinen Lebensabend verbrachte er ab 1868 als Pensionär der Schillerstiftung in Wien. B. wurde durch seine Verbindung zu dem jungdt. Redakteur Gustav Kühne (»Zeitung für die elegante Welt«) während seiner Leipziger Studentenzeit mit dem polit. Gedankengut der Opposition vertraut. Sein erster Gedichtband Nächte. Gepanzerte Lieder (Lpz. 1838) zeigt ihn als unbequemen Kritiker der sozialen u. ökonom. Verhältnisse des Vormärz. Das aufrührerische Pathos seiner Texte fand bei den Zeitgenossen (etwa Friedrich Engels) beträchtl. Anklang. Nachdem sich B. in dem Versroman Jankó, der ungarische Roßhirt (Lpz. 1841) in einer romantisch verbrämten Schilderung heimatlicher Missstände versucht hatte, erreichte seine Sozialkritik in den Liedern vom armen Mann (Lpz. 1846. Bln. 1848), in denen er das Proletariat als Dichtungsgegenstand einführte, ihren Höhepunkt; vorangestellt war dieser Gedichtsammlung ein »Vorwort an das Haus Rothschild«, in dem B. schärfste Anklage gegen das jüd. Großkapital erhebt, das zur Stütze der Reaktion geworden sei. In den nach 1848 entstandenen Werken kommt B.s frühere polit. Aggressivität kaum mehr zum Ausdruck; im Gedichtzyklus An Kaiser Franz Joseph (Wien 1849) distanziert er sich von der Revolution, die er sogar als »Sünde« bezeichnet (B. war 1843 zum Protestantismus übergetreten). Weitere Werke: Der fahrende Poet. Lpz. 1838 (L.). – Stille Lieder. Lpz. 1840. – Saul. Lpz. 1840 (Trag.). – Ges. Gedichte. Bln. 1844. 41846 (enth. den Text zu dem Walzer »An der schönen blauen Donau« v. Johann Strauß). – Mater dolorosa. Bln. 1853 (E.). – Österr. in zwölfter Stunde. Bln. 1868 (Sonette). – Still u. bewegt. 2. Slg. der Gedichte. Bln. 1870. Literatur: Robert Gragger: B. Károly és a német politikai költeszet. Budapest 1909. – Eduard Fechtner: K. B. Wien 1912. – Ernst Thiel: K. B.s literar. Entwicklung. Diss. Breslau 1938. – Ruth

395 Kestenberg-Gladstein: K. B.: Identitätsprobleme der ersten Assimilationsgeneration in dt. Sprache. In: Bulletin des Leo-Baeck-Instituts 60 (1981), S. 51–66. – Antal Màdl: K. B. Ein Vermittler zwischen ungar., österr. u. dt. Lit. In: Ders.: Auf Lenaus Spuren. Beiträge zur österr. Lit. Budapest 1982, S. 167–182. – Goedeke Forts. – Ritchie Robertson: K. B. From radicalism to monarchism. In: Yearbook 46 (2001), S. 81–91. – Wolfgang Häusler: Polit. u. soziale Probleme des Vormärz in den Dichtungen K. B.s. In: Bewegung im Reich der Immobilität. Revolutionen in der Habsburgermonarchie 1848–49; literarisch-publizist. Auseinandersetzungen. Hg. Hubert Lengauer u. Primus Heinz Kucher. Wien 2001, S. 266–298. – Ders.: ›Unterdrückte Taten‹. Vom Scheitern revolutionärer Vormärzdichtung am Beispiel v. K. B. In: Johann Dvorák: Radikalismus, demokrat. Strömungen u. die Moderne in der österr. Lit. Ffm. u. a. 2003, S. 107–122. Johannes Sachslehner / Red.

Becker, August, * 27.4.1828 Klingenmünster/Rheinpfalz, † 23.3.1891 Eisenach; Grabstätte: Klingenmünster, Friedhof. – Erzähler u. Kulturhistoriker. B. wuchs im protestant. Dorfschulhaus von Klingenmünster auf u. wurde zum populärsten pfälz. Heimatschriftsteller. Histor. Studien in München u. journalist. Arbeit (Mitarbeiter an den »Fliegenden Blättern« u. an Cottas »Allgemeiner Zeitung«, dann 1859–1864 Redakteur der liberal-großdt. »Isar-Zeitung« in München) bildeten die Basis für seine kulturhistorisch fundierten Unterhaltungsromane u. Dorfgeschichten. Ersten Erfolg brachte sein spätromant. Versepos Jung Friedel der Spielmann (Stgt. 1854. Neudr. Neustadt/W. 1978). Sein Hauptwerk Die Pfalz und die Pfälzer (Lpz. 1858. Neuausg. Landau/ Pfalz 1983) ist eine poetisch getönte, umfassende topografisch-kulturhistor. Monografie. Der Roman Des Rabbi Vermächtniß (6 Bde., Bln. 1866) vermittelt ein positives Bild des Juden; Vervehmt. Roman aus der Gegenwart (4 Bde., Bln. 1868) kritisiert die Restauration in München. 1868 zog B. nach Eisenach; es entstanden noch zahlreiche Erzählungen u. Romane, darunter Hedwig (2 Bde., Bln. 1868) u. Die Nonnensusel (3 Bde., Jena 1886). Weitere Werke: Novellen. Pesth 1856. – Das Thurmkätherlein. Roman aus dem Elsaß. 4 Bde., Lpz./New York 1871. – Meine Schwester. 4 Bde.,

Becker Wismar/Rostock/Ludwigslust 1876 (R.). – Franz Staren. 3 Bde., Lpz. 1878 (R.). – Das alte Bild. Bln. 1885 (E.). – Der Küster v. Horst. 2 Bde., Jena 1889 (R.). Literatur: Rolf Paulus (Hg.): A. B.-Lesebuch. Landau 1986, S. 143–162. – Jürgen Vorderstemann (Hg.): A. B. 1828–1891. Ein pfälz. Berufsschriftsteller im 19. Jh. Landau 1991 [Begleitbuch zur Ausstellung der Pfälz. Landesbibl. Speyer 7.11.31.12.1991]. – Erich Renner: A. B. – Eisenacher u. Pfälzer Schriftsteller. In: Beiträge zur Gesch. der Lit. in Thüringen. Hg. Detlef Ignasiak. Rudolstadt u. a. 1995, S. 214–220. – Goedeke Forts. – J. Vorderstemann: A. B. u. sein Verhältnis zu seiner pfälz. Heimat. In: Pfälzer Heimat 47 (1996), S. 94–98. Rolf Paulus / Red.

Becker, Cornelius, * (21. oder) 24.10.1561 Leipzig, † 25.5.1604 Leipzig. – Evangelischer Theologe; Psalmendichter. Der Sohn einer Leipziger Kaufmannsfamilie absolvierte sein Theologiestudium in Leipzig (Aufnahme in die Matrikel im Sommersemester 1573, Bacc. art. am 19.5.1580, Magister im Wintersemester 1583). B. gehörte in Leipzig zur ersten Theologen-Generation, die im 17. Jh. die streng lutherisch-orthodoxe Konfessionsrichtung Sachsens bestimmte. Als Pastor der St. Nikolai-Kirche (seit 1594) promovierte B. am 8.11.1599 zum Dr. theol. (bacc. theol. 28.11.1594, Lic. theol. 20.1.1597). Im folgenden Monat fand er Aufnahme in die theolog. Fakultät u. wurde neben seinen zahlreichen Kirchenämtern 1602 Professor der Theologie. B.s einziges literar. Werk, eine paraphrasierende Nachdichtung des Psalters mit Melodie-Hinweisen auf bekannte luth. Kirchenlieder, erschien 1602 in Leipzig. B. dichtete seinen Psalter Davids gesangweis »auf gut lutherische Art« (Vorrede) ausdrücklich als Gegenstück zum bekannten calvinist. Psalmenlieder-Zyklus Ambrosius Lobwassers, dem die Lutheraner bis dahin keine gleichwertige Dichtung entgegenzusetzen hatten. Die zahlreichen Neuauflagen (über 25 bis 1712) veranlassten den Dresdener Komponisten Heinrich Schütz, Teile (1628) u. schließlich (1661) den kompletten Psalter neu zu vertonen.

Becker

396

Weitere Werke: Positiones de autoritate ecclesiae, in scripturis interpretandis, et dijudicandis de religione controversijs. Lpz. 1597. – Quaestio de sacra domini coena [...]. Lpz. [1599]. Ausgaben: Wackernagel 5, Nr. 573–624. – Heinrich Schütz: Der Psalter nach C. B.s Dichtungen für vier Stimmen u. Basso continuo. Hg. Walter Blankenburg. Kassel 1957. – Der Beckersche Psalter. Erstfassung 1628. In: H. Schütz: Neue Ausg. sämtl. Werke. Bd. 40. Hg. Werner Breig. Kassel 1988. Literatur: VD 16, B 1348–1357. – Weitere Titel: Georg Weinreich: Leichenpredigt auf C. B. Lpz. 1604. In: Georg Weinreichs christl. Leichenpredigten. Bd. 1, Lpz. 1610. – Georg Witkowski: Gesch. des literar. Lebens in Leipzig. Lpz. 1909. – Bernhard Klaus: C. B. In: NDB. – Günther Müller: Gesch. des dt. Liedes vom Zeitalter des Barock bis zur Gegenwart. Mchn. 1925. Neudr. Darmst. 1959. – Werner Breig: Die erste Fassung des B.schen Psalters v. Heinrich Schütz. In: Schütz-Jb. (1985/ 86), S. 22–49. – Klaus-Jürgen Sachs: Zur Einschätzung, zur Traditionsbindung u. zur Konzeption des B.-Psalters v. H. Schütz. In: Schütz-Jb. 9 (1987), S. 61–84. – Ders.: Zum B.schen Psalter v. H. Schütz. In: Alte Musik als ästhet. Gegenwart. Bd. 1, Kassel 1987, S. 117–122. – DBA 70,312–331. – Martin Petzoldt in: RGG 4. Aufl. Bd. 1, Sp. 1200. – Käte Lorenzen [SL] in: MGG 2. Aufl. Bd. 2, Sp. 617 f. – Walter Blankenburg in: The New Grove 2. Aufl. Bd. 3, S. 45. – Lars Kessner: Luth. Reaktionen auf den Lobwasser-Psalter. C. B. u. Johannes Wüstholtz. In: Der Genfer Psalter u. seine Rezeption in Dtschld., der Schweiz u. den Niederlanden. Hg. Eckhard Grunewald. Tüb. 2004, S. 283–294. Bernd Prätorius / Red.

Becker, Johann Nikolaus, auch: Apollonius von Beilstein, * 25.9.1773 Beilstein/ Mosel, † 17.12.1809 Simmern/Hunsrück. – Verfasser kritischer Reisebeschreibungen sowie politischer u. juristischer Schriften. B. war das vierte von dreizehn Kindern des Kellermeisters Johann Baptist u. seiner Frau Anna Maria, Untertanen des Reichsgrafen Franz Georg Karl von Metternich-Winneburg. Ein gräfliches Stipendium ermöglichte ihm ein Jurastudium in Mainz u. Göttingen, das er 1794 mit der Promotion abschloss. Die Studienerfahrungen, das anschließende Praktikum am Reichskammergericht in Wetzlar u. den Aufenthalt in Wien 1797 ver-

arbeitete er in den autobiografischen, sozialkrit. Fragmenten aus dem Tagebuche eines reisenden Neu-Franken (Ffm./Lpz. 1798. Neudr. Bremen 1985). Seine Sympathie für die Französische Revolution brachte ihn in Gegnerschaft zu seinem Landesherrn Metternich, dem er in Zur Kritischen Geschichte des Rastadter Friedens (Braunshorn, recte Bln. 1798) die charakterl. u. intellektuellen Fähigkeiten absprach, die Friedensverhandlungen auf dem Rastatter Kongress zu leiten. B. wurde daraufhin ohne weiteres Verfahren in der Würzburger Festung inhaftiert. Nach zehn Monaten gelang ihm unter abenteuerl. Umständen die Flucht ins nunmehr frz. Rhein-Mosel-Departement. Über die sozialen Verhältnisse in den linksrheinischen Gebieten berichtete er anschaulich u. in durchaus kritischer Würdigung der frz. Neuerungen in der Beschreibung meiner Reise in den Departementern vom Donnersberge, vom Rhein und von der Mosel im sechsten Jahr der Französischen Republik; in Briefen an einen Freund in Paris (Bln. 1799. 21808). Nach Tätigkeiten als Journalist u. Rechtsanwalt trat er 1801 in den frz. Justizdienst. Als Ermittlungsbeamter in Simmern (seit 1803) hatte er großen Anteil an der Verhaftung der Schinderhannes-Bande, über die, neben anderen, er in der Actenmäßigen Geschichte der Räuberbanden an den beyden Ufern des Rheins (Köln 1804. Neudr. Lpz. 1978) detailreich informierte. Am 21.11.1803 heiratete er in Simmern; 1809 stürzte er auf einem Dienstritt u. starb an den Folgen dieses Unfalls. Als »jakobinischer« Autor wurde B. erst in den 1980er Jahren von der wiss. Forschung wiederentdeckt. Weitere Werke: Ueber Mainz. o. O. 1792. – Versuch einer Gesch. der Hochmeister in Preußen. o. O. [Bln.] 1798. – Wezel seit seines Aufenthalts in Sondershausen. Erfurt 1799. – Der Meuchelmord v. Wallhausen. Kirn 1805. Literatur: Wilhelm Josef Becker: Aus dem Leben eines Coblenzer Redakteurs. In: Ztschr. für Heimatkunde der Regierungsbezirke Coblenz u. Trier 4 (1923), H. 37, S. 20–22. – Wolfgang Griep: Reisen u. dt. Jakobiner. In: Reise u. soziale Realität am Ende des 18. Jh. Hg. ders. u. Hans-Wolf Jäger. Heidelb. 1983, S. 48–78. – Ders.: J. N. B. Fragmente aus dem Leben u- Werk des ›reisenden Neufran-

397 ken‹. In: Sehen u. Beschreiben. Hg. ders. Heide 1991, S. 226–247. Wolfgang Griep / Red.

Becker, Jürgen, * 10.7.1932 Köln. – Lyriker, Erzähler, Roman- u. Hörspielautor. B., 1939 mit seinen Eltern nach Erfurt gekommen, lebte während der Kriegszeit in Thüringen. 1947 zog er mit seinem Vater in den Harz, später wieder nach Westdeutschland, 1950 schließlich nach Köln. Dort legte er 1953 das Abitur ab. Das Germanistikstudium brach er nach wenigen Semestern ab u. schlug sich 1954–1959 in verschiedenen Berufen durch. Von 1959 bis 1964 war B. Mitarbeiter beim Westdeutschen Rundfunk in Köln, 1964 wurde er Lektor beim RowohltVerlag u. 1973 Leiter des Suhrkamp-Theaterverlags. Von 1974 bis 1993 hatte er die Leitung der Hörspielabteilung des Deutschlandfunks inne. B. ist seit 1965 mit der Künstlerin Rango Bohne verheiratet, mit der er auch an gemeinsamen Projekten arbeitet; das Paar lebt in Köln. 1960 veröffentlichte B. eine Mappe mit dem Titel Phasen (Köln), die neben Texten von ihm Typogramme von Wolf Vostell enthielt. Zusammen mit Vostell gab er die Dokumentation Happenings. Fluxus Pop Art Nouveau Réalisme (Reinb. 1965. 31968) heraus. In seinem ersten Prosaband Felder (Ffm. 1964. 1969. 1988. Frz. Champs. Paris 1971) entwickelte B., angeregt von Heissenbüttel u. Joyce, was er selbst eine »offene Schreibweise« nannte: In 101 Textstücken, die sich der Einordnung in traditionelle literar. Gattungen entziehen, versuchte er, durch Auflösung syntaktischer Strukturen u. Verfremdung stereotyper Sprachformen eine unmittelbare Verbindung von Sprachkritik u. Bewusstseinskritik zu erzielen. Der Sprache sollte dadurch wieder der »Sinn des Authentischen« zurückgegeben u. sie sollte so zu einem Medium für die unmittelbaren Wahrnehmungen, Erinnerungen u. Gedanken des schreibenden Ich werden. Als Schriftsteller zog B. mit Felder die Konsequenzen aus seiner Kritik an der Möglichkeit eines zeitgenöss. Romans, die er ein Jahr zuvor in einer Rede auf einem Berliner Kritiker-Colloquium formuliert hatte. Danach sollte im Roman mit

Becker

seinen fiktionalen u. narrativen Elementen in der Gegenwart nur noch die nicht länger zu pflegende »literarische Form der Lüge« zu erkennen sein. 1965/66 erhielt B. das Stipendium der Villa Massimo u. zog nach Rom. Während dieser Zeit entstand der Anfangsteil von Ränder (Ffm.), seinem zweiten Prosaband, der 1968 in Frankfurt/M. erschien (21970). Mit seinen zehn spiegelbildlich um ein leeres Doppelblatt angelegten Textstücken führte Ränder den ästhet. Ansatz der Felder fort, verlagerte jedoch den Akzent durch stärkere Anwendung konstruktivistischer u. sprachexperimenteller Methoden auf die Darstellung der sprachl. Wirklichkeit als solcher, die ihrem Kern nach – das scheint der Sinn der leeren Textstelle in der Mitte zu sein – unerkennbar bleibt. Mit Umgebungen (Ffm.) publizierte B. 1974 den letzten Band seiner Trilogie experimenteller Prosa (Felder, Ränder, Umgebungen. Ffm. 1983). 1969 erschienen die ersten Hörspiele Bilder (Erstsendung Saarländischer Rundfunk), Häuser (Westdeutscher Rundfunk) u. Hausfreunde (Westdeutscher Rundfunk/Südwestfunk). In ihnen greifen schwebende, anonym bleibende Stimmen die klischeehaft-leere Sprache bestimmter Wirklichkeits- u. Lebensbereiche auf u. variieren sie thematisch. Wie schon die Prosatexte zeichnen sich auch die Hörspiele durch das Fehlen eines logisch geknüpften Zusammenhangs u. einer erzählbaren Fabel aus. 1971 trat B. auch als Fotograf hervor. In dem Fotoband Eine Zeit ohne Wörter (Ffm. 1971), der 281 zu verschiedenen Bildsequenzen zusammengefügte Schwarz-Weiß-Fotografien enthielt, suchte er nun auch im visuellen Medium nach Wegen, die authent. Erfahrungen seines wahrnehmenden Bewusstseins festzuhalten. Auch wenn B. in der Sprache sein eigentliches Ausdrucksmedium findet, so bleiben das Visuelle u. der Versuch, Wort u. Bild miteinander in Beziehung setzen, um so neue, intensivere Ausdrucksformen zu erreichen, eine wichtige Inspirationsquelle. Seit 1982 sind mehrere Bände mit Texten B.s u. Bildern seiner Frau erschienen (u. a. Fenster und Stimmen. Ffm. 1982. Korre-

Becker

spondenzen mit Landschaft. Ffm. 1996. Häuser und Häuser. Ffm. 2002). Das Theaterstück Die Zeit nach Harrimann (Ffm. 1971), dessen Uraufführung 1973 in Münster stattfand, bildet den bislang einzigen »Ausflug« B.s in das dramat. Genre. Seit Beginn der 1970er Jahre veröffentlichte er neben weiteren Hörspielen (u. a. Türen und Tore. Erstsendung Westdeutscher Rundfunk 1971. Einzelne Bäume. Im Wind. Westdeutscher Rundfunk 1972. Ein Zimmer wird leer. Westdeutscher Rundfunk 1973) zunächst v. a. Gedichtbände (u. a. Schnee. Ffm. 1971. Das Ende der Landschaftsmalerei. Ffm. 1974. 21975. Erzähl mir nichts vom Krieg. Ffm. 1977. 21980. Gedichte 1965–1980. Ffm. 1981), in denen ein naturalistischer Ansatz dominiert. B.s Gedichte haben den Charakter von Notizen, die in knappen, oft unvermittelt einsetzenden Formulierungen Beobachtungen, Wahrnehmungen u. Betrachtungen fixieren, die durch konkrete Reize der Innen- u. Außenwelt ausgelöst werden. Die Prosastücke der frühen 1980er Jahre, der von der Kritik hochgelobte Band Erzählen bis Ostende (Ffm. 1981. 21982) u. Die Türe zum Meer (Ffm. 1983. Serbokroat. Vrata prema moru. Novi Sad 1985. Frz. Une porte sur la mer. Eglise-Neuve-d’Issac 1989), sind beherrscht von einem stark lyrisch gefärbten, melanchol. Grundton; auch die Motive, Natur u. Naturbeobachtung, verbunden mit dem Blick ins Innere u. dem assoziativspontanen Heraufbeschwören von Eindrücken, Gedanken- u. Erinnerungsfetzen, schließen unmittelbar an die Lyrik der vorangegangenen Jahre an. Als eines der zentralen Prinzipien u. Ziele seines Schreibens versteht B. es auch heute, »die Gleichzeitigkeit von ungleichzeitig vorhandenen, erscheinenden, vergehenden Dingen, Gedanken, Überlegungen zu benennen« (dieses Motto stellt er als »Intro« seiner persönl. Homepage voran). Wie in der Frühphase seines Schaffens geht es B. nicht darum, die vermeintliche eine Wirklichkeit (be)greifbar zu machen, sondern darum, die Offenheit des Seins wie des Kunstwerks, das Zusammentreffen von Widersprüchlichem, von Vergangenem u. Gegenwärtigem, von Außen u. Innen zu beleuchten. Der gesellschaftl. Wandel, von jeher ein bedeutendes Motiv des B.’schen

398

Schreibens, rückt unter den Eindrücken der Wendezeit u. der dt. Wiedervereinigung stärker als zuvor in den Mittelpunkt: In dem Roman Aus der Geschichte der Trennungen (Ffm. 1999. 2001), der an die Erzählung Der fehlende Rest (Ffm. 1997. 2002) anknüpft, reflektiert der Erzähler Erinnerungen, Gedanken u. Empfindungen des Malers Jörn Winter, der nach der Wiedervereinigung in seine Heimat, die ehemalige DDR, zurückkehrt. Die Reise durch Landschaften u. Orte wird zu einer Reise in die eigene Vergangenheit. Weder die Stationen der erzählten noch die der gedankl. Reise folgen einem genauen Plan oder einem linearen Erzählschema: Orte u. Landschaften tauchen auf u. verschwinden wieder, überlagern einander ebenso episodenartig wie die Gedanken, Vorstellungen u. Erinnerungsbilder des Reisenden. B. selbst bezeichnet das Werk als autobiogr. Roman; Parallelen zwischen seinem eigenen Lebensweg u. dem seiner Figur Jörn Winter sind deutlich erkennbar. Die Tatsache, dass B. in der Form des Romans eine Ausdrucksmöglichkeit für sich gefunden hat, der Form also, die er in seinen frühen Jahren so kategorisch abgelehnt hatte, zeigt – obwohl er seiner Ästhetik u. Poetik in Vielem treu geblieben ist – einen Wandel in seinem literar. Selbstverständnis. Stärker als früher arbeitet B. in jüngster Zeit auch mit u. an der Darstellung konkreter Figuren u. Charaktere. B. ist Mitgl. der Akademie der Künste Berlin, der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt u. der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur. Für sein Werk wurde er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter der Preis der Gruppe 47 (1967), der Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste (1980), der Peter-Huchel-Preis (1994), der Heinrich-Böll-Preis der Stadt Köln (1995), der Uwe-Johnson-Preis (2001) u. der Hermann-Lenz-Preis (2006). Weitere Werke: Versuchtes Verschwinden. Erstsendung Westdeutscher Rundfunk 1981 (Hörsp.). – Foxtrott im Erfurter Stadion. Gedichte. Ffm. 1993. 21995. – Erker mit schöner Aussicht. Erstsendung Deutschlandfunk 2000 (Hörsp.). – Schnee in den Ardennen. Journalroman. Ffm. 2003. – Die folgenden Seiten. Journalgesch.n. Ffm. 2006.

Becker

399 Literatur: Leo Kreutzer (Hg.): Über J. B. Ffm. 1972. – Christian Linder: Schreiben & Leben. Gespräche mit J. B. u. a. Köln 1974. – Hans-Ulrich Müller-Schwefe: ›Schreib alles‹. Zu J. B.s ›Rändern‹, ›Feldern‹, ›Umgebungen‹, anhand einer Theorie simuliert präsentativer Texte. Mchn. 1977. – Peter Bekes: J. B. In: KLG. – Walter Hinck: ›Landschaft und Geschichte‹. Zur Verleihung des Uwe-Johnson-Preises. In: SuF (2002), H. 1, S. 125–129. – Andreas Nentwich: J. B. In: LGL. – Heinz Ludwig Arnold: J. B. Text + Kritik 159 (2003). Peter König / Red.

Becker, Jurek, eigentl.: Jerzy Bekker, Beker, bzw. Georg Becker, auch: Georg Nikolaus, * 30.9.1937 (?) Lódz´/Polen, † 14.3. 1997 Sieseby/Schleswig-Holstein. – Erzähler, Drehbuchautor, Essayist. /

B., der seit den 1970er Jahren eine der herausragenden Persönlichkeiten der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur darstellte, war gebürtiger Pole u. lernte Deutsch erst als Jugendlicher. Er stammte aus einer assimilierten jüd. Familie, die zum aufstrebenden Bürgertum der modernsten u. jüdischsten Stadt Polens gehörte, die seit Beginn der Industrialisierung als »Manchester Polens« galt. Der Vater arbeitete als Prokurist in der Textilfabrik eines Onkels. Der dt. Überfall auf Polen im Sept. 1939 markiert eine frühe Zäsur im Leben B.s, die ihn bis an seine Lebensende beschäftigte u. sein Schreiben nachhaltig prägte. Im Frühjahr 1940 wurde die Familie in das von den Besatzern errichtete Getto der Stadt (ab 1940: Litzmannstadt) eingewiesen, wo sich die Lebensverhältnisse schon bald dramatisch zuspitzten. Im Febr. 1944 erfolgte die Deportation von Mutter u. Sohn in das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück. Nach der Befreiung durch die Rote Armee Ende April 1945 verlegte man die schwerkranken Häftlinge in ein provisor. Krankenhaus im nahen Lager Sachsenhausen, wo die Mutter an den Folgen ihrer Unterernährung starb. B. selbst entging dem Tod nur knapp u. wurde schließlich durch eine amerikan. Hilfsorganisation mit seinem Vater zusammengeführt, der im Sommer 1944 nach Auschwitz verschleppt worden war.

Vater u. Sohn ließen sich 1945 in Ostberlin nieder. Um in seiner neuen Umgebung nicht aufzufallen, änderte der Vater seinen Vornamen zu »Max«, den des Sohnes zu »Georg«. Er machte sich jünger, fingierte seinen Lebenslauf zu dem eines dt. Juden u. zog schließlich mit einer Nichtjüdin zusammen. Derlei Anpassungsversuche u. die hartnäckige Tabuisierung der Vergangenheit führten zu massiven Identitätsproblemen, die das Verhältnis zum Sohn im hohen Maße belasteten u. zu einer Triebfeder von dessen Schreiben wurden. Dem durch Getto u. Lagerhaft traumatisierten u. kränkelnden B. gelang es nur langsam, ein normales Leben aufzunehmen. Als er acht Jahre alt war, hörte sein Vater auf, mit ihm Polnisch zu sprechen, u. unterzog ihn einem intensiven Sprachtraining. Auch der Sohn wollte auf keinen Fall als »Ausländer« oder »Jude« gelten u. entwickelte deshalb einen äußerst bewussten Umgang mit dem Deutschen, der neben seinem Humor u. Witz zum Markenzeichen des späteren Schriftstellers wurde. Hierbei spielte die Fabulierlust des Vaters u. seiner Freunde eine große Rolle, die ihn schon früh dazu zwangen, an den von ihm erzählten Geschichten zu feilen, um im Familienkreis die erhoffte Aufmerksamkeit zu erlangen. In Familie u. Schule, die er erstmals als Zehnjähriger besuchte, wurde B. zu einem überzeugten Sozialisten erzogen, der sich auch in der FDJ engagierte. Folgerichtig trat er nach dem Abitur in die SED ein u. leistete freiwillig zwei Jahre lang Wehrdienst. Ab 1957 studierte er Philosophie an der Berliner Humboldt-Universität, da er darin die beste Vorbereitung für den von ihm erstrebten Beruf als Schriftsteller sah. Erste Zweifel an Weltbild u. Politik der DDR nährte ein Ernteeinsatz in den Semesterferien, bei dem B. dem Widerstand der Bauern gegen die Zwangskollektivierung begegnete. Der vom Vater zum krit. Vielleser Erzogene geriet dadurch in Widerspruch zur offiziellen Linie der Partei, die sich nach der Niederschlagung des Ungarn-Aufstands im Nov. 1956 schnell vom »Tauwetter« des XX. Parteitags der KPdSU verabschiedet hatte u. krit. Intellektuelle wie Wolfgang Harich, Ernst Bloch oder

Becker

Robert Havemann als Staatsfeinde brandmarkte. Auch B. sah sich in der Folge mehreren Parteiverfahren ausgesetzt. Da er sich standhaft weigerte, seinen Vorstellungen eines freiheitlich-demokrat. Sozialismus abzuschwören, bestand er seine ersten Prüfungen nur knapp u. musste 1960 die Universität verlassen. Seither stand er unter der Überwachung der Staatssicherheit. B., der Ende der 1950er Jahre mit dem Schauspieler u. Sänger Manfred Krug (»Bruder Manfred«) zusammenlebte u. mit diesem zum Schrecken des Vaters ein durch u. durch unbürgerl. Leben in der »alternativen« Szene Ostberlins führte, verdiente seither seinen Lebensunterhalt als freier Schriftsteller, u. a. mit Texten für das renommierte Kabarett »Die Distel«, für das er bereits früher tätig war. Um seine Marktchancen zu erhöhen, erlernt er die Technik des Drehbuchschreibens im DDR-Filmzentrum Babelsberg, wo er sich als Spezialist für satir. Kurzfilme, Gegenwartskomödien u. Unterhaltungsfilme einen Namen machte. Der Erfolg seines ersten Romans Jakob der Lügner (Bln./Weimar 1969), der wenig später auch in der Bundesrepublik erschien u. in mehr als 20 Sprachen übersetzt wurde, stellte den mittlerweile fest angestellten Drehbuchautor in die erste Reihe der DDR-Schriftsteller. Als Aushängeschild der DDR-Kultur gehörte er seither zu den wenigen DDR-Autoren, denen Lesereisen in den Westen erlaubt waren. 1972 wurde er Mitgl. des P.E.N.Zentrums der DDR, 1973 Vorstandsmitgl. im Berliner Bezirksverband des Schriftstellerverbands der DDR. Die Verfilmung seines ursprünglich als Drehbuch konzipierten Romans durch Frank Beyer festigte 1974 seinen nat. u. internat. Ruhm. Die Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 führte zum offenen Bruch mit dem Arbeiter- u. Bauernstaat. Im Herbst 1976 protestierte B. gegen den Ausschluss Reiner Kunzes aus dem Schriftstellerverband, wenig später gehörte er neben Christa Wolf, Sarah Kirsch, Volker Braun, Stefan Heym, Stephan Hermlin, Günter Kunert u. a. zu den ersten Unterzeichnern einer Petition, die sich gegen die Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann richtete, mit dem er seit Langem

400

befreundet war. Daraufhin wurde B. aus der SED ausgeschlossen. Im April 1977 verließ er den Schriftstellerverband, im Dez. desselben Jahres die DDR. Auslöser für diesen Schritt war das Druckverbot für seinen regimekrit. Roman Schlaflose Tage. Mit einem mehrmals verlängerten Reisevisum, das ihm die Rückkehr zu seinen beiden Söhnen aus erster Ehe in Ostberlin erlaubte, lebte B. ab diesem Zeitpunkt in Kreuzberg im Westteil der Stadt, ab 1983 mit seiner späteren zweiten Ehefrau Christine, die 1990 seinen dritten Sohn zur Welt brachte. B. nutzte die neu gewonnene Freiheit zu Reisen in alle Welt u. nahm wiederholt Gastprofessuren im In- u. Ausland wahr. Da er sich als gesamtdt. Autor verstand, legte er Wert darauf, dass seine neuen Romane u. Erzählungen in beiden Teilen Deutschlands erschienen. Parallel zu seinem poet. Werk u. in enger Verzahnung mit ihm entstanden zahlreiche Drehbücher für Film u. Fernsehen. Ein polit. Dichter, der sich nach wie vor als Sozialist verstand, wurde B. schon bald nach seiner Übersiedlung zu einer prominenten Figur auch des bundesdt. Kulturbetriebs. Mit Kritik an der DDR hielt er sich jedoch zurück, da er sein Reisevisum nicht gefährden u. vom Westen nicht vereinnahmt werden wollte. Trotzdem mischte er sich in den Lauf der Zeit ein, wie den Frankfurter Poetikvorlesungen Warnung vor dem Schriftsteller (Ffm. 1990) oder dem Essayband Ende des Größenwahns (Ffm. 1996) zu entnehmen ist. Wie Grass, Christa Wolf u. viele andere Linksintellektuelle in Ost u. West stand er dem dt. Vereinigungsprozess skeptisch gegenüber. B. war Mitgl. der Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt (seit 1983) u. der Westberliner Akademie der Künste (seit 1990) u. wurde im Laufe seines Schriftstellerlebens mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Durch seine mehr als 40 Drehbücher für die ARDSerie Liebling Kreuzberg gewann er zuletzt ein Millionenpublikum. B.s Romane weisen unübersehbar autobiogr. Spuren auf. Einer inneren Logik folgend, werden zwei Themen umkreist, die einander im steten Wechsel ablösen: die Suche nach seiner Identität als Jude u. das Glücksverlangen des Einzelnen im Staatsso-

401

zialismus der DDR. Die einzige Ausnahme bildet der Roman Aller Welt Freund (Ffm. 1982), der auf dem Höhepunkt des Ost-WestKonflikts den an sich u. der Welt verzweifelnden Nachrichtenredakteur Kilian vorstellt u. sich dabei der Mittel des schwarzen Humors bedient. B.s literar. Suche nach seiner jüd. Identität, die in komprimierter Form im Aufsatz Mein Judentum (1977) nachzulesen ist, beginnt in Jakob der Lügner (1969). Der Roman spielt in einem poln. Getto während des Zweiten Weltkriegs u. erzählt die Geschichte des Juden Jakob Heym, der wider Willen zum Helden wird. Die von ihm erfundenen RadioNachrichten wecken die Hoffnung seiner Leidensgenossen u. stärken ihren Überlebensmut. Die tragikom. Parabel zeigt einen Erzähler, der keineswegs eine dokumentar. Vergegenwärtigung der Gettowirklichkeit verfolgt, sondern der Unmenschlichkeit des selbst Erlebten mit Ironie u. Humor begegnet. Im Gegensatz zur offiziellen Literaturdoktrin der DDR stellt B. nicht den kommunist. Widerstand in den Mittelpunkt, sondern das Leiden der jüd. Opfer. Ein optimist. Schluss wird in dieser Interpretation der bibl. Jakobslegende verweigert, die seit ihrem Erscheinen zu den bedeutendsten Werken der deutschsprachigen Literatur nach 1945 zählt. Der Boxer (Rostock u. Ffm. 1976) handelt von den Spätfolgen des Holocaust bei den Überlebenden u. beharrt auf der Subjektivität individueller Erfahrung. Der nach dem Tod des Vaters geschriebene Roman beschreibt aus der Sicht eines Nachgeborenen die Traumata des ehemaligen KZ-Häftlings Aron Blank, der durch den Rassenwahn der Nationalsozialisten einen Großteil seiner Familie verloren hat. Nach 1945 gelingt es ihm nicht mehr, ein normales Leben zu führen. Erst in den Gesprächen mit dem jüngeren Erzähler gelingt es Aron doch noch, neuen Lebensmut zu fassen. 1986 erschien B.s Roman Bronsteins Kinder (Ffm.), der ursprünglich den Titel Wie ich ein Deutscher wurde trug. Darin entdeckt ein in der DDR lebender junger Jude, dass sein bis dahin unbescholten u. unauffällig lebender Vater im Waldhaus der Familie einen ehemaligen KZ-Aufseher gefangen hält u. foltert, um

Becker

ein Geständnis seiner vermuteten Untaten zu erzwingen. Dieser Vorgang löst im Sohn einen schmerzhaften Loyalitätskonflikt aus. Als er den Gefangenen befreit, findet er den Vater tot an dessen Seite. Erst nach einem Jahr der Trauerarbeit gelingt es ihm, sich dem bereits Verdrängten erzählerisch anzunähern. Ob u. wie ihm ein neues Leben gelingt, bleibt offen. B.s Auseinandersetzung mit den gesellschaftl. Verhältnissen der DDR findet erstmals in dem Roman Irreführung der Behörden (Rostock u. Ffm. 1973) ihren Niederschlag, der in Form eines Künstler- u. Liebesromans die korrumpierenden Mechanismen eines staatlich gelenkten Kulturbetriebs anprangert. Der Ich-Erzähler u. einstige Rebell Gregor Bienek mutiert darin aus egoist. Motiven zu einem Autor seichter Unterhaltungsware u. sieht sich deshalb den Vorwürfen seiner staatstreuen Lebensgefährtin ausgesetzt, die ihm Verrat an den sozialist. Gesellschaftsidealen vorwirft. Dass sich Bienek am Ende Lolas naivem Glauben an die Kulturbehörden anschließen wird, muss jedoch angesichts der durchgehenden Doppelbödigkeit des Erzählten bezweifelt werden. Der Roman Schlaflose Tage (Ffm. 1978) ist das radikalste Buch B.s u. wurde von ihm als sein einziges »Dissidenten-Buch« bezeichnet. Entstanden in der angespannten Situation vor u. nach der Biermann-Ausbürgerung, zeigt es am Beispiel des Lehrers Karl Simrock den Modellfall der Verweigerung eines von seiner sozialist. Umwelt zutiefst enttäuschten Sozialisten, der nur im Rückzug ins Private seine Identität bewahren kann. In Amanda herzlos (Ffm. 1992) erweist sich B. erneut witzig, ironisch u. geistreich wie in seinen besten Tagen. Der Roman stellt erstmals eine Frau in den Mittelpunkt, die jedoch an keiner Stelle selbst zu Wort kommt. Amandas Bild wird von ihren Liebhabern entworfen, die sich in jeweils abgeschlossenen Kapiteln auf gänzlich unterschiedl. Weise an ihre Geliebte erinnern. Der Leser begegnet hierbei subtilen Innenansichten der DDR, die bis kurz vor dem Mauerfall reichen u. zwischen den Zeilen im milden Licht der Rückschau die Lebensverhältnisse im Realsozialismus erneut auf den Prüfstand stellen. Ein kunstvoll arrangierter Vor-Wenderoman,

Becker

in dem Privates im Zusammenhang mit dem Öffentlichen gesehen wird. Ausgaben: J. B.s Neuigkeiten an Manfred Krug & Otti. Hg. M. Krug. Mchn. 1999. – Lieber Johnny: J. B.s Postkarten an seinen Sohn Jonathan. Hg. Trude Trunk. Bln. 2006. – ›Ihr Unvergleichlichen‹. Briefe. Ausgew. u. hg. v. Christine Becker u. Johanna Obrusnik. Ffm. 2007. – Mein Vater, die Deutschen u. ich. Aufsätze, Vorträge, Interviews. Hg. v. C. Becker. Ffm. 2007. Literatur: Bibliografien: Lüdke-Haertel u. a. (s. u.). – Heidelberger-Leonhard 1992 (s. u.), S. 349–380. – Behn/Bock (s. u.). – Biografien: Sigrid Lüdke-Haertel u. a.: J. B. In: KLG. – Manfred Behn u. Hans-Michael Bock: J. B. In: CineGraph. Lexikon zum deutschsprachigen Film. Mchn. 1984 ff. (auch online). – Hermann Ruch: J. B., Leben u. Werk. In: J. B., ›Jakob der Lügner‹. Hg. Franz-Maria Sonner. Bln. 2000 (CD-ROM). – Sander L. Gilman: J. B. Die Biogr. Mchn. 2002. – H. Ruch: J. B. In: LGL. – Dokumente und Materialien: Carl Paschek (Hg.): J. B. Ausstellungskat. Ffm. 1989. – Karin Graf u. Ulrich Konietzny (Hg.): J. B. Werkheft Lit. Mchn. 1991. – Heinz Ludwig Arnold: Aus den Stasi-Akten über J. B. In: Text + Kritik 120 (1993), S. 15–25. – Holger Jens Karlson: J. B.. Bausteine zu einer Schriftstellerbiogr. In: Berliner H.e zur Gesch. des literar. Lebens 3 (2000), S. 5–80. – Karin Kiwus (Hg.): ›Wenn ich auf mein bisheriges zurückblicke, dann muss ich leider sagen‹. J. B 1937–97. Dokumente zu Leben u. Werk aus dem J.-B.-Archiv der Akademie der Künste Berlin. Bln. 2002. – Beate Müller: Stasi – Zensur – Machtdiskurse. Publikationsgesch.n u. Materialien zu J. B.s Werk. Tüb. 2006. – Werkanalysen und Einzelaspekte: Irene Heidelberger-Leonard (Hg.): J. B. Ffm. 1992. – H. L. Arnold (Hg.): Text + Kritik 116 (1992). – Hannah Liron Frei: Das Selbstbildnis des Juden, entwickelt am Beispiel v. Stefan Heym u. J. B. Diss. Zürich 1992. – Claudia Brecheisen: Lit. des Holocaust: Identität u. Judentum bei Jakob Lind, Edgar Hilsenrath u. J. B. Diss. Augsb. 1993. – Wolfgang Pasche: Lektürehilfen J. B., ›Bronsteins Kinder‹. Stgt. u. a. 1994. 92005. – Thomas Jung: ›Widerstandskämpfer oder Schriftsteller sein ...‹ J. B. – Schreiben zwischen Sozialismus u. Judentum. Eine Interpr. der HolocaustTexte u. deren Verfilmung im Kontext. Diss. Ffm. u. a. 1998. – Lothar Wiese: J. B., ›Jakob der Lügner‹. Mchn. 1998. – Christina Rühl: Der Mensch ist doch kein Flussbett ... J. B. als Roman- u. Drehbuchautor. Diss. Ffm. u. a. 2005. – Bernd Matzkowski: Erläuterungen zu J. B., ›Jakob der Lügner‹. Hollfeld 42005. – Rüdiger Bernhardt: Erläuterungen zu J. B., ›Bronsteins Kinder‹. Hollfeld 2005. – Kontexte: Reinhild Köhler-Hausmann: Literaturbetrieb in

402 der DDR. Schriftsteller u. Literaturinstanzen. Stgt. 1984. – Jüd. Museum Frankfurt/M. (Hg.): ›Unser einziger Weg ist Arbeit‹. Das Ghetto in Lodz 1940–44. Ausstellungskat. Wien 1990. – Oskar Rosenfeld: Wozu noch Welt. Aufzeichnungen aus dem Getto Lodz. Hg. Hanno Loewy. Bln. 1994. – Mario Keßler: Die SED u. die Juden. Zwischen Repression u. Toleranz. Polit. Entwicklung bis 1967. Bln. 1995. – Ralf Schenk (Hg.): Regie: Frank Beyer. Bln. 1995. – Wolfgang Emmerich: Kleine Literaturgesch. der DDR. Erw. Neuausg. Lpz. 1996. – Manfred Krug: Abgehauen. Ein Mitschnitt u. ein Tgb. Düsseld./Mchn. 1996. – Simone Erpel: Kriegsende u. Befreiung. In: Forschungsschwerpunkt Ravensbrück. Beiträge zur Gesch. des Frauenkonzentrationslagers. Hg. Sigrid Jacobeit u. Grit Philipp. Bln. 1997, S. 47–59. – Ehrhart Neubert: Gesch. der Opposition in der DDR 1949–89. Bonn 1997. – Wolfgang Jäger: Die Intellektuellen u. die dt. Einheit. Freib. i. Br. 1997. – Ulrike Offenberg: Seid vorsichtig gegen die Machthaber. Die jüd. Gemeinden in der SBZ u. der DDR 1945–90. Bln. 1998. – Jürgen Hensel (Hg.): Polen, Deutsche u. Juden in Lodz 1820–1939. Osnabr. 1999. – Fritz Pleitgen (Hg.): Wolf Biermann u. andere Autoren. Die Ausbürgerung. Anfang vom Ende der DDR. Bln. 2001. – Wolfgang Jakobsen, Anton Kaes u. Hans H. Prinzler (Hg.): Gesch. des dt. Films. Stgt. 2 2004. – Andrea Löw: Juden im Getto Litzmannstadt. Lebensbedingungen, Selbstwahrnehmung. Verhalten. Gött. 2006. Hermann Ruch /

/

Becker, Nikolaus, * 8.10.1809 Bonn, † 28.8.1845 Hünshofen bei Geilenkirchen. – Patriotischer Lyriker. B., Sohn eines Kaufmanns, wurde nach dem Studium der Rechte in Bonn Auskultator am Kölner Landgericht u. nahm 1840 wegen schwieriger Vermögensverhältnisse mit einer Gerichtsschreiberstelle in Geilenkirchen vorlieb. Sein 1840 erstmals publiziertes Gedicht Sie sollen ihn nicht haben, den freien deutschen Rhein, Reaktion auf polit. Strömungen in Frankreich, trug ihm über Nacht nat. Bekanntheit u. kgl. Ehrengaben aus Preußen (1000 Taler von Friedrich Wilhelm IV.) u. Bayern (Ehrenpokal von Ludwig I.) ein. Nach Friedrich Engels wurde das Gedicht »par force zum Volkslied gemacht«. Trotz der raschen Verbreitung in Zeitungen u. über Gesangvereine (70 Vertonungen) war der Autor, ohnehin li-

403

Becker

terarisch unbedeutend, bald vergessen. Im als Professor für deutsche Literatur an der Erscheinungsjahr aber schwamm B. mit sei- New York University. Schon als junger Student debütierte B. mit nem naiv-patriotischen, antifrz. Rheinlied auf jener Welle spätromantisch-nationalisti- Gedichten, die Anlehnung an die kühne Mescher Begeisterung, die in ganz Deutschland taphorik u. das rhapsodische Pathos seines eine Aufwertung des preuß. Führungsan- poet. Vorbilds Dylan Thomas suchten. Mit dem hymnischen Tonfall seiner Großstadt- u. spruchs bewirkte. Alphonse de Lamartine (in einer Friedens- Liebesgedichte verbindet sich eine metaphys. marseillaise) u. Alfred de Musset (»Nous Gebärde: Mythologische u. bibl. Stoffe werl’avons eu, votre Rhin allemand«) nahmen in den im Gedicht herbeizitiert, um die persönl. Versform 1841 Stellung. In Deutschland Erfahrungen des lyr. Ich zu verallgemeinern. führten zahlreiche Nachahmer u. Gegner So weist auch das Titelgedicht des Bandes Die unmittelbar nach Erscheinen von B.s Gedicht Arche unter dem Pilz (Wiesb. 1955) ins Univereine »poetische Rheindiskussion«. Betonten sale: In einer historisch weit gespannten Vidie Rheinlieder Ernst Moritz Arndts u. Max sion der Menschheitsgeschichte wird die Schneckenburgers, dessen Wacht am Rhein ewige Aktualität der »Legende von Adam und (1840), zunächst unbeachtet, 1870 zur Eva« besungen. Das myst. Weltgedicht Kälter »Trutz- und Siegeshymne« avancierte, das weht das Unbekannte erschien postum in der die Nationen Trennende der Grenzlinie, Literaturzeitschrift Akzente (H. 4, 2006). zielten die Gedichte der literar. Opposition Weitere Werke: Die Christlegende. 1947 (E.). – (Georg Herwegh, Robert Prutz u. Rudolf Gedichte. Stierstadt 1950. – Veränderungen auf Gottschall), die von demokratisch-weltbür- eine Briefstelle. Wiesb. 1960 (L.). Michael Braun gerl. Ideen bestimmt war, darauf ab, den Rhein als völkerverbindenden Strom darzuBecker, Rudolph Zacharias, * 9.4.1752 stellen. Weitere Werke: Der dt. Rhein. Mchn. 1841. – Gedichte. Köln 1841. Literatur: Louis Waeles: N. B., der Dichter des Rheinliedes. Bonn 1896. – Heinrich Schiffers: ›Sie sollen ihn nicht haben, den freien deutschen Rhein‹. Neue Aktenfunde über N. B.s Rheinlied. Aachen 1930. – Helmut Motekat: N. B. In: NDB. – Jost Hermand (Hg.): Der dt. Vormärz. Stgt. 1974, S. 127–134. – Edda Magdanz: Das Rheinlied. Springflut des Nationalismus. In: Aufbruch in die Bürgerwelt. Hg. Helmut Bock u. Renate Plöse. Münster 1995, S. 325–331. – Goedeke Forts. – Guillaume van Gemert: Frei u. deutsch. N. B. u. die Tradition der polit. Rheindichtung. In: Wessen Strom? Hg. Leopold Decloedt. Amsterd. 2001, S. 185–202. Wolfgang Weismantel / Red.

Becker, Reinhard Paul, * 11.8.1928 Iserlohn, † 15.6.2006 Rye/New York. – Lyriker u. Übersetzer. B. studierte Literaturgeschichte in Heidelberg u. den USA u. reiste als Manager einer Broadway-Show durch Amerika, nach Hongkong, Manila u. Singapur. 1952 übertrug er Tode und Tore von Dylan Thomas ins Deutsche. Seit 1965 bis zu seiner Emeritierung lehrte B.

Erfurt, † 28.3.1822 Gotha. – Volksaufklärer, Journalist u. Buchhändler.

B. wuchs in dürftigen Verhältnissen als Sohn des Mädchenschullehrers Johann Balthasar Bekker in Erfurt auf. Ab 1769 studierte er hier, wo er auch Vorlesungen Wielands hörte, u. später in Jena vorwiegend Theologie. Nach drei Jahren brach er das Studium ab u. wurde Hofmeister in der Familie des preuß. Kammerpräsidenten a. D. Carl Friedrich von Dacheröden in Erfurt. Dort machte er die Bekanntschaft Karl Theodor von Dalbergs, der Becker sein Leben lang unterstützte. B.s Name wurde in der aufgeklärten Öffentlichkeit durch seine Antwort auf die Preisaufgabe der Berliner Akademie der Wissenschaften für 1780 bekannt. Einem Diktat Friedrichs II. folgend, stellte sie zur Debatte, ob es nützlich sein könne, das Volk zu täuschen. Ohne Einschränkung verneinte B. diese für die Diskussion um das aufklärer. Selbstverständnis am Ende des 18. Jh. ungemein wichtige Frage. Er erhielt den Preis der Akademie, der allerdings zgl. auch für eine bejahende Antwort verliehen wurde. In seiner Heimatstadt wurde er daraufhin zum

Becker

Mitgl. der Akademie der nützlichen Wissenschaften ernannt, während man ihm eben wegen des Inhalts der Preisschrift eine Professur an der Universität Erfurt versagte. 1782 wurde B. Lehrer am Philanthropin in Dessau. Mit Christian Gotthilf Salzmann bereitete er die Gründung eines neuen Philanthropins in Schnepfenthal vor, doch beendete ein persönlicher Dissens die gemeinsame Arbeit. B. setzte seine in Dessau begonnene publizist. Tätigkeit ab 1784 mit der Herausgabe der »Deutschen Zeitung für die Jugend und ihre Freunde« in Gotha fort. Hier erschien im selben Jahr die erste Ankündigung des Noth- und Hülfs-Büchleins, durch das B. zur zentralen Figur jener Aufklärer wurde, die ihr Gedankengut in popularisierter Gestalt auch dem »gemeinen Volk« zugänglich machen wollten. Die massiv betriebene Werbung für dieses »Volksbuch« begann 1785 mit einem bei Göschen in Leipzig veröffentlichten Versuch über die Aufklärung des Landmannes (Neudr. Stgt. 2001) u. mündete in die größte Buchsubskription des 18. Jh.: Bis 1788 gingen 28.000 Vorbestellungen ein. Im selben Jahr erschienen vier textidentische Erstausgaben des Noth- und Hülfs-Büchleins für Bauersleute, oder lehrreiche Freuden- und Trauer-Geschichte des Dorfs Mildheim (bei Göschen u. in B.s Verlag der »Deutschen Zeitung«. Neudr. Dortm. 1980), die sich lediglich durch Druck u. Ausstattung unterschieden. Die Erstauflage hatte eine Höhe von 30.000 Exemplaren. Die Konzeption des Werks berücksichtigt die Erfahrungen u. Diskussionen der Volksaufklärer seit etwa 1750. Ratschläge zur Land- u. Hauswirtschaft sowie zu einer vernunftgemäßen Lebensführung insg. sind in eine unterhaltsame Rahmenerzählung eingebettet. Die Schrift sollte prakt. Lebenshilfe geben u. den einfachen Leser dazu anhalten, selbst zu denken u. zu prüfen. Die Verbindung von sachlicher Belehrung u. Unterhaltung, die Anknüpfung an die traditionellen Volkslesestoffe sowie die gerade auf die Armen u. Ungebildeten zugeschnittene Gestaltung u. der geringe Preis des Werks wurden in der aufgeklärten Öffentlichkeit allg. als vorbildlich gelobt. Als ebenso beispielgebend erwiesen sich die von B. gewählten neuartigen Ver-

404

triebswege. Er setzte erfolgreich auf die aufklärerisch engagierten Gebildeten, insbes. auf Geistliche, durch die die Schrift erst an das eigentl. Zielpublikum weitervermittelt wurde, da dieses es »nicht gewohnt ist, die Buchläden zu besuchen und sich nach neuen Büchern zu erkundigen« (so B. in seiner Ankündigung). Daneben wurde es durch die Obrigkeit über Verschenkaktionen oder durch die Einführung als Schulbuch verbreitet. Bis zum Beginn des 19. Jh. waren etwa 400.000 Exemplare verbreitet; zahllose Bearbeitungen, Raubdrucke, Neuauflagen u. Titeladaptionen dokumentieren eine breite Wirkung u. einen herausragenden Buchhandelserfolg, der sich durch mindestens zehn Übersetzungen auch im Ausland fortsetzte. Mit dem Noth- und Hülfs-Büchlein entwickelte sich B. zu einem bedeutenden Verleger u. Publizisten. Seinen Ruf als erfolgreichster Volksaufklärer festigte er durch den 1799 im eigenen Verlag erschienenen Fortsetzungsband, der auf die durch die Französische Revolution veränderten Bedingungen für volksaufklärer. Aktivitäten reagierte. Mit dem Mildheimischen Liederbuch (Gotha 1799. Neudr. Stgt. 1971) u. weiteren Schriften schuf B. ein regelrechtes Volksschriftensystem. Unter B.s Schriften für ein gebildetes Lesepublikum nahm ab 1784 die »Deutsche Zeitung«, die ab 1796 u. d. T. »Nationalzeitung der Teutschen« erschien, einen herausragenden Platz ein. Dieses Blatt nutzte Becker 1805, um eine Schiller-Nationalsammlung zu organisieren. Ein Aufsatz B.s in der »Nationalzeitung« führte 1811 zu seiner Verhaftung durch die frz. Besatzungsmacht. Zwar ließ sich der Vorwurf der Verschwörung gegen Frankreich nicht beweisen, doch sollte an B. seiner großen Bekanntheit wegen ein Exempel statuiert werden. Eine 17 Monate dauernde Festungshaft wurde erst durch die persönl. Intervention seiner Frau Caroline bei Napoleon beendet. Während der letzten Lebensjahre führte B. seine publizist. u. verlegerische Tätigkeit fort (so erschien die »Nationalzeitung« wieder von 1814–28), doch konnte er unter den Bedingungen der nun einsetzenden polit. Restauration nicht mehr an alte Erfolge anknüpfen.

Becker

405 Werke: Beantwortung der Frage: Kann irgend eine Art von Täuschung dem Volke zuträglich sein, sie bestehe nun darinn, daß man es zu neuen Irrthümern verleitet, oder die alten eingewurzelten fortdauern läßt? Lpz. 1781. – Vorlesungen über die Pflichten u. Rechte des Menschen. 2 Tle., Gotha 1791/92. – Über Bürgerschulen. Gotha 1794. – Fragebuch für Lehrer über das Noth- u. Hülfsbüchlein. Gotha 1799. – Leiden u. Freuden in siebzehnmonatl. frz. Gefangenschaft. Gotha 1814. – Mildheimisches Evangelien-Buch. Gotha 1816. – Herausgeber: Dessauische Ztg. für die Jugend u. ihre Freunde. Dessau 1782/83. – Der Anzeiger. o. O. [Gotha] 1791–93. Forts. u. d. T.: Der Reichsanzeiger, bis 1806. Forts. u. d. T.: Allg. Anzeiger der Deutschen, bis 1829. Literatur: Adalbert Brauer: R. Z. B. BestsellerAutor u. Verleger um 1800. In: Aus dem Antiquariat 28 (1972), S. A 106–108. – Reinhart Siegert: Aufklärung u. Volkslektüre. Exemplarisch dargestellt an R. Z. B. u. seinem ›Noth- u. Hülfsbüchlein‹. Mit einer Bibliogr. Ffm. 1978. – Gottfried Weissert: Das Mildheimische Liederbuch. Studien zur volkspädagog. Lit. der Aufklärung. Tüb. 1966. – Bernhard Wendt: R. Z. B. an seinen Verleger u. Freund Georg Joachim Göschen. In: AGB 8 (1967), Sp. 1619–1624. – Ursula Tölle: R. A. B. Münster 1994. – Annegret Völpel: Der Literarisierungsprozeß der Volksaufklärung des späten 18. u. frühen 19. Jh. Ffm. u. a. 1996. – R. Siegert: Positiver Journalismus: aufklärer. Öffentlichkeit im Zusammenspiel des Publizisten R. Z. B. mit seinen Korrespondenten. In: ›Öffentlichkeit‹ im 18. Jh. Hg. Hans-Wolf Jäger. Gött. 1997, S. 165–185. Holger Böning / Red.

Becker, Thorsten, * 4.9.1958 Oberlahnstein. – Erzähler. B. verbrachte Kindheit u. Jugend in Köln. Nach dem Abitur besuchte er eine Schauspielschule in Wien, arbeitete an Theatern in Köln, Stuttgart u. Bochum u. studierte Philosophie, Geschichte, Soziologie u. Theaterwissenschaft in Berlin. Für seinen Debütroman Die Bürgschaft (Zürich 1985) erhielt B. den FAZ-Literaturpreis 1985. B. schildert hier in Anlehnung an Schillers Ballade DDR-Alltag aus Sicht eines jungen Westdeutschen. Seine Erzählung Die Nase (Köln 1987) handelt vom scheiternden Projekt zweier junger Männer in der DDR, Goethes Wilhelm Meister zu verfilmen. In der Erzählung Schmutz (Zürich 1989) schildert B. einen Wachmann, der

einen Auftrag auch nach Rücknahme weiter ausführt. Sein Tagebuch der Arabischen Reise, darin der Briefwechsel mit Goethe (Zürich 1991) versammelt Prosa, Notate u. Briefe vor u. während einer Reise zu Goethe-Instituten in Mittelmeerstaaten, Mitte (Bln. 1994) schließt sich thematisch u. formal an. Es folgen Romane: In Schönes Deutschland (Bln. 1996. Hbg. 2003) lässt B. auf die Wiedervereinigung eine zweite Wende folgen, in Der Untertan steigt auf den Zauberberg (Reinb. 2001) trifft Familie Mann in einer Künstlerkolonie zusammen. In Die Besänftigung (Reinb. 2003) erzählt B. indische Geschichte aus Sicht eines Elefanten, in Sieger nach Punkten (Reinb. 2004) verknüpft er die Geschichte eines jungen Türken in Berlin mit der seiner Heimat. In Fritz (Reinb. 2006) lässt er Heinrich u. Thomas Mann einen Roman über Friedrich den Großen schreiben. Literatur: Peter Langemeyer: T. B. In: KLG. – Thomas Kraft: T. B. In: LGL. Heino Freiberg / Fridtjof Küchemann

Becker, Uli, * 14.9.1953 Hagen/Westfalen. – Lyriker. B. studierte Germanistik u. Anglistik/Amerikanistik, begann in den 1970er Jahren in alternativen literar. Blättern zu publizieren, machte sich 1977 mit seinem ersten Gedichtband Meine Fresse (Hbg.) einen Namen u. lebt seit 1979 als freier Schriftsteller in Berlin. B. begegnet der Welt – einschließlich der Literatur, die von ihr handelt – mit Ironie u. Witz. Seine Gegenstände sind in erster Linie der Alltag der Menschen mit seinen unterschiedlichen, harmlosen u. erschreckenden, lächerl. u. traurigen Situationen, dann aber auch die Utopien u. Phrasen der 68er-Generation, die mit »solidarischer Ironie« bedacht werden. Gerne greift B. sprachl. Schablonen auf u. verfremdet sie durch witzige Modifikationen, sodass sie in ihrer Schablonenhaftigkeit, in ihrer Nichtigkeit oder in ihrem Hintersinn erkennbar werden. Das Gedicht Der göttliche Funke, mit dem der Gedichtband Der letzte Schrei (Reinb. 1980) eröffnet wird, beginnt mit den Versen: »Am Anfang ist das Papier wüst und leer, / so kauft man’s: ›Das Unbeschriebene Blatt‹. / Des Bürgers Weiße

Becker

Weste ist des Dichters / Rotes Tuch [...].« Sprachlich u. formal ließ sich B. vom Dadaismus inspirieren, aber auch von Heine, Brecht, Eich u. Brinkmann, zudem von den modernen Amerikanern. »Bewußtseinserheiterung in finsteren Zeiten« hat er seine Arbeit einmal genannt; aber die Heiterkeit, die sich in seinen Gedichten artikuliert, erinnert fortlaufend an die gar nicht so heiteren Aussichten beim Blick auf eine Welt, in der »Kofferpacken für die Katastrophe« angesagt ist. Der Begegnung mit fernöstl. Literatur verdanken sich die »Asphalthaikus«, die B. 1993 mit dem Gedichtband Fallende Groschen (Augsb.) vorlegte: »Siebzehnsilber« über unsere »zweite Natur«: die großstädt. Zivilisation. Vom fernen Osten übernahm B. auch die Form der Renshi-Dichtung, der kollektiven Kettendichtung, die während der Buxtehuder Lyrik-Tage 1994 in Kooperation mit anderen Lyrikern realisiert u. 1996 u. d. T. United Colors of Buxtehude (Lpz.) publiziert wurde. Eine weitere Arbeit dieser Form erschien 2000 u. d. T. Licht verborgen im Dunkel (Hann.). B. erhielt 1979 den Hungertuch-Preis des hess. Schriftstellerverbands, 1980 u. 1983 ein Arbeitsstipendium des Berliner Senats u. 1985/86 das Villa-Massimo-Stipendium. Weitere Werke: Daß ich nicht lache. Reinb. 1982 (L.). – Frollein Butterfly. 69 Haiku. Augsb. 1983. – Das höchste der Gefühle. Erot. Gedichte. Augsb. 1987. – Dr. Doolittles Dolcefarniente. In achtzig Haiku aus der Welt. Augsb. 2000. Literatur: Rainer Kühn: U. B. In: KLG. – Thomas Kraft: U. B. In: LGL. Helmuth Kiesel

Becker, Wilhelm Gottlieb, * 4.11.1753 Callenberg, † 3.6.1813 Dresden. – Herausgeber, Übersetzer, Lyriker, Erzähler u. Dramatiker. B., früh verwaister Sohn eines Ökonomie-Inspektors, wuchs in Gera auf u. besuchte dort vom 9. Lebensjahr an das Gymnasium Rutheneum. 1773–1776 studierte er in Leipzig Rechtswissenschaft u. Philosophie. Während dieser Zeit machte er die Bekanntschaft Adam Friedrich Oesers, der sein Gönner wurde. B. wollte zunächst die Universitätslaufbahn

406

einschlagen, nahm jedoch 1777 eine Stellung als Lehrer am Philanthropin in Dessau an. Er gab sie allerdings bald wieder auf u. bereiste Deutschland, Frankreich, Oberitalien u. die Schweiz. In Straßburg, Basel u. Zürich verdingte er sich als Privatgelehrter. Durch den Basler Kupferstecher u. Kunsthändler Christian von Mechel lernte er die ältere Grafik u. Malerei kennen. Nachdem B. 1780 nach Leipzig zurückgekehrt war u. ein weiteres Jahr privatisiert hatte, erhielt er 1782 eine Professur für Moralphilosophie u. Geschichte an der Ritterakademie in Dresden. Im gleichen Jahr schlug er eine Stelle als Erzieher des Kronprinzen Friedrich Wilhelm von Preußen aus. 1784 trat B. eine mehrmonatige Erholungsreise durch Österreich u. Mittelitalien an, wo er die klass. Stätten aufsuchte. Nach 13 Jahren akademischer Lehrtätigkeit bewarb er sich erfolgreich um die Nachfolge Johann Friedrich Wackers als Inspektor der kurfürstl. sächs. Antikengalerie u. des Münzkabinetts in Dresden. Beide Sammlungen konnte er durch eine geschickte Ankaufspolitik wesentlich erweitern. 1805 wurde B. auch die Aufsicht über das Grüne Gewölbe erteilt u. der Titel eines kgl. sächs. Hofrats verliehen. B.s Veröffentlichungen zentrieren sich um vier themat. Schwerpunkte: literar. Werke u. Übersetzungen, Landschaftsbeschreibungen u. Arbeiten zur Gartenkunst, kostümgeschichtl. Studien, Abhandlungen zur Kunstgeschichte u. Numismatik. B. begann zeittypisch mit Episteln u. Lyrik im Stil des Rokoko, die er anonym veröffentlichte (Gedichte an Elisen. Lpz. 1775). Einen Namen machte er sich zunächst als Übersetzer, hauptsächlich aus dem Französischen. Er übersetzte Belletristik (Jacques-Marie Boutet de Monvels Die drey Pachter. Gotha 1778), Memoirenliteratur (Marmontels Leben und Denkwürdigkeiten. 4 Bde., Lpz. 1805/06) u. Abhandlungen (Dandré Bardons Costume der ältesten Völker. 4 H.e, Lpz. 1776/77). Hervorzuheben ist seine Übersetzung Das Lob der Narrheit (Bln. u. Lpz. 1781) von Erasmus’ Encomion Moriae, das B. auch in der Originalsprache neu ediert hatte (Basel 1780). B.s eigentl. Bedeutung liegt in seiner Tätigkeit als Herausgeber zahlreicher Periodika. Er gab anfangs die kurzlebigen Journale

407

Beckh

»Litteratur und Kunst« (Lpz. 1775/76) u. aus den Darstellungen der kurfürstlichen sächsi»Die Muse« (Lpz. 1776) heraus. 1780/81 be- schen Hofschauspieler-Gesellschaft. Lpz. 1804). Die Veröffentlichungen B.s spiegeln das treute er das »Magazin der neuern französischen Litteratur«. Nach Isaak Iselins Tod re- wachsende Interesse am illustrierten Buch; digierte B. das physiokrat. Organ »Epheme- ihren Höhepunkt fand die Tendenz zur anriden der Menschheit, oder Bibliothek der spruchsvollen Illustration in seinem kunstSittenlehre und der Politik« (Lpz. 1782–84, geschichtl. Hauptwerk Augusteum. Dresden’s 1786). 1794 übernahm er von Ernst Müller antike Denkmäler enthaltend (3 Bde., Lpz. 1804. die Redaktion des »Taschenbuchs zum ge- Dresden 1808 u. 1811). B. gab in diesem auf selligen Vergnügen«, bis sie 1814 von Johann eigenes finanzielles Risiko veranstalteten Friedrich Kind fortgesetzt wurde. Dieses von Unternehmen eine umfassende u. repräsenAnfang an erfolgreiche Periodikum ist der tative Darstellung der Dresdener Antikenerste Vertreter eines neuen Almanachtyps. Er sammlung in kunstgeschichtl. wie in arunterschied sich von anderen schöngeistigen chäolog. Sicht; das ehrgeizige Projekt geriet Taschenbüchern dadurch, dass er den übl. jedoch zu einem empfindl. Verlustgeschäft. Inhalt mit Rätseln, Charaden, Spielen u. Bei- Nicht viel anders erging es B. mit dem großen lagen anreicherte u. so dem Bedürfnis des numismat. Werk Zweihundert seltene Münzen Publikums nach geselliger Unterhaltung bes. des Mittelalters [...] (Dresden 1813). entgegenkam. Während B. den MitarbeiterWeitere Werke: Von Verschönerung der Natur kreis vergrößerte, achtete er zgl. auf Qualität um Landwohnungen. Lpz. 1778 (Übers.). – Das (so publizierte Schiller zahlreiche Gedichte Liebesgrab. Heidelb. 1779 (D.). – Die Erscheinung erstmals hier). Ebenfalls von Müller über- oder Begebenheit des Neokles. Lpz. 1779 (D., nahm B. die »Leipziger Monatsschrift für Übers.). – Vermischte Blätter. Dresden 1790. – LiDamen« (Lpz. 1794/95), die er ab 1796 in na’s Ferien. 8 Bde., Lpz. 1797 (E.en). – Neue Garten- u. Landschafts-Gebäude. 4 H.e mit Abb., Lpz. neuem Erscheinungsbild als vierteljährlich 1798/99. – Der Garten zu Beloeil. 2 Tle., Dresden erscheinendes Organ mit dem Titel »Erho- 1799 (Übers.). – Der Wiedererzähler. Dresden 1804 lungen« fortsetzte; es erschien in insg. 60 (E.en). – Guirlanden. 4 Bde., Lpz. 1812/13 (E.en). Bänden bis zum Jahr 1810. Literatur: Maria Gräfin Lanckoronska u. ArHäufig steuerte B. für seine Zeitschriften u. thur Rümann: Gesch. der dt. Taschenbücher u. Taschenbücher eigene Beiträge bei, zunächst Almanache aus der klassisch-romant. Zeit. Mchn. Gedichte, dann vorwiegend Erzählungen; die 1954, S. 100–104. – Zdenko Sˇkreb: Gattungsdowechselnde Gattungspräferenz spiegelt den minanz im deutschsprachigen literar. Tb. oder Vom für den Almanach um 1800 charakterist. Sieg der Erzählprosa. In: Sitzungsber.e der Österr. Übergang vom Vers zur Prosa. B.s Beiträge Akademie der Wiss.en. Philosophisch-Histor. erschienen wiederholt gesammelt (Darstel- Klasse. Bd. 471, Wien 1986, S. 46–52. – Jürgen lungen. 3 Bde., Lpz. 1798/99. Erzählungen. 4 Wilke: W. G. B.s Magazin der neuern frz. Lit. (1780–81). In: Les Lettres françaises dans les revues Bde., Lpz. 1813–15). 1795–1800 gab B. darallemandes du XVIIIe siècle / Die frz. Lit. in den dt. über hinaus das Taschenbuch für Gartenfreunde Ztschr.en des 18. Jh. Hg. Pierre-André Bois u. a. heraus, das an Christian Cay Lorenz Hirsch- Bern u. a. 1997, S. 73–83. Wolfgang Bunzel / Red. felds Gartenkalender anknüpft. In diesem Organ wie in seinen illustrierten Landschaftsbeschreibungen u. gartenkundl. ArBeckh, Beck, Bekh, Bekkh, Johann Joseph, beiten (Das Seifersdorfer Thal. 4 H.e, Lpz. 1792/ getauft 29.3.1635 Straßburg, † zwischen 93. Neudr. Lpz. 1977. Der Plauische Grund bei 1692 u. 1694 Kiel (?). – Lyriker, DramaDresden. Nürnb. 1799) artikulierte B. das neue tiker u. Verfasser von lutherisch-didaktiIdeal natürlicher Gartenkunst u. wurde dascher Literatur. durch zu einem wichtigen theoret. Verfechter des engl. Landschaftsgartens in Deutschland. B. erhielt seine Ausbildung in Straßburg: Am Von eher histor. Interesse sind seine Studien 28.4.1645 wurde er in das protestant. Gymzur Kostümgeschichte (Vom Costume an Denk- nasium aufgenommen, am 18.10.1655 ließ er mählern. Lpz. 1776. Charaktere und Costumes sich an der Universität einschreiben. Nach der

Beckh

obligator. Ausbildung in der Artistenfakultät studierte er Jura; den Lizentiaten- oder Doktorgrad hat er jedoch nicht erworben. 1660–1664 hielt er sich längere Zeit in Süddeutschland auf (u. a. in Regensburg, wo er 1664 anlässlich des Immerwährenden Reichtstags ein Gedicht auf den bayer. Kurfürsten verfasste). Danach lebte er bis etwa 1668 in Dresden u. trat mit Constantin Christian Dedekind, Adam Krieger u. David Schirmer in Verbindung. Hier wurde er auch, vor dem 4.9.1665, zum Poeten gekrönt. Wie wohl auch in den Jahren zuvor auf der Suche nach einer festen Anstellung, begab er sich dann von Dresden über Zerbst (1668) nach Hamburg (1669) u. Kiel bzw. Eckernförde, wo er 1671 oder bald danach das Amt eines Stadtsekretärs übernehmen u. 1675 – wirtschaftlich gesichert – heiraten konnte. Am 17.1.1681 erwarb er das Bürgerrecht in Kiel u. erhielt, inzwischen wieder in Not geraten, eine Schreiberstelle (1681). Später (1683) bezeichnete er sich auch als Kaiserlicher öffentlicher Notar. Die letzten Publikationen sind 1692 in Kiel erschienen. B.s dichterisches Schaffen fällt fast vollständig in die Zeit zwischen 1657 u. 1671. Nur einige Gelegenheitsarbeiten erscheinen noch später: Es besteht wohl ein Zusammenhang zwischen dem Ergreifen eines bürgerl. Berufs bzw. dem Erreichen einer festen Anstellung u. dem Ende der dichter. Tätigkeit. Diese hatte mit einer Reihe von Epicedien für Straßburger Bürger begonnen u. erreichte einen ersten Höhepunkt mit der Liedersammlung Geistliche Eccho (Straßb. 1659). Zu Beginn seiner Dresdener Zeit schrieb B. wieder Gelegenheitsgedichte (meist Epicedien u. Epithalamien). Neben einem Roman entstanden vier Dramen sowie mehrere religiöse Dichtungen u. erbaul. Schriften. Wohl aus pekuniären Gründen wendete B. sich in Kiel wiederum der Gelegenheitsdichtung zu u. verfasste mehrere Epicedien auf Kieler Bürger. Mit seinen Stücken, darunter zwei Dramatisierungen von Romanen, leistete er einen wichtigen Beitrag zum dt. Prosadrama des 17. Jh. Er erwies sich als geschickter Theatraliker, jedoch leiden seine Dramen unter seiner ausgeprägten Neigung zur Belehrung. Mehrfach als Schul-

408

dramen aufgeführt wurden seine Chariclia (in Zittau) u. Polinte (in Guben). B.s bekanntestes Schauspiel, der 1675 in Leipzig aufgeführte Schauplatz Des Gewissens (Dresden 1666), stellt eine eigentüml. Mischung von Jedermannspiel, Welttheater, religiösem Tendenzdrama, Faust-Stück u. theologischer Abhandlung dar: »Eine rechte Vorstellung / eines von Anfang Weltliebenden / hernach von einem bösen Gewissen höchst überfallenen / letztlich aber wieder bekehrten Menschens«. B. wendet sich polemisch gegen kalvinist. u. kath. Lehren u. gelehrte Spitzfindigkeiten; er verficht eine auf Gott u. die Bibel gegründete »einfältige« luth. Frömmigkeit. Seine religiösen Schriften u. Dichtungen zielen, wenn auch ohne Polemik, in die gleiche Richtung. Die Wahl zwischen »Eitelkeit« u. »Herrlichkeit« ist das Thema seines letzten, größten Erbauungsbuchs Sichtbare Eitelkeit und unsichtbare Herrlichkeit. Das ist: Ein Spiegel aller Stände Lauff und Endliches Wol- und Ubelergehen (Hbg. 1671). Wie im Schauplatz Des Gewissens triumphiert die Barmherzigkeit Gottes über die Gerechtigkeit u. öffnet dem Gläubigen das Tor zum Himmel. Praktische Lebenslehre bringt B.s Roman Elbianische Florabelle / Oder Liebes-Begäbnüße / Nach Arth einer Schäfferey (Dresden 1667. Nachdr. Stgt. 1997), in dem sich traditionelle Elemente des Schäferromans, bemerkenswert anschaul. Naturschilderungen u. Allegorisches miteinander verbinden. Das Hauptmotiv seines Romans, das Scheitern einer Liebesbeziehung am Konfessionsunterschied, verdankt B. u. a. der Adriatischen Rosemund (1645) Philipp von Zesens, den Namen (Amandus) seines Protagonisten entnahm er der Jüngst erbauete[n] Schäferei (1632). Weitaus bedeutender aber als die literar. Einflüsse sind die belegbaren autobiogr. Bezüge, die den Roman in die Kategorie der Individualschäferei einordnen. Das Werk wirkt wie ein Lehrbuch für junge Menschen, das ihnen den Weg zu einer »vernünftigen«, auch zum Verzicht bereiten Liebe weisen soll. Kritik an gesellschaftl. Missständen wird letztlich zugunsten einer quietist. Ergebung in Gottes Willen wieder zurückgenommen. Die ausgeprägte Lehrhaftigkeit, die die Elbianische Florabella charakterisiert, kennzeich-

Beer

409

net B.s gesamtes Werk. Dabei formuliert er meist nur in prägnanterer Form die Standpunkte, die auch andere luth. Autoren in »Politisch- und Geistlichen Sachen« vertreten. Weitere Werke: Geistl. Eccho. Straßb. 1660 (Lieder). – Dolor Germaniae, Oder Das Schmerzempfindende Teutschland. Nördlingen 1664 (L.). – Apollo triumphans. Oder Der Sieg-ruffende Apollo. Regensb. 1664 (L.). – Germania Exultans, Oder das wieder erfreuete Teutschland. Dresden 1665 (L.). – Erneuerte Chariclia. Dresden 1666 (D.). – Die Wieder gefundene Liarta [...] aus dem dritten Theil der Sinnreichen Eromenen. Dresden 1668. 21669 (D.). – Wahlfart zum Berge Golgatha / Das ist Geistl. Gespräche u. Gedancken. Zerbst 1668 (Erbauungsschr.). – Polinte, Oder Die klägl. Hochzeit. Hbg. 1669 (D.). Literatur: Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 1, S. 458–465 (Bibliogr.). – Erich Schmidt: Zur Faustsage. In: ZfdA 29 (1885), bes. S. 97–100. – Georg Ellinger: J. J. B. Ein Beitr. zur Gesch. des dt. Dramas im 17. Jh. In: Vjs. für Literaturgesch. 5 (1892), S. 337–374. – Heinrich Meyer: Der dt. Schäferroman des 17. Jh. Diss. Freib. i. Br. 1927. – Arnold Hirsch: Bürgertum u. Barock im dt. Roman. Ffm. 1934. Köln/Graz 21957. – Charlotte Prosch: Heliodors ›Aithiopika‹ als Quelle für das dt. Drama des Barockzeitalters. Diss. Wien 1956, bes. S. 365–441. – Ferdinand van Ingen: J. J. B.s ›Elbianische Florabella‹ (1667). In: Europ. Tradition u. Dt. Literaturbarock. Hg. Gerhart Hoffmeister. Bern/Mchn. 1973, S. 285–303. – Ingeborg Springer-Strand: Einige Nachrichten zur Biogr. J. J. B.s mit einer Bibliogr. seiner Werke. In: Wolfenbütteler Barock-Nachrichten 4 (1977), S. 75–80. – Manfred Kremer: Apollos Lohn für den Dichter. Ein Beitr. zur Biogr. J. J. B.s. In: Argenis 2 (1978), S. 143–158. – I. Springer-Strand u. ders.: J. J. B. In: BLSHL. – M. Kremer: Faustus Redemptus? J. J. B.s ›Schauplatz des Gewissens‹. In: Wahrheit u. Wort. FS Tarot. Ffm. 1996, S.257–266. – Ders.: J. J. B. Leben u. Werk. Ffm. 2001. – Flood, Poets Laureate, Bd. 1, S. 152–154.

miker einen Namen machte, trat er 1846 in das Ensemble des Wiener Burgtheaters ein u. war dort im Fach des Charakterkomikers erfolgreich. Bekannt wurde B. als Autor der Posse Der Eckensteher Nante im Verhör (Bln. 1833), die landesweit gespielt u. häufig wiederaufgelegt wurde (491880). Die Anregung dazu erhielt er durch Karl von Holteis Ein Trauerspiel in Berlin (1832), in dem er die Rolle des Holzhackers Nante verkörperte, u. durch den Eckensteher (1832) aus der politisch-satir. Groschenheftreihe des mit B. befreundeten Adolf Glaßbrenner, Berlin wie es ist – und trinkt. B. gilt als Vorläufer von David Kalisch, dem bedeutendsten Vertreter der »Berliner Lokalposse«, die sich vom Dialekt- u. Lokalstück mit Couplets u. polit. Spitzen immer stärker zur politisch entschärften, respektlosen Wirklichkeitsschilderung fortentwickelte. Aus einer B.’schen Improvisation stammt außerdem der Titel der von Kalisch herausgegebenen satir. Berliner Wochenschrift »Kladderadatsch« (1848 ff.). Literatur: Julius Findeisen: F. B.s Lebensbild. Wien 1866. – Kosch TL. Wolfgang Weismantel / Red.

Beer, Behr, Bär, Bähr, Johann, auch: Jan Rebhu, Hanß-guck-in-die-Welt, Wolffgang von Willenhag, Ein lebendiger Mensch, Der Neue Ehemann, Franciscus Sambelle, Franciscus à Claustro, Antonius Caminerus, Amandus à Bratimero, Zendorius à Zendorio, Der junge Simplicissimus, Ursus, Alamodus Pickelhäring, Expertus Rupertus, Ländler, Amandus de Amanto, Florianus de Francomonte, * 28.2.1655 St. Georgen im Attergau/ Oberösterreich, † 6.8.1700 Weißenfels. – Musiker u. Romanautor. Ingeborg Springer-Strand / Manfred Kremer

Beckmann, Friedrich, * 13.1.1803 Breslau, † 7.9.1866 Wien. – Schauspieler u. Possenautor. B. wurde Schauspieler gegen den Willen seines Vaters, eines Töpfermeisters. Nach einem Engagement am Königstädtischen Theater in Berlin (1824–1844), wo er sich als Lokalko-

Als Sohn des Gastwirts u. späteren Wachtschreibers Wolfgang Beer u. seiner Frau Susanne Stadlmair verlebte B. seine frühe Jugend teils im elterl. Hause, teils in Schöffling bei seiner Großmutter mütterlicherseits. Nach einem kurzen Schulbesuch in Schöffling u. St. Georgen veranlassten Gönner die Aufnahme des musikalisch begabten Knaben in die Klosterschulen von Lambach (1662) u.

Beer

Reichersberg am Inn (1665), wo B. seine musikal. Grundausbildung erhielt. Den sich anschließenden Besuch der Lateinschule in Passau (1669/70) brach er ab u. folgte seinen Eltern in das evang. Regensburg, in dem diese als Exilanten Zuflucht gefunden hatten. Aufgrund seiner musikal. Fähigkeiten erhielt B. eine Freistelle am Alumnat des dortigen Gymnasium Poeticum. Viele der Regensburger Erlebnisse verarbeitete er später in seinen Romanen. Aus dieser Zeit stammen auch seine ersten musikal. Arbeiten sowie drei lat. Komödien u. ein Zwischenspiel für das Schuldrama Mauritius Imperator, zu dem B. die Musik schrieb. Mit einem Stipendium des Rats der Stadt Regensburg begann er im Sommer 1676 das Studium der Theologie in Leipzig, folgte jedoch bereits im Herbst einem künstlerisch u. finanziell verlockenden Ruf als Altist an den Hof Herzog Augusts von Sachsen-Weißenfels. In Halle, wo der Herzog als Administrator des Stifts Magdeburg residierte, heiratete B. 1679 die Tochter des Gastwirts »Zum schwarzen Bären«, Rosina Elisabeth Bremer. Von den elf Kindern aus dieser Ehe überlebten ihn sechs. Nach dem Tod des Herzogs u. der Verlegung des Hofes nach Weißenfels siedelte B. im Dez. 1680 dorthin über u. blieb fortan im Dienst der Herzöge von Weißenfels. Johann Adolf I. (1680–1697) schätzte B. nicht nur als vielseitig talentierten Künstler, sondern auch als Reisebegleiter u. Jagdgenossen. Ihm verdankte B. seine Beförderung zum Kammermusikus u. 1685 zum Konzertmeister. Angesichts der günstigen Arbeits- u. Lebensbedingungen blieben die Bemühungen anderer Höfe, B. für sich zu gewinnen (Coburg 1684 u. der dän. Königshof 1691), erfolglos. Von Herzog Johann Georg (1697–1712) wurde B. 1697 zusätzlich zum herzogl. Bibliothekar ernannt u. als häufiger Begleiter des Fürsten wiederholt mit Geld- u. Sachgeschenken bedacht. B.s unerwarteter Tod aufgrund einer Verletzung beim Vogelschießen fiel in die künstlerisch vielversprechende Zeit, in der der musenfreundl. Landesherr sich intensiv bemühte, Weißenfels als Musikzentrum zu etablieren. B. hat sich stets als Berufsmusiker verstanden. Als solchen weist ihn auch das Ti-

410

telblatt seiner dt. u. lat. Epigramme von 1691 aus, deren Druckkosten er selber trug. Zu seinen Romanen hat er sich nicht öffentlich bekannt. Der Romanschriftsteller B. wurde erst 1932 von Richard Alewyn entdeckt. Selbst in B.s autobiogr. Aufzeichnungen, die für die Familie gedacht waren, findet sich kein Hinweis auf seine 21 Erzählwerke. Über die Gründe dafür sind bis heute lediglich Spekulationen vorgetragen worden. Das außerordentlich vielgestaltige epische Werk ist mehrfach nach unterschiedl. Genres eingeteilt worden. Dabei ist allerdings stets ein nicht recht einzuordnender Rest übrig geblieben. Derartige Kategorisierungen sind freilich v. a. deswegen wenig ergiebig, weil sie dem grundlegenden poetolog. Prinzip, dem die Erzähltexte verpflichtet sind, der Gattungsmischung, zuwiderlaufen. Das epische Werk zitiert durchgängig die unterschiedlichsten literar. Traditionen u. kombiniert deren konstitutive Gestaltungsmuster u. -elemente neu. B. bezog sich produktiv nicht bloß auf Ritter-, Pikaro- u. satir. Romane, sondern auch auf Erzählsammlungen, die Dialogliteratur u. das religiöse Gebrauchsschrifttum sowie weitere Formen populärer Lesestoffe seiner Zeit. Hinter die Würdigung von B.s virtuoser intertextueller Kombinatorik sind auch frühere Urteile zurückgetreten, welche die vorgeblichen stilist. u. kompositor. Mängel allein durch die Fabulierfreude des Verfassers aufgefangen gesehen haben. Die beiden heute bekanntesten Romane B.s, Zendorii à Zendoriis Teutsche Winternächte (Nürnb. 1682) u. Die kurtzweiligen Sommer-Täge (o. O. 1683), oft nach dem Protagonisten des letzteren Werkes auch als Willenhag-Dilogie bezeichnet, situierte der Autor auf adligen Landsitzen seiner oberösterr. Heimat, ohne diese jedoch eindeutig zu identifizieren. Während in den Winternächten hauptsächlich die jungen Adligen witzige, kuriose u. gefährl. Begebenheiten aus ihrem Leben erzählen, sind es in den Sommer-Tägen v. a. vagierende Musikanten, Soldaten u. Studenten, die mit ihren Erlebnissen eine faszinierendabenteuerl. Welt in den Kreis der Adligen hineintragen. Die Texte nehmen in ihrer Literarisierung der zeitgenöss. Alltagskultur u. mit ihren oft derben u. drast. Handlungsse-

411

quenzen deutlich Impulse aus Grimmelshausens Werk auf. Durch dessen Simplicissimus angeregt, verfasste B. den ersten seiner v. a. pikaresk geprägten Romane Der Simplicianische Welt-Kucker (Halle 1677–79. Krit. Ausg. 1981), der als der früheste Musikerroman der dt. Literatur gilt. B.s Schelmenromane enthalten zahlreiche abenteuerliche, ja sensationelle Elemente u. Geistergeschichten. Ob die diesseits- u. lebensbejahende Haltung vieler Figuren indes ihren Autor, wie mehrfach behauptet, bereits zu einer Übergangsfigur zwischen Barock u. Aufklärung avancieren lässt, darf doch bezweifelt werden. Eher in der Nachfolge Cervantes’ stehen etliche Texte, etwa Printz Adimantus (Halle 1678. Krit. Ausg. 1992), in denen die hohle u. wirklichkeitsfremde Welt des Amadis parodiert u. entlarvt wird. Bis zur Gegenwart im Kanon präsent geblieben ist auch Der berühmte Narrenspital (o. O. 1681. Krit. Ausg. 1981). Hier werden Traditionen der Narrenliteratur aufgegriffen u. aktualisiert. Weitere humorist. Romane behandeln v. a. korrupte kleinbürgerl. Verhältnisse, wie B. sie in Regensburg, Halle u. Weißenfels kennengelernt hatte. Ein wichtiges Thema ist hier die Frauensatire, z.B. in Des berühmten Spaniers Francisci Sambelle wolausgepolirte Weiber-Hächel (Dresden u. Wolfenb. 1680. Krit. Ausg. 1991) u. Der neu ausgefertigte Jungfer-Hobel (o. O. 1681. Krit. Ausg. 1991). Gänzlich im Schatten gegenüber den Romanen u. Erzählsammlungen stehen bis heute das lyr. Werk, das Epigramme, dt. u. lat. Casualia umfasst, sowie die erbauungsliterarische u. musiktheoret. Produktion. Als Sänger, Geigenspieler, Klarinettist u. Tonsetzer genoss B. das Ansehen seiner Berufsgenossen. Als Publizist trat er für die Emanzipation der Musik von der schulmeisterl. Kunstauffassung der vorangegangenen Jahrhunderte ein. Seine künstler. Vielseitigkeit zeigt sich ferner in den Zeichnungen zu seiner Lebensbeschreibung, einigen Versuchen im Kupferstich u. in den Holzschnittillustrationen für Die Geschicht [...] von Land-Graff Ludwig dem Springer, die er 1698 in Weißenfels drucken ließ (Neudr. hg. v. Martin Bircher. Mchn. 1967).

Beer Weitere Werke (in Auswahl): Der Abentheuerl. wunderbare u. unerhörte Ritter Hopfen-Sack v. der Speckseiten. Halle 1678. Krit. Ausg. 1992. – Des Abentheuerl. Jan Rebhu Ritter Spiridon. Halle 1679. Krit. Ausg. 1992. – Des Abentheuerl. Jan Rebhu Artlicher Pokazi. Halle 1679/80. Krit. Ausg. 1992. – Die vollkommene Comische Geschicht Des Corylo. Nürnb. 1679/80. Krit. Ausg. 1986. – Jucundi Jucundissimi Wunderl. Lebens-Beschreibung. Nürnb. 1680. Krit. Ausg. 1992. – Die Mit kurtzen Umständen entworffene Bestia Civitatis. o. O. 1681. Krit. Ausg. 1991. – Der Polit. Feuermäuer-Kehrer. Lpz. 1682. Krit. Ausg. 1997. – Der Polit. Bratenwender. Lpz. 1682. Krit. Ausg. 1997. – Der verliebte Europeer. Gotha 1682. Krit. Ausg. 2002. – Der Deutsche Kleider-Affe. Lpz. 1685. Krit. Ausg. 1997. – Der Verliebte Österreicher. o. O. 1704. Krit. Ausg. 2002. – Musikalische Schriften: Ursus Murmurat. Weißenfels 1697. Krit. Ausg. 2005. – Ursus Vulpinatur. Weißenfels 1697. Krit. Ausg. 2005. – Bellum Musicum. o. O. 1701. Krit. Ausg. 2005. – Musical. Discurse. Nürnb. 1719. Krit. Ausg. 2005. – Autobiografie: J. B. Sein Leben, v. ihm selbst erzählt. Hg. Adolf Schmiedecke. Gött. 1965. Ausgabe: Kritische Ausgabe: Sämtl. Werke. Hg. Ferdinand van Ingen u. Hans-Gert Roloff. Bern u. a. 1981 ff. Literatur: Bibliografien: Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 1, S. 466–489. – James Hardin: J. B. Eine beschreibende Bibliogr. Bern/Mchn. 1983. – Jörg Jungmayr: Bibliogr. zu J. B. In: Brandtner/Neuber 2000 (s. u.), S. 259–322. – Weitere Titel: Johann Mattheson: Grundlage einer Ehren-Pforte. Hbg. 1740, S. 14–17. Neudr. hg. v. Max Schneider. Bln. 1910. Graz 1969. – Richard Alewyn: J. B. Studien zum Roman des 17. Jh. Lpz. 1932. – Arno Werner: J. B. In: MGG. – Jörg-Jochen Müller [Berns]: Studien zu den Willenhag-Romanen. Marburg 1965. – Martin Bircher: Neue Quellen zu J. B.s Biogr. In: ZfdA 100 (1971), S. 230–242. – J. Hardin: J. B. Boston 1983. – Lynne Tatlock: Fact and the Appearance of Factuality in the Novels of J. B. In: Daphnis 15 (1985), S. 593–621. – Jörg Krämer: J. B.s Romane. Poetologie, immanente Poetik u. Rezeption ›niederer‹ Texte im späten 17. Jh. Ffm. u. a. 1991. – Andreas Solbach: Gesellschaftskritik u. Romantheorie. Studien zu Grimmelshausen, Weise u. B. New York u. a. 1994. – Andreas Brandtner u. Wolfgang Neuber (Hg.): B. 1655–1700. Hofmusiker. Satiriker. Anonymus. Wien 2000. – Zwischen Ordnung u. Chaos. Das Leben u. Schaffen des Dichterkomponisten J. B. (1655–1700). In: Jb. der österr. Goethe-Gesellsch. 104/105 (2000/01), S. 39–190. – Ferdinand van Ingen u. Hans-GertRoloff (Hg.): J. B. Schriftsteller, Komponist u.

Beer Hofbeamter. 1655–1700. Bern u. a. 2003. – A. Solbach: J. B. Rhetor. Erzählen zwischen Satire u. Utopie. Tüb. 2003. Ulrich Maché / Ralf Georg Bogner

Beer, Johann Christoph, auch: Amadeus von Fri(e)dleben, * 17.9.1638 Nürnberg, † 25.12.1712 Nürnberg. – Evangelischer Theologe; Verfasser geistlicher, historischer u. geografischer Schriften.

412

versation-Büchlein. Nürnb. 1701. Historischer Rosen-Garten. Ffm. 1710) u. Zeitungen, z.B. »Das allarte Teutschland« (Ffm. 1689–96), »Das Neueste von der Zeit« (Nürnb. 1685. 1703–08) anzutreffen. B. war in erster Linie Kompilator, Bearbeiter (Ortelius, Grimmelshausen) u. Übersetzer (Oliver Dapper, Pierre Duval u. Matthijs Smallegange); seine eigenständige Leistung tritt hinter solcher Vermittlertätigkeit zurück. Literaturgeschichtliche Bedeutung erlangte er v. a. – wie Manfred Koschlig überzeugend nachgewiesen hat – durch seine Tätigkeit als Bearbeiter bzw. Kommentator der Gesamtausgaben der Schriften Grimmelshausens von 1683/84, 1685–99 u. 1713, des Simplicissimus IV u. V. (Nürnb. 1670 u. 1671) sowie als Autor der simplicianischen Wundergeschichten-Kalender (Nürnb. 1670–82).

B., der aus einem Theologengeschlecht stammte, studierte Theologie in Altdorf (deponiert am 16.6.1651, Immatrikulation am 21.8.1657) u. Jena (Immatrikulation 25.4.1659). In den 1660er Jahren war er am theolog. Seminar bei St. Salvator in Nürnberg tätig, wurde aber der Verbreitung irriger Auffassungen beschuldigt – ein Grund für seinen Verzicht auf eine kirchl. Laufbahn. Ausgabe: Fischer-Tümpel 5, S. 323–329. Hinzu kam, dass ihm ein schlecht verheilter Literatur: PGK 14, Sp. 910–916. – Frank-RutKinnbackenbruch eine öffentl. Lehrtätigkeit ger Hausmann: Bibliogr. der dt. Übers.en aus dem sowohl in der Schule wie auf der Kanzel er- Italienischen v. den Anfängen bis zur Gegenwart. schwerte. Fortan lebte er hauptsächlich von Bd. 1 (2 Teilbde.), Tüb. 1992, Nr. 1108. – Weitere der Schriftstellerei. Daneben betätigte er sich Titel: Georg Andreas Will: Nürnbergisches Gelehrals Korrektor für die Nürnberger Offizinen ten-Lexicon [...]. Tl. 1, Nürnberg/Altdorf 1755. Neudr. Neustadt/Aisch 1997, S. 78–80. – Andreas Endter u. Felßecker. Rüdiger Gredler-Oxenbauer: J. C. B. u. sein Werk Insg. dürfte B. über 80 Schriften veröf›Der Durchleuchtigsten Erz-Herzogen zu Österfentlicht haben. Den Hauptanteil machen reich Leben, Regierung u. Großthaten ...‹. Eine zum einen Erbauungsbücher u. Schriften quellenkrit. Studie. Diss. Wien 1969 (1971). – pastoralen Charakters aus, darunter Gebet- Manfred Koschlig: Das Ingenium Grimmelshaubücher wie Der geistliche Reiß-Gefert (Nürnb. sens u. das ›Kollektiv‹. Mchn. 1977. – Jan Knopf: 1670), Geistlicher Seelen-Garten (Nürnb. 1673) Die dt. Kalendergesch. Ein Arbeitsbuch. Ffm. 1983. u. Die andächtig-gottergebne Jungfer (Ffm. 1687), – HKJL. Von 1570 bis 1750, Sp. 1084. – DBA geistl. Liedersammlungen u. Gesangbüch- 73,343–349. – Ingrid Höpel: J. C. B.s dreiständige lein, so Sonntägliche Seelen-Freude (Nürnb. Embleme. In: Religion u. Religiosität im Zeitalter 1668) u. Der Kinder Gottes Hertzens- und Seelen- des Barocks. Hg. Dieter Breuer. Tl. 2, Wiesb. 1995, S. 789–806. Guillaume van Gemert / Red. Music (Nürnb. 1692), zum andern historischpolit. u. geograf. Werke, u. a. Geschichten der Herrscherhäuser von Schweden (Nürnb. 1673), Beer, Johann Christoph, * 13.4.1690 Wien, Spanien (Nürnb. 1678), Ungarn (Nürnb. † 26.8.1760 Gottmannshofen/Bayern. – 1683), Dänemark (Nürnb. 1685), Böhmen Katholischer Theologe; Verfasser geistli(Nürnb. 1685) u. Italien (Nürnb. 1686), Be- cher Schriften. schreibungen der Niederlande (Ffm. 1691) u. B. kam um 1700 nach Augsburg. Er studierte Italiens (Ffm. 1692), des Rheinstroms (Nürnb. 1704–1715 in Dillingen; 1711 erlangte er die 1685), der Elbe (Nürnb. 1687) u. anderer Magisterwürde der Philosophie u. 1715 das Flüsse sowie Reiseführer durch die dt. Lande Lizentiat der Theologie. Um 1715 wurde er (Der getreue Reiß-Gefert. Nürnb. 1686). In seizum Priester geweiht u. war seit 1728 Pfarrer nem Œuvre sind weiter noch Pamphlete in Gottmannshofen. (Rundus Bundus. o. O. 1678), Sammlungen von Geschichten u. Exempeln (Spatzier- und Con-

Beer

413

B.s Werke, in denen er sich zum Anwalt der Rechtlosen macht, erlebten zahlreiche Auflagen. Viele propagieren standes- u. berufsspezifische Tugenden, so Der heilige und verdammte Würth (Dillingen 1738), Das Gericht der Elteren (Augsb. 1751) u. Die kluge Hauß-Frau (Augsb. 1757). Mercks Baur (Augsb. 1751) deutet eine Gewitterkatastrophe als Warnung an die Bauern, ihr Leben zu bessern. Allgemeine Tugendlehren sind Angelica-Wurtz (2 Tle., Augsb. 1732–33) u. Der göttliche Willen (Linz 1755). Seine Beliebtheit als Kanzelredner belegt die Sammlung Der in Eyl bereitete Prediger (Augsb. 1757–66. Lat. 1759). Wie sehr B. die Aufklärung als Zeitenwende ansah, geht aus der Zeitklage Der höllische IntelligenzZettul (Augsb. 1753) hervor. Zur dt. Rezeption spanischer Mystik trug B. durch seine Bearbeitung von Modestus a S. Joanne Evangelistas Übersetzung der Werke des Johannes vom Kreuz bei (Augsb. 1753) Literatur: PGK 14, Sp. 916–918. – Weitere Titel: Karl Böck: Das Bauernleben in den Werken bayer. Barockprediger. Mchn. 1953. – Ders.: J. C. B. 1690–1760. Ein Seelsorger des gemeinen Volkes. Kallmünz 1955. – HKJL. Von 1570 bis 1750, Sp. 1082–1084. – Elfriede Moser-Rath: Dem Kirchenvolk die Leviten gelesen. Alltag im Spiegel süddt. Barockpredigten. Stgt. 1991. Guillaume van Gemert / Red.

Beer, Michael, * 19.8.1800 Berlin, † 22.3. 1833 München. – Dramatiker. B. entstammte der gleichen jüd. Bankiersfamilie wie der Komponist Jakob Beer (Giacomo Meyerbeer) u. der Astronom Wilhelm Beer. Er empfing frühzeitig künstler. Anregung durch die im Haus seiner Eltern in Berlin verkehrenden Schauspieler. Mit 19 Jahren bereits erlebte B. die Uraufführung seines an Goethes Iphigenie angelehnten Trauerspiels Klytemnestra (Lpz. 1823) auf der Berliner Hofbühne. Nach Abschluss seines Philosophie- u. Geschichtsstudiums lebte er in Berlin, Paris, Italien, Wien u. in München, wo er Vorstudien für seine Stücke betrieb u. mehrere Dramen verfasste. B. wurde durch die schöngeistigen Kreise am Hof Ludwigs I. von Bayern gefördert u. war mit dem Dichter u. zeitweiligen Innenminister Eduard von

Schenk befreundet. Bekannt wurde B. durch die Trauerspiele Der Paria (Lpz. 1826) u. Struensee (Stgt. 1829). Der in Indien spielende Einakter Der Paria stellt den Kampf des humanitär gesinnten, aber rechtlich u. sozial diskriminierten Helden gegen Vorurteil, Konvention u. staatl. Vorschriften dar; hinter der exot. Einkleidung des Stücks nahm Hermann Hettner den »Schmerzensschrei über die Pariastellung des Judenthums« wahr. Das Drama, eine der ersten künstler. Gestaltungen der jüd. Emanzipationsforderung, sicherte B. – wohl auch wegen der klassizist. Form (fünfhebige Jamben) – die Anerkennung Grillparzers u. Goethes, der gegenüber Eckermann die Einfachheit der Form ebenso lobte wie den »allgemein menschlichen« u. daher »höchstpoetischen« Symbolgehalt der Paria-Figur, den Paria ins Repertoire des Weimarer Hoftheaters aufnahm u. den Autor als nahezu einzigen zeitgenöss. Bühnenschriftsteller von der Satire der Zahmen Xenien verschonte. Struensee behandelt auf historischer Faktenbasis den Konflikt zwischen von Freiheitsidealismus getragenem Reformismus u. verstocktem Egoismus des dän. Hofadels. Obwohl im dramaturg. Aufbau episodenhaft, fand das Stück nicht zuletzt wegen Meyerbeers Musik beträchtl. Anklang. Der zeitgenöss. Kritik galt B. als feinsinniger u. gebildeter, dabei mitunter sentimental-oberflächlicher Dramatiker. Weiteres Werk: Die Bräute v. Aragonien. Lpz. 1823 (Trauersp.). Ausgaben: Sämmtl. Werke. Hg. Eduard v. Schenk. Lpz. 1835. – Briefw. Hg. ders. Lpz. 1837. Literatur: Gustav Friedrich Manz: M. B.s Jugend u. dichter. Entwicklung bis zum ›Paria‹. Diss. Freib. i. Br. 1891. – Eduard Castle: Die Isolierten. Varietäten eines literar. Typus. Bln. 1899. – Marceli Barcin´ski: M. B.s ›Struensee‹. Diss. Lpz. 1908. – Jürgen Stenzel: Das Opfer als Autor. Poet. Assimilation in M. B.s ›Der Paria‹ (1823). In: Kontroversen, alte u. neue. Akten des VII. Internat. Germanisten-Kongresses. Bd. 5. Hg. Albrecht Schöne. Gött. 1986, S. 122–128. – Ders.: Assimilation durch Klassik. M. B.s ›Der Paria‹, Heine, Goethe. In: JbFDH N. F. 1987, S. 314–335. – Tilman Spreckelsen: ›Ich wäre nicht werth, sein Sohn zu seyn‹. Karl

Beer-Hofmann Immermanns Briefw. mit M. B. In: Immermann-Jb. 7 (2006), S. 123–135. Christian Schwarz / Red.

Beer-Hofmann, Richard, * 11.7.1866 Rodaun bei Wien, † 26.9.1945 New York; Grabstätte: Zürich, Israelitischer Friedhof Unterer Friesenberg. – Verfasser von Novellen, Dramen u. Gedichten. Als Sohn des Rechtsanwalts Hermann Beer wurde B. in Wien geboren. Nach dem frühen Tod seiner Mutter erzogen ihn deren Schwester u. ihr Mann, der Tuchfabrikant Alois Hofmann. B. absolvierte ein Jura-Studium u. lebte ab 1891 als freier Autor finanziell unabhängig in Wien. 1897 heiratete er Paula Lissy; im Fragment Paula (postum New York 1949) beschreibt B. das erste Zusammentreffen, seine Jugend u. die Zeit ihrer Ehe. Für Max Reinhardt inszenierte er 1924–1932 einige Theaterstücke, u. a. Goethes Iphigenie in Wien u. Berlin. B. konvertierte zum jüd. Glauben, besuchte 1936 Palästina u. musste 1938 Österreich verlassen; über Zürich gelangte er nach New York ins Exil. B. war mit Schnitzler u. Hofmannsthal befreundet u. verkehrte im Café Griensteidl, dem Treffpunkt der Literaten des Jungen Wien. Nach ersten Novellen (Bln. 1893) gelang ihm mit Der Tod Georgs (Ffm. 1900. Vorabdrucke in »Die Zeit«. Wien 1899, Nr. 266 ff. u. in »Pan«, 15.11.1898) eine der maßgebenden Manifestationen des Lebensgefühls u. Selbstverständnisses der Literatur der Jahrhundertwende. Die Erzählung verknüpft Visionen u. Träume, Gedanken u. Empfindungen mit dem Ereignis des Todes der Titelfigur: Paul träumt den Tod seiner imaginierten jungfräulich-schönen Frau, während Georg, ein erfolgreicher, junger Arzt, beim Besuch seines Freundes Paul in Ischl stirbt. Realzeit u. Fantasiezeit werden durch die Leitmotive des Textes: Bilder der Frauengestalt, der weibl. Haarflut, eines Korbstuhls, ineinander verschränkt. Der Tod Georgs löst in Paul einen Prozess der Selbstanalyse aus, an dessen Ende er aus seiner ästhetizistischen u. narzisst. Verfasstheit heraus zur Lebensbejahung findet. Paul, die Hauptfigur, ist dem Wechsel seiner Wahrnehmung ausgeliefert; Erinne-

414

rung wird durch den zufälligen Blick auf Details wachgerufen u. setzt einen Strom von Bildern in Gang, in dem das Ich Bewusstsein u. Orientierung an der Realität verliert. Durch Beobachtung u. Beschreibung des äußeren wie inneren Geschehens versucht B., die Bedrohung, die die techn. Entwicklung für die Kunst darstellt, ästhetisch zu bewältigen. In diesem Sinne ist die »Überwindung des Naturalismus«, die Hermann Bahr forderte, nicht als Gegenprogramm, sondern als konsequente Weiterführung des naturalist. Anspruchs zu verstehen. Rainer Hank hat in B.s Werken zwei Formen der Reaktion auf die Fragmentierung des Blicks festgestellt: Er nennt sie »Mortifikation«, wenn sich das Subjekt des Objekts bemächtigt, u. »Beschwörung«, wenn sich das Objekt das Subjekt einverleibt. Die Bahnfahrt Pauls nach Wien mit dem toten Freund im Sarg ist signifikant für das Bemühen des Subjekts, des Bilderstroms Herr zu werden. Die Geschwindigkeit der Eisenbahn löst hier den Wahrnehmungsschock der Moderne aus, dem die »Mortifikation« des Naturobjekts u. dessen Stilisierung entgegenzutreten versuchen. Der Tod Georgs ist eines der frühesten Beispiele des inneren Monologs in der deutschsprachigen Literatur; B. selbst spricht vom »flutenden Fühlen«. Als Mimesis der veränderten Wahrnehmungsweise will B. den Anschluss der Kunst an das technisch vermittelte Sehen, die »industrialisierte« Wahrnehmung (Hank; ähnlich auch Hartmut Scheible im Nachw. zur Reclam-Ausg.: Stgt. 1980), erreichen u. wählt als formales Gestaltungsprinzip ein wesentl. Element des Jugendstils: die Ästhetik des Ornaments. Adjektive, häufige Verwendung der Konjunktion »und«, vokalischer Gleichklang u. Alliteration führen zu einer Rhythmisierung der Prosa. Der antinaturalistischen sprachl. Üppigkeit entspricht die Beschwörung des Fremden, Fernen auf inhaltl. Ebene. B.s Beschreibungsweise von Natur ähnelt nur zu sehr der von Interieurs der Gründerzeit: Diese »Rückverwandlung von Natur in Kunstgewerbe« (Jens Malte Fischer) spiegelt die Ohnmacht des Subjekts, Geschichte u. Mythos zu aktualisieren, sie bleibt Zitat. Der Sehnsucht nach dem Leben

415

als Arabeske entspricht der ornamentalisierende Blick – wie der Gebrauch des Leitmotivs ein Ornament auf formaler Ebene darstellt – u. bildet so, noch einmal, ein »zwecklos Schönes«. Mit Der Tod Georgs reagiert B. auf die Krise des »unrettbaren Ichs« (Hermann Bahr) u. versucht dessen ästhet. Stabilisierung. Das neuromantisch-histor. Drama Der Graf von Charolais (Bln. 1905. Urauff. Neues Theater Berlin 1905) nach dem Stück The Fatall Dowry von Philip Massinger u. Nathaniel Field (London 1632) handelt von der Bewusstseinskrise eines einsamen Menschen. Die histor. Szenerie bleibt äußerlich, sie ist bloß Anlass zur Entfaltung des Konflikts zwischen Individuum u. bedrohlich verkommener Umwelt. Das Fatum, der Einfluss einer höheren Macht, ist die einzig treibende Kraft des Geschehens, »Es trieb uns – und treibt uns! Es – nicht ich, nicht du!«, u. führt unweigerlich zum Tod des Helden. B.s späte bibl. Dramen, geplant als Trilogie in Versen u. d. T. Die Historie von König David, sind Fragment geblieben. Hier wird der myth. Gehalt mit dem wechselseitigen Bedingungsverhältnis vom Leiden u. Auserwähltsein der Juden verbunden, auch um die Funktion des Dichters, die in der Moderne fragwürdig u. losgelöst von gesellschaftl. Verantwortung erscheint, durch Analogiebildung zu legitimieren. Das Vorspiel dazu, Jaákobs Traum (Bln. 1918), beschwört das religiöse Kollektiv zur Vergewisserung des narzisst. Künstler-Ichs. Authentizität soll in der Benennung von Phänomenen beglaubigt werden, deren Inhalte längst nicht mehr auf das reale Gesellschaftsgefüge übertragbar sind. Lange Szenenanweisungen, Einführung der Personen durch Beschreibung ihrer schon literarisierten Kostümierung u. ausgewählter Requisiten, dies alles verschiebt die Projektion narzisstischer Sehnsucht ins myth. Material. Der Dichter wäre nun – an Gottes Stelle – der Verkünder des göttl. Wortes gegen die Zeit. B. schreibt 1938 in einer Notiz: »Die Erschütterung des religiösen Erlebens, wie des wirklichen Erlebens einer Dichtung, wird nie von einem ›Erkennen‹ ausgelöst, sondern vom Gefühl eines ›konfrontiert werdens‹ [...]. Dieses erschreckende und beglückende Er-

Beer-Hofmann

schauern ist der – leicht entgleitende – Augenblick einer Kommunion, in der Wort wirklich Fleisch werden will.« In der aus dem Nachlass (Houghton Library, Harvard University, Cambridge/Mass.) veröffentlichten Pantomime Das goldene Pferd (Bln. 1955) gibt B. die Dramatisierung seines Stoffs vollständig auf u. beschränkt sich auf die Beschreibung von Szenerien, Dekors u. Handlung, auf Anweisungen zu unmerklich bewegten Tableaus, wodurch er die Authentizität der Geste, des Körpers vor dem Wort darstellen zu können glaubt. Die Abwendung vom gesprochenen Wort ist Ausdruck seiner Suche nach einem Ort der Wahrheit, der durch Überzeitlichkeit ewige Dauer garantierte u. die Intensität dessen zu fixieren imstande wäre, »was sich nicht ausdrücken läßt« (B.). Weitere Werke: Schlaflied für Mirjam. Bln. 1919 (L.). – Hugo v. Hofmannsthal – R. B. Briefw. Hg. Eugene Weber. Ffm. 1972. – Sarah Fraiman: R. B.s Palästina-Tgb. (2.-22. April 1936). In: Leo Baeck Institute. Jüd. Almanach (1996), S. 36–51 (Abdr. des Tgb.s S. 41–51). Ausgaben: Ges. Werke. Ffm. 1963. – Große R. B.-Ausg. in sechs Bdn. Hg. Günter Helmes, Michael M. Schardt u. Andreas Thomasberger. 6 Bde., Paderb. 1993–98. Dazu Bd. 7 (Supplementbd. 1): Briefe 1895–1945. Hg. u. komm. v. Alexander Kosˇenina. Paderb. 1999, Bd. 8 (Supplementbd. 2): Der Briefw. mit Paula 1896–1937. Unter Mitwirkung v. Peter Michael Braunwarth hg., komm. u. mit einem Nachw. vers. v. Richard M. Sheirich. Paderb. 2002. Literatur: Bibliografien: Kathleen Harris u. Richard M. Sheirich: R. B. A Bibliography. In: MAL 15,1 (1982), S. 1–60. – Hartmut Scheible: Literar. Jugendstil in Wien. Zürich 1984. – Dagmar Lorenz: Wiener Moderne. Stgt. u. a. 1995. – Weitere Titel: Fritz Martini: R. B. In: NDB. – Helene Bissinger: Die ›erlebte Rede‹, der ›erlebte innere Monolog‹ u. der (innere Monolog) bei Hermann Bahr, R. B. u. Arthur Schnitzler. Diss. Köln 1953. – Hans-Gerhard Neumann: R. B. Studien u. Materialien zur ›Historie von König David‹. Mchn. 1972. – Jens Malte Fischer: Fin de siècle. Komm. zu einer Epoche. Mchn./Zürich 1978. – Esther N. Elstun: R. B. – His Life and Work. University Park 1983. – Rainer Hank: Mortifikation u. Beschwörung. Zur Veränderung ästhet. Wahrnehmung in der Moderne am Beispiel des Frühwerks R. B.s. Ffm./Bern/New York 1984 (Anhang: Erstveröffentlichung v. R. B.s. ›Pi-

Behaim von Schwarzbach errot Hypnotiseur‹ v. 1892). – Jeffrey B. Berlin: The friendship and unpublished correspondence between Thornton Wilder and R. B. [mit Textpublikation]. In: GRM 40 (1990), S. 304–323. – Esther N. Elstun: R. B. In: Major figures of turn-of-the-century Austrian literature. Hg. Donald G. Daviau. Riverside 1991, S. 85–108. – Jeffrey B. Berlin: Zur Korrespondenz zwischen Paula u. R. B. In: Das mag. Dreieck. Polnisch-dt. Aspekte zur österr. u. dt. Lit. des 19. u. 20. Jh. Ffm. u. a. 1992, S. 76–151. – Norbert Otto Eke u. Günter Helmes (Hg.): R. B. (1866–1945). Studien zu seinem Werk. Würzb. 1993. – Stefan Scherer: R. B. u. die Wiener Moderne. Tüb. 1993. – Sören Eberhardt: Der zerbrochene Spiegel. Zu Ästhetizismus u. Tod in R. B.s ›Novellen‹. Paderb. 1993. – Ulrike Peters: R. B. Zum jüd. Selbstverständnis im Wiener Judentum um die Jahrhundertwende. Ffm. u. a. 1993. – R. B.: ›Zwischen Ästhetizismus und Judentum‹. Hg. Dieter Borchmeyer. Paderb. 1996. – U. Peters: Das Problem des Judentums bei R. B. Ein Überblick über den gegenwärtigen Forschungsstand. In: ZRGG 48 (1996), S. 262–271. – Über R. B. Rezeptionsdokumente, Porträts, Erinnerungen, Studien v. 1894–1994. Hg. S. Eberhardt u. Charias Goer. Paderb. 1996. – Karin C. Inderwisch: Augen-Blicke bei R. B. Paderb. 1998. – Zu Gast bei B. Eine Ausstellung über das jüd. Wien der Jahrhundertwende. Hg. Felicitas Heimann-Jelinek. Wien/Amsterd. 1999. – Harald Tausch: ›von dem Innern des Labyrinths aus gesehen‹. Beobachtungen zur Architektur v. R. B.s ›Der Tod Georgs‹ (1900). In: Poetik der Evidenz. Die Herausforderung der Bilder in der Lit. um 1900. Hg. Helmut Pfotenhauer. Würzb. 2005, S. 31–49. Sabine Scholl / Red.

Behaim von Schwarzbach, Bohemus, Martin, * 6.10.1459 Nürnberg, † 29.7. 1507 Lissabon; Grabstätte: ebd., Dominikanerkirche. – Schöpfer des ältesten erhaltenen Erdglobus u. Verfasser seiner Beschriftung. Der aus Nürnberger Patriziergeschlecht stammende B. erhielt eine kaufmänn. Ausbildung u. bezeichnete sich als Schüler des Mathematikers u. Astronomen Regiomontanus, der 1471–1475 in Nürnberg lebte, dort allerdings keinen öffentl. Unterricht erteilt hat. 1479–1484 war B. als Handelsagent in Antwerpen tätig, kam aber wohl auf Reisen auch schon nach Lissabon, wohin er 1484 übersiedelte. Bereits 1482/83 war er in die

416

dortige »Junta dos mathematicos« aufgenommen worden, ein von König Johann II. von Portugal eingesetztes Gelehrtengremium, das den Auftrag hatte, Methoden der Navigation auf der südl. Hemisphäre, wo die Zirkumpolarsterne unsichtbar waren, nach der Sonnenhöhe zu finden. B. brachte in Nürnberg gefertigte astronom. Beobachtungsinstrumente aus Messing mit, darunter auch das Astrolabium, die die bis dahin in der Seefahrt üblichen Holzinstrumente ablösten. 1484/85 begleitete er als Astronom die zweite Expedition von Diego Cão, die über die Kongomündung hinaus bis zur Walfischbucht gelangte. Bei seiner Rückkehr wurde er von König Johann II. zum Ritter des ChristusOrdens geschlagen, was als höchste Anerkennung seiner naut. Fähigkeiten angesehen werden darf. 1491 brach B. zur Regelung von Erbschaftsangelegenheiten nach Nürnberg auf. Dort wurde 1492/93 nach seinen Angaben u. unter seiner Aufsicht, auf Bitten der drei »obersten Hauptleute« von Nürnberg, Gabriel Nützel, Paul Volckamer u. Nikolaus Groland, der sog. apffel oder mappa mundi ausgeführt. Dieser Globus enthält eine Gradeinteilung auf dem Äquator, die beiden Wendekreise u. den Zodiaq zur Orientierung. Die Ausdehnung der Länder ist im Allgemeinen nach ptolemäischem Vorbild dargestellt, Afrika jedoch auf der Basis der von B. in Portugal u. auf Reisen gewonnenen Kenntnisse. B. gibt als seine Quellen Ptolemäus, Plinius, Strabo, Marco Polo u. Johann de Mandeville an. Die Flächen der Ozeane sind dicht beschriftet. Im afrikan. Bereich enthält der Globus damit die erste deutschsprachige Landeskunde. Im Vergleich zu anderen Karten der Zeit war der Globus allerdings sehr ungenau. 1494 kehrte B. nach Lissabon zurück. Eine geplante Reise nach Indien, für die er ein Privileg besaß, wurde nicht durchgeführt. Schon zu B.s Lebzeiten wurden in Nürnberg weitere Erdgloben hergestellt, die auf B.s Anregung zurückgeführt werden, später auch in den Niederlanden (Mercator) u. in Italien (Coronelli). Nach seinem Tod wurde B., den Kaiser Maximilian I. als den am weitesten gereisten

417

Untertanen seines Reichs bezeichnet hatte, auch eine geheime, vorkolumbian. Entdeckungsfahrt nach Amerika zugeschrieben, eine Legende, die sich bis ins 18. Jh. hielt. In der ersten Hälfte des 20. Jh. konnten portugies. Historiker nachweisen, dass die angeblich von B. in die Nautik eingeführten astronom. Neuerungen schon vorher in Portugal bekannt waren, Erkenntnisse, die in der Nachkriegszeit durch Nürnberger Forschungen ergänzt wurden. Literatur: Siegmund Günther: M. B. Bamberg 1890. – Ernest George Ravenstein: M. B. His Life and his Globe. London 1908. – Der B.-Globus zu Nürnberg; Faks.-Wiedergabe. In: Ibero-Amerikan. Archiv 17 (1943). – Hermann Kellenbenz: Portugies. Forsch.en u. Quellen zur Behaimfrage. In: Mitt.en des Vereins für Gesch. der Stadt Nürnberg 48 (1958). – Werner Schultheiß: Die Entdeckung Amerikas u. Nürnberg. In: Jb. für frank. Landesforsch. 15 (1955). – Otto Berninger: M. B. Zur 500. Wiederkehr seines Geburtstages. Erlangen 1960. – Theodor Gustav Werner: Nürnbergs Erzeugung u. Ausfuhr wiss. Geräte im Zeitalter der Entdeckungen. In: Mitt.en des Vereins für Gesch. der Stadt Nürnberg 53 (1965). – Peter J. Bräunlein: M. B. Legende u. Wirklichkeit eines berühmten Nürnbergers. Bamberg 1992. – Focus B.-Globus: German. Nationalmuseum, Nürnb., 2.12.1992 bis 28.2.1993. Hg. Gerhard Bott. Nürnb. 1992 (Kat.). – Günther Görz u. a.: Machbarkeitsstudie für ein Multimedia-Informationssystem über den B.-Globus (1492). Erlangen 1994. – Facsimile globe of M. B.’s 1492 ›Erdapfel‹. London [1995]. – Dagmar Unverhau (Hg.): Geschichtsdeutung auf alten Karten. Archäologie u. Gesch. Wiesb. 2003. Uta Lindgren / Red.

Beheim, Michel, * 29.9.1420 (?) Sülzbach bei Weinsberg, † wohl zwischen 1472 u. 1479 Sülzbach bei Weinsberg . – Berufssänger mit wechselnden Dienstverhältnissen, Verfasser von Liedern u. drei geschichtlichen Sangvers-Epen. B. stellt eine Besonderheit in der Dichtung des deutschsprachigen MA dar: (1) Ein großer Teil seines Werkes ist in authentischer Form, nämlich als Autografe, überliefert; (2) durch Selbstaussagen sowie durch histor. Zeugnisse ist seine Biografie einigermaßen gut bekannt: eine Ausnahme bei Berufsdichtern, die fast immer aus sozial niedereren, politisch wenig

Beheim

einflussreichen Schichten stammen u. deswegen gar nicht oder nur schwach in Chroniken oder Urkunden bezeugt sind. Dennoch bleiben Unklarheiten, bes. weil autobiogr. Aussagen je nach Anlass u. Zweck stilisiert sind (bei B. allerdings weniger als etwa bei Oswald von Wolkenstein). Wichtigstes Selbstzeugnis ist B.s Lied 24, in dem er seine Herkunft u. Karriere berichtet: Demnach ist er in Sülzbach bei Weinsberg als Sohn eines Webers geboren; seine Familie sei aus Böhmen eingewandert, was den Namen der Familie erkläre. Das Datum teilt B. zwar in einer eigenhändigen Notiz (Hs. der UB Heidelberg, cpg 312, 315v) mit, doch ist der Eintrag widersprüchlich: Ende Sept. 1416, 1420 oder 1421. B. erlernte den Beruf eines Webers, wurde jedoch um 1440 als Sänger u. Dichter von dem Reichserbkämmerer Konrad von Weinsberg († 1448) »entdeckt« u. in Dienst genommen. B. war verheiratet u. hatte mindestens vier Kinder. Falls der auf einem schlecht erhaltenen Sühnekreuz genannte Schultheiß »Beham« mit dem Dichter identisch ist (wofür viel spricht), ist B. im Alter wieder in seinem Geburtsort ansässig geworden, wo er zwischen 1472 u. 1479 erschlagen wurde. B. hat seinen Lebensunterhalt weitgehend als Dichtersänger in wechselnden Dienstverhältnissen u. an verschiedenen Orten verdient. Er kann daher nicht dem Meistersang zugerechnet werden, der ja eine Kunstausübung von zunftmäßig organisierten Stadtbürgern (zumeist Handwerkern) war; hinsichtlich Inhalt u. Stil haben B.s Werke aber manches mit dem Meistersang gemeinsam. B. gesteht einerseits ganz ehrlich, dass er nach dem Grundsatz »Wes Brot ich ess, des Lied ich sing« (zitiert in: Pfälzische Reimchronik, letzte Strophe) gearbeitet hätte, andererseits erzählt er mehrfach glaubwürdig, dass er aufgrund von zu offenen Meinungsäußerungen Probleme, auch gefährlicher Art, bekam. In seinem Buch von den Wienern berichtet er z.B. ausführlich, wie die mit Herzog Albrecht († 1463) verbündeten Wiener ihm das im Entstehen begriffene u. natürlich kaiserfreundl. Buch stehlen wollten, ihn zu bestechen versuchten u. ihm sogar nach dem Leben trachteten; er erzählt dort auch, dass er

Beheim

während der Belagerung mehrfach Lieder vor Kaiserin Eleonore vortrug. Folgende Dienstherren nennt Beheim: Reichserbkämmerer Konrad von Weinsberg (Dienstverhältnis von ca. 1440 bis zu Konrads Tod 1448); Herzog Albrecht III. von Bayern (1448, 1453/54); Markgraf Albrecht Achilles von Brandenburg-Ansbach 1449–1453); König Christian I. (Kopenhagen 1450); König Ladislaus Postumus von Böhmen (1454–1457: »künig Lasslab tichter«; Teilnahme an dessen Türkenzug nach Belgrad 1456); die verfeindeten Habsburger-Brüder Herzog Albrecht VI. von Österreich (1454, 1458) u. Kaiser Friedrich III. (1459–1465: »des kaisers tichter«; 1462 Teilnahme an der Belagerung Friedrichs in der Wiener Burg, 1464 an den Belagerungen der Burgen Urschendorf u. Scheuchenstein); jeweils kurz Christoph von Mörsberg (1465), Herzog Sigmund von Bayern (1466/67) u. Graf Eberhard von Württemberg (1471) sowie Kurfürst Friedrich I. von der Pfalz (1458 bis etwa 1472; 1471 Teilnahme am Feldzug gegen Herzog Heinrich von Veldenz). Mehrfach ist also B.s Teilnahme an militär. Unternehmungen bezeugt. Verschiedene städt. Urkunden zeigen, dass er nicht nur an Fürstenhöfen wirkte, sondern auch von (oder nur in?) Städten Geld erhielt, nämlich: Augsburg (1451, 1454, 1455, 1468), Wien (1456, zweimal 1461), Nördlingen (1468). B.s Werke sind in drei »Gesamthandschriften« überliefert (A = Heidelberg cpg 312; B = Staatsbibliothek München cgm 291; C = Heidelberg cpg 334), wovon A u. C großenteils Autografe sind u. B offenbar vom Autor selbst durchkorrigiert wurde; drei autografe u. eine 1495 in Nürnberg von einem Berufsschreiber geschriebene kleinere Handschriften konzentrieren sich auf geistl. Lieder, dazu kommen einige Lieder in zwei Sammelhandschriften, darunter eine von Hans Sachs angelegte Sammlung (Berlin mgq 414: Lied 284). Überliefert sind unter B.s Namen Texte u. Melodien zu 452 Liedern (in elf Tönen): 1. Religiöse Lieder, der größere Teil der Lieder: teilweise der Bibelparaphrase sich annähernd, teilweise »erbauliche« Lieder; für diese benutzte B. verschiedene Quellen u. Vorlagen, vorwiegend aus dem österr. Raum (z.B. Nikolaus von Dinkelsbühl,

418

Thomas Peuntner, Heinrich von Langenstein, Irmhart Öser, Heinrich von Mügeln; weitere Vorlagen sind anzunehmen); 2. Lieder zu allgemeinen Fragen der Moral u. Ethik; 3. polit. Lieder unterschiedlichster Art, mit zwar grundsätzlich adelsfreundlicher, dennoch aber oft auch sehr krit. Tendenz; eng damit verbunden 4. autobiogr. Lieder; des Weiteren einige 5. Liebeslieder u. 6. Lieder zur Kunstauffassung u. -ausübung. Heute am interessantesten sind die politischen u. autobiogr. Lieder, z.B.: Loblieder auf Fürsten (aber auch auf Österreich u. die Universität Wien: 96), antihussit. Lieder, Mahnlieder an Adel u. Fürsten, Klagelieder über den Zustand des Reiches u. die durch die Untätigkeit der europ. Fürsten erleichterte Eroberung von Konstantinopel durch die Osmanen 1453, je ein Lied über seine Nordlandreise (327) u. seine sechs Todesgefahren (329), je ein umfangreiches Erzähllied über den Kriegszug nach Belgrad 1456/57: 328) sowie über den Woiwoden Wlad II. Drakul (später Anregung u. Vorbild für die DraculaFigur: 99). Eine Besonderheit B.s sind seine Überschriften zu den Liedern, die oft kleine Kommentare sind u. Einblicke in Entstehungs- u. Aufführungsumstände geben (erstmals in den Handschriften zum Mönch von Salzburg, insg. aber damals nur selten); situationsbedingte Rasuren u. Änderungen bei der Überlieferung des »Karriere-Liedes« 24 bieten sonst nicht zu gewinnende Informationen über die Arbeitsweise eines Berufsdichters. B. hat ferner drei strophische Geschichtsepen geschrieben, mit eigener Melodie (»Angstweise«), zu denen er selbst anmerkt, man könne sie singen oder mit Sprechstimme vortragen; sie sind in Inhalt u. Form die einzigen Beispiele dieser Art u. insg. die letzten dt. Sangversepen. Im Buch von den Wienern (1462/66) erzählt B. als kaisertreuer Mitbeteiligter die Belagerung Kaiser Friedrichs III. durch die mit dessen Bruder Albrecht verbündeten Wiener, im Buch von Triest (1463/64) nach einem Augenzeugenbericht von der Belagerung des kaisertreuen Triest durch Venedig u. in der Pfälzischen Reimchronik (nach 1471; bisher nur in Teilen ediert), unter Verwendung zweier Prosachroniken, die

419

Beheim-Schwarzbach

Herkunft u. Taten von Pfalzgraf Friedrich I. terd. 1991. – U. Müller: Exemplar. Überlieferung Die Lieder u. Chroniken sind stilistisch ähn- u. Ed. Mehrfachfassungen in authent. Lyrik-Hss. – lich: klare, anschaul. Sprache mit ober- z.B. bei Oswald v. Wolkenstein u. M. B. In: Editio 6 deutsch-ostfränkischer Färbung; Bemühen (1992), S. 112–122. – Ders.: Kontext-Informationen zum ›Sitz im Leben‹ in spätmhd. Lyrik-Hss.: um gute Verständlichkeit: weitgehendes Mönch v. Salzburg, M. B. In: Entstehung u. Typen Fehlen von komplizierten Ausdrücken u. mittelalterl. Lyrikhss. Hg. Anton Schwob u. András Bildern, Tendenz zur Didaxe u. damit ver- Vizkelety. Bern u. a. 2001, S. 187–206. – Friederike bunden Vorliebe für gut verstehbare Allego- Niemeyer: ›Ich, Michel Pehn‹. Zum Kunst- u. Rolrien u. Fabeln; Verse silbenzählend im Stil lenverständnis des meisterl. Berufsdichters M. B. Ffm. 2001. – Bettina Hatheyer: Die Nordlandreise der Zeit. B. gehörte lange zu den in der Mediävistik M. B.s (in Vorb.). – Horst Brunner: Die Melodien M. gering geschätzten Sängern, was sich aber B.s (in Vorb.). Ulrich Müller allmählich ändert; bes. seine Melodien werden zunehmend positiver bewertet. Ihre Beheim-Schwarzbach, Martin, * 27.4. Qualität zeigen B.s Werke v. a. beim Vortrag, 1900 London, † 7.5.1985 Hamburg. – Erd.h. bei modernen Aufführungen (vgl. die zähler, Lyriker, Essayist u. Übersetzer. Angaben zu CDs, s. u.). B. wurde als Sohn eines Würzburger SchiffsAusgaben: Theodor G. v. Karajan (Hg.): M. B.s Buch v. den Wienern. Wien 1843. – Konrad Hof- arztes auf einem Schiff im Hafen von London mann (Hg.): Quellen zur Gesch. Friedrichs des geboren u. war daher brit. Staatsbürger »by Siegreichen. Bd. 2, Mchn. 1863. Neudr. Aalen 1969 birth«. Er besuchte das Gymnasium in (Buch 2 u. 3 v. B.s ›Pfälz. Reimchronik‹). – Hans Hamburg, machte 1918 das sog. Notabitur u. Gille, Ingeborg Spriewald u. Christoph Petzsch wurde in den letzten Tagen des Ersten Welt(Hg.): Die Gedichte des M. B. 3 Bde., Bln. 1968–71 kriegs noch Soldat. Nach Kriegsende absol(mit dem ›Buch von Triest‹). – Dagmar Kratochwil: vierte er eine kaufmänn. Ausbildung, war in Die Autographe des M. B. In: Litterae ignotae. Hg. verschiedenen kaufmänn. Berufen u. außerUlrich Müller. Göpp. 1977, S. 109–134. – CDs: dem als Schauspieler, Imker u. Redakteur Buch v. den Wienern: Eberhard Kummer (Preiser tätig, bevor er sich ausschließlich der Records 1995). – Lieder: Marc Lewon/Trecento Schriftstellerei zuwandte. (Verlag der Spielleute 1997). Es scheine für ihn das Gesetz erlassen zu Literatur: Ulrich Müller: Untersuchungen zur sein, in allen seinen Büchern stets von vorne polit. Lyrik des dt. MA. Göpp. 1974. – Ders.: Bebeginnen zu müssen: als hätte er zuvor noch obachtungen u. Überlegungen über den Zusamnie eines zustande gebracht, nicht schon menhang v. Stand, Werk, Publikum u. Überlieferung mhd. Dichter: Oswald v. Wolkenstein u. M. B. Terrain gewonnen, an das er abermals anIn: Oswald v. Wolkenstein. Hg. Egon Kühebacher. schließen dürfe. So schrieb er, bevor er sechInnsbr. 1974, S. 167–181. – Ders.: M. B. In: VL. – zig wurde, ein wenig unglücklich über das Thomas Honemann: Dt. Texte aus der ›Wiener uneinheitl. Gesamtbild, das er mit seinen Schule‹ als Quelle für M. B.s religiöse Gedichte. In: Romanen, seinen vielen Erzählungen u. seiZfdA 107 (1978), S. 319–330. – Burghart Wachin- nen Gedichten einmal hinterlassen werde. ger: M. B. In: Gebrauchslit. im dt. MA. Hg. Volker Sein Leben lang war er ein literarischer EinHonemann. Tüb. 1979, S. 37–71. – William zelgänger, der niemals Wert darauf legte, eiMcDonald: ›Whose bread I eat‹: The Song-Poetry of ner bestimmten Richtung oder Gruppierung M. B. Göpp. 1981. – Frieder Schanze: Meisterl. anzugehören: ein Poet, der sein Schaffen aus Liedkunst zwischen Heinrich v. Mügeln u. Hans einer christlich-humanist. Haltung heraus als Sachs. 2 Bde., Mchn./Zürich 1983/84. – Manfred G. zeitlos verstand – der unmittelbaren gesellScholz: Zum Verhältnis v. Mäzen, Autor u. Publischaftl. Gegenwart entrückt, über den unsikum im 14. u. 15. Jh. Darmst. 1987, S. 112–180. – RSM 3 (1986), S. 17–206. – Albrecht Classen: Die cheren u. als bedrohlich empfundenen Zeitautobiogr. Lyrik des europ. SpätMA. Studien zu läuften schwebend. Auf sich aufmerksam machte er 1927 mit Hugo v. Montfort, Oswald v. Wolkenstein, Antonio Pucci, Charles d’Orléans, Thomas Hoccleve, M. B., dem Novellenband Die Runen Gottes (Lpz.), Hans Rosenplüt u. Alvarez de Villasandino. Ams- dem 1930 eines seiner wichtigsten Bücher

Behrens

420

folgte, der Roman Die Michaelskinder (Lpz.). Ffm. 1981 (P.). – Soso, spricht der liebe Gott. Hbg. Wie im Roman Der Gläubiger (Lpz. 1934) oder 1983 (N.). – Der Paradiesvogel. Sigmaringen 1987 im Lyrikband Die Krypta (Hbg. 1935) waren es (P.). – Die Goldmacher. Phantast. Gesch.n. Ffm. allemal entweder märchenhaft-allegorische 1990. Literatur: Gerald Funk: Von Engeln, Teufeln u. oder religiöse Themen, die er anschaulich zur Kindern. Metaphysik u. Phantastik im Werk M. B.s. Sprache brachte. Wie Assur, der im Traum In: Quarber Merkur 93/94 (2001), S. 107–130. Geheimnisse erfährt, die ihn sodann ohne Franz Josef Görtz / Red. Furcht den Tod auf sich nehmen lassen (Assurs Begegnung. In: Das Mirakel. Mchn. 1980. E.en) oder wie Pilata, die Frau des Prokurators von Behrens, Franz Richard, auch: Erwin GeJerusalem, der sich auf wundersame Weise pard, Peter Mohr, * 5.3.1895 Braschwitz die Wahrheit über den Mann mit der Dor- bei Halle/Saale, † 30.4.1977 Berlin/DDR. nenkrone offenbart (Die Warnung. In: Das Mi- – Lyriker. rakel), ergeht es vielen Figuren in B.s Erzählungen. Sie alle werden, ohne es recht zu B. führte die expressionistische »Wortkunst«, wollen, Zeugen eines Geschehens, das unbe- die v. a. von Autoren der von Herwarth Walgreiflich erscheint: ein Mysterium u. damit den herausgegebenen Zeitschrift »Der einer der »ewigen Tatbestände«, von denen Sturm« vertreten wurde, bis zur äußersten Konsequenz. Lange war er vergessen. Ganz B. in vielen seiner Bücher berichtet. B. verließ Deutschland vor Ausbruch des folgenlos blieb sein Werk jedoch nicht: Die Zweiten Weltkriegs, arbeitete in London als Mitglieder der »Wiener Gruppe« stießen Journalist bei der BBC, kehrte 1946 als Anfang der 1950er Jahre auf einzelne Ge»Control Officer« nach Hamburg zurück u. dichte B.’; v. a. Gerhard Rühm konnte an B.’ wirkte eine Zeit lang im Feuilleton der Zei- konstruktivistischen Umgang mit Sprache tung »Die Welt« mit. Seine Vielseitigkeit be- anschließen. B., Sohn eines christl. Gewerkschaftsfühwies B. als Verfasser von Biografien (Novalis. rers, wurde zum Volksschullehrer ausgebilStgt. 1939. Paulus. Der Weg des Apostels. Bln. det. Seit 1913 verfasste er journalist. Beiträge 1940) u. als Übersetzer (von Margaret Mitfür Zeitschriften. 1914–1918 war B. Frontchells Vom Winde verweht. Hbg. 1937). 1964 soldat; 1915–1917 erschienen Kriegsreportaerhielt er den Alexander-Zinn-Preis, 1980 die gen B.’ (Feldpostbriefe) in der Zeitschrift Biermann-Ratjen-Medaille. »Flugsport«. Nach dem Ersten Weltkrieg Weitere Werke: Der kleine Moltke u. die Raschrieb er unter dem Pseudonym Erwin Gepierkunst. Lpz. 1929 (E.). – Die Herren der Erde. pard zahlreiche Filmdrehbücher (u. a. zu dem Lpz. 1931 (R.). – Das verschlossene Land. Hbg. 1932 (E.en). – Die Todestrommel. Lpz. 1935 (N.). – Die mit Asta Nielsen verfilmten Hamlet). Bis 1934 Verstoßene. Hbg. 1938 (R.). – Der Schwerttanz. arbeitete er außerdem u. a. als FilmdramaHbg. 1939 (N.). – Der mag. Kreis. Stockholm 1940 turg, Sportberichterstatter u. Lokalredakteur. (E.en). – Vom leibhaftigen Schmerz. Hbg. 1946 1945–1961 war er unter dem Pseudonym (Ess.). – Der Dt. Krieg. Hbg. 1946 (Ep.). – Gleich- Peter Mohr Sportkolumnist des Westberliner nisse. Bad Wörishofen 1948 (E.en). – Die Gesch.n »Abend«. Der Mauerbau zwang den in Ostder Bibel. Hbg. 1952. – Der geölte Blitz. Hbg. 1953 berlin Lebenden zur Einstellung dieser Tä(E.). – Die Insel Matupi. Mchn. 1955 (R.). – Knut tigkeit. Die restl. Jahre verbrachte er unbeHamsun in Selbstzeugnissen u. Bilddokumenten. kannt u. fast mittellos in Berlin/DDR. GerHbg. 1958 (Biogr.). – Das Gnadengesuch. Hbg. hard Rühm, der den lange als verschollen 1960 (E.). – Der Stern v. Burgund. Hbg. 1961 (R.). – Geltenden dort kurz vor seinem Tod beDer Mitwisser. Hbg. 1961 (R.). – Der arme Heinsuchte, berichtet, B. habe sich an seine Lyrik – rich. 1962 (Hörsp.). – Christian Morgenstern in Selbstzeugnissen u. Bilddokumenten. Reinb. 1964 1925 war die letze lyr. Publikation B.’ er(Biogr.). – Schatzinseln – Zauberberge. Gesch.n schienen – fast nicht mehr erinnern können. »Dichten ist kürzen«, notierte B. 1915. Wie vom Dichten. Stgt. 1970 (E.en). – Die Fußspur. Stgt. 1971 (E.en). – Führer sehen dich an. Worms 1975 August Stramm verzichtet er auf Wörter u. (Sonette u. Porträts). – Und doch hast du gelacht. Silben von nur grammatischer Funktion. Er

421

Behrens

erfindet zahlreiche Neologismen: durch Bil- Behrens, Katja, * 18.12.1942 Berlin. – Erdung neuer Komposita (»Braunbrauch«, zählerin, Übersetzerin. »Meteormieder«) u. – v. a. in den früheren Nach dem Krieg zog B. mit ihrer Mutter u. Texten – durch Umprägung von Wortarten ihrer jüd. Großmutter nach Wiesbaden, be(»Funkelnde Sterne gattinnen«, »firnensuchte dort das Gymnasium, heiratete, beschnee Marmorsäulen«). Während bei August kam eine Tochter u. wurde geschieden. Seit Stramm die Reduktion der Syntax den meta1960 machte sie sich als freiberufl. Übersetphys. Kern von Erlebnissen ausdrücken soll, zerin v. a. amerikan. Literatur (u. a. William S. lassen die ersten Texte B.’ (erstes veröffentBurroughs u. Henry Millers) einen Namen. lichtes Gedicht: Expressionist Artillerist. In: Längere Reisen führten sie nach Indien, »Der Sturm« 21/22, 1916. Erster u. einziger Südamerika u. in die USA. 1968 bis 1970 Gedichtband: Blutblüte. Bln. 1917) bei aller lebte sie in Israel. 1973–1978 war sie Lektorin Orientierung an Stramm bereits das Interesse beim Luchterhandverlag. Seit 1978 lebt sie als an den Ausdrucksqualitäten des absolut ge- freie Schriftstellerin in Nieder-Beerbach bei setzten u. oft zitathaft präsentierten einzel- Darmstadt. Sie gab eine Reihe von Antholonen Worts erkennen. Vor allem in seinem gien heraus (z.B. Frauenbriefe der Romantik. zweiten großen Gedichtzyklus Die Erde der Ffm. 1981). Gottschreie (ersch. von Dez. 1921 bis Apr. 1922 B. erhielt 1978 den Klagenfurter Förderim »Sturm«) u. in den nachgelassenen Ge- preis u. 1981 den Thaddäus-Troll-Preis des dichten erscheinen die lyr. Texte getragen Förderkreises deutscher Schriftsteller für ihvom Assoziationspotential des Einzelworts, ren Erzählungsband Jonas (Pfaffenweiler das nicht mehr – wie bei Stramm – als ein aufs 1981); weitere Preise folgten, darunter 2003 Äußerste verkürzter Satz begriffen werden die Ehrengabe der Deutschen Schiller-Stifkann. Den Bezug zur außersprachl. Wirk- tung. lichkeit, den die zum Bestandteil des GeIhre erste Buchveröffentlichung war der dichts werdenden Überschriften herstellen, Erzählband Die weiße Frau (Ffm. 1978). Zwei stellen die Texte in ihrem Verlauf in Frage; Erzählungen geben in der Form eines Mooft ironisieren sie ihn: Der Leser kann nicht nologs die ans Surreale grenzenden Tagträuunterscheiden, ob sprachliches u. nicht- me zweier europ. Frauen wieder. In die ansprachliches Geschehen zusammenfallen deren Erzählungen gehen B.s Eindrücke von oder ob sie radikal auseinander treten. einer Südamerika-Reise ein. Jede der fünf Ausgaben: Bd. 1 der Werkausg.: Blutblüte. Die Erzählungen hat einen eigenen Stil, durch ges. Gedichte. Hg. Gerhard Rühm. Mchn. 1979. – den der Inhalt gespiegelt u. zgl. über diesen Bd. 2 der Werkausg.: Geflügelte Granaten. Ge- hinaus – gleichsam als roter Faden des Bandes dichte, Gedanken, Sportstrophen, Kriegsber.e, – die Erfahrung der Wirklichkeit selbst theFeldtagebücher. Hg. ders. u. Monika Lichtenfeld. matisch wird. Die Monologe der fantasierenMchn. 1995. den Frauen beziehen den Leser suggestiv in Literatur: Hans Benzmann: Die Dichter des deren Schwindelgefühl angesichts der ihnen ›Sturm‹. In: Die Flöte 1. Coburg 1918/19, entgleitenden Realität mit ein. Die Erzählung S. 192–196. – Arno Schirokauer: Expressionismus Amazonas Safari Camp stellt gespenstisch das der Lyrik. In: Ders.: Germanist. Studien. Hg. Fritz Strich. Hbg. 1957 (Erstveröffentlichung 1924). – räuml. Nebeneinander zweier Lebenswelten Gerhard Rühm: Die Kriegsgedichte v. F. R. B. In: dar, die sich nicht berühren: die der Indios u. Das Tempo dieser Zeit ist keine Kleinigkeit. Zur Lit. die der Touristen. So bleiben die realen Szeum 1918. Hg. Jörg Drews. Mchn. 1981, S. 95–111. – nen aus Südamerika für den Leser trotz ihrer Kurt Möser: Lit. u. die ›große Abstraktion‹. präzisen Beschreibung genauso beunruhiKunsttheorien, Poetik u. ›abstrakte Dichtung‹ im gend rätselhaft wie die Fantasien der einsa›Sturm‹ 1910–30. Erlangen 1983. – Michael Gün- men Frauen. ther: B = Börse + Bordell. F. R. B. Wortkunst, 1983 erschien B.s erster Roman Die dreiKonstruktivismus u. das Verschwinden der Lyrik. zehnte Fee (Düsseld.), eine bis in die Gegenwart Ffm. 1994. Heinz Wittenbrink / Red. reichende Familienchronik, konzentriert auf

Behrisch

422

die Trias Großmutter-Mutter-Tochter, die in Schweigen v. Opfern u. Tätern bei K. B. u. Bernhard einer Dachwohnung zusammenleben. Als Schlink. In: Jews in German literature since 1945. (Halb-)Jüdinnen u. Frauen sind sie durch ihr Hg. Pól O’Dochartaigh. Amsterd. 2000, S. 463–476. »Hauptgefühl der Ohnmacht«, das wie der – Uta Schwarz: K. B. In: KLG. – Thomas Kraft: K. B. In: LGL. – Ariane Huml: Ziehende Landschaft(en). Fluch einer Dreizehnten Fee auf ihnen liegt, Generationsspezif. Remigration in der Dichtung zum »Opfer« bestimmt. In den Erinne- jüd. Schriftstellerinnen nach 1945. In: Fremdes rungsfetzen der beiden älteren sind Details Heimatland. Remigration u. literar. Leben nach der jüngsten Geschichte u. auch die abwe- 1945. Hg. Irmela v. der Lühe. Gött. 2005, senden Männer für die Tochter Anna präsent. S. 217–236. B. behandelt in diesem Roman ein von Alice Walther Kummerow † / Eva-Maria Gehler Miller analysiertes Thema: die Tradierung bestimmter Verhaltens- u. Denkweisen in Behrisch, Ernst Wolfgang, * Frühjahr über Generationen hinweg bestehenden 1738 Gut Naunhof bei Dresden, † 21.10. Konventionen. Annas Hoffnung liegt darin, 1809 Dessau. – Mentor Goethes in Leipsich dieses Familiengedächtnis bewusst zu zig. machen, um dadurch eine selbständige Frau Aus einer handschriftl. Autobiografie des zu werden. Kritiker sahen in B.s Erzählhaltung u. der jüngeren Bruders Heinrich Wolfgang ist besprachl. Souveränität ihrer Prosa, in der sich kannt, dass der Vater eine strenge pädagog. wohl auch ihre langjährige Arbeit als Über- Hand führte u. sich darauf verlegt hatte, setzerin bewährt, den Ansatz einer Kurskor- verfallene Güter zu kaufen, wieder aufzurektur für die Literatur der 1970er Jahre. bringen u. nach mehreren Jahren mit Gewinn Thematisch weisen B.s Texte in Richtung wieder zu verkaufen. Es ist daher ungeklärt, Frauenliteratur. Sie behandeln, meist in der warum B. nach Vollendung seiner Studien in Ich-Form geschrieben, v. a. die Situation der Leipzig, durch die Vermittlung Gellerts, eine alleinstehenden Frau u. die Mutter-Tochter- Stelle als Hofmeister im gräflich LindenauBeziehung. Trotzdem möchte B. nicht als schen Hause annahm (1765–1767); in jener Autorin von »Frauenliteratur« betrachtet Zeit war er mit Goethe bekannt. B. wurde werden. Seit den 1990er Jahren thematisiert 1767 aus dem Hofmeisterdienst entlassen u. sie in Erzähl- u. Aufsatzsammlungen ver- kam, wieder durch Gellerts Empfehlung, stärkt Fragen nach jüdischer Identität u. Ge- nach Dessau, wo er bis 1773 Erzieher des schichte (z.B. Salomo und die anderen. Jüdische jungen Grafen Franz von Waldersee war, daGeschichten. Ffm. 1993. Ich bin geblieben – war- nach Erzieher des Erbprinzen Friedrich von um? Juden in Deutschland – heute. Gerlingen Anhalt-Dessau. 1789 soll er sich ins Privatleben zurückgezogen haben. Als verdienstvoll 2002). Weitere Werke: Das Insel-Buch vom Lob der wird ihm angerechnet, dass er den Herzog Frau. Ffm. 1982 (Anth.). – Weiches Wasser bricht Leopold Friedrich Franz von Anhalt-Dessau den Stein. Widerstandsreden. Ffm. 1984. (Anth.). – auf Basedow, nachmaligen Gründer des Im Wasser tanzen. Ein Erzählzyklus. Ffm. 1990. – Philanthropins, aufmerksam machte. Die Vagantin. Ffm. 1997 (R.). – Zorro. Weinheim Als Schriftsteller ist B. eigentlich nicht in 2001 (R.). Erscheinung getreten. Wohl soll er viel geLiteratur: Angelika Mechtel: K. B. In: Neue Lit. schrieben haben, doch hatte er eine unüberder Frauen. Hg. Heinz Puknus. Mchn. 1980, windl. Abneigung gegen die VeröffentliS. 246–248. – Manuela Reichart: Es kommt kein chung seiner Schriften. Außer einem OpernPrinz. Interview. In: Die Zeit, 14.10.1983. – Liz libretto, einigen Gelegenheitsgedichten, InWieskerstrauch: K. B. In: Dies.: Schreiben zwischen schriften für Statuen in den Gartenanlagen Unbehagen u. Aufklärung. Weinheim 1988, S. 129–140. – Petra Fiero: ›Bis zur Vergasung‹: K. von Dessau ist seine Mitarbeit an einem B.s Kritik an der dt. Sprache u. Vergangenheitsbe- Teutsch-französischen Wörterbuch der Jägersprache wältigung. In: Germanic notes and reviews 30 zu erwähnen. Die eigentl. »Bedeutung« B.s beruht auf (1999) N. 2, S. 143–152. – Carlotta v. Maltzan: ›Die Angst davor, daß es rauskommt‹: Über das der Tatsache, dass er in Leipzig Goethes

Behrmann

423

Mentor war u. als der Katalysator für den ersten großen Entwurf des dichter. Werks wirkte. Goethe schätzte die drei freirhythmischen u. reimlosen Oden an meinen Freund, die er B. zu dessen Abschied von Leipzig 1767 widmete, so sehr, dass er sie 1818 aus dem Nachlass des Jugendfreundes zurückerwarb. Tatsächlich kann Goethes berühmter Brief an B. vom 10.11.1767 als Etappe auf dem Weg zum Werther gelten. Ausgabe: Johann Wolfgang v. Goethe: Gesch. meines Herzens – Briefe an E. W. B. Hg. Wilhelm Große. Ffm. 1998. Literatur: Karl Elze: E. W. B. Ein Beitr. zur Goethe-Lit. In: Dt. Museum 7 (1857), S. 51–66. – Wilhelm Hosäus: E. W. B. Ein Bild aus Goethes Freundeskreise. In: Mitt. des Vereins für Anhalt. Gesch. u. Altertumskunde 3 (1883), S. 492–547. – Zu Goethe – Behrisch: Albrecht Schöne: Über Goethes Brief an B. vom 10. Nov. 1767. In: FS Richard Alewyn. Köln/Graz 1967, S. 193–229. – Kurt R. Eissler: Goethe. Eine psychoanalyt. Studie, 1775–86. Bd. 1, Ffm./Basel 1983, S. 92–114. – Ralf Plate: Allegor. ›Bilderjagd‹. Abschiedsmotiv u. Klopstocks Einfluß in Goethes Oden an B. (1767). In: JbDSG 31 (1987), S. 72–103. Peter Fischer / Red.

Behrisch, Behris, Berisch, Heinrich Wolfgang, * 1744 Gut Naunhof bei Dresden, † 8.2.1825 Dessau. – Publizist. B., jüngerer Bruder von Ernst Wolfgang Behrisch, wurde von Hauslehrern erzogen. Er studierte 1760–1766 an der Universität Leipzig Rechtswissenschaften, hörte aber auch den Dichter Gellert u. den Philosophen Christian August Crusius u. gab sich einer weitschweifenden Lektüre hin, namentlich der »französischen Romanleserei«. Gleichwohl gelang es ihm, jedenfalls nach eigenen Angaben, von der Universität Wittenberg als Notarius angestellt zu werden. Nach dem Tod seines Vaters 1768 versuchte er sich erfolglos in der Verwaltung der Familiengüter. Ein unstetes, wenig ruhm- u. erfolgreiches Literatenleben führte ihn durch mehrere Städte Europas. Im Wien der 1780er Jahre schwamm er mit vielen anderen norddt. Literaten auf der Welle der Buchkonjunktur des der Aufklärung geöffneten Österreich. Neben seinem 1783/84 bei Johann Thomas Trattner

verlegten Referatenorgan »Allgemeines Wiener Verzeichnis neuer Bücher« publizierte er 1784 in Pressburg das bio-bibliogr. Lexikon Die Wiener Autoren. Ein Beytrag zum gelehrten Deutschland, in dem er kritisch die moderne österr. Literatur vorstellt. Über 40 Werktitel von B. sind bekannt, wovon einige durchaus unsicher sind. Mit seinen systematisch Wissen aufarbeitenden u. vermittelnden Publikationen ist B. der Aufklärung zuzuordnen, wogegen er etwa mit dem Blauen Buch oder Nonens, ein allegorisches Gemälde (Mitau 1776) auch der Empfindsamkeit angehört. Weitere Werke: Reisen der Tugend. Lpz. 1776. – (an.) Das Orakel vom Ehestande oder die ersten Linien der Gynäkologie. Altenburg 1776. – Tempel der Unsterblichen, oder Analogien u. Apologien großer Männer, aus der alten u. neuen Welt. Münster/Lpz. 1777. Literatur: Karl Elze: H. W. B. Ein Literat des 18. Jh. In: Dt. Museum 2 (1861), S. 913–922. Peter Fischer / Red.

Behrmann, Georg, * 12.2.1704 Hamburg, † 28.11.1756 Hamburg. – Dramatiker u. Dichter. Der Sohn einer Kaufmannsfamilie besuchte die Gelehrtenschule des Johanneum in Hamburg, wurde dort Kaufmann sowie Mitglied mehrerer bürgerl. Deputationen u. bildete sich gleichzeitig durch autodidakt. Studien weiter. Seit 1735 verwaltete B. die »Holländische Post«, den Postverkehr nach Amsterdam. Er war mit Friedrich von Hagedorn befreundet, dessen Kreis er angehörte u. der ihn zu eigener lyr. Produktion anregte. B. unterstützte finanziell die in Hamburg gastierende Neuberin u. war bemüht, das gesellschaftl. Ansehen der Schauspieler zu heben. Seit 1731 war er mit der Kaufmannstochter Margaretha Gull verheiratet u. hatte mit ihr zwei Söhne u. zwei Töchter. B. trat v. a. durch zwei Trauerspiele hervor, deren literar. Vorbild die klassische frz. Tragödie war u. deren der griech. u. röm. Geschichte entnommene patriotische, republikan. Stoffe vom Gemeinwohl u. den bürgerl. Freiheiten handeln. Sie sind keine Übersetzungen frz. Muster, sondern eigenständige

Beichte einer Frau

Bemühungen um eine authentische dt. Nationalliteratur. Nur Die Horazier (3. Fassung Hbg. 1751), durch die Truppe der Neuberin 1733 in Hamburg uraufgeführt, stellen eine – allerdings freie – Bearbeitung des Horace von Corneille (1640) dar. Sie sind eine »regelmäßige deutsche Originaltragödie« im Geiste Gottscheds (vgl. dessen Vorwort zum Sterbenden Cato), der anerkennende Worte für B.s Trauerspiele fand. Die Deutsche Gesellschaft in Göttingen ernannte B. wegen seiner Verdienste um Klarheit, Reinheit u. Schönheit der dt. Sprache u. Dichtkunst 1749 zu ihrem Ehrenmitglied. Weitere Werke: Timoleon der Bürgerfreund. Ein Trauerspiel [Urauff. 1735]. Mit einer Vorrede v. Johann Matthias Dreyer. Hbg. 1741 (2. Fassung). Ffm./Lpz. 1750. – Nachruhm des hoch ehrwürdigen in Gott andächtigen u. hochgelahrten Herrn Johann Christoph Wolfs Pastor zu St. Catharinen Scholarchä auch Mitgl.es der Kgl. Preuß. Societät der Wiss.en [...]. Hbg. 1739. – Des Herrn P. Corneille Gedanken v. den Schauspielen, übers. Hbg. o. J. Literatur: Johann Friedrich Schütze: Hamburg. Theater-Gesch. Hbg. 1794, S. 221–227. – Ferdinand Heitmüller: Hamburg. Dramatiker zur Zeit Gottscheds u. ihre Beziehungen zu ihm. Diss. Jena 1890, S. 10–34. – Eckehard Catholy: G. B. In: NDB. Jürgen Rathje / Red.

Beichte einer Frau, überliefert im ersten Drittel des 15. Jh. – Spätmittelalterliche Minnerede von 356 Versen. Der Verfasser der in 19 Handschriften überlieferten Minnerede ist unbekannt. Der Dichter, der seine Erzählung mit Vor- u. Nachrede umrahmt, hört durch Zufall heimlich eine Beichte mit. Eine Frau erzählt freimütig von ihrem außerehel. Liebesverhältnis. Als sie der Priester der Sünde bezichtigt, gelingt es ihr, ihn durch geschickte Argumentation vom Gegenteil zu überzeugen: Nach Gottes Gebot hat sie ihren Nächsten lieb. Um die Einwände des Priesters zu entkräften, spielt sie mit der Doppeldeutigkeit des mhd. Worts »minne« (»amor« u. »caritas«). Am Ende des Gesprächs dankt ihr der überforderte Geistliche für die neuen Einsichten. Er verspricht, solches Handeln nie mehr tadeln zu wollen, erteilt ihr die Absolution u. ver-

424

pflichtet sie, in ihrem außerehel. Verhältnis standhaft zu bleiben. Der Dichter stimmt der Ansicht der Frau aus vollem Herzen zu u. wünscht dem Liebespaar alles Gute. Auch er selbst will weiterhin der Liebesgöttin Venus zu Diensten sein. Durch die Verteidigung der weltl. Liebe gegen kirchl. Einschränkungen bezieht er zu einem vielen spätmittelalterl. Streitgedichten gemeinsamen Thema Position. Ausgaben: Carl Haltaus (Hg.): Liederbuch der Clara Hätzlerin. Quedlinb./Lpz. 1840. Neudr. Bln. 1966, S. 115–122. – Wilhelm Brauns/Georg Thiele (Hg.): Mhd. Minnereden 2. Bln. 1938. Neudr. mit Nachw. v. Ingeborg Glier. Dublin/Zürich 1967, S. 33–42. Literatur: Ingrid Kasten: Studien zu Thematik u. Form des mhd. Streitgedichts. Diss. Hbg. 1973, S. 175–177 u. 180 f. – Dies.: B. e. F. In: VL. Ulla Williams / Red.

Beig, Maria, * 8.10.1920 Tettnang/Oberschwaben. – Autorin von Romanen u. Erzählungen. B. wuchs in einer großen Bauernfamilie auf. Nach Volksschule, Frauenfachschule u. Besuch des Pädagogischen Seminars in Kirchheim/Teck war sie ab 1940 als Hauswirtschafts- u. Handarbeitslehrerin tätig, zuletzt in Friedrichshafen, wo sie 1977 in den Ruhestand trat u. zu schreiben begann. Bereits mit ihrem ersten Roman Rabenkrächzen. Eine Chronik aus Oberschwaben (Sigmaringen 1982), für den B. 1983 den Alemannischen Literaturpreis erhielt, führt die Autorin ihr zentrales Thema vor: das Schicksal einer sich wandelnden bäuerl. Welt. Realistisch, in karger Sprache (Chronikstil) erzählt sie von Umwelt- u. Heimatverlust. Die Illusion einer dörfl. Idylle ist zerstört; episodisch reihen sich die Schicksale einzelner Menschen als Geschichten von Randfiguren aneinander. Frauen sind häufig in der Rolle des Opfers, so auch im Roman Hochzeitslose (Sigmaringen 1983). Hier geht es um vier Frauen, die ehelos bleiben, weil Umstände u. gesellschaftlich-bäuerl. Normen ein persönliches Lebensglück verhindern. Ihr eigenes Leben beschreibt B. in Hermine. Ein Tierleben (Sigmaringen 1984). Jedes Zusam-

425

Beil

mentreffen mit Menschen endet tragisch. Die B.s narratives. In: German studies review 22 (1999) Umstände verhindern die Entwicklung indi- N. 1, S. 85–97. – Georg Braungart: M. B. In: KLG. Ulrike Groffy / Eva-Maria Gehler vidueller Identität. B.s Kritik am Provinziellen, die in ihren modernen Dorfgeschichten zum Ausdruck kommt, ist Modell einer all- Beil, (Johann) David, * 11.5.1754 Chemgemeinen Gesellschaftskritik. Mit ihren wei- nitz, † 12. oder 13.8.1794 Mannheim. – teren Romanen u. Erzählbänden komplet- Schauspieler u. Dramatiker. tierte B. ihr »Panorama ländlichen Lebens« Nach wenigen Semestern brach der Sohn ei(Braungart) sowohl thematisch als auch hisnes Tuchmachers sein Studium der Rechte in torisch, indem sie einerseits in die »UrgroßLeipzig 1776 ab, um sich einer Wandertruppe elternzeit« zurückgriff, andererseits auch die anzuschließen; mit ihr feierte B. erste Erfolpolit. Veränderungen im Zuge der Wiederge. Durch die Vermittlung Maler Müllers vereinigung mit einbezog. Ihr jüngster Rofand B., des vagierenden Komödiantendaman Buntspechte (Stgt. 2002) schließlich erseins müde, eine Anstellung am Heidesheizählt aus verschiedenen Perspektiven die mer Philanthropin Carl Friedrich Bahrdts, Geschichte(n) der Bewohner einer Reihenmit dem er sich jedoch binnen acht Tagen haussiedlung in einer Industriestadt am Boüberwarf. 1777 erhielt er ein Engagement densee, die hier nach dem Zweiten Weltkrieg beim renommierten, von Konrad Ekhof geein neues Zuhause finden u. auf unterleiteten Gothaer Hoftheater. Nach Ekhofs schiedlichste Erfahrungen u. Erlebnisse Tod wechselte B. 1779 mit seinen Freunden während des Dritten Reichs zurückblicken. Iffland u. Heinrich Beck ans Mannheimer B. stellt sich mit ihren Werken in die TraNationaltheater, an dessen Blüte er maßgebdition eines unliterar. Erzählens mit Anlich beteiligt war. Er spielte Charakterrollen klängen an das Idiom ihrer oberschwäb. (u. a. den Musicus Miller in Schillers Kabale Heimat; man sollte aber den Kunstcharakter und Liebe) wie auch Chargen u. brillierte in ihres Schreibens nicht unterschätzen. Wegen Komödien u. Bürgerlichen Schauspielen, wo ihrer eindringl. Darstellung regionalen Leer mit Vorliebe biedere, pflichtbewusste Solbens sprach Martin Walser ihr den »Ehrentidaten, Beamte oder Familienväter verkörtel einer Heimatschriftstellerin« zu. 1997 erperte (während B. selbst exzessivem Glückshielt B. den Stuttgarter Literaturpreis. spiel huldigte u. von einer ständig wachsenWeitere Werke: Kuckucksruf. Sigmaringen den Schuldenlast geplagt war). Seine darstel1988 (R.). – Minder oder zwei Schwestern. Sigmaler. Konzeption, durch ein Mannheimer ringen 1988 (R.). – Die Törichten. Sigmaringen Gastspiel Friedrich Ludwig Schröders nach1990 (R.). – Jahr u. Tag. Sigmaringen 1993 (E.en). – Töchter u. Söhne. Sigmaringen 1995 (E.en). – An- haltig beeinflusst, beruhte auf Prinzipien der nas Arbeit. Sigmaringen 1997. Stgt. 22000 (E.en). – Naturtreue u. intuitiver Fantasie; B.s Akzentuierung des Spontanen hatte jedoch zur Treppengesang. Stgt. 2000 (R.). Literatur: Mechthild Curtius: M. B. In: Dies.: Folge, dass er ins – seit Gottsched mit Bann Autorengespräche. Verwandlung der Wirklichkeit. belegte – Extemporieren verfiel. Seine eigenen – mäßig erfolgreichen, in der Ffm. 1991, S. 43–56. – Oswald Burger (Hg.): Was zählt. Sigmaringen 1995. – Peter Hamm: Schlag Tradition des Rührstücks angesiedelten – auf Schlag. Zum Lob v. M. B. In: Ders.: Aus der Dramen weisen ähnl. Züge auf: Schon im Gegengesch. Lobreden u. Liebesgesch.n. Mchn. Urteil der Zeitgenossen wurde, bei aller zu1997, S. 58–70. – Gisela Ecker: Wo alle einmal gestandenen lebensechten Originalität in der waren u. manche bleiben wollen. Zum Beispiel Figurenzeichnung, das Fehlen einer konseViebig, B. u. Walser. In: Kein Land in Sicht. Heimat quent durchgehaltenen Handlungslinie kri– weiblich? Hg. dies. Mchn. 1997, S. 129–142. – Peter Blickle: M. B. u. die Kunst der scheinbaren tisch vermerkt. Kunstlosigkeit. Eggingen 1997. – Doris Kirchner: Morbid symptoms: reflections of ›Heimat‹ in M.

Weitere Werke: Die Schauspielerschule. Ein Originallustsp. Mannh. 1785. – Armuth u. Hoffart. Bln. 1789 (Lustsp.). – Curd v. Spartau. Mannh./Lpz.

Beil 1790 (D.). – Sämmtl. Schausp. 2 Bde., Zürich/Lpz. 1794. – Die Familie Spaden. Zürich/Lpz. 1794 (D.). Literatur: Wolfgang Heribert v. Dalberg: Nekrolog B.s. In: Annalen des Theaters 15 (1795), S. 28–34. – August Wilhelm Iffland: Biogr. B.s. In: Almanach fürs Theater 1808, S. 92–187. – Erich Witzig: J. D. B. Bln. 1927. – Kosch TL. Arno Matschiner / Red.

Beil, Ulrich Johannes, * 24.6.1957 München. – Lyriker, Erzähler, Essayist. B. studierte Germanistik (Promotion 1988, Habilitation 2003), Philosophie, Theologie u. Politologie. Er wurde, nach Lehr- u. Forschungstätigkeiten an den Universitäten Sapporo (1988–1991), München (1992–1999), Göttingen (1993) u. São Paulo (2000–2004), 2005 Privatdozent an der Universität München. Seit 2006 arbeitet er am Nationalen Forschungsschwerpunkt »Mediality« der Universität Zürich. Für sein Werk erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Lyrikpreis des Bayerischen Rundfunks (1984), den Vera-Piller-Poesie-Preis (Schweiz, 1984) u. das Kester-Haeusler-Stipendium für junge Autoren (1997). Von 1995 bis 2000 war er zus. mit Anton G. Leitner Chefredakteur der Zeitschrift »Das Gedicht«. Grenzüberschreitende Dialogizität bestimmt nicht nur die akadem. Tätigkeit B.s, der in der »philosophia perennis« ebenso zu Hause ist wie in der modernen europ. u. (süd)amerikan. Literatur, sondern auch seine Erzählungen (OFF oder Doktor Faust incognito. In: Phantastische Begegnungen. Hg. Franz Rottensteiner. Ffm. 1990, S. 256–277); in besonderem Maße aber kennzeichnet sie seine Lyrik. Der Zeilen- u. Gedankensprung über Gattungs- u. Wahrnehmungsgrenzen hinweg wagt dieses Abenteuer der Öffnung der Sprache u. Form schon in der frühen Lyrik, wie der Titel der Gedichtsammlung Blickwechsel (Mit einem Vorw. v. Karl Krolow. Mchn. 1976) anzeigt, mehr noch in der Gedichtsammlung Guetaria (Mchn. 1983). DIESER TAG GEHT, so heißt es in dem Gedicht des gleichnamigen Gedichtbandes (Mchn. 1985), »als legtest du dich neben die Kralle/ die sich übers Regengitter spreizt/ ohne Vogelkopf und ohne Vogelleib/ bis die letzten

426

Flecken trocknen«. Nicht Kürze oder Länge sind das Maß von B.s Lyrik, auch wenn er sich nach den Vorbildern T. S. Eliot, Wallace Stevens, John Ashbery, Ferreira Gullar u. Derek Walcott auf die Form der Langgedichts einlässt, sondern die Fähigkeit, Dinge u. Worte im Gedicht aufzuheben, als ob sie schwerelos erschienen. »Jetzt? Zu spät für Gedichte«, so beginnt das erste Gedicht im Gedichtband Aufgelassene Archive (Köln 1998): »Da sind noch Gedärme einer beinah/ abgerißnen Bibliothek, Planen, Dünen/ über Regalen, ein jahrtausendealtes Geräusch,/ wenn jemand vorüberschleicht, wie aus Versehen. [...] Was in die Höhe flattert: Vögel, Zirkumflexe?/ Die letzten, sich verdichtend, verflüchtigend?/ Der Verkehrslärm schwillt kaum merklich an./ ›Kein Übergang für Unbefugte!‹/ Um die Leggings-Hüften der Ägypterin/ etwas wie Spannung, Bedeutung,/ eine mögliche Nacht, anderswo (spurlos)«. Das Gedicht antwortet dem fragenden »Jetzt?« mit »Zirkumflexen«, die die Dinge – die kosmischen, technischen, literarisch-poetischen – umkreisen, »sich verdichtend, verflüchtigend?« In diesen beiden Ausdrücken u. in dem Eingangsgedicht ist so etwas wie ein poetologisches Programm des Lyrikers B. enthalten. Weitere Werke: Das letzte Buch. Dialogisches Gedicht. In: Akzente 6 (1986), S. 547–558. – Bettler u. Mythologie; Idylle; Zum Vergleich. In: Merkur (Sonderh. ›Lyrik. Über Lyrik‹) 600 (1999), S. 262–265. – Boreas. Gedicht. In: Feuer, Wasser, Luft & Erde: Die Poesie der Elemente. Hg. Anton G. Leitner. Stgt. 2003, S. 112 f. – Nur in dieser Stunde, in einem bestimmten Licht: ›Hotel Dr. Caligari‹. In: Die Hölderlin Ameisen: Vom Finden u. Erfinden der Poesie. Hg. Manfred Enzensperger. Köln 2005, S. 133–137. – Fortaleza / Amos / Rio Quente / Zoo, Politik. Vier Gedichte. In: Konzepte 25 (2005), S. 30–33. Literatur: Joachim Sartorius: U. J. B. In: Sprache im techn. Zeitalter 135 (1995), 269 f. – Beth Bjorklund: U. J. B., Aufgelassene Archive. In: World Literature Today 72/4 (1999), S. 729. – Sebastian Kiefer: Zungenschlag: Die Energie der Zeichen – Kling, B. u. andere. In: NDL 5 (2001), S. 113–122. – Hans Unterreitmeier: U. J. B. In: LGL. Hans Unterreitmeier

427

Belli, Joseph, * 11.1.1849 Rammersweier/ Baden, † 19.8.1927 Gengenbach/Baden. – Memoirenschriftsteller. B. wurde als Sohn eines Weinbauern geboren u. wuchs in armen Verhältnissen auf. Er arbeitete zunächst als Knecht u. Schuhmacher, bildete sich aber autodidaktisch fort u. wanderte durch Deutschland, Österreich, ElsassLothringen u. die Schweiz. Im Alter von 20 Jahren trat er in Heidelberg der Sozialdemokratischen Partei bei. 1870/71 war er in Frankreich Soldat. 1890 kehrte er nach Deutschland zurück, wo er bis 1919 als leitender Mitarbeiter des Dietz Verlags in Stuttgart tätig war. B. ist v. a. durch seine Memoiren Die rote Feldpost unterm Sozialistengesetz (Bln. 1912) bekannt geworden. In ihnen berichtet er von der polit. Widerstandsarbeit der Sozialdemokraten zur Zeit des Sozialistengesetzes (1878–1890) u. schildert humorvoll u. anschaulich die Entstehung eines Verteilernetzes für illegale Flugblätter. B.s Erinnerungen sind v. a. wichtige histor. Quellen, so z.B. für die Person Julius Mottelers, der Geschäftsführer des illegal in Zürich erschienenen Partei- u. Propagandablattes »Socialdemokrat« war. Literatur: Lexikon sozialist. dt. Lit. s’Gravenhage 1973. Jürgen H. Koepp / Red.

Bellin, Johann, * 11.6.1618 Großenschönfeld/Pommern, † 21.12.1660 Wismar. – Grammatiker.

Belzner

(o. O.). Später geriet er unter den Einfluss Zesens. Er edierte Briefe von u. an Zesen »zur ausarbeitung der hochdeutschen sprache« (Etlicher der [...] deutsch-gesinneten Genossenschaft Mitglieder [...] Sende-schreiben. 1. Tl., Hbg. 1647) u. folgte den radikalen Reformen seines Vorbilds in der Hoch-deudschen Rechtschreibung (Lübeck 1657. Neudr. Hildesh. 1973). Weitere Werke: Abigail, das ist, des lob-würdigen Frauen-Zimmers Adel u. Forträfligkeit. Lübeck 1650 (Übers. v. Agrippa v. Nettesheims ›De nobilitate foeminei sexus‹). – Syntaxis praepositionum teutonicarum, oder deudscher Forwörter kunstmäßige Fügung. Lübeck 1660. Ausgaben: Fragstücke auf die hohen Festtage v. M. J. B., Rektor in Wismar (um 1660). In neuer Orthographie v. Pastor Karl Wilhelm David Plaß. Stavenhagen 1897. – Fischer-Tümpel 2, S. 139. Literatur: Elias Caspar Reichard: Versuch einer Historie der dt. Sprachkunst. Hbg. 1747. – Merzdorf: J. B. In: ADB. – Max Hermann Jellinek: Gesch. der nhd. Grammatik v. den Anfängen bis auf Adelung. 2 Bde., Heidelb. 1913/14. – DBA 78,27–33. – Rudolf Kleiminger: Die Gesch. der großen Stadtschule zu Wismar v. 1541 bis 1945. Kiel 1991, S. 73–75. – Fredericka van der Lubbe: B., Habichhorst, Aedler. Towards a history of purism in the Deutschgesinnete Genossenschaft. In: ›Proper words in proper places‹. Studies in lexicology and lexicography in honor of William Jervis Jones. Hg. v. Máire C. Davis u. a. Stgt. 2002, S. 82–100. – Franz Simmler: Gesch. der Interpunktionssysteme im Deutschen. In: Sprachgesch. Ein Hdb. zur Gesch. der dt. Sprache u. ihrer Erforsch. (= HSK Bd. 2). Hg. Werner Besch u. a. 3. Tlbd., Bln./New York 22003, S. 2472–2504. Volker Meid / Red.

B., Sohn eines Bauern, besuchte verschiedene Belzner, Emil, * 13.6.1901 Bruchsal, † 8.8. Schulen in Pommern u. Brandenburg, bis er 1979 Heidelberg; Grabstätte: ebd., Berg1638 in das von Christian Gueintz geleitete friedhof. – Lyriker u. Erzähler. Gymnasium in Halle aufgenommen wurde. Hier war Philipp von Zesen sein Mitschüler. B. stammte aus einer schwäb. Handwerker- u. Über Wismar (1639) u. Hamburg (1641, Winzerfamilie u. veröffentlichte schon als Hauslehrer) kam er 1643 zum Studium nach Gymnasiast 1918 seine ersten Gedichtbände Wittenberg. Er schloss 1645 mit dem Magis- (Letzte Fahrt. Lpz. 1918. Heimatlieder. Lpz. tergrad ab. Ein Jahr darauf nahm ihn Zesen in 1918). Nach 1924 war er als Journalist in die Teutsch-gesinnete Genossenschaft auf. Karlsruhe, Mannheim u. Stuttgart tätig. 1650 wurde er Rektor in Parchim, von 1654 Bekannt wurde B. durch die Versepen Die an versah er eine entsprechende Stelle in Hörner des Potiphar (Bln. 1924) u. Iwan der Wismar. Pelzhändler oder die Melancholie der Liebe (Ffm. Schon 1642 veröffentlichte B. eine schlichte 1929), in deren romant. Visionen sich nach Teutsche Orthographie oder rechte Schreibe-Kunst dem Urteil des damaligen Lektors Oskar

Ben-Gavriêl

428

Loerke ein junges Talent ankündigte. Der Ben-Gavriêl, Moscheh Ya-akov, eigentl.: Neigung zum Grotesken folgte B. in seinem Eugen Hoeflich, * 15.9.1891 Wien, † 17.9. ersten Roman Marschieren – nicht träumen! 1965 Jerusalem. – Erzähler u. Journalist. (Hbg. 1931. Wiesb. 1966), der aufgrund seiDer Sohn eines Arztes war im Ersten Weltner pazifist. Haltung ein kontroverses Echo krieg als österr. Offizier zur türk. Armee nach fand. Auch mit dem histor. Roman Ich bin der Jerusalem abkommandiert. Anschließend König (Bln. 1940), in dem James Monmouth veröffentlichte B. als freier Schriftsteller in gegen seinen Oheim Jakob II. rebelliert u. Wien bis 1924 unter seinem Geburtsnamen. hingerichtet wird, kleidete B. aktuelle Bezüge 1928 ließ er sich in Palästina nieder. Während in ein literarisches Gewand. Der Roman des Zweiten Weltkriegs war B. Soldat des jüd. wurde von Gerhart Hauptmann empfohlen u. Bataillons der brit. Armee, dann bis Kriegserreichte rasch mehrere Auflagen – bis er von ende Offizier der jüd. Untergrundarmee. der Reichsschrifttumskammer auf den Index Zuletzt lebte B. als Schriftsteller u. Ausverbotener Literatur gesetzt wurde. Nach landskorrespondent in Jerusalem. dem Krieg, 1946, wurde B. vom späteren Neben überwiegend ironisch-satir. BeBundespräsidenten Theodor Heuss zur schreibungen des Lebens in Israel u. in der »Rhein-Neckar-Zeitung« nach Heidelberg arab. Wüste angesiedelten Abenteuerromageholt u. war deren Feuilleton-Chef bis 1969. nen mit kolportageartiger Handlung (Kamele 1949 erhielt er den Heinrich-Heine-Preis. trinken auch aus trüben Brunnen. Hbg. 1965) Das Erdbeben von Messina bildet den schildert B. in seinem Roman Das Haus in der Hintergrund in dem Roman Der Safranfresser Karpfengasse (Bln. 1958) den Alltag der Be(Hbg. 1953), einer bizarr fantasievollen Liewohner eines Hauses im jüd. Viertel Prags besgeschichte. Ein Aide-mémoire nannte B. sein während der nationalsozialist. Herrschaft. letztes, eindrucksvolles Buch Die Fahrt in die Eindringlich erzählt er von ihren Leiden, der 2 Revolution oder Jene Reise (Mchn. 1969. 1988. immer stärker werdenden Bedrängnis u. Frz. Ausg. 1974), die fiktive Erinnerung eines Diffamierung. Gymnasiasten an die Fahrt Lenins im versieB. war Herausgeber von Aufsätzen des exgelten Eisenbahnwaggon durch Deutschland pressionist. Schriftstellers Albert Ehrenstein 1917, in der ein revolutionärer Wendepunkt (Heidelb./Darmst. 1961). der Weltgeschichte erzählend reflektiert Weitere Werke: Kumsits. Gesch.n aus der wird. Wüste. Bln. 1956. – Die Flucht nach Tarschisch. B. war Mitgl. des PEN-Zentrums der BunHbg. 1963 (Autobiogr.). – Israel, Wiedergeburt eidesrepublik Deutschland, der Akademie der nes Staates. Mchn./Oldenb. 1967 (Ber.). Wissenschaften und der Literatur in Mainz u. Literatur: Armin A. Wallas: Der Pförtner des (bis 1958) der Deutschen Akademie für Spra- Ostens. E. H. Panasiat u. Expressionist. In: Von che und Dichtung in Darmstadt. Franzos zu Canetti. Jüd. Autoren aus Österr. Hg. Weitere Werke: Kolumbus vor der Landung. Ffm. 1934 (R.). Erw. u. d. T. Juanas großer Seemann. Mchn. 1956. Literatur: Erasmus Schöfer: Von Bruchsal in die Phantasie. E. B.s Nachrichten-Belletristik, ein ungehobener Schatz. In: Allmende 18/19 (1987), S. 158–171. – Roland Krischke: E. B. Heidelb. 2002. – Ders.: Das schriftsteller. Werk E. B.s. Darstellung, Analyse, Gesamtbibliogr. Heidelb. 2006.

Mark H. Gelber u. a. Tüb. 1996, S. 305–344. – Armin A. Wallas: E. H. (M. Y. B.-G.) u. die jidd. Kultur in Wien. In: Jidd. Kultur u. Lit. aus Österr. Hg. Armin Eidherr. Klagenf. 2003, S. 72–102. Eva Weisz / Red.

Bender, Hans, * 1.7.1919 Mühlhausen/ Kraichgau. – Erzähler, Lyriker, Essayist, Hans Peter Bleuel / Red. Literaturkritiker u. Herausgeber. Der Sohn aus einer Gastwirtsfamilie besuchte kath. Internatsschulen in Bruchsal u. Sasbach. Nach Abitur u. Arbeitsdienst begann er in Erlangen das Studium der Germanistik, das er nach Kriegsdienst (seit 1942) u. Ge-

429

fangenschaft erst 1949 in Heidelberg wiederaufnehmen konnte, jedoch bald zugunsten seiner literar. Pläne aufgab. Den Lebensunterhalt verdiente er als Kinopächter u. Mitarbeiter am Rundfunk. Nach zwei Jahren als freier Autor in Mannheim wurde er 1959 in Köln ansässig. Bis 1962 war er Leiter des Feuilletons der »Deutschen Zeitung«, danach bis 1964 Chefredakteur des Magazins »magnum« u. schließlich ein halbes Jahr lang Lektor im Münchner Hanser Verlag. Seither lebt er als freier Schriftsteller wieder in Köln. Charakteristisch für B.s erste Buchveröffentlichung, den Gedichtband Fremde soll vorüber sein (Augsb./Aschau 1951), ist sein Bemühen, sich von Neuem der Heimat zu vergewissern. Die nachfolgenden Gedichte (Lyrische Biographie. Wuppertal 1957) bestätigten die Nähe zum Tonfall der zeitgenöss. Naturdichtung. Bekannt wurde B. jedoch durch eine detailgenaue realist. Prosa. Seine Kurzgeschichten aus den 1950er u. frühen 1960er Jahren (ges. in der Werksausw. Worte, Bilder, Menschen. Mchn. 1969. Zürich 1971) fanden Eingang in zahllose Lesebücher des In- u. Auslands. Sie boten beispielhaft die unterschiedl. formalen Muster der unter amerikan. Einfluss für die Nachkriegsliteratur der Bundesrepublik Deutschland wichtig gewordenen Gattung. Über deren Grundlagen schrieb B. zwei viel beachtete Essays (in: Akzente 9, 1962; The Kenyon Review 31, 1969). In ihrer strukturellen Offenheit, der verhaltenen Sprache, der skept. Haltung u. der einem »durchschnittlichen« Publikum geltenden Wirkungsabsicht charakterisierte er sie als Gegensatz zur vorausgegangenen bürgerl. u. völk. Literatur. B. verstand sein Schreiben als stellvertretende Zeugenschaft von Schuld u. Unglück seiner dezimierten Generation, deren Erfahrungen er weitergeben wollte, um die Jüngeren für die Gefahren von Konformitätszwängen jeglicher Art zu sensibilisieren. Die bestimmenden Themen seiner Kurzprosa griff er auch in seinen beiden (als »Romane« erschienenen) langen Erzählungen auf: Krieg u. Gefangenschaft (Wunschkost. Mchn. 1959. Darmst. 1967. Aachen 2004) sowie Mentalitäten der Besatzungszeit u. Wiederaufbau (Eine Sache wie die Liebe. Hbg. 1954. Überarb.

Bender

Fassung: Mchn. 1965. Ffm. 1991). Hinzu kamen v. a. Reisegeschichten sowie teilweise autobiografisch getönte, kunstvolle psycholog. Studien über das sich entwickelnde Wirklichkeitserleben von Kindern u. Heranwachsenden. Eine Auswahl aus seiner Korrespondenz (Briefe an Hans Bender. Hg. Volker Neuhaus. Mchn. 1984) spiegelt die Fülle seiner persönlichen literar. Beziehungen wider. Zur eigenen Autorschaft gesellte sich bei B. von Anfang an eine ungewöhnlich produktive Vermittlertätigkeit. Schon die u. d. T. »Konturen« von ihm begründeten »Blätter für junge Dichtung« (1951–53) bewiesen sein Gespür als Förderer von Talenten. Zus. mit Walter Höllerer legte er 1954 das erste Heft der »Akzente« vor. 26 Jahre lang (davon zwischen 1968 u. 1975 alleinverantwortlich, danach gemeinsam mit Michael Krüger) gab er diese Literaturzeitschrift heraus, die die Offenheit für neue Strömungen mit der Wahrnehmung von in Vergessenheit geratenen Traditionen (etwa der frühen Moderne u. des Exils) verband. Die wichtigsten seiner zahlreichen Anthologien begleiteten den Fortgang der zeitgenöss. Lyrik u. ihrer Autorenpoetik. Als eminent belesener Kenner der dt. Literatur genießt der gefragte Vortragsreisende weltweit hohes Ansehen: 1985 wurde er von der Universität Austin/Texas zum Adjunct Professor ernannt, ein Jahr später verlieh ihm die Philosoph. Fakultät der Kölner Universität die Ehrendoktorwürde, u. im Herbst 1988 wurde er von dem renommierten Dartmouth College, Hanover/New Hampshire, zu einer Gastdozentur eingeladen. 1997 wurde ihm durch das Land Nordrhein-Westfalen der Professorentitel verliehen. Auf die mit dem erreichten Entwicklungsstand seiner Prosa, mit den Wandlungen der Literatur seit Mitte der 1960er Jahre u. mit dem Lebensalter gewachsenen Schwierigkeiten des Schreibens reagierte B. durch die sparsame Erprobung einer neuen Form, des verdichteten Notats (Einer von ihnen. Aufzeichnungen einiger Tage. Mchn. 1979). Seine Erzählungen des Bandes Bruderherz (Mchn. 1987), Variationen vergebl. Fluchtversuche aus beengenden Verhältnissen, spielten dagegen, grundiert vom Bewusstsein des Alters

Benediktbeurer (Großes) Passionsspiel

430

u. erweitert um die Tonlage des Sarkasti- muth-Engelmann: Alltag u. Aufzeichnung. Unterschen, seine narrativen Möglichkeiten noch suchung zu B. u. a. Würzb. 1998. – Norbert einmal souverän durch. Der Band Wie Linien Schachtsiek-Freitag: H. B. In: KLG. – Michael meiner Hand (Mchn. 1999) versammelt Auf- Braun: H. B. In: LGL. Hans-Rüdiger Schwab / Red. zeichnungen aus den Jahren 1988 bis 1998, die um die Themen Natur u. Kunst kreisen u. dabei die analytisch genaue Beobachtung u. Benediktbeurer (Großes) PassionsBeschreibung der eigenen Umwelt mit verspiel, zweite Hälfte oder Ende des 13. Jh. sonnen-träumerischen Sequenzen zu verbin- überliefert. – Deutsch-lateinisches geistden wissen. liches Spiel. Der mit verschiedenen Literaturpreisen, zuletzt 2006 mit dem Preis der Schillerstif- Überliefert ist das B. P., einer der wenigen tung, Ausgezeichnete ist Mitgl. der Berliner erhaltenen Spieltexte aus dem 13. Jh., in der Akademie der Künste, der Mainzer Akademie bekannten Sammelhandschrift der Carmina der Wissenschaften u. der Literatur sowie des Burana, dem Codex Buranus. Der Kodex enthält internat. Schutzverbands der Schriftsteller, u. a. noch drei weitere geistl. Spiele, die jedoch vollständig in lat. Sprache abgefasst Zürich. Weitere Werke: Die Hostie. Vier Stories. Ffm. sind: Das Benediktbeurer Weihnachtsspiel, einen 1953. – Wölfe u. Tauben. Mchn. 1957 (E.en). – Das ludus breviter de passione – das einzige bislang wiegende Haus. Mit einem autobiogr. Nachw. Stgt. bekannte rein lat. Passionsspiel – u. das Be1961. 1968. 1979 (E.en). – Mit dem Postschiff. 24 nediktbeurer Osterspiel. Das B. P. findet sich unter den Nachträgen Gesch.n. Mchn. 1962. 1967. – Programm u. Prosa der jungen dt. Schriftsteller. Mainz 1967 (Ess.). – zur Handschrift u. zeigt durch verschiedene Die halbe Sonne. Gesch.n u. Reisebilder. Mit einer Bearbeitungsspuren u. – schichten, dass es in Einf. v. Heinz Schöffler. Baden-Baden 1968. – Die der vorliegenden Form sicherlich nicht unWölfe kommen zurück. Stgt. 1972 u. ö. Zuletzt mittelbaren Aufführungszwecken gedient 1991. Korean. Übers. Seoul 2003. – Editionen: Mein hat. Gleichwohl sprechen die Einrichtung des Gedicht ist mein Messer. Lyriker zu ihren GedichSpiels u. die Neumierung fast des gesamten ten. Heidelb. 1955. Erw. Ausg. Mchn. 1961. – Junge Textes für eine enge Bindung an die AufLyrik 1956, 1957, 1958, 1960. Eine Auslese. Mchn. 1956 ff. – Widerspiel. Dt. Lyrik seit 1945. Darmst. führungspraxis. Wie die Eingriffe in den Text 1961. Mchn. 21962. – Jahresring. Beiträge zur dt. u. der Rückgriff auf ein voll ausgebildetes Lit. u. Kunst der Gegenwart (zus. mit Rudolf de le (lat.) Magdalenenspiel – das im Übrigen auch Roi u. Eduard Trier). Stgt. 1962/63 ff. – Klassiker der Redaktor des Wiener rheinischen Passionsdes Feuilletons. Stgt. 1965. Stgt. 1987. – Was alles spiels (frühes 14. Jh.) genutzt hat – vermuten hat Platz in einem Gedicht? (zus. mit Michael lassen, stand das B. P. offenbar bereits in einer Krüger). Mchn. 1977. – In diesem Lande leben wir. längeren Spieltradition. Dt. Gedichte der Gegenwart. Mchn. 1978. Ffm. Das Spiel beginnt mit der Berufung der 1990. – Dt. Gedichte 1930–60. Stgt. 1983. – Jünger. Es folgen verschiedene Geschehnisse Gesch.n aus dem 2. Weltkrieg. Mchn. u. Zürich aus dem Leben Jesu – scheinbar zusammen1983. – Dt. Jugend. Ffm. 1983. – Dt. Erzähler hanglos u. z.T. abweichend von der im NT 1920–60. Stgt. 1965. – Was sind das für Zeiten. vorgegebenen Reihenfolge. In Wahrheit aber Deutschsprachige Gedichte der 80er Jahre. Mchn. gehorcht die Anordnung einem bewussten 1988. Ffm. 1990. Formwillen, der die »Bedeutung« einer Ausgaben: Briefe 1955–83. Mainz 1997. – Ausgew. Aufzeichnungen, Erzählungen u. Gedichte. Handlung zum Auswahlkriterium nahm. Fast ein Drittel des Spiels macht die »Szene« Darmst. 1999. vom Weltleben u. der Bekehrung der Maria Literatur: Heidi Beate Jürschick Ueda: H. B.s Kurzgesch.n. Diss. Austin 1974. – Maria Zecchin: Magdalena aus. Mit ihren lat. u. dt. LiebesH. B. Herausgeber – Kritiker – Schriftsteller. Diss. liedern zeigt sie zunächst eine Welt sinnenVenedig 1980. – Manfred Durzak: Die dt. Kurzge- froher Diesseitsbejahung, deren Freuden jesch. der Gegenwart. Autorenporträts, Werkstatt- doch als Werke des Teufels denunziert wergespräche, Interpr.en. Stgt. 1980. – Susanne Nie- den. Nach ihrer Bekehrung durch einen En-

431

Benediktinerregel

gel wirft Maria Magdalena ihr weltl. Kleid ab, Vollmann (Hg.): Carmina Burana. Texte u. Überhüllt sich in ein Büßergewand u. verdeutlicht s.en. Mit [...] einem Aufs. v. Peter u. Dorothee so asket. Weltabkehr. Mit der Hinwendung Diemer. Ffm. 1987. – Carl Fischer, Hugo Kuhn u. zu Gott verbindet sich ihre Erlösung durch Günter Bernt (Hg.): Carmina Burana. Die Gedichte des Codex Buranus lat. u. dt. Zürich/Mchn. 1974. Christus, der – u. dies ist die tragende Idee Als Tb. Mchn. 1979. 31985. dieser »Szene« – Mensch geworden ist, um Literatur: Alfons Brinkmann: Liturg. u. volksden Sünder zu befreien, u. eben deshalb die tüml. Formen im geistl. Spiel des dt. MA. Münster Passion auf sich nehmen wird. Mit dem Ju- 1932. – Rolf Steinbach: Die dt. Oster- u. Passionsdasverrat leitet der Text über zum eigentl. spiele des MA. Köln, Wien 1970. – Rolf Bergmann: Passionsgeschehen; er endet mit der Heilung Studien zu Entstehung u. Gesch. der dt. Passionsdes blinden Longinus u. der Grablegung spiele des 13. u. 14. Jh. Mchn. 1972. – Joachim Christi. Heinzle: Gesch. der dt. Lit. v. den Anfängen bis Obwohl das B. P. relativ kurz ist (281 Zei- zum Beginn der Neuzeit. Bd. 2,2, Königst. 1984. – len), erforderte seine Aufführung doch eine R. Bergmann: Kat. der deutschsprachigen geistl. große Zahl von Darstellern (54 Rollen) – mehr Spiele u. Marienklagen des MA. Mchn. 1986. – als z.B. textlich weitaus umfangreichere Hansjürgen Linke: Drama u. Theater. In: Gesch. der dt. Lit. Hg. Helmut de Boor u. Richard Newald. Spiele der späteren Zeit. Der Spieltext, der Bd. 3,2: Die dt. Lit. im späten MA. 1250–1370. Hg. wohl vollständig gesungen wurde, enthält Ingeborg Glier. Mchn. 1987, S. 153–233. – Ders.: B. eine Vielzahl von Antiphonen u. Responsori- Spiele. In: VL (Nachträge u. Korrekturen). en in lat. Prosa sowie geistl. u. weltl. StroBernd Neumann / Red. phenformen (u. a. Vagantenzeile u. Zehnsilber) in lat. u. dt. Sprache. Nur in der LongiAlthochdeutsche Benediktinerregel. – nushandlung begegnen wir darüber hinaus Anfang des 9. Jh. entstandene althochvierhebigen Reimpaarversen. Dem Charakter deutsche Interlinearversion der lateinieiner solchen Formgebung entsprechend, ist schen Regula Benedicti. das B. P. auch inhaltlich u. darstellerisch stark von liturg. Stilisierungen geprägt. In einer Der um 480 geborene Benedikt von Nursia Sphäre dogmat. Objektivität werden nicht verfasste seine Mönchsregel – z.T. ausgehend etwa bibl. Ereignisse lebensnah vorgeführt von älteren Quellen – im 4. oder 5. Jahrzehnt oder Gefühle evoziert, sondern die überzeitl. des 6. Jh. auf dem Monte Cassino in CampaGültigkeit u. Bedeutsamkeit des Gehörten u. nien. Die Regula Benedicti legt Ziele u. VerfasGesehenen – in symbolhafter Ausdeutung – sung des Ordens fest u. gibt Anweisungen ins Bewusstsein der Zuschauer gerufen. Die zum klösterl. Leben der Mönche, insbes. zur Darsteller selbst verharren ihren Rollen ge- Einhaltung der Hauptgelübde Armut, genüber in distanzierter Haltung, repräsen- Keuschheit u. Gehorsam. In fünf Teilen wird tieren sie also, statt sie zu spielen oder sich ein systemat. Überblick über das Klosterleben mit ihnen zu identifizieren. So ist es auch vorgelegt: Auf einen nach dem Muster einer ohne Weiteres möglich, dass ein Chor die antiken Mahnrede gestalteten Prolog folgen Rollentexte singt, während die Darsteller die im ersten Teil die Erläuterung der inneren Handlung pantomimisch vorführen. In eini- Verfassung des Klosters: die Darstellung von gen Passagen jedoch (z.B. bei der Übermitt- Abt u. Gemeinschaft (Kap. 2–3), eine Lehre lung von Botschaften) hat sich das B. P. be- des geistl. Lebens (Kap. 4–7), Abschnitte über Organisation des Gottesdienstes reits von seiner Einbindung in die liturg. die Stilhaltung gelöst, um in den darstellerischen (Kap. 8–20), über die Gehilfen des Abtes, über Realismus überzugehen, der bei den späteren die Schlafplätze der Mönche, über den StrafSpielen zum maßgebl. Text- u. Regieprinzip kodex (Kap. 21–30) u. über die Klosterverwaltung (Kap. 31–57). Im zweiten Teil wird werden sollte. Aufnahmeordnung festgelegt Ausgaben: Eduard Hartl: Das B. P. Das St. Galler die 2 (Kap. 58–63); der dritte Teil regelt die BePassionsspiel. Halle/S. 1952. 1967. – Otto Schumann u. Bernhard Bischoff: Carmina Burana. stellung des Abtes u. seines Vertreters, des Bd. 1,3, Heidelb. 1970, S. 149–165. – Benedikt K. Priors (Kap. 64 u. 65). Kap. 66, mit dem der

Benediktinerregel

vierte Teil beginnt, handelt von der Klosterpforte u. den Aufgaben des Pförtners, während die übrigen Kapitel (67–72) lediglich Ergänzungen sind. Die Mönchsregel endet mit einem Nachwort des Ordensstifters. Eine genaue Datierung der Niederschrift der Regula Benedicti ist ebenso wenig möglich wie eine exakte Festlegung der Lebensdaten Benedikts. Als sein Todesdatum gilt der 21.3.547, man erwägt jedoch als Zeitpunkt des Todes auch die Jahre 550–553. Die Regula Benedicti gehört kirchen-, aber auch kulturgeschichtlich zu den bedeutendsten Texten des frühen MA. Ihre Anordnungen zum Lesen der Bibel u. der Kirchenväter in der Liturgie u. im Tagesablauf des Klosterlebens brachten einen gewissen Bildungsstand der Klosterbrüder, die Einrichtung von Klosterbibliotheken u. eine intensive Abschreibetätigkeit der Mönche mit sich. Für die literaturwiss. Forschung von größtem Wert ist die in Kap. 32 der Regel verankerte Anordnung, ein Verzeichnis des gesamten Klosterbesitzes anzulegen: Ihr verdanken wir die ersten Bibiothekskataloge des MA. Die Regula Benedicti ist uns in etwa 300 Handschriften überliefert. Karl der Große ließ sich 787 in Monte Cassino eine Abschrift der Regel anfertigen, die auf eine gute Kopie des 896 verbrannten Originals zurückgeht. Diese Abschrift, die der von Abt Benedikt von Aniane (um 750–821) durchzuführenden Reform der Klöster im karoling. Reich dienen sollte, ist nicht erhalten, doch gilt eine von Reichenauer Mönchen 817 angefertigte Kopie als zuverlässigster u. authentischster Text der Regel. Bald nach 802, als Karl auf der Synode in Aachen Vorschriften für die strengere Durchführung der Ordensregel erließ, muss die in einer St. Gallener Handschrift erhaltene Interlinearversion der B. entstanden sein. Die Handschrift enthält den Text der lat. Regel mit der von mehreren Schreibern eingefügten ahd. Interlinearübersetzung. Die Version beginnt mit dem Prolog u. ist nur für die ersten 14 Kap. nahezu lückenlos durchgeführt. Ab Kap. 15 wird die Übersetzung mit Ausnahme von Kap. 31 lückenhafter, ab Mitte des 65. Kap. sind nur noch einzelne Wörter oder Wendungen übertragen (Interlinearglossen). Die interlineare Übersetzung

432

steht ihrer glossenhaften Vorstufe nahe. Abweichungen in der dt. Übersetzung u. verderbte Stellen der lat. Fassung legen nahe, dass sich die Übersetzung neben dem vorliegenden noch auf einen anderen lat. Text stützt. Aufgrund von Sprache u. Schrift wird die B. ins frühe 9. Jh. datiert, was sich mit der Annahme deckt, die Übersetzung sei bald nach der Aachener Synode von 802 entstanden. Über den Entstehungsort der im alemann. Sprachraum geschriebenen Regelübersetzung lassen sich keine exakten Angaben machen: In Betracht gezogen wird das Kloster Reichenau; wahrscheinlicher ist jedoch eine Niederschrift der B. in St. Gallen. Mit der B. liegt uns die umfangreichste Interlinearversion des Althochdeutschen vor. Die schematische – gelegentlich fehlerhafte – Wort-für-Wort- oder Form-für-Form-Übersetzung soll das Verständnis der teilweise komplizierten Grundsprache fördern. Lediglich Bibelzitate werden freier übersetzt. Lexikalisch zeigt die B. das Bestreben, lat. Termini durch volkssprachl. Lehnprägungen – etwa durch analoge Komposita – nachzubilden (z.B. »wëlaqhëdan« für »benedicere«, »umbikangan« für »circumire«). Die B. ist damit neben dem Abrogans ein wichtiges sprachgeschichtl. Denkmal frühen dt. Schrifttums. Zahlreiche Übertragungen ins Mittelhochdeutsche, die aus dem 12.-15. Jh. erhalten sind, zeugen von einem anhaltenden Interesse an der dt. Fassung der Regula Benedicti. Ausgaben: Ursula Daab (Hg.): Die A. B. des Cod. Sang. 916. Tüb. 1959. – Rudolf Hanslik (Hg.): Benedicti Regula. Wien 1960. – Achim Masser (Hg.): Regula Benedicti des Cod. 915 der Stiftsbibl. v. St. Gallen: die Korrekturvorlage der lat.-ahd. B. Gött. 2000. Literatur: Werner Betz: Dt. u. Lat. Die Lehnbildungen der A. B. Bonn 1949. – Hans Neuhold: Die ahd. Interlinearversion der B. u. ihre lat. Vorlage. Diss. Wien 1956. – Gerhard Köbler: Verz. der Übersetzungsgleichungen der A. B. Gött. 1970. – Alfred R. Wedel: Der Konflikt v. Aspektzeitstufe u. Aktionsart in der ahd. Übers. der B. In: Neuphilolog. Mitt. 77 (1976), S. 270–281. – Stefan Sonderegger: A. B. In: VL. – Norbert Richard Wolf: Zur A. B. In: Sprache u. Dichtung in Vorderösterr. Hg. Guntram A. Plangg u. Eugen Thurnher. Innsbr. 2000, S. 47–57. – Achim Masser: Komm. zur lat.-

433 ahd. B. des Cod. 916 der Stiftsbibl. St. Gallen. Gött. 2002. Claudia Händl / Red.

Benedix, Peter, bis 1933: Peter Jerusalem, * 19.7.1877 Kassel, † 6.3.1954 Irschenhausen bei München. – Verfasser von Lyrik, Theaterstücken u. Romanen. B., Sohn eines Redakteurs, riss als Jugendlicher aus dem Elternhaus aus, um einer Schaustellertruppe zu folgen u. Seiltänzer zu werden. Beruflich versuchte er es abwechselnd mit dem Medizinstudium, der Philosophie u. dem Theater, mit Malerei, Bildhauerei u. Dichtkunst. Er verfasste Gedichte u. kleine Theaterstücke u. gab die Sammlungen Deutsche Volksbücher (Mchn. 1912) u. Alte deutsche Liebeslieder (Lpz. 1919) heraus. 1912 heiratete er seine Sekretärin Lena Christ, die er in den folgenden Jahren zu eigenen Publikationen anregte. Nach ihrem Freitod (1920) ließ er sich in Irschenhausen nieder, verwaltete ihren Nachlass u. verfasste die Biografie Der Weg der Lena Christ (Wien 1940). Von den weiteren poet. Arbeiten ist sein Roman Auf der Landstraße (Wien 1941) hervorzuheben, der vom Schicksal eines Zirkuskindes erzählt. Weitere Werke: Gedichte. Lpz. 1905. – Der neugierige Engel. Gesch. einer Wiederkehr. Hbg. 1948 (R.). Literatur: Günter Goepfert: Das Schicksal der Lena Christ. Mchn. 1971. Elisabeth Willnat / Red.

Benedix, (Julius) Roderich, * 21.1.1811 Leipzig, † 26.9.1873 Leipzig; Grabstätte: ebd., Alter Johannisfriedhof. – Lustspielautor. B., Sohn eines Leipziger Großkaufmanns, sollte nach dem Besuch des Thomasgymnasiums Theologie studieren; er ging stattdessen zum Theater. Als Schauspieler bereiste B. 1831 mit der Bethmann’schen Truppe Mitteldeutschland. Anhaltende Erfolglosigkeit ließ ihn 1833 Engagements als Theatersänger (Tenor) an Bühnen in Westfalen u. im Rheinland annehmen. 1835 heiratete B. Maria Ludovica von Sommers; aus der Ehe ging ein Sohn, Hugo, hervor.

Benedix

Seit 1838 Regisseur am Wintertheater Wesel, hatte B. großen Erfolg mit dem Erstling Das bemooste Haupt (Wesel 1840). Danach wurde er Redakteur der populären Zeitschrift »Der Sprecher« in Wesel, zog 1842 nach Köln, wo er Vorlesungen über den Faust hielt, u. wurde 1844 technischer Leiter des Theaters Elberfeld. 1847 kehrte B. nach Köln zurück u. hielt als technischer Direktor des Stadttheaters einen Vorlesungszyklus über dt. Lyrik u. Dramatik. 1849 wechselte er als Lehrer für Literatur u. Deklamation an das Konservatorium u. ging 1855–1859 als wenig erfolgreicher Intendant an das Aktien-Stadttheater Frankfurt. Wieder nach Köln zurückgekehrt, heiratete er 1860 in zweiter Ehe Leontine Paulmann; mit ihr hatte er die Tochter Ottilie. 1861 übersiedelte B. nach Leipzig. Dort erschien 1871 sein autobiogr. Abriss in der Zeitschrift »Die Gartenlaube«. Er starb verarmt. B. schrieb in rascher Folge rd. 100 Lustspiele – 1845–1854 allein 34. In Dr. Wespe (Lpz. 1846) lässt er drei Frauen nach der Begegnung mit konventionellen Männern von ihren Emanzipationswünschen abrücken. Ein Besserungsstück im Sinne der traditionellen Geschlechterrollen ist auch Die Hochzeitsreise (Lpz. 1859). Eine energische Frau befreit ihren Ehemann von seinen alten Junggesellengewohnheiten. Das Intrigenlustspiel Der Störenfried (Lpz. 1861) führt die Konstellation junges Ehepaar – Schwiegermutter ein, verzichtet aber zugunsten eines warnenden Beispiels darauf, sie situationskomisch zu entfalten. Auch in dem Lustspiel Die zärtlichen Verwandten (Lpz. 1865) ordnet B. die Gestaltung der These unter. Gegen weibliches Bildungsstreben argumentiert er für »Häuslichkeit« u. »Liebe«, damit die Emanzipationsfeindlichkeit des Dr. Wespe wieder aufnehmend. B. wollte in seinen Stücken »die Zeit zur Anschauung« bringen. Sein Realismus erschöpft sich allerdings in der Reproduktion konservativer Massenmeinungen der nachrevolutionären Ära. Auch als Lustspiele überzeugen seine Stücke wenig. B. führt durch Verwechslung u. Missverständnis komische Situationen zwar planvoll herbei, doch entfaltet er sie nicht systematisch. Immer neue

Benesch

komische Situationen lösen sich ab, sodass dem B.’schen Lustspiel die stringente komische Durchgestaltung fehlt. Dennoch war B. der meistgespielte Lustspielautor in Deutschland um die Mitte des 19. Jh. Seine Stücke wurden in dreizehn Sprachen übersetzt. B.’ Erstling Das bemooste Haupt hielt sich sogar bis Anfang des 20. Jh. auf den Bühnen, wobei spätere Bearbeiter den nationalist. Zug des Stückes noch verstärkten. Weitere Werke: Bilder aus dem Schauspielerleben. 2 Bde., Lpz. 1847 (R.). – Der mündl. Vortrag. Lpz. 1860. 71913. – Die Shakespearomanie. Stgt. 1873 (Aufs.). Ausgaben: Ges. dramat. Werke. 27 Bde., Lpz. 1846–74. – Volkstheater. 20 Bde., Lpz. 1882–94. – Haustheater. 2 Bde., Lpz. 1862. 21865. 61875. 10 1891. Literatur: Wilhelm Schenkel: R. B. als Lustspieldichter. Diss. Ffm. 1916 – Johann Walter: Das B.sche Lustspiel. Diss. Wien 1919. – Horst Denkler: Restauration u. Revolution. Polit. Tendenzen im dt. Drama zwischen Wiener Kongreß u. Märzrevolution. Mchn. 1973. – B[astian] B[rant]: J. R. B. ›Das bemooste Haupt oder Der lange Israel‹. In: KindlerNeu. – Goedeke Forts. Alain Michel / Red.

Benesch, Kurt, * 17.5.1926 Wien. – Dramatiker, Romanschriftsteller, Verfasser von Hörspielen, Jugendliteratur u. Sachbüchern, Herausgeber. Nach der Matura im Jahr 1944 leistete B. Arbeits- u. Militärdienst, geriet 1945 in Italien in Kriegsgefangenschaft u. nahm 1946 ein Studium der Germanistik u. Theaterwissenschaft in Wien auf, das er 1950 mit einer Dissertation über Ibsen im Wiener Theater abschloss. Schon 1949 war in der österr. Hauptstadt sein Heimkehrerdrama Im Namen der Menschheit aufgeführt worden. Die folgenden Dramen Der Narr und sein Schatten (Wien 1950) u. Ein Boot will nach Abaduna (Wien 1951) u. die beiden ersten Romane B.s, Die Flucht vor dem Engel (Hbg./Wien 1955) u. Der Maßlose (Hbg./Wien 1956), entfalten ein Themenspektrum, dem der im christl. Glauben verwurzelte Autor auch in seinem weiteren belletrist. Werk nachgehen sollte: individuelle Schuld u. Verantwortung im Zeitalter des Totalitarismus, menschl. Selbstüberhebung sowie Entfremdung u. Nivellie-

434

rung in der Massengesellschaft. Vieles davon thematisieren auch seine letzten, von der Kritik kaum noch beachteten Romane Zwischen damals und Jericho (Graz/Wien/Köln 1990) u. Auf der Suche nach Jägerstätter (Graz/ Wien/Köln 1993). Satirisches bieten u. a. die Dramen Akt mit Pause (Wien 1961) u. Galathea oder Wie wird man sie los? (Wien 1968). Produktiv war B. auch als Hörspielautor u. Verfasser von Jugendliteratur, beginnend mit dem Schülerroman Die einsamen Wölfe (Wien/ Mchn. 1964. Niederländ. Ausg. Den Haag 1966. Slowak. Ausg. Bratislava 1968). In der Folge verfasste B. für ein junges Publikum auch Biografien (Die Frau mit hundert Schicksalen. Das Leben der Marie von Ebner-Eschenbach. Wien/Mchn. 1966. Die vielen Leben des Mister Sealsfield. Wien/Mchn. 1966), Bücher zur Entdeckungsgeschichte (Nie zurück. Die Entdeckung des Franz-Josephs-Landes. Wien/Mchn. 1967. Männer im ewigen Eis. Der Kampf um die Nordwestpassage. Gütersloh 1977) u. erzählte gerne bekannte Stoffe neu (Till Eulenspiegel. Wien 1972. Rübezahl. Wien 1973. Münchhausen. Wien 1973. Meeressagen. Wien 1975. Gespenstersagen. Wien 1976. Zigeunersagen. Wien 1977. Indianersagen. Wien 1979. 366 Bibelgeschichten für Kinder. Köln 1988). Weitere Interessengebiete B.s sind die Archäologie, deren Erkenntnisse er einem breiteren Publikum nahebrachte (Rätsel der Vergangenheit. Gütersloh/Wien 1977. Mchn. 1979. Slowen. Ausg. Ljubljana 1979. Ital. Ausg. Turin 1979. Frz. Ausg. Paris 1979. Auf den Spuren großer Kulturen. Das Abenteuer Archäologie. Gütersloh 1980. Archäologie. Eine Einführung. Gütersloh 1983. Mchn. 1990) sowie die Geschichte der Magie (Magie. Von Hexen, Alchimisten und Wundertätern. Wien 1975. Als Herausgeber: Magie der Renaissance. Wiesb. 1985). Weitere Werke: Süß wie die Liebe oder Kaffee gestern u. heute. Wien/Bln. 1969. Ital. Ausg. Mailand 1972. Niederländ. Ausg. Rotterdam 1974. – Der Sonne näher. Notizen eines Outsiders. Wien 1972. – Otto u. das Kielschwein. Wien/Mchn. ca. 1974 (Jugendbuch). – Mallorca. Gütersloh 1979 (Reiseführer). – Vergessene Kulturen. Das Bild der Naturvölker als die Weißen kamen. Zürich 1984. – Die Spur in der Wüste. Das Leben des Charles de Foucauld. Graz/Wien/Köln 1985. Ungar. Ausg.

435 1991. – Fabrizio Alberti. Graz/Wien/Köln 1987 (R.). – Santiago de Compostela. Als Pilger auf dem Jakobsweg. Mit Farbbildern v. Rudolf Tießler. Freib. i. Br./Basel/Wien 2004. – Herausgeber: Adolf Bäuerle: Die falsche Primadonna. Posse mit Gesang in 2 Akten. Wien 1963. Literatur: Norbert Langer: Dichter aus Österr. 5 F., Wien/Mchn. 1967, S. 13–18. – Roland Heger: Der österr. Roman des 20. Jh. 1. Tl., Wien/Stgt. 1971, S. 98–101. – Wilhelm Bortenschlager: Österr. Dramatiker der Gegenwart. Wien 1976, S. 58–61. – R. Heger: Das österr. Hörspiel. Wien/Stgt. 1977, S. 112–116. – Heidrun Graf-Blauhut: Sprache: Traum u. Wirklichkeit. Österr. Kurzprosa des 20. Jh. Wien 1983, S. 306–308. Volker Hartmann

Bengel, Johann Albrecht, * 24.6.1697 Winnenden (heute Rems-Murr-Kreis), † 2.11.1752 Stuttgart; Grabstätte nicht erhalten. – Luth. Theologe, Hauptvertreter des württembergischen Pietismus im 18. Jh. B.s Familie gehört zur sog. Ehrbarkeit; zu seinen Vorfahren zählt der württemberg. Reformator Johannes Brenz. Aufgewachsen beim Präzeptor David Wendelin Spindler, lernte B. in frühen Jahren den radikalen Pietismus kennen. Nach dem Besuch des Stuttgarter Gymnasiums (1699) studierte er in Tübingen als Stipendiat des Evang. Stifts Theologie (1703–1706), wobei er luth.-orthodoxes (Johann Wolfgang Jäger) wie pietistisches (Andreas Adam Hochstetter) Gedankengut aufnahm. Anschließend wirkte er als Stiftsrepetent u. Vikar (seit 1708), ehe er nach einer Studienreise zu den Franckeschen Stiftungen in Halle/S. 1713 Präzeptor an der Klosterschule Denkendorf (bei Esslingen) wurde. Auf streng biblizistischer u. milder pädagog. Grundlage humanist. Gelehrsamkeit im Verbund mit pietist. Frömmigkeit vermittelnd, hat er dort 28 Jahre lang über 300 Schüler auf das theolog. Studium u. geistl. Amt vorbereitet. Zu diesen zählen u. a. der Liederdichter Philipp Friedrich Hiller u. Philipp Ulrich Moser, der Privatlehrer des jungen Schiller. Über Denkendorf hinaus bildete sich so die einflussreiche »BengelSchule«, zu der auch der Theosoph Friedrich

Bengel

Christoph Oetinger u. der »MechanikerPfarrer« Philipp Matthäus Hahn gehörten. Seit 1741 bekleidete B. führende kirchliche u. polit. Ämter: Propst von Herbrechtingen (bei Heidenheim a. d. Brenz); gemäßigt konservatives Mitgl. des Großen (1747) u. Engeren Ausschusses des Landtags (1748); schließlich Prälat von Alpirsbach (Schwarzwald) u. Konsistorialrat mit Sitz in Stuttgart (1749), der den Cäsaropapismus kritisierte. Scharf tadelte er auch Zinzendorf u. die rokokohafte Frömmigkeit der Herrnhuter Brüdergemeine (Abriß der so genannten Brüdergemeine. Stgt. 1751 u. ö. Nachdr. Hildesh. 1972). B.s vielfältiges literar. Schaffen, das eine geschlossene Einheit bildet, wurzelt in der von der orthodoxen Lehre von der Verbalinspiration getragenen Vorstellung eines »biblischen Realismus« u. einer damit korrelierenden engen Bibelfrömmigkeit (»Bibelmystik«). Es steht ganz im Zeichen der Bibel, bes. des NT, die er als harmon. Organismus u. »Lagerbuch der Gemeinde Gottes« versteht, aus dem sich das Ganze der Wirklichkeit erschließt. Sein erstes großes Werk war eine griech. NT-Ausgabe mit krit. Apparat (Novum Testamentum Graecum. Tüb. 1734 u. ö., engl.), die ihn zu einem Begründer der modernen neutestamentl. Textkritik machte. Den überholten »Textus receptus« (mit Ausnahme der Apk) behielt er noch bei; die Anordnung der Varianten hingegen war wegweisend, die er erstmals qualitativ in fünf Klassen einteilte. Dabei stellte er die noch heute gültige Regel auf, wonach die »schwierigere Lesart der leichteren vorzuziehen« sei. Zudem hat er die einzelnen Handschriften Textfamilien (der asiatischen u. afrikanischen) zugeordnet. An die Edition schloss sich die 1735 begonnene Übersetzung des NT in die dt. Sprache an (Das Neue Testament zum Wachsthum in der Gnade [...]. Stgt. 1753 [mit Anm.] u. ö. Neuausg. Stgt. 1974. Schwed. Übers.), die, der Lutherübersetzung zur Seite gestellt, sich eng am griech. Text orientiert. Auch als Exeget trat B. hervor, der die grammatisch-rhetorisch-histor. Auslegungsmethode gegenüber der dogmatischen bevorzugte. Sein wiss. Hauptwerk ist der Gno-

Bengel

mon [Zeiger, Fingerzeig] Novi Testamenti (Tüb. 1742 u. ö.), eine streng philolog. Auslegung des NT. Der bündige Vers-für-Vers-Kommentar avancierte zum theolog. Klassiker des württemberg. Pietismus, der bis heute Verbreitung findet (Dt. 2 Bde., 1853/54, 81970. Lat.-dt. Teilausg. Basel/Tüb. 2003. Engl., schwed. Übers.en); u. a. hat er John Wesley, den Begründer des Methodismus, beeinflusst. B.s Hauptanliegen ist bestimmt von einer chiliast. »Reich-Gottes-Theologie«, wobei er sich von einem Erleuchtungserlebnis (1724) leiten ließ u. bes. von Philipp Jakob Speners »Hoffnung besserer Zeiten« wie radikalpietistischer u. wohl auch föderaltheologischer (Coccejus, Vitringa) Vorstellungen ausgeht. Die stufenweise verlaufende Geschichte als organisch fortschreitendes Offenbarungshandeln Gottes auffassend, entwarf er ein sich v. a. an der Apk (bes. 13,18: »Zahl des Tieres« 666, u. Kp. 20) orientierendes chronologisch-heilsgeschichtlich-eschatologisches System: einen göttl. Heilsplan (»oeconomia divina«), der die Kosmologie einbezieht u. vom Anfang der Welt bis auf eine dischiliastisch-postmillenaristische Endgeschichte hinausläuft. Jener sieht nach apokalypt. Gerichtsereignissen (samt dem Untergang des »Tieres«, sc. des röm. Papsttums) den Beginn des Reiches Gottes als einer »güldenen« tausendjährigen Friedensperiode auf Erden für 1836 (um den 18.6.) vor; ihr folgen nach einem zweiten im Jahr 3836 endenden Millennium Parusie Christi in Herrlichkeit, Allg. Auferstehung, Jüngstes Gericht, Weltende u. Neuschöpfung von Himmel u. Erde mit Errichtung des himml. Jerusalems (bes. Erklärte Offenbarung Johannis. Stgt. 1740 u. ö. Engl., schwed., niederländ. Übers.en. u. Sechzig erbauliche Reden über die Offenbarung. Stgt. 1747 u. ö. Dän., schwed. Übers.en). Den Höhepunkt bildet sodann ein unüberbietbarer Universalismus, den B. allerdings lediglich als arcanum behandelt: nach Äonen von Läuterungsgerichten u. Gotteszorn die »Wiederbringung aller Dinge« (»Apokatastasis panton«, Act 3,21), wonach endlich Gott in der Vollendung »alles in allen« sein werde (I Kor. 15,28).

436

Bekannt wurde B. schließlich als Liederdichter, bes. mit Du Wort des Vaters, rede du (1734, nach einem lat. Lied von Pierre Poiret 1711) u. Gott lebet! (1738). Überdies hat er vier Lieder aus dem Französischen von Jeanne Marie Guyon übersetzt (u. a. Dir, großer Gott. 1721). Vor allem dank seiner großen Schülerschar, den biblizist. »Schwabenvätern«, u. den pietist. Gemeinschaften hat der »Vater des württemberg. Pietismus« nachhaltig auf das schwäb. Geistesleben eingewirkt; nicht zuletzt hat er trotz seiner heterodox eschatolog. Ansichten, denen er in der Kirche Eingang verschaffte, den Pietismus in der württemb. Landeskirche verwurzelt. Darüber hinaus erstreckt sich sein Einfluss u. a. auf die Textkritik (Karl Lachmann) wie auf Christian August Crusius, Hamann u. wohl auch den Deutschen Idealismus. Überdies beeinflusste er den Supranaturalismus der Älteren Tübinger Schule wie auch über Jung-Stilling, der seine Eschatologie aktualisierte, im Vormärz die restaurative Erweckungsbewegung. Mittelbar hat er schließlich die sog. »ReichGottes-Theologien« des 19. Jh. (einschließlich des »Religiösen Sozialismus« im frühen 20. Jh.) angeregt. Weitere Werke: Richtige Harmonie der vier Evangelisten. Tüb. 1736 u. ö. – Ordo temporum. Stgt. 1741 u. ö. – Cyclus. Ulm 1745 (dt. 1773). – Welt-Alter. Esslingen 1746 u. ö. – Herausgeber: M.T. Ciceronis epistolae [...]. Stgt. 1719. – J. Chrysostomi de Sacerdotio libri sex [...]. Stgt. 1725 u. ö. (griech-lat.). Ausgaben: Du Wort des Vaters, rede Du! Ausgew. Schr.en, Predigten u. Lieder. Hg. Julius Rössle. Metzingen 1962. – J. A. B. Denksprüche. Ein Lesebuch zum Gnomon. Hg. Heino Gaese. Tüb./Basel 2004. – Briefe: J. A. B. Korrespondenz. Hg. Dieter Ising. Bd. 1, Gött. 2008 (in Vorb.; über 3100 Briefe, insg. 7 Bde.). Literatur: Bibliografie: Gottfried Mälzer (Bearb.): Die Werke der württ. Pietisten des 17. u. 18. Jh. Bln./New York 1972, S. 30–72 (nicht vollst.). – Werner Raupp: J. A. B. In: Bautz. – Weitere Titel: Koch 5, S. 89–99. – Karl Hermann: J. A. B. Der Klosterpräzeptor v. Denkendorf. Stgt. 1937. Nachdr. Stgt. 1987. – G. Mälzer: B. u. Zinzendorf. Zur Biogr. u. Theologie J. A. B.s. Witten 1968. – Ders.: J. A. B. Leben u. Werk. Stgt. 1970. – Reiner Heinze: B. u. Oetinger als Vorläufer des dt. Idealismus (Diss.

Benjamin

437 Münster 1969). – Hermann Bauch: Die Lehre vom Wirken des Hl. Geistes im Frühpietismus. Hbg. 1974. – Friedhelm Groth: Die ›Wiederbringung aller Dinge‹ im württemberg. Pietismus. Gött. 1984. – Werner Hehl: J. A. B. Stgt. 1987. – Martin H. Jung: ›Ein Prophet bin ich nicht...‹ J. A. B. Theologe – Lehrer – Pietist. Stgt. 2002. Werner Raupp

Benjamin, Walter (Benedix Schönflies), auch: Detlef Holz, * 15.7.1892 Berlin, † 27.9.1940 Port Bou/Spanien (Freitod). – Philosoph, Schriftsteller, Kritiker, Sammler. B. entstammt als ältestes von drei Kindern einer Berliner großbürgerlich-jüd. Familie; sein Vater war Mitinhaber eines AntiquitätenAuktionshauses u. Aktionär. Nach dem Abitur (1912) studierte B. Philosophie, Germanistik u. Kunstgeschichte in Freiburg i. Br., Berlin, München u. promovierte 1919 an der Universität Bern bei Richard Herbertz zum Dr. phil. Dem Drängen des Vaters, ins Bankgeschäft einzutreten, widersetzte er sich. Seine Ehe mit Dora Sophie Pollak (Heirat 1917), der der Sohn Stefan Rafael entstammt, wurde 1930 geschieden. In den ersten Jahren des Studiums engagierte sich B. politisch u. literarisch in der zur Jugendbewegung gehörenden Freien Studentenschaft, von der er sich 1914 (ebenso wie von seinem Lehrer Gustav Wyneken) lossagte u. ihr in seiner ersten großen Abhandlung Das Leben der Studenten (1915) das esoterisch-metaphys. Konzept einer reinen Gemeinschaft der Erkennenden entgegenstellte. Anknüpfend an die Kulturkritik Nietzsches u. Georges verband B. eine Absage an die Institutionen der bürgerl. Gesellschaft (Universität, Familie, Recht, Staat) mit einer theologisch fundierten Ideenphilosophie. Im selben Jahr lernte er den späteren KabbalaForscher Gershom Scholem kennen, mit dem ihn dauerhafte Freundschaft verband, zumal Scholem in dem Freund ein kabbalist. Ingenium wirksam sah. Ihren kühnsten spekulativen Ausdruck fanden B.s damalige Überlegungen in der 1916 verfassten Abhandlung Über die Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen. B. arbeitete hier als philosoph. Aufgabe heraus, in der Vielheit der profanen

Menschensprache die Übersetzung der einen göttl. Sprache der Laut-Namen wiederzugewinnen; der Begriff der Sprache als unmittelbarem Medium wird scharf abgegrenzt von jeder bürgerl. Konzeption der Sprache als humanem Instrument der Kommunikation u. Referenz. Diese Abhandlung wie auch das messianische Theologisch-politische Fragment (etwa 1920) hielt B. lebenslang verwahrt u. gab nur einzelnen Freunden davon Kenntnis. 1920 erschien in Bern die Dissertation Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik. Blieb in diesem Buch, auch aus akadem. Gründen, die Auseinandersetzung mit dem romant. Messianismus aus, so trat umso eindringlicher eine für den Schriftsteller B. grundlegende Orientierung hervor: die Kritik von ästhet. Werken. B.s spätere Bedeutung als einer der wichtigsten Literaturkritiker der Weimarer Republik hat in der Wiederentdeckung der dt. Frühromantik ihr Fundament. Die Schlegel’sche Bestimmung der Kritik, die das Werk zur transzendentalen Form des Ganzen universalisiert, wird von B. als rationale u. nüchterne Herausarbeitung des prosaischen Gehalts rekonstruiert. Vom etablierten Rezensionswesen der 1920er Jahre war diese produktionsästhet., der Einsicht in literar. Technik verpflichtete Auffassung prinzipiell geschieden. Eine exemplarisch durchgeführte Kunstkritik stellte der Essay Goethes Wahlverwandtschaften dar, den Hofmannsthal (Mchn. 1925) verlegte u. außerordentlich bewunderte. B. führte hier eine vehemente Auseinandersetzung mit der herrschenden Goetheforschung, zumal mit Gundolf, u. formulierte, ausgehend von der Kritik des Goethe’schen Romans, grundlegende Bestimmungen seiner eigenen Kunsttheorie des Werks u. des Scheins. Ästhetisch steht im Mittelpunkt die Kritik des Symbols; geschichtsphilosophisch die Kritik des Mythos (Ehe, Recht) als Sphäre des Zweideutigen, in dessen Verblendungszusammenhang sich die vermeintlich aufgeklärten Protagonisten des Romans verstricken. Aus einer intensiven Beschäftigung mit dem entlegenen Bereich des dt. Barockdramas ging B.s Abhandlung Ursprung des deutschen Trauerspiels hervor, die als Habilitati-

Benjamin

onsschrift verabredet war, dann aber unter unwürdigen Umständen 1925 von der Universität Frankfurt zurückgewiesen wurde. Das Buch konnte erst 1928 bei Rowohlt in Berlin erscheinen. B. rekonstruierte das Trauerspiel als Idee einer Form in scharfer Abgrenzung zur antiken Tragödie u. unternahm eine geschichtsphilosoph. Rettung der seit der Goethezeit verkannten Ausdrucksform der Allegorie. Indem B. das allegor. Werk gegenüber dem symbolisch-autonomen rehabilitierte, reflektierte er implizit den Bruch der Moderne mit der klass. Ästhetik. Indem er den allegor. Tiefsinn als intellektuelle Reaktionsform in einer transzendenzlosen Welt beschrieb, reflektierte er implizit die Situation des Weimarer Intellektuellen nach dem Zusammenbruch der Vorkriegswelt. Adornos spätere Philosophie haben zentrale Theoreme des Trauerspielbuchs – Naturgeschichte, Mythos, Allegorie, Wahrheit als nichtintentionales Sein – entscheidend geprägt. Das Scheitern der Habilitation erschien B. nachträglich als Bestätigung seines vom konventionellen Wissenschaftsbetrieb radikal geschiedenen Wahrheitsanspruchs. Kein Entreebillett, sondern eine »Ohrfeige« (Vorrede zu Ursprung des deutschen Trauerspiels) sei das Trauerspielbuch gewesen. Mit einer außerordentlichen, seinem melancholisch-zaudernden Temperament kontrastierenden Energie erschloss er sich in der »Literarischen Welt« (Herausgeber war Willy Haas) u. in der »Frankfurter Zeitung« (Literaturredakteur war Siegfried Kracauer) neue Arbeits- u. Publikationsmöglichkeiten; seit 1929 arbeitete er regelmäßig für Rundfunkanstalten. Indem er seine philosophisch-kontemplative Begabung absichtsvoll dem Diktat der Publizistik u. den Bedingungen eines freien Schriftstellers unterstellte, suchte er dem Anspruch auf unbedingte Aktualität u. Geistesgegenwärtigkeit zu gehorchen, den er immer schon an seine Arbeiten gestellt hatte. B. erhoffte sich von einer intensiven Konfrontation mit marxist. Positionen, ohne in die Partei einzutreten, die wichtigsten Impulse. Die (unerwiderte) Liebe zu Asja Lacis (Kommunistin u. Freundin von Bernhard Reich), die Bekanntschaft mit Brecht, mit Adorno u. Horkheimer

438

sowie die Lektüre von Lukács’ Geschichte und Klassenbewußtsein beförderten den definitiven Bruch mit der reinen Metaphysik des Geistes. 1925–1933 verfasste B. in großer Zahl Literaturkritiken u. verschiedene Essays zur zeitgenöss. u. klass. Literatur. Bes. die Essays über Goethe, über Johann Peter Hebel, über Proust, über Karl Kraus u. über den Surrealismus bezeugen B.s eigenwillige produktive Anverwandlung des Marxismus, wie sie etwa in den Formeln »profane Erleuchtung« u. »anthropologischer Materialismus« zum Ausdruck kommt. B.s Arbeiten verstanden sich in einem ausdrücklich europ. Kontext: Er widmete sich intensiv der frz. Gegenwartsliteratur, übersetzte Proust, Baudelaire, Aragon u. hielt sich immer wieder in Paris auf. Zum andern beschäftigte er sich mit der kulturellen Entwicklung in Sowjetrussland u. unternahm im Winter 1926/27 eine Moskaureise (Moskauer Tagebuch. Ffm. 1980). Ebenso engagierte er sich für die prekäre Position einer dt. Avantgarde, die ihm durch Loos, Kraus, Scheerbarth, Kafka u. den Surrealismus angezeigt wurde. Er setzte sich früh für Brecht ein, mit dem er auch im späteren Exil eng befreundet blieb. 1928 erschien der Prosaband Einbahnstraße (Bln.) mit einer Titelmontage von Sascha Stone. Das zeitgleiche Erscheinen mit dem Ursprung des deutschen Trauerspiels war von B. beabsichtigt, bekundete sich darin doch die Differenz zwischen der kontemplativ-theolog. Haltung des Barockbuchs u. der politisch-operativen, von keiner Kontemplation mehr auszumessenden Position des Intellektuellen in der gesellschaftl. Krise. Der Titel Einbahnstraße deutet als Metapher auf die irreversible Nötigung des Intellektuellen zur Politik, auf das Ende einer chimär. Existenz über den zum Bürgerkrieg antretenden Klassen. Ebenso bezeichnet er – als Produktionsprinzip – die Orientierung der Prosastücke an einem transitor. Gang durch die Textur einer Großstadt, in der das Triviale u. Zufällige zu »Denkbildern« zusammenschließt. Die Form der »Kleinen Prosa« war für den Schriftsteller B. bes. wichtig. Sie steht gleichberechtigt neben der Rezension, der Abhandlung, dem Essay. B. hat zahlreiche

439

solcher Prosaminiaturen verfasst, die zumal auf Erfahrungen des Reisens rekurrieren (u. a. Moskau; Weimar; Nordische See; Ibizenkische Folge; Haschisch in Marseille) oder biogr. Reflexionen darstellen (Der destruktive Charakter; Erfahrung und Armut; Kurze Schatten). 1932/33 wandte B. die Form der Prosaminiaturen einem neuen Buch-Projekt zu, in dem die langjährige Proust-Lektüre u. der definitive Weggang aus Deutschland eine eigene Physiognomie gewannen: die Berliner Kindheit um neunzehnhundert, eine ihrer Form nach in der dt. Literatur wohl einzig dastehende autobiogr. Prosa. Sie sollte im Exil vor einer depressiven Sehnsucht nach Deutschland schützen u. zgl. einen unverlierbaren Augenblick an der Schwelle des 20. Jh. für künftige geschichtl. Erfahrungen festhalten. Eine größere Zahl der Stücke konnte (z.T. unter Pseud.) in Zeitungsfeuilletons publiziert werden. Um die Rettung krit. Gehalte der bürgerl. Tradition ging es B. auch bei dem lang gehegten Plan einer kommentierten Briefsammlung, der erst im Exil realisiert werden konnte (Deutsche Menschen. Luzern 1936. Unter dem Pseud. Detlef Holz). Im März 1933, bald nach dem Reichstagsbrand, verließ B. Deutschland, als Jude u. als Marxist gleichermaßen gefährdet, u. ging nach Paris. Er sah sich schwierigsten Existenz- u. Arbeitsbedingungen ausgesetzt. In Deutschland konnte er nicht mehr publizieren; in frz. Zeitschriften u. in dt. Exilzeitschriften konnte er nur einzelne Beiträge unterbringen. So blieb er fast ausschließlich auf die Aufträge u. das Stipendium des »Instituts für Sozialforschung« angewiesen, das rechtzeitig nach New York verlegt worden war. In dessen »Zeitschrift für Sozialforschung« erschienen, nicht immer ohne Komplikationen, die meisten u. wichtigsten Arbeiten B.s. Obschon er sich nicht zur Frankfurter Schule der Kritischen Theorie rechnete, vertiefte sich in diesen Jahren die Beziehung zu Horkheimer u. v. a. zu Adorno u. dessen Frau Gretel (»Felizitas«), die B. später zu Nachlassverwaltern bestimmte. Mit der Abhandlung Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1936) fand B. zu einer neuen polit. Konzep-

Benjamin

tion seiner Kunsttheorie. Er thematisierte die Krise der Kunst, die durch die techn. Reproduktionsmedien ausgelöst wird u. den traditionellen Kern der Aura (Einmaligkeit u. Distanz) zerstört. B. sah im Film nicht eine neue Kunstgattung, sondern eine techn. Apparatur u. ein kollektives Übungsinstrument mit der Chance einer revolutionären Veränderung des Verhältnisses von Masse u. Technik. Im krassen Gegensatz zu den Exilparolen von der Rettung der Kultur sollte gerade von der techn. Reproduzierbarkeit aus die Antwort auf eine faschist. Ästhetisierung der Politik u. des Kriegs entworfen werden. Zu der von B. erhofften Debatte seiner Thesen kam es nicht. Wurden im Kunstwerkaufsatz Aura u. Tradition eher negatorisch bestimmt, so traf B. in den Essays Der Erzähler (1936) u. Über einige Motive bei Baudelaire (1939) eine wichtige Differenzierung zur Konzeption der Aura u. einer auf Reproduzierbarkeit fundierten neuen Erfahrung. Im Zentrum der Exiljahre stand ein umfangreiches Vorhaben, das B. 1929 als surrealist. Essay über den Zerfall der großstädt. Passagen des 19. Jh. begonnen hatte. In einem längeren Exposé mit dem Titel Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts (1935/39) erweiterte u. veränderte B. das Projekt. Es sollte die Marx’sche Metapher vom Fetischcharakter der Ware als Allegorie ernst genommen u. auf die myth. Phantasmagorien des großstädt. Kapitalismus des 19. Jh. bezogen werden. Das Passagen-Werk, ein in der Philosophiegeschichte kaum vergleichbares Unternehmen, blieb ungeschrieben; aber das Material – eine riesige Sammlung von Zitaten u. Kommentaren – ist überliefert. B.s letzte Arbeit waren die Thesen Über den Begriff der Geschichte (1940), in denen er das erkenntnistheoret. Programm des ParisBuchs umriss u. zgl. ein polit. Testament formulierte. Ausgelöst vom Schock des Hitler-Stalin-Pakts, der den Bankrott der antifaschist. Politik besiegelte, u. in der Gewissheit des kommenden Krieges traten die Thesen unerschrocken der um sich greifenden Verzweiflung entgegen. Gegen das Verstummen der Denkenden gerichtet, suchte B. dem Begriff der klassenlosen Gesellschaft sein revo-

Benjamin

lutionär-messianisches Gesicht wiederzugeben. Er kritisierte das historist. Geschichtsverhältnis, das sich das Gewesene im Bordell des »Es war einmal« gefügig macht. Und er kritisierte das marxist. Geschichtsverhältnis, das die Ausbeutung des Proletariats durch eine technolog. Naturausbeutung für überwunden hält. Beide Geschichtsauffassungen sind gegenüber dem Faschismus ohnmächtig, vertrauen nur auf das trügerische Kontinuum der homogenen Zeit. Dem setzte B. die aufsprengende Kraft einer mit der unterdrückten Vergangenheit geladenen Jetztzeit entgegen, die aus der Perspektive der Opfer, der mitgeschleiften Kulturgüter u. der ausgebeuteten Natur ihr revolutionäres Bild erkennt. Als die nationalsozialistischen Truppen vor Paris standen, floh B. nach Marseille. Da dort die Ausreise per Schiff bereits gesperrt war, blieb Lissabon als letzter Ausreisehafen in die USA. Mit einer Gruppe von Emigranten versuchte er, auf dem Fußweg nach Spanien zu gelangen. Die dortigen Grenzbeamten verweigerten trotz vorhandener Visa die Durchreise. Durch Herzkrankheit geschwächt u. ungewiss über das weitere Schicksal, nahm B. in der Nacht des 26.9.1940 eine Überdosis Morphium. Am Morgen weigerte er sich, einen Arzt holen zu lassen. Als B. starb, war unabsehbar, was von seinem Werk bleiben würde. Er hatte zu Lebzeiten den engsten Freunden (Scholem, Adorno) Publikationsbelege u. Manuskripte geschickt. Weiteres verwahrte auf seine Bitte Georges Bataille in der Pariser Bibliothèque Nationale. Die Wirkungsgeschichte begann eigentlich erst postum, zunächst wesentlich vorangetrieben von Adorno, der eine zweibändige Sammlung der Schriften (Ffm. 1955), die Berliner Kindheit (Ffm. 1950) u. Einbahnstraße (Ffm. 1955) herausgab. In Frankreich setzte sich v. a. Pierre Missac, ein Freund aus der Exilzeit, für B. ein. Während der Studentenbewegung wurde B. neu entdeckt: als Kronzeuge der Revolte, der den Weg vom Esoteriker zum revolutionären Intellektuellen vollzogen hatte. Einzelne Texte erschienen zunächst als Raubdrucke; Adornos Verhalten als Nachlassverwalter wurde angegriffen. B.-Hefte der Zeitschriften »alternati-

440

ve«, »Kursbuch«, »Merkur«, »Argument« erschienen. Dieser Streit um B. war, auch wenn im Rückblick die Fronten zum Teil bizarr erscheinen, wichtig; er machte eine ungekürzte Edition aller erhaltenen Texte, die in beträchtlichem Umfang aus Nachlass-Manuskripten bestehen, dringlich. 1972 u. 1999 erschienen die umfangreichen, textkritisch edierten u. sorgfältig annotierten Bände der Gesammelten Schriften. Sie ermöglichten erstmals eine wissenschaftlich fundierte Erschließung des gesamten Werks. Der Nachlass ist seit 2005 im Walter Benjamin-Archiv Berlin zusammengeführt. Die Schriften B.s sind mittlerweile in alle Literatursprachen übersetzt u. Gegenstand einer breiten internat. Rezeption geworden. B. hat unbestritten den Rang eines maßgebl. Denkers u. Autors seiner Epoche erlangt. Die produktiven Impulse seines vielschichtigen Werks sind längst noch nicht ausgeschöpft, wie die aktuelle Diskussion bestimmter polit. Texte (Zur Kritik der Gewalt, Kapitalismus als Religion) oder die Rezeption B.s als Leitfigur der neuen Medienwissenschaften zeigen. Seit 1993 erinnert in Port Pou die eindrucksvolle Gedenkstätte D. Karavans an den Ort von B.s Freitod. B. hat sein Denken u. Schreiben in den Schnittpunkt divergenter Diskurse gestellt u. dadurch die intellektuelle Freiheit erlangt, extreme u. überraschende Konstellationen herzustellen. Die Vielfalt seiner Texte u. der weite Horizont seiner Themen wird von einer außerordentl. Bewusstheit des Schreibens beherrscht, die auch verwegenen Metaphern, Bildern, esoter. Spekulationen höchste Präzision verleiht. Die strenge Schulung an der Sprache u. der Fundus blitzartiger, unableitbarer Intuitionen geben dem Werk seinen inkommensurablen Gehalt. Ausgaben: Ges. Schr.en. Hg. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Ffm. 1972 ff. Bd. 1: Abh.en. Bd. 2: Aufsätze, Ess.s, Vorträge. Bd. 3: Kritiken u. Rez.en. Bd. 4: Kleine Prosa, BaudelaireÜbertragungen. Bd. 5: Das Passagen-Werk. Bd. 6: Fragmente, Autobiogr. Schr.en. Bd. 7: Nachträge. Suppl. I-III, Übers.en (1987–99). – Berliner Kindheit um 1900. Gießener Fassung. Hg. R. Tiedemann. Ffm. 2000. – Briefe: Ges. Briefe. Hg. Christoph Gödde u. Henri Lonitz. 6 Bde., Ffm. 1995 ff. –

Benkowitz

441 W. B. – Gershom Scholem, Briefw. 1933–40. Ffm. 1980. – W. B. – Gretel Adorno, Briefw. 1930–40. Ffm. 2005. Literatur: Über W. B. Mit Beiträgen v. Theodor W. Adorno, Ernst Bloch, Max Rychner, Gershom Scholem, Jean Selz, Hans Heinz Holz u. Ernst Fischer. Ffm. 1963. 21969. – Hannah Arendt: B., Brecht. Mchn. 1971. – Siegfried Unseld (Hg.): Zur Aktualität W. B.s. Ffm. 1972. – W. B. In: Text + Kritik 31/32 (1971). 2. erw. Aufl. 1979. – G. Scholem: W. B. Gesch. einer Freundschaft. Ffm. 1975. – Burkhardt Lindner (Hg.): Links hatte noch alles sich zu enträtseln... W. B. im Kontext. Ffm. 1978. 2. erw. Aufl. 1985. – Heinz Wismann (Hg.): W. B. et Paris. Colloque international. Paris 1986. – Klaus Garber: Rezeption u. Rettung: 3 Studien zu W. B. Tüb. 1987. – Theodor W. Adorno: Über W. B. Ffm. 1990. – K. Garber u. Ludger Rehm (Hg.): Global B. 3 Bde., Mchn. 1999. – Bernd Witte: W. B. Reinb. 2000. – Willem van Reijen u. Herman van Doorn: Aufenthalte u. Passagen. Leben u. Werk W. B.s. Ffm. 2001. – Klaus-Gunther Wesseling: W. B. Eine Bibliogr. Nordhausen 2003. – Erdmut Wizisla: B. u. Brecht: die Gesch. einer Freundschaft. Ffm. 2004. – Detlev Schöttker (Hg.): Schrift, Bilder, Denken. W. B. u. die Künste. Ffm. 2004. – Momme Brodersen: W. B. Ffm. 2005. – B. Lindner (Hg.): B.Hdb.: Leben – Werk – Wirkung. Stgt. 2006. Burkhardt Lindner

Benkowitz, Karl Friedrich, * 1764 Uelzen, † 19.3.1807 Glogau. – Publizist, Satiriker u. Unterhaltungsschriftsteller. Die Lebensumstände B.’ sind nur in groben Umrissen bekannt. Der Sohn eines Küsters studierte Theologie – der gewöhnl. Weg armer Bürgerssöhne zu sozialem Aufstieg – u. lebte dann als Kandidat in Karkow bei Stargard. Wie viele seiner Leidensgenossen hoffte er vergeblich auf ein Pfarramt oder eine Anstellung im Schuldienst. In dieser Zeit veröffentlichte er seine ersten literar. Werke (Erzählungen und Gedichte. Gött. 1788) u. schrieb für verschiedene Zeitschriften. 1796 zog er nach Breslau u. versuchte sich zus. mit dem Leiter der Breslauer Kunstschule, Carl Daniel Friedrich Bach, als Zeitschriftenherausgeber. Der »Torso, eine Zeitschrift der alten und neuen Kunst gewidmet«, erschien aber nur zwei Jahre (Breslau 1796/97). 1801 reiste B. aus Gesundheitsgründen nach Italien u. blieb dort zwei Jahre, haupt-

sächlich in Sorrent u. Neapel. Seine dortigen Erfahrungen verarbeitete er in der ausgedehnten Reise von Glogau nach Sorrent (3 Tle., Bln. 1803/04), der Reise von Neapel in die umliegende Gegend, nebst Reminiscenzen von meiner Rückreise nach Deutschland (Bln. 1806) sowie in zwei weiteren kurzlebigen Zeitschriftenprojekten: »Helios der Titan, oder Rom und Neapel« (3 H.e, Lpz. 1801–04) u. »Das italienische Cabinet« (Lpz. 1804). 1804 erhielt er eine Anstellung als kgl. preußischer Kammersekretär in Glogau. 1807 starb er unter ungeklärten Umständen nach einem Sturz aus dem dritten Stock seiner Wohnung. B. folgte mit seiner umfänglichen literar. Produktion v. a. den Modetrends der Zeit: Er bearbeitete ältere Robinsonaden (Robert, der einsame Bewohner einer Insel im Südmeer. Ein Robinson für Erwachsene. 4 Tle., Halle 1793–98), adaptierte frz. Romane (Charakteristik des menschlichen Herzens. Breslau 1798), schrieb Wundergeschichten in historisierendem Gewand (Der Zauberer Angelion in Elis. 2 Tle., Bln. 1798 u. 1800) u. in der Nachfolge Goethes u. Friedrich Maximilian Klingers auch ein Faustdrama: Die Jubelfeier der Hölle oder Faust der jüngere (Bln. 1801). An seiner ambitionierten literaturtheoret. Abhandlung Der Messias von Klopstock ästhetisch beurtheilt (Breslau 1797) wusste der Rezensent August Wilhelm Schlegel nur zu rühmen, dass »der Vf. es dem Leser so leicht gemacht, ihre ungemeine Schlechtigkeit einzusehen«. In die breit geführte Diskussion um den sittlich-polit. Verfall Preußens griff B. mit den Satiren Empfindsame Reise der Prinzessin Ananas nach Gros-Glogau (Riez bei Beeskow, recte Lpz. 1798) u. Cuculus Indicator (Glogau 1801) ein; gemünzt waren diese anonymen Spottschriften auf die Gräfin von Lichtenau, Mätresse König Friedrich Wilhelms II., die nach dem Tod des Königs 1798 verbannt wurde. B. gehörte zur politisch-literar. Opposition in Preußen u. zu der in sich heterogenen Gruppe der sog. »Franzosenfreunde« um Friedrich von Coelln, die für kulturelle Erneuerung, polit. Reformen u. ein Friedensbündnis mit Frankreich eintraten. In diesem Sinne u. mit deutlicher Sympathie für Napoleon verfasste B. seine tagespolit.

Benn

Schriften Hat Preußen in dem Kriege am Ende des Jahres 1805 weise gehandelt? (Lpz. 1806) u. Geschichte des Angriffs, der Blockierung und Uebergabe von Glogau (zuerst 1807 in Coellns »Neuen Feuerbränden«. Separat Lpz. 1807). Eine eingehende wiss. Erforschung von B.’ Leben u. Werk fehlt. Weitere Werke: Lebensscenen aus der Vor- u. Nachwelt. Halle 1790 (E.). – Natalis oder die Schreckensscene auf dem St. Gotthardt. Lpz. 1801. 2 1833 (R.). – Savonarola, der Märtyrer in Florenz. Lpz. 1801. – Abadonna, ein Buch für Leidende. 2 Tle., Glogau 1804 (E.). – Der teutsche Donquixote oder einer der Zwölf. Palästina 5755, recte Glogau 1806. Wolfgang Griep / Red.

Benn, Gottfried, * 2.5.1886 Mansfeld/ Kreis Westprignitz, † 7.7.1956 Berlin; Grabstätte: ebd., Waldfriedhof. – Arzt u. Dichter. Der Sohn eines protestant. Pfarrers u. einer Welschschweizerin (Caroline, geb. Jequier), zweites von acht Kindern, verbrachte Kindheit u. Jugend in Sellin in der Neumark (heute Polen). Er machte Abitur am humanist. Friedrichs-Gymnasium in Frankfurt/O. (1903) u. studierte auf Wunsch des Vaters zunächst Theologie u. Philosophie: zwei Semester in Marburg, dann in Berlin (1904). Für den Vater waren finanzielle Erwägungen ausschlaggebend, wenn er dem Sohn nicht das lange u. kostspielige Medizinstudium gestatten wollte. Im Okt. 1905 gelang es B., in die Kaiser-Wilhelm-Akademie für das militärärztl. Bildungswesen in Berlin (sog. Pépinière) aufgenommen zu werden. Die Bedeutung dieser strengen, aber auch vielseitigen Ausbildung für seine geistige Entwicklung hat B. später betont: »Härte des Gedankens, Verantwortung im Urteil, Sicherheit im Unterscheiden von Zufälligem und Gesetzlichem, vor allem aber die tiefe Skepsis, die Stil schafft, das wuchs hier« (GW 4, 28). Seine aktive Dienstzeit (1.4. bis 30.9.1906) leistete er beim 2. Garderegiment zu Fuß ab; nach dem Physikum (Ostern 1908) arbeitete er vom 1.10.1910 bis 1.10.1911 als Unterarzt in der Berliner Charité, vermutlich in der Psychiatrie. Für seine Bearbeitung des Themas Die Ätiologie der Pubertätsepilepsie, das von

442

der medizin. Fakultät der Universität Berlin als Preisaufgabe gestellt worden war, bekam B. 1911 die Goldene Medaille, 1912 promovierte er mit der Dissertation Über die Häufigkeit des Diabetes mellitus im Heer zum Dr. med. Zuerst wurde er aktiver Militärarzt, konnte jedoch wegen eines Gesundheitsfehlers (Wanderniere) seinen Abschied nehmen. In den folgenden Jahren war er als Assistenzarzt an Berliner Kliniken tätig u. führte annähernd 300 Sektionen aus. 1914 fuhr er als Schiffsarzt in die USA. Am 1. Aug. 1914, dem ersten Tag der allg. Mobilmachung, heiratete er Edith Osterloh. Sein einziges Kind, die Tochter Nele, geb. am 8.9.1915, stammt aus dieser Verbindung. B. nahm an der Erstürmung Antwerpens teil u. erhielt das Eiserne Kreuz 2. Klasse. Im Okt. 1914 wurde er als Oberarzt an das Militärgouvernement nach Brüssel versetzt: »Ich war Arzt an einem Prostituiertenkrankenhaus, ein ganz isolierter Posten, lebte in einem konfiszierten Haus, elf Zimmer, allein mit meinem Burschen, hatte wenig Dienst, durfte in Zivil gehen, war mit nichts behaftet, hing an keinem, verstand die Sprache kaum; strich durch die Straßen, fremdes Volk; eigentümlicher Frühling, drei Monate ganz ohne Vergleich, [...] ich lebte am Rande, wo das Dasein fällt und das Ich beginnt. Ich denke oft an diese Wochen zurück; sie waren das Leben, sie werden nicht wiederkommen, alles andere war Bruch« – so hat B. 1921 rückblickend diese Zeit geschildert u. gefeiert (GW 4, 7 f.). Im Herbst 1917 ließ er sich als Facharzt für Haut- u. Geschlechtskrankheiten in Berlin, Belle-Alliance-Straße 12, nieder. Das Studium der Naturwissenschaften, die militär. Disziplin u. Haltung, dazu die Erfahrung des Krieges u. das Elend in Kreiß- u. Seziersaal: Damit ist das biogr. Material des expressionist. Dichters B. benannt, der 1912 mit einem Flugblatt von neun Gedichten, das u. d. T. Morgue bei Alfred Richard Meyer in Berlin erschien, bekannt wurde. In unregelmäßigen, meist reimlosen Versen werden Szenen aus dem Alltag des Krankenhausarztes ins Bild gebracht. Wenn die Germanistik die Gedichte als »grausige Sektionsbefunde« (Buddecke, Killy u. a.) beschreibt, dann wiederholt sie ein Klischee.

443

Allenfalls ließe sich sagen, dass selbst die Sprache von Obduktionsberichten gelegentlich auf Metaphern zurückgreifen muss. Das Leben erscheint in seiner Negativität, ist gezeichnet von Sinnleere u. Gottverlassenheit. Bedingungslose Skepsis herrscht hinsichtlich der traditionellen Sinnfrage (»Die Krone der Schöpfung, das Schwein, der Mensch«. Aus: Der Arzt. GW 3, 12). Diese Haltung ist der Ausdruck einer wütenden Verzweiflung über die Hoffnungslosigkeit menschlicher Existenz. Hinter B.s Bildern steht »ein starkes mitleidendes Gefühl, eine fast weibliche Empfindsamkeit und eine verzweifelte Auflehnung gegen die Tragik des Lebens und die ungeheure Gefühllosigkeit der Natur«, wie Ernst Stadler 1912 anerkennend schrieb (In: Peter Uwe Hohendahl: G. B. – Wirkung wider Willen. Ffm. 1971, S. 96). Dem Bildungsbürgertum, das sich Elend u. Tod am liebsten in Form einer schönen Leichenpredigt oder eines monumentalen Grabsteins nähert, waren diese lyr. Stenogramme aus Krebsbaracke u. Leichenschauhaus ein Stein des Anstoßes. »Welch eine zügellose, von jeglicher Herrschaft geistiger Sauberkeit bare Phantasie entblößt sich da«, zeterte die »Augsburger Abendzeitung« (Hohendahl a. a. O., S. 26). In dieser expressionist. Dichtung wird der Einfluss von Else Lasker-Schüler deutlich. Ob B. mit der Dichterin 1912/13 ein Liebesverhältnis hatte, ist ungeklärt. Er widmete ihr seine zweite Gedichtsammlung Söhne. Neue Gedichte (Bln.-Wilmersdorf 1913). Die ins Surreal-Visionäre gesteigerte Sprache u. Bildlichkeit dieser neuen Gedichte nimmt thematisch das Vater-Sohn-Problem auf, das dann oft in expressionistischer Dichtung begegnet. Der Hass gegen die verachtete Generation der Väter u. der Ausbruch eines bis ins Prometheische gesteigerten Ich-Gefühls der neuen Generation der Söhne (Schnellzug) verbinden sich mit der radikalen Absage an die Dichtung der Impressionisten u. Symbolisten. Eine Reihe von Prosa-Dichtungen treten seit 1914 neben die Lyrik u. werden für einige Jahre zum eigentl. Feld von B.s schriftstellerischer Produktion. 1913 erschien im »Sturm« die Skizze Nocturno, Ausdruck tiefer Verzweiflung über die eigene, unaufhebbare

Benn

Einsamkeit, die mit dem Glück eines sich liebenden Paares konfrontiert wird. Die ebenfalls 1913 in der »Aktion« erschienene Skizze Heinrich Mann. Ein Untergang thematisiert den imaginären Ausbruch aus der quälenden rationalen Bewusstseinswelt des Nordens in ein südliches, sinnlich-vitales Lebensglück. Die bedeutendste Leistung seiner Brüsseler Zeit sind die »Rönne-Novellen« (Gehirne, schon Juli 1914 verfasst. Die Eroberung. Die Reise. Die Insel. Der Geburtstag), die seit 1916 gesammelt u. d. T. Gehirne. Novellen in der von Franz Werfel in Leipzig herausgegebenen Reihe »Der jüngste Tag« veröffentlicht wurden. Der Arzt Dr. Werf Rönne ist die Zentralgestalt dieser Erzählungen, mit denen B. seine durch Carl Einsteins Roman Bebuquin (1912) u. Georg Heyms Novellenbuch Der Dieb (1913) beeinflusste Vorstellung einer absoluten Prosa verwirklichte. Für Rönne scheint Handeln ohne Zusammenhang, die Persönlichkeit löst sich im Sinne von angepassten Verhaltensabläufen auf (»Was soll man denn zu einem Geschehen sagen? Geschähe es nicht so, geschähe es ein wenig anders. Leer würde die Stelle nicht bleiben.« GW 2, 17). In dem Maße, in dem Rönne aus der gewohnten Umgebung herausfällt, steigen Visionen einer archaischen Urwelt in ihm auf; er erlebt traumhafte Entrückungen, der Ichzerfall wird zur ekstat. Regression. Am Ende der Novellen stehen Wendungen wie »Zerstäubungen der Stirne«, »Entschweifungen der Schläfe« (Gehirne), »das schweifende Vergehen« (Die Eroberung), »manchmal rauscht es: wenn du zerbrochen bist« (Der Geburtstag). Sieht man die »Rönne-Novellen« von der Situation ihrer Entstehung aus, so lassen sie sich als Protest gegen den Krieg verstehen. Die verinnerlichten Zwänge, die die Voraussetzungen für den funktionierenden Soldaten sind, werden aufgelöst. Neben den »Rönne-Novellen« entstehen eine Reihe von dramat. Szenen. In Die Etappe (Bln. 1919) setzt B. seine Kritik an der Kriegsmaschinerie fort u. entlarvt in burlesksatir. Szenen die hinter der Kriegsfront in der Militärregierung herrschende Korruption. In Der Vermessungsdirigent (Bln. 1919) nimmt er das surrealist. Drama der Moderne vorweg u.

Benn

zerstört das bisher geltende Persönlichkeitsideal u. Menschenbild. Im Berlin der 1920er Jahre, »aufblühend, halb Chicago und halb Paris«, führte B. dann seine einsame Junggesellenexistenz. (Seine Frau starb 1921.) Freundschaften mit dem Verleger Erich Reiss, mit George Grosz, Alfred Flechtheim, Tilly Wedekind, Heinz u. Änne Ullstein prägten die Jahre bis 1933. Im Aug. 1928 starb Klabund. B. hielt dem Freund die Totenrede. Aus der radikalen avantgardist. Erneuerung des Vokabulars in der Lyrik ist zum Ende der 1920er Jahre ein eher sanfter Ton geworden, das Vokabular traditionell. B. litt an Depressionen, »körperlich und seelisch äußerst apathisch und abgekämpft, von geradezu krankhafter Menschen- Unterhaltungs- und Eindrucksflucht« (an Gertrud Zenzes, 4.9.1926). Die Praxis ging schlecht, er bewarb sich vergeblich um eine Stelle als Stadtarzt. Gleichzeitig gewann er an literarischer Geltung im Berliner Geistesleben, seit 1927 seine Gesammelten Gedichte (Bln.) u. 1928 seine Gesammelte Prosa (Bln.) erschienen waren. Literarische Diskussionen u. Polemiken entzündeten sich an seinem Werk. Eine positive Besprechung von B.s Prosa durch Max Herrmann-Neiße in »Die neue Bücherschau« 1929 nahmen Johannes R. Becher u. Egon Erwin Kisch zum Anlass, B. zu beschimpfen u. ihm vorzuwerfen, aus jeder Zeile seiner Prosa stänke »widerliche Aristokratie«. In seiner Replik Über die Rolle des Schriftstellers in dieser Zeit (GW 4, 205–212) lehnte B. die Forderung nach sozialistischem Engagement schroff ab u. setzte seinen tragisch-heroischen Geschichtspessimismus dagegen. Seit 1930 arbeitete er mit dem Komponisten Paul Hindemith zusammen u. schrieb den Text für ein Oratorium (Das Unaufhörliche. Mainz 1931), das am 21. Nov. 1931 unter Otto Klemperer in der Berliner Philharmonie uraufgeführt wurde. 1932 wurde er in die Sektion Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste gewählt, eine Ehrung, die ihm sehr viel bedeutete. Der Aufsatz Goethe und die Naturwissenschaften erschien in der Zeitschrift »Die Neue Rundschau« im April 1932. Auf die Drohung des kommissarischen Leiters des Preußischen Kultusministeriums, Bernhard Rust, er werde

444

die Sektion schließen, wenn Heinrich Mann nicht zurücktrete, zog sich dieser am 15. Febr., gegen den Willen von Döblin, Loerke u. Fulda, zurück. B. entwarf einen Revers, der die »öffentliche politische Betätigung [der Akademiemitglieder] gegen die Regierung« ausschloss. Döblin bejahte die Loyalitätserklärung, stellte dann aber als Jude seinen Sitz zur Verfügung. Auch Thomas Mann »hatte nicht im Geringsten die Absicht, gegen die Regierung zu wirken«, wolle aber von nun an »in vollkommener Zurückgezogenheit seinen persönlichen Aufgaben leben«. In der Rundfunkrede Der neue Staat und die Intellektuellen (Berliner Rundfunk 24.4.1933) verkündigt B. das Ende der liberalen Ära; die Geistesfreiheit sei aufzugeben »für den neuen Staat«. Dabei trat B. für einen autoritären Staat ein, in dem er eine geschichtl. Notwendigkeit sah, u. er orientierte sich bei seiner Überlegung an dem Phänomen, dass »sich vor unseren Augen überall autoritäre Staaten bilden«. Er dachte an die Türkei, an Italien, Spanien, Polen oder Ungarn u. deutete diesen Sachverhalt als eine »vorwärtsgerichtete, ordnende, positive, die moderne Staatstendenz«. Man könne sie mit Ernst Jünger Der Arbeiter nennen oder auch nationalen Sozialismus: Sie habe das Ziel, den unfruchtbar gewordenen Gegensatz von Kapital u. Arbeit in eine »höhere Gemeinsamkeit« aufzulösen. Einen werbenden u. zgl. krit. Brief Klaus Manns aus der Emigration erwidert B. mit einer Rundfunkrede Antwort an die literarischen Emigranten (Berliner Rundfunk Mai 1933): Es gebe jetzt »eine neue Vision von der Geburt des Menschen«. Der neue Mensch strebe zum Absoluten; das ökonom. Kollektiv sei durch das myth. Kollektiv ersetzt worden. B. dachte nicht an einen Staat, der durch eine verbrecherische Parteienclique regiert wurde. Die Desillusionierung setzte bereits im April/Mai 1933 ein; es war klar geworden, dass er falsche Hoffnungen auf die polit. Praxis der neuen Regierung gesetzt hatte. Der Judenboykott am 1. April, dazu die »Aktion wider den undeutschen Geist« mit den Bücherverbrennungen durch den dt. Studentenbund vom 10. Mai unterstrichen seine Fehleinschätzung. Im Juni 1933 war die Gleichschaltung der Abteilung Dichtkunst

445

der Akademie abgeschlossen, Hanns Johst wurde neuer Präsident der Abteilung. Börries von Münchhausen unterzog die expressionist. Generation einer vernichtenden Kritik, u. B. musste sich verteidigen, wobei er mit seinem Aufsatz Bekenntnis zum Expressionismus (in: »Deutsche Zukunft«, 5.11.1933) u. der Rede auf Marinetti (in: »Deutsche Allgemeine Zeitung«, 30.3.1934) in Opposition zu den reaktionär-provinziellen Kunstidealen Rosenbergs geriet. Um die Praxis zu halten, sah er sich gezwungen, an Schulungen des NSÄrztebundes teilzunehmen, da er im Geruch stand, Jude zu sein. B. entschloss sich, alle Berliner Verbindungen zu lösen u. in die Armee zurückzukehren: »Raus aus allem; und die R.[eichs] W.[ehr] ist die aristokratische Form der Emigrierung!« (an Oelze, 18.11.1934). Ab 1.4.1935 arbeitete er als Oberstabsarzt (Majorsrang) bei der Heeressanitätsinspektion in Hannover. Aber er litt unter den langweiligen u. anstrengenden Arbeitsbedingungen. Zum 2. Mai 1936, seinem 50. Geburtstag, erschien der Band Ausgewählte Gedichte in der Deutschen Verlagsanstalt (Stgt.), der am 7. Mai in der SS-Wochenzeitung »Das schwarze Korps« als »Ferkelei« u. »widerliche Schweinerei« denunziert wurde. Einige Gedichte mussten in der zweiten Auflage, die Ende des Jahres herauskam, getilgt werden (Mann und Frau gehen durch die Krebsbaracke; D-Zug). In der Hannoverschen Zeit war B. trotz innerer u. äußerer Schwierigkeiten produktiv u. legte mit Gedichten, die auf der Terrasse der Hannoverschen Stadthalle entstanden (Tag, der den Sommer endet; Die weißen Segel; Astern; Am Saum des nordischen Meers), den Grund zu der späten Sammlung Statische Gedichte (Zürich 1948). In elegischem Ton beschäftigt sich diese Lyrik mit dem Hauptthema jener Zeit, dem Verhältnis von Kunst u. Wirklichkeit. Kunstwerke sind ihrem Wesen nach »statische Gebilde«, die den Wechsel der Zeiten u. aller geschichtl. Veränderungen überdauern. B. empfand diese Gedichte als durchaus modern; ihm lag daran, »neue Themen, neue Wirklichkeiten in die fade deutsche Lyrik zu bringen, fort von Stimmungen u. Sentiments zu Gegenständen« (an Oelze, 18.1.1945). Dabei sind die Mehrzahl

Benn

der Gedichte durchaus mit der Situation des Autors zur Zeit ihrer Entstehung verbunden: die Unterdrückung der Kunst, das Publikationsverbot durch Ausschluss aus der Reischsschrifttumskammer (1938) u., daraus folgend, die Isolation. Seit 1936 arbeitete er an einer Prosaarbeit, die in dem ausgedehnten Briefwechsel mit Friedrich Wilhelm Oelze aus Bremen vorgedacht u. vorformuliert worden war: Weinhaus Wolf (Wiesb. 1949), benannt nach einem von ihm bevorzugten Restaurant, leitet die Spätphase der absoluten Prosa ein u. eröffnet thematisch die bis 1945 weitergehende Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus u. dem dt. Spießer: »Dann hörte ich auch ihre Lieder – ja die Linde ist ihr Baum: süß, innig und man kann Tee daraus kochen« (GW 2, 142). Im Milieu des Weinrestaurants entfaltet sich der innere Monolog des fiktiven Erzählers, der eine Überprüfung der »Grundfragen der menschlichen Existenz« u. der »geistigen Lage der weißen Völker« in der aktuellen Zeitsituation anstellt. Die Geschichtswelt wird mit Hohn überschüttet u. in ihrer völligen Sinnlosigkeit enthüllt, die Gegensätze von Leben u. Geist, Natur u. Kunst werden zu unversöhnl. Antinomien. 1937 ließ sich B. nach Berlin versetzen. Als Oberstabsarzt hatte er beim III. Armeekorps, Abteilung Versorgung, Wehrdienstschäden zu begutachten. Im Jan. 1938 heiratete er Herta von Wedemeyer u. zog in die Wohnung Bozener Straße 20, Parterre, ein, die er bis zu seinem Tod behielt. Im Sept. 1943 wurde er nach Landsberg/Warthe versetzt, hier entstanden Kapitel seiner Autobiografie Doppelleben (Wiesb. 1950). In dem Kapitel Block II, Zimmer 66 (1944) u. in Briefen hat B. sehr eindringlich das Leben geschildert, das er in der General-von-Strantz-Kaserne mit seiner Frau, die als Stenotypistin arbeitete, führte. Dort entstanden weitere Gedichte u. eine Reihe von bedeutenden Essays, die er in dem Band Ausdruckswelt (Wiesb. 1949) veröffentlichte. In der Nacht des 28. Jan. 1945 desertierte B. nach Küstrin, im offenen Viehwagen erreichte er Berlin. Kurz vor dem Großangriff der Roten Armee am 5. April 1945 evakuierte er seine Frau nach Neuhaus/Elbe, die sich dort, nachdem jede Verbindung zwischen

Benrath

446

ihnen abgerissen war, am 2. Juli 1945 mit seinem Todestag war er für den Kunstpreis einer Überdosis Morphium das Leben nahm. des Landes Nordrhein-Westfalen vorgeschlaAls seine Tochter Nele ihn im Frühjahr 1946 gen worden, den er postum am 16. Juli 1956 in Berlin besuchte, fand sie den Vater durch erhielt. Hunger u. Kälte äußerlich völlig verändert. Ausgaben: Ges. Werke in 4 Bdn. Hg. Dieter Im Dez. 1946 entschloss B. sich zu seiner Wellershoff. Wiesb. 1959–61. – Ges. Werke in der dritten Ehe u. heiratete die eine Generation Fassung der Erstdr.e. Hg. Bruno Hillebrand. 4 jüngere Dr. Ilse Kaul (1913–1995), die ihre Bde., Ffm. 1982 ff. – Sämtl. Werke. In Verb. mit Ilse zahnärztl. Praxis weiterführte. Eine Veröf- Benn. Hg. Gerhard Schuster. Bd. 1–5, Stgt. 1986 ff. fentlichung der Gedichte u. Essays kam zu- Bd. 6 u. 7 hg. v. Holger Hof. Stgt. 2001 ff. – Briefe: Ausgew. Briefe. Mit einem Nachw. v. Max Rychner. nächst nicht in Frage. In Berlin, wo der unter Wiesb. 1957. – Den Traum alleine tragen. Neue der Leitung Johannes R. Bechers stehende Texte, Briefe, Dokumente. Wiesb. 1966. – Briefe an kommunist. Kulturbund das geistige Leben Friedrich Wilhelm Oelze 1932–56. 3 Bde., Ffm. beherrschte, sah er sich neuen Angriffen 1979–82. – Briefe an Tilly Wedekind 1930–55. Stgt. ausgesetzt u. stand auf der Liste uner- 1986. – Briefe an Elinor Büller 1930–37. Stgt. 1992. wünschter Schriftsteller. In Süddeutschland – Briefe an den Limes Verlag 1949–56. Stgt. 2006. stellte sich Alfred Döblin, der als LiteraturLiteratur: Bibliografien: Edgar Lohner: G. B. inspekteur der frz. Militärregierung in Ba- Bibliogr. 1912–56. Wiesb. Neu bearb. u. erg. v. den-Baden tätig war, gegen B. Als aber 1948 Timm Zenner. Morsum/Sylt 1985. – Christian M. die Statischen Gedichte im Schweizer Verlag Die Hanna: G. B. Bibliogr. Sekundärlit. 1957–2003. Arche (Zürich) erschienen u. die amerikan. Bln./New York 2006. – Weitere Titel: Thilo Koch: G. Zensur den Druck der Drei alten Männer B. Ein biogr. Ess. Mchn. 1957. – Dieter Wellershoff: G. B. Phänotyp dieser Stunde. Köln 1958. – Edgar (Wiesb.) im Dez. 1948 nicht beanstandete, Lohner: Passion u. Intellekt. Die Lyrik G. B.s. war der Erfolg nicht mehr aufzuhalten. Der Neuwied 1961. – Friedrich Wilhelm Wodtke: G. B. Verleger Max Niedermayer war entschlossen, Stgt. 1962. 2. überarb. u. erg. Aufl. 1970. – Walter B. auf dem Markt durchzusetzen: So er- Lennig: G. B. in Selbstzeugnissen u. Dokumenten. schienen im Limes Verlag in Wiesbaden im Reinb. 1962. – Harald Steinhagen: Die stat. GeFebr. 1949 Der Ptolemäer, im März die Li- dichte v. G. B. Stgt. 1969. – Hanspeter Brode: B.zenzauflage der Statischen Gedichte, im Juni Chronik. Mchn. 1978. – Joachim Vahland: G. B. – Ausdruckswelt u. im Okt. der Gedichtband Der unversöhnte Widerspruch. Heidelb. 1979. – Trunkene Flut. Dieser literar. Präsenz konnte Gottfried Willems: Großstadt u. Bewußtseinspoedie Kritik nicht mit Schweigen begegnen: sie. Tüb. 1981. – Hans Egon Holthusen: G. B., Leben. Werk. Widerspruch 1886–1922. Stgt. 1986. – Binnen Kurzem füllten die Rezensenten der Fritz J. Raddatz: G. B. Mchn. 2003. – Joachim Dyck: jungen Generation, die das literar. Leben der Der Zeitzeuge. G. B. 1929–49. Gött. 2006. – WolfBundesrepublik Deutschland weitgehend gang Emmerich: G. B. Reinb. 2006. – Helmut Lebeherrschten (Kreuder, Bense, Hohoff, Holt- then: Der Sound der Väter. G. B. u. seine Zeit. Bln. husen), die Zeitungen mit ihrem Lob. 2006. – Christian Schärf: Der Unberührbare: G. B. – Während B. sein Leben als praktizierender Dichter im 20. Jh. Bielef. 2006. – Walter Delabar u. Arzt in Berlin fortsetzte, dauerte der neue Ursula Kocher: G. B. Studien zum Werk. Bielef. schöpferische Impuls an, sodass in der Zeit 2007. – G. B. Sein Leben in Bildern u. Texten. Zuvon 1951 bis 1955 drei neue Gedichtsamm- sammengestellt v. Holger Hof. Stgt. 2007. Joachim Dyck lungen (Fragmente. Destillationen. Aprèslude. Wiesb. 1951. 1953. 1955) u. neue Essays u. Vorträge erscheinen konnten. Die erste öfBenrath, Henry, eigentl.: Albert Heinrich fentl. Ehrung erfolgte mit der Verleihung des Rausch, * 5.5.1882 Friedberg/Hessen, Büchner-Preises durch die Deutsche Akade† 11.10.1949 Magreglio/Comer See, – Lymie für Sprache und Dichtung 1951, die riker, Erzähler u. Biograf. letzte mit der Feier seines 70. Geburtstags in Berlin. Die zahlreichen Zeitungsartikel, Der Sohn eines Großkaufmanns studierte in Rundfunksendungen u. Aufsätze zeigen, dass Gießen u. Paris, Berlin u. Genf deutsche u. B. den Gipfel seines Ruhms erreicht hatte: An romanische Philologie u. Geschichte. Finan-

447

Bense

Weitere Werke: Flutungen. Bln. 1910 (E.). – zielle Unabhängigkeit erlaubte B. lange Aufenthalte in Frankreich u. Italien; seit 1940 Das Buch der Trauer. Gedichte 1902–07. Ffm. 1911. – Südl. Reise. Stgt. 1914 (Ess.). – Kassiopeia. lebte er am Comer See. B.s literar. Produktion begann mit Lyrik u. Bln. 1919 (L.). – Ephebische Trilogie. Bln. 1924 (E.). – Stefan George – Evocation d’un poète par un esoterischer Prosa, die von der strengen poète. Paris 1936 (Ess.). – Paris. Novellen. Zürich Formkunst Platens beeinflusst waren u. seine 1939. – Erinnerung an Frauen. Zürich 1940 (E.). – Verbindung zum Kreis um Stefan George Der Gong. Stgt. 1949 (L.). – Unendlichkeit. Stgt. zeigen. Er versuchte darin, eine geistige 1949 (Ess.). – Stoa. Stgt. 1949 (L.). – Die Geschenke Synthese zu finden zwischen Griechentum u. der Liebe. Stgt. 1952 (E.). – Die Welt der Rose. Hbg. indischer Weisheit, Apollon u. Buddha. Seit 1954 (Ess.). 1932 schrieb Albert Rausch unter dem Literatur: Rolf Italiaander (Hg.): H. B. in mePseudonym B., denn seine Person sollte hin- moriam. Stgt. 1954. – Siegfried Hagen: H. B. Der ter dem Werk zurücktreten. Damit verän- Dichter u. sein Werk. Bonn 1978. – Paolo Cerruto: derten sich auch seine Themen. 1932 u. 1933 Albert H. Rausch (H. B.) u. die Ereignisse im Herbst erschienen die zeitkrit. Romane Ball auf Schloß 1944 in Magreglio. Offizielle Gedenkrede. In: Geschichtsblätter 39 (1990), Kobolnow u. Die Mutter der Weisheit (beide Wetterauer S. 285–290. – Olaf Schulze: ›...gern will ich miStgt.), in denen B. biogr. Erfahrungen mit schen meine Tränen den deinen, o Bruder!‹ Zur heiterem Witz u. leiser Nostalgie zu Gesell- Platen-Rezeption bei Albert H. Rausch. In: Forum schaftsschilderungen aus dem untergehen- Homosexualität u. Lit. (1993), H. 18, S. 65–88. – den preuß. Adel u. dem rhein. Bürgertum Gerhard Kurz: Träume vom abendländ. Reich. H. seiner Jugendtage gestaltete. 1934 begann B.s Kaiserinnenromane u. das Dritte Reich. In: Limit der Biografie Die Kaiserin Konstanze (Stgt. terar. Leben in Oberhessen. Hg. Gerhard R. Kaiser Neudr. 1986) die Reihe seiner histor. Bild- u. ders. Gießen 1993, S. 206–230. – Karl Josef nisse. B. schöpfte aus einer umfassenden Müller: Aristokrat. Geist im Nationalsozialismus. bürgerlich-akadem. Bildung, befasste sich H. B.s Kaiserinnenromane. Hg. v. der Forschungsintensiv mit geschichtl. Quellenstudien zu stelle Literar. Kultur in Oberhessen. Fernwald 1994. – Wolfgang Popp: Der Dichter u. seine Geseinem jeweiligen Thema u. wurde damit zu meinde. Platen in literar. Texten seiner Verehrer: einem Protagonisten der belletrist. Verarbei- Hans v. Hülsen, Albert H. Rausch, Hubert Fichte. tung von Geschichte, in der das reale Thema In: Forum Homosexualität u. Lit. 1996, H. 27, der Darstellung einer zeitlosen Wirklichkeit S. 105–119. – Albert H. Rausch – H. B.: ein verin Personen u. Ideen diente. Dabei beschäf- gessener Dichter? Mit Beiträgen v. Christian Harttigten ihn bes. die Verknüpfung von Antike u. meier u. a. Friedberg 2002 (mit ForschungsByzanz zur Entwicklung des Abendlandes u. bibliogr.). Hans Peter Bleuel / Wilhelm Kühlmann außergewöhnl. Frauengestalten des MA. Die Konstanze-Biografie ergänzten Die Kaiserin Bense, Max, * 7.2.1910 Straßburg, † 29.4. Galla Placidia (Stgt. 1937) u. Die Kaiserin Theo1990 Stuttgart. – Mathematiker, Physiphano (Stgt. 1940) zur Trilogie. Mit diesen ker; Philosoph, Literaturtheoretiker u. Titeln war B. bes. erfolgreich. 1951 folgte Schriftsteller. neben zahlreichen postumen Veröffentlichungen, die vom strengen Fleiß des Autors Nach dem Studium der Mathematik, Physik während der nationalsozialist. Zeit in seinem u. Philosophie in Bonn, Köln u. Basel arbeiital. Refugium zeugen, noch die Biografie Der tete B. zwei Jahre als Physiker in der Industrie Kaiser Otto III. (Stgt. 1951). 1932 erhielt B. den u. wurde 1946 a. o. Professor u. Kurator der Georg-Büchner-Preis. Universität Jena. Seit 1949 lebte B. in StuttDie Forschung hat sich neuerdings intensiv gart u. hatte an der dortigen Technischen mit den literar. Reflexen von B.s homosexu- Hochschule/Universität bis 1976 den Lehrellen Neigungen u. mit seinem ambivalenten stuhl für Philosophie der Technik, WissenVerhältnis zum Nationalsozialismus beschäf- schaftstheorie u. mathemat. Logik inne. tigt. Bereits in den 1930er u. 1940er Jahren legte B. zahlreiche Veröffentlichungen u. a. zu Hegel, Kierkegaard u. Klages, aber auch zur

Bense

Mathematik vor. Größere Beachtung fand er indessen erst in den 1950er Jahren, in denen er sich mehr der Literatur zuwandte u. als Vertreter avantgardistisch-experimenteller Konzepte auftrat. Ausgangspunkt seiner Bestrebungen, die an den Futurismus u. Dadaismus anknüpften u. im Kontext der Konkreten Poesie zu sehen sind, war die Kritik an der konventionellen Verwendung der Sprache. Ihr Ausdrucksvermögen sollte untersucht u. gesteigert werden, indem sie in ungewöhnl. Verwendungszusammenhängen neue überraschende Einsichten ermöglichte u. dadurch die Hör-, Seh- u. Denkgewohnheiten veränderte. Es ging nicht nur um eine neue Weise zu sprechen, sondern um eine neue Orientierung in der Welt mithilfe der neu wahrgenommenen Sprache. Denn »der Kontakt mit der Welt besteht in den Aussagen über die Welt, und Aussagen über die Welt sind Aussagen über Prädikate, die einem Objekt zukommen« (Existenzmitteilung aus San Franzisco. In: nur glas ist wie glas. Bln. 1970. Werbetexte). B. lieferte der Nachkriegsavantgarde theoretisches Rüstzeug, indem er einen Textbegriff definierte, der alles umfasste, was man »aus Worten machen kann« (Rez. des Textbuches 2 von Helmut Heißenbüttel. In: Augenblick 3/4, 1961, S. 103). Experimentelle Literatur bedeutet für ihn »eine planmäßige, grundsätzlich wiederholbare Reflexion über Sprachvorgänge unter künstlich hergestellten, möglichst veränderbaren Bedingungen.« (Helga u. Siegfried Maser: Informationsästhetische Analyse von B.s ›zerstörung des durstes durch wasser‹. In: muster möglicher welten. eine anthologie für m. b. Hg. Elisabeth Walther u. Ludwig Harig. Wiesb. 1970). Ziel B.s ist die Erkenntnis der Regelmäßigkeiten u. Gesetzmäßigkeiten der Sprache u. des menschl. Bewusstseins. B. definierte Literatur auf ihre materiale Ausdehnung hin u. stellte die literar. Produkte denen der Werbung, der Wissenschaft u. der Computer gleich. Er wandte sich gegen die Interpretationsmethoden der seiner Ansicht nach unzulänglichen, in ihrer Betonung der inhaltl. Bedeutung der Texte ideologisierenden Literaturwissenschaft. Er forderte eine »Tieferlegung der Fundamente« u. lehnte die historisierenden u. spekulativen

448

Methoden der Hermeneutik ab, denn: »Texttheorie deutet nicht, sondern stellt fest« (Rez. des Textbuches 2 von Heißenbüttel, s. o.). Seiner Ansicht nach sollte Literaturtheorie »in der methodischen Anwendung von Theorien nicht-literarischen Ursprungs« bestehen (in: aesthetica 4, Stgt./Baden-Baden 1954–60, S. 57), denn sinnvolle Aussagen über Texte ließen sich z.B. vor allem zur statistisch feststellbaren Verteilung von Häufigkeiten beliebiger Textkonstituenten machen. Daher betrieb B. die Untersuchung der Texte unter naturwiss. Erkenntniskriterien u. versuchte das Textmaterial Operationen mit »festen« Theorien zugänglich zu machen. In diesem Zusammenhang wurde B.s aus der Kybernetik abgeleiteter Informationsbegriff wichtig: »Information« bedeutet hier nicht den sachl. Gehalt einer Nachricht (wie im alltägl. Wortgebrauch), sondern die Menge ihrer Elemente. Daraus ergab sich einerseits ein Klassifikationsschema für Texte, die in semantische u. nichtsemantische, konstruktive u. automatische, prädikative u. mechanische, logistische u. stochastische, abstrakte u. konkrete, determinierte u. randomisierte, hoch- u. niederentropische, reduzierte u. komplette, offene u. geschlossene Texte eingeteilt werden konnten (Modelle. Cannstatt 1961). Andererseits konnten im Rahmen dieser mathematisierten Ästhetik Qualitäten des Textes je nach der Unwahrscheinlichkeit seines Zustandekommens bestimmt werden: Je größer die Zahl der Möglichkeiten, aus denen Textinformationen ausgewählt werden konnten, desto überraschender u. innovativer ist die einzelne Information. »Innovation« (bei originalen, interessanten Texten) bzw. »Redundanz« (bei konventionellen Texten) wurden so zu Kriterien einer »eher technologischen als metaphysischen Ästhetik« (Theorie der Texte. Köln 1962, S. 39). Vom heutigen Standpunkt aus erscheint B.s Literaturtheorie als typisch für die Abkehr von jeglicher Ideologie in den 1950er Jahren. Ihre Orientierung an der Technologie spiegelt aber auch in gewisser Weise die technikfreundliche u. optimist. Haltung jener

449

Zeit wider. Mit dem gleichzeitig in Deutschland rezipierten angelsächs. Formalismus u. dem frz. Strukturalismus hat sie die Ablehnung aller nicht unmittelbar überprüfbaren, spekulativen Aussagen gemeinsam, zumal sich auch in diesen Literaturtheorien statist. Verfahren finden. Zgl. weist B.s Ansatz auf spätere Entwicklungen hin, wie etwa die Erweiterung des Literaturbegriffs in den 1960er Jahren sowie die Theorie von der Appellstruktur der Texte (Wolfgang Iser 1970, Hans Robert Jauß 1970). Als Konkretion seiner Texttheorie, d.h. in B.s Verständnis die Überführung analytischer in synthet. Ästhetik, sind v. a. seine Bücher Bestandteile des Vorüber (Köln 1961) u. Entwurf einer Rheinlandschaft (Köln 1962) zu sehen. B. betonte die materiale Produktion seiner eigenen Texte u. ihren Charakter eines Musters für eine mögl. Welt. Eine künstlich entworfene Realität ist seiner Ansicht nach möglich, weil sie gewünscht u. gemacht wird. Mit diesen Gedanken nähert er sich der gesellschaftl. Utopie Blochs. B. hat namhafte Vertreter der Konkreten Poesie durch die Auseinandersetzung mit ihrem Werk u. in praktischer experimentierender Zusammenarbeit wesentlich gefördert, so die Vertreter der Stuttgarter Schule, Helmut Heißenbüttel, Ludwig Harig u. Reinhard Döhl, aber auch Eugen Gomringer u. Franz Mon. Weitere Werke: Raum u. Ich. Bln. 1934. – Konturen einer Geistesgesch. der Mathematik. 2 Bde., Hbg. 1946–49. – Techn. Existenz. Stgt. 1949 (Ess.). – Ptolemäer u. Mauretanier oder Die theolog. Emigration der dt. Lit. Köln 1950. – Literaturmetaphysik. Der Schriftsteller in der techn. Welt. Stgt. 1950. – Plakatwelt. Stgt. 1952 (Ess.). – Die Theorie Franz Kafkas. Köln 1952. – Der Begriff der Naturphilosophie. Stgt. 1953. – Descartes u. die Folgen 1. Krefeld 21955. – Rationalismus u. Sensibilität. Präsentationen. Krefeld 1956. – Descartes u. die Folgen 2. Ein Geräusch auf der Straße. Baden-Baden 1960. – Die präzisen Vergnügen. Versuche u. Modelle. Wiesb. 1964. – Brasilian. Intelligenz. Eine cartesian. Reflexion. Wiesb. 1965. – Ungehorsam der Ideen. Köln 1965. – Konkrete Poesie. In: Sprache im techn. Zeitalter 15 (1965). Sonderh.: Texttheorie u. konkrete Dichtung. – Aesthetica. Einf. in die neue Ästhetik. Veränderte u. erw. Bearb. der vier aesthetica-Bde. Baden-Baden 1965. – Semiotik.

Bense Allg. Theorie der Zeichen. Baden-Baden 1967. – Die Zerstörung des Durstes durch Wasser. Einer Liebesgesch. zufälliges Textereignis. Köln 1967. – Einf. in die informationstheoret. Ästhetik. Reinb. 1969. – kleine abstrakte ästhetik. Stgt. 1969. – Die Realität der Lit. Autoren u. ihre Texte. Köln 1971 (Aufs.). – Zeichen u. Design: semiot. Ästhetik. Baden-Baden 1971. – Vermittlung der Realitäten: semiot. Erkenntnistheorie. Baden-Baden 1976. – Das Auge Epikurs. Indirektes über Malerei. Stgt. 1979. – Das graue Rot der Poesie. Baden-Baden 1983 (L.). – Das Universum der Zeichen: Ess.s über die Expansion der Semiotik. Baden-Baden 1983. – Kosmos Atheos. Baden-Baden 1985. – Repräsentation u. Fundierung der Realitäten. Fazit semiot. Perspektiven. Baden-Baden. 1986. – Herausgeber: M. B. u. Elisabeth Walther: Wörterbuch der Semiotik. Köln 1973. – Augenblick. Ztschr. für Tendenz u. Experiment. 1956–60. – Grundlagenstudien aus Kybernetik u. Geisteswiss. Quickborn 1960 ff. – Semiosis. Ztschr. für Semiotik u. ihre Anwendung. 1967 ff. Ausgabe: Ausgew. Schr.en (in vier Bdn.). Hg. Elisabeth Walther. Stgt. 1997/98. – Radiotexte: Ess.s, Vorträge, Hörspiele. Hg. Caroline Walther u. Elisabeth Walther. Heidelb. 2000. Literatur: Hans Fischer: Lit. der techn. Welt. Zu M. B.s Lit.-Begriff. In: Die Lit. 13 (1952). – Francis Golffing: The Discipline and Presumption of M. B. In: Partisan Revue 21 (1954). – Gotthard Günther: Sein u. Ästhetik. Komm. zu M. B.s Ästhet. Informationen. In: Texte u. Zeichen 3 (1957), S. 429–440. – Günther Busch: Ästhetik am Scheidewege. Zu M. B.s aesthetica. In: Merkur 14 (1960), S. 180–187. – Karl August Horst: Ein Prokurist der Sprache. In: Merkur 16 (1962). – Hans-Horst Henschen: M. B. In: Hdb. der Gegenwartslit. Hg. Hermann Kunisch. Mchn. 1965. – Martin Maurach: M. B. In: KLG. – Elisabeth Emter: Physik u. Ästhetik im Frühwerk v. M. B. Zur theoret. Fundierung experimenteller Schreibweisen. In: Semiosis 20 (1995), H. 1/2, S. 5–35. – Zum Gedenken an M. B.: Reden u. Texte an seinem 90. Geburtstag. Reden u. Aufsätze der Univ. Stuttgart. Stgt. 2000. – Barbara Büscher, Hans-Christian v. Herrmann u. Christoph Hoffmann (Hg.): Ästhetik als Programm: M. B. Daten u. Streuungen. Bln. 2004. Christian Schwarz / Red.

Bentlage

Bentlage, Margarete zur, verw. Schiestl, verh. List, * 24.3.1891 Menslage/Emsland, † 16.2.1954 Garmisch; Grabstätte: ebd., Partenkirchener Friedhof. – Verfasserin von Erzählungen u. Romanen.

450 Rande der Stadt. Mchn. 1949 (R.). – Das Tausendfensterhaus. Mchn. 1954 (R.). Literatur: Doris Urbanek: M. z. B., Versuch einer Monogr. Diss. Wien 1971. Matthias Heinzel / Red.

B. wurde auf Hof Bentlage bei Menslage geboren. 1915 kam sie als Schülerin des Malers Bentzel-Sternau, Benzel-Sternau, (Karl) Rudolf Schiestl an die Nürnberger Kunst- Christian Ernst Graf von (Graf seit 1790), schule. Aus der Zeit ihrer 1916 geschlossenen auch: Horatius Cocles, * 9.4.1767 Mainz, Ehe mit Schiestl stammen erste unveröffent- † 13.8.1849 Mariahalden/Zürichsee. – lichte Schreibversuche. Mit ihrer eigentlichen Publizist u. Erzähler. schriftsteller. Arbeit begann sie jedoch erst Nach rechtswiss. Studien wurde B. 1791 1931, im Todesjahr ihres Mannes. Im gleikurmainz. Regierungsrat u. Gerichtsassessor chen Jahr zog sie nach Markkleeberg in der in Erfurt, 1803 Staatsrat des Kur-Erzkanzlers Nähe von Leipzig. Sie heiratete den Verleger in Regensburg, 1804 Geheimer Staatsrat. Paul W. List, in dessen Verlag sie ihre ersten 1806 trat er in bad. Dienste, wurde 1808 erfolgreichen Erzählungen u. d. T. Unter den Ministerialdirektor u. zwei Jahre darauf Eichen: aus dem Leben eines deutschen Stammes Oberhofgerichtspräsident in Mannheim. Der (Lpz. 1933 u. ö. Zuletzt Quakenbrück 1985) von Napoleon eingesetzte Großherzog von veröffentlichte. In ihnen ist die norddt. MoorFrankfurt, Karl Theodor von Dalberg, eru. Heidelandschaft zwischen Weser u. Ems nannte ihn 1811 zu seinem Staats- u. FiSchauplatz von geheimnisvollen u. schicknanzminister. Nachdem das Großherzogtum salhaften Geschehnissen. 1813 aufgelöst worden war, zog sich B. ins 1934 erschien ihr Roman Das blaue Moor. Privatleben zurück. 1825–1828 war er Mitgl. Sang einer Landschaft (Lpz. u. ö. Zuletzt Mchn. der bayer. Ständekammer. Als liberaler, en1959), der in bäuerlichem Milieu spielt. Der gagiert für die Demokratie eintretender AbBauer Aselage eignet sich unrechtmäßig eigeordneter griff er mit dem Bericht über die nen Hof, die »Burg to Holte«, an; seine KinStändeversammlung des Königreichs Baiern vom der müssen die Schuld büßen, indem sie auf 17ten November 1827 bis 18ten August 1828 (Zütragische Weise ums Leben kommen. Schon rich 1829) u. den Baiernbriefen, oder Geist der hier finden sich zahlreiche für das Gesamtersten vier Ständeversammlungen des Königreiches werk der Schriftstellerin charakterist. EleBaiern (4 Bde., Stgt. 1831) in die polit. Ausmente: die Hell-Dunkel-Symbolik bei Domieinandersetzungen Süddeutschlands ein. nanz der düsteren Seite, das Motiv der Aufsehen erregte es, als B. (zus. mit seinem schicksalhaften Schuld u. das Wirken überBruder Gottfried) am 19.8.1827 von der kasinnlicher Kräfte. tholischen zur protestant. Konfession überNach dem Krieg lebte B. abwechselnd im trat. Zillertal, in München u. Garmisch. Nicht B. edierte die antiromant. Zeitschrift »Jaunumstritten ist ihr Verhältnis zur Blut-undson« (Gotha 1808–11) u. war Mitherausgeber Boden-Dichtung. Während ihre Schilderundes 3. u. 4. Jahrgangs von »Der Protestant. gen des familiengebundenen bäuerl. Lebens Zeitschrift für evangelisches Christenthum« der NS-Ideologie entgegenkommen, verhin(Stgt. 1829/30). B. war beseelt vom fortderte B.s Zug zum Negativen, Düsteren die schrittl. Geist der Emanzipationspolitik Navöllige Vereinnahmung; Heimatboden u. poleons, die den Juden in Westfalen 1808 die Landschaft werden nicht zum Mythos. bürgerl. Gleichstellung gebracht hatte. Aus Weitere Werke: Die Verlobten. Lpz. 1938 u. ö. diesem Anlass publizierte B. im selben Jahr Zuletzt Mchn. 1956 (R.). – Irrfahrt bei Leipzig. Lpz. im »Jason« einen Artikel, in dem er das 1941 (E.). – Geheimnis um Hunebrook. Lpz. 1944 westfäl. Gesetzeswerk als eine bedeutsame (R.). – Durchsonnte Nebel. Lpz. 1946 (E.en). – Am Errungenschaft im Hinblick auf die Menschenrechte, die Versöhnung von Judentum

451

Benyoëtz

u. Christentum u. den Kosmopolitismus fei- (polit. Schr.en). – Proteus oder das Reich der Bilder. erte. Verpflichtet weiß sich B. hier v. a. Regensb. 1806 (Fabeln). – Schillers Feier. Gotha Christian Wilhelm von Dohm, der sich ange- 1806 (D.). – Titania oder das Reich der Mährchen. sichts einer entsprechenden Bitte Moses Regensb. 1807 (E.en). – Morfeus oder das Reich der Träume. Regensb. 1808 (E.en). – Der Cid. Trauersp. Mendelssohns in seiner epochemachenden in 5 Akten nach Corneille. Gotha 1811. – Anti-IsProgrammschrift Ueber die bürgerliche Verbesse- rael. Eine Vorlesung in der geheimen Akademie rung der Juden (1781–83) mit beachtlicher zum grünen Esel. o. O. 1818. Neued. hg. v. Johann Wirkung für die Emanzipation der Juden Anselm Steiger. Heidelb. 2004. – Young’s Nachteingesetzt hatte. In Anti-Israel (o. O. 1818), ei- gedanken. Übers. v. C. E. B. Ffm. 1825. – Weiß u. ner Satire, greift B. die Forderungen der li- Schwarz. Zürich 1826 (Lustsp.). – Das Hoftheater v. terar. Judenhetze auf, die sich nach dem Barataria: oder Sprichwortspiele. Lpz. 1828 (DraWiener Kongress verbreitete, u. unternimmt men). – Mein ist die Welt. Hanau 1831 (Lustsp.). – den Versuch, sie durch Überspitzung ad ab- Der Geist v. Canossa. Zürich 1839 (D.). – Der Grillenfang auf 1840. Zürich 1840 (Aphorismen). – Die surdum zu führen. jüngsten Feigenblätter. Zürich 1840 (D.). B.s erste literar. Veröffentlichungen waren Literatur: Karl Bartsch: B. In: Bad. Biogr. Hg. sentimentale Erzählungen im Stil Samuel Friedrich v. Welch. Bd. 1, Heidelb. 1875. – Richard Richardsons: Kamillo Altiera oder das Verhängnis Wilhelm Dereich: Graf B., ein Beitr. zur Gegenro(Erfurt 1795), Novellen für das Herz (2 Bde., mantik im Beginn des 19. Jh. Diss. Ffm. 1920. – Hbg. 1797). Bekannt wurde sein Roman Das Kurt Rugenstein: K. C. E. Graf v. B. Ein Lebensbild goldne Kalb. Eine Biographie (4 Bde., Gotha aus dem Anfang des 19. Jh. Diss. Rostock 1922. – 1802–03. 21804), in dem ein resignierter Ewald Reinhard: Graf v. B., Herr v. Mariahalden. Oheim seinem heiratswilligen Neffen zur In: Bodenseebuch Jg. 28 (1941). – Ders.: Der Briefw. Warnung u. Lehre seine Lebensgeschichte des Grafen K. C. zu B. mit Ignaz Heinrich v. Weserzählt, die durch Schwärmerei das wahre senberg. In: Ztschr. für Gesch. des Oberrheins N. F. Ideal, eine Verbindung von männl. Selbstän- 55 (1942), S. 202–265. Harry Timmermann / Johann Anselm Steiger digkeit u. weibl. Anmut, verfehlte. Erst spät u. nur augenblicksweise war dem Oheim dessen Verwirklichung aufgeschienen: auf Benyoëtz, Elazar, * 24.3.1937 Wiener der arkad. Glückseligkeitsinsel Huldas, der Neustadt. – Aphoristiker, Autor von Lyrik idealen Frau, die er jedoch bald durch Ent- u. Essays. führung u. Tod verlor. Das arkad. Motiv u. Der 1939 mit seinen Eltern nach Palästina die Kritik am romant. Gefühlsenthusiasmus emigrierte B. wuchs mit Hebräisch als Mutführte B. fort in dem Roman Der steinerne Gast tersprache auf, beschäftigte sich aber schon (4 Bde., Gotha 1808), der stoische Absichts- früh mit dt. Sprache u. Literatur. Seit 1957 losigkeit als Glückszustand darstellt, u. in erste Lyrikpublikationen in der von ihm geden satir. Pigmäen-Briefen (2 Bde., Gotha liebten hebräischen Sprache. 1959 Examen 1808), welche die Gefahr daraus folgender als Rabbiner. 1963–1968 lebte er (mit UnterTrägheit thematisieren. Der politisch-satir. brechungen) in Berlin, wo er 1964 das Archiv Roman Der alte Adam (Gotha 1819) ist durch- Bibliographia Judaica begründete (erschienen setzt mit ausführlichen polit. Abhandlungen. ab 1982, Mchn./Ffm.). Seit 1969 lebt er wieIm Alter schrieb B. noch einige Dramen von der in Israel, schreibt u. publiziert aber, zugeringerer Bedeutung. Seine humoristische, nächst zurückhaltend, dann zeitweise fast reflektierende Stilhaltung ist an Jean Paul u. ausschließlich, »in der mich heimsuchenden Wieland orientiert; die Zeitgenossen lobten deutschen Sprache«. Häufige Lesereisen in seine Romane wegen ihres Reichtums an Deutschland u. Österreich. B. ist Mitgl. der Welt- u. Menschenkenntnis. Akademie für Sprache und Dichtung in Weitere Werke: Reisegefährten. Altona 1797 Darmstadt. 1964 erhielt er den Förderpreis (N.n u. Dialoge). – Lebensgeister. 4 Bde., Gotha des Theodor-Körner-Stiftungsfonds, 1988 1804/05 (R.). – Gespräche im Labyrinth. 3 Bde., den Adelbert-von-Chamisso-Preis, 1997 das Gotha 1805/06 (Dialoge). – Publikola, oder ges. Blätter in guter Absicht. 2 Bde., Regensb. 1805–06

Benyoëtz

Bundesverdienstkreuz, 2002 den JosephBreitbach-Preis. Bereits in seinen Veröffentlichungen in hebräischer Sprache, v. a. aber in seinen zahlreichen Publikationen in dt. Sprache (ab 1969) steht im Mittelpunkt der Aphorismus, sodass B. des Öfteren als der bedeutendste Aphoristiker dt. Sprache in der Gegenwartsliteratur u. auch als Wiederentdecker u. Neugestalter dieser auf dem Rückzug befindl. Literaturgattung bezeichnet wird. In der Tat schafft er seine eigene Form des Aphorismus durch kreativen u. oft enthüllenden Umgang mit der dt. Sprache, durch den gerade mit dem Blick von außen verborgene Beziehungen u. Bedeutungen in der Sprache sichtbar gemacht werden. Neben den traditionellen Mitteln der Aphoristik wie Prägnanz u. sprachl. Reduktion, Paradoxon, Antithese, Parallelismus, setzt er v. a. ungewöhnl. Wortzusammensetzungen (»Filigranit«, »Identitäuschung«, »Paradiesseits«, »Sinnsang«), Neologismen (»Worthaltung«, »Hörsicht«, »wortwährend«), mehrfache Wortbedeutungen (»EinSatz«, »GegenSätze«), überraschende Konnotationen (»Sprachialgewalt«, »Innewonne«) ein, um die Hintergründigkeit sprachlicher Beziehungen in knappster Form anzudeuten. »Ein guter Aphorismus ist von erschöpfender, ein schlechter von ermüdender Kürze.« Sprachliches Ideal u. Impulsgeber ist ihm die Bibel, auf die er sich immer wieder bezieht, sowohl in hebräischer Sprache als auch in der für ihn sprachlich hoch im Rang stehenden Übersetzung Luthers. Bes. die Spruchdichtungen, Kohelet u. die Psalmen sind für ihn unausschöpfbares Vorbild u. Reservoir. Zur Gattungszuordnung ist noch anzumerken, dass er Aphorismen oft nicht allein publiziert. Seine »EinSatz«-Dichtungen finden sich vielfach collagenhaft eingebettet in Gedichte, essayistische u. autobiogr. Konnotate, Briefe u. zahlreiche Zitate aus Bibel u. kulturellem Erbe. Die großen Themen, um die alle seine Bücher kreisen u. die sich darum nicht an Einzelpublikationen festmachen lassen, betreffen v. a. die drei komplexen Themenbereiche Sprache, Glaube u. Erinnerung.

452

Seine Reflexionen über das Thema Sprache (hebräische Sprache, dt. Sprache, Sprache allgemein) vergegenwärtigen Sprache als Lebenselixier u. als lebenslängl. Herausforderung. Sprache ist danach kein vorgegebenes Gefüge, sondern ein Reservoir für immer neue Orientierungssuche u. überraschende Neuentdeckungen. Seine Gedanken zur Sprache legen den Grundstein für seinen literar. Umgang mit Sprache. Ebenso zentral ist für B. die Glaubensthematik, die tief in der jüd. Tradition wurzelt. Die Bibel ist ihm nicht nur literar. Quelle u. sprachliches Vorbild, sondern immer auch Glaubensquelle u. Orientierung. Gestalten wie Abraham, Moses, Hiob, Jonas u. Kohelet lässt er sprechen u. von ihnen lässt er sich den Weg weisen. Aber auch in Fragen des Glaubens u. der Gottesbeziehung bricht er aus festen Bahnen aus, um in Konfrontation mit dem Zweifel seinen eigenen Glaubensweg gleichsam aphoristisch zu finden, bes. konzentriert in Variationen über ein verlorenes Thema (Mchn. 1997), auch in Wirklich ist, was sich träumen lässt. Gedanken über den Glauben (Wuppertal 1994). Immer wieder gibt er auch Impulse zum jüdisch-christl. Dialog. So bezeichnet er das NT als »das jüdischste Buch der Christenheit«. Der dritte große Themenbereich ist ihm vorgegeben durch seine geschichtl. Situation: »Und ich – ein Jude nach Auschwitz«, für den Erinnerung u. Nichtvergessen einen zentralen Stellenwert haben, bes. durch die ständige Konfrontation mit dt. Sprache, dt. Geschichte u. dt. Kultur. Natürlich kommt er nicht an Auschwitz vorbei, aber die Auseinandersetzung mit der dt.-jüd. Vergangenheit beschränkt sich nicht auf die Zeit von 1933 bis 1945. Schon das von ihm 1963 begründete Projekt der Bibliographia Judaica verfolgte das Anliegen, die dt.-jüd. Geschichte in ihren Verflechtungen der letzten zwei Jahrhunderte zu erforschen, »entschlossen, die jüdische Literatur im Deutschen aufzusuchen, für die gemordeten, verschollenen und vergessenen Dichter alles zu tun«, u. auch eines seiner späten Bücher, Allerwegsdahin. Mein Weg als Jude und Israeli ins Deutsche (Zürich/Hbg. 2001), kreist beharrlich um dieses Thema,

453

Benz

denn »keine Sprache ist so judenvoll wie die Benz, Richard, * 12.6.1884 Reichenbach/ deutsche«. Vogtland, † 9.11.1966 Heidelberg; GrabWeitere Werke: Sahadutha. Bln. 1969. – Einsprüche. Mchn. 1973. – Einsätze. Mchn. 1975. – Worthaltung. Sätze u. Gegensätze. Mchn./Wien 1977. – Eingeholt. Neue Einsätze. Mchn./Wien 1979. – Vielleicht – Vielschwer. Aphorismen. Mchn./Wien 1981. – Für- u. Gegenwart. Aphorismen. Kreuzlingen 1984. – Solange wie das eingehaltene Licht. Briefe 1966–82. Clara v. Bodman u. E. B. Hg. Hildegard Schultz-Baltensperger. Konstanz 1989. – Treffpunkt Scheideweg. Mchn./Wien 1990. – Filigranit. Ein Buch aus Büchern. Gött. 1992. – Paradiesseits – Eine Dichtung. Herrlingen 1993. – Brüderlichkeit. Das älteste Spiel mit dem Feuer. Mchn./Wien 1994. – Querschluß. Herrlingen 1995. – Die Zukunft sitzt uns im Nacken. Mchn./Wien 2000. – Der Mensch besteht v. Fall zu Fall. Aphorismen. Lpz. 2002. – Hinnämlich. Herrlingen 2003. – Finden macht das Suchen leichter. Mchn./Wien 2004. – Die Eselin Bileams u. Kohelets Hund. Mchn. 2007. – Das Mehr gespalten. Einsprüche. Einsätze. Jena 2007. – Sandkronen. Aphorismen. Frauenfeld 2007. – Die Rede geht im Schweigen vor Anker. Aphorismen u. Briefe. Hg. Friedemann Spicker. Bochum 2007. Literatur: Renate Heuer: Hebräische Poesie u. jüd. Haltung. Zur Dichtung v. E. B. In: Eckart 1967, S. 248–256. – Margarita Pazi: Deutschsprachige Lit. u. Autoren in Israel. In: Kontoversen, alte u. neue. Akten des VII. Internat. Germanistenkongresses in Göttingen 1985. Bd. 5, Tüb. 1985, S. 259 f. – Halina Kappeler-Borowska: Solange wie das eingehaltene Licht. Zum Briefw. zwischen Clara v. Bodman u. E. B. In: Judaica 43 (1987), H. 4, S. 207–218. – Christoph Grubitz: Der israel. Aphoristiker E. B. Tüb. 1994. – Wolfgang Mieder: ›Des Spruches letzter Spruch ist der Widerspruch‹. Zu den redensartl. Aphorismen v. E. B. In: MAL 31 (1998), S. 104–134. – Andreas Wittbrodt: ›Hebräisch im Deutschen‹. Das deutschsprachige Werk v. E. B. In: ZfdPh 121 (2002), S. 584–606. – René Dausner: Zerbrechende Zeit. Zum Motiv der Zukünftigkeit im Werk v. E. B. In: Akzente 51 (2004), H. 1, S. 48–54. – Friedemann Spicker: E. B. Der dt. Aphorismus im 20. Jh. Spiel, Bild, Erkenntnis. Tüb. 2004, S. 786–808. – René Dausner: Schreiben wie ein Toter. Poetologisch-theolog. Analysen zum deutschsprachigen Werk des israelisch-jüd. Dichters E. B. Paderb. 2007 (Diss. theol. Bonn). – F. Spicker: E. B. In: KLG (dort umfassende bibliogr. Angaben zu Werk u. Sekundärlit.). – Christoph Grubitz, Ingrid Hoheisel u. Walter Wölpert (Hg.): Keine Worte zu verlieren. E. B. zum 70. Geburtstag. Herrlingen 2007. Irmgard Ackermann

stätte: ebd., Bergfriedhof. – Literatur-, Musik- u. Kulturhistoriker, Essayist. B., Sohn eines Dresdner Hofpredigers, erhielt eine sorgfältige humanist. Erziehung. Nach dem Studium der Germanistik u. Philosophie in Heidelberg, Leipzig u. München wirkte er zeitlebens als Gelehrter in Heidelberg. In seinem umfangreichen Werk beschäftigt er sich mit der Literatur-, Musik- u. Kulturgeschichte verschiedener Epochen, wobei er deren künstler. Manifestationen als Ergebnis wechselseitiger Durchdringung von Dichtung, Musik, Philosophie, bildender Kunst u. Architektur darstellte. Bereits die erweiterte Fassung seiner Dissertation Märchen-Dichtung der Romantiker (Gotha 1908) kündigt eines der für ihn wichtigsten Themen an: die Romantik. Diese Arbeit fand ihre Fortsetzung in der Herausgabe der Märchen Clemens von Brentanos (Bde. 1–3, Mchn. 1914–17). In seiner Schrift Die Renaissance, das Verhängnis der deutschen Cultur (Jena 1915) stellte er der seiner Ansicht nach unschöpferischen Wiedergeburt der Antike die geistige Welt der gotischen Kunst gegenüber. Angeregt vom Fund der Inkunabel einer deutschsprachigen Übersetzung der Legenda aurea des Jacobus de Voragine (Bde. 1–2, Jena 1917–21, in neuer Übersetzung von B. Zuletzt Gütersloh 131999), wandte er sich der Herausgabe spätmittelalterlicher Volksbücher zu (Die deutschen Volksbücher. Bde. 1–6, Jena 1911–24). Sowohl in seiner Studie Die Stunde der deutschen Musik (2 Bde., Jena 1923–27. Neufassung Bde. 1–2, Jena/Düsseld. 31943–49; Bd. 2 u. d. T. Die Welt der Dichter und die Musik), die der Musikgeschichte von Bach bis Schubert gewidmet ist, als auch in seinen kleineren biogr. u. interpretator. Schriften vertritt B. als Musikkritiker die Ansicht, dass eine Änderung landläufiger ästhet. Urteile in den Bereichen der übrigen Künste aus dem Geist der Musik erfolgen müsse. B. erhielt 1955 den Preis für Kulturkritik des Bundesverbandes der dt. Industrie, 1957 den großen Kulturpreis des Landes Nordrhein-Westfalen u. 1961 den Reuchlin-Preis

Beradt

454

der Stadt Pforzheim. Er war Mitgl. der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Weitere Werke: Die dt. Romantik. Lpz. 1937. – Dt. Barock. Stgt. 1949. – Die Zeit der dt. Klassik. Stgt. 1953. – Heidelberg. Schicksal u. Geist. Konstanz 1961. Sigmaringen 21975. Literatur: Bibliografie: In: Gegenwart im Geiste. FS R. B. Hbg. 1954, S. 136–142. – Einzeltitel: Walther G. Oschilewski: Selbstbesinnung dt. Geistes. In: Imprimatur N. F. 12 (1954/55), S. 7–10. – Rüdiger Krohn: Erwachsenenbildung u. Geistesgeschich. im Spannungsfeld v. Wiss. u. Öffentlichkeit. Anmerkungen zu einem Nicht-Verhältnis am Bsp. Von R. B. In: Literaturwiss. u. Geistesgesch. 1910–25. Hg. Christoph König u. Eberhard Lämmert. Ffm. 1993, S. 424–443.

dann nach New York. Postum erschien die Novellensammlung Die Straße der kleinen Ewigkeit (Ffm. 1965 u. ö. Zuletzt 2001), in deren Mittelpunkt das Schicksal dt.-jüdischer Emigranten steht. Literatur: Ingrid Kreuzer: ›Warum nicht ich?‹ M. B. ›Die Verfolgten‹. In: Dies.: Lit. als Konstruktion. Ffm. 1989, S. 169–190. – Charlotte Beradt: M. B. In: Dt. Exillit. Bd. 2, S. 83–96. – Kirsten Steffen: ›Haben Sie mich gehasst?‹ Antworten für M. B. (1881–1949). Schriftsteller, Rechtsanwalt, Berliner jüd. Glaubens. Paderb. 1999. – Lovis M. Wambach: Grenzgänger zwischen Jurisprudenz u. Lit.: Werner Krauss, Kurt Tucholsky, Friedrich Georg Jünger u. M. B. Baden-Baden 2000. Elisabeth Willnat / Red.

Elisabeth Willnat / Red.

Beradt, Martin, * 26.8.1881 Magdeburg, † 26.11.1949 New York. – Verfasser von Romanen u. Novellen. Nach dem Jura-Studium arbeitete B., Sohn orthodoxer Juden, 1909 am Berliner Kammergericht, später als Rechtsanwalt in Berlin. Als Syndicus des von ihm mitbegründeten Schutzverbandes dt. Schriftsteller wirkte er im Prozess der Strindberg-Erben mit. In seinem Erstlingsroman Go (Bln. 1909. Neu bearb. [1913]), erzählt B. sehr einfühlsam die Geschichte eines Jungen, der sich das Leben nimmt, weil er den Erwartungen seiner in zerrütteter Ehe lebenden Eltern als Schüler nicht gerecht werden kann. Dieser Roman verschaffte B. große Anerkennung in Berliner Literaturkreisen. Nach weiteren Romanen erschienen die von der Psychoanalyse Sigmund Freuds beeinflusste Novellensammlung Die Verfolgten (Bln. 1919. Nachdr. Königst./Ts. 1979), in der es um Schicksale u. Seelenzustände bedrohter oder sich bedroht fühlender Menschen geht, u. der autobiogr. Erlebnisbericht Erdarbeiter (Bln. 1919), in dem B. seine Kriegseindrücke realistisch wiedergibt. 1930 erschien in Frankfurt/M. die essayist. Abhandlung Der deutsche Richter (erste, kürzere Fassung Ffm. 1909), eine in Fachkreisen umstrittene Auseinandersetzung mit der zeitgenöss. Justiz. 1933 musste B. wegen seiner jüd. Herkunft seinen Beruf aufgeben. 1939 emigrierte er zunächst nach London,

Berend, Alice, auch: A. Hertz, * 30.6.1878 Berlin, † 2.4.1938 Florenz. – Verfasserin von Unterhaltungsromanen. Die Tochter eines jüd. Fabrikanten ging in Berlin zur Schule. Mit knapp 20 Jahren begann sie ihre ersten Zeitungsaufsätze zu schreiben. 1904 heiratete sie in London den schwed. Schriftsteller John Jönsson. In den folgenden Jahren reiste sie durch Dänemark u. Schweden; 1906 zog sie nach Italien, wo sie die nächsten acht Jahre lebte. Während dieser Zeit entstanden viele ihrer humoristischen, z.T. im bürgerl. Berliner Milieu spielenden Romane (z.B. Die Reise des Herrn Sebastian Wenzel. Bln. 1911. Frau Hempels Tochter. Bln. 1912. Mchn. 1955), die alle in Fischers Bibliothek zeitgenössischer Romane erschienen u. außerordentlich hohe Auflagen (zwischen 120.000 u. 200.000) erzielten. Zus. mit dem 1916 veröffentlichten, gleichfalls sehr erfolgreichen Berlin-Roman Spreemann & Co (Bln. u. ö. Zuletzt Ffm. 1976) trugen ihr diese Romane bald den Namen »Die kleine Fontane« ein. Nach ihrer Rückkehr aus Italien verbrachte sie einige Jahre in Berlin, München, Oberstdorf u. 1921–1924 in Konstanz (in ihrem »Schreiberhäusle«). 1926 heiratete sie, mittlerweile von Jönsson geschieden, den Kunstmaler Hans Breinlinger. Von den Nationalsozialisten ins Exil getrieben, emigrierte sie 1935 nach Italien, wo sie völlig verarmt u. vergessen starb. Zuletzt entstanden die Romane Ein Hundeleben. Die Lebensgeschichte eines Dobermanns, von ihm selbst erzählt

Berens-Totenohl

455

(Mährisch-Ostrau 1935), Rücksicht auf Martha (Zürich 1935) u. Spießbürger (Zürich 1938). Nach dem Krieg unternahmen einige Verlage den vergebl. Versuch, an die Erfolge der 1920er Jahre anzuschließen u. B.s Werk neu aufzulegen. Weitere Werke: Die weißen Mäuse u. Anderes. Bln. 1903 (N.). – Matthias Senfs Verlöbnis. Mchn. 1918 (R.). – Der Floh u. der Geiger. Mchn. 1923 (R.). – Der Schlangenmensch. Bln. 1925 (R.). – Die gute alte Zeit. Bürger u. Spießbürger im 19. Jh. Aus dem Nachl. Hbg. 1962. Mchn. 1966. Literatur: Ursula El-Akramy: Die Schwestern Berend. Gesch. einer Berliner Familie. Hbg. 2001. Peter König / Red.

Berens-Totenohl, Josefa, eigentl.: J. Berens, * 30.3.1891 Grevenstein/Sauerland, † 6.6.1969 Meschede; Grabstätte: Saalhausen, Friedhof. – Erzählerin, Lyrikerin. Die Tochter eines Schmieds (die Mutter starb bei ihrer Geburt) wuchs, von den bäuerl. Großeltern versorgt, in dem kleinen Dorf Grevenstein heran – ohne Bücher, aber vertraut mit frommen Geschichten, Märchen u. Sagen. Als 20-Jährige besuchte sie das Lehrerinnenseminar in Arnsberg, wo sie auch ihre zeichnerischen Neigungen entwickeln konnte. Während ihrer anschließenden zehnjährigen Tätigkeit als Lehrerin im Weserland studierte sie nebenbei Malerei in Düsseldorf. Seit 1923 lebte sie als Malerin zunächst in Höxter-Gödelheim, seit 1925 im sauerländ. Totenohl (daher der Namenszusatz). Während ihrer Lehrerinnentätigkeit lernte sie den Schriftsteller Richard Euringer kennen, einen frühen Anhänger Hitlers, der sie stark beeinflusste. 1933 veröffentlichte sie verschiedene Arbeitsbögen für den dt. Gesamtunterricht in den Reihen »Germanentum« (Aus der Götteredda. Paderb. Aus der Heldenedda. Paderb.) u. Märchen (Mutzpeter. Paderb.), die bereits eine völk. Richtung erkennen lassen. 1934/35 erschienen die beiden zusammenhängenden Bauernromane Der Femhof (Jena 1934) u. Frau Magdlene (Jena 1935). Sie sind zur Blut- u. Bodenliteratur zu rechnen, spielen im 14. Jh. auf westfälischem Boden, stellen mütterl. Frauenfiguren ins Zentrum u. vergegenwär-

tigen Macht u. Gesetze der Sippe. Der archaisierende Stil dieser Romane zeigt den Einfluss der isländ. Sagas. 1936 erhielt B. dafür den westfäl. Literaturpreis. In ihren Gedichten Das schlafende Brot (Jena 1936), mit überwiegend reimlosen, freien Versen, finden sich sowohl »völkische« Züge wie dazu in fragwürdiger u. spannungsreicher Beziehung stehende christl. Überzeugungen. Obwohl sich B. mit ihren im Dritten Reich viel gelesenen Romanen u. Geschichten ganz in den Dienst der nationalsozialist. Ideologie gestellt hatte, genoss sie auch nach 1945 v. a. in ihrer sauerländ. Heimat Anerkennung. Ihre wichtigsten Bücher wurden in den 1950er Jahren z.T. mehrfach wiederaufgelegt; gleichzeitig veröffentlichte sie neue Romane u. Novellen, in denen sie ihre alten Themen variierte. Für den weitverbreiteten Bildband Westfalen – Land der roten Erde (Ffm. 1956. 101970) verfasste sie ein Vorwort, das, wie ihre gesamten Nachkriegsarbeiten, keine Distanz zur Blut- u. Bodenmetaphorik erkennen lässt. 1955 gehörte sie zu den Gründern des westfäl. Dichterkreises. In den vom Wirtschaftswunder geprägten 1960er Jahren fanden ihre düsteren Schuld-und-SühneEpen kaum noch Leser. Nach ihrem Tod ist B. fast vollständig in Vergessenheit geraten. Weitere Werke: Eine Dichterstunde. Hbg. 1937 (Ausw.). – Die Frau als Schöpferin u. Erhalterin des Volkstums. Jena 1938 (Rede). – Einer Sippe Gesicht. Jena 1941 (Ep.). – Der Fels. Jena 1943 (R.). – Heimaterde. Jena 1944 (Ausw.). – Im Moor. Jena 1944. Düsseld. [1954] (R.). – Der Alte hinterm Turm. Essen 1949 (E.). – Die Stumme. Essen 1949 (R.). – Die goldenen Eier. Essen 1950 (M.). – Die Liebe des Michael Rother. Antwerpen/Tilburg 1953 (E.). – Das Gesicht. Bielef.-Bethel 1955 (N.). – Die heiml. Schuld. Balve/Westf. 1960 (R.). Literatur: Kurt Ziesel: J. B. In: Die Lit. 43 (1940/41), S. 587–590. – Franz Lennartz: J. B. In: Dt. Dichter u. Schriftsteller. Stgt. 1959, S. 56 f. – Renate v. Heydebrand: Lit. in der Provinz Westfalen. Münster 1983, S. 200 ff. – Hannes Tuch: Menschen u. Bäume. Leute im Femhof. Meschede 1983. – Ortrun Niethammer: J. B. als Propagandistin der nationalsozialist. Kulturpolitik. In: Westfäl. Forsch.en 42 (1992), S. 346–359. – Reinhard Kiefer: Erinnerungen als Verdrängung. Überlegungen zu J. B. u. ihrer Autobiogr. In: Lit. in Westfalen. Hg. Walter Gödden. Paderb. 2000,

Berg

456

S. 67–83. – Peter Bürger: J. B. In: Westf. Autorenlexikon Bd. 3, S. 84–94. Gisela Brinker-Gabler / Red.

Berg, Alban (Albano Maria Joannes), * 9.2. 1885 Wien, † 23.12.1935 Wien; Grabstätte: ebd., Friedhof Wien-Hietzing. – Komponist u. Musikschriftsteller. B. war von Anfang an literarisch u. kompositorisch interessiert, nicht nur seine Kompositionen, sondern auch seine musikliterar. Werke sind von geistesgeschichtlicher Bedeutung: Es handelt sich dabei um musikal. Analysen, Vorträge, Essays, Widmungen (auch in Gedichtform) u. Interviews. B. komponierte um 1901 als Autodidakt seine ersten Lieder, die von einer genauen Kenntnis der zeitgenöss. Lyrik zeugen. Er las früh Strindberg u. Ibsen u. erwog zeitweise, zugunsten der Schriftstellerei das Komponieren ganz aufzugeben. Als Schüler Arnold Schönbergs, der zeitlebens sein großes Vorbild blieb, gehörte er von 1904 an gemeinsam mit seinem Mitschüler Anton Webern zur Zweiten Wiener Schule, in der die Ästhetik der tonalen Musik überwunden wurde, u. in der um 1920 die Systematisierung des frei-atonalen Komponierens mit der sog. »Zwölftontechnik« einsetzte, derer sich B. selbst seit 1925 bediente. 1910 schloss er die Lehrzeit bei Schönberg ab; nach seiner Heirat mit Helene Nahowski 1911 lebte er, von kurzen Reisen abgesehen, im Winter in Wien u. gab dort Kompositionsunterricht; den Sommer verbrachte er in den österr. Alpen. B. nahm 1904 erste Kontakte mit dem Wiener Dichter Peter Altenberg auf, dessen Ansichtskartentexte er 1912 vertonte (Altenberglieder op. 4). Die Uraufführung dieses Werks bei einem Konzert unter Schönbergs Leitung in Wien 1913 verursachte einen der größten Konzertskandale der europ. Musikgeschichte. Nachdem B. 1912 die Redaktion eines von Freunden u. Schülern Schönbergs verfassten Schönberg-Buches übernommen hatte (Arnold Schönberg. Mit Beiträgen v. A. B. u. a. Mchn. 1912. Neudr. Mchn. 1980), plante er im Sommer 1920 zunächst, sich vermehrt der Schriftstellerei zu widmen. Er schloss einen

Vertrag über die Redaktion der Wiener Musikzeitschrift »Musikblätter des Anbruch« ab, in der im selben Jahr auch eine grundlegende Polemik gegen Hans Pfitzners Ästhetik (Die musikalische Impotenz der ›Neuen Ästhetik‹ Hans Pfitzners) erschien, musste aber die Redaktion bald aus gesundheitl. Gründen niederlegen. Auch die im Dez. 1920 geplante Monografie über Schönberg (u. Schreker) kam nicht zustande. Stattdessen veröffentlichte B. im Sonderheft der »Musikblätter des Anbruch« zu Schönbergs 50. Geburtstag (1924) den grundlegenden Beitrag Warum ist Schönbergs Musik so schwer verständlich?, in dem er eine analyt. Untersuchung der ersten 10 Takte von Schönbergs erstem Streichquartett in d-Moll op. 7 vorlegte. Schon 1914 hatte B. in Wien Georg Büchners Dramenfragment Wozzeck kennengelernt, das ihn zu seiner gleichnamigen Oper anregte. Er vollendete sie 1921, die Uraufführung fand 1925 in Berlin statt; die zuvor auf dem Musikfest des Allgemeinen Dt. Musikvereins in Frankfurt am Main aufgeführte Zusammenfassung einiger Stücke aus der Oper zu einem im Konzertsaal spielbaren Zyklus machten B. mit einem Schlage berühmt. Die anschließend gleichermaßen positiv aufgenommene Oper ist als erstes erfolgreiches atonales Musiktheaterwerk ein Markstein der Operngeschichte des 20. Jh. B. schrieb allein vier Aufsätze über Wozzeck, darunter einen Vortrag mit Musikbeispielen, den er anlässlich der Oldenburger Inszenierung 1929 hielt. Die Textbücher zu seinen beiden Opern richtete er selbst ein. Bergs großes literar. Vorbild, Karl Kraus, beeinflusste auch seine zweite, unvollendet gebliebene Oper: Schon 1905 hatte B. die von Kraus initiierte u. durch dessen Vortrag eingeleitete »zensurfreie« Wiener Aufführung von Frank Wedekinds Die Büchse der Pandora miterlebt. Die Interpretation dieses Vortrags schlug sich später in seinem Umgang mit der »Lulu-Tragödie«, die den Stoff von Wedekinds Erdgeist u. Die Büchse der Pandora verarbeitet, nieder, indem auch B. Lulu als Opfer der Männergesellschaft deutet. B. entschied sich 1928 endgültig für den Lulu-Stoff, nachdem er zunächst Gerhart Hauptmanns Und Pippa tanzt! anvisiert hatte, diesen Plan

457

Berg

aber wegen zu hoher finanzieller Forderun- Quellenstudien u. Beiträge zur Analyse. Wien 1993. gen für die Vertonungsrechte wieder verwarf. – Bryan R. Simms: A. B.: A guide to research. New Die eigentl. Komposition, die Ausarbeitung York 1996. – Peter Csobádi: A. B.s Wozzeck u. die des vollständigen Tonsatzes der Oper im zwanziger Jahre: Vorträge u. Materialien des Salzburger Symposions 1997. Anif/Salzb. 1997. – AnParticell, vollendete B. noch 1934; die Orthony Pople (Hg.): A. B. u. seine Zeit. Laaber 2000. – chestrierung des 3. Aktes wurde 1962–1978 Werner Grünzweig: Ahnung u. Wissen, Geist u. von F. Cerha vorgenommen. Form: A. B. als Musikschriftsteller u. Analytiker der Kraus war für B. zeitlebens eine wichtige Musik Arnold Schönbergs. Wien 2000. – Constanliterarisch-ethische Instanz; seine Vorlesun- tin Floros: A. B. u. Hanna Fuchs: Die Gesch. einer gen verpasste er selten. Der Stil von Bs. liter- Liebe in Briefen. Zürich 2001. – Kordula Knaus: ar. Polemiken ist unverkennbar dem Kraus’ Gezähmte Lulu: A. B.s Wedekind-Vertonung im verpflichtet. B. war zudem ein passionierter Spannungsfeld v. literar. Ambition, OpernkonvenLeser der »Fackel«, nach deren Vorbild er eine tion u. ›absoluter Musik‹. Freib. i. Br. 2004. Dietmar Holland / Antje Tumat entsprechende Musikzeitschrift gründen wollte. In dieser sollten dieselben Maßstäbe für die Musikkritik gelten, wie sie Kraus für Berg, Leo, auch: Ludwig Gorel, Dr. Pascal, die Literaturkritik gesetzt hatte. Bs. Schüler * 29.4.1862 Zempelburg/Westpreußen, Willi Reich gelang es 1932 tatsächlich – unter † 12.7.1908 Berlin; Grabstätte: Berlinstarker Anteilnahme seines Lehrers – eine Weißensee, Jüdischer Friedhof. – Publisolche Zeitschrift nach dem Vorbild der »Fazist u. Essayist. ckel« zu gründen (»23 – Eine Wiener Musikzeitschrift«, erschienen Jan. 1932-Sept. B., Sohn eines jüd. Kaufmanns, war von 1937). Auch mit seinem großen musikal. Kindheit an körperlich behindert. Er beVorbild blieb B. stets in innerer Auseinan- suchte das Königsstädtische Gymnasium in dersetzung: Noch 1933 hielt er in Wien drei Berlin u. studierte 1884–1887 Philosophie u. einführende Vorträge über Schönbergs Musik Geschichte an der Berliner Universität. Schon als Student war er Redakteur bei der (Gurrelieder, Kammersymphonie Nr. 9, Peleas und Melisande op. 5), die heute von unverminder- »Deutschen Studenten-Zeitung«, der »Deutter Gültigkeit sind. Die nationalsozialist. schen Akademischen Zeitschrift« u. der Kulturpolitik bewirkte seit 1933 das Ende »Allgemeinen Deutschen Universitäts-Zeivon B.s musikalischer Laufbahn, in der NS- tung«. 1886 war er Mitbegründer u. später Zeit galten seine Werke als »entartete Kunst«. Vorsitzender der literar. Vereinigung Die 1955 gegründete Alban-Berg-Stiftung »Durch!«, der eine Reihe der später maßgedient v. a. der Förderung junger Komponis- benden Naturalisten wie Gerhart Hauptten. Bis heute liegen B.s gesammelte Schrif- mann u. Arno Holz angehörten. Bei der »Freien Litterarischen Gesellschaft« war er ten noch nicht in der Gesamtausgabe vor. Ausgabe: A.B. Sämtl. Werke. Hg. v. der A. B.- Schriftführer. Ab 1887 gab er mit Eugen Stiftung. Wien 1985 ff. Von der Werkgruppe III: Wolff die »Litterarischen Volkshefte« (ab ›Musikal. Schr.en u. Dichtungen‹ bisher erschie- 1889 »Deutsche Litterarische Volkshefte«) nen: III/1, Schr.en 1, ›Analysen musikal. Werke v. heraus, danach die Zeitschriften »Die MoArnold Schönberg‹, vorgelegt v. Rudolf Stephan u. derne« (Bln. 1891) u. »Der Zuschauer« (Hbg. Regina Busch (1994). 1893). Von 1902 bis 1906 edierte er die in Literatur: Willi Reich: A.B. Leben u. Werk. zwei Serien in Berlin erscheinende Reihe Zürich 1963. Neudr. Mchn. 1985. – Susanne Rode- »Kulturprobleme der Gegenwart«. Breymann: A. B. u. Karl Kraus: Zur geistigen Biogr. B. war zunächst ein unermüdl. Förderer des Komponisten der Lulu. Ffm. 1988. – Douglas der Moderne, wandte sich aber bereits 1892 Jarman (Hg.): The B. companion. Boston 1989. – in Der Naturalismus. Zur Psychologie der moderKaren Monson: A. B., musikal. Rebell im kaiserl. Wien. Ffm. 1989. – Albrecht v. Massow: Halbwelt, nen Kunst (Mchn.) von dieser Bewegung ab. Kultur u. Natur in A. B.s ›Lulu‹. Stgt. 1991. – Als einer der Ersten warb er verständnisvoll Constantin Floros: A. B.: Musik als Autobiogr. für Nietzsche, in dem er den Psychologen u. Wiesb. 1992. – Thomas F. Ertelt: A. B.s Lulu: Stilisten erkannte.

Berg

Vielfach beschäftigte er sich mit Ibsen, der ihm durch sein Streben nach realistischer Zeitkritik u. gleichzeitiger symbol. Überhöhung als typisch für eine Übergangsperiode erschien. B. war ein unabhängiger, zuweilen auch polem. Beobachter der zeitgenöss. Kultur, der sich immer mehr psychologischen u. sozialen Problemen zuwandte. Weitere Werke: Der dt. Prof. in der Politik. Bln. 1887 (Ess.). – Henrik Ibsen u. das Germanenthum in der modernen Litteratur. Bln. 1887. – Ernst v. Wildenbruch u. das Preußenthum in der modernen Litt. Bln. 1888 (Ess.). – Haben wir überhaupt noch eine Litt.? Großenhain/Lpz. 1888 (Ess.). – Gottfried Keller oder Humor u. Realismus. Bln. 1889 (Ess.). – Das sexuelle Problem in der modernen Litteratur. Bln. 1890. 51901 u. d. T.: Das sexuelle Problem in Kunst u. Leben. (Ess.). – Emile Zola: Der naturalist. Roman in Frankreich. Stgt. 1893 (Übers.). – Zwischen zwei Jh. Ffm. 1896 (Ess.). – Der Übermensch in der modernen Litt. Mchn. 1897 (Ess.). – Gefesselte Kunst. Bln. 1901 (Ess.). – Henrik Ibsen. Köln 1901 (Studien). – Neue Essays. Oldenb. 1901. – Litteraturmacher. Bln. 1903 (Ess.). – Aus der Zeit – Gegen die Zeit. Bln. 1905 (Ess.). – Geschlechter. Bln. 1906 (Ess.). – Heine – Nietzsche – Ibsen. Bln. 1908 (Ess.). – Sexuelle Jugenderziehung. Bln. 1909 (Ess.). Literatur: Arthur Eloesser: L. B. In: BJ 13 (1908), S. 186–189. – Julius Bab: Nachruf auf L. B. In: Die Schaubühne 4 (1908), S. 246–250. – Johannes Gaulke: L. B. u. sein Lebenswerk. In: Nord u. Süd 33 (1909), S. 251. – Bruno Markwardt: Gesch. der Dt. Poetik. Bd. 5, Bln. 1967, S. 111–115. – Ernst G. Lowenthal: Juden in Preußen. Biogr. Verz. Bln. 1981. – Regine Fritsch: Der Theoretiker L. B. Magisterarbeit Mainz 1984 (auch im DLA Marbach greifbar). Walter Schmähling / Red.

458

Bereits in den 1850er Jahren arbeitete B. als Autor u. Redakteur bei verschiedenen, teils humorist. Zeitschriften. So redigierte er u. a. 1861–1867 das von ihm gegründete Witzblatt »Kikeriki!«, das von einem liberalen Standpunkt aus satir. Kritik an den polit. u. sozialen Zuständen übte; es bestand bis 1933. Mit mehr als 120 nachzuweisenden Werken war B. ein äußerst produktiver Dramatiker, der mit großem Erfolg auf den Tagesbedarf des Wiener Volkstheaters zu reagieren wusste. Sein dramatisches Werk, in dem pointierte Dialogführung, Couplet- u. Tanzeinlagen die Handlung gelegentlich in den Hintergrund treten lassen, steht im Spannungsfeld von Posse u. dramat. Charakterbild u. stellt ideologisch ein Bindeglied zwischen Friedrich Kaiser u. Anzengruber dar. Ein Sonderthema B.s war die Unauflöslichkeit der Ehe, gegen die er aus eigener leidvoller Erfahrung sowohl in Stücken wie Nemesis! (Wien 1869) als auch journalistisch Front machte. Weitere Werke: Ein Wiener Dienstbote. Wien 1857 (Lebensbild). – Einer v. unsere Leut! Wien 1859 (Posse). – Ein Rekrut v. 1859. Wien 1859 (Volksst.). – Doktor Haslinger. Wien 1876 (Volksst.). – Ein Stündchen auf dem Comptoire. Wien 1877 (Posse). Literatur: Ernst Gampe: Ottokar Franz Ebersberg (O. F. B.) u. seine Stellung im Wiener Volksstück. Diss. Wien 1951. – Otto Rommel: Die AltWiener Volkskomödie. Wien 1952. – Kosch TL. Wolfgang Neuber / Red.

Berg, Sibylle, * 2.6.1962 Weimar. – Schriftstellerin, Dramatikerin, KolumnisBerg, O. F., eigentl.: Ottokar Franz tin. Ebersberg, * 10.10.1833 Wien, † 16.1. 1886 Wien. – Journalist u. Theaterdichter. Nachdem B. Mitte der 1980er Jahre aus der Noch während seiner Tätigkeit (ab 1851) an der Lotto-Gefällsdirektion begann B., Sohn eines konservativen Publizisten, 1854 dramat. Werke für die Wiener Vorstadtbühnen zu verfassen. Er quittierte 1860 den Staatsdienst u. wirkte ab 1861 als Dramatiker vornehmlich am Theater an der Wien u. am Carltheater. Ab 1885 befand B. sich in der Irrenanstalt Döbling.

DDR in die Bundesrepublik ausgereist war, startete sie zunächst eine journalist. Karriere in Hamburg, wo sie für verschiedene Magazine arbeitete (u. a. »Allegra«, »Stern«, »Die Zeit«). Schon im Rahmen dieser publizist. Tätigkeit bestach sie durch eine rigorose u. ungeschönt ehrliche Berichterstattung. Ihre Porträts von Zeitgenossen wie Gerhard Schröder, Haruki Murakami u. Phillip Boa sowie ein Besuch des poln. Massenmörders Leszak Pekalski sind nur einige Beispiele ih-

459

Berge

rer bereits über das rein Deskriptiv-Journa- Nicht zuletzt dieser konsequent übersteigerlistische hinausreichenden Perspektive. Ge- ten Ehrlichkeit ist wohl der Erfolg der bündelt finden sich die journalist. Vorarbei- B.’schen Sprachkunstwerke zu verdanken. ten in dem Sammelband Gold (Hbg. 2000). Weitere Werke: Amerika. Hbg. 1999 (R.). – Das Als Chronistin des Lebensgefühls der Unerfreuliche zuerst. Herrengesch.n. Köln 2001. – 1990er Jahre schuf B. mit Ein paar Leute suchen Habe ich dir eigentlich schon erzählt...: Ein Märdas Glück und lachen sich tot (Lpz. 1997) eine chen für alle. Köln 2006. Literatur: Michael Schindhelm: S. B. In: LGL. – düstere Parabel auf eine ziel- u. orientierungslose Gesellschaft, in welcher der Kampf Petra Günther: S. B. In: KGL. Daniel Ketteler um den äußeren Schein die innere Seelenarmut nur umso deutlicher hervortreten lässt. Berge, Ernst Gottlieb von, * 1649 BernIn Sex II (Lpz. 1998) radikalisiert die Autorin burg, † 1722 Berlin (?). – Übersetzer u. diese Ideen weiter: Die Protagonistin, eine Geograf. Frau inmitten ihrer Midlife-Crisis, wacht eines Morgens auf u. kann plötzlich durch B. entstammte einer alten Adelsfamilie aus Wände sehen. Mit dieser Hellsichtigkeit ge- dem Fürstentum Anhalt u. war der zweite wappnet, blickt sie nun in die ungeschmink- Sohn des Bernburger Richters David von ten, seelisch-phys. Abgründe ihrer nachbar- Berge. Ab 1667 besuchte er das »Gymnasium schaftl. Existenzen, welche ein zumeist tristes illustre« in Zerbst. Nach einem Russlandaufenthalt (1670–1678) kam B. nach London Großstadtleben fristen. Mit ihrem Umzug nach Zürich begann B. u. lernte dort Theodor Haak, den ersten dt. zunehmend Theaterstücke zu publizieren. So Übersetzer von Miltons Paradise Lost, u. anexistiert u. a. eine dramat. Adaption des Er- dere Miltonfreunde kennen. Seit 1680 in zählbandes Ein paar Leute suchen das Glück und Berlin, trat B. 1682 in die Dienste des branlachen sich tot (Urauff.: Theater Rampe, denburg. Hofes u. übernahm auch Ämter im Stuttgart, 1999), Eine Stunde Glück (Urauff.: Berliner Magistrat. 1722 wird er zum letzten Theater der Stadt Heidelberg, 2000), u. zu- Mal in zeitgenöss. Quellen erwähnt. Als Autor war B. in verschiedenen Bereiletzt das am Schauspielhaus Zürich uraufgeführte Musical Wünsch dir was (2006), bei dem chen tätig. Seine landeskundl. Arbeiten (eine in Botho Strauss’scher Manier ein arm- u. Beschreibung Sibiriens u. eine historisch schlagerseeliges Prophetentrio (Jesus, Bud- kommentierte Landkarte der Ukraine) u. der dha, Mohammed) auf ein mindestens ebenso auf seine Dolmetschertätigkeit am Berliner borniertes Liebespaar trifft, welches aber in Hof zurückgehende Bericht über die Reise seiner Unbeholfenheit u. Imperfektion letzt- Peters des Großen durch Brandenburg wurlich sympathischer u. authentischer wirkt als den erst lange nach B.s Tod gedruckt. Die lidie phrasendreschende, verlogene Prophetie teraturhistor. Bedeutung B.s gründet v. a. auf seiner Übersetzung von Miltons Paradise Lost: der drei Gottgesandten. Eine Beschäftigung mit utop. Szenarien ist Das verlustigte Paradeis (Zerbst 1682). Dabei auch die themat. Folie des Romans Ende gut hielt B. sich teilweise sehr eng an die nur (Köln 2004. 32005), in welchem die Protago- fragmentarisch überlieferte Übersetzung des nistin nach allen möglichen durchlebten Ka- Theodor Haak u. übernahm wie dieser den lamitäten ihren Seelenfrieden in einer ab- Blankvers der Vorlage, stieß damit jedoch auf strusen finnischen Gemeinschaft findet. Kritik u. Unverständnis u. geriet (v. a. nach Schließlich ist es eine von B.s Stärken, in- Bodmers Milton-Übersetzung) bald in Vermitten allen Unbills u. aller Beschränktheit gessenheit. Seine zweite Übersetzung aus menschlicher (Zweier-)Beziehungen beim dem Englischen, Der Socinianische Glaube (Bln. Leser eine Sympathie gerade für die in ihrer 1719) nach John Edwards’ The Socinian Creed Einfachheit verzweifelten Figuren hervorzu- (London 1697), hat die Forschung bisher noch rufen. Diese bergen hierbei, in ihrer oft nicht registriert. maßlos überzogenen Skizzierung, ein geraWeitere Werke: Beschreibung des neuen Landezu tragikomisches Wahrheitspotential. des u. Königreichs Sibiriens. In: Anton Friedrich

Bergengruen Büsching: Magazin für die neue Historie u. Geographie. Bd. 18, Halle 1784, S. 83–110. – Diarium Moskovitischer Affairen Anno 1697. Hg. Leo Loewenson. In: Ztschr. für Osteurop. Gesch. N. F. 1 (1931), S. 526–545. Literatur: Leo Loewenson: E. G. v. B., Translator of Milton and Russian Interpreter (1649–1722). In: The Slavonic and East European Review 34 (1956), S. 281–291. – Pamela R. Barnett: Theodore Haak (1605–90), the first german translator of ›Paradise Lost‹. Den Haag 1962, S. 160–186. – Wolfgang Bender: Johann Jacob Bodmer u. Johann Miltons ›Verlohrnes Paradies‹. In: JbDSG 11 (1967), S. 225–267. – Hans-Dieter Kreuder: Milton in Dtschld. Seine Rezeption im lat.- u. deutschsprachigen Schrifttum zwischen 1651 u. 1732. Bln./New York 1971, S. 81–112. – DBA 84,284–285. Dietmar Peil / Red.

Bergengruen, Werner, * 16.9.1892 Riga, † 4.9.1964 Baden-Baden; Grabstätte: ebd., Stadtfriedhof. – Erzähler, Lyriker u. Übersetzer. B. wuchs in Riga als Sohn eines baltendeutschen Arztes auf. Wegen der Russifizierungspolitik des Zarenreichs entschloss sich seine Familie zur Ausreise. B. blieb zeitlebens der Landschaft u. der Kultur seiner Heimat verbunden. Seine Erinnerungs- u. Reisebücher u. v. a. seine Gedichte wie die Lombardische Elegie (Zürich 1951) geben davon Zeugnis; sie sind Standortbestimmungen seiner geistigen Haltung. B. besuchte ein Gymnasium in Lübeck. Bis 1914 studierte er in Marburg, München u. Berlin Germanistik, Jura, Geschichte u. Theologie, ohne einen Studienabschluss zu erwerben. Bei Beginn des Ersten Weltkriegs meldete er sich wie seine beiden Brüder, die später fielen, als Kriegsfreiwilliger für Deutschland, 1919 trat er zur Baltischen Landwehr über, die in seiner Heimat gegen die Rote Armee kämpfte. Im selben Jahr heiratete er Charlotte Hensel u. arbeitete in Tilsit u. Memel als Journalist. 1922 übernahm er in Berlin die Leitung der Zeitschrift »Ost-Informationen« u. wurde 1925 Hauptschriftleiter der »Baltischen Blätter«. Ab 1927 lebte er als freier Schriftsteller zunächst in Berlin, seit 1936 in Solln bei München, bis 1942 sein Haus bei einem Luftangriff zerstört wurde.

460

Die folgenden Jahre verbrachte B. in Tirol. Ab 1946 lebte er in Zürich, 1948/49 in Rom (Römisches Erinnerungsbuch. Freib. i. Br. 1949). 1958 zog B. nach Baden-Baden um, seinem letzten Wohnort. Dem Nationalsozialismus stand B. nicht zuletzt wegen seiner traditionsbewussten u. christlich-humanen Gesinnung – er war 1936 zum kath. Glauben konvertiert – ablehnend gegenüber. Seine antifaschist. Gedichte des Gedichtzyklus Der ewige Kaiser (Graz 1937) gingen in Abschriften von Hand zu Hand. 1937 schlossen ihn die Nationalsozialisten wegen seines Romans Der Großtyrann und das Gericht (Hbg. 1935) aus der Reichsschrifttumskammer aus mit der Begründung, B. sei nicht geeignet, »durch schriftstellerische Veröffentlichungen am Aufbau der deutschen Kultur mitzuarbeiten«. Dennoch waren – mit Sondergenehmigungen – weitere Veröffentlichungen möglich (u. a. Am Himmel wie auf Erden. Hbg. 1940); Verbote folgten. Charakteristisch für B.s Frühwerk ist der Einfluss der Romantik, seine Anlehnung an die Erzählweise E. T. A. Hoffmanns (E. T. A. Hoffmann. Stgt. 1939. Biogr.) u. Jean Pauls. Skurrile Charaktere, unheiml. Begebenheiten u. unerwartete geheimnisvolle Wendungen des Schicksals sind typisch für seine Novellen (z.B. Rosen am Galgenstock. Bln. 1923. Schimmelreuter hat mich gossen. Mchn. 1923) u. Romane wie Das Gesetz des Atum (Mchn. 1923). Hier erzählt er von den Abenteuern eines Studenten der Rechtswissenschaften aus Jena, der von einem Marburger Professor in die Geheimnisse der Natur eingeführt wird. Auch der in der Zeit Katharina der Großen in B.s Heimat spielende Roman Das große Alkahest (Bln. 1926. Überarbeitet: Der Starost. Hbg. 1938) behandelt noch ein für die Romantik typisches Thema. Dargestellt wird der vergebl. Versuch eines auf seine herrscherl. Unabhängigkeit stolzen kurländ. Edelmannes, seinen ungehorsamen Sohn aus dem Bann einer Schauspielerin zu befreien. Auch die Preisgabe seines Lebensprinzips, zu der er sich durchringt, führt nicht zum Erfolg. Er findet zwar zuletzt zu sich selbst zurück, aber um den Preis völliger Vereinsamung. In den 1920er Jahren übersetzte B. einige Romane von Dostojewskij, Tolstoj u. Tur-

461

genjew. Bezeichnend für den Einfluss der russ. Dichter ist sein Roman Der goldene Griffel (Mchn. 1931. Rev. Neuausg. Zürich 1962). Zentral für B.s Werk sind seine Novellen. »Erzählen« ist für ihn ein »Urbedürfnis der menschlichen Natur«; er bezeichnete sich selbst als »mündlichen Menschen«. Entsprechend einer von Äußerungen Goethes her entwickelten Novellen-Theorie ist der Ausgangspunkt seiner Novellen die »unerhörte Begebenheit«. Das dramat. Geschehen konzentriert sich dann in einer prägnanten Szene, in der der Wendepunkt der Erzählung erreicht wird. An dieser Stelle offenbart sich immer die Gewissheit göttl. Vorsehung, die Eingebundenheit menschl. Schicksals in eine von Gott gegebene Ordnung. B.s bekannteste Novelle, Die drei Falken (Dresden 1937), handelt vom eigensüchtigen Streit unter den Erben eines Falkenmeisters. Zum Zeichen seiner Abscheu vor der materiellen Gier gibt der Haupterbe seinem Erbgut, einem wertvollen Falken, die Freiheit, anstatt ihn in der anstehenden Versteigerung zu veräußern. In den 1930er Jahren tritt, in Reaktion auf die Erfahrungen der Zeit, zum Zentralthema des Eingebundenseins des Menschen u. alles von ihm Bewirkten in eine ewig gültige Ordnung eine zunehmend intensive Problematisierung von Herrschergestalten u. herrscherlichem Handeln, v. a. in den drei großen Romanen dieses Jahrzehnts: Herzog Karl der Kühne oder Gemüt und Schicksal (Mchn. 1930. Neubearb. Hbg. 1943); Der Großtyrann und das Gericht; Am Himmel wie auf Erden. Es kommt zu eindringl. Darstellungen der Faszination, die von Herrschergestalten ausgeht, der Verführbarkeit Nah- u. Fernerstehender, zu meisterhaften Beschreibungen des Entstehens u. Sich-Ausbreitens von Angst u. Massensuggestionen. Während der Herzog von Burgund für seine Unfähigkeit, seinen Entwurf gegenwärtiger u. bes. künftiger Realität u. sein Selbstbild mit der Wirklichkeit zusammenzubringen, mit tragischem Scheitern u. seinem Leben bezahlt, gelangen der Großtyrann, eine von B. erfundene Gestalt, u. Kurfürst Joachim von Brandenburg, der Protagonist des bedeutendsten der Werke B.s, des Romans Am Himmel wie auf Erden, zur Einsicht in ihre Schuld an den Verfehlungen

Bergengruen

der von ihnen Beherrschten u. kehren beispielgebend in die Ordnung der Dinge zurück. B.s Werke wurden in viele Sprachen übersetzt u. erreichten hohe Auflagen. 1951 erhielt B. den Wilhelm-Raabe-Preis u. 1962 den Schillerpreis. 1958 wurde er Ehrendoktor der Universität München. Er war Mitgl. im Orden Pour le mérite. Weitere Werke: Das Brauthemd. Ffm. 1925 (N.). – Das Kaiserreich in Trümmern. Lpz. 1927 (R.). – Die Woche im Labyrinth. Stgt. 1930 (R.). – Der tolle Mönch. Bln. 1930 (N.). – Die Feuerprobe. Lpz. 1933 (N.). – Die Ostergnade. Bln. 1933 (N.). – Der Teufel im Winterpalais. Lpz. 1933 (E.en). – Die Leidenschaftlichen. Hbg. 1939 (N.). – Das Beichtsiegel. Innsbr. 1946 (N.). – Pelageja. Zürich 1947 (R.). – Sternenstand. Zürich 1947 (N.). – Die Hände am Mast. Zürich 1948 (E.). – Das Feuerzeichen. Zürich 1949 (R.). – Die letzte Reise. Zürich 1950 (N.). – Der letzte Rittmeister. Zürich 1952 (R.). – Der Pfauenstrauch. Zürich 1952 (N.). – Nachricht vom Vogel Phönix. Zürich 1952 (N.). – Die Flamme im Säulenholz. Passau 1952 (N.). – Die Sterntaler. Zürich 1953 (N.). – Die Rittmeisterin. Wenn man so will ein Roman. Zürich 1954. – Die Zwillinge aus Frankreich. Ffm. 1955 (E.en). – Das Netz. Zürich 1956 (N.). – Hubertusnacht. Olten 1957 (E.). – Bärengesch.n. Zürich 1959. – Zorn, Zeit u. Ewigkeit. Zürich 1959 (E.en). – Schreibtischerinnerungen. Zürich 1961 (Autobiogr.). – Die Schwestern aus dem Mohrenland. Zürich 1963 (E.). – Räuberwunder. Zürich 1964 (E.). – Die schönsten Novellen. Zürich 1965. – Dichtergehäuse. Zürich 1966 (Autobiogr.). Neuere Ausgaben: Von Riga nach anderswo oder Stationen eines Lebens. Bücher – Reisen – Begegnungen. Hg. N. Luise Hackelsberger. Zürich 1989. – Schnaps mit Sakuska. Balt. Lesebuch. Hg. dies. Mchn. 1992. – Sommer am Strand. Balt. Gesch.n. Zusammengestellt u. mit einem Nachw. vers. v. ders. Ffm. 2002. – Ges. Gedichte. Hg. dies. Zürich u. a. 2004. – Schriftstellerexistenz in der Diktatur. Aufzeichnungen u. Reflexionen zu Politik, Gesch. u. Kultur 1940–63. Hg. Frank-Lothar Kroll. Mchn. 2005. Literatur: Bibliografie: B. In: Schmidt, Quellenlexikon, Bd. 2 (1995), S. 204–214. – Leben und Werk: Hans Bänziger: W. B. Weg u. Werk. Bern/Mchn. 1950. 41983. – Günter Klemm: W. B. Wiesb. 21954. – H. Bänziger: W. B. In: Christl. Dichter der Gegenwart. Hg. Hermann Friedmann u. Otto Mann. Heidelb. 1955, S. 345–358. – Wilhelm Grenzmann: Dichtung u. Glaube. Ffm. 61967, S. 239–297. –

Bergengruen Werner Wilk: W. B. Bln. 1968. – Carl Jacob Burckhardt: Über W. B. Zürich 1968. – H. Bänziger in: Christl. Dichter im 20. Jh. Hg. O. Mann. Heidelb. 2 1968, S. 371–382. – Hermann Kunisch: Hdb. der Gegenwartslit. Bd. 1, Mchn. 21969, S. 110–115. – Wilhelm Haefs: W. B. In: Dt. Dichter. Leben u. Werk deutschsprachiger Autoren. Hg. Gunter E. Grimm u. Frank Rainer Max. Bd. 7: Vom Beginn bis zur Mitte des 20. Jh. Stgt. 1989, S. 403–411. – H. Kunisch in: Neues Hdb. der dt. Gegenwartslit. seit 1945. Hg. Dietz-Rüdiger Moser. Mchn. 1990, S. 65–68. – H. Bänziger: B. heute. In: Schweizer Monatsh.e 72 (1992), S. 833–841. – W. B. 1892–1964. Hg. v. der Stadtbibl. Baden-Baden 1992. – Kurt Adel: Von Sprache u. Dichtung. Ffm. u. a. 2004, S. 103–116. – Drittes Reich und Widerstand: Charles W. Hoffmann: Opposition poetry in Nazi Germany. Berkeley 1962, S. 17–38. – Adalbert J. Hofstetter: W. B. im Dritten Reich. Diss. Fribourg 1968. – Wolfgang Brekle: Schriftsteller im antifaschist. Widerstand 1933–45 in Dtschld. Weimar 1985, S. 166–182. – N. Luise Hackelsberger: W. B. im Dritten Reich. In: Resistance to National Socialism. Kunst u. Widerstand. Forschungsergebnisse u. Erfahrungsber.e. Third Nottingham Symposium. Hg. Hinrich Siefken u. Hildegard Vieregg. Mchn. 1995, S. 67–88. – Joël Pottier: Der Widerstand der dt. christl. Dichter gegen den NS am Beispiel Gertrud v. le Forts u. W. B.s. In: Gedenkschr. für H. Kunisch. Hg. Lothar Bossle u. ders. Paderb. 1996, S. 151–182. – Günter Wirth: Literar. Geschichtsdeutung im Umfeld der ›Inneren Emigration‹: W. B., Reinhold Schneider, Jochen Klepper. In: Vergangenheit vergegenwärtigen. Der histor. Roman im 20. Jh. Hg. Matthias Flothow u. Frank-Lothar Kroll. Lpz. 1998, S. 31–50. – F.-L. Kroll: Geschichtserfahrung u. Gegenwartsdeutung bei W. B. In: Wort u. Dichtung als Zufluchtsstätte in schwerer Zeit. Hg. ders. Bln. 1999, S. 45–63. – N. L. Hackelsberger: Das Wort als Waffe. W. B., Carl Muth u. die Ztschr. ›Das Hochland‹ im Dritten Reich. In: Die totalitäre Erfahrung. Dt. Lit. u. Drittes Reich. Hg. F.-L. Kroll. Bln. 2003, S. 103–116. – Helmuth Kiesel: Denken auf Leben u. Tod. Literar. Reflexionen einer ethisch-polit. Problemkonstellation in der Zeit des Totalitarismus. In: Ernst Jünger. Politik. Mythos. Kunst. Hg. Lutz Hagestedt. Bln./New York 2004, S. 181–191. – F.-L. Kroll: Das Deutschlandbild W. B.s im Spiegel seiner Tagebücher. In: Literar. u. polit. Deutschlandkonzepte 1938–49. Hg. Gunther Nickel. Gött. 2004 (Zuckmayer-Jb. 7), S. 187–210. – N. L. Hackelsberger: Freiraum Schreibtisch. Gedanken u. Erinnerungen W. B.s. In: Europ. Dimensionen deutschbalt. Lit. Hg. F.-L. Kroll. Bln. 2005, S. 191–195. – F.-L. Kroll: W. B.s Tagebuchaufzeichnungen zum

462 Dritten Reich. Ebd., S. 175–189. – Maria Schütze: Paradoxie der Welt. Anmerkungen zu W. B. s nachgelassenen Aufzeichnungen. Ebd., S. 197–205. – Aspekte des Gesamtwerkes: Johanna Lange: Das Bild des Menschen bei W. B. Diss. Bonn 1948. – Otto Friedrich Bollnow: Unruhe u. Geborgenheit im Weltbild neuerer Dichter. Stgt. 1953, S. 166–182. – Elisabeth Sabota: Das Menschenbild bei B. Zürich/Mchn. 1962. – Maria Gallhammer: Bibelzitate im Werk W. B.s. Diss. Wien 1969. – Hans-Jürgen Wipfelder: Die Rechts- u. Staatsauffassung im Werk W. B.s. Bonn 1969. – Gudrun F. T. Kuschke: The representation of the Christian ethos in the poetry of W. B. An integrated approach. Diss. Witwatersrand 1981. – Helga Kaufmann: Das Problem der Furcht im Werk W. B.s. Mchn. 1984. – Alphons Hämmerle: Heile Welt. W. B. In: Ders.: Spruch u. Widerspruch. Europ. Dichtung. Zwölf Ess.s. Goldau 1989, S. 16–21. – Anatol Rosenfeld: Mundo íntegro. W. B. In: Ders.: Letras germânicas. São Paulo 1993, S. 157–163. – G. Wirth: Das Baltische bei B. u. das Sarmatische bei Bobrowski. In: DU 47 (1994), S. 486–491. – Hanna-Barbara GerlFalkovitz: Magie u. Erlösung. Zu W. B.s Grundspannung. In: Gedenkschr. für H. Kunisch. Hg. L. Bossle u. J. Pottier. Paderb. 1996, S. 67–83. – F.-L. Kroll: Dichtung als Kulturvermittlung. Über einen Grundaspekt im Schaffen W. B.s. In: Flucht u. Vertreibung in der Lit. nach 1945. Hg. ders. Bln. 1997, S. 123–125. – Ders. u. Alfred Schmidt: Dichtung als Kulturvermittlung. Der Schriftsteller W. B. Filderstadt 1997. – H. Bänziger: Das Menschenbild bei W. B. In: Wort u. Dichtung als Zufluchtsstätte in schwerer Zeit. Hg. F.-L. Kroll. Bln. 1999, S. 37–44. – Jutta Radczewski-Helbig: Literar. Wirkungen des Phantastischen. Beiträge zu einer Sonderform deutschbalt. Dichtung im 20. Jh. am Beispiel W. B. In: Europ. Dimensionen deutschbalt. Lit. Hg. F.-L. Kroll. Bln. 2005, S. 155–174. – FrankHolger Wapulski: Aspekte des Phantastischen. Das Übernatürliche im Werk W. B.s. Ffm. 2006. – Romane und Erzählungen: Brigitte Grell: Grundzüge des Menschenbildes in der ep. Dichtung W. B.s. Diss. Bln. 1951. – Peter Baumann: Die Romane W. B.s. Diss. Zürich 1954. – Gustav Konitzky: Mensch u. Verantwortung in den Romanen W. B.s. Diss. Bloomington 1954. – Karl Migner: Formprobleme der Erzählkunst W. B.s. Diss. Mchn. 1956. – Gerhard Rief: Die Form der Novelle bei W. B. Diss. Innsbr. 1956. – Fritz Lockemann: Gestalt u. Wandlungen der dt. Novelle. Mchn. 1957, S. 371–374. – N. L. Thomas: Symbolism in the ›Novellen‹ of W. B. Diss. Liverpool 1957. – Ilse Jordan: Aufbauformen in den Novellen u. Erzählungen W. B.s. Diss. Mchn. 1958. – Friedrich Aschka: Die Zeit u. die Erscheinung des Menschen

Berger

463 im dichter. Weltentwurf. Diss. Erlangen 1959, S. 14–100 [Am Himmel wie auf Erden]. – D. G. Coulson: Form and narrative technique in the major novels of W. B. Diss. Hull 1964. – K. Algoed: Der geprüfte Mensch. Beitrag zum Studium der histor. Romane v. W. B. Diss. Löwen 1965. – Peter Meier: Die Romane W. B.s. Bern 1967. – Ilmars Birznieks: The significance of the Baltic background in W. B.s narrations. Diss. Tulane 1968. – David J. Parent: W.B.s Das Buch Rodenstein. A detailed analysis. Den Haag 1974. – Josef Kunz: Die dt. Novelle im 20. Jh. Bln. 1977, S. 191–200. – Susann Therese Samples. Characters and their conflicts in selected novels of W. B. and Ernst Wiechert 1932–50. Diss. New Haven 1982. – Hermann Kurzke: Heidn. Urgestein. Über W. B.s Am Himmel wie auf Erden (1940). In: Romane v. gestern – heute gelesen. Hg. Marcel Reich-Ranicki. Bd. 3: 1933–45. Ffm. 1990, S. 246–250. – Benno v. Wiese: Gegen den Hitler in uns selbst. Über W. B.s Der Großtyrann u. das Gericht (1935). Ebd., S. 61–68. – Simon Ward: Am Himmel wie auf Erden: The historical novel and ›inner emigration‹. In: Travellers in time and space. The German historical novel. Hg. Osman Durrani and Julian Preece. Amsterd. u. a. 2001, S. 301–312. – Julia Valerie Tietze: Der objektive Charakter des Strafgesetzes im Widerstreit zum subjektiven Rechtsgefühl. Eine jurist. Auseinandersetzung mit dem Roman Das Feuerzeichen v. W. B. Herdecke 2004. – Gedichte: Paul A. Mackenzie: ›Die heile Welt‹ in the lyrics of W. B. Bern 1980. – Ingeborg Scholz: Dt. Lyrik im Spannungsbogen zwischen Kunst u. Religion. W. B. u. Rudolph Alexander Schröder. Bonn 2002. Angelika Müller / Hartmut Laufhütte

Berger, Alfred (Maria Julius) Frhr. von (Frhr. 1878), * 30.4.1853 Wien, † 24.8. 1912 Wien; Grabstätte: ebd., Zentralfriedhof. – Lyriker, Dramatiker, Erzähler; Theaterintendant.

des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg (bis 1909). B. war 1904 Mitbegründer der »Österreichischen Rundschau« u. wurde 1910 als Nachfolger Paul Schlenthers Direktor des Wiener Burgtheaters. B. hat ein schmales u. nur wenig beachtetes literar. Œuvre, v. a. Gedichte, Dramen u. Novellen, hinterlassen. Die Texte sind vornehmlich klassizist. Ideen verpflichtet. Gleiches gilt für seine Schriften zum Theater, z.B. Dramaturgische Vorträge (Wien 1890) u. Meine hamburgische Dramaturgie (Wien 1910). B.s Bedeutung lag in seiner breiten Wirksamkeit als Theaterleiter. In seiner Repertoiregestaltung war er neben der Pflege der Weimarer Klassik auch auf die Förderung des Naturalismus (Ibsen, Hauptmann) u. der Moderne (Hofmannsthal, Schnitzler) einschließlich ihrer internat. Vorbilder (Wilde, Tolstoi) bedacht. B. wurde in einem Ehrengrab der Stadt Wien beigesetzt. Weitere Werke: Oenone. Wien 1873 (D.). – Habsburg. Märchenspiel. Wien 1898 (D.). – Semmelweis u. andere Gesch.n. Bln. 1904 (N.n). – Theater u. Lit. Ausgew. dramaturg. u. literaturkrit. Schr.en. Bonn 1992 (mit Bibliogr. S. 59–67). Ausgaben: Ges. Schr.en. Aus dem Nachl. hg. v. Anton Bettelheim u. Karl Glossy. 3 Bde., Wien 1913. – Ges. Gedichte. Stgt. 1891. Literatur: Joseph Gregor: A. Frhr. v. B. In: NDB. – Konrad Schrögendorfer: Schicksal Burgtheater. A. Frhr. v. B. u. der Anbruch der Moderne. Graz/Wien/Köln 1966. – Robert Mühlher: A. Frhr. v. B. u. die Übergangszeit. In: Ders.: Österr. Dichter seit Grillparzer. Wien/Stgt. 1973, S. 218–275. – Ders.: Das Hebbel-Bild bei A. v. B. In: Hebbel, Mensch u. Dichter im Werk. Hg. Ida Koller-Andorf. Wien 1990, S. 143–152. – Ulrike Tanzer: ›Ob ich klar bin über mich?‹ Selbstbeobachtung u. Selbsterziehung bei Rosa Mayreder u. A. Frhr. v. B. In: Lit. als Gesch. des Ich. Hg. Eduard Beutner u. dies. Würzb. 2000, S. 139–153.

B., Sohn eines Rechtsanwalts u. späteren österr. Reichstagsabgeordneten u. Ministers, Andreas Schumann / Ralf Georg Bogner studierte in Wien die Rechte u. Philosophie u. promovierte 1876 zum Dr. jur. 1886 erwarb er die Venia legendi für Ästhetik. 1886/87 Berger, Friedemann, * 13.4.1940 Schroda reiste B. durch Indien u. Ceylon (Sri Lanka); bei Posen. – Erzähler, Lyriker u. Hörnach seiner Rückkehr war er als »artistischer spielautor. Sekretär« am Wiener Burgtheater tätig. 1889 heiratete er die Schauspielerin Stella Hohen- Der Pfarrerssohn B. studierte Theologie u. fels. Nachdem B. 1894–1900 eine außeror- Germanistik in Naumburg u. Berlin, war andentl. Professur für Ästhetik in Wien wahr- schließend als freier Schriftsteller u. Buchgenommen hatte, übernahm er die Leitung händler tätig, bis er 1971 Lektor im Gustav-

Berger

Kiepenheuer-Verlag in Weimar wurde. Anfang der 1990er Jahre fungierte er für einige Zeit als Geschäftsführer, schließlich als Programmdirektor des Verlages. Heute lebt B. als freier Autor in Leipzig. Nach kleineren Veröffentlichungen in Zeitschriften u. Anthologien schuf B. 1965 eine Hörspielfassung von Ilse Aichingers Roman Die größere Hoffnung, die ihm erste Anerkennung eintrug. Sein 1971 erschienener Roman Krippe bei Torres. Ein neapolitanisches Idyll (Bln./DDR) problematisiert am Beispiel des ital. Aufklärers Abbé Galiani das Verhältnis von christlichem Glauben u. revolutionärer Weltveränderung. In zahlreichen Nachdichtungen (z. B. Guillaume Apollinaire u. Alexander Blok) u. in seinem ersten Gedichtband Orts-Zeichen (Bln./DDR 1973) versuchte B. an die europ. Moderne anzuschließen. In seiner lyr. Sprache, die den Einfluss seines Förderers Johannes Bobrowski erkennen lässt, vertraut er auf die evokative Kraft des Einzelwortes u. die poetische Konstellation der Worte zu magischen »Sprachfiguren«. Weitere Werke: Eine lange, dunkle Nacht. 1968 (Hörsp.). – Einfache Sätze. Bln. 1987 (G.). – Gesichter Tibets. 200 Farbfotos u. Betrachtungen. Lpz. 1991. – Die Milchstraße am Himmel u. der Kanal auf Erden. Gesch., Kultur u. Gegenwart an Chinas Großem Kanal. Lpz. 1991. – Archäologie. Von der Errichtung der großen Mauer bis nach ihrer Zerstörung. Ausgew. Gedichte 1961–99. Lpz. 2000. Michael Braun / Red.

Berger, Johann Gottfried Immanuel, * 27.7.1773 Ruhland/Oberlausitz, † 20.5. 1803 oder 20.3.1804 Schneeberg/Erzgebirge. – Verfasser theologischer Schriften, Satiriker. Der Pfarrerssohn B. besuchte die Fürstenschule in Meißen, studierte in Wittenberg, Jena u. in Göttingen; dort war er Repetitor der theolog. Fakultät. 1802 wurde er Pfarrer in Schneeberg. B.s Schriften sind dadurch gekennzeichnet, dass sie Ergebnisse seines theologisch-hermeneut. Denkens (z.B. die Veränderung des Bildes von Johannes dem Evangelisten zum »sanften Liebesjünger«, die Zuordnung des

464

ersten Johannesbriefs als prakt. Teil zum Evangelium) moralisch nutzbar machen wollen (Moralische Einleitung in das Neue Testament. Lemgo 1797–1801. Praktische Einleitung in das Alte Testament. Lpz. 1798/99). Auch in der theolog. Diskussion um neue, an Vernünftigkeit u. Zeitgemäßheit ausgerichtete Ideen erwies sich B. als Theologe der Aufklärung. Enzyklopädisches Bestreben wird in seiner Geschichte der Religionsphilosophie oder Lehren und Meinungen der originellsten Denker aller Zeiten über Gott und Religion, historisch dargestellt (Bln. 1800) deutlich, kritisch-polemische Zielrichtung zeigt sich in Anax Apollon, oder Versuch über die Verdienste der Fürsten um die Wissenschaften (Lemgo 1803) sowie in den Briefen über die allerneuste prophetische Guckkastenphilosophie des ewigen Juden (o. O. 1797), einer unter dem Namen Hieronymus Eusebius Augustinus gegen Friedrich Nicolai gerichteten Spottschrift. Weitere Werke: Aphorismen zu einer Wissenschaftslehre der Religion. Lpz. 1796. – Der Schutzgeist. 2 Bde., Lpz. 1796 (R.). Christian Schwarz / Red.

Berger, Karl Heinz, auch: K. Heinz, * 28.7. 1928 Köln, † 25.11.1994 Berlin. – Verfasser von biografischen Romanen, Kriminalromanen, Kinder- u. Jugendbüchern. B. wuchs als Sohn eines Angestellten u. einer Schneiderin in Köln auf. Nach dem Abitur zog er nach Berlin u. nahm 1947 an der Humboldt-Universität das Studium der Germanistik, Anglistik u. Geschichte auf. 1952–1957 war er Verlagslektor in Berlin/ DDR. In den Jahren 1957/58 studierte B. am Literaturinstitut Johannes R. Becher, Leipzig. Danach lebte er als freischaffender Lektor u. Schriftsteller in Ostberlin. B.s erste schriftstellerische Werke waren biogr. Romane über Johann Gottlieb Fichte (Bln./DDR 1953) u. Gotthold Ephraim Lessing (Bln./DDR 1956). Seine Erzählung Der Bruderbund (Bln./DDR 1961) beschäftigt sich mit dem Leben des dt. Frühsozialisten Wilhelm Weitling. Später schrieb B. zahlreiche Romane mit zeitgeschichtlicher Thematik, Kriminalromane sowie Kinder- u. Jugendbücher.

465

Seine Erzählweise orientierte sich am bürgerl. Realismus des 19. Jh. Charakteristisch ist seine distanzierte Ironie gegenüber seinen unheldischen Protagonisten. B. trat auch als Herausgeber (Klassische deutsche Erzähler. Zus. mit Gerhard Schneider u. Hans Dietrich Dahnke. Bln./DDR 1953. Deutsche Balladen von Bürger bis Brecht. Zus. mit Walter Püschel. Bln./ DDR 1956) u. Übersetzer Mark Twains (u. a. Die Abenteuer des Huckleberry Finn. Bln./DDR 1955. 71966 u. weitere Ausg.n), Coopers u. a. hervor. Weitere Werke: Der Aufstand der Giganten. Gesch. u. Sage um den Altar v. Pergamon. Bln./ DDR 1963 (Jugendbuch). – Das Kutschpferd u. der Ackergaul. Bln./DDR 1964 (Fabeln). – Nettesheim oder die Schwierigkeit, ein Held zu werden. Bln./ DDR 1966 (R.). – Robin Hood, der Rächer vom Sherwood. Bln./DDR 1968 (Jugendbuch). – Die Mörder werden alt. Bln./DDR 1969 (R.). – Die Wohnung oder Auswege ins Labyrinth. Bln./DDR 1976 (R.). – Geschäftsrisiko. Bln./DDR 1982. 21989 (R.). – Sirenengesang. Bln./DDR 1984 (R.). – Verjährt, aber nicht vergessen. Bln./DDR 1989 (R.). – Was ich weiß, macht mich heiß. Bln. 1992 (R.). – Herausgeber: Dt. Erzähler des 20. Jh. (zus. mit Kurt Böttcher u. Paul Günter Krohn). Bln./DDR 1957. – Engl. Erzähler des 19. Jh. (zus. mit Gerhard Schneider). Bln./DDR 1962. – Die Affenschande. Dt. Satiren v. Sebastian Brant bis Bertolt Brecht. Bln./DDR 1968. 81987. Literatur: Manfred Berger: Nachglimmender Docht u. zerfasernder Rauch: die ›erfundenen‹ autobiogr. Wahrheiten v. K. H. B. In: Dt. Studien 29 (1988), S. 164–170. Heino Freiberg / Red.

Berger, Lore, * 17.12.1921 Basel, † 14.8. 1943 Basel (Freitod); Grabstätte: ebd., Hörnli-Friedhof. – Romanautorin. Als Tochter eines Lehrerehepaars erlebte B. eine wohlbehütete Kindheit, durchlief die Schulen bis zur Maturität u. schrieb sich 1939 an der Universität Basel für Germanistik u. Romanistik ein. 1941 ließ sie sich freiwillig zum militär. Frauenhilfsdienst einberufen u. leistete bis zum Juni 1943 Dienst als BüroOrdonnanz bei einem Territorialgericht. Dort schrieb sie, indem sie eine unglückliche Liebe in Form eines fiktiven Tagebuchs literarisch gestaltete, ihren einzigen Roman Der barmherzige Hügel. Eine Geschichte gegen Thomas

Berger

(letzte Ausg. Mchn. 1986). Vor dem Hintergrund der vom Krieg umschlossenen Schweiz erzählt B. die hoffnungslose Liebe der Studentin Esther zu einem jungen Mann, der sich bald wieder von ihr abgewendet hat. Esther verweigert sich dem Leben u. tritt in einen Hungerstreik, weil sie das nicht finden kann, wonach sie am meisten verlangt: Leidenschaft u. Liebe. B. reichte das Manuskript, das v. a. auch seiner poet. Landschaftsdarstellung wegen bedeutsam ist, im Juli 1943 bei der Büchergilde in Zürich zu einem literar. Wettbewerb ein, wo es den fünften Platz errang u. 1944 postum publiziert wurde. Durch einen Sprung vom Wasserturm auf dem Basler Bruderholz, dem »barmherzigen Hügel« ihres Romans, hatte sich B. das Leben genommen. Der Roman fand erst bei seiner Wiederentdeckung 1981 Beachtung, wurde verfilmt u. ins Französische u. Italienische übersetzt. Literatur: Charles Linsmayer: L. B. – Versuch einer Annäherung. In: L. B.: Der barmherzige Hügel. Neudr. Zürich 1981. Mchn. 1986. – Liliane Studer: L. B. 1921–43: ›Ich sah oft mehr, als ich wollte‹. In: WahnsinnsFrauen. Hg. Sibylle Duda u. Luise F. Pusch. Bd. 2, Ffm. 1996, S. 306–332. Charles Linsmayer / Red.

Berger, Raimund, * 31.3.1917 Hall/Tirol, † 21.1.1954 Innsbruck. – Dramatiker. Der Sohn eines Notars besuchte die Schule in Melk, Admont u. das Realgymnasium in Innsbruck. Er litt seit seinem 17. Lebensjahr unter einer Lähmung u. musste sich immer wieder schwierigen Operationen unterziehen. Zur Literatur fand B. erst in der Nachkriegszeit. 1949 entstand die »lyrische Paraphrase« Ein Papierblumenfrühling, zwei Jahre später die Komödie Zeitgenossen, deren Aufführung noch im selben Jahr in Graz stattfand u. den Staatspreis für die beste Uraufführung des Jahres erhielt. 1952 wurde B. Hörspiellektor für den Sender Tirol. In den Jahren bis zu seinem Tod schrieb er in rascher Folge eine Anzahl weiterer Stücke, in denen er ein ideologiefreies »Theater des Menschlichen« realisieren wollte (Jupiter und Jo/Der

Berger

466

Schelm von Limburg. 1952. Ballade vom nackten Mann. 1953. Das Reich der Melonen. 1955). Eine Teilsammlung seiner Werke erschien 1965 u. d. T. Ausgewählte Stücke in Salzburg. Literatur: Otto Breicha: Idee u. Verwirklichung des Dramatischen bei R. B. Diss. Wien 1960. Peter König / Red.

Berger, Traugott Benjamin, * 18.7.1754 Wehlen bei Pirna, † 14.5.1810 Dresden. – Librettist, Liederdichter, Dramatiker.

(Dresden 1788. 2 CDs mit Tonaufnahmen Dresden 2006). Noch größeren Ruhm erwarb B. als Dramatiker, nachdem er sich im Jahre 1775 neben Friedrich Maximilian Klinger (Die Zwillinge) u. Johann Anton Leisewitz (Julius von Tarent) mit einem Renaissance-Drama »Die ungleichen Brüder« an dem von der Schauspielgesellschaft Ackermann u. Schröder ausgeschriebenen Dramenwettbewerb beteiligt hatte. Wie die konkurrierenden »Stürmer und Dränger« gestaltet B. in seinem Trauerspiel, erschienen u.d.T. Galora von Venedig (Lpz. 1778. 21790. Augsb. 1793. Lpz./Wien 1794. Übers. ins Niederländische 1799), denselben Bruderzwist im Hause des florentin. Großherzogs Cosimo I. von Medici. Um die Titelheldin, die Venezianerin Galora, zu heiraten, ersticht der leidenschaftl. Prinz Garsias seinen Bruder, den Kardinal Johann. Wie in den Konkurrenzstücken richtet auch in der Galora von Venedig der Vater den ungeratenen Sohn auf dessen Bitte: »Küssen, segnen will ich die väterliche Hand, die mir das Schwerdt ins Herz stößt« (V 6). Typisch für den Sturm u. Drang ist neben den feindl. Brüdern die Figur des wankelmütigen Hofkavaliers Casori, in dem B. ein Pendant zu Goethes Weislingen gestaltet hat. Wie die mehreren Folgeauflagen u. Rezensionen bezeugen, schätzten die Zeitgenossen B.s heute weitgehend vergessenes Brudermord-Drama durchaus.

B. besuchte die Kreuzschule in Dresden, bevor er in Wittenberg zunächst Theologie, dann Jura studierte. Dort hörte er wohl 1773 eine Vorlesung des Gräzisten u. Professors der Dichtkunst, Benjamin Gottlieb Lorenz Boden, über Achilles Tatius, denn 1776 wirkte B. an Bodens kommentierter Edition des Erotikon (Lpz. 1776) mit. Danach war B. in Wittenberg, Frankenberg u. Dresden als Privatlehrer tätig. Zu seinen Schülern zählten neben dem späteren Mediziner Salomo Konstantin Titius der früh verstorbene Maler August Kirsch (über dessen Beerdigung in Rom berichtet Karl Philipp Moritz), den B. v. a. in Griechisch unterrichtete. Möglicherweise übersetzte B. die Vorlesungen von Giovanni Battista Casanova, Professor an der Dresdner Kunstakademie u. Bruder des berüchtigten Aventuriers, ins Deutsche. Im Jahre 1787 wurde B. Sekretär beim Obersteuerkollegium in Dresden. Weitere Werke: Der Landtag. Ein Lustspiel in B.s beachtliches dichter. Werk entstand fast drei Aufzügen. Ffm. u. Lpz. 1777. – Lykon u. Ayle. ausschließlich in den frühen produktiven Eine Scene aus der alten Welt. Lpz. 1778. Jahren 1777 u. 1778. So erprobte sich B. in Literatur: Friedrich Victor Leberecht Plessing: den verschiedenen musikdramat. Genres: Krit. Abhandlung über [T. B. B.s] Trauerspiel ›GaNeben dem »tragischen Singspiel« Achills lora von Venedig‹. In: Königsbergische Gelehrte zürnender Schatten (Lpz. 1777), das die grau- Ztg. 1780, Nr. 16–20. – Johann Gottlieb August samen Vorgänge nach Trojas Fall bis zur Ab- Klaebe: Neues gelehrtes Dresden. Lpz. 1796, S. 12. – Jördens, Bd. 5, S. 735 f. – August Sauer: Joachim fahrt der siegreichen Griechen behandelt, Wilhelm v. Brawe – der Schüler Lessings. Straßb. schrieb er die »komische Oper« Die beschleu- 1878, bes. S. 118. Achim Aurnhammer nigte Hochzeit (Lpz. 1777). Auch als Liederdichter wurde B. bekannt. Seine anakreont. Liederchen und Gedichte (Lpz. 1777) ergänzt ein Berger, Uwe, * 29.9.1928 Eschwege/Hesheiteres prosimetr. Schäferspiel (Das verirrte sen. – Lyriker, Erzähler u. Essayist. Julchen). Pathetisch-ernst gestimmt sind dagegen B.s Passionskantaten, unter ihnen das Nach dem Abitur studierte B. in Berlin, war von Christian Ehregott Weinling in Musik als Reporter u. Lektor tätig u. ließ sich 1956 gesetzte Oratorium Der Christ am Grabe Jesu schließlich als freischaffender Schriftsteller in

467

Berghofer

Ostberlin nieder; auch heute lebt er in Berlin. Wegworte. Gedichte u. Zeichen. Willebadessen 2006. B. ist verheiratet u. hat einen Sohn. Michael Braun / Red. Noch 1945 als Flakhelfer eingezogen, schlug sich die Erfahrung von Krieg u. NaBerghofer, Amand, * 1.12.1745 Grein/ tionalsozialismus als zentrales Thema in den Oberösterreich, † 7.2.1825 Graz. – Lyriker autobiogr. Schriften B.s nieder. In seiner lyr. u. philosophischer Schriftsteller. Produktion seit 1946 orientierte sich B. an klassischen (Hölty, Goethe, Hölderlin) u. Der Sohn eines Rechtspflegers wuchs in Pasmodernen Vorbildern (Johannes R. Becher). sau auf u. erhielt in der dortigen KlosterSeine Lyrik, die Reim u. traditionelle Ge- schule eine streng kath. Erziehung. Nach dichtformen bevorzugt u. »ihrem Wesen dem Studium in Wien wurde B. Normalnach massenwirksam« (Berger) sein will, schuldirektor in Steyr. Veranlasst durch den neigt zu pathet. Gebärden. Die lyr. Prätention Tod seiner Frau u. seiner drei Kinder sowie auf die Verbundenheit mit dem »sozialisti- durch Auseinandersetzungen mit den Schulschen Kollektiv« führte in seiner polit. Dich- behörden, legte B. 1779 sein Amt nieder. Den Wunsch nach naturnaher Existenz abseits des tung in die Sackgasse der Apologetik. Mit dem Band Gesichter (Bln./DDR 1968) gesellschaftl. Lebens versuchte er in der wandte sich B. dem zyklisch weit ausgrei- Schweiz u. in einem Tal nahe Baden bei Wien fenden Weltanschauungsgedicht zu. Dane- zu verwirklichen. In finanzieller Not wurde ben widmete er sich immer wieder den klas- er schließlich Direktor der Klosterbibliothesischen Sujets der Lyrik: so etwa dem Lie- ken in Prag. Vielen Zeitgenossen erschien B. als »überbesgedicht in Volksliedstrophe u. Sonettform spannter Philanthrop«; Wieland hingegen im Band In deinen Augen dieses Widerscheinen nannte ihn einen »menschenfreundlichen (Bln./DDR 1985). Neben seiner eigenen liteMisanthropen« u. verglich ihn mit Jeanrar. Arbeit entfaltete B. auch eine rege HerJacques Rousseau. B.s zunächst aus dem Geist ausgebertätigkeit: 1970 gab er mit Günther u. mit den Mitteln der Empfindsamkeit vorDeicke die prominente Anthologie Lyrik der getragene kulturkrit. Zivilisationsskepsis DDR (Bln./Weimar. 6., überarb. u. erw. Aufl. legte diesen Vergleich nahe. In seinen häufig 1984) heraus. Nachdem er in den 1990er aphorist. Prosatexten wendet er sich gegen Jahren nur wenig publiziert hatte (v. a. Esdas seiner Meinung nach entfremdete Leben says), legte B. seit 2003 mehrere Bände mit in der städtischen u. höf. Gesellschaft. Nur Gedichten u. Versen vor, die seit der WendeAufklärung u. Vernunft in der Vermittlung zeit entstanden sind. mit Empfindung u. Gefühl führen für B. aus B. erhielt u. a. den Johannes R. Becher-Preis dem Zustand der Unfreiheit, von dem allein 1961, den Nationalpreis der DDR 1972 u. den der Adel profitiere. Gleichzeitig beurteilt B. Thoedor-Körner-Preis 1988. die Möglichkeiten gesellschaftlicher VeränWeitere Werke: Hütten am Strom. Bln./DDR derungen skeptisch: Das einfache Landleben 1961 (L.). – Rote Sonne. Bln./DDR 1963 (P.). – Bil- im Einklang mit der Natur wird so zum der der Verwandlung. Bln./Weimar 1971 (L.). – Die idealen antizivilisator. Gegenentwurf (vgl. Chance der Lyrik. Bln./Weimar 1971 (Ess.). – Läetwa Lebensrevision vom Mann am Berge. Mit cheln im Flug. Bln./Weimar 1975 (L.). – Backkrittischen Reflexionen. o. O. 1795). Aus B.s steintor u. Spreewaldkahn. Märk. Landschaften. empfindsamer Kulturkritik entwickelte sich Bln./Weimar 1975 (P.). – Leise Worte. Bln./Weimar 1978 (L.). – Auszug aus der Stille. Bln./Weimar im Rahmen der Politisierung der Spätauf1982 (L.). – Traum des Orpheus. Liebesgedichte klärung seine Kritik an konkreten sozialen 1949–84. Bln./DDR 1988. – Last u. Leichtigkeit. Missständen (z.B. in Verbotene Schriften. 2 Tle., Bln. 1989/DDR (G.). – Flammen oder Das Wort der o. O. 1805). Frau. Bln. 1990 (G.). – Atem. Liebesgedichte u. Grafiken. Rottenburg/N. 2003. – Räume. Verse u. Bilder. Rottenburg/N. 2004. – Pfade hinaus. Episoden der Erinnerung. Rottenburg/N. 2005. –

Weitere Werke: Empfindungen aus meinem Leben. Wien 1774. – Die empfindsame Philosophie in Briefen an Cleis. Biel 1780. Dessau 1782. – Hofscheu u. ländl. Heimweh. Eine Biogr. Hbg. 1818. –

Bergius A. B.s literar. Vermächtniß an seinen Sohn Ludwig. 3 Bde., Hbg. 1818.

468 Ausgabe: Das große C.-C.-B.-Lesebuch. Mchn. 1990. Heinz Vestner / Red.

Ausgaben: B.s Schr.en. 2 Bde., Wien 1783. – B.s Neueste Schr.en. Wien 1784. – B.s Schr.en. Verminderte, verb. Aufl. Wien 1787.

Bergmann, Michael, * 17.8.1633 Pirna/ Meißen, † 6.5.1675 Woltin/Vorpommern. Literatur: Antonie Machatschek: A. B. Diss. – Pfarrer; Herausgeber von NachschlageWien 1929. – Gustav Gugitz: A. B. In: NDB. – werken für die rhetorische Praxis. Gerhard Sauder: Empfindsamkeit. Bde. 1 u. 3, Stgt. 1974 u. 1980. – Klaus Dürrschmid u. Karl Hohensinner: F. X. A. B. (1745–1825). In: LuK H. 303/304 (1996), S. 101–109 – K. Hohensinner: Der Aufklärer im Biedermeier. Die späten Jahre des A. B. In: Österr. in Gesch. u. Lit. mit Geographie 43 (1999), S. 36–46. Christoph Weiß / Red.

Bergius, C. C., eigentl.: Egon-Maria Zimmer, * 2.7.1910 Buer/Westfalen, † 23.3. 1996 Vaduz/Liechenstein. – Romanschriftsteller u. Verleger. Nach dem Besuch einer Oberrealschule in Münster wurde der Sohn eines Fabrikanten in Hamburg Exportkaufmann. 1933–1945 war B. Pilot, teils im militär. Einsatz, u. a. als Wetterflieger für die Franco-Truppen im Spanischen Bürgerkrieg. Nach Kriegsende gründete B. den Verlag Zimmer & Herzog u. veröffentlichte unter dem Pseudonym C. C. Bergius seinen ersten Roman u. d. T. Blut und Blüten für DschingisChan (Berchtesgaden 1951). Den Durchbruch als Schriftsteller brachte ihm der Roman Der Fälscher (Gütersloh 1961 u. ö. Zuletzt Darmst. 1993), die Lebensgeschichte eines großen Künstlers, der zum Geldfälscher wurde. In seinen Kolportageromanen bevorzugt B. Themen aus dem Flieger-, dem Geheimdienstmilieu u. aus der Geschichte. B. gehört mit über zwölf Millionen verkauften Büchern zu den erfolgreichsten deutschsprachigen Autoren. Seine Romane wurden in 19 Sprachen übersetzt, z.T. verfilmt. Weitere Werke: Heißer Sand. Gütersloh 1962 u. ö. Zuletzt Mchn. 1992 (R.). – Roter Lampion. Gütersloh 1969 u. ö. Zuletzt St. Augustin 1997 (R.). – Die Schakale Gottes. Mchn. 1977. 91993 (R.). – Söhne des Ikarus. Mchn. 1981 (E.en). – Endstation Tibet. Mchn. 1984. Köln 1991 (R.). – Jenseits der Gobi. Mchn. 1989. 1991 (R.) – Das weiße Krokodil. Mchn. 1989 (R.).

B. besuchte die Schule in Meißen (u. vielleicht das Ratsgymnasium in Zittau), bevor er in Wittenberg Theologie studierte (Immatrikulation 7.6.1653, Magister 26.4.1655). Nach seiner Ordination zum Pfarrer in Woltin heiratete er 1660 die Stettiner Kaufmannstochter Regina Hagel. B.s Deutsches Aerarium Poeticum, oder Poetische Schatz-Kammer (Jena 1661. 1662. Landsberg/Warthe 1675 [Neudr. Hildesh. 1973]. 1676. 1677), ein Pendant zu dem lat. Aerarium Poeticum (Lpz. 1618. 81690) von Melchior Weinrich, war ein viel benutztes Nachschlagewerk. B.s »Poetische Schatzkammer«, die neben Verdeutschungen von Weinrichs lat. Similien eine umfängl. Sammlung mustergültiger Tropen aus dt. Barockdichtungen enthält, bezeugt die kanonische Geltung von Martin Opitz u. Paul Fleming für das muttersprachl. Dichten im zweiten Drittel des 17. Jh. Neben dem weltl. Zitatenschatz veröffentlichte der Verehrer von Luthers sprachschöpferischer Leistung ein systematisch geordnetes Florilegium von Worten des Reformators (Lutherus Iconologus, oder Gleichniß-Reden D. Martin Lutheri [...] zusammen getragen v. M[agister]. M. B. Lpz. 1663). Ob das von B. angekündigte Aerarium Biblicum, ein geistliches Umschreibungslexikon, das die bibl. Wendungen in Luthers Übertragung aufführen sollte, tatsächlich in Druck ging, ist zu bezweifeln. Literatur: William Jervis Jones: German lexicography in the european context. A descriptive bibliography of printed dictionaries and word lists containing german language (1600–1700). Bln./ New York 2000, S. 106–109, Nr. 197–201. – Weitere Titel: Bruno Markwardt: Gesch. der dt. Poetik. Bd. 1, Bln./Lpz. 1937, S. 48–50. – Heiduk/Neumeister, S. 14, 143, 294. – Ferdinand van Ingen: ›Aeraria poetica‹. In: HWRh 1 (1992), Sp. 199–202. – Ingo Stöckmann: Vor der Lit. Eine Evolutions-

Berkéwicz

469 theorie der S. 235–244.

Poetik

Alteuropas.

Tüb.

2002,

Achim Aurnhammer

Chaos. Eine Gesch. der europ. Novellistik im MA. Tüb. 2006. Werner Williams-Krapp / Red.

Beringer, auch: Ritter Beringer, entstan- Berkes, Ulrich, * 11.5.1936 Halle. – Lyriden zwischen der zweiten Hälfte des 13. ker. u. Anfang des 15. Jh. – Mittelalterlicher B. war zunächst Hilfsarbeiter, Fräser u. ZeiSchwank. chenlehrer in Hildburghausen. 1967–1970 B. ist nur in einem Straßburger Druck von studierte er am Johannes R. Becher-Litera1495 erhalten. Der Schwank umfasste ur- turinstitut in Leipzig. Seitdem ist er freier sprünglich etwa 420 Verse. Erzählt wird von Schriftsteller, gelegentlich Tutor eines Zirdem geizigen u. faulen Ritter B., der dauernd kels schreibender Arbeiter. von erfundenen Turniersiegen prahlt. Seine In seinen ersten, von Rimbaud beeinflussFrau will dieser Angeberei ein Ende setzen. ten Prosagedichten griff B. Themen der Als Ritter verkleidet reitet sie ihm in einen Beatnik-Generation auf. In einer betont Wald nach, in den er sich aus Furcht, tat- schmucklosen Sprache beschreibt er alltägl. sächlich bei einem Turnier erscheinen zu Ereignisse aus der geschärften Sicht eines müssen, zurückgezogen hat. Sie besiegt ihn Außenseiters. Im Tagebuch Eine schlimme Lieim Kampf u. zwingt ihn, ihr Hinterteil drei- be (Bln./DDR 1987. 21989) thematisierte B. mal zu küssen. Als B. sie später mit Grob- seine Homosexualität als eine banale Erfahheiten belästigen will, droht sie ihm mit ih- rung im Gegensatz zur Besessenheit eines rem Freund »Ritter Wienant von Boslant mit Comte de Lautréamont, dessen Gesänge des der langen Arskrinne« (eine Anspielung auf Maldoror (dt. 1869) er dem DDR-Leser erstdie weibl. Anatomie), der ihn schon einmal malig vorstellte. gedemütigt habe. Weitere Werke: Ikarus über der Stadt. Bln./ B. geht wahrscheinlich auf das frz. Fabliau DDR 1976. Neudr. Aachen 1997 (L.). – Tandem. Bérengier au lonc Cul des Guerin – wenn auch Bln./DDR 1984 (L.). – Herausgeber: Idyllen v. Saloüber mündl. Vermittlung – zurück. Sogar die mon Gessner. Bln./DDR 1984. Namen stimmen überein; in einem verHans Stempel / Red. wandten Fabliau heißt die Frau Beringer. Der Schwank variiert das beliebte Thema des ehelichen Kräftemessens. Er gehört zu einem Berkéwicz, Ulla, eigentl.: Ursula Schmidt, verbreiteten Schwanktypus, in dem Rache für * 5.11.1951 Gießen. – Verlegerin, Schriftanmaßendes Verhalten genommen wird. Die stellerin u. Schauspielerin. ursprüngl. lehrhafte Absicht des Typus wird Die Tochter des Arztes u. Autors Werner im B. aber stark zurückgedrängt. Auch eine Schmidt u. der Schauspielerin Herta Stoepel Kritik am Rittertum ist nicht intendiert. besuchte 1966–1969 die Schauspielschule Ausgaben: Cramer 1, S. 71–81. – Klaus Grub- sowie die Musikhochschule in Frankfurt. In müller (Hg.): Novellistik des MA. (Hg., übers. u. den 1970er Jahren war sie an Bühnen in komm.). Ffm. 1996, S. 220–243 u. S. 1107–1114. München, Stuttgart, Köln, Hamburg, BoÜbersetzung: Hanns Fischer: Die schönsten chum u. Berlin engagiert u. übersetzte Stücke Schwankerzählungen des dt. MA. Mchn. 1967, von Calderón, Shakespeare u. Synge für das S. 47–54 (nhd.). Theater. 1980 ließ sie sich als freie SchriftLiteratur: Frauke Frosch-Freiburg: Schwank- stellerin in Frankfurt nieder. Nach einer gemären u. Fabliaux. Göpp. 1972, S. 62–68. – Werner scheiterten Ehe mit dem Bühnenbildner u. Williams Krapp: B. In: VL. – Hanns Fischer: StuRegisseur Wilfried Minks heiratete sie 1990 dien zur dt. Märendichtung. Tüb. 21983, S. 316 den Verleger Siegfried Unseld, nach dessen (Bibliogr.). – Horst Wenzel: Rittertum u. GenderTrouble im höf. Roman (›Erec‹) u. in der Mären- Tod 2002 sie zunächst in die Geschäftsfühdichtung (›B.‹). In: Männlichkeit als Maskerade. rung des Suhrkamp Verlags aufgenommen Hg. Claudia Benthien. Köln 2003, S. 248–276. – wurde, ehe sie im Okt. 2003 deren Vorsitz Klaus Grubmüller: Die Ordnung, der Witz u. das übernahm.

Berl

470

B.’ Erzählungen wurden von der Kritik gische Erwägungen, zeitdiagnost. Erörtewegen ihrer sprachl. Expressivität u. themat. rungen, erzählerische Passagen u. autobiogr. Innovationskraft zunächst wohlwollend auf- Fragmente zusammenführt. genommen. Setzt sich B. in ihrem mit dem Weitere Werke: Maria Maria. Ffm. 1989 (E.en). Stipendium der Stadt Klagenfurt ausgeLiteratur: Sylvia Schwab: U. B. In: KLG. – Tilzeichneten Prosadebüt Josef stirbt (Ffm. 1982) mann Moser: Literaturkritik als Hexenjagd. U. B. mit dem in der modernen Gesellschaft ta- u. ihr Roman ›Engel sind schwarz und weiß‹. Eine buisierten Thema Sterben u. Tod auseinan- Streitschr. Mchn./Zürich 1994. – Thomas Kraft: U. der, so entwirft sie in ihrer zivilisationskrit. B. In: LGL. – Andrea Geier: Problemat. Apokalypse. Parabel Michel, sag ich (Ffm. 1984) das apoka- Modelle v. Ideologiekritik u. Sinnstiftung bei U. B. lypt. Szenario einer Zerstörung Frankfurts, u. Anne Duden. In: Maria Moog-Grünewald: Apokalypse. Der Anfang im Ende. Heidelb. 2003, das ihr als surreal anmutende Kulisse sowohl S. 279–309. Ralf Georg Czapla für die Straßenkämpfe der Studentenbewegung als auch für eine dem Orpheus-Mythos nachempfundene Liebesgeschichte dient. In Berl, Heinrich, eigentl.: H. Lott, 1919 NaAdam (Ffm. 1987), der literar. Selbstexploramensänderung, * 2.9.1896 Baden-Baden, tion einer jungen Schauspielerin, entwickelt † 3.4.1953 Baden-Baden. – Schriftsteller sie an Adam als dem Archetyp des vollkomu. Journalist. menen, noch nicht geschlechtsdifferenzierten Menschen eine Liebesutopie. B. wuchs in Offenburg auf, wo er 1911–1914 In den 1990er Jahren vollzog B., nunmehr die Städtische Handelsschule u. eine kaufVerlegergattin u. als solche vom Feuilleton männ. Lehre absolvierte. Nach einer vorargwöhnisch gemustert, einen formalen Pa- übergehenden Tätigkeit als Buchhalter war er radigmenwechsel. Zwischen den Theaterstü- seit 1919 als Schriftsteller u. Journalist tätig. cken Nur wir (Ffm. 1991), 1991 von Urs In Karlsruhe widmete er sich ab 1921 kulturTroller an den Münchner Kammerspielen u. religionsphilosophischen sowie musikäsuraufgeführt, u. Der Golem in Bayreuth (Ffm. thet. Studien, schrieb für verschiedene Peri1999), das Einar Schleef 1999 am Wiener odika u. war kulturpolitisch tätig. 1924–1925 Burgtheater erstmals inszenierte, entstand gab er die Zeitschrift »Die Synthese« heraus, mit Engel sind schwarz und weiß (Ffm. 1992) ein die im Dienst west-östlicher Beziehungen ambitionierter, in seiner Faktizität sorgfältig stand. 1924 war er Mitbegründer der »Gerecherchierter Roman, der wegen der inten- sellschaft für geistigen Aufbau«. Zu ihren tionalen Distanzlosigkeit, mit der B. am Bei- Veranstaltungen wurden Thomas Mann, Max spiel eines »Täteropfers« die Verführungs- Planck, Martin Buber u. a. eingeladen. Seine mechanismen des Nationalsozialismus dar- Gespräche mit einigen von ihnen veröffentstellt, Anlass zu heftigen Kontroversen bot, lichte B. u. d. T. Gespräche mit berühmten Zeitdie schließlich zu Verwerfungen zwischen genossen (Baden-Baden 1946). Kultur- u. geder Autorin u. ihren Kritikern führten. sellschaftspolit. Interessen verfolgte B. auch Demtentsprechend verfiel auch B.’ zweiter mit der Gründung des Kairos-Verlags im Jahr Roman Ich weiß, was Du weißt (Ffm. 1999), eine 1931. Da er seit 1921 mit einer Jüdin verheiMischung aus Agenten- u. Liebesgeschichte, ratet war, musste er nach 1933 jegliche kultrotz des Vorabdrucks in der »Frankfurter turpolit. Arbeit aufgeben. 1938 erhielt er Allgemeinen Zeitung« dem Verdikt. Wäh- Publikationsverbot. Während des Krieges arrend die Prosatexte Mordad (Ffm. 1995) u. beitete er an der Biografie Napoleon III. DemoZimzum (Ffm. 1997) der poetolog. Verständi- kratie und Diktatur (Mchn. 1946), in der er das gung über Einfall u. Erfindung, Kunst u. Regime des frz. Kaisers mit der Hitlerdiktatur Leben dienten, wartete B. in ihrem literar. vergleicht. Essay Vielleicht werden wir ja verrückt (Ffm. Nach 1945 betätigte sich B. am Wieder2002) mit einem Bericht über ihre persönl. aufbau des kulturellen Lebens im südwestdt. Erfahrungen mit radikalreligiösem Juden- Raum u. wurde zum Chronisten seiner Heitum, Islam u. Christentum auf, der theolo- matstadt. Er war Mitgl. der Deutschen Aka-

471

demie für Sprache und Dichtung in Darmstadt. Weitere Werke: Ein geschichtl. Führer durch Baden-Baden. Baden-Baden 1937. – Baden-Baden im Zeitalter der Romantik. Baden-Baden 1937. 1981. – Das Badener Tgb. Baden-Baden 1937. 2 1948. – Das Weltbad im Spiegel der Welt. BadenBaden 1938. Elisabeth Willnat / Red.

Berlepsch, Emilie von, auch: Aemilia, geb. von Oppeln, verh. Harms, getauft 26.11.1755 Gotha, † 27.7.1830 Lauenburg/Elbe. – Lyrikerin, Essayistin u. Reiseschriftstellerin. B., Tochter eines hochrangigen Hofbeamten zu Altenburg u. Sachsen-Gotha u. einer Gräfin von Dönhoff, heiratete als 16-Jährige den späteren Hofgerichtspräsidenten u. Landrat Friedrich Ludwig Freiherr von Berlepsch. Nach der Scheidung schloss B. 1801 die Ehe mit dem Domänenrat August Heinrich Ludwig Harms in Redefin/Mecklenburg. Das Ehepaar lebte 1807–1813 auf Gut Erlebach am Zürcher See, dann in Hannover u. Schwerin. B., die Jean Paul, Herder u. Wieland freundschaftlich verbunden war, trat zunächst mit Gedichten hervor (u. a. im »Göttinger Musenalmanach« u. in Wielands »Teutschem Merkur« von 1781), darunter größtenteils Gelegenheits- u. empfindsame Freundschaftsdichtung, ferner mit Theaterreden in Versform, Idyllen u. kurzen Prosaerzählungen, in denen sie sich an Herders Paramythien anlehnte. Daneben verfasste sie Aufsätze u. Reisebeschreibungen, in denen sie eine eingängige Darbietungsform mit anschaulicher Detailbeschreibung verbindet u. so die Vorstellungskraft des Lesers aktiviert. B. war eine der ersten dt. Feministinnen. Wiederholt plädierte sie für das Recht der Frauen auf Bildung u. entlarvte die gängigen Ressentiments gegen schreibende Frauen als Vorurteile. Am Ende ihrer Reisebeschreibung Caledonia (4 Tle., Hbg. 1802–04) stellt sie dem dt. Lesepublikum engl. Schriftstellerinnen vor u. nimmt Mary Wollstonecraft, die erste engl. Frauenrechtlerin u. Verfasserin der Vindication of the Rights of Woman (1792), gegen Angriffe vonseiten der Männer in Schutz. Sie

Berlepsch

machte auf eine weitverbreitete Frauenfeindlichkeit (den »misogynen Ton«) im Alltag aufmerksam. Eingehend befasste sie sich mit der Frauenfrage in ihrem Aufsatz Ueber einige zum Glück der Ehe nothwendige Eigenschaften und Grundsätze (in: »Der Neue Teutsche Merkur«. Bd. 2, 1791, S. 63–102 u. 113–134). Darin geht sie über die Behandlung des Themas Ehe weit hinaus u. übt grundsätzl. Kritik an der herkömml. Frauenerziehung, deren Hauptzweck darin bestehe, Frauen dazu anzuhalten, den Männern zu »gefallen«. B. fordert dagegen die Frauen auf, sich von fremdem Urteil unabhängig zu machen u. das Ideal innerer Selbständigkeit zu verfolgen. Vor radikalen Konsequenzen ihrer Auffassung schreckte sie jedoch zurück. Immer wieder beeilte sie sich, die männl. Vorherrschaft zu bestätigen u. die Frauen auf ihre Haushaltspflichten zu verweisen, die an erster Stelle zu stehen hätten. Sie warnte die Frauen vor dem Aufbegehren u. empfahl ihnen »Sanftmuth«. In konventionellen Bahnen bewegte sich auch ihr Eintreten für eine Erweiterung der weibl. Tätigkeitsfelder: Frauen sollten nicht allein als Hausfrauen u. Gebärerinnen der Kinder, sondern auch als deren Erzieherinnen u. als selbständig Denkende Anerkennung finden. Indem sie getrennte Arbeitsbereiche für die Geschlechter akzeptierte, blieb sie an Radikalität weit hinter ihrem Zeitgenossen Theodor Gottlieb von Hippel zurück, der in seiner Schrift Ueber die bürgerliche Verbesserung der Weiber (1792) die Zulassung der Frauen zu allen Berufen u. Staatsämtern forderte (vgl. Dawson). Das Recht, sich öffentlich zu wichtigen Fragen des Gemeinwohls zu äußern, beanspruchte B. für sich in Einige Bemerkungen zur richtigern Beurtheilung der erzwungnen Schweitzer-Revolution [...] (Lpz. 1799), wo sie polit. Betrachtungen mit Elementen der Reisebeschreibung verknüpft. Das diese Schrift prägende tradierte Motiv des Lobs des Landlebens kehrt in der Reisebeschreibung Caledonia, dem literar. Ertrag ihrer Schottlandreise (1799/1800), wieder: Mit der schwärmer. Schilderung der Berglandschaft u. der in Genügsamkeit u. Eintracht lebenden Bergbevölkerung kontrastiert B. – in der Tradition von Albrecht von Hallers Die Alpen (1732) –

Berlichingen

472

die »erkünstelten Verhältnisse der Welt« der Berlichingen, Götz (Gottfried) von, Städte. Caledonia enthält Informationen, wie * 1480 oder 1481 Jagsthausen, † 23.7. sie für die Reisebeschreibungen des 18. Jh. 1562 Burg Hornberg/Neckar; Grabmal im typisch sind, u. trägt zgl. sehr persönl. Züge. Kreuzgang des Zisterzienserklosters So teilt B. viele histor. u. aktuelle Informa- Schöntal/Jagst. – Reichsritter; Verfasser tionen über Landwirtschaft u. Handelszwei- einer Autobiografie. ge, Ernährungsgewohnheiten u. Wohnverhältnisse, soziale Einrichtungen u. Bil- B. entstammte einer alten Reichsritterfamidungsstand, Sprache u. Religion sowie land- lie; Jugend- u. Lehrjahre waren von adliger schaftl. Besonderheiten mit u. berichtet von Tradition geprägt. 1498 nahm er als Knappe aufklärerischen Bestrebungen zur Hebung am Ansbacher Hof Markgraf Friedrichs von des Wohlstands. Zweck ihrer Reisebeschrei- Brandenburg am Burgundfeldzug Kaiser bung ist jedoch nicht in erster Linie, nützl. Maximilians I. u. 1499 am Schweizerkrieg Fakten über Schottland zu liefern, sondern teil. Seine kriegerische Karriere konnte auch die Gefühle u. Gedanken zu schildern, die ein Unfall nicht beenden, bei dem ihm eine Land u. Leute in ihr ausgelöst haben. So Kugel aus den eigenen Reihen die rechte wählte sie auch für ihr Werk bezeichnender- Hand abschlug. Er ließ sie durch eine eiserne weise den poet. Namen »Caledonia« anstelle ersetzen. Bereits seit 1500 in Kontakt mit zwielichder nüchternen Bezeichnung »Schottland«, die »der grämliche realistische Engländer« tigen adligen Randexistenzen, begann B. Samuel Johnson 1775 für seine Reisebe- etwa ein Jahrzehnt nach dem »Ewigen schreibung Journey to the Western Islands of Landfrieden« von 1495 eine Reihe von FehScotland bevorzugt hatte. B. hingegen reiste den, darunter die großen mit den Städten auf den Spuren Ossians, des Helden jener Köln u. Nürnberg sowie mit dem Erzstift Sagen, die 1760 in Macphersons empfindsa- Mainz, die das ganze Reich in Mitleidenmer Nachdichtung in England erschienen schaft zogen. Diesen Aktionen war das forwaren u. in der literar. Welt großes Aufsehen male Festhalten an den Spielregeln des Feherregt hatten. Sie suchte in Schottland den derechts gemeinsam; die mühsam vorge»Geist« der ossianischen Sagenwelt u. fand schobenen Fehdegründe rechtfertigen allerihn im rauen schott. Hochland u. in seiner dings letztlich doch B.s Beurteilung als Bevölkerung. Wenn sie in eigener Überset- »Raubunternehmer«, der aus den generalzung Ossian zitiert, verschmelzen Dichtung stabsmäßig organisierten u. von Standesgeu. Realität. »Die scharfgespannten Saiten ei- nossen unterstützten Unternehmungen als nes poetischen Gemüths« – Melancholie u. reicher Mann hervorging u. 1517 die Herrschaft Hornberg erwerben konnte. »Dichtergefühl« – geben den Ton an. Als württembergischer Amtmann von Weitere Werke: Slg. kleiner Schr.en u. Poesien. 1. (u. einziger) Tl., Gött. 1787. – Sommerstunden. Möckmühl in den Sturz Herzog Ulrichs von Württemberg 1519 verstrickt u. bis 1522 in 1. (u. einziger) Bd., Zürich 1795. Literatur: Alexander Gillies: E. v. B. and her Heilbronn vom Schwäbischen Bund in Haft ›Caledonia‹. In: GLL 29 (1975/76), S. 75 ff. – Ruth P. gehalten, gehörte B. Ende 1522 zu den Ersten Dawson: And this shield is called – self-reliance. In: in der Reichsritterschaft, die sich der ReforGerman Women in the 18th and 19th Centuries. Hg. mation zuwandten. Im Bauernkrieg 1525 Ruth-Ellen Boetcher Joeres u. Mary Jo Maynes. wurde ihm sein Ruf als verwegener Ritter Bloomington 1986, S. 157 ff. – Hans Utz: Bern – zum Verhängnis. Zu Beginn der Bewegung die Liebeserklärung der Emilie v. B. In: Berner wohlwollend gegenüberstehend, dann allerZtschr. für Gesch. u. Heimatkunde 49 (1987), dings von den Aufständischen zur HauptS. 57–115. Bettina Eschenhagen / Red. mannschaft gezwungen, gelang ihm zwar kurz vor Ende der Erhebung die Flucht, doch damit besiegelte er nur sein Los: erneute Gefangenschaft durch den Schwäbischen Bund in Augsburg 1528–1530, langwierige

473

Berliner Osterspiel

Prozesse u. eine Urfehde, die ihn lebenslang v. B. [...]. Neudr. der Orig.-Ausg. Mchn. 1910. auf die Markung seines Schlosses beschränk- Neudr. Wolfenb. 2006. Literatur: Friedrich Wolfgang v. Berlichingente. Um 1541 allerdings wurde er, nach insg. viermaliger Reichsacht, von dieser Verpflich- Rossach: Gesch. des Ritters G. v. B. mit der eisernen tung entlastet u. nahm, voll rehabilitiert, Hand u. seiner Familie. Lpz. 1861. – Alfred Stern: 1542 am Türkenfeldzug Karls v. sowie 1544 G. v. B. In: ADB. – Günther Franz: G. v. B. In: NDB. – Helgard Ulmschneider: G. v. B. Ein adeliges Leam Frankreichkrieg teil. In seinen letzten ben der dt. Renaissance. Sigmaringen 1974 (dort Lebensjahren führte B. endlose Prozesse um die ges. ältere Lit.). – G. v. B. 1480–1562. Das Leben vermeintliche oder tatsächl. Rechtspositio- eines fränk. Reichsritters. Ausstellung des Freihernen, zu deren Durchsetzung er sich mo- ren v. Berlichingen [...]. Bearb. v. Wolfram Angerdernster Hilfsmittel bediente, wie er über- bauer. Einf. v. H. Ulmschneider. Nekarsulm 1980. haupt – obgleich der Tradition verhaftet – es – Volker Press: G. v. B. In: FS Hansmartin Deckerals typ. Gestalt einer Übergangszeit klug Hauff. Stgt. 1982, S. 305–326. – Carlheinz Gräter: verstand, die Vorteile des Umbruchs für sich G. v. B. Stgt. 1986. – Volker Honemann: Eine neue Hs. der Lebensbeschreibung des G. v. B. In: Würtzu nutzen. Als 80-Jähriger schließlich entschloss er tembergisch-Franken 71 (1987), S. 269–271. – Henry J. Cohn: G. v. B. and the art of military ausich, primär in apologet. Absicht, zur Abfastobiography. In: War, literature and the arts in sung seiner Autobiografie, einem literar. Sixteenth-Century Europe. Hg. James Ronald Zeugnis von großer Seltenheit innerhalb sei- Mulryne u. Margaret Shewring. New York 1989, nes Standes. Der zwei Bürgern der Reichs- S. 22–40. – Stephan Pastenaci: Erzählform u. Perstadt Heilbronn gewidmete, v. a. in Kreisen sönlichkeitsdarstellung in dt. Autobiogr.n des 16. des Adels schnell rezipierte Text ist biogra- Jh. Trier 1993, S. 49–77. – V. Press: G. v. B. (ca. fisch u. kulturhistorisch von großem Wert. 1480–1562). Vom ›Raubritter‹ zum Reichsritter. In: Wenngleich in der Auswahl des in der Regel Goethe, Götz u. Gerechtigkeit. Hg. vom Magistrat wahrheitsgetreu Erzählten tendenziös u. in der Stadt Wetzlar u. v. der Gesellsch. für Reichsder Rückschau auf ein Dreivierteljahrhundert kammergerichtsforsch. Wetzlar 1999, S. 15–42. – Stefan Keppler: Zwischen Gralburg u. Kräwinkel. gelegentlich chronologisch verworren sowie Die Stadt Wertheim in Hauptwerken der dt. Lit. öfter ins Anekdotische abgleitend, erlauben (Wolfram v. Eschenbach [...], G. v. B. [...]). In: B.s Fehd und Handlungen doch einen hervor- Wertheimer Jb. 1999, S. 217–241. – Kurt Anderragenden Einblick in Leben u. Selbstver- mann: G. v. B. (um 1480–1562). Adliger Grundherr ständnis eines fränk. Reichsritters im Zeital- u. Reichsritter. In: Fränk. Lebensbilder 20 (2004), ter von Humanismus, Bauernkrieg u. Refor- S. 17–37. Helgard Ulmschneider / Red. mation. Die 1731 erschienene Erstausgabe des Textes benutzte Goethe – in souveräner Berliner Osterspiel, auch: Rheinisches Umgestaltung der Vorlage – als Quelle für Osterspiel, 1460 aufgezeichnet. – Spätseinen 1773 erschienenen Götz von Berlichinmittelalterliches geistliches Spiel. gen. Der Erfolg des Dramas begründete B.s bis heute währenden, z.T. ins Kuriose spielen- Das B. O., das eigenständigste u. zgl. umden, weltweiten Nachruhm. fangreichste aller bekannten Osterspiele Ausgaben: 17 Hss. (16.-18. Jh.), beschrieben bei (2285 Verse), wurde im nördl. Rheinhessen/ Ulmschneider (1981) sowie Volker Honemann: Rheingau (vermutl. Mainz) im Kontext einer Eine neue Hs. der Lebensbeschreibung des G. v. B. bislang nicht identifizierten Aufführung In: Württembergisch-Franken 71 (1987), niedergeschrieben. Der Schreiber, der sich am S. 269–271. – Erstausgabe: Lebens-Beschreibung Schluss des Spiels selbst nennt (»per me Herrn Gözens v. B. zugenannt mit der Eisern Hand Helffricum anno 1460 octava pasche«), hat in [...]. Hg. Wilhelm Friedrich Pistorius. Nürnb. 1731. derselben Handschrift außerdem den Anfang Neudr. Hildesh. 1977. – Hist.-krit. Ausgabe: G. v. B. eines – wie aus dem vorangesetzten DarstelMein Fehd u. Handlungen. Hg. H. Ulmschneider. Sigmaringen 1981 (dort Verz. der 23 früheren lerverzeichnis u. einer Prozessionsordnung Druckaufl.n). – Lebens-Beschreibung des Ritters G. hervorgeht – ursprünglich sehr umfänglichen Alexiusspiels eingetragen, dessen Text jedoch bereits nach 268 Versen abbricht. Dies

Berlinger

ist um so bedauerlicher, als weitere Alexiusspiele im dt. Sprachgebiet nicht überliefert sind. In bewusstem Gegensatz zur herrschenden Tradition setzt die Handlung des B. O. erst mit der Auferstehung Christi ein, führt also den sonst an dieser Stelle üblichen Einzug des Pilatus, die Beratung der Juden, Dingung der Grabwächter usw. nicht vor. Die folgenden »Szenen« orientieren sich dann zwar größtenteils wieder am herkömml. Textrepertoire, unterscheiden sich aber in ihrer Ausgestaltung von anderen Spielen dadurch, dass der Bearbeiter ihren Ablauf immer wieder unterbrach, um eine zweite oder dritte Handlung aufzugreifen. Dabei beseitigte er gleichzeitig konsequent alle traditionsbedingten Ungereimtheiten u. Widersprüche. Durch diese geschickte enge Verzahnung des gesamten Geschehens verlieh er dem B. O. eine unter den Osterspielen einzigartige Geschlossenheit. Das Spiel endet mit der Aussendung der Jünger, der Erscheinung Christi vor dem ungläubigen Thomas u. einem Epilog, dessen Inhalt ebenso ungewöhnlich ist wie sein Umfang (208 Verse): In einer Mahnpredigt fordert der Conclusor – unter abwechselnder Zitierung von Bibel u. Aristoteles (!) – die Zuschauer weniger zur Osterfreude als vielmehr zu Buße, zum Blick auf die eigene Vergänglichkeit, zu gottgefälligem Leben u. fleißigem Kirchgang auf, um ihnen abschließend einen Ablass zu erteilen. Ausgaben: Hans Rueff: Das Rheinische Osterspiel der Berliner Hs. Ms. Germ. Fol. 1219. Bln. 1925. Literatur: Rolf Steinbach: Die dt. Oster- u. Passionsspiele des MA. Köln/Wien 1970. – Ruprecht Wimmer: Deutsch u. Latein im Osterspiel. Mchn. 1974. – Hansjürgen Linke: B. O. In: VL. – Rolf Bergmann: Kat. der deutschsprachigen geistl. Spiele u. Marienklagen des MA. Mchn. 1986. – Bernd Neumann: Geistl. Schauspiel im Zeugnis der Zeit. 2 Bde., Mchn. 1987. Bernd Neumann / Red.

474

gensburg. Er war Mitarbeiter an der Bayerischen Dokumentationsstelle für Mundart u. Mundartliteratur in Gauting. B. vertritt die neue bayer. Mundartdichtung, die die sprachspielerischen Wirkungen der klanglichen, semant. u. syntakt. Eigentümlichkeiten des Dialekts sozialkritisch nutzt. Er veröffentlichte Texte in Zeitschriften u. Anthologien, redigierte die Zeitschrift »Schmankerl« zus. mit Harald Grill seit dem Tod des Verlegers Friedel Brehm (1983) u. erweiterte das Verlagskonzept auf hochsprachl. Regionalliteratur. 1976 erschienen B.s Texte WohnzimmaGflimma (Feldafing 1976). In seinem dramat. Bilderbogen Emerenz (Feldafing 1980) stellt er das Leben der Wirtin-Dichterin Emerenz Meier (1874–1925), die in die USA auswanderte, in schlaglichtartigen Episoden dar (u. a. das Zusammentreffen mit Heinrich Lautensack u. Hans Carossa, den Kampf im Dorf um ihre persönl. Emanzipation u. die enttäuschende Begegnung mit der Münchner Boheme). 1978 veröffentlichte B. zus. mit Fernand Hoffmann Die neue deutsche Mundartdichtung, Tendenzen und Autoren, dargestellt am Beispiel der Lyrik (Hildesh.). 1984 erschien sein Parodienband F. C. Delius gegen H. C. Artmann (Feldafing), 1997 drehte er den Film Der Damenherr über den österr. Grafiker, Schriftsteller u. Buchillustrator Alfred Kubin. Sein Buch Das Meer muss ich sehen (Grafenau 2005) ist eine Annäherung an Adalbert Stifter durch eine Reise auf dessen Spuren. Weitere Werke: Hoffnung Havanna. Die Odyssee des Regensburger Kunstradfahrers Simon Oberdorfer. 2007 (Hörbuch). – Herausgeber: Grenzgänge. Streifzüge durch den Bayer. Wald. Passau 1985. 1994. – Wissenschaftliche Arbeit: Das zeitgenöss. dt. Dialektgedicht. Zur Theorie u. Praxis der deutschsprachigen Dialektlyrik 1950–80. Diss. Ffm. u. a. 1983. Christian Schwarz / Fridtjof Küchemann

Berlinger, Joseph, Josef, * 26.2.1952 Lam/ Bayerischer Wald. – Mundartlyriker u. -dramatiker.

Bermann, Richard Arnold, auch: Arnold Höllriegel, * 27.4.1883 Wien, † 31.8.1939 Saratoga Springs/USA. – Journalist u. Romancier.

B. verbrachte seine Schulzeit in Cham u. studierte Germanistik u. Volkskunde in Re-

1906 promovierte der Sohn eines Regierungsbeamten zum Dr. phil.; 1914–1918 ar-

475

Bern von Reichenau

beitete er als Kriegsberichterstatter, nach Bern von Reichenau, auch: Berno von Kriegsende war er für das »Berliner Tage- Reichnau, * um 978, † 7.6.1048; Grabblatt« als Korrespondent u. für verschiedene stätte: Reichenau-Mittelzell, in dem unter Wiener Zeitungen als Redakteur u. freier B. erbauten Markus-Chor des MarienMitarbeiter tätig. 1938 gelang B. die Flucht in münsters. – Theologe, Musiktheoretiker die Vereinigten Staaten, wo er in der Künst- u. Hagiograf. lerkolonie Yaddo mit der biogr. Novelle über die letzten Lebensjahre Robert Louis Steven- Seine Ausbildung erhielt der junge Mönch in sons auf Samoa (Home from the Sea. Indiana- den Reformklöstern Prüm (Lothringen) u. polis 1939) eine seiner bedeutendsten Arbei- wahrscheinlich auch Fleury. Vermutlich war er adliger Herkunft, denn 1008 berief ihn ten vollendete. B. ist in der Zwischenkriegszeit als Jour- Heinrich II. zum Abt von Reichenau. Er folgte nalist von Rang sowie als Autor von Sachbü- dem abgesetzten Abt Immo, der seinem Rechern u. Romanen hervorgetreten, deren formeifer durch allzu große Härte Nachdruck Stoff teils aus dem Bereich der Filmwelt, teils verliehen hatte. Ohne sich selbst der Beweaus eigenen Reiseeindrücken u. -erlebnissen gung von Cluny oder Gorze anzuschließen, geschöpft war. Zu seinen erfolgreichsten war B. von der Notwendigkeit der ReformieWerken zählt der Roman Das Urwaldschiff rung überzeugt; ihm gelang es, die Gegen(Bln. 1927 u. ö. Zuletzt Mchn. 1964), der ne- sätze zwischen Gegnern u. Befürwortern zu ben atmosphärisch dichten Schilderungen überwinden. In seiner 40-jährigen Amtszeit des Amazonasgebiets eine in die Zeit der führte er das bedeutende Kloster zu seiner span. Konquistadoren zurückführende Bin- letzten u. größten Blüte: Baukunst u. Buchnenerzählung eines schriftstellernden Wel- malerei, in der die Schule von Reichenau tenbummlers enthält, in welcher B. sich Weltruf erlangte, wurden ebenso entschieden gefördert wie die Wissenschaften. Aber auch selbst porträtiert. Weitere Werke: Der Hofmeister. Die Gesch. den materiellen Besitzstand seines Klosters eines Niederganges. Mchn. 1911 (Brief-R.). – Die wusste B. gegen weltl. Übergriffe zu verteiFilms der Prinzessin Fantoche. Wien 1921 u. ö. digen. Dies war nicht zuletzt seinen guten Zuletzt Bln. 2003 (R.). – Hollywood-Bilderbuch. Beziehungen zum Kaiserhof zu verdanken: Lpz./Wien 1927. – Die Erben Timurs. Ein asiat. Heinrich II. begleitete er zweimal nach Rom – Roman. Bln. 1928. – Du sollst Dir kein Bildnis 1014 zur Kaiserkrönung u. 1024. Nach dessen machen. Ein Roman aus Hollywood. Mchn. 1929. – Tod unterstützte er zunächst die Kandidatur Lichter der Großstadt. Der Film v. Strolch Charlie, Konrads d.J.; dennoch blieb er gegenüber dem Millionär u. dem blinden Mädchen. Mit 27 dem (nicht eben klosterfreundl.) Salier KonBildern. Lpz./Wien 1931 (Filmbuch). – Die Derwischtrommel. Das Leben des erwarteten Mahdi. rad II. loyal, an dessen Kaiserkrönung (1027) er ebenfalls teilnahm. Um so mehr verband Bln. 1931 (histor. R.). Literatur: Edita Koch (Hg.): Exil. Forsch., Er- ihn mit Heinrich III., der sich um eine Kirkenntnisse, Ergebnisse 2 (1984). – Will Schaber: A. chenreform bemühte. Schon bei seinem ersH. In: Dt. Exillit. Bd. 2, S. 384–399. – Hans-Harald ten Umritt im Reich bestätigte Heinrich in Müller: Ariel, Baptist, Lelial, Merlin, Höllriegel: R. Reichenau den Besitz des Klosters; 1048 war A. B., der Publizist u. Schriftsteller. In: Brennpunkt er bei der Einweihung der neuen HauptkirBerlin. Hg. Hartmut Binder. Bonn 1995, che zugegen. S. 145–175. – H.-H. Müller u. Brita Eckert (Hg.): R. B.s Verbundenheit mit den Geschicken des A. B. alias A. H.: Österreicher, Demokrat, WeltReichs spiegelt sich auch in den sechs erhalbürger. Mchn. 1995. – Andreas Stuhlmann: ›Das tenen Briefen an Heinrich II. u. Heinrich III. Jahrhundert der Technik hat seinen Dichter gefunden‹. Der österr. Schriftsteller u. Journalist R. A. wider. Neben dem seelsorgerischen Anliegen B. (alias A. H.) als Anwalt u. Kritiker des Kinos ist darin die Unterstützung des praktischen 1910–38. In: Nobelpreis. Hg. Helmut Kreuzer. u. ideellen Herrschaftsanspruchs des Königtums deutlich erkennbar. 21 weitere Briefe an Stgt. 1997, S. 154–165. Ernst Fischer / Red. bedeutende Persönlichkeiten dokumentieren seine weitgespannten Verbindungen. Die

Bern

476

In seinen theolog. Werken sucht B. liturg. Briefe sind u. a. an die Erzbischöfe Aribo von Mainz, Pilgrim von Köln u. Gero von Mag- Neuerungen u. Gewohnheiten historisch zu deburg, an Abt Odilo von Cluny u. Stefan von begreifen u. kritisiert dabei auch kirchl. Missbräuche, bes. in De officio missae (Die Ungarn gerichtet. Seine lat. Werke sammelte B. nach 1027; Meßfeier. 1024/32). Die Schriften zur Dauer eine nicht erhaltene Widmungshandschrift der Adventszeit u. zur Berechnung der Quaüberreichte er 1043 Heinrich III. Dieses tember-Festtage (beide 1027) bilden bis heute Œuvre zeugt von B.s Vielseitigkeit u. Bele- die Grundlage der römisch-kath. Praxis. senheit (u. a. Cicero, Bibel, Kirchenväter u. Ausgaben: PL 142 (Musiktheoret. u. liturg. mittelalterliche lothring. Autoren); den Ruf Schriften). – Scriptores de musica. Hg. Martin der Gelehrsamkeit aber verdankt er seinem Gerbert. Bd. 2, St. Blasien 1784 (Liturg. Dichtunbesonderen Interesse für die mathemat. Fä- gen). – Die Briefe des Abtes B. v. R. Hg. Franz-J. cher im sog. Quadrivium (Arithmetik, Geo- Schmale. Stgt. 1961. – Text der Vita St. Uodalrici u. metrie, Astronomie, Musik). Damit nimmt B. der Übers. des Albert v. Augsburg. In: Karl-Ernst Geith: Albert v. Augsburg. Bln./New York 1971. neue geistige Strömungen aus Frankreich Literatur: Konrad Beyerle (Hg.): Die Kultur der auf, die auf Gerbert von Reims († 1003), den Abtei Reichenau. 2 Bde., Mchn. 1925/26. Neudr. späteren Papst Sylvester II., zurückgehen. Aalen 1970. Darin bes.: Ders. Bd. 1, S. 112/28–117; Anders als dieser herausragende Gelehrte Raphael Molitor: Die Musik in der Reichenau. verfasste B. keine eigenen Schriften auf die- Bd. 2, S. 802–820. – Hans Oesch: B. u. Hermann v. sen Gebieten – die Musik ausgenommen. Um Reichenau als Musiktheoretiker. Bern 1961. – so wichtiger ist seine Rolle als Vermittler u. Werner Wolf: Von der Ulrichsvita zur UlrichsleAnreger: Sein bedeutendster Schüler war gende. Diss. Mchn. 1967. – Helmut Maurer (Hg.): Die Abtei Reichenau. Sigmaringen 1974. – Heinrich Hermannus Contractus. Das Anliegen, prakt. Bedürfnissen zu ent- Hüschen: B. v. R. In: VL. – Karl-Ernst Geith: Eine sprechen, zeigt sich auch in den musiktheo- dt. Übers. der ›Vita Sancti Udalrici‹ des B. v. R. aus ret. Schriften, die Unsicherheiten bei der Unterlinden zu Colmar. In: Durch aubenteuer muess man wagen vil. FS Anton Schwob. Hg. Aufführung beheben sollten. B. will darin Wernfried Hofmeister u. Bernd Steinbauer. Innsbr. keine neue Lehre aufstellen; er folgt vielmehr 1997, S. 109–118. Anette Syndikus / Red. bewusst der älteren mittelalterl. Tradition, wie er selbst im Prologus zum Tonarius ausführt. Der Tonarius verzeichnet die Tonarten Bern, Maximilian, * 13.11.1849 Cherson/ der liturg. Gesänge u. deren BestimmungsSüdrussland, † 10.9.1923 Berlin. –Novelformeln; von ihm gingen alle späteren Tolist u. Dramatiker. nare im Reich aus. B. betätigte sich auch selbst als Dichter u. Komponist für die Li- B. wurde als Sohn eines Arztes u. russ. Hofturgie. rats geboren. Schon mit zwölf Jahren verlor er Neben einer Sequenz u. einem Offizium ist seinen Vater u. übersiedelte mit Mutter u. dem hl. Ulrich von Augsburg (890–973) auch Geschwistern 1862 nach Wien. Dort studierte eine Lebensbeschreibung gewidmet (ent- er ab 1869 Philosophie, verließ aber bereits standen 1020/30). Sie stützt sich auf die 1873 die Universität u. wurde Lehrer bei einer gleichnamige Vita St. Uodalrici, einen z.T. aus wandernden Kunstreitergruppe. Seit 1875 eigenem Erleben schöpfenden Bericht des Schriftsteller, wechselte er häufig den Augsburger Dompropsts Gerhard. B. formt Wohnsitz. 1887 heiratete er in Paris die ihn – den Bedürfnissen der Zeit entsprechend Schauspielerin u. Schriftstellerin Olga Wohl– zur Legende um: Anstelle der zeitge- brück, mit der er 1888 nach Berlin zog. schichtl. u. individuellen Bezüge wird das Obwohl B. auch Theaterstücke schrieb Erbaulich-Vorbildhafte durch zusätzlich ein- (Meine geschiedene Frau. Lpz. 1878), Anthologefügte Wunder u. Visionen hervorgehoben. gien herausgab (Deutsche Lyrik seit Goethes Tode. Eine genaue dt. Übersetzung des Albert von Lpz. 1877) u. für Kinderbuchverlage arbeitete Augsburg (Ende 12. Jh.) steht am Beginn (Illustrierter Hausschatz für die Jugend. Stgt. zahlreicher späterer Fassungen. 1880), war die Novelle seine bevorzugte li-

477

terar. Form. Gleich mit der ersten Veröffentlichung Auf schwankem Grunde (Lpz.) erzielte B. 1875 einen großen schriftsteller. Erfolg. Mit der Novelle Ein stummer Musikant (Stgt. 1880) gelang ihm ein Porträt seines Vaters, das auf beeindruckende Weise frühe Erinnerungen wiedergibt. B.s Erzählungen sind vom südruss. Volksgut geprägt u. in elegischschwermütigem Ton geschrieben. Weitere Werke: Sich selbst im Wege. Bln. 1877. – Heimatklänge. Stgt. 1892. – Christl. Gedenkbuch. Stgt. 1893. Literatur: Goedeke Forts. Jürgen H. Koepp / Red.

Bernardus Trevisanus. – Alchemischer Fachschriftsteller.

Bernd

in frz. Sprache (Le Livre de [...] Docteur Allemant Messiere Bernard Conte de la Marche Trevisane. In: Denys Zecaire: De la vraye philosophie naturelle des metaulx. Antwerpen 1567) als auch in einer aus dem Französischen ins Lateinische übersetzen Fassung von Guglielmo Grataroli (B.T. pe1í chmeía& opus historicum et dogmaticum. Straßb. 1567); dann waren an der frühneuzeitl. Ruhmesgeschichte des B. T. insbes. herausgeberisch tätige Paracelsisten beteiligt, neben Michael Toxites (Von der Hermetischenn Philosophia. Straßb. 1574) etwa Gerhard Dorn (B. T.: De chymico miraculo, quod lapidem philosophiae appellant. Basel 1583) u. Joachim Tancke (B. T.: Opuscula chemica Das ist/ Von dem gebenedeiten Stein der Weisen Deß [...] Bernhardi [...] Chemische Schrifften/ Neben etlicher [...] Philosophen Erklärung. Lpz. 1605). Eine Vielzahl an lat. u. landessprachigen Abschriften, Abdrucken, Kommentarwerken u. Pseudobernhardiana (Verbum dimissum. Symbolum apostolicum. Le Songe-verd) zeigt, dass De chemia unter europ. Alchemikern des 16. bis 18. Jh. hohes Ansehen genoss.

Spätestens seit dem 16. Jh. wurden zwei Alchemicaverfasser namens Bernardus/Bernhard konfundiert, über deren beider Leben nichts Näheres bekannt ist. Es sind dies: (1.) Bernardus Treverensis (14. Jh.), Verfasser eines Brieftraktats alchemischen Inhalts (Responsio. Trier 1385), gerichtet an Thomas Literatur: John Ferguson: Bibliotheca chemica. von Bologna, Arzt des frz. Königs Karl V. Die Bd. 1, Glasgow 1906, S. 100–104. – Pearl Kibre in: Frühhumanistin Christine de Pizan erblickte DSB, Bd. 2 (1970), S. 22 f. – Rainer Rudolf: B. T. In: in diesem Bekannten ihres Vaters Thomas VL. – Joachim Telle in: Lexikon des MA, Bd. 1 einen Angehörigen des dt. Kulturgebiets. (1980), Sp. 2005 f. – William R. Newman in: AlSeine Responsio gelangte mehrmals lateinisch chemie, S. 78. – Didier Kahn: Recherches sur le ›Livre‹ attribué au prétendu Bernard le Trévisan (Erstdruck in: Morienus: De re metallica. Paris (fin du XVe siècle). In: Alchimia e medicina nel 1564) u. in dt. Übersetzung auf den früh- medioevo. Hg. Chiara Crisciani u. Agostino Paraneuzeitl. Alchemicamarkt. vicini Bagliani. Turnhout 2003, S. 265–336. – CP II, (2.) Der Verfasser der metalltransmutatori- S. 283–286. Joachim Telle schen Schrift De chemia (auch: De chymico miraculo, Hermetische Philosophia), eines ausweislich französischsprachiger Frühzeugnisse Bernd, Adam, auch: Christianus Melospätestens um 1500 entstandenen Werks, das dius, * 31.3.1676 Siebenhufen bei Breslau, sich mit einem autobiogr. Fabulat (Tl. 2) u. † 5.11.1748 Leipzig. – Theologe u. Aneiner parabol. Erzählung von der chemischen thropologe. Hochzeit eines »Königs«/Gold mit der »Fontina«/Mercurius (Tl. 4) aus den Alche- In kleinbäuerl. Verhältnissen aufgewachsen, micamassen hervorhebt u. in den Bahnen ei- besuchte B. 1687–1699 das Elisabeth-Gymner allein auf Quecksilber gegründeten Al- nasium in Breslau u. studierte anschließend chemie lehrt, dass die Kunst der Metall- in Leipzig Theologie mit dem Ziel, evangewandlung in einer laborantischen Zusam- lisch-luth. Prediger zu werden. Nach dem mensetzung von arkanem Quecksilber – B. Magisterexamen 1701 unterrichtete er als T.’ vier Elemente bzw. Sulphur u. Mercurius Privatlehrer, bis er 1711 eine Stelle als Katevereinigender »doppelter Mercurius« u. »Ei chet u. Diakon an der Leipziger Peterskirche der Philosophen« – mit »Gold« bestehe. antrat. Die zunächst erfolgreiche PredigerErstmals in Druck gelangte De chemia sowohl laufbahn fand ihr Ende, als B. unter dem

Bernegger

478

Pseudonym Christianus Melodius den theo- Diss. Ffm. 1988. – Peter Priskil: ›Bin das furchtlog. Traktat Einfluß Der Göttlichen Wahrheiten samste Tier auf Erden...‹. Das Selbstzeugnis eines in den Willen und in das gantze Leben des Men- religiösen Melancholikers. In: System ubw. Ztschr. schen [...] (Helmstedt/Lpz. 1728) veröffent- für klass. Psychoanalyse 11 (1991), S. 18–64. – G. Niggl (Hg.): Die Autobiogr. Zu Form u. Gesch. eilichte, in welchem er das menschl. Freiheitsner literar. Gattung. Darmst. 1998. vermögen hervorhob u. so die luth. RechtRaimund Bezold / Peter Priskil fertigungslehre relativierte. Das Buch wurde konfisziert, B. erhielt Predigt- u. Lehrverbot u. resignierte vom Amt, um einer SuspenBernegger, Matthias, * 8.2.1582 Hallstatt/ dierung zuvorzukommen. Österreich, † 5.2.1640 Straßburg. – PhiObwohl sämtliche seiner Veröffentlichunlologe u. Historiker. gen von nun an einer präventiven Sonderzensur unterworfen waren, widmete sich B. B. entstammte einer protestant. Familie des ganz der Schriftstellerei. Neben zahlreichen ratsfähigen Bürgertums. Er besuchte die theolog. Rechtfertigungsschriften erschien Schule in Wels u. wandte sich zum Studium 1738 in Leipzig seine Eigene Lebens-Beschrei- nach Straßburg (1598/99–1601). Bis 1603 bung (s. Literaturverz.). Darin schildert er mit begleitete er den kaiserl. Bergrat Johannes schonungsloser Offenheit sein Leben als Fol- Steinberger auf Reisen durch die habsburg. ge von »Leibes- und Gemüthsplagen«, die er Kronländer. Anschließend folgte er seinen nur noch teilweise auf den göttl. Willen, v. a. Eltern nach Regensburg, in das diese vor der aber auf seine Körperkonstitution zurück- Gegenreformation ausgewichen waren. B. führt (Humoralpathologie). Die religiös-er- entschloss sich daraufhin, seine Studien in baul. Innenschau pietistischer Autobiografik Straßburg fortzusetzen (Rechtswissenschaft, weicht bei B. einer neuartigen Selbstanalyse, daneben auch Mathematik u. Astronomie), die nach den natürl. Ursachen seiner zahl- wo er 1608 als Gymnasiallehrer u. »paedareichen, der »Melancholie« zugeordneten gogus« am Predigerkolleg angestellt wurde. Krankheitssymptome fragt. Im Mittelpunkt Von 1613 bis zu seinem Tode amtierte er als seines Leidensberichtes stehen – oft blasphe- Professor für Geschichte, vorübergehend mische – Zwangsvorstellungen u. -handlun- (1626–1629) auch für Rhetorik, an der 1621 gen sowie zyklisch wiederkehrende Phasen zur Volluniversität erhobenen Akademie. B. war selbst poetisch kaum produktiv, tiefster Depression mit Suizidgefährdung. Selbstmörder, so B. in kühner Schlussfolge- gehörte jedoch zu den Mentoren der aufblürung, seien nicht umstandslos als Sünder henden dt. Dichtung. In engem Kontakt zum anzusehen, sondern oft als Kranke mit einem Heidelberger Gelehrtenkreis (Julius Wilhelm Zincgref, Georg Michael Lingelsheim) u. als Anrecht auf Verständnis. B.s Autobiografie löst sich erstmals vom akadem. Lehrer zahlreicher namhafter Litereligiösen Determinismus u. nimmt tastend raten (Moscherosch, Rompler, Harsdörffer den säkular-psycholog. Realismus des späten u. a.) bestand er zwar auf einer soliden hu18. Jh. vorweg. Karl Philipp Moritz, der als manist. Ausbildung, plädierte jedoch gleichErster den Wert von B.s Mitteilungen er- zeitig in seinem auf Suëton zurückgreifenden kannte, veröffentlichte Auszüge aus B.s Au- Speculum Boni Principis (Straßb. 1625, bes. von tobiografie ein halbes Jahrhundert nach de- Johann Klaj benutzt) für eine Aufwertung der ren Erscheinen in seinem »Magazin zur Er- dt. Sprache. In seiner Reform des akadem. Unterrichts u. in seinen Ausgaben antiker fahrungsseelenkunde« (1787). Ausgaben: A. B.: Eigene Lebens-Beschreibung. Historiker – in Zusammenarbeit mit Johannes Freinsheim –, nicht zuletzt in seinen exHg. Volker Hoffmann. Mchn. 1973. Literatur: Gerhart v. Graevenitz: Innerlichkeit kurshaft ausgreifenden Kommentarwerken u. Öffentlichkeit. Aspekte dt. ›bürgerl.‹ Lit. im bewährte sich B. als maßgeblicher Repräsenfrühen 18. Jh. In: DVjs 49 (1975), S. 1–82. – Günter tant einer politisch-histor. Philologie, die in Niggl: Gesch. der dt. Autobiogr. im 18. Jh. Stgt. Textlektüre u. Textexegese die polit. u. ge1977. – Inge Bernheiden: Individualität im 17. Jh. sellschaftl. Fragen der Zeit zur Diskussion

479

Berner Weltgerichtsspiel

stellte. Beeinflusst von Justus Lipsius, dessen et M. B. mutuae. Straßb. 1672. – Epistolae W. Politik er herausgab u. im Unterricht behan- Schickarti et M. B. mutuae. Straßb. 1673. – Epidelte, wollte B. im Blick auf die röm. Antike, stolaris commercii M. B. [...] fasciculus secundus. in der Analogie von röm. Kaiserzeit u. mo- Straßb. 1678. – Briefe G. M. Lingelsheims, M. B.s u. ihrer Freunde. Hg. Alexander Reifferscheid. Heilbr. dernem Absolutismus, seine Studenten zur 1889. – Wilhelm Schickard: Briefw. Hg. Friedrich polit. Klugheit (»civilis prudentia«) erziehen. Seck. Stgt. 2002. – Balthasar Venator: Ges. Schr.en. Wie auch im außerdeutschen »Tacitismus« Hg. Georg Burkard. Heidelb. 2001. – Herausgeber: C. wurden so geschichtlich überlieferte Verhal- Cornelii Taciti opera. Straßb. 1637. tensmuster, Handlungsmodelle u. PräzeAusgaben: Textausw. in: CAMENA. denzfälle mit den Erfahrungen, den VerwerLiteratur: Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 1, tungs- u. Applikationsbedürfnissen der fürs- S. 490–533. – Carl Bünger: M. B. Ein Bild aus dem tenstaatl. Beamtenschicht vermittelt. Diese geistigen Leben Straßburgs. Straßb. 1893. – Walstaatspolit. Ausrichtung seines Denkens dis- traud Foitzik: Tuba pacis. M. B. u. der Friedenstanzierte B. – trotz aller Kritik am spanisch- gedanke des 17. Jh. Diss. Münster 1955. – Erich habsburg. Imperialismus – von der konfes- Berneker: M. B., der Straßburger Historiker. In: sionellen Enge des orthodoxen Luthertums. Julius Echter u. seine Zeit. Hg. Friedrich Merzbacher. Würzb. 1973. S. 283–314 (mit Bibliogr.). – B. kannte die Bestrebungen der frz. »PolitiAnton Schindling: Humanist. Hochschule u. freie ker« u. rief in seiner Tuba pacis (Straßb. 1621) Reichsstadt. Gymnasium u. Akademie in Straßb. zum Ausgleich der politisch-konfessionellen 1338–1621. Wiesb. 1977. – Wilhelm Kühlmann: Parteien auf. Gelehrtenrepublik u. Fürstenstaat. Tüb. 1982. – Dass B., wie sein ausgebreiteter Brief- Ders. u. Walter E. Schäfer: Frühbarocke Stadtkultur wechsel zeigt (u. a. mit Kepler, Hugo Grotius, am Oberrhein. Bln. 1983. – W. Kühlmann: Gesch. den schles. Späthumanisten u. dem Tübinger als Gegenwart: Formen der polit. Reflexion im dt. Gelehrtenkreis um Johann Valentin Andreae), ›Tacitismus‹ des 17. Jh. In: Respublica litteraria. im internat. Kommunikationsnetz der »Ge- Die Institutionen der Gelehrsamkeit in der frühen Neuzeit. Hg. Sebastian Neumeister u. Conrad lehrtenrepublik« hohes Ansehen genoss, Wiedemann. Wiesb. 1987, S. 325–348. – Marcel hatte zu tun mit seiner Offenheit für die so- Thomann: B. In: NDA. – Monika Bopp: Die ›Tanzialen u. geistigen Probleme seiner Zeit, nicht nengesellschaft‹. Studien zu einer Straßburger zuletzt für die Fortschritte der Naturwissen- Sprachgesellsch. v. 1633 bis um 1670. Ffm. u. a. schaften. Im Zusammenhang seiner mathe- 1997, S. 108–130. – Gerd Graßhof u. Hubert Treimatischen u. astronom. Studien übersetzte B. ber: Naturgesetz u. Naturrechtsdenken im 17. Jh. Galileis Traktat über den Proportionalzirkel Kepler – B. – Decartes – Cumberland. Baden-Baden u. übernahm auch die lat. Übersetzung, da- 2002. – Walter (2004), S. 334–337. – Jaumann Hdb. Wilhelm Kühlmann mit aber die internat. Verbreitung von dessen Dialogi quattro sopra i due massimi sistemi del mondo (Systema cosmicum. Leiden 1635). B.s Berner Weltgerichtsspiel, 1462 aufgeHochschulreden waren demgegenüber auf zeichnet. – Spätmittelalterliches geistlidie spezif. Belange der Universitätsstudien ches Spiel. ausgerichtet. Sie zeigen jedoch sein historiDas B. W. ist in einer umfangreichen Samsches Bewusstsein, nicht zuletzt in der promelhandschrift überliefert, die in Luzern zu blematisierenden Reflexion der Entwicklung Lektürezwecken angefertigt wurde u. außer des deutschen u. internat. Humanismus. dem Spiel ganz unterschiedliche theolog. Weitere Werke: In C. Suetonii Tranquilli XII Texte enthält, so z.B. eine Betrachtung des Caesares diatribae. Straßb. 1624 u. ö. – De iure Leidens Christi, den letzten Teil von Bruder eligendi reges et principes. Delineatio formae reiPhilipps Marienleben, Heinrich Seuses Büchlein publicae Argentinensis. Straßb. 1627. – Quaestiovon der ewigen Weisheit, einen ausführl. Traktat nes miscellaneae ex C. Taciti Germania et Agricolae vita. Straßb. 1640. – Orationes academicae. Straßb. (Vom zeitlichen und ewigen Tode, von Hölle und 1640. – Observationes historico-politicae XXXVIII. Himmel), Gebete u. Gebetsauslegungen usw. Tüb. 1666. – Briefwechsel: H. Grotii & M. B. Epi- Obschon die Handschrift in der vorliegenden stolae mutuae. Straßb. 1667. – Epistolae J. Kepleri Form keinesfalls als Regie-Buch bei einer In-

Bernger von Horheim

480

szenierung gedient haben kann, geht die (1996), S. 159–70. – Hansjürgen Linke: Aus zwei wenig sorgfältige Abschrift des B. W. mit Si- mach eins? Das ›Luzerner Weltgerichtsspiel‹ Jakobs cherheit auf ein Aufführungsmanuskript zu- am Grund u. das sog. ›B. W.‹. In: PBB 119 (1997), rück. Textlich steht das B. W. in enger Be- S. 268–275. – Dieter Trauden: Gnade vor Recht? Untersuchungen zu den deutschsprachigen Weltziehung zu anderen Weltgerichtsspielen des gerichtsspielen des MA. Amsterd. 2000. – Hildesog. Donaueschingen-Rheinauer-Typus (Berliner, gard Elisabeth Keller: losendt obenthür. WeltgeDonaueschinger, Kopenhagener u. Schaffhauser richtsspiele als Aktualisierungsmedien der Zeit. [früher: Rheinauer] Weltgerichtsspiel), v. a. zu Am Beispiel des ›B. W.‹ u. des ›Churer Weltge»Wülcker’s Weltgerichtsspiel«. richtsspiels‹. In: Ritual u. Inszenierung. Geistl. u. Das B. W. stellt einen der wichtigsten Texte weltl. Drama des MA u. der Frühen Neuzeit. Hg. dieser Gruppe dar, umfasst 1007 Verse u. Hans-Joachim Ziegler. Tüb. 2004, S. 49–70. Bernd Neumann / Red. konnte bequem an einem Tag aufgeführt werden. Formal zerfällt das Spiel in einen episch gehaltenen Teil (vv. 1–231), in dem Bernger von Horheim. – 1196 bezeugter sechs Propheten u. Kirchenlehrer die Zu- Minnesänger. schauer auf das kommende Weltende vorbereiten, u. in einen dramatischen, der mit der Von B. sind sechs Minnelieder (17 Strophen) Auferweckung der Toten durch die Posaunen überliefert. Der Name B.s ist in zwei ital. der Engel einsetzt (vv. 232 ff.). Es folgt das Urkunden Philipps von Schwaben, ausgeGericht Christi über die Seelen. Während die stellt im Jan. 1196 in Gonzaga u. am 3.5.1196 Gerechten an seine rechte Seite geführt wer- in Arezzo, bezeugt u. wird von der Forschung den, übergibt er – nach Aufzählung der mit dem Minnesänger in Verbindung geSünden – die Ungerechten den Teufeln, die bracht, da die Daten auch zur stilgeschichtl. sie an einem Seil in die Hölle zerren. Weder Einordnung der Lieder B.s Ende des 12. Jh. die herzergreifenden Klagen der nun auf passen. Ungeklärt ist, ob der in Lied IV erewig Verdammten noch die Fürbitte Marias wähnte Tod eines Königs, der Anlass zu eiu. ihre Unterstützung durch Johannes kön- nem Kriegszug nach Apulien war, sich auf Wilhelm II. von Sizilien u. Apulien († 1189) nen den Richterspruch Christi ändern, der oder Tancred von Sizilien († 1194) bezieht, da selbst hinter den Teufeln u. Verdammten die auf beider Tod staufische Heerfahrten nach Pforten der Hölle endgültig verschließt. Italien folgten. Das genaue Geburts- oder Mit einer Lobpreisung Christi durch die Sterbejahr B.s ist ebenso wenig wie sein zwölf Apostel (darunter auch Paulus!) u. dem Herkunftsort – für »Horheim« werden mehEinzug aller behaltenen Seelen in den Himrere Orte in Betracht gezogen – bekannt; man mel endet das Weltgerichtsspiel, dessen vermutet aufgrund der spärl. NamensbezeuHauptgewicht deutlich auf der Belehrung – gung, dass B. nicht lange nach den beiden z.B. mahnender Anweisung zum rechten Leeinzigen urkundl. Daten jung gestorben ist. ben – u. v. a. auf der Abschreckung vor Die urkundl. Nennung B.s u. die formale sündhaftem Tun liegt. Gestaltung seiner in der Weingartner u. in der Ausgaben: Wolfgang Stammler: B. W. Bln. Großen Heidelberger Liederhandschrift vom An1962. – Hansjürgen Linke (Hg.): Die dt. Weltge- fang des 14. Jh. überlieferten Lieder erlauben richtsspiele des späten MA. Synopt. Gesamtausg. 3 eine literarhistor. Zuordnung des Sängers zur Bde., Tüb./Basel 2002. sog. »Hausenschule«, einer Gruppe staufiLiteratur: Rudolf Klee: Das mhd. Spiel vom scher Minnesänger im Umkreis von Barbajüngsten Tage. Diss. Marburg 1906. – Hellmut rossa u. Heinrich IV., der neben Friedrich von Rosenfeld: B. W. In: VL. – Rolf Bergmann: Kat. der Hausen noch Bligger von Steinach, Ulrich von deutschsprachigen geistl. Spiele u. Marienklagen des MA. Mchn. 1986. – Bernd Neumann: Geistl. Gutenburg u. Otto von Botenlauben zugeSchauspiel im Zeugnis der Zeit. 2 Bde., Mchn. rechnet werden. Die Lieder sind thematisch 1987. – David A. Wells: The Procession of Apostles u. formal von der roman. Lyrik beeinflusst u. in the German Last Judgement Plays. Considera- stehen in der Tradition des rhein. Minnetions from a Historical Perspective. In: ABäG 46 sangs. B.s Strophen sind stollig, die Lieder

481

Bernhard von Breidenbach

isometrisch gebaut. II, III u. IV sind dakty- Bernhard von Breidenbach, Breydenbach, lisch, VI gilt wegen seiner grammat. Reime u. * um 1434, † 5.5.1497 Mainz; Grabstätte: der Verwendung der rhetor. Figur des Poly- ebd., Dom. – Mainzer Domdekan, Paläsptotons als formales Kunststück. tinareisender u. Herausgeber des ersten B.s Lieder sind durchweg monolog. Min- gedruckten, illustrierten Pilgerberichts. neklagen u. variieren den Ende des 12. Jh. bereits weit verbreiteten Liedtyp teils mit B., der dem oberhess. Rittergeschlecht Breioriginellen Einfällen, wie z.B. im sog. Lügen- denbach zu Breidenstein (bei Biedenkopf/ lied (II), in dem der Sänger gezielte Stöße ge- Lahn) entstammte, wurde nach Besuch der gen die übl. Publikumserwartung führt u. Mainzer Domschule u. juristischem Studium sich damit ansatzweise von der traditionellen an der Universität Erfurt mit bereits 24 JahMinnesängerrolle distanziert. Überhaupt ren Mitgl. des Mainzer Domkapitels. Gleichstellt die Thematisierung u. Einbeziehung zeitig erlangte er ein Kanonikat des Mainzer von Publikum u. Vortragssituation in ihrer Ritterstiftes St. Alban, später auch der LiebHäufigkeit u. Pointierung in dieser Phase des frauenkirche sowie der Kollegiatstifte St. Minnesangs eine Ausnahme dar. Zu nennen Viktor in Mainz u. St. Peter u. Alexander zu wäre hier v. a. Lied V mit der Frage eines – Aschaffenburg. Als Domherr war er von 1469 impliziten – Publikums nach der dichter. bis 1473 Amtmann in Bingen u. stieg wenige Produktion (»sanc«) von ehedem. Daneben Jahre später als Kämmerer des weltl. Gerichts zeigen die individuelle Gestaltung von auch zum höchsten erzbischöfl. Beamten der Stadt bei anderen Minnesängern verwendeten Mo- Mainz auf (1477–1491). In dieser Position tiven wie das der Neider u. Merker (I, II), des brach er nicht zuletzt wegen der in Mainz Liedes als Bote (III) oder der Anspielung auf herrschenden Pest mit dem (unterwegs verden Minnetrank Tristans (I, wohl nach Chré- storbenen) Grafen Johann Solms-Lich, dem tien de Troyes) u. Kunstgriffe wie das Ein- Ritter Philipp von Bicken u. dem aus Utrecht setzen von Realitätsdetails zur Intensivierung stammenden Künstler Erhard Reuwich im der Trennungssituation im Abschiedslied Jahre 1483 zu einer Pilgerreise ins Heilige (IV), dass B. im Rahmen vorgegebener Tradi- Land auf, die die Gruppe von Venedig aus tionen durchaus zu reizvollen Variationen u. nach Jerusalem, zum Sinai, nach Ägypten u. von dort aus zurück in die Lagunenstadt Neuerungen in der Lage war. Ausgaben: Minnesangs Frühling 1. S. 224–229. führte (25.4.1483–2.2.1484). In die Heimat zurückgekehrt u. von Erz– Günther Schweikle (Hg.): Die mhd. Minnelyrik. I (mit nhd. Übertragung u. Komm.). Darmst. 1977, bischof Berthold von Henneberg zwischenS. 272–283, 516–523. – Ingrid Kasten (Hg.): Dt. zeitlich zum Domdekan ernannt, verfasste B. Lyrik des frühen u. hohen MA (Ed. u. Komm. v. im Frühjahr 1484 eine handschriftl. Reiseinders.; Übers. v. Margherita Kuhn). Ffm. 1995, struktion für den Grafen Ludwig von HanauS. 150–159 u. S. 672–680. Lichtenberg, die prakt. Ratschläge zu den auf Literatur: Tervooren, Nr. 570–571 (Bibliogr.). – einer Pilgerfahrt benötigten KleidungsstüGünther Schweikle: B. v. H. In: VL. – Olive Sayce: cken, Lebensmitteln u. Arzneien enthielt. The Medieval German Lyric, 1150–1300. Oxford Seine Berühmtheit verdankt der Mainzer 1982, S. 124–127. – Volker Mertens: IntertristaniDomdekan jedoch neben dem am 24.3.1485 sches. Tristan-Lieder v. Chrétien de Troyes, B. v. H. u. Heinrich v. Veldeke. In: Kultureller Wandel u. in Mainz erschienenen Gart der Gesundheit, die Germanistik in der Bundesrepublik. Hg. Jo- dem ersten gedruckten Kräuterbuch in dt. Sprache, in erster Linie der am 11.2.1486 hannes Janota. Bd. 3, Tüb. 1993, S. 37–55. Claudia Händl / Red. veröffentlichten, mit 26 Holzschnitten bebilderten Peregrinatio in terram sanctam (Mainz), die als erster gedruckter, illustrierter Pilgerbericht zu den bedeutendsten dt. Frühdrucken zählt. Als Herausgeber verfasste B. lediglich die Vorreden beider Werke u. übertrug die

Bernhard

482

schriftsteller. Tätigkeit jeweils Autoren, die 24.3.1485. – Peregrinatio in terram sanctam. Mainz die Texte aus älteren Quellen kompilierten. 11.2.1486 (lat.). Mainz 21.6.1486 (dt.). Mainz So wurden die Ausführungen des Gart der 24.5.1486 (niederdt.). – Moderne Ausgaben: Die ReiGesundheit von dem Frankfurter Arzt Johann seinstruction des B. v. B. 1483. In: Reinhold Röhricht u. Heinrich Meisner: Dt. Pilgerreisen nach Wonnecke von Cube zusammengestellt, dem Hl. Lande. Bln. 1880, S. 120–145. – Elisabeth während der Mainzer Theologieprofessor Geck: B. v. Breydenbach: Die Reise ins Hl. Land. Martin Rath für die Abfassung des Pilgerbe- Wiesb. 1977 (Textauszug). – Gabriella Bartolini: B. richts verantwortlich war. Hinsichtlich der v. Breydenbach. Peregrinationes. Rom 1999. Illustrationen oblag es dem Mainzer Maler Literatur: Bibliografien: Reinhold Röhricht: BiErhard Reuwich Vorlagen zusammenzutra- bliotheca Geographica Palaestina. Bln. 1890. – gen, wofür Venedig als künstlerisches Zen- Hugh William Davies: B. v. Breydenbach and his trum u. Ausgangsort der Pilgerreise eine ge- journey to the Holy Land 1483 to 1484. A Bibliogeignete Sammelstätte bildete. Die Abbildun- raphy. London 1911. Nachdr. Utrecht 1968. – gen der Peregrinatio gehören zu den ein- Werner Paravicini: Europ. Reiseberichte des späten drucksvollsten Holzschnitten des Inkunabel- MA. Eine analyt. Bibliogr. Bd. 1, Bern 2001, wesens u. stellten mit den bis zu 1,62 m S. 201–209. – Weitere Titel: Friedrich Uhlhorn: Zur Gesch. der B.schen Pilgerfahrt. In: Gutenberg-Jb. breiten, von mehreren Holzstöcken gedruck1934, S. 107–111. – Reimar Walter Fuchs: Die ten, in das Buch gebundenen u. aufklappba- Mainzer Frühdr.e mit Buchholzschnitten ren Darstellungen in ihrer Zeit ein Novum 1480–1500. In: AGB 2 (1960), S. 1–129. – Dietrich dar. Huschenbett: B. v. B. In: VL. – Michael Herkenhoff: B. ging es mit seinem Werk jedoch nur Die Darstellung außereurop. Welten in Drucken dt. zweitrangig um die Beschreibung seiner Pil- Offizinen des 15. Jh. Bln. 1996, S. 180–204. – Fregerreise; in erster Linie galt es mit umfang- derike Timm: Der Palästina-Pilgerber. des B. v. B. v. reichen antiislamischen Propagandaab- 1486 u. die Holzschnitte Erhard Reuwichs. Stgt. schnitten, die quantitativ den größten Teil 2006. Frederike Timm des Textes ausmachen u. die Führungspersönlichkeiten des dt. Reiches zum Hl. Krieg Bernhard, Georg, auch: Gracchus, Plutus, aufrufen, die Reichsreformbestrebungen des * 20.10.1875 Berlin, † 10.2.1944 New amtierenden Erzbischofs Berthold von HenYork. – Publizist. neberg zu unterstützen. Der Kreuzzugsaufruf bildete lediglich ein imaginäres Ziel zur B. wurde als Sohn eines jüd. Kaufmanns gePropagierung der Notwendigkeit einer inne- boren. Nach einer Banklehre studierte er ren Einheit des territorial zersplitterten dt. 1899–1902 öffentl. Recht u. StaatswissenReiches, der die erzbischöfl. Forderung nach schaften, war aber bereits ab 1896 journaliseinem umfassenden Reichsfrieden entsprach. tisch tätig. Unter dem Namen Gracchus verWeniger der Text als die bis dato einzigarti- öffentlichte er Wirtschafts- u. Finanzkritiken gen Illustrationen unterstützten dabei die in der »Welt am Montag«, u. als Plutus polit. Botschaft des Domdekans u. sorgten für schrieb er in der von Maximilian Harden geeine weite Verbreitung des Buches, ließen leiteten Wochenschrift »Die Zukunft«. sich doch durch den ästhet. Reiz der Holz- Nachdem B. in der Ullsteinschen »Berliner schnitte Leserkreise erschließen, die erst Morgenpost« den Handelsteil aufgebaut durch die Betrachtung der Abbildungen zu hatte, übernahm er ab 1914 die Leitung der einer Lektüre des Berichtes bewogen wurden. »Vossischen Zeitung« u. lehrte ab 1928 als Bis ins 17. Jh. erschien das Werk in zahlrei- Honorarprofessor an der Berliner Handelschen Auflagen u. Sprachen u. wies seinen hochschule. 1933 ging B. ins Exil nach Paris, Herausgeber als einen für seine Zeit einma- 1941 musste er in die USA fliehen. Bis zu seinem Tod arbeitete er in New York beim ligen »Medienpolitiker« aus. Handschriften und Ausgaben: Handschriften: American Jewish Congress. B. war einer der prominentesten dt. JourReiseinstruktion für den Grafen Ludwig v. HanauLichtenberg: März/Apr. 1484 (Darmst., Staatsar- nalisten des Kaiserreichs u. der Weimarer chiv). – Frühdrucke: Gart der Gesundheit. Mainz Republik. Er engagierte sich aber auch poli-

483

tisch für die journalist. Belange: Als Vertreter der Redakteure war er im berufsständisch organisierten Reichswirtschaftsrat erfolgreich, setzte sich mit großer Debattierfreude 1928–1930 für die Demokratische Partei als Mitgl. des Reichstags ein u. fungierte im »Verein Berliner Presse« sowie in der »Pressekonferenz der Reichsregierung« als Vorsitzender u. Obmann. Seine Begabung für die verständl. Darstellung auch komplizierter Sachverhalte u. ein unermüdlicher Schaffensdrang eröffneten ihm auch im Exil viele Betätigungsfelder. In Paris, dem Zentrum der Exilpublizistik vor dem Zweiten Weltkrieg, gründete B. 1933 das linksliberale »Pariser Tageblatt« (1936–1940 »Pariser Tageszeitung«). Diese einzige allein von Exilanten herausgegebene Tageszeitung zählte zu ihren Mitarbeitern u. a. Bertolt Brecht, Oskar Maria Graf, Konrad Heiden, Alfred Kerr, Heinrich Mann, Ludwig Renn u. Franz Werfel. Neben der politischen hatte das Blatt auch eine unmittelbare prakt. Bedeutung, da es über die Bedingungen des Exil- u. Asylrechts umfassend informierte. Weitere Werke: Armes, reiches Rußland. Bln. 1905. – Die dt. Tragödie, der Selbstmord einer Republik. Prag 1933. – Meister u. Dilettanten am Kapitalismus. Amsterd. 1936. Jürgen H. Koepp / Red.

Bernhard, Thomas, * 9. oder 10.2.1931 Heerlen/Niederlande, † 12.2.1989 Gmunden/Oberösterreich; Grabstätte: Wien, Grinzinger Friedhof. – Dramatiker, Erzähler u. Lyriker. Über seine Jugend hat B. in seiner fünfteiligen Autobiografie Auskunft gegeben: über seine Geburt als uneheliches Kind des Tischlers Alois Zuckerstätter u. der Tochter des Schriftstellers Johannes Freumbichler, Herta Bernhard (später verehelichte Fabjan), über seine Kindheit in Wien, Traunstein u. Henndorf (Ein Kind. Salzb. 1982), über den Schulbesuch in Salzburg ab 1943 u. den Krieg (Die Ursache. Salzb. 1975), über den Gesangsunterricht, den Abbruch des Gymnasiums u. die Arbeit in einem Gemischtwarenladen als Lehrling (Der Keller. Salzb. 1976), über den Tod des verehrten Großvaters (1949) u. den

Bernhard

Tod der Mutter (1950) (Der Atem. Salzb. 1978), über den Aufenthalt in der Lungenheilstätte Grafenhof von 1949 bis 1951 (Die Kälte. Salzb. 1981). Ab 1951 studierte B. an der Hochschule für Musik u. darstellende Kunst in Wien. Er arbeitete anschließend als Gerichtsreporter für das Salzburger »Demokratische Volksblatt«, besuchte danach das Mozarteum in Salzburg u. verbrachte einige Zeit bei dem Komponisten Gerhard Lampersberg in Kärnten. B.s erste Veröffentlichungen Ende der 1950er Jahre waren Gedichtsammlungen: Auf der Erde und in der Hölle (Salzb. 1957) u. In hora mortis (Salzb. 1958). Mit dem Roman Frost (Ffm. 1963) wurde er als Erzähler erfolgreich. Seit 1965 lebte B. als freier Schriftsteller in Ohlsdorf/Oberösterreich u. in Wien. Der Roman Frost provozierte v. a. die österr. Leser, weil B. radikal mit dem Klischee der schönen Heimat bricht. Wie die Menschen Opfer einer Natur u. einer feindseligen Landbevölkerung sind, zeigen auch die Erzählung Amras (Ffm. 1964) u. der Roman Verstörung (Ffm. 1967), der als ein übersichtlich erzählter Anti-Heimatroman anzufangen scheint, um im Monolog des Fürsten Saurau zu gipfeln, der Rede eines offenkundig »Verstörten«, die über beinahe zwei Drittel des Buches vom universalen Katastrophenzusammenhang handelt. Spätestens mit diesem Roman wurde deutlich, dass B. nicht als realistischer Erzähler zu gelten hat. In einem dem Filmskript Der Italiener (Salzb. 1971) beigefügten Interview u. d. T. Drei Tage erläuterte B. sein ästhetisches Programm: In seinen Büchern sei »alles künstlich«; er sei der »typische Geschichtenzerstörer«; eine Buchseite u. eine »weiße Wand« glichen einander vollkommen, u. eine solche »weiße Wand« sei nicht eintönig, sondern faszinierend durch »Risse, kleine Sprünge, Unebenheiten, Ungeziefer«. Die Kritik blieb davon weitgehend unbeeindruckt; die meisten Rezensenten zeigten sich weiterhin irritiert von der Monotonie, die sich in B.s wiederkehrenden Themen (Verbrechen, Krankheit, Verfall, Tod) u. in seinen schraubenartig gedrehten Satzgefügen manifestiert. B.s Helden sind Einzelgänger, die die Masse verachten, weil die Masse sie verachtet.

Bernhard

Sie sind Künstler wie der Maler Strauch in Frost oder Wissenschaftler wie Konrad in dem Roman Das Kalkwerk (Ffm. 1970), die ihrer Tätigkeit weitab vom offiziellen Wissenschafts- u. Kunstbetrieb nachgehen. Die Vollendung eines Werks bleibt ihnen zumeist versagt. Sie werden verrückt wie Karrer in der Erzählung Gehen (Ffm. 1971) oder begehen Selbstmord wie Roithamer, Protagonist in dem Roman Korrektur (Ffm. 1975), der für seine Schwester in der Mitte eines riesigen Waldes einen Kegel als ideales Wohnhaus errichtet hat. Der Anblick des vollendeten Werks, das der Schwester den Tod bringt, bedeutet auch für Roithamer das Ende. In der Komödie Die Macht der Gewohnheit (Ffm. 1974) scheint das Motiv des Scheiterns ins Skurrile gewendet: Eine Zirkustruppe bemüht sich seit 22 Jahren erfolglos, Schuberts Forellenquintett einzustudieren. B.s Texte erfordern durchgehend auch die krit. Prüfung literarischer Klassifikationen. Ist es eine Komödie? Ist es eine Tragödie? lautet der Titel einer Erzählung in dem Band Prosa (Ffm. 1967). »Es ist alles lächerlich, wenn man an den Tod denkt«, das ist der – recht banale – Leitsatz der 1968 viele schockierenden Preisrede anlässlich der Verleihung des Förderungspreises für Literatur durch das österr. Bundesministerium für Unterricht u. Kunst u. zgl. auch die existentielle Einsicht, die B.s sämtl. Werke durchzieht. Bis etwa 1975 ist »Tod« ein Hauptwort B.s, danach dominiert Grotesk-Komisches u. Lächerliches in seinem Werk. Deutlich erkennbar wird dies an den 104 Anekdoten Kleist’schen Zuschnitts in Der Stimmenimitator (Ffm. 1978), die wie manche Kurzparabeln in dem Bändchen Ereignisse (Berlin 1969; entstanden 1957) an moderne Zeitungssagen erinnern. Mit der Publikation seiner autobiogr. Texte ab 1975 schien der Kritik auch ein willkommener Anlass geboten, im Schaffen B.s einen Wandel zu konstatieren, den sie als einen Abschied von der Künstlichkeit u. eine Hinwendung zur schonungslosen Selbstdarstellung u. verstörenden Authentizität vermerkte. Doch ist nicht zu übersehen, dass auch diese Autobiografie dem B.’schen Sprachduktus folgt u. darin ebenso das Extremvokabular der Superlative u. Ausschließlichkei-

484

ten dominiert, wenn auch sein Stil schlichter u. distanzierter geworden ist; hier wird kein biografisch geschlossenes Kontinuum geboten, sondern vielmehr werden, wie B. selbst sagt, »Möglichkeitsfetzen von Erinnerung« zusammengetragen. Die in Der Keller oftmals wiederholte Formel »in die entgegengesetzte Richtung« drückt B.s Verweigerungshaltung gegenüber den bildungsbürgerl. Karriere- u. Glücksangeboten aus u. begründet den Austritt aus der Schule u. den Abbruch der Kaufmannslehre. In Der Atem fällt zwar die Entscheidung für das Leben wider den Tod, doch ohne Emphase. Obwohl sie durch ihre radikalen Verurteilungen – »Nur der Schamloseste ist authentisch« (B.) – viel Widerspruch hervorriefen, machten die Bände der Autobiografie den Autor im positiven wie im negativen Sinne populär. In seinen Angriffen zielt B. genau: Vor allem gelten sie dem Nationalsozialismus u. der Nachkriegszeit, die er als Kontinuum auffasst, da er den dominanten Katholizismus in Österreich als Analogon zur Hitlerzeit begreift, aber auch den österr. Kulturheiligtümern, gegen deren Unantastbarkeit sich B. mit wütender Hassliebe auflehnt. Seit dem Erfolg des von Claus Peymann inszenierten Dramas Ein Fest für Boris (Ffm. 1970. Urauff. Dt. Schauspielhaus Hamburg 1970) konnte sich B. auch einen festen Platz im Spielplan dt. Bühnen erobern. Nach einigen Versuchen bei den Salzburger Festspielen, die allesamt als Skandale endeten, schrieb B. seine Stücke mit Blick auf den Schauspieler Bernhard Minetti oder den Regisseur Peymann u. dessen Ensemble in Bochum bzw. seit 1986 am Burgtheater in Wien. Will B. in der Prosa ein »Geschichtenzerstörer« sein, so erweist er sich im Drama als Dialogzerstörer; seine Stücke sind fast durchgehend Monodramen, deren Realisation auf der Bühne von der Schauspielkunst eines einzigen Darstellers abhängt. Als Ausnahmen können die Literaturkomödie Über allen Gipfeln ist Ruh (Ffm. 1981. Urauff. Ludwigsburg 1982) u. Ritter, Dene, Voss (Ffm. 1984. Urauff. Salzburger Festspiele 1986) gelten. Mögen die Dramen durch ihren monolog. Charakter all das abbauen, was landläufig unter Spannung verstanden wird, u.

485

durch die litaneiartige Rede der Protagonisten einschläfernd wirken, zumal sie im virtuosen Selbstlauf bekannte B.’sche Themen variieren, so fällt ihr wuchtig-überraschender Abschluss auf (z.B. Die Jagdgesellschaft. Ffm. 1974. Urauff. Burgtheater Wien 1974. Der Theatermacher. Ffm. 1984. Urauff. Salzburger Festspiele 1985. Elisabeth II. Ffm. 1987). Hier liegt auch eine deutl. Differenz zu dem oft als Vorbild vermuteten Dramatiker Samuel Beckett. Auch spätere erzählende Texte B.s, so etwa der Roman Beton (Ffm. 1982), schließen mit einer harten trag. Pointe. Der Untergeher (Ffm. 1983) wandelt das Thema des scheiternden Virtuosen nochmals ab: Der Pianist Wertheimer hat Glenn Gould spielen gehört; er ist zum Untergang verurteilt, weil er dessen Perfektion nie erreichen wird, u. begeht Selbstmord. Satirisch nimmt auch Holzfällen (Ffm. 1984) den österr. Kulturbetrieb der 1980er Jahre aufs Korn. Der Untertitel dieses Romans, Eine Erregung, erwies sich als zutreffend für dessen Rezeptionsweise: Da sich B.s ehemaliger Freund Gerhard Lampersberg darin bloßgestellt u. diffamiert fühlte, wurde dieses Buch in Österreich beschlagnahmt, woraufhin B. den Verkauf seiner in der Bundesrepublik Deutschland publizierten Bücher untersagte; beide Verfügungen wurden jedoch bald aufgehoben. Der von vielen komödiant. Nebeneffekten durchsetzte Literaturskandal um diesen Roman zeigt deutlich, was für B.s Werk insg. gilt: dass nämlich seiner außerliterarisch provozierenden Wirkung eine eigene Qualität zugewachsen ist. B., der Provokateur vom Dienst, hat durch zahlreiche Stellungnahmen dieser Auffassung Vorschub geleistet. Seine Attacken wie auch die seiner Kunstfiguren konzentrieren sich auf das, für das sich ein unverwüstliches Konsensmaximum herzustellen scheint, auf die Stadt Salzburg, Elias Canetti, Bruno Kreisky, die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, Albert Schweitzer, Mutter Teresa, Franz von Assisi. In dem als »Komödie« bezeichneten Roman Alte Meister (Ffm. 1985) holt der 82-jährige Musikkritiker Reger zu einem Rundumschlag nicht nur gegen Heidegger, Adalbert Stifter u. die österr. Kulturtradition aus, er will auch die Kunst in

Bernhard

ihrer Gesamtheit dem Verfahren der Falsifikation unterwerfen: Man müsse nur den vernichtenden Fehler in einem Kunstwerk suchen, das führe mit tödlicher Sicherheit zum Erfolg. In Auslöschung (Ffm. 1986) – B.s umfänglichstem Roman – rechnet die Hauptfigur Franz-Josef Murau mit ihren Eltern u. damit auch mit der von Katholizismus u. Nationalsozialismus bestimmten österr. Geschichte gnadenlos ab. In Heldenplatz (Ffm. 1988), dessen Aufführung von zahlreichen Protestkundgebungen begleitet wurde, attackiert B. in einem grotesk-absurden Zerrbild die NS-Vergangenheit seines Heimatlandes. Ein letztes Mal für Aufregung sorgte er nach seinem Tod im Febr. 1989 mit seinem Testament, in dem er ein allgemeines Aufführungs- u. Publikationsverbot eines jegl. seiner Werke innerhalb der Grenzen Österreichs verfügte. Jedoch erlaubte der Erbe Ausnahmen, sodass ab 1999 Neuinszenierungen von B.s Dramen möglich wurden. Zuvor war schon die weitere Aufführung bereits im Spielplan befindlicher B.-Inszenierungen gestattet worden. Trotz der stets behaupteten Künstlichkeit hat B.s Prosa u. Dramatik vor allen anderen Werken der österr. Literatur nach 1945 in der Öffentlichkeit Aufsehen erregt u. zu Kontroversen quer durch die Lager herausgefordert. Übersetzungen haben B. weit über den deutschsprachigen Raum hinaus bekannt gemacht, v. a. in Frankreich, Italien, Spanien u. Polen; noch eher zögernd verläuft die Rezeption im angelsächs. Raum. Den wiss. Versuchen einer Zuordnung zu bestimmten literar. u. philosoph. Traditionen (markiert durch von B. oft erwähnte Autoren wie Wittgenstein, Novalis, Kleist, Montaigne, Pascal, Schopenhauer, Nietzsche) steht B.s Selbstverständnis als »Lachphilosoph« u. »Übertreibungskünstler«, der durch Entstellung die Welt erst kenntlich mache, nicht grundsätzlich entgegen; es sollte aber bei vergleichendem Vorgehen zur Vorsicht anhalten. Die systemat. Destruktion ethischer u. ästhet. Prämissen scheint B.s Werk einen hervorragenden Platz in der Problemgeschichte der Misanthropie zuzuweisen, in der er eine Sonderstellung einnimmt, da er sich u. seinen Protagonisten das vermeintlich ret-

Bernhardi

tende Quäntchen Philanthropie konsequent versagt. Weitere Werke: Unter dem Eisen des Mondes. Köln 1958 (L.). – die rosen der einöde. fünf sätze für ballett, stimmen u. orchester. Ffm. 1959. – Ungenach. Ffm. 1968 (E.). – An der Baumgrenze. Salzb. 1969 (E.en). – Watten. Ein Nachl. Ffm. 1969 (E.). – Midland in Stilfs. Ffm. 1971 (E.en). – Der Ignorant u. der Wahnsinnige. Ffm. 1972. Urauff. Salzburger Festspiele 1972. – Der Kulterer. Eine Filmgesch. Salzb. 1974. – Der Präsident. Ffm. 1975. Urauff. Akademietheater Wien 1975. – Die Berühmten. Ffm. 1976. Urauff. Theater an der Wien 1976. – Minetti. Ffm. 1977. Urauff. Stgt. 1976. – Immanuel Kant. Ffm. 1978. Urauff. Stgt. 1978. – Ja. Ffm. 1978 (E.). – Der Weltverbesserer. Ffm. 1979. Urauff. Bochum 1980. – Vor dem Ruhestand. Eine Komödie v. dt. Seele. Ffm. 1979. Urauff. Stgt. 1979. – Die Billigesser. Ffm. 1980 (E.). – Am Ziel. Ffm. 1981. Urauff. Salzburger Festspiele 1981. – Ave Vergil. Ffm. 1981 (L.). –Wittgensteins Neffe. Ffm. 1982 (E.). – Der Schein trügt. Ffm. 1983. Urauff. Bochum 1984. – Stücke. Ffm. 1983. – Einfach kompliziert. Ffm. 1986. Urauff. Schiller-Theater Berlin 1986. – In der Höhe. Rettungsversuch, Unsinn. Salzb. 1989.

486 Freumbichler u. sein Enkel T. B. Salzb. 1988. – Jens Dittmar (Hg.): T. B. Werkgesch. Ffm. 21990. – T. B. – Eine Begegnung. Gespräche mit Krista Fleischmann. Wien 1991. – Kurt Hofmann: Aus Gesprächen mit T. B. Mchn. 1991. – Sepp Dreissinger: T. B. Portraits. Bilder u. Texte. Weitra 1992. – Karl Ignaz Hennetmair: Aus dem versiegelten Tgb. Weihnacht mit T. B. Weitra 1992. – Herbert Moritz: Lehrjahre. T. B. – Vom Journalisten zum Dichter. Weitra 1992. – André Müller: Im Gespräch mit T. B. Weitra 1992. – Bernhard Sorg: T. B. Mchn. 2 1992. – Wolfram Bayer (Hg.): Kontinent B. Zur T.B.-Rezeption in Europa. Wien u. a. 1995. – Hans Höller u. Irene Heidelberger-Leonard (Hg.): Antiautobiogr. – Zu T. B.s ›Auslöschung‹. Ffm. 1995. – Louis Huguet: Chronologie Johannes Freumbichler – T. B. Weitra 1995. – Pia Janke u. Ilija Dürhammer: Der ›Heimatdichter‹ T. B. Wien 1999. – Alfred Pfabigan: T. B. Ein österr. Weltexperiment. Wien 1999. – Franziska Schößler u. Ingeborg Villinger: Politik u. Medien bei T. B. Würzb. 2002. – Andreas Maier: Die Verführung. T. B.s Prosa. Gött. 2004. – Manfred Mittermayer: T. B. Leben, Werk, Wirkung. Ffm. 2006. Wendelin Schmidt-Dengler / Ralf Georg Czapla

Wissenschaftliche Ausgabe: Werke in 22 Bdn. Ffm. 2003 ff.

Bernhardi, (Johann Christian) August Ferdinand, auch: Falkenhain, verh. mit Literatur: Periodika: T.-B.-Jb. 2002 ff. – Mate- Sophie Bernhardi, * 24.6.1769 Berlin, rialien zu T. B. Weitra 1984 ff. – Weitere Titel: An- † 2.6.1820 Berlin. – Lyriker u. Erzähler, neliese Botond (Hg.): Über T. B. Ffm. 1970. – Karin Reformpädagoge u. Sprachphilosoph. Bohnert: Ein Modell der Entfremdung. Eine Interpr. des Romans ›Das Kalkwerk‹ v. T. B. Wien 1976. – Erich Jooß: Aspekte der Beziehungslosigkeit. Zum Werk v. T. B. Selb 1976. – Herbert Gamper: T. B. Mchn. 1977. – Hans Höller: Kritik einer literar. Form. Versuch über T. B. Stgt. 1979. – Manfred Jurgensen: T. B. Der Kegel im Wald oder die Geometrie der Verneinung. Bern 1981. – Ders. (Hg.): T. B. Annäherungen. Bern 1981. – Kurt Bartsch u. a. (Hg.): In Sachen T. B. Königst./Ts. 1983. – Josef König: ›Nichts als ein Totenmaskenball‹. Studien zum Verständnis der ästhet. Intention im Werk T. B.s. Ffm. 1983. – Gerald Jurdzinski: Leiden an der Natur. T. B.s metaphys. Weltdeutung im Spiegel der Philosophie Schopenhauers. Ffm. 1984. – Hajo Steinert: Das Schreiben über den Tod. Von T. B.s ›Verstörung‹ zur Erzählprosa der 70er Jahre. Ffm. 1984. – Bernhard Fischer: ›Gehen‹ v. T. B. Eine Studie zum Problem der Moderne. Bonn 1985. – Wendelin Schmidt-Dengler: Der Übertreibungskünstler. Studien zu T. B. Wien 1986. – Ders. u. Martin Huber (Hg.): Statt Bernhard. Über Misanthropie im Werk T. B.s. Wien 1987. – Caroline Markolin: Die Großväter sind die Lehrer. Johannes

Nach einem Philologiestudium in Halle (u. a. bei Friedrich August Wolf) begann B., Sohn eines Justizoberkommissars, 1791 als Lehrer am Friedrichswerderschen Gymnasium in Berlin, das sich unter der Leitung Friedrich Gedikes zu einer Hochburg des Philanthropismus entwickelt hatte. In den Jahren der Humboldt’schen Reformen machte B., der selbst publizistisch die pädagog. Reformbewegung unterstützte (Ansichten über die Organisation der gelehrten Schulen. Bln. 1818), berufl. Karriere im preuß. Erziehungssystem. 1808 wurde er Direktor des Friedrichswerderschen Gymnasiums, 1811 aufgrund seiner sprachwiss. Studien Privatdozent, 1816 zusätzlich Konsistorialrat u. 1820 Direktor des Friedrich-Wilhelm-Gymnasiums in Berlin. B. hat v. a. durch die Verbindung zu seinem späteren Schwager Ludwig Tieck Eingang in die Literaturgeschichte gefunden, während seine eigenen literar. u. literaturkrit. Pro-

487

Bernhardi

dukte eher epigonalen Charakter tragen. manach auf das Jahr 1806. Hg. Adelbert v. ChaTieck war noch Schüler am Friedrichswer- misso u. Karl August Varnhagen. Bln. 1806. – Die derschen Gymnasium, als B. ihn dort »ent- Versuche u. Hindernisse Karls (Mitarbeit). 1808. deckte« u. förderte. Dieses Verhältnis kehrte Neudr. in: Der Doppelroman der Berliner Romantik. Hg. Helmuth Rogge. 2 Bde., Lpz. 1926. – Über sich jedoch schon bald um, denn Tiecks rasch den Philoktet des Sophokles. Bln. 1811. – Reliquiwachsendem Ruhm hatte B. es zu verdanken, en, Erzählungen u. Dichtungen v. A. F. B. u. dessen dass auch er Anschluss an den erweiterten Gattin Sophie Bernhardi, geb. Tieck. Hg. Wilhelm Kreis der Frühromantiker gewann. Er lieferte Bernhardi. Vorw. v. Karl August Varnhagen v. Ense. Beiträge zum »Athenäum«, zu dem von Au- Altenburg 1847. gust Wilhelm Schlegel u. Tieck herausgegeNeuausgabe: Prakt. Pädagogik. Hg. Lutz Koch. benen »Musenalmanach für das Jahr 1802«, Weinheim 1997. zu Friedrich Schlegels Zeitschrift »Europa«, Literatur: Walter Bodenstein: Über den Einu. trat im viel gelesenen »Berlinischen Archiv fluß der Abhandlung ›Über den Ursprung der der Zeit« mehrfach als entschiedener Für- Sprache‹ v. J. G. Herder auf Adelung u. B. Diss. sprecher der »neuesten Literatur« der Früh- Wien 1906. – Joachim Braeuer: A. F. B., der romantiker auf. In den von B. u. Tieck ge- Sprachphilosoph der älteren Romantik. Diss. Bresmeinsam veröffentlichten »Bambocciaden« lau 1921. – Max Blücher: A. F. B.s Leben u. Schr.en Diss. Greifsw. 1923. – Wilhelm Horstmann: A. F. B. (3 Bde., Bln. 1797–1800) zeigt B. sich als ein als Pädagoge. Tüb. 1926. – Eva Fiesel: Die SprachSchriftsteller mit beachtlichem Talent zu philosophie der Dt. Romantik. Tüb. 1927. – scharfer Beobachtung u. satirisch-treffsiche- Friedrich Kainz: A. F. B.s Beitr. zur dt. Stilistik. In: rer Beschreibung. Die Ehe mit Tiecks ZfdPh 63 (1939). S. 1–44. – Gerhard Burckhardt: A. Schwester Sophie wurde nach wenigen Jahren F. B. In: NDB. – Eugen Klin: A. F. B.s Kritik der (1799–1807) unter missl. Begleitumständen zeitgenöss. Lit. In: LitJb N. F. 5 (1964), S. 111–142. geschieden, was zum Abbruch der Bezie- – Ders.: A. F. B. u. das frühromant. Milieu. In: hungen zu dem einstigen Weggefährten Germanica Wratislaviensia 10 (1966), S. 75–122. – Ders.: A. F. B. als Kritiker u. Literaturtheoretiker. führte. Bonn 1966. – Jürgen Ziegler: Subjektivität u. AlVon großer Bedeutung ist B.s Beitrag zur terität. zum Begriff der sprachl. Darst. bei A. F. B. Sprachwissenschaft des 19. Jh. Seine Sprach- In: Begegnung mit dem ›Fremden‹. Grenzen – lehre (2 Bde., Bln. 1801 u. 1803) bietet mehr Traditionen – Vergleiche. Akten des VIII. Internat. als eine bloße Übersicht des grammatischen Germanisten-Kongresses. Hg. Eijiro Iwasaki. Bd. 2, (Wolf), anthropologisch-histor. (Herder) u. Mchn. 1991, S. 73–79. – Bernhard Hurch: B. u. pädagog. (Basedow, Joachim Heinrich Cam- Humboldt u. die Asymmetrie der Prosodie. In: 125 pe) Wissens über die Sprache, wie es sich um Jahre Indogermanistik in Graz. Hg. Michaela 1800 angesammelt hatte. Vielmehr versucht Ofitsch u. Christian Zinko. Graz 2000, S. 185–192. Jochen Fried / Red. B., in starker Anlehnung an Herder, Fichte u. Schelling, Sprache als das transzendentale Substrat der erkennbaren Welt zu bestim- Bernhardi, Sophie, eigentl.: Anne Sophia, men, somit als das universale Medium der geb. Tieck, * 28.2.1775 Berlin, † 1.10. Vernunft in allen ihren Äußerungsformen – 1833 Tallinn. – Lyrikerin, Epikerin u. ausgehend von der Nachahmung elemen- Dramatikerin. tarster Naturlaute bis hin zu den vollendetsten Exempeln der Dichtkunst. B.s Gedanken Hintergrund der Biografie B.s ist die anrezum metaphor. Charakter der Sprache wur- gende, aber von sozialökonom. Umbrüchen den von A. W. Schlegel u. Wilhelm von geprägte Atmosphäre des aufgeklärten preuß. Berlin u. das bürgerl. Elternhaus des Humboldt aufgegriffen u. fortgesetzt. Seilermeisters Johann Ludwig Tieck u. Anna Weitere Werke: Nesseln. Bln. 1798. – Kynosarges. Eine Quartal-Schr. 1. Stück, Bln. 1802. Sophia Berukin. Obwohl die junge Sophie Neudr. Nendeln 1971. – Anfangsgründe der durch außergewöhnl. Begabung auffiel u. Sprachwiss. Bln. 1805. Neudr. Hildesh. 1981. – ihre beiden Brüder Johann Ludwig (SchriftSchillers Totenfeier. Ein Prolog v. B. u. Pellegrin steller) u. Christian Friedrich (Bildhauer) eine (d. i. Fouqué). Bln. 1806. – Gedichte in: Musenal- gezielte Schulbildung erhielten, musste B.

Bernhardi

sich ihr Wissen auf autodidaktischem Wege aneignen. Ab 1794 fand sie jedoch über ihren Bruder Ludwig Zugang zu intellektuellen Kreisen u. zum Schreiben u. war an der Herausbildung der frühen Berliner Romantik um Tieck, Wackenroder u. die Brüder Schlegel maßgeblich beteiligt. 1799 heiratete sie den Pädagogen A. F. Bernhardi, den sie 1804 nach unglückl. Ehejahren zus. mit den Söhnen Wilhelm (geb. 1800) u. Felix Theodor (geb. 1802) in Begleitung des estländ. Barons Karl Georg v. Knorring wieder verließ. Eine Flucht nach Rom (Aufenthalt 1805–1807), ein skandalöser Scheidungsprozess u. erbitterter Kampf um das Sorgerecht für die Söhne folgten. Nach weiteren Stationen in Prag, Wien u. München folgte B. 1812 dem vorausgeeilten Knorring (Heirat 1810) durch die Wirren der napoleon. Kriege nach Estland. 1820–1822 hielt sie sich noch einmal in Heidelberg auf u. versuchte vergeblich, das ehemalige romant. Bündnis zu erneuern; danach lebte sie bis zu ihrem Tode im Baltikum. B.s umfangreiches Werk umfasst ein breites Spektrum diverser Genres u. Themen. Neben der Auseinandersetzung zwischen den Geschlechtern geraten Liebe, Einsamkeit u. Sehnsucht ins Blickfeld. Das Werk nimmt Einflüsse der Berliner Spätaufklärung über die Romantik bis hin zum realist. Diskurs der Biedermeierzeit in sich auf. In eine frühe Phase fallen satirisch-iron. Erzählungen in aufklärerisch-didaktischer Manier sowie das Lustspiel Die vernünftigen Leute. B. veröffentlichte diese unter dem Schutz des Bruders Ludwig u. Bernhardis in den Zeitschriften »Straußfedern« (Bln. 1795. 1797) u. »Bambocciaden« (Bln. 1799/1800). In dem Briefroman Julie Saint Albain (2 Bde., Dresden 1801. Neudr. in Vorb.), der noch in empfindsamer Tradition steht, beteiligte sie sich an der aktuellen Geschlechterdebatte. Mit den Märchen Wunderbilder und Träume in elf Märchen (Königsb. 1802 u. 1823. Neuausg. Bln. 2000 u. Digitale Bibl.: Dt. Lit. v. Frauen) wandte sie sich dann romant. Positionen u. fantast. Stoffen zu, ebenso in den locker aneinandergereihten Bildern Dramatischer Fantasien (Bln. 1804) u. dem düsteren Trauerspiel Egidio und Isabella in »Rostorfs Dichter-Garten« (Würzb. 1807). Neben Sonetten, Balla-

488

den, Gedichten in romant. Zeitschriften wie »Europa« (1803), »Kynosarges« (1802), »Musen-Almanach« (1802) u. »Rostorfs Dichter-Garten« (1807) publizierte sie im »Athenäum« (1800) den Essay Lebensansicht, der eine philosoph. Betrachtung über das Leben darstellt, in dem sich Glück u. Liebe als flüchtig erweisen. Die 1805–1822 immer wieder aufgenommene Arbeit an dem mhd. Versepos Flore und Blanscheflur von Konrad Fleck zeigt die große Bedeutung, welche die bei den Romantikern beliebte poet. Erneuerung u. Übertragung mittelalterlicher Gedichte (B.s Bearbeitung wurde von A. W. Schlegel 1822 in Berlin herausgegeben. Neuausg.: Digitale Bibl.) in eine romant. Bildlichkeit u. Formkunst für sie hatte. Dagegen verwirft B.s später, in Estland entstandener u. erst nach ihrem Tod von Ludwig Tieck in Breslau 1836 u. 1845 veröffentlichter dreiteiliger Roman Evremont (Digitale Bibl. Neudr. in Vorb.) romant. Konzepte zugunsten realistischer, zeitnaher gesellschaftl. u. polit. Verhältnisse. B.s Werke fanden während ihrer Lebenszeit wenig Anerkennung. Die Zeitgenossen machten sie wegen ihrer skandalumwitterten Lebensweise für die Spaltung der Berliner Romantik verantwortlich. Bei der Herausgeberschaft blieb sie auf die Unterstützung ihres Bruders u. August Wilhelm Schlegels angewiesen, an den sie zwischen 1801 u. 1804 ein intensives Liebesverhältnis gebunden hatte (s. J. Körner (Hg.): Krisenjahre der Frühromantik. Briefe aus dem Schlegelkreis. 2 Bde., Brünn u. a. 1937. Bd. 3, Bern 1958). Ihre beiden wichtigsten Arbeiten, Flore und Blanscheflur u. Evremont, konnten aufgrund ihrer verzögerten Entstehung bzw. ihres späten Erscheinens u. aufgrund gewandelter Zeitumstände kaum noch Anerkennung beim Publikum finden. Ihre literar. Produktion fiel weitgehend dem Vergessen anheim, obwohl ihr ansehnliches Werk sich nicht nur auf die Beschreibung von Familien- u. Alltagswelt beschränkt, sondern die kulturelle u. gesellschaftl. Problematik der Epoche sichtbar macht. B.s unveröffentlichter Nachlass befindet sich in der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Berlin.

Bernhaubt

489 Literatur: Uwe Schweikert (Hg.): Korrespondenzen Ludwig Tiecks u. seiner Geschwister. In: JbFDH 1971. – May Redlich (Hg.): Lexikon deutschbalt. Lit. Eine Bibliogr. Köln 1989. – James Trainer (Hg.): ›Bei aller brüderlichen Liebe‹. The Letters of S. T. to her Brother Friedrich. Bln./New York 1991. – Carola Gerlach: S. T. (1775–1833): Schriftstellerin der Romantik. In: Wenn die Gesch. um eine Ecke geht. Almanach der Varnhagen-Gesellsch., hg. v. N. Gatter. Bln. 2000. – Monika Haberstok: S. T. – Leben u. Werk. Schreiben zwischen Rebellion u. Resignation. Mchn. 2001. – Ewa Eschler: S. T.-B.-Knorring 1775–1833. Das Wanderleben u. das vergessene Werk. Bln. 2005. Monika Haberstok

Ausgabe: Tagebücher u. Notizen 1935–47. Hg. Manfred Weitlauff. Weissenhorn 1997. Literatur: Manfred Weitlauff (Hg.): J. B.: Erinnerungen 1881–1930. 2 Bde., Weissenhorn 1992. – Rainer Bendel: Das Kirchenbild J. B.s. St. Ottilien 1993. – Klaus Arntz: Melancholie u. Ethik. Eine philosophisch-theolog. Auseinandersetzung mit den Grenzen sittl. Subjektseins im 20. Jh. Regensb. 2003, S. 41–84. – Klaus Arntz: Die göttl. Schatten der Schöpfung. Theolog.-eth. Überlegungen im Anschluss an J. B. (1881–1969). In: Inquire pacem. Beiträge zu einer Theologie des Friedens. Hg. Franz Sedlmeier u. Thomas Hausmanninger. Augsb. 2004, S. 248–270. – Manfred Lochbrunner: Hans Urs v. Balthasar u. seine Philosophenfreunde. Fünf Doppelporträts. Würzb. 2005.

Bernhart, Joseph, * 8.8.1881 Ursberg/ Jürgen H. Koepp / Red. Schwaben, † 21.2.1969 Türkheim/Schwaben. – Katholischer Theologe; Übersetzer, Bernhaubt, Arctocephas, Pangratz, gen. Herausgeber u. Schriftsteller. Schwenter, * Anfang 1481 Nürnberg, In München aufgewachsen, studierte B. dort † 7.7.1555 Nürnberg. – Kompilator, Germanistik, Geschichte, Philosophie u. Übersetzer, Chronist u. Herausgeber. Theologie. Er promovierte u. wurde 1952 Honorarprofessor für mittelalterl. Geistesgeschichte in München. Er war Mitgl. der Bayerischen Akademie der schönen Künste. »Halb Poet und halb Gelehrter«, so charakterisierte sich B. 1951 in einem Zeitungsaufsatz selbst. Dichten u. Denken, Antike u. Christentum bildeten die Bezüge seiner wissenschaftlich-künstler. Tätigkeit. Er übersetzte u. edierte nicht nur Werke der abendländ. Tradition (Augustinus, Bekenntnisse und Gottesstaat. Mchn. 1930), sondern blieb auch in seinen eigenen Schriften der traditionellreligiösen Ideendichtung verpflichtet. Unter dem Titel Der Kaplan (Mchn. 1919. Neuausg. Weissenhorn 31993) schrieb er seine Autobiografie in romanhafter Form. Er bemühte sich um Bilderreichtum u. gleichnishafte Ausdrucksweise (Der Vatikan als Thron der Welt. Lpz. 1929) u. deutete in umschreibender Weise auf myth. Erfahrungen u. innere Einsichten hin, v. a. in seinen Gedichten (Spitzweg-Buch. Mchn. 1925) u. Essays (Deutsche Madonnen aus zwei Jahrhunderten. Bln. 1934). Weitere Werke: Der Gottesfreund. Mchn. 1915 (Sprüche). – Gesch.n aus der Fremde. Mchn. 1924 (E.). – Goethe wandert. Essen 1932. – Vom Geheimnis des ewigen Lebens. Mchn. 1960.

Bereits B.s Vater Jacob Bernhaubt gen. Schwenter, ein Kürschner, war als Freund des nürnbergischen Dichters Hans Folz literarisch interessiert. Er ermöglichte seinem Sohn Pangratz das Studium der Artes Liberales an der Universität Heidelberg (1498–1500), das dieser als Baccalaureus artium abschloss. Über seine Tätigkeit zwischen 1500 u. 1504 ist nichts bekannt; vielleicht war er bei einem nürnberg. Schreibmeister in der Lehre, vielleicht als »Amanuensis« (Gehilfe) bei einem Gelehrten u. Humanisten tätig. Von 1504 bis zu seiner wegen Altersstarrsinn erfolgten Entlassung 1547 stand er ohne Unterbrechung im Dienst der Reichsstadt Nürnberg, u. zwar als Söldner, Hochzeitslader, Mitgl. u. Leiter des Eichamtes, Hausmeister (= Verwaltungsdirektor) des Rathauses u. als Genannter des Größeren Rates. Als Hochzeitslader war er auch Zeremonienmeister des Rates. Als solcher sowie im Eichamt, das in hohem Maße Integrität verlangte, hatte er die größten berufl. Erfolge. Sein frühestes bisher nachweisbares Werk ist die zwischen 1505 u. 1509 entstandene handschriftl. Kompilation von lat. Texten v. a. zeitgenössischer Autoren (Heinrich Bebel, Jakob Locher, Augustinus Moravus,

Bernhaubt

Matthaeus Lupinus Calidomius) zur Verteidigung des humanist. Poeta-Ideals (Apologia poetarum). Der Text wird von zahlreichen kolorierten Handzeichnungen Peter Vischers d.J. begleitet. B. erweist sich mit der Kompilation als treuer Anhänger des dt. »Erzhumanisten« Conradus Celtis u. als Fortführer von dessen humanist. Bestrebungen. 1515 verfasste u. kompilierte er die Histori Herculis, die dem Nürnberger Erzgießer u. Zeichner Peter Vischer d.J. gewidmet ist, der auch dazu Illustrationen beisteuerte. Im Widmungsbrief offenbart B. seine humanist. Kunstauffassung. Der Brief ist in weiten Passagen einem Brief des Wilhelm von Hirnkofen entnommen. Die folgende Vorrede von der Tugent, die B.s humanistisch-ethisches Anliegen dokumentiert, ist bis auf wenige Zeilen eine Übersetzung der Epistola de Virtutis laude des Johannes Romming. Im Zentrum der Histori Herculis steht ein dem Ludus Dianae des Celtis nachgebildetes Spiel. Es hat die berühmte Entscheidung des Hercules für die Tugend u. gegen das Laster, die Hercules-Taten u. ein Memento mori in Gestalt eines Todesschachs zum Inhalt. Die Texte übersetzte er aus der lat. Vorlage in ein dem Lateinischen stark angenähertes Deutsch. Als Verfasser der Vorlage gibt B. den gekrönten Dichter Gregorius Arvinianus an. Dieser weilte wahrscheinlich 1505 kurzzeitig in Nürnberg u. war unter dem neuen Humanisten-Namen Publius Vigilantius ab 1506 Professor für Beredsamkeit an der damals neu gegründeten Universität Frankfurt/O. Er bezog seine Anregungen u. Vorlagen u. a. von Sebastian Brant. Da der Text des Arvinianus/Vigilantius bis heute nicht aufgefunden werden konnte, lässt sich nicht hinlänglich bestimmen, inwieweit der Übersetzer B. – v. a. im Schlussbereich – eigenständig Zusätze eingefügt hat. Die Histori Herculis ist als literarisches Pendant zum Sebaldusgrab der Vischer-Werkstatt gemeint. Das Werk, dessen Kompositionsprinzip ein Zitatenmosaik ist, präsentiert sich als ein eigentümlicher früher Versuch, eine humanistisch orientierte Renaissancedichtung in dt. Sprache zu realisieren, für den um 1500 eine Parallele bisher nicht gefunden werden konnte.

490

Zwischen 1517 u. 1554 war B. als Chronist tätig. Dabei berichtete er auch über seine Amtsführung im Hochzeitslader- u. Eichamt sowie über die Herkunft seiner Familie (Das Erste Buchlein der Bernhaubt Schwenterischen Genealogia). Darüber hinaus legte er eine noch nicht wiederentdeckte wertvolle Schembarthandschrift an. 1534 gab er mit eigener Vorrede u. einigen Zusatzversen den Kargenspiegel (Tadel des Geizes) des Hans Folz in 2. Auflage (Nürnb.) heraus. Hier wie sonst erweist er sich als glühender Anhänger der Reformation. Etwa von 1505–1509 an stand er in engem Kontakt zu der berühmten Erzgießer-Familie Vischer. Mit Peter Vischer d.J. war er bes. befreundet u. fungierte – ähnlich wie Conradus Celtis u. Willibald Pirckheimer im Leben Dürers – als dessen gelehrt-literarischer Ratgeber. 26 Handzeichnungen Peters d.J. dürfen als Frucht dieser Zusammenarbeit bezeichnet werden, darunter die von ihm signierte u. mit B.s Monogramm versehene Allegorie auf den Sieg der Reformation, die später in Goethes Besitz gelangte u. ihn nachweislich beeindruckte. Zus. mit derjenigen Grafik, die Dürer ab 1494 schuf, bilden die durch B. angeregten Vischer-Zeichnungen, wenn auch auf stilistisch niedrigerem Niveau, die frühesten Versuche, in Deutschland antiken Inhalt mit antikischer Form zusammenzubringen. B.s sozialgeschichtlich aufschlussreiches Leben u. Wirken kann zeigen, in welchem Maße der auf spirituelle Emporbildung des Menschen ausgehende Humanismus, dessen Idee von ästhetischer Schönheit identisch ist mit der Idee Gottes, den religiösen u. eth. Anliegen der Reformation vorgearbeitet hat, sodass der Übergang nicht unbedingt als Bruch empfunden werden musste. Literatur: Dieter Wuttke: Die ›Histori Herculis‹ des Nürnberger Humanisten u. Freundes der Gebrüder Vischer, P. B. gen. Schwenter. Materialien zur Erforsch. des dt. Humanismus um 1500. Köln/ Graz 1964 (darin der Text der ›Histori Herculis‹). – Franz Josef Worstbrock u. Fedja Anzelewsky (Hg.): Apologia Poetarum. Die Schwenter-Hs. Ms. lat. fol. 335 der Staatsbibl. Preuß. Kulturbesitz in Berlin mit den Illustrationen Peter Vischers d.J. 2 Bde., Wiesb. 1987 (Bd. 1: Text, Bd. 2: Faks.). – Otto Kurz: Deus Alea Ludens. In: Quaderni della Biblioteca

491 Filosofica di Torino 46 (1973), S. 3–12. – D. Wuttke: Telos als Explicit. In: das verhältnis der humanisten zum buch. Hg. ders. u. Fritz Krafft. Boppard 1977, S. 47–62. – Konrad Hoffmann: Typologie, Exemplarik u. reformator. Bildsatire. In: Kontinuität u. Umbruch. Hg. Josef Nolte, Hella Tompert u. Christof Windhorst. Stgt. 1977, S. 189–210. – Berndt Hamm: Humanist. Ethik u. reichsstädt. Ehrbarkeit in Nürnb. In: Mitt.en des Vereins für Gesch. der Stadt Nürnberg 76 (1989), S. 65–147. – Gerd Dicke: Mich wundert, das ich so frölich pin. Ein Spruch im Gebrauch. In: Kleinstformen der Lit. Hg. Walter Haug u. Burghart Wachinger. Tüb. 1994, S. 56–90. – Holger Eckhardt: Die Straßburger Totentänze u. Sebastian Brants Schachgedicht ›De periculoso scacorum ludo‹. In: Euph. 89 (1995), S. 189–204, bes. S. 201–204. – D. Wuttke: Humanist gesucht. Ist Gregorius Arvinianus ident. mit Publius Vigilantius? Ein Identifizierungsproblem aus dem Umkreis des Hans Baldung gen. Grien, des P. B. gen. Schwenter, der Erzgießerfamilie Vischer u. des Sixtus Tucher. In: Ders.: Dazwischen. Kulturwiss. auf Warburgs Spuren. Bd. 1, Baden-Baden 1996, S. 105–145. – Ders.: Erwin Panofskys Herculesbuch nach siebenundsechzig Jahren. [Nachw. mit eigener Zählung u. eigenem Register zu:] Erwin Panofsky: Hercules am Scheidewege u. andere antike Bildstoffe in der neueren Kunst. Bln. 1997 (Nachdr. der Ausg. 1930). – Martin Knauer: ›Bedenke das Ende‹. Zur Funktion der Todesmahnung in druckgraph. Bildfolgen des Dreißigjährigen Krieges. Tüb. 1997. – Dürer, Holbein. Grünewald. Meisterzeichnungen der dt. Renaissance. Ostfildern-Ruit 1997, S. 242–245. – Derick Dreher: The Drawings of Peter Vischer the Younger and the Vischer Workshop of Renaissance Nuremberg. 2 Bde., Diss. Yale University 2002. – Berndt Hamm: Lazarus Spengler (1479–1534). Der Nürnberger Ratsschreiber im Spannungsfeld v. Humanismus u. Reformation, Politik u. Glaube. Mit einer Ed. v. Gudrun Litz. Tüb. 2004. – F. J. Worstbrock: B. (Arctocephas), P., gen. Schwenter. In: VL Dt. Hum. – Flood, Poets Laureate, Bd. 1, S. 101 f. Dieter Wuttke

Bernig, Jörg, * 17.1.1964 Wurzen/Sachsen. – Verfasser von Romanen u. Gedichten. Nachdem der aus einer böhm. Familie stammende B. eine Bergmannslehre, sein Abitur u. den Militärdienst absolviert hatte, studierte er 1985–1990 Deutsch u. Englisch in Leipzig. Nach Abschluss des Studiums zunächst als Gymnasiallehrer in Schottland tätig, nahm B. schon bald eine Stelle als Lektor

Bernig

am Germanistischen Seminar der University of Wales in Swansea an. 1993–1996 promovierte er an der FU Berlin zu dt. Kriegsromanen u. zog 1995 nach Radebeul bei Dresden. Nach seiner Promotion arbeitete er u. a. als Redakteur der Literaturzeitschrift »Ostragehege«, am Goethe-Institut u. war an einem einjährigen Forschungsprojekt der Germanistik an der TU Dresden beteiligt. 1998 debütierte B. mit dem Lyrikband Winterkinder (Dresden). Seine reim- u. interpunktionslosen Gedichte kreisen um Kindheit, Mythos, Tod, Vergessen u. das Wachhalten von Erinnerung, üben Sprach- wie auch Kulturkritik u. reflektieren die eigene Dichtung. Der musikal. Charakter, den B.s Gedichte besitzen, ist auch in seiner Prosa zu spüren: Sein erster, als »leiser Text« bezeichneter Roman Dahinter die Stille (Stgt. 1999), für den der Autor 2000 den HölderlinFörderpreis der Stadt Bad Homburg erhielt, erzählt von einem wegen der Trennung der Eltern u. des Selbstmords der Mutter Verstummten u. von der Suche nach einer Ausdrucksform, die in der Lage ist, durch die Oberflächlichkeiten des Alltags zum Sein vorzudringen. In seiner Abkehr von Tagesmoden sieht sich B. von der klaren Ruhe Adalbert Stifters inspiriert. Die Zeitenthobenheit dieses ersten Textes versteht B. als ästhetisches Mittel der Transzendenz. Der zweite Roman Niemandszeit (Stgt. 2002) konfrontiert hingegen mit einem brisanten u. bisher kaum in der Dichtung präsenten histor. Thema der Vertreibung Sudetendeutscher durch die tschech. Revolutionsgarde nach dem Zweiten Weltkrieg. Das Maß an Ästhetisierung regte eine facettenreiche Diskussion an. Der Roman spiegelt die Umkehrung der polit. Machtverhältnisse, den Wechsel von Jägern/Tätern u. Gejagten/Opfern, in einer tschechisch-dt. Liebesbeziehung, die mit einem ungewollten, tödl. Schuss ins Herz ihr Ende findet. 2007 erschien mit Weder Ebbe noch Flut (Halle/S.) ein Roman über die Kinderlosigkeit eines ostdt. Paares während der achtziger u. neunziger Jahre. Nach der Trennung von Dorothee reflektiert Albert die verbissene Sehnsucht, seinen Verrat an der Liebe u. seine Verlusterfahrung. Der Protagonist erkennt sich dabei

Bernoulli

in der Biografie u. im Werk Stifters wieder, dessen Ehe ebenfalls kinderlos geblieben ist. Weiteres Werk: billet zu den göttern. Gedichte. Hauzenberg 2002. Literatur: Thomas Kraft: J. B. In: LGL. – Reiner Neubert: Der Roman ›Niemandszeit‹ v. J. B. in der aktuellen Kritik. In: Grenzpfade. Hg. Elke Mehnert. Ffm. 2004, S. 152–158. Raffaele Louis

492 Jakob an der Birs. Basel 1912 (Festspiel). – Der sterbende Rausch. Basel 1915 (R.). – Der Stellvertreter. Basel 1920 (Basler Totentanz). – Nietzsche u. die Schweiz. Lpz. 1922 (Ess.). – Johann Jakob Bachofen als Religionsforscher. Lpz. 1924 (Ess.). – J. J. Bachofen u. das Natursymbol. Basel 1924 (Ess.). – Der Papst. Basel 1934 (D.). – Oliver Cromwells Untergang. Basel 1936 (D.). Literatur: Johannes Schlaf: C. A. B. u. der Fall Nietzsche. Lpz. 1908. – Otto Kleiber: C. A. B. In: Basler Jb. 1938, S. 61–72.

Bernoulli, Carl Albrecht, auch: Ernst KilCharles Linsmayer / Red. chner, * 10.1.1868 Basel, † 13.2.1937 Arlesheim bei Basel; Grabstätte: ebd., Hörnli-Friedhof. – Theologe, Essayist, Bernritter, Friedrich, auch: F. Bernritter von Böblingen, Kasimir Randglosse, NeHerausgeber, Dramatiker, Romancier. pomuck Zaupser d.J., * zwischen 1.11. Aus alter Basler Gelehrtenfamilie stammend, 1748 u. 21.4.1749 Eglingen bei Münsinstudierte B. reformierte Theologie u. habiligen, † 31.10.1803 Stuttgart. – Satiriker u. tierte sich nach ausgedehnten Reisen als PriParodist. vatdozent für Kirchengeschichte an der Basler Universität. B. war Schüler Franz Overbecks, dessen Nachlass er nach 1905 betreute. Mit dem zweibändigen Werk Franz Overbeck und Friedrich Nietzsche. Eine Freundschaft (Jena 1908) bezog er Stellung gegen Elisabeth FörsterNietzsche u. das Weimarer Nietzsche-Institut u. verteidigte jahrzehntelang den unchauvinistischen Nietzsche gegen seine deutschnationalen Interpreten u. Editoren. Auch bei der Wiederentdeckung Johann Jakob Bachofens spielte B. eine zentrale Rolle. Als belletristischer Autor debütierte B. 1897 im Leipziger Verlag J. C. B. Mohr mit Lucas Heland, dem Roman eines reformierten Pfarrers, der sich im Konflikt zwischen theologischer Wissenschaft u. Amtskirche für die Wissenschaft entscheidet. Mit Die Bundesburg (Bern 1914) gewann B. den Wettbewerb für das offizielle Festspiel der schweizerischen Landesausstellung 1914 in Bern. Sein TellDrama Der Meisterschütze (Jena 1915), in dem Tell als Künstler u. Außenseiter erscheint, wollte gegen die überstarke Schiller-Tradition angehen. In Romanen wie Bürgerziel (Frauenfeld 1922) oder Ull, der zu frühe Führer (Zürich 1931) zeigte sich B., der Patriotismus u. Gesellschaftskritik wirkungsvoll zu verbinden wusste, bis zuletzt als auf der Höhe der Zeit stehender polem. Autor.

Weitere Werke: Der Sonderbündler. Bln. 1904 (R.). – Der Ritt nach Fehrbellin. Jena 1908 (D.). – Die Ausgrabung v. Wichtern. Jena 1909 (R.). – St.

B., der einer württemberg. Försterfamilie entstammte, ergriff die Schreiberlaufbahn u. war 1766–1770 Substitut in der Stadtschreiberei Schorndorf, 1770–1794 in der Oberamtei Böblingen. Seit 1794 war er als Rechenbankrat bei der Herzoglich Württembergischen Rentkammer in Stuttgart tätig, wo er später auch mit Sonderaufgaben (u. a. als Chargé d’affaires am Wiener Hof) betraut wurde. Der literarisch umfassend gebildete Satiriker u. Parodist bevorzugte die Formen der Versdichtung, des fiktiven Briefes, der Rede, des Dialogs u. des Epigramms. Literarhistorisch bedeutsam ist sein satirischer Erstling, die anonym erschienene Versdichtung Siegwart, oder der auf dem Grab seiner Geliebten jämmerlich erfrohrene Kapuciner (o. O. u. J. [Mannh. 1777]. Neudr. u. a. in: Gerhard Sauder: Empfindsamkeit. Bd. 3, Stgt. 1980, S. 193–210). Es handelt sich um eine als zweiteilige Moritat angelegte Travestie des empfindsamen Erfolgsromans Siegwart. Eine Klostergeschichte (1776) von Johann Martin Miller in der Tradition der Werther-Parodien. Ein satirisches, kulturhistorisch interessantes Panorama der Verhältnisse in Württemberg unter Herzog Karl Eugen entwerfen die Wirtembergischen Briefe (o. O. [Ulm] 1786), die, nach dem Muster von Rabeners Satyrischen Briefen (1752), Vertreter zeittypischer Stände sich aussprechen lassen u. so deren

493

unfreiwillige Selbstentlarvung inszenieren. Die Fortsetzung u. d. T. Neue Wirtembergische Briefe (o. O. [Ulm] 1799) enthält v. a. didaktisch vorgetragene volksaufklärer. Ideen; den Erfolg der früheren Briefsammlung konnte sie nicht wiederholen. Die B. vielfach zugeschriebene Schrift Sonder- und wunderbare, doch wahre Geschichte, wie der Teufel [...] (Basel 1786) stammt tatsächlich von David Christoph Seybold. Nicht gesichert ist B.s Autorschaft der anonym erschienenen Anekdoten aus Schwaben (o. O. 1789). Weitere Werke: Reden u. Dialogen, hintenan ein Rezeptbüchlein. Köln, recte Tüb. 1788. – Der wohlgenützte Hammel [...]. o. O. u. J. (1789). Literatur: Herbert Meyer: F. B. Ein württemberg. Satiriker. In: Ztschr. für Württemberg. Landesgesch. 3 (1939), S. 127–157. – Ders.: F. B. In: Schwäb. Lebensbilder. Bd. 1 (1940), S. 27–31. – Ders.: F. B. In: NDB. Reiner Marx / Red.

Bernstein, Aron, Aaron (David), auch: A. Rebenstein, * 6.4.1812 Danzig, † 12.2. 1884 Berlin; Grabstätte: Berlin-Lichterfelde, Israelischer Friedhof. – Publizist, Historiker u. Erzähler. Aus streng jüdischer Familie stammend, besuchte B. zunächst die Talmudschulen in Danzig u. Fordon (bei Bromberg). 1832 ging er nach Berlin, um sich im Eigenstudium fortzubilden. 1834 trat er erstmals mit seiner Übersetzung des Hohen Liedes (Bln.) hervor. In den folgenden Jahren setzte er sich als Publizist u. Schriftsteller für die jüd. Emanzipationsbewegung ein u. nahm 1848 an der Revolution aktiv teil. Seine 1849 gegründete »Urwählerzeitung«, ein demokratisches Blatt mit hoher Auflage, wurde von der preuß. Regierung 1852 verboten. 1853 gründete B. die Berliner »Volkszeitung«, die bald zu einer der meistgelesenen Tageszeitungen in Deutschland wurde. Als Schriftsteller wurde B. v. a. durch seine jüd. Ghettogeschichten Vögele der Maggid u. Mendel Gibbor (beide Bln. 1860. 71892. Neuausg. u. d. T. Ghettogeschichten. Hg. Julius H. Schoeps. Bln. 1994) bekannt. Eindringlich u. großenteils im jidd. Dialekt schildert er darin die Ghettoexistenz des ostjüd. Kleinbürgertums in Preußen. Für seine zahlreichen po-

Bernstein

pularwiss. Arbeiten in den Bereichen Naturwissenschaft u. Zeitgeschehen wurde B. 1876 mit der Doktorwürde der Universität Tübingen geehrt. Bis zu seinem Tod setzte sich B. – ein Onkel des Revisionisten Eduard Bernstein – publizistisch für die seit 1878 politisch verfolgten Sozialdemokraten ein. Weitere Werke: Die Jahre des Volkes. Bln. 1875. – Die Jahre der Reaktion. Bln. 1881. – Revolutions- u. Reaktionsgesch. Preußens u. Dtschld.s v. den Märztagen bis zur neuesten Zeit. 3 Bde., Bln. 1882. Literatur: Selma Stern: Gesch. des Judentums. Ffm. 1857. – Marcel Nicolas: Aaron D. B. In: NDB. – Herbert A. Strauss u. Christian Hoffmann (Hg.): Juden u. Judentum in der Lit. Mchn. 1985. – Julius H. Schoeps: Bürgerl. Aufklärung u. liberales Freiheitsdenken. A. B. in seiner Zeit. Stgt. 1992. – Goedeke Forts. Cornelia Lutz / Red.

Bernstein, Eduard, * 6.1.1850 Berlin, † 18.12.1932 Berlin; Grabstätte: ebd., Erster Schöneberger Friedhof. – Publizist u. Politiker. Der Sohn eines jüd. Lokomotivführers trat nach dem Besuch des Gymnasiums u. nach einer Banklehre 1872 der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (»Eisenacher«) bei u. war 1875 auf dem Einigungskongress zwischen Lassalleanern u. Eisenachern Mitverfasser des Gothaer Programms. Gefördert von dem Bankierssohn Karl Höchberg, dessen Privatsekretär er war, leitete B. seit 1881 als Redakteur das illegale Parteiorgan »Socialdemokrat« in Zürich u. arbeitete nach seiner 1888 auf Wunsch Bismarcks erfolgten Ausweisung aus der Schweiz bis 1890 in derselben Eigenschaft in London. Hier stand er in engem Verhältnis zu Friedrich Engels u. setzte sich mit den engl. Sozialisten der »Fabian Society« auseinander. Nach Deutschland erst 1901 zurückgekehrt, war B. in den folgenden Jahren einer der führenden Köpfe der dt. Sozialdemokratie. Er war Reichstagsabgeordneter 1902–1906, 1912–1918 u. 1920–1928. In zahlreichen Schriften begründete B. seine Kritik am orthodoxen Marxismus u. wurde zum Führer des revisionist. Flügels der SPD. B. erkannte die neue Qualität des

Bernstein

Industrie-Kapitalismus u. forderte in Abkehr vom verbreiteten histor. Materialismus die Entwicklung einer Sozialdemokrat. Reformpolitik. Nach 1945 kam es in der SPD u. der intellektuellen Linken zeitweise zu einer Rückbesinnung auf B.s Positionen, allerdings ohne konkrete Auswirkungen auf die prakt. Politik. Ausgaben: Sozialismus u. Demokratie in der großen engl. Revolution. Stgt. 1895. 41922. Neudr. Bln./Bonn 1974. – Die Voraussetzungen des Sozialismus u. die Aufgaben der Sozialdemokratie. Stgt. 1899. Neudr. Bln. 1984. – Zur Theorie u. Gesch. des Sozialismus. Bln. 1901. 41904. – Gesch. der Berliner Arbeiterbewegung (1848–78). 3 Bde., Bln. 1907–10. Neudr. Glashütten 1972. – Die dt. Revolution v. 1918/19. Gesch. der Entstehung u. ersten Arbeitsperiode der dt. Republik. Neudr. der Ausg. 1921. Hg. u. komm. v. Heinrich August Winkler. Bonn 1998. – Briefe: E. B.s Briefw. mit Friedrich Engels. Hg. Helmut Hirsch. Assen 1970. – E. B.s Briefw. mit Karl Kautsky (1895–1905). Hg. Till Schelz-Brandenburg. Ffm. 2003. – Herausgeber: Ges. Reden u. Schr.en Ferdinand Lasalles. 12 Bde., Bln. 1919/20. Literatur: Peter Gay: Das Dilemma des demokrat. Sozialismus. E. B.s Auseinandersetzung mit Marx. Nürnb. 1954. – Lucio Coletti: B. u. der Marxismus der zweiten Internationale. Ffm. 1971. – Helga Grebing: Der Revisionismus. Mchn. 1977. – Horst Heimann u. Thomas Meyer (Hg.): B. u. der Demokrat. Sozialismus. Bln./Bonn 1978. – Helmut Hirsch: Der ›Fabier‹ E. B. Bln./Bonn 1977. – HansJosef Steinberg: Sozialismus u. dt. Sozialdemokratie. Bonn/Bad Godesberg 1967. 41976. – Till SchelzBrandenburg: E. B. u. Karl Kautsky. Entstehung u. Wandlung des sozialdemokrat. Parteimarxismus im Spiegel ihrer Korrespondenz. Köln u. a. 1992. – Francis Ludwig Carsten: E. B. 1850–1932. Eine polit. Biogr. Mchn. 1993. – Manfred B. Steger: The quest for evolutionary socialism. E. B. and social democracy. Cambridge 1997. – Bruno Jahn: E. B. In: DBE. Michael Behnen / Red.

Bernstein, F. W., eigentl.: Fritz Weigle, * 4.3.1938 Göppingen. – Lyriker, Satiriker, Illustrator. Nach der Schulzeit studierte B. ab 1957 an der Stuttgarter Kunstakademie. Dort schloss er Freundschaft mit Robert Gernhardt. Gemeinsam wechselten sie an die Hochschule für Bildende Künste (HBK) Berlin. Nach dem

494

Kunsterzieherexamen in Stuttgart 1961 kehrte B. nach Berlin zurück u. studierte an der Freien Universität Germanistik. Nach dem Deutsch-Examen 1964 arbeitete B. zunächst als Lehrer; 1972 wechselte er als Kunsterzieher an die Pädagogische Hochschule Göttingen. Von 1984 bis 1999 wirkte er als deutschlandweit einziger Professor für Karikatur u. Bildgeschichte an der HBK Berlin. Für seine Werke wurde er u. a. mit dem Göttinger Elch (2000), dem Binding-Kulturpreis (2003) u. dem Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor (2007) ausgezeichnet. B. war Gründungsmitgl. der »Neuen Frankfurter Schule« (NFS), einer Gruppe von Satirikern, der neben B. u. a. Gernhardt, Eckhard Henscheid u. Friedrich Karl Waechter angehörten; B. ist Erfinder des Gruppenmottos »Die schärfsten Kritiker der Elche / waren früher selber welche«. Ab 1964 war B. nebenberuflich Redakteur der Satirezeitschrift »Pardon«, wo er gemeinsam mit Gernhardt u. Waechter bis 1976 die Beilage »Welt im Spiegel« gestaltete, ein Experimentierfeld für verschiedenste Arten komischer Texte u. Zeichnungen, in der B. seinen eigenen Stil entwickelte. B.s Debüt als Buchautor war das gemeinsam mit Gernhardt u. Waechter verfasste Die Wahrheit über Arnold Hau (Ffm. 1966), eine Sammlung aus komischen Texten u. Zeichnungen, eingewoben in die parodist. Biografie des fiktiven Universalgenies Hau. 1979 fungierte B. als Mitbegründer der Zeitschrift »Titanic«, des zentralen Publikationsforums der NFS. In der Folge publizierte er zunehmend auch in Einzelveröffentlichungen. Mit Bernsteins Buch der Zeichnerei – Ein Lehr-, Lust-, Sach- und Fachbuch sondergleichen (Zürich 1989) schrieb er ein Standardwerk über Karikaturen u. Comics. Daneben produzierte er u. a. Veröffentlichungen zur Didaktik (u. a. Kampf dem Lern. 61 Beiträge zur pädagogischen Abrüstung. Gießen 1991) sowie die Aufsatzsammlung Kunst & Kikeriki. Gewählte Texte & Lobreden (Springe 2004). Schließlich illustrierte B. zahlreiche literar. Werke, u. a. von Ernst Bloch, Wiglaf Droste, Goethe u. Grabbe. Literarisch bedeutsam ist B. v. a. als Lyriker. Ein Großteil seiner oft verstreut erschienenen Texte ist in Die Gedichte (Mchn. 2003) ver-

495

Bernstein

sammelt. B. bevorzugt das gereimte, humo- gang Göttingens u. andere Kunststücke in Wrt & ristische, teilweise sehr derbe Gedicht. Vor- Bld. Hg. Peter Köhler. Gött. 2001. – Luscht u. bilder sind u. a. Wilhelm Busch, Peter Hacks, Geischt. Ffm. 2007. Literatur: Oliver Maria Schmitt: Die schärfsten Christian Morgenstern u. Joachim Ringelnatz. Seine Stoffe findet B. häufig in der dt. Kritiker der Elche. Die Neue Frankfurter Schule in Literatur- u. Geistesgeschichte, speziell der Wort u. Strich u. Bild. Bln. 2001, S. 125–143. – Johannes Möller: F. W. B. In: LGL. Stefan Höppner Weimarer Klassik. Der komische Effekt von B.s Texten ergibt sich v. a. aus der gezielten Enttäuschung von Rezeptionserwartungen, Bernstein, Max (Ernst), auch: Silas Marz.B. wenn die Minnesänger in Der Sängerkrieg ner, * 12.5.1854 Fürth, † 8.3.1925 Münauf der Wartburg (1966) nicht Gedichte, son- chen. – Lustspielautor u. Kritiker. dern mhd. Ablautreihen vortragen. Analog Nach der Schulzeit in Frankfurt/M. studierte verfährt in B. in seinen oft nur wenige Seiten der Sohn eines jüd. Fabrikanten zuerst Melangen Dramoletten, die gesammelt als Die dizin in Würzburg, dann die Rechte in LeipSuperfusseldüse. 19 Dramen in unordentlichem zig, Berlin u. in München, wo er sich 1881 als Zustand (Mchn. 2006) erschienen. Bes. über- Rechtsanwalt niederließ. 1890 heiratete er die zeugend beherrscht B. die Kombination von Dramatikerin Elsa Porges (Pseud. Ernst RosText u. Zeichnung, wie in der gemeinsam mit mer). B. war ein gesuchter Anwalt in polit. Gernhardt publizierten Gedichtsammlung Prozessen, so im Fechenbach-Prozess u. als Besternte Ernte (Ffm. 1976) oder der Biografie Verteidiger Maximilian Hardens in dem von Richard Wagners Fahrt ins Glück. Sein Leben in Fürst Eulenburg angestrengten BeleidiBildern und Versen (Bln. 2002). gungsprozess. Weitere Werke: Lehrprobe. Report aus dem Als langjähriger Theaterkritiker der Klassenzimmer. Ffm. 1969. – Der Zeichner als. Sehr »Münchner Neuesten Nachrichten« setzte er interessante Zeichnungen. Gött. 1978. – Reim- sich frühzeitig für Henrik Ibsen, Bjørnstjerne wärts. Gießen 1981. – Die Kinderfinder. Reisen in Bjørnson u. Gerhart Hauptmann ein; mit alte Bilder. Hbg. 1981. – Ute’s Leute. Ffm./Gött. Hauptmann u. Ludwig Ganghofer war er le1981. – Unser Goethe. Ein Lesebuch. Hg. zus. mit benslang befreundet. Eckard Henscheid. Zürich 1982. – F. W. B.s Sag mal B.s Lustspiele sind voll Münchner LokalHund! Ein Kinderbuch mit 10 Bildergesch.n u. 9 kolorit (u. a. Cœur-Dame. Lpz. 1888. MädchenHundestunden. Hbg. 1982. – Literar. Traum- u. traum. Bln. 1898. Die Sünde. Lpz. 1908. Endlich Wunschkalender. Zürich 1985. – Sternstunden eines Federhalters. Neues vom Zeichner Lebtag. Zü- allein! Bln. 1911. Das Mädchen aus der Fremde. rich 1986. – TV-Zombies. Bilder u. Charaktere. Bln. 1916. Der Colibri. Mchn. 1919), erschieZürich 1987 (mit E. Henscheid). – Lockruf der nen großenteils bei S. Fischer u. Reclam u. Liebe. Gedichte. Zürich 1988. – Die Luftfracht. Ein wurden z.T. von Otto Brahm auf die Bühne teurer Spass. Schwäbisch Gmünd 1990. – Der gebracht. B. selbst nannte seine leichten, Blechbläser u. sein Kind: Graphik, Gritik, Gomik: zeitnahen Komödien Gelegenheitsprodukte. Zeichnereien, Cartoons u. Schmähbilder. Greiz Daneben schrieb er Epigramme (Der kleine 1993. – Der Struwwelpeter umgetopft. Nach VorHydriot. Mchn. 1884), Erzählungen (Kleine Bildern v. Heinrich Hoffmann. Bln. 1994. – Wenn Geschichten. Mchn. 1888) u. Novellen (Narrische Engel, dann solche. Mchn. 1994. – Reimweh: GeLeut’. Bln. 1904). dichte u. Prosa. Stgt. 1994. – Ich glaube, Du bist dran. Ein Briefw. in Bildern. Bln. 1995 (mit Manfred Bofinger). – Die Stunde der Männertränen: Texte auf Papier. Bln. 1995. – Lesen gefährdet Ihre Dumheit: ein Autorenalphabet mit Leserstimmen. Zürich 1996. – Falsch frankiert. Gesch.n über die Post. Rosenheim 1998. – Berliner Bilderbuch brominenter Bersönlichkeiten. Ffm. 1999 (mit M. Bofinger). – Kriki – durchs wilde Kopistan. Mit einer Krikikritik. Ffm./Affoltern 2000. – Elche, Molche, ich u. du. Tiergedichte. Mchn. 2000. – Der Unter-

Weitere Werke: Unbefangen. Ffm. 1878 (Lustsp.). – Dagmar. Mchn. 1884 (Trauersp.). – Blau. Lpz. 1894 (Lustsp.). – D’Mali. Bln. 1903 (D.). – Der goldene Schlüssel. Kleine Dramen. Bln. 1907. – Der Richter. Bln. 1911 (D.). – Gesindel. Lpz. 1921 (D.). Literatur: Friedrich v. der Leyen: M. B. In: NDB. – Jürgen Joachimsthaler: M. B. Kritiker,

Bernus Schriftsteller, Rechtsanwalt (1854–1925). Diss. Regensb. 1994. Raimund Bezold / Red.

Bernus, Alexander von, * 6.2.1880 Aeschach bei Lindau, † 6.3.1965 Schloss Donaumünster; Grabstätte: Donauwörth, Friedhof. – Herausgeber, Erzähler, Dramatiker, Lyriker, Übersetzer; Alchemiker.

496

Zuletzt Stgt. 2002. Nächtlicher Besuch/Hexenfieber. Nürnb. 1951) u. Gedichten griff B. okkulte Motive auf. Er sah sich gerne in der Tradition von Joseph von Eichendorff u. Clemens Brentano; etliche Texte weisen auf »neuromantische« Einflüsse. Weitere Werke: Maria im Rosenhag. Mchn. 1909 (L.). – Gesang an Luzifer. Weimar 1923 (L.). – Gold um Mitternacht. Weimar 1930 (L.). – Alchymie u. Heilkunst. Stgt. 1936. 5. Aufl. Hg. Irmhild Mäurer u. Marino Lazzeroni. Dornach 1994 (Abh.en). – Mythos der Menschheit. Bln. 1938 (L.). – Wachsen am Wunder. Gelnhausen-Gettenbach 1943. Zuletzt Heidelb. 1984 (Autobiogr.). – Übersetzungen: Carmina Priapeia. Privatdr. Bln./Lpz. 1905. – Petronius. Fragmente u. vier Liebeselegien des Ovid in Umdichtung. Mchn. 1908. – Engl. Lyriker. Lord Byron. Percy Bysshe Shelley. John Keats. 3 Bde., Heidelb. 1958. Literatur: Gustav Kars: Das lyr. Werk A. v. B. Diss. Wien 1937 (Masch.). – Franz Anselm Schmitt: A. v. B. Dichter u. Alchymist. Leben u. Werk in Dokumenten. Nürnb. 1971. – Hans-Ulrich Kolb u. Joachim Telle: Schattenbeschwörung. Wirkungsgeschichtl. Noten zum lyr. u. alchemist. Werk v. A. v. B. In: Heidelberger Jbb. 17 (1973), S. 86–128. – Mirko Sladek in Zus. mit Maria Schütze: A. v. B. Nürnb. 1981. – Annelies Stöckinger u. J. Telle: Die Alchemiebibl. A. v. B. in der Bad. Landesbibl. Karlsruhe. Kat. der Dr.e u. Hss. Wiesb. 1997. – J. Telle: Dichter als Alchemiker. Vier Briefe v. Gustav Meyrink an A. v. B. In: Fenster zur Welt. Deutsch als Fremdsprachenphilologie. FS Friedrich Strack. Hg. Hans-Günther Schwarz, Christiane v. Stutterheim u. Franz Loquai. Mchn. 2004, S. 357–379.

Die Eltern ließen das Kind vom Bruder der Mutter, Friedrich Alexander Frhr. von Bernus, adoptieren. Erst mit 16 Jahren erfuhr B. von seinen wahren Verwandtschaftsverhältnissen. Mit den Adoptiveltern verbrachte er die ersten Jahre in England u. übersiedelte dann nach Heidelberg. 1902 studierte B. in München Literaturwissenschaft u. Philosophie, später auch noch Medizin. 1902–1905 übernahm er die Zeitschrift »Freistatt«, an der u. a. Richard Dehmel, Frank Wedekind, Ricarda Huch u. Franz Blei mitarbeiteten. In den 1907 in München von B. u. Will Vesper gegründeten »Schwabinger Schattenspielen« kamen neben Szenen u. Idyllen der dt. Romantik erste Stücke B.’ zur Aufführung: Don Juan, Masken, Pan oder Heiliges Spiel (in: Sieben Schattenspiele. Mchn. 1910). Zunehmend von theosophischen bzw. anthroposoph. Gedanken angezogen, gründete B. 1916 die anthroposoph. Zeitschrift »Das Reich«, zu deren regelmäßigen Mitarbeitern bis 1921 Alfred Kubin, Else Lasker-Schüler, Frank Raepke / Joachim Telle Rilke u. Rudolf Steiner zählten. Er besaß eine Sammlung alchemischer Sachschriften des 16. bis 20. Jh. u. beschäftigte sich seit den Bersmanus, Bersman, Bersmann, Gre1920er Jahren bis Lebensende mit der Hergor(ius), * 10.3.1538 Annaberg, † 5.10. stellung »spagirischer« Medikamente (Labor 1611 Zerbst/Anhalt. – Hochschullehrer u. »Soluna«). Dichter. Der Familiensitz Stift Neuburg bei Heidelberg wurde zum Treffpunkt zahlreicher Seit 1549 besuchte B. die Fürstenschule in Schriftsteller u. Künstler. Neben dem lang- Meißen. Maßgeblichen Einfluss übte dort der jährigen Freund Alfred Kubin fanden sich aus christl. Neulateiner Georg Fabricius auf ihn dem George-Kreis regelmäßig Karl Wolfskehl aus. Während des Studiums in Leipzig (seit u. Friedrich Gundolf, ab 1909 auch Stefan 1555 Verkehr mit Joachim Camerarius) beGeorge selbst ein. Während dieser Treffen schäftigte sich B. mit Philologie u. Medizin. fanden Gespräche über literarische, aber auch Reisen nach Abschluss des Studiums (Magismystische, mitunter spiritist. Themen ein- ter 1561) führten ihn nach Frankreich u. Itaschließlich gelegentlicher Experimente statt. lien (Padua, Bologna, Ferrara), wo er u. a. mit In seinen Erzählungen (Schloßlegende. Nürnb. dem Dichterarzt Johannes Posthius Freund1949. Die Blumen des Magiers. Nürnb. 1950. schaft schloss (Briefe u. Dokumente in B.’

497

Berthold von Holle

Gedichtsammlungen). Nach einer Lehrtätig- Bertesius, Johannes, * Kammerforst bei keit an der Fürstenschule von Pforta Mühlhausen/Thüringen (Lebensdaten (1565–1568) las B. an der Universität Wit- unbekannt). – Verfasser mundartlicher tenberg (1568), wurde dann 1571 zum Pro- Schuldramen. fessor für Poetik, 1575 zum Professor für B. wirkte ab 1598 als Schulrektor in ThamsEthik in Leipzig ernannt. B. weigerte sich, die brück an der Unstrut bei Langensalza u. anKonkordienformel zu unterschreiben, u. schließend in seiner Heimatstadt. Für den verlor im Zuge des sächsischen CalvinismusSchulgebrauch verfasste er in dt. Knittelverstreits sein Lehramt (1580). Bald darauf jesen sechs geistl. Dramen, die alle bunte Baudoch wurde er Rektor des akadem. Gymnaernszenen in thüringischer Mundart enthalsiums von Zerbst (1582), das er zu großer ten. Mit der Ausnahme von Hiob TragicomoeBlüte brachte. dia, Ein schön newes geistl. Spiel, darinnen der Neben zahlreichen, wiederholt gedruckten Gedult ein sondermercklich Exempel wird fürgeAusgaben antiker Autoren (u. a. Horaz, Ovid, stellet (Erfurt/Jena 1603), das B. Herzog Vergil, Lucan), zu deren Erstellung er auch Heinrich Julius von Braunschweig widmete, Handschriften heranzog, neben akadem. Dewurden alle Stücke 1606 in Leipzig gedruckt: klamationen u. Lehrbüchern in der Nachfolge Der Schalkß Knecht. Tragoedia. Ein new geistl. Melanchthons erwarb sich B. einen bedeuSpiel, aus dem Evangelio des 22. Sontages n. Tritenden Ruf durch seine lat. Dichtungen. Sein nitatis [...]; Dina, Tragoedia: Wie Dina, des PaSchaffen umspannt liedhafte Hymnendichtriarchen Jacobs Tochter ihr Ehrenkräntzlein vertung u. den Formenkreis des humanist. spagieret [...]; Vinea: Eine kurtze doch schöne Klassizismus (Elegien, Epigramme, Eklogen). Comoedia vom Weinberg deß Herrn u. Arbeitern In seinem Gedicht De dignitate ac fructu Poetices darinnen [...]; Regulus. Comoedia: Ein schön geistl. (auch in der Auswahl von B.’ Gedichten im Spiel, aus dem Evangelio Johannis am 4. Capitel. ersten Teil der von Janus Gruter herausgegeVon dem Königischen, des Sohn kranck lag zu benen Deliciae Poetarum Germanorum. Ffm. Caperaum (Dramatisierung eines schon 1589 1612) sowie in seiner Rede De dignitate atque von Matthäus Scharschmid behandelten Bipraestantia poetices (Lpz. 1575) akzentuierte er belstoffes aus Joh. 4; Mikrofilm-Ausg. Ann bes. den sozialethischen Auftrag der Poesie. Arbor u. a. 1980) u. die Verdeutschung von Die christl. Ausrichtung seines Schaffens erNikodemus Frischlins Lustspiel Phasma (o. O. weist sich auch in lyrischen Psalmparaphra[Straßb.] 1592): Phasma Das ist: Eine newe geistl. sen (Psalterii Davidis in quinque libros tributi. Comoedia: Von mancherley Secten u. RottenmeisHanau 1598. Vorher Teilausg.: Zerbst 1594). tern [...]. Weitere Werke: Orationes duae, una, De cura loquendi [...] altera. De fructu & utilitate philosophiae moralis. Lpz. 1576. – Poemata in libros duodecim divisa. Lpz. 1576. – Auctariorum libri duo. Lpz. 1581. – Paralipomenon libri duo. Zerbst 1585. – Poematum [...] in partes duas tributorum. Ed. secunda. Lpz. 1592. – Erotemata dialectices. Lpz. 1593. – In [...] Ciceronis [...] orationes XVII [...] commentarii [...]. Zerbst 1611.

Ausgaben: Textausw. in: CAMENA. Literatur: Ersch/Gruber. – Friedrich v. Weech: B. In: ADB. – Ellinger 2, S. 255–257. Wilhelm Kühlmann

Ausgaben: Paul Sparmberg: Die mundartl. Szenen in den Dramen des J. B. In: ZfdPh 44 (1912), S. 393–430 (Neudr. der Bauernszenen). Literatur: Wilhelm Scherer: J. B. In: ADB. – Rudolf Windel: Die bibl. Dramen des J. B. In: Neue Jbb. für das klass. Altertum, Gesch. u. dt. Lit. 25 (1910), S. 77–80. Robert J. Alexander / Red.

Berthold von Holle, zweite Hälfte 13. Jh. – Verfasser spätmittelalterlicher Ritterromane. Der Autor dreier nach ihren Helden Demantin, Crâne u. Darifant benannter späthöf. Ritterromane in mitteldeutsch-niederdeutscher Mischsprache war Angehöriger eines um Hildesheim u. Lüneburg ansässigen Adels-

Berthold von Holle

geschlechts, vermutlich der urkundlich 1251–1270 bezeugte dritte Sohn Dietrichs von Holle, worauf Beziehungen zu Herzog Johann von Braunschweig (1252–1277), Urenkel Heinrichs des Löwen, deuten, dem der Crâne gewidmet ist u. dem B. seine Quelle, möglicherweise durch mündl. Vermittlung (vgl. v. 25 ff.), verdankte. Vom Darifant sind lediglich 265 Verse in einem Fragment des 14. Jh. erhalten. Das früheste Werk B.s scheint der in einer Handschrift des 15. Jh. u. drei Fragmenten tradierte Demantin zu sein, ein Aventiureroman, in dem, traditionellen Erzählmustern folgend, der junge, noch unbekannte Held sich zunächst durch Zweikämpfe auszeichnet, dann auf einer Aventiurefahrt zahlreiche Kämpfe besteht, um schließlich in einem großen Schlussabenteuer seine Dame zu erringen; mit der Schilderung höf. Festesfreude endet der Text. Das im Roman um 1200 übliche Zusammentreffen des Protagonisten mit der Norminstanz Gawan wird durch die Verdoppelung des Helden (Demantin – Firganant) ersetzt; an die Stelle des noch bei Hartmann von Aue strukturgebenden doppelten Cursus tritt, wie etwa in Wirnts von Grafenberg Wigalois, die Abfolge von zwei Handlungssträngen. Kompositorisch durchgebildeter ist der wohl kurz vor 1267 entstandene Crâne (4736 Vv. erhalten), in einer Handschrift von 1470 u. drei Fragmenten überliefert: Der jugendl. Held, mit zwei Begleitern heimlich von zu Hause weggeritten, kommt an den Kaiserhof, wo die drei Gefährten inkognito auftreten u. sich mit den Vogelnamen Crâne (Kranich), Valke u. Stare nennen. Zwischen Crâne, der als Knappe aufgenommen wird, u. der Kaisertochter entwickelt sich eine heiml. Minnebeziehung; seine ritterl. Taten ermöglichen es ihm, die Hand der Prinzessin zu gewinnen. Er gibt sich als Gayol, Prinz von Ungarn, zu erkennen, seine Gefährten stellen sich als die Herzogssöhne von Bayern u. Österreich heraus. Eine zweite Aventiurenkette schließt sich an, an deren Ende Crâne ruhmbedeckt zu seiner Geliebten zurückkehrt. Für keinen der Texte lässt sich eine frz. Quelle nachweisen. B.s Berufung auf mündl.

498

Vermittlung des Crâne könnte bereits auf Wirnts Wigalois zurückgehen, wie sich alle drei Romane ohnehin sehr weitgehend aus der vorgängigen dt. Literatur herleiten lassen. Die Handlungsmuster des Crâne, v. a. die heiml. Minne zwischen dem jungen Knappen u. der Kaisertochter, erinnern deutlich an Rudolfs von Ems Willehalm von Orlens. Überhaupt scheint B. einige Werke der höf. Klassik gekannt zu haben, v. a. Hartmanns von Aue u. Wolframs, auf den er sich im Demantin (v. 4834, 11670) beruft. Er fügt jedoch auch Motive u. Erzählzüge aus anderen Gattungen, etwa Massenschlachten aus der Chanson de geste, in die höf. Welt seiner Texte ein. B.s Erzählhaltung ist deutlich nachklassisch: Vieles spielt auf den Erwartungshorizont seines Publikums an, das damit auf das Wiedererkennen von Bekanntem verwiesen wird. Große Wirkung haben seine Werke, wie die meisten Epen des 13. Jh., nicht entfaltet. Allein der Crâne wurde noch im 15. Jh. in Prosa umgesetzt. 1444 führte man auf der »borch« in Lübeck ein Fastnachtspiel Kran, valke und stare auf. B.s Werke rekurrieren auf den klass. Artusroman, geben aber dessen märchenhafte Welt u. deren Sinn- u. Instanzenzentrum, den Artushof, zugunsten einer geografisch »realen« Wirklichkeit auf: Im Demantin ist der engl. Königshof Handlungszentrum, der Crâne spielt am Hof des dt. Kaisers, mit Ungarn, Österreich u. Bayern wird auf konkrete polit. Räume verwiesen. Im Rahmen einer kaum mehr modellierbaren, zu keiner Zeit prekären Gesellschaft entfalten sich die Helden nach dem Maßstab höfischer Vollkommenheit. Damit bestätigen B.s Romane ihrem Publikum, das in erster Linie am Braunschweiger Welfenhof zu suchen ist, Normen u. Ideale der nachklass. Literatur. Ausgaben: Karl Bartsch (Hg.): B. v. H. Nürnb. 1858. Neudr. Osnabr. 1967. – Ders. (Hg.): Demantin. Stgt./Tüb. 1875. Literatur: Albert Leitzmann: Untersuchungen über B. v. H. In: PBB 16 (1892), S. 1–40. – Ders.: B. v. H. Ein Nachahmer Wolframs v. Eschenbach. In: PBB 16 (1892), S. 346–360. – Gabriele v. MalsenTilborch: Repräsentation u. Reduktion. Strukturen späthöf. Erzählens bei B. v. H. Mchn. 1973. – Hans Fromm: B. v. H. In: VL. – Matthias Meyer: Zwi-

499 schen Herrschaft u. Entführung. Frauenrollen im ›Demantin‹ B.s v. H. In: Literar. Leben. FS V. Mertens. Tüb. 2002, S. 551–573. Norbert H. Ott / Christoph Fasbender

Berthold von Moosburg, zwischen 1327 u. 1361 bezeugt. – Theologe, Seelsorger u. Philosoph.

Berthold von Regensburg

standen: als begründendes, substantiell u. dynamisch gedachtes Prinzip. Zumindest in diesem Punkt erzielte B. nachweisbare Wirkung: bei Johannes Tauler u. dessen Lehre vom Seelengrund. Bereits die zu »Iohannis de Mossbach« entstellte Nennung B.s bei Nicolaus Cusanus signalisiert aber geringe Präsenz seiner Philosophie in den folgenden Jahrhunderten.

Der Schüler Dietrichs von Freiberg u. VerAusgaben: B. Expositio [...]. Hg. Maria Rita treter der neuplaton. Richtung innerhalb der Pagnoni-Sturlese u. Loris Sturlese. Bde. 1–4, Hbg. dt. Dominikanerschule ist seit 1327 als Lese- 1984–2003. Hg. Udo Reinhold Jeck u. Isabel J. meister u. Beginenseelsorger bezeugt: in Re- Tautz. Bd. 7, Hbg. 2003 (Einl. v. Kurt Flasch zu gensburg, dann am Studium generale der Bd. 1; insg. 9 Bde. geplant). Literatur: Willehad P. Eckert: B. v. M. In: VL. – Dominikaner in Köln (1335–1343) u. öfter in Nürnberg, schließlich in einer Notiz vom Kurt Flasch (Hg.): Von Meister Dietrich zu Meister Eckhart. Hbg. 1984. – Loris Sturlese: ›Homo divi11.3.1361 wieder in Köln. nus‹. Der Prokloskomm. B.s u. die Probleme der Die Datierung des einzigen überlieferten nacheckartschen Zeit. In: Abendländ. Mystik im Werks, der Expositio super Elementationem MA. Hg. Kurt Ruh. Stgt. 1986, S. 145–161. – Ders.: theologicam Procli (zwei Handschriften) ist bis- Tauler im Kontext. In: PBB 109 (1987), S. 390–426. her nicht möglich; die erst teilweise Edition – Lela Alexidse: Dionysius Areopagita in den mitmacht die Skizzierung von B.s Denken vor- telalterl. Komm.en zur Elementatio theologica des läufig. Proklos. In: Selbst – Singularität – Subjektivität. Der Kommentar zur Elementatio stützt sich Hg. Theo Kobusch. Amsterd. 2002, S. 111–130. – auf die lat. Proklosübersetzung des Wilhelm Burkhard Mojsisch: Die Theorie des Intellekts bei von Moerbeke. Er kann als »zusammenfas- B. v. M. Zur Proklosrezeption im MA. Ebd., sendes Repertoire des mittelalterlichen Pla- S. 175–184. – Tengiz Iremadze: Konzeptionen des Denkens im Neuplatonismus. Zur Rezeption der tonismus« (Flasch) gelesen werden. VermitProklischen Philosophie im dt. u. georg. MA: telnd zwischen einer von Boethius, Pseudo- Dietrich v. Freiburg – B. v. M. – Joane Petrizi. Dionysius, Eriugena, u. dem Liber XXIV philo- Amsterd. 2004. Christian Kiening / Red. sophorum gespeisten Tradition u. der neueren Denkrichtung eines Albertus Magnus u. Dietrich von Freiberg, setzt B. eigene AkBerthold von Regensburg, * um 1210, zente. In der Absetzung der Philosophie von † 14.12.1272 Regensburg; Grabstätte: der Theologie schließt er an Albert u. Dietrich ebd., Chor des ehemaligen Minoritenan, bricht aber radikal mit der Tradition der klosters. – Franziskaner u. Prediger. Harmonisierung platonischen u. aristotel. Denkens: In einem scharfsinnigen Nachweis B. war der erfolgreichste u. bedeutendste von Differenzen gesteht B. Platon als »semi- franziskan. Prediger des deutschsprachigen deus« den Vorrang zu. An die Stelle der aris- Raums. Der Geburtsort Regensburg wird nur totel. Metaphysik tritt eine »divinalis super- durch spätere Chronisten bezeugt. Sicher sapientia«, die in einem Stufenweg das – über sind Geburtsjahr, Todestag u. -ort sowie die »ens« u. »non-ens« erhabene – Eine, das Grabstätte, die noch Jahrzehnte nach seinem höchste Gute selbst zu erreichen sucht. Den- Tod viel besucht wurde. Unklar ist B.s famikender Aufstieg bedeutet nicht nur Rück- liäre Herkunft u. Ausbildung. führung der Vielheit auf die Einheit, sondern Seit 1240 ist er als Prediger in Augsburg auch über intellektuale Schau hinausgehende bezeugt. 1246 visitierte er zus. mit dem beEinsicht in den universalen Prozess von Aus- deutenden franziskan. Mitbruder David von gang u. Rückgang u. darin (mit Boethius) Augsburg das Kanonissenstift NiedermünsVergöttlichung des Menschen. Das Eine ist in ter in Regensburg. B. etablierte sich als poseiner Dimension als »unum in nobis« ver- pulärster (Volks-)Prediger deutscher Zunge

Berthold von Regensburg

des 13. Jh.; auf ausgedehnten Predigtreisen sprach er vor großen Menschenmassen: z.B. vor 1253 in Böhmen, 1253 in Landshut, 1254/ 55 in Speyer, 1255 in Colmar, Konstanz, Winterthur, Zug, Zürich u. der Steiermark. Übertreibend wird von 200.000 Hörern berichtet. B. dürfte vor der Kirche oder auf offenem Feld mit dem Wind (»Fähnlein in den Wind hängen«) gepredigt haben. Urban IV. ernannte ihn u. den Dominikaner Albertus Magnus 1263 zu Kreuzpredigern gegen häret. Bewegungen. In dieser Funktion war B. 1263/64 in Deutschland, Frankreich (Begegnung mit Ludwig IX.) u. in der Schweiz unterwegs. Er genoss hohen Ruhm, u. seine Tätigkeit als Schlichter u. Vermittler in polit. Streitigkeiten ist urkundlich bezeugt. Von B. erhalten sind die etwa 260 lat. Predigten umfassenden, systematisch angelegten Sammlungen Rusticani (de Dominicis, de Sanctis, de Commune Sanctorum). Es handelt sich dabei um autorisierte Musterpredigten, die B. zwischen 1250 u. 1255 zusammenstellte, um verfälschenden Mitschriften durch »simplices clerici religiosi« entgegenzutreten. Sie dienten in ihrer kondensierten Form mit reichen Bibel- u. Väterzitaten als Predigthilfen. Die nicht liturgisch gebundenen Sammlungen Sermones ad Religioses et quosdam alios u. Sermones speciales et extravagantes wurden wahrscheinlich erst später zusammengestellt. Auch verstreute lat. Predigten werden B. zugeschrieben. Obwohl es sich um wirkungsmächtige Texte handelt – über 300 Handschriften sind bekannt –, sind die lat. Predigten nur zu einem geringen Teil ediert (25). Die lat. Predigten wurden in ihren verschiedenen Fassungen Ausgangspunkt der dt. Predigten, die nicht direkt auf B. zurückgehen. Eine genaue Bestimmung des authentischen lat. Predigtkorpus B.s wird erst nach einer Edition möglich sein. B.s dt. Predigten sind nicht authentisch; es handelt sich um Lesepredigten, die von franziskan. Kreisen wahrscheinlich in Augsburg in verschiedenen Etappen angelegt worden sind. Die älteste dürfte um 1268, die übrigen um 1275 u. später entstanden sein. Die dt. Überlieferung der Predigten B.s nimmt in allen ihren Überlieferungszweigen

500

(X, Y, Z) eine Sonderstellung ein; das gilt insbes. für die X-Gruppe u. hier für die noch zu Lebzeiten B.s entstandene Sammlung XI (=PS 1–35.37.38), deren literar. Qualität in der mittelalterl. Predigtgeschichte einzigartig ist u. wohl die Wirkung von B.s Predigtweise in ihrer Direktheit u. rhetor. Wucht am besten konserviert: Dass diese Qualität nicht auf Breitenwirkung angelegt war, dokumentiert die schmale u. im Adel konzentrierte Überlieferung (4 Handschriften, 2 Fragmente, 1 Sonderredaktion). Gleichwohl lassen sich auch diese Texte in der Hand des Seelsorgers im 15. Jh. nachweisen. Die Lebendigkeit des Predigtstils, der Einfallsreichtum beim Einsatz didaktisch-erzählerischer Mittel – B. benutzt gern Predigtmärlein, Exempel u. Ä. – lässt erkennen, worauf B.s große Wirkung beruhte. Er verwendete eine verständl. Sprache, um bei seinem sozial u. landschaftlich breit gestreuten Publikum keine Verständnisschwierigkeiten aufkommen zu lassen. In seinen Predigten beklagt B. den moral. Niedergang in der Zeit des Interregnums u. warnt vor der nahenden Endzeit. Er propagiert moral. Strenge u. eine konservative, ordnungserhaltende Soziallehre. Er will die Menschen zu Umkehr u. Buße bewegen, sie von eigenmächtiger Spekulation über den Glauben abhalten. Die Hörer werden zum einfachen, bescheidenen Leben ermutigt u. vor dem Streben nach Geld u. irdischem Reichtum gewarnt. Ausgaben: Lateinische Predigten: Beati Fr. Bertoldi a Ratisbona Sermones ad Religiosos. Hg. Petrus Hoetzl. Mchn. 1882. – Deutsche Predigten: B. v. R. Hg. Franz Pfeiffer u. Josef Strobl. Wien 1862 u. 1880. Neudr. Bln. 1965. – B. v. R. Dt. Predigten. Hg. Dieter Richter. Mchn. 1968. – Vier Predigten (mhd. u. nhd.). Übers. u. hg. v. Werner Röcke. Stgt. 1983. – Kurt Ruh (Hg.): Franziskan. Schrifttum. Bd. 2, Mchn./Zürich 1984, S. 9–23. – Frank Banta: Predigten u. Stücke aus dem Kreis B.s v. R. Göpp. 1995. Literatur: Anton Schönbach: Studien zur Gesch. der dt. Predigt. Bd. 2, Wien 1900–08. Neudr. 1968. – Karl Rieder: Das Leben B.s v. R. Diss. Freib. i. Br. 1901/02. – Alfred Hübner: Vorstudien zur Ausg. des Buches der Könige. Abh. der Akademie der Wiss. Göttingen. Philosoph.-histor. Klasse 3. F., Nr. 2, Gött. 1932. – Laurentius Casutt:

501 Die Hss. mit lat. Predigten B.s v. R. Freiburg/ Schweiz 1961. – Dieter Richter: Die dt. Überlieferung der Predigten B.s v. R. Mchn. 1969 (mit ausführl. Bibliogr.). – Frank Banta: B. v. R. In: VL. – Kurt Ruh: Dt. Predigtbücher des MA. In: Vestigia Bibliae. Bd. 3, Hbg. 1981, S. 11–30. – Rüdiger Schnell: Geschlechtergesch. u. Textwiss. In: Text u. Geschlecht. Hg. ders. Ffm. 1997, S. 145–175. – Ders.: Konstanz u. Metamorphosen eines Textes. In: FMSt 33 (1999), S. 318–395. – Dagmar Neuendorff: Überlegungen zu Textgesch. u. Ed. B. v. R. zugeschriebener dt. Predigten. In: Mystik, Überlieferung, Naturkunde. Hg. Robert Luff. Hildesh. 2002, S. 125–178. – Dies.: Volkssprachige Predigt u. Katechese. In: Mediävistik u. Kulturwiss.en. Hg. Horst Wenzel u. Alfred Ebenbauer. Bern 2002, S. 273–279. Werner Williams-Krapp / Hans-Jochen Schiewer

Berthold, Will, * 12.10.1924 Bamberg, † 16.6.2000 Bamberg. – Romancier. Vom Fronteinsatz im Osten zurückgekehrt, kam B. 1945 aus dem belagerten Berlin in den Westen u. war nach der Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft zunächst Hilfsarbeiter, Pressevolontär u. Werkstudent, dann Mitarbeiter der »Süddeutschen Zeitung« in München. Ausgedehnte Reisen führten B. in die USA, nach Kanada, Ostasien u. Israel. B. schrieb über 40 Romane, Sachbücher u. Filmdrehbücher, verfasste u. inszenierte daneben eine Reihe von Fernsehdokumentationen. Seine Zeit- u. Unterhaltungsromane, meist Liebesgeschichten vor politischem Hintergrund u. aus dem Umkreis des Zweiten Weltkriegs, erreichten durch Spannung, dokumentar. Anstrich u. überraschende Wendungen hohe Popularität; sie wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt, darunter ins Russische, Tschechische, Slowakische u. Ungarische. Weitere Werke: Getreu bis in den Tod. Sieg u. Untergang der Bismarck. Mchn. 21957. – Vom Himmel zur Hölle. Das Schicksal dt. Fallschirmjäger. Mchn. 1957. – Nachts, wenn der Teufel kam. Bad Wörishofen 1959 (R.). – Die Impotenten. Gütersloh 1969 (R.). – Feldpostnummer unbekannt. Mchn. 1978 (R.). – Etappe Paris. Mchn. 1980 (R.). – Krisenkommando. Mchn. 1980 (R.). – Die 42 Attentate auf Adolf Hitler. Mchn. 1980 (Sachb.). – Die Nacht der Schakale. Mchn. 1982 (R.). – Ein Kerl wie Samt u. Seide. Bayreuth 1984 (R.). – Heldensabbat.

Bertram Mchn. 1986. Bamberg 2001 (R.). – Der befohlene Untergang: das Schicksal der dt. Luftwaffe 1939–45. Klagenf. 1998. Heinz Vestner / Red.

Bertram, Christian August von, * 17.7. 1751 Berlin, † 18.9.1830 Berlin. –Preußischer Beamter, Publizist, Herausgeber von Theaterzeitschriften. Nach dem Studium der Jurisprudenz in Halle u. der Kameralwissenschaften in Leipzig wurde B. 1777 geheimer expedierender Sekretär bei dem Kgl.-preuß. General-Ober-Finanz-, Kriegs- u. Domänen-Direktorium in Berlin, seit 1796 geheimer Kriegsrat. Im Jahre 1787/88, als das Döbbelinsche Theater in kgl. Verwaltung überging, war B. auch als Buchhalter beim Direktorium des neu gegründeten Nationaltheaters unter Johann Jakob Engel u. Karl Wilhelm Ramler tätig. Neben der Arbeit in der Finanzverwaltung galt B.s Interesse der Literatur u. dem Theater. Schon in Ueber die Kochisch’e Schauspielergesellschaft (Bln. u. Lpz. 1771) analysierte er die Gründe für den Erfolg der Truppe. B. lieferte u. a. Beiträge für den Gothaischen »Theaterkalender« u. gab mehrere Theaterzeitschriften heraus: »Allgemeine Bibliothek für Schauspieler und Schauspielliebhaber« (1776), »Litteratur- und Theaterzeitung« (1778–84), »Ephemeriden der Litteratur und des Theaters« (1785–87), »Annalen des Theaters« (1788–97) u. a. Mit Etwas über die Leiden des jungen Werthers, und über die Freuden des jungen Werthers (Dresden 1775) griff B. in eine aktuelle Literaturdebatte ein. Er stellt Werther auf eine künstler. Rangstufe mit Götz von Berlichingen, protestiert gegen die Deutung des Romans als Verteidigung des Selbstmordes u. kritisiert die Werther-Parodie von Friedrich Nicolai. Weitere Werke: Abbildungen berühmter Gelehrten u. Künstler Deutschlands, nebst kurzen Nachrichten ihrer Leben u. Werke. Bln. 1780. Literatur: NND 8 (1830), S. 676–679. – Wilhelm Hill: Die dt. Theaterzeitschriften des 18. Jh. Weimar 1915, S. 62–76. – Alexander Kosˇ enina u. Dirk Sangmeister: Briefe Johann Jakob Engels an B., Friedrich Wilhelm II u. III, Meißner u. Merkel. In: ZfG N. F. 1 (2002), S. 112–122. Urszula Bonter

Bertram

Bertram, Ernst, * 27.7.1884 Elberfeld, † 2.5.1957 Köln; Grabstätte: Weilburg/ Lahn, Alter Friedhof. – Germanist, Essayist, Lyriker. B., in Elberfeld als Kaufmannssohn aufgewachsen, studierte von 1903 bis 1907 Germanistik, Geschichte, Kunstgeschichte u. Philosophie in Bonn (u. a. bei Berthold Litzmann), München u. Berlin (u. a. bei Gustav Roethe, Erich Schmidt, Georg Simmel). 1907 wurde er in Bonn mit einer Studie zur sprachl. Technik der Novellen Adalbert Stifters promoviert, 1919 habilitierte er sich dort mit seinem Nietzsche-Buch, das bereits im Sommer 1918 bei Bondi mit dem Signet der »Blätter für die Kunst« erschienen war (Nietzsche. Versuch einer Mythologie. Bln.). Nachdem er als freier Schriftsteller u. Privatgelehrter in München u. Elberfeld tätig gewesen war, arbeitete er nach der Habilitation als Privatdozent für Neuere deutsche Literaturgeschichte an der Universität Bonn. 1922 erhielt er einen Ruf an die Universität Köln, wo er als o. Professor für Neuere deutsche Sprache u. Literatur sowie als Direktor des Germanistischen Instituts wirkte. Auf Anweisung der brit. Militäradministration wurde er 1946 entlassen, 1950 wurde er in den Ruhestand versetzt. Wie sein Freund Ernst Glöckner zeigte B. zwar Neigung zum George-Kreis, gehörte aber nicht dem inneren Zirkel an. Freundschaftlich verbunden war er auch Hans Carossa. Mit Thomas Mann korrespondierte er seit 1910. B.s wiss. Position war geprägt von der Abwehr gegen historistische u. positivist. Tendenzen, v. a. gegen die philologische u. literaturgeschichtl. Kleinteiligkeit des 19. Jh. Kunst u. Wissenschaft versuchte B., wenn nicht als Einheit zu denken, so doch engzuführen. Stiltypologische Ansätze verwendete B. wie Wilhelm Worringer mit anthropologischem Anspruch. Zentral ist dabei die Lehre vom »nordischen Menschen«, der in »grüblerischer Eigensinnigkeit«, im »inneren Zwiespalt lebt«. Da eine solche Typologie nicht national gedacht war, konnte B. in der Studie Vom Künstlertum im 19. Jahrhundert (1911. In: Dichtung als Zeugnis. Hg. RalphRainer Wuthenow. Bonn 1967) Flaubert als

502

»Deutschen« beschreiben. In der wirkmächtigsten seiner Schriften, dem Nietzsche-Buch (1918), das mit Gundolfs Gestaltmonografien vergleichbar ist, wenngleich es durch den Mythos-Begriff einen anderen Akzent setzt, rückte B. den Philosophen u. Dichter Nietzsche in eine dt. Genealogie ein. Der aus der vorsokrat. Philosophie abgeleitete Begriff des Werdens wird auf »das deutsche Werden« hin politisiert. An Nietzsche orientierte Aufrufe zur Überwindung u. Steigerung ergehen auch in B.s spruchhafter Lyrik, so im Nornenbuch (Lpz. 1925). Der verkündende Tonfall u. das monumentalisierende Pathos fanden in der Vorkriegszeit Anklang, erwiesen sich aber für die Generationen nach 1945 als wenig anschlussfähig. Der Weimarer Republik stand B. distanziert gegenüber, die Machtübernahme Hitlers begrüßte er ausdrücklich, der Rassenideologie leistete er selbst Vorschub, wenngleich sein Gesellschaftsverständnis von dem der Partei abwich. Der Bücherverbrennung stellte er sich nicht entgegen, die Verbrennung der Werke Thomas Manns u. Gundolfs versuchte er zu verhindern. B.s ab 1934 zurückhaltenderes Engagement im Nationalsozialismus war Gegenstand kontroverser Stellungnahmen: politischer Verurteilung auf der einen, literarischer Apologien auf der anderen Seite. B.s Schüler begnügten sich vielfach damit, sein akademisches Charisma zu rühmen. Die wissenschaftsgeschichtl. Forschung hat dazu beigetragen, B.s Position differenziert im Kontext zu behandeln. B.s Nachkriegsveröffentlichungen, z.T. in Privatdrucken erschienen, greifen vor 1945 entstandene Texte auf. Der Nachlass B.s befindet sich im Deutschen Literaturarchiv Marbach. Weitere Werke: Gedichte. Lpz. 1913. – Straßburg. Ein Gedichtkreis. Lpz. 1920. – Der Rhein. Ein Gedenkbuch. Mchn. 1922. – Wartburg. Spruchgedichte. Lpz. 1933. – Von der Freiheit des Wortes. Lpz. 1936. – Von den Möglichkeiten. Bln. 1938. – Konradstein. Wiesb. 1951. – Moselvilla. Donauwörth 1951. – Das Zedernzimmer Weimarer Erinnerungen. Wiesb. 1957. – Postum: Möglichkeiten. Ein Vermächtnis. Hg. Hartmut Buchner. Pfullingen 1958. – Briefe: Thomas Mann an Ernst Bertram. Briefe aus den Jahren 1910–55. Hg. Inge Jens. Pfullingen 1960. – Ernst Glöckner, Begegnung mit

Bertuch

503 Stefan George. Auszüge aus Briefen [an E. B.] u. Tagebüchern 1913–34. Hg. Friedrich Adam. Heidelb. 1972. Literatur: Bibliografie: Hajo Jappe: E. B. Bonn 1968, S. 349–355. – Peter Goossens: E. B. In: Internat. Germanistenlexikon. Hg. Christoph König. Bd. 1, Bln./New York 2003, S. 164 f. – Weitere Titel: Karl Otto Conrady: Völkisch-nat. Germanistik in Köln. Schernfeld 1990. – Norbert Oellers: E. B. – mit dem Strom u. gegen ihn. In: Moderne u. NS im Rheinland. Hg. Dieter Breuer u. Gertrude CeplKaufmann. Paderb. 1997, S. 213–227. – Bernhard Böschenstein: E. B. In: Ders. u. a.: Wissenschaftler im George-Kreis. Bln./New York 2005, S. 187–194. Marcel Lepper

Bertuch, Friedrich (Johann) Justin, * 30.9. 1747 Weimar, † 3.4.1822 Weimar; Grabstätte: ebd., Garten des Bertuch-Hauses. – Herausgeber, Verleger, Publizist u. Übersetzer. Nach dem Besuch des Weimarer Gymnasiums bezog der Arztsohn B. 1765 die Universität Jena, um Theologie zu studieren; er entschied sich jedoch bald für ein Jurastudium. Als Hofmeister bei dem früheren dän. Gesandten in Spanien, Frhr. Bachoff von Echt auf Gut Dobitschen, lernte B. zahlreiche Werke der span. Literatur kennen, u. a. Cervantes’ Don Quijote, für dessen Lektüre er eigens Spanisch lernte. 1773 kehrte B. nach Weimar zurück, wo er freundschaftl. Verkehr mit Musäus, Knebel, Wieland u. a. pflegte. Hier entstand in dreijähriger Arbeit seine trotz willkürlicher Texteingriffe (Straffung bzw. Streichung von »langen Episoden und eingestreueten Novellen«) lange Zeit als gültig anerkannte Übersetzung Leben und Thaten des weisen Junkers Don Quijote von la Mancha (6 Tle., Lpz. 1775–77); hier auch schrieb er seine epigonalen Dramen Inès de Castro (nach La MotteHoudar. Lpz. 1773), Elfride (Weimar 1775) u. Polyxena (Gotha 1775). Seine herausragende Stellung im zeitgenössischen literar. Leben verdankt B. v. a. seinen außerordentlich vielseitigen verlegerischen u. herausgeberischen Aktivitäten. Er gab zus. mit Wieland 1782–1786 den »Teutschen Merkur« heraus, allein edierte er das »Magazin der spanischen und portugiesischen Literatur« (3 Bde., Dessau 1780–82).

1786–1804 publizierte er das »Journal des Luxus und der Moden« (1795–1803 gemeinsam mit Karl August Böttiger; nach B.s Ausscheiden bis 1822 fortgeführt von seinem Sohn Karl, bis 1827 von Stephan Schütze. Auswahl-Neudr. 4 Bde., Hanau 1967–70), eine in Deutschland bis dahin nicht bekannte Form der Kulturzeitschrift, die Nachrichten aus allen Bereichen der europ. u. außereurop. Kultur – Mode, Gartenkunst, Wohnkultur u. Ä. – brachte u. von Georg Melchior Kraus mit Kupfern illustriert wurde. Die täglich erscheinende, von B. 1785 mitbegründete »Allgemeine Literatur-Zeitung« (Jena/Lpz. bis 1803. Danach Halle bis 1849) führte zur Abkühlung seines Verhältnisses zu Goethe, weil B. sich nicht scheute, Kritiken (etwa von Böttiger) an den Aufführungen des Weimarer Theaters u. an Goethes Werken zu drucken. 1774 legte B. eine Denkschrift vor, in der er die Einrichtung einer allen Bevölkerungsschichten offen stehenden u. unentgeltlich zu besuchenden »Freien Zeichenschule« vorschlug. Erster Direktor dieser Schule wurde Georg Melchior Kraus. Kurz nach ihrer Eröffnung wurde B. 1775 zum Schatzmeister u. Geheimsekretär des Herzogs Karl August von Weimar ernannt. Außer für die Finanzen war er v. a. für die Pflege der Kunst- u. Büchersammlungen des Herzogs verantwortlich, auch hatte er die Oberaufsicht über die herzogl. Gärten inne. Seit 1786 Legationsrat, legte er 1796 seine Ämter nieder. 1782 gründete B. eine Fabrik zur Herstellung künstlicher Blumen, die bald 50 jungen Mädchen – unter ihnen Christiane Vulpius, spätere Goethe – Arbeit bot u. ihre Produkte in ganz Deutschland vertrieb. 1790 folgte schließlich die Gründung des »Landes-Industrie-Comptoirs«, einer Fabrik für Textilien, optische Instrumente, Öfen, Landkarten, Bücher, Spielkarten u. a. Die wirtschaftstheoret. Überlegungen, die ihn zur Gründung dieses Universalbetriebs führten, hatte B. 1790 im »Journal des Luxus und der Moden« dargelegt: Es ging v. a. darum, der Überschwemmung des dt. Markts durch ausländische, insbes. frz. Erzeugnisse entgegenzuwirken. Das Landes-Industrie-Comptoir entwickelte sich schnell zum wichtigsten Wirtschaftsbetrieb Weimars; es beschäftigte

Beseler

504

ca. 500 Arbeiter. Im Lauf der Zeit wurde in- brecht v. Heinemann: Ein Kaufmann aus der dessen die Buchproduktion eindeutig zur Goethezeit. F. J. B.s Leben u. Werk. Weimar 1955. – dominierenden Produktionssparte. Wichtige Fritz Kühnlenz: Der Kaufmann F. J. B. In: Ders.: u. Frauen um Goethe u. Veröffentlichungen: das zwölfbändige Bilder- Weimarer Porträts. Männer Schiller. Rudolstadt o. J. 41970, S. 283–302. – Sigbuch für Kinder (190 H.e, Weimar 1790–1822; linde Hohenstein: F. J. B. (1747–1822) – bewunfortgeführt bis 1837), die zwölfbändige Blaue dert, beneidet, umstritten. Mainz 1985 (AusstelBibliothek aller Nationen (Bde. 1–10, Gotha lungskat.). – Heinrich Macher: F. J. B.s Armen1790–96. Bde. 11–12, Weimar 1797 u. 1800) schrift v. 1782. In: IASL 20 (1995), S. 1–155. – Anke mit Sagen, Märchen, Ritterromanen u. Ä. Fleming-Wieczorek: Die Briefe an F. J. B. Eine sowie erdkundl. Werke (Allgemeine Geographi- Studie zu kommunikativen, sprachl. u. sozialen sche Ephemeriden. 51 Bde., Weimar 1798–1824. Verhältnissen im klass. Weimar. Aachen 1996. – F. Neue Bibliothek der wichtigsten Reisebeschreibun- J. B. Verleger, Schriftsteller u. Unternehmer im gen zur Erweiterung der Erd- und Völkerkunde. 50 klass. Weimar. Hg. Gerhard R. Kaiser u. a. Tüb. 2000. – Walter Steiner u. Uta Kühn-Stillmark: F. J. Bde., Weimar 1815–29) u. medizin. FachliB. Ein Leben im klass. Weimar zwischen Kultur u. teratur (u. a. von Christoph Wilhelm Hufe- Kommerz. Köln u. a. 2001. – Katharina Middell: land). Auch Goethes Beiträge zur Optik (1791) Der Verleger F. J. B. u. sein Landes-Industriewurden vom Landes-Industrie-Comptoir Comptoir um 1800. Lpz. 2002. – Das Journal des verlegt. Luxus u. der Moden: Kultur um 1800. Hg. Angela 1814 begann B. polit. Zeitschriften zu ver- Borchert. Heidelb. 2004. Walter Hettche / Red. legen, zunächst »Nemesis. Zeitschrift für Politik und Geschichte«, 1817 dann das Beseler, Horst, * 29.5.1925 Berlin. – Er»Oppositions-Blatt oder Weimarische Zei- zähler, Feuilletonist, Kinder- u. Jugendtung«, das 1820 aufgrund der Karlsbader buchautor, Drehbuchautor. Beschlüsse verboten wurde. Auch um ein dt. Urheberrecht hat sich B. verdient gemacht, Der Sohn eines Reichsbahnangestellten bedessen Einführung jedoch nicht mehr erlebt. suchte die Volkschule u. das Realgymnasium. 1814 wurde er vom Standesverband der dt. Nach dem Notabitur wurde er 1944 zur Verleger u. Buchhändler zum Vertreter ihrer Wehrmacht eingezogen, war dann in ameriInteressen auf dem Wiener Kongress be- kan. Gefangenschaft. 1945–1947 arbeitete er stimmt. Aufgrund seiner zahlreichen Ver- als Techniker u. Telefonist in einem sowjet. dienste um die Wirtschaft u. Kultur Weimars Filmkopierwerk in Johannisthal, 1947–1952 wurde B. 1811 Mitgl. des Stadtrats. Er war als Redakteur u. Journalist für die Zeitungen Mitgl. u. Direktor der Akademie der ge- »Junge Welt« u. »Neues Deutschland«. Seit meinnützigen Wissenschaften in Erfurt, 1952 lebt er als freier Schriftsteller in HinMitgl. der Preußischen Akademie der Künste zenhagen bei Güstrow. Für sein schriftstellerisches Werk erhielt B. 1957 den Fontaneu. Wissenschaften, Ehrendoktor der UniverPreis, 1966 die Erich-Weinert-Medaille, 1973 sität Halle, Mitgl. der Deutschen Akademie den Fritz-Reuter-Preis, 1975 den Alex-Wedder Naturforscher Leopoldina u. korresponding-Preis u. 1982 den Nationalpreis der dierendes Mitgl. der Horticultural Society of DDR. London. In B.s erster Erzählung Die Moorbande (Bln./ Weitere Werke: Gesch. des berühmten PrediDDR 1952. 2. erw. Aufl. u. d. T. Die Moorbande gers Bruder Gerundio v. Campazas. 2 Bde., Lpz. und andere Erzählungen. Bln./DDR 1959) weh1773 (Übers. v. José Francisco de Islas ›Fray Gerundio‹. 1758 u. 1770). – Das große Loos. Weimar ren sich westdt. Kinder gegen die Willkür von 1774 (Libr.). – Cagliostro in Warschau. Straßb. 1796 amerikan. Militärs, die rücksichtslos mit ih(Übers. aus dem Französischen). – Allg. Teutsches ren Panzern Getreidefelder niederwalzen. Um ein großes Manöver zu verhindern, das in Garten-Magazin. 8 Bde., Weimar 1804–11. Literatur: Wilhelm Feldmann: F. J. B. Ein der Einnahme des Dorfes Uhlenheide gipfeln Beitr. zur Gesch. der Goethezeit. Saarbr. 1902. – soll, führen die Kinder die Militärs mit verFritz Fink: F. J. B., der Schöpfer des Weimarer drehten Wegweisern in die falsche Richtung. Landes-Industrie-Comptoirs. Weimar 1934. – Al- Vorbild ihres Handelns ist eine Geschichte

505

Besler

aus dem Dreißigjährigen Krieg, wo Kinder Willkür erscheint, entpuppt sich im Gespräch Haus u. Hof der Eltern retteten, indem sie die mit den frz. Käufern als gute Sache: Die schwed. Reiter in die Irre führten. Hier ist das Steine sollen bei der Therapie behinderter zentrale Thema B.s, die Warnung vor Krieg u. Kinder eingesetzt werden. Darüber hinaus militärischer Willkür, angelegt, das sich in fokussieren sich im Heimatdorf des Protagoseiner Erzählung Heißer Atem (Bln./DDR nisten alle Schwierigkeiten der deutsch1953) wiederfindet. Darin wird eine im Wie- deutschen Wiedervereinigung, zu denen die deraufbau befindl. Schmiede von Sabotage Fremdheit zwischen Ost- u. Westdeutschen bedroht. Auch wenn sich in dieser Erzählung genauso gehört wie Fremdenfeindlichkeit u. alle Klischees der Aufbauliteratur versam- Rechtsradikalismus. Trotzdem bleibt der meln, erhält sie einen individuellen Anstrich Autor in der Konzeption der Figuren seinem durch die verschiedenen Perspektiven, mit Prinzip treu, dass die Ideale Solidarität, Zidenen die Bedrohung beleuchtet wird. Es ist vilcourage u. Eigensinn eine menschl. Gedie gefährl. Präsenz der alten Mächte, deren sellschaft auch nach dem Ende des Kommuunheilvolle Kraft den Aufbau der neuen Re- nismus möglich machen. publik verhindern will. Der Drahtzieher der Weitere Werke: Der unbekannte Gast. FernSabotageakte ist der ehemalige Sonderführer sehspiel um Lukas Cranach. 1955. – Verliebt in Katzer, dem es im Zweiten Weltkrieg oblag, Berlin. Ein Tgb. in Bildern u. Worten (mit Edith den Abbau eines riesigen russ. Stahlwerks zu Rimkus). Bln./DDR 1958. – Wo der Zug nicht lange überwachen. Dessen Kriegssouvenir, ein hält. Film-Szenarium (mit J. Hasler). 1960. – Der Aschenbecher aus einer Flakgranate mit ei- Tod hat ein Gesicht. Film 1961. – Nebel. Film 1963. – Bullermax (mit E. Rimkus). Bln./DDR 1964. – nem ukrainischen Gockel, hatte ein jüdischer Matti im Wald (mit E. Rimkus). Bln./DDR 1966. – Kunstschmied angefertigt, den Katzer an- Die Linde vor Priebes Haus. Bln./DDR 1970. 61986. schließend ins Lager nach Minsk abtrans- Dortm. 1974. – Auf dem Fluge nach Havanna. Bln./ portieren ließ. Der Kriegsroman Im Garten der DDR 1973. 131987. – Tiefer blauer Schnee. Bln./ Königin (Bln./DDR 1957. 131989) entlarvt DDR 1976. 71987. – Der lange Schatten. Bln./DDR nicht nur die Offizierskaste als Ideologieträ- 1987. ger des Nationalsozialismus u. die Praktiken Literatur: Karin Kögel: Internationalist. Ideihres menschenverachtenden Drills, sondern engehalt in Werken B.s, Kurt Davids, Günter Görthematisiert den kriminellen Tatbestand der lichs u. Alfred Wellms. Diss. HU Bln. 1976. – DLL Selbstbereicherung mit Beutekunst. Diesen Sp. 514 f. Elke Kasper Aspekt greift auch der Roman Käuzchenkuhle (Bln./DDR 1965. 221988. Neuausg. Bln. 1998. Besler, Basilius, * 6.2.1561 Nürnberg, be2003) auf, der 1969 unter der Regie von erdigt 13.3.1629 Nürnberg. – NaturwisWalter Beck mit Manfred Krug in der Rolle senschaftler u. Herausgeber. des Hauptmanns verfilmt wurde. Jampoll u. seine Freunde lüften das schreckl. Geheimnis B. war Besitzer der Apotheke am Heumarkt des Großvaters u. bringen zwei Kriegsver- zu Nürnberg u. seit 1594 Mitgl. des Größeren brecher zur Strecke. Deutlich wird auch in B.s Rats der Stadt. Er widmete sich naturwiss. Kinder- u. Jugendbüchern die ideolog. Er- Studien, besaß einen eigenen botan. Garten ziehung im Sinne der sozialist. Gesellschaft, sowie eine berühmte Naturaliensammlung. aber heikle Themen wie z.B. Westbesuch (Tule Wegen seines Rufs als Pflanzenkenner erhielt Hinrichs’ Sofa. Bln./DDR 1981. 21982) oder er 1597 von dem Eichstätter Bischof Johann Republikflucht (Jemand kommt. Bln./DDR Konrad von Gemmingen den Auftrag, in der 1972. 51982. Dortm. 1974) werden nicht Nachfolge von Joachimus Camerarius d.J. den botan. Garten seiner Residenz Willibaldsburg ausgegrenzt. Die Rahmenhandlung der Erzählung Der in Eichstätt zu beschreiben. Der 1613 in Nürnberg erschienene Hortus Fall schwarze Eule (Schwerin 1997) bildet der Verkauf von Findlingssteinen nach Frank- Eystettensis stellt die umfassende Beschreireich. Was Wolfgang Umlauf u. seinem bung eines botan. Gartens dar u. wurde weGroßvater zuerst als ein Akt kapitalistischer gen seiner prachtvollen Ausstattung be-

Besoldus

506

rühmt. Nach den vier Jahreszeiten geordnet, B.s ›Fasciculus rariorum [...] varii generis‹. Nürnb. werden weit über 1000 Pflanzen in natürli- 1616, u. ›Continuatio rariorum [...]‹. Nürnb. 1622). cher Größe auf Tafeln im Atlas- oder Impe- – Marion Kaar: Mensch u. Pflanze v. 16. Jh. bis rialformat abgebildet. Die Abbildungen der heute. Zur Biologie, Kulturgesch. u. Nutzung ausgew. Pflanzenarten des ›Hortus Eystettensis‹. Dipl.ersten Auflage begleitet ein Text, der entweArb. Univ. Wien 2001. der von B. allein oder mit Hilfe seines Bruders Wolf-Dieter Müller-Jahncke / Red. Hieronymus, Arzt zu Nürnberg, u. Ludwig Jungermanns, Professor zu Altdorf, verfasst wurde. Die späteren Ausgaben (31627. 41640. Besoldus, Besold, Christoph(orus), * 22.9. 5. Ausg. um 1750) unterscheiden sich von der 1577 Tübingen, † 15.9.1638 Ingolstadt. – Editio princeps durch das Fehlen des BeJurist u. Staatstheoretiker. gleittextes. Einige teilkolorierte Vorzeichnungen von unbekannter Hand bewahrt die Der Sohn eines Advokaten am Tübinger Hofgericht studierte in seiner Heimatstadt Universitätsbibliothek Erlangen. Ausgaben: Hortus Eystettensis [...]. Nürnb. (Magister 1593, Dr. utr. iur. 1599) u. übte 1713. Neudr. Grünwald bei Mchn. 1964. – Der mehrere Jahre den Beruf des Vaters aus. 1610 Garten von Eichstätt. Hortus Eystettensis. Das wurde er auf den Pandektenlehrstuhl der große Herbarium d. B. B. v. 1613. Mit einem Vorw. Universität berufen u. profilierte sich in eiv. Dieter Vogellehner u. botan. Erläuterungen v. nem weitläufigen Lebenswerk (etwa 100 TiGérard G. Aymonin. Mchn. 1988. 1997. – Der tel), gestützt auf enzyklopäd. Gelehrsamkeit Garten v. Eichstett. Das Pflanzenbuch v. B. B. Mit u. vielseitige Sprachkenntnisse, als einer der Einf. v. Klaus Walter Littger u. botan. Erläuterunbedeutendsten jurist. u. staatstheoret. Autogen v. Werner Dressendörfer. Köln 1999 (Nachdr. ren des Jahrhunderts. Neben wichtigen, der Farbtafeln). mehrfach aufgelegten u. erweiterten AbLiteratur: Maximilian Rees: Über die Pflege handlungen u. Kompendien fand die Sammder Botanik in Franken v. der Mitte des 16. bis zur Mitte des 19. Jh. Rede beim Antritt des Prorectorats lung eigener u. fremder Rechtsgutachten am 4. Nov. 1884. Erlangen 1884. – Georg Löhlein: Beachtung. Zgl. galt B.’ Interesse den theolog. Fragen B. B. In: NDB. – Karl Heinz Bartels: Drogenhandel u. apothekenrechtl. Beziehungen zwischen Vene- der Zeit: Er setzte sich für Toleranz u. ein dig u. Nürnberg. Ffm. 1966, S. 155. – Hans Baier: verinnerlichtes Christentum ein. Nach TüDie Ausg.n des Hortus Eystettensis. In: Börsenblatt bingen vermittelte er nicht nur die Kenntnis für den dt. Buchhandel, Frankfurter Ausg. 26 wichtiger Autoren der ausländ. Literatur (u. a. (1970), S. 273–280. – Karl Heinz Bartels: B. B. In: als Übersetzer Tommaso Campanellas – Von Dt. Apotheker-Biogr. Hg. Wolfgang-Hagen Hein u. der Spanischen Monarchy. o. O. 1620 – u. des ital. Holm-Dietmar Schwarz. Bd. 1, Stgt. 1975, Satirikers Trajano Boccalini), sondern auch S. 48–50. – Wolf-Dieter Müller-Jahncke: Die die älteren u. zeitgenöss. Impulse der dt. Pflanzenabb. in Renaissance u. Frühbarock. In: Pharmazeut. Ztg. 129 (1984), S. 2543–2549. – Mystik, des Spiritualismus, der religiösen Hortus Eystettensis. Zur Gesch. eines Gartens u. Dissidenten u. der z.T. paracelsisch beeineines Buches. Eine Ausstellung der Universitäts- flussten Hermetik. Seine in der Universitätsbibl. 28.11.-16.12.1989. Kat. hg. v. Hans-Otto bibliothek Salzburg erhaltene Bibliothek beKeunecke. Mchn. 1989. – Nicolas Barker: Who zeugt die ungewöhnl. Weite seines geistigen printed the text of the Hortus Eystettensis? In: The Einzugsbereichs (u. a. besaß er Werke von German Book 1450–1750. Hg. John L. Flood u. Meister Eckhart, Tauler, Schwenckfeld, WeiWilliam A. Kelly. London 1995, S. 185–192. – gel, Aegidius Gutmann, Castellio, SuderDers.: Hortus Eystettensis. The Bishop’s garden mann). and B.’s magnificent book. London 1995. – Die Auf den jungen Johann Valentin Andreae Pflanzenwelt des Hortus Eystettensis. Ein Buch hatte B. beachtl. Einfluss. Sein Anteil an der lebt. Mit Texten v. Brun Appel u. a. Mchn. u. a. 1998. – Wolfhart Langer: Mineralog. u. paläonto- Rosenkreuzerbewegung u. deren Schriften ist log. Objekte aus der Slg. des B. B. in Nürnb. (1616, nicht endgültig geklärt. Zugeschrieben wird 1622). In: Hans-Prescher-Gedenkbd. Von seinen ihm der aus Boccalinis Ragguagli (1612/13) Freunden u. Kollegen. Dresden 1998, S. 91–104 (zu stammende Vorspann zur rosenkreuzeri-

507

schen Fama Fraternitatis (Kassel 1614) über die »allgemeine Reformation der ganzen Welt«. Als Anhänger des von Johann Arndt propagierten »Wahren Christentums« geriet B. schon früh – ebenso wie der ihm brieflich u. persönlich verbundene Kepler – in Konflikte mit den Vertretern des in Tübingen tonangebenden orthodoxen Luthertums. B.’ Konversion zur kath. Kirche (öffentlich 1635) u. sein Einsatz auch für die polit. Interessen der kaiserl. Partei war eine Konsequenz dieser Auseinandersetzungen. Zuletzt wirkte B. an der Universität Ingolstadt. Weitere Werke: Signa temporum: seu succincta et aperta rerum post religionis reformationem [...] dijudicatio. Tüb. 1614. – Templum Iustitiae. Tüb. 1616. – Collegii politici classis prima [...] classis posterior. Tüb. 1616. – De verae Philosophiae fundamento discursus. Tüb. 1618. – Politicorum libri duo. Ffm. 1618. – Synopsis doctrinae politicae. Tüb. 1620. – Discursus politicus de incrementis imperiorum eorumque amplitudine procuranda. Cui inserta est dissertatio singularis de novo orbe. Straßb. 1623. 1640. – Principium et finis politicae doctrinae. Straßb. 1625. 1642. – Synopsis rerum ab orbe condito gestarum. Straßb. 1626. – Axiomatum Philosophiae Christianae [...] Pars prima (et secunda). Straßb. 1628. – Consultationes de insignioribus aliquot et inprimis iuris publici quaestionibus. Tüb. 1628. Zuletzt 6 Bde. 1661. – Thesaurus practicus continens explicationem terminorum atque clausularum in aulis et dicasteriis Rom. Germanici Imperii usitatorum. Tüb. 1629. Zuletzt Regensb. 1740. – De natura populorum eiusque pro loci positu temporisque decursu variatione: Ac insimul etiam de linguarum ortu et immutatione philologicus discursus. Tüb. 1632. Ausgaben: Textausw. in: CAMENA. Übersetzungen: Synopse der Politik. Dt. Übers. v. Cajetan Cosmann, hg. v. Laetitia Boehm. Ffm. 2000. Literatur: Emil Niethammer: C. B. In: Schwäb. Lebensbilder. Hg. Hermann Haering u. Otto Hohenstatt. Bd. 2, Stgt. 1941, S. 11–34. – FriedelWalter Meyer: C. B. als Staatsrechtler. Diss. Erlangen 1956. – Barbara Zeller-Lorenz u. Wolfgang Zeller: C. B., 1577–1638. Polyhistor, gefragter Consiliator u. umstrittener Konvertit. In: Lebensbilder zur Gesch. der Tübinger Juristenfakultät. Hg. Ferdinand Elsener. Tüb. 1977, S. 9–18. – Richard van Dülmen: Die Utopie einer christl. Gesellsch. Johann Valentin Andreae (1586–1654). Stgt. 1978, S. 59–64. – Barbara Zeller-Lorenz: C. Besold

Besser (1577–1638) u. die Klosterfrage. Tüb. 1986. – Martin Brecht: Chiliasmus in Württemberg im 17. Jh. In: PuN 14 (1988), S. 25–49 – Stolleis Bd. 1 (1988), bes. S. 119–122. – Siegfried Frey: Das württemberg. Hofgericht (1460–1618). Stgt. 1989, bes. S. 227. – Cimelia Rhodostaurotica, passim (Register!) – M. Brecht: C. Besold. Versuche u. Ansätze einer Deutung. In: PuN 26 (2000), S. 11–28. – Horst Dreitzel in: Ueberweg, Philos. 17. Jh., S. 659–663. – Otto Herding: C. Besold (1577–1638) u. seine Urkundened.en über Klöster im Hzgt. Württemberg. In: Ders.: Beiträge zur südwestdt. Historiographie. Stgt. 2005, S. 81–86 – Kleinheyer/ Schröder. – Jaumann Hdb. Wilhelm Kühlmann

Besser, Johann von (geadelt 1690), * 8.5. 1654 Frauenburg/Kurland (heute Saldus in Lettland), † 10.2.1729 Dresden. – Lyriker, Prosaist. B. wuchs in einem Pfarrhaus auf u. schloss das Studium der Theologie in Königsberg 1674 (Magister phil.) ab. 1675 begleitete er als Hofmeister Jakob Friedrich v. Maydel zum Studium der Jurisprudenz nach Leipzig. 1681 ehelichte er nach siebenjähriger Verlobungszeit die Leipzigerin Katharina Elisabeth Kühlewein (1662–1688), Tochter wohlhabender Eltern (vgl. B.s 1688 entstandene Gedichte Das Verhängniß getreuer Liebe u. Kurzer Lebenslauf der seligen Kühleweinin). B. entsagte der Theologie u. widmete sich den Rechtswissenschaften. Durch Vermittlung des Fürsten von Anhalt-Dessau ernannte ihn der Kurfürst von Brandenburg, Friedrich Wilhelm, 1682 zum Legationsrat, u. das junge Paar siedelte nach Berlin über. Reisen im Auftrag des Hofs führten B. u. a. längere Zeit als kurfürstl. Residenten nach London (1684/ 85), Magdeburg u. 1690 nach Königsberg. Friedrich III., B. zeitlebens gewogen, erhob ihn 1690 in den Adelsstand u. ernannte ihn aufgrund seiner organisatorischen u. poet. Talente zum Zeremonienmeister u. Hofrat, 1701 zum Oberzeremonienmeister u. Geheimen Rat. B. war u. a. hauptverantwortlich für die Gestaltung aller Festlichkeiten bei Hof u. dadurch von großem Einfluss auf die Förderung des kulturellen Lebens in der aufblühenden Residenzstadt. Empfang u. Betreuung aller ausländ. Besucher gehörten zu B.s Pflichten.

Beste

508

Weitere Werke: Des Herrn v. B. Schrifften. Lpz. B. verfasste Singspiele, Ballette u. Gelegenheitsgedichte. Sein Werk Preussische Krö- 1711. 1720. 1732. Literatur: Bibliografien: Franz Schnorr v. Canungs-Geschichte (Cölln an der Spree 1702 u. 1712), ausgestattet mit künstlerisch hervor- rolsfeld: J. v. B. In: ADB. – Adalbert Elschenbroich: ragenden Radierungen, erschien noch 1901 J. v. B. In: NDB. – Heiduk/Neumeister, S. 294 f. – als Nachdruck. Seine Aufenthalte in England Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 1, S. 534–543. – Noack/ Splett 2, S. 55–72. – Weitere Titel: Wilhelm Haertel: u. den Niederlanden brachten B. in BerühJ. v. B. Sein Leben u. seine Werke. Bln. 1910. – rung mit marinist. Dichtern, was sowohl die Franz Heiduk: Die Dichter der galanten Lyrik. frühen Gedichte als auch seine einflussreiche Studien zur Neukirchschen Slg. Bern/Mchn. 1971, Verwendung der heroischen Ode erklären S. 29–35. – Steven D. Martinson: German Poetry in könnte. Dichtern in Berlin vermittelte B. Transition: Canitz, Besser, and the Early Aufklärer. Kontakte u. Aufträge, darunter auch Benja- In: Michigan Germanic Studies 6 (1980), S. 40–57. min Neukirch. Viele Jugendgedichte B.s – Uwe-K. Ketelsen: Aufklärung. In: Killy. – Ulrich wurden in den Bänden I-III der Neukirchschen Breuer: Poet. Reisefiktion als Melancholietherapie. Sammlung (1695–1703) veröffentlicht. Wegen J. v. B.s ›Trost aus anderer Unglück‹. In: Daphnis ihrer teilweise stark erot. Bildsprache (z.B. 24, 2–3 (1995), S. 427–453. – Kerstin Heldt: Der vollkommene Regent. Studien zur panegyr. CasuRuhestatt der Liebe) trugen sie zum großen allyrik am Beispiel des Dresdner Hofes Augusts des buchhändlerischen Erfolg der bahnbrechen- Starken. Tüb. 1997, passim. – Sara Smart: J. v. B. den Anthologie bei. Nach dem Urteil Johann and the Coronation of Friedrich I, King in Prussia, Ulrich Königs waren B.s Texte darin ohne in 1701. In: Daphnis 32, 1–2 (2003), S. 263–287. sein Wissen abgedruckt worden, was jedoch Erika A. Metzger angesichts der Verehrung Neukirchs für B. unwahrscheinlich ist. Durch B. u. andere gaBeste, Konrad, * 15.4.1890 Wendeburg bei lante Dichter in Berlin (unter ihnen Johann Braunschweig, † 24.12.1958 StadtoldenValentin Pietsch, Otto Christoph Eltester u. dorf/Weserbergland; Grabstätte: ebd., Canitz) verlor die Anthologie ihren vorwieFriedhof. – Heimatschriftsteller. gend schles. Charakter u. gewann europ. Niveau (vgl. B.s Die mit Preussen æmulierende Der Angehörige einer alten niedersächs. PasMarck, Wer König von Engelland sey / Wilhelm oder torenfamilie wuchs in Stadtoldendorf auf, Jacob u. fiktive Heldenbriefe Ludwigs des studierte in München, Berlin u. Heidelberg XIV.). Bodmer u. Breitinger z.B. erwähnten B. Philosophie u. promovierte 1915 über Franz nur mit höchstem Lob. Gottsched aber kriti- Grillparzer. Nach seiner Teilnahme am Erssierte, dass sich B. für »unseren besten Poe- ten Weltkrieg lebte er als freier Schriftsteller ten« gehalten hätte u. alle anderen »verach- für Film u. Presse, zuletzt auf einem Bautet«. B.s berühmtes Trauergedicht auf seine ernhof in der Lüneburger Heide. Frau verdammte er als gekünstelt. Heute B.s auch nach 1945 in hohen Auflagen erzuzustimmen ist Ketelsens Deutung von B.s schienenes Werk schildert bäuerliches Landerot. Gedichten als Beitrag zur freieren Ent- schaft u. Leben sowie in anspruchsloser Weise faltung der dt. Frühaufklärung. humoristisch überzeichnete Charaktere u. Nach dem Tod Friedrichs wurde B. 1713 als Originale (z.B. die Löhnefink-Trilogie). Ganz Erster bald aller seiner Ämter enthoben. Ab ohne Ironie verklärt B. Heimat u. bäuerlich 1717 lebte er als Geheimer Kriegsrat u. Ze- einfaches Leben u. lässt seine Helden nach remonienmeister am Hofe Augusts des Star- schwierigen Situationen dort immer wieder ken in Dresden. Seine kostbare Privatbiblio- zu Ruhe u. Frieden kommen. Die Idealisiethek von etwa 18.000 Bänden (Schwerpunkt: rung des bäuerl. Alltags u. die vereinfachende Politik, Geschichte, höf. Etikette) verkaufte er u. harmonisierende Aufnahme zeitgehier an die Kgl. Bibliothek. schichtlicher Erfahrungen erklärt die BeJohann Ulrich König, B.s Schüler u. liebtheit seiner Werke in der Nachkriegszeit. Freund, setzte dessen lebenslange BemüWeitere Werke: Gott. Augenblick. Heidelb. hungen um Anerkennung des Dichters als 1913 (L.). – Walpurgisnacht. Bln. 1927 (M.). – Das Hofpoet fort. heidn. Dorf. Hbg. 1932 u. ö. Zuletzt Olten 1957

509 (R.). – Bauer, Tod u. Teufel. Mchn. 1933 (D.). – Das vergnügl. Leben der Doktorin Löhnefink. Braunschw. 1934. 271962. Zuletzt Hbg. 21986 (R.). – Die drei Esel der Doktorin Löhnefink. Braunschw. 1937. 181959. Zuletzt Hbg. 1981 (R.). – Der Trompeter v. Caub. Hbg. 1941 (E.en). – Herrn Buses absonderl. Brautfahrt. Düsseld. 1943 (R.). – Löhnefinks leben noch. Holzminden 1950. Hbg. 1984 (R.). Literatur: Grete Berges: K. B. In: Die Neue Lit. 32 (1931). – Rolf Ahlers: K. B.: Dichter, Schriftsteller, Dramatiker. Wendeburg 2001. Frank Raepke / Red.

Bethge, Friedrich, * 24.5.1891 Berlin, † 17.9.1963 Bad Homburg/Taunus. – »Reichskultursenator« u. Dramatiker. B., Sohn des Germanisten Richard Bethge, arbeitete nach dem Besuch des Gymnasiums als Subredakteur in einem Berliner Zeitschriftenverlag. Am Ersten Weltkrieg nahm er als Kriegsfreiwilliger teil. 1919 engagierte sich B. in den Kämpfen gegen die Spartakisten in Berlin; 1920 wurde er in den Beamtendienst übernommen. Trotz des bestehenden Verbots für Beamte trat er schon im Mai 1932 der NSDAP bei. Nach 1933 nahm seine Karriere einen steilen Aufschwung: Er wurde stellvertretender Generalintendant u. Chefdramaturg der Städtischen Bühnen in Frankfurt/M., war Reichskultursenator u. Landesleiter der Reichsschrifttumskammer u. erhielt 1937 den Nationalen Buchpreis. Bereits in den 1920er Jahren schrieb B. die auf eine Novelle von Strindberg zurückgehende Tragödie Pfarr Peder (Bln. 1934), uraufgeführt 1924, sowie das »vom nationalsozialistischen Geist erfüllte« (Bethge) Kriegsdrama Reims (Bln. 1930. Neuaufl. 1937), uraufgeführt 1928. Am erfolgreichsten war sein 1935 entstandenes Drama Marsch der Veteranen (Bln.), das den Kampf hungernder u. frierender Soldaten heroisiert, die sich gegen ein korruptes u. undankbares »System« durchzusetzen versuchen. Weitere Werke: Pierre u. Jeanette. Schlawe 1926 (E.). – Rebellion um Preußen. Bln. 1939. 41941 (D.). – Anke v. Skoepen. Bln. 1940. 31944 (D.). Peter König / Red.

Bethge

Bethge, Hans, * 9.1.1876 Dessau, † 1.2. 1946 Kirchheim/Teck; Grabstätte: ebd., Alter Friedhof im Herdfeld. – Übersetzer, Erzähler, Essayist u. Lyriker. Der Sohn eines Landwirts studierte in Halle, Erlangen u. Genf Philosophie u. Philologie u. promovierte 1899 mit einer Arbeit über das literar. Verfahren Molières. B. verband eine lebenslange Freundschaft mit dem Jugendstilmaler Heinrich Vogeler, den er 1898 in Worpswede kennenlernte. Neben sublim erotischen, neuromant. Dramen u. Gedichten wurde B. zunächst bekannt als Herausgeber der Anthologie Deutsche Lyrik seit Liliencron (Lpz. 1905 u. ö.), die u. a. Gedichte von Dehmel, Else LaskerSchüler, Morgenstern, Hesse u. Wedekind enthielt u. bis 1920 50 Auflagen erreichte. B. verdiente sich seinen Lebensunterhalt durch Reisebeschreibungen, Essays, kleinere Anekdoten sowie durch seine Mitarbeit an den Zeitschriften »Der Sturm« u. »Die Schaubühne«. Besondere Verbreitung erfuhren seine philologisch wenig genauen Übersetzungen bzw. Nachdichtungen asiatischer u. arab. Lyrik. Die chinesische Flöte (Lpz. 1907. Kelkheim 202001), eine Auswahl chinesischer Lyrik vom 12. vorchristl. bis zum 19. Jh., ist nicht zuletzt durch die Vertonung Gustav Mahlers (Das Lied von der Erde) bekannt geworden. Weitere Werke: Die stillen Inseln. Bln. 1898 (L.). – Die Feste der Jugend. Bln. 1901 (L.). – Der gelbe Kater. Bln. 1902 (N.). – Heitere Miniaturen. Prag 1944 (Anekdoten). – Übersetzungen: Hafis. Lpz. 1910. Kelkheim 32004 (L.). – Das türk. Liederbuch. Bln. 1913. Kelkheim 32002 (L.). Literatur: Georg A. Mathéy: In Memoriam H. B. In: Aussaat 2/3 (1947/48). – Eberhard Bethge: H. B. Leben u. Werk. Lüb. 32002. – Yimin Jianag: ›Die chinesische Flöte‹ v. H. B. u. ›Das Lied von der Erde‹ v. Gustav Mahler. Vom Textverständnis bei der Rückübers. In: Ostasienrezeption zwischen Klischee u. Innovation. Hg. Walter Gebhard. Mchn. 2000, S. 331/354. Frank Raepke / Red.

Bethusy-Huc

Bethusy-Huc, Valeska Gräfin von, geb. V. Reiswitz, auch: Moritz von Reichenbach, * 15.6.1849 Schloss Kielbaschin bei Sagan, † 27.5.1926 Lugano. – Erzählerin u. Feuilletonistin. Nach aristokrat. Erziehung in Sagan u. Berlin u. der Heirat mit dem Grafen Eugen von Bethusy-Huc 1869 wurde B. seit 1876 schriftstellerisch tätig. Eine gewiefte, äußerst marktbewusste Journalistin, wurde B. ständige Mitarbeiterin mehrerer Familienzeitschriften (wie »Über Land und Meer« u. »Daheim«) u. verfasste Reisefeuilletons für führende Tageszeitungen. Ihre Unterhaltungsromane u. Erzählungen behandeln die Frauen- u. Eheproblematik wie in Maud. Geschichte einer Ehe (Bln. 1901). Die größten Erfolge erzielte sie mit Heimatstoffen, u. a. mit Oberschlesische Dorfgeschichten (Bln. 1901) u. Wanderndes Volk. Schlesischer Adelsroman (Breslau/Bln. 1903). Anders als viele Autorinnen der Zeit versuchte B. ihr Erzählwerk aus dem industrialisierten Schlesien auf empir. Daten als Ertrag eigener Recherchen vor Ort zu stützen. Allein die hier thematisierten authent. soziopolit. Probleme werden in der Ausführung konsequent trivialisiert, indem die Autorin sich zur Handlangerin der »deutschen Mission im Osten« hochstilisiert – was sich der Beliebtheit ihrer fast 50 Romane u. Novellenbände sowie Arbeiten zu Schlesien bis zum Ersten Weltkrieg als überaus förderlich erwies. Literatur: Urszula Bonter: Der Populärroman in der Nachfolge v. E. Marlitt: Wilhelmine Heimburg, V. G. B., Eufemia v. Adlersfeld-Ballestrem. Würzb. 2005. Eda Sagarra

Betke, Bethke, Betkius, Joachim(us), auch: Beatus Joachimus, Bohnsan (?), * 8.10. 1601 Spandau, † 12.12.1663 Linum. – Lutherischer Prediger; Spiritualist. Die Schulzeit verbrachte B. in Spandau, Dresden u. Gera. Sein Theologiestudium absolvierte er an der Universität Wittenberg, wohl bei den Professoren Jakob Martini (ab 1623) u. Paul Röber (ab 1627). Nach Jahren als Konrektor in Ruppin erhielt B. 1628 die Dorfpfarre in Linum bei Fehrbellin/Kreis

510

Nauen, die er bis zu seinem Tod innehatte. Am 28.1.1629 heiratete B. Gratia Panckow, die Frau seines Amtsvorgängers; die Ehe blieb kinderlos. B.s unter schwierigen Verhältnissen (Krankheit) erfolgende, beachtliche, nicht allzu umfangreiche literar. Produktion steht in einem gewissen Gegensatz zu seiner offenbar ohne größere Schwierigkeiten verlaufenen Amtstätigkeit als Geistlicher – vielleicht mit ermöglicht durch die erst postume Publikation seines »wohl bekannteste[n] Werk[es]« (M. Brecht) Excidium Germaniae (Amsterd. 1666) durch Friedrich Breckling. Die erhaltenen Werke – Verschiedenes scheint nach seinem Tod absichtlich vernichtet worden zu sein – stellen B. in den Zusammenhang des myst. Spiritualismus innerhalb des Luthertums. Das Schrifttum B.s ist aus der Praxis entstanden (Predigten, Buß- u. Kritikschriften). Die Zuschreibung mancher Werke bleibt unsicher. Das ist der Reflex einer sich um B. unspektakulär sammelnden Anhängerschaft mit bekannten (z.B. Johann Valentin Andreae) u. unbekannten Namen. Seine Werke stellen mit großer Schärfe den Abfall vom Glauben in Deutschland demjenigen im Alten Israel gleich – dabei auch Luther unter die Kronzeugen aufnehmend. Kirche u. Christen müssen zurückkehren zu einem echten Glauben, der zentral von dem Bild des leidenden Christus geprägt ist (was B. mit Christian Hoburg verbindet): »Creutz-Kirche«, »Christi Creutzkinder«. Hier bewährt sich der Wandel des Christen, dem Christus selbst das Leben gibt wie den mit dem Weinstock verbundenen Reben – bis zu einer Teilhabe an Jesu Schicksal u. an der göttl. Natur. Die entschlossen vertretene Lehre vom Allgemeinen Priestertum verlegt Opfer u. Priesterweihe in den inneren Tempel des Herzens: Hier ist der Ort der Erneuerung der Kirche. Kirchenkritik u. Strafpredigt – mit Blick auf den tobenden Krieg – kommen eindrücklich zum Ausdruck. Mit dem Kampf gegen die Verflachung der Absolution gehört B. in die Vorgeschichte der 1698 in Brandenburg erfolgten Abschaffung der pflichtmäßigen Einzelbeichte.

511

Bettauer

B.s Briefwechsel – greifbar v. a. derjenige theolog. Erscheinung. Ges. Studien zur Gesch. des mit Breckling, der B. als seinen geistl. Vater Pietismus. Bd. 2, Gött. 1984. – Martin Brecht in: betrachtete – lässt eine Wirkung in den brei- Gesch. Piet. Bd. 1, S. 221–223, 297, 437 u. ö. (ReDietrich Blaufuß ten Strom des kirchenkritischen, nur z.T. se- gister). – RGG. paratist. Pietismus erkennen. Seine Schriften fanden Echo u. a. bei August Hermann Fran- Betsch, Roland, * 3.11.1888 Pirmasens, cke, Gottfried Arnold, Hochmann von † 5.4.1945 Ettlingen (Freitod); GrabstätHochenau u., etwa hinsichtlich des Geistli- te: ebd., Friedhof. – Verfasser von Romachen Priestertums, bei Philipp Jacob Spener, nen u. Erzählungen. der B.s Werke aber nicht unbedingt in der B. war im Ersten Weltkrieg FlugzeugingeHand des einfältigen Christen sehen wollte. nieur. Der wilde Freiger (Bln. 1919) beschreibt Weitere Werke: Teilsammlungen: Drey geistrei- die Wirren um einen Konstruktionswettbeche Tractätlein. Amsterd. o. O. [Hbg./Ffm.] 1676. – werb. In Fliegerei, Bergsteigen, Skisport u. Einzelwerke: Mensio Christianismi [...]: Das ist Reisen fand B. Anregungen zu teils heiteren, Geistl. Abmessung Vnsers heutigen Christenthumbs u. Predigampts. o. O. [Amsterd.] 1636. teils tragischen Romanen. Werke wie Die 4 1676. – Mysterium Crucis [...]: Hoc est: Schrifftl. Verzauberten (Bln. 1934. Hamm 1953) u. Die Eröffnung der Geheimnissen u. Krafft des Creutzes sieben Glückseligkeiten (Bln. 1936. Rastatt 1961) Christi. o. O. [Bln.] 1637. 41676. – Sacerdotium, hoc geben die besondere Atmosphäre der Welt est, New-Testamentl. Kgl. Priesterthumb. o. O. der Komödianten u. Vagabunden wieder. [Amsterd.] 1640. – Christianismus ethnicus. Amst- Auch mit Filmen hatte B. Erfolg: Narren im erd. 1677. – (Anonym:) Irenicum, Das ist Trew- Schnee (als Roman: Bln. 1935. 1954. Verfilmt hertzige Vermahnunge an das Gantze Christen- 1938) u. Zirkus Renz (1943). Volck von dem gegenwärtigen Türckischen Kriegen Durch seine Ballade am Strom (Bln. 1939. Würgen Morden Todschlagen [...] Armen fressen Nachdr. der Ausg. Hamm 1953: Speyer 1986), etc. o. O. [Amsterd.?] 1644. – Dasselbe Pseud. einen histor. Roman über die Auswirkungen [Beatus Ioachimius] u. d. T.: Fortitudo pacis. o. O. 1640. – Göttl. Leidens Gemeinschafft der waren deutsch-frz. Kriege in der Pfalz, fand sich B. Glieder Christi. Amsterd. 1660. 21670. – Rechtmä- zu Unrecht in die Nähe von NS-Autoren geßiger Pietismus u. hellerleuchtender Religions- rückt. B. wollte keine Rache, sondern VerSpiegel. Wesel/Duisb./Ffm. 1692. – Briefe: Theodor ständnis u. Versöhnung. Beim Einmarsch der Wotschke: Der märk. Freundeskreis Brecklings. In: Engländer tötete er sich aus Furcht vor den Jb. für brandenburg. Kirchengesch. 23 (1928), drohenden Verhören. S. 134–203; 24 (1929), S. 168–177. – Estermann/ Bürger, Tl. 2, S. 127–128 [falsch B., ›Heinrich‹], 170. Literatur: Bibliografie: Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 1, S. 544–549. – Weitere Titel: Gottfried Arnold: Unpartheyische Kirchen- u. Ketzer-Historie. Ffm. 1699/1700. – Julius August Wagenmann: J. B. In: ADB. – Arnold Schleiff: Selbstkritik der luth. Kirchen im 17. Jh. (Diss.) Jena 1937. – Evamarie Gröschel-Willberg: Christian Hoburg u. J. B. Diss. Erlangen 1954. – Margarete Bornemann: Das Verständnis v. Kirche, Christentum u. Krieg in Grimmelshausens ›Simplicissimus‹, verglichen mit J. B.s ›Excidium Germaniae‹, 1953 (Ms. [ehedem] Kirchl. Hochschule Berlin). – Martin Schmidt: J. B. In: NDB. – M. Bornemann: Der myst. Spiritualist J. B. (1601–63) u. seine Theologie. Diss. Bln. 1959. – Dies. in: TRE. – Carl Hinrichs: Preußentum u. Pietismus. Gött. 1971, S. 3 ff. – Willem Heijting: Hendrik Beets. In: Quaerendo 3 (1973), S. 250–280. – Bautz. – DBA. – M. Schmidt: Der Pietismus als

Weitere Werke: Benedikt Patzenberger. Breslau 1917 (R.). – Der blinde Tod. Lpz. 1925 (R.). – Rheinpfalz. Ein Heimatbuch (zus. mit Lorenz Wingerter). Lpz. 1928. – Salvermosers seltsame Seelenwanderung. Bln. 1932 (Kom.). – Phantast. Gesch.n. Speyer 1968. Literatur: Oskar Bischoff: Dem Wort verschrieben. Neustadt/Weinstraße 1972, S. 56–61. – Ernst Teubner: R. B. Pirmasens 1983 (= Kat. der Slg. in der Stadtbücherei). Rolf Paulus / Red.

Bettauer, Hugo, * 18.8.1872 Wien, † 26.3. 1925 Wien (ermordet). – Romanautor, Journalist. Der Sohn eines Börsenmaklers verbrachte seine Schulzeit in Wien; 1899 übersiedelte er nach New York u. nahm die amerikan. Staatsbürgerschaft an. Später als Journalist in Berlin griff er die Berliner Polizei u. preuß.

Betzner

512

Beamte wegen Bestechlichkeit an. Nachdem liberal-aufklärerische Programmatik mit eier die Korruption des Direktors der Berliner nem sozialkritischen, teils drast. Bild gesellHoftheater aufgedeckt hatte, der darauf schaftl. u. polit. Gegensätze im Wien der InSelbstmord beging, musste B. Preußen ver- flationszeit (Die freudlose Gasse. Wien 1924. lassen. Über Hamburg ging B. 1904 wieder Nachdr. Wien 1980). Große Verbreitung fannach New York u. war als Reporter der den B.s Romane auch durch die filmischen »Deutschen Zeitung« u. als Schriftsteller tä- Adaptionen von Die Stadt ohne Juden (1924) u. Die freudlose Gasse (1925), u. a. mit Greta Garbo tig. Seine Fortsetzungsromane erschienen zu- u. Werner Krauß. Seit den frühen 1980er nächst im New Yorker »Morgenjournal« u. Jahren wurden B.s Romane durch verschiewandten sich gezielt an den Leserkreis der dene Taschenbuchausgaben wiederentdeckt Einwanderer (Kampf um’s Glück. Wien 1926). u. erneut popularisiert. 1910 kehrte B. nach Wien zurück. Zwischen Weitere Werke: Die drei Ehestunden der 1920 u. 1924 verfasste er eine Reihe von Kri- Elizabeth Lehndorff. Wien 1921 (R.). – Der Tod minalromanen (u. a. Faustrecht. Wien 1920. einer Grete u. andere Novellen. Wien 1926. Nachdr. Wien 1980. Hemmungslos. Wien 1920. Literatur: Murray G. Hall: Der Fall B. Wien Nachdr. Wien 1980). Ab 1924 gab B. ge- u. a. 1981. – Otto Mörth: Die Filmadaption des meinsam mit Rudolf Olden »Er und Sie. Romans ›Die Stadt ohne Juden‹ (1924). In: Maske u. Wochenschrift für Lebenskultur und Erotik« Kothurn 43 (2000), H. 1–3, S. 73–92. Eva Weisz / Ralf Georg Bogner heraus, in der er eine liberale Einstellung zur Sexualität, Straffreiheit für Homosexualität u. Abtreibung propagierte. Die Zeitschrift Betzner, Anton, * 13.1.1895 Köln, † 18.2. wurde als sittengefährdend beschlagnahmt u. 1976 Puerto de Mazarrón, Murcia/SpaniB. angeklagt. Im Prozess zwar freigesproen. – Journalist, Hörspielautor u. Erzähchen, wurde er, der 1890 zur Evangelischen ler. Kirche Helvetischen Bekenntnisses übergetreten war, Opfer einer antisemit. Kampagne Nach einem Musikstudium wurde B. zuu. in seiner Redaktion von einem fanat. nächst Journalist. Er war Mitarbeiter der Gegner seiner Schriften, einem Nationalso- »Frankfurter Zeitung«, schrieb aber auch zialisten, ermordet. Romane u. Erzählungen. Außerdem erprobte Nach dem Attentat geriet B.s Roman Stadt er die neuen techn. Möglichkeiten des ohne Juden (Wien 1922. Nachdr. Wien 1980) Rundfunks für das Hörspiel. Nach 1945 reins Zentrum der Hetzkampagne, betrieben digierte er die Monatszeitschrift »Das goldevon der christlich-sozialen Presse u. der Ver- ne Tor« u. setzte sich als literarischer Mitarteidigung seines Mörders. Dieser meistgele- beiter beim Südwestfunk Baden-Baden bes. sene Roman B.s schildert satirisch die polit. für Nachwuchsautoren ein. 1963 wurde er Atmosphäre der 1920er Jahre in Wien, den Redakteur der kulturpolit. Frauenzeitschrift wirtschaftl. Zusammenbruch Österreichs »Du selbst« u. zog als Schriftsteller nach nach dem Ersten Weltkrieg mit anschließen- Fechingen/Saarland. Seine letzten Lebensder Schuldzuweisung an die Juden, den jahre verbrachte er in Spanien. Wahlsieg der Christlich-Sozialen mit antiseZur Zeit der Weimarer Republik vertrat B. mit. Propaganda u. die dem Genfer Völker- eine aufklärerisch-radikaldemokrat. Position. bund abgerungene Judenausweisung. Der Die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs wanRoman zeichnet Personen aus dem polit. u. delte ihn zum religiösen Menschen. Für herkulturellen Leben der Zeit erkennbar nach, vorragende Sprachbeherrschung in seinem u. a. Karl Lueger, Karl Seitz, Ignaz Seipel u. autobiogr. Roman Antäus (Baden-Baden 1929) Arthur Schnitzler. verlieh ihm Alfred Döblin einen ersten Preis B.s Zeitromane (Der Kampf um Wien. Wien der »Literarischen Welt«. In Antäus u. noch in 1923. Nachdr. Wien 1980. Das entfesselte Wien. dem Roman Basalt (Ffm. 1942. Zuletzt St. Wien 1924. Nachdr. Wien 1980) verbinden Ingbert 2003) konfrontiert B. die moderne eine Chronik tagespolit. Ereignisse u. eine Welt des Industriearbeiters mit der bäuerli-

513

Beumelburg

chen. Nach dem Krieg stellt B. subjektivere am Telefon. Bln./DDR 1965. – Städte u. Stationen. Probleme in den Vordergrund seiner Werke. Bln./DDR 1969. Detlef Holland / Red. Im Roman Michaelsblume (Freib. i. Br. 1947) geht es um die mütterl. Opferbereitschaft eiBeumelburg, Werner, * 19.2.1899 Traner Schreinersfrau, u. der Saarland-Roman ben-Trarbach/Mosel, † 9.3.1963 WürzDie schwarze Mitgift (Graz 1956) zeigt das burg. – Offizier, Redakteur u. RomanauScheitern einer Liebe an einer vom Geld betor. herrschten Umwelt. Bis zu seinem Tod verstand sich B. als Der Sohn des Superintendenten Eduard Kämpfer gegen eine materialist. Weltsicht, Beumelburg erwarb 1916 das Notabitur, wobei ihm insbes. die Technik-Euphorie sei- diente im Ersten Weltkrieg zunächst als ner Zeit zum Symbol eines vermeintl. Per- Fahnenjunker eines Pionierbataillons, seit fektionismus wurde. 1917 als Offizier. Dekoriert mit dem Eisernen Weitere Werke: Der gerettete Ikarus. Graz Kreuz 1. u. 2. Klasse, studierte er nach dem 1960 (R.). – Der Mann hieß Lazarus. Stgt. 1960 (R.). Krieg Staatswissenschaften in Köln u. war Literatur: Gesamtbibliogr. v. Hermann Gätje. anschließend in Berlin u. Düsseldorf als ReLiteraturarchiv Saar-Lor-Lux-Elsass. Saarbr. 2002/ dakteur bei der »Deutschen Soldatenzei03. Jürgen H. Koepp tung«, der »Deutschen Allgemeinen Zeitung« u. den »Düsseldorfer Nachrichten« Beuchler, Klaus, * 11.2.1926 Kattnitz/ beschäftigt. Seit 1926 arbeitete er als freier Sachsen, † 24.12.1992 Berlin. – Journalist Schriftsteller, ab 1932 mit Wohnsitz in Berlin. Obwohl kein Parteimitglied, beriefen ihn u. Erzähler. die Nationalsozialisten zum Schriftführer der Nach dem Besuch der Oberschule u. Kriegs- »gleichgeschalteten« Dichterakademie. 1937 dienst wurde B. 1945 Landarbeiter, später erhielt B. den Kunstpreis des Westmarkgaues. Mitarbeiter der Tageszeitung »Freiheit« in Am Zweiten Weltkrieg nahm er als LuftwafHalle. Nach dem Studium war er vielseitig fenoffizier teil u. führte das Kriegstagebuch publizistisch tätig, u. a. für den Deutsch- für Hermann Göring. Seit 1945 lebte er in landsender u. als Rundfunkvertreter beim Würzburg. Europabüro der UN in Genf. B.s Werke entstanden unter dem Eindruck In der Nachkriegszeit war B. einer der der Materialschlachten des Ersten Weltkriegs. führenden Journalisten in der DDR u. machte Seine Kriegsbegeisterung, seine Bemühunsich mit Reportagen wie Schwarzes Land und gen, die dt. Kriegsschuld zu widerlegen (Die rote Fahnen (Bln./DDR 1953) oder Das Dorf in gestohlene Lüge. Charlottenb. 1921) u. seine der Wildnis (Bln./DDR 1955) einen Namen. Als Verklärung des Deutschtums führten ihn in Auslandskorrespondent sammelte er Materi- der Weimarer Republik an die Seite der al für krit. Berichte über die Schweiz (Schwei- »Konservativen Revolution«. In deren Geist zer Bilderbogen. Bln./DDR 1962) u. stellte die arbeitete er als Publizist an einer Heroisiepolit. Auseinandersetzungen über die Remi- rung des deutschnationalen u. völkischen litarisierung der Bundesrepublik Deutsch- Gedankens u. an der Destabilisierung der land dar. Mit ihren parteilichen u. sozialist. Weimarer Demokratie (Deutschland in Ketten. Grundzügen sind B.s Reportagen Zeitzeug- Oldenb. 1931). Erste Erfolge als Schriftsteller nisse für das Selbstverständnis der DDR-Pu- erzielte B. mit seinen Frontromanen Sperrfeuer blizistik der Nachkriegszeit. um Deutschland (Oldenb. 1929) u. Gruppe BoseWeitere Werke: Entscheidung im Morgen- müller (Oldenb. 1930). In ihnen feierte B. grauen. Bln./DDR 1957 (E.). – Die Mission des soldat. Kameradschaft u. Opferbereitschaft Doktor Wallner. Rostock 1972 (R.). – Typ mit Sta- als höchste Tugenden des dt. Nationalchacheln. Bln./DDR 1979. 71989 (Kinderbuch). – rakters. Seit 1932 konzentrierte er sich theHuckleberrys letzter Sommer. Bln./DDR 1987. matisch auf die dt. Geschichte. In seinen 1990 (Kinderbuch). – Reportagen: Der dritte Mann histor. Romanen wie Kaiser und Herzog (Oldenb. 1936) u. Reich und Rom (Oldenb. 1937)

Beuse

erscheint Geschichte als ein Prozess, der seine Vollendung im Dritten Reich erfährt. B. war während des Nationalsozialismus einer der meistgelesenen u. am meisten geförderten Autoren. Nach 1945 schrieb er in einem unverändert traditionellen Stil u. einfacher Bauform Werke, die sich betont unpolitisch geben. Hierzu zählt seine Chronik des Zweiten Weltkriegs Jahre ohne Gnade (Oldenb. 1952), die ganz auf den äußeren Ablauf der Kriegsereignisse beschränkt bleibt. Weitere Werke: Der Kuckuck u. die zwölf Apostel. Oldenb. 1931 (R.) – Bismarck gründet das Reich. Oldenb. 1932 (R.). – Der König u. die Kaiserin. Friedrich der Große u. Maria Theresia. Oldenb. 1937 (R.). – Mont Royal. Ein Buch vom himml. u. vom ird. Reich. Hbg. 1938 (R.). – Nur Gast auf dunkler Erde. Oldenb. 1951 (R.). – [...] u. einer blieb am Leben. Hbg. 1958 (R.). Literatur: Uwe-K. Ketelsen: Völkisch-nat. u. nationalsozialist. Lit. in Dtschld. 1890–1945. Stgt. 1976. – Stefan Busch: ›Und gestern, da hörte uns Dtschld.‹. NS-Autoren in der Bundesrepublik. Kontinuität u. Diskontinuität bei Friedrich Griese, W. B., Eberhard Wolfgang Möller u. Kurt Ziesel. Würzb. 1998. – Heidrun Ehrke-Rotermund: ›Durch die Erkenntnis des Schrecklichen zu seiner Überwindung‹? W. B.: ›Gruppe Bosemüller‹ (1930). In: Thomas F. Schneider u. Hans Wagener: Von Richthofen bis Remarque. Deutschsprachige Prosa zum Ersten Weltkrieg. Amsterd. u. a. 2003, S. 299–318. Ralf Schnell / Ralf Georg Czapla

Beuse, Stefan, * 31.1.1967 Münster. – Prosaautor.

514

zeichnet werden. Ein Interesse an den Möglichkeiten von Erzählregie lässt sich – nach dem linear erzählten erot. Debütroman Ultramarin (Münster 1996) – v. a. in den beiden frühen Veröffentlichungen Wir schießen Gummibänder zu den Sternen (Lpz. 1997) u. Kometen (Köln 2000) erkennen. Während der »Geschichtenroman« Wir schießen Gummibänder zu den Sternen noch unverbunden verschiedene Prosastücke nebeneinanderstellt u. lediglich durch eine scheinbar konstante Erzählerstimme klammert, werden im Roman Kometen diverse Handlungsstränge durch die übergreifende Bedrohung eines sich der Erde nähernden Himmelskörpers miteinander verknüpft. Dieses die Kritik etwa an Robert Altmans Film Short Cuts (1993) erinnernde Verfahren erlaubt es B. zwar, die Episoden handlungsreich auszugestalten, jedoch weisen sie selten über sich selbst hinaus. Eine solche Präferenz der reinen Fabel gegenüber weitergehenden Prägungen ist um die Jahrtausendwende herum häufig mit dem StilEtikett »Neues Erzählen« versehen worden, dem B. zugeordnet werden kann. Die beiden nachfolgenden Romane Die Nacht der Könige (Mchn. 2002) u. Meeres Stille (Mchn. 2003) sind dramaturgisch weniger ambitioniert. Als geschickt konstruierte Psychothriller führen sie ihre Protagonisten aus dem beschützten Alltag heraus in Welten des Unheimlichen u. Traumlogischen, die in beiden Fällen genrekonform eng mit den verdrängten Vergangenheiten der Handlungsträger verknüpft sind.

B. absolvierte eine Ausbildung als Fotograf Literatur: Thomas Kraft: S. B. In: LGL. sowie Volontariate in Werbeagenturen. Bis Florian Kessler 1998 arbeitete er in Münster u. Berlin, später in Hamburg als Texter für die Werbebranche. Beuther, Michael, * 18.10.1522 Karlstadt/ Er lebt in Hamburg. Main, † 27.10.1587 Straßburg. – Jurist; Neben Prosabänden, Romanen u. dem erÜbersetzer u. Lyriker. zählerischen Stadtführer Gebrauchsanweisung für Hamburg (Mchn. 2001) hat B. zuletzt auch Nach Unterricht in Karlstadt, Würzburg u. das Drehbuch einer dt. Filmproduktion in Coburg bezog B. die Universität Marburg Romanform adaptiert (Lautlos – sein letzter (1536–1539), wo er hauptsächlich bei dem Auftrag. Ffm. 2004). Straffe Handlungsfüh- Theologen Johannes Draconites studierte u. rung u. schnörkellos raffender Erzählstil sich hebräischen Sprachstudien widmete. kennzeichnen B.s Schreiben. Insg. können Nach kurzer Lehrtätigkeit in Saalmünster seine Arbeiten als »filmisch« im Sinne kal- wechselte er zur Universität Wittenberg (Imkuliert angewandter Leitmotivtechniken u. matrikulation Sommersemester 1539); dort spannungssteigernder Erzählschnitte be- war bes. Melanchthon sein Lehrer. Nach Er-

515

Beutler

Mehr lokal- u. familiengeschichtl. Bedeuwerb des Magistergrades wurde B. 1546 Professor der Geschichte, Poesie u. Mathematik tung für die Geschichte der Grafen von in Greifswald; 1448–1458 war er Rat des Bi- Wertheim haben die Epigrammatum libri duo schofs Melchior Zobel in Würzburg. Dem (Ffm. 1544). Bemerkenswerter als B.s lat. LyStudium des Rechts u. der Medizin dienten rik ist die hochdt. Übertragung des Reinke de Reisen nach Frankreich u. dann nach Italien, Vos (Ffm. 1544 u. ö.), die B. als Ander Teyl von wo er 1554 den Doktor beider Rechte erwarb. Johannes Paulis Schimpff und Ernst mit bearDabei lernte er Petrus Lotichius Secundus beiteten »Glosen« publizierte, die die »laster kennen, der ihm mehrere Gedichte widmete. straffen« sollten. B. erwarb sich auch große Wie dieser wurde er von Kurfürst Ottheinrich Verdienste um eine Reform der dt. Orthovon der Pfalz nach Heidelberg berufen; dort grafie. fungierte er als Kirchenrat (1559). 1560 zog er Weitere Werke: Ephemeris Historica. Paris sich nach Oppenheim/Pfalz zurück u. über- 1551 (histor. Kalendarium unter Benutzung vieler nahm 1565 einen Lehrstuhl für Geschichte in Quellen, v. a. Cuspinins u. Aventins, dt. erw. als ›Calendarium historicum‹. Ffm. 1557). – AnimadStraßburg. B.s Hauptbedeutung für die Literatur liegt versionum sive disceptationum tam historicarum in seiner Geschichtsschreibung: Er übersetzte quam chronographicarum liber singularis. Straßb. 1593. zum einen Sleidans Kommentare zur ZeitgeAusgaben: Von Reinicken Fuchs. Ffm. 1544. schichte Karls V. ins Deutsche (Johannis SleiNeudr. mit einer Einf. v. Hubertus Menke. Heidelb. dani Wahrhaftige Beschreibung aller Händel, da 1981. – Kurtzbegriffene Anzeygung, vom Leben, sich [...] vnter [...] Keyser Carl dem Fünfften zuge- Stannde u. Wesen [...] Johann Ranzawen Ritters [...] tragen. Ffm. 1559 u. ö.), erweiterte sie um Hainrich Ranzawen, seines Sohns [...] deßgleichen seiner Meinung nach bei Sleidan falsch Be- Daniel Ranzawen, ihrer beyder Bluthesverwanthen richtetes oder Fehlendes u. setzte sie in insg. Vetters [...]. In: Wiebke Steinmetz: Heinrich zwölf Ausgaben bis 1583 fort (wie auch sein Rantzau (1526–98). Ein Vertreter des Humanismus eigenes Werk von dem Hamburger Matthäus in Nordeuropa u. seine Wirkungen als Förderer der Delius 1568 für einen außerdt. Leserkreis mit Künste. Tl. 2, Ffm. 1991, S. 522–539. Literatur: VD 16, B 2425–2460, R 999–1010. – B.s Billigung ins Lateinische übersetzt wurde). Zum anderen erwarb er sich mit mehre- Frank-Rutger Hausmann: Bibliogr. der dt. Überren Arbeiten Verdienste um die histor. Chro- s.en aus dem Italienischen v. den Anfängen bis zur nologie der Hebräer, Athener u. Römer (Fasti Gegenwart. Bd. 1 (2 Teilbde.), Tüb. 1992, Nr. 0485. – Weitere Titel: Virgil Moser: Zu B.s OrthographieHebraeorum, Atheniensium et Romanorum. Basel reform. In: PBB 49 (1924), S. 158–161. – Otto Jung: 1563. Fasti Antiquitatis Romanae. Speyer 1600); M. B. In: NDB. – Ders.: Dr. M. B. aus Karlstadt. Ein schließlich übertrug er die von dem Italiener Geschichtsschreiber des 16. Jh. Würzb. 1957. – DBA Paolo Giovio gepflegte Geschichtsdarstellung 294,315. – Anton Schindling: Humanist. Hochin der Form von Biografien großer Männer schule u. Freie Reichsstadt. Wiesb. 1977, passim. ins Deutsche (Bildnisse viler zum theyle von urHermann Wiegand / Red. alten zum theyle von newlichern Zeiten her [...] berühmter Keyser. Basel 1582; unter anderem Beutler, Ernst (Rudolf), * 12.4.1885 ReiTitel 1587), wobei er sich in der Vorrede an chenbach/Vogtland, † 8.11.1960 FrankKönig Friedrich II. von Dänemark rühmte, furt/M.; Grabstätte: ebd., Hauptfriedhof. Giovio nicht nur übersetzt, sondern durch – Literaturwissenschaftler, Essayist. Hinzuziehung von Quellen aus vier Sprachen wesentlich erweitert zu haben. Die Ausgabe B. entstammte einer sächsisch-thüring. von 1587 ist auch um Lebensbeschreibungen Kaufmannsfamilie. Nach dem Besuch des dänischer Könige erweitert. Friedrich-Gymnasiums in Altenburg stuDer konfessionelle Standpunkt B.s kommt dierte er in Tübingen u. Leipzig Klassische u. in seinen Geschichtswerken immer wieder Deutsche Philologie, Geschichte u. Kunstgezum Tragen, wenn er etwa Marienwallfahr- schichte. 1912–1915 u., nach vierjähriger ten (»Schöne Maria« in Regensburg nach Soldatenzeit, 1918–1925 wirkte er als BiZerstörung der Synagoge 1520) streng tadelt. bliothekar an der Staatsbibliothek Hamburg.

Beutler

516

1925 habilitierte er sich an der dortigen Ffm. 1936. – Essays um Goethe. 2 Bde., Lpz. 1941 Universität. Im selben Jahr erreichte ihn die u. 1947. Zu einem Bd. zusammengefasst: Hg. Berufung zum Direktor des Freien Deutschen Christian Beutler. 7. erw. Aufl. Zürich 1980. – Von Hochstifts in Frankfurt/M., u. diesem Amt ist dt. Baukunst. Goethes Hymnus auf Erwin v. Steinbach, seine Entstehung u. Wirkung. Mchn. B. bis zu seinem Tod treu geblieben. 1943. – Wiederholte Spiegelungen. Drei Essays Zu seinen bedeutendsten Leistungen zäh- über Goethe. Gött. 1957. – Der Kaiserl. Rat, Die len die einer Neugründung gleichkommende Schwester Cornelia, Catharina Elisabeth Goethe. Um- u. Ausgestaltung des Frankfurter Goe- In: Briefe aus dem Elternhaus. Hg. E. B. Zürich the-Museums (1932) sowie der Wiederaufbau 1960. Gesondert: Am Großen Hirschgraben. Goeder Goethestätten am Großen Hirschgraben thes Vater, Schwester u. Mutter, dargestellt v. E. B. (1946–1954) nach deren Zerstörung im Zürich 1981. Zweiten Weltkrieg. Von 1927 bis zur von den Literatur: Benno Reifenberg u. Emil Staiger Nationalsozialisten erzwungenen Entlassung (Hg.): Weltbewohner u. Weimaraner. E. B. zuge1937 wirkte er als Honorarprofessor, dacht. Zürich/Stgt. 1960. – Andreas B. Wachsmuth: 1946–1957 als o. Professor für neuere deut- E. B. In: GoetheJb 23 (1961), S. 371–376. – Chrissche Literatur an der Universität Frankfurt/ toph Perels u. a. (Hg.): E. B. 1885–1960. Ffm. 1985. – Karl R. Mandelkow: Das Goethe-Bild E. B.s. In: M. 1959 wurde B. in den Orden pour le mérite Ges. Aufsätze u. Vorträge zur Klassik- u. Romangewählt, 1960 mit dem Goethe-Preis der tikrezeption in Dtschld. Hg. ders. Ffm. 2001, Stadt Frankfurt am Main u. mit der Ehren- S. 269–286. Christoph Perels / Red. doktorwürde der Universität Rom ausgezeichnet. Mehr als 30 Jahre hat B. als Herausgeber u. Kommentator (Faust und Urfaust. Beutler, Maja, * 8.12.1936 Bern. – Erzäh2. erw. Aufl. Lpz. 1940. West-östlicher Divan. lerin, Romanautorin u. Verfasserin von Lpz. 1943. Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Theaterstücken. Gespräche Goethes. Zürich/Stgt. 1949. Zürich 2 1961. »Jahrbuch des Freien Deutschen B. absolvierte eine Dolmetscherschule in ZüHochstifts«. 1926–40. »Goethe-Kalender«. rich, erwarb 1957 das Diplom u. war danach 1929–43) u. durch seine eigenen Goethe-Es- in verschiedenen Positionen im Ausland täsays das Goethe-Verständnis seiner Epoche tig. Seit 1961 lebt sie in Bern, ist verheiratet u. Mutter dreier Kinder. Sie erhielt u. a. 1983 nachhaltig mitgeprägt. Unprätentiös u. klar in der Darstellung, den Preis der Schweizerischen Schillerstifdabei detailfreudig u. der die Überlieferung tung, 1985 den Welti-Preis für das Drama u. ergänzenden, begründeten Vermutung gern 1988 den Literaturpreis der Stadt Bern. In ihrem ersten Buch, Flissingen fehlt auf der spielerisch nachgebend, neigt B.s Essayistik entschieden zum Erzählerischen. Gestalten Karte. Geschichten (Gümligen 1976), zeichnet aus Goethes Kreis werden porträtiert, Ereig- B. mit knappen Strichen alltägliche, doch nisse u. Zusammenhänge in der Regel am ausweglose Situationen, die alle auf Zerstökonkreten Gegenstand aus der Kunst- u. Le- rung des Individuums durch Absterben des benswelt der Goethezeit entwickelt. Demge- Gesprächs hinauslaufen. B. hat ein genaues genüber tritt der werkdeutende Essay zurück. Gehör für das, was in Dialogen nur angeIn der Literaturwissenschaft dt. Prägung ste- deutet, von den Gesprächspartnern nicht hen B.s Werke vereinzelt; anzuknüpfen sind verstanden oder verleugnet wird. Innere sie vielmehr an die Essayistik Herman Monologe umkreisen, was die Personen in Grimms u. an die dt. Historiografie des 19. der jeweiligen Situation nicht offen zu sagen Jh., deren Darstellungsformen sie ins kleine- vermögen, sei es aus Feigheit oder aus Rückre Genre umsetzen – in Ausschnitte, die ihre sichtnahme. Nachdenkliche Sympathie für Tiefenschärfe oft gerade durch einen indi- ihre Figuren erzielt B. dadurch, dass ihre Texte nie klüger sind als die Menschen, die rekten Goethe-Bezug erhalten. Weitere Werke: Vom griech. Epigramm im 18. sie darstellt. Der Leser wird nicht belehrt, Jh. Lpz. 1909. – Forsch. u. Texte zur frühhumanist. sondern darauf aufmerksam gemacht, dass Kom. Hbg. 1927. – Der Glaube Heinrich v. Kleists. Weggehen nicht hilft: »Ueberlege dir, ob du

517

Beutler

wirklich weiterlesen willst. Es ist dein gutes Bärndütsch u. Deutsch. Zürich 1991. – Lady MacRecht, die Geschichte jetzt aus der Hand zu beth wäscht sich die Hände nicht mehr. Zürich legen [...]. Aber vergiss nicht, dass sie da- 1994 (D.). – Die Stunde, da wir fliegen lernen. Züdurch nicht aufhört, dich zu betreffen: Sie rich 1994 (R.). Literatur: Dominik Müller: Mütter im Selbstwird deine eigene Geschichte werden.« Während in der Geschichte Autobiographischer gespräch. Zu Texten v. Erica Pedretti, M. B. u. Hanna Johansen. In: Mutter u. Mütterlichkeit. Hg. Knopf ein Ich davon träumt, Inhaberin des Irmgard Roebling u. Wolfram Mauser. Würzb. florierenden Geschäfts KNOPF BEUTLER zu 1996, S. 333–345. – Linda Hess-Liechti: ›Das Gewerden um den Preis der Verschwiegenheit – fängnis geht nebenan weiter...‹. Studien zur men»meine Wortkargheit wird mir bleiben, wird talen Gefängnis- u. Befreiungsthematik in Prosavielleicht das Einzige sein, das mich noch an texten v. Margit Baur, M. B. u. Margit Schriber. mich erinnert« –, erzählt der autobiogr. Ro- Stgt. 1996. – Anna Stüssi: M. B. In: KLG. man Fuss fassen (Gümligen 1980) vom Kampf Rudolf Käser / Eva-Maria Gehler gegen einen »KNOTEN IM HALS HINTEN«, der zur lebensbedrohenden Geschwulst wurBeutler, Margarete, verh. Friedrichde. Wenn B. den Zusammenhang von EntFreksa, * 13.1.1876 Gollnow/Pommern, mündigung u. Krebs literarisch gestaltet, tut † 3.6.1949 Gammertingen. – Lyrikerin, sie das Gegenteil von dem, was Susan Sontag Dramatikerin, Erzählerin. in ihrem Essay Krankheit als Metapher kritisiert. Bei B. wird keine unheilbare Krankheit B. wuchs zunächst in Gollnow auf, wo der mit unheimlichem Sinn aufgeladen, es geht Vater Bürgermeister war, u. später in Berlin. vielmehr um das Aufgebot aller Kräfte, auch Dort besuchte sie ein Lehrerinnenseminar. der krit. Sinngebung u. der subjektiven Bil- 1897 erschienen ihre ersten Gedichte u. Proder, gegen sie. Heilung als bloße Wiederher- sastücke im »Simplizissimus«. 1902 veröfstellung wäre zu wenig: »Nicht die Freude fentlichte sie ihren ersten viel beachteten 2 müsste garantiert sein, aber endlich die Gedichtband (Gedichte. Bln. 1902. 1903). Rückhaltlosigkeit.« Mit dieser Einstellung Nach der Geburt eines Sohnes übersiedelte B. rennt die Kranke gegen die Tabus an. Aller- nach München u. arbeitete als Redakteurin dings muss sie auch Schweigen lernen aus der Zeitschrift »Jugend«. Sie heiratete den notwendiger Rücksichtnahme. Im Schreiben Schriftsteller Kurt Friedrich-Freksa (dieser eines fiktiven Gesprächs mit ihrem verstor- Verbindung entstammt ein weiterer Sohn) u. benen Vater – »ausgerechnet du kommst als gehörte mit ihm zur Münchner Boheme, war Leser dieser Beschwörung nicht mehr in befreundet mit Morgenstern, Wedekind, MiFrage, deshalb ist der Satz nichts weiter als chael Georg Conrad u. Georg Hirth. Während Literatur« – macht die Kranke sich auf die der Münchner Jahre veröffentlichte sie zwei Suche nach dem rechten Verhältnis von Re- weitere Gedichtbände (Neue Gedichte. Mchn. den u. Schweigen. Im Schneider Pedroni trifft 1908. Leb wohl, Bohème. Mchn. 1911), die ihre sie auf einen, der angesichts des Sterbens Le- vielseitige Begabung zeigen. Neben die vom Naturalismus geprägte sozialkrit. Großbensweisheit gelernt hat. 1983/84 war B. Hausautorin am Stadt- stadtlyrik u. die Liebesdichtung, die leidentheater Bern u. legte seitdem mehrere Thea- schaftliches Verlangen u. auch in leisen Töterstücke vor. In den 1990er Jahren erschie- nen Liebessehnsucht zum Ausdruck bringt, nen zwei Sammlungen mit Radiotexten: Bei- tritt die Gestaltung neuer Motive, wie z.B. derlei (Zürich 1991) u. Tagwärts (Zürich 1996), widersprüchl. Gefühle des Mutterwerdens, Zusammenstellungen von sowohl berndeut- Erfahrung der Fremdbestimmung der Frau u. ihre Suche nach Identität. Hinzu kommen schen als auch hochdt. Texten. Weitere Werke: Die Wortfalle. Zürich/Köln in zunehmend freieren Rhythmen Gedichte, 1983 (R.). – Das Marmelspiel. Ffm. 1985 (D.). – die um Lebensgenuss u. -überdruss in Wärchtig. Texte zum neuen Tag. Gümligen 1986 Künstler- u. Bohemezirkeln kreisen. Ihre (Mundartprosa). – Das Bildnis der Dona Quichotte. späte Lyrik zeigt einen immer deutlicher Zürich 1989. – Beiderlei: Texte zum neuen Tag. hervortretenden Stimmungscharakter, in

Beuvius

518

Naturbildern vergegenwärtigte Erfahrungen u. Abschreckungsfiguren als Verkörperung des Gegensatzes von Gut u. Böse) überspielt des Älterwerdens u. der Vereinsamung. Nach ihrer Scheidung von Friedrich-Freksa der Autor die latente gesellschaftl. Antinomie lebte B. sehr zurückgezogen. Sie entschied zwischen Adel u. Bürgertum durch den sich nach der Machtergreifung der National- empfindsamen »Lobpreis des Seelenadels«. sozialisten gegen den Eintritt in die Reichs- Über den Augenblickserfolg hinaus war dem schrifttumskammer u. verzichtete damit auf Roman keine Nachwirkung beschieden. weitere Veröffentlichungen. Ihr umfangreiWeitere Werke: Der Eigensinn des Glücks in cher Nachlass enthält unveröffentlichte Ge- den außerordentl. Begebenheiten des Barons v. dichte u. fiktive u. autobiogr. Prosa sowie T***. Bln. 1775. – Louise van H*** oder der Triumph unveröffentlichte Theaterstücke wie Die Kät- der Unschuld. 2 Tle., Bln./Lpz. 1775. – Reinhold u. terle von Leonberg, in der sie die Geschichte der Sophie. Eine Gesch. in Originalbriefen. Bln./Lpz. Katharina Kepler, Mutter des Astronomen 1783. Literatur: Eva D. Becker: Der dt. Roman um Johannes Kepler, aufgreift, die der Hexerei 1780. Stgt. 1964. angeklagt wurde, u. Das Lächeln der Frau Li, Adrian Hummel / Red. dessen Handlung auf eine altchines. Legende zurückgeht. Beyer, Johann August von (geadelt 1786), Weitere Werke: Das Lied des Todes. Mchn. 1913 (Versd.). – Herausgeberin: Hans Jakob Christoph v. Grimmelshausen: Trutz-Simplex oder Ausführl. u. wunderseltsame Lebensbeschreibung der Erzbetrügerin u. Landstürzerin Courage. Mchn. 1921. – Übersetzungen: Clement Marots Epigramme. Mchn. 1908. – M. B. u. a.: Molière. Sämtl. Werke in 6 Bdn. Mchn. 1917. Literatur: Albert Soergel u. Curt Hohoff: Dichtung u. Dichter der Zeit. Vom Naturalismus bis zur Gegenwart. Bd. 1, Düsseld. 1964, S. 300 f. Gisela Brinker-Gabler / Red.

Beuvius, Adam, * unbekannt, † nicht nach 1800 Berlin. – Verfasser von Familienromanen. B. bekleidete das Amt des Schreibmeisters beim Adeligen Kadettenkorps in Berlin. Dort verstarb er wohl zwischen 1783 u. 1800; nähere Lebensumstände sind unbekannt. B., der ausschließlich anonym publizierte, trat mit Familienromanen in der Tradition Samuel Richardsons hervor. Einen großen Publikumserfolg erzielte sein empfindsamdidakt. Prüfungsroman Henriette oder der Husarenraub. In Briefen bey Gelegenheit des gegenwärtigen Krieges (3 Tle., Bln. 1779. 31780. Neudr. Ffm. 1971), der dramatisiert u. mehrfach übersetzt wurde; in der engl. Version wurde als Verfassername sogar Wieland angegeben. Ohne die genretypische Breite in der briefl. Mitteilung u. ohne Psychologisierungseffekte, dafür unter Einsatz der herkömml. Tugend-Laster-Opposition (Vorbild-

* 3.2.1732 Halberstadt, † 14.9.1814 Berlin. – Lyriker. Nach einem Studium der Rechtswissenschaften trat B. in den preuß. Staatsdienst u. wurde Kammersekretär, dann Kriegs- u. Domänenrat in Halberstadt. 1766 ging er als Geheimer Kriegs- u. Oberfinanzrat nach Berlin, wo er schließlich als Erster Direktor der Gesetzeskommission u. des Präsidenten des Oberrevisionskollegiums fungierte. In seinen beiden Lyriksammlungen, die er 1756 auf eigene Kosten drucken u. anonym erscheinen ließ (Kleine Lieder. Bln./Magdeb. Vermischte Poesien. Ffm./Lpz.), zeigte er sich als Anakreontiker u. Rokokolyriker im Anschluss an Hagedorn, Uz, Lessing (Kleinigkeiten. 1751) u. v. a. Gleim, dem er auch die Kleinen Lieder widmete. Formal gab B. gereimten Versen gegenüber reimlos anakreontischen den Vorzug u. verwandte auffallend häufig freie Verse mit variierender Silbensumme (»vers libres«) sogar in lyrischepigrammat. Kleingebilden. Karl Wilhelm Ramler nahm mehrere Gedichte B.s in seine berühmte Anthologie Lieder der Deutschen (1766. Neudr. 1965) auf. Noch in den 1780er u. 1790er Jahren erschienen manche Gedichte B.s in der »Berlinischen Monatsschrift« u. im »Berlinischen Musenalmanach«. Literatur: Alfred Anger: Literar. Rokoko. Stgt. 1968. – Christoph Perels: Studien zur Aufnahme u. Kritik der Rokokolyrik zwischen 1740 u. 1760. Gött. 1974. Alfred Anger / Red.

2

519

Beyer, Marcel, * 23.11.1965 Tailfingen/ Württemberg. – Verfasser von Romanen, Erzählungen, Gedichten, Essays. Als einer der konsequentesten Autoren, die sich mit dem Verhältnis von Gedächtnis u. Medien befasst haben, gehört B. zu den Hauptvertretern der neuen dt. Erinnerungsliteratur. Es geht ihm, dem »Nachkommen von Schweigegeneration und Antwortgeneration«, um die Nachwirkungen der Zeit des Nationalsozialismus, um die Frage, mit welchen audiovisuellen Medien diese Geschichte gespeichert, überliefert u. in der Gegenwart interpretiert wird. B.s Romane sind ebenso spannende wie ästhetisch anspruchsvolle Geschichtslektionen ohne Lehre; sie repräsentieren die Erinnerungsweise seiner Generation, von der die Vergangenheit weder erlebt noch bewältigt wird, sondern »ausspioniert« u. »aus den historischen Daten und der unmerklich mit Erfindung angereicherten Erinnerung« zusammengesetzt werden muss, wie es in B.s Essayband Nonfiction (Köln 2003) heißt. B.s literar. Anfänge stehen unter dem Einfluss des frz. Nouveau Roman. Der Debütroman Das Menschenfleisch (Ffm. 1991) ist eine Liebesgeschichte der experimentellen Art, in der Gefühle als Kontakte zwischen »Sprachkörper und Körpersprache« inszeniert werden. Mit dem Folgeroman Flughunde (Ffm. 1995) gelang B. auf Anhieb der Durchbruch. Das mehrfach übersetzte u. ausgezeichnete Buch erzählt die Geschichte des Nationalsozialismus aus der Doppelperspektive eines (historisch verbürgten) Wachmanns im Führerbunker – des Tontechnikers Karnau – u. der ältesten Goebbels-Tochter Helga; beide kommen in den Tagen des Untergangs des »Dritten Reiches« im Berliner Führerbunker zusammen. Indem der Mitläufer, der seine Mikrofone in Beichtstühlen, Folterkellern u. Schützengräben aufstellt u. grausame Experimente mit menschl. Stimmen anstellt, zum Täter, die Tochter des Propagandaministers zum Opfer des Familiensuizids wird, demonstriert B. die moral. Dimension des Umgangs mit der Geschichte. Zgl. entwirft der Roman eine akust. Mediengeschichte der NSZeit. Die (technisch-pseudomedizinisch) ab-

Beyer

gehörte, (phonografisch) gespeicherte, (im Radio) aufgepeitschte menschl. Stimme ist Gradmesser der Gewalt, die der Sprache in der Diktatur angetan wird. Der dritte Roman Spione (Köln 2000) rekonstruiert ebenfalls eine Geschichte aus der NS-Zeit. Sie handelt von einem Familiengeheimnis, das auf drei Zeitebenen gelüftet wird: Die Jugendlichen, die im »Deutschen Herbst« 1977 aufgrund von Lücken in der Familiengeschichte auf die Vergangenheit ihrer Großeltern aufmerksam werden, nehmen als Erwachsene in der Erzählgegenwart der 1990er Jahre ganz unterschiedl. Positionen zu dieser Vergangenheit ein. Zwischen fanat. Wahrheitsliebe, Spekulations- u. Erfindungsgeist, totalem Schweigen gibt es so viele Versionen der »Wahrheit«, dass man nur erfährt, der Großvater sei Mitgl. der Geheimoperation »Condor« u. vermutlich an der Bombardierung von Guernica beteiligt gewesen. B.s Fokus liegt auf den – oft lückenhaften oder unvollständigen – Bildern, in denen die Geschichte tradiert u. perspektiviert wird: Familienfotografien, Fernsehbilder, Picassos »Guernica«. Auch die von Paul Celan u. Friederike Mayröcker beeinflusste Lyrik B.s führt an dt. u. europ. Erinnerungsorte. Die Bände Falsches Futter (Ffm. 1997) u. Erdkunde (Köln 2002) arbeiten an einer Archäologie des 20. Jh., indem sie Mythen u. Legenden der Zeitgeschichte aufdecken u. auf die »Schürfstellen« des europ. Erinnerungsraumes hinweisen. Die an histor. Zitaten u. literar. Anspielungen reichen Texte erschließen auf engstem Raum geschichtl. Zusammenhänge, sind aber in ihrer Collage-Form nicht immer leicht zu entschlüsseln (z.B. der Weinheber-Zyklus im ersten u. die Baltikum-Gedichte im zweiten Lyrikband). Für sein Werk ist B. mit zahlreichen Preisen gewürdigt worden: Dem Rolf-Dieter-Brinkmann-Stipendium u. dem Ernst-WillnerPreis beim Klagenfurter Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb (1991) folgten u. a. der Uwe-Johnson-Preis (1997), der Heinrich-BöllPreis (2001), der Tübinger Friedrich-Hölderlin-Preis (2003) u. der Erich-Fried-Preis (2006).

Beyerlein

520

Weitere Werke: Obsession. Bonn 1987 (P.). – Kleine Zahnpasta. Gedichte 1987–89. Paris 1989. – Buchstabe Geist Buchstabe. 12 hilflose Einbrüche ins Textgeschehen. Köln 1990 (L.). – Walkmännin. Gedichte 1988/89. Ffm. 1991. – Friederike Mayröcker. Eine Bibliogr. 1946–90. Ffm. 1992. – Brauwolke. Gedichte. Bln. 1994. – Vergeßt mich. Köln 2006 (E.). – Editionen und Übersetzungen: Grosz – Berlin. Autobiographisches, Bilder, Briefe u. Gedichte (mit Karl Riha). Hbg. 1993. – Rudolf Blümner: Ango laïna u. andere Texte (mit K. Riha). Mchn. 1993. – Gertrude Stein: Spinnwebzeit. / Bee time vine u. andere Gedichte. Aus dem Engl. mit Andreas Kramer u. Barbara Heine. Zürich 1993. – Michael Hofmann: Feineinstellungen. Gedichte. Aus dem Engl. Köln 2001. – William S. Burroughs (mit A. Kramer). Eggingen 1995. – Friederike Mayröcker: Ges. Prosa (mit Klaus Reichert u. Klaus Kastberger). 5 Bde., Ffm. 2001. – Dies.: Ges. Gedichte. Ffm. 2004. – Tonbandkassetten: Umherschweifen, Beute machen. Arbeiten auf bewegl. Grund (mit Brion Gysin). Mchn. 1999. Literatur: Ulrich Schönherr: Topophony of Fachism: On M. B.’s ›The Karnau tapes‹. In: GR 73 (1998), H. 4, S. 329–348. – Bernd Künzig: Schreie u. Flüstern – M. B. Roman ›Flughunde‹. In: Baustelle Gegenwartslit. Die neunziger Jahre. Hg. Andreas Erb. Opladen 1998, S. 122–153. – Marc-Boris Rode (Hg.): Auskünfte v. u. über M. B. Bamb. 2000 (mit Bibliogr.: S. 164–179). – Thomas Kraft: M. B. In: LGL. – Helmut Böttiger: M. B. Die neue Erdkunde. In: Ders.: Nach den Utopien. Eine Gesch. der deutschsprachigen Gegenwartslit. Wien 2004, S. 184–194. – Stefanie Harris: Imag(in)ing the Past: The Family Album in M. B.’s ›Spione‹. In: Gegenwartslit. 4 (2005), S. 162–184. – Matthias Uecker: Der Nationalsozialismus als Objekt der Faszination in den Romanen M. B.s. In: Wende des Erinnerns? Geschichtskonstruktionen in der dt. Lit. nach 1989. Hg. Barbara Beßlich u. a. Bln. 2006, S. 53–68. – Michael U. Braun: B. In: KLG (mit Bibliogr.). Michael U. Braun

Beyerlein, Franz Adam, * 22.3.1871 Meißen, † 27.2.1949 Leipzig; Grabstätte: ebd., Neuer Johannisfriedhof. – Verfasser von Romanen u. Dramen. In Freiburg i. Br. u. Leipzig studierte B. Philosophie, Philologie, Rechts- u. Staatswissenschaften. Er lebte als freier Schriftsteller in Leipzig. Die Werke B.s stehen in der Tradition des Naturalismus. Sein antimilitaristischer Ro-

man Jena oder Sedan (Bln. 1902) wurde ein Bestseller, denn er kam der pazifist. Überzeugung vieler Zeitgenossen entgegen. B.s erfolgreiche Texte sind oft kolportagehaft überzeichnet. Mit seiner sich bürgerlich-liberal gebenden Kritik zielt B. ausschließlich gegen Auswüchse des preuß. Militarismus. Seine spätere Prosa – O Deutschland, heil’ges Vaterland. Erzählungen aus dem Weltkrieg (Heilbr. 1915) oder der Roman Friedrich der Große (3 Bde., Lpz. 1922–24) – war zunehmend staatskonform u. konnte die frühen Erfolge nicht mehr erreichen. Weitere Werke: Das graue Leben. Mchn. 1902 (R.). – Zapfenstreich. Bln. 1903 (D.). – Similde Hegewalt. Bln. 1904 (R.). – Stirb u. werde. Bln. 1910 (R.). – Kain u. Abel. Lpz. 1926 (D.). – Land will leben. Burg 1933 (R.). – Der Ring des Lebens. Lpz. 1938 (R.). – Die Haselnuß. Lpz. 1940 (R.). – Johanna Rosina. Lpz. 1942 (R.). Literatur: Julius Zeitler u. a.: Die Treffstunde. FS F. A. B. Lpz. 1931. Frank Raepke / Red.

Beyse, Jochen, * 15.10.1949 Bad Wildungen. – Romanautor u. Erzähler. B. studierte in Köln Theaterwissenschaften, Philosophie u. Germanistik u. promovierte über Siegfried Kracauer. Er lebte viele Jahre in Hamburg, bevor er sich 1992 in Berlin niederließ; 1988 war er Stipendiat der Villa Massimo in Rom. Seine Prosaarbeiten sind durchweg ungewöhnl. Reiseberichte, die ein Ich-Erzähler rückblickend notiert. Das entlegene Terrain, das sprachlich entfaltet wird (seien es die Karibik, die afrikan. Tropen oder die Osterinseln), erweist sich dabei auch als innere Landschaft des Kopfes. In der topografischen Beschreibung einer exot. Welt leuchtet das bizarre Innenleben eines isolierten Erzählers auf. Die Grenzen zwischen Fiktion u. Wirklichkeit verschwimmen. B.s Absicht ist es, dem Ordnungs- u. Systematisierungszwang des Verstandes andere Formen der Wirklichkeitserfassung entgegenzusetzen. Zwanghaft oder spielerisch übertreten seine Protagonisten daher in ihren fantasievollen Selbstinszenierungen die philosoph. Kategorien von Raum, Zeit u. Person. Die tragisch-komischen Kopfreisen der sich erinnernden oder fantasierenden Erzähler

521

konstituieren Nebenwelten, die sich in dem Spiel- u. Assoziationsraum der Sprache als Gegenrede, als Akt der Selbstbehauptung zeigen. In seiner anspruchsvoll-artifiziellen Erzählweise spiegeln sich die poetologischen u. theoret. Diskurse der letzten Jahrzehnte. Weitere Werke: Der Ozeanriese. Reinb. 1981 (R.). – Der Aufklärungsmacher. Mchn. 1985 (N.). – Das Affenhaus. Mchn. 1985 (E.). – Ultima Thule. Mchn. 1987 (P.). – Die Tiere. Mchn. 1988 (E.). – Ultraviolett. Ffm. 1990 (E.) – Larries Welt. Ffm. 1992 (R.). – Bar Dom. Ffm. 1995 (E.en). – Ferne Erde. Ffm. 1997 (E.). – Fremdenführung. Ffm. 2001 (E.). LIteratur: Hubert Winkels: Der ewige Junggeselle: J. B. u. die Endlosschleifen der Vernunft. In: Ders.: Einschnitte. Köln 1988, S. 78–97. – Matthias Auer: J. B. In: KLG. – Petra Ernst: J. B. In: LGL. Hans Martin Hennig / Red.

Bezzel, Chris, * 18.1.1937 Wetzhausen/ Unterfranken. – Literaturkritiker, Verfasser experimenteller Texte. B. studierte 1956–1962 Germanistik u. Altphilologie in Freiburg i. Br., Berlin u. Erlangen u. promovierte mit einer Arbeit über Kafka (Natur bei Kafka. Nürnb. 1964). 1965–1967 war er Verlagslektor in Frankfurt u. 1967–1972 Lektor in London u. Birmingham. Seit 1973 lebt B. in Hannover, wo er an der Leibniz-Universität Linguistik lehrt. B. publizierte Lyrik u. Prosatexte in Zeitschriften, Anthologien u. separaten Ausgaben. Außerdem ist er als Rundfunkautor u. Literaturkritiker tätig u. veröffentlichte u. a. Bücher zu Leben u. Werk Wittgensteins (als Herausgeber: Sagen und Zeigen. Bln. 2005; als Verfasser: Wittgenstein zur Einführung. Hbg. 4 2000). Zentrales Thema in B.s literar. Texten ist die Selbstentfremdung des Menschen. Seine Gedichte sind der experimentellen Lyrik zuzurechnen (Grundrisse. Neuwied 1968). In der Prosa dominieren die Stilmittel der Collage u. Montage. Weitere Werke: Karin. Steinbach 1971 (P.). – Kerbtierfresser. Neuwied 1972 (P.). – Die Freude Kafkas beim Bügeln. Die Freude Mozarts beim Kegeln. Die Freude Bismarcks beim Stricken. Eine Trilogie. Mchn. 1972. – Kafka-Chronik. Daten zu Leben u. Werk. Mchn./Wien 1975. – Weißverlassen steinig. 87 Texte. Hann. 1983. – 99 Gedichte.

Bibliander Hann. 1987. – Salz u. Sonne. Hann. 1987. – Bordbuch. Bodenheim 1995. – Intermezzo. Linz/Wien 1995. Literatur: Klaus Peter Harmening: C. B. In: KLG. Heino Freiberg / Fridtjof Küchemann

Bibliander, Theodor, eigentl.: Joder Buchmann, * 1505 (oder 1506) Bischofszell, † 26.9.1564 Zürich. – Reformierter Theologe u. Sprachgelehrter. B. studierte in Zürich u. Basel. Seinen Lehrern im Griechischen u. Hebräischen, Oswald Myconius u. Konrad Pellikan, blieb er freundschaftlich verbunden. Lebenslang erweiterte er seine Sprachkenntnisse; u. a. beschäftigte er sich mit dem Gotischen, dem Äthiopischen, mit slaw. u. semit. Sprachen. 1527–1529 dozierte er Rhetorik in Liegnitz/ Schlesien. 1531 übertrug ihm der Zürcher Rat Zwinglis theologische (alttestamentliche) Professur. 1560 wurde er seines Amtes enthoben, weil er als Vertreter eines von Erasmus geprägten Heilsuniversalismus die augustin. Prädestinationslehre seines Kollegen Pietro Martire Vermigli bekämpft hatte. Wie fast seine ganze Familie starb er an der Pest. Der Spekulationen abgeneigte B., der sich selbst als »homo grammaticus« bezeichnete, begründete durch seine Vorlesungen die philologisch-historisch-religionsvergleichende Exegese in der Schweiz. Fast dreimal legte er das AT (1532–1539, 1539–1552, 1552–1560) u. dazwischen 1543/44 die Apokalypse aus. Die Ergebnisse der Apokalypsevorlesungen enthält die Relatio fidelis (Basel 1545. Internet-Ed.: Slg. Hardenberg) über, so im Untertitel, »die einzig aus Gottes Wort und Christus kommende rechte Erkenntnis der gegenwärtigen und zukünftigen Dinge, des Antichrists und der richtigen Gestaltung des Lebens«. Abgesehen von dieser Schrift sowie von einer Nahum-Übersetzung (Zürich 1534), der Fertigstellung des AT in der von Leo Jud begonnenen lat. Zürcher Bibel (1543) u. Quomodo legere oporteat sacras scripturas (Basel 1550) stehen B.s Veröffentlichungen nicht in Zusammenhang mit den Vorlesungen, die durch Nachschriften Pellikans, Bullingers, Gwalthers u. a. über den Hörerkreis hinaus

Bibra

522

verbreitet wurden. (Konzepte haben sich er- Zentralbibl. Zürich II, Zürich 1931–82. – Joachim Staedtke: Der Zürcher Praedestinationsstreit v. halten.) Hohe Achtung verschaffte sich B. durch 1560. In: Zwingliana IX/9 (1953), S. 536–546. – seine Einführung in die hebräische Gram- Kurt Guggisberg: T. B. In: NDB. – Manfred Peters: T. B. ›De ratione communi [...].‹ In: Archiv 221 matik (Zürich 1535), durch den De optimo ge(1984), S. 1–18. – Harry Clark: The Publication of nere grammaticorum Hebraicorum commentarius the Koran in Latin, a Reformation Dilemma. In: (Basel 1542) u. sein Hauptwerk De ratione Sixteenth Century Journal 15 (1984), S. 3–12. – communi omnium linguarum et literarum com- Hartmut Bobzin: Zur Anzahl der Drucke v. B.s mentarius, cui adnexa est compendiaria explicatio Koran-Ausg. 1543. In: Basler Ztschr. für Gesch. u. doctrinae recte beateque vivendi et religionis om- Altertumskunde 85 (1985), S. 213–219. – Peter G. nium gentium atque populorum (Zürich 1548). Bietenholz in: Contemporaries 1, S. 145 f. – Irena Darin hob er die Verwandtschaft vieler Spra- Backus: Guillaume Postel, T. B. et le ›Protévangile chen u. die Gemeinsamkeiten der Religionen de Jacques‹. In: Apocrypha 6 (1995), S. 7–65. – H. Bobzin: Der Koran im Zeitalter der Reformation. hervor, um die Einigung der Menschheit u. Studien zur Frühgesch. der Arabistik u. Islamkundie Verehrung Gottes in einer Sprache zu de in Europa. Stgt. 1995. – Heinz Scheible in: RGG fördern. Sprachkenntnisse sah er als Mittel 4. Aufl. Bd. 1, Sp. 1538 f. – Manfred Peters: Das 16. an, die Sprachverwirrung aufzuheben. Jh. als sprachtheoret. Epochenschwelle: T. B. u. Früh setzte er sich für die Mission ein u. Conrad Gessner. In: Aufgaben einer zukünftigen zeigte, dass genaue Kenntnis fremder Reli- Sprachgeschichtsforsch. Betreut v. Norbert Richard gionen die Voraussetzung sei, die in ihnen Wolf u. a. Bern 2002, S. 113–118. – T. B. (1505–64). enthaltenen Irrtümer zu widerlegen: Ange- Ein Thurgauer im gelehrten Zürich der Reformationszeit. Hg. Christine Christ-v. Wedel. Zürich sichts der Türkengefahr gab er eine Consulta2005. – Hans-Martin Kirn: Humanismus, Refortio, quanam ratione Turcarum dira potentia repelli mation u. Antijudaismus. Der Schweizer Theologe possit ac debeat a populo Christiano (Basel 1543) T. B. (1504/09–64). In: Bundeseinheit u. Gottesu. eine lat. Übersetzung des Korans aus dem volk. Reformierter Protestantismus u. Judentum 12. Jh. mit einigen Gegenschriften heraus im Europa des 16. u. 17. Jh. Hg. Achim Detmers. (Machumetis [...] doctrina, ipseque Alcoran [...]. Wuppertal 2005, S. 39–58. Kurt Jakob Rüetschi His adiunctae sunt confutationes. Basel 1543. 2 1550). 1550–1555 richtete er mehrere polem. Bibra, Ernst Frhr. von, * 9.6.1806 Druckschriften gegen das Tridentinische Schwebheim bei Schweinfurt, † 5.6.1878 Konzil u. gegen das Papsttum, in dem er die Nürnberg. – Naturforscher; Reise- u. Verkörperung des Antichrist sah. Bedeutsam Unterhaltungsschriftsteller. sind auch De ratione temporum (Basel 1555), ein Versuch der Geschichtsperiodisierung, u. die B., aus fränkischem Adelsgeschlecht, studierte Jura, dann Chemie u. NaturwissenEditionen des Briefwechsels Oekolampads u. schaften in Würzburg. Auf diesen Gebieten Zwinglis (Basel 1536) sowie des Protoevangepublizierte er bedeutende Forschungsbeiträlium [...] divi Jacobi minoris (Basel 1551). Viele ge, namentlich zur Lebensmittelchemie, Schriften, darunter in dt. Sprache verfasste Heilkunde u. Meeresforschung. 1849/50 beGedichte, blieben Manuskript. reiste er Südamerika, von wo er eine reiche Ausgaben: Oratio [...] de restituenda pace in naturhistorische u. ethnograf. Sammlung germanico imperio [...]. Basel 1553, u. De fatis mitbrachte. Er nahm dann ständigen Wohnmonarchiae romanae somnium vaticinum Esdrae Prophetae [...]. Basel 1553. Internet-Ed.: Slg. Har- sitz in Nürnberg u. veröffentlichte landeskundlich wertvolle Reisebeschreibungen denberg. (Reise in Südamerika. 2 Bde., Mannh. 1854), die Literatur: VD 16, B 5313–5335, K 2583–2586. – Weitere Titel: Emil Egli: B.s Leben u. Schr.en. In: er zunehmend in Romanform kleidete. Seit Ders.: Analecta reformatoria 2. Zürich 1901, 1862 widmete sich B. ausschließlich einer S. 1–144. – Rudolf Pfister: Das Türkenbüchlein T. Belletristik, die vordergründig spannende B.s In: Theolog. Ztschr. 9 (1953), S. 438–454. – Handlung mit einem belehrenden Inhalt Ernst Gagliardi u. Ludwig Forrer: Kat. der Hss. der verband.

523

Mit Charles Sealsfield u. Friedrich Gerstäcker gehört B. zu den »authentischen« Reiseschriftstellern des 19. Jh. (im Gegensatz etwa zu Karl May u. Ferdinand Kürnberger), kann aber nicht auf gleich lange u. intensive Auslandsaufenthalte zurückgreifen u. erreicht nicht die gleiche atmosphär. Dichte der Darstellung. B.s literar. Produktion ist ansehnlich: Bis 1875 legte er jährlich ein neues, meist mehrbändiges Werk vor. Er schrieb nicht nur Reiseliteratur, sondern auch Novellen, Abenteuer-, Liebes- u. histor. Heimatromane u. verwandte u. a. das Motiv der »kulturellen Umkehrung« (vgl. Montesquieus Lettres Persanes von 1721), ohne allerdings die exot. Perspektive des Fremden, der sich erstmals mit der modernen Zivilisation konfrontiert sieht, zu nennenswerter Kulturkritik zu nutzen (Die Abenteuer eines jungen Peruaners in Deutschland. 3 Bde., Jena 1870). Die Frauen- u. Ehethematik findet sich v. a. in B.s späterem Werk, das insg. der Trivialliteratur zugerechnet wird u. heute nahezu unbekannt ist. Weitere Werke: Die narkot. Genußmittel u. der Mensch. Nürnb. 1855. Nachdr. Holzminden 1995. – Erinnerungen aus Südamerika. 3 Bde., Lpz. 1861. – Aus Chiliy, Peru u. Brasilien. 3 Bde., Lpz. 1862. – Ein Juwel. 3 Bde., Lpz. 1863 (R.). – Tzarogy. 3 Bde., Jena 1865 (R.). – Ein edles Frauenherz. 3 Bde., Jena 1866 (R.). – Erlebtes u. Geträumtes. 3 Bde., Jena 1867 (N.). – Der Schatzgräber. 3 Bde., Jena 1867 (R.). – Aus jungen u. alten Tagen. Erinnerungen. 3 Bde., Jena 1868. – El paso de los animas. 2 Bde., Lpz. 1870 (R.). – Brautstand u. Verehelichung – Ein geheimnisvoller Weg. 2 Erzählungen. Ellwangen 1874. – Wackere Frauen. 3 Bde., Jena 1876. Literatur: Werner Schultheiß: E. Frhr. v. B. In: NDB. – Bernd Steinbrink: Abenteuerlit. Tüb. 1983. – Goedeke Forts. Christian Schwarz / Red.

Bichsel, Peter, * 24.3.1935 Luzern. – Erzähler, Publizist. Nach seiner Ausbildung am Lehrerseminar Solothurn arbeitete B. bis 1968 als Volksschullehrer. 1963/64 nahm er an einem Schreibkurs unter Leitung von Walter Höllerer teil. Ab 1965 entfaltete B. neben seiner literarischen eine engagierte publizist. Tätigkeit. 1973–1981 war er Berater des sozialdemokrat. Bundesrates Willi Ritschard. B.

Bichsel

erhielt u. a. den Preis der Gruppe 47 (1965), den Johann-Peter-Hebel-Preis des Landes Baden-Württemberg (1986), den Gottfried-Keller-Preis (1999) sowie den Charles-VeillonEssaypreis für seinen Kolumnenband Alles von mir gelernt (Ffm. 2000); 2004 wurde ihm die Ehrendoktorwürde der Theolog. Fakultät der Universität Basel verliehen. Seit Mitte der 1980er Jahre hatte B. mehrere Gastdozenturen inne u. leitete Gastseminare, u. a. in den USA u. Spanien; 1995 hielt er sich als writer in residence an der Universität Swansea in Wales auf. 1981/82 war er Stadtschreiber von Bergen-Enkheim, 1996 von Mainz. B. hat mit kleineren Produktionen auch fürs Fernsehen u. Radio gearbeitet (1972 verfasste er fürs Schweizer Radio DRS sein einziges Hörspiel Inhaltsangabe der Langeweile). Er lebt in Bellach bei Solothurn. B. ist als Geschichtenerzähler populär geworden. Seine scheinbar einfachen Erzählungen sind mit Kunstverstand u. sprachkritischem Bewusstsein geschrieben. 1968 korrigiert B. im Essay Die Geschichte soll auf dem Papier geschehen (»Akzente« 5, 1968. Neudr. in: Auskunft für Leser. Darmst./Neuwied 1982) das Missverständnis, er schreibe naiv: »Ich beschreibe nicht den Tisch, sondern ich schreibe Sätze, die es über einen Tisch zu sagen gibt. ›Was sagen die Leute von einem Tisch?‹ und nicht ›Was ist ein Tisch?‹. Mich interessiert nicht die Wirklichkeit, sondern das Verhältnis zu ihr.« In seinen Frankfurter Poetik-Vorlesungen Der Leser. Das Erzählen (Darmst./Neuwied 1982) weist B. darauf hin, dass Geschichten weder erfunden sind noch einfach abbilden, was ist: »Das Erzählen, nicht sein Inhalt ist das Ziel der Literatur.« Erzählen im Sinne B.s ist nicht Wiedergabe der Realität, sondern Trost über deren Ungenügen. Das schmale Bändchen, mit dem B. berühmt wurde, trägt den Titel Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen. 21 Geschichten (Olten/Freib. i. Br. 1964). B. stellt Zustände dar, in denen das, worum es geht, sich nicht ereignet: Eine Liebe wird nicht gelebt, ein Missverständnis reißt ein, ein Traum verschwindet. Die kleinbürgerliche, erstarrte Idylle kommt fast ohne Handlung aus. B.s Geschichten klagen nicht an, sondern

Bichsel

beklagen die Unzulänglichkeit dessen, was meist der Fall ist, in einer Sprache, die die »Sprechunfähigkeit« nicht »formuliert«, sondern sie selbst »ist« u. die sich der beschriebenen Menschen nicht »bemächtig[t]« (Heinz F. Schafroth). Für sein zweites Buch Die Jahreszeiten (Neuwied/Bln. 1967) erhielt B. zwar den Preis der Gruppe 47, aber kaum lobende Kritiken in der Presse. Anders als in den sich einfach gebenden Milchmann-Geschichten wird hier das Erzählen selbst problematisiert. Der Text entsteht unter den Augen des Lesers als Inszenierung seines Scheiterns. Ein auktoriales Ich kommentiert sein Unvermögen, dem Nicht-Helden Kieninger Leben einzuhauchen. Die vielfältigen Versuche, dokumentierend u. fingierend die Realität eines zerfallenden Wohnhauses einzufangen, werden zum Scheitern gebracht. Im virtuosen Eingeständnis des Unvermögens, Realität abzubilden, bewährt sich zwar noch einmal die souveräne Spielfreiheit des Schreibens. Aber wo sich Ungeschehenes als Mangel meldet, hört diese Souveränität auf: »Wir haben uns verpaßt. Das ist die Geschichte, die mich quält. Davon hätte ich zu erzählen.« In den Kindergeschichten (Neuwied/Bln. 1969) fabuliert B. aus, was geschehen könnte, wenn einer sich nicht abfinden kann mit dem, was üblicherweise der Fall ist. Der Mann, der aufbricht, um selber zu sehen, dass die Erde rund ist, der Mann, der allem einen anderen Namen gibt u. deshalb nicht mehr verstanden wird, der Erfinder, der alles nochmals erfindet, was es schon gibt: Wie diese drei leben auch die anderen Figuren als Außenseiter in einer Welt, die sie langweilt, weil sie ihnen vorgefertigt u. unveränderbar entgegentritt. Sie wollen ausbrechen, bringen es bis zu Ersatzhandlungen, die ihnen die Gesellschaft, trotz ihrer Harmlosigkeit, nicht verzeiht. Isolation ist die bittere Folge. Erst 1985 publizierte B. wieder eine Sammlung längerer literar. Geschichten: Der Busant. Von Polizisten, Trinkern und der schönen Magelone (Darmst./Neuwied 1985). Bes. die letzte Erzählung des Bandes, Eine Erklärung an den Lehrling von Prey, liest sich auch als Zwischenbilanz der Überlegungen B.s zur Bedeutung von »Geschichten«.

524

In der Zeit zwischen Kindergeschichten u. Busant brachte B. seine Geschichten in Kolumnen u. Reden unter, setzte sie in Zusammenhang mit seinen zeitgeschichtl. Analysen u. Denkanstößen. Zum Verhältnis von Literatur u. Journalismus bemerkte er 1982: »Vor zehn Jahren hätte ich hier zwei völlig verschiedene Aufgaben gesehen. Inzwischen stelle ich selbst fest, daß ich beides mit denselben Mitteln löse [...]. Ich versuche in Geschichten zu denken und nicht in abstrakten Fakten.« (Jutta Baier u. Hans Hugo Schildberg: In Geschichten denken. Ein Gespräch mit P. B. Neudr. in Auskunft für Leser). Erzählend bezieht B. die Weltlage stets auf den Einzelnen. Dabei geht es nie darum, Lösungen anzubieten, sondern das Dilemma aufzudecken, in das wir verstrickt sind. Sprachkritisch zeigt B. auf, dass gewisse Sätze u. Darstellungsweisen dieses Dilemma zugunsten der einen Seite vereinfachen. B.s Kritik an der Schweiz hat sich im Lauf der Jahre verschärft. Während sein Essay Des Schweizers Schweiz (Zürich 1969. Veränderter Neudr. Zürich 1984) noch als Liebeserklärung an ein skurriles Land zu verstehen ist, konstatiert B. im Vorwort zu Niklaus Meienbergs Reportagen aus der Schweiz (Zürich 1975), dass dieses »Land der Unschuldigen« »nicht von Reichen regiert [wird], sondern von denen, die reich werden wollen«. 1981 diagnostiziert B. dann Das Ende der Schweizer Unschuld (»Der Spiegel« 1/2, 1981. Neudr. in: Auskunft für Leser). Mehr noch als soziale Ungerechtigkeit u. polit. Selbstzufriedenheit arbeitet B. bes. in Kolumnen u. Aufsätzen den Befund einer an ihrer »Geschichtenlosigkeit« erkrankten Gegenwart heraus. Gewissermaßen über eine poetologische u. analyt. Doppelmatrix spürt er Menschen nach, die »nicht mehr erzählen« können, weil ihnen ihr »Leben nicht mehr erzählenswert ist«, die ihr »Leben nicht mehr als Ereignis« erleben, stattdessen nur noch »Ereignisse, die überhaupt keine sind«, massenmedial vermittelte u. gesellschaftlich akkreditierte Werte (Im Gegenteil. Ffm. 1990). Konsequenterweise führt B. in dem 1993 erschienenen Band Zur Stadt Paris unter der Genrebezeichnung »Geschichten« nicht nur die auch in seinen Kolumnen – die er 1990,

525

1995, 2000 u. 2003 weiterhin in Buchform publizierte – praktizierte Form der Kurz- u. Kürzesttexte fort, sondern verpflichtet sich auch weiterhin dem in den Frankfurter Poetikvorlesungen von 1982 umrissenen Programm, in Geschichten »nicht nur Realität zu überprüfen, sondern die Reflexion darzustellen«. Die Aufmerksamkeit für oder die Neugierde auf mögl. Leben, die sich hinter un b ek ann t en Personen verbergen, sind der Auslöser für die Geschichten, u. nur Geschichten seien es, an die man sich erinnere; Personen u. Ereignisse wären weiter nicht bemerkenswert u. würden nicht erinnert, hätten sie ihrerseits keine Geschichten, die es zu erzählen gelte. Eine Art Gerechtigkeit oder etwas weniger wertlastig: Fairness, die sich aus dieser den Einzelschicksalen zugewandten Haltung ableiten lässt, formuliert B. ebenfalls in seiner 1990 erschienenen Meditation zu Mozarts Credo-Messe aus, als ein Plädoyer auch für die Erfolglosen, deren Geschichten zwar unbrauchbar für unsere Erfolgsbiografien seien, um nichts weniger aber wert, erzählt zu werden. Wie Mozarts Musik nicht argumentiere u. auch nicht dem Amen einer Messe diene, sondern umgekehrt deren Amen seiner Musik, wird bei B. auch die Lust am u. die Beschäftigung mit dem Erzählen stellenweise zum Selbstwert; u. wie hier das Bild eines Gottes vorgestellt wird, der »außerhalb der Hierarchien« steht, so werden auch die Annelis u. Noldis in B.s Werk, die zahllosen auf den ersten Blick beliebigen Lebensschicksale in ihr Recht gesetzt u. kommen zu ihrer Sprache. Der »notwendige Inhalt« der erzählten Geschichten bleibt »der Träger der Erzählung; nicht die Erzählung ist der Träger des Inhalts« (Der Leser. Das Erzählen), eine Überzeugung, die B. in anderen Worten u. aus der Perspektive der Lesenden auch in seiner Rede zur Verleihung der Ehrendoktorwürde der Theolog. Fakultät der Universität Basel formulierte: Beim Lesen geschehe im Kopf etwas, das unabhängig sei von »Inhalt und Information« u. das dem Lesen eine »Spur von Meditation« verleihe; die »Schrift dien[e] nicht der Fixierung des Mündlichen, die Schrift entführ[e] das Mündliche in eine andere Welt«, eine Welt, die »andere Wert-

Bichsel

vorstellungen [habe] als Effizienz« (Ffm. 2004). Einen längeren Erzähltext legte B. 1999 mit der experimentierfreudigen Doppelgeschichte von Cherubin Hammer und Cherubin Hammer (Ffm.) vor, einer Doppelbiografie sozusagen zweier ungleicher Männer, die vorerst nur den Namen gemein haben. B. trennt deren Lebenswelten schon im Erscheinungsbild des Buches säuberlich voneinander, indem er die Geschichte des seiner Idee eines Schriftstellerlebens nacheifernden einen Cherubin Hammer im Haupttext beschreibt, den Schwadroneur u. Charmeur Cherubin Hammer dagegen in den Fußnotentext verweist. Das Spiel mit den beiden Lebensentwürfen, die unter der strengen u. willkürl. Hand des Erzählers neu »gemischt« u. angeordnet werden, macht nicht nur die Verfasstheit erzählter Biografien sichtbar, sondern bringt auch fest gefügte Lesererwartungen aus dem Gleichgewicht. Zusätzlich zu seinen Kolumnen, der Kurzprosa u. einzelnen Reden legte B. 1998 mit Die Totaldemokraten (Ffm.) u. 2004 u. d. T. Das süße Gift der Buchstaben. Reden zur Literatur (Ffm.) zwei Bände mit Essays vor. In Die Totaldemokraten sind Aufsätze zur Schweiz oder vielleicht besser: zu Schweizbildern versammelt. In dem 1987 verfassten Text In einem gelobten Land etwa macht sich B. Überlegungen zu den Möglichkeiten u. Schwierigkeiten, die ihm begegnen als Bürger eines von außen, v. a. aus Deutschland immer wieder gelobten, weil angeblich unversehrten Landes. Während er hier die Schweiz als »deutschen Spießertraum« zurückweist u. seinen Überdruss äußert, als Exot ohne eigene Politik verniedlicht u. verharmlost zu werden, reflektiert er in Tells klobige Hände (1994) die gegenwärtige Situation eines Staates ohne Geschichte, einer Gesellschaft, die vor den liberalen Revolutionen des 19. Jh. u. einer entsprechend »modernen« Legendenbildung immer noch zurückschrecke – aus Scham davor, dass einem die Bundesstaatsgründung von »1848 aufgedrängt wurde« – u. stattdessen Zuflucht nehme zum überstrapazierten, 700-jährigen Tell-Mythos. Nicht von ungefähr geht B. auch in diesen »politischen« Aufsätzen auf das Erzählen von Geschichten

Bidermann

526

ein, in diesem Fall auf die narrativ vollzogene 1986. – Im Gegenteil. Kolumnen 1986–90. Ffm. Bildung von Gründungslegenden u. staatl. 1990. – Gegen unseren Briefträger konnte man Identitäten. Die Rückbindung politisch-his- nichts machen. Kolumnen 1990–94. Ffm. 1995. – torischer Analysen an die Möglichkeiten von Am Ende der Revolution. Staaten ohne Citoyens (Peter Kaiser-Vortrag 7. Mai 1999). Vaduz 1999. – deren Darstellbarkeit ist B. durch sein geDoktor Schleyers isabellenfarbige Winterschule. samtes Werk ein Anliegen. Das Verhältnis von Kolumnen 2000–02. Ffm. 2003. Literatur u. nat. Zugehörigkeit verhandelt B. Literatur: Heinz F. Schafroth: P. B. In: KLG. – denn auch verschiedentlich in seinen Über- Hans Bänzinger (Hg.): P. B. Weg u. Werk. Bern legungen zur Literatur oder eben eher: zu 1984. – Herbert Hoven (Hg.): P. B. Auskunft für den Literaturen. In seinen Bemerkungen zu ei- Leser. Darmst./Neuwied 1984. – Herbert Hoven ner Literatur, die Schweizer Literatur genannt wird, (Hg.): In Olten umsteigen. Über P. B. Ffm. 2000. – einem Essay, der auffälligerweise in beiden Roman Bucheli: P. B. In: LGL. – Chalit Duronggenannten Aufsatzbänden abgedruckt ist, phan: Poetik u. Praxis des Erzählens bei P. B. wehrt sich B. gegen die »Nationalisierung« Würzb. 2005. Rudolf Käser / Stefan Humbel der Autoren, wie sie seiner Meinung nach in der Schweiz bes. aktiv betrieben werde, Bidermann, Biderman(n)us, Jakob, Anawährend doch gerade in diesem Land schnell gramm: Didacus Bemardinus, * 1578 einsichtig würde, dass es »keine nationalen Ehingen/Schwaben, † 20.8.1639 Rom. – Literaturen geben kann«, eine These, die B. Dramatiker, Lyriker, Romancier u. Theoauch anlässlich seiner Teilnahme am Sympologe. sium »Nationale Literaturen heute – ein Phantom?« in Zürich (2003) vorgetragen hat. B. gilt nicht nur als der bedeutendste Dra(Abgedr. in: Das süße Gift der Buchstaben). So matiker des Jesuitenordens, sondern übergebe es unter den verschiedensprachigen Li- haupt des Frühbarock. Er besuchte vom achteraturen in der Schweiz weder gemeinsame ten Lebensjahr an (1586) das JesuitengymnaEigenschaften noch gemeinsame Themen; sium in Augsburg. Seine Lehrer Matthäus stattdessen teilten deutschsprachige Autoren Rader u. Jacob Pontanus erkannten u. föraus der Schweiz mit solchen aus Deutschland derten schon früh seine dichter. Begabung. das Hochdeutsche als schriftl. Ausdrucks- Nach dem Noviziat in Landsberg (1594–1596) form, wenn diese Sprache auch in der Schweiz wurde er in den Jesuitenorden aufgenomnach wie vor als fremde Sprache aufgefasst men. 1597–1600 studierte er in Ingolstadt werde. Während das Label »Schweizer« dem Philosophie u. leitete als Choragus das dortiSchriftsteller aus der Schweiz »den Hauch des ge Schultheater. Literarisch erfolgreich war die Zeit zwiExotischen [gebe] in einem Land – Deutschland –, das immer wieder große Bedenken schen 1600 u. 1602, in der er am Gymnasium gegenüber der eigenen Kultur und eine sehr in Augsburg unter dem Rektorat seines ehegroße Neigung zum Exotischen« habe, u. die maligen, nun freundschaftlich mit ihm verSchweizer »so etwas wie die naheliegendsten bundenen Lehrers Rader die Humaniora Exoten« seien, werde die Formel des »jungen lehrte. Hier schrieb B. sein erstes Drama Schweizer Schriftsteller[s]« in der Schweiz Cenodoxus Comico-Tragoedia, das am 2. Juli selbst außerdem mit der Kritik eines »Verrä- 1602 zum ersten Mal aufgeführt wurde. Sein ter[s] an der Schweiz« aufgeladen; die Formel ebenfalls zu dieser Zeit entstandenes Epos meine dann einen »Schweizer, der Schrift- Herodiados Libri tres. Sive DD. Innocentes Christosteller ist, der also fremdgegangen ist, in eine Martyres, Ab Herode Tyranno crudeliter coesi fremde Sprache gegangen ist, sich mit frem- (gedr. Dillingen 1622. Dt. Übers.: J. G. Lairiz: dem Gedankengut befaßt hat« (Die Totalde- Herodisches Blut-Bad. Ffm. 1737, u. E. Heermann: Erstes Buch unschuldiger Christen, die von mokraten). Weitere Werke: Gesch.n zur falschen Zeit. Herodes ermordet. Steinau/O. o. J.) behandelt in Darmst. 1979 (Kolumnen). – Schulmeistereien. anschaulicher Weise das in Kunst u. Literatur Darmst./Neuwied 1985 (Reden). – Irgendwo an- damals beliebte Thema des bethlehemischen derswo. Kolumnen 1980–85. Darmst./Neuwied Kindermords. Wie in der Jesuitenliteratur

527

üblich, charakterisiert B. den nicht nach christl. Wertvorstellungen lebenden u. regierenden Herrscher als Tyrannen. Weiterhin verfasste er damals eine Biografie des Ordensgründers Ignatius von Loyola (Res B. Ignatio Loiola Societatis Iesv parente gestae [...]. Mchn. 1612 u. ö.) u. die Vtopia Didaci Bermardini, Seu Iacobi Bidermani [...] (postum gedr. Dillingen 1640). In diesem Roman sind »Novellenzyklen«, die eine Fülle von Schwank- u. Abenteuererzählungen verarbeiten, in eine Rahmenerzählung eingefügt. Das Werk verrät eine satir. Grundhaltung u. geißelt die Laster der Utopier. Mit Morus’ Utopia lässt es sich nicht vergleichen. Dem Adressatenkreis entsprechend (Studenten in Jesuitenkollegien) ist hier mit der poetisch geforderten »delectatio« die Didaxe verbunden: Warnung vor den beschriebenen Exzessen u. Mahnung zur Tugend – v. a. zur Mäßigung. Der Roman erlebte zehn Auflagen. Seine Verbreitung verdankte er nicht zuletzt seiner mustergültigen rhetor. Sprachgebung. Er bot Stoffgrundlage z.B. für Predigtmärlein u. wurde in der deutschsprachigen Literatur in Christoph Andreas Hörl von Wattersdorfs Bacchusia oder Fassnacht-Land (Mchn. 1667) rezipiert. 1603–1606 beschäftigte sich A. in Ingolstadt mit theolog. Studien. Danach lehrte er bis 1614 Rhetorik am Jesuitenkolleg in München. Dort konnte er einige seiner Dramen selbst inszenieren: so seinen Sanctus Adrianus Martyr (1606) u. v. a. seine ComicoTragoedia De Belisario Dvce Christiano ab svmma gloriae felicitate in extrema infortunij ludibria prolapso (1607). B. wählte als »Titelhelden« eine histor. Gestalt des byzantin. Reiches: Belisar (um 505–565), den in den Wandalenkriegen erfolgreichen Feldherrn Justinians I. Die histor. Überlieferung – v. a. sein Ende betreffend – ist widersprüchlich u. bot Anlass für legendäre Spekulation. Im Drama B.s erleben wir zunächst den erfolgreichen Belisar, der die Gunst seines Kaisers genießt. Sein Glück wendet sich, als er nach einem erfolgreichen Feldzug der Verschwörung bezichtigt wird. Er wird gefangen genommen, verliert seine Ehrenzeichen u. Güter, wird schließlich geblendet u. muss seinen Lebensunterhalt erbetteln. Zwar exemplifiziert B. am Schick-

Bidermann

sal Belisars das Walten der Fortuna, dem jeder Mensch unterworfen ist, u. lehrt die Zuschauer, die Vergänglichkeit ird. Glücks zu bedenken, doch kann der Theologe sich mit einer solchen Deutung der Geschichte nicht zufriedengeben. In Einklang mit der jesuit. Lehre von der Gnade u. der Willensfreiheit handelt Fortuna im Dienste der Providentia (der göttl. Vorsehung entsprechend der Interpretation seines Ordensbruders Molina), u. Belisars Fall ist Gottes Strafe für ein unter dem Einfluss der Kaiserin Theodora an Papst Silverius begangenes Unrecht. Die Handlung läuft auf verschiedenen Ebenen ab: Allegorische Figuren treten neben den histor. Personen auf, bieten Verständnishilfen u. deuten das Geschehen als heilsgeschichtl. Vorgang. Sowohl als Instrument der Glaubenspropaganda als auch in seiner Form entspricht das Stück so bereits B.s späteren Stücken. 1609 fand die denkwürdige Aufführung des Cenodoxus statt, nach der zahlreiche Adelige sich zur Rettung ihrer Seelen den ignatian. Exerzitien unterzogen u. der Hauptdarsteller in den Orden eintrat. Seine stoffl. Anregung verdankt das Drama einer Episode aus der Legende des hl. Bruno von Köln. Dieser erlebte das erschütternde Totenoffizium für einen wegen seiner Tugend u. Gelehrsamkeit hochverehrten Doktor der Universität Paris. Vor Gottes Gericht fand der Gelehrte keine Rechtfertigung u. wurde verdammt. Mit sechs Gefährten gründete Bruno daraufhin den Kartäuserorden. B.s Leistung bestand u. a. darin, die Lebensgeschichte des Gelehrten zu erfinden, da die Ursache für die Verdammung des Doktors in der Legende nicht erwähnt wird, aber doch wohl in dessen Lebensführung liegen musste. Wie der sprechende Name der Hauptperson andeutet, liegt ihre Schuld in der Kenodoxia, der sich in Selbstgerechtigkeit u. pharisäerhaftem Zurschaustellen der eigenen Vortrefflichkeit manifestierenden »superbia«, einem der Hauptlaster des kirchl. Lasterkatalogs. Diesen Charakterzug demonstriert Cenodoxus in seinem Verhalten. Auch hier ist die Handlung nicht auf das Agieren realer Personen beschränkt; allegor. Figuren als Verkörperungen von Lastern, Gewissen, Tod, Krankheit usw. sowie Vertreter des Himmels u. der

Bidermann

Hölle, wie beispielsweise die wichtige Person des Schutzengels, sind in die Handlungsführung einbezogen. Dadurch verleiht B. dem Geschehen eine kosmische Dimension – entsprechend der ignatian. Lehre von den beiden Heeren, die um die Seele des Menschen, ja um die Menschheit schlechthin kämpfen. Zgl. rechnet dieses Drama mit der Selbstgerechtigkeit der humanist. Lebensauffassung ab. Später übersetzte Joachim Meichel das Stück nach einer uns nicht bekannten Vorlage in Knittelverse (Cenodoxus der Doctor zu Paris. [...]. Vor etlichen Jahren durch den ehrwürdigen Jacobum Bidermannum Soc. Iesv Theologum in Latein gestellt. Mchn. 1635); in dieser Fassung sollte es später populär werden. Es folgten u. a. 1613 der Macarius Romanus u. 1615 der Josephus Aegypti Prorex. 1615–1626 war B. Professor für Philosophie u. Theologie in Dillingen. Seine dortige Lehrtätigkeit, aus der u. a. ein Werk zur Logik mit dem Titel Corollaria tria ex principio logico ducta (Dillingen 1617) hervorging, beeinträchtigte seine poet. Produktion. Dennoch erschienen in dieser Zeit seine Epigrammatvm libri tres (Antwerpen 1620). Sie erlebten in der Zeit von 1620 bis 1733 über 25 Auflagen an den damals wichtigsten Verlagsorten. Gründe dafür waren zum einen die Stellung, die B. inzwischen im Orden innehatte, zum anderen aber die rhetorisch geschliffene Form u. v. a. die Thematik. Das erste Buch behandelt die Person Christi, das zweite die Gottesmutter u. das dritte den Ordensgründer Ignatius. Die Form des Epigramms bot die Möglichkeit, dogmat. Themen in einprägsamer Form zu behandeln. Gegenreformatorische Agitation findet sich v. a. im dritten Buch. In dieser Zeit beschäftigte sich B. auch mit der Sammlung altdt. geistlicher Lieder u. veröffentlichte diese im Himmelglöcklein / Das ist: Catholische / Außerlesene / Geistliche Gesäng / auff alle zeit deß Jahres (Augsb. 1621. Umfangreichste 3. Aufl. Dillingen 1627). Es handelt sich nicht um ein Kirchengesangbuch, sondern – dafür spricht der große Umfang lat. Texte – wahrscheinlich um eine an ein gebildetes Publikum gerichtete, für Andachtszwecke gedachte Sammlung von Gesängen. Die Auflagenfolge lässt auf weite Verbreitung

528

schließen. Einfluss übte dieses Buch auf das Groß Katholisch Gesangbuch (Nürnberg 1631) u. auf die Geistliche Nachtigall [...] (Wien 1658) des Benediktiners David Gregor Corner aus. Als Quellen kamen für B. andere Gesangbücher in Frage, wobei die Autorenfrage meist nicht geklärt werden kann. Die Textzusammenstellung richtet sich nach dem Kirchenjahr. Auch verschiedene Aufführungen seiner Stücke fallen in diese Zeit: Johann Calybita (1618), Josaphatus (1619) u. die von Konstanzer Schülern 1618 aufgeführte »Comoedia« Philemon Martyr. Sie wurde noch für seinen Ordensbruder, den spätbarocken Jesuitendramatiker Johann Baptist Adolph, stoffl. Vorlage des Dramas Philemon et Apollonius Martyres (1707). B. dramatisiert die beiden Lebensphasen des Komödianten Philemon entsprechend der Personencharakterisierung in der Legendenvorlage: die den ird. Genüssen hingegebene Lebensweise u. das ausgelassene Treiben des Komödianten, aber auch die Wandlung zum überzeugten Christen u. Märtyrer für seinen Glauben. Dieser inhaltl. Antithetik entspricht der Aufbau des Stückes. Akt I u. II führen den erfolgreichen u. auf Profit ausgerichteten Schauspieler vor, Akt IV u. V den selbst zum Martyrium entschlossenen Christen. Akt III bildet den Umschwung, verdeutlicht durch den Tausch der Kleider zwischen Philemon u. dem Christen Apollonius, an dessen Stelle der Schauspieler ein Götzenopfer darbringen soll. Mit dem Kleidertausch ist auch ein Persönlichkeitswandel – vergleichbar dem Schicksal des Masaniello in Weises gleichnamigem Trauerspiel – verbunden. Es gilt nicht nur der Satz »Dasein heißt, eine Rolle spielen«: Die Rolle macht auch das Wesen aus. B. berührt in theolog. Deutung die Frage nach der Identität. Im Gegensatz zu den Märtyrerdramen des Andreas Gryphius erduldet Philemon sein Fatum nicht mit stoischer Constantia, sondern ist aktiv am Geschehen beteiligt. Komische Elemente werden nicht ausgespart. Nach 1626 lebte B. bis zu seinem Tod in Rom u. übte dort das Amt des Ordenszensors aus. Seine Dramen, die ihn berühmt gemacht hatten, erschienen erst 1666, nach der Rückführung seiner Manuskripte nach Deutsch-

529

land, postum im Druck (Mchn.). B. wurde aber auch als Lyriker u. Epiker geschätzt. Neben seinen Epigrammatum libri tres, die geistliche u. weltl. Themen behandeln u. Persönlichkeiten aus Mythologie, Geschichte u. Gegenwart vorführen, schrieb er die in der von Ovid begründeten Tradition des heroischen Briefes stehenden Heroum Epistolae (Antwerpen 1630) u. die Heroidum Epistulae (Rom 1633). In der Sonderform des religiösen heroischen Briefes behandeln in dem erstgenannten Werk christl. »Helden« schicksalbestimmende Themen, während in dem zweiten vorwiegend bibl. Frauengestalten über alttestamentl. Situationen berichten. Anerkennung fanden B.s Werke – zu seinen Lebzeiten v. a. seine Lyrik u. Epik – auch in Frankreich, Italien u. in den Niederlanden. Ausgaben: Johannes Calybita. Hg. Berchtold Bischof. Luzern u. Engelberg 1932. – Cosmarchia oder König auf ein Jahr. Übers. v. Josef Grosser, für die Bühne bearb. v. Oskar Karl Renner u. Otto Leisner. Linz 1937. – Das Reich der Erdengüter. Übers. v. Stephan Schaller. Ettal 1956. – Philemon Martyr. Lat. u. dt. Hg. Max Wehrli. Köln/Olten 1960. – Dass., dt. Bearb. B. v. Heiseler. Stgt. 1962. – Cenodoxus. Abdr. nach den ›Ludi theatrales‹ [1666] mit den Lesarten der Kelheimer u. Pollinger Hg. Rolf Tarot. Tüb. 1963. – Belisarius. Hg. Harald Burger. Bln. 1966. – Ludi theatrales. 1666. Hg. R. Tarot. 2 Bde., Tüb. 1967. – Macarius Romanus de J. B. Hg. Jean M. Valentin. In: Humanistica Lovaniensia 19 (1970), S. 365–469. – Cenodoxus. Hg. u. übers. v. D. G. Dyer. Edinburgh 1975 (engl.). – Cenodoxus. 1635. Dt. Übers. v. Joachim Meichel. Hg. R. Tarot. Stgt. 1981 (zuerst 1974). – J. B.s ›Utopia‹. Ed. mit Übers. u. Monogr. nebst vergleichenden Studien zum beigedruckten Plagiat des Christoph Andreas Hörl v. Wattersdorf. Hg. Margit Schuster. 2 Bde., Bern u. a. 1984. – Cosmarchia. Hg. u. übers. v. Thomas W. Best (mit Komm. u. Periochen). Bln. u. a. 1991. – Himmelglöcklein / Das ist: Cath. / Außerlesene / Geistl. Gesäng / auf alle zeit deß Jahrs. Nachdr. der Ausg. Dillingen 1627. Hg. Wolfgang Schürle. Weißenhorn 2000. – Cosmarchia sive mundi respublica. Hg. u. komm. v. Christian Sinn. Eggingen 2002. – Christl. Kosmos. 100 Epigramme (lat./dt.), ausgew. u. übers. v. Wilfried Schouwink. Eggingen 2004. – Internet-Ausgaben: CAMENA. Literatur: Bibliografien: Backer-Sommervogel, Sp. 1443–1456. – Dünnhaupt 2. Aufl., Bd. 1, S. 550–581. – Jean-Marie Valentin: Le Théâtre des

Bidermann Jésuits dans les pays de langue allemande. 3 Bde., Bern 1978. – Weitere Titel: Berchtold Bischof: B.s ›Joannes Calybita‹, 1618. Diss. Freib./Schweiz 1932. – Lucie Elbracht-Hülseweh: B.s ›Belisarius‹. Beiträge zur phänomenolog. Behandlungsweise eines literar. Kunstwerks. Bln. 1935. – Charlotte Morsbach: J. B. ›Philemon Martyr‹ nach Bau u. Gehalt. Diss. Münster 1936. – Herman Joseph Nachtwey: Die Exerzitien des Ignatius v. Loyola in den Dramen J. B.s SJ. Diss. Münster 1937. – Denys G. Dyer: B. A Seventeenth Century Dramatist. Diss. Cambridge 1950. – Siegfried Juhnke: B.s ›Cenodoxus‹ 1617 in Ingolstadt. Eine Studie zur Publizistik der frühen Jesuitenbühne. Diss. Bln. 1957. – Rolf Tarot: J. B.s ›Cenodoxus‹. Düsseld. 1960. – Gerald Pierce Fitzgerald: J. B., ›Cenodoxus‹ and Baroque Latin. Diss. Harvard 1963. – Harald Burger: J. B.s ›Belisarius‹. Ed. u. Versuch einer Deutung. Bln. 1966. – Herta T. Feyock: Das Märtyrerdrama im Barock: ›Philemon Martyr‹ v. J. B., ›Le Veritable Saint Genest‹ v. J. Rotrou, ›Theodore, Vierge et Martyre‹ v. P. Corneille, ›Catharina von Georgien‹ v. A. Gryphius. Ein Vergleich. Diss. University of Colorado 1966. – Joseph H. K. Schmidt: Die Figur des ägypt. Joseph bei J. B. u. Jacob Böhme. Zürich 1967. – Richard van Dülmen: Die Gesellsch. Jesu u. der bayer. Späthumanismus. Ein Ueberblick mit dem Briefw. v. J. B. In: Ztschr. für bayer. Landesgesch. 37 (1974). – Thomas Best: J. B. Boston 1975. – Günter Hess: Spectator. Lector. Actor. Zum Publikum v. J. B.s ›Cenodoxus‹. In: IASL 1 (1975), S. 30–106. – Peter-Paul Lenhard: Religiöse Weltanschauung u. Didaktik im Jesuitendrama. Interpr.en zu den Schauspielen J. B.s. Ffm./Bern 1976. – Ludwig Krapf: Die dramat. Agitation des J. B. Einige Überlegungen zum nicht-aristotel. Theater der Jesuiten. In: Akten des V. Internat. Germanisten-Kongresses Cambridge 1975. Hg. Leonard Forster u. Hans-Gert Roloff. H. 3, Bern/Ffm. 1976, S. 124–131. – Brian Murdoch: Devils, vices and the fall. Dramatic patterns from the medieval mystery to B.’s ›Cenodoxus‹. In: Maske u. Kothurn 23 (1977), S. 15–30. – Udo Köster: Überlegungen zur Soziologie der Barocklit. Am Beispiel zweier Jesuitendramen. (›Cenodoxus‹ u. ›Philemon Martyr‹ v. J. B). In: GRM Beih. 1 (1979), S. 127–138. – Lidia Winniczuk: B.s ›Belisarius‹ and the Neo-Latin Polish anonymous ›Belisarius‹. In: Humanist. Bibl. R. 1: Abhandlungen. Bd. 26 (1979), S. 1052–1057. – D. Dyer: J. B.’s use of comedy. In: GLL 34 (1980), S. 11–16. – T. Best: B.s ›Utopia‹ and Hörl v. Wättersdorf’s ›Bacchusia‹. In: Daphnis 13 (1984), S. 205–216. – Jean-Marie Valentin: Die Jesuitendichter B. u. Avancini. In: Dt. Dichter des 17. Jh. Ihr Leben u. Werk. Hg. Harald Steinhagen u. Benno v. Wiese. Bln. 1984, S. 385–414. – Dietz-Rüdiger

Bie Moser: In Aichach hieß der Hohlkopf ›Arrogantius‹. Zur Wiederentdeckung einer dt. Bearb. des ›Cenodoxus‹ J. B.s aus dem Jahre 1742. In: Lit. in Bayern 8 (1987), S. 44 f. – Siegfried Schneiders: J. B.s ›Vtopia‹ im Spiegel der Forsch. 1704–1984. In: Archivum historicum Soc. Jesu 57 (1988), S. 171–177. – Hans Pörnbacher: J. B. In: Dt. Dichter. Leben u. Werk deutschsprachiger Autoren. Hg. Gunter E. Grimm u. Rainer Max Frank. Bd. 2: Reformation, Renaissance u. Barock. Stgt. 1988, S. 109–118. – Georg Braungart: J. B.s ›Cenodoxus‹. Zeitdiagnose, superbia-Kritik, komisch-trag. Entlarvung u. theatral. Bekehrungsstrategie. In: Daphnis 18 (1989), S. 581–640. – T. Best: J. B.s ›Cenodoxus‹ and Tirso de Molina’s ›El mayor desengaño‹. In: Opitz u. seine Welt. Hg. Barbara Becker-Cantarino u. Jörg-Ulrich Fechner. Amsterd. 1990, S. 57–70. – G. Hess: Die Kunst der Imagination. J. B.s Epigramme im ikonograph. System d. Gegenreformation. In: Text u. Bild / Bild u. Text. Hg. Wolfgang Harms. Stgt. 1990, S. 183–196. – Fidel Rädle: Die ›Praemonitio ad lectorem‹ zu J. B.s ›Ludi theatrales‹ (1666). In: Der Buchstab tödt – der Geist macht lebendig. FS H.-G. Roloff. Hg. James Hardin u. Jörg Jungmayr. Bern u. a. 1992, S. 1131–1171. – Max Wehrli: B., ›Cenodoxus‹. In: Humanismus u. Barock. Hg. Fritz Wagner u. Wolfgang Maaz. Hildesh. 1993, S. 24–47. – Barbara Könneker: Das andere Sterben: J. B.s ›Cenodoxus‹ u. die Tradition der Jedermannspiele. In: Der fremdgewordene Text. FS Helmut Brackert. Hg. Silvia Bovenschen. Bln. u. a. 1997, S. 285–297. – Ruprecht Wimmer: B.s ›Utopia‹. Gedanken zur Struktur u. Intention frühbarocken Erzählens. In: Simpliciana 21 (1999), S. 93–104. – H. Pörnbacher: J. B., ›Cenodoxus, Der Doctor von Pariß‹. In: Dramen v. Barock bis zur Aufklärung. Stgt. 2000, S. 7–36. – Sandra Krump: Sinnhafte Seelenführung. Das Theater der Jesuiten im Spannungsfeld v. Rhetorik, Pädagogik u. iganatian. Spiritualität. In: Künste u. Natur in Diskursen der Frühen Neuzeit. Hg. Hartmut Laufhütte u. a. Wiesb. 2000, S. 937–950. – Jan-Lüder Hagens: Spielen u. Zuschauen in J. B.s ›Philemon Martyr‹. ›Theatrum Mundi‹ als dramat. u. pädagog. Prinzip des Jesuitentheaters. In: Daphnis 29 (2000), H. 1/2, S. 103–157. – Ders.: Spielen u. Zuschauen in J. B.s ›Philemon Martyr‹ (Teil II): ›Theatrum Mundi‹ als anti-determinist. u. anti-humanist. Waffe des Jesuitentheaters. In: Daphnis 30 (2001), H. 3/4, S. 691–725. – Christopher J. Wild: Fleischgewordener Sinn. Inkarnation u. Performanz im barocken Märtyrerdrama. In: Theatralik u. die Krisen der Repräsentation. Hg. Erika Fischer-Lichte. Stgt./ Weimar (2001), S. 125–154. – Christian Sinn: J. B. Die Kunst der Zitation (›Cosmarchia‹). In: Schwa-

530 benspiegel 4 (2003), S. 213–226. – Manuel Baumbach: Der Hl. Meinrad u. die Protestanten. J. B.s politisch-religiöse Dichtung am Beispiel der Meinradvita. In: Lat. Lyrik der frühen Neuzeit. Poet. Kleinformen u. ihre Funktionen zwischen Renaissance u. Aufklärung. Hg. Beate Czapla, Ralf Georg Czapla u. Robert Seidel. Tüb. 2003, S. 304–329. – Franz Günter Sieveke: ›...ich war nur mit der Gestalt ein Mensch / und mit dem Nahmen ein Christenkind / im übrigen aber nur ein Bestia!‹ Zur literar. Gestaltung der Identitätsproblematik in der barocken Lit. In: Spee-Jb. 10 (2003), S. 71–102. – J.M. Valentin: Les ›Ludi‹ de J. B. et les débuts du théàtre des jésuites dans l’Empire. In: Ders.: L’école, la ville, la cour. Paris 2004, S. 83–101. – Helmut Gier: J. B. u. sein ›Cenodoxus‹. Der bedeutendste Dramatiker aus der Jesuitenorden u. sein erfolgreichstes Stück. Regensb. 2005. – Wilhelm Kühlmann: Der Jesuitendichter u. die Naturkatastrophe. Bemerkungen zur Kombinatorik v. Textklassen u. Diskursen in J. B.s poet. Verarbeitung des Vesuvausbruchs v. 1631. In: ›Parodia‹ u. Parodie. Aspekte intertextuellen Schreibens in der lat. Lit. der Frühen Neuzeit. Hg. Reinhold F. Glei u. R. Seidel. Tüb. 2006, S. 209–240 (mit Ed.). Franz Günter Sieveke

Bie, Oskar, * 9.2.1864 Breslau, † 21.4.1938 Berlin. – Musikschriftsteller, Kunstkritiker u. Publizist. B. wurde als Fabrikantensohn geboren u. studierte ab 1882 zunächst in Breslau, dann in Leipzig u. Berlin Kunstgeschichte, Philosophie u. Musik. In Berlin war er Kompositionsschüler Xaver Scharwenkas. 1890 wurde er Privatdozent für Kunstgeschichte an der dortigen TH, übernahm 1892 als Nachfolger von Otto Brahm die Leitung der »Freien Bühne« u. redigierte ab 1904 die »Neue Rundschau« des S. Fischer Verlags. Daneben war B. Opern-, Musik- u. Kunstkritiker bei verschiedenen Zeitungen, so z.B. beim »Kunstwart«, der »Allgemeinen Musikzeitung« u. dem »Berliner Börsen-Courier«. Ab 1921 lehrte er an der Berliner Hochschule für Musik. B. war ein vielbeachteter Feuilletonist. Unter seiner Federführung entwickelte sich die »Neue Rundschau« zu einer herausragenden Zeitschrift der Kaiserzeit u. der Weimarer Republik. Kenntnisreich kommentierte er das musikalisch-künstler. Zeitgesche-

Biedermann

531

hen. In Einzelpublikationen legte er seine Gedanken zu Malerei u. bildender Kunst (Die Musen in der antiken Kunst. Bln. 1887. Reise um die Kunst. Bln. 1910) dar. Auf diese Weise trug B. zur kulturellen Vitalität der Kunststadt Berlin bei. Er setzte sich nicht nur für die dramatisch-musikal. Formen ein (Der Tanz als Kunstwerk. Bln. 1905. Die Oper. Bln. 1913 Neuausg. Mchn. u. Mainz 1988), sondern verfolgte auch pädagogisch-histor. Fragen (Das Klavier und seine Meister. Mchn. 1898) u. engagierte sich als einer der Ersten für Die moderne Musik und Richard Strauss (Bln. 1906). B.s umfassendes Vermittlungsinteresse rührte auch daher, dass er schon früh Wagners Idee vom Gesamtkunstwerk aufgenommen hatte. Weitere Werke: Zwischen den Künsten. Bln. 1895 (Ess.). – Das Klavier. Bln. 1921 (Ess.). – Franz Schubert. Bln. 1925 (Biogr.). – Richard Wagner u. Bayreuth. Zürich 1931 (Ess.). Literatur: Walther Vetter: O. B. In: NDB. Jürgen H. Koepp / Red.

Biedenfeld, Ferdinand Leopold Frhr. von, * 5.5.1788 Karlsruhe, † 8.3.1862 Karlsruhe. – Schriftsteller u. Theaterdirektor.

gegründeten Königstädter Theaters in Berlin, 1825 Leiter des Theaters in Magdeburg, kam 1829 als Dramaturg an das Theater in Breslau u. wurde ein Jahr später dessen Direktor. 1834 ging B. zus. mit Heinrich Laube, in dessen »Zeitung für die elegante Welt« (Lpz. 1834 ff.) B. publizierte, an das Theater nach Leipzig; ein Jahr darauf folgte Weimar, wo er als Herausgeber der Zeitschrift »Der Elegante« u. als freier Schriftsteller lebte. B. verfasste zahlreiche Unterhaltungsschriften sowie 150 überlieferte Übersetzungen u. Bearbeitungen aus dem Französischen u. Russischen, darunter viele Dramen, wie beispielsweise das Trauerspiel Die Paria’s (Bln. 1824). In seinen noch heute als zeitgenöss. Quelle interessanten Erinnerungen Aus meiner Pilgertasche, die in »Die Gartenlaube« (1858) u. im »Morgenblatt« (1859 ff.) erschienen, berichtet er von seinem unsteten Künstlerdasein, das viele Begegnungen mit berühmten Zeitgenossen mit sich brachte, darunter Arthur Schopenhauer. Nach dem Ableben des Vaters lebte B. bis zu seinem Tod wieder in der Heimatstadt Karlsruhe. Literatursoziologisch ist B. als Typus eines »freien« Schriftstellers u. »Auftragsarbeiters« in den ersten beiden Dritteln des 19. Jh. von Interesse.

Der Sohn des Generalmajors Ferdinand Friedrich von Biedenfeld verbrachte seine Weitere Werke: Wiesenblumen gesammelt an Jugend in Karlsruhe. Durch einen Unglücks- den freundl. Ufern der Elbe. Dresden 1818. – fall verlor er seinen rechten Arm, was ihm Winterabend. Eine Slg. dramat. Beiträge für leichte eine Militärkarriere unmöglich machte u. zu Unterhaltung u. Darstellung bestimmt. Bamberg/ einer frühen Hinwendung zur Literatur u. Würzb. 1822. – Novellen u. Bunte Blätter. 2 Bde., Kunst führte. Nach der Schulzeit auf dem Ffm. 1836. – Die gepriesene Glückseligkeit unserer damaligen Zustände in Dtschld. u. unsere AusKarlsruher Lyzeum studierte B. in Heidelberg sichten für die Zukunft. Weimar 1848. u. Freiburg i. Br. Rechtswissenschaften, war Literatur: Goedeke 1913, S. 279 ff. – W.E. 1811–1814 in Durlach u. in Karlsruhe im Oeftering: Badische Almanache, J. P. Hebel u. F. v. Staatsdienst tätig u. unter anderem mit Jo- B. In: Die Pyramide. Wochenschr. zum Karlsruher hann Peter Hebel bekannt. Bei dem denk- Tagblatt. 20. Jg., Nr. 40., 4. Okt. 1931; Nr. 42, 18. würdigen Zusammentreffen zwischen Goe- Okt. 1931. – Kosch 1 (1968), S. 490. the, Hebel u. dem Architekten Friedrich Hansgeorg Schmidt-Bergmann Weinbrenner, das im Okt. 1815 in Karlsruhe stattfand, war er persönlich anwesend. Als Biedermann, Flodoard (Woldemar) Frhr. Mitarbeiter beteiligte er sich an der Herausvon, * 14.3.1858 Chemnitz, † 19.10.1934 gabe des Musenalmanachs »Rheinblüten«. Berlin-Steglitz. – Buchhändler, SchriftNach dem Abschied aus dem Staatsdienst steller u. Herausgeber. lebte B. mit seiner Frau, der bekannten österr. Sängerin Bonasegla-Schüler, in Wien u. be- B., von Beruf Buchhändler, war nach kurzer arbeitete dort mehrere Stücke für das Theater Beschäftigung beim Verlag Berthold (Berlin) an der Wien. 1824 wurde er Sekretär des neu in der Abteilung für bibliophile Drucke u. der

Biedermann

532

Redaktion der Zeitschriften »Der Baumeister« u. »Typographische Monatshefte« als Verlagsunternehmer u. Editor tätig, v. a. auf dem Gebiet der Literaturgeschichte. Er veröffentlichte mehrere Untersuchungen zum Buchwesen (u. a. zum Urheberrecht) u. – als bibliophiler Kenner – zur Typografie. Für seinen kleinen Leipziger Verlag (F. W. Biedermann) regte er seinen Vater Woldemar von Biedermann zur Herausgabe der ersten Sammlung von Goethes Gesprächen an. Nach dem Tod seines Vaters setzte B. diese Arbeit fort u. gab die Gespräche in einer erweiterten Neuauflage heraus (Goethes Gespräche. 5 Bde., Lpz. 21909–11). Als B. starb, war ein druckreifes Manuskript für eine vermehrte Neuauflage vorhanden, wurde zunächst aber nicht veröffentlicht. Nach dem Vorbild dieses Unternehmens hat B. auch Sammlungen der Gespräche Lessings, Schillers u. Kleists herausgegeben. Weitere Werke: Friedrich Schiller: Gespräche. Lpz. 1913. Neudr. Mchn. 1961. – Heinrich v. Kleist: Gespräche. Lpz. 1912. – Gotthold Ephraim Lessing: Gespräche. Bln. 1924. – Johann Friedrich Unger im Verkehr mit Goethe u. Schiller. Bln. 1927. – Die dt. Typographie im Zeitalter Goethes. o. O. 1928. – Chronik v. Goethes Leben. Lpz. 1931. Literatur: Julius Petersen: F. v. B. In: GoetheJb 21 (1935), S. 207–211. – Ernst Volkmann: F. Frhr. v. B., der Bibliophile. o. O. u. J. [Bln. 1935]. Karlheinz Schulz / Red.

Biedermann, Karl (Friedrich), auch: Karl Friedrich, * 25.9.1812 Leipzig, † 5.3.1901 Leipzig. – Publizist, Politiker u. Historiker; Herausgeber u. Dramatiker. Nach einem philolog. u. philosoph. Studium 1830–1834 in Leipzig u. Heidelberg habilitierte sich B. 1835 in Leipzig, wo er 1838 a. o. Professor für Philosophie wurde. Neben der wissenschaftlichen entfaltete B. eine umfangreiche publizist. u. polit. Tätigkeit. 1842–1845 gab er die »Deutsche Monatsschrift für Literatur u. öffentliches Leben« heraus, deren Nachfolgerin 1846/47 die Vierteljahresschrift »Unsere Gegenwart u. Zukunft« war. 1844–1847 gab B. zudem die Wochenschrift »Der Herold« heraus, die für die dt. Einigung unter preußischer Führung

eintrat. Sein politisches Engagement als Nationalliberaler brachte ihn bald mit den Behörden in Konflikt. 1845 zum Leipziger Stadtverordneten gewählt, trug ihm eine Rede an die sächs. Stände eine gerichtl. Untersuchung sowie das Verbot ein, polit. Vorlesungen zu halten. 1848 kam B. in das Frankfurter Vorparlament, den Fünfzigerausschuss u. die Nationalversammlung. Im März 1849 war er Mitgl. der Deputation, die Friedrich Wilhelm IV. zur Annahme der dt. Kaiserkrone bewegen wollte. Im Mai 1849 zum Vizepräsidenten gewählt, trat B. kurz danach, wie auch andere, aus der Frankfurter Nationalversammlung aus. Als Mitglied der zweiten Sächsischen Kammer vertrat er 1849/50 die preußisch-dt. Unionspolitik gegen den mit Österreich sympathisierenden Partikularismus des Kabinetts Beust: Ein von B. eingebrachter Misstrauensantrag führte zur Auflösung des Parlaments. Danach kämpfte B. gegen die Wiedereinberufung der alten Stände. Diese Aktivitäten zogen ihm als Herausgeber der Zeitschrift »Deutsche Annalen« (1853) anlässlich eines Artikels über den Staatsstreich Napoleons III., den nicht er verfasst hatte, einen Prozess zu. Er verlor seine Professur u. musste 1854 eine einmonatige Gefängnisstrafe verbüßen. B. siedelte nach Weimar über, wo er 1855–1863 die »Weimarische Zeitung« (Titel ab 1856: »Weimarer Zeitung«) herausgab. 1863 kehrte er nach Leipzig zurück u. gab dort bis 1879 die »Deutsche Allgemeine Zeitung« heraus; 1865 wurde er wieder in seine Professur eingesetzt. B. war 1866 einer der Begründer der nationalliberalen Partei in Sachsen, 1869–1876 Mitgl. der zweiten Sächsischen Kammer, 1871–1874 auch Mitgl. des ersten Deutschen Reichstags. B. verfasste histor. Dramen: Kaiser Heinrich IV. (Weimar 1861), Kaiser Otto III. (Lpz. 1863), Der letzte Bürgermeister von Straßburg (Lpz. 1870). Daneben edierte er Heinrich von Kleists Briefe an seine Braut (Breslau 1884) u. schrieb eine Autobiografie: Mein Leben und ein Stück Zeitgeschichte (2 Bde., Breslau 1886). In seinem umfangreichen wiss. Werk beschäftigte sich B. primär mit Kulturgeschichte, in der auch Literaturgeschichte einen breiten Raum einnimmt. Sein bedeutendstes Werk,

533

Biel

Weitere Werke: Goethe-Forsch. 3 Bde., Lpz. Deutschland im 18. Jahrhundert (4 Tle., Lpz. 1854–75. Neudr. Aalen 1969), ist geprägt von 1879–99. Literatur: Adalbert Elschenbroich: W. Frhr. v. seinem bürgerlich-liberalen Standpunkt, in der Breite der Behandlung u. in der Menge B. In: NDB. Karlheinz Schulz / Red. des ausgebreiteten empir. Materials aber unübertroffen. Biel, Gabriel, * um 1410 Speyer, † 7.12. Im Gegensatz zu seiner polit. Tätigkeit ist 1495 Einsiedel bei Tübingen. – Prediger, B.s Rolle in der Publizistik, Literatur u. LiteTheologe u. akademischer Lehrer. raturgeschichte bislang kaum untersucht B. wurde 1432 als Frühmesser zu Speyer in worden. Weitere Werke: Die dt. Philosophie v. Kant bis Heidelberg immatrikuliert. Nach dem Studiauf unsere Tage. 2 Bde., Lpz. 1842/43. Neudr. Aa- um (Magister artium 1438) lehrte er bis len 1973. – Vorlesungen über Sozialismus u. soziale mindestens 1444 an der Artistenfakultät. Ab Fragen. Lpz. 1847. – Erinnerungen aus der Pauls- 1449 ist B. mehrfach in Mainz belegt. In kirche. Lpz. 1849. – Deutschlands trübste Zeit dieser Zeit knüpfte er Verbindungen zur oder: Der 30jährige Krieg u. seine Folgen für das dt. Zisterzienserabtei Eberbach im Rheingau, wo Culturleben. Bln. 1862. – Gesch. Dtschld.s vom er sich vermutlich mehrfach aufhielt. Die Wiener Congreß bis zur Aufrichtung des neuen dt. theolog. Studien führte er in Erfurt fort (imKaiserthums. 4 Bde., Breslau 1891. matrikuliert 1451, jedoch schon vorher dort Literatur: Richard J. Bazillion: K. B. The makbelegt), wo die Zusammenarbeit mit dem ing of a national Liberal. 1837–71. Diss. Ann Arbor 1970 (mit Bibliogr.). – Ders.: Modernizing Ger- Freund Egeling Becker von Braunschweig many. K. B.’s career in the Kingdom of Saxony, begann. Nach einem Aufenthalt in Köln (im1835–1901. New York u. a. 1990. – Goedeke Forts. matrikuliert 1453) promovierte B. 1457 in Karlheinz Schulz / Red. Erfurt zum Lic. theol. Vom 25.12.1457 bis 1465/66 war B. Domprediger in Mainz mit Unterbrechungen während der Mainzer Stiftsfehde (1459–1462), in der er in Adolf Biedermann, (Gustav) Woldemar Frhr. von Nassau den Kandidaten des Papstes unvon, * 5.3.1817 Marienberg/Erzgebirge, terstützte. B. förderte die Neugründung von † 6.2.1903 Dresden. – Goetheforscher. Häusern der Brüder vom gemeinsamen Leben B. studierte 1836–1839 in Leipzig u. Heidel- (u. a. 1463 Marienthal/Rheingau, 1468 Butzberg Rechts- u. Kameralwissenschaften u. trat bach). Als Bruder trat er 1469 in Butzbach ein, 1845 in den sächs. Staatsdienst; bis 1858 stieg wo er als Propst das Schulwesen des Ortes neu er zum stellvertretenden Generaldirektor der gestaltete. Im Juni 1479 wurde er Propst des sächs. Staatsbahnen auf. Uracher Hauses, einem Ruf Graf Eberhards I. Er gehörte zu den nicht wenigen bedeu- von Württemberg folgend, dem er als Berater tenden Goethe-Forschern des 19. Jh., die ihr diente. Von Urach aus versah B. ab 1484 eine wiss. Werk nebenberuflich schufen. Er war theolog. Professur in via moderna an der Mitarbeiter an der Weimarer Ausgabe. Mit Universität Tübingen. 1492 wurde er Propst seinem Hauptwerk, der ersten Sammlung des Bruderhauses auf dem Einsiedel bei Tüvon Goethes Gesprächen (10 Bde., Lpz. bingen. Zu Lebzeiten erzielte B. Breitenwirkung 1889–96), begann er auf Anregung seines Sohnes Flodoard nach seiner Pensionierung durch seine Predigten, die Gründung der im Jahr 1888. Die Materialsammlung stand Bruderhäuser u. die akadem. Lehre. Die Prefür ihn, wie allgemein für die damalige Goe- digttätigkeit erstreckte sich über ein halbes the-Forschung, im Mittelpunkt (Positivis- Jahrhundert (belegt ab 1448). B. hat die lat. mus). Das Maß von »Einfühlung« oder abgefassten Predigten in der Regel vor dem Identifikation, die dabei mitschwang, zeigt Kirchenvolk in dt. Sprache gehalten. Die sich in B.s Versuch, Goethes Elpenor zu voll- handschriftl. Überlieferung in der Universienden (Elpenor, Trauerspiel-Fragment von Goethe. tätsbibliothek Gießen ist nicht vollständig erschlossen. B.s Schüler Wendelin Steinbach Forts. III.-V. Aufzug. Lpz. 1900).

Bieler

534

gab vier Bücher Sermones bearbeitet heraus Weiterentwicklung der Scholastik im 16. u. (Tüb. 1499/1500 u. ö. bis Köln 1619). Aus 17. Jh. An den Universitäten Salamanca u. aktuellen Predigten zur Mainzer Stiftsfehde Coimbra wurde B. bis um 1650 kommentiert. ist das Defensorium oboedientiae apostolicae In Deutschland war Tübingen der Aus(1462) erwachsen (gedr. Tüb. 1500. Neuausg., gangspunkt der Schule der Gabrielisten, zu hg. v. Heiko A. Oberman u. a. Cambridge/ denen auch Luthers Erfurter Lehrer Johann Mass. 1968. Zwei dt. Übers.en sind bekannt). Nathin u. Bartholomäus Arnoldi von Usingen B.s Nachwirkung ist begründet in den in gehörten. Der junge Luther war von B.s Tübingen abgeschlossenen scholast. Werken. Messkommentar tief beeindruckt. Doch als Die Canonis missae expositio (Reutl. 1489 u. ö. Luther von 1517 an die scholast. Theologie bis 1612. Ausg. v. H. A. Oberman u. William J. öffentlich bekämpfte, war sein negatives UrCourtenay, Wiesb. 1963–67), eine 1488 be- teil durch das ihm vermittelte B.’sche System endete Tübinger Vorlesung, war ein umfas- bedingt. sendes pastoraltheolog. Handbuch. Einen Literatur: Leif Grane: Contra Gabrielem. Lugrößeren Anteil seiner Ausführungen hat B. thers Auseinandersetzung mit G. B. in der Dispuaus der Expositio seines Freundes Becker tatio contra Scholasticam Theologiam 1517. Gylübernommen. B.s Hauptwerk, für das Vorar- dendal 1962. – Heiko A. Oberman: The Harvest of beiten bereits aus der Kölner Studienzeit be- Medieval Theology. G. B.2 and Late Medieval Nolegt sind, ist das Collectorium circa quattuor li- minalism. Grand Rapids 1967. Dt. Zürich 1965. – Martin Elze: Hss. v. Werken G. B.s aus seinem bros sententiarum, die letzte große Systematik Nachl. in der Gießener Univ.-Bibl. In: ZKG 81 des ockhamist. Nominalismus. Buch I-III (1970), S. 70–91. – Franz Joseph Burkhard: Philowurden zwischen 1486 u. 1489 abgeschlos- soph. Lehrgehalte in G. B.s Sentenzenkomm. unter sen; an dem nur bis distinctio 23 reichenden bes. Berücksichtigung seiner Erkenntnislehre. Buch IV arbeitete B. bis zu seinem Tod Meisenheim 1974. – Ulrich Bubenheimer: G. B. In: (Erstdr. Tüb. 1501. Mehrere Drucke bis Basel VL. – Herbert Kraume: Die Gerson-Übers.en Gei1588. Neuausg., hg. v. Wilfried Werbeck u. lers v. Kaysersberg. Mchn. 1980 (Register). – Wolfgang Georg Bayerer: G. B.s ›Gratiarum actio‹ u. a. Udo Hofmann, Tüb. 1973–84). B. ist der spiritus rector der Fraterherren- Materialien zu einer Testimonien-Biogr. In: Forbewegung in Deutschland. Seine Überset- sch.en aus der Handschriftenabt. der Univ.-Bibl. Gießen. Gießen 1985 (mit Bibliogr.). – Irene Cruzungen von an den Bedürfnissen von Laien sius: G. B. u. die oberdt. Stifte der devotio moderna. orientiertem Schrifttum, insbes. seine Ger- In: Studien zum weltl. Kollegiatstift in Dtschld. son-Rezeption, ist in diesem Zusammenhang Gött. 1995, S. 298–322. – Nigel F. Palmer: Zisterzu sehen. Die Zielsetzung erklärt auch die zienser u. ihre Bücher. Regensb. 1998 (Register). – Indienstnahme der Druckkunst, die B. in al- Ulrich Köpf u. Sönke Lorenz (Hg.): G. B. u. die len Bruderhäusern anregte. In Marienthal Brüder vom gemeinsamen Leben. Stgt. 1998. – druckte man seine Übertragung von Gersons Joachim Ott: Die Hss. des ehemaligen FraterherOpus tripartitum (ca. 1474, drei Aufl.n). In renstifts St. Markus zu Butzbach. Tl. 2, Gießen seinen letzten Lebensjahren übersetzte B. 2004 (Register). Ulrich Bubenheimer / Christoph Fasbender Hugos von St. Viktor De laude caritatis (ca. 1492/95, gedr. 1518), wobei er Kenntnis der allegor. Versdichtung Die Minneburg (14. Jh.) Bieler, Manfred, * 3.7.1934 Zerbst, an den Tag legt. Mit dem Bu8 chlin inhaltend die † 24.04.2002 München. – ProsaschriftStifftung des Stiffts Sannt Peters zum Ainsiedel im steller, Verfasser von Hör- u. FernsehSchainbuch (Ulm 1493) betätigte er sich als spielen. Chronist der Bewegung. Vermutlich in Butzbach entstanden zwei pädagog. Schriften Nach dem Abitur in Dessau (1952) studierte B.s, die Ars grammatica (Urach ca. 1483) u. die B. in Ostberlin Germanistik u. war nach dem Regula puerorum (Reutl. ca. 1486). Abschluss (Dipl.-Phil.) ein Jahr als wiss. MitDie Druckgeschichte der lat. Werke zeigt arbeiter beim DDR-Schriftstellerverband täB.s europ. Ausstrahlung bis ins 17. Jh. Der tig, bis er 1957 politisch in Ungnade fiel u. Sentenzenkommentar war bedeutsam für die entlassen wurde.

535

Ausgedehnte Reisen führten B. ins europ. Ausland u. (auf einem Fangschiff) bis nach Neufundland. Literarische Ausbeute war der Schelmenroman Bonifaz oder Der Matrose in der Flasche, der 1963 sowohl in der DDR (Berlin) als auch in der Bundesrepublik (Neuwied) erschien. Er schildert die tollkühnen Erlebnisse eines Matrosen, der in den frühen 1950er Jahren erfolglos versucht, politisch »neutral« zu bleiben u. einfach nur – seinem Namen gemäß – Gutes zu tun. B.s erste literar. Veröffentlichung (Der Vogelherd. In: NDH 7, 1955) wurde durch einen Preis bei den 5. Weltjugendfestspielen in Warschau ausgezeichnet. Ambitionierter u. gewandter erwies sich B. in seinem 1958 im Eulenspiegel Verlag (Bln./DDR) erschienenen Parodienband Der Schuß auf die Kanzel oder Eigentum ist Diebstahl (z.T. überarb. u. erw. u. d. T. Walhalla. Hbg. 1987), wo er sich als literarisch kenntnisreicher u. stilsicherer Schüler von Robert Neumann (Mit fremden Federn. Stgt. 1985) erwies. Sein Roman Maria Morzeck oder das Kaninchen bin ich (1963) schildert die soziale Realität der DDR aus der Ich-Perspektive der Kellnerin Maria Morzeck. Die Drucklegung des Romans u. die Ausstrahlung der DEFA-Verfilmung wurden wegen Zweifel an seiner Staatstreue unterdrückt; der Roman erschien 1969 überarbeitet in München (zuletzt Bln. 1998). B. übersiedelte 1965 aus privaten Gründen nach Prag, blieb aber bis 1967 Mitgl. des PEN-Zentrums der DDR. Aufgrund seiner Auseinandersetzung mit der SED u. deren Vorwurf, seine Werke enthielten »schädliche Tendenzen«, entschloss er sich, Bürger der CˇSSR zu werden, übersiedelte aber mit seiner Frau Marcella kurz nach dem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in Prag 1968 nach Süddeutschland. B.s in der Bundesrepublik entstandene Prosaarbeiten zeichnen sich durch genaue histor. Recherchen (Zwischen- u. Nachkriegszeit) sowie durch einen epischen Atem aus, der an seine Vorbilder Fontane u. die russ. Realisten erinnert. In B.s Romanen geht es weniger um polit. Systemkritik u. soziale Utopien als um die Schilderung des Alltags, das Leben von Familien u. einzelnen Perso-

Bieler

nen, um die Schicksalsschläge seiner eher kleinen Helden. B. akzeptierte für sich die Bezeichnung »konservativer Autor«: Ohne sprachexperimentelle Ambitionen u. ohne politisches Sendungsbewusstsein beharrt er auf der »Unterhaltlichkeit« seiner Werke, die durch ihre Menschlichkeit u. Nachdenklichkeit, ihre fesselnde Erzählweise u. stilist. Präzision im Laufe der Jahre ein großes Lesepublikum gewonnen haben. Die literar. Kritik bewertete seine späteren Romane als traditionell u. stand dem Bestsellerautor eher reserviert gegenüber. Der Mädchenkrieg (Hbg. 1975. 31979. Zuletzt Mchn. 1998), B.s erfolgreichster Roman, erzählt aus der wechselnden Perspektive der drei Töchter eines Prager Bankiers die Geschichte einer Familie von den 1930er Jahren bis Kriegsende. Die trag. Zerstörung der anfänglich »heilen« Familie spiegelt die zerstörerischen Auswirkungen des Krieges. Sein Roman Der Kanal (Hbg. 1978. Mchn. 1991) spielt im Münchner Schickeria-Milieu u. schildert ohne krit. Abstand das Labyrinth tragischer Irr- u. Abwege sowie die komischen Verwicklungen einer Ehe. Mit der Liebesgeschichte Ewig und drei Tage (Hbg. 1980. Mchn. 1992) u. dem Roman Der Bär (Hbg. 1983. Mchn. 1991) kehrte B. wieder zu den Alltagsproblemen in der DDR-Gesellschaft zurück. Der Roman Der Bär trägt autobiogr. Züge u. ist in B.s Geburtsort Zerbst angesiedelt. Er verfolgt über zwei Generationen hinweg den schmerzl. Anpassungsprozess einer Familie an die Verhältnisse nach dem Zweiten Weltkrieg. Seine letzte Romanarbeit, Das alte Karussell, konnte B. aufgrund von gesundheitl. Problemen nicht vollenden; sie sollte Thematik u. Motive des Mädchenkriegs aufgreifen. B. verfasste seit 1961 auch Hör- u. Fernsehspiele. Seine Werkliste umfasst mehr als 40 Titel, teils Bearbeitungen literarischer Stoffe, teils Originaldrehbücher. B. wurde 1969 für den Erzählungsband Der junge Roth (Mchn. 1968) mit dem AndreasGryphius-Preis ausgezeichnet. 1971 erhielt er den Bayerischen Förderpreis für junge Literatur u. 1976 den Jakob-Kaiser-Preis für das Fernsehspiel Maria Morzeck.

Bielfeld Weitere Werke: ZAZA. Tüb. 1969 (Urauff. des Theaterstücks). – Drei Rosen aus Papier. Mchn. 1970 (6 Hörsp.e). – Der Passagier. Mchn. 1971 (E.). – Preuß. Nacht. Hbg. 1981 (Filmbuch). – Walhalla. Literar. Parodien. Hbg. 1988. – Still wie die Nacht. Memoiren eines Kindes. Hbg. 1989 (Autobiogr.). – Naïda. Hbg. 1991 (E.en). Literatur: Fritz Raddatz: Eine neue sozialist. Lit. entsteht. In: Ders.: Traditionen u. Tendenzen. Ffm. 1972, S. 372–400. – Christiane Mückenberger (Hg.): Prädikat: Bes. schädlich. Bln./DDR 1990, S. 23–179. – Fritz Gesing: Offen oder ehrlich? Strategien der Abwehr u. Anpassung in drei autobiogr. Werken der Gegenwart. Ludwig Fels ›Der Himmel war eine große Gegenwart ...‹, M. B. ›Still wie die Nacht ...‹, Ludwig Harig ›Weh dem, der aus der Reihe tanzt ...‹. In: Über sich selber reden. Zur Psychologie autobiogr. Schreibens. Hg. Johannes Cremerius. Würzb. 1992, S. 49–94. – Bruno H. Weder: M. B. In: KLG. – Michael Westdickenberg: ›... somit würde man die Darstellung abschwächen, daß dogmatische Verhalten, Karrieristentum, Fehler im Justizapparat gesetzmäßig wären‹. Die Zensur v. Prosalit. der DDR in den sechziger Jahren am Beispiel v. M. B.s Roman ›Das Kaninchen bin ich‹. In: Zensur im modernen dt. Kulturraum. Hg. Beate Müller. Tüb. 2003, S. 163–179. – Herbert Rosendorfer: M. B. In: LGL. Leopold Schuwerack / Red.

Bielfeld, Bielefeld, Jacob Friedrich Frhr. von (Frhr. 1748), * 31.3.1716 (oder 1711 bzw. 1717) Hamburg, † 5.4.1770 Gut Treben/Altenburger Land. – Verfasser populärer staats- u. geisteswissenschaftlicher Schriften. Der Hamburger Kaufmannssohn B. studierte 1732–1735 Rechts- u. Staatswissenschaften in Leiden. 1736 bereiste er die Niederlande, Frankreich u. England. Als Freimaurer lernte B. 1738 den preuß. Kronprinzen Friedrich bei dessen heimlicher Initiation in Braunschweig kennen u. folgte ihm im selben Jahr nach Rheinsberg. 1740 ging er als Legationsrat nach London, dann mit seinem nunmehr kgl. Gönner an den Hof nach Berlin, wo sich seine Hoffnung, Karriere im diplomat. Dienst zu machen, nicht erfüllte. 1744 wurde er Erzieher des Prinzen Ferdinand, 1747 Kurator der preuß. Universitäten, 1753 zusätzlich Leiter der kgl. Schauspiele. Die beiden Ämter konnte er nicht zufriedenstellend ausfüllen

536

u. wurde 1755 hoch verschuldet aus preuß. Diensten entlassen. B.s erstes größeres Werk Progrès des Allemands dans les Sciences, les Belles Lettres et les Arts [...] (Bln. 1752), mit dem er dem französisch sprechenden Europa eine Lektion in dt. Kultur – v. a. in Literatur u. Theater – erteilen wollte, ist im Zusammenhang mit der damals am preuß. Hof lebhaft geführten Diskussion um dt. Sprache u. Literatur zu sehen, aus der auch Friedrichs II. bekannte Schrift über die dt. Literatur (De la littérature allemande) von 1780 hervorgegangen ist. Von seinen Gütern im Altenburgischen wurde B. 1757 durch den Siebenjährigen Krieg nach Hamburg vertrieben, wo er die Staatslehre Institutions Politiques verfasste, deren erste beide Bände 1760 in Den Haag erschienen (ein dritter Band folgte postum 1772). Die Beschreibung der preuß. »Staatsmaschine, in ihre Teile zerlegt, in den Funktionen erläutert, vorgeführt« (Bielfeld) stieß auf ein breites Interesse in ganz Europa. Sie wurde oft nachgedruckt u. in mehrere Sprachen übersetzt. Noch größeren Erfolg erzielten seine Lettres familières et autres (2 Bde., Den Haag 1763), Memoiren in Briefform, in denen erstmals über den preuß. Hof u. insbes. die kgl. Familie ausführlich berichtet wurde. In zahlreichen Neuauflagen u. Übersetzungen ließen sie sich bis ins 19. Jh. hinein verkaufen. Als histor. Quelle sind die Lettres mit Vorsicht zu benutzen. Gegen Ende seines Lebens trat B. mit der Moralischen Wochenschrift »Der Eremit« (Lpz. 1767–69) erstmals als deutsch schreibender Autor an die Öffentlichkeit; die ersten Bände der Zeitschrift wurden ins Französische übersetzt. Während der beginnende Sturm u. Drang in den Städten u. an vielen Höfen den Rationalismus zu überwinden trachtete, fand B. mit unterhaltsamen, teils satirischen, teils schlüpfrigen, teils frömmelnden, stets aber moral. Beiträgen sein Publikum bei Bürgertum u. Landadel, deren Interesse an Sozialpolitik, Justizreform, Gesellschaftsvertrag u. der Sittenlosigkeit bei Hofe noch immer rege war. Nach dem Tod seiner ersten Frau (1757), die die beiden Güter Treben u. Hasselbach in

Bienek

537

die Ehe eingebracht hatte, heiratete B. 1764 Dorothea von Boden, die ihn überlebte. B. hinterließ zwei Söhne: Heinrich u. Ferdinand. Weitere Werke: Premiers Traits de l’Érudition Universelle [...]. 3 Bde., Den Haag 1766. – Amusemens dramatiques. Leiden. 1768. – Übersetzung: Montesquieu: Betrachtungen über die Ursachen der Größe u. des Verfalls der Römer. Bln. 1742. Literatur: Jöcher/Adelung 1, Sp. 1843 f. – Gerda Voss: J. F. Frhr. v. B. Ein Beitr. zur Gesch. Friedrichs des Großen u. des ausgehenden Rationalismus. Bln. 1928. – Eugen Lennhoff u. Oskar Posner: Internat. Freimaurerlexikon. Zürich 1932, S. 462. – Friedel Stößl: J. F. v. B. Sein Leben u. Werk im Lichte der Aufklärung. Forchheim 1937. – Kosch 1 (1968), S. 495. Hans Leuschner / Lea Marquart

Bienek, Horst, * 7.5.1930 Gleiwitz/Oberschlesien, † 7.12.1990 München. – Romancier, Erzähler, Lyriker, Essayist. Eine Kindheit im Septemberlicht, d.h. eine Kindheit im Schatten des Krieges u. des drohenden Verlusts der Heimat, damit auch die Urszene der Vertreibung aus dem Paradies der Kindheit in das Dasein des Erwachsenen, füllt ein großes Bildfeld im lyrischen, epischen u. essayist. Werk B.s. Hineingeboren in eine von Krieg u. Nationalsozialismus gezeichnete Generation, als Bewohner eines Landes an der Grenze hat er Vertreibung, Flucht, Gefangenschaft u. Exil in jungen Jahren erfahren, ehe er diese Situationen als myth. Muster menschl. Existenz in seinem Werk gestaltet hat. Als Sohn eines Lokomotivführers (der preuß. Staatsbahn) wuchs B. zus. mit fünf älteren Geschwistern in Gleiwitz auf. Die Mutter, geb. Piontek, war Klavierlehrerin. Sie ist das Vorbild der Valeska Piontek in B.s großem Erzählwerk, das unter der Bezeichnung »Gleiwitzer Tetralogie« weit über den deutschsprachigen Raum hinaus bekannt geworden ist. Nach der Besetzung Schlesiens durch russ. Truppen (1945) wurde B. als Demontagearbeiter in den VOS-Drahtwerken seiner Heimatstadt dienstverpflichtet u. 1946 nach Köthen in Anhalt umgesiedelt. »Ehe er Kind war«, berichtet B. 1987, »war die Kindheit schon vorbei.« Bei Jean Weidt in

Berlin wollte er Tanz studieren, doch wurde dessen expressives Tanztheater von den Behörden verboten. So suchte er sich einen neuen Lehrmeister u. fand ihn in jenem Mann, »dessen Gedichte dieses Jahrhundert überdauern werden« (In: Das allmähliche Ersticken von Schreien. Sprache und Exil heute. Münchner Poetik-Vorlesungen. Mchn. 1987). B. wurde 1951 in die Meisterklasse Bertolt Brechts in Ostberlin aufgenommen. Seine Prüfungsarbeit für die Aufnahme in das Berliner Ensemble trug den Titel Elemente des epischen Theaters in Julius Hays Theaterstück ›Haben‹. Brechts Kleines Organon für das Theater (1948) wurde B.s Glaubensbekenntnis u. sein Kanon. Weil im Notizbuch eines nach Westberlin geflüchteten u. nach Ostberlin entführten ehemaligen SED-Abgeordneten auch seine Adresse gefunden wurde, wurde B. am 7.11.1951 verhaftet u. am 12.4.1952 von einem sowjet. Militärtribunal wegen »Spionage« u. »Antisowjethetze« zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Einem Entlastungsversuch des Berliner Ensembles für den jungen Mitarbeiter hat sich Brecht verweigert. 22 Jahre war B. alt, als er im Archipel Gulag, in Schacht 29 des Lagers Workuta (zwischen Nordural u. Eismeer), als Kohlenhauer täglich zwölf Stunden unter Tage arbeitete. Amnestiert, wurde er, zus. mit den dt. Kriegsgefangenen, 1955 in die Bundesrepublik entlassen. Das Gefühl der Gefangenschaft blieb lange in ihm, sodass er als Regisseur in der Verfilmung des Romans Die Zelle (Mchn. 1968) den Zuschauer keinen Augenblick aus dem Bannkreis des Gefängnisses entlässt. Der Monotonie der Hölle entfloh er in die Erinnerung der Kindheitsparadiese, doch nahm er das Bewusstsein der Bedrohung u. den Glauben an eine Gemeinschaft der – bei Jean Cayrol gefundenen – »lazarenischen Literatur« in das neue Thema seines Werks mit. Nach einem Aufenthalt in Köln arbeitete B. zunächst 1957–1961 als Kulturredakteur beim Hessischen Rundfunk in Frankfurt/M. u. anschließend als Cheflektor des Deutschen Taschenbuchverlags in München. Von da an bis zu seinem Tode war er – als freier Schriftsteller – eine zentrale Gestalt im Kulturleben der Bundesrepublik.

Bienek

B. war Mitgl. der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung (in Darmstadt) u. Vizepräsident der Bayerischen Akademie der Schönen Künste (in München). Für sein filmisches u. sein literar. Werk wurde er vielfach ausgezeichnet. Für die Kinofassung des Films Ezra Pound, 80 erhielt er 1966 den Dokumentarfilmpreis in Oberhausen, für die Regie im Film Die Zelle 1971 das Filmband in Gold. 1969 erhielt er für den Roman Die Zelle den Literaturpreis der Freien Hansestadt Bremen, 1975 für den ersten Band der »Gleiwitzer Tetralogie« (Die erste Polka. Mchn. 1975) den Hermann-Kesten-Preis u. im gleichen Jahr den Wilhelm-Raabe-Preis; 1978 den Kulturpreis Schlesien, 1981 den Nelly-Sachs-Preis der Stadt Dortmund u. 1983 den AndreasGryphius-Preis. In seinen letzten Lebensjahren arbeitete B. auch als Maler u. Bildhauer; von den Arbeiten im neuen Medium zeugen fünf farbige Lithografien in dem bibliophilen Band Auf der Suche nach Proust (Ess., mit 5 farbigen Lithografien v. H. B. Denklingen 1988). Aus dem Arbeitslager schon hatte B., geschrieben auf Zigarettenpapier u. versteckt in einer Zahnpasta-Tube, Gedichte mitgebracht, die er 1957, zus. mit neu geschriebenen Texten, im Traumbuch eines Gefangenen (Mchn.) veröffentlichte. Auch wenn Peter Huchel die metaphor. Verschlüsselung der Zeugenschaft des Terrors rügte, ist B. doch in seiner Lyrik – vom Traumbuch bis zu den Stimmen von Guatemala (Akzente 1985) – mit-leidender u. anklagender Zeuge der Gewalt geblieben. B.s Gedichte, mit denen er den Brecht-Ton eigenständig weiterentwickelte, schreiben an jenem »Buch der Opfer« fort, in dem die Wörter, wie Klopfzeichen von Gefangenen, die Hoffnung u. die Sehnsucht nach der Verbindung mit dem Leben, nach der Befreiung aus innerer Isolationshaft signalisieren. Erzählung u. Film sind zu Beginn von B.s Werk noch gleichgeordnete Ausdrucksmittel, sodass der monologisch u. sprachexperimentell strukturierte Roman Die Zelle, in dt. Sprache tatsächlich das »einzige literarische Zeugnis des Archipel Gulag«, mit der gleichzeitigen Lyrik den »Mythos der Zeit« zu erkunden strebte. B. selbst hat dieses Buch als einen Roman über den Stillstand der Zeit gedeutet,

538

von deren linearem Ablauf das Bewusstsein des Gefangenen ausgeschlossen ist, sodass er die Zeit nicht mehr »er-messen« kann, die Gefängnismauern in ihm selbst wachsen. Schon 1965 aber stellte der Autor in dem lyr. Zyklus Gleiwitzer Kindheit, der 1976 auch seiner ersten Gedichtsammlung (Gleiwitzer Kindheit. Gedichte aus zwanzig Jahren. Mchn. 1976) den Namen gab, ein großes Erzählwerk vor, das dann in vier Bänden, mit den Titeln Die erste Polka (Mchn. 1975), Septemberlicht (Mchn. 1977), Zeit ohne Glocken (Mchn. 1979) u. Erde und Feuer (Mchn. 1982) erschien. Der Band Beschreibung einer Provinz. Aufzeichnungen, Materialien, Dokumente (Mchn. 1983) wurde zunächst als ein dokumentar. Nachtrag zu dieser Tetralogie, die 1987 verfilmte Erzählung Königswald oder Die letzte Geschichte (Mchn. 1984) als das Satyrspiel einer episch gestalteten Tragödie Schlesiens gedeutet. Mit dem Zyklus Gleiwitzer Kindheit, auch wenn er dem ersten Roman vorausgeht, ist B. gleichsam aus der Zelle herausgetreten; er hat den geschichtslosen Raum »nicht verrinnender Zeit« verlassen u. ist in den der Erinnerung u. der Geschichte eingetreten. Die neue Erfahrung, Geschichte, perspektivisch verkürzt, aus der Erinnerung eigener Kindheit hervorrufen zu können, u. zgl. die Erinnerung für viele vorbildlich u. damit geschichtsmächtig zu machen, prägt die »Gleiwitzer Tetralogie«. So hat B. im letzten Roman (Erde und Feuer) die Technik der Situierung des Geschehens auf einen einzigen Tag aufgegeben u. die epische Geste, in der Beschreibung der schles. Flucht u. der Zerstörung Dresdens, auch in der Erzählhaltung verwirklicht. Der »Held« dieser Romane ist nicht Josel Piontek, jener 1939 15-jährige Junge, auch nicht dessen Mutter Valeska, sondern – nach einem bekannten Wort Heinrich Bölls – Oberschlesien oder Gleiwitz oder, wie es das Motto in Zeit ohne Glocken ausweist, das »gewaltige Leben, wie es ist«. Im Spannungsfeld »erzählter Provinz« (Norbert Mecklenburg) wurde B. der Erzähler Schlesiens, wie Günter Grass der Erzähler Westpreußens u. Uwe Johnson der Mecklenburgs geworden ist. Die Beschreibung einer Provinz ist nur scheinbar ein dokumentarischer Nachtrag zu den rd. 1500 Seiten der

539

Tetralogie; als literar. Tagebuch nämlich gewinnt dieser Text eine neue Stufe in B.s Werk, das sich nun von der Frage nach der Rolle der Kunst in Zeiten der Gewalt der unmittelbaren Gegenwart zuwendet u. die polit. Unruhen in Polen mit der Entstehung der Romane parallelisiert. Von diesem Tagebuch aus ist der Weg zu den Münchner Poetik-Vorlesungen, in denen das Exil der Schriftsteller aus der eigenen Erfahrung der Sprachisolation u. der Verwurzelung in der »Heimat-Sprache« gedeutet wird, nicht mehr weit, sodass sich hier nahtlos die poet. Konfrontation der Erinnerung (auch an die Romanentstehung) mit der aktuellen Realität von Gleiwitz (Gliwice) anschließt (Reise in die Kindheit. Wiedersehen mit Schlesien. Mchn. 1988). Wie der von ihm zitierte Rumäne E. M. Cioran versuchte B., nicht »der Epigone seiner Schmerzen« zu sein, sondern schreibend u. handelnd einzugreifen in eine von kultureller Auszehrung betroffene Welt. Der Schritt von der Geschichte in die handelnd erfahrene Gegenwart, formal der vom Roman zu Tagebuch, Essay u. literar. Reportage, belegt den Willen, die Zeit u. ihre erinnernde Verwandlung nicht den Computern zu überlassen, sondern mitzuwirken, dass die Poesie als das Gedächtnis u. das Gewissen der Menschheit bewahrt bleibt. Weitere Werke: Nachtstücke. Mchn. 1959. – Borges, Bulatovic, Canetti. Drei Gespräche mit H. B. Mchn. 1965. – was war was ist. Mchn. 1966 (G.e). – Vorgefundene Gedichte. Poèmes trouvés. Mchn. 1969. – Bakunin, eine Invention. Mchn. 1970. – Solschenizyn u. a. Aufsätze. Mchn. 1972. – Der Verurteilte. Mit zwölf Kaltnadelradierungen v. Carl-Heinz Wegert. Mchn. 1972. – Die Zeit danach. Gedichte, Offsetlithographien v. Bernard Schultze. Düsseld. 1974. – Der Freitag der kleinen Freuden. Düsseld. 1981 (E.en). – Der Blinde in der Bibl. Literar. Portraits. Mchn. 1986. – Der nichtverlorene Sohn. Eine Erzählung. Denklingen 1988. – Wer antwortet wem. Mit einem Nachw. v. Tilmann Eigner. Mchn. 1991 (G.e). – Interviews: Werkstattgespräche mit Schriftstellern. Mchn. 1962. – Adelbert Reif: Der Verständigungsprozeß kann nur ›von unten‹ geführt werden. Gespräch mit dem Schriftsteller H. B. In: Universitas 45 (1990), S. 513–522. – Verfilmungen: Die Zelle (1970). – Die erste Polka (1978). – Schloß Königswald (1987).

Bienek Übersetzung: Selected Poems 1957–87. Greenboro/North Carolina 1989 (engl.). Literatur: Bibliografien: Martina Goyke: In: H. B. Ansprachen u. Dokumente zur Preisverleihung am 13.12.1981 im Großen Haus der Städt. Bühnen. Kulturpreis der Stadt Dortmund. Nelly-Sachs-Preis 1981. Dortm. 1981, S. 32–45. – Linda Morita. In: B. lesen. Materialien zu seinem Werk. Hg. Michael Krüger. Mchn. 1980, S. 226–254. – Tilman Urbach (Hg.): H. B. Aufsätze. Materialien. Bibliogr. Mchn. 1990. – Weitere Titel: Walter Dimter: Kontrastierung u. Mitexistenz. Zur Bedeutung Eichendorffs bei B. In: Aurora 40 (1980), S. 199–212. – Wolfgang Frühwald: Sprache als Heimat. Zu H. B.s Gleiwitzer Tetralogie. In: Arbitrium 1 (1984), S. 322–331. – W. Dimter: A la recherche d’un pays perdu. H. B.s ›Beschreibung einer Provinz‹ In: Schlesien als Aufgabe interdisziplinärer Forsch. Hg. Lothar Bossle u. a. Sigmaringen 1986, S. 103–122. – Heinz Friedrich: ›Es ist alles so weit weg‹. Zum Tode v. H. B. In: Dt. Akademie für Sprache u. Dichtung. Jb. 1990, S. 162–165. – Hubert Orlowski: Zur Bedeutung Eichendorffs in den Romanen v. H. B. In: Studia Germanica Posnaniensia 14 (1990), S. 105–117. – Karol Koczy: ›Die erste Polka‹ oder eine friedl. Koexistenz vor ihrem Ende. In: Das literar. Antlitz des Grenzlandes. Hg. Krzysztof Kuczynski u. Thomas Schneider. Ffm. 1991, S. 89–98. – K. Kuczynski: Zu H. B.s Auffassung der Heimat. Ebd., S. 84–88. – Ernst J. Krzywon: Poesie u. Poetik des Mitleidens. Der oberschles. Lyriker H. B. (1930–90). In: Lit. im Kulturgrenzraum. Zu einigen Aspekten ihrer Erforsch. am Beispiel des deutsch-poln. Dualismus. Hg. Tadeusz Namowicz u. Jan Mizinski. Lublin 1992, S. 19–29. – Norbert Honsza: Zwischen Zeithistorie u. Privathistorie. Zum Umgang mit Heimatgesch. bei Günter Grass, Siegfried Lenz, H. B. u. Christa Wolf. In: Ders.: Lit. als Provokation. Breslau 1994, S. 133–142. – Hans Otto Horch: Gleiwitz, Lubowitz, Auschwitz. Die Dimensionen der Schoah in den Gleiwitz-Romanen H. B.s. In: Vom Umgang mit der Schoah in der Nachkriegslit. In: ZfdPh 114 (1995), Sonderh., S. 85–112. – H. Orlowski: Zur Rezeption dt. Lit. in Polen [...]. In: Dt. Lit. in Polen nach dem Zweiten Weltkrieg. Bearb. v. Peter Mast. Bonn 1998, S. 23–41. – Izabela Surynt: Die Auseinandersetzung um oberschles. Personennamen im Spiegel der Lit. In: Convivium 1999, S. 65–89. – Winfrid Halder: Schles. Apokalypse [...]. In: Schlesien. Hg. Frank-Lothar Kroll. Bln. 2000, S. 149–186. – Sebastian Mrozek: H. B.s ›Gleiwitzer Tetralogie‹. Eine provokante Literarisierung Oberschlesiens. In: Convivium 2001, S. 155–171. – Thomas Bernd Ahrens: Heimat in H. B.s ›Gleiwit-

Bierbaum zer Tetralogie‹. Erinnerungsdiskurs u. Erzählverfahren. New York u. a. 2003. – Bozena Choluj: Grenzlit.en u. ihre subversiven Effekte [...]. In: IASL 28 (2003), H. 1, S. 57–87. – T. Urbach: H. B. In: LGL. Wolfgang Frühwald / Wilhelm Kühlmann

Bierbaum, Otto Julius, auch: Martin Möbius, * 28.6.1865 Grünberg/Niederschlesien, † 1.2.1910 Kötzschenbroda bei Dresden; Grabstätte: München, Waldfriedhof. – Herausgeber, Publizist, Romancier u. Reiseschriftsteller. B. stammte aus kleinbürgerl. Verhältnissen. Sein Vater, gelernter Konditor, betrieb nach dem Konkurs seiner Bäckerei ein Gasthaus in Leipzig, die Mutter war eine Bergmannstochter aus Sachsen. Seine Jugend verbrachte B. in Dresden, wo er das Freimaurer-Institut besuchte, bevor er auf die Schule der Thomaner nach Leipzig wechselte. Nach seinem Abitur in Wurzen studierte er Jura u. Philosophie in Zürich, Leipzig u. München, später in Berlin auch Persisch u. Chinesisch, um sich auf den Konsulatsdienst in China vorzubereiten. 1889 musste er wegen der finanziellen Schwierigkeiten seines Vaters das Studium ohne Abschluss beenden u. zog nach München. Dort schrieb er für die naturalist. Zeitschrift »Die Gesellschaft«, die von Michael Georg Conrad herausgegeben wurde, den B. sehr bewunderte. Im gleichen Jahr begründete er die »Gesellschaft für modernes Leben« mit u. gab 1891 seine erste literar. Zeitschrift »Modernes Leben. Ein Sammelbuch der Münchner Modernen« heraus. Es folgten der »Moderne Musen-Almanach auf das Jahr 1893«, in dem B. junge Autoren versammelte, die sich zum Naturalismus oder Jugendstil bekannten u. sich gegen die Vorherrschaft der epigonalen Literatur Geibels u. Heyses wandten. Vom »Modernen MusenAlmanach« erschien lediglich ein weiterer Jahrgang (beide Jahrgänge illustriert von Franz Stuck u. Hans Thoma). Bereits als Student schrieb B. ab 1887 Rezensionen u. Feuilletons u. a. für die »Neue Freie Presse«, in denen er zum Kunst- u. Literaturbetrieb seiner Zeit Stellung nahm u. zunächst einen

540

ästhet. Naturalismus propagierte. Im Herbst 1893 ging B. nach Berlin, um dort die Redaktion der »Freien Bühne« zu übernehmen. Nach einem Zerwürfnis mit dem Verleger S. Fischer übernahm er ab 1895 mit Julius Meier-Gräfe die Herausgabe der literarisch u. buchkünstlerisch wichtigen Zeitschrift »Pan«. Nach dem Ausscheiden aus der Redaktion gab er bei Georg Müller in München für die Jahre 1897 u. 1899 das Kalenderbuch Der bunte Vogel heraus (Buchschmuck u. a. von Felix Vallotton u. Peter Behrens). Im Okt. 1899 gründete B. mit Rudolf Alexander Schröder u. Alfred Walter Heymel die in Ausstattung u. Inhalt dem »Pan« ähnliche Zeitschrift »Die Insel«, an die er viele der Autoren band, die später zum Stamm des Insel Verlags gehörten. »Die Insel« musste aus Kostengründen nach dem 3. Jahrgang (Neudr. Ffm. 1981) eingestellt werden. 1900 gab B. die außerordentlich erfolgreiche Anthologie Deutsche Chansons (Bln./Lpz.) heraus. Zwischen 1893 u. 1900 lebte er zeitweise auf Schloss Eppan in Südtirol, Berlin u. Wien, bevor er von 1900 bis 1909 wieder hauptsächlich in München tätig war. Erst kurz vor seinem Tod zog er nach Dresden. B. hat sich zunächst v. a. als Herausgeber u. Organisator von Zeitschriften u. Sammelwerken einen Namen gemacht. Seine genaue Kenntnis des literar. Lebens spiegelt sich auch in seinen eigenen Werken, die teilweise als Schlüsseltexte gelesen werden können. 1901 übernahm er die Leitung des Trianon-Theaters in Berlin mit dem Ziel, die Form des Kabaretts als lyrisches Theater zu reformieren u. ein breiteres Publikum ohne Niveauverlust zu erreichen. Da die neue Harmonie zwischen Wort, Bewegung u. Musik beim Publikum keinen Anklang fand, schloss B. das Theater nach der Premiere wieder, da er keine ästhet. Kompromisse eingehen wollte. Auch sein Engagement als Herausgeber der Wochenschrift »Die Zeit« in Wien dauerte nur sieben Monate (1902/03). Nach 1900 war B., der zunehmend unter Depressionen litt, künstlerisch u. menschlich weitgehend isoliert. Er wandte sich von der Moderne ab u. klass. Autoren zu. 1905, 1907 u. 1908 gab er den »Goethe-Kalender« her-

541

aus. Abgesehen von den immer wieder in neuer Ausstattung u. Anordnung erscheinenden Auswahlen eigener Dichtung (z.B. Das seidene Buch. Eine lyrische Damenspende. Stgt. 1904) widmete sich B. in immer stärkerem Maße der Planung u. Herausgabe von bibliophil gestalteten Einzelwerken u. Reihen sowie Bearbeitungen (Die Bücher der Abtei Thelem. Mchn./Lpz. 1910 ff. Don Pasquale nach Donizetti. Bln. 1902. Das Gespenst von Matschatsch nach Oscar Wilde. Mchn. 1905. Zäpfel Kerns Abenteuer nach Carlo Collodi. Mchn. 1905. Neudr. Weimar 1986). B. hinterließ ein breites literar. Werk. Das Formenspektrum reicht in der Lyrik von impressionistisch-sinnl. Gedichten im Stil seines Freundes Liliencron bis hin zur kunstvollen Nachahmung historischer Stile, insbes. aus der Zeit des Rokoko u. der Anakreontik. Anlehnung an literar. Vorbilder zeichnet auch seine Prosawerke u. Dramen aus. B.s erstes Buch, der Erzählungsband StudentenBeichten (Mchn. 1893. 2. Reihe 1897), steht in der Tradition des Burschenschaftsulks. Der ehemalige Corpsstudent B. plaudert humorvoll Derbes u. Schlüpfriges aus – am Ende moralisierend im Stil der Zeit. Von gleichem Geist getragen sind der Roman Die Freiersfahrten und Freiersmeinungen des weiberfeindlichen Herrn Pankrazius Graunzer, der Schönen Wissenschaften Doktor, nebst einem Anhange wie schließlich alles ausgelaufen (Bln. 1896) u. der Roman Die Schlangendame (Bln. 1896. Auch als Drama: Mchn./Lpz. 1905). Peter Rosegger fand den Pankrazius Graunzer so umwerfend komisch, dass er B. über Jean Paul stellte. Stilpe. Ein Roman aus der Froschperspektive (Bln. 1897), von Johannes Schlaf als »beste[r] Roman der letzten Jahre« begrüßt, spiegelt mit dem Leben Stilpes, des verbummelten Studenten, Zeitschriftengründers u. Kabarettisten, in Anlehnung an Henri Murgers Scènes de la vie de Bohème (1851) ein Stück Autobiografie u. Berliner Künstlerleben wider. Allerdings verarbeitet B. in seiner tragikom. Verkehrung des Bildungsromans den Konflikt zwischen Kunst u. Leben kaum ernsthaft, wie die zahlreichen Seitenhiebe, Aperçus u. iron. Brechungen zeigen. Ernst von Wolzogen ließ sich durch Stilpe zur Gründung seines Kabaretts »Überbrettl« anregen.

Bierbaum

Der Roman Das schöne Mädchen von Pao (Bln. 1899), aus B.s chines. Studien erwachsen, kam dem Bedürfnis der Zeit nach Exotischem entgegen. Die Prachtausgabe fertigte die Traditionsdruckerei Enschede in Haarlem. B. trat mit vielen seiner Bücher als Förderer der Druckkunst hervor. Mit seinen unter Pseudonym erschienen Steckbriefen, erlassen hinter dreißig literarischen Übeltätern gemeingefährlicher Natur mit getreuen Bildnissen der Dreißig versehen von Bruno Paul (Lpz. 1900) entwickelte er das Genre der literar. Karikatur zu neuer Schärfe weiter. In der ersten automobilisierten Italienreise (Eine empfindsame Reise im Automobil. Bln. 1903) verschränkt B. die überkommenen Darstellungsmuster des Reiseberichts geschickt mit den Bedingungen des modernen Verkehrsmittels u. lobt früh den Vorzug der Individualreise, die erst das Auto nach der Vermassung durch den Bahntourismus wieder ermögliche. An seinem umfangreichsten Werk, Prinz Kuckuck. Leben, Thaten, Meinungen und Höllenfahrt eines Wollüstlings (3 Bde., Mchn./Lpz. 1906/07. Neuausg. Mchn. 1980), arbeitete B. mehrere Jahre. Mit der Schilderung der Abenteuer des Felix Henry Hauart folgt B. wie in Stilpe äußerlich dem Schema des Bildungsromans, das allerdings auch hier zur »Verbildung« invertiert ist. Die Stationen, die der Protagonist durchläuft, fügen sich zu einem brillanten Zeit- u. Sittenbild der Jahrhundertwende, einer pointenreichen Charakterisierung der wilhelmin. Gesellschaft mit teilweise grotesken Überzeichnungen herrschender Geistesströmungen wie Sozialismus, Antisemitismus u. Naturalismus. Die überzogene Zeitanalyse des zum Teil als Schlüsselroman zu lesenden Werks durchbricht allerdings die künstler. Geschlossenheit. Dieses Urteil gilt auch für B.s Dramen. In Stella und Antonie (Mchn. 1903) etwa stellt er den Konflikt des Schauspieldirektors Johann Christian zwischen der gebildeten Komtesse Antonie u. der sinnl. u. grausamen Stella dar; auch hier spielt B. mit histor. Versatzstücken, ohne dass das tragische Ende der schwachen Hauptfigur dramaturgisch u. psychologisch glaubhaft würde.

Biermann

542

Trotz seiner zentralen Stellung im letzten Biermann, Pieke, eigentl.: Lieselotte, Jahrzehnt des 19. Jh. geriet B. nach seinem * 22.3.1950 Stolzenau/Weser. – KrimiauTod schnell in Vergessenheit. Die ab 1912 von torin u. feministische Journalistin; ÜberMichael Georg Conrad u. Hans Brandenburg setzerin. herausgegebene u. auf zehn Bände konziNach dem Studium der Germanistik, Anpierte Werkausgabe (Gesammelte Werke. Mchn. glistik u. Politikwissenschaft in Hannover u. 1912–21) musste nach dem siebten Band Padua (1976 Magisterarbeit über unbezahlte wegen zu geringer Nachfrage eingestellt Hausarbeit), unternahm B. einen Promotiwerden. onsversuch über Hexen- u. Hurenwesen. Sie Weitere Werke: Lobetanz. Bln. 1895 (Singsp.). arbeitete als Verlagslektorin u. Postange– Stuck. Mchn. 1899 (Ess.). – Gugeline. Lpz. 1899. stellte sowie (bis 1980) als Prostituierte in Neudr. 1986 (D.). – Pan im Busch. Bln. 1900 (Ballett). – Irrgarten der Liebe. Bln./Lpz. 1901 (L.). – Hannover u. Westberlin u. hatte zeitweise Sonderbare Gesch.n. Mchn. 1908. – Yankee- eine Spitzenfunktion in der bundesdt. Hudoodlefahrt. Mchn. 1909 (Reiseber.). – Briefe: Briefe renbewegung (1980–1988) inne. B. ist mit an Gemma (geb. Pruneti-Lotti). Vorw. v. Peter dem »Krimi-Papst« Thomas Wörtche verheiScher. Mchn. 1921. ratet. Ausgabe: Ges. Werke. 7 Bde., Mchn. 1912–21. Erste journalist. Arbeiten erschienen ab Literatur: Bibliografie: Alfred v. Klement: B.- 1976, daneben Übersetzungen aus dem ItaBibliogr. Wien u. a. 1957. – Stankovich 1971 (s. u.). lienischen u. Englischen wie Agatha Christie, – Weitere Titel: Julius Bab: Die Berliner Boheme. Tod auf dem Nil (Bern u. a. 1999. Ffm. 2004). Bln. 1904. – Albert Soergel: Dichtung u. Dichter Bekannt wurde B. darüber hinaus durch die der Zeit. Lpz. 1911, S. 523–532. – O. J. B. zum Herausgabe von Kriminalgeschichten (1994 Gedächtnis. Mchn. 1912. – Hans Schwerte: O. J. B. u. a.) sowie TV-Arbeiten. Ihr Krimidebüt gab In: NDB. – Klaus Peter Muschol: O. J. B.s dramat. sie mit Potsdamer Ableben (Bln. 1987) im RahWerk. Bamberg 1961. – Fritz Schlawe: Literar. 2 Ztschr.en 1885–1910. Stgt. 1965. – Horst Stobbe: men ihres Projektes »Berlin schreiben«. Als Begegnungen mit der Bibl. v. B. In: Imprimatur 5 Vorbild nennt B. explizit Döblins Berlin Alex(1967), S. 221–230. – Roy L. Ackerman: Bildung anderplatz. Vorherrschendes Stilelement ihrer and Verbildung in the Prose Fiction Works of B. aktionsreichen Romane um die Berliner Bern/Ffm. 1974. – Dushan Stankovich: B. – eine Kommissarin Karin Lietze u. die fiktive HuWerkmonogr. Bern/Ffm. 1971. – William H. Wil- renmafia MIGRÄNE ist ein atemloses Halbkening: O. J. B.s Relationship with his Publisher. satz-Stakkato voller authentischer Berliner Göpp. 1974. – Ders.: O. J. B.: The Tragedy of a Poet. Dialekt- u. Slangausdrücke. B. erhielt 1991, A Biography. Stgt. 1977. – Erwin Koppen: O. J. B., 1994 u. 1998 den Deutschen Krimipreis (für ein dt. homme de lettres an der Schwelle zur MoVioletta, Herzrasen u. Vier, fünf, sechs) sowie derne. In: Das Wagnis der Moderne. Hg. Paul Gerhard Klussmann. Ffm. 1993, S. 215–231. – Yun- 1990 das 3sat-Stipendium beim IngeborgMu Liu: O. J. B. u. China. Diss. Bonn 1994. – Ute Bachmann-Wettbewerb. von Pilar: Studenten-, Künstler- u. Bohemefiguren im Erzählwerk O. J. B.s. Beziehungen zwischen Außenseitern u. bürgerl. Gesellsch. im ausgehenden 18. Jh. Diss. Mainz 1995. – York-Gothart Mix: Ohne Tb. u. Almanach in die Moderne. O. J. B.s ›Moderner Musen-Almanach‹ (1893–94) im medienhist. Kontext. In: Literar. Leitmedien. Hg. P. G. Klussmann u. a. Wiesb. 1998, S. 183–199. – Adam Franz: ›In schweigender Nacht draußen‹. O. J. B.s Pasinger Jahre u. sein ›Zeitroman‹ Prinz Kuckuck (1906/07). In: helle döne schöne. FS Wolfgang Walliczek Hg. Horst Brunner. Göpp. 1999, S. 361–387. Detlef Haberland / Thorsten Fitzon

Weitere Werke: Wir sind Frauen wie andere auch. Prostituierte u. ihre Kämpfe. Reinb. 1980. – Power muss Elektra wagen. Ffm. 1993 (Ess.). – Berlin, Kabbala. Bln. 1997 (E.en). – Herta & Doris. Very short Stories. Mchn. 2002. – Gojisch gesehen. Feuilletons. Kranichstein 2004. – Übersetzungen: Stefano Benni: Die Bar auf dem Meeresgrund. Mchn. 1992. Bln. 1999 (aus dem Italienischen). – Liza Cody: Gimme more. Zürich 2003. 2004 (aus dem Englischen). Literatur: Florian Felix Weyh: P. B. In: LGL. – Dieter Paul Rudolph: Berolina kaputt mundi. Piekoreske Romane. In: Krimijb. 2007. Wuppertal 2007, S. 63–65. – Christina Bacher: Ein Gespräch mit P. B. Ebd., S. 66–71. Klaus-Peter Walter

543

Biermann, Wolf, * 15.11.1936 Hamburg. – Liedermacher, Lyriker u. Übersetzer. B. wuchs in einer altkommunistischen Arbeiterfamilie auf. Sein Vater wurde als Widerstandskämpfer von den Nationalsozialisten verhaftet u. 1943 in Auschwitz ermordet. 1953 übersiedelte B. in die DDR, studierte an der Humboldt-Universität in Ostberlin Politische Ökonomie, Philosophie, Mathematik u. arbeitete zwischendurch als Regieassistent beim Berliner Ensemble. Großen Einfluss auf seine spätere Kompositionstätigkeit nahm die Begegnung mit Hanns Eisler. Spätestens seit Beginn der 1960er Jahre bezeichnete er sich selbst als Lyriker u. Liedermacher in Analogie zum Brecht’schen »Stückeschreiber«. Seine krit. Lieder brachten ihn zunehmend in Konflikt mit der SED, aus der er 1963 ausgeschlossen wurde. Als 1965 sein Gedichtband Die Drahtharfe (Bln.) erschien, erhielt er Auftrittsverbot. Darauf folgten elf Jahre der weitgehend isolierten Produktion in der Chausseestr. 131; die gleichnamige LP wurde in der Bundesrepublik veröffentlicht. 1976 erhielt B. die Genehmigung zu einer von der IG Metall veranstalteten Tournee durch die Bundesrepublik u. wurde, obwohl ihm die Wiedereinreise ausdrücklich zugesichert worden war, drei Tage nach dem ersten Konzert in Köln ausgebürgert. Heftige Solidaritätsproteste u. ein erheblicher Exodus vieler Kulturschaffender aus der DDR waren die Folge. B. profilierte sich als Komponist u. als Instrumentalmusiker (Gitarre, Drehleier). Von seiner Arbeit als Stückeschreiber zeugt neben dem frühen Drama Berliner Brautgang sein an Jewgenij Schwarz’ Märchenkomödie Der Drache (entstanden 1943) orientiertes Stück Der Dra-Dra. Die große Drachentöterschau (Bln. 1970), eine Parabel vom Aufstieg neuer Machthaber auf Kosten der kleinen Leute, die 1971 von Hansgünther Heyme an den Münchner Kammerspielen uraufgeführt wurde. Oft übersehen wird B.s Tätigkeit als Lyriker, die der als Liedermacher ebenbürtig ist. Sein Stil oszilliert zwischen expressiver Darstellungsweise u. dialektischer Sachlichkeit u. ist den Vorbildern Heinrich Heine, Bertolt

Biermann

Brecht u. Friedrich Hölderlin verpflichtet. B. nimmt verschiedene Traditionen in seinen Liedern auf: das progressive Volkslied, das populäre Chanson, das Arbeiterlied u. die Balladenliteratur. François Villon ist Thema eines seiner Lieder; Heinrich Heines Wintermärchen hat er, mit aktuellen deutsch-deutschen Bezügen, nachgedichtet (Deutschland: ein Wintermärchen. Bln. 1973) u. Béranger in einem Ausmaß nachempfunden, dass es möglich war, zur Zeit seines Auftrittsverbots bei einer Aufführung in Dessau ein Biermann-Lied für ein neuentdecktes BérangerChanson auszugeben. Einflüsse von Georges Brassens, Bob Dylan u. proletarischem Liedgut sind offensichtlich. Weniger bekannt sind B.s Bearbeitungen u. Übersetzungen von polit. Liedern aus der Zeit Cromwells. Auch Jizchak Katzenelson (Dos lied vunem ojsgehargetn jidischn volk – Großer Gesang vom ausgerotteten jüdischen Volk. Köln 1994) u. William Shakespeare (Das ist die feinste Liebeskunst. Köln 2004) gehören zu den von ihm übertragenen Autoren. Der plebejische Materialismus Brechts ist Grundtenor aller Lieder, gleichgültig, ob es in ihnen um Erotik, Kinder, Alltag oder Politik geht. Sehr geschickt verwendet B. den Reim u. gestaltet seinen Vortrag durch Lyrikzitationen, leise Baritontöne, sarkast. Ironie u. den plötzl. Schrei, »weil andere soviel schweigen«. Inhaltlich begann B. mit einer eher sanften (oft genug versöhnlichen) Kritik des DDRAlltagslebens u. radikalisierte dies allmählich zu ausführl. Darstellungen der gesellschaftl. Widersprüche zwischen sozialist. Ansprüchen u. real existierenden neuen Herrschaftsbeziehungen, doch wäre es falsch, B. auf das Bild eines »Dissidenten« zu reduzieren. Seine vielen kapitalismuskrit. Arbeiten beziehen sich oft auf die Gefahren des alten u. neuen Faschismus (z.B. im Barlach-Lied. In: Die Drahtharfe), behandeln das Attentat auf Rudi Dutschke, Rüstung u. Atompolitik, die Junta in Chile. Darüber hinaus thematisiert B. die polit. Problematik linker Aktionsmöglichkeiten (Lied vom roten Stein der Weisen. In: Preußischer Ikarus. Köln 1978) u. einer »machbaren« Utopie (So soll es sein – so wird es sein. In: Für meine Genossen. Bln. 1972).

Biernath

544

Seit dem Ende der 1990er Jahre wurden B., lertz (Hg.): Sänger u. Souffleur. B., Havemann u. der bis dahin nur künstlerische Auszeich- die DDR. Bln. 2006. Rolf Schwendter / Ralf Georg Czapla nungen erhalten hatte – u. a. 1969 den Theodor-Fontane-Preis der Stadt Berlin, 1989 den Friedrich-Hölderlin-Preis, 1991 den Georg-Büchner-Preis, 1993 den Heinrich-Heine- Biernath, Horst, * 8.7.1905 Lyck/OstPreis der Stadt Düsseldorf –, auch gesell- preußen, † 17.3.1978 Trostberg/Bayern. – schaftlich-polit. Ehrungen zuteil. 2006 er- Verfasser von Unterhaltungsromanen u. hielt er das Große Bundesverdienstkreuz, Erzählungen. 2007 die Ehrenbürgerschaft der Stadt Berlin, B. wuchs in Ostpreußen auf. Er studierte u. 2008 wurde ihm für sein Engagement für Philosophie u. Geschichte in Königsberg, Israel u. israelische Interessen der Theodor- Wien u. München. Nach dem Krieg war B. Lessing-Preis für aufklärerisches Handeln einige Jahre Redakteur der »Mainpost« in verliehen. Würzburg. Weitere Werke: Mit Marx- u. Engelszungen. B.s Werk umfasst zahlreiche, meist heitere Bln. 1968 (L. u. Lieder). – Das Märchen v. dem Unterhaltungsromane u. Erzählungen, von Mädchen mit dem Holzbein. Ein Bilderbuch v. denen mehrere – z.T. nach eigenem DrehNatascha Ungeheuer. Köln 1979. – Verdrehte Welt buch – verfilmt wurden; am bekanntesten – das seh’ ich gerne. Köln 1982 (P. u. L.). – Affenfels sind der Schülerroman Sieben unter einem Hut u. Barrikade. Köln 1986 (L. u. Lieder). – Klartexte (Bln. 1934) u. der viel gelesene Roman Vater im Getümmel. 13 Jahre im Westen. Von der Ausbürgerung bis zur November-Revolution. Köln sein dagegen sehr (Darmst. 1953 u. ö. Zuletzt 1990. – Alle Lieder. Köln 1991 (L). – Alle Gedichte. Mchn. 2001), der exemplarisch das ZeitgeKöln 1995 (L). – Wie man Verse macht u. Lieder. fühl der 1950er Jahre widerspiegelt. Eine Poetik in acht Gängen. Köln 1997. – Paradies uff Erden. Ein Berliner Bilderbogen. Köln 1999. – Heimat. Hbg. 2006 (L). Ausgabe: Nachl. 1. Noten, Schr.en, Beispiele. Köln 1977 (Sammelausg. der 7 bis dahin ersch. Werke). Literatur: Klaus Antes u. a.: W. B. Mchn. 1975. – Heinz Ludwig Arnold: W. B. Mchn. 1975. – Thomas Rothschild (Hg.): W. B. – Liedermacher u. Sozialist. Reinb. 1976. – Dieter E. Zimmer (Hg.): Über W. B. u. die Folgen. Bln. 31977. – Robert Steigerwald: Der ›wahre‹ oder konterrevolutionäre ›Sozialismus‹. Was wollen Havemann, Dutschke, B.? Marxist. Blätter 21977. – Peter Roos (Hg.): Exil. Eine Dokumentation zur Ausbürgerung W. B.s aus der DDR. Mit einem Vorw. v. Günter Wallraff. Köln 1977. – T. Rothschild: Liedermacher. 23 Porträts. Ffm. 1980. – Dieter P. Meier-Lenz: Heinrich Heine – W. B. Dtschld., zwei Wintermärchen – ein Werkvergleich. Bonn 31985. – Ders. (Hg.): W. B. u. die Tradition. Von der Bibel bis Ernst Bloch. Textausg. mit Materialien. Stgt. 1981. – John Sahreve: Nur wer sich ändert, bleibt sich treu. W. B. im Westen. Ffm. u. a. 1989. – Roland Herbig (Hg.): In Sachen B. Protokolle, Berichte u. Briefe zu den Folgen einer Ausbürgerung. Bln. 1994. – Bernd Allenstein, Manfred Behn u. Jay Rosellini: W. B. In: KLG. – Franz Hohler: W. B. In: LGL. – Robert Al-

Weitere Werke: Romane: Arnje Börn fährt ins Glück. Bln. 1934. – Pitt. Bln. 1938. – Irrweg einer Liebe. Bln. 1939. – Es bleibt natürlich unter uns. Darmst. 1955. Mchn. 161985. – Liebe auf südl. Straßen. Darmst. 1958. – Die ind. Erbschaft. Stgt. 1959. Hbg. 1985. – Ein Haus geteilt durch acht. Stgt. 1960. Klagenf. 1983. – Mein Onkel Ferdinand. Mchn. 1968. 1984. – Ein Mund voll Glück. Stgt. 1973. Ffm. 1988. – Nelken fürs Knopfloch. Bln. 1987. Heinz Vestner / Red.

Biernatzki, Biernatzky, Johann Christoph, * 17.10.1795 Elmshorn, † 11.5.1840 Friedrichstadt; Grabstätte: ebd., Friedhof der evang.-lutherischen Kirche. – Erzähler. B., Sohn eines Militärarztes, besuchte teils Privatschulen, teils staatl. Gymnasien in Hamburg-Altona, studierte 1816–1818 Theologie in Kiel, ab 1818 in Jena u. Halle u. kehrte über Dresden u. Berlin nach Altona zurück; 1821 bestand er das theolog. Examen nur mühsam u. musste sich so im gleichen Jahr mit einer Stelle als Pastor u. Lehrer auf der Hallig Nordstrandischmoor/Nordfriesland begnügen, wo er die Sturmflutkatastrophe von 1825 miterlebte, durch die er Kirche

545

Biester

u. Wohnhaus verlor; darauf wurde er Pastor Biester, Johann Erich, * 17.11.1749 Lüin Friedrichstadt/Eider. beck, † 20.2.1816 Berlin. – Publizist, B. vereinte wie sein Amtsbruder u. Zeitge- Herausgeber u. Übersetzer. nosse Jeremias Gotthelf in seiner christl. NoSohn eines wohlhabenden Seidenkaufmanns vellistik erbaulich-belehrenden Erzählimpein Lübeck, erfuhr B. schon früh vielfältige tus mit realistischer Darstellungweise, ohne geistige Förderung. Er besuchte die Lateinjedoch dessen epische Eindringlichkeit zu schule seiner Vaterstadt, erhielt Privatuntererreichen. In seinen Schriften überwiegt die richt in Englisch, Französisch u. Italienisch u. Didaxe u. entsprechend ein rhetorisch geschaffte sich bereits in jungen Jahren eine färbter Erzählton, wie z.B. die häufige Anreeindrucksvolle Bibliothek. Ein breit angelegde an den Leser zeigt (vgl. sein 1825 enttes Studium der Literatur-, Rechts- u. Gestandenes Gedicht Die Überschwemmung. Al- schichtswissenschaft in Göttingen (von 1767 tona 1844, sowie sein Erzählwerk Der braune bis 1771) brachte ihn u. a. mit August Ludwig Knabe, oder die Gemeinden in der Zerstreuung. 2 Schlözer in Verbindung, was einer der Bde., Altona 1839). B. hat seine Erzählungen Gründe für seine früh einsetzende publizist. als »Wanderungen auf dem Gebiete der Tätigkeit (v. a. seine Mitarbeit an Nicolais Theologie im Modekleide der Novelle« cha- »Allgemeiner Deutscher Bibliothek«) gewerakterisiert. Bekannt wurde B. durch die Er- sen sein dürfte. 1773–1775 war er Lehrer am zählung Die Hallig oder Die Schiffbrüchigen auf Pädagogium in Bützow; 1773 wurde er an der dem Eilande in der Nordsee (Altona 1836), die dortigen Universität zum Dr. jur. promosofort Anklang fand, in mehrere Sprachen viert. übersetzt, bearbeitet u. auch im 20. Jh. noch Die entscheidende Wende in B.s Leben aufgelegt wurde. Hier erreicht B. in der – auf brachte das Jahr 1777: Auf Vorschlag Nicolais eigener Erfahrung basierenden – authent. wurde er Privatsekretär des Freiherrn Karl Darstellung der Sturmflut u. der Not der In- Abraham von Zedlitz in Berlin, der als Justizselbewohner, die nur durch göttl. Gnade ab- u. Kultusminister Friedrichs des Großen zu gewendet wird, überzeugende Eindringlich- den entschiedensten Förderern der Aufkläkeit; die Verknüpfung einer Liebes- mit einer rung in Preußen gehörte. In seinem Umkreis Bekehrungsgeschichte dient der Belehrung u. wuchs B. zu einem markanten Vertreter der Läuterung ebenso wie die ständigen predigt- dt. Spätaufklärung heran. Seine äußere Stelhaften Kommentare. B. war auch Autor des lung wurde 1784 durch die Ernennung zum bilderreichen religiösen Lehrgedichts Der Bibliothekar an der kgl. Bibliothek in Berlin Glaube (Schleswig 1826). gesichert. Erst 1798 – nach Ende der Ära Als Pastor beeindruckte der stets krän- Wöllner – wurde er Mitgl. der Kgl. Akademie kelnde u. durch Blatternarben entstellte B. der Wissenschaften zu Berlin. seine Umgebung durch seine von theologiB.s Bedeutung für die Aufklärung beruht schem Rigorismus freie Menschlichkeit; als v. a. auf zwei Faktoren: 1783 gründete er zus. Theologe gehörte er der sog. Vermittlungs- mit Friedrich Gedike die »Berlinische Mopartei an, die den Ausgleich zwischen Su- natsschrift« (bis 1796; Nachfolgeorgane wapranaturalismus u. Rationalismus anstrebte. ren 1797 die »Berlinischen Blätter« u. Weiteres Werk: Wege zum Glauben, oder die 1799–1811 die »Neue Berlinische Monatsschrift«), die schon bald das führende Organ Liebe aus der Kindheit. Altona 1835 (E.). Ausgabe: Ges. Schr.en. 8 Bde., Altona 1844. Lpz. der dt. Spätaufklärung wurde. Moses Men2 1850 (enthält: Predigten, Kasualschr., E.en, Ge- delssohn, Kant, Johann August Eberhard, dichte). Christian Garve, Möser, Wilhelm von HumLiteratur: Karl Leonhard Biernatzki: J. C. B.s boldt haben z.B. zu ihren Autoren gezählt, Lebenslauf. Lpz. 1852. – Eduard Alberti: J. C. B. In: aber auch Friedrich Schlegel u. Fichte. Hand ADB. – Friedrich Sengle: Biedermeierzeit. Bd. 1, in Hand damit war B. Sekretär der gleichfalls Stgt. 1971, S. 147 f. – Bautz. 1783 gegründeten »Gesellschaft von FreunChristian Schwarz / Red. den der Aufklärung«, der sog. »Mittwochs-

Bilderbeck

gesellschaft«, einer der wichtigsten Geheimgesellschaften der Zeit; zu ihren 12 bis 24 Mitgliedern zählten nahezu alle Berliner Aufklärer von Rang (u. a. Nicolai u. als Ehrenmitgl. Mendelssohn). B. war ein Mann von respektabler Gelehrsamkeit u. erstaunl. Sprachkenntnissen, zu dessen Œuvre auch zahlreiche Editionen u. Übersetzungen gehören. Sein Hauptarbeitsfeld aber war die Publizistik. Grimmige Kontroversen, insbes. mit Johann August Starck, haben seinen Namen in ganz Deutschland bekannt gemacht. Ein anderer charakterist. Zug B.s war seine Kampf gegen die Jesuiten, der vielleicht am anschaulichsten seine Leidenschaft für die Sache der Aufklärung zeigt, aber auch die Einseitigkeiten seiner Vorstellungswelt. Literatur: Ernst Kelchner: J. E. B. In: ADB. – Joseph Hay: Staat, Volk u. Weltbürgertum in der Berlinischen Monatsschr. v. Friedrich Gedike u. J. B. (1783–96). Bln. 1913. – Alfred Hass: J. E. B. Sein Leben u. sein Wirken. Diss. Ffm. 1925. – Karl H. Salzmann: J. E. B. In: NDB. – Eugen Paunel: Die Staatsbibl. zu Berlin. 1661–1871. Bln. 1965. – Ursula Schulz: Die Berlinische Monatsschr. (1783–96). Eine Bibliogr. Bremen o. J. [1969]. – Norbert Hinske (Hg.): Was ist Aufklärung? Beitr. aus der Berlinischen Monatsschr. Darmst. 1973. 3 1981. – Berlin. Monatsschrift (1783–1796). Ausw. hg. v. Peter Weber. Mit einer Studie ›Die Berlinische Monatsschrift als Organ der Aufklärung‹. Stgt. 1986. – Gisela Scheithauer: J. E. B. oder: das Elend der Aufklärung in Bützow. In: Dies.: Zuhause in Bützow. Mühlengeez 2000, S. 75–90. Norbert Hinske / Red.

Bilderbeck, Ludwig Benedikt Franz Frhr. von, * 30.7.1764 Weißenburg/Elsass, † 25.5.1856 Paris. – Hofbeamter u. Diplomat, Übersetzer, Erzähler u. Dramatiker. B. war zunächst Hofbeamter in Köstritz u. Dürkheim (1786–1788); später erhielt er durch Vermittlung Ifflands das Amt eines Reisemarschalls am Saarbrücker Hof (1789–1793). Die Wirren des Ersten Koalitionskrieges brachten ihn um Einkünfte u. eine 1791 etablierte Verlagsdruckerei; die folgenden Jahre verlebte er deshalb relativ mittellos in Mannheim. Seit 1804 hielt sich B., mitt-

546

lerweile zum Geheimen Legationsrat ernannt, als Bevollmächtigter mediatisierter Fürstenhäuser in Paris auf u. beteiligte sich 1814/15 in dieser Funktion am Wiener Kongress. Nach Paris zurückgekehrt, widmete er sich dort bis zu seinem Tod v. a. schriftstellerischen Arbeiten. Den diplomat. Aufstieg verdankte B. seiner in der elsäss. Heimat erworbenen profunden Zweisprachigkeit; sie befähigte ihn auch, Übersetzer u. Multiplikator dt. Literatur im frz. Sprachraum zu werden (etwa in Bagatelles Littéraires. Lausanne 1788). Den dramat. Versuchen B.s (Schauspiele. 2 Bde., Lpz. 1801) blieb die Anerkennung in Deutschland versagt; in Paris dagegen trugen ihm seine frz. Singspiele (publiziert zwischen 1804 u. 1821) u. Romane Bewunderung u. Tantiemen ein. B.s deutschsprachige Prosa ist um eine Verbindung von galanter Diktion u. aufgeklärter Weltsicht bemüht. Als Unterhaltungslektüre mit trivialen Tendenzen (Der Todtengräber. 4 Tle., Lpz. 1801/02) ist sie überwiegend aus Versatzstücken des Liebes-, Abenteuer- u. Räuberromans komponiert; B. selbst zählt in seinem bekanntesten Roman Die Urne im einsamen Thale (4 Tle., Lpz. 1799) Wieland, in Ludolphs Lehrjahre (3 Tle., Lpz. 1804) Goethe u. in den Letzten Novellen (Aachen 1834) die Romantiker zu seinen Vorbildern. B.s Romane blieben über Jahrzehnte eine begehrte Lektüre; die moderne Literaturwissenschaft akzentuiert hingegen eher seine gelungenen Übersetzungen. Weitere Werke: Jonathan. Ein Familiengemälde. 2 Bde., Aachen 1827. – Sein u. Schein. Aachen 1829. Literatur: Alwin Zirkler: L. F. Frhr. v. B. In: Ztschr. für saarländ. Heimatkunde 5 (1955), S. 7–17 (mit Bibliogr.). – Annelore Engel-Braunschmidt: ›Ring‹, Neuer Paris, Mäusejagd. Frhr. v. B., Johann Gottwerth Müller u. die Metamorphosen eines alten Stoffes in der Spätaufklärung. In: Freier Schriftsteller in der europ. Aufklärung [...]. Hg. Alexander Ritter. Heide/Holstein 1986, S. 115–134. Adrian Hummel / Red.

547

Biller, Maxim, * 25.8.1960 Prag. – Autor von Erzählungen, Romanen u. Theaterstücken; Kolumnist. B. kam im Alter von zehn Jahren nach Deutschland, als seine russisch-jüd. Eltern infolge der Ereignisse des »Prager Frühlings« die Tschechoslowakei verließen. Sein Studium der Literaturwissenschaft in München u. Hamburg schloss er mit einer Arbeit über das Judentum im Werk Thomas Manns ab. Seit 1985 ist er journalistisch tätig u. bekannt für seine gesellschaftl. Polemiken (vgl. die Anthologien Die Tempojahre. Mchn. 1991. 21992; Deutschbuch. Mchn. 2001). B.s schriftstellerisches Werk hat seit dem ersten Erzählungsband Wenn ich einmal reich und tot bin (Köln 1990. Mchn. 1993. 22000) verschiedene Exilsituationen zum Gegenstand. Indem er häufig Künstler u. Intellektuelle als Hauptfiguren wählt, die mit der Darstellung jüdischer Identität befasst sind, reflektiert er die Problematik der sog. »Shoah-Literatur« bereits im Kunstwerk selbst. Juden werden jedoch nicht nur in der Opferrolle gezeigt – ganz im Gegenteil gibt es sogar »jüdische Gangster [...], die Hitlers Geschäft auf ihre Art weiterführten« (Der echte Liebermann in: Bernsteintage. Köln 2004. Mchn. 2006). Ein besonderes Merkmal von B.s Prosa ist das »unzuverlässige Erzählen«, das bereits in seinem Kurzroman Harlem Holocaust (In: Wenn ich einmal...) stilprägend wird: Die Geschichte des grotesk überzeichneten New Yorker Schriftstellers Warszawski wird von seinem halluzinierenden dt. Übersetzer erzählt, dann aber wiederum durch den Kommentar eines fiktiven Herausgebers relativiert. Weil B. die Glaubwürdigkeit seiner Erzählerfiguren ebenso fragwürdig macht wie die Abscheulichkeit mancher Protagonisten (vgl. den Roman Die Tochter. Köln 2000. Mchn. 2001), bleibt in seinen Texten zuletzt oft der Zweifel an jeder dichter. »Wahrheit« zurück. In seinen Prosaminiaturen Moralische Geschichten (Köln 2005. 22006) entwickelt sich diese Zweifelhaftigkeit zur spielerischen Fiktionsironie. Mit demselben Furor, der seine Kolumnen auszeichnet, trat B. auch als Kritiker der Ge-

Biller

genwartsliteratur hervor. 1991 erklärte er sie für bankrott u. forderte einen neuen Realismus (Soviel Sinnlichkeit wie der Stadtplan von Kiel. In: »Die Weltwoche«, 25.7.1991); im Jahr 2000 schimpfte er auf die dt. »Schlappschwanz-Literatur«, die bevölkert sei von »Papierleichen, die nichts wollen, nichts hassen, nichts lieben; die nicht fallen können, nicht schreien, nicht töten« (Feige das Land, schlapp die Literatur. In: »Die Zeit« 16/2000). Aufsehen erregte der mehrfach mit Preisen ausgezeichnete, aber auch angefeindete B. mit seinem Roman Esra (Köln 2003), in dessen Darstellung einer Beziehung zwischen dem Ich-Erzähler, seiner Freundin u. ihrer Mutter zwei Frauen aus B.s Umfeld ihre Persönlichkeitsrechte verletzt sahen. Das Verbot des Buches wurde 2007 durch das Bundesverfassungsgericht bestätigt u. löste im Feuilleton eine Debatte über Zensur u. Kunstfreiheit aus, die nicht immer zu B.s Gunsten geführt wurde. Weitere Werke: Land der Väter u. Verräter. Köln 1994. Mchn. 1997 (E.en). – Kühltransport. Köln 2001. Urauff. Mainz 2002 (D.). – Maxim Biller Tapes. Bln. 2004 (Audio-CD mit Songs u. G.en). – Adas größter Wunsch. Bln. 2005 (Kinderbuch). – Menschen in falschen Zusammenhängen. Lengwil 2006. Urauff. Berlin 2006 (D.). – Liebe heute. Köln 2007 (E.en). Literatur: Erhard Schütz: Tucholskys Erben oder Wiener Wiederkehr? Versuch einer Terrainerkundung zur Lit. v. Leben & Stil: B., Droste, Goldt u. andere. In: Jb. Int. Germ. 27 (1995), H. 1, S. 101–122. – Hannes Stein: Wie altmodisch, Herr B.! Porträt eines konservativen Schriftstellers. In: aufgerissen. Zur Lit. der 90er. Hg. Thomas Kraft. Mchn. 2000, S. 117–126. – Jan Strümpel: M. B. In: KLG. – Georg Diez: M. B. In. LGL. – Karen Remmler: M. B. Das Schreiben als ›Counter-Memory‹. In: Shoah in der deutschsprachigen Lit. Hg. Norbert Otto Eke u. Hartmut Steinecke. Bln. 2006, S. 311–320. – Bernhard v. Becker: Fiktion u. Wirklichkeit im Roman. Der Schlüsselprozess um das Buch ›Esra‹. Würzb. 2006. Jan Wiele

Billican

Billican, Theobald, auch: Gerlacher, Gernolt, * um 1490/95 Billigheim/Pfalz, † 8. oder 9.8.1554 Marburg. – Theologe u. Jurist.

548

1526) u. log. Schriften, eine Epitome dialectices (Hagenau 1527 u. ö.), später eine Ratio brevis disponendorum syllogismorum (Breslau 1544). 1535 gab er schließlich sein Pfarramt ganz auf. Eine jurist. Karriere (Studium in Heidelberg, Lizentiat beider Rechte 1542, u. Marburg) brachte ihm 1546 den Grad eines Doktors beider Rechte, nicht aber das erstrebte jurist. Ordinariat ein.

B. begann sein Studium 1510 in Heidelberg, wo er 1512 zum Baccalaureus artium u. 1513 zum Magister artium promoviert wurde. Luthers Auftreten bei der Heidelberger Disputation 1518 hinterließ bei ihm u. den KomLiteratur: VD 16, G 1551–1573. – Klaiber, Nr. militonen Melanchthon u. Johannes Brenz 280–295. – Hans-Joachim Köhler: Bibliogr. der sowie seinem Griechischlehrer Ökolampad Flugschr.en des 16. Jh. Tl. 1, Bd. 1, Tüb. 1991, Nr. einen tiefen Eindruck. Als Priester aus Weil 281–289. – Weitere Titel: Räß, Convertiten I, der Stadt wegen heftiger Angriffe auf die S. 50–94. – Richard Newald: T. B. In: NDB. – Heiligenverehrung vertrieben, wurde er 1522 Gustav Adolf Benrath: T. B. In: Pfälzer Lebensbil(bis 1535) in Nördlingen als Prediger ange- der 3 (1977), S. 31–63. – Gerhard Simon: Humanismus u. Konfession. T. B., Leben u. Werk. Bln./ stellt. B. verband schonungslose Kritik an der New York 1980. – Ders.: Die Nördlinger Reformation unter T. B. In: Luther 52 (1981), S. 131–137. – Kirche mit dem festen Willen, die Einheit Hans-Christoph Rublack: Eine bürgerl. Reformadieser Kirche aufrechtzuerhalten. Seine tion: Nördlingen. Gütersloh 1982. – Martin Brecht Schriften mit reformator. Grundtendenz u. Hermann Ehmer: Südwestdt. Reformationssind: Adversus propositiones Leonardi Marstalleri Gesch. Zur Einf. der Reformation im Hzgt. Würt[...] confutatio (Augsb. 1524), Apologia [...] ad temberg 1534. Stgt. 1984. – Bautz. – Joachim excusatoriam epistolam L. Marstalleri ([Augsb.] Köhler: Gescheiterte Reformationen: Andreas Altca. 1524) u. De libero arbitrio (Augsb. 1524). In hamer in Schwäbisch Gmünd, Konrad Stücklin in den gleichen Zusammenhang gehören eine Rottweil u. T. B. in Weil der Stadt. In: Reformatiexeget. Arbeit über den Propheten Micha onsgesch. Württembergs in Porträts. Hg. Siegfried Hermle. Holzgerlingen 1999, S. 397–415. – Heinz (Micheas Propheta, unus e duodecim. Augsb. Scheible in: RGG 4. Aufl. Bd. 1, Sp. 1598. 1524) – ihr zur Seite tritt in B.s späteren Karl-Heinz Bokeloh / Red. Jahren eine Psalmenauslegung (Der ain unnd neüntzigst Psalm Davids außgelegt. Augsb. 1537) – u. die Nördlinger Kirchenordnung (Reno- Billinger, Richard, * 20.7.1890 St. Marivatio ecclesiae Nordlingiacensis. Augsb. 1525). enkirchen bei Schärding, † 7.6.1965 Linz; Als B. 1525 in den Abendmahlsstreit verwi- Grabstätte: Hartkirchen, Gruft der Famickelt wurde (u. a. De verbis coenae dominicae et lie Ammerstorfer. – Dramatiker u. Lyriopinionum varietate, ad Urbanum Regium epistola. ker. Wittenb. u. Augsb. 1526), suchte er zunächst B., Sohn eines Bauern, studierte Philosophie eine ausgleichende Position einzunehmen, u. Literatur in Innsbruck, Kiel u. Wien; er näherte sich dann aber, befördert durch pat- lebte in München, Berlin u. Starnberg. Er ristische Studien u. Erasmus-Lektüre, wieder wurde u. a. mit dem Literaturpreis der Stadt dem altkirchl. Lehrbegriff an. Wien (1924), dem Kleistpreis (1932, zus. mit Anlässlich des Reichstags in Augsburg, wo Else Lasker-Schüler) u. dem Grillparzer-Preis B. 1530 gegen eine Geldzahlung einen Dis- (1962) ausgezeichnet. pens für seine Ehe mit Barbara Scheufelin »Wer vom Hergebrachten abweicht, ist erhielt, widerrief er fast alle seine früheren verworfen« (Billinger). Die heimatl. LandPositionen. Zunehmend vereinsamt, be- schaft im Innviertel bildet die Szenerie des schäftigte er sich nun v. a. mit pädagogisch- Konflikts zwischen Natur u. Zivilisation, reformatorisch-exegetischen Arbeiten. Er Christen- u. Heidentum, die B.s Werk vor publizierte auch Handbücher für den Schul- dem Hintergrund der verlorenen alten Ordgebrauch, so eine Grammatik (De partium nung bestimmt. Degeneration u. Deklassieorationis inflexionibus [...] compendium. Augsb. rung der bäuerl. Gesellschaftsschicht spiegeln

549

Bilse

sich für B. auch im Verfall der Natur u. zeigen Schärding 1990. – Karl Müller: Probleme männl. die Unausweichlichkeit zunehmender Ent- Identität bei R. B. Homosexualität u. Lit. während fremdung. B.s irrational-mystifizierende der NS-Zeit. In: Macht, Lit., Krieg. Hg. Uwe Baur. Darstellungsweise dieser Phänomene kam Wien 1998, S. 246–273. – W. Bortenschlager: R. B. im Bäuerlichen verwurzelt, aber kein Bauerndichder Blut-u.-Boden-Ideologie des Nationalsoter. In: Das Innviertel. Hg. A. Pindelski. Steyr 1998, zialismus bedenklich nahe. S. 94–105. Sabine Scholl / Red. B. versuchte mit seinem Werk, sich zu einem Sprecher der ländl. Bevölkerung zu machen. Sein Perchtenspiel (Lpz. 1928; 1931 Bilse, Fritz Oswald, auch: F. von der Kyumbenannt in Reise nach dem Ursprung) wurde burg, F. Wernthal, * 31.3.1878 Kirn/Nahe, 1928 in der Inszenierung Max Reinhardts auf † unbekannt. – Verfasser von Romanen u. den Salzburger Festspielen uraufgeführt: Die Dramen. Perchtin, eine Art bäuerlicher Melusine, ver- B. war 1898–1903 in mehreren Trainbatailliert die Liebe eines Bauern u. rächt sich mit lonen Soldat, ab 1902 in Forbach/Lothringen. Tod u. Zerstörung. Im Drama Rauhnacht Die krit. Behandlung der Erlebnisse aus der (Urauff. Wien, Burgtheater 1931. Ersch. Lpz. Militärzeit sind Thema seines Romans Aus 1933) ist das Schicksal der Figuren Simon einer kleinen Garnison. Ein nihilistisches Zeitbild Kreuzhalter u. Kreszenz scheinbar von vorn- (Braunschw. 1903). Mit dieser heftigen Kritik herein besiegelt: Beide, der bäuerlichen Welt am Militärwesen erregte B. ungewöhnliches Entfremdete, sind triebhafte, von Innviertler Aufsehen u. Heiterkeit. Sein Buch fand – Brauchtum u. heidnischem Dämonenglauben trotz Verbots im Deutschen Reich – rasch bestimmte Charaktere. neue Verleger u. erschien in hohen Auflagen; Die Literaturkritik sieht B. in der Traditi- darüber hinaus sind 14 fremdsprachige Ausonslinie des österr. Bauern- u. Barockthea- gaben bekannt. Sein Skandalroman führte ters, Tendenzen des naturalist. Volksstücks auch zu persönlichen u. polit. Konsequenzen. mit einer komplizierten psycholog. Perso- Nach einem Kriegsgerichtsverfahren nenführung verbindend. Eine die dämoni- (9.11.1903) musste B. den Armeedienst quitsierte Welt der Bauern erlösende Kraft tritt tieren. Im Reichstag unter Kanzler Graf von bei B. in Gestalt unschuldiger Mädchenfigu- Bülow kam der Forbacher Vorgang zur ren auf. Sprache. Dabei musste Kriegsminister von B.s Lyrik, darin auch frühe balladeske Ge- Einem einräumen, dass die Kritik am Offidichte, ist stofflich seinem dramat. Werk eng zierswesen in B.s Roman z.T. berechtigt u. die verwandt. Durch eine bildreiche Sprache, Darstellung äußerst authentisch sei. Thomas Konzentration auf Farben u. gehäufte Ad- Mann distanzierte sich allerdings in einem jektive soll die Härte u. Grausamkeit der satirisch-zynischen Zeitungsartikel von B., weil man seine Familiengeschichte Buddenbäuerl. Existenz spürbar werden. Nach dem Zweiten Weltkrieg gelangten brooks abwertend als »Bilse-Roman« bezeichzwar noch einige Stücke B.s zur Aufführung, net hatte. Mit den weiteren Romanen u. an seine früheren Erfolge konnte er jedoch Dramen konnte B. nicht mehr an den Erfolg seiner ersten Veröffentlichung anschließen. nicht mehr anschließen. Weitere Werke: Autobiografisches: Die Asche des Fegefeuers. Eine Dorfkindheit. Linz 1931. Ausgaben: Ges. Werke. 12 Bde., Linz 1955–60. – Nachl. 6 Bde., Linz 1972–82. Literatur: Wolfgang Johannes Bekh: Sichel am Himmel: R. B. In: Dichter der Heimat. Hg. ders. Regensb. 1984, S. 119–145. – Wilhelm Bortenschlager: Der unbekannte B. Innsbr. 1985. – Edith Rabenstein: Dichtung zwischen Tradition u. Moderne: R. B. Untersuchungen zur Rezeptionsgesch. u. zum Werk. Diss. Ffm. 1988. – R. B. 1890–1965.

Weitere Werke: Wahrheit. Bln. 1904 (D.). – Fallobst. Dresden 1904 (D). – Das blaue Schloß. Bln. 1904 (R.). – Lieb Vaterland [...]. Bln. 1905 (R.). – Stille Wege. Bln. 1906. – Verklärung. 2 Bde., Bln. 1907 (R.). – Gottes Mühlen. Bln. 1924 (R). – Die schwarze Welle. Wien 1925 (R.). Literatur: Heinrich Detering: Thomas Mann oder Lübeck u. die letzten Dinge [...]. In: Ders.: Herkunftsorte. Literar. Verwandlungen im Werk

Bin Gorion

550

Storms, Hebbels, Groths, Thomas u. Heinrich Manns. Heide 2001, S. 166–193. Reinhard Tenberg / Red.

Bin Gorion, Micha Josef, auch: Micha Josef Berdyczewski, * 19.8.1865 Medzibezh/ Russland (heute Ukraine), † 18.11.1921 Berlin. –Hebräischer Schriftsteller, Journalist u. Philosoph. Als Sohn eines chassidischen Rabbiners orthodox erzogen, studierte B. früh schon verbotene weltl. Literatur u. lernte während seiner Talmudstudien in Woloszyn/Ukraine Ideen der jüd. Aufklärung (Haskala) kennen. 1887 begann B. erste anti-orthodoxe Artikel auf Hebräisch zu veröffentlichen, ging 1890 nach einer Zwangsscheidung (1885) u. gegen den Willen der Familie zum Universitätsstudium nach Breslau, 1892 nach Berlin, 1894 nach Bern. 1895 promovierte er in Bern (Ueber den Zusammenhang zwischen Ethik und Aesthetik. Bern 1897). 1896–1900 war er wieder in Berlin (Heirat 1900 mit Rahel Ramberg), 1901–1911 in Breslau. Seit 1911 lebte B. ärmlich u. zurückgezogen unter dem Künstlernamen B. in Berlin, um sich ausschließlich seinen literarischen u. wiss. Arbeiten zu widmen. B. gilt als Klassiker der neuhebräischen Literatur, bes. durch seinen kurzen Roman Mirjam (Lpz. 1921). Er schreibt in der Tradition des europ. Realismus u. ist von Ideen Hegels, Schopenhauers u. Nietzsches beeinflusst. In seinen zahllosen, teilweise scharf polemischen Artikeln u. Büchern in hebräischer, jiddischer u. dt. Sprache vertritt er zionist. Ideen, vielfach auch gegen die konkurrierenden Anschauungen Theodor Herzls u. Achad Ha-Ams. B. fordert gegen das rabbinische Judentum weltlich-selbstbewusste Juden. Seine bahnbrechenden Sammlungen talmudischer u. spätantiker, mittelalterl. u. frühneuzeitl. hebräischer Literatur gelten den verdrängten volkstüml. Traditionen des Judentums. Von ihnen erwartet B. eine Erneuerung des Judentums als einer Nation neben anderen. Sein unveröffentlichtes Tagebuch führte er auf Deutsch. B.s Bücher hatten in den dt. Übersetzungen seiner Frau Rahel Ramberg u. in den Ausga-

ben seines Sohns Emanuel vielfältigen Einfluss u. a. auf Franz Kafka u. Thomas Mann u. gelten heute in vielen Auswahlausgaben u. Übersetzungen auch als Weisheitsliteratur. Weitere Werke: Die Ansichten eines Einzelnen über das Allgemeine. Krakau 1892 (hebr.). – Von Zuhause u. Unterwegs. Warschau 1899 (hebr.). – Zwei Lager. Warschau 1899 (hebr.). – Aus meiner kleinen Stadt. Warschau 1900 (hebr.). – Unsinn. Warschau 1900 (hebr.). – Aus zwei Welten. Warschau 1902. – Vor nicht langer Zeit. Warschau 1909 (hebr.). – Das Tal des Lebens. Warschau 1912. – Die Sagen der Juden. Übers. v. Rahel Ramberg. 5 Bde., Ffm. 1913–27. – Der Born Judas. Legenden, Märchen u. Erzählungen. Aus dem Hebr. übers. v. ders. 6 Bde., Lpz. 1916–23 (div. Auswahlausg.n seit 1917). – Joseph u. seine Brüder. Ein altjüd. Roman. Aus dem Hebr. übers. v. ders. Ffm. 1917. – Vom östl. Judentum. Religiöses, Literarisches, Politisches. Bln. 1918. – Zwei Generationen. Wien/Bln. 1918 (E.en). – Die zwölf Stämme. Ffm. 1919. – Vor dem Sturm. Ostjüd. Gesch.n. Aus dem Jidd. übers. v. Rahel B. Wien 1919. – Eli, nach der Schrift neu geordnet. Aus dem Hebr. übers. v. ders. Mit 3 Zeichnungen v. Louis Corinth. Lpz. 1919. – Die Gesch. v. Tobia. Aus dem Hebr. übers. v. ders. Mit 3 Zeichnungen v. Max Liebermann. Lpz. 1920. – Sinai u. Garizin. Über den Ursprung der israelit. Religion. Forsch.en zum Hexateuch auf Grund rabbin. Quellen. Hg. Rahel B. Bln. 1925/26. – Messias-Legenden. Tüb. 1926. – Gedächtnisschrift zum zehnten Todestage. Hg. Rahel u. Emanuel B. Bln. 1931. Ausgaben: Alle Schr.en. 2 Bde., Bln. 1913 (hebr.). – Schr.en. 20 Bde., Lpz. 1922–26 (hebr.). – Jidd. Schr.en. 6 Bde., Bln./Warschau 1924 (jidd.). – Nachgelassene Schr.en. Bln. 1926. – Ges. Schr.en. Tel Aviv 1960 (hebr.). – Ges. Schr.en. Hg. Avner Holtzman u. Yizchaq Kafkafi. Tel Aviv 1996 ff. (hebr., bisher 4 Bde.). Literatur: Archiv: Ginze Micha Josef, Holon/Israel. – Bibliografie: Hg. Dan Almagor u. Samuel Fishman. Tel Aviv 1982. – Weitere Titel: Jüd. Lexikon 1 (1927), Sp. 844–846. – Encyclopaedia Judaica 4 (1996), Sp. 592–596. – David Jacobson: The Recovery of Myth: M.Y. Berdyczewski and Hasidism. In: Hebrew Annual Review 2 (1978), S. 119–130. – Emanuel Bin Gorion: Der Ablauf der Generationen. B. in seinen Gesch.n, Legenden, Ess.s u. Studien. Tel Aviv 1981 (hebr.). – Zipora Kagan (Hg.): Denken u. Erzählen im Werk v. B. Ein Symposion. Tel Aviv 1981 (hebr.). – Dies.: Von der Aggada zum modernen Erzählen im Werk v. B. Tel Aviv 1983 (hebr.). – Dan Miron: Komm, Nacht. Hebräische Lit. zwischen dem Rationalen u. Irrationalen am Beginn

551 des 20. Jh. Studien zu Chaim N. Bialik u. B. Tel Aviv 1987 (hebr.). – KindlerNeu. – Z. Kagan: The Blind Spot of Jewish Self-Identity in the Work of B. In: The Jewish Self-Portrait in European and American Literature. Hg. Hans-Jürgen Schrader u. a. Tüb. 1996, S. 231–246. – Dies.: Homo Anthologicus: B. and the Anthological Genre. In: Prooftexts 19 (1999), S. 41–57. – William Cutter: The Buber and Berdyczewski Correspondence. In: Jewish social studies 6,3 (2000). – Avner Holtzman: B. Jerusalem 2002 (hebr.). – Marcus Moseley: Being for myself alone. Stanford 2006. Gerhard Lauer

Binding

veröffentlichten Bearbeitungen noch stärker herauszuarbeiten suchte. Weitere Werke: Stutzbart, ein satir. Sittengemälde. Neuschottland in Amerika, recte Breslau 1787 (an. ersch.: Zuschreibung sehr unsicher). Literatur: Hermann Petrich: E. C. B. Ein Beitr. zur Literatur- u. Kulturgesch. der letzten 100 Jahre. Lpz. 1878. Michael Auwers / Red.

Binding, Rudolf G(eorg), * 13.8.1867 Basel, † 4.8.1938 Starnberg; Grabstätte: Freiburg i. Br., Hauptfriedhof. – Erzähler Bindemann, Ernst Christoph, * 22.12. u. Lyriker. 1766 Wustermark/Mittelmark, † 19.11. Der Sohn des Strafrechtlers Karl Ludwig 1845 Neuendorf/Pommern. – Lyriker u. Binding wuchs in Frankfurt/M. u. Leipzig Übersetzer. B., Sohn des Pfarrers Levin Christoph Bindemann u. der Johanna Sophia Solger (einer Tante des Ästhetikers u. Philosophen Karl Solger), studierte 1786–1788 in Halle Theologie. Nach längerer Tätigkeit als Hauslehrer fand er von 1794–1801 eine Anstellung als Diakon u. Rektor in Schwedt/Oder; von 1801 bis zu seinem Tod war B. Pastor in Neuendorf. Nachdem B. schon in den Jahrgängen 1791 u. 1792 des »Berliner Musenalmanachs« einige Gedichte veröffentlicht hatte, gab er 1793 bis 1797 zus. mit Friedrich Wilhelm August Schmidt von Werneuchen den »Neuen Berliner Musenalmanach« heraus, zu dessen produktivsten Beiträgern er selbst gehörte. B.s Gedichte hoben sich, auch im Urteil der Zeitgenossen, inhaltlich u. formal positiv von denen der übrigen Autoren des Periodikums ab. Dennoch sind trivialisierende Züge seiner am Göttinger Hain orientierten, das Landleben idealisierenden Lyrik unverkennbar. Seine Gedichte gewinnen dort einen eigenständigen Ton, wo sich das »Lob des Landlebens« mit leichter satir. Kritik (im Sinne des horazischen »beatus ille, qui procul negotiis«) am Stadtleben verbindet. B. legte die erste dt. Gesamtausgabe der Werke Theokrits vor (Idyllen und Epigramme. Bln. 1793), die sich, gemessen an damaligen Standards, durch hohe Genauigkeit u. die Eleganz der Versifikation auszeichnet; Vorzüge, die er in späteren, z.T. in Zeitschriften

auf. Nach dem Abitur studierte er erst Jura in Tübingen u. Heidelberg, dann Medizin in Berlin, brach das Studium in beiden Fächern jedoch aus Lustlosigkeit ab. Als Reserveoffizier eines Husarenregiments begann er, seine Kontakte nutzend, mit Vollblutpferden zu handeln, u. verdiente seinen Lebensunterhalt als Rennreiter u. Pferdezüchter. 1907 heiratete er seine Kusine Helene Wirsing (Trennung 1913, Scheidung 1919). Während einer Reise nach Italien im selben Jahr erkannte er seine dichter. »Berufung«. Bald darauf veröffentlichte er erste Gedichte u. Novellen in der »Neuen Rundschau«. Wichtige Impulse für seine weitere dichter. Entwicklung gab ihm 1909 eine Reise nach Griechenland. Dort lernte B. die klass. Bildhauerei kennen (sein »Erlebnis« des Hermes von Praxiteles) u. begegnete »Joie« (Eva Connstein, geb. Annecke, 1877–1942), der »Freundin seines Lebens«. Nach dem Ersten Weltkrieg, an dem er als Ordonnanzoffizier einer Infanteriedivision teilnahm, war er zeitweilig Bürgermeister der hess. Gemeinde Buchschlag, wo er seit 1910 lebte. 1922 heiratete er Hedwig Blaser-Blanc (Scheidung 1935). 1927 verlieh ihm die Universität Frankfurt/M. die Ehrendoktorwürde, 1932 erhielt er die Goethemedaille, 1934 wurde er stellvertretender Präsident der Deutschen Akademie der Dichtung. Seit 1935 lebte er in Starnberg/Obb. In seinem Verhältnis zum Nationalsozialismus mischten sich, auch für ihn selbst ungeklärt, Zustimmung u. Ablehnung.

Bindschedler

552

B. genoss über Jahrzehnte Popularität wie fersang‹. In: GLL 44 (1990/91), S. 110–121. – Kirwenige dt. Autoren sonst. Zwischen 1910 u. stin M. Howard: The concept of honour in the 1960 galt er vielen Deutschen als die Verkör- context of the World War One. Accounts of Walter perung des »deutschen Dichters« schlecht- Flex, R. G. B. and Ernst Jünger. Dunedin 1996. Peter König / Red. hin: national u. konservativ in seiner Gesinnung, klassisch u. formschön in Lyrik u. Prosa. Zu seinem Ruhm trugen auch sein Bindschedler, Ida, * 6.7.1854 Zürich, aristokratischer Gestus u. sein Ruf eines † 28.6.1919 Zürich; Grabstätte: Friedhof vollendeten Gentleman bei. Neben den Ge- Erlenbach bei Zürich. – Jugendbuchaudichten hatte er v. a. mit seinen Novellen Er- torin. folg, die teilweise Auflagen von 500.000 u. Als Tochter eines Schweizer Baumwollkaufmehr erreichten (Opfergang. Lpz. 1912. Ffm. manns u. einer dt. Mutter wuchs B. in Zürich 53 1993. Moselfahrt aus Liebeskummer. Ffm. auf u. bildete sich in Zürich u. Bern, wo sie 1932. Hbg. 1949). In ihnen entfaltete B. in Schülerin von Joseph Viktor Widmann war, immer neuen Variationen eine von heroisiezur Lehrerin aus. Zu schreiben begann sie rendem Scheinidealismus geprägte Weltsicht, erst, als sie mit 43 Jahren eines Herzleidens die nur den einfachen Gegensatz zwischen wegen den Beruf aufgeben musste u. nach Pöbel u. Adel, Knecht u. Freiem kennt u. deAugsburg zog. Dort verfasste sie in Erinneren Sprache bisweilen kitschig wirkt. Seine rung an ihre Zürcher Kindheit den zweiteiliLebensphilosophie, die um den Begriff des gen Jugendroman Die Turnachkinder, der sie »Freien« kreist u. vom Misstrauen gegen jegl. mit einem Schlag neben Johanna Spyri zur Reflexion u. Intellektualität lebt, formulierte bekanntesten Schweizer Jugendbuchautorin er in verschiedenen Essays (Spiegelgespräche. machte. Schilderte sie im ersten Band Die Ffm. 1932. Natur und Kunst. Ffm. 1939). Seine Turnachkinder im Sommer (Frauenfeld 1906) Autobiografie erschien 1928 (Erlebtes Leben. den Sommeraufenthalt der KaufmannsfamiFfm. u. Bln. 1960). lie Turnach in ihrem Landhaus am See vor Weitere Werke: Gedichte. Darmst. 1913. – Die den Toren Zürichs, so beschrieb sie in der Keuschheitslegende. Darmst. 1919 (N.). – Un- 1909 im selben Verlag erschienenen Fortsetsterblichkeit. Ffm. 1922 (N.). – Stolz u. Trauer. zung Die Turnachkinder im Winter in ebenso Darmst. 1922 (L.). – Reitvorschrift für eine Geliebleichter u. doch souveräner Manier das te. Chemnitz 1924. – Aus dem Kriege (Briefe u. Stadtleben der Turnach-Familie, das im Tagebücher). Ffm. 1925. – Rufe u. Reden. Ffm. Weihnachtsfest seinen Höhepunkt findet. 1928. – Antwort eines Deutschen an die Welt. Ffm. 1933. – Die Geliebten. Lpz. 1935 (L.). – Das Hei- »Ein Buch von erzieherischem Wert, aus dem ligtum der Pferde. Königsb. 1935. Nachdr. der jedoch nirgends die erzieherische PhysioAusg. Mchn. 1956: Hildesh. 1994. – Wir fordern gnomie sich vordrängt«, charakterisierte Reims zur Obergabe auf. Ffm. 1935 (N.). – Sieg des Widmann den Jugendroman, der heute eher Herzens. Potsdam 1937 (L.). – Die Perle u. andere von kulturhistorischem Interesse ist. Erzählungen. Potsdam 1938. – Von Freiheit u. Vaterland. Mchn. 1939 (Ess.). Ausgaben: Ges. Werke. 4 Bde., Ffm. 1927. – Ges. Werke. 2 Bde., Hbg. 1954. – Das große R. G. B.Buch. Mchn. 1979. 1982. Literatur: Hans Schwab-Felisch: R. G. B. In: NDH 6 (1959/60). – Bernhard Martin: Dichtung u. Ideologie: völkisch-nat. Denken im Werk R. G. B.s. Ffm./Bern/New York 1986. – Peter Krumme: ›Der Opfergang‹ v. R. B. In: Wehrwolf u. Biene Maja. Der dt. Bücherschrank zwischen den Kriegen. Hg. Marianne Weil. Bln./West 1986, S. 41–55. – John Margetts: Ride a cock horse ... to see two fine ladies: one the contradictions in R. G. B.s ›Der Op-

Weitere Werke: Die Leuenhofer. Frauenfeld 1919 (R.). Charles Linsmayer / Red.

Bingel, Horst, * 6.10.1930 Korbach/Hessen, † 14.4.2008 Frankfurt/Main. – Verfasser von Lyrik u. Kurzprosa, Anthologist u. Literaturvermittler. Nach der mittleren Reife 1951 u. einer Buchhändlerlehre in Hanau studierte B. an der Staatlichen Zeichenakademie Hanau Malerei u. Bildhauerei u. war zunächst ausschließlich journalistisch tätig (»Volksstim-

553

Biondi

B. galt als kämpferischer liberaler Dichter, me« u. »links«). 1953 lernte er den Verleger Viktor Otto Stomps kennen, der B.s erste drei der für seine Aktivitäten 1983 das BundesBücher in der Eremiten-Presse (Stierstadt/Ts.) verdienstkreuz erhielt. 2001 wurde ihm der druckte: die beiden schmalen Gedichtbände Lyrikpreis der »Weltbilder Kosmopolitania« Kleiner Napoleon (1956) u. Auf der Ankerwinde zu der »Brücke« in Saarbrücken verliehen. Gast (1960) sowie die Anthologie Junge Weitere Werke: Die Koffer des Felix Lumpach. Schweizer Lyrik (1958). Ohne agitatorisches Ffm. 1962 (Gesch.n). – Wir suchen Hitler. Mchn. Pathos, scheinbar beiläufig ironisiert B. den 1965. Teilwiederabdr. in: Lied für Zement. Ffm. Alltag u. die banalen Sprachfloskeln, um der 1975 (L.). – Herr Sylvester wohnt unter dem Dach. Mchn. 1967. Neubearb. Ffm. 1982 (E.en). Fantasie wieder mehr Geltung zu verschafLeopold Schuwerack / Red. fen. Seine heitere u. skept. Distanz sowohl zur Politik wie auch zum Privatismus kennzeichnen diese Gedichte ebenso wie seine Biondi, Franco, * 8.8.1947 Forlì/Italien. – späteren Erzählungen. B.s Texte sind mehr- Diplompsychologe; Erzähler, Lyriker, deutig, enthalten viele Paradoxien u. sind Essayist, Herausgeber. nicht auf poet. Regeln fixiert – Zeugnisse des melanchol. Individualismus eines Außensei- B. war als Kind mit den Eltern, die als Schausteller arbeiteten, sechs Jahre in Nordters. 1961–1963 gab B. drei weitere Bände über u. Mittelitalien unterwegs. Er absolvierte eine die Lyrik u. Prosa der Nachkriegsliteratur Ausbildung zum Schlosser u. Elektroschweiheraus. Seit Mitte der 1950er Jahre war er ßer, bevor er 1965 dem Vater in die Bundesrepublik folgte; etwa zehn Jahre lang arbeifreier Schriftsteller u. Promotor verschiedetete er in verschiedenen Industriebetrieben. ner literar. Aktivitäten: Er organisierte 1966 Über den zweiten Bildungsweg erlangte B. u. 1967 das »Frankfurter Forum für Literadas Abitur u. schloss 1982 ein Studium der tur« u. 1968 die »Internationale literarische Psychologie ab. Heute lebt u. arbeitet er als Messe der Avantgarde« in Frankfurt/M., ein Familientherapeut in Hanau. Vorläufer der Mini-Pressen- bzw. der GegenB. gilt als der »Nestor der Gastarbeiterlitebuchmesse. ratur«. Er schreibt seit Anfang der 1970er Seit dieser Zeit engagierte sich B. in beJahre, erst in italienischer, dann auch in dt. rufsständ. Verbänden: Er war seit 1973 im Sprache, Lyrisches auch in beiden Sprachen Vorstand des Verbands deutscher Schriftstel- nebeneinander gestellt (Giri e rigiri, laufend. ler (VS), von Nov. 1974 bis Jan. 1976 dessen Ffm. 2005). Zu seiner eigenen literar. ProVorsitzender u. seit 1971 gleichzeitig im VS duktion trat von Anfang an die Förderung u. Hessen. B. betrieb vehement den Anschluss Verbreitung der deutschsprachigen Literatur des VS an die IG Druck u. Papier (H. B. [Hg.]: nationaler Minderheiten in Deutschland. Phantasie und Verantwortung. Dokumentation des 1967 wurde B. Mitgl. im Werkkreis Literatur 3. Schriftstellerkongresses. Saarbr. 1975). der Arbeitswelt, 1980 gründete er u. a. mit B. trat Ende der 1960er Jahre in Frankfurt Gino Chiellino, Jusuf Naoum, Rafik Schami für »Wegwerfliteratur« ein, für massenhafte u. Suleman Taufig den Polynationalen LiteVerbreitung von Literatur u. nahen Kontakt ratur- und Kunstverein »PoLiKunst« sowie des Autors zum Publikum. So konzipierte er die Gruppe Südwind Gastarbeiterdeutsch zur Frankfurter U-Bahn-Eröffnung 1968 eine (später Südwind Literatur), die mit ihren »Lesestange« nach dem Prinzip der Litfass- Prosa, Lyrik u. Grafik umfassenden Antholosäule, auf der seine eigenen u. auch die Texte gien ausländ. Schriftstellern ein Publikatianderer Schriftsteller (Kaschnitz, Kunert, onsforum bietet (B. ist Mitherausgeber von: Weyrauch, Fried, Zwerenz u. a.) zu lesen wa- Im neuen Land. Bremen 1980. Zwischen Fabrik ren. Er organisierte Dichterlesungen auf U- und Bahnhof. Bremen 1981. Das Unsichtbare Bahnhof-Baustellen, in Gefängnissen u. Fa- sagen! Kiel 1983 u. a.). B.s Engagement trägt briken u. während seiner Offenbacher Stadt- durchaus programmat. Züge; poet. Texte wie schreiberzeit (1983–1985) »Literaturbasars«. auch Essays sind von dokumentarisch-auf-

Birch-Pfeiffer

554

klärerischem Charakter, die »Literatur der Letteratura de-centrata. Ital. Autorinnen u. Autoren Betroffenheit« macht auf die polit. u. soziale in Dtschld. Ffm. 1995. – Carmine Chiellino (Hg.): Problematik der Migranten aufmerksam. Er Interkulturelle Lit. in Dtschld. Ein Hdb. Stgt. 2000. berichtet in seinen Texten aus dem Gastar- – Petra Ernst: F. B. In: LGL. – Rosaria Pugliese: F. B. Grenzgänger der Sprachen, Wanderer zwischen beiteralltag (Passavantis Rückkehr u. Die Taden Kulturen. Ffm. u. a. 2006. – Immacolata Amorantel. Beide Fischerhude 1982, E.en); die deo: F. B. In: KLG. Karoline Hornik Frage der eigenen Zugehörigkeit entfaltet er vor der Bedrohung des Abgeschobenwerdens (Abschied der zerschellten Jahre. Kiel 1984, N.). Birch-Pfeiffer, Charlotte, auch: WaldDie Figur des Dario Binachi begleitet B. herr, C. Birchpfeiffer, Franz Fels, * 23.6. bildreich auf der Suche nach Herkunft u. 1800 Stuttgart, † 25.8.1868 Berlin; GrabHeimat, der Auseinandersetzung mit der stätte: ebd., Jerusalemer Friedhof. – Fremde u. der Vielfalt der eigenen Identitäten Schauspielerin, Dramatikerin u. Theater(Die Unversöhnlichen oder Im Labyrinth der Herdirektorin. kunft. Tüb. 1991, R. In deutschen Küchen. Ffm. 1997, R.). Mit seiner oft fantasiereichen u. Die Eltern von B., Ferdinand Pfeiffer u. die neuartigen Verwendung der dt. Sprache lässt Wienerin Johanna Pfeiffer, vermittelten ihr B. seine Aussage »Nur ein Fremder kann die schon früh die Liebe zur Literatur. Der Vater war ein ehemaliger Mitschüler Friedrich Sprache verändern« glaubhaft werden. B. erhielt 1983 die Ehrengabe der Bayeri- Schillers an der Stuttgarter Hohen Karlsschen Akademie der Schönen Künste u. zus. schule, wurde später württembergischer Bemit Gino Chiellino 1987 den Adelbert-von- amter, bis er von Herzog Karl Eugen wegen Chamisso-Preis; durch die »charakteristi- seiner »deutschen Gesinnung« inhaftiert schen Migrantenschicksale«, die er in seinen wurde. Nachem ihn 1805 der bayer. König Texten darstelle, habe B. »wesentlich dazu freigekauft hatte, trat er als Oberkriegsrat in beigetragen, das Bewusstsein derer, die in dessen Dienste. Als er einige Jahre darauf erzwei Ländern Fremde sind, von innen her blindete, las ihm die neunjährige Tochter regelmäßig aus den Werken der dt. Klassiker erfahrbar zu machen«. Zu B. wie auch zu seinem literar. Umfeld vor. Mit zwölf Jahren nahm B. zunächst noch gibt es eine Fülle an Forschungsliteratur, die gegen den Willen der Eltern Schauspielunnicht zuletzt dem starken Interesse am viel- terricht u. debütierte 1813 am Münchner fältigen Komplex der Gastarbeiter-, Migrati- Theater am Isartor. Bereits in ihrem ersten ons- u. interkulturellen Literatur wie auch Bühnenjahr war sie in 34 Rollen zu sehen. der Frage nach Eigenem vs. Fremden ge- Mit zahlreichen Gastspielauftritten an dt. u. europ. Bühnen sowie festen Engagements am schuldet ist. Weitere Werke: nicht nur gastarbeiterdeutsch. Münchner Hoftheater (1818–1826) u. später Klein Winternheim 1979 (L.). – Lit. der Betroffen- am Theater an der Wien (1828–1830) konnte heit. Bemerkungen zur Gastarbeiterlit. Zus. mit sie ihre verarmte Familie finanziell unterRafik Schami. In: Zu Hause in der Fremde. Hg. stützen. 1825 heiratete sie den dän. DiploChristian Schaffernicht. Fischerhude 1981, maten u. Privatsekretär des Fürsten HardenS. 124–136 (Ess.). – Ode an die Fremde. Sankt Au- berg, Dr. Christian Birch, dem sie eine Angustin 1995 (L.). – Der Stau. Ffm. 2001 (R.). – stellung als Dramaturg am Münchner Hof(Mit-)Herausgeber: Der Prolet lacht. (Werkkreis Lit. theater verschaffte. Ihre gemeinsame Tochter der Arbeitswelt). Ffm. 1978. – Die Tinte u. das PaWilhelmine von Hillern war wie die Mutter pier. Dichtung u. Prosa ital. AutorInnen in Dtschld. schauspielerisch u. schriftstellerisch tätig (Die Aachen 1999. Geyer-Wally, 1875). Literatur: Gastarbeiterlit., LiLi 56 (1984). – Als Birch beim bayer. König in Ungnade Irmgard Ackermann u. Harald Weinrich (Hg.): Eine nicht nur dt. Lit. Zur Standortbestimmung der gefallen war, blieben auch für B. die Enga›Ausländerliteratur‹. Mchn./Zürich 1986. – Gino gements in München aus. Die Schriftstellerei Chiellino: Lit. u. Identität in der Fremde. Kiel 1989. verhalf ihr in dieser Zeit zu einer neuen Ein– Caroline Lüderssen u. Salvatore A. Sanna (Hg.): nahmequelle. Seit ihrem Debütdrama Herma

555

Birck

1828 zählte B. zu den meistgespielten Dra- dem Einzug naturalistischer Schauspiele namatikern ihrer Zeit. Sie verfasste über neun- hezu gänzlich von den Bühnen verdrängt u. zig Schauspiele, daneben auch Erzähltexte auch von der germanistischen u. theaterwiss. sowie Opernlibretti (u. a. zu Musik von Gia- Forschung kaum mehr berücksichtigt. Erst in como Meyerbeer) u. Dramatisierungen von jüngster Zeit wurde ihr im Rahmen der hisRomanen von Berthold Auerbach, Victor torisch orientierten Forschung wieder BeHugo, Charles Dickens, Ludwig Tieck u. a. Zu achtung geschenkt. Dabei versuchen femiihren bekanntesten Stücken zählen Die Grille nistisch orientierte Literaturwissenschaftler, (nach George Sand) u. Dorf und Stadt (nach B. mit dem Hinweis auf ihre GesellschaftsAuerbach). Wurden ihre Werke zunächst kritik u. ihren Einsatz für die gesellschaftl. vornehmlich an Volks- u. Vorstadtbühnen Rolle der Frau zu rehabilitieren. Demgegengespielt, ging ihre viel zitierte »Bühnenall- über misst die theaterwiss. Forschung ihren macht« seit 1836 auch auf die repräsentati- Werken qualitativ eher geringen Wert zu, veren Hoftheater in Wien u. Berlin über. Als weist aber zgl. auch auf ihren immensen B. 1836 die Leitung des heruntergewirt- Einfluss auf zeitgenöss. Spielpläne hin. schafteten Zürcher Aktientheaters angeboten Ausgaben: Ges. Novellen u. Erzählungen. 3 wurde, bot ihr dies für einige Jahre Ruhe in Bde., Lpz. 1863–65. – Ges. dramat. Werke. 23 Bde., ihrem von Gastspielreisen geprägten Schau- Lpz. 1863–80. – Briefe: Gisela Ebel: Das Kind ist tot, spielerleben. Dank ihrer Erfahrung als Dra- die Ehre ist gerettet. Ein Briefw. aus dem 19. Jh. matikerin wie auch als Schauspielerin erlebte zwischen C. B. (1800–68), Dichterin kitschiger das Theater in der Zeit ihrer Direktion (bis Dramen, ihrer Tochter Minna v. Hillern, Verfasserin der ›Geier-Wally‹, u. dem Kammerjunker u. 1843) eine Blüte. Denn sie verstand es, geHofgerichtsrat Hermann v. Hillern über ein zur fragte Schauspieler in Zürich zu engagieren Unzeit geborenes Kind. Ffm. 1985. u. daneben die Spielpläne vielseitiger als unLiteratur: Gunnar Meske: Die Schicksalskoter ihren Vorgängern zu gestalten. Zudem mödie. Diss. Köln 1971. – Catherine Evans: C. B. trug sie zur Erneuerung des Theaters bei, Dramatist. Diss. Cornell University 1982. – Goenicht zuletzt, indem sie dort zahlreiche ei- deke Forts. – Ingrid Hiort af Ornäs: ›In meinem gene Werke zur Aufführung brachte u. auch Lottchen ist doch halt ein Junge verloren‹. C. B. als immer wieder selbst auf der Bühne stand. Dramatikerin. Eine Studie zum Erfolgs- u. TriviDoch erst ein Engagement als Hofschauspie- aldrama des 19. Jh. Stockholm 1997. – Birgit Parlerin in Berlin seit 1844, wo sie bis zu ihrer gner: Zwischen Tränen u. Kommerz. Das RührPensionierung 1865 wirkte, bot ihr die lang theater C. B.s (1800–68) in seiner künstler. u. ersehnte finanzielle Sicherheit. Dazu trugen kommerziellen Verwertung. Bielef. 1999. – Dies.: C. B. (1800–68). Eine Frau beherrscht die Bühne. auch die 1844 eingeführten TantiemenzahEine Aussstellung im Dt. Theatermuseum Münlungen bei, die sich für B. insbes. in Wien u. chen 19.11.1999–20.2.2000. Bielef. 1999. – Rinske Berlin als sehr lukrativ erwiesen, wurden ei- van Stipriaan Pritchett: The Art of Comedy and nige ihrer Stücke seinerzeit doch über 200- Social Critique in Nineteenth-Century Germany. C. mal an dt. u. ausländ. Bühnen, u. damit B. (1800–68). Oxford 2005. Katrin Korch weitaus häufiger als die Dramen Goethes u. Schillers, aufgeführt. Nach ihrem Tod jedoch Birck, Byrck, Birk, Birken, Sixt, latinisiert: verschwanden sie von den Spielplänen deutXystus Betuleius/Betulius, * 24.2.1501 scher Theater u. gerieten bald in VergessenAugsburg, † 19.6.1554 Augsburg; Grabheit. Grund dafür ist der schon von der zeitstätte: ebd., bei der St.-Anna-Kirche. – genöss. Kritik wie auch von heutigen LiteraDramatiker, Verfasser von geistlichen turwissenschaftlern als gering veranschlagte Liedern u. Gelehrtenprosa. geistige Gehalt ihrer Stücke, die entsprechend dem Zeitgeschmack triviale Klischees Der Sohn des Augsburger Tuchwebers Ulrich vermitteln. Feierten ihre meist effektvollen Birck besuchte die Augsburger Domschule u. Rührstücke auf den Bühnen in der zweiten erhielt die niederen Weihen, bevor er sich Hälfte des 19. Jh. noch große Erfolge, so unter dem Eindruck der universitären Diswurden sie um die Jahrhundertwende mit kussionen der protestant. Reformbewegung

Birck

zuwandte. B. studierte 1520/21 in Erfurt bei Eoban Hesse, Euricius Cordus u. Justus Jonas. 1522 wechselte er nach Tübingen, wo er 1523 das Baccalaureat erlangte. Im selben Jahr immatrikulierte er sich in Basel u. a. für die Fächer Theologie, Jura, hebräische u. griech. Philologie. Akadem. Lehrer waren Johannes Oekolampad, Bonifacius Amerbach, Konrad Pelican u. Heinrich Glarean. Bes. Glarean förderte B.s literar. Interessen. Beruflich betätigte B. sich zunächst als Korrektor bei den Druckereien Cratander, Froben u. Bebel, ab 1530 als Schulmeister in Klein-Basel. 1534 wurde B. Rektor des Pädagogiums im ehem. Dominikanerkloster. Nach Erwerb des Magistertitels 1536 kehrte er als Rektor des St.Anna-Gymnasiums in seine Geburtsstadt zurück, wo ihm auch die Gründung der Stadtbibliothek aus den Beständen der drei aufgehobenen Klöster oblag. B.s wegweisendes Schaffen als Reformationsdramatiker teilt sich mit seinen Wirkungsstätten in eine deutsch- u. eine lateinsprachige Periode. Während die zur Zeit der Baseler Lehrtätigkeit entstandenen u. aufgeführten dt. Stücke als reformator. Tendenzdramen auf die Resonanz einer breiteren Öffentlichkeit abzielten, waren B.s in Augsburg im Stil der Humanisten nach klassischem Muster verfasste lat. Schuldramen unter pädagog. Zweckaspekt für den Sprachunterricht bestimmt. Charakteristische Stoffe des protestant. Schauspiels nimmt B. mit den in den sechs Baseler Stücken dramatisierten alttestamentl. Historien auf. In der Formgebung vereint er die traditionellen Strukturen der Schweizer Bürgerspiele mit Bauelementen des Humanistendramas. Textvorlagen sind die Vulgata, die Lutherbibel, die Zürcher Bibel u. bes. Leo Juds Apokryphenübersetzung (1529); Metrum ist der herkömml. vierhebige Reimpaarvers. Entsprechend der Entstehungsfolge, die Johannes Nysaeus, B.s erster Biograf, in seiner 1563 gedruckten Vita Xysti Betuleii (Leben des X. B.) mitteilt, entwickelt sich die dramat. Technik. Sind die beiden ersten Stücke mit ihren gedehnten Redepassagen noch handlungs- u. spannungsarm, so bildet B. später eine publikumswirksame u. bühnengerechte Dramaturgie aus. Er gestaltet akti-

556

onshaltige u. personenreiche Szenen, vermittelt nachdrücklich die moralisch-didakt. Absicht u. steigert die Reformationspropaganda zu offensiver Polemik. Exemplarische Verhaltensweisen in den Disputationen der Hof-, Rats- u. Gerichtsversammlungen sollen staatsbürgerl. Verantwortungsbewusstsein fördern. Die nach humanistischem Vorbild die Handlung gliedernden Chorgesänge sind z.T. selbstverfasst. Ezechias (1530) zeigt gemäß IV Reg XVIII f. u. Is XXXVI f. die von Gott über die Vermittlung des Propheten Esaias bewirkte Abwendung des dem König von Juda durch den Herrscher Assyriens drohenden Kriegsangriffs. Nach dem apokryphen Buch Esra (III Esr III f.) setzt Zorobabel (1531) die Weisheitsprobe in Szene, die der Titelheld mit der Aussage gewinnt, stärker als Wein u. Königsherrschaft seien die Frauen, am stärksten aber die Wahrheit. Die Erzählung von der zu Unrecht wegen Ehebruchs zum Tode verurteilten, mit Daniels Hilfe zuletzt rehabilitierten gottesfürchtigen Gattin dramatisiert B. nach Dan XIII in seiner Susanna (1532). Judith (1534) führt die mit Erschlagung des Holofernes begangene Rettungstat der Heldin des gleichnamigen alttestamentl. Buches vor. Anhand markanter Episoden aus Gen XXXIX-XLVII präsentiert Joseph (1535) die Lebensgeschichte Josephs in Ägypten. Der 1535/36 verfasste Beel (Bearbeitung der anonym überlieferten Tragedi wider die Abgöttery von 1535) besteht nach Dan XIV aus drei Einzelhandlungen: Entlarvung der Belpriester, Daniels Drachentötung, Daniel in der Löwengrube. Während Susanna bereits 1532 in Basel gedruckt wurde, sind die anderen dt. Stücke erstmals 1538 (Zorobabel) bzw. 1539 in Augsburg erschienen. Die fünf ab 1536 entstandenen lat. Dramen sind nur nach dem Jahr der ersten Drucklegung erfassbar. Judith, eine textgetreue, u. Susanna, eine nach den Normen der röm. Komödie umgeformte Übersetzung der dt. Fassung, wurden 1537 in Augsburg gedruckt. Ebenda erschien 1538 der einem Streitgesprächstext des Buonaccorso da Montemagno folgende Prosadialog De vera nobilitate (Vom wahren Adel), in dem Geburts- u. Tugendadel gegeneinander abgewogen werden. Die

557

Versdramen Eva u. Sapientia Salomonis (Die Weisheit Salomos) sind in der 1547 bei Oporinus in Basel gedruckten Sammlung Dramata sacra enthalten. Eva basiert auf Melanchthons aus Gen IV 3 abgeleiteter Version der Erzählung von den die Trias der Ständeordnung begründenden ungleichen Kindern Evas. Salomo bringt drei Ereignisse aus dem Herrscherleben: das Salomon. Urteil (nach III Reg III 16–28), das Bündnis mit Hiram von Tyrus (nach III Reg V 15–26) u. den Besuch der Königin von Saba (nach III Reg X 1–13). B.s philologisch-theolog. Gelehrtentätigkeit umfasst u. a. die Kommentare zu Lactantius (1563 postum veröffentlicht), Cicero u. Valerius Maximus, Anmerkungen zu den sibyllin. Büchern u. die europaweit verbreitete, 1554 von der Indexkongregation verbotene Konkordanz zum griech. NT. Ausgaben: Sämtl. Dramen. Hg. Manfred Brauneck. 3 Bde., Bln. 1969–80. – Judith. In: Hellmut Thomke (Hg.): Dt. Spiele u. Dramen des 15. u. 16. Jh. Ffm. 1996, S. 213–325, 1043–1054. – Digitalisierung der lat. Stücke (Originaldruck u. Volltext) in: CAMENA: Abt. Poemata. Dramata sacra: comoediae atque tragoediae aliquot e Veteri Testamento desumptae. Ed. Ioan. Oporinus. Basel 1547. Literatur: Josef Franz Schöberl: Über die Quellen des S. B. Diss. Mchn. 1919. – Ernst Messerschmid: S. B. (1500–54). Diss. Erlangen 1923. – Helene Levinger: Augsburger Schultheater. Bln. 1931. – Jean Lebeau: S. B.s ›Judith‹ (1539), Erasmus u. der Türkenkrieg. In: Daphnis 9 (1980), S. 679–698. – Barbara Becker-Cantarino: Gewalt u. Leidenschaft. Zu S. B.s u. Martin Opitz’ ›Judith‹. In: Passion, Affekt u. Leidenschaft in der Frühen Neuzeit. Hg. Johann Anselm Steiger in Verb. mit Ralf Georg Bogner. Wiesb. 2005, S. 719–738. – Henrike Lähnemann: Hystoria Judith. Dt. Judithdichtungen vom 12. bis zum 16. Jh. Bln./New York 2006. Elke Ukena-Best

Birgitta von Schweden, * 1303 Finstad bei Uppsala, † 1373 Rom. – Mystikerin; Gründerin des Birgittenordens. In ihren Visionen erhielt B., eine dem schwed. Königshaus verwandte Adelige, verheiratet u. Mutter von acht Kindern, den Auftrag, einen neuen Orden zu gründen u. gegen die Missstände in Kirche u. Welt anzutreten. Nach der

Birgitta von Schweden

Stiftung des ersten Hauses des Ordo S. Salvatoris in Vadstena zog sie 1349 nach Rom, wo sie versuchte, auf die Moral der weltl. Herrscher u. auf die Politik der Päpste Einfluss zu nehmen. Sie wurde 18 Jahre nach ihrem Tod kanonisiert, blieb aber umstritten. B.s Revelationes sind lat. Übersetzungen bzw. Redaktionen ihrer altschwedisch diktierten Visionen durch die Beichtväter. Sie wurden im Hinblick auf B.s Kanonisation zusammengestellt u. fast überall in Europa verbreitet. Die Revelationes wurden bald in ihre Muttersprache rückübersetzt, auch mehrfach ins Nieder- u. Oberdeutsche übertragen, zumeist auszugsweise, desgleichen ins Mittelenglische u. Alttschechische. Pflegestätte u. Überlieferungsschwerpunkt der Werke B.s waren v. a. die dt. Birgittenklöster. Besonderes Interesse an B.s Werk zeigte Kaiser Maximilian I., der die Drucklegung der lat. (Nürnb. 1500) wie einer dt. Fassung (Onus mundi. Nürnb. 1502) förderte. Über B.s Leben existieren auch lat. u. dt. Viten; die populärste erschien als Sondergut in dem Nürnberger Legendar Der Heiligen Leben (Ende 14. Jh.). B. gilt als eine der großen Religiosen des MA. Ihre Gesichte waren von bes. Einfluss auf die bildende Kunst, namentlich die Ikonographie der Geburt Christi (nacktes, lichtumstrahltes Kind von der Mutter angebetet), beeinflussten aber auch andere Mystikerinnen wie z.B. Dorothea von Montau u. die kath. Frömmigkeitslit. des Barock. Ausgaben: Revelationes caelestes. Lübeck 1492. – Sancta B. Revelaciones. Lib. I. Hg. Carl-Gustav Undhagen. Uppsala 1978. – Lib. V, VI, VII. Hg. Birger Bergh. Uppsala 1971, 1991, 1967. – Revelationes extravagantes. Hg. Lennart Hollmann. Uppsala 1956. – Sermo angelicus u. Regula Salvatoris. Hg. Sten Eklund. Uppsala 1972. Stockholm 1975. – Hildegard Dinges: ›Sunte Birgitten Openbaringe‹. Neuausg. des mittelniederdt. Frühdrucks v. 1496. Diss. Münster. o. O. 1952. – James Hogg (Hg.): ›Sunte Birgitten openbaringe‹. In: Analecta Cartusiana 35/8 (1989), S. 1–265. Übersetzungen: Ludwig Clarus: Leben u. Offenbarungen der hl. B. Regensb. 21888 [letzte vollst. u. ausgezeichnete dt. Übers.]. Literatur: Tore Nyberg: B. v. S. In: TRE. – Ulrich Montag: Das Werk der hl. B. v. S. in oberdt. Überlieferung. Mchn. 1968. – Ders.: B. v. S. In: VL.

Birken – Ders.: B. v. S. In: LexMA. – Giovanni Joergensen: Santa Brigida di Svezia. Brescia 1991. – Santa Brigida profeta dei tempi nuovi. Rom 1993. – Peter Dinzelbacher: Christl. Mystik im Abendland. Paderb. 1994. – T. Nyberg: B. v. S. In: LThK 2 (1994). – P. Dinzelbacher: Wörterbuch der Mystik. Stgt. 2 1998. – Ders.: Himmel, Hölle, Heilige. Vision u. Kunst im MA. Darmst. 2002. – Pavlina Rychterová: Die Offenbarungen der hl. B. v. S. Eine Untersuchung zur alttschech. Übers. des Thomas v. Stitne (um 1330-um 1409). Köln 2004. – Zeitschriften: Birgittiana. Neapel 1996 ff. Werner Williams-Krapp / Peter Dinzelbacher

Birken, Sigmund von, auch: Betulius, * 25.4.1626 Wildstein bei Eger/Böhmen, † 12.6.1681 Nürnberg; Grabstätte: ebd., Johannis-Friedhof. – Freier Schriftsteller. B. entstammte einem mitteldt. protestant. Theologen-Geschlecht. Unter dem wachsenden Druck des kath. Kaiserhauses auf die 1620 in der Schlacht am Weißen Berg bei Prag vernichtend geschlagenen Protestanten musste die Familie 1629 Böhmen verlassen u. siedelte in die Heimat von B.s Mutter, der Kaufmannstochter Veronica Khobolt, nach Nürnberg über. Die protestant. Freie Reichsstadt war das Zentrum des aus der Steiermark, Ober- u. Niederösterreich emigrierenden protestant. Adels, zu dem B. zeitlebens engste Kontakte behielt. Nach dem Besuch der Lateinschule bei der Heilig-Geist-Kirche fand der früh Verwaiste (1633 Tod der Mutter, 1642 Tod des Vaters) in dem großen Theologen Johann Michael Dilherr einen einflussreichen Mentor. Dilherr wirkte als Direktor des Aegidiengymnasiums u. hatte zgl. in der Stadt ein öffentliches Auditorium nach Art einer Artistenfakultät eingerichtet, das B. seit 1642 besuchte. Die moralhistor. u. rhetor. Disputationen u. Vorlesungen seines Lehrers bewahrte B. sein ganzes Leben lang auf. 1643/44 studierte er in Jena Recht, Philosophie u. Theologie, musste sein Studium jedoch aus finanziellen Gründen vor dem Abschluss abbrechen. 1645 wurde er in den soeben von Georg Philipp Harsdörffer u. Johann Klaj ins Leben gerufenen Pegnesischen Blumenorden aufgenommen (Gesellschaftsname: Floridan); im gleichen Jahr warb ihn

558

Philipp von Zesen für seine Teutschgesinnete Genossenschaft in Hamburg (Gesellschaftsname: Der Riechende). Dank der Vermittlung Harsdörffers, der sich zeitlebens für den mittellosen Dichter einsetzte, wurde B. 1646 neben Schottel die Erziehung der Prinzen Anton Ulrich u. Ferdinand Albrecht am Wolfenbütteler Hof Augusts d.J. übertragen; er blieb dem Hof bis an sein Lebensende verbunden; 1646 wurde er dort von dem herzogl. Leibarzt u. kaiserl. Hofpfalzgrafen Martin Gosky zum Dichter gekrönt. Auf anschließenden Reisen in Norddeutschland lernte B. u. a. Johann Rist in Hamburg u. Andreas Tscherning in Rostock kennen. Eine Hauslehrerstelle bei Johann Schroeder in Dannenberg an der Jeetze sicherte die Existenz, bevor er im Herbst 1648 zu den Friedensfeierlichkeiten nach Nürnberg zurückgerufen wurde, während derer ihm mit mehreren festl. Beiträgen der Durchbruch auf kath. Seite gelang. Gleichwohl blieb er neben der eigenen Produktion u. der Tätigkeit als Korrektor auf Hauslehrerstellen angewiesen, die er zwischen 1652 u. 1655 vornehmlich bei der Patrizierfamilie Rieter innehatte. Entscheidend wurde 1653 die Bekanntschaft mit dem in Wien einflussreichen, gleichwohl vorerst protestantisch gebliebenen Freiherrn u. späteren Reichshofrat u. Grafen Gottlieb von Windischgraetz. Dieser suchte den poet. u. poetolog. Beistand des routinierten gelehrten Dichters u. revanchierte sich, indem er B.s Nobilitierung u. Erhebung zum Pfalzgrafen 1655 durchsetzte. Die Aufnahme in die wichtigste kulturpolit. Organisation des 17. Jh., die Fruchtbringende Gesellschaft, führte B. auf den Höhepunkt seiner Karriere (Ordensname: Der Erwachsene). Ab diesem Zeitpunkt wirkte B. über zwei Jahrzehnte gleichzeitig als Historiograf, Festspieldichter, Diarist u. poet. Mentor für die großen Höfe in Wien, Wolfenbüttel, Brandenburg-Bayreuth u. Dresden. Zgl. nahm er als Präsident des Pegnesischen Blumenordens in der Nachfolge Harsdörffers (seit 1662) am literar. Leben Nürnbergs teil, das er durch unermüdl. Werbung neuer Mitglieder aktivierte. Auffällig bleibt – wie

559

bei Zesens Teutschgesinneter Genossenschaft – die starke Repräsentanz der Frauen im Orden. Unter ihnen ragte Maria Catharina Stockfleth hervor, während die größte Lyrikerin des Jahrhunderts, Catharina Regina von Greiffenberg, als Adlige nicht beitrat, wohl aber mit B. einen intensiven freundschaftlichvertraul. Briefwechsel pflegte (Hg. Hartmut Laufhütte. Tüb. 2005). Privat blieb dem erfolgreichen Dichter das Glück versagt. Die beiden Ehen mit den bedeutend älteren Frauen Magdalena Göring (1610–1670, Heirat 1658) u. Clara Catharina Bosch (1614–1679, Heirat 1673) blieben kinderlos u. waren von nicht abreißenden Auseinandersetzungen überschattet. 55-jährig, inmitten zahlreicher schriftstellerischer Pläne u. besorgt um die Zusammenführung seines Werks in großen Gattungs-Synopsen, erlag der Dichter einem Schlaganfall. Wie kein zweiter Dichter der auf Opitz folgenden Generation erweiterte B. das von diesem vorgegebene Repertoire. Er darf neben Rist, Zesen u. Harsdörffer als Repräsentant der Opitz’schen Dichtungsreform nach der Jahrhundertmitte gelten. Das gelehrthumanist. wie das höfisch-repräsentative Metier beherrschte er gleich souverän. Mit der Fortsetzung der Pegnitz-Schäferey (Nürnb. 1645. Neudr. mit Nachw. Hg. Klaus Garber. Tüb. 1966) in der Nachfolge von Opitzens Schäferei von der Nimfen Hercinie (1630) u. Harsdörffers u. Klajs Pegnesischem Schäfergedicht (1644) führte sich B. in Nürnberg ein u. blieb der pastoralen Mischform aus Vers u. Prosa zeitlebens treu. B. ist d e r pastorale Dichter des 17. Jh. kat exochen; fast ein halbes Hundert stets abwechslungsreicher Stücke produzierte er. Er entwarf in ihnen bleibende Bilder befriedeten Lebens inmitten einer paradiesischen Schöpfung u. öffnete die Gattung wie niemand sonst der privaten Existenz. Diese erhebt dabei immer auch den Anspruch, als dichterische u. gelehrte gleichberechtigt neben dem Geburtsadel zu stehen; der »Schäfer« als ein durch Tugend u. Gesang geadelter Dichter steht dafür ein. Die Aufwertung der Gattung zum pastoralen Fürstenspiegel gelang B. mit dem Ostländischen Lorbeerhayn (Nürnb. 1657) für die

Birken

Habsburger u. mit der Guelfis oder Nidersächsischer Lorbeerhayn (Nürnb. 1669) für die Welfen, um derentwillen er Gervinus teuer war. Er erreichte die Verschmelzung von pastoralem u. heroischem Genre im höfisch-heroischen Roman zus. mit Anton Ulrich in der Aramena (5 Bde., Nürnb. 1669–73. Nachdr. Hg. Blake Lee Spahr. Bern/Ffm. 1975–83) u. führte dem pastoralen dramat. Schaustück den nat. Gehalt in der Margenis (= Germanis) (Nürnb. 1679) zu. In dem noch unpublizierten Amaranten-Garte schuf er ein lyrisch-pastorales Tagebuch von bezaubernder Intimität. Die Gelegenheitsdichtung beherrschte er als städtischer wie als höf. Dichter gleich souverän. In den »Birken-Wäldern« sammelte er die Produktion für »bürgerliche«, in den »Lorbeer-Wäldern« diejenige für adlige Personen, u. im »Betuletum« traten die lateinischsprachigen Gelegenheitsgedichte zusammen. Nichts davon ist bislang geschlossen publiziert; alles lagert in großen lyr. Sammelhandschriften in seinem Nachlass – dem umfänglichsten, der von einem Dichter des 17. Jh. vorliegt. Nicht minder reichhaltig ist die geistlicherbaul. Produktion. B. bekannte, »daß, ob ich schon kein beruffner Kirchen-Diener werden sollte, ich gleichwohl, mit geistlichen Schrifften ein Diener Gottes, und Erbauer seiner Kirche zu werden verhoffte«. Wie ernst er diesen Anspruch nahm, zeigt allein sein Nachlass, in dem Dutzende von geistlich-erbaul. Schriften vom ersten Entwurf bis zur druckfertigen Reinschrift lagern. Seine geistl. Lieder, in denen er bis heute fortlebt, sammelte er im Psalterium Betulianum, seine geistl. Kasuallyrik in Gestalt von Sterbegedichten in seinen Todten-Andenken und Himmelsgedanken oder Gottes- und Todes-Gedanken. Nur sein Heiliger Sonntags-Handel und Kirchwandel kam in seinem Todesjahr als erbaul. Prosaschrift noch zum Druck (Nürnb. 1681). Im Drama verließ er die klassizist. Bahnen Opitzens am weitesten, beschritt jedoch nicht den Weg zur Oper, sondern zum festl. Aufzug u. zum emblemat. Schaustück. Im Teutschen Olivenberg gedachte er seine Nürnberger Friedensdichtungen zusammenzuführen; in der Teutschen Schaubühne seine anderweitigen Schaustücke. Beide Pläne zerschlugen sich

Birken

ebenso wie der Wunsch, parallel zu dem Nidersächsischen Lorbeerhayn für die Welfen einen Fränkischen Lorbeerhayn für das Haus Brandenburg-Bayreuth zu schaffen, in dem u. a. sein Singspiel, betitelt Sophia (1662) u. sein Ballet der Natur (1662) Platz gefunden hätten. Als höf. Schriftsteller war B. am erfolgreichsten, nachdem jeder Satz zunächst die Zensur der kaiserlich-fürstl. Instanzen zu passieren hatte. Seine dickleibigen panegyrisch-dynastisch-historiograf. Werke, der Donaustrand (Nürnb. 1664) u. der Spiegel der Ehren (Nürnb. 1668) für die Habsburger, die Guelfis (Nürnb. 1669) für die Welfen, der Hochfürstliche Brandenburgische Ulysses (Bayreuth 1668) für Christian Ernst von Brandenburg-Bayreuth u. der Chur- und Fürstliche Sächsische Heldensaal (Nürnb. 1677) wurden bis ins 18. Jh. hinein immer wieder aufgelegt u. haben sich bis heute in zahllosen Bibliotheken erhalten. Sie verschafften B. den Respekt der nobilitas literaria, die, wo immer möglich, den Weg zum Hof suchte, u. verdunkelten sein Bild bei der Nachwelt, der er als serviler Fürstendiener galt. Als Übersetzer wandte sich B. dem Füstenspiegel eines Erasmus ebenso zu wie der jesuit. Dramatik eines Jakob Masen, der Satire eines Jakob Balde ebenso wie der Theosophie u. Naturphilosophie eines Amos Comenius. In seiner späten Poetik, der Teutschen Rede-bind- und Dicht-Kunst (Nürnb. 1679. Neudr. Hildesh./New York 1973), suchte er den Gattungs-Kosmos seines Jahrhunderts theoretisch zu fixieren; die erste Äußerung zur jungen Gattung des Romans stammt aus seiner Feder (Aramena-Vorrede. Bd. 1, Nürnb. 1669. Nachdr. Bern/Ffm. 1975, Bl. )(iijr-)( )(iijv). B. ist der einzige Schriftsteller des dt. 17. Jh., der uns nicht nur als eifriger Briefschreiber – mehr als 2000 Briefe von ihm u. an ihn sind erhalten –, sondern auch als Verfasser einer (bis 1656 reichenden) Autobiografie (Hg. Dietrich Jöns u. H. Laufhütte 1988) sowie als gewissenhafter Schreiber von Konzeptheften (ab 1653) u. Tagebüchern (ab 1660) bekannt ist. Hier lernen wir den unermüdlich planenden, feilenden, Kontakte knüpfenden Dichter kennen, der bei aller Betriebsamkeit eine gewisse Isolierung nicht verbergen kann, ganz aufs Werk setzt u.,

560

zwischen Stadt u. Hof pendelnd, doch den öffentlichen polit. Wirkungsradius der späthumanist. Generation um Opitz verloren hat. Nachruhm war ihm nicht beschieden. Wie die Großen der Zweiten Schlesischen Schule, bei Lohenstein u. Hoffmannswaldau angefangen, wurde er als substanzloser Manierist u. beflissener Hofgänger schon seit der Jahrhundertwende verunglimpft u. zugunsten der »klassizistischen« Generation um Opitz, Fleming u. Dach zurückgesetzt. Zum »nationalen« Gehalt der literar. Gattungen schien er nichts beigetragen zu haben u. verlor damit schon für die Aufklärung an Interesse; im 19. Jh. wurde dem ästhetischen ein sittl. Makel hinzugedichtet. Die neuere Barockforschung seit den 1920er Jahren favorisierte Harsdörffer als Begründer eines enzyklopäd. Schrifttums u. Klaj als genialen Lyriker, hinter denen die Gestalt des rührigen Ordenspräsidenten, der sein Bestes im Nachlass verbarg, in den Schatten trat. Weitere Werke: Werke u. Korrespondenz. Hg. Klaus Garber, Ferdinand van Ingen u. Hartmut Laufhütte. Tüb. 1988 ff. – Die Pegnitz-Schäfer. Georg Philipp Harsdörffer, Johann Klaj, S. v. B.: Gedichte. Hg. Gerhard Rühm. Bln. 1964. – Die Pegnitz-Schäfer. Nürnberger Barockdichtung. Hg. Eberhard Mannack. Stgt. 21988. – Lyrik: John Roger Paas (Hg.): Unbekannte Gedichte u. Lieder des S. v. B. Amsterd./Atlanta 1990. – Weltliche Lyrik: Schäfer Floridans Poet. Liebes-Blumen 1. Sträußlein. Nürnb. 1653. S. v. B.: Amaranten-Garte. Hg. K. Garber u. H. Laufhütte. Tüb. 2008. – Geistliche Lyrik und Erbauungsschrifttum: Geistl. Weihrauchkörner Oder Andachtslieder I. Dutzet. Nürnb. 1652. – Todes-Gedancken u. Todten-Andenken. Nürnb. 1670. – Fischer-Tümpel 5 (1911), S. 60–103. – Schäferdichtung: Pegnes. Gesprächspiel-Gesellsch. Nürnb. 1665. – Pegnesis. Tle. 1–2, Nürnb. 1673–79 (Slg. u. Überarb. zahlreicher weltl. u. geistl. Schäferdichtungen, vornehmlich v. B.). Teildr.: Floridans Verliebter u. Geliebter Sireno. In: Die dt. Lit. Hg. Albrecht Schöne. Bd. 3, Mchn. 1968, S. 839–856. – Friedensdichtungen: Krieges- u. Friedensbildung. Nürnb. 1649. – Teutscher Kriegs Abu. Friedens Einzug. Nürnb. 1650. – Teutschlands Krieges-Beschluß u. FriedensKuß. Nürnb. 1650. – Die Fried-erfreuete Teutonie. Nürnb. 1652. – Flamais oder der FriedensHeld. Teilabdr. aus dem Nachl. in: Christoph Jobst: S. v. B.s ›Amalfis‹. In: Unser Egerland 18 (1914), S. 17–20, 42–44 (weiterer Teildr. im Bd. 2 der Diss. v. Jobst. s. u.). –

561 Schauspiele: Neues Schausp. Betitelt Androfilo Oder Die WunderLiebe [...] Nebenst einem Nachspiel Betitelt Silvia Oder Die Wunderthätige Schönheit. Nürnb. 1656. – Schausp. Psyche. In: S. v. B.: Teutsche Rede-bind u. Dichtkunst. Nürnb. 1679. Neudr. Hildesh./New York 1973, S. 389–516. – Übersetzungen und Bearbeitungen: Johann Amos Comenius: Orbis sensualium pictus. Die sichtbare Welt. Nürnb. 1658. – Die Truckene Trunkenheit. Eine aus Jacobi Balde [...] gedeutschte Satyra oder Straff-Rede wider den Mißbrauch des Tabaks. Nürnb. 1658. Neudr. Hg. Karl Pörnbacher. Mchn. 1967. – Joachim Kröll: Die Erasmus-Bearb.en B.s. Ein Beitr. zur Fürstenspiegel-Lit. In: Archiv für die Gesch. Oberfrankens 63 (1983), S. 147–218. – Briefe: Aus dem Briefw. S. v. B. u. Georg Neumarks 1656–69. Hg. Carl August Hugo Burkhardt. In: Euph. 3. Ergänzungsh. (1897), S. 12–55. – Die Briefe des Bayreuther Generalsuperintendenten Caspar v. Lilien an den Nürnberger Dichter S. v. B. Hg. J. Kröll. In: Archiv für die Gesch. Oberfrankens 56 (1976), S. 121–234. – Der Briefw. zwischen S. v. B. u. Catharina Regina v. Greiffenberg. Hg. H. Laufhütte zus. mit Dietrich Jöns u. Ralf Schuster. Tüb. 2005 (Werke u. Korrespondenz 12/I-II). – Der Briefw. zwischen S. v. B. u. Georg Philipp Harsdörffer, Johann Rist, Justus Georg Schottelius, Johann Wilhelm v. Stubenberg u. Gottlieb Graf v. Windischgrätz. Hg. H. Laufhütte u. R. Schuster. Tüb. 2007 (Werke u. Korrespondenz 9/I-II). – Tagebücher: Hg. J. Kröll. Würzb. 2 Tle., 1971–74. – Autobiografie: Prosapia/Biographia. Hg. D. Jöns u. H. Laufhütte. Tüb. 1988. – Amtliche Tätigkeit: Hofpfalzgrafen-Register. Bearb. v. Jürgen Arndt. Bd. 1, Neustadt/Aisch 1964. Eintrag S. v. B. Bearb. v. Erik Amburger, S. 79–85. Literatur: Werkverzeichnisse: Heiduk/Neumeister, S. 295–297. – Christian Schwarz: Verz. v. Schr.en welche auf den Pegnes. Blumenorden in Nürnberg u. dessen Mitglieder Bezug haben (Ms. Archiv P. Bl. O. 114. Einziges erhaltenes Zeugnis für zahlreiche unikate B.’sche Titel, zumeist Autoren-Exemplare. Um 1800). Vgl. Garber 2008 (s. u.). – Richard Mai: S. v. B. In: JbDSG 13 (1969), S. 577–640. – Garber: Locus amoenus (1974, s. u.), S. 317–320. – Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 1, S. 582–671. – Hermann Stauffer: Nachforsch.en zur Chronologie der Werke S. v. B.s. In: Daphnis 28 (1999), S. 137–186. – Renate Jürgensen: Melos conspirant singuli in unum. Repertorium bio-bibliographicum zur Gesch. des Pegnes. Blumenordens in Nürnberg 1644–1744. Wiesb. 2006, S. 64–101, S. 199–244. – Flood, Poets Laureate, Bd. 1, S. 182–191. – H. Stauffer: S. v. B. Morphologie seines Werks. 2 Bde., Tüb. 2007. – Zur Bio-

Birken grafie: Martin Limburger: Die Betrübte Pegnesis. Nürnb. 1683. 21684. Nachdr. mit einem Nachw. v. Dietrich Jöns. Hildesh. u. a. 1993 (darin enthalten die Leichenpredigt v. Paul Martin Alberti, S. 309–329). – Friedrich Caspar Hagen: Vita et Obitus Sigismundi a Bircken. In: Ders.: Memoriae philosophorum [...]. Bayreuth 1710, S. 191–208. – Johann Herdegen: Histor. Nachricht v. deß löbl. Hirten- u. Blumenordens an der Pegnitz Anfang u. Fortgang. Nürnb. 1744, S. 79–158. – Wilhelm Schmidt: S. v. B., genannt Betulius. In: FS zur 250jährigen Jubelfeier des Pegnes. Blumenordens. Nürnb. 1894, S. 481–532. – Joachim Kröll: Der Dichter S. v. B. in seinen Beziehungen zu Creußen u. Bayreuth. In: Archiv für die Gesch. Oberfrankens 47 (1967), S. 179–276. – Ders: Die Ehre des Gebirges u. der Hohen Wälder. Catharina Margaretha Dobenecker [...]. In: Daphnis 7 (1978), S. 287–339. – John Roger Paas: S. v. B. and Gabrielle Charlotte Patin. In: Daphnis 18 (1989), S. 569–575. – Hartmut Laufhütte: Floridans Silvia. Transformationen einer Liebesbeziehung. Neue Erkenntnisse zur Biogr. S. v. B.s. In: AKG 73 (1991), S. 85–134. – Ferdinand van Ingen: S. v. B. Ein Autor in Dtschld.s Mitte. In: ›der Franken Rom‹. Nürnbergs Blütezeit in der zweiten Hälfte des 17. Jh. Hg. J. R. Paas. Wiesb. 1995, S. 257–275. – H. Laufhütte: Freundschaften. Ihre Spuren im Briefarchiv S. v. B.s. In: Ars et Amicitia. FS Martin Bircher. Hg. F. van Ingen u. Christian Juranek. Amsterd./Atlanta 1998, S. 309–329. – Umrisse von Leben und Werk: Julius Tittmann: Die Nürnberger Dichterschule. Nürnb. 1847. Neudr. Wiesb. 1965. – Conrad Wiedemann: S. v. B. In: Fränk. Klassiker. Hg. Wolfgang Buhl. Nürnb. 1971, S. 325–336. – Klaus Garber: S. v. B.: Städt. Ordenspräsident u. höf. Dichter. Histor.-soziolog. Umriß seiner Gestalt, Analyse seines Nachl. u. Prolegomenon zur Ed. seines Werkes. In: Sprachgesellsch.en, Sozietäten, Dichtergruppen. Hbg. 1977, S. 223–254. – Ders.: Autobiographika u. Korrespondenz S. v. B.s. In: Briefe dt. Barockautoren. Probleme ihrer Erforsch. u. Erschließung. Hg. Hans-Henrik Krummacher. Hbg. 1978, S. 107–138. – J. Kröll: S. v. B. In: Fränk. Lebensbilder 9 (1980), S. 187–203. – Dietrich Jöns: S. v. B. Zum Phänomen einer literar. Existenz zwischen Hof u. Stadt. In: Lit. in der Stadt. Hg. Horst Brunner. Göpp. 1982, S. 167–186. – K. Garber: S. v. B. Ein Geleitwort zur Ed. seiner Werke. In: Wolfenbütteler Barock-Nachrichten 15 (1988), S. 78–84. – R. Jürgensen: Utile cum dulci. Die Blütezeit des Pegnes. Blumenordens in Nürnberg 1644–1722. Wiesb. 1994, S. 37–100. – H. Laufhütte: Poetenwürde u. literar. Dienstleistungsgewerbe im 17. Jh. am Beispiel des Pegnes. Blumenordens. In: ›der Franken Rom‹ [...]. Hg. J. R. Paas. Wiesb.

Birken 1995, S. 155–177. – Ders.: S. v. B. Leben – Werk – Nachleben. Mit einem Vorw. v. K. Garber. Passau 2008. – Lyrik: Michael Titzmann: Zur Dichtung der Nürnberger ›Pegnitz-Schäfer‹. ›O Pan/ der du in Wäldern irrest‹. Ein Gedicht v. B. u. Klaj u. sein Kontext. In: Hdb. der Lit. in Bayern. Hg. Albrecht Weber. Regensb. 1987, S. 221–234. – D. Jöns: Auftrag u. Ausführung. S. v. B.s Gedicht auf die Hochzeit v. Christoph Fürer v. Haimendorf mit Anna Lucia Löffelholz v. Colberg am 13. Sept. 1659. In: Bausteine zu einem transatlant. Literaturverständnis. Hg. Hans W. Panthel u. Peter Rau. Bern u. a. 1994, S. 131–149. – J. R. Paas: In praise of Johann Michael Dilherr. Occasional poems written in 1644 by S. v. B., Georg Philipp Harsdörffer, and Johann Klaj. In: Daphnis 21 (1992), S. 601–613. – Konrad Wieland: Der Fels in der Brandung. Beständigkeitsdenken u. Beständigkeitsbilder im Korpus der Gedichte S. v. B.s. Bln. 2006. – Geistliche Dichtung: Richard Mai: Das geistl. Lied S. v. B.s. Diss. Mchn. 1968. – D. Jöns: S. v. B. u. der Druck der ›Geistlichen Sonette/Lieder u. Gedichte‹ Catharina Regina v. Greiffenbergs. In: Methodisch reflektiertes Interpretieren. FS H. Laufhütte. Hg. Hans-Peter Ecker. Passau 1997, S. 181–199. – H. Laufhütte: Geistlich-literar. Zusammenarbeit im Dienste der ›Deoglori‹. S. v. B.s Emblem-Erfindungen für die Andachtswerke der C. R. v. Greiffenberg. In: Polyvalenz u. Multifunktionalität der Emblematik. Hg. Wolfgang Harms u. Dietmar Peil. Ffm. 2002, S. 581–596. – Ders.: Passion Christi bei S. v. B. u. C. R. v. Greiffenberg. In: Passion, Affekt u. Leidenschaft in der frühen Neuzeit. Hg. Johann Anselm Steiger. Wiesb. 2005, S. 271–287. – Schäferdichtung: Heinrich Meyer: Der dt. Schäferroman des 17. Jh. Diss. Freib. i. Br. 1927. –Blake Lee Spahr: Dorus of Istrien. A question of identity. In: PMLA 68 (1953), S. 1056–1067. – Ders.: Dorus aus Istrien. A question answered. In: MLN 72 (1957), S. 591–596. – K. Garber: Forsch.en zur dt. Schäferu. Landlebendichtung des 17. u. 18. Jh. In: Jb. Int. Germ. 3 (1971), S. 226–242. – Ders.: Der locus amoenus u. der locus terribilis. Bild u. Funktion der Natur in der dt. Schäfer- u. Landlebendichtung des 17. Jh. Köln/Wien 1974. – Ders.: Vergil u. das Pegnes. Schäfergedicht. In: Dt. Barocklit. u. europ. Kultur. Hg. Martin Bircher u. Eberhard Mannack. Hbg. 1977, S. 168–203. – Ders.: Martin Opitz’ ›Schäferei v. der Nymphe Hercinie‹ als Ursprung der Prosaekloge u. des Schäferromans in Dtschld. In: Daphnis 11 (1982), S. 547–603, v. a. 579–590. – Ders.: Arkadien u. Gesellsch. In: Utopieforsch. Bd. 2, Stgt. 1982, S. 37–81, 58 ff. – Maria Fürstenwald: Letztes Ehren-Gedächtnüß u. Himmelklingendes Schäferspiel. Der literar. Freundschafts- u. Totenkult im Spiegel des barocken Trauerschäfer-

562 spiels. In: Daphnis 2 (1973), S. 32–53. – Jane O. Newman: ›FrauenZimmers Geberden‹ u. ›Mannesthaten‹. Authentizität, Intertextualität u. ›la querelle des femmes‹ in S. v. B. ›Ehren-Preis des Lieb-löbl. Weibl. Geschlechts‹ (1669/73). In: ›der Franken Rom‹ [...]. Hg. J. R. Paas, Wiesb. 1995, S. 314–330. – Michael Schilling: Gesellsch. u. Geselligkeit im ›Pegnes. Schäfergedicht‹ u. seiner ›Fortsetzung‹. In: Geselligkeit u. Gesellsch. im Barockzeitalter. Hg. Wolfgang Adam. Wiesb. 1997, S. 473–482. – K. Garber: Surpassing the Prototype. S. v. B. ›Fortsetzung der Pegnitz-Schäferey‹. In: Ders.: Imperiled Heritage: Tradition, History, and Utopia in Early Modern German Literature. Hg. Max Reinhart. Adlershot u. a. 2000, S. 142–165. – Friedensdichtung: Adam Christof Jobst: S. v. B. ›Teutscher Olivenberg‹. 2 Bde., Diss. Wien 1913 (mit Teildr. des ›Amalfis‹-Dramas). – H. Laufhütte: Der gebändigte Mars. Kriegsallegorie u. Kriegsverständnis im dt. Schauspiel um 1648. In: Ares u. Dionysos. Das Furchtbare u. das Lächerliche in der europ. Lit. Hg. Hans-Jürgen Horn u. H. Laufhütte. Heidelb. 1981, S. 121–135. – J. R. Paas: S. v. B. ›Des Friedens Vermählung mit Teutschland‹. In: Wolfenbütteler Barock-Nachrichten 17 (1990), S. 82–89. – K. Garber: Sprachspiel u. Friedensfeier. Die dt. Lit. des 17. Jh. auf ihrem Zenit im festl. Nürnberg. In: Der Westfäl. Friede. Diplomatie, polit. Zäsur, kulturelles Umfeld, Rezeptionsgesch. Hg. Heinz Duchhardt. Mchn. 1998, S. 679–713. – Ders.: Pax Pastoralis – Zu einer Friedensgattung der europ. Lit. In: 1648. Krieg u. Frieden in Europa. Hg. Klaus Bußmann u. Heinz Schilling. 3 Bde., o. O. 1998, Textbd. 2, S. 319–322. – H. Laufhütte: Das Friedensfest in Nürnberg 1650. Ebd., S. 347–357. – Christiane Caemmerer: Schäferspiel als polit. Allegorie. S. v. B. ›Das Vergnügte/Bekriegte u. Widerbefriedigte Teutschland‹ (1651) u. ›Margenis‹ (1679). In: Dies.: Siegender Cupido u. Triumphierende Keuschheit. Dt. Schäferspiele des 17. Jh. Stgt.-Bad-Cannstatt 1998, S. 305–341. – Drama und Komödie: Jean-Marie Valentin: B. et Boccace: La Comédie de ›Sylvia‹. In: Barocker LustSpiegel. Hg. Martin Bircher, Jörg-Ulrich Fechner u. Gerd Hillen. Amsterd. 1984, S. 115–138. – Judith P. Aikin: Happily ever after: An alternative affective theory of comedy and some plays by B., Gryphius, and Weise. In: Daphnis 17 (1988), S. 55–76. – Mara R. Wade: S. v. B.: Psyche. In: Dies.: The German Baroque Pastoral ›Singspiel‹. Bern 1990, S. 191–262. – H. Laufhütte: ›animae sub volucro historia‹. S. v. B.s Drama ›Psyche‹ als allegor. Inszenierung der Heilsgesch. In: Theodramatik u. Theatralität. Hg. Volker Kapp, Helmuth Kiesel u. Klaus Lübbers. Bln. 2000, S. 139–146. – Markus Paul: Reichsstadt u. Schauspiel. Theatrale Kunst im

563 Nürnberg des 17. Jh. Tüb. 2002, S. 110 ff., 280 ff., 344 ff. – Karl-Bernhard Silber: Die dramat. Werke S. v. B. Tüb. 2000. – Roman und Versepos: B. L. Spahr: Anton Ulrich and Aramena. Berkeley/Los Angeles 1966. – Fritz Martini: Der Tod Neros. In: FS Käte Hamburger. Stgt. 1971, S. 22–86. – H. Laufhütte: ›Amalf. Promeßen‹ u. ›Apollo Hofgericht‹. S. v. B.s unvollendetes Versepos ›Amalfis‹. In: Regionaler Kulturraum u. intellektuelle Kommunikation vom Humanismus bis ins Zeitalter des Internet. FS K. Garber. Hg. Axel E. Walter. Amsterd./New York 2005, S. 431–487. – Historiografie und panegyrischdynastisches Schrifttum: Wilhelm Hausenstein: Der Nürnberger Poet S. v. B. in seinen histor. Schr.en. In: Mitt.en des Vereins für Gesch. der Stadt Nürnb. 18 (1908), S. 197–235. – Horst Helge Fassel u. Klaus H. Schroeder: Das Rumänienbild bei S. v. B. In: Südostforsch.en 31 (1972), S. 164–177. – J. R. Paas: The publication of a seventeenth-century bestseller. S. v. B. ›Der Donau-Strand‹ (1664). In: The German Book 1450–1700. FS David Paisey. Hg. John L. Flood u. William A. Kelly. London 1995, S. 233–245. – Ernst Rohmer: Die Hirten in der Grotte. Zur Funktion genealog. Wissens in den Schr.en S. v. B.s. In: ›der Franken Rom‹ [...]. Hg. J. R. Paas. Wiesb. 1995, S. 276–288. – Martin Disselkamp: Ein Held auf Reisen. Verfahrensweisen u. Programmatik polit. Repräsentation in den ItalienKapiteln aus S. v. B.s ›Brandenburgischem Ulysses‹ (1668). In: Dtschld. u. Italien. 300 Jahre kultureller Beziehungen. Hg. Peter Ihring u. Friedrich Wolfzettel. [Bln.] 2004, S. 9–42. – Poetik: Theodor Verweyen: Daphnes Metamorphosen. In: FS Günther Weydt. Bern/Mchn. 1972, S. 319–379. – H. Laufhütte: Programmatik u. Funktionen der allegor. Verwendung antiker Mythenmotive bei S. v. B. In: Die Allegorese des antiken Mythos. Hg. Hans-Jürgen Horn u. Hermann Walther. Wiesb. 1997, S. 287–310. – F. van Ingen: Mythenkritik u. mytholog. Funktion. Daniel Heinsius, S. v. B., Philipp v. Zesen. In: Euph. 100 (2006), S. 333–358. – Stammbuch: Werner Schnabel: Die Stammbücher im German. Nationalmuseum Nürnberg. In: Bibl. u. Wiss. 28 (1995), S. 30–94. – Text und Bild: Jeremy Adler: Pastoral Typography. S. v. B. and the ›Picture-Rhymes‹ of Johann Helwig. In: Visible Language 20 (1986), S. 121–135. – Gerd Dethlefs: Die Nürnberger Dichterschule u. die Friedensmedaillen 1648/50. In: Wolfenbütteler Barock-Nachrichten 16 (1989), S. 1–18. – J. R. Paas: Effigies et Poesis. An illustrated catalogue of printed portraits with laudatory verses by german baroque poets. 2 Bde., Wiesb. 1988. – Ders.: S. v. B.s anonyme Flugblattgedichte im Kunstverlag des Paul Fürst. In: Philobiblon 34 (1990), S. 321–338. – Ders.: Jacob v. Sandrarts gedr. Reiterbildnisse mit Versen

Birken des S. v. B. In: Philobiblon 38 (1994), S. 16–32. – Ders.: Unknown verses by S. v. B. on maps by Jacob v. Sandrart. In: Wolfenbütteler Barock-Nachrichten 21 (1994), S. 7–9. – Ders.: S. v. B. A microliterary study of a german baroque poet at work. In: The Image of the Baroque. Hg. Aldo Scaglione. New York 1995, S. 157–174. – Christian Klemm: S. v. B. u. Joachim v. Sandrart. Zur Entstehung der ›Teutschen Academie‹ u. zu anderen Beziehungen v. Literat u. Maler. In: ›der Franken Rom‹ [...]. Hg. J. R. Paas. Wiesb. 1995, S. 289–313. – Ders.: Zusammenarbeit in der Herstellung illustrierter Werke im Barockzeitalter. S. v. B. u. Nürnberger Künstler u. Verleger. In: Wolfenbütteler Barock-Nachrichten 24 (1997), S. 217–239. – H. Laufhütte: Barlaeus – Vondel – B. Drei poet. Reaktionen auf einen Gemäldezyklus Joachim v. Sandrarts. In: FS Erich Trunz. Hg. Dietrich Jöns u. Dieter Lohmeier. Neumünster 1998, S. 23–42. – Ders.: Kaiser Ferdinands III. Adelsurkunde für S. v. B. – B.s ›BlumenOrdens-Jnsigel‹ – Das B.-Portrait v. Karl Clemens Kretschmann 1672 [...]. In: Im Garten der Palme. Hg. Martin Bircher. Wiesb. 1998, S. 58 ff., 507 f. – Ders: Ödipus u. der Seidenwurm. Zu einem emblemat. Rätsel S. v. B.s. In: Kunst u. Humanismus. FS Gosbert Schüßler. Hg. Wolfgang Augustyn u. Eckhard Leuschner. Passau 2007, S. 475–486. – Übersetzungen: H. Laufhütte: Sollen histor. Übers.en ediert werden – u. wenn ja: wie? In: Ed. u. Übers. Zur wiss. Dokumentation interkulturellen Transfers. Hg. Bodo Plachta u. Winfried Woesler. Tüb. 2002, S. 81–92. – Ders.: Comenius ›Teutsch‹ – Spuren der Bearbeitung des Orbis Pictus im Briefarchiv S. v. B.s. In: Comenius-Jb. 9/10 (2001/02), S. 62–78. Auch in: Daphnis 33 (2004), S. 641–656. – Ders.: Ökumen. Knaster. S. v. B.s Truckene Trunkenheit u. Jacob Baldes ›Satyra contra Abusum Tabaci‹. In: Jacob Balde im kulturellen Kontext seiner Epoche. Hg. Thorsten Burkard u. a. Regensb. 2006, S. 114–132. – Nachlass: B. L. Spahr: The Archives of the Pegnes. Blumenorden. Berkeley/Los Angeles 1960. – Garber 1977 u. 1978 (s. o.). – Ders. u. D. Jöns: Der Nachl. S. v. B.s. In: Wolfenbütteler Barock-Nachrichten 6 (1979), S. 266–267. – H. Laufhütte: Der literar. Nachl. S. v. B.s als Gegenstand neuesten Forschungsinteresses. In: Mitt.en des Vereins für Gesch. der Stadt Nürnberg 76 (1989), S. 349–353. – K. Garber: Ein Blick in die Bibl. S. v. B. Handexemplare der eigenen Werke u. der Ordensfreunde – Überliefertes u. Verschollenes (zuerst 1997). In: Ders.: Das alte Buch im alten Europa. Auf Spurensuche in den Schatzhäusern des alten Kontinents. Mchn. 2006, S. 285–312. – H. Laufhütte: Philolog. Detektivspiel. Der Nürnberger B.-Nachl. als Materialfundus u. Stimulus für die Erforsch. der Lit. des 17. Jh. In: Stadt u. Lit. im dt.

Birkenfeld Sprachraum der Frühen Neuzeit. Hg. K. Garber. Tüb. 1998, S. 491–508. – Tagebücher: J. Kröll: S. v. B. Dargestellt aus seinen Tagebüchern. In: Jb. Fränk. Landesforsch. 32 (1972), S. 111–150. – K. Garber: Die Tagebücher S. v. B.s. In: Euph. 68 (1974), S. 88–96. – Martin Bircher: Die Tagebücher S. v. B. In: IASL 1 (1976), S. 299–306. – H.-H. Krummacher: Die Tagebücher des S. v. B. In: ZfdA 112 (1983), S. 125–147. – Autobiografie: H. Laufhütte: Ein Schriftstellerleben im 17. Jh. Überlieferung u. Wirklichkeit. Zur bevorstehenden Publikation der Autobiogr. S. v. B.s. In: Lit. in Bayern 12 (1988), S. 40–45. – Briefe: Ders.: Das Briefarchiv S. v. B.s. Bestand u. Erschließung. Dimensionen seiner Ergiebigkeit. Einige Ergebnisse. In: Editionsdesiderate zur Frühen Neuzeit. Hg. Hans-Gert Roloff. Amsterd./Atlanta 1997, S. 185–206. – Ders.: Ein frühneuzeitl. Briefarchiv – editor. Perspektiven u. Probleme. In: ›Ich an Dich‹. Ed., Rezeption u. Kommentierung v. Briefen. Hg. Werner M. Bauer, Johannes John u. Wolfgang Wiesmüller. Innsbr. 2001, S. 47–62. – Ders.: ›Ja dan würde er an mir viel einen andern finden, als ich ihm beschrieben worden‹. Philipp v. Zesens Versuch, mit S. v. B. in Briefkontakt zu gelangen. In: Daphnis 34 (2005), S. 185–201. – Ralf Schuster: ›Ist es hier nit Eitelkeit!‹ Der Briefw. zwischen S. v. B. u. Johann Rist als Beispiel für literar. Konkurrenzdenken im Barock. In: Daphnis 34 (2005), S. 571–602. – Rezeptionsgeschichte: K. Garber: Die Überlieferungsgesch. S. v. B. Eine Studie zur Bibliogr. u. Ed. seiner Schr.en. In: S. v. B.: Werke u. Korrespondenz. Hg. ders. u. H. Laufhütte. Bd. 1, Tüb. 2008 (Einl.). Klaus Garber

564

von Gutenbergs Lebenskämpfen Die Schwarze Kunst (Bln. 1936). Im Kriegsjahr 1941 wurde B. eingezogen. 1945 war er Mitbegründer des »Kampfbundes gegen Unmenschlichkeit«, aus dessen Materialien er 1950 die dokumentar. Darstellung Der NKWD-Staat veröffentlichte. Außerdem leitete er das Berliner Büro des Internationalen Kongresses für die Freiheit der Kultur u. gab 1945–1948 die Zeitschrift »Horizonte« heraus. Ein persönliches Resümee seiner Zeit zog er mit dem Roman Wolke, Orkan und Staub (Darmst. 1955), der seine zwei gegensätzl. Hauptfiguren die Ereignisse der Jahre 1938 bis 1950 durchleben lässt. In seinen letzten Jahrzehnten hat B. v. a. als Herausgeber, Lektor u. Übersetzer gewirkt. Mark Twain, John Erskine u. Taylor Caldwell hatte er schon vor dem Krieg übertragen; nun setzte er sich verstärkt für die Vermittlung der zeitgenöss. Weltliteratur ein u. war auch Mitarbeiter der Buchreihe Geistige Begegnung im Erdmann Verlag. Weitere Werke: Die Versöhnung. Bln. 1937 (R.). – Dt. Lyrik der Gegenwart. Bln./Hann. 1950. – Mosaik der Welt. Bln. 1959. – Herausgeber: Reiswein-Philippin. Stgt. 1965 (E.en). – Helden ohne Waffen. Bln. 1947. Hans Peter Bleuel / Red.

Birkner, Friede, eigentl.: F. Stein, geb. Courths, * 24.4.1891 Halle/Saale, † 17.1. 1985 Rottach-Egern. – Verfasserin von Birkenfeld, Günther, * 9.3.1901 Cottbus, Trivialromanen. † 22.8.1966 Berlin; Grabstätte: ebd., B. hat mit über 260 Romanen – wie ihre Städtischer Waldfriedhof, Potsdamer Schwester Margarete Elzer – die Tradition der Chaussee. – Romanschriftsteller, HerausTrivialromane ihrer Mutter Hedwig Courthsgeber u. Übersetzer. B. schloss sein Studium der Literatur- u. Kunstgeschichte in Berlin mit der Promotion ab u. veröffentlichte 1927 in Lübeck seine erste Erzählung Andreas, die Geschichte eines mittellosen Studenten. Zwei Jahre später war B. mit dem zeitkrit. Roman Dritter Hof links (Bln. 1929) aus dem jugendl. Proletariermilieu Berlins erfolgreich. 1927–1930 arbeitete er als Generalsekretär des »Reichsverbandes deutscher Schriftsteller« u. wurde dann Verlagslektor. Nach 1933 wandte er sich histor. Themen zu. Dem Roman über den Kaiser Augustus (Bln. 1934) folgte die Darstellung

Mahler fortgesetzt. 1922 debütierte sie mit Die blonde Hindu, erschienen in Leipzig bei Friedrich Rothbarth, der neben Ensslin & Laiblin (Reutlingen) den größten Teil ihrer frühen Werke verlegte. In rascher Folge schrieb sie Liebes-, Detektiv-, Frauen- u. Adelsromane, die in mehrere Sprachen (Niederländisch, Schwedisch, Hebräisch, Serbokroatisch) übersetzt wurden; seit den 1990er Jahren sind zahlreiche Übersetzungen ins Polnische, Ungarische sowie Slowakische erschienen. Während der nationalsozialist. Herrschaft erhielt B., die in zweiter Ehe mit dem jüd.

Bischoff

565

Musik-Verleger Anton Bock († 1945 im Konzentrationslager) verheiratet war, Schreibverbot u. wurde 1942 aufgrund des »Heimtückegesetzes« zur Zwangsarbeit verurteilt; im Gefängnis Stadelheim erlitt sie bleibende körperl. Schäden. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat B. weitere Romane veröffentlicht.

B. hat sich neben dieser mit großer Energie betriebenen philologisch-pädagog. Aufgabe insbes. auch für die Entwicklung der Universität Marburg eingesetzt.

Weitere Werke: Liebe kleine Durchlaucht. Stgt. 1958 (R.). – Agnes lebt gefährlich. Stgt. 1960 (R.). – Bleib, wie du bist. Stgt. 1961 (R.).

Weitere Werke: Die Buchrolle in der Kunst. Archäologisch-antiquar. Untersuchung zum antiken Buchwesen. Lpz. 1907. Nachdr. Hildesh. 1976. – Zur Kulturgesch. Roms. Lpz. 1909. – Aus der Provence. Bln. 1910 (Reiseber.). – Wie ich lernte. Lpz. 1929 (Autobiogr.).

Literatur: Walter Krieg: ›Unser Weg ging hinauf‹. Hedwig Courths-Mahler u. ihre Töchter als literar. Phänomen. Wien 1954.

Literatur: Hermann Bengtson: T. U. B. In: NDB. – Eckart Mensching: Nugae zur PhilologieGesch. Bd. 9, Bln. 1996. Jürgen H. Koepp / Red.

Reinhard Tenberg / Red.

Bischoff, Charitas, geb. Dietrich, * 7.3. 1848 Siebenlehn, † 24.2.1925 Blankenese. Birt, Theodor Ulrich, auch: Beatus – Verfasserin einer Autobiografie u. der Rhenanus, * 22.3.1852 Hamburg-Wands- Biografie ihrer Mutter. beck, † 28.1.1933 Marburg/Lahn; Grabstätte: ebd., Hauptfriedhof. – Altphilolo- B. stammte aus einer alten Thüringer Familie von Botanikern u. Naturalienhändlern. Da ge u. Schriftsteller. ihre Eltern berufsbedingt viele Reisen unterB. wurde als jüngster Sohn einer alten Hamnahmen, verbrachte sie ihre Kindheit als burger Kaufmannsfamilie geboren. Obwohl Kostgängerin in verschiedenen Pflegefamier in das väterl. Korngeschäft eintreten sollte, lien. 1865–1869 konnte sie dank einer Hamdurfte er aufgrund seiner musischen Bega- burger Gönnerin ein pädagog. »Institut« in bungen die kaufmänn. Privatschule verlassen Wolfenbüttel besuchen. Danach war sie zwei u. auf das Johanneum des Johannes Classen Jahre in London, heiratete dort 1873 den wechseln. Dort erhielt er 1869–1872 Unter- Pastor Christian Bischoff u. zog nach Dänericht, bevor er zunächst in Leipzig, dann mark (Kirkeby, Rendsburg). 1873–1876 in Bonn klass. Philologie stuNach dem Tod ihres Mannes 1894 kehrte dierte. Seiner Promotion 1876 folgte 1878 die sie nach Hamburg zurück u. begann, die eiHabilitation in Marburg. 1902/03 war er gene Lebensgeschichte (Augenblicksbilder aus Rektor der dortigen Universität, an der er bis einem Jugendleben. Lpz. 1905. Bilder aus meinem zu seinem Tod lehrte. Leben. Bln. 1912) wie auch die ihrer Mutter B.s historisch-philolog. Schrift Das antike (Amalie Dietrich. Ein Leben. Bln. 1909) zu Buchwesen in seinem Verhältnis zur Literatur (Bln. schreiben. Ihre Bücher hatten bis in die 1882) wurde ebenso zum Standardwerk wie 1940er Jahre einen außerordentl. Erfolg (Gedie im Auftrag Mommsens hergestellte samtauflagen zwischen 50.000 für Bilder aus Claudianus-Ausgabe (Claudiani carmina. Bln. meinem Leben u. 160.000 für Amalie Dietrich). 1892. Neudr. Mchn. 1981) u. die 1913 erPeter König / Red. schienene Kritik und Hermeneutik (Mchn.). Außerdem gelang es B. in einer damals unBischoff, Friedrich, bis 1933: Fritz Walter gewöhnl. Weise, wiss. Stoffe allgemeinverB., * 26.1.1896 Neumarkt/Schlesien, ständlich darzustellen. Er verfasste fantasie† 21.5.1976 Großweier bei Achern/Baden. voll ausgeschmückte histor. Romane, Erzäh– Rundfunkintendant, Verfasser von Rolungen u. Charakterstudien wie Römische manen u. Anthologist. Charakterköpfe (Lpz. 1913), Alexander der Große und das Weltgriechentum bis zum Erscheinen Jesu Nach seiner Rückkehr aus dem Ersten Welt(Lpz. 21925) sowie Frauen der Antike (Marburg krieg studierte B., Sohn eines Kaufmanns, 1932), die einem humanist. Bildungsinteresse Kunstgeschichte, Germanistik u. Philosophie in Breslau. 1923–1925 war er Chefdramaturg entgegenkamen.

Bisinger

566

der Vereinigten Theater, 1925–1928 künstlerischer Leiter der »Schlesischen Funkstunde« in Breslau. 1929–1933 arbeitete er als Intendant des Breslauer Rundfunks. Es gelang ihm, regelmäßige Beiträge über Dichtung im Rundfunk zu etablieren. Mit der Hörfolge Hallo, hier Welle Erdball (1928) begründete er die Gattung der literar. Hörfolge u. des Hörspiels u. bereitete somit der Dramaturgie des Hörspiels den Weg. 1933 wurde B. aus polit. Gründen entlassen. Er ging als Lektor an den Propyläen Verlag nach Berlin, wo er bis 1942 tätig war. In dieser Zeit entstanden seine literar. Hauptwerke, die beiden Schicksalsromane Die goldenen Schlösser (Bln. 1935. Ffm. u. a. 1985) u. Der Wassermann (Bln. 1937. Mchn. 1966), die durch einen dritten über die Stadt Breslau, der als Manuskript verloren gegangen ist, zur Trilogie ergänzt werden sollten. Themen hier wie in allen Werken B.s sind Natur, Landschaft, Menschen u. Geschichte seiner schles. Heimat. 1946–1965 war B. Intendant des Südwestfunks Baden-Baden, an dessen Aufbau er maßgeblich beteiligt war. Er war Mitgl. der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt u. der Akademie der Wissenschaften und Literatur in Mainz. Weitere Werke: Himmel u. Hölle. Bln. 1938 (E.en). – Schles. Psalter. Bln. 1936 (Anth.). – Das Füllhorn. Bln. 1939 (Anth.). Literatur: Ernst Johann (Hg.): Linien eines Lebens. F. B. Tüb. 1956. – Klaus Hildebrandt: Zum lyr. u. erzähler. Schaffen F. B.s. In: Jb. der Schles. Friedrich-Wilhelms-Univ. zu Breslau 26 (1985), S. 152–172. – Louis Ferdinand Helbig: Schlesien als poet. Ort der Erinnerung bei F. B. In: Eine Provinz in der Lit. Schlesien zwischen Wirklichkeit u. Imagination. Hg. Edward Bialek. Breslau 2003, S. 339–354. Elisabeth Willnat / Red. /

Bisinger, Gerald, * 8.6.1936 Wien, † 20.2. 1999 Wien. – Lyriker, Herausgeber u. Übersetzer. Nach dem Studium der Psychologie sowie der ital. Sprache u. Literatur besorgte B. 1962–1970 die Lyrik-Redaktion der Wiener Kulturzeitschrift »neue wege«. 1964 ging er nach Berlin, wo er 1964–1968 Mitarbeiter des

Literarischen Colloquiums u. 1980–1986 Redakteur der Zeitschrift »Literatur im technischen Zeitalter« (Berlin) war. 1986 kehrte er nach Wien zurück, wo er bis zu seinem Tod lebte. 1989 bis 1994 war B. Redaktionsmitglied der »Rampe« (Linz). Als langjähriger Wegbegleiter der literar. Avantgarde Österreichs war B. eine wesentl. Vermittlerfigur. Er hatte sich früh für die Anerkennung der Wiener Gruppe eingesetzt u. versucht, der neueren Literatur ein Forum zu schaffen. Darüber hinaus hat B. das bis 1969 nur verstreut vorliegende lyr. Gesamtwerk H. C. Artmanns (ohne die Mundartlyrik) zugänglich gemacht (H. C. Artmann: ein lilienweißer brief aus lincolnshire. Ffm. 1969) u. Artmann ins Italienische übersetzt. Ins Deutsche übertrug er Texte von Edoardo Sanguineti (Reisebilder. Bln. 1972), ein Kinderbuch Umberto Ecos (Die drei Kosmonauten. Ffm. 1971) u. mehrere Werke Nanni Balestrinis (Weitschweifige Tänze verbal. Mchn. 1978. Alles auf einmal. Bln. 1991). Seine eigene literar. Produktion ist bestimmt durch assoziativen Denk- u. Sprechfluss; dabei wirkt seine Syntax oft dem rhythm. Fluss der Worte entgegen u. erzeugt auf diese Weise Spannung. Ludwig Harig charakterisierte seine Sprechweise anlässlich des Erscheinens von Gedichte auf Leben und Tod (Basel 1982) als »ein zugleich psalmodierendes und lamentierendes Sprechen, begleitet von einer vertrackten Komik, die seine Lyrik nicht zur sentimentalen Tirade abgleiten läßt.« Wehmut – ohne Wehleidigkeit – bestimmt auch B.s Lyriktrilogie Am frühen Lebensabend (Graz 1987), eine Art lyrisches Tagebuch. Die beiden Gedichtbände Ein alter Dichter (Graz 1998) u. Dieser Tratsch (Graz 1999) wurden schließlich mit dem postum erschienenen Gedichtband Im siebten Jahrzehnt (Graz 2000) zu einer Trilogie zusammengeführt. Weitere Werke: Zikaden u. Genever. Wien 1963 (P.). – Ein Drachenteufel & hinterhältig. Bln. 1968 (P.). – 5 kurze Gedichte für Kenner. Bln. 1968. – 7 neue Gedichte. 7 nuove poesie. Turin 1971 (zweisprachig). – Poema ex ponto. Poet. Nachrichten aus der östl. Latinität. Erlangen 1977. – Fragmente zum Ich. Frammenti sull’io. Turin 1977 (zweisprachig). – Poema ex Ponto II. Bln. 1978. –

567 Was erwart ich mir sonst. Bln. 1984. – So schreitet die Erkenntnis fort. Bln. 1986. Literatur: Günter Anders, H. C. Artmann u. a.: Rosenblätter auf Rauhreif. Für G. B. Mchn. 1986. – Wolfgang Rath: G. B. In: KLG. – Daniela Strigl: Winterglück u. -unglück. Zur Alterslyrik G. B.s u. a. In: Die Lebenden u. die Toten. Beiträge zur österr. Gegenwartslit. Hg. Markus Knöfler. Budapest 2000, S. 41–56. Kristina Pfoser-Schewig / Red.

Bismarck, Otto Eduard Leopold von (1865 Graf, 1871 Fürst, 1890 Herzog von Lauenburg), * 1.4.1815 Schönhausen, † 30.7. 1898 Friedrichsruh. – Diplomat, Politiker, Staatsmann Da seine Eltern eine – um 1800 noch durchaus unübliche – adlig-bürgerl. Mischehe führten, entstammte B. zgl. einer in der Altmark u. in Pommern ansässigen Familie des preuß. Uradels wie auch dem gehobenen Berliner Bürgertum. Der große Herkunfts-, Alters- u. Charakterunterschied seiner Eltern Ferdinand u. Wilhelmine von Bismarck (geb. Mencken) trübte die familiäre Harmonie u. damit auch die Kindheit u. Jugend des Sohnes, die er zudem weniger auf den Gütern seines Vaters, sondern v. a. in Berlin verbrachte. Hier absolvierte er nach der Plamannschen Erziehungsanstalt das berühmte Gymnasium zum Grauen Kloster, in dem ihm nicht nur eine fundierte klass. Bildung – also auch die Kenntnis des Lateinischen u. Altgriechischen – vermittelt wurde, sondern ebenfalls eine erste geistig-polit. Prägung. Mit den berühmten Eingangsworten seiner späteren Memoiren Erinnerung und Gedanke hat er diesen Tatbestand prägnant umschrieben: »Als normales Product unsres staatlichen Unterrichts verließ ich Ostern 1832 die Schule als Pantheist, und wenn nicht als Republikaner, so doch mit der Ueberzeugung, daß die Republik die vernünftigste Staatsform sei, und mit Nachdenken über die Ursachen, welche Millionen von Menschen bestimmen könnten, Einem dauernd zu gehorchen, während ich von Erwachsenen manche bittre oder geringschätzige Kritik über die Herrscher hören konnte«. An den Universitäten Göttingen u. Berlin studierte B. anschließend Rechtswissen-

Bismarck

schaften, doch er hörte ebenfalls geschichtl. Vorlesungen bei dem angesehenen Göttinger Historiker A. H. L. Heeren, der ihm erste Einsichten in Struktur u. Funktion des europ. Staatensystems vermittelte. Seine von ihm wenig geliebte jurist. Ausbildung brach B. allerdings noch als Referendar ab, um sich auf die Bewirtschaftung seiner vom früh verstorbenen Vater ererbten Güter Kniephof u. Schönhausen zurückzuziehen. Während des nur von kurzen Reisen unterbrochenen, im Wesentlichen auf dem »platten Lande« verbrachten Jahrzehnts 1838–1847 eignete sich B. eine erstaunliche literar. Bildung an, die nicht nur die von ihm zeitlebens bes. bevorzugte engl. Literatur umfasste (er bewunderte v. a. Shakespeare u. Byron), sondern er las neben den Werken Goethes, Schillers u. Jean Pauls auch zeitgenössische dt. Lyriker wie Uhland, Rückert, Chamisso, Lenau, aber auch Heine, Freiligrath u. Herwegh. Daneben befasste er sich mit historiograf. Werken sowie mit den Schriften Hegels u. der radikalen Denker jener Zeit wie Feuerbach, Bauer u. Strauß. Doch langfristig geistig u. politisch geprägt wurde B. von der weltanschaul. Gegenseite, indem er seit 1843/44 Zugang zu den streng religiösen u. politisch ausgesprochen konservativ orientierten pommerschen Pietistenkreisen gewann, deren bedeutendste u. einflussreichste Persönlichkeiten, die Brüder Leopold u. Ernst Ludwig von Gerlach, ihm den Einstieg in die polit. Karriere eröffneten. Hier lernte er auch seine spätere Ehefrau Johanna von Puttkammer kennen, die er 1847 heiratete. Während der Revolutionszeit 1848/49 agierte B. auf der äußersten polit. Rechten als Verteidiger der traditionellen Ordnung u. der Stellung des Königs; er betätigte sich als Journalist der konservativen »Kreuzzeitung« u. gehörte seit 1849 als Abgeordneter der preuß. Zweiten Kammer an. 1851 gelang ihm – dem Außenseiter, der allerdings ein exzellentes Französisch sprach – der Sprung in den diplomat. Dienst, zuerst als Vertreter des Königreichs Preußen am Frankfurter Bundestag, wo er im Kampf gegen die Vormachtstellung Österreichs in Deutschland erste Erfahrungen in seinem neuen Beruf sammeln konnte, später als Botschafter an

Bismarck

den Höfen in St. Petersburg sowie in Paris (1859–1862). Während der liberalen »Neuen Ära« nach 1858 zunächst politisch kaltgestellt, wurde er Ende 1862, nach dem Ausbruch des schweren Verfassungskonflikts, von König Wilhelm I. zum preuß. Ministerpräsidenten berufen. Hier gelang ihm in den folgenden Jahren tatsächlich innen- wie auch außenpolitisch so etwas wie die Quadratur des Kreises: Er löste nicht nur den Konflikt u. konnte die Versöhnung zwischen der Krone u. dem preuß. Parlaments herbeiführen, sondern ihm gelang auch im Rahmen der drei – jeweils zeitlich u. räumlich strikt begrenzten – dt. Einigungskriege gegen Dänemark (1864), Österreich u. seine Verbündeten (1866) sowie gegen Frankreich (1870) eine Neuordnung Deutschlands, die in der Gründung des kleindt. Kaiserreichs im Jan. 1871 gipfelte. Bereits seit 1867 amtierte B. als Kanzler des Norddeutschen Bundes, seit 1871 als dt. Reichskanzler. In dieser Stellung sollte er die folgenden zwei Jahrzehnte nicht nur die deutsche, sondern auch die europ. Politik nachhaltig prägen. Auf der internat. Ebene praktizierte er eine Politik strikter Friedenssicherung, indem er die »Saturiertheit« der neuen dt. Großmacht immer wieder betonte u. jede mögl. Konfrontation durch zeitweilige Bündnisse mit den befreundeten Mächten (Österreich-Ungarn, Russland, später Italien) sowie durch ein freundliches Verhältnis zu Großbritannien – bei gleichzeitiger Isolierung des potentiell feindl. Frankreich – zu entschärfen versuchte, was ihm freilich nicht immer gelang. Höhepunkt dieser Aktivitäten war der Berliner Kongress von 1878, in dessen Verlauf er durch sein ausgleichend-vermittelndes Wirken als »ehrlicher Makler« (so sein eigener Begriff) den Frieden in Europa sichern konnte. Innenpolitisch agierte B. jedoch wesentlich unglücklicher: Der »Kulturkampf« gegen die kath. Kirche wie auch die Verfolgung der Sozialisten verschärften die Spannungen innerhalb des noch jungen Reiches erheblich; andererseits gelang B. mit seiner Sozialpolitik der 1880er Jahre, d.h. der Einführung der staatlich organisierten Kranken-, Unfall- sowie der Alters- u. Invalidi-

568

tätsversicherung, immerhin die Linderung schlimmster sozialer Notlagen. Hatte B. das »Dreikaiserjahr« 1888, das den Tod nicht nur Kaiser Wilhelms I., sondern auch des B. wenig wohlgesinnten Friedrich III. gebracht hatte, noch unbeschadet überstanden, spitzte sich um 1889/90 der Konflikt mit dem jungen, politisch ebenso unerfahrenen wie ehrgeizigen Kaiser Wilhelm II. zu; im März 1890 trat B. nach fast achtundzwanzigjähriger leitender Stellung an der Spitze Preußens u. Deutschlands von seinen Ämtern zurück. Auf seinem Alterssitz Friedrichsruh bei Hamburg betätigte er sich anschließend weiterhin – etwa durch von ihm inspirierte oder anonym publizierte Zeitungsartikel, auch durch öffentl. Reden – als Kritiker seines Amtsnachfolgers u. auch des jungen Kaisers; die offizielle »Versöhnung« mit dem Herrscher 1894 blieb eine äußerl. Angelegenheit. Vor allem aber verfasste er mithilfe seines langjährigen Mitarbeiters L. Bucher seine berühmten Memoiren Erinnerung und Gedanke (die nach seinem Tod zuerst unter dem bis heute gängigen Titel Gedanken und Erinnerungen 1898 erschienen sind). Dieses bedeutendste polit. Memoirenwerk in dt. Sprache zeichnete sich nicht nur durch entschiedene polit. Stellungnahmen zur jüngsten Vergangenheit, sondern ebenfalls – wie bereits seine Briefe – durch historisch-polit. Reflexionen auf höchstem Niveau sowie durch Formulierungen von seltener Präzision u. Bildkraft aus. Kein Geringerer als Friedrich Gundolf hat schon 1932 in einer bis heute unüberholten Untersuchung zur Sprache B.s deren literarische, ja sprachschöpferische Qualitäten sowie deren Bildkräftigkeit eindringlich herausgearbeitet, die sich nicht nur in eindrucksvollen Landschaftsschilderungen, sondern ebenfalls in selbstiron. Formulierungen sowie in der Fähigkeit zur unübertrefflich präzisen Charakteristik von Persönlichkeiten der Zeitgeschichte niedergeschlagen hat. Seine frühe landjunkerl. Existenz etwa schilderte er einmal folgendermaßen: »Mein Umgang besteht in Hunden, Pferden und Landjunkern, und bei Letzteren erfreue ich mich einigen Ansehens, weil ich Geschriebenes mit Leichtigkeit lesen kann, mich zu jeder Zeit wie ein

569

Bisselius

Mensch kleide, und dabei ein Stück Wild mit Fachhistoriker 1945–55. Darmst. 1972. – Hansder Accuratesse eines Metzgers zerwirke, ru- Joachim Schoeps: B. über Zeitgenossen – Zeitgehig und dreist reite, ganz schwere Zigarren nossen über B. Ffm./Bln./Wien 1972. – Andreas rauche und meine Gäste mit freundlicher Hillgruber: O. v. B. Gründer der europ. Großmacht Deutsches Reich. Gött./Zürich/Ffm. 1978. – L. Gall: Kaltblütigkeit unter den Tisch trinke«. BeBismarck. Der weiße Revolutionär. Ffm./Bln./Wien rühmt ist ebenfalls B.s Darstellung des alten 1980. – Ernst Engelberg: B. 2 Bde., Bln. 1985–90. – frz. Politikers u. Historikers Adolphe Thiers, Otto Pflanze: B. 2 Bde., Mchn. 1997/98. – Hans in der es u. a. heißt: »... der Gedankenschaum Fenske: Das Bismarckbild der Deutschen. In: Hisquillt aus ihm unaufhaltsam wie aus einer tor. Mitt.en 13 (2000), S. 94–141. – Bernd Heidengeöffneten Flasche und ermüdet die Geduld, reich, Hans-Christof Kraus u. Frank-Lothar Kroll weil er hindert zu dem trinkbaren Stoffe zu (Hg.): B. u. die Deutschen. Bln. 2005. Hans-Christof Kraus gelangen auf den es ankommt«. Die Unmittelbarkeit, Plastizität u. Anschaulichkeit der B.’schen Sprache wirkt dabei jedoch nicht Bisselius, Bissel, Bislin, Johannes, * 20.8. gekünstelt, sondern stets unangestrengt, 1601 Babenhausen/Schwaben, † 9.3.1682 mühelos u. fast unabsichtlich vorgetragen. Amberg. – Historiker, Prediger u. Lyriker. Mit dieser Fähigkeit, die in besonderem Maß auch den literar. Rang seines Memoirenwerks Nach der Schulausbildung trat B. am bestimmt, mit seiner gelungenen Verbin- 11.7.1621 in den Jesuitenorden ein. In Indung von »angewandtem Bildungsinteresse golstadt lehrte er fünf Jahre Poetik, Rhetorik, und praxisbezogener Sprachform repräsen- Philosophie u. später die für die Konfessitierte B. einen bestimmte Politikertypus, für onsauseinandersetzungen bedeutsame Konden sich im Englischen der Begriff des troverstheologie. 1652–1682 wirkte B. über›Scholar politician‹, im Französischen der des wiegend als Prediger in Dillingen (Schwa›Homme de lettres‹ eingebürgert hat« (Kroll). ben). Er liebte bes. die Exempelpredigt. Die Damit ist B. bereits im 19. Jh., in einer Zeit erste Predigtsammlung De Pestiferis Peccatorum also, in der einerseits der farblose Beamten- Mortalium fructibus, Exempla Tragica exposita politiker, andererseits der politisierende (Dillingen 1652) behandelte die trag. Folgen Schriftsteller u. Gelehrte, der »politische der Todsünden. Durch Exempel aus MissiProfessor«, in Deutschland dominierten, eine onsberichten erfüllte er das Postulat nach Ausnahmeerscheinung gewesen – u. er ist veritas u. nutzte als »orator perfectus« auch die Affekterregung zur persuasio. B. konzidies im Grunde bis heute geblieben. pierte die Predigt auf Latein, trug sie aber in Ausgaben: Die polit. Reden des Fürsten B. Hg. Horst Kohl, 14 Bde., Stgt. 1892–1905. – Die ges. deutscher Sprache vor. Das Wirken der göttl. Werke. Friedrichsruher Ausg. 15 Bde., Bln. Gnade exemplifizierte er in der auf der Kir1924–32. – Werke in Ausw. Hg. Gustav Adolf Rein chengeschichte bzw. auf der Erbauungsliteu. a. 8 Bde., Darmst. 1962–83. – Ges. Werke. Neue ratur basierenden Predigtsammlung Digitvs Friedrichsruher Ausg. Hg. Konrad Canis u. a. Pa- Dei, Humana Corda Tangens. Das ist, Hertz-Bederb. u. a. 2004 ff. (bisher 2 Bde. erschienen). rüerender Finger Gottes, In vnterschiedlichen FasLiteratur: Bibliografie (bis 1965): Karl-Erich Born ten-Exempeln vorgestellt (Dillingen 1666). Die (Hrsg.) B.-Bibliogr. Quellen u. Lit. zur Gesch. B.s u. dritte Sammlung Incolarum alterius mundi seiner Zeit. Köln/Bln. 1966. – Weitere Titel: Friedrich Phaenomena historica, das ist, der andern Welt Gundolf: B.s Gedanken u. Erinnerungen als Inwohner sichtbarliche Erscheinungen und Mortes Sprachdenkmal (1932). In: Ders.: Beiträge zur Li- patheticae oder anmutige Tod-Fähle in Fasten-Exteratur- u. Geistesgesch. Hg. Victor A. Schmitz u. empeln (Dillingen 1682) behandelte GeisterFritz Martini. Heidelb. 1980, S. 302–317. – Gererscheinungen. Religiöse Lyrik enthalten sein hard Masur: B.s Sprache (1933). In: Ders.: Geschehen u. Gesch. Aufsätze u. Vorträge zur europ. mehrfach aufgelegter Cliens Marianus Elegidiis Geistesgesch. Bln. 1971, S. 100–112. – Lothar Gall [= Elegiis] descriptus. Editio altera et auctior (In4 (Hg.): Das B.-Problem in der Geschichtsschreibung golst. 1625. Mchn. 1634). In den Elegiae sev nach 1945. Köln/Bln. 1971. – Hans Hallmann (Hg.): deliciae veris (Ingolst. 1638. 1640; gefolgt von Revision des Bismarckbildes. Die Diskussion der dt. den Deliciae aestatis. Mchn. 1644) widmete

Bisterfeld

570

sich B. den in seiner Zeit nicht gerade häufig zer Löwe in Bayern. Zur Gesch. der Oberpfalz in der behandelten Momenten kindlicher Welt- u. kurpfälz. Epoche. Hg. Hans-Jürgen Becker. ReSelbsterfahrung sowie grundsätzlichen an- gensb. 1997, S. 130–156. – Wilhelm Kühlmann: thropolog. Fragen. Ausgehend von der auf ›Parvus eram‹: Zur literar. Rekonstruktion frühkindl. Welterfahrung in den ›Deliciae Veris‹ des dt. eigenem Erleben basierenden Beobachtung Jesuiten J. B. (1601–82). In: Zwischen Renaissance naturhafter Phänomene werden der Traditi- u. Aufklärung. Beitr. der interdisziplinären Aron folgend die Jahreszeiten allegorisierend beitsgruppe Frühe Neuzeit der Univ. Osnabrück/ mit den menschl. Altersstufen sowie geistl. u. Vechta. Hg. Klaus Garber u. Wilfried Kürschner. histor. Erzählungen verknüpft. Amsterd. 1988, S. 163–177. Auch in: Kühlmann B.s poet. Begabung wurde nicht nur von (2006), S. 585–595. – Hans Pörnbacher: ›Hüben u. seinem Ordensbruder Jacob Balde gerühmt, Drüben‹. Literar. Beziehungen zwischen Bayern u. sondern später noch von Annette von Droste- Schwaben. In: Bayern. Vom Stamm zum Staat. FS Hülshoff. B.s größte Bedeutung liegt auf dem Andreas Kraus. Hg. Konrad Ackermann u. a. Bd. 2, Franz Günter Sieveke Gebiet der Geschichtsschreibung. Die Ge- Mchn. 2002, S. 27–46. schichte der Oberpfalz behandelte seine Icaria (Ingolst. 1637) in satir. Erzählweise. In den Bisterfeld, Bisterfeldius, Johann Heinrich Illustrium ab orbe conditio ruinarum Deca[des] * 1605 Siegen (Nassau-Dillenburg), † 6.2. (Amberg u. a. 1656–65) ist Weltgeschichte 1655 Hermannstadt/Siebenbürgen. – Strafgericht des langmütigen Gottes an den Theologe, Philosoph, Polyhistor; Sohn von Hybris geleiteten Tyrannen. Als Fortsetdes ramistischen Theologen Johann Biszung dieses Werks kann man Reipublicae terfeld. Romanae veteris ortus, et interitus (Dillingen 1664) betrachten. Zum Verständnis der Zeit Ab 1619 studierte B. zunächst an der calviSauls diente die auf Berichten deutscher Pa- nist. Universität Herborn, ab 1624 in Genf u. lästinapilger beruhende Palaestinae, Seu, Terrae später in Oxford u. Leiden. 1629 erhielt er Sanctae, Topothesia, Secundum Regiones, ac Tribus, zus. mit Alsted, mit dem er seit dessen expressa (Amberg 1659). Schließlich exempli- Rückkehr nach Herborn eng befreundet war fizierte B. die neuere Geschichte (1598–1626) u. dessen älteste Tochter er heiratete, u. Pisan bekannten histor. Persönlichkeiten in Ae- cator von dem Fürsten von Siebenbürgen tatis nostrae gestorum eminentium medulla histo- Gabriel Bethlen einen Ruf an die 1622 gerica, per aliquot septennia digesta (Amberg 1675/ gründete reformierte Hochschule in Wei76). B.s Historiografie kam seine Kenntnis der ßenburg u. wurde zum Geheimen Rat erKontroverstheologie zugute, sodass er auch nannt. Er lehrte dort Theologie u. Philosodie Meinungen Andersgläubiger als Quellen phie – unterbrochen von einigen diplomat. Missionen. benutzte. Sein 1661 postum in Den Haag erschieneAusgaben: Internet-Ed. einiger Werke in: CAnes Gesamtwerk, Bisterfeldius redivivus, seu MENA. Operum Jo. Henr. Bisterfeldi, Tomus I & II, weist Literatur: Bibliografie: Backer-Sommervogel 1, Sp. 1513–1518, Sp. 1843. – Weitere Titel: Bernhard ihn als barocken Polyhistor aus, der neben Duhr: Die alten dt. Jesuiten als Historiker. In: seinen Lehrfächern mathematische, physikal. ZKTh 13 (1889). – Wilhelm Kratz: J. B., ein bayer. u. philolog. Studien betrieb. Dieser UniverDichter u. Geschichtsschreiber des 17. Jhd. In: salgelehrsamkeit wegen galt er beim gemeiHist.-polit. Bl. für das kath. Dtschld. 157, H. 1 nen Volk als Zauberer, der das gleiche (1916), S. 22–33 u. 81–93. – Harol C. Hill: J. B.’s fürchterl. Ende wie Doktor Faustus gefunden ›Argonauticon Americanorum‹ (1647). A Reexamihabe. In seinen theolog. Anschauungen zunation. In: MLN, German Issue 85 (1970), nächst ein Gegner des aus England komS. 652–662. – Hermann Wiegand: Marian. Liebeskunst: Zu den Anfängen der lat. Lyrik des J. B. SJ. menden Puritanismus, verhalf er diesem In: Acta Conventus Neo-Latini Guelpherbytani. später zur Anerkennung in Siebenbürgen. B.s Binghamton/New York 1985, S. 383–393. – Ders.: Bedeutung liegt aber v. a. in der Vermittlung Die Oberpfalz im konfessionellen Umbruch: Eine u. Kommentierung des Systems der lullschen jesuit. Reisesatire aus dem Jahr 1632. In: Der Pfäl- Kombinatorik. Als wichtigsten Informanten

571

Biterolf

erwähnt ihn Leibniz mehrfach lobend in sei- a Leibniz. Rom 1987, S. 144–154. – Maria Rosa ner Dissertatio de arte combinatoria (Lpz. 1666) Antognazza: Immeatio and emperichoresis. The sowie in De Arte inveniendi in genere (1679). theological roots of harmony in B. and Leibniz. In: Besonderen Einfluss auf das theolog. Denken The young Leibniz and his philosophy (1646–76). Hg. Stuart Brown. Dordrecht u. a. 1999, S. 41–64. – des jungen Leibniz hatte der Phosphorus caDies.: Debilissimae entitates? B. and Leibniz’s tholicus sowie De uno Deo Patre, Filio, ac Spiritu ontology of relations. In: The Leibniz Review 11 Sancto, Mysterium Pietatis [...] (Leiden 1639), (2001), S. 1–25. – Thomas Leinkauf: J. H. B. In: eine Streitschrift gegen Johannes Crellius. In Ueberweg, Bd. 4/1, S. 263–266 (u. Register). ihr prägte B., auf kombinatorischem Denken Franz Günter Sieveke basierend u. dem »ordo«-Denken der Zeit verpflichtet, als Ausdruck für die Idee der »Harmonie an sich« den Terminus »immea- Biterolf, 13. Jh. – Mutmaßlicher Verfasser tio«. In den Alphabeti philosophici libri tres von Liedern u. einer Alexanderdichtung. (Werke I, S. 1–132) etwa versuchte er auf Rudolf von Ems nennt im Alexander (V. lullscher Basis eine tabellar. Verknüpfung 15.772–15.803) zwei Dichter von Alexandervon terminolog. Begriffen u. Definitionen für romanen, zuerst Berthold von Herbolzheim, jede Wissenschaft. Kommentierungen u. dann B., der zudem als Lieddichter zu loben wiss. Anwendungen des lullschen Systems sei. Beider Werke sind verschollen. Im Sänbietet v. a. der zweite Band seines Gesamt- gerwettstreit des Wartburgkrieg misst sich ein werks: Ars combinatoria (S. 34–36), Ars redu- B. im Fürstenpreis für den Grafen von Hencendorum terminorum ad disciplinas liberales negau mit seinen Kollegen Heinrich von Oftechnologica (S. 37–41) usw. Für B. war die terdingen, Walther von der Vogelweide, dem Kombinatorik das geeignetste Vermittlungs- Tugendhaften Schreiber, Wolfram von system der Philosophie, was sich schon im Eschenbach u. Reinmar von Zweter. Die Titel seiner Lehrschrift zur Philosophie zeigt: meisten Namen dieser literar. Dichterfehde Philosophiae primae Seminarium, ita traditum, ut geben bis heute Rätsel auf, weil nur Walther, omnium disciplinarum fontes aperiat, earum Cla- Wolfram u. Reinmar sicher als histor. Persovem porrigat (Leiden 1657). Die Beförderung nen zu identifizieren sind. Ungesichert bleibt der erfolgversprechenden Methode des Den- auch, ob dieser zwischen 1260 u. 1280 gekens u. Wissens ist auch das Ziel einer wei- nannte B. der Autor der Alexanderdichtung teren, 1657 in Leiden erschienenen Schrift ist. zur Logik: Elementorum logicorum libri tres: [...] Die urkundl. B.-Zeugnisse bringen ebenAccedit, ejusdem authoris, Phosphorus catholicus, falls keine Klärung, weil sie zeitlich u. örtlich seu artis meditandi epitome. divergieren: Im Eisenacher Umfeld – in der Weitere Werke: Prodromus religionis trium- Nähe zum antike Stoffe fördernden thüring. phantis. In quo methodicè repetuntur et breviter Landgrafenhof u. ebenso nah zur Burg der examinantur libri sex de vera religione [...]. Wei- Grafen von Henneberg bei Meiningen – ist ßenburg 1635. der Name B. zwischen 1212 u. 1217 in drei Literatur: J. Kvacsala: J. H. B. In: Ungar. Revue Urkunden zu finden. In Freiburg i. Br., dem 13 (1893), S. 40–59 u. 171–197. – Paolo Rossi: Wirkungsraum Rudolfs von Ems, weist eine Clavis universalis. Arti mnemoniche e logica com- Fülle von Namensbelegen des 13. Jh. auf eine binatoria da Lullo a Leibniz. Mailand 1960, dort ansässige Bürgerfamilie; jedoch stamS. 197–200. – Gerhard Menk: Das Restitutionsmen nur zwei unsichere urkundl. Belege edikt u. die kalvinist. Wiss. Die Berufung Johann Heinrich Alsteds, Philipp Ludwig Piscators u. J. H. (1213 u. 1218) aus der ersten Hälfte des 13. Jh. B.s nach Siebenbürgen. In: Jb. der Hess. Kirchen- u. damit aus der Kernzeit von Rudolfs dichgeschichtl. Vereinigung 31 (1980), S. 29–63. – terischem Schaffen. Ders.: Die Hohe Schule Herborn in ihrer Frühzeit (1584–1660). Ein Beitr. zum Hochschulwesen des dt. Kalvinismus im Zeitalter der Gegenreformation. Wiesb. 1981. – Massimo Luigi Bianchi: Signatura rerum. Segni, magia e conoscenza da Paracelso

Literatur: Burghart Wachinger: Sängerkrieg. Mchn. 1973, S. 1–89. – Herwig Buntz: B. In: VL. – Michael Bärmann: B. Ein Versuch zur Rezeption des Alexanderstoffes im ehemals zähring. Herrschaftsgebiet. In: Mittelalterl. Lit. im Lebenszu-

Biterolf und Dietleip sammenhang. Hg. Eckart Conrad Lutz. Freib. i. Br. 1997, S. 147–190. Karina Kellermann

Biterolf und Dietleip, zweite Hälfte 13. Jh. – Anonyme hochmittelalterliche Heldendichtung. Der nur im sog. Ambraser Heldenbuch überlieferte Text (13.510 Reimpaarverse) entstand vermutlich nach der Mitte des 13. Jh. in der Steiermark. Anders als etwa bei Hartmanns von Aue Erec, der zwar ebenfalls nur im Ambraser Heldenbuch vollständig überliefert ist, für den es aber Handschriftenfragmente aus dem frühen 13. Jh. gibt, ist die Datierung des B. u. D. schwierig. Einigermaßen verlässliche Anhaltspunkte geben Erzählerbemerkungen, die zur polit. Situation in der Steiermark um die Mitte des 13. Jh. passen (vgl. hierzu Schnyder 1980, S. 51–57; Daiber 1999, S. 30–36). Die Lokalisierung ist insofern belastbarer, als Biterolf u. seinem Sohn Dietleip, denen eine span. Herkunft angedichtet wird, am Ende des Epos von Etzel die Steiermark geschenkt wird. Der in der gesamten Dietrichepik als einer der profilierten Helden Dietrichs von Bern auftretende Dietleip wird somit an die Steiermark gebunden u. als Lokalheros installiert. Diese Form der Vermischung von Sage u. Geschichte zur genealogischen u. polit. Aufwertung einer Region oder eines Geschlechts ist im MA verbreitet. Der Autor war gleichermaßen mit der heldenepischen Stofftradition u. dem modernen höf. Roman vertraut u. griff souverän auf das gesamte Stoff- u. Motivinventar der mhd. Dichtung zurück. Wie auch sonst an der mhd. Literatur des ausgehenden 13. Jh. zu beobachten, kombiniert er die unterschiedl. Stoff-, Motiv- u. Erzähltraditionen relativ frei miteinander u. schließt sich stilistisch eng, oft bis in den Wortlaut hinein, an Nibelungenlied, Klage oder Kudrun an, was ihm in der Forschung unberechtigterweise den Vorwurf eines bloßen Kompilators eingebracht hat. Die Verwendung höfischer Konzepte wie Turnier oder Frauendienst u. des damit verbundenen Vokabulars für die Aufbereitung heldenepischer Stoffe lässt letzten Endes aber einen literar. Text entstehen, der sich nicht nur for-

572

mal (Endreimvers) am höf. Roman orientiert, sondern auch in weiten Teilen der Handlungsmotivation u. erzählerischen Ausgestaltung diesem Modell entspricht. Gleichzeitig wird die Handlung ausschließlich in der heldenepischen Welt verankert, sie spielt zeitlich vor den tragischen Ereignissen, die in Worms (Nibelungenlied), in Oberitalien u. auf der Etzelburg (Dietrichs Flucht u. Rabenschlacht) situiert sind. Es bleibt nie ein Zweifel, dass die Welt der heroischen Vorzeit der Bezugspunkt ist, auf den hin die Taten der Helden u. damit auch ihre neu erworbene Heimat, nämlich die Steiermark, ausgerichtet sind. Aus dieser kompositor. Fügung eigentlich unvereinbarer Elemente entsteht eine leicht distanzierte Erzählhaltung, sodass Curschmann den B. u. D. als »Dichtung über Heldendichtung« bezeichnete u. damit der neueren Forschung den entscheidenden Impuls zur literaturgeschichtl. Neueinschätzung des bis dahin als minderwertig eingeschätzten Werkes gab. Die auf den ersten Blick gelegentlich unlogisch oder unmotiviert erscheinende Handlung erschließt sich nur, wenn man B. u. D. vor dem Hintergrund des zeitgenöss. Publikumswissens der mündlichen u. literar. Heldensagenüberlieferung liest u. sich an der Struktur der Erzählung orientiert. Sie gliedert sich in zwei große, in sich mehrfach untergliederte Hauptteile, die Ausfahrt König Biterolfs an den Etzelhof mit der ebenfalls am Etzelhof endenden Vatersuche Dietleips u. der durch einen Vorfall auf Dietleips Fahrt motivierte Kriegszug der hunnischen Helden u. Verbündeten nach Worms. Schon die Handlungsauslösung ist kurios: Der in jeder Hinsicht vorbildl. König Biterolf von Toledo entscheidet sich, heimlich u. inkognito an den Hof Königs Etzel zu ziehen, von dem er so viel Gutes hat sagen hören. Doch anders als der landlose Ritter des Artusromans, dem dieses Motiv entlehnt ist, hat Biterolf Land u. Familie, u. so entscheidet sein Sohn Dietleip sich, den verschollenen Vater zu suchen. Auch er bricht heimlich u. inkognito auf u. ist in deutlicher Parallelität zum jungen Parzival in Wolframs Roman gestaltet. Vater u. Sohn nehmen den gleichen Weg zum Etzelhof, der natürlich all jene

573

Stationen enthält, die dem Publikum aus der Walthersage u. dem Nibelungenlied bekannt sind u. der die entsprechenden Gefahren birgt. Das ist für den neuzeitl. Leser verwirrend u. oft unverständlich, für ein sagen- u. literaturkundiges mittelalterl. Publikum aber ein amüsantes Spiel des Erkennens u. Verkennens, v. a. da Vater u. Sohn immer genau an jenen Stationen in Schwierigkeiten geraten, an denen der andere völlig unbehelligt blieb. So trifft Biterolf unvorbereitet im Wasgenwald, dem Schauplatz der Walthersage, auf den vom Etzelhof geflohenen Walther, während Dietleip sich – gewissermaßen in Kenntnis der Sage – auf einen Kampf vorbereitet, dann aber ohne Weiteres den Wasgenwald queren kann. Vor Worms hingegen gerät er unvermutet in einen Kampf mit den burgundischen Königen u. Hagen, der aber ganz ähnlich gestaltet ist, wie zwischen Walther u. den Burgunden in der Walthersage. In dieser Weise geht dann auch die Auflösung der nach dem Vorbild von Wirnts von Gravenberg Wigalois konstruierten Vatersuche vonstatten: Vater u. Sohn leben inkognito am Etzelhof zusammen, erkennen sich aber nicht; bei einer Schlacht geraten sie versehentlich aneinander: eine doppelte Verkennung (Verwandtschaft u. Kampfgemeinschaft), die erst durch Rüdiger aufgelöst werden muss. Aus Dietleips Kampf vor Worms resultierte eine Ehrkränkung, die nun – ein eher nichtiger Anlass – zu einer groß angelegten Heerfahrt ins Land der Burgunden genutzt wird. Vor Worms kämpft schließlich, verstärkt durch zahlreiche Helfer, in einer Art Heldenrevue nahezu das gesamte Personal des fränkisch-rhein. Sagenkreises gegen das des gotisch-hunnischen, wobei der Autor das mhd. Dietrichepos Rosengarten als Quelle benutzte. Der Höhepunkt des Feldzugs ist eine zu drei turnierartigen Varianten des ernsthaften Kampfs ausgefaltete Handlung: Der »strît« wird umrahmt von einem ritualisierten Massenturnier als einer Art gefährl. Sports u. einem Fürstenturnier um Brünhilds Fahne. Obgleich dabei Dietleip mit seinen Mannen die Oberhoheit behält, endet der Kampf vor den zuschauenden Damen unentschieden u. mündet in Scherzreden der Beteiligten im Rahmen geselliger Festlich-

Biterolf und Dietleip

keit. An den Hunnenhof zurückgekehrt, werden Biterolf u. Dietleip mit der Steiermark beschenkt, wo sie sich mit Biterolfs Gemahlin Dietlind niederlassen. Der Autor des B. u. D. schuf so einen harmon. Gegenentwurf zum trag. Untergangsgeschehen des Nibelungenliedes u. zur unaufhörl. Wiederkehr von Sieg u. Verlust in Buch von Bern (Dietrichs Flucht) u. Rabenschlacht. Gleichzeitig entlehnte er der aventiurehaften Dietrichepik (Rosengarten) verschiedene Motive u. Handlungsschemata, setzte der dort herrschenden zeitl. u. räuml. Indifferenz aber eine identifizierbare Verortung in der bekannten Welt des mittelalterl. Europas entgegen. Auch der höf. Roman diente ihm als Quelle für Motive u. Handlungsschemata (Vatersuche, Turnier, ritterlicher Ehrenkodex etc.), doch der weitgehend idealisierten Artuswelt setzte er die »Realität« einer als Vorbild gedachten heroischen Vorzeit entgegen. Parodistische Figurengestaltung, höf. Ritteridealität u. heroischer Ernst werden in einer ambitionierten literar. Form amalgamiert, sodass ein Text entsteht, bei dessen gattungstheoretischer Einschätzung die Forschung bis heute uneins ist. Ausgaben: Oskar Jänicke (Hg.): Dt. Heldenbuch. Tl. 1, Bln. 1866. Neudr. Bln./Zürich 1963. – B. u. D. Hg. André Schnyder. Bern/Stgt. 1980. Literatur: Willy Rauff: Untersuchungen zu B. u. D. Diss. Bonn 1907. – Alfred Hagenmeyer: Die Quellen des Biterolf. Diss. Tüb. 1926. – Michael Curschmann: B. u. D.: a Play upon Heroic Themes. In: Germanic Studies in Honor of Otto Springer. Pittsburgh 1978, S. 77–91. – Ders.: B. u. D. In: VL. – Franz V. Spechtler: B. u. D. Dietrichdichtung u. Roman im 13. Jh. In: Dt. Heldenepik in Tirol. Hg. Egon Kühebacher. Bozen 1979, S. 253–274. – Andreas Daiber: Bekannte Helden in neuen Gewändern? Intertextuelles Erzählen im B. u. D sowie am Beispiel Keies u. Gaweins im ›Lanzelet‹, ›Wigalois‹ u. der ›Crone‹. Ffm. u. a. 1999, S. 30–110, 228–268. – Michael Mecklenburg: Parodie u. Pathos. Heldensagenrezeption in der histor. Dietrichepik. Mchn. 2002, S. 127–216. – Uta Störmer-Caysa: Heldendialog in B. u. D. In: Dialoge. Sprachl. Kommunikation in u. zwischen Texten im dt. MA. Hg. Nikolaus Henkel u. a. Tüb. 2003, S. 21–39. – Ariane Mhamood: Inszenierte Komik in B. u. D. In: Mhd. Heldendichtung ausserhalb des Nibelungenu. Dietrichkreises (Kudrun, Ortnit, Waltharius,

Bitner

574

Wolfdietriche). In: 7. Pöchlarner Heldengespräch. Hg. Klaus Zatloukal. Wien 2003, S. 151–174. Michael Mecklenburg

Bitner, Jonas, * 1529 (?) Straßburg, † 1590 Straßburg. – Übersetzer lateinischer Dramen, Verfasser von Lehrbüchern für das Akademische Gymnasium.

ist auf die Not des Vaters konzentriert, der glaubt, seine Tochter opfern zu müssen (nach dem AT, Richter 11,30–40). Ein alttestamentl. Stoff, die Liebe der Frau des Potiphar, liegt auch Joseph in Aegypten zugrunde (Straßb. 1583); in seiner Übersetzung der »Comoedia sacra« des Jesuiten Cornelius Crocus (Amsterd. 1535. Straßb. 1537. 1542) fügt B. einen neuen Schluss hinzu, Josephs Deutung der Träume des Pharao. Antike Dramen wurden zu B.s Zeit in Straßburg weitaus häufiger aufgeführt als zeitgenössische, u. auch hier hatte das Publikum ein Interesse an Übersetzungen, wie B.s dt. Fassung der Verwechslungskomödie Menaechmi nach Plautus zeigt (Straßb. 1570). So sehr sich B. in Absetzung von Hans Sachs’ Version um Genauigkeit bemühen will, geht er mit seinem Sinn für Wortwitz (»die fürnemsten schimpfreden [...] vnd schoensten sprüch vnd leeren«) weit hinaus über Sturms pädagog. Bestrebungen, der in der Aufführung lat. Dramen v. a. eine Einübung in die gesprochene Originalsprache sah.

B. trat 1542 in das protestant. Gymnasium ein, das der Humanist Johannes Sturm 1538 gegründet hatte. Seine beiden ersten Lehrbücher widmete B. zwei ihm persönlich anvertrauten Schülern, den Söhnen des kaiserl. Rats Johann Wilhelm von Loubenberg, Burgherr von Wagegg. Getragen von pädagog. Eros, wird der Lehrstoff (nach Quintilian bzw. Erasmus) – möglichst vereinfacht – in Form von Schülerantworten vermittelt (De grammatica bzw. De syntaxi. Beide Straßb. 1550). Während B.s langer Lehrtätigkeit (bis 1589) an dem 1566 zur Akademie erhobenen Gymnasium entstanden weitere Lehrbücher, laut Untertiteln für den Gebrauch in Straßburg: eine lat. Fassung der Fabeln Aesops mit Literatur: ADB. – Otto Günther: PlautuserWorterklärungen u. Indices (Latina interpreta- neuerungen in der dt. Litt. des XV.-XVII. Jh. u. ihre tio. Straßb. 1573), eine Schulausgabe der Verfasser. Diss. Lpz. 1886, S. 34–39 (mit TextbeiBriefe Ciceros, die Johannes Sturm begonnen spielen aus den ›Menaechmi‹). – Günter Skopnik: hatte (Hg. Christian Daumius. Lpz. 1706), Das Straßburger Schultheater. Sein Spielplan u. schließlich ein weiteres Grammatiklehrbuch seine Bühne. Ffm. 1935, S. 1–9, 23–36. – Wolfgang F. Michael: Das dt. Drama der Reformationszeit. (De ratione construendi. Straßb. 1584). Bern u. a. 1984, S. 235–248. – Cora Dietl: Das frühe Aufschlussreich für das kulturelle Leben in dt. Drama. Helsinki 1998, S. 82–97. – Sven LimStraßburg ist B.s Tätigkeit für das Schul- beck: Theorie u. Praxis des Übersetzens im dt. theater, das mit Unterstützung des Magis- Humanismus. Diss. Freib. i. Br. 2000, S. 38–40 trats seit den 1550er Jahren zunehmend zum (2004 im Internet veröffentlicht). Anette Syndikus Stadttheater wurde u. überregionale Bedeutung gewann. Alle drei Übersetzungen B.s Bittner, Wolfgang, * 29.7.1941 Gleiwitz/ sind aus der Aufführungspraxis heraus entOberschlesien (heute: Gliwice/Polen). – standen: Den lateinunkundigen Zuschauern, Verfasser von Romanen u. Erzählungen, denen die lat. Darbietung gefallen hat, solle Lyrik u. Essays für Erwachsene u. Juso ein besseres Verständnis ermöglicht wergendliche sowie von Arbeiten für Funk u. den, heißt es etwa im »Argumentum« zu Fernsehen. Jephtes oder Gelübd (Straßb. 1569. Straßb. 2 1582). Die gleichnamige Tragödie des schott. Nach dem Krieg wuchs B. als VertriebenenHumanisten George Buchanan (1554) habe B. kind in Ostfriesland auf. Lebte die Familie 1567 »von Pariß gebracht«, nach zwei lat. vorher in gutbürgerl. Verhältnissen, so Aufführungen im selben Jahr sei 1569 neben musste sie nun lernen, sich in einer fremden, der lateinischen auch B.s dt. Version darge- den Zugezogenen gegenüber misstrauischen boten worden, teilt der Drucker Josias Rihel bis feindl. Umgebung zu behaupten. Rechtsin der Vorrede mit. Das fünfaktige Einort- wissenschaft, Soziologe u. Philosophie studrama mit Choreinlagen u. Botenberichten dierte B. nach dem Abitur (auf dem zweiten

575

Bildungsweg) in Göttingen u. München, promovierte über ein strafrechtliches Thema. Doch statt als Jurist Karriere zu machen, entschied er sich nach Erfahrungen in verschiedenen Berufen u. ausgedehnten Reisen nach Vorderasien, Mexiko u. Kanada dafür, als freier Autor zu leben. B. lebt heute in Köln. Durch die eigene Biografie war sein Blick auf soziale (Miss-)Verhältnisse früh geschärft. Erste Gedichte u. Erzählungen spiegeln seit 1974 das Unbehagen des Autors an der Welt u. in ihrer realistischen, mitunter fast provokant schroffen Form sein Bemühen, einen diesem Empfinden angemessenen, nicht harmonisierenden Ausdruck zu finden. Angesichts der Fremdenfeindlichkeit hierzulande liest sich sein Gedicht Vorläufiger Rechtsschutz von 1975 als aktueller Beitrag zur kontrovers geführten Asyl-Debatte: »Die einzige Möglichkeit / des Ausländers / sich gegen die sofortige Abschiebung / zu wehren / bestand darin / sich die Pulsadern zu öffnen.« Bissigen Spott des Juristen zeigt auch seine satir. Variation des Artikel 1: »Die Würde / des Gerichts / ist / unantastbar.« Lyrik u. Prosa changieren zwischen ironischen bis satir. Überzeichnungen u. Fantastik; Surrealismen wechseln ab mit genau beobachteten sozialen Miniaturen des Alltags. Mit dem Roman Der Aufsteiger oder Ein Versuch zu leben (Ffm. u. a.) knüpfte B. 1978 an diesem Realismus mit autobiogr. Momenten an: Erich Wegner, Flüchtlingskind mit bitteren Erfahrungen, erarbeitet sich vor dem Hintergrund des dt. Wirtschaftswunders u. der Studentenrevolte von 1968 eine Bilderbuchkarriere – u. erfährt am eigenen Leib deren Fragwürdigkeit. Das Problem der Chancengleichheit ist in einem »exemplarischen Entwicklungsroman« (Martin Walser) nicht zu lösen, es kann nur zur Diskussion gestellt werden. Auch der folgende Zeit- u. Gesellschaftsroman Bis an die Grenze (Ffm. u. Bln. 1980) reflektiert wieder aktuelle Probleme, diesmal der siebziger Jahre u. der Auseinandersetzung mit dem Terror der RAF. Gleichzeitig eroberte sich B. mit dem Jugendroman Abhauen (Stgt.) neues Terrain. Die positive Resonanz (»Hautnah echt in Szene, Vokabular und Psyche der orientierungslosen Pubertie-

Bittner

renden«, urteilte die »Buchauswahl für evangelische Büchereien«; die »Deutsche Lesegesellschaft« empfahl den Band als »Lesetipp«) dürfte B. bewogen haben, mit Weg vom Fenster (Frauenfeld u. a. 1982) wieder für Jugendliche zu schreiben, diesmal über den Alltag in Fürsorgeheimen. Weitere Jugend- u. Abenteuerromane wie Die Fährte des Grauen Bären (Stgt. 1986) oder Narrengold (Mchn. 1992) spielen zumeist in der scheinbar exot. Welt Kanadas, bei genauerem Hinsehen zeigen sich allerdings deutl. Parallelen zu den wirtschaftl. Verhältnissen in der heimatlichvertrauten Bundesrepublik. Mit Niemandsland (Lpz. 1992) wandte B. sich wieder an erwachsene Leser: eine komplexe u. umfangreiche, vielschichtige Collage unterschiedlicher Reflexions- u. Wirklichkeitsebenen einer Klassengesellschaft u. ihrer Widersprüche. Mit Marmelsteins Verwandlung (Tüb. 1999) legte B. die Charakterstudie eines Aussteigers u. zgl. einen Wirtschaftskrimi vor: eine scharfe Satire auf den modernen Literaturbetrieb, den er in dem Sachbuch Beruf: Schriftsteller (Reinb. 2002. Mchn. 2006) detailliert analysierte. Bezeichnend für B. ist, dass er nicht nur die prekäre wirtschaftl. Lage der Autoren in pointierten Essays beklagt, sondern sein Engagement im PEN, im Verband deutscher Schriftsteller (1997–2001 im Bundesvorstand) u. im Rundfunkrat des WDR (1996–1998) nutzte, um aktiv die Interessen von Autoren zu vertreten. Ganz jungen Lesern wandte B. sich mit gleichermaßen humor- u. fantasievollen Bilderbüchern wie Der alte Trapper und der Bär (Bln. 2000) zu. Um die Verständigung zwischen Polen u. Deutschen, den Bewohnern seiner alten u. seit 1945 neuen Heimat, bemühte B. sich während seiner Gastprofessuren in Polen (2004–2006) u. mit den zweisprachigen Bänden Gleiwitz heißt heute Gliwice – Eine deutschpolnische Geschichte (Oberhausen u. a. 2003) u. Überschreiten die Grenze (Oberhausen 2004). Es geht B. immer wieder darum, gesellschaftl. Zusammenhänge in einer komplizierten, komplexen, von der Globalisierung geprägten Welt durchschaubar zu machen, sie zu »enträtseln« (Walter Benjamin) u. dazu wendet er sich an Erwachsene wie an Jugendliche, die ihm beide als Zielgruppen gleichermaßen

Blaas

576

wichtig sind. Offenbar entspricht diese Hal- Blaas, Erna, * 19.2.1895 Kirchdorf an der tung dem Interesse der Leser nicht nur hier- Krems/Oberösterreich, † 8.9.1990 Salzzulande: Seine Bücher wurden in zahlreiche burg. – Lyrikerin u. Erzählerin. Sprachen übersetzt. Die Tochter eines Baumeisters maturierte Weitere Werke: Erste Anzeichen einer Verän1914 an der Staatlichen Lehrerbildungsanderung. Gedichte, Kurzgesch.n u. Erzählungen. stalt in Linz. Ihre frühen Gedichte veröffentDarmst. 1976. – Probealarm. Fischerhude 1977 (G.e). – Alles in Ordnung u. andere Satiren. Köln lichte sie in Zeitschriften, u. a. in »Der 1979. – Nachkriegsgedichte. Bornheim-Merten Wächter«, »Alpenländische Monatshefte« u. 1980. – Der Riese braucht Zahnersatz. Gesch.n für im »Getreuen Eckart«. Volkskundliche InKinder. Ffm. 1983. – Kopfsprünge. Stgt. 1984 (G.e). teressen führten B. zur Beschäftigung mit – Die Rabenkolonie. Theaterstück. Gött. 1984. – alten Zaubersprüchen u. beschwörenden Bundestäglich. Herr O. u. der Abgeordnete S.-Dia- Reimgebeten. Von 1927 bis zu ihrem Tod loge. Gött. 1984. – Kaffeestreik. Theaterstück. lebte sie in Salzburg. 1957 erhielt B. den GeWeinheim 1987. – Das Gerücht. Theaterstück. org-Trakl-Preis für Lyrik, 1969 den AdalbertWeinheim 1988. – Wo die Berge namenlos sind. Stifter-Preis für Literatur. Jugendroman. Mchn. 1989. – Die Lachsfischer vom Ihre katholisch-vaterländisch orientierten Yukon. Jugendroman. Mchn. 1991. – Salzgitter. Gedichte thematisieren Heimat u. Landschaft Eine dt. Gesch. Salzgitter 1992. – Wie das Feuer zu den Menschen kam. Theaterstück. Weinheim 1996. u. gestalten eine traditionell-weibl. Erlebnis– Spurensuche. Bln. 1998 (G.e). – Bärenland. Sankt welt. Später veröffentlichte sie ihre Lyrik im Augustin 1998 (G.e). – Rechts-Sprüche. Texte zum Umfeld völkisch-nationaler Dichtung, u. a. in Thema Justiz. Hann. 2002. – Schreiben, Lesen, den Anthologien Vom Expressionismus zur neuReisen. Essays u. Vorträge. Oberhausen 2006. – en Klassik (Hg. Josef Pfaundler. Wien 1936) u. Flucht nach Kanada. Jugendroman. Kellenhusen Gesänge der Ostmark (Hg. Franz Karl Ginzkey. 2007. – Das andere Leben. Bad Honnef 2007 (E.en). Lpz. 1938). B. war seit 1937 Mitgl. des sich Literatur: Heinrich Goertz: ›Schwarz ist die 1938 zu Hitler bekennenden Bundes deutHoffnung‹. In: Literar. Porträts. Hg. Peter K. scher Schriftsteller Österreichs, zu dem auch Kirchhof. Düsseld. 1991, S. 66–69. – Friedrich Egmont Colerus, Max Mell, Friedrich Schegk: W. B. In: Lexikon der Reise- u. AbenteuSchreyvogl, Karl Heinrich Waggerl u. Josef erlit. Hg. ders. Meitingen 1999. – Norbert Honsza: ›Vom Schreiben u. von der Heimatlosigkeit des Weinheber gehörten. Auch nach 1945 schrieb Autors‹. In: Zblizenia/Annäherungen Nr. 29, B. sinnbildhafte Gedichte über ihre Heimat Breslau 2001. – Andreas Rumler: W. B. In: KLG. – (Abendliche Flöte. Linz 1955), die Mutterschaft Enno Stahl: W. B. In: Kölner Autoren-Lexikon (Das Lied der Mutter. Klosterneuburg/Salzb. 1750–2000. Hg. Everhard Kleinerz. Bd. 2, Köln 1956) u. religiöse Themen (Durch Bilder und 2002. – Herbert Ossowski u. Günter Lange: W. B. Zeichen. Wien 1961). In: Lexikon der Kinder- u. Jugendlit. Hg. Kurt Franz, G. Lange u. Franz-Josef Payrhuber. Meitingen 2005. – Anna Sorobka: Sensible Betrachtungen u. Reflexionen. In: Zblizenia/Annäherungen Nr. 40, Breslau 2005. – Rajmund Müller: Zum Problem der literar. Sozialisation am Beispiel der Texte v. W. B. In: Schuhnummer oder Leben. Beiträge zur Literaturdidaktik. Hg. Edward Bialek u. Czeslaw Karolak. Breslau/Dresden 2007, S. 311–324. – Munzinger-Archiv/Internat. Biogr. Archiv, 1982, 2005. Andreas Rumler /

Weitere Werke: Der Garten Mirabell. Mit Illustrationen v. Ernst v. Dombrowski. Salzb. 1960. 1987 (L.). – Schattenlicht. Wien 1969 (L.). – Verwandlungen. Wien 1978 (E.en). – Traum der Welt. Der Dichter Hans v. Hammerstein. Salzb. 1982 (Biogr.). Eva Weisz / Red.

/

Blaeulich, Max, * 19.9.1952 Salzburg. – Bildender Künstler, Autor, Herausgeber, Antiquar, Mitarbeiter verschiedener Literaturzeitschriften. B. profiliert sich seit den 1980er Jahren mit der Edition Traumreiter, der Edition Tartin u. den Zerrissmuss-Publikationen als Herausgeber randständiger Literatur, v. a. vergessener ös-

577

Blanckenburg

terr. Autoren der literar. Avantgarde nach Lorenz Müller: Männerrunde im Urwalddickicht. 1945 u. im dt. Sprachraum unbekannter ost- Über M. B.s Roman ›Kilimandscharo zweimetereurop. Surrealisten. In den 1970er Jahren acht‹. In: LuK 41 (2006), H. 403/404, S. 89–91. – begann B. mit bildkünstler. Arbeiten, die seit Leopold Federmair: Kaltes Gelächter. ›Gatterbauerzwei‹: M. B.s irre Grotesken. In: NZZ, 1980 in Ausstellungen zu sehen sind u. sich 28.10.2006. Harald Jakobs u. a. in Trauerkabinen. Ein Dramolett (Ottensheim 1998) mit seinem literar. Schaffen verbinden. Blanckenburg, Blankenburg, (Christian) Erste literar. Texte veröffentlichte B. 1978 Friedrich von, * 24.1.1744 Moitzlin bei in der Zeitschrift Projekt-IL. 1992 erscheint Kolberg, † 4.5.1796 Leipzig. – Literat u. sein erstes Buch Viktor (Klagenf. 1992), eine Romantheoretiker. aus irrlichternden, alog. Assoziationssequenzen bestehende Erzählung über die Absurdi- B. entstammte pommerschem Adel u. war tät logisch-rationaler Wirklichkeitserklärun- 1759–1776 Offizier der preuß. Kavallerie. Er gen. Der Roman Die Knopffabrik (Klagenf. lebte nach 1763 in Schlesien, ab 1778 als 2002) über einen Fabrikkonkurs zeigt eine Schriftsteller in Leipzig. B. war u. a. mit Gesellschaft, in der die Menschen durch die Christian Felix Weiße (Briefwechsel 1768 bis völlige Unterwerfung unter den kapitalist. 1778) u. Friedrich Nicolai befreundet. B. führte gleichsam zwei Leben: das erste in Geist zu wertlosen Knöpfen degradiert u. von den Paradiesversprechen religiöser Verfüh- den Konventionen seines Standes, das zweite rungsindustrien geblendet werden. Kilima- als ein in der »Gelehrtenrepublik« geachteter ndscharo zweimeteracht (St. Pölten/Salzb. 2005) Literat. Dabei war der Erfolg des Literaturu. Gatterbauerzwei oder Europa überleben (St. theoretikers u. -historikers größer als der des Pölten/Salzb. 2006), die Auftaktbände einer Dichters. Auf Weißes Einspruch hin blieben Afrika-Trilogie, sind groteske Satiren auf den B.s frühe dramat. Versuche ungedruckt. Der Kolonialismus der k. u. k. Monarchie. Die in Roman Beyträge zur Geschichte deutschen Reichs für B. typischer verwirrender, achronolog. und deutscher Sitten (1. Tl., Lpz./Liegnitz 1775. Weise erzählten Romane über eine historisch Neudr. Ffm. 1970), in dem nach dem Vorbild verbürgte Ugandaexpedition von 1911 kari- Sternes die Reflexionen des Erzählers das kieren eine österr. Gesellschaft, in deren Handlungsgeschehen überwuchern, wurde Rassismus sich die nationalsozialist. Aus- vermutlich nicht vollendet, weil B. die erwüchse bereits ankündigen. Kritisch gesehen zähler. Umsetzung seiner eigenen Romanwerden B.s brachialer Witz, Drastik u. Vul- theorie nicht gelang. Dieser Roman wirkt in gärsprache, die die virtuose Schilderungs- der peniblen Rekonstruktion des Kausalnexus zwischen dem Denken u. Fühlen des kunst bisweilen überlagern. Weitere Werke: Der umgekippte Sessel. Kla- Helden u. seinen Handlungen pedantisch u. genf. 1993. – Bukarester Gesch.n. Klagenf. 1994. – uninspiriert. Hingegen war B. nicht nur als Trauerkabinen. Ein realisiertes Dramolett. Salzb./ Übersetzer, Militärschriftsteller u. MitarbeiParis 1999. – Lachschule Gebrüder Laschensky. ter verschiedener Zeitschriften, darunter an Dramolett. Salzb./Paris 2000. – Dolly. Ein Dramo- Weißes »Neuer Bibliothek der schönen Wislett mit Echtblut. Salzb./Paris 2000. senschaften und freyen Künste«, bekannt, Literatur: Hans-Ulrich Wagner: Der Habicht, sondern wurde über die literar. Zirkel Leipder Aal, der Goldfisch u. ihr Bad im Mirabellgarten. zigs hinaus wegen seiner profunden GelehrM. B.s Prosaband ›Viktor‹. In: LuK 27 (1992), H. samkeit u. offenen Haltung gegenüber den 267/268, S. 88–90. – Frank Tichy: Pandämonium neuen Literaturströmungen geschätzt. Durch Maxglan. In: Salzburger Nachrichten Nr. 97, seine mit eigenen Zusätzen versehene Neu26.4.2003. – Evelyne Polt-Heinzl: Exerzitien des Weltuntergangs. M. B.s Roman ›Die Knopffabrik‹. edition von Sulzers Theorie der schönen Künste In: LuK 38 (2003), H. 371/372, S. 79–81. – Bernhard (Bde. 1–3, Lpz. 1796–98) sei dieses Lexikon – Setzwein: M. B. In: LGL. – Paul Jandl: Herz der so ein Zeitgenosse – zu einem »Repertorium Finsternis. M. B.s beißende Satire ›Kilimandscharo über die Literatur der schönen Künste und zweimeteracht‹. In: NZZ, 26.10.2005. – Christian Wissenschaften« geworden.

Blanckenburg

B.s literaturgeschichtl. Bedeutung beruht v. a. auf seinem Versuch über den Roman (Lpz./ Liegnitz 1774. Neudr. Stgt. 1965), einer auf induktivem Weg gewonnenen Gattungspoetik ohne normativen Anspruch, die aus einer Herder verwandten histor. Betrachtungsweise heraus den Roman als Gattung der »Moderne« gegenüber dem Epos aufwertet. Ausgehend von Wielands Agathon u. Fieldings Tom Jones, entwickelte B. die Theorie eines Romantyps, der die innere Entwicklung eines Menschen, »als eine Privatperson betrachtet«, erzählt. Die Charakterdarstellung wird zur Hauptaufgabe des Romanschreibers (»Es kömmt überhaupt [...] nicht auf die Begebenheiten der handelnden Person, sondern auf ihre Empfindungen an.«). B. macht wesentl. Anleihen bei der zeitgenöss. Theorie der pragmat. Geschichtsschreibung (vgl. auch seinen Aufsatz Über die historische Gewißheit, 1790 im zweiten Heft des »Neuen Deutschen Museums«, S. 638–680, erschienen). Kennzeichen pragmat. Darstellungsform sind der psychologisch motivierte Kausalzusammenhang zwischen Romanfigur u. -geschehen, die dadurch bedingte Funktionalität aller Teile, die Anschaulichkeit der Darstellung, die den Leser wie an einem realen Geschehen teilnehmen lässt (B. übernimmt die Idee der »idealen Gegenwart« aus Homes Elements of Criticism, 21763), die Integration der moral. Reflexion ins Erzählen u. ein nichthierarchisches Verhältnis zwischen Autor/Erzähler u. Leser. Der Versuch teilt zwar die Festlegung des Romans auf außerliterar. Ziele mit der älteren Romantheorie; doch zeigt sich in der inhaltl. Bestimmung wie in der Wahl der literar. Mittel der Bruch mit der Tradition. Für B. hat der Dichter als Schöpfer einer eigenen »kleinen Welt« das Ziel Gottes, des Schöpfers, zu fördern, den Menschen zu seiner wahren Bestimmung zu bringen. Er soll ihn denken lehren, aber nur insofern Lehrer sein, als er »unsre denkende Kraft und Empfindungsvermögen durch die Kunst in der Anordnung u. Ausbildung seines Werks beschäftigt«. Der Roman ist nicht mehr ein Handbuch der Sittenlehre, in dem erzählerisch nicht vermitteltes Moralisieren seinen Ort hat, sondern »ein Organon des induktiven Erkennens wie eine Schule praktischer

578

Lebenserfahrung« (Hahl). Diese Funktion im Rahmen der »psychologischen und moralischen Selbstverständigung der bürgerlichen Privatleute« (Voßkamp) kann er dann erfüllen, wenn er anschaulich, d.h. unter Reduktion der epischen Distanz durch dramatisches Erzählen, die kausalgenet. Verknüpfung von innerem Zustand u. Handlungen einer Person darstellt. Diese gewährleistet auch den Wirklichkeitsbezug des Romans, nicht der Realismus des Stoffes. Ein Jahr nach seiner Poetik erschien B.s Werther-Rezension (in Weißes »Bibliothek«, Bd. 18. Neudr. in: Weber 1981) als Unterricht am prakt. Beispiel, wie man Dichtung lesen soll. In kritischer Distanzierung von all jenen, die Goethes Roman als Anleitung zum Selbstmord verdammten, betont B. noch einmal, dass der Roman wie jede Dichtung nicht die Funktion einer Morallehre haben könne. Als Medium nützlicher Lebenserfahrung ließen sich durch Goethes Werk Werther’sche Charaktere richtig erkennen sowie das Wechselverhältnis zwischen Charakter u. Begebenheiten studieren. Denn dieses sei »ein richtig in einander gegründetes Ganze[s]«, das den Selbstmord Werthers erst verstehbar mache. Die Gemütsbewegungen, die der Roman hervorrufe, würden durch die Einsicht in das Zustandekommen der verhängnisvollen Entwicklung rationalisiert. Die Verpflichtung des Romans auf die innere Geschichte eines Menschen kennzeichnet den histor. Ort von B.s Theorie pragmatischer Erzählform. Dem handlungsbetonten, durch »plot« u. Verwirrungsstruktur charakterisierten »Tugendbuch« stellt er den bürgerlichen, psycholog. Roman entgegen, beschränkt aber dessen Wirkungsbereich aufgrund der theoretisch festgeschriebenen »Innerlichkeit« auf die Öffentlichkeit der bürgerl. Privatleute. Mit der Trennung des Poetischen vom Moralischen u. der Begründung der dichter. Wahrheit in der Erzählform weist B. zgl. den Weg zu einer späteren Dichtungstheorie, die absolute Autonomie für die Kunst fordern wird. Weitere Werke: Schreiben über Leßings verloren gegangenen Faust. In: Johann W. v. Archenholz (Hg.): Litteratur- u. Völkerkunde 5 (1784). – Herr Hauptmann v. B. über Dt. Sprache u. Lit. In: Jo-

579 hann C. Adelung (Hg.): Magazin für die dt. Sprache 2 (1784), S. 3–50. Literatur: Christian Felix Weiße: Einige Nachrichten v. dem Leben des Herrn v. B. In: Neue Bibl. der schönen Wiss.en u. freyen Künste 59 (1797). S. 304–311. – Schlichtegroll [Jg.] 2 (1796), S. 283–299. – Kurt Schreinert: C. F. B. In: NDB. – Peter Michelsen: Laurence Sterne u. der dt. Roman. Gött. 1962. – Eberhard Lämmert: Nachw. zu F. v. B.: Versuch über den Roman. Stgt. 1965. – Jürgen Sang: F. v. B. u. seine Theorie des Romans. Diss. Mchn. 1967 (ausführl. Bibliogr., vollst. Werkverz.). – Kurt Wölfel: F. v. B. Versuch über den Roman. In: Dt. Romantheorien. Hg. Reinhold Grimm. Ffm. 1968. – Werner Hahl: Reflexion u. Erzählung. Stgt. 1971. – Wilhelm Voßkamp: Romantheorie in Dtschld. Stgt. 1973. – Ders.: B. u. B. – Rezeption. In: Jb. Int. Germ. Reihe A, Bd. 2 (1976). – Ernst Weber: Nachw. zu: Texte zur Romantheorie 2. Mchn. 1981. – J. Sang: Der Gebrauch öffentl. Meinung. Voraussetzungen des Lavater-B.-Nicolai Streites 1786. Hildesh. 1985. – Matthias Wehrhahn: ›Beyträge zur Geschichte deutschen Reichs und deutscher Sitten‹. Der Roman des Romantheoretikers B. In: Welfengarten 5 (1995), S. 116–127. – Ders.: Nachw. zu: C. F. v. B.: Über Romane. Hann. 1997. – Angelika Schlimmer: Der Roman als Erziehungsanstalt für Leser. Zur Affinität v. Gattung u. Geschlecht in F. v. B.s ›Versuch über den Roman‹ (1774). In: Das achtzehnte Jh. 29 (2005), S. 209–221. Ernst Weber / Red.

Blarer, Blaurer, Ambrosius, * 4. oder 12.4. 1492 Konstanz, † 6.12.1564 Winterthur. – Benediktinermönch; Reformator u. Kirchenlieddichter. Aus einer angesehenen Konstanzer Patrizierfamilie stammend, nahm B. 1505 das Studium der Artes an der Universität Tübingen auf, das er – inzwischen Benediktinermönch der Abtei Alpirsbach (Profess 1510) – 1512 mit der Magisterpromotion abschloss. In diese u. die folgende Zeit fällt seine Begegnung mit humanist. Strömungen u. seine Freundschaft mit Melanchthon. Wenig später jedoch kehrte er ins Kloster zurück, wo man ihn bald zum Lektor, Pfarrverweser u. Prior machte. Die Lektüre der Schriften Luthers, vermittelt über seinen Bruder, den Wittenberger Studenten Thomas Blarer, veranlasste B. 1522 zum Bruch mit dem Klosterleben u. zur

Blarer

Heimkehr nach Konstanz. Seine Beweggründe legte er in der Flugschrift Warhafft verantwortung Ambrosij Blaurer an aynen ersamen weysen Rat zu8 Costentz (Augsb. 1523) dar. Diese geistige Wende dokumentiert auch B.s achtstrophiges Gedicht Wieß Got gefelt, so gfelts mir ouch (um 1522; EKG 281), das als erstes evang. Kirchenlied gilt. Von Febr. 1525 an versah B. nun das Predigtamt an St. Stephan in Konstanz u. sorgte gemeinsam mit Johannes Zwick für eine frei von Spannungen sich vollziehende Durchführung der Reformation in oberdeutsch-schweizerischer Prägung. Über Korrespondenzen stand er in Kontakt mit Zwingli in Zürich u. Johannes Oekolampad in Basel. Mit dem Straßburger Martin Bucer verband ihn eine aufrichtige Freundschaft. Eine intensive auswärtige Wirksamkeit führte B. 1528/29–1533 in verschiedene benachbarte Reichsstädte, 1534 in das Herzogtum Württemberg u. fünf Jahre später nach Augsburg. Aber sein Bemühen um eine undogmat. Mittelposition zwischen zwinglischer u. luth. Richtung einerseits u. seine zwinglisch gefärbte Theologie andererseits ließen ihn rasch zwischen die Fronten geraten, sodass er im Febr. 1540 nach Konstanz zurückkehrte. Erst als die Niederlage der protestant. Fürsten im Schmalkaldischen Krieg für Konstanz das Ende des reformator. Werks heraufbeschwor, verließ B. 1548 kurz vor Beginn der Belagerung durch kaiserl. Truppen endgültig die Stadt. Er verbrachte seine letzten Lebensjahre in der Schweiz, ohne noch größere Verpflichtungen zu übernehmen. Von seinen Freundschaften bestanden nur mehr die mit Heinrich Bullinger u. mit Calvin (reger Briefwechsel seit 1552). B.s schmales literar. Werk beschränkt sich auf Gelegenheitsschriften. Seine Lieddichtung jedoch (25 Lieder sind uns überliefert, drei davon im EKG, 100, 204, 281), die Ende des 19. Jh. durch F. Spitta wiederentdeckt wurde, weist ihm einen gleichrangigen Platz neben Luther u. Michael Weisse zu. Die in oberschwäbisch-alemannischem Dialekt gehaltenen, oft kurzen Reimzeilen offenbaren eine meisterhafte Beherrschung von Sprache u. Form, Originalität u. Nuancenreichtum des Ausdrucks, am beeindruckendsten wohl

Blass

580

in B.s Klagelied über den Tod seiner formationsgesch. Hg. Johannes Schilling. Gött. Schwester Margareta In Angst und noth bin ich 2001, S. 156–166. Irene Dingel / Red. versenkt (1541). Überhaupt wird ein stark subjektiver Zug in B.s Dichtung deutlich, in Blass, Blaß, Ernst, * 17.10.1890 Berlin, der sich sowohl geistl. als auch weltl. Themen † 23.1.1939 Berlin. – Lyriker u. Essayist. (vgl. das Gedicht über das Hofleben Wiewohl B., einziger Sohn (neben fünf Schwestern) viel harter Orden sind) finden. Ausgaben: Des A. B. Schutzschr. an den Rath v. eines nicht sehr wohlhabenden jüd. KaufKonstanz. Hg. Karl Julius Holtzmann u. Karl manns, besuchte ab 1897 das Kgl. WilhelmsBernhard Hundeshagen. Heidelb. 1857. – Wacker- Gymnasium in Berlin. 1908 begann er in nagel 3, Nr. 648–663. – Briefw. der Brüder A. u. Berlin Jura zu studieren. Früh fand er v. a. Thomas B., 1509–1567. Hg. Traugott Schiess. 3 durch die Freundschaft mit Kurt Hiller liteBde., Freib. i. Br. 1908–12. – (Ein Teil der Schr.en rar. Anschluss: Er wurde Mitgl. im »Neuen u. Dichtungen [auch falsche Zuweisungen!] bei Club«, der ersten expressionist. AutorenverPressel, 1861.) – Das reformator. Meisterstück des einigung, in der auch Georg Heym u. Jakob A. B. Seine Flugschr. ›Wahrhafft Verantwortung‹ van Hoddis entdeckt wurden, las seine Lyrik aus dem Jahr 1523 [...] ins heutige Deutsch überu. Prosa in dessen »Neopathetischem Cabatragen v. Willi Bidermann. Freudenstadt 2003. rett für Abenteurer des Geistes« u. später im Literatur: VD 16, B 5678–5705. – Bernd Kabarett »Gnu« u. verkehrte im »Café des Moeller: Johannes Zwick u. die Reformation in Westens« sowie in anderen Boheme- u. Konstanz. Gütersloh 1961, S. 263–292 (Bibliogr.). – Künstler-Kreisen. Ab 1910 erschienen seine Zusammenstellung der Lieder bei: Markus Jenny: A. B. als Dichter u. Hymnologe. In: Moeller 1964 Texte in fast allen bedeutenden avantgardist. (s. u.). – Weitere Titel: Theodor Pressel: A. B.s des Zeitschriften (»Aktion«, »Sturm«, »Saturn«, schwäb. Reformators Leben u. Schr.en. Stgt. 1861. – »Revolution«, »Pan«, »Das neue Pathos«, Hartmann: A. B. In: ADB. – Otto Feger: A. B. In: »Die weißen Bätter« u. a.) u. vielen AntholoNDB. – B. Moeller (Hg.): Der Konstanzer Refor- gien sowie Almanachen (z.B. »Kondor«, der mator A. B. 1492–1564. Gedenkschr. zu seinem frühesten Lyriksammlung des Expressionis400. Todestag. Konstanz/Stgt. 1964. – Ilse Günther mus, »Ballhaus«, »Vom Jüngsten Tag«, in: Contemporaries 1, S. 151 f. – B. Moeller in: »Menschliche Gedichte im Krieg«). TRE. – Hans-Peter Hasse: A. B. liest Hieronymus. Wegen einer unglückl. Liebesgeschichte B.s handschriftl. Eintragungen in seinem Exemplar (thematisiert in seinem berühmtesten Geder Hieronymusausg. des Erasmus v. Rotterdam dicht An Gladys. In: Die Straßen komme ich ent(Basel 1516). In: Auctoritas patrum. Zur Rezeption lang geweht. Heidelb. 1912. Neudr. Mchn./ der Kirchenväter im 15. u. 16. Jh. Hg. Leif Grane u. a. Mainz 1993, S. 33–53. – H.-P. Hasse in: RGG 4. Wien 1980) u. angegriffener Gesundheit zog Aufl. Bd. 1, Sp. 1638. – Rainer Henrich: Das würt- B. im Frühjahr 1913 nach Heidelberg, wo er temb. Bilderdekret v. 7. Okt. 1537: Ein unbekann- 1916 mit der Arbeit Die Tötung des Verlangentes Werk A. B.s. In: BWKG 97 (1997), S. 9–22. – den. (§ 216 RStGB) zum Dr. jur. promovierte. Walther Ludwig: Philosoph. u. medizin. Aufklä- Ab 1914 gab er die exklusive literarisch-phirung gegen evang. Biblizismus u. Teufelsglauben: losoph. Zeitschrift »Die Argonauten« (zuDer Arzt Wolfgang Reichart im Konflikt mit dem nächst monatlich, dann sehr sporadisch, Theologen A. B. In: Medizinhistor. Journ. 32 letztes Heft 1921) mit Beiträgen von Walter (1997), S. 121–177. – Martin Brecht: A. B.s Wirk- Benjamin, Ernst Bloch, Max Scheler, Leonard samkeit im Herzogtum Württemberg. In: Refor- Nelson, Gustav Radbruch, Rudolf Borchardt, mationsgesch. Württembergs in Porträts. Hg. Franz Blei, Carl Sternheim, Franz Werfel, Siegfried Hermle. Holzgerlingen 1999, S. 291–319. Franz Jung, Robert Musil u. a. heraus. Wegen – Markus Jenny in: MGG 2. Aufl. Bd. 3, Sp. 53–55. epileptischer Anfälle, die später ausblieben, – Martin Bente u. John Kmetz in: The New Grove 2. Aufl. Bd. 3, S. 689 f. – Martin Rößler: Liedermacher wurde B. trotz freiwilliger Meldung im Ersim Gesangbuch. Liedgesch. in Lebensbildern. Völ- ten Weltkrieg nicht eingezogen. Von Ende lig überarb. u. erw. Gesamtausg. Stgt. 2001. – B. 1915 bis 1920 übte er einen ungeliebten Moeller: A. B. als Alpirsbacher Mönch. In: Ders.: Brotberuf als Archivar bei der Dresdner Bank Luther-Rezeption. Kirchenhistor. Aufsätze zur Re- in Berlin aus. 1921–1923 war er Kritiker beim

581

Blatter

»Berliner Börsen-Courier«, 1924 Theater- u. selbaren Klang der kritisch-intellektuellen, Filmkritiker bei der Wochenzeitung »Mon- weltstädt. »Fortgeschrittenen Lyrik« B.’ aus. Schon in seinem zweiten Band Die Gedichte tag-Morgen« sowie zeitgleich Lektor im Verlag Paul Cassirer. Als freier Feuilleton-Mit- von Trennung und Licht (Lpz. 1915), erst recht arbeiter des »Berliner Tageblatts« war er bis in Gedichte von Sommer und Tod (in: »Der 1930 Chefrezensent für die Filmkritik u. Jüngste Tag« 46, Lpz. 1918) u. Der offene Strom (Heidelb. 1921) betonte B. mehr die idealist. verfasste über 300 Besprechungen. Die Jahre 1918–1922 waren B.’ produk- Seite seines Wesens; er orientierte sich an tivste Zeit; er wurde Mitgl. in der »Gruppe Goethe, Hölderlin u. v. a. an Stefan George, 25«, im PEN u. im Schutzverband dt. den er wiederholt in hymn. Essays bewunSchriftsteller. Ab Mitte der 1920er Jahre derte. Formstrenge u. Feierlichkeit, gleichnahm sein Leben infolge vielfältiger Belas- mäßiger Rhythmus u. schöne Reime waren tungen (zunehmende Erblindung durch Au- nun sein Kunstideal: Die süddt. Landschaft, gentuberkulose, Sanatoriumsaufenthalte, Stimmungen u. Gedanken, Liebe u. VerScheidung seiner Ehe, Arbeitshemmungen, gänglichkeit wurden Themen seiner Verse. permanente finanzielle Sorgen) trag. Züge Mit der Hinwendung zum neuklassizist. Äsan. Nach 1933 verstärkten sich die Probleme: thetizismus nahm B. eine Entwicklung vorWenngleich B. auch nicht direkt verfolgt weg, wie sie andere Expressionisten erst im wurde, hatte er kaum noch Publikations- Alterswerk vollzogen. Allerdings fand B. möglichkeiten (außer in der »Jüdischen Mitte der 1920er Jahre in einer kleinen Anzahl nur verstreut erschienener Gedichte Rundschau«) u. lebte immer isolierter. nochmals eine Wendung zum Stil der Neuen B.’ erste Veröffentlichung Die Straßen komme Sachlichkeit u. ebenso eine Art Rückkehr zum ich entlang geweht gehört zu den bedeutendsBoulevard-Timbre seiner Anfänge. ten Gedichtbänden des Expressionismus mit Auch als Film- u. Literaturkritiker, Essayist Wirkungen bis zu Tucholsky u. Mehring, u. Herausgeber der Zeitschrift »Die ArgoErich Kästner u. Mascha Kaléko. Im Vorwort, nauten« hat B. Wegweisendes geleistet, ineiner der frühesten programmat. Äußerundem er z.B. früh den Rang von Musil, Döblin gen zur expressionist. Lyrik überhaupt, foroder Joyce erkannte u. sich publizistisch für dert B. vom Lyriker die Gestaltung alltäglichsie einsetzte. Als einer der Ersten veröffenttrivialer Erlebnisse u. Phänomene sowie »das lichte er frühe bedeutende Texte von BenjaWissen um das Flache des Lebens, das Kleb- min u. Bloch. rige, das Alltägliche, das Stimmungslose, das Weitere Werke: Über den Stil Stefan Georges. Idiotische, die Schmach, die Miesheit«. Erst- Heidelb. 1920 (dialog. Ess.). – Der paradies. Aumals wird in den Gedichten selbst eine mo- genblick (Pseud. Daniel Stabler). Mit 5 Originalliderne Großstadt (Berlin) mit all ihren Er- thographien v. George Morgan. Privatdr. 1920. – scheinungsformen (flutender Verkehr, Das Wesen der neuen Tanzkunst. Mit 8 Bildern. nächtl. Vorstadtstraßen u. Parks, Cafés u. Weimar 1921. Neue erw. Aufl. Weimar 1922 (Ess.). Bars, Laternen u. Busse, Autos u. Grammo- – Übersetzung: Lord Byron: Kain. Ein Mysterium. fone, Spießbürger u. Kokotten) als Grundlage Übertragen v. E. B. Bln. 1938. Literatur: Angela Reinthal: ›Wo Himmel und der Existenz u. der Isolation des modernen Großstädters betrachtet. Diesem Themen- Kurfürstendamm sich berühren‹. Studien u. Quellen zu E. B. (1890–1939). Mit einer umfangreichen komplex entsprechen wesentl. Merkmale Bibliogr. der Primär- u. Sekundärlit. Oldenb. 2000. seines Stils: die häufige Verwendung von Thomas B. Schumann / Angela Reinthal Fremd- u. Lehnworten, von Berliner Jargon sowie verfremdenden Dissonanzen, B.’ DiaBlatter, Silvio, * 25.1.1946 Bremgarten/Kt. lektik von strenger Versform u. UmgangsAargau. – Verfasser von Romanen u. Ersprache, das Ineinanderübergehen von Ironie zählungen. u. Melancholie, von Zynismus u. Weltschmerz, von Bizarr-Groteskem u. Schlich- B. arbeitete sechs Jahre als Lehrer, danach tem. Diese Mischung macht den unverwech- wiederholt auch als Fabrikarbeiter. Nach ei-

Blei

582

nem abgebrochenen Germanistikstudium in Avenue America. Ffm. 1992. 1995 (R.). – Der blinde Zürich ließ er sich zum Hörspielregisseur Fleck. Zürich 1992 (R.). – Die Glückszahl. Ffm. ausbilden. 1979 erhielt er den Conrad-Ferdi- 2001 (R.). – Zwölf Sekunden Stille. Ffm. 2004 (R.). – nand-Meyer-Preis u. den Preis der Neuen Li- Eine unerledigte Gesch. Ffm. 2006 (R.). Literatur: Hans Ester: Heimat u. Identität im terarischen Gesellschaft Hamburg, 2001 die Ehrengabe des Kantons Zürich. B. lebt als Werk S. B.s. In: Blick auf die Schweiz. Hg. Robert Acker u. Marianne Burkhard. Amsterd. 1987, freier Schriftsteller in Zürich. S. 61–79. – Die Heimatproblematik in den RomaB.s Erzählungen u. Romane berichten vom nen ›Heimatmuseum‹ (1978) v. Siegfried Lenz, schweizerischen Alltag. Seine Prosa hat oft ›Kein schöner Land‹ (1983) v. S. B. u. ›Schöne Tage‹ einen dokumentar. Zug, der von betont fik- (1974) v. Franz Innerhofer. In: Der dt. Roman nach tionalen Elementen durchbrochen wird. Die 1945. Hg. Manfred Brauneck. Bamberg 1993, Erzählungen in den Bänden Schaltfehler (Zü- S. 215–234. – Wilhelm Solms: S. B.: Tankstelle rich 1972) u. Genormte Tage, verschüttete Zeit Heimat. Zur Freiämter-Trilogie. In: Grenzfall Lit. (Ffm. 1976) handeln vom Alltag der Fabrik- Hg. Joseph Bättig u. Stephan Leimgruber. Freiarbeit. Die drei Romane Zunehmendes Heimweh burg/Schweiz 1993, S. 535–549. – Wend Kässens u. Nicolai Riedel: S. B. In: KLG. – Thomas Kraft: S. B. (Ffm. 1978. 51991), Kein schöner Land (Ffm. In: LGL. 3 Dominik Müller / Red. 1983. 1991) u. Das sanfte Gesetz (Ffm. 1988. 2 1991) schildern anhand verschiedener, nur locker miteinander verbundener Einzel- Blei, Franz, auch: Medardus, Dr. Peregrischicksale das Leben im aargauischen Frei- nus Steinhövel u. a., * 18.1.1871 Wien, amt, wo B. aufgewachsen ist. Zunehmendes † 10.7.1942 Westbury/Long Island. – EsHeimweh, der erste Band dieser »Freiamt Tri- sayist, Erzähler u. Dramatiker, Kritiker, logie«, fand als »kritischer Heimatroman« Herausgeber u. Übersetzer. viel Beachtung. In den beiden folgenden Bänden machte sich zunehmend eine Nei- B. studierte 1890–1894 in Zürich u. Genf gung zu dramatisch-überspitzten Handlun- Nationalökonomie, Geschichte u. Literaturgen u. einer starken Typisierung der Perso- geschichte; nach seiner Promotion lebte er als nen bemerkbar. Das gilt auch für die Krimi- Literat u. Bohemien abwechselnd in Münnalgeschichte Die Schneefalle (Zürich/Köln chen u. Berlin. 1931 übersiedelte B. nach 1981. Ffm. 51995), die zgl. eine Abrechnung Mallorca, 1936–1941 flüchtete er als Gegner mit dem polit. Alltag in der Schweiz, mit des Nationalsozialismus über Wien, Italien u. Behörden, Presse u. den Reaktionsweisen der Frankreich in die USA. B.s Produktivität u. Vielseitigkeit, aber Öffentlichkeit darstellt. Der gesellschaftskrit. auch sein paralleles Bekenntnis zum KomZug tritt im Roman Wassermann (Ffm. 1986. 2 1993) in den Hintergrund. Hier geht es um munismus u. zur kath. Kirche (»Es lebe der den privaten Alltag des Ich-Erzählers, dessen Kommunismus und die heilige katholische Frau u. Tochter, um seine Glückserwartun- Kirche!« [1919]) brachten ihn schon zu Lebgen, Erinnerungen u. seine Reisen in die zeiten in den Ruf, ein »seltsames Chamäleon Fantasie. Experimentelle Verfahren, wie sie der Literatur« (Kasimir Edschmid) zu sein. sich in einigen früheren Prosaarbeiten fin- 1888 war Blei in jugendlicher Rebellion aus den, sind einer konventionelleren Erzähl- der kath. Kirche ausgetreten u. revertierte weise gewichen, die in ihrer Ausführlichkeit 1919. Heute gilt B. als eine der Schlüsselfiauch dem Nebensächlichen Gewicht zu- guren im dt. Kulturbetrieb des ersten Jahrschreibt. In den 1990er Jahren widmete sich hundertdrittels, weil er auf vielfältige Weise europ. Literatur nach Deutschland vermitB. v. a. der Malerei. telte u. noch unbekannte Schriftsteller förWeitere Werke: Brände kommen unerwartet. Zürich 1968 (E.en). – Eine Wohnung im Erdge- derte. Zunächst Mitbegründer der »Gesellschaft schoß. Aarau 1970 (E.en). – Mary Long. Zürich 1973 der Münchner Bibliophilen« u. Mitarbeiter (R.). – Flucht u. Tod des Daniel Zoff. Prosagedicht. Aarau 1974. – Love me tender. Ffm. 1980. Neuausg. der »Insel« (des Insel Verlags) sowie des Hy2 1998 (R.). – Das blaue Haus. Ffm. 1990 (R.). – perion Verlags, prägte B. mit eigenen literar.

583

Bleibtreu

Zeitschriften den Typus der bibliophilen Leben u. Traum der Frauen. Mchn. 1921 (E.en). – Kunstzeitschrift der Jahrhundertwende: Der Knabe Ganymed. Bln. 1923 (E.en). – Das Ku»Der Amethyst« (Wien 1906), »Opale« (Lpz. riositäten-Kabinett der Lit. Hann. 1924 (Ess.s). – 1907), »Hyperion« (zus. mit Carl Sternheim. Die Frivolitäten des Herrn v. Disemberg. Bln. 1925 (E.en). – Erzählung eines Lebens. Lpz. 1930. ZuMchn. 1908–10) – Neudr. jeweils Nendeln letzt Wien 2004 (Autobiogr.). – Männer u. Masken. 1970 –, »Der Zwiebelfisch« (Mchn. 1909 ff.). Bln. 1930 (Ess.s). – Gefährtinnen. Bln. 1931 (Ess.s). Nach 1911 publizierte er im expressionist. – Zeitgenöss. Bildnisse. Amsterd. 1940 (Ess.s). – Umfeld, u. a. in der Zeitschrift »Die Aktion« Porträts. Wien u. Bln./DDR 1986 (Ausw.). – Der u. in den »Weißen Blättern«, für die er 1913/ Montblanc sei höher als der Stille Ozean. Hbg. 1994 14 als Redakteur arbeitete. Als Publizist, (Ess.s). – Herausgeber: Das Lustwäldchen. Galante Herausgeber u. Lektor (auch für den Georg Gedichte aus der dt. Barockzeit. Bln. 1908. – Müller Verlag, München) spürte B. vergesse- Summa. Eine Vjs. Hellerau 1917/18. – F. B. u. Alne (Jakob Michael Reinhold Lenz: Gesammelte bert Paris Gütersloh: Die Rettung. Bl. zur ErSchriften. 5 Bde., Mchn. 1909–13) u. noch kenntnis der Zeit. Wien 1918/19. Ausgaben: Vermischte Schr.en. 6 Bde., Mchn. unbekannte Autoren auf wie Rudolf Bor1911/12. – Schr.en in Ausw. Nachw. v. Albert Paris chardt, Hermann Broch, Carl Einstein, Franz Gütersloh. Mchn. 1960. – Briefe: F. B. Briefe an Carl Kafka, Robert Musil, Ernst Stadler, Carl Schmitt. Hg. Angela Reinthal u. Wilhelm KühlSternheim, Robert Walser u. Franz Werfel; mann. Heidelb. 1995. – F. B. – André Gide: Briefw. durch seine Editionen u. Übersetzungen aus 1904–33. Bearb. v. Raimund Theis. Darmst. 1997. dem Französischen (Stendhal, Baudelaire, Literatur: Detlev Steffen: B. (1871–1942) als Barrès, Claudel, Péguy, Suarès, Gide) u. Eng- Literat u. Kritiker der Zeit. Diss. Gött. 1966 (mit lischen (Beardsley, Beckford, Chesterton, Bibliogr.). – Dagmar Barnouw: B. ohne Folgen. In: Whitman) trug er entscheidend zur Verbrei- Österr. Gegenwart. Hg. Wolfgang Paulsen. Bern/ tung der europ. Kultur in Deutschland nach Mchn. 1980. – Georg Eisenhauer: Der Literat. F. B. 1900 bei. Dabei kommt B. eine Schlüssel- – Ein biogr. Ess. Tüb. 1993. – Dietrich Harth (Hg.): stellung bei der frühen Vermittlung des Re- F. B. Mittler der Kulturen. Hbg. 1997. – Helga nouveau catholique im deutschsprachigen Mitterbauer: Die Netzwerke des F. B. Kulturvermittlung im frühen 20. Jh. Tüb./Basel 2003. – Raum zu. Barbara Beßlich: Zwischen Décadence u. KatholiIm eigenen Werk zeigt B. eine Vorliebe für zismus. F. B. als früher Vermittler des Renouveau erotische (Lehrbücher der Liebe. 4 Bde., Mchn. catholique in Dtschld. u. Österr. In: Zwischen 1923. Glanz und Elend berühmter Frauen. Bln. Moderne u. Antimoderne. Renouveau catholique in 1927. Formen der Liebe. Wien 1930) u. sitten- Dtschld. Hg. Wilhelm Kühlmann (in Vorb.). geschichtl. Themen, für die Figur des Dandys Ursula Weyrer / Barbara Beßlich u. Abenteurers (Frauen und Abenteurer. Mchn. 1927) u. für das Rokoko (Die Sitten des Rokoko. Bleibtreu, Karl, * 13.1.1859 Berlin, † 30.1. Mchn. 1921). B.s Stärke liegt im stilistisch 1928 Locarno. – Naturalistischer Lyriker, eleganten biogr. Essay; seine Talleyrand-Bio- Dramatiker u. Erzähler. grafie (Bln. 1932) belegt dies. Für Paul Hindemiths Oper Das Nusch-Nuschi (1921) schrieb B., Sohn eines bekannten Schlachtenmalers, B. das Libretto. Am bekanntesten sind bis unternahm nach kurzer Studienzeit in Berlin heute seine medisanten, satir. Schriftsteller- Reisen durch ganz Europa, die später u. a. in porträts in Form barock-stilisierter Tierbilder den Novellen-Bänden Aus Norwegens Hoch(»Litera-Tiere«): Bestiarium literaricum (Mchn. landen (Lpz. 1883) u. Kraftkuren (Lpz. 1885) 1920. Erw. Ausg. u. d. T. Das große Bestiarium ihren literar. Niederschlag fanden, u. trat der modernen Literatur. Bln. 1922. Neuaufl. dann als streitbarer u. überaus versatiler, auch an Geschichte u. Politik interessierter Hbg. 1995). Weitere Werke: Das Lesebuch der Marquise. Schriftsteller u. Kritiker hervor. Er wurde Ein Rokokobuch. Bln. 1908. – Die Puderquaste. Ein Schriftleiter verschiedener Zeitschriften, so Damen-Brevier. Bln. 1908. – Über Wedekind, v. a. der »Gesellschaft«, die er 1888–1890 Sternheim u. das Theater. Lpz. 1915 (Ess.s). – gemeinsam mit Michael Georg Conrad auch Menschl. Betrachtungen zur Politik. Mchn. 1916. – herausgab. Sein wohl bekanntestes Werk Re-

Bleibtreu

volution der Litteratur (Lpz. 1886. Neuausg. Tüb. 1973), das zur Kampfschrift v. a. des weniger »konsequenten« Münchner Naturalismus wurde, forderte einen die Gegenwartsprobleme künstlerisch aufarbeitenden, neuen Realismus, der sich zum Werk des von B. als »Weltdichter« gepriesenen Zola bekennen, zgl. aber aus der Romantik tradierte subjektiv-idealistische Momente integrieren sollte. Neben Zola waren Lord Byron, Walter Scott u. Alfred de Musset Vorbilder für B. Er versuchte sich auch selbst in der epischen Großform: Nach mehreren Schlachtenschilderungen (z.B. Dies Irae. Erinnerungen eines französischen Offiziers an Sedan. Stgt. 1882) wandte er sich dem Sujet der modernen Großstadt zu. In seinem »pathologischen Roman« (Untertitel) Größenwahn (3 Bde., Lpz. 1888) schildert B. aber – anders als etwa Max Kretzer – nicht das Schicksal der kleinen Leute, sondern das Leben der Boheme, das eher psych. Elend von Halbkünstlern – gemünzt ist B.s Schlüsselroman auf den Berliner Naturalistenkreis um die Brüder Hart –, die ihren eigenen Ansprüchen nicht gewachsen sind; nur einer vermag dem Bannkreis der Kunst den Rücken zu kehren u. sich für ein tatkräftiges Leben als Landwirt zu entscheiden. Hier spiegelt sich wohl B.s eigene Ambivalenz gegenüber einem radikalen Realismus, die auch an der ideellen u. stilist. Verworrenheit dieses »christlich-germanischmodernen« Gesellschaftsromans ablesbar ist. Markant sind dabei v. a. seine dämon. Frauengestalten, die spätere Schilderungen der unabhängigen Frau bei anderen naturalist. Autoren vorwegnehmen. Ähnlich groteske Züge finden sich in den Novellen des Bandes Schlechte Gesellschaft (Lpz. 1885), die die Gemeinheit des Großstadtlebens desillusionierend darstellen. B. distanzierte sich hier bewusst von der »verlogenen Patchouli-Poetik«, an deren Stelle er die »völlig ungeschminkt dargestellte Roheit des realen Lebens« setzen wollte. Seine Dramen sollten dagegen histor. Schilderungen großen Stils werden; hier geht die Gestaltung des problematisch gewordenen Themas Geschichtsfortschritt über in eine monumentale Verherrlichung großer

584

Tatmenschen: Cesare Borgia in Der Dämon (In: Vaterland. Drei Dramen. Lpz. 1887); Napoleon in Schicksal (Lpz. 1888); Cromwell in Ein Faust der That (Lpz. 1889). Der Einfluss Nietzsches ist deutlich. Auf dem Gebiet der Lyrik veröffentlichte B. nur Konventionelles: Er distanzierte sich ausdrücklich von der lyr. Revolution, die Hermann Conradi u. Henckell in den Modernen Dichter-Charakteren (1885) proklamiert hatten. Als Kritiker aber versuchte er den gesellschaftl. Veränderungen des späten 19. Jh. gerecht zu werden; in zahlreichen Schriften trat er polemisch gegen Schönfärberei ein, wandte sich jedoch zgl. gegen den »linken Flügel der fortgeschrittenen Realisten« (Dostojewskij u. Tolstoj). In diesem Sinne gründete er 1890 zus. mit Konrad Alberti die – kurzlebige – »Deutsche Bühne« mit dem Ziel, der von Otto Brahm geleiteten »Freien Bühne« u. ihrer angebl. Vorliebe für ausländ. Dramen entgegenzuwirken. B. setzte sich unermüdlich für einen subjektiv akzentuierten Realismus ein, äußerte sich auch zu allen großen Fragen der Zeit, übte aber keinen nachhaltigen Einfluss aus. Als er 1908 endgültig in die Schweiz übersiedelte, veröffentlichte er noch Verschiedenes, war aber als Kritiker wie als Schriftsteller weitgehend in Vergessenheit geraten. Weitere Werke: Wer weiß es? Erinnerungen eines frz. Offiziers unter Napoleon I. Bln. 1884. – Napoleon bei Leipzig. Bln. 1885 (Studie). – Lyr. Tgb. Bln. 1885. – Welt u. Wille. Dessau 1886 (L.). – Lord Byron. Lpz. 1886 (D.). – Der Kampf um’s Dasein der Lit. Lpz. 1888 (Ess.). – Schlachtenbilder. Lpz. 1889 (Studie). – Kosm. Lieder. Lpz. 1890. – Die Propaganda der That. Sozialer Roman. Lpz. 1890. – Christentum u. Staat. Jena 1893 (Ess.). – Byron der Übermensch, sein Leben u. seine Dichtungen. Jena 1897. – Die Verrohung der Lit. Beitr. zur Haupt- u. Sudermännerei. Bln. 1903 (Ess.). – Die Vertreter des Jh. 3 Bde., Lpz. 1904. – Gesch. der dt. National-Lit. v. Goethes Tode bis zur Gegenwart. 2 Tle., Bln. 1912. Literatur: Gustav Faber: K. B. als Literaturkritiker. Bln. 1936. Neudr. Liechtenstein 1967. – Anna Oliva: K. B. als Erzähler. Diss. Wien 1937. – Falk Harnack: Die Dramen K. B.s. Bln. 1938. Neudr. Liechtenstein 1967. – Diedrich Diederichsen: Carl B. In: NDB. – Jean-Paul Bier: James Joyce et K. B.

585 In: Revue de littérature comparée 2 (1970), S. 215–223. – Heinz Linduschka: Die Auffassung vom Dichterberuf im dt. Naturalismus. Diss. Würzb. 1978. – Charles V. Miller: Weltschmerz in the writings of Carl B. & Hermann Conradi. Diss. Indiana 1979. – Gilbert C. Carr: Karl Kraus u. K. B. In: Kraus-H.e 19 (1981), S. 3–9. – Barbara Voigt: Programmat. Positionen zum Roman im dt. Naturalismus. Diss. Bln. 1983. – Josef Polácek: Die soziale Prosa des dt. Naturalismus der 80er Jahre. In: Der dt. soziale Roman des 18. u. 19. Jh. Hg. Hans Adler. Darmst. 1990, S. 393–425. – Hartmut Baseler: Gerhart Hauptmanns soziales Drama ›Vor Sonnenaufgang‹ im Spiegel der zeitgenöss. Kritik. Kiel 1993. – Barbara Beßlich: Der dt. NapoleonMythos. Lit. u. Erinnerung 1800 bis 1945. Darmst. 2007, S. 299–309. Mary E. Stewart / Philip Ajouri

Bleisch, Ernst Günther, * 14.1.1914 Breslau, † 24.9.2003 München. – Lyriker. Nach der Schulzeit am »Elisabethan« in Breslau wurde B. Buchhändler. Während des Zweiten Weltkriegs war er Soldat. Seit 1945 in München, war er zunächst Journalist u. Rundfunkredakteur, später Publizist u. freier Schriftsteller. Wichtigste Themen seiner Arbeiten sind die Kultur Schlesiens u. die Natur. Bekannt wurde B. als Lyriker. Die Wahlverwandtschaft mit Georg Britting lässt der erste Gedichtband Traumjäger (Mchn. 1954) erkennen. Charakteristischer Grundzug seines lyr. Gesamtwerks ist die existentialist. Chiffrierung von Naturbildern. »Naturmagie« spannt den Bogen zwischen melanchol. Seinsdeutung u. heiteren Sprachspielen. Dabei verzichtete B. zunehmend auf traditionelle Techniken der Versdichtung. Im Gedichtband Zeit ohne Uhr (Mchn. 1983) versammelte B. 176 seiner Texte aus den Jahren 1952 bis 1982. Für sein literar. Werk erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, darunter den AndreasGryphius-Preis 1985 u. den Ernst-Hoferichter-Preis 1989. Weitere Werke: Frostfeuer. Mchn. 1960. – Spiegelschrift. Mchn. 1965. – Oboenghetto. Mchn. 1968. – Salzsuche. Dortm. 1975. – Anfällig für Romanzen. Freib. i. Br. 2002. Literatur: Klaus Hildebrandt: Der Lyriker E. G. B. In: Schlesien 29,2 (1984). Volker Busch / Red.

Blennerhassett

Blennerhassett, Charlotte Lady, geb. Gräfin C. Julie von Leyden, * 19.2.1843 München, † 11.2.1917 München. – Historikerin, Publizistin u. Essayistin. B.s schriftstellerische Arbeiten sind v. a. geprägt durch ihre Freundschaft mit Bischof Félix Dupanloup, mit Franz Xaver Kraus u. Ignaz von Döllinger. Wiewohl politisch konservativ, vertritt sie in ihrem theolog. Werk die Ideen des liberalen Katholizismus; in den kulturhistor. Monografien behandelt sie überwiegend politisch u. religiös epochale Abschnitte der frz. u. engl. Geschichte (etwa in: Die Jungfrau von Orléans. Bielef. 1906). Am bekanntesten wurden B.s dreibändige Biografie Frau von Staël (Bln. 1887–89) u. ihre Studien zu Chateaubriand u. seiner Stellung in der frz. Romantik (Mainz 1903). Ihrer »Zwitterstellung« zwischen Literatur u. Wissenschaft kam die Essayistik bes. entgegen; darin beschäftigte sie sich außerdem mit kirchen- u. kulturgeschichtl. Phänomenen Italiens u. Russlands. Bes. die Vermittlung zwischen Deutschland u. Frankreich war ihr ein Anliegen. B., seit 1870 mit dem irischen Parlamentarier Sir Rowland Blennerhassett verheiratet, publizierte u. a. in der »Deutschen Rundschau«, der »Allgemeinen Zeitung« u. seit 1903 im »Hochland«. Sie war die erste Frau, der die Universität München die Ehrendoktorwürde verlieh (1898). Ihr Œuvre umfasst 16 Buchveröffentlichungen, 110 Zeitschriftenaufsätze u. 417 Rezensionen. Weitere Werke: Streiflichter. Bln. 1911 (Ess.s). – Literarhistor. Aufsätze. Mchn. 1916. Ausgabe: Ignaz v. Döllinger – C. L. B. Briefw. 1865–86. Hg. Victor Conzemius. Mchn. 1981. Literatur: Edith Schuhmann: C. L. B. als Historikerin u. Essayistin. Diss. Mainz 1955. – Victor Conzemius: C. L. B. Bildungsjahre einer liberalen Katholikin. In: Ztschr. für bayer. Landesgesch. 44 (1981), S. 723–788. – Claus Arnold: Frauen u. ›Modernisten‹. In: Antimodernismus u. Modernismus in der kath. Kirche. Hg. Hubert Wolf. Paderb. u. a. 1998, S. 241–265. – Hadumod Bußmann u. Eva Neukum-Fichtner: Ich bleibe ein Wesen eigener Art (Prinzessin Therese v. Bayern). Mchn. 1997. – Eva Chrambach: B. In: Bautz. Reinhard Tenberg / Eva Chrambach

Bletz

Bletz, Zacharias, * 13.12.1511 Zug, † 28.8. 1570 Luzern. – Dramatiker. Der Sohn des Zuger Schulmeisters Johannes Bletz war in verschiedenen Funktionen als Schreiber tätig. Im Konfessionsstreit seiner Zeit engagierte er sich aktiv auf altgläubiger Seite. 1533 erwarb er das Bürgerrecht in Luzern, wo er nach zwischenzeitl. Feldschreibertätigkeit in Frankreich (bis 1536) zunächst als dt. Schulmeister amtierte. 1541 wurde B. Ratssubstitut, 1543 Gerichtsschreiber, 1551 Unterschreiber, 1566 Stadtschreiber u. »Notarius apostolicus« (päpstl. Notar). Ab 1550 war er Mitgl. im Großen Rat. Seit seiner Erhebung in den Adelsstand (1551) durch Karl V. nannte er sich Bletz zur Rosen. Literarischen Niederschlag fand sein Frankreichaufenthalt in der nach anonymer frz. Vorlage in Versen u. Prosa verfassten Pariser Stadtbeschreibung von 1536. Im Schreiberamt fungierte B. 1545 u. 1560 als Spielleiter u. Textbearbeiter der auf dem Weinmarkt veranstalteten Oster- u. Passionsspiele. Für Luzerns Marktplatz wurden auch die eigenen, autografisch überlieferten Dramen geschaffen, die auf originelle, dramaturgisch geschickte Weise traditionelle Strukturen zum Zwecke der Propagierung katholisch-restaurativer Glaubenslehre, verbunden mit antireformatorischer Polemik, adaptieren. Das 1549 zweitägig aufgeführte Spil deß jüngsten Gerichts behandelt in zwei Teilen die zentralen Themen der christl. Eschatologie: Das Antichristspiel (5290 Verse) zeigt Aufstieg, Machtfülle u. Sturz des mit teufl. Hilfe Scheinwunder vollbringenden u. die Völker der Erde unterwerfenden Pseudomessias, der bei B. auch als Anführer der Reformatoren auftritt. Unter Einbezug des Gleichnisses vom großen Gastmahl (Lc 14, 16–24) bietet B. mit dem Weltgerichtsspiel (etwa 8350 Verse) eine gegenreformatorisch geprägte Version des im Spätmittelalter verbreiteten Grundtypus der Weltgerichtsspiele. Die ausführlichen, handlungsextern von christl. Autoritäten wie Propheten, Aposteln u. Kirchenvätern vorgetragenen belehrendexeget. Reden auf biblischer Basis (Antichrist: bes. 2 Thess 2, 3–12; Apc 20, 1–6; Dan 7 f.; Ez

586

38 f.; Weltgericht: bes. Mt 25, 31–46) erfüllen zgl. formal-gliedernde Funktion. In seinen Fastnachtspielen vermittelt B. Normvorstellungen christlicher Morallehre, indem er mit derber Situationskomik u. gewollter Drastik in Sprache u. Gebärden menschlicher Sünden dekuvriert. Der 1546 aufgeführte, einen weltliterar. Stoff rezipierende Marcolfus (1805 Verse) entfaltet in episodischer Reihung die Wort- u. Tatkonfrontation zwischen der zuletzt siegreichen listigen Zweckrationalität des Bauern Marcolfus u. der wertorientierten Weisheit des Königs Salomo. Als Zwischenspiele sind die Moralsatire Die mißratenen Söhne (404 Verse) u. die Hanswurstszene Häntz und Cüni (64 Verse) eingefügt. Der wahrscheinlich von B. stammende, in der Tradition der fastnächtl. »Quacksalberspiele« stehende Wunderdoktor wurde 1565 oder 1567 aufgeführt. Undatiert ist das ebenfalls B. zugeschriebene, nach dem Muster des allegor. Prozessspiels gestaltete Stück vom Narrenfresser, in dem die Narren als personifizierte Todsünden (wie »Zwytracht«, »Nyd«, »Vnküscheit«) vor Gericht gestellt, verurteilt u. vom Narrenfresser, einer dem Höllenrachen des geistl. Dramas nachgebildeten Figur mit Riesenmaul, verschlungen werden. Ausgaben: Zwei Sprüche v. Paris. Hg. Wilhelm Crecelius. In: Alemannia 3 (1875), S. 47–53. – Das Antichristdrama des Z. B. In: Karl Reuschel: Die dt. Weltgerichtsspiele des MA u. der Reformationszeit. Lpz. 1906, S. 207–328. – Die dramat. Werke des Luzerners Z. B. Hg. Emil Steiner. Frauenfeld 1926 (›Marcolfus‹, ›Die mißratenen Söhne‹, ›Häntz u. Cüni‹). – Häntz u. Cüni. Hg. Peter Ott. In: Zuger Anthologie Bd. 1, Zug 1986, S. 14–19. – Die mißratenen Söhne (1546). In: Walter Haas u. Martin Stern (Hg.): Fünf Komödien des 16. Jh. Bern 1989, S. 183–209. – Der Narrenfresser. Hg. Linus Spuler. Meggen 1997. Literatur: Renward Brandstetter: Über Luzerner Fastnachtspiele. In: ZfdPh 17 (1885), S. 421–431. – Ders.: Die Technik der Luzerner Heiligenspiele. In: Archiv 75 (1886), S. 383–418. – Klaus Aichele: Das Antichristdrama des MA, der Reformation u. Gegenreformation. Den Haag 1974. – Hellmut Rosenfeld: Luzerner Antichrist- u. Weltgerichtsspiel. In: VL. – Veronika Duncker: Antijudaismus, antireformator. Polemik u. Zeitkritik im ›Luzerner Antichristspiel‹ des Z. B. Diss.

587 Ffm. 1994. – Heidy Greco-Kaufmann: Vor rechten lütten ist guot schimpfen. Der Luzerner ›Marcolfus‹ u. das Schweizer Fastnachtspiel des 16. Jh. Bern u. a. 1994. – Winfried Frey: Z. B. u. die neue Zeit. Zum Luzerner Antichristspiel. In: ZRGG 47 (1995), S. 126–144. – Dieter Trauden: Gnade vor Recht? Untersuchungen zu den deutschsprachigen Weltgerichtsspielen des MA. Amsterd./Atlanta 2000. Elke Ukena-Best

Bligger von Steinach, urkundlich bezeugt zwischen 1152 u. 1209. – Verfasser von Minneliedern u. (nicht erhaltener) Epik. Man hält B. gemeinhin für einen Angehörigen des Ministerialengeschlechts von Neckarsteinach bei Heidelberg, in dem der seltene Name B. für etwa 22 Träger in rd. 500 Jahren bezeugt ist. Von den beiden im 12. Jh. urkundenden Namensträgern vermutet man aufgrund der stilgeschichtl. Einordnung der Lieder u. der zeitgeschichtl. Anspielung in Lied II auf Saladin u. Damaskus im jüngeren den Dichter. Demnach wäre er zunächst mit seinem Vater 1152 in einer Urkunde des Klosters Schönau bei Heidelberg bezeugt. Weitere Urkundungen zeigen ihn u. a. im Umkreis Kaiser Friedrichs I. (1178) u. Heinrichs VI. (1193/94). Beim 1209 in Reichsurkunden Ottos IV. bezeugten B. könnte es sich bereits um einen der Söhne des Dichters handeln. Die Harfe, die der Dichter in der Miniatur der Großen Heidelberger Liederhandschrift im Wappen trägt, findet sich auch auf Grabsteinen derer von Steinach u. passt zum Namen einer bei Neckarsteinach gelegenen Burg des Geschlechts, der Harfenburg. B. genoss bei Gottfried von Straßburg u. Rudolf von Ems hohes Ansehen als Epiker. Sie preisen ihn als Verfasser des Umbehanc, einer Dichtung, die außer in Gottfrieds Tristan (um 1210) u. Rudolfs Alexander (nach 1230) nirgendwo erwähnt wird u. nicht erhalten ist. Im Tristan wird B. als noch Lebender genannt. Wie das Wort »umbehanc« – Bezeichnung für einen über mehrere Wände laufenden (Bild-)Teppich – im Hinblick auf B.s dichterische Produktion zu verstehen ist, ist bisher nicht eindeutig geklärt: Es könnte Charakterisierung des Inhalts, Titelangabe einer er-

Bligger von Steinach

zählenden Dichtung oder aber Metapher für kunstvolle dichterische Gestaltung sein. Identifikationsversuche mit anonym überlieferten Erzählungen der Zeit (etwa dem Nibelungenepos) haben bisher nicht überzeugt. Grundlage für eine Würdigung B.s können deshalb allein die wenigen überlieferten Gedichte sein: zwei Minnelieder u. eine Sangspruchstrophe. Die formale u. themat. Gestaltung der beiden Minnelieder, die der unter roman. Einfluss stehenden hochhöf. Minnedichtung angehören, erlaubt zus. mit B.s Lebensdaten eine Zuordnung des Dichters zur sog. rhein. »Hausenschule«, der neben Friedrich von Hausen noch Bernger von Horheim, Ulrich von Gutenburg u. Otto von Botenlauben zuzurechnen sind. In Lied I, einer Minneklage mit zwei daktyl. Periodenstrophen, bewegt sich B. ganz im konventionellen Formel- u. Motivbereich des hohen Minnesangs. Der wie neu empfundene alte Kummer ist Anlass zur Klage, in deren Verlauf die Treuebindung an die Minnepartnerin u. die anhaltende Hoffnung auf Erhörung beteuert werden. Überschattet ist die Minnebeziehung vom Verhalten der Gesellschaft, deren Missgunst das Werben des Sängers um die Dame erschwert. Auch Lied II mit drei durchgereimten Stollenstrophen ist eine Minneklage. Während sich der gleiche Strophenbau auch bei anderen Sängern der Zeit findet, ist die Gestaltung der Klage- u. Treuethematik durchaus eigenständig. Die in vergebl. Minnedienst verbrachten Jahre werden als vorteilhafter Handel für einen, der ohne Freuden alt zu werden beabsichtigt, angepriesen (Str. 1); da der Sänger jedoch gegen sein Minneleid kein anderes Mittel als treuen Dienst weiß, hofft er doch noch auf Belohnung seiner absoluten Treuebindung (Str. 2), die ihm wertvoller ist als Damaskus für Saladin (Str. 3). Diese zeitgeschichtl. Anspielung auf die Stadt Damaskus, die der 1193 verstorbene Saladin 1174 eingenommen hatte, erlaubt eine annähernde Bestimmung des Entstehungszeitraums für das Lied u. damit für B.s dichterisches Schaffen. Während B.s Verfasserschaft für die beiden Minnelieder als sicher gilt, bestehen Zweifel an der Zuordnung der Sangspruchstrophe III,

Bloch

588

die dem Dichter nur in einer Handschrift zugeschrieben wird. Die Strophe, die mit ihrem eingangs thematisierten Gegensatz zwischen der Härte des Glases u. seiner unzureichenden Dauerhaftigkeit an eine Spruchstrophe Gottfrieds von Straßburg anklingt, behandelt ein traditionelles Motiv mittelalterl. Spruchdichtung in origineller Weise: die Verpflichtung des Besitzenden zur Freigebigkeit (»milte«). Wer, so der Sänger in Anlehnung an das Bild vom unbeständigen Glas, seinen Besitz ohne Freigebigkeit verwaltet, dessen öffentliches Ansehen wird wegen dieser Härte keinen Bestand haben. Man kann nicht ausschließen, dass die dichter. Produktion B.s breiter war, als die Überlieferung dokumentiert. Für die Wertschätzung seiner Dichtung im MA spricht neben dem Lob seiner Dichterkollegen auch die Aufnahme seiner Lyrik in die Anfang des 14. Jh. entstandenen großen Liederhandschriften. Ausgaben: Minnesangs Frühling. Bd. 1, S. 233–235 (zitiert). – Günther Schweikle: Die mhd. Minnelyrik I. Darmst, 1977, S. 266–271, 511–515 (mit nhd. Übertragung u. Komm.). Literatur: Auswahlbibliografie: Tervooren, Nr. 573 f. – Weitere Titel: Herbert Kolb: Über den Epiker B. v. S. In: DVjs 36 (1962), S. 507–520. – Ders.: B. v. S. In: VL. – Olive Sayce: The Medieval German Lyric 1150–1300. Oxford 1982, S. 127 f. – Maria Augusta Coppola: Una documentazione: B. v. S. In: Studi Medievali 16,2 (1975), S. 907–942. – Werner Hoffmann: B. v. S. als Dichter des Nibelungenliedes? Zu Peter Honeggers neuer These. In: ZfdPh 112 (1993), S. 434–441. – Uwe Meves: Urkundl. Bezeugungen der Minnesänger im 12. Jh. am Beispiel B.s v. S. In: Literar. Interessenbildung im MA. Hg. Joachim Heinzle. Stgt./Weimar 1993, S. 75–105. Claudia Händl / Red.

Bloch, Ernst, * 8.7.1885 Ludwigshafen am Rhein, † 4.8.1977 Tübingen. – Philosoph, Essayist, Verfasser literarischer Schriften. B. ist in einer assimilierten jüd. Beamtenfamilie geboren. Nach dem Studium von Philosophie, Germanistik, Physik u. Musik in München u. Würzburg promovierte er 1908 mit einer Abeit über Heinrich Rickert, in der er den gegenwärtigen philosoph. Tendenzen das Grundstück seiner künftigen Philoso-

phie, die Lehre vom Dunkel des gelebten Augenblicks als einer Spannung zwischen dem ungefassten zerstreuten u. zeitl. Kern der Wirklichkeit u. ihrem geahnten Wesen, entgegenstellte. 1910 wurde B. Hörer bei Georg Simmel in Berlin, wo er Freundschaften mit Margarete Susman u. György Lukács schloss. Nach einigen bewegten Jahren zwischen Ludwigshafen, Garmisch, Bonn, Heidelberg u. Budapest setzte sich B., seit 1913 mit Else von Stritzky, einer wohlhabenden balt. Bildhauerin, verheiratet, in Grünwald nieder. Dort entstand sein erstes Werk, Geist der Utopie (Mchn. 1918), in dem in Auseinandersetzung mit den geistigen u. polit. Bewegungen des Jahrhundertanfangs u. unter Vergegenwärtigung idealistischer, myst. wie auch chiliast. Traditionen die Umrisse des »theoretischen Messianismus« dargeboten wurden. Im Werk, das eine philosoph. Vertiefung der intensiven künstlerischen (Expressionismus) u. kunsttheoret. Produktion seiner Zeit unternahm, stellte B. die ästhet. Erfahrung ins Zentrum des philosoph. Vorgehens u. erklärte die Kunst, v. a. die Musik, zum genuinen Medium der Identitätssuche: »Was gedichtet ist, ist wirklich, die poetischen Menschen sind wir, im Abstand des Gestaltetseins, Herausgeführtseins zu sehen«. B. schloss sich somit der These an, derzufolge im nihilist. Zeitalter die metaphys. Wesenssuche aufs Gebiet des Poetischen verschoben sei. Gleichzeitig legte er dem poetisch-ästhetisch erneuerten metaphys. Anliegen die Suche nach einer »zweiten« Logik bei, der Logik nicht mehr der Tatsachen, sondern des subjektiv-transzendierenden, das Jetzt einlösenden Begriffs. Der Problematik der Wahrheitssuche, d.h. der Suche nach der vornehmlich im ästhet. Medium vorscheinenden Adäquatheit zum gelebten Augenblick, widmete sich B. in seiner literar. Produktion, deren eminentestes Resultat die Erzählsammlung Spuren (Bln. 1930) darbietet. Dort setzte B. eine spezifische, auf dem Hintergrund der gleichzeitigen Versuche von James Joyce, Julien Green oder Thomas Mann zu sehende Poetik des Augenblicks ins Werk, die eine literar. Entsprechung der in Geist der Utopie vorgetragenen Musiktheorie darstellen sollte u. die im Er-

Bloch

589

eignis des Zustandekommens eines Augenblicksbildes als der einzig möglichen Erfassung des »Sinns« von Leben u. Handeln kulminierte. Verschiedenen Aspekten der poetisch-ästhetischen, in verschiedenen Kontexten sich zu vollziehenden Sinnerfassung widmete B. seine zahlreichen Aufsätze, die er in den 1920er u. 1930er Jahren im bewegten persönl. Leben zwischen Süddeutschland u. Berlin in Zeitungen u. Zeitschriften (»Frankfurter Zeitung«, »Weltbühne« u. a.) veröffentlichte u. später im Band Literarische Aufsätze (Ffm. 1965) sammelte. Gleichzeitig führte B. in einer Auseinandersetzung sowohl mit der marxist. Literaturtheorie als auch den konservativen Konzeptionen (C. G. Jung, Oswald Spengler) einen harten Kampf um die »Kulturgüter«, die er vor der Aushöhlung u. Vereinnahmung retten u. menschlicher affektiv-rationaler Produktivität zugeordnet als lebendige Sinnbilder erben wollte: Der Aufgabe der »Rationalisierung des Irrationalen« war das Buch Erbschaft dieser Zeit (Zürich 1935) gewidmet. 1933 begab sich B. über Zürich, Wien, Paris u. Prag in die Emigration, die ihn schließlich in die USA führte. Seit 1934 war er mit der aus dem poln. Lódz´ stammenden Architektin Karola Piotrkowska verheiratet, die für seine u. des 1937 geborenen Sohnes Unterkunft sorgte. In der Emigration widmete sich B. dem immer präsenten Anliegen der Ausführung seines mehrmals entworfenen Systems der utop. Philosophie: Es entstanden die Manuskripte der späteren Werke Das Materialismusproblem (Ffm. 1972), Das Prinzip Hoffnung (s. u.), Naturrecht und menschliche Würde (Ffm. 1961), Atheismus im Christentum (Ffm. 1968). B.s Hauptwerk, Das Prinzip Hoffnung (als ganzes 1959 gleichzeitig im Aufbau u. im Suhrkamp Verlag erschienen), ist ein Versuch, das poetisch-ästhetisch vorgezeichnete metaphys. Anliegen der Identitätssuche mit Denken u. Handeln zu verschränken. Über dem Kern des Grundlegungsteils (das Kapitel Antizipatorische Beschaffenheit und ihre Pole: Dunkler Augenblick – Offene Adäquatheit) spannen sich Analysen auf verschiedenen Stufen des Menschseins in der Welt aus, in denen dieses – jeweils in Auseinandersetzung mit gegen/

wärtigen philosoph. u. wiss. Haltungen (v. a. Marxismus, Psychoanalyse, Existenzphilosophie) – in seinen Hauptbestimmungen erfasst wird: auf der biolog. Stufe als Hunger, auf der Stufe der Affekte als Hoffnung (mit dem sie aufrechterhaltenden Wunschbild), auf der Bewusstseinsebene als das Noch-Nicht-Bewusste, auf der onto-logischen als Möglichkeit, auf der praktischen als Imperativ der Verwirklichung des Novum, d.h. der möglichen u. erhofften Zukunft. Der Grundlegungsteil schließt bezeichnenderweise mit zwei Kapiteln, die Bildern gewidmet sind: den Bildern der Ehe als solchen, d.h. der einzugehenden Verbindung des Traumbildes mit dem jeweils zu Lebenden, u. den sich im Eingedenken einstellenden Augenblicksbildern, welche die einzige Bürgschaft der sich einmal zu erfüllenden Hoffnung aufs Totum (Summum Bonum) sind. Das Prinzip Hoffnung, von B. als »Enzyklopädie der Hoffnungen« bezeichnet, kann als ein kulturphilosophisches Werk aufgefasst werden, in dem verschiedene, kulturell differenzierte Formen der Identitätssuche (Kunst, Religionen) gedeutet werden in einem »gesprächshaften« u. »brückenbauenden« Verfahren, in dem »das Selbe im Anderen« notwendigerweise gesucht u. versucht wird. Es ist das Verfahren einer utopisch-krit. Hermeneutik (das mit demjenigen von Gadamer konfrontiert werden sollte), in dem verschiedene (goethisch »lebendige«) Formen des Wahrseins untereinander in ihrer Intensität abgewogen u. in Bezug auf das zu bewältigende Jetzt – um es zu erleuchten – »kombiniert« werden. B.s Kulturphilosophie ist eine des gemeinsamen Erbes der ganzen Humanität im Sinne von Vico, Herder u. Lessing, die »eines zusammenhängenden, Länder, Völker und Zeiten verbindenden Geschichtsablaufs«, deren Fortschrittsmaßstab die Realisierung des Humanum als poetisch gefassten Guten ist u. die Aufbewahrung der menschl. Würde als des Gefühls der Freiheit (Differenzierungen im Begriff Fortschritt. Bln. 1955). Die Kulturphilosophie B.s wird durch eine Metareligion u. eine Naturphilosophie gekrönt. Die Tiefe seines philosoph. Gedankens hütete B. nicht vor eklatanten konkreten Fehlurteilen wie der Verteidigung der Sta-

Blomberg

590

linprozesse, welche nicht einmal die kom- G. Cunico (Hg.): Attualità e prospettive del ›prinmunistisch engagierte Ehefrau Karola teilte. cipio speranza‹. Neapel 1998. – Patrizia Cipoletta: 1949 nahm er den Ruf an die Universität La tecnica e le cose. Mailand 2001. – Sandro ManLeipzig in der DDR an, der Zwiespältigkeit cini: L’orizzonte del senso. Mailand 2005. – Anna Czajka: Poetik u. Ästhetik des Augenblicks. Bln. der ihn erwartenden Lage bewusst. Er spielte 2006. Anna Czajka die Rolle des Staatsphilosophen bis zur Verurteilung seiner Philosophie u. Zwangsemeritierung 1957. Entscheidend schien dabei Blomberg, (Karl) Alexander (Johann Luddie Aussicht auf die Veröffentlichung seines wig) Frhr. von, * 31.1.1788 Iggenhausen/ Werkes zu sein. Als sich diese als nichtig er- Lippe, † 20.2.1813 Berlin (gefallen); wies, ergriff B. die Gelegenheit, die sich mit Grabstätte: ebd., St.-Georgen-Friedhof. – dem Angebot des Suhrkamp Verlags ergeben Lyriker u. Dramatiker. hatte, sein Gesamtwerk herauszugeben. 1961 Nach dem Besuch des Gymnasiums in Lemgo kehrten die Blochs von einer Reise in die trat B., Bruder Wilhelm von Blombergs, 1800 Bundesrepublik nicht in die DDR zurück. B. in das preuß. Heer ein. 1806 nahm er an der wurde Gastprofessor an der Universität Tü- Schlacht bei Jena u. 1809 am Schill’schen Zug bingen. Es fing die Phase seines Ruhms an. teil. B., zu dieser Zeit Mitgl. im Deutschen Die Gesamtausgabe des Werkes erschien re- Bund, war befreundet mit Fouqué, Friedrich gelmäßig u. zum 80. Geburtstag eine Fest- Wilhelm Jahn, Karl Frhr. von Stein zum Alschrift Ernst Bloch zu ehren (Ffm. 1965). tenstein u. Adam Müller. Von 1812 bis zu B. wurde v. a. als ein marxistischer Philo- seinem Tod diente er als Hauptmann u. Adsoph gesehen, was sich im Nachhinein als jutant des Generals von Tettenborn im russ. verhängnisvoll für seine Wirkung erwies. Heer. Eine andere starke Rezeptionswelle erfolgte Seine literar. u. polit. Tätigkeiten stehen im über die Konzeption der Hoffnung unter den Zeichen der nat. Befreiungsbewegungen. Theologen. Eine breite Aufnahme fand B. in 1808 u. 1812 veröffentlichte B. einige GeItalien. Die tiefe Krise der gegenwärtigen B.- dichte in der Zeitschrift »Der Freimüthige«. Wirkung ist einerseits auf das Ausbleiben ei- Sein Schwertfegerlied, das 1817 im »Morgenner historisch-kommentierten Ausgabe sei- blatt für die gebildeten Stände« erschien, ner Texte, andererseits auf die mangelnde zirkulierte bereits 1813 im Lützow’schen Koordinierung der Forschung zurückzufüh- Korps u. inspirierte Theodor Körner zu seiren. nem Schwertlied. B.s Dramen behandeln TheWeitere Werke: In der Gesamtausgabe in 17 Bdn., men aus der nat. Geschichte Deutschlands. Ffm. 1959–78: Thomas Münzer als Theologe der Revolution (1921), Bd. 2 (1969). – Subjekt-Objekt. Erläuterungen zu Hegel (1951), Bd. 5 (1962). – Philosoph. Aufsätze zur objektiven Phantasie, Bd. 10 (1969). – Experimentum mundi, Bd. 15 (1975). – Tendenz-Latenz-Utopie, Ergänzungsbd. (1978). – Außerhalb der Gesamtausg.: Logos der Materie. Hg. Gerardo Cunico. Ffm. 2000. – Das Abenteuer der Treue. Hg. Anna Czajka. Ffm. 2005. Literatur: Michael Eckert: Transzendieren u. immanente Tranzendenz. Wien 1981. – Hans-Ernst Schiller: Metaphysik u. Gesellschaftskritik. Königst./Ts. 1982. – Burghart Schmidt: Kritik der reinen Utopie. Stgt. 1988. – Gerardo Cunico: Critica e ragione utopica. Genua 1988. – Thomas H. West: Ultimate Hope without God. New York 1991. – Manfred Riedel: Tradition u. Utopie. Ffm. 1994. – Horst Hansen: Die kopernikan. Wende in der Ästhetik: E. B. u. der Geist der Zeit. Würzb. 1998. –

Weitere Werke: Hinterlassene poet. Schr.en mit der Lebensbeschreibung auch einem Vorspiele v. Frhr. de la Motte Fouqué. Bln. 1820 (Inhalt: Kleine Gedichte. Die Dramen: Konrad in Welschland. Waldemar v. Dänemark). Literatur: Gustav Thoma: Westfalens Anteil an der Dichtung der Befreiungskriege. Münster 1909, S. 52–79. – Bernhard Heinemann; Wilhelm u. A. v. B. Zwei westfäl. Dichter. Diss. Münster 1926. – Heinrich Detering: Der Dichter A. v. B. – ein lippischer Schüler Fouqués. In: Lemgoer Hefte 9 (1986/87), S. 4–6. – Westf. Autorenlex. Matthias Klagges / Red.

Blos

591

Blomberg, Wilhelm (Karl Georg) Frhr. von, * 6.5.1786 Iggenhausen/Lippe, † 17.4.1846 Herford. – Satiriker u. Dramatiker. B. studierte 1805–1809 in Halle u. Heidelberg Jura u. war während dieser Zeit mit August Lafontaine, Karl Ludwig von Knebel, Wieland, Voß u. Alois Schreiber befreundet. Nach Abschluss seines Studiums arbeitete er zeitweilig auf der Präfektur in Warburg. Der Kriegstod seines Bruders Alexander war ihm Anlass für den Eintritt in das preuß. Heer; er wurde 1819 Offizier u. nahm 1837 als Major seinen Abschied. Seit 1809 veröffentlichte B. historische, zeitkrit. u. satir. Beiträge im von Alois Schreiber herausgegebenen »Heidelberger Taschenbuch« (etwa den 1810 erschienenen allegorisch-satirischen, gegen die Romantik gezielten Sonettenzyklus Phosphorus Carfunculus Solaris), im »Rheinischen Merkur« u. im »Rheinisch-Westfälischen Anzeiger«. Damit u. mit seinen dramat. Bearbeitungen des Masaniello- u. Arminiusstoffs (Thomas Aniello. Hamm 1819. Hermanns Tod. Hamm 1824) verlieh B. dem neu erwachten dt. Nationalgefühl Ausdruck. Weitere Werke: Satiren über das Göttl. Volk, Nebst den gewaltsamen Anmerkungen des Collaborator u. Hofcritikus Dr. Peter Rüppel zu O.***. 2 Abtheilungen. Lemgo 1811 u. 1817. MikroficheEd. Mchn. 1994. – Gedichte. Stgt. 1826. Literatur: Bernhard Heinemann: W. u. Alexander v. B. Zwei westfäl. Dichter. Diss. Münster 1926. – Volker Wehrmann: Die Aufklärung in Lippe. Ihre Bedeutung für Politik, Schule u. Geistesleben. Detmold 1972. – Westf. Autorenlex. Matthias Klagges / Red.

Blos, Wilhelm Joseph, auch: A. Titus, Hans Flux, * 5.10.1849 Wertheim/Main, † 6.7. 1927 Stuttgart; Grabstätte: ebd., Pragfriedhof (Denkmal von Alfred Lörcher). – Politiker, Publizist, Dramatiker u. Romanautor. Aus finanziellen Gründen musste der Arztsohn B. das Studium der Philologie in Freiburg aufgeben. Er arbeitete bei mehreren Publikationsorganen als Redakteur (u. a. beim »Konstanzer Volksfreund« u. dem

»Würzburger Journal«). 1875 gab B. das satir. Magazin »Mainzer Eulenspiegel« auf eigene Rechnung heraus; die Redaktion der satirisch-humorist. Hamburger Zeitschrift »Der wahre Jakob« lag zeitweilig ausschließlich in seinen Händen. Wegen »Amtsehrenbeleidigung« u. anderer polit. Delikte verbüßte B., seit 1872 Mitglied der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, mehrere Haftstrafen. Von 1877 bis 1918 ununterbrochen Mitgl. des Reichstags, wurde er am 29.1.1919 als Ministerpräsident von Württemberg mit der Weiterführung der Regierungsgeschäfte beauftragt u. fünf Wochen später zum Staatspräsidenten gewählt. Nach seinem Rücktritt (Juni 1920) veröffentlichte B. mehrere histor. Beiträge u. Monografien. Mit Romanen, Komödien u. Gedichten ist B. bereits früh literarisch in Erscheinung getreten. Im Roman Der Prinzipienreiter (Lpz. 1897) entwickelte B. die Affäre des Fürsten von Reuß-Lobenstein-Eberndorf, Heinrich LXXII., mit der Tänzerin Lola Montez; in Stuttgart wurde 1911 König Lustik, eine Komödie über den vergnügungsfreudigen König Jérôme Bonaparte von Westfalen, aufgeführt. In der zweibändigen Autobiografie Denkwürdigkeiten eines Sozialdemokraten (Mchn. 1914–19) umreißt B. die Stationen seiner polit. Entwicklung. Im Mittelpunkt seiner historisch orientierten Veröffentlichungen stehen vorwiegend Untersuchungen zu revolutionären Bewegungen in der dt. Geschichte (Bauernkrieg, Revolution von 1848/ 49). Weitere Werke: Zur Gesch. der Kommune v. Paris. Nürnb. 1874. – Die Dt. Revolution. Gesch. der Dt. Bewegung v. 1848 u. 1849. Stgt. 1893. Nachdr. Bln. 1978. – Die Geächteten. Ffm. 1908. Nachdr. Ffm. 1989 (R.). – Die Frz. Revolution. Volksthüml. Darstellung der Ereignisse u. Zustände in Frankreich v. 1789–1804. Stgt. 1920. Nachdr. Bln. u. Bonn 1988. Literatur: Alfred Milatz: W. B. In: NDB. – Horst Krause: W. B. Zwischen Marxismus u. demokrat. Sozialismus in Geschichtsschreibung u. Politik. Husum 1980. – Paul Sauer: W. B. In: Bad. Biogr.n. Hg. Bernd Ottnand. N. F. Bd. 1, Stgt. 1982, S. 62–68. – Konrad Ege: Karikatur u. Bildsatire im Dt. Reich: der ›Wahre Jacob‹. Münster/Hbg. 1992. Reinhard Tenberg / Red.

Blüher

Blüher, Hans, auch: Arthur Zelvenkamp, * 17.2.1888 Freiburg/Schlesien, † 4.2. 1955 Berlin. – Verfasser kulturgeschichtlicher Schriften.

592 Tage. Gesch. eines Denkers. Mchn. 1920 (Autobiogr.). – Frauenbewegung u. Antifeminismus. Lauenburg 1921. – Secessio judaica. Bln. 1922. – Traktat über die Heilkunde, insbes. die Neurosenlehre. Stgt. 1926. Velbert-Neviges 1995. – Die Achse der Natur. Stgt. 1949. Nachdr. der Ausg. Stgt. 1952: Bln. 2001.

B. studierte Philosophie, klass. Philologie u. Naturwissenschaften u. lebte danach als PriLiteratur: Johann Plenge: Antiblüher. Affenvatgelehrter in Berlin-Hermsdorf. Er schloss sich 1912 dem Reformpädagogen Gustav bund oder Männerbund? Hartenstein 1920. – Wyneken an u. verstand sich als Mitbegrün- Heinz Thies: H. B.s Hauptwerk: Die Rolle der Erotik in der männl. Gesellsch. Pfullingen 1930. – der u. Mentor des »Wandervogels«, dessen Hans J. Schoeps: H. B. In: Die letzten dreißig Jahre. erot. Komponente er in Wandervogel. Geschichte Stgt. 1956. – Ulrike Brunotte: Zwischen Eros u. einer Jugendbewegung u. Die deutsche Wandervo- Krieg: Männerbund u. Ritual in der Moderne. Bln. gelbewegung als erotisches Phänomen (beide Bln. 2004. – H. B. (1888–1955). Annotierte u. komm. 1912) zum ersten Mal hervorhob. Die an Biobibliogr. (1905–2004). Bearb. u. eingel. v. Sigmund Freud (mit dem B. in ausgiebigem Bernd-Ulrich Hergemöller. Nebst ErstveröffentliBriefkontakt zum Problem der Homoerotik chung der Jugendgedichte ›Böse Lieder‹. Hbg. stand) u. Otto Weininger orientierten Schrif- 2004. Frank Raepke / Red. ten brachten ihm die Ablehnung sowohl der Jugendbewegung als auch ihrer liberalen u. Blümner, Rudolf, * 19.8.1873 Breslau, antivölkischen Kritiker ein. In seinem 1917 erschienenen Hauptwerk † 3.9.1945 Berlin. – Lyriker, Essayist, ReDie Rolle der Erotik in der männlichen Gesellschaft zitator. (2 Bde., Jena 1917) versuchte B. eine Verbin- Seine Schulzeit verbrachte B. in Zürich, wo dung zwischen den zeitgenöss. Sexualitäts- der Vater Professor für klass. Philologie war. theorien u. dem platonischen Erosbegriff In Zürich, Genf, Leipzig, Straßburg u. Berlin herzustellen. Kerngedanke der Abhandlung studierte er 1892–1896 Jura u. war bis 1899 ist die Rückführung staatlicher Gesell- an verschiedenen Amtsgerichten angestellt. schaftsbildung auf den homoerot. Männer- Promotion u. die von ihm gewünschte Entbund. Freimaurerverbände, Burschenschaf- lassung aus dem Staatsdienst erfolgten im ten, Jugendbewegung u. v. a. Formen militä- selben Jahr. Danach war B. als Schauspieler, rischer Kameraderie sollten Vorbild einer zunächst unter Max Reinhardt, tätig u. un»zweckfreien« u. »heroischen« Gesell- terrichtete gleichzeitig als Sprachlehrer an schaftsform sein. B.s viel gelesene Veröffent- der Schauspielschule des Deutschen Theaters lichungen zeichnen sich durch ihre eklekti- in Berlin, dessen Mitgl. er 1906–1912 war. sche u. oft aphorist. Argumentationsform wie Seit 1903 mit Herwarth Walden befreunauch zunehmend durch nationalistisch-völ- det, engagierte sich B. zunehmend für den kische u. antisemit. Rhetorik aus (Die Erhe- Sturmkreis und v. a. für dessen Zeitschrift bung Israels gegen die christlichen Güter. Hbg. »Der Sturm«. 1920–1932 verfasste er über 60 1931). Damit unterstützte B. die theoret. Glossen, Rezensionen, theoret. u. literar. Vorbereitung des Faschismus, während er Beiträge u. prägte so entscheidend das Ergleichzeitig den faschist. »Pöbel« ablehnte. scheinungsbild des »Sturm«, dessen verlegeIn den Jahren von 1933 bis 1945 publizierte rische Leitung er auch innehatte. In polem. er nicht. Essays setzte B. sich als entschiedener VerNach 1945 beschäftigte B. sich mit dem fechter des Expressionismus mit gegneriEntwurf einer an Kant, Nietzsche u. Scho- schen Positionen auseinander (insbes. in der penhauer orientierten Metaphysik der Natur, Aufsatzreihe Zur Geschichte des Sturm und des der aber kaum noch zur Kenntnis genommen deutschen Journalismus. Briefe gegen Paul Westwurde. heim. In: »Sturm« 1920–22). Als absolute Weitere Werke: In medias res. Grundbemer- Dichtung verteidigte er sein Konzept einer Bedeutungsgehalten unabhängigen kungen zum Menschen. Jena 1919. – Werke u. von

Blüthgen

593

Sprach- u. Vortragskunst. Nach seiner Vorstellung sollten Sprachmelodie u. -rhythmus des lyr. Werks den Inhalt dominieren. In Analogie zur abstrakten Malerei sei absolute Dichtung in ihrer kompositor. Fügung u. motivischen Verkettung streng geschlossen. B.s Lautgedichte unterscheiden sich daher mit ihrer Absage an die Momente des Ungeordneten u. Zufälligen, der Provokation u. des aggressiv iron. Gestus von denen der Dadaisten. B. legte seinen Ansatz theoretisch dar u. verwirklichte ihn auf 300 sog. »Sturm«Abenden in Rezitation u. Vortrag. Der erste dieser Abende im Sept. 1916, der dem Gedenken August Stramms gewidmet war, geriet zum Skandal, da das Publikum expressionist. Lyrik als Zumutung empfand. Unter der nationalsozialist. Diktatur konnte sich der mit einer Jüdin verheiratete B. nur noch mühsam als Schauspieler u. Autor am Leben erhalten. Aus dieser Zeit sind seine Übersetzungen u. Bühnenarbeiten zu erwähnen, die jedoch meist nur als Bühnenmanuskripte vorliegen. Er erblindete 1944 u. starb ein Jahr später an Nahrungsmangel u. Entkräftung. Weitere Werke: Homunculus. Bln. 1911 (D). – Ango laïna. Eine absolute Dichtung. Bln. 1921 (L.). – Der Geist des Kubismus u. die Künste. Bln. 1921 (Ess.). – Die Quirlsanze. Bln. 1921 (L.). – Der Gerichtsteufel. Bln. 1934 (D.). Literatur: Herwarth Walden: R. B. In: Der Sturm, Sonderbl. 19.8.1923. – Lothar Schreyer: R. B. In: Ders.: Erinnerungen an Sturm u. Bauhaus. Mchn. 1956. – Hans-Georg Kemper: Vom Expressionismus zum Dadaismus. Kronberg/Ts. 1974. – Paul Raabe (Hg.): R. B. In: Die Autoren u. Bücher des literar. Expressionismus. Hg. ders. Stgt. 1985. Frank Raepke / Red.

Blüthgen, Clara, geb. Kilburger, gesch. Eysell, * 25.5.1856 Halberstadt, † 24.1. 1934 Berlin. – Unterhaltungsschriftstellerin. Die Tochter eines Fabrikbesitzers erhielt eine sorgfältige Erziehung. Von 1879 an ließ sie sich in Berlin u. Düsseldorf zur Bildhauerin u. Porträtmalerin ausbilden. Ihren journalist. u. literar. Neigungen folgend, wurde sie danach Mitarbeiterin bei verschiedenen Zeitungen. Fast drei Jahre gehörte sie der Re-

daktion der »Illustrierten Frauenzeitung« u. der »Modenwelt« in Berlin an. 1889 heiratete sie den Schriftsteller Viktor Blüthgen u. lebte seither in Freienwalde/Oder. B. gehörte zu den viel gelesenen Autorinnen ihrer Zeit. Neben einer großen Zahl von meist heiteren u. unterhaltsamen Novellen u. Romanen, veröffentlicht unter den Namen B. u. Eysell-Kilburger, schrieb sie Gedichte u. Dramen. Aufsehen erregte sie mit dem Gedichtband Klänge aus einem Jenseits (Lpz. 1902), dessen Entstehung sie laut Vorrede einer »schreibmedialen Veranlagung« verdankte. Die einem »Mann-Geist« zugeschriebenen Gedichte sind, für die Zeit ungewöhnlich, Prosagedichte mit freiem Rhythmus. Sie stießen bei der zeitgenöss. Kritik auf einhellige Ablehnung. Weitere Werke: In Seeleneinsamkeit. Erfurt 1898 (L.). – Neue Gedichte. Bln. 1907. – Die große Neugier. Bln. 1912 (D.). – Aus der Jugendzeit. Erinnerungen. Bln. 1919. – Menschenschicksal. Reutl. 1924 (R.). – Morphium. Pieskow 1929 (R.). Literatur: Edward Stilgebauer: In Seelen-Einsamkeit. In: Das litterar. Echo 1 (1898/99), S. 191 f. – Viktor Blüthgen: Inspirationen. In: Monatsbl. für dt. Litt. 7 (1903). – Rudolf Krauß: Frauen-Novellen. In: Das litterar. Echo 10 (1907/08), S. 397–400. – C. B.: Selbstanzeige: Neue Gedichte. In: Die Zukunft 16 (1908), S. 275 f. Peter König / Red.

Blüthgen, Viktor (August Eberhard), auch: A. E. Viktor, * 4.1.1844 Zörbig bei Halle, † 2.4.1920 Berlin. – Jugendschriftsteller. Der Sohn eines Postvorstehers begann nach einem Theologiestudium in Halle u. dem Besuch des Predigerseminars in Wittenberg seine berufl. Laufbahn als Redakteur. 1876 arbeitete er in der Redaktion der »Krefelder Zeitung«, 1878–1880 bei der »Gartenlaube«, danach bei der von Julius Lohmeyer herausgegebenen »Deutschen Monatsschrift«. Als Schriftsteller machte B. sich v. a. durch seine Kinderlyrik einen Namen. Viele seiner Gedichte u. Erzählungen erschienen in der 1873 von Lohmeyer gegründeten Jugendzeitschrift »Die deutsche Jugend«, so auch die Nachdichtung des griech. Kleinepos Der Froschmäusekrieg. Ein Helden-Gedicht zu Bildern

Blum

von Fedor Flinzer (Ffm. 1878). Bekannt wurde B. auch durch seine Verse zu Bilderbüchern von Oskar Pletsch: Unser Hausgärtchen (Lpz. 1876), Stillvergnügt (Lpz. 1877) u. Guckaus (Lpz. 1878). 1880 erschien ein Band Gedichte (Gotha), der auch Kindergedichte enthielt. Stärker noch als die Kinderlyrik B.s spiegeln die Gesammelten Jugenderzählungen (3 Bde., 1885–88) u. die Erzählungen u. Romane für Erwachsene die bürgerlich-nat. Gesinnungen der Kaiserzeit. Weitere Werke: Hesperiden. Lpz. 1878 (M.). – Bunte Novellen. 2 Bde., Lpz. 1879. – Eine Tierschule in Bildern v. Fedor Flinzer. Breslau 1891 (Kindergedichte). – Kinderszenen für Haus u. Schule. Lpz. 1907 (Kindergedichte). – V. B., Johannes Trojan u. Egon Hugo Straßburger (Hg.): Unser Schatzkästlein. Bln. 1906 (Kindergedichte). Literatur: B.-Gedenkbuch. Lpz. 1914. – V. B. In: LKJL. – Hans-Joachim Nauschütz: Victor B. (1844–1920) u. Freienwalde. Mit Seitenblicken auf weitere Lebensstationen. Frankf./O. 1999. – Goedeke Forts. Bettina Hurrelmann / Red.

Blum, Blume, Carl Wilhelm August, fälschlich auch: Karl Ludwig B., * 1786 (Geburtsort unbekannt), † 2.7.1844 Berlin. – Komponist, Schauspieler, Lustspielautor u. Übersetzer.

594

(1822–1826 u. wieder ab 1834) u. als techn. Leiter des Königstädtischen Theaters (1827/ 28) tätig; zudem schrieb er »mit einer erstaunlichen Leichtigkeit des Schaffens« (Joseph Kürschner) über 150 Bühnenstücke u. um die 200 Kompositionen (veröffentlicht bis zur Opuszahl 134). B. war v. a. ein erfahrener Theaterpraktiker, jedoch kein bedeutender Komponist; mit an Kotzebue orientiertem reinem Sprechtheater war er wenig erfolgreich. Neben Louis Angelys Berliner Lokalpossen bahnten B.s spätere Werke, die das Lokalkolorit stärker betonten u. mit spritzig-ungenierten Gesangseinlagen aufwarteten, dem Vaudeville-Theater den Weg nach Deutschland u. trugen zur Entwicklung der Berliner Lokalposse bei. Mit seinen Übersetzungen u. Bearbeitungen, v. a. von Werken Goldonis (Locandiera. Dt. Mirandolina. Urauff. Breslau 1828) u. Gozzis (Ich bleibe ledig. Die Herrin von Else. Das laute Geheimnis. Urauff.en Bln. 1835, 1837, 1838) förderte er die von Goethe angebahnte Verbreitung des Volksstücks in Deutschland. Weitere Werke: Vaudevilles für dt. Bühnen u. gesellige Zirkel, nach dem Französischen bearb. 2 Bde., Bln. 1824 u. 1826. – Lustsp. für die dt. Bühne [...], nach dem Französischen bearb. Bln. 1827. – Neue Bühnenspiele nach dem Englischen, Französischen u. Italienischen. Bln. 1828. – Neue Theaterspiele. Bln. 1830. – Dramat. Werke. Lpz. 1832. – Jucunde. Dramat. Tb. für 1836. Bln. 1835. – Theater. 4 Bde., Bln. 1839–44. Literatur: Joseph Kürschner: C. B. In. ADB. – Friedrich Liebstöckl: Das dt. Vaudeville. Diss. Wien 1923. – Rudolf Elvers: C. B. In: NDB.

B., der schon früh eine musikal. Ausbildung erhielt u. als Cellist öffentlich auftrat, folgte nach dem Tod des Vaters 1801 seiner Neigung u. ging zur Bühne. 1805 war er Mitgl. der Quandt’schen Wanderbühne im Rheinland, ging dann als Sänger nach Königsberg, Christian Schwarz / Red. wo er sich auch in Musiktheorie u. Kompositionslehre ausbilden ließ. Nach dem Erfolg Blum, Joachim Christian, * 19.11.1739 seiner ersten Oper Claudine von Villa Bella 1810 Rathenow, † 28.8.1790 Rathenow. – Lyin Berlin ließ er sich dort als Komponist nieriker. der; 1817–1820 lebte er in Wien, wo er sich bei Salieri weiterbildete u. seine Zauberoper B. besuchte das Joachimsthalsche GymnasiDas Rosenhütchen (Bln. 1815) erfolgreich zur um in Berlin u. studierte seit 1739 PhilosoAufführung brachte. Nach kurzer Tätigkeit phie u. Schöne Wissenschaften in Frankfurt/ als Hofkomponist in Berlin lernte er in O., wo er sich mit Thomas Abbt befreundete. Frankreich, England u. Italien die dortigen Sein bedeutendster Lehrer war der Ästhetiker Theaterverhältnisse kennen, befasste sich mit Alexander Gottlieb Baumgarten, dessen Tod Theaterliteratur u. verfasste zahlreiche (1762) B. in Gedichten beklagte. Aus geÜbersetzungen. sundheitl. Gründen (B. war als Fünfjähriger Erneut in Berlin, war er als Kgl. Musik- unter ein Pferd geraten, verletzt worden u. lehrer, als Regisseur der Kgl. Oper kränkelte fortan) musste er die Übernahme

595

Blum

des väterl. Handelsgeschäfts ebenso ablehnen haben. Zgl. jedoch nahm der junge Goethe in wie eine mögliche akadem. Laufbahn. Er einer – anonymen, wohl ihm zuzuschreibenlebte bis zu seinem Tod als Privatmann ohne den – Rezension (in den »Frankfurter Gelehrten Anzeigen«) B.s Lyrik zum Anlass, Amt in seiner Heimatstadt. B. schrieb geistliche, patriot. u. moral. Ge- »gemachtes Gefühl« u. mangelnde Originadichte u. Epigramme. Überwiegend enthält lität zu kritisieren. seine Lyrik jedoch anakreont. Motive u. bleibt Weitere Werke: Reden v. dem Verf. der Spatdem scherzhaften Rokoko verhaftet, das ge- ziergänge (an.; mit Kupferstichen v. Chodowiecki). legentlich empfindsame Züge aufnimmt (Ly- 2 Bde., Lpz. 1777/78. rische Gedichte. Riga 1765. 41779. Neuere GeLiteratur: Schlichtegroll [Jg.] 2 (1790), dichte. Züllichau 1775). Bedeutsamer sind B.s S. 198–224. – Jakob Franck: J. C. B. In: ADB. – Idyllen (Bln. 1773), in denen er nicht nur dem Franz Maier: Über J. C. B.s ›Spatziergänge‹. Diss. bewunderten Salomon Gessner zu folgen Wien 1908. – Adalbert Elschenbroich: J. C. B. In: versuchte. Schon das frühe naturbeschrei- NDB. – Leif Ludwig Albertsen: Das Lehrgedicht. Aarhus 1967. Alfred Anger / Red. bende Landgedicht Die Hügel bey Ratenau. Im Sommer 1769 besungen ist inhaltlich wie formal (in Hexametern) eng an Ewald von Kleists Blum, Klara, auch: Zhu Bailan (Dshu BaiFrühling (1749) angelehnt. Wie dieser hielt Lan), * 27.11.1904 Tschernowitz, † 4.5. auch B. am Vers fest u. schrieb seine insg. 1971 Kanton/China. – Erzählerin u. Lyrizwölf Idyllen, die meist zuerst in Zeitschrifkerin. ten u. Musenalmanachen erschienen, in reimlosen jambischen »vers irréguliers«. Nach dem Psychologiestudium in Wien u. 1776 gab B. seine Versdichtungen, ein- journalistischer Tätigkeit wanderte die schließlich der Idyllen, als Pränumerations- Tochter wohlhabender jüd. Eltern 1934 in die ausgabe in zwei Bänden sorgfältig überar- Sowjetunion aus u. arbeitete dort als Lehrebeitet heraus (Sämmtliche Gedichte. Lpz.), für rin, Übersetzerin u. Redakteurin. Von 1947 die weit über Preußen hinaus Bestellungen an war B. Professorin für dt. Sprache an eingetroffen waren. Fehlen in den Idyllen Hochschulen in China, 1954 wurde sie chines. realistischere Naturszenen, so begegnen sie Staatsbürgerin. wieder häufiger in seinen in Prosa verfassten Die Abrechnung mit der eigenen bürgerl. u. sehr beliebten Spatziergängen (2 Tle., Sten- Vergangenheit u. revolutionärer Optimismus dal 1774. 31785. Neue Spatziergänge. Stendal prägen B.s Lyrik. So beklagt sie im Gedicht 1784). Auf den Naturbeschreibungen liegt Czernowitzer Ghetto aus der Sammlung Erst jedoch nicht der Hauptakzent: Spaziergänge recht (Kiew 1939) den gesellschaftl. Aufstieg durch die heimatl. Landschaft werden nur der Juden u. die jüd. Assimilation ans Großzum Anlass genommen, um daran popular- bürgertum. Das Gedicht ist damit auch eine philosophisch-lehrreiche Betrachtungen mo- Anklage der eigenen Familie, deren bürgerl. ralischen u. religiösen Inhalts zu knüpfen. Assimilation B. als nichtjüdisch u. reaktionär Ähnliche Ziele verfolgt B.s Teutsches Sprüch- empfand. Gedichte wie Du warst sein Schatten wörterbuch (2 Bde., Lpz. 1780 u. 1782. Nachdr. aus derselben Sammlung, die von der SoHildesh. 1990); die Sprichwörter (einige auch wjetunion handeln, preisen die vollzogene aus lat. u. frz. Quellen entlehnt) sind nach den Emanzipation der Frau vom Schattendasein behandelten Gegenständen geordnet u. mit einer Hausfrau zur sozialist. Kämpferin. z.T. sehr ausführlichen moralisch-erzieheri- Auch Das Lied von Hongkong (Rudolstadt 1959) schen Kommentaren versehen. Seiner oft be- – Novellen über histor. Ereignisse in China sungenen Heimat setzte B. in einem histor. 1841–1955 – drückt B.s Gewissheit über den Drama (Das befreyte Ratenau. Lpz. 1775) ein unausweichl. Erfolg der sozialist. Revolution Denkmal. aus. B. war bei den Zeitgenossen ein populärer Weitere Werke: Die Antwort. Moskau 1939 u. angesehener Schriftsteller; so soll etwa (L.). – Der Hirte u. die Weberin. Rudolstadt 1951 Katharina II. ihn »mit Wohlgefallen« gelesen (R.). – Der weite Weg. Bln./DDR 1960 (L.).

Blum Literatur: Zhidong Yang: Klara Blum – Zhu Bailan (1904–1971). Leben u. Werk einer österreichisch-chines. Schriftstellerin. Ffm. 1996. Andrea Jäger

Blum, Robert, * 10.11.1807 Köln, † 9.11. 1848 Wien (füsiliert); Grabstätte: ebd., Währinger Park. – Publizist u. Politiker. Dem begabten Jungen verstellten die ärml. Verhältnisse im Elternhaus (der Vater war Böttcher, später Fabrikaufseher u. verstarb früh) eine höhere Schulbildung. Eine starke Sehbehinderung erschwerte die Ausbildung in einem Handwerksberuf ebenso wie den nur kurzzeitig versehenen Militärdienst. B. arbeitete sich über den Posten eines Theaterdieners in Köln bis zum Theatersekretär u. Bibliothekar in Leipzig hoch. Während dieser Zeit gab er zwischen 1839 u. 1842 das siebenbändige Allgemeine Theater-Lexikon oder Enzyclopädie alles Wissenswerten für Bühnenkünstler, Dilettanten und Theaterfreude heraus. B.s Theaterleidenschaft war v. a. politisch motiviert, weil er die Bühne als Instrument der polit. Bildung des Volkes begriff. Aus dieser Haltung resultierte auch seine große Verehrung für Friedrich Schiller, zu dessen Ehren er in Leipzig regelmäßig Feiertage organisierte. 1847 kündigte er seine Stellung beim Theater, gründete die Verlagsbuchhandlung Blum & Co. u. begann sein zweites großes Herausgeberprojekt, das Volkstümliche Handbuch der Staatswissenschaften und Politik, das erst nach seinem Tod vollendet wurde. Sein autodidaktischer Bildungseifer führte ihn von einer eher epigonalen Gesinnungsschriftstellerei im Geiste der Jungdeutschen u. Vormärzautoren (Gedichte, Revolutionsnovellen, Dramen u. Volksstücke) zur polit. Publizistik, die er als Moment seiner aktiven Politik in der sächs. Opposition auffasste. Dank seiner außerordentlichen rhetor. wie organisator. Begabung versammelte er die liberale Bewegung in ganz Deutschland hinter sich. Seiner gewichtigen polit. Stellung entsprechend wurde er Vizepräsident des Frankfurter Vorparlaments u. als Vertreter Leipzigs der Führer der Linken in der Nationalversammlung.

596

In von ihm gegründeten Vereinen (»Vaterlandsvereine«), aber auch in dem Versuch des Aufbaus einer deutsch-kath. Kirche bemühte sich B., rechtsstaatliche u. demokrat. Strukturen zu verwirklichen. Auch durch einige von ihm mitherausgegebene Zeitschriften wie den »Sächsischen Vaterlandsblättern« (Lpz. 1840–45) u. den »Verfassungsfreund« (Lpz. 1840–43) sowie das Taschenbuch Vorwärts (Lpz. 1843–47) suchte B., polit. Veränderungen herbeizuführen. Hierbei legte er stets Wert auf die Einhaltung rechtlicher Prinzipien u. verhinderte daher bisweilen gewaltsame Aufstände. In zündenden Wahlreden (z.B. Über die deutschen Grundrechte, 16.8.1848 in Leipzig) warb er für Volksbildung, forderte die strikte Verwirklichung u. dauerhafte Erhaltung der in der Revolution erkämpften Volkssouveränität u. zielte auf eine Republik als Realisation einer rechtsstaatl. u. demokrat. Gesellschaftsordnung ab. Den Höhepunkt seiner polit. Karriere stellte zweifellos B.s parlamentar. Arbeit in der Frankfurter Paulskirche dar, doch deren Ergebnisse waren für ihn zunehmend enttäuschend. Umstritten war seine Position zwischen dem radikalen u. dem liberal-gemäßigten Flügel. Die Überbringung einer Sympathieadresse der Frankfurter Linken an die Aufständischen in Wien im Okt. 1848, wo sich zu diesem Zeitpunkt der weitere Verlauf der Revolution zu entscheiden schien, endete (trotz seiner Immunität als Abgeordneter) in einem polit. Desaster, an dem auch die Abgesandten der Paulskirche nichts mehr zu ändern vermochten. B.s Erschießung nach einer von Windischgrätz betriebenen Verurteilung durch ein Kriegsgericht sollte ein Exempel an einem führenden Repräsentanten der Paulskirche statuieren u. die Revolution beenden. Aufgrund dieser Hinrichtung wurde B. zum Symbol für die liberale Volksbewegung, aber auch für das Scheitern des ersten dt. Parlaments u. zum Märtyrer der Revolution. Die Ambivalenz dieser Stellung prägte auch die weitere Rezeptions- u. Forschungsgeschichte, die in unmittelbarer Abhängigkeit stand zur jeweiligen Bewertung der Revolution von 1848. Während konservative Historiker des 19. Jh. – wie Sybel u. Treit-

Blumauer

597

schke – B. v. a. als Agitatoren u. Volksverhetzer brandmarkten, kam erst Veit Valentin in den 1920er Jahren im Rahmen seiner bahnbrechenden Arbeiten zur Revolution von 1848 zu einem positiveren Urteil. Die Geschichtswissenschaft der DDR leistete im Zusammenhang ihrer umfassenden, gleichwohl weltanschaulich überlagerten Erforschungen der 1848er-Revolution die erste wiss. Biografie B.s. Das wiedervereinigte Deutschland scheint auf der Basis der im Jubiläumsjahr 1998 erfolgten grundlegend positiven Bewertung der Revolution in B. eine histor. Identifikationsfigur zu erkennen. Weitere Werke: Die Fortschrittsmänner der Gegenwart. Lpz. 1847. – Ausgew. Reden u. Schr.en. Hg. Hermann Nebel. 10 H.e, Lpz. 1878–81. – Polit. Schr.en. Hg. Sander L. Gilman. 6 Bde., Nendeln 1979 (Neudr.e). Literatur: Hans Blum: R. B. Ein Zeit- u. Charakterbild für das dt. Volk. Lpz. 1878. – Siegfried Schmidt: R. B. Vom Leipziger Liberalen zum Märtyrer der dt. Demokratie. Weimar 1971. – R. B.Symposium 1982. Dokumente – Referate – Diskussionen. Hg. Helmut Hirsch. Duisburg 1987. – Goedeke Forts. – ›Für Freiheit u. Fortschritt gab ich alles hin.‹ R. B. 1807–48. Visionär – Demokrat – Revolutionär. Hg. Martina Jesse u. Wolfgang Michalka. Bln. 2006. Hiltrud Häntzschel / Gideon Stiening

Blum, Ruth, * 2.9.1913 Wilchingen/Kt. Schaffhausen, † 2.8.1975 Wilchingen/Kt. Schaffhausen; Grabstätte: ebd. – Lehrerin; Romanautorin.

sie nach einem abgebrochenen Pädagogikstudium in verschiedenen Berufen tätig, u. a. als Dienstmädchen, Verkäuferin u. Putzfrau. Der Erfolg des Erstlings bestätigte sich allerdings in den nachfolgenden Werken Sonnenwende (Frauenfeld 1944; N.), Der gekrönte Sommer (Frauenfeld 1945; R.) u. Das Abendmahl (Frauenfeld 1947; N.) nicht, sodass B. 1949/50 ihre Lehrerinnenausbildung nachholte u. ab 1950 elf Jahre in Schaffhausen unterrichtete, ehe ein Krebsleiden die vorzeitige Pensionierung erzwang. Die Erfahrung der Krankheit führte B. zu einer vertieften Selbstbesinnung, u. es entstanden in rascher Folge eine Reihe viel beachteter autobiografisch motivierter Werke: Wie Reif auf dem Lande (Zürich 1964), eine Auseinandersetzung mit der Krebskrankheit; Und es erhub sich ein Streit (Zürich 1964), die Geschichte einer unglückl. Liebesbeziehung; Mein Feuergesicht (Zürich 1967); Die grauen Steine (Schaffh. 1971); Forts. von Blauer Himmel – Grüne Erde; Und stets erpicht auf Altes (Schaffh. 1974), die Begegnung mit Irland. Ihre letzte Arbeit trägt den Titel Schulstubenjahre (Schaffh. 1976), die postum erschienenen Aufzeichnungen der Volksschullehrerin B. Weitere Werke: Der Gottesstrauch. Frauenfeld 1953 (R.). – Die Narrenkappe. Eine satir. Blumenidylle. Schaffh. 1963. – Die Sichel. Schaffh. 1975 (N.). Literatur: Kurt Bächtold: R. B. Schaffh. 1981. – Hans Steiner: R. B. Nachw. zu ›Blauer Himmel – Grüne Erde‹. In: Ed. ›Frühling der Gegenwart‹ (a. a. O.). Charles Linsmayer / Red.

Die Kindheit der Bauerntochter war überschattet durch den frühen Tod des Vaters u. geprägt durch das intensive Erlebnis der arBlumauer, Aloys, auch: A. Obermayer, chaischen Landschaft des Klettgaus an der * 21. oder 22.12.1755 Steyr, † 16.3.1798 Grenze zwischen dem Schweizer Kanton Wien; B.s Schädel befindet sich in der Schaffhausen u. Deutschland. Die idyll. AtGallschen Sammlung, Paris. – Lyriker. mosphäre dieser Region vermochte B. in ihrem Romanerstling Blauer Himmel – Grüne Der Sohn eines Eisenhändlers besuchte Erde (Frauenfeld 1941. Neu hg. v. Charles 1767–1772 das Jesuitengymnasium in Steyr. Linsmayer in: Edition »Frühling der Gegen- Anschließend ging er nach Wien u. trat 1772 wart«. Bd. 2, Zürich 1981) auf kraftvoll-poe- als Novize in den Jesuitenorden ein. Bis zu tische Weise darzustellen u. mit den Zeit- dessen Aufhebung 1773 lernte er u. a. Karl umständen des Ersten Weltkriegs u. der In- Leonhard Reinhold, Lorenz Leopold Haschflationszeit zu konfrontieren. Ehe ihr mit ka, Josef Franz von Ratschky u. Michael Denis dieser romanhaften Gestaltung der eigenen kennen u. eignete sich breite LektürekenntKindheit der literar. Durchbruch gelang, war nisse an, wie die handschriftlich überlieferten

Blumauer

»Adversarien aus meiner Lektüre« bezeugen. Während seines Studiums an der Philosophischen Fakultät verdiente er sich seinen Lebensunterhalt wahrscheinlich als Hauslehrer. Ab etwa 1775 verkehrte B. im Haus des Hofrats Franz von Greiner; dort traf er mit Joseph von Sonnenfels zusammen, der ihn zur Abfassung seines literar. Erstlingswerks, des 1779 am Burgtheater uraufgeführten empfindsamen Trauerspiels Erwine von Steinheim (Wien 1780), ermunterte. 1780 wurde B. Mitarbeiter der Hofbibliothek, ab 1781 gab er gemeinsam mit Ratschky (1793/94 alleine) den »Wiener(ischen) Musenalmanach« heraus u. redigierte 1782–1784 die aufklärerische »Realzeitung«. B. erhielt am 19.4.1782 vom Präsidenten der Studienhofkommission Gottfried van Swieten das Ernennungsdekret zum k. k. Bücherzensor. Im Herbst 1782 wurde B. (er studierte zu dieser Zeit noch an der Wiener Universität das Naturrecht) in die von Ignaz von Born u. Sonnenfels geführte Freimaurerloge »Zur wahren Eintracht« aufgenommen, für die er 1784–1786 die Redaktion des »Journals für Freymaurer« besorgte; eine Mitgliedschaft B.s bei den republikan. Illuminaten ist wahrscheinlich. 1784 u. 1785 reiste B. nach Klagenfurt, wo er zum Literatenkreis um Erzherzogin Maria Anna u. den bedeutendsten Aufklärungsliteraten Kärntens, Wolfgang Anselm von Edling, stieß, sowie nach Salzburg. Ende 1785 erkrankte er lebensgefährlich an der Wassersucht u. geriet in eine schwere Lebenskrise, die durch das »Freimaurerpatent« u. die Verfolgung der Illuminaten noch verstärkt wurde. Er schloss Ende 1786 einen Sozietätsvertrag mit seinem Verleger Rudolph Gräffer u. reiste 1787, Höhepunkt seiner literar. Karriere, u. a. nach Berlin u. Weimar, wo ihn Wieland u. Bertuch freundschaftlich empfingen. Auch wurde er zum Mitgl. der Kurpfälzischen deutschen Gesellschaft in Mannheim ernannt. Seit 1791 betätigte sich B. als Antiquar, der Annonces hebdomadaires des livres rares et prétieuses herausgab. 1792 kaufte er die Buchhandlung Gräffer & Compagnie. Nach dem Tod Leopolds II. u. dem sich anschließenden polit. Umschwung wurde B. als Bücherzensor mit Pension entlassen.

598

Mitte 1794 geriet er in den Sog der Jakobinerverfolgungen u. wurde mehrmals von der Polizei verhört. B. ist Österreichs bekanntester Lyriker des josephin. »Tauwetters« 1781–1790. Er schrieb satir. Gedichte auf Zeitereignisse u. literar. Modeströmungen (wie den »Sturm und Drang«), antiklerikale Gedichte, Freimaurergedichte u. sog. »Komische Apotheosen« (= »Encomia«) in der von Erasmus von Rotterdam begründeten Tradition, Episteln, die im Zeichen eines politisch motivierten Freundschaftskults stehen, auch panegyr. Texte auf die führenden Herrscherpersönlichkeiten der österr. Aufklärung (Maria Theresia u. Joseph II.). In einer Reihe von Gedichten zeigt sich B. abhängig v. a. von Bürger, beeinflusst vom iron. Duktus der Verserzählungen Wielands u. geprägt vom Muster der horazischen Satiren. In seinen gelungensten Gedichten bildet B. einen eigenen Stil aus, in dem sich Leichtigkeit, Natürlichkeit u. scheinbare Naivität mit sozialkritischer Aggressivität u. spracherfinderischer Witz mit drastischer Komik verbinden. Dabei vernachlässigt B. Versifikation u. Komposition, favorisiert vielmehr, um in die Breite wirken u. »populär« werden zu können, aneinander gereihte witzige Einfälle, ähnlich dem Strukturprinzip des spätaufklärer. Episodenromans. Im Genre der Travestie schuf B. sein Hauptwerk, mit dem er in die Literaturgeschichte einging. In siebenjähriger Arbeit entstand die in vier Bücher unterteilte, Fragment gebliebene, travestierte Aeneis nach Vergil (Die Abentheuer des frommen Helden Aeneas, oder: das zweyte Buch von Virgil’s Aeneis. Erstes Buch. Travestiert. Wien 1782. Virgils Aeneis travestiert von B. 3 Bde., Wien 1784–88. Neudr. Hg. Wynfried Kriegleder. Wien 2005). Den Anstoß gab die 1771 veröffentlichte Fassung von Johann Benjamin Michaelis’ Leben und Thaten des theuren Helden Aeneas. B.s eingängige Travestie ist in siebenzeilige Strophen mit (zumeist) jeweils vier vierhebigen u. drei dreihebigen Jamben gefasst. Der Text transponiert die Vergilische Apologie des Kaisers Augustus in die Gegenwart, verteidigt die Kirchenreformen Josephs II. u. übt scharfe Kritik am Vatikan u. am weltl. Herr-

599

schaftsanspruch der kath. Kirche. Dies geschieht vor dem Hintergrund der zeitgenössischen öffentl. Debatten über das Ziel der Kirchenpolitik Josephs II., Privilegien der kath. Kirche abzubauen u. ihren polit. u. gesellschaftl. Einfluss zu verringern. Um die Wirkung des Textes zu steigern, arbeitete B. mit vielfältigen Gestaltungsmitteln: mit dem inhaltl. Überraschungseffekt (auch in B.s satir. Gedichten strukturelles Merkmal), mit Sexualkomik, wie sie in der prüden dt. Aufklärung selten zu finden ist, mit Wortspielen u. kontrastiven Reimen, alltagssprachl. Elementen, Pseudoarchaismen u. Anachronismen, Kalauern u. Zeugmata u. mit Stilparodien (etwa auf Goethe). Er ignorierte so die poetolog. Konventionen der dt. Aufklärungsdichtung u. zeigte sich stärker von engl. u. frz. Dichtern wie Pope, Paul Scarron u. Voltaire beeinflusst. B. erzielte mit seiner Travestie einen beachtl. Publikumserfolg, für den zahlreiche reguläre Auflagen u. unrechtmäßige Nachdrucke, eine Reihe von Nachahmungen, Fortsetzungen u. Gegenparodien, auch Übersetzungen u. Adaptionen, beispielsweise in slaw. Sprachen, zeugen. Die Wirkung von B.s Travestie reichte weit ins 19. Jh. hinein – daran vermochte weder die scharfe Kritik der Romantiker noch Goethes vernichtendes Urteil von 1820, B.s Travestie sei ein Werk der »Plattheit«, etwas zu ändern. In seinen Beobachtungen über Österreichs Aufklärung und Litteratur (Wien 1782. Neudr. Wien 1970) hat sich B. fundiert über die Literatur des Josephinismus u. die Strukturen des entstehenden literar. Marktes, auch über die Funktion u. das dürftige Niveau eines Teils der »Broschürenliteratur« geäußert. Er erkannte darüber hinaus die große Bedeutung der periodisch publizierten »Predigerkritiken« (Wöchentliche Wahrheiten für und über die Prediger in Wien, 1782–1784) für die Entwicklung der österr. Aufklärungsprosa mit ihrer sprachkrit. Absetzung von der barocken Bildlichkeit. B. war der repräsentative, freilich auch stets umstrittene österr. Aufklärungsliterat in der Phase der »erweiterten Preßfreyheit«. Seine literar. Wirkung reichte über Wien u. die österr. Monarchie hinaus in die Aufklä-

Blumauer

rungszentren des katholischen (dort wurde er jedoch von einflussreichen Aufklärern als vermeintlich oberflächlicher Literat abgelehnt) u. des protestant. Deutschlands hinein: Anerkennung erhielt er – zeitweilig auch Rezensent für Friedrich Nicolais »Allgemeine deutsche Bibliothek« – v. a. in Berlin, bis er sich nach dem Erscheinen von Nicolais kritischer Reisebeschreibung über Österreich mit dem Berliner Aufklärer zerstritt. Weitere Werke: Freymaurergedichte. Wien, Ffm. u. Lpz. 1786. – Gedichte. 2 Tle., Wien 1787. – Gedichte. 2 Tle., Ffm./Lpz. 1796. Werkausgaben: Sämmtl. Werke. Hg. Karl Ludwig Methusalem Müller. 8 Bde., Lpz. 1801–03 u. 1806. – Sämmtl. Werke. 7 Bde., Königsb. 1803–12 (mit Kupfern v. Chodowiecki). – Sämmtl. Werke. 9 Bde., Wien 1809 (vollständigste Ausg.). Literatur: Otto Rommel: Der Wiener Musenalmanach. Lpz./Wien 1906. – Gustav Gugitz: A. B. In: Jb. Grillparzer-Gesellsch. 18 (1908), S. 27–135. – Peter Wagenhofer: Die Stilmittel in A. B.s Travestie der Aeneis. Diss. Wien 1968. – Bärbel BeckerCantarino: A. B. and the literature of Austrian Enlightenment. Bern/Ffm. 1973. – Edith Rosenstrauch-Königsberg: Freimaurerei im Josephin. Wien. A. B.s Weg vom Jesuiten zum Jakobiner. Stgt. 1975 (mit Bibliogr.). – Leslie Bodi: Tauwetter in Wien. Zur Prosa der österr. Aufklärung 1781–95. Ffm. 1977. Neudr. Wien u. a. 1995. – Edith Rosenstrauch-Königsberg: Stützen der Gesellsch.? B. u. Grillparzer – beamtete Dichter. In: Jb. Grillparzer-Gesellsch. 3. F., 13 (1978), S. 85–100. – HansJosef Irmen (Hg.): Die Protokolle der Wiener Freimaurerloge ›Zur wahren Eintracht‹ (1781–1795). Ffm. 1994. – Norbert Christian Wolf: B. gegen Nicolai, Wien gegen Berlin. Die polem. Strategien in der Kontroverse um Nicolais Reisebeschreibung als Funktion unterschiedl. Öffentlichkeitstypen. In: IASL 21 (1996), H. 2, S. 27–65. – Ders.: ›Der schmutzige Witz des Herrn Blumauer‹. Schiller u. die Marginalisierung populärer Komik aus dem josephin. Wien. In: Komik in der österr. Lit. Hg. Wendelin Schmidt-Dengler. Bln. 1996, S. 56–87. – Ritchie Robertson: Heroes in their underclothes. A. B.s travesty of Virgil’s ›Aeneid‹. In: The Austrian Comic Tradition. Studies in honour of W. E. Yates. Hg. John R. P. McKenzie. Edinburgh 1998, S. 24–40. – Franz M. Eybl, Wynfried Kriegleder u. Johannes Frimmel (Hg.): A. B. u. seine Zeit. Wien 2007. Wilhelm Haefs

Blumenau

Blumenau, Laurentius, * etwa 1415 Danzig, † 25.12.1484 Villeneuve bei Avignon. – Jurist u. Geschichtsschreiber.

600

ten, während die Zeugnisse seiner Tätigkeit am Hof spärlich sind. So lässt sich nicht erkennen, in welchem Maße B., ähnlich wie in dem Traktat von 1453, das Instrumentarium des gelehrten Rechts direkt eingesetzt hat. Wie in der frühen Zeit der sog. Rezeption des gelehrten Rechts üblich, dürfte sich das Studium an den ital. Universitäten v. a. indirekt ausgewirkt haben – in trainiertem Denken u. Argumentieren.

B. entstammte einer Danziger Kaufmannsfamilie. Er studierte 1434–1447 in Leipzig, Padua u. Bologna u. erwarb als einer der ersten Deutschen den Grad des Doktors beider Rechte. In den folgenden Jahren diente er dem Hochmeister des Deutschen Ordens als Hofjurist u. Gesandter. Die Zuspitzung des Ausgaben: Scriptores rerum Prussicarum 4. Lpz. Konflikts zwischen dem Deutschen Orden u. 1870, S. 44–67 (Ausg. der Chronik). den Städten in Preußen bestimmte B.s TäLiteratur: Hartmut Boockmann: L. B. Gött. tigkeit in beträchtlichem Maße u. führte 1965. – Ders.: L. B. In: VL. – Ders.: Die Geschließlich dazu, dass er 1456 seinen Dienst schichtsschreibung des Dt. Ordens. In: Geaufkündigte. 1457–1465 war er in ähnlicher schichtsschreibung u. Geschichtsbewußtsein im Position am Hof des Herzogs von Österreich späten MA. Hg. Hans Patze. Sigmaringen 1987, u. Grafen von Tirol, Siegmund, in Innsbruck S. 447–469. Hartmut Boockmann / Red. tätig, danach (bis 1471) beim Erzbischof von Salzburg. In B.s Tiroler Jahre fällt die große Auseinandersetzung des Landesherrn mit Blumenbach, Johann Friedrich, * 11.5. dem Bischof von Brixen, Nikolaus von Kues. 1752 Gotha, † 22.1.1840 Göttingen; B. war Geistlicher, besaß jedoch offen- Grabstätte: ebd., Albani-Friedhof. – Nasichtlich keine Pfründe. Bemühungen um turforscher u. Mediziner. eine Domherrenstelle waren erfolglos. Die B. erlangte 1775 die medizin. Doktorwürde letzten Lebensjahre verbrachte er als Kartäu- an der Universität Göttingen. Seine Dissertaser-Mönch zunächst in La Grande Chartreuse, tion behandelte das Problem der natürl. Vadann als Prior der Kartause Villeneuve bei rietäten des Menschengeschlechts. In GötAvignon. Auch im Kartäuserorden war B. als tingen wurde er 1776 zum a. o. Professor u. gelehrter Jurist tätig. 1778 zum o. Professor der Medizin ernannt. Angeregt durch seine Erfahrungen mit den Unvorhergesehen war der literar. Erfolg seiaufständ. Untertanen des Deutschen Ordens, nes Werks über den Bildungstrieb und das Zeubegann B. eine lat. Chronik, die unvollendet gungsgeschäfte (Gött. 1781), dessen grundleblieb. Materiell wurzelt dieses Werk in Preu- genden Gedanken über die organ. Kraft B. ßen, während es literarisch mit dem Augs- lediglich als Erklärung der Assimilation, der burger Frühhumanistenkreis um Bischof Pe- Wiederherstellung körperlicher Teile u. ter von Schaumberg zusammenhängt. B. letztlich der Fortpflanzung aufgrund einer hatte zus. mit anderen Angehörigen dieses im Gegensatz zu den vorherrschenden präKreises studiert, dem u. a. Sigismund Meis- formist. Theorien allmählichen Bildung des terlin, Sigmund Gossembrot u. Hermann lebendigen Körpers verstand. Den folgenden Schedel zuzurechnen sind. Den Bischof hatte Generationen – v. a. den Romantikern – bot B. in Rom kennengelernt. Acht lat. Briefe B.s B.s Gedanke die Möglichkeit, die organ. haben sich in der Bibliothek Hermann Sche- Entstehung als Grundprinzip sämtlicher nadels erhalten; ohne sie wäre B.s Zugehörig- türl. Vorgänge in Analogie zum Lebewesen zu keit zum Augsburger Kreis unbekannt. betrachten. B.s eigentl. Intention führte jeBezeugt ist sonst nur B.s »berufliche« Tä- doch Kant im § 81 der Kritik der Urteilskraft tigkeit. 1453 verfasste er einen längeren ge- aus, als er im Bildungstrieb den Anwenlehrt-rechtl. Traktat zugunsten des Deut- dungsbereich der Theorie der Epigenese einschen Ordens u. gegen den Bund der preuß. geschränkt sah; gleichzeitig erkannte er im Stände. Auch einige deutsch geschriebene Bildungstrieb einen Beitrag zur Gründung Berichte des Gesandten B. haben sich erhal- ihrer echten Prinzipien, den B. leistete, als er

601

Blumenberg

durch die Aufrechterhaltung eines uner- Lovell Beddoes and the German Sciences of Life. In: forschlichen teleolog. Prinzips, unter dessen Poetica 38 (2006), S. 137–165. – Robert Bernasconi: Leitung der bloße Naturmechanismus wirke, Kant and B.’s Polyps: A Neglected Chapter in the die Entstehung des zweckmäßigen Organis- History of the Concept of Race. In: The German Invention of Race. Hg. S. Eigen. Albany 2006, mus erklärte. S. 73–90. F. W. P. Dougherty / Red. Neben seinen Vorlesungen zur Naturgeschichte, die wegen der Neuheit des Materials u. der Bild- u. Lebhaftigkeit des Vortrags Blumenberg, Hans, * 13.7.1920 Lübeck, nicht nur angehende Mediziner u. Naturfor† 28.3.1996 Altenberge bei Münster. – scher, sondern auch zahlreiche Schriftsteller Philosoph u. Schriftsteller. u. Geisteswissenschaftler (u. a. Goethe, der B. mehrmals in Göttingen besuchte, Arnim, Nach seiner Promotion 1947 u. Habilitation Schopenhauer, Heine) anzogen, verfasste B. 1950 in Kiel lehrte B. Philosophie an den Handbücher (Handbuch der Naturgeschichte. Universitäten Kiel, Hamburg, Gießen, BoGött. 1779. Institutiones physiologicae. Gött. chum u. Münster bis 1985. In seinem Aufsatz Paradigmen zu einer Me1787. Handbuch der vergleichenden Anatomie. taphorologie (In: Archiv für Begriffsgeschichte. Gött. 1805), in denen die Gesamtkenntnis der Naturgeschichte in kurzen, das Wesentliche Bonn 1960) formulierte B. den method. Anzusammenfassenden Abschnitten vorgeführt satz seiner Untersuchungen zur Wissenwurde. In zahlreichen Forschungsbeiträgen schafts- u. Geistesgeschichte, indem er das in den Abhandlungen der Göttinger Sozietät Selbstverständnis des Theoretikers als eine in der Wissenschaften sowie anderen Fachzeit- Konflikt mit den Strukturen der Lebenswelt schriften, aber auch in vielen, für ein litera- stehenden Lebensform fasste. Im Hinterrisch interessiertes Publikum konzipierten grund der Erkenntnis- u. SelbstverständiBeiträgen zur Naturgeschichte wurden die gungsmodelle der Wissenschaften stehen Bilder, die sich in der Sprache als Metaphern neuen Forschungen fasslich dargelegt. B.s wiss. Leistung besteht in der Ausarbei- zeigen. Sie sind zgl. vorrationale Katalysatotung der vergleichenden Methode, in seinen ren für die historisch sich wandelnden WeltBemühungen um die Etablierung neuer wiss. u. Selbstinterpretationen als auch VoraussetDisziplinen (z.B. der Mineralogie, insbes. zungen des Handelns u. Erkennens, die nicht auch der Paläontologie) u. in der Weiterbil- in begrifflicher Klarheit aufgelöst werden dung der Naturgeschichte des Menschen, auf können (»absolute Metaphern«). B.s metader die phys. Anthropologie u. die Völker- phorologische Untersuchungen zeigen, dass kunde begründet wurden. Für das Geistesle- die Sinn- u. Verstehenshorizonte von Metaben allg. liegt B.s Bedeutung in der Bestre- physik, Mythos u. Wissenschaft entgegen bung, die Naturwissenschaft zu einem bür- dem Anschein u. ihrem eigenen Anspruch gerl. Bildungsgut zu erheben. Doch ist jene nicht mehr verbindlich beim Wort genomv. a. in der Emanzipation der Naturgeschichte men werden können. Aufgrund dieser »Verim Allgemeinen u. der der Naturgeschichte fehlung der genauen Präsenz« hat B. den des Menschen im Besonderen zu sehen – zwei Ansatz der Metaphorologie zu einer »Theorie Bereiche, die bis dahin eng mit dem litera- der Unbegrifflichkeit« (Schiffbruch mit Zurisch-polit. Leben verbunden waren u. nun- schauer. Paradigma einer Daseinsmetapher. Ffm. mehr ihre Autonomie innerhalb des geistigen 1979) erweitert. Die Genealogie oder Archäologie bestimmter Denkbilder, die sich Lebens behaupteten. auch in einer zwingenden Begriffsgeschichte Literatur: Karl Friedrich Heinrich Marx: Zum niederschlagen, wird an den Schnittpunkten Andenken an B. Eine Gedächtniss-Rede. Gött. 1840. – F. W. P. Dougherty: Commercium episto- zwischen Wissen u. Lebenswelt oder zwilicum Blumenbachii. Aus einem Briefw. des klass. schen Theorie u. Erfahrung dargestellt, in Zeitalters der Naturgesch. Gött. 1984. – Sara Eigen: denen sich die Anstrengung einzeichnet, das Self, Race, and Species: J. F. B.’s Atlas Experiment. Unsagbare – den Sinn – sprachlich zum In: GQ 78 (2005), S. 277–298. – Ute Berns: Thomas Ausdruck zu bringen. In anthropologischer

Blumenhagen

602

Perspektive führt B.s Werk Arbeit am Mythos heute als einer der bedeutendsten nachmeta(Ffm. 1979) mythische u. metaphor. Vorstel- phys. Denker. 1974 erhielt B. den Kuno-Fischer-Preis der lungen auf die Angst vor dem »Absolutismus der Wirklichkeit« zurück, von der sich der Universität Heidelberg, 1980 den SigmundMensch durch Versprachlichung entlaste. Im Freud-Preis der Deutschen Akademie für Zentrum von B.s Schriften steht dabei der Sprache und Dichtung. Weitere Werke: Das Lachen der Thrakerin. Versuch, die moderne Bewusstseinsstellung zu begreifen, die damit konfrontiert ist, »daß Eine Urgeschich. der Theorie. Ffm. 1987. – Matwir in mehr als einer Welt leben«, wodurch thäuspassion. Ffm. 1988. – Höhlenausgänge. Ffm. die Realitätsvergewisserung irritiert werde. 1989. – Die Vollzähligkeit der Sterne. Ffm. 1997. – Ästhet. u. metaphorolog. Schr.en. Ffm. 2001. – Zu In immer neuen Ansätzen rekonstruierte B. den Sachen u. zurück. Aus dem Nachl. Hg. Manfred die Etappen der fortschreitenden Autonomie Sommer. Ffm. 2002. – Beschreibung des Menschen. des Menschen in der Neuzeit. Sind Vernunft Hg. ders. Ffm. 2006. – H. B., Carl Schmitt. Briefw. u. Naturwissenschaft einerseits Mittel der 1971–78. Hg. Alexander Schmitz u. Marcel Lepper. Selbstbehauptung gegen die Kontingenz des Ffm. 2007. Lebens u. die Gleichgültigkeit des Kosmos Literatur: Bibliografie: David Adams u. Peter (Die Legitimität der Neuzeit. Ffm. 1965), so Behrenberg: Bibliogr. H. B. zum 70. Geburtstag. machen sie diese andererseits erst vollends In: Ztschr. für philosoph. Forsch. 44 (1990), bewusst (Die Genesis der kopernikanischen Welt. S. 647–661. – Gesamtdarstellungen: Hans Georg GaFfm. 1975). Die Wissenschaft vermag dem damer: H. B. Die Legitimität der Neuzeit. In: Philosoph. Rundschau 17 (1968), S. 195–201. – RiMenschen also keine Verbindung mehr zwichard Faber: Der Prometheus-Komplex. Zur Kritik schen Welt- u. Selbstverständnis zu erschlie- der Politotheologie Eric Voegelins u. H. B.s. Würzb. ßen, wie es noch die traditionelle Metaphysik 1984. – Dietrich Busse: Histor. Semantik. Stgt. vermochte. Die Genese des daraus resultie- 1987. – Klaus-Michael Kodalle: Arbeit am Mythos renden Sinndefizits zeichnet B. in Die Lesbar- als Strategie der Entängstigung. In: Ders.: Die Erkeit der Welt (Ffm. 1981) als nicht wiederhol- oberung des Nutzlosen. Paderb. 1988, S. 29–36. – bare »Geschichte der menschlichen Sinner- Johannes Kirsch-Hänert: Zeitgeist – Die Vermittwartungen« (Franz Josef Wetz) nach. Später lung des Geistes mit der Zeit. Eine wissenssoziolog. Untersuchung zur Geschichtsphilosophie H. B.s. suchte er den Sinnverlust in Anlehnung an Ffm. 1989. – Michael Schumann: Die Kraft der Husserl durch das an den Erfordernissen der Bilder. Gedanken zu H. B.s Metaphernkunde. In: Praxis ausgerichtete Konzept der unhinter- DVjs 69 (1995), S. 407–422. – Odo Marquard: Entfragt gültigen »Lebenswelt« auszugleichen lastung vom Absoluten. In memoriam H. B. In: (Lebenszeit und Weltzeit. Ffm. 1986). Die als Kontingenz. Hg. Gerhart v. Graevenitz. Mchn. Phänomenologie der Geschichte verstande- 1998, S. XVII-XXV. – Franz Josef Wetz u. Hermann nen Untersuchungen zur Begriffsgeschichte Timm (Hg.): Die Kunst des Überlebens. Nachdenverwandelten sich allmählich in Geschichts- ken über H. B. Ffm.2 1999. – F. J. Wetz: H. B. zur Einf. Hbg. 1993. 2004. – Felix Heidenreich: erzählungen u. gingen schließlich in LiteraMensch u. Moderne bei H. B. Mchn. 2005. – Stetur, in »imaginäre Anekdoten« über (Die Sorge phanie Waldow: Der Mythos der reinen Sprache. geht über den Fluß. Ffm. 1987). Diese Tendenz Paderb. 2006. – Film: Burghardt Schlicht u. F. J. hat einige Kritik erfahren, da B.s Begriffs- u. Wetz (Hg.): Zwischen Himmel u. Hölle. Die PhiloBedeutungsgeschichte einer klaren Methode sophie v. H. B. Köln 1996. u. v. a. einer Sprachtheorie ermangele. Indem Florian Rötzer / Marcel Krings er die Gattungsunterschiede von Philosophie u. Dichtung aufhebe, werde er zum dilettierenden Poeten. Die Poetisierung seiner phi- Blumenhagen, Philipp Georg August losoph. Texte ist aber insofern konsequent, Wilhelm, * 15.2.1781 Hannover, † 6.5. 1839 Hannover. – Erzähler, Lyriker, Draals eine Hermeneutik des Wirklichkeitsvermatiker. ständnisses dazu zwingt, philosoph. Überzeugungen mit literar. Formen des Aus- B., Sohn eines Kammerschreibers, studierte drucks in Entsprechung zu bringen. B. gilt seit 1799 in Erlangen Medizin u. setzte seine

Blumenthal

603

Studien in Göttingen u. a. bei Johann Fried- Blumenthal, Oskar, * 13.3.1852 Berlin, rich Blumenbach fort. Nach seiner Promotion † 24.4.1917 Berlin; Grabstätte: Berlin(Göttingen 1803) kehrte er nach Hannover Weißensee, Jüdischer Friedhof. – Lustzurück u. begann dort als Arzt zu praktizie- spielautor. ren. Als Nebentätigkeit schrieb er seitdem B. studierte 1869–1872 Germanistik in Bervorwiegend Erzählungen, die ihm den Ruf lin, dann in Leipzig. Hier gab er 1873 die von einbrachten, »einer der beliebtesten und geihm begründete Literaturzeitschrift »Deutsuchtesten Taschenbucherzähler« seiner Zeit sche Dichterhalle« heraus, 1874 in Dresden (Goedeke) zu sein. 1811 wurde B. in die die »Neuen Monatshefte für Dichtkunst und Hannoveraner Freimaurer-Loge »Zum Kritik« sowie den Nachlass Grabbes. schwarzen Bären« aufgenommen (1826 In Berlin übernahm B. 1875 die FeuilleMeister vom Stuhl), der er bis zu seinem Letonredaktion beim »Berliner Tageblatt«. Er bensende verpflichtet blieb. In den Akazienwurde der meistgelesene Theaterkritiker der blüthen (Hann. 1815) sammelte er seine freiStadt. 1877 erschien seine Dissertation über maurer. Schriften (Wilhelm Blumenhagen’s Grabbe. Maurerischer Nachlaß. Hann. 1840). Sie betoDen Journalismus gab B. 1887 auf, grünnen die gottgegebene Freiheit u. Moralität dete das Lessing-Theater u. leitete es bis 1897. des Menschen u. beharren auf der Vorsehung Seit 1898 lebte er als freier Schriftsteller in (Wer ist frei? Wer ist unfrei?). Berlin. Er war verheiratet mit Marie Franke. B.s Erzählungen – spannend u. gekennB. schrieb etwa ein Lustspiel pro Jahr, meist zeichnet durch eine teilweise gesuchte u. gemeinsam mit dem Schauspieler Gustav drast. Bildsprache – behandeln häufig deKadelburg. Am erfolgreichsten waren Großtailgenau historische u. patriot. Stoffe (Die stadtluft (Bln. 1891), Die Orientreise (Bln. 1892) Bürger zu Wien. Hannovers Spartaner) oder nehu. Im weißen Rößl (Bln. 1898), das das Muster men Anleihen an der Schauerromantik eines Reiseschwanks darstellt. Ein fremder (Weißhütchen). Sie sind durch eine schematiDialekt u. eine fremde Küche bedingen kosche Charakterzeichnung bestimmt u. affirmische Missverständnisse; der Hotelaufentmieren in der Regel die in den freimaurer. halt führt zu Verwechslungen von Personen Schriften postulierten Werte. B.s Gedichte (2 u. Sachen u. erzwingt unvorhergesehene oder Bde., Hann. 1817), formal u. thematisch unerwünschte Begegnungen. Die standardivielfältig, behandeln u. a. Napoleon u. seine sierte Komik B.s erwies sich noch in Ralph Niederlage (Das Räthsel unserer Zeit. Die VölBenatzkys Operettenfassung des Stoffs (1930) kerschlacht) oder den Beruf des Arztes (Der als bühnenwirksam. Arzt). Zwei Erzählungen wurden 1874/75 in B. erprobte seine Stücke im eigenen Haus; Reclams Universalbibliothek aufgenommen an anderen Bühnen setzten sie sich durch. (Luthers Ring. Hannovers Spartaner). Mit dem Weißen Rößl war B. eine Saison lang Weitere Werke: Freia. Erfurt 1805. – Novellen der meistgespielte Autor in Deutschland. u. Erzählungen. 4 Bde., Hann. 1826/27. – Neuer Novellenkranz. Braunschw. 1829/30. – Wanderung durch den Harz. Lpz. 1838.

Gesamtausgaben: Sämmtl. Werke. 10 Bde., Cannstadt 1829/30. – Ges. Werke. 25 Bde., Stgt. 1836–40. – Sämtl. Schr.en. 16 Bde., Stgt. 1843/44. Literatur: Karl Ludwig Grotefend: Wilhelm B. In: ADB. – Goedeke, Bd. 10, S. 190–195. – Heinrich Beyer: Wilhelm B. In: Hannoversche Geschichtsblätter N. F. 3 (1934/35), H. 1/2, S. 160–175. – Kosch, Bd. 1, S. 606 f. – Wilhelm Theopold: Doktor u. Poet dazu. Kirchheim 21987, S. 169–171. Philip Ajouri

Weitere Werke: Der Teufelsfelsen. Bln. 1880 (Schwank). – Der Probepfeil. Bln. 1883 (Lustsp.). – Theatral. Eindrücke. Hbg. 1885 (Aufsätze). – Ges. Epigramme. Bln. 1890. Literatur: Karl Richter: O. B. In: NDB. – Joachim Wilcke: Das Lessingtheater in Berlin unter O. B. Diss. Bln. 1958. – Bernd Wilms: Der Schwank. Diss. Bln. 1969. – Dietmar Grieser: Eiskaffee für Sisi. Oscar B. in Ischl. In: Ders.: Nachsommertraum. St. Pölten 1993, S. 46–60. – Goedeke Forts. – Bernhard Doppler: Das Glück steht vor der Tür. Österr. im Berliner Schwank u. der Berliner Ope-

Blumenthal-Weiss rette (›Im weißen Rößl‹). In: MAL 31 (1998), S. 20–38. Alain Michel / Red.

604 garete Kollisch, I. B. u. Vera Lachmann. Hg. ders. Ffm. 1988. – Cornelia Schnelle: Ein Mahnmal gegen das Vergessen. Der Holocaust in der Dichtung v. I. B. In: Perspektiven der Frauenforsch. Hg. Renate v. Bardeleben u. Patricia Plummer. Tüb. 1998, S. 195–203. Peter König / Red.

Blumenthal-Weiss, Ilse, * 14.10.1899 Berlin-Schöneberg, † 10.8.1987 New York. – Verfasserin von Gedichten über Blunck, Hans Friedrich, * 3.9.1888 Altona, den Holocaust. † 25.4.1961 Hamburg. – Verfasser von Die Tochter eines jüd. Textilkaufmanns erhistorischen Romanen, Märchen u. Erhielt eine Ausbildung als Turnlehrerin u. zählungen. Orthopädin. Sie entdeckte früh ihr literar. Interesse u. begann selbst zu schreiben. Anfang der 1920er Jahre trat sie in freundschaftl. Verbindung mit Rilke, später auch mit Hesse, Nelly Sachs u. Paul Celan. Ihre ersten Gedichte erschienen 1928 im »Berliner Tageblatt« u. in der »Vossischen Zeitung«. Ihre literar. Karriere wurde durch die Nationalsozialisten beendet. 1937 musste sie mit ihren Angehörigen nach Holland fliehen. Nach dem Einfall der dt. Truppen wurden B., ihre Mutter u. ihre Tochter nach Theresienstadt verschleppt. Ihr Mann u. ihr Sohn starben in Auschwitz. 1947 emigrierte sie in die USA u. arbeitete viele Jahre als Bibliothekarin am Leo-BaeckInstitut. Die Erfahrung des Holocaust u. die Qualen der Überlebenden u. Davongekommenen bilden das Thema ihres schmalen lyr. Spätwerks. Sprache u. Form ihrer Gedichte sind von einem radikalen Lakonismus geprägt u. erinnern nicht selten an Abzählreime u. Kinderlieder: »Wir sehen zu. Und wir sind blind, / Damit wir keine Zeugen sind. / Wir tun als wäre nichts geschehn, / Auch wenn wir Flammen und Urnen sehn.« B., die mit ihren Gedichten die Erinnerung an das »Gestern« wachhalten möchte, zählt selbst zu den weithin Vergessenen. Erst auf Anregung von Günter Kunert kam Anfang der 1980er Jahre eine neue Ausgabe ihrer Gedichte zustande. Weitere Werke: Gesicht u. Maske. Bln. 1929. – Das Schlüsselwunder. Zürich 1954. – Mahnmal. Hbg. 1957. Neudr. Darmst. 1960. – Ohnesarg. Hann. 1984. Ausgabe: Werke. Ed., Einf., Komm. Hg. Beatrix Margueree Pollack. Ann Arbor 1998. Literatur: Thomas Hartwig u. Achim Roscher: Die verheißene Stadt. Bln. 1986, S. 128–136. – Gert Niers: I. B. In: Frauen schreiben im Exil. Zum Werk der nach Amerika emigrierten Lyrikerinnen Mar-

Der Lehrersohn B. schloss sich frühzeitig der Jugendbewegung an. Nach dem Besuch der höheren Schule begann er in Kiel u. Heidelberg ein Studium der Rechtswissenschaften, das er mit der Promotion zum Dr. jur. abschloss. 1911 wurde er zum Referendar, 1918 zum Assessor ernannt. 1914–1918 nahm er als Ordonnanzoffizier am Ersten Weltkrieg teil, wurde verwundet u. erhielt das Eiserne Kreuz. 1920 wurde er in Hamburg zum Regierungsrat bestellt. 1925–1928 arbeitete er als Syndikus der Hamburger Universität. Nach der Frühpensionierung 1928 lebte B. als freier Schriftsteller, ab 1932 auf dem von ihm erworbenen Bauernhof »Mölenhoff« in Grebin/Holstein u. in Hamburg. Zahlreiche Reisen führten ihn nach Amerika u. Afrika, in die Mittelmeerländer u. auf den Balkan. 1933–1935 war B. Präsident der von den Nationalsozialisten errichteten Reichsschrifttumskammer. Mit dem von Goebbels verliehenen Titel »Altpräsident ehrenhalber« dekoriert, betätigte sich B. in den folgenden Jahren auf zahlreichen Auslandsreisen mit Vorträgen u. Lesungen als Repräsentant der dt. Literatur. B. war Mitgl. des Senats der Deutschen Akademie der Dichtung u. des politisch allerdings einflusslosen Reichskultursenats. Zwischen 1933 u. 1945 wurden B. zahlreiche Ehrungen zuteil, u. a. die Wartburg-Dichterrose, der Ehrenring des Deutschen Sprachvereins sowie die von Hitler verliehene Goethe-Medaille für Kunst und Wissenschaft. 1945 zunächst interniert, ging B. aus dem Entnazifizierungsverfahren 1949 mit der Einstufung »Mitläufer« hervor. In seinen letzten Lebensjahren lebte B. wieder in Hamburg.

605

Bluth

B. ist einer der produktivsten Repräsen- Scott Hoerle: H. F. B. Poet and Nazi Collaborator, tanten der sog. »nordischen Renaissance« u. 1888–1961. Oxford/Bern/Bln. 2003. Ralf Schnell / Thomas Braun der völkisch-nat. Literatur in Deutschland. Schon in seinen frühen Werken, etwa in der mehrbändigen Kunstmärchensammlung Märchen von der Niederelbe (Jena 1923–31), Bluth, Karl-Theodor, * 5.5.1892 Berlin, † 5.3.1964 London. – Lyriker u. Dramatizeigt sich sein Hang zu einer umfassenden ker. myth. Weltdeutung. B.s derb-lustiges Fabulieren u. seine bisweilen abgründig-bizarren Nach dem Besuch des Berliner FriedrichsSzenerien dienen hier der Heroisierung des gymnasiums studierte B. ab 1910 Literaturnorddt. Volkstums u. der »germanischen geschichte u. Philosophie in Bonn, Berlin u. Rasse«. Seine während der nationalsozialist. Jena. 1918 veröffentlichte er in Weimar seiHerrschaft erschienenen histor. Romane Die nen ersten Gedichtband (Andante). Durch die große Fahrt (Hbg. 1934), König Geiserich (Hbg. Unterstützung Johannes R. Bechers erschie1936) u. Wolter von Plettenberg (Hbg. 1938) nen 1923 die Dichtungen im Leipziger Insel setzen diese Tradition in politisch eindeuti- Verlag. Die frühe Lyrik des Heine-Bewundeger Absicht fort. Sie sind Versuche, die na- rers ist dem Spätexpressionismus verbunden tionalsozialist. Gegenwart im Lichte ge- – Einflüsse von Ernst Cassirer u. Erich Unger schichtlicher Vergangenheit zu verklären. sind deutlich. Zentrales Thema ist die DesEpochale histor. Entwicklungen werden, integration des autobiogr. Ich. In den frühen 1920er Jahren, die er in ganz im Sinne des NS-Führerprinzips, als Leistungen von Einzelpersönlichkeiten ge- München verbrachte, wandte B. sich dem Drama zu. 1924 ging er zurück nach Berlin, deutet. Zwischen 1933 u. 1944 veröffentlichte B. wo 1930 gewalttätige Proteste rechtsradikaler 97 Bücher. Nach 1945 wehrte er sich gegen Kreise gegen die jegliche Diktatur verurteiden Vorwurf, ein geistiger Wegbereiter des lende Tendenz seines Stückes Die Empörung Nationalsozialismus gewesen zu sein. Seine des Lucius (o. O. 1924) einen Theaterskandal Bücher fanden nun, mit Ausnahme der im- verursachten. In der Zwischenzeit hatte B. ein mer wieder aufgelegten Sagensammlungen, Zweitstudium der Medizin begonnen. Nach kaum noch Leser. Sein literarisches Erbe wird der Verbrennung seiner Bücher emigrierte er von der apologetisch ausgerichteten »Gesell- 1933 nach Südamerika u. ging 1934 nach schaft zur Förderung des Werkes von Hans London, wo er eine zweite Laufbahn als Arzt, Friedrich Blunck« mit Neuausgaben u. Auf- später als Psychiater begann, ohne seine literar. Tätigkeit aufzugeben. Seine Werke aus sätzen gepflegt. Die krit. Auseinandersetdem Exil blieben fast alle unveröffentlicht. In zung mit B. begann erst in den 1990er Jahren. Deutschland wurde B. auch nach dem Ende Weitere Werke: Die Weibsmühle. Jena 1927 des Dritten Reichs weitgehend ignoriert. Sein (R.). – Land der Vulkane. Jena 1929 (R.). – VolksNachlass befindet sich im Literaturarchiv wende. Bremen 1930 (R.). – Werdendes Volk. Marbach. Mchn. 1934 (R.). – Märchen. Flensburg 1952. Literatur: Gerard Schneilin: Die Wiedergeburt des dt. Volksmärchens bei H. F. B. Diss. Paris 1956. – Jürgen Blunck (Bearb.): Bibliogr. H. F. B. Hbg. 1981. – Ders. (Hg.): Beseelte brüderl. Welt. Gedenkschr. für H. F. B. 1888–1988. Husum 1988. – Jan-Pieter Barbian: Literaturpolitik im ›Dritten Reich‹. Institutionen, Kompetenzen, Betätigungsfelder. Ffm. 1993. – Uwe-Karsten Ketelsen: Lit. u. Drittes Reich. 2. durchges. Aufl. Vierow 1994. – Lawrence D. Stokes: Der Eutiner Dichterkreis u. der Nationalsozialismus. Neumünster 2001. – William

Weitere Werke: Philosoph. Probleme in den Aphorismen Hardenbergs. Diss. Jena 1914. – Buch der Gnade. Weimar 1919 (L.). – Demetrius. Bln. 1930 (D.). – Die Kriege des Chaul. Bln. 1930 (D.). – Medizingeschichtliches bei Novalis. Diss. Bln. 1934. – Gesang vom Staub. Hbg. 1947 (L.). – Gang des Lebens. London 1952 (L.). Literatur: K. T. B. zum 70. Geburtstag. In: Dt. Rundschau 88 (1962), S. 495 f. – Paul Raabe: Die Autoren u. Bücher des literar. Expressionismus. Stgt. 1985. Matthias Heinzel / Red.