Killy Literaturlexikon: Band 7 Kräm – Marp
 9783110220490, 9783110220483

Table of contents :
Frontmatter
Krämer - Kroetz
Krohn - Küther
Kütner - Kyser
Laaber - Langenmantel
Langenschwar(t)z - Lavant, Christine
Lavant, Rudolf - Lenz, Carl Gotthold
Lenz, Hermann - Lex Salica
Lexis - Lindau
Lindemayr - Loewenberg
Loewenson - Ludolf von Sachsen
Ludolf - Lyser
Maar - Maltitz
Mand - Marpurg

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Killy Literaturlexikon

Band 7

Killy Literaturlexikon Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes 2., vollständig überarbeitete Auflage Herausgegeben von Wilhelm Kühlmann in Verbindung mit Achim Aurnhammer, Jürgen Egyptien, Karina Kellermann, Steffen Martus, Reimund B. Sdzuj Band 7 Kräm – Marp

De Gruyter

Die erste Auflage erschien unter dem Titel Literatur Lexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache im Bertelsmann Lexikon Verlag, Gütersloh/München, herausgegeben von Walther Killy unter Mitarbeit von Hans Fromm, Franz Josef Görtz, Gerhard Köpf, Wilhelm Kühlmann, Gisela Lindemann, Volker Meid, Nicolette Mout, Roger Paulin, Christoph Perels, Ferdinand Schmatz, Wilhelm Totok und Peter Utz. Die in diesem Lexikon gewählten Schreibweisen folgen dem Werk „WAHRIG – Die deutsche Rechtschreibung“ sowie den Empfehlungen der WAHRIG-Redaktion. Weitere Informationen unter www.wahrig.de Redaktion: Christine Henschel (Leitung) und Bruno Jahn Redaktionsschluss: 30. April 2010

ISBN 978-3-11-022048-3 e-ISBN 978-3-11-022049-0 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.  für die 1. Auflage by Bertelsmann Lexikon Verlag GmbH, Gütersloh/München 1988 – 1993 Alle Rechte vorbehalten  für die 2. Auflage 2010 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Laufen Satz: Process Media Consult, GmbH Druck: Hubert & Co., Göttingen 1 Gedruckt auf säurefreiem Papier * Printed in Germany www.degruyter.com

Verfasserinnen und Verfasser der Beiträge dieses Bandes Kurt Adel Sylvia Adrian Detlef Altenburg Claus Altmayer Alfred Anger Marcel Atze Ilse Auer Achim Aurnhammer Hans-Jürgen Bachorski Michael Baldzuhn Arno Bammé Karlheinz Barck Johannes Barth Susanne Barth Moritz Baßler Barbara Bauer Karl W. Bauer Stefan Bauer Birgit Baum Günter Baumann Sabina Becker Michael Behnen Judith Beniston Jochen Bepler Roland Berbig Rolf Bergmann Wolfgang Biesterfeld Dietrich Blaufuß Helmut Blazek Heinz Blumensath Holger Böning Klaus Bohnen Gerhard Bolaender Manfred Bosch Madeleine Boxler Klopfenstein Thomas Braatz Angelika Brauchle Michael Braun Peter Michael Braunwarth Astrid Breith Charlotte Bretscher Theo Breuer Gisela Brinker-Gabler

Hartmut Brun Hans Peter Buohler Gudrun Busch Rémy Charbon Elisabeth Chvojka Klaus Conermann Claude D. Conter Bernhard Coppel Georg Oswald Cott Thomas Cramer Ralf Georg Czapla Annette Daigger Raphael Dammer Birgit Dankert Heinrich Detering Nicolas Detering Jürgen Dierking Hartmut Dietz Irene Dingel Detlef Döring Neil H. Donahue Reinhard Düchting Stephanie Düsterhöft Klaus Düwel Thomas Dupke Carsten Dutt Jürgen Egyptien Andrea Ehlert Heidrun Ehrke-Rotermund Manfred Eikelmann Norbert Eke Adolf Endler Michael Erbe Robert Matthias Erdbeer Petra Ernst Michael Farin Christoph Fasbender Heinold Fast Eckhard Faul Jörg-Ulrich Fechner Edith Feistner Bernhard Fetz Cornelia Fischer

Verfasserinnen und Verfasser der Beiträge dieses Bandes Ernst Fischer Peter Fischer Thorsten Fitzon Konrad Franke Gideon Freudenthal Jutta Freund Hans-Edwin Friedrich Johannes Frimmel Maria Frisé Cornelia Fritsch Waldemar Fromm Stephan Füssel Christina Gallo Klaus Garber Guillaume van Gemert Robert Gillett Fritz Göttler Hans Graßl Christian Grawe Philipp Gresser Wolfgang Griep Reinhard Gruhl Herwig Guratzsch Wilhelm Haefs Claudia Händl Günter Häntzschel Hiltrud Häntzschel Matthias Harder Wolfgang Harms Volker Hartmann Jan-Christoph Hauschild Jens Haustein Eckhard Heftrich Ludger Heid Horst Heidtmann Jörg Heiniger Ernst Hellgardt Mechthild Hellmig Ursula Hennig Christine Henschel Ulrich Herrmann Georgine Hertle-Kranz Klaudia Hilgers Achim Hölter Stefan Höppner Otto Holzapfel Johann Holzner Christoph Huber Klaus W. Hübner Hans-Otto Hügel Reinhold Hülsewiesche Adrian Hummel Bernhard Iglhaut Stefan Iglhaut

Wilfried Ihrig Ferdinand van Ingen Michael Irmscher Jürgen Jacobs Andrea Jäger Harald Jakobs Johannes Janota Josef Jansen Brigitte Janz Gerhard Jaschke Herbert Jaumann Heike John Ulrich Joost Renate Jürgensen Matthias Jung Werner Jung Klaus Kändler Urs Viktor Kamber Carolina Kapraun Elke Kasper Ursula von Keitz Karina Kellermann Dirk Kemper Florian Kessler Christian Kiening Dieter Kimpel J. Klaus Kipf Hanna Klessinger Annette Kliewer Jacob Klingner Kathrin Klohs Joachim Knape Astrid Köhler Jörg Köhler Peter König Barbara Könneker Jörg-Dieter Kogel Joseph Kohnen Catharina Koller Henk J. Koning Michaela Kopp-Marx Gisela Kornrumpf Alexander Kosˇenina Elke-Vera Kotowski Hannes Krauss Gerald Krieghofer Wynfrid Kriegleder Rüdiger Krohn Kurt Krolop Esther von Krosigk Detlef Krumme Diether Krywalski Ernst Josef Krzywon Wilhelm Kühlmann

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VII Matthias Kußmann Uli Kutter Volker Ladenthin Ulrike Längle Dieter Lamping Birgit Lang Peter Langemeyer Michael Langer Annelies Laschitza Corinna Laude Elisabeth Lebensaft Gerald Leitner Gerrit Lembke Agnieszka Lessmann Hans Leuschner Pia-Elisabeth Leuschner Ulrike Leuschner Sandra Linden Joachim Linder Irmgard Lindner Charles Linsmayer Tim Lörke Claudia Löschner Dieter Lohmeier Sabine Lorenz Günther Lottes Michael Ludscheidt Walther Ludwig Matthias Luserke Bettina Mähler Herbert Maierhofer Klaus Manger Eva Marschang Hanspeter Marti Dieter Martin Jan Martínek Matías Martínez Sebastian Marx Arno Matschiner Gert Mattenklott Wolfram Mauser Beat Mazenauer Volker Meid Andreas Meier Stephan Meier-Oeser Dietrich Meyer Annette Meyhöfer Gisela Meyn Wolfgang F. Michael Tatjana Michaelis Alain Michel Zygmunt Mielczarek Rita Mielke Gesine Mierke

Verfasserinnen und Verfasser der Beiträge dieses Bandes Victor Millet York-Gothart Mix Johann Michael Möller Friedhelm Mönter Rainer Moritz Elfriede Moser-Rath Gerd Müller Mario Müller Oliver Müller Ulrich Müller Renate Müller-Buck Wolf-Dieter Müller-Jahncke Gunnar Müller-Waldeck Lothar Mundt Martin Muschick Julia M. Nauhaus Wolfgang Neuber Gunther Nickel Christina Niem Ute Obhof Herbert Ohrlinger Walter Olma Ernst Wolfgang Orth Norbert H. Ott Stephanie Over Ralf G. Päsler Johannes G. Pankau Walter Pape Iulia-Karin Patrut Georg Patzer Ina Ulrike Paul Rolf Paulus Helmut Peitsch Silka Pfahler Kristina Pfoser-Schewig Hans-Joachim Pieper Roland Pietsch Jörg Platiel Hans Pörnbacher Julia Pörtner Joël Pottier Hans Helmut Prinzler Gesine von Prittwitz Rosemarie Inge Prüfer Christian Prunitsch Marinus Pütz Uwe Puschner Frank Raepke Jürgen Rathje Christoph Rauen Otto Friedrich Raum Werner Raupp Martin Rector Marc Reichwein

Verfasserinnen und Verfasser der Beiträge dieses Bandes Pia Reinacher Heimo Reinitzer Angela Reinthal Matthias Richter Ulfert Ricklefs Nicolai Riedel Oliver Riedel Wolfgang Riedel Gerda Riedl Wiebrecht Ries Walter Riethmüller Bernd Roeck Caroline Roeder Hans-Gert Roloff Nikola Roßbach Karin Rother Jean Royer Eva-Maria Rupprecht Walter Ruprechter Johannes Sachslehner Eda Sagarra Christoph Sahner André Salathé Hans Sarkowicz Gerhard Sauder Uta Schäfer-Richter Nicole Schaenzler Dagmar Schalliol Erwin Schatz Michael Scheffel Heinz Scheible Juliane Schiffers Jörg Schilling Michael Schilling Wolfgang Schimpf Volker Schindler Christine Schmidjell Hansgeorg Schmidt-Bergmann Wilhelm Schmidt-Biggemann Walter Schmitz Sabine Schmolinsky Thomas F. Schneider Rainer Schönhaar Detlev Schöttker Piotr O. Scholz Angela Schrameier Hermann Schreiber Melani Schröter Alexander Schüller Marco Schüller Sonja Schüller Erhard Schütz Hans J. Schütz Horst Schuller

Gerhard Schulz Johannes Schulz Andreas Schumann Thomas B. Schumann Hans-Rüdiger Schwab Susanne Schwabach-Albrecht Christian Schwarz Stefan Schwarz Reimund B. Sdzuj Wolfgang Seibel Robert Seidel Rolf Selbmann Rita Seuß Winfried Siebers Franz Günter Sieveke Friedhelm Sikora Peter Simons Peter Skrine Johann Sonnleitner Björn Spiekermann Carlos Spoerhase Paul Stänner Georg Steer Robert Steinborn Hartmut Steinecke Hajo Steinert Mary E. Stewart Frauke Stiller Eva Maria Stöckler Eva Stollreiter Martin Straub Volker Strebel Daniela Strigl Robert Stupperich Dieter Sudhoff Ernst-Friedrich Suhr Markus Symmank Anette Syndikus Marian Szyrocki Werner Taegert Karin Tebben Christian Teissl Joachim Telle Reinhard Tgahrt Hellmut Thomke Eva Maria Thüne Karl-Ewald Tietz Wolfgang Trautmann Erich Tremmel Elke Ukena-Best Bernd Gerhard Ulbrich Karin Unsicker Hans Rudolf Velten Theodor Verweyen

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IX Oliver Vogel Dominica Volkert Hartmut Vollmer Fritz Wahrenburg Armin A. Wallas Johannes Wallmann Astrid Wallner Hartmut Walravens Klaus-Peter Walter Ernst Weber Johannes Weber Walter Weber Hilkert Weddige Horst Weigelt Wolfgang Weismantel Christoph Weiß Horst Wenzel Renate Werner Ursula Weyrer Joachim Whaley Heiner Widdig Stefan Wieczorek Conrad Wiedemann

Verfasserinnen und Verfasser der Beiträge dieses Bandes Hermann Wiegand Jan Wiele Peter Wiesinger Wolfgang Wiesmüller Marcus Willand Werner Williams-Krapp Christoph Willmitzer Eva Willms Elisabeth Willnat Hans-Gerd Winter Reinhard Wittmann Gerhard Wolf Jürgen Wolf Rainer Wolf Jens Wonneberger Jean M. Woods Elisabeth Wunderle Karin E. Yes¸ ilada Urs Martin Zahnd Carsten Zelle Rosmarie Zeller Christian von Zimmermann

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Krämer, Karl Emerich, auch: George Forestier, André Forban, Georg Jontza, Gerhard Rustesch, Sebastian Steegh, * 31.1.1918 Düsseldorf, † 28.2.1987 Düsseldorf. – Erzähler, Lyriker; Verlagsleiter.

Krämer-Badoni fällt (Pseud. Georg Jontza). Düsseld. 1953 (R.). – Ostdt. Balladen. Düsseld. 1953. – Mercator. Duisburg 1980 (Ber.). Literatur: R. Hartung: Der Legionär u. der Dichter. In: NDH (1955). – Lore Schaumann: K. E. K. Nach Forestier – ein vitaler Schatten. In: Düsseldorf schreibt. 44 Autorenporträts. Düsseld. 1974. – Hans-J. Schmitt: Der Fall George Forestier. In: Gefälscht! Hg. Karl Corino. Nördlingen 1988.

Nach einem Zeitungsvolontariat 1934/35 holte K. 1937 das Abitur nach u. studierte Staatswissenschaften, Germanistik, KunstgeMatías Martínez / Red. schichte u. Volkskunde. Für erste Veröffentlichungen, darunter die Erzählung Treue um Treue (Stgt. 1936) u. der Gedichtband Volk, Krämer-Badoni, Rudolf, eigentl.: R. deine Feuer brennen wieder (Bonn 1938), wurde Krämer, * 22.12.1913 Rüdesheim, † 18.9. er von der Reichsschrifttumskammer u. dem 1989 Wiesbaden. – Erzähler, Essayist u. Oberkommando der Wehrmacht ausgezeich- Journalist; Hörspielautor u. Übersetzer. net. Während des Zweiten Weltkriegs bis zu K., Sohn eines Briefträgers, absolvierte 1933 einer schweren Verwundung 1943 Frontsol- das Abitur; um studieren zu können, musste dat, war er danach u. a. Oberbannführer bei er sich als »Freiwilliger« zum Arbeitsdienst der Hitlerjugend. melden u. in die SA eintreten. Die aus der Seit 1950 war K. im Verlagswesen tätig. Anpassung an die polit. Verhältnisse resulNach Kriegsende zunächst unter Schreibver- tierende »seelische Beschädigung« bezeichbot, begann er ab 1947 wieder zu veröffent- nete er später verbittert als das »allgemein lichen, überwiegend Lyrik, dann aber auch Erfahrene« der Deutschen unter den NatioRomane, Erzählungen, Balladen, Märchen, nalsozialisten (vgl. seine Autobiografie ZwiLaienspiele, Städte- u. Landschaftsbeschrei- schen allen Stühlen. Mchn./Bln. 1985). In bungen, Biografien, Übersetzungen u. Hör- Frankfurt studierte K. Literaturwissenschaft spiele. Bekannt wurde er mit den beiden un- (u. a. bei Kommerell), Geschichte u. Philosoter dem Pseud. George Forestier publizierten phie (1937 Promotion). Während des Kriegs Gedichtbänden Ich schreibe mein Herz in den war er als Sanitätssoldat eingesetzt, kurz vor Staub der Straße (Düsseld. 1952) u. Stark wie der Kriegsende desertierte er. Als ZeitschriftenTod ist die Nacht, ist die Liebe (Düsseld. 1954). redakteur (»Die Wandlung«) u. ab 1948 als Ein kurzes Nachwort im ersten Band gibt vor, freier Autor u. Publizist machte er sich bald es handele sich um autobiogr. Gedichte eines einen Namen. 1921 geborenen dt.-frz. Elsässers, der als 1942/43 wurde K.s erster Roman Jacobs Jahr Fremdenlegionär nach Indochina gekommen gedruckt (Lpz. Neudr. Darmst. 1978), jedoch u. dort seit Herbst 1951 verschollen sei. In aus polit. Vorsicht nicht ausgeliefert: Symfreien Rhythmen u. unter dem Einfluss der bolisch für die Situation im Dritten Reich Lyrik Lorcas abgefasst, beschreiben die Ge- geht es darin um den Konflikt einer Figur, die dichte in existentialist. Grundhaltung Szenen zwischen der Loyalität für einen diktatoriaus dem Leben eines melancholisch-emp- schen »Chef« u. der Hilfe für einen gefährfindsamen Legionärs u. Vaganten. Der zu- deten »Dichter« zu entscheiden hat. Der Ronächst auch bei der Literaturkritik große Er- man In der großen Drift (Darmst. 1949) greift folg der Bände schlug in einen Skandal um, das Thema Nationalsozialismus erneut auf u. als der Verlag im Herbst 1955 die Autoren- schildert den als typisch konzipierten Werfiktion enthüllte. Dennoch veröffentlichte K. degang eines Mannes, der sich mit den auch später noch unter diesem Pseud., dar- Machthabern arrangiert, ohne deren Ideolounter Briefe an eine Unbekannte (Zürich 1955) u. gie zu teilen. K. sieht sein unbedingtes EinHätt ich das Wort, das Wahrheit heißt (Wiesb. treten für polit. Pluralismus u. persönl. Frei1985). heit stets im Zusammenhang mit der ErfahWeitere Werke: Die Zaubergeige. Ein fröhl. rung der nationalsozialist. Diktatur, u. auch Singsp. Kassel 1949. – Im Regen, der über Europa die Verwerfung »linker« Utopien begründet

Kraepelin

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er mit einem individuellen Freiheitspostulat (Anarchismus: Geschichte und Gegenwart einer Utopie. Wien 1970). Zahlreiche publizist. Debatten ebenso wie seine von Polemik gegen Zeitströmungen erfüllten Romane (etwa Bewegliche Ziele. Wiesb. 1962) haben ihm den Ruf eines Antikommunisten u. streitbaren Gesellschaftskritikers eingetragen (vgl. seine Essays Vorsicht, gute Menschen von links. Gütersloh 1962). Nach seinem Einsatz für einen purifizierten Glauben (Revolution in der Kirche. Lefebvre und Rom. Mchn. 1980) klagte K. in seinen letzten Veröffentlichungen die jahrhundertelange verbrecherische Haltung der Kirche gegenüber Juden u. Frauen an u. wandte sich schließlich ganz ab von der »totalitären Perversion« der Religion (Judenmord, Frauenmord, Heilige Kirche. Mchn. 1988. Ffm. 1992). Weitere Werke: Die Insel hinter dem Vorhang. Wiesb. 1955 (R.). – Über Grund u. Wesen der Kunst. Ffm. 1960 (Ess.). – Ignatius v. Loyola. Köln 1965 (Biogr.). – Die Last, katholisch zu sein. Mchn. 1967 (Ess.s). – Die niedl. Revolution. Opladen 1974 (Ess.s). – Gleichung mit einer Unbekannten. Hbg. 1977 (R.). – Leben, Lieben, Sterben ohne Gott. Mchn. 1989. Ffm. 1993 (Ess.). Literatur: Henryk M. Broder: Noch 1973 wurde eine Hexe verbrannt. In: Die Zeit, Nr. 19 (1989). Stefan Iglhaut / Red.

Kraepelin, Emil, * 15.2.1856 Neustrelitz, † 7.10.1926 München. – Psychiater. Der Sohn eines Musiklehrers u. Hofschauspielers studierte in Würzburg u. Leipzig Medizin u. wurde 1878 in Würzburg promoviert. 1878–1882 arbeitete K. als Assistenzarzt an der psychiatr. Universitätsklinik in München bei Bernhard von Gudden; dann zog er nach Leipzig, um bei Wilhelm Wundt, den er als Student kennengelernt hatte, zu arbeiten. Nach seiner Habilitation wurde K. 1886 Ordinarius in Dorpat, 1891 in Heidelberg u. 1904 in München. Unter seiner Leitung wurden die psychiatr. Universitätsklinik u. die 1917 von ihm gegründete Deutsche Forschungsanstalt für Psychiatrie (heute: Max-Planck-Institut für Psychiatrie) zu weltweit bekannten Zentren (»Münchner Schule«) der Psychiatrie.

K. schuf eine Systematik der seel. Störungen, die bis heute im Kern unverändert gilt. Er unterschied zwei große Krankheitsgruppen: die Dementia praecox (nach Eugen Bleuler: Schizophrenie) u. das manisch-depressive Irresein. Den Schritt zur Aufstellung dieser beiden Grundformen psych. Erkrankung vollzog K. 1899 in der sechsten Auflage seines Compendium der Psychiatrie (Lpz. 1883. 9 1927 u. d. T. Psychiatrie). Zu seiner Einteilung gelangte er, indem er bei seinen Patienten zusätzlich zur Beschreibung der aktuellen Zustandsbilder den Verlauf der Krankheiten aufzeichnete. So gelang ihm die Überwindung der damals üblichen symptomatolog. Gruppierungen, auf deren Beschreibung er sich aus Mangel an klin. Erfahrung noch in den ersten Auflagen des Compendium beschränken musste. Die Ursache für seel. Störungen suchte K. in körperl. Prozessen; die Psychoanalyse lehnte er ab. Der Einfluss Wundts zeigt sich in K.s experimentalpsycholog. Forschungen. K. untersuchte die Wirkungen von Medikamenten, Alkohol u. Ermüdung auf die psychophys. Leistungsfähigkeit; damit wurde er zum Begründer der Pharmakopsychologie. Von den Resultaten seiner Ermüdungsexperimente profitierten die Arbeitsmedizin u. die Schulpsychologie (Zur Überbürdungsfrage. Jena 1897). Durch grafische Darstellung des Leistungsverlaufs bei fortlaufender, gleichartiger Arbeit ermittelte K. die »Arbeitskurve«, auf der die Messung der Leistungsfähigkeit mithilfe des heute verbreiteten Pauli-Tests beruht. Wie viele Psychiater seiner Zeit kämpfte K. für die Abstinenzlerbewegung u. engagierte sich für eine Reform des am Vergeltungsprinzip orientierten Strafrechts. Auf außereurop. Reisen beschäftigte er sich mit Fragen der vergleichenden, transkulturellen Psychiatrie. Weitere Werke: Die Abschaffung des Strafmaßes. Stgt. 1880. – Lebenserinnerungen. Bln. 1983. Ausgabe: Edition E. K. Hg. Matthias M. Weber u. a. Mchn. 2000 ff. Literatur: Kurt Kolle: K. In: Große Nervenärzte. Stgt. 1956, S. 175–186. – Erwin Ackerknecht: Kurze Gesch. der Psychiatrie. Stgt. 1957, S. 73–80. – Eric J. Engstrom u. Matthias M. Weber: E. K. The

Krafft-Ebing

3 Directions of Psychiatric Research. Introduction. In: History of Psychiatry 16 (2005), S. 345–364. – Matthias M. Weber: Feindl. Brüder im Geiste der Wiss.? Zum 150. Geburtstag v. E. K. u. Sigmund Freud. In: Psychotherapie in Psychiatrie, Psychotherapeut. Medizin u. Klin. Psychologie 11 (2006), S. 142–150. – Ausführl. Bibliogr. der Werke u. Forschungslit. elektronisch verfügbar, s. InternetAuftritt des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie: Einrichtungen: Histor. Archiv. Angela Schrameier / Red.

Krafft, Hans Ulrich, * 25.3.1550 Ulm, † 21.2.1621 Ulm. – Kaufmann, Reiseschriftsteller.

zierender Ordnung nicht als im Widerspruch stehend wahrnimmt. K.s Aufzeichnungen waren gedacht für seine Söhne. Den größten Teil seiner Erinnerungen verfasste er 1614–1616, der Plan geht aber schon zurück auf die Zeit seiner Rückkehr aus dem Orient u. das breite öffentl. Interesse an seinen Erzählungen (1581). Die aufschlussreichsten Passagen schildern mit bemerkenswerter sprachl. Kraft die Gefangenschaft in Tripolis, die mit der Gefährdung der eigenen Identität eine Annäherung an die Menschen u. die Mentalität des Orients ermöglichte. Der starke Eindruck, den Leonhard Rauwolf bei K. hinterließ, kommt immer wieder zum Ausdruck.

K. entstammte dem Ulmer Patriziat, sein Ausgaben: Reisen u. Gefangenschaft H. U. K.s. Vater Johann Krafft war Ratsherr, später Aus der Originalhs. hg. v. Konrad Dietrich Haszler. Ratsältester und Fernhandelskaufmann. Stgt. 1861. – Ein dt. Kaufmann des 16. Jh. H. U. K.s Zwölfjährig wurde K. zur kaufmänn. Aus- Denkwürdigkeiten. Bearb. Adolf Cohn. Gött. 1862. bildung in den Dienst Hieronymus Imhoffs Nachdr. Ffm. 1995. – H. U. K., ein schwäb. Kaufnach Augsburg gegeben, 1565 ging er für mann in türk. Gefangenschaft. Bearb. Klaus Schubring. Heidenheim/Brenz 1970 (Ausw.). – Türklerzwei Jahre nach Lyon u. 1569–1572 nach in elinde bir alman tâcir (Ein schwäb. Kaufmann in Florenz. 1573 verpflichtete er sich in den türk. Gefangenschaft). Istanbul 1996. Dienst des Augsburger Handelshauses MelLiteratur: Jakob Berg: Ältere dt. Reisebechior Manlich, das mit eigenen Schiffen den schreibungen. Diss. Gießen 1912. – G. Burkhardt: dt. Orienthandel organisierte. K. wurde Lei- H. U. K. [...]. In: Geschichtl. Mitt.en v. Geislingen ter der Kontore in Aleppo, Tripolis u. Fama- u. Umgebung 8 (1940), S. 74–92. – Ilpo Tapani gusta. In Begleitung des Arztes u. Botanikers Piirainen: Untersuchungen zur Lautlehre in ›ReiLeonhard Rauwolf trat er die Überfahrt an u. sen und Gefangenschaft‹ v. H. U. K. Univ. Helsinki bereiste mit ihm seinen neuen Tätigkeitsbe- 1964. – Klaus Schubring: H. U. K. In: NDB. – reich. Nach dem Bankrott der Manlichs Thomas Schauerte: Die Luther-Bibel des H. U. K. wurde K. 1574 von den türk. Behörden in Ein Fund v. Autographen Luthers, Melanchthons, Schuldhaft genommen u. erst drei Jahre spä- Cranachs u. Dürers in der Herzog August Bibl. u. ihre illustre Provenienz. In: Wolfenbütteler Beiter freigelassen. 1577 erreichte er Marseille, träge 13 (2005), S. 255–308 (mit Ed. der handim Winter 1578/79 kehrte er nach Deutsch- schriftl. autobiogr. Eintragungen in der Bibel). land zurück. Seine Abenteuer fanden hier Horst Wenzel / Red. Interesse bei Fürsten u. Gelehrten, die ihn als Zeugen einer empir. Welterfahrung sahen. Krafft-Ebing, Richard Frhr. von, * 14.8. Erst 1582 nahm K. wieder eine feste Stellung 1840 Mannheim, † 22.12.1902 Maria an; nun bereiste er auch Schlesien, Polen u. Grün bei Graz. – Psychiater u. GerichtsUngarn. Von 1587 bis ins hohe Alter hatte er mediziner. ein Amt als Ulmischer Pfleger (Verwalter) in Geislingen/Steige inne. K. war das älteste von fünf Kindern des Seine umfangreiche Schrift ist keine Rei- großherzoglich badischen Oberamtmannes sebeschreibung im engeren Sinn; sie vermit- Friedrich Karl Konrad Christoph von Kraffttelt die Erfahrung fremder Länder als Le- Ebing u. seiner Frau Klara Antonia Carolina, benserfahrung u. kombiniert Wissenstraditi- geb. Mittermaier. Nach der Reifeprüfung in on u. Erfahrungswissen aus der Perspektive Baden studierte er Medizin in Heidelberg, wo eines involvierten Beobachters, der das Be- sein Schwiegervater u. Großvater Rechtsdürfnis nach Erzählung u. das nach klassifi- kunde lasen. 1863 wurde er in Heidelberg mit

Krafft-Ebing

einer Arbeit über Die Sinnesdelirien (Heidelb. 1864) mit »summa cum laude« promoviert. Nach einem Zwischenaufenthalt in Zürich, wo er Wilhelm Griesinger kennenlernte u. an dessen gehirnanatom. Studien teilnahm, hospitierte er in Wien, Prag u. Berlin. Auf einer Studienreise lernte er Carl Freiherr von Rokitansky, Joseph Skoda u. Johann von Oppolzer kennen. 1864–1868 war K. Assistenzarzt in der Anstalt für Geisteskranke in Illenau (Baden), 1868–1870/71 arbeitete er als niedergelassener Neurologe in Baden-Baden. Während des Deutsch-Französischen Krieges wirkte er als Feldarzt u. Lazarettarzt in der Festung Rastatt. Nach Kriegsende übernahm er die Leitung der elektrotherapeut. Station in Baden-Baden mit bes. Aufmerksamkeit der neurolog. Nachbehandlung verwundeter Soldaten. Ab 1872 führte er eine eigene psychiatr. Klinik an der Universität Straßburg. 1873 erhielt er die Lehrkanzel für Psychiatrie an der Universität Graz, parallel dazu die Direktion der steiermärk. Landesirrenanstalt Feldhof bei Graz. Von 1874 bis 1885 leitete K. die Klinik in Graz. 1889 folgte der Ruf nach Wien an die I. Psychiatrische Klinik der niederösterr. Landesirrenanstalt, ab 1892 nach dem Tode Theodor Meynerts die Leitung der Psychiatrischen Universitätsklinik des Allgemeinen Krankenhauses. K. wurde 1902 pensioniert u. starb ein halbes Jahr später nach einer Reihe von Gehirnschlägen. 1903 wurde die Prüfung in Psychiatrie obligat u. in der Studienordnung verankert. K.s Interesse galt zunächst der forens. Psychiatrie, seine frühen Schriften sind ein Plädoyer für die Feststellung der Selbstbestimmungsfähigkeit von Straftätern. Über medizin. Kreise hinaus bekannt wurde das letzte große Werk K.s, Psychopathia sexualis mit besonderer Berücksichtigung der conträren Sexualempfindung (Stgt. 1886), das auf empir. Basis mentale Störungen mit auffälligem Sexualverhalten, »Perversionen des Geschlechtstriebes«, in Verbindung brachte. Ausgelöst wurde K.s Forschungsinteresse durch die Lektüre des Werkes von Carl Heinrich Ulrich. Für den kulturellen u. literar. Diskurs um 1900 waren damit bedeutende erot. Themenkreise benannt: Fetischismus, Sadismus,

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Masochismus u. Homosexualität. Die in lat. Sprache verschlüsselten Fallgeschichten wurden unmittelbar nach Erscheinen zum Geheimtipp für Leser, die sich auf der Suche nach Spielarten unkonventioneller Sexualität befanden. Während K. den großen Erfolg seines Buches im Vorwort zur 12. Auflage (Stgt. 1903) darin sah, dass es Lesern »Aufklärung und Trost hinsichtlich rätselhafter Erscheinungen ihrer eigenen Vita sexualis« bot, vermutete Karl Kraus das Käuferpotential in »überhitzten Romanlesern«. Anlass zur Polemik bot die Psychopathia sexualis vielen Frauenrechtlerinnen und Autorinnen um 1900, denn als patholog. Störung des Sexualverhaltens galt jegliches erot. Interesse der Frau, das nicht durch den Fortpflanzungstrieb legitimiert sei. 2006 erschien unter der Regie von Bret Wood ein stark kritisierter Film, der u. d. T. Psychopathia sexualis sexuelle Praktiken wie Nekrophilie, Vampirismus, Sadismus u. Homosexualität vor einer aufwendig gestalteten viktorian. Kulisse zeigte. 2007 wurde vom Verlag Hoffmann und Campe K.s Werk als Hörbuch herausgegeben u. mit dem Slogan »Was Sie schon immer über Sex wissen wollten, aber nur heimlich zu lesen wagten...« beworben. Weitere Werke: Beiträge zur Erkennung u. richtigen forens. Beurtheilung krankhafter Gemüthszustände für Ärzte, Richter u. Vertheidiger. Erlangen 1867. – Grundzüge der Criminalpsychologie zur Grundlage der dt. u. österr. Gesetzgebung. Erlangen 1872. – Lehrbuch der gerichtl. Psychopathologie. Stgt. 1875. – Lehrbuch der Psychiatrie auf klin. Grundlage. Für prakt. Ärzte u. Studierende. Stgt. 1879. – Über gesunde u. kranke Nerven. Tüb. 1885. – Nervosität u. neurasthen. Zustände. Wien 1895. Literatur: Hans Giese (Hg.): Psychopathologie der Sexualität. Stgt. 1962. – Medard Boss: Sinn u. Gehalt der sexuellen Perversionen. Bern/Stgt. 3 1966. – Annemarie u. Werner Leibbrand: Formen des Eros. Bd. 2, Freib. i. Br./Mchn. 1972. – Joseph Marie Lo Duca: ›Manuel des confesseurs‹ et K. en bandes dessinées. Essais sur les obsessions sexuelles à la lumière des bulles contemporaines. Paris 1982. – Joseph Rattner (Hg.): Vorläufer der Tiefenpsychologie. Georg Christoph Lichtenberg, Karl Philipp Moritz, Carl Gustav Carus, Arthur Schopenhauer, Sören Kierkegaard, Johann Jakob Bachofen, Friedrich Nietzsche, F. M. Dostojewski, Henrik

Kraft

5 Ibsen, Havelock Ellis, R. v. K., Wilhelm Dilthey, Pierre Ja. Wien 1983. – R. v. K.: Psychopathia sexualis. Mit Beiträgen v. Georges Bataille, Werner Brede, Albert Caraco, Salvatore Dalí, Ernst Fuhrmann, Maurice Heine, Julia Kristeva, Paul Kruntorad u. Elisabeth Lenk. Mchn. 1984. – Gisela Steinlechner: Fallgesch.n: K., Panizza, Freud, Tausk. Wien 1995. – Harry Oosterhuis: Stepchildren of Nature. K., Psychiatry and the Making of Sexual Identity. Chicago 2000. – Volkmar Sigusch: R. v. K. (1840–1902). Eine Erinnerung zur 100. Wiederkehr des Todestages. In: Nervenarzt 75 (2004), S. 92–96. Karin Tebben

Graf Kraft von Toggenburg. – Minnesänger, Ende des 13. Jh.

genaue Begriffsverwendung u. spielerische Wortwiederholungen aus, so etwa für den vielschichtigen Terminus »guot« in den Liedern 6 u. 7. K. knüpft hier an Walthers von der Vogelweide »Reichston« u. die philosoph. Diskussion um das »summum bonum« an. In Gottfried Kellers Novelle Hadlaub begegnet K. als Mitgl. des Züricher ManesseKreises. Ausgabe: Max Schiendorfer (Hg.): Die Schweizer Minnesänger. Bd. 1, Tüb. 1990, S. 1–9. Literatur: Günther Schweikle: Graf K. v. T. In: VL. – Herta-Elisabeth Renk: Der Manessekreis, seine Dichter u. die Manessische Hs. Stgt./Bln. u. a. 1974, S. 211–217. Sandra Linden

Die Manessische Liederhandschrift (C) überliefert Kraft, Gisela, * 28.6.1936 Berlin, † 5.1. für K. 25 stollige, bis zu 14-zeilige Strophen 2010 Bad Berka/Thüringen. – Lyrikerin, im Stil Gottfrieds von Neifen, die sich zu Prosa-Autorin, Essayistin, Nachdichterin sieben Subjektliedern fügen; 14 dieser Stro(aus dem Türkischen). phen finden sich auch im Naglerschen Fragment. Die thurgauische Familie der Toggen- K. absolvierte 1956–1959 eine Ausbildung in burger ist seit 1044 urkundlich nachgewie- Schauspiel u. Eurythmie in Berlin, Stuttgart sen, die hierarchisch gegliederte Handschrift u. Dornach u. arbeitete im Anschluss als EuC nennt K. in der Reihe der Grafen an zweiter rythmistin u. Puppenspielerin in Westberlin Stelle. Als Minnesänger kommen drei Perso- (bis 1972); Tourneen führten sie auch ins nen in Frage: Kraft I. starb bereits vor 1254, westeurop. Ausland. Daneben arbeitete sie als sein Sohn Kraft II. ist nur 1260 bezeugt, u. Therapeutin mit schwerbehinderten KinKraft III. († 1339), der Neffe von Kraft II., ist dern. Von 1972 bis 1978 studierte sie Islamin Zürich als Propst des Großmünsters u. im wissenschaft an der Freien Universität Berlin Umkreis der Brüder Manesse belegt. Die u. wurde mit der Arbeit Facil Hüsnü Daglarca – sprachl. Form u. die logische Klarheit der Weltschöpfung und Tiersymbolik (Freib. i. Br. Reflexion deuten auf den Kleriker Kraft III. 1978) promoviert. 1977 begann sie, Bühnenals Verfasser. Graf Friedrich von Toggenburg, stücke u. Gedichte zu veröffentlichen. der Bruder Krafts III., wird in Hadloubs 1978–1983 wiss. Mitarbeiterin am Institut zweitem Lied als Unterstützer seiner Minne- für Islamwissenschaft der Freien Universität werbung erwähnt, u. auch Ulrich von Zat- Berlin, war K. von 1980 bis 1982 zgl. 1. Vorzikhoven, Verfasser des Lanzelet u. Dienst- sitzende der Neuen Gesellschaft für Literatur mann der Toggenburger, deutet auf ein lite- in Westberlin u. arbeitete in der Initiative rar. Interesse der Familie. Künstler für den Frieden mit. 1982 erhielt sie Die Lieder bieten einen einfachen, aber einen Werkvertrag mit der Schaubühne Berstilistisch gelungenen, mitunter sogar zwei- lin; 1983 wurde ihr Stück PAX MUNDI, Collage strophigen Natureingang. Signifikante Mo- in 14 Sprachen in der Waldbühne Berlin urtive sind der rote Mund der Dame sowie ihr aufgeführt. Seit ihrer Übersiedlung nach Lachen, das ambivalent zwischen Zustim- Ostberlin im Jahre 1984 arbeitete K. als freie mung u. Spott changiert. In Lied 2 schlägt der Schriftstellerin. 1987–1990 hatte sie die LeiBlick der Dame das betroffene Ich in einen tung des Berliner Lyrik-Aktivs des Schriftmagischen Liebeszwang, die personifizierte stellerverbandes der DDR inne. K. war seit Minne wird als Hilfsinstanz angerufen. Die 1987 Mitgl. des PEN u. von 2001 bis 2007 Lieder zeichnen sich durch einen knappen, Mitgl. des Präsidiums des PEN-Zentrums aber stringent durchgespielten Motivschatz, Deutschland als Delegierte im Writers-for-

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Peace-Komitee des Internationalen PEN. Sie (Gesch.n). – Müllname oder Vom Abschied der zog 1997 nach Weimar u. erhielt 2006 den Gegenstände. Mit Holzschnitten v. Wolfgang Simon. Düsseld. 1984 (E.en). – An den zeitlosen GeWeimar-Preis. Im lyrischen u. erzählerischen Werk der liebten. Mit Offsetlithographien v. Akbar Behkalam. Düsseld. 1985 (G.e). – Katze u. Derwisch. Bln./ viel gereisten Dichterin mit ihrer unangeWeimar 1985. Erw. Ausg. 1989 (G.e). – Sintflut. passten Biografie wird in einer eigenwilligen Märchen u. Träume. Mit Holzschnitten v. Matthias poet. Sprache scheinbar Unvereinbares zu- Gubig. Halle/S. 1990. – Prolog zu Novalis. Bln./ sammengeführt, die genau gezeichnete Folie Weimar 1990 (R.). – West-östl. Couch – Zweierlei des Alltäglichen mit mytholog. Tiefe, die Leidensweisen der Deutschen. Noten u. Abhandkontemplative Zwiesprache mit polem. Äu- lungen. Bln. 1991. – Keilschrift. Bln./Weimar 1992 ßerungen zum Zeitgeist. Von Anbeginn steht (G.e). – Zu machtschlafener Zeit. Postpolit. Fragdas lyr. Schaffen im Zentrum ihrer Arbeit. ment. Mit Bildern v. Heinrich Tessner. Bln. 1994. – Zwischen 1979 u. 2006 erschienen neun Ly- Madonnensuite. Romantiker-Roman. Lpz. 1998. – Matrix. Mit Offsetlithographien v. Walter Sachs. rikbände. Befruchtet vom Kosmos europäi- Düsseld. 2003 (G.e). – Aus Mutter Tonantzins scher u. oriental. Poesie u. dem nachdichte- Kochbuch. Hg. u. mit Typographien vers. v. Jens rischen Schaffen, verbinden sich bei K. tradi- Fietje Dwars, mit einem Holzschnitt v. Ullrich tionelles Formenbewusstsein mit modernem Panndorf. Jena 2006 (G.e). – Nachdichtungen aus dem lyr. Sprechen. Das erzählerische Werk hat ei- Türkischen: Aras Ören, Aziz Nesin, Bekir Yildiz, nen Höhepunkt in dem dreibändigen Nova- Fazil Hüsnü Daglarca, Nazim Hikmet, Vasif Önlis-Projekt, das 2006 nach zwanzigjähriger gören, Yunus Emre u. Pir Sultan Abdal. Literatur: Wilhelm Bartsch: G. K. Religiosität Arbeit mit dem Roman Planet Novalis (Lpz.) seinen Abschluss fand. In dieser subtilen des Realismus. In: SuF (1987), S. 407–414. – Franz dichterischen Recherche zum Leben des Josef Görtz: Poet. Sozialistin. In: Ders: Innenansichten (1987), S. 101. – Regine Möbius in: Dies.: Frühromantikers ergänzen sich unterschiedl. Autoren in den neuen Bundesländern. SchriftstelErzählformen, eine oft szenisch-dialogische ler-Portraits. Hg. vom Börsenblatt für den DeutProsa wechselt mit inneren Monologen, schen Buchhandel. Lpz. 1995. – Martin Straub: kompositorisch gelungen von Original-Zita- Leben zwischen Krieg u. Frieden. In: Der Literat. ten des Dichters durchwirkt. Die 2000 u. Fachztschr. für Lit. u. Kunst 5 (2002), S. 20 f. 2001 erschienenen autobiografisch grunMartin Straub dierten Erzählungen (Prinz und Python. Mit Papierschnitten v. Ren Rong. Düsseld. 2000. Kraft, Robert, * 3.10.1869 Leipzig, † 10.5. Rundgesang am Neujahrsmorgen. Eine Familien- 1916 Haffkrug/Lübeck. – Abenteuer-, chronik. Weimar 2001) sind aus unterschied- Kriminal- u. Science-Fiction-Schriftsteller. licher iron. Distanz, vom Heiteren bis hin zum Karikaturistischen, geschrieben. K.s Als Kind war K. »einsam, menschenscheu, träumerisch, schüchtern – und dann wieder nachdichterisches Schaffen kulminiert 2008 wild bis zum Exzess« (Die Augen der Sphinx. in dem zweisprachigen Band Nazim Hikmet: Dresden/Niedersedlitz 1808/09). K. hatte eiHasretlerin Adi. Die Namen der Sehnsucht, Genen Sprachfehler u. deshalb keine Spielkadichte (Zürich). Die kongenialen Nachdichmeraden. Selbstmordversuche u. a. mit Arsetungen u. der abschließende Essay von K. nik (1879) waren nicht erfolgreich; später vermitteln eine neue Sicht auf den türk. trachtete er der Realität u. dem Elternhaus Poeten. durch Ausreißversuche zu entfliehen. Sein Weitere Werke: Die Überfahrt des Franziskus. manisch-depressiver Charakter hatte mehrere Kassel 1977 (Spieltext). – Eines Nachts in der Zeit. Ursachen: die gescheiterte Ehe seiner Eltern, Bln. 1979 (G.e). – Die Schlange Gedächtnis. Mit die Strenge seines Vaters, eines Weinhändlers Zeichnungen v. Wolf Kühnelt. Bln. 1980 (M.). – Wovon lebt der Mensch (nach Lew Tolstoi). Kassel u. Besitzers einer Weinstube, der ihn in einen 1980 (Spieltext). – Istanbuler Miniaturen. Mit Bil- ungeliebten Beruf (Schlosser) zwang, u. das dern v. Hanefi Yeter. Düsseld. 1981 (G.e). – Aus eigene Scheitern (auf dem Thomas-Gymnasidem Mauer-Diwan. Mit Grafiken v. H. Yeter. Düs- um in Leipzig, das er 1885 verlassen musste). seld. 1983 (G.e). – Schwarzwild. Bln. 1983 Der abrupte Wechsel blieb zeit seines Lebens

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fast die einzige Konstante. Nach Abschluss H.e, Dresden 1898. – Aus dem Reiche der Phantader Schlosserlehre 1887 studierte K. zwei sie. 10 H.e oder 1 Bd., Dresden 1901. – Erlebnisse Jahre lang erfolglos an der Königlichen Hö- eines dreizehnjährigen Knaben. H.e der Ztschr. ›In der Dämmerstunde‹, Dresden 1902. – Detektiv heren Gewerbeschule zu Chemnitz. Nobody’s Erlebnisse u. Reiseabenteuer. 2 Serien, 60 Als K. 1889 im dritten Anlauf mit gestohH.e oder 6 Bde. bzw. 50 H.e oder 5 Bde., Dresden/ lenem Geld aus dem Elternhaus floh u. wie- Niedersedlitz 1904/07. – Wir Seezigeuner. 52 H.e der aufgegriffen wurde, durfte er endlich zur oder 5 Bde., Dresden/Niedersedlitz 1907/08. – Die See fahren. Während der ersten Reise ging das Augen der Sphinx. Ges. E.en. 60 H.e oder 5 Bde., Schiff »Shakespeare« unter. Die zweite führte Dresden/Niedersedlitz 1908/09. – Der Graf v. Saint nach Singapur u. endete 1890 mit K.s Flucht Germain. 44 H.e oder 4 Bde., Dresden/Niedersedin Kairo. »Das Totenschiff« überlebte er nur litz 1909/10. – Die neue Erde. 1 Bd., Lpz. 1910. – knapp, wurde danach zur Marine in Wil- Atalanta. 60 H.e oder 6 Bde., Dresden 1911. – Das helmshaven verpflichtet, wo er als eine Art Gauklerschiff. 60 H.e oder 6 Bde., Dresden 1912. – Bibliothekar für ausrangierte Schiffsbiblio- Das zweite Gesicht. 46 H.e oder 5 Bde., Dresden 1913. – Untersee-Teufel. 1 Bd., Radebeul/Lpz. theken erste Bildungserlebnisse genoss. 1894 1918. – Loke Klingsor. 60 H.e oder 6 Bde., Heizog es ihn als »Wüstenjäger« nach Ägypten, denau 1927. bis er sich 1895 in London niederließ, dort Ausgabe: R. K. – Ges. Romane u. Novellen. 8 Johanna Rehbein heiratete u. – zunächst um Bde., Lpz./Wien 2001 ff. das eigene Erleben aufzuarbeiten – zu Literatur: Bernd Steinbrink: Abenteuerlit. des schreiben begann: für K. die Möglichkeit, in 19. Jh. in Dtschld. Tüb. 1983, S. 229–253. – Walter der Einsamkeit des verdunkelten Arbeits- Henle u. Peter Richter: Unter den Augen der zimmers gleichzeitig die große Flucht als Sphinx. Leben u. Werk R. K.s zwischen Fiktion u. unbewusster »Trance-Schreiber« zu organi- Wirklichkeit. Lpz. 2005. – Thomas Braatz: R. K. – sieren. Auch nachdem er mit Erfolg für den Farbig illustrierte Bibliogr. Lpz. 2006. Kolportage-Verleger Münchmeyer (der auch Hans-Otto Hügel / Thomas Braatz Karl May »betreute«) u. für illustrierte Unterhaltungszeitschriften gearbeitet hatte, Kraft, Werner, * 4.5.1896 Braunschweig, wechselte er ruhelos den Wohnort (Berlin, † 14.6.1991 Jerusalem; Grabstätte: FriedRiviera, London, Monte Carlo, London, Berhof des Kibbuz Tzora. – Lyriker, Philolin, Bad Schandau, Dresden, Hamburg). soph, Essayist u. Literaturwissenschaftler. Die Kolportage (bis auf sechs kleinere Arbeiten u. Kurzgeschichten publizierte K. in K. lebte als Kind in Braunschweig, später als Lieferungswerken sowie in Zeitungen u. Schüler bis zum Abitur in Hannover. Bereits Zeitschriften meist unter dem eigenen Na- als 17-Jähriger setzte er sich kritisch mit der men) bestimmt auch die Sprachform seiner in dt. Geistesgeschichte auseinander u. veröfExotismen, schwindelerregenden Abenteu- fentlichte in der Zeitschrift »Die Aktion« (hg. ern u. unvorstellbaren Ereignissen schwel- v. Franz Pfemfert) eine Rezension über Rugenden Prosa. K.s Werk umfasst rd. 40.000 dolf Borchardts Wannsee u. Stefan Georges Druckseiten (auf einer Schreibmaschine mit Stern des Bundes. 1913 lernte K. den PhilosoEndlos-Papier produziert). Seine Anzie- phen Theodor Lessing kennen, der ihn zu hungskraft v. a. für eine kleine Gemeinde von krit. Denken anregte, v. a. gegen dt. IntellekSammlern u. Lesern ist bis heute ungebro- tuelle, die den Ersten Weltkrieg guthießen. chen. Seit 2001 werden seine Werke in der 1915 begann K. ein Studium in Berlin Edition Braatz & Mayrhofer in Frakturschrift (Deutsche Philologie, Romanistik, Philosou. einer aufwendigen Buchform veröffent- phie). Dort begegnete er Walter Benjamin u. licht. Bisher erschienen acht Bände, eine Gerhard Scholem, zu denen sich eine enge Freundschaft entwickelte. Mit Scholem Biografie u. Bibliografie. Weitere Werke: Die Vestalinnen. 103 H.e, führte K. einen jahrelangen Briefwechsel. K. Dresden 1895. – Das Mädchen aus der Fremde gab später diese Briefe mit einem Nachwort (später u. d. T. Um die ind. Kaiserkrone). 93 H.e, von Jörg Drews heraus (Gershom Scholem. Briefe Dresden 1896. – Vier Frauen u. nur ein Mann. 80 an Werner Kraft. Ffm. 1986). Die frühen Briefe

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zwischen Walter Benjamin u. K. in den Jahren von 1915 bis 1921 wollte Benjamin als Grundlage für eine Serie von Briefen zur neuesten Literatur verwenden. Leider gingen die Schriften verloren. Der Krieg zwang K. in den Militärdienst. Er galt als soldatisch untauglich u. wurde als Krankenwärter für sog. Kriegshysteriker abgeschoben. Als Rekrut schrieb er an Martin Buber, der damals die Zeitschrift »Der Jude« herausgab u. zu dem eine lebenslange Freundschaft entstand. Später veröffentlichte K. über diese Begegnungen das Buch Gespräche mit Martin Buber (Mchn. 1966). 1919 setzte K. sein Studium in Freiburg (u. a. bei Husserl) fort u. promovierte 1925 in Frankfurt/M. mit einer Motivgeschichtlichen Untersuchung über die Päpstin Johanna in der deutschen Literatur. Nach Stationen in Berlin, Leipzig u. Florenz arbeitete K. ab 1928 als Bibliotheksrat an der »Vormals Königlichen und Provinzialbibliothek« in Hannover. Hier entstanden seine Entwürfe zu den großen Monografien über Karl Kraus, Borchardt, Kafka, Stefan George, Heine u. Carl Gustav Jochmann. K. stieß auf Gedichte von Wilhelm Lehmann. Eine Freundschaft entstand, die bis zu Lehmanns Tod 1968 währte. 1933 erhielt K. als Jude Berufsverbot. Er emigrierte über Stockholm, London u. Paris nach Jerusalem. In Paris traf er Benjamin wieder. K. erschloss ihm neue literar. Fundgruben, darunter gehört die »Wiederentdeckung« Jochmanns. Ein daraus folgender Streit über die »Erstrechte« führte zur Jochmann-Kontroverse zwischen K. u. Benjamin. Seit 1934 lebte K. in Jerusalem. Erst dort ging die literar. Saat auf, deren Boden in Deutschland bereitet worden war. Die genannten Monografien wurden vollendet, darüber hinaus Arbeiten über Hölderlin u. Hofmannsthal. Der Roman Der Wirrwarr (Ffm. 1960) entstand, in welchem K. die Wirrnisse des Lebens mit den klärenden Mitteln seiner Sprache bewältigt. Im hebr. Sprachraum, abseits des Infernos, das Deutschland erschütterte, drang er ein in die dt. Geistesgeschichte. Was er an literar. Schätzen entdeckte u. in seinen sprachkrit. Schriften neu auslegte, gab der germanist. Forschung neue Impulse. Als jüd. Schriftsteller wurde ihm die Paradoxie

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bewusst, dass seine Dichtung an die dt. Sprache gebunden war. K. half Else LaskerSchüler, die, aus Deutschland geflohen, 1937 in Jerusalem eintraf; später gab er ihren literar. Nachlass heraus (Else Lasker-Schüler, Verse und Prosa aus dem Nachlaß. Mchn. 1961). Immer war K. auch ein Lyriker, u. Titel seiner Gedichtbände wie Wort aus der Leere (Jerusalem 1937) oder Figur der Hoffnung (Heidelb. 1955) stehen für die Odyssee seines Lebens. Seine frühen Gedichte bauen sich balladenhaft auf, seine späten Verse beschränken sich auf äußerste Reduktion. Ein unverwechselbares Profil zeigt K. in seinen Aphorismen: In der Darstellung eines Mikrokosmos erweist sich seine Fähigkeit, neue, bis dahin verborgene Bezüge zwischen Dingen u. Wesen zu offenbaren u. auf diese Weise das Muster der Welt staunend zu durchdringen. Oft entlarven seine Sprachminiaturen verdeckte Absurditäten in profanen Ereignissen (Sätze und Ansätze. Bonn 1991). Erst nach dem Zweiten Weltkrieg erreichte K.s literar. Botschaft Deutschland, auch gefördert durch das 1983 gegründete WernerKraft-Archiv in Rheinbach/Köln. Bald wurde der hohe Rang seiner Werke erkannt u. gewürdigt: 1966 erhielt er den Literaturpreis der Bayrischen Akademie der Schönen Künste, 1971 den Sigmund-Freud-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, 1975 die Ehrendoktorwürde der Universität Freiburg u. 1990 das Niedersächsische Künstlerstipendium für Literatur. Fast ein Jahrhundert lang war K. ein großer Entdecker, Förderer, Deuter, Vermittler u. Bewahrer deutscher Literatur u. bis zu seinem Tod ein Sprachmoralist mit festem Glauben an die Macht der Dichtung. Weitere Werke: Wort u. Gedanke. Krit. Betrachtungen zur Poesie. Bern 1959. – Rudolf Borchardt. Welt aus Poesie u. Gesch. Hbg. 1961. – Franz Kafka. Durchdringung u. Geheimnis. Ffm. 1968. – Carl Gustav Jochmann u. sein Kreis. Zur dt. Geistesgesch. zwischen Aufklärung u. Vormärz. Mchn. 1972. – Spiegelung der Jugend. Mit einem Nachw. v. Jörg Drews. Ffm. 1973. 1996. – Das Ja des Neinsagers. Karl Kraus u. seine geistige Welt. Mchn. 1974. – Der Chandosbrief u. andere Aufsätze über Hofmannsthal. Mit einer Bibliogr. der Veröf-

9 fentlichungen W. K.s, erstellt v. Manfred Schlösser. Darmst. 1977. – Stefan George. Mchn. 1980. Ausgaben: Ges. Werke in 8 Einzelausg.n. Bonn 1984–96. – Herz u. Geist. Ges. Aufsätze zur dt. Lit. Wien 1989. – Eines schönen Tages. Gedichte u. Prosa. Ausgew. v. Volker Kahmen u. Friedrich Pfäfflin. Mit Bildern v. Ulrich Erben. Marbach/N. 1996. – Zwischen Jerusalem u. Hannover. Die Briefe an Curd Ochwadt. Hg. Ulrich Breden u. C. Ochwadt. Gött. 2004. – W. K. – Wilhelm Lehmann. Briefw. 1931–68. Hg. Ricarda Dick. Gött. 2008. Literatur: W. K. 1896–1991. Bibliothekar u. Schriftsteller. Chronologie seines Lebens u. Verz. seiner Werke. Bearb. v. Ulrich Breden. Hildesh. 1992. – Georg Oswald Cott: W. K. Ich heiße uns hoffen. In: Von Dichterfürsten u. anderen Poeten. Kleine Niedersächs. Literaturgesch. Hg. Jürgen Peters u. Wilhelm Heinrich Pott. Hann. 1993. – W. K. 1896 bis 1991. Bearb. v. Jörg Drews. Ausgew. v. Volker Kahmen. Marbach/N. 1996. – Uwe Pörksen: Der Wünschelrutengänger. Erinnerungen an W. K. Stgt. 1997. Georg Oswald Cott

Kraft, Zdenko (Josef August) von, eigentl.: Kraft Edler von Helmhacker, * 7.3.1886 Jicˇín (Gitschin)/Böhmen, † 7.11.1979 München. – Erzähler, Dramatiker, Lyriker.

Kralik

vier Sätzen einer Symphonie gegliedert u. der Landschaftsroman Missa solemnis (Bln. 1920) einer Messe nachempfunden. Schon früh erwies der gebürtige Altösterreicher dem »Deutschen Reich« seine Reverenz. 1933 war er mit weiteren 64 »rein arischen« Autoren in der Anthologie DICHTERBUCH. Deutscher Glaube, deutsches Sehnen und deutsches Fühlen in Österreich (Wien) vertreten. K. war im Dritten Reich ein gut verlegter u. auch in Feldpostausgaben gelesener Autor. Weit pessimistischer betrachtete K. die Gesellschaft nach 1945. In seiner an Dekadenzklagen reichen Kulturkritik Verwirrung oder Verfall? Ein Buch vom Ungeist der Zeit (Graz 1964) sieht er in von ihm nicht geschätzten Künstlern »Sonderfälle für den Nervenarzt oder Psychologen«. Weitere Werke: Wikings letzte Fahrt. Lpz. 1917 (R.). – Kaufhaus Alljeder. Bln. 1922 (R.). – Ein Meter siebenundneunzig. Stgt. 1933 (Detektivgesch.). – Alexanderzug. Bln. 1940 (R.). – Kabinettskrise in Ischl. Bln. 1940 (Kom.). – Quartett unter Linden. Lpz. 1941. – Abend in Bayreuth. Bln. 1943 (R.). – Große Musiker. Mchn. 1961. – Wien’s berühmte Zaungäste. Graz 1978. Gerald Leitner / Red.

K. studierte an der TH Wien u. war dann in Kralik, Richard von, eigentl.: R. K., Ritter verschiedenen Berufen tätig. Anfangs von von Meyrswalden, * 1.10.1852 EleonoLudwig Ganghofer stark beeinflusst, lebte er renhain/Böhmen, † 4.2.1934 Wien; Grabseit 1912 als freier Schriftsteller in Stuttgart stätte: ebd., Zentralfriedhof. – Dramatiu. Neckartailfingen, ab 1936 als Archivar des ker, Lyriker, Kulturhistoriker. Richard-Wagner-Archivs in Bayreuth. Mit vielen sudetendt. Schriftstellern ver- K. studierte ab 1870 Jura in Wien (Promotion bindet K. die Vorliebe für historisch-biogr. 1876), bis 1877 Philosophie u. Geschichte in Stoffe u. das deutschnat. Element. In unter- Bonn u. Berlin (u. a. bei Treitschke, Jakob schiedl. Länge u. Güte – von der Skizze (Lud- Bernays u. Karl Richard Lepsius). Danach wig Ganghofer. Stgt. 1925) bis zum umfang- lebte er als freier Schriftsteller in Wien, fireichen Roman (Richard Wagner. 3 Bde., Lpz. nanziell unterstützt von seinem Vater, einem 1920–22) – stellt er Persönlichkeiten aus Po- Glasfabrikanten. Eine Griechenlandreise verlitik u. Kunst von der Antike bis zum 20. Jh. stärkte K.s Interesse für die Antike. Politisch dar; penibel recherchierte Monografien wie der ultramontanen Bewegung angehörend, Der Sohn. Siegfried Wagners Leben und Umwelt Mitgl. des kath. Kulturbundes »Leo-Gesell(Graz 1969) stehen neben sehr freien Be- schaft« (gegr. 1892), führte K. um 1900 einen handlungen. Den histor. Stoffen sucht er mit als »katholischer Literaturstreit« bekannten einer altertüml. Sprache zu entsprechen. K. Kampf mit dem »Reformkatholizismus« um versucht kompositor. Strukturen aus der Carl Muth, der sich am Begriff der von K. Musik auf die Dichtung zu übertragen u. verteidigten »literarischen Tendenz«, also damit romant. Stimmungen zu erzeugen; so am Problem programmat. Kulturschaffens, ist Sonnwend des Glücks (Bln. 1917) nach den entzündete. K.s christlich-german. Kultur-

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ideal verband Vorstellungen von Antike/ Kramer: Zeitkritik u. innere Auseinandersetzung Klassik, Nation u. Religion (Kunstbüchlein. im dt. Katholizismus um die Jahrhundertwende. Wien 1891. Kulturstudien. 4 Bde., Münster Diss. Mainz 1955. – David C. Large: R. v. K.s Search 1900–07). Als Bezugspunkt konservativen for a Fatherland, Austrian History Yearbook 17/18 (1981/82), S. 143–155. – Bernhard Doppler: ›Ich Kulturverständnisses galt ihm die Romantik, habe diesen Krieg immer sozusagen als meinen in der er die Verbindung von Religion u. Krieg angesehen‹: Der kath. Kulturkritiker R. v. K. Nation als erfüllt betrachtete. Sein program- (1852–1934). In: Österr. u. der große Krieg matisch u. literarisch extrem umfangreiches 1914–18: Die andere Seite der Gesch. Hg. Klaus Werk war geprägt von einer Reaktivierung Amann u. Hubert Lengauer. Wien 1989, S. 95–104. mittelalterlicher u. von K. »volkstümlich« – Judith Beniston: Welttheater. Hofmannsthal, R. genannter Literatur. In seinem dramat. v. K., and the Revival of Catholic Drama in Austria, Schaffen überwiegen geistliche u. weltl., an 1890–1934. Leeds 1998. – Richard S. Geehr: The Wagner oder Calderón orientierte Festspiele, Aesthetics of Horror. The Life and Thought of R. v. die vorwiegend in Laienspielkreisen großen K. Boston 2003. – Rolf Parr: Der ›Gralbund‹ u. seine Rezeption des ›Renouveau catholique‹. In: ModerAnklang fanden. Seine Erzählungen stehen ne u. Antimoderne. Der ›Renouveau catholique‹ u. der Heimatkunst in Anlehnung an Friedrich die dt. Lit. Hg. Wilhelm Kühlmann u. Roman Lienhard nahe. Auch altdt. Sagenstoffe bear- Luckscheiter. Freib. i. Br. 2008, S. 43–66. beitete er im Sinne eines christl. GlaubensAndreas Schumann / Judith Beniston ideals neu (Das deutsche Götter- und Heldenbuch. Bde. 1 u. 2, Stgt., Bde. 3–6, Mchn. 1900–03). Als anerkannter Wortführer des polit. u. Kramer, Theodor, * 1.1.1897 Niederhollakulturellen Katholizismus in Österreich brunn/Niederösterreich, † 3.4.1958 Wien; gründete K. 1905 den ultramontanen »Gral(Ehren-)Grabstätte: ebd., Zentralfriedhof. bund«, dessen Organ »Der Gral« (1906 f.) als – Lyriker. Gegengewicht zu der von Muth begründeten reformkatholizist. Zeitschrift »Hochland« K. gehörte in den 1930er Jahren zu den be(1903 f.) dienen sollte. Auf die katholisch- kanntesten Lyrikern des dt. Sprachraums, konservative Kulturpolitik der Ersten Repu- während seines Exils in England geriet sein blik u. des Ständestaats hatten seine Ideen Werk in Vergessenheit, erst in den 1980er einen beträchtl. Einfluss, während völkische Jahren setzte mit der Herausgabe einer dreiu. antisemit. Äußerungen in seinen Werken bändigen Werkausgabe (Europaverlag Wienfür die Erwähnung K.s in den Literaturge- München-Zürich) eine Renaissance ein. Heuschichten des Dritten Reichs sorgten. Bis in te gilt K. als Klassiker der österr. Literatur. Der Sohn eines jüd. Gemeindearztes im die 1970er Jahre existierte in Wien eine Kraniederösterr. Weinviertel besuchte das Reallik-Gesellschaft. Weitere Werke: Weltweisheit. 3 Bde., Wien gymnasium in Stockerau u. Wien. Nach sei1893–96 (Ess.s). – Kaiser Marcus Aurelius in Wien. ner Einberufung zur k.u.k. Armee 1915 Wien/Lpz. o. J. [1897] (D.). – Die Weltgesch. nach diente K. als Einjährig-Freiwilliger (OffiMenschenaltern. Wien 1903. – Die Gralsage. Wien ziersanwärter), 1916 wurde er in Wolhynien 1907. – Heimaterzählungen. Wien 1907 f. – Die schwer verwundet. Noch im Krieg begann er Revolution. Ravensburg 1908 (7 Dramen). – Die in Wien ein Studium der Philosophie, Gerkath. Literaturbewegung der Gegenwart. Regensb. manistik u. Geschichte, später wechselte er an 1909. – Wien: Gesch. der Kaiserstadt u. ihrer Kultur die jurid. Fakultät. 1921 brach er sein Studi(mit H. Schlitter). Wien 1912. – Österr. Gesch. Wien um ab u. arbeitete als Buchhandelsgehilfe u. 1913. – Vom Weltkrieg zum Weltbund. Innsbr. 1916 (Ess.s). – Tage u. Werke. Lebenserinnerungen. Buchvertreter. In den 1920er Jahren unterWien 1922 (Autobiogr.). – Neue Tage u. neue nahm K. allsommerlich wochenlange Wanderungen durch Niederösterreich u. das Werke. Mchn. 1927 (Autobiogr.). Literatur: Bernhard Stein: Kath. Dramatiker Burgenland. 1926 erschien ein erstes Gedicht der Gegenwart. Ravensburg 1909, S. 303–391. – in der Zeitschrift »Die Bühne«, es folgten Edith Raybould: R. K.s Erneuerung altdt. Dich- Abdrucke in der Wiener »Arbeiter-Zeitung«, tung. Diss. Freib./Üchtland 1934. – Wolfgang 1928 wurde K. für seinen Erstling Die Gau-

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nerzinke (Ffm. 1929) der Preis der Stadt Wien für Lyrik zugesprochen. Der Band enthält neben poet. Landschaftsbeschreibungen v. a. Rollengedichte über Landstreicher, Taglöhner u. kleine Handwerker: ein Panoptikum der Außenseiter u. Verlierer des ländl. Raums. Von der zeitgenöss. Kritik wurde K.s anschaulichsinnliche, gegenständlich exakte Lyrik vor der Folie der Rilke-Epigonen u. Spätexpressionisten als innovativ begrüßt, von (deutsch-) nationaler u. konservativer Seite wegen der anrüchig-plebejischen Sujets allerdings angefeindet. Nach dem Verlust seiner Stellung als Folge einer schweren Erkrankung (Colitis) 1931 konnte K. von Rundfunkhonoraren u. vom Abdruck seiner Gedichte in den Tageszeitungen des dt. Sprachraums von Brünn bis Lübeck eine bescheidene Existenz als freier Schriftsteller fristen. Im selben Jahr erschien der Band Wir lagen in Wolhynien im Morast ... (Wien 1931), dessen von einem kollektiven Wir getragene Gedichte vom Schützengrabenalltag im Weltkrieg die einen ob ihrer Nüchternheit u. militärischen Exaktheit begeisterten, die anderen, v. a. K.s sozialdemokrat. Parteigenossen, wegen des Verzichts auf pazifist. Pathos verstörten. 1933 beteiligte K. sich an der Gründung der österr. »Vereinigung Sozialistischer Schriftsteller«, in deren Vorstand er gewählt wurde. Nach dem Abdruck seines (unpolitischen) Gedichts Maifeuer in der gleichgeschalteten »Literarischen Welt« im Mai 1933 protestierte K. in der Wiener »Arbeiter-Zeitung« u. untersagte jede weitere Veröffentlichung in NS-Deutschland. Auch in Österreich verschlechterten sich K.s Publikationsbedingungen mit der Errichtung des austrofaschist. Ständestaats 1933 u. den Folgen des Bürgerkriegs im Febr. 1934. Dennoch konnte im linkskath. Gsur-Verlag noch K.s umfangreichste Gedichtsammlung Mit der Ziehharmonika (Wien 1936) erscheinen, in der er das Panorama seiner Figuren um die Opfer der großen Arbeitslosigkeit erweiterte u. den motivischen Raum auf die städt. Peripherie ausdehnte. Der »Anschluss« im März 1938 bedeutete für K. Berufsverbot u. den Verlust der Wohnung. In seinem Zyklus Wien 1938, in Ge-

Kramer

dichten wie Wer läutet draußen an der Tür u. Die Wahrheit ist, man hat mir nichts getan, die als Psychogramme der Angst mittlerweile zu Lesebuch-Ehren gelangt sind, spricht K. ausnahmsweise von sich selbst, führt er die schleichende Verengung des persönl. Freiraumes bis hin zur Bedrohung des Lebens schlicht u. ohne Pathos vor. Nach einem Selbstmordversuch im Aug. 1938 gelang K. mit Hilfe Thomas Manns im Juli 1939 die Ausreise nach England, wo seine Frau bereits eine Stellung als Haushaltshilfe gefunden hatte. Im Mai 1940 wurde K. als »feindlicher Ausländer« interniert, nach seiner Entlassung Anfang 1941 knüpfte er in London Kontakte zu österr. Emigranten wie Erich Fried u. Hilde Spiel. Mit Zuwendungen des PEN-Clubs u. Publikationen in Exilorganen hielt K. sich über Wasser, bis er nach der Trennung von seiner Frau 1943 eine Anstellung als College-Bibliothekar in Guildford bei London fand. Sein schlechter Gesundheitszustand ließ ihn die Heimkehr nach Österreich immer wieder hinausschieben. Nach einem psych. Zusammenbruch übersiedelte K. 1957 nach Wien, wo der Bundespräsident ihm, auf Betreiben des damaligen Staatssekretärs Bruno Kreisky, eine Ehrenpension bewilligte. Ein halbes Jahr nach seiner Rückkehr erlag er einem Schlaganfall. Mit rd. 12.000 Gedichten gehört K. zu den produktivsten Lyrikern des dt. Sprachraums. Der K.’sche Realismus lässt sich der Neuen Sachlichkeit zuschlagen, wiewohl K. deren prononcierte Kaltschnäuzigkeit fremd war u. er Fortschritt wie Industrialisierung skeptisch betrachtete. Mit seinem Festhalten an Reim u. Strophe, an Lied u. Ballade bleibt er in der Form konventionell; die Besonderheit seiner Lyrik liegt in der Vielfalt des von Regionalismen u. bäuerl. Fachsprache geprägten Vokabulars, in ihrer dezidierten Sinnlichkeit u. im Reichtum des Stofflichen. Das armselige Leben des ländl. (Sub-)Proletariats, die übel beleumundeten Viertel u. die Zonen des Übergangs zwischen Land u. Stadt fanden in K. einen präzisen Chronisten. Mit seiner empath. Parteinahme »für die, die ohne Stimme sind«, für die kleinen u. ganz kleinen Leute, für Ausgebeutete u. Randexistenzen nahm K. politisch Stellung, ohne je propa-

Kramp

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gandistisch zu wirken. In ihrer Melancholie K.-Gesellsch. Klagenf. 2000. – D. Strigl: Neue u. ihrem »Überschwang« sind K.s Figuren Wege, alte Schuhe. T. K. als Autor der klass. Moeher Rebellen als Revolutionäre, sie verteidi- derne. In: Zwischenwelt Nr. 3/4, Dez. 2008, gen die menschl. Würde als Anrecht auf ein S. 62–67. Daniela Strigl Minimum an Lebensgenuss. Dass K. den Status quo beschrieb anstatt zu seiner Veränderung aufzurufen, wurde auch in jüngster Kramp, Willy, * 18.6.1909 Mülhausen/ElZeit als Bekenntnis zu sozialer Statik miss- sass, † 19.8.1986 Villigst bei Schwerte. – verstanden. Im Kulturkampf der Zwischen- Verfasser theologischer Traktate, Erzähkriegszeit stand K. auf der Seite der Linken, er ler. verstand sich selbst stolz als »Asphaltdichter« u. seine Gedichte als typisch »jüdisch«. Zgl. K., Sohn eines aus Westpreußen stammenden jedoch kann sein Werk als »bodenständig« Beamten, wuchs nach 1919 in Pommern auf. gelten, wobei K. einen Begriff von Heimat Seine Zugehörigkeit zur Bekennenden Kirche vertritt, der auch den Besitzlosen u. Nicht- prägte sein Werk ebenso wie die Kriegsgesesshaften nicht ausgrenzt. K.s Exilwerk fangenschaft in der Sowjetunion. Nach 1950 widmet sich zwar auch dem Gastland Eng- leitete er das Evangelische Studienwerk in Villigst, wo er ab 1957 als freier Schriftsteller land u. der persönl. Erfahrung von Flucht u. lebte. Fremdsein, reproduziert aber v. a. die heiIm Zentrum von K.s Werk steht das Thema matl. Sujets, Landschaften u. Typen. des religiösen Menschen als eines AußenseiWeitere Werke: Kalendarium (= Flugblatt Nr. ters. Dostojewskijs Einfluss ist spürbar v. a. in 12 der Reihe ›Die Anthologie‹). Bln. 1930. – VerK.s erfolgreichstem Roman Die Fischer von bannt aus Österr. Neue Gedichte. London 1943. Wien 1983. – Die grünen Kader. Wien 1946. – Die Lissau (Bln. 1939. Freib. i. Br. 1979). Eine untere Schenke. Wien 1946. – Vom schwarzen Vermittlung zwischen christl. Weltbild u. Wein. Ausgew. Gedichte. Hg. Michael Gutten- Realismus suchte K. im religiösen Entwickbrunner. Salzb. 1956. – Einer bezeugt es... Eingel. lungsroman (Die Jünglinge. Bln. 1943. Gött. u. ausgew. v. Erwin Chvojka. Graz 1960. – Lob der 1952), im gleichnishaften (Die Prophezeiung. Verzweiflung. Wien 1972. – Lied am Rand. Bln./ Gött. 1950) u. im autobiogr. Erzählen (Brüder DDR 1975 (Ausw.). – Poesiealbum 96: T. K. Bln./ und Knechte. Mchn. 1965. Gießen 2000). DDR 1975. – Orgel aus Staub. Ges. Gedichte. Ausw. v. E. Chvojka. Nachw. v. Hans Fröhlich. Mchn. 1983. – Der Braten resch, der Rotwein herb. Wien 1988. – Spätes Lied. Gedichte. Mchn. 1996. – Laß still bei dir mich liegen. Liebesgedichte. Hg. E. Chvojka, Nachw. v. Daniela Strigl. Wien 1997. – Solange der Atem uns trägt. Wien 2004 (G.e). Ausgabe: Ges. Gedichte in 3 Bdn. Hg. Erwin Chvojka. Wien 1984–87. Literatur: Wendelin Schmidt-Dengler: Gedicht u. Veränderung. In: Formen der Lyrik in der österr. Gegenwartslit. Hg. ders. Wien 1981. – Konstantin Kaiser (Hg.): T. K. 1897–1958. Aufsätze u. Dokumente. Wien 21984. – Silvia Schlenstedt: ›Für die, die ohne Stimme sind‹. Weg u. Werk des österr. Dichters T. K. bis zum Exil. In: Wer schreibt, handelt. Hg. dies. Bln./Weimar 21986, S. 369–409. – Über Kramer hinaus u. zu ihm zurück. Hg. v. der T. K.-Gesellsch. Wien 1990. – Daniela Strigl: ›Wo niemand zuhaus ist, dort bin ich zuhaus‹: T. K. – Heimatdichter u. Sozialdemokrat zwischen den Fronten. Wien u. a. 1993. – ›Chronist seiner Zeit‹ – T. K. Hg. H. Staud u. J. Thunecke im Auftrag der T.

Weitere Werke: Die ewige Feindschaft. Jena 1932 (R.). – Die Herbststunde. Mchn. 1937. Neudr. Gött. 1954 (E.). – Was ein Mensch wert ist. Gött. 1952 (E.). – Das Spiel der Erde – Gedanken in einem Garten. Mchn. 1956. – Das Lamm. Mchn. 1959 (E.). – Die Last der Wahrheit. Strukturen u. Probleme gegenwärtiger Dichtung. Ratingen 1967. – Der letzte Feind. Aufzeichnung. Mchn. 1969. – Herr Adamek u. die Kinder der Welt [Erlebnisse eines Arglosen]. Freib. i. Br. 1977 (R.). – Zur Bewährung. Freib. i. Br. 1978 (R.). – Lebens-Zeichen. Meditationen, Bilder, Reden. Freib. i. Br. 1978. – Wintermai u. Sommerschnee. Augenblicke meines Lebens. Freib. i. Br. 1981. – Wider die Krebsangst. Chronik eines Kampfes. Freib. i. Br. 1986. – Ankunft in der Stadt. Stgt. 1988 (N.). Literatur: Bertram Haller (Hg.): W. K. zur Vollendung des 70. Lebensjahres. Münster 1979. – Josef Wilkes: Kein Garten Eden. Gedenkbuch für W. K. Schwerte 1987. – Gisbert Kranz: Bewahrung im Leid: W. K. (1909–86). In: Ders.: Begegnungen mit Dichtern. Wuppertal 1990, S. 58–66. – Heinrich Peuckmann: W. K. – Dichter aus christl. Ver-

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Krane

antwortung. In: Lit. in Westfalen 7 (2004), S. 165–177. Hartmut Dietz / Red.

Bibelübertragungen, die der – mündlichen – Vermittlung der Bibeltexte im Deutschen Orden dienten.

Kranc, Cranc, Klaus, Claus, * 14. Jh. in Ostpreußen. – Übersetzer der alttestamentlichen Propheten.

Ausgabe: Die Prophetenübers. des Claus Cranc. Hg. Walther Ziesemer. Halle/S. 1930. Literatur: Erkki Valli: Die Übersetzungstechnik des Claus Cranc. Helsinki 1946. – Karl Helm u. Walther Ziesemer: Die Lit. des Dt. Ritterordens. Gießen 1951, S. 91, 122–127. – E. Valli: Das Verhältnis des Claus Cranc zu Nikolaus v. Lyra. In: Neuphilolog. Mitt. 53 (1952), S. 331–338. – Irmgard Meiners: Cranc. In: VL. – Dietrich Schmidtke: Repräsentative dt. Prosahss. aus dem Deutschordensgebiet. In: Dt. Hss. 1100–1400. Hg. Volker Honemann u. Nigel F. Palmer. Tüb. 1988, S. 352–378. Sabine Schmolinsky / Red.

K. bezeichnet sich als Kustos der franziskan. Kustodie Preußen; er lebte sicherlich in Thorn. Im Akrostichon der Vorrede teilt er mit, dass er seine Übersetzung der Prophetenbücher im Auftrag Siegfrieds von Dahenfeld, des Obersten Marschalls des Deutschen Ordens, verfasst habe. Dessen Amtszeit 1347–1359 datiert das Werk. Anders als die zuvor im Umkreis des Deutschen Ordens entstandenen Bibelübertragungen in Versen, die Text u. Auslegung Krane, Anna Freiin von, * 26.1.1853 vereinten (Apokalypse des Heinrich von Hesler, Darmstadt, † 3.1.1937 Düsseldorf. – LyDaniel, Hiob, Makkabäer, Judith, Hester, Esdra), rikerin, Dramatikerin, Autorin von Erübersetzte K. die Propheten in eine ost- bauungsliteratur. mitteldt. Prosa, die genau dem Wortlaut u. In einer Sozialgeschichte der dt. Literatur rhetor. Duktus der Vulgata folgt, jedoch in käme der in Düsseldorf als Kunstmalerin Syntax u. Variantenreichtum der Wortwahl ausgebildeten K. exemplarische Bedeutung K.s souveräne Sprachbeherrschung erweist. für die vielfältigen VersorgungsmöglichkeiEr gilt als einer der bedeutendsten Bibel- ten zu, die der dt. Buchmarkt um 1900 auch übersetzer vor Luther. für die Frau bot. Sie debütierte in Conrads Keine ältere Übertragung lag K. vor; nur »Gesellschaft« mit Lyrik, schrieb Märchen, die Postilla seines Ordensbruders Nikolaus Erzählungen u. machte sich schließlich im von Lyra benutzte er. Er entnahm ihr einen ritualisierten familiären Leben der Kaiserzeit Teil der Vorreden; die anderen entstammen – einen Namen mit ihren Hauskomödien für die wie bei anderen dt. Bibeln auch – der Über- Jugend. Eine Sammlung von Theaterstücken, Aufsetzung des Hieronymus. Einschließlich der führungen und Vorträgen (6 Bde., Stgt. Bilder des Nikolaus war die Postilla Grundla- 1892–1901). Einen Einschnitt in ihrem Leben ge der eingeschobenen »Uzlegunge«, in der bedeutete der Übertritt zum Katholizismus der Tempel der Vision Ezechiels geistlich auf 1888. Die in den Folgejahren erschienenen die Christenheit, die Verteilung des Landes u. Erbauungsschriften bzw. die kath. Belletrisdie Hl. Stadt hingegen auf das weltl. Fürs- tik kamen dem Aufholbedürfnis des kath. tentum gedeutet werden. Dem Werk ist ein Bildungsbürgertums gegenüber den evang. gereimter Prolog von 180 kunstvoll gebau- Mitbürgern entgegen. Großer Beliebtheit erten, silbenzählenden Versen vorangestellt, in freute sich insbes. Magna peccatrix. Ein Legendem K. die Heilsbedürftigkeit des Menschen denroman aus der Zeit Christi (Köln 1909. seit dem Sündenfall darstellt u. zum geistlich U. d. T. Maria Magdalena. Freib. i. Br. 311930). ausgerichteten Rittertum ermahnt. Weitere Werke: Traum u. Wahrheit. Gedichte K.s Werk ist in einer mit Miniaturen aus- einer einsamen Seele. Bln. 1899. – Der Fluch gestatteten Pergamenthandschrift überlie- Adams. Köln 1909. – Wie ich mein Leben empfand. fert, die wohl schon im 14. Jh. mit einer dt. Bocholt 1917. – Die Leidensbraut: Gesch. eines Versparaphrase des Buches Hiob u. einer an- Sühnelebens. Köln 1921 (R.). – Rex regum. Köln onymen Prosaübersetzung der Apostelge- 1920 (E.). – Am kristallenen Strom. Köln 1921 (E.). schichte zusammengebunden worden ist. Literatur: Ingrid Maisch: Maria Magdalena: Diese sog. Preußenbibel gehört in den Kreis der zur Verachtung u. Verehrung. Das Bild einer Frau

Kranewitter im Spiegel der Jahrhunderte. Freib. i. Br. 1996, S. 134–136. – Irmgard Gehle: A. F. v. K. In: Streifzug durch die kath. Lit. u. Literaturkritik der Jahre 1907–09 im Hintergrund der strittigen Positionen um kath. Inferiorität u. Moderne. Hg. dies. Nordhausen 2007, S. 375–378. Eda Sagarra

Kranewitter, Franz, * 18.12.1860 Nassereith/Tirol, † 4.1.1938 Nassereith/Tirol; Grabstätte: Innsbruck, Westfriedhof. – Dramatiker.

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deutung gewinnen sollte: den Einakter-Zyklus Die sieben Todsünden, an dem er 1902–1925 arbeitete. Ausgaben: Ges. Werke. Hg. Adolf-Pichler-Gemeinde in Innsbruck. Mit Vorw. v. Hans Lederer u. Selbstbiogr. des Dichters. Graz u. a. 1933. – Erzählungen. Aus dem unveröffentlichten Nachl. ausgew. v. Wolf Bosshard u. Hermann Kuprian. Thaur/Wien o. J. [1978]. – Fall u. Ereignis. Ausgew. Dramen. Mit einer Einf. v. Eugen Thurnher. Innsbr. 1980. – Wörterbuch der Nassereither Mundart (1899). Ein Abgleich mit dem gegenwärtigen Dialekt. Hg. Brigitte Fugger u. Lisa Krabichler. Stams 2006. – Nachlass: Forschungsinstitut Brenner-Archiv (Univ. Innsbruck).

K.s Vorfahren waren Zolleinnehmer u. Bauern, die Familie galt als liberal; das Dorf, in dem er aufwuchs, war aber ebenso konservaLiteratur: Anneliese Türmer: F. K.s Einaktertiv wie das gesamte Land: K. sollte zeitlebens zyklus ›Die 7 Todsünden‹. Diss. Innsbr. o. J. [1936/ zwischen diesen weltanschaul. Polen hin- u. 37]. – Franz Wagerer: F. K. Leben u. Werk. Diss. Wien 1947. – Waltraud Rass: Die Frauengestalten hergerissen werden. Er studierte in Innsbruck Germanistik, in der Dichtung v. F. K. Diss. Innsbr. 1971. – Eugen Geschichte u. Klassische Philologie. Als Thurnher: F. K. – Karl Schönherr. In: Tausend Schriftsteller trat er zunächst mit Gedichten Jahre Österr. Bd. 3 hg. v. Walter Pollak. Wien/ Mchn. 1974, S. 118–125. – Johann Holzner: F. K. (Lyrische Fresken. Innsbr. 1888), Prosaskizzen (1860–1938). Provinzlit. zwischen Kulturkampf u. u. einem sozialkrit. Versepos (Kulturkampf. NS. Innsbr. 1985. – Gertrud Pfaundler-Spat: TirolLpz. 1890) an die Öffentlichkeit. Doch ein Lexikon. Ein Nachschlagewerk über Menschen u. Durchbruch gelang ihm erst, als er, vom Na- Orte des Bundeslandes Tirol. Vollst. überarb. u. erg. turalismus angeregt, sich der Aufgabe zu- Neuaufl. Innsbr. u. a. 2005, S. 290. – J. Holzner: wandte, gesellschaftl. Verhältnisse u. Defor- Das Verblühen der krit. Heimatlit. im Schatten der mationen, die ihm aus eigener Anschauung Wiener Moderne. In: Akten des XI. Internat. Gervertraut waren, im Drama minuziös zu be- manistenkongresses Paris 2005. Bd. 11, Bern 2008, S. 277–283. schreiben. Johann Holzner Seine erste Tragödie Um Haus und Hof (Urauff. Innsbr. 1895) sowie die Dramen MiKrantz, Krantzius, Crantzius, Albert(us), chel Gaißmayr (Bln. 1899) u. Andre Hofer * 1.1.1448 Hamburg, † 7.12.1517 Ham(Urauff. Meiningen 1902) fanden zwar in der burg. – Grammatiker, Theologe u. Histodeutschsprachigen Presse Beachtung, von riker. Hermann Bahr wurden sie sogar den Stücken Hofmannsthals u. Schnitzlers gegenüberge- Der Sohn eines Hamburgischen Schlossstellt, in der Heimat des Autors aber stießen hauptmanns u. Ratsdieners studierte Theosie auf massiven Widerstand. So sah sich K., logie u. kanonisches Recht in Rostock (seit kaum etabliert als führender Repräsentant 1463; 1467/68 Magister artium, Baccalauder österr. »Provinzkunst«-Bewegung, die reus; 1481–1486 wiederholt Dekan der Arvon »Jung-Tirol« ihren Ausgang genommen tistenfakultät; 1482/83 Rektor der Universihatte u. in Konkurrenz zu »Jung-Wien« tre- tät) u. schloss seine Studien 1491 in Mainz ten wollte, unter dem Druck verschiedenster (Doctor decretorum) u. Perugia (Doktor der Zensurmaßnahmen bald gezwungen, sich Theologie) ab. 1486–1491 wirkte er als Synden in Tirol vorherrschenden kulturellen dikus der Stadt Lübeck. Er vermittelte im Rahmenbedingungen anzupassen. K. wurde Streit Rigas mit dem Deutschen Orden u. Mitherausgeber der Kulturzeitschrift »Der verhandelte als Vertreter der Hanse in AntFöhn« (1909–11) u. 1919 Präsident der Tiro- werpen mit Abgesandten des engl. Königs ler Künstlerkammer, aber er konnte nur noch sowie der Stadt Brügge. 1493 wurde K. Lector ein Werk vollenden, das überregionale Be- primarius am Hamburger Dom. Er wirkte als

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Kranz

Vermittler bei Streitigkeiten niederdt. Städte mit umfangreichem Forschungsber.). – Ders.: A. K. u. als Vertreter der Hanse nach außen. 1508 In: VL Dt. Hum. Klaus Düwel / Red. zum Domdekan in Hamburg gewählt, visitierte er den nordelbischen Kirchensprengel Kranz der Seele ! Seele Kranz, Der (1509 u. 1514). Als Syndikus der Stadt Hamburg wirkte er erfolgreich beim Kaiser, der Kranz, Herbert, auch: Gert Heinz Fischer, eine Klage gegen den hamburgischen Rat Fridolin, Peng, Peter Pflug, * 4.10.1891 zurückzog. Nordhausen, † 30.8.1973 Braunschweig; K. nahm eine vorreformatorisch-krit. HalGrabstätte: ebd., Stadtfriedhof. – Dratung zur Kirche ein. Luthers Ablehnung des matiker, Erzähler, Kinder- u. JugendAblasshandels hielt er für berechtigt, sein buchautor. Vorgehen aber für aussichtslos. Zahlreiche lat. Schriften zur Grammatik (1506), Logik Aufgewachsen im Berlin der Gründerzeit, (1504, 1517) u. Theologie (1506, 1507, 1509) studierte der Sohn eines protestant. Kauferschienen zu seinen Lebzeiten; ungedruckt manns 1910–1914 ebendort u. in Leipzig blieb ein Aristoteleskommentar. Aus seinem Germanistik, Philosophie u. Geschichte. 1914 Nachlass wurden Darstellungen der Ge- trat er als Kriegsfreiwilliger in den Heeresschichte Nord-, Mittel- u. Osteuropas her- dienst ein, aus dem er im Aug. 1916 wegen ausgegeben: Wandalia (Köln 1519), Saxonia Krankheit wieder entlassen wurde. 1918 ar(Köln 1520), Chronica regnorum aquilonarium beitete K. in Frankfurt/M. als HilfsangestellDaniae, Suetiae et Norvagiae (Straßb. 1546) – ter in der Jugendfürsorge; gleichzeitig entnoch vor dem Erscheinen ins Deutsche über- standen erste, vom Expressionismus geprägte setzt (Straßb. 1546) – u. Metropolis (Straßb. Dramen. Am 4.11.1919 wurde am Schau1548), eine Geschichte der ersten Anfänge der spielhaus Düsseldorf Die Richterin, am christl. Religion in (Nieder-)Sachsen, wegen 14.12.1919 im Frankfurter Künstlertheater der man ihn einen zweiten Adam von Bremen für Rhein und Main Die Freiheit (zus. ersch. genannt hat. Das Quellenmaterial trug K. auf Mchn. 1920) uraufgeführt. 1920 verpflichtete seinen vielen Reisen zusammen. In seiner ihn die Intendantin Luise Dumont als DraDarstellung verbindet sich »die Betrach- maturgen, stellvertretenden Direktor u. Retungsweise des überlegenen hansischen Di- dakteur der Zeitschrift »Masken« für das plomaten mit einer breiten Verarbeitung Schauspielhaus Düsseldorf. Teilweise führte wertvoller Anregungen italienischer Huma- K. Regie bei den »Morgenfeiern«, dramatisch nisten« (Grobecker). Auch die seinen histor. inszenierten Gedichtlesungen. Nach einer Werken zugrunde liegende Konzeption einer vorübergehenden Tätigkeit als Regisseur in Geschichte der »Germania magna« geht auf den Niederlanden arbeitete er ab 1925 zuital. Vorbilder zurück. Der vielfach kompila- nächst als freier Mitarbeiter, später als Retorische Charakter beruht auch darauf, dass dakteur bei der »Rhein-Mainischen VolksK. diese Werke für seine eigenen Arbeiten zeitung«. Die von ihm ins Leben gerufene anfertigte u. selbst nicht mehr überarbeiten Beilage für Kinder, »Weg in die Welt«, verkonnte. Eine Kritik an mittelalterl. Fabeleien half ihm 1931 zu einer Professur für Deutsch u. ein unsicher werdendes mittelalterl. Welt- an der Pädagogischen Akademie in Halle/S., bild kennzeichnen die Darstellung. die mit dem Auftrag verbunden war, eine K.’ histor. Werke haben bis ins 17. Jh. Lesebuch für die Schule nach Art von Lagerhinein Neuauflagen, Übersetzungen u. Fort- löfs Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holsetzungen (David Chytraeus) erlebt. gersson mit den Wildgänsen zu konzipieren. Literatur: N. Wilkens: Leben des berühmten D. 1934 wurde K. für seine bereits 1916 von der A. C. Hbg. 1722. – Manfred Grobecker: K. In: NDB. Philosophischen Fakultät der Universität – VD 16. – Ulrich Andermann: A. K. Wiss. u. His- Leipzig angenommene, aber erst jetzt im toriographie um 1500. Weimar 1999 (maßgeblich, Druck erschienene Dissertation über Christian Gotthilf Salzmanns Roman Carl von Carlsberg zum Dr. phil. promoviert. 1933 von den

Krapf

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Weitere Werke: Unsere Haustiere. TierbilderNationalsozialisten aus dem Amt entfernt, nahm K. 1934 eine Stellung als Lokalredak- buch mit Versen. Mainz o. J. [1920]. – Schnuckihas teur bei der »Frankfurter Zeitung« an u. u. Miesemau. Eine lustige Gesch. vom Häschen u. schrieb außerdem für »Das Illustrierte Blatt«. Kätzchen. In Verse gebracht. Mainz 1925. – Lampes Wochenende. Ein lustiger Hasen-Ausflug. Mainz Bis zu seiner Entlassung 1943 zeigte er sich 1930. Esslingen 2009. – Mit Vollgas. Ein Bildernationalkonservativen u. völk. Anschauun- buch vom Auto. Mainz 1930. – Die Chronik v. Pegen verpflichtet, z.T. bis hin zur Reproduk- terstal. Schicksale dt. Siedler am Schwarzen Meer. tion chauvinistischer, rassist. u. antisemit. Nach Quellen aus dem Jahre 1848 frei erzählt. Bln. Klischees. Seine beiden Kolonialgeschichten 1934. – Kaspar kommt vor Gericht. Ein kleiner R. Die weiße Herrin von Deutsch-Ost (Köln/Lpz. für Kinder. Langensalza 1934. – Häschen klein ging 1935) u. Abenteuer am Uhehe (Köln/Lpz. 1937) allein... Ein lustiges Bilderbuch mit Versen v. H. K. verraten mit der Feier von Krieg u. Eroberung u. Bildern v. Fritz Koch-Gotha. Mainz 1935. Esslingen 1999. Mchn. 2005. – Der Teufel nahm ein Nähe zur NS-Ideologie, Die Stauferkaiser und altes Weib. Ffm. 1935. – Der Bäckerkrieg. Ffm. ihr Reich (Stgt. 1937) huldigt der Reichsidee 1936. – Vor dem Richterstuhl. Ffm. 1936. – Zeugnis des MA, Hinter den Kulissen der Kabinette und der Zeiten. Urkunden, Dokumente, SelbstdarstelGeneralstäbe. Eine französische Zeit- und Sittenge- lungen aus der Gesch. des dt. Ostens. Ffm. 1940. – schichte 1933–1940 (Ffm. 1941) institutionali- Das Buch vom dt. Osten. Erzählte Gesch. Lpz. 1940. siert Frankreich u. England als Feindbilder u. – Der Sohn des Achil in Warschau. Bln. 1941. – Die affirmiert mit dem vermeintl. poln. Überfall Fundgrube. Ffm. 1957. 1958. 1960 (E.en). – Friedauf den Sender Gleiwitz die NS-Version von rich II., König v. Preußen. 2 Bde., Stgt. 1959. – Worum es mir ging. Ein Nachw. zu der zehnbänder Auslösung des Zweiten Weltkriegs. Das digen Reihe der ›Kranz-Bücher‹ im Verlag Herder. Drama Der Ritt mit dem Henker (Bln. 1943) Basel u. a. 1959. – Ubique-terrarum-Reihe: In den markiert K.’ Abkehr vom Nationalsozialis- Klauen des Ungenannten. Freib. i. Br. 1953. 131976. mus, die noch im selben Jahr zum Berufs- Neuausg. Norderstedt 2003. – Im Dschungel abverbot wegen polit. Unzuverlässigkeit führt. gestürzt. Freib. i. Br. 1953. 131979. Neuausg. NorDer Henker im Gefolge des Kaisers galt der derstedt 2004. – Flucht zu den Eishai-Jägern. Freib. 10 2008. – Zensur als Anspielung auf Himmler u. Eich- i. Br. 1954. 1978. Neuausg. Norderstedt Befehl des Radscha. Freib. i. Br. 1955. 81967. Neumann, die als Gefolgsmänner Hitlers die ausg. Norderstedt 2008. – Die Insel der Verfolgten. »Endlösung« organisierten. Nach dem Krieg Freib. i. Br. 1956. 71978. Neuausg. Norderstedt schrieb K. Laienspiele u. profilierte sich als 2009. – Das Zeichen der Schlange. Freib. i. Br. 1959. einer der führenden Kinder- u. Jugendbuch- 81977. autoren der jungen Bundesrepublik. Neben Literatur: Bruno Pioch: Gegen H. K. In: Beizahlreichen Bearbeitungen klassischer Ro- träge zur Kinder- u. Jugendlit. 1963, H. 2, S. 54–58. mane (u. a. von Cooper, Defoe, Dickens, – Anton Baumeister: H. K. In: LKJL. – Winfred Grimmelshausen, Melville, Scott, Stevenson), Kaminski: Heroische Innerlichkeit. Studien zur dt. Volksmärchen u. griech. Sagen gehören Jugendlit. vor u. nach 1945. Ffm. 1987, S. 47–85. – histor. Erzählungen (Die Stimme der Vergan- Uli Otto: Auf den Spuren v. ›Ubique Terrarum‹. genheit. Geschichten aus der Geschichte. Freib. i. Untersuchungen zur Jugendbuchreihe ›Ubique Terrarum‹ v. H. K. Regensb. 2003. Br. 1961–64) u. Abenteuerbücher zu seinem Ralf Georg Czapla Œuvre. Größte Bekanntheit erlangten die bis Ende der 1970er Jahre von Herder mehrmals aufgelegten zehn »Kranz-Bände« (1953–59), Krapf, Johann Ludwig, * 11.1.1810 DerErzählungen um die humanitäre Gesellschaft endingen (heute Tübingen-Derendingen), »Ubique Terrarum«, deren Mitglieder, alle- † 26.11.1881 Kornthal bei Stuttgart samt zeitgemäße Aktualisierungen der (heute: Korntal-Münchingen). – Missionar, Forschungsreisender, Sprachfor»Gralsritter« u. des heldischen Drachentöscher. ters, weltweit Forschungsaufträge übernehmen u. Menschen aus Notlagen retten, aus Dem württembergischen Pietismus entstamdenen sie ohne Hilfe nicht mehr hinausfän- mend, besuchte der Bauernsohn das Seminar den. der Basler Mission (1827–1829) u. studierte

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Krasser

Weitere Werke: (zus. mit Carl Wilhelm Isenvon 1829 bis 1834 in Tübingen Evangelische Theologie. Motiviert von eschatolog. Reich- berg:) Journals [1839–42] of the Rev. Messrs. IsenGottes-Vorstellungen, schlug er 1836 die berg and K. London 1843. – Vocabulary of Six AfMissionarslaufbahn ein u. wirkte im Dienst rican Languages. Tüb. 1850. – Dictionary of the Suaheli Language. London 1882. Nachdr. 1964 u. der anglikan. Church Missionary Society in 1969. – Memoir on the East African Slave Trade Äthiopien (vormals Abessinien, 1837–1843) [1853]. Hg. Clemens Gütl. Wien 2003. u. Ostafrika (1844–1855). Dort gründete er Literatur: Wilhelm Claus: Dr. L. K. Basel 1882. zus. mit Johannes Rebmann unweit von – Paul E. Kretzmann: J. L. K. Columbus o. J. [um Mombasa in Rabai Mpia die erste Missions- 1920]. – Dietmar Henze: Enzyklopädie der Entdestation im östl. Afrika. Seine bahnbrechenden cker u. Erforscher der Erde. Bd. 3, Graz 1993, Erkundungsreisen machten ihn zum »Eröff- S. 70–74. – Clemens Gütl: J. L. K. ›Do’ Missionar vo’ ner der Entschleierung Ost-Äquatorial-Afri- Deradenga‹ zwischen pietist. Ideal u. afrikan. Reakas« (Henze) u. lösten weitere Expeditionen lität. Hbg. 2001. – Jochen Eber: J. L. K. Ein schwäb. aus (u. a. von Richard Burton u. John Hanning Pionier in Ostafrika. Riehen 2006. – Werner Raupp: Speke, die 1858 den Tanganjika- u. Victoria- J. L. K. In: Lebensbilder aus Baden-Württemberg. see entdeckten). 1849 erblickte er als erster Bd. 22, Stgt. 2007, S. 182–226. – Ders.: J. L. K. In: Hin u. Weg. Tübinger in aller Welt. Hg. Karlheinz Europäer den Mount Kenya; ein Jahr zuvor Wegmann u. Meike Niepelt. Tüb. 2007, S. 90–99. hatte Rebmann den Kilimandscharo entWerner Raupp deckt. Überdies betrieb K. ethnologische wie v. a. linguist. Studien; in frühen Jahren hatte er Manuskripte der abessin. Literatur geKrasser, Friedrich, * 28.4.1818 Mühlbach sammelt, die er wiss. Instituten in Europa (Sebesˇ )/Siebenbürgen, † 9.2.1893 Herzukommen ließ. Daneben setzte er sich für mannstadt (Sibiu)/Siebenbürgen. – Lyridie Beseitigung des Sklavenhandels ein, trat ker. aber auch als Wegbereiter des Imperialismus in Erscheinung, u. a. durch militär. Pläne ei- Der Bäckersohn K. entstammte einer aus ner europ. Eroberung Afrikas (Modell eines Glaubensgründen u. wirtschaftl. Not im 18. »African Empire«, 1853). Gesundheitlich Jh. in Siebenbürgen eingewanderten Familie. zerrüttet, kehrte er 1855 nach Europa zurück Während einer Paris-Reise 1845 lernte er die u. ließ sich in der Pietistenkolonie Kornthal Theorien Saint-Simons kennen. K. war nach nieder. Fortan widmete er sich vermehrt der dem Medizinstudium in Wien ab 1846 linguist. Arbeit u. der Pilgermission St. Stadtarzt in Mühlbach, während der RevoluChrischona in Bettingen bei Basel (u. a. In- tion 1848/49 floh er in die Walachei. Seine spektor, 1859/60); kurzzeitig bereiste er Arzttätigkeit in Hermannstadt schloss später nochmals Ostafrika (1861/62) u. Äthiopien die Mitarbeit für die neu gegründete Arbei(1867/68). ter-Krankenkasse ein. 1858 veröffentlichte K. sein Hauptwerk K.s Lyrik u. polit. Prosa, die vorwiegend in Reisen in Ostafrika (2 Bde., Kornthal/Stgt. den »Siebenbürgischen Blättern« erschien, Neudr.e Stgt. 1964. Münster/Hbg. 1994. sind inhaltlich geprägt von den sozialen Engl. 1860 [u. 1867]. Neuaufl. 21968. Micro- Konflikten des Kulturraums Siebenbürgen. fiche-Ausg. 1987. Swahili Teilausg. 1963 In der Auseinandersetzung zwischen »Jungu. ö.), das zu einem Klassiker der Afrika-Li- sachsen« u. »Altsachsen« nahm er gegen Reteratur avancierte. Über ein Dutzend afrika- staurationstendenzen Stellung. K. trat für nischer u. arab. Sprachen beherrschend, ver- Gleichberechtigung der Nationen ein. Breifasste K. zudem zahlreiche Bibelübersetzun- tenwirkung erzielten die Gedichte v. a. durch gen, Grammatiken u. Wörterbücher, die noch Veröffentlichungen in sozialdemokrat. Blätbis weit ins 20. Jh. hinein in Gebrauch waren. tern. K.s durch den Darwinismus geprägter Vor allem stellte er die erste Grammatik u. Fortschrittsoptimismus ist mit stark antikledas erste Wörterbuch in Swahili zusammen rikaler Haltung gepaart. In Der Freidenker(1850) u. wies die Verwandtschaft der Bantu- Kongreß in Neapel (Hermannstadt 1870) u. in dem Streitgedicht Anti-Syllabus (anonymer Sprachen nach.

Kratter

Erstdr. 1869 in den »Siebenbürgischen Blättern«), von sozialdemokrat. Kreisen in großen Auflagen international verbreitet, legt er darüber Rechenschaft ab. Im Anti-Syllabus kontrastiert er aufs Schärfste vernunftorientierte Entwicklungen mit einer extrem fortschritts- u. vernunftfeindl. Haltung der Kirche. Mit seinen Gedichten beeinflusste er die Gedankenlyrik zeitgenössischer Dichter Siebenbürgens. Weitere Werke: Offnes Visir! Zeitgedichte. Hbg. 1869. – Marseillaise des Christentums. Bln. 1891 (L.). Literatur: Arnold Kartmann: F. K. In: Die Lit. der Siebenbürger Sachsen. Hg. Carl Göllner u. Joachim Wittstock. Bukarest 1979, S. 59–67. – Ders.: Zur F.-K.-Rezeption in der dt. Arbeiterbewegung. In: Forsch.en zur Volks- u. Landeskunde. Bukarest 26 (1983), S. 85–91. – Dieter Kessler: Die dt. Lit.en Siebenbürgens, des Banates u. des Buchenlandes: v. der Revolution bis zum Ende des Ersten Weltkrieges. Köln u. a. 1997, S. 158 f. Christoph Sahner / Red.

Kratter, Franz, * 27.5.1758 Oberdorf am Lech, † 8.11.1830 Lemberg. – Publizist u. Dramatiker.

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phin. Reformen als ungenügend u. sprach sich für die unbedingte Pressefreiheit aus. Auf dem Gebiet der schönen Literatur veröffentlichte K. 1781 die Idylle Der Augarten in Wien (Wien), eine sentimentale Landschaftsschilderung, die den Monarchen preist, der diesen Park der Öffentlichkeit zugänglich gemacht hatte. 1785 erschien der Briefroman Der jungen Maler am Hofe (Wien), der sich gegen den schwärmerischen Gefühlskult wandte. Der 1790 veröffentlichte Roman Das Schleifermädchen aus Schwaben (Ffm.) wurde als erot. Schlüsselroman in Österreich verboten. Mit dem Drama Der Vizekanzler (1789) begann K.s Laufbahn als Dramatiker. Er übersiedelte nach Lemberg, wo er sich vergeblich um eine Professur an der Universität bewarb. Es folgten mehrere erfolgreiche u. an vielen Theatern gespielte Dramen, so Die Verschwörung wider Peter den Großen (1791) u. Das Mädchen von Marienburg (1795), das am Wiener Burgtheater bis 1848 auf dem Programm stand. Vermutlich seit 1800 war K. Dramaturg am Lemberger Theater, ab 1814 Co-Direktor. 1830 starb er nach längerer schwerer Krankheit. Weitere Werke: Bemerkungen, Reflexionen, Phantasien, Skizzen v. Gemälden u. Schilderungen auf meiner Reise durch einige Provinzen Dtschld.s. Brünn 1791. – Der Friede am Pruth. Wien 1804 (D.).

K. studierte in Dillingen Theologie u. kam um 1779 nach Wien, wo er sich publizistisch im Sinn des Josephinismus engagierte. AufLiteratur: Werner M. Bauer: Fiktion u. Polesehen erregten 1786 die Briefe über den itzigen Zustand von Galizien (Lpz.), das Ergebnis einer mik. Studien zum Roman der österr. Aufklärung. mehrmonatigen Reise durch die erst kürzlich Wien 1978. – Maria Klanska: Erkundungen der neuen österr. Provinz Galizien im deutschsprachivon den Habsburgern annektierte Provinz. K. gen Schrifttum der letzten Dezennien des 18. Jh. attackiert die poln. Aristokratie, die die Bau- In: Galizien als gemeinsame Kulturlandschaft. Hg. ern unterdrücke, u. übt scharfe Kritik an der Fridrun Rinner u. Klaus Zerinschek. Innsbr. 1988, kath. Kirche sowie an der Universität Lem- S. 35–48. – Jan Papiór: Kontexte des Galizienerberg u. vielen ihrer Professoren. lebnisses v. F. K. (mit einem Anhang). Ebd., Auch in Wien war K. in einen literar. Streit S. 83–93. – Leslie Bodi: Tauwetter in Wien. Zur involviert. Er griff 1785/86 in den Briefen über Prosa der österr. Aufklärung. 1781–95. 2. erw. Aufl. die neueste Maurer-Revolution in Wien (Wien) Wien u. a. 1995. – Ernst Wangermann: Die Waffen den einflussreichen Meister vom Stuhl der der Publizität. Zum Funktionswandel der polit. Lit. Loge »Zur wahren Eintracht« Ignaz von Born unter Joseph II. Wien 2004. Wynfrid Kriegleder an. Born versuchte, eine weitere Schrift K.s, Freymaurer Auto da Fé in Wien (Wien 1786), Kratzmann, Ernst, * 8.12.1889 Budapest, verbieten zu lassen, was Gottfried van Swie† 13.7.1950 Wien. – Erzähler. ten verhinderte. Mehr u. mehr entwickelte sich K. zu einem Kritiker des Kaisers. In F. K., aus einer sudetendt. Künstlerfamilie (VaKratters philosophische und statistische Beobach- ter Glasmaler, Großvater Maler u. Restauratungen (Wien 1787) bezeichnete er die jose- tor) stammend, studierte Naturwissenschaf/

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ten (v. a. Botanik) in Wien u. arbeitete nach dem Ersten Weltkrieg als Gymnasiallehrer. Der Verfasser psychologischer u. kulturphilosoph. Arbeiten (meist ungedruckt; Die Süchtigkeit. Eine Seelenkunde. Zus. mit Ernst Gabriel. Bln. 1936) verdankt seine größten literar. Erfolge der Beschäftigung mit vergangenen Epochen u. seiner Fähigkeit zur Beschwörung mystischer u. ekstat. Zustände. Faust. Ein Buch vom deutschen Geist (Wien 1932), von Nadler als »deutscher Roman des deutschen Mittelalters, ein sehr freies Bild seiner Auflösung, seiner Kirche und seines Reiches« bezeichnet, wurde in der NS-Zeit viel gelesen u. mehrfach aufgelegt. Die Gefahr für K. bestand im Überschwang u. in Lyrismen (vgl. Novelle Brangäne. Wien 1938). Kampf unter Sternen (Bln. 1938) hingegen ist eine gebändigte, gedankenreiche Gesprächsnovelle aus der Welt u. dem Umkreis Wallensteins. In seinen letzten Lebensjahren reichte K.s Kraft nur noch zu sprachlich kultivierten, grüblerischen Novellen (Das Tal der Klänge. Wien 1941. Das Märchen vom Glasbläser und dem Teufel. Wien 1944). Der Novellenband Der Garten der Heiligen Mutter (Krems 1959; mit einem Ess. v. Karl Cajka) wurde aus dem Nachlass herausgegeben. Weitere Werke: Die Automaten. Wien 1922 (R.). – Das Lächeln des Magisters Anselmus. Bln. 1927. – Die neue Erde. Wien 1940 (R.). Literatur: Christoph Fackelmann: Ein ›Bestseller‹ aus dem deutschnat. Milieu der Zwischenkriegszeit. Gestaltung eines weltanschaul. Mythos im Geschichtsr. ›Das Lächeln des Magisters Anselmus‹ v. E. K. In: Biblos 54 (2005), H. 1, S. 51–65. Hermann Schreiber / Red.

Kraus, Christian Jacob, * 27.7.1753 Osterode (Ostróda), † 25.8.1807 Königsberg. – Philosoph, Nationalökonom. Der Sohn des Stadtchirurgen wurde von der pietistisch gebildeten Mutter musisch erzogen. Ab 1770 studierte er an der Universität in Königsberg Philosophie. Kant vermittelte dem Hochbegabten eine Hauslehrerstelle (1773). 1774/75 nahm K. mit Hans Jacob von Auerswald u. Hamann freundschaftl. Kontakte auf. Ersterem verdankte er Staats- u. wirtschaftswiss. Anregungen, mit dem »Ma-

Kraus

gus« verband ihn die Lektüre engl. u. ital. Philosophie u. Literatur. 1778 reiste K. über Berlin, wo er Mendelssohn u. den preuß. Staatsminister von Zedlitz kennenlernte, nach Göttingen; dort hörte er bei Heyne u. Schlözer. Im Herbst 1780 erwarb er in Halle die Magisterwürde, Ostern 1781 wurde er in Königsberg Professor für prakt. Philosophie u. Kameralistik. Seine Lehrtätigkeit umfasste Philologisches (Homer, Platon, Shakespeare), Sprachtheorie u. prakt. Philosophie der angelsächs. Tradition sowie die dt. Aufklärung um Leibniz u. Wolff. Der erkenntnistheoret. Skeptizismus Humes, zu dem K. sich bekannte, trennte ihn zunehmend von Kant. Seit den 1790er Jahren beschäftigte er sich verstärkt mit Finanz- u. Wirtschaftsfragen, hinzu kamen Verwaltungs- u. Handelslehre sowie Gewerbe- u. Landwirtschaftskunde. Diese Bereiche standen fortan im Zentrum seiner Vorlesungsarbeit, der er die eigene Übersetzung des Hauptwerks von Adam Smith, The Wealth of Nations (1776), zugrunde legte (u. d. T. Staatswirtschaft. Postum hg. v. H. J. v. Auerswald. 5 Tle., Königsb. 1808–11). Im Anschluss an Smith, den er mit Galilei u. Newton verglich, vertrat K. eine konsequent liberale Wirtschaftspolitik, die er rhetorisch geschliffen vortrug u. von der »die wichtigsten Edikte der preußischen Reformzeit« profitiert haben. Weitere Werke: Vermischte Schr.en [...]. Postum hg. v. Hans Jacob v. Auerswald. 8 Tle., Königsb. 1808–19 (Tl. 8: Lebensbeschreibung v. Johannes Voigt). Literatur: Gottlieb Krause: Beiträge zum Leben v. C. J. K. Königsb. 1881. – Heinrich Leuchtgens: Gesellsch. u. Staat bei C. J. K. Diss. Gießen 1924. – Benny Dobbriner: C. J. K. Diss. Ffm. 1926. – Fritz Milkowski: Die Bedeutung v. C. J. K. für die Gesch. der Volkswirtschaftslehre. In: Schmollers Jb. 50 (1926), S. 921 ff. – Ders.: C. J. K. Eine längst fällige Korrektur. Ebd. 88 (1968), S. 257 ff. – Wilhelm Treue: Adam Smith in Dtschld. In: Dtschld. u. Europa. FS Hans Rothfels. Hg. Werner Conze. Düsseld. 1951, S. 101–133. – Hermann Lehmann: Die ökonom. Auffassungen des C. J. K. In: Jb. für Wirtschaftsgesch. 1976, II, S. 109–131. – Hartwig u. Kristina Franke: Ganzheitl. Sprachauffassung. C. J. K. In: Integrale Linguistik (1985), S. 21–40. – Barbara Kaltz: C. J. K. (1753–1807) revisited. In:

Kraus Sprachdiskussion u. Beschreibung v. Sprachen im 17. u. 18. Jh. Hg. Gerda Haßler u. Peter Schmitter. Münster 1999, S. 297–315. – Dies.: ›Deutsche gründliche Kritik‹. C. J. K. zu Pallas’ ›Glossarium aller Sprachen‹. In: Sprache u. Sprachen in Berlin um 1800. Hg. Ute Tintemann. Hann.-Laatzen 2004, S. 181–197. Dieter Kimpel / Red.

Kraus, Franz Xaver, auch: Spectator, * 18.9.1840 Trier, † 28.12.1901 San Remo; Grabstätte: Freiburg/Br., Hauptfriedhof. – Kirchenhistoriker, Kunstarchäologe, Essayist.

20 Weitere Werke: Real-Encyclopädie der christl. Alterthümer. 2 Bde., Freib. i. Br. 1882–86. – Die Kunstdenkmäler des Herzogtums Baden. 6 Bde., Freib. i. Br. 1887–1904. – Cavour. Die Erhebung Italiens im 19. Jh. Mainz 1902. – Tagebücher. Hg. Hubert Schiel. Köln 1957. – Liberaler Katholizismus. Biogr. u. kirchenhistor. Ess.s. Hg. Christoph Weber. Tüb. 1983. – Nachlass: Trier, Stadtbibl. Literatur: Hubert Schiel: Im Spannungsfeld v. Kirche u. Politik. F. X. K. Trier 1951. – Oskar Köhler: F. X. K. In: Kath. Theologen in Dtschld. im 19. Jh. Hg. Heinrich Fries u. Georg Schwaiger. Bd. 3, Mchn. 1975, S. 241–275. – Claus Arnold: Katholizismus als Kulturmacht. Der Freiburger Theologe Joseph Sauer (1872–1949) u. das Erbe des F. X. K. Paderb. u. a. 1999. – Michael Graf: Liberaler Katholik – Reformkatholik – Modernist? F. X. K. (1840–1901) zwischen Kulturkampf u. Modernismuskrise. Münster u. a. 2002.

Der Sohn eines Malers u. Zeichenlehrers belegte das Trierer Priesterseminar; nach zweijähriger Hauslehrertätigkeit in Paris, wo er mit dem liberalen frz. Katholizismus in Berührung kam u. archäologische u. paläograf. Arno Matschiner / Red. Studien betrieb, promovierte er 1862 (ohne vorangegangenes Studium) in Freiburg i. Br. zum Dr. phil., 1865 zum Dr. theol. Hier Kraus, Karl, * 28.4.1874 Jicˇín/Nordostübernahm K., nachdem er sechs Jahre als a. o. böhmen, † 12.6.1936 Wien; Grabstätte: Prof. für Kunstarchäologie in Straßburg ge- ebd., Zentralfriedhof. – Essayist, Aphowirkt hatte, 1878 den Lehrstuhl für Kirchen- ristiker, Lyriker, Dramatiker, Polemiker, geschichte. Satiriker. K.’ Lehrbuch der Kirchengeschichte (5 Tle., 4 Trier 1872–79. 1896) ging erstmals auch auf K. wurde als zweitjüngstes von neun Gedie Christliche Archäologie ein, der er in der schwistern in der Familie des Kaufmanns u. Studie Über die Blutampullen der römischen Ka- Fabrikanten Jacob Kraus u. seiner Frau Ertakomben (Ffm. 1868) ein streng histor. Fun- nestine geboren. Wie Kafkas Vater stammte dament verschaffte. Bedeutend sind auch die Jacob Kraus aus der jüd. Gemeinde eines Darstellung Kunst und Alterthum in Elsaß- kleinen tschechisch-böhm. Ortes, Dolní Lothringen (4 Bde., Straßb. 1877–92), die als Kralovice (Unterkralowitz). 1859 ließ er sich erste wiss. Kunsttopografie gilt, die groß an- in der gleichfalls tschech. Kreisstadt Jicˇín gelegte Geschichte der christlichen Kunst (2 Bde. nieder u. heiratete dort Ernestine Kantor, in 4 Tln., Freib. i. Br. 1896–1908), die ge- Tochter eines Landarztes. Mit der Vergrößewichtige Dante-Monografie (Bln. 1897) als rung der Firma entstanden Filialen in Prag u. Zeugnis seiner Italien-Orientierung u. die als Wien, wohin Jacob Kraus mit der Familie »Ferienschriften« verstandenen, in Roden- 1877 übersiedelte u. gleichzeitig eine große bergs »Deutscher Rundschau« vorabge- Papierfabrik in Franzensthal (tschech. Frandruckten formschönen Essays (2 Slg.en, Bln. tisˇkov) an der oberen Moldau gründete: 1896, 1901), oft als histor. Frauenporträts Hauptquelle des Familienvermögens, an dem angelegt. Einflussreicher Exponent eines K. nach dem Tod des Vaters 1900 mit einer »rein religiösen« Katholizismus, angefeindet inflationssicheren Monatsrente von 1000 insbes. von Jesuitenseite, ging K. in seinen Kronen partizipierte, der materiellen Basis »Spectator-Briefen« (1895–1899 für die Bei- für die geistige Unabhängigkeit des militanlage der Münchner »Allgemeinen Zeitung« ten Polemikers u. Satirikers. Das Verhältnis geschrieben) mit kirchl. Machtstreben ins des jungen K. zu der sanften Mutter u. dem toleranten Vater war weitgehend ungetrübt; Gericht. am nächsten unter den Geschwistern standen ihm der älteste Bruder Richard u. die ein Jahr

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jüngere Schwester Marie, verh. Turnovsky. Geliebte Frauen haben in dem streitbar gegen Publizität verteidigten Privatleben des unverheiratet gebliebenen K. eine wichtige, auch geistig belebende Rolle gespielt – v. a. die Schauspielerin Annie Kalmar (1877–1901; s. Briefe und Dokumente 1899–1999. Hg. Friedrich Pfäfflin, Eva Dambacher u. Volker Kahmen. Gött. 2001) u. die auch mit Rilke befreundete böhm. Baronesse Sidonie Nádherny´ von Borutin (1885–1950; s. Briefe an Sidonie Nádherny´ von Borutin 1913–1936. Hg. F. Pfäfflin. 2 Bde., Gött. 2005). Religiosität lässt sich bei K. insg. nur ex negativo als Nichtpreisgabe des Gottespostulats definieren; spezifisch konfessionelle Optionen waren jeweils Privatkonsequenzen einer öffentlich vertretenen Haltung: Austritt aus der israelit. Kultusgemeinde (20.10.1899), römisch-kath. Taufe (8.4.1911, Taufpate: Adolf Loos), Wiederaustritt aus der kath. Kirche (7.3.1923) aus Protest gegen deren Kriegs- u. Nachkriegskompromisse. In Wien besuchte K. 1880–1884 die Volksschule (Wiener Pädagogium), 1884–1892 das Franz-Josephs-Gymnasium. 1892–1896 war er, ohne akadem. Berufsziel, zunächst an der juristischen, dann an der philosoph. Fakultät der Universität Wien immatrikuliert, gelegentlich Hörer der Philosophen Robert Zimmermann u. Friedrich Jodl, der Germanisten Richard Heinzel u. Jacob Minor. Sein Hauptinteresse galt, wie schon im letzten Gymnasialjahr, zeitgenöss. Literatur u. Bühnenkunst. Als Schauspieler versuchte er sich, nachdem er in der Rolle des Franz Moor durchgefallen war (14.1.1893), vorerst nicht wieder, doch trat er 1892/93 erfolgreich als Vortragskünstler auf, v. a. mit Lesungen der Weber von Hauptmann. Rezitatorisch wie publizistisch profilierte sich K. 1892–1896 als Parteigänger der realistisch-naturalistischen »reichsdeutschen« Moderne gegen die Jungwiener Autoren um Bahr, dessen Programmschrift Die Überwindung des Naturalismus (Dresden/Lpz. 1891) K. mit einem polemischsatir. Aufruf Zur Überwindung des Hermann Bahr (in: »Die Gesellschaft«, Mai 1893) parodierte. Kumuliert sind die dabei entwickelten Leitmotive in der Literatursatire Die demolirte Litteratur (Wien 1897), die die Schlie-

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ßung (21.1.1897) u. den bevorstehenden Abriss des Wiener Café Griensteidl zum Anlass nimmt, dessen Stammgast-Literaten in leicht attribuierbaren Porträts Revue passieren zu lassen. 1897/98 schrieb K. als ständiger Korrespondent Wiener Briefe für die liberale »Breslauer Zeitung«, Jan./Nov. 1898 für die ebenfalls liberale Wiener Wochenschrift »Die Wage« in der Tradition Daniel Spitzers eine satir. Wiener Chronik des Kultur- u. Theaterbetriebs, der Kommunal- u. Parlamentspolitik der Hauptstadt: anfänglich ohne Distanz, bald in merkl. Widerspruch zum deutschliberalen Meinungsspektrum, von dem er sich mit der als »satirische Streitschrift gegen den Zionismus und seine Propheten« angekündigten Polemik Eine Krone für Zion (Wien 1898) weithin emanzipierte, um sich ab 1.4.1899 eine eigene Tribüne zu schaffen mit der Zeitschrift »Die Fackel« (Jg. 1–37, 922 Nrn. in 415 H.en, Wien 1899–1936 [= F]. Neudr.e: 39 Bde., hg. v. Heinrich Fischer. Mchn. 1968–73. 21976 mit einem Suppl.-Bd.; Neudr. in 12 Bdn., Ffm. 1977, mit Personenregister v. Franz Ögg; Volltextausg. mit Bibliogr. u. Register v. Wolfgang Hink, CD-ROM-Ed., Mchn. 2002; seit 1.1.2007 ist eine integrale digitale Ed. durch das Austrian Academy Corpus der Österreichischen Akademie der Wissenschaften online verfügbar: http://corpus1.aac.ac.at/fackel/). Begründet als zgl. antiliberales u. antivölkisches, mit den sozialeth. Zielen (nicht den polit. Praktiken) der Sozialdemokratie sympathisierendes »Kampfblatt« (Schriften [= S], Bd. 8, S. 164), entwickelte sie bald ein polemisch-satir. Instrumentarium immanenter Kultur-, Ideologie- u. Sprachkritik. Als deren affirmative Norm bildete sich eine implizit auch sittlich dimensionierte Lebens- u. Kunstgesinnung aus, die im Zeichen einer Werkethik u. Materialästhetik nach den Kriterien der Echtheit, Dichtheit, Materialgerechtheit, Negation von Ornament u. Phrase sich gleichgerichteten Bestrebungen in anderen Kulturbereichen (v. a. bei Adolf Loos u. Arnold Schönberg) verbunden wusste. Mit Ausnahme eines Teils der Nachkriegsproduktion – v. a. der kleineren Dramen (Literatur [...]. Wien/Lpz. 1921. Traumstück. Wien/Lpz.

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1923. Wolkenkuckucksheim. Wien/Lpz. 1923. Traumtheater. Wien/Lpz. 1924. Die Unüberwindlichen. Wien/Lpz. 1928), weniger Gedichte der Sammlung Worte in Versen (9 Bde., Wien/Lpz. 1916–30), zahlreicher Zusatzstrophen zu Nestroy- u. Offenbach-Couplets (Zeitstrophen. Wien/Lpz. 1931), der Editionen, Übersetzungen, Bearbeitungen fremder Werke (Shakespeare, Nestroy, Offenbach, Altenberg, Franz Janowitz) – ist in der »Fackel« das Gesamtwerk ihres Herausgebers (ab 1912 auch alleinigen Verfassers) vollständig gesammelt, dokumentiert u. z.T. auch schon kommentiert. In der publizist. Geschichte der Zeitschrift spiegelt sich die Genese der für ihren Herausgeber charakteristischen satir. Kunst- u. polem. Kampfformen. So erwuchs aus der Briefkastenrubrik Antworten des Herausgebers auf (oft fingierte) Leserfragen die 1908 voll ausgebildete Kunstform der »Glossen«: Hauptmedium (nicht nur, aber vor allem) der rein iron. Satire u. der von Brecht an K. gerühmten Kunst kommentarlosen Zitierens, legitimiert durch den Aufbau eines ethisch u. ästhetisch fundierten Raums, »in dem alles zum Gerichtsvorgang wird« (Über Karl Kraus, 1934). Parallel dazu entwickelte sich eine Verselbständigung der Wortkunst des sich als »Satzbauer« (S Bd. 7, S. 48) verstehenden K. in Aphorismenfolgen (März 1906 bis April 1919), bearbeitet u. thematisch umgruppiert zu drei Sammlungen: Sprüche und Widersprüche (Mchn. 1909), Pro domo et mundo (Mchn. 1912), Nachts (Lpz. 1919). Die 1905 von K. proklamierte »ästhetische Wendung« (F Nr. 185, S. 1) brachte nicht nur eine Verstärkung der literar. Seite der »Fackel«, die vor K.s alleiniger Autorschaft bedeutende Mitarbeiter von Liliencron bis zu den Frühexpressionisten aufzuweisen hatte; sie bewirkte auch eine neue Funktionsbestimmung durch den Herausgeber: »Die Fackel ist keine Zeitung, sondern ein periodischer Vorabdruck aus Büchern« (F Nr. 368, S. 33). So entstanden Sammlungen, die Leitthemen der »Vorkriegsfackel« längsschnitthaft hervortreten lassen: Sittlichkeit und Kriminalität (Wien/Lpz. 1908), Die chinesische Mauer (Mchn. 1910), Untergang der Welt durch schwarze Magie (Wien/Lpz. 1922), Literatur und

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Lüge (Wien/Lpz. 1929); die »Kriegsfackel« ist durch die beiden Bände Weltgericht (Lpz./ Mchn. 1919) repräsentiert; Prosatexte der Nachkriegsjahre sind lediglich in die von Philipp Berger 1937 in Wien herausgegebene Sammlung Die Sprache eingegangen, Glossen u. Abhandlungen zum Titelthema aus den Jahren 1903 bis 1932. Neben die »Fackel« u. die aus ihrem Textmaterial komponierten Bücher trat 1910–1936 eine neue Darstellungs-, Kommunikations- u. Appellationsform: die Institution der insg. 700 – nicht nur eigene, sondern immer mehr auch fremde Werke umfassenden – »Vorlesungen Karl Kraus« (Christian Wagenknecht: Die Vorlesungen von Karl Kraus. Ein chronologisches Verzeichnis. In: K.Hefte 35/36, Okt. 1985, S. 1–30. Leo A. Lensing, Hg.: K. K. als Vorleser. Warmbronn 2007). Hierdurch verlagerte sich, abgesehen von den unbegrenzten Möglichkeiten vertikaler Textkombinatorik, die Erstdarbietung eigener Schriften zunehmend vom »Vorabdruck« in der »Fackel« auf das Vortragspodium, gelegentlich mit längeren (im Krieg oft zensurbedingten) Pausen zwischen Erstvortrag u. -abdruck. Aus dem Bedingungsgefüge all dieser Darbietungsverfahren hervorgegangen u. von ihnen geprägt ist die sprach- u. sprechkünstlerische Umgestaltung des Dokumentations-, Gedanken- u. Textmaterials der »Kriegsfackel« zu einem dramat. Monumentalwerk der pathet. Satire: Die letzten Tage der Menschheit. Tragödie in fünf Akten mit Vorspiel und Epilog (»Akt-Ausgabe« in vier Sonderh.en der »Fackel«, Wien 1918/19. Buchausg. Wien/Lpz. 1922. Endgültige Ausg. 1926). Unter Hinweis auf dieses Drama im Rahmen des Gesamtwerks wurde K. von Professoren der Sorbonne als Kandidat für die Literatur-Nobelpreise der Jahre 1926–1928 vorgeschlagen – Ausdruck der über den dt. Sprachraum hinausgewachsenen ethisch-ästhet. Autorität des Satirikers, die ihn v. a. in der republikan. Nachkriegsperiode 1918–1933 zur »Instanz K. K.« (Hans Wollschläger) werden ließ. Mit der von März bis Sept. 1933 entstandenen, im »Fackel«-Heft Warum die Fackel nicht erscheint (Ende Juli 1934) nur auszugsweise veröffentlichten großen Sprach- u.

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Zeitsatire Dritte Walpurgisnacht (Hg. Heinrich Fischer. Mchn. 1952) lieferte K. eine sprach-, ideologie- u. mentalitätskrit. »Prognose der Hitlerzeit«, der, so Friedrich Dürrenmatt 1953, »die kommenden Jahre nur noch Quantitatives beifügen konnten«. Die darin enthaltene, bereits 1934 öffentlich bekundete Option für den autoritären österr. Ständestaat des Bundeskanzlers Dollfuß im Zeichen der Abwehr Hitlers setzte eine – zumal von der linksintellektuellen Majorität der K.-Leser u. -Hörer miterrichtete – langfristig wirksame Rezeptionsbarriere. Mit deren Abbau hatte eine vom Beginn der ersten Nachkriegsedition (Werke. Hg. Heinrich Fischer. 14 Bde. u. 2 Suppl.-Bde., Mchn. 1952–70) datierbare, in sich widersprüchl. »Kraus-Renaissance« lange zu schaffen. Zu deren Hauptaufgaben gehört es, die weithin latent gebliebenen produktiven Wirkungen manifest zu machen, die in allen Bereichen des Kultur- u. Geisteslebens von Werk u. Methode des Satirikers, »Satzbauers«, »Moralphilologen« (Karel Cˇapek 1934), Sprachdenkers u. -kritikers K. nach den verschiedensten Richtungen hin ausgegangen sind (so etwa auf Adorno, Benjamin, Bloch, Horkheimer u. Wittgenstein; Berg, Eisler, Krˇ enek u. Schönberg, Kokoschka u. Loos; Brecht, Broch, Canetti, Chargaff, Ferdinand Ebner, Ficker, Haecker, Lichnowsky, Polgar, Radecki, Joseph Roth, Viertel u. Herwarth Walden). Weitere Werke: Heine u. die Folgen. Mchn. 1910. – Nestroy u. die Nachwelt. Wien/Lpz. 1912. – Ausgew. Gedichte. Lpz./Mchn. 1920. – Epigramme. Zusammengestellt v. Viktor Stadler. Wien/Lpz. 1927. – Übersetzungen, Bearbeitungen, Editionen: Vollst. Verz. v. Otto Kerry in: K.-K.-Bibliogr., s. Lit., S. 59–61. Ausgaben: Ausgew. Werke. Unter Mitarb. v. Kurt Krolop u. Roland Links hg. v. Dietrich Simon. Bde. 1–3, Bln./DDR 1972 (chronolog. Ausw. v. Prosatexten 1902–33). Bd. 4: Aphorismen u. Gedichte. Hg. Dietrich Simon. Bln./DDR 1974. Bd. 5/ 1–2: Die letzten Tage der Menschheit. Hg. K. Krolop in Zus. mit D. Simon. Bln./DDR 1978. – Frühe Schr.en 1892–1900. Hg. Johannes Jacobus Braakenburg. 2 Bde., Mchn. 1979, u. 1 Bd. Erläuterungen. Ffm. 1988. – Schr.en. Hg. Christian Wagenknecht. Bde. 1–12, Ffm. 1986–89. Bde. 13–20, Ffm. 1990–91 (= S). – Briefwechsel: Gilbert J. Carr (Hg.): K. K. – Otto Stoessl. Briefw. 1902–25. Wien

Kraus 1996. – Friedrich Pfäfflin, Eva Dambacher u. Volker Kahmen (Hg.): ›Verehrte Fürstin!‹ K. K. – Mechtilde Lichnowsky. Briefe u. Dokumente 1916–58. Gött. 2001. – George C. Avery (Hg.): Feinde in Scharen. Ein wahres Vergnügen dazusein. K. K. – Herwarth Walden. Briefw. 1909–12. Gött. 2002. – F. Pfäfflin (Hg.): Zwischen jüngstem Tag u. Weltgericht. K. K. – Kurt Wolff. Briefw. 1912–21. Gött. 2007. – Mirko Nottscheid (Hg.): K. K. – Frank Wedekind. Briefw. 1903–17. Würzb. 2008. Literatur: Bibliografien: Otto Kerry: K.-K.-Bibliogr. Mchn. 1970. – Ders.: Nachtr. zur K.-K.-Bibliogr. In: MAL 8 (1975), H.e 1–2, S. 103–180. – Sigurd Paul Scheichl: Komm. Auswahlbibliogr. zu K. K. In: Text + Kritik, Sonderbd. 1975, S. 158–241. Fortgesetzt in: K.-Hefte. Hg. ders. u. Christian Wagenknecht (= KH). Mchn. 1977 ff. – Biografien u. Monografien zum Gesamtwerk: Robert Scheu: K. K. Wien 1909. – Berthold Viertel: K. K. In: Die Schaubühne, März/Juni 1917. Buchausg. Dresden 1921. – Leopold Liegler: K. K. u. sein Werk. Wien 1920. – Walter Benjamin: K. K. In: Frankfurter Ztg., 10./18.3.1931. – Werner Kraft: K. K. Salzb. 1956. – Friedrich Jenaczek: Zeittafeln zur ›Fackel‹. Gräfelfing 1965. – Paul Schick: K. K. in Selbstzeugnissen u. Bilddokumenten. Reinb. 1965. – C. Wagenknecht: Das Wortspiel bei K. K. Gött. 1965. 2 1975. – Caroline Kohn: K. K. Stgt. 1966. – Wilma Abeles Iggers: K. K. Den Haag 1967. – Hans Weigel: K. K. Wien/Ffm./Zürich 1968. Erw. Neuaufl. Wien 1986. – S. P. Scheichl: K. K. u. die Politik. Diss. Innsbr. 1971. – Jens Malte Fischer: K. K. Stgt. 1974. – Helmut Arntzen: K. K. u. die Presse. Mchn. 1975. – Alfred Pfabigan: K. K. u. der Sozialismus. Wien 1976. – Nike Wagner: Geist u. Geschlecht. K. K. u. die Erotik der Wiener Moderne. Ffm. 1982. – Georg Knepler: K. K. liest Offenbach. Wien 1984. – Edward Timms: K. K. Apocalyptic Satirist. New Haven/London 1986. – S. P. Scheichl u. E. Timms (Hg.): K. K. in neuer Sicht. Londoner K.-Symposium. Mchn. 1986. – Kurt Krolop: Sprachsatire als Zeitsatire bei K. K. Bln./DDR 1987. – Stefan Kaszyn´ski u. S. P. Scheichl (Hg.): Ästhetik u. Kritik. K.Symposion Poznan´. Mchn. 1989. – Joseph P. Strelka: K. K. Diener der Sprache, Meister des Ethos. Tüb. 1990. – Harry Zohn: K. K. Ffm. 1990. – K. Krolop: Reflexionen der Fackel. Neue Studien über K. K. Wien 1994. – Reinhard Merkel: Strafrecht u. Satire im Werk v. K. K. Baden-Baden 1994. – Hermann Böhm (Hg.): K. K. contra ... Die Prozeßakten der Kanzlei Oskar Samek in der Wiener Stadt- u. Landesbibl. 1922–36. 4 Bde., Wien 1995/96. – Burkhard Müller: K K. Mimesis u. Kritik des Mediums. Stgt. 1995. – B. Marizzi u. J. Muños (Hg.): K. K. y Su Epoca. Madrid 1998. – Werner Welzig (Hg.):

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Wörterbuch der Redensarten zu der v. K. K. 1899 bis 1936 hg. Ztschr. ›Die Fackel‹. Wien 1999. – F. Pfäfflin (Hg.): K. K. Eine Ausstellung des Dt. Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum. Marbach/N. 1999. – Heinz Lunzer, Viktoria LunzerTalos u. Marcus G. Patka (Hg.): ›Was wir umbringen‹. ›Die Fackel‹ v. K. K. Wien 1999. – Jacques Bouveresse: Schmock ou le triomphe du journalisme. La bataille de K. K. Paris 2001. – Irmgard Schartner: K. K. u. die Musik. Ffm. 2002. – Irina Djassemy: Der ›Productivgehalt kritischer Zerstörerarbeit‹. Kulturkritik bei K. K. u. T. W. Adorno. Würzb. 2002. – Friedrich Rothe: K. K. Die Biogr. Mchn. 2004. – Richard Schuberth: 30 Anstiftungen zum Wiederentdecken v. K. K. Wien 2006/07. – F. Pfäfflin: Aus großer Nähe. K. K. in Ber.en v. Weggefährten u. Widersachern. Gött. 2008. – W. Welzig (Hg.): Schimpfwörterbuch zu der v. K. K. 1899 bis 1936 hg. Ztschr. ›Die Fackel‹. Wien 2008. Kurt Krolop / Peter Michael Braunwarth / Gerald Krieghofer

Krause, Christian Gottfried, getauft am 17.4.1719 Winzig/Schlesien, † 4.5.1770 Berlin. – Jurist, Komponist u. Herausgeber von Sammlungen des Berliner aufgeklärten Gesellschaftsliedes; als Musikästhetiker Überwinder der Nachahmungstheorie zugunsten einer Gefühls- u. Geschmackskultur. Als Sohn eines Stadtmusikers umfassend musikalisch gebildet, wurde K. nach dem Jurastudium in Frankfurt/O. (1741–1746) Sekretär des kunstliebenden Generals von Rothenburg in Berlin u. begegnete dort musikalischen (u. a. Carl Philipp Emanuel Bach, Carl Heinrich Graun, Friedrich Wilhelm Marpurg) u. literarischen (Gleim, Ramler, Ewald von Kleist, Lessing, Nicolai, Mendelssohn) Kreisen. K. war Mitbegründer des »Donnerstags-«, später »Montagsclubs«. Neben seiner jurist. Tätigkeit wirkte er, zus. mit Ramler, als Herausgeber der Oden mit Melodien (3 Bde., Bln. 1753–61) u. der Melodieausgabe (1767/68) der 1766 erschienenen Anthologie Ramlers, Lieder der Deutschen, u. förderte so das vom frz. Chanson u. der dt. Anakreontik abgeleitete populäre Gesellschaftslied (»Berliner Liederschule«). Nach 1747 begonnenen Vorarbeiten legte er in Von der musikalischen Poesie (Bln. 1752) seine musikästhet. Grundlegung vor. Als Advokat beim Magistrat u.

frz. Gericht war er Veranstalter u. Mitwirkender von gesuchten Hauskonzerten, u. a. mit Werken von Telemann u. Händel. K.s Teilhabe an der Berliner Diskussionskultur wirkte nicht nur anregend auf die anakreont. u. postanakreont. Lieddichtung, sondern festigte auch seine vermittelnde ästhet. Position in Richtung auf eine vom Rationalismus abrückende Geschmacks- u. Gefühlskultur. Von der musikalischen Poesie wies darüber hinaus dem Opernlibretto neue Wege zu dramat. Verdichtung u. Berücksichtigung des von Gottsched verpönten »Wunderbaren«. Den Berliner Überlegungen zum engl. Roman u. zur engl. Empfindungsästhetik (Mendelssohn, Lessing, Nicolai) ließ K. 1766, in Ramlers Übersetzung u. einer musikal. Neubearbeitung (wohl nicht von K. selbst), die Aufführung des musikal. Pendants folgen: Händels Alexanderfest. Ausgaben: The Correspondence of C. G. K.: A Music Lover in the Age of Sensibility. Hg. Darrell M. Berg. Farnham u. a. 2009. – Autografe Briefe im Gleimhaus Halberstadt u. im Goethe-Schiller-Archiv Weimar. – Kleinere Schr.en: vgl. Becker 1958 u. Mackensen in MGG (s. u.). Literatur: Max Friedländer: Das dt. Lied im 18. Jh. 2 Bde., Stgt./Bln. 1902. Nachdr. Hildesh. 1970. – Carl Schüddekopf: Briefw. zwischen Gleim u. Ramler. 2 Bde., Tüb. 1906. – Bernhard Engelke: Neues zur Gesch. der Berliner Liederschule. In: FS H. Riemann. Lpz. 1909, S. 456–472. Nachdr. Tutzing 1965. – Gotthold Frotscher: Die Ästhetik des Berliner Liedes in ihren Hauptproblemen. In: Ztschr. für Musikwiss. 6 (1923/24), S. 431–448. – Josef Beaujean: C. G. K. Phil. Diss. Bonn 1930. – Heinz Becker: C. G. K. In: MGG 1. Aufl. Bd. 7, Sp. 1717–1721. – Hans-Günter Ottenberg: Die 1. Berliner Liederschule im Urteil der zeitgenöss. Presse. In: Studien zum dt. weltl. Kunstlied des 17. u. 18. Jh. Hg. Gudrun Busch u. Anthony Harper. Amsterd. 1992, S. 247–268. – Laurenz Lütteken: Das Monologische als Denkform in der Musik zwischen 1760 u. 1785. Tüb. 1998. – G. Busch: Zwischen Berliner Musikliebhabern u. Berliner Anglophilie, Aufklärung u. Empfindsamkeit. In: Händel-Rezeption der frühen Goethe-Zeit. Hg. L. Lütteken. Kassel u. a. 2000, S. 81–134. – Dies.: Karl Wilhelm Ramler als Liedersammler. Die ›Lieder der Deutschen‹ (1766) u. die ›Lieder der Deutschen mit Melodien‹ (1767/68). In: Urbanität als Aufklärung. Hg. L. Lütteken, Ute Pott u. Carsten Zelle. Gött.

Krausnick

25 2003, S. 25–260. – Karsten Mackensen: C. G. K. In: MGG 2. Aufl., Personenteil, Bd. 10, Sp. 629–632.

Die K.-Rezeption in Dtschld. im 19. Jh. Stgt.-Bad Cannstatt 2007. Roland Pietsch / Red.

Gudrun Busch

Krause, Karl Christian Friedrich, * 7.5. 1781 Eisenberg/Thüringen, † 27.9.1832 München. – Philosoph. Der Sohn eines Lehrers u. späteren Pfarrers studierte nach Absolvierung des Gymnasialunterrichts 1797–1800 an der Universität Jena Theologie u. Mathematik. Bei Fichte u. Schelling hörte er Philosophie, promovierte zum Dr. phil. u. habilitierte sich 1802 (De philosophiae et matheseos notione et earum intima conjunctione). K. blieb Privatdozent bis 1804, trat ein Jahr später in die Freimaurerloge von Altenburg ein u. lehrte 1805–1813 in Dresden an der Ingenieurakademie. Den freimaurerischen Grundgedanken eines umfassenden Menschheitsbundes gestaltete K. in Urbild der Menschheit für das Leben (Dresden 1811) aus. Auch K.s Habilitationen in Berlin (1814) u. Göttingen (1823) zeitigten keine Berufung auf einen Lehrstuhl; zeitlebens kränkelnd, starb er, 1831 wegen angeblicher revolutionärer Gesinnung aus Göttingen ausgewiesen, in Armut. K.s Philosophie knüpft an den transzendentalen Idealismus an u. entfaltet eine panentheistische Metaphysik, welche die Subjekt-Objekt-Spaltung in der Einheit von »Denklehre« u. »Schaulehre«, von Philosophie u. Kunst zu überwinden sucht. Anders als in Deutschland fand K.s umfangreiches Werk durch die Übersetzung von Julián Sanz del Rio in Spanien hohe Anerkennung u. wirkte als »Krausismo« schulebildend. Weitere Werke: System der Sittenlehre. Lpz. 1810. – Von der Würde der dt. Sprache. Dresden 1816. – Abriß des Systems der Logik. Gött. 1825. – Abriß des Systems der Rechtsphilosophie. Gött. 1828. – Vorlesungen über die Grundwahrheiten der Wiss. Gött. 1829. Ausgabe: Ausgew. Schr.en. Hg. Enrique M. Ureña. Stgt. 2007 ff. Literatur: Theodor Schwarz: Die Lehre v. Naturrecht bei K. C. F. K. Bern 1940. – Rogelio Garcia Mateo: Das dt. Denken u. das moderne Spanien. Panentheismus als Wissenschaftssystem bei K. C. F. K. Ffm./Bern 1982. – Klaus-M. Kodalle (Hg.): K. C. F. K. (1781–1832). Hbg. 1985. – Enrique M. Ureña:

Krausnick, Michail, * 30.11.1943 Berlin. – Schriftsteller, Publizist. K. wuchs in Hannover auf u. studierte seit 1962 Soziologie u. Literaturwissenschaft an der Universität Heidelberg; hier 1973 Promotion zum Dr. phil. mit der Dissertation Paul Heyse und der Münchner Dichterkreis (Bonn 1974). Seit den 1960er Jahren ist K. Mitarbeiter bei Rundfunk u. Fernsehen; er lebt als freier Autor in Neckargemünd bei Heidelberg; Mitgl. des P.E.N. u. VS. K. schuf Texte für Hörfunk, Theater, Kabarett, Film (darunter Drehbuch für den dt.frz. Spielfilm Grandison, 1979) u. Fernsehen (darunter Drehbuch zum Dokumentarfilm Auf Wiedersehen im Himmel, 1994; 1995 ausgezeichnet mit dem CIVIS-Fernsehpreis); dabei entstanden Satiren (Die Sache Mensch. Unser Leben im Kabel-, Kohl- und Computerzeitalter. Reinb. 1985. Verschüsselt und verkabelt. Medienkunde für Fortgeschrittene. Gerlingen 1991. Gegensatz & Widerwort. Neckargemünd 2003) u. Science Fiction-Erzählungen (Die ParacanaAffaire. Würzb. 1975. Im Schatten der Wolke. Mchn. 1980. Lautlos kommt der Tod. Mchn. 1982. Geliebter Klon. Utopien der Liebe. Neckargemünd 2009). Außerdem bereicherte K. u. a. mit »Gedichten für Kinder« (Auf dem Kopf stehn und lachen. Ravensburg 1985) u. Pausenliebe. Gedichte und Geschichten für junge Leser (Neckargemünd 2002) die Kinder- u. Jugendbuchliteratur. Einen Schwerpunkt seiner schriftstellerischen Tätigkeit bilden Werke der erzählenden Geschichtsschreibung. Heraus ragen biogr. Darstellungen in formkünstlerischen Traditionen des histor. Romans, darunter Die eiserne Lerche. Die Lebensgeschichte des Georg Herwegh (Baden-Baden 1990 u. ö.; 1991 ausgezeichnet mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis) u. die »biographische Skizze« ›Nicht Magd mit den Knechten!‹ Emma Herwegh (Marbach 1998; im selben Jahr ausgezeichnet mit dem Louise-Zimmermann-Preis). Auch in Beruf: Räuber. Vom schrecklichen Mannefriedrich und den Untaten der Hölzerlipsbande, einer dokumentarisch durchsetzten »historischen Re-

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portage« (Reinb. 1978. Weinheim 32000. Norderstedt 2007) ringt K. um eine möglichst wirklichkeitsgetreue, dabei durchaus auch auf gegenwartsbezogene Aufklärung u. eine gesellschaftlich-politisch »bessere Zukunft« zielende Darstellung. Von zähem Streben, die vielfältigen Spannungen zwischen Fiktion u. Wirklichkeitsdarstellung zugunsten »realer Lebensgeschichten«, praller Faktizität u. »Authentizität« des Erzählten aufzuheben u. sich gelegentlich dem popularisierenden Sachbuch zu öffnen, zeugen schließlich K.s Schriften, die unter Impulsen der dt. Sinti- u. Roma-Bürgerrechtsbewegung entstanden sind, unter ihnen Wo sind sie hingekommen? Der unterschlagene Völkermord an den Sinti und Roma (Gerlingen 1995), Auf Wiedersehen im Himmel. Die Geschichte der Angela Reinhardt (Mchn. 2002 u. ö.) u. Elses Geschichte. Ein Mädchen überlebt Auschwitz (Düsseld. 2007). Weitere Werke: Dtschld.s Wilder Westen. Vom Räuberleben in dt. Landen. Würzb. 1977. – Von Räubern u. Gendarmen. Würzb. 1978. – Hungrig! Die Lebensgesch. des Jack London. Weinheim 1984. – ›Da wollten wir frei sein!‹ Eine Sinti-Familie erzählt. Weinheim 1986. – Der Liebesverweigerer. Ravensburg 1986. – Stichworte. Satiren, Lieder, Gedichte. Weissach 1990. – Der Räuberlehrling. Stgt. 1992. – Johann Georg August Wirth. Vorkämpfer für Einheit, Recht u. Freiheit. Weinheim 1997. – Al Capone im dt. Wald. Neckargemünd 1999. – Jack London. Mchn. 2006. Literatur: Peter Bräunlein: Mehr finden statt erfinden. Ein Gespräch mit M. K. In: Bulletin Jugend & Lit. 11 (2003), S. 6 f. Joachim Telle

Krauß, Angela, * 2.5.1950 Chemnitz. – Romanautorin, Erzählerin, Essayistin u. Lyrikerin. K. studierte 1969–1972 an der Fachhochschule für Werbung u. Gestaltung in Berlin u. war anschließend vier Jahre als Redakteurin in Werbung u. Öffentlichkeitsarbeit tätig. 1976–1979 studierte sie am Institut für Literatur »Johannes R. Becher« in Leipzig u. lebt seit 1981 ebendort als freie Autorin. K. schreibt v. a. Erzähltexte bzw. kürzere Romane, die deutlich autobiografisch fundiert u. durch Themen-, Raum- u. Figurenkontinuitäten als ein »Weben am ganzen Faden«

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(K. in: Schulze 1997) eng verflochten sind. K.’ Schreibweise wird häufig als »lyrisch« u. »verdichtet« bezeichnet, was auf metaphor. Aufladung u. enge Verknüpfung der Motive, stark subjektive Färbung, ellipt. Verkürzung, vermehrt abgesetzte Typografie sowie ausgeprägte Rhythmik ihrer Texte bezogen werden kann. Einen Lyrikband legte K. erstmals mit ihrer neuesten Veröffentlichung vor (Ich muß mein Herz üben. Ffm. 2009). K.’ Prosa steht unverkennbar in der Tradition der klass. Moderne (Nagelschmidt 1998). Zgl. sind im Werkverlauf zunehmend »postmoderne[...] Erzählweisen« beobachtbar (verwirrende Unübersichtlichkeit von Wahrnehmungseindrücken anstelle breiter ep. Konstruktionen mit eindeutigem chronolog. Gerüst; die oft uneinheitl. Erzählstimme springt zwischen Orten u. Erzählsträngen u. verweigert so der »erzählten Welt« Eindeutigkeit u. Sinn; s. Lützeler 2005). Unbekümmert setzen sich die Protagonistinnen über Kategorien der Zeit u. des Raumes hinweg, bewegen sich in einer offensichtlich chaot. Welt, orientierunglos u. ohne Gewissheit über die eigene Identität. Hier sind nicht nur Ansprüche an Nachvollziehbarkeit, Glaub- u. Sinnhaftigkeit des Erzählten suspendiert, es fehlt zudem dem Erlebnis des Sinnentzugs jedes Krisenempfinden. Unbekümmertheit u. Utopieferne wurde insbes. bei K.’ Umgang mit der polit. Wende bemerkt. Anders als zahlreiche »DDR-Autoren« wie etwa Christa Wolf, Volker Braun, Rita Kuczynski reagiert sie ohne Bitterkeit auf den Geschichts- u. Identitätsverlust ihrer Generation. K.’ Debüt Das Vergnügen (Bln./Weimar 1984. Neuausg. Ffm. 1988) wurde wohlwollend als späte Reaktion auf Programm des »Bitterfelder Wegs« (Krumrey 1985) begrüßt – in deutl. Verkennung der subversiven Offenheit der Schilderung eines Arbeitsalltags in einer Kohlefabrik. Spürbar wird das »schwindende Utopiepotenzial des DDR-Alltags« (Moritz 2007). Deutschlandweit bekannt wurde K. mit der Erzählung Der Dienst (bearb. Fassung Ffm. 1990). Mit der Thematisierung einer VaterTochter-Beziehung u. dem Trauma des Selbstmords des Vaters beginnt hier ihr autobiografisch inspiriertes Erzählen. Ihre

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Kindheitslandschaft, das Erzgebirge, spendet die Bilder, mit denen die kindl. Gefühlswelt ausgemalt wird (Geier 2005) u. »bebildert« in den späteren Essays das erkenntnistheoretisch wie poetologisch grundlegende Thema der Auseinandersetzung mit der Außenwelt, die dem Ich-Erleben u. sämtl. Bewusstseinsprozessen vorausgeht (Die Gesamtliebe und die Einzelliebe. Frankfurter Poetikvorlesungen. Ffm. 2004). Betont wird insbes. die Körperbezogenheit der Selbst- u. Welterfahrung, die tradierte Vorstellungen eines Geist-KörperDualismus aufhebt. In ähnl. Weise zerstreut das bei K. immer wiederkehrende Thema der Formlosigkeit u. Formfindung, das lebensgrundlegend u. damit weitaus mehr ist als ein poetolog. Prinzip (Eke 2002, Köhler 2007), hergebrachte Entgegensetzungen von Kunst u. Leben, von poet. Wahrnehmungsweisen u. wiss. Erkenntnisvorgängen (Kohl 2007). Die Überfliegerin (Ffm. 1995), meist gelesen als »K.s Wenderoman«, ist ein surreal überzeichneter Bericht einer Reise von Deutschland in die USA u. nach Russland. Damit überschreitet das Erzählen in der Folge der polit. Wende erstmals den bisherigen geograf. Ausgangs- u. Schwerpunkt. Mit dem Herunterreißen der Tapete u. der Skelettierung des Sofas in der Leipziger Wohnung beginnt die zwar verspätete, doch beherzte Reaktion der Ich-Erzählerin auf den Umbruch; sie bricht in die neue Welt auf. Überspitzt aktualisiert K. den alten Topos des Reisens als Selbstfindung in Form einer übermütigen Selbsterhebung: »mein Gefühl trog mich nicht: Ich flog von ganz allein«. Die »Überfliegerin« trägt Züge einer »auktorialen Ich-Erzählerin«, eine am Muster realist. Erzählens gemessen paradoxe Erzählstimme, die frei über die »Wahrheit« der erzählten Welt verfügt, Ereignisse voraussagt, nach Belieben deutet u. das Zeit-Raum-Gefüge auflöst. Thematisch eng mit der Überfliegerin verbunden sind zwei weitere von K.s Erzählungen: Milliarden neuer Sterne (Ffm. 1999) u. Weggeküßt (Ffm. 2002), die ebenfalls Länderbilder hinterfragen u. die prekäre Identitätssuche der Protagonistinnen zur Sprache bringen. Man hat daher vorgeschlagen, diese Erzählungen K.’ als »Trilogie« zu lesen (in

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verschiedener Zusammensetzung: Nagelschmidt 1998, Mabee 2004), wobei nicht zu übersehen ist, dass die Themen durch Perspektivwechsel in je anderem Licht betrachtet werden (Köhler 2007). Als neuerl. Auseinandersetzung mit der Nach-Wende-Situation ist auch der Roman Wie weiter (Ffm. 2006) lesbar. In der Form eines stummen Dialogs mit einem gottähnlich gedachten Gegenüber nehmen Erinnerung u. Reflexion überhand; die Handlung ist reduziert auf ein Mikadospiel. Das Ich, zerrüttet u. in Frage stehend in den vorangehenden Texten, tritt in diesem eigentl. Selbstgespräch selbstsicher auf. Sein Rückzug in eine nunmehr kontemplative, zögernde Haltung erscheint als neue Stufe des Umgangs mit Orientierungslosigkeit durch Neugier u. Offenheit, da ein Beharren nur vermeintlich Ich-Identität sichern kann (Köhler 2007). In der literaturwiss. Forschung wurde K.’ Werk recht früh beachtet. Sie hielt die PoetikVorlesungen an der Universität Frankfurt im Sommersemester 2004, unternahm Vortragsreisen zu verschiedenen Universitäten in den USA u. Kanada. K. ist Mitgl. im P.E.N.-Zentrum der Bundesrepublik Deutschland u. der Sächsischen Akademie der Künste. Unter zahlreichen Auszeichnungen erhielt sie den Hans-Marchwitza-Preis (1986), den IngeborgBachmann-Preis (1988), den Förderpreis des Lessing-Preises des Freistaates Sachsen (1995), den Berliner Literaturpreis, die Johannes-Bobrowski-Medaille (1996), die Kester-Haeusler-Ehrengabe der Deutschen Schillerstiftung (2001), den Thomas-Valentin-Preis (2001), ein Stipendium der Calwer Hermann-Hesse-Stiftung (2006) sowie den Hermann-Lenz-Preis (2007). Weitere Werke: Detaillierter Nachweis der Einzelveröffentlichungen in Ztschr.en u. Anth.n s. Ulrich Kiehl: Die Lit. im Bezirk Leipig 1945–99: eine Bibliogr. Wiesb. 2002, S. 340–342. – Prosa: Glashaus. Bln./Weimar 1988. Teilausg. u. d. T.: Kleine Landschaft. Ffm. 1989 (E.en). – Dienst-Jahre u. andere Prosa. Bln./Weimar 1991. – Sommer auf dem Eis. Ffm. 1998. – Triest. Theater am Meer. Mit Fotografien v. Franz Marc Frei. Ffm./Lpz. 2007. – Hörspiele: Die versteinerten Knochen der Saurier im Museum. DDR-Rundfunk 1987. – Meine Oma stirbt nie. DDR-Rundfunk 1988. – Fernsehfilm: Im

Krauss Sommer schwimme ich im See. MDR 1992 (Buch u. Regie). – Essays: Formen der inneren u. äußeren Welt. Paderb. 2000. Literatur: Ursula Heukenkamp: A. K.: Das Vergnügen. In: WB 30 (1984), H. 9, S. 1540–1545. – Marianne Schmidt: Ein ›Vergnügen‹ mit hohem Einsatz. In: NDL 11 (1984), S. 157–161. – Marianne Krumrey: A. K., Das Vergnügen. In: DDR-Lit. ’84 im Gespräch. Hg. Siegfried Rönisch. Bln. 1985, S. 197–203. – Brigitte Böttcher: Zu A. K., ›Das Vergnügen‹. In: Im Blick: Junge Autoren. Lesarten zu neuen Büchern. Hg. Walfried Hartinger u. Klaus Schuhmann. Halle/Lpz. 1987. – Roland Ulrich: A. K.: Das Vergnügen. In: WB 33 (1987), H. 9, S. 1520–1523. – Uwe Wittstock: Bei den Worten fängt der Schwindel an. A. K. erzählt v. ihrer Sprach-Skepsis. In: Ders.: Von der Stalinallee zum Prenzlauer Berg. Wege der DDR-Lit. 1949–89. Mchn. 1989, S. 234–241. – Kerstin Hensel: Details einer Kindheit (zu: Der Dienst). In: NDL 39 (1991), H. 3, S. 147–149. – Hannelore Scholz: ›O doch. Es geht um Zukunft, wissen Sie. Was bleibt. Was bleibt‹ (Christa Wolf). Zum Problem Angst u. Macht in Texten v. Monika Maron, A. K. u. Christa Wolf vor u. nach 1989. In: ›Ich will meine Trauer nicht leugnen u. nicht meine Hoffnung‹: Vera¨ nderungen kultureller Wahrnehmungen v. ostdt. u. osteurop. Frauen nach 1989. Hg. Helga Grubitzsch u. a. Bochum 1994, S. 105–123. – Ricarda Schmidt: History reflected in the imaginary. Pre-revolutionary attitudes towards the process of history in works by Christa Wolf, Helga Königsdorf, A. K. u. Irina Liebmann. In: The individual, identity and innovation. Signals from contemporary literature and the new Germany. Hg. Stuart Parkes u. Arthur Williams. Bern 1994, S. 165–181. – Julie Klassen: A. K. ›Die Überfliegerin‹. In: World Literature Today 70, H. 4 (1996), S. 948. – Gerd Katthage u. KarlWilhelm Schmidt: A. K.: ›Die Überfliegerin‹. Immolation u. Beschleunigung. In: Dies.: Langsame Autofahrten. Studien zu Texten ostdt. Schriftsteller. Weimar u. a. 1997, S. 139–162. – Stefan Schulze: ›Der fliegende Teppich bietet wenig Raum‹: Schriftstellerinnen der ehemaligen DDR vor, während u. nach der Wende: Brigitte Burmeister, Jayne Ann Igel, Helga Königsdorf, A. K. u. Christa Wolf. Biogr., textkrit. u. literatursoziolog. Diskurse. Lpz. 1997. – Ilse Nagelschmidt: Das Weben am ganzen Faden. Prosa v. A. K. In: Helga Albret u. a.: Zwischen Distanz u. Nähe. Eine Autorinnengeneration in den 80er Jahren. Bern u. a. 1998, S. 41–53. – Paul Michael Lützeler: Vereinigung u. Entropie. Der Schock einer Zeitwende: ›Die Überfliegerin‹ v. A. K. In: NR 109 (1998), H. 3, S. 142–154. – Sabine Wilke: Ist alles so geblieben, wie es früher war? Ess.s zu

28 Lit. u. Frauenpolitik im vereinten Dtschld. Würzb. 2000, S. 87 ff. – Norbert Otto Eke: Das Schweben u. die Form A. K.’ Erzählkunst. In: NDL 50 (2002), H. 2, S. 129–137. Überarb. Fassung: Schaulust. Wahrnehmung u. Form in der Prosa v. A. K. In: Ders.: Wort/Spiele: Drama – Film – Lit. Bln. 2007, S. 257–267. – Eva Kaufmann: Reisen in alten u. neuen Welten – in Texten der 90er Jahre v. A. K., Helga Schütz u. Christa Wolf. In: Reisen Hals über Kopf. Reisen in der Lit. v. Frauen. Hg. Heide Hampel u. a. Neubrandenburg 2002, S. 67–78. – Thomas Kraft: A. K. In: LGL. – Barbara Mabee: ›Das Weltbild korrigieren. Nachdenkl. Fortsetzung der Fahrt‹: A. K.’ poetisierte Amerikareisen als Umdenkprozesse u. Aufbrüche zu neuen Lebensmustern. In: Glossen 19 (2004). – Andrea Geier: ›Gewalt‹ u. ›Geschlecht‹. Diskurse in deutschsprachiger Prosa der 1980er u. 1990er Jahre. Tüb. 2005. – Sandra Kersten: Von Dtschld. über Amerika nach Russland u. nicht ›angekommen‹? A. K.’ ›Überfliegerin‹. In: Spiegelungen. Entwürfe zu Identität u. Alterität. FS Elke Mehnert. Hg. S. Kersten u. a. Bln. 2005, S. 171–186. – P. M. Lützeler: Postmoderne u. postkoloniale deutschsprachige Lit. Diskurs, Analyse, Kritik. Bielef. 2005. – Ute Wölfel: Die autonome Produktion: Arbeitswelt in der DDR-Prosa am Beispiel v. A. K.’ ›Das Vergnügen‹. In: Literar. Feld DDR: Bedingungen u. Formen literar. Produktion in der DDR. Hg. dies. Wu¨ rzb. 2005, S. 31–52. – Steffen Hendel: Heimat, wo anders! – Über das Reisen in zwei fiktionalen Texten v. A. K. u. Christian Kracht. In: Heimat. Konturen u. Konjekturen eines umstrittenen Konzepts. Hg. Gunther Gebhard u. a. Bielef. 2007, S. 161–178. – Astrid Köhler: A. K. ›Eine Form finden für das, was uns widerfährt‹. In: Dies.: Brückenschläge. DDR-Autoren vor u. nach der Wiedervereinigung. Gött. 2007, S. 157–185. – Rainer Moritz: A. K. In: KLG. – David Colclasure: The Short-Lived Ultra-Luminosity of a Supernova: New York City and A. K.’s ›Milliarden neuer Sterne‹. In: Glossen 27 (2008). Claudia Löschner

Krauss, Werner, * 7.6.1900 Stuttgart, † 28.8.1976 Berlin/DDR; Grabstätte: Berlin, Dorotheenstädtischer Friedhof. – Hispanist, Romanist u. Essayist. Der Akademikersohn studierte in München u. Berlin u. promovierte sich 1929 bei Karl Voßler in München über Das tätige Leben und die Literatur im mittelalterlichen Spanien (Stgt. 1929). 1931 habilitierte er sich in Marburg bei Erich Auerbach über Die ästhetischen Grundlagen des spanischen Schäferromans. Als die Na-

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tionalsozialisten 1935 Auerbach aus rassist. Gründen von seinem Lehramt vertrieben, wurde K. sein Nachfolger. 1940 wurde er zur Dolmetscher-Lehrkompanie nach Berlin beordert, wo er durch Vermittlung des Psychiaters u. Jugendfreundes John Rittmeister (1900–1943) Kontakt zur Widerstandsgruppe Schulze-Boysen/Harnack aufnahm, in der er bis zu seiner Verhaftung im Herbst 1942 mitarbeitete (Marburg unter dem Naziregime. In: SuF 5, 1983, S. 941–945). Im Zuchthaus in Berlin-Plötzensee schrieb der zum Tode Verurteilte »mit gefesselten Händen« Graciáns Lebenslehre (Ffm. 1947) u. den Roman PLN. Die Passionen der halykonischen Seele (Ffm. 1946. Potsdam 1948. Mit einem Ess. v. Fritz Rudolf Fries: Lebenslehre oder Die Passionen der aufklärerischen Seele. Bln./DDR 1980. Ffm. 1983). PLN (= PostLeitNummer), eine codierte satir. Gestaltung der faschist. Tragödie u. Hybris Deutschlands, gehört zu den bedeutenden literar. Zeugnissen aus dem inneren Deutschland jener Zeit. In der DDR schrieb K. in den 1960er Jahren den utop. Roman Die nabellose Welt (postum hg. v. Elisabeth Fillmann u. Karlheinz Barck. Bln. 2001). Nach der Befreiung kehrte K. an die Universität Marburg zurück. 1947 folgte er einem Ruf an die Karl-Marx-Universität Leipzig. Vorübergehend Abgeordneter des Hessischen Landtags, war er zuvor mit dem Wiederaufbau der Marburger Universität beauftragt; bis 1948 gehörte er mit Karl Jaspers u. Alfred Weber zu den Herausgebern der von Dolf Sternberger redigierten Zeitschrift »Die Wandlung«. In der SBZ u. in der DDR hatte K. als Hochschullehrer u. als Direktor des Instituts für romanische Sprachen u. Kulturen an der Akademie der Wissenschaften (emeritiert 1966) bedeutenden Anteil am Aufbau der Romanistik an der Universität Leipzig u. an der Ausbildung neuer Wissenschaftlergenerationen (vgl. W. K.: Lesebuch der französischen Literatur. Tl. 1: Aufklärung und Revolution, Bln. 1952). Seine Forschungen zeigen zwei Hauptinteressen: die Literaturgeschichte Spaniens mit Miguel de Cervantes (Neuwied 1966. Erw. Lpz. 1990) als einem Gravitationspunkt (K. gilt in der Fachwelt heute als bedeutendster dt. Hispanist des 20. Jh.; er war in den 1920er Jahren der

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Deutschlehrer des nachmaligen Präsidenten der II. Spanischen Republik im Exil, Claudio Sánchez Albornoz: vgl. ders.: Mi maestro de alemán. In: Ders.: Con un pie en el estribo. Madrid 1974, S. 85–96) u. die frz. Aufklärung in europ. Kontext. K.’ Erforschung des Zeitalters der Aufklärung ist wesentlich motiviert durch seine Erfahrungen während der NSHerrschaft u. im antifaschist. Widerstand (vgl. Werner Krauss. Ein Romanist im Widerstand. Briefe an die Familie und andere Dokumente. Hg. Peter Jehle u. Peter-Volker Springborn. Bln. 2004). Die krit. Auseinandersetzung mit dem dt. Idealismus u. Historismus führten im Rückgriff auf die frz. Aufklärung zu den großen Materialisten der Epoche als einer Quelle des Marxismus, zu den utop. Sozialisten u. zu Fontenelle als erstem der Philosophen, in deren Fortschrittstheorien K. die Begründung eines modernen geschichtl. Weltbildes erkannte (Fontenelle und die Aufklärung. Mchn. 1969. Cartaud de la Villate. Ein Beitrag zur Entstehung des geschichtlichen Weltbildes in der französischen Aufklärung. Bln./DDR 1960). K.’ Credo einer marxistisch orientierten neuen Literaturwissenschaft begründet früh der programmat. Essay Literaturgeschichte als geschichtlicher Auftrag (1950) sowie in der Praxis die mit den Germanisten Hans Mayer u. Walter Dietze im Verlag Rütten&Loening herausgegebene Reihe Neue Beiträge zur Literaturwissenschaft (1955–1977). K. ist der einzige dt. Literaturwissenschaftler, dessen Werk mit einer achtbändigen Gesamtausgabe seiner Schriften gewürdigt wurde (Bln.: Aufbau-Verlag u. Walter de Gruyter 1987–97). Die umfangreiche Korrespondenz erschien im Frankfurter Klostermann-Verlag 2002 (Werner Krauss, Briefe 1922 bis 1976. Hg. Peter Jehle). Weitere Werke: Ges. Aufsätze zur Lit.- u. Sprachwiss. Ffm. 1949. – Zur Dichtungsgesch. der roman. Völker. Lpz. 1965. U. d. T. Aufsätze zur Literaturgesch. 21968. – Perspektiven u. Probleme. Neuwied 1965. – Grundprobleme der Literaturwiss. Reinb. 1968. – Die Lit. der frz. Frühaufklärung. Ffm. 1971. – Werk u. Wort. Aufsätze zur Literaturwiss. u. Wortgesch. Bln./DDR 1972. – Spanien 1900–65. Beitr. zu einer modernen Ideologiegesch. Bln. 1972. – Die Aufklärung in Spanien,

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Portugal u. Lateinamerika. Mchn. 1973. – Die Innenseite der Weltgesch. Lpz. 1983 (Ess.s). Literatur: Bibliografien: Beiträge zur frz. Aufklärung u. zur span. Lit. FS W. K. zum 70. Geburtstag. Bln./DDR 1971, S. 7–23. – Jb. der Sächs. Akademie der Wiss.en zu Lpz. 1975/76, S. 300–315 (Erg.). – Komplette Bibliogr. im Bd. 8 der Werkausg. – Weitere Titel: Stephan Hermlin: PLN. In: Ders. u. Hans Mayer: Ansichten über einige Bücher u. Schriftsteller. Wiesb. 1947, S. 153–157. – Karlheinz Barck u. a.: Lit. u. Gesellsch. Zur literaturwiss. Position W. K.’. In: Positionen. Lpz. 1969, S. 555–605. – Wolfgang Brekle: Die antifaschist. Lit. in Dtschld. (1933–45). In: WB 16 (1970), H. 6, S. 67–128. – Peter Härtling: W. K.’ PLN. In: Ders.: Vergessene Bücher. Karlsr. 1983, S. 177–183. – Manfred Naumann: Aus dem Nachl. v. W. K. In: Dt. u. österr. Romanisten als Verfolgte des Nationalsozialismus. Hg. Hans Helmut Christmann u. a. Tüb. 1989, S. 145–155. – Sonderh. W. K. der Ztschr. ›lendemains‹, 18. Jg. (1993), Nr. 69/70. Karlheinz Barck

Krausser, Helmut, auch: Titus Keller, * 11.7.1964 Esslingen. – Erzähler, Lyriker, Dramatiker. Nach einem ersten halben Jahr in Esslingen zog K.s Familie nach Bruchsal u. von dort 1968 in den Großraum München, wo K. 1985 sein Abitur erwarb. Darauf folgte ein Studium der provinzialröm. Archäologie, Theaterwissenschaft u. Kunstgeschichte an der LMU in München, das er 1989 abbrach. Währenddessen führte er kurze Zeit ein unstetes Leben im Berbermilieu u. übte unregelmäßig verschiedene Tätigkeiten aus: als Nachtwächter, Opernkomparse, Zeitungswerber, Sänger der Musikgruppe Genie & Handwerk, Rundfunksprecher u. Journalist. 2001 wurde er oberbayerischer Schachmeister. Seit 1989 pendelte er zwischen München u. Berlin, 2005 zog er ganz nach Berlin, heute lebt er in Potsdam. Das frühe sozialrealist. Werk K.s ist geprägt von seinen Münchener Erfahrungen in den 1980er Jahren, die die Kulisse für die sog. Hagen-Trinker-Trilogie abgeben. Diese umfasst die Romane Könige über dem Ozean (Mchn./Hbg. 1989), Fette Welt (Mchn./Lpz. 1992; 1999 v. Jan Schütte verfilmt) u. Schweine und Elefanten (Reinb. 1999); letzterer erschien rd. zehn Jahre nach seiner Entstehung in

überarbeiteter Fassung u. erzählt die Vorgeschichte zu den anderen Romanen. Die Trilogie um den Glücks- u. Schachspieler, Musiker u. Rumtreiber Hagen Trinker begründete K.s Ruf als »poète maudit«. Sie erzählt die Geschichte einer schizophrenen Figur, die zgl. Aussteiger u. gewalttätiger Mörder von Kleinkindern ist. Das Frühwerk enthält bereits die für das folgende Werk zentralen Themen- u. Motivkomplexe: psychot. Handlungsmuster, Schizophrenie als Grenzerfahrung, Nachtseiten des Lebens, Wahnsinn, Mordlust u. Todesangst, Liebe als Amour fou sowie die Begeisterung für klass. Musik. Der Durchbruch beim Publikum u. im Feuilleton gelang K. mit dem Roman Melodien oder Nachträge zum quecksilbernen Zeitalter (Mchn./Lpz. 1992), für den er 1993 mit dem Tukan-Preis ausgezeichnet wurde u. mit dem die zweite Werkphase beginnt. Melodien erzählt auf zwei Handlungs- u. Zeitebenen vom Fotografen Alban Täubner. Dieser begibt sich nach Erzählungen dreier Mythosophen auf die Suche nach den »orpheischen Melodien« von Castiglio, der um 1530 26 Achttakter, Tropoi, komponiert hätte, die es ermöglichten, Gefühle anderer zu manipulieren, u. die in veränderter Form in den bedeutenden Musikwerken weiterwirkten. Im postmodernen Gestus verzahnt der Roman erfundene u. historisch verbürgte Essays u. Reden, Tagebucheinträge u. Wissenschaftsprosa. Auffällig ist die typograf. Unterscheidung verschiedener Erzählebenen ebenso wie das Nebeneinander von Mythos u. Narration. Der in der Tradition erfolgreicher postmoderner Romane von Umberto Eco u. Patrick Süskind stehende Text lässt sich als Kriminal-, Historien- u. Wissenschaftsroman lesen, in dem Wissensepisteme aus Ästhetik, Ethik, Geschichte u. Sexualität miteinander verflochten sind. Macht u. Thanatos sind auf der Figurenebene die Ausdrucksformen, durch die diese Episteme verhandelt werden. Mit den Melodien beginnt zgl. die bis heute fortgesetzte Auseinandersetzung K.s mit der europ. Operngeschichte. Geht es hier noch um den Kastraten u. Komponisten Marc Antonio Pasqualini, so widmet sich K. im Roman Der große Bagarozy (Reinb. 1997, 1999 v. Bernd Eichinger verfilmt) der Sängerin Maria Callas

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u. im Dokumentarroman Die Gärten des Maestro Puccini (Köln 2008) dem Liebesleben dieses ital. Komponisten. Immer wieder werden dabei Mythen der klass. Musik mit leidenschaftl. Lebensentwürfen korreliert u. die Nähe von Wahnsinn, Verblendung, Macht u. Tod vorgeführt. In die zweite Werkphase gehören auch der Roman Thanatos. Das schwarze Buch (Mchn. 1996) über die Ich-Dissoziation des Romantikforschers Konrad Johanser u. die Schmerznovelle (Reinb. 2001). Abgeschlossen wird sie mit dem Roman UC. Unter Zuhilfenahme eines Märchens von H. C. Andersen (Reinb. 2003) u. der Kartongeschichte (Hbg. 2007). Darin verabsolutiert K. das Spiel zwischen unerschiedl. Fiktionsebenen u. reflektiert die gottähnl. Allmacht der Autorfunktion in der unauflösbaren Verschachtelung der Narrationen. Eine dritte Werkphase beginnt mit dem Roman Eros (Köln 2006), in dem – wie schon in Die kleinen Gärten des Maestro Puccini – fiktive Lebensläufe eng mit einer historisch-dokumentierten Welt parallelisiert werden. Im ersten Fall entfaltet K. die Lebens- u. Passionsgeschichte Alexander von Brückens im Rahmen der polit. Geschichte Deutschlands vom Dritten Reich über die Bundesrepublik u. die DDR bis in die Nachwendezeit, wobei histor. Figuren in die Fiktionswelt integriert werden u. fingierten Personen ein erhebl. Einfluss auf die Weltgeschichte zugesprochen wird. Im zweiten Fall bildet die europ. Belle Epoque die Folie, vor der drei Liebschaften Giacomo Puccinis nachempfunden werden. Für diese dritte Werkphase typisch ist, dass K. den Puccini-Roman als Dokumentarroman tituliert u. parallel zu dessen Erscheinen seine Recherchen im Begleitbuch Die Jagd nach Corinna (Mchn. 2008) minutiös aufzeichnet. Das Konzept von Autorschaft, das in der zweiten Phase als omnipotente Fiktionsautorität imaginiert wurde, kehrt damit als literatursoziolog. Größe zurück, was auch an den bereits in der Kartongeschichte vorkommenden Anmerkungen, auktorialen Kommentaren u. an den Erläuterungen in den Endnoten deutlich wird. Ein gemeinsames Thema in K.s Werk ist die Frage nach den Bedingungen, Grenzen u. Formen des sich selbst begründenden Sub-

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jekts im Spannungsfeld von Liebe, Sexualität u. Kunst. Diese romantisch disponierte Sehnsucht nach Erfüllung wird einerseits als Scheitern aufgezeigt, wie es in den Nachtseiten der menschl. Natur – Schizophrenie, Mord, mentale Abberrationen, Gewalt u. Verbrechen – zum Ausdruck kommt. Andererseits erscheint sie als durchaus anzustrebende Option, die in Transgressionsmomenten – Wahnsinn, Liebe, Genieschaffen – geradezu sinnstiftend wird. Diese Selbstbegründungsentwürfe verhandelt K. auf der Handlungsebene in Ausnahmesituationen als aporet. Folge von Konflikten des gefährdeten, von Obsessionen besessenen Subjekts mit Normen u. sozialen, psych. u. intellektuellen Zwangserfahrungen. In allen drei Werkphasen ist K. auch als Lyriker u. Dramatiker hervorgetreten. Zwischen 1979 u. 2007 sind mehr als 400, die Formenbreite der europ. Lyrikgeschichte abdeckende, oft titellose Gedichte erschienen, v. a. in den Bänden Gedichte ’79-’99 (Mchn. 1999), STROM (Reinb. 2003) u. PLASMA (Köln 2007). Zu den von K. geschätzten Lyrikern gehören Bukowski, Rilke, Jandl, Morgenstern, Gernhardt, Hölderlin u. Brecht. K.s dramatisches Debüt, Lederfresse (mit der WRROOMMM Kettensäge) Tour de Farce (Urauff. Thalia Theater 1994), ist sein erfolgreichstes Stück bis heute. Außer den Libretti für Moritz Eggerts Opern Helle Nächte (Urauff. 1997) u. Wir sind daheim (Urauff. 1998) sowie den Stoffbearbeitungen u. Nachdichtungen Unser Lied. Gesang vom Untergang Burgunds – Nibelungendestillat (Urauff. 2005) u. Die Tragödie vom Leben und Sterben des Julius Cäsar (Urauff. Burgtheater 2007) schrieb er acht Originaltheaterstücke, teils Grotesken, teils Künstleru. Kunstbetriebsatiren, die der Tradition des dramat. Theaters verbunden sind, aber auch Anleihen bei der Pop- u. Trashkultur u. beim Film (etwa Quentin Tarantino) machen. Poetologische Reflexionen sind nicht nur implizit den Künstler- u. Geniefiguren eingeschrieben, sondern auch explizit in das große Tagebuchprojekt eingebunden, das K. zwischen 1993 u. 2004 in zwölf Bänden im Münchener Belleville-Verlag veröffentlichte, in denen er je einen Monat lang, teils mit inszenatorischem Gestus, über seinen literar.

Krautgarten

Alltag referiert: den eigenen Schaffensprozess, Überlegungen über die missverständl. Rezeption, ästhet. u. poetolog. Reflexionen. 2007 erörterte K. sein Konzept von Präzision und Pathos anlässlich der Poetikprofessur an der LMU München. Weitere Werke: Spielgeld. Erzählungen u. andere Prosa. Mchn. 1990. – Die Zerstörung der europ. Städte. Mchn./Lpz. 1994 (E.). – Das Liebesleben des Giacomo Müller. Reinb. 1996 (E.). – Das Kaninchen das den Jäger erschoß u. andere bizarre Todesfälle. Hg. zus. mit Marcel Hartges. Reinb. 1999. – Wenn Gwendolin nachts schlafen ging. Mchn. 2002 (zus. mit Susanne Straßer). – Stücke ’93-’03. Mit einem Vorw. v. Peter Michalzik. Ffm. 2003 (D.). – Die wilden Hunde v. Pompeii. Eine Gesch. Reinb. 2004. – Der erot. Pepys. Ausgew. v. H. K. Übers. u. komm. v. Georg Deggerich. Ffm. 2007 (Tgb.). – Aussortiert. Ffm. 2007 (R., Pseud. Titus Keller). Literatur: Lutz Hagestedt: H. K. In: KLG. – Ders.: H. K. In: LGL. – Sex – Tod – Genie. Beiträge zum Werke v. H. K. Hg. Claude D. Conter u. Oliver Jahraus. Gött. 2009. Claude D. Conter

Der Krautgarten. – Anonyme Minnerede des 15. Jh.

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nach Hause. Er schließt mit einem Segenswunsch für die Dame. Der Text integriert verschiedene gängige Gattungsmuster (Jagdeinleitung, Gespräch, Rat in Liebesnot, Pflanzenallegorie, Tugendlehre, Verfluchung der Verleumder). Die Herzgartenallegorie ist »durchsichtig« (Blank) genug, um ohne explizite Auslegung bleiben zu können. Mit neun Überlieferungszeugen (249–262 V.) ist der K. eine der am häufigsten überlieferten Minnereden. Besonderes Interesse der Forschung hat der Eintrag in der Hs. Wien, ÖNB, Cod. 2959 (10r16v) gefunden, da der Text hier offenbar als Vorlage einer kreativen Umformung, der in zwei Fassungen überlieferten Minnerede Der Blumengarten, gedient hat. Ausgaben: Carl Haltaus (Hg.): Liederbuch der Clara Hätzlerin. Quedlinb./Lpz. 1840. Neudr. Bln. 1966, S. 243–248. – Mhd. Minnereden I. Hg. Kurt Matthaei. Bln. 1913, S. 168 f. (Laa. nach Heidelberg, Cpg 393). Literatur: Karl Geuther: Studien zum Liederbuch der Klara Hätzlerin. Halle/S. 1899, S. 36 u. 144–146. – Tilo Brandis: Mhd., mittelniederdt. u. mittelniederländ. Minnereden. Mchn. 1968, Nr. 500. – Walter Blank: Die dt. Minneallegorie. Stgt. 1970, S. 100, 156. – Dietrich Schmidtke: K. In: VL. – Otto Neudeck: Integration u. Partizipation in mhd. Minnereden. In: Scientia Poetica 2005, S. 1–13. – Ludger Lieb: Umschreiben u. Weiterschreiben. In: Texttyp u. Textproduktion in der dt. Lit. des MA. Hg. Elizabeth Andersen, Manfred Eikelmann u. Anne Simon. Bln./New York 2005, S. 143–161. Jacob Klingner

In einer knappen Einleitung berichtet der Ich-Sprecher, wie er auf der Beizjagd auf einen verschlossenen, herzförmigen Garten stößt. Es folgt die Wiedergabe eines ausführl. Gesprächs zwischen dem Sprecher u. einer trauernden Dame. Diese beklagt den Niedergang ihres Gartens, in dem vormals »Frau Ehre«, »Frau Treue« u. »Frau Minne« gelebt Krautwald, Crautwald, Cratoaldus, Valenhätten. Trotz der Pflege durch einen Gärtner tin, * um 1490 Neiße, † 5.9.1545 Liegnitz. sei seine paradiesgleiche Pflanzenpracht ver– Theologe, Schwenckfeldianer. dorben (statt »Wohlgemut«, »Vergissmeinnicht«, »Augentrost« u. »Gedenk-an-Mich« K. begann im Sommer 1506 ein Artes-Studiwachsen nun Wermut, Dornen u. Nesseln), um in Krakau, war dann ab 1509 Lehrer, die Bewohnerinnen bis auf »Frau Ehre« ver- später Rektor an der Neißer Stiftsschule. Seit trieben. Schuld seien Giftschlangen, die alles 1514 Schreiber in der Kanzlei des Breslauer Schöne aus der Welt tilgen wollten. Der Bischofs, wurde er 1520 bischöfl. Protonotar. Sprecher rät der Dame, einen neuen Versuch Bald nahm er Kontakt mit den Wittenberger mit einem wachsameren Gärtner zu wagen Reformatoren auf u. wandte sich vom alten bzw. sich zumindest in aufheiternde Gesell- Glauben u. vom Humanismus ab – wie sein schaft zu begeben. Letzteres verspricht ihm erster Biograf Adam Reisner berichtet, unter die Dame, die auf eine Bestrafung der Verbrennung aller zuvor verfassten Schriften. Schlangen hofft. Nach Dienstversicherung u. 1524 übernahm der Stiftsherr ein Lektorat Abschiedsworten reitet der Sprecher wieder am Liegnitzer Kollegiatskapitel zum Hl.

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Geist, berufen von Herzog Friedrich II. von Liegnitz, der sich unter dem Einfluss seines Hofrats Schwenckfeld früh für die Reformation entschieden hatte. K. verfasste einen Beitrag zum ersten evang. Katechismus, dem Kadecismus Lignicensis, die Didaktik Catechesis u. das katechet. Werk Canon generalis (alle Manuskripte um 1525). In diesem Jahr gelangten die Liegnitzer durch eine Vision K.s zu einem neuen Abendmahlsverständnis, gegen das Luther heftige Angriffe richtete. Mit dem Abfassen von Verteidigungsschriften wurde K. betraut, der als Trilinguist bei exeget. Problemen eine größere Kompetenz als der Laie Schwenckfeld besaß. Den Bericht K.s über seine »offenbarung vom rechten verstande der wort des HERREN Nachtmals«, die sog. Revelatio (1525), sowie der ebenfalls vom Abendmahl handelnde Traktat Collatio: et consensus, verborum caenae dominicae (Druck Straßb. um 1529) nahm Schwenckfeld im Dez. 1525 mit zu einer Unterredung in Wittenberg. K. war einer der ersten Professoren der 1526 gegründeten, nur wenige Jahre existierenden Universität Liegnitz. Seine Vorlesungen (Manuskripte sind erhalten) hatten die Auslegung der Genesis u. des NT zum Gegenstand. Die Ablehnung der Wittenberger Sakramentenlehre durch die Liegnitzer spiegelt sich in der Auffassung K.s wider, dass die Gnade Gottes »an die Sacrament nit gebundê noch an etwas eusserliches gehefftet sey«. Auf die luth. Polemik gegen seine bedeutende Schrift Von der gnaden Gottes (Erstdr. Augsb. 1528) reagierte K. mit einer Entgegnung, die später den Titel Iudicium erhielt (Druck 1570) u. als früheste u. ausführlichste Äußerung der Schwenckfeldianer zur Taufe gilt. K. hielt die Wassertaufe nur für ein äußeres Symbol. Nach Schwenckfelds Weggang ins Exil 1529 hatte K. die geistige Führung der Liegnitzer Bruderschaft inne. Auseinandersetzungen mit den Täufern, die in Schlesien Missionsversuche unternahmen, dokumentieren K.s Bericht und anzeigen [...] (1530). Unter den zahlreichen katechet. Werken u. verschiedenen Schriften zur Christologie, gegen die Heilsbedeutung der Taufe u. über das verbum externum sind hervorzuheben Ein kurtzer bericht von der weise des Catechismi [...]

Krautwald

(1534, Druck 1570) sowie zwei Abhandlungen: die Epistola Ministri cuiusdam verbi, ad quendam Symnistam [...] (um 1534, Druck Straßb. um 1535), die die Sakramente als Gnadenmittel ablehnt, u. Von der Widergeburt und Herkummen eynes Christen Menschen (um 1536, Druck Ulm 1538) über das Wesen der Taufe. Als Friedrich II. von Liegnitz ab 1538 Maßnahmen gegen die Schwenckfeldianer ergriff, hatte K. bereits sämtl. Ämter niedergelegt. Er widmete sich wiss. Studien u. hielt engen Kontakt zu Schwenckfeld u. dessen süddt. Anhängern. Zeuge des Niedergangs der Liegnitzer Bruderschaft, entwarf er das Bild eines wahren Christen (Novus Homo. Erstdr. um 1542. Dt. Der new Mensch. Augsb. 1543) u. brachte noch das Pamphlet Der Schwermer (Straßb. 1544) gegen den negativen Gebrauch dieses Begriffes zum Druck. Ausgaben: Corpus Schwenckfeldianorum. Hg. Chester David Hartranft u. a. 19 Bde., Lpz. u. a. 1907–61 (darin die meisten Schr.en u. Briefe K.s). – Zˇivot Arnosˇta z Pardubic (Lebenslauf [...]; lat. u. tschech.). Hg. Zdenˇka Hledíková. Pardubice 1997. Literatur: Bibliografie: VD 16. – Weitere Titel: Horst Weigelt: Spiritualist. Tradition im Protestantismus. Bln./New York 1973. – Hans Urner: V. K. In: NDB. – Ders.: V. K. In: Les dissidents du XVIe siècle entre l’humanisme et le catholicisme. Hg. Marc Lienhard. Baden-Baden 1983, S. 175–190. – Peter C. Erb: V. Crautwald. In: Bibliotheca Dissidentium. Hg. André Séguenny. Bd. 6, Baden-Baden 1985, S. 9–58 (Werk- u. Forschungsbibliogr., Korrespondenzliste). – Adam Skura: V. Crautwalds Bücherslg. Ebd., S. 59–70 (Verz. der Bibl. K.s, die sich in der Breslauer Universitätsbibl. befindet). – Douglas H. Shantz: Crautwald and Luther on the Catechism. In: Schwenckfeld and Early Schwenckfeldianism. Hg. P. C. Erb. Pennsburg 1986, S. 305–326. – Ders.: Crautwald and Erasmus. A Study in Humanism and Radical Reform in Sixteenth-Century Silesia. Baden-Baden u. a. 1992. – Howard Louthan: The Quest for Compromise. Peace-Makers in Counter-Reformation Vienna. Cambridge 1997. – Daniel Heinz: V. K. In: Bautz (Lit.). – Klaus-Peter Möller: Oberschles. Autoren 1450–1620. In: Oberschles. Dichter u. Gelehrte v. Humanismus bis zum Barock. Hg. Gerhard Kosellek. Bielef. 2000, S. 487–547, hier S. 520–522. Jörg Köhler / Red.

Kraze

Kraze, Friede(rike) H(enriette Marie), auch: Heinz Gumprecht, * 5.1.1870 Krotoschin bei Posen, † 16.5.1936 Eisenach; Grabstätte: München. – Erzählerin.

34 Play ›Fulfilment‹. A Play of Today for Tomorrow. Veröffentlichungen aus dem Forschungsprojekt ›Literatur und Soziologie‹, H. 20, Univ. Klagenf. 1998. – Arno Bammé u. Jürgen Dietrich (Hg.): Friede H. K. Von Husum nach Weimar. Mchn./ Wien 2000 (mit ausführl. Bio- u. Bibliogr.). – A. Bammé: Friede H. K. Ouvertüre in Husum. In: Ders.: Vergesst die Frauen nicht! Die Halligen, das Meer u. die Weiblichkeit des Schreibens. Neumünster 2007, S. 147–158. Gisela Brinker-Gabler / Arno Bammé

Nach dem frühen Tod der Eltern wuchs K. bei der Großmutter in Brieg auf. Mit 18 Jahren legte sie ihr Lehrerinnenexamen in Breslau ab u. war in Hessen, Holstein, Sachsen, Pommern u. Schleswig (Husum) tätig. Nach Auslandsreisen lebte sie seit 1906 als freie Schriftstellerin in Berlin, Weimar u. Endorf/ Obb. Prägend für ihre schriftstellerische Krebel, Gottlieb Friedrich, * 30.6.1729 Karriere wirkten sich die Jahre in Husum aus, Naumburg, † 2.7.1793 Naumburg. – ihr enger Kontakt zur Storm-Witwe, zu FerVerfasser u. Herausgeber vorwiegend dinand Tönnies u. Paul Heyse. Von großem geografischer Werke. Einfluss war auch ihre Lebensgefährtin, die K. war kurfürstlich sächs. Finanzbeamter in Baltendeutsche Elise von Krause. K.s Werk behandelt kulturgeschichtliche, Leipzig u. Dresden, wo er 1777 zum Oberhistor., soziale u. religiöse Probleme. Sie konsistorialsekretär befördert wurde. Beschrieb 20 Romane, neun Novellen, 17 Er- kannt blieb sein Name durch den »Krebel«, zählungen, drei Kinderbücher, drei Theater- den meistaufgelegten deutschsprachigen stücke u. zahlreiche Gedichte. In ihren Ro- Reiseführer des 18. Jh.: Die vornehmsten euromanen – häufig über Frauenschicksale – fin- päischen Reisen (Erstdr. Hbg. 1703), der seinen den sich subtile Seelenstudien, ebenso pathet. Titel mit geringen Abweichungen ein JahrNaturbilder, z.B. der fries. Küste in Maria am hundert lang behielt. Er reichte mit seinen Meer (Mchn. 1923) u. der einsamen Wälder Wurzeln bis in die Itineraria des Martin Zeiller Lettlands in Jahr der Wandlung (Mchn. 1925). (1589–1661). In handl. Duodez gehalten, Ihren größten Erfolg erzielte sie mit dem konnte er auf Reisen ohne Schwierigkeiten unter männlichem Pseudonym erschienenen mitgeführt werden u. enthielt jeweils aktuaRoman Die magischen Wälder (Gütersloh 1933). lisierte Reiseregeln u. Angaben zu bestimmWeitere Werke: Johannes Brüggemann. Trau- ten Reiserouten. Der erste Herausgeber Peter Ambrosius ersp. in vier Aufzügen. Husum 1902. – Im Schatten der Weltesche. Stgt. 1905 (R.). – Erfüllungen. Ein Lehmann gab dem Werk den Titel Die fürStück v. heut für morgen. Stgt. 1915. – Heim nehmsten europäischen Reisen, wie solche durch Neuland. Stgt./Lpz. 1908 (R.). – Die Sendung des Teutschland, Frankreich, Italien [...] vermittelst der Christoph Frei. Stgt. 1913 (R.). – Der Kriegspfarrer. dazu verfertigten Reise-Carten nach den bequemsStgt. 1914 (R.). – Die schöne u. wunderbare Jugend ten Post-Wegen anzustellen und was auf solchen des Hadumoth Siebenstern. Lpz. 1920 (E.). – Amey. Curioses zu bemerken u. besorgte sieben AuflaLpz. 1922 (R.). – Das wahre Gesicht. Stgt. 1925 (N.). gen (Hbg. 1703–29). Über die Herausgeber – Die Frauen v. Volderwiek. Hbg. 1926 (R.). – Meertrud. Braunschw. 1929 (E.). – Garba. 2 Bde., der 9. bis 11. Auflage ist wenig bekannt. K. Gütersloh 1932/33 (R.). – Die Lese. Aphorismen. bearbeitete die 12.-15. (Hbg. 1767–92) u. die Hg. Grete Thomas. Gütersloh 1934. – Der Baum 16. Auflage (Lüneb. 1801/02, postum). 1786 der Erkenntnis. Stgt. 1935. – Einer Mutter Weg. wurde das Werk ins Französische übertragen. Stgt. 1937 (R.). – Jürgen Dietrich (Hg.): Gedichte, Novellen u. andere nachgelassene Schr.en v. Friede H. K. Nachtr. neuester Erkenntnisse. Veröffentlichungen aus dem Forschungsprojekt ›Literatur und Soziologie‹, H. 24, Univ. Klagenf. 2003. Literatur: Hans Hermann Gaede (Hg.): Leuchtende Spuren. Friede H. K. zum 60. Geburtstag. Gütersloh 1930. – Hildegard Klein: Friede H. K.’s

Weitere Werke: Johann Hübner’s Allg. Geographie aller vier Welttheile; durch u. durch verbessert [...] v. G. F. K. Dresden 1761. – Europ. Staats- u. Reisegeographie. Hg. Johann Georg Estor. 16 Bde., Dresden 1750–70 (Bd. 1 v. K., Mitarb. an den Bdn. 6–8). – Europ. genealog. Hdb. Angefangen v. G. F. K. u. Christian Friedrich Jacobi. Lpz. 1800.

35 Literatur: Meusel 7. – ADB 18, S. 147. – Hans Schröder: Lexikon der hamburg. Schriftsteller. Bd. 4., Hbg. 1886, S. 191, 408–411. – Uli Kutter: Zeiller – Lehmann – K. Bemerkungen zur Entwicklungsgesch. eines Reisehandbuchs u. zur Kulturgesch. des Reisens im 18. Jh. In: Reisen im 18. Jh. Hg. Walter Griep u. Hans-Wolf Jäger. Heidelb. 1986, S. 10–33. Uli Kutter / Red.

Krechel, Ursula, * 4.12.1947 Trier. – Autorin von Prosa, Lyrik, Theaterstücken, Hör- u. Fernsehspielen. K. studierte ab 1966 in Köln Germanistik, Theaterwissenschaften u. Kunstgeschichte; sie promovierte 1972 mit einer Arbeit über Herbert Ihering. Nach einer kurzen Zeit als Dramaturgin, in der sie u. a. mit jugendl. Untersuchungshäftlingen arbeitete, machte K. 1974 mit dem Drama Erika (in: Theater heute, H. 8, 1974, S. 37–46) international auf sich aufmerksam. Sie schildert den, wenn auch am Ende rückgängig gemachten, Ausbruchsversuch einer jungen Sekretärin aus ihrer einengenden Ehe u. Arbeitswelt. Bereits im Erstling dominieren sowohl aus zeitgeschichtl. Erfahrungen als auch dem persönl. Erleben abgeleitete Themen. 1975 publizierte K. mit Selbsterfahrung und Fremdbestimmung (Darmst. 1975) eine frühe umfassende Darstellung zu Themen der neuen Frauenbewegung, deren krit. Bilanz sie in den diversen Neuauflagen zog. Neben Hörspielen verfasste K. verschiedenste Prosatexte (Die Freunde des Wetterleuchtens. Prosa. Ffm. 1990. Der Übergriff. Erzählung. Salzb./Wien 2001.), die oft eine starke Nähe zur Lyrik auszeichnet. K. ist jedoch v. a. mit ihren Gedichten hervorgetreten (Technik des Erwachens. Ffm. 1992. Landläufiges Wunder. Ffm. 1995. Verbeugungen vor der Luft. Salzb./Wien 1999.). Ihr Stil ist durch ein akrib. Erfassen der Wirklichkeit geprägt, welches eine kritisch-reflektierende Haltung mit unmittelbarem Affiziertsein vom Detail vereinigt. In Stimmen aus dem harten Kern (Salzb./Wien 2005) erfährt eine für K. symptomat. Überschneidung von politischer u. poet. Eindringlichkeit ihre bislang dichteste Form. In ihrem Roman Shanghai fern von wo (Salzb./Wien 2008) vollzieht sich hingegen

Krechel

eine Rückkehr zu einer dokumentarischeren Prosa. Seit 1981 ist das dt. PEN-Mitgl. K. vielfach durch Preise, Stipendien sowie Gastdozenturen im In- u. Ausland gewürdigt worden (zuletzt Rheingau-Preis 2008 u. JosephBreitbach-Preis 2009). K. lebt in Berlin. Weitere Werke: Prosa: Zweite Natur. Szenen eines Romans. Darmst./Neuwied 1981. – Sizilianer des Gefühls. Ffm. 1993 (E.). – Mein Hallo dein Ohr. Erzählung mit Lithografien v. Johannes Grützke. Witzwort 2003. – Lyrik: Verwundbar wie in den besten Zeiten. Darmst./Neuwied 1979. – Nach Mainz! Erw. Ausg. Mchn. 1983. – Rohschnitt. Gedicht in 60 Sequenzen. Darmst./Neuwied 1983. – Vom Feuer lernen. Darmst./Neuwied 1985. – Kakaoblau. Salzb. 1989. – Technik des Erwachens. Ffm. 1992. – Ungezürnt. G.e, Lichter, Lesezeichen. Ffm. 1997. – Mittelwärts. Springe 2006. – Dramatik: Liebes Stück. Ffm. 2002. – Publizistik: Lesarten. Von der Geburt des Gedichts aus dem Nichts. Erw. Neuausg. Ffm. 1991. – Mit dem Körper des Vaters spielen. Ffm. 1992 (Ess.s). – In Zukunft schreiben. Hdb. für alle, die schreiben wollen. Salzb./Wien 2003. – Hörspiele: Zwei Tode. RB/HR 1975. – Erika. WDR 1975. – Die Entfernung der Wünsche am hellen Tag. RB/WDR 1977. – Das Parkett ein spiegelnder See. BR/WDR 1979. – Der Kunst in die Arme geworfen. Kantate für Sprechstimmen u. das 19. Jh. SFB/BR/NDR 1982. – Glückselig feindselig vogelfrei. NDR/SFB 1984. – Der Keksgigant. NDR/ SFB 1986. – Leuk u. Lachen oder die Grammatik des Austausches. WDR/NCRV Hilversum 1987. – Stadtluftundliebe. SFB/NDR 1988. – Sitzen Bleiben Gehen. SWF 1990. – Näher am springenden Punkt. NDR 1991. – Zwischen den Ohrringen der Redefluß. SFB/SWR 1991. – Bilderbeben. BR/SR 1991. – Im Ohrensaal. Hörspiel nach Motiven v. Unica Zürn. BR 1995. – Unendl. Türenschlagen. NDR 1997. – Shanghai fern v. wo. SWF 1998. – Festbeleuchtung der Nacht. DLR 2007. – Film: Ich bin eine erstklassige Schriftstellerin zweiter Güte. Die Karriere der Vicki Baum (zus. mit Herbert Wiesner). HR 1986. – Übersetzung: Jacques Roubaud: Stand der Orte. Heidelb. 2000. – Herausgeberin: Elisabeth Langgässer: Das Unauslöschl. Siegel. Darmst. 1979. – Autorenwerkstatt Prosa. Bln. 1999. Literatur: Olaf Kutzmutz: U. K. In: KLG. – Charlotte Melin: Improved Versions. Feminist Poetics and Recent Work by Ulla Hahn and U. K. In: Studies in Twentieth-Century Literature 21 (1997), H. 1, S. 219–243. – Anna Rutka: Auflösung der Kommunikation in den Hörsp.en v. U. K. In: Studia

Kreisler

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niemcoznawcze 24 (2002), S. 567–590. – Petra Ernst: U. K. In: LGL. Eva Maria Thüne / Christoph Willmitzer

Kreisler, Georg, * 18.7.1922 Wien. – Kabarettist, Chansonnier. K., als Sohn eines jüd. Rechtsanwaltes 1922 in Wien geboren, kam früh an das Wiener Konservatorium u. lernte dort Musiktheorie, Klavier u. Geige. 1938, nach dem »Anschluss« Österreichs an das nationalsozialist. Deutschland, musste er mit seinen Eltern emigrieren. Die Flucht führte ihn von Genua über Marseille nach Amerika. Sein Onkel Walter Reisch, ein bekannter Drehbuchautor in Hollywood, half der Familie in der ersten schweren Zeit. K. begann ein Studium der Komposition an der University of Southern California u. verdiente sich die ersten Sporen als Arrangeur, Pianist u. Dirigent bei Filmproduktionen u. bei einigen Hollywood-Musicals. 1943 wurde er in die U.S. Army eingezogen, komponierte Songs für GI-Shows u. begleitete die Sänger am Flügel. Nach dem Krieg zog es ihn 1946 nach New York, wo er sich in verschiedenen Nachtlokalen mit eigenen Liedern vorstellte. Nach finanziell u. privat mühseligen Zeiten fand er schließlich 1950 in der Monkey Bar als Chansonnier eine Festanstellung u. feierte erste Erfolge. Erst 2005 wurde K.s aus dieser New Yorker Zeit stammendes Schallplattendebüt von 1947 als CD veröffentlicht, nachdem es die Journalisten Michael Seufert u. Hans Juergen Fink bei der Recherche zu ihrem Buch über K., Georg Kreisler gibt es gar nicht (Ffm. 2005), wiederentdeckt hatten. 1955 kehrte K. als amerikan. Staatsbürger nach Wien zurück u. traf auf Gleichgesinnte: gemeinsam mit Helmut Qualtinger, Gerhard Bronner, Carl Merz u. Peter Wehle entwarf er groteske Kabarettprogramme, Szenen über Protektionismus u. Wiener Beamtentum, böse Sketche über kleinbürgerl. Ignoranz u. engstirnigen Provinzialismus u. prägte damit bis 1958 das kontrovers diskutierte KabarettProgramm der Wiener Marietta-Bar (u. a. Blattl vorm Mund. Schallplatte 1956). Einer von K.s bekanntesten Songs aus dieser Zeit ist Tauben vergiften im Park (1959). 1958 lernte er

die Schauspielerin u. Tänzerin Topsy Küppers kennen, seine zukünftige Frau u. spätere Partnerin. Er löste seinen Vertrag mit der Marietta-Bar u. sich aus der Zusammenarbeit mit seinen Mitstreitern u. zog mit Topsy nach München. Gemeinsame Chansonabende u. ebenso viele erfolgreiche Kabarettabende standen auf dem Programm. Mit der polit. Polarisierung der 1960er Jahre wurden Diskussionen mit dem Publikum zum wichtigsten Bestandteil der Shows, u. a. Protest nach Noten (1968). Daneben bearbeitete K. Bühnenstücke, Musicals, Operetten, u. a. die Operette Der Vogelhändler von Carl Zeller, die 1968 im Fernsehen u. einigen Theatern aufgeführt wurde. Doch die komplizierte Beziehung mit Topsy Küppers brach auseinander u. K. ging 1976 nach Berlin. Dort traf er Barbara Peters, mit der er bis heute privat wie beruflich zusammenblieb. Gemeinsam gestalten sie Kabarettprogramme, produzieren Schallplatten u. CDs, darunter Rette sich wer kann (1977), Wo der Pfeffer wächst (1983) u. Lieder gegen fast alles (2002). 1988 übersiedelten sie gemeinsam nach Hof bei Salzburg, seit 1992 leben sie in Basel. Als Romanautor debütierte K. 1990 mit Ein Prophet ohne Zukunft (Zürich), der Geschichte eines jungen Mannes aus der Nachkriegsgeneration, der sein Leben nicht in den Griff bekommt, weil selbst ihn, den Nachgeborenen, die Schatten der nationalsozialist. Vergangenheit zu prägen scheinen. 1996 folgte der Roman Der Schattenspringer (Bln.). Im Nov. 2000 wurde Der Aufstand der Schmetterlinge in den Wiener Sophiensälen uraufgeführt, eine Mischung aus kabarettist. Revue u. Oper. Broadway-Rhythmen u. Walzertakte wechseln auf geniale Weise mit Chansons u. Librettos, in denen K. in seinem typisch sarkast. Ton mit dem Kunstbetrieb, der Welt u. ihren Idealen abrechnet. 2001 zog sich K. von der Bühne zurück, um an einer weiteren Oper u. an einem Roman zu arbeiten. 2002 wurde das Ein-Mann-Musical Adam Schaf hat Angst oder: Das Lied vom Ende im Berliner Ensemble uraufgeführt. Und auch diese Geschichte eines alten jähzornigen Schauspielers, der seine Wut über die Welt, ihre großen Wahrheiten u. ihre Übel herausschreit, trägt den typischen charmant-bösartigen Tenor K.s. Seine

Krenek

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bisher letzte Oper, Aquarium oder: die Stimme – Österr. Lit. im Exil 1938–45. Innsbr. 1991. – der Vernunft (2006), wartet noch auf ihre Ur- Gerhard Bronner: Die goldene Zeit des Wiener aufführung. In dem 2005 erschienenen Sam- Cabarets. St. Andrä-Wörden 1995. – Topsy Küpmelband Leise flehen meine Tauben. Gesungenes pers: Lauter liebe Leute. Wien 1996. – Stefan Balzter: Die Chansons G. K.s u. ihre Stellung in der und Ungesungenes (Ffm.) sind seine besten u. Entwicklung des deutschsprachgen musikal. Kabekanntesten Texte zusammengestellt. baretts. Gießen 2000 (Magisterarbeit).– Michael Die Popularität von K.s Nonsens-Songs wie Custodis u. Albrecht Riethmüller: G. K. Grenzetwa Zwei alte Tanten tanzen Tango (Zürich gänger. Freib. i. Br. 2009. Jutta Freund 1961) lässt bisweilen vergessen, dass seine Texte weit entfernt sind von vordergründigem Klamauk. Seine Satire, seine absurden Krell, Max, auch: Georg Even, * 24.9.1887 bei Oschatz/Sachsen, Assoziationen u. Dialektverfremdungen, sei- Hubertusburg † 11.6.1962 Florenz. – Erzähler, Übersetne grotesk-traurigen Lieder u. Couplets in der Tradition Horváths u. Nestroys, seine entlar- zer, Lektor, Herausgeber. vend karikierende Musik zielen auf Gesell- Nach dem Studium der Germanistik u. Phischaftskritik. Konsequent blieb er seinem losophie in Leipzig, München u. Berlin war K. Programmstil ohne modische Requisiten Dramaturg in Weimar, unternahm zahlreiche treu. Reisen durch Nordafrika u. Europa u. arbeiWeitere Werke: Der guate, alte Franz. Zürich tete als Redakteur in München u. Berlin. Er 1962. – Sodom u. Andorra. Schaan 1963. – Lieder verfasste – beeinflusst von Kasimir Edschmid zum Fürchten. Zürich 1964. – Mutter Kocht Vater – expressionist. Texte, Theaterkritiken u. u. andere Gemälde der Weltlit. Wien 1967. – theoret. Schriften. Seit den 1920er Jahren Nichtarische Arien. Zürich 1967. – Die heiße Vier- betreute er als einflussreicher Lektor des telstunde. LP 1968. – Ich wünsch’ mir ein mächtiUllstein- u. des Propyläen-Verlags Autoren ges Dtschld. zurück. 1969. – Hurra wir sterben. LP wie Bertolt Brecht, Lion Feuchtwanger, Erich 1971. – Heut abend, Lola Blau. Wien 1971 (D.). – Maria Remarque u. Ernst Toller. 1936 emiIch weiß nicht, was soll ich bedeuten. Zürich 1973. – Everblacks (zus. mit Barbara Peters). Mchn. 1980 grierte K. über die Schweiz nach Italien. Er (L.). – Ich hab ka Lust. Kabarettchansons. Bln./DDR blieb auch nach dem Krieg in Florenz, wo er 1980. – Taubenvergiften für Fortgeschrittene. bis zu seinem Tod als freier Schriftsteller u. Mchn. 1983 (L.). – Lola Blau u. Nichtarische Arien. Übersetzer lebte. Bln./DDR 1985. – Worte ohne Lieder. Satiren. Wien 1986. – Ist Wien überflüssig? Satiren über die einzige Stadt der Welt, in der ich geboren bin. Wien 1987. – Die alten, die bösen Lieder. Wien 1989 (Autobiogr.). – Das Auge des Beschauers. Rorschach 1995. – Heute leider Konzert. Drei Satiren. Hbg. 2001. – Wenn ihr lachen wollt ... Ein Lesebuch. Hürth/Wien 2001. – Lola u. das Blaue vom Himmel. Eine Erinnerung. Hürth/Wien 2002. – Mein Heldentod. Prosa u. Gedichte. Wuppertal 2003. – Alles hat kein Ende. Wuppertal 2004 (R.). – Letzte Lieder. Hbg./Zürich 2009 (Autobiogr.). Literatur: Joachim Kaiser: Der spinnerte Parodist. In: Theater heute 8 (1964). – Hilde Schmölzer: G. K. In: Dies.: Das böse Wien. Mchn. 1973. – Thomas Rothschild: Liedermacher – 23 Porträts. Ffm. 1980. – Rainer Otto u. Walter Rösler: G. K. Mit einem Lächeln an der Leine. In: Dies.: Kabarettgesch.n. Abriß des deutschsprachigen Kabaretts. Bln. 1981. – Ingrid Seibert: Die Schwierigen – Portraits zur österr. Gegenwartskunst. Wien 1986. – Wolfgang Wiesmüller (Hg.): Eine schwierige Heimkehr

Weitere Werke: Die Maringotte. Bln. 1919 (E.). – Der Spieler Cormick. Bln. 1922 (R.). – Der Henker. Darmst. 1924 (N.). – Orangen in Ronco. Bln. 1931 (R.). – Der Regenbogen. Baden-Baden 1949 (R.). – Das alles gab es einmal. Ffm. 1961 (Autobiogr.). – Das Haus der roten Krebse. Ffm. 1962 (R.). – M. K. (Hg.): Das dt. Theater der Gegenwart. Mchn. 1923. Literatur: Evelyn Lacina: K. In: NDB. Karin Rother / Red.

Krenek, Krˇ enek, Ernst, * 23.8.1900 Wien, † 22.12.1991 Palm Springs/USA; Ehrengrab der Stadt Wien. – Komponist, Librettist, Schriftsteller u. Essayist. K., Sohn eines österr.-ungar. Offiziers mit böhm. Wurzeln, studierte ab 1916 an der Wiener Musikakademie bei Franz Schreker, dem er 1920 nach Berlin folgte. Nach einem Aufenthalt in der Schweiz 1923–1925 wirkte er bis 1927 als Assistent des Intendanten Paul

Krenek

Bekker am Staatstheater Kassel u. später in Wiesbaden. 1924 heiratete er Anna Mahler, die Tochter Gustav Mahlers, u. lernte zahlreiche Komponisten, Musiker, Künstler u. Schriftsteller kennen, u. a. Ferruccio Busoni, Eduard Erdmann, Theodor W. Adorno, Franz Werfel, Rainer Maria Rilke, der ihm das Gedicht O Lacrymosa zur Vertonung widmete. Mit der »Jazzoper« Jonny spielt auf hatte K., der zuvor schon mit atonalen Kompositionen u. Opern nach Texten von Werfel u. Oskar Kokoschka bekannt geworden war, einen weltweiten Erfolg. 1928 kehrte K. nach Wien zurück, begann eine intensive Beschäftigung mit der Musik Franz Schuberts, wovon der Liedzyklus Reisebuch aus den österreichischen Alpen, zu dem K. selbst den Text schrieb, zeugt. K. lernte Karl Kraus kennen, der zu einer prägenden Gestalt u. zur Leitfigur für K.s literar. Tätigkeit wurde. K. verfasste Essays, Reiseberichte u. Rezensionen für den »Anbruch« u. die »Frankfurter Zeitung«, ab 1935 für die »Wiener Zeitung«. 1932 gründete er mit Alban Berg, Willi Reich u. Rudolf Ploderer die Musikzeitschrift »23« u. wurde in der Internationalen Gesellschaft für neue Musik (IGNM) tätig. Während der Zeit des Ständestaates war K. publizistisch u. kulturpolitisch aktiv, beschloss jedoch, nachdem die Nationalsozialisten sein Werk verfolgten, mit seiner zweiten Frau Berta Hermann ins Exil in die USA zu gehen. Ein wichtiger Auslöser dafür war die aus polit. Gründen abgesetzte Uraufführung des in Zwölftontechnik komponierten Bühnenwerks mit Musik Karl V. an der Wiener Staatsoper, wo das Werk erst 1984 erstaufgeführt wurde. 1939–1942 lehrte K. am Vassar College in Poughkeepsie, zwischen 1942 u. 1947 war er Musikprofessor, Leiter der Musikabteilung u. Direktor der School of Fine Arts an der Hamline University in St. Paul, Minnesota, u. hielt zahlreiche Vorträge u. Gastvorlesungen in den USA. K. begann musikhistor. Studien zur Musik des MA, v. a. über Ockeghem u. Palaestrina, die in dem Chorwerk Lamentatio Jeremiae Prophetae von 1942 durchscheinen. 1945 wurde er amerikan. Staatsbürger, 1947–1966 lebte er in Los Angeles. Nach der Heirat mit Gladys Nordenstrom 1950 begann eine intensive Konzert- u. Vortragstätigkeit in Europa, u. K.

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wurde Dozent bei den Darmstädter Internationalen Ferienkursen. Ab etwa 1956 wandte er sich seriellen Kompositionsmethoden u. elektron. Musik zu. Mit zunehmendem Alter bekam er zahlreiche Ehrungen u. Preise. 1966 zog er nach Palm Springs, wo er, unterbrochen von ausgedehnten Konzertreisen in Europa u. Sommeraufenthalten im ArnoldSchönberg-Haus in Mödling bei Wien (ab 1982) bis zu seinem Tod am 22.12.1991 lebte. Verschiedene Aktivitäten seit 1980, das Andenken u. den Nachlass K.s, mehr als 240 Kompositionen, Bücher, Aufsätze, Vorträge, Essays, Briefe, Dokumente u. Aquarelle, zu bewahren, führten nach Vorarbeiten seit Mitte der 1990er Jahre 2004 zur Gründung der Ernst Krenek Institut Privatstiftung an der Donau-Universität Krems, Österreich, u. 2008 zur Einrichtung der permanenten Ausstellung zu Leben u. Werk, Krenek Forum, wo seither K.s Nachlass gesammelt u. aufgearbeitet wird. K.s Werk, das in einer Zeitspanne von mehr als 70 Jahren entstanden ist, zeichnet sich aus durch eine große Vielseitigkeit, die beinahe alle musikal. Gattungen umfasst (wobei K. die Texte seiner Vokalwerke meist selbst schrieb), u. mehrfache kompositorische »Stilwandel«, sodass man K. in den USA als »one-man history of twentieth-century music« bezeichnet hat. Nach frühem Ruhm in den 1920er Jahren, als K. zu den Vertretern der damals »neuen« Musik gehörte u. Werke wie die expressionist. Oper Orpheus und Eurydike nach einem Schauspiel von Kokoschka schrieb oder sich in der szen. Kantate Zwingburg nach einem Text von Werfel mit Formen des epischen Musiktheaters beschäftigte, näherte er sich, der nicht zu den Schülern Arnold Schönbergs gehörte, ab 1930 allmählich aus ästhet. Überzeugung der Dodekafonie an. »Die Übereinstimmung von musikalischem Gedanken und intellektueller Analyse« (Maurer Zenck) blieb für K.s Schaffen typisch u. begleitete auch seine Auseinandersetzung mit seriellen Techniken u. elektron. Musik ab den 1950er Jahren, wie in der streng seriell gearbeiteten Sestina 1957. K.s Spätwerk ist gekennzeichnet von der Erfahrung des Exils u. dem damit verbundenen Verlust von Heimat, Tradition u. Geschichte. Das Interesse an

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modaler Musik u. histor. Satztechniken, das bekenntnishafte Einbinden von Zitaten u. Anspielungen an eigene frühere Werke wie im 8. Streichquartett 1981, aber auch das Zerbrechen der Kontinuität des Werkes in Fragmenthaftes lassen den exilbedingten Bruch in Biografie u. Werkgeschichte deutlich hervortreten, der die Rezeption seines Werkes maßgeblich geprägt hat. Weitere Werke: Über Neue Musik. Sechs Vorlesungen. Wien 1937. – Music here and now. New York 1940. – Selbstdarstellung. Zürich 1948. – Johannes Ockeghem. London 1953. – Zur Sprache gebracht. Ess.s über Musik. Mchn. 1958. – Gedanken unterwegs. Mchn. 1959. – Prosa. Dramen. Verse. Mchn. 1965. – Im Zweifelsfalle. Aufsätze zur Musik. Wien 1984. – Amerikan. Tagebücher 1937–42. Dokumente aus dem Exil. Hg. Claudia Maurer Zenck. Wien 1992. – Im Atem der Zeit. Erinnerungen an die Moderne. Hbg. 1998. Literatur: Lothar Knessl: E. K. Eine Studie. Wien 1967. – Wolfgang Rogge (Hg.): Theodor W. Adorno u. E. K. Briefw. Ffm. 1974. – Claudia Maurer Zenck: E. K. Ein Komponist im Exil. Wien 1980. – Otto Kolleritsch (Hg.): E. K. Graz 1982. – Heinz-Klaus Metzger: E. K. Mchn. 1984. – Garret H. Bowles: A Bio-Bibliography. New York 1989. – C. Maurer Zenck (Hg.): Der hoffnungslose Radikalismus der Mitte. Der Briefw. E. K. – Friedrich T. Gubler 1928–39. Wien 1989. – John L. Stewart: E. K. Eine krit. Biogr. Tutzing 1990. – Matthias Schmidt: Im Gefälle der Zeit. E. K.s Werke für Sologesang. Wien. 2000. – Eva Maria Stöckler: ›... verloren im Dunkel des unübersehbaren Lebensraumes‹. E. K.s Kafka-Rezeption. Ffm. 2006. Eva Maria Stöckler

Kretschmann, Karl Friedrich, auch: der Barde Rhingulph, * 4.12.1738 Zittau, † 15. (16.) 1.1809 Zittau. – Lyriker, Lustspielautor, Erzähler. Der Juristensohn studierte nach dem Besuch des Zittauer Reformgymnasiums ab 1757 in Wittenberg Jura u. erlangte 1762 die Doktorwürde. Wieder in Zittau, übernahm er 1764 eine Oberamtsadvokatur u. 1774 das Gerichtsaktuariat. 1797 wurde er krankheitshalber in den Ruhestand versetzt. Schon in Wittenberg, wo er 1759 Mitgl. der dortigen Deutschen Gesellschaft wurde, veröffentlichte K. anonym dramat. Bearbeitungen u. Übersetzungen (Fünf ausgesuchte Lust-

spiele aus dem Théâtre italien des Gherardi. Bln. 1762), später folgten Lustspiele nach Riccoboni u. Goldoni (Die Familie des Antiquitätenkrämers. Zittau 1767). Literarischen Ruhm, wenngleich umstrittenen, erlangte K. vorübergehend als Lyriker, der sich zunächst zeittypisch mit anakreontisch-empfindsamen Gedichten vorstellte (Sammlung komischer, lyrischer und epigrammatischer Gedichte. Lpz. 1764). Angeregt durch Gerstenbergs Gedicht eines Skalden (1766) u. Macphersons OssianLieder (dt. 1764 u. ö.), wandte sich K. dann verstärkt einem historisch mystifizierten Bardengesang als »Quelle unsrer Nazionaldichtkunst« zu (vgl. Über das Bardiet. In: Sämmtliche Werke, Bd. 1). Zeitgleich mit Klopstock (u. nicht, wie oft behauptet, als dessen Epigone) bearbeitete er den Stoff der Hermannsschlacht. K.s patriotisches u. ästhet. Anliegen war dabei – im Gegensatz zur breiten Antike-Rezeption im 18. Jh. – die Vermittlung spezifisch »teutscher Mythologie« in einer affektgeladenen, episch-lyr. Mischform (Der Gesang Rhingulphs des Barden. Lpz. 1769. Die Klage Rhingulphs des Barden. Lpz. 1771). In der Folge war der auch in klass. Strophenformen heimische Lyriker K. regelmäßig in prominenten Zeitschriften u. Almanachen vertreten, u. a. im »Göttinger Musenalmanach«. Den sieben Bänden seiner Sämmtlichen Werke (Lpz. 1784–1805) stellte er jeweils poetologisch reflektierende Begleittexte voran. Seine Prosaschriften bleiben vorwiegend aufklärerisch-didaktisch; die Distanz zur radikalisierten Empfindsamkeit u. zu den »Kraftgenies« des Sturm u. Drang hat K. nie verloren. Weitere Werke: Von den Sitten der alten Deutschen. Aus dem Lateinischen des C. C. Tacitus. Lpz. 1779. – Kleine Romane u. Erzählungen. 2 Bde., Lpz. 1799/1800. Literatur: Hermann F. Knothe: K. F. K. (der Barde Rhingulph). Zittau 1858. – Jens Dirksen: Die Literaturgesch. verbürgt den Widerstand: Hans Joachim Schädlichs Prosa-Skizze Satzsuchung u. ihr Anspielungshorizont v. Paul Scarron über K. F. K. zu E. T. A. Hoffmann. In: Text + Kritik (1995), S. 62–73. – Wolf Gerhard Schmidt: ›Homer des Nordens‹ u. ›Mutter der Romantik‹. James Macphersons ›Ossian‹ u. seine Rezeption in der

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deutschsprachigen Lit. 4 Bde., Bln./New York 2003/04 (zgl. Diss. Univ. des Saarlandes 2002). Stefan Iglhaut / Red.

Kretzen, Friederike, * 20.7.1956 Leverkusen. – Romanautorin u. Publizistin.

verkusen u. das die Stadt dominierende Bayer-Werk oder die Studentenstadt Gießen in den späten Siebzigerjahren. Weitere Werke: Theaterstück: Pest ist die Frau. Urauff. Hbg. 1994. Ersch. in: Weiberjahnn. Eine Polemik zu Hans Henny Jahnn. Hg. u. mit einem Vorw. vers. v. Frauke Hamann u. Regula Venske. Hbg. 1994, S. 48–88. – Romane: Die Souffleuse. Frauenfeld/Zürich 1989 (als Theaterstück 1990 am Schauspielhaus Zürich uraufgeführt, als Hörsp. im selben Jahr bei DRS). – Die Probe. Frauenfeld/Zürich 1991. – Ihr blöden Weiber. Frauenfeld/Zürich 1993 (als Theaterstück 1995 am Schauspielhaus Zürich uraufgeführt). – Indianer. Basel/Köln 1996. – Übungen zu einem Aufstand. Ffm./Basel 2002. – Weisses Album. Mchn. 2007. – Sonstiges: L’œil du Tigre. Ein Künstlerbuch. Zürich 1999 (zus. mit Bernard Voïta).

K. wuchs in Leverkusen auf u. studierte Soziologie, Ethnologie u. Politologie in Gießen. Nach ihrem Studium war sie als Regieassistentin am Gießener Stadttheater tätig, besuchte die Schauspiellehrwerkstatt Köln e. V. u. arbeitete als Dramaturgin am Bayerischen Staatsschauspiel in München. Seit 1983 lebt K. als freie Schriftstellerin u. Publizistin in Basel (Veröffentlichungen u. a. in verschiedenen Anthologien, der »Basler« u. der »Neuen Literatur: Samuel Moser: F. K. In: LGL. Zürcher Zeitung«). 1992 wurde K. Dozentin an der Hochschule für Gestaltung und Kunst Eva Stollreiter Zürich (2007 eingegangen in die neu gegründete Zürcher Hochschule der Künste), Kretzer, Max, * 7.6.1854 Posen, † 15.7. seit 1996 leitet sie in der Nachfolge Adolf 1941 Berlin; Grabstätte: ebd., Alter LuiMuschgs die Schreibwerkstatt an der Eidgesenfriedhof. – Erzähler, Dramatiker, Lynössischen Technischen Hochschule (ETH) riker. Zürich. Neben anderen Preisen u. Auszeichnungen wurde ihr 1999 der Deutsche Kriti- K., der als einer der ersten Berliner Naturakerpreis für Literatur verliehen (für Ich bin ein listen die soziale Not des GroßstadtproletaHügel. Frauenfeld/Zürich 1998). riats beschreiben sollte, wuchs bis zum 13. Wiederkehrende Bezugspunkte in K.s Lebensjahr in bürgerl. Milieu auf. Die Werk sind das Erwachsenwerden u. die weibl. Schulausbildung wurde vorzeitig abgebroExistenz. Die ersten drei Romane der Autorin chen, als sein Vater beim Versuch, sich als bilden eine Trilogie, die auch u. d. T. »Frauen Restaurator selbständig zu machen, völlig ohne Männer« bekannt ist. Grundsätzlich ist verarmte. Nach dem Umzug in die ReichsK.s Prosa durch assoziative, bildstarke Ver- hauptstadt Berlin, wo der Vater sich als fahren gekennzeichnet, die das Geschehen Handwerker durchschlug, verdingte sich K. immer wieder in die Sphäre des beinahe als Fabrikarbeiter, später als Porzellan- u. Traumhaften rücken. Sprachliche Konven- Schildermalergeselle. Nach einem Arbeitstionen werden im Erzählen bewusst unter- unfall im Jahr 1879 begann der Autodidakt laufen, was eine eigentümliche, mitunter re- K., das Milieu der Arbeiter u. kleinen Leute bellisch anmutende Durchmessung u. Aus- schriftlich zu porträtieren. Seine ersten naweitung vermeintlich bekannter Erfah- turalist. Skizzen wurden in der »Berliner rungsräume mit sich bringt. Im Zentrum der Volkszeitung« Franz Dunckers veröffenterzählten Wirklichkeit steht stets der Erleb- licht, dessen polit. Einfluss sich v. a. in K.s nis- bzw. Deutungshorizont der Figuren. ethischem Sozialismus erkennen lässt. ObDabei können sich auf der einen Seite private wohl seine Romane, Novellen u. Skizzen Räume als das Zentrum einer Welt erweisen, (neben Dramen u. Lyrik) hohe Auflagen erdie ganz u. gar in der Wahrnehmung einer reichten, lebte K., seit 1880 Berufsschriftkindl. Protagonistin aufgeht. Auf der anderen steller, immer am Rande der Armut. Schon Seite werden tatsächliche, öffentl. Orte im- deshalb blieb er dem Proletariat verbunden, mer wieder zur Kulisse des (auch zeitge- dessen Leiden ihn empörte u. zu immer schichtlichen) Geschehens, allen voran Le- neuen Darstellungen anregte. Die Rezeption

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war zwiespältig: Von Dichterkollegen wie dergibt. Spätere Werke setzten keine neuen Bleibtreu als »deutscher Zola« gefeiert, wur- Akzente. de er von anderen als stilloser, sensationsWeitere Werke: Sonderbare Schwärmer. 2 lüsterner Chronist gesellschaftlicher Ver- Bde., Bln. 1881 (R.). – Berliner Novellen u. Sittenkommenheit abgetan. Sein Antrag auf För- bilder. 2 Bde., Jena 1883. – Im Sturmwind des Soderung durch die Deutsche Schillerstiftung zialismus. Bln. 1884. (E.). – Drei Weiber. Jena 1886 1885 führte zu einer Kontroverse. Der Er- (R.). – Im Sündenbabel. Lpz. 1886 (E.en). – Bürgerl. folgsautor Felix Dahn etwa hielt K.s polit. Tod. Dresden 1888 (D.). – Der Millionenbauer. 2 Bde., Lpz. 1891. Neuausg. Bln. 1987 (R.). – GroßFärbung für gemeingefährlich. stadtmenschen. Bln. 1900 (E.en). – Der Mann ohne K.s beste Werke gingen der Blütezeit des Gewissen. Bln. 1905 (R.). – Gedichte. Dresden 1914. dt. Naturalismus voran u. brachten neue – Kreuz u. Geißel. Bln. 1919 (L.). – Fidus DeutschStoffe, die u. a. den mit K. befreundeten jun- ling. Germanias Bastard. Dessau 1921 (R.). – Die gen Hauptmann beeinflussten. Sein erster Locke. Bln. 1922 (E.). – Der Rückfall des Dr. HoraRoman Die beiden Genossen (Bln. 1880) behan- tius. Lpz. 1935 (R.). delt den Konflikt zwischen Idealismus u. EiLiteratur: Günter Keil: M. K. New York 1928. gennutz in der sozialist. Bewegung; Die Be- 21966. – Helmut May: M. K.s Romanschaffen nach trogenen (2 Bde., Bln. 1882) u. Die Verkommenen seiner Herkunft, Eigenart u. Entwicklung. Diss. (2 Bde., Bln. 1883) schildern die materielle u. Köln 1931. – Kurt Haase: Die Zeit u. Gesellseel. Not in Fabriken u. Mietskasernen. schaftskritik in den sozialen Romanen v. M. K. Während K. mit seinen präzisen u. aktuellen Diss. Würzb. 1953. – Helga Watzke: Die soziale Problematik bei M. K. Diss. Wien 1958. – Heinz Milieuschilderungen wichtige Forderungen Dieter Tschörtner: Die Akte M. K. Aus dem Archiv der naturalist. Literaturtheorie einlöste, blieb der Dt. Schillerstiftung. Weimar 1969. – Dieter seine Erzählkunst in formaler Hinsicht eher Mayer: M. K. ›Meister Timpe‹. In: Romane u. Erkonservativ. Typisch dafür ist sein wohl ge- zählungen des Bürgerl. Realismus. Hg. Horst lungenstes Werk: Meister Timpe (Bln. 1888. Denkler. Stgt. 1980, S. 347–361. – Miroslaw Os2 1927. Neuausg. Stgt. 1976 u. ö.). Die zeitna- sowski: Theodor Fontane u. M. K.: ein Vergleich he Geschichte des biederen, dem eigenen anhand ihrer Berliner Romane. In: Theodor FonVater nachgezeichneten kaisertreuen Hand- tane im literar. Leben seiner Zeit. Beiträge zur werkers, den die Industrialisierung der Fontane-Konferenz vom 17. bis 20. Juni 1986 in Gründerjahre zugrunde richtet, thematisiert Potsdam. Bln. 1987, S. 525–546 – Günter Helmes: M. K.: ›Meister Timpe‹ (1888). In: DU 40 (1988), H. zwar die Abhängigkeit des Einzelnen von der 2, 51–63. – Josef Polácek: Die soziale Prosa des dt. gesamtwirtschaftl. Lage, erinnert aber v. a. in Naturalismus der 80er Jahre. M. K., Karl Bleibtreu, der Behandlung des tragenden Vater-Sohn- Michael Georg Conrad. In: Der dt. soziale Roman Konflikts an ältere literar. Modelle. Ein blei- des 18. u. 19. Jh. Hg. Hans Adler. Darmst. 1990, bender Wert liegt dagegen in K.s ironisch S. 393–425. Mary E. Stewart / Björn Spiekermann gefärbter Zeichnung des sich rapide ändernden Berlins im Zeitalter der IndustrialisieKreuder, Ernst, * 29.8.1903 Zeitz, † 24.12. rung. 1972 Darmstadt; Grabstätte: ebd., Alter Christlich-soziale Thematik prägt die RoFriedhof. – Erzähler, Lyriker, Essayist. mane Die Bergpredigt (Dresden 1890) u. Das Gesicht Christi (Dresden 1896): Beide stehen K. wuchs in Offenbach/M. auf, machte nach beispielhaft für die Kirchenfeindlichkeit vie- dem Abitur eine Banklehre u. studierte als ler dt. Naturalisten wie auch für die zuneh- Werkstudent in Frankfurt/M. Philosophie, mende Tendenz, von politischem wie ästhet. Literatur u. Kriminologie. Seit 1924 schrieb Radikalismus Abstand zu nehmen u. ins er Beiträge für die »Frankfurter Zeitung«, Mystische auszuweichen. K.s eher registrie- von 1932 bis März 1933 war er Hilfsredakteur rendes als analysierendes Beobachtungstalent des »Simplicissimus«. 1926/27 unternahm er zeigt sich vielleicht im Kleinformat am vor- mit einem Freund für rd. 13 Monate eine teilhaftesten, v. a. in den vielen Berliner Tramp-Tour durch Jugoslawien, Albanien u. Skizzen vor der Jahrhundertwende, wo er die Griechenland. In Thessaloniki lernte er den Not der Enterbten ohne Überspitzung wie- österr. Aussteiger Alfons Hochhauser ken-

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nen, mit dem ihn eine lebenslange Freundschaft u. Briefpartnerschaft verband. 1934–1940 lebte er zurückgezogen in Darmstadt u. veröffentlichte bis zu seiner Einberufung zur Wehrmacht den Erzählungsband Die Nacht des Gefangenen (Darmst. 1939) u. etwa 40 Kurzgeschichten in der »Frankfurter Zeitung«, in »Sport und Bild« u. »Die Dame«. Nach seiner Rückkehr aus der amerikan. Kriegsgefangenschaft ließ er sich im Mühltal bei Darmstadt nieder. 1949 wurde er in die Akademie der Wissenschaften in Mainz aufgenommen, 1953 erhielt er den GeorgBüchner-Preis. Gut bekannt u. z.T. enger befreundet war K. u. a. mit Karlheinz Deschner, Alfred Döblin, Elisabeth Langgässer, Horst Lange, Hans Erich Nossack, Hans Henny Jahnn u. Arno Schmidt. K.s romanhafte »Erzählung« Die Gesellschaft vom Dachboden (Hbg./Stgt. 1946. Ffm. 1986) wurde von der Kritik begeistert als »die erste große Hoffnung der jungen deutschen Literatur nach dem Kriege« (Alfred Andersch in »Der Ruf«) begrüßt u. zählt zu den erfolgreichsten Texten der frühen Nachkriegszeit. Das Buch machte K. weithin bekannt u. ist das erste Werk der dt. Nachkriegsliteratur, das international beachtet u. in mehrere Sprachen übersetzt worden ist. Sechs junge Leute haben sich zu einem Geheimbund zusammengeschlossen u. auf einen Dachboden zurückgezogen. Sie opponieren gegen die Fantasielosigkeit des »normalen« Lebens, gegen spießbürgerl. Dummheit u. Beschränktheit. Das »große Verschwörermärchen« (Peter Härtling) bietet ein Rankenwerk bizarrer Abenteuer, es ist ein sensibel ausgesponnener Traumentwurf gegen eine prosaische Alltagswirklichkeit, ein poet. Plädoyer für eine erträumte anarch. Gegenwelt. Das Dachboden-Thema entfaltete K. in epischer Breite in dem (bereits 1938 begonnenen) Roman Die Unauffindbaren (Hbg. 1948. Königst./ Ts. 1984). Der Makler Orlins verlässt Familie u. Beruf u. macht sich auf die Suche nach dem geheimen Bund der Unauffindbaren, dessen Mitglieder die ihnen angemessene Wirklichkeit in einer Traumwelt finden. Die Fabel entfaltet sich als ein kunstvolles Nebeneinander von Abenteuern, Gesprächen, Tiraden u. Grotesken. Äußere u. innere Geschehnisse

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folgen den Gesetzen einer Traummechanik, die von der unerschöpfl. Imaginationskraft K.s in Bewegung gehalten wird. Romantische Schwärmerei u. spannende Handlung stehen neben atmosphärisch dichten Naturschilderungen u. surrealist. Episoden. Philosophische Diskurse werden durch absurde Überraschungseffekte gebrochen. In diesem Buch, das die traditionelle Romanform auflöst, formuliert K. einen vehementen antizivilisatorischen Protest gegen die Seelenlosigkeit des techn. Zeitalters. Auch in seinem Roman Herein ohne Anzuklopfen (Hbg. 1954. Mchn. 1986) attackiert K. den rücksichtslosen Fortschritt, die Zerstörung u. Verplanung der Natur u. zieht mit sarkast. Polemik gegen Fortschrittsfetischisten, Technokraten u. unbelehrbare Militärs zu Felde. K.s Helden sind Individualisten mit anarchist. Zügen, Aussteiger im Namen einer Menschlichkeit, die sie in der gesellschaftl. Realität vergeblich suchen. Eine humane Existenz ist nur dem Träumer möglich, der sich den Alltagszwängen verweigert u. in eine Innenwelt flüchtet, die in wunderbaren Bildern erfühlt u. auf abenteuerl. Fahrten in Grenzbereiche des Ich erfahren wird. K., ein Erzähler von großem epischen Temperament u. einem einzigartigen, irrlichternden Stil, ist seit Mitte der 1950er Jahre weitgehend in Vergessenheit geraten, nicht zuletzt weil er sich als monomanischer Außenseiter aktuellen literar. Entwicklungen verschloss u. sein Grundthema immer wieder aufs Neue eigensinnig variierte. In seinem Werk finden sich neben glanzvollen Passagen freilich auch gravierende Schwächen u. Brüche. Sein Übermaß an Gefühl u. seine starke myst. Neigung trieben ihn gelegentlich zu pseudophilosoph. Exkursen u. in die Nähe von unverbindl. Schwulst. Gleichwohl ist er als fantast. Fabulierer eine singuläre Gestalt der Nachkriegsliteratur. Die zentralen Anliegen seines Werks, Pazifismus, Aussteigertum u. ökolog. Empfindsamkeit gegenüber der menschl. Ausbeutung der Natur, sind jedenfalls von unverminderter Aktualität u. haben seit den 1980er Jahren wiederholt für Ansätze einer K.-Renaissance gesorgt.

43 Weitere Werke: Schwebender Weg. Stgt./Hbg. 1947 (E.). – Agimos oder die Weltgehilfen. Ffm. 1959 (R.). – Spur unterm Wasser. Ffm. 1963 (E.). – Hörensagen. Freib. i. Br. 1969. – Der Mann im Bahnwärterhaus. Mchn./Wien 1973. Literatur: Karlheinz Deschner: Talente, Dichter, Dilettanten. Wiesb. 1964, S. 157–185. – Christoph Stoll u. Bernd Goldmann (Hg.): E. K. Von ihm. Über ihn. Mit einer Bibliogr. der Buchausg.n u. Sekundärlit. bis 1974. Mainz 1974. – Arno Schmidt: Das Leptothe = Herz. Zürich 1987, S. 79–91. – Hans J. Schütz: Ein dt. Dichter bin ich einst gewesen. Mchn. 1988, S. 163–167. – Christoph Schulz: ›Macht die Augen auf und träumt!‹ E. K.s erzählerisches Werk. Ffm. u. a. 1992. – Der Briefw. 1948–59. H. H. Jahnn, E. K. Hg. u. bearb. v. Jan Bürger. Mainz 1995. – Stephan Rauer: E. K. Vorgeführtes Erzählen, vorgeführtes Erinnern (1933–59). Bielef. 2008. – Hans Dieter Schäfer: Das gespaltene Bewußtsein: Vom Dritten Reich bis zu den langen Fünfziger Jahren. Erw. Neuausg. Gött. 2009. Hans J. Schütz † / Michael Scheffel

Kreutz, Rudolf Jeremias, auch: Jeremias, Esau, Ormuzd, Yumslai, O. Mosquito, eigentl.: Rudolf Krˇ isˇ , Krˇ isch, Krisch, * 21.2. 1876 Rozˇd’alovice/Böhmen, † 3.9.1949 Grundlsee/Steiermark. – Romancier, Satiriker, Journalist.

Kreutzer

u. »viehische Schweinerei« entlarven will. K.’ religiös verbrämter Pazifismus richtet sich insbes. gegen die militärische Führung u. die Herrschaft der Phrase, schreckt jedoch vor dem radikalen gesellschaftl. Umbruch zurück. In den Nachkriegsjahren engagierte sich K. mit Essays u. Vorträgen für die von Henri Barbusse gegründete Friedensbewegung »Clarté«; seine literar. Fortsetzung fand dieses Eintreten für einen »neuen Menschen« u. einen »neuen Patriotismus« im Roman Die einsame Flamme (Bln. 1920). Nach Trennung von der »Clarté« wegen kommunist. Tendenzen in dieser Gruppe wandte er sich einer politisch indifferenten Gesellschaftskritik zu, so in dem Novellenband Menschen im Schutt (Lpz. 1923). K., der sich in den 1930er Jahren für seine jüd. Schriftstellerkollegen im österr. PEN-Club einsetzte (Protestresolution gegen NS-Deutschland auf der PEN-Konferenz von Ragusa 1933), hatte nach dem »Anschluss« unter strengem Berufsverbot zu leiden. Weitere Werke: Vom grinsenden Leben. Satiren. Wien 1911 (L.). – Aus dem Affenkasten der Welt u. anderes. Wien 1914 (L.). – Der vereitelte Weltuntergang. Wien 1919 (Satiren u. Skizzen). – Evas Rutschbahn. Böse Gesch.n. Bln. 1924. – Die Passion des Grafen Klingenperg. Lpz. 1928 (N.). – Annemariens zwei Seelen. Bln. 1929 (R.). – Die Krise des Pazifismus, des Antisemitismus, der Ironie. Wien 1931 (Ess.). – Arabesken des Lebens. Wien 1947 (E.en). – Ich war ein Österreicher. Wien 1959 (autobiogr. R.).

Bürgerlichen Verhältnissen entstammend, war K. Berufssoldat im k. k. Heer. Seine schriftstellerische Laufbahn begann er als Beiträger von »Danzer’s Armeezeitung«; bekannt wurde er jedoch mit Humoresken, so Literatur: Friedrich Seltenreich: R. J. K. Leben für die satir. Wochenschrift »Die Muskete«. u. Werk. Diss. masch. Wien 1950. – Eckart Früh: R. 1911 trat er in das literar. Büro des Kriegs- J. K. u. seine Romane aus der Kriegszeit. In: Österr. ministeriums ein, u. a. mit der Aufgabe be- u. der Große Krieg 1914–18. Hg. Klaus Amann u. traut, einen Gegenroman zu dem 1913 an- Hubert Lengauer. Wien 1989, S. 164–170. – Reinonym erschienenen patriot. Pamphlet Quo hard Nachtigal: R. J. K., Bruno Brehm u. Jaroslav vadis, Austria zu verfassen, kam aber über erste Hasek. Drei Kriegsgefangene in Russland u. ihr Entwürfe nicht hinaus (vgl. dazu: Karl Kraus: Werk zwischen dichter. Freiheit u. histor. Wahrheit. In: Österr. in Gesch. u. Lit. 49 (2005), H. 2, Die Fackel, Nr. 397, März/April 1914, S. 98–123. Johannes Sachslehner / Red. S. 65 ff., u. Wendelin Schmidt-Dengler u. a., Hg.: Die Muskete. Wien 1983, S. 41 ff.; danach war der Verfasser der anonymen Schrift GusKreutzer, (Carl Heinrich) Ludwig, * 12.2. tav Sieber, Leutnant der k. k. Armee). Wäh1833 Dömitz/Elbe, † 9.4.1902 Naukalen/ rend des Ersten Weltkriegs geriet K. in russ. Mecklenburg. – Volkserzähler, Dichter u. Gefangenschaft, wo der Antikriegsroman Die Herausgeber. große Phrase (2 Bde. Dän. 1917. Dt. Zürich 1919) entstand, der am Schicksal eines österr. K. war das älteste von acht Kindern eines Infanteriehauptmanns den Krieg als Geschäft Lehrers. An Entbehrungen seit frühester Ju-

Kreuzfahrt Landgraf Ludwigs des Frommen

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gend gewöhnt (der Vater starb früh), verlief Schulztg. 65 (1934). – Hartmut Brun: L. K. In: As sein Leben ohne äußere Höhepunkte. Nach ick kamm in’t Strelitzer Land (1990), S. 55–59. – dem Abschluss einer Kaufmannslehre in Ders.: L. K. – ein Erzähler aus der Griesen Gegend. Boizenburg/Elbe bereitete er sich auf den In: Mecklenburg, Bd. 36 (1994), H. 6, S. 11. Hartmut Brun Lehrerberuf vor u. besuchte von 1855 bis 1857 das Seminar in Ludwigslust. Die erste Lehrerstelle erhielt K. in Parchim, dann folgte Die Kreuzfahrt Landgraf Ludwigs des 1862 die Versetzung nach Ludwigslust. Ein Frommen, 1301, Schlesien. – KreuzAugenleiden, das 1895 zur völligen Erblin- zugsdichtung. dung führte, zwang ihn, 1868 die weniger belastende Dorfschulmeisterstelle in Zehlen- Die K. L. L. d. F. ist ein anonymes, früher dorf bei Güstrow anzunehmen. 1895 pensio- fälschlich Wolfram von Eschenbach zugeniert, verlebte er seinen Lebensabend in schriebenes ostmitteldt. Versepos (etwa 8200 Neukalen u. diktierte die Texte seiner Toch- Reimpaarverse) über die Teilnahme des thüter. K. machte als Volksschullehrer seinem ring. Landgrafen Ludwig III. des Frommen am dritten Kreuzzug Stand alle Ehre. Genaue Kenntnisse über (1172–1190) (1187–1192). Politische Anspielungen erweiGeografie u. Geschichte, Sitte u. Brauchtum sen, dass es 1301 (zwischen 14. Jan. u. 9. Nov.) sowie Tier- u. Pflanzenwelt zeichneten ihn entstanden sein muss. aus. Er schrieb zahlreiche Beiträge für Das Werk beginnt mit einem Bericht über Schullesebücher. die Könige von Jerusalem seit Gottfried von Die literar. Betätigung K.s reicht bis in die Bouillon bis zur Belagerung von Akkon unter Ludwigsluster Zeit zurück. Er verfasste Guido von Lusignan (ab 1189), der auf lat. plattdt. Scherze, Schauspiele u. Erzählungen Kreuzzugsberichten basiert (bis v. 564). Mit sowie hochdt. Novellen. Die größte Wirkung Ludwigs Ankunft vor der Stadt setzt die erzielte K. durch Beiträge im 1864 von Handlung nach anderen Vorlagen ein: Der Dethleff Carl Hinstorff begründeten »GroßLandgraf, ein vollkommener Ritter mit heiherzoglich Mecklenburg-Schwerinscher und ligmäßigen Zügen, zeigt sich im Kampf geMecklenburg-Strelitzer Kalender«, der sehr gen die Sarazenen als bedachter Ratgeber, früh im Volksmund nur »Voß un Haas-KaVermittler zwischen den uneinigen christl. lender« genannt wurde, bis 1942 erschien u. Heeren u. unbesiegbarer Kämpfer, der überseit 1995 im Rostocker Hinstorff Verlag wienatürl. Hilfe gewürdigt wird; verwundet von der als »Norddeutscher Heimatkalender Voß einem Stein, stirbt er auf der Heimreise, un Haas« aufgelegt wird. K. schrieb bis zu nachdem sogar Saladin den hoch angeseheseinem Tod den größten Teil der Gedichte u. nen Feind aufgesucht hat. Der Erzähler folgt Erzählungen für den Kalender u. war Herden Konventionen der Kreuzzugsepik, wie sie ausgeber des Jahresweisers, der eine Auflage sich an das Werk Wolframs anschließt; von mehr als 100.000 Exemplaren erreichte. Christen u. Heiden stehen sich als gleicherWeitere Werke: Mecklenburgische Dorfge- maßen höf. Ritter gegenüber. sch.n. Parchim 1863. – Die Rosenmühle u. der Historisches ist in zahlreichen Namen u. Kleine Samariter. Lpz. 1863 (E.). – Die BlutigelEreignissen präsent; allerdings wird vielfach händler. Wismar/Ludwigslust 1868 (E.). – Die Ungleichzeitiges miteinander verschmolzen: Waldjungfer v. Wildberg. Hbg. 1880 (E.). – Die Kaiser Friedrich I. erscheint vor Akkon, Ludunheilvolle Erbschaft. Hbg. 1881 (E.). – Verborgene Wege. Hbg. 1885 (E.). – Plattdt. Schwänke. Wismar wig wird mit der Frau seines Neffen Ludwig 1886. – Martin der Stellmacher. Hbg. 1886 (E.). – IV., der hl. Elisabeth, u. dessen Bruder, dem Pulterabendknäp. Parchim 1899 (Scherze). – Zehn Deutschordensmeister Konrad von Thürinmecklenburgische Volkserzählungen. Hg. Wilhelm gen, verbunden. Diese u. viele andere Verstöße gegen die geschichtl. Realität erzeugen Schmidt. Rostock 1904. Literatur: August Otto: Volksschriftsteller u. eine eigene Wirklichkeit des Textes, deren Hauspoeten. Soest 1908. – Wilhelm Schmidt: Ein größere Idealität Ludwigs Vorbildhaftigkeit Kranz auf das Grab L. K.s. In: Mecklenburgische steigert. Ein ausführl. Fürstenlob gilt auch

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den böhm. Königen Wenzel I., Ottokar II. u. Wenzel II. – der Auftraggeber des Dichters, der schlesische Piastenherzog Bolko I. von Schweidnitz-Jauer († 9.11.1301; vv. 5570–5576, 4–24), war mit dem thüring. Herrscherhaus eng verwandt u. zählte sich zu den Nachfahren Ottokars. In den Zeiten prˇ emyslid. Übermacht in Schlesien konnte die den bisher unzureichend dargestellten Stoff »ordenlich« berichtende »rede« (vv. 5–9) Legitimität u. Glanz der eigenen Macht erhöhen. Das Epos ist nur in einer Handschrift aus dem frühen 14. Jh. überliefert, die Ende des Jahrhunderts einem wohl bayerischen Hainrich von Hainberch gehörte. 1462 besaß sie Jakob Püterich von Reichertshausen, der das Werk wenig schätzte. Später, im Besitz Ulrich Füetrers, wurde es vielleicht für den Spruch von den Tafelrundern benützt. Ausgaben: Die K. [...]. Hg. Hans Naumann. Bln. 1923 (MGH Dt. Chron. IV, 2). Nachdr. 1980. Literatur: Hermann Menhardt: Ein Spruch v. den Tafelrundern. In: PBB 77 (1955), S. 136–164, 316–332. – Maria Elisabeth Groll: Landgraf Ludwigs Kreuzfahrt. Diss. Köln 1972. – Dietrich Huschenbett: Die K. [...]. In: VL. – Hans-Joachim Behr: Lit. als Machtlegitimation. Mchn. 1989. – Karin Cieslik: ›Landgraf Ludwigs Kreuzfahrt‹ – höf. Roman oder Historie? In: JOWG 6 (1990/91), S. 59–66. – Ursula Liebertz-Grün: ›Landgraf Ludwigs Kreuzfahrt‹. Intertextualität, Kommunikationsgemeinschaft u. erzählte Gesch. In: Die Anfänge des Schrifttums in Oberschlesien bis zum Frühhumanismus. Hg. Gerhard Kosellek. Ffm. 1997, S. 13–30. – Maria Dorninger: Muslime u. Christen im ›Grafen Rudolf‹ u. in der K. L. L. d. F. v. Thüringen. In: Disputatio 5 (2002), S. 157–188. Sabine Schmolinsky / Red.

Kreuztragende Minne. – Spätmittelalterliches Dialoggedicht, Beginn des 15. Jh. In der belehrenden Erbauungsschrift, die zu Beginn des 15. Jh. im bayerisch-österr. Raum entstand, treten in 18 Strophen abwechselnd Christus u. die Seele auf. Der Forderung, jeder müsse das Kreuz auf sich nehmen, setzt die Seele ihre Jugend u. Schwäche entgegen: Trotz des Wunsches nach ewiger Gemeinschaft glaubt sie dem Leben in der Welt noch

nicht entsagen zu können. Als sie sich im zweiten Teil jedoch ganz dem Willen ihres Herrn überantwortet, spricht Christus ihr Trost zu; aus seinem Tod am Kreuz schöpft die Seele Kraft, ihm im Leiden nachzufolgen. Der in drei Fassungen überlieferte Dialog ist wahrscheinlich in Frauenklöstern entstanden, doch seine allgemein gehaltenen Forderungen wenden sich auch an Laien. Deutlichere Anklänge an die Brautmystik finden sich nur in den thematisch eng verwandten niederdt. Dialogen zwischen »Braut« u. »Bräutigam«. Auch diese Gedichtgruppe lebte in kath. Gesangbüchern bis ins 19. Jh. fort, was ihre Bedeutung für die volkstüml. Frömmigkeit unterstreicht. Literatur: Romuald Banz: Christus u. die minnende Seele. Breslau 1908 (Ausg. S. 253–259). – Volker Mertens: K. M. In: VL (auch: Nachträge u. Korrekturen). – Volker Honemann: Die K. M. Zur Dialogizität eines spätmhd. geistl. Gedichts. In: Sprachspiel u. Bedeutung. FS Franz Hundsnurscher. Hg. Susanne Beckmann u. a. Tüb. 2000, S. 471–480. Anette Syndikus / Red.

Krieger, Adam, * 7.1.1634 Driesen (Drezdenko)/Neumark, † 30.6.1666 Dresden; Grabstätte: ebd., Frauenkirchhof. – Komponist u. Liederdichter. Seine erste musikal. Ausbildung erhielt K., Sohn des kurfürstlich-sächs. Feldhauptmanns Gregorius Krieger, vor 1650 bei dem berühmten Komponisten u. Orgelmeister Samuel Scheidt in Halle/S. Um 1651 siedelte er zur weiteren Ausbildung nach Leipzig über; hier wurde er 1655 Nachfolger Johann Rosenmüllers als Organist an der Nikolaikirche. In Leipzig erschien auch 1657 seine erste Liedersammlung Arien von einer, zwey und drey Vocal-Stimmen benebenst ihren Ritornellen, mit der er schnell weithin bekannt wurde. Noch im selben Jahr wurde K. als Kammer- u. Hoforganist nach Dresden berufen, wo er mit dem Bibliothekar u. Hofdichter David Schirmer freundschaftl. Beziehungen unterhielt. Schirmer war es auch, der K.s zweite Liedersammlung postum herausgab (Neue Arien. Dresden 1667). Die mehrfach aufgelegten Arien u. Neuen Arien machten K. zum beliebtesten Liedkom-

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ponisten seiner Zeit. Zum einen liegt dies in der vorwiegend beschwingt-tänzerischen Melodik der Lieder begründet, zum anderen aber auch in K.s Vermögen, vom einfachen Trinklied- bis zum anspruchsvollen mythologisierenden Erbauungstext den Zeitgeschmack zu treffen. Vor allem durch die in Liedsammlungen u. evang. Gesangbücher aufgenommenen Texte wirkte K.s Liedkunst bis ins 18. Jh. hinein. Ausgaben: Fischer-Tümpel 4, S. 17. – Arien. Hg. Alfred Heuss. Lpz. 1905. Krit. rev. v. Hans Joachim Moser. Wiesb. 1958. Literatur: Bibliografie: VD 17. – Weitere Titel: Moriz Fürstenau: A. K. In: ADB. – Günther Müller: Gesch. des dt. Liedes. Mchn. 1925. – Helmuth Osthoff: A. K. [...]. Lpz. 1929. Nachdr. Wiesb. 1970. – Lebensbilder der Liederdichter u. Melodisten. Bearb. v. Wilhelm Lueken. (Hdb. zum EKG, Bd. II, 1). Gött. (auch Bln.) 1957, S. 163. – Richard Hinton Thomas: Poetry and Song in German Baroque. Oxford 1963, S. 53–64. – John Madison Brown: A. K., poet. Diss. John Hopkins University 1969. Ann Arbor 1972. – Heiduk/Neumeister, S. 395 u. Register. – Thomas-M. Langner: A. K. In: NDB. – Hans-Josef Olszewsky: A. K. In: Bautz. – Wolfram Steude: A. K. In: Komponisten u. Liederdichter des Evang. Gesangbuchs. Hg. Wolfgang Herbst. Gött. 1999 (22001), S. 186 f. – Werner Braun: A. K. In: MGG 2. Aufl. Bd. 10 (Personentl.), Sp. 725–727 (Lit.). – Ders.: Thöne u. Melodeyen, Arien u. Canzonetten [...]. Tüb. 2004, passim. Rainer Wolf / Red.

Krieger, Arnold, * 1.12.1904 Dirschau (Tzcew)/Westpreußen, † 9.8.1965 Frankfurt/M.; Grabstätte: Darmstadt, Waldfriedhof. – Romancier, Lyriker, Dramatiker. Der Sohn eines Mittelschulrektors studierte Philologie. Die Uraufführung des noch während seiner Studentenzeit geschriebenen Dramas Opfernacht war 1927 ein erster Erfolg. Doch gehörte K. zu jener »verlorenen« Generation, deren beginnende literar. Karriere mit dem Machtantritt Hitlers zusammenfiel. Als Rowohlt-Autor u. Esperanto-Anhänger begegneten ihm die Nationalsozialisten mit Misstrauen. Von einer Gegnerschaft K.s kann angesichts der Fülle erfolgreicher Publikationen während des Dritten Reichs allerdings nicht gesprochen werden, zumal sich darun-

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ter Werke befinden, die der herrschenden Ideologie entsprechen, so der revanchistische, polenfeindl. Roman Empörung in Thorn (Mchn. 1939). Nach dem Krieg ging K. Schwierigkeiten mit den amerikan. Besatzungsbehörden (Druckverbot) durch Emigration in die Schweiz aus dem Weg, wo er die Zeitschriften »Das eigentliche Leben« u. »Revolutionäres Christentum« gründete. Seine Erlebnisse während dieser Zeit fasste er in dem Bericht Zwei zogen aus (Baden-Baden 1953) zusammen. Von 1953 an lebte K. in Darmstadt. Sein Werk steht im Zeichen einer christlich-humanist. Zeitkritik. Die Rettung der irregeleiteten Völker Europas sollte durch ein »Lambarene in Europa« u. einen »Weltbund freier Menschen« geschehen. Wiederholt wandte sich K. in seinem Werk Afrika zu, das ihm zum Sinnbild des Primitiven, Reinen u. Ursprünglichen gegenüber der Verdorbenheit u. »Entartung« der modernen westl. Zivilisation wurde. Besonderen Erfolg hatte K. mit dem auf sorgfältige Studien zurückgehenden u. unter Verwendung expressionistischer Stilmittel geschriebenen Frauenroman Geliebt, gejagt und unvergessen (Bln.-Grunewald 1955. Neuaufl.n Bergisch Gladbach 1984 u. Neu-Isenburg 2006), der das Schicksal einer afrikan. Fürstentochter schildert. Der Pflege u. Verbreitung von K.s Werk widmet sich eine nach seinem Tod gegründete Vereinigung der Freunde Kriegers. Weitere Werke: Ninon Gruschenka. Dresden 1940 (N.). – Das erlösende Wort. Dresden 1941 (L.). – Das schlagende Herz. Potsdam 1944 (L.). – Fjodor u. Anna. Einsiedeln 1951 (D.). – Terra adorna. Köln 1954 (R.). – Das Haus der Versöhnung. Mchn. 1956 (R.). – Stärker als die Übermacht. Stgt. 1961 (Ess.). – Der Kuckuck u. die Zerreißprobe. Karlsr. 1963 (R.). – Hörspiele 1–12. Darmst. 1964. – Elegien. Darmst. 1975 (L.). – Noch einmal Tycho. Das Tgb. der Agathe Goltz. Darmst. 1977 (R.). – Thora oder das gefälschte Los. E. nach einer wahren Begebenheit. 2. Fass. Darmst. 1996 [1. Fass. in verschiedenen Ztschr.en]. Literatur: Fritz Seefeldt: A. K. Eutin 1966. – A. K. zum 75. Geburtstag. Darmst. 1979. – Willi Ferdinand Fischer: Zwei Außenseiter. Ernst Barlach u. A. K. Lörrach 1981. – Christian W. Hallstein: An Essay on the Theme of Truth and Falsehood in ›Das Haus der Versöhnung‹ Darmst. 1986. – Bernhardt

47 Blumenthal: In Noble Cause: The Writings of A. K. In: Seminar 26 (1990), H. 2, S. 138–151. – Tuja Krieger: Briefe an eine Werkfreundin. Die Darmstädter Jahre A. K.s (1953–65). Darmst. 1992. – Wilfried Samel: A. K. (1904–65). Zum 90. Geburtstag dem Lyriker gewidmet. Darmst. 1994. – Feierstunde zum 90. Geburtstag A. K.s. Hg. v. der Stadt Darmst. u. dem Freundeskreis A. K.s. Darmst. 1995. Peter König / Red.

Kriegsmann, Wilhelm Christoph, * 1633 Barchfeld bei Schmalkalden, † 29.9.1679 Mannheim. – Publizist religiös-pietistischer, politischer u. alchemischer Schriften. Nach theologischen u. orientalist. Universitätsstudien in Jena u. Helmstedt diente K. zunächst dem Grafen Friedrich Emich von Leiningen-Dagsburg in Hardenburg, seit 1574 dann als Kammerrat dem Landgrafen Ludwig VI. von Hessen-Darmstadt; 1678 trat er schließlich als Kammer- u. Rechnungsrat in die Dienste des pfälz. Kurfürsten Karl Ludwig in Mannheim. Zu seinen näheren Freunden u. Bekannten zählten die Frankfurter Pietisten Philipp Jakob Spener u. Johann Jakob Schütz sowie der Arztalchemiker Johann Tacke. K. schuf Erbauungsbücher (Eusebie. Von der waren Gottseligkeit. Ffm. 1659. Theopraxia oder Evangelische Vbung des Christenthums. Darmst. 1675), suchte Johann Schefflers antiprotestant. »Religions-Scrupel« zu zerstreuen (Gegen-Schrifft Auff das [...] Sendschreiben eines [...] Christiani Conscientiosi [d.i. Angelus Silesius]. Ffm. 1672) u. machte sich zum Anwalt der von der luth. Orthodoxie bekämpften Collegia pietatis Spener’schen Gepräges (Symphonesis christianorum Oder Tractat Von den [...] Privat-Zusammenkunfften der Christen. Ffm. 1678 [ersch. 1677], gewidmet Ahasverus Fritsch; dazu Streitschriften v. Georg Conrad Dilfeld, Balthasar Mentzer, Johann Winckler, Schütz). K. erhob im protestantisch-jüd. Religionsstreit seine Stimme u. richtete, inspiriert von aktuellen Kontroversen um den »König Messias« Sabbatai Zewi, an »die Juden in Teutschland« eine Bekehrungsschrift (Malchutolam. Vom Königreich deß Hn. Messiae. o. O. 1669); bald dann verteidigte er im Zuge

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seiner konfessionspolit. Publizistik die Duldung der Protestanten in Ungarn (Gründe [...] welche Die Römische [...]Majest[ät] bewegen sollen/ nicht zu zugeben Daß die Evangelische verfolgt [...] werden. o. O. 1672; gerichtet gegen György Bársony). Außerdem bereicherte K. das fürstenstaatl. Problemen gewidmete Schrifttum (Die Verbesserung Des Geistlichen/ Politischen und Haus-Wesens Im [...] Römischen Reich. o. O. u. J. [ca. 1672]. Bevestigter Herrn-Staat. Für Junge Herrn als zukünftige Regenten. Ffm. 1673; gewidmet Schütz). Im Übrigen zollte K. dem frühneuzeitl. Lullismus Tribut (Pantosophiae Sacro-profanae a Raymundo Lullio in artem redactae. Speyer 1670), beteiligte sich mit einer Versübersetzung der Première Sepmaine (1578) an der dt. Guillaume Du Bartas-Rezeption (Erster Welt-Wochen Erster Tag. Speyer 1671) u. gesellte sich seit den 1650er Jahren zur barocken Theoalchemikerschar: Zunächst versuchte er mittels »einer Umformung« des lat. Textes der Hermes Trismegistus zugesprochenen Tabula smaragdina u. mithilfe des Hebräischen eine »phönizische Urschrift glaubhaft zu machen« (Ruska 1926, S. 221), also Hermes, den vermeintl. »Ägypter«, in einen Heroen der hebräisch-christl. Tradition zu wandeln (Hermetis Trismegisti Phoenicum Aegyptiorum Sed et aliarum Gentium Monarchae Conditoris [...] Tabula Smaragdina à situ temerariisque nunc demum pristino Genio Vindicata. o. O. u. J.; Vorw.: 1657. Auch in: Bibliotheca chemica curiosa. Hg. Jean Jacques Manget. Bd. 1, Genf 1702, S. 380–388). Dann verfocht K. aus guter Alchemicakenntnis die von hermetist. Signaturenlehren genährte Ansicht, dass die grafische Gestalt bestimmter »Chymischer Charactere« einen geheimen Sinn bzw. »wunderbare Secreta« berge (Taaut Oder Außlegung der Chymischen Zeichen; Damit die Metallen und andere Sachen von Alters her bemerckt werden. Ffm. 1665), u. stilisierte Plato zu einem christl. Alchemiker (Epistola Quod Plato Evangelio S. Johannis Conformia aliqua doceat, Sitque insignis Scriptor Chymicus. Darmst. 1669). Schließlich konstruierte K. auf philolog. Wegen einen genealog. Zusammenhang zwischen Teutonen/Germanen u. Theut/Thot/ Taaut alias Hermes u. kürte den legendären Wissenschaftsstifter Hermes Trismegistus zum Stammvater der »Teutonen« (Coniecta-

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neorum De Germanicae Gentis Origine, ac Conditore, Hermete Trismegisto [...] Liber unus. Tüb. 1684). Der philologie-, religions- u. wissenschaftsgeschichtl. Rang des »gottseligen Politicus« (Spener) liegt weitgehend im Dunkel. Weitere Werke: Exercitatio Philosophica De Omnipraesentia Dei. Helmstedt 1653 (Praes.: Johann Homborg). – De Attrito per Papas Imperio, o. O. u. J. – Preisgedicht auf Tacke. In: Johannes Tackius: Mysterium resurrectionis rerum. Ffm. 1673 – De Bibliosophia Ebraeorum Veterum In Orbem Literarium Reducenda. Darmst. 1676. – Brief an Johann Winckler (12.7.1678). In: Hamburg, SUB, Nachl. Winckler, Nr. 81. – Athanasia, oder wahre Unsterblichkeit (v. Spener postum in Druck gegeben). – [...] oder: die wahre [...] Cabalah mit Kupfer u. Tabellen erläutert. Ffm./Lpz. 1774. Reprograf. Neudr. o. O. u. J. [1992]. Ausgabe: Tabula smaragdina (K.s lat. Fassung u. dt. Übers.). In: Ruska 1926 (s. u.), S. 2 f. Literatur: Friedrich Wilhelm Strieder: Grundlagen zu einer Hess. Gelehrten- u. Schriftstellergesch. Seit der Reformation bis auf gegenwärtige Zeiten. Bd. 7, Kassel 1787, S. 341–346. – Walther Köhler: Die Anfänge des Pietismus in Gießen 1689 bis 1695. In: Die Univ. Gießen v. 1607 bis 1907. Beiträge zu ihrer Gesch. FS zur dritten Jahrhundertfeier hg. v. der Univ. Gießen. Bd. 2, Gießen 1907, S. 133–244, hier S. 138–145. – Julius Ruska: Tabula Smaragdina. Ein Beitr. zur Gesch. der hermet. Lit. Heidelb. 1926, S. 220–223. – Philipp Jakob Spener: Briefe aus der Frankfurter Zeit. Bd. 3: 1677–78. Hg. Johannes Wallmann in Zus. mit Martin Friedrich u. Markus Matthias. Tüb. 2000, Nr. 97, S. 467 f. (Brief Speners an K.), 557–559 u. ö. – Thomas Hofmeier: Exotic Variations of the ›Tabula smaragdina‹. In: Magic, Alchemy and Science, 15th-18th Centuries. The Influence of Hermes Trismegistus. Hg. Carlos Gilly u. Cis van Heertum, Florenz 2002, S. 540–561, hier S. 540–544. – Andreas Deppermann: Johann Jakob Schütz u. die Anfänge des Pietismus. Tüb. 2002, S. 271 f., 274 f. u. ö. Joachim Telle

Krier, Jean, * 2.1.1949 Luxemburg. – Lyriker u. Übersetzer. K. studierte Germanistik u. Anglistik in Freiburg/Br. Seine Gedichte streben nach einer Fusion von zwei Unendlichkeiten – nach einer Fusion von Sprache u. Ozean. In ihrer rhythm. Bewegung u. vokabulären Textur wollen sie ebenso fluid sein wie die Wellen des Meeres.

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In den Gedichtbüchern Tableaux/Sehstücke (Blieskastel 2002) u. Gefundenes Fressen (Aachen 2005) hat K. seinen poet. Standort an der breton. Küste errichtet, bei der Ile D’Ouessant. Diese maritime Landschaft hält aus der lyr. Perspektive alle Ingredienzien des Utopischen bereit: die Weite, das unberechenbare Spiel des Windes, das Blau des Himmels u. den »Schaum der Tage«, den K. in einer Anspielung auf den anarchist. Dichter Boris Vian heraufbeschwört. In den Gedichten überlagern sich dt. u. frz. Sentenzen, eine poet. Gratwanderung auf der Sprachgrenze, die K. spielend leicht bewältigt. Die scheinbare Leichtigkeit der Naturbeschwörung stößt oft unerwartet an die Grenzen einer grausamen polit. Wirklichkeit. Auf schwelgerische Anrufungen des Meeres folgen plötzlich Evokationen des Todes. Hier vollzieht sich dann die subtile Verknüpfung des Naturschönen mit katastrophischer Zeitgeschichte. Weiteres Werk: Breton. Inseln. Weilerswist 1995. Literatur: Angelika Overath: Elegie aus Salz u. Sehnsucht. In: NZZ, 21.2.2006. Michael Braun

Krinitz, Elise, eigentl.: Johanna Christiana Müller, auch: Sarah Dennigson, Camille Selden, »Mouche«, »Margot«, »Monka«, »Monck«, »van Belgern«, * 22.3.1825 Belgern bei Torgau/Elbe, † 7.8.1896 Orsay. – Romanautorin, Verfasserin von Reisebeschreibungen, biografischen u. literaturkritischen Arbeiten. Das Geheimnis ihrer Herkunft hat K. bis weit über ihren Tod hinaus bewahrt, erst vor wenigen Jahren wurde es von dem Wissenschaftshistoriker Menso Folkerts gelüftet: Geboren im sächs. Belgern an der Elbe als Tochter eines verarmten Tuchmachermeisters, wurde sie ein Jahr nach dem frühen Kindbett-Tod der Mutter von dem aus Bautzen stammenden, 1822 nach Paris übergesiedelten Exportkaufmann Adolph Krinitz (1786–1862) adoptiert. In Paris erhielt K. eine Klavierausbildung, von 1850 bis 1853 lebte sie vermutlich in England, wo sie als Pianistin auftrat. Die letzten acht Monate vor seinem Tod 1856 arbeitete K. als Sekretärin u. Vorleserin Heines, der sie nach dem Emblem ih-

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res Petschafts »mouche« nannte; für den Todkranken war K. die letzte große Liebe. Von 1858 bis 1869 verband sie eine enge Freundschaft mit Hippolyte Taine, der ihre literar. Ambitionen förderte; seinem Einfluss dürfte ihre Hinwendung zum Bürgerlichen Realismus zuzuschreiben sein. Nach mehrjährigen Reisen erhielt sie 1882 eine Anstellung als Lehrerin für Deutsch u. Englisch am Mädchengymnasium in Rouen. Unter dem Pseud. Camille Selden veröffentlichte K., deren weitreichende literar. Kenntnisse sie zu einer wichtigen Vermittlerin dt. Kultur werden ließen, u. a. die fiktive Musikerbiografie Daniel Vlady (Paris 1862), La Musique en Allemagne. Etude sur Mendelssohn (Paris 1867) u. L’esprit moderne en Allemagne (Paris 1869; mit Beiträgen über Heine, Hebbel u. andere). Heinrich Heine’s letzte Tage (Jena 1884. Auch: Paris u. London) war ihr erfolgreichstes Werk. K.’ Mémoires de la Mouche (Paris 1884/85) gelten als durchweg fiktiv. In ihren Charakterstudien herausragender Autorinnen (L’esprit des femmes de notre temps. Paris 1865) manifestiert sich ein moderner frauenemanzipator. Ansatz. Literatur: Jean Wright: Camille Selden. Sa vie – son œuvre. Paris 1931. – Friedrich Hirth: Heinrich Heines letzte Liebe. In: Das goldene Tor 2 (1947), S. 408–421. – Menso Folkerts: Wer war Heinrich Heines ›Mouche‹? Dichtung u. Wahrheit. In: HeineJb 38 (1999), S. 133–151. – Edda Ziegler: Heinrich Heine. Der Dichter u. die Frauen. Düsseld. 2005. – Heidi Urbahn de Jauregui: Dichterliebe. Leben u. Werk der letzten Geliebten v. Heinrich Heine, der ›Mouche‹. Mainz 2009. Jan-Christoph Hauschild

Kristl, Wilhelm Lukas, * 31.10.1903 Landshut, † 17.6.1985 München. – Prosaautor, Publizist. Nach der Schulzeit in Landshut u. Passau absolvierte K. in München zunächst eine kaufmänn. Lehre, ehe er journalistisch zu arbeiten begann: als Filmkritiker, Lokalreporter u. Gerichtsberichterstatter bei der sozialdemokratischen »Münchener Post« (1927–1933). In dieser Zeit war er mit Ödön von Horváth befreundet, dessen Stück Glaube, Liebe, Hoffnung in enger Zusammenarbeit mit

K. entstand. K. hatte den authent. Fall in einer Gerichtsreportage dokumentiert. 1933 verließ K. Deutschland u. lebte als Korrespondent in Madrid (Kampfstiere und Madonnen. Hbg./Bln. 1954). Nach dem Krieg ließ er sich als Redakteur u. freier Autor wieder in München nieder. Er war Herausgeber der Werke Heinrich Lautensacks, wirkte als virtuoser Feuilletonist u. war erfolgreich u. a. als Biograf berühmter Gestalten der bayerischen Geschichte (Der WeissBlaue Despot. Oskar von Miller in seiner Zeit. Mchn. 1965). Der bayerntümelnden Komödienstadl-Mentalität begegnete er u. a. in zahlreichen humorvollen, ironisch-feinsinnigen Kurztexten (1:0 für Bayern. An den Rand geschrieben. Pfaffenhofen 1979). Weitere Werke: Kneissl. Mchn. 1958. u. d. T. Das traurige u. stolze Leben des Mathias Kneissl. Pfaffenhofen 1972. Mchn. 2008 (R.). – Lola, Ludwig u. der General. Pfaffenhofen 1979 (R.). Literatur: Karl Ude: Eine Autorität für bayer. Belange. W. L. K. gestorben. Von Landshut über Madrid nach Schwabing. In: Ders.: Schwabing v. innen. Mchn. 2002, S. 134 f. Michael Langer / Red.

Kritzinger, Friedrich Adolph, auch: M. W. Danneil, Wilhelm Tissot, B. Young, Spassmann, * 16.11.1726 Leipzig, † 13.7. 1793 Leipzig. – Kompilator, Buchhändler, Verleger. Das Urteil, K. sei ein unsittl. Schriftsteller gewesen (J. Franck in ADB), verdeckt, dass er es wie kaum ein Autor seiner Zeit verstanden hat, Aufklärung u. Literatur zu kommerzialisieren. Aufgrund fehlender Rechtsstrukturen konnte der Sohn eines Sprachlehrers ohne Risiko viele seiner Schriften als Produkte bekannter Autoren ausgeben – er änderte nur die Vornamen – u. kompilierend vorgehen. Er sicherte sich zusätzlich ab, indem er seine selbst verlegten Werke ohne oder mit fingierten Druckorten erscheinen ließ (die Messkataloge verzeichnen ihn nicht.) Geschickt folgte er den literar. Strömungen. Seine Romane orientieren sich im Titel wie in der Verbindung von sensationellem Stoff u. Moral an Gellerts Schwedischer Gräfin (Leben der spanischen Gräfinn von R ***. London

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[Lpz.] 1761. U. d. T. Die Gräfinn von R ***. suchen. Lpz. 1783–86). Ein Rezensent verurAmsterd. [Lpz.] 1762. Leben und Begebenheiten teilte K.s Schriften als eine aus alten »Trösder sächsischen Gräfinn von ***. o. O. 1763), an- tern« abgeschriebene, den Aberglauben fördere Prosa an den Moralischen Wochen- dernde »Sudeley« (in Nicolais Allgemeiner schriften, ohne jedoch deren erzieherischen deutscher Bibliothek 102, S. 392). Anspruch aufzunehmen (Die lustigen MutterWeitere Werke: Angenehmer Zeitvertreib in söhnchen. o. O. 1764). Daneben schrieb er neuen Erzählungen u. Satiren. Scherzfeld [Lpz.] Schäferidyllen (Der Jüngling und die Schöne. 1761. – Com. Roman zweier Frauenzimmer. Amsterd. [Lpz.] 1761), erot. Geschichten u. Scherzfeld [Lpz.] 1763. – Spassmanns lustige Eranspruchslose Gedanken in Reimform (Das zählungen u. Begebenheiten. [Lpz.] 1784. – Das Frauenzimmer, Oder: Die scherzende Venus. Ams- goldene Buch für Hypochondristen. [Freyberg] 1784. terd. [Lpz.] 1761) sowie Gespräche voll triLiteratur: Neue Leipziger Litteraturztg., 12. vialer Alltäglichkeiten (Die lustigen LeipzigeStück (1803), Sp. 184 f.; 31. Stück (1804), Sp. rinnen. o. O. 1763. Die bunte Reihe. Scherzfeld 491–497. – Ernst Weber u. Christine Mithal: Dt. 1764). Während seine fiktionale Prosa wie die Originalromane zwischen 1680 u. 1780. Eine Bihistor. Studien (Geschichte der Stadt Leipzig. bliogr. mit Besitznachweisen. Bln. 1983. Lpz. 1778) u. publizistischen Schriften (Das Ernst Weber Leipziger Allerley. Lpz. 1773 ff.) meist anonym erschienen, benutzte K. für die theologischen den Namen Johann Friedrich Danneils, eines Kriwet, Ferdinand, * 3.8.1942 Düsseldorf. von Young inspirierten Verfassers empfind– Prosa- u. Hörspielautor; Grafiker, Obsam-erbaulicher Literatur. Dessen Sprachstil jektkünstler. u. allegor. Betrachtungsweise ahmte er u. a. in Der Christ als Fremdling in der Nacht (Hbg. 1770. Seine Kindheit verbrachte K. in Angermund 1781 als Der Christ als Fremdling in der Welt) u. Dortmund, 1951–1960 lebte er in Internach. Am skrupellosesten verfuhr K., als er naten. Seit 1960 arbeitet er als freischaffender unter dem Namen des berühmten Arztes Si- Künstler hauptsächlich in Düsseldorf, Domon Andreas Tissot sexuelle »Aufklärungs- denburg, Dunum u. Dresden. bücher« (Die Erzeugung des Menschen [...]. Ffm. K. schrieb bereits um 1960 »Seh-« u. 1774. 61791, später unter ähnl. Titeln wie- »Hörtexte«, die für seine spätere Arbeit derholt aufgelegt. Wilhelm Tissots Schriften. wichtigsten Ausdrucksformen, u. beschäftigBd. 1, Köln 1786. Wilhelm Tissots Curiöses Ehe- te sich spielerisch mit der Schrift als Inforstandsbuch [...]. Mühlhausen 1794. 31791 u. ö.) mationssystem. Der 1961 veröffentlichte u. medizinische Ratgeber (Wilhelm Tissots Prosatext Rotor (Köln) erzählt keine GeSammlung von verschiedenen [...] Curen. Neu- schichte, sondern besteht aus Alltagsfloskeln, châtel [Römhild] 1784. Ffm./Altona 1790. umgangssprachl. Wendungen, Werbung u. Wilhelm Tissots neues medicinisches Noth- und Sprichwörtern. Aus derartigem SprachmateHülfsbüchlein. Ffm. 1791/92. Beide Titel später rial entwickelte K. Texte, die in Form von unter ähnl. Titeln wiederholt aufgelegt) er- Rundscheiben u. Lesebögen vorgestellt werscheinen ließ. Ein aus medizinischer u. an- den. 10 Sehtexte (Köln 1962) u. Sehtexte (Köln thropolog. Literatur ausgezogenes Wissen 1964) sind die Vorläufer für die ab 1964 entformulierte er immer wieder neu, wobei die stehenden großformatigen Textbilder, -säueinzelnen Fassungen je nach Adressat vari- len, -fahnen, -würfel. Offen für alle experimentellen Kunstformen, schrieb K. auch Miierten. Diese Literatur war im Grunde antiaufklä- xed-Media-Programme, so den Sprechtext rerisch. K. nutzte bedenkenlos die Wissbe- für fünf Solisten, offen (1962), oder Mixed-Megierde breiter Schichten aus. In der Regel dia II (1968), eine bunte Collage aus Hörspiel, kosteten seine meist schmalen Bücher nur Dia-Vortrag, Litanei, Film. Im Manifest zur wenige Groschen. Umfangreicheres ließ er in Umstrukturierung des Ruhrreviers zum Kunstwerk Fortsetzungen erscheinen (Das curiöse Buch für (1968) näherte er sich der Aktionskunst u. Menschen, die Kenntnisse von ihrem Körper [...] forderte: »Rettet das Revier«.

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Die Entwicklung zum experimentellen Krockow, Christian Graf von, * 26.5.1927 Hörspiel hat K. entscheidend mitgeprägt. Er Familiensitz Rumbske, Kreis Stolp/Ostmontierte Auszüge aus Reden, Nachrichten pommern, † 17.3.2002 Hamburg. – Wisusw. zu Hörtexten, die er mit Studioaufnah- senschaftler u. Autor. men mischte, auf die er jedoch später verAls jüngster Sohn eines Gutsbesitzers aus alzichtete. Im Hörtext VI, Apollo Amerika (SWF/ tem pommerschen Geschlecht noch in der WDR/BR 1969), dokumentierte er das feudalen Ordnung aufgewachsen, gelang es Mondflugunternehmen Apollo 11, wie es in K., friedensfördernd eine Brücke in die verden Medien verfolgt wurde. Radioball (WDR lorenen Ostgebiete zu schlagen. Seine aka1975; Karl-Sczuka-Preis) ist eine spielerische dem. Karriere begann er mit dem Studium u. distanziert-krit. Montage von 20 Fußballder Philosophie, Soziologie u. des Staatsreportagen zu einer fiktiven Reportage. Radio rechts in Göttingen u. Durham/England. (WDR 1983; Premio Ondas von Radio Barce1961 wurde er Prof. für Politikwissenschaften lona) schließlich hat das Medium selbst zum an der Pädagogischen Hochschule in GöttinThema. Hier kommt K. dem Ziel »Erhellung gen. 1965 folgte der Ruf an die Universität durch Intensivierung der Sensibilität« Saarbrücken u. 1968 nach Frankfurt a. M., wo (Heinrich Vormweg) näher. Seit 1971 arbeitet er seinen Lehrstuhl, nicht zuletzt wegen der er mit Architektur für den öffentl. Raum. Sein Studentenunruhen, bald wieder aufgab. DaWerk präsentiert sich in zahlreichen Ausstel- nach lebte er jahrzehntelang als freier lungen, die sowohl seinen Anteil an der Pop- Schriftsteller u. Wissenschaftler in Göttingen. Literatur würdigen wie auch seine Beiträge Seine letzten Lebensjahre verbrachte er in zu Typografie u. Hörkunst. Hamburg. Weitere Werke: Leserattenfaenge. Köln 1965 Durch seine populärwiss. Werke wurde K. (Komm.e). – durch die runse auf den redder. Bln. weiten Kreisen bekannt, v. a. jedoch durch 1965 (experimentelle Lit.). – TELETEXT I. Hbg. jene Bücher, die seine eigene Vergangenheit 1967 (Drehb.). – One Two Two. In: Neues Hörsp. verarbeiten, wie z.B. Die Reise nach Pommern. Texte. Partituren. Hg. Klaus Schöning. Ffm. 1969 (Hörspielpartitur). – again and again. Düsseld. Bericht aus einem verschwiegenen Land (Stgt. 1971 (Schallplatte). – PUBLIT. San Francisco 1971 1985). Dieses Werk gehört zu den ohne Ver(Textbuch). – Modell Fortuna. Düsseld. 1973 (Do- triebenenideologie abgefassten Erinnerungskumentation u. Schallplatte). – COM.MIX. Die bildern alteingesessener Adeliger (z.B. Ilse Welt der Schrift u. Zeichensprache. Köln 1972 Gräfin Bredow, Marion Gräfin Dönhoff). (Bilder- u. Textbuch). – Campaign. Düsseld. 1974 Anerkennung für sein Engagement auf (Dokumentation u. 3 Schallplatten). – Medien, dem Gebiet der Friedensforschung drückte Kunst: Medienkunst. In: VDI nachrichten, Nr. 17 sich in der Verleihung der Ehrendoktorwürde u. 18, 1976 (Aufsätze). – Hörtexte, Radiotexts. Bln. »Rerum Politicarum« der von ihm mitge2007 (3 Schallplatten). gründeten Carl von Ossietzky Universität Literatur: Friedrich Knilli: Inventur des Neuen Oldenburg im Jahre 1995 aus. Diese Würde Hörspiels: ›Oos is Oos‹ v. F. K. In: Neues Hörsp. Hg. wurde ihm wegen seiner Verdienste um die Klaus Schöning. Ffm. 1970, S. 147–152. – K. Deutung u. Reflexion der gesellschaftl. u. Schöning: Training u. Aufklärung. In: Hörspielpolit. Gegenwart, v. a. niedergelegt in seinen macher. Hg. ders. Königst. 1983, S. 239–256. – Franz Lennartz: K. In: Ders.: Dt. Schriftsteller des Studien Die Entscheidung – Ernst Jünger, Carl 20. Jh. im Spiegel der Kritik. Bd. 2, Stgt. 1984, Schmitt und Martin Heidegger (Stgt. 1958), verS. 993 ff. – Holger Schulze: Tektonik der Codes. In: liehen. Darin werden insbes. die für die faAbfälle. Stoff- u. Materialpräsentation in der dt. schist. Ideologie relevant gewordenen DenkPop-Lit. der 60er Jahre. Hg. Dirck Linck u. Gert positionen dieser berühmten Autoren kriMattenklott. Hann. 2006, S. 45–55. – Brigitte tisch analysiert. Im Werk Gewalt für den FrieWeingart: ›Sehtextkommentar‹. In: Textbild – den? Die politische Kultur des Konflikts (Mchn. Bildtext. Probleme der Rede über Text-Bild-Hy- 1983) setzte K. sich bereits mit der Friedensbride. Hg. D. Linck u. Stefanie Rentsch. Freib. i. Br. sehnsucht u. Friedensforschung auseinander u. a. 2007, S. 85–116. Klaus W. Hübner u. warnte vor jeder Vereinfachung u. Verab-

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solutierung, die immer geradewegs zur Ka- Männer. Rheda-Wiedenbrück 2001. – Hitler u. tastrophe führen muss, wenn Gegenkräfte seine Deutschen. Mchn. 2002. – Die Zukunft der fehlen. In K.s Vorstellungswelt lebt Demo- Gesch. Mchn. 2002. – Erinnerungen. Mchn. 2002. – kratie »aus keiner Art von letzter Wahrheit, Begegnung mit Ostpreußen. Mchn. 2003. – Stadtgeläut. Mchn. 2003. – Der große Traum v. Bildung. sondern aus der Suche nach der Wahrheit und Mchn. 2003. Georgine Hertle-Kranz der Möglichkeit des Dialogs über sie«. Das gestörte Verhältnis von Geist u. Macht beschäftigte ihn zeitlebens. In seinem Werk Kröger, Theodor, eigentl.: Bernhard AltScheiterhaufen – Größe und Elend des deutschen schwager, * 5.12.1891 St. Petersburg, Geistes (Bln. 1983) wird akribisch genau der † 24.10.1958 Klosters-Platz/Graubünden. Frage nachgegangen, welche Motive u. – Romancier. Gründe es für die öffentl. Verbrennung von Büchern unerwünschter u. verfemter Autoren Nach Abschluss des Gymnasiums ging K. in vor den Toren der Universitäten – mit Wis- eine Uhrmacherlehre nach Neuchâtel/ sen, ja vielfach mit Billigung der Professoren Schweiz. Bei seiner Rückkehr 1914 wurde er als Reichsdeutscher verhaftet u. in den Ural – gab. In seinem wohl bekanntesten Buch Die verbannt. Ab 1918 lebte er in Leipzig u. BerDeutschen in ihrem Jahrhundert 1890–1990 (Stgt. lin. 1941 übersiedelte er aus Gesundheits1989) hebt K. das in seinen Augen größte gründen nach Österreich, 1946 nach Davos, Verhängnis der dt. Nation hervor, nämlich wo er bis zu seinem Tod lebte. K. schrieb aus einer nationalistisch-kondie »historisch begründete Schwäche des servativen Grundhaltung heraus. KameradBürgertums gegenüber dem Staat«. Im schaft, Pflichtbewusstsein u. eine antibolNachwort dieses Werkes gibt er sich jedoch versöhnlich: »Die Deutschen haben nach schewist. Einstellung waren in seinen vorgeblich autobiogr. Romanen über die GefanEuropa zurückgefunden.« Eine liebenswürdige Hommage an die genschaft in Russland (Das vergessene Dorf. Bln. Frauen ist sein Werk Porträts berühmter deut- 1934. Augsb. 1995) Grundwerte dt. Daseins. scher Frauen (Mchn. 2001), das den weiten Nach dem Zweiten Weltkrieg wich der NaBogen faszinierend dargebotener weibl. Le- tionalismus einer eher zivilisationskrit. Halbensbilder von Königin Luise bis Angela tung u. der Entdeckung der geistigen Welt Ostasiens, die er in seinen Romanen Lächelnd Merkel spannt. Als K.s wohl reifstes Werk wird gemeinhin thront der Buddha (Zürich 1947) u. Sturm über seine letzte Veröffentlichung, Einspruch gegen dem Himalaya (Salzb. 1950) präsentierte. Weitere Werke: Brest-Litowsk. Beginn u. Folden Zeitgeist (Hbg. 2002), angesehen, in der er gen des bolschewist. Weltbetrugs. Bln. 1937. – u. a. zu Hegels Rechtsphilosophie u. zu Kants Heimat am Don. Bln. 1938. Augsb. 1995. – Kleine »Idee einer allgemeinen Geschichte in weltMadonna. Bln. 1938. Bergisch Gladbach 1987 (E.). bürgerlicher Absicht« voller Altersweisheit – Der Schutzengel. Bln. 1939. – Vom Willen geStellung bezieht. meißelt. Ein Roman um die Erbauung der GroßWeitere Werke: Sport: Ein Soziologie u. Philosophie des Leistungsprinzips. Hbg. 1974. – Sport, Gesellsch., Politik. Mchn. 1980. – Warnung vor Preußen. Bln. 1981. – Friedrich der Große. Bergisch Gladbach 1987 (Biogr.). – Politik u. menschl. Natur. Stgt. 1987. – Die Stunde der Frauen. Ber. aus Pommern 1944–47. Stgt. 1988. – Heimat. Erfahrungen mit einem dt. Thema. Stgt. 1989. – Bismarck. Gött. 1991. – Die Reise nach Pommern. Mchn. 1993. – Der dt. Niedergang. Mchn. 1998. – Kaiser Wilhelm II. u. seine Zeit. Bln. 1999. – Churchill. London 1999. – Zu Gast in drei Welten. Stgt. 2000. – Die Rheinreise. Mchn. 2000. – Die Elbreise. Mchn. 2000. – Porträts berühmter dt.

glockner-Hochalpenstraße. Salzb. 1951. Steyr 1985. – Schatten der Seele. Salzb. 1952. – Natascha. Hg. Hildegard Kröger. Hbg. 1960. Augsb. 1995. Georg Patzer / Red.

Kröger, Timm, * 29.11.1844 Haale bei Rendsburg, † 29.3.1918 Kiel; Grabstätte: Elmshorn, Friedhof. – Erzähler. K. stammte aus einer Bauernfamilie, lebte bis zum 19. Lebensjahr in Haale u. erhielt Privatunterricht. Körperlich zu schwach, um Hoferbe zu werden, studierte er Jura u. Na-

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In seinen theoret. Äußerungen erscheint K. tionalökonomie in Kiel, Zürich, Leipzig u. Berlin. Nach dem Examen war er Assessor, als moderater national-konservativer VertreKreisrichter, dann Rechtsanwalt u. Notar in ter der Heimatkunstbewegung, die durch Flensburg, Elmshorn u. Kiel, bis er 1903 seine Langbehn u. Bartels rasch in chauvinistische schriftstellerische Arbeit zum Beruf machte. u. rassist. Bahnen gelenkt u. bruchlos in die K. zählt zu den frühesten u. führenden Blut-und-Boden-Literatur überführt wurde. Vertretern der Heimatkunstbewegung. Die Auch K.s Werk wurde nach 1933 unter diesen Ablehnung der Großstadt als sozialer u. kul- Prämissen rezipiert, was ihn nach Kriegsende tureller Lebensraum, die Opposition gegen weitgehend in Vergessenheit geraten ließ. Naturwissenschaft u. Technik sowie gegen Weitere Werke: Eine stille Welt. Hbg. 1891. – jede Form der »Intellektuellenkunst« so ge- Hein Wieck u. a. Gesch.n. Lpz. 1899. – Novellen. 6 nannter »Caféhausliteraten« sind auch für K. Bde., Hbg. u. a. 1913/14. prägend. Die Novellenhandlung von Im Moor Literatur: Jacob Bödewadt (Hg.): T.-K.-Geoder Leute eigener Art (Bln. 1904) bestimmt denkbuch. Braunschw. 1920. – Hayo Broers: Unzumeist die Beschreibung einer unglückl. tersuchungen über die niederdt. Bestandteile in T. Liebe des Ich-Erzählers; Der Schulmeister von K.s Novellen. Diss. Kiel 1926. – Wilhelm Hacker: T. Handewitt (Lpz. 1893) trägt dabei deutlich K.s Bekenntnisdichtung [...]. Diss. Marburg 1930. – Karlheinz Rossbacher: Heimatkunstbewegung u. pantheistische Züge. Der Titelheld, bald eine Heimatroman. Stgt. 1975. – Antje Erdmann-Debeliebte literar. Identifikationsfigur, über- genhardt: Juristen u. Dichter. Theodor Storm u. T. windet den Freitod seiner unglücklich ver- K. In: Dichter als Juristen. Hg. Hermann Weber. heirateten Geliebten durch die Hinwendung Bln. 2004, S. 117–136. Jörg Schilling / Red. zur Natur, zur Pflege u. Weitergabe bäuerl. Traditionen u. Erforschung seiner heimatl. Umwelt. Gegenüber diesem themat. SchwerKröhnke, Friedrich, * 12.3.1956 Darmpunkt bleibt die häufig an Trivialromane erstadt. – Erzähler u. Romancier. innernde Fabel nebensächlich. Wesentlicher Impetus für K. war die Ver- Der Sohn eines Apothekers u. einer Schriftklärung der dörfl. Welt in der vorindustriel- stellerin promovierte 1981 in Köln im Fach len Zeit. Wirtschaftliche u. polit. Krisen der Germanistik (Jungen in schlechter Gesellschaft. Moderne werden als Folge der Auflösung der Zum Bild des Jugendlichen in deutscher Literatur agrarisch geprägten Sozialordnung des frü- 1900–1933. Bonn 1981) u. unterrichtete anhen 19. Jh. gesehen. Die Rückblende in posi- schließend (1981 u. 1984) an Schulen des tiv gezeichnete Kinder- u. Jugendjahre auf deutschen Buchhandels in Frankfurt/M. dem Dorf ist charakterist. Stilmittel. Indivi- Während dieser Zeit gab er zus. mit seinem duelle Konflikte lassen sich letztlich auf- Bruder Karl Kröhnke die Literaturzeitschrift grund der Schicksalsergebenheit der Figuren »Wanderbühne« heraus (1982–1984). Es lösen. Die von den Bindungen an die folgten Tätigkeiten als Mitarbeiter beim »Scholle« geprägte dörfl. Welt erscheint als Kölner Stadtarchiv (1986–1988). Zahlreiche Bollwerk gegen die Dekadenz der Moderne, Reisen, darunter auch nach Prag, wurden die v. a. in der Stadt u. ihren Ausbeutungs- immer wieder von Stipendien unterstützt. mechanismen sinnfällig wird. K.s erzählende Werke kreisen fast durchFormal dient K. die Erzählprosa des Poeti- weg um ein biografisch gestimmtes Thema: schen Realismus, v. a. Storms, als Vorbild, die päderastisch-homoerotisch realisierte aber auch Einflüsse Groths sind erkennbar. K. (oder erhoffte oder scheiternde oder gescheischreibt Hochdeutsch, lässt aber plattdt. terte) Beziehung des Protagonisten (ein InWendungen, Namen u. Begriffe in seine tellektueller mit wechselnden Namen in Dorferzählungen einfließen. Neben dem Lo- Köln, Berlin oder auch Südostasien) zu halbkalkolorit soll so die unverbildet bodenstän- wüchsigen Knaben. Dem entspricht die gedige Lebensart der bäuerl. Helden herausge- naue, oft episodisch aufgelockerte Schildestrichen werden, die an ihrer »Stammesspra- rung entsprechender Milieus samt den dort che« unbeirrt festhalten. waltenden Reaktionsmustern u. dem örtl.

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Szenenjargon. Kennzeichnend dafür ist etwa Jugendzeit, der Blick auf die schreibende der Umgang mit den Strichjungen (»Pänze«) Mutter u. den rationalistisch-strengen Vater, auf dem »Ameisenpfad« am Kölner Haupt- auf die symbiot. Beziehung mit dem Zwilbahnhof in dem Roman Was gibt es bei der Po- lingsbruder, auf den Ausbruch aus bürgerl. lizei? (Zürich 1989). Literarische Wahlver- Zwängen u. die zuerst misslingende schuliwandte solcher Vorlieben hat K. gelegentlich sche Laufbahn im Gefolge der Teilnahme an in Essays behandelt (Propaganda für Klaus Schülerunruhen. Dem folgen Lebensphasen Mann. Ffm. 1981). Das geteilte Berlin wird als trotzkistischer Propagandist u. Aktivist an zum Schauplatz in dem Roman P 14 (Zürich Rhein u. Ruhr, schließlich die Serie der erot. 1992). Der Gelegenheitsarbeiter Dr. Kautz, Abenteuer samt punktuellem Glück in Nähe ein Mittdreißiger, kann dank mitgebrachter u. Ferne, ein von Sehnsucht, Angst, Trotz, Westwaren im Ostteil der Stadt die Zunei- Gier, Protest, Verdrängung u. Ahnungslosiggung des 14-jährigen David Fröhlich gewin- keit umspülter Hedonismus. In einem immer nen, ja er wird von ihm sogar in den örtl. FDJ- wieder von literar. Assoziationen u. AllusioClub u. die ärml. Wohnung in Hohenschön- nen durchsetzten Erzählhabitus gelingt K. hausen mitgenommen. Tagebuchartig führt hier ohne Larmoyanz die durchaus fesselnde K. die Stadien einer Beziehung vor, die eher Geschichte eines gefährdeten u. gewollten schnieken Klamotten u. Cola-Dosen zu ver- individualist. Lebensgangs, wieder einmal danken ist als den schwärmerischen Projek- also die Geschichte eines »entlaufenen« Biltionen des Älteren. Nach dem Mauerfall ver- dungsbürgers, dessen provokante libidinöse sandet die Beziehung, weil die Belohnungen Gestik u. skandalöse Aura in der Ära der poihren Reiz verloren haben. Damit endet auch litisch geförderten »Love Parade« freilich die Geschichte eines Stromers, der Politisches verblassen. weitgehend ausklammert, um in dem jungen Weitere Werke: Pasolini-Ess.s. Hbg. 1982. – Idol den erot. Kick u. die menschl. Wärme zu Ratten-Roman. Bln. 1986. – Zweiundsiebzig. Das suchen. Platonisierende Züge fehlen dabei Jahr, in dem ich sechzehn wurde. Ffm. 1987. – nicht, insofern Kautz (alias Freund »Heini«) Grundeis. Zürich 1990 (E.). – Dieser Berliner Sommanche Mühe aufwendet, dem Jungen als mer. Bln. 1994 (E.en). – Aqualand. Ein kleiner RoMentor die Reize der brandenburgischen man. Zürich 1996. – (Hg. zus. mit Karl Kröhnke) Zwillinge. Betrachtet u. verwechselt. Ffm. 1999. – Landschaft u. Literaturgeschichte zu vermitCiao Vaschek. Zürich 2003 (R.). – Wie in schönen teln. Wider alle Illusionen bleibt am Ende die Filmen. Zürich 2007 (R.). – Ein Geheimnisbuch. fragl. Erinnerung an einen Ort, »an dem Zürich 2009 (R.). Liebe möglich war«. Literatur: Roland Löffler: F. K. In: KLG. – K. hat sein Thema in vielen Erzählungen an Alexander Müller: F. K. In: LGL. wechselnden Schauplätzen variiert, darunter Wilhelm Kühlmann in der novellist. Kurzprosa Murnau. Eine Fahrt (Aachen 2001) über den großen (homosexuKroetz, Franz Xaver, * 25.2.1946 Münellen) Regisseur Frank Murnau. Hier wie chen. – Dramatiker, Erzähler, Dichter, schon in den Erzählbänden Knabenkönig mit Regisseur, Schauspieler. halber Stelle (Bln. 1988) u. Leporello (Bln. 1989) drängen sich manchmal Reflexionen über Der Sohn eines Finanzbeamten wuchs in den Tod u. das Sterben in den Vordergrund. Simbach/Niederbayern auf. Das Gymnasium Alle älteren Themen werden zusammenge- verließ er vorzeitig. 1965 erhielt er das fasst in dem voluminösen, aber eher leicht u. Schauspielerdiplom, finanzieren musste er ironisch erzählten Hauptwerk K.s, dem au- sich jedoch lange durch Gelegenheitsarbeitobiografisch strukturierten Bildungsroman ten. Die Atterseekrankheit (Zürich 1999). UngeachDer erst 1983 erschienene Band Frühe Stütet mancherlei Reminiszenzen in früheren cke/Frühe Prosa (Ffm.) dokumentiert, dass K. Arbeiten u. ungeachtet einiger fiktionaler früh literar. Ambitionen hatte u. sich zuÜbermalungen wird hier der Blick freigege- nächst an Beckett u. Ionesco sowie an der ben auf die familiären Verhältnisse von K.s konkreten Poesie orientierte. Der Durch-

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bruch gelang ihm 1968–1970: In München wurde Fassbinder auf ihn aufmerksam u. suchte ihn in sein »Antitheater«-Ensemble einzubinden. Gemeinsam wurde das Projekt Zum Beispiel Ingolstadt nach Marieluise Fleißers Volksstück bearbeitet, das eine intensive Diskussion über die Möglichkeiten des kritisch-realist. Theaters auslöste u. K. zus. mit Fassbinder u. Sperr für eine Weile als Erneuerer des Theaters erscheinen ließ. Fleißer bezeichnete K. als ihren »liebsten Sohn« unter den Dramatikern; über sie öffnete sich ihm der Traditionszusammenhang mit dem Volksstück der Weimarer Zeit (insbes. Brecht, Horváth, Zuckmayer). Die Uraufführung der beiden Einakter Heimarbeit u. Hartnäckig (beide Ffm. 1971) unter Protesten in München wurde zum Skandal. K. gilt seither einerseits als Urtalent, andererseits aber als dramat. Exhibitionist, der auf der Bühne vielfach tabuisierte Themen wie Abtreibung u. Sodomie provokativ darstellt. Dass es ihm indessen um mehr ging, verdeutlichten die beiden 1971 entstandenen Stücke Stallerhof u. Geisterbahn (beide Ffm. 1972). Sie zeigen die Geschichte der zurückgebliebenen Bauerntochter Beppi, die Analyse ihrer Debilität, ihr Erwachen aus der »Sprachlosigkeit« u. ihr neuerliches u. endgültiges Versinken in einem Zustand geistiger Lethargie u. hoffnungsloser Verzweiflung. K. entwickelte hier die Probleme seiner Hauptgestalt aus der Analyse ihres sozialen Milieus. Das Leben der kleinen Leute betrachtet er als zutiefst tragisch: Sie leiden an ihrem Leben u. sind zgl. unfähig, es zu ändern. Ihre Handlungen sind ihrer Situation ständig inadäquat, weil sie sich in hilfloser Verzweiflung gegenüber den Mechanismen der Gesellschaft nur durch Akte der narzisst. Selbstverstümmelung zur Wehr setzen können. Dieses Thema hat K. entsprechend seiner politisch-ideolog. Entwicklung stringent fortgeführt. Er übertrug es zunächst auf weniger »extreme« Figuren in dem Stück Oberösterreich (Ffm. 1974. Urauff. Heidelb. 1972. Abdr. in: Weitere Aussichten. Köln 1976). Die Personen sind hier Repräsentanten der Unterschicht: ein kleinbürgerl. Arbeiterehepaar. Anlage des Stücks u. Sprachgestus zeigen,

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dass K. zu diesem Zeitpunkt noch stark unter dem Einfluss der Dramaturgie Horváths stand (vgl. K.’ Beitrag zum Berliner HorváthSymposium 1971 u. d. T. Horváth von heute für heute. In: Weitere Aussichten). Bald darauf beginnt seine intensive Auseinandersetzung mit Brecht (in: Weitere Aussichten). Nun erscheint ihm Horváth als »Naturalist« u. Brecht als der große »Realist«, dessen dramaturg. Absichten auch für ihn verbindl. Charakter haben. Das Stück Das Nest (1976. In: Weitere Aussichten) wiederholt unter ausdrückl. Zitation von Oberösterreich dessen Problematik u. überwindet sie im Sinne der neuen Konzeption. Die rigide Befolgung »marxistischer« Literaturtheorien führte K. im Verlauf der 1970er Jahre in eine künstlerische Krise, die auch materielle Folgen hatte. Zu Beginn der 1970er Jahre zeitweilig der meistgespielte bundesdt. Bühnenautor, wandte er sich vom bürgerl. Theaterpublikum ab u. suchte den »pädagogischen Kontakt mit Zielgruppen«, indem er sowohl Agit-Prop-Stücke (Münchner Kindl. In: Gesammelte Stücke. Ffm. 1975) wie Arbeiter-Stücke (Mensch Meier u. Der stramme Max. Beide Ffm. 1979) schrieb. Mit dem polit. Zustand der Bundesrepublik nach dem Ende der sozialliberalen Koalition setzte er sich in der Szenenfolge Furcht und Hoffnung der BRD (Ffm. 1984) auseinander. Ein mehrfach wiederholter Versuch, den »Bankrott jeglicher bürgerlicher Ideologie für unsere Zukunft« dadurch auf dem Theater zu beweisen, dass er sich mit dem bürgerl. Trauerspiel des 19. Jh. auseinandersetzte (bes. mit Hebbel), offenbarte eine Diskrepanz zwischen ideolog. Bewusstsein u. künstlerischem Gestaltungsvermögen. Erst das Schauspiel Nicht Fisch Nicht Fleisch (Ffm. 1981) gewann in der Verbindung realistischer u. surrealist. Handlungselemente gegenüber der doktrinären Enge mancher früheren Stücke neue Qualitäten. 1986 erlangte K. große Popularität aufgrund der Darstellung des Journalisten Baby Schimmerlos in Helmut Dietls Fernsehserie Kir Royal; seine schriftstellerische Produktivität hingegen kam zeitweilig zum Erliegen. Er bezeichnete sich selbst als »ausgeschrieben«, die Zeitschrift »Theater Heute«

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druckte gar einen »Nachruf zu Lebzeiten«, weil K. seinen früheren Idealen untreu geworden sei u. etwa für die »Bild«-Zeitung schrieb. Die eigene Schaffenskrise wurde zum Hauptthema der Stücke Der Dichter als Schwein (Ffm. 1986. Urauff. Düsseld. 1996) u. Bauerntheater (Ffm. 1991), die um eine dem Autor ähnelnde Schriftstellerfigur kreisen. Neue Stücke wies der Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld 1994 aus Qualitätsgründen zurück, K. publiziert seit 1996 im Rotbuch Verlag. Wie viele andere Schriftsteller diagnostizierte er im Gefolge der Anschläge auf Ausländer durch Rechtsradikale zu Beginn der 1990er Jahre ein Wiedererstarken faschistischer Ideologie in Deutschland, so in seiner Szenenfolge Ich bin das Volk (Hbg. 1996. Urauff. Wuppertal 1994) wie auch in dem Lyrikband Heimat Welt. Gedichte eines Lebendigen (Hbg. 1996), denen die Bundesrepublik als »braun geworden« gilt. Der kalkulierte Tabubruch, mit dem K. angetreten war, gestaltete sich auf dem Theater im neuen Jahrtausend schwieriger. Das Feuilleton zeigte sich zunehmend ermüdet von Blut-und-Sperma-Provokationen wie in Das Ende der Paarung (Hbg. 2000), den »TV-Massakern« Tänzerinnen u. Drücker (beide Hbg. 2006) oder seiner Inszenierung von Jörg Grasers Kulturenkampfstück Servus Kabul (2006). K. geriet so bei einigen Kritikern in den Ruf eines »Kaspers«. Seine Prosa-Arbeiten dienen K. vornehmlich der dichterischen Selbstreflexion, so bereits in dem Roman Der Mondscheinknecht (Ffm. 1981. Forts. 1983. Zus. Hbg. 2006). Als Diarist aus außereurop. Perspektive erprobte er sich im Nicaragua Tagebuch (Hbg. 1986. Ffm. 1991) u. in den Brasilien-Peru-Aufzeichnungen (Ffm. 1991). Erst 2006 kamen die »ungewaschenen Stories« Blut und Bier (Hbg. 2006), die K. bereits 1993 verfasst hatte, zur teils gefeierten Veröffentlichung. Sie nehmen die gesprochene u. häufig obszöne Sprache seiner Dramen auf: Der Erzähler in Der alte Mann und das Hotelzimmer sieht sich »6 Titten, 3 Mösen und 3 Ärschen« gegenüber, die sich am Schluss der Geschichte als seine junge Frau u. seine zwei kleinen Töchter entpuppen.

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K. erhielt neben vielen anderen Auszeichnungen den Bertolt-Brecht-Preis u. das Bundesverdienstkreuz (2005), viele seiner Werke wurden für das Fernsehen adaptiert u. in bis zu 29 Sprachen übersetzt. Weitere Werke: Lieber Fritz. Wunschkonzert. Ffm. 1972. – Wildwechsel. Wien 1973 (D.). – Stücke. Bln./DDR 1975. – Chiemgauer Gesch.n. Köln 1977. – Verfassungsfeinde. Jumbo Track. Ffm. 1981. – Stücke. Bln./DDR 1981. – Bauern sterben. Ffm. 1987 (D.). – Stücke. 4 Bde., Ffm. 1989. – Der Drang. Hbg. 1996 (Volksstück). – Die Eingeborene. Hbg. 2002 (D.). – Haus Dtschld. Hbg. 2004 (D.). – Neue Stücke. Bislang 5 Bde., Hbg. 1996–2007. Ausgabe: Ges. Werke. 10 Bde., Hbg. 2006. Literatur: Hermann Burger u. Peter v. Matt: Dramat. Dialog u. restringiertes Sprechen. F. X. K. in linguist. u. literaturwiss. Sicht. In: Ztschr. für germanist. Linguistik 2 (1974), S. 269–298. – Evalouise Panzner: F. X. K. u. seine Rezeption. Stgt. 1976. – Rolf-P. Carl: F. X. K. Mchn. 1978. – F. X. K. Text + Kritik (1978). – Gerd Müller: Das Volksstück. Von Raimund bis K. Mchn. 1979, S. 132–143. – Otto Riewoldt (Hg.): F. X. K. Ffm. 1985. – Frank Philipp: Volksgut versus Volkswirtschaft. Zur Funktion v. Sprichwort u. Redensart in F. X. K.’ Milieudrama ›Mensch Meier‹. In: Proverbium 5 (1988), S. 145–154. – Ingeborg C. Walther: The Theater of F. X. K. New York 1990. – Gerhard P. Knapp: F. X. K.: ›Stallerhof‹. Sprachdefizit u. Glücksverlangen. In: Dramen d. 20. Jh. Bd. 2, Stgt. 1996, S. 202–221. – Volker Wehdeking: Die dt. Einheit u. die Schriftsteller. Stgt. u. a. 1995, S. 152–155. – Hans-Jörg Knobloch: Hebbel, UnHebbel oder Anti-Hebbel? Die Hebbel-Bearbeitungen v. F. X. K. In: Hebbel-Jb. 52 (1997), S. 151–168. – Alo Allkemper: F. X. K. In: Dt. Dramat. des 20. Jh. Hg. ders. u. Norbert Otto Eke. Bln. 2000, S. 779–804. – Thomas Kraft: F. X. K. In: LGL. – Theo Elm: Das soziale Drama. Von Lenz bis K. Stgt. 2004, S. 276–283. – Martin Buchwaldt: Von der Demaskierung des Bewusstseins zum Sprachproblemstellungskommando. Das Volksstück: Horváth – K. – Schwab. In: Mein Drama findet nicht mehr statt. Hg. Benedikt Descouvrières u. a. Ffm. 2006, S. 95–117. – Heinz Ludwig Arnold u. Michael Töteberg: F. X. K. In: KLG. Gerd Müller / Jan Wiele

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Krohn, Tim, * 9.2.1965 Wiedenbrück/ Krolow, Karl (Heinrich Gustav), auch: Nordrhein-Westfalen. – Erzähler, Dra- Karol Kröpcke, * 11.3.1915 Hannover, matiker, Verfasser von Hörspielen. † 21.6.1999 Darmstadt. – Lyriker, Erzähler, Essayist u. Übersetzer. Als Kleinkind kam K. in die Schweiz (Kt. Glarus). Er studierte Philosophie, Germanistik u. Politologie ohne Abschluss u. lebt als freier Schriftsteller in Zürich. 1998–2001 war K. Präsident des Schweizerischen Schriftstellerinnen- und Schriftstellerverbandes. Schon seine erste Veröffentlichung, der Roman Fäustchen (Zürich 1990), zeigt eine Vorliebe für die Beschäftigung mit bereits behandelten Stoffen u. für skurrile Effekte. Der Roman Dreigroschenkabinett (Ffm. 1997) ist eine Satire auf die dt. Vereinigung u. die Treuhand mit Motiven, Personal u. Situationen aus Gays u. Brechts Dreigroschenbearbeitungen. Kritisch setzt sich K. auch mit seiner Wahlheimat auseinander (Tamilen nach Auschwitz! Hörsp. 1991); ein Festspiel zu einem glarnerischen Schlachtjubiläum (Frei! Und tot, 1986) wurde zurückgewiesen. Den Durchbruch bei der Kritik brachte die Transposition der alpinen Mythen- u. Sagenwelt in eine längere geschlossene Erzählung im Roman Quatemberkinder mit seiner auf ins Hochdeutsche übersetztem Dialekt basierenden Kunstsprache (Bln./Ffm. 1998). Neben virtuosem, den Umschlag von Realität in Literatur u. vice versa thematisierenden Spiel mit Erzählperspektiven u. Lesererwartungen (Irinas Buch der leichtfertigen Liebe. Ffm. 2000) findet sich auch unprätentiöses Erzählen vom einfachen Leben (Heimweh. Erzählungen. Hbg. 2005). Weitere Werke: Bienen, Königinnen, Schwäne in Stücken. Basel 2002 (Dramen). – Vrenelis Gärtli. Ffm. 2007 (R.). – Warum die Erde rund ist. 111 Schöpfungsmythen. Bln. 2008 (schon Bln. 2002 u. d. T. Die Erfindung der Welt). Literatur: Sabine Haupt: Exil bei Mater Helvetia. Myth. ›Regressionen‹ bei Hermann Burger, Peter Weber u. T. K. In: Von der Schweiz weg, in die Schweiz zurück. Hg. Gonçalo Vilas-Boas. Straßb. 2003, S. 121–136. – Beat Mazenauer: T. K. In: LGL. –Rémy Charbon: Postmoderner Realismus? Alpine Volkssagen in der neueren Schweizer Lit. v. Meinrad Inglin bis T. K. In: Jb. der Raabe-Gesellsch. 2004, S. 81–97. Rémy Charbon

Elternhaus u. Jugend in Hannover spiegeln sich in K.s Nacht-Leben oder Geschonte Kindheit (Ffm. 1985). Er studierte in Göttingen u. Breslau Germanistik, Romanistik, Kunstgeschichte u. Philosophie. Seit 1940 veröffentlichte K. Gedichte u. Aufsätze, 1943 erschien Hochgelobtes gutes Leben (zus. mit Hermann Gaupp. Hbg.). Die neuere Forschung hat seine literar. Anfänge in den 1940er Jahren untersucht u. mit dem späteren Schaffen in Verbindung gebracht. K. gehört zu den bedeutendsten dt. Lyrikern der Nachkriegszeit u. Gegenwart u. wurde vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Büchner-Preis (1956), dem Rilke-Preis (1975) sowie dem Hölderlin-Preis (1988). Die Phasen seiner Stilentwicklung spiegeln die Haupttendenzen der dt. Lyrik zwischen 1940 u. 2000 wider. Seit 1940 publizierten Zeitungen, Zeitschriften u. Rundfunk kontinuierlich Gedichte, Essays sowie Rezensionen K.s, v. a. zur Gegenwartsliteratur. Vorbilder seiner Naturlyrik in der ersten Phase waren zunächst Wilhelm Lehmann u. Oskar Loerke. Unter dem Eindruck Rilkes u. des Existentialismus stellen K.s lyr. Selbstporträts das Glück u. die Angst des entgrenzten Ich dar. K. wurde damals im Westen – Gedichte (Konstanz 1948), Auf Erden (Hbg. 1949) – u. im Osten Deutschlands – Heimsuchung (Bln. 1948) – gedruckt. Er verfasste zudem zahlreiche Zeitgedichte, z.B. Vaterland, Land im Gericht, Nachtstück mit fremden Soldaten; seine Lyrik aber hält ein stärkeres Engagement mit der Zeitgeschichte immer auf Distanz u. bleibt im Grunde un- oder sogar antihistorisch, im starken Gegensatz zur Lyrik seines Zeitgenossen Paul Celan. Sie stellt vielmehr, im Dialog mit der dt. u. europ. Tradition, raffinierte Nuancen der Wahrnehmung dar (mit den Stichworten »leicht«, »zart«, »heiter« u. a.). Im Jahre 1952 trat K. mit Celan u. Ingeborg Bachmann als Repräsentant einer neuen Bewegung der dt. Lyrik beim Treffen der Gruppe 47 in Niendorf auf.

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K. beschäftigte sich intensiv mit dem frz. Surrealismus u. der modernen span. Lyrik u. hat zahlreiche Übersetzungen angefertigt, u. a. Nachdichtungen aus fünf Jahrhunderten französischer Lyrik (Hann. 1948), Die Barke Phantasie (Zeitgenössische französische Lyrik. Düsseld./Köln 1957) u. Spanische Gedichte des 20. Jahrhunderts (Ffm. 1962). In den Gedichtbänden Die Zeichen der Welt (Stgt. 1952) u. Wind und Zeit (Stgt. 1954) tritt die Naturlyrik unter dem Einfluss des Spaniers Jorge Guillén u. a. zurück zugunsten surrealist. Techniken. Der Eindruck von Offenheit u. Leichtigkeit wurde u. a. durch überraschende Abstraktion, radikale Entsubstantialisierung, spielerische Imagination u. kühne Metaphorik erreicht (z.B. in den Gedichten Drei Orangen, zwei Zitronen, Vorgänge, Orte der Geometrie u. in dem Zyklus Gedichte gegen den Tod): »[A]lle Elemente metaphorisieren einander wechselseitig« (A. Schäfer). Hugo Friedrich schrieb im Nachwort zu den Ausgewählten Gedichten (Ffm. 1962), die Lyrik K.s enthalte »die Grundspannungen modernen Dichtens, [...] zwischen Sachlichkeit und Unwirklichkeit [...]« (S. 51). Jedoch trifft Friedrichs berühmter Begriff der »dunklen Lyrik« in der Moderne auf K. nicht zu. Andere kritisierten K.s lyr. Abstrahieren als ornamentale Anakreontik (»Rokoko-Surrealismus«, H. D. Schäfer) oder als standpunktlose Entindividualisierung. 2002 wurden die enthistorisierenden Tendenzen in K.s Ästhetik der »Intellektuellen Heiterkeit« (Büchner-Preis-Rede 1956) in allen Phasen seiner Lyrik ab 1940 untersucht u. in geschichtl. Zusammenhängen kritisch betrachtet (Donahue). Von Mitte der 1950er bis gegen Ende der 1960er Jahre erschienen regelmäßig neue Gedichtbände: Tage und Nächte (Düsseld./Köln 1956), Fremde Körper (Bln./Ffm. 1959), Unsichtbare Hände (Ffm. 1962), Landschaften für mich (Ffm. 1966). Widersprüche u. Ängste menschl. Existenz werden scheinbar spielerisch verwandelt u. dadurch auf Distanz gehalten. Naturgesetze, Raum u. Zeit, Schwerkraft u. Tod werden suspendiert u. in einer Art Traumlogik neu kombiniert. Seine Poetik der Offenheit vertritt K. v. a. in der Frankfurter Poetikvorlesung (1960/61) Aspekte zeitgenössischer deutscher Lyrik (Gütersloh 1961).

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Literarische Tendenzen der Zeit u. die private Perspektive des Alters veränderten K.s Sicht seit Ende der 1960er Jahre, wenn auch nicht die antihistor. Haltung seiner Lyrik. Er ließ die artifizielle Metaphorik in den Hintergrund treten u. begegnete der Alltagsrealität lakonisch u. ironisch: Alltägliche Gedichte (Ffm. 1968), Nichts weiter als Leben (Ffm. 1970), Zeitvergehen (Ffm. 1972) u. Der Einfachheit halber (Ffm. 1977). Unter dem Pseud. Karol Kröpcke schrieb K. aggressive pornograf. Gedichte in Bürgerliche Gedichte (Hbg. 1970), die als neuzeitl. Naturlyrik eine Variation »innerer Emigration« bilden: Expliziter Sex ersetzt mit Gewalt die polit. Spannungen der 1970er Jahre. Sprachlich u. psychologisch dichte Prosastudien gelingen K. mit Das andere Leben (Ffm. 1979), Im Gehen (Ffm. 1981) u. Melanie. Geschichte eines Namens (Mchn. 1983) sowie auch später mit Etwas brennt (Ffm. 1994); jedoch treten in K.s Erzählungen Bewusstsein u. Sinnlichkeit oft auseinander, während sie in seiner Lyrik prägnant zusammentreffen. Herbstsonett mit Hegel (Ffm. 1981) bringt den überraschenden Rückgriff auf Formen des lange verpönten Reims. Nicht alle Experimente mit großen Themen wie Gewalt, Tod u. Liebe, mit respektlosen Zitaten u. »gebrauchten« Formen glücken so eindrucksvoll wie das Panoramagedicht Ausverkauf im Band Zwischen Null und unendlich (Ffm. 1982), in dem K. die verlogene u. opportunist. Moral in der Bundesrepublik radikal angreift. Das Langgedicht Herodot oder der Beginn von Geschichte (1983) zeigt dann aber wieder deutlich den Zug K.s, die Geschichte in die sinnl. Metaphysik seiner Lyrik aufzulösen: »Ich wollte, ich könnte vergessen. [. . .] Ich versuche es weiter: Geschichte als DICHTUNG.« Wie in allen späten Bänden wird in Schönen Dank und vorüber (Ffm. 1984) u. in Als es soweit war (Ffm. 1988) der Gedanke an den Tod beklemmend eindringlich: »Weißt du: es braucht fast nichts geschehn. / Es ist nur dies Gefühl, täglich zu gehn / den alten Weg zur Hinrichtung« (Täglich). Wie auch im Titel seines nächsten Bandes Ich höre mich sagen (Ffm. 1992) hebt sich dieser Fatalismus paradoxal mit wortlustigem Scharfsinn in immer neuen iron. Ansätzen auf. Immer mehr

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zielt K.s Schreiben auf das Altern u. die Bonn 1977 (mit Bibliogr.). – R. Paulus: L. u. Poetik Selbstentfremdung, die mit dem Alter ein- K. K.s. Bonn 1980 (mit Bibliogr.). – Horst S. tritt; aber die Gedichte u. eine strenge Ironie Daemmrich: Messer u. Himmelsleiter. Eine Einf. in führen »in eine zweite Zeit, / der er die Worte das Werk K. K.s. Heidelb. 1980. – R. Paulus u. G. Kolter: Der Lyriker K. K. Bonn 1983. – K. K. In: Text verlieh.« Die zweite Zeit (Ffm. 1995) fasst + Kritik 77 (1983). – Monika Beckerle, K. K., Rainer rückblickend u. meisterhaft die Stilphasen F. Stocké: K. Ein Bildbuch mit Texten. Ludwigshaseiner poet. Karriere wieder zusammen, ob fen 1984. – Jong Ho Pee: K. K. u. die lyr. Tradition: mit Reim oder Parlando, Naturlyrik oder Ironie u. Selbstreflexion. Köln 1991. – Vera B. Profit: Alltagsgedichten, Apokalypse oder Apathie: Ein Porträt meiner Selbst. K. K.’s Autobiographical »Was lebenslang / gelang oder mißlang – / Poems (1945–58) and their French Sources. New genug ist nie genug.« Der Titel seines aller- York u. a. 1991. – Dies.: Menschlich. Gespräche mit letzten Bandes Die Handvoll Sand. Gedichte aus K. K. New York u. a. 1996. – R. Paulus: K. K. In: dem Nachlaß (Ffm. 2001) zeigt noch ein letztes KLG. – Neil H. Donahue: K. K. and the Poetics of Mal den für sein Werk typ. Versuch, in vielen Amnesia in Postwar Germany. Rochester 2002 (mit Bibliogr.). – Karla Reimert: K. K. In: LGL. – Armin Varianten eine physische u. psych. AuseinanSchäfer: K. K. (1915–99). In: Deutschsprachige Lydersetzung mit einem metaphys. Zeitbegriff riker des 20. Jh. Hg. Ursula Heukenkamp u. Peter zu verbinden: Der Dichter erlebt die über- Geist. Bln. 2007, S. 358–367. persönl. Zeit ganz bewusst u. persönlich am Rolf Paulus / Neil H. Donahue eigenen Leib (»nichts als Vergehn«). Gegen das Verschwinden von Leben u. Wort in der Kronauer, Brigitte, * 29.12.1940 Essen. – Zeit steht das Gedicht; die Sprache zeigt sich Autorin von Romanen, Erzählungen u. immer neu, immer jung im Gedicht: »Wörter kunsttheoretischen Essays. kommen zu Wort.« Weitere Werke: Von nahen u. fernen Dingen. Im Spannungsfeld von Tradition u. Moderne Stgt. 1953. – Schattengefecht. Ffm. 1964 (Ess.). – verbindet K.s Literatur das Erzählen von GePoet. Tgb. Ffm. 1966. – Minuten-Aufzeichnungen. schichten mit der Skepsis gegenüber dem Ffm. 1968. – Dtschld. deine Niedersachsen. Hbg. Erzählen von Geschichten. Aus solcher Apo1972. – Die Lyrik in der BR Dtschld. seit 1945. In: rie erwächst die formale Komplexität, die Die Lit. in der BR Dtschld. Hg. Dieter Lattmann. sinnl. Detailfreude u. die konzeptionelle Mchn. 1973, S. 345–533. – Ein Gedicht entsteht. Kälte dieser vielfach ausgezeichneten Litera[...]. Ffm. 1973. – K. K. Ein Lesebuch. Hg. Walter tur (u. a. Heinrich-Böll-Preis 1989, JosephHelmut Fritz. Ffm. 1975. – Gedichte. Hg. Gabriele Breitbach-Preis 1998, Grimmelshausen-Preis Wohmann. Ffm. 1980. – Gedichte u. poetolog. Texte. Hg. Rolf Paulus. Stgt. 1985. – Auf Erden. 2003, Literaturpreis der Freien Hansestadt Frühe Gedichte. Ffm. 1989. – Kurt Drawert (Hg.): Bremen 2005, Georg-Büchner-Preis 2005). K. K. Wenn die Schwermut Fortschritte macht: Ihr Schreiben leitet K. aus der GrundbedeuGedichte, Prosa, Essays. Lpz. 1990. 2., erw. Aufl. tung ahd. »irzellen«, d.h. »aufzählen«, 1993. – Schallplatte: K. K. liest aus seinen Gedichten. »hersagen in geordneter Reihenfolge«, ab u. Ffm. 1976. – Etwas brennt. Ges. Prosa. Ffm. 1995. betont damit den konstruktivist. Aspekt: ErAusgabe: Ges. Gedichte. Bisher 4 Bde., Ffm. zählen ist die Herstellung einer Wirklichkeit 1965, 1975, 1985, 1997. durch Auswahl u. Ordnung. Sie impliziert, Literatur: Dieter Schlenstedt: Emotion u. Bild. dass das Schaffen einer Struktur ein redukTheoret. Aspekte ihrer Grundbeziehungen im tionist. Akt ist: Das Ausgangsmaterial wird bürgerl. Gedicht nach 1945. Bln./DDR 1967, zugerichtet, gar gezähmt. Gegen die Gefahr, S. 50–169. – Annamaria Rucktäschel: Zur Sprach- die paradoxe Vieldeutigkeit des Lebens im struktur moderner Lyrik. Ein Versuch über K. K. Akt des Erzählens auf Eindeutigkeit u. VorDiss. Mchn. 1969. – Walter Helmut Fritz: Über K. hersehbarkeit zu reduzieren, schreibt K. an. K. Ffm. 1972. – Rolf Paulus: K.-K.-Bibliogr. Ffm. 1972. – Artur Rümmler: Die Entwicklung der Me- Das Romandebüt Frau Mühlenbeck im Gehäus taphorik in der Lyrik K. K.s (1942–62). Bern 1972. – (Stgt. 1980) liest sich wie eine VersuchsanHans Dieter Schäfer: Die Wandlung K. K.s. In: NR ordnung, die zwei Wahrnehmungsweisen, 86,2 (1975), S. 330–334. – Gerhard Kolter: Die Re- zwei Arten des Erzählens kontrastiert: Eine zeption westdt. Nachkriegslyrik am Beispiel K. K.s. noch ungeformte junge Lehrerin trifft auf die

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erfahrene Frau Mühlenbeck, deren Leben von zwei Weltkriegen geprägt ist. Während die eine droht, im Strom ihrer Eindrücke u. Empfindungen verloren zu gehen, hat die andere alles im Griff. Die Junge gerät in den »Geschichtenwolf« der Alten, übernimmt deren Weltdeutungsschemata Zug um Zug, während diese in Monotonie verstummt. Am Ende ist die junge Frau »im Gehäus« – eine Gefangene vorgestanzter Wahrnehmungs- u. Erzählmuster. K.s Literatur, zu Unrecht unpsychologisch genannt, lotet die Erlebniswelten u. Gefühlslagen ihrer erzählenden Protagonisten intensiv, aber indirekt aus – durch Spiegelung des Inneren am Äußeren, des Eigenen im Anderen. In Rita Münster (Stgt. 1983) dringt die Außenwelt in einer Vielzahl von Personen u. Geschichten auf die anonyme Ich-Erzählerin ein, die sich unentwegt ein Bild zu machen sucht. Der Wechsel in die Innenperspektive offenbart, dass Rita auf die Begegnung mit einem Mann hinlebt, was ihre Wahrnehmung grundlegend verändert. Verlangsamt gedehnte Eindrücke wechseln mit sprunghaft vorwärtseilenden Szenen, um zuletzt in eine ekstat. Erfahrung der Zeitlosigkeit zu münden. Auch der Anglistik-Dozent Matthias Roth aus Berittener Bogenschütze (Stgt. 1986) erfährt nach langer Irrfahrt die verwandelnde Kraft einer aus allen Bezügen gelösten inneren Einheit. Verstrickt in die Erzählwelten seines Forschungsgegenstandes Joseph Conrad, erlebt er die Wirklichkeit nur aus zweiter Hand. Das eigene Lebensproblem in die Liebesumarmung Conrad’scher Paare projizierend, vermeint er im Moment höchster Leidenschaft »Leere, Stille und Einöde« zu erkennen. Der Zustand der Erstarrung ist Ausdruck der eigenen inneren Leere im Zentrum des Lebens, auf das er, der desillusionierte »Bogenschütze«, mit all seinen Projektionen insgeheim zielt. Der Roman bricht die aggressive Ästhetisierung der Wirklichkeit auf, lässt Roths Blick sich umkehren. In Italien schlägt das zurichtende Sehen um in die Innenschau; es kommt zum erfüllten Augenblick, in dem das dissoziierte Subjekt die Einheit des Seins erfährt. »Ein Schleier war weggezogen worden, unter den Hüllen eines langen Nebels begann es zu leuchten.«

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Die Frau in den Kissen (Stgt. 1990) bildet Abschluss u. Höhepunkt der nachträglich als Trilogie titulierten Bewusstseinsromane, die wenig Handlung, viel Wahrnehmung u. noch mehr Beschreibung enthalten. Die bedeutungsvoll in ihren Kissen versunkene namenlose Ich-Erzählerin sitzt im Café eines Zoos u. überlässt sich, während sie zwei Kännchen Kaffee trinkt, ihrem Gedankenstrom, der zurückeilt in den Traum der vergangenen Nacht u. voraus ans Mittelmeer, wo sie mit einer florentin. Gräfin identisch wird. Eine einzige Erdumdrehung ist der feste Rahmen, um den die fünf Kapitel angeordnet sind; die Erzählerin fungiert als Schnittstelle zwischen Gegenwart u. Vergangenheit, Imagination u. Wirklichkeit, die Verknüpfung erfolgt assoziativ mittels Wiederholung u. Kontrastierung zentraler Bilder u. Motive. Ekstase u. Ernüchterung, Tag u. Nacht, Traum u. Realität, Unten u. Oben sind in diesem Strom inneren Erlebens keine Gegensätze, sondern differente Teile eines diffusen Ganzen. Während am Ende des ersten Kapitels der Übergang in den Schlaf als Herabsinken zum Meeresboden erfolgt, vollzieht sich die Rückkehr zur Realität im Morgengrauen des folgenden Tages als Aufstieg auf ein Hochhausdach, wo die Erzählerin im Blick auf die Stadt noch einmal alle Stadien der Entgrenzung erlebt, bevor sie auf die Straße zurückkehrt. Dem bewusstseinsauflösenden Nachtroman ließ K. Das Taschentuch (Stgt. 1994) folgen – Wahrzeichen des Helden, des bescheiden-stillen Apothekers Willi Wings, dessen Leben von der Erzählerin, einer Schriftstellerin, in zehn Kapiteln aufgeschrieben wird. Als der von regelmäßigen Ohnmachten Heimgesuchte eines Tages in ihrem Beisein in einer Straße voller Baugruben taschentuchbedeckt den Tod findet, soll das biogr. Projekt zur Legende zugespitzt werden. Das Objekt Willi aber hat sich mit seinem Ableben allen ästhet. Zurüstungen entzogen. K. entledigt sich hier auf spielerisch-ironische Weise des Repräsentationsverbots des Nouveau Roman, in dessen Tradition sie gleichwohl steht: Der Held bleibt das un(be)greifbare Subjekt, das sich nicht übersetzen u. in Muster zwängen lässt.

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Teufelsbrück (Stgt. 2000) markiert ein neues Niveau ihres Schreibens, indem noch stärker auf »verbotene« Stoffe u. Verfahren zugegriffen, nämlich ein vergleichsweise illusionistisches, spannungssteigerndes Erzählen unter dem Rückgriff auf einen traditionellen Stoff erprobt wird. An neun Abenden beichtet die verwitwete Schmuckdesignerin Maria Fraulob in einem verschneiten Berghotel der Schweizer Alpen einer unbekannten Frau ihre verhängnisvolle Affäre mit dem bildschönen, charakterlich indifferenten Leo Ribbat. Auf der Folie des Grimm’schen Jorinde-und-Joringel-Stoffs entwirft K. ein modernes Märchen, das Mythisches u. Zeitgenössisches kunstvoll kreuzt. In der vergebl. Anstrengung der schönheitssüchtigen Heldin, alles ihr Widerfahrende zu verstehen, spiegelt sich das (post)modernist. Credo der Sinnfreiheit ebenso wie in der hohen Verweisungsdichte des Textes, in den unzählige Zitate aus der Mythologie, der Bibel, der Literatur (bes. der Heidelberger Romantik) eingegangen sind. Mitten in einem Hamburger Einkaufszentrum gerät die »Jungfrau« Maria in den Bann der Erzzauberin Zara, die in einem verwunschenen Haus im Alten Land, jenseits der Elbe wohnt, erreichbar von der Anlegestelle »Teufelsbrück«. Die Sammlerin exotischer Vögel u. edler Frauenschuhe, die ihr Opfer in Liebe zu Leo entbrennen lässt, entpuppt sich als übermächtige Spinnerin eines grausamen Spiels mit den Gefühlen. Am Abend des neunten Tages, als Joringel im Märchen die rettende Blume findet, hat sich die Heldin mit ihrer »autobiographische[n] Romanze« ans Ende erzählt, ohne dem Sinn ihres traurigen Schicksals auf die Spur gekommen zu sein. Unerlöst stirbt sie den kalten Tod im Schnee mit jenem hellen Vogellaut des Anfangs auf den Lippen, der ihre Verzauberung in eine Nachtigall ankündigte. Hinter dem urromant. Roman scheint Hofmannsthals Märchen der 672. Nacht auf, die Geschichte vom dekadenten Kaufmannssohn, der sein Leben von Zeichen umstellt sah u. es darüber verlor. Die Tragödie der Verwechslung von Poesie u. Leben setzt sich in Verlangen nach Musik und Gebirge (Stgt. 2004) unter veränderten Vorzeichen fort. An die Stelle der liebesent-

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flammten Maria tritt die kühl-iron. Frau Fesch, die ihre Illusionen ins Reiche der Künste verschoben hat, ganz im Sinne des titelgebenden Nietzsche-Mottos aus der Morgenröthe, wonach unsere Erlebnisse das sind, was wir in sie hineinlegen. Die Erzählerin decouvriert das natürl. »Verlangen nach Musik und Gebirge« bei den minutiös von ihr beobachteten u. unverschämt weitergedichteten Mitreisenden. Wahre Leidenschaft hat Frau Fesch zufolge ihren Ort einzig in der Oper – im Leben selbst ist sie nur als intrigantenhaftes Maskenspiel zu haben, wie es die kleine Feriengesellschaft um das junge russisch-ital. Liebespaar inszeniert. Zu diesem Niedergangsszenario bildet das hässlich graue, kriegs- u. massentouristisch verunstaltete Ostende die adäquate Kulisse. Die Sehnsucht nach Liebe u. die Unmöglichkeit, sie im Zeitalter des gesteigerten Kapitalismus zu erlangen, reflektiert Frau Fesch kulturkritisch anhand eines eingelegten Librettos nach der Vorlage der Joseph-Conrad-Erzählung Ein Lächeln des Glücks. In der Stadt des Maskenmalers James Ensor wartet sie auf ihren Geliebten, den von England übers graue Meer schwebenden Komponisten, der ihr Werk vertonen soll. Ihm rennt sie am Strand wie einem Erlöser entgegen – ob als törichte oder kluge Jungfrau bleibt offen. Die ironisch-ernste Kombination aus zeitkrit. Analyse u. Evokation des Transzendenten dominiert auch den Folgeroman mit dem absurden Titel Errötende Mörder (Stgt. 2007), einer psycholog. Unmöglichkeit, die als paradoxe Eigenart der kaltblütigen Schurken Dashiell Hammets thematisiert wird. In ihr spiegelt sich der Widerstreit zwischen den Kalkulationsbestrebungen der Autorin u. dem Eigenleben ihres Stoffs. Rätselhaft-vieldeutig mutet das erzählte Geschehen, ein Reigen aus Einzelgeschichten, an. Unvorhersehbar ist seine Wirkung auf den lesenden Protagonisten, den 40-jährigen norddt. Schreibwarenhändler Jobst Böhme, der unter »Fühllosigkeit« leidet. Ausgestattet mit dem Manuskript dreier »Kleinromane« aus der Feder eines schriftstellernden Geschäftskunden begibt sich der »Pappkamerad« in die Schweizer Berge, um dort in der Naturenklave seinem Lektüreauftrag nachzukom-

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Literatur: Heinz-Ludwig Arnold (Hg.): Text u. men, von dem er nicht mehr zurückkehren wird. Die collageartige Komposition aus vier Kritik, H. 112 (1991). – Heinz Schafroth (Hg.): Die autonomen Geschichten, die durch den Leser Sichtbarkeit d. Dinge. Über B. K. Stgt. 1998. – Böhme zusammengehalten werden, erlaubt Markus Barth: Lebenskunst im Alltag. Analyse der Werke v. P. Handke, T. Bernhard u. B. K. Wiesb. es K., dem Zeitgeist des ungebremsten Ma1998. – Ina Appel: Von Lust u. Schrecken in ästhet. terialismus ironisch den Spiegel vorzuhalten. Subjektivität. Über den Zusammenhang v. Subjekt, Der Ich-Erzähler von Der böse Wolfsen oder Das Sprache u. Existenz in der Prosa v. B. K. u. Ror Ende der Demokratie muss die unbedeutenden Wolf. Würzb. 2000. – Meike Feßmann: Gezielte Dinge des Alltags vorm Verschwinden retten Verwilderung. Modernität u. Romantik im Werk v. u. entwickelt sich darüber zum manischen B. K. In: SuF 56 (2004), S. 487–503. – Jutta MüllerSammler u. Psychotiker, der einen Mord be- Tamm: Die Unvermeidlichkeit der Lit. Zu B. K.s gangen haben will. Die zerstreut-lebenslus- Poetik des Autobiographischen. In: Sprache im tigen Insassen eines Pflegeheims auf Kaffee- techn. Zeitalter 42 (2004), S. 414–427. – Wilhelm Genazino u. Thomas Kraft: B. K. In: LGL. – Mifahrt nach Fehmarn erleben in der Titelgechaela Kopp-Marx: Zwischen Petrarca u. Madonna. schichte angesichts der Monotonie land- Der Roman der Postmoderne. Mchn. 2005, schaftsfressender Rapsfelder ihren hellen S. 156–164 u. S. 223–226. – Gisela Ullrich u. Sybille Wahnsinn. In Der Mann mit den Mundwinkeln Cramer: B.K. in: KLG. – Anja Gerigk: Postmodergießt eine Fremdenführerin die Geschichte nes Erzählen auf Leben u. Tod. Die Aporie der ihrer Vergewaltigung in die Legende einer Zweideutigkeit in B. K.s Roman ›Teufelsbrück‹. In: fiktiven Heiligen u. projiziert sie coram pu- Sprachkunst 38 (2007), S. 67–88. Michaela Kopp-Marx blico in den verwitterten Reliefzyklus eines Doms. Das Ineinander von Fakten u. Fiktion greift unmerklich auf den Leser über, der in Kronberg, Simon, * 26.6.1891 Wien, der »hellen Höhe« u. »schwarzen Tiefe« des † 1.11.1947 Haifa. – Lyriker, Erzähler, Binoztals dem Anderen seines Ichs begegnet, Dramatiker. dem »Gewissen« bzw. »Luzifer«. Der aufgebrochene »Karton« setzt einen Strom von Geboren als unehel. Sohn des Hausierers Emotionen frei, die sich in Hassausbrüchen u. Nathan Arzt u. Reisel Scheindlingers wuchs Mordfantasien ebenso Bahn brechen wie in K. im orthodox-jüd. Milieu Wiens auf. Die myst. Einheitserlebnissen u. tiefen Einsichten Namensänderung in »Kronberg« erfolgte ins Wesen der Welt. Jobst (Jakob) Böhme wird 1900. Nach dem Besuch der Volksschule lesend einer völligen Wandlung unterzogen. (1897–1902) u. Realschule (1902–1911) beDie unheiml. Verquickung von Innen u. Au- gann K. 1912 an der Universität Wien ein ßen, von fremdem u. eigenem Erleben legt Studium als Lehramtskandidat für Realschunahe, dass das Gelesene nirgendwo anders als len, besuchte 1913/14 in Hellerau bei Dresim Leser selbst geschah. Errötende Mörder ist den die »Bildungsanstalt für Musik und der Roman einer Individuation, die durch das Rhythmus« unter der Leitung von Emile Lesen von Literatur in Gang gesetzt wird, K.s Jacques-Dalcroze u. bemühte sich 1914 verpoetolog. Credo entsprechend: »Literatur geblich um einen Studienplatz an der muß aus dem Leben erwachsen oder darauf Schauspielschule in München. Ende 1914 zurückwirken. Literatur konzentriert, ver- brach er nach wenigen Monaten den Schauschärft, pointiert polemisch, was wir alle tun, spielunterricht an der »Hochschule für wenn wir uns mit der Wirklichkeit herum- Bühnenkunst« in Düsseldorf ab u. ließ sich privat zum Phonetiklehrer ausbilden. 1915 schlagen.« ging er nach Berlin. Zu Beginn der 1920er Weitere Werke: Der unvermeidl. Gang der Jahre fand K. Anschluss an die zionist. BeDinge. Gött. 1974 (E.en). – Die gemusterte Nacht. Stgt. 1981 (E.en). – Aufsätze zur Lit. Stgt. 1987. – wegung, was in der Folge seine literar. TäSchnurrer. Gesch.n. Stgt. 1992. – Die Wiese. Stgt. tigkeit prägte. Engagiert wirkte er an den 1993 (E.en). – Zweideutigkeit. Ess.s u. Skizzen. Aktivitäten der jüd. Jugendbewegung mit, so Stgt. 2002. – Die Tricks der Diva. Gesch.n. Stgt. gehörte er als Jugendführer u. Chorleiter dem 2004. – Die Kleider der Frauen. Gesch.n. Stgt. 2008. Jung-Jüdischen Wanderbund an. Hier wie

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später in Palästina war es K.s Ziel, chassidi- Erzählungen u. Gedichte; in seinen letzten sche Spiritualität u. jüdisch-religiöse Geis- Lebensjahren befasste sich K. außerdem mit tigkeit mit zionistisch-sozialistischem Enga- dem Plan, Filmdrehbücher zu schreiben. Der Dichter K. war weitgehend in Vergesgement zu verbinden. 1916 veröffentlichte Franz Pfemfert in der senheit geraten, als sich Karl Otten in den »Aktion«, einem der führenden Organe des 1950er u. 1960er Jahren um seine WiederExpressionismus, K.s Gedicht Nacht u. an- entdeckung bemühte. Seit 1993 liegt eine schließend erste Auszüge aus seiner Prosa- Werkausgabe vor, die zum Großteil bis dahin dichtung Chamlam (Potsdam 1921. Wieder in: unveröffentlichte, aus den beiden TeilnachDas leere Haus. Hg. Karl Otten. Stgt. 1959). lässen (DLA, Archiv Peter Kronberg, St. Louis/ Chamlam (auf Deutsch etwa »Idiot«) verkör- USA) edierte Texte K.s enthält. Der Herauspert »in ironischer Betonung seiner Unzu- geber bezeichnet im Nachwort K. als einen länglichkeit« (Otten) das Alter Ego des Dich- »Verschollenen und Verdrängten der Literaters auf der verzweifelten Suche nach seiner tur des 20. Jahrhunderts«, als einen »Aujüd. Identität. Der Text ist formal komplex, ßenseiter des Literaturbetriebs« sowie als zeigt eine kunstvolle Verschachtelung lyri- »terra ignota« für die Germanistik. scher, epischer u. reflektierender Passagen Ausgaben: Werke. Hg. Armin A. Wallas. 2 Bde., sowie einen beständigen Wechsel der Er- Mchn. 1993; Bd. 1: Lyrik, Prosa; Bd. 2: Dramatik. – Nachgelassene Texte in: Schofar. Lieder u. Legenden zählperspektive. In Wolf Przygodes expressionistischer jüd. Dichter. Hg. Karl Otten. Neuwied 1962. Literatur: Karl Otten: Das Werk S. K.s. In: Zeitschrift »Dichtung«, deren Kreis K. seit 1918 angehörte, erschien 1923 (2. F., Buch 2) Bulletin des Leo-Baeck-Instituts 4 (1961), das Drama Schimen in der Stille (wieder in: S. 101–110. – Hans J. Schütz: ›Ein deutscher Schrei und Bekenntnis. Hg. K. Otten. Stgt. Dichter bin ich einst gewesen‹. Mchn. 1988, S. 167–171. – Armin A. Wallas: Zur Rezeptionsge1959). 1934 emigrierte K. nach Palästina u. sch. In: Werke (s. o.), Bd. 2, S. 319–324. – Ders.: trat zus. mit seiner späteren Frau Jael in den ›Ein Jude und ein Dichter dazu‹. – S. K. Ebd., Kibbuz Givat Chajim ein, dem er zwei Jahre S. 335–410 (zu Leben u. Werk). lang angehörte. Dort arbeitete er als Schuster, Herbert Ohrlinger / Christine Henschel später auch als Stimmbildner, betrachtete aber stets die Fortsetzung der literar. TätigKroneberg, Eckart, * 10.6.1930 Stunzkeit als seine eigentl. Aufgabe u. Berufung. hain/Thüringen. – Romancier, DramatiAls deutsch schreibender Autor während der ker, Essayist, Kritiker, Übersetzer. NS-Zeit hatte er jedoch Schwierigkeiten, in Palästina Gehör zu finden. Ein kleines Pu- K. wuchs in Wernigerode/Harz auf. Nach blikum fand K. in den Mitgliedern der Mitt- dem Abitur 1948 begann er eine landwirtwoch-Abend-Gesellschaft, eines privaten schaftl. Lehre, die er als ungeeignet abbrach, Künstlerkreises in Haifa, wo er regelmäßig u. arbeitete als Bergmann im Ruhrgebiet. aus seinen Werken vortrug. 1947 starb er, 1951–1956 studierte er Evangelische Theovermutlich an den Folgen eines Schlaganfalls. logie u. Philosophie. Seit 1958 lebt er in K.s Werk zeichnet sich aus durch eine Westberlin. 1960 erschien der autobiograkunstvoll-komplexe Sprache; sein späterer fisch geprägte Erstlings-Roman Der GrenzHerausgeber Armin A. Wallas spricht von gänger (Olten); 1961 erhielt K. den Julius»elitäre[r] Sprachwahl«, die einer breiten Re- Campe-Preis. K. gehörte zur Gruppe 47. zeption entgegengestanden habe. Im ZenNeben literarischen Vorbildern wie Thotrum von K.s Texten stehen das jüd. Leben, mas Mann, Joyce u. Beckett haben eine Reihe jüd. Geschichte, Religion u. Identität sowie von Reisen – nach Nordafrika, Lateinamerika, Fragen nach der gegenwärtigen Situation u. Vorder- u. Südasien – K.s literar. Werk beden Zukunftsperspektiven der Juden (vgl. die einflusst. Er schreibt eine sehr präzise Prosa, in Palästina entstandenen Dramen Ehud. Ein deren persönlicher, plast. Stil mit der häufig Richter in Israel u. Nittel (Blinde Nacht)). Neben am Tagebuch orientierten Erzählform korreder dramat. Produktion entstanden weiterhin spondiert. Anhand fiktiver u. autobiogr.

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Themen behandelt er das historische u. gegenwärtige Verhältnis zwischen Europa u. Dritter Welt. So lebte er als Mönch auf Zeit in einem buddhist. Kloster in Sri Lanka, um seine Erfahrungen im städt. Alltag zu spiegeln. Literarischen Niederschlag fanden sie in Buddha Berlin-Wilmersdorf (Ffm. 1980) mit Tagebüchern u. Essays. 17 Jahre danach hinterfragte er die Erfahrungen erneut in seiner erweiterten Ausgabe u. d. T. Buddha in der City (Freib. i. Br. 1997). Seit 1963 verfasst K. regelmäßig Kritiken für die Tagespresse u. schreibt gelegentlich Texte für das Kabarett; er arbeitet im Kulturbereich in Berlin. Weitere Werke: Keine Scherbe für Hiob. Mchn. 1964 (R.). – Zum Beispiel Marokko. Mchn. 1970 (Sachbuch). – Die Kraft der Schlange. Mchn. 1975 (R.). – Don Quijote in den Anden. Bln. 1991 (R.). Detlef Krumme / Günter Baumann

Krüger, Bartholomäus, * um 1500 Sperenberg bei Zossen, † nach 1587 Trebbin/ Mark Brandenburg (?). – Schwankautor, Dramatiker. Über K.s Leben ist nur wenig bekannt, das meiste davon lässt sich nur den Titelblättern seiner Dichtungen entnehmen. Danach stammte er aus Sperenberg u. war zwischen 1579 u. 1587 Stadtschreiber u. Organist in Trebbin, nachdem er in Wittenberg studiert hatte (Immatrikulation am 24.2.1567). 1580 veröffentlichte K. zwei Dramen mit Widmungsschreiben an den Rat der Stadt Schneeberg bzw. Joachimsthal. Das erste, Ein newes weltliches Spiel, wie die pewrischen Richter, einen Landsknecht unschuldig hinrichten lassen (o. O. 1580), behandelt einen Exempelstoff, der auf Johann Gasts Convivalium sermonum liber (Basel 1541 u. ö.) zurückgeht. Ein Landsknecht wird wegen eines kleinen Vergehens von geldgierigen Bauern gehängt, die auf Betreiben eines »Mordteuffels« bald darauf selbst eines unnatürl. Todes sterben. K. hat den Stoff zu einem breiten dramat. Sittengemälde umgeformt, in dem er aus der Perspektive der protestant. Obrigkeitslehre gegen die zu Amtsanmaßung u. Machtmissbrauch neigenden Bauern polemisiert. Das zweite, Eine schöne und lustige newe Action, von dem Anfang und Ende der Welt (o. O. 1580), stellt

aus luth. Sicht, unter Einbeziehung der wichtigsten Stationen des Lebens u. Sterbens Christi sowie der konfessionellen Auseinandersetzungen zu Beginn der Gegenreformation, die Welt- u. Heilsgeschichte vom Engelssturz bis zum Jüngsten Gericht dar. Durch äußerste Straffung gelingt K. eine geschlossene dramat. Handlung, deren movens der den histor. Prozess vorantreibende Kampf zwischen Gott u. Teufel ist. Der Unterschied zwischen mittelalterl. Fronleichnamsspiel u. protestant. Drama wird aufgrund des vergleichbaren themat. Vorwurfs an K.s Action, die wie sein weltl. Spiel musikal. Einlagen enthält, bes. deutlich. Die nachhaltigste Wirkung erzielte K. mit dem Schwankroman Hans Clawerts werckliche Historien (Bln. 1587). Er besteht aus 35, z.T. aus fremden Quellen entlehnten Schwänken des sog. »Märkischen Eulenspiegels«, der nach K. wirklich gelebt hat u. 1566 in Trebbin gestorben sein soll. Obwohl an hintergründigem Witz mit dem Ulenspiegel bei Weitem nicht zu vergleichen, zumal K. jeden Schwank mit einem – meist nicht recht passenden – »Morale« versehen hat, sind die Historien als »Volksbuch« lebendig geblieben u. zuletzt von Klabund (1918) u. Johannes Bobrowski (1956) neu bearbeitet worden. Ausgaben: Eine schöne u. lustige newe Action. Hg. Julius Tittmann. In: Schausp.e aus dem 16. Jh. Tl. 2, Lpz. 1868. Nachdr. Nendeln 1974. – Hans Clawerts werckl. Historien. Hg. Theobald Raehse. Halle 1882. – Spiel v. den bäur. Richtern u. dem Landsknecht. Hg. Johannes Bolte. Lpz. 1884. – Die Volksbücher v. Till Ulenspiegel, Hans Clawert u. den Schildbürgern. Nach den Erstdr.en hg. u. eingel. v. Helmut Wiemken. Bremen 1962. – Hans Clawerts werckl. Historien. Bln. 1587. Nachdr. hg. u. mit krit. Anmerkungen vers. v. Uwe Otto. Bln. 1992. – Tyl Ulenspiegel. Hans Clauerts werkl. Historien. Das Lalebuch. Eingel. v. Peter Suchsland. Augsb. 2003. – Von dem Anfang u. Ende der Welt. In: Dt. Lit. v. Luther bis Tucholsky. Bln. 2005 (CDROM). Literatur: Bibliografie: Bodo Gotzkowsky: ›Volksbücher‹ [...]. Bibliogr. der dt. Drucke. Tl. I: Drucke des 15. u. 16. Jh. Baden-Baden 1991, S. 517–520; Tl. II: Drucke des 17. Jh. Baden-Baden 1994, S. 161 f. – VD 16. – Weitere Titel: Jörg-Ulrich Fechner: B. K. In: NDB. – Barbara Könneker: Luthers Bedeutung für das protestant. Drama des 16.

65 Jh. Gesch. u. Heilsgesch. in B. K.s ›Newer Action [...]‹. In: Daphnis 12 (1983), S. 545–573. – Werner Hoffmann: Hans Clawert, kein ›märkischer Eulenspiegel‹. In: Granatapfel. FS Gerhard Bauer. Hg. Bernhard Dietrich Haage. Göpp. 1994, S. 253–275. – Bärbel Schwitzgebel: Noch nicht genug der Vorrede. Zur Vorrede volkssprachiger Slg.en v. Exempeln, Fabeln, Sprichwörtern u. Schwänken des 16. Jh. Tüb. 1996. – Sabine Heimann-Seelbach: B. K.s ›Hans Clauert‹. Zur moraldidakt. Stillegung der Eulenspiegelfigur im 16. Jh. In: Krit. Fragen an die Tradition. FS Claus Träger. Hg. Marion Marquardt u. a. Stgt. 1997, S. 536–550. Barbara Könneker / Red.

Krüger, Ferdinand, * 27.10.1843 Beckum, † 8.2.1915 Bredeney. – Plattdeutscher Erzähler. K. war Sohn eines Kreissekretärs; nach dessen Tod 1849 wuchs er in Ahlen auf. Sein Medizinstudium beendete K. 1867 in Berlin mit der Promotion, 1869 ließ er sich als Knappschaftsarzt in Linden bei Bochum nieder. Von seinen drei plattdt. Romanen behandelt Rugge Wiäge (Münster 1882), in der Castroper Gegend angesiedelt u. um volkskundlich getreues Kolorit bemüht, soziale Folgeprobleme des in eine agrarisch strukturierte Lebenswelt vordringenden Kohlebergbaus. Hempelmann’s Smiede (3 Bde., Lpz. 1893/94), basierend auf einer von K. entdeckten Ahlener Chronik u. westfäl. Sagenmotive integrierend, bietet ein breites Geschichtsfresko der frz. Besatzungszeit. Fragment blieb Iärwschaden (Dortm. 1925), der das im Naturalismus kurrente Motiv der Erblast aufgriff. K.s Werk machte in der Verabschiedung der Dönkes den westfäl. Dialekt literaturfähig. Er war ein Vorläufer Wibbelts u. Wagenfelds. Literatur: Lotte Foerste: Plattdt. Erzähler des 19. Jh. Neumünster 1977, S. 107–114. – Reinhard Pilkmann: Die literar. Verarbeitung westfäl. Sagenlit. u. kodifizierter Brauchtumsüberlieferung in den Romanen F. K.s. In: Niederdt. Wort 20 (1980), S. 178–201. – Ders.: F. K. Ein fast vergessener westfäl. Schriftsteller. In: Jb. Wibbelt-Gesellsch. 3–5 (1987–89). – Ulrich Straeter: Von der Katzenmusik zur Dichtkunst. F. K. u. die ersten Beckumer Anschläge. In: Westfäl. Dichterstraßen. Bd. 3, hg. v. Walter Gödden. Münster 2003, S. 33–45. Arno Matschiner / Red.

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Krüger, Hermann Anders, auch: Caligula Quitte, * 11.8.1871 Dorpat, † 10.12.1945 Neudietendorf/Thüringen. – Romancier, Dramatiker, Lyriker u. Literaturwissenschaftler. K. studierte Theologie, anschließend Geschichte, Geografie, Nationalökonomie u. Germanistik in Leipzig. Zunächst im Lehramt, erhielt K., der sich 1905 habilitiert hatte, 1909 eine Professur für dt. Sprache u. Literatur in Hannover, die er 1913 aufgab, um sich auf die Politik (1920 wurde er thüring. Staatsrat) u. die Schriftstellerei zu konzentrieren. 1921–1928 war K. Bibliotheksdirektor in Gotha u. Weimar, danach bis 1934 in Altenburg. Von K.s literar. Werk kommt bes. der Erzählprosa Bedeutung zu. Der »Riviera-Roman« Sirenenliebe (Hbg. 1897), eine atmosphärisch dichte Liebesgeschichte, überzeugt durch psychologisch getreue Charakterisierung. Der erfolgreiche Schülerroman Gottfried Kämpfer (Hbg. 1908) behandelt einfühlsam den Reifungsprozess des Helden, der die Härten einer Zinzendorf-Schule durchlebt u. ein erstes Liebesabenteuer besteht. Beachtung fanden auch K.s dramat. Fridericus-Trilogie (Neudietendorf 1936) u. die Komödie Die Pelzmütze (Stgt./Bln. 1914), die Anklänge an Kleists Zerbrochenen Krug enthält: Der borniert auf Standesvorrechte beharrende Stadtrichter wird von der kurfürstl. Regierung seines Amtes enthoben. – Dem Literarhistoriker gelang mit Pseudoromantik: Friedrich Kind und der Dresdner Liederkreis (Lpz. 1904) ein Referenzwerk über diese Gruppe; außer zwei Raabe-Darstellungen ist bes. noch K.s Deutsches Literaturlexikon (Mchn. 1914) als eines der ersten seiner Art bemerkenswert. Weitere Werke: Simple Lieder. Lpz. 1898. Oppeln 21900. – Kaspar Krumbholtz. 2 Tle., Hbg. 1909 (R.). Literatur: Ludwig Bäte: H. A. K. Bln. 1941. – Harald Mittelsdorf (Hg.): Zur polit. Biografie des Thüringer Landtagsabgeordneten H. A. K. Erfurt 1996. – Willibald Reichertz: Ostdeutsche als Dozenten an der TH Hannover (1831–1956). In: Ostdt. Familienkunde 55 (2007), H. 3, S. 109–120. Helmut Blazek / Red.

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Krüger, Horst, * 17.9.1919 Magdeburg, † 23.10.1999 Frankfurt/Main. – Erzähler, Feuilletonist u. Publizist. Seine Jugend verbrachte K. in Berlin, wo er Kontakt zu Elisabeth Langgässer hatte u. nach dem humanist. Abitur auf dem Grunewald-Gymnasium 1939 das Philosophiestudium aufnahm, u. a. bei Nicolai Hartmann u. Romano Guardini. Im Herbst desselben Jahres geriet er aufgrund seiner Beziehung zu der von Ernst Niekisch gegründeten Widerstandsgruppe der sog. »Nationalbolschewisten« in viermonatige Haft in Berlin-Moabit. Er setzte sein Studium in Freiburg/Br. bei Martin Heidegger fort. 1942 zum Militärdienst eingezogen u. der Fallschirmspringertruppe zugeteilt, wurde er 1944 in der Schlacht bei Monte Cassino verwundet; 1945 desertierte er zur US-Armee. Nach Kriegsende nahm K. 1946 erste Hilfsarbeiten beim Freiburger Herder-Verlag an, im Jahr 1947 schrieb er für das Feuilleton der »Badischen Zeitung« u. für die von Alfred Döblin herausgegebene Monatsschrift »Das goldene Tor«. 1952–1967 leitete er als Redakteur das literar. Nachtprogramm des SWF in BadenBaden, dessen Profil er durch Diskussionen mit Theodor W. Adorno, Ernst Bloch, Arnold Gehlen u. Alexander Mitscherlich wesentlich mitprägte. Seit 1967 lebte K. als freier Schriftsteller u. Mitarbeiter bei Presse, Funk u. Fernsehen in Frankfurt/M. K.s zentrales Thema ist Deutschland. Aus der Position eines »Linksliberalen« versucht er sich der dt. Geschichte sowie der Gegenwart beider dt. Staaten zu nähern. Dabei geht er von der eigenen Person u. Geschichte aus, verharrt jedoch nicht im autobiogr. Schreiben, sondern macht im Individuellen das Allgemeine sichtbar (vgl. Helmut Peitsch: Horst Krügers ›biographische Methode‹. In: Die biographische Illusion im 20. Jahrhundert. Hg. Izabela Sellmer. Ffm. 2003, S. 157–178). Durch den Frankfurter Auschwitz-Prozess angeregt u. mit dem Ziel, »Hitlerdeutschland endlich zu begreifen«, entstand sein »Buch der Erinnerung« Das zerbrochene Haus – Eine Jugend in Deutschland (Mchn. 1966. Erw. Neuausg. Hbg. 1976), in dem K. seine Erfahrungen während der NS-Zeit beschreibt. Diese

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Erinnerung an die eigene Geschichte wird darüber hinaus zur Charakterisierung »jener harmlosen Deutschen, die niemals Nazis waren und ohne die die Nazis doch niemals ihr Werk hätten tun können«. Anhand seiner eigenen Familie exemplifiziert er den Einbruch des Faschismus in das dt. Kleinbürgertum u. legt die Ursachen von dessen Affinität zum Nationalsozialismus frei. Die sechs Episoden fügen sich zu einem authent. Zeitbild des Dritten Reichs zusammen. Mit seinen Kurzprosabänden Deutsche Augenblicke (Mchn. 1969), Zeitgelächter (Hbg. 1973) u. Spötterdämmerung (Hbg. 1981) verfolgt K. die Entwicklung der Bundesrepublik. In Tagebuchaufzeichnungen, Skizzen, Glossen u. Reisebildern gibt er ein krit. Bild des bundesdt. Alltags u. wird mit diesen Momentaufnahmen dt. Kultur- und Mentalitätsgeschichte sowohl zu einem wichtigen Chronisten der Bundesrepublik dieser Zeit als auch zu einem bedeutenden zeitgenöss. Vertreter der »kleinen Form«, des Feuilletons. In einer präzisen, knappen Sprache erfasst er im scheinbar Belanglosen das Typische, im »Augenblick« das Ganze. Mit den Sammlungen Fremde Vaterländer (Mchn. 1971), Poetische Erdkunde (Hbg. 1978) u. Kennst du das Land (Hbg. 1987) wird er zum »reisenden Feuilletonisten«. Diese Erlebnisberichte vom krit. »Unterwegssein eines Intellektuellen« enthalten Porträts von Städten u. Ländern, ihren Bewohnern u. ihrer Geschichte. K. sieht sich dabei jedoch nicht als Reiseschriftsteller, sondern als »Schriftsteller auf Reisen«. Seine Beobachtungen sind stets ichbezogen, denn »jede Reise, das wußte er, war im Grunde eine Reise zu einem selbst«. Fast 70-jährig stellt K. bilanzierend fest, dass nun »das Reisen vernünftigerweise nicht mehr Hauptthema sein« könne, u. erzählt vielmehr aus seiner »Werkstatt« als reisender Schriftsteller (Über Reisen schreiben. Eine Bilanz. In: Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung. Darmst. Jb. 1988, S. 78–89). Dabei betont er den »erste[n] Augenblick in der Fremde« sowie den »Akt des Vergessens« u. konstatiert: »Schreiben heißt immer nur eins: sich erinnern«. In Ludwig lieber Ludwig (Hbg. 1979) u. Tiefer deutscher Traum – Reisen in die Vergangenheit

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(Hbg. 1983) unternimmt K. Reisen in die dt. Krüger, Johann Christian, * 14.11.1723 Geschichte u. wagt in feuilletonistisch-es- Berlin, † 23.8.1750 Hamburg. – Schausayistischer Form eine Annäherung an histor. spieler; Dramatiker, Lyriker. Figuren. Er stellt Ludwig II. u. Bayern vor, reist durch Preußen, um die Stätten Fried- K., Sohn eines Schuhmachers, wurde nach richs des Großen aufzusuchen, Bilder aus abgebrochenem Theologiestudium in Halle Thüringen wollen »Goethe in Weimar« ein- (Immatrikulation am 18.9.1738) u. Frankfangen, u. Luther wird im Zusammenhang furt/O. (31.3.1744) Mitgl. der Schauspielermit seinen Wirkungsstätten Erfurt, Witten- truppe Johann Friedrich Schönemanns, durch die er mit Johann Elias Schlegel, Gelberg u. der Wartburg beschrieben. In seinen Büchern Indien in der Welt von heute lert u. Zachariä bekannt wurde. K.s lyr. Ju(Bln. 1972), Indische Nationalisten und Weltpro- gendwerk ist stark theologisch inspiriert, es letariat (Bln. 1984) u. Anfänge sozialistischen widmet sich u. a. dem Problem der TheodiDenkens in Indien (Bln. 1985) wendet sich K. in zee; Texte wie Die Wissenschaften oder Die histor. Perspektive den polit. Entwicklungen Vernunft tragen lehrhaften Charakter. Neben Übersetzungen frz. Stücke (Mariauf dem ind. Subkontinent zu. 1970 erhielt er den Thomas-Dehler-Preis, 1973 den Berliner vaux, Destouches) u. einer Reihe allegor. Kritikerpreis u. 1983 den Journalistenpreis Vorspiele, die der Huldigung des jeweiligen der Stadt München. Außerdem wurde er 1982 fürstl. Gönners der Truppe dienten, verfasste für sein Drehbuch zum Film Der Kurfürsten- K. Komödien von äußerster satir. Schärfe, in damm, ein melanchol. Abschied von Berlin als denen sich bestimmte Figuren von kirchlieinstiger Weltstadt, mit der Goldenen Ka- cher u. staatl. Bevormundung befreien. Beide mera ausgezeichnet. K. war Mitgl. des PEN, Instanzen werden dabei konsequent dem des Freien Autoren Verbandes sowie der Spott preisgegeben. Angeregt durch Molières Akademie für Sprache und Dichtung in Tartuffe u. Luise Gottscheds Pietisterey zeichnet K.s gleich nach dem Erscheinen konfisDarmstadt. Weitere Werke: Stadtpläne – Erkundungen ziertes erstes Lustspiel Die Geistlichen auf dem eines Einzelgängers. Mchn. 1967. – Ostwest-Pas- Lande (Lpz. 1743) Vertreter des protestant. sagen – Reisebilder aus zwei Welten. Hbg. 1975. – Klerus als derb-lüsterne, habgierige u. das Unterwegs. Ges. Reiseprosa. Hbg. 1980. – Zeit ohne hohe soziale Prestige ihres Standes rückWiederkehr. Hbg. 1985. – Herausgeber: Was ist sichtslos zu Betrügereien nutzende Zeitgeheute links? Thesen u. Theorien zu einer polit. nossen, gegen deren Attacken – Verführung Position. Mchn. 1963. – Das Ende einer Utopie – u. Teufelsaustreibung – sich eine junge Hingabe u. Selbstbefreiung früherer KommunisLandadelige zu wehren hat. Ziel von K.s Kriten. Freib. i. Br. 1963. tik in der Karrieresatire Die Candidaten oder Die Literatur: Marcel Reich-Ranicki: H. K., die beispielhafte Versuchsperson. In: Ders.: Lauter Mittel zu einem Amte zu gelangen (Braunschw./ Lobreden. Stgt. 1985, S. 92–98, S. 194. – Ders. Hbg. 1748) ist der Hof. Bemerkenswert ist die (Hg.): H. K. – ein Schriftsteller auf Reisen. Mate- Darstellung jüngerer weibl. Figuren (so auch rialien u. Selbstzeugnisse. Hbg. 1989. – Albert v. der Laura im rührend-kom. Zauberspiel Der Schirnding: Die zerbrochene Stimme. Zum Tod v. blinde Ehemann. Braunschw./Hbg. 1751), die H. K. In: Dt. Akademie für Sprache u. Dichtung die Werte der empfindsamen Aufklärung Darmst. Jb. (1999), S. 236. – Petra Ernst: H. K. In: verkörpern u. als die eigentl. Hauptpersonen LGL. – Marcel Atze: ›Ich will nur dasitzen und der Stücke gelten können. zuhören, zusehen und beobachten‹: H. K. im Auschwitz-Prozess. In: Rechenschaften (2004), S. 117–130. – Monika Boll: Nachtprogramm. Intellektuelle Gründungsdebatten in der frühen Bundesrepublik. Münster 2004, S. 239–244. Sabina Becker

Weitere Werke: Der Teufel ein Bärenhäuter. Braunschw./Hbg. 1748 (Lustsp.). – Hzg. Michel. Braunschw./Hbg. 1751 (Lustsp.). – Der glückl. Banquerotirer. Lpz. 1763 (Lustsp.). – Übersetzungen: Slg. einiger Lustsp.e aus dem Frz. des Herrn v. Marivaux übers. 2 Tle., Hann. 1747–49. Ausgaben: Werke. Krit. Gesamtausg. Hg. David G. John. Tüb. 1986. – Internet-Ed. diverser Texte

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in: Dt. Lit. des 18. Jh. Online. Hg. Paul Raabe. Mchn. 2007. Literatur: Erich Schmidt: J. C. K. In: ADB. – Johann Heinrich Wittekindt: K.s Leben u. Werke. Bln. 1898. – David G. John: Problems of Form and Content in the Comedies of K. Diss. Toronto 1975. – John W. van Cleve: Social Climbing [...]: Personality Distortion and Career Advancement in K.’s ›Die Candidaten‹. In: Orbis Litterarum 35 (1980), S. 318–326. – William E. Petig: Literary Antipietism during the First Half of the Eighteenth Century. Bern 1984, S. 75–101. – Margaret Jacobs: Enlightenment Comedy? Reason and Unreason in Two Comedies by J. C. K. In: Patterns of Change: German Drama and the European Tradition. FS Ronald Peacock. Hg. Dorothy James u. a. New York u. a. 1990, S. 33–44. – Rainer Sabelleck: J. C. K. In: Bautz. – Katja Schneider: ›Vielleicht, daß wir also die Menschen fühlen lehren.‹ J. C. K.s Dramen u. die Konzeption des Individuums um die Mitte des 18. Jh. Ffm. u. a. 1996. – Schmidt, Quellenlexikon, Bd. 17, S. 500 f. – Georg-Michael Schulz: ›Ihr Herz ist mehr als Adel u. Reichthum‹. J. C. K.s Lustsp. ›Die Candidaten [...]‹. In: La volonté de comprendre [...]. Hommage à Roland Krebs. Hg. Michel Grunewald u. a. Bern u. a. 2005, S. 43–54. – Wolfgang Lukas: Anthropologie u. Theodizee. Studien zum Moraldiskurs im deutschsprachigen Drama der Aufklärung (ca. 1730 bis 1770). Gött. 2005. Ursula von Keitz / Red.

Halle 1740–49) machte ihn weithin bekannt. Neben Lehrbüchern für Kinder schrieb er Physicotheologische Betrachtungen einiger Thiere (Halle 1741) u. den Versuch einer ExperimentalSeelenlehre (Halle/Helmst. 1756), eine auf Erfahrung gegründete Psychologie des Alltags. Als Mediziner stand K. in der Nachfolge der beiden hallens. Ärzte Friedrich Hoffmann u. Georg Ernst Stahl. Ihre Ideen in volksaufklärerischem Sinne fortführend, setzte er bes. Nachdruck auf die Gesundheitsvorsorge, der v. a. sein umfangreiches Werk Diät oder Lebensordnung (Halle 1751. 21763) diente. Mit dieser Diätetik des Körpers u. der Seele schuf er eines der ersten Kompendien einer umfassenden allg. Gesundheitslehre als Teil der prakt. Philosophie. Diätetisch-aufklärerische Absicht verfolgten auch seine Träume (Halle 1754; erw. 1758; durchges. u. erw. 1785. Vorrede v. Johann August Eberhard), eine Sammlung von 157 erfundenen Traumerzählungen. Sie knüpfen an die Tradition der Traumallegorien an. Indem sie zgl. aber den Wirkungen des Unbewussten nachgehen, weisen sie neuerem Traumverständnis den Weg. K. erreichte in der wenig beachteten, aber verbreiteten Gattung der Traumerzählung im 18. Jh. eine bemerkenswerte Vielfalt u. literar. Qualität.

Krüger, Johann Gottlob, * 15.6.1715 Halle, † 6.10.1759 Braunschweig. – Naturwissenschaftler, Arzt, Philosoph.

Weitere Werke: Gesch. der Erde in den allerältesten Zeiten. Halle 1746. – Die Regeln der Sprache des Herzens. Halle 1750. – Gedanken v. dem Helmstädt. Gesundbrunnen. Halle 1755–57.

Der Sohn eines Uhrmachers besuchte ab 1726 die Lateinschule des Waisenhauses der Franckeschen Stiftungen in Halle; dort nahm er 1731 das Studium der Naturwissenschaften, Mathematik u. Medizin auf, nachdem er am 28.3.1726 immatrikuliert worden war. 19-jährig hielt er hier philosoph. Vorlesungen. 1743 wurde er zum Professor der »Weltweisheit und Arzneygelahrtheit« ernannt; 1751 folgte er einem Ruf an die Universität Helmstedt. Von den pietist. Traditionen Halles geprägt, in der philosoph. Schule Christian Wolffs geistig diszipliniert u. erfüllt vom Gedanken der Volksaufklärung, verfasste K. neben Fachschriften zur Medizin u. Naturwissenschaft zahlreiche populärwiss. Werke. Seine mehrfach aufgelegte Naturlehre (3 Bde.,

Ausgaben: Über die Gelehrsamkeit eines Frauenzimmers. Texte v. u. über Frauenzimmer [...]. Textausw. u. bearb. nebst Einl. v. Thurid Langer. Halle/S. 1996. – Entwurf einer Psychophysiologie des Menschen: J. G. K.s ›Grundriß eines neuen Lehrgebäudes der Artzneygelahrtheit‹ (Halle 1745). Hg. Tanja van Hoorn. Hann.-Laatzen 2006. – ›Pietistische Genußkultur‹. Texte v. J. G. K. aus den Jahren 1746 u. 1751. Mit Textkomm., Zeittafel u. Nachw. vers. u. hg. v. Anne Hegemann u. a. Halle/ S. 2008. Literatur: W. Heß: J. G. K. In: ADB. – GonthierLouis Fink: Naissance et apogée du conte merveilleux en Allemagne. Paris 1966. – W. Mauser: J. G. K.s ›Träume‹. In: FS G.-L. Fink. Straßb. 1988. – Gabriele Dürbeck: Einbildungskraft u. Aufklärung. Perspektiven der Philosophie, Anthropologie u. Ästhetik um 1750. Tüb. 1998. – Carsten Zelle: Experimentalseelenlehre u. Erfahrungsseelenkun-

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69 de. Zur Unterscheidung v. Erfahrung, Beobachtung u. Experiment bei J. G. K. u. Karl Philipp Moritz. In: ›Vernünftige Ärzte‹. Hallesche Psychomediziner u. die Anfänge der Anthropologie in der deutschsprachigen Frühaufklärung. Hg. ders. Tüb. 2001, S. 173–185. – Ders.: Erfahrung, Ästhetik u. mittleres Maß. Die Stellung v. Unzer, K. u. E. A. Nicolai in der anthropolog. Wende um 1750 [...]. In: Reiz, Imagination, Aufmerksamkeit. Erregung u. Steuerung v. Einbildungskraft im klass. Zeitalter (1680–1830). Hg. Jörn Steigerwald u. a. Würzb. 2003, S. 203–224. – G. Dürbeck: ›Reizende‹ u. reizbare Einbildungskraft. Anthropolog. Ansätze bei J. G. K. u. Albrecht v. Haller. Ebd., S. 225–245. – Hans-Peter Nowitzki: Der wohltemperierte Mensch. Aufklärungsanthropologien im Widerstreit. Bln./New York 2003. – Jutta Müller-Tamm: ›Wahrheiten in ihren schönsten Schlaf-Röcken‹. J. G. K.s ›Träume‹ (1754). In: JbDSG 48 (2004), S. 19–35. – Gesch. Piet., Bd. 4, Register. – Martin Schneider: J. G. K. In: Bautz. Wolfram Mauser / Red.

Krüger, Michael, * 9.12.1943 Wittgendorf/Sachsen. – Lyriker, Erzähler u. Kritiker. Nach dem Abitur absolvierte K. in Berlin eine Verlagsbuchhändler- u. Druckerlehre u. arbeitete 1963–1965 als Buchhändler in London. Seit 1966 ist er im Literaturbetrieb als Zeitschriftenherausgeber, Lektor u. Kritiker präsent, seit 1974 auch als Autor. 1987 übernahm K., der in München u. in Ambach/ Starnberger See lebt, die Leitung des Hanser Verlags. K. erhielt verschiedene Auszeichnungen, u. a. 1986 den Peter-Huchel-Preis (Selbstauskunft – Autobiographische Notiz. In: Peter-Huchel-Preis 1986. Moos bei Baden-Baden 1987, S. 48–61) u. 2010 den Joseph-Breitbach-Preis. In seinen Gedichten u. Erzählungen unternimmt K. Streifzüge durch das Universum der Literatur u. der Kunst: Ausgehend von dem »unendlichen Buchstabenstrom« der Sprache oder einer Bild-Meditation entfalten sich ausgedehnte Reflexionen über die Hybris der instrumentellen Vernunft u. über die Widerstandspotentiale von Kunst u. Fantasie. Bevorzugter Schauplatz der Erzählgedichte des Bandes Reginapoly (Mchn. 1976) ist das Museum, wo das lyr. Ich die utop. Kraft der Kunstwerke beschwört. Die Gedichte sind

nach einem dialogischen Prinzip strukturiert: Eine Vielzahl sich widersprechender Stimmen u. Reflexionen überlagert sich im einzelnen Text. Die z.T. mit Leseerfahrungen u. kunstimmanenten Reflexionen überfrachteten Gedichte gewinnen erst in den Bänden Aus der Ebene (Mchn. 1982) u. Die Dronte (Mchn. 1985) an visueller Imaginationskraft u. poet. Dichte. Die Figuren in K.s satirisch angelegter Prosa sind meist intellektuelle Sonderlinge, die sich mit rührendem Ungeschick durch den Alltag bewegen. Der Glaube an die Erlösungspotenzen der Poesie ist diesen »Ideenmenschen« abhanden gekommen, u. auch zur Organisation ihres Alltagslebens fehlt ihnen jedes Talent. Ihre Lieblingsdisziplin ist das Scheitern, das sie in eine eigene Kunstform umwandeln möchten. Als merkwürdige Heilige, die auf tragikom. Weise den Anschluss an die moderne Welt verpasst haben, durchqueren sie auf ihren irrlichternden Forschungsreisen Archive, Ateliers, Museen u. Bibliotheken, ohne der Erfüllung ihrer Träume je näher zu kommen. Ihre Existenzphilosophie ist ein grüblerischer Skeptizismus, der alle sinnstiftenden Weltdeutungen fortwährend aufzehrt. Als ambivalente Figuren der Rettung fungieren dabei problemat. »Musen», die den alternden Protagonisten zu erot. Erweckungserlebnissen verhelfen. Von der Erzählung Wieso ich? (Bln. 1987), in der sich ein Insektenforscher an einer Mammutstudie über die »Theorie der Moderne« versucht u. dabei auf eine attraktive Doktorandin trifft, bis hin zum Roman Die Cellospielerin (Ffm. 2000), widerfährt den Protagonisten K.s eine erot. Katharsis, die über den Verlust der ästhet. Einbildungskraft hinweghilft. Weitere Werke: Diderots Katze. Mchn. 1978 (L.). – Nekrologe. Pforzheim 1979 (L.). – Lidas Taschenmuseum. Pfaffenweiler 1981 (L.). – Stimmen. Pfaffenweiler 1983 (L.). – Wiederholungen. Bln. 1983 (L.). – Was tun? Eine altmod. Gesch. Bln. 1984. – Warum Peking? Eine chines. Gesch. Bln. 1986. – Welt unter Glas. Stgt. 1986 (L.). – Zoo. Pfaffenweiler 1986 (L.). – Idyllen u. Illusionen. Tagebuchgedichte. Bln. 1989. – Das Ende des Romans. Salzb. 1990 (N.). – Der Mann im Turm. Salzb. 1993 (R.). – Himmelfarb. Salzb. 1993 (R.). – Brief nach Hause. Salzb. 1993 (L.). – Nachts, unter

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Bäumen. Salzb. 1996 (L.). – Aus dem Leben eines Erfolgsschriftstellers. Gesch.n. Zürich 1998. – Das Schaf im Schafspelz u. andere Satiren aus der Bücherwelt. Zürich 2000. – Keiner weiß es besser als der Mond. Gedichte zu Bildern v. Quint Buchholz. Mchn. 2001. – Wer das Mondlicht fängt. Bilder u. Gedichte. Zürich 2001. – Das falsche Haus. Ffm. 2002 (N.). – Kurz vor dem Gewitter. Ffm. 2002 (L.). – Die Turiner Kom. Ffm. 2005 (R.). – Unter freiem Himmel. Ffm. 2007 (L.). – Die Tiere kommen zurück. Fabel. Mchn. 2008. – Schritte, Tage, Grenzen. Ffm. 2008 (L.). Literatur: Auswahlbibliografie in: Peter-HuchelPreis 1986 (s. o.), S. 63–67. – Weitere Titel: Adolf Muschg: Der Weg in die Bilder. Laudatio auf M. K. Ebd., S. 30–39. – Kurt Drawert: Gegen die Zeit. In: M. K.: Archive des Zweifels. Hg. K. Drawert. Ffm. 2001, S. 151–158. – Marcel Beyer u. Karl Riha: M. K. In: KLG. – Harald Hartung: M. K. In: LGL. Michael Braun

Krüsike, Johann Christoph, * 11.3.1682 Hamburg, † 26.11.1745 Hamburg. – Pfarrer u. Lyriker.

ten, auch mit Abhandlungen – zumal dem Sendschreiben an Karl Johann Fogel (Hbg. 1738) – zur hamburgischen Gelehrtengeschichte hervor; die Zeitgenossen schätzten ihn v. a. als Dichter. Seine lat. Elegien u. Epigramme gab Johann Georg Hamann d.Ä. (Hbg. 1730) heraus. Ihre Öffentlichkeitswirkung bezeugen unter vielen anderen die Urteile Johann Fabricius’ u. Christian Friedrich Weichmanns. Wegen seiner dt. Gedichte (in: C. F. Weichmann: Poesie der Nieder-Sachsen. Hbg. 1721–38. Neudr. hg. v. Jürgen Stenzel. Mchn. 1980) wurde K. von Brockes unter die besten Poeten seiner Zeit gerechnet. Literatur: Gabriel Wilhelm Götten: Das jetztlebende gelehrte Europa. Bd. 1, Braunschw. 1735, S. 67–73. – Johann Moller: Cimbria literata. Bd. 1, Kopenhagen 1744, S. 318 f. – Hans Schröder: Lexikon der hamburg. Schriftsteller bis zur Gegenwart. Bd. 4, Hbg. 1866, S. 224–227 (mit vollst. Werkverz.). – C. F. Weichmanns Poesie der NiederSachsen (1721–38). Nachweise u. Register. Hg. Christoph Perels, J. Rathje u. J. Stenzel. Wolfenb. 1983, S. 111 f. Jürgen Rathje / Red.

K. trat in Hamburg 1696 in die oberste Klasse des Johanneums ein u. begann sein Studium Krüss, James, auch: Markus Polder, Felix 1697 am Akademischen Gymnasium, wo er Ritter, Bogumil Schmid (gemeinsam mit bei Gerhard Meier, Vincent Placcius u. Johann Peter Hacks), * 31.5.1926 Helgoland, Albert Fabricius hörte. 1702/03 studierte er in † 2.8.1997 La Calzada (Gran Canaria). – Kiel Theologie, Beredsamkeit u. Geschichte, Kinderbuchautor. Poesie sowie Mathematik. 1704 wurde K. in Hamburg Kandidat des geistl. Ministeriums. Seine Kindheit u. Jugend verbrachte K. auf Er setzte sein Studium in Wittenberg fort u. Helgoland. Er absolvierte eine Ausbildung in wurde dort am 29. April 1704 zum Magister nationalsozialist. Lehrerbildungsanstalten u. promoviert. Er strebte ein akadem. Lehramt wurde am Ende des Krieges als Soldat eingean, aber Kränklichkeit u. der Schwedeneinfall zogen. Seine Erfahrungen als Jugendlicher im in Sachsen zwangen ihn, im Herbst 1706 nach Nationalsozialismus reflektiert er in dem Hamburg zurückzukehren, wo er an St. Petri Roman Heimkehr aus dem Kriege. Eine Idylle 1715 Diakon u. 1741 Archidiakon wurde. K. (Mchn. 1965) u. in dem autobiogr. Entwickwar seit 1715 verheiratet (eine Tochter). lungsroman Der Harmlos. Die frühen Jahre Mit seinem Kieler Lehrer Heinrich Muhlius (Hbg. 1988). Nach 1945 nahm K. das Lehrsowie mit Karl Johann Fogel u. Nicolaus amtsstudium wieder auf (Examen 1948), arWilckens, zwei um die hamburgische Ge- beitete aber wie Erich Kästner nie in diesem schichte verdienten Gelehrten, war K. Beruf. Es folgten erste literar. Arbeiten u. freundschaftlich verbunden. Mit den Wit- journalist. Tätigkeit. Ab 1956 arbeitete K. als tenberger Professoren Johann Georg Neu- Rundfunk- u. Kinderbuchautor in München. mann, Konrad Samuel Schurtzfleisch u. Jo- Er wurde nicht allein durch sein erfolgreiches hann Wilhelm Berger stand er noch lange kinderliterar. Werk, sondern auch durch seinach seinem Studium im Briefwechsel. 1710 ne medialen Auftritte in Rundfunk u. Fernerwarb er sich in Hannover die Sympathie sehen bekannt (Sängerkrieg der Heidehasen, Leibnizens. Als Verfasser trat K. mit Predig- 1954; ABC und Phantasie. Regie: Klaus Steller,

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1963; James’ Tierleben. HR 1965; Alle Kinder dieser Welt mit James Krüss und Udo Jürgens, ZDF 1971–73; Timm Thaler oder Das verkaufte Lachen, ZDF-Serie 1979). 1966 zog K. nach Gran Canaria, wo er bis zu seinem Tod 1997 lebte. K. gehört wie Ende u. Preußler zu den großen Dreien (Steinlein), die ab Mitte der 1950er Jahre die bundesrepublikan. Kinderu. Jugendliteratur repräsentierten u. ihr internat. Ansehen verschafften. Bekannt wurde K. mit seinen Bilderbüchern u. fantastischsprachspielerischen Romanen, die in dem Zyklus Die Geschichten der 101 Tage mit dem Erzähler Boy versammelt sind (der Gesamtzyklus erschien in 17 Bdn., Ravensburg 1986/ 87), seinem lyr. Werk bzw. den Lyrikanthologien u. seinen Fabeln (Adler und Taube. Illustriert v. Marie Luise Pricken. Hbg. 1963). Sein Œuvre umfasst neben dem umfänglichen kinderliterar. Werk auch die Reflexion dieser Arbeit (z.B. in Naivität und Kunstverstand. Gedanken zur Kinderliteratur. Weinheim 1969) u. die wiss. Auseinandersetzung mit der fries. Literatur u. Sprache sowie mit dezidiert linguist. Themen wie Mehrsprachigkeit oder trivialen Sprachformen. Nicht nur mit seinen autobiografisch gefärbten Werken wendet er sich an eine erwachsene Leserschaft. Zur Programmatik des Autors zählt sein Bekenntnis zur Fantasie (»ein Recht auf Phantasie«). Unabhängig von einer realistischen oder einer fantast. Gestaltungsweise sah K. Fantasie als unabdingbares Medium an, um Kindern einen adäquaten Zugang zur Welt zu verschaffen. Sein lyrisches u. erzählerisches Werk ist von diesem Programm bereits in den 1950er Jahren bestimmt, d.h. lange vor dem Paradigmenwechsel in der Kinder- u. Jugendliteratur, der nach 1968 zu einer Hinwendung zu Fantasie u. Kreativität führte. K. begann mit Funkbearbeitungen von Kinderbüchern u. mit Bilderbuchtexten, wie Hanselmann hat große Pläne (Illustriert v. Katharina Maillard. Oldenb. 1953), die er in humorvoll-didakt. Verse fasste. Sein lyrisches Werk entwickelte sich schnell zur fantasiereichen u. nonsenshaft-ausgefeilten Sprachspielerei, die illustriert in Bilderbuchform (3 x 3 an einem Tag. Illustriert v. Johanna Rubin.

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Mchn. 1963; illustriert v. Anke Kuhl. Ffm. 2004) oder in Sammlungen u. Anthologien herausgegeben wurden (James’ Tierleben. Illustriert v. Erika Meier-Albert Mchn. 1965. Seifenblasen zu verkaufen. Das große Nonsens-Buch mit Versen aus aller Welt. Für jung und alt gesammelt und gebündelt von James Krüss. Illustriert v. Eberhard u. Elfriede Binder-Staßfurt. Gütersloh 1972.). K.’ Kinderlyrik weist ein großes Innovationspotential auf u. gab dem vernachlässigten Genre neue Impulse. Die erste Sammlung Der wohltemperierte Leierkasten fand im Nachwort das Lob seines Förderers Erich Kästner (Illustriert v. Eberhard BinderStaßfurt. Gütersloh 1961. Überarb. Mchn. 1989). K.’ heitere u. sprachspielerisch angelegte Romane versammeln variationsreich ausgesponnene Geschichten, Wort-Rätsel, Fabeln u. Nonsens-Verse u. binden diese in eine Rahmenhandlung, die das Dichten, Fabulieren u. Erfinden fantastisch-skurriler Situationen selbst zum Thema macht. Gleichzeitig weist das heitere u. poet. Werk konkrete zeitgeschichtl. Bezüge auf (Der Hummerklippen-Erzählzyklus, 1956–1985). Der Roman Der Leuchtturm auf den Hummerklippen (illustriert v. Jutta Benecke-Eberle. Hbg. 1956) ist auf den 19.4.1945 datiert, den Tag, an dem die Insel Helgoland am Ende des Zweiten Weltkriegs bombardiert wurde. Mit einer solchen histor. Verzahnung fällt K. aus dem Rahmen der damaligen Kinder- u. Jugendliteratur. Allerdings dient ihm sein Erzählort als utopischer Schauplatz, der fern der kriegerischen u. zerstörerischen Welt angesiedelt ist. Auch in der Figurenkonstellation Urgroßvater – Enkel (in Mein Urgroßvater und ich. Hbg. 1959, DJLP 1960) wird die Ausklammerung der belasteten Väter-Generation deutlich (Steinlein). Der bekannte Kinderroman Timm Thaler (Hbg. 1962) u. seine Fortsetzung Timm Thalers Puppen oder die verkaufte Menschenliebe (Hbg. 1979) bewegen sich im histor. Rahmen des Nachkriegsdeutschlands, in dem Armut u. Hunger herrschen. Angelehnt an Adelbert von Chamissos Kunstmärchen Peter Schlemihls wundersame Geschichte (1813/14) wie an den Faust-Stoff (der Name Lefuets ist ein Anagramm für den Teufel) dreht sich die märchenhaft-spannende Geschichte um den jun-

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gen kindl. Protagonisten Timm, der dem Werk v. J. K. Ffm., Univ. Diss. 1991. – Andrea Baron sein heiteres u. befreiendes Lachen Naica-Loebell: J. K. In: LGL. – Jörg Steinz u. Andres verkauft u. damit nicht nur sein Glück, son- Weinmann: Kinder- u. Jugendlit. der Bundesrepudern auch den Status des Kindseins verliert. blik nach 1945. In: Tb. der Kinder- u. Jugendlit. Hg. Günter Lange. Bd. 1, Baltmannsweiler 42005, K. entwirft hier eine politische u. moral. GeS. 97–136. – Ada Bieber: J. K. In: KJL, 32. Erg.-Lfg. schichte, die (wie einige andere seiner Werke) Febr. 2008, S. 1–40. – Gudrun Schulz: J. K.’ Erauch in der DDR veröffentlicht wurde (illus- zählungen, Bilderbücher, G.e in Grundschule, Setriert v. Werner Klemke. Bln./DDR 1965). Der kundarstufe I u. Vorschule. Hohengehren 2008. – große Reise-Roman Die glücklichen Inseln hinter Rüdiger Steinlein: Neubeginn, Restauration, antidem Winde. Erzählt von Kapitän zur See Daworin autoritäre Wende. In: Gesch. der dt. Kinder- u. JuMadirankowitsch erschien in der Erstausgabe gendlit. Hg. Reiner Wild. 3., vollst. überarb. u. erw. im Verlag Neues Leben in der DDR (Bln./DDR Aufl. Stgt. 2008, S. 312–342. – Klaus Doderer: J. K. 1958), bevor er beim Oetinger Verlag her- Insulaner u. Weltbürger. Hbg. 2009. Caroline Roeder auskam (Hbg. 1959). In den 1980er Jahren arbeitete K. an dem Zyklus Die Geschichten der 101 Tage; hierin sollte ein Großteil seines er- Krug von Nidda, Friedrich (Albert Franz), zählerischen Werkes neu geordnet u. ver- * 1.5.1776 Gut Gatterstädt bei Querfurt, knüpft werden (Bieber). † 29.3.1843 Gut Gatterstädt. – Lyriker, K.’ Texte sind international bekannt Erzähler, Dramatiker, Übersetzer. (fünfbändige Werkausgabe in Japan) u. wurden auf Schallplatten (Die Konferenz der Tiere. Mit 15 Jahren trat der Sohn eines RittergutsSchallplattenfassung nach Erich Kästner von James besitzers u. ehemaligen Hauptmanns in Krüss. Hbg. 1961), in Hörspielen u. Hörbü- preuß. Diensten als Standartenjunker einem chern, in Fernsehsendungen u. Verfilmungen sächs. Chevauxleger-Regiment bei. Am naadaptiert. K. erhielt zahlreiche Preise u. Aus- poleon. Feldzug gegen Russland musste sich zeichnungen: 1968 die Hans-Christian-An- der patriot. Offizier aus »Bundespflicht« bedersen-Medaille sowie mehrfach den Deut- teiligen. Schwer verwundet wurde er als schen Jugendliteraturpreis. In der Interna- Kriegsgefangener in Kiew, später in Bialystok tionalen Jugendbibliothek im Schloss Blu- festgehalten. 1814 in seine Heimat entlassen, tenburg München ist der schriftstellerische nahm er, im Rang eines Hauptmanns, aus gesundheitl. Gründen noch im gleichen Jahr Nachlass im James Krüss-Turm gesammelt. seinen Abschied. Er kehrte auf das väterl. Weitere Werke: Henriette Bimmelbahn. Illustriert v. Lisl Stich. Bln./DDR 1957 (Bilderbuch). – Erbe zurück u. widmete sich fortan literar. Der Sängerkrieg der Heidehasen. Illustriert v. Interessen. In den lockeren Skizzen seines GedenkHerbert Lentz. Hbg. 1972 (Bilderbuch). – Der fliegende Teppich. Gesch.n u. G.e für 101 Tage. Illus- Büchleins oder Blicke durchs Leben (Lpz. 1829) triert v. Rolf Rettich. Hbg. 1976. – Sommer auf den bezeichnet K. den Zuspruch Goethes, von Hummerklippen. Hbg. 1977. – Meyers Buch v. dem er während einer Badekur in Tennstädt Menschen u. v. seiner Erde. Mannh. 1983 (Enzy- 13 Jahre zuvor »die Prüfung meiner Fähigklopädie). – Nele oder Das Wunderkind. Hbg. keiten« erbeten hatte, als den »Wendepunkt« 1986. seines Lebens. Gonsalvo von Cordova (Lpz. Literatur: Fred Rodrian: Timm Thaler u. 1817), der freien Übersetzung eines frz. Schwierigkeiten. In: Beiträge zur Kinder- u. Ju- »Rittergedichts von Florian« in Oktavengendlit. Bln./DDR 1965, S. 71–83. – Anneliese Bo- form, folgten daher rasch weitere Veröffentdensohn: Im Spielraum der Lyrik. Ffm. 1965, lichungen. S. 89–98. – Gertraud Brix: J. K. als ästhet. Erzieher. Das Werk des Mitarbeiters zahlreicher AlIn: Das gute Jugendbuch. Heiligenhaus 1970, manache besteht vornehmlich aus Romanzen S. 1–35. – Gebt uns Bücher, gebt uns Flügel. Hbg. 1976, S. 8–164. – Sechs Jahrzehnte oder Vom klei- und Erzählungen (2 Bde., Lpz. 1821/22) meist nen Boy zum großen Boy. J. K. zum 60. Geburtstag. historischen oder sagenhaften Inhalts, die Hbg. 1986 (mit Bibliogr.). – Kerstin Ott: Die Utopie eine Vorliebe für »Schicksals«-Themen der glückl. Inseln. Wandlungen u. Konstanten im kennzeichnet (Schwert-Lilien. 2 Bde., Halle /

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1827–29). Mit Recht ordnete er es selbst der späten »Aegide der sogenannten romantischen Schule« zu. Friedrich de la Motte Fouqué, dessen Freundeskreis K. angehörte, versah seine elegisch getönten Gedichte (Lpz. 1820) mit einem Vorwort in Briefform. Die zehn Gesänge des »heroischen Gedichts« Skanderbeg (Lpz. 1823/24) sind dem zeitgenöss. Philhellenismus verpflichtet. Von den Reisen K.s, der sich auch am patriot. Geschichtsdrama versuchte (Heinrich der Finkler oder die Ungarn-Schlacht. Lpz. 1820), berichten mehrere Bücher in Vers u. Prosa. Weitere Werke: Local-Umrisse kleiner Reisen. Halle 1825. – Bilder-Skizzen einer Rheinwanderung. Quedlinb. 1833. – Der Schmied v. Jüterbog. Chroniksage in Romanzen. Lpz. 1834. – Ausflug nach Swinemünde u. der Insel Rügen im Sommer 1835. Lpz. 1837. – Erinnerungs-Blätter einer Schweizer-Reise, nebst einem Blick nach Oberitalien. Querfurt 1840. Ausgabe: Nachlaßschr.en. 3 Bde., Querfurt 1855–57. Literatur: Woldemar Frhr. v. Biedermann: Goethe mit F. K. v. N. in Tennstädt. Dresden 1872. – Reinhard Krug v. Nidda: F. K. v. N. Ein Dichter der Goethezeit in der Oberlausitz. In: Neues lausitzisches Magazin 3 (2002), S. 99–108. Hans-Rüdiger Schwab / Red.

Krug, Wilhelm Traugott, * 22.6.1770 Radis/Wittenberg, † 12.1.1842 Leipzig. – Philosoph. Nach dem Studium der Philosophie u. Theologie in Wittenberg, Jena u. Göttingen habilitierte sich K. 1794 in Wittenberg, kam 1801 als a. o. Prof. der Philosophie nach Frankfurt/ O. u. wurde 1805 Nachfolger Kants in Königsberg. 1809 nach Leipzig berufen, lehrte er hier bis 1834. Durch Kant geprägt, stand K. der Weiterentwicklung des Idealismus von Fichte bis Hegel gleichwohl distanziert gegenüber u. bemühte sich zeitlebens um eine Synthese von Kritizismus u. »common sense«, Transzendentalphilosophie u. Lebenspraxis (Über das Verhältniß der kritischen Philosophie zur moralischen, politischen und religiösen Kultur des Menschen. Jena 1798. Neudr. Brüssel 1968. Über das Verhältniß der Philosophie zum gesunden Menschenverstande. Lpz. 1835). Gegen den

»Nihilismus« eines konsequenten Idealismus u. den »blinden Mechanismus« der Materialisten stellt K. im Entwurf eines Neuen Organon’s der Philosophie (Meißen/Lübben 1801. Neudr. Brüssel 1969) u. in seinem Hauptwerk Fundamentalphilosophie (Züllichau/Freistadt 1803. 3 1827. Neudr. Brüssel 1969) die Theorie des »transzendentalen Synthetismus«, derzufolge Bewusstsein durch eine ursprüngliche transzendentale Synthesis von Denken u. Sein konstituiert werde, die weder nach der einen noch nach der anderen Seite aufzulösen sei. K. suchte u. fand die Wirkung auf eine breitere Öffentlichkeit, nicht nur als kantian. Nachfahr der vorkantischen »Popularphilosophie«, sondern auch als polit. Publizist des liberalen Lagers. Von unschätzbarem Quellenwert für den Historiker des dt. Idealismus sind K.s enzyklopäd. Werke, v. a. das Handbuch der Philosophie [...] (2 Bde., Lpz. 1820/21. 21822. Neudr. hg. v. Lutz Geldsetzer. Düsseld. 1969) u. das Allgemeine Handwörterbuch der philosophischen Wissenschaften [...] (4 Bde., Lpz. 1827–29. 2 1832–34. Suppl.-Bd. 1838. Neudr. Stgt.-Bad Cannstatt 1969). Weiteres Werk: K.s Lebensreise in sechs Stazionen v. ihm selbst beschrieben. Lpz. 1826. 21842 (Schr.en-Verz. S. 343–360). Ausgabe: Ges. Schr.en. 12 Bde., Braunschw./ Lpz. 1830–41. Literatur: Alfred D. Fiedler: Die staatswiss. Anschauungen u. die politisch-publizist. Tätigkeit des Nachkantianers W. T. K. Diss. Lpz. 1933. – Ludwig Hasler: Gesunder Menschenverstand u. Philosophie. Vom systemat. Sinn der Auseinandersetzung Hegels mit W. T. K. In: Hegel-Jb. 1977/78, S. 239–248. – Hans-Jürgen Becker: W. T. G. u. Heinrich v. Kleist. In: Kleist-Jb. 1996, S. 35–51. – Christian Ortloff: Das staatskirchenrechtl. System W. T. K.s. Ffm. 1998. – Uwe Backes: Der Philosoph W. T. K.: Seine Stellung im vormärzl. Liberalismus u. sein Wirken für die Judenemanzipation in Sachsen. In: Bausteine einer jüd. Gesch. der Univ. Leipzig. Hg. Stephan Wendehorst. Lpz. 2006, S. 483–504. Wolfgang Riedel / Red.

Krummacher

Krummacher, Friedrich Adolf, * 13. (oder 15.)7.1767 Tecklenburg, † 4.4.1845 Bremen. – Volks- u. Jugendschriftsteller; Theologe.

74 Keimzelle v. Kirche u. Gemeinwesen. F. A. K. als Beispiel. Langenfeld 1998. – Bautz. – Horst F. Rupp: ›Schule als kirchliche Anstalt‹. F. A. K. (1767–1845) u. seine Schrift ›Die christliche Volksschule im Bunde mit der Kirche‹ (1823). In: DenkWürdige Stationen der Religionspädagogik. FS Rainer Lachmann. Jena 2005, S. 163–180.

1784–1788 studierte K. in Lingen u. Halle Theologie u. war Hauslehrer, bevor er 1789 Susanne Barth / Red. Konrektor am Gymnasium in Hamm, 1793 Rektor am Gymnasium in Moers wurde. Ab 1801 lehrte er an der Universität Duisburg Krusche, Dietrich, * 25.1.1935 Rypin (bei / Theologie, später auch Rhetorik u. Ge- Lódz´). – Erzähler, Essayist, Lyriker. schichte. 1807 übernahm er eine Pfarrstelle in Geboren in Westpreußen, wurde K. 1945 mit Kettwig u. – nachdem das 1812 übernom- seiner Familie vertrieben; sein Abitur legte er mene Amt des Generalsuperintendenten von in Nürnberg ab. Nach dem Studium der Anhalt-Bernburg belastet war durch die Ver- Germanistik u. klass. Philologie promovierte schlechterung des Verhältnisses zum Herzog er 1973 in Heidelberg über Kafka und Kafka– 1824 die von St. Ansgar in Bremen (bis Deutung. Die problematisierte Interaktion (Mchn. 1843). 1974). Zuvor hatte er bereits als Lektor an den K.s theolog. Standort war bestimmt durch Universitäten von Ceylon (1961–1963) u. zunehmende Ablehnung des Rationalismus Okayama/Japan (1966–1968) gearbeitet. Nach u. Hinwendung zur Erweckungsbewegung; seiner Habilitation lehrte K. 1981–1997 als bedeutend ist v. a. die von Herder beeinflusste Professor für interkulturelle LiteraturverSchrift Über den Geist und die Form der Evange- mittlung an der Universität München u. lischen Geschichte in historischer und ästhetischer wirkte in dieser Zeit auch als Mitherausgeber Hinsicht (Lpz. 1805). Impulse zur Erneuerung des »Jahrbuchs Deutsch als Fremdsprache«. des Volksschulwesens lieferte die vom preuß. Seither lebt er in Nyons in Südfrankreich. Kultusministerium geförderte ProgrammHauptthema von K.s theoret. Arbeiten u. schrift Die christliche Volksschule im Bunde mit den meisten seiner lyrischen u. erzählerider Kirche (Essen 1823). Viele seiner populär schen Werke ist die Erfahrung u. Vermittlung gehaltenen Schriften sind der Jugend gewid- von Fremde. In seinen zahlreichen Romanen met u. waren als Vorlesebücher für den Fa- prallen verschiedene Denk- u. Erlebniswelten milienkreis gedacht. Hierzu zählen u. a. Die aufeinander. Oft verarbeitet er dabei eigene Kinderwelt. Ein Gedicht in vier Gesängen (Essen/ Erfahrungen, so in den Romanen Das Haus im Duisburg 1806), Der Bibelkatechismus (Duis- Haus (Mchn. 2001), über Begegnung u. Zuburg 1810. 131854) u. das dreibändige Fest- sammenleben des Ich-Erzählers mit seinem büchlein (Essen/Duisburg 1810–19). Mit den japanischen Nachbarn in einem provenzal. Parabeln (3 Bde., Essen/Duisburg 1805–17. Dorf, u. Englisch für Tiger (Mchn. 2005), in dem 9 1876), die antike u. bibl. Traditionen auf- ein dt. Tourist von Rebellen in Sri Lanka genehmen u. anschaulich-symbolisch den Weg fangen gehalten wird u. sich mit deren Lezum offenbarten Glauben weisen sollen, hat benssituation u. polit. Absichten auseinanK. ein für die Gattung lange vorbildl. Werk derzusetzen beginnt. Um die Interaktion von geschaffen. Versfabeln sind seine Apologen und Ich u. fremder Umgebung kreisen die Erzählungen des Bandes Der Fisch im Sand Paramythien (Essen/Duisburg 1810). Weitere Werke: Die Liebe. Duisburg/Essen (Mchn. 1980). In Literatur und Fremde (Mchn. 1808 (Hymnus). – Der Hauptmann Cornelius. Be- 1985) u. Japan – Konkrete Fremde (Mchn. 1973) trachtungen über das 10. Kap. der Apostelgesch. untersuchte K. die Bedingungen, unter denen eine Begegnung mit dem Fremden konkret u. Bremen 1829. – Eine Selbstbiogr. Bln. 1869. Literatur: Sengle 2, S. 125–131. – Hans-Henrik in der Literatur möglich sein kann. In zahlKrummacher: K. In: NDB. – Hans Eich: K. In: reichen Aufsätzen setzt er sich mit der VerLKJL. – Georg Rosenthal (Hg.): F. A. K. u. seine Zeit. mittlung von dt. u. fremder Kultur u. a. in der Bernburg 1996. – Werner Dietrich: Die Familie als Literaturdidaktik auseinander; einige frühe

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Beiträge sind wieder abgedruckt in dem Band Hermeneutik der Fremde (Mchn. 1990). K. hat sich daneben um die japanische Gedichtform des Haiku verdient gemacht, die er durch erfolgreiche Auswahlübersetzungen u. Besprechungen dem dt. Lesepublikum vorstellte (Haiku. Japanische Gedichte. Ausgew., übers. u. mit einem Essay hg. v. D. K. Neuausg. Mchn. 1994. 82002. Zuerst u. d. T. Haiku. Bedingungen einer lyrischen Gattung. Tüb./Basel 1970). Weitere Werke: Das Experiment oder Die Fahrt nach Hammerfest. Mchn. 1961 (R.). – Obenauf. Mchn. 1973 (E.en). – Kommunikation im Erzähltext. 2 Bde., Mchn. 1978. – Das Ruder auf dem Dach. Stgt. 1979 (L.). – Kienspan steht auf. Stgt. 1980 (R.). – Verzögerte Geburt. Stgt. 1982 (L.). – Reisen. Verabredung mit der Fremde. Weinheim 1989. – Stimmen im Rücken. Mchn. 1994 (R.). – Leseerfahrung u. Lesergespräch. Mchn. 1995. – Himalaya. Mchn. 1998 (R.). – Besuch bei Galilei u. Die Eroberung Japans v. den Bergen aus. 1999 (2 Stücke). – Zeigen im Text. Würzb. 2001. – Klatschen mit einer Hand. Mchn. 2001 (L). Literatur: Alois Wierlacher: D. K.s ›Stimmen im Rücken‹ oder der Streuselkuchen. Hommage für einen Schriftsteller u. langjährigen Mitherausgeber des ›Jahrbuchs Deutsch als Fremdsprache‹. In: Jb. Deutsch als Fremdsprache 23 (1997), S. 13–24. – Gerd Holzheimer: K. In: LGL. Georg Patzer / Red.

Kruse, Heinrich, * 15.12.1815 Stralsund, † 12.1.1902 Bückeburg. – Journalist u. Schriftsteller. K., Sohn eines Abgeordneten des preuß. Landtags, studierte in Bonn u. Berlin Archäologie, Geschichte u. Philologie. Es folgte eine Reise durch das Baltikum, Russland u. Skandinavien. 1839 promovierte K. über Vita Arati Sicyonii, begann als Probelehrer in Stralsund, wurde von 1841–1843 Erzieher beim Earl of Shaftesbury. Der Aufenthalt in England prägte sein polit. Weltbild. Zeitlebens blieb K. Anhänger des engl. Liberalismus. 1844–1847 arbeitete er als Gymnasiallehrer in Minden. Schließlich vollzog er den Wechsel vom verbeamteten Lehrer zum freien Journalisten: 1847 begann er bei der »Augsburger Allgemeinen Zeitung«, wurde dann Redakteur der »Kölnischen Zeitung«, 1848 Chefredakteur der »Neuen Berliner Zei-

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tung«, 1848/49 Chefredakteur der »Deutschen Zeitung« in Frankfurt/M., kehrte schließlich endgültig zurück zur »Kölnischen Zeitung« u. wurde 1855 dort Chefredakteur. Seine Artikel zur Außenpolitik erregten selbst die Aufmerksamkeit Bismarcks. 1872 ging K. als Berichterstatter der »Kölnischen Zeitung« nach Berlin, ließ sich 1884 in den Ruhestand versetzen u. lebte bis zu seinem Tod in Bückeburg. Literarisch trat K. das erste Mal 1847 an die Öffentlichkeit mit dem Fastnachtsschwank Der Teufel zu Lübeck (Bln.), den er in Hans Sachs’scher Manier verfasst hatte. Bekannt machte ihn 1868 seine Tragödie Die Gräfin (Lpz.), für die er von der Schillerpreiskommission mit der Goldenen Medaille für Kunst und Wissenschaft ausgezeichnet wurde. Trotz der Kritik von Theaterfachleuten wie Eduard Devrient, Franz Dingelstedt u. Heinrich Laube, K.s Buchdramen seien zu gelehrt u. episch u. deshalb für Bühnenaufführungen ungeeignet, erschien Jahr um Jahr ein neues Stück des Autors. Meist handelte es sich um histor. Stoffe, die schon von anderen Dichtern wie Byron, Schiller oder Shakespeare bearbeitet worden waren. K.s »Norddeutsche Trilogie« (Wullenwever. Lpz. 1870. Raven Barnekow. Lpz. 1880. Witzlav von Rügen. Lpz. 1881) erlebte mehrere Aufführungen. Auch seine epischen Versdichtungen wie Die kleine Odyssee (Lpz. 1892) u. seine teils autobiogr. Erzählungen Seegeschichten (Stgt. 1880) fanden vielfach Beachtung. Von Gutzkow für seine naturwüchsige Sprache u. die wohlgeformten Verse gelobt, wurde K. von den jüngeren Schriftstellern um die Brüder Hart für seine Werke wegen ihrer »ebenmäßig in breitester Geschwätzigkeit hinfließenden Jambenstränge« getadelt. Weitere Werke: Die Schutzzölle. Bln. 1847 (kleine Dichtungen). – Der Wettlauf. Bln. 1854 (Lustsp.). – König Erich. Lpz. 1871 (Trag.). – Moritz v. Sachsen. Lpz. 1872 (Trag.). – Brutus. Lpz. 1874 (Trag.). – Marino Faliero. Lpz. 1876 (Trag.). – Das Mädchen v. Byzanz. Lpz. 1877 (Trag.). – Rosamunde. Lpz. 1878 (Trag.). – Der Verbannte. Lpz. 1879 (Versdichtung). – Kleine Dichtungen. Bd. 1, Lpz. 1880; Bd. 2, Lpz. 1889. – Alexei. Lpz. 1882 (Trag.). – Fastnachtsspiele. Lpz. 1887. – Arabella Stuart. Lpz. 1888 (Trag.). – Hans Waldmann. Lpz.

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1890 (Trag.). – Sieben kleine Dramen. Lpz. 1893. – Nero. Lpz. 1895 (Trag.). – König Heinrich VII. Lpz. 1898 (Trag.). – Lustspiele. Lpz. 1899. – Stieglitz u. Nachtigall oder die Rostocker Jungen. Lpz. 1899 (Versdichtung). – Herausgeber: Dramat. Werke. 4 Bde., Lpz. 1871 ff. Literatur: Kürschner Nekrolog (1901/35). – Westf. Autorenlex. Bd. 2, S. 243–246. – Weitere Titel: Heinrich Hart u. Julius Hart: Krit. Waffengänge. Der Dramatiker H. K. H. 1, Lpz. 1882, S. 9–58. – Friedrich H. Brandes: H. K. als Dramatiker. Hann. 1898. – Edmund Lange: H. K.s pommersche Dramen. Ein Gedenkblatt. Greifsw. 1902. – Susanne Schwabach-Albrecht: H. K. – ein Journalist u. Schriftsteller im 19. Jh. In: AGB 57 (2003), S. 287–296. – Jürgen D. Kruse-Jarres: H. K. Journalist u. Schriftsteller – Ein Kämpfer für den Liberalismus im 19. Jh. Düsseld. 2008. Susanne Schwabach-Albrecht

Kruse, Hinrich, * 27.12.1916 Toftlund/ Nordschleswig, † 17.7.1994 Braak bei Neumünster. – Niederdeutscher Erzähler, Lyriker u. Hörspielautor. K. wuchs als Sohn des Lehrers u. Volkskundlers Johann Kruse in Dithmarschen u. Altona auf. 1936–1938 besuchte er die Lehrerbildungsanstalt in Kiel. 1939–1945 war er Soldat, eingesetzt u. a. in Russland u. Italien. 1946 kehrte er aus ital. Kriegsgefangenschaft nach Schleswig-Holstein zurück u. arbeitete als Dorfschullehrer. Unter dem Eindruck des Krieges u. seiner Verarbeitung in der hochdt. Literatur begann K. in den 1950er Jahren niederdt. Kurzgeschichten u. Hörspiele über die Jahre vor 1945 zu schreiben, die jedoch fast immer einen Anknüpfungspunkt in der Zeit des Wirtschaftswunders haben. In Hörspielen wie Töven op wat (NDR 1958) oder Dat Andenken (NDR 1962) schildert er die Verdrängungsmechanismen der Nachkriegsgesellschaft in der Bundesrepublik, die z.B. an das Schicksal von KZ-Häftlingen nicht erinnert werden möchte. K.s Kurzgeschichten, die formal deutlich von der amerikan. Short Story der 1930er u. 1940er Jahre geprägt sind, zeigen inhaltl. Parallelen zum frühen Werk Bölls. Die in den Bänden Weg un Ümweg (Hbg. 1958) u. Güstern is noch nich vörbi (Hbg. 1969) zusammengefassten Geschichten berichten

ohne Wertungen eines allwissenden Erzählers u. ohne vordergründige Didaktik über das Schicksal von Kriegsteilnehmern, zumeist einfachen Soldaten, die immer wieder von der eigenen Vergangenheit eingeholt werden. K. gestaltet belanglose Begebenheiten, die oft durch symbolische Anspielungen schonungslose Zeitkritik erkennen lassen. Dabei gewinnt für ihn die häufig bereits im Titel angesprochene Weg-Symbolik im Sinn einer unauflösl. Verbindung von Vergangenheit u. Gegenwart zentrale Bedeutung. Dies gilt auch für seine formal durchaus konventionelle niederdt. Lyrik (Mitlopen. Hbg. 1961. Dat Gleis. Hbg. 1967). K., der der niederdt. Nachkriegsliteratur wichtige neue Themenfelder eröffnet hat, wurde zur Leitfigur jüngerer plattdt. Autoren der 1960er u. 1970er Jahre, die den gerade in Norddeutschland tief verwurzelten Ungeist der NS-Zeit zum Thema ihrer literar. Arbeiten machten. K. erhielt 1965 den Hans-Böttcher-Preis für sein niederdt. Hörspielwerk, 1974 den Quickborn-Preis u. 1979 den FritzReuter-Preis. Weitere Werke: De Bischoff v. Meckelnborg. Radio Bremen 1964 (Hörsp.). – Ümkieken. Leer 1979 (G.e). – Kannst nix bi machen! Kiel 1986 (E.en). – Fraag mi wat anners! Rostock 1991 (E.en u. G.e). – Hörbuch: Nicks för ungot! Gelesen v. Wilhelm Wieben (2001). Literatur: Horst Kruse: ›Weg un Ümweg‹ u. die Tradition der Short Story Ernest Hemingways. In: Plattdt. Erzähler u. plattdt. E.en der Gegenwart. Hg. Johann Dietrich Bellmann u. Wolfgang Lindow. Neumünster 1968, S. 170–188. – Jochen Schütt: Reisen in die Vergangenheit. Bemerkungen zur Lyrik H. K.s. In: Jahresgabe der Klaus-GrothGesellsch. (1973/74), S. 43–62. – Ders.: Zeitkritik in der niederdt. Lit. der Gegenwart. Studien zum Werk H. K.s. Diss. Neumünster 1974. – Ders.: Übergänge. H. K. zum 75. Geburtstag. In: Quickborn 82 (1992), H. 2, S. 96–98. – J. D. Bellmann: H. K. (1916–94). Ebd. 84 (1994), H. 4, S. 3–8. – Martin Schröder: Väter u. Söhne: über eine symbol. Werkschicht in den Erzählungen H. K.s. In: Sprache, Sprechen, Sprichwörter. FS Dieter Stellmacher. Hg. Maik Lehmberg. Stgt. 2004, S. 203–224. Jörg Schilling / Christine Henschel

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Kruse, Laurids, Lauritz, * 6.9.1778 Kopenhagen, † 19.2.1839 Paris. – Theaterschriftsteller, Übersetzer, Erzähler. K. stammte aus einer angesehenen Kopenhagener Familie; der Vater war kommandierender Kapitän der dän. Marine, die Mutter eine Tochter des Generalmajors Laurids de Thurah. 1798 brachte er sein erstes Schauspiel Emigranterne (Kopenhagen 1798) auf die Bühne. 1812 wurde ihm der Professorentitel verliehen, die erstrebte Anstellung am Königlichen Theater zerschlug sich aber, obwohl seine rd. 20 dänisch geschriebenen Komödien, Singspiele u. Tragödien durchaus erfolgreich waren. Nachdem K. schon 1801 u. 1812–1817 v. a. in Deutschland, Frankreich u. Italien gereist u. gelebt hatte, verließ er 1820 Dänemark u. wohnte teils in Hamburg u. Wandsbek, teils in Paris. Für seine fortan überwiegend deutsch geschriebenen Prosa-Erzählungen, die K. häufig in Almanachen, Taschenbüchern u. Unterhaltungszeitschriften unterbrachte, bearbeitete er historische u. v. a. kriminalist. Stoffe, die er in vielen Nuancen teils faktenreich u. mit psycholog. Interesse (Der Mörder bey kaltem Blute und mit Ueberlegung und doch ein Mann, welcher Achtung verdient. Kiel 1808), teils detektivisch u. verdeckt erzählt (Der krystallene Dolch. Hbg. 1823), teils in schauerromant. Manier (Die Rose. Hbg. 1823. Der Solitär. Lpz. 1831) vorzubringen wusste. Als Übersetzer hat er neben eigenen Werken aus dem Französischen (Molière u. viele Unterhaltungsliteraten), aus dem Dänischen (Andersen, Blicher, Rahbek, Oehlenschläger) u. aus dem Deutschen ins Dänische (Houwald, Tieck) übertragen. Weitere Werke: Das Araber-Ross. Hbg. 1826 (R.). – Nord u. Süd, in 2 Novellen. Lpz. 1829. – Das schwarze Herz. Lpz. 1833 (E.). Literatur: Hans-Otto Hügel: Untersuchungsrichter, Diebesfänger, Detektive. Stgt. 1978, S. 103–124. Hans-Otto Hügel / Red.

Kruse, Max, * 19.11.1921 Bad Kösen. – Kinder- u. Jugendbuchautor. K. wurde als Sohn des Bildhauers Carl Max Kruse u. der Fabrikantin Käthe Kruse,

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Schöpferin der berühmten Puppen, geboren. Nach dem Abitur in Weimar begann er in Jena Volkswirtschaft, Politik u. Philosophie zu studieren, musste jedoch abbrechen, als die Universität wegen des Krieges schloss. Soldat wurde er jedoch nie. Als die Fabrik der Mutter 1952 von der DDR enteignet wurde, baute er sie in Bad Pyrmont u. Donauwörth/ Bayern wieder auf. Er übergab sie 1958 seiner Schwester Hanne, arbeitete zunächst noch als Werbetexter, lebte später aber ganz von seiner Arbeit als Autor. K. lebte zunächst in München. Heute ist er in Penzberg/Oberbayern ansässig. Seinem ersten u. bereits sehr erfolgreichen Kinderbuch Der Löwe ist los (Düsseld. 1952. U. d. T. Löwe in der Grube. Ravensburg 1966; Tb.) folgten bis 1970 vier Fortsetzungen. Schon 1975 war eine Gesamtauflage von mehr als einer halben Mio. Exemplaren erreicht. Ebenso füllen die Abenteuer Don Blechs (Don Blech und der goldene Junker. Düsseld. 1971. Forts. 1972, 1973, 2002 u. 2003) u. Urmels (Urmel aus dem Eis. Reutl. 1969. 11 Forts.en bis 1975. Tb. Mchn. 1976. Mchn. 1987 u. ö.) mehrere Bände. Große Verbreitung erfuhren diese drei Buch-Serien durch die liebenswerten Fernsehinszenierungen der »Augsburger Puppenkiste«, die auch die Popularität des Autors beförderten. Der UrmelStoff lieferte zudem die Basis für eine 26-teilige Zeichentrickserie (ARD, 1995–97), eine von RTL ausgestrahlte Theaterinszenierung (2005) mit Dirk Bach in der Titelrolle sowie für zwei abendfüllende Computeranimationsfilme von Reinhard Klooss (2006 u. 2008). Obwohl auch K.s spätere Serienfiguren wie Kasper Lari, die Schlosskinder u. Lord Schmetterhemd durchaus erfolgreich waren, konnten sie nicht ganz an die enorme, Generationen übergreifende Popularität des Löwen u. des kleinen Dinosauriers Urmel anknüpfen. Ab Anfang der 1990er Jahre erweiterte K. seine Palette mit histor. Romanen für Jugendliche, zuerst in Anna zu Pferde (Mchn. 1992), das den Dreißigjährigen Krieg aus der Sicht eines Mädchens schildert. K.s Kinderbücher zeichnen sich durch überbordenden Sprachulk, Typenkomik u. skurrile Fantastik aus. Sie behandeln zuweilen auch aktuelle Themen, wie etwa die

Krzyzanowski

Techniken der Public Relations (in: Goldesel AG. Stgt. 1971). Andererseits wurde K. von der Kritik zeitweise vorgeworfen, er blende die soziale Realität aus u. zeichne eine zu heile Welt. Erst seit den 1980er Jahren veröffentlicht K. auch Werke für erwachsene Leser. Dazu gehören autobiogr. Texte u. Gedichte, aber auch Romane wie Vorfühling (Bln. 2006), der einfühlsam u. nuanciert K.s erste Liebe literarisch verarbeitet. Außerdem begann er in den 1970er Jahren Reiseberichte zu schreiben. Einen Schwerpunkt seiner Interessen bildet Asien, was im Zusammenhang mit seiner Ehe mit der Chinesin Shaofang Kruse stehen dürfte. K. arbeitet häufig mit Illustratoren u. Co-Autoren zusammen. Teilweise erstrecken sich diese Kooperationen über viele Jahre u. Bände. K.s Werke wurden vielfach übersetzt, hauptsächlich ins Französische, Koreanische u. Niederländische. K. erhielt u. a. das Bundesverdienstkreuz u. den Großen Preis der Deutschen Akademie für Kinder- u. Jugendliteratur (2000). Er ist Mitgl. des Deutschen P.E.N.-Zentrums. Er gilt bis heute als einer der beliebtesten u. produktivsten Kinder- u. Jugendbuchautoren der letzten Jahrzehnte. Weitere Werke: Kakadu in Nöten. Düsseld. 1958. – Ein Streifzug um alles was mit Magnetophonband BASF zusammenhängt. Ludwigshafen 1962. – Till u. der Teddybär. Mchn. 1964. – Magie oder Technik? Die Industrie der Zauberer. Ein Porträt der Textilveredlungs-Industrie. Mchn. 1965. – Die kleine Fang. Reutl. 1966. – Der kleine Mensch bei den fünf Mächtigen. 5 Parabeln über den Umgang mit anderen u. sich selbst. Düsseld. 1968. – König Knirps. Stgt. 1970. – Lord Schmetterhemd. Besuch aus dem Jenseits. Düsseld. 1974. – Lord Schmetterhemd. Der tödl. Colt. Düsseld. 1975. – Kasper Laris neue Kleider. Bayreuth 1976. – Kasper Lari in der Klemme. Bayreuth 1976. – Wir zwei. Ravensburg 1978 (mit Edith Witt-Kruse). – Lord Schmetterhemd im wilden Westen. Gütersloh 1979. – Kasper Laris Abenteuer. Die Räuberbande. Bayreuth 1980. – Die Schlosskinder u. der geheimnisvolle Gast. Mchn./Wien 1980. – Die Schlosskinder u. ihre Abenteuer in Venedig. Mchn./ Wien 1980. – Warum? Kleine Gesch.n v. großen Dingen. Mchn. 1980. – Shaofangs Reise. Auf der Suche nach Asien. Mchn. 1981 (mit Shaofang Kruse). – Kasper Lari. Das Spukschloß. Bayreuth 1981. – Die Schlosskinder u. die seltsamen Geschwister.

78 Mchn. 1981. – Federleicht. Verse zu chines. Holzschnitten. Lahr 1982. – Florenz u. die Fresken des Benozzo Gozzoli. Lahr 1983 (mit S. Kruse). – Ein Lausejunge aus gutem Haus. Kindheit im alten Berlin. Freib. i. Br. 1983. (Autobiogr.). – Die versunkene Zeit. Bilder einer Kindheit im Käthe-Kruse-Haus. Stgt. 1983 (Autobiogr.). – Woher, woraus, womit? Kleine Gesch.n v. brauchbaren Sachen. Mchn. 1983 (mit Monika Laimgruber). – Ägypten. Das Geschenk des Nils. Bern/Stgt. 1984 (mit S. Kruse). – Es hat dich immer jemand lieb. Mchn./ Wien/Zürich 1985. – Jahreszeiten. Spiegelbilder der Schöpfung. Mchn. 1985 (mit Joachim F. Richter). – Der Schattenbruder. Wien 1985 (R.). – Gläserner Vogel. Mchn. 1991. (L.). – Jules Verne: In 80 Tagen um die Welt. Wien/Mchn. 1992 (Bearb.). – Der Ritter. Ravensburg 1992. – Die behütete Zeit. Eine Jugend im Käthe-Kruse-Haus. Stgt. 1993. (Autobiogr.). – Hazard der Spielmann. R. aus dem MA. Heilbr. 1994. – Alexandre Dumas: Der Graf v. Monte Christo. Wien/Mchn. 1996 (Bearb.). – Die verwandelte Zeit. Der Aufbau der Käthe-KruseWerkstätte in Bad Pyrmont. Duisburg 1996. – Im weiten Land der Zeit. R. über die Entwicklung der Menschheit im Abendland. Vom Urknall bis Galilei. Mchn. 1997. – Im weiten Land der neuen Zeit. R. über die Entwicklung der Menschheit im Abendland. Von Galilei bis heute. Mchn. 1998. – Der Kronenkranich. R. aus der ital. Renaissance. Bergisch-Gladbach 1999. – Ich bin ein Vogel aus Samarkand. Mchn. 2001 (L., mit S. Kruse). – Caroline. 5 Bde., Köln 2006/07. – Gott oder Nichtgott. Reflexionen. Neustadt 2008. – Antworten aus der Zukunft. Ein Weg zu neuer Humanität. Neustadt 2008. – Das große Geschichtenbuch. Mchn. 2009. Literatur: Hans Gärtner: M. K. In: LKJL. – Anna Stüssi: M. K. In: Kosch. – Hans E. Gierhl: Wandel u. Tradition im histor. Jugendbuch, dargestellt am Beispiel v. Walter Scotts ›Ivanhoe‹ u. M. K.s ›Der Ritter‹. In: Abenteuer Buch. FS Alfred Clemens Baumgärtner. Hg. Otto Schober. Bochum 1993, S. 117–125. Agnieszka Lessmann / Stefan Höppner

Krzyzanowski, Otfried, * 25.6.1886 Starnberg, † 30.11.1918 Wien. – Lyriker u. Prosaist. K., dessen Lebenslauf weitgehend im Dunkeln liegt, war als Kaffeehaus-Bohemien eine legendäre Erscheinung des Wiener literar. Lebens. Sein schmales Werk – v. a. Gedichte, daneben Kurzprosa in Form von Tagebuchblättern, Aufzeichnungen, Aphorismen u. ein

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»Fastnachtsspiel« Der Schatz des Rampsenit – Kubin, Alfred, * 10.4.1877 Leitmeritz (Lilässt klass. Bildung, Vertrautheit mit der lyr. tomeˇrˇ ice)/Böhmen, † 20.8.1959 ZwickTradition u. hohes Sprachbewusstsein er- ledt/Oberösterreich; Grabstätte: Wernkennen. K.s Gedichte weisen Stilzüge der stein/Schärding. – Erzähler, Zeichner, IlNeuromantik auf, sprengen jedoch immer lustrator. wieder das traditionelle Formenrepertoire u. nähern sich – nicht im Pathos, wohl aber in K., Sohn eines Landvermessers u. einer Piagesuchter ästhet. Dissonanz – dem Expres- nistin, wuchs in Salzburg u. in Zell am See sionismus an. Die haltlose Existenz des Au- auf. Der frühe Tod der Mutter u. das tors spiegelt sich in bes. eindringlichen, la- schwierige Verhältnis zum Vater trugen zu konisch pointierten Versen; eine an Nietzsche seiner depressiven Persönlichkeit bei. Der geschulte zyn. Melancholie lässt Hass u. junge K. besuchte die Kunstgewerbeschule in Selbsthass als Grundmotive seines Schreibens Salzburg u. trat 1892 in Klagenfurt bei dem Fotografen Beer, einem Verwandten, eine erscheinen. Zu Lebzeiten veröffentlichte der von Zu- Fotografenlehre an. Seine labile u. resignative wendungen von Kollegen u. Gönnern ab- Haltung verstärkte sich; Selbstmordgedanhängige K. nur vereinzelt Texte in Zeit- ken u. ein Selbstmordversuch am Grab seiner schriften u. Anthologien; seine einzige selb- Mutter waren Tiefpunkte seines Lebens. ständige Publikation Unser täglich Gift er- Dennoch schloss er seine Lehre ab. Er begann schien bereits postum in der Reihe »Der zu zeichnen u. erkannte, inzwischen 20-jähjüngste Tag« (Lpz. 1919). K. starb an Ent- rig, darin seine wahre Leidenschaft u. Berukräftung infolge einer nicht behandelten fung. 1898 trat er in München in die KunstGrippe; Franz Werfel hat ihm in seinem Ro- akademie ein, um Grafik u. Malerei zu stuman Barbara oder die Frömmigkeit als Dichter dieren. Durch das grafische Werk Max KlinKrasny ein Denkmal gesetzt u. damit zur gers inspiriert, fand er endgültig zu seinem Mythisierung dieses poète maudit beigetra- eigenen Talent als Zeichner. In der Pinakothek setzte er sich mit den Arbeiten von gen. Weitere Werke: Veröffentlichungen aus dem Munch, Goya, Ensor u. Rops auseinander. Bis Nachl. in: Agathon. Almanach auf das Jahr 46, 47, 1904 entstanden die meisten seiner Blätter 48 des 20. Jh. Hg. Leopold Wolfgang Rochowanski. aus seinem bekannten »Frühwerk«. Im selWien 1945–47 (mit Veröffentlichungen aus dem ben Jahr lernte er die Schwester seines Nachl.). Schriftstellerkollegen Oskar A. H. Schmitz Ausgabe: Unser täglich Gift. Ges. Werke. Hg. kennen, die junge Witwe Hedwig Gründler. Hartmut Vollmer. Oldenb. 2003. Sie war finanziell unabhängig, gebildet u. Literatur: Werner J. Schweiger: ... verhungert fürsorglich; bei ihr fühlte K. sich geborgen. 1918. O. K. In: Die Pestsäule, H. 2 (1972), Hedwig kaufte Schloss Zwickled in WernS. 152–169 (mit Bibliogr. u. Werkausw.). – Lucy stein am Inn, ihr sog. »Schlössl«, wohin das Topolská: Ein vergessener österr. Dichter: Zu O. K.s Paar 1906, nach der Heirat, übersiedelte. Von Leben u. Werk. In: ÖGL 23 (1979), H. 1, S. 349–356. hier unternahmen K. u. seine Frau Reisen – Hartmut Vollmer: ›Diese Zeit ist nicht die meine nach Prag, Zürich, Wien, München, Berlin, ...‹. Zu Leben u. Werk des 1918 in Wien verhungerten Dichters O. K. In: Expressionismus in nach Italien, Südfrankreich, auf den Balkan u. Österr. Hg. Klaus Amann. Wien u. a. 1994, v.a. nach Böhmen, K.s alte Heimat, wo er S. 526–548. – Gerhard Sauder: ›Poète maudit‹ im seine Zeichnungen für die Sammlung PhanWiener Kaffeehaus. O. K. In: West-östl. Divan zum tasien aus dem Böhmerwald anfertigte. Er stand utop. Kakanien. Hg. Annette Daigger. Bern 1999, mit Ernst Jünger, Richard Billinger, Salomo S. 219–235. Ernst Fischer Friedländer u. Gustav Meyrink in regem Briefkontakt u. hatte einen großen Bekanntenkreis, zu dem zahlreiche Künstler gehörKuBa ! Barthel, Kurt ten, darunter Edvard Munch, Paul Klee, Wassily Kandinsky, Franz Marc u. Fritz von Herzmanovsky-Orlando. Dennoch lebte K.

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seit 1906 zurückgezogen u. distanziert vom Kulturbetrieb auf Schloss Zwickledt. Die Abgeschiedenheit des Landlebens gab ihm die innere Ruhe, die er für seine Arbeit brauchte. In der Stille der Natur entfaltete sich endgültig K.s künstlerische Doppelbegabung als Schriftsteller u. Zeichner. Sein bekanntestes literar. Werk u. zgl. sein einziger Roman, Die andere Seite, erschien im Jahr 1909 (Mchn. u. a., zahlreiche Neuaufl.n, zuletzt Ffm. 2009) mit seinen Zeichnungen. K. las Nietzsche u. Schopenhauer, deren pessimist. Weltbild ihn prägte. Er setzte sich auch mit den philosoph. Schriften Kants auseinander, dessen strenge sachl. Sichtweise ihm neue pragmat. Perspektiven für seinen eigenen Lebensweg eröffnete, u. widmete sich dem Studium des Buddhismus, dessen Weltbild er zeitlebens verbunden blieb. Es festigte sein zwiespältiges Inneres, doch die abgründig verrätselte Lebensperspektive blieb. 1909 schloss sich K. der »Neuen Künstlervereinigung München« an, 1911 wechselte er zur Gruppe des »Blauen Reiters«, die kurz zuvor von Kandinsky u. Gabriele Münter gegründet worden war. Gemeinsam mit seinen Freunden Klee u. Marc präsentierte er hier viele Ausstellungen. Vor allem in seinen Federzeichnungen, in vielen Mappenwerken u. Buchillustrationen gestaltete er makabre Visionen des Untergangs u. eine fantastisch fremde, ferne Welt. 1925 entstand sein berühmtestes Mappenwerk Totentanz. Neben Goya, Ensor, Redon u. Klinger inspirierten ihn Maler wie Breughel, Velázquez, Autoren wie Edgar Allan Poe, Fjodor M. Dostojewskij, Georg Trakl, Nikolaj Gogol, ebenso die Romantiker, Hugo von Hofmannsthal u. August Strindberg, mit deren Werken er sich in seinen Illustrationen intensiv befasste; diese Buchillustrationen wurden zur wirtschaftl. Grundlage seines Künstlerdaseins. Doch waren v. a. die inneren »dunkel rätselvollen Bilder«, Träume u. Visionen, »Hauptquell meines Lebens«, so bekannte K. in seiner Autobiografie (Aus meinem Leben. Mchn. 1911. 1974. 1977). Die wirren dichten Strichgeflechte seiner Zeichnungen, die dämonischen fremden Traumwelten in seinen Texten zeugen davon.

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Seine wichtigste Prosapublikation, Die andere Seite, ohnehin nie einer großen Öffentlichkeit bekannt, wurde erst in den 1970er Jahren durch die Verfilmung von Johannes Schaaf (Traumstadt. 1973) einem breiteren Publikum zugänglich, scheint jedoch heute fast wieder vergessen. Der Roman berichtet in visionärer Fantastik vom Besuch in der Traumstadt Perle im Tienschan. Auf der Suche nach Freiheit findet sich der Ich-Erzähler in einem dämonischen Labyrinth wieder. Geheimnisvolle Bilder illustrieren eine in unkontrollierte Bahnen geratene Welt, zeigen den Verfall einer Zivilisation. Noch während der Zwischenkriegszeit wurde der Roman als Vision der vom Untergang bedrohten Gesellschaftsordnung Europas begeistert aufgenommen. K.s Erzählstil ist eine Komposition aus romantisch-surrealen u. expressionist. Formelementen, die eine mythisch-pessimist. Weltschau zum Ausdruck bringt. Ob K. Kafkas Werk (v. a. Das Schloß) beeinflusst hat, ist fraglich. Gespenstisch-Unheimliches war literar. Mode (insbes. in der Prager deutschsprachigen Literatur; vgl. Meyrink, Perutz), die groteske Verzerrung der realen Ordnung als Darstellung von Untergang, als Zivilisationskritik nicht ungewöhnlich. Doch hebt sich K.s Darstellungsweise, in der Okkultes, östl. Mystik u. ind. Philosophie verwoben sind, vom Stil seiner Zeit ab. Auch in seinem zeichnerischen Werk war er seiner Zeit voraus u. nahm letztendlich Vorstellungen des Surrealismus vorweg. Weitere Werke: Sansara. Ein Cyklus ohne Ende. Mchn. 1911. 1990 (Zeichnungen u. Text). – Die Blätter mit dem Tod. Bln. 1919. Zürich 1965 (Zeichnungen u. Text). – Die Planeten. Lpz. 1943 (Zeichnungen u. Text). – Phantasien im Böhmerwald. Schärding 1951. 1981 (Ess., Autobiogr.). – Briefe an eine Freundin. Wien 1965. – Wanderungen zu A. K. Aus dem Briefw. Mchn. 1969. – Aus meiner Werkstatt. Ges. Prosa. Mchn. 1973. – Eine Begegnung mit Ernst Jünger. Ffm. 1975. – A. K. Der Briefw. mit Fritz v. Herzmanovsky-Orlando. In: F. v. Herzmanovsky-Orlando. Werke. Bd. 7, Salzb. 1983. Literatur: Alois Achleitner: K. als Anreger Kafkas? In: Welt u. Wort 10, 1955. – Brigitte Heinzl: Stilist. Entwicklung A. K.s anhand der eigenhändig datierten Zeichnungen der graph. Slg.

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81 des Oberösterr. Landesmuseums. In: A. K. Salzb. 1955, S. 137–162. – Kurt Otte u. Paul Raabe: A. K. Hbg. 1957. – Abraham Horodisch: A. K. Taschenbibliogr. Amsterd. 1962. – Anneliese Hewig: Phantast. Wirklichkeit. Interpretationsstudie zu A. K.s Roman ›Die andere Seite‹. Mchn. 1967. – Herbert Lange: Der Künstler u. sein Ort. A. K. in Zwickledt. In: Porträts aus Oberösterr. Linz. 1970, S. 61–74. – Wolfgang K. Müller-Thalheim: Erotik u. Dämonie im Werk A. K.s. Mchn. 1970. – Hans Bisanz: A. K. Zeichner, Schriftsteller, Philosoph. Salzb. 1977. – Otto Breicha (Hg.): A. K. Weltgeflecht. Ein K.-Kompendium. Schr.en u. Bilder zu Leben u. Werk. Mchn. 1978. – Georg Brandstetter: Das Verhältnis v. Traum u. Phantastik in A. K.s Roman ›Die andere Seite‹. In: Phantastik in Lit. u. Kunst. Hg. Christian W. Thomsen u. Jens Malte Fischer. Darmst. 1980. – Peter Cersowsky: Phantast. Lit. im ersten Viertel des 20. Jh. Briefw. Mchn. 1983. – Oberösterr. Landesmuseum: A. K.: Leben – Ein Abgrund. Mchn. 1985. – P. Cersowsky: Thomas Manns ›Zauberberg‹ u. A. K.s ›Die andere Seite‹. In: JbDSG 31 (1987), S. 289–320. – Peter Assmann (Hg.): A. K. Salzb. 1995. – Andreas Geyer: Träumer auf Lebenszeit. A. K. als Literat. Wien 1995. – Annegret Hoberg (Hg.): A. K. Das lithograph. Werk. Mchn. 1999. – Christin Fronius (Hg.): A. K. – Hans Fronius. Eine Künstlerfreundschaft. Bibl. der Provinz. Weitra 1999. – Gerlinde Gehrig: Sandmann u. Geierkind. Phantast. Diskurse im Werk A. K.s. Köln 2004. – A. Geyer: Heimatl. Lebensdistanz. A. K. u. der Tod. Wien 2005. – Volker Michels (Hg.): Außerhalb des Tages u. des Schwindels. Hermann Hesse – A. K. Briefw. 1928–52. Ffm. 2008. Jutta Freund

Kubsch, Hermann Werner, * 11.2.1911 Dresden, † 15.7.1983 Dresden. – Dramatiker, Publizist, Kinderbuch- u. Filmautor.

volutionärer Schriftsteller. 1930 begann er auch zu publizieren; Schreiben u. Malen traten jedoch damals schon hinter K.s vielfältigen Tätigkeiten für die kommunist. Bewegung zurück (Einsatz in der AgitationsSpielgruppe »Rotes Tempo«, Lehrauftrag der Dresdner Marxistischen Arbeiterschule, Gründung des Dresdner Kabaretts »Die Linkskurve« mit Lea u. Hans Grundig). Nach Verhaftung (Mai 1933), Gefängnis u. Konzentrationslager wurde K. 1942 zur Wehrmacht einberufen. Nach 1945 setzte er sich wort- u. tatkräftig für ein sozialist. Deutschland ein. Wie andere der proletarisch-revolutionären Künstlergeneration ging er in die Produktionsstätten der SBZ, um von dort aus für einen kulturellen Neuanfang zu sorgen. 1947/48 entstanden u. a. das Heimkehrerstück Ende und Anfang (Urauff. 1949) u. das Zweijahrplan-Gedicht Vom Anfang und Ende (in: Neues Deutschland, 28.9.1948). Wegen seiner engen Verbindung zur Produktionsbasis u. der frühen themat. Hinwendung zu den Betrieben galt K., insbes. mit seinem Schauspiel Das tägliche Brot (1948. U. d. T. Die ersten Schritte. Bln./DDR 1950. Neufassung ebd. 1952), in den frühen 1950er Jahren als vorbildlich für die bald wieder diskreditierte Aufbau-Dramatik der DDR. Später arbeitete er v. a. publizistisch u. für den Film. Aus seinem schmalen epischen Werk ragt das postum herausgegebene Unordentliche Tagebuch (Rudolstadt 1984) hervor. Weitere Werke: Die Störenfriede. Literar. Szenarium für einen Kinderfilm (zus. mit Wolfgang Kohlhaase). Bln./DDR 1953. – Die Ferienfanfare. Filmgesch. für Kinder. Bln./DDR 1955. – Ablösung. In: NDL 8 (1960), H. 2, S. 38–67 (Hörsp.). – Legende v. den sieben Legenden. Rudolstadt 1970. Literatur: Franz Hammer: Bruchstück eines Selbstbekenntnisses. Zu H. W. K.s ›Unordentliches Tagebuch‹. In: NDL 33 (1985), H. 7, S. 153 ff.

Der Arbeitersohn wurde wegen seines Engagements in der linken Jugendbewegung Sachsens 14-jährig von der höheren Schule relegiert. Nach der Lehre in einer ReklameGesine von Prittwitz / Red. werkstatt begann er ein Studium an der Akademie für Kunstgewerbe in Dresden, ab 1927 am Bauhaus Dessau, das er im zweiten Kuby, Erich, auch: Alexander Parlach, Semester infolge seiner Mittellosigkeit wie* 28.6.1910 Baden-Baden, † 10.9.2005 der verließ. Nach ziellosen Wanderungen Venedig. – Publizist, Hörspiel- u. Rodurch Deutschland trat er 1930 in die KPD manautor. ein, wurde Mitgl. in der Assoziation revolutionärer bildender Künstler u. in der Dresd- K. wuchs als Sohn eines Landwirts in Oberner Ortsgruppe des Bundes proletarisch-re- bayern auf. Er begann seine Berufslaufbahn

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nach dem Studium der Volkswirtschaft u. ei- Ermordung der Prostituierten Rosemarie nem »Zwischenspiel« in der »Schwarzen Nitribitt, an dessen Drehbuch K. mitschrieb. Reichswehr« beim Scherl-Bilderdienst in Kritisch begleitete er auch die dt. Einheit (Der Berlin. Während des Zweiten Weltkriegs, an Preis der Einheit. Hbg. 1990. Deutschland. Von dem er als einfacher Soldat 1939–1945 teil- verschuldeter Teilung zur unverdienten Einheit. nahm, schrieb K. fast 10.000 Seiten Tage- Rastatt 1990. Deutsche Perspektiven. Hbg. buch, in denen er sarkastisch u. schonungslos 1991). Stets angefeindet wegen seiner schoseine Beobachtungen zur Blindheit u. Dop- nungslosen Positionen, erfuhr er späte Ehpelmoral der Deutschen u. ihrer Wehrmacht rungen mit dem Publizistikpreis der Lanfesthielt. Einen Teil dieser Aufzeichnungen deshauptstadt München (1992) u. dem pospublizierte er u. d. T. Mein Krieg. Aufzeichnun- tum verliehenen Kurt-Tucholsky-Preis (2005) gen 1939–1944 (Mchn. 1975), die er mit weite- für »das Lebenswerk eines leidenschaftlichen, ren Erlebnisberichten 2000 als Sammelband zornigen, klarsichtigen Journalisten und neu auflegte (Mein Krieg. Aufzeichnungen aus Schriftstellers«. K. schrieb auch viele Roma2129 Tagen. Bln.). Nach der Rückkehr aus ne, Hörspiele u. Kinderbücher. amerikan. Kriegsgefangenschaft wurde er für Weitere Werke: (Pseud.) Demidoff oder v. der kurze Zeit Nachfolger von Andersch u. Rich- Unverletzlichkeit des Menschen. Bericht. Mchn. ter in der Redaktion der Zeitschrift »Der u. a. 1947. – Das Ende des Schreckens. Dokumente Ruf«, bis die amerikan. Militärbehörden auch des Untergangs Jan.-Mai 1945. Mchn. 1955. – Roihn absetzten. Danach schrieb er für nam- semarie, des dt. Wunders liebstes Kind. Stgt. 1958 hafte Zeitungen u. Zeitschriften (»Süddeut- (R.). – Nur noch rauchende Trümmer. Das Ende der Festung Brest. Hbg. 1959. – Aus schöner Zeit. Vom sche Zeitung«, »Spiegel«, »Stern«, »Freitag« Care-Paket zur Nachrüstung. Hbg. 1984. – Als Pou. a.) len deutsch war. 1939–45. Mchn. 1986. – Der K. machte mit engagierten u. oft polem. Spiegel im Spiegel. Das dt. Nachrichten-Magazin. Artikeln zu den Affären der Nachkriegszeit Mchn. 1987. – Dt. Schattenspiele. Mchn. 1988. – seinem Namen als »Nestbeschmutzer von Mein ärgerl. Vaterland. Mchn. 1989. Rang« (Böll) u. »Bundesnonkonformisten« Literatur: E. K. im Gespräch mit Gabriele v. (Sieburg) alle Ehre. Er kämpfte gegen neue Arnim. SDR 1990. – Wolfgang R. Langenbucher: E. Rechtstendenzen in der Bundesrepublik K. oder der Musterschüler der Kassandra. In: Neue Deutschland, gegen die Wiederaufrüstung u. Gesellsch. / FH 40 (1993), H. 5, S. 469–472. die atomare Bewaffnung der Bundeswehr u. Peter König / Günter Baumann erwies sich mit seinen Deutschland- u. BerlinBüchern (Das ist des Deutschen Vaterland. Stgt. Kuchimaister, Christian. – St. Galler Ge1957. Die Russen in Berlin 1945. Bern 1965) als schichtsschreiber des 14. Jh.; Verfasser der ein »gewissenhafter Chronist« (Hans SchwabNüwen Casus Monasterii Sancti Galli. Felisch). Aufsehen erregte er bes. in Italien mit seinem Buch Verrat auf deutsch. Wie das Über K.s Leben lassen sich nur wenige sichere Dritte Reich Italien ruinierte (Hbg. 1982), in dem Aussagen treffen, einzig im ersten Kapitel er die in Deutschland verbreitete Meinung seines Werkes nennt er das Jahr 1335 als Davon der Untreue der Italiener im Zweiten tum für den Beginn seiner Arbeit. Am Ende Weltkrieg als Umkehrung der wahren Ver- des Textes nimmt K. wiederum Bezug auf hältnisse darstellte. Zu einem handfesten dieses Jahr, was vermuten lässt, dass er seine Skandal mit Zensurvorwürfen gab sein Buch Chronik des Klosters St. Gallen wahrscheinüber die »stern«-Veröffentlichung der an- lich innerhalb eines kurzen Zeitraumes niegebl. Hitler-Tagebücher Anlass, das im urspr. dergeschrieben hat. Im ersten Kapitel seiner vorgesehenen Verlag (Hoffmann u. Campe) Klostergeschichte berichtet K., dass es unter wegen anstößiger Formulierungen nicht er- Abt Konrad von Bussnang (1226–1239) zu scheinen durfte (Der Fall ›stern‹ und die Folgen. Bürgeraufständen in St. Gallen kam, in deren Hbg.: Konkret-Literatur Verlag 1983). Folge 15 Häuser zerstört wurden, von denen Aufsehen erregte der Film Das Mädchen Ro- eines K.s Familie gehörte: »der was ains Crisemarie (1958, als Buch Bln. 1996) über die stâns des kuchimaisters der dis werck ange-

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fangen hât ze machen«. In den Casus erzählt treffen. Bekannt ist, dass der Humanist JoaK. die Geschichte des Klosters St. Gallen für chim vom Watt (1484–1551) die Casus als den Zeitraum von 1228 bis 1329. In diese Quelle für seine Abhandlung Die äbt des closters Jahre fallen die Amtszeiten von neun Äbten, zu S. Gallen benutzt hat. 1736 wurden die über die K. genauer Auskunft gibt. Insbes. Nüwen Casus in der Helvetischen Bibliothek den Äbten Bertholt von Falkenstein durch Johann Jacob Breitinger erstmals ab(1244–1272) u. Wilhelm von Montfort gedruckt. (1281–1301) schenkt er größere Beachtung u. Ausgaben und Handschriften: Eugen Nyffeweiß ihre Regierungsjahre mit ausführl. Er- negger: Cristân der K., ›Nüwe Casus Monasterii zählungen zu füllen. Der Verfasser eröffnet Sancti Galli‹. Ed. u. sprachgeschichtl. Komm. Bln./ seinen Text mit einem Verzeichnis der bis New York 1974. – Handschriftliche Überlieferung: 2 dahin regierenden Äbte, um zunächst einen Hss. 15. Jh.: Zürich, Zentralbibliothek, Cod. A 152, Einstieg zu schaffen, aber auch um lücken- Mitte des 15. Jh. (ca. 1460), u. St. Gallen, Kantonsbibliothek, VadSlg Ms. 67, um 1450; sowie eine losen Anschluss an seine Vorgänger u. die Abschrift v. Z, 1. Hälfte des 16. Jh.: Stiftsarchiv St. existierende Literatur zu suggerieren. K. Gallen (Nr. X 82). stellt sich mit seinem Werk in die Tradition Literatur: Fritz Schreiber: C. Kuchimeisters der lat. Casus Sancti Galli, die von Abt Ratpert ›Nüwe Casus monasterii sancti Galli‹, ihre literar. (2. Hälfte 9. Jh.) begründet, von Ekkehart IV. u. literar-histor. Bedeutung. Diss. Bonn. Würzb. (um 980–1057) u. von Konrad von Fabaria (1. 1943. – Eberhard Url: Das mittelalterl. GeHälfte 13. Jh.) fortgesetzt wurden, womit sein schichtswerk ›Casus sancti Galli‹. Eine Bestandseigener Anspruch deutlich wird. Seine Son- aufnahme. St. Gallen 1969. – Eugen Nyffenegger: derstellung ergibt sich darüber hinaus bereits C. K. In: VL. Gesine Mierke daraus, dass er der erste unter genannten Geschichtsschreibern ist, der in dt. Sprache Kuckart, Judith, * 17.6.1959 Schwelm/ die Klostergeschichten 100 Jahre nach der Westfalen. – Schriftstellerin; Tänzerin, letzten Abhandlung in Prosa weitererzählt. Choreografin, Regisseurin. Allein der Titel verweist auf die Ambivalenz zwischen lat. Tradition u. volkssprachl. In- Nach einer Tanzausbildung an der Folkwangnovation, die K. miteinander verbindet. Seine Schule in Essen u. einem Studium der LiteErzählung gilt als historisch zuverlässig, sei- ratur- u. Theaterwissenschaft an den Univerne Darstellung der Klostergeschichten basiert sitäten von Köln u. Berlin, das sie 1982 mit auf fundierten histor. Kenntnissen. Entspre- dem Magistergrad abschloss, arbeitete K. chend ist K.s Text keine Aneinanderreihung zunächst als Assistentin von Johann Kresnik von Anekdoten, sondern der Verfasser wählte am Choreographischen Theater in HeidelEreignisse eher danach aus, inwiefern sie für berg, ehe sie 1985 das TanzTheater Skoronel das Kloster historisch-polit. Relevanz besa- gründete, mit dem sie bis zu seiner Auflösung ßen u. legte Wert auf reichs- u. wirtschafts- 1998 mit 17 Stücken an Bühnen im In- u. polit. Entwicklungen. Die Art seiner Erzäh- Ausland gastierte. lung verweist auf einen stilistisch sicheren Die Praxis der Bühnenarbeit beeinflusste Umgang mit der gewählten Gattung, er setzt auch die Schreibweisen u. Fakturen ihrer bewusst Akzente u. kann Spannungen auf- Prosa: Szenisch organisiert wirkt der Plot, bauen. K.s Text ist klar strukturiert, Passagen Bildmontagen u. Reflexionen lösen einander können separat rezipiert werden u. entspre- ab, bühnenhaft erscheint mitunter der Raum, chend dem Publikum leicht im Gedächtnis offen u. vieldeutig der Schluss. Selbst das Fibleiben. Als histor. Quelle haben K.s Casus gurenensemble rekrutiert sich zuweilen aus eine große Bedeutung für die Geschichte des dem Theatermilieu. Der formalen Offenheit 13. u. 14. Jh. im Bodenseeraum, für wirt- fügt sich auch der Inhalt. K.s Romane u. Erschafts- u. rechtsgeschichtl. Fragestellungen zählungen handeln von Spurensuchen, von sowie für literatur- u. sprachgeschichtl. Un- der Rekonstruktion von Individualgeschichtersuchungen. Über die eigentl. Rezeption ten vor einem kollektivgeschichtl. Hinterdes Textes lassen sich nur wenige Aussagen grund, von der Kluft zwischen Kunst u. Le-

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ben, zwischen Realität u. Fiktionalität u. von den Versuchen von Menschen, sich innerhalb dieser Spannungsfelder zu positionieren. In ihrem Debütroman Wahl der Waffen (Ffm. 1990), mit dem K. der Durchbruch gelang, spürt die Journalistin Katia ihrem ehemaligen Kindermädchen Jette nach, die sie auf einem Foto in der Zeitung wiedererkannt hat. Sie will Aufschluss darüber erhalten, warum sich die Tochter aus »strenger protestantischer Zucht« einer terrorist. Vereinigung anschloss u. in den Untergrund ging. Das Schreiben gerät für Katia zur Wahrheitsfindung, Leerstellen werden von ihr imaginativ gefüllt. Je tiefer sie in Jettes Lebensgeschichte eindringt, desto deutlicher erkennt sie, dass sich die Welt nur durch die Kunst verändern lässt, nicht aber durch Gewalt. Wie weit die Vergangenheit in die Gegenwart hineinreicht, ohne dass sie noch als solche erkennbar wäre, thematisiert der Roman Die schöne Frau (Ffm. 1994). K. fragt am Beispiel der Dramaturgin Bertha Baumgart, die in zweiter Generation aus dem »Lebensborn« stammt, nach der genet. Weitergabe dessen, was den Nationalsozialismus ausgemacht hat, nach dem im doppelten Sinne »fruchtbaren Schoß« (Brecht) des Dritten Reiches. Nicht nur die phänotyp. Ähnlichkeit zwischen ihr u. ihrer Großmutter, sondern v. a. Verhaltensanalogien wie etwa die von ihr schuldhaft empfundene Neigung zu anonymen sexuellen Kontakten veranlassen Bertha zur Selbstbeobachtung u. führen sie zu der Frage, ob das, was jemand denkt u. fühlt, gar nicht autonom gesteuert, sondern determiniert ist durch das, was er genetisch empfangen hat, was sich im konkreten Falle also dem Versuch der Schaffung eines normierten Rassemenschen verdankt. Einen Ausweg aus dem Dilemma bietet ihr die Kunst: Bertha kompensiert ihre Vater- u. Geschichtslosigkeit, indem sie bei der Inszenierung von Sophokles’ König Ödipus die Titelrolle unbesetzt lässt. In Lenas Liebe (Köln 2002) gerät für Magdalena Krings die Autofahrt von Auschwitz nach Berlin zu einer symbolischen Erinnerungsreise, deren Haltepunkte mit der Möglichkeit u. Unmöglichkeit von Liebe, mit der dt. Geschichte u. mit der Frage nach der Schuld am Holocaust große literar. Themen markieren. In der

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Technik des »stream of consciousness« verbinden sich Magdalenas individuelle Erinnerungen, Träume, Sehnsüchte u. Ängste mit Reflexionen über die Shoa u. über die Dialektik von Erinnerung u. Vergessen. Der Frage nach der wirklichkeitskonstituierenden Kraft der Imagination geht K. in dem Roman Der Bibliothekar (Ffm. 1998) nach. Er erzählt von dem frühpensionierten Bibliothekar Hans-Ullrich Kolbe, der sein Leben nur in der Literatur gelebt hat, bis er, angeregt durch ein Buch über den Pariser Nachtclub Crazy Horse, sich ins Berliner Nachtleben stürzt u. der Stripteasetänzerin Jelena verfällt, die mit 28 Jahren zwar so alt ist wie seine Tochter, für den Tanz aber bald schon wieder zu alt. Als er Jelena zum ersten Mal auf der Bühne sieht, wird ihr Tanz für ihn zu einem parareligiösen Erweckungserlebnis. Kolbe verfällt ihr, lebt mit ihr seine Obsessionen aus, die für ihn aber wie zuvor die Bücher nur Kompensation eines nicht gelebten Lebens sind u. die existenzielle Einsamheit der beiden nicht zu aufzuheben vermögen. Jelenas Tod am Ende des Romans erscheint daher zwangsläufig. Wer ihn herbeigeführt hat, bleibt ungewiss. K. wurde für ihre Prosa mehrfach ausgezeichnet, so 1991 mit dem Rauriser Literaturpreis u. 2008 mit dem Calwer HermannHesse-Stipendium. 1997/98 war sie zu Gast in der Villa Massimo in Rom. Weitere Werke: Im Spiegel der Bäche finde ich mein Bild nicht mehr. Gratwanderung einer anderen Ästhetik der Dichterin Else Lasker-Schüler. Ffm. 1985 (Ess.s). – (zus. mit Jörg Aufenanger) Eine Tanzwut. das TanzTheater Skoronel. Ffm. 1989. – Last Minute, Fräulein Dagny. Ffm. 1995 (D.). – Melancholie 1 oder die zwei Schwestern. Ffm. 1996 (D.). – Sätze mit Datum. Rom 1998. – Die Autorenwitwe. Köln 2003 (E.en). – Dorfschönheit. Köln 2006 (E.). – Kaiserstraße. Köln 2006 (R.). – Vom Vorteil des Stolperns. Paderb. 2007 (Vortrag). – Die Verdächtige. Köln 2008 (R.). Literatur: Helmut Mörchen: Spurensuche. Anmerkungen zur Verarbeitung von NS-Vergangenheit in zwei dt. Romanen der neunziger Jahre: J. K. ›Die schöne Frau‹ u. Jens Sparschuh ›Der Schneemensch‹. In: LiLi 28 (1998), H. 110, S. 160–172. – Tanja Zobeley: Der entfesselte Skorpion. ›Der Bibliothekar‹ v. J. K. In: Lustfallen. Erot. Schreiben v. Frauen. Hg. Christina Kalkuhl u. a.

85 Bielef. 2003, S. 111–115. – Thomas Kraft: J. K. In: LGL. – John P. Wieczorek: Johannes Bobrowski u. J. K.s ›Lenas Liebe‹. In: Unverschmerzt. Johannes Bobrowski. Leben u. Werk. Hg. Dietmar Albrecht u. a. Mchn. 2004, S. 377–388. – Ders.: From Wallerfang to Auschwitz. Aspects of the Novels of J. K. In: Field Studies. German Language, Media and Culture. Selected Papers from the Conference of University Teachers of German. University of Newcastle, Sept. 2002. Hg. Holger Briel u. a. Oxford u. a. 2005, S. 291–308. – Henk Harbers: ›Wer erzählt, hat eine Frage‹. Die Verbindung v. Liebe u. Auschwitz in J. K.s Roman ›Lenas Liebe‹. In: Lit. für Leser 29 (2006), H. 2, S. 81–97. – Jörg Plath: J. K. In: KLG. Ralf Georg Czapla

Kuckhoff, Adam, auch: Wilhelm Kann, * 30.8.1887 Aachen, † 5.8.1943 BerlinPlötzensee. – Romancier, Essayist u. Dramaturg. Der Sohn eines Fabrikanten studierte Germanistik, Geschichte u. Philosophie in Freiburg/Br., München, Heidelberg u. Berlin (Promotion 1912). Nach anfängl. Kriegsbegeisterung wurde er 1918/19 Mitgl. der USPD. Als Spielleiter am Frankfurter Neuen Theater (1917–1920) u. am Frankfurter Künstlertheater (1920–1923) versuchte K., seine Vorstellungen von einem zeitgemäßen Volkstheater zu realisieren. Er besorgte die erste Volksausgabe von Georg Büchners Werken (Bln. 1927), deren ausführl. Einleitung den Sozialrevolutionär Büchner – im Gegensatz zu den ekstat. Deutungen des Dichters im expressionist. Jahrzehnt – in den Mittelpunkt stellt. Eine Lektorentätigkeit für den konservativen Eugen Diederichs Verlag u. die Herausgabe von dessen kulturpolit. Zeitschrift »Die Tat« scheiterten an seinen linksbürgerl. Ansichten. 1930 wurde K. erster Dramaturg an den Staatlichen Schauspielen in Berlin. Im Dritten Reich war er freier Lektor des Deutschen Verlages (vormals Ullstein), schrieb für Zeitungen u. arbeitete an Kultur- u. Spielfilmen mit. K. publizierte zunächst überwiegend kritisch-essayist. Arbeiten. 1931 trat er mit der größeren Erzählung Scherry (Ffm. 1931) an die Öffentlichkeit. Der Rowohlt Verlag brachte 1937 den verdeckt krit. Anti-Kriegsroman Der

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Deutsche von Bayencourt (Bln.) heraus. Die Nationalsozialisten rezipierten das Buch, das neben chauvinistischen auch demokratischpazifistisch u. sozialistisch denkende Figuren enthält, zustimmend. Aus diesem Grund lehnte der Autor die Verfilmung des Romans ab. Er konnte 1941 noch sein immer wieder umgearbeitetes Stück Till Eulenspiegel (Bln.) u. den zus. mit dem Exilrussen Peter Tarin (Pseud. für Eduard Tietjens) geschriebenen camouflierten zeitkrit. Kriminal- u. Entwicklungsroman Strogany und die Vermißten (Bln.) veröffentlichen. K. beteiligte sich an den gegen die HitlerDiktatur gerichteten Aktivitäten der SchulzeBoysen/Harnack-Organisation, insbes. an der Herstellung von Flugblättern, einer illegalen Zeitschrift u. seit 1941 dem Funkkontakt mit der Sowjetunion. Die Mitglieder der sog. Roten Kapelle wurden im Sept. 1942 von der Gestapo verhaftet. K.s Hinrichtung (1943) erfolgte nach langen Verhören u. Folterungen. Während seines letzten Lebensjahres schickte der Autor ergreifende Briefe u. Gedichte an seine Frau, in denen er seine prekäre Rolle als Dichter, politisch Handelnder u. Liebender umkreist (Zwiegespräch, Für Greta). Peter Weiss hat K. in seiner Ästhetik des Widerstands (1981) ein Denkmal gesetzt. Ausgaben: A. K. Eine Ausw. v. E.en, Gedichten, Briefen, Glossen u. Aufsätzen. Hg. Gerald Wiemers. Bln./DDR 1970. – ›Fröhlich bestehn‹. A. K. Prosa, Lyrik, Dramatik. Hg. Werner Jung. Aachen 1985 (beide Werke mit Einl.en). Literatur: A. K.-Bibliogr. In: Ein Stück Wirklichkeit mehr. Hg. Gerald Wiemers. Bln./DDR 1968, S. 102–118. – Wolfgang Brekle: Die antifaschist. Lit. in Dtschld. (1933–45). In: WB 16, H. 6 (1970), S. 67–128. – Greta Kuckhoff: Vom Rosenkranz zur Roten Kapelle. Ein Lebensber. Bln./DDR 1972. – Sigrid Bock: Kämpfer vor dem Sieg. A. K.: ›Der Deutsche v. Bayencourt‹. In: Erfahrung Nazidtschld. Romane in Dtschld. 1933–45. Hg. dies. u. Manfred Hahn. Bln./Weimar 1987, S. 132–188. – Klaus Briegleb: Prometheus? Der eigene Schmerz im Widerspruch zur Gesch. A. K.s polit. Lyrik 1943. In: K. B.: Unmittelbar zur Epoche des NS-Faschismus. Arbeiten zur polit. Philologie 1978–88. Ffm. 1990, S. 431–451. – Jost Hermand: Der erste ›Sozialrevolutionär‹ unter den großen dt. Dichtern. Zum Büchner-Bild Arnold Zweigs u. A. K.s. In: Zweites internat. Georg Büchner-Symposium 1987.

Kudrnofsky Referate. Hg. Burghard Dedner u. Günter Oesterle. Ffm. 1990, S. 509–525. – Heidrun Ehrke-Rotermund u. Erwin Rotermund: Zwischenreiche u. Gegenwelten. Texte u. Vorstudien zur ›Verdeckten Schreibweise‹ im ›Dritten Reich‹. Mchn. 1999, S. 495–510. Heidrun Ehrke-Rotermund

Kudrnofsky, Wolfgang (Maria), * 1.5.1927 Wien. – Dramatiker, Erzähler, Journalist, Filmschaffender, Fotograf. Von 1945 bis 1950 studierte K. Anthropologie u. Psychologie u. bestand an der Graphischen Lehr- u. Versuchsanstalt die Meisterprüfung zum Fotografen. Nach frühen ertragslosen Fotoarbeiten im Umfeld des Art-Clubs, von denen einige in dem Band Fotomontagen 1949 bis 1953 (Wien ca. 1983) dokumentiert sind, wurde er Redakteur bei verschiedenen dt. Illustrierten u. wandte sich verstärkt der Literatur zu. Als einer der Jüngsten der literarisch aktiven österr. Nachkriegsgeneration begann er in »Stimmen der Gegenwart« u. »Neue Wege« zu publizieren. Bald jedoch löste er sich mit selbständigen Publikationen aus diesen Gruppierungen, zunächst mit Reisebüchern über Wien, Tirol, Spanien u. Brasilien, bald aber auch mit Bühnenproduktionen, darunter Fall out, ein Anti-FamilienStück (Urauff. Mchn. 1970), u. die Komödie Liebling, wer hat dich verhext? (Urauff. Wien 1975). Neben Romanen (Bubis Hochzeit. Graz 1967. Der Messias von der Lobau. Wien 1983. Natur, oh Natur! Wien 2000), in denen sich K.s Vorliebe für Satirisches u. Absurdes offenbart, widmete er sich auch Dokumentationen (Vom Dritten Reich zum Dritten Mann: Helmut Qualtingers Welt der 40er Jahre. Wien 1973. Als zeitgeschichtl. Revue Urauff. Wien 1988), Sammlungen von Kriminalfällen in der Art des Pitaval (Marek, Matuschek & Co. Wien 1989. Gassner, Gufler & Co. Wien 1991. Schandl, Schubirsch & Co. Wien 1994) u. Text- u. Regiearbeiten für das Fernsehen. Sein bedeutendstes filmisches Werk ist der Experimentalfilm Der Rabe (zus. mit Kurt Steinwendner. 1951) nach Edgar Allan Poe. Für den ORF produzierte K. zudem zahlreiche Hörspiele u. Dokumentationen, darunter die Satire Pierre Ramus. Der Anarchist von Klosterneuburg (ORF 1982, Buchfassung Wien 2005).

86 Weitere Werke: Die Unreifen. Graz 1967 (R.). – Zur Lage des österr. Schriftstellers. Wien 1973 (Dokumentation). – Der Mensch in seinem Zorn. Wien 1974. – Wolfgang Fetz (Hg.): Die Wiener Gruppe. Mit Fotos v. W. K. Wien 1998. – Der Schamane u. andere Erzählungen. Wien 2002. Literatur: Maria Fialik: ›Strohkoffer‹-Gespräche. H. C. Artmann u. die Lit. aus dem Keller. Wien 1998. Hermann Schreiber / Harald Jakobs

Kudrun, Gudrun. – Strophisches Heldenepos, 13. Jh. Die K. ist nur im Ambraser Heldenbuch (ÖNB, s.n. 2663, fol. 140ra-166ra) überliefert, dort im heldenepischen Teil zwischen Nibelungenlied u. Biterolf unter der Überschrift »Ditz puech ist von Chautru8 n«. Der Verfasser ist unbekannt. Motivparallelen u. Zitate aus Hartmanns Iwein, Gottfrieds Tristan u. Wolframs Parzival u. Willehalm, v. a. aber das Vorbild des Nibelungenliedes legen eine vage Datierung auf die mittleren Jahrzehnte des 13. Jh. nahe. Sprachliche Befunde machen eine Lokalisierung im bairisch-österr. Raum wahrscheinlich. Die K. steht schon von ihrer Form her in der Nachfolge des Nibelungenliedes. Sie ist wie dieses in Aventiuren eingeteilt, ihre Strophe ist aus der Nibelungenstrophe abgeleitet. Doch 101 Strophen blieben in der Form des Nibelungenliedes. Der Inhalt wird strukturiert durch die Abfolge von mehreren Generationen u. durch die entsprechenden Brautwerbungsgeschichten. Geht man wie üblich von den Hauptfiguren der Entführungshandlungen aus, so gliedert sich das Epos in drei Teile, von denen der dritte schon dem Umfang nach die Hauptgeschichte darstellt. 1. Hagenteil (Str.n 1–203; Aventiuren 1–4): König Gêr u. Königin Ute von Irland haben einen Sohn Sigeband. Dieser lässt nach dem Tod des Vaters um Ute, die Tochter des Königs von Norwegen, werben u. heiratet sie. Ihr Sohn Hagen wird als Siebenjähriger von einem Greifen auf eine Insel entführt. Er entkommt ihnen aber u. trifft in einer Höhle drei Prinzessinnen, ebenfalls Entführungsopfer des Greifen. Von diesen umsorgt, wächst Hagen heran. Mit den Waffen eines toten Ritters erlegt er den Greifen; dadurch

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bessern sich nun ihre Lebensumstände. Schließlich werden die Entführten von einem Pilgerschiff entdeckt. Hagen zwingt den Schiffsherrn, sie nach Irland zu bringen. Dort heiratet er eine der drei Prinzessinnen, Hilde von Indien, u. wird mit ihr zum Herrscher gekrönt. Alle Freier ihrer schönen Tochter Hilde lässt Hagen töten. 2. Hildeteil (Str.n 204–562; Aventiuren 5–8): König Hetel von Hegelingen will um Hilde werben. Seine Boten – Horand, Frute u. Wate – gewinnen unerkannt Hagens Vertrauen. Heimlich kann der Sänger Horand für Hetel bei Hilde werben. Diese willigt in eine Entführung ein, die mit List gelingt. Hagen verfolgt die Hegelinge u. stellt sie am Strand in Wâleis zum Kampf, der jedoch auf Bitten Hildes beigelegt wird. Hetel u. Hilde heiraten, Hagen kehrt versöhnt zurück. 3. Kudrunteil (Str.n 563–1705; Aventiuren 9–32): Hetel u. Hilde haben einen Sohn Ortwin u. eine Tochter Kudrun, deren Schönheit noch die ihrer Mutter übertrifft. Die Werbungen König Siegfrieds von Môrlant u. Hartmuts von Ormanîe werden ebenso abgewiesen wie die König Herwigs von Seeland. Dieser fällt daraufhin in Hetels Land ein und erobert beinahe die Burg. Da greift Kudrun in den Zweikampf zwischen ihrem Vater u. Herwig ein. Sie wird diesem vertraglich »ze wîbe« (665, 770) gegeben, doch der Vollzug der Ehe um ein Jahr verschoben. Während Hetel dem von Siegfried bedrängten Herwig zu Hilfe eilt, überfallen Hartmut u. sein Vater Ludwig Hetels Burg u. entführen Kudrun. Die nachsegelnden Hegelinge u. Herwig stellen die Normannen auf dem Wülpensant zur Schlacht, in der Hetel durch Ludwigs Hand fällt. Die Entführer entkommen. Die Verfolger kehren zu Hilde zurück u. beschließen, eine Heerfahrt erst dann zu unternehmen, wenn die neue Generation »swertmæzic« (942) geworden ist. Die entführte Kudrun wehrt mit Hinweis auf ihre rechtl. Situation alle Versuche Hartmuts ab, sie zu einer Ehe zu überreden. Seine Mutter Gerlind zwingt sie zu niederen Magddiensten: Täglich muss sie am Meeresstrand Kleider waschen. Nach 13 Jahren bricht eine Flotte zur Befreiung auf. Ortwin u. Herwig treffen, als Kundschafter in einem Boot, Ku-

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drun u. ihre Leidensgefährtin Hildeburg barfuß im Schnee beim Waschen wieder. Kudrun wirft nun die Wäsche ins Meer u. geht zum Schein auf Hartmuts Werbung ein. Am Morgen stürmen die Befreier die Normannenburg. Herwig erschlägt den alten König Ludwig. Gerlind will Kudrun töten lassen, wird jedoch von Hartmut daran gehindert. Als dieser gefangengenommen wird, verhindert Kudrun, die keine Rache will, dass er von Wate erschlagen wird. Hartmuts Schwester Ortrun begibt sich unter Kudruns Schutz. Wate erkennt Gerlind u. enthauptet sie. Nach der Heimkehr stiftet Kudrun Ehen zwischen Ortwin u. Ortrun, Hartmut u. Hildeburg sowie zwischen Siegfried von Môrlant u. Herwigs Schwester. Der Hildeteil geht zweifellos auf eine alte Sage zurück, in der Hildes Vater von Hetel selbst getötet wurde u. die somit tragisch endete. Im mhd. Sprachraum gibt es zwei Zeugnisse für die Kenntnis dieser Sage im 12. Jh. (Rolandslied, v. 7801; Straßburger Alexander, vv. 1321–1323). Hinzu kommen skandinav. Zeugnisse (Bragis Ragnarsdrápa in Snorris Skáldskaparmál, die Olafs saga Tryggvasonar u. die Gesta Danorum des Saxo Grammaticus); ihnen gemeinsam ist die myth. Vorstellung von der stets neu beginnenden, nie endenden Schlacht, wobei es Hilde ist, die die Gefallenen allmorgendlich zu neuem Kampf aufweckt. Zumindest Namen aus der Hildesage wie »Wada«, die »Heodeningas« (Hegelinge), »Hagena« (als Herrscher der Holmrugier) u. der liedkundige »Heorrenda« begegnen schon im 8./9. Jh. im altengl. Widsith u. in Deors Klage. Eine Hildesage war demnach offensichtlich früh an der Nord- u. Ostseeküste in Umlauf. Möglicherweise wurde sie bereits auf dem gotländ. Bildstein Stenkyrka-Smiss I (7. Jh.) abgebildet. Ob der jidd. Dukus Horant, dessen Namen u. Motive vielfach mit dem Hildeteil u. dem König Rother übereinstimmen, auf der K. fußt oder ob beide auf eine gemeinsame Vorstufe zurückgehen, ist ungeklärt. Die Genese des Kudrunteils bleibt ganz hypothetisch. Da dieser den Hildeteil variierend wiederholt u. überbietet, ist fraglich, ob es vor der K. überhaupt eine Gudrundichtung bzw. -sage gab, u. wenn ja, ob es sich um eine

Kudrun

selbständige Gudrunfabel handelte oder um eine unselbständige Sprossfabel der Hildesage. Die These, dass die sog. Südeli- u. Meererin-Balladen wegen typolog. Übereinstimmungen auf die K. zurückgehen könnten, gilt heute als unhaltbar; vielmehr weist dieser auch in anderen Sprachräumen bekannte Balladentypus auf eine Stofftradition, aus der auch der K.-Dichter geschöpft haben dürfte. Die Handlungsführung der K. gründet auf formelhaftem Erzählen nach Modellen, wie sie die international verbreiteten Brautwerbungsgeschichten boten, unter denen sich auch die dt. sog. Brautwerbungsepen befinden, v. a. König Rother. Dazu gehören die schöne Braut aus Übersee (Exogamie-Prinzip), der böse Brautvater, der sie nicht hergeben will, der Werber, der sie entweder selbst oder mittels Gehilfen, mit Gewalt oder durch eine List (oder durch eine Kombination von beidem) entführt, der Kampf gegen die Verfolger. Der Held muss sich als der Beste erweisen, um die Schönste bekommen zu können. Das Brautwerbungsmuster ist ein narratives Schema, das von der Gründung von Geschlechtern erzählt, das aber auch von Gewalt u. ihrer Überwindung geprägt ist u. dessen »mythischer« Charakter stets mitgedacht wird. Die genealogisch verknüpften Teilhandlungen der K. umkreisen das Thema in mehreren Variationen: Eingangs begegnet die ungefährl. Werbung Sigebands. Doch mit der Greifenepisode bricht die Idylle einfacher Brautgewinnungen. Die Hilde-Handlung kennt eine Entführung mit, die KudrunHandlung eine ohne Zustimmung der Braut, beide kennen die Figur des bösen Brautvaters u. den Kampf um die Frau. Wenn Hagen u. Hetel zunächst als höfisch-vorbildlich dargestellt werden u. dann den Part des grausamen Brautvaters übernehmen, so ist ihr Verhalten nicht psychologisch zu deuten, sondern liegt in der Konsequenz des Handlungsschemas. Durch die Verdreifachung der Werbungshandlungen im Kudrun-Teil wird das Schema aufgebrochen u. komplexer gemacht. Kudruns Entführung u. der Tod ihres Vaters schaffen Raum für den Anschluss des Musters von der Befreiung der geraubten Braut, wie es die Balladen kennen. Die »Legitimations-

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muster heroischer Geschlechtermythologie« (Müller) drohen hier unterzugehen. »Ditz puech ist von Chautru8 n« – »Ditz Puech Heysset Chrimhilt«: Diese Akzentuierung in der Titelgebung von K. u. Nibelungenlied (Ambraser Handschrift) hebt die Protagonistinnen hervor u. nimmt neuere Deutungsansätze vorweg, die die K. in einem »antitypischen Verhältnis« (Kuhn), ja als »Antithese« (Hoffmann) zum Nibelungenlied sehen: In beiden Epen reagieren die Protagonistinnen unterschiedlich auf ihr Leid. Allerdings ist dieses auch sehr verschieden: Kudrun kann – im Unterschied zu Kriemhild – mit der Unterstützung ihrer Verwandten u. aller Gutgesinnten rechnen; ihre Rettung wird auch sofort versucht. Daher kann sie die Rache auch weitgehend begrenzt halten. Gewiss sind Ludwig, Gerlind u. Heregard nicht mehr integrierbar u. dürfen nicht überleben, auch die Burgen in Ormanie werden geschliffen, aber der maßlosen Unerbittlichkeit Wates wird Einhalt geboten; der Gegner wird nicht vernichtet, sondern nur geschwächt. Aus der Position der Dominanz heraus u. nach dem Prinzip, dass »niemand Feindschaft mit Bosheit begleichen darf« (1595,3), kann dann Kudrun mit der Staatsaktion der drei Eheschließungen am Ende Frieden stiften. Entscheidend ist dabei das neu entstehende Beziehungsgeflecht, das eine gegenseitige Kontrollierbarkeit ermöglicht u. das Risiko berechenbar macht. Durch diese neuen »Konfliktlösungsstrategien« (Wenzel) erscheint ein Rachgedanke »obsolet« (Vollmann-Profe). Der rationalisierte Einsatz von Gewalt ist nicht nur am Ende der Handlung ein Prinzip. Auch als der abgewiesene Brautwerber Herwig die Burg ihres Vaters angreift, erreicht Kudrun durch ihre Annahme der Verlobung das Ende der Feindseligkeiten. Schon vorher hatte ihre Mutter den Werber u. den erbosten Brautvater Hagen versöhnt, sodass die Gewalt auch hier in Grenzen gehalten werden konnte. Hagen der Greifentöter erinnert an Siegfried den Drachentöter. Wie Siegfried im Drachenblut badet u. fortan das Wilde des Untiers mit sich führt, bringt Hagen die Gewalt aus dem myth. Bereich der Greifeninsel (wo er das Blut der erlegten Tieren trinkt) in

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Literatur: Friedrich Panzer: Hilde – Gudrun. den höf. Raum. Doch ist sie von Beginn an gebändigt, denn die »Robinsonade« mit den Halle 1901. – Hugo Kuhn: K. (1956). In: Ders.: Text drei ebenfalls entführten Damen ist eine u. Theorie. Stgt. 1969, S. 206–215. – Werner Hoffschrittweise (wenngleich partielle) Rekon- mann: K. Ein Beitr. zur Deutung der nachnibelung. Heldendichtung. Stgt. 1967. – Hinrich Siefken: struktion des Höfischen. Das ist Vorausset- Überindividuelle Formen u. der Aufbau des K.zung dafür, dass bei seiner Rückkehr an den Epos. Mchn. 1967. – Karl Stackmann: K. In: VL. – Hof die Gewalt aus dem myth. Bereich nicht Theodor Nolte: Das K.-Epos – ein Frauenroman? zu wuchern beginnt u. die normale Welt Tüb. 1985. – Winder McConnell: The Epic of K. A verschlingt, wie im Nibelungenlied. Hagen Critical Commentary. Göpp. 1988. – Barbara Siebraucht nicht, wie Siegfried, beseitigt zu bert: Rezeption u. Produktion. Bezugssysteme in werden (Müller), sondern wird der erste der K. Göpp. 1988. – Marion E. Gibbs: From Alischanz to Wülpensant. In: German Narrative LiteFriedenstifter im Roman. rature of the 12th and 13th Centuries. Tüb. 1994, Der spürbare legendarische Einschlag in S. 305–317. – Gisela Vollmann-Profe: Kudrun – der K. macht indes eher den Kontrast der eine kühle Heldin. In: Blütezeit. FS L. Peter JohnKudrunfigur zum Vorbild christl. Dulderin- son. Tüb. 2000, S. 231–244. – Kerstin Schmitt: nen deutlich: Kudruns Leiden entsteht nicht Poetik der Montage. Figurenkonzeption u. Interdurch passive Demut, sondern durch ihr Be- textualität in der K. Bln. 2002. – Jan-Dirk Müller: harren auf die gültige Rechtslage (sie wurde Verabschiedung des Mythos. Zur Hagenepisode der Herwig verlobt), ist also trotziger Widerstand K. In: Präsenz des Mythos. Konfigurationen einer Denkform in MA u. früher Neuzeit. Hg. Udo u. damit geeignet für eine adelige HerrscheFriedrich u. Bruno Quast. Bln. 2004, S. 197–217. – rin. Das rückt das K.-Epos in die Nähe von Franziska Wenzel: Die Gesch. des gefährl. BrautWolframs von Eschenbach Willehalm, dessen vaters. In: Euph. 99 (2005), S. 395–423. – Victor Gyburc-Figur, die wie Kudrun Ziel erbitterter Millet: German. Heldendichtung im MA. Eine Kämpfe feindlicher Völker ist u. sich um Einf. Bln. 2008. Hilkert Weddige / Victor Millet Schadensbegrenzung bemüht, gewiss dem K.-Dichter als Vorbild diente. Allerdings ist Kudrun im Vergleich zu Gyburc deutlich Kübler, Arnold, * 2.8.1890 Wiesendangen/ entproblematisiert: Sie ist keine Grenzgän- Kt. Zürich, † 27.12.1983 Zürich. – Dragerin, wie Willehalms Ehefrau, doch ihre matiker, Erzähler; Zeichner, Kabarettist. Vorschlägen, Racheimpulse auf eine Vergel- K. war der jüngste Sohn eines Bauern u. tung für Unrecht zu reduzieren, haben bei Gastwirts, wuchs in Wiesendangen auf, beden Männern mehr Erfolg als im Wolf- suchte in Winterthur das Gymnasium u. sturam’schen Werk. dierte zunächst in Zürich Geologie, ehe er Die Verlagerung des erzählerischen Ge- sich nach Aufenthalten in Rom, Berlin u. wichts von den Werbern auf die umworbenen Delft bei Hans Markwalder in Zürich zum Frauen hat der K. das Etikett eines »Frauen- Bildhauer ausbilden ließ. Nach dem Ersten romans« eingetragen. Der Begriff bezeichnet Weltkrieg begann er in Berlin u. Dresden eine jedoch eher ein aktuelles Rezeptionsinteresse Laufbahn als Schauspieler, die jedoch jäh zu als historisch fassbare Überlegungen des Ende ging, als eine Operation entstellende Textes, die deutlich komplexer sind. Die Narben in seinem Gesicht zurückließ. Forschung des 19. Jh. stellte das Werk, unK., der mit Schuster Aiolos (Potsdam 1922. geachtet seiner kompositor. Schwächen, ne- Zürich 1948. Elgg 1967) 1922 in Berlin beben oder gar über das Nibelungenlied. In ihrer reits auch Erfolg als Dramatiker gehabt hatte, Zeit steht die K. hingegen isoliert; sie hat kehrte 1926 nach Zürich zurück, wo er zumindest keine fassbare Resonanz gefun- 1931–1941 der »Zürcher Illustrierten« bzw. 1941–1957 der Monatsschrift »du« als Chefden. Ausgaben: K. Die Hs. Hg. Franz H. Bäuml. Bln. redakteur vorstand. Mit beiden Organen 1969. – K. übers. u. komm. v. Bernhard Sowinski. wurde er zu einem wichtigen kulturellen Stgt. 1995. – K. Nach der Ausg. v. Karl Bartsch hg. Vermittler u. Impulsgeber u. förderte insbes. zahlreiche künstlerische (z.B. die Fotografen v. Karl Stackmann. Tüb. 2000.

Kübler

Emil Schulthess u. Paul Senn) bzw. literar. Talente (Friedrich Glauser, Annemarie Schwarzenbach). Neben dieser Berufsarbeit ließ K. aber auch die eigenen schöpferischen Talente nicht brachliegen. In Soloprogrammen trat er mit selbstverfassten, z.T. mundartl. Kabarett-Texten in Erscheinung (vgl. dazu Sage und schreibe. Zürich 1969), während er seine künstlerischen Ambitionen immer stärker auf die Strichzeichnung konzentrierte, in welcher er es v. a. als Buchillustrator zu anerkannter Meisterschaft brachte. Ähnlich wie er das Erzählerische stets um das opt. Moment zu erweitern suchte, wollte K., wie z.B. sein humoristisch-zeitsatir. »FahrradEpos« Velodyssee (Zürich 1955. 1964) zeigt, auch überkommene literar. Formen mit provozierend modernen Inhalten neu lebensfähig machen – eine Tendenz, von der allerdings die Arbeit an seinen Romanen unberührt erscheint. Nachdem er mit dem autobiogr. Roman Der verhinderte Schauspieler (Lpz. 1934. Mchn. 2006) bzw. mit dem launig-humorvollen Prosaband Das Herz, die Ecke, der Esel und andere Geschichten (Zürich 1939) als Erzähler debütiert hatte, schuf er ab 1943 mit der zuletzt unvollendet gebliebenen sog. Öppi-Tetralogie sein umfangreichstes u. meistbeachtetes literar. Werk. Das in der Tradition des dt. Bildungs- u. Entwicklungsromans stehende, über 2100 Seiten umfassende Epos schildert nur leicht verfremdet die ersten 40 Jahre von K.s Leben u. stellt insg. eine poet. Liebeserklärung an die Schwedin Alva Jessen dar, die 1927 K.s Frau wurde u. im Roman als Eva porträtiert ist. Öppi von Wasenwachs. Der Bub ohne Mutter (Zürich 1943. 2., veränderte Aufl. 1965. 1991) beschreibt Kindheit u. Jugend des Verfassers in Wasenwachs (Wiesendangen) u. darf als der erzählerisch dichteste, stimmungsvollste Teil des Werks gelten. Öppi der Student (Zürich 1947. 1991) schildert die Studienjahre in »Cheudra« (aus Zürichdt. »cheu dra« = »kau daran«, für Zürich) u. Rom, während Öppi und Eva (Zürich 1951. 1969. 1991) die eigentl. Liebesgeschichte vorträgt. Der vierte Band – an einem fünften arbeitete K. noch bis zu seinem Tod –, Öppi der Narr (Zürich 1964. 1991), behandelt die Erfahrungen des Protagonisten als Redakteur der »Cheudraer«

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alias »Zürcher Illustrierten«. Über die ganze Romanserie, für die K. 1963 mit dem Literaturpreis der Stadt Zürich geehrt wurde, urteilte Karl Fehr: »Küblers Tetralogie ist keine narzißtische Selbstauslegung, noch weniger eine Selbstrechtfertigung eines Schreibbesessenen, sondern eine mächtig ausgebreitete Saga oder eben ein Epos, das nicht Subjektives genießerisch einfängt, sondern dieses Subjektive in einer Welt zur Sprache bringt, die Kübler erkennend, deutend und mißdeutend, vor allem aber bewundernd und liebend und mit freundlicher Ironie in sein Sprachnetz einbezieht« (Vielfältige Kreativität. Zum Tode von Arnold Kübler. In: NZZ, 29.12.1983). Zwingender, unmittelbarer als in diesem kompositorisch wenig befriedigenden Riesenwerk entfaltete sich K.s Erzähltalent in jenen Büchern seiner letzten Schaffenszeit, die ihren unverwechselbaren Charakter durch die Kombination von Text u. Zeichnung erhielten: Zürich. Erlebt, gezeichnet, erläutert (1960), Stätten und Städte. Erlebt, gezeichnet, erläutert (1963), Zeichne, Antonio! (1966. 1978), Babette, herzlichen Gruß (1967) u. v.a. Paris – Bâle à pied (1967. 1970; alle Zürich), der erzählerisch-zeichnerische Bericht über eine Fußreise des 75-Jährigen von Paris nach Basel. Den Abschluss fand diese Serie mit Israel, ein Augenschein (Zürich 1970) u. Verweile doch! (Zürich 1974. 1976), wo K.s einzigartige Fähigkeit, ein Phänomen sowohl optisch als auch sprachlich festzuhalten, nochmals ihren ganzen Zauber entfaltet. Der Nachlass in der Zentralbibliothek Zürich umfasst nicht nur K.s unveröffentlichte literar. Texte, sondern auch zahllose künstlerische Zeugnisse, z.B. die höchst bedeutsamen, seit 1921 geführten Skizzenbücher, die 1969 in einer Ausstellung in Zürich erstmals gezeigt wurden. Weitere Werke: Bauer u. Arbeiter. Text zu einem Fotobuch v. Paul Senn. Zürich 1943. – In Alfred Huggenbergers Land. Eine Winterreise mit Zeichnungen des Verfassers. Zürich 1958. – Mitenand, gägenenand – durenand. Ein Bildbuch vom Umgang mit dem Nächsten in der Schweiz. Zürich 1959. – Das Wagnis. Eines Zürchers Büchlein über Basel. Basel 1961. – 48 heitere Gesch.n. Zürich 1961. – Ein Wort zum Andenken an den Schriftsteller Boris Vian. Burgdorf 1961. – Cognac. Olten

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Küchelbecker

Küchelbecker, Johann Basilius, * 29.6. 1697 Linda bei Neustadt/Orla, † 29.8. Literatur: Werner Weber: A. K. Schreiber, 1757 Driewitz/Oberlausitz. – Jurist u. Zeichner, Schauspieler. Zürich 1978 (Bildmonogr.). Reiseschriftsteller. 1966. – De schwarz Panther. Elgg 1967 (Mundartlustsp.). – Rapperswiler Skizzen. Rapperswil 1973.

– Bruno Stephan Scherer: Begegnung mit A. K. Luzern 1978. Neuausg. Goldau 1990 (mit 21 Zeichnungen A. K.s). – Karl Fehr: Ausbruch aus der Wiss. – Aufbruch zur Kunst. A. K.s religiöse Welt. In: NZZ, 9./10.6.1984, S. 66. – Beatrice v. Matt: ›Mut ist still‹. Ein Hinweis auf A. K.s kleine Gesch.n. In: Dies.: Lesarten. Zürich/Mchn. 1985, S. 47–52. – Werner Weber: A. K. (1890–1983). Porträt. In: Große Schweizer u. Schweizerinnen. Hg. Erwin Jaeckle. Stäfa 1990, S. 640 ff. – Hommage an A. K. Zürich 1991. – Annemarie Schwarzenbach: Ein Brief an A. K. In: Drehpunkt 24 (1992), H. 84, S. 54–61. – Bruno S. Scherer: A. K. (1890–1983). Der Pilger u. der Wanderer. In: Grenzfall Lit. Hg. Joseph Bättig. Freib. 1993, S. 108–120. Charles Linsmayer / Red.

Kübler, (Johann) Jakob, * 6.1.1827 Winterthur, † 8.3.1899 Wülflingen. – Lyriker, Erzähler, Dramatiker. K. war Sohn eines Lehrers. 1848 schloss er sein Theologiestudium an der Universität Zürich mit der Ordination ab u. promovierte zgl. an der Universität Königsberg über Grundzüge einer Religionsphilosophie. Nach Studienaufenthalten in Paris u. Tübingen wirkte er 1851–1898 als reformierter Pfarrer in Neftenbach/Kt. Zürich. K.s frühe Gedichte sind mit ihrer krassen, von Herwegh beeinflussten Metaphorik repräsentativ für die radikale, antijesuit. Kampfliteratur um 1848 (Lieder des Kampfes. Hg. zus. mit Salomon Tobler, Gottfried Keller u. Robert Weber. Winterthur 1848, S. 53–127). Die späteren Werke, Gedichte u. histor. Erzählungen, sind konventionell. Weitere Werke (Erscheinungsort jeweils Winterthur): Schneeglocken. 1845 (L.). – Trenmor, der Zerstörer des Druidenreiches. 1848 (Schausp.). – Gedichte. 1850. – Neue Gedichte. 1863. – Erzählungen aus der helvet. Revolution. 1879. – Drei Novellen. 1881. – Aus aller Welt. 1887 (E.en). Literatur: Alfred Zimmermann: Aus J. K.s letzten Jahren. In: Jb. der literar. Vereinigung Winterthur 2 (1920), S. 24–31. – Rémy Charbon: J. K. In: Kosch. – Karin Marti-Weissenbach: K. In: HLS. Rémy Charbon

Der aus einer Pfarrersfamilie stammende K. studierte seit 1715 Theologie, dann Rechtswissenschaft in Jena. Nach einem jurist. Praxisjahr in Naumburg/Saale war er seit 1720 für zehn Jahre in Leipzig Hofmeister adliger Studenten, die er wiederholt auf teils mehrjährigen Kavalierstouren durch Westeuropa begleitete. K. wurde 1729 in Utrecht promoviert, heiratete 1730, wurde 1731 Stadtsyndikus in Annaberg, 1735 Landsyndikus der Markgrafschaft Oberlausitz in Bautzen. Beobachtungen u. Erfahrungen seiner Reisejahre verarbeitete K. in einer Reihe von Reisebüchern. Während sich Der nach Engelland reisende curieuse Passagier [...] (Hann. 1726. 2 1736) im Wesentlichen auf die Stadt London beschränkt, berichtet K. in der Allerneuesten Nachricht vom Königreich Engelland (Ffm./Lpz. 1737) erstmals ausführlicher über Wirtschaftsverfassung u. Staatswesen sowie über die Lebensweise u. den Nationalcharakter der Engländer. In der Allerneuesten Nachricht vom römisch-kayserlichen Hofe nebst einer ausführlichen historischen Beschreibung der kayserlichen Residentz-Stadt Wien (Hann. 1730. 21732) führt er in die Hofordnung, das Zeremoniell sowie die reichsrechtl. Stellung des Kaiserhofs ein u. zeichnet ein umfassendes Städtebild Wiens. K.s Reisewerke entsprechen dem Typus der in polyhistorisch-gelehrter Erziehungsabsicht verfassten frühaufklärerischen Anleitungs- u. Begleitschriften für Kavaliersreisen, wie sie Joachim Christoph Nemeitz für Paris u. Johann Georg Keyßler für Italien vorgelegt haben. Weitere Werke: Kurtze jedoch curieuse Beschreibung der Kgl. Abtey S. Denis in Franckreich [...]. Zerbst 1726. – Zuverläßige u. gründl. Nachricht v. denen im Hl. Röm. Reiche gewöhnl. ReichsTagen, insonderheit aber v. Verfassung der fürwehrenden Reichs-Versammlung zu Regenspurg [...]. 2 Bde., Lpz./Bautzen 1742. Literatur: Christoph Weidlich: Zuverläßige Nachrichten v. denen ietztlebenden Rechtsgelehrten. Bd. 1, Halle 1757, S. 85–89. – Meusel 7, S. 395 f. – Das Belvedere im Kupferstichwerk v. Salomon Kleiner u. in der Beschreibung v. J. B. K.

Kuefstein Hg. Österr. Galerie. Wien ca. 1930. – John Alexander Kelly: German Visitors to English Theaters in the Eighteenth Century. Princeton/London 1936, S. 13 f. – DBA. Winfried Siebers / Red.

Kuefstein, Khueffsteiner, Kuf(f)stein, Hans Ludwig Frhr. (seit 1634 Reichsgraf) von, * 11.6.(?)1582 Schloss Greillenstein/Niederösterr., † 27.9.1656/57 Linz; Grabstätte: ebd., Minoritenkirche. – Diplomat u. Übersetzer. K., der Stammvater der 1750 erloschenen oberösterr. Linie des protestant. Grafengeschlechts Kuefstein, studierte offensichtlich in Prag, war aber bereits 1594 mit seinen Brüdern Johann Lorenz u. Johann Wilhelm (ehrenhalber?) in Jena immatrikuliert. Später bezog er vermutlich die Universitäten Straßburg u. Tübingen. Seine peregrinatio academica führte ihn nach Italien, an die Universitäten Bologna, Padua u. Siena sowie nach Spanien (1603). Nach seiner Rückkehr setzte er sich für die Interessen der niederösterreichischen protestant. Landstände ein, zu deren kaisertreuer Fraktion, den sog. Legitimisten, er gehörte. Über seine unterschiedl. Gesandtschaftsreisen in deren Angelegenheiten berichten seine bisher nicht edierten Tagebücher. 1627 konvertierte er zum Katholizismus. Ferdinand II. betraute ihn nun mit ehrenvollen Aufgaben; so leitete er 1628/29 eine kaiserl. Gesandtschaft an die Pforte nach Konstantinopel. Anfang 1630 wurde er zum Landeshauptmann von Oberösterreich ernannt. In dieser Eigenschaft wusste er mehrere Bauernaufstände zu beschwichtigen. Die zahlreichen Güter, die er erwarb, bildeten den Grundstock des Besitzes seines Geschlechts. Durch seine Übersetzungen zählt K. zu den bedeutendsten Vermittlern romanischer Literatur im frühen 17. Jh. Eine dt. Fassung von Boccaccios Fiammetta, die nie gedruckt wurde, scheint verloren gegangen zu sein. Seine Übertragungen aus dem Spanischen, Erster unnd anderer Theil der newen verteutschten Schäfferey, von der schönen verliebten Diana (Linz 1619) u. Das Gefängnüss der Lieb (Oels 1624 [?]. Lpz. 1625. Nachdr. Bern/Ffm. 1976), erlebten bis in die zweite Jahrhunderthälfte mehrere

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Auflagen u. trugen zur Herausbildung einer eigenen dt. Schäfer- u. höf. Gebrauchsliteratur bei. K. ist als einer der Wegbereiter der hochbarocken Übersetzungskunst anzusehen. K.s Diana ist die Übersetzung von Jorge de Montemayors Schäferroman Los siete libros de la Diana (etwa 1559) sowie von der ersten Fortsetzung, La Diana de Iorge de Montemayor, Segunda Parte, die Alonso Pérez um 1564 veröffentlichte. Montemayor erzählt die Geschichte des Schäfers Sireno, der seine Geliebte Diana während einer langen Abwesenheit an Delio verloren hat u. auf seinen Wanderungen immer wieder Schäfern u. Schäferinnen begegnet, die ebenfalls von Liebeskummer geplagt werden. In Pérez’ Fortsetzung bildet Sirenos Ringen um die Gunst der mittlerweile verwitweten Diana lediglich den Rahmen für eine Flut von locker zusammengefügten mytholog. oder höf. Erzählungen. Im verschachtelten Satzbau u. im Satzduktus der dt. Diana macht sich der Einfluss des Kanzleistils bemerkbar. K. reduziert in seiner Übersetzung die Erzählerrolle zugunsten der Handlung. Durch Aufschwellung, nach dem rhetor. Prinzip der amplificatio, steigert er die Anschaulichkeit. Der ausgiebige Gebrauch von Fremdwörtern wurde von Harsdörffer, der die K.’sche Diana überarbeitete (Nürnb. 1646. Nachdr. Darmst. 1970), reduziert; er brachte zudem die Verseinlagen in Einklang mit den Opitz’schen Regelvorschriften. Das Gefängnüss der Lieb geht auf Diego de San Pedros allegor. Liebesroman Cárcel de amor (1492) zurück. Geschildert wird die trag. Liebe von Constante (urspr.: Leriano) zu der Prinzessin Rigorosa (urspr.: Laureola), wobei der Ich-Erzähler als Briefbote auftritt. Eine Annäherung der Liebenden wird durch Verleumdungen u. falsche Zeugenaussagen hintertrieben, was Rigorosas Vater veranlasst, seine Tochter zum Tode zu verurteilen. Als die Lügengespinste durchschaut werden, schlägt Rigorosa aufgrund einer überspitzten Auslegung des höf. Ehrenkodex die Ehe mit Constante aus, worauf dieser sich zu Tode hungert. Der Konflikt zwischen der erstarrten formalen Ehrauffassung der höf. Welt, wie sie Rigorosa verkörpert, u. einem neuen,

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primär moralisch fundierten Ehrbegriff tritt Ottoman Empire (1550–1800) [...]. London 1988 bei K. gegenüber der Vorlage insofern zurück, (Ausstellungskat.). – Wolfgang Häusler: Audienz als er mit dem Werk auch einen Beitrag zur des Freiherrn H. L. v. K. bei Sultan Murad IV. am 5. Verfeinerung des höf. Wesens leisten will. Das Dez. 1628 [...]. Wien 2004. – Werner Braun: Thöne u. Melodeyen, Arien u. Canzonetten [...]. Tüb. zeigen nicht zuletzt seine Interpolationen, in 2004, passim. Guillaume van Gemert / Red. denen er sich bes. mit höf. Sitten u. mit der höf. Liebe befasst. Er fertigte seine Übersetzung denn auch in erster Linie für ein adliges Kügelgen, Wilhelm (Georg Alexander) Publikum an, wie die Vorrede an das »Adelivon, * 20.11.1802 St. Petersburg, † 25.5. che Frawenzimmer« bestätigt. 1867 Ballenstedt/Kreis Quedlinburg; K.s Diana u. sein Gefängnüss der Lieb haben Grabstätte: ebd., Friedhof. – Kunstmaler, eher allgemein auf die spätere Literatur ein- Schriftsteller. gewirkt, indem sie u. a. einen Beitrag zur Herausbildung des höf. Anstandsschrifttums Der Sohn des deutschbalt. Porträtmalers als eigener Gattung leisteten; konkrete Ein- Gerhard von Kügelgen wuchs in Dresden auf, flussnahme lässt sich im Einzelnen kaum besuchte das Gymnasium in Bernburg/Saale nachweisen. Auf die Diana nahmen einzelne u. studierte Malerei bei seinem Vater an der Nürnberger, bes. Harsdörffer u. Birken, in Dresdener Kunstakademie. Der Raubmord ihren Werken ausdrücklich Bezug, daneben am Vater, den K. entkleidet auf einem Acker hat ihr selbstverständlich die dt. Schäfer- fand (1820), führte zu einer Lebenskrise, die dichtung manches zu verdanken. Das Ge- K. auch in der Hinwendung zu einer pietist. fängnüss der Lieb regte unmittelbar das Liebes- Gläubigkeit nie ganz überwand. Überdies Gefängnüss (Bevern 1678) an, ein »Trauer- verminderte sich schon früh seine Fähigkeit Freuden-Spiel« der Komödianten, u. klingt zum Farbensehen. 1825/26 hielt er sich mit zudem in höfisch-sentimentalen Romanen einem Reisestipendium des Zaren in Rom auf wie der anonymen Unglückseligen Liebes- und u. freundete sich mit Ludwig Richter u. Karl Lebens-Geschichte des Don Francesco und Angelica Peschel an. 1827 heiratete er Julie, die Tochter Friedrich Adolf Krummachers. 1830–1833 (1667) nach. K.s Nachlass befindet sich in Schloss lebte die Familie im Kavaliershaus auf Schloss Greillenstein, im Linzer Landesarchiv sowie Hermsdorf im Radeberger Land, wo K. auch im Wiener Haus-, Hof- u. Staatsarchiv; er ist den Auftrag für ein Altarbild der Olaikirche in Reval ausführte, den er bei einem längeren noch wenig ausgewertet. Aufenthalt in St. Petersburg erhalten hatte. Ausgaben: Erster u. anderer Theil der newen verteutschten Schäfferey, v. der schönen verliebten Er wurde 1833 Hofmaler der kleinen ResiDiana [...]. Linz 1624. Internet-Ed.: dünnhaupt denz Ballenstedt, 1853 Kammerherr u. Bedigital. – Diana, v. H. J. de Monte-Major [...]. 3 Tle., treuer des geisteskranken Herzogs Alexander Carl von Anhalt-Bernburg. Von K.s Hand Nürnb. 1663. Internet-Ed.: dünnhaupt digital. Literatur: Bibliografien: Dünnhaupt 2. Aufl. stammen zahlreiche Skizzen, Porträts u. reBd. 4, S. 2429–2434. – VD 17. – Weitere Titel: Franz ligiöse Bilder im nazaren. Stil. In der Auseinandersetzung mit seiner Lev. Krones: H. L. v. K. In: ADB. – Günter Khinast: Beiträge zu einer Gesch. des Landes ob der Enns bensgeschichte fand K. zu seinem erzähleriunter dem Landeshauptmann H. L. v. K. [...]. Diss. schen Talent, das sich auch in zahlreichen masch. Innsbr. 1967. – Madeleine Welsersheimb: Briefen äußerte (vgl. Lebenserinnerungen des H. L. v. K. [...]. Diss. masch. Wien 1970. – Gerhart alten Mannes in Briefen an seinen Bruder Gerhard, Hoffmeister: Diego de San Pedro u. H. L. v. K. [...]. 1840–1867. Hg. Paul Siegwart v. Kügelgen u. In: Arcadia 6 (1971), S. 139–150. – Ders.: Die span. Johannes Werner. Lpz. 1923. Neuausg. Diana in Dtschld. Bln. 1972. – Ders.: Einf. In: H. L. v. K: ›Gefängnüss der Lieb‹. Bern/Ffm. 1976. – Karl u. d. T. Bürgerleben. Mchn. 1990). Nachhaltige Teply: Die kaiserl. Großbotschaft an Sultan Murad Wirkung hatte seine Autobiografie JugenderIV. 1628. Des Freiherrn H. L. v. K. Fahrt zur Hohen innerungen eines alten Mannes (postum Bln. Pforte. Wien (1976). – Georg Heilingsetzer: K. In: 1870), die in zahlreichen Teil- u. GesamtausNDB. – At the Sublime Porte. Ambassadors to the gaben sowie ergänzten Editionen als eines der

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Lieblingsbücher des dt. Bürgertums publiziert wurde (Gesamtausgabe der Autobiografie u. Briefe u. d. T. Erinnerungen. Lpz. 1924/ 25). Der Leser erhält einen Eindruck davon, wie die Kinder einer bürgerl. Künstlerfamilie zu Beginn des 19. Jh. aufwuchsen, u. zwar aus der Sicht eines erwachsenen Bewusstseins, das sich seiner Verdienste u. Möglichkeiten wie seiner Begrenzungen gewiss ist. Die mühevolle Behauptung eines friedl. familiären Binnenraums gegen die gewalttätige Außenwelt in der Zeit der Napoleonischen Kriege ist eindrucksvoll dargestellt. Hervorzuheben ist der formale Aspekt: K. konstruiert bewusst nicht ein »geschlossenes Ganzes«, sondern reiht die »Perlenschnur von Miniatüren« aneinander (Arno Schmidt), die seine Erinnerung behalten hat. Trotz der idyllischen Verklärung des Familienlebens verweigert sich die Darstellung jener »Rundung« zum gelungenen Leben, die ein Kennzeichen des (auto-)biogr. Schreibens in der zweiten Hälfte des 19. Jh. ist. Sie endet abrupt mit der Schilderung, wie der 18-Jährige den Leichnam des Vaters findet, u. ist so als »Autobiographie eines Melancholikers« (Knittel) auf dieses traumatisierende Zentralereignis zugeschnitten. Weitere Werke: Drei Vorlesungen über Kunst. Bremen 1842. – Von den Widersprüchen in der hl. Schrift für Zweifler. Bln. 1850. – Der Dankwart. Ein Märchen. Lpz. 1924. Literatur: Helmut Obst: W. v. K. Sein Glaubensleben auf dem Hintergrund der religiösen Strömungen seiner Zeit, insbes. des Herrnhuter Pietismus. In: PuN 19 (1993), S. 169–182. – Anton Philipp Knittel: Zwischen Idylle u. Tabu. Die Autobiogr.n v. Carl Gustav Carus, W. v. K. u. Ludwig Richter. Dresden 2002. Joachim Linder / Christian von Zimmermann

Kühl, Thusnelda, verh. Petersen, * 14.8. 1872 Kollmar/Unterelbe, † 24.7.1935 Rendsburg. – Romanautorin. Die sozialhistor. Umbrüche gegen Ende des 19. Jh., die der Begründer der Soziologie in Deutschland, Ferdinand Tönnies, in seinem Hauptwerk Gemeinschaft und Gesellschaft (1887) theoretisch analysiert, finden ihre belletrist. Entsprechung in den Romanen u. Erzählungen der Regionalschriftstellerin K.

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Beide haben ihre Kindheit u. Jugend an der schleswig-holstein. Westküste, im Dorf Oldenswort auf der Halbinsel Eiderstedt, verbracht. Zwei zentrale Themen durchziehen das gesamte Werk der K. in immer neuen Variationen: (1) der Alltag der ländl. Bevölkerung auf Eiderstedt, seine strukturellen Veränderungen u. die sich daraus für die Menschen dieser Landschaft ergebenden Probleme: der Übergang vom Ackerbau zur Weidewirtschaft, das Entstehen der »wüsten« Höfe, die zunehmende Proletarisierung immer breiterer Bevölkerungsschichten, der um sich greifende Alkoholismus, Krankheit u. Kindersterblichkeit, (2) die Beziehungen der Geschlechter untereinander, die Versuche der Frauen, aus ihrem familiären Alltag auszubrechen, sich beruflich auf eigene Füße zu stellen, eine neue Identität zu entwickeln, u. ihr viel zu häufiges trag. Scheitern. K. wuchs auf im Oldensworter Pastorat u. war für lange Jahre Lehrerin an der dortigen Dorfschule. Die Erfahrungen, die sie in dieser Zeit machte, verarbeitete sie in ihren Romanen, zum einen in ihrer Eiderstedt-Trilogie: Der Lehnsmann von Brösum (Jena 1904. Neuaufl. Oldenswort 1997 u. 2006), Um Ellwurth (Lpz. 1904. Neuaufl. Oldenswort 1999), Die Leute von Effkebüll (Jena 1905. Neuaufl. Oldenswort 1995 u. 2000), zum anderen in ihren Frauenromanen: Die Reidings (Barmen 1902), Die Töchter von Friedrichsholm (Lpz. 1912. Neuaufl. Hbg. 2004), Renate Westedt (Bln. 1915. Neuaufl. Hbg. 2006). In ihren Schilderungen bleibt K. so dicht an der soziograf. Realität der Landschaft, dass sie mit dem Prädikat »Dichterin der Marschen« belegt wird. So beschreibt sie im Lehnsmann das Schicksal eines Hofes, der »wüste« zu werden droht, am Beispiel des Großbauern Frey Tönnies, der in die Stadt zieht, um dort von seinem Geld, das ihm die Viehwirtschaft eingebracht hat, zu leben. In Effkebüll wiederum ist unschwer Oldenswort zu erkennen. 1905 heiratete K. den Schulrektor Julius Petersen u. zog mit ihm nach Nortorf, auf die holsteinische Geest. Zur großen Verwunderung der zeitgenöss. Literaturkritik erschienen ab 1915 keine größeren Arbeiten mehr

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von ihr. In der Tagespresse bezog sie hin u. wieder Stellung zur »Frauenfrage«. Weitere Werke: Am grauen Strand, am grauen Meer. Bln. 1900. U. d. T. Das Pfarrhaus v. Herbersfleth. Bln. 1907. – Rüm Hart – klar Kimming. Bln. 1903. Neuaufl. Kiel 2003. – Harro Harring, der Friese. Glückstadt 1906. – Das Haus im Grunde. Jena 1906. Neuaufl. Oldenswort 2000. – Die Heimatlosen. Jena 1906. – Margarete Wendt. Bln. u. Lpz. 1907. – Der Inseldoktor. Bln. 1908. – Die junge Margarete Haller. Dresden u. Lpz. 1911. Neuaufl. Oldenswort 2000. Literatur: Arno Bammé (Hg.): T. K. Die Dichterin der Marschen. Mchn’./Wien 1992. – Wilhelmine Kühl u. T. K.: Die Chronik u. andere Materialien. Hg. v. A. Bammé. Klagenf. 1995. – Hauke Koopmann: Novellen v. T. K. In: Zu früh zum Aufbruch? Schriftstellerinnen im Nordfriesland der Jahrhundertwende. Hg. A. Bammé u. a. Bräist/ Bredstedt 1996, S. 85–104. – Carsten Scholz: ›der Wirklichkeit bescheiden nachgewandelt‹. Zum Verhältnis v. Leben u. Werk bei T. K. In: Nordelbingen 69 (2000), S. 159–174. – A. Bammé: Vergesst die Frauen nicht! Die Halligen, das Meer u. die Weiblichkeit des Schreibens. Neumünster 2007, S. 40–68. Arno Bammé

Kühlmann, Richard von, * 3.5.1873 Istanbul, † 6.2.1948 Ohlstadt/Obb. – Politischer Schriftsteller, Erzähler.

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Seit Anfang der 1930er Jahre publizierte K. politische u. diplomatisch-histor. Schriften (Gedanken über Deutschland. Lpz. 1931. Aufwärts trotz alledem. Bln. 1933. Entwicklung der Großmächte vom Sturz Napoleons bis zur Gegenwart. Bln. 1936. Die Diplomaten. Bln. 1939), in denen er sich vom liberalen Gegner der Diktatur zum konservativen Fürsprecher des »willensstarken Führers« wandelte. Von seinen drei Romanen verdient nur der erste (Der Kettenträger. Bln. 1932) hervorgehoben zu werden. Darin schildert K. vorgeblich das Leben der Deutschen um 1930 (so der Untertitel), tatsächlich handelt es sich aber um die bieder u. fantasielos erzählte Geschichte vom finanziellen Ruin einer grundbesitzenden Adelsfamilie in der Zeit der Weltwirtschaftskrise. Die in Deutschland höchst seltene Kombination von Diplomatie u. Schriftstellerei verkörpernd, vermochte K. jedoch den seit 1918 erworbenen Ruf des wirtschaftsmächtigen polit. »Bankrotteurs« ebensowenig abzulegen wie er das krit. Urteil Kesslers widerlegen konnte, er sei »unter aller Hülle geistiger Befähigung und zynischer Gleichgültigkeit ein dicker Genußmensch« (Tagebuch, 1919). Als Diplomat hatte er sich hingegen schon zuvor bleibende Verdienste um die dt. Außenpolitik erworben. Weitere Werke: Saturnische Sendung. Lpz.

K., Sohn des Generaldirektors der anatol. 1935 (R.). – Immaculata. Eine Gesch. v. Liebesglück Eisenbahngesellschaft, ging in München u. u. Liebestod. Dresden 1937 (R.). – Erinnerungen. Augsburg zur Schule, studierte Jura u. trat Heidelb. 1948 (Autobiogr.). Literatur: Ralf Berg: K. In: NDB (mit Bibliogr.). nach der Promotion in Heidelberg in den diplomat. Dienst. Als Botschaftsrat wirkte er – Markus Bußmann: ›Ein liberaler Konservativer, u. a. in Tanger, Petersburg, Teheran, Wa- ein konservativer Liberaler‹. R. v. K., die Diploshington, London, Den Haag u. Istanbul. matie u. die Liberalen. In: Jb. zur LiberalismusForsch. 12 (2000), S. 121–175. Bekannt wurde er in seiner Funktion als Wilhelm Haefs / Red. Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, als er im März 1918 die Friedensverträge mit Russland u. Rumänien schloss. Wenig später, Kühn, August, eigentl.: Helmuth-Hans nach Differenzen mit der Obersten HeeresMünch, auch: Rainer Zwing, * 25.9.1936 leitung u. mit Ludendorff, demissionierte er. München, † 9.2.1996 Hinterwössen/ K. lebte fortan in Berlin u. bekleidete FühChiemgau. – Erzähler u. Dramatiker. rungspositionen in der Wirtschaft. Überdies machte er sich als Dichterfreund (bereits vor Die jüd. Herkunft seines Vaters zwang nach dem Krieg hatte er Kontakt zum Kreis um dessen Flucht aus Deutschland auch K. u. Rudolf Alexander Schröder, Alfred Walter seine Mutter ins Schweizer Exil (1939–1945). Heymel, dessen Schwager er war, u. Harry Nach der Rückkehr besuchte K. in München Graf Kessler), Kunstsammler u. Schriftsteller die Realschule, absolvierte eine Lehre als einen Namen. Optikschleifer u. arbeitete in verschiedenen

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Berufen, u. a. als Journalist u. kaufmänn. tigen Fußmarsch durch die Republik, um in Angestellter. Nachdem er sich 1964/65 bei Redaktionen u. Buchhandlungen zu erfahder »Verkehrten Welt« als Texter u. Kaba- ren, was »dem Land seine Dichter wert« sind rettist versucht hatte, gelang ihm 1972 mit (Deutschland – ein lauer Sommer. Mchn. 1984). Westend-Geschichte. Biographisches aus einem In dem Fragment Wir kehren langsam zur Natur Münchner Arbeiterviertel (Mchn.) ein viel be- zurück (Mchn. 1984. Bln./DDR 1985) schlug K. achtetes literar. Debüt. Mit diesem waren vor dem Erfahrungshintergrund seines eigeIntention u. Stoffkreis seines weiteren Schaf- nen Familienschicksals einen zeitgeschichtl. fens weithin vorgegeben, nämlich Geschich- Bogen von aktuellen antisemit. Tendenzen te, Alltag u. soziale Situation der »kleinen zurück zur Judenverfolgung während des Leute« aus der »Perspektive von unten« dar- »Dritten Reiches«. Zu dem für ihn typischen, zustellen u. in Vergessenheit geratene bzw. episch-authentischen Erzählgestus fand K. in verdrängte proletar. Traditionen wieder be- Meine Mutter 1907 (Mchn. 1986) zurück. Der wusst zu machen. Nachdem K. in Eis am Ste- Roman, bereits im Titel als Reverenz an Oskar cken (Ffm. 1974. Vervollständigte Neuausg. Maria Graf kenntlich, ist ein bewegendes Dortm. 1985) noch auf eigene Berufserfah- menschl. Dokument u. Sittenbild zugleich. rungen zurückgegriffen hatte, demonstrierte K., der Mitgl. des schweizerischen PEN u. der er dies v. a. in seinem bekanntesten, 1978 für DKP war, erhielt neben einem Stipendium das Fernsehen verfilmten Werk Zeit zum Auf- des Deutschen Literaturfonds 1982 den stehn (Ffm. 1975 u. ö. Mchn. 1986, auch ins Ernst-Hoferichter-Preis der Stadt München. Russische übers.), worin die ökonomischen, Weitere Werke: August Kühns Münchner sozialen u. kulturellen Lebensbedingungen Gesch.n. Ffm. 1977. – Die Affären des Herrn Franz. der sozialen Unterschicht seit den 1870er Dortm. 1979 (R.). – Die Abrechnung. Mchn. 1990 Jahren am Beispiel dreier Arbeitergeneratio- (R.). – Die Anfänge der Hochrüstung u. der Beginn nen sowie ihre Kämpfe um ein menschen- der stehenden Heere in Europa. 3 Bde., Hinterwürdigeres Dasein geschildert werden. Einen wössen 1986–92 (Sachbuch/Dokumentation). Literatur: Hermann Kähler: Die Chronik einer noch größeren zeitl. Bogen spannt K. in seinem Roman Die Vorstadt (Mchn. 1981. Bln./ Arbeiterfamilie. In: SuF 28 (1976), H. 1, S. 81–85. – Walter Hinck: Germanistik als Gegenwartslit. Ffm. DDR 1983. Mchn. 1987), in dem er die histor. 1983, S. 82–90. – Munzinger-Archiv. Ravensburg u. soziale Entwicklung des Münchner Stadt- 1983, S. 262–264. – Wolfgang Pape u. Bernhard viertels Au seit dem 13. Jh. ausschreitet: De- Graf: Gesch. in Gesch.n. Zu O. M. Grafs u. A. K.s tailreich verfolgt er hier die Geschichte einer Romanen ›Das Leben meiner Mutter‹ u. ›Meine weitverzweigten Familie durch die Jahrhun- Mutter 1907‹. In: Anpassung u. Utopie. Hg. Thoderte. Ins Lehrhafte tendieren das Stück Zwei mas Kraft u. Dietz-Rüdiger Moser. Mchn. 1987, in einem Gewand (zuerst Mchn. 1974, verän- S. 148–161. – KindlerNeu, Bd. 9, S. 822. – Manfred derte Ausg. Ffm. 1976) u. die beiden Schel- Bosch: A. K. In: KLG. – Gerd Holzheimer: A. K. In: menromane Jahrgang 22 oder Die Merkwürdig- LGL. Irmgard Lindner / Manfred Bosch keiten im Leben des Fritz Wachsmuth (Mchn. 1977. 1991, auch ins Bulgarische u. SlowakiKühn, Auguste (Sophie), auch: C. Novis, sche übers.) bzw. Fritz Wachsmuths Wunderjahre * 1795 Joachimsthal, † nach 1845 Berlin. – (Königst./Ts. 1978. Reinb. 1981). Hier macht Verfasserin von Gedichten, Novellen u. K. die »Gegenprobe« auf das von ihm proKinderbüchern. pagierte Klassenbewusstsein, um so das vermeintlich Verfehlte einer unpolitisch geleb- K., die Tochter eines Arztes, wurde in Berlin ten Existenz zu demonstrieren. Sein Pseud- zur Erzieherin ausgebildet. Nach Anstellunonym Rainer Zwing hatte K. erstmals 1973 gen in Dresden, Waldenburg/Schlesien u. für die Urfassung seines später umgearbeite- Ratibor kehrte sie später nach Berlin zurück. ten Volksstücks Der bayerische Aufstand (Mchn. K. debütierte als Lyrikerin in verschiedenen 1995) sowie für die Satirensammlungen Zeitschriften. Ihre Gedichte sind deutlich von Massbierien (Ffm. 1977. Mchn. 1982) verwen- klassischen u. romant. Vorbildern geprägt, det. 1984 begab er sich auf einen dreimona- wie etwa ihr 15 Stanzen umfassendes Dich-

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tergedicht Schiller zeigt, das 1822 in Syman- Kühn, Dieter, * 1.2.1935 Köln. – Romanskis »Zuschauer« erschien. K.s Naturgedich- u. Hörspielautor, Dramatiker, Biograf u. te, in denen eine melancholische, bis zur To- Essayist. dessehnsucht reichende Grundstimmung in der Landschaft gespiegelt wird (vgl. das Ge- Seine Kindheit u. Jugend verbrachte K. in dicht Herbstgedanken), enden zumeist mit ei- Bayern; 1949 siedelte er nach Düren über. ner versöhnl. Sentenz: »Uns kümm’re nicht Nach dem Abitur 1955 studierte er in Freider rasche Flug der Horen, / Neu wird das burg/Br., München u. Bonn Germanistik u. Leben durch den Tod geboren.« Ein morali- Anglistik. Während seiner Studienzeit war er sierender Gestus bestimmt auch ihre zahl- ein Jahr als Teaching Assistant in Amerika reichen lyr. »Parabeln« u. Gedankengedichte, (Haverford College) tätig. 1964 promovierte die Titel wie Hoffnung und Muth u. Nothwen- er mit Analogie und Variation. Zur Analyse von digkeit und Freiheit tragen. Unter dem Pseud. Robert Musils Roman ›Der Mann ohne EigenC. Novis veröffentlichte K. eine zweibändige schaften‹ (Bonn 1965) zum Dr. phil. Nach Sammlung Novellen (Braunschw. 1839). Die kurzer Redakteurstätigkeit arbeitet K. seit Eingangsnovelle Des Schicksals Rache, die im 1965 als freier Schriftsteller. Er ist Mitgl. des Hause einer portugies. Adelsfamilie zur Zeit dt. PEN-Zentrums u. lebt in Brühl bei Köln. der Befreiungskriege angesiedelt ist, gestaltet 1993 hielt K. an der Frankfurter Universität das modische »Schicksalsthema« als trag. die renommierten »Frankfurter VorlesunAhnenfluch. Auch die anderen Novellen der gen«. Zu den Preisen, die er erhielt, zählen Sammlung verraten K.s Vorliebe für geheim- der »Stadtschreiber von Bergen« (1980/81), nisvolle Familiengeschichten u. mysteriöse der Große Literaturpreis der Bayerischen Kriminalfälle, deren Lösung in ausgreifenden Akademie der Schönen Künste (1989), der u. lebendigen Dialogen vorbereitet u. meist in »Mainzer Stadtschreiber« (1993) u. der »Jan Form einer auflösenden Analepse präsentiert Polak« Jugoslawien-Preis (2004). Zunächst trat K. als Hörspielautor hervor wird. Neben Novellen u. Erzählungen veröf(Das Transparent. WDR 1960). Für Goldbergfentlichte K. eine Reihe von Kinder- u. Jugendbüchern, die ihr pädagog. Interesse Variationen (BR 1974) erhielt er 1974 den spiegeln (Sophia. Erzählungen für die Jugend zur Hörspielpreis der Kriegsblinden. CharakteErweckung des sittlichen Gefühls. Breslau 1830). ristisch an K.s Arbeitsweise ist schon hier die In den 1840er Jahren trat K. auch als Über- Häufigkeit von Um- u. Überarbeitungen setzerin aus dem Französischen hervor (Graf einmal gewählter oder vorgefundener Sujets für unterschiedl. Medien (Radio u. Bühne), G. F. Volney: Die Ruinen. Lpz. 1843). Weitere Werke: Gedichte. Bln. 1826. – Bilder z.B. Gespräche mit dem Henker (Schausp., der Kindheit in Fabeln, Erzählungen u. Liedern für Urauff. Düsseld. 1979. Hörsp. WDR/SFB Knaben u. Mädchen des früheren Alters. Bln. 1838. 1984). Einige Hörspiele hat er in Prosatexte – Aus der Mährchenwelt. Bln. 1846. – Charles umgearbeitet, etwa Große Oper für Stanislaw Tristan de Montholon: Gesch. der Gefangenschaft den Schweiger (BR/WDR 1973) in den Roman Napoleons auf St. Helana. Bd. 1 (übers. aus dem Stanislaw der Schweiger (Ffm. 1975). Seinen Französischen), Lpz. 1846. Versuchen mit dem Theater (Im Zielgebiet. Literatur: Elisabeth Friedrichs: Die deutsch- Urauff. Wilhelmshaven 1982. Ein Tanz mit sprachigen Schriftstellerinnen des 18. u. 19. Jh. Mata Hari. Urauff. Lüneburg 1983. ZehntauStgt. 1981, S. 172 f. – Franz Heiduk: Oberschles. send Bäume. Urauff. Münster 1983) blieb groLiteraturlexikon. Tl. 2, Bln. 1993, S. 80. – Aiga ßer Erfolg bislang versagt. Klotz: Kinder- u. Jugendlit. in Dtschld. 1840–1950. Häufig gehen die literarischen u. essayist. Bd. 2, Stgt. 1992, S. 531. Hanna Klessinger Arbeiten K.s von einer konkreten histor. Figur aus, deren Biografie er in immer neuen Annäherungen umkreist. Er strebt nicht nur die Wiedergabe von baren Fakten an, sondern will stets auch den »Möglichkeitssinn« von Schicksalen u. Abläufen ausloten. Dabei spielt

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seine frühere Beschäftigung mit Musil eine prägende Rolle. Das Verfahren wird schon in K.s erstem Prosabuch N (Ffm. 1970) erkennbar. Hier beschreibt er nicht einfach das Leben Napoleons, sondern er erwägt gleichzeitig denkbare Alternativen zum geschichtlich verbürgten Geschehen u. fügt damit eine zusätzliche fiktive Ebene ein. Dieses Stilmittel verwendet K. auch in dem Roman Die Präsidentin (Ffm. 1973). Die Biografie der frz. Börsenspekulantin Marthe Hanau gibt hier nicht nur Anlass, die spröde Materie von Ökonomie u. Wirtschaftskriminalität mit literar. Mitteln darzustellen, sondern sie bietet auch Gelegenheit zu komplexen »Simulationsspielen«, in denen er sein Buch als »work in progress« vorstellt u. immer wieder den Erzähler selbst zum Gegenstand der Erzählung macht. Diese Thematisierung der literar. Arbeit im einzelnen Werk, der Prozess des Schreibens als Gegenstand des Geschriebenen, die souveräne Aufhebung der kategorialen Schranken zwischen unterschiedl. Zeiten, Orten u. Ebenen ist ein Kennzeichen von K.s Schaffen. Mit bes. Virtuosität ist dieser Doppelansatz in seinem erfolgreichsten Buch, Ich Wolkenstein. Eine Biographie (Ffm. 1977), verwirklicht, in dem er – unter Verwendung der germanist. Forschung u. auf der Grundlage eigener Untersuchungen – das Leben u. Wirken des spätmittelalterl. Dichters, Diplomaten u. Haudegens vor dem Hintergrund seiner Epoche darstellt. Für dieses Werk erhielt K. 1977 den Hermann-Hesse-Preis. Mit dem zweiten Versuch über einen mittelalterl. Dichter, Herr Neidhart (Ffm. 1981. Bearb. als Liederbuch für Neidhart. Ffm. 1983. Erw., gründlich rev. Neufassung u. d. T. Neidhart aus dem Reuental. Ffm. 1988), u. dem umfangreichen dritten Band Der Parzival des Wolfram von Eschenbach (Ffm. 1986) – die drei Bücher wurden nachträglich als MittelalterTrilogie bezeichnet – konnte K. an den Erfolg des Wolkenstein nicht anknüpfen. Das sorglos gesammelte u. mit hohem Anspruch in Szenarien ausgebreitete Material stammt z.T. aus veralteten Quellen u. besticht eher durch Buntheit denn durch gesicherte histor. Fakten. Die sehr lesbare, bisweilen eigenwillige Übersetzung des Parzival ist leider unvoll-

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ständig. In der zweisprachigen, von Eberhard Nellmann herausgegebenen Wolfram-Ausgabe des Deutschen Klassiker Verlags (Ffm. 1994) ist diese Version in komplettierender Überarbeitung übernommen. Eine überarbeitete Fassung Parzival wurde 1998 als Radio-Projekt im WDR gesendet (als Hörbuch Düsseld. 1997). 1991 ergänzte K. diese Trilogie zum Mittelalter-Quartett durch eine neue Übersetzung des fragmentar. Tristan-Romans von Gottfried von Straßburg (erg. durch die Forts. Ulrichs von Türheim) – wiederum in betont literarischer, bisweilen sehr freier Übertragung u. mit einem essayist. Vorwort, das eine Art Zeitreise ins hohe MA unternimmt u. den Boden halbwegs wissenschaftlicher Erkenntnis bisweilen verliert (Neufassung mit verändertem »VorBuch«, Ffm. 2003. Erneut überarb. u. mit einem eher erzählerischen »Apparat« im Anhang, Ffm. 2008. In populärer Ausw. u. d. T. Die Geschichte der Liebe von Tristan und Isolde. Ditzingen 1998; dazu auch das Hörsp. Im zweiten Kreis der Hölle: Tristan und Isolde. WDR 1999). Gegenwärtigen Themen wendet sich K. in der Erzählung Und der Sultan von Oman (Ffm. 1979) zu, in der er vor dem Hintergrund der Energiekrise von 1973 utop. Wirtschafts- u. Gesellschaftsformen durchspielt. Der Roman Die Kammer des schwarzen Lichts (Ffm. 1984), in dem psychosomat. Erkenntnisse umgesetzt werden, zeigt abermals das breite Themenspektrum K.s u. die Vielfalt seiner formalen Mittel. Neben zahlreichen Gelegenheitsarbeiten (vgl. etwa Netzer kam aus der Tiefe des Raumes. Notwendige Beiträge zur Fußballweltmeisterschaft. Hg. zus. mit Ludwig Harig. Mchn. 1974, oder die Herausgabe von Bettina von Arnims Aus meinem Leben. Ffm. 1982) hat er sich in mehreren Essays mit Fragen der Musik u. der Biografie von Musikern auseinandergesetzt (Musik und Gesellschaft. Bad Homburg. 1971. Erw. Neuausg. u. d. T. Löwenmusik. Ffm. 1979. Beethoven und der schwarze Geiger. Ffm. 1990. Neufassung Ffm. 1996. Clara Schumann, Klavier. Ein Lebensbuch. Ffm. 1996. Erw. Tb.-Fassung Ffm. 1998), zuletzt in der »erzählten Geschichte« Ein Mozart in Galizien über den vermeintl. MozartSohn Franz Xaver (Ffm. 2008). Dichtung u. Dichter stehen im Mittelpunkt mehrerer

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Werke, z.B. in Flaschenpost für Goethe (Ffm. Ffm. 1989. – Das Geheimnis der Delphinbucht. 1985), Goethe zieht in den Krieg. Eine biografische Ffm. 1998 (Kinderbuch). – Mit Flügelohren. Mein Skizze (Ffm. 1999), dem fingierten Brief- Hörspielbuch. Ffm. 2003. Literatur: Norbert Mecklenburg: D. K. In: Dt. wechsel Bettines letzte Liebschaften (Ffm. 1986; zgl. als zweiteiliges Hörspiel, NDR/HR), dem Lit. in Einzeldarstellungen. Hg. Dietrich Weber. biogr. Versuch Auf dem Weg zu Annemarie Böll Bd. 2, Stgt. 1977, S. 337–355. – Hans Szklenar: D. K. Trilogie des MA. In: Jb. Int. Germ. 21 (1989), H. (Bln. 2000), in Schillers Schreibtisch in Buchen1, S. 128–138. – Norbert Schachtsiek-Freitag: K. In: wald (Ffm. 2005) oder dem Roman Geheim- KLG. – Werner Klüppelholz (Hg.): D. K. Ffm. 1992. agent Marlowe (Ffm. 2007). In all diesen Bü- – Georg Patzer: D. K. In: LGL. – Stephanie Hünchern manifestiert sich K.s Neigung u. Bega- cken: D. K. u. die Biographik. Modernes Erzählen bung für ein biogr. Schreiben, das sich an zwischen Kunst u. Wiss. Siegen 2003. bestimmte histor. Personen bindet, dabei Rüdiger Krohn aber auf dem Wege der pointiert distanzierenden Annäherung u. Umkreisung der je- Kühn, Johannes, * 3.2.1934 Bergweiler/ weiligen Figur geschichtl. Fakten u. speku- Saarland. – Lyriker, Dramatiker, Zeichner lierende Fiktion ebenso willkürlich wie ab- u. Maler, Verfasser von Märchen. sichtsvoll montiert – wie etwa schon in Josephine. Aus der öffentlichen Biografie der Josephine Geboren als erstes von neun Kindern einer Baker (Ffm. 1976), der semifiktionalen No- Bergmannsfamilie, lebt K. bis heute in Hasvelle über Karl Philipp Moritz Das Heu, die born am Schaumberg. Da eine Erkrankung Frau, das Messer (Ffm. 1993; zgl. als Hörspiel, ihm ein Abitur unmöglich machte, besuchte Der Mann im Heu, WDR/MDR), dann weiter in er 1955 die Schauspielschule Saarbrücken u. der »Lebensgeschichte« Frau Merian! (Ffm. hörte als Gasthörer an den Universitäten 2002) u. schließlich der umfangreichen, Freiburg u. Saarbrücken. 1963–1973 arbeiteabermals von Hypothesen durchsetzten »po- te er in der Tiefbaufirma seines Bruders. lyphonen Biographie« Gertrud Kolmar. Leben Seitdem ist er freier Schriftsteller. K. wurde u. a. mit dem Kunstpreis des Saarlandes und Werk, Zeit und Tod (Ffm. 2008). K. ist auch als Lyriker (Schnee und Schwefel. (1988), der Ehrengabe der Deutschen SchilFfm. 1982. Neue Gedichte in: Neue Rundschau lerstiftung (1991), dem Horst-Bienek-Preis 1988, H. 2) u. Kinderbuchautor (Mit dem (1995), dem Christian-Wagner-Preis (1996), Zauberpferd nach London. Darmst. 1974. Hörsp. dem Stefan-Andres-Preis (1998), dem Hermann-Lenz-Preis (2000) u. dem Hölderlinauf Schallplatte 1977) hervorgetreten. Preis (2004) ausgezeichnet. Weitere Werke: Ausflüge im Fesselballon. Ffm. »Eine Glückshaut / fand ich nie an mir, / 1971 (R.). – Grenzen des Widerstands. Ffm. 1972 geboren bin ich / zu leiden.« Diese Haltung (Ess.s). – Siam-Siam. Ein Abenteuerbuch. Ffm. 1972. Verändert 1974. – Festspiel für Rothäute. eines an sich leidenden Einsamen prägt schon Ffm. 1974 (E.). – Unternehmen Rammbock. Plan- K.s literar. Debüt u. verschärft sich durch die spielstudie zur Wirkung gesellschaftskrit. Lit. Ffm. Erfahrungen seiner frühen Krankheit u. die 1974. – Luftkrieg als Abenteuer. Kampfschr. Mchn. Fron des Tiefbaus, wie er sie – neben anderen 1975. – Achmeds Geheimsprache. Velber 1976 Themen – in seinem zweiten Band Stimmen (Kinderbuch). – Op der Parkbank. Texte in Kölner der Stille (Saarbr. 1970) verarbeitet. Er schafft Mundart. Köln 1976 (3 Hörsp.e). – Herbstmanöver. damit eine sehr konkrete Arbeiterlyrik ohne In: Spectaculum 27, 1977 (Schausp.). – Ludwigs- jedes hochtönende Proletariats-Pathos. Belust. Ffm. 1977 (E.en). – Die Geisterhand. Ffm. dingt durch die ihn bedrückende Arbeitssi1978 (Kinderbuch). – Der Herr der fliegenden Fituation u. den ausbleibenden Erfolg als sche. Ffm. 1979 (M.; zgl. Kinderhörsp., SDR). – Schriftsteller wurde K. Opfer schwerer DeGalakt. Rauschen. Ffm. 1980 (6 Hörsp.e). – Auf der Zeitachse. Vier Konzepte. Ffm. 1980. – Der wilde pressionen u. verstummte Anfang der 1980er Gesang der Kaiserin Elisabeth. Ffm. 1982 (P.). – Der Jahre progressiv. Seine Freunde Irmgard u. Benno Rech beKönig v. Grönland. Köln 1984. Ffm. 1997 (R.). – Der Himalaya im Wintergarten. Ffm. 1984 (E.en). – gannen in der Folge, seine Gedichte zu verAuf der Zeitachse. Biogr. Skizzen – krit. Konzepte. öffentlichen, u. ab 1984 erschienen auf ihr

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Betreiben mehrere Bände, die aus seinem Fundus von ca. 7000 Texten der 1960er u. 1970er Jahre zusammengestellt sind. Allein die Titel sind aussagekräftig für Grundmotive dieser Lyrik: Sie kämpft mit dem Salzgeschmack (Saarbr. 1984) schwerer Stunden, der aber in hartnäckiger Lebenszuversicht immer wieder »ausgespuckt« wird; der Sprecher charakterisiert sich selbst als »Winkelgast« – d.h. als aufmerksam-unerbittl. Beobachter der dörfl. Gesellschaft aus der Ecke der Gasthausstube –, u. seine Sympathie gilt dabei v. a. den Benachteiligten u. Randständigen. Ein späterer Band Wasser genügt nicht (Mchn. 1997) versammelt Gedichte zum Motiv des Gasthauses u. lässt aus diesem Blickwinkel einen für die ländl. Gemeinschaft repräsentativen Kosmos entstehen. Immer wieder findet sich K.s Ich am Fenster (Am Fenster der Verheißungen. Mchn. 1989) oder ist Gelehnt an Luft (Mchn. 1992) als einem (kaum) Halt bietenden Element. Stilistisch schwingen deutl. Anklänge an die von K. bewunderten Dichter Hölderlin, Trakl oder Mörike mit; thematisch verarbeitet er ein breites Spektrum: von Mythologemen über Märchen, bibl. Stoffe bis hin zu Literaturreflexionen u. Momentaufnahmen der Alltagsrealität. Vor allem aber ist K. ein achtsamer u. emphatisch hingerissener Rhapsode sinnen-überwältigender Naturphänomene u. ihrer Leuchtspur (so der Titel eines Gedichtbandes, Mchn. 1995). Die Natur erscheint jedoch nicht in romant. Epigonalität, idyllisch oder verklärt, sondern gerade in ihrer Gefährdung durch die moderne Zivilisation als heilsam fremder, verletzter u. dennoch tröstl. Spiegel menschl. Befindlichkeit. Als sich Anfang der 1990er Jahre eine Anerkennung von K.s Werk abzuzeichnen begann, nicht zuletzt dank der Wertschätzung namhafter Kollegen wie Harig, Kunze u. Rühmkorf, ereignete sich ein »Auferstehungswunder« (Rühmkorf): K. begann wieder kontinuierlich zu schreiben, sogar mit einer staunenswerten Produktivität von – wie er selbst sagt – drei Gedichten pro Tag. Der Ton dieser neuen Gedichte ist distanzierter, pathos-scheuer geworden, u. sie erobern sich neben dem Leiden oder dem Elan hymni-

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schen Feierns vorher nicht gehörte Töne von Witz oder Selbstironie. Thematisch treten ein Empfinden der allg. Prekarität des Lebens u. Reflexionen des Alters in den Vordergrund. Dabei betrachtet K. sein Schreiben als sowohl in der Spontaneität verwurzelt (»Ich möchte, daß jedes Gedicht wie eine Improvisation erscheint«) als auch entschieden unter einem handwerkl. Aspekt u. nennt es »ein Planspiel unter einer Beabsichtigung bei großem Kunstaufwand«. Die zu seinem 70. Geburtstag erschienene, frühe autobiogr. Prosa Ein Ende zur rechten Zeit (Mchn. 2004) ist um einen Studenten zentriert, der seinen Ferienjob in einem Sperrholzwerk als einen »Wirklichkeitsschock« erfährt (Genazino) u. diese traumat. Erfahrung – er wird u. a. Zeuge eines schweren Arbeitsunfalls – in einem imaginären Geistesdialog mit Cicero aufzuarbeiten versucht. Aber auch die Natur, in die sich der Protagonist flüchtet, bietet keinen Schutzraum mehr, sondern erscheint allenthalben als verheert u. bedroht von der modernen Technologie u. von atomarer Zerstörung. Weitere Werke: Vieles will Klang, immer wieder. Buxheim 1957. – Die Totengruft. Urauff. 1966 (D.). – Zugvögel haben mir berichtet. Lebach 1988 (M.). – Ich Winkelgast. Mchn. 1989 (L.). – Meine Wanderkreise. Saarbr. 1990 (L.). – Blas aus die Sterne. Warmbronn 1991 (L.). – Der Geigenmensch. Urauff. 1991 (D.). – Wenn die Hexe Flöte spielt. Warmbronn 1994. – Lerchenaufstieg. Warmbronn 1996 (L.). – Hab ein Aug mit mir. Tholey 1998 (L.). – Em Guguck lauschdre. Gesamtausg. der Mundartgedichte mit Holzschnitten v. Heinrich Popp. Blieskastel 1999. – Vom Lichtwurf wach. Warmbronn 2000 (L.) – Mit den Raben am Tisch. Mchn. 2000 (L.). – Nie verließ ich den Hügelring. Blieskastel 2004 (L.). – Ich muß nicht reisen. Warmbronn 2004 (L.). – Ganz ungetröstet bin ich nicht. Mchn. 2007 (L.). Literatur: Peter Rühmkorf: Nachruhm zu Lebzeiten. In: Die Zeit, 14.9.1990. – Ludwig Harig: Ich bin bei meinem Knie zu Hause. Der Lyriker J. K. In: Die Horen 39.3, Nr. 175 (1994), S. 43 f. – Peter Görgen: Es schläft ein Igel leis in mir die Zuversicht. Über Trauer u. Hoffnung in den Gedichten v. J. K. In: Seitensprünge. Literaten als religiöse Querdenker (1995), S. 147–157. – Birgit Lermen: ›Es sind mir Mauerwände/ gestellt in den Weg‹. J. K.: Einf. in Leben u. Werk. In: Kath. Bildung Essen (1999), Nr. 9, S. 364–375. – L. Harig: Immer noch

Kühne

101 hab ich den Samt aus Gras. Lobrede auf J. K. In: J. K.: Mit den Raben am Tisch. Mchn. 2000, S. 189–199. – Irmgard u. Benno Rech: J. K. In: Muschelhaufen. Jahresschr. für Lit. u. Grafik 42 (2002), S. 65–72 (mit einer Bibliogr. u. Verweisen auf frühere Lit.). – B. Lermen: J. K. In: KLG. – L. Harig: Sterne hab ich gezählt. L. H. über J. K. Warmbronn 2004. – Alexander Joist: Erlösender Auferstehungston. Auferstehung u. Ostern in den Gedichten v. J. K. In: Stimmen der Zeit. 129.4, Bd. 222 (2004), S. 269–279. – EntdeckerMagazin: J. K. – Der Dichter aus dem Dorf. Alsweiler 2009. Pia-Elisabeth Leuschner

Kühne, (Ferdinand) Gustav, * 27.12.1806 Magdeburg, † 22.4.1888 Dresden. – Literaturkritiker, Journalist, Erzähler, Dramatiker. K., Sohn aus verarmter Handwerkerfamilie, besuchte das Joachimsthaler Gymnasium. In Berlin absolvierte er auch, gemeinsam mit seinem Schulfreund Mundt, 1826–1830 ein literarhistorisches u. philosoph. Studium; Hegel u. Schleiermacher zählten zu seinen akadem. Lehrern. 1830 wurde K. in Erlangen zum Dr. phil. promoviert. Kontakten zum Kreis um Rahel Varnhagen verdankte er journalist. Arbeiten, zunächst für die »Preußische Staatzeitung« u. die »Blätter für literarische Unterhaltung«, ab 1832 als Redaktionssekretär an den »Jahrbüchern für wissenschaftliche Kritik« in Leipzig. Eine Quarantäne im Irrenhaus. Novelle aus den Papieren eines Mondsteiners (Lpz. 1835) schrieb K. in »nachgemachter Heine-Manier«, ganz dem Formtypus des Vormärzromans entsprechend. Ein junger Mann wird auf Anweisung seines Oheims, des Ministers eines dt. Kleinstaates, wegen Verdachts auf liberale Ideen ins Irrenhaus – eine von Tieck wie von Gutzkow etablierte Zeitmetapher – eingeliefert. In dessen Tagebuchaufzeichnungen wollte K. sein »Glaubensbekenntniß über die Zeitrichtungen, über Hegel, deutsche Poesie, Börne, Heine, das gesammte sogenannte junge Deutschland, die psychologischen Krankheiten des heutigen Geschlechts u. d. gl.« geben (an Brockhaus, 26.12.1834), u. zwar in einem geistreichen »Witzstil«, der im Mythos von Faust die »versteinerte« dt. Spekulation, in dem von Don Juan aber die le-

bendige Liebe erkennt u. beide Mythen auf den Befreiungskampf der Polen zu projizieren weiß. Mundt, an dessen »Literarischem Zodiacus« (1835) K. mitarbeitete, diagnostizierte an dem exemplarischen Helden »den Culminationspunct eines mit Speculation übersättigten Nationalcharakters«. Der »absolute« faustisch-philosophische bleibt noch ein »provisorischer« Mensch; allerdings entlarvt sich doch – im Schicksal des Oheims – die widernatürl. Reaktion als der eigentliche Wahnsinn der Zeit. Nachdem Menzel in seiner »Denunziation« des Jungen Deutschland K. gleichsam als Kronzeugen gegen diese »Gallomanie« zitiert hatte (in: »Literaturblatt«, 19.10.1835), wurde dieser in die staatl. Verfolgung nicht einbezogen. Die eben angetretene Redaktion der Leipziger »Zeitung für die elegante Welt« führte er bis 1842 fort; 1846–1859 war er Besitzer u. Leiter der Lewald’schen »Europa«, die er noch bis 1864 herausgab. Auf Aufforderung Börnes hatte sich K. zu den Freiheitsidealen der verfemten jungdt. Gruppe bekannt, freilich nicht ohne Kritik an ihrem Vorgehen; Gutzkow u. Laube bestritten ihm daraufhin das Recht, ihr Märtyrertum zu teilen. Wie er in seinen Klosternovellen (auch u. d. T. Raoul. 2 Bde., Lpz. 1838) die jungdt. Religionskritik – am Beispiel des kath. Klerikalismus im Frankreich Heinrichs IV. – weitergeführt hatte, so wollte K. weiterhin, Lessing nacheifernd, auch in der »Europa« dafür kämpfen, »die Welt der Bildung zu befähigen, mitarbeitend theilzuhaben an den Fragen der religiösen und politischen Freiheit, wie an der Gestaltung des Vaterlandes«; es solle »keine Bollwerke mehr gegen die Macht der Öffentlichkeit und der Gemeinsamkeit Aller mit Allen geben«. Als »politischer Schriftsteller« kommentierte K. die Revolution von 1848 in Artikeln, die als Mein Tagebuch in bewegter Zeit (Lpz. 1863) gesammelt wurden. Nach 1848 hob er seine jungdt. Anfänge durch Umarbeitung seiner Schriften u. Neubehandlung alter Themen insg. im Konzept einer protestantisch-dt. Bildung auf. Die jungdt. Modegattung der politischkulturellen Charakterskizze mündet – über Weibliche und männliche Charaktere (2 Bde., Lpz.

Kühner

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1838), Porträts und Silhouetten (2 Bde., Hann. Kühner, Otto Heinrich, auch: Pummerer, 1843), Deutsche Männer und Frauen (Lpz. 1851), * 10.3.1921 Nimburg am Kaiserstuhl, Deutsche Charaktere (4 Bde., Lpz. 1864/65) – in † 18.10.1996 Kassel; Grabstätte: Schmilhistorisierende »Standbilder« zu einer linghausen (Bad Arolsen). – Hörspiel- u. »deutschen Litteratur- und Culturgeschichte Romanautor, Lyriker; Maler. des vorigen und des laufenden Jahrhunderts«. Am nationalliberalen Schillerkult ist Der Sohn des Pfarrers Gustav Kühner u. seiK. mit dem Schillerbuch (Dresden 1860) betei- ner Frau Luise war 1939–1945 Soldat u. stuligt. Seine – dort aufgenommene – Bearbei- dierte nach der Rückkehr aus der russ. tung des Demetrius war 1856 in Dresden auf- Kriegsgefangenschaft 1947 Philosophie, Ligeführt worden; doch insg. blieb K.s in teratur- u. Musikwissenschaft in Heidelberg, Bühnenwerken seit etwa 1840 belegter Ehr- war von 1950–1965 Hörspiellektor u. -drageiz als Dramatiker unbefriedigt. Im Dilem- maturg (SDR). Mit Die Übungspatrone (1950. ma zwischen Freiheit u. Einheit schließlich Ffm. 1981), einer Parabel über den Konflikt entschied K. sich für die nationalliberale Po- von Gewissen u. soldatischem Gehorsam, sition; er bejahte die Reichsgründung u. das begann sein Erfolg als Hörspielautor. Zu preuß. Kaisertum u. führte die religionskrit. Unrecht vergessen ist seine theoretisch-prakWerklinie über Die Freimaurer (Ffm. 1855) bis tisch orientierte Abhandlung Eine Dramaturgie zur Kulturkampf-Belletristik von Wittenberg des Hörspiels, der Funkerzählung und des Features (zuerst 1954 in Mein Zimmer grenzt an Babylon. und Rom (3 Bde., Bln. 1877) fort. Mchn.). Weitere Werke: Gedichte. Bln. 1831. – NovelDer fiktive Tagebuchroman eines dt. Offilen. Bln. 1831. – Die beiden Magdalenen oder Die Rückkehr aus Rußland. Lpz. 1833. – Die Rebellen v. ziers Nikolskoje (Mchn. 1953. Ffm. 1982), der Irland. 3 Bde., Lpz. 1840. – Sospiri. Bl. aus Venedig. zwischen Darstellung der »Not der Seele«, Braunschw. 1841. – Mein Carneval in Berlin. »dem Glanz des heiligen Schreckens« (VorBraunschw. 1843. – Skizzen dt. Städte. 3 Bde., Lpz. wort) u. einer individuellen dt.-russ. Liebes1855–57. – Ges. Schr.en. 12 Bde., Lpz. 1862–67. – utopie schwankt, verarbeitet eigene KriegsRöm. Sonette. Braunschw. 1869. – Romanzen, Le- erfahrungen, ebenso wie die Anthologie genden u. Fabeln. Dresden 1880 (L.). – EmpfunWahn und Untergang. 1939–1945 (Bln. 1957). denes u. Gedachtes. Hg. Edgar Pierson. Dresden Neben weiteren – z.T. komischen oder satir., 1889. mit modernen Erzählweisen experimentieLiteratur: Edgar Pierson: G. K. Dresden 1889. – Heinrich Hubert Houben: Jungdt. Sturm u. Drang. renden – Romanen schrieb K. humorist. LyLpz. 1911, S. 637–644. – Karl Wolf: G. K. Seine rik, meist mit dem naiven Logiker Pummerer Entwicklung als Novellist u. Romanschriftsteller. im Mittelpunkt, einem Nachfahren von Diss. Gött. 1925. – Walter Grupe: Mundts u. K.s Morgensterns Palmström. 1984 stiftete K. Verhältnis zu Hegel. Halle 1928. – Walter Dietze: zus. mit Christine Brückner, mit der er seit Junges Dtschld. u. dt. Klassik. Bln./DDR 1957, 1967 verheiratet war, den »Kasseler LiteraS. 89–94. – Jeffrey L. Sammons: G. K. Eine Qua- turpreis für grotesken Humor«. rantäne im Irrenhaus. In: Ders.: Six Essays on the Young German Novel. Chapel Hill 1972, S. 81–103. – Kurt Haß: G. K. als Herausgeber der ›Europa‹. Wiesb. 1973. – T. J. Hajewski: K.s Jungdt. Novellen. Diss. University of Maryland 1974. – Petra Hartmann: Faust u. Don Juan. Stgt. 1998. Walter Schmitz / Red.

Weitere Werke: Mein Zimmer grenzt an Babylon. Mchn. 1954 (Hörsp.e: Die Übungspatrone; Kasan liegt an der Strecke nach Sibirien; Der Tramp; Das Protokoll des Pilatus; Feature: In der Halle des Riesen u. a.). – Die Verläßlichkeit der Ereignisse. Mchn. 1958 (E.en). – Das Loch in der Jacke des Grafen Bock v. Bockenburg. Mchn. 1959 (R.). – Narrensicher. Neue Verse über Pummerer. Bln. 1972. – Lebenslauf eines Attentäters. Mchn. 1975 (R.). – Der Traum v. einem schöneren Land. Bln. 1985. – Deine Bilder – meine Worte (zus. mit Christine Brückner). Bln. 1987. – Pummerers rastloser Müßiggang. Neue Gedichte. Bln. 1988. – Erfahren u. erwandert (zus. mit C. Brückner). Ffm.

103 1989. – Mein Eulenspiegel: Neue Historien. Bln. 1991 (R.). – Ein Lächeln zum Weiterreichen: das Beste v. O. H. K. gen. Pummerer. Mchn. 1992. – Mein Pummerer-Brevier: heiter-groteske Lyrik. Hg. C. Brückner. Ffm. 1996. – Ich will Dich den Sommer lehren: Briefe aus vierzig Jahren (zus. mit C. Brückner). Bln. 2003. Literatur: Peter Winter: Befreiung v. der Diktatur der Fakten. Ein Gespräch mit dem Kasseler Schriftsteller O. H. K. In: Kassel kulturell 2 (Febr. 1989), S. 12–15, 39. – Christine Brückner u. O. H. K.: ›Der einzig funktionierende Autorenverband‹. Hg. Friedrich W. Block. Kassel 2007. Walter Pape

Kükelhaus, Heinz, * 12.2.1902 Essen, † 3.5.1946 Bad Berka. – Verfasser von Abenteuerromanen, Erzählungen u. Dramen.

Kükelhaus

Kükelhaus, Hermann, * 4.8.1920 Essen, † 30.1.1944 Berlin. – Verfasser von Lyrik u. Briefprosa. Der Bruder von Hugo u. Heinz Kükelhaus wuchs in Essen u. Bischofsburg/Ostpreußen auf. Er besuchte die nationalpolit. Erziehungsanstalt in Stuhm. Als er bei seiner Abiturfeier das Referat Der Machthaber und die Masse (1938) verlas, verweigerte man ihm trotz guter Noten das Reifezeugnis u. versetzte ihn in das Bergwerk Kattowitz. Als Infanterist schrieb er während des Russlandfeldzugs Lyrik u. Briefprosa, in denen er Machthaber u. Krieg kritisierte. 1942 erschien sein erster Band Gedichte (Potsdam). Alle anderen Arbeiten, darunter ... ein Narr der Held. Briefe und Gedichte (Hg. Elizabeth Gilbert. Vorw. v. Hugo Kükelhaus. Zürich 1964. 1985. Erw. Neuausg. hg. v. Ingrid Grebe. Stgt. 1998), wurden postum veröffentlicht. K. geht in seinen Werken häufig vom Versmaß in Prosa über. Einige Kritiker sahen in ihm einen »Frühvollendeten«.

Der Sohn eines Wirtschaftspolitikers, Bruder von Hugo u. Hermann Kükelhaus, brach seine Schulbildung ab u. führte ein unstetes Wanderleben in Südeuropa. Als Fremdenlegionär kämpfte er im Rifkrieg auf Seiten Abd Al Krims u. im Kongo. Im Ruhrkampf war er Weiteres Werk: Der Spuk. Das Reich. In: An aktiv an einem Sprengstoffattentat der den Wind geschrieben. Potsdam 1961 (EpigramGruppe Schlageter beteiligt, wofür er vier Jahre Haft erhielt. Sein abenteuerl. Leben me). Literatur: Barbara Nordmeyer: Zeitgewissen. schilderte er in seinem Roman Erdenbruder auf Biogr. Skizzen. Stgt. 1966, S. 141–153. Zickzackfahrt (Jena 1931). Als sein bestes Werk Rosemarie Inge Prüfer / Red. gilt der Roman Thomas, der Perlenfischer (Bln. 1941. Frz. 1949), der von der geheimnisvollen Wechselwirkung zwischen Mensch u. Natur handelt. K.’ Romane erreichten hohe Aufla- Kükelhaus, Hugo, * 24.3.1900 Essen, gen, während seine Bühnenstücke zu seinen † 5.10.1984 Herrischried/Schwarzwald; Lebzeiten nicht aufgeführt wurden. 1938 zog Grabstätte: Friedhof Mustin bei Ratzeer mit seiner Familie nach Thüringen u. ar- burg. – Verfasser von Parabeln, Essays u. beitete einige Zeit als Dramaturg für die Ufa Sachbüchern. u. das Staatstheater Weimar. Nach dem Abitur u. einer Schreinerlehre mit Weitere Werke: Armer Teufel. Breslau 1933 anschließender Meisterprüfung studierte K. (R.). – Gott u. seine Bauern. Bln. 1934 (R.). – u. a. Mathematik, Philosophie u. Soziologie, Mensch Simon. Bln. 1937 (R.). – Hauptmann Leon. ohne seine Studien abzuschließen. Nach dem Das Mädchen v. Melilla. Bln. 1938 (E.en). – Justinia. Zweiten Weltkrieg, an dem er als Soldat teilMchn. 1938 (Kom.). – Weihnachtsbäume für Bufgenommen hatte, lebte er in Soest/Westfalen. falo. Bln. 1943 (R.). K. wurde bekannt durch zahlreiche VeröfLiteratur: Maxim Ziese: H. K. – Bildnis eines fentlichungen zum Thema »organgesetzliDramatikers. In: Berliner H.e 7, 1. Jg. (1946), che« Lebensgestaltung, wobei er von der S. 504–509. – Hugo Kükelhaus: Gedenkworte / Um Vorstellung eines harmon. Zusammenhangs Gnade. In: H. K. Potsdam 1947. von Mensch u. Natur ausging (Urzahl und GeRosemarie Inge Prüfer / Red. bärde. Bln. 1934. Zug 1992). Auf vielerlei Weise schöpferisch tätig, u. a. als Innenarchitekt, Bildhauer u. Zeichner, gilt K. als Vor-

Künkel

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denker einer ökologischen u. ganzheitl. Le- Künkel, Hans, * 7.5.1896 Stolzenberg bei bensform. Er übte Kritik an der modernen Landsberg/Warthe, † 17.11.1956 Bad Zivilisation, die zu einer Verarmung der Pyrmont. – Verfasser populärwissensinnl. Erfahrungsmöglichkeiten führe (Orga- schaftlicher Schriften, Erzähler. nismus und Technik. Olten/Freib. i. Br. 1971. Der Sohn eines märk. Erbhofbauern studierte Neuausg. 2006) u. setzte sich für eine dem nach dem Zweiten Weltkrieg Nationalökomenschl. Organismus freundl. Technik ein in nomie u. war anschließend als Sozialpfleger, 7 Unmenschliche Architektur (Köln 1973. 1991). später als Studienrat in Harburg-WilhelmsDarüber hinaus veröffentlichte er Parabeln, burg tätig. Unter dem Einfluss der Lebensu. a. Bildgeschichten vom Träumling (Kassel philosophie befasste er sich mit existentieller 1951. Soest 2000) u. Gedichte (Du kannst an Problematik, ersetzte in Das große Jahr (Jena keiner Stelle mit eins beginnen. Zürich 1981). 1922) u. Schicksal und Willensfreiheit (Jena 1924) Weitere Werke: Die wahre Gesch. vom klugen den Schicksals- durch den EntwicklungsgeKöpfchen. Potsdam 1948 (Parabel). – Zeichen, danken u. bettete diesen in eine »Philosophie Spiel, Tag. Heidenheim 1954. – Bildparabeln. Köln 1971. 1975. – Sachbücher: Dennoch heute. Heiden- der Astrologie« ein. Mit Büchern wie Die heim 1956. – Fassen. Fühlen. Bilden. Köln 1975. – Sonnenbahn. Eine Seelen- und Schicksalslehre (Jena Organ u. Bewußtsein. Köln 1977. – Hören u. Sehen 1926) u. Die Lebensalter (Jena 1939) wollte er in Tätigkeit. Zug/Stgt. 1978. 2001. – (zus. mit Ru- volkspädagogisch wirken. Seine Lehre vom dolf zur Lippe): Entfaltung der Sinne. Ein ›Erfah- Tun des Lebensnotwendigen, ein Neo-Sozirungsfeld‹ zur Bewegung u. Besinnung. Ffm. 1982. aldarwinismus mit heldisch-volkhafter Zahlreiche Neuaufl.n. – Das Leben leben. Zitate aus Komponente, brachte ihm 1936 den VolksTexten v. H. K. Hg. Annemarie Weber. Bern 2004. – preis für dt. Dichtung ein. K. verfasste auch Das Erlebnis des Feuers. Ges. Radiovorträge v. ein antisemitisch getöntes Drama: Kaiphas 1953–81. Eggingen 2009. (Lpz. 1938). Nach dem Zweiten Weltkrieg Literatur: Bibliografie: Stadtarchiv Soest. Hg. G. schloss er sein literar. Werk mit dem Roman Köhn. 1990 (erg. 1996). – Weitere Titel: Max Bense: Das Labyrinth der Welt (Stgt. 1951) ab. H. K. ›Urzahl u. Gebärde‹. In: Europ. Revue 4 (1936), S. 289 ff. – Vilma Sturm: H. K. In: Aufenthalte. Ffm. 1966, S. 182–190. – Elmar Schenkel: H. K. [...]. In: NR 89 (1978), S. 276–284. – Anne Barth: H. K. Erlangen 1987. 2. veränderte Aufl. Erlangen 1997. – E. Schenkel: Sinn u. Sinne. Drei Versuche zu H. K. Stgt. 1991. – H. K. Gesellsch. (Hg.): H. K. Broschüre. Soest 1994. – Markus Dederich: In den Ordnungen des Leibes. Zur Anthropologie u. Pädagogik v. H. K. Münster 1996. – Arnolf Niethammer: Leitgedanken im Werk des H. K. In: Pädagog. Rundschau 54 (2000), H. 5, S. 523–551. – Otto Schärli: Begegnungen mit H. K. Stgt. 2001. – Katrin Heinzmann: Von der Bildungskrise zu einer Kultur der Sinne. Aktuelle Diskussion u. erfahrungsdidakt. Ansätze am Beispiel v. H. K. u. Goethe-Mobil. Dortm. 2003. – Wilhelm Becker: H. K. im Dritten Reich. Ein Leben zwischen Anpassung u. Widerstand. Soest 2006. – Ders.: H. K. wird Soester Bürger. Über das Leben v. H. K. in den Jahren 1945–55. In: Soester Ztschr. 120 (2008), S. 157–196. Rosemarie Inge Prüfer / Red.

Weitere Werke: Der furchtlose Mensch. Jena 1930. – Das Gesetz deines Lebens. Jena 1932 (beide volkspädagog. Schr.en). – Anna Leun. Lpz. 1932 (R.). – Schicksal u. Liebe des Niclas v. Cues. Lpz. 1936 (R.). – Ein Arzt sucht seinen Weg. Lpz. 1939 (R.). – Die arge Ursula. Lpz. 1940 (E.). Christian Schwarz / Red.

Künne, Manfred, * 6.8.1931 Leipzig, † 17.1.1990 Leipzig. – Erzähler. Nach dem Zweiten Weltkrieg, an dem K. als Jugendlicher teilnehmen musste u. der seine ersten literar. Versuche prägte, beendete er die Oberschule u. erlernte den Maurerberuf. Seit 1951 lebte er als freier Schriftsteller in Leipzig, wo er 1969 den Kunstpreis der Stadt erhielt. Fast 30 Jahre lang arbeitete K. an einer Trilogie, auf die die Tageskritik den Begriff »Tatsachenroman« anwandte: Kautschuk. Roman eines Rohstoffes (Lpz. 1959), Gummi. Roman eines Werkstoffes (Lpz. 1968), Buna. Roman eines Kunststoffes (Halle 1985). Hinweise auf recherchierte Fakten u. Spezialliteratur am Ende eines jeden Bands ent-

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springen dem Bemühen um wiss. Fundierung. Der Bogen spannt sich vom Zeitalter der span. Eroberungen über die Industrielle Revolution bis zur Rolle der Chemieindustrie im Zweiten Weltkrieg. Inhaltlich stehen Ausbeutungsverhältnisse im Mittelpunkt, der Preis des techn. Fortschritts für Mensch u. Natur wird kritisch beleuchtet. Eine Fortsetzung (Rohstoff Kohle) der sehr erfolgreichen Trilogie war geplant. Weitere Werke: Der erste Bogen. Lpz. 1951 (E.en). – Stein auf Stein. Lpz. 1952 (E.). – Der verwandelte Liebhaber. Lpz. 1960 (E.en). – Jugendträume. Lpz. 1974 (R.). – Reifejahre. Lpz. 1976 (R.). – Flucht ohne Ausweg. Halle 1988 (drei E.en). Klaus Kändler / Red.

Künzelsauer Fronleichnamspiel. – Deutsches Prozessionsspiel des 15. Jh. In Künzelsau sind zwischen 1474 u. 1522 sieben Aufführungen eines Fronleichnamspiels belegt, dessen Texte wahrscheinlich teilweise im K. F. vorliegen. Im Grundstock dieser Handschrift von 1479, den zwei Schreiber aufgezeichnet haben, zeichnen sich bereits Kompilationen älterer Vorlagen ab, die für die vorliegende Erstfassung deutlich erweitert wurden. Spätere Streichungen u. Varianten im Text, Umarbeitungen u. Erweiterungen (dabei scheint ein vorgesehenes Susannenspiel nach V. 926 nicht ausgeführt oder verloren zu sein) auf eingelegten u. eingeklebten Zetteln sowie auf vier vor- bzw. nachgehefteten Teilen dokumentieren mindestens drei unterschiedl. Aufführungsfassungen in der unübersichtlich gewordenen Handschrift (5872 gezählte V. in der Edition). Während der Fronleichnamsprozession in Gegenwart des Altarsakraments aufgeführt, reicht das K. F. in einem weitgespannten heilsgeschichtl. Bogen von der Erschaffung der Engel bis zum Jüngsten Gericht. Dafür waren drei »stacciones« vorgesehen, deren Einteilung sich nicht unmittelbar erschließt: Die erste Einheit (V. 1–684, davon V. 1–60 Vorrede des »rector processionis«) endet mit dem Opfer des Melchisedeks, die nächste (V. 685–2139) erstreckt sich von der Verkündigung der Zehn Gebote bis zum Kindermord zu Bethlehem, der Schlussteil (V. 2140–5872,

Künzelsauer Fronleichnamspiel

davon V. 5787–5856 die Schlussrede durch den »Papst« u. V. 5857–5872 durch zwei Engel) von Johannes dem Täufer bis zum Jüngsten Gericht. Diese Gliederung überlagern zwei zäsurierende Disputationen: Nachträglich eingefügt wurde nach dem Urteil Salomons (V. 929–1098) die Auseinandersetzung um die Erlösungswürdigkeit der Menschen zwischen Barmherzigkeit u. Frieden (dafür), Wahrheit u. Gerechtigkeit (dagegen) als den vier Töchtern Gottes (V. 1099–1345), die schließlich zum Erlösungsbeschluss des Gottessohnes führt, dessen Geburt die Propheten ankündigen (V. 1346–1389). Bereits der Grundstock hatte nach der Szene mit dem ungläubigen Thomas, der Verkündigung der zwölf Glaubensartikel u. einer Prozession von Heiligen ein Streitgespräch zwischen der Kirche (hier vertreten durch den »rector processionis«) u. der Synagoge (V. 4419–4669) über die göttl. Erlösung. Das nachfolgende Zehnjungfrauenspiel (V. 4670–5074) als Beispiel des individuellen Urteils u. das Jüngste Gericht (V. 5305–5786) als universales göttl. Urteil über die Menschen zäsuriert ein Antichristspiel. Bereits diese Inhaltsskizze zeigt, dass an den »stacciones« mit Standortbühnen nach Art der geistl. Spiele zu rechnen ist, bei denen die Fronleichnamsprozession unterbrochen wurde. An diesen Standorten spielten sich Szenen mit Auftritten u. Abgängen von Figuren ebenso ab wie die Darstellung lebender Bilder mit signifikanten Symbolen (etwa Josua mit einer überdimensionierten Weintraube), die vom »rector processionis« mit Hinwendung zu den Gläubigen u. teilweise mit Hinweis auf das präsente Altarssakrament erklärt wurden oder die sich selbst vorstellten. Auf diese Weise ergab sich mit dem Auftreten von ca. 170 Darstellern ein Wechsel zwischen der Dynamik eines Handlungsspiels u. der Statik lebender Bilder. Ihre spätere Erweiterung zu eigenen kleinen Szenen steht in erkennbarem Kontrast zur ursprüngl. Konzeption, die Fronleichnamsprozession mit lebenden Bildern aus der Heilsgeschichte zu begleiten, um so das Heilswirken des im Altarsakrament gegenwärtigen Gottes zu veranschaulichen.

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Die strenge Einbindung des K. F. in den ton H. Touber. Amsterd. 1994, S. 79–91. – Elke prozessionalen Gottesdienst lässt sich nicht Ukena-Best: ›Aber der krig ist gar verlorn‹. Der nur am Fehlen komisch-burlesker Ein- Streit zwischen ›Anima‹ u. ›Corpus‹ im Weltgesprengsel festmachen. An zahlreichen Stellen richtsteil des K. F. In: ›et respondeat‹. Studien zum dt. Theater des MA. FS Johan Nowé. Hg. Katja (z.B. beim »Magnificat«) wird auf liturg. GeScheel. Leuven 2002, S. 145–176. Johannes Janota sang zurückgegriffen (auch wenn in der Handschrift Melodieaufzeichnungen fehlen); außerdem scheint beim »rector processio- Küpper, Heinz, * 10.11.1930 Euskirchen, nis«, der durch das ganze Spiel führt, u. bei † 18.11.2005 Mechernich/Nordeifel. – einer Reihe anderer Figuren ein Vortrag im Romanautor, Erzähler. Lektionston vorausgesetzt zu sein. Die Vorrede verspricht der reuig teilnehmenden Ge- K. studierte Germanistik u. Geschichte in meinde einen Ablass, zwei Engel (dargestellt Bonn u. Berlin. Von 1960 bis 1988 war er von Priestern?) entlassen sie am Spielschluss Lehrer am St. Michael-Gymnasium in Bad mit dem kirchl. Segen. Dem Spielanlass ent- Münstereifel. Seine Kindheitserinnerungen verarbeitet er spricht das Aussparen der Kreuzigungsszene, in dem Roman Simplicius 45 (Köln 1963, übers. merkwürdig mutet hingegen das Fehlen des in neun Sprachen). Aus der naiven PerspekLetzten Abendmahls als Gründungsakt des Altarsakraments an; sie mag in dessen Ge- tive eines Jungen, Jahrgang 1931, beschreibt genwart als geweihte Hostie begründet sein. der Ich-Erzähler seine Karriere vom Pimpf Die Schlussrede des »Papstes« hebt zudem zum Hauptjungzugführer. Sein Schulfreund auf die Würde der Priester ab, die in ihrer Andreas ist Messdiener u. versucht soweit wie einzigartigen Kraft begründet sei, Brot u. möglich, sich der Nazi-Organisation zu entWein in den Leib Christi zu wandeln. Daher ziehen u. gemeinsam mit seiner christlich gebühre ihnen – so in der Szene mit Kain u. geprägten Familie, den Bedrängten – russ. u. Abel (V. 425–548) deutlich herausgestellt – holländ. Fremdarbeitern u. schikanierten Juder Zehnte des Ertrags menschlicher Arbeit. den – zu helfen. Dass ihr Verhalten beim IchEntsprechend unterstreicht das Streitge- Erzähler nicht zum Umdenken führt, verspräch zwischen Seele u. Körper (V. deutlicht den Erfolg der Indoktrination 5537–5652) innerhalb der Szene mit dem durch die Nazi-Ideologie, zumal auch die Jüngsten Gericht den Vorrang des Spirituel- übrigen Erwachsenen keine offene Opposition gegen das Regime zeigen. Der Fanatismus len gegenüber dem Materiellen, der ebenfalls des Erzählers reicht sogar so weit, dass er eidem Glauben an die Gegenwart Gottes in der nen Lynchmord an einem abgeschossenen Brotgestalt des Altarsakraments zugrunde amerikan. Piloten plant u. einen amerikan. liegt. Auf die Verfestigung dieses Glaubens Offizier tätlich angreift, obwohl dieser ihm zielt das 1264 päpstlich proklamierte, aber die Möglichkeit gibt, als Übersetzer tätig zu erst im 14. Jh. allgemein gefeierte Fronleichsein, u. seine Familie großzügig mit Lebensnamsfest, in dessen Dienst auch das K. F. mitteln u. Zigaretten versorgt. Die Bekanntsteht. gabe der Nazigräuel hält der Junge für ProAusgabe: Das K. F. Hg. Peter K. Liebenow. Bln. paganda; er träumt davon, in den Unter1969. grund zu gehen, um Sabotage-Akte auszuLiteratur: Elizabeth Wainwright: Studien zum üben. Die in lakon. Sprache wiedergegebenen dt. Prozessionsspiel. Die Tradition der FronleichEreignisse zu Beginn u. während des Krieges, namsspiele in Künzelsau u. Freiburg u. ihre textl. die Schilderungen vom Verhalten der ErEntwicklung. Mchn. 1974, S. 38–143. – Hansjürwachsenen im Luftschutzkeller u. ihr Umgen Linke: K. F. In: VL (weitere Lit.). – Rolf Bergmann: Kat. der deutschsprachigen geistl. Spiele u. gang mit den Juden u. Kriegsgefangenen Marienklagen des MA. Mchn. 1986, S. 283–286. – liefern ein beklemmendes Bild der Kriegs- u. Ralph J. Blasting: Die Dramaturgie des Spielleiters Nachkriegssituation in einer dt. Kleinstadt. Von den Erlebnissen des im Sommer 1956 in den dt. Fronleichnamsspielen. In: Mittelalterl. Schauspiel. FS H. Linke. Hg. Ulrich Mehler u. An- als Stipendiat der Studienstiftung des Deut-

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Der von Kürenberg

schen Volkes an der Freien Universität Berlin Anfängen des Schriftstellers H. K. Mit Auszügen verbrachten Semesters berichtet K.s Alter Ego aus dessen literar. Notizh.en 1954/56. In: EremiGeorg Ferver in dem Roman Der Zaungast tage 12 (2006), S. 158–183. – Theo Breuer: Kiesel & (Weilerswist 2002). Noch ist ein ungehinder- Kastanie. Von neuen G.en u. Gesch.n. Sistig/Eifel 2008. Angelika Brauchle ter Übergang zwischen Ost- u. Westberlin möglich. Auf langen Spaziergängen durch die Stadt zu Fuß oder mit öffentl. Verkehrsmit- Der von Kürenberg, Der herre von Kürenteln schildert der Autor die Schäden des berg, Der Kürenberger. – Minnesänger, um Krieges; der wirtschaftl. Unterschied zwi- 1150/60–1170. schen den beiden Sektoren tritt deutlich zutage. Die Bespitzelung der Bevölkerung im Das unter dem Namen des K.s überlieferte Osten ist allgegenwärtig. Eine Zuspitzung Textkorpus von 15 Strophen wird aufgrund der polit. Gegensätze erfolgt während des sprachlicher, stilgeschichtl. u. konzeptionelUngarn-Aufstandes. Im Rahmen seines Stu- ler Charakteristika an den Beginn des mhd. dienaufenthaltes setzt sich Georg, der in sei- Minnesangs gesetzt. Name u. Œuvre des K.s ner Kindheit fanat. Anhänger der Nazis war, sind bezeugt durch das erst 1985 bekannt erstmals intensiv mit den Verbrechen an den gewordene Budapester Fragment einer LieJuden auseinander. Eine Liebesbeziehung derhandschrift aus der Zeit um 1300 u. die im mit einer ostdt. Krankenschwester beendet ersten Drittel des 14. Jh. entstandene Große er, da er keine dauerhafte Bindung eingehen Heidelberger Liederhandschrift. Beide Handmöchte; sie scheitert aber auch an der polit. schriften, die – wie Textvarianten gerade Einstellung ihrer Familie. Georg kehrt allein auch zu den Strophen des K.s zeigen – trotz nach Bonn zurück, obwohl seine Freundin wichtiger Gemeinsamkeiten nicht in direkter bereit gewesen wäre, ihre Familie aufzugeben Abhängigkeit stehen, liefern keine genaueren Hinweise für eine Identifizierung des Autors: u. mit ihm in den Westen zu gehen. Das »redende« Wappen, das in den motivZwischen K. u. Heinrich Böll bestand eine gleichen Miniaturen beider K.-Sammlungen langjährige Beziehung. Böll vermittelte auch den Autornamen (mhd. »kürn« = Mühle) als einen Verlag, der K.s Erstling herausbrachte. Handmühle verbildlicht, ist historisch sonst Vorbild für K. waren jedoch die Autoren Stenicht nachweisbar; auch dass die Heidelberfan Andres u. John Steinbeck. Überregionale ger Handschrift den K. in die Reihe der SänBedeutung erreichten nur der Roman Milch ger hochadeliger Herkunft stellt, ist mit und Honig (Köln 1965. Bln./DDR 1967, übers. Rücksicht auf Informationen zu den histoin fünf Sprachen) u. Simplicius 45, da die übrisch bezeugten K.-Geschlechtern nicht als rigen Werke, die von Schicksalen der EifelBeleg für den sozialen Rang des Autors, sonbewohner erzählen, einem spezif. Humor dern für dessen Prestige als Vertreter des älverpflichtet sind u. diese Eigenart noch kei- teren Minnesangs zu werten. Eine sichere ner analyt. Untersuchung unterzogen wurde. Identifizierung des Dichters erlauben indes Weitere Werke: Wohin mit dem Kopf ? Düs- auch die urkundl. Zeugnisse der historisch seld. 1986 (Kriminal-E.). – Zweikampf mit Rotwild. bekannten Geschlechter von Kürenbergern (wie alle folgenden:) Weilerswist 1996 (R.). – Hernicht: Weder einem nur für das 11. Jh. mann Rohr u. andere. 1998 (E.en). – Seelenämter. nachgewiesenen Freiherrengeschlecht aus 2000 (R.). – Westdt. Familiengesch.n. 2004 (drei dem Breisgau noch einem der DienstmanE.en). – Linker Nebenfluß der Nogat. Roman aus dem Nachl. hg. v. Armin Erlinghagen. 2010. – A. nengeschlechter, die im 12. u. 13. Jh. für den Erlinghagen (Hg.): ›Simplicius und die Seinen‹. ostbairisch-österr. Raum bezeugt sind, ist der Über den Schriftsteller H. K. 2010. – Drehbücher zu K. eindeutig zuzuweisen. Jeder IdentifizieFernsehfilmen: Ein Mädchen (NDR). – Vier Tage rungsversuch ist zudem mit der Prämisse unentschuldigt (NDR). – Stammgäste (ZDF). – Die belastet, dass der Dichtername auch aus der Beförderung (ZDF). Frauen-Strophe »Ich stuont mir nehtint spâLiteratur: Armin Erlinghagen: Kann man te« (8, 9), die von dem Gesang eines Ritters Schriftsteller ›werden‹? Mit Böll ohne Böll: zu den »in Kürenberges wîse« (8, 3) handelt, abge-

Der von Kürenberg

leitet sein könnte u. nicht zweifelsfrei für den Autor in Anspruch zu nehmen ist. Formal kennzeichnend für die Texte des K.s sind die Einzelstrophe u. die in ihrem metr. Grundschema gleichbleibende Strophenform. Die stroph. Form charakterisieren dabei vier durch Zäsur gegliederte u. in Paarreimen verknüpfte Langzeilen, deren Versfüllung relativ frei u. für die reiner Reim nicht verbindlich ist. Dieses metr. Formschema, das in zwei Tönen ausgestaltet wird, steht dem der Nibelungenstrophe nahe u. ist daher als Hinweis auf österr. Herkunft des Dichters verstanden worden. Die (relative) Abgeschlossenheit der Einzelstrophe findet auf der Versebene ihr Gegenstück in der Tendenz zu Zeilenstil u. syntakt. Parataxe. Strukturell konstitutiv werden die Vorgaben der K.-Strophe für ein lyr. Sprechen, das den Textsinn durch Verknüpfung hervorgehobener Einzelaspekte bildet, die in semantisch offene Analogiebeziehungen gestellt sind. Dazu gehört auch die Integration zweier Einzelstrophen zum Lied: Das berühmte Falkenlied (8, 33 u. 9, 5) gewinnt seine Kohärenz durch formale u. inhaltl. Strophen-Korrespondenzen, die eine mehrdeutige Liedsemantik erzeugen; die nach Ausweis der Überlieferung u. metr. Form zusammengehörigen Strophen »Vil lieben vriunt verkiesen« u. »Wes manst dû mich leides« (7, 1 u. 7, 10) lassen sich dem Liedtyp des Wechsels zuordnen, bei dem die Differenz der Geschlechter so inszeniert wird, dass Frauen- u. Männerrede an separate Sprechräume gebunden sind u. sich so gegenseitig erhellen. Trennung u. Vereinzelung in der Liebe bestimmen Redesituation wie Thematik der Texte. Durch brisant zugespitzte Szenarien der Begegnung von Mann u. Frau ermöglichen sie ein im Verhältnis zur sozialen Praxis des feudalen Adels spielerisches Reden über Begehren u. unerfüllte Minne: Personales Leid u. soziale Sanktion lassen die Verbindlichkeit der Liebe mahnend einfordern (7, 10 u. 7, 19). Liebe wird zur Erfahrung, die in der Unerfüllbarkeit des Begehrens ihre elementare Mächtigkeit u. in der Trennung der Liebenden ihre emotionale Präsenz zeigt (8, 25 u. 8, 17). Sie wird auch als Beziehung reflektiert, die nicht aus sozialer Überlegenheit zu

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erzwingen ist (8, 9 u. 9, 29), oder als erlernbare Kunst behauptet (10, 17), die Erfolg bringt, ohne dass sich dieses Verständnis zum ungefährdeten Verhaltensmodell verfestigt (Falkenlied). Historischer Ort u. Leistung der Liedkunst des K.s sind somit zu suchen in dem – durch ihre spezif. Formstrukturen u. Situationskonstrukte ermöglichten – lyr. Sprechen über die Negativität der Liebe vor Rezeption der roman. Trobador- u. Trouvèrelyrik u. dem Aufkommen des in der Folgezeit dominierenden Modells der hohen Minne. Ausgaben: Günther Schweikle (Hg.): Die mhd. Minnelyrik 1: Die frühe Minnelyrik. Darmst. 1977, S. 118–123, 361–374. – Gayle Agler-Beck: Der v. K.: Edition, Notes, and Commentary. Amsterd. 1978. – Minnesangs Frühling 1 (381988), S. 24–27, 464 f. (zitiert). – Ingrid Kasten (Hg.): Dt. Lyrik des frühen u. hohen MA. Ffm. 1995, S. 44–51 u. 583–594. Literatur: Peter Wapnewski: Des K.s Falkenlied. In: Euph. 53 (1959), S. 1–19. – Rolf Grimminger: Poetik des frühen Minnesangs. Mchn. 1969. – Christel Schmid: Die Lieder der K.-Slg.: Einzelstr.n oder zykl. Einheiten? Göpp. 1980. – Günther Schweikle: K. In: VL. – Ingrid Kasten: Frauendienst bei Trobadors u. Minnesängern im 12. Jh. Heidelb. 1986, S. 207–218. – Franz Josef Worstbrock: Der Überlieferungsrang der Budapester Minnesang-Fragmente. In: Wolfram-Studien 15 (1998), S. 114–142. – Mark Chinca: Women and Hunting-birds are Easy to Tame. In: Masculinity in Medieval Europe. Hg. Dawn M. Hadley. London/ New York 1999, S. 199–213. – Peter Kern: Die K.Texte in der Manessischen Hs. u. im Budapester Fragment. In: Entstehung u. Typen mittelalterl. Lyrikhandschriften. Hg. Anton Schwob u. Andràs Vizkelety. Bern u. a. 2001, S. 143–163. – Stephan Müller: Minnesang im Himmelreich? In: Literar. Kommunikation u. soziale Interaktion. Hg. Beate Kellner u. a. Ffm. 2001, S. 51–71. – Timo Reuvekamp-Felber: Fiktionalität als Gattungsvoraussetzung. In: Text u. Kultur. Hg. Ursula Peters. Stgt./ Weimar 2001, S. 377–402. – Corinna Dörrich u. Udo Friedrich: Sprachkunst u. Erziehungsdiskurs am Beispiel des Kürenberger Falkenliedes. In: DU 55 (2003), S. 30–42. – Michael Schilling: Sedimentierte Performanz. In: Euph. 98 (2004), S. 245–263. – Gisela Kornrumpf: Budapester Liederhs. In: VL (Nachträge u. Korrekturen). – Lorenz Deutsch: Kürenbergs ›tunkel sterne‹ u. die Rhetorik des mag. Sprechens. In: ZfdPh 125 (2006), S. 107–111. – Katharina Boll: ›Alsô redete ein vrouwe schoene‹.

Kürnberger

109 Untersuchungen zur Konstitution u. Funktion der Frauenrede im Minnesang des 12. Jh. Würzb. 2007. Manfred Eikelmann

Kürnberger, Ferdinand, * 3.7.1821 Wien, † 14.10.1879 München. – Feuilletonist, Kritiker, Erzähler, Dramatiker. K. stammte aus bescheidenen Verhältnissen: Der Vater war Laternenanzünder, die Mutter hatte einen Stand auf dem Naschmarkt. Nach dem Besuch des Piaristen- u. Schottengymnasiums war K. Gasthörer an der Philosophischen Fakultät der Universität Wien. Er verdiente seinen Lebensunterhalt mit Privatunterricht u. Artikeln in Wiener Zeitungen, v. a. den »Sonntagsblättern«. Er beteiligte sich an der Revolution von 1848, musste nach deren Scheitern aus Wien fliehen u. über ein Jahrzehnt an verschiedenen Orten im dt. Exil leben. Aufgrund einer falschen Beschuldigung wurde er in Dresden neun Monate inhaftiert. 1862 konnte K. nach Österreich zurückkehren, wo er als Mitarbeiter zahlreicher Zeitungen lebte. 1865 bis 1869 war er Generalsekretär der Schillerstiftung; seine letzten Lebensjahre verbrachte er v. a. in Graz – berühmt, wegen seiner Schroffheit u. Unduldsamkeit jedoch auch angefeindet. Seit den 1840er Jahren schrieb K. zahlreiche Novellen u. Erzählungen, die in mehreren Bänden gesammelt erschienen. Sie zeigen einen genauen Beobachter mit Interesse am Ungewöhnlichen, sind oft von Reflexionen u. allg. Diskussionen durchsetzt. Die zunehmende Psychologisierung zeigt insbes. Der Unentdeckte (1869 im »Ungarischer Lloyd«, 1876 u. d. T. Die Last des Schweigens. Eine Seelenstudie): der Monolog eines Mörders, der sich über Moral u. Gesetz erhebt. Im Kerker, am Tag vor der Hinrichtung, will er die wahren Gründe seiner Tat u. v.a. seines Bekenntnisses erklären: nicht Reue, sondern ein Trieb, eine Leidenschaft, die er selbst als Krankheit ansieht. K.s eigene Kerkerhaft u. das Gefühl zunehmender Isolierung tragen zur Eindringlichkeit der Schilderung seelischer Zustände bei, die wenig später Freud wissenschaftlich analysierte. K.s besonderes Bemühen galt dem Drama. Ein Künstlerdrama Quintin Messis war vom

Burgtheater 1849 angesetzt, wurde aber – wohl aus polit. Gründen – nicht aufgeführt. Das Drama Catilina, das die Revolution u. den Sozialismus feiert (fertiggestellt 1852), war zum Zeitpunkt der Veröffentlichung (Hbg. 1855) durch die polit. Entwicklungen unzeitgemäß geworden. Auch Firdusi (aufgeführt 1871, Wien 1902) brachte nicht die erhoffte Anerkennung. K.s größter Erfolg wurde ein Roman, den er v. a. mit dem Ziel geschrieben hatte, sich von den Zwängen des literar. Marktes zu befreien: Der Amerika-Müde. Amerikanisches Kulturbild (Ffm. 1855. Neuausg. 1985). Der Titel spielt auf den von Heine geprägten Begriff »europamüde« an, der durch Willkomms Roman Die Europamüden (1838) bekannt geworden war. Während die populäre AmerikaLiteratur des Vormärz hauptsächlich das Bild des freiheitlichen u. demokrat. Landes mit seiner urspr. Natur gegenüber dem restaurativen u. zivilisierten Europa schildert, wird Amerika in K.s Roman als vom Materialismus u. Egoismus geprägt u. als kulturlos dargestellt. K. hat seinem Helden – dem dt. Dichter Moorfeld – viele Züge Lenaus gegeben, dessen Briefe u. Werke die Enttäuschung über Amerika spiegelten. Er betritt als Amerikabegeisterter das Land u. wird rasch u. tiefgreifend desillusioniert. Politische u. ästhet. Kritik gehen dabei ineinander über. Zwar ist dabei vieles von K. als verdeckte Kritik an den Verhältnissen u. Entwicklungen in Österreich u. Deutschland gedacht; das Ergebnis ist allerdings die Sammlung vieler alter u. die Einführung einiger neuer Klischees des AntiAmerikanismus, eine Quelle für zahlreiche spätere Kritiker. Die ästhet. Maßstäbe sind dabei weitgehend klassizistisch, daher bleiben zur Darstellung der amerikan. »Wirklichkeit« v. a. Groteske u. Polemik. So wird Deutschland auch, entgegen der urspr. Intention, als Gegenbild idealistisch verklärt, mit durchaus nationalist. Untertönen. Ein zweiter Roman K.s, Das Schloß der Frevel (Lpz. 1904), konnte wegen seiner freien Ansichten über religiöse, moralische u. künstlerische Fragen erst postum vollständig erscheinen (GW 5). K.s bedeutendste literar. Leistung liegt auf dem Gebiet des Feuilletons, das für ihn, wie

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für sein großes Vorbild Börne, Zeitschrift- Haacke: F. K. (1821–79). In: Dt. Publizisten des 15.stellerei, genau beobachtende, krit. Darstel- 20. Jh. Hg. Heinz-Dietrich Fischer. Mchn.-Pullach/ lung der Zeit ist. Seine Skizzen nehmen zu Bln. 1971, S. 285–293. – Rüdiger Steinlein: F. K.s zentralen polit., sozialen, moral. u. ästhet. ›Der Amerikamüde‹: Ein ›amerikanisches Kulturbild‹ als Entwurf einer negativen Utopie. In: Themen Stellung u. bilden insg. ein Mosaik Amerika in der dt. Lit. Hg. Sigrid Bauschinger u. a. der Gesellschaft u. Kultur der Zeit. Die Stgt. 1975, S. 154–177. – Theo Trummer: Zwischen Feuilletons sind geschickt aufgebaut, geist- Dichtung u. Kritik. F. K. zum 100. Todestag. In: Jb. voll, teilweise witzig formuliert; komplexe der Grillparzer-Gesellsch. 14 (1970), S. 49–62. – Probleme werden in symptomat. Bilder u. in Hubert Lengauer: Nachw. zu F. K.: ›Der Amerikaeinprägsame Formeln gefasst. Häufig trägt K. müde‹. Wien u. a. 1985, S. 565–615. – Andreas seine Kritik in Form von Sprachkritik vor. Wildhagen: Das polit. Feuilleton F. K.s. Ffm. 1985. Politische u. kirchenkrit. Feuilletons erschie- – Ritchie Robertson: German Idealists and Amerinen gesammelt in Siegelringe (Hbg. 1874), can Rowdies. F. K.’s Novel ›Der Amerika-Müde‹. In: Gender and Politics in Austrian Fiction. Hg. »Reflexionen und Kritiken« über Kunst in ders. u. Edward Timms. Edinburgh 1996, S. 17–35. der Sammlung Literarische Herzenssachen (Wien – Michael Ritter: Die amerikan. Enttäuschung. 1877. Beide in zweiter, wesentlich vermehr- Biogr. Realität u. fiktionale Reminiszenz (Lenau u. ter Aufl. als: GW 1 u. 2). Die literar. Feuille- K.). In: Lenau-Jb. 23 (1997), S. 147–172. – Ingrid tons beschäftigen sich, neben grundsätzli- Spörk: F. K. In: Major Figures of Nineteenth-Cenchen ästhet. Fragen, mit der Literaturent- tury Austrian Literature. Hg. Donald G. Daviau. wicklung u. einzelnen Schriftstellern – kri- Riverside 1998, S. 309–330. – Wolfgang Klimbatisch u. polemisch gegen viele Tagesgrößen u. cher: ›Wo Chassepot u. Krupp reden, haben Roman u. Novelle zu schweigen‹. F. K.s Kriegsfeuilletons. Schnellschreiber, energisch streitend für die In: Neohelicon 26 (1999), S. 165–183. – H. Lenneuen Entwicklungen eines zum Naturalis- gauer: Lob der Fußreise. Editorisches u. Intermus tendierenden Realismus u. für Autoren pretatorisches zu F. K.s Reisefeuilletons. In: Feuilwie Turgenjew, Keller, Sacher-Masoch. leton – Ess. – Aphorismus. Hg. Sigurd Paul K. ist mit diesen Arbeiten der bedeutendste Scheichl. Innsbr. 2008, S. 77–92. Vertreter des Wiener Feuilletons in den Hartmut Steinecke 1860er u. 1870er Jahren. Elemente seines pointierten Feuilletonstils griffen seit den Kürthy, Ildikó von, * 20.1.1968 Aachen. – 1890er Jahren Bahr u. bes. Karl Kraus auf, der Journalistin, Romanautorin. K. als Sprachkritiker u. als »größten politischen Schriftsteller, den Österreich je gehabt Seit ihrem Debüt Mondscheintarif (Reinb. 1999) ist es der Journalistin (u. a. »Stern«, hat« (»Fackel«, 1906) feierte. Auch K.s spitz»Brigitte«) mit ihren bisher sechs Romanen züngige Aphorismen zu Fragen der Moral, gelungen, jener Generation von Frauen zur des Lebens, der Kunst wurden im 20. Jh. von literar. Sprache zu verhelfen, die nicht hinter vielen (Kraus, Wittgenstein, Adorno) gedie emanzipatorischen Errungenschaften ihschätzt. rer Müttergeneration zurück will, aber ihre Weitere Werke: Ausgew. Novellen. Prag 1857. Identität von androgynen Entwürfen der – Novellen. 3 Bde., Mchn. 1861/62. – Der Haustypostfeminist. Ära bedroht sieht. Ihre Romane rann. Wien 1876 (R.). – Novellen. Bln. 1878. erreichen ein Millionenpublikum im In- u. Ausgaben: Ges. Werke (= GW). Hg. Otto Erich Ausland. Deutsch. Bde. 1, 2, 4, 5, Mchn./Lpz. 1910–14. – K.s Heldinnen, stets dem Lebensalter ihrer Sprache u. Ztg.en u. andere Aufsätze zum Pressewesen. Hg. Karl Riha. Siegen 1991. – Briefwechsel: Autorin nah, sind verstrickt in die AlltägBriefe an eine Freundin (1859–79). Hg. ders. Wien lichkeiten der weibl. Lebenswelt einer mate1907. Neudr. 1975. – Briefe eines polit. Flüchtlings. riell abgesicherten Mittelschicht. Sie wollen ihre Lebensart nicht durch einen konventiHg. ders. Lpz./Wien 1920. Literatur: Karl Riha: Zu F. K.s krit. Position. onsfeindlichen oder antifemininen Begriff In: F. K.: Feuilletons. Hg. ders. Ffm. 1967, S. 7–23. von Emanzipation bestimmt sehen u. bemü– Wolf-Dieter Kühnel: F. K. als Literaturtheoretiker hen sich stattdessen um die Anerkennung der im Zeitalter des Realismus. Göpp. 1970. – Wilmont von ihnen zu definierenden Fraulichkeit.

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Küther

Weitere Werke: Herzsprung. Reinb. 2001 (R.). Dabei zeigt sich allerdings, dass ein derartiger Definitionsversuch weder mit traditio- – Freizeichen. Reinb. 2003 (R.). – Blaue Wunder. nellen Konzepten noch mit der Rhetorik Reinb. 2004 (R.). – Höhenrausch. Reinb. 2006 (R.). – emanzipatorischer Sozialphilosophie gelingt. Journalist. Arbeiten in ›Brigitte‹ u. ›Stern‹; I. v. K.: Ich bin’s doch nur, die olle Kürthy. In: Stern, So sehen sich die letztlich gar nicht selbstsi30.9.2004. cheren Ich-Erzählerinnen in K.s Romanen zu Literatur: Volker Ladenthin: Das stat. Ich. In: Beginn des neuen Jahrtausends überraschenNDL 51 (2003), H. 5, S. 184–186. – Armgard Seederweise neu auf altbekannte Fragen verwie- gers: Die Frauenversteherin. In: Hamburger sen: Wie findet man die große Liebe? Was ist Abendblatt, 13.8.2006. Volker Ladenthin Liebe? Wie soll man zusammenleben? Will man Kinder? Der Roman Schwerelos (Reinb. 2008) erweitert den schließlich ausgereizten Küther, Kurt, * 3.2.1929 Stettin. – Lyriker, Themenfundus um eine neue Reflexivität: Satiriker, Erzähler. Die biologisch begrenzte Fertilität wird zum K. wurde 1948 Bergarbeiter in Bottrop, wo er dominanten Problem, da sie die Entschei- nach 35 Jahren im Bergbau heute als Rentner dung herausfordert, wie a ls Fra u das ga n z e lebt. Angeregt durch die Lyrik Heinrich Leb en zu gestalten sei, wenn die männl. Kämpchens, begann K. 1962 zu schreiben. Lebensentwürfe weder den weibl. Ansprü- 1963 trat er der Gruppe 61 bei, 1971 schloss chen genügen noch verlässlich sind. Nach der er sich der Werkstatt Gelsenkirchen im Epoche der Frauenemanzipation scheint »Werkkreis Literatur der Arbeitswelt« an. nichts geklärt; vielmehr muss alles noch einK. versteht sich bewusst als »schreibenden mal von Grund auf überdacht werden. Bergmann«, mit der Absicht, »die schwere, Die an lebensweltl. Detailkenntnissen rei- dreckige und gesundheitsgefährdende Arbeit chen Romane erhalten ihre Eigenart aus dra- des Bergmanns sichtbar zu machen«. Danematisch zugespitzten Anekdoten, überra- ben reflektiert er, in Szenen, Satiren, Kurzschenden Gedankenverbindungen u. einer an geschichten, v. a. aber in – häufig epigramPointen reichen, feuilletonist. Sprache. Ein matischer, gereimter, gelegentlich auch länKinderbuch der Autorin (Karl Zwerglein. gerer – lyr. Form, gesellschaftspolitische Reinb. 2003) findet allerdings keinen eigenen Themen (atomare Bedrohung, Fremdenhass Sprachton. u. a.), Alltagsbeobachtungen oder das eigene Das Layout der Ersteditionen unterstützt Schreiben. K.s Selbstverständnis prägt die mit variationsreichen Druckbildern u. ironi- Verbreitungsweise seiner Texte: häufig tasierenden Bebilderungen den kulinarischen gesaktuell-kommentierend durch Lesungen Charakter der Bücher. In den Hörbuchedi- oder die Presse, daneben in zahlreichen Antionen (Blaue Wunder. Mchn. 2004. Karl thologien, Kalendern u. Schulbüchern oder Zwerglein. Mchn. 2004. Höhenrausch. Bln. auf Audiokassetten (z.B. Der Mond von Wanne2006. Mondscheintarif. Bln. 2007. Schwerelos. Eickel ist passé. Dortm. 1987). Einen repräBln. 2008) trägt die Autorin ihre Texte in sentativen Querschnitt seiner lakonischunterkühlter Stimmmodulation vor. Die scharfen bis effektvoll-drast. Gedichte bieten Filmfassung des Romans Mondscheintarif die Bände Ein Direktor geht vorbei (Wuppertal (2001, Regie: Ralf Huettner) übersetzt die 1974) u. Und doppelt zählt jeder Tag (Dortm. Erzählhaltung des Romans in ein originelles 1983). Miteinander von abgefilmter Handlung, ErWeiteres Werk: Ich hörte davon: ›Hier verdient zählungen aus dem Off u. eigener Bildspra- man gut!‹ Kurts Gesch.n, Episoden u. Gedichte. che. Ahlhorn 2001. Die (bisher ausschließlich journalistische) Literatur: Westf. Autorenlex. Rezeption der Romane bewegt sich zwischen Erhard Schütz / Red. unkritischer Bestätigung der beschriebenen Erfahrungen u. den bekannten Vorbehalten gegenüber »purer« Unterhaltungs- bzw. nichtengagierter Frauenliteratur.

Kütner

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Kütner, Karl August, * 29.11.1748 Görlitz, Küttner, Carl Gottlob, * 18.2.1753 Wie† 1.1.1800 Mitau/Kurland. – Philologe, demar bei Leipzig, † 14.2.1805 Leipzig. – Lyriker, Literarhistoriker. Reiseschriftsteller. K., Sohn eines Görlitzer Buchbinders, studierte in Leipzig Philologie, wurde Hofmeister in Russland, dann Lehrer u. schließlich Rektor an der Stadtschule in Mitau. 1775 ernannte ihn Herzog Peter von Kurland zum Professor der griech. Sprache u. Literatur an der neu gegründeten Academia Petrina in Mitau. Dort blieb K. bis zu seinem Tod, dem Studium der kurländ. Literatur- u. Kulturgeschichte hingegeben, wobei er philolog. Begabungen mit dichterischen verband. Schon in Leipzig hatte K. im Klopstock-Stil Oden u. Hexametergedichte veröffentlicht. In Mitau setzte er diese Tätigkeit fort u. legte hier 1791 Kuronia oder Dichtungen und Gemälde aus den ältesten kurländischen Zeiten vor. Der gelehrten Welt seiner Zeit wurde K. durch seine Übersetzungen u. literaturgeschichtl. Untersuchungen bekannt. Seine in Prosa abgefassten Übersetzungen der Ilias (2 Bde., Lpz. 1771–73), der orphischen Argonauten (Lpz. 1773) u. des Hero und Leander von Musaios (Lpz. 1773) bilden Dokumente für die Aneignung der Antike in Deutschland, waren allerdings am Ende des 18. Jh. durch talentiertere Nachfolger überholt. In den Charakteren teutscher Dichter und Prosaisten, von Karl dem Großen bis aufs Jahr 1780 (2 Bde., Lpz. 1781) suchte K. die biogr. Behandlung mit einer ästhet. Würdigung zu verbinden, indem er vom Standpunkt der »Briefe die Neueste Litteratur betreffend« her urteilte. Lessing u. Klopstock blieben seine philologischen wie dichterischen Vorbilder. Literatur: Diederichs: K. In: ADB. – Günter Häntzschel: K. In: NDB. – Deutschbalt. Biogr. Lexikon 1710–1960. Hg. Wilhelm Lenz. Wedemark 1998, S. 429. – Gero v. Wilpert: Deutschbalt. Literaturgesch. Mchn. 2005, S. 114. – Carola L. Gottzmann u. Petra Hörner: Lexikon der deutschsprachigen Lit. des Baltikums u. St. Petersburgs vom MA bis zur Gegenwart. Bd. 2, Bln./New York 2007, S. 796 f. Günter Häntzschel / Red.

Von den zwölf Geschwistern des Pfarrerssohns blieben nur sechs am Leben. K. studierte in Leipzig Philosophie u. klass. Philologie, erhielt aber schon vor Abschluss des Studiums 1776 eine Hauslehrerstelle in der Schweiz. 1783 ging er als Hofmeister eines Lords nach England u. begleitete dessen Söhne auf die Universitäten des Landes u. auf mehrere Reisen. Eigene Beobachtungen u. systematisch gesammelte Informationen über Soziales, Wissenschaft u. Kultur verarbeitete K. in den faktenreichen Beyträgen zur Kenntniß vorzüglich des Innern von England und seiner Einwohner (5 Bde., Lpz. 1791–96), die rasch zu einem Standardwerk der England-Kunde wurden. Als einer der ersten dt. Reisenden beschrieb K. auch detailliert die irischen Verhältnisse (Briefe über Irland. Lpz. 1785). Die Darstellung seiner Frankreich-Reisen 1787 u. 1791, die er mit einer positiven Charakteristik der Französischen Revolution verband (Beyträge zur Kenntniß vorzüglich des gegenwärtigen Zustandes von Frankreich und Holland. Lpz. 1792), konnte nur mit einem distanzierenden Vorwort des Verlegers erscheinen. 1793/94 begleitete er seine engl. Zöglinge auf der obligator. »Grand Tour« nach Italien, 1797–1799 auf einer neuen Reise durch Skandinavien u. Mitteleuropa. Seit 1793 lebte K. in Leipzig, wo ihm in Abwesenheit auch die Doktorwürde verliehen worden war. Er beschrieb in zwei umfangreichen Werken seine europ. Reisen (Wanderungen durch die Niederlande, Deutschland, die Schweiz und Italien. 2 Bde., Lpz. 1796. Reisen durch Deutschland, Dänemark, Schweden, Norwegen und einen Theil von Italien. 4 Bde., Lpz. 1801), übersetzte u. arbeitete für verschiedene Zeitschriften, u. a. auch für die konkurrierenden Literaturzeitungen in Halle, Jena u. Leipzig. Weitere Werke: Briefe eines Sachsen aus der Schweiz. 3 Tle., Lpz. 1785/86. – Über den ökonom. u. polit. Zustand v. Großbritannien zu Anfange des Jahres 1796. Lpz. 1796. Literatur: Felix Friedrich: C. G. K. Crimmitschau 1903 (zgl. Diss. Lpz.). – Hans B. Spies: C. G.

113 K.s Ber. über seinen Lübeck-Besuch im Juni 1798. In: Ztschr. des Vereins für Lübeckische Gesch. u. Altertumskunde 87 (2007), S. 341–354. Wolfgang Griep / Red.

Kuffner, Christoph (Johann Anton), * 28.6.1780 Wien, † 7.11.1846 Wien. – Erzähler, Lyriker, Dramatiker, Publizist, Übersetzer, Herausgeber.

Kugler Wien 1837. – Die Reise des letzten Menschen. Ein Fiebernachts-Traum. 3 Bde., Wien 1837–39. – Phantasmion. Neuere E.en, N.n, Sagen, Märchen u. Bilder. Wien 1839. – Erzählende Schr.en, dramat. u. lyr. Dichtungen. Ausg. letzter Hand. 20 Bde., Wien 1843–47. – Herausgeber: Hesperidenhain der Romantik. 5 Bde., Wien 1818/19. – Tb. für Frohsinn u. Liebe. Wien 1826/27. – A. G. Meißner’s sämmtl. Werke. 36 Bde., Wien 1813/14. Literatur: Alfred C. Kalischer: K.s Gespräche

K., der seinen Beruf als Beamter u. Bücher- mit Beethoven. In: Euph. 4 (1897), S. 169–180. – zensor mühelos mit seiner umfangreichen Hubert Badstüber: C. K., ein vergessener Poet des schriftstellerischen Tätigkeit verbinden Vormärz. Lpz. 1907. – Sengle 1, passim. – Herbert konnte, gilt als typischer literar. Repräsentant Seidler: Österr. Vormärz u. Goethezeit. Wien 1982. – Karin Kuntner: K. In: NDB. – Wulf Segebrecht der Metternich-Zeit. Seine in österr. Alma(Hg.): Nachrichten v. weiteren Schicksalen des nachen u. Zeitschriften erschienene Lyrik Hundes Berganza. Bamberg 1993. (Balladen, Romanzen, gesellige u. geistl. LyCornelia Fischer / Red. rik) u. Kurzprosa (Erzählungen, Märchen, Legenden, realistisch-humorvolle Genrebilder) kommen wie seine durchaus erfolgreich Kugler, Franz (Theodor), * 19.1.1808 aufgeführten »historischen« u. »romanti- Stettin, † 18.3.1858 Berlin; Grabstätte: schen« Schauspiele (z.B. Ulrich, Herzog von ebd., Friedhof Schöneberg. – KunsthistoWürttemberg. Urauff. Wien 1840. Die Minne- riker; Lyriker, Erzähler, Dramatiker. sänger auf der Wartburg. Urauff. Wien 1819) nicht über ein mittleres literar. Niveau hinaus K. wuchs in einer pommerschen Kaufmannsu. entsprechen dem Zeitgeschmack der Re- u. Konsulfamilie auf. Früh erkannte Ludwig stauration. Mit seinen Texten für Komposi- Giesebrecht, der ihn in Stettin unterrichtete, tionen (u. a. zu Beethovens Fantasie für Klavier, seine künstlerische Begabung. Obwohl eher Chor und Orchester, op. 80, Wien 1808, sowie musikalisch u. poetisch veranlagt, nahm K. die urspr. für Haydn u. Beethoven verfassten 1826 in Berlin ein Philologiestudium auf. Das Oratorientexte Die vier letzten Dinge, Wien Sommersemester 1827 verbrachte er in Hei1810, u. Saul’s Tod, Wien 1840, vertont von delberg, um altdt. Handschriften zu studieIgnaz Assmayr) lieferte er einen Beitrag zur ren. Zu seinem Freundes- u. Bekanntenkreis, Geselligkeitskultur des Biedermeier. Als Ro- in dem er dichtete, malte u. komponierte, mancier erzielte K. seinen größten Erfolg mit gehörten neben Heine, den er porträtierte, dem »archäologisch-historischen Gemälde Felix Mendelssohn, Karl Rosenkranz u. Roaus der alten Römerwelt« Artemidor (6 Bde., bert Reinick. Das zum Volkslied gewordene Brünn/Wien 1822–33). K.s Werke sind von An der Saale hellem Strande entstand in dieser Klassizismus u. Romantik nur oberflächlich Zeit. Neben dem Universitätsstudium trug geprägt: In Ethos u. Kunstauffassung bleibt sich K. in die Bauakademie ein, wo er 1829 er, wie auch sein einflussreiches Sammelwerk ein Feldmesserexamen ablegte. Nach kurzer Bibliothek der Humanitätswissenschaften (19 berufl. Praxis in Stettin kehrte er zurück nach Bde., Wien 1821–25) u. seine Theorie der Be- Berlin, wo er 1831 über den Benediktinerredsamkeit (2 Tle., Wien 1825) belegen, der mönch Werinher von Tegernsee promovierte. Bildungstradition der Aufklärung u. der 1833 folgte die Habilitation. Nachdem ihm eine Privatdozentur genehmigt worden war, Empfindsamkeit verpflichtet. heiratete er Clara, die Tochter des Juristen u. Weitere Werke: M. A. Plautus. Sämmtl. LustSchriftstellers Julius Eduard Hitzig, der ihm spiele. 5 Tle., Wien 1807 (metr. Übers.). – Perikles der Olimpier. 2 Tle., Wien 1809 (Biogr.). – Ge- den weiteren Weg ins literar. Leben Berlins dichte. Pest 1817. – Spaziergang im Labyrinth der ebnete. Die berufl. Orientierung begünstigte Gesch. In Briefen an Demoustier’s Emilie. 4 Tle., die Herausbildung seiner kunstgeschichtl. Wien 1824–26. – Salon der guten Laune. 2 Bde., Interessen, für die er rasch ein akadem. Pu-

Kugler

blikum gewann, u. schränkte seine literar. Neigungen ein (»Ich weiß ich bin ein Dichter und [...] besser als hundert Lumpenhunde«, an Emanuel Geibel, 24.4.1839). Seine Eigenart, die sich in den nächsten Jahren wirkungsvoll entfaltete, lag gerade in seiner vielfachen Begabung u. der Fähigkeit, persönliche u. institutionelle Netzwerke zu knüpfen. Mit K. begann sich die Kunstgeschichte zu einer eigenständigen Kulturwissenschaft zu entwickeln. 1835 berief ihn die Akademie der Künste zum o. Professor. Mit der Geschichte Friedrich des Großen (Lpz. 1840; illustriert v. Adolph Menzel) gelang K. ein anhaltender Erfolg in der populärwiss. Geschichtsschreibung. Für das bei Cotta erscheinende »Kunstblatt« schrieb er nicht nur zahlreiche Kritiken, sondern war auch in den 1840er Jahren dessen Redakteur. 1843 beorderte ihn der Kultusminister Ludwig Eichhorn zur Bearbeitung der Kunstangelegenheiten in sein Ministerium (Dezernat). K. übergab Teile seines wiss. Werks, bes. die Handbücher zur Geschichte der Malerei u. zur Kunstgeschichte (2 Bde., Bln. 1837 bzw. Stgt. 1841/42), seinen Schülern, deren bekanntester Jacob Burckhardt war. Die Märzrevolution sah ihn als aufmerksamen Beobachter, nicht als Beteiligten. Nach 1848 intensivierte er, nun ernannt zum Geheimen Regierungsrat, sein schon Mitte der 1840er Jahre begonnenes Bemühen, das preuß. Kunstwesen nachhaltig zu reformieren. Gleichzeitig trat er, dem nicht nur die bildende, sondern auch die Dichtkunst am Herzen lag, dem literar. Sonntagsverein »Tunnel über der Spree« bei, verfasste eine Reihe von Dramen, Lustspielen u. Erzählungen u. war gewillt, Berlin als Zentrum literar. Entwicklung zu etablieren. Dabei setzte er auf ein realist. Kunstkonzept, dessen romant. Wurzeln er nicht verleugnete. Sein poet. Ideal sah er in der »Verbindung [...] der besten Seiten von Klassik und Romantik unter Vermeidung ihrer jeweiligen Schwächen« (Hillenbrand), sodass er als Vordenker des poet. Realismus gelten kann. Weder mit seinen kulturhistor. Novellen noch mit seinen histor. u. polit. Dramen fand er indes die öffentl. Anerkennung, nach der er sich sehnte.

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Gewichtig war seine Rolle im »Rütli«, einer engagierten, auch literaturkritisch auftretenden Nebenvereinigung des »Tunnel«: Dort verantwortete er mit Theodor Fontane den ersten Jahrgang des belletrist. Jahrbuchs »Argo« (1854) u. beteiligte sich am »Literaturblatt« zum »Deutschen Kunstblatt« (1854–58), für das er Rezensionen u. Aufsätze schrieb. Große Aufmerksamkeit widmete K. der Förderung einzelner Schriftsteller u. Künstler. Neben Geibel, mit dem er anfangs gemeinsam künstlerisch u. kunstpolitisch tätig sein wollte, galt sein bes. Augenmerk Fontane, dessen preuß. Balladik er in ihrer innovativen Bedeutung erkannte u. förderte, aber mehr noch Paul Heyse, der 1854 sein Schwiegersohn wurde. Dessen literar. Weg begünstigte er nach allen Kräften, auch dann noch, als sein Reformprojekt zum Erliegen kam u. er selbst seine bewusst parallel betriebene literar. Arbeit aufgegeben hatte. Dank K.s Zwitterstellung in Kunst, Politik u. Wissenschaft ist das Interesse an Person u. Werk in jüngster Zeit wieder geweckt worden (internat. u. interdiszipläre Tagung 2008, Berlin). Weitere Werke: Skizzenbuch. Bln. 1830. – Liederbuch für dt. Künstler (zus. mit Robert Reinick). Bln. 1833. – Gedichte. Stgt./Tüb. 1840. – Jakobäa. In: Belletrist. Schr.en. 8 Bde., Stgt. 1851/52 (entstanden 1848, D.). – Kleine Schr.en u. Studien zur Kunstgesch. 3 Bde., Stgt. 1853/54. – Aus Biedermeiertagen. Briefe R. Reinicks u. seiner Freunde. Hg. Johannes Häffner. Bielef./Lpz. 1910. – Briefe an Theodor Fontane. Hg. Roland Berbig. In: Fontane Blätter 1 (1986).  Theodor Storm bei F. K. u. im Rütli. Hg. ders. In: Fontane Blätter 53 (1992), S. 12–29.  F. K.s Briefe an Theodor Storm. Hg. ders. In: Schr.en der Theodor-Storm-Gesellsch. 42 (1993), S. 115–139.  F. K.s Briefe an Emanuel Geibel. Hg. Rainer Hillenbrand. Ffm./Bln. u. a. 2001. Literatur: Ehrenfried Kaletta: F. T. K.s Dichtungen. Breslau 1936. – Wilhelm Treue: F. T. K. – Kulturhistoriker u. Kulturpolitiker. In: HZ 175 (1953), S. 483–526. – Wolfgang Frhr. v. Löhneysen: K. In: NDB. – Sonja Wüsten: Theodor Fontanes Gedanken zur histor. Architektur [...] u. sein Verhältnis zu F. K. In: Fontane Blätter 3 (1975), H. 5, Nr. 21, S. 321–352.  Leonore Koschnick: F. K. als Kunstkritiker u. Kulturpolitiker. Bln. (Diss.) 1985.  Roland Berbig: Ascania oder Argo? In: Theodor Fontane im literar. Leben seiner Zeit. Bln./DDR

115 1988, S. 107–133.  Rainer Hillenbrand: F. K. als Erzähler. In: CG 33 (2000), H. 2, S. 123–147.  Ders.: F. K.s polit. Dramen aus der Revolutionszeit. In: LitJb 41 (2000), S. 89–123. Roland Berbig

Kuh, Anton, auch: Yorick, * 12.7.1890 Wien, † 18.1.1941 New York. – Erzähler, Essayist, Kritiker u. Vortragskünstler. Seinen Zeitgenossen, die von der sagenhaften Improvisationsgabe u. mitreißenden Rhetorik des »Sprechstellers« hingerissen waren, blieb K. als wortgewaltiger Stegreifconferencier u. Vertreter einer untergegangenen Kaffeehauskultur in Erinnerung. Zwar publizierte er zu Lebzeiten nur eine geringe Anzahl von Büchern, sein journalist. Erbe umfasst jedoch über 1000 satir. Glossen, Aphorismen, Rezensionen, Theaterkritiken, Feuilletons, gesellschafts- u. kulturkrit. Texte v. a. zur österr. Zeitgeschichte, später antifaschist. Satiren (z.B. im »Pariser Tagblatt«). K. stammte aus einer Prager dt.-jüd. Familie, u. sein Vater war Chefredakteur des »Neuen Wiener Tagblatts«. K. lebte in Wien, Prag u. von Mitte der 1920er Jahre bis 1933 in Berlin, wo er dem anarchist. Literatenkreis um Otto Groß nahestand, u. profilierte sich bald als Mitarbeiter angesehener Zeitungen u. Zeitschriften (u. a. »Prager Tagblatt«, »Schaubühne«, »Tage-Buch«, »Weltbühne«). Stilistisch brillante u. pointensichere Kurzprosa war K.s eigenstes Metier. Auch seine Buchpublikationen sind von der kleinen Form geprägt. Mit seiner am 25.10.1925 im Wiener Konzerthaus gegen Karl Kraus gehaltenen Rede Der Affe Zarathustras (Wien 1925) erreichte eine jahrelange publizist. Fehde zwischen dem »Fackel«Herausgeber u. K. ihren Höhepunkt, die sich auch an K.s Mitarbeit an den Blättern des übel beleumundeten Skandaljournalisten u. Zeitungsverlegers Imre Békessy (»Die Stunde«, »Die Bühne«) entzündet hatte. In seiner bislang zu wenig beachtet gebliebenen Auseinandersetzung mit dem Judentum plädierte K. nach Ende des Ersten Weltkriegs für eine jüd. Selbstbesinnung in der Diaspora. 1938 floh K. über Prag in die USA, wo er in New York als Kolumnist des »Aufbau« arbeitete u. Vorträge hielt (Die Kunst, Hitler zu

Kuh

überleben, 20.3.1940). Anfang der 1960er Jahre leiteten eine Schallplatte (Österreichisches Lesebuch. Helmut Qualtinger liest Kuh. Wien 1962) u. ein Auswahlband (Von Goethe abwärts. Aphorismen. Essays. Kleine Prosa. Nachw. v. Hermann Hakel. Wien 1963) K.s allmähl. Wiederentdeckung ein. Weitere Werke: Juden u. Deutsche. Bln. 1921 (Ess.). Neuausg., hg. u. eingel. v. Andreas B. Kilcher. Wien 2003 (mit Rezeptionsdokumenten). – Von Goethe abwärts. Ess.s in Aussprüchen. Lpz. 1922. – Der unsterbl. Österreicher. Mchn. 1930 (Kurzp.). – Physiognomik. Aussprüche. Mchn. 1931. – Luftlinien. Hg. u. Nachw. v. Ruth Greuner. Bln./DDR 1981. Wien 1982. Teilslg. u. d. T. Metaphysik u. Würstel. Zürich 1987. – Zeitgeist im Lit.Café. Hg. Ulrike Lehner. Wien 1983. Teilslg. u. d. T. Hans Nebbich im Glück. Zürich 1987. – (Hg.) Börne, der Zeitgenosse. Wien 1922 (Werkausw. u. Einl.). – Sekundentriumph u. Katzenjammer. Hg. Traugott Krischke. Wien 1994. – Café de l’Europe. Hg. François Mathieu. Paris 2003. – Miguel HerzKestranek liest A. K. Audio-CD 2006. Literatur: Friedrich Torberg: Die Tante Jolesch oder Der Untergang des Abendlandes in Anekdoten. Mchn. 1975, S. 250 f. – W. W. Schuhmacher: K. – Der letzte Kaffeehausliterat. In: Archiv, H. 1 (1981), S. 118 f. – Ulrich Weinzierl: Typ. Wiener Feuilletonisten? Am Beispiel Salten, Blei, Friedell, Polgar u. K. In: LuK (1985), S. 72–86. – Traugott Krischke: Ein fast berühmter Mann. A. K. Collage. Wien 1993. – Harry Zohn: Three Austrian Aphorists: Kraus, K., Canetti. In: Ders.: Austriaca and Judaica. New York 1995, S. 89–99. – Andreas B. Kilcher: Physiognomik u. Pathognomik in der jüd. Moderne: A. K.s anarchist. ›Sendung des Judentums‹. In: Aschkenas 10 (2000), H. 2, S. 361–388. – Claudia Albert: ›Polemisch mäandrierende Prosa‹: Zu A. K.s geistiger Signatur aus Anlaß einer Neuausg. seines Buchs ›Juden und Deutsche‹. In: Aschkenas 13 (2003), H. 2, S. 543–547. – A. B. Kilcher: Anti-Ödipus im Land der Ur-Väter. Franz Kafka u. A. K. In: Kafka, Zionism, and Beyond. Hg. Mark H. Gelber. Tüb. 2004, S. 69–88. – Ders.: Sexuelle Revolution u. jüd. Befreiung. Otto Gross u. A. K. In: Utopie & Eros. Der Traum der Moderne. Hg. Gottfried Heuer. Marburg 2006, S. 161–178. Ursula Weyrer / Birgit Lang

Kuh

Kuh, Emil, * 13.12.1828 Wien, † 30.12. 1876 Meran. – Kritiker, Literarhistoriker, Lyriker, Erzähler, Herausgeber.

116 K.; Phasen ihrer Beziehung. In: Hegau 52 (1997), S. 85–107. Cornelia Fritsch / Red.

K. stammte aus einer wohlhabenden jüd. Kuh, Ephraim Moses, * 1731 Breslau, Kaufmannsfamilie. Nach literarischen u. † 3.4.1790 Breslau. – Lyriker. philosoph. Studien war er vorübergehend Der Sohn eines reichen jüd. Kaufmanns erEisenbahnbeamter, 1859 trat er zum Katho- hielt eine kaufmänn. Ausbildung. 1763 trat er lizismus über u. heiratete die Sängerin Adele in die Berliner Münzmanufaktur seines OnFerrari. In den 1860er Jahren erreichte K. mit kels Veitel Ephraim ein u. fand Zugang zum ästhetisch-krit. Arbeiten hohe Anerkennung, Kreis um Mendelssohn u. Ramler. 1768–1770 er leitete das Feuilleton der »Österreichischen bereiste er Holland, Frankreich, Italien u. Zeitung« u. der »Presse«. 1864 wurde er Deutschland. Finanziell am Ende, lebte er in Professor für dt. Sprache u. Literatur an der der Folge von familiärer Unterstützung in Wiener Handelsakademie. Breslau. Seine psych. Labilität steigerte sich Von nachhaltiger Bedeutung für K. war oft bis zur Raserei. Nach einem Schlaganfall unter seinen zahlreichen literar. Bekannt- blieb er die letzten vier Lebensjahre einseitig schaften (u. a. Heyse, Keller, Mörike) die Be- gelähmt. Berthold Auerbach machte K. zum gegnung mit Hebbel u. Storm. Auf Friedrich Protagonisten seines biogr. Romans Dichter Hebbel, eine Charakteristik (Wien 1854), in der und Kaufmann (Stgt. 1840). Form einer Verteidigungsschrift gehalten, K.s Œuvre besteht aus über 5000 Gedichfolgte postum 1877 sein Lebenswerk: die ten, zumeist in Kleinformen wie Epigramm, zweibändige detaillierte Biographie Hebbel’s Madrigal oder metr. Fabel. Martial u. Phä(Wien), für die er jahrelang Material sam- drus waren Vorbilder u. boten oft die Bearmelte. Hebbels Einfluss ist auch in K.s Lyrik beitungsgrundlage. Zu Lebzeiten erschienen (Gedichte. Braunschw. 1858) spürbar. In den K.s Werke nur vereinzelt, u. a. im »Deutschen Romanzen u. Legenden, die meist trag. Stoffe Museum« (1784–86). Postum besorgte Rambehandeln, finden sich direkte Anklänge, ler zus. mit Johann Joseph Kausch u. Moses manche Gedichte sind als Gegenstücke zur Hirschel die Ausgabe Hinterlassene Gedichte (2 Lyrik Hebbels gedacht. Wie dieser setzt auch Bde., Zürich 1792), wobei Ramler die Texte K. nach dem Vorbild der Romantiker Ge- überarbeitete. Korrekturen des Freundes mälde in Verse um. Mendelssohn enthält die Ode Lob Gottes. Nach K.s Bedeutung liegt in seinen krit. u. lite- einem Donnerwetter 1777, erstmals gedruckt in rarhistor. Schriften (als Werkherausgeber u. a. dessen Kleinen philosophischen Schriften (Bln. von Halm u. Hebbel); in Essays u. Dichter- 1789). In seinen geistl. Gedichten argumenporträts (u. a. Goethe, Schiller, Nestroy, Höl- tiert K. von einem deistischen Standpunkt derlin, Tieck, Storm) urteilt er nach strengen aus: Der Kontakt zur Gottheit erschöpft sich literar. Kriterien. in der Annahme seiner Allgegenwart in der Weitere Werke: Drei Erzählungen. Wien 1857. Natur. Die weltl. Lyrik zielt pointiert didak– Dichterbuch aus Österr. Wien 1863 (Anth.). – tisch auf Lebensregeln u. desavouiert verZwei Dichter Österreichs: Franz Grillparzer – nunftwidriges Fehlverhalten. Adalbert Stifter. Pest 1872. Ausgaben: Briefw. Gottfried Keller – E. K. Hg. u. erl. v. Irmgard Smidt u. Erwin Streitfeld. Stäfa/ Zürich 1988. – Theodor Storm – E. K. Briefw. Krit. Ausg. Hg. E. Streitfeld. 3 Bde., Graz 1985. Literatur: Wurzbach. – Nagl-Zeidler 3, Wien 1935. – Renate Heuer: K. In: NDB. – Erwin Streitfeld: Friedrich Hebbel u. E. K. In: Hebbel-Jb. 52 (1997), S. 85–107. – Ders.: ›Der Umgang mit einem großen Manne ist wie das Wohnen in der Nähe eines feuerspeienden Berges‹: Friedrich Hebbel u. E.

Ausgaben: Fabeln u. Erzählungen aus verschiedenen Dichtern. Hg. Karl Wilhelm Ramler. Bln. 1797. – Epigramme. Hg. Theodor Seemann. Dresden 1872. Literatur: Meyer Kayserling: Der Dichter E. M. K. Bln. 1864. – Hans Rhotert: E. M. K. Mchn. 1927. – Wojciech Kunicki: Schicksale der jüd. Literaten

Kuhlmann

117 im aufgeklärten Schlesien. In: Ders.: Aufklärung in Schlesien im europ. Spannungsfeld. Wroclaw 1996, S. 93–110. – Hans Otto Horch u. Eva Varga: E. M. K. In: MLdjL. Dominica Volkert / Red. /

Kuhbier, Heinz, auch: H. Coubier, Henri Legendre, * 20.5.1905 Duisburg, † 1.8. 1993 Ebenhausen. – Komödiendichter, Verfasser kulturkritischer Essays.

szenierte (Urauff. Darmstadt, 30.4.1946), dann als freier Schriftsteller. 1959 erschien sein einziger Roman, Der falsche Zar (Köln/ Bln.), der einen bereits von Schiller in einem Dramenfragment behandelten Stoff aufgreift u. in Form von fingierten Tagebuchaufzeichnungen die Geschichte des Pseudo-Demetrius u. Mönchs Trofym schildert. Neben zahlreichen kunst- u. kulturkrit. Aufsätzen u. Artikeln verfasste K. Hörspiele, Drehbücher u. Übersetzungen (u. a. Jean Giraudoux: Die Gracchen) sowie eine breit angelegte Abhandlung über die Bedeutung des Platzes in der europ. Stadt (Europäische Stadtplätze. Köln 1985).

Der Sohn eines Großindustriellen studierte Literatur-, Kunst- u. Theaterwissenschaft (u. a. bei Arthur Kutscher). Danach arbeitete er als Dramaturg u. Regieassistent in Düsseldorf, Regensburg, Köln u. Berlin. Nach 1933 machte er sich wegen seiner antinatioWeitere Werke: Die Schiffe brennen! Lpz. 1938 nalsozialist. Einstellung unbeliebt, 1934 er- (D.). – Ein Kommandant. Weinheim/Bergstraße folgte sein Ausschluss aus der Bühnengenos- 1959 (D.). Peter König / Red. senschaft, der einem Berufsverbot gleichkam. K. war verheiratet mit der Schriftstellerin Kuhlmann, Culmannus, Kühlmann, KuhlMarianne Langewiesche. Er publizierte als man, Quirin(us), * 25.2.1651 Breslau, »Heinz Coubier«. † 4.10.1689 Moskau. – Lyriker, Mystiker, Er begann für das Theater »zum unmitChiliast. telbaren Tagesgebrauch« zu schreiben, wobei er darin zgl. eine »Form des Widerstands« K., Sohn eines begüterten Kaufmanns, besuchte. Während gleich sein erstes Stück Pi- suchte – wie viele bekannte schles. Dichter – ratenkomödie (1936) umgehend von den Na- das Magdalenengymnasium in Breslau. tionalsozialisten verboten wurde, gelang ihm Schon in seiner Schulzeit manifestierte sich 1938 mit der frz. Revolutionskomödie Aimée K.s Drang nach enzyklopäd. Wissen, der seioder der gesunde Menschenverstand (Lpz.) ein nen Niederschlag in einigen der späteren Durchbruch: Das Stück wurde in Bremen mit Werke fand. Bei K. lässt sich, wie nur bei großem Erfolg uraufgeführt. In der Folge wenigen seiner Zeitgenossen (z.B. Philipp entstanden noch 100000000 Dollars oder der von Zesen), Biografie u. dichterisches SchafZauber der Propaganda (1940) u. Mohamed oder fen kaum trennen. Seine Werke sind stark von Das Wunder der Konjunktur (1945). K.s Stücke der augenblickl. Lebenssituation geprägt u. bieten an der Oberfläche Unterhaltungsthea- formulieren später vielfach das Programm ter mit viel Witz u. Esprit, sollten jedoch nach seines Missionsbewusstseins. Formal wie inAbsicht des Verfassers die vom Publikum haltlich entsprechen seine ersten Dichtungen wohlverstandene u. mit Beifall bedachte der gelehrten humanist. Tradition, so z.B. Botschaft transportieren, »daß kritisches Unsterbliche Sterblichkeit / das ist / Hundert Denken der vorfabrizierten Ideologie überle- Spielersinnliche Grabeschriften (Liegnitz 1668). gen sei, daß organisierte Gewaltanwendung In alexandrin. Vierzeilern wird hier zeitgenichts beweise, aber lächerlich mache, und nössischer u. antiker Gelehrter u. Dichter daß es zwar bequemer, doch nicht angeneh- gedacht. K. befolgt das Stilideal der Acutezza mer sei, nach Befehl zu leben, anstatt nach u. dokumentiert die eigene polyhistor. Beleeigener Entscheidung« (aus Die Kunst, sich in- senheit. Um ein ähnlich gelehrtes Werk hanteressant zu machen. In: Die Welt der Literatur delt es sich bei dem 1669 erschienenen 4, 1967). Hochzeitsgedicht Die Preißwürdige Venus Nach dem Krieg arbeitete K. zunächst (Breslau), in dem K. seine Kenntnisse der anwieder als Regisseur, wobei er u. a. als Erster tiken Mythologie präsentiert. Zu den DichJean Anouilhs Antigone für eine dt. Bühne in- tungen, die noch in seiner Schulzeit entstan-

Kuhlmann

den, gehören die Entsprossende Teutsche Palmen / Des Durchlauchtigsten und Welt-beruffenen Palmen-Ordens (Oels 1670). In diesem 1000 Alexandriner umfassenden panegyr. Gedicht, das am 13.2.1670 in der Schule öffentlich vorgetragen wurde, feiert K. die Fruchtbringende Gesellschaft u. ihre Mitglieder. Im Wintersemester 1670 begann K. sein Jurastudium in Jena; er befasste sich dabei auch mit Theologie u. Theosophie. Den Titel eines Poeta laureatus erwarb er sich durch die 1671 erschienenen Himmlischen Liebes-küsse (Jena). Dieses Werk steht zwar in der langen Tradition der poet. Hohelied-Exegesen, unterscheidet sich aber von der Mehrzahl ähnl. Texte dadurch, dass hier das Liebesverhältnis von Braut u. Bräutigam nicht als Allegorie für die Beziehung zwischen Christus u. der Kirche paraphrasiert wird, sondern allg. religiöse Inhalte ohne dogmat. Festlegung behandelt werden. Die Kenntnis der Tradition wird beim Leser vorausgesetzt, denn die Bildwahl knüpft an Vorstellungen an, die seit dem MA bekannt sind. Dennoch sind Umdeutungen u. Bildvariationen erkennbar. Sprachlich u. formal innovativ zeigt sich K. hier zum einen v. a. in Wortneubildungen, zum anderen in der Variation des gewählten Dispositionsmusters, des Sonetts. Darüber hinaus macht sich in vielen Gedichten der Einfluss der Lull’schen Kombinatorik bemerkbar, die K. über Athanasius Kirchers Ars Magna Sciendi (1669) kennengelernt hatte. Mit ihr glaubte er, das innere Wesen der Dinge einsichtig machen zu können – ein Vorhaben, dem seine bes. Sprachbehandlung letztlich dient. Diese Methode wendet K. auch in anderen Texten an – z.B. in einem Gedicht anlässlich der Hochzeit seiner Schwester (A. Z! Liebes-Rose [...]. 1670) oder in Verbindung mit der Zahlensymbolik in seinem Kühlpsalter (1684–86). In die Jenaer Zeit fallen noch zwei Prosawerke belehrenden Inhalts: Lehrreiche Weißheit- Lehr- Hof- Tugend-Sonnenblumen (Jena 1671) u. Lehrreicher Geschicht-Herold (Jena 1672). Beide Schriften basieren auf der Auswertung eines immensen Lesefundus. Im ersten Werk sammelte K. Sprüche aus der Bibel wie auch aus Büchern der verschiedensten Wissenschaften. Im zweiten findet sich eine Zusammenstellung von Anekdoten

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u. kurzen Geschichten sowie ein 74-seitiges Verzeichnis der von ihm bis 1672 gelesenen Bücher. 1673 siedelte K. zur Fortsetzung seiner Studien nach Leiden über. Dieser Ortswechsel war für seine Entwicklung u. Lebensgestaltung von entscheidender Bedeutung. Beeinflusst von Schriften Böhmes u. des religiösen Schwärmers Johannes Rothe erfolgte die Abkehr vom Luthertum. Von Fanatismus getrieben, versuchte K. Anhänger für das erstrebte religiöse Reich zu finden. Diesem Zweck diente von nun an der größte Teil seiner Schriftstellerei. Wissenschaftstheoretische u. poetolog. Fragestellungen behandelt die vermutlich 1674 erstmals erschienene u. später mehrmals – auch unter verschiedenen Titeln – wiederaufgelegte Korrespondenz mit Kircher, Epistola De Arte Magna Sciendi Sive Combinatoria (o. O. u. J.). Interessant ist hier der Versuch K.s, in krit. Auseinandersetzung mit Kirchers Werk, die Kombinatorik für die Poetik nutzbar zu machen. Erster Ausdruck der neuen religiösen Anschauungen ist die Schrift Neubegeisterter Böhme (Leiden 1674). Der Autor untersucht die Übereinstimmung von 150 Weissagungen Böhmes mit Rothes Fünfter Monarchi oder dem Jesus Reiche. Darüber hinaus stellt er 1.000.000.000 theosoph. Fragen, die seiner Meinung nach mit theolog. »Schulmanir« nicht zu lösen seien. Das Werk gibt sich als programmat. Sendschreiben für luth. Fürsten, Hochschulen u. Kirchengemeinden. Seiner Intention nach ist es gegen jegl. Form des Konfessionalismus gerichtet u. wendet sich an die, die »Gottes Geist folgen«, um als fünfte Monarchie Gottes Reich nach den vier Weltreichen zu errichten. Indem K. seinen Namen etymologisch ausdeutete, gelangte er schließlich zu der Überzeugung, er selbst sei der neue Gottessohn, da nach Böhmes Lehre Gott der »Kühlemann« sei, der der in teufl. Hitze entbrannten Welt Kühlung bringe. Seinem missionarischen Sendungsbewusstsein, das er in [...] des Christen des Jesuelitens/ QUINARIUS (1680) ausführlich rechtfertigte, entsprangen auch K.s Reisen. 1677 begab er sich nach England u. gewann dort eine kleine Anhängerschaft. K.s großer Plan

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war aber die Bekehrung des Sultans von Konstantinopel nach dem Ende der Türkenkriege. Zu diesem Zweck reiste er 1678 über Frankreich nach Kleinasien. Diese fantast. Unternehmung blieb jedoch erfolglos. Nach seiner Rückkehr im April 1679 widmete er sich in Amsterdam erneut der Schriftstellerei: Er veröffentlichte einige Briefe – v. a. aber sein Hauptwerk, den Kühlpsalter. Der erste Teil (Amsterd. 1684) enthält die vermutlich bereits 1677 erschienenen Funffzehn Gesänge u. ist gegliedert in Buch I-IV; der zweite Teil (ebd. 1685) enthält Buch V; der Band mit Buch VI u. VII (ebd. 1686) ist im Titel nicht durchnumeriert; der Band mit Buch VIII (ebd. 1686) wird irrtümlich als dritter Teil gezählt. Die geplanten Bücher IX u. X wurden nicht fertiggestellt. Die Inhalte dieser Gedichte sind recht vielfältig, stehen aber mit dem Leben des Autors in direkter Beziehung: Eigene Erlebnisse u. Visionen wechseln ab mit Paraphrasen von Bibeltexten, religionsgeschichtl. Abhandlungen u. theosoph. Themen. In myst. Ekstase wird äußeres Geschehen mit der eigenen Lebensgeschichte verknüpft. Besondere Beachtung fanden mit Recht die in dieses Werk eingefügten meisterhaften Übertragungen aus der geistl. Lyrik des span. Mystikers Juan de la Cruz (s. Rusterholz 1973). Das Werk selbst ist von Anfang an nach zahlenmyst. Gesichtspunkten geordnet: In seiner Gesamtheit sollte es zehn Bücher umfassen u. jedes Buch wiederum 15 Psalmen enthalten. Damit hätte deren Gesamtzahl dem Psalterium des AT entsprochen. Nach Auskunft des Nachworts des dritten Teils verkörpern die ersten sieben Psalmen jedes Buchs die »äußere Gestalt«, die letzten sieben die »innere«, während der achte beide Gruppen nach »Art eines Centrums« verbindet. Der ekstat. Darstellungsweise entspricht die Sprache, die eine im 17. Jh. nicht gekannte suggestive Kraft entwickelt (z.B. bei Verbformen wie »behöhlen«, »zentnern«, »entschmücken«, »harnischen« oder Superlativbildungen wie »ewigst«, »unaussprechlichst« bzw. Nominalkomposita wie »anlauffsrund«). Das Verständnis des Rezipienten wird durch Worthäufungen u. Wortneubildungen fast überstrapaziert. Auch die metr. Form wird im Verlauf des

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Werks immer komplizierter. 1686 erschien auch K.s Kleines Glaubens Bekäntnis, das die Grundlage für den durch Kühlmann errichteten neuen Bund Jesu benennt. 1689 unternahm K. den Versuch, in Russland seine »Kühlmonarchie« zu errichten. Doch kurz nach dem Eintreffen in Moskau wurde er von dem dortigen luth. Pastor Joachim Meineke denunziert. Wegen versuchten Aufruhrs wurde er gefangengenommen, wochenlang auf grausamste Weise gefoltert u. am 4. Okt. 1689 schließlich auf Befehl des Moskauer Patriarchen als Ketzer verbrannt. K.s literar. Wirkung ist begrenzt. Auch bei seiner Anhängerschaft war er gegen Ende seines Lebens nicht unumstritten. Der Einfluss auf Günter Bruno Fuchs u. Spener scheint jedoch nachweisbar zu sein. Ausgaben: Ausgew. Dichtungen. Hg. Oda Weitbrecht. Potsdam 1923. – Entsprossene Teutsche Palmen. Hg. Robert L. Beare. In: JEGPh 52 (1953), S. 346–371. – Himml. Libes-Küsse. Hg. Arnfried Astel. Heidelb. 1960. Faks.-Nachdr. Hg. Birgit Biehl-Werner. Tüb. 1972. – Der Kühlpsalter. Hg. R. L. Beare. Tüb. 1971. Faks.-Nachdr. Ffm. 1972. – [Auswahlausg.]. Hg. W. Vordtriede. Bln. 1966. – Neubegeisterter Böhme. Faks.-Nachdr. Ffm. 1972. – Der Kühlpsalter 1.-15. u. 73.-93. Psalm. Im Anhang: Fotomechan. Nachdr. des ›Quinarius‹ (1680). Hg. Heinz Ludwig Arnold. Stgt. 1973. – Der Neubegeisterte Böhme. Hg. u. erl. v. Jonathan Clark. 2 Bde., Stgt. 1995. Literatur: Bibliografie: Dünnhaupt 2. Aufl., Bd. 4, S. 2444–2462. – Weitere Titel: A. Luppius: Stratagemata Pseudo-Prophetae Q. K. o. O. 1688. – Gottlieb Liffmannus: Dissertatio historica, de fanaticis Silesiorum, et speciatim Q. K. Wittenb. 1698. 21713. – Johann Christoph Adelung: Q. K., ein Fantast. In: Ders.: Gesch. der menschl. Narrheit. Tl. 5, Lpz. 1787, S. 83–90. – Käthe Eschrich: Studien zur geistl. Lyrik Q. K.s. Diss. Greifsw. 1929. – Johannes Hoffmeister: Q. K. In: Euph. 31 (1930), S. 591–615. – Edelgard van Kamptz: Q. K. Diss. Prag 1944. – Rolf Flechsig: Q. K. u. sein ›Kühlpsalter‹. Diss. masch. Bonn 1952. – Robert L. Beare: Q. K.: The Religious Apprenticeship. In: PMLA 68 (1953), S. 828–862. – Ders.: Q. K. and the Fruchtbringende Gesellsch. In: JEGPh 52 (1953), S. 346–371. – Heinrich Erk: Offenbarung u. hl. Sprache im ›Kühlpsalter‹. Diss. Gött. 1953. – Hans Müssle: Q. K. Diss. Mchn. 1953. – Claus Victor Bock: Die Geisterreise Q. K.s. In: Castrum Peregrini 29 (1956), S. 26–47. – Ders.: Q. K. als Dichter. Bern

Kuhn 1957. – Blake Lee Spahr: Q. K.: the Jena Years. In: MLN 72 (1957), S. 605–610. – Martin Lackner: Geistfrömmigkeit u. Enderwartung. Stgt. 1959. – Walter Nigg: Hl. Weisheit. Zürich/Stgt. 1959. – Alfio Cozzi: Q. K. In: Annali. Sezione Germanica 3 (1960), S. 67–121. – Walter Dietze: Q. K.s letztes Wirken in Russland. In: SuF 14 (1962), S. 10–71. – Ders.: Q. K. Ketzer u. Poet. Bln. 1963. – M. Hiti: Der ›Kühlpsalter‹ u. das neue K.-Bild. Diss. masch. Prag 1964. – Eva-Maria Kabisch: Untersuchungen zur Sprache des ›Kühlpsalters‹. Diss. Bln. 1970. – Klaus Karl Ernst Neuendorf: Das lyr. Werk Q. K.s. Diss. Rice University 1970. – Vereni Fässler: Helldunkel in der barocken Dichtung. Bern 1971. – Birgit Biehl-Werner: ›Himmlische Liebesküsse‹. Untersuchungen zu Sprache u. Bildlichkeit. Diss. Hbg. 1973. – Sibylle Rusterholz: ›Klarlichte Dunkelheit‹. In: Dt. Barocklyrik. Hg. Martin Bircher. Stgt. 1973, S. 225–264. – Leonard Forster: Zu den Quellen des ›Kühlpsalters‹. In: Daphnis, Beih. 1 (1977), S. 263–281. – Ders.: Q. K. in Moscow 1689. In: Germano-Slavica 2 (1978), S. 317–323. – Ursula Krechel: Dichten, Verzücken, Verrücken. Q. K.: ›Der 62. Kühlpsalm‹. In: Dies.: Lesarten. Ausgew. u. komm. Darmst./Neuwied 1982, S. 29–36. – C. V. Bock: Q. K. In: Dt. Dichter des 17. Jh. Hg. Harald Steinhagen u. Benno v. Wiese. Bln. 1984, S. 737–751. – Jonathan Philip Clark: Immediacy and Experience. Institutional Change and Spiritual Expression in the Works of Q. K. Diss. Berkeley 1986. – Ders.: ›In der Hoffnung besserer Zeiten‹: Philipp Jakob Spener’s reception of Q. K. In: PuN 12 (1986), S. 54–69. – Ders.: From Imitation to Invention. Three Newly Discovered Poems by Q. K. In: WBN 14 (1987), H. 3, S. 113–129. – Wilhelm Kühlmann: Q. K. In: Dt. Dichter 2 (1988), S. 400–408. – Dorothea Oehme: ... rebellisches Fühlen. Q. K. In: Temperamente (1988), H. 2, S. 84–103. – Gerald Gillespie: Primal Utterance: Observations on K.’s Correspondence with Kircher, in View of Leibnitz’ Theories. In: Ders.: Garden and Labyrinth of the Time. New York 1988, S. 89–114. – Hans-Georg Kemper: Der ›Sohn des Sohnes Gottes‹ als Poet (K.). In: Ders.: Dt. Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. 3, Tüb. 1988, S. 279–311. – Reinhard Wittmann: Ein Brief Q. K.s an Ahasverus Fritsch. In: WBN 18 (1991), S. 41–43. – Alan Menhennet: ›Wir tunken ein unseren Kil in die Ewigkeit‹: Q. K.’s Experience of Eternity. In: Forum for Modern Language Studies 27 (1991), S. 159–168. – Georg Ralle: Günter Bruno Fuchs u. seine literar. Vorläufer Q. K., Peter Hille u. Paul Scheerbart. Diss. FU Berlin 1992. – J. P. Clark: A Question of Faith: Q. K.’s ›Kleines Glauben Bekäntnis‹. In: WBN 20 (1993), H. 1, S. 9–16. – Jörg Judersleben: Wer leuchten will, muß selber brennen: Versuch über Q.

120 K. In: Palmbaum 1 (1993), H. 4, S. 41–47. – Thomas Althaus: Einklang u. Liebe. Die sprachtheoret. Perspektive des Glaubens im Geistl. Sonett bei Catharina Regina v. Greiffenberg u. Q. K. In: Religion u. Religiosität im Zeitalter des Barock. Hg. Dieter Breuer. Tl. 2, Wiesb. 1995, S. 779–788. – Peter Zudeick: Narr, Ketzer u. Rebell: Q. K. In: Schriftsteller vor Gericht. Hg. Jörg Dieter Kogel. Ffm. 1996, S. 9–25. – Wilhelm Schmidt-Biggemann: Erlösung durch Philologie: der poet. Messianismus Q. K.s. In: Studien zur Lit. des 17. Jh. Hg. Hans Feger. Amsterd. 1997, S. 243–284. – Johann Nikolaus Schneider: K.s Kalkül. Kompositionsprinzipien, sprachtheoret. Standort u. Sprechpraxis in Q. K.s ›Kühlpsalter‹. In: Daphnis 27 (1998), H. 1, S. 93–140. – Ralf Schmittem: Die Rhetorik des ›Kühlpsalters‹ v. Q. K.: Dichtung im Kontext bibl. u. hermeneut. Schreibweisen. 2004 (Online-Ressource). – Ferdinand van Ingen: Jacob Böhme u. die schles. Dichter Daniel v. Czepko, Johannes Scheffler u. Q. K. In: Heterodoxie in der Frühen Neuzeit. Hg. Hartmut Laufhütte. Tüb. 2006, S. 243–265. – Flood, Poets Laureate, Bd. 2, S. 1061–1067. Franz Günter Sieveke

Kuhn, Franz, * 10.3.1884 Frankenberg/ Sachsen, † 22.1.1961 Freiburg i. Br.; Grabstätte: Bad Reichenhall, Friedhof St. Zeno. – Sinologe u. Übersetzer. Der Dresdener Beamtensohn K. verbrachte einige Jahre als Jurist u. Dolmetscher im konsularischen Dienst in Peking u. begann 1912 mit dem Studium der Sinologie bei Johann Jakob Maria de Groot in Berlin. Schon K.s erster Versuch, eine größere Leserschaft mit chines. Literatur vertraut zu machen, wurde ein Erfolg. Eisherz und Edeljaspis (Lpz. 1927), die Geschichte einer glückl. Gattenwahl aus der Ming-Zeit, erlebte rasch mehrere Auflagen u. zeigte die erzählerische Begabung K.s, seine bes. Fähigkeit, die fremde Welt des Fernen Ostens der eigenen Kultur nahezubringen. Dies wurde seine Lebensaufgabe, obwohl ihm die Anerkennung der Sinologen zeitlebens versagt blieb. Der literar. Durchbruch kam für K. 1930 mit dem berühmten Sittenroman Chin-p’ingmei (Lpz. U. d. T. Kin Ping Meh. Ffm. 82008), der lange Zeit auch im konfuzian. China auf dem Index gestanden hatte. In der Folgezeit übersetzte K. in rascher Folge weitere Werke, darunter die Geschichte des Rebellen Sung

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Kiang aus dem 12. Jh., die 1934 u. d. T. Die Räuber vom Liang-Schan-Moor (Lpz.; Ffm. 9 2008) erschien. Die Kriegsjahre unterbrachen diese Entwicklung, u. der Neuanfang in Freiburg/Br. war mühsam. Doch noch einmal erregte K. mit einem erot. Werk der chines. Literatur öffentl. Aufmerksamkeit: Der Roman Jou Pu Tuan, 1959 als Blumenschatten hinter dem Vorhang in Zürich erschienen, wurde von den Schweizer Behörden verboten. Die Neuauflage (Zürich 41995) erlebte K. nicht mehr. Weitere Übersetzungen: Der Traum der roten Kammer. Lpz. 1932. Ffm. 2007 (R.). – Die Jadelibelle. Bln. 1936 (R.). – Schanghai im Zwielicht. Dresden 1938 (R.). – Mondfrau u. Silbervase. Bln. 1939 (R.). – Die drei Reiche. Bln. 1940. – Kin ku ki kwan. Zürich 1952 (N.). – Die schwarze Reiterin. Zürich 1954 (R.). Literatur: Hatto Kuhn u. Martin Gimm: Dr. F. K. (1884–1961). Lebensbeschreibung u. Bibliogr. seiner Werke. In: Sinologica Coloniensa. Bd. 10, Wiesb. 1980. – Hatto Fischer: F. K. – Abschied vom chines. Traum. In: Die Horen 34 (1989), H. 155, S. 94–100. – Adrian Hsia: F. K. als Vermittler chines. Romane. In: Die Horen 34 (1989), H. 155, S. 89–93. – Peng Chang: Modernisierung u. Europäisierung der klass. chines. Prosadichtung. Untersuchungen zum Übersetzungswerk v. F. K. Ffm. u. a. 1991. – Wolfgang Bauer: Entfremdung, Verklärung, Entschlüsselung. Grundlinien der dt. Übersetzungslit. aus dem Chinesischen in unserem Jh. Bochum 1993. – Ulrich Kautz: ›Derf denn der das?‹ – F. K., Bahnbrecher der chines. Lit. in Dtschld., im Widerstreit der Meinungen. In: Literar. u. mediales Übersetzen. Hg. Rainer Kohlmayer. Ffm. u. a. 2004, S. 133–146. Johann Michael Möller / Red.

Kuhn, Friedrich (Adolph), * 2.9.1774 Dresden, † 29.7.1844 Dresden. – Lyriker u. Übersetzer. K. stammte aus einer gut situierten bürgerl. Beamtenfamilie. Nach dem Besuch des Freiberger Gymnasiums, wo er seine guten Kenntnisse der neueren Sprachen erwarb, studierte er 1793–1796 in Wittenberg Rechtswissenschaft. Daneben ging er seinen literar. Neigungen nach u. schloss Bekanntschaft mit Novalis u. Theodor Hell, für dessen »Abend-Zeitung« er später gelegentlich Artikel schrieb. 1797 hörte er in Jena Schelling

u. Fichte u. näherte sich der gerade entstehenden romant. Bewegung. Nach Dresden zurückgekehrt, widmete sich K. dem Anwaltsberuf, den er 40 Jahre mit großem Erfolg ausübte, u. nahm lebhaften Anteil am kulturellen u. polit. Leben der Stadt. K.s Lyrik, die zunächst in den verschiedensten Almanachen u. Zeitschriften erschien u. 1820 in einem stattl. Band gesammelt wurde (Gedichte. Lpz.), ist zumeist Gelegenheitsdichtung, die sich nicht über den Durchschnitt der Zeit erhebt. Als Pionierleistung ist aber die Übersetzung des bedeutendsten portugies. Epos, der Lusiaden (1572) des Camões, hervorzuheben, die K. unter Mitwirkung seines Freundes Hell vornahm (1. Gesang, Lpz. 1802. Vollst.: Die Lusiade des Camoens. Aus dem Portugiesischen in deutsche Ottavereime übersetzt. Lpz. 1807). Dem Vorbild August Wilhelm Schlegels folgend, suchte K., Versmaß, Reimstruktur u. Ton des Originals zu wahren. Die Übersetzung fand nicht nur den Beifall der Romantiker (z.B. Tiecks), sondern wurde auch von der zeitgenöss. Kritik wohlwollend aufgenommen. Literatur: NND (1846), S. 578–581. – F. Schnorr v. Carolsfeld: K. In: ADB. – Hellmut Fleischhauer: Theodor Hell [...] als Journalist, Hg., Übers. u. am Theater. Diss. Mchn. 1930, S. 10 ff., 56 f. Uta Schäfer-Richter / Red.

Kuhn, Gottlieb (Gotthold) Jakob, auch: Jakob Ehrlich, * 16.10.1775 Bern, † 23.7. 1849 Burgdorf. – Lyriker, Erzähler. Während u. nach seinen theolog. Studien in Bern war K., Sohn eines Buchdruckers, als Vikar u. (Haus-)Lehrer tätig, 1812–1824 als reformierter Pfarrer in Rüderswil/Emmental, 1824–1848 in Burgdorf. Als Verfasser zahlreicher, z.T. bis heute lebendig gebliebener Dialektgedichte (’s Blüemeli) gehörte er zu den Begründern einer schweizerischen Volksliedtradition (Volkslieder und Gedichte. Bern 1806. Neuausg. Aarau 1879); als Mitarbeiter an Franz Josef Stalders Versuch eines Schweizerischen Idiotikons (2 Bde., Aarau 1806 u. 1812) u. Herausgeber (mit Johann Rudolf Wyss) des Almanachs »Alpenrosen« (1811–30) trug er zur Herausbildung eines schweizerischen Nationalbewusstseins bei. Später wurde K. zu

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einem Sprecher der Konservativen. Einige der für die »Alpenrosen« verfassten Erzählungen (ges.: Bern 1898) können als Vorläufer der Dorfgeschichte gelten. Kulturgeschichtlich bedeutsam war K.s Beteiligung an der Sammlung von Kühreihen und (alten) Volksliedern, deren zweite Auflage (1812) er als Herausgeber betreute. Weitere Werke: Aus G. J. K.s ›Fragmenten für meine Kinder‹. Hg. Heinrich Stickelberger. In: Neues Berner Tb. für das Jahr 1911. Bern 1910, S. 1–36 (autobiogr. Aufzeichnungen). – Nachlass: Burgerbibl. Bern. Literatur: Friedrich Fiala: K. In: ADB. – Alfred Ludin: Der schweizer. Almanach ›Alpenrosen‹ u. seine Vorgänger (1780–1830). Diss. Zürich 1902. – Heinrich Stickelberger: Der Volksdichter G. J. K. Bern 1909 (mit Bibliogr.). – Paul Geiger: Volksliedinteresse u. Volksliedforsch. in der Schweiz. Bern 1911. – Max Zulauf: Das Volkslied in der Schweiz im 19. Jh. Bern/Stgt. 1972. – Anna Stüssi: K. In: Kosch. – Rudolf Dellsperger: K. In: NDB. – Peter F. Kopp: K. In: HLS. Rémy Charbon

Kuhn, Heinrich, * 29.12.1939 Uznach/St. Gallen. – Verfasser von Prosa u. Hörspielen.

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als Keller+Kuhn vierhändig Prosa zu verfassen. Ihr zweites Buch, Die blauen Wunder (Lpz. 1997), spiegelt diese Schreibsituation auch medial, indem die Kriminalgeschichte beinahe vollständig in Form eines Faxwechsels erzählt wird. Im Dazwischen lauert die Gefahr; das trifft auch auf Der Stand der letzten Dinge (Zürich 2008) zu, worin der fiktive Protagonist einem Autorenduo gefährlich ins Handwerk zu pfuschen beginnt. Im Gefolge der Zusammenarbeit mit Keller wandte sich K. der Romanform zu. In Haus am Kanal (Zürich 1999) wirbelt die Ausräumaktion bei einer verstorbenen Tante alte Geschichten, Erinnerungen u. Träume auf, die K. wie in der früheren Prosa mit diskreter Zurückhaltung schildert. Das hierin aufgebrachte Leitmotiv der Lebenskrise prägt auch den Roman Sonnengeflecht (Zürich 2002): Ein Lehrer nützt eine falsche Anschuldigung zur Befreiung von seinem Beruf – oder zur Flucht? Weitere Werke: Zu einer Dramatisierung der Lage besteht kein Anlass. Zürich 1979 (P.). – Boxloo. Basel 1989. (E.) – Paarpatt. DRS 1992 (Hörsp.). – Baller wird staunen. DRS 1993 (Hörsp.). – Angeln am Bach. In: Lit. aus der Schweiz. Passau 1993 (P.). – Unterm Strich. Düsseld. 1994 (R., Keller+Kuhn). – Absetzung vom Spielplan. DRS 1994 (Hörsp.). – Angst zu stürzen. In: Schweizer Lesebuch. Mchn. 1994 (P.). – 7 Minuten für einen Roman. In: Zehn Schweizer Autorinnen u. Autoren lesen ihre Beobachter-Kurzgesch. Zürich 1995 (Audio-CD). – Berge u. Rettung. Schwägalp 2001 (Sachbuch, Ko-Autor). – Maag&Minetti. In: Akzente 3 (2005) (P., Keller+Kuhn). – Beim Schreiben zu zweit geht es um den Dritten. Über das vierhändige Schreiben (mit C. Keller). In: NZZ, 26.4.2008. Beat Mazenauer

K. absolvierte das Lehrerseminar u. wirkte zuerst als Volksschullehrer, nach einer Ausbildung zum Berufsschullehrer arbeitete er in der Grafikausbildung an der Schule für Gestaltung in St. Gallen, wo er im Wechsel mit Paris heute lebt. Nach anfängl. Kurzprosa erhielt K. erste Anerkennung für die Erzählung Schatz und Muus (Basel 1986. Hörspielfassung: DRS 1990), der zurückhaltend erzählten Geschichte eines älteren Liebespaares. Offen Kuhnau, Johann, * 6.4.1660 Geising/Erzzum Surrealen neigt der nachfolgende Ergebirge, † 5.6.1722 Leipzig. – Jurist, Muzählband Der Traumagent (Basel 1987). Die 21 siker u. Romanschriftsteller. Geschichten kreisen allesamt um dieselbe Person, einen Mann in mittleren Jahren, der K., Sohn eines Tischlers, besuchte als Stischeinbar unbeteiligt, doch mit skurrilen Ef- pendiat die Dresdener Kreuzschule, erfuhr fekten die Ordnung des Alltags beobachtet. die bes. Unterstützung des Kapellmeisters Aus vergleichbarer Perspektive untersucht K. Vincenzo Albrici u. erhielt seine musikal. in Harrys Lächeln (Basel 1992) seine Umwelt, Ausbildung von dem Organisten der Kreuzum deren erstarrte (Beziehungs-)Rituale in kirche, Alexander Heringk. 1680–1682 beunterschiedlichsten Variationen minutiös suchte er das Zittauer Gymnasium u. war zgl. festzuhalten. Kantor u. Organist an St. Johannis (BekanntZu Beginn der 1990er Jahre tat sich K. mit schaft mit Christian Weise; erste Komposidem Autor Christoph Keller zusammen, um tionen). Ab Sommer 1682 studierte K. Jura in

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Leipzig; 1684 wurde er Organist an der des Caraffa in J. K.s Roman ›Der Musicalische Thomaskirche. 1688 verfasste er die Disser- Quacksalber‹. In: Akten des VI. Internat. Germatation Jura circa musicos ecclesiasticos (Präses: nisten-Kongresses Basel 1980. Tl. 4, Bern u. a. 1980, Andreas Mylius. Lpz.) u. eröffnete 1689 eine S. 44–49. – Friedrich W. Riedel: J. K. In: NDB. – James Hardin: The Tradition of the German PoliAdvokatur. 1701 wurde er Kantor an der tical Novel and J. K.’s Prose Fiction. In: Studies in Thomasschule u. Musikdirektor der drei German and Scandinavian Literature after 1500. FS Hauptkirchen. Der gefeierte Komponist von George C. Schoolfield. Hg. James A. Parente u. a. Klavierwerken (u. a. den sechs Programmso- Columbia 1993, S. 81–93. – Werner Braun: Dt. naten Musikalische Vorstellung einiger biblischer Musiktheorie des 15. bis 17. Jh. 2. Tl. (Gesch. der Historien. 1700) war Lehrer von Johann Musiktheorie, Bd. 8/II), Darmst. 1994, Register. – Friedrich Fasch, Johann David Heinichen, Susanne Oschmann: J. K.s Roman ›Der MusikaliChristoph Graupner u. a.; Georg Philipp Te- sche Quack-Salber‹. Satire u. tiefere Bedeutung. In: lemann machte ihm bald Konkurrenz. Sein Semant. Inseln, musikal. Festland. FS Tibor Kneif. Hg. Hans-Werner Heister u. a. Hbg. 1997, S. 21–34. Amtsnachfolger Johann Sebastian Bach – Lynne Tatlock: Authority, Prestige, and Value: knüpfte an K.s madrigalische Passionsmusik Professionalization in the Musicians’ Novels of im Gottesdienst an. Wolfgang Caspar Printz and J. K. In: The ConDer musicalische Quack-Salber (Dresden 1700) struction of Textual Authority in German Literaist ein satir. Musikerroman in der Tradition ture of the Medieval and Early Modern Periods. Hg. von Johann Beer u. Wolfgang Caspar Printz. James F. Poag u. Claire Baldwin. Chapel Hill 2001, An der Gestalt des Scharlatans Caraffa wird S. 239–260. – Estermann/Bürger, Tl. 2, S. 869 f. – der »virtuoso italiano« durchgehechelt. Die Clemens Harasim: J. K. In: MGG 2. Aufl. Bd. 10 Affektenlehre wird kritisiert, jegl. Effektha- (Personentl.), Sp. 824–833 (Lit.). – M. A. Katritzky: Women, Medicine, and Theatre, 1550–1750 [...]. scherei mit Hinweis auf die Musik als eine Aldershot 2007. Ferdinand van Ingen / Red. Himmelsgabe abgelehnt. Die treffsicheren Dialoge zeigen wie die Situationskomik den Einfluss Weises. Den Schluss bildet der Kulka, Georg (Christoph), * 5.6.1897 Traktat Der wahre Virtuose, der in Andreas Weidlingau (heute: Wien), † 29.4.1929 Werckmeisters Cribrum musicum (Quedlinb. Wien; Grabstätte: Potsdam, Neuer Fried1700) übernommen wurde. K.s Verfasser- hof. – Lyriker. schaft für weitere Romane u. eine Komödie ist K., Sohn eines ungarisch-jüd. Getreidehändungesichert. lers, nahm nach der Matura am humanist. Ausgaben: Der musical. Quack-Salber. Hg. Kurt Benndorff. Bln. 1900. Nachdr. Nendeln 1968. – Gymnasium in Wien u. Militärdienst ab 1917 Dass. In: Bibliothek der dt. Lit. Mchn. 1991 (2 Mi- am Ersten Weltkrieg teil. Nach 1918 (Konkrofiches). – Ausgew. Werke. Faks.-Dr. Hg. u. ein- version zum Katholizismus) studierte er in gel. v. James Hardin. 3 Bde., Bern u. a. 1992. – The Wien bei Adolf Stöhr, Alois Höfler u. Robert Musical Charlatan [...]. Übers. v. John R. Russell, Reininger Philosophie. In seiner Dissertation Einl. v. J. Hardin. Columbia 1997. – Der schlimme Der Unsterblichkeitsgedanke bei Jean Paul [...] Causenmacher [...]. Lpz. 1701. Internet-Ed.: (Wien 1921) untersuchte er u. a. das Absolutdünnhaupt digital. heitserlebnis des Ich, in dem er die VerbinLiteratur: Bibliografie: Dünnhaupt 2. Aufl. dung Jean Pauls mit seiner Gegenwart sah, Bd. 4, S. 2463–2469. – Weitere Titel: Johann Mat- die das »Urerlebnis« (Reininger) in exprestheson: Grundlage einer Ehren-Pforte. Hbg. 1740. sionist. Kunstwerken zu gestalten suchte. Ab Neudr. Bln. 1910. Nachdr. Graz 1969, S. 153–158. 1918 veröffentlichte K. Gedichte u. a. in den – Susanne Stöpfeshoff: Die Musikerromane v. expressionist. Zeitschriften »Aktion« u. Wolfgang Caspar Printz u. J. K. zwischen Barock u. »Daimon« (Wien. Hg. Jakob Levy Moreno), Aufklärung. Diss. Freib. i. Br. 1960. – Herbert Riedel: Musik u. Musikerlebnis in der erzählenden später v. a. in »Die Dichtung« (Hg. Wolf dt. Dichtung. Bonn 1961, S. 555 ff. – F. van Ingen: Przygode). Im Verlag Eduard Strache, wo K. Die Kirchenmusik in J. K.s ›Musikalischem 1920–1922 als Buchhersteller tätig war, erQuacksalber‹. In: Musik u. Kirche 32 (1962), schienen der Band Der Stiefbruder. Aufzeichnung S. 127 ff. – James Hardin: Realismus u. die Gestalt und Lyrik (Wien/Prag/Lpz. 1920. Neudr.

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Nendeln 1973) u. die von ihm mitgestaltete, von Emil Alphons Rheinhardt herausgegebene spätexpressionist. Anthologie Die Botschaft (Wien/Prag/Lpz. 1920). K. war um 1920 der vielleicht rührigste Propagator einer mit anarchistisch-revolutionären Tendenzen sympathisierenden Avantgarde in Wien, was möglicherweise den Vernichtungsschlag von Karl Kraus gegen ihn provozierte, der ihm ein Plagiat vorwarf (in: Die Fackel, Juli 1920). K. hatte in den »Blättern des Burgtheaters« (1, H. 8, 1920) Texte aus Jean Pauls Vorschule der Ästhetik unter seinem Namen abgedruckt. Obwohl sich K., unterstützt durch Freunde u. Förderer wie Kasack, Loerke, Przygode u. Albert Ehrenstein (dem diese Affäre sogar den Bruch mit Kraus wert war), verteidigte (seine Absicht sei es gewesen, auf Jean Paul hinzuweisen), war sein literar. Ansehen damit ruiniert; er zog sich allmählich aus dem literar. Leben zurück. 1923 heiratete er die Schauspielerin Anna Höllering u. führte, nach kurzer Tätigkeit als Hersteller im Verlag Gustav Kiepenheuer (1922/23), nach dem Tod seines Vaters dessen Firma in Wien weiter. 1929 nahm sich K. das Leben. K. will in seinem schmalen Werk (Der Stiefbruder. Requiem. Potsdam 1921. Weitere, zum Druck bestimmte Texte, darunter eine Geschichte der Polemik, wurden nicht veröffentlicht), laut einer Verlagsanzeige, »nicht mehr Gefühle und Gesichte in treffenden Bildern gestalten, sondern zwischen den Fugen der wertenden Vernunft hindurch auf unwillkürliche Reizstellen treffen«. Obwohl seine Gedichte auf Trakl, Stramm, LaskerSchüler u. George zurückweisen, sind sie Experimente mit der Sprache, kühne, oft nur durch Klangelemente verbundene Wort- u. Begriffskombinationen, die zumeist von hohem Pathos u. weiten Rhythmusbögen getragen sind. Das formale Spektrum seiner Lyrik reicht von konventionellen, vierzeiligen, gereimten Strophen über einstrophige ungereimte, metrisch nicht festgelegte Gebilde zu Verbarien, d.h. Wortzusammenstellungen, u. zu den als »Aufzeichnung« apostrophierten Prosagedichten ohne notwendige innere Beziehung zu einem Thema (Die Anarchie. In: Die Dichtung 1. F., 4. Buch, 1919).

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Die Gedichte lassen den Vorgang der Versprachlichung hochgestimmter Empfindungen selbst als Thema erkennen. So sind expressionist. Sujets wie Menschheitsverbrüderung, Streben nach dem Reinen u. Heiligen, Abscheu vor dem Grauen (des Kriegs), Übermenschentum, aber auch Ohnmacht u. Demut eher hinter den Wörtern als Motive seines Schreibens zu finden. Seine letzten Texte hat K. aus eng begrenzten sprachl. Repertoires, die er dem Prosawerk Jean Pauls entnahm, collagiert u. montiert. 1963 ließ Max Bense in der Reihe »rot« eine Auswahl von K.s Lyrik erscheinen (Aufzeichnung und Lyrik. Hg. Hermann Kasack u. Helmut Kreuzer. Stgt. 2., erw. Aufl. hg. v. H. Kreuzer. Siegen 1985); er hat in dieser Wiederentdeckung den Ort von K.s Schreibweise sichtbar gemacht: als Beginn einer die moderne Literatur kennzeichnenden sprachexperimentellen Tradition. Weitere Werke: Der Götze des Lachens. In: Die Gefährten 3 (1920), H. 7. Erw. Fassung: Der Zustand Karl Kraus (I. Der Götze des Lachens. Fahrt wohl. II. Schluß v. Wolf Przygode). Potsdam 1920 (= Beilage zu: Die Dichtung 2. F., 1. Buch). – Herausgeber: Paul Heller: Gedichte. Aus dem Nachl. Wien/ Prag/Lpz. 1920. Ausgabe: Werke. Hg. Gerhard Sauder. Mchn. 1987 (mit Bibliogr. u. biogr. Nachw.). Literatur: Helmut Kreuzer u. Reinhard Döhl: G. K. u. Jean Paul. Ein Hinweis auf expressionist. Centonen. In: DVjS 40 (1966), S. 567–576. Wiederabdr. in: H. Kreuzer: Aufklärung über Lit. Bd. 2: Autoren u. Texte, Heidelb. 1993, S. 193–202. – Gerhard Sauder: Anfänge des ›neuen‹ Günter Eich (mit Blick auf K.). In: Geist u. Zeichen. FS Arthur Henkel. Heidelb. 1977. – Wendelin Schmidt-Dengler: ›Surrealismus und so‹. Karl Kraus u. G. K., Herbert Eisenreich u. H. C. Artmann. In: Konflikte – Skandale – Dichterfehden in der österr. Lit. Hg. ders., Johann Sonnleitner u. Klaus Zeyringer. Bln. 1995, S. 9–23. – Ferdinand Schmatz: Nachtr. Zu G. K. u. Karl Kraus. In: Radikale Interpr. Hg. ders. Wien 1998, S. 67–75. Walter Ruprechter / Red.

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Kulke, Eduard, auch: E. Lipiner, E. Leipenburg, * 28.5.1831 Nikolsburg/Mähren, † 20.3.1897 Wien. – Verfasser jüdischer Dorf- bzw. »Ghettogeschichten«, Dramatiker, Essayist, (Musik-)Journalist. Als Sohn eines Rabbiners erhielt K. in Kostel bis zu seinem 14. Lebensjahr eine traditionelle jüd. Ausbildung. Ab 1845 besuchte er in Nikolsburg, Prag, Brünn, Znaim u. Wien das Gymnasium, bevor er 1853 auf das Polytechnikum in Wien u. 1854 nach Prag wechselte. Nach der Lehramtsprüfung für Unterrealschulen 1857 in Mathematik, Physik u. dt. Sprache blieb ihm als Jude aufgrund des Konkordats eine Anstellung im Staatsdienst allerdings verwehrt. Ab 1859 lebte K. in Wien u. war von dieser Zeit an nur noch literarisch u. journalistisch tätig. Er arbeitete u. a. für das »Neue Wiener Tagblatt« sowie die Zeitschriften »Fremdenblatt«, »Musikalische Signale« u. »Vaterland«. K.s Nachlassverwalter, der Anthropologe u. Sexualforscher Friedrich Salomo Krauß, verzeichnet 800 Feuilletontexte aus K.s Feder. Sind seine Essays u. Dramen heute vergessen, so erfuhren K.s (vorwiegend in Mähren angesiedelte) jüdische Geschichten aufgrund des verstärkten Forschungsinteresses an deutschsprachig-jüd. Literatur in den letzten Jahren wieder größere Aufmerksamkeit. Zu K.s Freundeskreis zählten u. a. Friedrich Hebbel, Karl Emil Franzos, Robert Hamerling, Josef Popper u. Ernst Mach. Eine bes. Beziehung verband ihn mit Leopold Kompert. K. widmete diesem »Großmeister der Ghetto-Geschichten« seine als »Festgeschenk für die Israelitische Jugend« deklarierten Geschichten aus dem jüdischen Volksleben (1871; unter ähnl. Titel zus. mit anderen Texten schon 1869 ersch.). Komperts Einschätzung, dass K. seinem »Verständnisse und [s]einer Auffassung« am nächsten käme, deckt sich tendenziell mit der Bewertung Wittemanns, wonach sich K.s »Ghettogeschichten« »zwischen Imitation und Eigenart« bewegten. K. bezieht sich in vielen seiner Texte – wie z.B. Der Kunstenmacher oder Die schöne Hausiererin (Prag o. J. [1895]) – auf jene spannungsreichen, meist generationenübergreifenden Konflikte, die österr. Juden im Zeitalter der

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Emanzipation, Verbürgerlichung u. Modernisierung sowohl in sozialer, kultureller wie in religiöser Hinsicht auszutragen hatten. Exemplarisch wird dies in der Erzählung Eigene Haare dargestellt: K. schildert darin einen jahrelangen Streit zwischen einer jungen Frau u. ihrer frommen Schwiegermutter um das Tragen einer Perücke, des »Scheitls«, nach der Hochzeit. Die junge Frau setzt sich durch, behält ihre »eigenen Haare« u. wird damit zum Vorbild für die nachfolgende Generation. Am Beispiel dieser familiären Auseinandersetzung, die allerdings rasch auf das gesamte Dorf übergreift, werden literarisch jene im Zuge der Aufklärung wirksamen Konstellationen vorgeführt, die jüd. Bevölkerungsgruppen im 19. Jh. veranlassten, traditionelle religiöse Praktiken zu überdenken u. Fragen um bewusste u./oder notwendige Abgrenzung, Adaptierung oder Aufhebung von Brauchtum u. Lebensgewohnheiten neu zu stellen. K. beschränkte sich in seinen Erzählungen u. kurzen Prosatexten (Schnurrige Käuze) aber nicht auf die isolierte Darstellung innerjüdischer Debatten, sondern er schilderte auch immer wieder das Zusammenleben von Christen u. Juden im dörflichen u. kleinstädt. Milieu der multireligiösen, multinat. u. mehrsprachigen Habsburgermonarchie. Ausgaben: Salomon Sulzer. Wien 1866. – Aus dem jüd. Volksleben. Gesch.n. Hbg./Lpz. 1869. – Gesch.n. Lpz. 1869. – Don Perez. Trag. in 5 Akten. Hbg. 1873. – Korah. Trag. in 5 Akten. Lpz. 1873. – Der gefiederte Dieb. Lustsp. in 2 Akten. Wien 1876. – Erinnerungen an Friedrich Hebbel. Wien 1878. – Richard Wagner, seine Anhänger u. seine Gegner. Prag 1884. – Richard Wagner u. Friedrich Nietzsche. Lpz. 1890. – Die Entwickelungsgesch. der Meinungen. Lpz./Dresden 1891. – Um holder Frauen Gunst. Ein Künstlerroman aus dem Rinascimento (erg. u. hg. v. Friedrich S. Krauß). Lpz. 1905. – E. K.’s erzählende Schr.en. Hg. F. S. Krauß. 6 Bde., Lpz. 1906/07. – Kritik der Philosophie des Schönen. Hg. ders. Lpz. 1906. Literatur: L. F.: E. K., der mähr. Ghetto-Poet. In: Allg. Ztg. des Judentums 71 (1907), H. 16, S. 189–191. – Gabriele v. Glasenapp: Aus der Judengasse. Zur Entstehung u. Ausprägung deutschsprachiger Ghettolit. im 19. Jh. Tüb. 1996. – Maria Theresia Wittemann: Draußen vor dem Ghetto: Leopold Kompert u. die ›Schilderung jü-

Kulmann dischen Volkslebens‹ in Böhmen u. Mähren. Tüb. 1998, S. 299–326. – Primus-Heinz Kucher: E. K. In: MLdjL. – E. K. In: Lex. dt.-jüd. Autoren. Petra Ernst

Kulmann, Elisabeth, auch: Elizaveta Borisovna Kul’man, * 17. (j. 5.) 7.1808 St. Petersburg, † 1.12. (j. 19.11.) 1825 St. Petersburg. – Deutsch-russische Lyrikerin, Übersetzerin, Märchendichterin. K., jüngstes von neun Kindern eines russ. Offiziers u. seiner dt. Frau, beherrschte neben Deutsch u. Russisch weitere neun Sprachen (Französisch, Italienisch, Englisch, Latein, Neu- u. Altgriechisch, Spanisch, Portugiesisch u. Altslavonisch). Ihre Sprach- u. Literaturkenntnis verdankte sie dem unentgeltl. Unterricht von Karl Friedrich von Großheinrich (1782–1860). K. schrieb ihre Poetischen Versuche (Piiticˇ eskie opyty, enth. Anakreons Oden, Der Blumenkranz, Korinnens Gedichte, Berenicens Denkmal) parallel in Russisch, Deutsch u. Italienisch. Die Zyklen enthalten Übersetzungen u. Nachempfindungen antiker Dichtung in reimlosen Versen. K. verfasste auch Märchen in Versen (Skazky, u. a. Dobryna Nikiticˇ , Die Wunderlampe), diese auf Russisch, nur zwei schrieb sie auf Deutsch. Die von ihr selbst nicht zur Publikation bestimmte Gemäldesammlung enthält ca. 1000 auf Deutsch verfasste, meist schlichte Gedichte, viele davon in gereimten Strophen. In dieser frühen Lyrik finden sich Einflüsse von empfindsamen u. klassizist. Dichtern. K. beschreibt v. a. ihre Umgebung u. ihre Armut, Naturlyrik überwiegt. Zudem finden sich Gedichte auf Künstler, Dichter (v. a. Homer) u. histor. Personen, ethnograf. Sujets, »Legenden«, Fabeln u. Sagen, aber auch zahlreiche Gedichte, in denen sich K.s Todesahnungen aussprechen. Ihr Grabdenkmal von Alessandro Triscorni (heute auf dem Tichwiner Friedhof in St. Petersburg) wurde von Kaiserin Alexandra Fjodorowna u. Großfürstin Helene (Jelena) Pawlowna gestiftet. Zu Lebzeiten erschien keines ihrer Werke; dies geschah erst 1833 in St. Petersburg auf Betreiben Großheinrichs, der viele Gedichttitel einfügte u. die Bildung von Zyklen vor-

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nahm. Von ihm allein stammen sämtliche biogr. Daten, seine umfangreiche Biografie Elisabeth Kulmann und ihre Dichtungen erschien erstmals 1844. Die von ihm überlieferten positiven Beurteilungen der Gedichte seines Schützlings durch Goethe u. Jean Paul sind archivalisch nicht nachweisbar. Ob Großheinrich auch eigene Gedichte unter die seiner Schülerin gemischt hat, ist eine offene Frage. Im 19. Jh. wurden K.s Gedichte mehrfach in Anthologien aufgenommen, in den biogr. Arbeiten über sie steht das sprachbegabte, früh verstorbene »Wunderkind« im Zentrum. Im 20. Jh. weitgehend vergessen, erschien erst 1981 eine neue Auswahlausgabe (Mond, meiner Seele Liebling. Eine Auswahl ihrer Gedichte. Hg. Hansotto Hatzig. Heidelb.). Seit etwa 1990 ist eine stärkere Beschäftigung mit K. festzustellen, insbes. im Zusammenhang mit den elf Vertonungen Robert Schumanns, op. 103 u. 104 (Lossewa, Mahlert, Bühle) sowie bildl. Darstellungen (Nauhaus), im Kontext kultureller Beziehungen zwischen Russland u. Deutschland (Göpfert), der GenderForschung u. Populärbiografik (Gramlich). Werke: Piiticˇeskie opyty v 3 cˇastjach (Poet. Versuche in 3 Tln.). St. Petersburg 1833 (1. russ. Ausg., veranstaltet v. der Kaiserl.-russ. Akadermie der Wiss.en. 21839). – Sämmtl. Gedichte. In 4 Thlen. Hg. Karl Friedrich v. Großheinrich. St. Petersburg 1835 (1. dt. Ausg. 21839). – Skazky v trëch cˇastjach. (Märchen in 3 Tln. 1. Außereurop. Märchen, 2. Russ. Märchen, 3. Die Wunderlampe). St. Petersburg 1839 (1. russ. Ausg.). – Polnoe sobranie russkich, nemeckich i ital‘janskich stichotvorenij v trëch cˇastjach. St. Petersburg 1839 (dreisprachige, russ., dt. u. ital. Ausg.). – Saggi poetici. St. Petersburg 1839 (1. ital. Ausg. Mailand 21845. 31847). – Sämmtl. Gedichte. Hg. K. F. v. Großheinrich. Lpz. 1844 (3. dt. Ausg. 41846. 51847. 6., verm. Aufl. Ffm. 1851. 71853. 8., verm. Aufl. 1857). Auswahlausgabe: E. K. Dichtungen. Ausgew. v. Franz Miltner. Heidelb. 1875. Literatur: Frank Göpfert: Zwei russ. Dichterinnen u. ihre Beziehungen zum dt. Kulturkreis: Elizaveta Kul’man u. Sarra Tolstaja. In: Die Welt der Slaven, N. F. 17 (1993), H. 2, S. 225–234. – Angelika Fricke: Anakreons Ljubeznyj – Zu Elizaveta Kul’mans Beschäftigung mit Anakreon. In: FS Hans-Bernd Harder. Mchn. 1995, S. 93–107. – Maike Bühle: Elizaveta Borisovna Kul’man in den

127 Vertonungen v. Robert Schumann. In: Russ. Kultur u. Gender Studies. Hg. E. Cheauré u. Carolin Heyder. Bln. 2002, S. 397–407. – Michail Sokolski: ›Sag, werd ich, wenn ich sterbe, auf ewig untergehn?‹ Die St. Petersburger Dichterin E. K. [Radioessay]. In: Ders.: Rußlands europ. Sehnsucht. Bd. 1: Lyr. Profile, Marburg 2003, S. 41–51. – Lexikon der deutschsprachigen Lit. des Baltikums u. St. Petersburgs. Bd. 2, Bln./New York 2007, S. 797–799 (mit Bibliogr.). – Irene Gramlich: Auf den Spuren eines Engels: zum 200. Geburtstag der St. Petersburger Dichterin E. K. (1808–25). In: Lit. in Bayern 23 (2008), H. 92, S. 15–26. Julia M. Nauhaus

Kulterer, Hubert Fabian, * 19.12.1938 Klagenfurt, † 25.4.2009 Wien. – Publizist, Kulturkritiker, Lyriker.

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rich Seidl, in dem Besucher u. Experten über moderne Kunst sprechen, nimmt auch K. zum Thema Stellung. Seit den 1980er Jahren veranstaltete der selbsternannte »Inter-Continentale Cultur-Forscher« v. a. FluxusKunst-Aktionen, Ausstellungen u. Performances. Die Bonner Galerie paranorm produzierte im Jahr 2005 DVD-Videos seiner Auftritte, v. a. Eröffnungen (1987); Das zerfetzte Fell von Bären-Preußen (1987/88); Hubert Fabian Kulterer mit Berlin Berlin (1987–89); Im Tor-Bogen zum Dritten Jahr-Tausend. Hubert Fabian Kulterer und seine Python der Inter-Continentalen & InterPlanetaren Kultur-Forschung (1997). K.: »Nur eine Armee von Künstlern und Wissenschaftlern kann unsere Kultur-Anliegen in Zukunft retten.« Weitere Werke: sisyphos besteigt den babylon.

Schon während seiner Studienzeit (Ge- turm oder die annähernde gleichzeitigkeit im schichte, Germanistik, Archäologie; 1967 Dr. denken. Aich bei Bleiburg/Kärnten 1962. Neuaufl. phil. in Wien) gab K. im Selbstverlag die Bln./Erlangen 1975. – Ziffern. Ballett nach H. F. K. Zeitschrift »Eröffnungen« (1961–71) heraus. 1976. Libretto (Ms.); Komposition: Gerhard LamDieses »Magazin für Literatur & bildende persberg. Astrid Wallner Kunst« fungierte als Forum avantgardistischer Strömungen nicht nur der 1960er Jahre. Kumpfmüller, Michael, * 21.7.1961 Dort u. in der Zeitschrift »Dokumente neuer München. – Romanautor. Dichtung – Der Bogen« finden sich Beispiele der litaneiartigen u. manierierten Lyrik K.s, Nach dem Abitur in Garching 1980 studierte der auch Gedichte Hemingways u. moderner K. Germanistik u. Geschichte in Tübingen, jugoslaw. Autoren übersetzte. Neben seiner Wien u. an der FU Berlin. Seine Dissertation Herausgebertätigkeit wirkte K. 1968–1973 Die Schlacht von Stalingrad. Metamorphosen eines als Gastprofessor an Universitäten in den USA deutschen Mythos erschien 1995 (Mchn.); in der u. Kanada. In seiner Heimat wurde er durch Auswertung von literarischen u. histor. sein Engagement für Kultur u. Künstler zu Quellen von der Nazi-Presse 1942/43 bis zu einer schillernden Persönlichkeit der Kultur- Heinz G. Konsaliks u. Alexander Kluges szene. Er erkannte u. förderte bereits früh Auseinandersetzung mit dem Thema in den Schriftsteller wie H. C. Artmann, Wolfgang 1960er Jahren will K. einen Beitrag zur Bauer u. Konrad Bayer, aber auch bildende »Metageschichte der beiden deutschen StaaKünstler wie Ernst Fuchs, Hundertwasser ten« u. zum »Verhältnis von poetischer und oder Kiki Kogelnik, die in den »Eröffnun- historiographischer Vergangenheits(re)kongen« vorgestellt wurden. Schließlich wurde struktion« leisten. Daneben arbeitet K. jourer selbst zur Kunstfigur: Thomas Bernhards nalistisch, zunächst für das Radio, dann für Erzählung Der Kulterer (in: An der Baumgrenze. Printmedien, u. a. für »DIE ZEIT«, die »SZ« 1969), der eine Verfilmung folgte, ist vom u. das »FAZ-Magazin«. K. hat drei Söhne u. »echten« K. inspiriert. In der Wiener Seces- lebt in Berlin. sion war 1986 eine Werkschau des »gesamtMit dem in der »FAZ« vorabgedruckten kunst-werk-meisters« u. »pataphysikers« K. Roman Hampels Fluchten erschien 2000 sein zu sehen. In Richard Linklaters Spielfilm Be- literar. Debüt (Köln, zahlreiche weitere Aufl.n fore Sunrise – Zwischenstopp in Wien (1995) ist K. u. mehrere Übers.en), das K. schlagartig bein einer Nebenrolle zu sehen. Im Dokumen- kannt machte – nicht zuletzt, weil der Roman tarfilm Bilder einer Ausstellung (1995) von Ul- als einer der ersten gelungenen »gesamt-

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deutschen Wenderomane« gilt. In einem den die neuralg. Punkte der Narration. K. Parlando-Stil, den K. durch geschickte Ver- betont, dass hier kein Schlüsselroman vorschiebungen in Wortstellung u. Satzbau er- liegt. Die erste Rezeption zeigte sich vom zielt, erzählt er die schelmenhaft-gemütvolle, Genre fasziniert, auch wenn einige Rezenaber auch somnambul-triste Geschichte von senten hinsichtlich der Konstruktion des RoHeinrich Hampel, der, 1931 geboren, im mans u. der Figurenentwicklung nicht voll»Dritten Reich« aufwächst, nach 1945 mit ends überzeugt waren. seiner Familie zunächst in die Sowjetunion Literatur: Martin Hielscher: Zwischen Körper muss u. den es in die DDR verschlägt, bevor er u. Politik. M. K.s ›Hampels Fluchten‹ (2000). In: nach Westdeutschland flieht, wo er als Bet- Der dt. Roman der Gegenwart. Hg. Wieland Freund tenverkäufer arbeitet. Hampel ist verheiratet, u. Winfried Freund. Mchn. 2001, S. 230–234. – dem Alkohol zugeneigt u. aus einer wenig Thomas Kraft: M. K. In: LGL. – Manfred Durzak: raffinierten Genusssucht heraus promisk. Der Ingo Schulze u. M. K. u. der Roman der dt. Wende. In: Der ›gesamtdeutsche‹ Roman seit der WiederRoman, der viele Rückblenden gekonnt vereinigung. Hg. Hans-Jörg Knobloch u. Helmut montiert, beginnt 1962, als Hampel, Familie Koopmann. Tüb. 2003, S. 145–158. Oliver Müller u. Schulden zurücklassend, in die DDR auswandert; nach unentschlossenem erot. Mäandern u. zahlreichen halbgaren u. -seidenen Kunckel, Kunkelius, Johann, K. von Löberufl. Versuchen stirbt der Antiheld 1988 als wenstern (ab 1693), * um 1631/34 Plön/ Wrack, kurz vor der Wende. Die Kritik war Holstein oder in der Umgebung (Gemarvon Hampels Fluchten mehrheitlich begeistert. kung Wittenberg), † 20.3.1703. – AlcheDoch es gab auch Stimmen, die blass bleimischer Sachschriftsteller. bende Porträts der DDR u. der Sowjetunion bemängelten u. diese dt.-dt. Geschichte für Der Sohn eines Glashüttenmeisters u. Alchezu leicht befanden. mikers erwarb zunächst handwerklich-prakt. 2003 erschien der auf einer wahren Bege- Fähigkeiten auf glastechnisch-metallurg. u. benheit basierende Roman Durst (Köln): In alchemisch-pharmazeut. Gebieten. Um 1656 einer sich dem sozial prekären Sujet u. dem trat er als Apotheker u. Chemicus in die desolaten Innenleben seiner Protagonisten Dienste von Herzog Franz Carl von Sachsenvirtuos anschmiegenden Sprache zeichnet K. Lauenburg auf Schloss Neuhaus an der Elbe; knapp zwei Wochen des Lebens einer jungen Aufenthalte in Hamburg (1662), Eckernförde Mutter nach, die aus einer Mischung aus (1663) u. wohl auch Holland schlossen sich Überforderung, Naivität u. Orientierungslo- an. Seit 1667 laborierte er im Dienst des sigkeit ihre Kinder in ihrer Wohnung ver- sächs. Kurfürsten Johann Georg II. in Dresdursten lässt, während sie, sich prostituie- den u. Annaburg (bei Torgau), dann hielt er rend u. betrinkend, durch die Nachbarschaft an der Universität Wittenberg ein »Collegiirrt. 2007 erhielt K. den Alfred-Döblin-Preis um chymicum experimentale« (1676/77) u. für Nachricht an alle, einen »politischen Ro- fand im brandenburg. Kurfürsten Friedrich man«, der 2008 wie seine Vorgänger bei Wilhelm I. einen Gönner. K. leitete nun Kiepenheuer und Witsch erschien u. weithin Glashütten bei Potsdam, wobei ihm die Prowahrgenommen wurde. Im Zentrum des duktion echter Goldrubinglasgefäße gelang, Buches steht ein Innenminister, dessen öf- u. errichtete auf der Pfaueninsel ein Laborafentl. Wirken u. Privatleben zwischen Ter- torium. Mit dem Tod des Großen Kurfürsten rorabwehr, Karriereplanung, Affärenkoordi- 1688 verlor K. seinen Rückhalt am Berliner nation u. Scheidung aus verschiedenen Per- Hof, geriet in wirtschaftl. Bedrängnisse u. spektiven in einem knappen, fast kühlen kurzzeitige Haft (1692). Seit 1692 schwed. Sprachduktus erzählt wird, wobei der Er- Bergrat, suchte König Karl XI. seine Kenntzählgang von drei volksnahen, soziale Miss- nisse zu nutzen, sodass sich K. seit 1693 (in stände anprangernden »Chören« unter- u. diesem Jahr nobilitiert) im schwed. Berg- u. gebrochen wird. Der Flugzeugabsturz seiner Hüttenwesen betätigte. K. war mit namhafTochter u. ein Attentat, das er überlebt, bil- ten Fachleuten (Henning Brand, Hamburg;

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Johann Daniel Kraft, Dresden; Georg Caspar Kirchmaier, Wittenberg; Joel Langelott; Wilhelm Homberg) persönlich bekannt u. tauschte mit Johann Georg Volckamer d.Ä. (Nürnberg) Briefe. Literarische Gegner erwuchsen ihm in Johann Voigt u. Christoph Grummet. Er war Mitgl. der Academia naturae curiosorum (1693; Beiname: Hermes III.) u. der Académie des sciences (1699). K. trat seit 1676 mit stoffkundl. u. verfahrenstechn. Traktaten hervor, unter denen Von dem phosphoro mirabili (Lpz. 1678) für die Geschichte der Phosphor- u. Goldrubinherstellung bes. belangvoll ist. Entrüstet über Friedrich Geißlers Neri-Übersetzung, schuf K. eine kommentierte Fassung von Antonio Neris Arte vetraria samt der Zusätze des engl. Neri-Übersetzers Christoph Merret (Ars vitraria experimentalis. Ffm./Lpz 1679 [auch: Titelausg. Amsterd./Danzig 1679]. Ffm./Lpz. 1689. Neudr. hg. v. Günther Stein. Hildesh./ New York 1972 u. ö. Frz. Übers. v. Baron D’Holbach. Paris 1752), ein Standardwerk der Glasmacher des 18. Jh., das maßgeblich von K.s »Religion«, das »geringste Experiment« sei entschieden wertvoller als die »höchsten speculationes«, geprägt worden ist. Eben diese praxisorientierte Haltung kennzeichnet auch allerorten K.s Collegium physico-chymicum experimentale, Oder Laboratorium Chymicum (Hg. Johann Caspar Engelleder. Hbg./Lpz. 1716. 1722 u. ö. Neudr. Hildesh./New York 1975). Bis weit in das 18. Jh. genoss K. internat. Ansehen. Später fand er die Beachtung Fontanes (Havelland), figurierte in Trivialerzählungen von Georg Hiltl (Wetterwolken, 1875), Will-Erich Peuckert (Von schwarzer und weißer Magie. Bln. o. J., S. 193–234) oder Gotthold Gloger (Rot wie Rubin. Bln. o. J.) u. gehört zum Personal von Romanen über Johann Friedrich Böttger (Max Großmann: Weißes Gold. Bln. 1969. Robert Adloff: Der Goldkocher. Ffm. 2002). Während man K. in der Geschichte der Glasmacherkunst einen Ehrenplatz einräumt, ließ man von literarhistor. Seite seine für die Geschichte der Literarisierung handwerklich-techn. Kenntnisse u. der chem. Fachsprache manche Aufschlüsse versprechenden Werke weitgehend ungewürdigt.

Kunckel Weitere Werke: Observationes [...] Von den [...] Saltzen. Hbg. 1676. Lat. London/Rotterdam 1678. – Anmerckungen [...] Von denen Principiis Chymicis. Wittenb. 1677. Lat. London/Rotterdam 1678. Amsterd. 1694. Engl. London 1705. – Epistola contra spiritum vini sine acido. o. O. u. J. [Bln. 1681]. – Chym. Probier-Stein de Acido. Bln. 1684 u. ö. Alle diese Traktate samt ›Von dem phosphoro‹ auch in: V. Curiose Chym. Tractätlein. Hg. Johann Philipp Burggrav. Ffm./Lpz. 1721. – Briefe: UB Erlangen (an J. G. Volckamer); Gotha, Staatsarchiv, Geheimes Archiv E XI, Nr. 73* (Brief an Friedrich I. v. Sachsen-Gotha); SUB Hamburg, Ms. alch. 649; Reichsarchiv Stockholm (an Karl XI.); Falun, Zentralarchiv der Stora Kopparbergs Bergslags AB. – Gotha, Forschungsbibl., Ms. B 253 (›Manuscripta Cunckeliana‹). – Entgegen übl. Ansicht stammen die ›Kunst- u. Werck-Schul‹ (hg. v. J. K. Nürnb. 1696 u. ö.) u. die anonyme (v. Ehrd v. Naxagoras rührende) ›Special-Concordanz‹ (Breslau/Lpz. 1723) nicht aus K.s Feder. Ausgabe in: Barke 1991 (s. u.), S. 475–541 (›Observationes‹). Literatur: Bibliografie: Dünnhaupt 2. Aufl., Bd. 4, S. 2470–2478. – Weitere Werke: John Ferguson: Bibliotheca chemica. Bd. 1, Glasgow 1906, S. 483–485. – Franz Strunz: J. K. v. Löwenstern. In: Beiträge u. Skizzen zur Gesch. der Naturwiss.en. Hbg./Lpz. 1909, S. 138–150 (mit Abdr. zweier Briefe K.s an H. Brand). – Hermann Peters: K.s Verdienste um die Chemie. In: Archiv für die Gesch. der Naturwiss.en u. der Technik 4 (1913), S. 178–214 (mit Abdr. v. Briefen an H. Brand). – Heinrich Maurach: J. K. Bln. 1933. – Günther Stein: J. K.s ›Ars Vitraria‹ als Synthese internat. Glaswissens im 17. Jh. In: Nova Acta Leopoldina 16 (1953/ 54), S. 479–489 (mit Abdr. eines Briefs an J. G. Volckamer). – Wilhelm Ganzenmüller: Beiträge zur Gesch. der Technologie u. der Alchemie. Weinheim 1956, S. 46–51, 105–115, 192–203. – James Riddick Partington: A History of Chemistry. Bd. 2, London 1961, S. 361–377. – G. Stein: Vorw. In: J. K.: Ars vitraria (1689). Nachdr. Hildesh./New York 1972. – Marie Boas Hall: K. In: DSB. – Wolfgang-Hagen Hein: K. In: Dt. Apotheker-Biogr. Hg. ders. u. Holm-Dietmar Schwarz. Bd. 1, Stgt. 1975, S. 354 f. – H. Günter Rau: J. K. [...] u. sein Glaslaboratorium auf der Pfaueninsel in Berlin. In: Medizinhistor. Journal 11 (1976), S. 129–148. – Wolfgang Fetzer: J. K. o. O. 1977 (mit Wiedergabe v. Briefen). – Fritz Treichel: Bemerkungen zum Lebenslauf des Glasmachers J. K. In: Ztschr. für Niederdt. Familienkunde 56 (1981), S. 37–44. – Ulrich Troitzsch: K. In: NDB. – Karl Hufbauer: The Formation of the German Chemical Community. Berkeley/Los An-

Kunert geles/London 1982, S. 164 f. – R. Müller: K. In: Kosch. – Christian Selchow: J. K. In: Der Anschnitt 36 (1984), S. 61–71. – Jörg Barke: Die Sprache der Chymie. Am Beispiel v. vier Drucken aus der Zeit zwischen 1574–1761. Tüb. 1991, S. 64–78. – Jürgen Splett: K. In: Noack/Splett. – Pamela H. Smith: K. In: Alchemie. Joachim Telle

Kunert, Günter, * 6.3.1929 Berlin. – Schriftsteller. Seit mehr als sechs Jahrzehnten ist K. im deutschsprachigen Literaturbetrieb präsent: Von der ersten Gedichtveröffentlichung in einer Berliner Tageszeitung (1947) bis zu einer Sammlung stilistisch ausgefeilter Autorenporträts, mit denen er 2009 seine Qualitäten als Essayist abermals unter Beweis stellte. Sein Gesamtwerk umfasst annähernd 100 selbständige Veröffentlichungen; zählt man alle seine Gedichte zusammen, auch die weit verstreut in Anthologien, Zeitschriften u. Zeitungen erschienenen, so kommt man fast auf 2000 Sprachkunstwerke. Sein Schwerpunkt ist die Lyrik, in den Anfängen von Bertolt Brecht u. Johannes R. Becher beeinflusst, zunehmend aber auch von zeitgenössischen dt. u. europ. Autoren. Er spielt u. experimentiert mit allen literar. Gattungen, wobei ihm der Roman am fernsten liegt (Im Namen der Hüte. Mchn. 1967). Bevorzugt werden die epischen Kleinformen, Feuilletons, Essays in der Nachfolge Montaignes, Rezensionen, Reden, polit. Statements, Notate u. Notizen; immer wieder widmet er sich der Person u. dem Werk anderer Schriftsteller: diese Lese- u. Denkprozesse finden ihren Niederschlag in geistreichen Porträts, die biogr. Aspekte zwar beleuchten, aber klug in histor. Kontexte einbinden. So gelingt es ihm, in Zeiten gravierender Bildungsverluste Belehrung u. Spannung in Horaz’schem Sinne u. aufklärerischer Absicht in Einklang zu bringen. Er betätigt sich als Herausgeber, Anthologist u. Nachdichter ihm vertrauter Autoren (Tadeusz Rózewicz, Gábor Hajnal, Hugh MacDiarmid u. a.). Er bedient sich der modernen Medien: schreibt Hörspiele, Drehbücher, liefert Material für Dokumentationen u. machte kurzzeitig Furore mit seinem Drama Futuronauten (Urauff. Hanno-

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ver 1981). Schon früh zeigt sich sein Talent als Zeichner, Karikaturist, Linolschneider, Illustrator seiner eigenen Bücher; er malt großformatig auf Öl, versucht sich in der Hinterglasmalerei. Seine Liebe zur Kunst, aber auch zur Technik zeigt sich in seiner Sammelleidenschaft für blaues Glas u. histor. Blechspielzeug, eine Dingwelt, die ihn ebenso inspiriert wie eine umfangreiche Privatbibliothek in einem alten Schulhaus. Man kann K. zu den literarisch vielseitigsten, schöpferisch produktivsten u. inhaltlich einfallsreichsten Autoren der Nachkriegszeit zählen. Seine Bücher wurden in der DDR u. in der Bundesrepublik u. werden auch nach der Wiedervereinigung gelesen u. von der Literaturkritik gewürdigt. Einige Gedichtbände erlebten mehrere Auflagen, ein Phänomen, das sich in diesen Zeiten nur äußerst selten registrieren lässt. Da K.s Vater mit einer Jüdin verheiratet war, sich aber nicht scheiden lassen wollte, fiel er unter die nationalsozialist. Rassengesetze; eine höhere Schulbildung blieb ihm versagt. Eine Zeitlang arbeitete er in einer Tuchwarenhandlung. Erst nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes konnte er von 1945 bis 1947 einige Semester an der Hochschule für Angewandte Kunst in Berlin-Weißensee studieren. Seit Ende der 1940er Jahre bis Ende der 1950er schrieb er regelmäßig satirisch-ironische u. grotesk-komische Prosaskizzen für die Wochenmagazine »Fischer Wind« u. »Eulenspiegel«. Diese Beiträge erschienen oftmals unter Pseudonymen, die nur Insidern bekannt waren. Mit Wegschilder und Mauerinschriften (Bln. 1950) eröffnete K. die lange Reihe weiterer Gedichtsammlungen, zuletzt die selbstreflexive, tendenziell autobiogr. Sequenz Der alte Mann spricht mit seiner Seele (Gött. 2006) u. Als das Leben umsonst war (Mchn. 2009). K. fordert seine Leser auf, der Fortschrittsideologie nicht blind zu folgen, den eigenen Standort in der gesellschaftl. Realität kontinuierlich zu reflektieren, in geschichtl. Dimensionen zu denken u. den eigenen Wahrnehmungshorizont zu erweitern. Die themat. Akzentuierung in seiner Lyrik ist ebenso vielschichtig wie seine Gestaltung formenreich: von lakon. Vierzeilern, Sonetten, mehrstrophigen Balla-

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den, poet. Assoziationen zu Bildern (Goya) u. Dichtern (Kleist, Goethe, Gryphius, Benn, Heine), über pointierte Kritik an Staat, Gesellschaft u. Partei bis hin zu Naturlyrik u. Utopie-Entwürfen, melanchol. Selbstreflexion u. ironisch-aggressiver Selbstvergegenwärtigung. Strenger Reim u. freie Rhythmen schließen einander dabei nicht aus; Gestaltungsprinzipien sind Paradoxie u. Antithetik, jeweils funktionalisiert auf die Darstellungsziele. Seit Anfang der 1960er Jahre wird K.s Werk immer wieder mit Literaturpreisen ausgezeichnet: Heinrich-Mann-Preis (1962), Johannes-R.-Becher-Preis (1973), Heinrich-Heine-Preis (1985), Ernst-Robert-Curtius-Preis für Essayistik (1991), Hölderlin-Preis (1991), Georg-Trakl-Preis (1997), Norddeutscher Kulturpreis (2009); verschiedene Ehrungen in Form von Stadtschreiber-Stipendien (Bergen-Enkheim, Mainz) u. internat. EhrenPromotionen folgten. 1972/73 nahm K. eine Gastprofessur an der University of Texas in Austin wahr u. hielt Vorlesungen über die DDR-Lyrik. Ein weiterer Auslandsaufenthalt führte ihn als »Writer in Residence« an die University of Warwick (1975). Diese EnglandImpressionen verarbeitet er in seinem Englischen Tagebuch (Bln. u. a. 1978) sowie in seinem Zyklus Englische Gedichte (erstmals in: SuF 1975, H. 4). Das Amerika-Erlebnis fasst er in gesellschaftskrit. Worte. Die scharfsinnigen Prosastudien erschienen 1974 u. d. T. Der andere Planet in der DDR (Bln.); erst ein Jahr später im Westen (Mchn.). Diese Arbeiten wie auch zahlreiche Berichte in den Magazinen »Merian« u. »Geo« weisen K. als vorzügl. Reiseschriftsteller aus, der die tourist. Perspektive nicht ausblenden muss, um das für ihn Bedeutsame auszuleuchten. Als belesener Zeitgenosse u. Literaturkritiker profilierte er sich erstmals 1975 in der Essay-Sammlung Warum schreiben? (Mchn./Wien u. Bln./Weimar), in der er sich mit Traditionen u. Tendenzen neuerer Literatur auseinandersetzt. In seinen Hörspielen (Ein anderer K. Stgt. 1977) beschäftigt er sich mit Heinrich von Kleist, Heinrich Heine u. Albrecht Dürer; dies kann als ein Versuch gesehen werden, das eigene Werk in einen histor. Kontext zu betten.

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K. gehörte zu den Mitunterzeichnern der Petition gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns (1976); ein Jahr später wurde er aus der SED ausgeschlossen u. verlor damit seine Wirkungsmöglichkeiten in der DDR, wenngleich seine Bücher nicht schlagartig aus den Verlagsprogrammen verschwanden. Im Herbst zog er mit seiner Frau Marianne nach Schleswig-Holstein u. begab sich im Folgenden auf zahlreiche Lesetouren u. Diskussionsveranstaltungen, hielt Poetik-Vorlesungen in Frankfurt, Augsburg u. Paderborn, widmete sich Fragen der Kunst u. Architektur u. unternahm Bildungsreisen. Nahezu alle Erlebnisse u. Eindrücke, real Wahrgenommenes u. durch Lektüre Aufgenommenes, werden in literar. Formen gepackt u. multimedial publiziert. Mit seinen Gedichtbänden Abtötungsverfahren (1980), Stilleben (1983), Berlin beizeiten (1987), Fremd daheim (1990), Mein Golem (1996), Nachtvorstellung (1999) u. So und nicht anders (2002; alle Mchn./Wien) setzte er seine poet. Erkundungen fort. Er schlendert immer wieder mit dem Leser durch sein Berlin, findet die treffenden Worte für seine Beobachtungen, legt Sätze u. Satzteile auf die poet. Waagschalen u. bemüht sich um sprachl. Ökonomie. Mit dem Band Kopfzeichen vom Verratgeber (Mchn. 2002), den er selber mit 42 skurril-surrealist. Hinterglasbildern illustrierte, verließ er das bekannte Terrain u. begab sich auf eine bis dahin noch nicht erprobte Spielfläche, in der Lyrik u. Prosa gemischt werden, wo sich Tiefsinn u. Unsinn paaren, wo Witz u. Ernsthaftigkeit wie siames. Zwillinge figurieren. Im ersten Jahrzehnt des 21. Jh. ließ die lyr. Produktivität K.s spürbar nach; manche der in Zeitschriften u. Anthologien gedruckten Gedichte dieser (späten) Phase wirken sehr leicht, als schwebten die Worte zwischen den Zeilen davon, als lösten sich die Zeilen während des Lesens auf. Es ist höchst problematisch, K.s Lyrik in Produktionsphasen einteilen zu wollen. Sinnvoll dagegen ist eine themat. Gruppenbildung, unabhängig von der Entstehungszeit. Knapp 100 Gedichte haben einen direkten Bezug zur griech. u. röm. Geschichte, ihrer Mythologie u. ihrer Dichtung, was

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vielfach schon in der Titelgebung durch Namen wie Ikarus, Charon, Styx, Prometheus, Odysseus, Catull, Pompeji etc. signalisiert wird. Gustav Schwabs Sagen des klassischen Altertums gehörten zu K.s Bettlektüre u. das Trojanische Pferd war für den jungen Leser ein Faszinosum. Die Antike wurde für ihn zunehmend reizvoll, da er in den Kaiser-Viten verblüffende Ähnlichkeiten zu den Totalitätsansprüchen von DDR u. Sowjetunion erkannte, was ihn, wie er sagte, amüsiert u. zum spielerischen Umgang mit den Mythen motiviert habe. In Zeiten strenger Zensur bildeten so die antiken Themen einen ästhetisch produktiven Transformator für verschlüsselte Botschaften. Die antiken Dichter wurden zu Freunden: Shake-hands, catull (1961). Die polit. Dimension blieb so oftmals weit unter der Sprach-Oberfläche. Diesem zentralen Aspekt trägt die Anthologie Kunerts Antike (Hg. Bernd Seidensticker u. Antje Wessels. Freib. i. Br. 2004) Rechnung. K. widmet sich verstärkt den Prosaformen Essay, Erzählung u. Tagebuch. Auf Abwegen und anderen Verirrungen (Mchn./Wien 1988) heißt ein umfangreicherer Band mit literar. Prosa, gefolgt von Irrtum ausgeschlossen (Mchn./Wien 2006); neuere u. schwer zugängliche essayist. Texte versammelte K. in dem Band Die letzten Indianer Europas (Mchn./ Wien 1991), polit. Ereignisse im Vorfeld u. nach der »Wende« kommentierte er u. d. T. Der Sturz vom Sockel (Mchn./Wien 1992). Noch im selben Jahr erschien Im toten Winkel (Mchn./Wien): so nannte K. sein »Hausbuch«, aus dem Berührungslust u. versuchte Nähe zu Johann Peter Hebels Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes von 1811 sprechen. Die Autobiografie Erwachsenenspiele (Mchn./Wien 1997) ist K.s bislang umfangreichster Erzähltext. In Buchform liegt nur eine stark gekürzte Fassung vor, die dennoch ein eindrucksvolles Zeugnis der Kindheits- u. Jugenderlebnisse unter dem Nationalsozialismus u. der Schriftsteller-Laufbahn unter der DDR-Herrschaft darstellt. Es ist keine traditionelle Beschreibung eigener Lebenssituationen, vielmehr eine lockere Reihung von markanten Erlebnissen in Form von Geschichten u. Episoden, in denen Bedrohlichkeit u. Humor gleichermaßen mitschwingen.

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Parallel zu Lyrik u. Prosa entstanden zahlreiche Hörspiele, in denen es K. gelingt, seinen hintergründigen Humor u. seinen Sprachwitz dialogisch u. akustisch umzusetzen; hervorzugeben sind seit Ende der 1980er Jahre: Hitler lebt (1987, NDR), Männerfreundschaft (1988, BR), Besuch bei Dr. Guillotin (1989, BR), Stimmflut (1989, NDR), Der zwiefache Mann (1989, NDR/ MDR), Das Experiment (1992, NDR), Die Therapie (1993, RIAS Berlin), Ostragon und Wessimir (1993, MDR/ORB), Fantasien über das Verbrechen (1994, MDR), Treffen auf der Sandkrugbrücke (1995, SWF), Am Sexophon: Esmaralda (2001, MDR), Nummer 563.000, Planquadrat C 3 (2002, NDR), Die Puppe (2004, MDR), Keine weiteren Vorkommnisse (2008, MDR) u. Das Ei (2009, NDR). K. schreibt unermüdlich u. veröffentlicht doch nicht alles. Von den tägl. Notaten zur eigenen Befindlichkeit, zur Wahrnehmung weltpolitischer Ereignisse, zur Lektüre alter u. neuer Bücher, zur Erinnerung an Gespräche, Begegnungen u. Situationen, zu Utopien, Visionen u. Fantasien ist bislang nur ein Bruchteil publiziert: Den Nachrichten aus Ambivalencia (Gött. 2001) können wir entnehmen, dass es bis dahin mindestens 2691 solcher zwei- bis vierzigzeiligen (selten mehr) Eintragungen gegeben hat; eine von Hubert Witt besorgte Auswahl mit dem Titel Die Botschaft des Hotelzimmers an den Gast (Mchn./ Wien 2004) verzichtet auf laufende Nummern, nennt aber jeweils das Datum der Niederschrift. Hier spielt K. mit dem Leser, indem er ihm nur fragmentarische Gucklöcher in sein bewegtes Innenleben eröffnet. In K.s Papieren dürfte es mindestens 10.000 solcher Tagesskizzen geben. Bereitwilliger gibt der Archivar u. Registrator über andere Schriftsteller Auskunft, aber ohne philologisch-didakt. Ambitionen: Die brillant geschriebenen Stücke in Das letzte Wort hat keiner (Gött. 2009) stimulieren zum Weiterlesen u. zum Entdecken vergessener Schätze in der Literatur. Für die germanist. Forschung eröffnen sich mit diesem facettenreichen Œuvre weite Areale. Weitere Werke (in Auswahl): Der ewige Detektiv u. andere Gesch.n. Bln./DDR 1954. – Unter diesem Himmel. Bln./DDR 1955 (L.). – Der Kaiser v. Hondu. Fernsehspiel. Bln./DDR 1959. – Tagwerke.

133 Gedichte, Lieder, Balladen. Halle/S. 1961. – Das kreuzbrave Liederbuch. Bln./DDR 1961 (L.). – Erinnerung an einen Planeten. Mchn. 1963 (L.). – Tagträume. Mchn. 1964 (P.). – Der ungebetene Gast. Bln./DDR 1965 (L.). – Unschuld der Natur. Bln./DDR 1966 (L.). – Verkündigung des Wetters. Mchn. 1966 (L.). – Die Beerdigung findet in aller Stille statt. Mchn. 1968 (P.). – Kramen in Fächern. Bln./Weimar 1968 (P.). – Notizen in Kreide. Lpz. 1970. 2., erw. Aufl. 1975 (L.). – Ortsangaben. Bln./ Weimar 1970 (P.). – Warnung vor Spiegeln. Mchn. 1970 (L.). – Offener Ausgang. Bln./DDR 1972 (L.). – Tagträume in Berlin u. andernorts. Mchn. 1972 (P.). – Die geheime Bibliothek. Bln./DDR 1973 (P.). – Gast aus England. Mchn. 1973 (E.). – Im weiteren Fortgang. Mchn. 1974 (L.). – Das kleine Aber. Bln./ DDR 1975 (L.). – Der Mittelpunkt der Erde. Bln./ DDR 1975 (P.). – Jeder Wunsch ein Treffer. Mit Illustrationen v. Heinz Edelmann. Köln 1976 (Kinderbuch). – Kinobesuch. Lpz. 1976 (P.). – Keine Affäre. Mit Linolschnitten v. Wolfgang Jörg u. Erich Schönig. Bln. 1976. – Unterwegs nach Utopia. Mchn. 1977 (L.). – Bucher Nachträge. Mit Linolschnitten v. W. Jörg u. E. Schönig. Bln. 1978 (P.). – Camera obscura. Mchn. 1978 (P.). – Verlangen nach Bomarzo. Lpz. u. Mchn. 1978 (L.). – Die Schreie der Fledermäuse. Mchn. 1979 (P. u. L.). – Unruhiger Schlaf. Mchn. 1979 (L.). – Ziellose Umtriebe. Bln./ DDR 1979 u. Mchn. 1981 (P.). – Kurze Beschreibung eines Moments der Ewigkeit. Lpz. 1980 (P.). – Verspätete Monologe. Mchn. 1981 (P.). – Diesseits des Erinnerns. Mchn. 1982 (Ess.s). – Leben u. Schreiben. Pfaffenweiler 1983 (P.). – Zurück ins Paradies. Mchn./Wien 1984 (P.). – Vor der Sintflut. Das Gedicht als Arche Noah. Frankfurter Vorlesungen. Mchn./Wien 1985. – Die befleckte Empfängnis. Bln./DDR 1988 (L.). – Druckpunkt. Krefeld 1988 (L.). – Aus vergangener Zukunft. Bln./Weimar 1990 (P.). – Mondlichtlandschaft. Gött. 1991 (L.). – Baum, Stein, Beton. Mchn./Wien 1994 (P.). – Schatten entziffern. Lpz. 1995 (L. u. P.). – Ohne Botschaft. Springe 2005 (L.). – Josephine im Dunkeln. Mit Bildern v. Jutts Mirtschin. Lpz. 2006 (Kinderbuch). – Auskunft für den Notfall. Hg. Hubert Witt. Mchn. 2008 (Ess.s). – Gestern bleibt heute. Aufzeichnungen. Mit Fotografien v. Paul Schaufe. Neumarkt 2009. Literatur: Nicolai Riedel: Internat. G. K.-Bibliogr. Hildesh./New York 1987 (vollst. Neubearb. in Vorb.). – Manfred Durzak u. Hartmut Steinecke (Hg.): G. K. Beiträge zu seinem Werk. Mchn./Wien 1992. – Kerry Dunne: Der Sündenfall. A Parabolic Key to the Image of Human Existence in the Work of G. K. Bern/Ffm. 1995. – Elke Kasper: Zwischen Utopie u. Apokalypse. Das lyr. Werk G. K.s. Tüb.

Kuntsch 1995. – M. Durzak u. Manfred Keune (Hg.): K.Werkstatt. Bielef. 1995. – Werner Trömer: Polarität ohne Steigerung. Eine Struktur des Grotesken im Werk G. K.s. St. Ingbert 1997. – Thomas Schmidt: Engagierte Ästhetik. Satire, Parodie u. neo-emblemat. Verfahren im Werk G. K.s. Würzb. 1998. – Marie-Hélène Quéval (Hg.): Lectures d’une œuvre: G. K. Paris 2000. Nicolai Riedel

Kuntsch, Margaretha Susanna von, geb. Förster, auch: Sylvia, * 7.9.1651 Schloss Allstädt in Altenburg, † 27.3.1717 Schloss Allstädt in Altenburg. – Lyrikerin. In K.s selbstverfasstem Lebenslauf, der ihrer Gedichtsammlung vorangeht, liest man, dass der Vater Jurist u. Beamter in Altenburg war. Obgleich das Kind Latein u. Französisch lernen wollte, gelangte es über Anfänge nicht hinaus, denn die Eltern erachteten die Beherrschung dieser Sprachen als für Mädchen mittleren Standes unpassend. Stattdessen ließen sie das Kind alle christl. Tugenden u. »weiblichen« Arbeiten erlernen. Am 24.8.1669 heiratete K. den Hofrat Christoph von Kuntsch. Etwa drei Jahre wohnte das Ehepaar in Eisleben, danach in Altenburg, wo K. den Rest ihres Lebens unter Freunden u. Verwandten verbrachte. Trotz schwerer Krankheiten u. häufiger Todesfälle in der Familie (von 14 Kindern blieb nur eine Tochter am Leben) war K.s Leben durch eine harmon. Ehe u. enge Freundschaften glücklicher als das vieler anderer Frauen ihrer Zeit. Diese Biografie wie ihre Frömmigkeit spiegeln sich in ihren Gedichten, die von ihrem Enkel Christoph Gottlieb Stockmann postum ediert (Sämmtliche geist- und weltliche Gedichte) u. mit einer Vorrede von Hunold-Menantes in Halle/Saale 1720 gedruckt wurden. Einige dieser Gedichte waren schon im ersten Band von Hunolds Sammlung Auserlesene und noch nie gedruckte Gedichte (1718) erschienen. K. versuchte sich in überraschend vielen Gattungen – unter den 30 Geburtstagsgedichten für ihren geliebten Ehemann finden sich Sonette, Oden, Madrigale, Kantaten, auch ein Rondeau – u. zeigt gelegentlich Humor. In ihrer Sammlung findet sich auch eine mit hauptsächlich weibl. Rollen besetzte

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Operette (S. 251–257). Sie selbst betrachtete ihre Dichtung als Zeitvertreib u. wollte keineswegs ein breiteres Publikum erreichen. Ausgaben: Das blutende Mutter-Hertz, bey dem [...] Ableiben der [...] Amanden Rebeccen Heberin [...] unter hertzlichstem Mitleiden in etwas entworffen u. getröstet aus Altenburg. Gera 1689. Internet-Ed.: VD 17. – Das ›weiblich Werck‹ in der Residenzstadt Altenburg 1672–1720. Gedichte u. Briefe v. M. S. v. K. u. Frauen in ihrem Umkreis. Mit einer Einl., Dokumenten, Biogr.n u. Komm. hg. v. Anna Carrdus. Hildesh. u. a. 2004. Literatur: Johann Tobias Rauschelbach: Die Freundin des Lammes. Altenburg [1717] (Leichenpredigt). – Christian Gerber: Historia derer Wiedergebohrnen in Sachsen. Tl. 4, Dresden 1726, S. 298–333. – Elke O. Hedstrom: M. S. v. K. (1651–1717): Leben u. Werk. Diss. University of Kansas 1988. – Dies.: M. S. v. K. (1651–1717). Eine unbekannte dt. Dichterin aus der Barockzeit. In: Daphnis 19 (1990), S. 223–246. – A. Carrdus: Consolation Arguments and Maternal Grief in Seventeenth-Century Verse. The Example of M. S. v. K. In: GLL 47 (1994/95), S. 135–151. – Stephanie Wodianka: Der Silberblick der Selbstbetrachtung. Perspektiven der Aufrichtigkeit in der meditativen Lit. In: Die Kunst der Aufrichtigkeit im 17. Jh. Hg. Claudia Benthien u. Steffen Martus. Tüb. 2006, S. 109–123. – A. Carrdus: Why and How Men Edited Women’s Texts. The Case of Christoph Gottlieb Stockmann (1698-after 1733) and his Grandmother M. S. v. K. (1651–1717). In: WBN 34 (2007), S. 1–26. – Dt. Dichterinnen v. 16. Jh. bis heute. Gedichte u. Lebensläufe. Hg. Gisela Brinker-Gabler. Köln 2007. – Landmarks in German Women’s Writing. Hg. Hilary Brown. Bln. u. a. 2007. – Anna Linton: Poetry and Parental Bereavement in Early Modern Lutheran Germany. Oxford 2008. Jean M. Woods / Red.

Kunz, Carl, Karl, Friedrich, auch: Zacharias Funck, * 19.7.1785 Zerbst/Anhalt, † 27.1.1849 Bamberg. – Schriftsteller u. Verleger. K. wuchs zunächst in Zerbst als Sohn von Carl Gottlieb Kunz, Inspektor des dortigen Zuchtu. Zwangsarbeitshauses, u. seiner Frau Auguste Luise auf, wurde jedoch im Alter von neun Jahren von einem Onkel nach Magdeburg geholt u. an dessen bedeutendem »Handlungsinstitut« zum Kaufmann ausgebildet. Nach seiner Lehre war K., der sich für Kunst u. Literatur, aber auch Schauspielerei

interessierte, in Zerbst u. Dessau tätig, wo er Ludwig Devrient begegnete. 1801–1805/06 arbeitete er in Leipzig als Kommis in einem Speditions- u. Bankgeschäft, wobei er u. a. Christoph Friedrich Bretzner u. August Wilhelm Iffland kennenlernte. 1806 kam K. nach Bamberg, wo er zunächst Reisender, sodann Teilhaber der Weinhandlung G. M. Niezoldis wurde, bevor er 1809 eine eigene Weinhandlung gründete. Zu seinem Freundeskreis zählte neben Friedrich Gottlob Wetzel, dessen Gesammelte Gedichte und Nachlaß er 1838 herausgab (Lpz.), auch E. T. A. Hoffmann, der sich von 1808 bis 1813 in Bamberg aufhielt. In K.’ Haus – seit 1811 wohnte er in der Eisgrube 14 – trafen sich Hoffmann, Jean Paul sowie bedeutende Ärzte der Bamberger Psychiatrie. Auf der Grundlage seiner umfangreichen, über 4000 Bände umfassenden Privatbibliothek u. mit der Unterstützung Hoffmanns richtete K. 1812 ein Leseinstitut ein, welches er in den folgenden Jahren zur damals größten kommerziellen bayer. Leihbibliothek mit über 15.000 Bänden ausbaute. 1814 gründete K. sodann eine Verlagsbuchhandlung, in der im selben Jahr die ersten drei Bände der Hoffmannschen Fantasiestücke in Callot’s Manier erschienen, für die Jean Paul das Vorwort verfasste. K. verlegte ferner u. a. Gotthilf Heinrich von Schuberts Symbolik des Traumes (1814), Wetzels Schriftproben (1814) oder Otto Heinrich von Loebens Lotosblätter (1817); Bemühungen, ein Werk Jean Pauls zu veröffentlichen, blieben erfolglos, wie K. in seinen Erinnerungen aus meinem Leben in biographischen Denksteinen und andern Mittheilungen (3 Bde., Lpz./ Schleusingen 1836–39) darlegt. Der letzte Band dieser Erinnerungen widmet sich Jean Paul, während sich der erste mit Hoffmann u. Wetzel, der zweite mit Iffland u. Devrient befasst. 1833 verkaufte K. seine Verlagsbuchhandlung an den Verleger Dresch u. widmete sich fortan eigenen literar. Projekten. Neben einigen Festspielen wie Bürgertreue, oder: der Schwedenkönig Gustav Adolf in Bayern (Bamberg 1833) oder einer Bearbeitung von Goethes Götz von Berlichingen (Bamberg 1839) veröffentlichte K. insbes. popularisierende biogr. Arbeiten, Sammelwerke u. Anthologien. Als

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»Toiletten-Geschenk für die Gebildetesten Lese-Institut‹. In: Mitt.en der E. T. A. Hoffmanndes weiblichen Geschlechts« gab er »Geistes- Gesellsch. 23 (1977), S. 50–56. – Ders.: C. F. K. In: und Charakter-Gemälde« über Rahel Varnha- NDB. – Karl Klaus Walther: C. F. K. Ein literar. gen von Ense (Bamberg 1835) u. Bettina von Unternehmer aus Bamberg. Bamberg 1994. Hans Peter Buohler Arnim (Bamberg 1836), »für die gebildete Lesewelt« zwei Bände Lesefrüchte aus dem Gesammtgebiete der höhern Unterhaltungs-Literatur Kunze, Reiner, * 16.8.1933 Oelsnitz/Erz(Bamberg 1836) heraus. gebirge. – Verfasser von Lyrik, Prosa, EsLiterargeschichtlich bemerkenswert ist Das says; Übersetzer. Buch deutscher Parodieen und Travestieen (Erlangen 1840/41), das K. nach eigenen Angaben Als Sohn eines Bergarbeiters studierte K. in »seit einem Vierteljahrhundert« zusammen- Leipzig Philosophie u. Journalistik. Ab Mitte getragen hatte. Wenngleich lediglich zwei der 1950er Jahre erschienen erste Texte in der der auf drei Bände angelegten Anthologie DDR. Seine Tätigkeit als wiss. Assistent mit erschienen, umfassen diese immer noch insg. Lehrauftrag von 1955 bis 1959 musste K. 255 Parodien zu 144 Vorlagen. K. war der nach schweren polit. Angriffen abbrechen: keineswegs verbreiteten Auffassung, dass »Das Jahr 1959 war in meinem Leben die »eine Sammlung von Parodieen deutscher Stunde Null«. Er arbeitete zwischenzeitlich Dichter« ebenfalls zur »Geschichte der deut- als Hilfsschlosser im Schwermaschinenbau. schen schönen Literatur« gehöre. Dies zeigt Seit 1959 bestand ein intensiver Briefkontakt sich auch in den Klängen aus der Zeit (Erlangen mit Elisabeth Littnerová, einer Ärztin in 1841), die von den »neuesten politischen Er- Aussig an der Elbe, die er 1961 heiratete. Ab eignisse[n] und zunächst durch das Be- 1962 lebte K. als freiberufl. Schriftsteller in cker’sche Rheinlied [hervorgerufen]« worden Greiz/Thüringen. Als der Prosaband Die seien, wobei K. neben diversen Rezeptions- wunderbaren Jahre in der Bundesrepublik (Ffm. 1976, 1978 nach K.s Drehbuch verfilmt) erzeugnissen auch 29 Parodien auf das schien, wurde K. im Okt. 1976 aus dem »Rheinlied« versammelt. Schriftstellerverband der DDR ausgeschlosWeitere Werke: Zriny. Histor. Darstellung in 8 sen. Fünf Monate nach der Ausbürgerung von rasch auf einander folgenden Abtheilungen mit Wolf Biermann sah er sich gezwungen, mit Musik, Chören, militair. Zügen, Lager- u. Schlachtseiner Familie die DDR zu verlassen, u. ließ Scenen, bearb. für das Theater im Freien am vierten Theresien-Volks-Feste. Bamberg 1837. – Die sich in Obernzell-Erlau bei Passau nieder. K. Rückkehr. Allegor. Festspiel nach der Rückkunft ist Mitgl. mehrerer Akademien (u. a. Mündes Herzogs Maximilian in Bayern aus dem Orient. chen, Darmstadt, Berlin). Für sein Werk, das Bamberg 1838. – Kurze Gesch. des Buchs: Sarsena in 30 Sprachen übersetzt wurde, erhielt er oder der vollkommene Baumeister. Bamberg 1838. Dutzende nationaler u. internat. Auszeich– Drei Novellen aus dem Leben. Schleusingen 1839. nungen u. Preise, so u. a. den Übersetzerpreis – Jean Paul Friedrich Richter. Bayreuth 1841. – des Tschechoslowakischen SchriftstellerverGeschichtl. Erinnerungs- u. Conversations-Kalen- bandes (1968), den Georg-Büchner-Preis der oder Geburts- u. Sterbetage denkwürdiger (1977), den Geschwister-Scholl-Preis (1981) Menschen aller Nationen, welche seit christl. Zeitsowie den »Memminger Freiheitspreis 1525« rechnung der Welt- oder Lit.-Gesch. angehören: (2009). nach den Kalendertagen geordnet u. bis Ende 1840 K.s frühe Veröffentlichungen in der DDR fortgeführt. Schleusingen 1841. – Das ominöse sind von der Dankbarkeit des Arbeiterkindes Häuschen. Hg. Wulf Segebrecht. Bamberg 1993. geprägt, dem im Sozialismus ein Studium Literatur: Heinrich Joachim Jäck: C. F. K. In: ermöglicht worden war. Die Begegnung mit Zweites Pantheon der Literaten u. Künstler Bambergs. Bamberg 1843, S. 61–63, 21844, S. 74 f. – der Poesie der tschech. Literatur sorgte für Peter Vodosek: Eine Leihbibl. der Goethe-Zeit. Das eine fundamentale Änderung der poet. Ver›Kgl. Privilegirte neue Leseinstitut‹ des C. F. K. zu fahrensweise: »Durch die Begegnung mit der Bamberg. In: Jb. des Wiener Goethe-Vereins 77 tschechischen Poesie ist mir erstmals das (1973), S. 110–133. – Wulf Segebrecht: K.’ ›Neues Wesen des Poetischen voll bewußt gewor-

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den«. K.s poetische wie polit. Einschätzungen orientierten sich zunehmend an tschech. Dichterfreunden wie Ludvík Kundera, Milan Kundera oder Jan Skácel, dessen Werk K. in jahrzehntelanger Vermittlung in Deutschland bekannt machte. Die gewaltsame Niederschlagung des tschechoslowak. »Sozialismus mit menschlichem Antlitz« im Aug. 1968 besiegelte die polit. Desillusionierung. K. gab sein Parteibuch zurück, was den Ausschluss aus der SED zur Folge hatte. Fortan hatte er größte Probleme, Texte in der DDR zu veröffentlichen; erst 1973 erschien mit Brief mit blauem Siegel (Lpz. 1973) dort noch einmal eine Sammlung. 1990 belegte die Dokumentation Deckname ›Lyrik‹ (Ffm.) die jahrelange Ausspähung u. Überwachung K.s u. seiner Familie durch die Staatssicherheit der DDR. Die Bände widmungen (Bad Godesberg 1963), sensible wege (Reinb. 1969) – demonstrativ dem tschechischem u. dem slowak. Volk gewidmet – sowie zimmerlautstärke (Ffm. 1972) konnten nur in der Bundesrepublik veröffentlicht werden. Furchtlos stellt sich K. in diesen Büchern der politischen u. kulturellen Wirklichkeit in der DDR u. richtet seinen Blick immer wieder auch auf das Nachbarland Tschechoslowakei. Seit K.s Weggang in die Bundesrepublik lässt sich sowohl eine thematische wie auch künstlerische Ausweitung seines Schaffens feststellen. K. unternahm Reisen in die ganze Welt, die auch sein Werk inspirieren. In Steine und Lieder (Ffm. 1994) verarbeitet er in Notizen u. erstmals auch mit Fotos einen Aufenthalt in Namibia. Auch in Der Kuß der Koi (Ffm. 2002) werden poet. Prosa u. eigene Fotos zu einem Kunstband verdichtet. K.s Fotos wurden auch auf Einzelausstellungen u. a. in Berlin, Düsseldorf u. Frankfurt/M. präsentiert. In der Tradition tschechischer Dichter hat K. immer auch Texte für Kinder geschrieben, zuletzt Wohin der Schlaf sich schlafen legt (Ffm. 1994) mit Illustrationen von Karel Franta. K. ist kein polit. Dichter, wenngleich seine Texte sowohl in der DDR wie später auch in der Bundesrepublik zuweilen polit. Wirkung zeitigten: »Ich stelle mich dem Politischen dort, wo es mich als Autor stellt, wo es ins

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Existentielle hineinreicht«. In seinen Vorlesungen Das weiße Gedicht (Ffm. 1989) wie auch in Interviews u. Reden, Wo Freiheit ist... (Ffm. 1994), Die Chausseen der Dichter (Stgt. 2004) oder Bleibt nur die eigne Stirn (Stgt. 2005), reflektiert K. immer wieder das Wesen der Literatur u. ihre Auswirkungen auf die gesellschaftl. Wirklichkeit. Intensiv beschäftigte sich K. mit der sog. Rechtschreibreform von 1996, die er als substantiellen Eingriff in die Sprachfähigkeit anprangerte. In Stellungnahmen u. Wortmeldungen wie Die Aura der Wörter (Stgt. 2002 u. 2004) setzte er sich vehement für die Abschaffung der Reform ein: »Je niedriger das Denkniveau, desto undifferenzierter die Sprache, und je undifferenzierter die Sprache, desto fortschreitender ihre Verarmung«. Ungebrochen bleibt K.s Übersetzertätigkeit v. a. tschechischer Lyrik. Im Laufe von fünf Jahrzehnten hat K. Texte von über 60 tschech. Dichtern ins Deutsche übertragen. K.s in der Bundesrepublik erschienene Gedichtbände wie auf eigene hoffnung (Ffm. 1981), eines jeden einziges leben (Ffm. 1986) oder ein tag auf dieser erde (Ffm. 1998) setzen seine Poesie der mittleren Jahre in der DDR fort. In zunehmend gereifter Form gelingt es K., die Knappheit der Form mit äußerster Genauigkeit in der Wahrnehmung zu verdichten. Im Gedichtband lindennacht (Ffm. 2007) belegt K. seine ungebrochene Meisterschaft im Verfahren der poet. Sprache: »Die Aufgabe des Gedichts ist es zu sein. Seine Existenz selbst ist die Veränderung, die es für die Welt bedeutet«. K. hat sich zeitlebens von der Malerei, der Bildhauerei sowie der Musik inspirieren lassen: »Wie sähe meine Seele aus, wenn es keine Musik gäbe?«. Aber auch Maler wurden von K.s Gedichten angeregt, Komponisten vertonten seine Texte. Im Jahr 2006 rief K. zus. mit seiner Frau die gemeinnützige Reiner und Elisabeth KunzeStiftung ins Leben, die, nach dem Tode der Stifter, den Umbau ihres Wohnhauses zu einer Ausstellungsstätte vorsieht. Neben literarisch inspirierten Werken der Bildenden Kunst sollen der Öffentlichkeit amtl. Dokumente, Briefe u. anderes Anschauungsmaterial zugänglich gemacht werden, Gegenstän-

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de, »die ins Bewusstsein rufen, dass die Menschen weder ohne Anerkennung der Wahrheit, noch ohne das Schöne existieren können«. Deutlich wird auch hier die Prägung in K.s Schaffen, das sich an einer Ästhetik ausrichtet, welche die Ethik nicht verleugnet u. krit. Stellungnahme nicht scheut. Weitere Werke: Die Zukunft sitzt am Tische (zus. mit Egon Günther). Halle 1955 (L.). – Vögel über dem Tau. Halle 1959 (L.). – Lieder für Mädchen, die lieben. Bln./DDR 1960 – Wesen u. Bedeutungen der Reportage. Bln./DDR 1960 (Ess.). – Der Wind mit Namen Jaromír. Nachdichtungen aus dem Tschech. Bln./DDR 1961. – Aber die Nachtigall jubelt. Halle 1962 (Liedtexte). – Poesiealbum Nr. 11. Hg. Bernd Jentzsch. Bln./DDR 1968 (L.). – Der Löwe Leopold. Fast Märchen, fast Gesch.n. Ffm. 1970 (Kinderbuch). – Die Bringer Beethovens. Gedicht mit Holzschnitten v. HAP Grieshaber. Düsseld. 1976. – Das Kätzchen. Ffm. 1979 (Kinderbuch). – Eine stadtbekannte Gesch. Olten 1982. Mit Zeichnungen v. Werner Maurer (Kinderbuch). – In Dtschld. zuhaus, Funk- u. Fernsehinterviews 1977–83. Hauzenberg 1984. – Die Richtung des Kunstwerks. Hauzenberg 1986 (Rede). – Zurückgeworfen auf sich selbst, Interviews 1984–88. Hauzenberg 1989. – Mensch ohne Macht, Dankreden. Hauzenberg 1991. – Begehrte, unbequeme Freiheit, Interviews 1989–92. Hauzenberg 1993. – Am Sonnenhang. Tgb. eines Jahres. Ffm. 1993. – Der Dichter Jan Skácel. Porträt. Hauzenberg 1996. – Bindewort ›deutsch‹. Reden. Hauzenberg 1997. – Zeit für Gedichte? Fernsehgespräch mit Peter Voß. Hauzenberg 2000. – Gedichte. Ges. Gedichte in einem Band. Ffm. 2001. – Mensch im Wort, Drei Gedichte für Kinder u. dreißig Antworten auf Fragen v. Jürgen P. Wallmann. Hauzenberg 2008. – Die Sprache, die die Sprache spricht. Hauzenberg 2009 (Rede). – Übersetzungen: die tür. Nachdichtungen aus dem Tschechischen. Bad Godesberg 1964. – Jan Skácel: Fährgeld für Charon. Hbg. 1967. – Vladimír Holan: Nacht mit Hamlet. Gifkendorf 1969. Auch in: V. Holan: Ges. Werke. Bd. 8, Köln 2003. – Antonín Brousek: Wunderschöne Sträflingskugel. Darmst. 1970. – V. Holan: Vor eurer Schwelle. Darmst. 1970. – Vít Obrtel: Sommertraum. Hauzenberg 1982 – Lenka Chytilová u. László Nagy: Manchmal schreibt mir das Weibchen des Kuckucks. Hauzenberg 1982. – Milosˇ Macourek: Eine Tafel, blau wie der Himmel. Hauzenberg 1982. – J. Skácel: Wundklee. Ffm. 1982. Tb.-Ausg. mit einer Laudatio v. Peter Handke. 1989. – Tschech. Märchen zur guten Nacht. Hauzenberg 1985. – Jaroslav Seifert: Erdlast. Hauzenberg 1985. – J. Skácel: Das blaueste Feuilleton. Hauzenberg

Kuprian 1989. – Ders.: Die letzte Fahrt mit der Lokalbahn. Hauzenberg 1991. – Milena Fucimanová: Schmerzstrauch. Hauzenberg 1997. – Maria Skálová: Die Schuld der Unschuldigen. Hauzenberg 1999 (gem. mit Elisabeth Kunze). – Wo wir zuhause das Salz haben. Ges. Nachdichtungen aus dem Tschechischen. Ffm. 2003. – Petr Hrusˇka: Jarek anrufen. Hauzenberg 2008. Literatur: Jürgen P. Wallmann (Hg.): R.K. Materialien u. Dokumente. Ffm. 1977 (mit Bibliogr.). – Rudolf Wolff (Hg.): R. K. Werk u. Wirkung. Bonn 1983 (mit Bibliogr.). – Mario Schosser: Dialoge, farbige Bilder zu Gedichten v. R. K. Hauzenberg 1986. – Heiner Feldkamp (Hg.): R. K. Materialien zu Leben u. Werk. Ffm. 1987. – Ders.: Sichtbar machen. Bild u. Gedicht im Werk R. K.s. Hauzenberg 1991. – Ders.: Poesie als Dialog. Regensb. 1994. – Marek Zybura (Hg.): Mit dem Wort am Leben hängen... R. K. zum 65. Geburtstag. Heidelb. 1998. – Volker Strebel: R. K.s Rezeption tschech. Lit. Essen 2000. – Christian Eger: Böhm. Dörfer. Poesie in polit. Landschaft: Sieben Variationen über den Dichter R. K. u. Ohne Traumata kein Leben. Ein Gespräch mit R. K. In: die horen, Nr. 210 (2003) (Sonderdr.). – Ulrich Zwiener u. Edwin Kratschmer (Hg.): Das blaue Komma. Zu R. K.s Leben u. Werk. Weimar 2003. – Roman Koprˇ iva: Internationalismus der Dichter. Einblicke in R. K.s u. Jan Skácels literar. Wechselbeziehungen mit einigen Bezügen zur Weltlit. Brünn 2006. – C. Eger: Zivilität des Herzens. Laudatio zur Verleihung des Thüringer Literaturpreises. In: Palmbaum. Literar. Journal aus Thüringen, H. 2 (2009). Volker Strebel

Kuprian, Hermann, * 12.4.1920 Tarrenz bei Imst/Tirol, † 12.1.1989 Völs bei Innsbruck; Grabstätte: Tarrenz, Ortsfriedhof. – Lyriker, Dramatiker, Essayist u. Hörspielautor. Im Hauptberuf Mittelschullehrer, war der promovierte Germanist 1951 Mitbegründer u. 1964–1984 Präsident der konservativen Innsbrucker Literaturgesellschaft »Der Turmbund«. Als Gegner realitätsbezogener Literatur u. der Sprachspiele der konkreten Poesie entwickelte K. Ende der 1960er Jahre, gestützt auf die von ihm herausgegebene Buchreihe Brennpunkte (Wien u. a. 1965 ff.), sein literar. Credo: die »Spirituelle Poesie«. In K.s System verbinden sich christl. Transzendenzspekulationen, humanist. Ideen u. östl. Weisheitslehren mit abendländ. Mytho-

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logie u. einem Martin Heidegger verpflich- Bln./DDR 1958 (E.). – Gefährl. Sommer. Halle 1955 teten Existentialismus zu einer visionären, (E.). – Die galanten Abenteuer Münchhausens. das kosm. Erleben betonenden Dichtung in Halle u. Feldafing 1958 (R.). – Winterreise. Halle feierlich stilisierter Sprache. K. schrieb über 1967 (Schubert-R.). – Das Buch Chons. Halle 1967 (E.). – Das wilde Tier Nachtigall. Halle 1971 (Lu30 Werke, darunter epigrammat. Lyrik ther-R.). – Die Mühsal eines Tages. Halle 1973 (Traumtexte. Wien 1970. Trompete. Darmst. (Beethoven-R.). – Luise. Halle 1976 (R.). – Der Kuß 1975), Balladen (Innsbr. 1977), Versepik (Siegel der Selene. Roman in Briefen aus dem Jahre 1813. unendlich. Karlsr. 1967), philosoph. Essays Halle 1982. – Neujahrskonzert. Halle 1984 (Die Proligion des Ichbin. Darmst. 1977) u. (Brahms-R.). Heike John / Harald Jakobs Dramen über regionale (Das große Schemenspiel. Das kleine Schemenspiel. Innsbr. 1965), antike (Orphische Verwandlung. Wels 1982), bibl. (Lamasabathani. Darmst. 1971), fernöstl. (Der Kuranda, Ignaz, * 1.5.1811 Prag, † 23.4. Mönch und die Muschel. Thaur/Tirol 1988) u. 1884 Wien. – Redakteur, Herausgeber u. Schriftsteller. histor. (Solferino. Wien 1958) Themen. Literatur: Kurt Becsi (Hg.): K. Profil eines Dichters. Wels 1980. – Bücher v. K. Innsbr. 1985. – Alois Schöpf: H. K. Ein Pallaver. In: INN 6 (1989), N. 17, S. 17 ff. Ursula Weyrer / Red.

Kupsch, Joachim, * 18.10.1926 Leipzig, † 6.7.2006 Leipzig. – Erzähler, Romancier, Filmautor. Nach seiner Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft arbeitete K. zunächst als Maurer. Später war er freier Mitarbeiter in der Dramaturgie des Leipziger Theaters u. beim Mitteldeutschen Rundfunk, Sender Leipzig. Als freier Schriftsteller in Leipzig u. Dresden ansässig, schrieb er Hörspiele, Kurzgeschichten u. Romane, in denen er u. a. die eigenen Kriegserfahrungen literarisch verarbeitete (die bäume zeigen ihre rinden. Halle 1957). Von 1955 bis 1957 studierte K. am Literaturinstitut »Johannes R. Becher« in Leipzig u. anschließend bis 1962 als Externer Germanistik an der Universität Leipzig. Bekannt wurde er v. a. durch historisch-heitere Romane, die auch in Verfilmungen erfolgreich waren (Eine Sommerabenddreistigkeit. Lpz. 1959. Verfilmt 1964. Die Winternachtsabenteuer. Halle/S. 1965. Verfilmt 1968). Romanhaft zeichnete K. Lebensgeschichten berühmter Komponisten nach, so Haydns erste Reise nach London (Bln./DDR 1959) aus der Perspektive eines jungen Engländers oder die Biografie Richard Wagners in Ein Ende in Dresden (Bln./ DDR 1964). Weitere Werke: König für einen Tag. Urauff. Bln./DDR 1953 (Kom.). – Die Nacht mit Beppone.

K. absolvierte das Studium Generale 1836 in Wien; hier begann seine literar. Tätigkeit. Erfolgreich war K.s Tragödie Die letzte weiße Rose (um 1834. Stgt. 1840; frei nach Schillers Warbeck). Ab 1838 lebte u. studierte K. abwechselnd in Stuttgart u. Tübingen, wo er Umgang u. a. mit David Friedrich Strauß u. Uhland pflegte. Über Paris ging K. nach Brüssel, hielt hier ab etwa 1840 Vorlesungen über dt. Literatur u. gründete 1841 die liberale Zeitschrift »Die Grenzboten«, die nach dem Transfer der Redaktion nach Leipzig (1842) zu einem Sammelbecken v. a. der aus Österreich exilierten Metternich-Opposition wurde, bis sie 1848 von Freytag u. Julian Schmidt übernommen wurde. In Leipzig promoviert, kehrte K. 1848 nach Wien zurück u. gründete die »Ostdeutsche Post«, deren Eigentümer u. Redakteur er bis 1866 war. Abgeordneter für Teplitz im Frankfurter Parlament, wurde K. 1861 in den Niederösterreichischen Landtag u. in das Abgeordnetenhaus des Reichsrats gewählt. 1872 wurde er Präses der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien. Weitere Werke: Preußen u. die Juden. In: Die Grenzboten 1 (1842), S. 301–306. – Belgien seit seiner Revolution. Lpz. 1846. Literatur: Wolfgang Neuber: Das literar. Programm der ›Grenzboten‹ bis zum Jahr 1848. In: Ztschr.en u. Ztg.en des 18. u. 19. Jh. in Mittel- u. Osteuropa. Hg. István Fried u. a. Bln. 1986, S. 211–228. – Heinrich Best u. Wilhelm Weege: Biogr. Hdb. der Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung 1848/49. Düsseld. 1998, S. 213 f. Wolfgang Neuber / Red.

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Kurbjuweit, Dirk, * 3.11.1962 Wiesbaden. – Journalist, Romancier, Sachbuchautor. K., einer der renommiertesten dt. Journalisten, trat erst als Schriftsteller in Erscheinung, nachdem er sich in seinem Hauptberuf etabliert hatte. Nach dem Abitur wollte K. zunächst Germanistik studieren. Er entschied sich jedoch stattdessen für ein Studium der Volkswirtschaft u. besuchte die Kölner Journalistenschule für Politik und Wirtschaft. 1990–1999 arbeitete er als Redakteur der Hamburger »Zeit«, danach beim »Spiegel«, seit 2002 im Berliner Hauptstadtbüro, das er seit 2007 leitet. Für seine Reportagen erhielt er 1998 u. 2002 den Egon-Erwin-Kisch-Preis, für den er 2004 ein weiteres Mal nominiert wurde. Die Eigenständigkeit von K.s Prosatexten liegt weniger in ihrer Sprachbehandlung als in ihrer atmosphärischen Dichte, der subtilen Figurenzeichnung u. der virtuosen Einarbeitung politischer u. gesellschaftl. Konflikte. Dies zeigt sich bereits im Debütroman Die Einsamkeit der Krokodile (Ffm. 1995). Der Erzähler, ein junger Hamburger Grafiker, reist in ein pfälz. Dorf, um dem Tod des jungen Günther, eines entfernten Verwandten, nachzuspüren. Der hochbegabte Student, ein Außenseiter in der engstirnigen Dorfgemeinschaft, ist unter mysteriösen Umständen zu Tode gekommen. Doch als der Erzähler mit seinen Nachforschungen beginnt, stößt er nur auf Feindseligkeit. Was das konventionelle Muster einer Kriminalnovelle abgäbe, fächert K. zu einem komplexen Figurengeflecht auf, in dem die Provinzgesellschaft in ihrer ganzen Verschlossenheit u. Lebensfeindlichkeit kenntlich wird. Im Gegenzug wird von der ersten Seite an die Zuverlässigkeit des Erzählers infrage gestellt. Nicht nur ist er Retuscheur von Beruf u. sammelt aus Zeitungsartikeln gekürzte Textstellen. Er leidet auch an Gewaltfantasien sowie einer Störung, die ihn die jeweils letzten Worte seiner Gesprächspartner wiederholen lässt. Damit wird er nicht nur zum »Echo« Günthers, mit dem er sich identifiziert, seine »Echolalie« wird auch als mögl. Symptom einer Schizophrenie bezeichnet.

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Während das Debüt ein großer Erfolg war, erntete der Nachfolger Schußangst (Ffm. 1998) eher zwiespältige Kritiken. Der junge Zivildienstleistende Lukas Eiserbeck plant einen Anschlag auf den »Arzt«, einen stark an Radovan Karadzˇic´ angelehnten bosn. Serbenführer, um den Bosnienkrieg zu beenden. Hier verketten sich private u. polit. Motive, wie es auch für spätere Romane K.s kennzeichnend ist, denn Eiserbeck will mit der Tat auch die junge indische Muslimin Isabella beeindrucken u. zurückgewinnen. Zudem wird deutlich, dass Eiserbeck, der früher im Deutschland-Achter der Junioren fuhr, durch die Gewalttat seinem Leben wieder eine Richtung geben will. Damit scheitert er jedoch auf der ganzen Linie. Auch in K.s nächstem u. vielleicht bisher bestem Prosatext, der Novelle Zweier ohne (Zürich 2001), stehen Außenseiterfiguren im Mittelpunkt. Der Text beschreibt die Freundschaft der Jugendlichen Johann u. Ludwig, die sich annähern wollen, »bis wir Zwillinge sind«, um der Isolation ihres trostlosen Umfeldes zu entkommen, indem sie beide – eine Parallele zu Schußangst – Ruderrennen fahren. Als der Erzähler allerdings mit Ludwigs Schwester Vera schläft, entfremden sie sich einander. Am Ende versucht Ludwig sich selbst u. den Erzähler auf einer Motorradfahrt zu töten, doch nur Ludwig kommt ums Leben. K.s Roman Nicht die ganze Wahrheit (Zürich 2008) erzählt die Geschichte eines Dreiecksverhältnisses zwischen dem Politiker Leonard Schilf, seiner Ehefrau Ute u. seiner Geliebten Anna Tauert. Die Ehefrau beauftragt den IchErzähler, den Detektiv Arthur Koenen, Schilf u. seine Geliebte zu beschatten. Wie im Debüt macht K. auch hier den Detektivroman zum Vehikel eines differenzierten Gesellschaftsporträts. Wohl in keinem anderen seiner Prosastücke lässt K. sein Hintergrundwissen als polit. Journalist so stark einfließen. Streckenweise tritt der Hauptfaden der Handlung zurück hinter der detailreichen Schilderung der polit. Szene der Berliner Republik, wobei die spezifische, hier wohl auf die SPD anspielende Partei zweitrangig ist gegenüber dem Habitus der polit. Klasse insgesamt. Die Parallelen zwischen dem Beruf des Detektivs,

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der den intimen E-Mail-Verkehr Schilfs u. Kurella, Alfred, auch: Bernhard Ziegler, Tauerts überwacht, u. der Arbeit des Journa- Victor Röbig, A. Bernard, * 2.5.1895 listen sind deutlich. Am Ende des Romans Brieg/Schlesien, † 12.6.1975 Berlin/DDR; verlässt Koenen, der sich in Tauert verliebt Grabstätte: Berlin-Friedrichsfelde, Gehat, seine neutrale Position, um dem Paar zu denkstätte der Sozialisten, Ehrenhain. – helfen. Romancier, Essayist u. LiteraturtheoretiBislang wurden drei von K.s Romanen ker, Übersetzer; Kulturpolitiker. verfilmt. Über seine Zusammenarbeit als Drehbuchautor mit dem georg. Regisseur K., Sohn eines Arztes, studierte an der Dito Tsintsade bei der Filmversion von Kunstgewerbeschule in München. Als exSchußangst (2003) reflektierte K. 2003 in dem pressionist. Maler gescheitert, schloss er sich Aufsatz Wie es der Autor sah. Eine deutsche der Wandervogelbewegung an, gründete Filmgeschichte (Merkur 57, 2003, H. 648, 1918 in München die Freie Sozialistische JuS. 306–318). Daneben existieren Filmversio- gend u. wurde Mitgl. der KPD. 1919 reiste er nen von Die Einsamkeit der Krokodile (2000) u. auf abenteuerl. Wegen als Kurier nach MosZweier ohne (2008), die beide von Jobst Chris- kau u. traf dort mit Lenin zusammen (vgl. tian Oetzmann inszeniert wurden. Alle Filme Unterwegs zu Lenin. Bln./DDR 1968). Seitdem war er in wichtigen Positionen in Moskau, liefen erfolgreich auf internat. Festivals. Schließlich hat sich K. einen Namen als Paris u. Berlin für die kommunist. Bewegung Sachbuchautor gemacht. Unser effizientes Le- tätig. K. lebte 1934–1954 im sowjet. Exil. ben. Die Diktatur der Ökonomie und ihre Folgen Nach der Rückkehr in die DDR wurde er 1955 (Reinb. 2003) behandelt den gesellschaftl. Mitbegründer u. erster Direktor des LiteraEinfluss großer Unternehmensberatungen. turinstituts Johannes R. Becher in Leipzig. Das Buch, das zu wesentl. Teilen auf bereits 1957–1963 war er als Leiter der Kommission erschienenen Reportagen K.s beruhte, sollte für Fragen der Kultur beim Politbüro der SED ursprünglich Die McKinsey-Gesellschaft heißen, u. ab 1963 als ZK-Mitgl. maßgeblich an der was das Unternehmen jedoch mit jurist. Etablierung einer Kulturpolitik beteiligt, die Mitteln verhinderte. Das mit Matthias Geyer jegliche moderne Errungenschaft in den u. Cordt Schnibben verfasste Operation Rot- Künsten als »dekadent« u. »volksfremd« Grün. Geschichte eines politischen Abenteuers verwarf u. unterdrückte. 1968 promovierte er (Hbg. 2005) zieht – noch vor ihrer Abwahl – in Jena mit der Arbeit Das Eigene und das Fremde. Neue Beiträge zur Theorie des sozialistieine krit. Bilanz der Regierung Schröder. Weitere Werke: Nachbeben. Mchn./Wien 2004 schen Humanismus (Bln./Weimar 1968. 2., erw. (R.). – Angela Merkel. Die Kanzlerin für alle? Mchn. Aufl. 1970). Prägend für K.s Arbeit war sein Antifa2009 (Sachbuch). Literatur: Wieland Freund: D. K. In: LGL. – schismus (so in Mussolini ohne Maske. Bln. Joachim Feldmann: ›Eigentlich ist es schlimmer, 1931) u. die Abgrenzung gegen vorgeblich als wir es beschreiben können‹. Ein Gespräch mit D. bürgerl. Philosophie, Kultur u. Literatur. K. K. In: Am Erker 27 (2004). – Andreas Wirthensohn: trat in Beiträgen zur Expressionismus-DeD. K., ›Nachbeben‹. In: Dt. Bücher 35 (2005), H. 1, batte in der Moskauer Exilzeitschrift »Das S. 38–40 (Rez.). – Sabine Pfäfflin: Auswahlkriterien Wort« als Gegner expressionistischer u. für Gegenwartslit. im Deutschunterricht. Baltavantgardist. Tendenzen (auch in den eigemannsweiler 2007. – Dies.: Dichte Symbolik u. spannende Lektüre. D. K.s Novelle ›Zweier ohne‹ nen Reihen) hervor u. erklärte tradierte reaim Unterricht. In: Lit. im Unterricht 9 (2008), H. 1, list. Schreibweisen dogmatisch zu einzig mögl. Vorbildern für eine sozialist. Literatur S. 39–56. Stefan Höppner (Der Mensch als Schöpfer seiner selbst. Bln./DDR 1958). Im Roman Kleiner Stein im großen Spiel (Bln./DDR 1961) will K. am Schicksal eines emigrierten u. nach Deutschland zurückgekehrten Intellektuellen zeigen, wie mangelnde Parteinahme für den Sozialismus zum

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Bündnis mit dem Faschismus führt. K. übersetzte u. a. Louis Aragons Roman Die Glocken von Basel (Bln./DDR 1956) sowie Vissarion Grigórevicˇ Belinskijs Aufsätze zur russischen Literatur (Lpz. 1962). Weitere Werke: Ich lebe in Moskau. Bln./SBZ 1947. – Ost u./oder West. Bln./SBZ 1948. – Zwischendurch. Verstreute Ess.s 1934–40. Bln./DDR 1961. – Dimitroff contra Göring. Bln./DDR 1964. – Dodo Garai, A. K. Ein Briefw. In: SuF 42 (1990), S. 737–764. Literatur: Bibliografien: Veröffentlichungen dt. sozialist. Schriftsteller in der revolutionären u. demokrat. Presse 1918–45. Bln./Weimar 1966. – Brigitte Melzwig: Dt. sozialist. Lit. 1918–45. Bln./ Weimar 1975. – Bestandsübersicht der Reden u. Aufsätze v. A. K. Bln./DDR 1985. – Weitere Titel: Schriftsteller der DDR. Bearb. v. Joachim Ret u. a. Lpz. 1961 (mit Bibliogr.). – Alfred Kantorowicz: Dt. Schicksale. Wien/Köln 1964, S. 183–194. – Joseph Pischel: Beiträge zu Theorie u. Praxis des sozialist. Humanismus. Zur kulturtheoret. Position A. K.s. In: Positionen. Hg. Werner Mittenzwei. Lpz. 1969. – Gerhard Zwerenz: Intellektueller u. Revolutionär. Meine Erinnerungen an A. K. In: NR (1974), H. 3, S. 454–462. – Ulrich Dietzel: Gespräch mit A. K. In: SuF 27 (1975), S. 221–243. – Bettina Herrmann: A. K. u. Maksim Gor’kij. In: Wiss. Ztschr. der Humboldt-Univ. zu Bln. 37 (1988), S. 1021–1028. – Marion Neumann: A. K.s Übersiedlung in die DDR u. seine Tätigkeit als Direktor des Literaturinstituts. In: Zwischen polit. Vormundschaft u. künstler. Selbstbestimmung. Hg. Irmfried Hiebel u. a. Bln. 1989, S. 98–101. – Martina Langermann: ›nicht tabu, aber erledigt‹. Zur Gesch. der KafkaDebatte aus der Sicht A. K.s. In: ZfG 4 (1994), H. 3, S. 606–621. – Birgit Schmidt: Wenn die Partei das Volk entdeckt. [...] Ein krit. Beitr. zur Volksfrontideologie u. ihrer Lit. Münster 2002. – Matthias John: Späte Promotion eines Berufsrevolutionärs. A. K. (1895–1975). In: Ketzer, Käuze, Querulanten. Hg. Matthias Steinbach u. Michael Ploenus. Jena u. a. 2008, S. 300–310. Klaus Kändler / Red.

Kurowski-Eichen, Kurowsky-E., Friedrich (Karl, Carl, Anton Bernhard Immanuel), * 16.12.1780 Schloss Eichen/Königsberg, † 16.6.1853 Forsthaus Magdeburgfort/ Ziesar. – Offizier, Dramatiker, Lyriker u. Ästhetiker. K. schrieb sich 1797 als Jurastudent in Königsberg ein u. war sodann zeitweise als Offizier in russ. Diensten tätig. Er erfand eine

Kurowski-Eichen

Feldfahrküche, über welche er eine (heute verschollene) Schrift (Die Feldfahrküche, dargestellt mit Hinsicht auf ihre Notwendigkeit, Ausführbarkeit u. Anwendung. Bln. 1813) verfasste u. welche er Ende des Jahres 1813 dem interessierten Goethe vorstellte. Der »Feldfuhrküchen-Meister« (Goethe am 8.11.1814) verfasste 1814 ein Hexameterepos über den Tantalosmythos (Die Zerstörung von Tantalis. Eine mythologisch-romantische Dichtung in acht Gesängen. Erfurt 1816), das er in die Tradition der homerischen Ilias zu stellen versuchte u. welches er für die Ausgabe in seinen Sämmtlichen Werken (4 Bde., Erfurt/Gotha 1831) noch um einen Gesang erweiterte. Seit den Befreiungskriegen dominierten die patriot. Tendenzen K.s literar. Schaffen. Von 1817 bis mindestens 1818 war K. bei der Gewehrfabrik in Suhl angestellt, wo er sich um die Stadt verdient machte, indem er die Herbeischaffung von Hülsenfrüchten vermittelte. Von Suhl aus sandte er sein nationalist. Drama Pruthena im Manuskript an Goethe u. verhandelte über die Aufführung dieses Stücks in Berlin. Zus. mit zwei weiteren Dramen (Aesthya u. Baltea) sollte Pruthena einen Zyklus bilden, der jedoch nicht zustande kam. Ungefähr von 1821 bis 1825 war K. als Kommissar der Gewehrfabrik im Kloster Saarn bei Mülheim an der Ruhr beschäftigt; hier verfasste er das im Jahre 1255 angesiedelte Historiendrama Untergang der letzten Odinskirche oder Preußens Aufdämmerung: Ein Nationalgedicht in vier Bildern (Essen 1825). Dieses Drama, »Allen biedern Preußen« gewidmet, steht dabei ebenso im Zeichen einer nat. Identitätsstiftung wie viele seiner Gedichte (vgl. die Vaterländischen Gedichte in den Sämmtlichen Werken oder die Gesänge der Erinnerung für Preußen. Königsb. 1844), sofern diese nicht eine ländl. Idylle beschwören (Der Deutsche Liedergarten und seine Melodien, vgl. Sämmtliche Werke). K. verfasste außerdem ein »lyrisch-heiteres Spiel« Der entzweite Liebeshof oder die Provenzalen in Neapel u. stellte literarästhet. Überlegungen – beispielsweise Über das harmonische Zusammenwirken der freien Künste im Gebiete der Dichtung – an. Im Jahr vor seinem Tod bat K. Heinrich Heine, den er 1825 bereits einmal getroffen hatte, um dessen Meinung zu einem »Monomelodram«

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über die Schauspielerin Rachel, welches jedoch unveröffentlicht blieb. Weitere Werke: Die Sonnentempel des alten europ. Nordens u. deren Colonien. Bln. 1827. – Die vier wandernden Helden: Eine Erzählung für die Jugend. Liegnitz 1827. – Schön Suschen, die fürstl. Bäuerin oder Thorn’s Gründer im Schwarzwalde: Ein Sagen- u. Liederring. Thorn 1832. Literatur: Hamberger/Meusel 23, S. 331. – Kosch 2, S. 1138. – Martin Wiehle: F. K. In: Ders.: Altmark-Persönlichkeiten. Oschersleben 1999, S. 98 f. Hans Peter Buohler

Kurt, Kemal, * 29.10.1947 C¸orlu/Türkei, † 21.10.2002 Berlin. – Lyriker, Essayist, Prosaautor (Romane, Kinder- u. Jugendliteratur, Drehbücher, Hörspiele), Fotograf. K. wuchs in der Türkei auf, studierte in Ankara u. Miami, kam 1975 zur Promotion (1983) nach Westberlin, wo er sich niederließ. Ab 1977 zunächst künstlerischer Fotograf, veröffentlichte er 1981 sein erstes Buch u. war ab 1990 als freier Schriftsteller tätig. K. unternahm internat. Lesereisen u. erhielt Stipendien (Stiftung Preußische Seehandlung 1991 u. 2001); zu Gastaufenthalten wurde er u. a. in die Villa Aurora, Los Angeles (1999), in das Hawthornden Castle, Schottland, nach Port Townsend u. nach Rhodos eingeladen. Bereits in seiner frühen Lyrik spielte K. ironisch mit den Erwartungen des dt. Publikums, das vom türk. Dichter »fabeln, märchen, fiktion, einen hauch exotik? / ein quantum polytick, eine prise errotik?« erwartete. Diese orientalisierende Rezeption unterläuft der Dichter »rosennachtigall« jedoch ganz bewusst: »er kredenzt literatur pur / von correctness keine spur« (»ein leitung« aus dem zweisprachigen Gedichtband Scheingedichte / S¸iirimsi. Bln. 1986). K.s souveränes Spiel mit osmanisch-türk. Literaturtradition u. Versatzstücken der globalisierten Welt, sein aus der Ironie u. der eigenen kosmopolit. Lebenserfahrung entspringender Blick schlugen sich gleichermaßen in seinen Texten wie auch in seiner künstlerischen Fotografie nieder. Die Gedichte u. Fotos des kurz vor K.s Tod veröffentlichten Bands menschen. orte (Fotos & Gedichte 1977–1999. Bln. 2000)

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zeigen K. u. a. als Chronisten des Berliner türk. Lebens. Während er die Problematik des interkulturellen Lebens in Deutschland in zahlreichen Beiträgen für polit. Anthologien u. in seinem Essay Was ist die Mehrzahl von Heimat? (in: Bilder eines türkisch-deutschen Doppellebens. Reinb. 1995) reflektierte, fand K. in seiner Kinder- u. Jugendliteratur einen spielerisch-leichten Umgang mit der multikulturellen Realität. Für seine Radiobeiträge in der Reihe »Ohrenbär« des SFB wurde K. mehrfach ausgezeichnet; seine Kinderbücher standen immer wieder auf den Bestenlisten verschiedener Rundfunkanstalten. In seiner Kinderliteratur, in der auch die seinen Töchtern nachempfundenen Figuren Lena u. Meral auftreten, erzählte K. humorvoll vom vielfältigen u. turbulenten Leben einer binationalen dt.-türk. Familie, ohne jedoch den didakt. Zeigefinger zu heben. Stattdessen schuf er Fantasiewelten, wie die Sieben Zimmer voller Wunder (Hbg. 1996), ließ einen traditionellen türk. Märchenerzähler durch Berlin wandern (Wenn der Meddah kommt. Hbg. 1995) oder verlegte die Geschichten ins türk. Feriendomizil Aytepe (Die Kinder vom Mondhügel. Hbg. 1997). Generations- u. Identitätskonflikte erhielten Raum im Jugendroman (Die Sonnentrinker. Bln./Mchn. 2002). In seiner weiteren Prosa verflocht K. häufig Motive u. Genres aus der Weltliteratur. Sein Roman Ja, sagt Molly (Bln. 1998) ist eine Hommage an (seine persönl.) Klassiker der Weltliteratur des ausgehenden 20. Jh. Die Geschichte um die Bibliothek von Babel, in der zum Jahrtausendwechsel nur noch ein einziges fiktionales Werk archiviert werden soll, worauf hin sich die Figuren der Romane des 20. Jh. in einer atemlosen Folge aus Intrige u. Mord gegenseitig aus dem Weg räumen, ist eine raffiniert angelegte, postmoderne Erzählung über Literatur, in der sich K.s literar. Talent als Romancier manifestiert. Sein früher Tod beendete jedoch sein literar. Spätwerk; ein historischer Kriminalroman über die Tulpenepoche, den K. auf Englisch begonnen hatte, blieb unvollendet. Weitere Werke: Bilder einer Kindheit. Erzählung & Fotos. Bln. 1986. – Beim nächsten Ton. Gedichte. Bln. 1988. – Cora, die Korsarin. Hbg. 1998. – Als das Kamel Bademeister war – Kelog˘lans

143 lustige Streiche. Bln. 1998. – Der Chinese v. Schönberg. Bln. 2000 (E.en). – Eine echt verrückte Nacht. Bln./Mchn. 2001 (Kinderbuch). – Die verpatzten Zaubersprüche. Gossau-Zürich 2002. – In the City of the Tulip King. Unveröffentlichtes Ms. bzw. Rohfassung eines histor. Kriminalromans, angelegt auf 400 S. Bln. 2002. Literatur: Tom Cheesman: Juggling Burdens of Representation: Black, Red, Gold, and Turquoise. In: GLL 59/4 (2006), S. 471–487. – Ders.: K. K.: The Skeptical Cosmopolitanism of the Republic of Letters. In: Ders.: Novels of Turkish German Settlement. Cosmopolite Fictions. New York 2007, S. 53–59. Karin E. Yes¸ ilada

Kurz Weitere Werke: Hut ab vor Onkel Eddie! Bln. 1931 (D.). – Mama ist zu liebenswürdig. Bln. 1937 (D.). – Emil Jannings. Das Filmbuch. Bln. 1942. – Rolf Aurich u. Wolfgang Jacobsen (Hg.): R. K. Essayist u. Kritiker. Mit Aufsätzen u. Kritiken v. R. K. u. einem Ess. v. Michael Wedel. Mchn. 2007. – Herausgeber: Karl Wilhelm Ferdinand Solger: Erwin. Bln. 1907. – Tobias George Smollet: Peregrine Pickle. Bde. 1–4, Mchn. 1914. – Heinrich Heine: Ausgew. Werke. Bde. 1–3, Bln. 1947. Literatur: Paul Raabe: Die Autoren u. Bücher des literar. Expressionismus. Stgt. 1985, S. 293 f. Elisabeth Willnat / Red.

Kurz, Carl Heinz, * 26.11.1920 Zellerfeld/ Harz, † 11.2.1993 Göttingen. – Erzähler, Kurtz, Rudolf, * 31.12.1884 Berlin, † 26.7. Lyriker, Essayist, Biograf u. Herausgeber. 1960 Berlin. – Essayist, Filmtheoretiker, Nach Abitur u. Kriegseinsatz (er litt zeit seiErzähler, Dramatiker. nes Lebens an den davongetragenen VersehK. studierte Germanistik, Philosophie u. Nationalökonomie. 1909 gründete er unter Max Reinhardt das Kabarett »Schall und Rauch« in Berlin. Ebenfalls 1909 wies er in der Zeitschrift »Zukunft« auf die junge, später »expressionistisch« genannte Literatengeneration hin. Beiträge K.’ erschienen ab 1910 in expressionist. Zeitschriften, 1912 in der Anthologie Flut (Heidelb.). K. zählte es zu den Aufgaben eines jungen Dichters, zu »demolieren«, »ruhestörenden Lärm zu verursachen« (Der junge Dichter. In: Neue Kunst, 1913). Seit 1913 war K. Dramaturg bei der Universum-Film AG (später Ufa), seit 1916 deren Direktor. In den 1920er Jahren war er Chefredakteur der »Lichtbildbühne«. In seinem bedeutendsten Werk Expressionismus und Film (Bln. 1926. Neudr. Zürich 1965. 2007: Nachdr. der Ausg. v. 1926, hg. u. mit einem Nachw. vers. v. Christian Kiening u. Ulrich Johannes Beil) zeigte K. Höhepunkte u. Grenzen der expressionist. Filmkunst auf, die einerseits die Ausdruckswelt des Films bereichert habe, indem sie im Naturobjekt nur geistig erlebbare Wirkungen darstellte, andererseits jedoch einem breiteren Publikum verschlossen bleiben musste. In den 1930er Jahren machte sich K. als Lustspielautor einen Namen. 1945–1953 war er erst Herausgeber, später auch Chefredakteur des von ihm gegründeten »Nacht-Express«.

rungen) studierte K. Geschichte, Literatur u. Pädagogik an den Universitäten von Göttingen, Prag, Nottingham u. Orange u. beendete sein Studium mit der Promotion. 1955–1976 war er als Lehrer, Lektor u. Dozent tätig u. bereiste alle Erdteile. Seit 1976 lebte er als freier Schriftsteller in Bovenden bei Göttingen. K. hat nach eigenen Angaben mit über 60 Buchveröffentlichungen (zumeist in Kleinverlagen) eine Gesamtauflage von mehr als zwei Mio. erreicht. K.’ erzählende Prosa gehört der Unterhaltungsliteratur an; in den Gedichten, meist in einfacher, dabei knapper u. präziser Sprache gehalten, nimmt er japanische Formen wie Haiku oder Tanka auf, so in ... zerriss ich Hemd mir und Rock ... (Gött. 1987). Weitere Werke: Der Christus v. Pilgramshof. Gießen 1952 (E.en). – Nikolaus Ludwig Zinzendorf. Gießen/Basel 1955 (Biogr.). – Das Abenteuer an der großen Mauer. Stgt. 1960 (Kinderbuch). – Hier u. anderswo. Ffm. 1968 (Reiseber.). – Das verborgene Kleinod. Chronik eines tapferen Lebens. Lahr 1970 (R.). – Land meiner Väter. Herzberg 1974 (Ess.s). – Sei getrost. Bovenden 1977 (L.). – Einsame Gräber. Darmst. 1977 (Kriminalr.). – Sagen aus dem südl. Niedersachsen. Gött. 1980. – Schlägel u. Eisen. Hannoversch Münden 1982 (Familienchronik). – Herausgeber: Das Buch der Tanka-Dichtung. Gött. 1990. Matías Martínez / Red.

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Kurz, Heinrich, * 28.4.1805 Paris, † 24.12. 1873 Aarau. – Sinologe, Germanist, Bibliothekar.

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Bde., Lpz. 81887–94) bekannt geworden. Daneben ist ihm eine Reihe krit. Textausgaben u. Sammlungen zu verdanken: Deutsche Bibliothek. Sammlung seltener Schriften der älteren deutschen Nationalliteratur (10 Bde., Lpz. 1862–67), Handbuch der poetischen Nationalliteratur der Deutschen (3 Abt.en, Zürich 1840–42. 3 1857–68) u. Handbuch der deutschen Prosa (3 Tle., Zürich 1845–53). Besondere Aufmerksamkeit schenkte er der alemann. Literatur. Daneben übersetzte er aus dem Italienischen u. Französischen, verfasste Sprachlehren u. lieferte Beiträge für eine Vielzahl von Zeitschriften.

K. stammte väterlicherseits aus einer bayerischen, mütterlicherseits aus einer frz. Familie. In Paris verwaist, besuchte er das Gymnasium in Hof u. studierte in Leipzig evang. Theologie u. anschließend in München Philologie. Nach der Promotion 1827 ging er nach Paris, wo er prominente Schüler wie Jules Michelet u. Saint Marc Girardin im Deutschen unterrichtete u. sich von dem Orientalisten Abel Remusat ins Chinesische einführen ließ. Von der Société Asiatique Weitere Werke: Kat. der Aargauischen Kanwurde er mit der später nicht realisierten tonsbibl. 4 Bde., Aarau 1857–68. – Leitfaden zur Neuausgabe des chines. Wörterbuchs von Gesch. der dt. Lit. Lpz. 1860. 51878. – Herausgeber: Basilio Brollo beauftragt. 1830 kehrte er als Dt. Nationallit. 35 Bde., Hildburghausen 1867–72. überzeugter Demokrat nach München zu- – J. R. Wyß: Schweizerischer Robinson. Zürich 1841 rück, wo er einen Lehrauftrag für ostasiat. (Prachtausg.). Sprachen erhielt, der ihm jedoch 1832 aus Literatur: Adolph Schumann: Schweizerische polit. Gründen wieder entzogen wurde. Als Schriftsteller 8. H. K. In: Neuer Anzeiger für BiHerausgeber des liberalen Tageblatts »Die bliogr. u. Bibliothekswiss. (1881), S. 371–378; Zeit« in Augsburg wurde K. zu zwei Jahren (1882), S. 8–14. – Ders.: K. In: Ersch/Gruber 2. – Haft wegen Majestätsbeleidigung verurteilt. Franz Lauerer: Die Entwicklung der Augsburger Presse 1806–48. Diss. Mchn. 1940, passim. – Her1834 emigrierte er in die Schweiz, wo er eine bert Franke: H. K. In: FS Erich Haenisch. Wiesb. Anstellung als Professor für dt. Sprache u. 1961, S. 58–71. – Gert Naundorf: K. In: NDB. – Literatur fand. 1839 als Ausländer u. Protes- Andreas Schumann: Heimaten. H. K. u. Seine retant entlassen, erhielt er eine ähnl. Stellung gionalen kulturgeschichtl. Schr.en. In: Lit. u. Rean der Kantonsschule zu Aarau, wo er von gionalität. Hg. Anselm Maler. Ffm. 1997, 1846 bis zu seinem Tod auch die Kantonsbi- S. 118–140. Hartmut Walravens / Red. bliothek betreute. 1866 zog er sich aus Gesundheitsgründen von der Lehrtätigkeit zuKurz (bis 1848: Kurtz), Hermann, * 30.11. rück. K. war der talentierteste junge dt. Sinologe 1813 Reutlingen, † 10.10.1873 Tübingen; seiner Zeit. Seine Veröffentlichungen im Grabstätte: ebd., Stadtfriedhof. – Erzäh»Ausland«, im »Morgenblatt für gebildete ler, Übersetzer, Lyriker, Literarhistoriker, Stände« u. im »Journal asiatique« beschäf- Herausgeber. tigten sich mit chines. Literatur, Geschichte, Im Anschluss an das Landexamen u. die Philosophie u. Buchkunde u. fanden die Bil- Maulbronner Klosterschule (1827–1831; Beligung eines so gefürchteten Kritikers wie kanntschaft mit Eduard Zeller u. David Heinrich Julius Klaproth. Sein umfang- Friedrich Strauß) nahm K. nach dem frühen reichster Beitrag, teils während der Haft Tod von Vater (1826) u. Mutter (1830) in entstanden, ist eine Übersetzung des Hua- Tübingen ein Theologiestudium auf (im Stift chien chi (Das Blumenblatt. St. Gallen 1836), Umgang mit Uhland u. Pfizer). Angeregt einer epischen Dichtung der Chinesen mit durch Literaturkollegs u. a. von Friedrich einer Novelle aus der Sammlung Hsing-shih Theodor Vischer, trat er mit ersten Übersetheng-yen im Anhang. Nach der Emigration hat zungen hervor (Ausgewählte Poesien Byrons, K. nicht mehr sinologisch gearbeitet. Scotts, Thomas Mores u. a. Reutl. 1832. Die Als Germanist ist K. durch seine Geschichte vorgebliche Tante. Nachgelassene Studentennovelle der deutschen Literatur (3 Bde., Lpz. 1859. 4 von Cervantes. Stgt. 1836). 1835 legte er das

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theolog. Examen ab u. ging für wenige Monate als Vikar zu seinem Onkel, Pfarrer Mohr, nach Ehningen (bei Böblingen). 1836 wechselte er nach Stuttgart (Beziehungen zu Mörike, Kerner, Lenau, Pfeiffer u. Schwab), wo er als freier (u. mittelloser) Schriftsteller (Dichtungen. Pforzheim 1839) u. Journalist (Mitarbeit u. a. bei »Europa« u. Cottas »Morgenblatt«) von Übersetzungen lebte (Ariosts Rasender Roland. 3 Bde., Stgt. 1840/41. Chateaubriands ausgewählte Werke. 7 Bde., Ulm 1844–46. Moores Das Paradies und die Peri. Stgt. 1844), die er in der Polemik Wenn es euch beliebt (Stgt./Cannstatt 1845) gegen Oskar Marbachs ablehnende Besprechung seiner Nachdichtung u. Vollendung von Gottfrieds Tristan und Isolde (Stgt. 1844. Bearb. v. Wolfgang Mohr. Göpp. 1979) verteidigte. Als Redakteur am »Deutschen Familienbuch zur Belehrung und Unterhaltung« in Karlsruhe (dort seit 1844), publizierte K. polit. Schriften im Geist des badischen Liberalismus (u. a. Die Fragen der Gegenwart und das freye Wort. Ulm 1845), die zum Bruch mit Mörike führten. In Stuttgart übernahm er im Febr. 1848 die Redaktion des demokrat. »Beobachters«. Nach zweimaliger Inhaftierung (1850/51) auf dem Hohenasperg (wegen Pressvergehens) heiratete er 1851 Maria von Brunnow (1826–1911), die wie die jüngste Tochter Isolde ebenfalls als Schriftstellerin hervortrat. 1856 zog sich K. aufs Land zurück (1858 Obereßlingen, 1863 Kirchheim/Teck). Seit 1859 mit Heyse befreundet, gaben sie gemeinsam umfangreiche Novellensammlungen heraus (Deutscher Novellenschatz. 18 Bde., Mchn. [1870–74]. Novellenschatz des Auslandes. 10 Bde., Mchn. [1872/ 73]). Ein Ehrensold der Schillerstiftung (1860) u. ab 1863 die Stelle eines Bibliothekars an der Universitätsbibliothek Tübingen sicherten seinen Lebensabend. 1865 wurde er Ehrendoktor der Universität Rostock, u. a. wegen seiner Identifizierung Grimmelshausens als Simplicissimus-Verfasser (in: »Der Spiegel«, Nr. 5 f., 1837). Ersten anonym veröffentlichten Epigrammen (Fausts Mantelfahrt. o. O. 1834) u. der Edition des Georg Rudolf Widmann’schen Faust-Volksbuchs von 1599 (Reutl. 1834) ließ K. Gedichte (Stgt. 1836) im Mörike-Ton folgen, die Silcher z.T. vertonte. Mit seinem »No-

Kurz

vellenstrauß« Genzianen (Stgt. 1837) trat er ein erstes Mal als Heimatdichter biedermeierl. Familiengeschichten hervor (u. a. Wie der Großvater die Großmutter nahm u. Die Glocke von Attendorn. Später umgearb. u. d. T. Eine reichsstädtische Glockengießerfamilie). Die histor. Romane Scotts u. Hauffs regten seinen urspr. Heinrich Roller oder Vor sechzig Jahren betitelten, dann als Schillers Heimathjahre (Stgt. 1843. 2 1847. Neuausg. Bln. 1972. Göpp. 1986) publizierten »Vaterländischen Roman« an, ein Meisterwerk individueller histor. Figurengestaltung. Als realist. Erzähler griff K. auch in seinen Dorfgeschichten (Erzählungen. Neue vermehrte Sammlung. 3 Bde., Stgt. 1858–61) auf lokale Stoffe zurück. Seine »schwäbische Volksgeschichte« Der Sonnenwirt (Ffm. 1855. Neuausg. mit einem Vorw. v. Peter Härtling. Kirchheim/Teck 1980. Bln. 1988) wurde, wie Schillers Verbrecher aus verlorener Ehre, durch den histor. Räuber Johann Friedrich Schwan angeregt, dessen Geschichte K. beinahe naturalistisch aus Prozessakten rekonstruierte. Der Weihnachtsfund (Ffm. 1856. Neuausg. Bln. 1979) u. Die beiden Tubus (in: Neun Bücher Denkund Glaubwürdigkeiten. Stgt. 1859. Neuausg. 1975) weisen K. auch als satir. Erzähler aus. Weitere Werke: Dtschld. u. seine Bundesverfassung. Augsb. 1848. – Lebensbilder aus dem klass. Alterthum (zus. mit Karl Ludwig Weisser). Stgt. 1864. – Zum Leben Gottfrieds v. Straßburg. In: Augsburger Allg. Ztg., Nr. 23–25 (1868). – Zu Shakespeare’s Leben u. Schaffen. Mchn. 1868. – Cervantes: Neun Zwischenspiele. Hildburghausen 1868 (Übers.). – Nachlese. Bln. 1869. – Ges. Werke. Hg. Paul Heyse. 10 Bde., Mchn. 1874. – Sämtl. Werke. Hg. Hermann Fischer. 12 Bde., Lpz. 1904. – Lisardo. Hg. Heinz Kindermann. Stgt. 1919 (R.). – E.en u. Schwänke. Hg. Dr. Owlglass. Mchn. 1925. – Innerhalb Etters. Hg. Isolde Kurz. Tüb. 1926 (E.). – Denk- u. Glaubwürdigkeiten. E.en, Umrisse u. Erinnerungen. Hg. Gerhard Fischer. Bln. 1973. – Die schönsten Erzählungen. Ausgew. v. Martin Kazmaier. Pfullingen 1981. – Vergessene Texte. Reutlingen 1991. – Briefe: Briefw. mit Eduard Mörike. Hg. Jacob Bächtold. Stgt. 1885. Neuausg. v. H. Kindermann. Stgt. 1919. – Werner Volke: 5 Briefe v. H. K. an Johann Gottfried Rau. In: JbDSG 23 (1979), S. 29–50. Literatur: Werkverzeichnis: Goedeke Forts. – Weitere Titel: H. K. u. Franz Pfeiffer. In: AfdA 26 (1900), S. 179–184. – Emil Sulber-Gebing: H. K.,

Kurz ein dt. Volksdichter. Bln. 1904. – Isolde Kurz: H. K. Ein Beitr. zu seiner Lebensgesch. Stgt. 1906. 31929 u. d. T. Das Leben meines Vaters. – Heinz Kindermann: H. K. u. die dt. Übersetzungskunst des 19. Jh. Stgt. 1918. – Ders.: H. K. als Literarhistoriker. In: FS Theodor Siebs. Hg. Walther Steller. Breslau 1933. – Wilhelm Kustermann: H. K. u. seine Novellen. Diss. Wien 1946. – Margot Schlinghoff: H. K. Werk u. Persönlichkeit. Diss. Marburg 1949. – Joachim G. Boeckh: H. K. als Grimmelshausenforscher. In: WB 7 (1961), S. 342–348. – Otto Borst: H. K. In: Lebensbilder aus Schwaben u. Franken. Bd. 8, Stgt. 1962, S. 212–254. – Bonaventura Tecchi: Svevi minori, H. K. In: Studi Germanici N. S. 4 (1966), S. 191–219, 324–355. – Monika Walkhoff: Der Briefw. zwischen Paul Heyse u. H. K. in den Jahren 1869–73. Diss. Mchn. 1967. – Renate v. Heydebrand: Zur Anordnung der Gedichtslg. Mörikes. Welchen Anteil daran hatte H. K. wirklich? In: JbDSG 17 (1973), S. 384–394. – Hartmut Eggert: H. K. ›Der Sonnenwirt‹ (1855). In: Romane u. E.en des bürgerl. Realismus. Hg. Horst Denkler. Stgt. 1980, S. 124–137. – Fritz Martini: K. In: NDB. – ›Ich bin zwischen die Zeiten gefallen‹. H. K. Schriftsteller des Realismus. Redakteur der Revolution. Übersetzer u. Literaturhistoriker. Ausstellungskat. Reutlingen 1988 (mit wichtigen Aufsätzen u. Werkverz.). – Joachim Linder: ›O diese schwäbische Gemütlichkeit‹. Bildung u. Erziehung, Verbrechen u. Strafe bei H. K. In: Sozialgesch. der dt. Lit. im 19. Jh. Hg. Monika Dimpfl u. Georg Jäger. Tl. 2, Tüb. 1990, S. 25–84. – Gert Ueding: ›Was ist das, was in uns hurt, lügt, stiehlt und mordet?‹ Der Erzähler H. K. In: Suevica 6 (1991), S. 393–357. – Jörg Jungmayr: H. K. u. Gottfried v. Straßburg. In: ›Von wyßheit würt der mensch geert...‹. Hg. Ingrid Kühn u. Gotthard Lerchner. Ffm. 1993, S. 291–320. – Hermann Weber: ›Der Sonnenwirt‹. Der klass. Roman eines klass. Kriminalfalls. In: Reale u. fiktive Kriminalfälle als Gegenstand der Lit. Bln. 2003, S. 53–62. Andreas Meier / Red.

Kurz, Isolde (Maria Klara), * 21.12.1853 Stuttgart, † 5.4.1944 Tübingen; Grabstätte: ebd., Stadtfriedhof. – Erzählerin, Essayistin, Lyrikerin, Autorin von Lebenserinnerungen u. Aphorismen. Maßgebliche Einflüsse für Leben u. Werk der einzigen Tochter von Hermann Kurz waren die recht unkonventionelle Mädchenerziehung, die von der schwäb. Umgebung ihres Elternhauses als provozierend empfunden wurde, u. die Kunst der ital. Renaissance. K.

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war schon früh in der Literatur der klass. Antike zu Hause, bekam von ihrer liberal denkenden Mutter (vgl. Meine Mutter. Tüb. 1926) auch sozialistisches Schrifttum zu lesen u. konnte aufgrund ihrer reichen Sprachkenntnisse als junge Frau mit Übersetzungen Geld verdienen. Ihre Gedichte (Frauenfeld) erschienen gesammelt 1880, im Jahr ihres Umzugs zu dem als Arzt praktizierenden Bruder Erwin nach Florenz, wo sie u. a. mit Hildebrand, Marées, Böcklin u. Burckhardt verkehrte, dessen »apollinische Renaissance« in K.’ Erzählwerk u. Essayistik prägende Spuren hinterließ. Entgegen dem Goethewort (im Tasso) beschwor die von Zeitgenossen als »Priesterin der reinen Kunst« Apostrophierte ein Goldenes Zeitalter in der nahen Zukunft (Florentinische Erzählungen. Mchn. 1910), welches, trotz der Bedrohung durch die zerstörerischen Kräfte der dionys. Renaissance, eine Zuflucht vor der »unschönen Gegenwart« biete. K. stellte sich nicht zuletzt aus ideologiekrit. Motiven gegen Naturalismus u. Expressionismus. Ihr Stilkonservatismus bei ausgesprochener Formenvielfalt u. apolitischer »idealer« Weltsicht (vgl. Italienische Erzählungen. Stgt. 1895. Die Stadt des Lebens. Schilderungen aus der florentinischen Renaissance. Stgt. 1902) ist als eine durchaus repräsentative Literaturströmung um die Jahrhundertwende neben Moderne u. Heimatkunst anzusehen (Grunwald). Was als Flucht vor der zeitgenöss. Realität erscheinen mag, wurde vom bürgerl. Lesepublikum, das ihr bis Mitte des 20. Jh. treu blieb, als echte Alternative zur sozialen u. polit. Akzentuierung der modernen Literatur hochgehalten. Neben Aphorismen (Im Zeichen des Steinbocks. Mchn. 1905) u. der Versdichtung Die Kinder der Lilith (Stgt. 1890) schrieb sie Phantasien und Märchen (Stgt. 1908) sowie Legenden (Stgt. 1920. U. d. T. Die Gnadeninsel. Heilbr. 1921). Im Weltkrieg trug ihr der weit verbreitete (bis in die Schulbücher) Lyrikband Schwert aus der Scheide (Heilbr. 1916) den Ehrentitel »Deutsche Mutter« ein. Noch in ihrem letzten Erinnerungsband Meine Pilgerfahrt nach dem Unerreichlichen (Tüb. 1938) sprach K. von »dem unausrottbaren Irrtum von deutscher Kriegsschuld, an die sogar die Deutschen selber glauben«. Das schon im Titel ihres

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Erfolgsromans Vanadis. Der Lebensweg einer deutschen Frau (Tüb. 1931) betonte Deutschtum brachte K., die 1933 eine Loyalitätserklärung an Hitler unterschrieben hatte, großen Erfolg. Das stark autobiogr. Werk suggeriert ein viel ambivalenteres Verhältnis zum Vater als in ihrer Biografie Heinrich Kurz (Mchn. 1906) erkennbar. K. lebte nach dem Tod der Mutter (1911) u. Reisen in Griechenland mit dem langjährigen Freund Ernst von Mohl (Wandertage in Hellas. Mchn. 1913) in München, ab 1943 in Tübingen, wo sie 1913 zum Ehrendoktor der Universität ernannt worden war. Zahlreiche weitere Ehrungen wurden ihr zuteil – u. a. die Goethe-Medaille für Kunst und Wissenschaft 1943, die Ehrenmitgliedschaft des Marbacher Schiller-Vereins u. der Deutschen Akademie in Florenz. 1918 war der Erinnerungsband In meinem Jugendland in Stuttgart erschienen. Literatur: Theodor Heuss: I. K. In: Das literar. Echo 21 (1918), S. 70–76. – Rudolf Unger: Traumland u. Dichtung bei I. K. In: FS Julius Petersen. Hg. Herbert Cysarz. Lpz. 1938, S. 194–218. – Christiane Grunwald: Wiedergeburt des goldenen Zeitalters. Die Renaissancethematik im erzähler. Werk der I. K. Magisterarbeit Aachen 1983 (mit Bibliogr.). – Gabriele Rahaman: The Problem of Female Identity in the Work of I. K. and Gabriele Reuter. In: Women Writers 2. Hg. Margret Ives. Lancaster 1989, S. 65–106. – Charlotte Nittke: I. K. u. ihre Verleger. Ffm. 1990. – Marion Ónodi: I. K. Ffm. 1989. – Rainer Hillenbrand: I. K. als Erzählerin. Ffm. 2000. – Sandra L. Singer: I. K. In: Lexikon deutschsprachiger Epik u. Dramatik v. Autorinnen (1730–1900). Hg. Gudrun Loster-Schneider u. Gaby Pailer. Tüb. u. a. 2006, S. 248–251 (mit Bibliogr.). Eda Sagarra

Kurz, Joseph Felix Frhr. von, auch: Bernardon, * 22.3.1717 Wien, † 2.2.1784 Wien. – Schauspieler, Theaterdirektor, Dramatiker. Der Sohn fahrender Komödianten trat schon früh in Kinderrollen auf. 1737 engagierte ihn Gottfried Prehauser an das Wiener Kärntnertortheater, wo K. eine kom. Figur erfand, nach der er bald genannt wurde, den »Bernardon«, einen ungezogenen, dumm-listigen Buben. 1741 ging K. nach Frankfurt/M., dann nach Dresden u. 1744 wieder nach

Kurz

Wien. 1752 wurden K.’ Erfolge durch das Verbot des extemporierten Theaters bedroht; mit der schriftl. Festlegung der Possen ging die Wirkung verloren. Nach einem Aufenthalt in Prag war K. wieder in Wien tätig, Reisen führten ihn nach Venedig u. Süddeutschland; 1772–1782 lebte er in Warschau u. kehrte dann nach Wien zurück. K.’ derbe Komödien zeigen den Triumph der Technik über die Schwächen der Menschen. Mit dem Maschinenzauber werden Vision, Illusion u. das Wunderbare vorgeführt, Ballett u. Pantomime unterstützen die Handlung, der Hanswurst wird zur frei verfügbaren Marionettenfigur, Bernardon ist allmächtig, Herr über den Tod. Vorlagen waren die Commedia dell’arte, das Jesuitendrama u. die Prunkoper. Fünf Komödientypen lassen sich bei K. nachweisen: die ital. Posse, z.B. Die drey und dreyssig Schelmereyen des Bernardon (Wien 1755), ein Verkleidungs- u. Requisitenspiel, in dem kannibal. Wildheit u. Betrug im Mittelpunkt stehen; die Bernardoniade, z.B. Der aufs neue belebte und begeisterte Bernardon (Wien 1754), eine barocke Zauberburleske u. Maschinenkomödie, in der Bernardon zum Spielball fremdartiger metaphys. Gewalten wird; die Parodie, z.B. Bernardon die getreue Prinzeßin Pumphia (Wien 1756), worin Pathetik u. Tragik der Haupt- u. Staatsaktion ins Lächerliche gesteigert sind; das Singspiel, z.B. Der neue krumme Teufel (o. O. 1758), eine kom. Oper mit den beliebten Motiven der Leidenschaft, des Exotischen u. der Geisterwelt; das Lustspiel, z.B. Die Insel der gesunden Vernunft (Wien 1770) mit einem Handlungsschema nach frz. Muster, Einarbeitung der beliebten Figuren der Stegreifkomödie u. sprachlich gefeilt. Mit K. ist der Höhepunkt des Stegreiftheaters erreicht. Weitere Werke: Lustspiele: Der sich wider seinen Willentaub u. stumm stellende Liebhaber. Wien 1755. – Hanns Wurst. Wien 1761. – Die Hofmeisterin. Wien 1764. – Bernardon oder Der ohne Holz verbrannte Zauberer. Wien 1771. – La serva Padrona, die Dienerin einer Frau. Wien 1771. – Asmodeus oder der krumme Teufel. Wien 1771. – Die Macht der Elemente. Wien 1772. Literatur: Ferdinand Raab: Johann J. F. v. K. gen. Bernardon. Ffm. 1899. – Anna Hilda Matner: Überprüfung der Materialien zur Biogr. des J. F. v.

Kurzeck K. Diss. Wien 1937. – Leopold Pokorny: Die Sprache Johann J. F. v. K.’, in seinen ›Teutschen Arien‹. Diss. Wien 1964. – Ulf Birbaumer: Das Werk des J. F. v. K.-Bernardon u. seine szen. Realisierung. Wien 1971. – Reinhard Urbach: Die Wiener Kom. u. ihr Publikum. Wien/Mchn. 1973. – Wendelin SchmidtDengler: Lessings ›Der junge Gelehrte‹ u. K.-Bernardons ›Prinzessin Pumphia‹. Versuch einer kontrastiven Lektüre. In: Lessing Yearbook 30 (1998), S. 21–29. – Josef Wolfgang Rademaker: Johann J. F. v. K., gen. Bernardon – Reisender der Hölle. Diss. Mainz 1999. – Beatrice Müller-Kampel: Verboten, vertrieben, vergessen.Das totale Theater des J. F. v. K. am Beispiel der Bernardoniade ›Die fünf kleinen Luft-Geister‹. In: Lit. im Zeugenstand (2002), S. 453–496. – Friedemann Kreuder: ›Fiameta in der Masquera‹. Das Komische in ›Der neue Krumme Teufel‹ (1758) v. J. F. v. K. zwischen Affirmation u. Subversion. In: Maske u. Kothurn 51 (2006), S. 142–149. Cornelia Fritsch / Red.

Kurzeck, Peter, * 10.6.1943 Tachau/Sudetenland. – Prosaautor. K. nobilitiert ein ganz u. gar verrufenes literar. Genre: die Heimatliteratur. In seinen Büchern rekonstruiert er seit seinem Debüt Der Nußbaum gegenüber vom Laden, in dem du dein Brot kaufst (Ffm. 1979) das Leben – v. a. sein Leben – in der südhess. Provinz u. in Frankfurt am Main u. beschreibt dabei eine vergangene oder vom Untergang bedrohte Landschaft ohne den leisesten Hauch von Kitsch oder Tümelei. Charakteristisch ist K.s eigenwillige, bei der ersten Annäherung zunächst oft irritierende sprachl. Verknappung, am auffälligsten sein häufiger Verzicht auf Verben. Doch die Irritation weicht schnell angesichts des Vermögens zur Imagination einer Lebenswelt, die unendlich reich erscheint, obwohl K.s Bücher vergleichsweise handlungsarm sind. Mit seinem Roman Übers Eis (Ffm. 1997) mündete seine zuweilen mit Werken von Joyce, Proust u. Döblin verglichene »Recherche du temps perdu« in eine mehrbändige autobiogr. Rekonstruktion eines einzigen Jahres in seinem Leben, die mit Oktober und wer wir selbst sind (Ffm. 2007) ihren Abschluss noch nicht gefunden hat. Weitere Werke: Das schwarze Buch. Ffm. 1982 (R.). – Kein Frühling. Ffm. 1987. Erw. Neuaufl. Ffm. 2007 (R.). – Keiner stirbt. Ffm. 1990 (R.). – Mein Bahnhofsviertel. Ffm. 1991. – Vor den

148 Abendnachrichten. Heidelb. 1996. – Als Gast. Ffm. 2003 (R.). – Ein Kirschkern im März. Ffm. 2004 (R.). Literatur: ›Zwangsvorstellung: Daß ich nichts vergessen darf!‹ Interview. In: Autorengespräche. Verwandlung der Wirklichkeit. Hg. Mechthild Curtius. Ffm. 1991, S. 155–168. – Sabine Sistig: Wandel der Ich-Identität in der Postmoderne? Zeit u. Erzählen in Wolfgang Hilbigs ›Ich‹ u. P. K.s ›Keiner stirbt‹. Würzb. 2003. – Jörg Magenau: K. In: LGL. – Ders.: K. In: KLG. – Andreas Maier: Der Zauberer v. Frankfurt. In: Volltext. Ztg. für Lit. Nr. 6 (2004), S. 8 f. Gunther Nickel

Kurzmann, Andreas, * um 1365 wohl in der Steiermark, † zwischen 1407 u. 1431 wohl Neuberg/Mürz (Steiermark). – Vorsänger, Schreiber u. Dichter. K. war seit 1389/91 Mönch im Zisterzienserkloster Neuberg/Mürz, wo er zuletzt 1407 nachgewiesen ist u. 1428/31 als verstorben gemeldet wird. Er verfasste fünf nur je einmal in Abschriften des 15. Jh. überlieferte dt. Reimpaardichtungen, deren Entstehungsdaten ungewiss bleiben. Eine von Schönbach vorgeschlagene Werkabfolge nach dem Nachlassen der zweisilbig weibl. Kadenzen gegenüber den einsilbig männlichen kann nicht überzeugen. Von K.s fünf Werken gehören Amicus und Amelius (1165 Verse) u. St. Alban (923 Verse) der bereits durch ihren Inhalt beispielhaft wirkenden Legende an. Während Amicus die sog. Freundschaftssage mit treuer Bewährung gegenüber Verleumdung u. Aussatz behandelt, zeigt die Inzestlegende St. Alban Gottes Erbarmen gegenüber dem großen, reuigen Sünder. Von den drei geistl. Dichtungen lehrt De quodam moriente (91 Verse) die Rettung der Seele des sterbenden Sünders durch die Fürsprache Mariens u. Jesu bei Gott Vater. Das Soliloquium Mariae cum Jesu (427 Verse) ist ein Dialog über das Erlösungswerk. Das Speculum humanae salvationis (8942 Verse) folgt der erweiterten lat. Vorlage u. behandelt typologisch das Heilsgeschehen. K. arbeitete das urspr. als Biblia picta harmon. Text- u. Bildwerk von je viermal 25 Versen unter Weglassung der Reflexionen zu einer Erzählung mit ungleichen Abschnitten zwischen acht u. 182 Versen, getrennt durch bildersetzende lat. Überschriften, um.

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Kusche

K.s literar. Schaffen in der Muttersprache Verstorbenen als spätmittelalterl. Text- u. Bildwerk steht im Dienst der kirchl. Laienkatechese u. in lat., dt. u. engl. Sprache. In: ›Ir sult sprechen zielt auf religiöse Erbauung u. Belehrung, willekomen‹. Grenzenlose Mediävistik. Hg. Christa auch Unterhaltung innerhalb u. außerhalb Tuczay, Ulrike Hirhager u. Karina Lichtblau. Bern 1998, S. 211–244. – Fritz Peter Knapp: ›legenda aut des Klosters. Obwohl »inventio« als stofflichnon legenda‹. Erzählstrukturen u. Legitimationsfiktionale Erfindungsgabe nicht erstrebt wird strategien in ›falschen‹ Legenden des MA: Judas, u. K. eng seinen lat. Vorlagen folgt, versucht Gregorius, Albanus. In: GRM 53 (2003), er sowohl durch realistisch-veranschauli- S. 133–154; S. 152. Wieder in: Ders.: Historie u. chende Ausgestaltung der Handlung als auch Fiktion in der mittelalterl. Gattungspoetik. Bd. 2, durch moralisch-eth. Zeitkritik die Darstel- Heidelb. 2005, S. 101–129. Peter Wiesinger / Red. lung zu beleben, ohne von religiösen Zielen abzulenken. Trotz strengem Knittelvers mit Kusche, Lothar, auch: Felix Mantel, * 2.5. regelmäßigem Hebungs- u. Senkungswechsel 1929 Berlin. – Satiriker, Feuilletonist, ist K.s bairisch-österr. Verssprache an der ge- Erzähler, Drehbuchautor. sprochenen Alltagssprache orientiert u. ungelenk im Ausdruck, durchsetzt mit Flick- Aus einem bürgerl. Elternhaus stammend, wörtern u. -versen sowie eintönigen Reim- bekannte sich K. frühzeitig zum Sozialismus. wiederholungen. Obwohl die Reimpaardich- Er begann seine publizist. Laufbahn 1947 als tung in Österreich bis ins SpätMA eine Redaktionsvolontär, arbeitete danach als Reschwache Tradition besitzt, scheint auch das dakteur bei verschiedenen satir. Zeitschriften religiöse Laienspiel formale Anregungen ge- u. war seit 1950 ständiger Mitarbeiter der geben zu haben. Die schlichte, auf weite »Weltbühne«. Der in Berlin lebende K. galt als einer der Strecken wenig problembewusste, bloß handlungsorientierte Erzählweise eines bemerkenswertesten jungen Feuilletonisten frommen Mönchs u. die unzeitgemäße der DDR; er wollte von seinem parteil. volkstümlich-ungelenke Verssprache standen Standpunkt aus für den Aufbau des Sozialiseiner Wirkung u. Verbreitung von K.s Wer- mus wirken. Seine Feuilletons, Skizzen u. Glossen setzten sich daher scharf mit sog. ken entgegen. Relikten kleinbürgerlich-spießerhaften DenAusgaben: Josef Ampferer: Über den Mönch v. kens auseinander, die als fortschrittsfeindlich Salzburg. Salzb. 1864 (›De quodam moriente‹). – attackiert wurden. K. sah sich mit seiner kriAnton E. Schönbach: Über die Marienklagen. Graz 1874 (›Soliloquium‹). – Karin Morvay: Die Alba- tisch-satir. Schreibweise in der Tradition Tunuslegende. Mchn. 1977. – A. K.s dt. geistl. Dich- cholskys u. bevorzugte wie dieser die kleine tungen. Hg. Peter Wiesinger u. Edeltraud Weis- Form. Seine Feuilletons, Streiflichter u. Reportagen erschienen in einer Reihe von senböck. Tüb. 1991. Literatur: Anton E. Schönbach: Über A. K. Sammlungen (z.B. Drucksachen: Geschichten, Wien 1878 (Sitzungsber.e der Akademie der Wis- Feuilletons und Satiren aus zwei Jahrzehnten. s.en, philosoph.-histor. Klasse 88, S. 807–874). – Bln./DDR, 1976). Mehrere seiner Bücher Karin Morvay: K. In: VL. – Peter Wiesinger: Einige entstanden in Zusammenarbeit mit der IlBemerkungen zu A. K.s Reimübers. des ›Speculum lustratorin Elizabeth Shaw. humanae salvationis‹. In: Die mittelalterl. Lit. in Mit seiner damaligen Frau, der Schriftstelder Steiermark. Hg. Alfred Ebenbauer u. a. Bern lerin Renate Holland-Moritz, veröffentlichte 1988, S. 299–315. – Ders.: Schreibung u. Ausspra- K. Sammlungen kurzer erzählender Texte che im älteren Frühneuhochdeutschen. Zum Ver(David macht, was er will. Bln./DDR 1965. Guten hältnis v. Graphem – Phonem – Phon am bairischMorgen, Fröhlichkeit [...]. Bln./DDR 1967. Ein österr. Beispiel v. A. K. um 1400. Bln. 1996. – Ders.: Vogel wie Du und ich [...]. Bln./DDR 1971). Episches Erzählen im ›Speculum humanae salvaAußerdem verfasste er humorist. Reisebetionis‹ des steir. Dichtermönchs A. K. um 1400. In: ›Durch aubenteuer muess man wagen vil‹. FS An- schreibungen (z.B. Quer durch England in anton Schwob. Hg- Wernfried Hofmeister u. Bernd derthalb Stunden. Bln./DDR 1961), KabarettSteinbauer. Innsbr. 1997, S. 523–538. – Ders.: ›De texte u. Drehbücher für Kurz- u. Dokumenquodam moriente‹. Der Streit um die Seele eines tarfilme.

Kusenberg

In seinen nach 1990 entstandenen Werken setzt sich K. satirisch mit den Problemen des Wiedervereinigungsprozesses auseinander (Ost-Salat mit West-Dressing. Bln. 1993/97) u. veröffentlichte mehrere autobiogr. Texte (Aus dem Leben eines Scheintoten. Bln. 1997), in denen er die Kontinuität seines Schaffens vor u. nach der Wende betont. 1960 wurde K. mit dem Heinrich-Heine- u. 2007 mit dem Kurt-Tucholsky-Preis ausgezeichnet. Weitere Werke (Erscheinungsort jeweils Bln./ DDR bzw. Bln.): Immer wieder dieses Theater. 1962. – Unromant. Märchenbuch. 1962. – Eine Nacht mit sieben Frauen. 1963. – Wie man einen Haushalt aushält. 1969. – Die Patientenfibel. 1971. – Die fliegenden Elefanten. 1977. – Knoten im Taschentuch. 1980. – Donald Duck siehe unter Greta Garbo. 1981. – Der Mann auf dem Kleiderschrank. 1985. – Nasen, die man nicht vergißt. 1987. – Der Opa hat’n Schwein verschluckt. 1989. – J. Stalin, Herr König u. ich. 1991. – Die wiedervereinigten Kartoffelpuffer. 1995. – Was hat Napoleon auf St. Helena gemacht? 2000. – Wo die Rosinenbäume wachsen. 2004. Literatur: L. Crentz: Die Wahrheit über Felix Mantel. In: Liebes- u. andere Erklärungen. Hg. Annie Voigtländer. Bln./Weimar 1972. – Frank Thomas Grub: ›Wende‹ u. ›Einheit‹ im Spiegel der deutschsprachigen Lit. Bln./New York 2003. Wolfgang Weismantel / Stefan Schwarz

Kusenberg, Kurt, auch: Hans Ohl, Simplex, * 24.6.1904 Göteborg/Schweden, † 3.10.1983 Hamburg. – Erzähler, Verfasser von Hör- u. Singspielen, Kunstkritiker. K.s früheste Jugend stand unter dem prägenden Eindruck häufiger Ortswechsel. Ab 1906 lebte die Familie in Lissabon, ab 1914 in Wiesbaden u. ab 1917 in Bühl/Baden. Er studierte Kunstgeschichte in München, Berlin u. Freiburg/Br. (Promotion über Giovanni Battista Rosso, 1928). Einer urspr. geplanten Malerlaufbahn sollten umfangreiche Studienreisen v. a. durch Italien u. Frankreich zur Vorbereitung dienen. 1930 wurde er Kunstkritiker bei der »Vossischen Zeitung« u. der »Weltkunst«, 1930 stellvertretender Chefredakteur der Zeitschrift »Koralle«. So war er als kunstwiss. Essayist u. als Herausgeber ei-

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ner Anzahl von Bildbänden (u. a. Picasso, Thurber, Eiffel, Giles, Addams) bereits bekannt, als eine erste Sammlung »Magischer Bagatellen« u. d. T. La Botella (Stgt. 1940) erschien. Es folgten Der Blaue Traum und andere sonderbare Geschichten (Stgt. 1942) sowie, nach Kriegsteilnahme u. Gefangenschaft (1943 bis 1947), Die Sonnenblumen und andere merkwürdige Geschichten, Wein auf Lebenszeit und andere kuriose Geschichten u. Im falschen Zug und andere wunderliche Geschichten (Reinb. 1951, 1955 bzw. 1960). 1958 zog K. als freier Schriftsteller von München nach Hamburg, wo er im selben Jahr Herausgeber von »rowohlts monographien« wurde. K.s Geschichten sind gleich weit entfernt von Belehrungsgebärde u. zweckfreier Artistik. Seine häufig nur in nuce ausgeführten Sujets scheinen das Absurde, Außernatürliche oft als dekorativen Aufputz einer Welt zu handhaben, deren »trauriger Unsinn« ansonsten zu wenig Unterhaltungswert böte. Mitunter dient auch die um die Dimension des Märchenhaften erweiterte Erzählperspektive dazu, die Einsicht zu vermitteln, wie fragil u. zufällig die menschl. Existenz ist, wie lächerlich das spießbürgerl. Beharren auf ihrer vermeintl. Ordnung (z.B. Der große Wind. 1948. Wer ist man? 1949. In: Mal was anderes. Reinb. 1972). Weitere Werke: Ein schönes Hochzeitsfest. 1960 (D.). – Hörspiele: Das Gastmahl des Petronius. 1952. – Er kommt weit her. 1960. – Der Hund, der Herr Bozzi hieß. 1960. – Der Traum des Sultans. 1963. – Gespräche ins Blaue. Ebenhausen 1969. Neuausg. 1991. – Gesch.n – nicht nur für Kinder erzählt v. Siegfried Lenz, Wolfdietrich Schnurre u. K. K. Stgt. 1993. – Zwist unter Zauberern. Reinb. 1998 (E.en). – Wein auf Lebenszeit. Die schönsten Gesch.n. Hg. Barbara Kusenberg. Reinb. 2004. – Glück für andere. Phantast. Hg. u. mit einem Nachw. v. Matthias Wegner. Rheda-Wiedenbrück/ Gütersloh 2007 (E.en). Literatur: Martin Gregor-Dellin: Umgang mit Nonsense. In: Merkur 19 (1965). – Jean Elizabeth Pearson: The fantastic Short Stories of K. Diss. Cornell University 1980. – Christian Schwinger: K. K. Ontolog. Aspekte im literar. Werk. Würzb. 1992. – J. E. Pearson: K. K. Humorist of the Fantastic. New York u. a. 1992. Friedhelm Sikora / Red.

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Kussmaul, Adolf, auch: Dr. Oribasius, * 22.2.1822 Graben bei Karlsruhe, † 28.5. 1902 Heidelberg; Grabstätte: ebd., Bergfriedhof. – Lyriker, Autobiograf; Arzt.

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mit Recht K. zugeschrieben (Williams), dessen gesamte Lebensleistung in jüngerer Zeit umfassend gewürdigt wurde (Kluge). Weitere Werke (außer den medizin. Schriften): Poet. Jugendsünden v. Dr. Oribasius. Heidelb. 1893 (L.). – Aus meiner Dozentenzeit in Heidelberg. Hg. Vinzenz Czerny. Stgt. 1903.

Der Sohn eines Arztes studierte 1840–1845 Medizin in Heidelberg, wo er sich im Vorfeld der badischen Revolution politisch zurückAusgabe: Ludwig Eichrodt: Biedermaiers Liehaltend artikulierte. Nach Assistenzzeit u. derlust. Lyr. Karikaturen. Nachw. v. Werner KohlStudienreise (Wien u. Prag 1847/48) war K. als schmidt. Stgt. 1981, S. 67–152. Militär-, dann als Landarzt im Schwarzwald Literatur: Albert Kennel: Ludwig Eichrodt. Ein tätig. Auf Promotion u. Habilitation folgte Dichterleben. Lahr 1895, S. 75–83. – Charles A. 1857 die Ernennung zum a. o. Prof. in Hei- Williams: Notes on the Origin and History of the delberg, 1859 die Berufung zum o. Prof. für Earlier ›Biedermaier‹. In: JEGPh 57 (1958), Arzneimittellehre u. Staatsarzneikunde nach S. 403–415. – Helmut Wyklicky: K. In: NDB. – Erlangen; später lehrte er in Freiburg/Br. Friedrich Sengle: Biedermeierzeit. Bd. 1, Stgt. (1863–1876) u. Straßburg (1876–1888), nach 1971, S. 121–123. – Heide Schwabe: A. K. u. die Entstehung der Epochenbezeichnung ›Biedermeider Emeritierung lebte er wieder in Heideler‹. Diss. Köln 1974. – Friedrich Kluge: A. K. berg. K. sind wichtige Forschungsleistungen 1822–1902. Arzt u. Forscher – Lehrer der Heil(u. a. zur Ophthalmologie, Neurologie u. In- kunst. Freib. i. Br. 2002. neren Medizin; Einführung der MagenpumHelmut Blazek / Robert Seidel pe) zu verdanken. K.s poet. Tätigkeit ist auf die Jahre vor der Übernahme seiner Professur beschränkt. In Kusz, Fitzgerald, eigentl.: Rüdiger K., den Jugenderinnerungen eines alten Arztes (Stgt. * 17.11.1944 Nürnberg. – Lyriker, Dra1899. Mchn. 201966), deren Bedeutung als matiker, Verfasser von Prosa, Hörspielen kultur- u. sozialhistorische Quelle nicht allzu u. Filmdrehbüchern. hoch anzusetzen ist, beschreibt K., wie er K., Sohn eines Opernsängers aus Berlin u. 1853 auf Die sämmtlichen Gedichte des alten einer fränk. Hausfrau, wuchs in Fürth auf. Dorfschulmeisters Samuel Friedrich Sauter (Karlsr. Nach dem Studium der Anglistik u. Germa1845) stieß, deren unfreiwillige Komik ihn nistik in Erlangen arbeitete er zehn Jahre als zur Erfindung der Dichterfigur »Biedermai- Lehrer, davon eine kurze Zeit lang in Enger« anregte, in der sich die zeittyp. »Bieder- land; seit 1982 lebt er als freier Schriftsteller keit« ironisch gebrochen manifestieren sollte. in Nürnberg. K. erhielt zahlreiche AuszeichGemeinsam mit Ludwig Eichrodt konzipierte nungen, darunter den Hans-Sachs-Preis der er eine Lyriksammlung, die neben originalen städtischen Bühnen Nürnberg (1975), den oder abgewandelten Texten Sauters v. a. par- Wolfram-von-Eschenbach-Preis (1983) u. den odistische u. satir. Gedichte der beiden Friedrich-Baur-Preis für Literatur (1998). Freunde enthielt. Letztere, zu deren fiktiven K.’ aktive Beteiligung an der 68er-BeweVerfassern neben Biedermaier noch der gung fand ihren Niederschlag in einer Reihe Buchbinder Horatius Treuherz u. der Prä- von Texten, in denen er neben Montagen u. zeptor Schwartenmaier zählen, wurden zu- Collagen auf Hochdeutsch bereits die Mundnächt zwischen 1855 u. 1857 in den »Flie- art verwendete, die für sein weiteres Werk genden Blättern« veröffentlicht u. später un- bestimmend werden sollte (Wunschkonzert. ter der Rubrik »Das Buch Biedermaier« von Gersthofen 1971). Angeregt von den Arbeiten Eichrodt in seine Gedichtsammlung Lyrische der Wiener Gruppe, verfasste K. in den ersten Karrikaturen (Lahr 1869) integriert. Von diesen Jahren v. a. Gedichte im »landnürnberger Texten bzw. ihrem fiktiven Verfasser leitet Dialekt«, die sich von der herkömml. Mundsich der Epochenbegriff »Biedermeier« her. artdichtung gerade dieser Region abheben, Die Wortbildung »Biedermaier« wie auch indem sie, sozialkritisch u. auf Bewusstdas poet. Gesamtkonzept hat die Forschung seinsveränderung zielend sowie aktuelle ge-

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sellschaftl. Entwicklungen genau beobach- ä lebkoung mechädi ned saa‹. F. K. u. die Neue dt. tend, das vertraute Idiom als Mittel der Ent- Mundartdichtung. In: Germanist. Mitt.en 58 larvung einsetzen. K. bemüht sich dabei stets (2003), S. 19–47. – Ders.: Betrachtungen über F. K. um eine möglichst exakte phonet. Schrei- Mund-Art als sprachl. ›Restrisiko‹. In: Dialekt – Lit. Beiträge zum 2. dialektolog. Symposium in Kirchbung, um das Lautmalerisch-Musikalische dorf im Wald, April 2005. Hg. Ulrich Kanz. Reder gesprochenen Sprache u. die ganze gensb. 2007, S. 191–211. Karin Rother / Red. Bandbreite ihrer Ausdrucksmöglichkeiten »einzufangen« u. zu bewahren. Immer wieder experimentiert er mit Klein- u. KleinstKutsch, Axel, * 16.5.1945 Bad Salzungen/ formen des Gedichts, mit Haiku u. EpiThüringen. – Lyriker u. Herausgeber von gramm. Lyrikanthologien. Neben Martin Sperr u. Franz Xaver Kroetz gilt K. als einer der Initiatoren des »moder- K. wuchs in Stolberg/Rhld. u. Aachen auf. nen Volksstücks«. Seinen größten Erfolg er- Nach Schulabschluss u. Volontariat (bei den zielte er mit der Uraufführung des – später in »Aachener Nachrichten«) arbeitete er von über zehn weitere dt. Mundarten u. andere 1971 bis 1999 als Redakteur für verschiedene Sprachen übertragenen – Stücks Schweig, Bub! Tageszeitungen im Rheinland, zuletzt viele (Nürnb. 1976), das in fünf Akten die verbale Jahre für den »Kölner Stadt-Anzeiger«. InEskalation eines kleinbürgerl. Familienfestes zwischen liegen elf Gedichtbände vor, von vorführt. Durch Alkoholgenuss zunehmend denen bes. Beachtung v. a. Wortbruch (Weienthemmt, offenbaren die Familienmitglie- lerswist 1999) u. Ikarus fährt Omnibus (Weider zuvor versteckte Vorbehalte u. Aggres- lerswist 2005) finden, aus denen Gedichte für sionen; die Hauptperson, der Konfirmand, Der Große Conrady. Das Buch deutscher Gedichte. wird von den Erwachsenen nach u. nach Von den Anfängen bis zur Gegenwart (Düsseld. »mundtot gemacht« (Kusz). K. beruft sich für 2008) u. andere repräsentative Anthologien seine Dramatik auf Ödön von Horváth; wie ausgewählt sowie ins Englische u. Französidiesem gelingt es auch K. in zahlreichen sche übertragen wurden. Die freimetrische u. Texten, die »Essenz« in der »Mikrostruktur« reimlose Lyrik der ersten Gedichtbände aus sichtbar zu machen. Weniger überzeugend den 1970er u. 1980er Jahren ist noch von eisind dagegen die beiden anderen Stücke der nem zeit- u. gesellschaftskrit. Ton geprägt. »Fränkischen Trilogie«, Derhamm is derhamm Während der 1990er Jahre werden die Ge(Ffm. 1982) u. Unkraut (Urauff. Esslingen dichte zunehmend spielerischer, ironischer, 1983), sowie die Erzählungen Derzähl mer nix unernster u. profilieren K. als Meister des (Mchn. 1983), in denen eine differenzierte, zustechenden Verses, der im Gewand geglaubhafte Personen- u. Milieudarstellung schmeidiger Harmlosigkeit immer wieder nur ansatzweise gelingt. Das Musikalische ätzende Wirkung auslöst. Kritische Spurender Mundart aufgreifend, hat K. in späteren elemente ohne moral. Didaxe gehen auf Stücken oftmals mit der Einbindung musi- subtile Art im Amalgam des liedhaft gekalischer Elemente gearbeitet, z.B. in seinem reimten, zumeist kurzen, oft in Strophen mit »Volksstück mit Gesang« Let it be (1993). Den vier Versen abgeteilten Gedichts auf u. rufen emotionalen Widersprüchen u. Dissonanzen so einen stärkeren Effekt beim Leser hervor zwischen den Eheleuten, die sich auseinan- als die politisch engagierten frühen Gedichte dergelebt haben, entsprechen auf der musi- mit ihrer klaren Botschaft. In Wortbruch u. Ikarus fährt Omnibus mündet das leichtfüßig kal. Ebene stilist. Brüche (Blues vs. Rap). Weitere Werke: Stücke aus dem halben Leben. rhythmisierte, klangvolle Gedicht immer Ffm. 1987. – irrhain. neue gedichte. Mchn. 1987. – wieder in funkensprühende, ironisch gebroDer fränk. Jedermann. Nach Hugo v. Hofmanns- chene u. Heiterkeit auslösende Metalyrik. K. thal. Mit einem Nachw. v. Klaus Kusenberg. Ca- provoziert in den Versen u. Strophen die dolzburg 2001. – Muggn. Cadolzburg 2007 (G.e). Konfrontation mit dem Gedicht, dessen Literatur: Michael Töteberg: F. K. In: KLG. – Existenzberechtigung als Artefakt infrage Thomas Kraft: F. K. In: LGL. – Arne De Winde: ›naa gestellt wird, um diese mit jeder Strophe

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umso energischer zu bejahen. In doppelbödig Wortnetze I-III. Köln 1989–91. – Zacken im Gemüt. angelegten, konterkarierenden Versen, die Lyrik der 90er Jahre. (wie alle folgenden:) Weileroft auf verblüffende Pointen hinauslaufen, swist 1994. – Der Mond ist aufgegangen. Deutschsucht er den Dialog über das Gedicht. Dabei sprachige Gedichte mit Mond vom Barock bis zur Gegenwart. 1995. – Jahrhundertwende. Deutschwird der Leser mit arglos u. naiv wirkendem sprachige Gedichte der Gegenwart. 1996. – Reißt Reim oder hübsch anzusehender visueller die Kreuze aus der Erden! Lyrik in den Zeiten der Poesie auf den lyr. Leim gelockt, bis ihm jedes Revolution v. 1848. 1998. – Der parodierte Goethe. lustige Hören u. idyllische Sehen vergeht. Die 1999. – Blitzlicht. Deutschsprachige Kurzlyrik aus Welt wird unablässig auf den Kopf gestellt u. 1100 Jahren. 2001. – Städte. Verse. Deutschspragerät konsequent aus den Fugen. Eisberge chige Großstadtlyrik der Gegenwart. 2002. – Zeit. gehen unter, während die Titanic mit ihren Wort. 2003. – Versnetze. Das große Buch der neuen vergnügten Passagieren im Hafen von New dt. Lyrik. 2008. – An Dtschld. gedacht. Lyrik zur York einläuft. Wer sich auf die Gedichte ein- Lage des Landes. 2009. Literatur: Theo Breuer: Der Lyriker A. K. / Der lässt, kann bereits nach der Lektüre weniger Worte an die Abgründe deutscher Geschichte Herausgeber A. K. In: Ders.: Aus dem Hinterland. Lyrik nach 2000. Sistig/Eifel 2005, S. 114–119 u. navigiert werden. In der Auseinandersetzung S. 313–317. Theo Breuer mit Dichtern verschiedenster Herkunft (Benn, Emily Dickinson, Eichendorff, Goethe, Heine, Mörike, Walther von der VogelKutzleb, Hjalmar, eigentl.: Hilmar Herweide, William Carlos Williams u. a.) sowie mann K., auch: Horant, * 23.12.1885 der Beschäftigung mit lyr. Tradition zeigt der Gotha-Siebleben, † 19.4.1959 Celle; leidenschaftl. Lyrikleser K., wie produktiv die Grabstätte: Friedhof Weilburg/Lahn. – Rezeption von Gedichten sein kann. Er deRoman- u. Sachbuchautor. montiert Wörter u. Verse ganzer Gedichte, setzt sie neu zusammen u. konfrontiert so Der Kaufmannssohn studierte Germanistik, Leser unvermittelt mit althochdeutsch, nor- Geschichte u. Geografie, war im höheren disch oder slawisch klingenden Tönen, wobei Schuldienst u. 1935–1949 Professor der Gedie nhd. »Übertragung« (natürlich auf den schichte am Pädagogischen Institut WeilKopf gestellt) gleich mitgeliefert wird. Au- burg. K.s Bücher, die frühgeschichtlich-archäogenzwinkernd, lakonisch, verschmitzt fordert K. den Leser auf, die gemeinsame Ent- log. Themen u. anekdotisch greifbare Ereigdeckungsreise in die Gedichte zu wagen, nisse u. Lebensläufe aus der mittelalterl. u. Hohlräume abzuklopfen, Zwischentöne neueren Regionalgeschichte verarbeiten, wawahrzunehmen, exot. Klängen zu lauschen u. ren von germanisierend-nationaler Erzieim alltäglich Banalen Erhabenes zu gewah- hungstendenz. Seine oft humoristisch vorgetragene Zeitkritik galt den als veraltet ren. Seit 1983 hat K., der in Bergheim in der dargestellten bürgerlich-liberalen oder naNähe von Köln lebt, zahlreiche Lyrikantho- tionalkonservativen Einstellungen der Weilogien herausgegeben, die in ihrer Gesamt- marer Republik (Morgenluft in Schilda. Braunheit die Bandbreite der Lyrik im dt. Sprach- schw. 1938). K.s Jugend- u. Sagenbücher (Dirk raum vermitteln u. jeweils umfassende Ein- Winlandfahrer. Braunschw. 1936. Der Raub des blicke in das vielgestaltige zeitgenöss. Lyrik- heiligen Hammers. Köln 1937) wurden z.T. schaffen der Jahre vor u. nach 2000 ermögli- vom NS-Regime gefördert. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg wurden seine nunmehr chen. Weitere Werke (Auswahl): Aus einem dt. Dorf. volkskundlich ausgerichteten Erzählungen Köln 1986. – In den Räumen der Nacht. Weßling viel gelesen. Seine Herausgebertätigkeit 1989. – Zerbissenes Lied. Weilerswist 1994. – Ein- setzte er gleichfalls ohne Unterbrechung fort. sturzgefahr. Weilerswist 1997. – Fegefeuer, Flamme sieben. Itzehoe 2005. – Stille Nacht nur bis acht. Marklkofen 2006. – Herausgeber: Keine Zeit für Lyrik? Köln 1983. – Ortsangaben. Köln 1987. –

Weitere Werke: Die Söhne der Weißgerberin. Bln. 1925 (R.). – Die Hochwächter. Hbg. o. J. [1927] (R.). – Steinbeil u. Hünengrab. Hbg. 1929 (E.en). – Mord an der Zukunft. Bln. 1929 (Schr.). – Der erste

Kyber Deutsche. Braunschw. 1934 (R.). – Von Heerkönigen u. Heerfahrten der Germanen. Köln 1937. – Meister Johann Dietz. Köln 1938 (R.). – Fritz Vorchtenit. Köln 1941. – Die abenteuerl. Reise des Ferdinand Bittendübels. Köln 1943 (R.). – Das gefrorene Hörnlein. Köln 1949 (E.). – Die Lücke im Stammbaum. Basel 1953 (R.). – Gangolfs des Einfältigen Wallfahrt. Wien 1971. Literatur: Wilhelm Stapel: H. K. In: Die Schöne Lit. 50 (1941). – Fritz W. Franzmeyer: H. K. Mindener Heimatschriftsteller, Gesellschaftskritiker, Antisemit. In: Lit. in Westfalen 8 (2006), S. 101–132. Christian Schwarz / Red.

Kyber, Manfred, * 1.3.1880 Riga, † 10.3. 1933 Löwenstein/Württemberg. – Erzähler, Lyriker, Dramatiker.

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Dramen u. die Mysterienspiele, in denen er seine religiösen Vorstellungen verarbeitete. Weitere Werke: Nord. Gesch.n. Riga 1909. – Genius astri. Bln. 1918. Hammelburg 61995. – Küstenfeuer. Heilbr. 1923 (D.). – Der Mäuseball u. a. Tiermärchen. Stgt. 1927. – Puppenspiel. Neue Märchen. Lpz. 1928. – Die drei Lichter der kleinen Veronika. Lpz. 1929. Mchn. 2008. – Neues Menschentum. Lpz. 1931. U. d. T. Neues Menschensein. Hbg. 2008. – Nachlass im DLA. Ausgaben: Das M. K.-Buch. Tiergesch.n u. Märchen. Reinb. 1971. 2006. – Drei Mysterien. Der Stern v. Juda... Mchn. 51986. – M.-K.-Reihe. Bearb. u. hg. v. Robert B. Osten. 4 Bde., Hbg. 2009 (Werkausg.). Literatur: Ingeborg Günther: M. K., 1880–1933. Diss. Wien 1954. – Erik Thomson: M. K., Leben u. Werk. Karlsr. 1960. – Anton Brieger: ›In zwölfter Stunde‹, M. K., Seher u. Dichter. Pforzheim 1973. – Karl-Heinz Dähn: M. K. Ein Dichter u. Kämpfer im ersten Drittel des 20. Jh. Der Versuch eines Lebensumrisses. In: Jb. für schwäb.fränk. Gesch. 30 (1983), S. 5–50. – Gisela Ullrich: ›Fremd in die fremde Welt verbannt‹. Der Lyriker M. K. Ebd., S. 51–58. – Peter Götz: M. K. Dichter, Tierschützer, Esoteriker, Kulturkritiker. In: Jb. des balt. Deutschtums 53 (2006), S. 253–260. – KarlHeinz Dähn: M. K. Ein Ort der Sehnsucht. Biogr. Stationen im Leben u. Schaffen des Dichters u. Kämpfers. Überarb. u. erw. Neufassung. Hbg. 2009. Wolfgang Weismantel / Red.

K. studierte Philosophie, Psychologie u. dt. Literatur in Leipzig (1900–1902). In den folgenden Jahren arbeitete er als Verlagsangestellter, Leiter der »Deutschen Volksbühne« in Riga sowie als Lektor u. Theaterkritiker für den »Kunstführer« u. den »Schwäbischen Merkur«. K. hatte Kontakt zu Künstler- u. Literatenkreisen, u. a. mit Max Klinger, u. schrieb Texte für die Kleinkunstbühnen von Ernst von Wolzogen u. Hanns Heinz Ewers. Als Anhänger Rudolf Steiners beschäftigte er sich in Vorträgen u. Schriften mit dem Okkultismus (Einführung in das Gesamtgebiet des Kyriander, eigentl.: Wolfgang Hermann, Okkultismus [...]. Stgt. 1923. Bln. 2006) u. war * um 1500 Tötting/Pfalz-Neuburg, † um geprägt von einer kulturpessimistischen, pa1560. – Katholischer Pamphletist u. Drazifist. Grundhaltung. matiker. Seine von anthroposoph. Einstellung gefärbten Tiergeschichten, vielfach übersetzt, Als in den 1540er Jahren in Pfalz-Neuburg in Lesebücher aufgenommen u. in hohen die Reformation durchgeführt wurde, flüchAuflagen verbreitet, zeichnen sich aus durch tete K. nach München u. betätigte sich dort humorvoll-krit. Bezug auf die menschl. Ge- als eifriger kath. Pamphletist. Schon vor seisellschaft (Unter Tieren. Bln. 1912. Neue Tier- ner Umsiedlung hatte er auf Bayder Kirchen, der geschichten. Lpz. 1926). K. setzte sich vehe- heiligen und der bößhafften, sampt dero glideren ment für den Tierschutz ein (Tierschutz und unndterschidliche erkanntnuss (Mchn. 1538) Kultur. Heilbr. 1925. 1994). Außerdem wurde verwiesen u. aus kath. Sicht die histor. Enter bekannt durch seine neuromant. Lyrik u. wicklung verfolgt: Was die gmain christelich und als Autor naiv-heiterer Kunstmärchen u. appostolische Kirch für Trübseligkait unnd vervolMärchenspiele (Das wandernde Seelchen. Der Tod gung von Tirannen, Ketzern und abtrinnigen, erund das kleine Mädchen. Heilbr. 1920. Der Kö- litten hat (Mchn. 1539). Jetzt suchte er seiner nigsgaukler. Freising 1921. Freib. i. Br. 1985. »Ermanung« eine volkstüml. Form zu geben: Hammelburg 142007). Weit weniger erfolg- Früntliche Ermanung wider ietzt schwebende uffreich blieben seine satir. Erzählungen (Gro- rürische Leeren und jrrthungen jm Reütters thon tesken. Heilbr. 1922. Dreieich 1982), seine gedicht (Mchn. 1541). Später milderte er sei-

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nen Ton u. forderte ein im Wesentlichen prakt. Christentum. Die meisten seiner Werke erschienen zweisprachig, so auch sein Passionsspiel In passionem domini prosa rythmica. Der Passion und leyden unsers Herren Jesu Christi. Jn Reymen weiß gestellet (Augsb. 1552). K. übertrug auch ein Werk von Hieronymus Ziegler: Vom opffer der Heiligen drey Khünig (Salzb. 1557). Weitere Werke: Descriptio fundationis celebris Monasterii dive Marie virginis in Eetal [...]. Augsb. 1548. – Auß was ursach diß Ungewitter über uns erfolge [...]. Augsb. 1549. Internet-Ed.: VD 16 digital. – Quod Evangelium non in litera verum in spiritu et virtute consistat, collatio [...]. Augsb. 1552. Dt.: Ein christenl. Ber., wie das heilig Evangelium nit in worten noch in Bu8 chstaben, sonder im Geist u. in der krafft bestehe. o. O. 1553. Literatur: Bibliografien: Klaiber, S. 139. – VD 16. – Weitere Titel: Anton Maria Kobolt: Bair. Gelehrtenlexikon. Landshut 1795. Erg. 1824. (Goedeke u. G. Westermayer in der ADB übernehmen im Wesentlichen das bei Kobolt Gegebene). – DBA. Wolfgang F. Michael † / Red.

Kyser, Hans, auch: Bruno Franz, * 22.7. 1882 Graudenz, † 24.10.1940 Berlin. – Erzähler, Dramatiker, Hörspiel- u. Drehbuchautor. K. studierte in Berlin Germanistik, Geschichte u. Philosophie. In seinem ersten, bereits sehr erfolgreichen Roman Blumenhiob (Bln. 1909) schilderte er das Schicksal des Landbriefträgers Siebenhimmel, der alle äußeren Glücksgüter verliert, sein inneres Glück jedoch bewahrt. Die Bereitschaft zum unbedingten Einsatz für die Sache erhob er in dem Drama Medusa (Bln. 1909) zur Haltung des Künstlers schlechthin. K. war einer der ersten Autoren, die die Möglichkeiten der neuen »technischen Weltkünste« Film u. Rundfunk nutzten. Er

schrieb die Drehbücher für eine Reihe berühmter Filme. Neben den Stummfilmen Nathan der Weise u. Faust (Regie: Friedrich Wilhelm Murnau) sind v. a. die Tonfilme Der Kurier des Zaren u. Der Student von Prag noch immer bekannt. Pionierarbeit leistete K. auf dem Gebiet des Hörspiels. In seinem Prozeß Sokrates (Bln. 1930) verwandte er die Form einer Lifereportage aus dem Gerichtssaal, sodass das Geschehen unmittelbare Aktualität gewann. Aus seiner »Napoleon«-Trilogie Der letzte Akt wurde das mittlere Hörspiel Ankommt eine Depesche (Bln. 1931) auch nach dem Zweiten Weltkrieg noch häufig gesendet. Auch hier ging es K. um eine iron. Auseinandersetzung mit der eigenen Gegenwart u. den Ruf nach dem starken Mann. In seinen späteren Auseinandersetzungen nahm er gängige Themen des völk. Nationalismus auf (Es brennt an der Grenze. Stgt. 1932. Schicksal um York. Bln. 1932). Weitere Werke: Aprikosenbäumchen. Bln. 1910 (N.). – Charlotte Stieglitz. Bln. 1915 (D.). – Lebenskampf der Ostmark. Bielef. 1934 (Ess.). Literatur: Monty Jacobs: ›Der Blumenhiob‹ / ›Medusa‹. In: Litterar. Echo 12 (1909/10), S. 1182–1184. – Oskar Loerke: H. K. In: Weimarer Blätter 3 (1921), S. 30–34. – Ernst Fischer: ›Der Schutzverband Dt. Schriftsteller‹. In: AGB 21 (1980), S. 259–262. – Helmut Kreuzer: Krieg im Radio. Streiflichter auf dt. Hör- u. Sendespiele um 1930 (Ernst Glaeser/Wolfgang Weyrauch, Arnolt Bronnen, H. K., Ernst Johannsen, Eberhard Wolfgang Moeller). In: Ders.: Deutschsprachige Hörsp.e 1924–33. Ffm. u. a. 2003, S. 57–75. – Tomasz Majewski: H. K.s ›Es brennt an der Grenze‹ u. Gerhart Hauptmanns ›Elga‹. Zu poln. Motiven in den Breslauer Theateraufführungen der dt. Autoren in der Nazizeit. In: Kulturwiss. Hg. Marek Halub u. a. Warschau u. a. 2006, S. 135–141. Peter König / Red.

L Laaber, Otto, * 28.10.1934 Klosterneuburg/Niederösterreich, † 15.7.1973 Wien (Freitod). – Lyriker. Der Abkömmling einer alten Bauernfamilie verbrachte seine Kindheit in Langenlebarn. Er studierte zunächst Psychologie u. Völkerkunde in Wien u. 1955/56 in Lafayette/Indiana. Nach Abbruch des Studiums bereitete er sich auf einen kaufmänn. Beruf vor, 1970 schrieb er sich für Geschichte u. Anglistik erneut in Wien ein. 1973 schied er freiwillig aus dem Leben. In seinen Gedichten ging es L. v. a. »um den unmittelbaren Ausdruck echter Gefühle«, wie er es in einer theoret. Äußerung formulierte. Früh setzte er sich mit Themen wie Zeit u. Tod auseinander. Das Titelgedicht des postum erschienenen schmalen Bandes Inventur (Baden bei Wien 1976 mit einem Nachw. v. Alfred Gesswein) beginnt: »Eine abgerissene Kinokarte / in der Tasche des Rocks, / das ist das Bleibende deiner Erlebnisse«. L. gehörte dem Kreis um die Wiener Literaturzeitschrift »Neue Wege« an, in der er in den 1950er Jahren erstmals publizierte. Seine Gedichte erschienen auch in der von Hans Weigel betreuten Anthologie Stimmen der Gegenwart (Wien 1954). Gerhard Jaschke / Red.

Laabs, Jochen, * 3.7.1937 Dresden. – Romancier, Erzähler, Lyriker. L., Sohn eines Kaufmanns, bei Cottbus aufgewachsen, studierte 1956–1961 an der Dresdener Hochschule für Verkehrswesen u. war anschließend bis 1975 als Diplomingenieur tätig. Seitdem lebt er als freier Schriftsteller in Mecklenburg-Vorpommern u. Berlin. Mit Richard Pietraß u. Joachim Walther

arbeitete er in der Redaktion der Literaturzeitschrift »Temperamente«, bis sie 1978 entlassen wurden. L.’ Texte beschreiben Zwischentöne u. Disharmonien konkreter Lebenssituationen im Osten Deutschlands sowohl vor als auch nach 1989, das Pathos seiner Gedichte ist oft ironisch gebrochen. Sein bedeutendstes Werk ist Der Schattenfänger. Roman eines Irrtums (Halle 1989), Christa Wolfs Sommerstück motivisch verwandt: die Problematik eines durch gesellschaftlichen u. polit. Druck erzwungenen Rückzugs eines Schriftstellers aufs nur vordergründig idyllische Land u. das konsequente Scheitern dieser – unerträgl. Zwänge u. Nöte des DDR-Kunstalltags reflektierenden – Figur. Erst im Frühjahr 1990 vom Verlag ausgeliefert, traf das Werk in einer veränderten gesellschaftl. u. polit. Situation auf eine an DDR-krit. Themen kaum mehr interessierte Öffentlichkeit. Knapp zehn Jahre später erschien der Roman in einer von L. durchgesehenen Ausgabe erneut (Gött. 2000) u. wurde nun vielmehr als Dokument »einer fast vergessenen Zeit« wahrgenommen. Wie schon 1986 war L. in den 1990er Jahren Writer in Residence in den USA. Sein Roman Späte Reise (Gött. 2006) reflektiert OstWest-Begegnungen auf einer Reise durch die USA unmittelbar nach der Wende. Das Buch wurde mit dem Uwe-Johnson-Preis ausgezeichnet. Weitere Werke (Erscheinungsort Halle, wenn nicht anders angegeben): Eine Straßenbahn für Nofretete. 1970 (L.). – Das Grashaus. 1971 (R.; Aufl. über 300.000). – Die andere Hälfte der Welt. 1974 (E.en). – Himmel sträfl. Leichtsinn. 1978 (L.). – Der Ausbruch. Roman einer Verführung. 1979. – Jeder Mensch will König sein. 1983 (E.en). – Der letzte Stern. 1988 (E.en). – Verschwiegene Landschaft. Gött. 2002 (E.en).

157 Literatur: Werner Liersch: Gespräch mit J. L. In: NDL, H. 9 (1979). – Ingrid Hähnel: Interview mit J. L. In: WB, H. 6 (1980), S. 51–73. – Gerhard Rothbauer: Wieviel Himmel braucht der Mensch. Ebd., S. 74–89. – Fritz König: Zur Lyrik v. J. L. In: Studies in GDR Culture and Society 2 (1982). – Therese Hörnigk: J. L. In: DDR-Lit. im Gespräch. Hg. Siegfried Rönisch. Weimar 1984. – Eva Kaufmann: Aus der Sippe der Schlemihle? In: NDL, H. 38 (1990), S. 140–144. – Jutta Arend: Crazy Horse in Mecklenburg: Indianervisionen in J. L.’ Der Schattenfänger. In: GQ 65 (1992), H. 3/4, S. 407–413. – Klaus Walther: Erinnerungen an eine fast vergessene Zeit. In: NDL, H. 48 (2000), S. 126–128. Heinz Blumensath / Catharina Koller

Laar, Clemens, Klemens, eigentl.: Eberhard Koebsell, * 15.8.1906 Berlin, † 7.6.1960 Berlin (West) (Freitod). – Romanautor. Nach einem Studium moderner Sprachen u. der Geschichte sowie einer Verlagsausbildung in Berlin u. Leipzig arbeitete L. als Journalist in Berlin. Größten Erfolg hatte er mit Büchern über u. für Pferdeliebhaber wie der Biografie des Reit-Olympiasiegers u. SA-Mitglieds Carl-Friedrich Frhr. von Langen, ... reitet für Deutschland. Ein Kämpferschicksal (Hann. 1936. Verfilmt 1941), u. dem Roman Meines Vaters Pferde (Hann. 1950. Mchn. 1993. Verfilmt 1954). Außerdem schrieb L. populäre histor. Romane u. Unterhaltungsromane, die Sentimentalität nicht scheuen u. soziale Probleme durch die Berufung auf allg. Menschliches vereinfachen. L. erreichte sowohl während des Dritten Reichs als auch in den 1950er Jahren ein breites Publikum. 1960 nahm er sich das Leben. Weitere Werke: Der Kampf um die Dardanellen. Bln. 1936 (R.). – Tigerhai. Bln. 1942 (R.). – Kavalkade. Eine Chronik v. Reitern u. Pferden 1950 (zus. mit Hans-Joachim v. Killisch-Horn). Köln 1950. – Die curieuse Reiterfibel. Bln. 1951 (R.). – Garde du Corps. Hann. 1953 (R.). – Amour Royal. Das Glück der Verheißung. Bremen 1955 (R.). – Ritt ins Abendrot. Das Glück der Erfüllung. Bremen 1956 (R.). – Des Kaisers Hippodrom. Bremen 1959 (R.). Matías Martínez / Red.

Lachmann

Lachmann, Hedwig, * 29.8.1865 Stolp/ Pommern, † 21.2.1918 Krumbach/ Schwaben. – Lyrikerin u. Übersetzerin. L. war die Tochter eines aus Russland entflohenen Kantors u. verlebte den größeren Teil ihrer Jugend in Krumbach. Aus dem unveröffentlichten Briefwechsel mit Richard Dehmel geht hervor, dass sie in den 1890er Jahren in Berlin als Schriftstellerin lebte. 1899 fand die lebensbestimmende Begegnung mit Gustav Landauer statt; aus der 1903 legitimierten Verbindung gingen zwei Töchter hervor. Da Landauer als Anarchist u. ehemaliger Häftling keine Anstellung fand, lebte das Ehepaar von Übersetzungsarbeiten. L. übersetzte Gedichte u. Prosa aus dem Englischen, Französischen, Italienischen u. Ungarischen. 1902 erschien ihr Lyrikband Im Bilde (Bln.), 1903 ihre Übertragung von Oscar Wildes Salome (Lpz.), Grundlage für Richard Strauss’ Vertonung, 1906 ihre Wilde-Biografie (Bln.). 1919 gab Landauer L.s Gesammelte Gedichte. Eigenes und Nachdichtungen (Potsdam) heraus. L.s eigenes Werk zeugt von einer georgisch anmutenden Formenstrenge, ebenso aber von einer unterschwellig fortschwingenden Bewegtheit, die ihre Wirkung auch heute nicht verfehlt. Ausgabe: Vertraut u. fremd u. immer doch noch ich. Gedichte, Nachdichtungen u. Ess.s. Hg. Armin Strohmeyr. Augsb. 2003. Literatur: Annegret Walz: ›Ich will ja gar nicht auf der logischen Höhe meiner Zeit stehen‹. H. L. Eine Biogr. Flacht 1993. – Birgit Seemann: H. Landauer-L. Dichterin, Antimilitaristin, dt. Jüdin. Ffm./New York 1998. – Thomas Heitele u. Heinrich Lindenmayr (Hg.): ›...auf Erden schon enthoben...‹. H. L. Krumbach 2006. Gisela Brinker-Gabler / Red.

Lachmann, Karl, Carl (Konrad Friedrich Wilhelm), * 4.3.1793 Braunschweig, † 13.3.1851 Berlin; Grabstätte: BerlinKreuzberg, Friedhof der Dreifaltigkeitsgemeinde. – Germanist u. klassischer Philologe. Der Pfarrerssohn studierte ab 1809 klass. Philologie in Leipzig, später in Göttingen, wo ihn Georg Friedrich Benecke für dt. u. engl.

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Literatur interessieren konnte. 1815 habilitierte sich L. in Göttingen für klass. Philologie u. legte 1816 für seine Habilitation in Berlin die Ausgabe des Properz (Lpz. 1816) zus. mit einer Untersuchung über die ursprüngliche Gestalt des Gedichtes von der Nibelunge Not (Bln. 1816) vor. In dieser Arbeit versuchte er in der Nachfolge von Friedrich August Wolfs Prolegomena ad Homerum (Halle 1795), die dem überlieferten dt. Heldenepos vorangehenden, mündlich tradierten Einzellieder genau zu bestimmen. Damit war seine künftige Position in der jungen dt. Philologie klar bezeichnet: Als klass. Philologe von Rang übertrug er die Methoden der klass. Philologie auf die neue Wissenschaft – in einer für ihn bezeichnenden Konzentration auf die überlieferten literar. Texte. Anders als die Brüder Grimm, denen Mythos u. Sage, Recht u. Literatur in einem untrennbaren Zusammenhang standen, war er um die ästhetisch hervorragenden Dichtungen des dt. MA bemüht u. suchte vornehmlich die Werke Hartmanns von Aue (Iwein. Zus. mit G. F. Benecke. Bln. 1827), von Wolfram von Eschenbach (Bln. 1833) u. Walther von der Vogelweide (Bln. 1827) sowie Der Nibelunge Not mit der Klage (Bln. 1826) u. den Minnesang (Des Minnesangs Frühling. Hg. Moriz Haupt. Lpz. 1857) in krit. Ausgaben aus der über Jahrhunderte reichenden Überlieferung zurückzugewinnen. Sein Ziel war es, dem Original oder wenigstens dem Archetypus der Überlieferung so weit wie irgend möglich nahezukommen. Mit Jacob Grimm verbanden ihn seine Bemühungen um die genaue Kenntnis der älteren dt. Sprache, mit Wilhelm Grimm das Interesse an Heldendichtung, obwohl er dessen Anschauungen von der Vereinigung von Mythos u. Geschichte in der Sage nicht teilte. Die Grundlage für L.s Methode bei der Herstellung des kritisch gereinigten Textes war das uneingeschränkte Vertrauen in die Einsichten, die aus dem unvoreingenommenen Studium der Handschriften erwachsen: Wer gründl. Kenntnisse von Sprache u. Metrum aus der Zeit der Entstehung des Originals habe, könne die unterschiedl. Qualität der Textzeugen im Hinblick auf das Original u. das Verhältnis der einzelnen Textzeugen untereinander eindeutig bestimmen. Diese

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Erkenntnisse müssen sich in einem Handschriftenstammbaum verfestigen, dem entsprechend der Herausgeber zwischen Varianten auswählen u. entscheiden kann. Erst spät, im Vorwort zu seiner großen Ausgabe des Novum testamentum graece et latine (2 Bde., Bln. 1842–50), hat L. seine textkrit. Maxime rigoros formuliert: »id quod recensere dicitur, sine interpretatione et possumus et debemus«, beim Edieren müsse das notwendig subjektiv bleibende Textverständnis hinter dem anscheinend objektiven Handschriftenbefund zurückstehen. Konsequent hat er selbst diese Bescheidung allerdings nicht geübt. Seine Ausgabe z.B. der Werke Wolframs von Eschenbach, bis heute nicht überholt, hat ihre Qualitäten auch durch die intime Kenntnis L.s von Wolframs dichterischer Individualität. L.s textkrit. Methode war zunächst über Jahrzehnte hinweg unangefochten. Erst die Einsicht in die von L. nicht formulierten Voraussetzungen seiner Methode, bes. seine Überzeugung, dass am Anfang der Überlieferung ein fester Archetypus stehe, sowie seine Annahme, dass jeder Schreiber nur nach einer einzigen Vorlage abschreibe, führten zu vehementer Kritik an seinen Editionsprinzipien – mit der Konsequenz, dass der diplomat. Abdruck einer einzigen guten Handschrift (nur mit Verbesserung offensichtl. Fehler u. Auslassungen) als einziger Ausweg möglich schien. Damit war die Aufgabe verbunden, andere Textsorten als die individuell geprägten Dichtungen der Klassiker des dt. MA mit nicht nur graduell unterschiedl. Entstehungs- u. Überlieferungsformen – kleinere Erzählformen, geistl. Prosa – herauszugeben. L.s Editionen hat man allerdings die Hochachtung nie versagt, u. seine Methode ist inzwischen wieder Gegenstand wiss. Diskussion. Weitere Werke: Kleinere Schr.en zur dt. Philologie. Hg. Karl Müllenhoff. Bln. 1876. – Kleinere Schr.en zur class. Philologie. Hg. Johannes Vahlen. Bln. 1876. – Briefw. der Brüder Grimm mit K. L. 2 Bde., Jena 1927. – Herausgeber: Tibull. Bln. 1829. – Catull. Bln. 1829. – Gotthold Ephraim Lessings sämmtl. Schr.en. 13 Bde., Bln. 1838–40. – Ulrich v. Lichtenstein. Bln. 1841. – Die Schr.en der röm. Feldmesser. 2 Bde., Bln. 1848–52.

159 Literatur: Martin Hertz: K. L. Bln. 1851 (mit nahezu vollst. Bibliogr., S. XXIV-XXXII). – Karl Stackmann: Mittelalterl. Texte als Aufgabe. In: FS Jost Trier. Köln 1964, S. 240–267. – Peter F. Ganz: L. as Editor of Middle High German Texts. In: Probleme mittelalterl. Überlieferung u. Textkritik. Bln. 1968, S. 12–30. – Sebastiano Timpanaro: La genesi del metodo del L. Padua 31985. Dt. Hbg. 1971. – Harald Weigel: ›Nur was du nie gesehen wird ewig dauern‹. Carl L. u. die Entstehung der wiss. Edition. Freib. i. Br. 1989. – Winfried Ziegler: Die ›wahre strenghistorische Kritik‹. Leben u. Werk Carl L.s u. sein Beitr. zur neutestamentl. Wiss. Hbg. 2000. – Uwe Meves: K. L. In: Wissenschaftsgesch. der Germanistik in Porträts. Hg. Christoph König u. a. Bln./New York 2000, S. 20–32. – Ders. u. a.: K. L. In: IGL. Ursula Hennig / Red.

Lachmann, Vera Regine, * 23.6.1904 Berlin, † 18.1.1985 New York/USA. – Klassische Philologin u. Lyrikerin. L. wurde als drittes Kind einer angesehenen jüd. Familie geboren. Der Vater Louis Lachmann (1860–1910) war im Berlin der Jahrhundertwende ein erfolgreicher Architekt, die Mutter Caroline, geborene Rosenbacher (1864–1937), war musisch veranlagt u. mit der Bankiersfamilie Warburg verwandt. Als L. fünf Jahre alt war, starb der Vater, als sie zehn war, fiel der Bruder im Ersten Weltkrieg. Für ihre weitere Entwicklung spielte die Lehrerin Helene Herrmann (1877–1944) eine wichtige Rolle, die sie in die Antike u. die dt. Dichtung, insbes. die von Stefan George, einführte. Später widmete L. der Lehrerin, die in Auschwitz umkam, das Gedenkgedicht Augsburgerstraße (Berlin) im Mai (»Aufbau«, New York, 17.6.1983). L. studierte Germanistik u. Altphilologie in Basel u. Berlin u. promovierte sich 1930 mit einer Arbeit über die Ursprünge u. Entstehung der isländ. HartharSaga, nachdem sie zuvor mehrere Monate in Island verbracht hatte u. zu Recherchezwecken auf einem Pferd durchs Land gezogen war. 1933 schloss sie ihre Ausbildung zum Lehramt an höheren Schulen ab u. gründete zus. mit Helene Herrmann in Berlin-Grunewald eine kleine Privatschule für jüd. Kinder. Nach der Schließung der Schule durch die Nationalsozialisten 1938 wirkte sie kurz für die Kinderauswanderung mit u. entschloss

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sich 1939, selbst zu emigrieren. Ihr Weg führte sie Ende des Jahres über Dänemark u. Schweden in die Vereinigten Staaten. Eine wichtige Unterstützung erfuhr sie im Jahr vor der Emigration durch Renata von Scheliha (1901–1967), die der selbstmordgefährdeten L. den Gedanken der Auswanderung nahe brachte. L. widmete von Scheliha das Gedicht Terra Renata (mit dem Datum 6.10.1939). Während der Emigration über Schweden war L. selber an den Vorbereitungen zur Rettung von Nelly Sachs (1891–1970) beteiligt, die 1940 nach Stockholm fliehen konnte, wie der Briefwechsel von Nelly Sachs mit L. aus den späten 1960er Jahren zeigt. In den USA gründete L. eine humanist. Sommerschule in North Carolina (Camp Catawba), die sie bis 1970 betrieb, u. unterrichtete 1949–1974 am Brooklyn College Griechisch u. Latein, wo sie 1972 zur Professorin ernannt wurde. Noch nach ihrer Emeritierung gab sie in ihrer Wohnung in Greenwich Village kostenlosen Unterricht in klass. Sprachen u. Deutsch. L.s Lyrik ist, neben einigen Veröffentlichungen in Zeitschriften, in drei Gedichtbänden gesammelt, die in der Amsterdamer Castrum Peregrini Presse, einem von dt. Emigranten 1950 gegründeten Verlag, erschienen. L. schrieb ausschließlich auf Deutsch, die Bände bringen jedoch auch engl. Prosaübersetzungen von Spencer Holst. Alle drei Lyriksammlungen sind der amerikan. Lebensgefährtin, der Musikerin u. Komponistin Tui St. George Tucker, zugeeignet. Die Themen der Gedichte bewegen sich im Umkreis der Naturlyrik, wobei die (eher konservative) Naturbetrachtung jedoch ganz im Goethe’schen Sinne auch einen Weg für die Selbstbetrachtung ebnet. Der klass. Themenkreis schließt daran an: griech. Landschaften sind dabei zgl. kultur- u. geistesgeschichtl. Landschaften, die einerseits für eine verlorene Welt stehen mögen, andererseits aber, u. das ist ein wesentl. Merkmal, die nahezu völlige Abwesenheit des HolocaustThemas erklären: Gegen die Schrecken des NS-Regimes stemmt sich die Besinnung auf das Abendland, das sich den antiken u. jüd. Traditionen verpflichtet fühlt. Neben diesen Gedichten machen Widmungs- u. Liebesgedichte an Weggefährtinnen einen Großteil

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aus. Den Gedichten von L. ist ein ernster Ton zueigen, der dem Lebensschicksal »im tragischen Exil« verschuldet ist. Bis zu ihrem Lebensende empfand sich L. als Exilantin, die einen Tagesaufenthalt in Berlin 1967 als »traumatisch« bezeichnete u. nur noch einmal 1981 zu einer Lesung nach Deutschland kam. Weitere Werke: Golden tanzt das Licht im Glas/Golden Dances the Light in the Glass. Amsterd. 1969. – Namen werden Inseln/Names become Islands. Amsterd. 1975. – Halmdiamanten/Grass Diamonds. Amsterd. 1982. – Homer’s Sun Still Shines. Ancient Greece in Essays, Poems and Translations. Hg. Charles A. Miller. New Market, Virginia 2004 (inklusive CD mit Tonaufnahmen). Literatur: Charles A. Miller: A Catawba Assembly. With Contributions From More than a Hundred Others Who Spent Summers at Camp Catawba. Virginia/USA 1973. – Gerhard Friesen (Hg.): Nachrichten aus den Staaten. Dt. Lit. in den USA. Hildesh. 1983. – Gabriele Kreis: Frauen im Exil. Dichtung u. Wirklichkeit. Düsseld. 1984. – Gert Niers: Frauen schreiben im Exil. Zum Werk der nach Amerika emigrierten Lyrikerinnen Margarete Kollisch, Ilse Blumenthal-Weiss, V. L. Ffm. 1988. – Marliese Hoff u. Helga Gläser (Hg.): ›Hier ist kein bleiben länger‹. Jüd. Schulgründerinnen in Wilmersdorf. Ausstellungskat. Bln. 1992. – H. Gläser: ›Etwas Chaos ist ja Tradition...‹. V. L. – Lyrikerin u. Pädagogin im Exil. In: Pädagog. Forum 3 (1993), S. 136–140. – Klaus Kühnel: Berlin – New York. Zu V. L. In: Castrum Peregrini 263 (2004), S. 9–24. Marinus Pütz

Lachmann, Volkmar, * 23.9.1921 Berlin, † 8.5.1945 Berlin. – Erzähler. 1941 als Soldat eingezogen, kämpfte L. im Afrika-Feldzug. Nach einer Erkrankung studierte er die Rechte u. legte das Referendarexamen ab; wenige Monate vor Kriegsende wurde er erneut eingezogen. Mit 23 Jahren starb er in einem Lazarett an einer Lungenentzündung. 1943/44 erschienen Erzählungen L.s in der »Neuen Rundschau«, darunter König und Bettelmann (als Einzelausg. postum Krefeld o. J.). Sie wurden 1955, um weitere aus dem Nachlass vermehrt, u. d. T. Die 8 Henna-Legenden (Krefeld) veröffentlicht. L. entwickelte in ihnen »das Modell einer fiktiven Gegenwelt« (Hermann Kasack), das er der als deprimie-

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rend erfahrenen Erscheinungswelt u. der Realität des Nationalsozialismus visionär gegenüberstellt: In einer matriarchal. Welt der Gerechtigkeit realisiert sich ein gläubiges u. stoisches Lebensideal. Die gelassene, an den Märchenton des 19. Jh. anknüpfende Sprache, der Anti-Realismus u. Anti-Psychologismus sowie das inhaltl. Ethos weisen L. als jüngsten Repräsentanten bedeutender nichtnationalsozialist. Literatur im Dritten Reich aus. Hermann Kasack, Entdecker u. Förderer L.s, hat dem Frühverstorbenen in seinem Roman Die Stadt hinter dem Strom in der Gestalt des Bodo Lachmar ein Denkmal gesetzt. Weiteres Werk: Das Jahr des Jünglings. Briefe. Mit Nachw. v. Hermann Kasack. Bln. 1947. Literatur: Hermann Kasack: V. L. In: Ders.: Mosaiksteine. Beiträge zu Lit. u. Kunst. Ffm. 1956, S. 324–330. Wilhelm Haefs / Red.

Lackner, Stephan, eigentl.: Ernst Morgenroth, auch: Ernst Gast, * 21.4.1910 Paris, † 26.12.2000 Santa Barbara/Kalifornien (USA). – Kunsthistoriker; Romancier, Biograf u. Essayist. L. entstammte einer jüd. Unternehmerfamilie. Er wuchs in Paris, Berlin, Bad Homburg u. Frankfurt/M. auf, wo sein Vater verschiedene Elektro-Unternehmen aufbaute. L studierte in Frankfurt/M. u. Berlin Kunstgeschichte u. Philosophie u. schloss sein Studium mit der Promotion zum Dr. phil. ab (Sprachzeichen und Gegenstand. Die Sprache als Instrument der Logik. Bottrop 1934). 1933 ging er zus. mit seiner Familie nach Paris, wo er Mitarbeiter am »Neuen Tage-Buch« wurde. Seit dieser Zeit publizierte L. Erzählungen, Dramen, Gedichte, Reiseberichte (u. a. von einer längeren Russland-Reise im Jahr 1936), Künstler-Monografien sowie zahlreiche Rezensionen u. Essays, z.T. unter dem Pseud. Ernst Gast, deren wichtigste er in seine Autobiografie Selbstbildnis mit Feder. Ein Tage- und Lesebuch (Bln. 1988) aufnahm. Eine zentrale Rolle in L.s Leben spielte seine Freundschaft mit dem Maler Max Beckmann, über den er einige Bücher verfasste (Ich erinnere mich gern an Max Beckmann. Mainz 1967. Max Beckmann. Köln 1978. Mchn. 1983. Sonderausg. Köln 1991). Durch

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den Ankauf von Bildern sicherte L. die materielle Existenz des Malers während seines niederländ. Exils, in dem auch Beckmanns Illustrationen zu L.s antinazistischem Drama Der Mensch ist kein Haustier (Paris 1937. Neuausg. Worms 1977) entstanden. Auch Walter Benjamin, der während des gemeinsamen Pariser Exils L.s Emigrantenroman Jan Heimatlos (Zürich 1939. Neuausg. Bln. 1981) rezensierte, wurde in Notsituationen von ihm unterstützt, wovon ein Briefwechsel zeugt, den L. in seiner Autobiografie abdrucken ließ. 1939 emigrierte L. mit Eltern u. Geschwistern in die USA. Er heiratete u. ließ sich in Santa Barbara/Kalifornien nieder, wo er bis zu seinem Tode lebte. 1943–1945 war L. als amerikan. Soldat in Deutschland, das er auch nach dem Krieg besuchte. Seine literar. Arbeiten sind hier allerdings kaum bekannt geworden. Weitere Werke: Der geteilte Mantel. Tüb. 1979 (R.). – Requiem für eine Liebe. Tüb. 1980 (R.). – Die friedfertige Natur. Symbiose statt Kampf. Mchn. 1982. Tb.-Ausg. 1986 (Ess.). – Ein Schriftsteller im Exil. In: Exil 7 (1987), Nr. 2, S. 60–77. – Ein Mann mit blauen Haaren. Hürth 1996 (E.en). – Nachdenken über das Exil in Frankreich u. Amerika. In: Exil 17 (1997), S. 362–373. Literatur: Richard Exner: S. L. In: Dt. Exillit., Bd. 1, S. 433–441; Bd. 2, S. 71–75 (hier Bibliogr. der Werke bis 1975). – Gert Ueding: ›Die Wilden und die Unvernünftigen‹. Hinweis auf ein vergessenes Drama. In: Drama u. Theater im 20. Jh. FS Walter Hinck. Hg. Hans Dietrich Irmscher u. Werner Keller. Gött. 1983, S. 242–251. Detlev Schöttker / Christine Henschel

Laederach, Jürg, * 20.12.1945 Basel. – Erzähler u. Dramatiker. L. studierte an der ETH Zürich Mathematik u. Physik, bevor er an der Universität Basel ein philolog. Studium (Romanistik, Anglistik, Musikwissenschaften) aufnahm. Er lebt seit den 1970er Jahren als freier Schriftsteller u. Übersetzer aus dem Englischen (u. a. Walter Abish) u. Französischen (Maurice Blanchot) in Basel. L. will mit seinen Texten keine Botschaft vermitteln u. auch kein Abbild irgendeiner Realität geben außer der sprachlichen. Seine Vorbilder sind der Surrealist André Breton,

Samuel Beckett u. der Sprachkünstler Karl Valentin. L. baut keine kohärente Welt auf; es dominiert das Chaos, zeitl. Verhältnisse werden umgekehrt. Seine Figuren sind äußerst reduziert, sie können sogar als Automaten u. Sprechpuppen fungieren. Bezeichnenderweise ist die Hauptperson Keener in L.s erstem Erzählband Einfall der Dämmerung (Ffm. 1974) beinamputiert u. so auf die Sprache zurückgeworfen. L.s Romane sind durch das Prinzip der Assoziation, der ständigen geistigen Bewegung charakterisiert. Typisch dafür ist Flugelmeyers Wahn (Ffm. 1986), in dem die Hauptperson jeden Tag ihre Identität wechselt, sodass der Roman aus kaleidoskopartigen Bruchstücken besteht, die sich zu keinem Gesamtbild zusammenfügen, sondern vielmehr Ausgangspunkt von Assoziationen werden, die in alle Richtungen gehen u. oft zu verblüffenden Ergebnissen führen. In Emanuel. Wörterbuch eines hingerissenen Flaneurs (Ffm. 1990) führt L. diesen Ansatz, wie schon der Titel andeutet, weiter. Er spielt sowohl mit Erzählclichés, die ins Leere laufen u. die Erwartung des Lesers enttäuschen, wie auch mit sprachl. Versatzstücken. In der Sammlung von kurzen Texten mit dem Titel 64 Arten den Blues zu spielen (Ffm. 1984) wird deutlich, dass sich L., der auch als Musikkritiker u. Jazz-Musiker aktiv ist, in der Komposition seiner Texte von musikal. Prinzipien wie Wiederholung u. Variation leiten lässt. Seit 1978 schreibt L. regelmäßig Theaterstücke, die mit der Grenze zwischen Sprache u. Wirklichkeit spielen, so in Wittgenstein in Graz (1979; 1981 als Hörspiel gesendet), in dem u. a. die Autoren Kolleritsch u. L. als fiktive Personen auftreten u. darüber sprechen, wie die Sprache die Wirklichkeit verwirrt. Weitere Werke: Im Verlauf einer langen Erinnerung. Ffm. 1977 (R.). – Die Lehrerin verspricht der Negerin wärmere Tränen. Urauff. 1978 (D.). – EinSommerMachtRaum. Urauff. 1986 (D.). – Der zweite Sinn oder Unsentimentale Reise durch ein Feld Lit. Ffm. 1988 (Grazer Poetik Vorlesung). – Passion. Ein Geständnis. Ffm. 1993 (R.). – Schattenmänner. Ffm. 1994 (E.en). – Eccentric. Kunst u. Leben: Figuren der Seltsamkeit. Ffm. 1995. – In Hackensack. Vier minimale Stücke. Basel 2003. –

Lämmle Depeschen nach Mailland. Hg. Michel Mettler. Ffm. 2009. Literatur: Martin Stingelin: Wahnsinn u. Lit. im Schreibraum L. In: Schnittpunkte, Parallelen. Lit. u. Literaturwiss. im Schreibraum Basel. Hg. Wolfram Groddeck. Köln 1995, S. 269–294. – Peter v. Matt: Ein Versuch, J. L. zu lesen. In: Ders.: Die tintenblauen Eidgenossen. Mchn. 2001, S. 284–287. – Dariusz Komorowski: Bewegungsästhetik in den Romanen v. J. L. ›Passion‹, ›Emanuel‹ u. ›Flugelmeyers Wahn‹. Würzb. 2002. – Martin Zingg: J. L. In: LGL. – Markus R. Weber: J. L. In: KLG. Rosmarie Zeller

Lämmle, August (Julius), * 3.12.1876 Oßweil bei Ludwigsburg, † 8.2.1962 Tübingen; Grabstätte: Stuttgart, Waldfriedhof. – Lyriker, Erzähler, Volkskundler.

162 Gesch.n. Stgt. 1959. Kiel 1991. – A. L.-Lesebuch. Mühlacker 1973. – Das ist mein Land. Mühlacker 1976. Stgt. 1989. – Zus. mit Christian Wagner: O Herr hilf! Schwäb. Gesch.n vom Lande. Stgt. 1999. Literatur: Renate Milczewsky: Schwäb. Dichter u. Schriftsteller im Dienste der Presse. Diss. Mchn. 1954, S. 65–83. – Hans Schwenkel: A. L. 80 Jahre alt. In: Schwäb. Heimat 7 (1956), H. 6, S. 225–228. – Hans-Ulrich Roller: A. L. In: Zur Gesch. v. Volkskunde u. Mundartforsch. in Württemberg. Hg. Hermann Bausinger. Tüb. 1964, S. 277–292. – Paul Sauer: A. L. Vom Oßweiler Bauernsohn zum schwäb. Heimatdichter u. Volkskundler. In: Ludwigsburger Geschichtsblätter 56 (2002), S. 115–128. – Conny Renkl: Mundartdichter, Hitlerverehrer, Kriegspropagandist: A. L. – Brandstifter als Biedermann. In: Antifa Nachrichten (2005), H. 2. Walter Riethmüller / Red.

L., Sohn eines schwäb. Kleinbauern, war Längle, Ulrike, * 4.2.1953 Bregenz. – Li1896–1919 Lehrer in zahlreichen Orten teraturwissenschaftlerin, Schriftstellerin, Württembergs u. leitete 1923–1937 die Ab- Übersetzerin (aus dem Italienischen), teilung Volkskunde im Württembergischen Leiterin des Franz-Michael-Felder-ArLandesamt für Denkmalpflege in Stuttgart. chivs (Voralberger Literaturarchivs) in Ab 1944 lebte er in Leonberg. Bregenz. Im Mittelpunkt seines Schaffens stand der »Volkstums- und Heimatgedanke«. 1936 galt L. ist in Vorarlberg aufgewachsen u. begann für L. von »aller Kunst: aus dem Volke nach ihrer schulischen Ausbildung ein Stukommt sie, zum Volke kehrt sie zurück« (in: dium der Germanistik, Romanistik u. KomSchwäbisches und Allzuschwäbisches. Stgt.), u. paratistik an den Universitäten Innsbruck u. 1951: »Worüber ich schreibe? [...] nicht über Poitiers in Frankreich. 1981 promovierte sie das Problematische, sondern über das All- zum Doktor der Philosophie mit der Arbeit tägliche unserer Heimat« (in dem Lebensbe- Ernst Weiss – Vatermythos und Zeitkritik. Anricht Unterwegs. Erlebnisse und Begegnungen. schließend erhielt sie Lehraufträge an den Reutl.). In humorvollem, teils idyllisieren- Universitäten Innsbruck u. Klagenfurt. 1984 dem Ton sind seine Mundartgedichte gehal- übernahm sie die Leitung des Franz-Michaelten (Schwobabluat. Heilbr. 1913. U. d. T. Es Felder-Archivs. 1992 veröffentlichte sie Am leiselet im Holderbusch. Stgt. 1938). Schwank- Marterpfahl der Irokesen (Ffm.), einen Erzählhafte Erzählungen aus dem Bauern- u. Dorf- band mit 13 Liebesgeschichten, die in ironileben in der Nachfolge Hebels kamen hinzu. schem Ton wichtige Momente des Lebens L. begründete die Quellenreihe »Schwäbische behandeln. 1994 folgte der zweite ErzählVolkskunde« (Stgt. 1924 ff.), verfasste die band, Der Untergang der Romanshorn (Ffm.), programmat. Schrift Unser Volkstum (Stgt. dessen Schauplatz der Bodensee bildet, die 1925) u. gab 1929–1938 die Zeitschrift Gegend, in der L. verwurzelt ist. Sie zeichnet »Württemberg« heraus. Viele seiner Werke sehr skurrile Figuren, die den Leser durch waren in Schwaben als »Hausbücher« ver- ihre allzu menschl. Eigenschaften zur Identifikation einladen. 1996 erschien der Roman breitet. Tynner (Ffm.). Er schildert Figuren u. Milieus, Weitere Werke: Der Herrgott in Allewind. Die Gesch.n. Stgt. 1939. – Der goldene Boden. Stgt. die L. bestens kennt: die universitäre Welt u. 1953. – Ich schaue v. außen durchs Fenster. die Groteske u. Tragik der Hauptfigur, eines Mühlacker 1956 (Aphorismen). – Schwäb. Minia- Universitätsprofessors der Theaterwissenturen. Stgt. 1957. – Menschen [...] nur Menschen. schaft, der sich nach Zuwendung u. menschl.

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Wärme sehnt, aber niemanden an sich her- Roman ›Vermutungen über die Liebe in einem ankommen lässt. Der zweite Roman Vermu- fremden Haus‹. In: MAL 31 (1998), H. 3/4, tungen über die Liebe in einem fremden Haus (Ffm. S. 278–287. Annette Daigger 1998) ist das wohl persönlichste ihrer Werke u. besticht durch L.s Gabe, aus ganz gewöhnl. Laffert, Karl-August von, * 1872 DannenAlltags- u. Gedankenmotiven eine innere büttel, † 1938. – Autor utopisch-politiKrise sowie deren Überwindung zu schildern. scher Prosa, Journalist. Hauptfigur ist eine Frau Ende dreißig, Stellvertreterin einer feminist. emanzipierten Geboren auf dem niedersächs. Rittergut Generation, die aus eigener Kraft eine innere Dannenbüttel u. Bruder der polit. Lobbyistin Verwirrung überwindet. Die Auszeit in einem Viktoria Auguste von Dirksen, verbrachte L. fremden Haus u. das Verrichten alltäglicher seine Jugend auf den mecklenburg. Gütern Dinge führen zu neuer innerer Besinnung u. seiner Eltern in Garlitz. Im Zuge seiner mizu einer positiveren Lebenseinstellung. Auf- litär. Laufbahn als Hauptmann im Generalfallend ist die Art u. Weise, wie L. die kleinen stab, Major u. Oberstleutnant wurde L. wähDinge des Lebens schildert, wie sie als eine rend des Ersten Weltkriegs mit sensiblen adArchäologin minutiös gewöhnl. Gegenstände ministrativen resp. diplomat. Projekten beheraushebt, in die Geschichte einbettet u. traut: Er wirkte als Vertreter Deutschlands dabei beim Leser Neugierde für die eigene bei der alban. Grenzregulierungskommission, als Militärattaché in Konstantinopel Umwelt weckt. L. steht mit ihren genauen Beschreibungen (Türkei), als Verbindungsoffizier bei der in der Tradition eines Adalbert Stifter u. in bulgar. Armee u. als Feldeisenbahnchef in der Linie Peter Handkes. Dabei umreißt sie Rumänien. Die in dieser Zeit erworbene intime reale Gegenstände, bleibt im Leben verankert u. nah an der Wirklichkeit. Dieser Versuch Kenntnis internationaler Kooperation u. einer präzisen Wahrnehmung der Dinge, ge- Konkurrenz erzeugt in L.s Prosa eine spanpaart mit einer starken inneren Retrospekti- nungsreiche Mischung national-, global- u. on, zieht sich durch ihre gesamten Schriften. wissenschaftspolitischer, sozialer, eth. u. L.s Werke zeichnen sich aus durch einen ei- techn. Erzählinhalte, die sich nicht nur in der genwilligen iron. Ton, der oft die kleinen Themenvielfalt der Romane, sondern auch in Dinge des Alltags in ein neues Licht setzt u. ihren Gattungsbezeichnungen spiegelt: Undabei die liebenswürdigen Schwächen u. Ei- tergang der Luna. Kosmologischer Roman (Bln. genarten der Menschen unterstreicht. In 1921), Gold. Politischer Roman aus der Gegenwart Bachs Biss. Eine Liebe in Lüneburg (Eggingen (Bln. 1922), Feuer am Nordpol. Technisch-politi2000) erhält ihre witzig-iron. Schreibweise scher Roman aus der Gegenwart (Lpz. 1924) oder eine neue Dimension: Die Hauptfigur ist eine Flammen aus dem Weltenraum. Ein Zukunfts-Rohistorische musikal. Größe, Johann Sebastian man (Bln. 1927). Die wissenschafts-, kapitaBach. Auf seinem Sterbebett kreisen seine lismus- u. kulturkrit. Themen werden oft mit Erinnerungen um seine Jugendliebe Dodo. Narrativen des utop. Romans, des Spionage-, Zgl. gibt er eine unerwartete Erklärung über Kriminal- u. Liebesgenres enggeführt, wobei seine Musikkomposition. Die sehr einfühlsa- die trivialromant. Tendenz durch die komme Liebesbeziehung steigert sich zu einer Art plexe weltanschaul. Thematik aufgewogen Barockhöhepunkt, wenn Bach u. Dodo im wird. Prägnant sind hier die Klage über Deutschlands Marginalisierung im polit. Himmel weilen. Weitere Werke: Il Prete Rosso. Salzb. u. a. 1996 Konzert der Mächte, aber auch die Dystopie (E.en). – Mit der Gabel in die Wand geritzt. Uhl- vom »Gleichgewicht des Schreckens«, das in dingen 1999 (G.). – Seesucht. Eggingen 2002 (R.). – den Romanen stets zugunsten einer optimist. Tolle Weiber. 2007 (Theaterstück, Urauff. Bre- »Technokratie der Besten« überwunden genz). wird. Stilistisch wie thematisch stehen L.s Literatur: Günther Fischer: U. L. In: LGL. – Texte zwischen der fantast. Science-Fiction Annette Daigger: Schöne Aussichten – U. L.s neuer (Laßwitz) u. dem Reportagestil der Neuen

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Sachlichkeit (Dominik), der sich in der Montage von auktorialen Textpassagen u. fiktiven Dokumenten (Briefen, Tagebuchnotizen, Zeitungsausschnitten u. Kabeltelegrammen) zeigt. Mit seinem kosmolog. Roman Der Untergang der Luna, der die in den 1920er Jahren populäre Hörbiger’sche Welteistheorie zum Thema hat, begründet L. das Genre des Welteisromans. Mit neusachl. Gestus schildert der dystop. Science-Fiction-Plot den Niederbruch des Mondes auf die Erde, deren dekadente Zivilisation sich ungeachtet ihrer techn. Entwicklung nicht erhalten kann; es überleben die vitalen Praktiker. In Flammen aus dem Weltenraum bekämpft der postsowjet. Diktator Kolumin die internat. »Friedensliga«, die mit Luftschiffen u. »Todesstrahlen« ihrer Raumstation den Frieden sichern will. Noch tödlicher sind freilich die solaren Eruptionen, die im Sinn der Welteislehre große Teile des Planeten, nicht jedoch den Helden Westerkamp vernichten. Dieser nämlich, nach dem Scheitern des Diktators u. der Liga im Besitz der Raumstation, erklärt sich selbst zum Autokraten u. entwirft ein anarchist. Aufbauprogramm: »Alle Werte sind umgewertet. Wir müssen wieder beim Agrarstaat anfangen«. Politisch ähnlich radikal verfährt auch das Konsortium in Feuer am Nordpol, das, bestehend aus dem dt. Wünschelrutengänger Sanders, dem kirgis. Kapitalisten Stratoff u. der rumän. Fürstin Lahory, auf die wirtschaftl. Ausbeutung des Nordpols zielt. Zu diesem Zweck erfolgt die Staatsgründung von »Nova Thule«, das durch ein Geheimabkommen mit den USA die Unabhängigkeit erlangt. Globales Krisenmanagement betreibt auch L.s Giftküche (Bln. 1929), worin ein ungar. Brüderpaar mithilfe einer Giftgasformel u. des dt. Diplomaten Wallrodt den von der Sowjetunion u. ihrer Topagentin Xenia bedrohten Frieden dadurch zu erzwingen sucht, dass es die Formel sämtlichen Konfliktparteien zur Verfügung stellt. Sobald die Gegner, so die Hoffnung, alle »im Besitz des furchtbaren Mittels wären, müssten Vernunft und Menschlichkeit siegen« – schlimmstenfalls durch einen Giftgaskrieg, der allerdings durch Wallrodt abgewendet werden kann. So übertrifft der Kriminal- u.

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Spionageplot mit »unsichtbaren Kontrollapparaten« u. »drahtlosen Telephonen« »die Utopien fanatischer Weltverbesserer« durch »glühendes Werben um Hingebung und Glück«. Am deutlichsten wird L.s Zivilisationskritik in der Erzählung Buddha im Abendlande. Ein Buch von Glück und Leid (Bln. 1928), die das Modell des Kolonialromans verkehrt. Der »Groß-Lama« und »Radscha« Suta Tschampo unternimmt als Abgeordneter des Dalai Lama eine »Pilgerfahrt ins Abendland«, um dort Kultur u. Sittlichkeit der Europäer zu erkunden. Unterstützt vom dt. Asienforscher u. Buddhisten Forster trifft er auf den Kreis des reichen Hahnstein, den er mit der Lehre vom achtfachen Weg überrascht. Nach weiteren Erkundungen, bei denen er betrogen u. bestohlen wird, fällt die Bilanz des Radscha allerdings ernüchternd aus, gerade auch im »Kreise nationalistischer Jugend«: Diese nämlich neige »mehr aus völkischen Gründen als aus wirklicher Erkenntnis dem altgermanischen Mythos zu«; eine »innere Einkehr, ein Suchen nach den großen Problemen des Daseins« sei dort »nirgends zu finden«. Immerhin bekehren sich am Ende der Betrüger Herfeld u. Maria, die Geliebte Hahnsteins, zum Buddhismus; Forster u. Maria werden in Tibet ein glückl. Paar. Trotz seines vielfach wiederholten Credos: »Ich aber will frei sein, frei von jeder Bevormundung, sei es durch Kapital, durch den Staat oder irgendeine völkerbeglückende Utopie«, trat L., der bereits dem einflussreichen Deutschen Herrenklub als Mitgl. angehörte, nach dem Ende seiner Tätigkeit als freier Autor noch im vorgerückten Alter der NS-Bewegung bei; hier war er anfänglich als Chef vom Dienst der »Münchner Neuesten Nachrichten« (Berliner Stelle) tätig, dann als ehrenamtl. Richter am Volksgerichtshof in Berlin. Weitere Werke: Gefährl. Wiss. Roman aus dem Gebiete der Hypnose. Bln. 1919. – Kospoli. Bln. 1919 (R.). – Der Schuß auf dem Bardanjol. Eine Erzählung aus Albanien. Stgt. 1921. – Frau Irmas Abenteuer. Detektivroman. Lpz. 1928. – Verbrechen auf Schloß Wörth. Bln. 1929. Robert Matthias Erdbeer

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Lafontaine, August (Heinrich Julius), auch: Miltenberg, Selchow, Gustav Freier, * 5.10.1758 Braunschweig, † 20.4.1831 Halle; Grabstätte: ebd., Laurentiusfriedhof am Neumarkt. – Erzähler u. Romancier. L.s Vater Ludolph Lafontaine, der einer Hugenottenfamilie entstammte, war in Braunschweig Hofmaler; er verkehrte mit Gelehrten u. Schriftstellern, so auch mit Lessing. Nach dem Schulbesuch in Schöningen studierte L. ab 1777 in Helmstedt Theologie, verließ 1780 ohne Examen die Universität u. wurde Hauslehrer in Bartensleben. 1786 ging er als Hauslehrer nach Halle u. begann zu schreiben. Seine ersten schriftstellerischen Versuche – Dramatisierungen antiker Stoffe – wurden 1789 gedruckt (Scenen. 2 Bde., Lpz.) u. waren ebenso erfolglos wie das Trauerspiel Antonie oder das Klostergelübde (Halle 1789). Nachdem er sein Examen nachgeholt hatte, wurde L. 1789 Feldprediger. Ersten Erfolg hatte L. mit der Erzählungssammlung Die Gewalt der Liebe (4 Bde., Bln. 1791–94), die wie sein ganzes späteres Schreiben der Empfindsamkeit u. Spätaufklärung verpflichtet war. Der Titel verkündet schon das zentrale Thema nahezu des gesamten späteren Œuvres: der Liebesromane, die nach tränenreichen Szenen u. Überwindung vieler Hindernisse glücklich enden. So gilt es immer wieder, zwischen Adel u. Bürgertum die Standesgrenzen zu überwinden. Mit seiner Kritik an ihnen oder auch an adeliger Erziehung sowie mit der Absicht, in seinen Romanen lebensprakt. Orientierungshilfe mitzuliefern, erweist sich L. als spätes Kind der Aufklärung, wenn auch einer eher biederen u. maßvollen. Er greift aktuelle Themen auf, führt moralische Beispiele vor, möchte zu Tugendhaftigkeit anleiten. Er schildert realistisch die »kleine«, unsensationelle Alltagswirklichkeit. Die Liebesgeschichten lässt er in die Familie einmünden u. propagiert das Glück bescheidener bürgerl. Häuslichkeit. 1792 nahm L. als Regimentsprediger am Ersten Koalitionskrieg teil. Der Roman Klara du Plessis und Klairant. Eine Familiengeschichte Französischer Emigrirten (Bln. 1795), der bes. L.s

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großen Ruhm begründete, spiegelt Erfahrungen daraus; er verknüpft die Liebe zwischen einem Pächterssohn u. einer Adligen mit zeitgeschichtl. Ereignissen u. endet ausnahmsweise tragisch. Sehr erfolgreich u. viel gelobt war auch sein komischer Roman Leben und Thaten des Freiherrn Quinctius Heymeran von Flaming (4 Bde., Bln. 1795/96. Neuausg. 2 Bde., Ffm 2008). Seit 1795 lebte L. wieder in Halle, zunächst als Prediger, ab 1800 als einer der erfolgreichsten, recht gut verdienenden freien Schriftsteller seiner Zeit, überaus beliebt u. berühmt bis in die 1840er Jahre. Seine zahlreichen Werke, überwiegend Briefromane, erlebten mehrere, teils große Auflagen u. wurden in viele Sprachen übersetzt. Hohe Ehrungen wurden ihm zuteil. Ab etwa 1800 wurde L. auch zum fleißigen, aber flüchtigen, Schemata variierenden Vielschreiber u. bloßen Unterhaltungsschriftsteller: Das aufklärerische Ethos trat zurück u. triviale, eskapist. Momente drängten in den Vordergrund. Als ihm 1822 vom preuß. König eine regelmäßige Pfründe zuteil wurde, stellte er sofort die Romanproduktion ein. Insg. veröffentlichte L. neben einigen Dramen u. zahlreichen Erzählungen mehr als 50 meist mehrbändige Romane. Dass er später so nachhaltig aus dem literargeschichtl. Bewusstsein verschwand, liegt bes. auch am krit. Verdikt der Romantiker. Seine besseren Romane sind heute zu Unrecht vergessen. 1966 hat sich Arno Schmidt in einem Funkessay für den Autor eingesetzt. Im Jahr 2008, 250 Jahre nach seiner Geburt, gab es in Halle eine Reihe von Veranstaltungen, die den Bestsellerautor wieder ins Bewusstsein zurückrufen sollten. Weitere Werke: Romane: Der Naturmensch. Halle 1792. – Der Sonderling. 2 Bde., Halle 1793. – Rudolph v. Werdenberg. Eine Rittergesch. aus den Revolutionszeiten Helvetiens. Bln. 1793. – Aristomenes u. Gorgus, oder Rache u. Menschlichkeit. Bln. 1796. – Romulus. Bln. 1796. – Die Familie v. Halden. 2 Bde., Bln. 1797. – Saint Julien. Bln. 1798. – Hermann Lange. 2 Bde., Bln. 1799. – Theodor. 2 Bde., Bln. 1800. – Leben eines armen Landpredigers. 2 Bde., Bln. 1800/01. – Karl Engelmanns Tgb. Bln. 1800. – Fedor u. Marie, oder Treue bis zum Tode. Bln. 1802. – Henriette Bellmann. Ein Ge-

Lagarde mählde schöner Herzen. 2 Bde., Bln. 1802. – Eduard u. Margarethe, oder Spiegel des menschl. Lebens. 2 Bde., Bln. 1803/04. – Barneck u. Saldorf. 2 Bde., Bln. 1804/05. – Die Familienpapiere, oder die Gefahren des Umgangs. 2 Bde., Bln. 1806. – Arkadien. 3 Bde., Halle/Lpz. 1807. – Aline v. Riesenstein. 3 Bde., Halle 1808. – Die beiden Bräute. 3 Bde., Bln. 1808/09. – Das Testament. 3 Bde., Halle 1809. – Eduard oder der Maskenball. 3 Bde., Halle, Lpz. 1809/10. – Emma. 2 Bde., Bln. 1809/10. – Wenzel Falk u. seine Familie. 3 Bde., Bln. 1810. – Der Hausvater oder: Das liebt sich! u. warum? 3 Bde., Halle 1810. – Amalie Horst oder das Geheimniß glücklich zu seyn. 2 Bde., Halle/Lpz. 1810. – Tinchen oder die Männerprobe. 2 Bde., Halle/ Lpz. 1811. – Das Bekenntniß am Grabe. 3 Bde., Halle 1811. – Die Moralsysteme oder Ludwig v. Eisach. 2 Bde., Halle/Lpz. 1812. – Bürgersinn u. Familienliebe, oder Tobias Hoppe. 3 Bde., Halle 1812. – Walther, oder das Kind vom Schlachtfelde. 3 Bde., Halle 1813. – Der Kampf mit den Verhältnissen, oder der Unbekannte. 3 Bde., Halle 1815. – Die Pfarre an der See. 3 Bde., Halle 1816. – Das heiml. Gericht des Schicksals, oder Rosaura. 3 Bde., Halle 1817. – Agathe oder das Grabgewölbe. 3 Bde., Lpz. 1817. – Reinhold. 3 Bde., Halle 1818. – Die Geschwister oder die Reue. 2 Bde., Halle 1819. – Die Wege des Schicksals. 2 Bde., Halle/Wien 1820. – Die Stiefgeschwister. 3 Bde., Halle 1822. – Lesebuch. Hg. Ingeborg v. Lips. Halle 2008. – ›Das Herz wandte sich mir in der Brust um‹. Literar. Briefe v. den Kriegen der Frz. Revolution. Hg. I. u. Hermann v. Lips. Halle 2008. Literatur: Johann Gottfried Gruber: A. L.s Leben u. Wirken. Halle 1833. – Hilde Ishorst: A. H. J. L. Bln. 1935. – Dietrich Naumann: Das Werk A. L.s u. das Problem der Trivialität. In: Studien zur Triviallit. Hg. Heinz Otto Burger. Ffm. 1968, S. 82–100. – Marion Beaujean: A. L. In: NDB. – Arno Schmidt: Eine Schuld wird beglichen. In: ... denn ›wallflower‹ heißt ›Goldlack‹. Zürich 1984. – Zdenko Sˇkreb: A. H. J. L. In: Erzählgattungen der Triviallit. Hg. ders. u. Uwe Baur. Innsbr. 1984, S. 53–65. – Helmut Peitsch: ›Wir sind hier nicht auf dem Theater‹. A. H. J. L.s polit. Briefroman ›Klara du Plessis und Klairant‹. In: Der dt. Roman der Spätaufklärung. Fiktion u. Wirklichkeit. Hg. Harro Zimmermann. Heidelb. 1990, S. 195–216. – Dirk Sangmeister: Bibliogr. A. L. Bielef. 1996. – Ders.: A. L. oder Die Vergänglichkeit des Erfolges. Leben u. Werk eines Bestsellerautors der Spätaufklärung. Tüb. 1998. Walter Olma

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Lagarde, Paul (Anton) de, eigentl.: P. Bötticher (bis 1854), * 1.11.1827 Berlin, † 22.12.1891 Göttingen; Grabstätte: ebd., Stadtfriedhof. – Orientalist, Kulturkritiker, Theologe. L. entstammte einer sächs. Pastorenfamilie, deren Religiosität sich bei L.s Vater, einem Berliner Gymnasialoberlehrer, nach dem frühen Tod seiner Frau zu neopietist. Frömmelei verformt hatte. Dessen unversöhnlich ablehnende Haltung prägte L.s »bodenlos traurige« Kindheit u. Jugendzeit; seine schwierige Persönlichkeitsstruktur liegt hier begründet. Nach dem Besuch des Berliner Friedrich-Wilhelm-Gymnasiums studierte L. seit 1844 in Berlin u. Halle evang. Theologie (bei Ernst Wilhelm Hengstenberg), Philologie u. Orientalistik (bei Rückert, der sein väterl. Freund u. Förderer wurde; Promotion 1849). In Halle arbeitete er seine orientalist. Habilitationsschrift (Arica. Halle/S. 1851) aus; erste textkrit. u. lexikologisch-grammat. Arbeiten entstanden. 1852 erhielt L. ein zweijähriges Forschungsstipendium für London, wo er auch als Mitarbeiter des preuß. Botschafters Bunsen, seines Förderers, tätig war. In Paris freundete er sich 1853 mit Ernest Renan an. Neben Arbeiten an der Rekonstruktion des NT auf der Grundlage oriental. Texte verfasste L., der 1849 nach der sog. WaldeckAffäre mit dem preuß. Konservativismus der Reaktionszeit wie auch der protestant. Orthodoxie gebrochen hatte, erste von »einer leichten Anglomanie« (Stern) geprägte polit. Essays (u. a. Konservativ? 1853. In: Deutsche Schriften II. Gött. 1881). Die kurz nach seiner Heirat erfolgte Adoption durch seine Großtante Ernestine de Lagarde symbolisierte die endgültige Absage an das Vaterhaus. Nach L.s zweiter erfolgloser Lehrstuhlbewerbung, die er einer Verschwörung der verhassten »Zunft« zurechnete, trat er 1854 in den Schuldienst. Er führte aber seine wiss. Arbeiten fort, v. a. krit. Editionen altchristlicher syr. u. griech. Texte (Gesammelte Abhandlungen 1854–1866. Lpz. 1866). Die Wiederaufnahme seines lange geplanten Forschungsprojekts einer hist.-krit. Ausgabe der Septuaginta zeitigte während seines Studienaufenthaltes in Schleusingen/Thüringen

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(1866–1869) so beachtl. Ergebnisse (Genesis graece. Gött. 1868), dass L. von der Universität Halle die theolog. Ehrendoktorwürde erhielt. Auch nach seiner Berufung als Nachfolger Ewalds in Göttingen (1869) widmete sich L. neben kirchengeschichtl. sowie bibl. Texteditionen v. a. seiner – unvollendet gebliebenen – Septuaginta-Ausgabe (auf L.s Grundstock aufbauend, erschien sie seit 1908). Sein Hauptverdienst als Orientalist u. Theologe bestand dabei in der Fortbildung der historisch-philolog. Methode. Daneben betätigte sich L. »als Kritiker und Prophet seines Volkes« (Stern): In zeitkrit. Abhandlungen (u. a. Über das Verhältnis des deutschen Staates zu Theologie, Kirche und Religion. Gött. 1873) polemisierte er gegen den Materialismus u. Liberalismus des gründerzeitl. Staates u. prangerte den kulturellen Verfall sowie die polit. Uneinigkeit Deutschlands an. L.s Deutsche Schriften (2 Bde., Gött. 1878–81. Ausg. letzter Hand: Gött. 1886), ein klass. Werk der dt. Kulturkritik, gewannen ihre damals ungeheuere Sprengkraft aus der Verbindung scharfer Analyse der Defizite Bismarck-Deutschlands mit den in glühendem Patriotismus u. bezwingender Sprachgewalt beschworenen Erneuerungsvisionen. L.s Warnungen vor den sich abzeichnenden Gefahren der beginnenden Gründerzeit – soziale Spannungen, staatlich-bürokrat. Reglementierung aller Lebensbereiche, inhumanes Besitz- u. Gewinnstreben sowie der politische, religiöse u. geistig-moralische Niedergang des Volkes in einem liberalen Staatswesen – ließen ihn als Mahner u. Künder einer neuen Epoche erscheinen. Den divergierenden Strömungen der Zeit in Politik, Wirtschaft, Religion u. Erziehung setzte er ein ultrakonservatives Reformkonzept zur Erneuerung u. Einigung der Nation durch eine integrative überkonfessionelle Zukunftsreligion entgegen: Die verbindenden gesellschaftl. Werte der Nation sollten in ein »Heiligtum [...] der Stämme und Nationen« fließen; darauf sollte auch die Erziehung der Jugend aufbauen. Dabei zeigte sich L. nicht aus rass. Gründen als Gegner des Judentums; er apostrophierte die angeblich »fremde« Glaubensgemeinschaft vielmehr als Hindernis der »Einswerdung« der dt. Nation. Wegen

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dieser u. anderer Thesen – etwa von den neuen Aufgaben des dt. Volks in Ost-Mitteleuropa – wurde L., der sich der Vereinnahmung durch nationalreformerische bzw. antisemitische Zirkel oder Personen entzogen hatte, von den NS-Ideologen (v. a. Alfred Rosenberg) als Ahnherr u. »Prophet völkischer Wiedergeburt« reklamiert. Dazu trugen maßgeblich seine für die nationalist. Rechte der Weimarer Republik anziehenden antiliberalen u. antisemit. Feindbilder bei, die mit der 1921 einsetzenden zweiten Rezeptionswelle seiner Werke nach Ablauf von deren Schutzfrist Popularität erlangten. Der »energische Kulturpessimist« L. gilt neben Nietzsche u. Langbehn – der stark von ihm beeinflusst war – als einer der bedeutenden Kulturkritiker des kaiserl. Deutschland, dessen Ideen heute zugunsten »neuer Erkenntnischancen« in die Gedankenwelt des ausgehenden 19. Jh. eingeordnet werden müssten (Ulrich Sieg). L.s publizist. Werk prägte Jugendbewegung u. Reformpädagogik sowie verschiedene nationalist. Gruppierungen des frühen 20. Jh. Weitere Werke (Erscheinungsort jeweils Gött.): Symmicta. 2 Bde., 1877–80. – Aus einem dt. Gelehrtenleben. Aktenstücke u. Glossen. 1880. – Mitth.en. 4 Bde., 1884–91. – Erinnerungen. Hg. Anna de Lagarde. Gött. 1894. – Gedichte. Gesamtausg. Hg. dies. 1897. – Ausgew. Schr.en. Hg. Paul Fischer. Mchn. 1924. 2., verm. Aufl. 1934. Literatur: Robert W. Lougee: P. de L. A Study of Radical Conservatism in Germany. Cambridge/ Mass. 1962. – Fritz Stern: Kulturpessimismus als polit. Gefahr. Eine Analyse nat. Ideologie in Dtschld. Bern u. a. 1963, S. 25–123. – Walter Schütte: L. u. Fichte. Gütersloh 1965. – Uwe-K. Ketelsen: Völkisch-nat. u. nationalsozialist. Lit. 1890–1945. Stgt. 1975. – Jean Favrat: La pensée de P. de L. Paris 1979. – Robert Hanhart: P. A. de L. u. seine Kritik an der Bibel. In: Theologie in Göttingen. Eine Vorlesungsreihe. Hg. Bernd Möller. Gött. 1987, S. 271–305. – Doris Mendlewitsch: Volk u. Heil: Vordenker des NS im 19. Jh. Rheda-Wiedenbrück 1988. – Ina Ulrike Paul: P. de L. In: Hdb. der Gesch. der völk. Bewegung. Hg. Uwe Puschner u. a. Mchn. 1996, S. 49–89. – Hans-Christof Kraus: P. A. de L. In: DBE. – Sandrine Kott: Eléments pour une histoire sociale et culturelle de la religion en Allemagne. In: Revue d’histoire moderne et contemporaine (2002), H. 1, S. 92–111. – Jan Andres: Politik in der konservativen dt. Kulturkritik: P. de L.,

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August Julius Langbehn, Thomas Mann. In: Politik. Situationen eines Wortgebrauchs im Europa der Neuzeit. Hg. Willibald Steinmetz. Ffm./New York 2007, S. 339–361. – Ulrich Sieg: Dtschld.s Prophet. P. de L. u. die Ursprünge des modernen Antisemitismus. Mchn. 2007. – Ders.: Die Sakralisierung der Nation. P. de L.s ›Deutsche Schriften‹. In: Antisemit. Geschichtsbilder. Hg. Werner Bergmann u. ders. Essen 2009, S. 103–120. – Goedeke Forts. Ina Ulrike Paul

Lahr, Helene, geb. Obermayer, eigentl.: H. Birti-Lavarone, * 9.1.1894 Wien, † 23.3. 1958 Wien. – Verfasserin von Lyrik u. Kurzprosa, Übersetzerin. L. stammte aus einer großbürgerl. Familie, ihr Vater war ein Bruder der Frauenrechtlerin u. Schriftstellerin Rosa Mayreder. 1914 ging L. eine Ehe mit einem Offizier ein, mit dem sie ab 1918 zurückgezogen u. zeitlebens kränkelnd in Baden bei Wien lebte. Erst ab 1945 wieder in Wien zu Hause, widmete sie sich intensiver dem Schreiben, v. a. dem Übersetzen. L.s schmales Œuvre besteht aus Erzählungen, Skizzen, Feuilletons u. Gedichten, in denen sie mit feinem Humor u. heiterer Ironie Augenblicksbilder u. fantastisch-dämonische Szenen ausformuliert. Für Das Talkbergwerk aus ihrem ersten Band mit Erzählungen u. Lyrik, Die wirklichen Eulen (Wien 1955), erhielt sie 1954 den Lyrikerpreis der »Wiener Zeitung«. L. übersetzte poln. Literatur u. Kinderbücher, u. a. Stanislaw Jerzy Lecs Gedichte Über Brücken schreitend (Wien 1950), die Anthologie Polnische Lyrik (Wien 1953) u. Julian Tuwims Kinderbuch Das Rübchen (Mchn. 1970). L.s Lebensgefährte u. späterer Nachlassverwalter, der Schriftsteller Oskar Jan Tauschinski, stellte postum zwei Bände mit Gedichten u. Kurzprosa aus verschiedenen Entwicklungsperioden zusammen (Skeptisches Tagebuch. Wien 1963. Der Seitenblick. Wien 1969). /

Literatur: Oskar Jan Tauschinski: H. L., Lady Outsider. In: Wort in der Zeit, H. 8 (1962), S. 6–12. Christine Schmidjell / Red.

Lalebuch, 1597 in Straßburg anonym erschienen. – Schwankroman. Dem L. liegt die Frage zugrunde, ob es der menschl. Natur möglich sei, sich über längere Zeit aus taktischen Gründen zu verstellen u. doch unverbildet zu erhalten. Gegenstand des Exempels sind die Lalen (griech. lálos, »geschwätzig«) aus Laleburg, die beschließen, sich als Narren auszugeben, u. unfreiwillig zu wirkl. Toren werden. Damit ist die Ausgangsfrage verneint. Die Lalen, von ihren Vorfahren her Bauern, sind aufgrund ihrer angeborenen Weisheit als Ratgeber an auswärtigen Fürstenhöfen tätig. Da dabei ihre Landwirtschaft verkommt, beschließen sie, sich dumm zu stellen u. nur noch »allerwunderbarnarrseltsamabenteuerliche Possen« zu treiben: Sie bauen ein Rathaus u. vergessen die Fenster, sie säen Salz, sie wählen den dümmsten Sauhirten zum Schultheiß, sie demonstrieren dem Kaiser erfolgreich, wie närrisch sie geworden sind, oder sie verbergen ihre Kirchenglocke im See u. markieren die entsprechende Stelle an ihrem Boot; am Ende kaufen sie eine Katze, befürchten aufgrund eines Missverständnisses, diese fresse »Vieh und Leut«, versuchen sie zu töten, zerstören dabei ihr eigenes Dorf u. verstreuen sich in alle Lande – »doch ist jhr Thorheit und Narrey [...] ubergeblieben, unnd vielleicht mir unnd dir auch ein guter theil darvon worden«. Im Sinne des mittelalterl. »ordo«-Gedankens propagiert das L. die Übereinstimmung von »art« (Natur) u. Stand (Tätigkeit). Widernatürliches Handeln führt zu Konsequenzen, die der Verfügungsgewalt des Einzelnen wie der der Gemeinschaft entzogen sind. Wenn die Lalen anfangs »nur« die Kausalitätsgesetze verkennen oder Schlusstechniken falsch anwenden, so kulminiert ihre Narrheit in dem kollektiven Beschluss, die hierarch. Ordnung dadurch zu negieren, dass der Unterste (Sauhirt) zum Obersten (Schultheiß) gewählt wird. So wird bei den »Willignarren« aus der nur angenommenen eine naturhafte Dummheit (»consuetudo est altera natura«), die zur Zerstörung der Gemeinschaft wie zum Tod Einzelner führt.

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Der Verfasser beruft sich häufig auf entsprechende gnomische Literatur des MA u. ist mit zahlreichen Episoden der älteren Schwankliteratur (Wickram, Bebel, Jakob Frey, Hans Wilhelm Kirchhof) verpflichtet. Die übernommenen Elemente werden aber nicht nur in einen einheitlich-sinnstiftenden Kontext gestellt, sondern auch – das unterscheidet das L. von seinen Vorläufern – in einen erzählerischen Rahmen eingefügt. Der Erzähler, Teilnehmer auf dem Reichstag zu Uthen im Königreich Utopia, erblickt von einem See aus ein »altes mawrwerck« – die Laleburg – u. erhält vom Fährmann einen Bericht über das Schicksal der Lalen, den er für den Leser »in eine Ordnung« bringt. Das konsequente Fortschreiten der Handlung wie der die Erzählepisoden u. den Rahmen verbindende Ausblick machen das L. über den zeitsatir. Charakter gegen die den gesellschaftl. »ordo« negierenden Kräfte des 16. Jh. hinaus zum ersten kom. Roman, dessen literar. Rang nicht zuletzt aus der Bereitschaft des Verfassers erwächst, sich u. den Leser in der potentiellen Nachfolge der in alle Welt zerstreuten Narren zu sehen. Das L. erschien anonym 1597 mit der Angabe »gedruckt zu Laleburg« in der Straßburger Druckerei von Jobins Erben. Bereits 1598 kam in Frankfurt (ebenfalls anonym) eine Bearbeitung u. d. T. Die Schildbürger mit der fingierten Angabe »gedruckt zu Misnopotamia« heraus. Welcher Ausgabe die Priorität zukommt, ist so umstritten wie die Frage, ob ihnen weitere Drucke vorangegangen sind. Dies wird vermutet, weil ein Mischdruck von 1614 wohl eine andere Vorlage gehabt hat als die Drucke von 1597 u. 1598. Viel Scharfsinn hat die Forschung auf die Frage nach zeitgenöss. Bezügen wie nach den Verfassern verwandt, ohne zu einem unumstrittenen Ergebnis gekommen zu sein (Wolfhart Spangenberg ist sicher nicht der Verfasser des L.s). Für die Schildbürger vermutete man mit einer Begründung, die berechtigten Widerspruch hervorrief (Ertz 1989), Johan Fischart als Verfasser. Er löste Johannes Mercator, Pfarrer aus Zierenberg, ab, in dem man nicht nur den Bearbeiter der Schildbürger hat sehen wollen, sondern auch den einer 1603 erschienenen

Lalebuch

weiteren Bearbeitung mit dem Titel Grillenvertreiber (Ersetzung der Schildbürger durch die Witzenbürger) u. einer ab 1605 den Drucken beigegebenen Fortsetzung (Hummelvertreiber). Die Rezeption ging von den gegenüber dem L. literarisch zurückbleibenden Schildbürgern aus, die seit der Romantik in zahlreichen Ausgaben u. Bearbeitungen erschienen sind. Von wenigen Ausnahmen abgesehen (Erich Kästner), sind sowohl Lalen als auch Schildbürger, wenn nicht aufgrund ideolog. Vereinnahmung ihre urspr. Aussage auf den Kopf gestellt wurde (frühbürgerl. Protest gegen den Fürstenstaat), durch missverstehende Eingriffe u. Reduktionen zu biedermeierl. Dummköpfen oder »puren Schabernackfiguren« (Wunderlich) verkommen. Ausgaben: Das L. (1597) mit den Abweichungen u. Erweiterungen der Schiltbürger (1598) u. des Grillenvertreibers (1603). Hg. Karl v. Bahder. Halle/ S. 1914. – Das L. Nach dem Druck v. 1597 mit den Abweichungen des Schiltbürgerbuchs v. 1598 u. zwölf Holzschnitten v. 1680. Hg. Stefan Ertz. Stgt. 1970. 21982. Bibliografisch erg. Ausg. 1998. – Die Schiltbürger. Mit einem Nachw. u. einer Bibliogr. v. Günter Schmitz. Hildesh./New York 1975. – Das L. in Abb. des Drucks v. 1597. Hg. Werner Wunderlich. Göpp. 1982. Literatur: Bibliografie: Bodo Gotzkowsky: ›Volksbücher‹ [...]. Bibliogr. der dt. Drucke. Tl. 1: Drucke des 15. u. 16. Jh., Baden-Baden 1991, S. 521–523 u. 565–569; Tl. 2: Drucke des 17. Jh., Baden-Baden 1994, S. 163–167 u. 174–179. – Weitere Titel: Walter Hesse: Das Schicksal des L. in der dt. Lit. Diss. Breslau 1929. – Stefan Ertz: Aufbau u. Sinn des L.s. Diss. Köln 1965. – Peter Honegger: Die Schiltburgchronik u. ihr Verf. Johann Fischart. Hbg. 1982. – Werner Wunderlich: ›Schildbürgerstreiche‹. Ber. zur L.- u. Schildbürgerforsch. In: DVjs 56 (1982), S. 641–685. – S. Ertz: Fischart u. die Schiltburgerchronik. Köln 1989. – Laura Auteri: Späthumanist. ›Kulturpessimismus‹ am Beispiel vom L. In: Daphnis 21 (1992), S. 245–268. – Jörg Jochen Berns: Der Weg v. Amaurotum nach Laleburg. Unvorgreifl. Gedanken zur Bedeutung der Utopia-Allusionen des L. In: Lit. u. Kultur im dt. Südwesten zwischen Renaissance u. Aufklärung. FS Walter E. Schäfer. Hg. Wilhelm Kühlmann. Amsterd. u. a. 1995, S. 149–172. – Andreas Bässler: Die Funktion des Rätsels im L. (1597). In: Daphnis 26 (1997), S. 53–84. – John van Cleve: Wunderseltsames u. Abenteuerliches, gelesen u. gehört. Erzähl-

Lambeck technik u. Rezeption beim L. In: Daphnis 27 (1998), S. 443–451. – Ulrike Zitzlsperger: Natur u. Kultur in der Narrengestalt des ausgehenden MA u. der frühen Neuzeit. In: Natur u. Kultur in der dt. Lit. des MA. Hg. Alan Robertshaw u. a. Tüb. 1999, S. 253–265. – Oliver Becker: Die Deutung des L.s aus neustoizist. Sichtweise. In: Eulenspiegel-Jb. 40 (2000), S. 89–108. – Albrecht Dröse: Formen u. Funktionen polit. Rhetorik im L. v. 1597. In: Daphnis 33 (2004), S. 683–708. – Hans Rudolf Velten: Die verbannten Weisen. Zu antiken u. humanist. Diskursen v. Macht, Exil u. Glück im L. (1597). Ebd., S. 709–744. – Hans-Jürgen Bachorski: Irrsinn u. Kolportage: Studien zum ›Ring‹, zum L. u. zur ›Geschichtklitterung‹. Trier 2006. – Gert Hübner: Vom Scheitern der Nützlichkeit: Handlungskalküle u. Erzählverfahren im L. In: ZfdPh 127 (2008), S. 357–373. Jens Haustein / Red.

Lambeck, Peter, Petrus Lambecius, * 13.6. 1628 Hamburg, † 4.4.1680 Wien. – Philologe, Historiograf, Bibliothekar. Gefördert durch Lucas Holstenius, seinen Onkel mütterlicherseits, lernte L., Sohn eines Hamburger Schreib- u. Rechenlehrers, auf einer Studienreise zahlreiche Gelehrte u. Buchliebhaber kennen, so in Amsterdam 1645 den Philologen Gerardus Johannes Vossius, in Paris 1646/47 Kardinal Francesco Barberini u. Gabriel Naudé, den Verwalter der Bibliotheken führender Politiker wie de Mesmes, Richelieu u. Mazarin. Dort u. in der kgl. Bibliothek vertiefte L. seine historischen u. philolog. Neigungen; 1647 veröffentlichte er den Prodromus lucubrationum criticarum (Paris, digitalisiert unter http://books.google.de), »Vorläufige kritische Erhellungen zu Gellius’ Noctes Atticae«. Nach einem zweijährigen Rom-Aufenthalt bei seinem Onkel, dem Leiter der Vatikanischen Bibliotheken, erwarb L. 1650 in Toulouse das Licentiat der Rechtswissenschaft, später 1660 in Bourges den Doktortitel. 1651 kehrte er zurück nach Hamburg u. wurde am dortigen Johanneum Gymnasialprofessor für Geschichte, 1659 dessen Rektor. L.s antiquarische Interessen zeigen u. a. die Origines Hamburgenses (2 Bde., Hbg. 1652 bzw. 1661. Hg. Johann Albert Fabricius. Hbg. 1706), Studien zu den »Anfängen Hamburgs« bis 1292; seine pädagogischen u. di-

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dakt. Bestrebungen sind in der Vorrede zum Prodromus Historiae literariae (Hbg. 1659. Hg. J. A. Fabricius. Hbg. 1710. Digitalisiert unter http://books.google.de) dokumentiert, in der die Entstehung der »Vorläufigen Gelehrsamkeitsgeschichte« aus dem eigenen Unterricht erläutert wird. Das Ziel, im Anschluss an Francis Bacons Konzeption über die Entstehung, Fortschritte u. Veränderungen aller Wissenschaften sowie über die wichtigsten Vertreter u. deren Schriften zu berichten, hat L. nicht realisiert: Schon die zusammenhängende Darstellung der ältesten Zeiten (von Adam bis zu Josephs Aufenthalt in Ägypten) wird von philolog. Detaildiskussionen unterbrochen; der darauf folgende, nun nach Jahrhunderten gegliederte Überblick bietet v. a. histor. Abrisse u. Tabellen. Über Fachvertreter (Philosophen, Historiker, Rhetoren, Juristen, Ärzte, aber auch Dichter oder Künstler) geben oft nur Namenslisten Auskunft (bes. zur griech. u. röm. Antike), für die eigene Zeit wird lediglich auf weiterführende Literatur verwiesen. Trotz solcher Defizite galt L. im 18. Jh. als einer der Begründer der Historia literaria, die die Geschichte der Gelehrsamkeit u. der Gelehrten von den Anfängen bis in die Gegenwart chronologisch fortschreitend darstellt. Im April 1662 verließ L. seine Heimatstadt für immer – darin bestärkt von Königin Christine von Schweden. Als Grund gibt er seine übereilte Geldheirat (am 19.2.1660) an, hinzu kamen finanzielle u. konfessionelle Schwierigkeiten. In Wien erhielt er eine Audienz bei Kaiser Leopold I., dem der Prodromus Historiae literariae gewidmet war; in Rom konvertierte er öffentlich zum Katholizismus. Im Dez. 1662 wurde L. in Wien zum kaiserl. Historiografen u. Vize-Bibliothekar ernannt, im Mai 1663 zum Leiter der Hofbibliothek. In diesem Amt, das er bis zum Lebensende innehatte, gewann L. das Vertrauen des Kaisers, der seine antiquarischen u. bibliophilen Interessen teilte. So erreichte er jährl. Dotationen an die Bibliothek, die Restaurierungen u. Ankäufe ermöglichten; 1665 wurde er mit der Übernahme der Bücher- u. Handschriftensammlung aus Schloss Ambras (Tirol) betraut, die u. a. eine LiviusHandschrift, die Goldene Bulle Karls IV. u.

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die Wenzelsbibel enthält. Auch L.s eigene Bibliothek aus Hamburg wurde 1667 in die kaiserl. Sammlung eingegliedert. Bleibende Verdienste erwarb sich L. durch die systemat. Neuordnung der Bibliotheksbestände nach den sechs Fakultäten, wodurch die Sammlung auch für auswärtige Gelehrte attraktiv wurde. L. erschloss die Ergebnisse seiner Sichtung in umfangreichen Katalogen zu den Handschriften (Commentarii de Augustissima Bibliotheca Caesarea Vindobonensi. 8 Bde., Wien 1665–79). Die späteren ergänzenden Auflagen (zuletzt hg. v. Adam Franz Kollar. Wien 1766–82), in denen L.s autobiogr. Tätigkeitsberichte u. literarhistor. Exkurse z.T. getilgt sind, werden bis heute benutzt. Weitere Werke: Orationes aliquot in illustri Gymnasio Hamburgensi habitae. Hbg. 1660. Neudr. in: Johann Albert Fabricius: Memoriae Hamburgenses. Bd. 3, Hbg. 1711, S. 1–134 (Internet-Ed.: Bayer. Staatsbibl. digital). – Sigmund v. Birken (Bearbeiter): Spiegel der Ehren des höchstlöbl. Kayser- u. Königlichen Erzhauses Oesterr. Nürnb. 1668 (als ›Oesterreichisches Eerenwerk‹ v. Johann Jakob Fugger 1555 veranlasst, verf. v. Clemens Jäger; L. fungierte ab 1666 als Redaktor). Literatur: Friedrich Lorenz Hoffmann: P. L. (Lambecius) als bibliogr.-literarhistor. Schriftsteller u. Bibliothekar. Soest 1864 (mit ausführl. Schriftenu. Korrespondenzverz.). – Räß, Convertiten, Bd. 7, S. 156–165. – Gebhard König: P. L. (1628–80). Bibliothekar Kaiser Leopolds I. In: MIÖG 87 (1979), S. 121–166. – Anette Syndikus: Die Anfänge der Historia literaria im 17. Jh. Programmatik u. gelehrte Praxis. In: Historia literaria. Neuordnungen des Wissens im 17. u. 18. Jh. Hg. Frank Grunert u. Friedrich Vollhardt. Bln. 2007, S. 3–36. Anette Syndikus

Lambert, Johann Heinrich, * 26.8.1728 Mülhausen/Elsass, † 25.9.1777 Berlin. – Mathematiker, Physiker, Philosoph. L., einer der größten Gelehrten seiner Zeit, war Sohn eines Schneiders u. wiss. Autodidakt. Seine Tätigkeit als Hauslehrer in Chur führte ihn 1756–1758 durch Deutschland, die Niederlande, Frankreich u. nach Italien. 1759–1762 war er Mitgl. der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. 1764 kam er nach Berlin, wurde hier 1765 in die Akademie

berufen u. 1770 zum Oberbaurat bestellt. Er starb an Tuberkulose. L.s unerschöpfl. Ingenium schlug sich in einer Vielzahl wiss. Abhandlungen nieder; Bedeutendes leistete er auf den Gebieten der Astronomie (Lambert’sches Theorem für die Berechnung der Kometenbahnen) u. Fotometrie (Lambert-Beer’sches Gesetz, Lambert’sches Cosinusgesetz), Meteorologie u. Wärmelehre, Perspektiven- u. Projektionslehre (Lambertkarte), aber auch in Mathematik (Beweis der Irrationalität der Zahlen e u. pi, Parallellinientheorie als Vorstufe der nichteuklidischen Geometrie) u. Philosophie. Bekannt wurden L.s Cosmologische Briefe über die Einrichtung des Weltbaues (Augsb. 1761. Neudr. Bln./DDR 1979). Philosophisch bedeutsam war sein Versuch, englisch-frz. Empirismus u. dt. Rationalismus in einer systemat. Theorie der wiss. Erkenntnis zu verbinden: Neues Organon oder Gedanken über die Erforschung und Bezeichnung des Wahren und dessen Unterscheidung vom Irrthum und Schein (2 Bde., Lpz. 1764), Anlage zur Architectonic, oder Theorie des Einfachen und Ersten in der philosophischen und mathematischen Erkenntniß (2 Bde., Riga 1771). In mannigfacher Übereinstimmung mit Kants späterer Kritik der reinen Vernunft (1781) entwirft L. hier eine »konstruktive Wissenschaftstheorie der Galilei-Newtonschen Physik« (Wolters), wobei er als methodisches Paradigma aller Wissenschaften die Mathematik ansetzt. L.s Systematik unterscheidet vier Hauptgebiete: »Dianoiologie« (Logik), »Alethiologie« (Lehre von den einfachen, unmittelbar u. »a priori« »gedenkbaren« Grundbegriffen), »Semiotik« (Zeichenlehre, mit dem Ziel einer formalisierten Sprache für den wiss. Gebrauch im Sinne der Leibniz’schen Kalkültheorie) u. »Phänomenologie« (Lehre von der Unterscheidung von Wahrheit u. Schein in der wiss. Erkenntnis). Mit Kant, Euler, Kästner u. a. stand L. in wiss. Briefwechsel. Ausgaben: L.’s Photometrie. Hg. Ernst Anding. 3 Tle., Lpz. 1892. – Schr.en zur Perspektive. Hg. Max Steck. Bln. 1943. – Opera mathematica. Hg. Andreas Speiser. 2 Bde., Zürich 1946–48. – Philosoph. Schr.en. Hg. Hans-Werner Arndt. 9 Bde., Hildesh. 1965 ff. – Briefe: J. H. L.s dt. gelehrter

Lambrecht Briefw. Hg. Johann Bernoulli. 5 Bde., Bln. 1781–87. Literatur: Max Steck: Bibliographia Lambertiana. Bln. 1943. Erg. Neudr. Hildesh. 1970. – Ders.: Der handschriftl. Nachl. v. J. H. L. Basel 1977. – Colloque International et Interdisciplinaire J.-H. L. Hg. Université de Haute-Alsace. Paris 1979. – Gereon Wolters: Basis u. Deduktion. Bln./New York 1980. – Norbert Hinske: Stellenindex zu J. H. L. 4 Bde., Stgt. 1983 ff. – Geo Siegwart: Einl. zu: J. H. L.: Texte zur Systematologie u. zur Theorie der wiss. Erkenntnis. Hbg. 1988, S. VII-XCVII. – Gesine Lenore Schiewer: Cognitio symbolica. L.s semiot. Wiss. u. ihre Diskussion bei Herder, Jean-Paul u. Novalis. Tüb. 1996. – Astrid Deuber-Mankowsky: ›Eine Aussicht auf die Zukunft so wie in einem optischen Kasten‹. Transzendente Perspektive, opt. Illusion u. beständiger Schein bei Immanuel Kant u. J. H. L. In: ... Kraft der Illusion. Hg. Gertrud Koch. Mchn. 2006, S. 104–120. – Friedrich L. Bauer: J. H. L. (1728–77). In: Akademie aktuell – Ztschr. der Bayerischen Akademie der Wiss.en 16 (2006), S. 12–15. Wolfgang Riedel / Red.

Lambrecht, Christine, * 6.12.1949 Dessau. – Verfasserin von Protokollen u. Kurzprosa.

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DDR 1985) u. Jürgen Lemkes Ganz normal anders (Bln./DDR u. Ffm. 1989), dem bis dato umfangreichsten literar. Dokument über die Lebenslage homosexueller Männer in der DDR. L.s Texte vermitteln die Fiktionalität, die auch ein von der Form her authent. Protokoll hat. Das gilt für den Bericht des 36jährigen Soziologen über seine ersten homoerot. Erfahrungen ebenso wie für jene Briefe, die eine junge Frau (im dritten Teil der Dezemberbriefe) an ihre in der DDR zurückgebliebenen Freunde schreibt, um ihre Unsicherheit in der neuen Heimat Bundesrepublik hinter einem Schwärmen für den sog. »goldenen Westen« zu verbergen. Die Wirkung von L.s Texten beruht weniger auf deren vorgeblich literar. Niveau als auf dem Bruch mit gesellschaftl. Tabus der DDR. Für die Leser im Westen hatten L.s Arbeiten v. a. informativen Wert. Heute lesen sie sich mitunter wie vorweggenommene Erklärungen für die Ausreisewelle aus der DDR nach Öffnung der Grenzen im Herbst 1989. Nach einer längeren Publikationspause veröffentlichte L. 2001 einen Band mit Texten u. Erzählungen, Die aus’m Osten (Halle/S.). Daneben verfasst sie Texte zu Reiseführern über Dessau u. seine Umgebung.

L. arbeitete als Kosmetikerin, bevor sie – nach dem Besuch eines Zirkels schreibender Arbeiter – Anfang der 1980er Jahre zu publiHajo Steinert / Red. zieren begann. Sie lebt in Dessau u. arbeitet als Leiterin des dortigen Tourismus-Büros. Lambrecht, Nanny, eigentl.: Anna L., Ohne die Verhinderung einer freien Presse auch: Alca Ruth, Fanny von Venna, * 15.4. in der DDR sind die frühen Publikationen L.s 1868 Kirchberg/Hunsrück, † 1.6.1942 nicht denkbar. Sowohl die Prosaminiaturen Schönenberg/Sieg. – Romanautorin, ErDezemberbriefe (Halle 1982. Münster 1983) als zählerin. auch Männerbekanntschaften. Freimütige Protokolle (Halle u. Dortm. 1986. U. d. T. ›Und dann Aufgewachsen in der Hunsrücker Kleinstadt, nach Thüringen absetzen‹. Männer in der DDR – unterrichtete L. von 1889 bis 1902 als Volkszwölf Protokolle. Mchn. 1989) üben zu weiten schullehrerin in Malmédy in der damaligen Teilen eine Ersatzfunktion aus für das lang- preuß. Rheinprovinz. Mit ihrer Lebensgejährige Fehlen eines Journalismus, der auch fährtin, der Wallonin Fanny Bierens, zog sie gesellschaftl. Außenseiter u. Minderheiten nach Aachen u. 1919 nach Bad Honnef, wo wie Homosexuelle, unangepasste Rockmusi- beide Frauen bis zu L.s Tod zusammenlebten. ker oder in den Westen übergesiedelte MenL. verfasste feuilletonistische u. literar. schen berücksichtigt. L. machte sich zu deren Beiträge für Zeitungen, publizierte JugendSprachrohr, indem sie vor der eigentl. Arbeit schriften u. etablierte sich auf dem kath. am Text Protokolle auf Tonband u. Notiz- Buch- u. Zeitschriftenmarkt. Mit dem Noblock aufnahm. Ihre Texte stehen in der vellenband Was im Venn geschah... (Essen 1905) Tradition von Maxie Wanders Fraueninter- wurde sie im Rheinland bekannt. Ihre frühen views Guten Morgen, du Schöne (1978) neben Werke wie der Eifelroman Das Haus im Moor Christine Müllers Männerprotokollen (Bln./ (Essen 1906) können partiell der Heimat-

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kunst zugerechnet werden. In Die Statuen- – Der heiml. Gast. Bln. o. J. [1920] (R.). – Die Kinder dame! Roman einer Ehe und eines Volkes (Minden Kains. Bln. 1922 (R.). – Die Blonde, die Braune, die 1908) fand L. zu ihren maßgebenden Sujets: Schwarze. Dresden o. J. [1922] (R.). – In zwölfter Emanzipation der Frau, soziale Frage u. En- Stunde. Dresden 1924 (R.). – Der Raub auf der Königsburg. Wittlich o. J. [1926] (R.). – Overstolz. gagement gegenüber Benachteiligten – in Lpz. o. J. [1927] (R.). – Die Dame in Schwarz. Bln./ diesem Fall der wallonischen Minderheit in Lpz. 1929 (R.). – Anne-Brigitte. Bln. 1936 (R.). Preußen. Ihre psychologisch exakte FigurenLiteratur: Christina Niem: N. L. (1868–1942). zeichnung wurde von der Kritik gelobt, von Eine unangepaßte Schriftstellerin. Diss. Mainz anderen als zu »naturalistisch« abgelehnt. 1993 (mit Schriftenverz. u. Sekundärlit.). – Dies.: Überregionale Bekanntheit erlangte L. mit Minderheitenthematik in der kath. Lit. um 1900 Armsünderin. Roman aus dem Hunsrück (Mchn./ am Beispiel der Schriftstellerin N. L. In: MinderKempten 1909), in welchem sie die Selbstge- heiten u. Mehrheiten in der Erzählkultur. Hg. Surechtigkeit einer dörfl. Gesellschaft sowie das sanne Hose. Bautzen 2008. Christina Niem Versagen des kath. Klerus geißelte. Der Vorabdruck in der reformkatholisch orientierten Pfaffe Lambrecht. – Verfasser einer LeZeitschrift »Hochland« u. die Parteinahme gende u. eines Alexanderromans, beide in durch den Herausgeber Karl Muth führte zu moselfränkischer Sprache, um 1150. einem publizistisch geführten u. kulturpolitisch instrumentalisierten Disput mit ultra- Der Name L.s ist bekannt aus Selbstnennunmontan orientierten Katholiken. Dieser Lite- gen in den beiden Werken. Der Tobias, eine raturstreit bildete einen Teil der Kontroverse predigtartige Bearbeitung des apokryphen um die Stellung der Katholiken im protes- alttestamentl. Tobias-Buchs, von der nur 274 tantisch dominierten Deutschen Kaiserreich. Verse bewahrt sind, gilt gemeinhin als das Zu einer endgültigen Abkehr vom kath. frühere, vielleicht im Umkreis Triers entBuchmarkt führten die Romane Die Suchenden standene Werk. Das lebendiger gestaltete, (Bln. 1911) sowie Notwehr. Der Roman der Un- aber sprachlich ebenfalls formelhafte Alexangeborenen (Bln. 1912), in denen L. für Gebur- derlied hat möglicherweise die Kaiserchronik tenkontrolle eintrat. Die Schlachtfelder des benutzt, wurde selbst im Rolandslied zitiert u. Ersten Weltkriegs besichtigte sie bereits im spätestens um 1170 einer Bearbeitung unAug. 1914 u. verarbeitete den kriegerischen terzogen. L.s Alexanderlied bildet innerhalb des reiKonflikt in mehreren Kriegsromanen (Die eiserne Freude. Bln. 1915. Die Fahne der Wallonen. chen Stroms mittelalterlicher AlexanderBln. 1915. Der Gefangene von Belle-Jeanette. Bln. dichtung den Ausgangspunkt der deutsch1916. Die Hölle. Erlebnisse. Stg. 1916). In den sprachigen Fassungen. Es beruht auf einer 1920er Jahren legte L. neben Zeit- v. a. histor. (nur in 105 achtsilbigen Versen erhaltenen) Romane vor. Ihre Werke, die zunehmend frz. Vorlage des Alberich von Bisinzo, ist alunterhaltenden Charakter annahmen, sind lerdings selbst nur in drei Bearbeitungen weniger literarisch als vielmehr sozialge- fassbar. Dem Original am nächsten kommt schichtlich bedeutsam. Mit Hunsrück, Eifel wohl der Vorauer Alexander (1533 Verse), entu. preuß. Wallonie fokussierte sie Regionen, halten in der Vorauer Sammelhandschrift als die politisch wie literarisch marginalisiert Nahtstelle zwischen AT u. NT, zwischen Weltgeschichte u. Heilsgeschichte. Voran waren u. in denen L.s Werk heute der Vergeht die Jüngere Judith, es folgt Frau Avas Leben mittlung regionaler Identität dient. Jesu – zwei Texte, die das erste u. das vierte Weitere Werke: Allsünderdorf. Essen 1908 Weltreich (gemäß der Auslegung der bibl. (E.en). – Das Land der Nacht. Kevelaer 1908 (R.). – Danielsvision) betreffen u. zwischen denen Die neue Mutter. Warendorf 1909 (Sachbuch). – Die Mädchen. Essen 1910 (D.). – Bruder Mensch. Bln. wiederum das Alexanderleben den Übergang 1912 (E.en). – Das Heiratsdorf. Stgt. 1913 (R.). – Die vom zweiten zum dritten repräsentiert; in tolle Herzogin. Bln. 1913 (R.). – Die Hollaprinzeß. den Schauplätzen scheinen bibl. Szenarien Stgt. 1917 (R.). – Das Lächeln der Susanna. Bln. auf. Stärker bearbeitet sind dann der Straß1918 (R.). – Vor dem Erwachen. Bln. o. J. [1920] (R.). burger Alexander (um 1170/80; über 7000 Ver-

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se), überliefert zus. mit geistl. Dichtungen (Rede vom Glauben, Litanei, Pilatus), u. der Basler Alexander, entstanden wohl im 13. Jh., tradiert aber erst im 15. Jh. im Rahmen der Sächsischen Weltchronik. Die Vorauer Fassung setzt mit einem Prolog ein, der den frz. Quellenautor namhaft macht, aber auch die Autorität des ersten bibl. Makkabäerbuchs, das einen Kurzabriss von Alexanders Taten bot, nutzt. Topisch zieht der Verfasser unter Berufung auf Salomon den Gedanken von literar. Tätigkeit als Mittel gegen Müßiggang u. Eitelkeit, gegen eine »vanitas vanitatum« heran – ein Motiv, das der Straßburger Alexander ausbauen wird, um die Nichtigkeit des Strebens nach Weltherrschaft zu profilieren. Im Vorauer Alexander dominiert im Ganzen trotz krit. Brechungen die unübertroffene Größe Alexanders. Der Sohn König Philipps von Mazedonien erscheint als exorbitanter Feldherr u. Eroberer, herausgehoben durch die Wunderzeichen bei seiner Geburt u. eine ungewöhnlich rasche Entwicklung. Die Tradition des Ps.-Kallisthenes, in der Alexander Sohn eines Zauberers war, wird ebenso verworfen wie die Behauptung, Alexander habe seinen Vater wegen einer Lüge in die Tiefe gestoßen. Auf die ritterliche u. künstlerisch-wiss. Erziehung durch sechs Lehrer, unter ihnen Aristoteles, folgen erste Befriedungsaktionen des Helden u. der Zug gegen den Perser Darius, dem die Griechen unter Philipp zinspflichtig waren. Alexander erweist seine Herrscher- u. Heerführerqualitäten, legt aber auch eine Grausamkeit gegenüber Ländern, Städten u. Menschen an den Tag, die ihn als Vorbild ins Zwielicht rücken, obschon andererseits seine Überlegenheit über den Gegenspieler Darius deutlich wird. Gegen die zahlenmäßig weit überlegenen Perser behauptet er sich in zwei Schlachten – was den Erzähler dazu bringt, ihn über die Helden Trojas u. der heimischen Heldensage zu stellen. Das durch Botschaften u. Gabensendungen vorbereitete Aufeinandertreffen mit Darius endet schließlich abrupt mit dem Tod des Perserkönigs, dem Alexander den Kopf abschlägt, ohne dass der Kampf der Heere erzählt worden wäre – ein behelfsmäßiger Schluss, der aber noch einmal

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Alexanders Rolle als desjenigen, der die pers. Herrschaft beendet, unterstreicht. Die Straßburger Fassung ist nicht direkt von der Vorauer, sondern von deren Vorlage her entwickelt. Sie bietet, selbst wenn L.s urspr. Text umfangreicher gewesen sein sollte als der in Vorau überlieferte, sicher eine Ausgestaltung der Geschichte, bei der die Ereignisse unter Verwendung des erst im 12. Jh. entstandenen Iter ad paradisum weitererzählt werden: Nach dem Triumph über Darius und seinen Verbündeten Porus zieht Alexander bis ans Ende der Welt, begegnet schreckl. Tieren u. orientalisch-halbmenschl. Ungeheuern, trifft Occidraten u. Amazonen, findet schöne Waldmädchen, die Blumen entsteigen u. nur im Schatten leben können, Edelsteinpaläste u. sprechende Vögel, um schließlich an die Nabe der Welt zu gelangen u. an der Pforte des Paradieses umkehren zu müssen, versehen allerdings mit einem seltsamen Edelstein, den er sich zu deuten müht. Als ein Jude ihm dessen Eigenschaft, alle Reichtümer der Welt aufzuwiegen, selbst aber von einer Feder aufgewogen zu werden, im Hinblick auf Größe u. Nichtigkeit von Herrschaft auslegt, regiert Alexander zwölf Jahre ehrenvoll u. friedlich das Reich, setzt »mâze« der urspr. Hybris entgegen, um dann doch – wie ein klass. negatives Herrscherexempel – einem Gifttrunk zum Opfer zu fallen. Eine eindringl. Mahnung zu einem gottgefälligen Leben beschließt den Text. Der Welteroberungszug, den der Basler Alexander noch auf die Erkundung der Meere u. Lüfte ausdehnen wird, zeigt Alexander als Paradigma des Vanitas-Gedankens, seinen Zug zum Paradies als Gotteslästerung. Doch ist damit das Weltliche nicht generell abgewertet u. auch Alexander nicht negativ gezeichnet. Er erscheint als ebenso klug wie zornig. Das Bildungsprogramm, das er als Heide ohne spezif. Züge des zeitgenöss. Heidenbilds durchläuft, verkörpert eine Einheit von Gedanklichem u. Sinnlichem. Die Rolle von Vasallen u. Ratgebern tritt gegenüber der Vorauer Fassung ebenso stärker hervor wie die des Höfischen. Unübersehbar ist die Freude am Erzählen in Korrespondenzen u. Spiegelungen, an der Ausgestaltung von Redeszenen u. Agonalitäten (z.B.

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bei den Gaben u. Gegengaben), an der Dar- Peter Strohschneider u. Herfried Vögel: Flußüberstellung von Zweikampf u. Schlacht, an der gänge. Zur Konzeption des ›Straßburger AlexanEtablierung einer komplexeren Raumstruk- der‹. In: ZfdA 118 (1989), S. 85–108. – Willi Erztur, dergemäß Mesopotamien einen mehrdi- gräber (Hg.): Kontinuität u. Transformation der Antike im MA. Sigmaringen 1989. – Trude Ehlert: mensionalen Mittelbereich zwischen den Deutschsprachige Alexanderdichtung des MA. Reichen von Darius u. Alexander u. die Pa- Bern u. a. 1989. – Christoph Mackert: Die Alexanradiesesfahrt einen Wendepunkt bildet. Ins dergesch. in der Version des ›Pfaffen‹ L. Mchn. Zentrum rückt im letzten Teil die Wunder- 1999. – Jan Cölln u. a. (Hg.): Alexanderdichtungen welt des Ostens, die in Anlehnung an die lat. im MA. Gött. 2000. – Elisabeth Lienert: Dt. AntiEpistola Alexandri ad Aristotilem großteils als kenromane des MA. Bln. 2001. – Ulrich Mölk (Hg.): Brief in der Ich-Form mitgeteilt u. damit auf Herrschaft, Ideologie u. Geschichtskonzeption in die Frage subjektiver Erkenntnis- u. Ein- Alexanderdichtungen des MA. Gött. 2002. – Marsichtsmöglichkeiten bezogen wird. Zgl. wird kus Stock: Kombinationssinn. Narrative Strukturexperimente im ›Straßburger Alexander‹ [...]. Tüb. die Wunderwelt dazu genutzt, paradigmat. 2002, S. 73–148. – Marion Oswald: Gabe u. Gewalt. Verhältnisse von Kultur u. Natur, alternative Gött. 2004, S. 57–133. – Florian Kragl: Die WeisHerrschaftsformen u. Lebensweisen zu ent- heit des Fremden. Studien zur mlat. Alexanderwerfen. In ihnen trifft Alexander, der tradition. Bern u. a. 2005. – Ralf Schlechtweg-Jahn: »wunderlîche man« des ersten Teils, fort- Macht u. Gewalt im deutschsprachigen Alexanwährend selbst auf Wunderbares, an dem derroman. Trier 2006. – Beate Baier: Die Bildung seine Verfügungsgewalt über das in der Welt der Helden. Trier 2006. – Udo Friedrich: MenExistierende sowohl sich beweist als auch ihre schentier u. Tiermensch. Gött. 2009, S. 303–321 u. ö. Christian Kiening Grenze findet. Die Begegnung mit den Occidraten enthüllt ihm eine Lebensform ohne Hybris u. verweist ihn auf das Prinzip der Lamey, August Wilhelm, * 3.3.1772 Kehl Sterblichkeit, diejenige mit Candacis führt zu am Rhein, † 27.1.1861 Straßburg. – Lyrieiner Domestizierung u. Disziplinierung des ker, Dramatiker. Helden, aber auch zum Eintauchen in eine ästhetisch verfeinerte Kultur, in der die Fas- L., Sohn eines Großkaufmanns, studierte in zination des höf. Romans am Entwurf refle- Straßburg Philosophie u. schöne Wissenschaften. 1794 setzte er auf Anraten Pfeffels xiver Kunstwelten sich andeutet. Die Wirkung der drei Bearbeitungen von seine Studien an der neu gegründeten École Normale Supérieure in Paris fort, wo er um L.s Text ist im Ganzen gesehen gering. Alle 1796 das Amt des offiziellen Übersetzers bei sind nur in einer Handschrift überliefert. der Buchdruckerei der Republik übernahm. Rudolf von Ems rügt L. in seinem eigenen Nur im Kaiserreich Napoleons, den L. als Alexander dafür, die Geschichte nicht richtig »Stütze des Heils und der Nachwelt Hoffu. wahrheitsgemäß erzählt zu haben – seit nung« verehrte (Ode an Buonaparte. o. O. 1799), dem 13. Jh. werden denn auch die Alexanschrieb L. auch französisch (drei Dramen, derromane stärker den Anschluss an die Hisdarunter Romulus ou l’origine de Rome. Paris toriografie suchen. 1807). 1812 wurde er Mitgl. des Zollgerichts Ausgaben: P. L.: Alexanderroman. Mhd./Nhd. in Lüneburg, kehrte 1814 nach Paris zurück Hg. Elisabeth Lienert. Stgt. 2007. – Heinrich Deu. ließ sich 1816 im Elsass nieder, wo er bis zu gering: Neue Funde aus dem 12. Jh. In: PBB 41 seinem Ruhestand 1844 verschiedene Rich(1916), S. 513–553 (›Tobias‹). terämter (1818 Altkirch, 1827 Colmar, 1829 Literatur: Jürgen Brummack: Die Darstellung Straßburg) bekleidete. des Orients in den dt. Alexandergesch.n des MA. L. war als Lyriker erfolgreicher denn als Bln. 1966. – Hans Szklenar: Studien zum Bild des Dramatiker, wenngleich seine Wirkung Orients in vorhöf. dt. Epen. Gött. 1966. – Peter K. Stein: Ein Weltherrscher als ›vanitas‹-Exempel in kaum über das Elsass hinausreichte. Als Auimperial-ideologisch orientierter Zeit? In: Staufer- tor von Revolutionslyrik (Gedichte eines Franzeit. Hg. Rüdiger Krohn u. a. Stgt. 1978, ken am Rheinstrom. Straßb. 1791. Dekadische S. 144–180. – Werner Schröder: Der P. L. In: VL. – Lieder für die Franken. Straßb. [1795]) wurde er

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jüngst wiederentdeckt. Seine z.T. als Kontrafaktur bekannter Kirchen- u. Volkslieder geschriebenen Verse, deren Sprechsituation u. Sprache einem pragmat. Gebrauch entgegenkamen, treten für eine demokrat. Gesellschaftsordnung ein. Seine spätere Zeitlyrik setzt dieses Engagement fort, wie er auch in alle, epische u. dramat. Dichtungen, Fragmente u. Übersetzungen mitenthaltende, Sammlungen seine Revolutionsgedichte aufnahm (Blätter aus dem Haine. Straßb. 1836. Gedichte. Straßb. 1839. 21842. Jeweils verm. ebd. 1852. 1856. 1860). Sein demokratischweltbürgerl. Denken erlaubte es L., sich dem nationalistisch gefärbten Sprachenstreit im Elsass zu entziehen u. auf Nikolaus Beckers Rheinlied mit der Vision einer dauerhaften Versöhnung zwischen Deutschland u. Frankreich zu antworten (Streithymne). Neben Zeitgedichten schrieb L. eine am Schwäbischen Dichterkreis ausgerichtete Lyrik – mit Kerner war er befreundet –, deren Stoffe er der Geschichte u. den Sagen des Elsass entnahm. Weitere Werke: Cato’s Tod. Straßb. 1798 (Trauersp.). – Chronik der Elsässer, in Liedern u. Gemälden. Straßb. 1845–56. Literatur: August Stöber: A. L. In: Alsatia, N. F., Mülhausen/Basel 1861, S. 384–390. – André Baudinot: Les écrivains alsaciens dans la littérature allemande. Paris (1937), S. 101. – Hans Werner Engels (Hg.): Lieder u. Gedichte dt. Jakobiner. Stgt. 1971. – Hans-Wolf Jäger: L. In: NDB. – Christel Hess: L. In: NDBA, Lfg. 23 (1994), S. 2188. Ernst Weber

Lampe, Friedo (Moritz Christian Friedrich), * 4.12.1899 Bremen, † 2.5.1945 Kleinmachnow bei Berlin. – Redakteur, Bibliothekar, Lektor; Erzähler, Lyriker, Herausgeber, Kritiker. L. ist einer derjenigen Schriftsteller, die im »Dritten Reich« Kontakte zum Regime nach Möglichkeit vermieden u. doch schreibend in Deutschland blieben. Als zweiter Sohn eines Versicherungskaufmanns geboren, wuchs er zur Kaiserzeit in seinem Geburtsort auf (zunächst in der alten Hafengegend, dann am Osterdeich). Wegen einer Knochentuberkulose wurde er weder im Ersten noch im

Zweiten Weltkrieg eingezogen. Während der Weimarer Republik studierte L. Literaturwissenschaft, Kunstgeschichte u. Philosophie in Heidelberg, München, Leipzig u. Freiburg, wo er 1928 mit einer Dissertation über Goeckingks Lieder zweier Liebenden promoviert wurde. Als Redakteur u. Mitherausgeber von »Schünemanns Monatsheften« wieder in Bremen, begann er zu schreiben u. (unter dem NS-Regime) zu publizieren. In Folge der Weltwirtschaftskrise arbeitslos geworden, ließ er sich von Erwin Ackerknecht an der Büchereischule in Stettin zum Volksbibliothekar ausbilden u. arbeitete anschließend, inzwischen Mitgl. der NSDAP, als Angestellter der Hamburger Öffentlichen Bücherhallen. Im Hause des jüd. Arztes Lothar Luft traf er sich regelmäßig mit den Autoren Joachim u. Edgar Maass, Martin Beheim-Schwarzbach u. Wilhelm Emanuel Süskind. Sein Landsmann Ernst Rowohlt holte ihn 1937 als Lektor in den Berliner Verlag. Dort erschienen die beiden Kurzromane Am Rande der Nacht (1933, kurz nach der Publikation eingezogen, weil das Personal auch [homo-]erot. Außenseiter einschloss. Neuausg. u. d. T. Ratten und Schwäne. Hbg. 1949, zuletzt Mchn. 2002) u. Septembergewitter (1937. Neuausg. Ffm. 1976, zuletzt Mchn. 2004, auch als Fernsehfilm RB 1968 u. Hörspiel RB 2004). Nach der Gleichschaltung – Rowohlt emigrierte nach Brasilien – war L. für die Verlage Goverts, Henssel u. Diederichs tätig. Mit Autoren wie Horst Lange, Oda Schaefer, Ilse Molzahn, Kurt Kusenberg, Karl Korn u. Heinrich Goertz befreundet, schrieb L. an einer Sammlung von Erzählungen, deren Publikation er freilich nicht mehr erlebte: Der Band Von Tür zu Tür (Hbg.) erschien erst ein Jahr, nachdem L. (sechs Tage vor Kriegsende) von sowjet. Soldaten erschossen wurde, die in ihm wohl, denkbar fälschlich, einen SS-Mann vermutet hatten. L., der in der griechisch-röm. Antike ebenso gut Bescheid wusste wie in Klassik u. Romantik u. dem die Literatur des Fin de Siècle nicht weniger vertraut war als die der europäischen u. amerikan. Moderne, verschmolz Elemente all dieser Epochen subtil zu einer ganz ihm eigenen, neuen magischrealist. Erzählweise. Auch mit filmischen

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Techniken (Schnitten, Schwenks, Überblen- S. 177–182. – Michael Scheffel: L. In: KLG. – Ders.: dungen) gestaltete L. seine Kurzromane (u. a. Mag. Realismus. Die Gesch. eines Begriffs u. ein Texte) multiperspektivisch. Meist in einer Versuch seiner Bestimmung. Tüb. 1990. – Doris norddt. Hafenstadt (Bremen) begegnen je- Kirchner: Doppelbödige Wirklichkeit. Mag. Realismus u. nicht-faschist. Lit. Tüb. 1993. – Ein Autor weils Dutzende von Menschen, deren wird wiederentdeckt: F. L. 1899–1945. Gött. 1999. Schicksale durch Nacht / Zeit, Gewitter oder – Annette Hoffmann: F. L. – Idyllen auf ›vulkaniInselsituationen in übrigens durchgängig schem Grund‹. Erzählen im Stil des mag. Realismus äußerst musikal. Kompositionen miteinan- während des Dritten Reichs. Diss. Freib. i. Br. 2001. der verknüpft werden. Sie reden eine präzise – Gerald Funk: Verstörende Miniaturen. Der Ereingefangene bremische Alltagssprache, der zähler F. L. In: Am Erker, 26. Jg., Nr. 45 (2003), freilich regelmäßig »malerisch, lyrisch, stark S. 69–73. – Hans Dieter Schäfer: Moderne im atmosphärisch« beschriebene Stimmungen Dritten Reich. Kultur der Intimität bei Oskar gegenüber stehen. Der vorherrschenden be- Loerke, F. L. u. Helmut Käutner. Mainz 2003. Jürgen Dierking drohl. Gesamtstimmung haftet etwas Morbides an. Die souveräne Handhabung divergierender Stilebenen u. die avantgardist. Lampe, Friedrich Adolph, * 18. oder 19.2. Form beeindruckten Kollegen wie Hermann (Taufe) 1683 Detmold, † 8.12.1729 BreHesse, Alfred Andersch, Hans Bender, Peter men. – Reformierter Theologe u. LiederHärtling, Heinz Piontek, Georges-Arthur dichter. Goldschmidt u. Wolfgang Koeppen, für den L.s Werk »zum Bleibenden der deutschen Der Sohn des Hofpredigers Heinrich Lampe Literatur« zählte, aber erst in jüngster Zeit wurde im Geist des dt. reformierten Pietiswurde erkennbar, was Heinrich Detering mus erzogen. Er besuchte zunächst das (FAZ, 31.8.2002) formulierte: »Die vielge- Gymnasium illustre in Bremen (1698–1702) rühmte zweite Moderne der deutschen u. studierte ab dem Wintersemester 1702/03 Nachkriegsliteratur – sie beginnt schon vor in Franeker/Niederlande unter Campegius der Stunde Null. Sie beginnt mit Friedo Vitringa u. Hermann Alexander Roëll, wurde Lampes großer kleiner Prosa.« L.s Werke 1703 Prediger der reformierten Gemeinde in wurden bisher ins Italienische, Französische Weeze im Herzogtum Kleve, 1706 an St. Marien in Duisburg u. 1709 an St. Stephani in u. Niederländische übersetzt. Seit 1995 gibt es in Bremen eine Friedo- Bremen. 1720 nahm er den Ruf zum Professor der Theologie in Utrecht an, kehrte aber Lampe-Gesellschaft. 1727 nach Bremen zurück, wo er die Stelle Weitere Werke: Das dunkle Boot. Hbg. 1936. – Das Gesamtwerk. Hg. Johannes Pfeiffer. Hbg. 1955. des Primarius an St. Ansgari annahm. L. hat in Holland u. Deutschland durch Mit einem Nachw. v. Jürgen Dierking u. JohannGünther König. Reinb. 1986. – Herausgeber: Leben- theolog. Schriften, Predigt u. Unterweisung diges XVIII. Jh. Bremen/Bln. 1933. – Das Land der großen Einfluss ausgeübt (»Lampeaner«). In Griechen. Antike Stücke dt. Dichter. Bln. 1940. – seinem wichtigsten Werk, Geheimniß des GnaFranz Grillparzer: Der arme Spielmann; Wilhelm den-Bundes (6 Bde., Bremen 1712), entwickelte Hauff: Phantasien im Bremer Ratskeller; Joseph v. er eine Föderaltheologie im Anschluss an JoEichendorff: Eine Meerfahrt; Marie v. Ebner- hannes Coccejus, eine biblisch-heilsgeEschenbach: Die Freiherren v. Gemperlein; Karl schichtl. Entfaltung des Bundes Gottes mit Postl (Sealsfield): Das Blockhaus am Red River; dem »verlorenen Sünder« in den drei Stufen: Ulrich Braeker: Des Geißhirten erste Liebe; HeinVerheißung – Gesetz – Evangelium. Seine rich v. Kleist: Der Zweikampf; Achim v. Arnim: Wunder im Alltag; Johann Wolfgang v. Goethe: Predigtmethode, die zwischen Unbekehrten Der Prokurator / Die Verwirrung des jungen Fer- u. Bekehrten in der Auslegung deutlich undinand / Der ertrunkene Knabe; Jeremias Gotthelf: terscheidet, machte Schule (Institutionum homileticarum breviarium. Lemgo 1742, postum). Die Wassernot im Emmenthal. Jena 1943/44. Literatur: Eugène Badoux: F. L. Une psycho- Bis ins 19. Jh. vielfach aufgelegt wurden seine biographie. Lausanne 1987. – Hans J. Schütz: ›Ein Katechismen Milch der Wahrheit nach Anleitung dt. Dichter bin ich einst gewesen‹. Mchn. 1988, des Heidelbergischen Catechismi (Lemgo 1720) u.

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Einleitung zu dem Geheimniß des Gnaden-Bundes Lampel, Peter Martin, eigentl.: Joachim (mit späterem Anhang: Erste Wahrheitsmilch. Friedrich Martin L., * 15.5.1894 Schön[Bremen 1712], das sog. »Lampebüchlein«). born/Schlesien, † 22.2.1965 Hamburg; L. war eine iron. Natur u. vermittelte in Grabstätte: ebd., Ohlsdorfer Friedhof. – theolog. Streitfragen. Bei Sympathie für die Dramatiker, Erzähler, Maler. Labadisten lehnte er ihre kirchenkrit. Haltung ab (Große Vorrechte des unglückseligen L., Sohn eines Pfarrers, nahm als Freiwilliger Apostels Judas Ischariot. Pseud. Philadelphus Pho- am Ersten Weltkrieg teil. Nach Kriegsende tius. Bremen 1713). L. wirkt durch seine schloss er sich einem Freikorps im Baltikum Lieddichtung (Einige auserlesene Gesänge. Bre- u. in Oberschlesien an u. studierte ab 1920 in men 1719 u. ö. unter anderen Titeln) bis in Berlin u. München Staatswissenschaft u. Jura. die Gegenwart (im EKG die Nummern 303, Gleichzeitig absolvierte L. eine Ausbildung als Porträtmaler. Anschließend übte er ver424, 506). schiedene Berufe wie Sportlehrer, Journalist Weitere Werke: Die Gestalt der Braut Christi [...] über Offb. 14, 1–5. Bremen 1710. – Balsam aus u. Jugendhelfer aus. Stark von den Ideen der Gilead wider ansteckende Seuchen. Bremen 1713. – Jugendbewegung beeinflusst, engagierte er Der hl. Braut-Schmuck der Hochzeit-Gäste des sich für Fürsorgezöglinge, deren Probleme er Lammes. Bremen 1720. – Synopsis historiae sacrae in seinem Bericht Jungen in Not (Bln. 1928) et ecclesiasticae. Utrecht 1721. – Compendium dokumentierte. Diese Reportage war Grundtheologiae naturalis. Bremen 1723. – Commenta- lage für L.s erfolgreichstes sozialkrit. Zeitrius analytico-exegeticus [...] secundum Ioannem. 3 stück Revolte im Erziehungshaus (Bln. 1929. Bde., Amsterd. 1724–26. – Delineatio theologiae Urauff. Bln. 1928. Verfilmung 1930), in dem activae. Utrecht 1727. – F. A. L. u. Theodor de Hase er die autoritären u. inhumanen Zustände in (Hg.): Bibliotheca historico-philologico-theologica. den Fürsorgeheimen anprangerte. Die große Bremen 1718–24 (Ztschr.). Popularität des Stücks (über 500 AufführunAusgaben: Milch der Wahrheit [...]. Hg. Matthias Freudenberg. Rödingen 2000. – Erste Wahr- gen auch im Ausland) löste öffentl. Diskusheitsmilch für Säuglinge am Alter u. Verstand sionen aus, die eine Reform der Fürsorgeer(1717). In: Reformierte Katechismen aus drei Jh.en. ziehung bewirkten. Sein krit. Zeitstück GiftHg. u. eingel. v. M. Freudenberg. Rödingen 2005, gas über Berlin (1929 als Film u. d. T. Giftgas) S. 31–43. über die geheime Aufrüstung der Reichswehr Literatur: Bibliotheca Lampiana. Bremen 1730. unter General von Seeckt wurde unmittelbar – Otto Thelemann: F. A. L. [...]. Bielef./Lpz. 1868. – nach der Uraufführung am 5.3.1929 von der Gerrit Snijders: F. A. L. Harderwijk 1954. – Hans- Zensur in Berlin verboten. Bernhard Schönborn: F. A. L. In: NDB. – Biogra1930/31 arbeitete L. am Aufbau eines freifisch Lexicon voor de Geschiedenis van het Nederwilligen Arbeitsdienstes mit, über den er in landse Protestantisme. Bd. 3, Kampen 1988. – Erich Packt an! Kameraden! (Plauen 1932) berichtete. Wenneker: F. A. L. In: Bautz (Lit.). – Gesch. Piet., Bd. 2, passim. – Schmidt, Quellenlexikon, Bd. 18, Nachdem 1933 seine Bücher verboten u. seine S. 147 f. – M. Freudenberg: Erkenntnis u. Fröm- Gemälde verfemt worden waren, emigrierte migkeitsbildung. Beobachtungen zu F. A. L.s Er- er nach einer Haft 1936 über die Schweiz, klärung des Heidelberger Katechismus ›Milch der Ägypten, Indien u. Australien in die USA, wo Wahrheit‹ (1720). In: Reformierte Retrospektiven er von 1939 bis zu seiner Rückkehr nach [...]. Hg. Harm Klueting u. a. Wuppertal 2001, Hamburg 1949 lebte. Seine zahlreichen im S. 157–177. Dietrich Meyer / Red. Exil entstandenen Stücke wie auch seine Autobiografie blieben unveröffentlicht. Seinen Lebensunterhalt verdiente er v. a. als Porträtmaler. Nach dem Krieg, 1951, wurde lediglich sein Drama Kampf um Helgoland in Ostberlin aufgeführt. Weitere Werke: Heereszeppeline im Angriff. Lpz. 1918 (Ber.). – Bombenflieger. Luftabenteuerl. Gesch.n. Bln. 1918. – Wie Leutnant Jürgens Stel-

Lampert von Hersfeld

179 lung sucht. Bln. 1920 (R.). – Verratene Jungen. Ffm. 1929 (R.). U. d. T. ›Pennäler‹ Urauff. 1929 (D.). Neuausg. Edermünde 2009. – Patrouillen! Dresden 1930 (Ber.). – Helgolandfahrer. Bln. 1952 (R.). – Kampf ohne Ordnung. Die Gesch. v. Billy the Kid. Weimar 1952. – Wir fanden den Weg. Bln. 1955 (R.). – Nachlass: Staats- u. Universitätsbibl. Hamburg. Literatur: Rolf Italiaander (Hg.): P. M. L. Hbg. 1964. – Jennifer A. Taylor: P. M. L. In: Dt. Exillit., Bd. 2, S. 480–490. – Ulrich Baron: ›Von Deutschland nach Deutschland‹. P. M. L.s mißglückte Heimkehr. In: ›Liebe, die im Abgrund Anker wirft‹. Hg. Inge Stephan u. Hans-Gerd Winter. Hbg. u. a. 1990, S. 277–293. – Wolfgang Schneider: ›Die Geburt der Jugend‹ im Theater. Anm. zu einem Mythos in der dramat. Lit. der Moderne. In: Kinderlit. u. Moderne. Hg. Hans-Heino Ewers u. a. Weinheim u. a. 1990, S. 213–220. – Beatrice u. Saul Bastomsky: P. M. L. u. das Exil. Ein gehemmter Kämpfer um die Freiheit. Worms 1991. – Günter Rinke: Sozialer Radikalismus u. bünd. Utopie. Der Fall P. M. L. Ffm. u. a. 2000. – Hans-Peter Rüsing: Die nationalist. Geheimbünde in der Lit. der Weimarer Republik: Joseph Roth, Vicki Baum, Ödön v. Horváth, P. M. L. Ffm. u. a. 2003. Heiner Widdig / Red.

Lampert von Hersfeld, * vor 1028, † (2.10.) nach 1081 u. vor 1085. – Geschichtsschreiber. L. entstammte vermutlich einer begüterten, adeligen Familie, die in Mainfranken, Hessen oder Thüringen ansässig war. An der Domschule in Bamberg, die bis 1054 unter der Leitung Annos, des späteren Erzbischofs von Köln, stand, wurde er zum Geistlichen ausgebildet; einer seiner Mitschüler war Meinhard von Bamberg. Im März 1058 wurde er Mönch im Kloster Hersfeld, dessen Abt Meginher († 1059) er als Vorbild verehrte. Im Sept. desselben Jahres empfing L. die Priesterweihe in Aschaffenburg u. begab sich auf eine einjährige Pilgerreise nach Jerusalem. Unter Meginhers Nachfolgern Ruthard (1059–1072) u. Hartwig (1072–1090) dürfte L. mindestens zeitweilig die Klosterschule geleitet haben. 1071 verbrachte er in Ruthards Auftrag 14 Wochen in den von Anno gestifteten Konventen Saalfeld u. Siegburg, um die dort eingeführten neuen Lebensformen kennenzulernen. Von ungefähr 1073 bis

1079 entstanden seine historiograf. Werke in Hersfeld. 1081 erscheint er als Abt in Hasungen (Hessen), bei dessen Umwandlung vom Kanonikerstift zum Kloster er mitgewirkt hatte; schon 1082 zogen jedoch Hirsauer Mönche mit einem eigenen Abt ein. L.s Spur verliert sich, falls nicht eine Erwähnung in der Memorialüberlieferung des Klosters Helmarshausen auf seinen letzten Aufenthaltsort verweist. L.s erste Werke gelten der Geschichte seines Klosters. In der ihm zugewiesenen Vita sancti Lulli episcopi (Urfassung bis 1072) beschreibt er das Leben des Angelsachsen Lul († 786), der nach Bonifatius Bischof von Mainz war u. um 770 das Kloster Hersfeld gegründet hatte. L. stellte damit der von Otloh von St. Emmeram 1062/66 verfassten Biografie des Fuldaer Klostergründers Bonifatius eine idealisierende Gründervita für Hersfeld gegenüber; v. a. jedoch legitimierte er historisch den Rechtsstandpunkt seines Klosters im thüring. Zehntstreit gegen Erzbischof Siegfried von Mainz u. Heinrich IV. Eigenen Quellenwert besitzt L.s nach mehreren Vorlagen gearbeitetes Werk in beiden Fassungen nicht. Bis ins 15. Jh. wurde es mehrfach abgeschrieben. In einem verlorenen Gedicht in Hexametern beschrieb L. offensichtlich Zeitgeschichte. Eine Geschichte des Klosters Hersfeld (nach 1074) ist nur in Exzerpten von 1513 u. 1518 sowie aus der dt. kompilierten Landeschronik von Thüringen und Hessen (1493–1515) des Wigand Gerstenberg von Frankenberg bekannt. In einem ersten Teil, den er bis zum Tod Heinrichs III. (1056) führte, stützte sich L. bes. auf seine Vita Lulli, im zweiten bezog er wohl zunehmend Reichsgeschichte bis 1076 mit ein. L.s Hauptwerk sind die 1078/79 entstandenen Annalen, wie sie modern benannt wurden. Als wichtigste zeitgenöss. Quelle für die Geschichte des 11. Jh. begründeten sie seinen Ruhm als Historiker u. gelehrter Schriftsteller. L. leitet das Werk weltgeschichtlich mit einer Darstellung der Zeitalter seit der Schöpfung ein, die auf den verlorenen Hersfelder Annalen des 10. Jh. fußt. Mit Beginn des 8. Jh. geht L. zur annalist. Schreibweise über; von 1040 an werden die Jahresberichte immer umfänglicher u. sprengen

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von 1063 an den annalist. Rahmen ganz. Sein rekturen). – Ulrich Schmidt: L. In: Bautz. – HansWerk gerät zur Chronik, die zu fünf Sechsteln Werner Goetz: Geschichtsschreibung u. GeGegenwartsgeschichte (Goetz), die Geschich- schichtsbewußtsein im hohen MA. Bln. 1999. – te im Reich unter Heinrich IV. bis zur Wahl Sverre Bagge: German Historiography and the Twelfth-Century Renaissance. In: Representations des Gegenkönigs Rudolf von Rheinfelden im of Power in Medieval Germany 800–1500. Hg. März 1077, schildert. Obwohl L.s Bericht Björn Weiler u. Simon MacLean. Turnhout 2006, vielfach historisch unzuverlässig ist, prägte er S. 165–188. – Aryeh Graboïs: Les pèlerinages du XIe das negative Urteil über Heinrich IV. bis in siècle en Terre sainte dans l’historiographie occidie Gegenwart hinein. L. sah seine politischen dentale de l’époque. In: Revue d’histoire ecclésiasu. christlich-monast. Ideale mit der Epoche tique 101 (2006), S. 531–546. – T. Struve: L., der Heinrichs III. untergehen u. beobachtete aus Königsraub v. Kaiserswerth im Jahre 1062 u. die der Perspektive seines Klosters misstrauisch Erinnerungskultur des 19. Jh. In: AKG 88 (2006), S. 251–278. Sabine Schmolinsky die Entstehung neuer geistl. u. weltl. Kräfte u. Bewegungen. L. gilt als einer der gebildetsten Schrift- Lampl, Fritz, * 28.9.1892 Wien, † 5.3.1955 steller im MA. Die hervorragenden Biblio- London. – Lyriker, Dramatiker, Erzähler. theken von Bamberg u. Hersfeld ermöglichten es ihm, seinen Stil an den Werken der Der jüngste Sohn einer großbürgerlichen jüd. röm. antiken Historiker u. Dichter zu schu- Familie gehörte zu »jenen Österreichern, die len; bes. Livius u. Sallust schätzte u. benutzte ein erhöhtes Stilgefühl und eine rein ästheer. Dennoch war L.s Chronik – wie andere tisch bestimmte Lebenshaltung zu mehr als Werke der Zeitgeschichte – im MA wenig einer Kunstgattung hindrängen« (Hilde bekannt. Sie wurde als eine Vorlage im An- Spiel). Erste, in ruhig naturmetaphorischem nolied u. in der Vita Annonis maior verwendet u. Ton gehaltene Gedichte veröffentlichten beeinflusste den in Hersfeld verfassten Liber 1912 u. 1913 Ludwig von Ficker im »Brende unitate ecclesiae conservanda (1092/93). Die als ner« u. Hermann Meister (in dessen Verlag in Werke Arnolds von Berge und Nienburg er- Heidelberg L.s Werke erschienen) im »Saturn«. Den Ersten Weltkrieg verbrachte L. im schlossenen Nienburger Annalen u. die Chronik Wiener Kriegspressequartier, wo er u. a. auf (Annalista Saxo) des 12. Jh. sowie drei ErfurAlbert Ehrenstein u. Werfel traf, mit denen er ter Geschichtswerke des 12. bzw. 13. Jh. nach Kriegsende die expressionistisch-revokompilierten aus L.s Werk; im 14. Jh. tat dies lutionäre Zeitschrift »Der Daimon« u. 1919 noch Heinrich von Herford in seiner Chronik. den nur kurzlebigen »GenossenschaftsverDa die ältesten erhaltenen Textzeugen Exlag« gründete. Im Verlag E. P. Tal, in dem L. zerpte u. ein Fragment des 12. Jh. sind, bebis 1923 zeitweise als Lektor tätig war, erruht die heutige Kenntnis des Textes auf der schienen 1920 gesammelte Gedichte 1912–1914 in den letzten Jahrzehnten des 15. Jh. ein(Lpz. u. a.), deren eleg. Stimmung mehr an setzenden gelehrten Rezeption der HumaRilke als an das O-Mensch-Pathos seiner nisten. Weggefährten erinnert. Ausgaben: Opera. Hg. Oswald Holder-Egger. 1923 eröffnete L. zus. mit Josef u. Arthur Hann./Lpz. 1894. Neudr. 1984 (MGH SS rer. germ. Berger am Wiener Schubertring die »Bimini in us. schol. [38]). – Weitere Fragmente des ›LibelGlasbläserwerkstätte«, die er auch nach der lus‹: Struve 1969 (s. u.), S. 40–42. – Annalen. Neu Emigration 1938 in London weiterführte. übers. v. Adolf Schmidt. Erl. v. Wolfgang Dietrich Fritz. Mit einem Nachtrag v. Steffen Patzold. Obwohl L. 1947 die brit. Staatsbürgerschaft Darmst. 42000 (AQ. FSGA 13). – L. Das Leben des hl. annahm, bemühte er sich, die literar. HinLullus. Hg., eingel., übers. u. mit Anmerkungen terlassenschaft seiner expressionist. Freunde Otfried Krzyzanowski, Isidor Quartner u. vers. v. Michael Fleck. Marburg 2007. Literatur: Tilman Struve: L. v. H. In: Hess. Jb. Robert Zellermayer im dt. Sprachraum wiefür Landesgesch. 19 (1969), S. 1–123; 20 (1970), der ins Bewusstsein zu rufen. In den in HeiS. 32–142. – Ders.: L. v. H. In: NDB. – Rudolf delberg erschienenen Gedichtband Gesang der Schieffer: L. v. H. In: VL (auch: Nachträge u. Kor- Stille (1947) schrieb er Hermann Hesse die

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Widmung: »Der Ort, wo du geboren bist, ist nicht die Heimat. Der Ort, wo du begraben bist, ist nicht das Grab.« Weitere Werke: Flucht. Wien/Lpz. 1920. Neudr. Nendeln 1973 (Kom.). – Sklaven der Freiheit. Heidelb./Lpz. 1925. Heidelb. 21946 (N.n u. M.). – Nachlass: Österr. Nationalbibl. Wien. Literatur: Hilde Spiel: F. L. gestorben. In: Neues Österr., 15.3.1955. – Murray G. Hall: Österr. Verlagsgesch. 1918–1938. Bd. 2, Wien 1985, S. 143–154. Herbert Ohrlinger / Red.

Lamprecht von Regensburg, * 14. Jh. Regensburg. – Verfasser geistlicher Dichtungen. L.s Person erscheint in Umrissen in seinen beiden Werken Sante Francisken leben (SFL) u. Diu tohter von Syon (TS). In SFL stellt er sich als »knappe« vor, der, wie sein Vorbild Franziskus von Assisi, den Reizen der Welt verfallen war u. seine Umkehr ersehnt (vv. 376, 304–324, 3244–3256). Das minorit. Ordensleben kennt er bereits aus eigener Erfahrung u. will dem Orden beitreten (vv. 1742–1767). In TS hat er diesen Schritt vollzogen u. ist von dem Provinzialminister Gerhard der oberdt. Franziskanerprovinz in den Regensburger Konvent aufgenommen worden (vv. 1343–1415, 51–54). L. besitzt Lateinkenntnisse wohl aus seiner meist in Regensburg erworbenen Schulbildung; gewisse sprachl. Merkmale lassen auf eine Herkunft aus Franken schließen. SFL ist eine dt. Versbearbeitung (5049 Verse) der lat. Vita prima, die der ital. Minorit Thomas von Celano nach der Kanonisation des Franziskus am 16.7.1228 im Auftrag Papst Gregors IX. als offizielle Biografie verfasst hatte. L.s Übertragung ist das früheste volkssprachl. franziskan. Werk in Deutschland; sie muss zwischen März 1237 u. wohl Mai 1239 entstanden sein. Im Prolog geht L. in Sentenzenform von dem ihm u. seinem Publikum gemeinsamen Glaubenssatz aus, dass ein der Erlösungstat Christi adäquater Dank andauerndes Gedenken erfordere, das L. für unvereinbar mit der nichtigen »fröude, der diu werlt phlît« (v. 17) hält; ewige Seligkeit ist nach Christi Vorbild ausschließlich durch willentl. Armut u.

Lamprecht von Regensburg

Mühsal zu gewinnen. Der Vorlage entsprechend erzählt er das Leben des Heiligen u. der ersten Brüder, wie es Thomas’ Zeugen miterlebt hatten. Die im Exempelcharakter der Heiligenvita angelegte Aufforderung zur Nachahmung gewinnt Authentizität durch die biogr. Einfügungen u. Gebete des Autors auf seinem geistl. Weg, zu dem auch diese literar. Arbeit zählt. L. bedient sich der seinen Hörern u. Lesern vertrauten Form des Epos in Paarreimen. Er folgt Thomas’ Biografie ziemlich genau; nur im dritten Teil stellt er, dem histor. Verlauf entsprechend, die Wunder des Franziskus der Kanonisation voran u. berichtet gedrängter. Immer wieder vorgenommene Kürzungen u. Erweiterungen der Vorlage hinderten nicht, dass L.s Legende als getreue Übersetzung verstanden wurde. Das Werk ist nur in einer Handschrift des 13. Jh. überliefert, vielleicht eine Folge der Tatsache, dass im letzten Drittel des 13. Jh. die Franziskus-Viten des Thomas von Celano durch die Legenda maior des Bonaventura verdrängt wurden. Die zwischen 1247 u. 1252 entstandene TS (4312 Verse) verfasste L. auf Geheiß seines geistl. Vaters Gerhard, der ihm mündlich »die materie und den sin« vorgetragen hatte (vv. 56–60, 1416 f., vgl. 292–294). Obwohl L. aus dem Gedächtnis schrieb, ist als Grundlage der Ausführungen Gerhards der lat. Traktat Filia Syon (Tochter Syon) erkennbar. L.s Versbearbeitung ist die umfangreichste u. am deutlichsten von dichterischer Ambition getragene deutschsprachige Fassung; Deutung u. eingeschobene Lehre übersteigen die Darstellung der Handlung beträchtlich. Im Gegensatz zu dem weltl. Dinge begehrenden Körper ist es der Seele »naturaliter« eigen, in höchster Liebe nach der myst. Vereinigung mit Christus zu streben. Die Seele »an der (inren) warte« heißt im allegor. Verständnis des Berges Zion »ein tohter von Syone« (vv. 110–149); Personifikationen der Seelenkräfte u. geistl. Tugenden weisen ihr den Weg. Nachdem es Cognitio nicht gelungen war, etwas der beständigen Liebe der Seele Würdiges in der Welt zu finden, lenken Fides u. Spes die Sehnsucht der Seele auf Christus. In größeren Erweiterungen legt L. ihre in Gesprächen mit der fragenden Seele

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erteilten Lehren dar u. deutet diese für welt- ren). – Edith Feistner: Histor. Typologie der dt. lich lebende Christen, zu denen auch er ge- Heiligenlegende des MA v. der Mitte des 12. Jh. bis hört hat. Die Seele bedarf zudem des Rats der zur Reformation. Wiesb. 1995. – Dies.: Bausteine Sapientia u. der Caritas, die ihr Verlangen zu einer Übersetzungstypologie im Bezugssystem v. Rezeptions- u. Funktionsgesch. der mittelalterl. nach der »ruowe« in Christus weiter steigern. Heiligenlegende. In: Übersetzen im MA. Hg. JoaIn einem längeren Exkurs reflektiert L. die chim Heinzle, L. Peter Johnson u. Gisela Vollmann»ruowe« u. ihre Beeinträchtigung durch die Profe. Bln. 1996, S. 171–184. – Hildegard Elisabeth Welt. Er führt »mâze« als die Mutter aller Keller: Diu gewaltaerinne Minne. Von einer weibl. Tugenden ein, aber Caritas als ihre Kaiserin Grossmacht u. der Semantik v. Gewalt. In: ZfdPh bewirkt schließlich die Hochzeit der Seele mit 117 (1998), S. 17–37. – Geert Warnar: ›Ex levitate Christus im Himmel. L.s Schluss richtet sich mulierum‹. Masculine Mysticism and Jan van Ruan geistl. Personen mit der Aufforderung, usbroec’s Perception of Religious Women. In: The Voice of Silence. Women’s Literacy in a Men’s Jesus in ihrem Herzen zu erwarten. Das Werk ist eine der frühesten volks- Church. Hg. Thérèse De Hemptinne u. María Eugenia Góngora. Turnhout 2004, S. 193–206. – sprachl. Bearbeitungen des knappen lat. Cornelius Bohl: Belehren u. Bekehren. Das ›Sante Traktats in der Tradition der Brautmystik Francisken leben‹ des L. v. R. als Zeugnis franziBernhards von Clairvaux. Als einer der Ersten skan. Bildung, Seelsorge u. Frömmigkeit Mitte des in der Geschichte der dt. myst. Literatur ver- 13. Jh. in Dtschld. In: Europa u. die Welt in der sucht L. in Sprache zu fassen, was sich seiner Gesch. FS Dieter Berg. Hg. Raphaela Averkorn u. a. eigenen Erfahrung entzieht: Da ihm die Bochum 2004, S. 574–592. – E. Feistner: RegionaGnade des myst. Aufstiegs versagt geblieben lisierung u. Individualisierung in europ. Dimenwar (vv. 284–288 u. ö.), vermag er nicht au- sionen: Der Blick L.s v. R. auf den Hl. Franziskus v. thentisch zu schildern. Sein Stil im Rahmen Assisi. In: Das mittelalterl. Regensburg im Zentrum Europas. Hg. dies. Regensb. 2006, der etwas kunstvoller als bei SFL gestalteten S. 177–189. – Manfred Zips: Franziskus v. Assisi, Form der Reimpaardichtung erscheint von vitae via. Beiträge zur Erforsch. des Geschichtsbemystisch-aszetischer Praxis geprägt, wie sie wusstseins in den dt. Franziskusviten des MA mit ihm vielleicht v. a. mündlich bekannt gewor- bes. Berücksichtigung der deutschsprachigen Werden ist. Verstärkt durch seine als Beschrän- ke. Wien 2006. – URL: http://www.handschriftenkung empfundene, biografisch begründete census.de/werke/219 u. 220. Sabine Schmolinsky »tumpheit« (TS, vv. 2816–2826), weiß er um die begrenzten Möglichkeiten der Sprache, Lamprecht, Helmut, * 7.4.1925 Ivenrode myst. Erfahrungen mitzuteilen, u. betrachtet bei Magdeburg, † 2.2.1997 Bremen. – daher mit Skepsis die zu seiner Zeit in Bra- Lyriker, Aphoristiker, Essayist, Kritiker. bant u. Bayern auftretenden, mystisch begnadeten Frauen, deren »kunst« er mit der Der Sohn eines Dorfschullehrers war von größeren Einfalt ihres Geschlechts zu erklä- 1943 bis 1945 Soldat u. legte 1946 das Abitur in Halle/Saale ab. Er studierte in Halle u. ren versucht (vv. 2827–2863). Dieses zweite Werk L.s wurde bis ins 15. Jh. Frankfurt/M. Germanistik, Philosophie, Gerezipiert, wie seine Überlieferung in drei schichte u. Soziologie (Promotion über WilHandschriften u. zwei Fragmenten aus dem helm Raabe). Entscheidend für L.s intellek13. u. 14. Jh. sowie die lobende Erwähnung tuelle Entwicklung war die Begegnung mit durch Jakob Püterich von Reichertshausen in Adorno, mit dem er bis zu dessen Tod in seinem Ehrenbrief von 1462 zeigen. Zudem freundschaftl. Kontakt stand. In seiner Neigung zum Aphorismus wurde existieren mittelniederländ. Übertragungen. L. von Adornos Minima Moralia inspiriert. Es Ausgaben: Sanct Francisken Leben u. Tochter erschienen Die Hörner beim Stier gepackt – Syon. Hg. Karl Weinhold. Paderb. 1880. – Kurt Ruh: Fragmente der ›Tohter von Syon‹ L.s v. R. In: Aphorismen, Sprüche, Gedichte (Stgt. 1975) u. Früher hat Lächerlichkeit getötet – 155 Bedenksätze ZfdA 100 (1971), S. 346–349. Literatur: Margot Schmidt: L. In: Dictionnaire (Fischerhude 1979). Ebenso wie die aphorist. de spiritualité 9 (1976), Sp. 142 f. – Joachim Hein- Arbeiten sind die Gedichte L.s der im Studizle: L. v. R. In: VL (auch: Nachträge u. Korrektu- um bei Horkheimer u. Adorno erworbenen

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philosophisch-dialekt. Ausrichtung in Form u. Inhalt verpflichtet. Erste Gedichte druckte 1953 die Eremitenpresse von V. O. Stomps (Gedichte. Stierstadt/Ts.). L.s Lyrik erschien auch in zahlreichen Anthologien u. Zeitschriften. Ideologiekritische Arbeiten veröffentlichte er u. a. in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« u. im Rundfunk (RB, NDR, HR). 1977–1990 war L. Leiter des »Kulturellen Wortes« bei Radio Bremen; danach lebte er bis zu seinem Tod als freier Schriftsteller. Weitere Werke: Teenager u. Manager. Bremen 1960. Stgt. 1964 (Sachbuch). – Erfolg u. Gesellsch. Mchn. 1964 (Sachbuch). – Achill u. die Schildkröte [...]. Mit einem Nachw. v. Günter Kunert. Hauzenberg 1988. Jörg-Dieter Kogel

Lamprecht, Jakob Friedrich, * 1.10.1707 Hamburg, † 8.12.1744 Berlin; Grabstätte: ebd., Friedhof bei der Parochialkirche. – Lyriker, Übersetzer.

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verstreut erschienene Aufsätze, Gelegenheitsgedichte u. Übersetzungen aus dem Französischen. In Berlin wählte die Große Freimaurerloge ihn dreimal zum Logenmeister; mit Johann Christoph Rost u. Gleim war er bekannt. Während seiner Hamburger Jahre von den literarisch Tonangebenden hochgeachtet, hatte er sich auch Brockes’ Zuneigung erworben. Befreundet war L. mit Hagedorn u. Dreyer, in dessen Armen er starb. Werk: Leben des Freyherrn Gottfried Wilhelm v. Leibnitz, an das Licht gestellet v. L. Bln. 1740. Ausgaben: Schreiben eines Schwaben an einen dt. Freund in Petersburg v. dem gegenwärtigen Zustande der Opera in Hamburg [...]. Hbg. 1736. Nachdr. Hbg. 1937. – Vita di Leibnitz. Hg. Guido Zingari. Salerno u. a. 1982. – Der Weltbürger: Wöchentlich an das Licht gestellet in Berlin. Bln. 1741/ 42. Internet-Ed.: Dt. Lit. des 18. Jh. Online. Hg. Paul Raabe. Mchn. 2007. Literatur: Johann Matthias Dreyer: Von den Lebensumständen des Geheimen Secretairs L.s. In L.s Wochenschr.: Der Menschenfreund. Hbg. 21749 (ohne Paginierung). – Hans Schröder: Lexikon der hamburg. Schriftsteller. Bd. 4, Hbg. 1866, S. 296–299 (mit vollst. Werkverz.). – Fritz Flasdieck: J. F. L. Ein Beitr. zur Gesch. der literar. Kritik im 18. Jh. Düsseld. 1908. – C. F. Weichmanns Poesie der Nieder-Sachsen (1721–38). Nachweise u. Register. Hg. Christoph Perels, Jürgen Rathje u. Jürgen Stenzel. Wolfenb. 1983, S. 113. – Detlef Döring: Die Gesch. der Dt. Gesellsch. in Leipzig [...]. Tüb. 2002, Register. Jürgen Rathje / Red.

L. besuchte ab 1723 in Hamburg die Lateinschule Johanneum u. ab 1725 das Akademische Gymnasium. Mit 18 Jahren ging er nach Berlin, von hier aus als Begleiter eines jungen Mannes nach Leipzig (Immatrikulation im Wintersemester 1732, depositus 19.4.1733), wo er Philosophie u. Jura studierte, Gottsched kennenlernte u. durch ihn in die Leipziger Deutsche Gesellschaft aufgenommen wurde. Nach einer England-Reise übernahm L. in Hamburg 1737 die Redaktion der gelehrten Sachen des »Hamburgischen CorrespondenLamprecht, Karl (Gottlob), * 25.2.1856 ten«. Als Friedrich II. 1740 den Thron beJessen bei Wittenberg, † 10.5.1915 Leipstieg, folgte L. einem Angebot des Verlegers zig; Grabstätte: Schulpforta. – Historiker. Ambrosius Haude nach Berlin u. wurde Verfasser der gelehrten Artikel der »Berlinischen Nach dem Besuch des Gymnasiums in WitNachrichten«. Sein Freund u. Förderer, der tenberg u. der Fürstenschule Schulpforta gelehrte Diplomat Caspar Wilhelm von studierte L., Sohn eines Oberpfarrers u. Borck, verschaffte ihm 1742 die Ernennung Schulinspektors, Geschichte, Nationalökonozum geheimen Sekretär des Königs im De- mie u. Kunstgeschichte in Göttingen, Leipzig partement der auswärtigen Angelegenheiten. u. München (Promotion u. Staatsexamen). 1744 wurde L. Mitgl. der Königlichen Aka- Seit 1879 Hauslehrer bei einem Kölner Bandemie der Wissenschaften, dann Sekretär der kier, fand er Kontakt zum führenden Kopf philolog. Klasse. Schließlich ernannte ihn der des rheinischen Liberalismus, Gustav MevisKönig zum Sekretär des Prinzen Heinrich. sen, der durch L. seinen Plan einer Geschichte L.s Werk umfasst bedeutende, an die Tra- der wirtschaftl. u. sozialen Verhältnisse des dition des hamburgischen »Patrioten« an- Rheinlands realisieren wollte. 1881 gründeknüpfende Moralische Wochenschriften u. ten sie die »Gesellschaft für rheinische Ge-

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schichtskunde«, für L. der Beginn einer le- der Gesellschaft. Kulturgeschichte ist »die benslangen organisatorischen Tätigkeit auf vergleichende Geschichte der sozialpsychidem Gebiet der Wirtschafts- u. Kulturge- schen Entwicklungsfaktoren«. Auf dieser schichte, die 1909 in der Gründung des Grundlage entwickelte L. seine Theorie der Leipziger Instituts für Kultur- und Univer- »Kulturstufen« im histor. Prozess, die nun salgeschichte gipfelte. Wissenschaftlicher Er- nicht mehr ökonomisch, sondern psychisch trag der Kölner Zeit sind v. a. die heute noch determiniert waren; in deren Rahmen sei grundlegende Studie Deutsches Wirtschaftsleben auch das polit. Geschehen zu betrachten. L.s wiss. Erneuerung fiel zusammen mit im Mittelalter (4 Bde., Lpz. 1885/86) u. die Abhandlung Initial-Ornamentik des VIII. bis dem Höhepunkt der Ranke-Renaissance. Trotz erfolgreicher Lehrtätigkeit u. BeliebtXIII. Jahrhunderts (Lpz. 1882). 1890 wurde L. nach Marburg berufen, 1891 heit beim Publikum blieb er Außenseiter. Die nach Leipzig. Hier entstand sein Hauptwerk, Reaktion auf ihn verstärkte die idealist. Deutsche Geschichte (12 Tle. in 16 Bdn., Bln. Grundsätze der dt. Geschichtswissenschaft. 1891–1903. 2 Erg.-Bde., Bln. 1912/13), das, Im westl. Ausland (v. a. Frankreich u. USA) bis heute die einzige wiss. Gesamtdarstellung jedoch fand seine Forderung nach einer der dt. Geschichte, nach 1895 den sog. »Me- Gleichsetzung der histor. Wissenschaft mit thodenstreit« entfachte. Ranke hatte L. vor den Naturwissenschaften breite Zustimdem Projekt gewarnt: In der polit. Geschichte mung. Heute gilt L. zunehmend als Wegbeder Deutschen sei ein durchgehender Faden reiter der modernen Mentalitätsgeschichte u. nicht zu finden; L. sah ihn aber gerade in der der Struktur- u. Gesellschaftsgeschichte. Wirtschafts-, Geistes- u. Kulturgeschichte: Weitere Werke: Alte u. neue Richtungen in der einem breiten Panorama der gesellschaftl. Geschichtswiss. Bln. 1896. – Was ist Kulturgesch.? Entwicklung, in der, anders als bei Ranke, das In: Dt. Ztschr. für Geschichtswiss. N. F. 1 (1896/97), Politische nur ein durch die histor. Tiefen- S. 75–145. – Die kulturhistor. Methode. Bln. 1900. prozesse bedingtes Element unter anderen – Moderne Geschichtswiss. Bln. 1905. – Einf. in das histor. Denken. Lpz. 1912. – Der Kaiser, Versuch darstellte. einer Charakteristik. Bln. 1913. – Dt. Aufstieg Die Publikation der ersten fünf Bände (bis 1750–1914. Gotha 1914. 1895) fand lebhafte Zustimmung bei PubliLiteratur: Friedrich Seifert: Der Streit um K. kum u. populärwiss. Organen. Umso heftiger L.s Geschichtsphilosophie. Augsb. 1925. – Herbert war die Ablehnung der Fachgenossen. L. Schönebaum: Lamprechtiana. In: Wiss. Ztschr. der hatte nicht nur eine dt. Gesamtgeschichte Karl-Marx-Univ. Leipzig, Gesellschafts- u. sprachgewagt, sondern hatte v. a. auch die Postulate wiss. Reihe 5 (1955/56), S. 7–21. – Hans-Josef der idealist. Geschichtsschreibung Rankes Steinberg: K. L. In: Dt. Historiker 1. Hg. Hans-Ulabgelehnt. Er wurde des Materialismus rich Wehler. Gött. 1971, S. 58–68. – Bernhard vom (Mehrings wohlwollende Stellungnahme Brocke: L. In: NDB. – Luise Schorn-Schütte: K. L. schien dies zu erhärten) u. des Atheismus Kulturgeschichtsschreibung zwischen Wiss. u. Pobezichtigt. Gravierender war die außerge- litik. Gött. 1984. – Peter Griss: Das Gedankenbild wöhnl. Fehleranfälligkeit, v. a. aber L.s un- K. L.s. Bern u. a. 1987. – Ines Mann u. Rolf Schumann: K. L. Einsichten in ein Historikerleben. Lpz. bekümmerte Übernahme von Forschungser2006. Joachim Whaley / Red. gebnissen anderer. Erst in der Verteidigung seiner Thesen nach etwa 1895 präzisierte L. seine theoret. Lamspring, auch: Lambspring, LambGrundlagen. Er distanzierte sich vom histor. sprink, Lambsprinck, Lampert Spring. – Materialismus u. entwickelte eine »physioloLehrdichter, um 1500. gische« oder »kausal-genetische« Methode. Entgegen der »individualistischen« Ge- L. war ein heute weitgehend im biogr. Dunschichtsauffassung der Ranke-Schule vertrat kel befindlicher Alchemiker, der spätestens L. eine »kollektivistische«. Unter dem Ein- um 1500 im norddt. Gebiet wirkte. Sein Vers/ druck des Fortschritts der Naturwissenschaf- Bild-Traktat Vom Stein der Weisen, überliefert ten sah er in der Geschichte die Psychogenese seit der Mitte des 16. Jh., lehrt aus Kenntnis

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alchemischer Gemeinplätze eine »kunst«, die auf den laborant. Gewinn einer Universalmedizin zielt, mit der man alle Krankheiten von Mensch u. Tier u. »kranke« Metalle heilen kann. L. stützte sich auf allegor. Alchemica, darunter Alphidius’ Prosaallegorie. Den Bereich der Text/Bild-Einheiten Nr. I-X beherrschen Sinnbilder, die aus Decknamen für Spiritus (»Fisch«, »Einhorn«, »Löwe«, »Hund«), Anima (»Fisch«, »Hirsch«, »Löwin«, »Wolf«), Mercurius philosophorum (»Vogel Hermetis«, »Adler«), Stein der Weisen (»Salamander«, »Phönix«), Nigredo (»Rabenhaupt«) u. Albedo (»Taube«) entwickelt worden sind. Der Schlussteil (Nr. XI-XV) schildert stoffl. Transformationsgeschehnisse mittels Personifikation der anthropologischchem. Grundbegriffe Corpus, Spiritus u. Anima. L.s Werk genoss in der Frühen Neuzeit beträchtl. Ansehen. Wirkungsgeschichtliches Gewicht besaßen insbes. die Abdrucke der lat. Übersetzung des frz. Arztalchemikers Nicolas Barnaud (1599) im Theatrum chemicum (1602 u. ö.) u. im Musaeum hermeticum (1625 u. ö.). Seine internat. Geltung unterstreichen frühneuzeitl. Übersetzungen in die engl. u. frz. Sprache. Gefügt aus »reimen« u. »figuren« (von M. Merian 1625 neu radiert), zehrte es vom Erfolg der extraalchem. »Gemälpoesie« (Emblembücher). Basis der frühneuzeitl. Tradierungs- u. Rezeptionsvorgänge bildeten jedoch fachl. Aktualität u. hoher Gebrauchswert der L.’schen Dichtung für Alchemiker. Seit dem ausgehenden 19. Jh. entstandene Ausgaben u. Übersetzungen verdanken sich vorab psychoalchemisch-esoter. Zielsetzungen, deren Vertreter in L.s Werk einen Leitfaden zum Verständnis seelisch-spiritueller Wandlungsvorgänge erblicken. Historiografen zählen Vom Stein der Weisen zu den bedeutendsten Zeugnissen der dt. Alchimiapicta-Tradition. Ausgaben: Lambspring. das ist: Ein [...] Tractat vom Philosophischen Steine. In: Dyas chymica tripartita. Hg. Hermannus Condeesyanus (Johannes Rhenanus). Ffm. 1625, S. 83–117. – Buntz 1968 (s. u.), S. 111–119. Übersetzungen: Lateinisch: Lambspringk, De lapide philosophico. Übers. v. Nicolas Barnaud. In: Triga chemica. Leiden 1599, S. 11–24. Auch in:

Lamspring Theatrum chemicum. Bd. 3, Straßb. 1659, S. 765–774 (auch: Straßb. 1602, 1613). – Musaeum hermeticum. Ffm. 1625, Traktat Nr. 9 (auch: Ffm. 1677/78, S. 337–371 [reprograf. Nachdr. Graz 1970]. Ffm./Lpz. 1749). – Englisch: The book of Lambspring. In: The Hermetic Museum. Hg. Arthur Edward Waite. Bd. 1, London 1893 (auch: London 1953 u. ö.), S. 271–306. – The Book of Lambspring. Alchemical Magic and Philosophy. A system of initiation and An account of Evolution [...]. Übers. v. David Williams. London 1972. – The book of Lambspring [...], concerning the philosophical stone. Edmonds 1986 (reprograf. Wiedergabe der Ed. 1893). – The Book of Lambspring. Hg. Derek Bryce. Llanerch/Wales 1987, S. 7–39 (Text erstmals 1893). – Richard u. Iona Miller: The modern alchemist. A guide to personal transformation. Complete with seventeen engravings from ›The Book of Lambsprinck‹ depicting the alchemical process, [...] reproduced by Joel Radcliffe. Grand Rapids 1994. – Französisch: Lambsprinck, Traité de la Pierre Philosophale. In: Le Voile d’Isis 1914, S. 1–35 (mit esoter. Erläuterungen v. Soubda). – Lambsprinck, La pierre philosophale. Mailand 1971 u. 1981 (mit lat. Text). – Lambsprinck, Petit traité sur la pierre philosophale. Übers. v. Georges Ranque. In: Ders.: La pierre philosophale, Paris 1972, S. 155–189. – Lambsprinck, Traité de la pierre philosophale. Übers. v. Bernard Roger. Paris 1972. – Lambsprinck, La pierre philosophale. Mailand 1981 (lat. Text u. frz. Übers.). – Philosopher par le Feu. Anthologie de textes alchimiques occidentaux. Hg. Françoise Bonardel. Paris 1995 (Textproben). – Lambsprinck, Petit traité de la pierre philosophale. Bearb. v. Arthur Sprëcher. Villeselve 1997. – Spanisch: Lambsprinck, La piedra filosofal. Barcelona 1936. – Lambsprinck, Tratado de la Piedra Filosofal. Übers. v. Julio Peradejordi. Barcelona 1987. – Portugiesisch: Lambsprinck, Tratado da Pedra Filosofal. Übers. v. Maria José Pinto. Lissabon 1977. – Italienisch: Lambsprinck, La pietra filosofale. Übers. v. Stefano Andreani. Rom 1984 . – Tschechisch: Lambsprinck, Patnáct traktátu8 o Kamenu filosofu8 . In: O Kamenu filosofu8 . Hg. u. übers. v. D. Zˇ. Bor (Vladislav Zadrobílek). Prag 1993. Literatur: Albert-Marie Schmidt: La poésie scientifique en France au seizième siècle. Peletier, Ronsard, Scève [...], les hermétistes. Diss. phil. Paris 1938 (21970), S. 345–352. – Herwig Buntz: Dt. alchimist. Traktate des 15. u. 16. Jh. Diss. phil. Mchn. 1968, S. 89–196. – Ders.: Die europ. Alchimie vom 13. bis zum 18. Jh. In: Alchimia. Ideologie u. Technologie. Hg. Emil Ernst Ploss u. a. Mchn. 1970, S. 119–209, hier S. 169–172. – Marielene Putscher: Pneuma, Spiritus, Geist. Vorstellungen

Lamszus

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vom Lebensantrieb in ihren geschichtl. Wandlungen. Wiesb. 1973, S. 71–76, 249. – Jacques van Lennep: Alchimie. Contribution à l’histoire de l’art alchimique. Brüssel 1984, S. 224–226. – Joachim Telle: L. In: VL. – Ders.: L. In: LexMA. – Mino Gabriele: Bere e mangiare l’immortalità. In: Exaltatio Essentiae. Essentia Exaltata. Hg. Franco Cardini u. Mino Gabriele. Ospedaletto 1992, S. 26–53, hier S. 30–34 (Bildproben). – Jeffrey Raff: Jung and the Alchemical Imagination. York Beach, Maine 2000, S. 86–159 (psychoalchem. Deutung; mit Bildwiedergaben). – J. Telle: Alphidius. In: VL (Nachträge u. Korrekturen). – Michael Horchler: Die Alchemie in der dt. Lit. des MA. Ein Forschungsber. über die dt. alchemist. Fachlit. des ausgehenden MA. Baden-Baden 2005, S. 182–187. – Bernhard Dietrich Haage u. Wolfgang Wegner: Dt. Fachlit. der Artes in MA u. Früher Neuzeit. Bln. 2007, S. 123 f., 383–385 (Textprobe). Joachim Telle

Lamszus, Wilhelm, auch: Lucia Kahl, Paul Willis, * 13.7.1881 Altona, † 18.1.1965 Hamburg. – Prosaautor, Pädagoge.

kommenden Krieg (Hbg./Bln. Neudr. Mchn. 1980) wurde L. innerhalb weniger Wochen berühmt. Bis 1928 erreichte das Buch eine Auflage von 80.000 Exemplaren u. wurde in sieben Sprachen übersetzt. Ein bereits vor 1933 fertiggestelltes Buch über den kommenden Zweiten Weltkrieg konnte L. erst 1946 u. d. T. Der große Totentanz. Gesichte und Gedichte vom Krieg (Hbg.) veröffentlichen. Ausgabe: Antikrieg. Die literar. Stimme des Hamburger Schulreformers gegen Massenvernichtungswaffen. Hg. Andreas Pehnke. Ffm. 2003. Literatur: Marieluise Christadler: Kriegserziehung im Jugendbuch. Ffm. 1978, S. 306–316. – Bernhard Gleim: W. L. Erste Biographen. In: Jb. für Lehrer 5 (1980), S. 372–383. – Hartmut Eggen: W. L. (1881–1965). Aufsatzunterricht als Anlaß u. Ansatz zur Schulreform. In: DD 19 (1988), S. 427–431. – Andreas Pehnke: Der Hamburger Schulreformer W. L. u. seine Antikriegsschrift ›Giftgas über uns‹: Erstveröffentlichung des verschollen geglaubten Manuskripts v. 1932. Beucha 2006. Matthias Harder / Red.

L. entstammte einer sozialdemokrat. HandLancelot. – Prosaroman des 13. Jh. werkerfamilie. Nach der Schule besuchte er das Lehrerseminar in Hamburg u. wurde Der dt. L. ist die Übersetzung eines frz. OriVolksschullehrer. Bis 1918 stand L. der SPD ginals. In Frankreich bildet sich die Prosa als nahe u. war Mitgl. in deren »Sozialwissen- Form des Romans im Rahmen der Fortsetschaftlicher Vereinigung«. 1919–1927 war er zungen des unvollendeten Perceval von ChréMitgl. der KPD. 1933 wurde L. zwangspen- tien de Troyes (1181/88) heraus. Der entsioniert u. mit einem umfassenden Arbeits- scheidende Schritt erfolgt mit der Prosaisieverbot belegt. Vereinzelte Zeitungsartikel rung des ursprünglich in Versen verfassten publizierte er in den folgenden Jahren daher Roman du Saint-Graal des Robert de Boron (um unter den Pseudonymen Lucia Kahl u. Paul 1212). Das Werk legt die bei Chrétien zwiWillis. Auch nach 1945 kehrte L. nicht in den schen Mythos u. Christentum schwebende Schuldienst zurück u. lehnte einen Ruf an die Symbolik des Grals u. der Gralsgesellschaft Pädagogische Hochschule Berlin ab. Wäh- legendenhaft-heilsgeschichtlich fest. Prosairend seine Arbeiten in der Bundesrepublik sierung u. zykl. Tendenzen des PercevalDeutschland kaum Beachtung fanden, verlieh Graal-Stoffes führen auf den monumentalen ihm die Humboldt-Universität in Ostberlin Zyklus des Lancelot en Prose zu (Ansatz ca. 1215 1960 die Ehrendoktorwürde. bis 1230), der mit rd. 100 frz. Handschriften L. veröffentlichte (z.T. zus. mit Adolf Jen- des 13. bis 15. Jh., einer frz. Drucküberliefesen) eine Reihe reformpädagog. Streitschrif- rung u. einer gesamteurop. Rezeption als das ten, in denen v. a. der herkömml. Aufsatz- wirkungsvollste Romanwerk des MA überunterricht angegriffen wird (Unser Schulauf- haupt bezeichnet werden kann. Für das satz, ein verkappter Schundliterat. Hbg. 1910. Der Weiterleben des Stoffs in der Neuzeit wurde Weg zum eigenen Stil. Hbg. 1911. Die Poesie in v. a. die Bearbeitung durch Thomas Malory in Not. Ein neuer Weg zur literarischen Genesung Le Morte Darthur (gedr. postum 1485) maßgeunseres Volkes. Hbg. 1913). Mit der 1913 pu- bend. Der Zyklus ist als Trilogie mit deutlich blizierten (1915 verbotenen) Antikriegserzählung Das Menschenschlachthaus. Bilder vom unterschiedenen Teilen angelegt: Auf den

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Lancelot propre (den »eigentlichen« L.) folgt die Queste del Saint Graal u. schließlich die Mort le Roi Artu, wobei der erste der Teilromane etwa den dreifachen Umfang der ganzen übrigen Textmasse erreicht. Die Verfasserschaft bleibt im Stil des historiograf. Berichts anonym. Am Ende der Teile taucht aber die fiktive Zuschreibung an Gautier Map († 1209) auf, der im Auftrag Heinrichs II. von England († 1198) gearbeitet habe. Hinter dieser Redaktion wird auf von Artus selbst angeordnete lat. Aufzeichnungen verwiesen u. so eine lückenlose chronikal. Fiktion aufgebaut. Unterschiede im Stil u. in der Normkonzeption der Teilromane führten dazu, mit mehreren Verfassern zu rechnen; anderseits geht die enge Verzahnung der Einzelromane über eine rein kompilative Vereinigung der Teile entschieden hinaus. Um dies zu erklären, wurden v. a. zwei Modelle diskutiert. Frappiers Hypothese von einem »Architekten« des Riesenwerks, der mit dem Verfasser des Lancelot propre identisch sei, fand breite Zustimmung. Daneben wurden auch ursprünglich nicht zykl. Teilfassungen u. verschiedene Stufen zyklischer Erweiterung u. Überarbeitung erwogen. Für die vorliegende Trilogie ist von Anfang an die Konzeption von zwei Helden u. somit das Mittelstück der Gral-Queste vorauszusetzen. Auch der Artusuntergang wird bereits im Lancelot propre disponiert. Der Trilogie wurden später zwei weitere Teilromane vorgeschaltet, die den Stoff in die Ursprünge zurückverfolgen, die Estoire dou Saint Graal u. die Estoire de Merlin (mit der Suite Merlin). Der dt. Prosa-L. galt lange als Übersetzung des 15. Jh., einer Zeit, in der sich die Prosa in der dt. Erzählliteratur auf breiter Front durchsetzte. Wichtigster Textzeuge ist die älteste Gesamthandschrift, der kostbar ausgestattete Heidelberger Codex cpg 147 mit der Sigle P (um 1455/75). Sie war urspr. in drei Bände (P I-III) gebunden, die der Stoffverteilung in den drei Bänden der Edition von Kluge entsprechen. Mit der Entdeckung des Amorbacher Fragments (wohl Ende des 13. Jh.) u. der folgenden Identifizierung des Münchner Fragments (wohl um 1250, bereits eine Abschrift) war der L. als erster dt. Prosaroman ins 13. Jh., nicht weit hinter die frz. Vorlage, zurückzudatieren. Als lange Zeit

Lancelot

erster u. einziger dt. Prosaroman nimmt er eine literarhistor. Sonderstellung ein. Allerdings gilt das frühe Datum nur für die Partie P I (s. o.), für die man aufgrund von Niederlandismen eine mittelniederländ. Zwischenstufe annimmt. Für die Vermittlung macht Heinzle zisterziensisch orientierte Kreise der westmitteldt. Klosterkultur verantwortlich. Die Teile P II u. P III heben sich sprachlich u. stilistisch ab. Es ist anzunehmen, dass sie erst im späten 13. oder frühen 14. Jh., womöglich direkt aus dem Französischen, übertragen wurden. Zu Beginn von P II klafft eine größere Lücke (etwa ein Zehntel des Gesamttextes), die bei Steinhoff durch eine bair. Neubearbeitung aus dem 16. Jh. geschlossen wird (Sigle a). Die dt. Übersetzung hält sich eng an das Original, sie intendiert keine mehr oder weniger eigenständige Bearbeitung, wie sie die klass. höf. Versromane Hartmanns, Wolframs oder Gottfrieds bieten. Akzente verschieben sich aber durch Missverständnisse der Überlieferung (auch in der frz. Vorlage) u. durch Abweichungen in der mhd. Terminologie. Im dt. Kulturraum ist die Übersetzung als langfristige, eindrucksvolle Rezeptionsleistung der dt. Literaturgeschichte zu sehen. Den epischen Rahmen um das Gesamtwerk zieht die Biografie Lancelots, seine Kindheit, sein Aufstieg zum »besten Ritter« des Artushofes u. zum Liebhaber der Artus-Gattin Ginover. Mit dem Gral taucht eine neue, geistl. Zielsetzung des Rittertums auf, welcher Lancelot wegen der Sünde des Ehebruchs nicht genügen kann. Die Bewältigung der Gral-Aventiuren gelingt erst seinem Sohn Galaad. Der Artushof verweigert sich aber dieser religiös-asket. Wendung u. geht schließlich an einer inneren Zerrüttung zugrunde, für die der Ehebruch lediglich der Auslöser ist. Die Verstocktheit des ersten Artusritters Gawan, die skrupellose Gier des illegitimen Artussohnes Mordred u. Artus selbst führen letztlich den Reichs- u. Kulturuntergang herbei. Das genealog. System der Lancelot-Sippe ist seit den ersten Zeilen des Romans präsent. Zwei Brüder heiraten zwei Schwestern. Die Väter stammen aus dem Geschlecht Josephs von Arimathia, des ersten Ritters des NT, die

Lancelot

Mütter aus dem Hause Davids, eines Ahnherrn des Rittertums im AT. Ban zeugt mit Alene Lancelot, dessen Zu- u. Taufname die Doppelkarriere der zwei Protagonisten bereits vorwegnimmt. Er »was geheißen Lancelot syn zuname, wann er was getauffet Galaad« (Steinhoff I, 10, 10f.). Genealogische Vernetzungen bestehen zur Gralfamilie, auch die Artus-Sippe agiert als großer Familienverband. Die epische Entfaltung dieses Grundrisses erfolgt in einer in der Literatur des ganzen MA unvergleichl. Breite u. Fülle. Als Raum fungiert Großbritannien mit dem Artusreich Logres als Hauptschauplatz. Weitere Landschaften wie Wales, Schottland usw. sind geografisch zuzuordnen. Ein Teil der Ereignisse spielt in dem anderen Stammland der Artus-Mythe, der festländ. Bretagne. Am Horizont taucht Rom mit seinem imperialist. Anspruch auf, dahinter als Heimat des Grals der Orient. Dieser Raum, in den auch symbol. Räume eingelagert sind, wird im Gegensatz zum Versroman im Umkreis Chrétiens als reales Kontinuum entworfen mit Angabe von Richtungen, Entfernungen, Höhenunterschieden, Herrschafts-, Kultur- u. Sprachgrenzen. Ebenso kohärent ist die Darstellung der Zeit. Die Handlung rollt ab nach einem überschaubaren, von den Festen des Jahres gegliederten Terminplan. Die Figuren haben ein biografisches Alter: Artus feiert seinen 50. Geburtstag, am Ende ist er 92 Jahre alt; Gawan zählt 66 Jahre, Lancelot 44, was der erzählten Zeit des Romans gleichkommt. Die relative Chronologie ist absolut verankert: Der Aufbruch zur Gralsuche ereignet sich im Jahr 454 nach Christi Passion (also 487 nach seiner Geburt). Die Queste eröffnet auch den Rückgriff in die Vorgeschichte der Gralwelt, deren Generationenfolgen bis zu Joseph von Arimathia reichen. Dahinter führt die Handlung ins AT zu David u. Salomon, bis zur Urgeschichte der Menschheit im Paradies. Die Erzählung geht streng chronologisch vor. Um ihr vielsträngiges Geschehen auszufalten, bedient sich der Erzähler des »entrelacement« (Lot), d.h. er springt von einem Schauplatz zum anderen u. lässt wie bei einem Flechtwerk bald den einen, bald den anderen Handlungsstrang an die Oberfläche treten. Ab-

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schließende u. eröffnende Floskeln schaffen den Übergang. Der Einstieg setzt in einem figuren- u. handlungsreichen Panorama im Nordwesten Frankreichs ein apokalypt. Signal: König Ban wird mit seiner Familie vertrieben. Als er zurückblickend seine Lieblingsburg in Flammen aufgehen sieht, bricht ihm das Herz. Aber er übt die Kunst des seligen Sterbens, wie sie Jahrzehnte später die Überlebenden des Endes üben werden. Das Kind Lancelot wird von einer Fee, der Frau vom Lack, entführt u. mit den ebenfalls enterbten Vettern Bohort u. Lyonel in einem scheinbar unter Wasser liegenden Reich erzogen. Diese Schutzinstanz unterweist Lancelot in der Ritterschaft (elaborierte Ritterlehre), bringt ihn zur Ritterweihe nach Großbritannien an den Artushof u. begleitet ihn weiter auf den frühen Stationen seiner Karriere. Doch deuten Lancelots unvollständige Investitur u. sein übereilter Aufbruch zu einer den Hof überfordernden Hilfeleistung bereits die Relativierung des Artuszentrums an. Weiter wird in der Fixierung des jungen Ritters auf Ginover schon der Keim der fatalen Ehebruchsaffäre angelegt: Beim Aufbruch missversteht er ihre Höflichkeitsfloskel als Liebeserklärung u. lässt sich von diesem Wort zu all den Taten beflügeln, die ihn zum besten Ritter seiner Zeit erheben. Pathologische, außenseiterische u. heroische Züge vermischen sich in Lancelot zu einem problemat. Charakterbild. In einer identifizierenden Aventiure, in deren Verlauf er in sein künftiges Grab blickt, befreit er die Burg Dolorose Garde von einem teufl. Zauber. Indes wird Artus – durch unheilvolle Träume gewarnt u. der Vernachlässigung seiner Herrscherpflichten bezichtigt – von dem überlegenen König Galahot angegriffen. Artus übt Umkehr, reorganisiert sein Reich u. kann mit Hilfe Lancelots die Bedrohung abwehren. Den Ausschlag aber gibt zuletzt Galahots leidenschaftl. Liebe zu Lancelot. Um den Freund in seiner Nähe zu halten, arrangiert Galahot die Begegnung mit der Königin, bei der es zum Geständnis u. zum ersten Kuss kommt. Bis zur Vereinigung der Liebenden sind aber noch zahllose Suchefahrten, Kämpfe, Gefangenschaften, erot. Abenteuer

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der einzelnen Artusritter wie Lancelots zu berichten. Nur auf Ginovers Bitte lässt sich dieser schließlich in die Tafelrunde aufnehmen. Galahot stirbt nach der Ankündigung seines Endes in Träumen u. Visionen, getrennt von seinem Freund, einen Minnetod. Die nächste große Handlungseinheit lehnt sich an Chrétiens Chevalier de la Charrette an. Lancelot muss die durch ein voreiliges Versprechen des Artus verspielte Königin aus dem Land Gorre zurückholen. Sein Weg dahin führt ihn über einen Schandkarren, auf den er als ergebener Minnediener springt, u. über die Doppelaventiure in einem Klosterfriedhof, die seinen bevorstehenden Erfolg ankündigt u. zgl. auf sein künftiges Scheitern in der Gralperspektive verweist. Die Überquerung der nach Gorre führenden Schwertbrücke figuriert eine Unterweltsfahrt. Im dritten Handlungskomplex des »eigentlichen« L., dem Agravant, kommt allmählich die Gralsburg Cobenic ins Blickfeld. Dort wird Lancelot durch ein Täuschungsmanöver mit der Tochter des Fischerkönigs zusammengeführt. In einer prekären Konstellation wird Galaad gezeugt: Während Lancelot, in Liebe entbrannt, Ginover in den Armen zu halten meint, ist die keusche Gralprinzessin bereit, den Gralhelden u. Erlöser des Landes zu empfangen. Anderseits führen Rückgriffe auf die Herkunft des Mordred, den Artus unwissend im Inzest gezeugt hat, u. Prophezeiungen von dessen Vatermord bereits auf den Artusuntergang zu. Mit der Gral-Queste setzt sich ein neues, geistl. Ritterideal mit monastisch-asket. Tugenden (Jungfräulichkeit auch bei Männern, zumindest sexuelle Enthaltung, Demut) durch. Beim Erscheinen des jungen Galaad am Artushof bricht in pfingstl. Stimmung die gesamte Ritterschaft zur Gralsuche auf. Aber sie tut dies sündig u. ohne zu beichten u. wird sich in sinnloser Aventiuresuche wechselseitig abschlachten. Lancelot gelingt es dagegen, den Ermahnungen frommer Einsiedler zu folgen, Buße zu tun u. seiner sündigen Minne abzuschwören. Dagegen hebt sich der gestaffelte Vollendungsweg der drei Gralhelden Bohort, Parzival u. Galaad ab. Die alten ritterlichen Rituale haben ihre Geltung verlo-

Lancelot

ren, die Aventiuren wandeln sich zur Begegnung mit einer spirituellen Überwelt. Hinter den Handlungen, den Visionen u. Träumen baut sich eine geistige Realitätsebene auf, die von Eremiten allegorisch aufgeschlüsselt wird. Galaad tritt ausdrücklich als christusförmiger Erlöser an u. geht seinen Weg in unbedrohter Vollkommenheit. Er erhält eine geistl. Investitur mit dem Schwert Davids durch Parzivals Schwester, seine keusche Minnepartnerin, die ihr Leben in einem Blutopfer verschenkt. Dies geschieht auf einem von König Salomon von Stapel gelassenen Schiff, das als Allegorie des Glaubens seit alttestamentlicher Zeit die Meere durchkreuzt. Hier erlebt Galaad in einem rituellen Schlaf unter einem Baldachin aus den drei Kreuzhölzern eine symbol. Kreuzigung. Mit dem Schwert Davids leistet Galaad eine blutige, kreuzritterlich anmutende Ketzervernichtung, um dann problemlos alle seit Jahrhunderten anstehenden Erlösungsaufgaben zu erledigen. Zuletzt begleitet er den aus der sündigen Welt des Westens scheidenden Gral in den Osten zurück. Nach einer Reihe von großen Gralmessen, in denen die geistl. Geheimnisse immer hüllenloser u. körperlicher geschaut werden, stirbt Galaad, während der Gral in den Himmel entrückt wird. Im Tod des Königs Artus geht nach dem Verlust des geistl. Heils das Hofleben mit Turnieren, Suchen u. Minneverstrickungen unbeirrt weiter, doch alle Ereignisse führen in dramat. Verkettung unaufhaltsam in die Katastrophe. Lancelot u. Ginover kehren zu ihrer Leidenschaft hemmungsloser denn je zurück. Anfangs können die Denunziationen, z.B. durch die Artus-Schwester Morgane, unterdrückt werden. Dann aber wird in Motivparallelen zum Tristan-Stoff das Paar in flagranti ertappt u. Ginover zum Scheiterhaufen verurteilt. Lancelot befreit sie in letzter Minute, tötet aber dabei drei von Gawans Brüdern (Agravain, Guerrehes u. den ideal gezeichneten Lieblingsbruder Gaheries) u. spaltet so die Artus-Partei. Alle Versöhnungsversuche mit Gawan scheitern. Das Ende nimmt den in Geoffreys von Monmouth Historia regum Britanniae (1136) vorgezeichneten Verlauf. Während Artus in Frankreich gegen Lancelot u. die Ban-Sippe kämpft u.

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sich gegen die Herausforderung Roms behaupten muss, usurpiert sein Sohn Mordred in London die Macht u. sucht seine Stiefmutter zur Ehe zu zwingen. Artus eilt zurück. Auf den Feldern von Salisbury kommt es trotz aller Unheilswarnungen zur Entscheidungsschlacht: Vater u. Sohn geben sich wechselseitig den Tod; Entrückung oder Begräbnis des Artus bleiben in der Schwebe; das Artusschwert wird von Geisterhand in den See zurückgezogen. Alle hinterbliebenen Hauptfiguren finden ein heiligmäßiges Lebensende im Kloster. Die Trilogie bietet so eine Summe der vorausliegenden Artus-Literatur. Sie entwirft in Chronik-Fiktion eine welt- u. heilsgeschichtlich dimensionierte Geschichte des Rittertums, führt sie zu ihrem Höhepunkt u. verfolgt sie in ihren Untergang. Dieser Bogen ist durch ein von Beginn angelegtes, gegen Ende stärker hervortretendes Prädestinationskonzept vorgezeichnet, das der Entscheidungs- u. Bewährungsfreiheit der Akteure einen gewissen Spielraum lässt. Profane Geschichtskonzepte bestehen neben heilsgeschichtlichen, myth. Residuen finden sich eingelagert. Eschatologische Vorstellungen (mit Anklängen an den Joachitismus) fließen ein, setzen sich aber nicht konsequent durch. Weltliche u. geistl. Wertsetzungen werden scharf konfrontiert u. bleiben unvermittelt. Den kollektiven Untergang übersteht der Einzelne, der im Rückzug aus der Welt u. in der Kunst des rechten Sterbens ein individuelles Heil findet. Ausgaben: Altfranzösisch: The Vulgate Version of the Arthurian Romances. Hg. H. Oskar Sommer. 7 Bde., Washington 1908–13. Registerbd. 1916. – L. Hg. Alexandre Micha. 9 Bde., Genf/Paris 1978–83 (›Lancelot propre‹). – L. do Lac. The noncyclic Old French Prose Romance. Hg. Elspeth Kennedy. 2 Bde., Oxford 1980. – La Queste del Saint Graal. Hg. Albert Pauphilet. Paris 1923 (Nachdrucke). – La Mort le Roi Artu. Hg. Jean Frappier. Genf/Paris 3 1964. – Mittelhochdeutsch: L. Hg. Reinhold Kluge. 3 Bde., Bln. 1948, 1963, 1974. Bd. 4 (Namen u. Figurenregister) 1997. – Prosalancelot. Nach der Heidelberger Hs. Cod. Pal. Germ. 147 hg. v. R. Kluge [...]. Übers., komm. u. hg. v. Hans-Hugo Steinhoff. 5 Bde., Ffm. 1995 (I, II: ›Lancelot und Ginover‹), 2003 (III, IV ›Lancelot und der Gral‹),

190 2004 (›Die Suche nach dem Gral‹; ›Der Tod des König Artus‹). Literatur: Die wichtige Forschung zur frz. wie dt. Version ist in den Kommentar von Steinhoffs Ausgabe (1995–2004, s. o.) eingearbeitet. – Ferdinand Lot: Étude sur le L. en Prose. Paris 1918. – Albert Pauphilet: Études sur la Queste del Saint Graal. Paris 1921. 21984. – Edward Schröder: Der dt. L. in Prosa, ein Werk aus dem Anfang des 13. Jh. In: ZfdA 60 (1923), S. 148–151. – Jean Frappier: Étude sur la ›Mort le Roi Artu‹. Genf/Paris 1936. 3 1972. – Ders.: Plaidoyer pour l’›architecte‹ contre une opinion d’Albert Pauphilet sur le L. en Prose. In: Romance Philology 8 (1954), S. 27–33. – Uwe Ruberg: Raum u. Zeit im Prosa-L. Mchn. 1965. – Rudolf Voß: Der Prosa-L. Meisenheim 1970. – J. Frappier: Le roman en prose en France au XIIIe siècle. In: Grundriß der roman. Lit.en des MA. Hg. Hans Robert Jauss. Bd. IV, I, Heidelb. 1978, S. 502–589. – Joachim Heinzle: Zur Stellung des Prosa-L. in der dt. Lit. des 13. Jh. In: Artusrittertum im späten MA. Hg. Friedrich Wolfzettel. Gießen 1984, S. 104–113. – U. Ruberg: L. In: VL (Lit.). – Fritz Peter Knapp: Chevalier errant u. fin’amor. Passau 1986. – Werner Schröder (Hg.): WolframStudien 9. Bln. 1986 (Aufsatzslg.). – Alexandre Micha: Essais sur le cycle du L.-Graal. Genf/Paris 1987. – Monika Unzeitig-Herzog: Jungfrauen u. Einsiedler. Studien zur Organisation der Aventiurewelt im ›Prosalancelot‹. Heidelb. 1990. – Cornelia Reil: Liebe u. Herrschaft. Studien zum altfrz. u. mhd. Prosa-L. Tüb. 1996. – Judith Klinger: Der mißratene Ritter. Konzeptionen v. Identität im Prosa-L. Mchn. 2001. – Carol Dover (Hg.): A Companion to the L.-Grail Cycle. Woodbridge 2003. – Michael Waltenberger: Das große Herz der Erzählung. Studien zur Narration u. Interdiskursivität im ›Prosalancelot‹. Ffm. 1999. – Nikola v. Merveldt: Translatio u. Memoria. Zur Poetik der Memoria des Prosa-L. Ffm. 2004. – Klaus Ridder u. Christoph Huber (Hg.): L. Der mhd. Roman im europ. Kontext. Tüb. 2007 (Aufsatzslg.). – Katja Rothstein: Der mhd. Prosa-L. Eine entstehungs- u. überlieferungsgeschichtl. Untersuchung. Ffm. 2007. – C. Huber: Galaad als Erlöser. Zur heilsgeschichtl. Struktur im ›Prosalancelot‹. In: DVjS 82 (2008), S. 205–219. Christoph Huber

Land, Hans, eigentl.: Hugo Landsberger, * 25.8.1861 Berlin, nach 1935 verschollen. – Erzähler, Essayist, Redakteur. Der Sohn eines Rabbiners studierte Literaturgeschichte u. Geschichte u. fand Kontakt zu naturalist. Literatenkreisen. Er war Mit-

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arbeiter verschiedener Zeitschriften u. Vorstandsmitgl. der Neuen Freien Volksbühne. Wie andere Autoren des Naturalismus griff auch L. soziale Themen auf, so in den Novellen Stiefkinder der Gesellschaft u. Die am Wege sterben (beide Bln. 1889). Bekannt wurde er bes. dadurch, dass Der neue Gott. Roman aus der Zeit des Sozialistengesetzes (Dresden 1891/92) in die sog. Naturalismusdebatte auf dem SPDParteitag in Gotha 1896 einbezogen wurde. L.s Unkenntnis der tatsächl. Situation der Arbeiter führte zu dem Vorwurf, er verhöhne den Klassenkampf. Dennoch behandelte er weiterhin soziale Themen (Spartacus. Ein Erlöser-Roman. Bln. 1919. Der Aufstand des Spartacus. Lpz. 1922; E.), wandte sich aber zunehmend unterhaltenden Stoffen zu. Weitere Werke: Die hl. Ehe (zus. mit Felix Hollaender). Bln. 1893 (D.). – Um das Weib. Bln. 1896 (R.). – Von zwei Erlösern. Bln. 1897 (R.). – Staatsanwalt Jordan. Bln. 1916 (R.). – Der Fall Gehrsdorf. Stgt. 1922 (R.). – Das Mädchen aus dem Goldenen Westen. Stgt. 1922 (R.). Literatur: Felix Hollaender u. John Henry Mackay: Zum Thema der bürgerlich individualist. Revolte in der dt. pseudosozialen Prosa. In: philologica pragensia 46 (1964), H. 1, S. 1–14. – Klaus Siebenhaar: Hugo Landsberger. In: NDB. Christian Schwarz / Red.

Landau, Lola, eigentl.: Leonore LandauWegner, * 3.12.1892 Berlin, † 2./3.2.1990 Jerusalem. – Lyrikerin, Erzählerin.

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Erzählungen von Liebe und Tod. Bln. 1926) u. Schauspiele (u. a. das 1931 in Breslau uraufgeführte Drama Kind im Schatten). Mit ihrem vielseitigen Werk, v. a. mit ihrer am Expressionismus geschulten, leidenschaftlichen u. liedhaft-zarten Lyrik wurde L. dann eine der wichtigsten Vertreterinnen deutschsprachiger Literatur in Israel. Neben Beiträgen zu israelischen u. bundesdt. Anthologien erschien die Gedichtsammlung Noch liebt mich die Erde (Bodman 1969). In Die zärtliche Buche (Bodman 1980) hat L. Erinnerungen an die Berliner Kindheit, an die Ehe mit Wegner u. an das schmerzl. Wiedersehen mit Deutschland mit einer Auswahl ihrer Gedichte verbunden – Texten in »heimlichen Lauten, vom Mutterlande geliehen, das uns für immer geraubt« (so im Gedicht Einwanderer). Die Geschichte ihrer »drei Leben« erzählt L. in der Autobiografie Vor dem Vergessen (Bln. 1987. 1992). Weitere Werke: Die Wette mit dem Tod. Urauff. Wernigerode 1930 (Mysteriensp.). – Hörst du mich, kleine Schwester? Bodman 1971 (E.). – Variationen der Liebe. Bodman 1973 (E.). – Leben in Israel. Ges. u. mit einem Vorw. v. Margarita Pazi. Marbach 1987. – Positano oder Der Weg ins dritte Leben. Zwei autobiogr. Anekdoten. Aus dem Nachl. hg. v. Thomas Hartwig. Bln. 1995. – ›Welt vorbei‹. Abschied v. den sieben Wäldern. Die KZ-Briefe 1933/34. L. L., Armin T. Wegner. Aus dem Nachl. hg. v. T. Hartwig. Bln. 1999. Literatur: Margarita Pazi (Hg.): Nachrichten aus Israel. Hildesh./New York 1981. – Reinhard M. G. Nickisch: Armin T. Wegner – ein Dichter gegen die Macht. Wuppertal 1982. – Jörg Deuter: ›Noch liebt mich die Erde‹. L. L. – ein Lebensweg einer dt. Dichterin v. Berlin nach Jerusalem. In: Sprache im techn. Zeitalter (1984), S. 209–233. – Birgitta Hamann: L. L. Leben u. Werk. Ein Beispiel dt.-jüd. Lit. des 20. Jh. in Dtschld. u. Palästina/Israel. Bln. 2000.

Bis 1933 lebte L. als freie Schriftstellerin u. Journalistin in Berlin, am Stechlinsee u. in Breslau. Nach ihrer ersten Ehe (mit dem Dozenten Erich Mark) heiratete sie 1921 den Dichter Armin T. Wegner. Nach Aufenthalten in Schweden u. England emigrierte die als Jüdin von den Nationalsozialisten Verfolgte Heinrich Detering / Red. 1936 mit ihrer Tochter nach Palästina, wo sie sich in zionist. Organisationen engagierte. Ein Versuch, mit Wegner im ital. Positano zu Landauer, Gustav, * 7.4.1870 Karlsruhe, leben, scheiterte; 1938 trennten sich die † 2.5.1919 München. – Essayist, Erzähler, Eheleute. Nach langjähriger Tätigkeit als Journalist, Übersetzer. Sprachlehrerin lebte L. als freie Schriftstelle- L., Sohn jüdischer Eltern, studierte Philosorin in Jerusalem. phie, Germanistik u. Kunstgeschichte. Nach Nach ihren frühen Gedichtbänden Schim- Abbruch des Studiums 1893 wirkte er als merndes Gelände (Bln. 1916) u. Das Kind der freischaffender Publizist u. VortragsreisenMutter (Bln. 1918) veröffentlichte L. noch vor der Emigration Erzählungen (Abgrund. Zwei

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der. Er war verheiratet mit der Lyrikerin u. Übersetzerin Hedwig Lachmann. Bereits 1892 gründete L. mit Bruno Wille u. Fritz Mauthner die »Neue Freie Volksbühne«, die das proletar. Massenpublikum – statt mit naturalistischer Sozialkritik – mit Appellen an das neu entdeckte Seelenleben von innen heraus umschaffen wollte. 1893 erschien L.s einziger Roman, Der Todesprediger (Dresden/Lpz. 1893. 1903. Neudr. Münster 1978). Der Held des durch Nietzsche angeregten Werks distanziert sich von Sozialismus u. Nihilismus zugunsten einer individuell ausgestalteten, gesellschaftlich verantwortl. Liebesgemeinschaft. Während eines von mehreren Gefängnisaufenthalten wegen Ordnungskonflikten mit der Staatsgewalt verfasste L. eine Übersetzung von Meister Eckharts Schriften (Meister Eckharts mystische Schriften in unsere Sprache übertragen. Bln. 1903. Ffm. 1991. 2005). Die myst. Erweiterung des Bewusstseins sollte Ich-Hybris u. erstarrtes Begriffsdenken innerweltlich transzendieren, nicht im Gegensatz zum Rationalismus, sondern als dessen Ergänzung. In Skepsis und Mystik (Bln. 1903) schloss L. sich Mauthners Sprachkritik an u. ergänzte sie um ein neuromant. Programm der Wortmagie. Die Traumfantasien sollen die Naturgeschichte des Menschen als »Unsagbares« in Erinnerung bringen. L.s literarische u. philosoph. Entwicklung vollzog sich in enger Verschränkung mit seinem polit. Denken, das sich u. a. in der Mitarbeit an den Zeitschriften »Die Zukunft«, »Die Gesellschaft« u. »Das Neue Jahrhundert« dokumentierte. In den 1890er Jahren Sozialist, gewannen nach 1900 Kropotkin u. Tolstoi starken Einfluss auf ihn, wie »Die zwölf Artikel des Sozialistischen Bundes« erkennen lassen, den er 1908 gemeinsam mit seinen Lebensfreunden Martin Buber u. Erich Mühsam gründete. In seinem polit. Essay Die Revolution (Ffm. 1907. Bln. 1974) hatte er das späte MA von Meister Eckhart bis zur böhm. Frühreformation als Vorbildkultur entdeckt, in der er – statt Kirche oder Staat – in den einzelnen Menschen einen gesellschaftsbildenden Geist zu finden meinte, der die freiheitsfeindl. Autoritäten überflüssig machen

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würde: »durch Absonderung zur Gemeinschaft«. Seine Option für die Nation als Sprachgemeinschaft, indifferent gegen Blut u. Boden, war durch sein bewusstes Judesein bestimmt. Die Verbundenheit der Juden in der Diaspora galt ihm als soziolog. Modell für eine Gesellschaft ohne Staat, weshalb er sich von jüd. Assimilation u. polit. Zionismus gleich weit entfernt hielt. Er warb für das individuelle »Beginnen« in kleinen Siedlungen u. Gemeinschaften. Während des Weltkriegs Pazifist, konzentrierte sich L. 1914–1918 vorwiegend auf das Vermitteln literar. Werke, denen er eine soziale Funktion im Sinne seines Anarchismus zutraute. Er übersetzte u. a. Rabindranath Tagore u. Walt Whitman u. hielt einen Vortragszyklus über Shakespeare, den er als einen Apostel existentieller Freiheit deutete (Shakespeare. Hg. Martin Buber. 2 Bde., Ffm. 1922). Im Nov. 1918 stellte sich L., der das Ideal strikter Gewaltlosigkeit vertrat, als Beauftragter für Volksaufklärung der Regierung Eisner in den Dienst der Münchener Revolution. Zu seinem neuen Amt schrieb er an Mauthner (7.4.1919): »[L]eicht möglich, daß es nur ein paar Tage sind, und dann war es ein Traum«. Beim Einmarsch der gegenrevolutionären Truppen verhaftet, wurde L. im Gefängnis von Soldaten ermordet. Weitere Werke: Ein Weg zur Befreiung der Arbeiterklasse. Bln. 1895. – Macht u. Mächte. Bln. 1903. Erw. Köln 1923 (N.n). – Aufruf zum Sozialismus. Bln. 1911. 21919. Neuaufl. hg. v. HeinzJoachim Heydorn. Ffm. 1967. – Der werdende Mensch. Hg. Martin Buber. Potsdam 1921. Neuaufl. mit einem Nachw. v. Arnold Zweig. Lpz./ Weimar 1980. – Beginnen. Aufsätze über Sozialismus. Hg. M. Buber. Köln 1929. – Herausgeber: Briefe aus der frz. Revolution. 2 Bde., Ffm. 1922. Neuaufl. in einem Bd. Hbg. 1961. Bln. 1999. Ausgaben: Werkausg. Hg. Gert Mattenklott u. Hanna Delf. Bisher Bd. 2 (Traum, Utopie, Revolution. Gesellschaftstheoret. Essays) u. 3 (Dichter, Ketzer, Außenseiter. Essays u. Reden zu Lit., Philosophie, Judentum). Bln. 1997. – Erkenntnis u. Befreiung. Ausgew. Reden u. Aufsätze. Hg. u. mit einem Nachw. vers. v. Ruth Link-Salinger (Hyman). Ffm. 1976. – Signatur: g. l. – G. L. im ›Sozialist‹ (1892–99). Hg. dies. Ffm. 1986. – Auch die Vergangenheit ist Zukunft. Ess. zum Anarchismus.

193 Hg. Siegbert Wolf. Darmst. 1989. – Die Botschaft der Titanic. Ausgew. Ess.s. Hg. Walther Fähnders u. Hansgeorg Schmidt-Bergmann. Bln. 1994. – Zeit u. Geist. Kulturkrit. Schr.en 1890–1919. Hg. Rolf Kauffeld u. Michael Matzigkeit. Mchn. 1997. – Arnold Himmelheber. Eine Novelle. Hg. Philippe Despoix. Bln. u. a. 2000. – Briefe und Dokumente: ›Ich kann an ein Gelingen noch gar nicht glauben‹. Der Briefw. G. L.s mit seinen Töchtern während der bayer. Räterepublik. Hg. Annegret Walz. Ffm. 1993. – Hanna Delf (Hg.): G. L. – Fritz Mauthner. Briefw. 1890–1919. Mchn. 1994. – ›Sei tapfer und wachse dich aus‹. G. L. im Dialog mit Erich Mühsam. Briefe u. Aufsätze. Hg. Christoph Knüppel. Lübeck 2004. Literatur: Martin Buber (Hg.): G. L.: Sein Lebensgang in Briefen. 2 Bde., Ffm. 1929. – Wolf Kalz: G. L. Kultursozialist u. Anarchist. Meisenheim 1967. – Charles B. Maurer: Call to Revolution. The Mystical Anarchism of G. L. Detroit 1971. – Ruth Link-Salinger (Hyman): G. L. German-Jewish Utopian Populist. Indianapolis 1977. – Siegbert Wolf: G. L. Zur Einf. Hbg. 1988. – Augustin Souchy: G. L. Anarchismus ist nicht nur utopisch. Hg. Bernhard Arracher u. Hans Degen. Grafenau 1989. – W. Siegbert: ›Ich Denkender bin Jude...‹. G. L.s Judentum u. seine Freundschaft mit Martin Buber. In: Tribüne 29 (1990), H. 114, S. 184–197. – Bernhard Braun: Die Utopie des Geistes. Zur Funktion der Utopie in der polit. Theorie G. L.s. Idstein 1991. – S. Wolf (Hg.): G. L. Bibliogr. Grafenau-Döffingen 1992. – Hanna Delf: Zwei unveröffentlichte Mss. G. L.s zur frühen Nietzsche-Rezeption. In: ZRGG 44 (1992), S. 263–273, 302–321. – Michael Matzigkeit (Hg.): ›...Die beste Sensation ist das Ewige...‹. G. L. Leben, Werk u. Wirkung. Düsseld. 1995 (zahlreiche Dokumente). – Leonard Fiedler u. a. (Hg.): G. L. (1870–1919). Eine Bestandsaufnahme zur Rezeption seines Werkes. Ffm./New York 1995. – G. L. im Gespräch. Symposium zum 125. Geburtstag. Hg. H. Delf u. Gert Mattenklott. Tüb. 1997. – Michael Franz: Skepsis u. Enthusiasmus. G. L.s ›Anschluß‹ an Fritz Mauthner. In: Fritz Mauthner. Hg. Helmut Henne u. Christine Kaiser. Tüb. 2000, S. 163–174. – Philippe Despoix: G. L.s Novelle ›Arnold Himmelheber‹. Zur Konstruktion des Deutsch-Jüdischen. In: EG 55 (2000), S. 61–72. – S. Wolf: ›...der Geist ist die Gemeinschaft, die Idee der Bund‹. G. L.s Judentum. In: Erich Mühsam u. das Judentum. Lübeck 2002, S. 85–115. – Die rote Republik: Anarchie u. Aktivismuskonzept der Schriftsteller 1918/19. Lübeck 2004. – Walther Fähnders: Sprachkritik u. Wortkunst, Mystik u. Aktion bei G. L. In: Anarchismus u. Utopie in der Lit. um 1900. Hg. Jaap Grave. Würzb. 2005,

Lander S. 139–149. – Christoph Knüppel: ›Aus der Scholle festem Grunde wächst dereinst die Freiheitsstunde‹. G. L. u. die Siedlungsbewegung. In: Von Ascona bis Eden. Alternative Lebensformen. Lübeck 2006, S. 45–66. Gert Mattenklott † / Red.

Lander, Jeannette, * 8.9.1931 New York. – Romanautorin, Erzählerin. L., die Tochter polnisch-jüdischer Immigranten, wuchs in Atlanta/Georgia auf; neben Englisch bezeichnet sie Jiddisch als ihre eigentl. Muttersprache. Sie studierte Literaturwissenschaften in den USA (u. a. Brandeis University u. Southeastern Louisiana College) u. ab 1960 an der FU Berlin (William Butler Yeats. Die Bildersprache seiner Lyrik. Diss. Stgt. 1967). In bzw. bei Berlin lebt sie bis heute, unterbrochen von einem einjährigen Aufenthalt in Sri Lanka (1984), dessen Eindrücke sie in dem Roman Jahrhundert der Herren (Bln. u. a. 1993) literarisch gestaltete. 1950–1971 war sie mit dem dt. Autor Joachim Seyppel verheiratet. Obgleich keine Muttersprachlerin, schreibt L. seit 1966 ausschließlich Deutsch. Anfänglich unter dem Einfluss von Ezra Pound, James Joyce u. William Butler Yeats, tendiert sie zu einem reduzierten klaren Stil mit oftmals kurzen Sätzen voll poetischer Intensität u. setzt Sprache als ein Werkzeug genauer Beschreibung ein. Themen ihrer Romane sind das Ertasten von Wirklichkeit u. die Suche nach der eigenen Identität trotz kultureller, geografischer u. sprachl. Brüche u. zwischenmenschl. Schwierigkeiten. Dabei sind ihre Protagonisten oft weiblich (eine Ausnahme bildet der iron. Wende-Roman Robert. Bln. 1998) u. – bes. in den frühen Werken – explizit als jüdisch vorgestellt. In ihrem 1996 erschienenen Roman Eine unterbrochene Reise (Bln.) schildert L. die innere Zerrissenheit einer Frau, die als Touristin auf eine griech. Insel kommt u. dort als geheimnisvolle Außenseiterin 30 Jahre lang bleibt. Mary Ellen kann sich zwischen Bleiben u. Aufbruch, zwischen Sehnsucht u. Ablehnung gegenüber dem Fremden nicht entscheiden u. gerät in Konflikt mit der patriarchalisch strukturieren Gesellschaft. In dem von ihr als »autobiografischer Roman« u. als »Memoiren«

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bezeichneten Buch Überbleibsel. Eine kleine Erotik der Küche (Bln. 1995. 1999) diskutiert L. in anekdotenhaft-leichtem Erzählton u. am Beispiel des »kulinarischen Gedächtnisses« die Schwierigkeiten von Frauen in verschiedenen Kulturen, ihr Leben zu gestalten u. traditionell-weibl. Rollen u. Aufgaben mit ihren Wünschen u. Zielen in Einklang zu bringen. Stipendien führten L. 1975 (Olevano) u. 1976 (Villa Massimo/Rom) nach Italien. Sie war Writer in Residence an den amerikan. Universitäten von Georgia (2000) u. St. Louis (2001). Seit 1979 arbeitet sie auch intensiv für Film u. Fernsehen. Weitere Werke: Ezra Pound. Bln. 1968. Engl. New York 1971. – Ein Sommer in der Woche der Itke K. Ffm. 1971 u. ö. – Auf dem Boden der Fremde. Ffm. 1972 (R.). – Ein Spatz in der Hand [...]. Ffm. 1973 (E.en). – Die Töchter. Ffm. 1976. Bln. 1996 (R.). – Ich, allein. Mchn. 1980. Ffm. 1989. 1991 (R.). – Fernsehfilme: Eine exot. Frau für den dt. Mann. 1979. – Kein Tag ist normal. 1982. Literatur: Marjanne Goozé u. Martin Kagel: ›I am not a part of this. I can laugh at it. But I know it‹. A Conversation with J. L. In: Women in German Yearbook 15 (2000), S. 17–31. – Monika Shafi: Conflicting Desires. Recent Novels by J. L. In: Dies.: Balancing Acts. Intercultural Encounters in Contemporary German and Austrian Literature. Tüb. 2001, S. 39–86. – Katja Schubert: ›Jude sein ist Mensch sein‹? Neue Forschungstendenzen in der dt.-jüd. Kulturwiss. u. die frühen Romane v. J. L. In: ZfG N. F. 14/2 (2004), S. 359–372. – Laurel Plapp: Zionism and Revolution in European-Jewish Literature. New York u. a. 2008. Detlef Krumme / Christine Henschel

kurzfristig als Geschäftsführer des »arisierten« Paul Zsolnay Verlags. Als Kriegsberichterstatter geriet er in amerikan. Gefangenschaft (1943–1946). Dem Verfasser zahlreicher Romane u. Malerbiografien, Reiseberichte, Kinder- u. Jugendbücher gelang mit dem in Wien erschienenen Roman Adam geht durch die Stadt (1936; zahlreiche Neuauflagen), den die Kritik mit Knut Hamsuns Werken verglich, ein erster Erfolg: Ein Landstreicher wendet sich von der Großstadt ab, deren geschäftigem Treiben er nichts abgewinnen kann. Die mythisch überhöhte, von antibürgerlichem u. antimodernem Affekt getragene Suche nach dem wahren Leben u. in Verbindung damit die Bewältigung des Kriegserlebnisses (wie in dem zur »Heimkehrliteratur« der 1950er Jahre zählenden Roman In sieben Tagen. Gütersloh 1955) sind rekurrente Themen seiner Prosa. Weitere Werke: Das junge Jahr. Wien 1934 (L.). – Peter Halandt. Wien 1937 (R.). – Die neuen Götter. Aus den Papieren des Architekten Hemrich. Wien 1939. – Michaels erster Sommer. Wien 1940. – Ich in Vaters Hosen. Zehn fröhl. Gesch.n. Wien 1943. – Das Hochzeitsschiff. Bln. 1944 (R.). – Von Dimitrowsk nach Dimitrowsk. Linz 1948. – Die Nächte v. Kuklino. Wien 1952. – Ein Maler namens Vincent. Gütersloh 1957 (R.). – Das ferne Land des Paul Gauguin. Gütersloh 1959. – Narr des Glücks. Hbg. 1962. – Gesch.n, Gesch.n, Gesch.n. Gütersloh 1965. – Rückkehr ins Paradies u. a. Gesch.n. Graz 1979. – Gedichte u. Bilder. Hg. Brita Steinwendtner. Salzb. 1989. Briefausgabe: Briefe an E. L. Aus dem Nachl. hg. v. Adolf Haslinger u. Hildemar Holl. Salzb. 2008. Johann Sonnleitner / Red.

Landgrebe, Erich, * 18.1.1908 Wien, † 25.6.1979 Salzburg. – Lyriker, Erzähler, Landois, Hermann Johann Theodor, Übersetzer; Maler. * 19.4.1835 Münster, † 29.1.1905 Münster; Denkmal im Zoo von Münster. – Nach dem Studium an der Wiener Akademie Zoologe; Verfasser populärwissenschaftfür Angewandte Kunst u. an der Hochschule licher Schriften u. niederdeutscher Dichfür Welthandel absolvierte L. eine kaufmänn. ter. Ausbildung in Hamburg, arbeitete in verschiedenen Berufen in den USA u. kehrte 1933 nach Wien zurück. Er nahm Kontakt zu den nationalen Autoren Österreichs auf, trat 1936 der NSDAP u. der NS-Kulturgemeinde bei, fungierte in Wien nach dem »Anschluss« als kommissarischer Verwalter jüd. Verlage u.

Der Sohn eines Landgerichtsschreibers studierte in seiner Heimatstadt Zoologie u. Theologie, wurde dort 1859 zum Priester geweiht, wirkte als Biologielehrer am Gymnasium Paulinum u. seit 1872 als a. o., seit 1876 als o. Prof. der Zoologie in Münster. L.

Landsberger

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gründete 1874 den örtl. zoologischen Garten Landsberger, Artur, * 26.3.1876 Berlin, (mit einigen Neuerungen der Tierhaltung), † 4.10.1933 Berlin (Freitod). – Romanauwirkte an führender Stelle in mancherlei na- tor, Journalist. turkundl. Gesellschaften u. machte sich – in der Region als anekdotenumranktes Original Der aus angesehener jüd. Kaufmannsfamilie (bis heute) sehr bekannt – in einigen Lehr- stammende L. studierte in München, Heibüchern (darunter Westfalens Tierwelt in Wort delberg, Paris u. Greifswald Jura sowie später und Bild. 3 Bde., Paderb. 1883) u. in fast 1000 Literatur- u. Kunstgeschichte in Berlin. Zus. Beiträgen um die Popularisierung der Na- mit Richard Strauss, Georg Brandes, Richard turwissenschaften, insbes. der Zoologie ver- Muther u. Hugo von Hofmannsthal gründete dient. Obwohl er lange Zeit auf den Ausgleich er 1907 die Kulturzeitschrift »Morgen« von Theologie u. naturwiss. Rationalität be- (1907–1909). Ab 1910/11 widmete er sich dacht war, wurde ihm die Priesterwürde 1876 ausschließlich seiner Karriere als Unterhalaberkannt. Für die auf Breitenwirkung an- tungsschriftsteller. Einige seiner über 30 ergelegte Zoologische Abendgesellschaft ver- folgreichen Romane, so auch sein Erstling Wie fasste er niederdt. Spiele (darunter Der Prophet Hilde Simon mit Gott und dem Teufel kämpfte. Der Johann van Leyden. Osnabr. 1884). Daneben Roman einer Berlinerin (1910), bei Georg Müller erschienen Erzählbände (u. a. Mönstersk erschienen, erreichten hohe Auflagen. 1933 Stilläwen. Plattdeutsche Vertellsels. Münster nahm sich L. das Leben. L.s teils satirische u. gesellschaftskrit. Ro1881. Der Fürstbischöfliche Mönsterske Hauptmann Franz Miquel und sine Familie. Münster mane sind weniger wegen ihrer ästhet. Qua1892), aber auch Lyrisches (zus. mit anderen: lität bedeutsam denn als zeitgeschichtl. DoSappholt aus Westfalens Dichterhain. Lpz. 1885). kumente der Großstadt Berlin in den 1910er Mehrfach erweitert u. umgearbeitet wurde u. 1920er Jahren. In dem Hochstaplerroman sein für die niederdt. Literatur nicht un- Emil (Mchn. 1926) geht es ihm um die wichtiger Roman, in dem L. in Gestalt des Grenzverwischung zwischen »ehrlichem« Gelbgießers Franz Essing (eines Verwandten) Verbrecher u. gesellschaftl. Schein wahrenden Typus des westfäl. Spießbürgers humo- dem, aber kriminell handelndem Bürger. ristisch verklärte: Frans Essink, sien Liäwen und Hugo Bettauer lieferte mit seinem auf Wien Driwen äs aolt Mönsterks Kind (Münster 1874 bezogenen Kolportage-Roman Die Stadt ohne u. ö. Braunschw. 1878. 6. Aufl. in 2 Bdn., Lpz. Juden (1922) das Vorbild für L.s Roman Berlin 1886. 3. Bd., Lpz. 1892). 1898 folgte ein ohne Juden (Wien; Lpz. o. J. [1925]), den er auch vierter Band (Frans Essink up de Seelenwande- verfilmen wollte. Weiterhin schrieb L. mehrung. Psychodromischer Teil des komischen Ro- rere Boulevardkomödien. Als Herausgeber u. mans. Lpz. Weitere Aufl.n 1909. 1922). Publizist veröffentlichte er u. a. eine umHermann Löns bezeichnete L. als den fangreiche Materialsammlung über Satanisvolkstümlichsten Mann Westfalens. mus, Gott Satan oder das Ende des Christentums Literatur: Lotte Foerste: Plattdt. Erzähler des (Mchn. 1923). Jüdische Themen griff er nicht 19. Jh. Neumünster 1977, S. 97–103. – Markus nur in seinen Romanen auf; er edierte auch Krause: H. L. In: NDB. – Prof. Landois. AusstelJüdische Sprichwörter (Lpz. 1912) u. Ghetto-Erlungskat. Stadtmuseum Münster 2004. – Franzzählungen (1914 u. 1916) u. befasste sich Josef Jakobi u. Thomas Sternberg (Hg.): H. L. Münster 2005. – Westf. Autorenlex. (mit Bibliogr.). (zus. mit Werner Sombart) mit dem Phäno– Gregor Klapczynski: L. In: Bautz. – Goedeke men Judentaufen (Mchn. 1912). Forts.

Wilhelm Kühlmann

Weitere Werke: Berliner Romane. 7 Bde., Mchn. 1918. – Elisabeth. Roman einer dt. Frau. Mchn. 1922. – Raffke u. Cie. Die neue Gesellsch. Hann. 1924 (R.). – Liebe u. Bananen. Eine wilde Sache. Bln. 1927. – Bankhaus Reichenbach. Mchn. 1928 (R.). – Die Unterwelt v. Berlin. Nach den Aufzeichnungen eines ehemaligen Zuchthäuslers. Bln. 1929. – Mensch u. Richter. Hbg. 1931 (R.).

Landshoff(-Yorck)

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Literatur: Victor Goldschmidt: Seiende u. Werdende. Lpz. 1912, S. 207–217. – Julius Hart: A. L. Zürich 1919. – Florian Krobb: A. L. In: MLdjL. – Till Barth: Vom Dandy zum Haderer. A. L. (1876–1933). Köln 2005 (online). – A. L. In: Lex. dt.jüd. Autoren. Christian Schwarz / Petra Ernst

zahlreichen Begegnungen mit berühmten Persönlichkeiten ihrer Zeit berichtet. Aus dem Nachlass wurden sodann der bereits 1933 fertiggestellte Roman Leben einer Tänzerin (Bln./Grambin 2002. 2. Aufl. u. d. T. Roman einer Tänzerin. 2005) sowie Die Schatzsucher von Venedig (Grambin 2004) herausgegeben.

Landshoff(-Yorck), Rut(h), eigentl.: Ruth Gräfin Yorck von Wartenburg, * 1.1.1904 Berlin, † 19.1.1966 New York. – Schriftstellerin, Journalistin.

Weitere Werke: Sixty to go. New York 1944 (R.). – Lili Marlene. An intimate diary. New York 1945 (R.). – So cold the night. New York 1948 (R.). Literatur: Christiane Meckel: L. In: Dt. Exillit. Bd. 4, S. 1058–1066. – Barbara Drescher: Wechsel in der Erzählperspektive als Ausdruck der kulturellen Entfremdung in der Nachkriegsprosa v. Irmgard Keun, Dinah Nelken u. R. L. In: Erfahrung nach dem Krieg. Autorinnen im Literaturbetrieb 1945–50; BRD, DDR, Österr., Schweiz. Hg. Christiane Caemmerer. Ffm./Bln. u. a. 2002, S. 127–138. – Walter Fähnders: Zum literar. Werk v. R. L. in der Weimarer Republik. In: ZfG N. F. 12 (2002), S. 627–634. – Gregor Ackermann u. a. (Hg.): R. L., Karl Otten, Philipp Keller u. andere. Lit. zwischen Wilhelminismus u. Nachkriegszeit. Bln. 2002 (ersch. 2003; mit Bibliogr.). – W. Fähnders: Über zwei Romane, die 1933 nicht erscheinen durften: Mela Hartwigs ›Bin ich ein überflüssiger Mensch?‹ u. R. L.s ›Roman einer Tänzerin‹. In: Regionaler Kulturraum u. intellektuelle Kommunikation vom Humanismus bis ins Zeitalter des Internet. FS Klaus Garber. Hg. Axel E. Walter. Amsterd. u. a. 2005, S. 161–190. – Ders.: In Venedig u. anderswo. Annemarie Schwarzenbach u. R. L. In: Laboratorium Vielseitigkeit. Zur Lit. der Weimarer Republik. FS Helga Karrenbrock. Hg. Petra Josting. Bielef. 2005, S. 227–252.

Die Tochter der Opernsängerin Else Landshoff u. eines Ingenieurs hatte durch ihren Onkel, den Verleger Samuel Fischer, schon in früher Jugend Kontakt zu bekannten Schriftstellern (u. a. Thomas Mann, Alfred Kerr u. Gerhart Hauptmann); Oskar Kokoschka porträtierte sie. L. wurde Mitgl. des Ensembles von Max Reinhardt u. wirkte in Friedrich Wilhelm Murnaus Nosferatu (1922) mit; bis 1933 arbeitete sie u. a. für die Zeitschrift »Tempo« als Journalistin. U. d. T. Das wehrhafte Mädchen erschien 1929 (Bln.) eine Gedichtsammlung, 1930 ihr Debütroman Die Vielen und der Eine (Neuausg. Bln./Grambin 2001), in dem eine Reporterin durch die Metropolen der 1920er Jahre reist. Nach einer mehrjährigen Liebschaft mit dem Dichter u. Dramatiker Karl Gustav Vollmoeller heiratete L. 1930 den Grafen David Yorck von Wartenburg; die Ehe wurde jedoch 1937 wieder geschieden. Heiner Widdig / Hans Peter Buohler Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten emigrierte L. zunächst über Frankreich u. England in die Schweiz u. ließ Landshuter Erbfolgekrieg, 1504/05. – sich schließlich 1937 in den USA nieder. Mit Historisch-politische EreignisdichtunBüchern wie The man who killed Hitler (zus. mit gen. Dean Southern Jennings u. David Malcolmsen. Hollywood 1939) bezog sie engagiert Eine dynast. Auseinandersetzung im Hause Stellung gegen den Nationalsozialismus; Wittelsbach, die große publizist. Wirkung ferner arbeitete sie als Übersetzerin, Rund- zeigte, ist der durch die rechtswidrige Verfunk- u. Theaterautorin. fügung Herzog Georgs des Reichen von BayNach dem Zweiten Weltkrieg erschienen in ern-Landshut ausgelöste L. E. Bei Georgs Tod Deutschland, wo sich v. a. Alfred Andersch u. am 1.12.1503 standen seine Tochter Elisabeth Hans Magnus Enzensberger – wenngleich u. deren Mann Ruprecht, Sohn des Pfalzgramit geringem Erfolg – für sie einsetzten, ein fen Philipp, als vom verstorbenen Herzog Band mit Kurzgeschichten (Das Ungeheuer designierte Nachfolger den rechtmäßigen Zärtlichkeit. Ffm. 1952) sowie die biogr. Skiz- Erben, Albrecht IV. u. Wolfgang von Bayernzen Klatsch, Ruhm und kleine Feuer (Köln/Bln. München, gegenüber. Die Macht- u. Rechts1963. Ffm. 1997), in denen L. über ihre verhältnisse waren eindeutig, u. die ober-

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bayer. Erben erhielten von König Maximilian, einigen Reichsfürsten, dem Schwäbischen Bund sowie der Reichsstadt Nürnberg Unterstützung. Die andere Seite wurde vom Pfalzgrafen Philipp mit einem böhm. Söldnerheer, vielen niederbayer. Adligen u. den Bischöfen von Würzburg, Bamberg u. Eichstätt unterstützt. So kam es zum militärischen Konflikt, der auf dem Kölner Reichstag am 30.7.1505 mit der Bestätigung der oberbayer. Herzöge endete. Neben den lateinischen u. deutschen chronikal., annalist. und panegyr. Verlautbarungen sind bes. die ereignisnahen publizist. Zeugnisse des L. E. von Bedeutung, weil sie verstärkt in das Medium des Drucks drängten. Man zählt elf Lieder u. elf Reimreden in dt. Sprache. Neben Anonyma finden sich solche von nur einmal belegten Verfassern (Wilhelm Sunneberg, Hans Glaser von Urach, Hans Gern von Ems, Jörg Widmann, Crist Netzenbart), an der Propagandaschlacht des L. E. haben sich aber auch zwei Reimpublizisten Maximilians I., Johann Kurtz u. Hans Schneider, mit je zwei Sprüchen beteiligt. Der größte Anteil der Texte propagiert die oberbayer. Sache (Liliencron Nr. 232, 233, 234, 235, 240, 241 242, 243, 244, 245, 247, 248, Lorentzen 1913, Bader 1885). Von ihnen argumentieren nicht wenige juristisch u. verwenden viel Mühe auf die Darlegung der Erbfolgeregelung, andere loben den König hymnisch für seinen Sieg über ein böhm. Söldnerheer in der einzigen großen Schlacht bei Regensburg (12.9.1504). Häufig aber spiegeln die überlieferten Texte die disparate Interessenlage der Parteigänger, die nicht selten der Versuchung erliegen, ihren partikularen Interessen nachzugehen, statt sich im Dienste der dynast. Ziele zu engagieren (z.B. Liliencron Nr. 237). Manche Verfasser suchen die niederbayer. Partei zu spalten, indem sie einzelne Gruppen wie »stet, märkt und pauren« (Liliencron Nr. 234, V. 115) gezielt ansprechen, um sie von ihren adligen Herren zu separieren u. auf die oberbayer. Seite zu ziehen. Hier fällt eine Leitstrategie auf: Das in der Bevölkerung beliebte Herzogspaar bleibt von Kritik frei, aber die Machtgier des alten Pfalzgrafen, Ruprechts Vater, u. der Einfluss kriegstreibender Ratgeber werden angepran-

Landshuter Erbfolgekrieg

gert u. mit der angeblich unbegrenzten Friedensliebe Albrechts von München kontrastiert. Die Lieder der Landsknechte fokussieren das Kriegsgeschehen u. schlagen einen anderen Ton an, wenn sie sich in beißendem Spott über die kläglichen u. somit erfolglosen militärischen Maßnahmen der Gegner ergehen. Die böhm. Söldner auf Seiten des pfalzgräfl. Heeres bieten dem Landsknecht Hans Gern von Ems die Vorlage für eine Polemik, wie sie seit den Hussitenkriegen wohlfeil ist: die Verketzerung des Gegners, gegen den man zum Kreuzzug aufrufen kann (Liliencron Nr. 241). Für die Partei Elisabeths u. Ruprechts, die meist als pfalzgräfliche adressiert wird, sprechen sich fünf Lieder (Liliencron Nr. 236, 238, 239, 246, Herrmann 1904) u. ein kurzer Spruch (Schäfer 1980) aus. Hier stehen Spottreden auf einzelne Repräsentanten der Gegenseite neben empath. Schilderungen von entbehrungsreichen Belagerungen oder drast. Berichten von Plünderungen u. Greueltaten, die einmünden in den Ruf nach Bestrafung der Schuldigen. Ereignisnähe in Produktion u. Rezeption ist den Publizisten wichtig. Dies zeigt sich bei den meisten Sprüchen u. Liedern an ihrer sofortigen Drucklegung im Flugblatt, der manchmal eine handschriftl. Abschrift zu einem späteren Zeitpunkt folgt, darunter auch der Eintrag in eine Stadt- oder Landeschronik. Im Allgemeinen bleibt die Rezeption sowohl temporal als auch regional eng begrenzt; nur wenige Texte werden wie das Lied vom Benzenauer (Liliencron Nr. 246) im 16. Jh. mehrfach gedruckt u. rezipiert. Ausgaben: Rochus v. Liliencron (Hg.): Die histor. Volkslieder der Deutschen. Bd. 2, Lpz. 1866. Nachdr. Hildesh. 1966, Nr. 232–248, S. 494–563. – Th[eodor] Bader (Hg.): Über ein auf der hiesigen Gymnasialbibliothek befindl. Fragment eines histor. Volkslieds aus dem Anfang des 16. Jh. In: Programm Schleusingen 1885, S. 3–24. – F. Herrmann (Hg.): Landsknechtslied auf die Belagerung v. Caub 1504. In: Archiv für Hess. Gesch. u. Altertumskunde N. F. 3 (1904), S. 113–122. – Theodor Lorentzen (Hg.): Zwei Flugschr.en aus der Zeit Maximilians I. In: Neue Heidelberger Jbb. 17 (1913), S. 209–218. – Roland Schäfer (Hg.): Ein bäuerl. Spottvers auf König Maximilian I. aus dem L. E. (1505). In: Ztschr. für bayer. Landesgesch. 43 (1980), S. 497–500.

Landsteiner

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Literatur: Bibliografie: VD 16. – Weitere Titel: Ulrich Müller: Hans Glaser. In: VL. – Frieder Schanze: Neues zu dem Reimpublizisten Johann Kurtz. In: ZfdA 112 (1983), S. 292–296. – Ders.: Johann Kurtz. In: VL. – Ders.: Der L. E. In: VL (auch: Nachträge u. Korrekturen). – Max Spindler u. Andreas Kraus (Hg.): Hdb. der bayer. Gesch. Bd. 2: Dieter Albrecht: Das alte Bayern. Der Territorialstaat vom Ausgang des 12. bis zum Ausgang des 18. Jh. Mchn. 1988. – RSM. – Stefan Hohmann: Friedenskonzepte. Köln u. a. 1992, S. 381–406. – F. Schanze: Wilhelm Sunneberg. In: VL. – Sonja Kerth: ›Der landsfrid ist zerbrochen‹. Wiesb. 1997, S. 117–121 u. Register. – F. Schanze: Jörg Widmann. In: VL. – Karina Kellermann: Abschied vom ›historischen Volkslied‹. Tüb. 2000 (Register). – Horst Brunner u. a. (Hg.): ›Dulce bellum inexpertis‹. Bilder des Krieges in der dt. Lit. des 15. u. 16. Jh. Wiesb. 2002. – F. Schanze: Crist Netzenbart. In: VL (Nachträge u. Korrekturen). – Rudolph Ebneth u. Peter Schmid (Hg.): Der L. E. An der Wende vom MA zur Neuzeit. Regensb. 2004. Karina Kellermann

Landsteiner, Karl (Borromäus), auch: Arthur Landerstein, * 30.8.1835 Schloss Stoitzendorf bei Eggenburg/Niederösterreich, † 3.4.1909 Nikolsburg. – Erzähler, Dramatiker, Lyriker. Der Sohn eines Schlossverwalters studierte ab 1856 Geschichte, Germanistik u. Geografie in Wien. Nach Eintritt in den Piaristenorden 1857 wurde L. 1860 zum Priester geweiht; seit 1865 arbeitete er als Lehrer. 1873 trat er in den Weltpriesterstand über. Ab 1876 Gemeinderat in Wien, wurde er 1886 Propst in Nikolsburg, 1900 päpstl. Hausprälat. L., auch als Tierschützer (Redakteur des »Tierfreundes«) aktiv, setzte sich für eine christlich bestimmte Reform der Donaumonarchie ein. Sein umfangreiches literar. Werk, das alle Gattungen pflegte, verstand er als Fortführung der Kanzeltätigkeit. L.s Romane (wie Edmund Fröhlich, der Abenteurer. 4 Bde., Wien 1863) trugen ihm den Ruf eines »katholischen Gutzkow« ein. Seine Bearbeitung des Höritzer Passions- und Osterspiels (Würzb. 1894) wurde Aufführungsbasis. Weitere Werke: Pulsschläge. Wien 1863 (L.). – Die Rose v. Jericho. Aachen 1867 (E.). – Der Antichrist. Wien 1891 (D.). – Edel sei der Mensch! Wien

1897 (ges. L.). – Ein Jünger Ahasvers. Regensb. 1900 (R.). – Nachlass: Österr. Nationalbibl. Wien. Literatur: Martin Hroschek: K. L. als Erzähler. Diss. Wien 1948. – Alfreda Suda: K. L. Diss. Wien 1949. – Ernst Josef Krzywon: L. In: NDB. Andreas Schumann / Red.

Lang, (Friedrich) Carl, Karl, auch: August Lindemann; Carl, Karl, August Hirschmann, * 27.10.1766 Heilbronn, † 17.5. 1822 Wackerbarthsruhe bei Dresden. – Dramatiker, Lyriker, Erzähler; Kupferstecher, Jurist, Kunsttheoretiker u. Pädagoge. L. besuchte in seiner Heimatstadt das Gymnasium u. studierte von 1785 bis 1787 zunächst in Erlangen, ab 1788 für weitere drei Semester in Göttingen Jura. In diese Zeit fallen auch L.s erste literar. Veröffentlichungen: 1786 veröffentlichte er eine Äsop-Übersetzung (Funfzig Aesopische Fabeln in Versen und Prosa. Erlangen), Horaz metrisch übersetzt (Erlangen/Nürnb.) u. seinen ersten Gedichtband Ein Blumenkranz (Erlangen), dem 1787 eine Sammlung von meist in liedhaft-idyllischem Ton gehaltenen Gedichten (Erlangen) folgte. 1788 kehrte L. in seine Heimatstadt zurück u. wurde Kanzleiadvokat. Er publizierte die Bibliothek für Mahler, Zeichner, Bildhauer und Liebhaber der schönen Künste (Erlangen 1789), eine Kunstlehre in Briefform. 1792 heiratete L. die Tochter eines Apothekers u. gab fortan seine Werke im Selbstverlag heraus. 1795 gründete er ein Atelier für Kupferdruck; gleichzeitig wurde er zum Stadtgerichtsassessor ernannt, zwei Jahre später als Senator in den Heilbronner Rat gewählt. Als 1798 L.s Kunstverlag, das mit der Unterstützung seines Schwiegervaters gegründete »Schwäbische Industriekontor«, in Konkurs gegangen war, flüchtete er nach Hamburg. Dort gab er unter Pseud. das Taschenbuch für weisen und frohen Lebens-Genuß (Altona 1800) heraus, zu dem – wie bereits beim Taschenbuch für häusliche und gesellschaftliche Freuden (Heilbr./Ffm. 1796–99) – Daniel Chodowiecki Kupferstiche beisteuerte. Da sich L. erneut verschuldete, floh er zunächst nach Berlin, wo er für den Verleger Wilhelm Oehmigke an der Neuen Bilder-Gallerie für junge

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Söhne und Töchter (Bd. 8–10, 13–15, Bln. 1801–12) arbeitete, u. später weiter nach Leipzig, wo er für den Verlag von Karl Tauchnitz u. a. die populärwiss. Schrift Tempel der Natur und Kunst (3 Bde., Lpz. 1802–04) herausgab. Diese illustrierte er – wie auch einige seiner Kinderbücher – selbst. 1807 erwarb L. in Erlangen den Doktorgrad. Der Jugendschriftsteller gründete sodann 1810 in Tharandt bei Dresden eine der Aufklärung verpflichtete Erziehungsanstalt, welche er 1816 nach Wackerbarthsruhe verlegte, wobei sich auch hier finanzielle Schwierigkeiten nicht ganz vermeiden ließen. Weitere Werke: Ritter Franz v. Sickingen. Ffm. 1792. – Histor. Almanach für den dt. Adel. Ffm. 1793/94. – Ritter Göz v. Berlichingen mit der eisernen Hand. Ffm. 1793 (Biogr.). – Gallerie der unterird. Schöpfungs-Wunder u. des menschl. Kunstfleißes unter der Erde. Lpz. [1801]. – Sommerblumen: Gemählde des menschl. Lebens. Lpz. 1803. – Ideen aus dem Gebiete der Schönen Künste: für Freunde u. Vertraute der Natur. Lpz. [1804]. – Titania: ein Tb., Dtschld.s Schönen gewidmet. Lpz. 1806/07. – Welt- u. Wundermagazin. 2 Bde., Lpz. 1809. – Abriß der Sitten u. Gebräuche aller Nazionen. 5 Bde., Nürnb. 1809–17. Literatur: Hamberger/Meusel 4 (1797), S. 340–342. – Gustav Lang: F. K. L.: Leben u. Lebenswerk eines Epigonen der Aufklärungszeit. Stgt. 1911 (mit Bibliogr.). – HKJL. – Heinz Wegehaupt: Der Jugendbuchautor K. L., ein dankbarer Bibliotheksbenutzer. In: Marginalien 102 (1986), S. 70–77. Hans Peter Buohler

Lang, Franciscus (Andreas), * 7.9.1654 Aibling/Obb., † 5.10.1725 München. – Jesuit; Regisseur, Dramatiker, Theatertheoretiker. L., Sohn eines Gastwirts u. Bürgermeisters in Aibling, dessen Geburtsdatum nicht genau feststeht – die Annuae Litterae von 1725 nennen den 8. Sept., das Fest Mariae Geburt (vermutlich als Erklärung für L.s Marienfrömmigkeit als Ergebnis besonderer Fügung), die Münchener Matrikel von 1670/71 den 6. Sept. – besuchte seit 1664 wie auch später seine beiden Brüder das Jesuitengymnasium in München, wo er – allerdings nur in Nebenrollen – mit dem Theater vertraut wurde. Mit 17 Jahren trat er in Landsberg

Lang

dem Orden bei, studierte 1674–1677 in Ingolstadt Philosophie u. 1680–1684 Theologie. Nach der Priesterweihe (1684) wurde er Professor für Rhetorik u. Poesie in Eichstätt u. Leiter der dortigen Schulbühne. 1687 begann seine Wirksamkeit in München – zunächst als Professor für Rhetorik u. in dieser Funktion als Bühnenleiter, später als Gymnasialpräfekt. Als Leiter der Bibliothek sammelte er die Periochen von Theateraufführungen der oberdt. Ordensprovinz, wodurch noch heute ein Einblick in die Theaterpraxis des Ordens im 17. Jh. geboten wird. In seiner Funktion als Präses der Großen Marianischen Kongregation (1694–1706) prägte L. die Form der dramat. Meditation, die in Verbindung mit Musik Oratoriencharakter hat. L. liebte v. a. die emblemat. Exegese u. in diesem Zusammenhang auch die lebendige Präsentation von Emblemen. Als Quelle nutzte er v. a. Masens Speculum Imaginum Veritatis Occultae (1650). Zwischenzeitlich übte er von 1696 bis 1698 das Amt des Professors für Kontroverstheologie in München aus. Neben seinen Dramen, die der Meditation dienen, zu denen u. a. einer der bedeutendsten Musiker Münchens dieser Zeit, Rupert Ignaz Mayr, Kompositionen beisteuerte u. die 1717 in drei Sammelbänden (Bd. 1: Theatrum solitudinis asceticae. Sive Doctrinae Morales per Considerationes [...] exhibitae. Bd. 2: Theatrum affectuum humanorum [...]. Bd. 3: Theatrum doloris et amoris [...]) in München publiziert wurden, machte er sich durch seinen Briefwechsel einen Namen, der u. d. T. Epistolae Familiares ad Amicos, et notos scriptae (Mchn. 1725. Internet-Ed.: CAMENA, Abt. CERA. Ingolst./Augsb. 21747. 31766) erschien. Hier nahm L. zu theologischen u. polit. Fragen wie auch zu Theaterproblemen Stellung. Wie sehr er der Lehre des Ordensgründers verpflichtet ist, zeigt das Theatrum solitudinis ascetiae, in dem der Autor die Exerzitien des Ignatius mit fantasieunterstützenden Mitteln auf die Bühne bringt. Wichtig für das heutige Verständnis barocker Theaterpraxis u. Dramaturgie ist L.s Dissertatio de actione scenica (Ingolst./Mchn. 1727. Übers. u. hg. v. Alexander Rudin. Bern 1975), die, in den poetolog. Vorstellungen traditionell, aber doch mit Interesse für die

Lang

neuen frz. Theorien, in den Anweisungen für Gestik u. Mimik, die das gesprochene Wort unterstützen u. der theatral. Wirkung dienen sollen, ein durchaus originelles Lehrbuch der Schauspielkunst bietet. Das Werk verfolgt das Anliegen, den einzelnen Affekten den adäquaten Körperausdruck in der Aktion des Schauspielers zukommen zu lassen, sodass Wort u. Mimik einander optimal ergänzen. Somit sind seine nicht unbeträchtlichen dramentheoret. Äußerungen in Relation zur ars scenica zu sehen. Weitere Werke: Meditationes congregationis B. Mariae Virginis. Mchn. 1705. – Compositiones Rhetoricae. Mchn. 1735 (enthalten in BSB Clm 9242–45). – Elida Maria Szarota: Das Jesuitendrama im dt. Sprachgebiet. Eine Periochenedition. Texte u. Komm. 3 Bde., Mchn. 1979–83; darin: Via mirabilis Divinae Providentiae. Bd. I,1, 1979, S. 467–474; Praemium Angelici cultus Victoria Ferdinando Antolino collata. Bd. I,2, 1979, S. 1391–1398; Victrix in bello pietas Alphonsi I. Regis Portugalliae. Bd. II,1, 1980, S. 411–418; Erkembaldus Brabantiae dux filialis improbitatis. Bd. III,2, 1983, S. 1551–1556. Literatur: Bibliografien u. archivalische Quellen: Catalogus personarum et officiorum Provinciae superioris Germaniae. Bayer. Hauptstaatsarchiv Mchn. (BSA), Jesuitica 410–476. – Diarium gymnasii S. J. Monachensis. Bayer. Staatsbibl. Mchn. (BSB), Clm 1551–1552. – Notae Censoris in considerationes morales P. Fr. Lang S.J., Bayer. Hauptstaatsarchiv (BSA) Mchn., Jesuitica 862. – BackerSommervogel, Bd. 4. – F. L.: Abh. Über die Schauspielkunst. Übers. u. hg. v. A. Rudin, S. 333–339. – Weitere Titel: Nikolaus Scheid: P. F. L.s Büchlein über die Schauspielkunst. In: Euph. 8 (1901), S. 56–67. – Jakob Albrecht: Ein Aiblinger Bühnendichter der Barockzeit. In: Mangfallgau-Jb. 1 (1956), S. 83 f. – Werner Kinding: F. L. Diss. Graz 1965. – Ronald Gene Engle: F. L. and the Jesuit Stage. Diss. University of Illinois 1968. – Ders.: Bühnenanleitungen: Schultheater der Jesuiten in München. In: Educational Theatre Journal 22 (1970), S. 179–187. – Barbara Bauer: Das Bild als Argument. Emblemat. Kulissen in den Bühnenmeditationen F. L.s. In: AKG 64 (1982), S. 79–170. – Dies.: Jesuitische ›ars rhetorica‹ im Zeitalter der Glaubenskämpfe. Ffm./New York 1986, S. 565–585. – Dies.: Multimediales Theater. Ansätze zu einer Poetik der Synästhesie bei den Jesuiten. In: Renaissance-Poetik. Hg. H. Plett. Bln./ New York 1994, S. 197–238. – Marianne Sammer: Die Fastenmeditation. Gattungstheoret. Grundle-

200 gung u. kulturgeschichtl. Kontext. Mchn. 1996. – Dies.: ›Eine Art geistliche Oper‹. Die musikdramat. Fastnachtsmeditationen der Münchner Jesuiten im 18. Jh. In: Lit. in Bayern 38 (1994), S. 11–22. – Heinz Meyer: ›Theatrum Affectuum Humanorum‹ bei F. L. SJ. Ein Hinweis zu den Affekten auf der Jesuitenbühne. In: Tugenden u. Affekte in der Philosophie, Lit. u. Kunst der Renaissance. Hg. Joachim Poeschke. Münster 2002, S. 155–172. – Jens Roselt: Seelen mit Methode: Schauspieltheorien vom Barock bis zum postdramat. Theater. Bln. 2005, S. 74–93. – Josef Focht (Hg.): Bayer. MusikerLexikon Online (2006 ff.). Franz Günter Sieveke

Lang, Fritz, * 5.12.1890 Wien, † 2.8.1976 Beverly Hills. – Regisseur u. Drehbuchautor. Nach Architektur- u. Malereistudien in Wien, München u. Paris u. einigen ausgedehnten Reisen kam L., Sohn eines Stadtbaumeisters, erstmals 1913/14 in Paris mit dem Film in Berührung. 1914 nahm er, nach Wien zurückgekehrt, als Freiwilliger am Ersten Weltkrieg teil. Während zweier Genesungsaufenthalte – L. war kriegsversehrt u. wurde zuletzt für untauglich erklärt – schrieb er Kurzgeschichten u. Filmskripte, 1917 die ersten Drehbücher. Von 1918 an arbeitete er in Berlin bei der Filmgesellschaft Decla, danach bei der Ufa. 1919 inszenierte er sein Regiedebüt Halbblut. Der unabgeschlossene Zweiteiler Die Spinnen, beeinflusst von amerikanischen u. frz. Abenteuer-Serials, wurde 1920 sein erster großer Erfolg. 1920 begann auch L.s Zusammenarbeit mit seiner späteren Frau Thea von Harbou, die in der Folge die Drehbücher zu allen dt. Vorkriegsfilmen L.s schrieb, u. a. zu Dr. Mabuse, der Spieler (1922), Die Nibelungen (1924), Metropolis (1927) u. zu L.s erstem Tonfilm M (1931). Die öffentl. Debatte um die immensen Drehkosten von Metropolis zwangen L. 1927, seine eigene Produktionsgesellschaft zu gründen. 1933 drehte er eine Fortsetzung der Mabuse-Geschichte (Das Testament des Dr. Mabuse) über einen Wahnsinnigen, der mit Terror u. Verbrechen die Weltherrschaft anstrebt. Der Film wurde von der Filmprüfstelle der Nationalsozialisten verboten, L. floh überstürzt nach Paris. 1934 emigrierte er nach Amerika u. unterzeichnete bei MGM. Sein erster Hol-

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lywoodfilm Fury (1936) behandelte einen Fall macht man einen Regenbogen?‹ F. L.s Nibelunvon Lynchjustiz. Bis 1945 drehte er verschie- genfilm: Fragen zur Bildhaftigkeit des Films u. dene Anti-Nazi-Filme, darunter Hangmen Also seiner Rezeption. Ffm. 1994. – David J. Levin: RiDie! (1943; Drehbuchmitarbeit: Bertolt chard Wagner, F. L., and the Nibelungen. The Dramaturgy of Disavowal. Princeton 1998. – Tom Brecht). Nach Kriegsende arbeitete er meisGunning: The Films of F. L. Allegories of Vision tens für kleinere Hollywood-Studios, u. a. für and Modernity. London 2000. – Rolf Aurich, die von ihm selbst mitgegründeten Diana Wolfgang Jacobsen u. Cornelius Schnauber: F. L. Productions. Leben u. Werk, Bilder u. Dokumente 1890–1976. 1959 versuchte L. ein Comeback im dt. Bln. 2001 (dt., engl., frz.). – Thomas Elsaesser: Film mit Der Tiger von Eschnapur / Das Indische Metropolis. Der Filmklassiker v. F. L. Aus dem Grabmal, für deren erste Verfilmung er 1921 Amerikanischen v. Malte Hagener. Hbg./Wien das Drehbuch selbst geschrieben hatte. 1960 2001. – Georges Sturm: Die Circe, der Pfau u. das versetzte er in Die tausend Augen des Dr. Mabuse Halbblut. Die Filme v. F. L. 1916–21. Trier 2001. – die Figur des »Super«-Verbrechers in die dt. Larissa Schütze: F. L. im Exil. Filmkunst im Schatten der Politik. Mchn. 2006. Nachkriegsrealität. Sein Stil galt jedoch als Fritz Göttler / Marco Schüller nicht mehr zeitgemäß, u. er konnte keinen weiteren Film mehr realisieren. Lange Zeit basierte L.s Ruhm vorwiegend Lang, Lange, Langius, Johannes, * um 1488 auf seinen dt. Großproduktionen, ihrer rigo- Erfurt, † 2.4.1548 Erfurt. – Augustinerrosen ornamentalen Stilisierung u. Massen- eremit, Theologe, Reformator, Übersetchoreografie. In den 1950er Jahren erst ent- zer. deckten frz. Kritiker – unter ihnen die späteren Regisseure Godard u. Truffaut – den L., der seit 1500 an der Erfurter Universität amerikan. L. u. seine Genrefilme (Western, studierte u. zum Erfurter Humanistenkreis film noir, Abenteuer, Melodrama). »Lang ist um Konrad Mutian gehörte, trat 1506 in das das Gewissen des Kinos«, sagt Godard: In dortige Kloster der Augustinereremiten ein. seinem Film Le Mépris (1963) spielt L. einen Nachdem er 1511 gemeinsam mit Martin Regisseur. Nicht in seinen bewusst kolporta- Luther an die Universität Wittenberg wechgehaften Geschichten manifestiert sich L.s selte, wurde er 1512 Mag. art. u. lehrte bis »Moral«, sondern in seiner Inszenierung: in 1516 im Artesstudium. Seit 1515 Baccalauder unerbittl. Kadrierung u. Kameraführung, reus biblicus, war er ab 1516 als Prior seines die Dekor, Objekte u. Menschen in ein ein- Klosters wieder in Erfurt. 1518 wurde er ziges Gewebe von Fatalismus u. Fremdbe- Distriktsvikar seines Ordens; 1519 wurde er stimmung gliedern. In einer solchen Welt als in Erfurt gegen Widerstände der theolog. Ornament steckte für Siegfried Kracauer Fakultät zum Dr. theol. promoviert. Nach(From Caligari to Hitler. Princeton 1947) eine dem er 1522 das Kloster verlassen u. 1524 Affinität zur Massenregie des Nationalsozia- eine vermögende Witwe geheiratet hatte, lismus. Im Laufe der jüngeren L.-Forschung wirkte er als Prediger, ab 1525 bis zu seinem wurde diese äußerst einflussreiche Sicht Tod (1548) als evang. Pfarrer der Michaelisdurch viele weitere interessante filmhistor. kirche u. Reformator in Erfurt. 1522 dispuPerspektiven ergänzt. Tom Gunning, der eine tierte er in Weimar mit Augustin von Alveldt vorzügl. Einführung in L.s filmisches Schaf- über die Mönchsgelübde, 1525 ordnete er das fen geschrieben hat, hält L.s Filme für »as- evang. Kirchenwesen seiner Heimatstadt neu semblies of words and images and sounds u. unterschrieb 1537 die Schmalkaldischen which are among the most precious records of Artikel. L. war neben Karlstadt u. Amsdorff ein wichtiger Gesprächspartner für die Entthe twentieth century.« Literatur: Michael Töteberg: F. L. mit Selbst- wicklung der reformatorischen Theologie u. zeugnissen u. Bilddokumenten. Reinb. 1985. – – neben Spalatin – ein wichtiger »VerbinFrieda Grafe u. a.: F. L. 2., erg. Aufl. Mchn. 1987. – dungsmann« Luthers zu den Humanisten. L., Fred Gehler u. Ullrich Kasten: F. L. Die Stimme v. der u. a. mit Erasmus, Bugenhagen u. MeMetropolis. Bln. 1990. – Andreas Wirwalski: ›Wie lanchthon korrespondierte, unterrichtete in

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Erfurt u. Wittenberg Griechisch u. wurde Weimar 1984, S. 53–56 u. ö. – Erich Kleineidam: J. 1519 zur bestimmenden Kraft der humanist. L. In: Contemporaries. – Ulman Weiß: Die frommen Bürger v. Erfurt. Die Stadt u. ihre Kirche im Universitätsreform in Erfurt. Zum erhaltenen Werk zählen frühe Aus- SpätMA u. in der Reformationszeit. Weimar 1988, S. 320 f. u. ö. – Willigis Eckermann. L. In: LThK 3. gaben (1514 Sentenzen des Sextus PythagoAufl. – Stefan Rhein: Philipp Melanchthon u. raeus, 1515 zwei Briefe des Hieronymus, Eobanus Hessus. In: Erfurt. Gesch. u. Gegenwart. 1516 Sentenzen des Nilus), Wittenberger Hg. U. Weiß. Weimar 1995, S. 283–295, hier 294 f. Vorlesungen über Titus- u. Römerbrief (in – Jens-Martin Kruse: Universitätstheologie u. KirMitschriften erhalten), lat. Übersetzungen chenreform. Die Anfänge der Reformation in Witgriech. Gedichte u. die bereits 1521 erschie- tenberg 1516–22. Mainz 2002, S. 41–48, 71–78 nene Übersetzung des Matthäusevangeliums u. ö. J. Klaus Kipf »aus Kriechsersprach« unter Benutzung der Ausgabe u. Übersetzung des NT durch ErasLang, Lange, Langius, Joseph, * um 1570 mus ([Erfurt] 1521). Als Zeuge der Leipziger Kaisersberg/Elsass, † Mai 1615 Freiburg/ Disputation zwischen Karlstadt, Luther u. Br. – Philologe, Herausgeber rhetorischer Eck gab er das lat. Protokoll derselben heraus Florilegien. (Erfurt 1519). Streit- u. Rechtfertigungsschriften für die Reformation sowie Berichte Nach philolog. Studien in Straßburg konüber ihre frühesten Blutzeugen bilden den vertierte L. um 1603/04 zum Katholizismus. Schwerpunkt seines reformatorischen Werks An der Freiburger Universität lehrte er ab 1604 als Professor der Rhetorik, des Griechiin dt. Sprache. Weitere Werke (in Auswahl): Epistola ad [...] schen u. ab 1611 auch der Mathematik. Ab Martinum Margaritanum [...] pro literis sacris et 1605 war er einer von drei Geldgebern einer seipso. Erfurt 1521. – Uonn gehorsam der weltl. um Johann Maximilian Helmlin gruppierten oberkeit/ vnd den außgangen kloster leuten. [Er- Freiburger Verlagsgesellschaft. Er edierte u. a. furt] 1523. – De piis et impiis iuramentis disputatio Horaz, Juvenal u. Persius, verfasste ein Lehrtheologica. Erfurt 1543. buch der Mathematik (Elementale mathematiAusgaben: Otto Clemen: Aus dem Lebenskreise cum. Freib. i. Br. 1612. 21625) sowie mehrere des Erfurter Reformators J. L. Die Gothaer Briefslg. Sentenzensammlungen (Adagia sive sententiae A 399. In: ARG 38 (1941), S. 34–54. – Kenneth proverbiales. Straßb. 1596. Loci communes seu Hagen: An Addition to the Letters of John L. In- potius florilegium rerum et materiarum selectarum troduction and Translation. In: ARG 60 (1969), [...]. Straßb. 1598 [mit Widmung an Hzg. S. 27–32. – Reinoud Weijenborg: Die Wittenberger August den Jüngeren v. Braunschweig-LüneTitusbriefvorlesung des Erfurter Augustiners J. L. In: Scientia Augustiniana. FS Adolar Zumkeller. burg]. Internet-Ed.: VD 16 digital; Aufl.n ab Würzb. 1975, S. 423–468. – Ders.: Die Wittenber- 1631 u. d. T. Anthologia sive Florilegium). Für ger Römerbriefvorlesung des Erfurter Augustiners die Loci machte er die Sammlungen von J. L. In: Augustinianum 51 (1976), S. 394–494. – Erasmus von Rotterdam (u. hierzu die EpiDers.: Die ›Scolia in Lactancium‹ des Erfurter Re- tome von Hadrian Barland), Johannes Agriformators J. L. Erstausg., Übers. u. Komm. In: ARG cola, Eberhard Tappius, Johann Ludwig Ha73 (1982), S. 35–68. – R. Weijenborg: Das bisher wenreuter u. a. (später auch Jan Gruter) zu unbekannte ›Propheticum Sibyllae Erythreae‹ als seiner Grundlage. Mit großem Erfolg arbeiGedicht des Erfurter Humanisten J. L. OESA u. als tete L. die Sammlung von Sentenzen u. ExFaktor der Reformationsgesch. Erstausg., Übers. u. empeln des Domenicus Nanus Mirabellius in Komm. In: Antonianum 58 (1983), S. 358–447. eine neue Sammlung ein, die zuerst als PolyLiteratur: Bibliografie: VD 16. – Weitere Titel: anthea Nova in Lyon 1604 erschien, nach seiMartin Burgdorf: J. L. der Reformator Erfurts. nem Tode unter den Titeln Novissima PolyKassel 1911. – Max Paul Bertram: Doktor J. L., Erfurts Kirchenreformator. In: Erfurter Luther- anthen (Ffm. 1617) u. Florilegium magnum buch 1917. Hg. Alfred Kurz. Erfurt 1917, (Ffm. 1619 u. ö.). Die beiden letzteren Werke S. 125–176. – Luther F. Brossman: Die Matthäus- erreichten mit ihren zahlreichen, unter variübers. des J. L. Diss. Heidelb. 1955. – Helmar ierenden Titeln erschienenen Ausgaben geJunghans: Der junge Luther u. die Humanisten. samteurop. Wirkung. Hier verbindet sich die

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antike mit der christlich-patrist. Rhetorik- u. Exegesekultur, wobei auch neuere Formen (Emblem, Hieroglyphe) einbezogen werden. Literatur: Bibliografien: VD 16. – VD 17. – Weitere Titel: Jakob Franck: L. In: ADB. – Berthold L. Ullmann: J. L. and his Anthologies. In: Middle Ages, Reformation, Volkskunde. FS John G. Kuntsmann. Chapel Hill 1959, S. 186–200. – Flood, Poets Laureate, Bd. 3, S. 1079–1081. – Werner Westphal: J. L. In: NDBA, Lfg. 23 (1994), S. 2203 f. Wolfgang Harms

Lang, Karl Heinrich Ritter von, auch: Michael Tobias Zaunschliefer, * 7.7.1764 Balgheim (Schwaben), † 26.3.1835 Ansbach; Grabstätte: ebd., Johannisfriedhof. – Historiker, Publizist, Archivar.

Bayern – der als »Historischer Verein für Mittelfranken« noch heute besteht. L. war kein einfacher Charakter, seine hochfahrende, überhebl. u. spött. Art schlug sich v. a. in seinen Schriften nieder. Die Satire Hammelburger Reisen in elf Fahrten (Mchn. 1818–33. Hg. Bruno Kaiser. Bln. 1954), in der er zeitgenöss. Phänomene wie Ultramontanismus, Wundergläubigkeit u. Adelshörigkeit auf die Schippe nimmt, machte ihn über die Grenzen Bayerns hinaus bekannt. Die Verbreitung seiner bis 1826 geführten u. 1842 postum erschienenen Memoiren (2 Bde., Braunschw., zahlreiche Ausg.n) – eine mit spitzer Feder geschriebene Abrechnung mit den polit. Zuständen u. seinen Mitmenschen – wurde von den staatl. Behörden untersagt. Die prägnanten Porträts wurden früher als Fälschungen denunziert, der Historiker Adalbert von Raumer hat L.s sozialkrit. Anekdoten als richtig dargestellt.

L., Sohn eines Pastors, wuchs bei Verwandten auf u. erhielt Unterricht durch Hauslehrer. Bis zu seinem Wechsel nach Wien 1788 verblieb er hauptsächlich in seiner Rieser Heimat Weitere Werke: Annalen des Fürstenthums – unterbrochen nur für ein kurzes Jura-Stu- Ansbach unter der Preuß. Regierung v. 1792 bis dium 1782 in Altdorf – u. arbeitete seit 1786 1806. Ffm. 1806. – Adelsbuch des Königreichs in der Verwaltung der Fürstlich Öttin- Baiern. Nürnb. 1815. – Regesta sive rerum Boicagen’schen Regierung. Aus Wien kehrte er rum autographa ad annum usque 1300. 4. Bde., bald zurück, setzte 1792 sein abgebrochenes Mchn. 1822–28. Literatur: Franz Muncker: L. In: ADB. – AdalStudium an der Universität Göttingen fort, brach es 1793 wieder ab u. stand von da an als bert v. Raumer: Der Ritter v. L. u. seine Memoiren. Mchn. 1923. – Hanns Hubert Hoffmann: Der Ritter Jurist u. Historiker in kgl.-preuß. u. bayr. v. L. In: Jb. des histor. Vereins für Mittelfranken 82 Diensten. 1795 machte ihn Minister Karl (1964/65), S. 201–223. – Bruno Kaiser: Die HamAugust von Hardenberg zum Ersten Archivar melburger Reisen v. L. In: Ders.: Vom glückhaften in Bayreuth, drei Jahre später wurde L. Finden. Bln./Weimar 1985, S. 447–455. – Bernhard Kriegs- u. Domänenrat in Ansbach, 1806 Re- Sicken: L. In: NDB. – Norman Cappel: Augenzeuge gierungsdirektor des Rezatkreises (u. 1808 in u. Chronist einer bewegten Zeit. Diss. Univ. Tüb. den Adelsstand erhoben), ab 1810 setzte er 1992. – Wulf-Dietrich Kavasch (Hg.): Lebensbilder seine Karriere in München als Reichsarchivar, aus dem Ries vom 13. Jh. bis zur Gegenwart. ab 1812 als Leiter des Reichsheroldsamtes Nördlingen 2002, S. 295–311. Esther von Krosigk fort. Im Jahre 1817 – nach der Entlassung Montgelas’ – legte L. jedoch seine Ämter aus Lang, Roland, * 2.4.1942 Gablonz/Neiße Unzufriedenheit mit den polit. Entwicklun(Jablonec). – Romanautor, Erzähler, gen nieder u. widmete sich v. a. der GeDrehbuchautor. schichtspflege u. der landeshistor. Forschung, womit er bereits in den 1780er Jah- L. studierte nach einer Lehre als grafischer ren begonnen hatte u. als deren Pionier er gilt Zeichner (1957–1960) an der Kunstakademie (u. a. Neuere Geschichte des Fürstenthums Bai- Karlsruhe Gebrauchsgrafik u. freie Grafik. reuth. 3 Bde., Gött. 1798, 1801 u. Nürnb. 1971–1973 war er Redakteur eines Studen1811). Seine Studien umfassten auch die tenmagazins, seitdem ist er freier SchriftVerfassungs- u. Sittengeschichte. Als Privatier steller. L. lebte u. arbeitete lange in Ettlingen gründete er 1830 den »Historischen Verein bei Karlsruhe, im Jahr 2009 zog er nach des Rezatkreises« – den ersten dieser Art in Weissach bei Backnang.

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Im ersten Prosaband Beliebige Personen (Ffm. Lang, Siegfried, * 25.3.1887 Basel, † 25.2. 1969) sammelt u. untersucht L. Sprachmate- 1970 Basel. – Lyriker u. Essayist. rial. Die gängigen Formulierungen u. KliFrüh mutterlos, wollte der Sohn eines Basler schees unseres Alltags weisen, auf die Probe Kaufmanns zunächst bildender Künstler gestellt, auf nicht nur sprachl. Notstände hin. werden, brach dann aber eine Lehre bei einem Der Roman Ein Hai in der Suppe oder Das Glück Dekorationsmaler ab, um die Matura nachdes Philipp Ronge (Gütersloh 1975. Überarb. zuholen u. in Bern Kunst- u. LiteraturgeNeuausg. Karlsr. 2008) schildert die Entschichte zu studieren. Nach der Promotion wicklung eines jungen Grafikers, der arwar er 1911–1914 Assistent an der Sorbonne beitslos wird, 1968/69 in die Studentenbein Paris, kehrte in die Schweiz zurück u. lebte wegung gerät u. über Demonstrationen u. bis zu seinem Tod unter dürftigen sozialen Diskussionen, eine Kommune u. den SDS zur Bedingungen als freier Schriftsteller, RezenDKP kommt. Menschen u. Situationen wersent u. Bibliotheksgehilfe in Basel. Gefördert den scharf gezeichnet, die innere Entwickvon Josef Victor Widmann, hatte L. 1906 in lung des Protagonisten überzeugt jedoch Bern als Lyriker mit Gedichte. Eine erste Lese weniger. Einen weiteren Roman, Die Mansarde debütiert u. damit bei seinem Vorbild Stefan (Königst./Ts. 1979), widmete L. – gleich George Anerkennung gefunden. Bis 1944 zahlreichen Autoren der 1970er Jahre – der publizierte er weitere acht Gedichtbände, die privaten u. polit. Auseinandersetzung mit ihn als formsicheren Naturlyriker auswiesen, seinem Vater. L. geht den Träumen u. Entder sich von der George-Nachfolge bald zu täuschungen, Illusionen u. Misserfolgen des lösen u. die Natur »nicht als Kulisse, sondern Vaters nach. Daneben sucht er, nur scheinbar gefährdetes, Mit-Leid heischendes und durch emotionslos u. sehr behutsam, nach den Urdas Ich belebtes Umfeld« (Dieter Fringeli) zu sachen der Entfremdung zwischen Vater u. sehen vermochte. L. war zeit seines Lebens Sohn. Das Buch deckt Allgemeines im Privaeiner der wichtigsten Lyrik-Rezensenten in ten, Geschichte in der Familiengeschichte auf der Schweiz. u. bietet damit ein Spiegelbild des nachWeitere Werke: Neue Gedichte. Basel 1912. – kriegsdt. Kleinbürgerlebens. Verse 1913/14. Basel 1914. – Die fliehende Stadt. Seit den 1990er Jahren schreibt L. zunehZürich 1916 (L.). – Gärten u. Mauern. Basel/Zürich mend Texte, die Geschichten aus u. über den 1922 (L.). – Versenkungen. Zürich 1932 (L.). – EleSchwarzwald erzählen. Unter seinen Arbeiten gie. Zürich 1936. – Der Engel spricht. Zürich 1938 für Rundfunk u. Fernsehen ist die Fernseh- (L.). – Vom andern Ufer. Ges. Gedichte. Zürich serie Die Fallers – eine Schwarzwaldfamilie (SWR, 1944. – Blätterstatt. Hg. u. mit einem Nachw. v. 1994 ff.) bes. erfolgreich, zu der er ein Dut- Dieter Fringeli. Basel 1989. zend Drehbücher sowie fünf Begleitbücher in Literatur: Dieter Fringeli: S. L. In: Dichter im Romanform (Wilhelm Faller. Ein Leben im Abseits. Zürich 1974, S. 121–130. – Silvio TemSchwarzwald. Karlsr. 1998. Die Fallers. 4 Bde., perli: S. L. Bern 1983. Charles Linsmayer / Red. Karlsr. 2001–05) schrieb. 2007 u. 2008 legte L. mit Mord im Hirsch u. Tod eines Kuckucks Langbehn, (August) Julius, auch: Der (beide Karlsr.) zwei »Schwarzwaldkrimis« Rembrandtdeutsche, * 26.3.1851 Hadersvor, in denen sich Kommissar Reiche unaufleben, † 30.4.1907 Rosenheim; Grabstätgeregt u. mit Köpfchen auf die Spur des Verte: Puch bei Fürstenfeldbruck. – Kulturbrechens begibt. Weitere Werke: Der Pfleger. Karlsr. 1980 (P.). – Hörspiele: Schlußfeier. Süddt. Rundfunk, 1997. – Generation. DeutschlandRadio Berlin, 1997. Literatur: Jürgen Lodemann: L. In: KLG. Sylvia Adrian / Christine Henschel

philosoph.

Infolge des dt.-dän. Konflikts, der dazu führte, dass L.s aus einer ostholstein. Bauernfamilie stammender Vater seine Stelle als Gymnasialkonrektor in Hadersleben verlor, kam L. nach Kiel. Nach dem Abitur nahm er dort u. im Jahr 1872 in München ein Studium der Naturwissenschaft u. Philologie auf, das

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er zweimal unterbrach: um am DeutschFranzösischen Krieg teilzunehmen u. 1873 zu privaten Kunststudien in Oberitalien, die er als Kellner, Fremdenführer u. Hauslehrer finanzierte. 1875 zurückgekehrt, wechselte er zur Archäologie (Dissertation über Flügelgestalten der ältesten griechischen Kunst. Mchn. 1880). Es folgte eine für L. charakteristische rastlose Reisetätigkeit, zunächst nach Rom, dann durch Deutschland u. Dänemark; nach 1885 lebte er mit Unterbrechungen in Dresden, wo er in engem Kontakt zu Ferdinand Avenarius stand, für dessen »Kunstwart« er publizistisch tätig war. Neben journalist. Arbeiten bestritt L. seinen Lebensunterhalt vorwiegend mit der Unterstützung durch Gönner u. seinen älteren Bruder Johannes. Geistige Förderung fand er durch Kunstgelehrte u. Künstler wie Cornelius Gurlitt, Karl Haider, Hans Thoma oder Wilhelm Leibl. In diese Zeit fiel L.s Abkehr von der Zunftgelehrsamkeit, gipfelnd in der theatralisch inszenierten Rückgabe seines Doktordiploms 1891. Der Entschluss, dem dt. Volk fortan durch »praktische Philosophie« zu dienen, fand seinen Niederschlag in dem nach einer Hollandreise 1888 begonnenen, 1890 anonym erschienenen u. mehrfach überarbeiteten Hauptwerk Rembrandt als Erzieher. Von einem Deutschen (Lpz.), dessen (Breiten-)Wirkung durch 40 Auflagen innerhalb zweier Jahre u. – neben verschiedenen Volksausgaben – 90 Auflagen bis 1938 ebenso dokumentiert wird wie durch eine Flut kontroverser, parodist. u. epigonaler Schriften. Das Rembrandt-Buch markiert dabei einen Radikalisierungsschub innerhalb der antisemit. Bewegung, zudem gingen von ihm wichtige Impulse für die Ausformung der völk. Weltanschauung aus. Angesichts des gesellschaftl. Krisen- u. Umbruchsbewusstseins im ausgehenden 19. Jh. verurteilt L. in seiner stilistisch unzulängl., in der Konzeption zusammenhanglosen Zeitkritik die auf die dt. Kultur zerstörerisch wirkenden Elemente: Intellektualismus, Wissenschaft, Naturalismus, Rationalisierung, Modernismus, Industrialismus u. Großstadt (v. a. Berlin). Leitbegriffe seiner »Kulturprophetie« sind dagegen Individualismus, Aristokratismus, Idealismus, Ursprünglichkeit, Bodenstän-

Langbehn

digkeit, Intuition u. Kunst. Rembrandt – »der deutscheste aller deutschen Künstler« – wird als »geistiger Wegführer« berufen. 1892 übersiedelte L. in das nahe Wien gelegene Ober-St. Veit, nachdem ihm Gläubiger u. eine Gerichtsverhandlung wegen der als pornografisch denunzierten 40 Lieder von einem Deutschen (Dresden 1891) ins Haus standen. Der von 1893 datierende Freundschaftsbund mit Momme Nissen gestaltete sich zu einem Ritter-Knappen-Verhältnis, in dem Nissen L.s Gehilfe, Sekretär, Reisebegleiter, Diener u. zuletzt – eigenwilliger – Nachlassverwalter war. Neben der allgemeinen Hinwendung zum Mittelalter galt L.s Interesse nun v. a. der kath. Mystik wie der Geschichte der Heiligen; 1900 ließ er sich in Rotterdam katholisch taufen. Nach Deutschland zurückgekehrt, lebte er, sich zunehmend skurriler gebärdend, zurückgezogen in Franken (Würzburg, Lohr, Bamberg), dann bei Nissen in Schleswig-Holstein. 1902 ließ er sich in München nieder; eine seiner vielen Reisen führte nach Rom, wo Nissen Papst Leo III. porträtierte u. L. assistierte. L.s Einfluss auf die (klein-)bürgerl. Ideologiebildung der wilhelmin. Ära ist – wenngleich schwer fixierbar – kaum zu überschätzen; er reicht von der Jugend- u. Kunsterziehungsbewegung bis hinein in den Dunstkreis der völk. Bewegung u. ist auch für den Dürer- u. Schillerbund u. die Worpsweder Künstlerkolonie nachzuweisen. Weitere Werke: Der Rembrandtdeutsche. Von einem Wahrheitsfreund (zus. mit Max Weber u. Heinrich Pudor). Dresden 1892. – Niederdeutsches. Ein Beitr. zur Völkerpsychologie. Hg. Benedikt Momme Nissen. Buchenbach/Baden 1926. – Dürer als Führer. Hg. ders. Mchn. 1928. – Der Geist des Ganzen. Hg. ders. Freib. i. Br. 1930. – Lieder. Hg. ders. Mchn. o. J. [1931]. – Dt. Denken. Ein Seherbuch. Hg. Susanne Hoffmann. Stgt./Lpz. 1933. – Briefe an Bischof Keppler. Hg. B. M. Nissen. Freib. i. Br. 1937. Literatur: Benedikt Momme Nissen: Der Rembrandtdeutsche J. L. Freib. i. Br. 1927. – Cornelius Gurlitt: L., der Rembrandtdeutsche. Bln. 1927. – Fritz Stern: Kulturpessimismus als polit. Gefahr. Bern u. a. 1963. – Bernd Behrendt: Zwischen Paradox u. Paralogismus. Weltanschaul. Grundzüge einer Kulturkritik in den neunziger Jahren des 19. Jh. am Beispiel A. J. L. Ffm. u. a.

Langbein 1984. – Arnolf Niethammer: Gemeinschaft, Volk u. Staat innerhalb eines Teilzusammenhanges der Kunsterziehungsbewegung (L. u. Lichtwark). In: Pädagog. Rundschau 40 (1986), S. 193–219. – Doris Mendlewitsch: Volk u. Heil. Vordenker des NS im 19. Jh. Rheda-Wiedenbrück 1988. – Hildegard Châtellier: J. L. Un réactionnaire à la mode en 1890. In: La révolution conservatrice allemande sous la République de Weimar. Hg. Louis Dupeux. Paris 1992, S. 115–128. – Bernd Behrendt: A. J. L., der ›Rembrandtdeutsche‹. In: Hdb. zur ›völk. Bewegung‹ 1871–1918. Hg. Uwe Puschner, Walter Schmitz u. Justus H. Ulbricht. Mchn. 1996, S. 94–113. – Jürgen Paul: Der ›Rembrandtdeutsche‹ in Dresden. In: Dresdner H.e 17 (1999), H. 57, S. 4–13. – Matthias Piefel: Antisemitismus u. völk. Bewegung im Königreich Sachsen 1879–1914. Gött. 2006, S. 86–88. – Georg Bollenbeck: Eine Gesch. der Kulturkritik. Von J. J. Rousseau bis G. Anders. Mchn. 2007. Uwe Puschner

Langbein, August Friedrich Ernst, * 6.9. 1757 Radeberg bei Dresden, † 2.1.1835 Berlin. – Erzähler u. Lyriker. Der älteste Sohn eines Justizamtmannes besuchte seit 1772 die Fürstenschule in Meißen u. studierte 1777 bis 1781 in Leipzig die Rechte. Das sicherte ihm bescheidene jurist. Brotberufe: Im sächs. Großenhain wurde er 1781 als Vize-Aktuarius angestellt, 1784 wechselte er als Advokat nach Dresden, 1786 wurde er dort Geheim-Archivs-Kanzellist. Aus unbekannten Gründen gab L. diese Stellung 1800 auf, zog nach Berlin u. lebte dort für zwei Jahrzehnte in engen Verhältnissen als freier Schriftsteller. Seine Lebensumstände besserten sich zögerlich, als er seit 1820 als preuß. Zensor für Belletristik wirkte (u. in dieser Eigenschaft angeblich auch eigene Werke aus den Leihbibliotheken verbannte). Noch während des Studiums konnte L., den Dichtungen von Hagedorn, Uz u. Wieland zum eigenen poet. Schaffen anregten, erste Gedichte in Bürgers »Poetischer Blumenlese für das Jahr 1780« veröffentlichen. L.s Kontakte zu Heinrich Christian Boie, Wilhelm Gottlieb Becker u. August Gottlieb Meißner bestimmten zunächst sein literar. Tätigkeitsfeld: Boies »Deutsches Museum« belieferte er ebenso wie Meißners »Quartalschrift« u. Beckers »Taschenbuch zum gesel-

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ligen Vergnügen«. Gleichzeitig mit der ersten Sammlung seiner Gedichte (Lpz. 1788. 21800) erschienen Zwey Lustspiele (Lpz.) nach engl. u. frz. Mustern. L.s zeitgenöss. Popularität aber gründete auf seinen kurzen Erzählungen in Vers u. Prosa. Seine Schwänke von 1791/92 (2 Tle., Dresden u. Lpz.) wurden 1795 u. 1816 neu aufgelegt u. regten Friedrich A. G. Schumann (1799) sowie Nikolaus Meyer (1810) dazu an, eigene Schwanksammlungen unter L.s Namen zu publizieren. Ein ebenso dankbares Lesepublikum fanden L.s weitere Erzählungen, die meist in Taschenbüchern u. anderen Periodika erstmals gedruckt u. dann unter programmatisch den unterhaltsamen Zweck anzeigenden Titeln gebündelt wurden: Feyerabende (3 Bde., Lpz. 1793–98), Talismane gegen die lange Weile (Bln. 1801), Unterhaltung für müssige Stunden (Bln. 1815), Jocus und Phantasus (Bln. 1824) u. Vacuna. Erzählungen für Freistunden, vorzüglich der Jugend (Bln. 1826); ferner: Novellen (Bln. 1804), Zeitschwingen (Bln. 1807), Kleine Romane und Erzählungen (2 Bde., Bln. 1812–14), Magister Zimpels Brautfahrt und andere scherzhafte Erzählungen (Bln. 1820), Mährchen und Erzählungen (Bln. 1821), Herbstrosen (Bln. 1829); Verserzählungen u. Balladen auch in: Neuere Gedichte (Tüb. 1812; Tl. 2, 1823). L.s Erzählungen, die Quellen der europ. Novellistik, aber auch einheimischen Sagen u. Legenden sowie frühneuzeitl. Autoren wie Hans Sachs u. Johann Michael Moscherosch nachgebildet sind, decken das ganze Gattungsspektrum vom spätaufklärer. Märchen bis zur Kriminalgeschichte, von der heiteren oriental. Fabel bis zur autobiografisch gefärbten Alltagsgeschichte ab. Während L.s »poetische Erzählungen« neben Wielands metrisch freier Gestaltung auch strengere balladesk-romanzenhafte Formen adaptieren, pflegt L. in seinen Prosaerzählungen einen meist heiteren Unterhaltungston, der als literar. Erfolgsmuster vom Rokoko zum Biedermeier hinüberreicht. Auf fruchtbaren Boden fiel sein Erzählen nicht nur in populären Genres (so bearbeitete Karl Friedrich Hensler die »komische Geschichte« Die Fledermaus aus den Feyerabenden zum Lustspiel, 1802), sondern auch bei E. T. A. Hoffmann, der L. Züge des Klein Zaches verdankt, u. Jeremias Gott-

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helf, dessen fantastischer Novelle Die schwarze Spinne L.s gleichnamiges »Volksmährchen« (zuerst in: »Minerva«, 1819) vorausgeht. Als Romancier war L. ähnlich produktiv, aber weniger erfolgreich. Auf seinen »novantiken Roman« Der graue König (1803) nach Wolfhart Spangenbergs EselKönig (1608/25) folgten mit Der Ritter der Wahrheit (1805), Thomas Kellerwurm (1806), Franz und Rosalie (1808), Der Sonderling und seine Söhne (1809) u. Der Bräutigam ohne Braut (1810) umfängl. Werke (Erscheinungsort jeweils Bln.), deren rasche Produktion offenkundig L.s chronischem Geldmangel geschuldet war. Jeweils nur einmal aufgelegt, nahm L. sie gleichwohl in seine noch selbst besorgte, aber erst nach seinem Tod erschienene »Ausgabe letzter Hand« auf – der Ruhm »des letzten Dichters aus Deutschlands goldener Zeit«, mit dem der Verlag für die »elegante Gesammtausgabe der launigen Werke« L.s warb, verblasste indessen rasch. Ausgaben: Sämmtl. Schr.en. 31 Bde., Stgt. 1835–37. – Sämmtl. Schr.en. 2., verb. Aufl. 16 Bde., Stgt. 1841. – Erstausg.n der selbständigen Werke L.s sind meist als Mikrofiche-Ausg. greifbar. Literatur: Friedrich Wilhelm Goedike: A. F. E. L.’s Lebensgesch. In: Sämmtl. Schr.en. Bd. 1, Stgt. 1841, S. 3–32. – Hermann Ullrich: Zu L.s Schwänken. In: AfLg 11 (1882), S. 553–559. – Hartwig Jeß: A. F. E. L. u. seine Verserzählungen. Bln. 1902 (mit Werkverz.). Nachdr. Hildesh. 1977. – Goedeke 4/1, S. 641–644; 14, 657–660. – Gerhard Schönmann: Bedeutungswandel in der Gemeinsprache der letzten beiden Jahrhunderte aufgewiesen an einer Erzählung v. A. F. E. L. In: Muttersprache 71 (1961), S. 230–238. – Gustav Sichelschmidt: Liebe, Mord u. Abenteuer. Eine Gesch. der dt. Unterhaltungslit. Bln. 1969, S. 118 f. – Friedrich Sengle: Biedermeierzeit. Bd. 1, Stgt. 1971, S. 366 f.; Bd. 2, 1982, S. 131 u. 731 f. – Jörg Petzel: Hoffmann u. L. In: Mitt.en der E. T. A. Hoffmann-Gesellsch. 23 (1977), S. 44–49. – Marion Beaujean: L. In: NDB. – PaulWolfgang Wührl: Das dt. Kunstmärchen. Heidelb. 1984, S. 159. Dieter Martin

Lange, Claudio, * 18.12.1944 Santiago de Chile. – Lyriker, Künstler, Religionswissenschaftler. Der Sohn deutschstämmiger Eltern zog nach dem Abbruch eines Medizinstudiums 1963 in

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die Bundesrepublik Deutschland, studierte in München Soziologie u. seit 1967 in Berlin Religionswissenschaft (Promotion 1972 mit einer Arbeit über Kolonialismus. Zeugnis von Bartolomé de Las Casas). Kaum nach Chile zurückgekehrt, floh er Ende 1973 aus polit. Gründen zurück nach Berlin, wo er seitdem als freier Künstler u. Schriftsteller lebt. Einen zweiten Wohnsitz hat er in Andalusien. Mit seiner deutschsprachigen Lyrik folgt L. der u. a. von Rolf Dieter Brinkmann u. Jürgen Theobaldy geprägten u. seit den 1970er Jahren weit verbreiteten Poetik der »unartifiziellen Formulierung« (Theobaldy), die kunstloses lyr. Sprechen mit alltäglich-privaten Sujets u. politisch engagierter Haltung verbindet. Im »Poem in zwei Teilen« Würde des Menschen (Bln. 1982) etwa stehen private Notizen neben Zeitungsausschnitten u. polit. Beobachtungen, darunter krit. Reflexionen zum ersten Satz des Grundgesetzes »Die Würde des Menschen ist unantastbar«. Seine bes. Situation zwischen zwei Kulturen beschreibt L. in dem Band Rückkehr ins Exil und andere Gedichte (Reinb. 1980). In den letzten Jahren ist L. vorrangig als Maler, Religions- u. Kunstwissenschaftler tätig u. hält regelmäßig Vorträge, u. a. zum Thema »Antiislamismus«. Diesen Begriff prägte u. verwendet er anstelle des gängigen kunstgeschichtl. Terminus »Romanik«, da er das MA als eine Epoche begreift, in der Europa seine Rolle, seine Identität u. Kultur v. a. in Absetzung u. Ablehnung von Islam u. Orient entwickelte. Unter diesem Blickwinkel untersuchte L., gefördert von der ReemtsmaStiftung, in den Jahren 1989–1992 Skulpturen in roman. Kirchen des Mittelmeerraums, die Muslime in abwertenden, z.T. entwürdigenden Posen zeigen. Das Museum für Islamische Kunst in Berlin u. die Evangelische Akademie im Rheinland in Bonn zeigten die Ergebnisse seiner Forschungen in den Jahren 2003/04 bzw. 2005 im Rahmen von Fotoausstellungen. Weitere Werke: Milch, Wein & Kupfer. Bln. 1979 (L.). – C. L. (Hg.): Moderne arab. Lit. Bln. 1988 (Anth.). – Kleines Werk-Zeug. Dichtungen bis 1996. Bln. 1996. – (zus. mit Gil Anidjar u. Almut S. Bruckstein): Der nackte Feind: Anti-Islam in der roman. Kunst. Ein Foto-Text-Band anlässlich der

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Ausstellung ›Islam in Kathedralen. Bilder des AntiChristen in der roman. Skulptur‹. Fotos v. C. L. Bln. 2004. Literatur: Ich hasse, also bin ich. C. L. über die Entstehung des Abendlandes als Gegner des Morgenlandes. In: Freitag 51 (14.12.2001) (Interview). Matías Martínez / Red.

Lange, Friedrich Albert, * 28.9.1828 Wald bei Solingen, † 21.11.1875 Marburg. – Philosoph, Pädagoge, Sozialpolitiker, Publizist.

Bde., Ffm. 1974. Waltorp 2003) u. zahlreichen Übersetzungen ablesen. Als radikaldemokratischer Oppositioneller während des preuß. Verfassungskonflikts trat L. für eine gemeinsame polit. Emanzipation von demokrat. Bürgertum u. Arbeiterbewegung ein. Er gilt als Begründer des Neukantianismus in Deutschland, insbes. der »Marburger Schule«. L.s Nachlass befindet sich in den Stadtarchiven Duisburg u. Winterthur. Weitere Werke: Jedermann Hauseigenthümer.

L. verbrachte seine Kindheit in Duisburg, seit Duisburg 1865. Neuausg. 1975. – John Stuart Mills 1841 in Zürich. Hier begann er ein Studium Ansichten über die soziale Frage [...]. Duisburg der Philosophie, Theologie u. Psychologie, 1866. – Über Politik u. Philosophie. Briefe u. Leitartikel 1862–75. Hg. Georg Eckert. Duisburg 1968. das er in Bonn fortsetzte (Dr. phil. 1851). – Pädagogik zwischen Politik u. Philosophie. Hg. Danach war er in Köln im Schuldienst u. ha- Joachim H. Knoll. Duisburg 1975. bilitierte sich. 1858–1866 wirkte L. in DuisLiteratur: Heinrich Braun: F. A. L. als Sozialburg als Lehrer, Redakteur (»Wochenblatt für ökonom. Diss. Halle 1881. – Naum Reichsberg: F. die Grafschaft Mark«, »Rhein- und Ruhrzei- A. L. als Nationalökonom. Diss. Bern 1891. – O. A. tung«, »Süddeutsche Zeitung«), Turn- Ellissen: F. A. L. Lpz. 1894. – Georg Wolff: F. A. L.s schriftsteller, Handelskammer-Sekretär u. sozialpolit. Anschauungen u. seine Stellung zu Verleger. Bis 1872 Lehrer, Publizist (»Win- Sozialismus u. Sozialreform. Diss. Gießen 1920. – terthurer Landbote«) u. Kommunalpolitiker Joachim H. Knoll u. Julius H. Schoeps: F. A. L. Lein Winterthur, begann er 1869 eine philo- ben u. Werk. Duisburg 1975. – Ludger Heid: Von soph. Lehrtätigkeit an der Universität Zürich. der Zunft zur Arbeiterpartei. Die Social-DemokraSeit 1872 war L. Professor für Philosophie in tie in Duisburg 1848–78. Duisburg 1983. – Frank Freimuth: F. A. L. Denker der Pluralität. Ffm. 1995. Marburg. – Bjarne Jacobsen: Max Weber u. F. A. L. Wiesb. Seit 1865 erschien sein »Bote vom Nieder- 1999. Ludger Heid / Red. rhein« in Duisburg; L. war Gründer u. Förderer von Genossenschaften u. Arbeitervereinen. Die sozialpolit. Schrift Die Arbeiterfrage in Lange, Hans Joachim, * 1.6.1918 Marburg/ ihrer Bedeutung für Gegenwart und Zukunft Lahn, † 26.1.1980 Wien. – Romancier, (Duisburg 1865. Neuausg. 1975) erlebte Lyriker u. Fernsehprogramm-Direktor. zahlreiche Auflagen. In seinem philosoph. Hauptwerk Geschichte des Materialismus und L. studierte an der Hochschule für LehrerbilKritik seiner Bedeutung in der Gegenwart (Iser- dung in Weilburg sowie an der Universität lohn 1866) suchte L. dem Materialismus als Marburg u. promovierte mit einer Untersuder allein berechtigten Methode der Natur- chung über Rainer Maria Rilkes Florenzer Tagewissenschaft Geltung zu verschaffen, wäh- buch (Marburg 1949) zum Dr. phil. Sein purend er ihn erkenntnistheoretisch als Meta- blizist. Engagement begann in den Jahren physik ablehnte, welche nur als Begriffs- 1948 bis 1951 als Chef vom Dienst bei der dichtung möglich sei. Zur Ergänzung der »Neuen Zeitung« in der amerikan. Besatmateriellen Wirklichkeit nötig sei jedoch eine zungszone, danach wechselte er zum Hessivom Menschen selbst geschaffene Idealwelt, schen Rundfunk, wo er im Jahre 1955 zum die L. im Anschluss an Schillers ethischen Programmdirektor berufen wurde. Von 1955 Enthusiasmus als Kern der Religion auffasste. bis 1960 war er in dieser Funktion beim Die philosophisch-polit. Wirkung des Buchs Fernsehen in Frankfurt/M. u. 1960–1969 lässt sich an über zehn Auflagen (zuletzt: 2 Fernsehdirektor in Köln, ab 1973 in BadenBaden. Seit 1962 arbeitete L. zudem als Lehrbeauftragter für Fernsehpublizistik an

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der Universität Münster. Seinen Ruhestand verbrachte er in Altlengbach in Österreich. In seiner Funktion als Programmchef erwarb sich L. in der Rundfunkgeschichte einen Ruf als »Fernsehpionier«, der Feature, Fernsehspiel u. Unterhaltung in einem festen Wochenschema verankerte u. darüber hinaus anspruchsvolle Autoren für das neue Medium zu gewinnen vermochte. Künstlerisch versuchte L. bei seiner Fernseharbeit in diesen Jahren angesichts der Publikumsdifferenzierung eine nicht immer einfache Balance zwischen »Amüsierbetrieb, Kulturfabrik und Lebenshilfe« zu halten. U. d. T. Kulturfeudalismus statt Scheindemokratie thematisierte »Der Spiegel« 1968 L.s Entgegnungen auf Theodor W. Adornos Kritik an den Fernsehkonzerten des Ersten u. Zweiten Programms. L. schätzte dabei die »Versuche, Musik ins Fernsehbild zu übersetzen« als die »Geschichte einer unglücklichen Liebe« ein u. lehnte es demonstrativ ab, »sich hinter dem Rücken des Publikums mit der ambitionierten Kritik« zu verständigen. Im Jahre 1978 war L. als Co-Autor am Drehbuch für FranzPeter Wirths Fernsehadaption von Thomas Manns Buddenbrooks beteiligt. Seinen Durchbruch als Autor erlebte L. in den Nachkriegsjahren, nachdem er Aufnahme in den engeren Kreis literarisch begabter Studierender des aus Schweden nach Marburg remigrierten jüd. Literaturwissenschaftlers Johannes Klein, seinem späteren Doktorvater, fand. L.s Lyrik war schon kurz nach dem Krieg in Egon Heinrich Lüths Anthologie Der Anfang. Anthologie junger Autoren (Wiesb. 1947) vertreten. Häufig vergessen wird, dass L. von den Zeitgenossen zu den »wichtigsten Autoren« der Gruppe 47 gerechnet wurde, eine Position, die er v. a. seinem 1952 in der Deutschen Verlagsanstalt erschienenen Debütroman Die Mauer von Mallare (Neufassung 1964) verdankte. Der Roman schildert eindrücklich die Sinnlosigkeit der Kriegsgewalt aus der Sicht der faschistischen dt.-ital. Küstenschutz-Division u. fokussiert auf verzweifelte Versuche, der absurd anmutenden Kriegswelt als Fahnenflüchtige zu entkommen. An den Erfolg seines Erstlingsromans konnte L. mit dem Roman Die Bilder des alten Katz (Stgt. 1966)

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anknüpfen. Ausgehend von den Schulklassen-Aufnahmen des Fotografen Katz entstehen lebendige, turbulente Nahaufnahmen des kulturellen u. polit. Alltags des Bürgertums einer kleinen Universitätsstadt in den 1920er u. 1930er Jahren, in deren Mittelpunkt ein namenloser Protagonist steht, dessen Biografie z.T. an die L.s erinnert. Die kultische »Stefan-George-Verehrung« u. die »romantische Rilke-Schwärmerei« (Hugo Ernst Käufer) zeigt der Roman als aufgesetzte Komödie u. den »neuen Menschen« als Schlagwort einer Karrieregesellschaft; er versäumt dabei jedoch nicht, das Aufkommen des Nationalsozialismus minutiös zu analysieren. L.s Romanwerk fand v. a. unter den themat. Gesichtspunkten »Kriegsliteratur« u. »Aufarbeitung des Nationalsozialismus« Beachtung; unabhängig davon wurden vielfach das herausragende erzählerische Talent u. die fast schonungslose Nüchternheit seines Stils gewürdigt. L.s Bedeutung als Nachkriegsschriftsteller blieb allerdings lange überschattet von seiner publizist. Arbeit u. der damit verbundenen Rundfunk- u. Fernsehkarriere. Joachim Kaiser hielt in einer Rezension aus dem Jahre 1953 den Roman Die Mauer von Mallare für den »besten Erstling, der seit 1945 von einem westdeutschen Schriftsteller veröffentlicht wurde«. Helmut H. Braem sah das Werk 1954 in einer Reihe mit Richard Hasemanns Südrand Armjansk u. Reinhart Stalmanns Staub. Für Adolf Haslinger lag das Markante des Textes, das diesen mit einigen bedeutenden Exemplaren des Nouveau Roman der 1950er u. 1960er Jahre verbinde, im »Strukturgesetz der Spiegelung«. Karl Krolow nannte den Roman 1967 ein »melancholisches Buch«, in dem L. »burschikos-flott« die Spießer, Unbelehrbaren, Karrieremacher u. Wohlstandsbürger in ihrer Unmenschlichkeit porträtiere, ohne sich selbst zu schonen. Kritisch wandte Helmut Scheffel 1986 in der FAZ ein, dass L.s Details aus dem faschist. Alltag an »zu Klischees geronnenen Vorstellungen« erinnerten. Guy Stern u. Dorothy Wartenberg sahen dagegen den themat. Schwerpunkt von L.s zweitem Roman 1989 in der überzeugenden Darstellung der »Vertreibung und Ausrot-

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tung« der in der Heimatstadt des Erzählers ehemals ansässigen Juden, was auch Bezüge zu Günter Grass’ Roman Hundejahre nahe lege u. für eine gelungene Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus spreche. Weitere Werke: Bühne v. höchster Intensität. In: Akzente 2 (1956), S. 146–153. – Rundfunk u. Fernsehen. Vorrang oder Gleichberechtigung. In: Rundfunk u. Fernsehen 4 (1956), Nr. 4, S. 346–351. Literatur: Joachim Kaiser: Abenteuer der Objektivität. In: FH 8 (1953), S. 396–398. – Helmut H. Braem: Die Lit. des Endes u. des Anfangs. In: Bücherei u. Bildung 6 (1954), S. 1045–1063 (zu L. S. 1056). – Helmut Scheffel: So war es – war es so? ›Die Bilder des alten Katz‹. In: FAZ, 6.12.1986. – Guy Stern u. Dorothy Wartenberg: Flucht u. Exil. Werkthematik u. Autorenkomm.e. In: Gegenwartslit. u. Drittes Reich. Dt. Autoren in der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Hg. Hans Wagener. Stgt. 1989, S. 111–1227. Iulia-Karin Patrut

Lange, Hartmut, * 31.3.1937 Berlin. – Dramatiker, Prosa-Autor, Essayist. L. lebte 1939–1946 in Posen, nach Kriegsende siedelte die Familie nach Ostberlin zurück. 1960–1963 studierte er an der Filmhochschule Babelsberg, von wo er wegen »Renitenz« verwiesen wurde. Bereits in dieser Zeit entstanden die ersten – in der DDR nicht gespielten – Stücke, zgl. arbeitete L. als Dramaturg am Deutschen Theater unter Wolfgang Langhoff. 1965 erfolgte die Flucht nach Westberlin. L. arbeitete als Regisseur u. Dramaturg an der Schaubühne am Halleschen Ufer u. unter Hans Lietzau am SchillerTheater. Vor allem aber verfasste er weiterhin Dramen u. dann seit den 1980er Jahren überwiegend Prosa – oder genauer: neben vereinzelten anderen Arbeiten v. a. eine außerordentl. Vielzahl von Novellen. Ausgezeichnet worden ist L. u. a. mit dem Förderpreis für Literatur des Großen Kunstpreises des Landes Niedersachsen (1966), dem Gerhart-Hauptmann-Preis (1968), dem Prix de la littérature (1989), der Ehrengabe der Deutschen Schillerstiftung Weimar (2000) u. dem Italo-Svevo-Preis (2003). Odo Marquardt hat 1998 in seiner Laudatio zur Verleihung des Literaturpreises der Konrad-Adenauer-Stiftung eine Bilanz von L.s

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umfangreichem Werk gezogen, die den auffälligen Gattungswechsel in den 1980er Jahren in den Mittelpunkt des Interesses rückt: L.s Abkehr von einer frühen »Geschichtsphilosophie der einen Geschichte« habe »zur Geschichtenvielfalt der Novellen« geführt. Werkgeschichtlich reflektiert hat L. selbst diese Abwendung von Hegel u. Marx in mehreren Selbstauskünften, die seinen geistigen Werdegang u. die daraus resultierende Poetologie basal verknüpfen: Versuchen die Essays Die Revolution als Geisterschiff. Massenemanzipation und Kunst (Reinb. 1973) noch, individuelles Erleben u. soziale Frage in Einklang zu bringen, stellt die für das Werkverständnis zentrale Schrift Deutsche Empfindungen. Tagebuch eines Melancholikers. Aufzeichnungen der Monate Dezember 1981 bis November 1982 (Bln. 1983) das Dokument einer Sinnkrise bis hin zur Depression dar: Als Absage an das marxist. Fortschrittsdenken kommt eine grundlegende Skepsis gegenüber jeder Form von Erkenntnis zum Ausdruck. In Berufung auf Schopenhauer, Nietzsche u. Heidegger wird eine Ethik skizziert, die die metaphys. Bedürfnisse des Individuums in den Mittelpunkt stellt u. dabei literarisch durchaus konform mit christlich-abendländ. Wertetraditionen geht. Diese genuin nicht linke, dabei jedoch höchstens im Sinne der Akzeptanz bürgerlicher Kulturwerte konservative Ausrichtung wird weiter geführt in den Essays Irrtum als Erkenntnis. Meine Realitätserfahrung als Schriftsteller (Zürich 2002), deren titelgebende Vortragsreihe das Ergebnis von L.s Poetik-Vorlesungen an der Universität Paderborn 1997 ist. Solche Bewusstmachung der späteren Jahre findet ihren Ausdruck u. ihre Gattung in der von L. meisterlich gehandhabten Form der Novelle; unterschwellig aber könnten ihre Grundlagen seine Arbeiten bereits seit seinen frühen Stücken noch als junger Hacks-Schüler geprägt haben. L. reüssierte im Westen nicht langfristig als Dramatiker u. konnte in der DDR überhaupt nicht gespielt werden, da seine subjektive Perspektive mit dem von ihm selbst gesetzten Primat objektiv-idealistischer Gestaltungsweise kollidierte. So wendet seine Komödie Marski (Urauff. Frankfurt/M. 1966) die Frage nach der Vergesellschaftung

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auch auf Charakter u. Fähigkeiten an, die dezidiert nicht den sozialist. Schemata entsprechen: Im Gegensatz zu Brechts Gutsbesitzer Puntila ist L.s Großbauer Marski zwar ein Ausbeuter, jedoch auch ein Genießer u. dadurch für die Gemeinschaft der Kooperative keineswegs unrettbar verloren. L. versucht in einer Reihe von Stücken wie dem antistalinistischen Einakter Der Hundsprozess (Urauff. Berlin 1968) oder der antifeudalist. Kleist-Adaption Die Gräfin von Rathenow (Urauff. Köln 1969) die Irrwege der Umsetzungen der kommunist. Idee aufzuarbeiten u. dramat. Konstellationen für bessere Entwicklungsmöglichkeiten zu erproben, stößt jedoch immer stärker auf die Frage nach der eigenen individuellen Werte-Orientierung. Der Reflexion u. Aufspaltung dieser Orientierungsversuche in verschiedene Ideenträger dient das Schauspiel Pfarrer Koldehoff (Urauff. Berlin 1979), das in der Phase von L.s Erkenntniskrise zu seinem einzigen Roman Die Selbstverbrennung (Reinb. 1982) umgearbeitet wurde. Dieser Transfer an zentraler Stelle diskutiert die Möglichkeiten von Transzendenzentwürfen anhand der in der DDR der 1970er Jahre angesiedelten Konfrontation des an seiner Glaubensunfähigkeit verzweifelnden Pfarrers Koldehoff, der sich in einer Art Pascal’schen Wette selbst verbrennen will, u. des rein verstandesmäßig argumentierenden Hegelianers Sempert, der erst anhand des Glaubens um ihn her in Zweifel an seinem Weltbild gestürzt wird. Vehikel der Möglichkeit, subjektiv u. nicht gestützt auf ein feststehendes Geschichtsmodell Wahrheit zu suchen u. diese Suche wiederum zu problematisieren, ist in der Folge nicht mehr das Genre des Ideenromans, sondern die Novelle, die bei L. Thesen weniger ausdeutet, als dass sie sie umspielt: Nicht ein »unerhörtes Ereignis«, sondern feine, kurzfristige Irritation steht von der Sammlung Die Waldsteinsonate. Fünf Novellen (Zürich 1984) an im Mittelpunkt des Interesses. In über 20 Novellen von jeweils unter 140 Seiten führt L. seither Versuche vor, die eigene Existenzproblematik künstlerisch transparent zu machen, indem die Scheinhaftigkeit der Realität, das jederzeit mögl. Fragwürdigwerden aller Verhältnisse u. Definitionen

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anschaulich gemacht wird. Mit einer absichtsvoll limitierten Anzahl sich wiederholender Motive werden dabei in kühl-elegantem Stil kleinteilige, unterschwellig in die Gesamtkomposition eingefügte Veränderungen u. Verfremdungen inszeniert, die sich in den gutbürgerl. Lebenswelten von L.s immer männl. Protagonisten vollziehen können. L.s erzählerische Bebilderung dieser Verfremdungen – etwa der feine rote Sand, der in der Novelle Leptis Magna (Zürich 2003) aus den Koffern des Computerfachmanns van der Velden rieselt u. sein späteres Verschwinden in der Wüste antizipiert – evoziert häufig zunächst den Gedanken an einsetzende Geistesstörungen der Protagonisten, bewirkt jedoch vor allem anderen die grundsätzl. Infragestellung jeder existenziellen Gewissheit. Dieses Grundanliegen teilen auch die beiden wichtigen Novellen Die Heiterkeit des Todes (Zürich 1984, in Die Waldsteinsonate) u. v.a. Das Konzert (Zürich 1986), die dabei jedoch eine fundamental andere Stoßrichtung entwickeln: In imaginierten Räumen nach dem Sterben wird der Holocaust noch einmal verhandelt, Opfer u. Täter sind hier ewig als Sühnende u. Verzeihende aufeinander bezogen: »Der Blick auf das Leben aus der Gleichgültigkeit des Todes gibt dem Irrsinn plötzlich klare Konturen« (Monika Maron, Laudatio zur Verleihung des Italo-SvevoPreises an L. 2003). L. arbeitet virtuos an einer Aussparungstechnik, die das Unheimliche durch den Text strukturierende Lücken u. Leerstellen in die Erzählwelten einbrechen lässt. Seine äußerst gehobene, dabei souverän unverbindl. Sprache u. die sich meist stark ähnelnden Verunsicherungs-Plots der einzelnen Novellen, deren Grundtendenz mit seinem in der Novelle Eine andere Form des Glücks (Zürich 1995) geäußerten reduktionist. Axiom »Die Wahrheit liegt im Verschwinden« beschrieben werden könnte, sind indes bisweilen auch mit dem Vorwurf allzu blutleer-kultiviert intendierter Klassizität bedacht worden. Dies entkräftend u. als Teil von L.s Poetik der Irritation ausweisend, hat Botho Strauß in seiner Gedankensammlung Die Fehler des Kopisten (1997) eine Lektüreerfahrung von L.s Novelle Schnitzlers Würgeengel (Zürich 1995) geschil-

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dert: »Der Erzählung mangelt es an der Lange, Helene, * 9.4.1848 Oldenburg, schöneren Kennzeichnung, dem sinnlichen † 13.5.1930 Berlin. – Pädagogin u. FrauDetail, etwas den Personen Eigentümliches enrechtlerin. wird nicht geschildert. Allzu leicht könnte ein beredsamer Stil sich verräterisch auswir- Die einer Kaufmannsfamilie entstammende ken, die Geschichte lebt von ihrer inszenier- L., bereits mit 16 Jahren Vollwaise, betrieb bis ten Verschwiegenheit. Nur mittels der ent- zu ihrer Volljährigkeit intensive Selbststudizogenen Farbe erreicht sie ihre verfängliche en in Philosophie, Geschichte u. alten Sprachen. 1872 legte sie in Berlin das LehrerinWirkung.« nenexamen ab. Bei der späteren Kaiserin Weitere Werke: Senftenberger Erzählungen. Ffm. 1967 (D.). – Die Erlösung des Gelehrten Victoria fand sie den nötigen Rückhalt für Ch’ein Wan-Hsüan. Urauff. Bln. 1967. – Die Er- ihre Forderung nach einer Verbesserung der mordung des Aias oder Ein Diskurs über das Frauenbildung, die für sie unabdingbar für Holzhacken. Stück in drei Akten. Urauff. Bln. 1974. die Frauenemanzipation war (Frauenbildung. – Trotzki in Coyoacan. Urauff. Hbg. 1972. Hör- Bln. 1889). 1889 eröffnete sie Realkurse für spielbearbeitung RIAS 1976. – Staschek oder das Frauen in Berlin, die 1893 in Gymnasialkurse Leben des Ovid. Urauff. Stgt. 1973. – In Wensdorf umgewandelt wurden. 1890 gründete sie den nichts Neues. SWF 1972 (Hörsp.). – Der schwarze Allgemeinen Deutschen Lehrerinnenverein, Mann. SWF 1972 (Hörsp.). – Rätselgesch.n. Köln 1892 wurde sie Vorsitzende des Allgemeinen 1973 (Kinderbuch). – Herr Rietbauer verschwindet. WDR 1973 (Hörsp.). – Jenseits v. Gut u. Böse oder Deutschen Frauenvereins. 1894 gründete sie Die letzten Stunden der Reichskanzlei. Urauff. als Dachorganisation aller dt. FrauenverbänHbg. 1975. – Frau v. Kauenhofen. Urauff. Bln. de den Bund Deutscher Frauenvereine, des1977. – Vom Werden der Vernunft oder Auf der sen Vorsitzende sie bis zu ihrem Tod blieb. Durchreise nach Petersburg. Urauff. Mchn. 1976. Nachdem in Preußen auch Frauen der Beitritt Hörspielbearb. WDR 1976. – Die Unberührbare. zu Parteien erlaubt wurde, schloss L. sich 1980 (Hörsp.). – Gerda Achternach. Urauff. Gött. 1908 den Freisinnigen an. Im Ersten Welt1983. – Requiem für Karlrobert Kreiten. Urauff. krieg unterstützte sie den Nationalen FrauBln. 1987. – Die Ermüdung. Zürich 1988 (N.). – Die Wattwanderung. Zürich 1990 (N.). – Die Reise nach endienst, dessen Leiterin ihre LebensgefährTriest. Zürich 1991 (N.). – Die Stechpalme. Zürich tin Gertrud Bäumer war (Dienstpflicht der Frau. 1993 (N.). – Der Herr im Café. Zürich 1996 (3 E.en). Lpz. 1915). L. forderte die Beibehaltung einer – Ital. Novellen. Ffm. 1998. – Die Bildungsreise. sozialen Dienstpflicht für Frauen auch im Zürich 1999 (N.). – Das Streichquartett. Zürich Frieden als Teil der Emanzipation. 1919 2001 (N.). – Der Wanderer. Zürich 2005 (N.). – Der wurde sie in die Hamburger Bürgerschaft Therapeut. Zürich 2007 (N.n). – Der Abgrund des gewählt, lebte aber seit 1920 wieder in Berlin. Endlichen. 3 Novellen. Zürich 2009. L. war eine der profilierten liberalen, strikt Ausgaben: Vom Werden der Vernunft u. andere antisozialistischen dt. Frauenrechtlerinnen. Stücke fürs Theater 1960–72. Reinb. 1977. – Ges. Sie grenzte aus dem Bund Deutscher FrauNovellen. Zürich 2002. envereine die sozialdemokrat. FrauengrupLiteratur: Wolfgang Schivelbusch: Sozialist. pen konsequent aus. Ebenso gemäßigt liberal Drama nach Brecht. Darmst./Neuwied 1974. – Ralf Hertling: Das literar. Werk H. L.s. Ffm. 1994. – war ihre Haltung zu anderen Forderungen Hubert Brunträger: H. L. In: KLG. – Klaus Völker: der Frauenbewegung. So trat sie für eine H. L. In: LGL. – Manfred Durzak (Hg.): Der Dra- Milderung, nicht jedoch für die Abschaffung matiker u. Erzähler H. L. Würzb. 2003. – Wilhelm des § 218 ein u. betonte gegen die Forderung Kühlmann: Die Lust am Untergang. H. L.s Novel- nach freier Liebe die Schutzwürdigkeit der len. In: Ders.: Fäden im Labyrinth: literarkrit. Ehe. Streifzüge 1984–2004. Hg. Jost Eickmeyer u. Hanna Leybrand. Heidelb. 2009, S. 153–155. Florian Kessler

Weitere Werke: Zur Reform des Mädchenschulwesens. Gera 1892. – Intellektuelle Grenzlinien zwischen Mann u. Frau. Frauenwahlrecht. Bln. 1899. – Die Frauenbewegung u. ihre soziale Bedeutung. Bln. 1904. – Die Frauenbewegung in ihren modernen Problemen. Lpz. 1908. U. d. T. Die

213 Frauenbewegung in ihren gegenwärtigen Problemen. 31924. Neudr. Münster 1980. – Lebenserinnerungen. Bln. 1921. – Kampfzeiten. 2 Bde., Bln. 1928. – Was ich hier geliebt. Briefe. Tüb. 1957. – Herausgeberin (zus. mit Gertrud Bäumer): Die Frau. Bln. 1893–1944. Gesamtverz. Bonn 1968 (Ztschr.). – Hdb. der Frauenbewegung. 5 Bde., Bln. 1901–06. Neudr. Weinheim. 1980. Literatur: Gertrud Bäumer: H. L. zu ihrem 70. Geburtstag. Bln. 21918. – Dies.: Gestalt u. Wandel. Bln. 1950, S. 359–411. – Dorothea Frandsen: H. L. Hann. 1980. – Dies.: H. L.: Ein Leben für das volle Bürgerrecht der Frau. Oldenb. 1999. – Margit Göttert: Macht u. Eros: Frauenbeziehungen u. weibl. Kultur um 1900 – eine neue Perspektive auf H. L. u. Gertrud Bäumer. Ffm. 2000. – Caroline Hopf u. Eva Matthes: H. L. u. Gertrud Bäumer: ihr Beitr. zum Erziehungs- u. Bildungsdiskurs vom Wilhelminischen Kaiserreich bis in die NS-Zeit. Kommentierte Texte. Bad Heilbrunn 2001. Michael Behnen

Lange, Horst, * 6.10.1904 Liegnitz, † 7.7. 1971 München. – Lyriker, Epiker, Dramatiker.

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harmonischen, aber Leben u. Sterben gegenüber gleichgültigen Natur, findet in diesem von Zeitgenossen wie Wolfgang Koeppen als »bedeutendste epische Aussage der Hitlerzeit« gelesenen Roman zum ersten Mal Ausdruck. Ulanenpatrouille (Hbg. 1940), L.s zweiter wichtiger Roman, erzählt die Geschichte einer verhängnisvollen Liebe. Bedrohliche Morbidität u. tröstende Harmonie durchdringen einander auch hier. Im Juni 1940 wurde L. eingezogen u. erlitt Ende 1941 in Mittelrussland schwere Kopfverletzungen. Mit dem Grauen des Kriegs setzte L. sich u. a. in dem Erzählband Die Leuchtkugeln (Hbg. 1944) auseinander. Nach 1945 konnte der in München lebende L. nicht mehr an seine früheren Erfolge anknüpfen. Als persönliches u. histor. Dokument bemerkenswert sind die postum von Hans Dieter Schäfer herausgegebenen Tagebücher aus dem Zweiten Weltkrieg (Mainz 1979). Weitere Werke: Auf dem östl. Ufer. Bln. 1939 (E.en). – Das Irrlicht. Hbg. 1943 (E.). – Windsbraut. Hbg. 1947 (E.en). – Am kimmerischen Strand. Hbg. 1948 (E.en). – Ein Schwert zwischen uns. Stgt./Hbg. 1952 (R.). – Verlöschende Feuer. Stgt. 1956 (R.).

Der Sohn einer alten schles. Familie wuchs in Liegnitz auf u. wollte urspr. Maler werden. Literatur: Arno Lubos: H. L. Ein Werk unter Nach kurzem Aufenthalt am Bauhaus in Weimar, wo er u. a. Paul Klee u. Walter Gro- dem Zeichen des Ostens. Lorch/Württemberg 1967. pius kennenlernte, studierte L. ab 1925 – Michael Scheffel: H. L. in: KLG. – Ders.: Mag. Realismus. Tüb. 1990. – Doris Kirchner: M. R. u. Kunstgeschichte, Germanistik u. Theaternicht-faschist. Lit. Tüb. 1993. – Hans Dieter Schäwissenschaft in Berlin u. Breslau. Neben dem fer: Das gespaltene Bewußtsein: Vom Dritten Reich Studium war er für Presse u. Rundfunk tätig, bis zu den Langen Fünfziger Jahren. Erw. Neuausg. ab 1930 lebte er als freier Schriftsteller in Gött. 2009. Michael Scheffel Berlin, 1933 heiratete er Oda Schaefer. L. war u. a. mit Günter Eich, Martin Raschke, Friedo Lampe u. Ernst Kreuder befreundet u. geLange, Joachim, * 26.10.1670 Gardelegen/ hörte zum Kreis um den Verleger V. O. Altmark, † 7.5.1744 Halle/S. – EvangeliStomps u. die Zeitschriften »Die Kolonne« u. scher Theologe u. Pädagoge. »Der weiße Rabe«. Nach zwei schmalen, vom Expressionismus Der Sohn eines verarmten Ratsherrn studierte beeinflussten Gedichtbänden sowie kleineren nach dem Besuch verschiedener Schulen (u. a. Prosaarbeiten veröffentlichte L. den umfang- in Quedlinburg) ab 1689 in Leipzig Theoloreichen Roman Schwarze Weide (Hbg. 1937). gie. Dort schloss er eine für sein weiteres LeDas frühe Hauptwerk L.s kennzeichnet der ben entscheidende Freundschaft mit August Antagonismus zwischen Nüchternheit u. Hermann Francke u. wurde zgl. in die aufWunderglauben, zwischen klass. Ordnungs- kommende Bewegung des Pietismus hineinstreben u. der barocken Lust am Abseitigen. gezogen. 1693 ging L. als Hauslehrer nach Im Stil eines besonderen, mag. Realismus Berlin, wo er mit Philipp Jakob Spener näher entsteht das Bild einer apokalypt. Zeit. L.s bekannt wurde. 1698–1709 übte er das Amt Grundthema, die »friedlose Unersättlich- des Rektors des Friedrichwerderschen Gymkeit« des Menschen innerhalb einer in sich nasiums in Berlin aus. 1709 wurde L. zum

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Professor der Theologie in Halle berufen. spruch hat L. auf die weitere Entwicklung der Dieses Amt übte er bis zu seinem Tode aus. Philosophie eingewirkt, über Christian AuNeben Francke war er die beherrschende gust Crusius bis zu Immanuel Kant. Gestalt der Theologischen Fakultät. L. war Weitere Werke: Medicina mentis. Bln. 1704. – zweimal verheiratet, mit Johanna Elisabeth, Antibarbarus orthodoxiae dogmatico-hermeneutigeb. Rauen, u. mit Charlotta Elisabeth, geb. cus. Bln. 1709–11. – Vier Gespräche eines Evang. Leyser. Aus beiden Ehen hatte L. zehn Kinder, Predigers mit einem Juden. Halle 1739. – Biblia darunter den Dichter Samuel Gotthold Lan- parenthetica. Lpz. 1743. – Dr. J. Langens Lebenslauf, zur Erweckung seiner [...] Zuhörer v. ihm ge. selbst verfaßt. Halle/Lpz. 1744. L. genoss in seiner Zeit große Anerkennung Ausgaben: Bescheidene [...] Entdeckung der als Verfasser lat. u. griechischer Lehrbücher, falschen u. schädl. Philosophie in dem Wolffian. die auch in andere Sprachen übersetzt wurSystemate metaphysico. Halle 1724. Nachdr. Hilden. Allein die Verbesserte und Erleichterte La- desh. 1999. – Nova anatome, seu idea analytica teinische Grammatica (Halle 1705; 60 Auflagen systematis metaphysici Wolfiani. Ffm./Lpz. 1726. bis 1819) erreichte eine Gesamtauflage von Nachdr. Hildesh. 1990. – Caussa dei et religionis knapp 300.000 Exemplaren. Besondere Ver- naturalis adversus atheismum. 2., erw. Aufl. Halle breitung im Schulunterricht des 18. Jh. fan- 1727. Nachdr. Hildesh. 1984. – Hundert u. dreyßig den auch die Colloquia scholastica (1707, viele Fragen aus der neuen mechan. Philosophie. Halle weitere Auflagen), eine Anleitung zum akti- 1734, u. Philosoph. Fragen aus der neuen mechan. ven Gebrauch des Lateinischen. L. war auch Morale. Halle 1734. Nachdr. Hildesh. 1999. – Autor von historischen u. bibelexeget. Wer- Kontroversschr.en gegen die Wolffische Metaphysik. Préface de Jean École. Hildesh. 1986. – J. L. ken, von Kirchenliedern u. Schriften zur (1670–1744), der ›Hällische Feind‹ [...]. Ausgew. Philosophie. Texte u. Dokumente zum Streit über Freiheit – Heute ist L. in der Hauptsache als früher Determinismus. Hg. Martin Kühnel. Halle 1996. – Vertreter des Pietismus u. insbes. als Gegner Schr.en über J. L.s u. Johann Franz Buddes Konder Philosophie von Christian Wolff bekannt troverse mit Christian Wolff. Zusammengestellt v. u. umstritten. Beide Bestrebungen fanden J. École. 3 Tle., Hildesh. 2000/01. ihren literar. Niederschlag in einer Fülle von Literatur: Georg Müller: L. In: RE 11 (1902), Streitschriften. L.s Hauptgegner in den Rei- S. 261–264 (ausführl. Angaben zur älteren Lit.). – hen der luth. Orthodoxie war der Dresdner Carl Hinrichs: Preußentum u. Pietismus. Gött. Superintendent Valentin Ernst Löscher. Nach 1971, S. 388–441. – Bruno Bianco: Freiheit gegen 1720 richtete sich L.s Interesse v. a. auf die Fatalismus. Zu J. L.s Kritik an Wolff. In: Halle. Lehren u. Schriften des gleichfalls in Halle Aufklärung u. Pietismus. Hg. Norbert Hinske. Heidelb. 1989, S. 111–155. – Christoph Schmitt: J. wirkenden Wolff, die er als ausgesprochen L. In: Bautz. – H. Keipert: Die ›Colloquia scholasgefährlich empfand (u. a. dargelegt in der tica‹ v. J. L. In: Aufklärung u. Erneuerung. Hg. Schrift Causa Dei adversus atheismum. Halle Günter Jerouschek u. Arno Sames. Hanau/Halle 1723). L. hat u. a. durch Verunglimpfungen 1994, S. 225–233. – Albrecht Beutel: Causa Wolfseines Gegners entscheidend (allerdings un- fiana. Die Vertreibung Christian Wolffs aus Preugewollt) dazu beigetragen, dass Friedrich ßen 1723 als Kulminationspunkt des theologischWilhelm I. 1723 Wolff des Landes verwies. polit. Konflikts zwischen halleschem Pietismus u. Vergeblich versuchte er die sich später an- Aufklärungsphilosophie. In: Wiss. Theologie u. bahnende Rehabilitierung Wolffs in Preußen Kirchenleitung. FS Rolf Schäfer. Hg. Ulrich Köpf. zu verhindern u. musste schließlich dessen Tüb. 2001, S. 159–202. Detlef Döring triumphale Rückkehr nach Halle dulden (1740). Trotz der von L. angewendeten z.T. Lange, Langius, Johannes, * 16.4.1503 fragwürdigen Methoden beim Kampf gegen Freistadt, † 25.9.1567 Schweidnitz. – Wolff ist ihm ein ernsthaftes Anliegen zu atSchlesischer (daher Silesius) Diplomat, testieren. Es ging L. um die Freiheit des Patristiker u. neulateinischer Dichter. menschl. Willens, die er durch Wolffs streng rationalistisch orientierte Philosophie aufs Nach den Schuljahren in Neiße u. Jura- sowie Äußerste bedroht sah. Mit seinem krit. Ein- Griechischstudien in Krakau u. Wien, nach

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Jahren als Schulrektor in Goldberg, in kgl.kaiserl. u. bischöfl. Diensten (seit 1535 Sekretär u. Kanzler des Bistums Breslau) zog sich L. nach Schweidnitz zurück, um sich seinen Interessen als Gräzist mit der Herausgabe u. Übersetzung griechischer Kirchenväter (u. a. Gregorii Nazanzeni [...] Graeca [...] carmina. Basel 1561. Nicephorus Callistus: Historia ecclesiastica. Basel 1555) widmen zu können. 1554 erschien in Krakau sein Epos über Johannes den Täufer (Baptista decollatus). Die frühen, ausgesprochen kaisertreuen Zeitgedichte (den Schmalkaldischen Krieg begleitend; Elegien »contra Turcas«, auf den Tod seines Landsmanns Caspar Ursinus Velius; akrostich. Oden um die kaiserl. Familie) sind zum größten Teil im Carminum lyricorum liber (Augsb. 1548) gesammelt. L.s stroph. Siegesgedicht In imperatoris et regis Romanorum victoriam nahm Gruter 1612 in die Delitiae poetarum Germanorum (Bd. 3, S. 857 ff. InternetEd.: CAMENA) auf. Einblicke in seine Vita u. sein Schaffen bietet der mittlerweile publizierte Briefwechsel mit dem Olmützer Bischof Stanislaus Thurzó. Literatur: Schimmelpfennig: L. In: ADB. – Ellinger 2, S. 265–268. – DBA. – Michael Erbe: L. In: Contemporaries. – VD 16. – Klaus-Peter Möller: Oberschles. Autoren 1450–1620. In: Oberschles. Dichter u. Gelehrte vom Humanismus bis zum Barock. Hg. Gerhard Kosellek. Bielef. 2000, S. 522–524 (Bibliogr.!). – Martin Rothkegel: Der lat. Briefw. des Olmützer Bischofs Stanislaus Thurzó. Eine ostmitteleurop. Humanistenkorrespondenz der ersten Hälfte des 16. Jh. Hbg. 2007, S. 296 u. ö. (Register!). – Flood, Poets Laureate, Bd. 3, S. 1076 f. Reinhard Düchting / Wilhelm Kühlmann

Lange, Samuel Gotthold, * 22.3.1711 Halle/S., † 25.6.1781 Laublingen. – Lyriker, Übersetzer u. Herausgeber. L.s Leben u. Werk verbindet sich mit seiner Heimatstadt Halle, dem kulturellen Zentrum des dt. Pietismus in den 1730er u. 1740er Jahren. Dem Sohn des davon geprägten Theologieprofessors Joachim Lange, des streitbaren Gegners von Christian Wolff, war seine Laufbahn vorgegeben. Am Franckeschen Waisenhaus u. an der Universität bildete er sich als Theologe aus u. übernahm

nach Abschluss des Studiums u. nach einem vergebl. Versuch, sich in Berlin zu etablieren (1736), 1737 eine Pfarrstelle im ländl. Laublingen (nahe Halle). Von dort aus entfaltete der 1755 zum Inspektor des Kirchen- u. Schulwesens im Saalekreis avancierte Theologe seine literar. Aktivitäten, die ihn in der Zeit vor Klopstocks Erneuerung der dt. Poesie zu einem Hauptvertreter des älteren Halleschen Kreises werden ließen. Schon früh waren seine literar. Interessen geweckt worden: Noch als Student regte er 1733 die Gründung einer Gesellschaft zur Beförderung der deutschen Sprache, Poesie u. Beredsamkeit an u. griff damit in die kulturpolitische Debatte zwischen Leipzig (Gottsched) u. Zürich (Bodmer, Breitinger) ein. In den 1740er Jahren widmete er sich ganz seinen poet. Neigungen u. näherte sich den Intentionen des Ästhetikers Georg Friedrich Meier (über den er gegen Ende seines Lebens eine immer noch unentbehrl. Biografie, Leben Georg Friedrich Meiers. Halle 1778, schrieb). Zus. mit Meier gab L. zwei Moralische Wochenschriften heraus (s. u., Werkverz.), in denen abseits der pietist. Kulturkritik der Umgang mit literar. Traditionen, Formen u. Werken vermittelt, auch auf Neuerscheinungen aufmerksam gemacht wurde. L.s literar. Anfänge standen im Zeichen eines intimen Freundschaftskultes (vgl. Freundschaftliche Briefe. Halle 1746. Sammlung gelehrter und freundschaftlicher Briefe. 2 Bde., Halle 1769/70), der als Vorstufe der Empfindsamkeitskultur die weitere Entwicklung des Jahrhunderts bestimmen sollte. Um Laublingen bildete sich ein literar. Freundeskreis, dem Gleim, Hagedorn u. Ewald von Kleist ebenso angehörten wie Bodmer u. Meier, der aber in der engen Freundschaftsverbindung zwischen L. u. Jakob Immanuel Pyra seinen sichtbarsten Ausdruck fand. Nach Pyras Tod (1744) gab Bodmer deren gesammelte Gedichte unter dem noch anakreontisch verschleiernden Titel Thyrsis’ und Damons freundschaftliche Lieder heraus (Halle 1745. 2., verm., v. L. veranstaltete Aufl. 1749. Hg. August Sauer. Heilbr. 1885. Neudr. Nendeln 1968). Mit Gefühlsnähe u. Sinnenfreude kreisen diese Gedichte, die den jungen

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Klopstock inspirierten, um die untrennbar verbundenen Themen Freundschaft, Tugend, Liebe u. Religion. Noch folgenreicher für die Entwicklung der Lyrik wurden sodann Samuel Gottholds Langes Horatzische Oden nebst Georg Friedrich Meiers Vorrede vom Werthe der Reime (Halle 1747. Neudr. mit Nachw. v. Frank Jolles. Stgt. 1971), die es sich zum Ziel gesetzt hatten, dem »Schwarm gedankenloser Reimer« entgegenzutreten. Sie erregten Aufsehen, nicht zuletzt auch durch Meiers Vorrede, weil sie erstmals den Versuch unternahmen, die Silbenmaße der griechisch-röm. Lyrik adäquat in die dt. Poesie zu transponieren. War daran im Rückblick auch noch manches unvollkommen, so hat dieser Versuch doch entschieden in die zeitgenöss. Diskussion um Formfragen der Lyrik (Silbenmaß, Strophenform, Reim) eingegriffen u. die Abkehr von der Gottsched’schen Regeldoktrin beschleunigt. Das Ergebnis einer »neunjährige[n] saure[n] Arbeit«, die – philologisch angreifbaren – Horaz-Übertragungen Des Quintus Horatius Flaccus’ Oden fünf Bücher und von der Dichtkunst ein Buch (Halle 1752. Neudr. Stgt. 1971), verwickelte L. in jenen Disput, der ihm die 1750er Jahre überschattete u. über sein weiteres literar. Schicksal entschied. Seit Lessings Vade Mecum (1754), einer dem Übersetzer jegl. Kompetenz absprechenden Antwort auf L.s Schreiben an den Verfasser der gelehrten Artikel in dem Hamburgischen Correspondenten wegen der im 178- und 179sten Stücke eingedruckten Beurtheilung der Übersetzung des Horaz (Halle 1752), war seine Autorität untergraben. L.s weitere Arbeiten auf dem Feld der religiösen Lyrik (Poetische Betrachtungen über die sieben Worte des sterbenden Erlösers [...]. Halle 1757) oder der Übersetzung (Die Oden Davids oder poetische Übersetzung der Psalmen. 4 Bde., Halle 1760) blieben ohne Resonanz. Literarisch vereinsamt u. durch den frühzeitigen Verlust von Frau u. Kind auch persönlich erschüttert, gab er sich gegen Ende seines Lebens kulturkrit. Betrachtungen hin (Einer Gesellschaft auf dem Lande poetische, moralische, ökonomische und kritische Beschäftigungen. Halle 1777). Er starb wenige Monate nach dem Tod seines Widersachers Lessing.

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L.s literarisch-histor. Bedeutung ist gekennzeichnet durch seine Zwischenstellung: Als engagierter Anhänger der ästhet. Bemühungen um eine Rehabilitierung der Sinnenwelt blieb er doch zgl. seinen religiösen Traditionen verhaftet; als Verfechter eines reimfreien, an der Antike ausgerichteten lyr. Sprachtons, der »unser Ohr an die Sylbenmaase der Alten« gewöhnen soll, brachte er selbst nicht die poet. Kraft Klopstocks auf, der sein Werk weiterführen u. vollenden sollte. Weitere Werke: Eine wunderschöne Historie v. dem gehörnten Siegfried dem Zweiten. Braunschw./Lpz. 1747. – Denkmal zweyer frühzeitig verlornen einzigen Söhne [...] den Hinterbliebenen zum Trost aufgesetzt. Halle 1749. – Die besiegten Heere, eine Ode [...]. Halle 1758. – Der glorreiche Friede im Jahre 1763. Halle 1763. – Sendschreiben an [...] Gabriel Benjamin Mosche [...] wegen des Heumannischen Erweises, daß die Lehre der Reformirten Kirche v. dem hl. Abendmahle die rechte u. wahre sey. Halle 1764. – Denkmal ehel. u. väterl. Liebe, seiner Gattin u. seinem Sohn gesetzt. Halle 1765. – Der Comet, mein letztes Gedicht [...]. Halle 1769. – Dt. Gedichte des 18. Jh. Hg. Klaus Bohnen. Stgt. 1987, S. 93 ff., 384. – Hallesche Aufklärer – Laublinger Dichterkreis. Hg. E. Bartsch u. J. Sailer. Halle-Ammendorf 1991. – Herausgeber (zus. mit Georg Friedrich Meier): Der Gesellige, eine moral. Wochenschrift. Halle 1748–50. Neu hg. v. Wolfgang Martens. 3 Bde., Hildesh. u. a. 1987. – Der Mensch, eine moral. Wochenschrift. Halle 1751–56. Neu hg. v. W. Martens. 6 Bde., Hildesh. u. a. 1992. Literatur: Eduard Stemplinger: Das Fortleben der horaz. Lyrik seit der Renaissance. Lpz. 1906. – Johannes Richter: Der Begriff ›heilig‹ bei Klopstock, Pyra u. L. u. den Bardendichtern. Diss. Greifsw. 1921. – Hildegard Geppert: S. G. L. Diss. Heidelb. 1923. – Wolfdietrich Rasch: Freundschaftskult u. Freundschaftsdichtung [...]. Halle/ S. 1936. – Christoph Siegrist: S. G. L. In: NDB. – Theodor Verweyen: Halle, die Hochburg des Pietismus, die Wiege der Anakreontik. Über das Konfliktpotential der anakreont. Poesie als Kunst der ›sinnlichen Erkenntnis‹. In: Zentren der Aufklärung I: Halle. Aufklärung u. Pietismus. Hg. Norbert Hinske. Heidelb. 1989, S. 209–237. – Wolfgang Martens: Lit. u. Frömmigkeit in der Zeit der frühen Aufklärung. Tüb. 1989, passim. – Burkard Dohm: Pyra u. L. Zum Verhältnis v. Empfindsamkeit u. Pietismus in den ›Freundschaftlichen Liedern‹. In: Dichtungstheorien der dt. Frühaufklärung. Hg. T. Verweyen. Tüb. 1995, S. 86–100. – W.

217 Martens: Zur Thematisierung v. ›schöner Literatur‹ in S. G. L.s u. G. F. Meiers Moralischen Wochenschr.en ›Der Gesellige‹ u. ›Der Mensch‹. Ebd., S. 133–145. – Ernst August Schmidt: Horaz u. die Erneuerung der dt. Lyrik im 18. Jh. In: Zeitgenosse Horaz. Hg. Helmut Krasser u. E. A. Schmidt. Tüb. 1996, S. 255–310. – Hans-Georg Kemper: Der Himmel auf Erden u. seine poet. Heiligung. Säkularisierungstendenzen in den ›Freundschaftlichen Liedern‹ v. Immanuel Jakob Pyra u. S. G. L. In: ›Geist=reicher‹ Gesang. Halle u. das pietist. Lied. Hg. Gudrun Busch. Tüb. 1997, S. 269–285. – Ders.: Dt. Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. 6/I: Empfindsamkeit. Tüb. 1997, S. 96–104 u. ö. – Monika Fick: Lessing-Hdb. Stgt./Weimar 2000, S. 99 f. u. ö. – Ernst Stöckmann: ›Philosophie für die Welt‹ zwischen ästhet. u. sittl. Programmatik. Zu einigen Aspekten popularphilosoph. Publizistik am Beispiel der Moralischen Wochenschr.en G. F. Meiers u. S. G. L.s. In: Textsorten dt. Prosa vom 12./13. bis 18. Jh. Hg. Franz Simler. Bern u. a. 2002, S. 603–630. Klaus Bohnen / Wilhelm Kühlmann

Lange-Müller, Katja, * 13.2.1951 Berlin/ DDR. – Prosaschriftstellerin, Dozentin. L., Autorin v. a. von Erzähltexten, schrieb zwischenzeitlich auch für Hörspiel u. Theater. Als Essayistin u. Herausgeberin von Gegenwartsliteratur, in Glossen, Lesungen u. Diskussionen wirkt sie auf das literar. Leben der Bundesrepublik ein (u. a. als Dozentin am Deutschen Literaturinstitut Leipzig, 1999/ 2000 u. 2006, als Mitgl. der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt seit 2000 u. als Mitgl. der Berliner Akademie der Künste seit 2002). L. entstammt einer Familie aus dem DDREstablishment: Die Mutter, Ingeburg Lange, war ab 1963 Abgeordnete der Volkskammer, ab 1965 Mitgl. im Zentralkomitee der SED, seit 1973 Kandidatin des Politbüros. Der Vater, Journalist, war u. a. stellvertretender Intendant des DDR-Fernsehens. L. war verheiratet mit Wolfgang Müller, dem jüngeren Bruder des Dramatikers Heiner Müller, für dessen »Autobiotape« Krieg ohne Schlacht (Köln 1992) sie Interviews führte. Ihre frühe Biografie ist geprägt von einer Pendelbewegung zwischen nicht-künstlerischem u. künstlerischem Arbeiten in Ostberlin, Leipzig u. Ulan Bator/Mongolei. L. wurde 16-jährig der Schule verwiesen, lernte den Beruf der

Lange-Müller

Schriftsetzerin, studierte 1979–1982 am Johannes R. Becher-Institut in Leipzig u. arbeitete als Krankenpflegerin. Als Unterzeichnerin der Biermann-Petition 1976 – seinerzeit brisant wegen ihres Familiennamens, nicht wegen ihres künstlerischen Ranges – u. aufgrund ihrer äußeren Distanzierung vom Regime (besetzendes Wohnen 1969) wurde sie 1982/83 zur Arbeit in einem Teppichkombinat in die Mongolei u. 1984 nach Westberlin abgeschoben. Nach der Übersiedlung in die Bundesrepublik konzentrierte sie sich auf die Arbeit als Schriftstellerin, veröffentlichte 1986 das erste eigenständige Buch (Wehleid – wie im Leben. Ffm.) u. erhielt im selben Jahr den Klagenfurter Ingeborg-Bachmann-Preis. Weitere Literaturpreise, darunter der Alfred-DöblinPreis (1995), folgten. In den Texten L.s findet der Leser zumeist die Figurenperspektive einer gesellschaftlich randständigen Ich-Erzählerin vor. Festgefügte sprachl. Wendungen werden bes. in den Texten der 1990er Jahre gern auch wörtlich eingesetzt. Wesentliches Stilmittel ist die Lakonie; sprachl. Verknappung paart sich mit satir. Verkürzung u. einem Hang zur Karikatur. Zudem finden sich Elemente des Grotesken: »Und tatsächlich, die Röntgenbilder brachten die Wahrheit ans Licht, die des Doktors, und meine, die mich all die Jahre bewohnt hatte, gestaltlos, nur als Irritation, als dumpfes Bangen und Hoffen: Zwischen Steißbein und rechtem Hüftgelenk, hinter dem großen Streckmuskel, verborgen in der tiefsten Tiefe meines Beckens, trug ich seit meiner Geburt meinen Zwillingsbruder mit mir herum« (Die Letzten. Köln 2000, S. 28. Vorab, leicht verändert, in Auszügen publiziert u. d. T. Setzer). Rezensionen u. Sekundärliteratur führen Stoff u. Motive häufig auf die bekannt geglaubte Biografie der Autorin zurück. Bei näherer Betrachtung aber zeigt sich eine kunstvolle Durchformung im ursprüngl. Sinne einer Mimesis (als Nachahmung des Lebens, bes. auch durch die körperl. Geste): »Es begann vor zwei Jahren, am Kreuz; nein, viel früher. Immer, so weit ich zurückdenken kann, fühlte ich mich einsam. Aber nicht einfach bloß alleine, wie jeder manchmal, sondern eher im Gegenteil, mir

Langen

fehlte kein fremder Mensch, nicht einmal ein anderer; ich war doppelt und gleichzeitig einer zu wenig. [...] Mich selber vermisste ich, mich selber, der ich selber war, mein lebendes Spiegel-, Gegen-, Ebenbild. In meinen Träumen war ich immer zu zweit mit mir« (Die Letzten, S. 26). Wiederkehrende Themen sind Adoleszenz, Emanzipation von herrschenden Verhältnissen u. Umgangsformen (der Geschlechter), Liebe, Körperlichkeit (auch als Sexualität). Momente von Initiation u. Regression prägen den Motivschatz stärker als die häufig von der Kritik bemerkten Metaphern aus der Tierwelt. Der 2007 veröffentlichte Roman Böse Schafe (Köln) fand Anerkennung als Geschichte einer Amour fou. Die Erzählung gibt das herausgestellt Artifizielle etwa von Verfrühte Tierliebe (Köln 1995) oder die herausgestellte Konstruktion von Die Letzten zugunsten eines geschlossenen epischen Systems auf. Weitere Werke: Kasper Mauser – Die Feigheit vorm Freund. Köln 1988. – Die Enten, die Frauen u. die Wahrheit. Erzählungen u. Miniaturen. Köln 2003. – Herausgeberin: Bahnhof Berlin. Mchn. 1997. – Vom Fisch bespuckt. Neue Erzählungen v. 37 deutschsprachigen Autorinnen u. Autoren. Köln 2002. Literatur: Kerstin Dietrich: DDR-Lit. im Spiegel der dt.-dt. Literaturdebatte. ›DDR-Autorinnen‹ neu bewertet. Ffm. 1998. – Markus Symmank: Karnevaleske Konfigurationen in der dt. Gegenwartslit. Untersuchungen anhand ausgew. Texte v. Wolfgang Hilbig, Stephan Krawczyk, K. L., Ingo Schulze u. Stefan Schütz. Würzb. 2002. – Petra Ernst: L. In: LGL. – Corinna Blattmann: L. In: KLG. – Joël Giskes u. Christian Schlösser (Hg.): Lit. im Gespräch II. Interviews mit Schriftstellern (2000–04). Bln. 2005, S. 73–99. Markus Symmank

Langen, Albert, * 8.7.1869 Antwerpen, † 30.4.1909 München. – Verleger. Der aus großbürgerlich-industriellem Milieu stammende L. wurde der Familientradition gemäß in Hamburg u. Köln als Kaufmann ausgebildet. Nach dem frühen Tod der Eltern brachte er in Paris innerhalb kurzer Zeit sein mütterl. Erbteil durch. 1893 gründete er den »Buch- und Kunstverlag Albert Langen Paris und Köln« mit dem Ziel, skandinavische u. frz. Autoren dem dt. Publikum zugänglich zu

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machen. Auftakt war Hamsuns Roman Mysterien (1892). Seine Bemühungen, Björnstjerne Björnson als Autor zu gewinnen, brachten ihn in Kontakt mit dessen Tochter Dagny, seiner späteren Frau. L. verlegte Prévost, D’Annunzio, France, Strindberg, Tolstoi u. andere. 1896 gründete er, inspiriert von dem frz. Blatt »Gil Blas illustré«, die satir. Wochenschrift »Simplicissimus«. Thomas Theodor Heine, Reznicˇek, Thöny, Bruno Paul, Gulbransson, Schulz u. Wilke sind die Illustratoren, deren Karikaturen bald zur konsequenten antiwilhelmin. Grundtendenz des Blattes beitrugen, dessen Symbol die Hein’esche rote Bulldogge wurde. Motor der stetigen Auflagensteigerung (1906: knapp 100.000) waren die sich häufenden Konfiskationen. Wegen eines Majestätsbeleidigungsprozesses, die Palästina-Reise des dt. Kaiserpaars betreffend, die Heine u. Wedekind pasquillartig kommentiert hatten, musste L. für fünf Jahre ins Exil nach Paris. Seine Frau Dagny kümmerte sich tatkräftig um den »Simplicissimus« u. den Verlag. 1907 gründete L. die Zeitschrift »März«, die sich der dt.-frz. Freundschaft verpflichtet fühlte. 1908 übernahm er die Generalvertretung einer Automobilfirma. 1932 wurde der Verlag mit dem Georg-Müller-Verlag fusioniert. Briefausgabe: Helga Abret u. Aldo Keel (Hg.): Im Zeichen des Simplicissimus. Briefw. A. L. u. Dagny Björnson 1895–1908. Mchn. 1987. Literatur: A. L. Verlags-Kat. 1894–1904. Mchn. 1904. – Ernestine Koch: Persönlichkeit u. Werk eines Verlegers als Faktoren ihrer Zeit. Diss. Mchn. 1950. – Dies.: A. L. Ein Verleger in München. Mchn. 1969. – Andreas Meyer: Die Verlagsfusion L.-Müller. 1989. – Helga Abret: A. L. Ein europ. Verleger. Mchn. 1993. – Dies.: Frank Wedekind u. sein Verleger A. L. In: EG 60 (2005), S. 7–49. Oliver Riedel / Red.

Langen, Rudolf von, Rudolphus Langius, Rolef van Langhen, * um 1483 Everswinkel bei Münster, † 25.12.1519 Münster. – Humanistischer Gelehrter; Lyriker. Zur selben Zeit wie Rudolph Agricola besuchte der aus wohlhabender adeliger Familie stammende L. die Universität Erfurt (1456; Magister 1460). In Basel hielt er anschließend schon eine Vorlesung über Ciceros

Langenbeck

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Briefe. Seit 1462 lebte er als Propst u. Domkapitular in Münster. Während (zumindest) einer Italienreise (Rom 1466) dürften ihn das ital. Renaissanceschrifttum u. die wiederentdeckte Literatur der Antike beeindruckt haben. Jedenfalls stellte sich L. gegen die überkommene Praxis der Schulwissenschaft u. trug maßgeblich zur humanist. Reform der Münsterschen Domschule bei. Darin sah er keinen Widerspruch zu den ihn prägenden Frömmigkeitsformen der Devotio moderna. In den Augen seiner Schüler u. jüngeren Freunde (Murmellius, von dem Busche) galt L. als Leitfigur des norddt. Humanismus. Tatsächlich begann mit seinen Carmina (Münster 1486. Fotomechan. Nachdr. mit dt. Übers. v. Hermann Hugenroth. Münster 1991) die Reihe der in Deutschland gedruckten humanist. Lyrikbände. Auch in seinem nur handschriftlich erhaltenen Lob der Druckkunst (an den Straßburger Drucker Johann Mentelin) schlug L. ein für die Folgezeit bedeutsames Thema an. In antiken Metren verfasste Versdichtung zykl. Charakters (marianisches Rosarium triplicium florum. Köln 1493. Münster um 1520. Horae de s. cruce pindaricis versibus. Köln um 1496) spiegelt wie eine Geschichte des jüd. Jerusalem (Urbis Hierosolymae [...] Liber. Deventer o. J. Köln 1517) Andachtshaltungen des SpätMA. Literatur: Adalbert Parmet: R. v. L. Leben u. ges. Gedichte. Münster 1869. – Ellinger 1, S. 388 f., 419–421. – Klemens Löffler: R. v. L. In: Westfäl. Lebensbilder. Bd. 1, Münster 1930, S. 344–357. – Otto Herding: L. In: NDB. – Adrie van der Laan: Die lat. Briefe des Antonius Liber u. des Rudolphus Langius. In: Humanist. Buchkultur: Dt.-niederländ. Kontakte im SpätMA (1450–1520). Hg. Josef M. M. Hermans. Münster 1997, S. 143–148. – Franz Josef Worstbrock: L. In: VL. – Ders.: L. In: VL Dt. Hum. (mit Werkverz. u. Forschungsbibliogr.). Wilhelm Kühlmann

Langenbeck, Curt, * 20.6.1906 Wuppertal-Elberfeld, † 6.8.1953 München. – Dramatiker u. Dramentheoretiker. Der Sohn eines Fabrikanten wurde nach dem Abitur (1925) Färbereitechniker u. übte diesen Beruf 1929–1931 aus. Danach studierte er Literatur- u. Theaterwissenschaften. Beeinflusst von Martin Heidegger u. Wolfgang

Schadewaldt, als Doktorand bei Josef Nadler u. seit 1933 mit dem Verlag Albert Langen/ Georg Müller in Verbindung, hatte L. mit histor. Dramen Erfolg u. wurde Chefdramaturg in Kassel (1935–1938) u. ab 1938 am Bayerischen Staatsschauspiel München. Auseinandersetzungen mit der Reichsdramaturgie veranlassten L., sich 1941 zur Kriegsmarine zu melden. Nach dem Krieg konnte er sich literarisch nicht mehr durchsetzen. Als Dramatiker, v. a. aber als Theoretiker (Die Wiedergeburt des Dramas aus dem Geist der Zeit. Mchn. 1940) gehörte L. zu den wichtigsten Vertretern eines »Theaters aus der Haltung eines existentialistisch getönten Faschismus« (Ketelsen). Er entwarf eine apsychologische, statisch-stilisierte, zeitlos-heroische Dramaturgie, die der Erneuerung des Bewusstseins im nationalsozialist. Sinne u. der Propagierung von Opferbereitschaft u. Durchhaltewillen dienen sollte. Verringerte Anzahl der dramatis personae, Deklamation, eine auf ein Minimum reduzierte Handlung u. eine raunend-bedeutsame Sprache gehören zu dieser Dramenkonzeption. L. trat auch als einer der energischsten Propagandisten des heroisierenden literar. Faschismus in der Zeitschrift »Das innere Reich« hervor. Weitere Werke: Alexander. Mchn. 1934. Urauff. 1934 (histor. Versdrama). – Heinrich VI. Mchn. 1935 (D.). – Der getreue Johannes. Mchn. 1937 (Bühnendichtung). – Der Hochverräter. Mchn. 1938 (D.). – Das Schwert. Mchn. 1940 (D.). – U-Boot-Soldaten. Mchn. 1942 (Schausp., gedr. vom Oberkommando der Marine). – Treue. Bln. 1944. (D.; Bühnenms.). – Der Phantast. Urauff. 1948 (Schausp.). – Nachlass: Dt. Hochstift. Ffm. Darin: Confessio (unveröffentlichter Entwurf zu einer Autobiogr.). Literatur: Manfred Lotsch: Der Dramatiker C. L. Sein Leben u. seine Entwicklung bis 1932 [...]. Diss. Hbg. 1958 (ungedr.). – Uwe-K. Ketelsen: Heroisches Theater, Untersuchungen zur Dramentheorie des Dritten Reichs. Bonn 1968. – Günther Rühle: Zeit u. Theater 3: Diktatur u. Exil, 1933–45. Ffm. 1974, S. 794–807. – Lothar Ehrlich: Zur Rezeption der Dramaturgie Schillers durch faschist. Dramatiker am Beispiel v. C. L. In: Traditionen u. Traditionssuche des dt. Faschismus. Hg. Hubert Orlowski u. a. Bd. 2, Halle 1988, S. 29–40. – Beate Hörr: Tragödie u. Ideologie. Tragödienkonzepte in /

Langenmantel Spanien u. Dtschld. in der ersten Hälfte des 20. Jh. Würzb. 1997. Christian Schwarz / Red.

Langenmantel, Eitelhans, Hans, * Augsburg, † 12.5.1528 Weißenhorn. – Pamphletist, Täufer. L. stammte aus einem alten Augsburger Patriziergeschlecht. Von 1525 bis 1527 beteiligte er sich mit Kampfschriften gegen Lutheraner u. Katholiken an den theolog. Auseinandersetzungen in Augsburg. Im Abendmahlstreit stand er aufseiten der Zwinglianer u. übernahm weitgehend die Lehrmeinungen Karlstadts. Drei kurze Abhandlungen L.s über das Nachtmahl des Herrn blieben in Handschriften der Hutterer aus dem späten 16. Jh. erhalten. Ihnen lagen wahrscheinlich gedruckte Fassungen zugrunde. Bei dem Augsburger Drucker Philipp Ulhart erschienen drei weitere Schriften, in denen L. seine Auffassungen von der sinnbildl. Deutung der Einsetzungsworte u. vom Gedächtnischarakter des Abendmahls im Sinne Zwinglis u. Karlstadts darlegte. Anfang 1527 geriet L. zunehmend unter den Einfluss Dencks u. wechselte in das Lager der Taufgesinnten über (Taufe durch Hans Hut im Frühjahr 1527). Als ein Dokument der neuen, radikaleren Position L.s wurde die Schrift Ein göttlich unnd gründtlich Offenbarung: von den wahrhafftigen widerteuffern [...] (Augsb. 1527) angesehen, die Rhegius zu einer Widerlegung Wider den newen Taufforden [...] veranlasste. Die Offenbarung galt lange Zeit als Hauptwerk, doch wird mittlerweile Jakob Dachser als Autor angenommen. In einer L. wohl zu Recht zugeschriebenen anonymen Schrift richtete der Verfasser als Antwort auf ein unbekanntes Pamphlet, das die Lehre von der leibl. Realpräsenz Christi verteidigte, Ein trewe Ermanung an alle Christen, das sy sich vor falscher leer hütten [...] (Augsb. um 1526). Aus ungeklärten Gründen wurde L. einige Tage in Haft genommen u. am 14.3.1527 auf Urfehde entlassen. Als im Aug. 1527 die sog. Märtyrersynode in Augsburg tagte, setzte die rigorose Verfolgung der Täufer durch die Obrigkeit ein. L. musste Mitte Okt. Augsburg als Verbannter verlassen u. hielt sich auf der Flucht vor den Truppen des Schwäbischen

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Bundes, die aufgrund des kaiserl. Wiedertäufermandats jeden »Ketzer« verfolgten, in der Umgebung von Augsburg auf. Nach seiner Festnahme am 24.4.1528 wurde L. nach Weißenhorn gebracht u. dort enthauptet. Vor der Hinrichtung wurde er mehreren Verhören unterzogen, deren Protokolle (Urgichten) sich erhalten haben. Weitere Werke: Disz ist ain anzayg [...] über seyne hartte widerpart, des Sacrament u. annders betreffend. Augsb. 1526. Internet-Ed.: VD 16 digital. – Ein kurtzer begryff v. den allten u. newen Papisten [...]. Augsb. 1526. Internet-Ed.: VD 16 digital. – Ain kurtzer anzayg, wie Do. Martin Luther ain zeyt hör hatt etl. schr.en lassen außgeen, vom Sacrament [...]. Augsb. 1527. Ausgaben: ›Kom, Gott vater, von himmel‹. In: Wackernagel 3, S. 457 f. – ›Drei (?) Schr.en v. Hans L. vom Nachtmahl des Herrn‹ (gekürzte Fass.en der Hutterschen Abschr.en). In: Glaubenszeugnisse oberdt. Taufgesinnter. Hg. Lydia Müller. Bd. 1, Lpz. 1938, S. 126–136. – Ein kurzer Begriff v. den alten u. neuen Papisten. In: Flugschr.en v. Bauernkrieg zum Täuferreich (1526–1535). Hg. A. Laube u. a. 2 Bde., Bln. 1992, Bd. 1, S. 131–136. – Kurze Anzeige, wie Dr. Martin Luther etl. Schr.en vom Sakrament hat ausgehen lassen. Ebd., S. 194–204. Literatur: Bibliografie: VD 16. – Weitere Titel: Friedrich Roth: Zur Gesch. der Wiedertäufer in Oberschwaben 11: Zur Lebensgesch. E. L.s v. Augsburg. In: Ztschr. des Histor. Vereins für Schwaben u. Neuburg 27 (1900), S. 1–45 (mit Abdr. der Urgichten L.s). – Karl Schottenloher: Philipp Ulhart. Mchn./Freising 1921, S. 54–57. – Wilhelm Wiswedel: Bilder u. Führergestalten aus dem Täufertum. 2 Bde., Kassel 1930, S. 72–86. – Friedrich Westermayer: E. L. In: Lebensbilder aus dem Bayer. Schwaben. Bd. 5, Mchn. 1956, S. 140–154. – Friedwart Uhland: Täufertum u. Obrigkeit in Augsburg im 16. Jh. Diss. Tüb. 1972, S. 83–85 u. passim. – Friedrich Blendinger: E. L. In: NDB. – Hajo Diekmannshenke: Spontane versus kanonisierte Intertextualität. Vom neuen Umgang mit der Bibel in der Reformationszeit. In: Textbeziehungen. Linguist. u. literaturwiss. Beiträge zur Intertextualität. Hg. Josef Klein u. a. Tüb. 1997, S. 149–166. Jörg Köhler / Red.

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Langenschwar(t)z, Max(imilian) (Leopold), eigentl.: Meyer Hoffmann, auch: Joachim Bimbler, Z. N. Charles(z)wang, Langenschwarz-Rubini, M. Longonegro, Jakob Zwangso(h)n, Karl Zwengsahn, Vun Aa’m, der schun lang schwarz is, * um 1801–1808 Rödelheim (heute zu Frankfurt/M. gehörig), † nach 1868. – Erzähler, Lyriker, Dramatiker, Schauspieler, Improvisator; Mediziner u. Wasserheilkünstler. Nach eigenen Angaben wurde L. am 23.5.1808 als Sohn jüd. Eltern geboren, doch sind die Angaben hierzu – wie zu vielen seiner Lebensstationen – widersprüchlich. Er besuchte das Gymnasium in Frankfurt/M. u. Darmstadt, bevor er um 1825 nach Hamburg ging, wo er als »Unterlehrer« tätig war. Im Winter 1826 brach L. nach Wien auf, wo der Sohn eines Kaufmanns oder Lotteriekollekteurs im Mai 1828 zum Katholizismus konvertierte. 1830 trat L. als Deklamator u. Improvisator zunächst in Pressburg (Bratislava), später in weiteren dt. Städten wie München, Stuttgart, Dresden, Leipzig u. Hamburg auf (vgl. auch die Erste Improvisation stenographisch aufgenommen von F. X. Gabelsberger. Mchn. 1830). Fortan führte L. ein Wanderleben zwischen Deutschland, Russland, Italien, der Schweiz, Finnland, England u. Frankreich; 1832 ging er nach St. Petersburg u. 1834 nach Paris, wo er – vermittelt durch Jakob Rothschild – Heinrich Heine aufsuchte. Dieser hielt L. jedoch für einen »langweilige[n] Menschen« (Brief Heines vom 21.4.1834), Heines Bruder sah in L. gar »ein mauvais sujet« (Brief Anfang Mai 1834). Neben verschiedenen satir. Schriften versuchte L. in dieser Zeit mit der Arithmetik der Sprache (Lpz. 1834) eine Rhetorik, mit der Anatomie des Staates (St. Gallen 1836) gar eine »Kritik der menschlichen Gesellschaft« zu liefern. 1835 heiratete er die Sängerin Rutini, ab 1842 praktizierte er als Naturheilarzt unter dem Namen Langenschwarz-Rubini in Paris. 1848 kehrte er während der Märzbewegung nach Deutschland zurück; allein in Leipzig erschienen in diesem Jahr unter seinem Namen nicht weniger als 15 Veröffentlichungen meist satir. Inhalts, wie beispielsweise die in

Langenschwar(t)z

Briefform gehaltene Zeit im Wochenbette: eine populäre Entbindungsgeschichte oder der fingierte Bericht eines chines. Ministers über die dt. Verhältnisse (Der Minister wird ein Esel). Dabei stehen oftmals Metternich u. seine Restaurationspolitik im Zentrum der Kritik L.’, so etwa in den Europäischen Geheimnissen eines Mediatisirten (Hbg. 1836) oder in den in Gedichtform gehaltenen Politischen Nachtgedanken einer Lichtputze (Lpz. 1848). L. wurde sodann 1849 aus Deutschland ausgewiesen, ging unter dem Namen Hoffmann nach London, wo er von Karl Marx als preuß. Polizeiagent entlarvt wurde. 1853 in Paris unter Beschuldigung politischer Umtriebe verhaftet, ist L. in einem auf den 12.10.1856 datierten Brief in New York bezeugt, wo er (wiederum unter dem Namen Max Hoffmann) als Arzt praktizierte. Nach mehreren Veröffentlichungen in New York (1858 u. 1864) verliert sich L.’ Spur vorläufig, nach einer Publikation 1868 in Philadelphia endgültig. Weitere Werke: Satyr. Brille für alle Nasen: ein Tagblatt für Geschmack, Kultur u. Kunst. Mchn. 1830. – Der Hofnarre: eine gar wundersame Originalhistorie in 10 Poemen; mit einem polit. Intermezzo: ›Die grosse Woche‹. Stgt. 1831. Lpz. 1832. – Die europ. Lieder. Lpz. 1839. – Die berühmtesten Calembourgs u. Witz-Momente. Schleusingen 1841. – Schneider Kitz. 4 Bde., Lpz. 1842. – Tiphonia: Trag. in 5 Akten. Paris/Lpz. 1848. – Der gesetzgebende Schurke Justinian. Lpz. 1848. – Thomas Morus: histor. Schausp. in 4 Akten. Bln. 1850. – Vergessene Dichtungen in Frankfurter u. Sachsenhäuser Mundart. Zusammengestellt v. Hans Ravenstein. Ffm. 1916. Literatur: Selbstbiogr. UB Ffm. Signatur Ms.Ff. M. Langenschwarz. – Jüd. Plutarch II (1848), S. 156 f. – Brümmer (61913), Bd. 3, S. 182. – Friedrich Wienstein: Lexikon der kath. dt. Dichter. Hamm 1899. – Salomon Wieninger: Große jüd. National-Biogr. Bd. 3 (1928), S. 494. – Kosch, Bd. 2. – Wolfgang Klötzer: Frankfurter Biogr. Bd. 1 (1994). Hans Peter Buohler

Langer

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Langer, Anton, * 12.1.1824 Wien, † 7.12. Langer, Felix, auch: (Felix) Abranto, 1879 Wien; Grabstätte: ebd., Zentral- * 18.6.1889 Brünn, † 4.6.1979 London. – friedhof. – Dramatiker, Romancier, Jour- Dramatiker, Erzähler, Hörspielautor. nalist u. Übersetzer.

Der Kaufmannssohn L. studierte Jura in Wien Der in der Wiener Vorstadt aufgewachsene (Promotion 1914). Nach der Teilnahme am Fragnersohn interessierte sich schon als Stu- Ersten Weltkrieg siedelte er 1920 nach Berlin dent des Schottengymnasiums (1835–1841) über. Bis 1933 arbeitete er dort als Theaterfür Lokalchronik u. Volkstypen. Anfang der kritiker u. Feuilletonist, gab als Vorstands1840er Jahre wurde L., der mit lyr. Arbeiten mitglied der Dramatikervereinigung »Deutbegonnen hatte, von Bäuerle an dessen scher Bühnenklub« deren gleichnamige Mo»Theater-Zeitung« geholt. In ihr sowie in ei- natsschrift heraus. Neben Arbeiten für das ner Reihe anderer Zeitungen u. Zeitschriften, Theater wie das Wallenstein-Drama Der Obrist bes. im »Extrablatt« u. in dem von ihm seit (Weimar 1923) publizierte er in den 1920er 1850 redigierten u. auf gehobenes Niveau Jahren den Künstler- u. Liebesroman Erotische zurückgeführten humorist. »Constitutionel- Passion (Bln. 1926). Im Okt. 1933 musste L. in len Hans-Jörgl«, publizierte L. insg. über 300 die Tschechoslowakei emigrieren. Außer Feuilletons. Auch die meisten seiner wegen Beiträgen für verschiedene Exilzeitungen ihres Wiener Lokalkolorits u. packender entstand dort sein Essay Die Protokolle der Darstellungsweise populären Romane (wie Weisen von Zion (Wien 1934) gegen »RassenDämon Brandwein. Wien 1863) erschienen zu- haß und Rassenhetze«. Im Mai 1939 floh L. erst in Periodika u. können, obwohl zum Teil weiter nach London, wo er bis zu seinem Tod L.s hohes Bildungsniveau widerspiegelnd lebte. Ab 1934 schrieb L. etwa 30 unveröf(1841–1844 absolvierte er die philosoph. fentlichte Hörspiele. Jahrgänge in Wien), bes. in der späteren Phase Weitere Werke: Magelon. Die Gesch. eines Merkmale der Massenproduktion nicht ver- nervösen Mädchens u. a. N.n. Bln. 1911. – Lore Ley. Mchn. 1913 (D.). – Das böse Schicksal. Mchn./Lpz. leugnen. Weisen bes. seine Romane aus dem there- 1914 (D.). – Münchhausens Verwandlung. Mchn./ sianisch-josephin. Wien L. als typ. Vertreter Bln. 1924. – Der Kümmerer. Bln. 1927 (Lustsp.). – des »Fünf-Kreuzer-Romans« aus, so markie- Stepping Stones to Peace. London 1943 (Ess.). Literatur: Doris Bellach-Multerer: F. L. Leben ren die über 120 für die Wiener Vorstadtbühnen geschaffenen Volksstücke, die u. Werk eines deutschsprachigen Dichters aus Brünn. Diss. Wien 2003. Heiner Widdig / Red. gleichfalls vorwiegend Wiener Ambiente abschildern u. – wie etwa Zwei Mann von Heß (Wien 1860) – sehr populär wurden, durch Langer, Rudolf, * 6.11.1923 Neisse (Nysa)/ ihren Bildungsanspruch für Otto Rommel das Schlesien, † 19.7.2007 Ingolstadt. – Lyriker, Erzähler. Ende der Altwiener Volkskomödie. Ausgaben: Wiener Volks-Bühne. 4 Bde., Wien 1859–64. – Ausgew. Romane. 8 Bde., Wien o. J.

Literatur: Werkverzeichnis: Goedeke Forts. – Weitere Titel: Kurt Jagersberger: Der Volksdichter A. L. 2 Bde., Diss. Wien 1948. – Otto Rommel: Die AltWiener Volkskomödie. Wien 1952, S. 19. – Valerie Hanus: A. L. In: NDB. – ÖBL. – Felix Czeike (Hg.): Histor. Lexikon Wien. Bd. 3, Wien 2004. Elisabeth Lebensaft

Nach der Schulzeit wurde L. Soldat u. 1943 schwer verwundet. Seit 1945 lebte er in Ingolstadt u. arbeitete als Verwaltungsangestellter, Revisor u. selbständiger Kaufmann. Ab 1973 war er freier Schriftsteller. L. publizierte seit 1945 in verschiedenen Zeitungen u. Zeitschriften u. nahm 1948 an der Tagung der Gruppe 47 teil. Nach einer langen Schreibpause (1951–1972) veröffentlichte er in den 1970er Jahren die Gedichtbände Ortswechsel (Darmst. 1973), Überholvorgang (Pfullingen 1976) u. Gleich morgen (Pfullingen 1978). Krieg, Verwundung, Vertreibung u. Nachkriegsnot verarbeitet er in

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überformender, auf Distanz u. Orientierungsgewinn gerichteter Weise, wobei Einflüsse von Eichendorff u. Trakl zu erkennen sind. Weniger überzeugend gelang L. die Gestaltung gesellschaftl. Themen (z.B. Über Seveso, Sommer 1976. Erstdr. in: Literaturmagazin 9, 1978, S. 244). L. erhielt u. a. 1975 den Kunstpreis der Stadt Ingolstadt u. 1977 den Gryphius-Preis. Weitere Werke: Der Turmfalk u. die Taube. Mchn. 1990 (Kurzgesch.n). – Eine Gaudi bei dem Verein. Ein Stück Ingolstadt u. andere Erzählungen. Paderb. 2000. Literatur: Karl Krolow: Nachw. In: R. L.: Ortswechsel, S. 76–78. – Walter Helmut Fritz: Ohne die Stimme zu heben. In: FH (1979), S. 74–77. – Thomas Zenke: L. In: KLG. – Ernst Josef Krzywon: Aus Leidenschaft zur Poesie. R. L.s lyr. Hauptwerk im Eigenverlag. In: Schlesien 32 (1987), S. 158–162. Christian Schwarz / Red.

Langewiesche, Marianne, auch: M. Coubier, verh. Kuhbier, * 16.11.1908 Irschenhausen bei München, † 4.9.1979 München; Grabstätte: Ebenhausen, Zeller Friedhof. – Prosaautorin. Nach dem Besuch einer höheren Schule arbeitete die Tochter des Verlegers Wilhelm Langewiesche-Brandt als Fürsorgerin u. später als Journalistin. Da ihre Mutter jüd. Vorfahren hatte, erhielt L. während des Dritten Reichs nur durch gute Beziehungen eine Schreiblizenz; ihr Ehemann Heinz Kuhbier (Pseud. Coubier) hatte Berufsverbot. Schon in ihrer Jugend von Spengler beeinflusst, beschäftigte sich L. in ihrem ganzen Werk mit der Geschichte Europas. 1938 veröffentlichte sie ihren ersten Roman Die Ballade der Judith van Loo (Bln.), dem eine Sage aus dem Dreißigjährigen Krieg als Vorlage diente. Auf histor. Tatsachen beruht ihr erfolgreichstes Buch, der Venedig-Roman Königin der Meere (Bln. 1940. Neudr. Stgt. 1984. Nachw. v. H. Kuhbier. Mchn. 1988). L.s vierter Roman Der Ölzweig (Stgt. 1952), der die bibl. Sintflutgeschichte in die Gegenwart überträgt, war umstritten. Seit Ende der 1950er Jahre schrieb L. v. a. Reiseberichte u. Sachbücher.

Langgässer Weitere Werke: Die Allerheiligenbucht. Hbg. 1943 (R.). – Castell Bô. Überlingen 1947 (E.). – Die Bürger v. Calais. Ffm. 1949 (R.). – Venedig. Reinb. 1962. – Wann fing das Abendland zu denken an. Jüd. Glaube u. christl. Erkenntnis. Mchn. 1970. – Jura-Impressionen. Würzb. 1972 (mit Holzschnitten v. HAP Grieshaber). – Venedig. Gesch. u. Kunst. Köln 1973. Literatur: Angelika Mechtel: M. L. u. Heinz Coubier. In: Dies.: Alte Schriftsteller in der Bundesrepublik Dtschld. Mchn. 1972, S. 68–77. – Gabriele Freiin v. Koenig-Warthausen: L. In: NDB. Bettina Mähler / Red.

Langgässer, Elisabeth, * 23.2.1899 Alzey, † 25.7.1950 Karlsruhe; Grabstätte: Darmstadt, Alter Friedhof. – Lyrikerin, Erzählerin, Hörspielautorin. L. entstammte dem kath. Bürgertum Rheinhessens. Ihr Vater, der Alzeyer Kreisbauinspekteur Eduard Langgässer, war allerdings erst 1884 aus Anlass seiner Eheschließung mit L.s Mutter vom Judentum zum Katholizismus konvertiert – ein biografisch-genealog. Faktum, dessen antisemit. Interpretation durch die Nationalsozialisten L.s Leben leidvoll überschatten sollte. Nach dem Tod des Vaters im März 1909 übersiedelte die Familie nach Darmstadt, wo L. 1918 das Abitur machte u. eine Ausbildung zur Volksschullehrerin absolvierte. Von 1920 bis 1928 unterrichtete sie im hess. Griesheim. In diese Zeit fallen erste Gedichtveröffentlichungen in der religiös-kulturellen Monatsschrift »Das heilige Feuer« (seit 1920) u. das Erscheinen ihres Gedichtbandes Der Wendekreis des Lammes. Ein Hymnus der Erlösung (Mainz 1924), dessen zykl. Aufbau dem Gang des Kirchenjahres folgt. Mit ihrer von religiöser Inbrunst, kühner Bildlichkeit u. Formstrenge geprägten Frühlyrik fand L. in einschlägig disponierten Rezipientenkreisen alsbald Beachtung. Seit 1925 nahm sie an Treffen des sog. »Freitagskreises« teil, einer Diskussionsrunde um die Frankfurter Linkskatholiken Walter Dirks u. Ernst Michel. Das Dichtungsverständnis, das L. in Briefen jener Jahre artikulierte, sollte für ihre literar. Produktion verbindlich bleiben: Dichtung ist demnach nicht Ausspiegelung isolierter Subjektivität u. Welterfahrung, sie formt nicht

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das »Erlebnis der Einzelpersönlichkeit«, vielmehr ist sie Dienst an dem »ob j ek ti ven G eh a lt des liturgisch erfassten Dogmas«, das seinerseits als »jene Heiligung der geschöpflichen Welt« gefeiert wird, »die alle Kräfte und Dämonen in ihre mütterlichen Arme zieht und aus ihren Segnungen als reine, unschuldige Kinder Gottes hervorgehen lässt« (an Richard Knies, 16.8.1925). Damit war das Axiom einer christl. Poetik formuliert, deren Überbietungsanspruch sich nicht allein gegen die säkulare Dichtung richtete, sondern ebenso gegen die erstarrten Sprachu. Darstellungsformen des kirchenoffiziell approbierten Katholizismus, den L. als »unsinnlich«, »undinglich und bleichsüchtig« ablehnte (ebd.). Die Jahre 1927/28 zeitigten eine biogr. Wende: L. lernte den verheirateten Berliner Staatsrechtler Hermann Heller kennen. Es entwickelte sich eine (nach wenigen Monaten von Heller beendete) Liebesbeziehung. L. wurde schwanger, aus dem Schuldienst beurlaubt u. zum Jahresende 1928 entlassen. Am 1.1.1929 gebar sie ihre Tochter Cordelia, mit der sie bald darauf nach Berlin übersiedelte, wo ihre Mutter, ihr jüngerer Bruder u. enge Freunde lebten. Bis Okt. 1930 war L. nochmals als Lehrerin tätig, danach lebte sie als freie Schriftstellerin. Ende 1929 schloss sie ihre erste größere Prosaarbeit, die Kindheitsnovelle Proserpina, ab, die ihr 1931 den Literaturpreis des Deutschen Staatsbürgerinnenvereins eintrug, jedoch erst 1933 in einer verlagsbedingt überarbeiteten Version publiziert werden konnte (die ursprüngl. Fassung des Textes erschien 1949 in Hamburg). Handlungsarmut u. strömenden Bilderreichtum kombinierend, zeigt sich die Erzählung auf ihre Weise dem in den 1920er Jahren grassierenden »Hunger nach dem Mythos« (Theodore Ziolkowski) verpflichtet: Proserpina ist der Name eines Mädchens, das im »rheinischen Hügelland« auf einem ländlichen, an einer Römerstraße gelegenen Anwesen aufwächst. Durch zarte Konstitution u. längere Krankheit »dem gewöhnlichen Leben« entfremdet, entwickelt es die Fähigkeit, seinen Erfahrungsraum visionär zu durchdringen u. sich der Natur, der Welt der Tiere, Pflanzen u. Steine, mimetisch anzuverwan-

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deln. So heißt L.s Heldin nicht nur Proserpina, sie ist die Tochter der Ceres, die den Zyklus des natürl. Wachsens u. Vergehens durchlebt – fühlend, »daß der holde und liebevolle Schoß der Dinge zugleich Ursprung aller Ungeheuer und Grab des Lebendigen ist«. In der Betonung der abgründigen Ambivalenz der Natur klingt der Gedanke ihrer Erlösungsbedürftigkeit an, den L. in anderen Texten zum Sinnzentrum erhebt, um das Repräsentationspotential der antiken Mythologie, auf die sie ebenso bildungssicher wie kunstbewusst zurückgriff, in den Horizont ihres christl. Weltverständnisses zu rücken; so in den Tierkreisgedichten, an denen sie seit 1930 arbeitete (Bln. 1935). Die Verbindung von Naturreferenz, mytholog. Namen u. paulin. Theologie hebt diese Lyrik sehr bestimmt von den naturmag. Gedichten Wilhelm Lehmanns u. anderer Exponenten des Dichterkreises um die Zeitschrift »Die Kolonne« ab, mit denen L. seit Anfang der 1930er Jahre in Kontakt stand. Noch vor der Veröffentlichung der Proserpina konnte L. die Novellenbände Grenze: Besetztes Gebiet. Ballade eines Landes (Bln. 1932. Neuaufl. mit einem Nachw. v. Anthony W. Riley. Olten/Freib. i. Br. 1983) u. Triptychon des Teufels. Ein Buch von dem Hass, dem Börsenspiel und der Unzucht (Dresden 1932) publizieren. Beide Bücher verdichten zeitgeschichtl. Erfahrungen – die frz. Besatzung in den Monaten des Ruhrkampfes, die Inflation – zu Erzählsequenzen aus L.s rheinhess. Heimat. In den Novellen des Triptychons – Mars, Merkur u. Venus – ist es wiederum die antike Mythologie, die zum Interpretament für den »Dämonenkreis der Zeit« (L. an Karl Thieme, 1.2.1932) wird. Als Archetypen verweisen die heidn. Götter auf die Tiefendimension eines Geschehens, in welchem das Böse doppelgesichtig: als partikulares u. zeitgebundenes moralisches Versagen wie als immer gleiches Stigma der gefallenen Menschennatur in Erscheinung tritt. Von der nationalsozialist. Diktatur blieb L. zunächst unbetroffen. 1933 war sie als Hörspielautorin für den Berliner Rundfunk tätig, wo sie ihren späteren Ehemann, den als Redakteur der Jugendstunde des Funks beschäftigten kath. Philosophen Wilhelm

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Hoffmann, einen Heidegger-Schüler, kennenlernte. Bis Ende des Jahres wurden vier Hörspiele L.s produziert (Hörspiele. Hg. u. mit einem Nachw. v. Franz L. Felgen. Mainz 1986). Im Dez. 1933 wurde L. Mitgl. des Reichsverbandes Deutscher Schriftsteller u. der Reichsschrifttumskammer, womit sie »die Möglichkeit schriftstellerischen Schaffens in Deutschland« für sich »verbürgt« glaubte (an Elisabeth André, 11.12.1933). Ein im Frühjahr 1935 unternommener Versuch, den geforderten »Nachweis der arischen Abstammung« durch Verschleierung der jüd. Herkunft des Vaters zu erlangen, scheiterte. Am 20.5.1936 wurde L., die Hoffmann im Juli 1935 geheiratet hatte u. damit in einer sog. Mischehe lebte, aus der Reichschrifttumskammer ausgeschlossen, eo ipso mit Publikationsverbot belegt. Nur wenige Wochen zuvor war ihr erster großer Roman in Leipzig erschienen: Der Gang durch das Ried (Hbg. 21953). Seine Thematik schließt an die vorausgegangenen Novellen zur Zeitgeschichte an. Die Handlung spielt im Herbst 1930 im sumpfigen Gebiet am Alt-Rhein zwischen Alzey u. Darmstadt unter Bauern, die unter der Not der Krisenjahre militant werden u. sich geheimbündlerisch organisieren. Der Roman gibt ein typologisch verdichtetes Bild des Lebens in zerrütteter Zeit u. ist so auch als literar. Rekonstruktion jener sozialen Verwerfungen, menschl. Verrohungen u. polit. Verhetzungen lesbar, die zu den Voraussetzungen der nationalsozialist. Herrschaft gehören. Von Franz Blei in einer Rezension für die Wiener Literaturzeitschrift »das silberboot« als »unvergängliches Buch« gerühmt, wurde der Roman in der »NSZRheinfront« als »Sud ausgebreiteter Untermenschlichkeiten« verhöhnt. Trotz Veröffentlichungsverbot blieb L. schriftstellerisch aktiv: nach dem Scheitern eines letzten, ideologisch konzessionsbereiten Bittgesuchs an die Geschäftsführung der Reichskulturkammer im Frühjahr 1938 für die Schublade. 1938–1941 arbeitete sie sporadisch als anonyme Werbetexterin für einen Berliner Parfümhersteller. Aus ihrer Ehe gingen bis 1942 drei Töchter hervor; die unehel. Tochter Cordelia, obschon 1936 von Hoffmann adoptiert, geriet bei Gelegenheit

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eines Schulwechsels in die Definitionsmühlen der Nationalsozialisten u. wurde, da ihr leibl. Vater Jude war, 1940 als »Volljüdin« eingestuft. Mehrere Versuche, der Tochter zur Ausreise aus Deutschland zu verhelfen, scheiterten; 1941 wurde sie in einer jüd. Pension untergebracht, 1944 nach Theresienstadt u. von dort nach Auschwitz deportiert, wo sie überlebte (Cordelia Edvardson: Gebranntes Kind scheut das Feuer. Mchn. 1987). L., die seit 1942 an Schüben multipler Sklerose litt, wurde gegen Kriegsende in einem Rüstungsbetrieb dienstverpflichtet. Im Okt. 1945 konnte L. ihren Roman Das unauslöschliche Siegel vollenden, an dem sie seit 1936 gearbeitet hatte. Als das Werk Anfang 1947 in Hamburg erschien, wurde es neben Thomas Manns Doktor Faustus zum literar. Großereignis. Die Kritik lobte die formale u. inhaltl. Kühnheit des Romans, mit dem die dt. Erzählliteratur wieder Anschluss an das epische Niveau der Moderne gefunden habe. Auch L. selbst, die zu einer viel gefragten Rednerin u. Interviewpartnerin in eigener Sache wurde, erhob einen Modernitätsanspruch, den sie freilich als den Modernitätsanspruch christlicher Dichtung verstanden wissen wollte. In Abkehr von den Schemata des psycholog. Romans setzt Das unauslöschliche Siegel in der Tat nicht weltanschaulich unberatene Experimentalität ins Werk, sondern ein orientierungsgewiss christliches, näherhin kath. Verständnis menschlicher Existenz, dessen Fundament die sakramentaltheolog. Objektivität des Taufgeschehens bildet. Die Geschichte des Juden Lazarus Belfontaine, der am Tage vor seiner Hochzeit das unauslöschl. Siegel der Taufe empfängt, sieben Jahre später jedoch die »gähnende Trauer« des Glaubensverlustes erleidet u. allerlei satanischen Versuchungen erliegt, um am Ende in einem Akt der Gnade seine geistl. Wiedergeburt zu erfahren, welche die postfigurale Semantik des Namens Lazarus bestätigt, steht ebenso dafür ein wie die übrigen Romanteile, in denen L. – teils essayistisch, teils narrativ – die Heiligen Bernadette Soubirous u. Therese von Lisieux, Gespräche um Donoso Cortez’ kath. Geschichtsphilosophie u. die Verwicklungen einer durch Betrug u. sadist. Demütigung mit Selbstmord enden-

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den lesbischen Liebe zur Darstellung bringt. Sowenig es in L.s Roman einen »Helden« im Sinne des alten Entwicklungsromans gibt, sowenig gibt es in ihm ein Gefälle zwischen Haupt- u. Nebensächlichem. An jedem Punkt der Romanwelt wird ihr Bezugsrahmen sichtbar, die immer u. überall gleiche »Fabel der Heilsgeschichte« aus Sünde, Gnade u. Erlösung. Die Kennzeichnung ihrer Schreibart als surrealistisch lehnte L. zu Recht als oberflächlich ab; stattdessen statuierte sie mit einer theolog. Kategorie Supranaturalismus als Darstellungs- u. Deutungsprinzip ihres Werkes. Die polemische Seite dieses Supranaturalismus ist in der protestantismus- u. rationalismus-, der aufklärungs- u. zivilisationskritischen Parteilichkeit des Unauslöschlichen Siegels unverkennbar. Unter diesem Aspekt kehrt L.s Roman nicht sowohl Züge literarästhetischer Modernität als solche kath. Weltanschauungsliteratur hervor. Ähnliches gilt für L.s letzten Roman, die postum erschienene Märkische Argonautenfahrt (Hbg. 1950). Unter dem myth. Bild der Gefährten der Argo, die auszogen, das Goldene Vlies zu gewinnen, führt die unter virtuosem Einsatz moderner Erzähltechniken gestaltete Romanhandlung an einem Sommertag des Jahres 1945 auf einer der südl. Ausfallstraßen des zerstörten Berlin sieben Menschen zusammen, die zu einer Pilgerfahrt nach dem Nonnenkloster Anastasiendorf in der Mark aufbrechen. Jeder von ihnen trägt Schuld, jeder auf zeitgeschichtlich repräsentative Weise, sodass die von L. verflochtenen Einzelgeschichten zur Geschichte der mentalen Voraussetzungen u. Folgen der NS-Diktatur, ihres Krieges u. ihrer Verbrechen werden. Die Ambitionen eines Zeitromans werden freilich von denen eines mariologisch-christolog. Mysterienromans überformt, der den Weg der Schuldbeladenen, nach Buße u. Vergebung Verlangenden in ein heilsgeschichtl. Bezugssystem stellt: Die Muttergottes, »selber ausgewählt durch den Ratschluß, der Schlange den Kopf zu zertreten, durchbrach das Gesetz ihrer Hieroglyphe: den Kreislauf der Sünde, die Folgen der Schuld und die magische Wiederkehr.« Dass L. in der dem Roman eingeschalteten Legende vom Sichelchen selbst einen Tod in Auschwitz gnadentheo-

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logisch als Opfertod im Zeichen der Erbarmung u. »Menschenfreundlichkeit Gottes« interpretiert, haben zumal jüd. Leser, unter ihnen L.s Tochter Cordelia, als anmaßenden, dem Grauen des Verwaltungsmassenmordes krass inadäquaten Sinnstiftungsversuch kritisiert. Es wäre indessen falsch, in L.s literar. Verarbeitung des eliminatorischen Antisemitismus nichts als den Willen zur Affirmation kath. Glaubenswahrheiten zu erkennen. In einigen Kurzgeschichten des Bandes Der Torso (Hbg. 1947), in dem L. die Erzählmuster der amerikan. Short Story auf souveräne Weise abwandelt u. fortbildet, kommt die Verstrickung der dt. Bevölkerung in die Judenverfolgung ohne theolog. Goldgrund, vielmehr so zur Darstellung, dass der Leser durch schockierende Wendungen mit den Versäumnissen u. Verfehlungen konfrontiert wird, die »ganz normale Deutsche« – strafrechtlich unbelangbar u. dennoch schuldig – im Vorfeld u. Umfeld des Holocaust auf sich luden. Die Pragmatik von Texten wie Untergetaucht oder Saisonbeginn, der zu Recht Schulbuchklassizität erlangte, ist die der Infragestellung entlastender Wirklichkeitsannahmen u. exkulpatorischer Selbstbeschreibungen. L., die seit 1948 in Rheinzabern lebte, wurde im März 1950 in die Mainzer Akademie für Sprache und Dichtung gewählt u. im Herbst desselben Jahres postum mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet. Dass ihr Werk, vielleicht das bedeutendste des deutschen literar. Katholizismus im 20. Jh., nach einer längeren Periode seiner literaturwiss. Marginalisierung wieder verstärkt Beachtung findet, ist zu begrüßen. Weitere Werke: Rettung am Rhein. Drei Schicksalsläufe. Salzb. 1938. – Der Laubmann u. die Rose. Ein Jahreskreis. Hbg. 1947. – Das Labyrinth. Fünf E.en. Hbg. 1949. – Das Christliche der christl. Dichtung. Vorträge u. Briefe. Freib. i. Br. 1961. – Saisonbeginn. E.en. Ausw. u. Nachw. v. Elisabeth Hoffmann u. Helmut Meyer. Stgt. 1981. Ausgaben: ... soviel berauschende Vergänglichkeit. Briefe 1926–50. Hbg. 1954. – Ges. Werke. 5 Bde., Hbg. 1959–64. – Briefe 1924–50. Hg. E. Hoffmann. 2 Bde., Düsseld. 1990.

227 Literatur: Eva Augsberger: E. L. Assoziative Reihung, Leitmotiv u. Symbol in ihren Prosawerken. Nürnb. 1962. – Anthony W. Riley: E. L. Bibliogr. u. Nachlaßber. Bln. 1970. – Johannes P. J. Maassen: Die Schrecken der Tiefe. Untersuchungen zu E. L.s Erzählungen. Leiden 1973. – Helmut Meyer: Die frühen Erzählungen E. L.s. Dichtung zwischen Mythos u. Logos. Diss. Köln 1973. – A. W. Riley: E. L.s Frühe Hörspiele (mit bisher unbekanntem biogr. Material). In: Lit. u. Rundfunk 1923–33. Hg. Gerhard May. Hildesh. 1975, S. 361–386. – Konstanze Fliedl: Zeitroman u. Heilsgesch. E. L.s ›Märkische Argonautenfahrt‹. Wien 1986. – Frederik Hetmann: Schlafe, meine Rose. Die Lebensgesch. der E. L. Weinheim 1987. 2 1999. – Georg Hensel: Der Lavendel der Langgässer. Mit 15 Uralt-Lavendel-Anzeigen der Firma Lohse, Berlin, aus den Jahren 1938–41. Darmst. 1988. – Karlheinz Müller (Hg.): E. L.-Colloquium. Darmst. 1990. – Susanne Evers: Allegorie u. Apologie. Die späte Lyrik E. L.s. Ffm. 1994. – Christoph Ammann: 50 Jahre L.-Rezeption (1945–95). Bern 1996. – Ursula El-Akramy: Wotans Rabe. Die Schriftstellerin E. L., ihre Tochter Cordelia u. die Feuer v. Auschwitz. Ffm. 1997. – E. L. 1899–1950. Bearb. v. Ute Doster. Marbach a. N. 1999 (=Marbacher Magazin 85). – E. L. Symposium. 3. u. 4.12.1999. Erbacher Hof, Mainz. Hg. v. der Stadtverwaltung Alzey, Kulturamt. o. J. – Carolin Mülverstedt: ›Denn das Thema der Dichtung ist immer der Mensch‹. Entindividualisierung u. Typologisierung im Romanwerk E. L.s. Würzb. 2000. – Carsten Dutt: E. L.s Modernitätsanspruch. In: Moderne u. Antimoderne. Der Renouveau catholique u. die dt. Lit. Hg. Wilhelm Kühlmann u. Roman Luckscheiter. Freib. i. Br. 2008, S. 475–488. – Ders.: E. L.s. Supranaturalismus. In: Surrealismus in Dtschld. Hg. Friederike Reents. Bln. 2009, S. 151–163. – Sonja Hilzinger: E. L. Eine Biogr. Bln. 2009. Carsten Dutt

Langhoff, Wolfgang, * 6.10.1901 Berlin, † 25.8.1966 Berlin/DDR; Grabstätte: Berlin, Dorotheenstädtischer Friedhof. – Erzähler, Regisseur, Schauspieler. L.s Erlebnisbericht Die Moorsoldaten, erschienen 1935 im Schweizer Spiegel Verlag, Zürich (Stgt. 1995 mit einem Vorw. v. Willi Dickhut), war als eines der ersten Zeugnisse über Konzentrationslager im NS-Deutschland ein Sensationserfolg. L., der Kindheit u. Jugend in Freiburg/Br. verbrachte, wurde zunächst Matrose, nach

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einer Schauspielausbildung war er als »jugendlicher Held« an Theatern u. a. in Königsberg, Wiesbaden u. Düsseldorf engagiert. Seit 1928 Mitgl. der KPD u. in der Arbeiterbewegung aktiv, wurde er, aus großbürgerl. Familie stammend, im Febr. 1933 verhaftet (Konzentrationslager Börgermoor bzw. Lichtenburg). 1934 entlassen, gelang ihm die Flucht in die Schweiz, wo er bis 1945 als Schauspieler u. Regisseur am Zürcher Schauspielhaus tätig war u. dort die illegale KPDGruppe leitete. 1943/44 Chefredakteur des Volksfrontorgans »Freies Deutschland« in der Schweiz, ging L. 1945 nach Deutschland zurück – zunächst als Intendant der Städtischen Bühnen Düsseldorf, ab 1946 als Leiter des Deutschen Theaters Ostberlin. Seine Inszenierungen, v. a. der dt. Klassiker, stehen im Zeichen des sozialist. Realismus u. der Stanislawski-Theorie (1953 Kontroverse um Brechts episches Theaterkonzept). 1963 wurde L. nach Auseinandersetzungen um Peter Hacks’ Die Sorgen und die Macht (das Stück sei »ideologisch schwach«) als Intendant abgelöst. Weitere Werke: Eine Fuhre Holz. Moskau 1937. Bln./DDR 1949 (E.). – Zehn Jahre Exil. In: Über die Grenzen, Nr. 10 (1945). – Die Bewegung Freies Dtschld. u. ihre Ziele. Ansprache. Zürich/ New York 1945. – Die Darstellung der Wahrheit auf der Bühne mit Hilfe der Stanislawski-Methode. In: Dt. Theater. Ber. über 10 Jahre. Bln./DDR 1957. Literatur: Edith Krull: W. L. Bln./DDR 1962. – Christoph Funke u. Dieter Kranz (Hg.): W. L., Schauspieler, Regisseur, Intendant. Bln./DDR 1969. – Werner Mittenzwei: Exil in der Schweiz. Lpz. 21981. – Michael Kuschnia (Hg.): 100 Jahre Dt. Theater. Bln./DDR 1986. – Roland Ulrich: Wirkungspotenzen der ›Faust‹-Inszenierungen W. L.s im Prozeß der Erbeaneignung um 1950. In: Studien zur frühen DDR-Lit. u. ihren Traditionen. Hg. v. der Univ. Greifsw. Greifsw. 1987, S. 62–70. – Christa Neubert-Herwig (Hg.): W. L. Schauspieler, Regisseur, Intendant. Bln. 1991. – Winrich Meiszies (Hg.): W. L. Theater für ein gutes Dtschld. Düsseldorf-Zürich-Berlin, 1901–66. Düsseld. 1992, S. 176–195. – Thomas Karlauf u. Katharina Raabe: Väter u. Söhne. Zwölf biogr. Porträts. Bln. 1996. Reinb. 1998 (zu W. L. u. Thomas Langhoff). – Armin Stolper: Noch ein roter Hunderter – W. L. Schkeuditz 2001. Birgit Baum / Red.

Langmann

Langmann, Adelheid, * um 1306 Nürnberg, † 22.11.1375 Dominikanerinnenkloster Engelthal. – Mystikerin. L. stammte aus einer Nürnberger Patrizierfamilie, aus welcher über Generationen hinweg Angehörige in das Kloster Engelthal eintraten. Möglicherweise bestand eine verwandtschaftl. Beziehung zu der Nürnberger Familie Ebner u. somit zu Christina Ebner, die als Mystikerin in Engelthal verehrt wurde. Als L. selbst etwa 13-jährig nach dem Tod ihres Verlobten dort den Schleier nahm, lebten bereits ihre Schwester Sophia u. zwei Nichten in der Gemeinschaft. Laut ihrer Vita hatte sie schon im ersten Jahr ihres Noviziats Visionen, die sie zunächst jedoch geheim hielt. Als sie nach Jahren erste Aufschriften ihrer Eingebungen einem Visitator zeigte, wurde sie offiziell zur Niederschrift ermutigt u. ab diesem Zeitpunkt innerhalb wie auch außerhalb des Klosters für ihre Visionen bekannt. Noch zu Lebzeiten wurde sie als Ratgeberin in Glaubensfragen sehr geschätzt, nach ihrem Tod entwickelte sich ein Gnadenkult in Engelthal. Die Offenbarungen sind in drei Handschriften überliefert, die eine Rezeption innerhalb des Dominikaner- u. Augustinerordens bezeugen. Im Zentrum des Textes, der sich als brautmyst. Gnadenvita charakterisieren lässt, steht die in immer neuen Stufen der Innigkeit vollzogene Begegnung der menschl. Seele mit Christus. Im ersten Teil der Vita wird zunächst von der sich allmählich vollziehenden »kêr« der jungen Schwester, der Aufgabe des Eigenwillens u. der bedingungslosen Hingabe in den Willen Gottes, berichtet. Mehrere Zyklen der Gnadenerfahrung, die, dem Lauf des Kirchenjahres folgend, um ein jeweils zentrales Thema gruppiert sind – etwa der Ehebund des Bräutigams Christus u. der Schwester zur Weihnachtszeit oder die Gnade des Heiligen Geistes, die ihr zur Pfingstzeit geschenkt wird –, werden durchzogen von Begebenheiten aus dem Alltag. Schließlich wird die Schwester im Zuge ihrer Auserwähltheit zur bevorzugten Fürsprecherin der Menschen vor Gott u. zur Mittlerin göttl. Gnaden, die ihren Ausdruck in der Versicherung der »Gnadenfrucht« findet: Gott erlöst

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ihr zuliebe viele tausend Seelen aus dem Fegefeuer. Im zweiten Teil der Offenbarungen rückt diese Mittlertätigkeit der Schwester in den Vordergrund, es werden zunehmend Begebenheiten geschildert, in welchen die Visionärin anderen Menschen aus seelischen Notlagen heraus zu neuer Glaubensstärke verhilft. Der Entstehungsprozess der Offenbarungen liegt, wie bei nahezu allen Texten der sog. »Frauenmystik«, im Dunkeln. Im Text wird ein »hoher lesmeister predier ordens« erwähnt, der L.s Bericht begutachtet u. sie zur Niederschrift ermutigt, u. es darf angenommen werden, dass zu ihren Lebzeiten eigenhändige oder diktierte Aufzeichnungen im Kloster entstanden sind. Vermutlich wurden diese nach dem Tod der Visionärin von einer Mitschwester durch mündl. Berichte ergänzt u. überarbeitet. Diese erste Vita wurde beim jeweiligen Abschreiben geringfügig modifiziert, sodass in den drei vorliegenden Handschriften leicht variierende Fassungen der Gnadenvita vorliegen, welche von Teilen der germanist. Forschung als »unterschiedliche Stufen der Textentwicklung« gedeutet werden, die in einen »Legendarisierungsprozeß« münden. Die Offenbarungen bilden einen wesentl. Bestandteil der spirituellen myst. Kultur Engelthals, u. ihre Überlieferung u. Rezeption steht in engem Zusammenhang mit der der Gnadenvita des Klosterkaplans Friedrich Sunder, der Vita der Schwester Gerdrut von Engelthal wie auch des Engelthaler Schwesternbuchs. Ausgaben: Die Offenbarungen der A. L. Hg. Philipp Strauch. Straßb. 1878. – Die Offenbarungen der Margaretha Ebner u. der A. L. In das Nhd. übertragen v. Josef Prestel. Weimar 1939, S. 111–183. Literatur: Gustav Voit: Gesch. des Klosters Engelthal. Diss. Erlangen 1958. – Siegfried Ringler: Viten- u. Offenbarungslit. in Frauenklöstern des MA. Mchn. 1980, S. 65–82. – Ders.: A. L. In: VL. – Ursula Peters: Religiöse Erfahrung als literar. Faktum. Tüb. 1988, S. 176–194. – Debra L. Stoudt: The Production and Preservation of Letters by Fourteenth-Century Dominican Nuns. In: Medieval Studies 53 (1991), S. 309–326. – Béatrice W. Acklin Zimmermann: Gott im Denken berühren. Die theolog. Implikationen der Nonnenviten. Freib./Schweiz 1993. – Leonard Hindsley: The Mystics of Engelthal. New York 1998, S. 49–64. –

229 Susanne Bürkle: Lit. im Kloster. Tüb./Basel 1999, S. 119–129 u. S. 275–281. – Johanna Thali: Beten – Lesen – Schreiben. Tüb./Basel 2003, S. 169–206. – Marie-Luise Ehrenschwendtner: Die Bildung der Dominikanerinnen in Süddtschld. vom 13.-15. Jh. Stgt. 2004, S. 238–273. – Barbara Bagorski u. Ludwig Brandl (Hg.): Zwölf Frauengestalten aus dem Bistum Eichstätt vom 8. bis zum 20. Jh. Regensb. 2008. – Caroline Emmelius: Zur Interaktion v. Innen- u. Außenraum in den Offenbarungen der A. L. In: Innenräume in der Lit. des dt. MA. Hg. Burkhard Hasebrink u. a. Bln./New York 2008, S. 309–326. Astrid Breith

Langmann, Philipp, * 6.2.1862 Brünn, † 22.5.1931 Wien. – Erzähler, Dramatiker.

Langner

sion der Stadt Wien. Sein dramat. Hauptwerk wurde von Mark Twain übersetzt. Weitere Werke: Arbeiterleben. Lpz. 1893 (E.). – Realistische Erzählungen. Lpz. 1895. – Ein junger Mann v. 1895 u. a. Erzählungen. Lpz. 1895. – Die vier Gewinner. Stgt. 1898 (D.). – Verlogene Rufe. Stgt. 1899 (E.). – Gertrud Antleß. Stgt. 1900 (D.). – Korporal Stöhr. Stgt. 1901 (D.). – Die Herzmarke. Stgt. 1902 (D.). – Leben u. Musik. Stgt. 1904 (R.). – Gerwins Liebestod. Stgt. 1903 (D.). – Anna v. Ridell. Bln. 1905 (D.). – Prinzessin v. Trapezunt. Mchn. 1909 (D.). – Erlebnisse eines Wanderers. Wien 1911 (N.n). – Statthalter v. Seeland. Wien 1911 (D.). – Der Akt Gerenus u. a. Novellen. Wien 1923. – Ein fremder Mensch u. a. Novellen. Wien 1923. Literatur: Gerhard Schulz: Einl. in: Prosa des Naturalismus. Hg. ders. Stgt. 1973, S. 29 f. – Renate Riedl: P. L. Leben u. Werk. Diss. Wien 1947. – Valerie Hanus: P. L. In: NDB. – Jirˇí Vesely´ : ›Es gibt nur eine Kunst, und diese ist realistisch!‹ P. L., der mähr. Gerhart Hauptmann? In: Germanistica Pragensia 9 (1984), S. 101–113. Joachim Linder / Red.

L. stammte aus einer Arbeiterfamilie, studierte an der TH Brünn Chemie, arbeitete nach 1885 als Chemiker zunächst an der Hochschule, dann in der Industrie. Ab 1891 war er Beamter bei der Arbeiter-Unfall-VerLangner, Ilse (Edith Helene), verh. Siebert, sicherungsgesellschaft in Brünn. Seine berufl. * 21.5.1899 Breslau, † 16.1.1987 DarmKenntnisse verwertend, schrieb er in dieser stadt; (Ehren-)Grabstätte: ebd., Alter Zeit Novellen, in denen er sich, nicht immer Friedhof. – Journalistin; Dramatikerin, erfolgreich, an Formen der Reportage u. an Erzählerin, Lyrikerin. neuen Schreibweisen (Sekundenstil) orientierte. Meist zuerst in Zeitschriften der na- L. veröffentlichte bereits mit 14 Jahren Lyrik, turalist. Bewegung (»Gesellschaft«, »Moder- später auch Prosa. Nach Abschluss des Realne Rundschau«) gedruckt, thematisieren sie gymnasiums arbeitete sie als Journalistin. die Fabrikwelt u. das Verhältnis von Kapital Vor der NS-Zeit erregte L. allerdings mehr u. Arbeit. Sein erstes Drama Bartel Turaser Aufmerksamkeit mit ihren Theaterstücken. (Lpz. 1897), an vielen dt. u. europ. Bühnen Ihr vom Naturalismus beeinflusstes Drama erfolgreich aufgeführt (Urauff. Bln. 1897), Frau Emma kämpft im Hinterland (Urauff. Bln. hat eine Streikaktion mähr. Fabrikarbeiter 1929), das erste Antikriegsstück einer zum Gegenstand. Im Mittelpunkt steht der Schriftstellerin, schildert das selbständige persönl. Konflikt des Titelhelden zwischen Leben u. die sich daraus entwickelnde der Solidarität mit den Streikenden u. den Emanzipation von Frauen während des ErsSchwierigkeiten, als Arbeiter eine Familie zu ten Weltkriegs. Eine »Penthesilesia«, also ernähren. Ab 1901 als freier Schriftsteller in eine schles. Amazone, »die sich net forcht«, Wien, widmete sich L. literar. Studien u. un- nannte Alfred Kerr die Autorin. Den größten ternahm Reisen durch Europa. Nach 1900 Erfolg hatte L. mit ihrem dem Expressioniswandte er sich in seinen Dramen auch histor. mus verhafteten Drama Die Heilige aus USA Stoffen u. der Kunstproblematik zu, wurde (Urauff. Bln. 1931), das den religiösen Kult aber jetzt als »Naturalist« abgelehnt u. um Mary Baker, die Gründerin der amerikan. konnte an seine frühen Erfolge nicht mehr Christian-Science-Bewegung, attackiert u. L. anknüpfen. Ab 1911 war er Mitarbeiter ver- eine Anklage wegen Gotteslästerung eintrug. schiedener Zeitschriften, fand aber keine Zu ihrem Lebensthema »Frau und Krieg« feste Anstellung mehr. Vor der schwersten kehrte L. in den während der NS-Zeit entNotlage bewahrte ihn eine kleine Ehrenpen- standenen Bearbeitungen antiker Dramen-

Langner

stoffe zurück, die allerdings wegen L.s pazifistischer u. humanist. Einstellung nicht aufgeführt wurden. So kam das Zeitstück Die große Zauberin (Bln. 1938), in dem eine Wissenschaftlerin am Sinn ihrer todbringenden Erfindung zweifelt, erst 1955 in einer veränderten Fassung u. d. T. Cornelia Kungström in Berlin auf die Bühne. Die vorwiegend negativ rezensierte Romantetralogie Himmel und Hölle des 20. Jahrhunderts (Hbg. 1956. 1960), die die Ereignisse der Weltkriege u. die Gefahren der Atomtechnik schildert, wurde nur teilweise veröffentlicht. Über ihre zahlreichen Auslandsaufenthalte berichtet L. in ihrer umfangreichen Reiseprosa. Weitere Werke: Katharina Henschke. Bln. 1930 (D.). – Das Gionsfest. Japan. Ffm. 1934 (N.). – Die purpurne Stadt. Ffm. 1937. 1992 (R.). – Iphigenie kehrt heim. Bln. 1948 (D.). – Sylphide u. der Polizist. Urauff. Oberhausen 1952 (D.). – Flucht ohne Ziel. Tgb.-R. Frühjahr 1945. Würzb. 1984. – Jugend in Schlesien. Texte der Erinnerung. Hg. Margarete Dierks. Würzb. 1989. – Von der Unverwüstlichkeit des Menschen. Dramenzyklus. Hg. Monika Melchert. Bln. 2002. Ausgabe: Dramen I, II. Hg. Eberhard Günter Schulz, mit einer ausführl. Bibliogr. v. Margarete Dierks. Würzb. 1983. 1989. Literatur: Ernst Johann (Hg.): I. L.: Mein Thema u. mein Echo. Darmst. 1979. – Wolfgang Weyrauch: Nachw. In: ›Frau Emma kämpft im Hinterland. Chronik in drei Akten‹. Darmst. 21979. – E. Israel: Nachw. In: Marie Luise Kaschnitz u. I. L.: Ein kgl. Kind. Geistl. Stücke u. Hörsp.e. Lpz. 1982, S. 210–219. – Inge Stephan: Weibl. Heroismus: Zu zwei Dramen v. I. L. In: Dies. u. a.: Frauenlit. ohne Tradition? Ffm. 1987, S. 159–189. – Anne Stürzer: Dramatikerinnen u. Zeitstücke. Ein vergessenes Kapitel der Theatergesch. v. der Weimarer Republik bis zur Nachkriegszeit. Stgt. u. Weimar 1993. – Catherine C. Marshall: Men and Women, Goddesses and Mortals. A Thematic Study of I. L.’s Mythological Dramas. Diss. Cincinnati 1995. – Helga Kraft: Ein Haus aus Sprache. Dramatikerinnen u. das andere Theater. Stgt. 1996. – Friederike Bettina M. Emonds: Gattung u. Geschlecht. Inszenierung des Weiblichen in Dramen deutschsprachiger Theaterschriftstellerinnen. Ann Arbor 1998 (zgl. Diss. Davis 1993). – Birgitta M. Schulte: Ich möchte die Welt hinreißen ... I. L. 1899–1987. Ein Porträt. Rüsselsheim 1999. – Monika Melchert: Die Dramatikerin I. L. ›Die Frau, die erst kommen wird ...‹.

230 Eine Monogr. Bln. 2002. 2., durchges. u. erg. Aufl. 2003. – Lynn Marie Kutch: The Eloquence of Silent Retreat. Paradox and Ambiguity in I. L.’s Mythological Plays from 1932–1977. Diss. New Brunswick 2006. – Edyta Falkowska: Der Atriden-Mythos: Intertextuelle Kommunikation v. Gerhart Hauptmann u. I. L.? In: Zwischen Verlust u. Fülle. Hg. Edward Bialek u. Detlef Haberland. Dresden 2006, S. 175–186. – John Warren: A Dramatist at ›Weimar’s End‹. Contrasted Heroines in Two Plays by I. L. In: Practicing Modernity. Hg. Christiane Schönfeld u. Carmel Finnan. Würzb. 2006, S. 311–323. – Agnieszka Sochal: ›Es ist grauenhaft, wohin uns die Wissenschaft führt‹. Zur Verantwortung der Wiss. für die Vernichtung der Welt durch moderne Waffen auf der Grundlage der Theaterstücke v. Maria Lazar, I. L. u. Hilde Rubinstein. In: Studia niemcoznawcze 37 (2008), S. 351–362. Bettina Mähler / Red. /

Langner, Maria, geb. Pollitzer, * 10.1. 1901 Berlin, † 10.9.1967 Berlin/DDR. – Erzählerin. L. wurde in der DDR v. a. durch ihren Produktionsroman Stahl (Bln./DDR 1952, Nationalpreis) bekannt, der den Aufbau des Stahlwerks Brandenburg 1950 auf dem demontierten Gelände eines ehemaligen Rüstungskonzerns schildert. In vielfältigen Handlungssträngen werden private (Liebesgeschichte, Familienkontroversen) u. betriebl. (Skepsis u. Enthusiasmus bei der Erfüllung des Zweijahresplans, Arbeitsunfall) Probleme verknüpft. – L., Tochter eines kaufmänn. Angestellten, erwarb durch Selbststudium die mittlere Reife u. verdingte sich nach ihrer 1934 aufgrund des arischen »Blutschutzgesetzes« geschiedenen Ehe (die drei Kinder blieben beim Vater) als Gelegenheitsarbeiterin. 1944 in ein Arbeitslager eingeliefert u. 1945 zu einer Zuchthausstrafe wegen »Beihilfe zur Fahnenflucht« verurteilt, wurde sie 1945 Mitgl. der KPD. 1948 erschien ihr Erlebnisbericht Die letzte Bastion (Bln./SBZ) über den NS-Terror in Breslau. L. schrieb auch polit. Liedtexte für den Rundfunk. Weitere Werke: Eine Tür wird aufgetan. Bln./ DDR 1949 (E.). – Das fröhl. Dorf. 1933 (Kantate). – Zum Karl-Marx-Jahr 1953 (Fernsehsp.). Literatur: Lutz-W. Wolff: L. In: NDB. Rita Seuß / Red.

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Lania, Leo, eigentl.: Lazar Herman, * 13.8. 1896 Char’kov, † 9.11.1961 München. – Journalist u. politischer Schriftsteller.

Lansburgh Dt. Exillit., Bd. II, S. 491–508. – Jürgen Doll: L. L., intermédiaire entre la gauche littéraire berlinoise et les intellectuels sociaux-démocrates viennois. In: Le texte et l’ideé 13 (1998), S. 249–268. – Eckart Früh (Hg.): L. L. [Wien] 1998. Peter König / Red.

Der Sohn eines jüd. Arztes ging in Wien zur Schule, war während des Ersten Weltkriegs Offizier in der österreichisch-ungarischen Lansburgh, Werner Neander, auch: FerArmee u. promovierte sich nach dem Krieg in dinand Brisson, Peter Struwel, * 29.6. Politikwissenschaft. Als wichtiger polit. Pu- 1912 Berlin, † 20.8.1990 Uppsala/ blizist, zunächst Mitarbeiter der »Roten Schweden. – Erzähler. Fahne«, später u. a. der »Weltbühne«, bekämpfte L. schon früh den Nationalsozialis- Nach dem Abitur studierte L. Jura in Berlin. mus. Charakteristisch für ihn waren Repor- Aufgrund seiner jüd. Abstammung musste er tagen, in denen Aktuelles durch Einführung im Febr. 1933 in die Schweiz emigrieren. Die fiktiver Dialoge u. Handlungen spannend Erfahrungen seiner weiteren Exiljahre wähaufbereitet wurde. Einen Skandal provozierte rend des Bürgerkriegs in Spanien u. ab 1939 sein Buch über groß angelegte Waffenschie- in Schweden thematisierte er in seinem ersten Roman Blod och bläck (Blut und Tinte. Uppsala bereien der Rechten, Gewehre auf Reisen (Wien 1943). Nach dem Krieg blieb L. als Autor in 1924. Mchn. 2002). Das Buch machte die Deutschland lange Zeit unbeachtet, sodass Namen u. Adressen von 50 Waffenhändlern zahlreiche Rückkehrversuche an fehlenden publik u. führte zur Verhaftung L.s wegen Arbeits- u. Publikationsmöglichkeiten scheides Verdachts des Landesverrats. Daraufhin terten. Daher blieb er in Schweden u. arbeiverabschiedete der Reichstag eine »Lex Latete dort als Korrektor, Verlagsangestellter u. nia«, die die Berufsgeheimnisse der JournaMitarbeiter der engl. u. amerikan. Gesandtlisten schützen sollte. Auch in Gruben, Gräber, schaft. Thema seiner kurzen Erzählungen aus Dividenden (Bln. 1925) u. in Indeta, die Fabrik den Jahren 1933–1980, die in Strandgut Europa der Nachrichten (Bln. 1927) griff L. brisante (Köln 1982. Ffm. 1988) gesammelt veröfThemen auf (Ludendorffs Politik der ver- fentlicht wurden, ist die problemat. Situation brannten Erde u. die unkontrollierte Macht im Exil, das auch nach dem Krieg für L. nicht der Nachrichtendienste). Als Dramen- u. endete. Erst der große Erfolg seiner humorDrehbuchautor sowie als Filmregisseur ar- vollen Kombination von Liebesroman u. beitete er u. a. mit Reinhardt, Piscator, Brecht engl.-dt. Lehrbuch, Dear Doosie (Mchn. 1977. u. Kortner zusammen. Unter dem Eindruck Ffm. 1995), ermöglichte ihm die Rückkehr der drohenden Machtergreifung der Natio- nach Deutschland. Bis zu seinem Tod lebte L. nalsozialisten zog L. 1932 nach Wien u. 1933 zeitweise in Hamburg, zeitweise in Uppsala. nach Paris. 1939 entging er der Auslieferung Weitere Werke: En vintersaga. (Ein Winteran die dt. Besatzungsmacht nur knapp. Im märchen). Stockholm 1944 (R.). – ›J‹. Eine europ. amerikan. Exil schrieb L. neben Romanen die Vergnügungsreise. Ahrensburg 1968 (R.). – Schloß für die ersten Jahrzehnte dieses Jahrhunderts Buchenwald. Ahrensburg 1972 (R.). – Wiedersehen bes. aufschlussreiche Autobiografie Today We mit Doosie. Mchn. 1980. Ffm. 1994. – Exil. Ein Are Brothers (Boston 1942. Dt.: Welt im Um- Briefw. mit Frank W. Matthies. Köln. 1983. – Holidays for Doosie. Hbg. 1988. Mchn. 1999. – Feuer bruch. Ffm. 1954). Weitere Werke: Die Totengräber Dtschld.s. Das Urteil im Hitlerprozeß. Bln. 1924 (Ess.). – Land of Promise. London 1934 (R.). – The Foreign Minister. 1956. Dt.: Der Außenminister. Mchn. 1960 (R.). – M(artin) B(renner) oder die ungehörte Melodie. Winterthur 1958 (R.). Literatur: Kurt Tucholsky: Gewehre auf Reisen. In: Die Weltbühne 42 (1924). – Bruno Frei: Der Papiersäbel. Ffm. 1972. – Heinrich Hackel: L. L. In:

kann man nicht verbrennen. Erinnerungen eines Berliners. Ffm./Bln. 1990.

Literatur: Helge Maria Heinze: ›Strandgut Europa‹. In: FH 37 (1982), H. 12, S. 71 ff. Mechthild Hellmig / Red.

Lansius

Lansius, Lans, Lanß, Lantz, Thomas, * 16.2. 1577 Perg/Österreich, † 22.12.1657 Tübingen. – Jurist, Politiker, Erzieher, Redner.

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tern bei Zeiten u. in Ruhe über das, was im Krisenfall Sicherheit u. Frieden gewährt. Weitere Werke: Discursus de lege regia. David Magirus (Praes.), T. L. (Resp.). Tüb. 1602. (Promotionsschrift) – De utilitate et iucunditate historiarum oratio. Tüb. 1606. – Orationes aliquot. Tüb. 1616. – Mantissa consultationum et orationum. Tüb. 1656.

Der Sohn eines protestant. Tuchscherers u. Schüler des Georg Calaminus studierte ab 1594 in Tübingen u. Marburg, durchreiste Westeuropa u. wurde 1604 in Tübingen zum Literatur: Bibliografie: VD 17. – Weitere Titel: Dr. iur. promoviert. Ab 1606 trug er als Pro- Johann Friedrich Juglers [...] Beyträge zur jurist. fessor für Beredsamkeit, Geschichte u. Recht Biogr. [...]. Des dritten Bandes erstes Stück. Lpz. am Tübinger Collegium illustre viel zum Ruf 1777, S. 72–82. – Albert Teichmann: T. L. In: ADB. dieser Adelsakademie bei. Europaweit wurde – Waldemar Zacharasiewicz: Johannes Kepler, er als Korrespondent, Berater u. Freund ge- James Howell u. T. L. Der Wettstreit der europ. Nationen als literar. Thema im 17. Jh. In: Johannes schätzt, insbes. von Gruter, Kepler, Besold, Kepler. [...] Gedenkschrift der Univ. Graz. Hg. vom Gassendi, Schickard u. dem Württemberger Akadem. Senat. Graz 1975, S. 683–725. – Wilhelm Herzogshaus (vgl. Johannes Kepler: Gesam- Kühlmann: Gelehrtenrepublik u. Fürstenstaat. melte Werke. Bd. XVIII. Briefe 1620–1630. Hg. Tüb. 1982, S. 358–362. – Franz Lebsanft: SprachMax Caspar. Mchn. 1959, Nr. 913, 949, 988. anekdoten in der Tübinger ›Consultatio de princiWilhelm Schickard: Briefwechsel. Hg. Fried- patu inter provincias Europae‹ des T. L. [...]. In: rich Seck. 2 Bde., Stgt.-Bad Cannstatt 2002, Lingua et Traditio. FS Hans Helmut Christmann. Nr. 147, 151, 645, 648, 682). Literarisch Hg. Richard Baum u. a. Tüb. 1994, S. 207–216. – machte sich L. mit der Veröffentlichung von Péter Lokös u. Gábor Tüskés: Vorw. In: Obsidio Agriae anno 1552. Texte zur Rezeption eines unBeratungs- u. Festreden einen Namen. Das gar. Geschichtsstoffes. Hg. dies. Eger 2008, S. 6–21. Gesamtwerk (mehr als 30 Titel) ist noch unReinhard Gruhl erschlossen. Beachtung in der Forschung haben die Consultatio de praerogativae certamine, quod est inter milites et literatos (Tüb. 1607) u. Lanz von Liebenfels, Jörg, eigentl.: Josef die Consultatio de principatu inter provincias Eu- Adolf Lanz, * 19.7.1874 Wien, † 22.4.1954 ropae (Tüb. 1613) gefunden. L. hat diese Re- Wien. – Rassenideologe, Publizist. deübungen am Collegium illustre organi- 1899 verließ L. – den adligen Stammbaum siert, überarbeitet u. publiziert. Nicht mo- hatte der Lehrersohn selbst entworfen – sein derne Redeformen absolutistischer Kabi- Zisterzienserstift, um durch die Gründung nettspolitik (Kompliment, Votum, Befehl) eines »aufgenordeten« Neutemplerordens werden dabei geübt, sondern das diskursiv- (angebl. Mitgl. auch Strindberg) seinem Sendialekt. genus deliberativum. L. integriert es dungsbewusstsein gemäßeren Ausdruck zu in die Adelserziehung, indem er die Studen- geben. Ausgeburt dessen ist die Theozoologie ten in einem Thronrat aktuelle polit. Reiz- (Wien u. a. 1904), eine Kreuzung darwinistithemen erörtern lässt u. moderne exempla scher Zuchtwahlgedanken mit Geheimwissen (oft fällt der Blick auf die Türken) die Argu- u. Bibelexegese eigener Faktur: Ziel der promentation nicht weniger prägen als antike. pagierten Entmischung von den »SodomsMan spürt so nichts von einer Entwertung des Äfflingen« entsprossenen »Tschandalenrasgenus im Zuge der »Isolierung der huma- sen« (= Juden, Slawen u. Mediterrane) sei die nistisch-lateinischen Rhetoriktheorie von der Rückkehr zum »Götter-Elektron« der Blaupolitischen, sozialen Realität des 17. Jahr- Blonden. Adepten fand L.’ Gebräu aus Antihunderts« (Wilfried Barner: Barockrhetorik. semitismus, -feminismus u. Ariomantik auch Tüb. 1970, S. 154, vgl. 379). Vielmehr findet mit »Ostara« (Titel entlehnt von Guido List), sich sogar eine programmat. Verknüpfung der »Briefbücherei der Blonden und Manmit dem Herrscherideal am Beginn der Con- nesrechtler« (Mödling 1905–18), u. anderen sultatio de principis erga religionem cura (Tüb. geistigen Wegzehrungen, nach Kriegszu1607): Der kluge Fürst disputiere mit Bera- sammenbruch mit Zug ins Exklusive (u. Ra-

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dikale). Hitler, in seiner Prägephase auf L. eingeschworen, erteilte Schreibverbot. Literatur: Wilfried Daim: Der Mann, der Hitler die Ideen gab. Mchn. 1958. Wiesb. 2000. – Alois Eder: Zur Mutterlauge kristallhafter Vorgänge. Herzmanovsky, Torberg u. L. L. In: das pult 55 (1980), S. 55–81. – Günter Wackwitz: Das Werk Guido v. Lists u. J. L.’ v. L. In: Traditionen u. Traditionssuche im dt. Faschismus. Hg. Günter Hartung. Halle 1987, S. 138–148. – Peter Horwath: ›Wer Karl Kraus je gesehen hat ...‹. Kraus im Lichte der L. v. L.’schen Arioheroik. In: LuK (1990), S. 461–479. – Ekkehard Hieronimus: L. v. L. Eine Bibliogr. Toppenstedt 1991. – Ders.: J. L. v. L. In: Hdb. zur ›Völkischen Bewegung‹. Hg. Uwe Puschner u. a. Mchn. u. a. 1996, S. 131–146. – Heinz Schöny: L. v. L. In: Adler. Ztschr. für Genealogie u. Heraldik (1997), Bd. 19, H. 3, S. 90–93. – Walther Paape: Drum haben wir ein Tempelhaus gegründet. Der Neutemplerorden (Ordo Novi Templi, ONT) des L. v. L. u. sein Erzpriorat Staufen in Dietfurt bei Sigmaringen. Meßkirch 2007. 22008. Arno Matschiner / Red.

de Lapide, Johannes Heynlin ! Heynlin, Johannes de Lapide Lappe, Karl Gottlieb, * 24.4.1773 Wusterhusen bei Greifswald/Schwedisch-Pommern, † 28.10.1843 Stralsund; Grabstätte um 1960 eingeebnet. – Lyriker, Verfasser pädagogischer u. moralischer Schriften, Übersetzer; Pädagoge. Der von Aufklärung, Orthodoxie u. Pietismus beeinflusste Sohn eines Pfarrers mit pommersch-rügenschen Vorfahren wirkte nach Schulausbildung (Wolgast 1786–1789) u. Studium der Theologie, Philologie u. Philosophie (Greifswald 1789–1793) als Hauslehrer im »ausländischen« Mecklenburg u. später bei seinem vormaligen Lehrer Ludwig Gotthard Kosegarten (Altenkirchen/Rügen 1793–1801). In Deutschland wurde er früh durch Veröffentlichung einzelner Gedichte bekannt, z.B. in den Göttinger »Musenalmanachen« von 1793 bis 1799 u. in Schillers »Musen Almanach für das Jahr 1796«. Sein erster Lyrikband Gedichte erschien 1801 in Düsseldorf. Vor allem als Direktor des Gymnasiums Stralsund (1801–1817) realisierte L. sein von Aufklärung u. Philanthropismus geprägtes Erziehungskonzept – auch durch

viel beachtete Bücher: Poetisches Magazin für Gedächtnißübungen und Declamation in Schulen (Stralsund 1809/10) u. Pommerbuch. Oder Vaterländisches Lesebuch für die Provinz Pommern (Stralsund 1820). Aus gesundheitl. Gründen gab er 1817 die sichere Anstellung auf u. lebte bis 1842 als Privatgelehrter u. Schriftsteller in seiner legendären »Hütte in Pütte«, einem kleinen Dorf bei Stralsund. Dort zelebrierte er im Alltag u. in seiner oft idyllenähnl. Lyrik das Landleben, waren doch sein Leben u. Schaffen von Gottesglaube, Zuversicht u. Eudämonismus einerseits, Resignation u. Hang zur Einsamkeit andererseits bestimmt. In der Stille erweiterte er sein lyr. Werk, schuf Übersetzungen aus dem Schwedischen u. bearbeitete Bücher für die Jugend (z.B. Froschmäuseler nach Rollenhagen, Die Insel Felsenburg, Gulliver). Insg. legte er 23 Bücher vor. L., der dt. u. nordeurop. Literatur verschiedener Epochen u. Strömungen intensiv aufgenommen hatte, verband seine realistisch-deskriptive Beobachtungs- u. Darstellungsweise zumeist mit einem aufklärerischen u. freundl. didaktisch-moralischen Impetus. In der religiösen Lyrik wurde sein zunächst strenges Gottesbild später abgelöst durch nachdenklich-nachsichtige Positionen. Seine Rügen- u. Hiddensee-Lyrik weist ihn als einen der frühen Sänger norddeutscher Landschaft u. des Meeres aus. Mit seiner Mitgabe nach Rügen. Den Reisenden zur Begleitung und Erinnerung (Stralsund 1818) gab er ein Reisebuch mit eigenen u. fremden Texten heraus. Der durch historische u. literar. Gesellschaften geehrte u. 1830 zum Ehrendoktor der Greifswalder Universität ernannte L. wurde von gebildeten u. – im Norden auch – von einfachen Schichten gelesen. Sein zeitgeschichtlich u. regional durchaus wichtiges, ästhetisch jedoch begrenztes Werk erfuhr von der Kritik manches Lob, ebenso aber Ablehnung. Goethe nannte seine Gedichte in Anlehnung an den Namen gar »läppisch«. Schubert u. Beethoven vertonten einige seiner Texte. Noch 1930 bezeichnete ihn Wilhelm Kosch als den bedeutendsten pommerschen Lyriker.

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Weitere Werke: Glaube, Hoffnung, Liebe, Freude. Zu einem Kranze für das Leben gewunden. Lpz. 1810. – Gedichte. Zweyte Ausw. Stralsund 1811. – Kampfgedichte aus dem Feldzuge v. 1813. Stralsund 1814. – Blätter. 1. H., Stralsund 1824; 2. u. 3. H., Bln. 1829. – Sämmtl. poet. Werke. Ausg. letzter Hand. Rostock 1836 u. 1840. – Blüthen des Alters. Stralsund 1841. Literatur: Otto Stelter: K. L.s Leben u. Dichten. Ein Beitr. zur Pommerschen Geistesgesch. Diss. Stettin 1926. – Wolfgang Klötzer: Ausgew. Probleme zu den Literaturverhältnissen in Stralsund zur Zeit der Epochenwende um 1800. Diss. Neubrandenburg 1990, S. 79–109. – Ders.: Zum Leben u. Wirken des Stralsunder Gymnasiallehrers Dr. K. L. (1773–1843). In: Zur Literaturkommunikation am Ausgang des 18. Jh. Neubrandenburg 1992. S. 42–64. – Regina Hartmann: Literar. Leben in Schwedisch-Pommern im 18. Jh. Aachen 1997, S. 175–183, 219 f. – Gunnar Müller-Waldeck (Hg.): Pegasus am Ostseestrand. Rostock 1999, S. 59–61. – Herbert Ewe: Bedeutende Persönlichkeiten Vorpommerns. Weimar 2001, S. 77–81. – Gert Schubert u. Uli Wunderlich: Die Insel Felsenburg v. K. L. (1773–1843). In: Jb. der Johann-GottfriedSchnabel-Gesellsch. 2004/2005, S. 9–33 (Nachdr.: Die Insel Felsenburg [1820], S. 35–66). Karl-Ewald Tietz

Lappert, Rolf, * 21.12.1958 Zürich. – Lyriker, Drehbuch- u. Prosa-Autor. Nach der Ausbildung zum Grafiker in einer Werbeagentur in Aarau (Schweiz) begann L. Anfang der 1980er Jahre als freier Schriftsteller zu arbeiten. Das ihn letztlich langjährig fördernde Aargauer Kuratorium für kulturelles Leben zeichnete 1981 sein im darauffolgenden Jahr erscheinendes Erstlingswerk Folgende Tage (Basel) aus. Wie dieser Roman u. auch das lyr. Frühwerk L.s (Die Erotik der Hotelzimmer. Basel 1982. Im Blickfeld des Schwimmers. Basel 1986) ist die 1984 publizierte Erzählung Passer (Basel) von einem szen. Realismus des Außen geprägt, einer Beobachterperspektive, mit welcher der Autor lakonisch-distanziert gesellschaftliche Grenzgänger seiner Generation in poet. Sachlichkeit darstellt. In den beiden Lyrikbänden ist das abstrakte Kontrastieren von Licht u. Dunkelheit, Wärme u. Kälte, Tag u. Nacht zu einer atmosphärischen – nicht selten krit. – Schilderung der städt. Lebenswelt

zentral. Die beiden frühen Romane kreisen v. a. um die Problematik des Ausdrucks. Durch die konsequente Auslassung der erzählerischen Innensicht reflektiert L. formal Schwierigkeiten der künstlerischen Transformation innerer Zustände in konkrete Artefakte. Auch die (Jazz-)Musik, die in allen Texten des Autors eine Rolle spielt, trägt als konstitutives Element zum Verständnis des Werkes bei. 1987 gründete L. einen Jazzklub in Aarburg. Er unternimmt immer wieder Reisen auf verschiedene Kontinente. In den 1990er Jahren erschienen die ersten beiden Amerika-Romane Der Himmel der perfekten Poeten (Zürich u. a. 1994) u. Die Gesänge der Verlierer (Zürich u. a. 1995; neu durchgesehen Mchn. 2009); für letzteren erhielt er den Preis der Schweizerischen Schillerstiftung. Handlungsbestimmend für die Poeten ist erneut die Ausdrucksproblematik der frühen Werkphase, wenngleich hier der literar. Produktionsprozess u. die Bedingtheit des Textes durch das Leben seines Verfassers anhand der Geschichte gescheiterter Schriftsteller in einem Literatur-Motel in Arizona differenzierter verhandelt wird. In den Gesängen verebbt der bis dahin starke Einfluss der US-amerikan. Beat-Autoren zugunsten einer elaborierteren Darstellung des Topos der Suche: Tyler, der Manager einer Londoner Musikband, reist ziellos durch die amerikan. Südstaaten u. wird zum Geschichtensammler anderer Suchender. Das Unvollendete des Ichs als Motor der sowohl phys. als auch psych. Bewegung in Form der Reise u. Selbstwerdung bildet ebenso den Stoff für L.s 2008 erschienenen Roman Nach Hause schwimmen (Mchn.). Dieser moderne Entwicklungsroman erzählt in zwei komplex alternierenden Erzählsträngen die Geschichte der Jugend Wilburs, eines notorischen u. suizidalen Verlierers, der mit der Überwindung seiner Angst vor Wasser endlich auch seine Angst vor dem Leben bezwingt. Die ständige Bewegung, die allen Figuren L.s eigen ist, wie auch die unzähligen Hotelzimmer, in denen sie Erfahrungen am Rand des gesellschaftlich Legitimierten machen, kennt der Autor selbst. Er nomadisierte, lebte in Frankreich, Amerika, Deutschland u. bereiste u. a. Asien u. Amerika. 2000 ließ er

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sich im County Kerry (Irland) nieder. Zwischen 1996 u. 2004 arbeitete er als Drehbuchautor für das Schweizer Fernsehen (Sitcom Mannezimmer). 2008 stand er auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises u. wurde im selben Jahr mit dem erstmals verliehenen Schweizer Buchpreis ausgezeichnet. Marcus Willand

Larese, Dino, * 26.8.1914 Candide di Cadore (Venetien), Italien, † 18.6.2001 Amriswil/Kt. Thurgau. – Biograf, Erzähler, Essayist.

Im Werk des Schriftstellers L. haben der autobiogr. Bericht (Der Scherenschleifer. Frauenfeld 1981 u. ö. Noch blühen die Rosen. Frauenfeld 1986. In jenen Zeiten. Frauenfeld 1987. Wo liegt Amriswil? Frauenfeld 1991) u. die biogr. Vergegenwärtigung bedeutender Persönlichkeiten (über 100 Broschüren mit Lebensskizzen u. Bibliografien) einen auffallenden Platz. Dazu treten selbst erfundene oder nacherzählte Märchen u. Sagen sowie viele Jugendschriften. L. wurde selber vielfach geehrt, u. a. mit der Anerkennungsgabe des Kantons Thurgau (1970), dem Ehrenbürgerrecht von Amriswil (1973), dem Oberrheinischen Kulturpreis der Goethe-Stiftung (1985), dem Verdienstkreuz 1. Klasse des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland (1988) u. der Verleihung des Dr. h. c. der Pädagogischen Hochschule Weingarten (1995). Das umfangreiche, bedeutende Archiv von L. gehört der 1995 gegründeten Dino LareseStiftung Amriswil u. ist im Staatsarchiv des Kantons Thurgau, Frauenfeld, zugänglich (Bestand D).

L. wuchs als Sohn des kantonsweit bekannten Messerschmieds u. -schleifers Franscesco Larese im thurgauischen Textilindustrieort Amriswil auf. Nach den Volksschulen ließ er sich von 1930 bis 1934 in Kreuzlingen zum Primarlehrer ausbilden. Von 1936 bis 1980 unterrichtete er auf der Grundschulstufe in Amriswil. Daneben entfaltete er ab 1937 eine ausgedehnte kulturfördernde u. kulturschaffende Tätigkeit: als Programmleiter der Ostschweizerischen Radiogesellschaft von 1949 bis 1962, v. a. aber als Gründer u. Leiter des Literatur: Festschriften ›Dino Larese‹ zum 50. Vereins für Literatur, Musik und Bildende (1964), 60. (1974), 70. (1984) u. 80. Geburtstag Kunst, nachmals Akademie Amriswil, einer (1994) (je mit Bibliogr.n). – Urs Lengwiler (Hg.): Stätte der Begegnung. Die Akademie Amris- Wenn Sie niemandem etwas sagen v. den 300 wil veranstaltete Vorträge, Lesungen, Ta- Franken ...: europ. Kultur in Amriswil. Amriswil gungen sowie Ehrungen von international 1999. André Salathé bekannten Wissenschaftlern u. Künstlern wie Ludwig Binswanger, Carl Jacob Burckhardt, La Roche, (Maria) Sophie (seit 1775: von), HAP Grieshaber, Martin Heidegger, Ernst u. geb. Gutermann, * 6.12.1730 Kaufbeuren, Friedrich Georg Jünger, Thomas Mann, † 18.2.1807 Offenbach; Grabstein-FaksiAlexander Mitscherlich, Carl Orff, Manès mile: ebd., an der Bürgeler Kirche St. Sperber, Carl Zuckmayer u. v. a., oft unter Pankratius. Original unter den Arkaden Teilnahme von bedeutenden Politikern wie des Offenbacher Schlosses. – Erzählerin u. Theodor Heuss, Franz Jonas oder dem Dalai Reiseschriftstellerin. Lama. Zudem leitete L. den Internationalen Bodenseeclub, den Kulturkreis Bodensee so- L. wurde als das älteste Kind des Arztes Georg wie viele weitere kulturelle Vereinigungen. Friedrich Gutermann (1705–1784) u. seiner Damit u. als Herausgeber der »Amriswiler Frau Regina Barbara (1711–1748) geboren. Schreibmappe«, des »Thurgauer Jahrbuchs«, Der Vater praktizierte in Kaufbeuren, Kempder »Internationalen Bodensee-Zeitschrift« ten u. Lindau, bevor er als Dekan des medisowie des Akademie-Bulletins »Begegnung« zin. Kollegiums 1740 nach Augsburg berufen leistete er, auch dank der tatkräftigen Un- wurde. Hier verbrachte L. den größten Teil terstützung seiner Frau Helen Larese-Schlä- ihrer Kindheit u. Jugend. Die pietistisch pfer, einen unschätzbaren Beitrag zur För- strenge Erziehung konnte L.s Begabung nicht derung des lokalen, regionalen u. internat. gerecht werden. Gelehrsamkeit war als Beruf Kulturschaffens. für Mädchen kaum vorstellbar. Daran ver-

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mochte auch ihr erster Verlobter Gian Lodovico Bianconi, kath. Kollege ihres Vaters, Leibarzt des Fürstbischofs von Augsburg, Uomo universale u. Hofmann, nichts zu ändern, der, aus Bologna gebürtig, dort das Vorbild der 1732 promovierten u. hochgebildeten Professorin für Experimentalphysik Laura Bassi (1711–1778) vor Augen hatte. Infolge konfessioneller Auseinandersetzungen mit dem kath. Verlobten wurde L. von ihrem Vater gezwungen, die Verlobung zu lösen. Sie wurde nach Biberach geschickt, wo sie bei der verwandten Familie Wieland Aufnahme fand. L.s Begegnung mit dem 17-jährigen Sohn des Hauses, Christoph Martin Wieland, führte zu einer schwärmerischen Liebe u. im Sommer 1750 zu beider Verlobung. Später bekannte ihr Wieland, den sie 1799 in Oßmannstedt besucht hatte, im Brief vom 20.12.1805: »Nichts ist wol gewisser, als daß ich, wofern uns das Schicksal nicht im Jahre 1750 zusammengebracht hätte, kein Dichter geworden wäre.« Und L. urteilte 1783 in ihrer Zeitschrift »Pomona«: »In Wieland, meinem Verwandten, sah ich schöne Wissenschaft« (H. 5, S. 428). Erst in einem erschütternden Brief vom 23.7.1806 deckte sie Wieland die Hintergründe ihrer seitens der Eltern unterdrückten Verbindung auf u. unterschrieb mit ihrem Mädchennamen (vgl. Wielands Briefwechsel, der seit 2004 vollständig vorliegt). Am 27.12.1753 vermählte sich Sophie mit dem Verwaltungsfachmann Georg Michael Frank La Roche. Dieser war kath., kurmainzischer Rat u. Privatsekretär bei Friedrich Graf von Stadion, vermutlich auch dessen natürl. Sohn. Bis zu Stadions Entlassung 1762 lebten die La Roches v. a. am kurfürstl. Hof zu Mainz, danach auf Stadions Gütern in Bönnigheim u. Warthausen, einem Musenhof, wo sich L. u. Wieland wiederbegegneten. L.s Mann machte Karriere, wurde aber seiner Kirchenkritik wegen, als der Trierer Kurfürst seinen Kurs änderte, 1780 als dessen Kanzler gestürzt. Damit fand der elegante Kreis der La Roches in Ehrenbreitstein – u. a. mit Basedow, Heinse, den Brüdern Jacobi, Lavater, Leuchsenring, Merck –, dessen Goethe in Aus meinem Leben (13. Buch) gedenkt, ein jähes Ende. Die La Roches wurden von dem be-

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freundeten Domherrn Christoph von Hohenfeld in Speyer aufgenommen. 1786 siedelte die Familie nach Offenbach über, wo La Roche ein Haus gekauft hatte, das L. bis an ihr Lebensende bewohnte. Neben dem adeligen Leben bei Hofe führte L. ein bürgerl. Familienleben. Durch ihre Tochter Maximiliane, die spätere Brentano, wurde sie die Großmutter der Romantiker Clemens Brentano u. Bettine von Arnim, die sich ihrer in Die Günderode (1840) erinnert. Weder L.s familiäres Glück noch ihr Wohlstand waren von Dauer. Ihr Lieblingssohn Franz starb 23-jährig 1791, Maximiliane 1793. Als auch deren Mann 1797 starb, verwaisten die acht unmündigen Enkel Brentanos, von denen L. drei Mädchen in ihr Haus aufnahm. Infolge der frz. Besetzung des linken Rheinufers 1794 entfiel der Rheinzoll von Boppard, der ihre Witwenversorgung hätte sein sollen. Da wurde es bitter nötig, dass sie, neben ihren Aufgaben als Hausfrau, Gattin, Mutter u. Hofdame, ihre bereits beträchtl. Schriftstellerinnenlaufbahn fortsetzte. Gleichwohl war ihr zuweilen zumute, als müsste sie »das Tintenfaß und die Feder, welche mir zum Bücherschreiben diente, zu dem Fenster« hinauswerfen (11.6.1794 an Elise zu Solms-Laubach). Ihr umfängliches, ausschließlich in Prosa vorgelegtes Werk ist das einer geschätzten u. erfolgreichen Autorin. Ihr erklärtes Ziel ist es, »Teutschlands Töchtern« mütterl. Rat zu erteilen. Das besagen die Titel der von ihr selbst herausgegebenen Zeitschrift »Pomona. Für Teutschlands Töchter« (2 Jahrgänge, je 12 Hefte, Speyer 1783/84. Neudr. Mchn. 1987) sowie der Briefe an Lina. Mütterlicher Rath für junge Mädchen (Speyer 1785 u. ö.) u. Briefe an Lina als Mutter. Ein Buch für junge Frauenzimmer, die ihr Herz und ihren Verstand bilden wollen (Bde. 2 u. 3, Lpz. 1795 u. 1797). Die an Töchter des dritten Standes gerichtete Zeitschrift gilt als die erste von einer Frau herausgegebene Zeitschrift. Berühmt indessen wurde L. als 40-Jährige gleich mit ihrem ersten Roman, der an Rousseau u. Richardson orientierten Geschichte des Fräuleins von Sternheim (2 Tle., Lpz. 1771. Mehrere Neuausg.n. Noch 1771 zwei weitere Ausg.n. Frz. u. holländ. 1774. Engl. 1775 u. 1776). Den anony-

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men Briefroman hat Wieland herausgegeben, wie ihr letztes Werk, die Autobiografie Melusinens Sommer-Abende (Halle 1806). Wieland war ihr bei ihrer Herausbildung als Schriftstellerin behilflich, Goethe beim Abfassen von Rosaliens Briefen an ihre Freundin Mariane von St** (3 Bde., Altenburg 1779–81. Nachdr. 1797). Untertitel wie »von der Verfasserin der Sternheim« sorgten für die Kontinuität ihres weibl. Erziehungsprogramms u. belegen die wirkl. Bekanntheit der L. Ihr Erscheinen auf dem Parnass war von Lenz begeistert gefeiert worden. 1784, als die Kinder aus dem Hause waren, erfüllte sich für L. ihr Wunsch zu reisen; sie fuhr in die europ. Nachbarländer u. publizierte darüber umfängl. Tagebücher: Tagebuch einer Reise durch die Schweitz (Altenburg 1787), Journal einer Reise durch Frankreich (Altenburg 1787), Tagebuch einer Reise durch Holland und England (Offenbach 1788), Erinnerungen aus meiner dritten Schweizerreise (Offenbach 1793). L.s vorrangige Gestaltungsmittel blieben der literar. Brief u. die moral. Erzählung. Schreiben war ihr ein »Bedürfnis der Seele«, wie sie im Vorwort zur Sternheim sagt. Inmitten ihrer vielfältigen Aufgaben schuf sie sich damit ein Betätigungsfeld, das es ihr erlaubte, an den »papierenen Mädchen« ihrer Heldinnen Exempel von Normen- u. Rollenkonflikten zu statuieren (vgl. Briefe über Mannheim. Zürich 1791, S. 202). Christine Touaillon (Der deutsche Frauenroman des 18. Jahrhunderts. Wien u. a. 1919, S. 125) hat bemerkt, dass Rosaliens Briefe erstmals ein Frauenleben »von den Mädchenjahren bis zur Geburt des ersten Kindes« darstellen. In doppeltem Sinne betrieb L. weibl. Aufklärung. Einerseits entwickelte sie ein Frauenbildungsprogramm, andererseits warb sie um Anerkennung der häusl. u. kulturellen Leistungen der Frau. Denn der »Teutsche sey gegen die Verdienste seines Weibs nicht so gerecht, als Männer andrer Länder es gegen ihre Weiber wären« (in: »Pomona«, H. 8, 1783, S. 726). Weitere Werke: Der Eigensinn der Liebe u. Freundschaft. Zürich 1772 (E.). – Bibl. für den guten Geschmack. Amsterd./Bern 1772. – Moralische Erzählungen im Geschmack Marmontels. 2 Bde.,

La Roche Mannh. 1782 u. 1784. – Joseph u. nahe bei Speier. Speyer 1783. – Die glückl. Reise. Basel 1783 (E.). – Die zwei Schwestern. Basel 1784 (E.). – Waldone. Speyer 1785 (E.). – Neuere moral. Erzählungen. Altenburg 1786. – Moralische Erzählungen. Nachlese. Mannh./Offenbach 1788. – Gesch. v. Miss Lony. Gotha 1789. – Rosalie u. Cleberg auf dem Lande. Offenbach 1791 (R.). – Schönes Bild der Resignation. 2 Bde., Lpz. 1795/96. 21801. – Erscheinungen am See Oneida. 3 Bde., Lpz. 1798 (R.). – Mein Schreibetisch. 2 Bde., Lpz. 1799. – Fanny u. Julia, eine romant. Gesch. Fanny u. Julia, oder die Freundinnen. Lpz. 1801/02. – Liebe-Hütten. 2 Bde., Lpz. 1803/04 (R.). – Herbsttage. Lpz. 1805. – Erinnerungen aus meinem Leben. Lpz. o. J. [1807]. – Heike Menges (Hg.): Jenseits der ›Sternheim‹: die unbekannteren Werke der S. v. L. Nachdr.e. Eschborn 1992 ff. (seit 1994 Karben). – Briefe: ›Ich bin mehr Herz als Kopf‹. S. v. L. Ein Lebensbild in Briefen. Hg. Michael Maurer. Lpz. u. a. 1983 (v. etwa 1600 erhaltenen Briefen sind hier 248, davon 115 erstmals, veröffentlicht). – Ausw.-Bibliogr. der Brief-Ed.en bei Nenon 1988 (s. u.). Literatur: Bibliografien: Viia Ottenbacher, Heidi Zeilinger u. Wolfram Wojtecki (seit 2005): S. v. L.Lit. (fortlaufend). In: Wieland-Studien 1991 ff. – Barbara Becker-Cantarino: S. v. L. (1730–1807). Kommentiertes Werkverz. In: Das achtzehnte Jh. 17 (1993), S. 28–49. – Jürgen Vorderstemann: S. v. L. (1730–1807). Eine Bibliogr. Mainz 1995. – Weitere Titel: Ludmilla Assing: S. v. L., die Freundin Wieland’s. Bln. 1859. – Kuno Ridderhoff: S. v. L., die Schülerin Richardsons u. Rousseaus. Einbeck 1895. – Werner Milch: S. L. Die Großmutter der Brentanos. Ffm. 1935. – Ernst Theodor Voss: Erzählprobleme des Briefromans, dargestellt an vier Beispielen des 18. Jh. (darunter L.s ›Sternheim‹). Bonn 1960. – Reinhard M. Nikisch: Die Frau als Briefschreiberin im Zeitalter der dt. Aufklärung. In: Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung 3 (1976), S. 29–66. – Siegfried Sudhof: S. L. In: Dt. Dichter des 18. Jh. Hg. Benno v. Wiese. Bln. 1977, S. 300–319. – Karl T. Plato: S. L. in Koblenz-Ehrenbreitstein. Koblenz 1978. – Michael Maurer: Das Gute u. das Schöne. S. v. L. (1730–1807) wiederentdecken. In: Euph. 79 (1985), S. 111–138. – Bernd Heidenreich: S. v. L. – eine Werkbiogr. Ffm. 1986. – B. Becker-Cantarino: Der lange Weg zur Mündigkeit. Frauen u. Lit. in Dtschld. 1500–1800. Stgt. 1987. – Ingrid Wiede-Behrendt: Lehrerin des Schönen, Wahren, Guten. Lit. u. Frauenbildung im ausgehenden 18. Jh. am Beispiel S. v. L. Ffm./Bern 1987. – Monika Nenon: Autorschaft u. Frauenbildung. Das Beispiel S. v. L. Würzb. 1988 (mit Bibliogr.). – Wolfram Mauser u. B. Becker-Cantarino

L’Arronge (Hg.): Frauenfreundschaft – Männerfreundschaft. Literar. Diskurse im 18. Jh. Tüb. 1991. – J. Vorderstemann: S. v. L.s Speyerer Jahre (1780–86). Ein Gesellschaftsbild aus dem späten 18. Jh. In: Euph. 86 (1992), S. 148–170. – Margrit Langner: S. v. L. – die empfindsame Realistin. Heidelb. 1995. – Gudrun Loster-Schneider: S. L. Paradoxien weibl. Schreibens im 18. Jh. Tüb. 1995. – Helen Mary Lowry: ›Reisen sollte ich reisen! England sehen!‹ A Study in Eighteenth-Century Travel Accounts: S. v. L., Johanna Schopenhauer and Others. Diss. Queen’s University Kingston 1999. – [Charlotte Nerl-Steckelberg u. Klaus Pott:] ›Das wahre Glück ist in der Seele des Rechtschaffenen‹. S. v. L. (1730–1807). Eine bemerkenswerte Frau im Zeitalter v. Aufklärung u. Empfindsamkeit. Kat. Museum S. L. Bönnigheim [2000]. – Brigitte Scherbacher-Posé: Die Entstehung einer weibl. Öffentlichkeit im 18. Jh. S. v. L. als ›Journalistin‹. In: Jb. für Kommunikationsgesch. 2 (2000), S. 24–51. – Klaus Haag u. J. Vorderstemann (Hg.): Meine liebe grüne Stube. Die Schriftstellerin S. v. L. in ihrer Speyerer Zeit (1780–86). Speyer 2005. – M. Nenon: Aus der Fülle des Herzens. Geselligkeit, Briefkultur u. Lit. v. S. v. L. u. Friedrich Heinrich Jacobi. Würzb. 2005. – Jeannine Meighörner: ›Was ich als Frau dafür halte‹. S. v. L.: Dtschld.s erste Bestsellerautorin. Erfurt 2006. – B. Becker-Cantarino: ›Meine Liebe zu Büchern‹. S. v. L. in der Kultur der Empfindsamkeit u. Spätaufklärung. Heidelb. 2007. – Jürgen Eichenauer (Hg.): ›Meine Freiheit, nach meinem Charakter zu leben‹. S. v. L. (1730–1807) – Schriftstellerin der Empfindsamkeit. Offenbach/M. 2007. Klaus Manger

L’Arronge, Adolph, eigentl.: A. Aaron, * 8.3.1838 Hamburg, † 24.5.1908 Kreuzungen/Kt. Thurgau; Grabstätte: Berlin, Jerusalemer Friedhof. – Bühnenautor; Theaterleiter, Kapellmeister u. Komponist. Der Sohn eines Schauspielers studierte Musik bei Richard Genée in Aachen, dann ab 1857 am Konservatorium Leipzig. 1860 wurde er Theaterkapellmeister in Danzig. Über Engagements in Köln, Stuttgart u. Budapest kam L. 1866, im Jahr seiner Heirat mit der Sängerin Selma Rottmayer, an die Kroll-Oper nach Berlin. Seine Operette Das Gespenst führte L. selbst 1860 in Köln auf. Das op. 2, die kom. Oper Der zweite Jakob (Köln 1862), blieb ungespielt. Als sich mit der Posse Das

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große Los (Bln. 1866) der Erfolg einstellte, wechselte L. zur Bühnenschriftstellerei. 1869–1872 Theaterredakteur bei der »Berliner Gerichtszeitung«, fand L. landesweite Anerkennung als Autor durch das Volksstück Mein Leopold (Bln. 1873). Für das WallnerTheater geschrieben, wurde es im ganzen kaiserl. Deutschland nachgespielt. L.s zweiter großer Erfolg, das Volksstück Hasemann’s Töchter (Urauff. Wien 1877), entstand in Breslau, wo L. 1874–1878 das Lobe-Theater leitete. In Berlin kaufte er 1881 das FriedrichWilhelmstädtische Theater u. eröffnete es 1883 auf Sozietätsbasis als »Deutsches Theater«. Mit dieser künstlerisch konservativen Bühne (Goethe, Shakespeare, daneben Unterhaltungslustspiele) führte L. die Tradition des einen Privattheaters im Stadtzentrum weiter. Nach elf Spielzeiten verpachtete er das Haus 1894 an Otto Brahm. 1908 wurde L. zum Professor h. c. ernannt. In Mein Leopold hat ein Schuhmachermeister seine Tochter wegen einer nicht genehmen Ehe verstoßen, seinen Sohn aber unverantwortlich verwöhnt. Alt geworden u. verarmt, sieht er sein Fehlverhalten ein u. versöhnt sich mit der Familie. Das Problem des verzogenen Kindes behandelt auch Hasemann’s Töchter. Hier droht die Ehe einer Kaufmannstochter an den Folgen ihrer ehrgeizigen Erziehung durch die Mutter zu scheitern. Der Vater erkennt, dass er seine drei Töchter vernachlässigt hat u. erreicht die Versöhnung des Paares. In beiden Dramen entwickelt L. die Form des Volksstücks. Er grenzt Handwerker u. Kaufleute als »Volk« gegen Adel u. Proletariat ab. Die einfachen Familienkonflikte, in denen sich das Volksleben mit seinen ernsten wie heiteren Seiten spiegeln soll, verbinden situationskomische u. rührende Effekte. Dem Primat des Gefühls bei L. dienen insbes. die Musikeinlagen – bekannte Lieder oder von ihm komponierte Nummern –, die die Stimmung einer Szene aufnehmen. Der versöhnliche bzw. glückl. Schluss der ernst gemeinten Stücke folgt dem Schema der Berliner Posse, an die sonst nur der Dialekt erinnert. Durch ihre Familienideologie u. den sentimentalen Zug trafen L.s Stücke den Geschmack des breiten Publikums der Grün-

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derjahre. Bis um 1885 ist ihr Erfolg dem der Militärschwänke Gustav von Mosers vergleichbar. Mein Leopold gehörte bis zur Jahrhundertwende zum Repertoire jeder größeren Bühne; für die anhaltende Popularität des Stücks spricht auch seine zweimalige Verfilmung.

Grundlage aller philosophischen Systeme. Mchn. 1856; zur Parallele Sokrates-Christus: Des Sokrates Leben, Lehre und Tod [...]. Regensb. 1857) –, schließlich sogar dem röm. Index überantwortet, stellt L.s Geschichtstheorie einen bedeutenden Vorgriff auf die Entwürfe eines Spengler oder Toynbee dar.

Weitere Werke: Dreizehn oder Onkel Superklug. Bln. 1868 (Posse). – Papa hat’s erlaubt (zus. mit Gustav v. Moser). Bln. 1878 (Schwank). – Der Registrator auf Reisen (zus. mit G. v. Moser). Bln. 1883 (Posse). – Dt. Theater u. dt. Schauspielkunst. Bln. 1896.

Weitere Werke: Studien des klass. Alterthums. Regensb. 1834. – Die prophet. Kraft der menschl. Seele in Dichtern u. Denkern. Regensb. 1858. – Philosophie der schönen Künste. Regensb. 1860.

Ausgabe: Gesamtausg. der dramat. Werke. 4 Bde., Bln. 1908. Literatur: Wilhelm Anthony: A. L. u. das LobeTheater. Bln. 1878. – Max Martersteig: Das dt. Theater im 19. Jh. Lpz. 1904. – Kurt Raeck: Das Dt. Theater zu Berlin unter der Direktion A. L.s. Bln. 1928. – Margot Berthold: L. In: NDB (Bd. 1, unter ›A.‹). – Hugo Aust u. a.: Volksstück. Mchn. 1989. – Goedeke Forts. Alain Michel / Red.

Lasaulx, Ernst (Peter) von, * 16.3.1805 Koblenz, † 10.5.1861 München. – Geschichtsphilosoph, Philologe. Der Sohn des Architekten Johann Claudius von Lasaulx studierte klass. Philologie in Bonn (u. a. bei Niebuhr u. August Wilhelm Schlegel) u. 1828–1830 in München, wo er begeistert Schellings System der Weltalter hörte u. Zugang zum Kreis um Görres, seinen Onkel, fand. Danach unternahm er längere Reisen nach Italien, Griechenland u. dem Orient. Noch im Jahr der Promotion 1835 (in Kiel) als a. o. Prof. für klass. Philologie nach Würzburg berufen u. mit der Tochter Franz von Baaders, Julie, verheiratet, wirkte er ab 1844 in gleicher Stellung in München. In der Frankfurter Nationalversammlung war der streitbare L. Abgeordneter der äußersten Rechten. L.s Neuer Versuch einer [...] Philosophie der Geschichte (Mchn. 1856. Neudr. Wien/Lpz. 2003) entwickelt ein organisches Kreislaufmodell von Wachstum, Blüte u. Verfall, das Einfluss auf Burckhardt hatte. Von Fachkollegen diskreditiert wegen ihres spekulativen Beziehungsstiftens – v. a. zwischen der als Vorform aufgefassten heidn. Antike u. dem offenbarten Christentum (vgl. dazu Über die theologische

Literatur: Herta U. Dolecal: E. v. L. Ein Beitr. zur Kritik des organ. Geschichtsbegriffs. Münster 1970. – Siegbert Peetz (Hg.): Die Wiederkehr im Unterschied. E. v. L. Freib. i. Br./Mchn. 1989.  Axel Schwaiger: Christl. Geschichtsdeutung in der Moderne. Bln. 2001. Arno Matschiner / Red.

Laschen, Gregor, * 8.5.1941 Ueckermünde/Vorpommern. – Lyriker, Essayist, Herausgeber, Übersetzer. L. studierte Neuere deutsche Literatur, Philosophie u. Kunstgeschichte u. a. in Kiel, Zürich u. Würzburg. 1967 nahm er an der Tagung der Gruppe 47 teil. In diese Zeit fallen verstreute Lyrikpublikationen sowie Experimente mit offenen Prosaformen (Ankündigung der Hochzeitsnächte. Ffm. 1967). Mit dem Begriff der »Sprachverfassung des modernen Gedichts« entwickelt L. in seiner Dissertation Lyrik in der DDR (Ffm. 1971) eine Perspektive auf das zeitgenöss. Gedicht, die nach der spezifischen geschichtl. Position des Gedichts u. der ihm eingeschriebenen Geschichtsreflexion fragt. In der Poetologie von L.s eigener Dichtung führt diese Prämisse zu Gedichten als »gründlich verletzten Textkörpern« (Die Leuchttürme tun was sie können. Springe 2004), in denen Sprach- u. Geschichtsreflexion einander bedingen. L.s erster Lyrikband Die andere Geschichte der Wolken (Mchn. u. Wien 1983) setzt gegen die Geschichtsschreibung die sprachl. Präzision des Gedichts, zeugt vom »Knochenberg auf dem / Knochenberg von gestern, fortgeschriebene Ver-/ dunklung der Geschichte«, beharrt neben den Katastrophenmeldungen aber auf der Artikulation individuellen Glücks. Reflektiert u. kommentiert werden dabei auch andere poetolog. Positionen u. Lebenswege,

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vornehmlich diejenigen Friedrich Hölderlins, Georg Büchners u. Paul Celans. L.s Werk zeichnet sich durch eine hohe Kohärenz aus, zu der Intra- u. Intertextualität, wiederkehrende ekphrast. Bezüge (insbes. Hans Arp, Bruno Goller) u. das Fortschreiben an spezif. Metaphern- u. Chiffrenfeldern (z.B. Stein, das Offene, das Fremde, Engel, Geschichte) beitragen. Formal am radikalsten wird dieses Programm in den Fragmenten der Jammerbugt-Notate (Heidelb. 1995) umgesetzt. Die geschichtsphilosoph. Metaphern u. Topoi, »[d]ie Bilder, die Notausgänge / der Sprache«, werden zitiert, variiert u. auf ihre Tragfähigkeit hin überprüft. Dichtung ist hier immer auch Relektüre des Eigenen u. der Literaturtradition. In KopfSteinPflaster (Rheinsberg 2008) greift L. das fragmentarische, zgl. sammelnde u. assoziative Verfahren aus Jammerbugt-Notate noch einmal auf u. wendet dessen Metaphernvariation u. -analyse auf das für die Jammerbugt-Notate u. die sog. hermet. Lyrik wesentl. Bildfeld des Steins an; dabei tritt die Möglichkeit gelungener gesellschaftl. u. individueller Geschichte immer mehr zurück, bleibt mitunter nur die Petrifikationssehnsucht, der »Trost / der Versteinerung.« Von 1972 bis 2002 lehrte L. als Dozent für deutsche Literatur an der Universität Utrecht/ Niederlande. Heute lebt er in Bremen. L. hat die Grundfrage nach der »Sprachverfassung des modernen Gedichts« in Essays zu u. a. Erich Arendt, Ernst Meister u. Hans Arp entfaltet; für seine literaturwiss. Arbeit ist zudem die Form des Gesprächs charakteristisch, insbes. mit Arendt u. Meister als Dialogpartner. Dem dialog. Dichtungsverständnis entspricht bei L. die ambivalente Grundkonstellation des Anderen als »fremde Nähe, von / Sprechen gewärmt, von Sprache gekühlt aber und frei /aufgehängt im Turm, dem schönen Babel schön« (Jammerbugt-Notate. Heidelb. 1995). Motti, Zitate, Allusionen, Porträt- u. Widmungsgedichte sind Spuren u. Realisierungen eines solchen Dichtungsverständnisses. Eine weitere Konsequenz dieser Poetik der fremden Nähe ist die Übersetzungswerkstatt Poesie der Nachbarn, die L. ab 1988 betreute. Deutsche Dichter u. Lyriker eines

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europ. Gastlandes treffen sich im Rahmen dieses Projekts alljährlich, um mit Hilfe von Interlinearversionen die fremdsprachigen Gedichte ins Deutsche zu bringen. In den Vorbemerkungen zu den einzelnen Bänden der daraus entstandenen Buchreihe skizziert L. eine Poetik des Übersetzens. Um das Projekt Poesie der Nachbarn ist ein vielstimmiges poet. Gespräch entstanden, dokumentiert beispielsweise in dem Hommageband für L. Im Fremdwort zuhaus (Hg. Ingo Wilhelm, Stefan Wieczorek u. Hans Thill. Heidelb. 2001). Eine Facette dieser Übersetzungsarbeit sind L.s hochgradig intertextuelle Begrüßungsgedichte für die eingeladenen Autoren; vorangestellt hat L. ihnen programmatisch das Novalis-Motto »Die Poesie löst fremdes Dasein in eignem auf.« Weitere Werke: (Hg.) Lyrik aus der DDR. Anth. Zürich/Köln 1973. – Der zerstückte Traum. Für Erich Arendt zum 75. Geburtstag. Hg. G. L. u. Manfred Schlösser. Bln./Darmst. 1978. – (Hg.) E. Arendt: Das zweifingrige Lachen. Ausgew. Gedichte 1921–80. Düsseld. 1981. – (Hg.) Zerstreuung des Alphabets. Hommage à Arp. Hans/Jean Arp zum 100. Geburtstag. Bremerhaven 1986. – Anrufung des Horizonts. Skagen-Zeit. Zus. mit Stefan Schwerdtfeger (Bilder u. Objekte) u. Norbert Schittek (Fotos). Bremerhaven 1987. – Peter Huchel-Preis 1996. G. L. ›Jammerbugt-Notate‹. Hg. Ingo Wilhelm. Edenkoben 1996. – (Hg.) an die sieben himmel. sieben lyriker u. erzähler besuchen sieben landschaften. Heidelb. 2002. – (Hg., zus. mit Ingo Wilhelm) Vom Ohrenbeben zu Edenkoben. Heidelb. 2007. – Übersetzungen: Judith Herzberg: Tagesreste. Übers. v. G. L. u. a. Bln. 1986 (G.e). – Reihe Poesie der Nachbarn. 16 Bde. Hg. G. L. z.T. mit wechselnden Mitherausgebern. Bremerhaven 1989–2003. – (Hg.) Schönes Babylon. Gedichte aus Europa in 12 Sprachen. Köln 1999. – Baldur Óskarsson: ›Tímaland / Zeitland. Gedichte‹. Aus dem Isländischen v. G. L. u. a. Münster 2000. – (Hg., zus. mit Hans Thill) Leb wohl lila Sommer: Gedichte aus Russland. Heidelb. 2004. Literatur: Stefan Wieczorek: G. L. In: KLG. Stefan Wieczorek

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Lask, Berta, eigentl.: B. Jacobsohn-Lask, auch: Gerhard Wieland, * 17.11.1878 Wadowice bei Krakau, † 28.3.1967 Berlin/ DDR. – Dramatikerin, Erzählerin.

Lasker guren in B. L.s Roman ›Stille u. Sturm‹. In: ›Siegreiche Niederlagen‹. Hg. Martin Lüdke u. Delf Schmidt. Reinb. 1992, S. 156–169. – Richard Sheppard: Straightening Long-Playing Records: The Early Politics of B. L. and Friedrich Wolf. In: GLL 45 (1992), S. 279–287. – Agnès Cardinal: A Voice Out of Darkness. B. L.’s Early Poetry. In: German Women Writers. Hg. Brian Keith-Smith. Lewiston/New York u. a. 1993, S. 203–222. – Dies.: Shadow Playwrights of Weimar. B. L., Ilse Langner, Marieluise Fleißer. In: Women in European Theatre. Hg. Elizabeth Woodrough. Oxford 1995, S. 65–73. – Dies.: B. L.s ›Die Befreiung‹. A Dramatic Experiment. In: Women, the First World War and the Dramatic Imagination. Hg. Claire M. Tylee. Lewiston/New York 2000, S. 121–132. – Waltraud Schade: B. L. In: Frauenmosaik. Hg. Bezirksamt Treptow-Köpenick. Bln. 2001, S. 95–113. – Sarah Colvin: Women and German Drama. Playwrights and Their Texts, 1860–1945. Rochester/New York 2003, S. 103–126. Johannes Schulz / Red.

Die Fabrikantentochter, Schwester des Philosophen Emil Lask, heiratete standesgemäß einen Arzt, wurde 1923 Mitgl. der KPD u. 1928 Mitbegründerin u. Vorstandsmitgl. des Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller. 1933 emigrierte sie in die Sowjetunion u. lebte von 1953 an in Ostberlin. L. brachte als eine der Ersten in der dt. Literatur Arbeiter als Protagonisten des Klassenkampfs auf die Bühne. Ihr am futuristischen sowjet. Theater u. Film geschultes »Tatsachendrama« Leuna 1921 (Bln. 1927. Neudr. Bln./DDR 1961) vermeidet trotz Typisierung die Simplifizierung des Agit-Prop, indem L. den Zusammenbruch des Mitteldeutschen Aufstands 1921 als Folge der Uneinigkeit u. Ziellosigkeit des Proletariats Lasker, Ignaz Julius, auch: Julius Sincerus, darstellt. Die Aufführung wie die Publikation * 20.1.1811 Breslau, † 16.11.1876 Berlin. dieser mit den neuen Techniken des Films u. – Arzt; Dramaturg, Redakteur, Lyriker, der Diaprojektion arbeitenden Klassen- Erzähler, Übersetzer u. Dramatiker. kampf-Revue wurden ebenso verboten wie L. erhielt als Kind zunächst Privatunterricht, die ihres Massenspiels Thomas Münzer (Bln. anschließend eine achtjährige Schulbildung 1925. Urauff. Eisleben 1925. Neudr. in: am Elisabethanum in Breslau. Er war ein Walter Dietze, Hg.: 1525. Dramen zum deuthochbegabter u. vielseitig interessierter schen Bauernkrieg. Bln./DDR 1975), in dem der Schüler: So studierte er intensiv die alten Held – dem damals unbeschwerten Umgang Klassiker, las Tasso u. Shakespeare im Origimit der Kulturtradition in der KPD entsprenal u. veröffentlichte bereits während der chend – mit Karl Liebknecht u. Luther mit Schulzeit neben ersten Gedichten die KomöEbert u. Noske gleichgestellt wird. Nach dem die Die Liebesbriefe sowie das Schauspiel Die Krieg arbeitete L. nach den Vorgaben der Überschwemmung in den »Schlesischen BlätDDR-Literaturpolitik u. fügte den zahlreitern«. Nach dem Schulabschluss 1829 stuchen sozialist. Bildungsromanen der 1950er dierte L. Philosophie u. Medizin zunächst in Jahre mit der Trilogie Stille und Sturm (Halle Breslau, ab 1831 in Berlin, wo er 1832 mit 1955. Hg. u. bearb. v. Mira Lask. Nachw. v. seiner Dissertation Foetus humani brevis historia Walther Pollatschek. Halle 1975) einen weizum Dr. med. promoviert wurde. Seine meteren hinzu. dizinisch-humorist. Abhandlung Über die roWeitere Werke: Rufe aus dem Dunkel. Bln. then Nasen der Damen, deren Verhütung und Hei1921 (L.). – Weihe der Jugend. Bln. 1922 (Chorlung (Bln. 1833) zeugt von seiner Vorliebe für werk). – Giftgasnebel über Sowjetrußland. Bln. satir. Literatur, die sich in späteren Veröf1927. Urauff. Kassel 1927 (D.). – Otto u. Else. Bln./ fentlichungen u. Redaktionstätigkeiten verDDR 1956 (E.en). tiefen sollte. Nach Aufenthalten in KrotoLiteratur: Karl Grünberg: B. L. In: NDL (1954), schin u. Posen kehrte L. 1836 in seine HeiH. 1, S. 167 ff. – Sabine Hertwig: Untersuchungen zu weltanschaul. u. ästhet. Positionen im Erzähl- matstadt zurück, wo er als Arzt tätig war. werk B. L.s. Diss Zwickau, Pädag. Hochschule 1989. Daneben redigierte er die »Schlesischen – Andreas Anter: Männer mit Eigenschaften. Max Blätter« sowie unter dem Pseud. Julius SinWeber, Emil Lask u. Georg Simmel als literar. Fi- cerus auch die »Nachtwandlerin. Zeitschrift

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für Scherz und Ernst« u. verfasste Kunst- u. Dampf-Wagen. Launige u. ernste Zeit- u. LebensLiteraturartikel für die »Breslauer Zeitung«. bilder. Bln. 1847. – Des dt. Volkes Erhebung im 1837 zog es L. nach Danzig; dort übernahm Jahre 1848 [...]. Ein Volks- u. Erinnerungsbuch für er bis 1842 die Redaktion des »Danziger die Mit- u. Nachwelt. Danzig 1848 (zus. mit Friedrich Gerhard). – Schiller für alle, alle für Dampfboots«. Anschließend übersiedelte er Schiller. Festspiel zur Säkularfeier Schillers. Bln. nach Berlin, wo er seit 1843 den »Freimüt- 1859. – Der Prinz-Regent v. Preußen Friedrich higen« herausgab u. 1844 mit seinem einzi- Wilhelm Ludwig u. seine Zeit. Ein Buch für das gen, an Eugène Sues Mystères de Paris gemah- preuß. Volk. Bln. 1860. – Übers. v.: Die Seufzernenden Roman Das Auge der Polizei. Aus dem brücke. Oper in zwei Aufzügen u. vier Bildern v. Leben Berlins das argwöhnisch-rauhe Sicher- Jaques Offenbach. Bln. 1862. Literatur: Werkverzeichnis: Goedeke Forts. – heitsklima der Zeit kommentierte. 1848 kehrte L. wieder in seine Heimatstadt Breslau Weitere Titel: Karl Gabriel Nowack: Schles. Schriftzurück, wo er bis 1852 die Breslauer »Mor- stellerlexikon. Bd. 3, Breslau 1838, S. 75–77. – genzeitung«, den »Falstaff« u. das »Quodli- Franz Brümmer: L. In: ADB. – Salomon Wininger: Große jüd. Nationalbiogr. Bd. 3 (1928), S. 594. – bet« redigierte u. als Dramaturg am dortigen Kosch. – Kosch TL. – Arno Lubos: Gesch. der Lit. Theater tätig war. Nach seiner erneuten u. Schlesiens. Bd. 1, Mchn. 1960, S. 309 f. – Wilfried letzten Übersiedlung nach Berlin arbeitete er Reininghaus: Geschichtserinnerung u. Geschichtsseit 1867 als Sekretär u. Dramaturg am Vic- schreibung zur Revolution v. 1848/49 in Westfalen. toriatheater. In: Westfäl. Forsch.en 49 (1999), S. 21–68, insbes. L. stand in regem Kontakt mit kulturellen 25 f. – Olaf Briese: ›Das Auge der Polizei‹. GroßGrößen seiner Zeit wie beispielsweise den stadtoptik um 1850. In: Gutzkow lesen! Hg. GusSchriftstellern Karl Gutzkow, Marie von Eb- tav Frank u. Detlev Kopp. Bielef. 2001, S. 263–297. Silka Pfahler ner-Eschenbach u. Wolfgang Müller von Königswinter sowie den Schauspielern Franz Wallner, Julie Rettich u. Adele Glaßbrenner. Lasker-Schüler, Else, eigentl.: Elisabeth, Nachgelassene Briefe L.s befinden sich u. a. in * 11.2.1869 Elberfeld, † 22.1.1945 Jeruder Landesbibliothek Wien (Wienbibliothek salem; Grabstätte: ebd., Ölberg (nur im Rathaus), der Bayrischen Staatsbibliothek Grabstein erhalten). – Lyrikerin, DramaMünchen u. der Universitätsbibliothek tikerin, Erzählerin. Frankfurt/M. Das jüngste von sechs Kindern des PrivatWeitere Werke: Gedichte. Breslau 1830. – Die bankiers Aron Schüler besuchte zunächst ein Braut aus Bremen oder: Verwechslungen. OriginalElberfelder Lyzeum u. erhielt anschließend Lustsp. in 4 Acten. Breslau o. J. – Worte zur BeHausunterricht. 1894 heiratete L. den Arzt herzigung. Krotoschin 1834. – Akrosticha. Liebeskränze, um holde Frauen-Namen gewunden, v. J. S. Berthold Lasker u. zog mit ihm nach Berlin, Posen 1836. – Zizine. Nach dem Französischen des wo sie ihr zeichnerisches Talent bei dem C. Paul de Kock. 2 Tle., Breslau 1837. – Tb. der Maler Simson Goldberg ausbilden ließ. Auch Novelletten u. Humoresken. Danzig 1838. – Un- als L. sich später in erster Linie als Dichterin geheure Heiterkeit. Tb. des Frohsinns u. der hei- verstand, blieb das grafische Element ein teren Laune. Danzig 1838 (G.e). – Schmetterlinge. wesentl. Bestandteil ihres Schaffens, wofür Tag- u. Nachtfalter des Lebens. Danzig 1839 (G.e). – die mit – in 50 Exemplaren handkolorierten – Die Huldigungsfeier zu Königsberg. Eine Erinne- Lithografien versehene Gedichtsammlung rungsschrift. Danzig 1840. – Todtenkränze auf die Theben (Ffm./Bln. 1923. Nachdr. hg. v. RicarGruft Sr. Hochsel. Maj. Friedrich Wilhelm III. da Dick. Ffm. 2002) das wohl schönste BeiDanzig 1840. – Die vierhundertjährige Jubelfeier spiel ist. der Erfindung der Buchdrukkerkunst. Eine ErinVon Bedeutung für L.s künstlerische Entnerungsschrift. Danzig 1840. – Fidibus. Schelmenwicklung waren die »Neue Gemeinschaft« Lieder. Danzig 1842. – Berliner Lichtbilder u. Schattenspiele. 2 H.e, Danzig 1843. – Karl Seydel- der Brüder Hart, in der die antibürgerl. Utomann. Blätter der Erinnerung für Freunde u. Ver- pie eines neuen, freien Menschentums u. das ehrer des Verewigten. Bln. 1843. – Ninon de Ideal des eine eigene Welt erschaffenden L’Enclos. Bln. 1843. – Der Gesellschafter im »Gottkünstlers« proklamiert wurden, u. der

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aus Westfalen stammende Bohemepoet Peter Hille, der bis 1903 ihr Mentor war. Die hier empfangenen Impulse gingen in L.s eigenes mystisch-religiöses Verständnis des Dichters als eines göttlich inspirierten Propheten u. Schöpfers ein. Den 1904 gestorbenen Hille würdigte sie v. a. in ihrer ersten großen Prosadichtung, dem Peter Hille-Buch (Stgt./Bln. 1906), das die gemeinsame Zeit in poetischmyth. Überhöhung zeichnet u. »Petrus den Felsen« zu einer messian. Gestalt verklärt. Nachdem L. seit 1899 Gedichte u. a. in der Zeitschrift »Die Gesellschaft« veröffentlicht hatte, erschien Ende 1901 der erste Lyrikband Styx (datiert auf 1902). 1905 folgte Der siebente Tag (beide Bln.), der in Texten wie dem leisemelanchol. Weltende (Erstdr. 1903) bereits die Überwindung des in den Styx-Gedichten, trotz der schon dort unverkennbaren sprachl. Originalität, etwa in der Dominanz des Themas der rauschhaften Liebe noch deutl. Jugendstileinflusses zeigt. In dem Gedicht Mein stilles Lied findet sich erstmals die Form der ungereimten zweizeiligen Strophe, die L.s assoziativer Reihung von Bildern u. Gedanken gemäß ist u. in der Folge in ihrer Lyrik vorherrscht. 1903 ließ L. sich von ihrem ersten Mann scheiden, dem sie schon seit Jahren entfremdet war, u. heiratete den Schriftsteller u. Komponisten Herwarth Walden. Nicht zuletzt durch ihre zahlreichen Beiträge in der von Walden seit 1910 herausgegebenen Zeitschrift »Der Sturm« prägte L. die Entwicklung der avantgardistischen, bes. der expressionist. Kunst entscheidend mit. Während ihrer produktivsten Schaffensphase zwischen 1907 u. 1914 trat L. auch als Dramatikerin hervor: 1909 erschien ihr erstes Schauspiel Die Wupper (Bln.), das 1919 in Berlin uraufgeführt wurde u. dort 1927 eine weitere viel beachtete Inszenierung erlebte. Äußerlich eine Darstellung der sozialen Kontraste im Wuppertal anhand der Arbeiterfamilie Pius u. der Fabrikantenfamilie Sonntag in der naturalist. Tradition von Hauptmanns Webern, wird das Geschehen der »bösen Arbeitermär« unterschwellig durch die unheiml. Magie sexueller Triebkräfte bestimmt, der sich die Figuren aus beiden Milieus nicht entziehen können.

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Auf den dritten Lyrikband Meine Wunder (Karlsr./Lpz. 1911), der L., etwa in dem von Karl Kraus gepriesenen Gedicht Ein alter Tibetteppich (Erstdr. 1910), auf der Höhe ihrer Sprachkunst zeigt, folgten Ende 1912 die Hebräischen Balladen (Bln., mit Jahreszahl 1913), eine Sammlung größtenteils wiederveröffentlichter Gedichte, die den für L.s Werk höchst bedeutsamen biblisch-religiösen u. jüd. Aspekt in den Mittelpunkt rückt (Faksimile der Handschrift hg. v. Norbert Oellers. Marbach 1986. Neuausg. Ffm. 2000). Freilich problematisiert bereits das den Band programmatisch eröffnende Mein Volk (Erstdr. 1905 in Der siebente Tag) das Verhältnis der Dichterin zum »morsch« gewordenen (orthodoxen?) Judentum, dem sie sich gleichwohl untrennbar verbunden sieht u. zu dessen Erneuerung ihre Kunst beitragen soll. Dass L., laut Gottfried Benn »die größte Lyrikerin, die Deutschland je hatte«, in jüngerer Zeit auch zunehmend als Erzählerin gewürdigt wird, ist nicht zuletzt wegen ihres Briefromans Mein Herz (Mchn./Bln. 1912) gerechtfertigt, der aus den zuvor im »Sturm« erschienenen Briefen nach Norwegen hervorging. L. entwickelt hier das bereits im Peter Hille-Buch praktizierte Spiel der Verquickung von Realität (in diesem Fall die Berliner Bohemeszene im »Café des Westens«, in der L. zu dieser Zeit verwurzelt war) u. Fiktion zu einer neuen, rein dichterischen Wirklichkeit zu höchster Virtuosität, was allerdings bei vielen Lesern zum Missverständnis des Werks als Schlüsselroman führte. Einen Nachfolger dieses Buchs bildet in mancher Hinsicht Der Malik (Bln. 1919), die Bearbeitung einer zwischen 1913 u. 1917 in verschiedenen Zeitschriften veröffentlichten Serie. Das Werk knüpft zudem an den fiktionalen oriental. Kosmos an, den L. bereits in der Sammlung Die Nächte Tinos von Bagdad (Bln. u. a. 1907) erschaffen hatte, u. macht dessen berühmtesten Repräsentanten, ihr um 1910 aus der bibl. Josephsgestalt entwickeltes poet. Alter Ego Prinz Jussuf, das auch in dem »Geschichtenbuch« Der Prinz von Theben (Lpz. 1914) erscheint, zur Hauptfigur. Unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs verdüstert sich die Kunstwelt des »bunten Theben«, bis die Handlung mit dem Selbstmord des Malik

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(Kaisers) Jussuf endet. Für L. wichtige Bezugspersonen der Vorkriegszeit wie Gottfried Benn u. der 1916 gefallene »blaue Reiter« Franz Marc, an den die Erzählung zunächst in Briefform gerichtet ist, nehmen, wiederum in fiktionalisierter Gestalt als »Giselheer« bzw. »Ruben«, zentrale Rollen ein. Die Zeit nach der 1912 erfolgten Scheidung von Herwarth Walden war für L. von ständiger ökonom. Not geprägt, die sich durch die Krankheit ihres einzigen Sohnes Paul (geb. 1899) verschärfte, der 1927 an Tuberkulose starb. 1932 erhielt L., gemeinsam mit Richard Billinger, den Kleistpreis; zuvor waren das Schauspiel Arthur Aronymus und seine Väter als Bühnenmanuskript u. die Fassung desselben Stoffs als Erzählung Arthur Aronymus (beide Bln.) erschienen. Das Werk mythisiert die Kindheitsgeschichte ihres Vaters in Westfalen als Hintergrund einer Auseinandersetzung mit dem sich immer bedrohlicher zeigenden Antisemitismus, dem L. die ihr gesamtes Leben u. Dichten prägende Überzeugung der untrennbaren Zusammengehörigkeit von Judentum u. Christentum entgegenstellt. Die bereits fest geplante Uraufführung des Schauspiels scheiterte am Aufstieg der Nationalsozialisten. L., die mehrfach bedroht u. tätlich angegriffen worden war, emigrierte im April 1933 in die Schweiz; 1938 bürgerte das Deutsche Reich sie offiziell aus. Erst im Züricher Exil kam im Dez. 1936 eine Aufführung des Arthur Aronymus zustande, die es jedoch auf nur zwei Vorstellungen brachte. Die Schweizer Emigration bedeutete für L. einen ständigen aufreibenden Existenzkampf, da sie keine Arbeitserlaubnis als Dichterin erhielt u. ihre Aufenthaltsgenehmigung von den Behörden stets nur zögerlich u. für kurze Fristen verlängert wurde. Unter anderem auch aus diesem Grund unternahm sie 1934 u. 1937 mehrmonatige Reisen nach Palästina. Die Eindrücke des ersten Aufenthalts gestaltete die Dichterin in dem Prosaband Das Hebräerland (Zürich 1937), der freilich weniger das reale, sondern ein utop. Palästina zeichnet, in dem Juden u. Araber harmonisch zusammenleben können. Von einer dritten Palästina-Reise 1939 konnte L. wegen der Verweigerung eines

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neuen Schweizer Visums u. des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs nicht mehr zurückkehren. In Jerusalem fühlte sie sich meist unwohl; allerdings genoss sie ausreichende finanzielle Unterstützung u. besaß immer noch einige treue Freunde, für die sie den Vortragskreis »Der Kraal« gründete. L.s letztes, zu ihren Lebzeiten weder gedrucktes noch aufgeführtes Schauspiel IchundIch, entstanden 1940/41 (erster vollst. Druck 1970; erste Buchausg. Mchn. 1980), zeigt sie noch einmal als Vertreterin der literar. Avantgarde u. bezieht eins ihrer Hauptthemen, das Problem der Ich-Spaltung, auf die dt. Geistes- u. Zeitgeschichte, die durch Auftritte des mit seinem Schöpfer Goethe gleichgesetzten Faust u. Mephistos einerseits sowie Hitlers u. der Nazigrößen andererseits repräsentiert werden. Das letzte vollendete Buch, die Lyriksammlung Mein blaues Klavier, erschien 1943 in Jerusalem; es enthält u. a. einige der bedeutendsten Exilgedichte wie den titelgebenden Text (Erstdr. 1937) u. Die Verscheuchte (Erstdr. 1934). Das in den hier vereinten Gedichten gegenüber der älteren Lyrik ungewöhnlich deutlich hervortretende Formbewusstsein u. die – bereits in Texten aus den frühen 1930er Jahren zu beobachtende – Rückkehr zu den traditionellen Stilmitteln Strophe u. Reim lassen sich als Merkmale eines Altersstils L.s ansehen. L., deren Werk zu Lebzeiten vornehmlich von anderen Künstlern rezipiert wurde, findet in jüngerer Zeit zunehmendes Interesse sowohl in der Literaturwissenschaft als auch bei einer breiteren Öffentlichkeit, so als hervorragende Vertreterin der »Klassischen Moderne«, der Exildichtung u. der dt.-jüd. Literatur. Als besondere Herausforderung für die wiss. Beschäftigung mit Biografie u. Werk der Dichterin hat die neuere Forschung dabei die von L. selbst als Konsequenz ihrer Überzeugung von der Einheit von Kunst u. Leben, etwa in den autobiogr. Texten der Sammlung Konzert (Bln. 1932), begründete »L.-Legende« (Bauschinger) erkannt, die von Zeitgenossen u. Rezipienten gleichsam fortgedichtet wurde. Jüngere biogr. Darstellungen u. bes. die seit 1996 erscheinende Kritische Ausgabe der Werke u. Briefe haben diese Legende bereits

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durch eine Fülle neuer Erkenntnisse korrigiert, die freilich noch zu ergänzen sind. Weitere Werke: Gesichte. Ess.s u. andere Gesch.n. Lpz. 1913. – Der Wunderrabbiner v. Barcelona. Bln. 1921. – Ich räume auf! Meine Anklage gegen meine Verleger. Zürich [tatsächlich Bln. im Selbstverlag] 1925. Ausgaben: Werke u. Briefe. Krit. Ausg. Hg. Andreas B. Kilcher (ab Bd. 9), Norbert Oellers, Heinz Rölleke u. Itta Shedletzky. 11 Bde., Ffm. 1996–2010. – Mein Herz. Hg. Ricarda Dick. Ffm. 2003. – Sämtl. Gedichte. Hg. Karl Jürgen Skrodzi. Ffm. 2004 (Text nach Bd. 1 der Krit. Ausg.). – Mein blaues Klavier. Hg. R. Dick. Ffm. 2006. – IchundIch. Hg. K. J. Skrodzki u. Kevin Vennemann. Ffm. 2009. – Briefe: Was soll ich hier? Exil-Briefe an Salman Schocken. Hg. Sigrid Bauschinger u. Helmut G. Hermann. Heidelb. 1986. – E. L. u. Franz Marc: Mein lieber, wundervoller blauer Reiter. Privater Briefw. Hg. Ulrike Marquardt u. H. Rölleke. Düsseld./Zürich 1998. Literatur: Allgemeine Darstellungen zu Leben, Werk u. Rezeption: Sigrid Bauschinger: Die Symbolik des Mütterlichen im Werk E. L.s. Diss. Ffm. 1960. – Margarete Kupper: Die Weltanschauung E. L.s in ihren poet. Selbstzeugnissen. Diss. Würzb. 1963. – Michael Schmid (Hg.): L. Ein Buch zum 100. Geburtstag der Dichterin. Wuppertal 1969. – Dieter Bänsch: E. L. Zur Kritik eines etablierten Bildes. Stgt. 1971. – Angelika Koch: Die Bedeutung des Spiels bei E. L. Bonn 1971. – Erika Klüsener: E. L. Eine Biogr. oder ein Werk? Diss. St. Louis 1979. – Dies.: E. L. Reinb. 1980. 112005. – S. Bauschinger: E. L. Ihr Werk u. ihre Zeit. Heidelb. 1980. – Jakob Hessing: E. L. Biogr. einer dt.-jüd. Dichterin. Karlsr. 1985. – Judith Kuckart: Im Spiegel der Bäche finde ich mein Bild nicht mehr. Gratwanderung einer anderen Ästhetik der Dichterin E. L. Ffm. 1985. – Ruth Schwertfeger: E. L. Inside this Deathly Solitude. New York u. a. 1991. – Meike Feßmann: Spielfiguren. Die Ich-Figurationen E. L.s als Spiel mit der Autorrolle. Stgt. 1992. – J. Hessing: Die Heimkehr einer jüd. Emigrantin. E. L.s mythisierende Rezeption 1945 bis 1971. Tüb. 1993. – E. L. Text u. Kritik, H. 122 (1994). – Sonja M. Hedgepeth: ›Überall blicke ich nach einem heimatlichen Boden aus‹. Exil im Werk E. L.s. New York u. a. 1994. – E. L. 1869–1945. Bearb. E. Klüsener u. Friedrich Pfäfflin. Marbach 1995. 31997. – Prinz Jussuf ist eine Frau. E. L. als Künstlerin, Dichterin u. Schlüsselfigur des 20. Jh. Iserlohn 1995. – E. L.s Jerusalem. Hg. Itta Shedletzky. Jerusalem 1995 (Kat.). – Alfred Bodenheimer: Die auferlegte Heimat. E. L.s Emigration in Palästina. Tüb. 1995. – Margareth Graf: E. L. Zum 50. Todestag. Bibliogr.

Lasker-Schüler zur Rezeption in deutschsprachigen Tages- u. Wochenzeitungen 1970–94. Innsbr. 1995. – Stephanie Bettina Heck: Und weckte doch in deinem ewigen Hauche nicht den Tag. Prophetie im Werk E. L.s. Ffm. u. a. 1996. – Christine Reiß-Suckow: ›Wer wird mir Schöpfer sein!!‹ Die Entwicklung E. L.s als Künstlerin. Konstanz 1997. – E. L. Ansichten u. Perspektiven. Hg. Ernst Schürer u. S. Hedgepeth. Tüb. u. a. 1999. – Markus Hallensleben: E. L. Avantgardismus u. Kunstinszenierung. Tüb. u. a. 2000. – Andrea Henneke-Weischer: Poet. Judentum. Die Bibel im Werk E. L.s. Mainz 2003. – Betty Falkenberg: E. L. A Life. Jefferson, North Carolina/ London 2003. – ›Niemand hat mich wiedererkannt...‹. E. L. in Wuppertal. Hg. Ulrike Schrader. Wuppertal 2003. – S. Bauschinger: E. L. Biogr. Gött. 2004. – E. L. A Poet Who Paints. Haifa 2006 (Kat.). – Valentina Di Rosa: ›Begraben sind die Bibeljahre längst‹. Diaspora u. Identitätssuche im poet. Entwurf E. L.s. Paderb. 2006. – Sylke Kirschnick: Tausend u. ein Zeichen. E. L.s Orient u. die Berliner Alltags- u. Populärkultur um 1900. Würzb. 2007. – Reka Kiss: Das transgressive Spiel zwischen Autor u. Text. Eine Untersuchung der Texte v. E. L. mit einem Ausblick auf Fernando Pessoa. Tüb. 2007. – Kerstin Decker: Mein Herz – Niemandem. Das Leben der E. L. Bln. 2009. – Biografische Beziehungen: Heather Valencia: E. L. u. Abraham Nochem Stenzel. Ffm. u. a. 1995. – Helma Sanders-Brahms: Gottfried Benn u. E. L. Bln. 1997. – Prophet u. Prinzessin. Peter Hille u. E. L. Hg. Walter Gödden u. Michael Kienecker. Bielef. 2006. – Karin R. Haslinger: Der Briefw. v. E. L. u. Franz Marc, ein poet. Dialog. Würzb. 2009. – Thomas Höfert: E. L., Elise Bambus u. die ›Irrenanstalt Dalldorf‹. Bln. 2009. – Lyrik: Karl Josef Höltgen: Untersuchungen zur Lyrik E. L.s. Diss. Bonn 1955. – Gotthard Guder: E. L. Deutung ihrer Lyrik. Siegen 1966. – Klaus Weissenberger: Zwischen Stein u. Stern. Myst. Formgebung in der Dichtung v. E. L., Nelly Sachs u. Paul Celan. Bern/Mchn. 1976. – Angelika Overath: Das andere Blau. Zur Poetik einer Farbe im modernen Gedicht. Stgt. 1987. – Claudia Zeltner: Die Modernität der Lyrik E. L.s. Bern u. a. 1994. – Dramatik: Andrea Parr: Drama als ›Schreitende Lyrik‹. Die Dramatikerin E. L. Ffm. u. a. 1988. – Inca Rumold: Gender, Race and Politics in the Plays of E. L. Wuppertal 2006. – Auf meines Herzens Bühne. 100 Jahre E. L.s Schausp. ›Die Wupper‹ (mit Beiträgen zu allen drei Dramen). Hg. Johannes Barth u. Stefan Neumann. Wuppertal 2010. – Prosa: Iris Hermann: Raum – Körper – Schrift. Mythopoet. Verfahrensweisen in der Prosa E. L.s. Paderb. 1997. – Uta Grossmann: Fremdheit im Leben u. in der Prosa E. L.s. Oldenb. 2001. – Doerte Bischoff: Ausgesetzte Schöpfung. Figuren

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der Souveränität u. Ethik der Differenz in der Prosa E. L.s. Tüb. 2002. – Zu einzelnen Werken: Christine Radde: E. L.s Hebr. Balladen. Trier 1998. – Vivian Liska: Die Dichterin u. das schelm. Erhabene. E. L.s ›Die Nächte Tino von Bagdads‹. Tüb. u. a. 1998. – Marina Krug: Die Figur als signifikante Spur (›Hebräische Balladen‹: ›Esther‹, ›David und Jonathan‹). Ffm. u. a. 2000. – T. Höfert: Signaturen krit. Intellektualität. E. L.s Schausp. ›Arthur Aronymus‹. St. Ingbert 2002. – Andrea Krauß: Zerbrechende Tradierung. Zu Kontexten des Schauspiels ›IchundIch‹ v. E. L. Wien 2002. – Sabine Graf: Poetik des Transfers. ›Das Hebräerland‹ v. E. L. Köln u. a. 2009. – Sonstiges: Anne Overlack: Was geschieht im Brief ? Strukturen der Brief-Kommunikation bei E. L. u. Hugo v. Hofmannsthal. Tüb. 1993. – E. L. Schrift: Bild: Schrift. Bearb. Ricarda Dick unter Mitarb. v. Volker Kahmen u. Norbert Oellers. Bonn 2000 (Kat.). – E. L.-Almanach. Wuppertal 1993 ff. (verschiedene Hg.). – E. L.-Jb. zur Klass. Moderne. Hg. Lothar Bluhm u. Andreas Meier. Trier 2000 ff. Johannes Barth

Lassalle, Lassal (bis 1846), Ferdinand, * 11.4.1825 Breslau, † 31.8.1864 Genf; Grabstätte: Breslau, Jüdischer Friedhof. – Politiker, Dramatiker. Der Sohn eines Seidenwarenhändlers brach den Besuch des Gymnasiums in Breslau – nach glänzenden Anfängen, aber zunehmenden Konflikten, über die er ein Tagebuch (Hg. Paul Lindau. Breslau 1891) führte – 1840 ab u. besuchte bis 1841 eine Leipziger Handelsschule. Hier entwickelte sich durch die Lektüre u. a. der Werke Lessings, Börnes u. Heines, über die er auch Aufsätze verfasste, sein Interesse an literarischen u. historisch-polit. Themen. 1843 legte er in Breslau ein Externen-Abitur ab. Durch den Einfluss der Junghegelianer u. beeindruckt von der Phänomenologie des Geistes, entschied sich L. für das Studium der Philologie, Geschichte u. Philosophie (1843–1846, wechselnd in Breslau u. Berlin), in dessen Zentrum Hegels Werk u. Denkansatz standen. Aus ihm resultierte die 1844 begonnene Studie Die Philosophie Herakleitos des Dunklen von Ephesos (2 Bde., Bln.) von 1858, die ihm hohe Anerkennung seiner akadem. Lehrer u. Freunde (u. a. Boeckh u. Humboldt) u. – nach einer Dekade öffentlicher Diffamierungen – den Zugang zur Berliner Gesellschaft brachte.

Sein Lebensstil als Dandy u. Frauenfreund, seine polit. Anschauungen u. jurist. Aktivitäten hatten dieses negative Bild konstituiert: In Breslau schloss sich L. 1843, nach Kontakten zur jüd. Reformbewegung, einer radikalen Burschenschaft an, in der neben Feuerbachs Schriften die Theorien sozialistischer u. kommunist. Autoren diskutiert u. auf die preuß. Gegenwart bezogen wurden (vgl. etwa L.s Kriegsmanifest gegen die Welt von 1845 [NBS 1, S. 55]). Nach seiner ersten ParisReise (1845/46), auf der er oppositionelle Literaten wie Karl Grün u. Herwegh, Proudhon u. Heine traf, der in ihm den Vertreter einer neuen Generation voller »Passion und Verstandeskraft im Handeln« sah, lernte L. in Berlin die 20 Jahre ältere Gräfin Sophie von Hatzfeldt kennen. Ihrem Vermögensstreit im Scheidungsverfahren gegen Edmund von Hatzfeldt widmete sich L., obwohl juristischer Autodidakt, als ihr Generalbevollmächtigter über acht Jahre lang vor 36 Gerichten. Seit 1848 wohnhaft in Düsseldorf, führte er diesen Streit mit großem forens. Einsatz, gelegentlich mit illegalen Mitteln (so als Initiator des Kölner Kassettendiebstahls 1846 zur Beschaffung von Beweismitteln gegen den Grafen). Die Affäre fesselte den polit. Akteur im Revolutionsjahr; nach halbjähriger Untersuchungshaft wurde L. nach seiner berühmten Kassettenrede (RS III, S. 307 ff.) freigesprochen. L. begriff seinen »Fall« nun als Teil des antifeudalen Kampfes, die Gräfin stilisierte sich in Volksversammlungen gern zur »Proletarierin«. Nach der Freilassung knüpfte L. Kontakte zu Marx in Köln u. Düsseldorf, engagierte sich dort im »Demokratischen Volksclub« u. in der Bürgerwehr, forderte auf Volksversammlungen die soziale Republik, beteiligte sich an der Steuerverweigerungskampagne der »Neuen Rheinischen Zeitung« u. rief zum bewaffneten Widerstand auf, was ihm wieder (trotz der Assisenrede von 1849 [RS 1, S. 235 ff.]) eine Haftstrafe eintrug. Erst nach dem Vergleich im Hatzfeldt-Prozess (1854), der ihn durch eine jährl. Rente von 4000 Talern finanziell sicherte, verringerte sich das staatl. Interesse an ihm. Nach einer ausgedehnten Orient-Reise 1856 (Reiseberichte aus

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dem Orient [NBS VI, S. 157 ff.]) widmete sich L. intensiv wissenschaftlichen (Heraklit-Studie u. Das System der erworbenen Rechte. 2 Bde., Lpz. 1861) sowie literar. Projekten. Wie jene Studien kennzeichnet die Verbindung von Historizität u. Aktualität auch L.s histor. Tragödie Franz von Sickingen (Bln. 1859. Neuausg. Stgt. 1973). Mit dessen scheiternden Versuchen, in jener »Wendezeit« für die Idee eines geeinten Nationalstaats protestantischer Provenienz zunächst Kaiser Karl V. zu gewinnen, dann selbst die Partikulargewalten zu überwinden u. sich an die Spitze des Reichs zu setzen, die mit der Nachricht vom Bauernaufstand perspektiviert werden, inszeniert L. zgl. die Optionen von 1848/49 u. die des sich zuspitzenden preuß. Verfassungskonflikts. Die sog. »Sickingen-Debatte« (vgl. die Sammlung von Walter Hinderer. Darmst./Neuwied 1974) von 1859, in Briefen von L. u. Marx/Engels u. einem Aufsatz über die trag. Idee des Franz von Sickingen (GRS 1, S. 135 ff.) geführt, gilt aufgrund ihrer politisch-ästhet. Implikationen als Grundmodell materialistischer Literaturkritik, v. a. bezogen auf die Protagonistenkonzeption. Weitreichende literarhistor. Pläne L.s (u. a. Autor der Polemik Herr Julian Schmidt, der Literaturhistoriker. Bln. 1862) durchkreuzten 1862 der preuß. Verfassungskonflikt, in den er erfolglos (u. a. Über Verfassungswesen. Bln. 1862) einzugreifen suchte, sowie sein öffentl. Wirken für die Arbeiterbewegung. Sein Vortrag vor Berliner Handwerkern Über den besonderen Zusammenhang der gegenwärtigen Geschichtsperiode mit der Idee des Arbeiterstandes (Bln. 1862), das sog. »Arbeiterprogramm«, fand große Resonanz u. ein gerichtl. Nachspiel wegen Aufreizung zum Klassenhass, wogegen er die Verteidigungsrede Die Wissenschaft und die Arbeiter (Lpz. 1863) hielt. Am 23.5.1863 gründete L. in Leipzig den »Allgemeinen Deutschen Arbeiter-Verein«, hielt jedoch gleichzeitig Kontakt zu Bismarck. Trotz einer ganzen Serie von Vorträgen, Gerichtsreden u. Prozessen gelang ihm noch die Veröffentlichung seines ökonom. Hauptwerks Herr Bastiat-Schulze von Delitzsch der ökonomische Julian, oder: Capital und Arbeit (Bln. 1864), bevor er, zur Kur in der Schweiz, in

Lassalle

einem Pistolenduell mit dem Verlobten der Helene von Dönniges tödlich verwundet wurde. Ausgaben: Reden u. Schr.en. Hg. Eduard Bernstein. 3 Bde., Bln. 1892 f. (= RS). – Ges. Reden u. Schr.en. Hg. ders. 12 Bde., Bln. 1919 f. (= GRS). – Reden u. Schr.en. Aus der Arbeiteragitation 1862–64. Hg. Friedrich Jenaczek. Mchn. 1970. – Arbeiterlesebuch u. a. Studientexte. Hg. Wolf Schäfer. Reinb. 1972. – Reden u. Schr.en. Hg. Hans Jürgen Friederici. Ffm. 1987. – Briefe: Briefe an Georg Herwegh. Hg. Marcel Herwegh. Zürich 1896. – Aus dem literar. Nachl. v. Karl Marx, Friedrich Engels u. F. L. Hg. Franz Mehring. Bd. 4: Briefe an Marx u. Engels. 1849–62. Stgt. 1902. – Intime Briefe an Eltern u. Schwester. Hg. E. Bernstein. Bln. 1905. – Nachgelassene Briefe u. Schr.en. Hg. Gustav Mayer. 6 Bde., Stgt./Bln. 1921–25. Neudr. Osnabr. 1967 (= NBS). – Bismarck u. L. Ihr Briefw. u. ihre Gespräche. Hg. ders. Bln. 1928.  Ausgew. Reden u. Schr.en. Hg. Hans Jürgen Friederici. Bln. 1991. Literatur: Bibliografie: Bert Andréas: F. L. – Allg. Dt. Arbeiterverein. Bibliogr. ihrer Schr.en u. der Lit. über sie 1840 bis 1975. Bonn 1981. – Werkverzeichnis: Goedeke Forts. – Weitere Titel: Helene v. Racowitza: Meine Beziehungen zu F. L. Breslau 3 1879. – Georg Brandes: F. L. Lpz./Bln. 1894. – Eduard Bernstein: F. L. Bln. 1919. – Hermann Oncken: L. Zwischen Marx u. Bismarck. Hg. Felix Hirsch. Stgt. u. a. 51966 (11920). – Paul Kampffmeyer: L. Ein Erwecker der Arbeiterkulturbewegung. Bln. 1925. – David John Footman: F. L. Romantic Revolutionary. New Haven 1947. – Rolf Hildebrandt: F. L. u. die Anfänge der modernen Massenpublizistik. Diss. Bln. 1951. – Thilo Ramm: F. L. als Rechts- u. Sozialphilosoph. Meisenheim/ Wien 1953. – Stefan Heym: L. Ein biogr. Roman. Mchn. 1969. – Shlomo Na’aman: L. Hann. 1970. – Gösta v. Uexküll: F. L. Reinb. 1974. – Hartmut Stirner: Die Agitation u. Rhetorik F. L.s. Marburg 1979. – Fritz Nova: L. als sozialist. Theoretiker. Köln u. a. 1980. – Helmut Hirsch: Sophie v. Hatzfeldt. Reinb. 1981. – Elzbieta Kundera: F. L. Breslau 1984. – Hans Jürgen Friederici: F. L. Eine polit. Biogr. Bln./DDR 1985. – Frank Como: Die Diktatur der Einsicht. F. L. u. die Rhetorik des dt. Sozialismus. Ffm. u. a. 1991. – Brita Baume: F. L. im literar. Leben seiner Zeit. Diss. Bln. 1991. – ›Auf ehrliche und anständige Gegnerschaft...‹ F. L. u. der F.-A.Brockhaus-Verlag in Briefen u. Komm.en. Hg. Erhard Hexelschneider u. Gerhild Schwendler. Wiesb. 2000. – Thilo Ramm: F. L.: Der Revolutionär u. das Recht. Bln. 2004. Fritz Wahrenburg / Red.

Laßberg

Laßberg, Joseph (Maria Christoph) Frhr. von, auch: Meister Sepp von Eppishusen, * 10.4.1770 Donaueschingen, † 15.3.1855 Meersburg/Bodensee. – Germanist u. Handschriftensammler. L. stammte aus einem alten kath. Adelsgeschlecht. Er studierte in Freiburg/Br. Kameralwissenschaften u. wurde wie sein Vater Fürstlich Fürstenbergischer Geheimer Rat u. Oberjägermeister. Durch seine Verbindung mit der verwitweten Fürstin Elisabeth zu Fürstenberg (1767–1822) stieg er zum engsten Berater u. heiml. Regenten des Fürstentums Fürstenberg auf. Zus. mit Elisabeth kämpfte er auf dem Wiener Kongress vergeblich gegen die Mediatisierung des Fürstentums. In der Wiener Zeit knüpfte L. Kontakt mit Gleichgesinnten, die sich für die Erforschung des dt. Mittelalters einsetzten u. davon positive Impulse für die zeitgenöss. Gesellschaft erwarteten. L. war die treibende Kraft der antiquarischen Gesellschaft »Kette«. Er engagierte sich aber auch in der »Wollzeilergesellschaft« mit Jacob Grimm. Mit finanziellen Mitteln der Fürstin Elisabeth gelang es L., die Nibelungenhandschrift C in Wien zu erwerben. Als L. sich nach dem Ende des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation verstärkt der Erforschung mhd. Literatur zuwandte, hatte Friedrich Heinrich von der Hagen im Jahre 1810 die erste außerordentl. Professur für Germanistik in Berlin erlangt. Mit Georg Friedrich Benecke, den Brüdern Grimm, Karl Lachmann u. a. darf L. als einer der Väter der Germanistik bezeichnet werden. Mit dem genannten Personenkreis stand er in engem wiss. Austausch. Das häufig im Zusammenhang mit der Person L.s gefallene Wort vom Dilettanten ist, selbst im engeren Sinne gebraucht, fehl am Platz, wenn man bedenkt, dass die Germanistik als Disziplin damals noch in den Kinderschuhen steckte. Mit der heute negativ wertenden Konnotation ist der Begriff ohnehin nicht auf L. anzuwenden. Seine in den Jahren 1819/20–1825 erstmals erschienene Liedersaal-Edition (Buchhandelsausg.: St. Gallen, Konstanz 1846) zählt zu den bedeutendsten germanist. Leistungen des

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frühen 19. Jh. L. veröffentlichte dort eine der Haupthandschriften der Reimpaar-Kleindichtung des 13. u. 14. Jh., die später der Edition folgend den Namen Liedersaal-Handschrift erhielt, u. Nibelungenlied u. Klage aus der berühmtesten Handschrift seiner Bibliothek (heute Badische Landesbibliothek Cod. Donaueschingen 104 u. Cod. Donaueschingen 63). L. gehörte zu einer Generation, die sich der dt. Sprache des Mittelalters gerade erst neu zugewandt hatte. Die Liedersaal-Edition versuchte die Sprachbarriere zum Mittelhochdeutschen auf elegante Art u. Weise zu überwinden, indem den mhd. Texten Titel u. kurze nhd. Inhaltsangaben in Prosa beigegeben wurden. L. blieb damit historisch exakt u. ermöglichte den Lesern einen unverstellten Blick auf den mhd. Text. An seinen Wohnorten in Eppishausen im Thurgau, wo er nach dem Tod der Fürstin Elisabeth zu Fürstenberg eine Ehe mit Jenny (1795–1859), der Schwester der Annette von Droste-Hülshoff, eingegangen war, u. später auf der Alten Meersburg stellte er den Wissenschaftlern seiner Zeit bereitwillig seine renommierte Bibliothek u. sein Wissen zur Verfügung. 1853 verkaufte L. seine Handschriften u. Bücher an Fürst Karl Egon II. zu Fürstenberg (1796–1854), die in der Folge in die Hofbibliothek Donaueschingen eingegliedert wurden. Ende des 20. Jh. gab das Haus Fürstenberg dieses über Generationen hin gepflegte kulturpolit. Engagement auf u. trennte sich nach u. nach von seiner traditionsreichen Bibliothek. Damit wurde auch die Bibliothek L.s zerschlagen. Während die Donaueschinger Handschriften noch vollständig vom Land Baden-Württemberg angekauft, aber auf die beiden Landesbibliotheken verteilt wurden – die deutschsprachigen Handschriften bis 1500 gelangten überwiegend in die Badische Landesbibliothek –, konnten Drucke, die einst in L.s Bibliothek standen, nur noch in Auswahl erworben werden. Der größte noch zusammenhängende Teil seiner Hand- u. Forschungsbibliothek befindet sich heute in der Badischen Landesbibliothek, ein weiterer namhafter Teil wurde von der Thurgauischen Kantonsbibliothek erworben.

249 Weitere Werke: [Schondoch, Der Litauer:] Ein schoen u. anmuetig Gedicht, wie ein heidescher Küng, gen. der Littower, wunderbarlich bekert u. in Prüssenland getoufft ward [...] jezt zum erstenmal [...] ans Liecht gestellt [...] Gedrukt am obern Markt, uf Neujar 1826 (Privatdr.). Konstanz 1826 (erw. Buchhandelsausg.). Schwäbisch Hall o. J. (2. Buchhandelsaufl.). – Burgen u. Sänger [u. Beschreibung v.] Heiligenberg. In: Gustav Schwab: Der Bodensee nebst dem Rheintale v. St. Luziensteig bis Rheinegg. Hdb. für Reisende u. Freunde der Natur, Gesch. u. Poesie. Stgt./Tüb. 1827, S. 140–165, 381–385. Vgl. Stgt./Tüb. 21840. – [Älterer Sigenot:] Ein schoen u. kurzweilig Gedicht v. einem Riesen genannt Sigenot [...] zum erstenmal ans Liecht gestellt [...] Gedrukt am obern Markt, uf Neu Jar 1830 (Privatdr.). – [Eckenlied, Version I:] Eggen-Liet, das ist: Der Wallere [...] aus der ältesten geschrift, also zum ersten mal ans liecht gestellt [...] gedrukt am obern markt, uf neu iar 1832 (Privatdr.). – [Konrad Silberdrat: Graf Friedrich von Zollern] Ein schoen alt Lied v. Grave Friz von Zolre, dem Oettinger, u. der Belagerung v. Hohen-Zolren nebst noch etl. andern Liedern. Also zum ersten mal [...] in druk ausgegeben [...] in diesem iar [1842] (Privatdr.). Literatur: Bibliografie: Martin Harris: J. M. C. Frhr. v. L. 1770–1855. Briefinventar u. Prosopographie. Mit einer Abh. zu Lassbergs Entwicklung zum Altertumsforscher. Heidelb. 1991. – Weitere Titel: Felix Heinzer (Hg.): ›Unberechenbare Zinsen‹. Bewahrtes Kulturerbe. Kat. zur Ausstellung der vom Land Baden-Württemberg erworbenen Hss. der Fürstlich Fürstenbergischen Hofbibl. Stgt. 1993. – Ders.: Die neuen Standorte der ehemals Donaueschinger Handschriftenslg. In: Scriptorium 49 (1995), S. 312–319. – Ute Obhof (Hg.): J. Frhr. v. L., 1770–1855, u. seine Bibl. Neuerwerbungen des Landes Baden-Württemberg in der Badischen Landesbibl. I. Begleitbuch zur Ausstellung vom 17.2.12.4.2001. Karlsr. 2001. – Heinz Bothien (Hg.): J. v. L. Des letzten Ritters Bibl. Ausstellung der Thurgauischen Kantonsbibl. 7.4.-28.10.2001. Frauenfeld/Stgt./Wien 2001. – U. Obhof: Elisabeth Fürstin zu Fürstenberg u. J. Frhr. v. L. in Wien. In: Die ›Nibelungenlied‹-Hs. C, Codex Donaueschingen 63, Badische Landesbibl. Hg. v. der Kulturstiftung der Länder in Verb. mit der Badischen Landesbibl. in Karlsruhe. Karlsr. [u. Bln.] 2005, S. 15–21. – Sammeln u. Bewahren. J. v. L., Jenny u. Annette v. Droste-Hülshoff. Kolloquium in Meersburg 1998. In: Droste-Jb. 6 (2005/06), S. 13–103. Ute Obhof

Lassenius

Lassenius, Johannes, * 26.4.1636 Waldow/ Pommern, † 29.8.1692 Kopenhagen. – Theologe u. Erbauungsschriftsteller. L. war Pastorensohn, besuchte die Lateinschulen in Stolp u. Danzig u. begann 1654 am Fürstlichen Pädagogium in Stettin ein Theologiestudium, das er 1655–1657 in Rostock fortsetzte. Dort war er Schüler des als Erbauungsschriftsteller erfolgreichen Heinrich Müller. Nach dem Studium begleitete er zunächst einen Danziger Patriziersohn nach Holland, Frankreich u. England, danach mehrere fürstl. u. adlige Studenten über Holland u. Frankreich nach Italien, Spanien u. Portugal. Für kurze Zeit wurde L. dann Kustos der kurfürstl. Bibliothek in Berlin, erhielt aber ein Stipendium, das es ihm ermöglichte, noch eine Reihe oberdt. Universitäten zu besuchen u. in Straßburg den Magistergrad zu erwerben. In den folgenden Jahren hatte er keine feste Anstellung, sondern schlug sich mit Schriftstellerei durch. So war er um 1661 in Nürnberg. Er veröffentlichte polem. Schriften u. wurde deshalb, zumindest nach eigenen Angaben, von Jesuiten verfolgt, auf ihr Betreiben gefangengesetzt u. schließlich bis an die Grenze des Osmanischen Reichs verschleppt, wo er sich befreien konnte. Zeitweise war er nach nicht mehr überprüfbaren späteren Angaben auch Schauspieler. 1663/64 war er anscheinend in Helmstedt. Dann kam er nach Hamburg u. in die angrenzenden Städte u. erhielt endlich 1666 eine feste Anstellung als Rektor der Lateinschule u. außerplanmäßiger Prediger in Itzehoe. 1667 erwarb er in Greifswald den Grad eines Lizentiaten der Theologie, 1668 wurde er von Reichsgraf Detlev von Rantzau zum Hofprediger u. Propst in Barmstedt bestellt. Hier verkehrte er in derselben Umgebung wie später Wernicke. 1676 wurde er mit Unterstützung Christians V. von Dänemark zum Hauptpastor der dt. Gemeinde in Kopenhagen berufen, wo er als Prediger ungewöhnl. Erfolg hatte. Seitdem führte er auch den Titel eines Doktors der Theologie. 1678 wurde er zgl. Professor an der Kopenhagener Universität u. bekleidete seit 1686 den Rang des Professor primarius.

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Weitere Werke: Erbauungsbücher (ErscheiL. brachte eine Vielzahl von erbaulichen u. teils belehrenden, teils unterhaltenden Bü- nungsort jeweils Kopenhagen): Sionit. Erquickchern zum Druck: nur im strengen Sinne Stunden. 1676. – Hl. Perlen-Schatz. 12 Tle., gelehrte Schriften waren außer den Disputa- 1687–89. – Das betrübte u. v. Gott reichl. getröstete Ephraim. 1692. – Himml. Morgen-Thau der süssen tionen der Studentenzeit nicht darunter. Gnade Gottes. 1692. – Sieben mahl sieben hl. PasStatt dessen schrieb er polem. Schriften gegen sions-Andachten. 1696. – Hl. Moralien über die Katholiken u. Quäker, Bußpredigten aus Evangelien u. Episteln. 3 Bde., 1698–1702. – VerAnlass der Türkengefahr u. die häufig ge- liebte Sulamithin. 1699. – Das für seinen zeitl. u. druckte deutschsprachige Schrift Arcana Poli- ewigen Untergang gewarnete Capernaum. 1700. – tico-Atheistica (o. O. 1666), in der er recht ab- Himml. Gnaden=Licht, darinnen die Göttl. Kirseitige theolog. Spitzfindigkeiten erörterte. chen=Historie der ersten 1700 Jahre der Welt in Das berührte sich mit der beliebten Gattung Beantwortung hundert u. etl. Curieuser Fragen der Gesprächsliteratur, die L., in der Nach- über Die Schein-duncklen Oerther der XI. Capitel folge Harsdörffers, mit Geschick zu handha- des Ersten Buchs Mosis [...] vernünftiglich erläutert [...] wird. Kopenhagen 1700. ben verstand u. in die er Fragen des prakt. Literatur: Bibliografien: Dünnhaupt 2. Aufl., Lebens einbrachte: Adeliche Tisch-Reden Bd. 4, S. 2479–2511. – VD 17. – Weitere Titel: Cars(Nürnb. 1661), Bürgerliche Reiß- und Tischreden ten Erich Carstens: L. In: ADB. – Constantin (Nürnb. 1662), Ehrliebender Bürger und Kauff- Grosse: Die alten Tröster. Hermannsburg 1900, leute Lohn und Kron (Magdeb. 1662), Sinnlicher S. 277–284. – Louis Bobé: Die dt. St. Petri GeZeitvertreiber (Jena 1664), Frucht-bringende Ge- meinde zu Kopenhagen. Kopenhagen 1925, spräch-Spiel (Rostock 1666). Hier schlossen S. 97–108. – Wilhelm Rahe: J. L. Gütersloh 1933 sich polit. Belehrungen an: Der Gott wolgefäl- (mit Werkverz.). – Philipp M. Mitchell: J. L. u. seine lige Fürst (Dresden 1661), Der vorsichtige und Tischreden. In: Virtus et Fortuna. FS Hans-Gerd glückliche Kriegesmann (Dresden 1661), Beden- Roloff. Bern u. a. 1983, S. 496–517. – Jürgen Beyer: cken über den itzt vor Augen schwebenden Türcki- J. L., ein lebendes Predigtexempel? In: Ders. u. Johannes Jensen (Hg.): Sankt Petri Kopenhagen schen Krieg (Nürnb. 1661). 1575–2000. 425 Jahre Gesch. dt.-dän. BegegnunDen größten u. nachhaltigsten Erfolg hatte gen in Biogr.n. Kopenhagen 2000, S. 23–32. – L. als Erbauungsschriftsteller. Als solcher trat Wolfgang Harms: L. In: NDB. – Wilhelm Kühler zuerst 1662 mit dem Werk Ewig-währender mann: Aporien der bibl. Urgesch. – Bemerkungen Freuden-Saal der Kinder Gottes (Nürnb.) auf, zu J. L.’ populärem Hdb. (1700) über die ›scheindessen Titel bezeichnend ist für seine bei aller dunklen Örter‹ in Genesis 1–11. In: Hermeneutik orthodoxen Grundhaltung doch nicht welt- der Schrift der Theologen der Kirche. Hg. Chrisfeindl. Lehre, die auch seine vielfach neuge- toph Bultmann u. Lutz Danneberg. Bln. 2010. druckte Katechismus-Erklärung Handleitung Dieter Lohmeier / Wilhelm Kühlmann zur Seligkeit (Glückstadt 1673) prägte. Seit seiner Berufung nach Kopenhagen veröfLaßwitz, (Carl Theodor Victor) Kurd, fentlichte L. dann nur noch Erbauungsbüauch: L. Velatus, * 20.4.1848 Breslau, cher, die auf seinen Predigten fußten; auch † 17.10.1910 Gotha. – Erzähler; Philonach seinem Tod wurden noch weitere aus soph. seinem Nachlass ediert, darunter Auseinandersetzungen mit der aktuellen Bibelkritik. Der Sohn eines Kaufmanns u. Abgeordneten Dass diese umfangreichen Werke bis etwa zum Preußischen Landtag studierte ab 1866 1740 teilweise mehrere Auflagen erlebten – Mathematik, Physik u. Philosophie in Breslau Biblischer Weyrauch (Kopenhagen 1687. Neudr. u. Berlin (u. a. bei Dühring u. Dilthey). Als Herrmannsburg 1878) sogar etwa 20 bis 1764 Einjährig-Freiwilliger nahm L. am dt.-frz. – u. ins Dänische u. Niederländische über- Krieg 1870/71 teil. 1873 promovierte er zum setzt wurden, zeigt, dass L. die luth. Ortho- Dr. phil., nach dem Staatsexamen 1874 war doxie auf eine offenbar zeitgemäße Weise zu er ab 1876 bis zur Pensionierung 1908 Gymvermitteln wusste. nasiallehrer für Mathematik, Physik, Geografie u. Philosophie am Ernestinum in Gotha. L. war Mitgl. mehrerer naturwiss. Verei-

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nigungen u. Mitarbeiter der Akademie-Ausgabe von Kants Schriften. Vor der von ihm gegründeten »Mittwochs-Gesellschaft zu Gotha« hielt er zahlreiche Vorträge. L.’ Gesamtwerk folgt einer klaren einheitl. Problematik. Es ist in drei Teile gegliedert: zum einen wiss. Arbeiten u. Editionen zur Physik u. Philosophie; zum zweiten kulturphilosophische u. populärwiss. Aufsätze u. Reden; zum dritten literarische, vorwiegend epische naturwiss. Märchen u. Zukunftsliteratur. Das Ziel, mittels seiner anerkannten wiss. Arbeiten eine Universitätslaufbahn zu erreichen, verfehlte L., sodass er sich in den letzten beiden Lebensjahrzehnten auf die beiden anderen Werkgruppen konzentrierte. Seine Themen waren die Atomistik, der sein Hauptwerk Die Geschichte der Atomistik vom Mittelalter bis Newton (Hbg. 1890) gewidmet war, die Kant’sche Erkenntniskritik, zu der er die preisgekrönte Schrift Die Lehre Kants von der Identität des Raumes und der Zeit, im Zusammenhange mit seiner Kritik des Erkennens allgemeinverständlich dargestellt (Bln. 1883) vorlegte, u. das Werk Gustav Theodor Fechners. Die hier behandelten Fragen hat L. in seinen Aufsätzen u. Reden mit Blick auf ihre Folgen für die gegenwärtige u. zukünftige Kulturentwicklung reflektiert. Das erzählerische Werk dient der Poetisierung der Naturwissenschaften u. der Popularisierung ihrer Erkenntnisse. L. begann als Gelegenheitsdichter u. publizierte zunächst humorist. Prosa in den »Fliegenden Blättern« u. anderen Zeitschriften. Schon mit der ersten Buchpublikation begann er sich auf die Bereiche der Zukunftsliteratur, der naturwiss. Märchen u. der romant. Phantastik zu konzentrieren. Die unabhängig von Jules Verne entstandenen Bilder aus der Zukunft (Breslau 1878) entwarfen ein Panorama zukünftiger Lebensverhältnisse, das extrapolierend aus gegenwärtigen Tendenzen abgeleitet war. Das Verhältnis von moralisch-ethischem Verhalten u. zukünftiger techn. Entwicklung wird hier noch eher spielerisch behandelt. Der große Roman Auf zwei Planeten (Weimar 1897. Neuausg. hg. v. Rudi Schweikert. Ffm. 1979) handelt vom Kontakt einer kulturell u. evolutionär fortgeschrittenen Mars-Kultur mit den Menschen

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der wilhelmin. Zeit. L. setzt die Kant’sche Ethik als kulturelles Telos, das mit der Kolonisierung der Erde durch die Martier, die die Erdbewohner mit den Segnungen des Fortschritts beglücken wollen, auf den Prüfstand gerät. Die Problemkonstellationen dieses techn. Zukunftsromans beziehen sich auf eine Vielzahl zeitgenössischer Probleme (Imperialismus u. Kolonialismus, Ethik u. Politik, Rassenkonflikte usw.). Die Novelle Schlangenmoos (Breslau 1884) u. die späten Romane Aspira. Roman einer Wolke (Lpz. 1905) u. Sternentau. Die Pflanze vom Neptunsmond (Lpz. 1909) übertragen romant. Märchenmotivik in die naturwissenschaftlich-technisch geprägte Gegenwart. Die breiteste Nachwirkung erzielte L. mit seiner pointierten Kurzprosa, den naturwiss. Märchen, die in den Bänden Seifenblasen (Hbg. 1890. 2., verm. Aufl. Weimar 1894) u. Nie und Immer (Lpz. 1902. 2., erw. Aufl. 1907) gesammelt vorliegt. Ihre Handlungen sind aus den erkenntnistheoretischen u. naturwiss. wie eth. Fragen des wiss. Werks entwickelt. In den programmatischen, als Beiträge zum Weltverständnis verstandenen Sammlungen Wirklichkeiten (Bln. 1900) u. Seelen und Ziele (Lpz. 1908) sammelte L. seine essayist. Prosa. Die literar. Arbeiten verwenden traditionelle Formen des 19. Jh., sie sind wechselweise satirisch oder sentimental u. pathetisch gehalten. Die Gedankenexperimente der Prosa sind aufklärerisch-optimistisch, verkünden ein pazifist. Credo, werden vom Grundton her später pessimistischer, ohne die Hoffnung auf einen Kulturfortschritt preiszugeben. Bis in die Weimarer Republik blieben L.’ Werke auf dem Buchmarkt präsent; in der NS-Zeit galten die Texte als unerwünschte radikalliberalistische u. pazifist. Tendenzliteratur. Nach 1945 wurde L. von Arno Schmidt u. Jorge Luis Borges unabhängig voneinander wiederentdeckt; seit den 1980er Jahren gilt er als Gründervater der dt. Science-Fiction, in dessen Namen ein Literaturpreis vergeben wird. Seit 2008 erscheint die erste Gesamtausgabe. Weitere Werke: Über Tropfen, welche an festen Körpern hängen u. der Schwerkraft unterworfen sind. Inaugural-Diss. Breslau 1873. – Atomistik u. Kriticismus. Ein Beitr. zur erkenntnistheoret.

Latomus Grundlegung der Physik. Braunschw. 1878. – Natur u. Mensch. Breslau 1878. – Prost. Der FaustTrag. (-n)ter Teil. Breslau 1882. – Festspiel zum ersten Stiftungsfest der Mittwoch-Gesellsch. am 11. Nov. 1885. [Gotha] 1885. – Gustav Theodor Fechner. Stgt. 1896. 2., verm. Aufl. 1902. – Religion u. Naturwissensch. Ein Vortrag. Lpz. 1904. – Was ist Kultur? Ein Vortrag. Lpz. 1906. – Empfundenes u. Erkanntes. Aus dem Nachlasse. Lpz. 1920. – Herausgeber: Gustav Theodor Fechner: Nanna oder über das Seelenleben der Pflanzen. Hbg. 1848. – Ders.: Zend-Avesta oder über die Dinge des Himmels u. des Jenseits. Vom Standpunkt der Naturbetrachtung. 3 Bde., Hbg./Lpz. 1851. – Kant’s ges. Schr.en. Hg. v. der Kgl. Preuß. Akademie der Wiss.en. 1. Abt.: Werke. Bd. 1: Vorkrit. Schr.en I 1747–56. Bln. 1902 (Mithg.). – Kant’s ges. Schr.en. Hg. v. der Kgl. Preuß. Akademie der Wiss.en. 1. Abt.: Werke. Bd. 2: Vorkrit. Schriften II 1757–77. Bln. 1905 (Mithg.). Werkausgabe: Kollektion Laßwitz. Hg. Dieter v. Reken. Lüneb. 2008 ff.: Abt. I. Romane, Erzählungen u. Gedichte. 10 Bde.; Abt. II. Sachbücher, Vorträge u. Aufsätze. 9 Bde.; Abt. III. Sekundärlit. 1 Bd. Literatur: Werkverzeichnis: Goedeke Forts. – Weitere Literatur: Hans Lindau: K. L. In. Empfundenes u. Erkanntes. Aus dem Nachlasse v. K. L. Lpz. 1920, S. 1–56. – Klaus Günther Just: Über K. L. In: KGJ: Marginalien. Probleme u. Gestalten der Lit. Bern/Mchn. 1976, S. 170–192. – William B. Fischer: The Empire Strikes Out. K. L., Hans Dominik, and the Development of German Science Fiction. Bowling Green 1984. – Dietmar Wenzel (Hg.): K. L. – Lehrer, Philosoph, Zukunftsträumer. Die eth. Kraft des Technischen. Meitingen 1987. – Heike Szukaj: Empfundenes u. Erkanntes. K. L. als Wissenspopularisator 1848–1910. Diss. Münster 1996. – Rudi Schweikert: Anhang. In: K. L.: Auf zwei Planeten. Jubiläumsausg. Mchn. 1998, S. 847–1045. – Françoise Willmann: K. L.’ Popularisierungswerk. Wiss. im Märchen. In: Lit. u. Wissen(schaften) 1890–1935. Hg. Christine Maillard u. Michael Titzmann. Stgt./Weimar 2002, S. 97–109. – Bartholomäus Figatowski: Zwischen utop. Idee u. Wirklichkeit. K. L. u. Stanislaw Lem als Vertreter einer mitteleurop. Science fiction. Wetzlar 2004. – F. Willmann: Le néokantisme de K. L.: la théorie critique entre science et littérature. In: Littérature et théorie de la connaissance (2004), S. 107–123. Hans-Edwin Friedrich

Latomus, Bartholomaeus ! Steinmetz, Bartholomeus

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Lattmann, Dieter, * 15.2.1926 Potsdam. – Erzähler u. Publizist. Der Offizierssohn meldete sich nach dem Abitur 1944 freiwillig zur Kriegsmarine. Nach dem Krieg machte er eine Verlagsbuchhändlerlehre. Anschließend arbeitete er in verschiedenen Verlagen; zuletzt war er Leiter der Presseabteilung im Münchner Piper-Verlag. L. veröffentlichte in diesen Jahren Aufsätze, Zeitungsbeiträge u. sein erstes Buch mit Erzählungen u. Essays, Die gelenkige Generation (Mchn. 1957). 1959 ließ er sich als freier Schriftsteller u. politisch engagierter Publizist in München nieder. 1968 war er aktiv an der Gründung der Bundesvereinigung deutscher Schriftstellerverbände, seit 1969 Verband Deutscher Schriftsteller (VS; Gründungsreferat: Der Poet auf dem Supermarkt), beteiligt, dessen Vorsitzender er bis 1974 war. 1969 trat er in die SPD ein u. beteiligte sich an der von Grass initiierten Wählerinitiative. 1972–1980 war er Bundestagsabgeordneter u. fungierte als kulturpolit. Sprecher der SPD. 1977–1985 war L. Präsidiumsmitgl. des Goethe-Instituts, 1981 Mitbegründer der Künstlersozialkasse u. von 1980 bis 2000 Teilnehmer der Friedensbewegung. Er wirkte mit am Krefelder Appell (Keine Atomwaffen für Europa) u. war 1997 Mitunterzeichner der Erfurter Erklärung (Bis hierher und nicht weiter – Verantwortung für soziale Gerechtigkeit) u. des Potsdamer Manifests (Wir müssen lernen, auf neue Weise zu denken). L. hat seine Bonner Erfahrungen, Isolation u. drohenden Persönlichkeitsverlust, die Ernüchterung durch die Sachzwänge u. Fraktionsdisziplin u. die allmähl. Resignation, in den Essaybänden Die Einsamkeit des Politikers (Mchn. 1977) u. Die lieblose Republik. Aufzeichnungen aus Bonn am Rhein (Mchn. 1981) bilanziert. Der Roman Die Brüder (Ffm. 1985), Geschichte eines dt.-dt. Familientreffens, fand weites Interesse. Die Kritik, die L.s frühere Romane wie Schachpartie (Mchn. 1968) der Betulichkeit geziehen hatte, lobte »das moralische Anliegen dieses historischen Lehrbuchs«, bemängelte aber sprachliche Schwächen u. den didakt. Ton. 1996 recherchierte L. in einer Klinik für Suchtkranke als Praktikant für sein Buch Fernwanderweg

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(Mchn. 2003). Im Roman Jonas von Potsdam (Zürich 1995) reflektiert er wie in seinen Lebenserinnerungen Einigkeit der Einzelgänger. Mein Leben in der Literatur und Politik (Mchn. 2006) die erlebte Zeitgeschichte. In Erklärungen u. Rundfunksendungen hat L. zu polit. Fragen Stellung genommen. Daneben arbeitete er an Anthologien mit, publizierte Hörspiele u. Fernsehfilme. Weitere Werke: Ein Mann mit Familie. Mchn. 1962 (R.). – Mit einem dt. Paß. Tgb. einer Weltreise. Mchn. 1964. – Zwischenrufe u. andere Texte. Mchn. 1967 (Ess.). – Kennen Sie Brecht? Stationen seines Lebens. Stgt. 1988. Nachdr. 1993. – Dt.-dt. Brennpunkte. Ein Schriftsteller in der Politik. Bln. 1990. – Die verwerfl. Alte. Eine Gesch. aus unserer Zeit. Stgt. 1991. Literatur: Günter Wirth: Familiengesch. als Zeitgesch. In: NDL 33 (1985), S. 164 ff. – Gerhard Bolaender: D. L. In: KLG. – Thomas Kraft: D. L. In: LGL. – Christoph Nettersheim: D. L. In: Microsoft Encarta Online-Enzyklopädie 2008. Annette Meyhöfer / Diether Krywalski

Latzko, Andreas, eigentl.: Adolf Andor Latzkó, * 1.9.1876 Budapest, † 11.9.1943 Amsterdam. – Erzähler, Dramatiker u. Publizist. Nach einem abgebrochenen Chemiestudium in Berlin, Angestelltentätigkeit u. ersten Erfolgen als Dramatiker unternahm L. ausgedehnte Reisen nach Ägypten, Indien, Ceylon u. Java. Vom Fronteinsatz (ab 1915) im Ersten Weltkrieg wurde er 1916 wegen seines schlechten Gesundheitszustands beurlaubt. Er übersiedelte in die neutrale Schweiz, von wo aus er sich publizistisch – u. a. als Mitarbeiter der expressionist. Zeitschriften »Die weißen Blätter«, »Die Aktion«, »Der Friede«, »Das Forum« u. »Die Erde« – gegen den Krieg einsetzte. Durch die Zusammenarbeit mit Landauer u. die Mitarbeit in der »Internationalen Gruppe Clarté« suchte L. sein pazifist. Ethos in prakt. Politik umzusetzen, wurde jedoch durch das Scheitern der Münchner Räterepublik desillusioniert. Gemeinsam mit August Forel u. a. gab er die Schrift Der einzige Weg zum Rechtsfrieden (Zürich 1919) heraus. Nach 1918 lebte L. in Österreich, der Schweiz u. seit 1931 in Amsterdam.

In seinen von Barbusses Le Feu angeregten u. z.T. anonym veröffentlichten Kriegserzählungen u. -romanen (Friedensgericht. Zürich 1918; Romain Rolland gewidmet. Menschen im Krieg. Zürich 1918. Der letzte Mann. Mchn./Wien/Zürich 1919) beschreibt L. in expressiven Bildern die Grausamkeit des Kriegs, die Brutalität fanat. Offiziere, soziales Unrecht, die phys. u. psych. Entmenschlichung der Soldaten, die Sinnlosigkeit ihres Sterbens. Diese Themen sprechen existentielle Fragen der »verlorenen Generation« an, bei der das Kriegserlebnis u. die daraus resultierende Orientierungslosigkeit eine tiefe Identitätskrise auslösten. Nach einer Phase intensiver Rezeption nach dem Ersten Weltkrieg gerieten L.s von humanistischem Ethos erfüllte Werke rasch in Vergessenheit. Weitere Werke: Der Roman des Herrn Cordé. Bln. 1906. – Apostel. Bln. 1911 (Kom.). – Der wilde Mann. Lpz. 1913 (R.). – Frauen im Krieg. Geleitworte zur Internat. Frauenkonferenz für Völkerverständigung in Bern. Zürich 1918. – Sieben Tage. Wien 1931 (R.). – Onderweg. Amsterd. 1932 (P.). – Lafayette. Zürich 1935 (R.). – Levensreis (zus. mit Stella Latzko). Amsterd. 1950 (Autobiogr.). – Der Doppelpatriot. Texte 1900–32. Hg. mit einem Nachw. v. Ja´ nos Szabo´ . Mchn. 1993. Literatur: Horst Haase: Zu zwei E.en v. A. L. In: Német filológiai tanulmányok 16 (1985), S. 65–70. – Helga Noe: Die literar. Kritik am Ersten Weltkrieg in der Ztschr. ›Die weißen Blätter‹: René Schickele, Annette Kolb, Max Brod, A. L., Leonhard Frank. Diss. Zürich 1986. – János Szabó: Der vergessene A. L. In: Acta Litteraria Acad. Sci. Hung. 29 (1987), S. 305–314. – Ders.: Ein Österreicher aus Ungarn oder ein Ungar aus Österreich? Zum Lebenswerk v. A. L. In: ›Kakanien‹. Hg. Eugen Thurnher u. a. Budapest u. a. 1991, S. 357–366. – Andrew Barker: The First World War Fiction of A. L. In: Gender and Politics in Austrian Fiction. Hg. Ritchie Robertson u. Edward Timms. Edinburgh 1996, S. 100–117. – Eckart Früh (Hg.): A. L. Wien 1998. Erw. Fass. 2003 (Spuren u. Überbleibsel). – Andrew Barker: ›Ein Schrei, vor dem kunstrichterl. Einwendungen gern verstummen‹. A. L.: ›Menschen im Krieg‹ (1917). In: Von Richthofen bis Remarque. Hg. Thomas Schneider u. Hans Wagener. Amsterd. 2003, S. 85–96. – Péter Varga: Sakrales u. Profanes bei A. L. In: Narratologie interkulturell. Hg. Tom Kindt u. Katalin Teller. Ffm. u. a. 2005, S. 167–178. Armin A. Wallas † / Red.

Lau

Lau, Fritz, * 10.8.1872 Möltenort bei Kiel, † 5.7.1966 Glückstadt. – Erzähler, Dramatiker, Lyriker. L., Sohn eines Schiffers, war Postbeamter in Glückstadt. Er gehörte zu den bedeutenden plattdeutsch schreibenden Mundartdichtern, deren Rezeption durch die Heimatkunstbewegung gefördert wurde. L. gestaltete in seinen häufig mit Lyrismen durchsetzten Erzählungen die Tragik von Schicksalen einfacher Leute (Katenlüd. Garding 1909. Ebb un Flot – Glück un Not. Garding 1911. In Luv un Lee. 2 Bde., Hbg. 1916. So is dat Leben. Hbg. 1926. Wat mi so öwern Weg löp. Hbg. 1932). Als optimistischer Ratgeber zeigte sich L. in dem hochdeutsch verfassten »Taschenbüchlein« Ersehnte Sonnenblicke (Luzern 1924). Als seine künstlerischen Hauptwerke gelten die Bauern-Romane Elsbe. Een Stück Minschenleben (Hbg. 1918) u. Drees Dreesen (Hbg. 1924), die Konflikte junger Menschen mit einer habgierigen, vorurteilsbehafteten älteren Generation darstellen. Im Dritten Reich kaum publizierend, veröffentlichte L. 1962 eine letzte Sammlung von Erzählungen, Wat löppt de Tiet. Utsöcht vertellen (Hbg.). Weitere Werke: Johann un Trina up Reisen. Garding 1910 (D.). – Helden to Hus. Hbg. 1915 (E.en). – Nervenkraft durch Gottes Geist. Studien u. Erfahrungsfrüchte. Freib. i. Br. 1922. – Auguste in der Großstadt. Heimatbriefe des Dienstmädchens Auguste Oschkenat aus Enderweitschen per Kieselischken. Ausgediftelt v. F. L. 2 Bde., Königsb. 1925. – Ünnern Tüffel. [...]. Garding 1926 (D.). Literatur: Susanne Fischer: F. L.s literar. Produktion u. Selbstdeutung. In: Quickborn 77 (1987), S. 183–194. – Stefanie Janssen: Auf den Spuren v. F. L. Mönkeberg 2006. Christian Schwarz / Red.

Lau, Theodor Ludwig, * 15.6.1670 Königsberg, † Februar 1740 Altona. – Jurist, Schriftsteller, Übersetzer, radikaler Aufklärer. L., der Sohn des Rechtsprofessors u. kurfürstlich-brandenburgischen Rats Philipp Lau, begann 1685 das Studium an der Königsberger Universität, wo er 1690 unter dem Präsidium des Ethikprofessors Georg Thegen Conclusiones politicae verteidigte. Er setzte 1694 seine Studien in Halle u. a. bei Christian

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Thomasius, Samuel Stryk u. Johann Franz Budde fort. Im folgenden Jahr trat er mit seinem Bruder Georg Reinhold eine sechs Jahre dauernde Studienreise an, die ihn nach Holland (Den Haag, Leiden), für eine kürzere Zeit nach England u. Frankreich führte u. ihn mit Isaac Newton sowie der westeurop. Frühaufklärung bekannt machte. 1701 trat L. als fürstl. Hofrat in den Dienst des kurländ. Herzogs Friedrich Wilhelm, der ihn auch mit diplomat. Missionen betraute. Nach dem Tod seines Arbeitgebers wurde L. auf Betreiben des russ. Zarenhauses entlassen. Von da an führte der plötzlich mittellos Gewordene ein ärmliches u. unstetes Leben. Die anonym u. ohne Angabe des Druckorts erschienenen Meditationes philosophicae de deo, mundo, homine (Ffm. 1717) wurden sogleich konfisziert u. L. in Frankfurt vorübergehend in Haft genommen. Das von Thomasius, L.s ehemaligem Lehrer, verfasste Gutachten, das L. von der Hallenser Juristenfakultät in Erwartung einer Unterstützung erbat, sprach sich gegen ihn aus. Auch eine weitere religionskrit. Schrift L.s, Meditationes, theses, dubia (Ffm. 1719) betitelt, wurde beschlagnahmt. Thomasius veröffentlichte 1720 L. belastendes Beweismaterial u. d. T. Elender Zustand eines in die Atheisterey verfallenen Gelehrten u. warf L. vor, mit seinen atheist. Lehren sogar weiter als Spinoza gegangen zu sein. L. veröffentlichte auch kameralist. Schriften, die gesammelt im Aufrichtigen Vorschlag: Von glücklicher, vorteilhafftiger, beständiger Einrichtung der Intraden und Einkünfften (Ffm. 1719. Nachdr. 1969) erschienen. In ihnen wird auf den staatl. Finanzhaushalt, die Wirtschaft sowie auf ordnungspolit. Fragen (Policey) eingegangen u. eine gerechte Steuerpolitik gefordert. 1725 gelingt L. mit einer aus Kurzthesen bestehenden Dissertation die Promotion zum Dr. iur. an der Universität Erfurt. Sein Versuch, mit den Theses ex universo jure depromtae (Königsb. 1727) in den Lehrkörper der jurist. Fakultät der Universität Königsberg aufgenommen zu werden, scheiterte am Widerstand der Theologen, insbes. der Pietisten, die damals an der Albertina eine starke Position innehatten. 1729 widerrief L. vor dem samländ. Konsistorium die Religionskritik der beiden Meditationes, von denen zahlreiche

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Abschriften kursierten u. die 1773 noch in einer lat.-frz. Parallelausgabe als achter Band der Bibliothèque du bon sens portatif unter dem fingierten Druckort London erschienen. Im letzten Lebensjahrzehnt betätigte sich L. vermehrt als Übersetzer, so der fünften u. achten Satire Nicolas Boileaus (Königsb. um 1730) sowie aus Vergils Aeneis (postum, Hbg. 1743). Die Meditationes sind nach dem Muster akademischer Kurzthesenschriften, doch in einem die Freiheit des Denkens ostentativ betonenden, stellenweise dunklen u. ironisch zugespitzten Stil abgefasst. Mit L., der als heterodoxer Autor bald in die Litterär- u. Philosophiegeschichten einging, beschäftigte sich in den letzten beiden Jahrzehnten zunehmend die ClandestinaForschung zur dt. Aufklärung. Sie sieht in ihm nicht mehr so ausschließlich den Spinozisten, sondern einen dem Pantheismus nahestehenden Eklektiker u. betont stärker den Einfluss des engl. Freidenkers John Toland u. der antiken Weltseelenlehren. Literatur: Winfried Schröder: Spinoza in der dt. Frühaufklärung. Würzb. 1987, S. 124–132. – Martin Pott (Hg.): T. L. L. (1670–1740). Dokumente. Stgt.-Bad Cannstatt 1992 (u. a. Faksimiles beider ›Meditationes‹-Schr.en). – Hanspeter Marti: Grenzen der Denkfreiheit in Dissertationen des frühen 18. Jh. T. L. L.s Scheitern an der jurist. Fakultät der Univ. Königsberg. In: Die Praktiken der Gelehrsamkeit in der Frühen Neuzeit. Hg. Helmut Zedelmaier und Martin Mulsow. Tüb. 2001, S. 295–306. – M. Mulsow: Libertinismus in Dtschld.? Stile der Subversion im 17. Jh. zwischen Politik, Religion u. Lit. In: Ztschr. für Histor. Forsch. 31 (2004), S. 37–71. – Ders.: T. L. L. (1670–1740). In: Aufklärung 17 (2005), S. 253–255 (weitere Lit.). Hanspeter Marti

Laub, Gabriel, * 24.10.1928 Bochnia/Polen, † 3.2.1998 Hamburg. – Tschechischdeutscher Journalist, Satiriker u. Aphoristiker mit polnischen Wurzeln. Aufgewachsen bei Krakau, floh L. 1939 vor den Nazis in die UdSSR u. wurde mit seiner Familie interniert. 1946 nahm er ein Studium in Prag auf u. arbeitete anschließend als Redakteur u. Schriftsteller. Nach dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts ließ sich L. in Hamburg nieder, wo er in dt.

Sprache zu schreiben begann, u. a. für die Wochenzeitung »Die Zeit«. Sein Grab befindet sich in Israel. L. galt bereits seit dem Buch Verärgerte Logik (Mchn. 1969, entstanden u. d. T. Zkusˇ enosti [wörtl. »Erfahrungen«]. Prag 1967) als einer der bedeutendsten deutschsprachigen Satiriker u. als Meister des Aphorismus in der Nachfolge des Polen Stanislaw Jerzy Lec. Darüber hinaus schrieb L., ähnlich wie Ephraim Kishon, prägnante satir. Kurzerzählungen zu fast allen aktuellen Themen, in denen seine Abneigung gegen alles Doktrinäre u. Ideologien aller Art zum Ausdruck kam (z.B. in dem Sammelband Alle Macht den Spionen. Hbg. 1978). Sein Roman Der Aufstand der Dicken (Bergisch-Gladbach 1983) parodiert in lose gereihten Episoden westl. Schlankheitswahn u. den Marxismus-Leninismus: Die Schwergewichtigen reißen die Macht im Lande an sich u. zwingen alle Andersartigen in die neue Lehre des »Massismus-Gewichtismus«. L. beherrschte mehrere slaw. Sprachen u. übersetzte u. a. Werke der poln. Erzählerin Zofia Nalkowska u. Václav Havels, darunter dessen Essay Versuch in der Wahrheit zu leben (Reinb. 1980) u. die Vaneˇ k-Trilogie (Bln. 1990). Zu seinen zahlreichen Auszeichnungen gehören u. a. der Kurzgeschichtenpreis der Stadt Arnsberg (1971) sowie der IrmgardHeilmann-Preis (1991). /

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Weitere Werke: Enthüllung des nackten Kaisers. Satire in Begriffen. Mchn. 1970. – Ur-Laub zum Denken. Satire in Begriffen. Mchn. 1972. – Erlaubte Freiheiten. Mchn. 1975 (Aphorismen). – Denken erlaubt. Gütersloh 1977. – Das Recht, Recht zu haben. Alle Aphorismen in einem Bad. Bergisch-Gladbach 1982. – Entdeckungen in der Badewanne. Mchn. 1987. – Dabeisein ist nicht alles. Mchn. 1989. – Gut siehst du aus! Alltag satirisch. Mchn. 1994. – Die Kunst des Lachens. Mchn. 1997. Literatur: Jaroslav Sˇonka: G. L. In: LGL. – ›Zu Hause bin ich in Hamburg‹ – G. L. spricht über sein Leben u. Werk. Interview mit Petra Korn. Dt. Welle, Sept. 2004. – Friedemann Spicker: Der dt. Aphorismus im 20. Jh. Tüb. 2004. – Ursula Homann: G. L. In: KLG. Klaus-Peter Walter

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Laubanus, Lauban, Melchior, * 10.12.1568 Laube, Heinrich (Rudolf Constanz), auch: Sprottau, † 1.5.1633 Brieg. – Humanist, Alethophilos, Gustav von Plittersburg, A. Lyriker, Schulmann. H. Mühlbaum, Harry Green, * 1.6.1806 Sprottau/Schlesien, † 1.8.1884 Wien; L. besuchte das Görlitzer Gymnasium u. stuGrabstätte: ebd., Matzleinsdorfer Frieddierte Theologie u. Philosophie an den Unihof. – Dramatiker, Dramaturg, Romanversitäten zu Wittenberg u. Heidelberg. Seine cier, Novellist, Journalist, Kritiker, HerSchullaufbahn führte ihn über Sprottau, ausgeber. Goldberg u. Danzig nach Brieg, wo er ab 1614 als Rektor das Gymnasium Illustre leitete. Er wurde 1596 von Paul Melissus Schede zum Dichter gekrönt. Zu seinem ausgedehnten Freundeskreis zählten u. a. David Pareus, Janus Gruter, Johannes Posthius, Melchior Adam, Friedrich Taubmann, Bartholomaeus Keckermann, Rudolf Goclenius, Caspar Cunrad u. Martin Opitz. Seine Bibliothek befindet sich heute in Wroclaw. L. stand bei seinen Zeitgenossen als Lyriker in hohem Ansehen; insbes. wurden seine lat. Oden gerühmt. Seine frühen Gedichte finden sich in der Sammlung Musa Lyrica (Danzig 1607). Seine späteren Casualcarmina sind nur in Einzeldrucken erhalten u. bezeugen die weitreichenden Verbindungen L.’. Neben dem lyr. Œuvre hat L. eine Reihe von Schulschriften u. philolog. Arbeiten zu antiken Autoren (u. a. zu Homer, Vergil, Cicero) publiziert. Hinzu kommen zahlreiche Reden, in denen sich die repräsentativen, polit. u. gesellschaftl. Pflichten spiegeln, denen L. durch die von ihm bekleideten Ämter oblag. /

Literatur: Karl Friedrich Schönwälder u. Johann Julius Guttmann: Gesch. des Kgl. Gymnasiums zu Brieg. Breslau 1869, S. 91–141. – Gustav Bauch: Valentin Trozendorf u. die Goldberger Schule. Bln. 1921, S. 351–404. – Ewa Pietrzak u. Michael Schilling: Der Brieger Rektor M. L. u. seine ›Thermocrena Schafgotschia‹ (1630) als Seitenstück zur ›Nimfe Hercinie‹ des Martin Opitz. In: Schles. Gelehrtenrepublik. Hg. Marek Halub u. Anna Man´ko-Matysiak. Wroclaw 2004, S. 146–174 (mit Bibliografie). – Flood, Poets Laureate, Bd. 3, S. 1095–1097. Michael Schilling / Ewa Pietrzak /

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L. entstammte einer Handwerkerfamilie; als Erstem wurde ihm der Zugang zu höherer Bildung ermöglicht. Er besuchte die Gymnasien in Glogau u. Schweidnitz u. begann 1825 ein Studium der Theologie in Halle. Kontakte zur Burschenschaft führten 1827 zur Exmatrikulation. Er wechselte nach Breslau, wo er schnell Zugang zu literar. Kreisen fand, zu schreiben begann u. Redakteur der kurzlebigen Zeitschrift »Aurora« war, die Theaterkritiken u. Verse veröffentlichte. Als Kritiker arbeitete L. auch weiterhin (»Breslauer Zeitung«, »Mitternachtszeitung für gebildete Stände«). 1830–1832 war er Hofmeister. Auf einer Italienreise 1833 (u. a. mit Gutzkow) entstanden an Heinrich Heines Vorbild orientierte Reisenovellen (6 Bde., Lpz. 1834–37. Neudr. Ffm. 1973), die guten Erfolg hatten. 1835 wurden L.s Werke per Bundestagsbeschluss als dem Jungen Deutschland zugehörig indiziert – wobei er selbst 1833 den Ausdruck »jungdeutsch« als Erster in der von ihm seit 1832 redigierten »Zeitschrift für die elegante Welt« benutzt hatte. Die Trilogie Das junge Europa (Lpz. 1833–37. Neudr. Ffm. 1973), szenisch aufbereitet unter Benutzung verschiedener Romanelemente (u. a. Konversations- u. Briefroman), sollte in ihrem Saint-Simonismus ein Signaturtext des Jungen Deutschland werden. Textstrukturierend wirkt das Gefühl des »Modernen«, die Fortschrittsorientierung als Lebenshaltung. 1836, er hatte gerade die Professorenwitwe u. Frauenrechtlerin Iduna Hänel geheiratet u. sich inzwischen öffentlich von früherer Tendenzschriftstellerei distanziert, wurde L. ein Spätopfer seiner burschenschaftl. Aktivitäten; nur durch Pücklers Bürgschaft gelang es, die sechsmonatige »Haft« 1837/38 auf Gut Muskau zu verbringen. Hier entstanden v. a. L.s Geschichte der deutschen Literatur (4 Bde., Lpz. 1839/40) u.

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eine Heinse-Ausgabe (10 Bde., Lpz. 1838). Nach der Internierung unternahm er Reisen nach Frankreich u. Algerien, seit 1840 lebte er in Leipzig. L.s umfangreiche Romanproduktion der Folgezeit charakterisiert der Rückgriff auf Stoffe nationaler Vergangenheit (u. a. in dem erfolgreichen Zyklus Der deutsche Krieg. 9 Bde., Lpz. 1863–66); aus diesem Rahmen fällt der in jüd. Milieu angesiedelte Tendenzroman Ruben (Lpz. 1885), in dem L. versucht, seinen latent immer vorhandenen, gelegentlich auch offengelegten Antisemitismus (vgl. die Vorrede zu seiner Dramatisierung von Meinholds Bernsteinhexe. Lpz. 1847) zu reflektieren. Schon seit 1833 hatte L. für alle literar. Genres als Vorgabe formuliert, »dass die Literatur sich [...] meist nach den Hauptpostulaten der Zeit gestaltet« (»Aurora«, 4.1.1833; vgl. »Zeitung für die elegante Welt« 1833, 60), damit sie auf der »Höhe des Demokratismus« sei (»Aurora«, ebd.), zudem, im Blick auf die Leser das »Element einer gewissen Popularität« (»Mitternachtszeitung« 1836, 242) für wichtig erachtet u. festgehalten: »Es gibt in Deutschland kein schnelleres und sichereres Bildungsmittel als den Roman« (»Zeitung für die elegante Welt« 1833, 397). Diesen durchaus didaktisch zu nennenden Prinzipien fühlte er sich bei allen seinen Produktionen verpflichtet. Zentrales Interesse gewann für L. nun aber die Arbeit für das u. mit dem Theater (unterbrochen nur durch seine Zeit als – gemäßigt liberaler – Parlamentarier in Frankfurt 1848/49). Vor der Berufung ans Wiener Burgtheater 1849 hatte er als auf Theaterreformen drängender Kritiker u. mit eigenen Stücken Aufsehen erregt. Ob als »Trauerspiel« (Monaldeschi. Lpz. 1845. Graf Struensee. Lpz. 1847), »Schauspiel« (das bekannte Schiller-Drama Die Karlsschüler. Lpz. 1846) oder »Lustspiel« (Rokoko. Lpz. 1846. Gottsched und Gellert. Lpz. 1847): Alle Stücke waren darauf angelegt, thematisch interessant zu sein, v. a. aber spielbar. Stets ist »die Idee [...] der Mittelpunkt«, steht die Handlung im Vordergrund. L.s Ziel, ein modernes Theater in einer »dem Nationalbedürfnis entsprechende[n] Gestalt« (Graf Struensee, S. 126), ließ sich im Vormärz-Deutschland nicht realisie-

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ren; zumal die in der jüngeren dt. Geschichte angesiedelten Werke der Zensur verfielen. L.s Intendanz am Burgtheater (bis 1867) machte dieses zur Musterbühne in puncto Repertoirevielfalt, Aktualität, realistischer Wortregie u. Ensemblespiel. Auf die Dauer wirkungsvoll waren aber für das Theater nicht seine literar. Produktionen, die vom Spielplan verschwunden sind, wie auch seine übrigen Werke kaum rezipiert werden, sondern seine in den Briefen über das Theater dargelegten organisatorischen Reformvorschläge, bes. die feste Einbindung eines sog. Dramaturgen in die Theaterleitung. Verdienstvoll war auch seine Wiederentdeckung Grillparzers, dessen Werke er ebenso herausgab (10 Bde., Stgt. 1874) wie die Lessings (5 Bde., Wien u. a. 1883) u. – noch im Auftrag des Dichters (1847) – Heines (5 Bde., o. O. 1884/85). Die 1870er Jahre sahen L. als Direktor des Leipziger u. des Wiener Stadttheaters (ab 1872). Obwohl L.s Stil oft lakonisch, die Charaktere prägnant, z.T. auch psychologisch interessant gezeichnet sind u. ein aufklärerischer Grundton vorherrscht – als Schriftsteller ist er außer in Anthologien über das Junge Deutschland kaum mehr präsent. Die Lektüre ergibt dabei ein Bild, das auch der moralischen Disqualifikation – kompromisslerischer Renegat – eher widerspricht. Denn L. blieb dem einen Ziel treu, die Bildung einer dt. Nation durch die Mittel der Literatur, des Theaters zumal, der Demokratie näherzubringen. Dabei war es ihm schon 1834 klar: »Fast alle neueren Erfindungen der Kultur gehen dahin, die Individualität zu vernichten«, nur die Literatur, »die moderne deutsche Poesie der Prosaisten«, kann dem Einhalt gebieten (Reisenovellen. Bd. 2, S. 146). Weitere Werke: Das neue Jahrhundert. 2 Bde., Fürth/Lpz. 1833. Neudr. Ffm. 1973. – Polit. Briefe. Lpz. 1833. – Moderne Charakteristiken. 2 Bde., Lpz. 1835. – Goerres u. Athanasius. Lpz. 1838. – Frz. Lustschlösser. Lpz. 1840. – Die Bandomire. 2 Tle., Lpz. 1842 (E.). – Prinz Friedrich. Lpz. 1854 (D.). – Graf Essex. Lpz. 1856 (Trauersp.). – Junker Hans. 4 Bde., Lpz. 1863 (R.). – Das Burgtheater. Lpz. 1875. – Das norddt. Theater. Lpz. 1872. – Erinnerungen. 2 Bde., Wien 1875–82. – Das Wiener Stadt-Theater. Lpz. 1875.

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Ausgaben: Theaterkritiken u. dramaturg. Aufsätze. Hg. Alexander v. Weilen. 2 Bde., Bln. 1906. – Ges. Werke in 50 Bdn. Hg. H. H. Houben u. Albert Hänel. Lpz. 1908/09.

vellierten Lebens. Sie werden gleichwohl zum Anlass umfassender Verstörung der Protagonisten, in der sich kollektives Scheitern kundtut: von der bigotten dt. Sexualmoral bis zum Umgang mit der nationalsozialist. Vergangenheit. Erst nach L.s Tod erschien der Roman Doppelgänger auf Borneo. Auf den Spuren von Almayers Wahn (Hbg. 1998. 2002), der von einer Reise zu den Schauplätzen von Joseph Conrads Roman Almayer’s Folly (1895) erzählt. Der Ich-Erzähler, der sich mit dieser Reise einen lange gehegten Wunsch erfüllt, begibt sich dabei zgl. auf die Verfolgung eines anderen, der in derselben Mission unterwegs ist, u. begegnet diesem am Ende. Mit Joseph Conrads Werk hatte sich L. bereits in einem früheren Roman, Zwischen den Flüssen (Ffm. 1982), beschäftigt.

Literatur: Werkverzeichnis: Goedeke Forts. – Weitere Titel: Walter Dietze: Junges Dtschld. u. Dt. Klassik. Bln. 1957. 21981. – Wilhelm Johannes Becker: Zeitgeist u. Krisenbewußtsein in H. L.s Novellen. Diss. Ffm. 1960. – Jeffrey L. Sammons: Zu H. L.s Roman ›Die Krieger‹. In: ZfdPh 91 (1972), Sonderh., S. 184–226. – Julia K. Lawson: H. L.s ›Das junge Europa‹. Diss. Indiana University/ Bloomington 1980. – Ellen v. Itter: H. L. Ffm. u. a. 1989. – Jacob Karg: Poesie u. Prosa. Studien zum Literaturverständnis des Jungdeutschen H. L. Bielef. 1993. – Norbert Otto Eke u. Renate Werner unter der Mitarb. v. Tanja Coppola: Vormärz – Nachmärz. Bruch oder Kontinuität. Bielef. 2000. – Eugeniusz Klein: H. L. u. seine Werke heute. In: Tradition u. Gegenwart. Studien zur Lit. Schlesiens. Würzb. 2001, S. 11–23. – Petra Hartmann: Das ›dramatische‹ Ende des jungen Dtschld.s. In: Forum Vormärz Forsch. Jb. 7: Theaterverhältnisse im Vormärz (2002), S. 243–268.

Weitere Werke: Der Dauerklavierspieler. Ffm. 1974. 1980 (D.) – Endlich Koch. Ffm. 1981 (D.). – Anhöhe im Wald. Ffm. 1986 (E.).

Reinhold Hülsewiesche

Friedhelm Mönter / Red.

Laube, Horst, * 21.1.1939 Brüx (Most)/ Laube, Samuel Gottlieb, * 1781 Thorn, Böhmen, † 18.10.1997 Fröndenberg/ † 23.7.1835 Berlin. – Lyriker, Dramatiker, Ruhr. – Romancier, Dramatiker u. Dra- Übersetzer. maturg. Nach dem Philosophiestudium in Marburg u. Wien war L. Feuilletonredakteur an Essener u. Wuppertaler Zeitungen, 1968–1972 Chefdramaturg der Wuppertaler Bühnen u. 1972–1977 in gleicher Funktion am Frankfurter Schauspiel, an dessen Mitbestimmungsversuch er gemeinsam mit dem Intendanten Peter Palitsch u. dem Regisseur Hans Neuenfels maßgeblich beteiligt war. Bis 1985 freier Dramaturg, war er bis zu einem schweren Verkehrsunfall 1986 wiederum Chefdramaturg am Hamburger Thalia-Theater. Die frühen Romane u. Dramen L.s sind Ausdruck einer nach dem Aufbruch der 68erGeneration erneut erstarrenden bundesrepublikan. Gesellschaft. In der saturierten Ordnung sind statistisch erfassbare Durchschnittskatastrophen wie Autounfälle, ein Sturz aus dem Fenster in dem Roman Ella fällt (Darmst. 1976. Ffm. 1985) oder Zugverspätungen die einzig mögl. Störungen eines ni-

Der gebürtige Thorner, dessen Lebensstationen nur umrisshaft bekannt sind, durchlief eine bemerkenswerte Juristenkarriere in preuß. Diensten: um 1817 Präsident des Handelstribunals u. Notar in Lissa, Landgerichtsrat zu Fraustadt, um 1833 kgl. Preussischer Oberappellationsrat zu Posen, gestorben als Geh. Obertribunalrat in Berlin. Nach 1800 debütierte L. als versatiler Lyriker mit zahlreichen Beiträgen zu Kupido, dem von ihm u. Immanuel Meier herausgegebenen »Poetischen Taschenbuch auf 1804« (Penig 1804; BDL 12630). Neben traditionellen poet. Stoffen wie dem kleinen Romanzenzyklus Der Graf von Gleichen (ebd., S. 5–18), der das Dilemma des Grafen, »Zweyer Weiber Mann zu seyn« (II, 14), zum himml. Bund verklärt, oder Der Rosstrapp (ebd., S. 218–221) zeigt L. eine deutl. Vorliebe für ital. Formen (Sestine, Sonett) u. Stoffe. So übersetzte er den Fünften Gesang aus Dantes Inferno (ebd., S. 246–253). Seine fünfaktige Blankvers-Tragödie Ariodante (Posen u. Lpz. 1805. 21809)

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dramatisiert eine Episode aus Ariosts Orlando Furioso, variiert sie aber nach dem Vorbild von Shakespeares Macbeth. Auf den intertextuellen Bezug weist der böse Gegenspieler Arthur zu Beginn (»Zuweilen dünk’ ich Macbeth mir zu seyn«, I 2) u. am Ende selbst hin, als er in einem als Gottesurteil gedeuteten Zweikampf mit dem Ausruf »Macbeth! Macbeth!« fällt (V 2). L. hatte den Ariodante am 29.7.1802 Goethe übersandt, um dessen Urteil über seine Befähigung »in diesem Fach« zu erfahren u. die Möglichkeit einer Aufführung auf dem Weimarer Theater zu eruieren (Briefe an Goethe. Gesamtausg. in Regestenform, Bd. 4, S. 120). Goethes Tagebuch verzeichnet am 11.8.1802 lediglich kommentarlos die Rückgabe des »Schauspiels [...] an der Giebichensteiner Allee«. Auch L.s Auswahl aus Petrarca’s Gesängen, als Probe einer vollständigen Übersetzung des Dichters (Glogau 1808) hatte nicht den gewünschten Erfolg. Weitere Werke: Kurzer Unterricht für Jedermann über das bürgerl. Gesetzbuch Napoleons des Großen. Breslau 1808.  Ariost’s Liebeskapitel (Capitoli amorosi, dt.). Glogau 1824. Achim Aurnhammer

Lauber, Cécile, * 13.7.1887 Luzern, † 16.4. 1981 Luzern. – Erzählerin, Lyrikerin, Dramatikerin, Essayistin. Die Tochter eines Eisenbahndirektors wuchs in Luzern in begüterten Verhältnissen auf u. wurde an der Kunstgewerbeschule ihrer Geburtsstadt bzw. am Konservatorium von Lausanne zur Malerin u. Musikerin ausgebildet. 1908, während eines England-Aufenthalts, schrieb sie ihr erstes Theaterstück Der Inquisitor (unveröffentlicht), 1911 publizierte Josef Victor Widmann im Berner »Bund« ihre ersten Erzählungen Die Weggisfrau u. Die Kindsmörderin. Zu eigentlicher schriftstellerischer Produktivität fand sie jedoch erst in den 1920er Jahren, als sie nach einem längeren Aufenthalt in Lausanne mit ihrem Mann, dem Juristen Werner Lauber, u. ihren zwei Kindern wieder in Luzern lebte. 1922 erschien bei Grethlein in Zürich ihr erster Roman, Die Erzählung vom Leben und Tod des Robert Duggwyler, der romantisch gefärbte Bericht vom Aufstieg u. Niedergang eines

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Künstlers. Über die Zwischenstufen des humanitär engagierten Romans Die Versündigung an den Kindern (Zürich 1924) u. der beiden in Basel 1925 bzw. in Luzern 1928 uraufgeführten Theaterstücke Die verlorene Magd u. In der Stunde, die Gott uns gibt fand sie allmählich zu jener Thematik, die ihre breit angelegte Romantrilogie Die Wandlung (Lpz. 1929. Zürich 1950. Bern 1971), Stumme Natur (Bln. 1939. Zürich/Köln 1956. Bern 1971. Zürich 1982. Ffm. 1990) u. In der Gewalt der Dinge (Frauenfeld 1961. Bern 1971) prägte: das unlösbare Verhaftetsein des Menschen in seiner Umwelt u. seine existentielle, schicksalhafte Verbundenheit mit aller Kreatur, der er sich mit Liebe u. Erbarmen zuwenden soll. Wie radikal L. diesen Gedanken zu Ende dachte, kommt bereits im Vorspruch von Die Wandlung zum Ausdruck, wo es heißt: »So lange der Schrei des Viehs, das zur Schlachtbank getrieben wird, ungehört verhallt, so lange werden unsere Kinder zu weinen fortfahren, wird unserer Not kein Ende sein und die Ewigkeit uns ausstoßen.« Höhepunkt der Trilogie ist Stumme Natur, eine Art moderner Robinsonade mit der trag. Konsequenz einer durch die Gewissenlosigkeit der zivilisatorischen Naturausbeutung heraufbeschworenen apokalypt. Katastrophe. Erstaunlicherweise verträgt sich die im Rückblick auf 1939 fast schon prophetisch anmutende »grüne« Thematik mit dem stark lyrisch gefärbten, im Duktus gelegentlich hymnisch-rhapsod. Stil des Buchs. In der Gewalt der Dinge, der dritte Teil, ist – wie auch der erste – nur locker mit dem Mittelteil verbunden u. verlagert die Fragestellung von der Umweltproblematik auf diejenige der Ökonomie. An einem exemplarischen Fall wird aufgezeigt, wie zerstörerisch Besitz u. Geld, d.h. »die Gewalt der Dinge«, auf die Seele des Menschen wirken können. Neben dieser Trilogie schrieb L. seit 1938 an einer noch umfangreicheren, im Zeichen der sog. »geistigen Landesverteidigung« stehenden Romanserie, die in ihrer gelungenen Verbindung von Jugend-, Heimat- u. Abenteuerbuch nicht zu Unrecht als schweizerischer »Nils Holgersson« bezeichnet wurde: Land deiner Mutter (4 Bde., Zürich 1946–57. In einem Bd. Bern 1970).

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Weitere Werke: Der Gang in die Natur. Lpz./ Zürich 1930 (E.). – Chines. Nippes. Lpz./Zürich 1931 (E.en u. G.e). – Der dunkle Tag. Lpz./Zürich 1933 (N.n). – Nala, das Leben einer Katze. Zürich 1942. – Nachlass: Schweizerisches Literaturarchiv, Bern. Ausgaben: Ges. Gedichte. St. Gallen 1955. – Romane, Erzählungen, Lyrik, Aphorismen. Genf 1968. – Ges. Werke in 6 Bdn. Bern 1970–72. Literatur: Jean Graven: C. L. Vorw. zu Ges. Werke. Bd. 1, Bern 1971. – Fritz Leu u. a.: C. L. 1887–1981. Luzern o. J. [1981]. – Rätus Luck: C. L. Nachw. zu ›Stumme Natur‹. Zürich 1982. Ffm. 1990. – Marzena Górecka: Wahrheit, Verstehen, Hingabe: ein dreifaches Motto der Dichtung C. L.s. In: Studia Niemcoznawcze 23 (2002), S. 427–438. Charles Linsmayer

Lauber, Diebold, Diepold, bezeugt Mitte 15. Jh. – Leiter/Besitzer einer spätmittelalterlichen Handschriftenwerkstatt. Die berufl. Aktivitäten L.s – als Schreiblehrer für Kinder (»dijpold lauber schreyber, lert die kinder«) u. 1455–1460 als Stuhlschreiber (»cathedralis«) u. Bote im Dienst der Landvogtei Hagenau im Elsass bezeugt – lassen sich aus mehreren schriftlichen, größtenteils eigenhändigen Zeugnissen ableiten: einem Brief, drei »Verlagsanzeigen«, einer Nennung als Schreiber einer Handschrift, die sich mit mehr als 80 weiteren illustrierten Papierhandschriften elsäss. Mundart einer zwischen 1427 u. 1467 tätigen Werkstatt zuordnen lässt, in der zeitweilig mindestens fünf Schreiber, z.T. auswärtige Lohnschreiber, u. etwa 16 Illustratoren beschäftigt waren. Nach einer Blütezeit in den 1440er u. frühen 1450er Jahren ging die Produktion ab 1455 drastisch zurück. L. wird, wie sich nach dem Brief u. den »Verlagsanzeigen« vermuten lässt, als Werkstattleiter u. Handschriften-Händler – u. wohl auch selbst als Schreiber u. Illustrator – tätig gewesen sein. Das Verlagsprogramm der Werkstatt, deren Produkte mitunter schwer von denen der vielleicht in ihr aufgegangenen sog. »Elsässischen Werkstatt von 1418« zu scheiden sind, umfasst die »populäre« volkssprachl. Literatur des 15. Jh.: höfische u. Heldenepik wie Parzival, Tristan u. Wolfdietrich, religiöse u. lehrhafte Texte wie Heiligen-

leben, Dreikönigslegende, Die vierundwanzig Alten u. Welscher Gast, Antikes wie Alexander u. Trojanerkrieg, Juristisches wie Belial u. Schwabenspiegel, naturwiss. Schriften wie Konrads von Megenberg Buch der Natur. Einen bes. Schwerpunkt bilden dabei die Historienbibeln, von denen allein rd. 20 Bilderhandschriften erhalten sind. Die Produktions- u. Distributionsweise der Werkstatt L.s nimmt Praktiken vorweg, wie sie in den Offizinen der Frühdruckzeit üblich waren: Die Handschriften wurden nicht mehr ausschließlich auf Bestellung, sondern wohl schon auf Vorrat produziert; Auftragsarbeiten sind materiell u. ikonografisch anspruchsvoller ausgestattet als auf Vorrat hergestellte des gleichen Texts; das Verlagsprogramm wurde mit Buchanzeigen aktiv beworben; eine feste Verkaufsstelle befand sich in der »burge zü hagenow« (Buchhändleranzeige in Heidelberg, UB, Cpg 314). Die kolorierten Federzeichnungen, mit denen die Handschriften illustriert sind, organisieren sich aus einem verfügbaren Vorrat weniger, multifunktionaler Bildtypen u. markieren damit eine wichtige Entwicklungsstufe der spätmittelalterlichen dt. Buchgrafik auf dem Weg zum Inkunabelholzschnitt. L.s Werkstattproduktion bietet einen informativen Einblick in die Vorformen eines volkssprachlichen literar. »Markts« im 15. Jh. Literatur: Rudolf Kautzsch: D. L. u. seine Werkstatt in Hagenau. In: ZfB 12 (1895), S. 1–32, 57–113. – Werner Fechter: Der Kundenkreis des D. L. In: ZfB 55 (1938), S. 121–146. – Gérard Traband: Diebolt louber schriber zu hagenowe. In: Etudes Haguenoviennes N. S. 8 (1982), S. 51–92. – Lieselotte E. Stamm: Buchmalerei in Serie: Zur Frühgesch. der Vervielfältigungskunst. In: Ztschr. für Schweizer Archäologie u. Kunstgesch. 40 (1983), S. 128–135. – Dies.: Auftragsfertigung u. Vorratsarbeit. Kriterien zu ihrer Unterscheidung am Beispiel der Werkstatt D. L.s. In: Unsere Kunstdenkmäler 36 (1985), S. 302–309. – Dies.: Zuht u. wicze: Zum Bildgehalt spätmittelalterl. Epenhss. In: Ztschr. des dt. Vereins für Kunstwiss. 41 (1987), S. 42–79. – Andrea Rapp: Bilder gar hùbsch gemolt. Studien zur Werkstatt D. L.s am Beispiel der Prosabearbeitung v. Bruder Philipps ›Marienleben‹ in den ›Historienbibeln‹ IIa u. Ib. Bonn u. a. 1998. – Lieselotte E. Saurma-Jeltsch: Spätformen mittelalterl. Buchherstellung. Bilderhss. aus der Werk-

Laufenberg

261 statt D. L.s in Hagenau. Wiesb. 2001. – Christoph Fasbender: húbsch gemolt – schlecht geschrieben? Kleine Apologie der Lauber-Hss. In: ZfdA 131 (2002), S. 66–78. – Lauber-Projekt der UB Heidelberg (mit Nachweis der Lit. u. Digitalisaten vieler L.-Hss.): http://www.ub.uni-heidelberg.de/helios/ fachinfo/www/kunst/digi/lauber/. Norbert H. Ott / Jürgen Wolf

Lauckner, Rolf, eigentl. Wilhelm Rudolf, * 15.10.1887 Königsberg/Preußen, † 27.4. 1954 Bayreuth. – Lyriker, Dramatiker.

tor. Figuren (Bernhard von Weimar. Mchn. 1933. Der letzte Preuße. Bln. 1937). Nach dem Krieg schrieb L. v. a. Stücke, die aktuelle polit. Erfahrungen in antiken oder bibl. Stoffen reflektieren: in Cäsar und Cicero (1947) den Kampf um Diktatur u. Republik, in Hiob (1948/49; beide in: GW) das Los des von Gott Geschlagenen, der am Ende den Mut zum Wiederaufbau findet. Weitere Werke: Predigt in Litauen. Bln. 1919 (D.). – Wir Sturm u. Klage. Bln. 1919 (L.). Ausgaben: Ges. Werke. 6 Bde., Darmst. 1952/53 (= GW). – Ausgew. Bühnendichtungen. Nachw. v. Günter Göbel. Emsdetten 1963. – Lyr. Werkstatt. Gütersloh 1986 (L.).

Der Stiefsohn Hermann Sudermanns studierte nach dem Abitur Jura u. Wirtschaftswissenschaft. Nach seiner jurist. Promotion Literatur: Ludwig Marcuse: R. L. In: Kothurn 1 wurde er 1912 Redakteur, später (1919–1923) auch Leiter der Zeitschrift »Über Land und (1919). – Martin R. Möbius: Der dramat. Begriff. Meer« in Stuttgart u. begann als Dramaturg In: DNL 39 (1938). – Gisela Henze-Fliedner: Das am dortigen Theater zu arbeiten. Erste Ver- Unbesondere. Zum 30. Todestag v. R. L. In: NDH 31 (1984). – Richard Wernshauer: R. L.: Lyr. öffentlichungen zeigen L.s lyr. Talent (GeWerkstatt. In: NDH 34 (1987). – Hartmut Heinze: dichte. Stgt. 1912). 1917/18 erschienen seine R. L.s Faust-Restauration. In: NDH 34 (1987), H. 3, Dramen Der Sturz des Apostel Paulus u. Christa S. 576–581. – Gisela Henze: R. L. Sudermanns die Tante (beide Bln.), die bereits kurz darauf Stiefsohn. Dramatiker u. Lyriker. Hg. Landsmannin Berlin aufgeführt wurden u. ihn bekannt schaft Ostpreußen, Kulturabt. Hbg. 2001. machten. Sowohl das Stück um den Friseur Peter König / Red. Paul Schumann, der sich Paul Schu nennt u. überzeugt ist, mag. Kräfte zu besitzen, wie Laufenberg, Heinrich, * um 1390 wahrdas Stück von der alternden Tante, die sich in scheinlich Freiburg/Br., † 31.3.1460 ihren jugendl. Neffen verliebt u. von diesem Straßburg. – Verfasser geistlicher Lieder, abgewiesen wird, zeigen wesentl. Merkmale lehrhafter Versepen u. geistlicher Prosa. von L.s früher expressionist. Schaffensphase, v. a. die Vorliebe für tragikom. Situationen u. Aus dem frühesten datierten Lied (1413) lässt Figuren, die lockere Bündelung von Szenen sich L.s Geburtsjahr ungefähr auf 1390 festin der Absicht, ein Genrebild zu entwerfen u. legen, aus einem Akrostichon sein Geburtsort damit die innerl. Verfassung der handelnden Freiburg ablesen. In Urkunden aus den JahPersonen sichtbar werden zu lassen. Einen ren 1421–1424 wird L. als »capellanus« u. Höhepunkt erreicht diese Phase in dem Stück »viceplebanus« an der Pfarrkirche zu FreiSchrei aus der Straße (Bln. 1922), einer Folge burg bezeichnet. Er hatte also eine Pfründe u. von fünf Szenen, die in der Zeit nach dem war als Seelsorger tätig. Nach 1424 ging er Ersten Weltkrieg spielen. nach Zofingen/Kt. Aargau, wo er 1433 u. L.s humorist. Begabung führte ihn dazu, 1434 als Dekan des dortigen Kollegiatstifts Komödien zu verfassen, bes. nach dem nachgewiesen ist. Sicher ab 1441 war L. wieMachtantritt der Nationalsozialisten (Der der in Freiburg, nun ebenfalls als Dekan. Hakim weiß es. Bln. 1936). Er bemühte sich 1445 trat er in das Johanniterkloster am früh um die Verbindung der dramat. Kunst Grünen Wörth in Straßburg ein, in dem er bis mit Musik u. Film. Neben Stücken mit Mu- zu seinem Tod blieb. sikbegleitung (das Ariadne-Stück Frau im L.s umfangreiches Œuvre, das bis auf Lied Stein. Bln. 1918) u. Opernlibretti entstanden 768 (Liednummern nach Wackernagel) vor verschiedene Drehbücher. Ab 1933 galt sein seinem Eintritt in das Kloster entstand, wurInteresse in Anpassung an den nationalso- de fast ausschließlich von ihm oder von zialist. Zeitgeschmack der Geschichte u. his- Zeitgenossen im Johanniterkloster abge-

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schrieben u. erreichte wohl kaum Wirkung außerhalb des Klosters. Die Handschriften verbrannten 1870 in der Straßburger Bibliothek, großenteils, ehe sie der modernen Forschung hatten zugänglich gemacht werden können. Lediglich L.s medizinisches Lehrgedicht, das Regimen, ist in mehreren Handschriften u. Drucken auch an anderen Orten erhalten. Die etwa 120 Lieder mit 17 Melodien, die in der Handschrift StB cod. B 121 48 gesammelt waren, sind bis auf wenige Ausnahmen nur noch in Wackernagels Abschrift zugänglich. Von sonstigen Werken L.s sind nur wenige Zeilen bekannt, die vor der Vernichtung der Handschriften abgeschrieben worden waren: von der urspr. etwa 15.000 Verse umfassenden Lehrdichtung Spiegel des menschlichen Heiles, einer Übersetzung des Speculum humanae salvationis; von dem Buche der Figuren (etwa 15.370 Verse), einer Sammlung u. Deutung von Marienpräfigurationen des AT; von einer Versübertragung des lat. Facetus Cum nihil utilius; von einer Übertragung einer unbekannten Vorlage mit dem Titel Der sele süzigkeit u. einem Gebet. In der Liederhandschrift waren außerdem Prosawerke L.s überliefert, ein Gespräch zwischen Beichtvater u. Beichttochter u. 77 Ermahnungen des Beichtvaters. Ob eine Sammlung lat. Predigten, die der Katalog der Straßburger Bibliothek von 1749 als Henrici Loeffenburg Sermones verzeichnet, L. zuzuschreiben ist, ist ungewiss, ebenso die Autorschaft geistl. Anweisungen für die sieben Wochentage u. den Ostertag. Wohl durch die Überlieferungslage bedingt, fand L.s Werk auch in der Forschung wenig Beachtung. Bekannt sind v. a. seine Lieder, von denen einige auch Eingang in evang. Kirchengesangbücher gefunden haben: In einem krippfly lag ein Kind (706), Ach lieber herre jhesu christ (707), Ich weiß ein lieplich engelspil (710), Ich wölt daz ich do heime wer (715), letzeres auch in einem dreistimmigen Satz von Wolfgang Fortner. Zwei Lieder wurden von Brahms vertont. Im Mittelpunkt der meisten Lieder steht Maria, häufig in Verbindung mit Weihnachts- u. Neujahrsmotiven (z.B. 701–703, 706). Das Lob Marias als höchster, präexistenter Kreatur (728) u. Helferin (713) wird in

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vielfältigen Formen gesungen: Mariengrüße, z.T. als Glossierungen des lat. Ave Maria, sind häufig (etwa 770, 774 bis 776, 785), Marienpräfigurationen aus dem AT werden aufgezählt; das Wunder der Jungfrauengeburt erscheint in gängigen Bildern wie dem von Maria als Glas, durch das der Sonnenstrahl ungebrochen hindurchgeht (737, 10); Marien-Abecedarien bringen Bilder u. Präfigurationen in alphabet. Reihenfolge (732–736). Bei der Schilderung des Weihnachtsgeschehens mischen sich meist Preis der Inkarnation u. Dank für das Erlösungswerk mit erzählenden Elementen aus dem Weihnachtszyklus. Thematisch singulär sind Übersetzungen des Prologs des Johannesevangeliums (767), des Athanasischen Glaubensbekenntnisses (766) u. des Hohenlieds (768) sowie ein Lied über die zwölf Glaubensartikel (720). Insg. bleiben dogmat. Spekulationen im Hintergrund, es überwiegt die preisende u. bittende Hinwendung an das Gegenüber, Maria oder Jesus. Der Stil der Lieder ist einfach: Anaphern u. andere Parallelismen sind häufig, Elemente dunklen Stils vermieden; beliebt ist die Verbindung von Strophen durch gleiche Strophenanfänge (z.B. 712, 713, 727). L. verwendet die verschiedensten Liedformen aus lat. Liedtradition wie volkssprachlicher geistl. oder weltl. Dichtung. Aus dem Lateinischen übernimmt er Sequenz- u. Hymnenformen, oft nicht nur formal, sondern bis in den Wortlaut hinein (so 574, 754–758). Daneben finden sich auch Glossierungen lat. Texte u. Tropierungen, bei denen vorgegebenen Melismen der Melodie ein Text syllabisch unterlegt wird (764, wohl auch 790), sowie Experimente mit Mischformen aus Latein u. Deutsch (759, 777–779, 782). Bei den vielfältigen aus dem volkssprachl. Bereich kommenden Formen fällt die Vorliebe L.s für die Technik der Kontrafaktur (vgl. 709, 721, 722, 795, 796) auf, wobei die weltl. Vorlagetexte z.T. in einem großen Spannungsverhältnis zur geistl. Aussage von L.s Liedern stehen u. gerade durch dieses Gefälle die neue Aussage um so wirkungsvoller erscheinen lassen. Ein Teil der Lieder ist als Sprech- u. Lesedichtung im Sinne der »pia dictamina« der Kartäuser aufzufassen. Einige

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wenige sind an Adressaten gerichtet: 775, wie secretorum u. für Buch 5 Konrads von Eichstätt die angehängten Reimpaarverse zeigen, an Sanitatis conservator. Ob die Ähnlichkeiten mit einen »frater«, 737 u. 738 den Widmungs- dem Blaubirer Kalender von 1481 für eine akrosticha zufolge an eine geistl. Freundin Einordnung des Werks in die Gattung namens Margaret. Die Thematik der Lieder, Volkskalender ausreichen, müsste noch geihre Ausrichtung auf ein Gegenüber u. die nauer untersucht werden. persönl. Frömmigkeit deuten auf privaten Ausgaben: Wackernagel 2. – Heinz H. Menge: Gebrauch; vergleichbar ist das Liedgut geistl. Das ›Regimen‹ H. L.s. Textolog. Untersuchung u. Frauengemeinschaften. Als Vorbilder L.s Ed. Göpp. 1976. können der Mönch von Salzburg u. Konrad Literatur: Christian M. Engelhardt: Der Ritter von Haimburg gelten, deren Lieder er teil- v. Staufenberg. Straßb. 1823. – Hans F. Massmann: H. v. Loufenberg. In: Anzeiger für Kunde des dt. weise sammelte u. als Vorbilder heranzog. Das einzige vollständig überlieferte Werk MA 1 (1832), Sp. 41–48. – J. J. Banga: Geistl. Lieder. L.s ist das Regimen, das sich, wie die reiche Ebd. 2 (1833), Sp. 269–271. – Eduard Richard Müller: H. Loufenberg, eine litterar-histor. UnterÜberlieferung zeigt, großer Beliebtheit ersuchung. Bln. 1888. – Ludwig Denecke: L. In: VL freute. Es handelt sich dabei um einen me- (erste Aufl.). – Peter Appelhans: Untersuchungen dizinischen Traktat, der Ratschläge für die zur spätmittelalterl. Mariendichtung. Diss. HeiErhaltung der Gesundheit geben will. Ur- delb. 1970. – Peter Kern: Trinität, Maria, Inkarnasprünglich umfasste das Werk nur die Bücher tion. Bln. 1971. – Burghart Wachinger: Notizen zu 1–5, spätestens bis 1429 wurden Buch 6, den Liedern H. L.s. In: FS Kurt Ruh. Tüb. 1979, Ratschläge für das Verhalten bei Pestgefahr, S. 349–385. – Manfred P. Koch: Zur Quellenanalyse u. Buch 7, Ratschläge für Schwangerschaft, v. L.s ›Versehung des Leibs‹. In: FS Gerhard Eis. Geburt u. Behandlung von Kleinkindern, Bln. 1982, S. 272–277. – Hans D. Muck: L. In: NDB. hinzugedichtet. In den Büchern 1–4 werden – Günther Bärnthaler: Übersetzen im dt. SpätMA. Göpp. 1983. – B. Wachinger: L. In: VL. – Max die natürl. Gegebenheiten, die die GesundSchiendorfer: Der Wächter u. die Müllerin ›verkêrt, heit beeinflussen, beschrieben: die zwölf geistlich‹. Fußnoten zur Liedkontrafaktur bei H. L. Monate mit ihren Witterungsbedingungen u. In: Contemplata aliis tradere. FS Alois Haas. Hg. Tätigkeiten; die sieben Planeten mit ihren Claudia Brinker u. a. Bern u. a. 1995, S. 273–316. – Primärqualitäten (warm, kalt, trocken, Max Schiendorfer: Ein vündelî zu H. L.s Liedercofeucht) u. Einflüssen auf Mensch u. Natur; dex (olim Straßb. B 121) u. zu seinem Wecklied die zwölf Tierkreiszeichen mit den Eigen- ›stand vf vnd sih Ihesum vil rein‹. In: ZfdPh 119 schaften der unter ihnen Geborenen; (2000), S. 421–426. – Ders.: Johanniterbibl. Straßschließlich die vier Jahreszeiten, die mit den burg, Cod. B 121. Die verlorene Liederhs. H. L.s. In: Lebensaltern einer Frau verglichen u. auch Entstehung u. Typen mittelalterl. Lyrikhss. Hg. Anton Schwob. Bern u. a. 2001, S. 223–241. – Helauf die vier Temperamente des Menschen mut Lauterwasser: Zur Originalgestalt des Liedes (Sanguiniker, Choleriker, Melancholiker, ›Ich wollt, dass ich daheime wär‹. In: Jb. für LiPhlegmatiker) bezogen werden; es folgen turgik u. Hymnologie 44 (2005), S. 155–162. Regeln für die Ernährung u. Vorschläge für Elisabeth Wunderle medizinische Maßnahmen. Immer wieder wird betont, dass es dem Menschen aufgrund Laufenberg, Walter, * 1.9.1935 Opladen. seines Verstandes möglich sei, diese natürl. – Romancier, Erzähler, Satiriker. Voraussetzungen, sollten sie negativ sein, zu korrigieren. Das umfangreiche Buch 5 (vv. Der Jurist u. promovierte Sozialwissen2317–4212) bietet immer u. für jeden gültige schaftler war u. a. als Reiseleiter, FernsehreRatschläge zur Erhaltung der Gesundheit, dakteur, Filmemacher, schließlich als PR-Diwobei die mittelalterl. Einteilung in sechs rektor des Berliner Senats tätig. Nach zahl»res non naturales« zugrunde gelegt wird. In reichen Wohnsitzwechseln lebt L. heute in das ganze Werk sind zahlreiche Tabellen, z.B. Mannheim u. arbeitet als freier Schriftsteller. Kalender, eingearbeitet. Vorbilder sind bis Beobachtungen aus dem städt. Leben u. a. jetzt nur für Teile nachgewiesen, so für Buch Aachens u. Heidelbergs versammelte L. in 4 die Benutzung der pseudo-aristotel. Secreta den Prosakurztexten Vom Wohnen überm Markt

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(Aachen 1981) u. Die Entdeckung Heidelbergs [Mannh.] 2002. 22004 (über NETzine). – Sarkophag. (Heidelb. 1990). Mit Motiven menschl. Han- Mchn. 2008 (Thriller). Bernhard Iglhaut / Red. delns beschäftigt er sich in dem satir. Ratgeber für Egoisten (mit Cartoons von Manfred Lauff, Joseph von (seit 1913), * 16.11.1855 Limmroth. Hbg. 1987) u. dem ersten großen Köln, † 20.8.1933 auf Haus Krein bei CoRoman Axel Andexer oder der Geschmack von chem; Grabstätte: Kalkar/Niederrhein, Freiheit und so fort (Hbg. 1985). Der ProtagoEhrengruft. – Erzähler, Dramatiker. nist wird hier wie eine Spielkugel im Roulette umhergeworfen, bis er sich in den Alltags- L., Sohn eines Juristen, wuchs in Kalkar auf u. mechanismen wiederfindet, aus denen er besuchte das Gymnasium in Münster. 1877 trat er ins kaiserl. Militär ein, dort war er ausbrechen wollte. Seit Beginn der 1990er Jahre hat L., der zuletzt Hauptmann. Im Ersten Weltkrieg anfangs v. a. Sachbücher schrieb, hauptsäch- fungierte er als Artillerieoffizier u. Kriegsbelich Romane, darunter viele histor. Romane, richterstatter. 1898–1903 wirkte er als Dramaturg des veröffentlicht, die an unterschiedl. Schauplätzen u. in verschiedenen Epochen spielen, kgl. Theaters in Wiesbaden, danach wurde er z.B. im barocken Heidelberg (Der Zwerg von freier Schriftsteller. Von Wilhelm II. als beHeidelberg. Stgt. 1990. Neuaufl u. d. T. Perkeo – deutendster dt. Bühnendichter geschätzt u. der Zwerg von Heidelberg. Heidelb. 2008) oder in protegiert, von Maximilian Harden u. Karl der Bodensee-Region zur Zeit der Bauern- Kraus hingegen als trivialer Gesinnungs- u. kriege (Stolz und Sturm. Heidelb. 2005). Einige kaiserlich-preuß. Hofdramatiker verspottet, seiner Romane kreisen um das Leben be- publizierte L. seit 1887 neben acht Dramen kannter Künstlerpersönlichkeiten wie Goethe (darunter fünf Hohenzollern-Dramen wie Der (Goethe und die Bajadere. Mchn. 1993) u. Pieter Burggraf. Köln 1897 u. mehrere Festspiele) rd. Brueghel d.Ä. (Die Frauen des Malers. Mchn. 30 Romane (darunter 18 Niederrhein- u. vier 2007). In dem Roman Hitlers Double (Chem- Westfalen-Romane), neun epische Dichtunnitz u. a. 1997. 22000) trifft ein kanad. Re- gen u. Kriegslyrik. L.s zahlreiche Heimatromane (darunter porter auf einen alten Mann, der Adolf Hitler Kärrekiek. Eine niederrheinische Geschichte. Bln. zum Verwechseln ähnlich sieht, u. beginnt auf eigene Faust zu ermitteln, ob Hitler das u. a. 1902. Pittje Pittjewit. Ein Roman vom NieEnde des Zweiten Weltkriegs tatsächlich derrhein. Bln. 1903. Kevelaer. Bln. 1910), überwiegend in Köln u. am Niederrhein anüberlebt haben könnte. Mitte der 1990er Jahre gründete L. das gesiedelt, sowie histor. Romane (u. a. Der nicht kommerzielle Internet-Periodikum Mönch von St. Sebald. Eine Nürnberger Geschichte »LaufenbergNETzine«, ein »politisch-litera- aus der Reformationszeit. Bln. 1896) verstehen risch-satirische[s] Zweiwochen-Magazin für sich als regionale Sitten- u. Charakterbilder. Zeitgenossen, die sich Fragen stellen«, das Routiniert erzählt, sind sie aber auch voller kritische u. z.T. satir. Beiträge zu aktuellen Sprachklischees u. kolportagehafter ElemenThemen u. Diskussionen sowie Rezensionen te, nur gelegentlich lassen sie ein Gespür für das authent. Milieu erkennen. Heimat funbringt. Für sein Werk wurde L. u. a. mit dem Hei- giert vielfach nur als Versatzstück, sichtbar ne-Preis der Stadt Düsseldorf (1981), dem wird in vielen Texten eine idealistisch verMannheimer Kurzgeschichtenpreis (1988) u. brämte u. teilweise chauvinistisch überhöhte dem Deutschen Kurzgeschichtenpreis Arns- preuß. Ideologie. Seine Polemik gegen den Ultramontanismus im Zusammenhang des berg (1989) ausgezeichnet. »Kulturkampfs« (u. a. in Kevelaer) führte zu Weitere Werke: Leichenfledderer. Opladen 1970 (R.). – Berlin, Parallelstraße 13. Stolberg 1982 heftigen Reaktionen niederrheinischer Ka(Kurzp. u. Tgb.). – Orakelfahrt. Stolberg 1984 (E.). – tholiken. Einem breiteren Lesepublikum blieb L. als Die Stadt bin ich. Neue Berlin-Texte. Bln. 1985. – Ich liebe Berliner. Mchn. 1986 (Satire). – L.s Läster- Verfasser von versepischen, kom. MoselmärLexikon. Das Wörterbuch der anderen Art. chen – unterhaltsame Gelegenheitsdichtun-

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gen für ein breites Publikum – im Gedächtnis (Die Brixiade. Bln. 1915. Die Martinsgans. Bln. 1918. Die Sauhatz. Bln. 1920; Neuausg.n Ffm./ Cochem 1999–2001), autobiografisch inspirierten Hoheliedern auf seine Cochemer Stammtischrunde, zu denen er selbst farbige Illustrationen schuf. L.s Autobiografie Spiegel meines Lebens (Bln. 1932) ist ein aufschlussreiches Zeugnis über seine Erziehung u. Bildung im Kaiserreich sowie über die literar. Anfänge. Das Werk des nur zu Lebzeiten erfolgreichen Regionalschriftstellers ist wissenschaftlich bislang noch kaum erforscht; eine Gesamtdarstellung liegt nicht vor. Der vollständige Nachlass L.s (56 Kartons) befindet/ befand sich im Historischen Archiv der Stadt Köln, das am 3. März 2009 einstürzte. Literatur: C. Spielmann: J. v. L. ein rheinischer Dichter. Zu seinem 60. Geburtstage. Bln. 1915 (materialreiche Werkbiogr.). – Gerda Haddenhorst: Die Wiesbadener Kaiserfestspiele 1896–1914. Wiesb. 1985. – Gerhard Kaldewei (Hg.): J. v. L. Kleve 1988 (mit Bibliogr.). – Ders.: J. v. L. In: Rheinische Lebensbilder 15. Hg. Franz-Josef Heyen. Köln 1995, S. 109–126. Wilhelm Haefs

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rend dessen Abwesenheit zimmerweise vermieten. Die Rückkehr des Onkels beendet die ungeahnten Komplikationen. Um die Hauptgestalt gruppiert L. ein Ensemble tickhaft konstruierter Figuren, deren kom. Möglichkeiten unabhängig von der jeweiligen Situation ausspielbar sind. L. war einer der erfolgreichsten Bühnenschriftsteller zwischen 1885 u. 1900. Ein toller Einfall, urspr. für eine Laienaufführung des MCV verfasst, erschien auch in Reclams Universal-Bibliothek (Lpz. o. J.). Pension Schöller hat sich bis heute in den Spielplänen der Theater behauptet. Das Stück wurde dreimal verfilmt u. sogar ins Japanische übersetzt. Weitere Werke: Papas Flitterwochen. Bln. 1884 (Schwank). – Am Hochzeitsmorgen. Bln. 1884 (Lustsp.). – Im goldenen Mainz. Mainz 1890 (Posse). – Die Logenbrüder. Wiesb. 1897 (Schwank, zus. mit Curt Kraatz). Literatur: Karl Holl: Gesch. des dt. Lustspiels. Lpz. 1923. – Bernd Wilms: Der Schwank. Diss. Bln. 1969. – Volker Klotz: Bürgerl. Lachtheater. Mchn. 1980. Alain Michel / Red.

Laukhard, Friedrich Christian (Henrich), * 7.6.1757 Wendelsheim/Pfalz, † 29.4. Laufs, Carl, * 20.12.1858 Mainz, † 13.8. 1822 Kreuznach. – Politischer Schriftsteller. 1900 Kassel. – Schwankautor. Nach einer kaufmänn. Lehre arbeitete L. als reisender Vertreter. Daneben schrieb er Berichte für Zeitungen u. humorist. Texte für den Mainzer Carneval-Verein (MCV), dessen Sekretär er 1887 wurde. Mit dem MCV-Präsidenten u. Journalisten Wilhelm Jacoby als Partnerautor entstanden die beiden Schwänke Der ungläubige Thomas (Hbg. 1893) u. Der große Komet (Bln. 1895); der Erfolg ihrer Posse Pension Schöller (Bln. 1890. Urauff. 1889) ermöglichte es L., sich 1889 als freier Schriftsteller in Göttingen niederzulassen. Nach L.’ frühem Tod (er war 1899 nach Kassel übersiedelt) schrieb seine Witwe Anna Laufs eine Vielzahl einaktiger Possen u. Schwanke für Laienbühnen. Schematisch entwickelt L. die Komik in seinen Stücken aus dem Umschlagen einer Absicht ins Gegenteil. In dem Schwank Ein toller Einfall (Bln. 1887) möchte ein verschuldeter Student das Haus seines Onkels wäh-

Als »literarischer Vagabund«, »ironischer Weltenbummler«, »ewiger Student« u. v. a. als der berühmt-berüchtigte »Magister Laukhard« ist L. der Nachwelt im Gedächtnis geblieben. Obwohl seine Schriften, bes. seine Autobiografie, als wichtige Quellen der Kultur- u. Sittengeschichte des 18. Jh. immer wieder herangezogen wurden, beschränkte sich die Auseinandersetzung mit seinem Werk lange Zeit auf die für universitäts- u. lokalhistor. Forschungen relevanten Teile. Dabei überdeckte das Interesse an L.s abenteuerl. Lebenslauf, der nicht nur von den Zeitgenossen als skandalös empfunden wurde, seine Bedeutung als polit. Schriftsteller, der das Jahrzehnt der Französischen Revolution in seinen autobiogr. Schriften u. zeitkrit. Romanen begleitete. Durch den Vater, einen luth. Pfarrer u. Anhänger der Philosophie Wolffs, wurde L. früh mit den Gedanken der Aufklärung ver-

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traut gemacht. Bes. für seine lebenslange krit. Haltung gegenüber den Dogmen der Offenbarungsreligion u. den kirchlichen Institutionen war diese Erziehung prägend. Nach dem Besuch des Gymnasiums in Grünstadt 1771–1774 studierte L. auf Drängen des Vaters Theologie in Gießen, wo er zu Beginn noch den Aufklärungstheologen Carl Friedrich Bahrdt hören konnte. Nach drei Gießener Jahren, in denen er sich v. a. als Anführer eines Studentenordens hervortat, u. einem weiteren Studienjahr in Göttingen 1778 kehrte L. 1779 in die Pfalz zurück, wo er jedoch wegen seiner krit. Äußerungen u. seines freizügigen Lebenswandels keine Anstellung erhielt. Während der folgenden Jahre führte L. in wechselnden Berufen ein unstetes Leben in seiner Heimat, bis er 1782 durch Johann Salomo Semler eine Stelle am Waisenhaus zu Halle bekam u. 1783 an der dortigen Universität zum Magister promoviert wurde. Doch bereits Ende des Jahres fasste L. in einer u. a. durch Schulden ausweglos gewordenen Lage den allg. als sensationell empfundenen Entschluss, Soldat bei der preuß. Armee zu werden. Entscheidend für sein Leben wurde schließlich die Teilnahme am Krieg der Koalitionsmächte gegen das revolutionäre Frankreich 1792/93, den er u. a. in seinen Briefen eines preußischen Augenzeugen über den Feldzug des Herzogs von Braunschweig gegen die Neufranken (Packen 1–3 in 3 Bdn., Germanien, recte Hbg./Altona 1793/94. Pack 4 in 2 Bdn., Uppsala, recte Hbg./Altona 1795. Packen 3 u. 4 wahrscheinlich v. Franz Heinrich Bispink) beschrieb. In diesem anonym erschienenen Werk schildert er die Gräuel des Interventionskriegs der alten Mächte u. ergreift erstmals Partei für die Ziele der Französischen Revolution. Im Herbst 1793 wurde L. – nach eigenen Aussagen – als Deserteur getarnt nach Landau geschickt, um den dortigen Volksrepräsentanten, einen ehemaligen Bekannten, zur Übergabe der belagerten Stadt zu überreden. Der Plan scheiterte jedoch, u. L. wurde mit den übrigen Deserteuren nach Frankreich transportiert, das er teils als Gefangener, teils als Mitgl. der Sansculotten bis 1795 kennenlernte. Bes. in L.s Innenansichten des revolutionären Frankreich zur Zeit der Terreur, zu

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denen es kaum vergleichbare eines dt. Autors gibt, liegt der dokumentar. Wert u. die Faszination seiner Autobiografie Leben und Schicksale, von ihm selbst beschrieben (5 Tle. in 6 Bdn., Halle [1–2] u. Lpz. [3–6] 1792–1802. Neudr. mit Nachw., Bibliogr. u. Materialien hg. v. Hans-Werner Engels u. Andreas Harms. Ffm. 1987) begründet. Bei aller Kritik an der diktatorischen Herrschaft der Jakobiner erinnert L. immer wieder an die im Unrechtssystem des Ancien Régime liegenden Ursachen u. an die Errungenschaften der Revolution sowie die inneren u. äußeren Bedrohungen. Daneben sind es die Auseinandersetzung mit den Missständen des Feudalabsolutismus in Deutschland, mit den kirchl. u. universitären Institutionen u. die Offenheit, mit der er seinen sozialen Abstieg beschreibt, die das Interesse an L.s Leben u. Schicksalen bis heute erklären. Nach kurzen Aufenthalten bei der Emigranten- u. der Reichsarmee – letzterer war Anlass für seine Schilderung der jetzigen Reichsarmee nach ihrer wahren Gestalt (Köln [Lpz.] 1796; anonym) – kehrte L. Ende 1795 nach Halle zurück. Da Versuche, nach der Entlassung aus der Armee eine Universitätsstelle zu erhalten, an den Hallischen Professoren scheiterten, lebte L. im folgenden Jahrzehnt von seiner Arbeit als Sprachlehrer u. Schriftsteller. In rascher Folge entstanden zahlreiche Werke, in denen er die Themen seiner Autobiografie wieder aufgriff; so die Universitätssatire Annalen der Universität zu Schilda (3 Tle, o. O. [Lpz.] 1798/99) oder der semidokumentar. Roman Leben und Thaten des Rheingrafen Carl Magnus (o. O. [Lpz.] 1798. Neudr. Stgt. o. J. [1911]). In diesem Roman beschreibt L. exemplarisch den Zustand eines dt. Duodez-Fürstentums in der zweiten Hälfte des 18. Jh. Am Beispiel der Grafschaft Grehweiler, die L. aus eigener Anschauung kannte, wird die willkürl., von Intrigen u. Korruption geprägte Realität eines prototyp. Kleinstaats vorgeführt. Auch Entwicklung u. Folgen der Französischen Revolution spielten in L.s Schriften weiterhin eine zentrale Rolle. Der »politisch-komische Roman« Marki von Gebrian, oder Leben und Ebentheuer eines französischen Emigranten (2 Tle., Lpz. 1800. Neudr. hg. v. Christoph Weiß. Saarbr. 1989) geht noch

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einmal auf die Vorgeschichte der Revolution Ingbert 1992. – H.-W. Engels: Zu C. F. L.s Spätein, um von hier aus die polit. Position des werk. In: Europa in der frühen Neuzeit. Hg. Erich Donnert. Bd. 2, Weimar u. a. 1997, S. 439–453. – emigrierten frz. Adels scharf zu kritisieren. Die beiden letzten Jahrzehnte von L.s Le- Hans-Peter Brand: F. C. L.s Leben u. Leiden. Ein biogr. Essay. Idar-Oberstein 2004. ben liegen weitgehend im Dunkeln. Von 1804 Christoph Weiß / Red. bis 1811 war er in pfarramtl. Tätigkeit in Veitsrodt/Nahe, wo er, u. a. wegen seiner Schrift Bonaparte und Cromwell (o. O. [Lpz.] Laun, Friedrich, eigentl.: Friedrich August 1801), bald in Konflikt mit der frz. Admi- Schulze, auch: Claerobscuer, Helldunkel, nistration geriet. Die letzten Jahre verbrachte Jeremias, Felix Wohlgemuth, Christian er vermutlich als Privatlehrer in Kreuznach. Heinrich Spieß, * 1.6.1770 Dresden, † 4.9. In L.s widersprüchl. Leben u. Schreiben 1849 Dresden. – Unterhaltungsschriftverschränken sich mutige Kritik u. bur- steller. schenschaftliches Renommiergehabe ebenso wie gelungene polit. Analysen u. skandal- Unter dem Pseud. Friedrich Laun publizierte trächtige Polemik. Biografie u. Werk sind v. a. Friedrich August Schulze die meisten seiner aufgrund ihrer nachhaltigen Beeinflussung fast 200 Romane, Dramen, Gedichte, Noveldurch die histor. Ereignisse der Französi- len u. Erzählungen. Er zählt zu den Autoren schen Revolution signifikant für die Um- mit dem umfangreichsten Œuvre jener Zeit. Zu L.s Bekanntenkreis in Dresden, wo er als bruchsituation am Ende des 18. Jh. Kanzlist beim Geheimen Finanzkollegium Weitere Werke: Beyträge u. Berichtigungen zu tätig war, gehörten neben E. T. A. Hoffmann [...] Bahrdts Lebensbeschreibung. o. O. [Halle] 1791 (an.). – Franz Wolfstein oder Begebenheiten eines auch Ludwig Tieck u. Jean Paul. Bereits dummen Teufels. Lpz. 1799. – Erzählungen u. während seiner juristischen, philosoph., naNovellen. 2 Bde., Lpz. 1800. – Astolfo, eine Ban- turwiss. u. histor. Studien an der Leipziger ditengesch. Tl. 1, Pegau o. J. [1801]. Tl. 2, Pegau/ Universität musste L. seinen Lebensunterhalt Lpz. 1802. Tl. 3, Lpz. o. J. [1802]. – Bild der Zeiten durch schriftstellerische Tätigkeit bestreiten. oder Europa’s Gesch. 2 Bde., Lpz. 1801. – Die Zuerst veröffentlichte er einen Roman, in Emigranten oder Gesch. der Familie des Grafen v. dem die Geheimbundmystik als beliebtes Vitacon. 2 Bde. Pegau/Lpz. 1801/02. – Anekdoten- Thema jener Zeit aufgegriffen wird: Die buch. Nur Tl. 1, Lpz. 1802. – Neue Caricaturen u. grauen Brüder oder der Bund der Schrecklichen Anekdoten zur Erbauung u. zum Nasenrümpfen. (Erfurt 1795). Im Jahr 1800 erschien mit Der Hg. Anselmus Rabiosus d.J. (Pseud.). 3 Bde., Bln. 1802–04. – Gorilla Donatini oder Gesch. einer Mann auf Freiersfüßen (Freiberg) sein erstes empfindsamen Buhlerin. Halle 1804. – Eulerkap- Werk, dem großer Erfolg beschieden war. Der pers Leben u. Leiden. Halle 1804. – Wilhelm Steins Name des Protagonisten in dieser LiebesgeAbentheuer. 2 Tle., Altenburg/Lpz. 1810. – Ver- schichte, Friedrich Laun, wurde fortan zu traute Briefe eines alten Landpredigers [...]. Alten- seinem Pseudonym. burg/Lpz. 1811. Umfangreichere Werke veröffentlichte L. Literatur: Paul Holzhausen: F. C. L. Bln. 1902. etwa bis 1835, danach entstanden haupt– Richard Wilhelm: F. C. L. In: Alzeyer Ge- sächlich kleinere Beiträge für Taschenbücher, schichtsbl. 6 (1969), S. 26–65. – Klaus-Detlef Mül- Zeitschriften u. Journale. Die meisten seiner ler: L.: Zeitgesch. als Lebensersatz. In: Ders.: Au- Publikationen sind heute in Vergessenheit tobiogr. u. Roman. Tüb. 1976, S. 183–200. – Hans- geraten, allein das gemeinsam mit Johann Werner Engels: F. C. L.s Rechtfertigung der revo- August Apel verfasste Gespensterbuch (4 Bde., lutionären Jakobinerdiktatur. In: Die demokrat. Lpz. 1810–12) ist weithin bekannt. Das Bewegung in Mitteleuropa. Hg. Otto Busch u. Kompendium präsentiert das gesamte SpekWalter Grab. Bln. 1980, S. 56–72. – Sieglinde Fischer: F. C. L. als Autobiograph. Diss. Jena 1983. – trum des zeitgenöss. Gespensterdiskurses u. R. Wilhelm: F. C. L. vor u. im Feldzug gegen verknüpft Elemente volkstümlichen AberFrankreich im Jahre 1792. In: Alzeyer Geschichtsbl. glaubens mit romant. Naturphilosophie u. 18 (1983), S. 134–174. – Christoph Weiß: F. C. L. damals aktuellen wiss. Theorien. In den Er(1757–1822). 3 Bde. [mit Textausg.n in Bd. 3], St. zählungen wird durch die Gegenüberstellung

Lauremberg

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unterschiedlicher Positionen zum Gespens- Lauremberg, Johannes, auch: Hans terglauben sowohl übersteigerte Einbil- Willmsen L. Rost, Jeckel van Achtern, dungskraft als auch der radikale Primat der Daphnorinus, * 26.2.1590 Rostock, Vernunft kritisiert. Durch Einbeziehung der † 28.2.1658 Sorø/Dänemark. – Satiriker, Liebes- u. Eheproblematik in den Großteil Mathematiker, Späthumanist. der Texte gelingt es L., der Familie eine zwiespältige Rolle zuzuschreiben: zum einen L. wurde 1605, zus. mit seinen Brüdern Pefungiert sie als Korrektiv, das allzu reiche trus, Konrad u. Wilhelm, in die Matrikel der Fantasie ausgleichen kann, zum anderen aber Rostocker Universität eingetragen. Kurz zulauern unterschwellige Auseinandersetzun- vor, am 13. April dieses Jahres, war sein Vater gen u. lang gehütete Geheimnisse hinter der Wilhelm, Professor der Medizin, zum Rektor Fassade dauernder Kontrolle u. Repression, der Hochschule gewählt worden. L. erwarb sodass gerade die familiären Bindungen zur am 8. Nov. 1610 den Magistergrad, im Wintersemester 1610/11 wurde er in die philoFlucht in Scheinwelten führen können. L.s umfangreiches Werk stieß beim breiten soph. Fakultät rezipiert. 1612 ging er auf eine Lesepublikum auf große Sympathie, doch der ausgedehnte Bildungsreise, die ihn nach Beliebtheit des Erfolgsschriftstellers stand Holland, England, Frankreich u. Italien die ablehnende Haltung derjenigen gegen- führte u. längere, medizinischen Studien geüber, die v. a. seinen literar. Schaffensdrang widmete Aufenthalte in Paris u. Reims (Dr. tadelten. Die Angst vor der Verflachung der med. 1616) einschloss. Von 1618 an lehrte L. Literatur durch serielles, marktorientiertes Poesie in Rostock, bis er Anfang Sept. 1623 als Schreiben stand dabei im Mittelpunkt der Professor der Mathematik an die neu gegründete Ritterakademie von Sorø (Academia Vorwürfe. L. war kaum Gegenstand literaturwiss. Sorana) in Dänemark berufen wurde. Hier Forschungsinteresses. Das pejorative Urteil lebte er, nicht ohne finanzielle Schwierigkeider zeitgenöss. Kritik blieb auch im Rahmen ten, bis zu seinem Tod. L. verbindet in (spät)humanistischer Mader Diskussion um sog. Trivialliteratur prägend für den Umgang mit dem populären nier gelehrte u. poet. Interessen. Zu seinen wiss. Arbeiten zählen u. a. die erste einigerAutor. Weitere Werke: Lustspiele. Dresden 1807. – maßen exakte Karte von Mecklenburg, die Schloß Riesenstein. 2 Bde., Lpz. 1807. – Gedichte. dann in die großen Atlanten des 17. Jh. aufgenommen wurde, ein lexikografisch-antiLpz. 1824. – Memoiren. 3 Bde., Bunzlau 1837. Ausgabe: Ges. Schr.en. 6 Bde. Mit einer Vorrede quarisches Werk mit Erklärungen alter u. veralteter lat. Wörter u. Redensarten sowie v. Ludwig Tieck. Stgt. 1843. Literatur: Albert Krumbiegel: F. L., sein Leben ausgewählter griechisch-röm. Realien (Antiu. seine Werke, ein Beitr. zur Gesch. der dt. Lit. im quarius. Lyon 1622), eine Beschreibung GrieAnfange des neunzehnten Jh. Greifsw. 1912. – chenlands (Graecia antiqua. Amsterd. 1660. Marion Grünheid: Zu Adaptionen der altnord. Hg. Samuel Pufendorf. Nachdr. Amsterd. Hrolf-Krake-Saga des 14./15. Jh. bei Adam Gottlob 1969) u. eine Reihe mathemat. Lehrbücher. Oehlenschläger (1779–1850) u. F. L. (1770–1849): Seine nlat. Dichtung, an deren Anfang Caein Beitr. zum Problem der Trivialisierung. Erfurt sualcarmina u. das Schuldrama Pompeius ma1990. – Christina Gallo: ›Gerade wenn es mit den gnus (Ratzeburg 1610) stehen, erreicht ihren Gespenstern aus ist, geht das rechte Zeitalter für ihre Geschichte an‹. Untersuchungen zum Ge- Höhepunkt mit der mehrfach aufgelegten spensterbuch (1810–12) v. F. L. u. August Apel. Satyra (o. O. 1630), einem 465 Hexameter umfassenden Strafgericht Apollos u. der Taunusstein 2006. Christina Gallo Musen über Poetaster, Duellanten, französisierende Modetorheiten u. a. Verkehrtheiten. Das dt. Gegenstück dazu sind die Veer SchertzGedichte (o. O. 1652. 16 Aufl.n bis 1750. Hochdt. Übers. v. Constantin Christian Dedekind 1654. Dän. 1652. Neudr. Kopenhagen

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1889), die als die letzten bedeutenden Zeugnisse der mittelniederdt. Dichtung gelten. Die vier Texte mit einem Umfang von 456 bis 798 Versen (meist Alexandrinern) handeln »Van der Minschen jtzigem Wandel und Maneeren«, »Van Almodischer KlederDracht«, »Van vormengder Sprake, und Titeln«, »Van Poësie und Rym Gedichten«, u. sie konstatieren eine Bedrohung der überkommenen Werte u. Lebensformen durch den von Frankreich bzw. vom hochdt. Sprachgebiet ausgehenden »modernen« Lebensstil, der Sitten, Kleidung, Sprache u. Dichtung gleichermaßen erfasse. Diese Opposition gegen die neuen Entwicklungen u. damit auch gegen die höfisch orientierte bzw. gelehrte (hoch)dt. Literatur führt bei L. zu einer Rückbesinnung auf den Reichtum der niederdt. Sprache u. die drastisch-volkstüml. Darstellungstechniken des 16. Jh.: »Bi dem olden will ick bliven«, heißt es programmatisch in der gereimten Vorrede. Gleichwohl verfasste L. auch Schauspiele in hochdt. Sprache, konventionelle Auftragsdichtungen für den dän. Hof, z.T. allerdings mit niederdt. Possen als Einlagen (Zwo Comoedien [...]. Kopenhagen 1635. Musicalisch Schawspiel, darinn vorgestellet werden die Geschichte Arions. Kopenhagen 1655). Weitere Werke: Organum analogicum, seu instrumentum proportionum [...]. Rostock 1621. – Clavis instrumentalis Laurembergica [...]. Übers. v. Christian Jacobi. Lpz. 1625. Internet-Ed.: HAB Wolfenbüttel. – Lob-Spruch, wahrer Einigkeit [...]. o. O. (1640). Internet-Ed.: VD 17. Ausgaben: Scherzgedichte. Hg. J. M. Lappenberg. Stgt. 1861 (enthält auch die lat. Gedichte ›Satyra‹, 1630, u. ›Querimonia‹, 1657, sowie weitere niederdt. Texte). – Zwei plattdt. Possen v. J. L. Hg. Hermann Jellinghaus. In: Nd. Jb. 3 (1877), S. 91–100. – Niederdt. Scherzgedichte. Hg. Wilhelm Braune. Halle/S. 1879. – Eine dritte plattdt. Posse v. J. L. Hg. C. A. Nissen. In: Nd. Jb. 11 (1885), S. 145–150. – L.s Scherzgedichte in handschriftl. Fassung. Hg. Edward Schröder. Norden/Lpz. 1909. – Veer Schertz-Gedichte [...]. o. O. 1652. InternetEd.: HAB Wolfenbüttel. – Satyra elegantissima [...]. Hg. D. G. Morhof. Kiel 1684 (1685). Internet-Ed.: HAB Wolfenbüttel. – De nye poleerte Utiopische Bockes-Büdel. Entworpen in veer Schertz-Gedichte [...]. o. O. ca. 1700. Internet-Ed.: UB Halle. – Meklenburg ducatus. Amsterd. 1647. Nachdr. Bad

Lauremberg Langensalza 2003 (Karte). – Internet-Ed. mehrerer Schr.en in: dünnhaupt digital. Literatur: Bibliografien: Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 4, S. 2512–2530. – Pyritz, S. 399–401. – VD 17. – Weitere Titel: Erich Schmidt: J. L. In: ADB. – Ludvig Daae: Om Humanisten og Satirikeren J. L. Christiania 1884 (mit Neudr. der ›Satyra‹). – Johannes Bolte: L.s handschriftl. Nachl. In: Nd. Jb. 13 (1887), S. 42–54. – Hermann Weimer: L.s Scherzgedichte, die Art u. Zeit ihrer Entstehung. Ebd. 25 (1899), S. 53–96. – Albert Leitzmann: Zu L.s Scherzgedichten. In: PBB 43 (1918), S. 278–286. – Hildegarde Wiehert Fife: J. L., Son of the Folk. In: GR 30 (1955), S. 27–39. – Eva-Sophie Dahl: J. L. u. die sprachl. Situation seiner Zeit. In: Wiss. Ztschr. der Univ. Rostock 5 (1955/56), S. 297–302. – Klaus Peter: Der Humor in den niederdt. Dichtungen J. L.s. Köln/Graz 1967. – Winfried Freund: Die dt. Verssatire im Zeitalter des Barock. Düsseld. 1972. – G. Dünnhaupt: J. L. In: NDB. – Mara R. Wade: The Poet J. L. and the Projects of Danish National Identity During the Reign of Christian IV. In: Cultura Baltica: Literary Culture Around the Baltic 1600–1700. Hg. Bo Andersson u. a. Uppsala 1996, S. 91–101. – Schmidt, Quellenlexikon, Bd. 18, S. 252 f. – Die Rektoren der Univ. Rostock 1419–2000. Hg. Angela Hartwig u. a. Rostock 2000, S. 98. – Ernst Ribbat: Von Texten u. Textilien. J. L.s ›Schertz-Gedichte‹. In: Westfeles vnde sassesch. FS Robert Peters. Hg. Robert Damme u. a. Bielef. 2004, S. 311–319. – Vibeke Winge: ›Vormengede Sprake‹ in J. L.s Scherzgedichten [...]. Ebd., S. 321–328. Volker Meid / Red.

Lauremberg, Peter, * 26.8.1585 Rostock, † 13.5.1639 Rostock. – Polyhistor, Mathematiker, Mediziner, Astronom, Rhetoriker. Als Sohn des Professors für Medizin u. Mathematik in Rostock, Wilhelm Lauremberg, trat L. wie sein fünf Jahre jüngerer Bruder Johannes schon früh mit lat. Übersetzungen griech. Gedichte hervor. Nach seinen Studien ging er 1608 auf eine Bildungsreise, die ihn über Leiden u. Löwen nach Frankreich führte. 1611 wurde er Professor der Philosophie in Montauban, 1614 für Physik u. Mathematik in Hamburg; 1624 folgte er seinem Bruder auf den Lehrstuhl für Poesie in Rostock, wo Tscherning sein Schüler war. Neben seinen Arbeiten zu Mathematik, Medizin u. Astronomie widmete L. sich bes. auch methodolog. Studien wie etwa in seiner

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1633 in Rostock erschienenen Cynosura bonae breitung u. Überlieferung eines dt. Schulbuchs des mentis [...]. Adjuncta est methodus, [...] dispu- 17. Jh. In: Wolfenbütteler Notizen zur Buchgesch. tandi. Bekannter war jedoch seine Pansophia 12 (1987), S. 1–24. – Ralf Georg Czapla: Mytholog. sive Paedia Philosophiae: Instructio generalis, [...] Erzählstoffe im Kontext polyhistor. Gelehrsamkeit: zu P. L.s ›Acerra philologica‹. In: Simpliciana ad cognoscendum ambitum omnium Disciplinarum 21 (1999), S. 141–159. Franz Günter Sieveke (Rostock 1633), die schon im Titel mit dem neuen Begriff »Pansophia« aufwartete, der später von Comenius als Gegenbegriff zu Laurentius von Schnüffis, eigentl.: Jo»Philosophia« als Charakterisierung der hann Martin(i), Anagramm: Mirant, auch: umfassenderen Aufgabenstellung seiner Mirtill, * 24.8.1633 Schnifis/Vorarlberg, Wissenschaft gewählt wurde. L.s auch für die † 7.1.1702 Konstanz. – Prediger, Lyriker Folgezeit bedeutendstes Werk ist die u. Erzähler; Komponist. deutschsprachige Acerra Philologica. Das ist: zweyhundert außerlesene, nützliche, lustige, und Der früh verwaiste Sohn armer Eltern erhielt denckwürdige Historien (Rostock 1633. Weitere, eine Schulausbildung, die auch Musikunterjeweils erw. Ausg.n: Leiden 1637. 1640. Ro- richt zum Inhalt hatte. Seine dichterische u. stock 1638. Ffm. u. Lpz. 1667 u. 1684), eine musikal. Begabung, die sich schon früh Sammlung von Anekdoten aus poetischen u. zeigte, veranlasste ihn, 1649 Schule u. Heiphilosoph. Werken sowie aus der griech. u. mat zu verlassen u. sich Komödiantentrupröm. Geschichte mit vielfach genauer Quel- pen anzuschließen, mit denen er durch Südlenangabe der Erzählung, an deren Ende die deutschland u. Österreich zog. Aber auch in Moral sprichwortartig formuliert wird. L., Straßburg und Köln ist er gewesen. Bevor L. der sich an die studierende Jugend wendet, in Innsbruck 1658 bei dem kunstliebenden beabsichtigte Didaxe auf unterhaltsame Erzherzog Ferdinand Karl eine feste AnstelWeise – getreu der barocken Intention des lung am Hoftheater erhielt, wo er als Schau»prodesse« u. »delectare«. Aber auch allg. spieler, Dichter u. Musikant beträchtl. AnerThemen belehrender Art werden behandelt, kennung fand, trat er auch in Wien als bes. wenn dabei Kurioses mitgeteilt werden Schauspieler auf. Eine schwere Krankheit konnte. Hier zeigt sich barocker Polyhisto- bewirkte 1660 die Abkehr vom Hofleben – rismus in unterhalsamer Form. Späteren Au- eine Entscheidung, in der er durch den Tod toren diente das Werk, das das Stilideal der seines Gönners Erzherzog Ferdinand Karl (1662) noch bestärkt wurde: 1663 wurde er in »brevitas« befolgt, oft als Stoffquelle. Konstanz ordiniert u. trat 1665, unter dem Werke: Procestria anatomica [...]. Hbg. 1619 u. ö. – Institutiones arithmeticae [...]. Hbg. 1621. Ordensnamen Laurentius, in Zug in den KaLpz. 21659. – Horticultura [...]. Ffm. 1632. Dt. 1671 puzinerorden ein; er änderte seinen bürgerl. u. ö. – Apparatus plantarius [...]. Ffm. 1632. – Eu- Namen anagrammatisch in »Mirant« um. Als phradia: Sive Prompta ac probabilis Eloquentia Prediger wirkte er v. a. in der vorderösterr. [...]. Rostock 1638. Ordensprovinz, widmete sich aber auch weiLiteratur: Bibliografie: Dünnhaupt 2. Aufl., ter der religiösen Dichtung u. der Musik. Mit Bd. 4, S. 2531–2564. – Weitere Titel: Hans Schröder: der Krönung zum Dichter (Poeta Laureatus) Lexikon der hamburg. Schriftsteller. Hbg. durch Kaiser Leopold I. fand seine literar. 1858–66, Bd. 4, S. 377 ff. – Charles A. Williams: P. Tätigkeit, die sich – wie die Auflagen seiner L. and Fischart. In: MLN 33 (1918), S. 120 f. – Werke bezeugen – bei seinen Zeitgenossen Conrad Wiedemann: Vorspiel der Anthologie. In: großer Beliebtheit erfreute, die höchste AnDie deutschsprachige Anthologie. Hg. J. Bark u. D. erkennung. Barocker Gepflogenheit entsprePforte. Bd. 2, Ffm. 1969, S. 28 f. – Arthur Scherle: chend, verband er in seinen Werken antike Acerra Philologica. In: KindlerNeu. – Setsu Hata: Goethe u. die ›Acerra philologica‹ P. L.s. In: Goe- Mythologie mit christl. Inhalten u. durch die the-Jb. 16 (Tokyo 1974), S. 163–178 (japan. mit dt. Art seines literar. Schaffens das »prodesse« Zusammenfassung). – Willi Gorzny (Hg.): DBI. mit dem »delectare«. Nach frühen Versuchen wie Tragico-ComoeBd. 3, Mchn. 1986, Sp. 29–55. – Thomas Bürger: Die ›Acerra Philologica‹ des P. L. Zur Gesch., Ver- dia Genant Die Liebes Verzweiffelung u. Ehrenge-

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dicht dem Hochwürdigsten / [...] Herrn Sigismundo Francisco Ertzhertzogen zu Oesterreich (Innsbr. 1659) gelang L. mit Philotheus, oder deß Miranten [...] wunderlicher Weeg (Ems 1665. Weitere Aufl.n bis 1688. Unter anderem Titel: Konstanz 1689. 1690. Nachdr. hg. v. Eugen Turnher. Bregenz o. J. [1960]) ein erfolgreiches Werk. In diesem Roman, der unter den bekannten Typen des Barockromans eine Sonderstellung einnimmt, schildert L. die Bekehrung des Höflings Mirant (Anagramm zu Martin) u. dessen Hinwendung zum geistl. Stand. Autobiografisches ist in das Werk einbezogen, wenngleich Romanheld u. Autor, der Erbauungsintention des Buchs entsprechend, nicht identisch sind. Die Einbeziehung bukol. Elemente versteht sich zum einen aus dem myst. Charakter des Werks, zum anderen aus der Absicht, Ereignisse aus dem eigenen Leben zu schildern, da autobiogr. Mitteilung seit der Antike gern unter der Maske des Schäfers erfolgte. So ist der Philotheus sowohl myst. Erbauungsbuch als auch autobiografischer u. geistl. Schäferroman mit didakt. Absicht. Ein weiterer literar. Erfolg L.’ ist sein Mirantisches Flötlein. Oder Geistliche Schäfferey / In welcher Christus under dem Namen Daphnis / die in dem Sünden-Schlaff vertieffte Seel Chlorinda [...] aufferweckt (Konstanz 1682. Weitere Aufl.n bis 1739. Nachdr. hg. v. Annemarie Daiger. Darmst. 1968). Dieses Werk folgt ganz der Tradition der auch von Khuen u. Spee gepflegten geistl. Bukolik sowie der HoheliedDichtungen. Auch hier steht das Motiv der Bekehrung – diesmal der Seele durch Christus – im Vordergrund. Sie wird in drei Büchern zu je zehn dreistimmigen 20-strophigen Liedern, den eigentl. Dialogen zwischen Daphnis (Christus) u. Chlorinda (die dem Sündenschlaf verfallene Seele), mit zugehörigen allegor. Kupferstichen geschildert. Text u. Bild liegt ein entsprechender Bibelvers zugrunde. Eine Emblemdichtung also, die in der Tradition der Pia Desideria (1624) Hermann Hugos SJ steht. Die Lieder selbst zeichnen sich durch breite rhythm. u. stroph. Variation aus. Dieses Gestaltungsprinzip der emblemat. »Elegia« wandte L. auch in einer Reihe weiterer Werke an, z.B. in der Mirantischen Mayen-

Laurentius von Schnüffis

Pfeiff. Oder Marianische Lob-Verfassung (Dillingen 1691. 1692. 1707) oder in der Mirantischen Maul-Trummel. Oder Wohlbedenckliche GegenSätze böser und guter Begirden (Konstanz 1695. Weitere Aufl.n bis 1708. Nachdr. der Ausg. 1698: Hildesh. 1986). Die Mirantische MayenPfeiff beeinflusste die nachfolgende kath. Marienverehrung im Monat Mai. In der Verknüpfung von Traktat u. Lied übt L. mit der Mirantischen Wald-Schallmey Oder Schul wahrer Weisheit (Konstanz 1688) satir. Moralkritik. Sein postum erschienenes Gebetbuch Vilfärbige Himmels-Tulipan (Konstanz 1705) fand in der kath. Kirche bis Ende des 18. Jh. Verwendung. Ausgaben: Himmelstulipan. Straßb. 1813. Einsiedeln 1832. – Gebetsgärtlein. Einsiedeln 1882. – Seraph. Geisteblumen. Einsiedeln 1908. – Seraph. Festtagsblumen. Einsiedeln 1909. – ›Nur zeige mir dein Angesicht‹. Eingel. u. ausgew. v. Eugen Thurnher. Graz/Wien 1961. – Philotheus, oder des Miranten Wunderl. Weg. Hg. ders. Bregenz 1963. – Mirant. Flötlein. Faks.-Nachdr. Vorw. v. Annemarie Daiger. Darmst. 1968. – Gedichte. Hg. Urs Herzog. Stgt. 1972. – Tragico-Comoedia Genant Liebes Verzweiffelung. Abdr. in: Ruth Gstach 1972 (s. Literatur). – L. v. S., eine Werkausw. 2 Bde., hg. v. Gerold Amman. Ingolst. 1979. Literatur: Bibliografie: Dünnhaupt 2. Aufl., Bd. 4, S. 2565–2575. – Weitere Titel: F. Weber: P. L. v. S., sein Leben u. seine Werke. Diss. Wien 1903. – Walter Vetter: Das frühdt. Lied. Münster 1928, Bd. 1, S. 283–325; Bd. 2, S. 105–120. – Isidor Flür: P. L., der Sänger v. Schnifis. Bregenz 1933. – Maria Krassler: L. v. S. Diss. Innsbr. 1937. – Heinz-Dietrich Groß: L. v. S. Diss. Wien 1942. – Hermine Senninger: Die ›Mayen-Pfeiff‹ des L. v. S. Diss. Wien 1946. – Eugen Thurnher: L. v. S. Frühzeit. In: Monfort. Ztschr. für Gesch., Heimat- u. Volkskunde Vorarlbergs 4 (1949), S. 106–120. – Ders.: Die Romane d. L. v. S. In: FS Moriz Enzinger. Innsbr. 1953, S. 185–199. – Norbert Tschulik: L. v. S. Ein Beitr. zur Gesch. des dt. Sololiedes im 17. Jh. Diss. Wien 1949. – Clemens Menze: Studien zur spätbarocken Kapuzinerdichtung. Diss. Köln 1953, S. 272–305. – Ders.: Grundzüge u. Grundlagen der spätbarocken Kapuzinerdichtung. In: Collectanea Franciscana 28 (1958), S. 272–305. – Gaudentius Waser v. Göfis: P. L. v. S. In: Collectane Franciscana 32 (1962), S. 56–86. – Dieter Breuer: Der ›Philotheus‹ des L. v. S. Meisenheim 1969. – Ders.: Die Auseinandersetzung mit dem oberdt. Literaturprogramm. In: AKG 53 (1971), S. 53–92. – Maria Carmen Roth: Die Romane des L. v. S. (1633–1702).

Laurin Diss. University of Michigan 1971. – Theo Hoebers: L. v. S. Sein Leben, seine Werke u. die Forsch. In: Montfort 23.2 (1971), S. 143–157. – Ruth Gstach: Johann Martin: Die ›Liebes Verzweiffelung‹. Diss. Innsbr. 1972. – Erich Schneider: Vorarlberger Komponisten. Dornbirn 1973. – Friedhelm Kemp: Mirant. Flötlein Oder Geistl. Schäfferey. In: Kindler, Erg.-Bd. – Urs Herzog: Imitatio Mariae, Aspekte zur Marienlyrik des L. v. S. In: Zuger Neujahrsbl. (1977), S. 5–22. – R. Gstach: L. v. S., erster dt. Bearbeiter des Shakespeareschen Hamlet-Stoffes? In: Montfort 30 (1978), S. 7–19. – M. C. Roth: Der ›Philotheus‹ des L. v. S. Ann Arbor 1979. – Elmar Vonbank (Hg.): L. v. S. 1633–1702. [...]. Ausstellungskat. Gemeinde Schnifis 1983. – Irmgard Scheitler: Geistl. Lieder als literar. Gebrauchsform. In: Ztschr. für bayer. Landesgesch. 47 (Sonderbd.) (1984), S. 215–239. – Dies.: L. v. S. In: Zeman. – Robert Pichl: Sinnenfrohe Weltflucht. Das ›Mirant. Flötlein‹ des L. v. S als ästhet. Medium barocker Seelsorgepraxis. In: Alte u. neue Kontroversen. Bd. 8, Tüb. 1986, S. 24–35. – Anthony J. Harper: A Baroque ›Gesamtkunstwerk?‹: Some Thoughts on the ›Mirantisches Flötlein‹ of L. v. S. In: Bristol Austrian Studies 1990, S. 19–47. – R. Gstach: Mirant: Komödiant u. Mönch; Leben u. Werk des Barockdichters L. v. S. Graz 2003. – Dies.: Unbekannte Liederhs. im ›Mirantischen Flötlein‹ des L. v. S. In: Montfort 57 (2005), S. 151–170. – Dies.: Himml. Paradies u. ewige Hölle. Tod u. Jenseitsvorstellungen im 17. Jh. (L. v. S. u. Martin v. Cochem). In: FS Servus Gieben. Rom 2006, S. 515–557. – Flood, Poets Laureate, Bd. 3, S. 1097–1100. Franz Günter Sieveke

Laurin. – Heldendichtung aus dem Stoffkreis um Dietrich von Bern, ab Ende des 13. Jh. Wohl gegen Ende des 13. Jh. entstand im südöstlichen dt. Sprachraum – möglicherweise in Tirol, wo die Handlung situiert ist – die vermutete Erstfassung des L. Die breit überlieferte Dichtung (wenigstens 18 Handschriften, Ende 13. bis Anfang 16. Jh.; elf Drucke, 1479–1590) existiert in fünf Versionen, einer strophischen, also sangbaren (im Dresdner Heldenbuch von 1472, 326 Strophen in der Heunenweise) u. vier in Reimpaarversen: 1. die ältere Vulgat-Version, möglicherweise mit der »Erstfassung« identisch; 2. die jüngere Vulgat-Version, u. a. im Heldenbuch des Diebold von Hanowe, um 1480, überliefert; 3. eine nur in einer Handschrift des 15. u.

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einem Fragment des 14. Jh. überlieferte Version, der die sog. Walberan-Fortsetzung hinzugefügt ist. Gehören diese drei Versionen der gleichen Textfamilie an, so ist die vierte, nur in einem Fragment aus dem 15. Jh. tradierte Reimfassung (113 Verse), völlig eigenständig, ebenso wie die stroph. Fassung. Ferner gibt es spätmittelalterl. Bearbeitungen auf Tschechisch u. Dänisch sowie eine färöische (Tanz-) Ballade. Eine genaue Datierung der dt. Versionen ist ebenso wie ihre Lokalisierung problematisch: Das Ende des 13. Jh. als Entstehungszeit gilt nur für die vermutete »Erstfassung«. Auch die Reimpaarfassung (RPF) 3 mit der Walberan-Fortsetzung gehört wohl noch ins 13. Jh., eventuell entstanden unter den Deutschen in Venedig (so Pausch). Die stroph. Version des Dresdner Heldenbuchs wurde möglicherweise aktuell für diese Sammlung 1472 in Nürnberg geformt. Das in zwei Teile gegliederte Epos kombiniert die beiden Erzählschemata »Herausforderung« u. »Befreiung«, die auch von allen übrigen Texten der sog. aventiurehaften Dietrichepik verwendet werden, ohne sie jedoch in geschlossener Motivierung strukturell aufeinander zu beziehen: Der erste Teil ist die Geschichte des Kampfs Dietrichs u. seiner Begleiter mit dem Zwergenkönig Laurin in dessen Rosengarten, der in Tirol situiert ist – daher auch der Titel Kleiner Rosengarten im Unterschied zum (Großen) Rosengarten zu Worms; der zweite Teil erzählt die Befreiung Künhilds, der Schwester Dietleibs. In der älteren Vulgat-Version (RPF 1) ziehen Dietrich u. Witege, durch eine Erzählung Hildebrands über den Zwergenkönig Laurin neugierig geworden, zu dessen Rosengarten, wo Witege zunächst besiegt wird, Dietrich aber schließlich dem Zwergenkönig seinen Zaubergürtel zu entreißen u. ihn zu bezwingen vermag. Nach einer Versöhnung bittet Laurin Dietrich u. seine Begleiter in den Berg, wo sie von Künhild begrüßt werden. Laurin, über seine Niederlage erzürnt, betäubt die Helden mittels eines Zaubertranks u. setzt sie im Berg gefangen. Mit Hilfe Künhilds können sie sich befreien u. besiegen Laurin u. seine Zwerge nach schwerem

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Kampf; Laurin wird als Gefangener nach Bern gebracht. Die stroph. Fassung des Dresdner Heldenbuchs folgt, wenn auch selbständig erzählend, im Wesentlichen diesem Handlungsverlauf, während die jüngere Vulgat-Version (RPF 2) in einer Vorgeschichte von Künhilds Entführung berichtet u. in einer Nachgeschichte ihre u. ihres Bruders Rückkehr nach Steiermark schildert. Ein versöhnl. Schluss, der im angefügten Walberan noch weitergesponnen wird, bestimmt die RPF 3: Laurin lässt sich taufen u. lebt als Freund bei Dietrich. In der Fortsetzung erscheint Laurins Oheim Walberan, mächtiger Zwergenherrscher im Orient, mit einem Heer in Bern, um seinen Neffen zu rächen, der jedoch vermittelnd eingreift u. Walberan vom Angriff abbringt. Stattdessen wird ein Turnier abgehalten, aus dem die Gäste als Sieger hervorgehen; ein Fest beschließt den Text. Die Tendenz der RPF 4 ist wegen ihres fragmentar. Charakters nicht ganz deutlich; vermutlich liegt eine Wendung ins Parodistische vor, entschließt sich doch Dietrich während eines Fastnachtfestes, zum Rosengarten zu ziehen. Witege, Dietleib, Wolfhart u. Siegfried begleiten ihn, um Laurin wegen dessen »hachfart« (v. 90) zu töten. Die ziemlich lose Verknüpfung der beiden Erzählschemata »Herausforderung« u. »Befreiung« hielt den Text, wie die fünf Versionen zeigen, für verschiedene Deutungsmuster offen; teils kritisch, teils affirmativ wird die Aventiure-Ideologie des höf. Romans benutzt; heroische u. höfisch-romanhafte Traditionsstränge werden – typisch für die spätere Heldendichtung – miteinander verbunden. Der Stoff wird auch in der bildenden Kunst, so in einem Wandgemäldezyklus mit Textzitaten auf Schloss Lichtenberg im südtirolischen Vintschgau, um 1400 (heute Innsbruck, Museum Ferdinandeum), rezipiert u. blieb bis in die frühe Neuzeit lebendig. Zwar gab es einen »Rosengarten« in vielen Gegenden, doch erst mit der Wiederentdeckung der Texte durch die Literaturwissenschaft wurde er im 19. Jh. in Südtirol lokalisiert u. dort als Lokalmythos populär; nicht nur Hotels u. Pensionen tragen diesen Na-

Laurin

men, sondern es gibt auch einen bekannten Gemälde-Zyklus von Ignaz Stolz d.J. am viel besuchten Völser Weiher, raumfüllende Fresken von Bruno Goldschmitt im Bozener Nobelhotel »Laurin« (1911; kurz nach 1990 restauriert) sowie einen politisch zeitweise umkämpften Laurin-Brunnen (1907) in Bozen. Die in Südtirol heute allgemein bekannte Legende, das abendl. Glühen der Dolomiten gehe auf Laurin zurück, stammt allerdings wohl erst von dem Journalisten u. Sagen-Erzähler Karl Felix Wolff (erstmals 1908: Kindl). Seit 2000 hat der Wiener Musiker Eberhard Kummer die »Dresdener Fassung« mehrfach vollständig u. in Ausschnitten gesungen. Ausgaben: Friedrich Heinrich v. der Hagen u. Alois Primisser (Hg.): Der Helden Buch in der Ursprache 2. Bln. 1825, S. 160–188 (stroph. Version). – V. K. J. Schröer: Ein Bruchstück des Gedichtes Luarin [!] oder der Kleine Rosengarten. In: Jahresprogramm der Presburger [!] Oberrealschule 7. Preßburg 1857, S. 18–29 (RPF 4). – Karl Müllenhoff (Hg.): L. u. Walberan. In: Dt. Heldenbuch 1. Bln. 1866. Neudr. Bln./Zürich 1963, S. 201–257, nur der L. auch separat Halle 1874 u. ö. (RPF 3). – Adelbert v. Keller (Hg.): Das dt. Heldenbuch. Stgt. 1867. Neudr. Hildesh. 1966, S. 693–763 (RPF 2). – Georg Holz (Hg.): L. u. der kleine Rosengarten. Halle 1897, S. 1–50 (RPF 1), S. 51–95 (RPF 3 mit ›Walberan‹-Forts.), S. 96–182 (RPF 2). – Torsten Dahlberg (Hg.): Zum dän. u. niederdt. Lorin. Lund 1950 (niederdt. Version). – Walter Kofler (Hg.): Das Dresdener Heldenbuch. Stgt. 2006, S. 330–359 (stroph. Version). Melodie dazu: Horst Brunner: Strukturprobleme der Epenmelodien. In: Ders.: Annäherungen. Bln. 2008, S. 201–223 (zuerst in Kühebacher 1979, s. u., S. 300–328). – Faksimilia: Karl Schorbach (Hg.): Seltene Drucke in Nachbildungen 4. L. Halle 1904 (Druck Straßb.: Mathis Hupfuff 1500; RPF 2). – Joachim Heinzle (Hg.): Heldenbuch 1. Göpp. 1981, Bl. 256v-281r (Erstdr. des Heldenbuchs Straßb.: Johann Prüß 1479; RPF 2). – Übersetzungen: Manfred Lemmer: Deutschsprachige Erzähler des MA. Gött. 1977. – Christa Habiger-Tuczay: Die aventiurehafte Dietrichepik: L. u. Walberan, Sigenot, Eckenlied, Wunderer. Mhd. u. nhd. Übers., Komm. Göpp. 1999. – J. Wesley Thomas: The Best Novellas of Medieval Germany. Columbia 1984 (engl.). Literatur: Karl Felix Wolff: König L. u. sein Rosengarten. Bozen 1932 u. ö. – P. B. Wessels: König L., Quelle u. Struktur. In: PBB 84 (1962), S. 245–265. – John L. Flood: Das gedruckte Hel-

Lauson

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denbuch u. die jüngere Überlieferung des L. D. In: ZfdPh 91 (1972), S. 29–48. – Manfred Zips: König L. u. sein Rosengarten. In: Tiroler Heimat. Jb. für Gesch. u. Volkskunde 35 (1972), S. 5–50. – Joachim Heinzle: Mhd. Dietrichepik. Mchn. 1978. – Ders.: Überlieferungsgesch. als Literaturgesch. Zur Textentwicklung des L. In: Dt. Heldenepik in Tirol. Hg. Egon Kühebacher. Bozen 1979, S. 172–191. – Oskar Pausch: L. in Venedig. Ebd., S. 192–211. – Gisela Kornrumpf: Strophik im Zeitalter der Prosa. In: Lit. u. Laienbildung im SpätMA u. in der Reformationszeit. Hg. Ludger Grenzmann u. Karl Stackmann. Stgt. 1984, S. 316–340. – Helmut Stampfer: Dreimal L.: Bildl. u. plast. Rezeption in Südtirol. In: MA-Rezeption. Hg. Jürgen Kühnel u. a. Göpp. 1979, S. 537–550. – J. Heinzle: Heldenbücher. In: VL. – Ders.: L. Ebd. – Ulrike Kindl: Krit. Lektüre der Dolomitensagen v. Karl Felix Wolff I. San Martin de Tor 1983. – Roswitha Wisniewski: Mittelalterl. Dietrichdichtung. Stgt. 1986. – George T. Gillespie: L. In: Geistl. u. welt. Epik des MA in Österr. Hg. David McLintock u. a. Göpp. 1987, S. 107–117. – Alfred Thomas: The Czech Chivalric Romances ›Vévoda Arnosˇt‹ and ›Lavryn‹ in Their Literary Context. Göpp. 1989. – U. Kindl: Die umstrittenen Rosen: L.s Rosengarten zwischen mittelalterl. Spielmannsepik u. dt.-ladin. Volkserzählung. In: ›Ir sult sprechen willekomen‹. Grenzenlose Mediävistik. Hg. Christa Tuczay u. a. Bern u. a. 1998, S. 567–579. – John Flood: L. In: Dämonen, Monster, Fabelwesen: MA Mythen III. Hg. Ulrich Müller u. Werner Wunderlich. St. Gallen 1999, S. 373–385. – J. Heinzle: Einf. in die mhd. Dietrichepik. Bln./New York 1999, S. 145–169. – U. Müller: Das ›Blutige Mittelalter‹: Wie entstehen Heldenbilder u. wie werden sie vermittelt. In: Bilder vom MA. Hg. Volker Mertens u. Carmen Stange. Gött. 2007, S. 209–235. – CD: Eberhard Kummer: L.: Epos u. Schwank im mittelalterl. Tirol. ORF Wien 2004 (Gesamtaufnahme in Vorb.). Norbert H. Ott / Ulrich Müller

Lauson, Johann Friedrich, * 15.10.1727 Königsberg, † 4.10.1783 Königsberg. – Dichter, Verfasser von Gedichten, Komödien u. Tragödien. L. ist wenig bekannt. Dennoch hat er in der zweiten Hälfte des 18. Jh. im Königsberg der Kant-Zeit als Lokaldichter eine nicht unbedeutende Rolle gespielt. Der aus bescheidenen Verhältnissen Stammende blieb unter schwierigsten finanziellen Umständen sein Leben lang dem Wohlwollen des vielfach verzweigten Handelsunterneh-

mens Saturgus verpflichtet. Bereits mit acht Jahren begann L. zu dichten u. verstand sich von Anbeginn als Nachfahre der »Sterblichkeitsbeflissenen« der »Kürbishütte« Simon Dachs. Obgleich er das traditionsreiche Collegium Fridericianum besuchte u. an der Albertus-Universität ein Jurastudium begann, brachte er es nie zu einem ordentl. Studienabschluss, sondern musste sich viele Jahre lang als Hilfslehrer an Königsberger Stadtschulen durchschlagen. Seine mangelhaften pädagog. Fähigkeiten zwangen ihn am Ende, das Amt aufzugeben u. im Wesentlichen als Privatlehrer u. Gelegenheitsdichter zu leben. Andererseits brachten ihm sein ansonsten joviales Temperament, seine Belesenheit u. seine Bereitschaft, bei jedem Anlass die Feder für kulturelle Belange einzusetzen, zahlreiche Freundschaften ein, u. a. Johann Georg Hamanns, des späteren »Magus«, u. Theodor Gottlieb von Hippels, des künftigen Oberbürgermeisters u. Verfassers der Lebensläufe (1778–81) u. des Buchs Über die Ehe (an., 1774). Schon als blutjunger Student ist L. im Jahre 1749 einer der eifrigsten Mitarbeiter der von Johann Gotthelf Lindner, Johann Christoph Berens u. Hamann bei Dorn herausgegebenen Kulturzeitschrift »Daphne« (1749/50) gewesen, u. ab 1764 arbeitete er ebenfalls an der Redaktion der von Johann Jacob Kanter ins Leben gerufenen »Königsbergschen Gelehrten und Politischen Zeitungen« mit, wo er sich als der Lokalreporter vom Dienst verstand. Als leidenschaftl. Theaterliebhaber schloss er sich zwischen 1766 u. 1768 als »Hausdichter« der Schuch’schen Schauspieltruppe an, für die er u. a. Molières Tartuffe übersetzte u. Harlekinaden, Komödien u. Tragödien verfasste. Das zum Geburtstag seines Gönners Saturgus gedichtete Festspiel Ganymed u. das Trauerspiel Gafforio (1755) nach Otways Gerettetem Venedig blieben dem Namen nach erhalten. Da er die lyr. Dichtkunst nie nach wiss. Kriterien erlernte, galt er als eigenwilliger Dilettant. Hamann behauptete, L. verfüge über »Einfälle wie der Reif im Herbst Büsche und Thiere ziert oder wie der schwarze Rock eines alten Stutzers voller Puder liege.« Weil er aber mit echtem Sprach- u. Reimgefühl meist spielend Verse verfertigte, die er mit angele-

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Lautensack

sener Metaphorik anreicherte, bescheinigte (1727–83). In: Publications du Centre Universitaire ihm Johann George Scheffner ein »glückli- de Luxembourg 10 (1997), S. 1–13. Joseph Kohnen ches Improvisieren«. L. wurde von vielen als intellektueller Halbvagabund betrachtet, u. nie gelang ihm der Zugang zu den erlesenen Lautensack, Heinrich, * 15.7.1881 VilsGesellschaftskreisen der Stadt, etwa zur hofen (bei Passau), † 10.1.1919 EberswalDreikronenloge, zu Kants Tischrunden oder de (bei Berlin). – Lyriker, Dramatiker, zum Musenhof der Keyserlingks. Dennoch Prosaautor, Übersetzer, Verfasser von blieben ihm der profunde Philologe Hamann Drehbüchern (Stummfilm). u. der anonym schreibende Spitzenbeamte Hippel freundschaftlich verbunden. 1759 Als Sohn eines fahrenden Händlers, der 1883 hielt L. zum 100. Todestag Simon Dachs in ein Ladengeschäft in Passau gründete, beder Kneiphöfischen Schule eine viel beachte- suchte L. die Kreis-Realschule in Passau, ab te, 48 Seiten umfassende Gedenkrede (Das 1897 die Industrieschule in München, 1899 Lorrbeerwürdige Andenken eines vor hundert Jahren inskribierte er sich an der TH, um Geometer verstorbenen großen Preußischen Dichters, M. Si- zu werden. Doch schon ein Jahr später liest mon Dach. Königsb. 1759), die ihren Platz in man L.s Namen als »Henkersknecht« im ersder Dach-Forschung bewahrt hat. 1768 ten Programmheft des Schwabinger Künstübernahm der Magistrat der Stadt durch ler-Kabaretts »Elf Scharfrichter«. Die frühen, Hippels Vermittlung die 8000 Bände seiner teilweise für die Rezitation auf der Bühne Privatbibliothek, die leider durch die Nach- verfassten Gedichte (z.B. Pan, Mädchenträume, lässigkeit der Bibliothekare Christian Jacob Der Tod singt, Vision, Die blinde Harfnerin bei den Kraus u. Johann Michael Hamann in alle Felsen) kreisen – nicht immer frei von modiWinde verstreut wurde. Als L. am 4. Okt. scher Attitüde – vielfach um die Themen 1783 starb, widmete ihm Hamann in der Erotik u. Tod. Die ersten szen. Versuche »Hartungschen Zeitung« einen warmen Sommernacht (in: Der Hofrat erzählt. Mchn. Nachruf. Auch Hippel bedauerte den Tod des 1902), Glühhitze (in: Freistatt 4, 1902, 45) u. »ehrlichen« Mannes, der sein »Theatermeis- Medusa (Stgt. 1904) offenbaren darüber hinter« gewesen. aus ein biologist. Frauenbild, das L. in die L.s Einfluss auf Hippel bes. in Sachen Ko- Nähe von Frank Wedekind u. Otto Weiniger mödiendichtung u. Todespoesie ist unüber- rückt. Erschöpfte sich in der Münchener Zeit sehbar. Trotz dichterischer Mängel sind die Thematisierung von Sexualität u. Erotik zahlreiche Verse seiner zweibändigen noch vielfach in der provokativen FrontstelSammlung Erster und Zweeter Versuch in Ge- lung gegen bürgerl. Werte, so zeigen sich in dichten (Königsb. 1753/54), u. a. die Zeilen den späteren Texten L.s die Konturen einer über den Pregel, die Ode Über die Asche Kö- existenziell empfundenen Problematik. Genigsbergs anlässlich des Brandes von 1764 u. gen das auch gesellschaftlich relevante Spandie langen Beschreibungen des vortreflichen Gar- nungsverhältnis von Sexus u. kath. Glauben tens des Herrn Commercienrath Saturgus sowie aufbegehrend, suchte L. nach neuen künstledes Wallrodtschen Landguts Podgirben, heute risch-ästhet. Ausdrucksmitteln. Seine teils noch einzigartige kulturhistor. Dokumente. expressionistisch-ekstatische Bezugnahme Literatur: E. Brenning: J. F. L. In: Altpreuß. auf bibl. Motive u. kath. Sprachformeln – wie Monatsschr. 10 (1864), H. 1, S. 1–22. – F. J. in der »Kreuzwegkantate« Via Crucis (in: Schneider: Theodor Gottlieb v. Hippel in den Jah- Buecherei Maiandros. Bln. 1912) – stieß aber auf ren v. 1741 bis 1781 u. die erste Epoche seiner li- Unverständnis u. Ablehnung. terar. Tätigkeit, Prag 1911. – J. G. Hamann: Nach der Auflösung der »Elf Scharfrichter« Briefw., ZH, 7 Bde, Wiesb. 1955 ff. – Joseph Koh- 1904 tingelte L. noch bis 1909 als Conférennen: Der Königsberger Lokaldichter J. F. L. In: cier auf verschiedenen Varietébühnen durch Nordost-Archiv, H. 81 (1986), S. 1–18. – Ders.: JoDeutschland. 1906/07 ließ er sich in Berlin hann Georg Hamann (1730–88) u. J. F. L. nieder, wo er sich dem Kreis um Alfred Richard Meyer u. Anselm Ruest anschloss. Bis

Lauterbach

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auf wenige Ausnahmen, wie das Schauspiel zen Altbayrische Bilderbogen steht L. am Beginn Das Gelübde (Lpz. 1916), die während des einer literar. Traditionslinie, deren bedeutKriegsdiensts verfasste Samländische Ode (Bln. samste Vertreterin Marieluise Fleißer wurde. 1918), Erotische Votiftafeln (Bln. 1919) u. Alt- Darauf machte 1954 schon Lion Feuchtwanbayrische Bilderbogen (Bln. 1920), welche bei ger aufmerksam: ihre Komödie Der starke Kurt Wolff u. Gurlitt publiziert wurden, Stamm erinnere »im besten Sinne an Lautenverlegte Meyer alle Texte L.s, darunter sein sack«. erstes größeres Bühnenwerk Hahnenkampf Ausgaben: Das verstörte Fest. Ges. Werke. Hg. (Bln. 1908). Lassen sich in dieser »Komödie« Wilhelm Lukas Kristl. Mchn. 1966. – Pfarrhauskobezüglich der Thematik »des Sexuellen« mödie. Stgt. 1970. – Leben, Taten u. Meinungen noch die Ideen der Epoche erkennen, so be- (kurz zusammengefasst) des sehr berühmten russ. schreitet L. mit der holzschnittartigen Dar- Detektivs Maximow, Beamten zu bes. Aufträgen im stellung der bayerischen Provinz u. der dia- Ministerium des Inneren zu St. Peterburg. Bln. 1991. – Altbayr. Bilderbogen. Passau 1994. lektnahen Sprachgestaltung neue Wege. Literatur: Wilhelm Lukas Kristl: Und morgen Sechs Szenen, die in farbigen Genrebildern steigt ein Licht herab. Mchn.-Gauting 1962. – Otto eine verschworene ländl. Gesellschaft vorF. Best: H. L. oder die Säkularisierung des Eros. In: führen, erzählen die Geschichte der Dorf- Akzente 17 (1970), S. 370–383. – Friedrich Brunschönen Innocentia u. ihrer honorigen Lieb- ner: H. L. Eine Einf. in Leben u. Werk. Passau 1983. haber. In dem Stück wird aber weniger die – Petra Ernst: Via Crucis. H. L.s Leben u. Werk. Doppelmoral der Bevölkerung attackiert als Passau 1993 (Diss. Mchn. 1991). Petra Ernst vielmehr die Bigotterie jener Kräfte, die eigentlich Moral, Sitte u. Gesetz vertreten: des Lauterbach, Johann, * 16.6.1531 Löbau/ Klerus u. der Polizei. Nicht zuletzt darin darf Oberlausitz (daher Lusatius), † 11.10. ein Grund vermutet werden, dass die Dramen 1593 Heilbronn. – Reformatorischer PäHahnenkampf sowie später die Pfarrhauskomödagoge u. Neulateiner. die (Bln. 1911) u. Das Gelübde von der Zensur untersagt u. zu L.s Lebzeiten in Deutschland Das Studium in Wittenberg u. bei Melannicht gespielt wurden. Die Aufführungsver- chthon (1549) prägte L. u. erwarb ihm lebote, gegen die sich L. auch publizistisch äu- benslange Beziehungen u. Freundschaften; ßerte (Das Heimliche Theater. In: »Aktion« 2, er konnte sie noch durch den Heidelberger 1912, S. 4), führten zu finanziellen Einbu- Gelehrten- u. Literatenkreis des späten 16. Jh. ßen, die der Autor mit journalist. Gelegen- (früh Petrus Lotichius Secundus; später Joheitsarbeiten u. literar. Übersetzungen – z.B. hannes Posthius u. Melissus Schede) von von Gilbert Keith Chestertons Roman Der Heilbronn aus erweitern, wo er, nach HofMann, der Donnerstag war (Mchn. 1910, zuletzt meisterjahren im Hohenloher Land (seit Bln. 2002) – auszugleichen suchte. Ab 1912 1553), Schulrektor geworden war. eröffnete ihm der Kinofilm neue VerdienstL.s literar. Œuvre ist vielseitig u. ehrgeizig. möglichkeiten. L. verfasste Drehbücher zu Neben religiöser Perikopendichtung (Evangemindestens zehn Filmen u. arbeitete als lia totius anni, compendiosa expositione in usum Dramaturg u. a. für die »Continental-Kunst- scholasticae iuventutis descripta. Ffm. 1563) u. film-Gesellschaft«. lat.-dt. Sammlungen (Cithara Christiana: Der Hahnenkampf erlebte schließlich 1911 psalmodiarum sacrarum libri septem / Christliche in Wien seine Premiere u. wurde dort von Harpffen: Geistlicher Psalmen und Lobgeseng sieAlfred Polgar hymnisch besprochen. Die ben Bücher. Lpz. 1585) steht Kaiser Ferdinand Pfarrhauskomödie, ein Stück über die heiml. I. u. dem Dänenkönig Christian IV. gewid»Priesterehe«, wurde erst 1920 in Berlin ur- mete histor. Zeitlyrik (Epigrammata de rebus aufgeführt (in der Folge ca. 200 Aufführun- gestis Friderici II. regis Daniae. Ffm. 1592. Europa gen), verursachte aber auch nach dem Fall der Eidyllion Imperatori Ferdinando I. sacrum. Wien Zensur in ganz Deutschland heftige Skanda- 1558). Diese Werke brachten L. den kaiserl. le. Mit diesen beiden Stücken sowie mit den Dichterlorbeer ein (1558). Daneben traten dem kath. Kirchenjahr folgenden Prosaskiz- poet. Rätselgedichte, Heinrich Rantzau ge-

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widmet (Aenigmata. Straßb. 1589. Ffm. 1602 mit Werken anderer. Internet-Ed.: CAMENA). Naturkundliches Interesse bekundet seine Physiosophia sive theatrum scientiae naturalis (Straßb. 1585). Eine Sammlung von Epigrammata in sechs Büchern (Ffm. 1562) wirft interessante Schlaglichter auf persönliche u. zeitgeschichtl. Konstellationen. Für Nikolas Reusners Icones sive imagines virorum literis illustrium (Straßb. 1587) lieferte er viele Elogia, 1612 präsentierte ihn Gruter in den Delitiae poetarum Germanorum (Bd. 3, S. 906–947. Internet-Ed.: CAMENA). Sein Gesamtwerk ist noch nicht erforscht, auch wegen der Verwechslung mit anderen gleichnamigen Verfassern (v. a. Johannes Lauterbauch aus Noskowitz) bibliografisch noch nicht hinreichend genau erfasst. Literatur: Johann Christian Wibel: Hohenloh. Kyrchen- u. Reformations-Historie. [Ansbach] 1752, S. 567 f. – R. Eitner: L. In: ADB. – Ellinger 2, S. 238–240. – DBA. – VD 16. – Inka Bach u. Helmut Galle: Dt. Psalmendichtung. Bln./New York 1989, S. 143–146. – Flood, Poets Laureate, Bd. 3, S. 1102–1104. Reinhard Düchting / Red.

Lavant, Christine, eigentl.: C. Habernig, geb. Thonhauser, * 4.7.1915 Groß-Edling bei St. Stefan im Lavanttal/Kärnten, † 7.6. 1973 Wolfsberg; Grabstätte: St. Stefan. – Lyrikerin, Prosaautorin. Als neuntes Kind einer Bergarbeiterfamilie wurde L. in ärml. Verhältnissen geboren. Ihre Kindheit u. Jugend prägten materielle Not u. Krankheit: Seh- u. Gehörsinn waren beeinträchtigt u. mit ihnen der Kontakt zur Umwelt. Die Neigung zur Introvertiertheit löste wiederholt psych. Krisen aus, die 1935 nach einem Suizidversuch zur psychiatr. Behandlung führten, über die der 1946 entstandene, postum erschienene Prosatext Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus (Salzb./Wien 2001) Aufschluss gibt. Nach dem Besuch von acht Klassen Volksschule u. einer Klasse Hauptschule wohnte sie bis 1938 (Tod der Mutter) im Elternhaus u. heiratete 1939 den um vieles älteren Maler Josef Habernig. 1950–1955 verband sie enge Freundschaft mit Werner Berg, der sie in Holzschnitten u. Gemälden dargestellt hat. Mit Ausnahme der Jahre

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1966–1968 (Klagenfurt) lebte sie in St. Stefan u. verdiente ihren Unterhalt durch Stricken. Für L. wurde das Schreiben zum unverzichtbaren »Ausweg aus sich selbst«, den sie als Frau im provinziellen kath. Milieu jedoch mit Skepsis betrachten musste: »Kunst wie meine ist nur verstümmeltes Leben.« L.s erster Gedichtband Die unvollendete Liebe (Stgt. 1949) steht noch ganz unter dem Eindruck Rilkes. Der feierl. Trost dieser Liebesu. Naturgedichte, getragen vom Vertrauen auf die Gnade Gottes, lässt nichts von den künftigen »Lästergebeten« (Ludwig von Ficker) ahnen. Das lyr. Hauptwerk L.s umfasst drei Bände, die thematisch eine Einheit bilden: Die Bettlerschale (Salzb. 1956), Spindel im Mond (Salzb. 1959) u. Der Pfauenschrei (Salzb. 1962). Im Mittelpunkt steht ein leidgeprüftes, einsames Ich, dessen Zustand neben dem körperlichen im seel. Schmerz unerfüllter Liebe gründet. Die Titel der drei Teile der Bettlerschale markieren beispielhaft die inhaltl. Spannung von L.s Dichtung: Die Feuerprobe verharrt in der heroischen Haltung, die Hölle der Verzweiflung ohne Trost u. Hilfe durchzustehen, Im zornigen Brunnen artikuliert Aufschrei u. vitalen Trotz, Das Auferlegte verweist auf Geduld u. Demut. Das Gefühl der Verlassenheit führt bei L. vielfach zum Rückzug aus der (Sinnen-)Welt in die Sphäre der Nacht. Aus dem Bestreben, die Grenzen der Wahrnehmung zu durchbrechen u. das Zeitliche zu übersteigen, erklären sich die Häufigkeit des Todesmotivs sowie die Evokation ekstatisch-myst. Zustände, die sich esoterischen wie fernöstl. religiösen Vorstellungen verdanken; diese vermitteln jedoch keine höheren Einsichten, sondern sollen, wie die mag. Beschwörungen, Angst u. Schmerz abwehren oder überwinden. Das Leidensthema bestimmt auch die religiöse Dimension der Gedichte, u. zwar im Licht der Theodizee: Der radikale Glaubenszweifel manifestiert sich dabei in Verfremdung u. autonomer Aneignung biblisch-christl. Motivik. Dennoch richtet sich das lyr. Ich in seiner Verzweiflung wiederholt an ein göttl. Du. Die ambivalenten Gefühle u. Bewusstseinszustände, Visionen u. Träume finden in einer expressiven u. kontrastreichen Meta-

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phorik ihren angemessenen Ausdruck. Durch Variation u. befremdende Kombination eines konstanten, durchaus traditionellen Bild- u. Motivinventars findet L. zu einer authent. Gedichtsprache, deren Originalität durch die zahlreichen Komposita (Herzspindel, Schlafbaum, Mondrad, Hungerstern u. a.) unterstrichen wird. Mit ihrer surrealen Bildlichkeit u. dem expressionist. Gestus der leidenden, erlösungsbedürftigen Kreatur hat L. wesentl. Anteil am Anschluss der deutschsprachigen Lyrik nach 1945 an die Moderne. L.s Gedichte wurden bei Erscheinen als intuitive Schöpfung einer »Wurzelfrau aus Kärnten« bestaunt u. als magisch-myst. Naturlyrik oder als christl. Dichtung rezipiert. Inzwischen ist nicht nur das Artifizielle ihrer Lyrik in den Blick gerückt, ihr Werk wird auch als Zeugnis einer zerstörten Existenz (Thomas Bernhard) verstanden. In jüngster Zeit hat L.s Dichtung im Zuge mystisch-irrationaler Tendenzen wieder verstärkt Beachtung gefunden; ebenso hat man feminist. Perspektiven an ihr entdeckt, wie die Werkauswahl Kreuzzertretung von Kerstin Hensel (Lpz. 1995) beweist. Im Unterschied zur Lyrik wurde L.s Prosa lange Zeit v. a. unter autobiogr. Aspekt betrachtet. Die Erzählungen Das Kind (Stgt. 1948. Salzb./Wien 2000), Das Krüglein (Stgt. 1949) u. Die Rosenkugel (Stgt. 1956) geben Einblick in das soziale Milieu, in dem L. aufgewachsen ist, u. führen zu den biogr. Ursprüngen bestimmender Themen u. Motive ihrer Lyrik zurück. Neuere Untersuchungen zeigen, dass L. darin moderne Erzählweisen wie Überblendungstechnik, Perspektivenbrechung oder Stilwechsel einsetzt. Sie dienen u. a. der Verfremdung der Welt der Erwachsenen aus der Sicht des Kindes, so wie L. auch in den märchenartigen Szenarien von Baruscha (Graz 1952) Gegenwelten aufbaut, die gesellschaftl. Normen u. Stereotype fragwürdig machen. Der umfangreiche Nachlass L.s, der in einer krit. Werkausgabe gehoben werden soll, sowie der kommentierte Gesamtbriefwechsel (hg. v. Annette Steinsiek u. Ursula A. Schneider), der den Brief als bedeutendes literar. Medium für L. in Zeiten ihres poet. Verstummens ausweist, werden das Bild der

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Dichterin künftig um eine Reihe neuer Facetten erweitern. L. erhielt u. a. den Georg-Trakl-Preis 1954 u. 1964 sowie den Österreichischen Staatspreis für Literatur 1970. Weitere Werke: Wirf ab den Lehm. Graz 1961 (L., E.en). – Hälfte des Herzens. Darmst. 1967 (L.). – Nell. Vier Gesch.n. Salzb. 1969. Ausgaben: Kunst wie meine ist nur verstümmeltes Leben. Nachgelassene u. verstreut veröffentlichte Gedichte – Prosa – Briefe. Salzb. 1978. – Gedichte. Hg. Thomas Bernhard. Ffm. 1987. – Die Schöne im Mondkleid. Salzb./Wien 1996 (E.). – Herz auf dem Sprung. Die Briefe an Ingeborg Teuffenbach. Salzb./Wien 1997. – Das Wechselbälgchen. Salzb./Wien 1998 (E.) – Briefe an Maja u. Gerhard Lampersberg. Salzb./Wien 2003. – ›Ihr könnt mich ruhig Spindel im Mond nennen‹. C. L.s Korrespondenz mit dem Otto Müller Verlag. Salzb./ Wien 2009. Literatur: Grete Lübbe-Grothues (Hg.): Über C. L. (mit Bibliogr. v. Johann Strutz). Salzb. 1984. – Dies.: Zur Gedichtsprache der L. In: ZfdPh 87, H. 4 (1968), S. 613–631. – Wolfgang Nehring: Zur Wandlung des lyr. Bildes bei L. In: MAL 12, H. 3/4 (1979), S. 147–170. – Johann Strutz: Poetik u. Existenzproblematik. Zur Lyrik L.s. Salzb. 1979. – Paola Schulze-Belli: Index zu L.s Dichtungen. Mailand 1980. – Waltraud Mitgutsch: Hermetic Language as Subversion. The Poetry of C. L. In: MAL 17, H. 1 (1984), S. 79–107. – Ingeborg Teuffenbach: C. L. ›Gerufen nach dem Fluß‹. Zeugnis einer Freundschaft. Zürich 1989. – Arno Rußegger u. Johann Strutz (Hg.): Die Bilderschrift C. L.s. Salzb./Wien 1995. – Veronika Schlör: Hermeneutik der Mimesis: Phänomene, begriffl. Entwicklungen, schöpferische Verdichtung in der Lyrik C. L.s. Düsseld. 1998. – Esther Röhr: C. L. (1915–73). Das Leiden leid. In: WahnsinnsFrauen. Hg. Sibylle Duda u. Luise F. Pusch. Bd. 3, Ffm. 1999, S. 172–200. – A. Rußegger u. J. Strutz (Hg.): Profile einer Dichterin. Salzb./Wien 1999. – Ursula A. Schneider: Christl. Dichterin oder Hexe? C. L. in der Rezeption. In: Das Geschlecht, das sich (un)eins ist? Hg. Sieglinde Klettenhammer u. Elfriede Pöder. Wien/Mchn. 2000, S. 142–159. – U. A. Schneider u. Annette Steinsiek: Poststempel: St. Stefan, Lavanttal. Die Briefe C. L.s. In: ›Ich an Dich‹. Ed., Rezeption u. Kommentierung v. Briefen. Hg. Werner M. Bauer u. a. Innsbr. 2001, S. 247–263. – Dossier: C. L. u. Russland. In: Mitt.en aus dem Brenner-Archiv 27 (2008), S. 71–159. Wolfgang Wiesmüller

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Lavant, Rudolf, eigentl.: Richard Cramer, Lavater, Johann Kaspar, * 15.11.1741 Zü* 30.11.1844 Leipzig, † 6.12.1915 Leipzig. rich, † 2.1.1801 Zürich; Grabstätte: ebd., – Lyriker u. Prosaschriftsteller. St. Peter. – Verfasser theologischer, poetischer, psychologischer, pädagogischer u. Nach dem Besuch der Volksschule arbeitete politischer Schriften. L., Sohn eines Privatgelehrten, fast 40 Jahre im selben Leipziger Textilbetrieb, zunächst als Handlungsgehilfe, zuletzt als Prokurist, bevor er 1900 selbständiger Bücherrevisor wurde. Neben dieser bürgerl. Existenz führte er seit Mitte der 1870er Jahre ein Doppelleben als Schriftsteller, der sich an ein Arbeiterpublikum wandte u. die polit. Ziele der Sozialdemokratie vertrat, auch wenn er nie ihren Organisationen beitrat. Nicht mit seinen meist autobiografisch gefärbten, kolportagehaft-sentimentalen Prosa-Versuchen, wohl aber mit der Anthologie Vorwärts! (Zürich 1886) u. v.a. mit den »Gedichten eines Namenslosen« (In Reih und Glied. Stgt. 1893) gehört L. zu den wichtigsten Vertretern der sozialdemokrat. Literatur seiner Zeit. In epigonalen, an Schiller u. Freiligrath orientierten, aber massenwirksamen Versen entwickelte er eine von Tagesaktualitäten ausgehende Form sozialistischer Gedankenlyrik, ohne persönl. Identitätskonflikte zu unterdrücken. Mit dem Aufstieg der SPD nach 1900 verlor L. polit. Kampfziel u. auch künstlerische Kraft; in seinen späten Gedichten, Reisefeuilletons, Mundartdichtungen u. Übersetzungen dominieren unpolit. Sujets u. unterhaltende Formen.

Weitere Werke: Ein verlorener Posten. In: Die Neue Welt 3 (1878), Nr. 14–43 (R.). – Idealisten. Ebd. 5 (1880), Nr. 33–52 (E.). – Eichenlaub u. Fichtenreis. Lpz. 1901 (L.). – Gedichte. Hg. Hans Uhlig. Bln./DDR 1965. Literatur: Hans Uhlig: Leben u. Werk R. L.s. Diss. Greifsw. 1965. – Ursula Münchow: Arbeiterbewegung u. Lit. Bln./Weimar 1981, S. 335–346. – Wolfgang Emmerich: L. In: NDB. – Reisebeschreibungen rund um Bozen 1899 bis 1903. Hg. Gerd Cramer. Mit einer Einl. v. Johannes Uhlig. Bln. 2006. Martin Rector / Red.

Als dreizehntes Kind des Arztes Johann Heinrich Lavater studierte L. 1756–1762 am Collegium Carolinum in Zürich Theologie, wo er v. a. von Bodmer u. Breitinger geprägt wurde. Nach der Felix-Grebel-Affäre (Der ungerechte Landvogd. o. O. u. J. [1762]), die ihn schon unter dem Einfluss von Sturm und Drang zeigt, unternahm er im Frühjahr 1763 eine zwölfmonatige Bildungsreise nach Deutschland (längerer Aufenthalt in Barth in Schwedisch-Pommern bei dem neolog. Theologen Spalding), auf der er u. a. Gellert, Gleim, Klopstock, Mendelssohn, Nicolai, August Friedrich Wilhelm Sack, Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem u. Carl Christian Gärtner kennenlernte. Bis zu seiner Wahl zum Diakon an der Zürcher Waisenhauskirche (April 1769) betätigte sich L. als Autor kleinerer Arbeiten (Zwey Briefe an Herrn Magister Carl Friedrich Bahrdt. Breslau/Lpz. 1764) sowie von Rezensionen, als patriot. Dichter (Schweizerlieder. Bern 1767; vertont v. dem Wetzikoner Pfarrer u. Komponist Johannes Schmidlin) u. als Mitverfasser einer Moralischen Wochenschrift (»Der Erinnerer«, o. O. [Zürich] 1765–67) ganz im Sinne einer milden Aufklärungstheologie. 1768 vollzog sich bei L. jedoch eine bedeutsame theolog. u. geistige Umorientierung: Zum alles beherrschenden Zentrum seines Wirkens u. Denkens wurde ihm nun die Möglichkeit sensitiver Transzendenzerfahrung in der Immanenz, bes. die »sinnliche oder innerlich-intuitife« (Hand-Bibliotheck. Bd. 2, o. O. u. J. [1791], S. 166) Erfahrbarkeit Christi, dessen unvermitteltes Fortwirken in Natur u. Geschichte er fortan auf mannigfaltige Weise manifest zu machen versuchte (Drey Fragen von den Gaben des Heiligen Geistes. o. O. 1769). Von einer solchen apologet. Intention war auch seine literar. Kontroverse mit Mendelssohn 1769/70 bestimmt, die letztlich auf einen Bekehrungsversuch hinauslief u. nicht nur von seinen Gegnern als peinlich u. taktlos empfunden wurde (Herrn

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Carl Bonnets [...] philosophische Untersuchung der Beweise für das Christenthum. Zürich 1769. Antwort an den Herrn Moses Mendelssohn zu Berlin. Bln. 1770). In den äußerst produktiven Jahren 1768 bis 1775 entstanden v. a. drei Werke, die L. zum literar. Durchbruch u. – dank der Unterstützung des Arztes u. Schriftstellers Zimmermann – zu großer Publizität im ganzen dt. Sprachgebiet verhalfen: Seit 1768 gab er die Aussichten in die Ewigkeit (Tle. 1–3, Zürich 1768–73. Tl. 4, Zürich 1778), sicherlich seine gewichtigste theolog. Publikation, heraus. Die damals vielfach behandelten Themen Unsterblichkeit u. Perfektibilität aufgreifend, stellte er in diesem epistolar. Werk das Leben der Menschen nach dem Tode in der himml. Welt dar. Hierbei rekurrierte er auf Naturbeobachtungen, Analogieschlüsse u. Bibelstellen. 1771 erschien, ohne Wissen u. Willen L.s, sein für die Entwicklung der Selbstbeobachtung u. der Tagebuchkultur im 18. Jh. bedeutsames Geheimes Tagebuch (Lpz. 1771), das wegen seiner zahlreichen fiktiven Eintragungen ein literar. Tagebuch ist. Infolge seiner günstigen Aufnahme veröffentlichte L. bald darauf die Unveränderten Fragmente aus dem Tagebuch eines Beobachters seiner Selbst (Lpz. 1773. Neudr. hg. v. Christoph Siegrist. Bern 1978), ein authent. Tagebuch (Nov. 1772 bis Juni 1773) mit Brieffragmenten u. Gedichten. Schließlich publizierte L. nach immensen Vorarbeiten (Von der Physiognomik. Lpz. 1772) die Physiognomischen Fragmente (4 Bde., Lpz./ Winterthur 1775–78), sein eigentl. Lebenswerk. An diesem Werk, von dem noch zu L.s Lebzeiten mehrere Neuausgaben u. Übersetzungen erschienen (holländ. 1780–83, frz. 1781–1803, engl. 1789–98, ital. 1800), haben zahlreiche Künstler mitgearbeitet, u. a. Johann Heinrich Lips, Johann Rudolf Schellenberg u. Chodowiecki. Keineswegs sich auf die Gesichtsbildung beschränkend, verstand L. unter Physiognomik »die Fertigkeit durch das Aeußerliche eines Menschen sein Innres zu erkennen« (Bd. 1, S. 13) u. das Göttliche in ihm wahrzunehmen. Nicht zuletzt wegen L.s Annahme, der körperliche, physiognom. Ausdruck eines Menschen sei eine exakte Entsprechung seiner charakterlichen, moral. Eigenschaften, rief das Werk, an dem Goethe

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u. Herder mitgearbeitet hatten, – bei aller begeisterten Aufnahme – auch leidenschaftl. Kritik hervor (u. a. von Schiller, Lichtenberg u. Musäus). Welchen Popularitätsgrad L. durch diese Publikationen sowohl bei Spätpietisten als auch bei Aufklärern erreicht hatte, wurde auf seiner geradezu triumphalen Rheinreise im Sommer 1774 – teilweise in Begleitung von Goethe u. Basedow – evident, die übrigens den Beginn seiner persönl. Bekanntschaft mit Lenz, Friedrich Heinrich Jacobi, Klettenberg, Jung-Stilling, Samuel Collenbusch u. Johann Gerhard Hasenkamp markierte. In den folgenden Jahren wuchs sein Freundeskreis weiter stark an; auch suchten zahlreiche Schweiz-Reisende eine Begegnung mit ihm, so Joseph II. im Juli 1777. Dabei zeigte sich, dass sein Verhältnis zu den Pietisten sowie zu den gemäßigten Aufklärern ambivalent war, es changierte zwischen Distanz u. Nähe. Währenddessen hielt L. weiterhin Ausschau nach außerordentl. religiösen Erfahrungen, wie u. a. seine Kontakte zu dem Exorzisten Johann Joseph Gaßner (seit 1774) u. dem Scharlatan Cagliostro (seit 1781) zeigen. Deshalb geriet er auch mit den Neologen u. radikaleren Aufklärern, insbes. den Berlinern, in eine heftige literar. Kontroverse, die sich steigerte, als L. ab 1785 zum Adepten u. Propagator des animal. Magnetismus wurde u. diesen »als einen wohlthätigen Strahl der Gottheit« bezeichnete. Geistesgeschichtlich markiert dies seinen Anschluss an den »magischen Idealismus« (Janentzky, S. 245). Seit der zweiten Hälfte der 1770er Jahre erschienen aus der Feder L.s mehrere größere religiöse Dichtungen, die ausschließlich bibl. Themen behandeln. In Frontstellung zur Anakreontik erachtete er nämlich bibl. Stoffe für den einzig adäquaten Gegenstand der Dichtung, u. zwar in engster Anlehnung an die alt- u. neutestamentl. Texte (gegen Klopstock). 1776 veröffentlichte er sein einziges religiöses Drama (Abraham und Isaak. Winterthur). Sodann publizierte er eine Reihe von religiösen Epen: die Messiade Jesus Christus oder Die Zukunft des Herrn (Zürich 1780), Pontius Pilatus (4 Bde., o. O. [Zürich] 1782–85) sowie das bibl. Epos Nathanael (o. O. [Basel] 1786), worüber es zum Bruch mit Goethe

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kam (s. Invectiven, Xenien 20). Daneben publizierte L. in diesem Jahrzehnt, wie schon im vorhergehenden, zahlreiche Predigten sowie erbaul. Schriften, Gedichte u. Lieder (insg. etwa 700) separat oder in Sammelbänden u. Zeitschriften. Ferner veröffentlichte er Kinder- u. Jugendbücher mit z.T. aufklärungskrit. Tendenz: bibl. Erzählungen, religiöse Unterweisungen (Christlicher Religionsunterricht für denkende Jünglinge. o. O. 1788) u. moralische Schriften (Regeln für Kinder. o. O. 1793). Seit dem Ausbruch der Französischen Revolution engagierte sich L. – wie in seiner Jugend – patriotisch. Gleichzeitig steigerte sich daneben in diesen Jahren nochmals sein sehnsüchtiges Verlangen nach realer Transzendenzerfahrung (Reise nach Kopenhagen im Sommer 1793. o. O. u. J. [1793]. Auf dieser Reise begegnete er u. a. Karl Leonhard Reinhold, Schiller, Herder, Wieland, Claudius, Klopstock, Johann Ludwig Ewald, Jung-Stilling, Sophie von La Roche, Frau Rath Goethe. Nachdem er anfänglich die polit. Vorgänge in Frankreich begrüßt hatte, geißelte er ab Spätsommer 1792 das dortige neue Regierungssystem als »Demokraten-Tyranney«, begegnete mit patriot. Bewusstsein der seit Dez. 1797 einsetzenden Invasion frz. Truppen in die Schweiz sowie der dieser 1798 aufgezwungenen helvet. Staatsverfassung (Ein Wort eines freyen Schweizers an die grosse Nation. o. O. u. J. [Zürich 1798]) u. verfolgte mit wacher Kritik die ungesetzl. Übergriffe. Nicht zuletzt auch wegen seines polit. Engagements wurde er im Mai 1799 nach Basel deportiert (Freymüthige Briefe. 2 Bde., Winterthur 1800/01). Im Zusammenhang mit der zweiten Schlacht von Zürich erhielt er am 26.9.1799 eine Schussverwundung, an deren Folgen er nach 15-monatigem schmerzvollem Siechtum starb. L.s Nachwirkungen in der Literatur sind wesentlich offenkundiger u. unmittelbarer nachweisbar als in Theologie u. Kunst. Bedeutende Dichter u. Schriftsteller haben im 19. Jh. die Charaktere ihrer Figuren nach L.s physiognom. Regeln gestaltet (Lermontov, Chateaubriand, Stendhal, George Sand, Baudelaire, Balzac, Charlotte Smith, Matthew Gregory Lewis). In Deutschland rezipierte

Lavater

v. a. E. T. A. Hoffmann L.s physiognom. Ideen. Abgesehen davon hat L. – infolge seiner Verbundenheit mit dem Sturm und Drang (wovon er sich niemals löste) sowie der Vorromantik – durch seine Betonung von Gefühl u. Empfindsamkeit, von Individualität u. Subjektivität der Romantik u. dem Frühidealismus Impulse vermittelt. Ausgaben: L. Ausgew. Werke in hist.-krit. Ausgabe (JCLW). Hg. im Auftrag der Forschungsstiftung u. des Herausgeberkreises J. Caspar L. 10 Bde., Zürich 2001 ff. (ersch. Bd. I/1 u. 2 (Volz-Tobler), Bd. II (Caflisch-Schnetzler), Bd. III (Hirzel), Bd. IV (Caflisch-Schnetzler). – L.s ausgew. Schr.en. Hg. Johann Kaspar Orelli. 8 Bde., Zürich 1841–44. – L.s ausgew. Werke. Hg. Ernst Staehelin. 4 Bde., Zürich 1943. – Nachlass: L. (1741–1801). Verzeichnisse der Korrespondenz u. des Nachlasses in der Zentralbibl. Zürich (JCLW, Ergänzungsbd. Korrespondenz). Hg. Christoph Eggenberger u. Marlis Stähli. Zürich 2007. Literatur: Bibliografie: Bibliogr. der Werke L.s, Verz. der zu seinen Lebzeiten im Druck erschienenen Schr.en (JCLW, Ergänzungsbd. Bibliogr.). Hg. Horst Weigelt. Zürich 2001. – Weitere Titel: Georg Geßner: L.s Lebensbeschreibung. 3 Bde., Winterthur 1802. – L. 1741–1801. Denkschr. zur 100. Wiederkehr seines Todestages. Zürich 1902. – Christian Janentzky: L.s Sturm u. Drang im Zusammenhang seines religiösen Bewußtseins. Halle 1916. – Olivier Guinaudeau: Jean-Gaspard L. Etudes sur sa vie et sa pensée jusqu’en 1786. Paris 1924. – Klaus Martin Sauer: Die Predigttätigkeit L.s. Zürich 1988. – H. Weigelt: L. u. die Stillen im Lande. Distanz u. Nähe. Die Beziehungen L.s zu Frömmigkeitsbewegungen im 18. Jh. Gött. 1988. – H. Weigelt: L. In: TRE. – Ders.: L. Leben, Werk u. Wirkung. Gött. 1991. – Hartmut Lohmann. L. In: Bautz. – Ernst Schering: J. Caspar L. u. Johann Friedrich Oberlin. Briefw. zwischen Spätpiestisten im Umkreis v. Goethe. In: Aspekte protestant. Lebens im hess. u. nassauischen Raum. FS Karl Dienst. Hg. Friedrich Battenberg. Darmst. 1995, S. 129–145. – Bettina Volz-Tobler: Rebellion im Namen der Tugend. ›Der Erinnerer‹ – Eine Moralische Wochenschr. Zürich 1765–67. Zürich 1997. – Gerda Mraz u. Uwe Schögel (Hg.): Das Kunstkabinett des J. Caspar L. Wien 1999. – Martin Ernst Hirzel: J. C. L. – ›Der Hoffer des selten Gehofften‹: zum 200. Todestag am 2. Jan. 2001. In: Zwingliana 28 (2001), S. 5–26. – H. Weigelt: J. K. L. u. Goethe: zwischen Nähe u. Distanz. In: Goethe u der Pietismus. Hg. Hans-Georg Kemper. Tüb. 2001, S. 135–156. – Burkhard Dohm: Aussichten in die

Lavater-Sloman Ewigkeit: J. K. L. u. die Hermetik im Kontext v. Pietismus u. Aufklärung. In: Hermetik. Hg. Nicola Kaminski. Tüb. 2002, S. 101–128. – M. E. Hirzel: ›Das Reich des Meßias auf Erden‹ – zum Chiliasmus im späten 18. Jh. am Beispiel J. C. L.s. In: Interdisziplinäre Pietismusforsch.en. Bd. 1, Halle/ S. 2005, S. 213–221. Horst Weigelt

Lavater-Sloman, Mary, * 14.12.1891 Hamburg, † 5.12.1980 Zürich. – Romanautorin.

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beherrscht, dem unterdrückten und rechtlosen, dem kranken oder unfreien, aber zu selbständigem Handeln begabten Mitmenschen den Weg freizulegen und die Gegebenheiten so zu gestalten, daß er sich durch eigene Initiative von Stufe zu Stufe aufwärts arbeiten könne« (Orell Füßli: Art. M. L. In: Zürcher Schrifttum der Gegenwart. Zürich 1961, S. 110). L., die ab 1943 in Ascona lebte u. bis ins hohe Alter unentwegt tätig war, wurde mit ihrem unterhaltsam-beschaul. Erzählen, für das sie während Jahrzehnten auf eine große Lesergemeinde zählen konnte, schon zu Lebzeiten ein Opfer der veränderten Lesegewohnheiten bzw. des Siegeszugs der elektron. Medien.

Aus einer alten norddt. Reederfamilie stammend, wuchs L. in Hamburg u. St. Petersburg auf, wo sie 1912 den Schweizer Ingenieur u. späteren Direktor der Maschinenfabrik Sulzer heiratete. Nach abenteuerl. Flucht aus Weitere Werke (Erscheinungsort jeweils ZüRussland hielt sie sich ab 1919 mit ihrer Fa- rich): Die große Flut. 1943, 1974 (R.). – Herrin der milie in Winterthur, Athen u. 1922–1943 Meere. Elisabeth I., Königin v. England. 1956, wieder in Winterthur auf. Nach dem Besuch 1961. – Der strahlende Schatten. Goethes Eckerhistor. Vorlesungen an der Universität Zürich mann. 1959, 1966. – Wer sich der Liebe vertraut. 3 begann sie sich ab Mitte der 1920er Jahre li- Abschnitte aus Goethes Leben. 1960. – Jeanne d’Arc, Lilie v. Frankreich. 1963. Erw. Aufl. Mchn. terarisch zu betätigen u. spezialisierte sich 1977. – Ein Schicksal. Das Leben der Königin sofort auf den histor. Roman, den sie mit Christine v. Schweden. 1966. – Das Gold v. Troja. volkstüml. Anschaulichkeit, Plastizität u. Leben u. Glück des Heinrich Schliemann. 1969. – guten Identifikationsmöglichkeiten für das Löwenherz. 1971. – Der vergessene Prinz. August weibl. Lesepublikum zu versehen wusste. Wilhelm v. Preußen. 1973. – Gefährte der Königin; Nach dem Debüt mit Isabellas Weg (Hbg. 1929) Elisabeth I., Edward Earl of Oxford u. das Gegelang ihr mit Der Schweizerkönig (Zürich heimnis um Shakespeare. 1977. 1935. 1955) der literar. Durchbruch. Obwohl Literatur: Regina Kirchhof u. Evelyn Weber: sie das Lebensbild des Basler Bürgermeisters M. L. Hbg. 1978 (Bibliogr.). – Elisabeth Moser: M. Johann Rudolf Wettstein (1594–1666) zeich- L.s Weltgesch.n. In: Winterthurer Jb. 2004, S. 32 f. Charles Linsmayer nete, diente ihr dabei der schweizerische Oberstkorpskommandant Ulrich Wille, ein Verwandter von ihr, als verkapptes Modell. Laymann, Paul, * 1575 Arzl/Innsbruck, Weitere Erfolgstitel waren die Lebensbilder † 13.11.1635 Konstanz. – Jesuit, MoralHenri Meister (1936, 1958), Genie des Herzens. theologe, Beichtvater Ferdinands II. Die Lebensgeschichte Johann Caspar Lavaters (1939, 1955), Katharina und die russische Seele Der Sohn eines erzherzogl. Rats studierte (1941, 1963), Triumph der Demut. Das Leben der zunächst seit 1593 Rechtswissenschaften in Heiligen Elisabeth (1947, 1968), Einsamkeit. Das Ingolstadt. Ein Jahr später trat er trotz des Leben der Annette von Droste-Hülshoff (1950, Widerstands seiner Familie in Landsberg in 1972), Lucrezia Borgia und ihr Schatten (1952, den Jesuitenorden ein. Nach Noviziat, an1967) sowie Pestalozzi. Die Geschichte seines Le- schließender zweijähriger Unterrichtstätigbens (1954, 1977; alle Zürich). Dem Vorwurf, keit am Gymnasium in Dillingen u. Priestersie habe wahllos Biografien von histor. Per- weihe (1603) lehrte er in Ingolstadt Philososönlichkeiten aneinandergereiht, hielt L. phie u. 1609–1625 Moraltheologie in Münschon 1961 entgegen, dass für sie »alle diese chen. 1625–1632 hatte er den ersten LehrPersönlichkeiten unter dem gleichen ethi- stuhl für Kirchenrecht in Dillingen inne. Auf schen Gesetz gestanden« hätten. »Sie wurden der Flucht vor den Schweden starb er in von dem gleichen leidenschaftlichen Wunsch Konstanz an der Pest.

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Lazar

Neben einer Vielzahl von Arbeiten, die sich S. 173–182. – Friedrich Zoepfl: Hexenwahn u. u. a. mit der aristotel. Logik, mit Fragen zur Hexenverfolgung in Dillingen. In: Ztschr. für Kunst u. Wissenschaftstheorie, mit Physik u. bayer. Landesgesch. 27 (1964), S. 235–244. – Robert Metaphysik befassen, schrieb L. eine Reihe Bireley: Maximilian v. Bayern, Adam Contzen S. J. u. die Gegenreformation in Dtschld. 1624–35. moraltheolog. Untersuchungen. 1625 erGött. 1975. – Hans-Peter Kneubühler: Die Überschien sein Hauptwerk, die Theologia Moralis windung v. Hexenwahn u. Hexenprozeß. Diessen32 in quinque libros partita (Mchn. 1748), das zu hofen 1977. – Willi Gorzny (Hg.): DBI. Bd. 3, Mchn. einem wichtigen, noch 1867 von Matthias 1986, Sp. 409. – Wolfgang Behringer: HexenverScheeben gerühmten Lehrbuch wurde. L. folgung in Bayern. Volksmagie, Glaubenseifer u. behandelt hier die Moraltheologie, die bei Staatsräson in der Frühen Neuzeit. Mchn. 1988, ihm wie auch bei anderen Jesuiten (z.B. Her- S. 332–341. Franz Günter Sieveke mann Busenbaum) eine eigenständige Disziplin innerhalb der Theologie darstellt, nach Lazar, Auguste, eigentl.: A. Wieghardtjurist. Methode; doch verfährt er nicht so Lazar, auch: Mary Macmillan, * 12.9.1887 kasuistisch wie der gegen Ende des 17. Jh. Wien, † 7.4.1970 Dresden. – Erzählerin, geborene Alfons Maria di Liguri. Hervorzu- Kinderbuchautorin. heben ist v. a. die Betonung der Bedeutung des Gewissens u. die Beachtung des thomist. L., Tochter großbürgerlich-liberaler jüd. ElTugendschemas. Seine Beurteilung hinsicht- tern, studierte in Wien Literaturgeschichte lich der Hexenprozesse ist in der Forschung (Dr. phil.) u. heiratete den Mathematikpronicht eindeutig geklärt. Unter dem Einfluss fessor Karl Wieghardt, mit dem sie 1920 nach seines Ordensbruders Adam Tanner trat er Dresden zog. In den Arabesken, autobiogr. seit der dritten Auflage der Theologia Moralis »Aufzeichnungen aus bewegter Zeit« (Bln./ 8 für die Abschaffung der Hexenprozesse, v. a. DDR 1957. 1987), erzählt L., wie sie nach aber gegen die Anwendung der Folter ein. dem Tod ihres Mannes (1924) Kontakte zur Wie dieser unterschied er auch – jesuitischer Arbeiterbewegung fand, sich – beeinflusst Lehrmeinung folgend – streng zwischen Hä- von Hermann Duncker, Lea u. Hans Grundig retikern u. bloß unfreiwilligen Opfern der – den Marxismus »erarbeitete«, ab 1933 für Kinder zu schreiben begann u. schließlich Häresie. Der L. zugeschriebene Processus iudiciarius nach England ins Exil flüchten musste, von contra sagas et veneficos (1629) stammt nicht wo sie 1949 nach Dresden zurückkehrte, um von ihm. L.s juristischer Rat war bei vielen als freie Schriftstellerin für den Aufbau des Politikern sehr gefragt. In diesem Kontext ist Sozialismus in der DDR Partei zu ergreifen. Dort galt L. zus. mit Alex Wedding als Beauch die Auftragsschrift zum Augsburger Religionsfrieden, Pacis compositio [...] inter gründerin einer sozialist. Kinderliteratur. Ihr Principes et Ordines Imperii Romani [...] edita erstes Buch, Sally Bleistift in Amerika (unter (Dillingen 1629), zu sehen, die als streng Pseud. Moskau 1935. Wien 1947. Dresden kath. Kommentar die Theorie zur prakt. An- 1949. Bln. 1986), gehörte über Jahrzehnte wendung des Friedensvertrags liefert. Pos- zum schulischen Lesekanon u. zu den meisttum erschien L.s geschätztes, dreibändiges gedruckten DDR-Kinderbüchern. Anhand Werk zum Kirchenrecht, Ius Canonicum seu ihrer Titelheldin, einer russisch-jüd. EmiCommentaria in libros decretales (Dillingen grantin, u. eines insg. modellhaften Figu1666–98), von dem zwei Bände verloren gin- renensembles (böser Sheriff, ausgebeuteter Schwarzer, tapferer Indianerjunge) will L. gen. erzählen, »wie wehrlose Menschen [...] von Literatur: Bibliografie: Backer/Sommervogel 4, habgierigen, unersättlichen Machthabern [...] S. 1582–1594. – Weitere Titel: Bernhard Duhr: P. L. u. die Hexenprozesse. In: ZKTh 23 (1899), versklavt werden und wie nur im KommuS. 733–743; 24 (1900), S. 585–592; 25 (1901), nismus solches Unrecht für immer beseitigt S. 166 ff. – Ders.: Die Stellung der Jesuiten in den wird«. In ihrer meist programmatisch angelegten dt. Hexenprozessen. Köln 1900, S. 53 ff. – Heinrich Günter: Das Restitutionsedikt v. 1629. Stgt. 1901, Prosa für Kinder u. Erwachsene entwickelt L.

Lazius

eine Vorliebe für die »progressiven Epochen und Ereignisse der Geschichte«: Französische Revolution (Die Schreckensherrschaft und das Glück der Anette Martin. Bln./DDR 1961), russ. Oktoberrevolution (Jura in der Leninhütte. Bln./ DDR 1960), Solidarität im antifaschist. Widerstand (Jan auf der Zille. Entstanden 1934. Dresden 1950; L.s wohl spannendstes Buch). In späteren Arbeiten beanstanden selbst DDR-Kritiker »deklamatorische Szenen ohne Profil«, so im Mädchenbuch Bootsmann Sibylle (Bln./DDR 1953). Weitere Werke: Schach dem König! Bln./DDR 1964 (Ess.s). – Die Brücke v. Weißensand. Bln./DDR 1965. – Kampf um Kathi. Vier Mädchen, vier Schicksale. Bln./DDR 1967. – Akelei u. das Wurzelmännchen. Bln./DDR 1970. Literatur: Annemarie Reinhard: An Frau Sally Bleistift nach Dresden [...]. In: Beiträge zur Kinderu. Jugendlit. H. 28, Bln./DDR 1973. – Fred Rodrian: Über A. L. In: Ders.: Für den Tag geschrieben. Bln./DDR 1985. – Manfred Altner: Eine Frau allein. A. L. In: Ders.: Sächs. Lebensbilder. Radebeul 2001, S. 141–144. – Susanne Blumesberger: Das Leben als Arabeske. A. L. (1887–1970). In: Praesent 8 (2007), S. 63–73. Horst Heidtmann / Red.

Lazius, Wolfgang Ritter von, * 31.10.1514 Wien, † 19.6.1565 Wien. – Mediziner u. Historiker. L. studierte seit dem Sommer 1528 in Wien (Magister 1530) u. Ingolstadt (Immatrikulation am 19.6.1538) Medizin bis zum Doktorgrad. Anschließend wirkte er 25 Jahre als Professor der Anatomie, Chirurgie sowie der theoret. u. prakt. Medizin an der Universität Wien. Daneben betrieb L. – auch auf verschiedenen Bibliotheksreisen – ausgedehnte Studien der Altertumskunde, der mittleren u. der zeitgenöss. Geschichte. 1546 wurde er von Kaiser Ferdinand I. geadelt, war dessen Leibarzt, geheimer Rat, Hofgeschichtsschreiber u. Präfekt des Münzkabinetts. L.’ literar. Werk umfasst z.T. über Jahrhunderte viel benutzte Arbeiten zur Geschichte u. Geografie Österreichs, zur klassischen röm. u. griech. Antike sowie numismat. u. epigraf. Abhandlungen. Ein ausgesprochener Gegner der Reformation, edierte u. interpretierte L. auch Handschriften religiösen Inhalts; der Schwerpunkt seines Werks

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liegt jedoch auf histor. Arbeiten. Die Vienna Austriae. Rerum Viennensium commentarij in quatuor libros distincti (Basel 1546. Dt. Übers. v. Heinrich Abermann u. d. T. Historische Beschreibung der [...] Hauptstatt Wien [...]. 4 Tle., Wien 1619), L.’ erstes Werk, ist eine Geschichte der Stadt Wien von den Anfängen bis zu seiner Gegenwart, die auch röm. Quellenmaterial berücksichtigt. Auf die Commentariorum reipub. romanae illius, in exteris provincijs, bello acquisitis, constitutae, libri duodecim (Basel 1551. Verb. Aufl. Ffm. 1598), eine Arbeit zur röm. Altertumskunde, folgten die Commentariorum rerum graecarum libri II (Wien 1558) zur griech. Geschichte. In der Nachfolge Beatus Rhenanus’ verfasste L. eine Arbeit über die Völkerwanderung, De gentium aliquot migrationibus [...] libri XII (Basel 1557. 1572. Ffm. 1600. Antwerpen 1698), deren erste drei Bücher Fischart 1575–1578 ins Deutsche übertrug. Durch die Aufnahme u. Verarbeitung verschiedener dt. Heldensagen ist das Werk auch für die Geschichte der german. Philologie interessant. Zu L.’ Werk zählen außerdem eine Geschichte des Schmalkaldischen Kriegs, die Geschichte des Türkenkriegs in Ungarn sowie verschiedene landeskundl. Arbeiten. Ausgaben: Austria (Wien 1561). Nachdr. mit Einl. v. Ernst Bernleithner. Amsterd. 1972. – Austria archiducatus. Amsterd. 1662. Nachdr. Graz 2001. Literatur: Bibliografien: Klaiber, S. 170 f. – VD 16. – VD 17. – Weitere Titel: Joseph v. Aschbach: Gesch. der Wiener Univ. Bd. 3, Wien 1888, S. 204–233. – Josef Leirer: Der Humanist u. Geschichtsschreiber W. L. Diss. Wien 1922. – Hugo Böß: Fischarts Bearb. lat. Quellen [...]. Reichenberg 1923. Nachdr. Hildesh. 1975. – De Boor/Newald: Gesch. der dt. Lit. Bd. 4,2. Hg. Hans Rupprich. Mchn. 1973, S. 416–419. – Gerardus Johannes Jaspers: Die dt. Textfragmente in den lat. Werken des W. L. In: ABäG 20 (1983), S. 56–73. – Max Kratochwill: W. L. In: NDB (Lit.). – Siebenbürgen auf alten Karten [...]. Bearb. Hans Meschendörfer u. Otto Mittelstrass. Gundelsheim am Neckar 1996. – Schmidt, Quellenlexikon. Bd. 18, S. 272 f. – Franz Wawrik: Histor. u. kulturhistor. Informationen in den Werken österr. Kartographen des 16. Jh., mit bes. Berücksichtigung des W. L. In: Geschichtsdeutung auf alten Karten. Archäologie u. Gesch. Hg. Dagmar Unverhau. Wiesb. 2003, S. 193–212. –

285 K. C. Elhard: Reopening the Book on Arcimboldo’s Librarian. In: Libraries & Culture: A Journal of Library History 40.2 (2005), S. 115–127. – Petra Svatek: W. L. Leben u. Werke eines Wiener Gelehrten des 16. Jh. In: Wiener Geschichtsblätter 61 (2006), S. 1–22. – Dies.: Die Geschichtskarten des W. L. Die Anfänge der themat. Kartographie in Österr. In: Cartographica Helvetica 37 (2008), S. 35–43. Frauke Stiller / Red.

le Fort, Gertrud (Auguste Lina Elsbeth Mathilde Petrea), Freiin von, auch: Gerta von Stark, Petrea Vallerin, * 11.10.1876 Minden, † 1.11.1971 Oberstdorf. – Lyrikerin, Erzählerin, Essayistin. Durch die Aussage des späteren Papstes Benedikt XVI., im Freisinger Priesterseminar habe man nach 1945 die Romane von l. F. »verschlungen« (Joseph Ratzinger: Aus meinem Leben. Mchn. 1998, S. 47), ist die »größte Dichterin der Transzendenz in unserer Zeit« (Carl Zuckmayer) u. Hauptrepräsentantin eines dt. »Renouveau catholique«, die ab 1968 in Vergessenheit geraten war, am Anfang des 21. Jh. wieder aktuell geworden. Ihr Leben ist mit den Umwälzungen der neueren dt. Geschichte eng verwoben; »eine Spur von schweifendem Nirgendwo-Daheimsein« (Luise Rinser) prägt das ganze Werk. Die Tochter eines historisch versierten, toleranten Kantianers u. preuß. Offiziers u. einer musischen Pietistin entstammt einer Emigrantenfamilie aus Norditalien u. Savoyen (Lifforti, »keine Hugenotten, sondern verfolgte Protestanten«, Hälfte des Lebens. Mchn. 1965, S. 32) mit aristokrat. Selbstbewusstsein u. europ. Tradition. Das bewegte Familienschicksal, die wechselnden Garnisonen des Vaters, der Verlust des mecklenburg. Erbguts nach der Beteiligung des Bruders am KappPutsch u. der dadurch verursachte Umzug nach Bayern unterhielten bei der übersensiblen l. F. ein Gefühl der Heimatlosigkeit (zahlreiche »Emigranten«- bzw. »Heimatlosen«-Gedichte). Eine seelische Heimat fand l. F. in der kath. Kirche, zu der sie 1926 in Rom konvertierte, nach einem sich über ein Vierteljahrhundert erstreckenden, doppelgleisigen Weg. Einerseits geriet sie durch ihr 1908 in Heidelberg begonnenes Studium der

le Fort

Evangelischen Theologie u. der Geschichte in den Bannkreis des liberal-protestant. Modernisten Ernst Troeltsch, dessen Glaubenslehre (Bln./Lpz. 1925) sie postum herausgab u. dem sie in Der Kranz der Engel (Mchn. 1946) ein Denkmal gesetzt hat. Andererseits fühlte sie sich schon damals – nach einer geopferten Jugendliebe zu einem Priester (Lieder u. Legenden. Lpz. 1912. Plus ultra. In: Die Tochter Farinatas. Wiesb. 1950) – vom Katholizismus stark angezogen. In Rom entdeckte sie die kath. Liturgie u. durch die frz. Ordensschwester Marie de Notre-Dame de Maylis (Sophie de Claye) die kath. Dogmatik u. Opfermystik (Das Schweißtuch der Veronika. Mchn. 1928). Der Zusammenbruch von 1918, der Tod des »gescheiterten« Meisters Troeltsch 1923, die Begegnung mit dem »Hochland«Kreis um Carl Muth u. mit dem Jesuiten Erich Przywara führten schließlich zur Konversion, die l. F. bei aller unbedingten Bejahung der Eucharistie (Hymne für den Eucharistischen Weltkongreß in Mchn. 1960) u. des Marienkults (s. den nach dem marianischen Dreierschema »Virgo – Sponsa – Mater« aufgebauten, von Edith Stein gelobten Essay Die ewige Frau. Mchn. 1934. Madonnen. Zürich 1948) nicht als Bruch mit ihrer protestant. Vergangenheit verstand. Während das manches Spätere im Kern enthaltende Frühwerk wenig beachtet worden war, machten die Hymnen an die Kirche (Mchn. 1924. Frz. Ausg. mit Vorw. v. Paul Claudel 1935) die Autorin schlagartig bekannt. In ihren Prosadichtungen aus der kath. Periode behandelt l. F. – meist historisch distanziert, gelegentlich mit Symbolen überladen – aktuelle Fragen aus ökumen. Perspektive, wie das Verhältnis zwischen Christentum u. Judentum (Der Papst aus dem Ghetto. Bln. 1930), Katholizismus u. Protestantismus (Die Magdeburgische Hochzeit. Lpz. 1938. Der Turm der Beständigkeit. Wiesb. 1957), Wissenschaft u. Glaube (Am Tor des Himmels. Wiesb. 1954). Um eine Überwindung der Angst durch stellvertretendes Opfer geht es in der von christl. Existentialismus geprägten Novelle Die Letzte am Schafott (Mchn. 1931), die, durch den Märtyrertod der Karmelitinnen von Compiègne (1794) inspiriert u. zunächst gegen den Bolschewismus gerichtet, l.

Leben der Heiligen Elisabeth, Das

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Weitere Werke: Gedichte. Schwerin 1900. – F.s wirkungsreichstes Werk wurde (Dramatisierungen von Emmet Lavery u. Georges Prinzessin Christelchen. Lpz. 1904 (Pseud. Gerta v. Bernanos, Film von R.-L. Bruckberger u. P. Stark). – Der Kurier der Königin. Mchn. 1927 (Pseud. Petrea Vallerin). – Das Reich des Kindes. Agostini, Oper v. Francis Poulenc u. a.). Mchn. 1934. – Die Vöglein v. Theres. Lpz. 1937. – Im Dritten Reich gehörte l. F. zu den Die Opferflamme. Zürich 1938. – Die Abberufung meistgelesenen Autoren der »Inneren Emi- der Jungfrau v. Barby. Mchn 1940. – Das Gericht gration«; ihre Bücher haben unzählige Men- des Meeres. Lpz. 1943. – Die Consolata. Wiesb. schen (insbes. die kath. Jugend in der Illega- 1947. – Unser Weg durch die Nacht. Wiesb. 1949. – lität) gestärkt. Hermann Hesse schlug sie Die Krone der Frau. Zürich 1950. – Aufzeichnunnicht zuletzt deshalb 1949 für den Nobel- gen u. Erinnerungen. Einsiedeln u. a. 1951. – Die preis vor. Dabei darf nicht übersehen werden, Frau des Pilatus. Wiesb. 1955. – Erzählende dass ihre – von Elisabeth Langgässer u. Diet- Schr.en. 3 Bde., Mchn. 1956. – Die Frau u. die rich von Hildebrand scharf kritisierten – Technik. Zürich 1959. – Die letzte Begegnung. Hymnen an Deutschland (Mchn. 1932) sowie Wiesb. 1959. – Das fremde Kind. Ffm. 1961. – Aphorismen. Mchn. 1962. – Die Tochter Jephthas. das Soldatengedicht Nichts war zu hart!, das sie Ffm. 1964. – Woran ich glaube. Zürich 1968. – 1942 anstelle eines von ihr verlangten Ge- Gedichte. Mchn. 1970. – Unsere liebe Frau vom dichts zum Geburtstag des »Führers« lieferte, Karneval. Zürich 1975 (aus dem Nachl.). – Lüttvom Regime instrumentalisiert werden jenmoor. In: Mecklenburg. Ein Lesebuch. Hg. Jürkonnten. Ähnlich instrumentalisiert wurden gen Grambow u. Wolfgang Müns. Rostock 2001 von kommunist. Seite in den 1950er u. (aus dem Nachl.). 1960er Jahren ihre Proteste gegen die AtomLiteratur: Hedwig Bach (Hg.): Dichtung ist bombe u. den Algerienkrieg. Umstritten ge- eine Form der Liebe. Begegnung mit G. v. l. F. u. blieben ist der Thesenroman Der Kranz der ihrem Werk. Mchn. 1976. – G. v. l. F. Wirken u. Engel, der beinahe indiziert worden wäre: Ein Wirkung. Dokumente. Zusammengestellt v. Eleokath. Mädchen will einen Gotthasser u. an- nore v. La Chevallerie. Heidelb. 1983 (Ausstelgehenden Nationalsozialisten ohne den Se- lungskat.). – Gisbert Kranz: G. v. l. F. Leben u. Werk in Daten, Bildern u. Zeugnissen. 3., aktualigen der Kirche heiraten u. »bewußt seine sierte Aufl. Ffm. 1995. – Josef Kieninger: Theologie Dunkelheit« teilen, damit er »unbewußt [i]hr des geistl. Lebens der Frau nach G. v. l. F.s ›Die Licht« teile (»Aftermystik«, urteilte der Köl- ewige Frau‹. Rom 1995. – Joël Pottier: Zwischen ner Kardinal Josef Frings). L. F.s Sehnsucht Ernst Troeltsch u. Edith Stein. G. v. l. F.s einsamer nach der Einheit der Christen hat ihren letz- Weg. In: Wiener Jb. für Philosophie 34 (2002), ten Ausdruck in der Erzählung Der Dom S. 185–225. – Ders.: Ein Anti-Claudel? G. v. l. F. u. (Mchn. 1968) gefunden, die eine unsichtbare der frz. ›Renouveau catholique‹. In: Moderne u. Kirche jenseits der Konfessionen besingt – Antimoderne. Der ›Renouveau catholique‹ u. die eine Vorstellung, die mit dem römisch-kath. dt. Lit. Hg. Wilhelm Kühlmann u. Roman LuckBild der Kirche der Hymnen von 1924 nicht in scheiter. Freib. i. Br. 2008, S. 489–509. – Ders.: G. v. l. F. Sa pensée religieuse. Habil.-Schr. Dijon 2008 Einklang zu bringen ist. So mündet l. F.s re(masch.; mit umfangreicher Bibliogr.). Joël Pottier ligiöse Botschaft z.T. in Aporien u. Utopien, die die trag. Grenze dieser mit Ehrungen vielfach ausgezeichneten, jedoch stets einsa- Leben der Heiligen Elisabeth, Das ! men »Prophetin« andeuten. Daneben bleibt Thüringen, Heilige Elisabeth von die beachtlich kühne Behandlung brisanter Stoffe – etwa das Bombardement der KatheLebert, Benjamin, * 9.1.1982 Freiburg/ drale von Reims: Die Kathedrale nach der Breisgau. – Romanautor. Schlacht (Gedicht von 1914); das von einem SSTrupp verübte Massaker von Oradour-sur- L. stammt aus einer Journalistenfamilie. Mit Glane: Die Unschuldigen (in: Gelöschte Kerzen. Tagebuch-Texten im »jetzt«-Jugendmagazin Mchn. 1953); die Verteidigung des Papstes der »Süddeutschen Zeitung« wurde er entPius XII. gegen Rolf Hochhuths Stellvertreter: deckt; mit seinem in der Folge entstandenen Das Schweigen (Zürich 1967) – in der moder- Debütroman landete der erst 17-Jährige einen nen dt. Literatur einzigartig. Sensationserfolg: Crazy (Köln 1999) avancier-

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te rasch zur Schullektüre, wurde in 33 Spra- Lebert, Hans, * 9.1.1919 Wien, † 19.8. chen übersetzt u. schon ein Jahr nach seinem 1993 Baden bei Wien. – Erzähler, Lyriker, Erscheinen von Hans-Christian Schmid für Hörspielautor, Operntenor, Maler. das Kino verfilmt. Die oft als Popliteratur rezipierte Initiationsgeschichte erzählt vom L. wuchs in Wien auf u. verbrachte in den Leben eines Schulversagers auf dem Internat 1920er Jahren den Sommer oft in einer Villa u. besticht durch ihren ehrlichen Ton. Sie im steiermärk. Trahütten, wo Alban Berg, behandelt teils banal-räsonierend, teils hu- sein Onkel, den Wozzeck schrieb. Bergs Briefe morvoll, aber auch mit poet. Reflexionstiefe aus dieser Zeit enthalten die frühesten Lezeitlose Fragen der Pubertät: Einsamkeit, benszeugnisse über L. Schon als Kind hatte er Gemeinschaft, Lebenssinn, Sexualität u. Ä. zu zeichnen angefangen u. besuchte 1934/35 Publikum u. Kritik bewegte v. a. die auto- die von Albert Paris Gütersloh geleitete Malbiogr. Authentizität des Buches: Ich-Erzähler klasse. L.s künstlerisches Vorbild war Lyonel u. Autor sind beide Schulabbrecher u. halb- Feininger, zu dessen Malweise er sich wegen seines »absoluten Ordnungssinns« hingezoseitig gelähmt. L., der 2003 seinen Hauptschulabschluss gen fühlte. Die Bilder L.s tragen die Spuren nachholte, lebt heute in Hamburg u. arbeitet dieses Einflusses. Als Jugendlicher begann L. auch als Übersetzer US-amerikanischer Ju- auch zu schreiben, zunächst Gedichte u. gendliteratur. Obschon die Crazy nachfol- Dramen, dann Erzählungen. In der Lyrik genden Werke dem Thema Erwachsenwerden ging die stärkste Anregung von Franz Werfel verhaftet bleiben, weist ihre erzählerische aus, der zu den Hausgästen der großbürgerl. Perspektive über das bloße Protokollieren Familie zählte. L. schlug aber zunächst die von Adoleszentenkrisen hinaus. Dabei mani- Laufbahn des Opernsängers ein. Nach der festiert sich ein Interesse an Außenseiterty- Matura nahm er ein Gesangsstudium auf, um pen, an einem Jungschriftsteller wie in Kannst Geld zu verdienen, da die Fabrik des Vaters in du (Köln 2006) oder an Psychiatrie- u. Ge- Konkurs gegangen war. Im Sommer 1938 begann L. seine Bühfängnisinsassen wie in Flug der Pelikane (Köln 2009). Formal lassen L.s Romane Anleihen bei nenkarriere als Operntenor in Kiel u. setzte der amerikan. Short Novel erkennen: Ihr sie 1940 in Gablonz im Sudetenland fort. Er Tonfall ist oft lakonisch, melancholisch sang vorwiegend Wagnerrollen, darunter im grundiert u. nicht selten tragikomisch ver- Herbst 1940 den Fliegenden Holländer, der mit seiner ahasverischen Existenz im Niedichtet. Weitere Werke: Die Gesch. vom kleinen Hund, mandsland zwischen Leben u. Tod zu einer der nicht bellen konnte. Zus. mit Ursula Lebert, mit Schlüsselfigur von L.s Werk wurde. Um sich Bildern v. Hildegard Müller. Ffm. 2000 (Kinder- der Einberufung in die Wehrmacht zu entbuch). – Der Vogel ist ein Rabe. Köln 2003 (R.). ziehen, simulierte L. einen Geisteskranken u. Literatur: Fritz Gesing: Blütenstaub im crazy ließ sich in eine Nervenheilanstalt einweisen. Faserland. Stimmen der Jugend am Ende des 20. Jh. Nach dieser Schwejkiade kehrte er an die In: Jugend. Psychologie – Lit. – Gesch. FS Carl Bühne zurück u. nahm Engagements in ElbPietzcker. Hg. Klaus-Michael Bogdal u. a. Würzb. ing u. Olmütz wahr. Mit der kriegsbedingten 2001, S. 323–350. – Anette Storeide: Die Leiden des Einstellung des Theaterbetriebs im Jahr 1944 jungen Benjamin. B. L., der Roman ›Crazy‹ u. die endete L.s vagantenhaftes Leben. Er zog sich Lit. der neunziger Jahre. In: Alles nur Pop? Anmerkungen zur populären u. Pop-Lit. seit 1990. nach Trahütten zurück u. wirkte im letzten Hg. Thomas Jung. Ffm. u. a. 2002, S. 117–135. – Kriegsjahr als Verbindungsmann der in der Ute Paulokat u. Frank Degler: Neue Dt. Poplit. Steiermark operierenden Widerstandsbewegung. Ende 1946 kehrte er nach Wien zurück Paderb. 2008, S. 47–51. Marc Reichwein u. schloss sich dem Wiener Bürgertheater an. Den Höhepunkt u. Abschluss von L.s Karriere als Sänger bildete seine Mitwirkung an der österr. u. ital. Uraufführung von Bergs Oper Lulu, in der er die Partie des Alwa sang.

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Während seiner Berufstätigkeit als Sänger hatte L. weiter geschrieben, aber erst ab 1950 veröffentlichte er regelmäßig. Sein erstes Gedicht erschien 1946 in Otto Basils der europäischen Moderne verpflichteten Zeitschrift »Plan«, in der kurz darauf auch Paul Celan u. Friederike Mayröcker debütierten. Später publizierte er seine Gedichte vorwiegend in der Zeitschrift »Neue Wege« u. in Rudolf Felmayers Anthologiereihe Tür an Tür. Gelegentliche Pläne, einen selbstständigen Lyrikband zu veröffentlichen, scheiterten. Eine Sammlung seiner Gedichte erschien erst vor Kurzem (Ausgewählte Gedichte. Mit einem Vorw. v. Jürgen Egyptien. Wien 2010). L. bevorzugte klass. Reim- u. Strophenformen. Eine Vielzahl seiner Gedichte lässt sich der Naturlyrik zuzählen. Freilich fungieren die Naturphänomene nicht selten als Medien der Anrufung durch eine transzendente Sphäre. Sie wenden damit ein Prinzip an, für das L. erst viel später den dichtungstheoret. Begriff des »Transparentismus« prägte. Die Methode des Transparentismus zielt auf die ästhet. Konstellierung der Transzendenz im Diesseits, die die sinnl. Phänomene durchsichtig macht für die in ihnen wirksamen jenseitigen Kräfte. Die zentrale Funktion des Anrufs aus einer außerwirkl. Sphäre u. des Motivs der Wanderung bzw. der Ausfahrt rücken L.s Dichtung in die Nähe der Gnosis. L.s Förderer Felmayer vermittelte die erste Buchpublikation Ausfahrt (Graz 1952). Dieser mit Zeichnungen von Hans Fronius ausgestattete Erzählband lässt L.s Grundmotive gut erkennen. Die vier Erzählungen schildern das Eingreifen einer gestaltlosen transzendenten Macht, die sich des Todes als Medium bedient. Es geht L. um die Evokation eines Dämonischen, das aus den inneren Abgründen des Menschen selbst stammt. Wie in den Zeichnungen Kubins ist es die Sphäre des Triebs, die L.s künstlerisches Verfahren bildkräftig in Szene setzt. Die Erzählung Der grüne Fleck liefert ein Modell für L.s literar. Technik der Überblendung verschiedener Zeitstufen u. für sein Schicksalsdenken. Es überträgt die Synchronie der KnotenpunktTechnik auf die diachrone Zeitachse. Die Erzählung spielt sukzessive auf vier Zeitebenen die Begegnung von Mann u. Frau am selben

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Ort durch, wobei der Sprung über Jahrhunderte sich als Bewusstseins-Reigen vollzieht. Der Ort fungiert als Synapse zwischen Diesseits u. Jenseits. An ihm manifestiert sich die Vergeltung für eine zu ihrer Zeit ungesühnt gebliebene Verschuldung. Um Schuld geht es auch in der Erzählung Das Schiff im Gebirge (Graz 1955. Neuausg. mit einem Ess. v. J. Egyptien. Wien/Zürich 1993), mit der Felmayer die Buchreihe Neue Dichtung aus Österreich eröffnete. Dieser Text zeigt bereits in voller Reife L.s in der deutschsprachigen Literatur unvergleichl. Naturbildlichkeit. Seine Kunst, Naturphänomene mit sinnl. Wucht u. einprägsamer Metaphorik synästhetisch zu vergegenwärtigen, hat sich am Stil des frz. Romanciers Jean Giono geschult. In ein unwirtl. Gebirgsdorf zieht sich der junge Erdmann zurück, um aus einer öden Ehe u. vor seinen Kriegserinnerungen zu fliehen. Eines Tages taucht Lilli, eine angebl. Freundin seiner Frau, bei ihm auf u. quartiert sich bei ihm ein. Er spürt ihre Liebesbedürftigkeit, ist aber unfähig, sich aus seinem Selbstmitleid zu lösen. Ihrer Angst vor mysteriösen Verfolgern begegnet er mit halbherzigen Beteuerungen seiner Wachsamkeit. Erst als sie ermordet ist, erkennt er in ihr die von ihm verlassene Frau. Die Datierung ihrer Ermordung auf »den dritten Tag« erscheint als kontrafaktischer Bezug auf das NT. L.s inverse Theologie substituiert den Tag der Auferstehung durch den der Hinrichtung. Erdmann hat die Tat, Lillis Prognose entsprechend, verschlafen u. wird von einem Traum heimgesucht, der ihm sein Versagen im Krieg vor das innere Auge ruft. Mit der Wiederholung dieses Versagens ist sein Sterbeprozess vollendet. Erdmanns Abschiedsbrief deutet einen Aufbruch zu einer ziellosen Fahrt in das Intermundium zwischen Leben u. Tod an, mit der er sich in die Nachfolge des Fliegenden Holländers begibt, dessen Bild im Hausflur seines Refugiums hängt. Die rein existentialist. Problemstellung im Schiff im Gebirge wird in L.s umfangreichem Roman Die Wolfshaut (Hbg. 1960. Neuausg. mit einem Nachw. v. J. Egyptien. Wien/Zürich 1991. Tb-Ausg. Ffm. 1993. Zuletzt Lpz. 2008) in eine histor. Dimension gerückt. 1956

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war L. nach Baden ins Haus seiner Mutter eingezogen, wo er bis zu seinem Tod wohnte. Hier vollendete er die Niederschrift seines 1953 begonnenen Opus Magnum. L.s Roman fand ein großes u. weitgehend positives Echo, u. a. erhielt er 1961 den Theodor-KörnerPreis u. 1962 den Österreichischen Staatspreis. Es folgten 1966 der Kulturpreis des Landes Niederösterreich u. 1968 die Adalbert-Stifter-Medaille sowie der Kulturpreis der Stadt Baden. Die ganz unter der Perspektive der »Vergangenheitsbewältigung« sich vollziehende Rezeption der Wolfshaut führte dazu, dass L. 1962 vom Ehrenvorsitzenden der Österreichisch-Sowjetischen Freundschaftsgesellschaft, dem Komponisten Dmitri Schostakowitsch zu einer Lesereise in die UdSSR eingeladen wurde. Eine russ. Ausgabe erschien 1972 in einer Auflage von 300.000 Exemplaren. In den 1960er Jahren waren neben einer DDR-Ausgabe (Ostberlin 1962) Übersetzungen ins Slowakische, Polnische, Tschechische u. Niederländische erfolgt. Der viel beachteten Neuausgabe von 1991 folgten bald Übersetzungen ins Französische (mit einem Nachw. v. Elfriede Jelinek) u. ins Spanische. Die Zeit der Handlung umfasst 99 Tage um den Jahreswechsel 1952/53. Der Matrose Johann Unfreund kehrt in das Gebirgsdorf Schweigen zurück, wo sein Vater als Töpfer gelebt u. am Ende des Zweiten Weltkriegs Selbstmord begangen hat. Der Roman beginnt mit einem mysteriösen Todesfall in einer Ziegelei, der den Matrosen auf eine Spur bringt, die ihn am Ende das Rätsel des väterl. Suizids lösen lässt. Von ihrem Gattungscharakter her ist Die Wolfshaut ein Kriminalroman, ein negativer, d.h. anti-idyllischer Heimatroman, eine Gespenstergeschichte u. ein – L.s eigener Charakteristik nach – »religiöser Roman«. Unfreund ist im Dorf nicht der einzige Außenseiter. Als Komplementärgestalt ist die Figur des Friseurs Maletta angelegt, der im Weltkrieg an einer Massenerschießung teilgenommen hat u. seither von Selbst- u. Menschenhass erfüllt ist. Maletta fungiert als Medium einer rächenden Transzendenz. Sein Hass u. Zynismus prädestinieren ihn für eine fallweise Verwandlung in einen Werwolf, der mehrere Beteiligte an der

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Erschießung von Fremdarbeitern kurz vor Kriegsende in den Tod hetzt. Maletta, heißt es, ist »jenes winzige Leck in der Schiffshaut der Welt, durch die das ›Entsetzliche‹ [...] einzusickern anhob.« Sein Element sind Morast u. Verwesung, an denen sich sein Hass mästet. Ein ihm bes. günstiger Nährboden ist der »fahle Streifen«, eine Art mundus perversus, der sich von der Töpferhütte bis zur aufgelassenen Ziegelei hinzieht. Sie symbolisiert in L.s poet. Zeichensystem die von Gott verlassene Schöpfungswerkstatt. Die Geschichte erhält derart Züge einer negativen Genesis. So wird Maletta zum ausführenden Organ eines jenseitigen Bösen u. zgl. Werkzeug der Vergeltung für eine ungesühnte Bluttat. Bei der Lektüre einer voraufklärerischen Schrift über den Werwolf erkennt er, dass Gott der »Meister seines Meisters«, des Satans ist. In L.s inverser Theologie besteht eine Dreieinigkeit von Gott, Teufel u. Wolf; der die Toten rächende Wolf ist ebenso »Tiergestalt Gottes« wie inkorporierter Satan. Diese Identität ist die Voraussetzung dafür, dass die »Höllenmaschine« Maletta das »Jüngste Gericht« hält. Es ereilt nicht alle an der Erschießung der Fremdarbeiter Beteiligten. Der Vater des Matrosen hatte sich bereits selbst gerichtet, ein von Gewissensbissen geplagter Mittäter wurde von einem anderen ermordet, u. der ehemalige Ortsgruppenleiter u. jetzige Landrat Habergeier bleibt verschont. Sein Überleben u. seine Karriere symbolisieren die fortgesetzte Herrschaft der »Dreieinigkeit von Dummheit, Feigheit und Gewissenlosigkeit«. Für den zu Überdruss u. Pessimismus neigenden Matrosen ist Malettas zyn. Weltanschauung eine permanente Verführung zum Selbstmord. Als er den erneut Verwandelten in spontaner Notwehr tötet, ist das zgl. seine Befreiung vom taedium vitae. Am Ende fällt Unfreund die Melodie des Blauen Lieds zu, nach dem er sich lange Jahre vergeblich gesehnt hatte u. das die Chiffre für Aufbruch, Freiheit u. Leben ist. Literaturgeschichtlich markiert L.s Wolfshaut im Kontext der österr. Nachkriegsliteratur einen Paradigmawechsel, der mit dem Erscheinen von Grass’ Blechtrommel im Jahr zuvor vergleichbar ist. Mit seiner radikalen

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Kritik an der verdrängten Beteiligung Österreichs an den nationalsozialist. Kriegsverbrechen (die Erschießung der Fremdarbeiter spielt auf einen tatsächl. Vorgang am Präbichl an, wo 1945 ungarische Juden vom Volkssturm ermordet wurden) u. seiner wütenden Attacke auf die »Idiotie des Landlebens« wurde L.s Roman stilbildend für die jüngere Autorengeneration. Deutliche Nachklänge reichen von Thomas Bernhards Frost bis hin zu Elfriede Jelineks Die Kinder der Toten, die in Haltung u. Thematik vielfach an L. anschließen. Der 12.3.1938, der Tag des »Anschlusses« Österreichs ans Deutsche Reich, war für L. die nachhaltigste Traumatisierung seines Lebens. Diese Selbstpreisgabe des österr. Volks erschien L. als der Skandal der österr. Geschichte u. wirkte als Movens seines Schreibens. Noch sein letztes Romanprojekt trug den Arbeitstitel Denn in der Nacht, da er verraten wurde. L. stellte diese Thematik in den Mittelpunkt seines Romans Der Feuerkreis (Salzb. 1971. Neuausg. mit einem Ess. v. J. Egyptien. Wien/Zürich 1992. Tb.-Ausg. Ffm. 1995. Zuletzt Lpz. 2009), den er trotz mehrerer Angebote von großen dt. Verlagen unbedingt in Österreich erscheinen lassen wollte. Im Mittelpunkt des Romans stehen die Halbgeschwister Gottfried Jerschek u. Hilde Brunner. Die Konzeption der Figuren lässt keinen Zweifel daran, dass sie einen allegor. Status besitzen. Hilde verkörpert die 1938 schuldig gewordene Majorität des österr. Volkes, das sich vom Nationalsozialismus begeistern ließ, Gottfried ist hingegen ins Exil gegangen u. hat sich der brit. Armee zur Verfügung gestellt. Als Vertreter der Besatzungsmacht kehrt er im Herbst 1947 in die Villa in einem steiermärk. Gebirgsdorf zurück, wo beide aufgewachsen sind u. wo Hilde alleine lebt. Die Villa ist marode u. vom Hausschwamm befallen. Ihrer beider Mutter ist schon vor dem Zweiten Weltkrieg gestorben, Hildes Vater, ein lokaler NS-Funktionär, wurde in der Villa von Partisanen erschossen. In Hildes Physiognomie manifestiert sich diese Herkunft in einem auffälligen »Gemisch aus Zartheit und Brutalität«. Sie ist auch jetzt noch eine glühende Nationalsozialistin, moralisch u. sexuell verwahrlost. Als Angehörige

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einer KZ-Wachmannschaft hat sie aktiv an der Judenvernichtung teilgenommen. Ihr Liebhaber ist der Sudetendeutsche Hindler, ehemaliger Adjutant eines KZ-Kommandanten, jetzt österr. »Patriot«, der in der Tourismusbranche untertauchen will. Das Verhältnis zwischen Hilde u. Gottfried ist nach dem Modell von Brünnhilde u. Siegfried aus Wagners Oper Der Ring des Nibelungen gestaltet. Der Feuerkreis, der Hilde Brunner umloht, ist das Feuer der Krematorien. Die an die Grenze des Inzests reichende Liebe zwischen den Halbgeschwistern ist ein Faktor, der Gottfried dabei hilft, den von ihren Untaten verschütteten guten Kern Hildes zu revitalisieren. Ein weiterer Faktor ist der Verlust ihres rechten Auges, das sie vom Vater hat. Mit diesem verliert sie symbolisch auch ihre Fixierung auf die väterl. Weltanschauung. Für Hilde ist dieser Schritt gleichbedeutend mit der Erkenntnis ihres Lebendig-Tot-Seins. Das Wiedererwachen ihres Gewissens macht ihr bewusst, sich durch ihre Mordtaten als Mensch selbst getötet zu haben. In einem Showdown kommt es im Beisein von Gottfried zur Konfrontation zwischen Hilde u. Hindler. Während er jede Verantwortung für die KZ-Verbrechen ableugnet, nimmt sie symbolisch alle Schuld auf sich. Ihre Selbstanklage gipfelt in den Worten: »Ich werde sterben, [...] und weil ich sterben werde, werde ich leben!« Als Hindler Hilde attackiert, wird er von Gottfried erschossen. Auf Hildes Bitte gibt er der tödlich Verletzten den »Fangschuss«. Er bahrt sie auf u. zündet die Villa an. Die Villa ist das allegor. Haus Österreich, das innerlich vom Nationalsozialismus zersetzt wurde. Seine Einäscherung ist zgl. ein Purgatorium. Die Aufbahrung von Hildes Leiche mündet in einem Akt der myst. Hochzeit zwischen Gottfried u. seiner Halbschwester. Als er 17 Jahre später noch einmal in das Gebirgsdorf zurückkehrt, trifft er die Landarbeiterin Veronika, eine Hilde rediviva u. ein unschuldig neugeborenes Felix Austria. Was L. im Feuerkreis mit dieser allegor. Apotheose stiftet, ist der Mythos der Reinwaschung Österreichs vom Nationalsozialismus u. vom Sündenfall des Anschlusses. Für die Struktur u. die Figurenkonstellation des

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Romans fungiert v. a. Wagners Ring des Nibelungen als mythopoet. Palimpsest. Nicht zu übersehen ist L.s ästhet. Bestreben, den Roman in Form einer Oper anzulegen; er hatte seine Intention als Versuch charakterisiert, die nationalsozialist. Ideologie aus dem trojan. Pferd des Wagner’schen NibelungenMythos anzugreifen. Mit der Reformulierung des Wagner’schen Kunstmythos folgt L. der Ansicht von Bruno Schulz, dass »jegliche Poesie Mythologisieren« sei. Dabei besteht die spezif. Modernität dieser Mythos-Adaptation darin, nicht Legitimation, sondern Interpretation zu sein. Die geistesgeschichtl. Rahmenbedingungen für ein adäquates Verständnis von L.s mythopoet. Projekt hätten kaum ungünstiger sein können. 1971 löste Der Feuerkreis Irritation oder ideologiekritisch argumentierende Empörung aus. Die Neuausgabe von 1992 stieß auf mehr Verständnis u. führte zu Übersetzungen ins Französische u. Spanische. Nach dem Feuerkreis erschienen nur noch einzelne Erzählungen u. ein Band mit zwei Hörspielen, die bereits Ende der 1960er Jahre gesendet worden waren. In ihnen treten die zivilisationskritischen u. apokalypt. Züge von L.s Werk deutlich zutage. L., von zwei Herzinfarkten erheblich geschwächt, zog sich fast vollständig aus der Öffentlichkeit zurück. 1974 bekam er den Kulturpreis des Landes Niederösterreich verliehen, dann wurde es still um ihn. Sein Werk wurde erst Anfang der 1990er Jahre wiederentdeckt u. in seiner ästhetischen u. geistigen Originalität gewürdigt. Bei der Verleihung des Franz-Grillparzer-Preises 1992 sah sich L. krankheitshalber genötigt, seine Dankesrede verlesen zu lassen. Sie löste mit ihrer These, die europ. Integration Österreichs dürfe kein zweiter »Anschluss« werden, eine heftige Debatte in der österr. Öffentlichkeit aus.

Schmidt-Dengler: Die antagonist. Natur. Zum Konzept der Anti-Idylle in der neueren österr. Prosa. In: LuK 4 (1969), H. 40, S. 577–585. – Maria Luise Caputo-Mayr: H. L.s Romane: Realismus u. Dämonie, Zeitkritik u. Gerichtstag. In: MAL 7 (1974), S. 79–98. – Kurt Arrer: H. L. u. der problematisierte Regionalroman. Diss. Salzb. 1975. – Ingo Baumann: Über Tendenzen antifaschist. Lit. in Österr. Analysen zur Kulturztschr. ›Plan‹ u. zu Romanen v. Ilse Aichinger, Hermann Broch, G. Fritsch, H. L., Georg Saiko u. Hans Weigel. Diss. Wien 1982. – Konstanze Fliedl u. Karl Wagner: Tote Zeit. Zum Problem der Darstellung v. Geschichtserfahrung in den Romanen Erich Frieds u. H. L.s. In: Lit. der Nachkriegszeit u. der 50er Jahre in Österr. Hg. Friedbert Aspetsberger, Norbert Frei u. Hubert Lengauer. Wien 1984, S. 303–319. – Thomas Mießgang: Sex, Mythos, Maskerade. Der antifaschist. Roman Österr.s im Zeitraum v. 1960 bis 1980. Wien 1988. – Werner Kummer: Österr., ein Wintermärchen. H. L. u. d. Entwicklung des antifaschist. Dorfromans. In: Vergangene Gegenwart – gegenwärtige Vergangenheit. Hg. Jörg Drews. Bielef. 1994, S. 9–29. – Gerhard Fuchs u. Günther A. Höfler (Hg.): H. L. Graz/Wien 1997 (mit Bibliogr.). – Jürgen Egyptien: Der ›Anschluss‹ als Sündenfall. H. L.s literar. Werk u. intellektuelle Gestalt. Mit einem Vorw. v. Elfriede Jelinek. Wien 1998. – Theresia Klugsberger: Die Anziehungskraft der Form. Zur Dynamik der Textgenese in H. L.s Roman ›Die Wolfshaut‹. In: Textgenese u. Interpr. Hg. Adolf Haslinger. Stgt. 2000, S. 75–103. – H. L. República de las latras. Nr. 74 (2002). – Florian Braitenthaller: ›Küss mich, du Schwein!‹ H. L.s diskrete Beziehungen zur Moderne. Wien 2003. – Karl-Markus Gauß: H. L. In: LGL. – Ritchie Robertson: Narrative and Violence in George Saiko’s ›Der Mann im Schilf‹ (1955) and H. L.’s ›Die Wolfshaut‹ (1960). In: Schreiben gegen Krieg u. Gewalt. Hg. Dirk Göttsche. Gött. 2006, S. 131–143. – Hélène Barrière: Hybridation narrative au service du débat sur le nazisme dans ›Die Wolfshaut‹ (1960) de H. L. In: Entre anamnèse et amnésie. La littérature pour dire le passé nazi. Hg. Martine Benoit. Villeneuve d’Ascq 2008, S. 171–187. – Hans Wolfschütz: H. L. In: KLG. Jürgen Egyptien

Weitere Werke: Die schmutzige Schwester. Wien 1972 (2 Hörsp.e). – Das weiße Gesicht. ORF 1972 (Hörsp.) – Das weiße Gesicht. Mit einem Ess. v. J. Egyptien. Wien/Zürich 1995 (E.). – Die unlesbare Schrift. In: die horen 43 (1998), H. 191, S. 185–188.

Lebrun, Lebrün, Karl August, * 8.10.1792 Halberstadt, † 24.7.1842 Hamburg. – Dramatiker, Schauspieler.

Literatur: Gerhard Fritsch: Dahintreibend in den Meeren des Herbstes. Zur Dichtung H. L.s. In: Wort in der Zeit 7 (1961), H. 3, S. 9–12. – Wendelin

Der Sohn eines frz.-reformierten Predigers zog nach dessen Tod mit der Familie nach Berlin u. begann eine Ausbildung als Kaufmann, die er bald zugunsten des Theaters

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aufgab. Nach längeren Engagements in Würzburg u. Mainz kam er 1818 schließlich an das Hamburger Stadttheater, dessen Direktion er 1827–1837 gemeinsam mit Friedrich Ludwig Schmidt innehatte. Als Schauspieler trat er v. a. in kom. Rollen hervor; als Dramatiker stand er mit seinen Lustspielen u. Possen sowie Übertragungen frz. u. engl. Stücke (am bekanntesten: Ich irre mich nie. Urauff. Hbg. 1820. Nr. 777! Urauff. Hbg. 1821. Der Weiberfeind. Urauff. Ffm. 1823), die sich durch bühnenwirksame, z.T. groteske Komik auszeichnen, in der Nachfolge Kotzebues u. des frz. Vaudevilles. Weitere Werke: Lustsp.e. Originale u. Bearbeitungen. 2 Bde., Mainz 1822. – Vor- u. Nachsp.e für die Bühne. 2 Bde., Mainz 1833/34 – Spiele für die Bühne. 2 Bde., Mainz 1838. – Jb. für Theater u. Theaterfreunde. Hbg. 1841. Literatur: Joseph Kürschner: L. In: ADB. – Goedeke 11/1. – DBA. – Sengle 2, passim. Sabine Lorenz / Red.

Lederer, Joe (Josefine), * 12.9.1904 Wien, † 30.1.1987 München. – Erzählerin u. Drehbuchautorin. L., jüdischer Herkunft, wurde nach dem Besuch des Gymnasiums in Wien Schauspielerin u. Sekretärin des Romanciers Balder Olden. Danach war sie als freie Schriftstellerin u. Journalistin tätig. L., die längere Zeit in Berlin lebte, unternahm ausgedehnte Reisen durch Europa. 1933 verboten die Nationalsozialisten ihr Werk. L. emigrierte nach China, dann lebte sie in Österreich u. Italien. 1938 flüchtete sie nach Großbritannien, wo sie ab 1939 als Journalistin im Foreign Office in London arbeitete. 1956 nahm sie ihren endgültigen Wohnsitz in der Bundesrepublik. Mit ihren nach 1945 entstandenen Büchern gelang es L. nicht, an frühere Erfolge anzuknüpfen. Ihr Werk umfasst neben gehobener Unterhaltungsliteratur auch Jugendu. Drehbücher. L. wurde früh bekannt mit ihrem Roman Das Mädchen George (Bln. 1928. Hbg. 2008), in dem bereits ihr Hauptthema Liebe im Zentrum steht. Von der zeitgenöss. Kritik wurde die »Inwendigkeit« dieses Buchs hervorgehoben, durch die es sich von der in den

1920er Jahren vorherrschenden »Sachlichkeit« unterscheide; L. wurde als »deutsche Colette« gefeiert. Der Roman Blumen für Cornelia (Wien 1936. Bergisch Gladbach 1984) erzählt die Geschichte der scheiternden Liebe zwischen einer Mittvierzigerin u. einem 20 Jahre jüngeren Mann. Der Roman schildert mit psycholog. Einfühlungsvermögen die Folgen der von L. als ein Hauptproblem des modernen Menschen angesehenen Auflösung der Werte. Im Gegensatz zu Blumen für Cornelia mündet der Roman Unruhe des Herzens (Mchn. 1956. Ffm. 1994) in ein Happy End. Indem die Hauptfigur, eine Schauspielerin, erkennt, dass ihre lieblose Erziehung zu extremer Ich-Bezogenheit geführt hat sowie zur Unfähigkeit, den Partner zu lieben, wird ihr eine positive Veränderung der Beziehung zu ihrem Mann möglich. In Tödliche Leidenschaft (Mchn. 1977) stellt L. sieben authent. Mordfälle unter Verwendung von Zeitungsausschnitten u. Gerichtsprotokollen erzählerisch dar. L.s leicht lesbare Romane sind konventionell erzählt, die Figuren psychologisch scharf gezeichnet. Weitere Werke: Romane: Musik der Nacht. Bln. 1930. – Drei Tage Liebe. Mchn. 1931. – Unter den Apfelbäumen. Bln. 1934. Ffm. 1992. – Blatt im Wind. Wien 1936. 1948. – Ein einfaches Herz. Wien 1937. – Fafan in China. Ein Roman für die Jugend. Wien 1938. U. d. T. Entführt in Schanghai. Reutl. 1958. – Heimweh nach Gestern. Bln. 1951. – Letzter Frühling. Mchn. 1955. – Sturz ins Dunkel. Mchn. 1957. – Von der Freundlichkeit der Menschen. Mchn. 1964. Ffm. 1991. – Ich liebe dich. Fünf Gesch.n aus meinem Leben. Mchn. 1975. 2000. Literatur: Stephane Roussel: Das unberührbare Leben der J. L. In: Welt am Sonntag, 8.2.1987. – Gabriele Heidegger: J. L. Eine Monogr. Dipl.-Arb. Wien 1998. – Hania Siebenpfeiffer: Liebe in Zeiten des Exils. J. L.s Exilromane zwischen Kitsch, Kommerz u. Idylle. In: Zwischen den Zeiten. Hg. dies. u. Uta Beiküfner. Bln. 2000, S. 97–115. – Evelyne Polt-Heinzl: J. L. (1904–87). In: LuK (2002), H. 365/366, S. 105–110. – G. Heidegger: ›Zuflucht‹ in der Heimat? Die kurze Rückkehr der Schriftstellerin J. L. nach Wien. In: Asyl wider Willen. Hg. Ursula Seeber. Wien 2003, S. 50–55. – Eva Chrambach: Texte, leicht wie Flaumfedern. Vor 100 Jahren wurde die Schriftstellerin J. L. geboren. In: Unser Bayern 53 (2004), H. 10, S. 156 f. – Evelyne Polt-Heinzl: Von der Unfreundlichkeit des

293 Lebens: J. L. (1904–87). In: Zeitlos. Hg. dies. Wien 2005, S. 120–139. Helmut Blazek / Red.

Ledig, Gert, eigentl.: Robert Gerhard L., * 4.11.1921 Leipzig, † 1.6.1999 Landsberg/L. – Erzähler, Hörspielautor, Journalist. L. entstammte einer Kaufmannsfamilie u. verbrachte seine Kindheit in Wien. Als seine Eltern sich trennten, kehrte er 1930 mit der Mutter nach Leipzig zurück. Nach dem Besuch der Versuchsklasse der Pädagogischen Lehranstalt ging er auf die Fachschule für Elektrotechnik. 1938 begingen seine Mutter u. seine Großmutter Selbstmord. L. meldete sich 1939 freiwillig zum Kriegsdienst u. wurde zum Flammenwerferschützen ausgebildet. Er nahm am Frankreichfeldzug teil u. wurde ab 1941 an der Ostfront eingesetzt. Wegen Kritik an seinem militärischen Vorgesetzten, dessen unverantwortl. Befehle den Tod mehrerer Kameraden u. L.s eigene Verwundung verursachten, wurde er für vier Wochen in eine Strafkompanie versetzt. Nach der zweiten Verwundung war er 1942 nicht mehr frontverwendungsfähig u. absolvierte eine Ausbildung zum Schiffsbau-Ingenieur. Ab 1944 war er als Vermittler zwischen der Kriegsmarine u. ihren Zuliefererfirmen tätig u. besichtigte viele bombengeschädigte Hafenstädte u. Werksanlagen. Das Kriegsende erlebte L. in München. Da Bombenangriffe seinen gesamten Besitz vernichtet hatten, war L. mittellos u. schlug sich als Holzfäller, Vertreter u. Gerüstbauer durch. Er gründete mehrere kurzlebige Unternehmen, arbeitete 1950/51 ein Jahr als kaufmänn. Angestellter in der väterl. Firma in Österreich. Bei dem Versuch, nach Leipzig zu kommen, wurde er von den Russen verhaftet u. der Spionage bezichtigt. L. konnte aus dem Deportationszug entkommen u. wurde Dolmetscher für das amerikan. Hauptquartier in Wien. Seit den frühen 1950er Jahren lebte L. in Freilassing. Er trat der KPD bei u. unternahm Reisen in die DDR. L. schrieb u. a. für das »Neue Deutschland« u. war kurz für die Stasi tätig, wurde gleichzeitig aber auch selbst, etwa von der jungen Christa Wolf, überwacht. Ab 1960

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arbeitete er für ein Münchener Ingenieurbüro. Er lebte zuletzt in Utting am Ammersee. L. begann 1950 journalist. Artikel zu schreiben, bevor er in rascher Folge seine drei einzigen Romane vorlegte. Die ersten beiden gehören zu den bedeutendsten Beispielen für den sog. »hard boiled«-Realismus in der Erzählliteratur über den Zweiten Weltkrieg. In Die Stalinorgel (Hbg. 1955. Neuausg. Ffm. 2000) wechselt die Erzählperspektive häufig von einer Seite der Kampflinie zur anderen. Es geht hier um den Zusammenbruch der Ostfront. L. springt zudem zwischen Binnenu. Außenperspektive hin u. her, sodass der Handlungsverlauf mit den psych. Reaktionen der Figuren vermittelt wird. Auf diese Weise entsteht ein differenziertes Bild, das durch Rückblenden in die Biografie der Figuren an histor. Tiefenschärfe gewinnt. Diese Erzählweise hat L. in Vergeltung (Ffm. 1956. Neuausg. mit einem Nachw. v. Volker Hage. Ffm. 1999) weiter ausgefeilt, wo er sich einer virtuosen Simultantechnik bedient. Der Roman ist in dreizehn Kapitel unterteilt, denen jeweils das Selbstporträt der behandelten Figur vorangestellt ist. Vertreten sind dt. Zivilisten u. Armeeangehörige, russ. Kriegsgefangene u. Zwangsarbeiter u. ein amerikan. Bomberpilot. Die Schicksale dieser Figuren werden im Verlauf eines Luftangriffs auf eine dt. Stadt verknüpft. Die einzelnen Erzählstränge sind in zahlreiche Sequenzen unterteilt u. werden mit zeitlich parallelen Geschehnissen anderer Erzählstränge kombiniert. Eingerahmt sind die dreizehn Kapitel durch einen Prolog u. einen Epilog, die als Überschrift die Uhrzeiten des Beginns u. des Endes des Luftangriffs tragen. Die erzählte Zeit umfasst kaum mehr als eine Stunde. L. wendet im Prolog das episierende Mittel an, das Ende von einigen seiner Figuren vorwegzunehmen. Es geht ihm nicht primär um das Moment der Spannung wie im konventionellen Kriegsroman, sondern um den Vorgang der Zerstörung selbst. Zu deren Schilderung bedient sich L. eines lakonischen, in seiner impassibilité geradezu zynisch wirkenden Stils. L.s literar. Leistung in Vergeltung besteht darin, dass diese dokumentarische Nüchternheit in der Darstellung einer bombardierten Stadt sich zu parabelhaften u. symbol.

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Szenen verdichtet. Der Polyperspektivismus gerte, fanden L.s Romane neues Interesse u. seines Erzählverfahrens lässt ein universales erlebten Neuauflagen. Höllengemälde entstehen, das die Absurdität Literatur: Christian Schulte: G. L. In: KLG. – der Kriege des 20. Jh. unverstellt zeigt. Zu Volker Hage: Zeugen der Zerstörung. Die Literaten Recht hat der Schriftsteller W. G. Sebald L.s u. der Luftkrieg. Ffm. 2003. – Gabriele Hundrieser: Romane zur »radikalen Antikriegsliteratur« Die Leerstelle der Leerstelle? Das Phänomen G. L., gerechnet u. ihren kompromisslosen Desil- die Ästhetik der Gewalt u. die Literaturgeschichtsschreibung. In: WB 49 (2003), H. 3, S. 361–379. – lusionismus betont. Florian Radvan: Religiöse Bildlichkeit u. transtexDer dritte Roman, Faustrecht (Mchn./Wien/ tuelle Bezüge in G. L.s Luftkriegsroman ›VergelBasel 1957. Neuausg. mit einem Nachw. v. V. tung‹. In: Bombs away! Representing the Air War Hage. Mchn./Zürich 2001), spielt in der un- over Europe and Japan. Hg. Wilfried Wilms u. mittelbaren Nachkriegszeit in München u. William Rasch. Amsterdam/New York 2006, handelt von dem Anschlag auf den Wagen S. 165–179. – Jürgen Egyptien: Figurenkonzeptioeines amerikan. Besatzungsoffiziers. Er ist in nen im Kriegsroman. Die Darstellung v. Anhäneiner bewusst kunstlosen u. knappen Sprache gern, Mitläufern u. Gegnern des NS in G. L.s ›Verlinear erzählt u. fällt gegenüber Stalinorgel u. geltung‹, Michael Horbachs ›Die verratenen Söhne‹, Harry Thürks ›Die Stunde der toten Augen‹ u. Vergeltung qualitativ ab. Mit seinem Hörspiel Das Duell (Bln./DDR Manfred Gregors ›Die Brücke‹. In: Der Zweite Weltkrieg in erzählenden Texten zwischen 1945 u. 1958. U. d. T. Der Staatsanwalt. Fürstenfeld1965. Hg. ders. Mchn. 2007, S. 99–124. – Angelika bruck 1958) reagierte L. unmittelbar auf die Brauchle: G. L. u. die Sprache der Gewalt. Diss. Ermordung der Prostituierten Rosemarie Bonn 2008. Jürgen Egyptien Nitribitt am 1.11.1957, zu deren Kunden Industrielle, Regierungsbeamte u. hohe Geistliche gehört hatten. L. legt den Fokus Ledóchowska, Maria Theresia, Gräfin, auf das Duell zwischen dem Staatsanwalt auch: Alexander Halka, Africanus, * 29.4. Strecker u. dem kommunist. Journalisten 1863 Loosdorf/Niederösterr., † 6.7.1922 Reed (wohl in Anspielung auf John Reed, den Rom. – Ordensgründerin; Verfasserin erVerfasser des Berichts über die Oktoberrevobaulicher Schriften zur Mission in Afrika. lution 10 Tage, die die Welt erschütterten). Strecker, selbst ein Freier der Nitribitt, lässt L. gründete 1894 die »St. Petrus Claver Sokompromittierende Tondokumente u. Fotos dalität für die afrikanischen Missionen«. Sie verschwinden u. betreibt Reeds Verhaftung, eröffnete eine Druckerei, in der religiöse weil der Streckers Rolle als Vorsitzender eines Schriften u. Schulbücher in mehreren hunnationalsozialist. Sondergerichts recherchiert dert afrikanischen Sprachen gedruckt wurhat. Strecker setzt durch den Einsatz illegaler den, u. schrieb zu Propagandazwecken VorMethoden die Verhaftung Reeds durch, kann träge u. Theaterstücke, v. a. gegen den arab. aber die Publikation des von ihm unter- Sklavenhandel in Afrika. Erfolgreichstes zeichneten Todesurteils gegen einen Zivilis- Stück war Zaida, das Negermädchen (Salzb. ten, der ein jüd. Kind versteckt hatte, nicht 1889), das die Verschleppung eines christl. verhindern. Das Hörspiel ist in den für L. ty- Mädchens durch muslimische Sklavenhändpischen knappen, im Ton scharfen Dialogen ler beschreibt. abgefasst. Eine medienästhet. Besonderheit L.s Missionsdramen sind Teil der abolitioliegt darin, dass der Text bis auf Straßensze- nistischen u. kolonialen Diskurse ihrer Zeit. nen am Anfang u. Ende fast ausschließlich Ihre selbstbewusste Tätigkeit als Organisatoaus Telefongesprächen besteht. rin u. Koordinatorin der Sodalität widerIm Zuge der von Sebald mit seinen Zürcher sprach aber dem traditionellen Frauenbild. Vorlesungen von 1997 ausgelösten öffentl. Sie lebte den zweiten Teil ihres Lebens in Debatte über »Literatur und Luftkrieg«, in Rom u. reiste mit ihren Vorträgen durch ganz der er das angebl. Versagen der dt. Literatur Europa. Wie auch im Leben der Autorin selbst gegenüber der erzählerischen Herausforde- werden in ihren Werken die weibl. Heldinnen rung durch das sog. area-bombing anpran- als Vorbilder eines eigenständigen Denkens

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gezeigt, wenn auch immer der Kirche unterworfen. L. wurde 1975 selig gesprochen; ihr Gedenktag ist der 6. Juli. Weitere Werke: Mein Polen: Reise-Erinnerungen aus dem Jahre 1879. Graz 1881. – Die hl. Odilia. Wien 1884. – Ein Freiheitlicher am Kongo. Salzb. 1910. – Von Hütte zu Hütte. Salzb. 1912. – Die Prinzessin v. Uganda. Salzb. 1915. – Marias Täubchen. Salzb. 1919. – Das Skapulier des Sklaven. Salzb. 1917. – Nachlass: Generalatsarchiv der Missionsschwestern vom hl. Petrus Claver, Rom. Literatur: Clemens Gütl: M. T. L. In: Bautz. – Annette Kliewer: M. T. L. In: Lexikon deutschsprachiger Epik u. Dramatik v. Autorinnen (1730–1900). Hg. Gudrun Loster-Schneider u. Gaby Pailer. Tüb./Basel 2006, S. 258–261. – Cindy Brewer: Christianity, Race, and Colonial Discourse in the Dramatic Works of M. T. L. (1863–1922). In: MAL 40 (2007), H. 1, S. 19–39. – Dies.: Fantasies of African Conversion: The Construction of Missionary Colonial Desire in the Dramas of a Catholic Nun, M. T. L. (1863–1922). In: German Studies Review 30 (2007), H. 3, S. 557–578. Annette Kliewer

Legendare. – Lateinische u. deutsche Legendensammlungen des MA, ab Ende des 8. Jh. L. stellen Sammlungen von Heiligenlegenden dar, deren Anordnung im MA mehrheitlich nach kalendar. Prinzip (»per circulum anni«) erfolgt u. damit auch die alltagsprakt. Verankerung des Heiligenkults dokumentiert, während L., die wie Nachschlagewerke alphabetisch konzipiert sind, nur vereinzelt bzw. relativ spät begegnen (z.B. das Sanctuarium des Boninus Mombritius, um 1480). Vom Umfang des Heiligenbestands her mussten L. zwar gewisse Minimalforderungen erfüllen, hinsichtlich eines Maximalvolumens aber waren sie nicht festgelegt; auch Festtagstexte (zu Weihnachten, Ostern usw.) ließen sich ohne Weiteres integrieren. Man verstand L. in der lat. wie in der dt. Überlieferung weitgehend als Kompendien, ja Enzyklopädien, die für beinahe jede Art spezif. Erweiterung oder Kürzung offen waren. Neben den L. »per circulum anni« gibt es auch L., die nach Heiligentypen (z.B. Apostel oder weibl. Heilige) organisiert u. damit strengeren Auswahlkriterien unterworfen sind. Sel-

Legendare

ten finden sich L. von Regional- u. Lokalheiligen; solche Heiligengruppen werden mit ihren Legenden eher als Sondergut in umfassendere L. »per circulum anni« eingebaut. Im dt. Sprachraum begegnen lat. L. vom späten 8./frühen 9. Jh. an. Die verschiedenartigen Legenden, die sie zunächst im Wesentlichen unverändert vereinen, stammen vielfach aus dem mediterranen Raum. Mit der zunehmenden Bedeutung der Heiligenverehrung wächst ihr Umfang in der nachkaroling. Zeit beträchtlich, so in Groß-L. wie dem Magnum Legendarium Austriacum, dem Windberger Legendar oder dem Trierer Legendar. Das umfangreichste aller lat. L. des dt. MA ist das 1460 entstandene zwölfbändige Legendar von Böddeken (Diözese Paderborn). Parallel dazu begegnen aber auch L. mit geradezu stenogrammartig verkürzten Legendenfassungen, die für die Lesung im Offizium sowie die Vorbereitung von Heiligenpredigten Verwendung fanden. Einen Wendepunkt für die Geschichte der L. markiert im 13. Jh. der von Hagiografen des Dominikanerordens in Italien u. Frankreich entwickelte Typus der »legendae novae«. Dieser bestand aus stilistisch u. strukturell im Sinn des »sermo humilis« vereinheitlichten, kalendarisch angelegten Legenden-Kurzfassungen (»abbreviationes«) u. bot sich mit seiner »andachtsbildartig verdichteten Gestaltung« der Texte (Wolpers) auch zur volkssprachl. Adaptation an. Der Erfolg dieses L.-Typus ging mit einem sprunghaften Rückgang der Überlieferung ungekürzter L. einher. Als Erster stellte Jean de Mailly um 1225 den Typus der »legendae novae« für die Predigtvorbereitung jener Priester her, denen eine ausreichende Bibliothek nicht zur Verfügung stand. Durch Bartholomäus von Trient (1245/46) wurde er weiterentwickelt. Wirkmächtigster Vertreter der »legendae novae« aber war schließlich Jacobus de Voragine mit seiner Legenda aurea, die noch vor dem Tod des Verfassers (1298) über ganz Westeuropa hin in kaum überschaubarer Zahl abgeschrieben wurde u. aufgrund ihres polyfunktionalen Anwendungspotenzials nahezu jede Konkurrenz verdrängte. Im dt. Sprachraum sind denn auch lediglich zwei volkssprachl. L. unter Benutzung

Legendare

eines lat. L. des älteren Typs entstanden: das mindestens 28.450 Verse umfassende Buch der Märtyrer (vielleicht noch im 13. Jh.) u. das sog. Legendar des Marquard Biberli, eine von schweizer. Nonnen um 1310 übersetzte Sammlung, die der Zürcher Dominikaner Biberli approbierte; sie enthält allerdings nur 33 Legenden, worunter sich auch einige von weitgehend unbekannten Heiligen befinden. Die volkssprachl. Adaptationen der »legendae novae« waren dagegen äußerst erfolgreich. Bedeutendstes Beispiel unter den in Versform verfassten dt. L. ist das Passional. Es greift auf die Legenda aurea zurück, bezieht aber auch weitere, noch nicht systematisch erfasste Quellen ein u. war bis zur Mitte des 14. Jh. weit verbreitet. Abgelöst wurde es von den nun einsetzenden Prosa-Übertragungen der Legenda aurea. Keine Übertragung eines vorgefertigten lat. L., sondern eine selbständige Prosabearbeitung mehrerer, meist volkssprachl. Quellen stellt das um 1400 in Nürnberg entstandene L. Der Heiligen Leben dar. Mit seinen 251 Legenden, darunter viele Legenden von Heiligen dt. Provenienz, wurde es zum bedeutendsten volkssprachl. L. »per circulum anni«. Es erfuhr eine weiträumige, lang anhaltende Verbreitung u. diente häufig als Quelle. Neben ausgesprochenen L. gab es auch eine breite Tradition von Heiligenpredigtsammlungen, die sowohl als Musterpredigten als auch als L. verbreitet waren. Am ältesten sind die sog. Mitteldeutschen Predigten, die im 12. Jh. urspr. für den Klerus als Vorlagen für Heiligenpredigten konzipiert, aber bis ins 15. Jh. als Legendensammlung tradiert wurden. Da die Predigten ohnehin meist nur das Leben der Heiligen erzählten, waren für die neue Gebrauchsfunktion keine nennenswerten Texteingriffe nötig. Das Werk enthielt urspr. etwa 40 Texte, von denen einige allerdings Festtagspredigten waren, die in der Legendarfassung entfernt wurden. In den Jahren 1343/49 ließ sich der Laie Hermann von Fritzlar aus ehemaligen Predigttexten ein Heiligenleben zusammenstellen, das ihm offenbar als privates Erbauungsbuch dienen sollte. Die beiden schwäb. Kurzpredigtsammlungen, das Bebenhauser Legendar u. die Schwäbischen Heiligenpredigten, entstanden im

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14. Jh. u. enthielten 98 bzw. 120 Texte, die nur die wichtigsten Grunddaten der Heiligenbiografien vermitteln. Wahrscheinlich handelte es sich bei beiden um Nachschlagewerke für Prediger, möglich ist aber auch, dass sie in dieser Form sogar von der Kanzel vorgelesen wurden. Drei Sammlungen – das Mittelfränkische Heiligenpredigt-Legendar, das Wolfenbüttler (niederdeutsche) Legendar u. das Darmstädter (mitteldeutsche) Legendar – sind eindeutig L., für die die Predigtform nicht auf eine Verwendung in der homilet. Praxis hinweist. Der umfangreichste L.-Typ ist das sog. Martyrologium-Legendar, das in der Heiligen Leben-Redaktion seinen markantesten Vertreter hat. Martyrologien sind Heiligenverzeichnisse, die sich nicht nur auf eine Aufzählung der Tagesheiligen zum jeweiligen Festtag beschränken, sondern auch knappe Angaben zu den Lebensumständen enthalten. Im Laufe des 15. Jh. entwickelte sich das Bedürfnis, L. zu schaffen, die auf absolute kalendar. Vollständigkeit bedacht waren, d.h. für jeden Tag des Jahres mindestens eine Legende anboten. Dies konnte zu einer Kombination von Martyrologium u. L. führen, d.h. zu Sammlungen, bei denen dem tägl. Martyrologiumseintrag mindestens eine entsprechende Legende beigefügt wurde. Dieser L.-Typ war aber wenig verbreitet. Ähnlich dürftig ist die Überlieferung von volkssprachl. L., die nach Heiligentypen organisiert sind. Die fünf erhaltenen »Apostelbücher« aus dem dt. Sprachraum, die auch weitere Gestalten des NT (Johannes Baptista, Barnabas, Maria Magdalena usw.) einbeziehen, sind, vom zweiten Buch des Passionals abgesehen, nur in ein oder zwei Handschriften überliefert. Aus dem 14. Jh. stammt das Verslegendar Der ystorien bloeme, das die Legenden der Apostel in knapper Form erzählt; im 15. Jh. kommen das Münchener Apostelbuch, eine Prosaauflösung des Passionals, sowie das Salzburger u. das Trierer Apostelbuch hinzu. Seit dem 14. Jh. liegen auch einige kleinere Zusammenstellungen von Legenden bes. verehrter heiliger (Jung-)Frauen vor. In Prosa gehalten ist das bemerkenswerte, um 1460 entstandene Buch von den heiligen Mägden und Frauen, das von der Zisterzienserin Regula im

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Kloster Lichtenthal bei Baden-Baden stammt Wiesb. 1995. – Barbara Fleith u. Franco Morenzoni und nach Auskunft der Verfasserin die Le- (Hg.): De la sainteté à l’hagiographie. Genf 2001. – genden sämtlicher ihr bekannter weibl. Hei- Bernhard Vogel: Hagiograf. Hss. im 12. Jh. In: liger aufnimmt. Dies verleiht dem durchweg Europa an der Wende vom 11. zum 12. Jh. FS Werner Goez. Hg. Klaus Herbers. Stgt. 2001, anspruchsvollen, für die Tischlesung des reS. 207–216. – s. auch Art. Jacobus a Voragine, Buch der formierten Konvents gedachten L. mit seinen Märtyrer, Passional, Der Heiligen Leben. 57 Texten einen stattl. Umfang. Eine SammWerner Williams-Krapp / Edith Feistner lung von Jungfrauenlegenden enthält auch die um 1475 entstandene, sprachlich-stilis- Lehman, Lehmann, Christoph(orus), auch: tisch überaus einfach konzipierte Versdich- Georg Christoph L., * 1568 Finsterwalde/ tung Der maget krone. Sie wendet sich an ein Niederlausitz, † 20.1.1638 Heilbronn. – nicht-klösterl. Publikum, das am unteren Stadtschreiber, Chronist, SprichwortEnde der Alphabetisierungsskala anzusiedeln sammler. ist. L. gehörten im MA zur beliebtesten Lek- Für einen früh verwaisten Lehrerssohn aus türe überhaupt. Ihre Bedeutung für die Ent- der Provinz, der nur durch Unterstützung wicklung der dt. Erzählprosa, die religiöse eines Gönners ab Sommer 1587 ein dreijähLaienbildung u. die Frömmigkeitsgeschichte riges polyhistor. Studium in Leipzig absoldes späten MA kann nicht deutlich genug vieren konnte, machte L. eine erstaunl. Karherausgestellt werden. Mit der Reformation riere. Nach Erlangung des Bakkalaureats am u. Luthers Invektiven gegen die kath. »lü- 28.3.1590 u. der Magisterwürde am 4.2.1591 genden« verloren die L. an Popularität. Im wirkte er als Privatlehrer in Jena, dann an der Zuge der Gegenreformation wurden zwar Lateinschule in Speyer. Die Heirat verschaffte wieder L. produziert, doch setzte sich auch ihm Zugang zu den gehobenen Kreisen der hier eine dem neuzeitl. Wirklichkeitsbegriff Stadt. 1599 wechselte er vom Schuldienst ins Rathaus, wo er, aufgrund seiner historischen geschuldete Modifikation des hagiograf. u. jurist. Bildung schon 1602 u. ö. in RechtsWahrheitsanspruchs durch. geschäften zu Kaiser Rudolf u. nach Prag Ausgaben: Für viele L. gibt es – unabhängig von entsandt, 1604 für 24 Jahre mit dem Amt des ihrer histor. Bedeutung – noch keine bzw. keine Stadtschreibers von Speyer betraut wurde. krit. Edition. – Lateinisch: Jean de Mailly: Abrégé Heute noch als Quellenwerk nutzbar ist L.s des gestes et miracles des saints [ins Frz. übers. v. Antoine Dondaine]. Paris 1947. – Boninus Momb- Chronica der Freyen Reichs Statt Speyr (Ffm. 4 ritius: Sanctuarium. Novam hanc editionem cura- 1612. 1711), die ihm die ehrenvolle Beverunt duo monachi Solesmenses. Paris 1910. zeichnung eines »Livius der Deutschen« einNachdr. Hildesh. 1978. – s. auch Art. Jacobus a trug. Trotz seiner Verdienste kam es zu ZerVoragine (›Legenda aurea‹). – Deutsch: Die Elsäss. würfnissen mit dem Rat, sodass L. 1629 in die Legenda aurea. Bd. 1: Das Normalkorpus. Hg. Ulla Dienste des Kurfürsten von Trier eintrat. Er Williams u. Werner Williams-Krapp; Bd. 2: Das fand dort Muße für die Zusammenstellung Sondergut. Hg. Konrad Kunze; Bd. 3: Die lexikal. eines zweiten viel gerühmten Werks, FlorileÜberlieferungsvarianz, Register, Indices. Tüb. gium politicum. Politischer Blumengarten (o. O. 1980, 1983 u. 1990. – s. auch Art. Buch der Märtyrer, 1630, »Getruckt impensis autoris«. Weitere Passional, Der Heiligen Leben. Aufl.n bis 1662), der bedeutendsten, alphaLiteratur: Guy Philippart: Les légendiers latins betisch geordneten Sprichwortsammlung der et autres manuscrits hagiographiques. Turnhout Barockzeit mit eingestreuten moralisieren1977. – Ders.: L. In: VL. – Werner Williams-Krapp: den Sentenzen, Apophthegmen, Anekdoten Die dt. u. niederländ. L. des MA. Tüb. 1986. – u. Schwanken. Nicht eindeutig L. zuzuDers.: Mittelalterl. dt. Heiligenpredigtsammlungen u. ihr Verhältnis zur homilet. Praxis. In: Die dt. schreiben ist das 2000 Exempel, Historien, Predigt des MA. Hg. Volker Mertens u. Hans-Jo- Sprüche u. v.a. heitere Erzählungen umfaschen Schiewer. Tüb. 1992, S. 352–360. – Edith sende Exilium Melancholiae, das ist: Unlust Ver3 Feistner: Histor. Typologie der dt. Heiligenlegende treiber (Straßb. 1643. 1699), in dem sich der des MA v. der Mitte des 12. Jh. bis zur Reformation. Verfasser auf die Sammlung Louis Carons Le

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Chasse Ennuy, ou l’honneste Entretien des bonnes Compagnies (1619) beruft, diese aber wesentlich erweitert. Dieses postum erschienene Kompendium wurde von späteren Kompilatoren reichlich ausgeschrieben. Wie immer es sich mit der Autorschaft des Werks verhalten mag – L. hatte bereits mit seinen zu Lebzeiten erschienenen Schriften nachhaltig Geltung erlangt, wie späteren Würdigungen zu entnehmen ist. Weiteres Werk: De pace religionis acta publica et originalia, das ist: Reichshandlungen, Schrifften u. Protocollen uber die Constitution deß ReligionFriedens: in drey Büchern abgetheilet [...]. Ffm. 1631. 21640. Ausgaben: C. L.’s Blumengarten: Frisch ausgejätet, aufgeharkt u. umzäunt [...]. Bln. 1879. 1883 (Ausw.). – Florilegium politicum (Lübeck 1639). Hg. u. eingel. v. Wolfgang Mieder. Bern u. a. 1986 (S. 5*-85*: Einl. mit umfassenden bio- u. bibliogr. Angaben). Literatur: Bibliografie: VD 17. – Weitere Titel: Erhard Christoph Baur: Leben des berühmten C. L. Ffm. 1756. – Jacob Franck: C. L. In: ADB. – Theodor Verweyen: Apophthegma u. Scherzrede. Bad Homburg u. a. 1970, S. 108, 134 f. – Elfriede MoserRath: ›Lustige Gesellschaft‹. Schwank u. Witz des 17. u. 18. Jh. Stgt. 1984, S. 16, 41 u. passim. – Sieglinde Adler: Literar. Formen polit. Philosophie. Das Epigramm des 17. u. 18. Jh. Würzb. 1998. Elfriede Moser-Rath † / Red.

Lehmann, Peter Ambrosius ! Krebel, Gottlieb Friedrich Lehmann, Wilhelm, * 4.5.1882 Puerto Cabello/Venezuela, † 17.11.1968 Eckernförde; Grabstätte: ebd., Friedhof Westerthal. – Erzähler, Lyriker, Essayist. L. wurde während eines Aufenthalts der Eltern in Venezuela geboren, wo der Vater die Filiale einer dt. Firma leitete. Nach ihrer Rückkehr lebte die Familie in der Nähe von Hamburg. Als der Vater 1891 nach Südamerika zurückkehrte, wo er 1895 starb, wurden L. u. seine beiden jüngeren Geschwister von der Mutter versorgt. Da L. für seine schriftstellerischen Ambitionen keine Unterstützung erwarten konnte, war das Studium auf den Brotberuf des Lehrers hin angelegt. Mühe des Anfangs nannte er deshalb seine Aufzeich-

nungen über Kindheit, Studienzeit u. die ersten dichterischen Versuche (Heidelb. 1952). L. studierte hauptsächlich Germanistik u. Anglistik u. promovierte 1905 in Kiel mit einer Arbeit über Das Präfix uz- im Altenglischen (ungedr.). 1908 legte er auch das Staatsexamen ab, nachdem er seit 1906 bereits an einer privaten Knabenschule in Mecklenburg unterrichtet hatte. 1906–1912 war er mit der 15 Jahre älteren Martha Wohlstadt verheiratet. 1913 ging er eine Ehe mit Frieda Riewerts, seiner ehemaligen Schülerin am Lyzeum in Neumünster ein, wo er 1909–1912 tätig gewesen war. 1912 wurde L. Lehrer an der Freien Schulgemeinde Wickersdorf in Thüringen, die von Gustav Wyneken gegründet worden war u. den Ideen der Jugendbewegung verpflichtet war. Hier blieb er bis 1920, unterbrochen von einem widerwillig angetretenen Kriegsdienst (1917/18) u. brit. Gefangenschaft (1918/19). Dann wechselte L. wegen der internen Auseinandersetzungen um die Leitung der Freien Schulgemeinde, die zu seinem Bruch mit Wyneken führten, an das ebenfalls der Jugendbewegung nahestehende Landschulheim am Solling bei Holzminden. Von 1923 bis zur Pensionierung 1947 war er Studienrat an der Realschule in Eckernförde. Die frühe Lehrtätigkeit verarbeitete L. in seinen ersten, vom Expressionismus beeinflussten Prosawerken. Sie sind heute wenig bekannt, fanden aber nach dem Ersten Weltkrieg wegen der eingehenden Naturdarstellungen Beachtung. Es handelt sich um die Romane Der Bilderstürmer (Bln. 1917), Die Schmetterlingspuppe (Bln. 1918) u. Der Weingott (Trier 1921). Die Hauptfiguren, jeweils Lehrer u. existentiell ruhelos, ähneln sich in der Suche nach einer Einheit von Mensch u. Natur, scheitern aber aus unterschiedl. Gründen. Die Natur, so wird nahegelegt, lässt sich nicht vereinnahmen. 1923 wurde L. zus. mit Robert Musil von Döblin der Kleist-Preis für die bis dahin erschienenen Prosaarbeiten zugesprochen. Die ersten beiden Bücher erschienen noch im S. Fischer Verlag, von dessen Lektoren Moritz Heimann u. Oskar Loerke L. gefördert wurde. Der dritte Roman fand beim Verleger jedoch keine Zustimmung mehr. In der Folge wechselte L. die

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Verlage häufiger. Die folgenden beiden Ro- nicht genug (Tüb. 1950), Überlebender Tag mane blieben zunächst ungedruckt u. wur- (Düsseld./Köln 1954), Abschiedslust (Gütersloh den erst nach dem Zweiten Weltkrieg veröf- 1962), Sichtbare Zeit (Gütersloh 1967). Einige fentlicht, zu einem Zeitpunkt, als L. bereits große Literaturpreise in den 1950er Jahren als Lyriker etabliert war. In Der Überläufer sind Ausdruck von L.s öffentl. Wirksamkeit. (entstanden 1925–1927. Zuerst in: Sämtliche Die oft wiederholte Behauptung von dem Werke. 3 Bde., Gütersloh 1962) schildert L. großen Einfluss, den er neben Benn u. Brecht seine Entfernungen von der Truppe während auf die Lyrik der Nachkriegszeit ausgeübt des Ersten Weltkriegs. In Der Provinzlärm habe, bedürfte der Überprüfung u. Differen(entstanden 1929–31. Erstmals u. d. T. Ruhm zierung. des Daseins. Zürich 1953) geht es um schuliWeitere Werke: Meine Gedichtbücher. Ffm. sche Auseinandersetzungen. Seit 1927 veröf- 1957. – Herausgeber: Moritz Heimann. Eine Einf. in fentlichte er v. a. Beiträge mit Naturbeob- sein Werk u. eine Ausw. Wiesb. 1960. – Oskar achtungen in Ehm Welks Sonntagszeitung Loerke. Gedichte. Ffm./Hbg. 1968. – Nachlass: »Die grüne Post«, die 1948 gesammelt als Landesbibl. Kiel; DLA. Ausgaben: Ges. Werke in 8 Bdn. Hg. Agathe Bukolisches Tagebuch (Fulda. Neudr. Stgt. 1982) Weigel-Lehmann u. a., in Verb. mit der Akademie publiziert wurden. Obwohl L. v. a. als Lyriker in die Literatur- der Wiss.en u. der Lit. in Mainz u. dem DLA in Marbach. Stgt. 1982–2009. – Briefw. W. L. – Wergeschichte eingegangen ist, veröffentlichte er ner Kraft 1931–68. Hg. Ricarda Dick. 2 Bde., Gött. seinen ersten Gedichtband, die Antwort des 2008. Schweigens, erst 1935 im Alter von 53 Jahren. Literatur: Werner Siebert (Hg.): Gegenwart des Das Buch erschien im Widerstands-Verlag Lyrischen. Ess.s zum Werk W. L.s. Gütersloh 1967 (Bln.) von Ernst Niekisch, der 1937 verboten (u. a. mit Beiträgen v. Moritz Heimann, Oskar wurde. Ihm folgte 1942 der Gedichtband Der Loerke, Elisabeth Langgässer, Karl Krolow u. Wergrüne Gott (Bln.). Beiden Werken verdankt L. ner Kraft). – Hans Dieter Schäfer: W. L. Studien zu seinen Ruf als Begründer des sog. »natur- seinem Leben u. Werk. Bonn 1969. – Jochen Jung: magischen« Gedichts, das viele nichtfaschist. Mythos u. Utopie. Darstellungen zur Poetologie u. Autoren im nationalsozialist. Deutschland Dichtung W. L.s. Tüb. 1975. – Günter E. Bauerbeeinflusste. Wie in den Romanen wird auch Rabé: Bemerkungen zur L.-Forsch. 1968–78. In: in L.s Gedichten die Natur von der gesell- Lit. in Wiss. u. Unterricht 15 (1982), S. 87–111. – Harold L. Brubaker: Bewahrer des Konkreten. The schaftl. Wirklichkeit als unverdorbener BePoetic Practice of W. L. (1882–1968). Philadelphia, reich abgekoppelt u. mit großer Intensität University of Pennsylvania Diss. 1997. – Franz beschrieben. Diese Beschwörung von Natur- Schüppen: Verwerfungen in Raum u. Zeit. Die Lyphänomenen hat L. seit den 1940er Jahren rik v. W. L. (1882–1968) u. Carl Zuckmayer auch poetologisch reflektiert. In den drei (1896–1977) in ihrem Zeitalter. In: Lyrik – KunstBänden Bewegliche Ordnung (Heidelb. 1947). prosa – Exil. FS Klaus Weissenberger. Hg. Joseph P. Dichtung als Dasein (Hbg. 1956) u. Kunst des Strelka. Tüb. u. a. 2004, S. 97–120. – Uwe Pörksen: Gedichts (Ffm. 1961) liegen die Essays gesam- Wiederbegegnung. W. L.s poet. Spektrum. Gött. melt vor. Obwohl L. die faschist. Ideologie 2006. – Ewout van der Knaap (Hg.): W. L. u. Ernst ablehnte, lässt sich den Texten insg. eine Meister. Korrespondenz u. Lektüre. In: JbDSG 51 (2007), S. 70–97. – U. Pörksen (Hg.): W. L. zwischen oppositionelle Einstellung zum NationalsoNaturwissen u. Poesie. Gött. 2008. zialismus nicht entnehmen. NonkonformisDetlev Schöttker / Red. tisch waren L.s Arbeiten eher durch die Ausgrenzung von Politik überhaupt. Sein Eintritt in die NSDAP im Mai 1933 zeigt allerdings, Lehms, Georg Christian, auch: Pallidor, dass die poet. Versenkung in die Natur die * 1684 Liegnitz, † 15.5.1717 Darmstadt. – gesellschaftl. Existenz nicht ersetzen konnte. Bibliothekar, Schriftsteller u. Poet. Nach 1945 hat L. mehrere Gedichtbände veröffentlicht, in denen er sein Verfahren Nach Schulbesuch in Görlitz u. Studien an poetischer Naturmythisierung weiterentwi- der Leipziger Universität (Magister 1708) ckelte: Entzückter Staub (Heidelb. 1946), Noch übernahm L. das Amt eines Rats u. Biblio-

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thekars am Darmstädter Hof, wo er auch das zeithero gedrückte doch wieder erquickte Sachsen. Amt eines Hofpoeten bekleidete u. in jungen Lpz. 1707. – Der v. den Römern an dem SabiniJahren an Tuberkulose gestorben sein soll. schen Frauen-Zimmer begangene Raub. Rom [d. i. Das Werk, um dessentwillen L.’ Name über- Lpz.] 1709. – (Mit Regina Maria Pfitzner): HeldenLiebe der Schrifft Alten u. Neuen Testaments liefert ist u. das auch ein Porträtkupfer von Zweyter Theil, ebenfalls in 16 anmuthigen Liebesihm enthält, repräsentiert ein um die Wende Begebenheiten, mit beygefügten Curieusen Anzum 18. Jh. beliebtes Genre: Teutschlands ga- merckungen, Poetischen Wechsel-Schrifften u. lante Poetinnen, mit ihren sinnreichen und netten darzu gehörigen Kupffern [...] nach der Art Hrn. Proben; nebst einem Anhang ausländischer Dames Heinr. Anshelm v. Ziegler u. Kliphausen. Lpz. (Ffm. 1715, Anhang schon 1714. 21745. 1710. – Histor. Beschreibung der weltberühmten Nachdr. Darmst. 1966 u. Lpz. 1973). Dieses Univ. Leipzig. Lpz. 1710. – Der schönen u. lieLexikon umfasst Artikel über 111 in der benswürdigen Esther Lebens-Gesch. Lpz. 1713. – Mehrzahl zeitgenössische dt. Schriftstelle- Beantwortung der Censur über die ›Galanten Poerinnen mit Angaben zu Leben u. Werk u., im tinnen‹. Ffm. 1715. – Lob-Rede des Frauenzimmers in gebundener Rede. Lpz. 1716. – Texte zur KirAnschluss daran, immer wieder Kostproben chen-Music. Darmst. 1718–20. aus ihren Versen mit kurzen Kommentaren Literatur: Bibliografie: Dünnhaupt 2. Aufl. des Verfassers. Diese Praxis war aus den PoeBd. 4, S. 2576–2583. – Weitere Titel: Friedrich Wiltiken u. Dichterkatalogen der Humanisten helm Strieder: Grundlage zu einer Hess. Gelehrtenbekannt u. begegnet auch in Neumeisters De u. Schriftsteller-Gesch. Bd. 7, Gött. 1787. – Silvia Poëtis Germanicis (Halle 1695). Aufgenommen Bovenschen: Die imaginierte Weiblichkeit. Ffm. wurden auch bürgerl. Dichterinnen, z.B. Si- 1979. – Barbara Becker-Cantarino: Der lange Weg bylla Schwartz aus Greifswald, am ausführ- zur Mündigkeit. Frau u. Lit. (1500–1800). Stgt. lichsten sind Artikel u. Zitate jedoch bei ad- 1987. – Christiane Brokmann-Nooren: Weibl. Billigen Damen: Das Werk repräsentiert so zgl. dung im 18. Jh. ›Gelehrtes Frauenzimmer‹ u. ›gedas Programm der »Galanten«, das auf einer fällige Gattin‹. Oldenb. 1994. Herbert Jaumann Rhetorik des Anschlusses bürgerl. Verhaltensnormen an die des Adels beruht. Nach der Widmung an die schwed. Gräfin Königs- Lehndorff, Hans Graf von, * 13.4.1910 marck sucht die Vorrede den alten Topos der Graditz, † 4.9.1987 Bonn. – Verfasser von weibl. »Geschicklichkeit zum Studiren« zu Lebensberichten, Erzähler, Essayist. bekräftigen u. gibt einen Katalog gelehrter Frauen, ausländische u. antike eingeschlos- Der Sohn des Oberlandstallmeisters Siegfried sen, die sich außerhalb der Poesie hervorge- Graf von Lehndorff wuchs in Trakehnen auf. tan hätten – ein indirektes Zeugnis auch für Er studierte zuerst Jura, dann Medizin u. die beginnende Verselbständigung der Poesie schloss sich der Bekennenden Kirche an. gegenüber den gelehrten Fächern; der 1945–1947 arbeitete er als Chirurg unter Hauptteil selbst ist dann entlastet von »ge- poln. u. russ. Besatzung in Ostpreußen. Seine lehrten Frauen« im weiteren Sinn. Die 166 Erfahrungen veröffentlichte er u. d. T. OstArtikel des Anhangs gehen ebenfalls auf die preußisches Tagebuch (Ffm. 1961, zahlreiche Antike, etwa bis zu den Sibyllen, zurück. Das Neuaufl.n). Die Aufzeichnungen gehörten zu Motiv für Kataloge dieser Art ist nicht einfach den ersten Dokumenten über die Vertreibung Frauenemanzipation. Diese Panegyrik der der Deutschen u. den Untergang ihrer ostFrauen ist vielmehr funktional mit der des preuß. Heimat. 1969 erschienen Die InsterAdels verknüpft, u. L. selbst hat durch die burger Jahre. Mein Weg zur Bekennenden Kirche Heirat einer Adeligen dieses Modell überdies (Mchn.), es folgten 1975 u. d. T. Humanität im Krankenhaus (Luzern) wegweisende Überlenoch für den privaten Hausstand realisiert. Weitere Werke: Pallidor (Pseud.): Die un- gungen eines Arztes, der gleichzeitig Seelglückseelige Prinzessin Michal u. der verfolgte sorger ist. 1971 wurde L. als Pfarrer ordiniert. Druid. Hann. 1707. – Die gestillten Schmertzen der In Menschen, Pferde, weites Land (Mchn. 1981, zeithero kranck gewesenen, nunmehro aber zu ih- zahlreiche Neuaufl.n) beschreibt er seine rer vorigen Gesundheit gelangten Anxiosa oder das Kindheit lebendig u. voller Humor. Sein

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letztes Buch, Lebensdank (Stgt. 1983), ist eine kommentierte Sammlung bibl. Texte. Literatur: Erich Kock: Vor 90 Jahren wurde der Arzt u. Schriftsteller H. G. v. L. geboren. Chronist des ›nüchternen Mundes‹ In: Die polit. Meinung 45 (2000), H. 366, S. 74–77. –Miroslaw Ossowski: Ostpreußen in den Erinnerungsbüchern v. Marion Gräfin Dönhoff, H. G. v. L. u. Alexander Fürst zu Dohna-Schlobitten. In: Zwischeneuropa – Mitteleuropa. Hg. im Auftrag des Mitteleurop. Germanistenverbandes v. Walter Schmitz. Dresden 2007, S. 398–404. Maria Frisé / Red. /

Lehne, (Johann) Friedrich (Franz), * 8.9. 1771 Gernsheirn, † 15.2.1836 Mainz; Grabstätte: ebd., Hauptfriedhof. – Lyriker, Publizist.

aus Protest gegen die frz. Politik bald wieder aufgab. 1799 wurde L. Professor der schönen Wissenschaften, 1814 Stadtbibliothekar. Auch in diesen Jahren nahm L. als Publizist – 1816–1822 etwa als Redakteur der »Mainzer Zeitung« – weiterhin Anteil an den polit. Entwicklungen. Zunehmend traten jedoch lokal- u. altertumshistor. Forschungen ins Zentrum seines Interesses (Die römischen Alterthümer der Gauen des Donnersbergs. Mainz 1836/37. In: Gesammelte Schriften. Bde. 1 u. 2). Weitere Werke: Versuche republikan. Gedichte. Straßb. 1795. – Republikan. Gedichte (zus. mit Nikolaus Müller). Mainz o. J. [1799]. – Romant. Seereise v. Genua nach Neapel. Mainz 1825. Ausgabe: Ges. Schr.en. Hg. Philipp Hedwig Külb. 5 Bde., Mainz 1836–39. Literatur: Helmut Mathy: Unbekannte Quel-

Nach dem frühen Tod seiner Eltern kam L. len zur Jugendgesch. v. F. L. In: Mainzer Ztschr., 1780 zu Verwandten nach Mainz, wo er nach Jg. 69 (1974), S. 135–145. – Kai-Michael Sprenger: dem Besuch des Gymnasiums Geschichte u. F. L. u. die Griechenbegeisterung in Mainz zu Beginn des 19. Jh. Zur Resonanz freiheitl. Bewegundie schönen Wissenschaften studierte. Begen in Mainz. In: Mainz u. Rheinhessen in der geistert von den Ideen der Französischen Revolution v. 1848/49. Hg. vom Verein für SozialRevolution, wurde L. nach der Eroberung von gesch. Mainz. Mainz 1999, S. 170–190. – Franz Mainz durch die frz. Truppen Mitgl. des Ja- Pelgen: F. L. als Leiter der Mainzer Stadtbibl. In: kobinerklubs (29.11.1792) u. arbeitete in der 200 Jahre Stadtbibl. Mainz. Hg. Annelen Otterneuen Administration. Seine ersten revolu- mann u. Stephan Fliedner. Wiesb. 2005, S. 67–72. tionär-demokrat. Gedichte, die nicht zuletzt Christoph Weiß / Red. ihres vergleichsweise hohen formalen Niveaus wegen in keiner einschlägigen AnthoLehner, Peter, * 23.11.1922 Thun/ logie fehlen (z.B. Gedichte und Lieder deutscher Schweiz, † 23.12.1987 Bern. – Lyriker u. Jakobiner. Hg. Hans-Werner Engels. Stgt. Erzähler. 1971), schrieb L. in dieser Zeit. Wie die meisten Texte dieses Genres entstanden auch Nach dem Studium der Germanistik u. RoL.s Gedichte u. Lieder häufig im Zusammen- manistik in Bern u. Lausanne arbeitete L. hang mit konkreten polit. Ereignissen oder zunächst als Journalist, bevor er 1953 Seanlässlich revolutionärer Feste. Wie furchtlos kundarlehrer in Bern wurde. 1960/61 war er er dabei mit den alten Autoritäten umging, in der Werbebranche tätig. zeigt etwa seine Provisorische Grabschrift für L. begann als Lyriker. Seine vier Gedichtden Kurfürsten von Mainz, in der es heißt: bände aus den Jahren 1955 bis 1964 gestalten »Nimm Gott ihn ja nicht in den Himmel ein! den Erfahrungsraum der Großstadt, wobei / Sonst glaubt er, auch ein Gott zu sein; / die Polarität zwischen Zivilisation, Technik, Schick ihn zur Höll, und er wird ohne Zweifel Industrie einerseits u. Natur andererseits im / Erzkanzler von dem Reich der Teufel.« Zentrum steht. Die diagnostizierte VerdränNach der Rückeroberung der Stadt floh L. gung von Naturräumen u. deren Substitution 1793 nach Paris, schloss sich der National- durch künstl. Natur wird von L. auch dichgarde an u. übernahm verschiedene polit. tungstheoretisch durch die Depotenzierung Funktionen in den besetzten Gebieten. Mit der klassisch-romant. Sprachtradition reflekden Franzosen kehrte er 1798 nach Mainz tiert. Der Band Fase Kran (St. Gallen/Stgt. zurück u. übernahm die Redaktion des »Be- 1964) leitet mit Gedichten, in denen die unobachters vom Donnersberg«, die er jedoch bekümmerte Aufbaumentalität mit der dro-

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henden atomaren Eskalation kontrastiert gen, sodass ein collagiertes Palimpsest entwird, den nachhaltigen Politisierungsprozess steht. Auf dem Gebiet der Prosa hat L. als eigene ein, den L.s Werk ab Mitte der 1960er Jahre Form die Zerzählung entwickelt. Ihr Spezidurchläuft. Dabei entfalten die Gedichtsammlungen fikum ist der hypothet. Status des Erzählten, ein bisschen miss im kredit (Steinbach 1967), für das der Erzähler jeweils verschiedene Vasakralitäten-blätterbuch (Steinbach/Gurtendorf rianten anbietet u. das vom Leser beliebig 1971), wehrmännchens abschied (Basel 1973) ergänzt werden kann. L. selbst charakterisowie die lyr. Texte in nebensätzliches (Basel sierte die Zerzählung als Mosaik, Vexierspie1982) ein weit gefächertes themat. Spektrum, gel u. Versuchsanordnung, die den Leser zur das von beißender Kritik am Schweizer Einübung eines habituellen Misstrauens u. Spießbürgertum über die Anprangerung der krit. Prüfens nötige, sodass er sich weniger Ausbeutung italienischer Gastarbeiter, der leicht täuschen lasse. Diese rezeptionsästhet. heuchlerischen christl. Maskierung skrupel- Funktion der Zerzählung leitet sich erkennloser Machtpolitik, des Paradieses für dubiose bar aus seinen Erfahrungen mit dem Metier Geld- u. Waffentransaktionen u. des verbor- der Werbung her, das auch im Mittelpunkt genen polit. Einflusses der helvet. Armee bis seiner umfangreichsten Prosaarbeit WAS ist zu Warnungen vor Atomgefahr, Neutronen- DAS (Basel 1972) steht. Weitere Werke: rot grün. St. Gallen 1955 (G.e). bombe, Umweltzerstörung u. bitteren Anklagen der amerikan. Kriegführung in Viet- – Asphalt im Zwielicht. Teufen 1956 (G.e). – Ausfallstraße. St. Gallen 1959 (G.e). – Angenommen, nam reicht. Ähnlich wie Erich Fried operiert um 0 Uhr 10. Zerzählungen. St. Gallen 1965. – L. häufig mit Wortspielen, die ein verknapp- Lesebuch. Basel 1975. – Bier-Zeitung. Basel 1979. tes sprachl. Material in dialekt. Pointen hinLiteratur: Jürgen Egyptien: P. L. In: KLG. eintreibt, u. bevorzugt antithetische, achsenJürgen Egyptien symmetrische oder fugenartig ineinandergreifende Strophenkonstruktionen. Besonderheiten seiner rhetorischen Technik beste- Lehnert, Christian, * 20.5.1969 Dresden. – hen in der Tendenz zur aphorist. Verdich- Lyriker. tung (»mangels angreifer / setzt die armee / L. ist ein religiöser, von theologischen u. fremdarbeiter / als gastfeinde ein«, wehrmyst. Denkfiguren inspirierter Dichter. Er männchens abschied) u. der Kontrafaktur geist- lebt bei Dresden u. erhielt für sein literar. licher Formen, wobei das sakralitäten-blätter- Werk neben dem Dresdner Lyrik-Preis (1998) buch geradezu als zorniges Brevier einer ne- u. dem Hugo Ball-Förderpreis (2005) weitere gativen Liturgie zu lesen ist. Die eigentl. bedeutende Auszeichnungen. Originalität von L.s Lyrik ist indes in seinem Nach einem Studium der ReligionswissenVersuch der Kombination ideologiekritischer schaften, der Evangelischen Theologie u. der Sprachspiele mit den poet. Techniken der Orientalistik fand L. Mitte der 1990er Jahre in Konkreten Poesie zu sehen. L. arbeitet dabei den Landschaften der jüdischen u. arab. Welt sowohl nach dem Vorbild Eugen Gomringers seine Orte poetischer Verheißung. Angeregt mit konstellativen Verfahren der Wortanord- durch den Besuch heiliger Stätten des Junung als auch wie Ernst Jandl mit onomato- dentums u. des Islams, z.B. auf der Halbinsel poet. Mitteln. Sinai, entfalten sich in seinen ersten beiden Das äußere Erscheinungsbild der Bände ein Gedichtbänden Der gefesselte Sänger (Ffm. bisschen miss im kredit u. sakralitäten-blätterbuch 1997) u. Der Augen Aufgang (Ffm. 2000) lyr. machen zudem L.s Partizipation an der un- Zyklen, in denen das poet. Subjekt immer derground-Literatur deutlich. Letzteres bil- wieder Motive der Schöpfungsfrühe u. der det eine Art »Gesamtkunstwerk« aus Foto- Geburt des Menschen imaginiert. L. rekongrafien, Zeitungsausschnitten, Comicstrips, struiert in seinen dunkel dahinströmenden Bauplänen u. Reklamebildern. Auf dieses Ursprungsbildern und halluzinatorischen heterogene Material sind L.s Texte aufgetra- Fantasien myst. Erleuchtungen, seine Texte

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haben die Innigkeit u. visionäre Kraft von Gebeten. Es gehe darum, so schreibt L. in einem poetolog. Essay, »die Fragmente frühester Erinnerungen mit den Fraktalen der Wahrnehmung zu verbinden – ein Klanggewölbe für die Stimmen der poetischen Mystik«. In seinem Band Auf Moränen (Ffm. 2008) werden die Briefe des Apostels Paulus zu Ausgangspunkten von 24 »Vigilien« (Stundengebeten), die sich mit der Selbstvergewisserung eines gläubigen u. zgl. am Glauben verzweifelnden Menschen beschäftigen. Weitere Werke: Finisterre. Wien 2002 (L.). – Ich werde sehen, schweigen, hören. Ffm. 2004 (L.). – Hans Werner Henze: Phaedra. Ein Tgb. Libretto v. C. L. Bln. 2007. Literatur: Peter Geist: Asphodelen im Kühlschrank. Poetische Urszene u. Lyrik der Neunziger. In: NDL 47 (1999), H. 3, S. 168–172. – Michael Braun: C. L.: Ein Nachfahre der Mystik. In: Freitag Nr. 19, 7.5.1999. – Ders.: C. L. In: LGL. – Gerhard Falkner: Bemerkungen zum Gedicht v. Rinck, Stolterfoht, Poschmann, Lehnert. In: Park, H. 63 (2009), S. 42–44. Michael Braun

Lehr, Thomas, * 22.11.1957 Speyer. – Prosa-Autor. L. studierte von 1979 bis 1983 Mathematik, Physik u. Biochemie in Westberlin. Bis 1999 arbeitete er als EDV-Spezialist für die Freie Universität in Berlin, seither lebt er dort als freier Schriftsteller. Für seine Veröffentlichungen erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, u. a. 2000 den Wolfgang-Koeppen-Preis der Hansestadt Greifswald u. 2006 den Kunstpreis Rheinland-Pfalz. L.s formal u. inhaltlich hochbewusst konzipierte Arbeiten sind durch stete Innovationsleistungen u. Neuausrichtungen seiner Poetik geprägt: Von Veröffentlichung zu Veröffentlichung werden jeweils andere gesellschaftliche, wiss. u. literar. Bezugnahmen in Konstellation zueinander gesetzt. Gemeinsamer Nenner des Gesamtwerks ist so v. a. der hohe Anspruch, mit dem die Möglichkeitsformen von Roman u. Novelle ausgelotet werden. Dieser Anspruch positioniert das Werk von Anfang an abseits schnelllebigerer Strömungen der Gegenwartsliteratur. Wie zur Verbildlichung dieses Umstands ist

Lehr

L.s Debütroman Zweiwasser oder Die Bibliothek der Gnade (Bln. 1993) eine allegorisch überhöhte Abrechnung mit dem bundesrepublikan. Literaturbetrieb als einem Umschlagplatz von Ruhm u. Macht, von dem jedes Streben nach Wahrheit kategorial geschieden scheint. L.s kulturpessimist. Satire hat ihren Grund in dem eigentl. Erzähldebüt Die Erhörung (Bln. 1995), an dem er über sieben Jahre gearbeitet hatte u. für das er anfänglich keinen Verlag finden konnte. Als Gleichschaltung von psychiatr. Krankengeschichte u. ideeller Vernunftkrise inszeniert dieser in jeder Hinsicht hochambitionierte Roman die dt. Geschichte des 20. Jh. aus der Retrospektive. In krit. Konfrontation zu Peter Weiss’ Ästhetik des Widerstandes überführt der Protagonist Anton Mühsal, Enkel eines Spanienkämpfers, linke Geschichte in linke Geschichtsschreibung, indem er Historiker wird. Die eigentlich klass. Entwicklungsgeschichte, in der Mühsal im Klima von 1968 zu krit. Bewusstsein gelangt, wird konterkariert durch seine schizoiden Visionen der Vergangenheit. L. beherrscht virtuos sämtl. Techniken romanesken Schreibens. Dies zeigt sich bes. in dem Vermögen, mit sprachkräftig geformten Motiven u. Bildern zwischen Handlung u. Reflexion gleitend zu vermitteln. Wird der Plot in dem Grenzgebiet zwischen Roman u. Metaphysik, das der geschichtsphilosoph. Furor der Erhörung eröffnet, noch durch gleichnishafte Visionen u. Pathosformeln gestört, ist Nabokovs Katze (Bln. 1999) unterhaltsamer konzipiert. Der Roman, der als einer der wichtigsten deutschsprachigen Zeitromane seines Jahrzehnts gelten darf u. so auch von der Kritik wahrgenommen wurde, erzählt abermals eine Entwicklungsgeschichte, diesmal jedoch die der Nach-68erGeneration, »die stets zu klug war, um an irgend etwas zu glauben.« Mit teilweise deutl. Bezügen auf L.s eigene Biografie wird das durch entgrenzende Obsessionen bestimmte Leben des späteren Regisseurs Georg Graf berichtet: Drogen, Sex u. Philosophie dienen als Vehikel, um zunächst der bundesrepublikan. Enge, darüber hinaus jedoch der menschl. Verfasstheit als solcher zu entkommen. Neben der lebensleitenden erot. Liebe zur gleichaltrigen Camille wird der

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Erkenntnisraum des Kinos u. damit einer ci- Aesthetics of Passage: The Imag(in)ed Experience of neastisch-bildmächtigen Ästhetik als Ort be- Time in T. L., W.G. Sebald, and Peter Handke. stimmt, an dem »sehen und denken« in Würzb. 2009. Florian Kessler Harmonie treten u. ein glückendes Leben ermöglichen. Leib, Kilian, * 23.2.1471 Ochsenfurt/Main, Die Novelle Frühling (Bln. 2001), verschie† 16.7.1553 Rebdorf. – Humanistischer dentlich wahrgenommen als ein Höhepunkt Historiograf u. Kontroversschriftsteller. deutschsprachiger Novellistik der Nachkriegszeit sowie als ein Höhepunkt deutsch- L. trat 1486 fünfzehnjährig in das Augustisprachiger Geschichtsvergewisserung in der nerchorherrenstift Rebdorf bei Eichstätt ein Gegenwartsliteratur, fragmentarisiert Raum u. amtierte von 1503 bis zu seinem Tod als u. Zeit angesichts einer total gesetzten »un- dessen Prior. Mit Geschick u. Starrsinn laerhörten Begebenheit«: Erfahrbar gemacht vierte er das spirituell einst bedeutende Stift wird der Bewusstseinsstrom der letzten 39 durch ein schwieriges halbes Jahrhundert. Lebenssekunden eines in der saturierten Dass es nicht schon in den Unruhen 1525 Bundesrepublik aufgewachsenen Sohnes ei- unterging, ist wesentlich Verdienst L.s, der nes KZ-Arztes, der sich eine Kugel in den den aufständischen Bauern mit der Forke Kopf gejagt hat. Anders als die drei vorange- entgegentrat. Der Prior, der nie eine Universität besucht gangen Romane, die geschichtl. Panoramen u. individuelles Erleben häufig episch mittels hatte, stand mit maßgebl. Intellektuellen auktorialer Beschreibungen vermittelten, seines Säkulums (u. a. Johannes Reuchlin, Jaliegt die Kunstleistung dieser lediglich 140 cob Locher, Willibald Pirckheimer) in VerBuchseiten einnehmenden Vergegenwärti- bindung. Er wechselte nach Art der Humagung in ihrer außerordentl. Verdichtung, die nisten Briefe, tauschte Bücher, gastierte u. u. a. mittels konsequent sinnsprengend ein- empfing Gäste, u. sein Rat galt etwas nicht gesetzter Zeichensetzung erreicht wird. nur am Hof der Bischöfe von Eichstätt. Zeuge tiefgreifender gesellschaftl., konfesFührt L.s Befragung dt. Vergangenheit hier in die quälend fortwährende Gleichzeitigkeit sioneller u. wiss. Umbrüche, brachte L. sich, allen Geschehens, kultiviert der Roman 42 motiviert wohl zunächst durch seine verant(Bln. 2005) naturwiss. Spekulationen über wortl. Stellung, autodidaktisch altsprachliZeitlichkeit als solche. Etabliert u. reflektiert ches, theolog., juristisches u. naturwiss. wird dazu eine Erzählwelt, in der die Zeit im Grundwissen bei. Er führte Tagebücher Wortsinn stehen geblieben ist: An einem Tag (1503–1547), von 1513 bis 1531 ein Wetterum 12 Uhr 47 Minuten u. 42 Sekunden ge- tagebuch, u. er verfasste Chroniken (für friert weltweit jede Bewegung u. versteinert 1502–1548), in denen er regionale wie weltjedes Lebewesen zu einer Art lebender geschichtl. Vorgänge aus der Sicht seines Skulptur – bis auf eine Gruppe von Figuren, Klosters kommentierte. Als Seelsorger bedie in einer »Zeitblase« überlebt. Zwischen mühte er sich in warmherzigen Sendbriefen Erzählexperiment, Science-Fiction u. Parabel (u. a. an Charitas Pirckheimer) um die in auf den menschl. Forschungsdrang entspinnt geistliche wie materielle Not geratenen fränsich ein spannungsreich erzählter Roman, der kischen Konvente, tadelte die aufständischen aus der Perspektive der Zeitabsenz heraus Bauern (Von der Frucht des Aufruhrs, 1525), nicht weniger als eine Philosophie der Zeit als verteidigte den Zölibat u. engagierte sich geGrundlage jeder menschl. Gemeinschaft de- gen Luthers Lehre, den er in Sieben Ursachen battiert: »Zeit, ihr Schuppenpanzer vielmehr, der Ketzerei (1524/28) mit derben Ausfälligist Vereinbarung, Rhythmus, Organisation.« keiten persönlich attackiert. In Luthers Bad und Weiteres Werk: Tixi Tigerhai u. das Geheimnis Spiegel (1525/26) wird der Reformator (griech. der Osterinsel. R. für Kinder. Mit Illustrationen v. »lutron« = Bad) gründlich abgeseift. HumaAnke am Berg. Bln. 2008. nistische Grußgedichte (u. a. von Locher) beLiteratur: Martin Luchsinger: T. L. In: KLG. – zeugen L. als Poeten, rühmen seine geistl. Thomas Kraft: T. L. In: LGL. – Heike Polster: The Süße, u. einmal erscheint L. gar als »poeta

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divinus«. Weniges nur hat sich erhalten, die bezeugte Sammlung mit Fazetien u. die Collectanea poetica leider nicht. Fromme Nachlassverwalter haben verschiedentlich eingegriffen, im Ganzen aber wohl nichts Belangvolles retuschiert. Ausgaben: Joseph Schlecht: K. L.s Briefw. u. Diarien. Münster 1909. – Ders.: Die kleinen Annalen des K. L., übers. v. Benedikt K. Vollmann. Eichstätt 21999. Literatur: Josef Deutsch: K. L., Prior v. Rebdorf. Münster 1910. – Karl Schottenloher: Der Rebdorfer Prior K. L. u. sein Wettertgb. 1513–31. In: Beiträge zur bayer. Gesch. 1913, S. 81–114. – M. Keller u. K. H. Keller: K. L. als Hebraist. In: Bibliotheksforum Bayern 22 (1993), S. 193–203. – Christoph Fasbender: L. In: VL Dt. Hum. Christoph Fasbender

Leibniz, Gottfried Wilhelm, * 1.7.1646 (neuen Stils) Leipzig, † 14.11.1716 Hannover; Grabstätte: ebd., Neustädter Kirche. – Mathematiker, Philosoph. In der Zeit der Polyhistorie war L. wohl der gelehrteste u. methodischste Denker, u. das in einer Epoche, die an philosoph. Köpfen nicht arm war. Er wurde als Spross einer Professorenfamilie geboren. Sein Vater M. Friedrich Leibnütz (1597–1652) war Aktuar u. Professor der Moral an der Universität Leipzig. L. war eines der Wunderkinder, mit denen zu seiner Zeit renommiert wurde: Lesen, Schreiben u. Latein, berichtet L., habe er sich selbst beigebracht. Noch in der Schule beschäftigte er sich mit aristotel. Syllogistik u. spanisch-ital. Spätscholastik, mit Fonseca, Zabarella, Suarez. Sein Leipziger philosophisches u. jurist. Studium (Jacob Thomasius, der Vater Christian Thomasius’, war sein Philosophielehrer) begann L. mit 15 Jahren, im Sommer 1663 setzte er es in Jena fort, wo er bei Erhard Weigel hörte. Mit 21 Jahren promovierte er mit der Disputatio de casibus complexibus in iure (o. O.) am 15.11.1666 in Altdorf zum Doktor beider Rechte; die Leipziger Fakultät hatte L.’ Promotionspläne hintertrieben. In dieser Zeit wurde er mit dem Mainzer Minister a. D. Christian von Boineburg bekannt, der den jungen Juristen an den Hof des Kurfürsten Johann Philipp von Schönborn empfahl, wo L. an der Revi-

sion des röm. Rechts arbeitete, eine Aufgabe, zu der er sich mit seiner Nova methodus discendae docendaeque jurisprudentiae (Ffm. 1667) qualifizierte, einem Entwurf zur Revision des jurist. Studiums, den er in einem Frankfurter Gasthaus eilig vollendet hatte. In seiner Mainzer Zeit (Herbst 1667 bis März 1672) entwickelte L. den Plan einer Jurisprudentia rationalis u. begann zgl., polit. Flugschriften zu verfassen. Im Zusammenhang mit dem pfälz. Krieg u. den Reunionskriegen Ludwigs XIV. wurde L. im März 1672 nach Paris geschickt. Dort versuchte er vergeblich, dem frz. König das Consilium Aegyptiacum zu unterbreiten, einen Plan, der die militärischen Energien Frankreichs aus der Pfalz u. den Niederlanden nach Ägypten ableiten sollte. Die Zeit in Paris war für L. wahrscheinlich die fruchtbarste u. abwechslungsreichste Periode seines Lebens. Er kam dort mit nahezu allen Größen der westeurop. Wissenschaft in Kontakt; hier knüpfte er die wichtigsten Knoten seines weit gespannten Korrespondentennetzes. Bei seinem vierjährigen Aufenthalt in Paris – L.’ Dienstherr, der Mainzer Erzbischof, starb in der Zwischenzeit – wurde er u. a. von Huygens in die moderne Mathematik eingeführt, entwickelte seine Rechenmaschine, reiste nach London, wo er den Sekretär der Royal Academy, Oldenburg, u. Robert Boyle traf. Nach seiner Rückkehr beschäftigte er sich verstärkt mit der Mathematik Pascals u. Descartes’, entdeckte 1675 die Grundzüge seiner Infinitesimalrechnung u. wurde als Mitgl. der frz. Akademie der Wissenschaften vorgeschlagen (die Mitgliedschaft kam erst 1700 zustande). Hier bekam L. Kontakt mit Antoine Arnauld, mit dem er später lange korrespondierte, hier lernte er auch den wichtigsten Vertreter des Cartesianismus in Frankreich, Nicolas Malebranche, kennen, einen Gelehrten, dessen Metaphysik der L.’schen eng verwandt ist. In Paris verpflichtete sich L. einem neuen Dienstherrn, dem Hannoveraner Herzog Johann Friedrich. Ehe er aber seine Stellung antrat, reiste er erneut nach London, nahm dort Einblick in Newtons Papiere zur Analysis u. fuhr über Den Haag, wo er Spinoza traf, nach Hannover.

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Hannover, je länger sein Aufenthaltsort, desto weniger geliebt, blieb den Rest seines Lebens L.’ Hauptwohnsitz. Seine Aufgabe am dortigen Hof war juristisch u. historisch: Er sollte als Hofhistoriograf die Geschichte der Welfen schreiben u. als Jurist die Gesetze des Herzogtums neu disponieren u. ordnen; schließlich war er Bibliothekar. Von Hannover aus führte L. seinen umfassenden Briefwechsel, von hier aus brach er zu seinen zahlreichen Reisen nach Berlin, Wolfenbüttel, Dresden u. Wien auf, von hier aus bereiste er 1689/90 Italien, hier überdauerte er drei Kurfürsten – 1714 wurde Kurfürst Georg Ludwig König von England –, u. mit jedem Herrscherwechsel wurde sein Verhältnis zu seinem Dienstherrn schlechter. Gerne wäre L. nach Berlin entkommen, wo er 1700 erster Präsident der von ihm konzipierten Preußischen Akademie der Wissenschaften wurde, gerne auch hätte er als preuß. Hofrat mit der klugen Königin Charlotte mehr über philosoph. Fragen u. Theodizee geplaudert. Lieber als in Hannover wäre er gewiss auch als kaiserl. Hofrat, der er 1712, gegen Ende seines Lebens wurde, in Wien geblieben: aber der hannoverische Hof ließ ihn nicht gehen. Man konnte in Hannover nicht wirklich wissen, was man an ihm hatte. Alle Projekte blieben Projekte u. waren nur im Status der L.’schen Entwürfe vorhanden, nicht aber gedruckt oder verwirklicht. Er hatte zuviel begonnen, u. keiner der großen Pläne ist zeit seines Lebens Realität geworden. Weder wurde das Riesenvorhaben einer Universalenzyklopädie (characteristica universalis) vollendet noch die Rechtsreform fertiggestellt, die Sprachreform blieb Entwurf, zum Teutschgesinnten Orden existierten nur unvorgreifliche Gedanken (um 1697), die vollständige Geschichte des Welfenhauses kam sowenig zustande wie die Versöhnung der großen Kirchen untereinander. Die prakt. Vorschläge zur Justizreform u. zu techn. Fragen, v. a. zum Bergbau im Harz, wurden nicht ausgeführt oder scheiterten – u. erst am Ende seines Lebens hat L. die großen philosoph. Traktate veröffentlicht, die seinen Ruhm im 18. Jh. ausmachten: Das Système nouveau de la nature et de la communication des substances (in: Journal des Sçavans, 1695) u. die Theodicée

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(Amsterd. 1710). Die Entdeckung der Infinitesimalrechnung wurde erst durch den unerfreul. Streit mit Newton weithin bekannt, der durch die Veröffentlichung des Commercium Epistolicum D. Johannis Collins (London 1712) entbrannte. Die erkenntnistheoret. Weite von L.’ Blick kam 1765 mit der Publikation der Nouveaux Essais (Amsterd./Lpz.) zum öffentlichen wiss. Bewusstsein; L.’ Bemühungen um die Einheit der Kirchen wurden erst durch die Veröffentlichung des Systema theologicum (Paris 1819) weiterhin bekannt, u. seine Entwicklungen zur Logik schlummerten bis zu Couturats Edition der Opuscules et fragments inédits (Paris 1903) im Hannoveraner Archiv. L.’ Philosophie erschließt sich am besten von seiner Metaphysik. Ihr Hauptthema ist die Einheit der göttlichen u. menschl. Vernunft, ein Thema, das L. mit dem Begriff der Möglichkeit zu fassen versuchte. Möglichkeit definierte er, durchaus in scholast. Tradition, als Widerspruchsfreiheit von Prädikaten einer Sache – das war identisch mit Denkmöglichkeit. Der Bereich des Möglichen – also Denkmöglichen – war der Bereich, in dem Gott die mögl. Welten dachte, aus der er dann die beste zur Wirklichkeit entließ. Darin bestand der Kern des Rationalismus, dass noch die Existenz einer Sache an ihrer Denkmöglichkeit hing. Das Wirkliche war das beste Denkbare u. damit das Rationale von Anbeginn. Dieses Kalkül galt für Gott, Mensch u. Welt gleichermaßen. Im unendlichen u. zeitlosen Gedanken des einen guten Gottes war die Welt als die beste mögliche konzipiert (im 18. Jh. ist das zuerst polemisch, dann affirmativ »Optimismus« genannt worden), u. im Gedanken Gottes war auch der Mensch als Begriff (Monade) vollständig u. zeitlos definiert. Wegen der Logizität Gottes u. der Welt repräsentierte jede Monade in ihrer Position u. aus ihrer Perspektive die Harmonie, das war die beste Denkmöglichkeit der ganzen Schöpfung. Der Mensch zeichnete sich in dieser Harmonie dadurch aus, dass er sein Denken selbst zum Gegenstand seines Denkens machen konnte, also reflexiv u. damit bewusst dachte. Diesen Menschen sah L. in der Lage, die Struktur der Gedanken Gottes apriorisch nachzuvollziehen. Denn in der

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Struktur des Denkens, im Denken der Möglichkeit waren Gott u. Mensch gleich: Das galt für die Mathematik einerseits, für die Moral, deren Leitbegriffe mit der menschl. Vernunft erkennbar waren, andererseits. Die moralischen u. mathemat., dem Satz des Widerspruchs gehorchenden Vernunftwahrheiten teilte der Mensch mit Gott, seine Differenz zum höchsten Wesen hingegen bestand in zwei Punkten: Einerseits war er dem notwendigen Gott gegenüber in seiner Existenz zufällig, kontingent. Auf der anderen Seite konnte er die Gründe, die Gott hatte, warum die Welt so, wie sie war, von Ihm geschaffen worden war, nur abstrakt einsehen, nicht aber die Einzelgründe, weshalb die Welt in ihren Tatsachen »so« war, »wie« sie war. Darin bestand der Satz vom zureichenden Grund, »daß einsehbar war, warum etwas war und warum es so war, wie es war und nicht anders«. Zur Einsicht in diese Struktur war der Mensch imstande, aber zum Nachweis, wie sich die konkreten Tatsachen diesem Satz fügten, fehlte die Einsicht in die unendl. Definition einer konkreten Sache. Der Mensch war also außerstande, die vollständige Definition kontingenter Dinge in Vergangenheit, Gegenwart u. Zukunft zu haben: Er konnte zwar allg. den Satz vom zureichenden Grund begreifen, konnte ihn – Unterschied von Vernunft- u. Tatsachenwahrheiten – aber nicht im einzelnen empir. Ding erkennen. So war der Mensch für seine sicheren Erkenntnisse ganz auf die innere Sicherheit von Mathematik u. Moral verwiesen. Alle Erkenntnis vollzog sich, als ob Gott, der Inbegriff von Wahrheit, u. der Mensch unmittelbar miteinander kommunizierten. Eine Erkenntnis äußerer Dinge war überflüssig, wenn der Mensch im Erkennen an Gottes Konzept aller Dinge partizipierte. Dergestalt brauchte die Monade keine Fenster. Wenn alle Erkenntnis wesentlich innere Erkenntnis war – u. wie sollte Erkenntnis anders vonstatten gehen denn als seel. Akt –, dann brauchte es keine Kommunikation zwischen Ausdehnung u. Denken zu geben, dann war die prästabilierte Harmonie zwischen psychischen u. materiellen Substanzen garantiert.

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In seiner Verortung in der besten aller mögl. Welten blieb der Mensch dennoch frei. Die Freiheit des Menschen hat L. von Beginn an verteidigt – auch wenn sich seine Vorstellungen darüber erst in den 1680er Jahren stabilisierten. Freiheit war für L. Definiens des Willens, Freiheit zeichnet den Menschen wesensmäßig aus. In Gottes bester Welt ist Freiheit möglich, weil Gott zwar die menschl. Verfehlungen vorhersieht, aber nicht vorherbestimmt, weil er zgl. die menschl. Sünden in das harmonische – u. Harmonie ist die Einheit der Differenz – Konzept seiner besten mögl. Welt einbezieht L. nimmt hier die spätscholast. Theorie der »scientia media« auf, die zwischen Vorherbestimmung u. Gleichgültigkeit Gottes der Schöpfung gegenüber differenziert. Da die beste Welt so variabel konzipiert ist, dass in ihr die Möglichkeiten ihrer Entwicklung je nach dem menschl. Handeln angelegt u. vorgesehen sind, ist die Welt zwar in diesem ihrem variablen – gleichwohl perfekten – Konzept Gottes Schöpfung, entwickelt sich aber unabhängig von göttl. Eingriffen. Wie diese Entwicklung näherhin zu denken ist wird mit der L.’schen Bestimmung des Substanzbegriffs als Kraft sowie seiner Theorie der Perzeptionen deutlich: Die Grundthese des philosoph. Systems von L. beantwortet die Frage nach der Substanz, also nach den basalen Elementen der Wirklichkeit, wie folgt: Alles, was ist, existiert als einfache u. individuelle Substanz, die unteilbar u. demzufolge weder körperlich noch ausgedehnt, sondern als immaterielles, geistiges Prinzip in dem als bloße Erscheinung begriffenen Körper unablässig tätig ist. Diese absolut einfache Substanz nennt L. Monade. Die Monade kann nicht zerstört werden, denn sie ist zwar geschaffen, aber unvergänglich. Ihre Eigenschaften können nur wesentl. Akzidentien sein, weil die M. aufgrund ihrer Unteilbarkeit u. Immaterialität weder durch eine Einwirkung von außen, noch durch eine Wechselwirkung mit anderen Monaden beeinflusst werden kann. L. bringt diese grundlegende Bestimmung in seiner Monadologie von 1714 mit der berühmt gewordenen Metapher der »Fensterlosigkeit der Monaden« auf den Punkt: »Die Monaden haben

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keine Fenster, durch die irgend etwas einoder austreten könnte.« Diese Autarkie bedeutet auch, dass die Monade ihre Qualitäten weder erwerben noch verlieren kann u. eine mit sich selbst identische – u. je individuelle – Einheit bildet. Alle beobachtbaren Veränderungen u. Prozesse müssen daher als immanente Zustandsveränderungen der Substanz begreiflich gemacht werden können: »Es gibt nur unteilbare Substanzen und ihre verschiedenen Zustände, die absolut wirklich sind.« L. wandte sich mit dieser Theorie der Monade gegen Descartes’ Dualismus von res cogitans u. res extensa. Dieser Substanzdualismus wird von L. im Sinne einer bloßen Erscheinungsrelation begriffen: Innerhalb des bloß Ausgedehnten gibt es keine letzte Einheit, damit aber auch kein letztes Prinzip, das den Realitätsgehalt des Ausgedehnten selbst fundieren könnte. Auch Zustandsveränderungen auf phänomenaler Ebene müssen also aus einem dieser Ebene zugrunde liegenden Prinzip begreiflich gemacht werden können. Die naturphilosoph. Fundamentalkategorie, die die Zustände u. ihre Veränderungen – u. auch die Widerständigkeit der Körper – erklären soll, ist der Begriff der Kraft, denn die Kraft (u. nicht die Ausdehnung oder die Bewegung) ist das, was sich in den wechselnden Zuständen – auch der Phänomene – als das Substanzielle erhält: Die entscheidende Näherbestimmung des Begriffs der Substanz lautet also, »dass ihre Natur in der Kraft besteht«. Indem die Kraft als die wesentliche Eigenschaft der Monade qualifiziert wird, wird zgl. behauptet, dass diese Kraft aus sich selbst heraus wirkt, eine »ursprüngliche Kraft« ist. Mit der Bestimmung der Substanz als Kraft wird hier eine existierende u. ursprüngl. Spontaneität fokussiert, die keinen Anlass braucht, um wirksam zu werden. Die Kraft ist für L. damit zgl. das einer Wirkinstanz innewohnende Streben nach Selbstentfaltung. Der so entwickelte Begriff der Kraft ist als andauernd tätiges Prinzip die wesentl. Eigenschaft jeder Monade, die zudem ihre Einheit gewährleistet, weil die Monade alle Zustände aus sich selbst heraus entwickelt. Im Hinblick auf die Zustandsveränderungen der Substanz geht die Kraft ganz im Begriff des Strebens –

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L. nennt es auch appetitus – auf, das die Zustände sukzessiv miteinander verbindet, indem es sie auseinander hervorgehen lässt. Die Frage, wie die Zustandsveränderungen der Monade inhaltlich qualifiziert sind, beantwortet L. in seiner Theorie des Mentalen (v. a. in den Nouveaux Essais, entstanden 1703–1705 als Auseinandersetzung mit der Position des Empiristen John Locke), indem er den Begriff der Perzeption einführt. L. geht es hier darum, eine kognitivist. Engführung des Begriffs mentaler Zustände zu vermeiden: Die Zustände der Substanz werden von L. inhaltlich als Perzeptionen, als »inneres Erleben« qualifiziert. L. unterscheidet für jede Monade verschiedene Grade von Perzeptionen bzw. mentalen Repräsentationen, die die Mannigfaltigkeit ihrer Zustände bedingen u. diese teilweise, aber eben nie vollständig, bewusst u. erlebbar machen: Die Differenzierung in dunkle u. klare, verworrene u. deutl. Perzeptionen bemisst sich am Grad der Bewusstheit, in der eine Vorstellung – ein mentaler Zustand – vorliegt. Dunkle u. verworrene Vorstellungen bezeichnet L. auch als »kleine Perzeptionen [...], bei denen man nichts unterscheidet«, die also nicht bewusst werden, während die klaren u. deutl. Vorstellungen »etwas Herausgehobenes« sind, insofern sie unterscheidbar sind, der Identifikation eines Sachverhaltes dienen u. bewusst sind. Eine erste Pointe des L.’schen Perzeptionsbegriffs besteht darin, alle Zustände einer Monade von ihren unterschwelligen Veränderungen bis hin zu den bewussten Erkenntnissen als interne Erlebensqualitäten zu bezeichnen, die sich stufenlos auseinander entwickeln. L. entgeht damit der cartesian. Verkürzung, nach der nur bewusste Zustände dem Bereich des Mentalen angehören. Die bewusste Erkenntnis oder Wahrnehmung ist vielmehr selbst auf einer Vielzahl »kleiner Perzeptionen, deren wir uns im gegenwärtigen Zustand nicht bewußt werden« aufgebaut, aus denen sie sich kontinuierlich entwickelt. Die Möglichkeit, klare u. deutl. Gedanken zu fassen, besteht demnach darin, die Aufmerksamkeit auf etwas richten zu können, was in uns schon vorhanden sein muss, bevor wir es in deutl. Weise erfassen. Dieses in

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gewisser Weise »unbewusst«, unterschwellig Vorhandene begreift L. als kleine Perzeptionen: »So schreibt man der Monade Tätigsein zu, soweit sie deutliche Perzeptionen hat, und Leiden, insofern diese verworren sind.« In L.’ Perzeptionstheorie verbirgt sich, das ist eine zweite Pointe des Perzeptionsbegriffs, darüber hinaus jedoch eine kategoriale Unterscheidung: Denn Zustände sind zwar immer Erlebensqualitäten, wenn sie aber als solche bewusst werden, heißt das, dass eine Monade sich die Zustände selbst zuschreibt – dass sie sich also reflektierend darauf beziehen kann, dass sie es ist, die diese Zustände hat u. erlebt: »[W]as aber den Menschen angeht, so sind seine Perzeptionen von der Möglichkeit der Reflexion begleitet, die wirksam wird, sobald es solche Perzeptionen gibt.« Diese Reflexion auf Zustände als die eigenen, diese Selbstzuschreibung ist Apperzeption, sie ist diejenige »herausgehobene« Perzeption, in welcher die Monade sich auf sich selbst als erlebende Substanz bezieht. Nicht das Selbstbewusstsein setzt also die verschiedenen Perzeptionen zu einer Einheit zusammen, sondern weil die mannigfaltigen Perzeptionen einer Substanz zugehören, vermögen diese denn auch in einem Bewusstsein repräsentiert zu werden. Nur so lässt sich für L. die Voraussetzung der Einheit der Monade trotz der Vielfalt der Perzeptionen aufrechterhalten. Die Perzeptionstheorie beschreibt den als Kontinuität zu denkenden Zusammenhang aller Zustände einer individuellen Substanz, welche sich nur im Sinne eines ExplikationsImplikations-Verhältnisses ihrer substantiellen Eigenschaften verändert. Die Monade besteht aus Einfaltungen u. Entfaltungen – aus Kräfteverhältnissen, die mit dem Begriff der Perzeption generell als mentale Repräsentationen qualifiziert werden können. Jedes Individuum hat Perzeptionen u. damit auch eine »Seele« als lebendiges Prinzip, nur eben in unterschiedl. Ausprägung, wodurch Perspektivität wie auch Individualität garantiert werden. Dass L. verschiedene Entwicklungsstufen der Monaden differenziert, die innerhalb des Weltganzen zueinander in ein kontinuierl. Verhältnis gesetzt sind, ist letztlich begründet durch den Harmoniege-

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danken. Dieser macht den Zusammenhang der einzelnen Monaden über Repräsentationsverhältnisse deutlich u. sieht darüber hinaus die phänomenale Mannigfaltigkeit der äußeren Welt in den Zuständen jeder einzelnen Monade selbst gespiegelt: »[D]iese universelle Harmonie [...] bewirkt, daß jede Substanz genau alle anderen durch die Beziehungen, die es in ihr gibt, ausdrückt.« Die »Spiegelung« vollzieht sich aber in jeder Monade individuell verschieden, je nach der Stellung, die ihr im Gesamtzusammenhang zukommt: Die Gesamtheit körperlicher Phänomenalität – die durchgängig kausal determiniert ist – u. die Entwicklung der immateriellen, seel. Substanzen – denen, soweit sie apperzipieren können, eine graduelle Freiheit in Abhängigkeit von allen anderen Monaden zugesprochen wird – werden über dieses System der prästabilierten Harmonie koordiniert. Dieses metaphys. Konzept von Erkenntnis u. Freiheit hat L. von Jugend an verfolgt, in der Mitte der 1680er Jahre war es in den Grundzügen konzipiert. Den Discours de Métaphysique, in dem er diese Konzeptionen zuerst bündig formuliert hat, hat er 1686 an Arnauld geschickt, zehn Jahre später hat er seine These von der prästabilierten Harmonie veröffentlicht – Système nouveau de la nature – u. durchweg unverständiger Kritik ausgesetzt. Die breite Darstellung seiner theolog. Metaphysik in der Theodicée (1710), in den Principes de la nature et de la Grâce (1714), der Monadologie (1716) u. im polem. Briefwechsel mit Samuel Clarke (zuerst London 1717) hat für das 18. Jh. die Diskussion um Metaphysik maßgebend geprägt. Christian Wolff gab L.’ Theodizeekonzept die schulmäßige Form (Vernünftige Gedanken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen. Halle 1720), u. mit der Frage nach der Rechtfertigung Gottes angesichts des Bösen in der Welt hat L. die optimist. Folie für den Pessimismus u. Nihilismus des 19. Jh. geliefert. Mit einem Gottesbegriff, der so weit gefasst wurde, dass schlechterdings alles von seiner umfassenden Vernunft abhängig war, konnte eine konfessionell geprägte Christlichkeit nicht verbunden sein. L.’ Denken, das keinen revolutionären Gestus hatte, stand in der

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Tradition der philosophia perennis u. der natürl. Theologie, die die Einheit von Vernunft u. Glaube forderte; L.’ theolog. Konzept zielte darauf, Vernunft u. Theologie zu verschränken. Dem widersprach die Trennung der Konfessionen u. Kirchen. L. hat deshalb – vergeblich – versucht, die Trennung der Kirchen aufzuheben. Sein Plan war die Betonung der Gemeinsamkeiten der kirchl. Verwaltungen, für die kath. Kirche Zurückdrängung des äußeren Kultes, für die protestant. Theologie die Uminterpretation Christi zum humanist. Lehrer, zgl. deutl. Abrücken von den Prinzipien »sola fide« u. »sola scriptura«, damit von der Rechtfertigungslehre u. der paulin. Theologie Luthers. Der protestant. Kirche glaubte L. die Anerkennung des Papstes als erstem Bischof der Christenheit zumuten zu können, u. für beide Konfessionen strebte er einen im Kern gemeinsamen, nach Sprachen u. Regionen jedoch verschiedenen Gottesdienst an. L. fasste diese Vorstellungen, die er mit Abt Molanus, mit dem Berliner Prediger Jablonski, mit Ludwigs XIV. Hofprediger Bossuet u. mit dem Wiener Bischof Royas y Spinola erörterte, 1686 in dem 1806 veröffentlichten Systema Theologicum zusammen. Für die Kirchenpolitik des 18. Jh. blieben seine Anregungen – weil unbekannt – ohne Wirkung, im 19. Jh. sind sie zur Konfessionspolemik u. dazu benutzt worden, L. alternativ dem katholischen oder evang. Lager zuzusprechen. Das Projekt der Darstellung des universalen Wissens hat L. sein Leben lang verfolgt. Die Kerngedanken kannte er aus der enzyklopäd. Tradition; es ging darum, alles mögl. Wissen im genauen Sinne zu beschreiben. Wenn es gelänge, die semant. Bausteine der Welt zu fassen – also eine vollständige Tafel aller denknotwendigen Grundbegriffe zu erstellen –, so hätte aus diesen Elementen u. deren mögl. Kombinationen eine Wissenschaft von allem Wissbaren entwickelt werden können. Es ließ sich vorstellen, dass die Welt wie Sprache aufgebaut war, mit Begriffen, die wie in einer philosoph. Logik/Grammatik sinnvoll dergestalt zusammengesetzt werden konnten, dass es eine bestimmbare Tafel von wesentl. Begriffen gäbe u. dass die geordnete Verbindung dieser Begriffe alles

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Denkbare im genauen Sinne ermittelbar machte. Analog der rational garantierten Schöpfung »Gott sprach, und es ward«, sollten auch alle Wissensinhalte kalkülmäßig mit einer rationalen Sprache erfasst werden. L. hat sich von dieser Charakteristik viel versprochen. Er hat sich u. a. vorgestellt, es ließen sich Streitigkeiten rational so regeln, dass alle Argumente formalisiert würden, dass man sich bei Meinungsverschiedenheit zusammensetzen u. sich vornehmen könnte: calculemus. Darin bestand sein kommunikativer Optimismus: Mit der rationalen Wahrheit u. ihrer vollständigen Formalisierbarkeit sollten die Streitigkeiten aus der Welt kalkuliert werden. Setzte man voraus, dass das menschl. Denken a priori über denknotwendige Begriffe verfügte – das waren die unentbehrl. Grundbegriffe der Mathematik u. der Moral – u. dass diese Begriffe deshalb wahr waren, weil sie nur durch die Teilhabe am göttl. Wissen für die Menschen überhaupt existierten, dann gab es folgende Hauptaufgaben für die characteristica universalis: Einerseits die Herstellung eines möglichst vollständigen Verzeichnisses denknotwendiger Begriffe u. andererseits die Entwicklung eines Algorithmus, der die sinnvolle Kombination dieser Begriffe formal fasste. L. hat, um die Elemente seiner characteristica zu bekommen, Definitionen aus allen ihm zur Verfügung stehenden Lexika gesammelt, u. er hat Institutionen gefordert, die das materiale Wissen, das vorhanden war, speicherten u. für die Praxis zur Verfügung hielten. In diesen Erwägungen wurzeln seine zahlreichen Enzyklopädie-Entwürfe, hier liegen die Gründe für seinen Plan eines Deutschen Wörterbuchs. Die Suche nach dem verbindl. Algorithmus der Universalwissenschaften hat L.’ Entwicklungen in der Logik provoziert, u. die institutionellen Erwägungen der Enzyklopädie führten zunächst zu utop. Plänen einer »Societas Theophilorum«. Später, um die Wende zum 18. Jh., wurden sie in den Konzepten der Akademien der Wissenschaften in Wien, Dresden u. Berlin wieder aufgenommen. Die Preußische Akademie der Wissenschaften, die einzige, die schließlich realisiert wurde, zeigte dann kaum mehr

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Spuren von L.’ utop. Konzept der Universalwissenschaften. L. hat Logik als Zeichentheorie verstanden. Ausgehend von der aristotel. Syllogistik, die er als grundlegend begriff, versuchte er, die Logik selbst so zu formalisieren, dass sie durch ihre pure Form den Leitfaden der Wahrheit bilden konnte. Dazu brauchte er als Element einfacher Grundbegriffe das »alphabetum cogitationum humanarum«. Die Elemente dieses Alphabets hätten als Zeichen dienen können für die Formalisierung ihrer Kombination u. Disposition. Es ging also in einem ersten Bereich um die Invention dieser Elemente. Zunächst hat L. geglaubt, es ließen sich diese Elemente vollständig u. in ihrer Einfachheit finden; ab etwa 1685 ging er von einer Trennung der ersten Weltelemente für uns u. an sich aus. Aber selbst mit einer Elementartafel, die nur für das menschlich begrenzte Denken ausreichte, ließ sich kalkulieren: Das Ziel der Kalkulation war die vollständige Definition der Dinge, die in allen ihren Prädikaten a priori hätten konstruiert respektive analysiert werden können. Die Konstruktion oder Analyse hätte, in Analogie zur Mathematik, die dadurch ein Teil der Logik wurde, formalisiert werden sollen. Eine solche Formalisierung hat er als scientia generalis u. Schlüssel zu allen Wissenschaften betrachtet, u. eine solche allg. Theorie der Relationen hätte in der Tat für Metaphysik u. Moral eine sichere Grundlage allen Wissens u. ein isomorphes Bild der Natur abgegeben – vorausgesetzt, dass Gott, der Deus mathematicans, die Welt als die beste der möglichen kalkulierbaren erschaffen hat. Auch die Mathematik war Teil der universalen Logik, in ihr zeigte sich für L. in herausgehobener Weise die Teilhabe des menschl. Geistes am göttlichen auf der einen u. die Angewiesenheit des menschl. Denkens auf Zeichen auf der anderen Seite. Gleichwohl steht L.’ Mathematik in der mathemat. Tradition. In Auseinandersetzung mit Pascals »charakteristischem Dreieck« entwickelte er die arithmet. Kreisquadratur, u. im Zusammenhang mit seinen Arithmetikstudien gelang ihm im Okt. 1675 die Erfindung der Infinitesimalrechnung. Die neue Rechnungsart erlaubte die Darstellung u. Zusam-

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menfassung von Flächen-, Extremwert- u. Tangentenbestimmungen nach einheitl. Prinzipien. Freilich wurde die Infinitesimalrechnung erst 1686 in einem Aufsatz zur Integralrechnung veröffentlicht. Auch dieser Aufsatz blieb folgenlos, bis die Brüder Bernoulli 1697 L.’ Methode verwendeten u. L’Hopital 1696 in einem Lehrbuch die erste systemat. u. verständl. Darstellung gab. Die Tatsache, dass Newton seine »Fluxionsrechnung«, die er lange konzipiert u. in den Principia mathematica 1687 veröffentlicht hatte, durch L. plagiiert sah, hat im frühen 18. Jh. zu einem zähen Streit um die Priorität der Erfindung der Infinitesimalrechnung geführt, der unentschieden endete: Beide haben die Infinitesimalrechnung unabhängig voneinander gefunden, L.’ Symbolik hat sich allerdings durchgesetzt. Im Übrigen besteht L.’ immenser unveröffentlichter Nachlass zum größten Teil aus immer noch weitgehend unbekannten mathemat. Entwürfen. Als gelernter Jurist hat L. von Beginn seiner wiss. Arbeit an auch versucht, die Jurisprudenz in sein Konzept einer Universalwissenschaft einzubauen. Es ging ihm dabei um zweierlei: Einerseits sollte das historisch überkommene Recht in einer Weise systematisiert werden, die die Vielzahl der regionalen Rechte u. das röm. Recht vereinheitlichte. Das hat L. schon 1667 in seiner Nova methodus discendae docendaeque Jurisprudentiae versucht. Auf der anderen Seite hat er bereits 1665, noch als Student, versucht, die Entscheidungsfindungen im Recht mit log. Prinzipien zu begründen u. sicherer zu machen. Als Maßstab schwebte ihm eine justitia universalis vor, die Moral u. Recht nach einem einheitl. Prinzip fasste. Dieses »christliche Naturrecht«, das er in der Einleitung zu seinem Codex iuris gentium diplomaticus (Hann. 1693) darstellte, ging von L.’ zentraler Gerechtigkeits-Definition »Justitia est caritas sapientis« aus u. stufte das Recht insg. nach positivem Recht, nach Billigkeit – der korrespondierte die Nächstenliebe – sowie nach Frömmigkeit u. Sittlichkeit als dem Gipfel der menschl. Erfüllung des Rechts ein. Diesem Idealrecht entsprach auch L.’ Normvorstellung des Staats, der nach der Wahrheit des gerechten u. weisen Gottes

Leibniz

eingerichtet war u. – wie das Ende der Monadologie beschreibt – das Reich der Gnade verwirklichte. Im idealen Gottesstaat, der uns in der phys. Welt als unsere innere moralische Welt gegenwärtig ist, in dem die göttl. als unsere Norm des Guten sich zeigt, wird unsere zukünftige Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes vorweggenommen. Das ist die Rechtsutopie des besten aller mögl. Gemeinwesen, in dem göttl. Schöpfung u. menschl. Moral koinzidieren. Ausgaben: Sammelausgaben: Ges. Werke. Hg. Georg Heinrich Perz. I. F.: Gesch. Bde. 1–4., Hann. 1843–47. Nachdr. Hildesh. 1966. – Opera omnia. Hg. Ludovicus Dutens. Bde. 1–6, Genf 1768. Nachdr. Hildesh. 1989. – Dt. Schr.en. Hg. Gottschalk Eduard Guhrauer. 2 Bde., Bln. 1838–40. Nachdr. Hildesh. 1966. – Opera philosophica quae extant latina, gallica germanica omnia. Hg. Johann Eduard Erdmann. Bln. 1840. Nachdr. Aalen 1974. – Mathemat. Schr.en. Hg. C. I. Gerhardt. 7 Bde., Halle 1849–63. Nachdr. Hildesh. 1971. – Werke. Hg. Onno Klopp. Reihe 1, 11 Bde., Hann. 1864–84. – Die philosoph. Schr.en. Hg. C. I. Gerhardt. 7 Bde., Bln. 1875–90. Nachdr. Hildesh. 1996. – Philosoph. Schr.en. Hg. u. übers. v. Werner Wiater u. a. 5 Bde., Darmst. 1959. Teilweise 2. Aufl. 1985–92. – Akademie-Ausgabe: L. Sämtl. Schr.en u. Briefe. Hist.-krit. Ausg. Reihe 1: Allg. polit. u. histor. Briefw. Bde. 1–20 (1668–1702), 1923–2006; Reihe 2: Philosoph. Briefw. Bde. 1 u. 2 (1663–94), 1926–2009; Reihe 3: Mathemat. u. naturwiss. Briefw. Bde. 1–6 (1672–96), 1976–2004; Reihe 4: Polit. Schr.en. Bde. 1–6, (1667–1697), 1931–2008; Reihe 5: Histor. u. sprachwiss. Schr.en (Bearb., wurde noch nicht aufgenommen); Reihe 6: Philosoph. Schr.en. Bde. 1–6 (1663–1690), 1930–99; Reihe 7: Mathemat. Schr.en. Bde. 1–3 (1672–76), 1990–2003; Reihe 8: Naturwiss., Medizin. u. Techn. Schr.en (in Bearb.). Webseite: www.leibniz-edition.de. Literatur: Bibliografien: Emile Ravier: Bibliographie des Œuvres de L. Paris 1937. Nachdr. Hildesh. 1997. – Albert Heinekamp: L.-Bibliogr. Die Lit. bis 1980. Ffm. 21984. – Zeitschrift: Studia Leibnitiana (1966 ff.). – Weitere Titel: Gottschalk Eduard Guhrauer: G. W. Frhr. v. L. Eine Biogr. 2 Tle., Breslau 1842. Nachdr. Hildesh. 1966. – Bertrand Russell: A Critical Exposition of the Philosophy of L. Cambridge 1900. – Ernst Cassirer: L.’ System in seinen wiss. Grundlagen. Marburg 1902. Nachdr. Darmst. 1962. – L. Sein Leben – Sein Wirken – Seine Welt. Hg. Wilhelm Totok u. Carl Haase. Hann. 1966. – Gottfried Martin: L., Logik u. Metaphysik. Bln. 21967. – Klaus Peter Schneider: Justitia uni-

312 versalis. Studien zur Gesch. des Naturrechts bei L. Ffm. 1967. – Kurt Müller u. Gisela Krönert: Leben u. Werk v. G. W. L. Eine Chronik. Ffm. 1969. – Aron Gurwitsch: L. Philosophie des Panlogismus. Bln./ New York 1974. – Nicolas Rescher: L. An Introduction to his Philosophy. Oxford 1979. – Nicholas Jolley: L. and Locke: A Study of the New Essays on Human Understanding. Oxford 1984. – L.’ Logik u. Metaphysik. Hg. Albert Heinekamp u. Franz Schupp. Darmst. 1988. – Wolfgang Hübener: L. u. die praedeterminatio physica. In: L., Tradition u. Aktualität. V. Internat. L.-Kongreß. Hann. 1988, S. 366–373. – Klaus Erich Kaehler: L.’ Position der Rationalität. Freib. i. Br./Mchn. 1989. – W. Hübener: Negotium irenicum. L.’ Bemühungen um die brandenburg. Union. In: Studia Leibnitiana, Sonderh. 16 (1990), S. 120–169. – Sybille Krämer: Berechenbare Vernunft. Kalkül u. Rationalismus im 17. Jh. Bln./New York 1991. – Eric J. Aiton: G. W. L. Ffm. 1991 (vorher engl. 1985). – K. E. Kaehler: Kants transzendentale Reformulierung der substantiellen Einheit des leibnizschen Subjekts. In: Studia Leibnitiana, Sonderh. 22 (1994), 159–170. – Konrad Cramer: Einfachheit, Perzeption, Apperzeption. Überlegungen zu L.’ Theorie der Substanz als Subjekt. Ebd., S. 19–45. – Christian Hauser: Selbstbewusstsein u. personale Identität: Positionen u. Aporien ihrer vorkant. Gesch. Locke, L., Hume u. Tetens. Stgt./Bad Cannstatt 1994. – The Cambridge Companion to L. Hg. N. Jolley. Cambridge 1995. – Stefan Lorenz: De Mundo Optimo. Studien zu L.’ Theodizee u. ihrer Rezeption in Dtschld. (1710–91). Stgt. 1997. – Detlef Döring: Der Philosoph G. W. L. u. die Leipziger Aufklärung in der ersten Hälfte des 18. Jh. Stgt./Lpz. 1999. – Michael-Thomas Liske: G. W. L. Mchn. 2000. – Gilles Deleuze: Die Falte. L. u. der Barock. Übers. v. Ulrich Johannes Schneider. Ffm. 2000. – Andreas Blank: Der log. Aufbau v. L.’ Metaphysik. Bln./New York 2001. – Nihil sine ratione. Hg. Hans Poser. 2 Bde., Hann. 2001. – Ueberweg, Bd. 4/2, S. 995–1159. – Horst Bredekamp: Die Fenster der Monade. G. W. L.’ Theater der Natur u. Kunst. Bln. 2004. – Hans Poser: G. W. L. zur Einf. Hbg. 2005. – Robert Merrihew Adams: The Reception of L.’s Philosophy in the 20th Century. In: Insiders and Outsiders in 17th-Century Philosophy. Hg. G. A. J. Rogers u. a. New York u. a. 2010, S. 309–314. Wilhelm Schmidt-Biggemann / Juliane Schiffers

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Leifhelm, Hans, auch: Hermann Brinckmeyer, Konrad Overstolz, * 2.2.1891 Mönchengladbach, † 1.3.1947 Riva/Gardasee; Grabstätte: ebd., Campo Santo. – Lyriker, Erzähler.

Leip schrei‹, ›Gesänge v. der Erde‹ u. ›Lob der Vergänglichkeit‹. Mit einem Vorw. v. Hubert Lendl u. einer Widmung v. Alois Hergouth. Graz 1991. Literatur: Ingrid Bröderer: H. L. Versuch einer Monogr. Diss. masch. Wien 1961. – Andreas Okopenko: Drossel u. Dreschmaschine. Zur Lyrik H. L.s. In: LuK (1968), S. 613 ff. – Hans Heinz Hahnl: Vergessene Literaten – fünfzig österr. Lebensschicksale. Wien 1984, S. 167–170. – Hannes Lambauer: H. L: Daten zu Leben u. Werk. Begleith. zur Ausstellung: H. L. 1891–1947, Stationen eines Dichterlebens, Steiermärk. Landesbibl. Graz, 12.6.12.7.1991. Graz 1991. – Doris Sessinghaus-Reisch u. Wilhelm Gössmann: H. L. Dichter der Stille. Ausstellung im Rahmen der Mönchengladbacher Literaturwoche 6.-11.5.1991. Mönchengladbach 1991. – D. Sessinghaus-Reisch: H. L. (1891–1947). In: Lit. v. nebenan. Hg. Bernd Kortländer. Bielef. 1995, S. 221–227. Johannes Sachslehner / Red.

L., Sohn eines Fassbinders, studierte Medizin in Straßburg, wo er sich mit Ernst Stadler u. mit Heinrich Lersch anfreundete, mit dem er ausgedehnte Fußreisen durch Italien, Österreich u. in die Schweiz unternahm. Nach nationalökonom. Studien in Berlin, Bonn u. Heidelberg u. dem Einsatz als Soldat im Ersten Weltkrieg promovierte L. 1918 zum Dr. phil., war Schriftleiter der Münchner Kunstzeitschrift »Wieland« u. ab 1923 Berufsberater des Landes Steiermark. 1930 beim Landesarbeitsamt in Dortmund angestellt, wurde er 1932 Leiter der Gewerkschaftsschule in Düsseldorf. Nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten kehrte er nach Öster- Leip, Hans, * 22.9.1893 Hamburg, † 6.6. reich zurück. Durch Vermittlung von Felix 1983 Fruthwilen/Kt. Thurgau. – Erzähler, Braun wurde er 1935 Lektor an der Univer- Liederdichter, Verfasser von Sachbüchern, sität in Palermo, 1935/39 in Rom, 1939 bis Maler, Zeichner. 1942 in Padua. Durch eine unheilbare Der als Sohn eines Hafenarbeiters in HamKrankheit ans Bett gefesselt, verbrachte L. burg aufgewachsene L. fiel in der Schule zuseine letzten Lebensjahre in Riva. nächst durch zeichnerische Begabung auf. Bereits sein erster Lyrikband Hahnenschrei Nach einer Ausbildung zum Volksschullehrer (Stgt. 1926), der ihn mit einem Schlag be- wurde er 1915 zum Militär eingezogen. In kannt machte, thematisiert das große Anlie- der Berliner Kaserne entstand das Lied Lili gen L.s: den Kontrast von Industrie u. Natur. Marleen, das durch die Vertonung von NorDie noch weitgehend intakte steir. Land- bert Schultze später Weltruhm erlangen schaft, bäuerl. Leben u. bäuerl. Arbeitswelt sollte. Wegen eines schweren Unfalls durfte bilden dabei jenes elementare Kraftzentrum, L. wieder nach Hamburg zurückkehren u. das L. zur Bewältigung des modernen indu- begann dort Kunstkritiken u. Gedichte in striellen Alltags für notwendig erachtet; Zeitschriften zu veröffentlichen. Während mystische Blut-und-Boden-Verklärung ver- der 1920er Jahre knüpfte er enge Kontakte zu meidet L. jedoch. Die folgenden Gedicht- Hamburger Schriftstellerkreisen, inszenierte bände Gesänge von der Erde (Mchn. 1933) u. Lob die legendären »Hamburger Künstlerfeste« der Vergänglichkeit (Salzb. 1949) treten hinge- u. trat mit eigenen literar. Arbeiten hervor. gen auch für einen positiven Umgang mit der Auf den spätexpressionist. Großstadt-Roman Technik ein. Seiner Wahlheimat verpflichtet Der Pfuhl (Mchn. 1923) folgte 1925 der sind die Erzählungen, Skizzen u. Essays in Durchbruch mit dem preisgekrönten atden Prosabänden Steirische Bauern (Mchn. mosphär. Störtebeker-Roman Godekes Knecht 1935). Menschen der Berge (Graz 1936) u. Das (Lpz.), der in seiner betont kraftvollen Sprache, in der Dämonisierung der See u. der Dorf im Gebirge (Mchn. 1941). Weitere Werke: Ausgew. Gedichte. Graz 1940. Modellierung wuchtiger norddt. Charaktere – Sämtl. Gedichte. Hg. Norbert Langer. Salzb. Elemente von Expressionismus, Heimat1955. – Ges. Prosa. Hg. ders. Salzb. 1957 (mit dem (Groth, Frenssen) u. Abenteuerliteratur (Jack Romanfragment ›Die Erde wartet‹). – Zeuge des London, Joseph Conrad, James F. Cooper) Traums u. der Zeit. Die Gedichtzyklen ›Hahnen- verbindet. Damit hatte L. sein Lebensthema,

Leipziger

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Weitere Werke: Tinser. Lpz. 1926 (R.). – Sedie Welt der See, der Schiffahrt u. der Hafenstädte, gefunden. In den folgenden Ro- gelanweisung für eine Freundin. Hbg. 1933 (R.). – 3 manen – zwei kleinere Dramen fielen bei der Die kleine Hafenorgel. Hbg. 1937. 1948 u. ö. (L.). – Kritik durch – wandte er sich mehr dem un- Eulenspiegel. Stgt. 1941 (Ep.). – Der große Fluß im Meer. Roman des Golfstroms. Mchn. 1954 (Sachb.). terhaltenden Genre zu (u. a. Der Nigger auf – Die Taverne zum mus. Schellfisch. Mchn. 1963 Scharnhörn. Lpz. 1927. Die Lady und der Admi- (R.). – Aber die Liebe. Aus der Westwindkartei des ral. Hbg. 1933. Jan Himp und die kleine Brise. Herrn Toppendrall. Hbg. 1969. Bln. 21982 (R.). – Bln. 1933), erst mit seinem bedeutendsten Das Tanzrad. Ffm. 1979 (Autobiogr.). – Das HansWerk, dem histor. Familienroman Das Mu- Leip-Buch. Ffm. u. a. 1983 (Anth.). schelhorn (Stgt. 1940) knüpfte er an die früLiteratur: Rolf Italiaander (Hg.): H. L., Leben u. heren literar. Ambitionen an u. erzielte zgl. Werk. Hbg. 1958. – Hamburger Bibliogr. H. L. (mit 167 Titeln). Hbg. 1968. – Friedrich Beißner: Der einen buchhändlerischen Erfolg. Der Wechsel zum traditionsreichen Stutt- Lyriker H. L. in seinen Kadenzen. Begründung einer Sympathie. In: Zwanzig. Jb. der Freien Akadegarter Klassikerverlag Cotta bezeugt L.s mie der Künste in Hamburg. Hbg. 1968, wachsenden Erfolg u. ermutigte ihn, wie S. 269–276. – Sandra Hirsch u. a.: H. L. u. die auch der Siegeszug von Lili Marleen, sich Hamburger Künstlerfeste. Herberg 1993. – Wilwieder verstärkt in den anderen Gattungen helm Kühlmann: Nicht nur Lili Marleen. Zum zu versuchen. Seine Komödie Idothea (Stgt. hundertsten Geburtstag v. H. L. In: Ders.: Literar. 1941) wurde 1942 uraufgeführt u. hochge- Miniaturen. Heidelb. 1996, S. 52–55. – Rüdiger lobt, bis sie wegen ihrer kriegsskept. Unter- Schutt: Dichter gibt es nur im Himmel. Leben u. töne als »staatsgefährdend« verboten wurde. Werk v. H. L.: Biogr. u. Briefe 1893–1948. Hbg. Björn Spiekermann Mit der »Kadenz« schuf sich L. überdies eine 2001 (mit Bibliogr.). eigene vierstrophige Gedichtform aus neun freirhythm. Reimpaaren (Kadenzen. St. 1942), die ihm u. a. den Beifall des Germanisten Leipziger, Leo(n), auch: Roland von BerFriedrich Beißner eintrug. Schon während lin, * 17.12.1861 Breslau, † 21.12.1922 der 1930er Jahre waren außerdem einige Berlin. – Journalist u. Erzähler. Drehbücher für Ufa-Filme entstanden, die Nach dem Besuch des Französischen Gymeine willkommene Einkommensquelle bil- nasiums in Berlin studierte L. Jura in Leipzig deten. Obwohl er sich politisch konform u. Heidelberg. Die Anwaltstätigkeit ließ er verhielt u. parteinahe Publikationsmöglich- bald ruhen, nachdem er 1893 Miteigentümer keiten nicht ausschlug – seine Novelle Die (1894: Eigentümer), Leiter u. Theaterkritiker Bergung erschien 1939 in einer Frontausgabe der Tageszeitung »Das kleine Journal« gevon 200.000 Stück – stand L. der Weltan- worden war; ihre Zielgruppe war die elegante schauung des Nationalsozialismus fern, ent- Welt der Reichshauptstadt; zu den Beiträgern zog sich einer Parteimitgliedschaft u. unter- gehörte u. a. auch L.s späterer Schwiegervater stützte jüd. Freunde u. Kollegen. Julius Stettenheim. 1895 erschien – als erster Nach dem Zweiten Weltkrieg schrieb L. einer Reihe von »Berliner Sittenromanen«, neben zahlreichen weiteren Romanen u. Er- die insbes. die Hochfinanz u. Ballgesellzählungen mehrere, teils von ihm selbst il- schaften kritisch porträtierten – Die Ballhauslustrierte Sachbücher (z.B. Hamburg. Das Bild Anna (Bln. Neufassung 1920 u. d. T. Mascotte). einer Stadt. Hbg. 1955. Des Kaisers Reeder. 1903 gründete L. die liberale Wochenschrift Mchn. 1956. Bordbuch des Satans. Chronik der »Roland von Berlin«, die sich Verdienste im Freibeuterei vom Altertum bis zur Gegenwart. Aufdecken polit. u. sozialer Missstände erMchn. 1959. Neuausg. Herford 1977. Sukya warb. oder Die große Liebe zum Tee. Düsseld. u. a. Weitere Werke: Der Rettungsball. Bln. 1912 1965). Seit den 1960er Jahren wandte er sich (R.). – Rolandslieder 1914–15. Bln. 1915. – Die zunehmend wieder Malerei u. Zeichnung zu neuen Linden. Bln. 1920 (R.). Literatur: Bodo Rollka: L. In: NDB. u. lebte bis zu seinem Tod zurückgezogen am Bodensee. Helmut Blazek / Red.

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Leisegang, Dieter, * 25.11.1942 Wiesbaden, † 21.3.1973 Offenbach/M. (Freitod); Grabstätte: ebd., Neuer Friedhof. – Lyriker, Essayist; Philosoph. Nach dem Abitur 1963 studierte der Sohn eines Kartografen u. Kunstmalers in Frankfurt/M. Philosophie, Germanistik u. Geschichte. Mit dem Typografen Horst Heiderhoff gab er 1964–1969 die Reihe »Das Neueste Gedicht« (Darmst.) heraus, in der auch seine Gedichtbände Brüche (1964) u. Überschreitungen (1965) sowie eigene Übersetzungen von Auden (1964 u. 1965) u. Hart Crane (1966) erschienen. L.s frühe Verse neigen zum Lakonismus, mitunter zum Epigramm. Beispielhaft ist der Text Ausgespielt, der eine biogr. Situation – beim Skatspiel trifft per Telegramm eine Todesnachricht ein – mit einem traditionellen literar. Motiv – das Leben als Spiel – pointiert vermittelt: »Bob died / 9 p. m.//Skatregel: / Was liegt / Liegt.« Aufgrund einer schweren Lungenerkrankung musste L. das Studium 1966 unterbrechen. In dieser Zeit entstanden die langen, in Prosa verfassten Essay-Gedichte des Bandes Hoffmann am Fenster (Ffm. 1968; das Titelgedicht nimmt Motive aus E. T. A. Hoffmanns Erzählung Des Vetters Eckfenster auf), in denen er sich u. a. der Geschichte zuwandte. In dem umfangreichsten Text dieser Sammlung, dessen Titel Doktor Lauben oder das Dritte Reich sowohl auf die Semantik Gottlob Freges (die Figur des Dr. Lauben entstammt Freges Abhandlung Der Gedanke, die das »Dritte Reich«, den log. Sinn, im Unterschied zur Vorstellung u. zum sinnlich wahrnehmbaren Ding, thematisiert) als auch auf die dt. Vergangenheit anspielt, stellt L. eine spekulative Beziehung zwischen der Unterdrückung des Individuellen durch den Nationalsozialismus u. durch das abstrakte Denken her. 1969 wurde L. mit der philosoph. Untersuchung Die drei Potenzen der Relation (Ffm. 1969) bei Schaaf u. Adorno promoviert. 1971–1973 nahm er einen Lehrauftrag für Geschichte der Philosophie an der Universität Frankfurt/M. wahr. Eine Gastdozentur in Johannesburg unterbrach 1972 diese Tätigkeit. In seinen letzten Lebensjahren entwickelte L. vielseitige Aktivitäten. Er verfasste

Leisegang

philosoph. Abhandlungen, gab literarische u. philosoph. Texte heraus, übersetzte u. bearbeitete ein Programmierhandbuch, war als Zeitschriftenredakteur tätig, schrieb Werbetexte, drehte Fernsehfilme, zeichnete. Seine späte, in den Bänden Unordentliche Gegend (Aphorismen. Gedichte. Übersetzungen. 1960–1970. Ffm. 1971) u. Aus privaten Gründen (Gedichte und Aphorismen. Ffm. 1973; postum) gesammelte Lyrik zeigt den Autor als einen melanchol. Beobachter alltägl. Begebenheiten, der dem privaten Erlebnis eine existentielle Deutung gibt. Wurden L.s Gedichte zu Lebzeiten des Autors kaum beachtet, so entdeckt die Literaturkritik heute in ihm einen Autor in der Tradition der »Klassischen Moderne« (Hans Dieter Schäfer, Harald Hartung), der gegenüber den zeitgenössischen literar. Programmen um eine eigenständige stilist. Position bemüht war. Weitere Werke: Bilder der Frühe. Offenbach 1962 (L.; Privatdr.). – Intérieurs. Ffm. 1966 (L.). – Lücken im Publikum. Relatives u. Absolutes bei Kafka. Ffm. 1972 (Abh.). – Dimension u. Totalität. Entwurf einer Philosophie der Beziehung. Ffm. 1973. – Herausgeber: ars poetica. Ffm. 1968–73 (Lyrikreihe). – eidos. Beiträge zur Kultur. Ffm. 1969–73. Ausgaben: Lauter letzte Worte. Gedichte u. Miniaturen. Hg. Karl Corino. Ffm. 1980 (Sammelausg.). – Übung eines Weges. Ausgew. u. nachgelassene Gedichte. Hg. Roswitha u. Horst Heiderhoff u. Joachim Leisegang. Waldbrunn 1986. Literatur: Karl Corino: Das rettungslose Ich. Zur Lyrik D. L.s. In: ›Lauter letzte Worte‹ (1980, s. o.), S. 199–213. – Hans Dieter Schäfer: D. L. In: Die dt. Lyrik. 1945–75. Hg. Klaus Weissenberger. Düsseld. 1981, S. 404–414. – Harald Hartung: L. In: KLG. – Andreas Kramer: Reflektiertes Schauen. Über ein Motiv in den Gedichten D. L.s. In: Archiv 148 (1996), Bd. 233, S. 88–94. – Anette Wörner: Wege zu einem Gedicht. D. L.s poet. Blick auf Alberto Giacometti. In: Überschreitungen. Dialoge zwischen Literatur- u. Theaterwiss., Architektur u. bildender Kunst. FS Leonhard M. Fiedler. Hg. Jörg Sader u. dies. Würzb. 2002, S. 275–285. Peter Langemeyer

Leisentrit

Leisentrit, Johann, * Mai 1527 Olmütz (Olomouc), † 24.11.1586 Bautzen. – Katholischer Theologe, Gesangbuchherausgeber.

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wie aus vorausgegangenen, auch luth. Gesangbüchern. Für etwa 80 neue Melodien ist der Komponist nicht bekannt; es wird vermutet, L. könnte auch sie geschaffen haben. Noch das kath. Einheitsgesangbuch Gotteslob (1975) enthält sechs mehr oder weniger veränderte Lieder L.s.

Der Handwerkersohn L. studierte ab 1542 Theologie u. Philosophie in Krakau. Zuerst Hofmeister, wurde er im März 1549 zum Weiteres Werk: Appendix, qua contradictorie Priester geweiht. Seine Laufbahn führte bis probatur [...] solam Romanam [...] esse vere cathozur Betrauung mit der Administratur des licam [...] ecclesiam. In: Georg Eder: Ad rubricam Lausitzer Anteils der Diözese Meißen 1561. codicis de summa trinitate, etc. oratio [...]. Bautzen Erfolgreich suchte er den kath. Einfluss ge- 1570. gen Sachsen zu wahren. Ausgabe: Geistl. Lieder u. Psalmen [...]. Bautzen Unter L.s 24 pastoralliturg. Schriften hatte 1567. Nachdr. mit einem Nachw. v. Walther Lippdas 1567 erschienene Gesangbuch Geistliche hardt. Lpz. 1966. Lieder und Psalmen (2 Tle., Bautzen 1567) die Literatur: Bibliografien: Klaiber, S. 172 f. – VD größte Bedeutung u. erlangte mit zwei wei- 16. – Weitere Titel: Walter Gerblich: J. L. u. die Adteren Auflagen (1573 u. 1584) große Ver- ministratur des Bistums Meißen in den Lausitzen. breitung. Im Gegensatz zum ersten kath. New Lpz. 1959. – Josef Gülden: J. L.s Bautzener MessGesangbüchlin Michael Vehes (1537) stellt es ritus u. Messgesänge. Münster 1964. – Konrad Ameln: J. L. In: NDB. – J. L. 1527–86 zum 400. mit seiner prachtvollen Ausstattung eine Todestag. Eingel. u. hg. v. Siegfried Seifert. Lpz. Kostbarkeit dar, die die evang. Vorgänger 1987. – Erika Heitmeyer: Das Gesangbuch v. J. L. übertrifft. Die Gesänge stehen in der Ord- 1567. [...]. St. Ottilien 1988. – Katharina Biegger: nung des Kirchenjahrs; dem pastoralliturg. Paracels. Theologica im kath. Gesangbuch J. L.s v. Zuschnitt der Sammlung entspricht die ge- 1567. In: Parerga Paracelsica [...]. Hg. Joachim sangsweise Aufnahme dt. Einsetzungsworte Telle. Stgt. 1991, S. 105–119. – Martin Persch: J. L. zum Abendmahl. Diese luth. Art rief Kritik In: Bautz. – Michael Mages: J. L. In: Komponisten Hg. hervor, war aber wichtig für den Gebrauch in u. Liederdichter des Evang. Gesangbuchs. 2 2001), S. 195 f. – Wolfgang Herbst. Gött. 1999 ( von beiden Konfessionen benutzten SimulMarkus Rathey: J. L. In: MGG 2. Aufl. Bd. 10 tankirchen. Das erklärt auch, dass unter den (Personentl.), Sp. 1529 f. – Kai Bremer: Religions249 Liedern 150 protestantischen Quellen streitigkeiten [...]. Tüb. 2005, Register. – S. Seifert: (v. a. Valentin Trillers Schlesisch Singbüchlein u. Domdekan J. L. als Apostol. Administrator u. kaiNikolaus Hermans Sonntagsevangelia) ent- serl. Generalkommissar in Religionssachen. In: Die stammen. Oberlausitz im frühneuzeitl. Mitteleuropa [...]. Hg. Während L. Hymnen- u. Psalmenlieder im Joachim Bahlke. Lpz. 2007, S. 174–190. Wesentlichen übernahm, versah er reformaKlaus Düwel / Red. torische Kernlieder mit einem veränderten Text. Das kath. Liedgut zog er reichlich heran; offenbar lag ihm dabei das Manuskript Leiser, Erwin, * 16.5.1923 Berlin, † 22.8. der Christlichen Gebet und Gesäng seines 1996 Zürich. – Filmemacher, Publizist, Freundes Christoph Hecyrus (Schweher) vor. Übersetzer. Die 68 neuen Texte dürften zum großen Teil Der Sohn eines jüd. Rechtsanwalts emigrierte von L. stammen. Sie weisen bemerkenswerte 1938, unmittelbar nach den Novemberposprachl. u. inhaltl. Qualitäten auf. Neben gromen, nach Schweden. Er studierte in Lund Zwei- u. Dreizeilern mit acht Silben bevor- Literaturgeschichte, Philosophie, Psychologie zugt L. kurze vierzeilige, einstrophige Lieder u. Deutsch, war 1950–1958 Feuilletonredakkatechetischer Ausrichtung, die mit ihren teur der sozialdemokrat. Zeitung »Morgon neuen Melodien bald populär wurden u. in Tidningen« u. drehte 1960 seinen ersten Film spätere Gesangbücher eingingen. Mein Kampf (Ffm. 1962), eine Dokumentation Die 181 Melodien kommen aus dem liturg. über Hitler, die nicht nur neue filmische Choralgesang, mittelalterl. Melodiengut so- Maßstäbe setzte, sondern auch der Diskussi-

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Leisewitz

on über das Dritte Reich einen wichtigen Leisewitz, Johann Anton, * 9.5.1752 HanAnstoß gab u. bis heute als ein Klassiker der nover, † 10.9.1806 Braunschweig; Grabfilmischen Auseinandersetzung mit Hitler- stätte: ebd., Magni-Friedhof. – DramatiDeutschland gilt. ker. L., der seit 1961 in Zürich lebte, thematiAls das ältere von zwei Kindern eines Weinsierte in seinen Filmen u. den dazu veröfhändlers besuchte L. nach Kindheitsjahren in fentlichten Büchern, Essays u. ZeitungsartiCelle das Gymnasium in Hannover, dessen keln immer wieder Fragen der VergangenDirektor Ludwig Wilhelm Ballhorn ihn mit heit. 1961 drehte er Eichmann und das Dritte den Werken Lessings bekannt machte. Im Reich mit Originalaufnahmen vom JerusaOkt. 1770 bezog er die Universität Göttingen lemer Prozess, zwei Jahre später Wähle das zum Studium der Rechtswissenschaft. Nach Leben, einen Dokumentarfilm über die Opfer Bekanntschaft mit Albrecht Daniel Thaer, von Hiroshima; dazu erschien unter dem Bürger, Hölty u. Boie sowie anderen Mitgleichen Titel eine Art Tagebuch des Regis- gliedern des Göttinger Hains wurde L., der seurs (Wien 1963). 1968 folgte Deutschland, sein Jurastudium Ostern 1774 erfolgreich erwache, ein aus Spielfilmszenen u. Wochen- abgeschlossen hatte, insbes. wegen seines schau-Ausschnitten montierter Film über die Projekts einer Geschichte des Dreißigjährigen nationalsozialist. Propaganda. Das mit do- Krieges (unvollendet; Manuskript verscholkumentarischem Material angereicherte len), am 2.7.1774 – Klopstocks Geburtstag – Buch zum Film (Reinb. 1968. Erw. Neuausg. in den Freundesbund aufgenommen. Sein 1978. 1989) gilt als eine der wichtigsten Pu- dichterischer Beitrag für den »Göttinger blikationen zum NS-Film. Musenalmanach« beschränkte sich auf die In den 1970er, 1980er u. 1990er Jahren nur wenige Seiten umfassenden dramat. führte L. mit einer Reihe von Künstlerpor- Szenen Die Pfandung (1775) u. Der Besuch um träts, einem zweiten Hiroshima-Film, der Mitternacht (1775), in denen gegen höf. Verszen. Collage Die Mitläufer sowie zahlreichen, schwendung u. Mätressenwesen moralisiert häufig preisgekrönten Dokumentationen wird. Nach dem Advokatenexamen ließ sich seine filmischen Untersuchungen der Condi- L. Ende Okt. 1774 in Hannover als Anwalt tion humaine im 20. Jh. fort. Deren bedeu- nieder. Wenig Lust zum Brotberuf u. kärgl. tendste, ein »Lehrstück gegen das Verges- Auskommen veranlassten ihn, mit seinem sen«, auch in Buchform erschienen, ist Leben Trauerspiel Julias von Tarent (Lpz. 1776. nach dem Überleben (Königst. 1982), ein Porträt Neudr. hg. v. Werner Keller. Durchges. u. von Menschen, die dem Holocaust entkamen. bibliografisch erg. Aufl. Stgt. 1995), das er In seinem Dokumentarfilm Pimpf war jeder wahrscheinlich seit 1772 geplant u. wohl von 1993 blickt L. auf seine Schulzeit an ei- schon in Göttingen zwischen Juli bis Sept. nem Berliner Gymnasium zurück u. reflek- 1774 im Wesentlichen fertiggestellt hatte, an tiert die offenen u. verdeckten Formen von einem Dramenwettbewerb teilzunehmen, zu Unterdrückung, denen er u. jüd. Mitschüler dem die Hamburger Prinzipale Sophie Charausgesetzt waren; der Film basiert auf Er- lotte Ackermann u. ihr Sohn Friedrich Ludzählungen u. Aussagen ehemaliger Klassen- wig Schröder im Frühjahr 1775 100 Taler für kameraden des Abiturjahrgangs 1940. bühnenfähige »Originalstücke« ausgelobt L. übersetzte außerdem Werke von Brecht, hatten. Nach einer Überarbeitung ließ L. das Frisch u. Dürrenmatt ins Schwedische. Manuskript im Aug. 1775 der Hamburger Weitere Werke: Auf der Suche nach Wirklich- Theaterdirektion zuleiten. Den Preis erhielt keit. Meine Filme 1960–96. Konstanz 1996. – Her- jedoch das motivverwandte Trauerspiel Die ausgeber: Leopold Lindtberg: Du weißt ja nicht, wie Zwillinge von Klinger. es in mir schäumt. Zürich 1985. L.’ Trauerspiel, das am 19.6.1776 von der Literatur: Jay Leyda: Films beget Films. Lon- Döbbelinschen Truppe in Berlin uraufgedon 1964. Dt.: Filme aus Filmen. Bln. 1967. führt u. noch im gleichen Jahr gedruckt Annette Meyhöfer / Red. wurde, greift den Stoff der Geschichte des

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Großherzogs Cosimo I. de Medici in Florenz auf. L. akzentuiert jedoch das Motiv der verfeindeten Brüder durch die gleichzeitige Liebe Guidos u. seines älteren Bruders, des Thronfolgers Julius, zu der tief unter fürstl. Stand stehenden Blanca. Sie wird von Constantin, Fürst von Tarent, dem Vater des Brüderpaars, zur Vermeidung einer Mesalliance u. zur Schlichtung des Zwists zwischen seinen Söhnen in ein Kloster gesteckt. Bei dem Versuch, Blanca zu befreien, um unter Verzicht auf die Thronfolge irgendwo sich selbst zu leben, wird Julius von Guido erstochen. Blanca wird wahnsinnig. Am Leichnam des Bruders empfängt Guido voller Reue den erwünschten Tod von seinem Vater, der daraufhin dem Fürstenamt entsagt u. sich zu den Kartäusern zurückzieht. Mit der Konstellation der Konflikte gestaltet L. in ästhetischer Reaktion auf die gesellschaftl. Dynamisierung nach 1750 eine Opposition gegen Staatsu. Naturordnung gleichermaßen, insofern der individuelle Liebesanspruch Julius’ an den Forderungen der Staatsräson zuschanden u. das empfindsame Ideal der Familie durch Bruder- u. Sohnesmord zerstört wird. Das Wort »memento mori«, mit dem Constantin von der polit. Bühne abtritt, lässt Geschichte als Schädelstätte erscheinen – eine Vorstellung, die L.’ Drama mit dem barocken Trauerspiel teilt. Das formal an der Geschlossenheit von Lessings Emilia Galotti (1772) geschulte Trauerspiel, das den Regeln der Aufklärungsdramaturgie näher steht als den Tendenzen des Sturm u. Drang, wurde von der Kritik (u. a. von Eschenburg u. Wieland) freundlich aufgenommen. Lessing hielt es anfangs für ein Stück Goethes, u. Schiller entnahm ihm manches Detail. Es wurde mehrmals nachgedruckt u. blieb bis Ende des 18. Jh. im Bühnenrepertoire. 1775/76 verbrachte L. im Literatenkreis des »Braunschweiger Parnaß«, zu dem u. a. Lessing, Eschenburg, Abt Jerusalem u. Ebert zählten. Auf einer anschließenden Reise nach Berlin lernte er u. a. Nicolai kennen. Bemühungen um eine Geschichtsprofessur in Halle gab L. auf, als er Ende 1777 eine Anstellung bei einer Kreditanstalt in Braunschweig erhielt. Sondierungen um besser bezahlte Dienste führten ihn 1780 an die Höfe von

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Meiningen, Gotha u. Weimar, wo er u. a. die Bekanntschaft von Goethe, Wieland u. Herder machte. Die Hoffnung, nach Lessings Tod dessen Stelle als Wolfenbütteler Bibliothekar zu erhalten, erfüllte sich nicht. Sophie Marie Catharine Seyler (1762–1833), die Tochter des Hamburger Kaufmanns u. späteren Theaterdirektors Abel Seyler, konnte L. dank finanzieller Hilfe durch seine Mutter u. aufgrund eines Vorschusses auf sein Geschichtswerk nach vierjähriger Verlobungszeit am 13. Sept. 1781 heiraten. Über seine finanziellen, aber auch gesundheitl. Nöte sowie über seinen gesellschaftl. Umgang in den ersten Jahren in Braunschweig informiert neben den Briefen an seine Braut. 1777–1781 (Hg. Heinrich Mack. Weimar 1906) insbes. ein penibel, z.T. in Geheimschrift geführtes Diarium (»Tagebuch«, 1.1.1779–22.3.1781. »Mich betreffende Nachrichten und Betrachtungen«, 25.12.1781–7.2.1790). Diese Tagebücher (Hg. H. Mack u. Johannes Lochner. 2 Bde., Weimar 1916–20. Neudr. Hildesh. 1976) bieten aufschlussreiche Einblicke in die Braunschweigische Kulturgeschichte der Spätaufklärung. Zgl. sind sie Zeugnis von L.’ erschreckender Hypochondrie. In diese Lebensphase fallen dramat. Fragmente (1776) von geringer Länge (Selbstgespräch eines starken Geistes in der Nacht. Konradin. Alexander und Hephästion), eine Übersetzung aus dem Englischen (Geschichte der Entdeckung und Eroberung der Kanarischen Inseln. Lpz. 1777), wenige Zeitschriftenartikel (Noch Etwas über Uniformen und Kleiderordnungen. 1780. Über den Ursprung des Wechsels. 1782), eine Rezension, die satir. Rede eines Gelehrten an eine Gesellschaft Gelehrter (1776) u. die Nachricht von Lessing’s Tod (1781) an Lichtenberg. Von der Komödie Der Sylvesterabend (nach dem Stoff der Weiber von Weinsberg), an der er 1779–1787 arbeitete, ist nur eine Szene überliefert. 1786 wurde L. Erzieher des Erbprinzen Karl Georg August. 1790 wurde er zum Sekretär der Geheimen Kanzlei, 1801 zum Geheimen Justizrat u. schließlich 1805 zum Präsidenten des Obersanitätskollegiums ernannt. Seit 1791 konnte L., dem der Titel eines Hofrats 1790 verliehen worden war, über die Kanonikatseinküfte von St. Blasius verfügen. L.’ letzte Lebensjahre standen ganz im

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Dienst einer Reform des braunschweigischen Leising, Richard, * 24.3.1934 Chemnitz, Armenwesens. Aus der Amtstätigkeit, die † 20.5.1997 Berlin. – Dramaturg, Über1805 zur Gründung der Braunschweigischen setzer, Lyriker. Armenanstalten führte, entsprang eine AnDer Arbeitersohn L. kam früh mit Brecht in zahl einschlägiger sozialpolit. ProgrammBerührung u. studierte 1952–1956 Theaterschriften (u. a. Über die bei Einrichtung öffentliwissenschaften in Leipzig. Zwischen 1956 u. cher Armenanstalten zu befolgenden Grundsätze 1990 wirkte er an verschiedenen (Jugend-)[...]. Braunschw. 1802). Theatern. Nach kurzer Lektorentätigkeit Ausgaben: Sämmtl. Schr.en. Hg. Franz Ludwig wurde er 1962 in Folge kulturpolitischer Anton Schweiger. Braunschw. 1838. Neudr. Hil- Zerwürfnisse für sechs Jahre sog. »freier desh. 1970. – Julius v. Tarent u. die dramat. Frag- Schriftsteller«. In dieser Zeit wurden erste mente. Hg. Richard Maria Werner. Stgt. 1889. Gedichte von ihm veröffentlicht. Diese ginNeudr. Darmst. 1969. gen 1975 in ein Poesiealbum (Bln./DDR) ein. Literatur: Max Koch: L. In: ADB. – Goedeke 4, Zwischen politisch-schnoddrigen Knittelver1, S. 1080–1086. – Adalbert Elschenbroich: L. In: sen u. einem verhinderten Sonett poetoloNDB. – Braunschweigisches Biogr. Lexikon. gisch-metaphys. Inhalts finden sich etwa Braunschw. 2006, S. 375. – Weitere Titel: Gregor brechtisch abgewandelte Volkslieder, fast Kutschera v. Aichbergen: J. A. L. Wien 1876. – Gert Mattenklott: Melancholie in der Dramatik des klass. Elegien u. rhetorisch ausgefeilte freie Sturm u. Drang. Stgt. 1968. Ffm. 21985, S. 86–121. Verse. Auffällig selten anzutreffen, dafür in– Fritz Martini: Die feindl. Brüder. Zum Problem tensiv schillernd, ist das sog. lyr. Ich. Bis zum des gesellschaftskrit. Dramas v. J. A. L., Friedrich zweiten Band Gebrochen Deutsch (Ebenhausen 2 Maximilian Klinger u. Friedrich Schiller (1972). In: 1990. 1992), für den L. den Leonberger Ders.: Gesch. im Drama – Drama in der Gesch. Stgt. Christian-Wagner-Preis erhielt, waren 22 1979, S. 129–186. – Norbert Oellers: J. A. L. In: Dt. Gedichte dazugekommen. Die Bandbreite Dichter des 18. Jh. Hg. Benno v. Wiese. Bln. 1977, wird noch einmal erweitert, die satir. u. die S. 843–860. – Ines Kolb: Herrscheramt u. Affekt- eleg. Elemente werden potenziert. Auch entkontrolle. J. A. L.’ ›Julius v. Tarent‹ im Kontext v. stehen Korrespondenzen zwischen den GeStaats- u. Moralphilosophie der Aufklärung. Bern dichten. Der Nachlassband Die Rotzfahne u. a. 1983. – Ulrich Karthaus: J. A. L.: ›Julius v. (Ebenhausen o. J. [1998]) versammelt 41 Tarent‹. In: Dramen des Sturm u. Drang. Stgt. 1987 Texte in chronolog. Reihenfolge, darunter (u. ö.), S. 99–127. – Theo Buck: ›Die Szene wird sieben in Prosa, die L.s ganzes Schaffen abzum Tribunal‹. Zu J. A. L.’ Kurzdrama ›Die Pfandung‹. In: Théâtre, nation et société en Allemagne decken. Sowohl Zeitbezüge als auch autoau 18e siècle. Hg. Roland Krebs u. Jean-Marie Va- biogr. Hinweise (etwa auf Freunde oder den lentin. Nancy 1990, S. 153–166. – Gérard Laudin: Alkoholismus) treten hervor. Poetologisch L’œuvre de J. A. L. jusqu’en 1782. Bern u. a. 1991. – wie politisch enthält der Band letztgültige Ralph-Rainer Wuthenow: Die stehenden Gewässer Aussagen. Jedes Gedicht wirkt, nach Rainer der Hypochondrie. Zu den Tagebüchern v. J. A. L. Kirsch, »gleichsam vom poetischen Urgrund In: Lenz-Jb. 3 (1993), S. 116–131. – Alexander her frisch erfunden.« L. wird zur »SächsiMathäs: Narcissism and male desire in ›Sturm und schen Dichterschule« gerechnet. Obwohl er Drang‹-drama: J. A. L.’s ›Julius von Tarent‹. In: pro Lebensjahr kaum mehr als ein Gedicht Lessing Jb. 31 (1999), S. 91–109. – Andreas Herz: geschrieben hat, hat er damit eine ganze Ge›...ward ich doch mit der ganzen Gesellschaft zu- neration beeinflusst. letzt ziemlich lustig‹. L.’ erste Jahre in Braunschweig. In: Formen der Geselligkeit in Nordwestdtschld. 1750–1820. Hg. Peter Albrecht, Hans Erich Bödeker u. Ernst Hinrichs. Tüb. 2003, S. 211–259. – Seán Allan: ›Hat nicht alles den Stachel zur Rache?‹ Gender, Class and Revenge in J. A. L.’s ›Julius von Tarent‹ and Friedrich Maximilian Klinger’s ›Die Zwillinge‹. In: CG 37 (2004), H. 2, S. 109–127. Carsten Zelle

Weiteres Werk: Carlo Gozzi: Der Rabe. Ebenhausen 2006 (Übers.). Literatur: Rainer Kirsch: In diesem Herzen voll fröhl. Kälte. R. L. 1934–97. In: ndl 45 (1997), H. 5, S. 198 f. – Jürgen Serke: Zu Hause im Exil. Mchn./ Zürich 1998, S. 163–185. – Holger Helbig: Wa-

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ckersteine, Lichtgefieder. Statt eines längeren Loblieds auf L. In: ndl 47 (1999), H. 2, S. 167–169. Robert Gillett

Leitgeb, Josef, * 17.8.1897 Bischofshofen/ Salzburg, † 9.4.1952 Innsbruck. – Romancier, Erzähler, Lyriker.

des Sonetts der adäquate Ausdruck. Von Blumen, Bäumen und Musik (Salzb. 1947. Innsbr. 1997) lautet der programmat. Titel einer Essaysammlung; Landschaft sowie Musik bilden auch in den Gedichten die positive Gegenwelt zu Krieg u. Zerstörung. Außerhalb Tirols blieb L.s Werk weitgehend unbeachtet, in Tirol jedoch gilt er als moderner Klassiker.

L. fühlte sich zeitlebens als Tiroler Dichter Weitere Werke: Kinderlegende. Bln. 1934. mit Südtiroler Vorfahren. Nach dem frühen Innsbr. 2000 (R.). – Musik der Landschaft. Bln. Tod der Eltern (der Vater war Bahnbeamter) 1935 (L.). – Läuterungen. Salzb. 1938 (Sonette). – absolvierte L. 1915 die Kriegsmatura u. wur- Vita Somnium Breve. Mchn. 1943 (L.). – Kleine de Soldat. Seine ambivalente Haltung ge- Erzählungen. Graz 1951. – Sämtl. Gedichte. Salzb. genüber dem Krieg prägt sein gesamtes 1953. Innsbr. 1997. – Abschied u. fernes Bild. Hg. Friedrich Punt. Salzb. 1959. 1986 (P.). – Am Rand Werk: Einerseits ist der Krieg für L., der auch des Krieges. Bln. 1942. Neuausg. Innsbr. 1977. – am Zweiten Weltkrieg teilnahm, Ausdruck Übersetzung: Antoine de Saint-Exupéry: Der kleine einer inhumanen Weltverfassung, anderer- Prinz (zus. mit Grete Leitgeb). Düsseld. 1952. seits wird die soldatische Existenz zur konLiteratur: Friedrich Punt: Zur Erinnerung an J. zentriertesten Lebensform, die Halt auch in L. In: Wort im Gebirge 5 (1953), S. 11–51. – Helmut den unruhigen Nachkriegszeiten verspricht. Schinagl: Das Landschaftserlebnis bei J. L. Diss. So erklärt sich L.s Wertschätzung der Werke Innsbr. 1954. – Josef Wolf: J. L. Leben u. Werk. Ernst Jüngers (Briefwechsel). Die Ablehnung Freib./Schweiz 1966. – Helmut Schink: Das Mendes Nationalsozialismus wird an Gedichten schenbild in den Werken J. L.s. Diss. Salzb. 1970. – deutlich, die L. 1932 unter Pseud. für die Ignaz Zangerle: J. L. In: LuK (1977), S. 544 ff. – Zeitschrift »Der Sumpf« (Bln.) verfasste. 1921 Georg Kierdorf-Traut: J. L., ein bedeutender Lyriwurde L. von Ludwig von Ficker in den Kreis ker des 20. Jh. In: Der Schlern 66 (1992), H. 12, S. 762–779. – Wolfgang Straub: Der Tiroler um die Zeitschrift »Der Brenner« eingeführt, Schriftsteller J. L. Eine Überprüfung zum 100. Gein der er erste Gedichte veröffentlichte. Mit burtstag. In: LuK (1997), H. 319/320, S. 31–36. – Ficker verband ihn die Bewunderung Trakls. Dossier J. L. In: Mitt.en aus dem Brenner-Archiv 20 1925 promovierte L. zum Dr. jur., arbeitete (2001), S. 107–124. – Sigurd Paul Scheichl: J. L.s jedoch als Dorf- u. Hauptschullehrer. 1950 Essay über Johann Chrysostomus Senn. Ebd., erhielt er den österreichischen Staatspreis für S. 125–138. – Anton Unterkircher: J. L. u. Friedrich Punt. Ein Nachlaßber. Ebd. 21 (2002), S. 115–124. Literatur. L.s erster u. bekanntester Roman Christian – Johann Holzner: Entwürfe einer Kunstheimat im und Brigitte (Bln. 1936. Innsbr./Wien 2005) ist Hl. Land Tirol. Über Carl Dallago, J. L. u. Friedrich wie sein übriges Prosawerk autobiografisch Punt. In: Carl Dallago. Hg. Karin Dalla Torre. Innsbr. 2007, S. 13–26. Bernhard Fetz / Red. geprägt. Die Figur des Dorfschullehrers Christian, hin- u. hergerissen zwischen der Archaik des Bergdorfs, wo die engelhaft un- Leitich, Ann Tizia, verh. von Korningen, schuldige Brigitte auf ihn wartet, u. den * 25.1.1891 Wien, † 3.9.1976 Wien. – Verlockungen eines ungebundenen Wander- Verfasserin von Sachbüchern u. Romanlebens, spiegelt die Orientierungslosigkeit biografien. der Soldaten nach dem Krieg. Die für den L., die Tochter des Schriftstellers Albert LeiHeimatroman der 1920er u. 1930er Jahre tich, war nach einer Ausbildung zur Volks- u. charakterist. Antithetik von Stadt u. Land, Hauptschullehrerin in Wien wie ihre Eltern Mutter u. Hure, Zivilisation u. Bauerntum im Lehrberuf tätig, den sie kurz nach dem wird am Schluss zugunsten einer ländl. Idylle Ersten Weltkrieg quittierte, um Anfang der aufgelöst. Seine Kindheit schildert L. im Ro1920er Jahre in den USA nach neuen berufl. man Das unversehrte Jahr (Salzb. 1948. Innsbr. Möglichkeiten zu suchen. 1997). Für den um Harmonie u. Klarheit bemühten Lyriker ist die architekton. Bauform

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Leitner

Wie sie in dem z.T. autobiogr. Roman Drei Leitner, Karl Gottfried (Leopold) Ritter in Amerika (Wien 1946. U. d. T Begegnung in von, * 18.11.1800 Graz, † 20.6.1890 Graz. Chicago. Mchn. 1954) beschreibt, begann sie – Lyriker u. Publizist. ihre dortige Karriere als Dienstmädchen L. gilt als der bedeutendste steiermärk. wohlhabender amerikan. Familien – ein unDichter des Vormärz. Nach Jurastudium u. geliebter Posten, der ihr aber Einblick in das kurzer Tätigkeit als Gymnasiallehrer in Cilli amerikan. Gesellschaftsleben verschaffte. Mit u. Graz wurde er Archivar bei den steirischen Artikeln über ihre Erfahrungen in den USA Landständen; seit 1827 Mitgl. der Ständezog sie das Interesse deutscher u. österr. Zeiversammlung, war L. von 1837 bis zu seiner tungen (z.B. »Neue Freie Presse«) auf sich, die Pensionierung 1854 erster Ständesekretär. Im sie als Auslandskorrespondentin fest anstellUmkreis von Erzherzog Johann war L. als ten. Redaktionsmitgl. der »Steiermärkischen Bekannt durch diese journalist. Tätigkeit, Zeitschrift« (N. F., 1834–48), als Mitbegrünkehrte L. Anfang der 1930er Jahre nach Wien der des Historischen Vereins für Steiermark zurück, wo sie in den 1940er Jahren, qualifiu. als Kurator des Joanneums maßgeblich an ziert durch ihr Studium der Kultur- u. der landespatriot. Bewegung beteiligt. Kunstgeschichte in Des Moines (Iowa, USA), Mit zahlreichen publizist. Beiträgen zur v. a. mit Arbeiten zur Geschichte des barocken Lokalhistorie u. Landeskunde sowie seinen u. biedermeierl. Wien (Wiener Biedermeier. Novellen, Legenden u. Sagen, die häufig auf Bielef. 1941. Verklungenes Wien. Wien 1942. den heimatl. Motivschatz zurückgreifen, geVienna gloriosa. Wien 1947) sowie histor. Biowann L. Popularität als vaterländ. Dichter. grafien populär wurde. Bes. erfolgreich war Als Lyriker (Gedichte. Graz 1825. Hann. 21857) der mehrfach aufgelegte Roman Augustissima. stand L., der »österreichische Uhland«, mit Maria Theresia – Leben und Werk (Zürich 1953. seinen Balladen u. Romanzen unter dem Wien 1995). Einfluss der Schwäbischen Schule; einige Weitere Werke: Amerika, du hast es besser. seiner gemütvoll schlichten Gedichte wurden Wien 1926 (Ess.). – Ursula entdeckt Amerika. Bln. u. a. von Schubert vertont. 1928. New York 1932 (R.). – König v. Eldorado. Eine romant. Chronik. Wien 1937. – Die Wienerin. Stgt. 1939. – Amor im Wappen. Roman aus dem Wien der Kongreßzeit. Stgt. 1940. – Unvergleichl. Amonate. Roman einer Indianerin. Graz 1947. – Eine Huldigung den Frauen. Wien 1947. – Der Liebeskongreß. Eine Biogr. der Liebe. Wien 1950. – Der Kaiser mit dem Granatapfel. Hbg. 1955. – Die Span. Reitschule in Wien. Mchn. 1956. – Damals in Wien. Das große Jh. einer Weltstadt. 1800–1900. Wien 1957. – Metternich u. die Sibylle. Zürich 1960 (R.). – Premiere in London. Georg Friedrich Händel u. seine Zeit. Mchn. 1962. – Das süße Wien. Von Kanditoren u. Konditoren. Wien 1964. U. d. T. ›Wiener Zuckerbäcker‹ neu hg. v. Maria Franchy. Wien 1980. – Genie u. Leidenschaft. Die Frauen um Grillparzer. Wien 1965. – Eine rätselhafte Frau. Madame Récamier u. ihre Freunde. Hbg. 1967. – Elisabeth v. Österr. Lausanne 1971. Literatur: Robert McFarland: Migration as Mediation: ›Neue Freie Presse‹. American Correspondent A. T. L. and Stefan Zweig’s ›Die Monotonisierung der Welt‹. In: Seminar 42 (2006), H. 3, S. 242–260. Elisabeth Chvojka / Red.

Weitere Werke: Styria u. die Kunst. Ein Vorspiel. Graz 1825. – Styrias Huldigung [...]. Graz 1830. – Johann Baptist, kaiserl. Prinz u. Erzhzg. v. Österr. Graz 1860. – Herbstblumen. Neue Gedichte. Stgt. 1870. – Novellen u. Gedichte. Wien u. a. 1880. – Gedichte. Hg. Anton Schlossar. Lpz. 1906. Literatur: Kornelia Holzeland: L. als Lyriker u. Balladendichter. Diss. Wien 1921. – Lit. in der Steiermark. Graz 1976, S. 184 f. (Kat.). – Erwin Streitfeld: Der Grazer Dichter K. G. Ritter v. L. u. Theodor Storm. In: Histor. Jb. der Stadt Graz 10 (1979), S. 169–202. Cornelia Fischer / Red.

Leitner, Maria, * 19.1.1892 Varazˇdin/Südungarn, heute Kroatien, † nach dem 4.3. 1941. – Romanautorin, Reporterin u. Übersetzerin. Als Tochter einer deutschsprachigen jüd. Familie lebte L. seit 1896 in Budapest, bevor sie 1910–1913 in der Schweiz studierte. Gegen Ende des Ersten Weltkriegs wurde sie Mitbegründerin des Kommunistischen Jugendverbands Ungarns u. Mitgl. der Kommunis-

Leixner

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tischen Partei. Nach dem Sturz der ungari- Frauen in Exilromanen v. Ödön v. Horváth, M. L., schen Räterepublik emigrierte sie über Wien Anna Gmeyner u. Irmgard Keun. In: Gender – Exil nach Berlin. 1933 floh L. vor den National- – Schreiben. Hg. Julia Schöll. Würzb. 2002, sozialisten über Prag nach Frankreich, wo sie S. 109–126. – Dies.: Young Love – Negotiations of the Self and Society in Selected German Novels of zeitweilig interniert wurde. Seit einem letzthe 1930s. Ffm. 2002. – Svoboda Dimitrova-Moeck: ten Brief aus Marseille (4.3.1941) ist L. ver- Women Travel Abroad 1925–1932. M. L., Erika schollen. Sie wurde vermutlich in Südfrank- Mann, Marieluise Fleisser, and Elly Beinhorn. Bln. reich oder in einem Konzentrationslager er- 2009. Matthias Harder / Red. mordet. L. war seit 1913 Mitarbeiterin u. AusLeixner, Leixner-Grünberg, Otto von, * 24.4. landskorrespondentin verschiedener Buda- 1847 Schloss Saar (Zd’ár)/Mähren, † 12.4. pester Zeitungen. 1925 bis etwa 1930 bereiste 1907 Groß-Lichterfelde bei Berlin. – Krisie mehrfach Nord-, Mittel- u. Südamerika u. tiker, Essayist, Novellist, Lyriker, Literarschrieb Reportagen, v. a. für Blätter des Ull- historiker. stein-Konzerns (u. a. Uhu. Bln. 1925). Ihre Amerika-Erfahrungen verarbeitete L. 1930 in L. war Sohn eines Gutsverwalters. Sein 1866 dem Reportageroman Hotel Amerika (Bln.), in Graz begonnenes, in Marburg fortgesetzihre besten Reportagen fasste sie u. d. T. Eine tes Studium der Naturwissenschaften, ÄsFrau reist durch die Welt (Bln./Wien 1932. Bln. thetik u. Literaturgeschichte betrieb er nach 1988) zusammen. L.s letzter überlieferter dem Wechsel nach München (1868) nurmehr Roman, Elisabeth, ein Hitlermädchen, erschien nebenbei, zugunsten von literar. Bekannt1937 in der »Pariser Tageszeitung« (2. Jg., schaften (u. a. mit Carriere) u. Journalbeiträgen. 1874 zog er nach Berlin, wo er KunstreNr. 315–367). L.s Werk ist im Wesentlichen von ihren ferent der »Spenerschen Zeitung« u. Mitresozialen Erfahrungen als Frau u. von ihrem dakteur Paul Lindaus bei der »Gegenwart« Engagement gegen den Faschismus be- wurde; seit 1883 redigierte er die »Deutsche stimmt. Durch ihre Gestaltungskraft stehen Roman-Zeitung«. Als Kunstkritiker machte L.s Arbeiten in der Nähe der literar. Repor- sich L. für den zeitgenöss. Realismus stark (Die moderne Kunst und die Ausstellungen der tage von Egon Erwin Kisch. Berliner Akademie 1817–1878. 2 Bde., Bln. 1878/ Weitere Werke: Tibetan. Märchen. Übers. u. 79); erfolgreich waren die im kultivierten hg. v. M. L. Bln. 1923. – Wehr dich Akato! Ein Studien für Urwaldroman. In: Arbeiter Illustrierte Ztg. Bln., Plauderton gehaltenen Ästhetischen 6 11. Jg. (1932), Nr. 51 bis 12. Jg. (1933), Nr. 10 die Frauenwelt (Lpz. 1880. Bln. 1901). Aus (unvollst.). – Reportagen aus Amerika. Eine Frau- seinem vielseitigen Werk – neben Lyrik enreise durch die Welt der Arbeit in den 1920er (Dämmerungen. Stgt. 1886), dem Festspiel zur Deutschlands Auferstehen Jahren. Hg., bearb. u. Nachw. v. Gabriele Habinger. Reichsgründung Wien 1999. (Mchn. 1870) u. Prosawerken (u. a. Also sprach Literatur: Helga Schwarz: M. L. – Eine Ver- Zarathustras Sohn. Bln. 1897), auch kulturschollene des Exils? In: Exilforsch. 5 (1987), (Unser Jahrhundert. 2 Bde., Stgt. 1880–82) u. S. 123–134. – Eva-Maria Siegel: Jugend, Frauen, literarhistor. Darstellungen (Illustrierte LiteraDrittes Reich. Autorinnen im Exil 1933–45. Pfaf- turgeschichte. 4 Bde., Lpz. 1879–82) – heben fenweiler 1993 (zgl.: Diss. Bln. 1991 u. d. T.: Weibl. sich die gegen den materialist. Zeitgeist wie Jugend im NS. Massenpsycholog. Aspekte im eine veräußerlichte Religion u. für eine SubExilroman v. Hermynia Zur Mühlen, Irmgard sidiargemeinschaft eintretenden Essays (u. a. Keun u. M. L.). – Gislinde Schwarz: ›Die Welt verLaienpredigten für das deutsche Haus. Bln. 1894) ändern‹. M. L. (1892–1942?). In: Die Reisen der Frauen. Hg. Susanne Härtel u. Magdalena Köster. u. weit verbreitete Spruchdichtungen (Aus der Weinheim 1994, S. 206–231. – Christa Gürtler: Vogelschau. Bln. 1890. Aus meinem Zettelkasten. Über M. L. (1892–1942?). In: LuK (2000), H. 343/ Bln. 1896) heraus. 344, S. 103–108. – Anja C. Schmidt-Ott: ›Ich muss mich schwächer zeigen, als ich bin, damit er sich stark fühlen u. mich lieben kann‹: Männer u.

323 Literatur: Werkverzeichnis: Goedeke Forts. – Weitere Titel: Karl Storck: O. v. L. Bln. 1897. – Valerie Hanus: L. In: ÖBL. Arno Matschiner / Red.

Lemm, Alfred, eigentl.: A. Lehmann, * 6.12.1889 Berlin, † 16.10.1918. – Expressionistischer Erzähler, politischer Publizist u. Kulturzionist. Thomas Mann empfahl dem S. Fischer Verlag im April 1917 die Prosa L.s, an der er »etwas Grotesk-Seelenhaftes« schätzte. Leider ohne Erfolg – der Berliner Expressionist gehört seither zu den Vergessenen der Literaturgeschichte. Die bei S. Fischer abgelehnten Erzählungen L.s erschienen zwar 1918 im Münchner Roland-Verlag u. d. T. Mord (Bd. 1: Erzählungen; Bd. 2: Versuche. Nachdr. 1973), u. der Roman Der fliehende Felician war schon 1917 renommiert bei Georg Müller herausgekommen. Doch die relativ kleine Zahl veröffentlichter Texte – selbst in so führenden Zeitschriften wie »Die Neue Rundschau« – reichten in der kurzen Lebenszeit nicht zu L.s literar. Durchbruch. Mit nur 28 Jahren starb der Sohn eines jüd. Buchhändlers an der epidem. Grippe des Winters 1918 u. wurde auf dem jüd. Friedhof Berlin-Weißensee beerdigt. Die Grabinschrift lautet: »Sein Streben war Reinheit Wahrheit / und Gerechtigkeit / Strenge gegen sich selbst / voll großer Liebe für seine Kunst / und die Menschen.« Seine Frau Susi, geb. Behr, die L. im März 1916 geheiratet hatte, erzog Peter Zadek, ihren Sohn aus zweiter Ehe, nach L.s Vorbild als »Ersatz für Alfred« zum Künstler. Tatsächlich verteidigte der überzeugte Kriegsgegner u. Demokrat L. seine polit. Ideale ebenso entschieden wie zionist. Unterrichts- und Siedlungsprojekte. Letztere wollte er wie sein Bruder Siegfried Lehmann, Gründer des jüd. Volksheims in Berlin u. des Kinderdorfes Ben Shemen in Palästina, durch die Vermittlung der hebr. Sprache u. chassid. Traditionen im polnisch-galiz. »Zwischenland« verwirklichen. Für solche Entwürfe warb L. in Zeitschriften wie Martin Bubers »Der Jude«, Franz Steiners Prager »Selbstwehr« oder Ernst Horneffers »Die Tat« sowie in dem separat publizierten Essay Der Weg der Deutschjuden (Lpz. 1919). In der polit. Streit-

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schrift Vom Wesen der wahren Vaterlandsliebe (Bln. 1917) verurteilte er die vom Patriotismus befeuerte aktuelle Kriegsbegeisterung, u. gegen Thomas Manns unpolit. Zeitdiagnose u. Skepsis gegenüber »Volksherrschaft« im Feuilleton Weltfrieden? (1917) protestierte L. heftig in einem offenen Brief Über die Demokratie (in: »Der Friede«, 5.4.1918). Darin hält er dem bewunderten Schriftsteller – auch mit Berufung auf Heinrich Mann – die Beschränkung auf die »symbolische Anschauungsart« der Kunst, die zur Kriegsrealität nicht passe, sowie seine »Stellungnahme gegen Demokratie« vor, weil nur »die Herrschaft Vieler« Frieden verspreche. L.s seit 1912 entstehende Prosa ist ebenfalls von harscher Sozialkritik geprägt. Sein einziger Roman Der fliehende Felician gestaltet den Ausbruch aus der bürgerl. Sphäre, ernüchternde Erlebnisse in Pariser Außenseiterkreisen u. die scheiternde Rückkehr in die Heimat. Dazu mögen längere Aufenthalte in der frz. Hauptstadt stofflich beigetragen haben, ähnlich wie L.s Erfahrungen als kriegsfreiwilliger Krankenpfleger für einige seiner teils grotesken expressionist. Novellen. Häufig spielen sie in Lazaretten u. Kasernen, im Milieu von Prostituierten, Wahnsinnigen u. Mördern. Nur wenige Anthologien erinnern an L. durch exemplarische Erzählungen wie Weltflucht (entstanden 1914) – die Entfremdungsgeschichte eines in den Suizid getriebenen Mannes – oder Die Hure Salomea (entstanden 1917) über die Selbsthingabe einer jüd. Samariterin an leidende Soldaten. Die Forschung hat sich mit L.s Werk bisher nicht intensiver auseinandergesetzt. Ausgabe: A. L.: Mord. Ges. Prosa. Hg. Thomas Rietzschel. Bd. 1 [mehr nicht ersch.]. Assenheim 1987. Literatur: Biobibliografie: Lex. dt.-jüd. Autoren. – Weitere Titel: Hans J. Schütz: L., A., in: Ders.: ›Ein deutscher Dichter bin ich einst gewesen‹. Vergessene u. verkannte Autoren des 20. Jh. Mchn. 1988, S. 191–196. – Alexander Kosˇ enina: Neue Lebensspuren des expressionist. Schriftstellers A. L. In: ZfG 5 (1995), S. 600–611. – Florian Sendtner: ›Phantastisch bis zum Vertrackten‹. Der unbekannte expressionist. Schriftsteller A. L. (1889–1918). In: Menora 6 (1995), S. 181–198. – Peter Zadek: My Way. Eine Autobiogr. 1926–69.

Lemmermayer Köln 1998 [im Anh.: A. L.: Der Herr mit der gelben Brille]. – Ders.: L., A. In: MLdjL. – Gordon Williams: A. L. and Rudyard Kipling. Ironic Commentaries on Women’s Wartime Shifts. In: Comparative Literary Studies 40 (2003), S. 265–285. Alexander Kosˇ enina

Lemmermayer, Fritz, * 26.3.1856 Wien, † 11.9.1932 Wien; Ehrengrab: ebd., Zentralfriedhof. – Erzähler, Lyriker, Dramatiker, Journalist. Der Sohn eines Porträtmalers studierte ab 1876 an der Universität Wien Philosophie, Geschichte u. Literatur; unterbrochen von einem über zwei Jahrzehnte bis 1925 dauernden Aufenthalt auf Schloss Brogyán/ Brodzany der Fürstin Nathalie von Oldenburg bei St. Nagy-Bélicy/Pártizanske (Ungarn/heute: Slowakei), lebte L. in Wien. Persönlich-freundschaftliche Beziehungen verbanden ihn mit Hieronymus Lorm, Marie Eugenie delle Grazie, Johann Kleinfercher (Fercher von Steinwand), Martin Greif u. Emilie Mataja (Emil Marriot), aber auch mit Anton Bruckner, Christine Hebbel u. dem Philosophen Franz Brentano. Von allen befreundeten Autoren hinterließ bei L. wohl Robert Hamerling den mächtigsten Eindruck, in dem L. keinen Geringeren als den »reichsten Dichter« seiner Zeit verehrte (Erinnerungen. Basel 1992, S. 67). Rudolf Steiner, während der Jahre 1887/90 in Wien ein intimer Freund L.s, sollte in seinem Wirken erst ab 1925 eine wichtige Rolle spielen. Seit seiner Studienzeit veröffentlichte L. in zahlreichen Tagesblättern, Zeitschriften, Revuen belletristische u. literarkrit. Beiträge; nach seiner »anthroposophischen Wende« (1925) machte er sich auch im »Goetheanum« (Dornach/Schweiz) mit 1927–1931 erschienenen Aufsätzen einen Namen. Eine Vielzahl journalistischer Veröffentlichungen flankieren eine Anthologie Die deutsche Lyrik der Gegenwart (Lpz. 1884), eine Gudrun-Übersetzung (Stgt. o. J. [ca. 1889]) u. Beiträge zur Edition des Briefwechsels Friedrich Hebbels (Briefe. Nachlese in 2 Bdn., unter Mitwirkung v. F. L. hg. v. Richard Maria Werner. Bln. 1900. Neue Hebbel-Dokumente. Hg. Dietrich v. Kralik u. F. L. Bln. 1912). L. griff im Banne des lehrdich-

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terisch-gedankenlyr. Klassizismus häufig religiöse Themen auf (Im Labyrinthe des Lebens. Lpz. 1892. Gedichte. Stgt. 1928). Der Dramatiker L. trat mit Simson und Delila (Lpz. 1893) hervor, der Erzähler schließlich mit Belladonna (Bln. 1896), Haschisch (Budapest 1898), Das öde Haus. Armut und Übermut (Lpz. o. J. [1900]) sowie Novellen und Novelletten (Linz 1903). Sein zunächst in Leopold von Sacher-Masochs Zeitschrift »Auf der Höhe« (1883), dann als Buch (Der Alchymist. Ein deutscher Roman aus der Wende des 15. Jahrhunderts. Bln. 1885. Stgt. 1928) u. u. d. T. Der Goldschmied von Köln in der Allgemeinen Büchersammlung lebender Schriftsteller (1890) erschienenes Hauptwerk erzählt von einem Kölner Goldschmied, der nach alchemisch gewonnenem Golde strebt, dabei seine Nächsten zu Grunde richtet u. schließlich »zerrütteten Geistes« als ein ahasverischer Bettler nur noch den Tod sucht; zahlreiche kulturhistor. Episoden einschließlich eines Hexenprozesses können leicht vergessen machen, dass L. im Alchymisten eine zeitkrit. Antwort auf den »auffressenden«, »Geist und Seele« tötenden »Materialismus« seiner Zeit erblickte (Erinnerungen. Basel 1992, S. 97). Weitere Werke: Menschen u. Schicksale. Minden 1890 (E.en). – Ein Hans-Sachs-Abend für das Wiener Burgtheater (mit Richard v. Kralik). Wien 1898. – Die Leiden eines dt. Fürsten (Elimar v. Oldenburg). Bln. 1905 (biogr. Skizze). – Erinnerungen an Rudolf Steiner, Franz Brentano, Anton Bruckner, Fercher v. Steinwand, Robert Hamerling u. andere Persönlichkeiten des österr. Geisteslebens. Stgt. 1929. Basel 1992. Ausgaben: Engl. Lyrik. Vom Ausgang des 18. Jh. bis zum Anfang des 20. Jh. Übertragen in die dt. Sprache v. F. L. Hg. Andrea Hitsch. Ottersberg 1999. Literatur: Giebisch/Gugitz. – V. Hanus: L. In: ÖBL. – I. Bigler: L. In: Kosch. – Andrea Hitsch: F. L. Ein Jugendfreund v. Rudolf Steiner. Erste umfangreiche Biogr. mit neu aufgefundenen Archivalien u. zahlreichen Abb.en. Feldkirchen 2006. Joachim Telle

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Lemnius (Emporicus), Simon, auch: Lutius Pisaeus Iuvenalis, eigentl.: LemmMargadant, * ca. 1511 Hof Guad (Geburtshaus noch erhalten) bei Santa Maria im Münstertal (Val Müstair)/Graubünden, † 24.11.1550 Chur. – Lyriker, Epiker u. Übersetzer. Der Sohn eines Bündner Landwirtes besuchte nach dem Erwerb schulischer Elementarbildung in Chur (die Eltern waren früh verstorben) seit ca. 1530 das von dem Humanisten Wolfgang Anemoecius (Winthuser) geleitete Gymnasium St. Peter in München. Als Anemoecius 1531 sein Amt aufgeben musste, folgte ihm L. an seine neuen gymnasialen Wirkungsstätten, zunächst nach Ulm, dann, 1532, nach Augsburg. Ein Jahr später, zum Wintersemester 1533/34, ließ sich L. an der Universität Ingolstadt immatrikulieren, wechselte aber schon 1534 an die Universität Wittenberg. Dort gehörte er, ebenso wie die ihm befreundeten Dichter Georg Sabinus u. Johannes Stigel (Stigelius), zum Schülerkreis Philipp Melanchthons, von dem er schon im April 1535 an der Artistenfakultät zum Magister promoviert wurde. Offenbar in nicht unbegründeter Hoffnung auf eine akadem. Karriere blieb L. in den nächsten Jahren der Universität Wittenberg verbunden: Wie seiner Apologia (1539) zu entnehmen ist, lag der Schwerpunkt seiner Studien auf gräzist. Gebiet (Homer). Melanchthon erwies sich ihm gegenüber als verständnisvoller, hilfsbereiter Förderer: Als sich L. 1537 in einer finanziellen Notlage befand, nachdem sein nicht unbeträchtliches väterl. Erbe aufgebraucht war, erwirkte ihm Melanchthon beim Rat der Stadt Augsburg, wo L. anscheinend von seiner Gymnasialzeit her noch bekannt war, ein Stipendium. Wie schon als Schüler des Anemoecius war L. auch in Wittenberg mit vereinzelt (in fremden Publikationen) gedruckten oder auch nur handschriftlich kursierenden lat. u. griech. Gedichten hervorgetreten, hatte sich also schon in seinem engeren Umfeld als Poet einen Namen gemacht, als am Pfingstsonntag (9. Juni) 1538 in Wittenberg seine erste selbständige poet. Publikation, Epigrammaton libri duo, auf den Markt kam, die ihm zum Ver-

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hängnis werden sollte. Nachdem an diesem Tag vor der Wittenberger Stadtkirche etwa hundert Exemplare verkauft waren, verfügte der Rat der Stadt die Beschlagnahmung der übrigen Exemplare, mit der Begründung, dass in diesem Buch ehrbare Bürger Wittenbergs mit Schmähgedichten verunglimpft würden. Der Drucker Nickel Schirlenz wurde ins Gefängnis geworfen, weil er das Buch gedruckt habe, ohne die Genehmigung des Rektors der Universität (damals Melanchthon) eingeholt zu haben. Letzteres entsprach sicherlich nicht den Tatsachen, auch wenn Melanchthon, der durch die ganze Angelegenheit selbst in schwerste Bedrängnis geraten war, dies später in seinem gewundenen Rechtfertigungsschreiben an seinen Landesherrn, den Kurfürsten Johann Friedrich, vom 10. Juli 1538 zu insinuieren suchte. L. selbst wurde angewiesen, die Stadt nicht zu verlassen u. nichts von seinem Hausrat wegzuschaffen. Von guten Freunden eindringlich gewarnt, dass er an Leib u. Leben gefährdet sei, versteckte sich L. die Nacht über in einem von seiner Wohnung weit entfernten Haus u. verließ am frühen Morgen des nächsten Tages heimlich die Stadt. Nachdem der flüchtige L. vom Universitätssenat zweimal vergeblich vorgeladen worden war, wurde er am 4. Juli 1538 förmlich cum infamia relegiert. Die noch nicht verkauften Exemplare der Epigrammaton libri duo wurden verbrannt. Das Relegationsdekret basierte im Wesentlichen auf zwei Vorwürfen: L. habe mit der Veröffentlichung von Schmähschriften gegen die Universitätsstatuten verstoßen, die solches verböten, u. mit der Flucht aus Wittenberg seinen Immatrikulationseid gebrochen, mit dem er sich zum Gehorsam gegenüber Anordnungen des Rektors verpflichtet hätte. Der quellenmäßig gut dokumentierte Ablauf der Ereignisse lässt deutlich erkennen, dass als treibende Kraft hinter allen gegen L. ergriffenen Maßnahmen Martin Luther stand, der dem Autor weniger die eigentlich größtenteils harmlosen u. nur in wenigen Fällen zweifelsfrei auf Wittenberger Persönlichkeiten zu deutenden satir. Epigramme verübelte als vielmehr die in dem Büchlein enthaltenen Widmungs- u. Lobgedichte auf den Erzbischof von Mainz, Albrecht von Brandenburg,

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in dem Luther seinen Hauptfeind sah u. gegen den er einen tiefen Hass hegte. Am Sonntag nach Pfingsten 1538 hatte Luther, der in der Sache im Übrigen keine behördl. Kompetenzen besaß, eine von ihm eigenmächtig in Druck gegebene Erklärung in der Wittenberger Stadtkirche verlesen, in der er die Ansicht vertrat, dass L. ein »ehrloser bube« sei, der wegen seiner Schmähgedichte »nach allen rechten [...] billich den kopff verloren hette«, falls man seiner habhaft geworden wäre, u. in der er alle Wittenberger Poeten unter Androhung ernster Konsequenzen davor warnte, den »Scheisbisschoff« u. »Scheispfaffen« Erzbischof Albrecht jemals wieder öffentlich zu loben oder zu rühmen. L. floh zunächst über Zahna, Jüterbog u. Kloster Zinna zum Kloster Lehnin (Mark Brandenburg), wo er von dem Abt Valentin, einem Luther-Gegner, elf Tage lang freundlich bewirtet u. mit einem Geldgeschenk verabschiedet wurde. Von dort reiste er auf schnellstem Wege nach Mainz, an den Hof des von ihm in den Epigrammen hauptsächlich wegen seiner mäzenat. Qualitäten gepriesenen Erzbischof Albrecht, mit dem er wohl schon vor längerer Zeit in Kontakt getreten war. Im Herbst 1538 suchte er Frankfurt/M. u. mehrere Städte des Rheinlands auf. Nach einem nicht mehr vollständig rekonstruierbaren Wanderleben kehrte er gegen Ende des Jahres 1539 oder Anfang 1540 wieder in seine Heimat Graubünden zurück. Im Verlauf seiner Wanderungen durch Deutschland führte er eine scharfe publizist. Kampagne gegen den für seine Relegation verantwortl. Personenkreis (ausgenommen Melanchthon, in dem er auch ein Opfer Luther’scher Machtanmaßung sah). Zunächst ließ er im Herbst 1538 eine um ein drittes, hauptsächlich Schmähgedichte auf Luther u. andere Wittenberger Gegner enthaltendes Buch vermehrte Neuauflage seiner Epigramme erscheinen (Epigrammaton libri III. o. O., Drucker u. J.; im Anhang eine dem Erzbischof Albrecht gewidmete Querela). Im Frühjahr 1539 folgte die in Köln bei Johannes Gymnicus gedruckte Apologia, sein einziges Prosawerk, eine mit scharfen Angriffen gegen Luther u. die Universität Wittenberg ange-

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füllte Rechtfertigungsschrift, kurz darauf, unter dem Pseud. Lutius Pisaeus Iuvenalis, die Monachopornomachia (»Mönchshurenkrieg«, erschienen ohne Angabe von Druckort, Jahr u. Drucker, mit dem fiktiven Titelvermerk »Datum ex Achaia Olympiade nona«), eine pornograf. Szenenfolge, in der das Sexualleben von Luther, Justus Jonas u. Georg Spalatin u. ihrer Ehefrauen, die allesamt als handelnde Personen auftreten, auf obszönste Weise verhöhnt u. verunglimpft wird. Ebenfalls noch im Verlauf des Jahres 1539 (o. O. u. Drucker) hatte L. seine Elegia in commendationem Homeri de bello Troiano, eine Inhaltsangabe der Ilias in 336 Versen, erscheinen lassen, mit der er an seine Homer-Studien bei Melanchthon anknüpfte u. zgl. gewissermaßen seine neue Lebensepoche als Lehrer an der Lateinschule St. Nikolai in Chur publizistisch einleitete. Die Berufung in dieses Amt hatte L. wahrscheinlich der Fürsprache des Johannes Travers, eines angesehenen Bündner Staatsmannes u. Schriftstellers (Schöpfers der rätoroman. Schriftsprache), zu verdanken. Diese Stelle verlor L. 1542 wieder aus nicht ganz klar ersichtl. Gründen. Die in der Forschungsliteratur immer wieder vertretene These, dass seine Schuloberen an den in ebendiesem Jahr (o. O. u. Drucker) erschienenen, teilweise erotisch recht freie eleg. Texte enthaltenden Amorum libri IIII Anstoß genommen u. ihn darum für sein Lehramt als nicht mehr tragbar angesehen hätten, ist nicht haltbar, da dieses Werk erst nach seinem Weggang von Chur erschienen sein kann. Anlass für seine Kündigung waren wohl vielmehr die gegen die Wittenberger gerichteten Schriften der Jahre 1538/39, von denen die maßgebl. Persönlichkeiten in Chur vermutlich erst mit Verspätung Kenntnis erhalten hatten (die Zweitausgabe der Epigramme oder die Monachopornomachia). Den Rest des Jahres 1542 u. das ganze folgende Jahr verbrachte L. in Bologna, wo er von Achille Bocchi in die Academia Ermatena aufgenommen u. zum Poeta laureatus gekrönt wurde. Während des Aufenthalts in Bologna erschien in Venedig seine lat. Übersetzung der Erdbeschreibung des Dionysius Periegetes (De situ habitabilis orbis, 1543).

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1544 kehrte L. nach Chur zurück u. nahm dort, wohl dank erneuter Fürsprache von Johannes Travers, seine Lehrtätigkeit an der Nikolai-Schule wieder auf. Diese zweite Anstellung hat er vermutlich bis zu seinem Tode innegehabt. In dieser Zeit erschien bei Oporinus in Basel sein gewichtigstes Werk: die Übersetzung von Homers Odyssee in lat. Hexametern (Odysseae Homeri libri XXIIII, 1549; im Anhang auch die Batrachomyomachia in lat. Übersetzung). Als im Juni 1550 in Chur eine schwere Pestepidemie ausbrach, floh L. nach Basel u. fand dort Aufnahme im Haus seines Verlegers Oporinus. Der Pesttod ereilte ihn dennoch, nach seiner Rückkehr nach Chur, am 24. Nov. 1550. Bei Oporinus hatte er das Manuskript seines letzten im Druck erschienenen Werkes, Bucolicorum aeglogae [=eclogae] quinque, zurückgelassen; es erschien, ohne Jahresangabe, vermutlich noch 1550. Die zweite u. dritte Ekloge reflektieren in pastoraler Verkleidung die jüngsten Ereignisse: die zweite mit der Schilderung der Pest in Graubünden, die dritte (überschrieben Hodoeporicon) mit der Beschreibung der Reise des L. von Chur nach Basel (einzige bisher bekannte nlat. Reisedichtung in Eklogenform). L. hinterließ bei seinem Tode das Manuskript eines noch nicht ganz vollendeten umfangreichen Epos De bello Raetico (Raeteis): eine Verherrlichung der Heldentaten seiner Landsleute in der Schlacht an der Calven, einem entscheidenden Ereignis im Schwabenkrieg (1499), in dessen Folge die Schweiz aus dem Reichsverband ausschied. Eine hist.-krit. Edition dieses Werkes auf der Grundlage einer Recensio der überlieferten Abschriften (das Originalmanuskript ist verschollen) steht noch aus; vorläufigen Ersatz bietet die alte Ausgabe von Placidus Plattner (1874). Der Nachruhm des Dichters blieb durch seinen Konflikt mit Luther u. der Universität Wittenberg, v. a. aber durch die auch für wohlwollende Zeitgenossen befremdl. Maßlosigkeit, mit der er sich publizistisch zur Wehr gesetzt hatte, für lange Zeit belastet. Einen entschiedenen Fürsprecher fand der für zwei Jahrhunderte verfemte L. in Lessing, der in den ersten acht Nummern seiner Briefe (erschienen 1753 innerhalb der ersten Ausgabe der Schriften) anhand eingehender Aus-

Lemnius

wertung der Quellen zu dem Schluss kam, dass die gegen L. seitens der Universität Wittenberg erhobenen Vorwürfe kaum berechtigt u. das ganze Verfahren gegen ihn letztlich ein Akt blindwütiger Tyrannei Luthers gewesen sei, der seinen Hass gegen den Erzbischof von Mainz an einem an sich harmlosen Poeten ausgelassen u. damit dessen zwar nicht durchweg zu billigende, aber doch menschlich verständliche wüste Gegenpolemik provoziert habe. Ausgaben: Die Raeteis. Schweizerisch-dt. Krieg v. 1499. Epos in IX Gesängen. Hg. mit Vorw. u. Commentar v. Placidus Plattner. Chur 1874. – Epigrammaton libri tres; Querela; Apologia; Monachopornomachia [kritisch bearb. Texte, alle mit dt. Übers.]. In: Lothar Mundt: L. u. Luther. Studien u. Texte zur Gesch. u. Nachwirkung ihres Konflikts (1538/39). Tl. 2: Texte. Bern/Ffm./New York 1983. – Elegia in commendationem Homeri de bello Troiano [hg. u. übers. v. L. Mundt]. In: Daphnis 17 (1988), S. 205–222. – Amorum libri IV / Liebeselegien in vier Büchern. Nach dem einzigen Druck v. 1542 hg. u. übers. v. L. Mundt. Bern/Ffm./New York 1988. – Bucolica / Fünf Eklogen. Hg., übers. u. komm. v. L. Mundt. Tüb. 1996. – Ältere Ausg.n u. Übers.en v. Schr.en des L. sind aufgeführt bei Mundt: L. u. Luther (1983), Tl. 1, S. 300 f. – Ausw. lat./dt. mit Komm. in: HL, S. 547–569, 1276–1285. Literatur: Gotthold Ephraim Lessing, Briefe, Nr. 1–8 [1753]. In: Ders.: Sämtl. Schr.en. Hg. Karl Lachmann. 3. Aufl., besorgt durch Franz Muncker. Bd. 5, Stgt. 1890, S. 41–64. – Georg Theodor Strobel: Leben u. Schr.en Simonis Lemnii. Worin bes. v. seinen berüchtigten Epigrammen hinlängl. Nachricht ertheilet wird. Nürnb. 1792; auch in: Ders.: Neue Beyträge zur Litt., bes. des sechszehnten Jh. Bd. 3, 1. Stück, Nürnb. 1792, S. 3–156 (weitere Beiträge v. Autoren des 18. Jh. verzeichnet bei Mundt: L. u. Luther [1983], Tl. 1, S. 301 ff.). – Ferdinand Vetter: S. L. In: ADB. – Hugo Holstein: S. L. In: ZfdPh 20 (1887), S. 481–487. – Emil Michael: Luther u. L. Wittenbergische Inquisition 1538. In: ZKTh 19 (1895), S. 450–466. – Otto Clemen: Zur Relegation des S. L. In: Ders.: Beiträge zur Reformationsgesch. aus Büchern u. Hss. der Zwickauer Ratsschulbibl. H. 1, Bln. 1900, S. 59–62. – Traugott Schiess: Zur Gesch. der Nicolaischule in Chur während der Reformationszeit. In: Mitt.en der Gesellsch. für dt. Erziehungs- u. Schulgesch. 13 (1903), S. 107–145. – Paul Merker: S. L. Ein Humanistenleben. Straßb. 1908. – S. W. F. Margadant: Das Geburtsjahr v. S. L. In: AfdA 34 (1910), S. 125 f. – Walter Brecht: Das Geburtsjahr v. S. L. Ebd.,

Lenau S. 126–128. – Janett Michel: Die Quellen zur ›Raeteis‹ des S. L. Diss. Zürich 1914. Auch in: Jahresber. der Histor.-antiquar. Gesellsch. v. Graubünden 42 (1912/13), S. 97–222; 43 (1913/14), S. 1–112. – Georg Ellinger: S. L. als Lyriker. In: Festgabe Friedrich v. Bezold dargebracht zum 70. Geburtstag v. seinen Schülern, Kollegen u. Freunden. Bonn/Lpz. 1921, S. 221–233. – Janett Michel: Vom Humanismus u. seinen Anfängen in Graubünden (L. u. Campell). Vortrag gehalten in der Histor.-Antiquar. Gesellsch. v. Graubünden am 14. Jan. 1930. Beilage zum Kantonsschulprogramm 1929/30. [Chur 1930]. – T. Schiess: Ein Brief des S. L. an Vadian (Chur, 26. Juli 1541). In: Ders.: Beiträge zur Gesch. St. Gallens u. der Ostschweiz. St. Gallen 1932, S. 216–228. – Gerhart Sieveking: Die Beichte des S. L. an Gian Travers. In: Rätia 6 (1944), S. 179–190. – Ders.: Aus den Gedichten des S. L. Ins Deutsche übertragen v. G. S. Ebd., S. 193–207. – Ders.: Die drei Engadiner Humanisten Gian Travers, Marcus Tatius Alpinus u. S. L. Mit Übers.en aus ihren Dichtungen. In: Bündnerisches Monatsblatt, Jg. 1946, Nr. 7/8, S. 193–237. – W. Ganß: Die ›Raeteis‹ des S. L. Ein Epos über den Schwabenkrieg. In: Jb. des histor. Vereins für das Fürstentum Liechtenstein 55 (1955), S. 25–53. – Wilhelm Jenny: S. L. Zum Verständnis des Poeten u. Menschen. In: Ders.: Johannes Comander. Lebensgesch. des Reformators der Stadt Chur. Bd. 1, Zürich 1969, S. 325–340. – Peter Wiesmann: S. L. In: Bedeutende Bündner aus fünf Jahrhunderten. Bd. 1, Chur 1970, S. 109–126. – Lothar Mundt: L. u. Luther. Studien u. Texte zur Gesch. u. Nachwirkung ihres Konflikts (1538/39). Tl. 1: Studien, Bern/Ffm./New York 1983. – Peter Ukena: S. L. In: NDB. – Franz Wachinger: Anmerkungen zu den Epigrammen des S. L. In: Humanistica Lovaniensia 34 B (1985), S. 114–132. – Ders.: L. u. Melanchthon. In: ARG 77 (1986), S. 141–157. – L. Mundt: Von Wittenberg nach Chur. Zu Leben u. Werk des S. L. in den Jahren ab 1539. In: Daphnis 17 (1988), S. 163–222. – Ders.: Zu den ›Amores‹ (1542) des S. L. In: Acta Conventus Neo-Latini Torontonensis. Proceedings of the 7th International Congress of Neo-Latin Studies Toronto 1988. Hg. Alexander Dalzell u. a. Binghamton/New York 1991, S. 519–528. – Gian Andrea Caduff: Dialen bei S. L. Zur Frage einer mündl. Sagenüberlieferung. In: Bündner Monatsblatt, Jg. 1991, Nr. 4, S. 268–298. – Ders.: Der Mythos v. der Entdeckung der Pfäferser Therme. Aegidius Tschudi u. S. L. Ebd., Jg. 1993, Nr. 1, S. 30–52. – Walther Ludwig: Zur Verbreitung u. Bedeutung der Epigramme des S. L. In: Daphnis 23 (1994), S. 659–664. – Jaumann Hdb. – F. Wachinger: Ein frühes L.-Gedicht [aus den ›Progymnasmata‹ (Augsb. 1533) des Marcus Tatius Alpinus].

328 In: Strenae nataliciae. Nlat. Studien. Wilhelm Kühlmann zum 60. Geburtstag hg. v. Hermann Wiegand. Heidelb. 2006, S. 247–252. – Flood, Poets Laureate, Bd. 3, S. 1121–1124. Lothar Mundt

Lenau, Nikolaus, eigentlich: Franz Niembsch, Edler von Strehlenau, * 13.8. 1802 Csatád (heute: Lenauheim) bei Temesvár, Rumänien, † 22.8.1850 Oberdöbling (heute zu Wien); Grabstätte: Weidling bei Wien. – Schriftsteller. L. gehört zu den wichtigsten Autoren der in romantischer Tradition stehenden österr. Schriftsteller. Wie Friedrich Schlegel, der »die Poesie lebendig und gesellig, und das Leben und die Gesellschaft poetisch« werden lassen wollte, postulierte der dem europ. »Weltschmerzpoeten« zugehörige melanchol. Dichter L.: »die Poesie bin ich selber; mein selbstestes Selbst ist die Poesie.« Seine Kindheit u. Jugend verbrachte L. in Ungarn, wo er in Pest das Piaristengymnasium besuchte. Elegische Reminiszenzen an das ungarische Leben finden sich in L.s gesamtem literar. Werk, wie in einem seiner bekanntesten Gedichte Die drei Zigeuner u. in den Heidebildern. Der Vater Franz Niembsch verstarb bereits 1807. Sein Tod stürzte die Familie in finanzielle Nöte, die auch durch die Wiederverheiratung der Mutter 1811 nicht gemildert wurden. 1818 zog L. zu den Großeltern nach Stockerau bei Wien u. nahm im Okt. desselben Jahres ein Philosophiestudium auf. Ende 1820 wurde der Großvater geadelt u. führte den Titel »Edler von Strehlenau«. Mit ihm erhielten auch die männl. Nachkommen das Adelsdiplom. Nach einem Streit mit der Großmutter flüchtete L. 1821 zu seiner Mutter nach Pressburg u. studierte dort vorübergehend ungarisches Recht, anschließend in Ungarisch-Altenburg bis März 1823 Landwirtschaft. Seine ersten Gedichte in der Formensprache der Empfindsamkeit sind in dieser Zeit entstanden. 1823 kehrte L. nach Wien zurück, studierte von 1824 bis 1826 ohne Abschluss Jurisprudenz, anschließend begann er mit einem Medizinstudium, das er wiederum abbrach. Nach dem Tod der Mutter 1829 u. dem der Großmutter 1830 konnte L. über ein kleines Erbe verfügen, das

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ihm ein Leben als freier Schriftsteller ermöglichte. In dem Gedicht Glauben, Wissen, Handeln, das als erstes unter dem Namen Lenau publiziert wurde, lässt er seine Wiener Jahre Revue passieren. Verloren sind der Glaube, die Hoffnung auf erfüllte Liebe u. die Illusion, die Wissenschaft könnte Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens geben. »Und du, mein Leben, warf zur stillen Feier/Den Gram das Schicksal um dein Angesicht«. Im Juni 1831 verließ L. Wien u. reiste nach Stuttgart, um über den schwäb. Romantiker Gustav Schwab Johann Friedrich Freiherr von Cotta, den »aristokratischen Sachverwalter der Klassik«, als Verleger seiner Gedichte zu gewinnen. Im Verlag Goethes u. Schillers wurden L.s Gedichtbände zu den erfolgreichsten seiner Zeit, u. in Stuttgart wurde der »ungarische« Poet alsbald von den Dichtern der sog. »Schwäbischen Dichterschule« umworben. »Ich habe eine poetische Wallfahrt gemacht zu Uhland, Maier, Justinus Kerner, [...], mein ganzes Leben war ein höchst poetisches.« Dieses »poetische Leben« ortete sich auch politisch: Durch die Revolution in Polen beeinflusst, entstanden die ersten krit. Gedichte, die L. später zu einem der bekanntesten österr. Vormärzdichter werden ließen. Es folgten 1832 die Schilflieder, die neben den Heidebildern zu seinen bekanntesten Zyklen gehören. Im Sommer reiste L. nach Amerika: »Amerika! Welcher Name hat einen Inhalt gleich diesen Namen!« Er kehrte jedoch enttäuscht über die dortige gesellschaftl. Realität nach Europa zurück: »Ich bin zurückgekommen aus dem fremden Ertteil, ein großer Resignierter«. L. lebte seitdem abwechselnd in Schwaben u. in Wien. Dort verliebte er sich 1834 in die verheiratete Sophie von Löwenthal. Ihr Briefwechsel gehört nach Hugo von Hofmannsthal zu einem der wichtigsten Zeugnisse des »Weltschmerzpoeten«. 1833 erschien bei Cotta bereits die 2. Auflage seiner Gedichte, ein Jahr später die Versdichtung Faust. Ein Gedicht, in dem nach Sören Kierkegaard das »Musikalische« u. damit das »Ästhetische« in der Bedeutung seines Werkes Entweder-Oder im Zentrum stand. »Bei diesem Stoff«, so L. selbst, »kommt alles auf

Lenau

psychologische und metaphysische Einheit an«. 1837 erschien das Versepos Savonarola. Ein Gedicht (Stgt.). Nach der Flucht in das Leben ist es hier die Sehnsucht nach dem »ganz Anderen«, die L. an den Anfang setzt – mit einem Bild möglicher Versöhnung lässt er das Epos enden. Der Savonarola sollte ursprünglich Teil einer umfassenden Ketzertrilogie werden, die durch Dichtungen über Hus u. Hutten komplettiert werden sollte. 1838 folgten die Neueren Gedichte (Stgt.), 1841 eine zweibändige Sammlung seiner Lyrik (Stgt./ Tüb.). 1842 wurden seine »freien Dichtungen« Die Albigenser (Stgt.) publiziert; eine »der größten, geistigsten und blutigsten Rollen der Geschichte rollt sich mir auf«, konstatierte L. Das Ketzerdrama gestaltet er als ein leidenschaftl. Plädoyer für eine demokratische u. humane Gesellschaft, was sich direkt auf die gesellschaftl. Widersprüche im Vormärz beziehen lässt: »Millionen wunde Herzen seh ich bluten«. In seinen letzten Jahren arbeitete L. an den »dramatischen Szenen« seiner Don Juan-Dichtung, einer seiner modernsten Texte, der später von Richard Strauss vertont wurde. Die verzweifelte Flucht in das Leben u. die vergebl. Feier des Augenblicks stehen im Zentrum des Fragment gebliebenen Stückes. Nach einem Schlaganfall u. mehreren Selbstmordversuchen wurde L. 1844 in die Heilanstalt nach Winnenthal bei Stuttgart gebracht u. drei Jahre später in die Heilanstalt Oberdöbling bei Wien überführt, wo er 1850 starb. L.s Werk hat auf den Ästhetismus der Wiener Jahrhundertwende eingewirkt, wurde im 20. Jh. immer wieder zitiert u. taucht als Chiffre für ein sich am Rande der gesellschaftl. Ansprüche definierendes Ich immer wieder auf, etwa in Ferdinand Kürnbergs Der Amerika-Müde (1855), bei Erich Mühsam, in Peter Härtlings Roman Niembsch oder der Stillstand (1964) u. in Gernot Wolfgrubers Verlauf eines Sommers (1984). Ausgabe: Werke u. Briefe. Hist.-krit. Gesamtausg. Hg. im Auftrag der Internationalen LenauGesellsch. v. Helmut Brandt u. a. 8 Bde., Wien/Stgt. 1989–96. Literatur: Wolfgang Martens: Bild u. Motiv im Weltschmerz. Studien zur Dichtung L.s. Köln/Graz 2 1976. – Antal Mádl: Auf L.s. Spuren. Wien/Buda-

Lengerke pest 1982. – Hansgeorg Schmidt-Bergmann: Ästhetismus u. Negativität. Studien zum Werk N. L.s. Heidelb. 1984. – Günter Häntzschel: N. L. In: NDB. – Ingeborg Koza: N. L. In: Bautz. – Eduard Schneider u. Stefan Sienerth: ›Ich bin ein unstäter Mensch auf Erden‹. N. L. Mchn. 1993. – H. Schmidt-Bergmann: N. L. Gedichte. Ffm. 1998. – Ders.: N. L. – zwischen Romantik u. Moderne. Studien. Wien 2003. – Winfried Freund: ›Natur! – will dir ans Herz mich legen!‹ N. L. – eine Hommage an den Dichter aus Anlaß seines 200. Geburtstags. In: In dem milden u. glückl. Schwaben u. in der Neuen Welt. Beiträge zur Goethezeit. FS Hartmut Fröschle. Hg. Reinhard Breymayer. Stgt. 2004, S. 325–344. – A. Mádl: N. L. u. sein kulturelles u. sozialpolit. Umfeld. Mchn. 2005. – Franz Metz: Gedichtete Lieder, vertonte Poesie: N. L., Poet u. Musiker zgl.; zum 200. Geburtstag des Dichters. In: Österr. u. die Banater Schwaben [...]. Hg. Hans Dama. Wien 2005, S. 160–170. – Michael Ritter: Zeit des Herbstes. N. L. Biogr. Stgt. 2006. – Anne G. Michaelis: Dichter der Romantik in Schwaben: Justinus Kerner, Eduard Mörike, Ludwig Uhland, N. L., Wilhelm Hauff, Friedrich Hölderlin. Lpz. 2008. Hansgeorg Schmidt-Bergmann

Lengerke, Cäsar von, auch: Serenus, * 30.3.1803 Hamburg, † 3.2.1855 Elbing. – Evangelischer Theologe, Hebraist, Lyriker u. Redakteur. L., jüngerer Bruder des Agrarschriftstellers Alexander von Lengerke, wurde als Sohn des Kaufmannes Caspar von Lengerke u. dessen Frau Henriette in Hamburg geboren u. besuchte dort das Johanneum. Das Studium der evang. Theologie u. der semit. Sprachen, das er im Jahre 1824 in Breslau begann, schloss er 1828 in Halle, wo ihn die gemäßigten Rationalisten Wilhelm Gesenius u. Christian Karl Reisig förderten, mit der Promotion ab. Wenig später erhielt er das Lizentiat der Theologie in Breslau, habilitierte sich jedoch 1829 in Königsberg, wo er ab 1832 als a. o. Prof. an der Theologischen Fakultät lehrte u. im Jahre 1835 den Lehrstuhl für das AT u. semit. Sprachen übernahm; einen Ruf an die Universität Gießen lehnte L. ab. In dieser Zeit veröffentlichte er u. a. Werke zu Ephraem dem Syrer (De Ephraemi Syri arte hermeneutica liber. Königsb. 1831), Übersetzungen u. Auslegungen des 18. Psalms (Commentatio critica de duplice Psalmi 18 exemplo. Königsb. 1833) u.

330

des Buches Daniel (Königsb. 1835) sowie erste Gedichte (Königsb. 1834. 21838). Ferner publizierte L. Aufsätze in den »Preussischen Provincialblättern« sowie dem »Danziger Dampfboot« u. redigierte in den Jahren 1832 u. 1833 die in Königsberg erscheinenden »Ostseeblätter«. L.s vernunftbetont-freisinnige Theologie u. liberale polit. Überzeugungen sorgten jedoch an der vorwiegend orthodoxen Fakultät vermehrt für Divergenzen, weshalb 1841 Heinrich Andreas Christoph Hävernick als Gegenpol zu L. nach Königsberg berufen wurde. Studentische Proteste gegen den konservativen Traditionalisten Hävernick sowie der Boykott seiner Lehrveranstaltungen waren die Folge; gleichwohl gelang es der Universitätsleitung aber nicht, L. die Verantwortung für die Unruhen nachzuweisen. Der Konflikt spitzte sich schließlich zu, als L. in Gedichten seine offene Sympathie für den jüd. Demokraten Johann Jacoby bekannte u. daraufhin seinen Lehrstuhl verlor. L. blieb in Königsberg, wechselte jedoch an die Philosophische Fakultät, wo er weiterhin als o. Prof. für semit. Sprachen lehrte. 1844 publizierte L. den ersten Band seines auf zwei Teile angelegten wiss. Hauptwerkes, einer »Volks- u. Religionsgeschichte Israels« (Kenáan. Königsb.), sowie in den folgenden Jahren immer wieder kleinere Gedicht- u. Spruchbände. Als L. 1850 ein antimilitarist. Gedicht veröffentlichte u. zudem vermehrt mit der freireligiösen Bewegung um Julius Rapp sympathisierte, wurde er im Jahre 1851 frühpensioniert. Nach einer längeren Reise u. dem Tod seiner Frau, mit der L. einen Sohn hatte, siedelte er 1853 nach Elbing über. Weitere Werke: Commentatio critica de Ephraemo Syro scripturae s. interprete. Halle 1828. – De studio litterarum syriacarum theologis quam maxime commendando commentatio, I u. II. Königsb. 1836. – Lieder. Königsb. 1840. – Observationes criticae ad Vetus Testamentum. Königsb. 1841. – Gedichte (Gesamtausg.). Danzig 1843. – Bilder u. Sprüche. Königsb. 1844. – Eine Vision. Im Jubeljahr der Albertina. Königsb. 1844. – Herder. Ein Gedächtnißwort bei Herders Säkularfeier am 25. Aug. 1844. Königsb. 1845. – Die fünf Bücher der Psalmen. Auslegung u. Verdeutschung, Tle. III, Königsb. 1847. – Fliegende Blätter. Königsb. 1847 (G.e). – Ein Bauernwort. Königsb. 1848 (G.e).

331 – Weltgeheimnisse. Königsb. 1851. – Lebensbilderbuch. Königsb. 1852 (G.e). – Herausgeberschaft: Gregorii Barhebraei aliorumque carmina syriaca aliquot adhuc inedita, Tle. I-IV. Königsb. 1836–38. Literatur: Karl Friedrich Burdach: Blicke ins Leben. Bd. 4: Rückblick auf mein Leben. Selbstbiogr. Lpz. 1848, S. 455 f. – Hans Schröder: Lexikon der hamburg. Schriftsteller. Bd. 4, Hbg. 1855, S. 425–427. – ADB. – Hans Prutz: Die Kgl. Albertus-Univ. Königsb. 1894, S. 142–144. – Altpr. Biogr. – Ulrich Hübner: L. In: NDB. – Goedeke Forts. Silka Pfahler

Lentner, Joseph Friedrich, * 18.12.1814 München, † 23.4.1852 Schloss Lebenberg bei Meran. – Erzähler, Publizist. L. wuchs in München u. Wessobrunn als Sohn eines Buchhändlers auf, in dessen Geschäft er früh eintrat; während seiner Wanderschaft als Geselle kam er nach Innsbruck (1834) u. Wien. 1838 publizierte er u. d. T. Harfentöne (Mchn.) eine Sammlung geistlicher Gedichte, von ihm selbst illustriert; in der Zeitschrift »Münchner Lesefrüchte« (hg. zus. mit Franz Trautmann. 1838–40) erschienen u. a. seine Schongauer Geschichten (1840). Um sich als Maler auszubilden, zog L. 1841 nach Prag, aber eine Tuberkulose-Erkrankung erzwang einen Heilaufenthalt in Meran, das sein Lebensmittelpunkt wurde. Hier schrieb er für das »Morgenblatt« u. die »Allgemeine Zeitung« u. spielte eine Rolle im politisch-gesellschaftl. Leben. L. fand in der kleinen Form der »Geschichte« u. der Novelle seine Meisterschaft (v. a.: Novellenbuch. 3 Bde., Magdeb. 1848). Seine um 1840 geschriebenen Geschichten aus den Bergen (Magdeb. 1851. Neuausg. Rosenheim 1982) betrachtete er als die Anfänge der Dorfgeschichte. Seit 1846 bereiste er im Auftrag Kronprinz Maximilians Oberbayern, um Materialien für Bavaria, eine von Riehl herausgegebene umfangreiche Beschreibung des Königreichs, zu sammeln. Weitere Werke: Tiroler Bauernspiel. 2 Bde., Magdeb. 1841. – Ritter u. Bauern. 3 Bde., Magdeb. 1844. – Der Plattebner u. seine Kinder. Stgt. 1855 (E.en). – Chronica v. dem Geschlosse u. der Vesten ze Lebenberg [...]. Hg. Fridolin Plant. Meran 1879. – Bavaria. Land u. Leute im 19. Jh. Hg. Paul E. Rattelmüller. 3 Bde., Mchn. 1987/88.

Lentz Literatur: Ludwig Steub: J. F. L. In: Dt. Museum 1853, S. 193–212. – Hyacinth Holland: L. In: ADB. – Gottfried Mühlfelder: J. F. L., ein bayer. Malerdichter. In: Oberbayer. Archiv 67 (1930), S. 21–107. – Hans Pörnbacher: J. F. L. [...]. In: Der Schlern 48 (1974), S. 64–76. – Goedeke Forts. Hans Pörnbacher / Red.

Lentz, Georg, * 21.6.1928 Blankenhagen bei Rostock, † 16.1.2009 Saint-Firminsur-Loire/Frankreich. – Erzähler, Essayist. Nach dem Notabitur wurde L. Verlagskaufmann u. arbeitete in Verlagen u. im Kunsthandel. 1952 gründete er den Georg-LentzVerlag für Bilderbücher u. Jugendromane. L. war Verlagsleiter in Zürich u. Wien. Er lebte zuletzt in Saint-Firmin-sur-Loire in Zentralfrankreich. Vor allem mit seiner Berlin-Trilogie Muckefuck (Mchn. 1976 u. ö. Neu-Isenburg 2004), Molle mit Korn (Mchn./Bln. 1979 u. ö. NeuIsenburg 2004) u. Weiße mit Schuß (Mchn. 1981 u. ö. Neu-Isenburg 2005) wurde L. als Autor zeitgeschichtlicher Gesellschaftsromane bekannt. Am Beispiel der Berliner Laubenkolonie »Tausendschön« werden Nationalsozialismus, Nachkriegszeit u. Wirtschaftswunder dokumentiert. 1989 adaptierte die ARD die Geschichte für eine zehnteilige Fernsehserie (Molle mit Korn, mittlerweile auf DVD erhältlich). Das Berliner bzw. das brandenburgische Milieu u. autobiogr. Bezüge prägen auch L.s spätere Werke (Märkische Spaziergänge von Rheinsberg bis Ribbeck. Bln. 1996. 1998). Weitere Werke: Heißer April. Mchn. 1982 (R.). – Trennungen. Hbg. 1983 (R.). – Ein Achtel Rouge. Hbg. 1985 (R.). – Der Herzstecher. Hbg. 1987 (R.). – Das Schützenhaus. Hbg. 1988 (R.). – Grüß, grüne Gurke, den Spreewald. Ffm. 1989 (E.). – Das Schloß an der Loire. Ffm. 1993 (R.). – Oma Krause oder der Untergang Preußens in Anekdoten. Mchn. 1998. Birgit Dankert / Red.

Lentz, Michael, * 15.5.1964 Düren. – Autor u. Musiker. L. studierte Germanistik, Geschichte u. Philosophie in Aachen u. München u. promovierte in Siegen. Er tritt regelmäßig als Sprecher u. Saxofonist auf u. ist Mitgl. im En-

Lentz

semble des Komponisten Josef Anton Riedl u. von Sprechakte X/Treme. 2001 erhielt er für Muttersterben (Ffm. 2002) den IngeborgBachmann-Preis, 2002 den Förderpreis des BDI u. 2005 den Preis der Literaturhäuser. 2004 wurde er Präsident der Freien Akademie der Künste zu Leipzig, 2006 Professor für Literarisches Schreiben am Deutschen Literaturinstitut der Universität Leipzig. L. debütierte mit dem Lyrik- u. Prosaband zur kenntnisnahme (Düren 1985). Es folgte ODER (Wien 1998), in dem er Prosastücke versammelte, die zwischen 1992 u. 1998 entstanden sind. Der Autor nennt sie »Hardcore-Realismus«, was bedeutet, dass die Sprache an sich schon Realismus sei, sie stellt die Gestaltungsregeln auf, sie wird sich selbst überlassen u. schafft eine dichterische Wirklichkeit. L. arbeitet mit Reduktionen wie mit Redundanzen, die Texte dringen über alte Wörter zu neuen Sachen vor u. gestalten das Vorgeprägte um. Die poetische wie die lebenswirkl. Lizenz ist Methode, das Zitat wie auch sprachl. Hohlformen, Bruchstücke aus der Alltags- u. Umgangssprache, werden ebenbürtig integriert, um konventionalisierte Rezeptionsmuster zu verändern u. Intentionen zu unterlaufen. Neue Anagramme (Wien 1998) reicht von traditionellen bis zu experimentellen phonet. Gedichten u. Texten. Das Anagramm, so der Autor, sei nicht tot, es habe nur den Autor gewechselt. 2000 erschien die Promotion über Lautpoesie/-musik nach 1945 (Wien), die erstmals versucht, lautpoetische u. -musikalische Entwicklungen nach 1945 auf der Grundlage von definitionsgeschichtlichen, medien- u. produktionsästhet. sowie wahrnehmungstheoret. Fragestellungen kritisch aufzuarbeiten. Diese Arbeit hat deutl. Berührungspunkte zu L.’ eigener literar. Arbeit. ENDE GUT. Sprechakte (Wien 2001) hebt die Hierarchie von Stimme u. Schrift auf, die Stimme ist bereits Schrift, die Schrift nichts als Festlegung. Es war einmal. Il était une fois ... Erzählung (Wien 2001) entstand bei Recherchen über die frz. Avantgardebewegung des »Lettrismus« u. erzählt von zwei Aufenthalten in Paris, den Begegnungen mit den Lettristen, v. a. mit Isidore Isou. Hier werden die narrativen u. anekdot. Elemente gegenüber dem Phoni-

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schen u. Grafischen wichtiger. Noch deutlicher wird das in der Titel gebenden, zentralen Geschichte des Erzählungsbandes Muttersterben. Mit diesem Text gelang L. der Durchbruch zu einer größeren Öffentlichkeit. Muttersterben erzählt unverblümt autobiografisch vom Tod der Mutter. Sprachliche Fundstücke werden zusammengestellt u. erschaffen eine neue Wirklichkeit, die also nicht erfunden ist. Zgl. dienen die Dinge u. Sphären der Realität als Material, dabei entstehende Texte bilden nicht ab, sondern spüren ihr nach u. vermitteln zwischen den Ebenen. Die Interdependenz zwischen Literatur u. Leben wird zwingend. Der erkenntnistheoretisch grundierte Zweifel an der Erfindungskraft, an der Fantasie, an eingefahrenen Kausalitäten, am Narrativen u. Chronologischen der Erzählung lässt Erinnerung zum Experiment werden. Sie wird nicht sortiert, gelocht u. abgeheftet, sie bleibt ungefangen, ungreifbar, schmerzhaft u. kann das Leben nicht bewahren. Aller Ding (Ffm. 2003) versammelt Gedichte aus mehreren Jahren, in denen Traditionen ins Gespräch kommen. Es werden Haltungen u. Tonfälle verwendet, formale Grenzen ausgelotet, zgl. wird aber schon in einigen Texten nicht der Sprache, sondern dem Leben das letzte Wort überlassen. Von Konzept-Gedichten u. nachgetragenen Anagrammen bis zu gedichteten Gedichten u. Liebesgedichten ist der Band sowohl Schlusspunkt des bisherigen Werks als auch Anfang einer neuen Phase. Obwohl nach wie vor performative, stimml. u. musikalische Elemente konstitutiv bleiben, verweisen einzelne Gedichte (wie Schönheit) deutlich auf das veränderte, das Stimmungshafte u. Existentielle betonende Denken der neuen Gedichte (die gesammelt in Offene Unruh. 100 Liebesgedichte erschienen, Ffm. 2010). Liebeserklärung (Ffm. 2003) ist L.s erster Roman. Er verwandelt die Erinnerung an eine Liebesgeschichte in ihre intensive Wiederholung: Auf mehreren literar. Folien (Kierkegaard, Brinkmann u. a.) thematisiert das Buch in Ich-Form nicht nur die Geschichte einer Liebe von der Umarmung bis zur Abwendung, nicht nur das Glück u. die Verzweiflung des Liebenden, sondern auch die Möglichkeit, davon zu erzählen. Pazifik Exil (Ffm.

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2007) findet gleichermaßen mit den Mitteln Lenz, Carl Gotthold, * 6.7.1763 Gera, der Recherche (Erinnerung) u. der Imagina- † 27.3.1809 Gotha. – Philologe, Altertion (Fiktion) die Leben der vor den Natio- tumsforscher, Publizist. nalsozialisten ins Exil geflohenen Schriftsteller u. Komponisten wieder (darunter L. entstammte einer Kaufmannsfamilie u. Brecht, Feuchtwanger, Heinrich u. Thomas entwickelte während seiner Gymnasialzeit in Mann, Schönberg, Franz Werfel u. Alma Gera sowohl altsprachl. Fähigkeiten als auch Mahler-Werfel), ein Leben, in dem die Ge- Schreibtalent. Nach theologischem u. altphigenwart von Verunsicherung geprägt ist u. lolog. Studium in Jena u. Promotion in Götjeder Blick an der Vergangenheit haftet. Die tingen (1789) war L. mehrere Jahre Lehrer in Existenz wird hier zum Experiment, ein Celle, danach (1797–1800) Redakteur der Wagnis, dem sich das Schreiben in Form einer »Nationalzeitung der Deutschen« in Gotha, Spurensuche im Historischen wie Autobio- wo er 1799 Professor für alte Sprachen am Gymnasium wurde. grafischen anschließt. Dem Geist der Spätaufklärung verpflichtet, Geprägt von visueller, akustischer u. konkreter Poesie ist L. offen für mimet. Muster. veröffentlichte L. neben seiner Lehrtätigkeit Der grundsätzl. Zweifel daran führt zwar zu eine große Zahl von Aufsätzen u. Büchern: produktions- u. rezeptionstheoretisch re- altphilologische Beiträge, teils fachwissenflektierten, die formale Bandbreite aus- schaftlich, teils für den Schulgebrauch, kulschöpfenden Texten, in der Prosa, in der Ly- turgeschichtl. Arbeiten sowie Aufsätze zum rik u. in Bühnen-, Musik- u. Hörstücken. Zu aktuellen geistigen Leben. Von Letzteren sind beobachten ist aber eine gewinnbringende als Zeitdokumente von Belang der um GeAnnäherung an die Mittel konventioneller rechtigkeit bemühte Nekrolog auf Carl Dichtung. Friedrich Bahrdt (in: Schlichtegroll 1, 1792, Weitere Werke: Herausgeber: Jb. der Lyrik 2005. S. 119–255) u. der sehr distanzierte, von Mchn. 2004 (mit Christoph Buchwald). – Oskar Goethe in einem Xenion angegriffene, auf Pastior: durch – u. zurück. gedichte. Ffm. 2007. Karl Philipp Moritz (ebd. 2, 1793, Literatur: Martin Maurach: M. L. In: KLG. – S. 169–276). In seinen kulturgeschichtl. VerDers.: M. L.: ›muttersterben‹. In: M. L.: mutter- öffentlichungen zeigt sich L. vielfach mehr sterben. Lesung u. Hörstück. Booklet zur gleich- als geschickter Bearbeiter u. Kompilator denn namigen Doppel-CD. Mchn. 2002, S. 4–7. – Ders.: als origineller Autor. Das gilt sowohl für seine M. L. In: LGL. – Reinhart Meyer-Kalkus: Lit. für Arbeiten zur Erforschung Trojas (z.B. Die Stimme u. Ohr. In: Phonorama. Eine Kulturgesch. der Stimme als Medium. Hg. Brigitte Felderer. Bln. Ebene von Troja nach dem Grafen Choiseul Gouffier 2004, S. 173–186, hier S. 182–184. – Oliver Vogel: und andern neuern Reisenden. Neu-Strelitz Vertrauen in Sprachskepsis. Laudatio zur Verlei- 1798) als auch für seine Beiträge zur Gehung des Preises der Literaturhäuser an M. L. In: schichte der Frauen in der griech. Frühzeit NR 116 (2005), H. 4, S. 87–94. – Felicitas v. Lo- (z.B. Geschichte der Weiber im heroischen Zeitalter. venberg: Laudatio zum Preis der Literaturhäuser Hann. 1790). 2005. In: FAZ, 25.6.2005. – Jochen Meißner: ›Am Anfang war der Laut‹. M. L.’ Arbeit am Wort zwischen Musik u. Erzählung. DLF 2006. – Ders.: ›Vielleicht ist es so ... ‹. Porträt des Dichters M. L. SWR2 RadioART: Literatur, 19.9.2006. – Michael Opitz u. Carola Opitz-Wiemers: Über M. L. In: Dt. Literaturgesch. v. den Anfängen bis zur Gegenwart. Von Wolfgang Beutin u. a. Stgt./Weimar 2008, S. 682, 685, 695, 710. – J. Meißner: Booklet zu ›Muttersterben‹ u. ›Klinik‹. Doppel-CD 2009. Oliver Vogel

Weitere Werke: Bibliogr. v. Ztschr.en-Aufsätzen in: Index deutschsprachiger Ztschr.en 1750–1815. Hildesh. 1990. – Ueber Rousseau’s Verbindung mit Weibern. 2 Bde., Lpz. 1792. – Die Göttin v. Paphos auf alten Bildwerken u. Baphomet. Gotha 1808, recte 1809. Literatur: Friedrich Wilhelm Döring: Oratio in Memoriam C. G. L. [...]. Gotha 1809. – Karl August Böttiger: Nekrolog auf C. G. L. In: Neuer Teutscher Merkur (1809), Bd. 2, S. 201–207. – Christianus Ludovicus Lenz [Bruder v. C. G. L.]: De vita C.G.L. 3 Tle., Weimar 1810–15. – Jöcher 3. – ADB 18. Matthias Richter / Red.

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Lenz, Hermann, * 26.2.1913 Stuttgart, † 12.5.1998 München. – Romanautor u. Lyriker. L. verbrachte die ersten elf Lebensjahre in Künzelsau, wo sein Vater als Zeichenlehrer tätig war. 1924 zog die Familie nach Stuttgart; im dortigen Elternhaus lebte L. bis 1975. Danach zog er mit seiner Frau Hanne nach München-Schwabing. Nach dem Abitur u. einem abgebrochenen Theologiestudium studierte L. ab 1933 Kunstgeschichte, Archäologie u. Germanistik in Heidelberg u. München. Von 1940 an war er Soldat in Frankreich u. Russland; 1946 kehrte er aus amerikan. Kriegsgefangenschaft nach Stuttgart zurück, wo er sich als freier Schriftsteller niederließ. Begleitend arbeitete er für einen württembergischen Kulturverein u. von 1951 bis 1971 als Sekretär des Süddeutschen Schriftstellerverbandes. Bereits als Student schrieb L. erzählerische u. lyr. Texte. Er debütierte 1936 mit einer schmalen Broschüre Gedichte (Hbg.). Diese frühe Lyrik steht unverkennbar im Kontext der naturmag. Schule, die auf den sich ausbreitenden Nationalsozialismus mit einer Haltung der »Inneren Emigration« reagierte. L. geht es in seinen Gedichten darum, sich den Bedrohungen durch das Hitler-Regime dadurch zu entziehen, dass ein (vermeintlich) unzerstörbarer Naturraum heraufbeschworen wird. Dessen Beschreibung spart indes Verfall u. Gefährdung nicht aus, sodass bis ins lyr. Detail hinein ein Eindruck unterschwelliger Verletzbarkeit entsteht. Parallel zu seinen Gedichten schrieb L. erste Prosa, die sich aus einem vergleichbaren Impuls nährt: Die 1938 zuerst in der »Neuen Rundschau« u., stark erweitert, 1947 in Buchform (Stgt.) erschienene Erzählung Das stille Haus versucht in einer an impressionist. Verfahren geschulten Weise dem Nationalsozialismus ein entferntes Refugium – das Wien des Fin de siècle – entgegenzustellen, das es dem Autor erlaubt, einerseits die Atmosphäre von nahendem Untergang zu vermitteln u. sich andererseits imaginierend in die verfeinerte Kultur der späten Habsburgermonarchie zurückzuversetzen. L., der dem Nationalsozialismus früh feindlich gegenüberstand u.

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durch die Verbindung zu seiner späteren Frau, einer Halbjüdin, auch im Persönlichen von der NS-Politik betroffen war, schuf sich so einen poetischen inneren Raum, der ihm half, dem Kollektivismus der Zeit entgegenzutreten. Die Erfahrungen des Dritten Reiches erwiesen sich für L.’ gesamtes Œuvre als prägend: Literatur blieb für ihn Sache des Einzelnen, der schreibend nach jenen Dingen zu suchen hat, die den bedrohlichen oder vergängl. Erfahrungen des Alltags transzendente Illusionen des Dauerhaften abtrotzen. Anders als das Werk von Kollegen, die sich nach 1945 einem literar. Aufbruch mit oftmals unzweideutigen polit. Implikationen verschrieben, wurde L.’ Denken u. Schreiben davon nur in der unmittelbaren Nachkriegszeit beeinflusst. Das stille Haus u. die Erzählungen Das doppelte Gesicht (Stgt. 1949) kulminieren in Hoffnungen, die auf das »geheime Einverständnis« Gleichgesinnter setzen u. damit eine Vision humanen Zusammenlebens andeuten. Im engeren literar. Feld fühlte sich L. keiner Strömung zugehörig. Obschon Berührungen mit Werken von Hermann Kasack oder Hans Erich Nossack bestanden, bezog sich L. v. a. auf Leitbilder des 19. Jh. (Mörike, Stifter, Keyserling) oder der klass. Moderne (Schnitzler, Hofmannsthal, Proust). Im Mittelpunkt des L.’schen Werkes steht seine neunbändige Autobiografie in Romanform. Es bedurfte einer langen Anlaufzeit, ehe L. Zutrauen gewann, sein eigenes Leben zum literar. Gegenstand zu machen. Die 1950er Jahre schufen nur langsam die Voraussetzungen für die Autobiografie: Sieben Jahre vergingen, ehe L. nach der verunglückten Erzählung Die Abenteurerin (Stgt. 1952) mit Der russische Regenbogen (Darmst. u. a. 1959) seine Erzählambition komprimieren u. ein persönl. Kriegserlebnis als Ausgangspunkt nehmen konnte. Der 1962 erschienene, aus drei Teilen komponierte Roman Spiegelhütte (Köln u. a.) resümierte L.’ seinerzeit gewachsene Desillusion: Die politische u. moral. Restaurationserfahrung wird in einen am Magischen Realismus orientierten Text thesenartig auf eine Weise eingearbeitet, die Entwicklungen der Studentenre-

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bellion Ende der 1960er Jahre vorwegnimmt u. zgl. einen histor. Bogen bis ins Imperium Romanum u. zur Biedermeierzeit spannt. Diese harsche gesellschaftskrit. Antwort bahnte den Weg zur Autobiografie: 1963 begann L. mit der Niederschrift des Romans Verlassene Zimmer, der drei Jahre später den Auftakt zur autobiogr. Folge bildete (Köln u. a. 1966). L.’ Geschichtsverständnis gemäß setzt diese bereits um die Jahrhundertwende ein u. beschreibt das Leben der Großeltern, die um 1900 eine Gastwirtschaft im Schwäbischen betrieben. Zentralfigur ist das Alter ego Eugen Rapp, aus dessen Perspektive weite Teile der Geschehens geschildert werden. Acht Bände folgten darauf: Andere Tage, Neue Zeit, Tagebuch vom Überleben und Leben, Ein Fremdling, Der Wanderer, Seltsamer Abschied, Herbstlicht u. Freunde. Sie umfassen einen Zeitraum von der Jahrhundertwende bis Anfang der 1990er Jahre u. zählen zu den eminenten autobiogr. Dichtungen des 20. Jh. In einer an Marcel Proust gemahnenden Konzentration auf das Detail breiten sie einerseits die bis in kleinste Verästelungen reichende Innensicht einer Figur aus u. bieten andererseits einen »poetischen Geschichtsunterricht« (Peter Handke), der zentrale Etappen des 20. Jh. aus der Optik des (Klein-)Bürgertums u. später auch der Literaturszene erfasst. Während die Auseinandersetzung mit dem Dritten Reich – in Andere Tage u. Neue Zeit – das polit. Geschehen auf breitem Raum darstellt u. insbes. die Auswirkungen auf das individuelle Leben beschreibt, spielt das zeitgeschichtl. Spektrum der Bundesrepublik eine weitaus geringere Rolle. Eugen Rapp wird hier verstärkt zum Spiegel gesellschaftlicher Strömungen, mit denen er sich, meist als randständige Figur, befasst oder befassen muss. L. fand in diesen autobiogr. Romanen seine prägnante Erzählweise des inneren Dialogs, die Eugen permanent mit sich selbst führt. Die 1994 publizierte Erzählung Zwei Frauen (Ffm.) bildet ein poetologisch aufschlussreiches Pendant zur Autobiografie. Auch hier tritt Eugen Rapp als Figur auf, ohne jedoch zum Dreh- u. Angelpunkt der sich um unterschiedliche weibl. Lebenshaltungen rankenden Handlung zu werden. Dieses späte

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Werk, das die Rapp-Figur mit iron. Geste an den Rand rückt, dokumentiert das Zutrauen, das L. nach u. nach zu sich u. seiner Lebensgeschichte fand. Seine im engen Sinne autobiogr. Texte hat L. kontinuierlich durch Romane u. Erzählungen ergänzt, die parallele Lebensläufe durchspielen oder sich den geschätzten Epochen »Biedermeier« u. der »Wiener Jahrhundertwende« annähern. Dazu zählen die groß angelegte, 1980 abgeschlossene Trilogie Der innere Bezirk (Ffm.), die sich, innerhalb des bis 1947 reichenden zeitl. Rahmens, als Gegenentwurf zu den Eugen-Rapp-Romanen lesen lässt. Oberst Franz von Sy wird in den Widerstand gegen Hitler aktiv verwickelt u. muss sich so in Situationen beweisen, in die Eugen Rapp nie geriet. Die in die Mörike- u. Grillparzer-Zeit verlagerten Romane wie Die Begegnung (Ffm. 1979) oder Erinnerung an Eduard (Ffm. 1981) erproben, wie die – sich in fast allen L.’schen Arbeiten ähnelnden – sensiblen Protagonisten in Epochen agieren, die von den nachgeborenen Figuren des 20. Jh. ersehnt werden. Die in der Wiener Jahrhundertwende spielenden Prosatexte Der Kutscher und der Wappenmaler (Köln 1982) u. Dame und Scharfrichter (Köln 1973) spitzen dies zu, indem sie die Handelnden in ein morbides, von Untergangssymptomen begleitetes Umfeld platzieren. Poetologisch hat sich L. selten unaufgefordert geäußert. Die Frankfurter Vorlesungen Leben und Schreiben (Ffm. 1986) skizzieren vornehmlich die Genese der Arbeiten, beschreiben Leitbilder wie Marc Aurel, Stifter oder Arno Schmidt u. betonen, dass kein noch so literaturkritisch geschulter Verstand das Geheimnis der Kunst je ergründen wird. L.’ Poetik, die sich auf die mehrdeutige Formel »Schreiben, wie man ist« bringen lässt, hält an dem traditionell anmutenden Gedanken fest, dass die Kunst, auch wenn sie die eigene Biografie zum Gegenstand macht, Metaphysisches zumindest als Ahnung kenntlich machen sollte. Wo dies gelingt – etwa in meditativen Naturaugenblicken –, beginnt das ständig reflektierende Ich sich selbst zu vergessen u. epiphanieartig einen »anderen Bezirk« zu erspüren.

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L.’ Rezeption wurde nachhaltig durch Peter Einladung, H. L. zu lesen. Ffm. 1988. – Peter Handkes 1973 erschienenen Aufsatz Tage wie Hamm: H. L. u. die Ambivalenz. In: Akzente 35 ausgeblasene Eier. Einladung, Hermann Lenz zu (1988). – Wolfgang Everling: Wie ein Waldhüter zu lesen beeinflusst. Handkes Würdigung des sich selbst du sagen ... Das Selbstgespräch bei H. L. In: Akzente 35 (1988). – R. Moritz: Schreiben, wie fast 30 Jahre älteren Kollegen ebnete L.’ Weg man ist. H. L.: Grundlinien seines Werkes. Tüb. zum Suhrkamp bzw. Insel Verlag u. führte 1989. – Birgit Graafen: Konservatives Denken u. dazu, dass L. aus seinem Schattendasein des modernes Erzählbewusstsein im Werk v. H. L. Ffm. »Geheimtipps« heraustrat u. wenig später 1992. – Thomas Reche u. Hans-Dieter Schäfer (Hg.): breitere Anerkennung fand. Die Missachtung H. L. zum 80. Geburtstag. Passau 1993. – Roland durch fast alle maßgebl. Literaturkritiker Koch: H. L. In: KLG. – R. Moritz (Hg.): Begegnung nach 1945, die sich 1951 auch in einer miss- mit H. L. Tüb. 1996. – Daniel Hoffmann: Stille glückten Lesung bei der Gruppe 47 nieder- Lebensmeister. Dienende Menschen bei H. L. Tüb. schlug, war beendet. L.’ Sprachgestaltung u. 1998. – Heinz Ludwig Arnold (Hg.): H. L. Text + seine facettenreiche Darstellung innerer Kritik 141 (1999). – Werner Jung: Das Ich im Schnittpunkt der Erinnerung. Dieter Wellershoff, Welten wurden nun als herausragende BeiH. L. u. Ludwig Harig. Würzb. 2000. – R. Moritz: spiele der modernen deutschsprachigen Lite- Schöne erste Sätze. H. L. u. die Kunst des Anfangs. ratur erkannt u. gewürdigt. Warmbronn 2005. – Helmut Böttiger: Im EulenL.’ Werk wurde mit zahlreichen renom- kräut. H. L. u. Hohenlohe. Warmbronn 2006. – P. mierten Preisen ausgezeichnet, darunter der Hamm: Dort wäre ich gerne geblieben. H. L. u. sein Georg-Büchner-Preis (1978), der Wilhelm- Stuttgart. Warmbronn 2007. – Norbert Hummelt: Raabe-Preis (1981), der Gottfried-Keller-Preis Im stillen Haus. Wo H. L. in München schrieb. (1983), der Petrarca-Preis (1987), der Jean- Mchn. 2009. Rainer Moritz Paul-Preis (1991) u. der Europäische Literaturpreis (1997). Lenz, Jakob Michael Reinhold, * 12.1. (a. Weitere Werke: Prosa: Die Augen eines Dieners. Köln 1964. – Der Tintenfisch in der Garage. Ffm. 1977. – Durch den Krieg kommen. Stgt. 1983. – Der Letzte. Ffm. 1984. – Jung u. Alt. Ffm. 1989. – Der Käfer u. andere Gesch.n. Passau 1989. – Gesch.n. Mchn. 1990. – Hotel Memoria. Ffm. 1990. – Schwarze Kutschen. Ffm. 1990. – Das Glück im Stein. Bln. 1991. – Jugendtage. Passau 1993. – Ein Lesebuch. Ffm. 1993. – Die alte Stadt an den drei Flüssen. Passau 1996. – Feriengäste. Regensb. 1997. – Die Schlangen haben samstags frei. Ffm. 2002. – Lyrik: Wie die Zeit vergeht. Ffm. 1977. – Zeitlebens. Mchn. 1980. – Den Lehrlingen. Warmbronn 1986. – Zu Fuß. Warmbronn 1987. – Rosen u. Spatzen. Mchn. 1991. – Vielleicht lebst du weiter im Stein. Ffm. 2003. – Essays: Stuttgart deine Straßen. Schwieberdingen 1975. – Stuttgart. Stgt. 1983. – Im Hohenloher Land. Freib. i. Br. 1989. – Titel u. Tendenzen 1963–64. Fellbach-Schmieden 1994. – Briefe/Fotobände: Bilder aus meinem Album. Ffm. 1987. – Paul Celan – Hanne u. H. L. Briefe. Ffm. 2001. – Berichterstatter des Tages. Peter Handke – H. L. Briefe. Hg. u. mit einem Nachw. vers. v. Helmut Böttiger u. a. Mit einem Ess. v. Peter Hamm. Ffm. 2006. – Als gingen wir ein Stück zus. H. L. – Rainer Malkowski. Briefw. 1991–98. Warmbronn 2007. Literatur: Ingrid u. Helmut Kreuzer (Hg.): Über H. L. Mchn. 1981. – Rainer Moritz (Hg.):

St.) 1751 Seßwegen (Casvaine)/Livland, † 24.5. (a. St.) 1792 Moskau. – Autor von Prosa, Dramen, Lyrik u. Essays. Der Sohn eines Pfarrers u. einer Pfarrerstochter wuchs in einem patriarchal geprägten Familienzusammenhang auf; die väterl. Autorität bildete für ihn ein lebenslanges Problem. Ihren Einfluss belegt das Hexameterepos Der Versöhnungstod Jesu Christi, das 1766 in den »Gelehrten Beiträgen zu den Rigischen Anzeigen« erschien. Im gefühlsmäßigen Nacherleben von Jesu Tod nach dem Vorbild Klopstocks ruft es zu Reue u. Buße auf. Im gleichen Jahr schrieb L. aus Anlass der Hochzeit des Barons Igelström ein Drama: Der verwundete Bräutigam (veröffentlicht Bln. 1845). Es verknüpft eine Parodie auf die emphat. Gefühle der Liebenden füreinander mit einem sozialkrit. Motiv, der Rebellion eines Dieners gegen seinen Herrn aus verletztem Stolz. Nach dem Besuch der Lateinschule in Dorpat (ab 1759) studierte L. ab Herbst 1768 in Königsberg Theologie. Dort besuchte er auch die Vorlesungen von Kant, auf den er 1770 »im Auftrag aller Cur- und Liefländer« eine Preisode schrieb. 1769 veröffentlichte L.

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den Gedichtszyklus Die Landplagen (Königsb.), in dem Natur- u. vom Menschen verursachte Katastrophen als Gottesgerichte interpretiert werden. Gegen den väterl. Befehl, eine Hofmeisterstelle anzunehmen, um in Livland Pfarrer zu werden, folgte L. im Frühjahr 1771 ohne Studienabschluss den kurländ. Baronen von Kleist nach Straßburg, wo diese als Offiziere in die frz. Armee eintraten. Der Vater verzieh dem Sohn diesen Schritt, der einen Aufbruch aus der Enge Livlands in eine freiere Existenz als Schriftsteller darstellte, nie, der Sohn überwand seine Schuldgefühle nicht. Mit Recht sind große Teile von L.’ Werk unter dem Gesichtspunkt des Gleichnisses vom verlorenen Sohn interpretiert worden. L. lernte 1771 im Kreis um Salzmann Goethe kennen. In der Teilnahme an Goethes Selbstentfaltung suchte er die eigene voranzutreiben. L. nahm dessen Ratschläge zur Korrektur seiner Bearbeitungen von Plautus’ Komödien (1774) an. Goethe besorgte L. Verleger, L. schrieb preisende Werther-Briefe u. eine Rezension des Götz. In der dramat. Literatursatire Pandämonium Germanikum (veröffentlicht 1819), die das literar. Leben der eigenen Zeit in den Bildern von Berg, Tempel u. Gericht kritisch-parodistisch vorführt, folgt L. Goethe in einem weiten Abstand auf den Gipfel folgen. Am Ende stilisiert er den Freund zum Herrscher im zeitgenössischen literar. Feld u. sich selbst zu einem Autor, dessen Wert erst in der Zukunft erkannt werde. L. arbeitete bis Herbst 1774 bei den von Kleists als Diener, danach ernährte er sich, »arm wie eine Kirchenmaus«, vom Fremdsprachenunterricht. Die Straßburger Jahre waren dennoch L.’ produktivste Zeit, in denen er schließlich auch überregional als junger Autor wahrgenommen wurde. Von Rousseau u. Herder übernahm L. die Zivilisations- u. Kulturkritik, von Herders Journal meiner Reise das Pathos, mit dem Selbsttätigkeit u. Handeln gepriesen werden. Er trat in die Straßburger »Societé de Philosophie et des Belles Lettres« ein, die er als ihr Sekretär 1775 zur »Deutschen Gesellschaft« umformte. Dort trug er auch die Anmerkungen übers Theater (1774) vor. In »rhapsodenweiser«

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Darlegung appellieren sie gewollt assoziativ an den kleinen Kreis von Einverstandenen. Sie bestimmen dichterische Genialität als eine intuitive Wesensschau, die die zersplitterte Alltagserfahrung ordne, zgl. aber in Bezug auf ihren Gegenstand an den »Standpunkt« des Autors u. die »spezifische Schleifung« seiner »Gläser« gebunden sei. Vor allem drehen die Anmerkungen die herkömml. Gattungszuordnungen um: In der Tragödie steht entsprechend nicht die Situation, sondern der Charakter im Mittelpunkt, der sich seine Welt selbst schafft, in der Komödie nicht der Charaktertyp, sondern der Mensch, der durch die Umstände bestimmt ist. L. hat nur Komödien geschrieben. Sie zeigen das Leiden der Figuren unter mangelnder Selbstbestimmung. Entsprechend enthalten sie komische u. trag. Elemente. Durch diese Mischung sollen sie der Tragödie den Weg bahnen. Ferner vermeidet L. ein Schicksalsdrama durch den Einbau von Zufällen in die Handlung. Die traditionelle Ständeklausel im Drama hebt L. auf u. kehrt sich radikal von den traditionellen drei Einheiten ab. In Über die Veränderung des Theaters im Shakespear (1776) konstituiert die »Einheit des Interesses« des Autors die Werkeinheit. Shakespeare, von dem L. Dramen übersetzte, wird schon in den Anmerkungen gegen die frz. klassizist. Tragödie ausgespielt. Die Komödie Der Hofmeister oder die Vorteile der Privaterziehung (1774) scheint von der aufklärerisch-didakt. Absicht geprägt, die Hofmeistererziehung zu kritisieren u. die öffentl. Schule zu propagieren. In Wirklichkeit vergegenwärtigt das Stück einen sozialen Zustand, der den Einzelnen auf kaum erträgl. Weise einengt, den Hofmeister zum bloßen »Läuffer« macht. Mit der Selbstkastration, die im zeitgenöss. Theater eine unerhörte Provokation darstellt, bestraft sich Läuffer für die vermeintl. Schwängerung der Tochter des Hauses. Doch entzieht er sich damit auch dem Vaterzwang, weil er nicht mehr in die Rolle kommen kann, die sein Vater ihm gegenüber eingenommen hat. Die Dorfschule ist auch eher ein Ort der Unterdrückung selbständigen Denkens. Eine aufklärerische Einstellung können sich im Stück nur die sozial Privilegierten leisten. L. schließt das

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Stück mit drei Hochzeiten, die Familienharmonie simulieren, wie sie in den zeitgenöss. Rührkomödien am Ende herstellt wird. Nach der Komödie Der neue Menoza (1774), in der das Motiv des edlen Wilden dekonstruiert wird, schrieb L. Die Soldaten (1776). Trotz der Änderung von Handlungsort u. Personennamen verweist das Stück auf das Verhältnis der Straßburger Juwelierstochter Cleophe Fibich zum Baron Georg Friedrich von Kleist. Dieser gab ein schriftl. Heiratsversprechen ab, dem er sich durch Heimreise entzog. L. meinte, er müsse die Zuneigung Cleophes zum Baron erhalten u. diese gegen die Avancen des jüngeren von Kleist schützen. Dabei verliebte er sich selbst unerwidert in Cleophe. Diese Gefühlsverwirrung schildert er im unvollendeten Tagebuch u. in der Moralischen Bekehrung eines Poeten, von ihm selbst aufgeschrieben, die schon die Hinwendung zu Goethes Schwester Cornelia zeigt. L. hatte diese als Frau Johann Georg Schlossers in Emmendingen kennengelernt. Beide Texte werden erst 1877 bzw. 1889 veröffentlicht. In den Soldaten objektiviert L. die Geschehnisse, indem er das Verhalten seiner Figuren auf psychosoziale Antriebe zurückführt. Das Drama schildert das vom Vater gebilligte Aufstiegsstreben einer Bürgerstochter, die sich mit adligen Offizieren einlässt u. letztlich zur Hure wird. Durch die fehlende moral. Verurteilung Marianes u. den offenen Schluss vermeidet L. im Gegensatz zum bürgerl. Trauerspiel ein Frauenopfer. Die angebotene Lösung einer »Pflanzenschule« für »Soldatenweiber« kontrastiert scharf mit Marianes Beharren auf Selbstbestimmung. Die Schrift Über die Soldatenehen (Erstdr. 1913) setzt sich dafür ein, Soldatenehen zu erlauben – allerdings mit rigiden Regularien für die Frauen. L. hat 1776 in Weimar u. Berka noch weit umfangreichere Studien zur Sozial- u. Militärreform durchgeführt (veröffentlicht 2007 als Berkaer Projekt). In der Komödie Die Freunde machen den Philosophen (1776) dekonstruiert L. das zeitgenöss. Freundschaftsideal. Der Engländer (1777) relativiert in parodist. Verkürzung das »Werther«-Motiv der absoluten Liebe, für welche die Unerfüllbarkeit den Ausgangspunkt darstellt. Dass sich »Liebe und Liebe«

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»oft« verfehlen, ist auch ein Thema des »Gemäldes einer Männerseele«, der moral. Erzählung Zerbin oder die neuere Philosophie (1776). Der bürgerl. Zerbin will Vernunft, Moral u. Erfolg miteinander versöhnen, scheitert aber am durch zu große Eigenliebe hervorgerufenen Stolz auf sich selbst. Zgl. nimmt er das »Schlachtopfer« seiner Geliebten in Kauf, die des Kindesmordes angeklagt wird. Der Text plädiert für die Abschaffung der Todesstrafe u. die Berücksichtigung der Umstände. L. schrieb auch Lyrik. Seine Liebesgedichte stehen in der Tradition Petrarcas (vgl. Petrarch, 1775), geprägt von der Unerfüllbarkeit der Liebe u. dem Wechsel zwischen Lust u. Leid. Die unglückl. Beziehungen zu der von Goethe verlassenen Friederike Brion u. zu Cleophe Fibich bilden die wichtigsten biogr. Erfahrungen. L.’ Friederike-Gedichte lassen sich teilweise von denen Goethes nur schwer trennen, zumal sie gemeinsam 1835 als »Sesenheimer Lieder« bei der Schwester Friederikes gefunden worden sind. Der Wandel von L.’ theolog. u. moralphilosoph. Anschauungen zeigt sich in den Essays Baum des Erkenntnisses Gutes und Bösen (1771), Versuch über das erste Principium der Moral (1772), Meynungen eines Layen (1775), Stimmen des Layen (1775) u. in den Philosophischen Vorlesungen (1776). Trotz einer hoch emotionalen Identifikation mit dem leidenden Christus, der auch als zweiter Prometheus gesehen wird, wird die Religion letztlich moralisiert. L. bricht wie die protestant. Neologen mit der Lehre von der Erbsünde. Er betont die Selbstverantwortlichkeit des Einzelnen. Zgl. billigt er dem sexuellen Trieb als »Institut«, »um alles, was lebet, glücklich zu machen«, einen hohen Stellenwert zu. Andererseits versucht er, diesen Trieb massiv zu regulieren. Ende März 1776 verließ L. Straßburg u. reiste nach Weimar zu »Bruder Goethe«. Nach anfängl. Euphorie war L. rasch desillusioniert vom Rollenspiel am Hof, wo er sich zum Gespött machte. Er zog sich nach Berka zurück. Im Okt. folgte er Charlotte von Steins Einladung nach Gut Kochberg. Nach seiner Rückkehr an den Hof beging L. laut Goethes Tagebuch am 26.11. eine »Eseley«, offen-

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sichtlich eine schwere Beleidigung des Freundes. Dieser erreichte daraufhin beim Herzog die Ausweisung L.’ aus Weimar, der den Ort am 30.11. verließ. Was genau der Anlass für den Bruch zwischen den Freunden war, ist bis heute nicht geklärt, weil auf Druck Goethes alle Beteiligten Stillschweigen bewahrten. Sicher ist, dass L. eine Parodie oder ein Pasquill hat zirkulieren lassen. Die Weimarer Erfahrungen verarbeitete L. im Waldbruder-Fragment (veröffentlicht 1797). Der polyperspektiv. Briefroman konfrontiert den erfolgreichen u. beliebten Pragmatiker Rothe mit dem empfindsamen »Narren« Herz, der nur durch eine geschickt einfädelte Intrige aus seiner unrealist. Liebesfantasie gerissen wird. Herz unterliegt in der Konkurrenz um Triebbefriedigung, Macht u. Geld. Der Gegensatz Rothe – Herz wird in dem 1782 anonym veröffentlichten Drama Myrsa Polagi in der Konfrontation zwischen dem Hofmann Abumasar u. dem freien Gelehrten Ali Haßein wieder aufgenommen, aber mit einem versöhnl. Schluss. L. reiste als »Landläuffer« nach Emmendingen zu Schlosser, wo die Erzählung über den aufgeklärten Landprediger entstand (1777), u. weiter in die Schweiz. Im Nov. 1777 hatte er einen »Unfall«. Von Emmendingen aus wurde er im Jan. 1778 zu dem aufgeklärten Pfarrer Oberlin geschickt. Dieser konnte L. von seinen psych. Störungen nicht heilen u. ließ ihn aus Angst vor einem Selbstmord nach Straßburg bringen, von wo er nach Emmendingen zurückkehrte. Oberlin schrieb über diesen Aufenthalt ein Tagebuch, die Grundlage für Büchners Lenz-Novelle. Schlosser brachte L. nach verschiedenen Heilungsversuchen bei einem Schuster u. einem Förster unter. Während die ältere Forschung L.’ Krankheit als Schizophrenie bezeichnete, nehmen neuere Arbeiten eher auf die histor. Begriffe der Schwermut u. Melancholie Bezug. Im Juni 1779 wurde L. nach Riga gebracht, wo der Vater Generalsuperintendent geworden war. Im Febr. 1780 ging L. nach St. Petersburg, wo er versuchte, Kontakte zum Hof zu knüpfen. Im Sept. 1780 kehrte er nach Livland zurück. Er nahm eine Stelle als Hofmeister auf dem Gut des Kammerjunkers von

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Liphart in Aya bei Dorpat an, von wo er wegen der unglückl. Beziehung zu Julie von Albedyll im Jan. 1781 überstürzt nach St. Petersburg zurückkehrte. Im Sept./Okt. 1781 ging L. nach Moskau. Er wohnte bei dem Staatsrat u. Historiker Gerhard Friedrich Müller – wahrscheinlich bis zu dessen Tod 1783. Auf Müllers Empfehlung wurde L. »Aufseher« im adligen Pensionsinstitut der Madame Exter. Ferner verkehrte er in der Moskauer deutschen reformierten Gemeinde. Charakteristisch u. folgenreich für L. waren seine Beziehungen zu den Philanthropen u. Freimaurern. So kam er ab 1786 ins Haus des Freimaurers u. Publizisten Nikolaj I. Novikov. Er trat in die primär von Deutschen bestimmte Loge »Zu den drei Fahnen« ein u. arbeitete der »Typographischen Gesellschaft« Novikovs zu, die u. a. Übersetzungen von Werken aus vielen europ. Sprachen publizierte. L. starb am 24.5.1792. Die Legende, L. sei auf offener Straße gestorben, lässt sich nicht belegen. Es muss offen bleiben, ob gesundheitl. Probleme zum Tod führten oder ob er in Zusammenhang mit den massiven Freimaurerverfolgungen der Zarin Katharina ab 1787 steht, die 1791 zur Auflösung der »Gesellschaft« u. 1792 zur Verhaftung Novikovs führten. L. schrieb in Moskau zahlreiche dt. u. russ. Texte zu Fragen der Erziehung, Wirtschaft u. Technik sowie der Kultur u. Literatur Russlands. Er verfasste auch Gedichte. In Was ist Satyre? An Herrn Kaufmann, Gelehrten und Geistlichen zu Moskau rückt er das Verfahren der Satire in die Nähe zur Groteske. So übt er Kritik an Entfremdungen von der Menschennatur, die durch die »verkehrte Welt« von sozialer u. ideolog. Fremdbestimmung hervorgerufen werden. Überliefert sind ferner Dramen- u. Prosafragmente u. der vollständige Text Über Delikatesse der Empfindung (1785), eine Mischform aus Erzählung u. Drama. Geschildert wird die fantast. Reise Gullivers zus. mit seinem Luftgeist auf einer halben Kanonenkugel von Schweidnitz in Schlesien bis nach Livorno. Der Text knüpft an die aufklärerische Diskussion über den richtigen Geschmack an. Ob der von L.’ Freunden, den Schriftstellern Alexandr A. Petrov u. Nikolaj M. Karamzin, geplante

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Grabstein auf dem »deutschen Friedhof« jemals aufgestellt wurde, ist nicht bekannt. Die Inschrift sollte lauten: »Ruhe sanft, lieber Erdenstaub, bis zum freudigen Morgen«. Goethes Verurteilung L.’ als »vorübergehendes Meteor« in Dichtung und Wahrheit prägte lange das Urteil über den Autor, bis Büchner, die Naturalisten u. Expressionisten sowie Brecht (Hofmeister-Bearbeitung 1950) seine Qualität erkannten. Ausgaben: Ges. Schr.en. Hg. Franz Blei. 3 Bde., Mchn./Lpz. 1909–13. – Werke u. Briefe. Hg. Sigrid Damm. 3 Bde., Lpz./Mchn./Wien 1987. – Belinde u. der Tod [...]. Hg. Verena Tammann-Bertholet u. Adolf Seebaß. Basel 1988. – Pandämonium Germanikum. Synopt. Ausg. beider Hss. Hg. Matthias Luserke u. Christoph Weiß. St. Ingbert 1993. – Philosoph. Vorlesungen für empfindsame Seelen. Hg. C. Weiß. St. Ingbert 1994. – Über Delikatesse der Empfindung. In: Elke Menzer: Über ›Delikatesse der Empfindung‹. St. Ingbert 1996. – Moskauer Schr.en u. Briefe. Hg. Heribert Tommek. 2 Bde., Bln. 2007. – Schr.en zur Sozialreform. Das Berkaer Projekt. Hg. Elystan Griffiths u. David Hill unter Mitwirkung v. H. Tommek. 2 Tle., Ffm. 2007. – Briefe: Briefe v. u. an J. M. R. L. Hg. Karl Freye u. Wolfgang Stammler. 2 Bde., Lpz. 1918. Neudr. Lpz. 1969. Literatur: Sigrid Damm: Vögel, die verkünden Land. Das Leben des J. M. R. L. Bln./Weimar 1985. – ›Unaufhörlich Lenz gelesen‹. Studien zu Leben u. Werk v. J. M. R. L. Hg. Inge Stephan u. Hans-Gerd Winter. Stgt. 1994. – ›Lenzens Verrückung‹. Chronik u. Dokumente zu J. M. R. L. v. Herbst 1777 bis Frühjahr 1778. Hg. Burghard Dedner, Hubert Gersch, Ariane Martin. Tüb. 1999. – Hans-Gerd Winter: J. M. R. L. Stgt./Weimar 22000 (mit Bibliogr.). – Matthias Luserke: L.-Studien. St. Ingbert 2001. – Georg-Michael Schulz: J. M. R. L. Stgt. 2001. – ›Die Wunde L.‹. J. M. R. L. Hg. I. Stephan u. H.-G. Winter. Bern 2003. – Heribert Tommek: J. M. R. L. Sozioanalyse einer Laufbahn. Heidelb. 2003. – Zwischen Kunst u. Wiss. J. M. R. L. Hg. I. Stephan u. H.-G. Winter. Bern 2006. Hans-Gerd Winter

Lenz, Leo, eigentl.: Josef Rudolf Leo LenzSchwanzara, * 2.1.1878 Wien, † 29.8.1962 Berlin/DDR. – Komödienautor. L. studierte an der TH Dresden Maschinenbau. Dort arbeitete er nach Abschluss seines Studiums als sächs. Regierungsbauführer. 1922 siedelte er nach Berlin über, wo er, von

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einem Aufenthalt in Eisenach abgesehen, bis zu seinem Tod lebte. L. war Präsident des Verbandes Deutscher Bühnenschriftsteller und Bühnenkomponisten. Da L. bereits 1908 mit seinen ersten Komödien großen Erfolg hatte, konnte er bald als freier Autor leben. Eines seiner erfolgreichsten Stücke, Der Mann mit den grauen Schläfen (Bln.-Wilmersdorf 1932), wurde in einer Serie von 350 Aufführungen im Berliner Theater in der Behrenstraße gespielt. Großer Beliebtheit erfreuten sich auch L.’ Komödien Trio (Kämmerchen vermieten. Bln.-Wilmersdorf 1933). Ehe in Dosen (Bln.-Wilmersdorf 1934) u. Hochzeitsreise ohne Mann (Bln. 1938). Das Thema Liebe greift auch L.’ Filmkomödie Duett zu Dritt (1961) auf. Weitere Werke: Das Herrenrecht. DresdenBlasewitz 1912. – Kinder der Könige. Lpz. 1924. – Der stille Kompagnon. Bln. 1930. – Für Liebe gesperrt. Bln. 1935. – Jugendliebe. Bln.-Wilmersdorf 1937. – Junggesellensteuer. Bln. 1940. – Der galante Gesandte. Bln. 1941. Helmut Blazek / Red.

Lenz, Ludwig Friedrich, * 1717 Altenburg, † 3.7.1780 Altenburg. – Verfasser von Gelegenheitsgedichten u. geistlichen Liedern. Über den zuletzt sächsisch-gothaischen Hofrat u. Amtmann ist wenig bekannt. Zeitgenossen rühmen an ihm nicht Sprache u. formale Kunst, sondern die salbungsvolle Erbaulichkeit seiner geistl. Lieder, die ihn als wahren Verehrer der Religion ausweisen. In der nach seinem Tod erschienenen Ausgabe der Gedichte verschiedenen Inhalts (Altenburg 1781), die von dem Oeser-Schüler Christian Gottlieb Geyser (1742–1803) illustriert wurde, sind neben Gelegenheitsgedichten (auf verschiedene Personen, auf den Wein u. a.) auch Freymäurerlieder (erstmals Altenburg 1746 u. 1750), Gedanken über den Tod u. Religionsgedichte enthalten sowie Der leidende Jesu, ein Gesang, der 1757 in der fürstl. Schloßkirche zum Friedenstein mit der Musik des fürstlich-sächs. Kapellmeisters Georg Benda aufgeführt wurde. Weitere Werke: Über die Liebe. Altenburg 1743. – Mahomet der andere, ein Trauersp. Gotha 1751.

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341 Literatur: Meusel 8, S. 143. – Jördens 6, S. 487. – Koch 6, S. 380 f. – Goedeke 6, 1, S. 117. Heimo Reinitzer / Red.

Lenz, Siegfried, * 17.3.1926 Lyck (Elk)/ Ostpreußen. – Erzähler u. Dramatiker. Der Sohn eines Zollbeamten verlebte nach eigenen Angaben eine »einzelgängerische Kindheit«. Schon in der eigenen Familie sah er sich ebenso großen wie unlösbaren Problemen gegenüber. Bes. die gefühlsarme Beziehung zu seinem distanzierten Vater belastete den Knaben schwer, umso schwerer, als es nicht die geringste Hoffnung gab, dass sich die Verhältnisse je bessern würden. Denn früh bereits hatte der Vater seine Familie endgültig verlassen. Noch in den 1930er Jahren starb er; das genaue Todesdatum ist nicht bekannt. Die Erfahrung der Vaterlosigkeit trug in erhebl. Maße dazu bei, dass L. dem Vater-Sohn-Thema einen enormen Stellenwert in seinen Werken einräumte. Nach der Trennung der Eltern zerfiel die Familie. Die Mutter zog mit ihrer Tochter nach Braunsberg, wo sie eine neue Ehe einging. Ihren schulpflichtig gewordenen Sohn ließ sie in Lyck bei seiner Großmutter zurück, die fortan für L.’ Erziehung allein verantwortlich war u. in den folgenden Jahren einen prägenden Einfluss auf ihn gewann, gerade auch, was sein Verhältnis zu Sprache u. Literatur betraf. Nicht nur erzählte sie ihm zahllose Geschichten, in denen sie ihre eigenen Erlebnisse während des Ersten Weltkrieges eindrucksvoll zu schildern wusste, sie brachte ihn auch mit der Literatur in Berührung. Schnell wurde aus L. ein unersättl. Leser, der sich mit Vorliebe spannende Groschenhefte besorgte. Nach dem Ende der Volksschule absolvierte er, inzwischen 13 Jahre alt, ein neunmonatiges »Landjahr« in Saugen, einem Dorf in Ostpreußen. Durch eine erfolgreich absolvierte Auswahlrunde bekam er die Gelegenheit, doch noch das Abitur zu machen. Für kurze Zeit war er deshalb auf der Kappelner Klaus-HarmsOberschule, wo man ihn auf den Wissensstand eines gleichaltrigen Oberschülers brachte. In den folgenden Jahren besuchte er ein Internat in Samter.

Nach vorgezogenem Abitur u. Schulungen in Wehrertüchtigungslagern wurde L. 1943 zur Marine eingezogen. Seinen Dienst verrichtete er an Bord des Panzerschiffs »Admiral Scheer«, das u. a. im Kampf um die Insel Ösel eingesetzt wurde. Kurz vor Kriegsende desertierte L., tauchte in Dänemark unter u. geriet in brit. Kriegsgefangenschaft. Bis zum Winter desselben Jahres reiste er als Dolmetscher mit einer Entlassungskommission durch Schleswig-Holstein, um bei der Ausstellung von »release documents« mitzuhelfen. Viele Jahre später erst, 2007, wurden im Berliner Bundesarchiv Dokumente gefunden, aus denen hervorgeht, dass L., ebenso wie Martin Walser u. der Kabarettist Dieter Hildebrandt, Mitgl. der NSDAP war. L. selbst erinnert sich nicht, jemals einen entsprechenden Antrag ausgefüllt zu haben; er geht vielmehr davon aus, dass man ihn ohne sein Wissen über ein Sammelverfahren in die Partei aufgenommen hat. Die Mehrheit der befragten Zeithistoriker hält diese Erklärung für glaubwürdig. Nach seiner Entlassung aus der nur kurz währenden Gefangenschaft gegen Ende 1945 begann L. in Hamburg Philosophie, Anglistik u. Literaturgeschichte zu studieren. Seinen Lebensunterhalt bestritt er u. a. mit Geschäften auf dem Schwarzmarkt. Für das Studium allerdings fehlte ihm die nötige Entschlossenheit, sodass er es nie zu Ende brachte. Mehr u. mehr Zeit beanspruchten stattdessen die eigenen Schreibversuche. Seine erste Erzählung Die zehn Gebote u. einige Gedichte hatte L. bereits im Winter 1945/46 verfasst u. auch veröffentlicht. Auf Vermittlung des Hamburger Privatdozenten Hans Wolffheim wurde L. während des Studiums freier Mitarbeiter beim NWDR. Später bekam er eine Stelle als Volontär bei der Tageszeitung »Die Welt«, für die er ab 1950 als Redakteur v. a. im Feuilleton tätig war. Bei der Arbeit lernte L. seine spätere Frau Liselotte kennen, die in der Redaktion als Sekretärin beschäftigt war. Das Paar heiratete 1949; die Ehe dauerte 57 Jahre, bis zu Liselottes Tod im Jahre 2006. Zus. mit seiner Frau lebte L., seit 1951 freier Autor, in Hamburg u. Dänemark (Insel Alsen). Seit 1986 besaß er auch ein Haus in Tetenhusen im Kreis Schleswig-Flensburg.

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L. ist einer der renommiertesten Nachkriegsautoren. Seine Romane erreichten Millionenauflagen u. wurden in über 20 Sprachen übersetzt. Sichtbarer Ausdruck dieser Anerkennung sind die zahlreichen Literaturpreise, mit denen er ausgezeichnet wurde. Dazu gehören der Gerhart-Hauptmann-Preis (1970), der Thomas-Mann-Preis der Hansestadt Lübeck (1984), der Wilhelm-Raabe-Preis der Stadt Braunschweig (1987), der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels (1988) u. der Goethepreis der Stadt Frankfurt (1989). Eine der ersten Ehrungen, die Verleihung des Bremer Literaturpreises 1962, sorgte für einen kleinen Eklat: Wegen angeblich fehlender Solidarität kam es vorübergehend zu Verstimmungen zwischen L. u. Günter Grass, dem der Preis zwei Jahre zuvor zugesprochen, doch nicht verliehen worden war, da der Senat die Zustimmung verweigert hatte. Es dauerte indes nicht lange, bis die Differenzen vergessen waren. Grass u. L. gerieten nochmals gemeinsam in die Schlagzeilen, als sie im Jahre 1979, zus. mit Heinrich Böll, das Bundesverdienstkreuz ablehnten. Diese Ablehnung brachte ihnen z.T. heftige Kritik ein; man warf ihnen vor, »der Republik die kalte Schulter« gezeigt zu haben. Spätere Ehrungen wiederum nahm L. gerne entgegen: Aufgrund der Verdienste um seine Wahlheimat wurde er 2002 zum Ehrenbürger der Stadt Hamburg ernannt u. 2004 zum Ehrenbürger von Schleswig-Holstein. L. engagierte sich seit Mitte der 1960er Jahre zunehmend in der Politik. Er ließ sich dabei aber von keiner polit. Richtung vereinnahmen. So trat er niemals der SPD bei, obwohl er sich mit Grass schon im Wahlkampf des Jahres 1965 für Willy Brandt eingesetzt hatte. Im Dez. 1970 begleiteten beide den inzwischen zum Bundeskanzler gewählten Brandt nach Warschau, wo sie dessen berühmten Kniefall vor dem Denkmal der Helden des Ghettos u. die Unterzeichnung des Warschauer Vertrages miterlebten. Im Nov. 1977 reiste L. an der Seite Helmut Schmidts, mit dem er seit dessen Zeit als Hamburger Innensenator eine Freundschaft pflegte, abermals nach Polen. Zehn Jahre zuvor, 1967, hatte sich L. für einen anderen Freund, Jochen Steffen, im schleswig-holstein. Wahl-

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kampf eingesetzt, allerdings ohne Erfolg. Auch im literar. Betrieb war L. seit den 1950er Jahren eine feste Größe: Er war Mitgl. der Gruppe 47 u. las mehrfach auf deren Tagungen. Seine Beiträge stießen dort freilich mitunter auf Ablehnung. L.’ Erfolg ist v. a. begründet in der Gegenwartsbezogenheit seiner Werke, dem Gespür für Zeitstimmungen u. einer realistischen, bisweilen eher volkstüml. Erzählweise. In Reden u. Aufsätzen (etwa Beziehungen, Ansichten und Bekenntnisse zur Literatur. Hbg. 1970) wandte er sich gegen eine explizite polit. Parteinahme der Literatur ebenso wie gegen rein experimentelle oder dokumentar. Formen. L. beharrt auf der mimet. Funktion von Kunst u. versteht sich als Erzähler von Geschichten, die dem Leser neue Perspektiven auf die Realität vermitteln sollen. Von der moral. Verantwortung des Individuums ausgehend, ergreift er Partei für die Schwachen u. Benachteiligten. In vielen Werken steigert er die im Detail abgebildete Welt der Masuren oder der norddt. Küstenlandschaft zum exemplarischen menschl. Handlungsraum. Das hat ihm, gerade im Hinblick auf die Deutschstunde, seinem wohl bekanntesten Roman, den Vorwurf eingebracht, er fokussiere sich darum auf die Randgebiete Europas, weil er sich an keine umfassende Deutung des Nationalsozialismus heranwage. L. publizierte ab 1948 Essays u. Kurzgeschichten in Zeitungen u. Zeitschriften. Sie waren maßgeblich von der amerikan. Erzähltradition beeinflusst. Sein erster Roman Es waren Habichte in der Luft (Hbg. 1951) schildert, stilistisch noch unsicher u. mit einer teilweise klischeehaften Symbolhaftigkeit, den Konflikt des Individuums mit totalitären Herrschaftsstrukturen. Eine für das gesamte Werk charakteristische, existentialistisch-fatalist. Grundhaltung prägt die Gestaltung des Themas moralischer Schuld, das L. auch in Hörspielen u. Dramen bearbeitete (Zeit der Schuldlosen/Zeit der Schuldigen. Hbg. 1961. Hörsp. 1960/61. Urauff. Hbg. 1961). L. versetzt seine Figuren in Extremsituationen, in denen ihnen nur die Alternative zwischen dem eigenen Untergang u. dem Verrat an anderen bleibt. Die bemühte Gleichnishaftigkeit des Handlungsrahmens wie eine die

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abstrakte Konfliktsituation unterstreichende Leitmotiv-Technik wurden von der Kritik bemängelt; andererseits fundierten gerade die teilweise mit kolportagehaften Mitteln arbeitende effektvolle Ausmalung einer »unerhörten Begebenheit« u. die Identifikationsmöglichkeit mit den lakonisch-knapp charakterisierten Zentralfiguren die Breitenwirkung des Autors. Neben den genannten Werken hat L. weitere Hörspiele u. Funkerzählungen verfasst, die allerdings – mit Ausnahme der Sammlung Haussuchung (Hbg. 1967) – bisher ungedruckt geblieben sind. Mit dem Roman Der Mann im Strom (Hbg. 1957) setzt eine zweite Phase in L.’ literarischer Entwicklung ein. Sie ist durch größere Realistik der Darstellung u. den Versuch konkreter Zeitkritik gekennzeichnet. Am Schicksal des alternden Tauchers Hinrichs zeigt L. in Anlehnung an den Zeitroman der 1920er Jahre u. den nüchternen Berichtstil der Neuen Sachlichkeit die Schattenseiten der Wirtschaftswunder-Mentalität in der Adenauer-Ära. So kritisiert er die einseitige Konzentration auf materielle Besitztümer u. messbare Leistung, zgl. die dadurch sich beschleunigende Zerstörung zwischenmenschlicher Beziehungen. Der Roman wurde mehrfach verfilmt, zuletzt 2006 für das ZDF. Zu einem der größten Erfolge L.’ wurde der bereits in einer Erstauflage von 700.000 Exemplaren veröffentlichte Roman Deutschstunde (Hbg. 1968. 131973. Tb-Ausg. Mchn. 1973. 37 2006 u. ö.). Im Anschluss an die Tradition des Entwicklungsromans folgt L. hier der protokollierten Erinnerung des Jugendlichen Siggi Jepsen, der als Insasse einer Jugendhaftanstalt eine Strafarbeit mit dem Thema »Die Freuden der Pflicht« schreiben soll. Im Mittelpunkt stehen der Polizist Jepsen, Siggis Vater, u. dessen Jugendfreund, der Maler Nansen, der Züge des seit 1941 vom Malverbot betroffenen Emil Nolde trägt. L. bietet in der Schilderung des Polizisten, der das gegen den Maler ausgesprochene Berufsverbot zunächst eher widerwillig, zunehmend aber radikal durchzusetzen versucht, das Psychogramm des kleinbürgerlich-autoritären Charakters. Als Antipoden stellt er ihm den einer inneren Berufung verpflichteten Maler entgegen. In diese Konstellation integriert er

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einen politisch wie generationsspezifisch begründeten Vater-Sohn-Konflikt, in dem der Sohn sich dafür entscheidet, die Werke des Künstlers vor der Vernichtung zu bewahren. Wenn auch in der Kritik zu Recht die fehlende Gesamterfassung der gesellschaftlichhistor. Situation von Faschismus u. Krieg, die Verharmlosung des Nazi-Terrors als eine »Ausgeburt friesischen Starrsinns«, eine schemat. Psychologisierung u. die Überforderung der Erzählerfigur konstatiert wurden, gelang L. mit der Deutschstunde dennoch ein differenzierter Zeitroman. Wohl deshalb fand er bei den Lesern starke Resonanz (Fernsehverfilmung 1971). In die Kindheitswelt Masurens, die bereits Schauplatz der bis heute vielfach aufgelegten Sammlung idyllisierender Erzählungen (So zärtlich war Suleyken. Hbg. 1955) war, führt der erfolgreiche Roman Heimatmuseum (Hbg. 1978. Fernsehverfilmung 1988). Er enthält den Rechenschaftsbericht des Erzählers Zygmunt Rogalla über die Gründe seiner Brandstiftung an dem von ihm nach dem Krieg aufgebauten Heimatmuseum in SchleswigHolstein. L. gelangt hier zu einer deutl. Kritik an der politisch motivierten Vereinnahmung des Heimatbegriffs. Großen Anklang fand L. stets auch als Autor von Erzählungen. Ein Teil der Kritik sieht auf eben diesem Gebiet sogar seine eigentl. Stärke. Zunächst an Hemingways Konzept der Short Story orientiert (Konzentration auf den zum Ende hin konzipierten Handlungsverlauf, lapidare Kürze, weitgehender Verzicht auf psycholog. Vertiefung), zeigte L. etwa in der Auswahl Jäger des Spotts. Geschichten aus dieser Zeit (Hbg. 1958) heroische Einzelgänger, Männerfiguren, die sich der Auseinandersetzung mit Extremsituationen stellen und deren Scheitern als exemplarisches Schicksal überhöht wird. Der enge Anschluss an Hemingway wurde nicht von allen gutgeheißen: Seine Besprechung von Jäger des Spotts überschrieb etwa Friedrich Sieburg mit »Der junge Mann und das Meer«. Doch bereits in Das Feuerschiff (Hbg. 1960) löste sich L. von seinem amerikan. Vorbild. Später wandte er sich auch in der Kurzprosa verstärkt den Problemen der jüngsten Vergangenheit u. der Gegenwartskritik zu, u. a. in der für das

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Fernsehen konzipierten Erzählung Ein Kriegsende (Hbg. 1984). Zgl. festigte er seinen durch die Geschichten von So zärtlich war Suleyken begründeten Ruf als humorig-iron. Erzähler mit Sammelausgaben wie Lehmanns Erzählungen oder So schön war mein Markt (Hbg. 1964) u. Der Geist der Mirabelle. Geschichten aus Bollerup (Hbg. 1975). In den folgenden Jahren veröffentlichte L. weitere Erzählsammlungen, so etwa 1996 den Band Ludmilla (Hbg.). Seine Figuren versetzt er darin in Extremsituationen des Alltagslebens, die sich um Verlust, Panik, Fremdheit, Resignation u. Tod drehen. In der metaphor. Erzählung Ein geretteter Abend, einer freundschaftl. Satire auf Marcel ReichRanicki, stellt er die Funktionsweise der literar. Kritik am Verhalten des Großen Zackenbarschs dar, der bei der Auswahl seiner Beute etwas »Richterliches«, »Anklägerisches« habe. Das folgende Buch Zaungast (Hbg. 2002) versammelt sieben Reiseerzählungen, in denen der Ich-Erzähler – wie der titelgebende Vogel – die Ereignisse aus dem Blickwinkel des Außenstehenden beobachtet, wobei er seine Meinungen, Vorurteile u. Erwartungen fortwährend in Frage stellen muss. Einen neuerl. Höhepunkt erreichte L.’ erzähler. Schaffen mit der wunderbaren, auch von der Kritik hochgelobten Novelle Schweigeminute (Hbg. 2008). Aus dem Rückblick schildert der Schüler Christian die Liebesbeziehung zu seiner inzwischen tödlich verunglückten Englischlehrerin Stella Petersen, die Züge der Undine u. der Andersen’schen Meerjungfrau trägt. Schon diese Konstellation lässt das Thema der Novelle anklingen: die Polarität von Nähe u. Distanz, von Liebe u. Trennung. Zwar vermag die Liebe es, die eklatanten Gegensätze zwischen den Hauptfiguren zu überwinden, doch ist sie allenfalls abseits der Gesellschaft, etwa auf einer abgelegenen Insel, lebbar u. selbst dann nur für kurze Augenblicke. Durch ihren frühen Tod wird Stella schließlich in die größtmögl. Ferne gerückt. Doch die Erinnerungen, die die Sprachlosigkeit der Schweigeminute im Innern aufbrechen, machen sie für Christian wieder lebendig. So schafft die trauernde Erinnerungsarbeit eine innige Verbindung zu

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Stella über deren Tod hinaus u. verleiht ihr damit jene Unsterblichkeit, für die sie durch ihren Vornamen prädestiniert ist. Weniger gut besprochen wurde die folgende Erzählung Landesbühne (Hbg. 2009). Die Insassen eines Gefängnisses, denen für kurze Zeit die Flucht gelingt, weisen den Bewohnern eines Dorfes mit dem sprechenden Namen Grünau den Weg zu einem Leben, in dem die Mangelhaftigkeit des Menschen durch Fantasie u. Kultur ausgeglichen ist, kurzum: zu einem Dasein mit Zukunft. Die Erzählung vermag insg. nicht recht zu überzeugen. Die Figuren sind größtenteils schematisch, u. die Handlung, auch wenn sie, in der Tradition des Schelmenromans stehend, bewusst mit einer kräftigen Portion Humor angereichert ist, scheitert am Spagat zwischen kuriosen u. realist. Elementen. In dem Roman Fundbüro (Hbg. 2003) wendet sich der jungenhaft-naive Taugenichts Henry Neff gegen die kühle Rationalität seiner Mitmenschen, indem er sie in fantasievolle, den Ernst der erstarrten Wirklichkeit transzendierende Spiele verwickelt. Doch in die stets bedrohte Idylle aus Heiterkeit, Glück u. Spiel bricht die reale Welt immer wieder gewaltsam ein, etwa in Gestalt einer brutalen Motorradbande, deren Verhalten durch ausländerfeindl. Stereotype bestimmt ist. In Schweigeminute ist L. der Tod, vielmehr die Überwindung des Todes durch die Liebe, zum zentralen Thema des Schreibens geworden. In dieser Hinsicht markiert das Werk einen Kulminationspunkt, hatte die Auseinandersetzung mit der Vergänglichkeit des Menschen doch bereits zwei umfangreichere Werke L.s aus den 1990er Jahren geprägt. In dem 1990 erschienenen Roman Die Klangprobe (Hbg.) setzt er sich mit der Brüchigkeit des Lebens u. der menschl. Beziehungen auseinander, die er mit der vermeintl. Dauerhaftigkeit des Steins kontrastiert. Rasch erweist sich der Stein indes als ebenso brüchig wie die Verbindung zwischen dem Ich-Erzähler Jan Bode u. Lone Steiner. Am Ende ist es der Stein selbst, jenes alte Symbol der Ewigkeit, das den Tod bringt: Lottes kleiner Neffe wird just von einem Grabstein erschlagen. In Arnes Nachlass (Hbg. 1999) werden dem Erzähler die persönl. Gegenstände seines verstorbenen

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Freundes zum Anlass, sich Arne erinnernd zu vergegenwärtigen. Dieser Erzählansatz nimmt die Ausgangssituation der Schweigeminute vorweg. Allerdings sind Arnes Erinnerungen stärker episodisch strukturiert, da sie jeweils an einen konkreten Gegenstand aus dem Nachlass geknüpft sind. Weitere Werke: Duell mit dem Schatten. Hbg. 1953 (R.). – Das schönste Fest der Welt. Hbg. 1956 (Hörsp.). – Das Kabinett der Konterbande. Hbg. 1956 (E.). – Brot u. Spiele. Hbg. 1959 (R.). – Stimmungen der See. Stgt. 1962 (E.). – Stadtgespräch. Hbg. 1963 (R.). – Das Gesicht. Hbg. 1964 (D.). – Der Spielverderber. Hbg. 1965 (E.). – Elfenbeinturm u. Barrikade. Schriftsteller zwischen Lit. u. Politik. Hbg. 1966. Erw. Neuausg. 1983 (Ess.s). – Leute v. Hamburg. Hbg. 1968 (E.). – Lukas, sanftmütiger Knecht. Stgt. 1970 (E.). – Beziehungen. Ansichten u. Bekenntnisse zur Lit. Hbg. 1970 (E.). – Die Augenbinde. Nicht alle Förster sind froh. Reinb. 1970 (D.). – So war das mit dem Zirkus. 5 Gesch.n aus Suleyken. Hbg. 1971 (E.). – Das Vorbild. Hbg. 1973 (R.). – Ein Haus aus lauter Liebe. Stgt. 1973 (E.). – Einstein überquert die Elbe bei Hamburg. Hbg. 1975 (E.). – Die Kunstfahrer u. a. Gesch.n. Hbg. 1976 (E.). – Die Wracks v. Hamburg. Oldenb. 1978 (E.). – Gespräche mit Manès Sperber u. Leszek Kolakowski. Hbg. 1980. – Der Verlust. Hbg. 1981 (R.). – Exerzierplatz. Hbg. 1985 (R.). – Über Phantasie. Gespräche mit Heinrich Böll, Günter Grass, Walter Kempowski, Pavel Kohout. Hg. Alfred Mensak. Mchn. 1986. – Leute v. Hamburg. Meine Straße. Hbg. 1986 (E.). – Das serb. Mädchen. Hbg. 1987 (E.). – Motivsuche. Bln. u. a. 1988 (E.en). – Über das Gedächtnis. Reden u. Aufsätze. Hbg. 1992. – Die Auflehnung. Hbg. 1994. (R.). – Über den Schmerz. Hbg. 1998 (Ess.s). – Mutmaßungen über die Zukunft der Lit. Hbg. 2001 (Ess.s). – Selbstversetzung. Über Schreiben u. Leben. Hbg. 2006. (Ess.). – Die Versuchsperson. Hbg. 2009 (D.). Ausgaben: Werkausg. in Einzelbdn. 20 Bde., Hbg. 1996–99. – Ges. Erzählungen. Mit einem Nachw. v. Colin Russ. Hbg. 1970. 81979. – Die frühen Romane. Hbg. 1976. – Die Erzählungen. 1949–84. 3 Bde., Mchn. 1986. – Die Erzählungen. Mit einem Geleitwort v. Marcel Reich-Ranicki. Hbg. 2006. Literatur: Colin Russ (Hg.): Der Schriftsteller S. L. Urteile u. Standpunkte. Hbg. 1973. – Theo Elm: S. L. ›Deutschstunde‹. Engagement u. Realismus im Gegenwartsroman. Mchn. 1974. – Wilhelm Johannes Schwarz: Der Erzähler S. L. Mit einem Beitr. ›Das szenische Werk‹ v. Hans-Jürgen Greif. Bern 1974. – Winfried Baßmann: S. L. Sein Werk als

Lenz Beispiel für Weg u. Standort der Lit. in der BR Dtschld. Bonn 1976. – Manfred Durzak: Gespräche über den Roman mit Joseph Breitbach u. a. Formbestimmungen u. Analysen. Ffm. 1976. – Hartmut Pätzold: Theorie u. Praxis moderner Schreibweisen. Am Beispiel v. S. L. u. Helmut Heissenbüttel. Bonn 1976. – Hagen Meyerhoff: Die Figur des Alten im Werk v. S. L. Ffm./Bern 1979. – Felicia Letsch: Auseinandersetzung mit der Vergangenheit als Moment der Gegenwartskritik. Die Romane ›Billard um halb zehn‹ v. Heinrich Böll, ›Hundejahre‹ v. Günter Grass, ›Der Tod in Rom‹ v. Wolfgang Koeppen u. ›Deutschstunde‹ v. S. L. Köln 1982. – Text + Kritik, 21982 (mit Bibliogr.). – Nikolaus Reiter: Werkstrukturen im erzähler. Werk v. S. L. Ffm./Bern 1982. – Hans Wagener: S. L. 4., erw. Aufl. Mchn. 1985. – Rudolf Wolff (Hg.): S. L. Werk u. Wirkung. Bonn 1985. – Trudis Reber: S. L. 3., erg. Aufl. Bln. 1986. – Rachel J. Halverson: Historiography and Fiction. S. L. and the ›Historikerstreit‹. New York u. a. 1990. – Werner Schwan: ›Ich bin doch kein Unmensch‹: Kriegs- u. Nachkriegszeit im dt. Roman. Grass ›Blechtrommel‹, L. ›Deutschstunde‹, Böll ›Gruppenbild mit Dame‹, Meckel ›Suchbild‹. Freib. i. Br. 1990. – Ming-fong Kuo: Das Romanwerk v. S. L. unter bes. Berücksichtigung des Romans ›Das Vorbild‹. Ffm. 1991. – Christiane Lamparter: Der Exodus der Politik aus der bundesrepublik. Gegenwartslit. Ffm. u. a. 1992. – Irene Schlör: Pubertät u. Poesie. Das Problem der Erziehung in den literar. Beispielen v. Wedekind, Musil u. S. L. Konstanz 1992. – Gisela Mueller-Meehl: Fotografie als Paradigma der Rahmenschau in neun Kurzgesch.n v. S. L. Ann Arbor 1994. – Swantje Petersen: Korrespondenzen zwischen Lit. u. bildender Kunst im 20. Jh. Studien am Beispiel v. S. L. – E. Nolde, A. Andersch – E. Barlach – Paul Klee, H. Janssen – E. Jünger u. G. Bekker. Ffm./Bln. 1995. – Claus Nordbruch: ›Über die Pflicht‹. Hildesh./Zürich/New York 1996. – Elfie Poulain: La recherche de l’identité sociale dans l’œuvre de S. L. Analyse de pragmatique romanesque. Bern u. a. 1996. – Corinna Schlicht (Hg.): Anmerkungen zu S. L. Oberhausen 1998. – Erich Maletzke: S. L. Eine biogr. Annäherung. Springe 2 2006. – Björn Schaal: Jenseits v. Oder u. Lethe. Flucht, Vertreibung u. Heimatverlust in Erzähltexten nach 1945 (Günter Grass, S. L., Christa Wolf). Trier 2006. Johannes G. Pankau / Alexander Schüller

Leo

Leo, Heinrich, * 19.3.1799 Rudolstadt, † 24.4.1878 Halle. – Historiker.

346 versalgesch. 6 Bde., Halle 1839–44. – Signatura Temporis. Bln. 1848. – Vorlesungen über die Gesch. des dt. Volkes u. Reiches. 5 Bde., Halle 1854–67. – Thomas Münzer. Bln. 1856. – Nominalist. Gedankenspäne. Reden u. Aufsätze. Halle 1864. – Angelsächs. Glossar. Halle 1872. – Aus meiner Jugendzeit. Gotha 1880.

Der Pfarrerssohn promovierte 1820 u. habilitierte sich 1822 in Erlangen Über die Odinsverehrung in Deutschland (Erlangen 1822). In Berlin habilitierte er sich 1824 mit der Schrift Literatur: Werner Reinhard: Die geschichtsEntwicklung der Verfassung der lombardischen Städte bis zur Ankunft Kaiser Friedrich L. in Italien philosoph. Gedanken L.s. Diss. Lpz. 1930. – Karl (Hbg. 1825) erneut u. wurde 1825 a. o. Pro- Mautz: L. u. Ranke. In: DVjs 27 (1953), S. 207–235. fessor. L. übersetzte u. edierte mehrere – Christoph v. Maltzahn: H. L. Hbg. 1979. – Ders.: H. L. In: NDB. – Jean Marcel Vincent: H. L.s ›geisSchriften Machiavellis (Die Briefe des Florentitige Metamorphose‹ in der Zeit des Rationalisnischen Kanzlers und Geschichtsschreibers Niccolo musstreits. Mit acht unbekannten L.-Briefen. In: di Bernardo dei Machiavelli an seine Freunde. Bln. ZRGG 47 (1995), S. 254–284. 1826. Historische Fragmente. Hann. 1828), was Michael Behnen / Red. er als Wendung gegen Leopold von Ranke verstand. Infolge dieser Kontroverse ging er 1827 auf Vermittlung Hegels nach Halle, wo Leon, Gottlieb, * 16.4.1757 Wien, † 30.4. 1830 Wien. – Lyriker u. Erzähler. er 1830 einen Lehrstuhl erhielt. L. wandelte sich unter dem Einfluss Karl Der (nicht mit Augustin von Leon zu verFriedrich Eichhorns u. Gustav Hugos vom wechselnde) Sohn des Schneidermeisters Joengagierten Burschenschafter zum Hegelia- seph Leon besuchte das Jesuitengymnasium ner u. schließlich zu einem extrem konser- Am Hof u. hörte danach Vorlesungen an der vativen Pietisten. Er betrachtete die Neuzeit Wiener Universität. L. verkehrte zu dieser als Verfall des MA, dessen in ständ. Ordnung Zeit im literar. Salon des Hofrates Franz Sales integrierte, oberste Autorität die Reformation von Greiner, u. der unter schwierigen finanzerstört habe. Obwohl selbst Protestant, arziellen Verhältnissen lebende Student wurde gumentierte er in seinen Zwölf Büchern nieHauslehrer von dessen Sohn Franz Xaver. derländischer Geschichten (2 Teile, Halle Zgl. kam er auch mit Greiners Tochter Karo1832–35) für die kath. Seite. L. vermochte line in Kontakt, der späteren Schriftstellerin sich mit seiner organologischen, ständischKaroline Pichler, die Anfang des 19. Jh. den autoritären, am MA orientierten Staatstheobedeutendsten literar. Salon Wiens führte. rie (Studien und Skizzen zu einer Naturlehre des Bereits 1777 war L. maßgeblich an dem von Staates. Halle 1833. Neudr. Ffm. 1948) nicht seinem Schulfreund Joseph Franz Ratschky gegen die systemat. u. analyt. Ansätze der gegründeten »Wienerischen MusenalmaJunghegelianer durchzusetzen, deren »Halnach« beteiligt, der zum wichtigsten Samlische Jahrbücher« 1841 aufgrund seiner In- melbecken österreichischer Lyriker wurde. tervention verboten wurden. Später wandte 1782 erhielt L. eine Anstellung als Bibliosich L. der Mediävistik zu, u. vor allem hier theksdiener an der Hofbibliothek, wo er bis sind seine Verdienste zu sehen, auch wenn er zu seiner Pensionierung verblieb. Seine zu Lebzeiten als Mitarbeiter der »Kreuzzei- Laufbahn nahm eher schleppend ihren Forttung« einer der bekanntesten konservativen gang: 1791 wurde L. Skriptor, erst 1816 erPublizisten war. folgte seine Beförderung zum Kustos, u. 1827 Weitere Werke: Von der Entstehung u. Be- trat der unverheiratet gebliebene L. als dritter deutung der dt. Herzogsämter nach Karl dem Kustos der Hofbibliothek in den Ruhestand. Großen. Bln. 1827. – Vorlesungen über die Gesch. Schriftstellerisches Ergebnis seiner bibliodes Jüd. Staates. Bln. 1828. – Gesch. der ital. Staathekarischen Tätigkeit war die Kurzgefaßte ten. 5 Bde., Hbg. 1829/30. – Lehrbuch der Gesch. des MA. 2 Bde., Halle 1830. – Sendschreiben an J. Beschreibung der K. K. Hofbibliothek (Wien 1820). L. war ein sehr fruchtbarer Lyriker, der viel Görres. Halle 1838. – Altsächs. u. angelsächs. Sprachproben. Halle 1838. – Bëowulf. Halle 1839. – zum »Wiener(ischen) Musenalmanach« u. zu Die Hegelingen. Halle 21839. – Lehrbuch der Uni- zahlreichen anderen Periodika (u. a. »Ham-

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burger« u. »Göttinger Musenalmanach« u. Kontakte setzte L. ein, um josephinisch ge»Deutsches Museum«, »Bragur« v. Friedrich sinnte Literaten zu fördern. Er war Mitgl. der David Gräter) beitrug. Im »Wiener(ischen) Wiener Loge »Zur wahren Eintracht« u. Musenalmanach« vertrat L. v. a. eine emp- nützte das überregionale Kommunikationsfindsame u. anmutig-scherzhafte Stilrich- netz der Freimaurer; als Briefautor stand er tung, der die Unmittelbarkeit der Sturm und u. a. mit Clemens Brentano, Karl August Drang-Lyrik fremd blieb. Christoph Martin Böttiger, Friedrich Gräter, Karl Leonhard Wieland u. anakreont. Dichter wie Uz, Ha- Reinhold u. dem dichtenden Melker Benegedorn u. Gleim blieben für L. zeitlebens die diktiner Ulrich Petrak in Verbindung. L.s wichtigsten Vorbilder, während er romant. Wirken hatte maßgebl. Anteil am WeiterleStrömungen ablehnte. 1788 erschien ein ben der ästhet. u. polit. Ideale des JosephiBand gesammelter Gedichte (Wien) von L., der nismus im 19. Jh., ein Fortwirken, das sich neben Anakreontik, Elegien, Idyllen, Briefen für die österr. Literaturgeschichte – etwa bei u. Freimaurergedichten auch Volksgedichte Franz Grillparzer – als sehr wirkungsmächtig u. Balladen in Anlehnung an Gottfried Au- erwies. gust Bürger enthielt. An den ebenfalls in den Weitere Werke: Lied eines österr. Bauermanns Band aufgenommenen Minneliedern zeigt beym Grabe seiner seligen Landesfürstinn. Wien sich ein frühes Interesse L.s an mhd. Dich- 1780. – An Herrn Maximilian Stoll, k.k. Rath, tung, wobei er diese allerdings im Sinne eines Professor der prakt. Arzneykunde an der hohen »aufklärerischen Eklektizismus« (Roger Schule zu Wien, u. Mitgl. der kgl. medizin. FaBauer) sprachlich u. stilistisch für verbesse- kultät zu Kopenhagen. Als am 18. Brachmonden 1781 das Fest der Blatternimpfung gefeyert ward. rungswürdig hielt. Der Gedichtband fiel bei Wien 1781. – Lied eines österr. Bauermanns auf die der Kritik durch, L. verzichtete auf den ge- Ankunft des hl. Vaters Pius des Sechsten. Wien planten zweiten Band, veröffentlichte jedoch 1782. – Empfindungen über den der Freymaurerey bis zu seinem Tod weiterhin in verschie- in den k.k. Erblanden öffentlich ertheilten Schutz. densten literar. Almanachen. Unter anderem Wien 1786. – Über Joseph II. Tod an Eulogius befasste er sich in einer Reihe von Nachdich- Schneider. Wien 1790. – An Therese Saal als Säntungen mit spanischer u. portugies. Literatur. gerinn u. Ehegattinn. 1805. In den 1821 erschienen Rabbinischen Legenden, Literatur: Goedeke Bd. 6, S. 533–535. – Joseph für die er Johann Gottfried Herder als Vorbild Deissinger: G. L. Leben u. Werke. Phil. Diss. (Hs.). nennt, war L. bemüht, die durch antisemit. Wien 1908. – Joseph P. Strelka: G. v. L. and His Verzerrungen geprägte Überlieferung der Rabbinische Legenden. In: The Austrian EnlightenErzählungen zu korrigieren u. sie in ihrer ment and its Aftermath. Hg. Ritchie Robertson u. Edward Timms. Edinburgh 1991, S. 59–70. – Joeigentl. Gestalt nachzuerzählen. hannes Frimmel: ›Wien, an der k.k. HofbiblioWichtiger als seine formal gewandte, aber thek‹. Die Briefe G. L.s an Karl August Böttiger. In: wenig originelle Lyrik u. seine Prosaarbeiten Lenau-Jb. 26 (2000), S. 85–134. – Ders.: Unbeist L.s Tätigkeit als literar. Vermittler. Er be- kannte Briefe v. G. L. an Karl Leonhard Reinhold u. kämpfte die Wiener Vertreter der literar. Ro- Clemens Brentano. In: Lenau-Jb. 28 (2002), S. 7–38. mantik nicht in direkter polem. Auseinan- – Wynfried Kriegleder: Wiener Freunde. Zum 250. dersetzung wie Joseph Franz Ratschky oder Geburtstag v. G. L. u. Joseph Ratschky. In: Praesent Joseph Schreyvogel, sondern bemühte sich, (2007), S. 35–42. Johannes Frimmel als Herausgeber den alten u. jungen Josephinern Publikationsforen zu bieten. L. zeichLeonhard, Kurt, * 5.2.1910 Berlin, nete u. a. für die Jahrgänge 1795 u. 1796 des † 10.10.2005 Esslingen. – Lyriker, Essay»Wiener Musenalmanachs« verantwortlich, ist u. Übersetzer. er gab Band 2 der »Österreichischen Monathsschrift« (1794) heraus, war Redakteur L. studierte Kunstgeschichte u. Philosophie, des »Österreichischen Taschenkalenders (Ta- brach das Studium aber 1936 ab. Nach schenbuchs)« (1801–06) u. alleiniger Her- Kriegseinsatz nach 1941 u. nach der Heimausgeber des Almanachs »Apollonion« kehr aus der amerikan. Kriegsgefangenschaft (1807–11). Seine weitgespannten persönl. begann L. seine Schriften zu veröffentlichen.

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Leonhard, Rudolf, auch: Robert Lanzer, * 27.10.1889 Lissa (Leszno), † 19.12.1953 Berlin/DDR. – Lyriker, Erzähler, Dramatiker, Hörspielautor, Essayist.

lution von 1918/19 teil. Nach kurzer Hilfsarbeitertätigkeit im Auswärtigen Amt gründete u. leitete L. ab 1921 in Berlin das polit. Theater »Die Tribüne«, wechselte 1923 als Lektor zum Verlag »Die Schmiede« u. ging 1927 auf Einladung Hasenclevers nach Paris. Dort baute er nach 1933 Hilfsorganisationen für die dt. Emigranten auf (u. a. den Schutzverband Deutscher Schriftsteller, dessen Vorsitzender er wurde). 1937 nahm L. am Spanischen Bürgerkrieg teil, 1939–1941 war er in Le Vernet bzw. Les Milles interniert, 1943 gelang ihm die Flucht aus dem Auslieferungslager Castres. Er arbeitete in Marseille in der frz. Widerstandsbewegung, lebte, zeitweise schwer krank, 1944–1950 in Paris u. übersiedelte dann – eigenwilliger Parteigänger der offiziellen Linie – in die DDR. L. gehörte dort zu den Erneuerern der Hörspielkunst (Der 38. Breitengrad. 1950. Spielzeug. Halle 1951). L. stand, nach ersten neoromant. Gedichten, im Banne des Expressionismus (Polnische Gedichte. Lpz. 1916. Die Vorhölle. 1916. Urauff. Bln. 1919). Er schwankte später zwischen mythisch-ästhetischer Ekstase (Beate und der große Pan. Mchn. 1918; R.) u. polit. Parteinahme (Spartakussonette. Stgt. 1921), entschied sich dann für die Unterstützung der KPD: Mit Segel am Horizont (Urauff. Bln. 1925; Regie Piscator) schrieb L. das erste deutschsprachige Stück, in dem sozialist. Bewusstsein geschlechtl. Rollenfixierungen aufhebt. Für sein Hörspiel Orpheus (1927) erhielt er 1929 den ersten dt. Hörspielpreis. L.s Gedichte (Paris 1936) wurden illegal, als Reclamheft getarnt, nach Deutschland gebracht. Sein Stück Geiseln (Lyon 1945. Urauff. 1946) gehört zu den frühen literar. Zeugnissen des antifaschist. Widerstands in Frankreich.

L., Sohn eines Justizrats, verheiratet mit Susanne Leonhard, die ihr polit. Schicksal in der Sowjetunion im Bericht Gestohlenes Leben schildert, Vater des Publizisten Wolfgang Leonhard (Die Revolution entläßt ihre Kinder), studierte Deutsche Philologie, später Jura in Göttingen u. Berlin u. arbeitete bis 1914 im Justizdienst. Aus dem Ersten Weltkrieg (Freiwilliger) kehrte er als entschiedener Pazifist zurück u. nahm in Berlin an der Revo-

Weitere Werke: Angelische Strophen. Bln.Wilmersdorf 1913 (L.). – Der Weg durch den Wald. Heidelb. 1913 (L.). – Barbaren. Balladen. Bln.-Wilmersdorf 1914. – Über den Schlachten. Bln.-Wilmersdorf 1914 (L.). – Aeonen des Fegefeuers. Aphorismen. Lpz. 1917. Neuaufl. Bln./SBZ 1948. – Elemente der proletar. Kultur. 1924 (Flugschr.). – Das nackte Leben. Sonette. Bln. 1925. – Tragödie v. heute. Bln. 1927 (D.). – Stierkampf. Urauff. Sender Köln 1931 (Hörsp.). – Das Wort. Versuch eines sinnl. Wörterbuchs der dt. Sprache. Bln. 1932. –

Wichtig wurde er als Vermittler der modernen Kunst an ein Publikum, dessen Geschmack vom Nationalsozialismus verdorben war, wiewohl er dabei eher konservativ argumentierte (Die heilige Fläche. Gespräche über moderne Kunst. Stgt. 1947. Augenschein und Inbegriff. Die Wandlungen der neuen Malerei. Stgt. 1953). In dem Band Was ist Kunst? Eine Grundfrage und neununddreißig Bei-Spiele (Stgt. 1981) versucht L., Werke zeitgenöss. Künstler durch eigene Gedichte zu erhellen. Bereits 1955 war er mit Gegenwelt (Esslingen) als Lyriker hervorgetreten. Zus. mit Karl Schwedhelm gab er die erste Folge der Reihe Lyrik aus dieser Zeit (Esslingen 1961; Typografie v. Josua Reichert) heraus. Auch um die moderne Literatur des Auslands machte sich L. als Übersetzer verdient. Seine Arbeit galt u. a. Henri Michaux, Gaston Bachelard, Paul Valéry, Michel Leiris u. E. M. Cioran. Als Literaturhistoriker trat er mit der Abhandlung Der gegenwärtige Dante (Stgt. 1950; mit Übertragung v. vier Gesängen aus der Göttlichen Komödie) hervor. Weitere Werke: Paul Cézanne in Selbstzeugnissen u. Bilddokumenten. Reinb. 1966. – Dante Alighieri in Selbstzeugnissen u. Bilddokumenten. Reinb. 1970. – Wort wider Wort. Mainz 1974 (L). – Texte aus sechs Jahrzehnten. 1934–94. Esslingen 1995. Literatur: Renate Wiehager u. Christian Gögger: Le grand jeu – das große Spiel. Der Kunstkritiker, Lektor, Dichter u. Übersetzer K. L. In: Literar. Spuren in Esslingen. Esslingen 2003. Peter Fischer / Günter Baumann

349 Führer & Co. Paris 1936 (polit. Kom.). – Der Tod des Don Quijote. Zürich 1938. Bln./DDR 1951 (E.en). – Dtschld. muß leben...! Marseille 1944 (L.). – Dt. Gedichte. Bln./SBZ 1947. – Unsere Republik. Aufsätze u. Gedichte. Bln./DDR 1951. Ausgaben: R. L. erzählt. Auswahlbd. Hg. Maximilian Scheer. Bln./DDR 1955. – Ausgew. Werke. Hg. ders. 4 Bde., Bln./DDR 1961–70. – In derselben Nacht. Das Traumbuch des Exils. Hg. Steffen Mensching. Bln. 2001. Literatur: Maximilian Scheer: Freunde über R. L. Bln./DDR 1958. – Rudolf Stöber: R. L. Diss. masch. Halle 1963. – Bernd Jentzsch: R. L., ›Gedichteträumer‹. Mchn./Wien 1984 (biogr. Ess. mit Dokumenten u. Bibliogr.). – Eva-Maria Siegel: ›Keine Pflanze, die ich pflanzte, hab ich wachsen sehn ...‹: R. L. In: Temperamente (1989), H. 1, S. 108–114. – Stephan Hermlin: R. L. In: Ders.: Lektüre. Bln. 1997, S. 38–44. – Benno Pubanz: ›Drei Begegnungen‹ – Ehm Welks Verhältnis zu R. L. In: ›... damit ich nicht noch mehr als Idylliker abgestempelt werde‹. Hg. Reinhard Rösler u. Monika Schürmann. Rostock 1998, S. 81–86. – Jonathan Ross: ›Leiden verpflichtet‹. Recast Jewish Figures in R. L.’s Post-War Antifascist ›Erzählungen‹. In: Jews in German Literature since 1945: German-Jewish Literature? Hg. Pól O’Dochartaigh. Amsterdam/Atlanta 2000, S. 391–402. – Helmut Hirsch: Ein bemerkenswerter dt. Schriftsteller: R. L. In: Exil 20 (2000), H. 1, S. 28–43. – Helmut Kreuzer: Deutschsprachige Hörspiele 1924–33. Ffm. u. a. 2003, S. 9–38. – Bettina Giersberg: Die Arbeit des Schriftstellers R. L. im frz. Exil 1933–45. Diss. Bln. 2005 (Online-Ressource). – Dieter Schiller: ›Der Abschied aus dem aktiven Leben fällt mir immerhin schwer ...‹. R. L. u. sein Tgb. aus Hyères (1937). In: Lion Feuchtwanger u. die deutschsprachigen Emigranten in Frankreich v. 1933 bis 1941. Hg. Daniel Azuélos. Bern u. a. 2006, S. 413–424.

Leonhardt-Lyser

dakteur der »Zeit« in Hamburg, wo er auch als Ruheständler nach 1986 lebte. Neben seiner journalist. Tätigkeit, deren Möglichkeiten er in dem Band Journalismus und Wahrheit (Mchn./Zürich 1976) kritisch reflektiert, hat L. sich immer wieder mit literar. Themen befasst. Nach Essaybänden zur dt. Gegenwartsliteratur (Moderne deutsche Literatur. London 1955. Leben ohne Literatur? Starnberg 1961. Zeitnotizen. Mchn. 1963) erschien seine Monografie über »Heines Mädchen und Frauen« (Das Weib, das ich geliebet hab. Hbg. 1975). Als Herausgeber stellte er Junge deutsche Dichter für Anfänger (Zürich 1964) vor u. sammelte Lieder aus dem Krieg (Mchn. 1979). Mit der Auswahlausgabe Kästner für Erwachsene (Ffm. 1966) trug er maßgeblich zur Befreiung Kästners vom Image des »Kinderbuchautors« bei. Weite Leserkreise erreichte L. auch mit Reisebüchern u. zeitkrit. Reportagen u. Kommentaren, die der unbequemen Maxime folgten: »Denken, was man fühlt, und tun, was man denkt« (nach Russell). Weitere Werke: Reise in ein fernes Land. Hbg. 1964 (zus. mit Marion Gräfin Dönhoff u. Theo Sommer). – Wer wirft den ersten Stein? Mchn. 2 1969. – Drei Wochen u. drei Tage. Hbg. 1970. – Xmal Dtschld. Mchn. 1971. – 77mal England. Mchn. 21980. – Auf gut deutsch gesagt. Bln. 1983. – Pro & Contra. Mchn. 1989. – Weimar. Stgt. 1995. – Der tiefe Süden. Mchn. 1995. Heinrich Detering / Günter Baumann

Leonhardt-Lyser, Caroline, auch: C. Pierson, R. Edmund Hahn, * 6.11.1811 Konrad Franke / Red. Zittau, † 2.4.1899 Lindenhof bei Coswig. – Lyrikerin, Romanautorin, StegreifdichLeonhardt, Rudolf Walter, * 9.2.1921 Al- terin. tenburg, † 30.3.2003 Hamburg. – JourFrüh zur Waise geworden, wuchs L. bei nalist, Essayist. Nach einem Studium in Deutschland u. England u. a. bei Bertrand Russell promovierte L. mit einer Arbeit über Dickens u. Freytag (The structure of a Novel. Bonn 1950). 1948–1950 unterrichtete er dt. Literatur an der Universität Cambridge. Nach dreijähriger Tätigkeit bei der BBC wurde er 1953 Mitarbeiter als Auslandskorrespondent, dann als Feuilleton-Chef u. stellvertretender Chefre-

Stiefeltern auf, die sich um die Bildung des Kindes bemühten. Dabei fielen ihr Improvisationstalent u. ihre poet. Neigungen auf. In Dresden, wo sie seit 1835 lebte, förderte der Dichter Friedrich Kind ihre Begabungen u. führte sie in literar. Kreise ein. L. beschäftigte sich in belehrenden Fabeln, Geschichten u. Ratgebern früh mit Fragen der weibl. Erziehung u. Bildung (Encyclopädie der sämtlichen Frauenkünste. Lpz. 1833, mit C. Seifer. Cha-

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rakterbilder für deutsche Frauen und Mädchen. Dresden 1885. – Das Erbfräulein. 2 Bde., Dresden Lpz. 1838. Goldene Fibel. Nürnb. 1843) u. de- 1889. – Der letzte Jagiello. Dresden 1895. Literatur: Friedrich Hirth: Johann Peter Lyser. bütierte 1834 als Dichterin mit dem Gedichtband Liederkranz (Dresden); in den fol- Mchn. u. Lpz. 1911, S. 249–380. Jens Wonneberger genden Jahren erschienen, teilweise anonym, Novellen. 1836 heiratete sie den Dichter Johann Peter Lyser, mit dem sie auch Mär- Leopold von Wien, * um 1340 Österreich. chenbücher herausgab. Aus der Ehe gingen – Übersetzer. drei Kinder hervor. Ermutigt von Friedrich L.s Leben ist nur in Umrissen bekannt: Er Rückert, trat L. von 1839 bis 1843 erfolgreich gehörte dem Wiener Konvent der Augustials Improvisatrice in vielen europ. Städten nereremiten an u. wird 1368 als Terminarius auf. Nach der Scheidung von Lyser heiratete in Klosterneuburg erwähnt. Am Pariser Gesie 1844 den engl. Komponisten Henry Pierneralstudium seines Ordens studierte er son (eigentl. Henry Hugh Pearson), mit dem Theologie u. wurde dort Lektor, vielleicht sie in Wien, Mainz, Würzburg, Stuttgart, auch Baccalaureus. 1377/78 war er Prior seiHamburg u. Leipzig lebte u. ihre schriftstelnes Konvents, an dessen Generalstudium er lerische Arbeit weitestgehend aufgab. Erst seit Anfang 1377 lehrte. An der 1384 errichnach 20 Jahren erschienen, nun aber in rateten theolog. Fakultät der Wiener Universischer Folge u. unter dem Pseud. R. Erdmund tät ist er studierend u. lehrend bezeugt. 1385 Hahn, Novellen u. Unterhaltungsromane war L. bereits Hofkaplan Herzog Albrechts (Ehen werden im Himmel geschlossen. Dresden III. von Österreich; er wurde zum »lector 1886), aber auch Operntexte u. Dramen. Nach secundarius primo loco« am augustin. Genedem Tod von Pierson (1873) kehrte L. nach ralstudium befördert u. als »Licentiatus Dresden zurück, wo zwei ihrer Söhne aus theologiae« zum päpstl. Ehrenkaplan erzweiter Ehe eine Buchhandlung u. einen nannt. L. wurde fälschlich mit dem herzogl. Verlag betrieben. Ab 1892 lebte sie bis zu Hofkaplan Lutoldus Stainrueter sowie mit ihrem Tod in der von einem weiteren Sohn dem Priester Leupoldus (Ulrici) gleichgesetzt. geleiteten Heilanstalt »Lindenhof« bei CosL. gehört zum geistlich-akadem. Kreis um wig. den Hof Albrechts, in dem er als Übersetzer Weitere Werke: Mitgabe für Dtschld.s Töchter. hervortrat. Für den Hofmeister Hans von Meißen 1839. – Herbstgabe. Meißen 1840. – LudLiechtenstein übertrug er zwei lat. Schriften wig Pauli als Künstler dargestellt. Lpz. 1842. – über Jerusalem (Von der Stat ze Jerusalem) u. den Meister Albrecht Dürer. Nürnb. 1840 (D.). – Novellen. Lpz. 1842. – Drei Männer v. Ehre. Dresden Berg Sinai (Von der rais des pergs Synai). Viel1844. – Geheimnisse aus der vornehmen Welt. leicht verfasste er auch für ihn 1377 einen Meißen 1844. – Novellen. Lpz. 1864 (mit F. Pfalz). – u. a. aus den Mirabilia Romae kompilierten, Das Dokument. Lpz. 1865. – Starhemberg oder Die eigene Reiseeindrücke einbeziehenden TrakBürger v. Wien. Wien 1865. – Der Verschwundene. tat über die Stadt Rom (Von der Stat ze Rom), Lpz. 1865. – Das graue Haus in der Rue Richelieu. der mit den beiden anderen in einer HandWürzb. 1867. – Hohenzollern u. Welfen. 3 Bde., schrift überliefert ist. 1385 beendete er eine Würzb. 1867–69. – Bilder aus der Dichter- u. Übersetzung der kirchengeschichtl. KompiKünstlerwelt. Lpz. 1870. – Schloß Hrawodar. 3 lation Historia (ecclesiastica) tripartita des CasBde., Bln. 1870. – Die Sklaverei der Liebe. 2 Bde., siodor (etwa 560) für Herzog Albrecht, die in Dresden 1872. – Stephanie. 2 Bde., Bln. 1873. – Die falsche Gräfin. Lpz. 1873. – Der Zögling des Di- einem im Wiener Augustinerkloster geplomaten. 3 Bde., Lpz. 1876. – Zu früh vermählt. schriebenen Codex erhalten ist. Die dt. Bln. 1876. – Ein Jahr in der großen Welt. 2 Bde., Übertragung des Rationale divinorum officiorum Dresden 1879. – Schöne Frauen. 2 Bde., Dresden des Wilhelm Durandus wird heute für das 1881. – Im Park zu Rodenstein. 2 Bde., Dresden Werk eines Anonymus im Wiener Kreis ge1881. – Die beiden Gräfinnen. 2 Bde., Dresden halten; dort entstand auch eine dt. Version 1883. – Die Geheimnisse des Waldschlosses. 2 Bde., des Fürstenspiegels des Aegidius Romanus,

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als dessen Verfasser L. erwogen wird, aber Leowitz, Leovitius, Cyprian, Cyprianus, nicht erwiesen ist. * 8.7.1524 Königgrätz (Hradec Králové), Das im SpätMA Chronica patrie, seit seiner † 1574 Lauingen. – Astronomisch-astroEdition 1909 Österreichische Chronik von den 95 logischer Fachschriftsteller. Herrschaften benannte Werk wurde später L. zugeschrieben, obgleich keine der über 50 Der Sohn des nachmaligen Königgrätzer Handschriften eine Verfasserangabe enthält; Bürgermeisters Johann Karásek studierte zudem wurden stilist. Differenzen zur Über- nach Stationen in Breslau (1540) u. Leipzig setzung der Historia tripartita festgestellt. Als (1544) in Wittenberg (Latein, Astronomie). Weltchronik nach dem Muster der franzis- Dann hielt sich L. in Augsburg auf; hier unkan. Flores temporum in den beiden letzten terstützten ihn der »mathematicus« Georg Jahrzehnten des 14. Jh. entstanden, vereinigt Fugger, dessen Bruder Ulrich u. die Familie es Kaiser- u. Papstgeschichte mit einer Ge- Rosenberger, zählten führende Humanisten schichte Österreichs von den Anfängen an. (Achilles Pirmin Gasser, Hieronymus Wolf) Diese ist in 95 Herrschaften gegliedert, von zu seinen Freunden; mit Melanchthon, der denen 81 der fiktiven Fabelfürstenreihe ent- zu L.’ Neuausgabe der Tabulae directionum stammen, die letzten hingegen dt. Chroniken Regiomontans (Augsb. 1552) ein Vorwort entnommen sind. Der humanist. Quellenkri- beisteuerte, stand er in briefl. Austausch. Nachdem L. um 1556 im pfälz. Kurfürsten tik hielt die Chronik nicht stand; sie wurde Ottheinrich einen neuen Mäzen gefunden dennoch vom 15. bis ins 18. Jh. rezipiert. hatte, lebte er in Lauingen/Donau (PfalzAusgaben: Josef Haupt: Philippi Liber de terra sancta in der dt. Übers. des Augustiner Lesemeis- Neuburg; hier etwa seit 1563 Lehrer am ters Leupold vom Jahre 1377. In: Österr. Vjs. für Gymnasium illustre). Außer astronom. Takath. Theologie 10 (1871), S. 517–540. – Christine feln, aus welchen sich die Zeitbestimmung Boot: Cassiodorus’ Historia ecclesiastica tripartita einer Mondfinsternis ergibt (Eclipsium omniin L. Stainreuter’s German translation MS ger. fol. um [...] descriptio. Augsb. 1556), widmete L. 1109. 2 Bde., Amsterd. 1977. – Österr. Chronik v. seinem Gönner Ottheinrich sein größtes Taden 95 Herrschaften. Hg. Joseph Seemüller. Hann./ felwerk (Ephemeridum novum atque insigne opus. Lpz. 1909. Neudr. Mchn. 1980 (MGH Dt. Chron. 6). Augsb. 1557), einen nach Keplers Urteil hinLiteratur: Paul Uiblein: Die Quellen des Spät- reichenden Ersatz der Alfonsinischen Tafeln. MA. In: Die Quellen der Gesch. Österreichs. Hg. Aufgesucht von Tycho Brahe (1567), geehrt Erich Zöllner. Wien 1982, S. 100–103. – Ders.: L. v. von Nicolaus Reusner (Emblemata. Ffm. 1581, W. In: VL (auch: Nachträge u. Korrekturen). – Rolf Sprandel: Übersetzungs- u. Rezeptionsprobleme S. 31 f.), später dann von Kepler beachtet, am Beispiel der steierischen Reimchronik. In: gehörte L. zu den hervorragenderen VertreZweisprachige Geschichtsschreibung im spätmit- tern der Astronomie seiner Zeit. Er besaß auf telalterl. Dtschld. Hg. ders. Wiesb. 1993, S. 7–26. – kalkulatorischem Gebiet überdurchschnittl. Martin Wagendorfer: Horaz, die Chronik v. den 95 Fähigkeiten (Tabulae positionum. Augsb. 1551. Herrschaften u. Friedrich III. Überlegungen zum Tabula ascensionum obliquarum. o. O. u. J. Widmungsbrief der Historia Austrialis des Aeneas [Augsb. um 1552]) u. machte sich insbes. um Silvius de Piccolominibus. In: Hss., Historiogradie Fortführung der Tabulae-Werke Georg phie u. Recht. Winfried Stelzer zum 60. GeburtsPeurbachs u. Regiomontans verdient. tag. Hg. Gustav Pfeifer. Wien 2002, S. 109–127. – Internet: http://www.handschriftencensus.de/wer- Hauptsächlich aber widmete er sich im Dienste Kaiser Maximilians II. u. vieler anke/1804, 1805, 1803, 5998, 1882. Sabine Schmolinsky derer hochgestellter Auftraggeber astrolog. Zielsetzungen. Eine Fülle handschriftlich überlieferter Nativitäten, eine Lehrschrift für Horoskopsteller (Brevis et perspicua ratio judicandi genituras, ex physicis causis et vera experientia extructa. London 1558; die De juditiis nativitatum doctrina auch in Aegidius Strauch: Aphorismi astrologici. Wittenb. 1664. 1675,

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1699. Engl. als Astrological Catechism in Robert Sterne. Caspar Peucer, Philipp Melanchthon u. anTurner: Ars notoria. London 1657), sein Trak- dere Wittenberger Astrologen. Bln. 2004, s. v. Joachim Telle tat De nova stella (Lauingen 1573. Dt. Lauingen 1573) u. manche Prädiktionen, von denen seine Vorhersage einer Weltkatastrophe für Lepel, Bernhard von, * 27.5.1818 Meppen, 1588 seinen Namen weithin bekannt machte † 17.5.1885 Prenzlau; Grabstätte: ebd. – (De conjunctionibus [...] in quarta monarchia. Lyriker, Dramatiker, Erzähler. Lauingen 1564 u. ö. Dt. Lauingen 1564), aber auch sein Briefwechsel (etwa mit Heinrich Der frühe Tod der Mutter (1822) u. die auf Rantzau, Ludwig Graf von Oettingen) bestä- eine militärische Laufbahn für seinen Sohn tigen, dass L. durchaus zeitgemäß seine bedachte Erziehung des Vaters, selbst eheastronom. Berechnungen in den Dienst der maliger Offizier u. Festungskommandant, judiziar. Astrologie zu stellen pflegte. prägten L.s Kindheit u. Jugend. Über Rügen, Weiteres Werk: Inventum Astrologicum. In: Stralsund u. Mannheim, wo er das Lyzeum Georg Galgemair: Inventum P. Apiani. Augsb. besuchte, kam L. 1833 nach Berlin. 18-jährig 1616. trat er dem Kaiser-Franz-Garde-Regiment Ausgaben: Lehre v. der Beurteilung der Nativi- bei, nachdem der Vater seine Fluchtversuche täten. Übers. v. Joseph Fuchs. In: Strauch-Leovi- in die Malerei vereitelt hatte. 1839, nach der tius: Astrolog. Aphorismen. Bad Tölz 1924; auch Gründung eines Platen-Klubs, stieß L. zum hg. v. A. M. Grimm. Warpke-Billerbeck 1954, literar. Verein »Tunnel über der Spree«, dem S. 37–219. er 46 Jahre (als »Schenkendorf«, ca. 200 eiLiteratur: Siegmund Günther: Leovitius. In: gene Beiträge) angehörte. Dort fand seine an ADB. – Joseph Mayer: Der Astronom Cyprianus klass. Versmaß ausgerichtete, formstrenge Leovitius (1514[!]-74) u. seine Schr.en. In: BiblioLyrik mit antipäpstl. Tendenz Anerkennung. theca Mathematica. 3. F., Bd. 4 (1903), S. 134–159 Zwei weitere Italienreisen – die erste schon (mit Werkverz.). – Otto Clemen: Fünf Melanchthonbriefe. In: ZKG 41 (1922), S. 145–149. – Karl 1827 gemeinsam mit dem Vater – vertieften Schottenloher: Pfalzgraf Ottheinrich u. das Buch. seine poet. Neigungen in Platen-Nachfolge, Münster 1927, S. 55 f. – Don Cameron Allen: The obwohl der Besuch der Kriegsschule in Berlin Star-Crossed Renaissance. Durham/North Carolina eine weitere Weichenstellung für die militär. 1941. New York 1966, S. 73 f. – Lynn Thorndike: A Laufbahn bedeutete. Mit der ambitionierten History of Magie and Experimental Science. Bd. 6, Ode An Humboldt (Alexander v. H.) erwarb er New York 1941, S. 111–118 u. ö. – Ernst Zinner: sich 1847 über den »Tunnel« hinaus WertGesch. u. Bibliogr. der astronom. Lit. in Dtschld. schätzung. Neben Fontane, dem lebenslanzur Zeit der Renaissance. Lpz. 1941 (s. v. Leovitius). gen Freund, auf den er nicht ohne Einfluss Stgt. 21964. – Paul Lehmann: Eine Gesch. der alten blieb, verkehrte L. u. a. mit Fanny Lewald, die Fuggerbibl.en. Tl. I/II, Tüb. 1956/60 (s. v. Leovitius). – Josef Hejnic u. Jan Martín: Enchiridion re- nach 1848 einen Roman über ihn u. Fontane natae poesis Latinae in Bohemia et Moravia cultae. plante, Christian Scherenberg, Werner Hahn Bd. 3, Prag 1969, S. 18 f. (Hinweis auf lat. Casual- u. Paul Heyse. Nach 1848, L. hatte als Offizier dichtungen). – Joachim Telle: Leovitius. In: Bi- in Schleswig-Holstein mitgekämpft, trat er bliotheca Palatina. Textbd., hg. v. Elmar Mittler. kurzzeitig aus dem militär. Dienst. Die Heidelb. 1986, S. 372 f. – Paul Berthold Rupp: C. Hoffnung, dank des Vermögens seiner Frau Leovitius. In: Gelehrtes Schwaben. Wissenschaftler Hedwig von Lepel-Wieck, als freier Schriftaus u. in Bayerisch-Schwaben vom MA bis ins 19. steller Unabhängigkeit zu gewinnen, zerJh. Augsb. 1990, S. 91 f. – Günther Oestmann: Cyschlug sich. Um Vermittlung extremer polit. prianus Leovitius, der Astronom u. Astrologe OttPositionen bemühte sich seine Humoreske heinrichs. In: Pfalzgraf Ottheinrich. Politik, Kunst u. Wiss. im 16. Jh. Hg. v. der Stadt Neuburg. Re- Die Zauberin Kirke (Bln. 1850). In der Runde gensburg 2002, S. 348–359 (mit Verz. handschriftl. der exponierten Tunnelianer, »Rütli«, wirkte Leovitiana). – Claudia Brosseder: Im Bann der er, 1858–1860 sogar als Herausgeber, am belletrist. Jahrbuch »Argo« (Breslau) mit u. übernahm auch andere journalist. sowie literaturkrit. Arbeiten. Sein Trauerspiel König

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Herodes (Bln. 1860) brachte 1858 nicht den erhofften Erfolg u. beschleunigte das Ende seiner literar. Laufbahn. Auch Fontanes Hilfestellung bei L.s zweiter Gedichtsammlung 1865/66 besserte nichts. Glücklos auch im persönl. Leben (Scheidung u. zweite Heirat), nach mehrmaliger Reaktivierung am Ende (ab 1879) Chef einer Invalidenkompanie im uckermärk. Prenzlau, beschränkte sich L. auf Fest- und Gelegenheitsgedichte, welche die preuß. Geschichte feierten. Weitere Werke: Lieder aus Rom. Bln. 1846. – Gedichte. Bln. 1866. – Theodor Fontanes u. B. v. L.s Tenzone ›Röschen und Rose‹. Hg. Rasmus Steinkrauss. In: Fontane-Blätter (2002), S. 8–57. Briefausgaben: Theodor Fontane u. B. v. L. Ein Freundschaftsbriefw. Hg. Julius Petersen. 2 Bde., Mchn. 1940. – Gabriele Radecke (Hg.): Theodor Fontane u. B. v. L. Der Briefw. 2 Bde., Bln./New York 2006 (Lebenslauf L.s S. 857–866). Literatur: Ignaz Hub (Hg.): Dtschld.’s Balladen- u. Romanzen-Dichter. Bd. 3, Würzb. 41870. – Theodor Fontane: Von Zwanzig bis Dreißig. Der Tunnel über der Spree, 8. Kap.: B. v. L. – Maria Riehemann: B. v. L. Diss. Münster 1925. – Ernst Kohler: Die Balladendichtung im Berliner ›Tunnel über der Spree‹. Bln. 1940. – Gerhard Hay: L. In: NDB. – Wolfgang Paulsen: Im Banne der Melusine. Bern u. a. 1988. – Goedeke Forts. – Jürgen Schröder: Zwei Freunde um Schloss Wieck: Theodor Fontane u. B. v. L. unternahmen gemeinsam Reisen u. schrieben einander. In: Heimatkurier, Schwerin, 14.1.2008, S. 28. Roland Berbig

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konnte sich in Zwickau als Spiel- u. Zuckerwarenhändler niederlassen. Seine engagierte Bekenntnislyrik, »Sprechdichtung« (Münchow) oft satir. Charakters, die L. auf Partei- u. Vereinsversammlungen vortrug, orientierte sich thematisch an den proletar. Alltagserfahrungen u. den Zielen der Arbeiterbewegung. Vorbild des Autodidakten war neben Schiller u. den Vormärzlyrikern v. a. Bérangers volksliedhafter Ton. Programmatisch wandte sich L. gegen die Betonung des Formalen in der Dichtkunst (Vorwort zu den Wilden Blumen. Halberst. 1889). Weitere Werke: Gedichte in: Dt. Arbeiter-Dichtung. Hg. J. H. W. Dietz. Bd. 1, Stgt. 1893, S. 113–191. – Stimmen der Freiheit. Hg. Konrad Beißwanger. Nürnb. 1900, S. 219–244. – Ein dt. Chansonnier. Hg. Ursula Münchow u. Kurt Laube. Bln./DDR 1975. Literatur: Florian Vassen: Sozialdemokrat. Bildungsbegriff u. proletar. Lit. ›Gesprochenes Wort‹ u. ›Autobiogr. Erzählen‹ bei A. L. In: Arbeiterbewegung u. kulturelle Identität. Hg. Peter Eric Stüdemann u. Martin Rector. Ffm. 1983, S. 52–73. – Rainer Noltenius: L. In: NDB. – Gustav Schröder: Der ›Dichter-Proletar‹ A. L. als Prosaist. In: Magdeburger Bl. (1983), S. 23–29. – Ders.: A. L. – der Halberstädter ›Dichter-Proletar‹. In: Nordharzer Jb. 13 (1988), S. 80–86. Jörg Platiel / Red

Leppa, Karl Franz, * 28.1.1893 Cˇeské Budeˇjovice (Budweis), † 13.8.1986 Weißenburg/Franken. – Herausgeber, ErzähLepp, Adolf, * 21.6.1847 Halberstadt, ler, Lyriker. † 2.12.1906 Zwickau. – Lyriker, Erzähler. Einer klassenbewussten Arbeiterfamilie entstammend, wandte sich der Zigarrenarbeiter L. schon früh aktiv der dt. Arbeiterbewegung zu. Der Mitbegründer des Allgemeinen Deutschen Tabaksarbeitervereins (1867) wurde 1869 wegen Teilnahme an der ADAVLandesversammlung entlassen u. 1871 wegen »Gotteslästerung« zu vier Wochen Haft verurteilt (vgl. dazu seine Erzählung Der Spottvogel im Käfig. In: Sächsisches Volksblatt, 1899). Ein Ende seiner Existenznot – als Heimarbeiter u. Hausierer – zeichnete sich erst Mitte der 1890er Jahre ab: Seine Gedichte (insg. über 2000), u. a. im »Wahren Jacob« publiziert, fanden vermehrt Anklang u. L.

L. studierte 1910–1914 Germanistik u. Bibliothekswesen in Prag u. Wien, war Leiter des städt. Internats in Krummau u. Stadtbuchwart in Karlsbad. Wie stark L.s literar. Schaffen ideologisch u. ästhetisch gebunden war, zeigen seine Werke meist schon im Titel: Eine Mischung aus völk. Ideologie (An deutschen Gräbern. Völkische Gedichte. Eger 1923) u. volkstüml. Form (Kornsegen. Passau 1922; Mundartgedichte). Bedeutung erlangte L. im kulturpolit. Bereich: Als Herausgeber der Zeitschriften »Der Waldbrunnen« (Leitmeritz 1922–25), »Der Ackermann aus Böhmen« (Karlsbad 1933–38) u. »Das Deutsche Erbe« (Karlsbad 1937–44) sowie der Sammlungen Ringendes Volkstum (Karlsbad [1930]) u. Volk

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und Leben (Karlsbad 1936), die eine Tradition von Blut-und-Boden-Literatur seit Johannes von Saaz suggerieren, trug er zur Verbreitung völkisch-nationalen Gedankenguts im Sudetengebiet bei. Nach seiner Vertreibung 1945 lebte L. in Bayern, wo einige seiner Novellen neu aufgelegt wurden (Antonia. Kassel 1931. Augsb. 1955). Weitere Werke: Herzenssachen. Ein Trost- u. Wehrbüchlein für das dt. Volk. Budweis 1920. – Die Bekehrung des Ellechsners. Prag [1921] (E.). – Züricher Elegie. Braunschw. 1955 (E.). Stefan Bauer / Red.

Leppin, Paul, * 27.11.1878 Prag, † 10.4. 1945 Prag. – Erzähler, Lyriker, Dramatiker; Übersetzer. L., ärml. Verhältnissen entstammend, schlug nach dem Gymnasium eine Beamtenlaufbahn ein. Krankheitshalber frühzeitig pensioniert, wurde er im März 1939 von der Gestapo vorübergehend inhaftiert. Ein schwerer Schlaganfall führte nach seiner Freilassung zur Lähmung. Er starb an den Spätfolgen einer Syphilis. Als »deutsch-böhmischen Baudelaire« (Max Brod), als »Troubadour des alten Prag« (Otto Pick) bezeichneten Zeitgenossen den Bohemien u. Bürgerschreck L. Befreundet u. a. mit Viktor Hadwiger, Oskar Wiener, Meyrink, Dehmel u. Lasker-Schüler, war L. einer der Wortführer des »Jungen Prag«. Einen literar. Skandal entfachte der als obszön u. blasphemisch inkriminierte Roman Daniel Jesus (Bln. 1905. Heidelb. 2001). Die Titelfigur, aufgerieben durch den Dualismus von Sinnlichkeit u. Geist, körperl. Verlangen u. reiner Liebe, scheitert mit ihrem Wunsch nach harmon. Auflösung jener Gegensätze. Einen kleinen Büroangestellten, der, getrieben von erot. Phantasien, nachts rastlos durch die Straßen streift, zeigt Severins Gang in die Finsternis (Mchn. 1914. Prag 1998). Der »Prager Gespensterroman« ist Porträt eines Verzweifelten u. Hymne an das alte Prag zugleich. Bei dem in den 1930er Jahren entstandenen autobiografisch gefärbten Roman Blaugast (Mchn. 1984) stehen erneut erot. Obsessionen im Mittelpunkt. In der düsteren Atmosphäre Alt-Prags wird der Untergang

Klaudius Blaugasts geschildert, der nach Liebe sucht u. verzweifelt mit seiner Triebhaftigkeit ringt, bis ihn die selbstlose Hingabe einer Straßendirne von seiner Einsamkeit erlöst. Fanden L.s Theaterstücke Der blaue Zirkus (Prag 1928. Urauff. Neues Dt. Theater Prag 1924) u. Der Enkel des Golem (Urauff. ebd. 1934) auch wenig Beachtung, so wurde seine Lyrik sehr geschätzt. Für die Gedichtbände Glocken, die im Dunkeln rufen (Köln 1903), Die bunte Lampe (Prag 1928) u. Prager Rhapsodie (Bd. 1: Helldunkle Strophen, Bd. 2: Das Antlitz der Mutter. Kleine Prosa. Prag 1938. 2003) sind ebenfalls die Faszination durch seine Heimatstadt u. eine Grundstimmung von Trauer u. Verlorensein, Liebes- u. Erlösungssehnsucht charakteristisch. L., der enge Beziehungen zu tschech. Literaturkreisen hatte, übersetzte u. a. Otokar Brˇezina. Weitere Werke: Die Thüren des Lebens. Prag 1902 (R.). – Der Berg der Erlösung. Bln. 1908 (R.). – Hüter der Freude. Wien 1918. Fotomechan. Nachdr. der Erstausg. Zürich 2007 (R.). – Venus auf Abwegen. Zur Kulturgesch. der Erotik. Hbg. 1920. – Das Paradies der Andern. Reichenberg 1921 (N.). – Rede der Kindesmörderin vor dem Weltgericht. Prag 1928. 1998. – Frühling um 1900. Prager Gesch.n. Prag 1936. – Der Gefangene: Gedichte eines alten Mannes. Nachw. v. Dieter Sudhoff. Siegen 1988. – 13 Kapitel Liebe aus der Hölle. Hg. Markus Bauer u. a. Zürich 2007 (enth. u. a. Erinnerungen an Meyrink u. weitere Erstveröffentlichungen u. Nachdr.e). Literatur: Max Brod: Der Prager Kreis. Stgt. 1966. – Bozˇena Koseková: P. L. Prag 1966. – Dies.: Ein Rückblick auf P. L. In: Weltfreunde. Hg. Eduard Goldstücker. Bln. 1967. – Dirk O. Hoffmann: P. L. Ein Beitr. zur Prager dt. Lit. der ersten Hälfte des 20. Jh. Diss. 5 Bde., Basel 1973. Teildr. ClausthalZellerfeld 1973. – Ders.: P. L. Eine Skizze mit einer ersten Bibliogr. der Werke u. Briefe. Bonn 1982. – Marino Freschi: P. L., Troubadur des alten Prag. In: Prager deutschsprachige Lit. zur Zeit Kafkas. Bd. 2. Hg. Österr. Franz Kafka-Gesellsch. Wien 1991, S. 37–43. – Hermann T. Hierl: Die Konstruktion der Identität in der deutschsprachigen phantast. Lit. des Fin de Siècle. Diss. Wien 2002. – Dierk Hoffmann u. Angela Reinthal: Wo ist unser buntes Theben. Else Lasker-Schüler u. P. L. In: Else-LaskerSchüler-Jb. zur klass. Moderne 2 (2003), S. 102–122. – Peter Mario Kreuter: ›Auf dem Karlsplatze war es still‹. Die Inszenierung Prags als

355 Ort des Okkulten bei Leo Perutz u. P. L. In: Faszination des Okkulten. Hg. Wolfgang Müller-Funk u. Christa A. Tuczay. Tüb. 2008, S. 187–200. Wolfgang Seibel / Red.

Lepsius, (Karl) Richard, * 23.12.1810 Naumburg/Saale, † 10.7.1884 Berlin; Grabstätte: ebd., Domfriedhof (Ehrengrab). – Ägyptologe.

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tatkräftigen Unterstützung seines Vaters veröffentlichen konnte (Wellen. Bremen 1912). Nach einem Volontariat bei einem Bremer Buchhändler trat L. in die Redaktion der Stuttgarter Zeitschrift »Lese« ein, später ging er als Redakteur nach Essen. Nach dem Krieg arbeitete er als Dramaturg u. Dramatiker am Bremer Schauspielhaus. L. war ein unermüdl. Sammler u. Herausgeber von Anekdoten u. humorist. Kurzgeschichten (Der Spiegel. Bln. 1919). Bekannt wurde er v. a. mit seinen Bremer »Döntjes«, harmlosen Zwinkerstückchen aus dem Alltag der Kaufleute, Schiffer u. Bauern (Der lachende Roland. Bremische Anekdoten. 2 Bde., Bremen 1938, 1941. 1989), sowie mit Anekdoten um geschichtl. Ereignisse u. Personen (Der blaue Leutnant. Bremen 1935. Lauter Anekdoten. Von Litaipe bis Zeppelin. Düsseld. 1936). L. leistete auch Beachtliches als Übersetzer anspruchsvoller frz., engl., aber auch fläm. u. isländ. Autoren; u. a. besorgte er die erste dt. Übersetzung von Zolas Nana (Lpz. 1922) sowie von Virginia Woolfs Orlando (Lpz. 1929) u. Die Fahrt zum Leuchtturm (Lpz. 1931).

Der Begründer der dt. Ägyptologie war Sohn des auch als Regionalhistoriker hervorgetretenen Stadtrichters u. späteren Landrats von Naumburg. Nach Schulpforta studierte L. seit 1829 klass. Philologie u. Linguistik in Leipzig, Göttingen u. Berlin (De tabulis Eugubinis. Diss. 1833). Es folgten Studienaufenthalte in Paris u. Rom, wo er 1837 in der berühmten Lettre [...] sur l’alphabet hiéroglyphique Champollions Theorie kritisch untermauerte. Frucht seiner ersten Ägypten-Expedition (1842–1845, im Auftrag Friedrich Wilhelms IV.) waren v. a. die Denkmäler aus Aegypten und Aethiopien (12 Bde., Bln. 1849–59. Neudr. Osnabr. 1970), ein Prachtwerk in Riesenfolianten mit rd. 900 Tafeln, das zum Klassiker Weitere Werke: Pointen. Länder u. Leute in der Ägyptologie wurde. L., seit 1846 OrdiAnekdoten. Hg. Renate Lerbs-Lienau. Düsseld. narius in Berlin, seit 1865 auch Direktor des 1962. – Die besten brem. Anekdoten. Mit einer von ihm mitgestalteten Ägyptischen Muse- Auskunft über K. L. v. Jürgen Dierking. Bremen ums u. mit Ehrungen überhäuft, publizierte 1993. ferner Editionen (so des Totenbuchs u. die Literatur: Werner Wien: K. L. In: Welt u. Wort Auswahl der wichtigsten Urkunden des ägyptischen 13 (1958), S. 99 f. Peter König / Red. Althertums. Lpz. 1842), die zum Reiseführer gewordenen populärwiss. Briefe aus Aegypten, Aethiopien und der Halbinsel des Sinai (Bln. 1852) Lernet-Holenia (seit 1920), Alexander, u. linguist. Abhandlungen (u. a. Nubische eigentl.: A. Lernet, auch: Clemens NeyGrammatik [...]. Bln. 1880). disser, G. T. Dampierre, * 21.10.1897 Literatur: Georg Ebers: R. L. Lpz. 1885 (Bibliogr.). – Eduard Naville: L. In: ADB. – K. R. L. Hg. Elke Freier. Bln. 1988. – Cornelia Essner: K. R. L. In: Berlinische Lebensbilder 4 (1989), S. 143 ff. – Agnete v. Specht: R. L.’ Expedition nach Ägypten (1842–45). In: Jb. Preuß. Kulturbesitz 42 (2005), S. 203–216. Arno Matschiner / Red.

Lerbs, Karl (Johann Friedrich), * 22.4.1893 Bremen, † 27.11.1946 Untertiefenbach bei Sonthofen/Allgäu. – Lokalhumorist u. Übersetzer. Der Sohn eines Kaufmanns begann schon früh Gedichte zu schreiben, die er dank der

Wien, † 3.7.1976 Wien. – Erzähler, Lyriker, Dramatiker, Essayist, Drehbuchautor, Übersetzer. L. war offiziell der Sohn des Linienschiffleutnants Alexander Lernet u. der Sidonie, geb. Holenia, verwitwete Gräfin BoyneburgkStettfeld. Doch hat sich L. zeit seines Lebens wohl zu Recht für einen illegitimen Habsburger gehalten. Das komplexbeladene Verhältnis zur Dynastie bezeugt noch das Spätwerk Die Geheimnisse des Hauses Österreich (Zürich 1971) u. ließ den Autor nach dem Zweiten Weltkrieg für die Monarchie, aber gegen die Wiedereinsetzung des Hauses

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Habsburg eintreten. L. besuchte Schulen in Wien, Klagenfurt, St. Wolfgang u. Waidhofen an der Ybbs, wo er 1915 das Abitur ablegte, um anschließend ein Jurastudium in Wien aufzunehmen. Doch schon im Sept. desselben Jahres meldete er sich als Einjährig-Freiwilliger zur Kavallerie. Nach der Ausbildung wurde er an der Nord- u. Ostfront der Donaumonarchie eingesetzt. Auf die Zeit des Ersten Weltkriegs sollte L. immer wieder in einigen seiner erfolgreichsten Prosawerke zurückkommen, eher humorvoll in Die Abenteuer eines jungen Herrn in Polen (Bln. 1931), als Darstellung einer Desillusionierung über Patriotismus u. das Militärische in Die Standarte (Bln. 1934), als Gestaltung einer Nahtod-Erfahrung in Der Baron Bagge (Bln. 1936) u. in Beide Sizilien (Bln. 1942) in Form eines mit kriminalist. Elementen durchwirkten Requiems auf die Donaumonarchie. Doch debütierte er, gefördert u. a. von Hermann Bahr u. Rainer Maria Rilke, der den Stil deutlich beeinflusste, als Lyriker mit Pastorale (Wien 1921) u. Kanzonnair (Lpz. 1923) sowie als Übersetzer altfrz. Liebesgedichte (Dies Büchlein sagt von hoher Minne. Wien 1922; alle enthalten in: Das lyrische Gesamtwerk. Wien 1989). Auch später verstand L. sich primär als Versdichter. Bühnen- u. Prosawerke bezeichnete er – wohl nicht nur kokettierend – als Brotarbeiten. Doch brachten ihm schon sein erstes Drama, Demetrius. Haupt- und Staatsaktion (Urauff. 1925), sowie die noch unpublizierten Stücke Ollapotrida. Komödie in [zunächst] einem Akt (Urauff. 1926) u. Österreichische Komödie (Urauff. 1927) 1926 den KleistPreis ein. Es folgte 1927 der Goethe-Preis der Stadt Bremen. Vor allem erot. Komödien, bei denen er auch mit Stefan Zweig (Gelegenheit macht Liebe. Urauff. 1928), Paul Frank (Tumult. Urauff. 1929) u. Ernst Lothar (Die Frau in der Wolke. Urauff. 1928) zusammenarbeitete, sollten in den folgenden Jahren L.s Spezialität sein. Mit dem Stück Die nächtliche Hochzeit (Bln. 1929), das er in einen Roman transformierte (Bln. 1930), betrat er das Terrain der fantast. Literatur, mit Ich war Jack Mortimer (Bln. 1933, verfilmt v. Carl Froehlich 1935; u. d. T. Abenteuer in Wien v. Emil E. Reinert 1952) das des Kriminalromans.

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Die Romane der 1930er u. 1940er Jahre sind es, die L. eine Leserschaft bis in die Gegenwart hinein sicherten u. die auch in zahlreiche Weltsprachen übersetzt wurden. Dazu zählen neben den während des Ersten Weltkriegs angesiedelten Prosawerken noch die fantast. Romane Der Mann im Hut (Bln. 1937), Ein Traum in Rot (Bln. 1939) u. Mars im Widder. Sie lassen sich als verdeckte Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus u. als Prognose der Niederlage im Zweiten Weltkrieg lesen. Doch gibt es auch Interpretationen, welche die Texte stärker in die Nähe der herrschenden Ideologie rücken. Mars im Widder liegen L.s Erlebnisse vor u. während des Krieges mit Polen zugrunde, an dem er verwundungsbedingt nur zwei Tage lang teilnahm. Der Roman durfte zunächst 1940 in der Zeitschrift »Die Dame« erscheinen, die Buchausgabe (Bln. 1941) wurde jedoch vor der Auslieferung verboten, weil der Polenfeldzug entgegen der offiziellen Propaganda unzweideutig als Angriffskrieg dargestellt wird. Trotzdem wurde L., wohl aufgrund einer Intervention des späteren Schwiegervaters Adolf Vollbach bei Reichsmarschall Hermann Göring, 1941 Leiter der Heeresfilmstelle u. war u. a. an dem Erfolgsfilm Die große Liebe mit Zarah Leander von Rolf Hansen (1941/42) beteiligt. Nach Kriegsende wurde L. lange Zeit zu den wichtigsten Autoren deutscher Sprache gerechnet, was sich in zahlreichen Auszeichnungen niederschlug, u. a. dem Großen Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland 1957 u. dem Österreichischen Staatspreis 1961. Er blieb ein überaus produktiver Autor, wobei auch hier den mit fantast. Elementen durchwirkten Romanen bes. Bedeutung zukommt (Der Graf von Saint-Germain. Zürich 1948. Die Inseln unter dem Winde. Ffm. 1952. Der Graf Luna. Wien 1955). In letzterem setzt sich L., wie in der Erzählung Der zwanzigste Juli (Wien 1947), mit der Zeit des Nationalsozialismus auseinander. Das Spätwerk widmete sich auch der echten oder vermeintl. Familiengeschichte (Prinz Eugen. Hbg./Wien 1960. Naundorff. Hbg./Wien 1961) u. Theologischem (Pilatus. Ein Komplex. Wien/Hbg. 1967). Der letzte,

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satir. Roman Die Hexen (Wien/Hbg. 1969) erlebte nur eine Auflage. L.s zahlreiche öffentl. Interventionen erregten Aufsehen, führten den Autor aber mit zunehmendem Alter in die Isolation. So hielt er Kontakt zu kommunist. Intellektuellen u. beklagte die Rückkehr von ehemaligen Nationalsozialisten in Führungspositionen, setzte sich jedoch andererseits 1949 für eine Wiedereinstellung des belasteten Germanisten Josef Nadler ein. Er debattierte mit Gottfried Benn über dessen späte Poetik (Monologische Kunst? Ein Briefwechsel. Wiesb. 1953), machte eine Steuerangelegenheit, die er als polit. Verfolgung betrachtete, zum literar. Gegenstand (Das Finanzamt. Komödie. Ffm. 1953. Das Finanzamt. Aufzeichnungen eines Geschädigten. Hbg./Wien 1955) u. wurde von Hans Habe verklagt, der sich in der Kurzgeschichte Die Weheims unvorteilhaft dargestellt fühlte. Ein letzter Höhepunkt publikumswirksamen Handelns war der Rücktritt als Präsident des österr. PEN aus Anlass der Auszeichnung Heinrich Bölls mit dem Literaturnobelpreis 1972. Nach seinem Tode konnte L.s Werk an dem Boom fantastischer Literatur in den späten 1970er u. frühen 1980er Jahren partizipieren. Zudem findet seine Produktion seit den 1990er Jahren ein intensiveres Interesse seitens der Germanistik. Es richtet sich nicht zuletzt auf L.s Beiträge zum HabsburgerMythos u. Fragen der österr. Identitätssuche. Weitere Werke: Das Geheimnis St. Michaels. Bln. 1927 (G.e). – Parforce. Bln. 1928 (Kom.). – Kavaliere. Komödie in drei Akten. Bln. 1931. – Ljuba’s Zobel. Bln. 1932 (R.). – Jo u. der Herr zu Pferde. Bln. 1933. – Olymp. Hymne. Wien 1934. – Die goldene Horde. Gedichte u. Szenen. Wien 1935. – Die neue Atlantis. Wien 1935 (E.en). – Die Auferstehung des Maltravers. Wien 1936 (R.). – Der Herr v. Paris. Eine Erzählung aus der Zeit der großen Revolution in Frankreich. Wien 1936. – Mona Lisa. Bln. 1936 (E.). – Riviera. Bln. 1937 (R.). – Strahlenheim. Bln. 1938 (E.). – Greta Garbo. Ein Wunder in Bildern. Bln./Wien/Lpz. 1938. – Die Titanen. Wien 1945 (G.e). – Das Feuer. Wien 1949 (G.e). – Alessandro Manzoni: Die Verlobten. Zürich 1950. 82003 (Übers.). – Die Wege der Welt. Wien 1952 (E.en). – Die drei Federn. Graz/Wien/Mchn. 1953 (E.). – Der junge Moncada. Zürich 1954 (R.). – Radetzky. Schausp. in drei Akten. Ffm. 1956. – Die

Lernet-Holenia vertauschten Briefe. Hbg./Wien 1958 (R.). – Die Schwäger des Königs. Schausp. in drei Akten. Hbg./ Wien 1958. – Egle Marini: Gedichte. Ffm. 1958 (Übers.). – Die wahre Manon. Hbg./Wien 1959. – Der wahre Werther. Hbg./Wien 1959. – Mayerling. Wien/Hbg. 1960 (E.en). – Das Halsband der Königin. Hbg./Wien 1962. – Das Bad an der belg. Küste. Wien/Hbg. 1963 (P.). – Götter u. Menschen. Wien/ Hbg. 1964 (P.). Ausgaben: A. L. Die Lust an der Ungleichzeitigkeit. Redaktion: Thomas Hübel u. Manfred Müller. Wien 1997. – Carl Zuckmayer / A. L.: Briefw. u. andere Beiträge zur Zuckmayer-Forsch. Gött. 2006. Literatur: Personalbibliogr. A. L. Hg. Hélène Barrière, Thomas Eicher u. Manfred Müller. Oberhausen 2001. – Weitere Titel: Peter Pott: A. L. Gestalt, dramat. Werk u. Bühnengesch. Wien 1972. – Franziska Müller-Widmer: A. L. Grundzüge seines Prosawerks, dargestellt am Roman ›Mars im Widder‹. Ein Beitr. zur österr. Literaturgesch. Bonn 1980. – Reinhard Lüth: Drommetenrot u. Azurblaus. Studien zur Affinität v. Erzähltechnik u. Phantastik in Romanen v. Leo Perutz u. A. L. Meitingen 1988. – Günther Berger: Ein dichtender Grandseigneur. Beiträge zur Vervollständigung der Biogr. u. des Werkes v. A. L. In: ÖGL 33 (1989), S. 89–113. – Robert Dassanowsky: A Destiny of Guilt. The Crisis of Post-Imperial Austrian Identity and the ›Anschluß‹ in A. L.’s ›Der Graf von Saint Germain‹. In: GR 69 (1994), H. 4, S. 156–166. – Wolfgang Nehring: Trauer, Verständnislosigkeit oder Kritik? A. L.s ›Baron Bagge‹ u. ›Mars im Widder‹ als zeitgeschichtl. Komm. zur österr. Situation. In: Jura Soyfer and His Time. Hg. Donald G. Daviau. Riverside 1995, S. 305–320. – R. Dassanowsky: Phantom Empires. The Novels of A. L. and the Question of Postimperial Austrian Identity. Riverside 1996. – Widerspiel. Wiener Schauplätze in Leben u. Werk A. L.s (1897–1976). Hg. Patrice Blaser. Wien 1997. – Roman Rocˇek: Die neun Leben des A. L. Eine Biogr. Wien 1997. – R. Dassanowsky: Österr. contra Ostmark. A. L.’s ›Mars im Widder‹ as Resistance Novel. In: Lit. der ›Inneren Emigration‹ aus Österr. Hg. Johann Holzer. Wien 1998, S. 157–179. – A. L.: Poesie auf dem Boulevard. Hg. T. Eicher u. Bettina Gruber. Symposium ›A. L. zum 100. Geburtstag‹, 17.-19.10.1997 in Marbach. Köln/Wien 1999. – Rüdiger Görner: Schwieriges Erbe. A. L.s Verhältnis zu Rilke. In: Sprachkunst 31 (2000), S. 307–321. – Im Zwischenreich des A. L.: Lesebuch u. ›Nachgeholte Kritik‹. Hg. T. Eicher. Oberhausen 2000. – H. Barrière: Les deux conflits mondiaux dans les récits d’A. L. Une guerre médiévale? In: Écritures des deux guerres mon-

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diales. Textes réunis par Andre Combes. Lille 2001, S. 87–104. – Gerald Funk: Artist. Untergänge. A. L.s Prosawerk im Dritten Reich. Wetzlar 2002. – Schuld-Komplexe. Das Werk A. L.s im Nachkriegskontext. Hg. H. Barrière. Oberhausen 2004. – Toni Tholen: Zwischen Leben u. Tod. Zur Prosa A. L.s. In: WB 50 (2004), S. 576–591. – A. L. Resignation u. Rebellion: ›Bin ich denn wirklich, was ihr einst wart?‹ Beiträge des Wiener Symposions zum 100. Geburtstag des Dichters. Hg. Thomas Hübel. Riverside 2005. – Jasmin Grande: Die Wahrnehmung der Wirklichkeit. Zu ausgew. Prosawerken A. L.s. Wetzlar 2005. – Ursula Mayer: Wunscherfüllungen. Erzählstrategien im Prosawerk A. L.s. Köln/Weimar 2005. – T. Eicher: ›Das Provisorische bleibt, weil das Dauernde seine Zeit gehabt hat.‹ A. L. – ein Nachkriegsreaktionär? In: Kontinuitäten u. Brüche. Österr.s literar. Wiederaufbau nach 1945. Hg. Heide Kunzelmann. Oberhausen 2006, S. 21–38. – Martina Rauchenbacher: Wege der Narration. Subjekt u. Welt in Texten v. Leo Perutz u. A. L. Wien 2006. – Wynfrid Kriegleder: Der Irre u. die sieben Soldaten. A. L.s ›Beide Sizilien‹ als polit. Roman. In: MAL 40 (2007), S. 59–70. – H. Barrière: Dessus et dessous des amours holeniennes. Du cliché à l’histoire. In: L’amour entre deux guerres 1918–45. Concepts et representations. Actes du colloque international, Aix-en-Provence, 11.13.10.2007. Aix-en Provence 2008, S. 145–158. Volker Hartmann

Lerperger, Emil, auch: Aemilian L., * 30.12.1908 Faistenau/Salzburg, † 1.3. 1982 Salzburg. – Lyriker. L., zwölftes Kind einer Försterfamilie, studierte Philosophie u. Theologie in Salzburg. Der Gestapo entzog er sich auf dem Weg zur Hinrichtung durch Flucht u. verbarg sich in den Waldgebieten seiner Heimat. Nach Jahren als Lehrer an der Fremdenverkehrsakademie in Kleßheim lebte er in Salzburg. Die Anfänge der von Ernst Schönwiese geförderten Lyrik L.s sind geprägt vom Grauen des Zweiten Weltkriegs; sein erster Gedichtband Begnadete Nacht (Salzb. 1954) stellt einen Versuch dar, mit sich ins Reine zu kommen. L., unbequemer Mahner einer allzu vergessenswilligen Gesellschaft, schreibt in Das Jenseits der Forelle (Wien 1963): »Der Regen wusch Dächer und Straßen und nichts wurde rein.« Obwohl L. mit den Begriffen Seele u. Geist ein positives Wertsystem zu restituieren versucht, kehren in seiner an Georg Trakl

erinnernden Lyrik Bilder des Schreckens, der Einsamkeit u. der Apokalypse immer wieder. Weitere Werke: Das Bildnis der Mutter. Salzb. 1961 (L.). – Die Salzach-Sybille. Salzb. 1970 (L.). – Glut aus Babylons Gärten. Wien 1978 (L.). Gerald Leitner / Red.

Lersch, Heinrich, * 12.9.1889 Mönchengladbach, † 18.6.1936 Remagen. – Lyriker u. Erzähler. Der Sohn eines Kesselschmieds wanderte nach der Lehre bei seinem Vater als Tagelöhner durch Europa. Erste Anerkennung als Schriftsteller fand L. beim »Volksverein für das katholische Deutschland« unter Carl Sonnenschein u. bei den christl. Gewerkschaften in Wien. Seine Gedichte mit Beschreibungen des Wiener Arbeiterlebens erschienen in Abglanz des Lebens (Mönchengladbach 1914). L.s Leben blieb eng mit dem Katholizismus verbunden, sein Werk wird über weite Strecken von christl. Symbolik geprägt. Berühmt wurde L. mit seinem 1914 verfassten Gedicht Soldatenabschied (»Deutschland muß leben, und wenn wir sterben müssen!«), das die Kriegsbegeisterung der um gesellschaftl. Anerkennung ringenden Arbeiter artikulierte. Seine Erlebnisse als Freiwilliger fasste L. allerdings später auch in fast pazifistisch anmutende Gedichte, die neben seinen patriot. Gesängen in Herz! Aufglühe dein Blut (Jena 1916) u. Deutschland! (Jena 1918) veröffentlicht wurden. Nach dem Krieg fand L. Kontakt zum »Bund der Werkleute auf Haus Nyland«, blieb aber im Literaturbetrieb der Weimarer Republik ein Außenseiter, auch wegen seiner nationalen u. den Klassenkampf ablehnenden Haltung. In seinem epischen Gedicht Mensch in Eisen (Stgt. 1925), v. a. in seinem autobiogr. Roman Hammerschläge (Hann. 1930. Mit einem Nachw. v. Martin Walser. Ffm. 1980) schilderte L. zwar in seiner einfachen, zuweilen pathet. Sprache die Bedingungen, unter denen Proletarier wie er leben mussten, aber er klagte nicht an. Den von ihm propagierten Kameradschaftsbegriff glaubte L. in dem Scheinkollektivismus der Nationalsozialisten zu finden. Auch erhoffte er sich (vergebens), von

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seinen drängenden materiellen Sorgen befreit zu werden, u. war zu weit reichenden literar. Konzessionen bereit. Er formulierte ältere Gedichte im Sinn der neuen Machthaber um u. ließ sich propagandistisch vereinnahmen. Dafür erhielt er 1933 die Berufung in die »Deutsche Akademie der Dichtung«, u. 1935 wurde ihm der Rheinische Literaturpreis verliehen. Obwohl die nationalsozialist. Literaturfunktionäre den Katholizismus im Werk von L. ablehnten, waren sie dankbar für einen »Arbeiterdichter«, der sich offen zu ihrer »Bewegung« bekannte. Nach seinem Tod erhielt L. ein Ehrenbegräbnis. Trotzdem hätte der Mönchengladbacher Stadtrat kurz danach, wie Ralf Georg Czapla ermittelte, fast der Witwe eine Unterstützung verweigert wegen L.s »gegnerische[r] Einstellung zum Nationalsozialismus in der Kampfzeit« (Ratsprotokoll v. 9.10.1936). Alle Versuche nach 1945, L. wieder ins Gespräch zu bringen, sind an diesem Engagement für den NS-Staat gescheitert. Trotzdem tragen heute eine Hauptschule in Mönchengladbach u. zahlreiche Straßen seinen Namen. Ausgaben: Briefe u. Gedichte aus dem Nachl. Hg. Christian Jenssen. Hbg. 1939. – Skizzen u. E.en aus dem Nachl. Hg. ders. Hbg. 1940. – Siegfried u. a. Romane aus dem Nachl. Hg. ders. Hbg. 1941. – Ausgew. Werke. Hg. Johannes Klein. 2 Bde., Düsseld. 1965/66. Literatur: Fritz Hüser (Hg.): H. L. Kesselschmied u. Dichter. 1889–1936. Dortm. 1959 (mit Bibliogr.). – Martin Walser: Vielen ein Greuel. In: H. L.: Hammerschläge. Ffm. 1980, S. 261–268.  Wilhelm Kühlmann: ›Wir sind Maschinensklaven‹. Der Arbeiterdichter H. L. (1889–1936). In: Ders.: Literar. Miniaturen. Heidelb. 1996, S. 56–60.  Ralf Georg Czapla: Katholizismus, Nationalismus, Sozialismus. Zur Interferenz weltanschaul. Formationen im Werk des Arbeiterdichters H. L. In: Moderne u. Antimoderne. Der ›Renouveau catholique‹ u. die dt. Lit. Hg. W. Kühlmann u. Roman Luckscheiter. Freib. 2008, S. 325–359. Hans Sarkowicz

gleichnamigen Mann identisch ist, der nachweislich zwischen 1372 u. 1375 in München im Haus seines Schwiegervaters, des Bäckers Konrad Harder, lebte; dieser ist wohl seinerseits mit dem Meistersänger gleichen Namens identisch. L.s Vermögen weist ihn als Angehörigen der oberen Mittelschicht aus. L. ist einer der ersten Handwerkerdichter. Er schuf sowohl Töne, d.h. meistersängerl. Strophenformen, als auch Liedtexte. Mindestens neun verschiedene Töne stammen von ihm, eine für einen frühen Meisterliederdichter relativ hohe Anzahl. Nur drei davon (»Zirkelweise«, »Feuerweise«, »Gesangweise«) fanden in das Tönerepertoire der Meistersänger Eingang. Im »Hofton« sind neben dem sicher von L. gedichteten autobiogr. St.-Wolfgangs-Lied, einem der ersten erzählenden Lieder im Meistersang, noch drei weitere Lieder erhalten; für die übrigen Töne ist jeweils nur ein einziges Lied bezeugt. Die Anzahl der von L. gedichteten Liedtexte ist ungewiss: Sicher von ihm stammen die drei Lieder mit Autorsignatur (Goldenes Schloß, Tagweise, Wolfgangs-Lied) u. die beiden Reihen (Goldener Reihen, Gekrönter Reihen); aus überlieferungsgeschichtlichen u. typolog. Gründen kann für drei weitere Lieder (Wackernagel, Nr. 546; Cramer, S. 228–231, 244–247) seine Autorschaft vermutet werden. Inhaltlich fällt eine Vorliebe für geistl. Themen auf, insbes. für Marienthematik u. Inkarnation, verbunden mit Motiven aus dem Bereich Weihnachten/Neujahr. Diese Vorliebe macht sich auch in den von späteren Meistersängern in L.-Tönen gedichteten Liedern bemerkbar. Enge Beziehungen zum Goldenen Schloß zeigen ein Lied Harders (Goldener Schilling) u. eines des etwas jüngeren Nürnberger Meisterliederdichters Fritz Kettner (Goldener Schlüssel). L. wurde von Meistersängern des 15. Jh. sehr geschätzt: Michel Beheim zählt ihn neben Harder, Hülzing u. Muskatblut zu den »nachmeistern«; Hans Folz u. Kunz Nachtigall rechnen ihn gar zu den Alten Meistern.

Lesch, Albrecht, * wohl um 1340–1345, † 1393/94. – Meisterliederdichter.

Ausgaben: Wackernagel 2, Nr. 546. – Leonard Koester: A. L. Ein Münchner Meistersinger des 15. Jh. Schloß Birkeneck 1937. – Cramer 2, S. 178–265.

Aufgrund neuerer Untersuchungen darf als sicher gelten, dass der Dichter L. mit dem

Literatur: Leonard Koester, a. a. O. – Gisela Kornrumpf: Mülich v. Prag, Pfalz v. Straßburg, A.

Lessen L. Neues zur Überlieferung. In: ZfdA 106 (1977), S. 133–137. – Christoph Petzsch: A. L. – Frage der Generation u. der Datierung eines Wasserzeichens. In: Archiv 216 (1979), S. 9–22. – Frieder Schanze: Meisterl. Liedkunst zwischen Heinrich v. Mügeln u. Hans Sachs. Zürich/Mchn. 1983/84. Bd. 1, S. 274–286. Bd. 2, Kat. 1, S. 11–13. – F. Schanze: A. L. In: VL (auch: Nachträge u. Korrekturen). – RSM 4, S. 229–247. Elisabeth Wunderle / Red.

Lessen, Ludwig, eigentl.: Louis Salomon, * 17.9.1873 Lessen (Lasin) bei Graudenz (Grudziadz)/Weichsel, † 11.2.1943 Müllrose/Mark. – Redakteur, Lyriker, Dramatiker.

360 Weitere Werke: Vignetten. Dresden 1895 (L.). – Kosm. Kränze. Dresden 1896 (L.). – Die Perlenschnur der Adria. Dresden 1906 (L.). – Agitator wider Willen. Bln. 1908 (D.). – Lebensmittag. Bln. 1910 (L.). – Rotkoller oder Die mißglückte Demonstrationsvereitelung. Bln. 1913 (D.). – Kreuz u. quer durch den Balkan. Reisebilder. Bln. 1914. – Geburtstagsbüchlein. Bln. 1919 (L.). – Unser Kinderland. Bln. 1922 (L.). – Von der Landstraße des Lebens. Bln. 1926 (L.). Literatur: Lexikon sozialist. dt. Schriftsteller. Halle/S. 1963, S. 327 f. – Christoph Rülcker: Ideologie der Arbeiterdichtung 1914–33. Stgt. 1970, S. 32 f. (zur zeitgenöss. Rezeption). – Ursula Münchow: Arbeiterbewegung u. Lit. Bln./Weimar 1981, S. 408–411. – Adalbert Wichert: L. In: NDB. Martin Rector / Red.

Der Sohn eines jüd. Kaufmanns kam als Gymnasiast in Berlin während eines MaschiLessing, Gotthold Ephraim, * 22.1.1729 nenbaupraktikums mit der ArbeiterbeweKamenz/Sachsen, † 15.2.1781 Braungung in Berührung, entschied sich jedoch für schweig; Grabstätte: ebd., Magni-Friedein Studium der Geschichte, Philosophie u. hof. Literatur u. begann nebenher zu schreiben. Seit 1896 war L. hauptamtlich Redakteur Prägende Kindheitserfahrung war das prosozialdemokratischer Zeitungen in Halle u. testant. Pfarrhaus in mustergültiger Form Chemnitz, 1900–1919 der viel gelesenen (orthodox, gelehrt, streitbar, patriarchalisch, »Neuen Welt«, des zentralen Unterhaltungs- sozial, kinderreich). Die Eltern, Justine Saloblatts der SPD. Während der Weimarer Re- me, geb. Feller, u. Johann Gottfried Lessing, publik arbeitete er als Redakteur am »Vor- entstammten beide verzweigten sächs. Pfarwärts«-Verlag; 1933 erhielt er Berufsverbot u. rers- u. Juristenfamilien. Von den zwölf Kinzog sich aus der Öffentlichkeit zurück; zehn dern war L. das dritte; fünf starben in juJahre später nahm er sich das Leben. gendl. Alter. Der Vater, seit 1734 Pastor priAls Redakteur, aber auch in seinen zahl- marius der Stadt, war neben dem Pfarramt als reichen Gedichtbänden (bes.: Fackeln der Zeit. Gelehrter tätig u. verfasste zahlreiche erbauBln. 1904. Aus Tag und Tiefe. Bln. 1911. Wir liche, histor. u. apologet. Schriften im Geist wollen werben, wir wollen wecken... Gedichte für eines kämpferischen Luthertums. L., der ihm die arbeitende Jugend. Bln. 1924) sowie in eini- auch in Zeiten der Entfremdung die Hochgen Stücken für das Arbeiter-Laien-Theater achtung nicht versagte, dürfte ihm neben (Achtung, Bombe! Bln. 1905. Die überlistete Poli- dem leicht erregbaren Temperament auch zei. Bln. 1909) verfocht L. eine reformistisch- sein traumat. Verhältnis zu jegl. Art von idealist. Auffassung von der Emanzipation u. Amtsanmaßung verdankt haben (vgl. seine Bildung der Arbeiter. Beeinflusst von den große theolog. Abrechnung mit dem HamIdeen u. Bildern der Neuromantik, der Ju- burger Hauptpastor Goeze bald nach dem gendbewegung u. des Frühexpressionismus, Tod des Vaters). Durch den Bruch mit dem steht sein literar. Werk jenseits der radikalen Geist des Elternhauses wurde L. zum Urbild Tradition der sozialist. Literatur der 1880er der vielen revoltierenden u. freigeistigen u. 1890er Jahre (Kegel, Lavant, Kaiser u. an- Pfarrerssöhne, welche die dt. Literaturgedere) u. tendiert bereits zur affirmativen u. schichte seitdem aufweist (u. a. Wieland, unpolit. »Arbeiterdichtung« der Weimarer Lichtenberg, Bürger, Lenz, Nietzsche, Benn). Republik, auch wenn L. die faschist. Ten1741 trat L. als Stipendiat in die Fürstendenzen der Barthel, Bröger, Lersch u. anderer schule St. Afra in Meißen ein, das Eliteinternicht teilt. nat, das seine Zöglinge einer harten Disziplin

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unterwarf (täglich zehn Stunden Unterricht, sieben Stunden Gottesdienst am Sonntag, keine Ferien), ihnen allerdings auch ungewöhnlich gute Kenntnisse in den alten Sprachen u. Literaturen vermittelte, ohne die modernen ganz auszuschließen. Auch diese Erfahrung hat L., der als »moquanter« u. glänzender Schüler galt, kritisch für sich verwertet. Anstatt Theologie zu studieren, wofür er sich 1746 an der Universität Leipzig eingeschrieben hatte, emanzipierte er sich schnell vom Schulgelehrtentum. Er verlegte sich auf die schöngeistigen Fächer, ging durch die Lehre eines literarisch u. journalistisch begabten Cousins, Christlob Mylius, u. begann, unter dem Eindruck des Neuber’schen Theaters u. einer (nicht sicher bezeugten) Schauspielerinnen-Affäre, die Serie seiner Jugend-Lustspiele, von denen er sich den Ruhm eines »deutschen Molière« erhoffte. Zur Abrundung seiner weltmänn. Bildung entstand, der Mode der Zeit entsprechend, eine Sammlung anakreont. Gedichte (Kleinigkeiten. Ffm. 1751), darunter ein ebenso hinreißendes wie unaufrichtiges Lob der Faulheit. In Wirklichkeit fehlte es L. auch in Leipzig nicht an Fleiß u. Zielstrebigkeit, die ihn zeitlebens auszeichneten. Weniger konsequent war er in Geldangelegenheiten (auch das zeitlebens). 1748 musste er, um sich seinen Gläubigern zu entziehen, Leipzig verlassen u. tauchte in Berlin, der Stadt des aufklärerischen Journalismus, unter, wo er durch Mylius’ Fürsprache zunächst Rezensent, später Wissenschaftsredakteur der »Berlinischen privilegirten Zeitung« (der sog. Vossischen) wurde. Neben zahlreichen Buchbesprechungen (allein 1751 über 100) entstanden in dieser Zeit Übersetzungen aus dem Spanischen, Englischen, Französischen u. Lateinischen, teils als Auftragsarbeit, teils aus persönl. Interesse – insg. mehrere tausend Seiten. Aber auch der dramat. Produktion gab Berlin neue Impulse. L. gründete eine eigene Theaterzeitschrift (die erste in Deutschland), diskutierte die Vor- u. Nachteile des in Mode gekommenen »rührenden« Schauspiels u. versuchte sich selbst an Stücken dieses Genres, den Komödien Der Freigeist u. Die Juden (beide 1749) sowie dem »bürgerlichen« Trauerspiel Miß Sara Sampson (1755). Da auch

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die Lyrik ausreifte, eine frühe Fabelsammlung u. ein erstes Bündel kritischer Schriften sich ansammelten, konnte er 1753–1755, gerade 24-jährig, bereits eine kleine Werkausgabe (Schrifften. 6 Bde., Bln.) vorlegen. Daneben führte er, nach Vorübungen gegen Gottsched, das erste seiner großen GelehrtenDuelle (Ein Vade Mecum für den Hrn. Sam. Gotth. Lange. Bln. 1754) siegreich zu Ende. Berlin brachte allerdings auch andere Weichenstellungen für ihn. Spätestens seit einem ungerechtfertigten Betrugsverdacht durch den in Potsdam weilenden Voltaire (dessen Essai sur les Mœurs L. zu übersetzen vorhatte) stand fest, dass er im geistigen Umkreis Friedrichs II., des »roi philosophe«, nicht reüssieren würde. Doch damit ging es ihm nicht anders als anderen dt. Schriftstellern. Umso selbstbewusster konnte er der frz.-höf. Aufklärung des Königs eine dt.-bürgerliche entgegensetzen, in welcher der hierarch. Geist von Sanssouci durch einen egalitären des Kaffeehauses ersetzt war. L.s lebenslanges Freundschaftsu. Produktionsbündnis mit zwei hochbegabten literar. Autodidakten, dem jüd. Prokuristen Moses Mendelssohn u. dem Buchhändler Friedrich Nicolai blieb singulär in der deutschen u. europ. Aufklärung. Gemeinsam mit Mendelssohn verfasste L. 1755 eine gelehrte Abhandlung für die Berliner Akademie (Pope ein Metaphysiker!). 1756 brach L. mit einem reichen Leipziger Kaufmann zu einer Bildungstour durch Europa auf, kam allerdings nur bis Amsterdam, weil die militärische Besetzung Sachsens durch die Preußen die Rückkehr erzwang. Die briefl. Fortsetzung der Berliner Gespräche mit Mendelssohn u. Nicolai während u. nach der Reise brachte die erste dt. Ästhetik der Tragödie hervor (Briefwechsel über das Trauerspiel, 1756/57, zuerst postum in: Sämmtliche Schriften. Bde. 27 u. 28) u. eröffnete die Reihe der gattungstheoret. Abhandlungen L.s in seiner mittleren Schaffenszeit (Fabeln. Nebst Abhandlungen. 3 Bde., Bln. 1759. Laokoon. Erster Teil. Halle/S. 1766. Hamburgische Dramaturgie. 104 Stücke, Hbg. 1667–69. Zerstreute Anmerkungen über das Epigramm. 1771). 1758 kehrte er nach Berlin zurück, um mit den Freunden die Briefe, die neueste Litteratur betreffend (24 Tle., Bln. 1759–65) zu re-

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digieren u. zu schreiben, eine krit. Sichtung der dt. Gegenwartsliteratur, mit der seine journalist. Karriere ihren Höhepunkt, aber im Grunde auch bereits ihren Abschluss erreichte. Im Übrigen ließ sich L. erneut durch den agilen Geist der Stadt zu vielfältigen Projekten anregen. Neben dem Buch der Prosafabeln entstanden ein Faust-Fragment u. der Plan eines dt. Wörterbuchs, u. auf den beginnenden Krieg (den »Siebenjährigen«) reagierte er mit dem trag. Einakter Philotas (anonym 1759). Seine dramentheoret. Anschauungen vertiefte er durch die Auseinandersetzung mit Diderot (1760). Freilich machten sich, da trotz angespanntester Arbeit eine ökonom. Sicherung nicht gelang, auch die ersten Resignations- u. Verschleißerscheinungen bemerkbar. 1760 ging er deswegen Hals über Kopf nach Breslau, wo ihm der preuß. General u. Stadtkommandant Bogislaw von Tauentzien eine Anstellung als Sekretär bot. Goethe hat das sorglose »Wirtshausleben«, das L. hier geführt haben soll, getadelt. Tatsächlich hatte L. in Breslau Zeit u. Geld, sich im Kasino u. am Spieltisch zu zeigen, aber auch, sich eine umfängl. Bibliothek zuzulegen (die er schon fünf Jahre später mit Verlust wieder veräußern musste). Unfruchtbar war indes auch diese Zeit nicht: Sie schenkte ihm Muße für den Entwurf des Laokoon u. das Anschauungsmaterial für Minna von Barnhelm (1767). 1764, nach einer schweren Krankheit, zog es ihn wieder zu den Freunden in Berlin zurück, wo er beide Werke abschloss. Sie wurden triumphale Erfolge, der Laokoon in der europ. Gelehrtenrepublik, die Minna beim dt. Publikum. Goethes Feststellung, L. habe mit dieser Komödie den Deutschen das erste Drama von aktuellem nat. Gehalt geschenkt, trifft zweifellos zu. Aus dem führenden dt. Kritiker war damit auch der führende dt. Dichter geworden – jedenfalls bis zum Erscheinen von Goethes Werther. Erstaunlicherweise reichte auch das nicht aus, L. ein angemessenes Unterkommen in Berlin zu sichern. Bei Hof war man weiterhin nicht an ihm interessiert. So widmete er sich einem neuen, wenn auch ungewissen Projekt: In Hamburg, wo Privatunternehmer ein »Nationaltheater«

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gegründet hatten, fand sich 1767 für ihn die gut dotierte Stelle eines Hausdramaturgen u. Stückeschreibers. Aber die Sache erwies sich als Fehlinvestition. Mit dem Publikum blieb das Geld aus, u. die Schauspieler fühlten sich von den Qualitätsansprüchen u. Neuerungsvorschlägen ihres prominenten Kritikers überfordert. Nach einem Jahr war das Unternehmen zerrüttet, nach einem weiteren am Ende. Nicht besser erging es einem anderen fortschrittlich gedachten Projekt, das L. mit dem Sterne-Übersetzer Bode ins Werk gesetzt hatte, einer Art Autorenverlag: Es endete im Konkurs. Was blieb, war neben Schulden u. einem neuen Freundeskreis das säkulare Ereignis der Hamburgischen Dramaturgie (1769). Erneut also eine literar. Großtat, erneut aber auch die kränkende Einsicht lebensgeschichtl. Scheiterns, auf die L. diesmal mit dem Plan einer Flucht nach Rom reagierte. Als Rechtfertigung dafür konnten ihm seine altertumswiss. Studien in dieser Zeit dienen (Briefe, antiquarischen Inhalts. 2 Bde., Bln. 1768/69. Wie die Alten den Tod gebildet. Bln. 1769). Doch anstatt auf den Spuren Winckelmanns in die Ewige Stadt ging L. 1770 auf den Spuren Leibniz’ als herzogl. Bibliothekar in die Kleinstadt Wolfenbüttel, was einer Rückkehr in die gelehrte Büchereinsamkeit seiner Jugend gleichkam. Das könnte erklären, warum er sich in Wolfenbüttel wieder ganz in den Bannkreis der Theologie ziehen ließ, u. vielleicht sogar, warum er hier das im Grunde schon verpasste Glück einer Familiengründung nachzuholen versuchte. Die Ehe mit Eva König, einer gebildeten u. warmherzigen Hamburger Kaufmannswitwe, wurde im Okt. 1776 geschlossen u. endete 14 Monate später mit dem Tod Evas u. ihres Kindes. Anderes lief nicht viel glücklicher. Sehnlich erwartete Berufungen nach Wien, Dresden oder Mannheim kamen nicht zustande, dafür eine zu diesem Zeitpunkt (1775) höchst unerwünschte Italienreise als Begleiter eines braunschweigischen Prinzen, von der nicht mehr als ein karges Reisenotizbuch u. einige Jammerbriefe überliefert sind. Isolationsängste u. erste Anzeichen einer chron. Krankheit taten ein Übriges. Doch auch das konnte sein Ausdrucksbedürfnis u.

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seinen Widerspruchsgeist nicht brechen. Im Gegenteil, kaum im Fürstendienst etabliert, schrieb er das mit »Piquen gegen die Fürsten« (Goethe) reichlich versehene Trauerspiel Emilia Galotti (1772), das seinen nationalen Ruhm noch einmal steigerte. Danach investierte L. alle Energie in einen letzten großen polem. Feldzug, diesmal gegen die protestant. Schultheologie. Als Vorspiel dazu kann die Schrift über den Häretiker Berengar von Tours (1770) gelten, mit der er die Tradition seiner zwischen 1750 u. 1754 entstandenen theolog. Rettungen wieder belebte. Entscheidend wurde jedoch die etappenweise Herausgabe des bibelkrit. Werks Apologie oder Schutzschrift der vernünftigen Verehrer Gottes (u. d. T. Fragmente eines Ungenannten in L.s Wolfenbütteler Beiträgen, 1774–78) aus dem Nachlass des Hamburger Orientalisten Hermann Samuel Reimarus. L., der den radikalen Ansichten seines »Ungenannten« durchaus kritisch gegenüberstand, hoffte damit eine öffentl. Diskussion in Gang zu bringen u. täuschte sich nicht. Sein großer Kontrahent wurde der Hamburger Theologe Johann Melchior Goeze, dessen ergrimmte u. zunehmend unfairer werdende Angriffe L. zwischen Dez. 1777 u. Juli 1778 in einer Reihe leidenschaftl. Gegenschriften erwiderte, bis nach dem elften Anti-Goeze (alle elf Stücke anonym, 1778) der braunschweigische Herzog dem Druck der Geistlichkeit nachgeben musste u. seinem Bibliothekar die 1772 erteilte Zensurfreiheit entzog. Dieser gab indes nicht auf. Seinem Versuch, die Auseinandersetzung mit Hilfe des Theaters (»meiner alten Kanzel«) fortzusetzen, verdankt die Nachwelt das Schauspiel Nathan der Weise, das noch im Erscheinungsjahr 1779 drei Auflagen erlebte u. wenig später ins Englische, Holländische u. Französische übersetzt wurde. Bis zum »Weisen von Sanssouci« scheint es allerdings nicht gelangt zu sein. Wiederkehrende Fieberanfälle u. die Angst, seine »Versatilität des Geistes« zu verlieren, drängten L., auch andere wichtige Projekte zum Abschluss zu bringen. Wie viele seiner aufgeklärten Zeitgenossen war er Mitgl. einer Freimaurerloge geworden u. hatte wenig Genüge daran gefunden. Nun entwarf er in einem anonymen Gesprächstraktat Ernst und

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Falk (Tl. 1–3, Wolfenb. 1778, Tl. 4–5, Wolfenb. 1780) seine eigene Version von wahrer Freimaurerei. 1780 fügte sich auch das liegen gebliebene geschichtsphilosoph. Fragment, die Erziehung des Menschengeschlechts, zu einem Ganzen. L. ist nur 52 Jahre alt geworden. Sein rd. 20 Jahre währender Versuch, als freier Schriftsteller zu überleben, scheiterte sowohl an den Schikanen des dt. Kulturbetriebs als auch an seiner eigenen Unruhe u. Unkonventionalität. Niemand machte es ihm leicht, am wenigsten er selbst. Als das fürstl. Amt in Wolfenbüttel (ab 1770) endlich innere u. äußere Befriedung versprach, regte sich seine intellektuelle Streitlust wie nie zuvor. Dass er dabei die protestant. Orthodoxie mehr oder minder geschlossen gegen sich aufbrachte, kränkte ihn wenig, dafür umso mehr der Ruch des Gotteslästerers, der ihn seit dem Goeze-Streit umgab. Bevor die Kirche Anklage gegen erheben konnte, starb L. am 15.2.1781 im Beisein seiner Stieftochter Amalie in Braunschweig. Obwohl L. bis zu Kants großen »Kritiken« der überragende Gestalter der dt. Aufklärung in ihrer ganzen motivischen Breite (Selbstdenken, Toleranz, Humanität, Streitbarkeit, Autoritäts- u. Religionskritik) war, ist er als großer Mann des Theaters in die Literaturgeschichte eingegangen. Durch seine Dramen u. dramaturg. Schriften führte er das wenig bedeutende dt. Theater seiner Zeit an den europ. Standard heran u. leitete die »Theatromanie« der Goethezeit ein. Dabei war sein Konzept eines eigenständigen »Nationaltheaters« in aufklärerischer Absicht, wie es um 1748 Gestalt anzunehmen begann, keineswegs neu. Im Grunde wiederholte es, wenn auch mit anderen Mitteln u. Akzentuierungen, das 1730 ebenfalls in Leipzig begonnene Reformprojekt Gottscheds, dessen Vorgängerschaft L. im Übrigen nie anerkannt hat. Er übernahm u. a. den moralpädagog. Impetus u. den auf Wahrscheinlichkeitsregeln basierenden Gattungsbegriff, nicht aber die soziale Abgrenzung von Komödie u. Tragödie (Ständeklausel) u. die am frz. Klassizismus ausgerichteten aristokrat. Stil- u. Dezenznormen. An die Stelle der Franzosennachahmung trat eine Neuorientierung am

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gesamteurop. Theater der Antike u. Moderne, die sich in zahlreichen Abhandlungen (u. a. über Plautus, Seneca, Thomson, Dryden) u. Übersetzungen (u. a. von Corneille, Riccoboni, Gellert, Chassiron, Dubos) niederschlug. Wichtig für die eigene Produktion wurde v. a. die Beschäftigung mit dem international erfolgreichen weinerl. Lustspiel (comédie larmoyante), u. mit dem engl. domestic drama, die ihm eine neue Theater-Anthropologie u. die Möglichkeit eines explizit bürgerl. Schauspiels erschloss. Vom bürgerl. Interesse her erklärt sich auch, warum sich L. zunächst fast ausschließlich der Komödie zuwandte: Nur hier schien vorerst dessen Entfaltung möglich. Der konventionellen Laster-Kritik Gottscheds (Verlach-Komödie) ist er nur einmal gefolgt, im 1748 uraufgeführten Jungen Gelehrten (zuerst in: Schrifften. Bd. 4), der freilich in der selbst- u. zeitkrit. Wahl des Gegenstands auch schon Neues enthielt. Danach, von 1749 an, bekam sein Komödienkonzept eine gleichsam subversive Tendenz: Anstatt den (nicht mehr komischen) Außenseiter dem Publikumsspott preiszugeben, überführte er nun das Publikum seiner Vorurteile gegen ihn, womit das L.’sche Generalthema der Toleranz u. der »Rettungen« auch im Drama angeschlagen war. So zeigt der Freigeist, dass Atheisten nicht notwendig amoralisch u. Geistliche nicht notwendig unduldsam sein müssen. An die Stelle von moralischem Verdikt u. Bekehrung treten am Ende vernünftige Einsicht u. Freundschaft, was nicht ausschließt, dass der Knoten der Liebesverwicklung durch eine kluge Dienerin gelöst werden muss. (Diese Emanzipation der Subalternen, die der ital. Commedia dell’arte abgeschaut war, ist dann zu einer weiteren Besonderheit seiner Dramen geworden.) Noch einen Schritt weiter in Richtung der »ernsten Komödie« u. rigiden Vorurteilskritik ging L. in dem Einakter Die Juden (1749), in welchem dem Publikum der Widerspruch zwischen Idee u. Wirklichkeit christl. Gesinnung am Paradebeispiel gängiger ethn. oder religiöser Pauschalverdächtigung aufgezeigt wird. Mit der Entwicklung eines zum Lustspiel komplementären Trauerspielkonzepts tat sich L. ungleich schwerer. Ein erster Versuch

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(1749) mit einem aktuellen Stoff – dem Aufruhr u. der Hinrichtung des Berner Schriftstellers Samuel Henzi – blieb Fragment, vermutlich wegen der zu starken polit. Implikationen des Stoffs. Wahre bürgerl. Tragik hatte sich für L. im Privaten zu erfüllen, mit Politischem bestenfalls als Begleittext, nicht als Wesenskern. Eine solche Konstellation glaubte er 1755 mit seiner Miß Sara Sampson gefunden zu haben, einem Rührstück nach engl. Vorbild, das zwar mit höfisch-amoral. Kontrasten arbeitet (Mellefont, Marwood), im Kern aber von töchterl. Verfehlung (Sara) u. väterl. Vergebung (Sir William), also einem rein familiären Konflikt, handelt. Das Drama, das sowohl der Gattung des »bürgerlichen Trauerspiels« als auch dem Kult der Empfindsamkeit in Deutschland zum Durchbruch verhalf, hat zweifellos ein Doppelgesicht. Einerseits feiert es Familiensolidarität, emotionale Offenheit u. Mitleidsbereitschaft als die neuen bürgerl. Tugenden, andererseits unterzieht es eben diese Moral auch schon einer subtilen psychologisierenden Kritik. Daraus resultieren Charakterzeichnungen von bis dahin unbekannter moral. Differenzierung u. das zukunftsweisende Novum einer milieukrit. Konfliktentfaltung. Sehr viel weniger überzeugend ist hingegen die Begründung des trag. Ausgangs gelungen. Die Hintergründe dieser Stärken u. Schwächen offenbart der 1756/57 mit Nicolai u. Mendelssohn kontrovers geführte Briefwechsel über das Trauerspiel, L.s erster Versuch einer Tragödientheorie. Weder hier noch später stand das Wesen des Tragischen oder gar ein trag. Weltentwurf zur Debatte (das verbot L.s Festhalten an der Leibniz’schen Theodizee), sondern ausschließlich die ästhet. Indikation der Gattung als Schule der sozialen Affekte u. Tugenden. In eigenwilliger Auslegung der aristotel. »Schrecken und Mitleid«-Formel u. beeinflusst durch Rousseau, legte L. dabei die Tragödie auf einen einzigen natürl. Zweck fest: die Erregung von Mitleid, was einen »mittelmäßigen« (d.h. zur Identifikation einladenden) Helden u. einen menschlich anrührenden Unglücksfall voraussetze. Den stoischen Helden des Barocktrauerspiels lehnte L. kategorisch ab als »schönes Ungeheuer«, das nur distanzierte

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Bewunderung auf sich ziehe – ein Vorgang, der an Gottscheds Vertreibung des Harlekins vom Theater erinnert. Der Kriegsausbruch von 1756 veranlasste L., seine Heroismuskritik auch dramatisch zu gestalten. Der Einakter Philotas, der Anspielungen auf Friedrich den Großen enthält, entwickelt seine Problematik freilich so verdeckt, dass ihn viele Zeitgenossen als Heldendrama lesen konnten. In Wirklichkeit ist er ein Lehrstück über das Wesen des Krieges u. eines falschen Patriotismus. Im Grunde gar nicht so fern von der Philotas-Thematik, wenn auch ins Heiter-Versöhnliche gewendet, steht L.s Meisterleistung auf dem Gebiet der Komödie, Minna von Barnhelm. Zeigen einige Nebenfiguren noch Spuren der Typen- u. Rührkomödie, so ist im Paar Minna-Tellheim eine völlig neue Qualität realistischer Personeninszenierung erreicht, bis hin zum provozierenden Motiv des Austauschs vermeintlich geschlechtsspezifischer Charakterattribute (Minnas Unternehmungsgeist, Tellheims Verzagtheit). Goethe nannte das Stück im siebten Buch von Dichtung und Wahrheit »die erste aus dem bedeutenden Leben gegriffene Theaterproduktion« der Deutschen. Tatsächlich hat L. Themen verarbeitet, die den Nerv der Zeit trafen, etwa die dt. Uneinigkeit (Siebenjähriger Krieg), v. a. aber das aktuelle Phänomen der preuß. Offiziers- u. Beamtenmentalität, deren Ambivalenz in der Figur Tellheims, des durch seinen eingebildeten Ehrverlust bis zur Selbstaufgabe getriebenen Majors, glänzend analysiert wird. Dass Tellheims Schwanken zwischen dem »Gespenst der Ehre« (so Minna) u. der Macht der Liebe, das die Schwelle zum Tragischen mehr als nur streift, schließlich doch nicht in die Katastrophe führt, verdankt sich der trotz allen verliebten Übermuts tiefen Humanität Minnas, nicht dem iron. Nachklapp-Motiv der kgl. Rehabilitation. Sein pragmat. Reformmodell eines bürgerlich-aufgeklärten Nationaltheaters (mit weltliterarischem Horizont) hat L. in der Hamburgischen Dramaturgie vollendet, in der es ihm gelang, Schauspielanalyse mit Aufführungskritik, Fragen der theatral. Semiotik mit solchen der nationalkulturellen Unter-

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schiede sowie Publikumssoziologie mit Gattungstheorie zu verbinden. Damit war die Welt des Theaters in Deutschland einer umfassenden u. mehr oder minder modern anmutenden Diskussion durch Liebhaber u. gelehrte Kenner eröffnet. Höhepunkte der Schrift bilden die abschließenden Versionen der Lustspiel- u. Trauerspieltheorie. In endgültiger Absage an das Gottsched’sche Verlach-Prinzip konnte L. nunmehr das Lachen in der Komödie als ein therapeutisches definieren; denn nur wer gelernt habe, das allgegenwärtige Lächerliche in den Dingen der Welt, »sogar in den Runzeln des feierlichen Ernstes«, zu erkennen, verfüge auch über ein geeignetes Vorbeugungsmittel, den unausbleibl. Pressionen falscher Moral zu begegnen. Allerdings gibt es dazu auch ein ernstes Pendant, eben das trag. Mitleid, dem L. nun nach einer erneuten Aristoteles-Exegese die dauerhafte Furcht (anstatt des nur auslösenden Schreckens) an die Seite setzte. Die trag. Furcht ist für L. jetzt das vom Zuschauer auf sich selbst bezogene Mitleid, was auf eine entschiedene Verstärkung des schon im Briefwechsel vertretenen Identifikationsprinzips hinausläuft. In der trag. Verwicklung müsse der Zuschauer seine eigene Bedrohung spüren (»tua res agitur«), so wie er im Helden einen Menschen seinesgleichen (»von gleichem Schrot und Korne«) erkennen müsse; erst dann könne das ernste Theater seine kathartische Aufgabe erfüllen: nämlich Furcht u. Mitleid in uns von ihren störenden Extremen zu reinigen. Ob Emilia Galotti, die Tragödie vom Konflikt zwischen privater Tugend u. höf. Willkür, die Probe aufs Exempel für diese Theorie sein sollte, ist umstritten. Einiges spricht dafür, v. a. das realist. Motiv des von der aristokrat. Welt ausgehenden Verführungspotentials (Emilia: »Verführung ist die wahre Gewalt«), anderes, wie die wenig plausible Tötung der Heldin durch den Vater auf eigenen Wunsch, spricht dagegen. Mit Letzterem korrespondiert ein von der Forschung immer wieder diskutierter Bruch in der Charakterzeichnung Emilias, der aus dem naiven Kind übergangslos die Heroine hervorgehen lässt. Die massive Sozialkritik des Stücks bleibt, wie schon in der Sara, nicht auf

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die höf. Welt beschränkt, sondern betrifft ebenso die moral. Fehldispositionen der Gegenseite, v. a. die des Vaters. So gesehen ist das Stück eigentlich (nicht unähnlich der Minna) die Tragödie Odoardo Galottis, den sein Tugendrigorismus blind macht u. ins Unglück reißt. Da auch die Mutter sich fehlbar zeigt, ist es die kindlich-reine Emilia, die den Autonomieanspruch bürgerl. Moralität in einem mehr symbolisch als realistisch zu verstehenden Akt der Selbstopferung retten muss. Für Nathan der Weise, L.s dramat. Testament, stellen sich Probleme, die aus der Bestimmung u. Erfüllung der Gattungstypologie resultieren, nicht mehr. Dieses »dramatische Gedicht« (Untertitel) enthält zwar kom. u. trag. Bauelemente, versteht sich aber weder als Komödie noch als Tragödie, was allein daraus folgt, dass es im Grunde nicht auf sein Ende hin konstruiert ist. Die entscheidende moral- u. geschichtsphilosoph. Botschaft steht als märchenhafte Erzählung in der Mitte. Auch die für L. ungewöhnliche, aber meisterhaft praktizierte dramat. Versform (fünffüßige Jamben) unterstreicht die Ausnahmestellung. Die Handlung, im Jerusalem der Kreuzzugszeit angesiedelt, hat die problemat. Koexistenz von Juden, Christen u. Muslimen zum Gegenstand, um deren Balance sich der weise jüd. Kaufmann Nathan bemüht, obwohl oder weil er von beiden anderen Parteien massiv bedroht ist. Durch seine christl. Pflegetochter Recha ist er dem christl. Patriarchen, durch seinen Reichtum dem Sultan Saladin ein Dorn im Auge. Als Letzterer ihn mit der Frage erpressen will, welche der drei Religionen die wahre sei, versucht Nathan durch die (von Boccaccio entlehnte) Parabel von den drei Ringen deutlich zu machen, dass Religionen, als historisch u. ethisch geprägte Institutionen, nicht danach bewertet werden können, was sie dogmatisch zu sein behaupten, sondern nur danach, was sie für Wohl, Frieden u. Bildung der Menschheit bewirken. Diese Lehre von der einen humanen Naturreligion, die den gemeinsamen Kern aller fortgeschrittenen Religionen ausmacht, findet auf der Handlungsebene ihre gleichsam märchenhafte Bestätigung in den vielseitigen

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(echten u. optierten) Verwandtschaftsbeziehungen, durch die sich die Protagonisten am Schluss quer durch die Glaubenslager verbunden sehen. L. hat in seinem Lehr- u. Märchenstück im Grunde noch einmal alle Axiome seines aufklärerischen Weltbildes zusammengefasst: die christl. Offenbarung als histor. Erziehungsplan, den Vorsehungsoptimismus im Sinne Leibniz’, den Glauben an die Notwendigkeit individueller Wahrheitssuche, die Verpflichtung auf allgemein menschl. Solidarität u. natürlich das Gebot der Toleranz, welches die Verdichtungsformel des Dramas darstellt. Außerhalb des Theaters war L.s dichterisches Interesse begrenzt. Die Lyrik im anakreont. Modeton blieb Jugendepisode u. fügte sich nur bedingt ins spätere Aufklärungsprogramm ein. Das taten eher Fabel u. Epigramm als Gattungen der verkleideten Moral u. des krit. Witzes. Um beide hat sich L. in Theorie u. Praxis bemüht, wobei ihm allerdings nur auf dem Gebiet der Fabel Bedeutendes u. Eigenes gelang. Anders als seine erfolgreichen Vorgänger La Fontaine u. Gellert, die aus der Gattung ein moralisierendes Unterhaltungsgenre gemacht hatten, besann er sich auf das aesopische Urbild im Sinne einer strengen Denkschule zurück. Danach hatte die Fabel kurz, konkret, emotions- u. kommentarlos auf den Punkt hin konstruiert zu sein: moralische Didaxe in der Form reiner Anschaulichkeit, wofür seine eigene Fabelproduktion meisterhafte Beispiele bietet. L.s Gattungstheorie bemüht sich stets um zweckfunktionale Abgrenzungen, basierend auf einer aristotel. Naturteleologie frühaufklärerischen Zuschnitts. Was eine Gattung bewirken soll u. auf welche Weise, muss aus ihrer natürl. Form hervorgehen. In Laokoon: oder über die Grenzen der Mahlerey und Poesie hat L. dieses Prinzip auf die generelle Unterscheidung der Künste, genauer: der Sprachu. Bildkunst, angewandt, wobei er die Denkanstöße mehrerer Vorläufer zu einem logisch-krit. Ganzen verband. Seine Folgerungen sind von riskanter klassizist. Einfachheit. Gemäß den unterschiedl. Semiotiken von Sprechakt u. Sehakt kommt danach Dichtung essentiell die Darstellung von Handlungen in der Zeit zu, Malerei u. Plastik

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die Fixierung von integralen Eindrücken im Raum. Dies umfasst nicht nur ein Beschreibungsverbot für den Dichter u. ein Erzählverbot für den bildenden Künstler, es begründet auch unterschiedliche ästhet. Lizenzen. Während der festgehaltene Augenblick des bildenden Künstlers, um nicht Widerwillen zu erzeugen, extreme Situationen zugunsten eines prägnanten Mittelwertes meiden müsse, gestatte das Fortschreitende der Sprache dem Dichter, das Schöne so gut wie das Hässliche zu gestalten. L.s Hang zur persönlichen u. vernichtenden Polemik, die als wesentl. Bestandteil seines Charakterbildes lange individualpsychologisch verrechnet wurde, hat neuerdings durch die These vom generell polemischen Wesen der europ. Aufklärung (Kondylis) eine Umdeutung in Richtung »Streitkultur« erfahren, wobei sich die nationale Parallele zu Swift u. Voltaire anbot. L. selbst hat seine Polemik allerdings als eine Art Technik sowie als individuelle Veranlagung (»meine liebe Iraszibilität«) beschrieben. Ihre Reihe beginnt mit dem Pamphlet gegen den HorazÜbersetzer Lange, trifft so unterschiedl. Größen wie Gottsched, Dusch u. Klotz u. endet mit der Abfertigung Goezes (1778). Der Vorgang ist im Kern immer der gleiche: persönliches Nennen u. »Stellen« des Gegners, Zitieren seiner Äußerungen u. Widerlegung Satz für Satz. Ziel ist die gelehrte u./oder moral. Disqualifikation des Gegenübers, wobei Verbalinjurien durchaus nicht verschmäht werden. Allerdings wählte L. durchweg solche Gegner, die erkennbar zur Amtsanmaßung neigten. Dementsprechend verbindet sich seine Sachkritik stets mit Stilkritik am ideolog. Sprachgebrauch des Widersachers. Er seinerseits hat im polem. Kontext die eindringlichsten Umschreibungen seines eigenen energet. Wahrheitsbegriffs gefunden (»Eine Duplik«). Wie weit diese polemisch-rhetorischen Inszenierungen an Luther orientiert waren, ist ungeklärt. Fest steht, dass sie ihren Höhepunkt im theolog. Meinungskampf erlebten. L. nahm im großen Streit des 18. Jh. um Vernunft u. Offenbarung, oder genauer: zwischen bibelkrit. Aufklärung u. schriftgläubiger Kirche, eine vermittelnde Position

Lessing

ein. Er glaubte an eine zeitlose Funktion des religiösen Gefühls, nicht aber des Kirchendogmas. Die in die alt- u. neutestamentarische Verkündigung eingeschriebene Vernunft deutete er in einem kühnen u. auf die idealist. Geschichtsphilosophie vorausweisenden geschichtstheolog. Entwurf (Die Erziehung des Menschengeschlechts) als göttl. Stufenplan zur Mündigkeitserziehung des Menschen. Dementsprechend beurteilte er die Reformation Luthers als histor. Station des Fortschritts auf dem Weg zum Vernunftevangelium der Zukunft. So gesehen aber war das Christentum für ihn geradezu auf aufklärerische Kritik angewiesen, weshalb er sich immer wieder um die Rehabilitation von Häretikern bemühte. In diesem Sinn veröffentlichte er ab 1774 die sog. Fragmente eines Ungenannten, eine scharfsinnige, ihm selbst aber eher fernstehende deist. Bibelkritik, die den großen Toleranzstreit mit Goeze heraufbeschwor. Dass er noch im Alter ein Bekenntnis zum Spinozismus abgelegt haben soll, wie Jacobi behauptete, ist wenig wahrscheinlich, wohl aber, dass er sich Spinoza selbst u. einigen seiner Grundüberzeugungen nahe fühlte. Vermutlich sah er sich mit ihm in jener »geheimen Kirche« (Ernst und Falk. Gespräche für Freimäurer) der wahren Philanthropen vereint, der die Aufgabe zukam, die Selbstaufklärung des Menschen u. dessen humane Orientierung unabhängig von Staat u. Kirche geistig zu demonstrieren. L. galt schon den Zeitgenossen u. unmittelbaren Nachfahren als eine Art Synonym für den Geist der aufgeklärten Epoche, einschließlich dessen idealist. Überschreitung im Spätwerk. Maßgeblich für seinen Nachruhm waren weniger seine Gelehrsamkeit u. zweckmoral. Ästhetik als sein einzelkämpferischer Mut, allein im Vertrauen auf das Gewicht seiner Argumente u. ohne jeglichen institutionellen Rückhalt in den öffentl. Meinungskampf einzugreifen. So, d.h. als Präfiguration des modernen Intellektuellen, blieb er von den idealistischen u. romant. Kampagnen gegen das Nützlichkeitsdenken der Aufklärung ausgenommen. Goethe betonte seine Charakterstärke u. Friedrich Schlegel seinen essentiellen »Protestantismus«, während Herder den triumphierenden

Lessing

Wahrheitssucher vor dem Hintergrund des dt. Gelehrtenelends herausstellte u. damit die lange Reihe der späteren Heroisierungen einleitete. Insg. ist die Rezeptionsgeschichte des 19. u. 20. Jh. vom fatalen Bedürfnis geprägt, den geborenen Antidogmatiker L. – in bezeichnender Verkennung des berühmten Goethe-Worts »Ein Mann wie Lessing täte uns not« – für alle nur denkbaren Ideologien zu reklamieren. So entstand in steter Folge ein bürgerlich-revolutionäres, republikanisches, preußisches, deutsch-nationales u. schließlich sozialistisches L.-Bild. Schwierigkeiten mit seiner Vereinnahmung hatten naturgemäß die Nationalsozialisten. Ausgaben: Schr.en. 6 Bde., Bln. 1753–55. – Vermischte Schr.en. 30 Bde., Bln. 1771–90. – Sämmtl. Schr.en. 31 Bde., Bln. 1793–1825. – Sämtl. Schr.en. Hg. Karl Lachmann. 3. Aufl. besorgt durch Franz Muncker. 23 Bde., Stgt./Lpz. 1886–1924. Neudr. Bln. 1968. – Werke. Vollst. Ausg. Hg. Julius Petersen u. Waldemar v. Olshausen. 25 Tle., Bln./ Wien 1925–35 (komm.). Neudr. Hildesh. 1970. – Werke. Hg. Herbert G. Göpfert u. a. 8 Bde., Mchn. 1970–78 (komm.). – Werke u. Briefe in 12 Bdn. Hg. Wilfried Barner u. a. Ffm. 1985–2003 (komm.). Literatur: Bibliografien: Karl S. Guthke: Der Stand der L.-Forsch. 1932–62. Stgt. 1965. – Ders.: G. E. L. Stgt. 1967. 31979. – L.-Yearbook. Mchn. 1969 ff. – L.-Bibliogr. (bis 1970). Bearb. v. Siegfried Seifert. Bln./DDR u. Weimar 1973. – Wolfgang Milde: Gesamtverz. der L.-Hss. Bd. 1, Heidelb. 1982. – Doris Kuhles: L.-Bibliogr. 1971–85. Bln./ DDR u. Weimar 1988. – Paul Raabe u. Barbara Strutz: L.s Bucherwerbungen. Verz. der in der Herzogl. Bibl. Wolfenbüttel angeschafften Bücher u. Ztschr.en 1770–81. Gött. 2004. – Dies.: L.s Büchernachl. Verz. der v. L. bei seinem Tode in seiner Wohnung hinterlassenen Bücher u. Hss. Gött. 2007. – Dokumentationen: Julius W. Braun: L. im Urtheile seiner Zeitgenossen. 3 Bde., Bln. 1884–97. – Paul Albrecht: Leszing’s Plagiate. Bde. 1–6, Hbg./Lpz. 1890/91. – Flodoard Frhr. v. Biedermann: G. E. L.s Gespräche nebst sonstigen Zeugnissen aus seinem Umgang. Bln. 1924. – Horst Steinmetz: L. – ein unpoet. Dichter. Dokumente aus drei Jahrhunderten zur Wirkungsgesch. Ffm./ Bonn 1969. – Richard Daunicht: L. im Gespräch. Ber.e u. Urteile v. Freunden u. Zeitgenossen. Mchn. 1971. – Edward Dvoretzky: L. Dokumente zur Wirkungsgesch. 1755–1968. 2 Bde., Göpp. 1971/ 72. – Ursula Schulz: L. auf der Bühne. Chronik der Theateraufführungen 1748–89. Bremen/Wolfenb. 1977. – Wolfgang Albrecht: L. im Spiegel zeitge-

368 nöss. Briefe. 2 Bde., Kamenz 2003. – Ders.: L. Gespräche, Begegnungen, Lebenszeugnisse. 2 Bde., Kamenz 2005. – Ders.: L. Chronologie zu Leben u. Werk. Kamenz 2008. – Gesamtdarstellungen: Karl G. Lessing: G. E. L.s Leben. Hg. Otto F. Lachmann. Lpz. 1887 (zuerst 1793–95). – Th. W. Danzel u. G. E. Guhrauer: G. E. L. Sein Leben u. seine Werke. 2 Bde., Bln. 21880/81. – Erich Schmidt: L. Gesch. seines Lebens u. seiner Schr.en. 2 Bde., Bln. 1884–92. 41929. – Franz Mehring: Die L.-Legende. Eine Rettung. Stgt. 1893. Neudr. mit einer Einl. v. Rainer Gruenter. Ffm. u. a. 1972. – Paul Rilla: L. u. sein Zeitalter. Bln. 1958. – Heinrich Schneider: L. Zwölf biogr. Studien. Bern 1971. – Wilfried Barner u. a.: L. Epoche – Werk – Wirkung. Mchn. 1975. 6 1998. – H. Steinmetz: G. E. L. In: Dt. Dichter des 18. Jh. Hg. Benno v. Wiese. Bln. 1977, S. 210–248. – Dieter Hildebrandt: L. Biogr. einer Emanzipation. Ffm. 1979. – W. Barner: L. In: NDB. – Jürgen Jacobs: L. Eine Einf. Mchn./Zürich 1986. – W. Albrecht: G. E. L. Stgt./Weimar 1997. – Peter J. Brenner: G. E. L. Stgt. 2000. – Monika Fick: L.Hdb. Leben – Werk – Wirkung. Stgt./Weimar 2000. 2 2004. – Hugh Barr Nisbet: L. Eine Biogr. Mchn. 2008. – Weitere Titel: Ernst Consentius: L. u. die Vossische Ztg. Lpz. 1902. – Max Kommerell: L. u. Aristoteles. Untersuchung über die Theorie der Trag. Ffm. 1940. 51984. – Elida Maria Szarota: L.s ›Laokoon‹. Eine Kampfschr. für eine realist. Kunst u. Poesie. Weimar 1959. – L. u. die Zeit der Aufklärung. Gött. 1968. – Gerhard u. Sibylle Bauer: G. E. L. (Wege der Forschung). Darmst. 1968. – Ingrid Strohschneider-Kohrs: Vom Prinzip des Maßes in L.s Kritik. Stgt. 1969. – Helmut Göbel: Bild u. Sprache bei L. Mchn. 1971. – Klaus Briegleb: L.s Anfänge 1742–46. Zur Grundlegung krit. Sprachdemokratie. Ffm. 1971. – Wilm Pelters: L.s Standort. Sinndeutung der Gesch. als Kern seines Denkens. Heidelb. 1972. – Jürgen Schröder: G. E. L., Sprache u. Drama. Mchn. 1972. – Hinrich C. Seeba: Die Liebe zur Sache. Öffentl. u. privates Interesse in L.s Dramen. Tüb. 1973. – W. Barner: Produktive Rezeption. L. u. die Trag.n Senecas. Mchn. 1973. – Reinhart Meyer: ›Hamburgische Dramaturgie‹ u. ›Emilia Galotti‹. Wiesb./Ffm. 1973. – Siglinde Eichner: Die Prosafabel L.s in seiner Theorie u. Dichtung. Bonn 1974. – Arno Schilson: Gesch. im Horizont der Vorsehung. G. E. L.s Beitr. zu einer Theologie der Gesch. Mainz 1974. – Klaus Bohnen: Geist u. Buchstabe. Zum Prinzip des krit. Verfahrens in L.s literarästhet. u. theolog. Schr.en. Köln/ Wien 1974. – Marion Gräfin Hoensbroech: Die List der Kritik. L.s krit. Schr.en u. Dramen. Mchn. 1976. – Volker Riedel: L. u. die röm. Lit. Weimar 1976. – Ariane Neuhaus-Koch: G. E. L. Die Sozialstrukturen in seinen Dramen. Bonn 1977. – Edward P.

369 Harris u. Richard Schade (Hg.): L. in heutiger Sicht. Bremen/Wolfenb. 1977. – Peter Horst Neumann: Der Preis der Mündigkeit. Über L.s Dramen. Stgt. 1977. – Hans Dieter Becker: Untersuchungen zum Epigramm L.s. Düsseld. 1977. – Leonard P. Wessell: G. E. L.’s Theology. Den Haag/Paris 1977. – Hendrik Birus: Poet. Namengebung. Zur Bedeutung der Namen in L.s ›Nathan der Weise‹. Gött. 1978. – Martin Bollacher: L.: Vernunft u. Gesch. Untersuchungen zum Problem religiöser Aufklärung in den Spätschr.en. Tüb. 1978. – Otto Haßelbeck: Illusion u. Fiktion. L.s Beitr. zur poetolog. Diskussion über das Verhältnis v. Kunst u. Wirklichkeit. Mchn. 1979. – Hans-Jürgen Schings: Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch. Poetik des Mitleids v. L. bis Büchner. Mchn. 1980. – A. Schilson: L.s Christentum. Gött. 1980. – Albert M. Reh: Die Rettung der Menschlichkeit. L.s Dramen in literaturpsycholog. Sicht. Bern/Mchn. 1981. – Joachim Schmitt-Sasse: Das Opfer der Tugend. Zu L.s ›Emilia Galotti‹ u. einer Literaturgesch. der ›Vorstellungskomplexe‹ im 18. Jh. Bonn 1983. – Walter Jens: In Sachen L. Vorträge u. Ess.s. Stgt. 1983. – W. Barner u. A. M. Reh (Hg.): Nation u. Gelehrtenrepublik. L. im europ. Zusammenhang. Detroit/Mchn. 1984. – Martin Schenkel: L.s Poetik des Mitleids im bürgerl. Trauersp. ›Miß Sara Sampson‹. Bonn 1984. – Wulf Rüskamp: Dramaturgie ohne Publikum. Köln 1984. – David E. Wellbery: L.’s Laocoon. Semiotics and Aesthetics in the Age of Reason. Cambridge 1984. – Hans-Georg Werner (Hg.): Bausteine zu einer Wirkungsgesch. G. E. L.s. Bln./Weimar 1984. – Peter Freimark, Franklin Kopitzsch u. Helga Slessarev (Hg.): L. u. die Toleranz. Detroit/Mchn. 1985. – Peter Pütz: Die Leistung der Form. L.s Dramen. Ffm. 1986. – Gisbert Ter-Nedden: L.s Trauersp.e. Der Ursprung des modernen Dramas aus dem Geist der Kritik. Stgt. 1986. – Henk de Wild: Tradition u. Neubeginn. L.s Orientierung an der europ. Tradition. Amsterd. 1986. – Winfried Nolting: Die Dialektik der Empfindung. L.s Trauersp.e ›Miß Sara Sampson‹ u. ›Emilia Galotti‹. Stgt. 1987. – Karin A. Wurst: Familiale Gewalt ist die ›wahre Gewalt‹. Die Repräsentation der Familie in L.s dramat. Werk. Amsterd. 1988. – Friedrich Niewöhner: Veritas sive Varietas. L.s Toleranzparabel u. das Buch v. drei Betrügern. Heidelb. 1988. – Gerhard Freund: Theologie im Widerspruch: die Goeze-L.-Kontroverse. Stgt. 1989. – Johannes v. Lüpke: Wege der Weisheit. Studien zu L.s Theologiekritik. Tüb. 1989. – Beate Sturges: L. als Wegbereiter der Emanzipation der Frau. Bern u. a. 1989. – Peter Michelsen: Der unruhige Bürger. Studien zu L. u. zur Lit. des 18. Jh. Würzb. 1990. – Thomas Althaus: Das Uneigentliche u. das Eigentliche. Metaphor.

Lessing Darstellung in der Prosa bei L. u. Lichtenberg. Münster 1991. – Mi-Hyun An: Die kleinen Formen des frühen L. Eine Untersuchung ihres Strukturzusammenhangs. Tüb. 1991. – Ingrid Strohschneider-Kohrs: Vernunft als Weisheit. Studien zum späten L. Tüb. 1991. – Christoph Lorey: L.s Familienbild im Wechselbereich v. Gesellschaft u. Individuum. Bonn u. a. 1992. – Wolfram Mauser u. Günter Saße (Hg.): Streitkultur. Strategien des Überzeugens im Werk L.s. Stgt. 1993. – Evelyn Moore: The Passions of Rhetoric. L.s Theory of Argument and the German Enlightenment. Dordrecht 1993. – W. Albrecht: Streitbarkeit u. Menschlichkeit. Studien zur literar. Aufklärung L.s. Stgt. 1993. – Dietrich Harth: G. E. L. oder die Paradoxien der Selbsterkenntnis. Mchn. 1993. – Lea Ritter-Santini: L. u. die Wespen: die ital. Reise eines Aufklärers. Ffm. 1993. – Dies.: Eine Reise der Aufklärung. L. in Italien 1775. Bln. 1993. – Susan E. Gustafson: Absent Mothers and Orphaned Fathers. Narcissism and Abjection in L.’s Aesthetic and Dramatic Production. Detroit 1995. – Bernd Reifenberg: L. u. die Bibl. Wiesb. 1995. – Thomas Dreßler: Dramaturgie der Menschheit – L. Stgt. 1996. – Jutta Meise: L.s Anglophilie. Ffm. u. a. 1997. – Karl-Josef Kuschel: Vom Streit zum Wettstreit der Religionen. L. u. die Herausforderung des Islam. Düsseld. 1998. – Sanna Simonetta: Von der Ratio zur Weisheit. Drei Studien zu L. Bielef. 1999. – Daniel Müller Nielaba: Die Wendung zum Besseren. Zur Aufklärung der Toleranz in G. E. L.s ›Nathan der Weise‹. Würzb. 2000. – W. Barner: Goethe u. L. Eine schwierige Konstellation. Gött. 2001. – Jan Engbers: Der ›moral sense‹ bei Gellert, L. u. Wieland. Zur Rezeption v. Shaftesbury u. Hutcheson in Dtschld. Heidelb. 2001. – Eun-Ae Kim: L.s Tragödientheorie im Licht der neueren Aristoteles-Forsch. Würzb. 2002. – K. S. Guthke: L.s Horizonte: Grenzen u. Grenzenlosigkeit der Toleranz. Gött. 2003. – Agnes Kornbacher-Meyer: Komödientheorie u. Komödienschaffen G. E. L.s. Bln. 2003. – Uta Korzeniewski: ›Sophokles! Die Alten! Philoktet!‹ L. u. die antiken Dramatiker. Konstanz 2003. – Michel Henri Kowalewicz: L. et la culture du Moyen Age. Hildesh. 2003. – Thomas Martinec: L.s Theorie der Tragödienwirkung: humanist. Tradition u. aufklärerische Erkenntniskritik. Tüb. 2003. – Daniel Cyranka: L. im Reinkarnationsdiskurs. Eine Untersuchung zu Kontext u. Wirkung v. G. E. L.s Texten zur Seelenwanderung. Gött. 2005. – Jürgen Stenzel u. Roman Lach (Hg.): L.s Skandale. Tüb. 2005. – Ulrike Zeuch (Hg.): L.s Grenzen. Wiesb. 2005. – Charlotte Coulombeau: Le philosophique chez G. E. L. Individu et vérité. Wiesb. 2005. – Jutta Golawski-Braungart: Die Schule der Franzosen. Zur Bedeutung v. L.s Über-

Lessing s.en aus dem Französischen für die Theorie u. Praxis seines Theaters. Tüb. 2005. – Francesca Tucci: Le passioni allo specchio: ›Mitleid‹ e sistema degli affetti nel teatro di L. Rom 2005. – K. Bohnen: G. E. L.-Studien: Werke, Kontexte, Dialoge. Kopenhagen u. a. 2006. – Jan Philipp Reemtsma: L. in Hamburg 1766–70. Mchn. 2007. – Markus Fauser (Hg.): G. E. L. (Neue Wege der Forschung). Darmst. 2008. Conrad Wiedemann

Lessing, Karl Gotthelf, * 10.7.1740 Kamenz/Sachsen, † 17.2.1812 Breslau. – Lustspieldichter, Übersetzer, Herausgeber.

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zugeben. Er veröffentlichte Ungedrucktes aus dessen Nachlass sowie Teile des Briefwechsels u. war der erste Biograf seines Bruders (Lessings Leben [...]. 3 Tle., Bln. 1793–95). Weitere Werke: Schausp.e. 2 Bde., Bln. 1778–80. – Lustspiele: Der Wildfang. Bln. 1769. – Ohne Harleckin. Bln. 1769. – Der Lotteriespieler [...]. Bln. 1769. – Die reiche Frau. Ffm./Lpz. 1777. – Der Bankrottier. Wien 1777. – Die Mätresse. Bln. 1780. Neuausgabe: Schausp.e in drei Bänden. Hg. Claude D. Conter. Hann. 2007 f. Literatur: Eugen Wolff: K. G. L. Bln. 1886. – Goedeke 4, 1, S. 649. – Wolfgang Milde: L. In: NDB. – Edward M. Batley: K. G. L.’s Biography of Gotthold Ephraim: A Brother’s Perspective. In: German Biography. Hg. Leon Burnett. [London] 1998, S. 5–27. Andrea Ehlert / Red.

Der jüngere Bruder Gotthold Ephraim Lessings studierte nach dem Schulbesuch in Kamenz u. Meißen in Leipzig zunächst Medizin (1761), ab 1763 Jura. 1764 verließ er ohne Studienabschluss die Universität. 1765–1779 Lessing, Theodor, * 8.2.1872 Hannover, lebte L. in Berlin – bis 1767 bei seinem Bruder † 31.8.1933 Marienbad/Mariánské Lázneˇ Gotthold. (ermordet); Grabstätte: ebd., Jüdischer 1768 erschien sein erstes empfindsames Friedhof. – Philosoph, Reformpädagoge, Lustspiel Der stumme Plauderer in Berlin. Es Psychologe, politischer Publizist. behandelt die (schwach exponierte) Dreiecksgeschichte zweier adeliger Brüder, die Elternhaus u. Schule beschrieb der dem dt.um die Gunst einer Dame von Stand werben. jüdischen Bildungsbürgertum entstammenDer jüngere erschleicht sich das Mitleid der de Sohn eines angesehenen Arztes als »zwei Angebeteten, die ihm nach Auflösung des Höllen«. Die Freundschaft mit dem späteren Schwindels – mit Zustimmung des geprellten Philosophen Ludwig Klages sowie die ideaBruders – den Vorzug gibt. L. schrieb sechs listische national-liberale Literatur des 19. Jh. weitere, oft aufgeführte Lustspiele nach ähnl. (u. a. Wilhelm Jordan u. Johannes Scherr) beMuster; daneben erschienen zahlreiche Kri- einflussten ihn jedoch positiv. Sich dem tiken u. auch Gelegenheitsgedichte von L. in Willen des Vaters unterordnend, begann L. der »Vossischen Zeitung«. Er übersetzte aus ein Medizinstudium in Freiburg/Br., wechdem Englischen u. Französischen u. verfasste selte nach dessen Tod 1896 in München zur 1777 eine Bühnenbearbeitung von Heinrich Philosophie u. durch den Einfluss Theodor Leopold Wagners Kindermörderinn. Lipps zur Psychologie (1899 Promotion über Im Jahr zuvor hatte er Marie Friederike African Spirs Erkenntnislehre, Druck Gießen Voß (1753–1828) geheiratet, die Tochter von 1900). Als Literat u. Literaturkritiker war er Christian Friedrich Voß (1724–1795), in des- Teil der Schwabinger Boheme. Klages’ zusen Haus L. einige Zeit lebte. Mit ihr hatte er nehmend antijüd. Haltung im Kreis um Aleine Tochter u. zwei Söhne, von denen der fred Schuler u. Stefan George führte zum jüngere (Christian Friedrich) nach dem Tod Bruch der Jugendfreundschaft. Die 1928 der Mutter die »Vossische Zeitung« leitete. verfasste Autobiografie (Einmal und nie wieder. 1779 avancierte L. vom Assistenten des Ber- Prag 1935) endet mit dieser Trennung (1899), liner Münzdirektors (seit 1770) zum König- unter der L. zeitlebens litt. Um 1900 wandte lichen Münzdirektor in Breslau u. war nicht er sich dem Zionismus zu. Nach kurzer Ehe mehr schriftstellerisch tätig. Vielmehr be- mit Maria Stach von Goltzheim, aus der zwei gann er nach dem Tod Gottholds, dessen Töchter hervorgingen (Judith, geb. 1901, u. Sämmtliche Schriften (Bln. 1793–1825) heraus- Miriam, geb. 1902), verließ die Aristokraten-

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Leßmann

tochter Mann u. Kinder. L.s polit. Engage- März 1933 emigrierte L. ins tschech. Mariment insbes. in der Frauenrechtsbewegung enbad, wo er in der Nacht vom 30. auf den 31. spiegelt sich u. a. in dem Werk Schopenhauer, Aug. 1933 einem NS-motivierten MordanWagner, Nietzsche. Einführung in die moderne schlag zum Opfer fiel. deutsche Philosophie (Mchn. 1906) wider. Nach Weitere Werke: Haarmann. Die Gesch. eines einer mehrjährigen Tätigkeit als Reform- Werwolfs. Bln. 1925. Neubearb. Ffm. 1989. – Der pädagoge nahm L. erneut seine Studien auf, jüd. Selbsthaß. Bln. 1930. Neudr. Mchn. 1984 u. zunächst bei Edmund Husserl in Göttingen, 2004. – Verfluchte Kultur. Mchn. 1921. Neudr. dann in Hannover, wo er sich 1908 an der TH Mchn. 1981. Ausgaben: T. L. Wortmeldungen eines Unerhabilitierte u. eine Privatdozentur für Philoschrockenen. Publizistik aus drei Jahrzehnten. Lpz. sophie annahm, die erst 1922 in eine a. o. Eismeer der Professur umgewandelt wurde. Trotz seiner 1987. – Ich warf eine Flaschenpost ins Gesch. Ess.s u. Feuilletons. Ffm. 21989. – T. L. pazifist. Haltung arbeitete er während des Ausgew. Schr.en. 3 Bde., Bremen 1995–2003. – Ersten Weltkrieges als Lazarettarzt u. ver- Nachtkritiken. Kleine Schr.en 1906–07. Gött. 2006. fasste die Schriften Philosophie als Tat (Gött. Literatur: Rainer Marwedel: T. L. 1872–1933. 1914) u. Europa und Asien (Bln. 1918. Neuaufl. Eine Biogr. Darmst./Neuwied 1987. – Elke-Vera 2007). Letztere sowie sein philosoph. Haupt- Kotowski (Hg.): ›Sinngebung des Sinnlosen‹ – Zum werk Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen Leben u. Werk des Kulturkritikers T. L. (Mchn. 1919. Nachdr. 1983), in dem er die (1872–1933). Hildesh. 2006. Elke-Vera Kotowski objektive Kausalität der Geschichte verneint, wurden von der Militärzensur verboten. L.s Leßmann, Daniel, * 10.12.1793 Soldin/ Denken kreiste stets um das Faktum der Not Neumark, † Aug./Sept. 1831 bei Wittenu. deren Abwendung (Notwende). Ebenso berg. – Romancier, Erzähler, Lyriker, rückte die Auseinandersetzung mit dem AnDramatiker, Übersetzer, Verfasser histotisemitismus u. dem eigenen Judentum zurischer u. biografischer Studien. nehmend ins Blickfeld. Als Sozialist verband L. das Schicksal der Juden mit denen des L., Sohn jüd. Eltern, studierte nach dem Bemodernen Proletariats. Seine Utopie bestand such des Joachimsthalschen Gymnasiums in aber nicht allein in der Verwirklichung einer Berlin Medizin, nahm 1813 als freiwilliger klassenlosen Gesellschaft, vielmehr betrach- Jäger an den Befreiungskriegen teil u. fand tete L. das starre Gefüge der Nationalstaat- 1817 eine Anstellung als Hofmeister in Wien, lichkeit als überkommen. Mit seiner zweiten 1820 in Verona. In der Wiener Zeit veröfFrau Ada, geb. Abbenthern, gründete er 1920 fentlichte L. erste literar. Arbeiten. 1823 die Freie Volkshochschule Hannover-Linden. kehrte er nach Berlin zurück, wo er sich – Öffentliche Bekanntheit erlangte Lessing stellungslos – ganz der Literatur widmete. u. a. als Prozessbeobachter im Fall des Mas- Regelmäßig schrieb er für den »Gesellschafsenmörders Fritz Haarmann (1924) sowie als ter« u. den »Freimüthigen«, zwei der beVerfasser eines psycholog. Hindenburg-Por- deutendsten Literaturzeitschriften der Reträts (Bln. 1925) anlässlich dessen Nominie- staurationszeit. rung zum Reichspräsidentschaftskandidaten. Als geistreicher Erzähler, Lyriker u. SchilLetzteres löste eine Hetzkampagne antisemi- derer fremdländischer (v. a. ital.) Kultur u. tischer u. nationalist. Kreise aus, die zum Historie sowie als Übersetzer (Manzonis Die Verlust seiner Professur führte. In den fol- Verlobten u. Rosinis Die Nonne von Monza) fand genden Jahren arbeitete L. als Journalist u. er in Literaturkreisen zwar Anerkennung – so Lehrer. Kritisch kommentierte er das Erstar- schätzten ihn Goethe u. Heine –, finanziellen ken des Nationalsozialismus. So prophezeite Erfolg erlangte er mit seinen Büchern jedoch er 1925 den »künftigen Nero hinter einem nicht. Schwermut, Ironie u. Satire prägten Zero« (Hindenburg) u. prognostizierte in immer stärker das Werk des vom Leben tief Texten wie Kleines Lexikon fürs Dritte Reich enttäuschten Dichters. Der Roman Das Wan(1932 im Generalanzeiger für Dortmund ab- derbuch eines Schwermüthigen (2 Bde., Bln. gedruckt) das drohende Inferno. Anfang 1831/32. Bd. 1 neu hg. v. Hermann Conradi

Lettau

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1885) ist ein eindrucksvolles Zeugnis der Spannung zwischen Humor u. Weltschmerz. Am 2.9.1831 fand man L., der sich von Berlin mit einem neuen Manuskript auf eine Fußreise zur Verlegersuche nach Leipzig u. Dresden begeben hatte, zwischen Kropstädt u. Wittenberg an einem Baum erhängt. Weitere Werke: Amathusia. Bln. 1824 (L.). – Luise v. Halling. 2 Bde., Bln. 1827. Neudr. mit einem Nachw. v. Hartmut Vollmer. Stgt./Zürich 1991 (Briefr.). – Cisalpinische Bl. 2 Bde., Bln. 1828. – Novellen. 4 Bde., Bln. 1828–30. – Die Heidenmühle. 2 Bde., Bln. 1833 (R.). – Nachl. 3 Bde., Bln. 1837/38. Literatur: Heinrich Laube: Moderne Charakteristiken. Bd. 2, Mannh. 1835, S. 330–333. – Hermann Conradi: D. L. (1885). In: Ders.: Ges. Schr.en. Bd. 2, Mchn./Lpz. 1911, S. 135–181. – Hertha Schumann: D. L. Diss. Lpz. 1920. – H. G. Reissner: D. L. in Vienna and Verona. In: Year Book of the Leo Baeck Institute 14 (1969), S. 203–214. – Hartmut Vollmer: D. L. u. sein Roman ›Luise von Halling‹. In: Corvey-Journal 4 (1992), H. 3, S. 18–25. Hartmut Vollmer

Lettau, Reinhard, * 10.9.1929 Erfurt, † 17.6.1996 Karlsruhe. – Literaturwissenschaftler, Erzähler, Essayist, Lyriker u. Herausgeber. L., 1929 als Sohn eines Kaufmanns in Erfurt geboren, besuchte das Internat Schloss Bieberstein in der Rhön u. legte dort 1949 das Abitur ab. Nach einem Studium der vergleichenden Literaturwissenschaft in Heidelberg u. Harvard promovierte er 1960 in Harvard über Utopie und Roman. Es folgten Jahre akadem. Lehrtätigkeit in den USA; 1965 ließ L. sich als freier Schriftsteller u. Außenlektor des Hanser Verlags in Berlin nieder, wo er sich auf Seiten der Studentenbewegung politisch stark engagierte. Wegen eines heftigen Angriffs auf die Westberliner Presse wäre er als amerikan. Staatsbürger beinahe des Landes verwiesen worden. Ab 1967 lehrte L. als Professor für vergleichende Literaturwissenschaft an der University of California in San Diego. Nach seiner Emeritierung aus Gesundheitsgründen kehrte er 1991 mit seiner dritten Ehefrau Dawn Lettau, geb. Teborski, nach Deutschland zurück. Zunächst lebten sie in Niedersachsen, ab 1993 in Berlin. Bei

einem Besuch in Karlsruhe anlässlich des 90. Geburtstags seiner Mutter stürzte L. u. kam ins Krankenhaus. Dort starb er an den Folgen einer Lungenentzündung. Beigesetzt wurde er auf dem Friedhof III der Jerusalems- u. Neuen Kirchengemeinde in Berlin-Kreuzberg neben der Grabstätte E. T. A. Hoffmanns. L. debütierte 1962 mit dem viel beachteten Erzählband Schwierigkeiten beim Häuserbauen (Mchn.). Diese oft parabelartigen Geschichten nehmen ihren Ausgang von scheinbar alltägl. Situationen u. steigern sie mithilfe einer grotesken Logik ins Absurde. Die Erwartung des Lesers wird auf witzig-amüsante Weise enttäuscht; der Erzähler bietet keinerlei Deutungshilfe. In seinem nächsten Buch Auftritt Manigs (Mchn. 1963) hat L. diese Abstinenz des Erzählers noch weiter getrieben. Der Protagonist Manig, von dessen mannigfaltigen Verwandlungen diese Geschichten erzählen, ist zu einer Art »Strichmännchen« (Hans Magnus Enzensberger) abstrahiert, dessen Reaktionen quasi pantomimisch vorgeführt werden. Nach dieser Methode verfährt L. auch im folgenden Buch, Feinde (Mchn. 1968), mit dem er zgl. in eine neue Dimension vorstößt: Seine Grotesken sind nun unverkennbar politisch geworden. L. karikiert das zum Selbstzweck erstarrte militärische Ritual u. macht in den »Paralipomena zum Feind« deutlich, dass Feindbilder nicht auf das Militär beschränkt sind. »Die Widerlegung autoritären Denkens durch seine absurden Konsequenzen« (Karl-Heinz Bohrer) ist nicht nur das Thema dieses implizit auf den Vietnamkrieg bezogenen Buchs, sondern seines gesamten Werks. L. hat zwischen schriftstellerischer Tätigkeit u. polit. Handeln stets getrennt. 1970 antwortete er auf eine Umfrage, dass er im Moment nicht schreiben könne »und immer weniger Verständnis habe für solche, die es können und nicht vielmehr stattdessen kämpfen«. In dieser Zeit beteiligte er sich in Amerika an polit. Aktionen, insbes. gegen den Vietnamkrieg, die ihm gerichtl. Auseinandersetzungen u. sogar einen kurzen Gefängnisaufenthalt eintrugen. L.s Überzeugung, dass die Literatur Leben u. Erlebtes nicht unverfälscht abbilden kann, zeigte sich u. a. in seiner entschiedenen Geg-

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nerschaft zur sog. »Neuen Subjektivität«. Fremde u. Heimat, Europa u. Amerika, VerStattdessen setzte er auf die wahrnehmungs- gangenheit u. Gegenwart. Die Konsequenz, u. bewusstseinsverändernde Funktion der mit der hier richtungsweisende Auskünfte Literatur u. stellte als Literaturprofessor verweigert werden, verweist letztlich auf L.s Sprachanalyse in den Mittelpunkt seiner Ar- Schreiben selbst. Denn auch für den Schriftbeit. In seiner Dokumentation Täglicher Fa- steller L. gilt, dass sein Schreiben »nicht die schismus. Amerikanische Evidenz aus 6 Monaten Exekution etwas vorher Bekannten« ist, wie (Reinb. 1971) trug er unter einem sprach- u. er in einem Aufsatz über Franz Kafka schrieb, ideologiekrit. Ansatz zusammen, was die »sondern die Erprobung des Materials, das es amerikan. Presse sechs Monate lang an Aus- dabei herstellt«. 1994 wurde L. mit dem Berliner Literaturschreitungen u. Untaten berichtete, u. zeigte, preis ausgezeichnet, im Jahr darauf erhielt er wie sie es tat. Erst 1977 veröffentlichte L. wieder ein li- für seinen ersten Roman Flucht vor Gästen terar. Buch, Frühstücksgespräche in Miami (Mchn. 1994) den Bremer Literaturpreis. Mit (Mchn.), das thematisch u. methodisch an diesem letzten zu seinen Lebzeiten erschieFeinde anknüpft. Eine Gruppe abgehalfterter nenen Buch fügt L. seinem erzählerischen südamerikan. Diktatoren trifft sich im Exil in Werk eine neue Note hinzu: Er erweitert Miami u. kommt ins Gespräch. In diesen seinen anekdotischen, stark pointierten Erkurzen Dialogen werden keine polit. Realien, zählstil um epische u. philosoph. Zwischensondern reaktionäre Denkmuster u. Sprach- töne u. verleiht dem zwischen Kalifornien u. klischees vorgeführt; porträtiert wird nicht Deutschland, Heimat u. Fremde, Zuhause- u. die herrschende Generalität, sondern die Unterwegssein pendelnden Erzähler u. ProtHerrschaftssprache selbst. Von Anhängern agonisten erkennbar autobiogr. Züge. einer engagierten realist. Schreibweise heftig Weitere Werke: Gedichte. Bln. 1968. – Immer angegriffen, bewies L. mit diesem Werk, dass kürzer werdende Gesch.n & Gedichte & Porträts. eine politisch engagierte Literatur weder Mchn. 1973. – Der Irrgarten. Gesch.n u. Gespräche. polit. Wirklichkeit abbilden noch polit. Posi- Lpz. 1980. – Herr Strich schreitet zum Äußersten. tionen artikulieren muss, sondern die Wahr- Gesch.n. Ausw. u. Nachw. v. Ellen Dinter. Stgt. nehmung gerade dadurch schärfen kann, dass 1982. – Einf. in die Logistik. In: Akzente 5 (1989) (E.). – Herausgeber: Die Gruppe 47. Ber., Kritik, Posie sich jeden Kommentars enthält. Den Dialemik. Ein Hdb. Neuwied/Bln. 1967. logen gelang der Sprung auf die TheaterAusgabe: Alle Gesch.n. Hg. Dawn Lettau u. bühne (Urauff. Gießen 1978), die HörspielHanspeter Krüger. Mchn. 1998. fassung wurde 1979 mit dem Hörspielpreis Literatur: Helmut Baldauf: Gespräche mit R. L. der Kriegsblinden ausgezeichnet. In: SuF 33 (1981), S. 1086 ff. – Sibylle Cramer: R. Als nach einem Essayband mit dem an L.s Porträt des Künstlers als alter Mann. In: SuF 47 Kafka anschließenden Titel Zerstreutes Hin- (1995), H. 1, S. 147–150. – Rüdiger Wischenbart: R. ausschaun. Vom Schreiben über Vorgänge in direkter L. In: KLG. – Jörg Magenau: R. L. In: LGL. Nähe oder in der Entfernung von Schreibtischen Tatjana Michaelis / Robert Steinborn (Mchn. 1980) wiederum acht Jahre kein neues literar. Buch von L. erschienen war, argLeuchsenring, Franz (Michael), auch: F. wöhnte die Kritik, der Fluchtpunkt seiner Lizern, Liserin, Leisring, Leysering, »immer kürzer werdenden Geschichten« sei * 13.4.1746 Kandel/Elsass, † Anfang Febr. das Schweigen selbst. Doch in seinem Er1827 Paris. – Repräsentant der Briefkulzählband Zur Frage der Himmelsrichtungen tur des 18. Jh.; Herausgeber. (Mchn. 1988) setzt L. sein stilistisch souveränes u. sprachlich präzises Spiel mit der L., Sohn eines wohlhabenden Apothekers, »vielsagenden Absurdität« (Joachim Kaiser) trat 1768 als Unterhofmeister in den Dienst unter einem neuen themat. Blickpunkt fort. der »Großen Landgräfin« Karoline von HesMit literar. Witz entfaltet er die Fragwür- sen-Darmstadt u. wurde bald Mittelpunkt digkeit der Himmelsrichtungen zu einer des sog. Darmstädter Kreises der Empfindpolit. Relativitätstheorie u. zur Dialektik von samen. Unter diesen glückl. Zeitabschnitt

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setzte Goethe mit der als Polterabendscherz in: Jb. für dt. Gesch. 7 (1978), S. 764–766. – U. V. zu Herders Hochzeit (1773) verfassten Farce Kamber: L. In: Dictionnaire des journalistes de von Pater Brey, die L. als »Apostel der Emp- langue française (1631–1789). Grenoble 1976 ff. – findsamkeit« lächerlich machte, einen Angelika Beck: ›Der Bund ist ewig‹: zur Physiognomie einer Lebensform im 18. Jh. Erlangen 1982 Schlusspunkt. Über Homburg (Graf Friedrich (Diss. Erlangen-Nürnberg, 1982). – Holger JacobV.), Mainz (Gräfin Caroline Friedrike von Friesen: Profile der Aufklärung. Friedrich Nicolai – Wartensleben), Koblenz (Sophie von La Ro- Isaak Iselin. Briefw. (1767–82). Ed., Analyse, che), Düsseldorf (Friedrich Heinrich Jacobi), Komm. Bern u. a. 1997. – Bonstettiana. Hist.-krit. Amsterdam (Marc-Michel Rey), Den Haag Ausg. der Briefkorrespondenz Karl Viktor v. Bon(Diderot) u. Antwerpen reiste L. nach Paris. stettens u. seines Kreises 1753–1832. Bd. 2, Mithilfe der Beziehungen, die er auf der Reise 1773–76. Hg. Doris u. Peter Walser-Wilhelm. Bern nach Frankreich, aber ebenso systematisch 1997. – Sigrid Habersaat: Verteidigung der Aufschon auf seinen beiden Schweizerreisen klärung. Friedrich Nicolai in religiösen u. polit. (1771/72, 1772/73) geknüpft hatte, nahm er Debatten. Würzb. 2001. – Christine Pezzolisofort Kontakt mit Rousseau u. anderen auf, Bonneville: Vie intellectuelle et Lumière à Darmstadt entre 1770 et 1774. Baroque, Empfindsamkeit edierte 1775 bis 1779 das »Journal de Lecet Sturm und Drang. Villneuve d’Ascq 2002 (Diss. ture« u. etablierte sich als Homme de lettres. Université de Paris IV-Sorbonne, 2000). – Robert 1782 hielt er sich wieder zumeist in Berlin u. Seidel: Literar. Kommunikation im TerritorialHomburg auf. 1784 berief ihn Friedrich II. staat. Funktionszusammenhänge des Literaturbezum Philosophielehrer seines Großneffen triebs in Hessen-Darmstadt zur Zeit der SpätaufFriedrich Wilhelm nach Potsdam, doch klärung. Tüb. 2003. – Johann Heinrich Merck: machte eine Intrige dieser Tätigkeit bald ein Briefw. Hg. Ulrike Leuschner in Verb. mit Julia Ende. 1785 reiste L. nochmals in die Schweiz. Bohnenegel, Yvonne Hoffmann u. Amelia Krebs. 5 Bis zum 12.12.1786 blieb er in Zürich, wo er Bde., Gött. 2007. Urs Viktor Kamber sich mit Lavater, dem er Schwärmerei u. Kryptokatholizismus vorwarf, zerstritt. Wieder in Berlin, isolierte er sich immer mehr, Leucht, Leuchtius, Valentin, auch: Theowurde erneut in Hofintrigen verwickelt u. dorus Cycneus, Cygnaeus, * um 1550 1792 wegen seiner Verbindung zu Jakobinern Hollstadt, † Juni/Juli (Beerdigung 2.7.) ausgewiesen. Die letzten Jahre lebte er küm- 1619 Frankfurt/M. – Katholischer Theomerlich im Pariser Exil, zerstritten mit seiner loge, Verfasser geistlicher Schriften. Frau, der Berliner Hofdame Elisabeth von Bielefeld, u. geriet mehr u. mehr in Verges- Vermutlich studierte L. am Würzburger Jesuitenkolleg u. an der Mainzer Universität, senheit. L. war ein unermüdlicher literar., pädagog. bevor er 1576 zum Priester geweiht wurde. In u. polit. Vermittler, der in Verbindung mit Mainz erlangte er wohl auch die Magister- u. den bedeutendsten Persönlichkeiten seiner theolog. Doktorwürde. Nach einer LehrtäZeit stand. Seine Isolation steigerte sich je- tigkeit in Neustadt/Main war er Seelsorger in doch in dem Maße, in dem sein gesell- Bernstadt/Oberlausitz, Erfurt (1582) u. Neuschaftspolit. Engagement, namentlich im stadt/Saale (1584). Am 24.11.1588 kam er ins Rahmen der Berliner Aufklärung, der Illu- Kapitel zu S. Bartholomaeus in Frankfurt/M., minaten u. der Jakobiner, radikaler wurde. wo ihm seit 1597 als kaiserl. BücherkomBis zu den in Paris sich verlierenden Spuren missar die Visitation der Buchmesse oblag u. nimmt dementsprechend auch die Zahl der er kath. Messkataloge für den Buchhandel neueren Forschungsbeiträge ab. Am besten herausgab. Seine guten Beziehungen zur ist L.s Darmstädter Zeit erforscht. Das Bild Obrigkeit sowie seine Reformbemühungen der Berliner Jahre bleibt immer noch un- brachten ihm 1594 die Titel eines kaiserl. Pfalzgrafen u. eines apostol. Protonotars ein. scharf. Literatur: Urs Viktor Kamber: Briefe v. u. an F. Während einer Romreise (1600/01) lernte er M. L. 1. Halbbd.: Briefe. 2. Halbbd.: Komm. Stgt. Kardinal Baronius kennen, dessen Annales er 1976 (mit Biogr. u. Bibliogr.). – Dazu: Walter Grab teilweise übersetzte (Annales ecclesiastici: Das

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ist KirchenHistorien [...]. 3 Bde., Mainz Mainz 1603. – Index novus librorum inprimis catholicorum theologorum, aliorumque celebriorum 1599–1602). L.s schriftstellerische Tätigkeit wurde vom auctorum quarumcunque facultatum et linguarum gleichen Reformeifer getragen wie sein seel- [...]. Hg. V. L. Mainz 1606. Ausgaben: Zwo christl. cath. u. in Gott reinem sorgerisches Wirken; z.T. ist sie eindeutig wort wollgegruendte Predigten uber das acht u. gegenreformatorisch-kontroverstheologisch zwantzigste Capitel des trewen Propheten Ezeausgerichtet. Unter seinen frühen Schriften chielis [...]. Mainz 1583. Internet-Ed.: VD 16. – sind neben Predigten u. Gebetbüchern (z.B. Wieder den Erbfeindt den Türcken ein christl. Güldnes Himmelwäglein. Mainz 1584) v. a. warnung u. Buszpredigt [...]. Mainz 1595. InterHeiligenleben, so die auf Surius’ Sammel- net-Ed.: VD 16. – Speculum historicum miraculowerk zurückgehende Haraeus-Übersetzung rum praeliorum et victoriarum [...]. Mainz 1599. Vitae sanctorum Das ist, Leben der fürnembsten Internet-Ed.: VD 16. Literatur: Bibliografien: VD 16. – VD 17. – Heiligen Gottes (Köln 1593. Internet-Ed.: VD 16) u. das Marienleben Vita D. Mariae Virginis: Frank-Rutger Hausmann: Bibliogr. der dt. ÜberDas ist Leben der Heiligen Jungfrawen unnd Mutter s.en aus dem Italienischen [...]. Bd. 1, Tüb. 1992, Gottes (Freib./Schweiz 1596), u. Exempel- Nr. 0081, 0457, 0581, 0993. – Weitere Titel: Wolfgang Brückner: Der kaiserl. Bücherkommissar V. L. sammlungen (z.B. Speculum miraculorum ss. In: AGB 3 (1960), Sp. 97–180 (mit Werkverz.). eucharistiae, oder historische Beschreibung vieler Wieder abgedr. in: Ders.: Gesch.n u. Gesch. [...]. vortrefflichen Miraculn [...]. Mainz 1590 u. ö. Würzb. 2000, S. 219–308. – Heribert Raab: Apo[Bernardino Rossignoli:] Stimulus virtutum, das stol. Bücherkommissare in Frankfurt am Main. In: ist: Stachel der Tugenten [...]. Übers. V. L. Köln Histor. Jb. 87 (1967), S. 326–354. – Anton P. Brück: 1598 usw.) anzutreffen. Um 1600 wächst der V. L. In: NDB. – W. Brückner: Zwei Bildnisse des V. Anteil der Polemik, bes. durch die Auseinan- L. In: Ders.: Gesch.n u. Gesch. [...]. Würzb. 2000, dersetzungen mit dem lutherisch geworde- S. 309 f. Guillaume van Gemert / Red. nen Augustiner Gottfried Raab (Kurtzer [...] Gegenbericht, auff deß Gottfried Raben [...] Revo- Leunclavius, Johannes, latinisiert aus: J. cation Predigt. Mainz 1601. Replica oder be- Lewenklaw, Löwenklau u. a. (zur Naweiszliche Ableinung der nichtwerdigen Defension mensvielfalt s. Fögen 1994, zur sprachSchrifft [...]. Mainz 1602) u. dem Marburger geografischen Herleitung des Namens aus Theologen Johann Winckelmann (Eigentliche »Loevelingloh« s. Babinger 1919 u. a.), Beweisung. Mainz 1604), wobei L. sich seines auch: J. Amelsburnus, * vermutlich Juli Pseudonyms bediente. In seinen letzten Le- 1541 Coesfeld/Westfalen, † wahrscheinbensjahren überarbeitete er seine älteren ha- lich Juni 1594 Wien. – Philologe, Jurist, giograf. Schriften u. Exempelbücher u. ver- Historiker, Gräzist, Byzantinist, Turkueinte sie zu den großen Sammelwerken (Vitae loge. Sanctorum. Mainz 1611. Viridarium Regium. Aus einer im Kirchspiel Amelsbüren bei Mainz 1614), die seinen Nachruhm begrünMünster ansässigen Familie stammend, studeten: Sie wurden noch bis zur Mitte des 18. dierte L. zunächst in Wittenberg (hier imJh. neu aufgelegt. L.s Einfluss auf die zeitgematrikuliert am 3.8.1555 als »Johannes Lunössische wie auf die spätere geistl. Literatur uenklo [statt Lunenklo] Cosfeldianus«), andes Barock (u. a. Martin von Cochem) ist noch schließend während seiner Tätigkeit von kaum erforscht. Febr. 1562 bis Dez. 1565 als Lehrer am PaeWeitere Werke: Güldnes Himmelwäglein, oder dagogium, auf Johann Posthius folgend, in christl. catholisch Betbüchlein [...]. Mainz 1584. – Heidelberg (immatrikuliert in der ArtistenCatechesis ss. missae. Oder: Kurtze Erklährung der fakultät am 29.8.1562, eingeschrieben als heiligen Meß [...]. Mainz 1590. – Miracula s. imaginum oder histor. Beschreibung vieler herrl. Mi- Magister artium an der Juristischen Fakultät raculn u. Wunderwercken [...]. Mainz 1591. – Sa- am 18.6.1563; 1565 auch tätig als Dekan der lutatio angelica. Der englisch Gruß, durch frag u. Artistenfakultät) u. in Basel (1566). Zu seinen Antwort richtig erkläret [...]. Mainz 1593. – Ma- bedeutendsten Lehrern gehörte neben Meriale, oder Marien predigt, auff alle hohe Fest [...]. lanchthon v. a. der Gräzist Wilhelm Xylander,

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für dessen Nachfolge auf der Heidelberger Professur der als Kryptocalvinist geltende L. nach dem Tod des calvinist. Kurfürsten Friedrich III. (1576) nicht mehr in Frage kam. Zwischen 1565 u. 1594 unternahm der unstete, von Gönnern abhängige Gelehrte ausgedehnte Reisen mit unterschiedl. Mandaten verschiedener Auftraggeber, wobei Gönner u. solche, die es werden sollten, in der Regel aus den zahlreichen Werkwidmungen zu erschließen sind (s. die [unvollst.] Liste bei Metzler 1985). Zwei oberital. Auftragsreisen waren verbunden zunächst mit einem frühen Aufenthalt am savoyischen Hof zu Turin – hier Erwerb ausgezeichneter Italienischkenntnisse u. Beginn der lat. Übersetzung der Opera omnia Xenophons (Basel 1569 u. ö., wobei die Ausg. Ffm. 1594 Beigaben von Friedrich Sylburg, Paulus Schede, Marquard Freher, Karel Utenhove u. Henri Estienne erhalten hat) – u. später mit längerer Anwesenheit am Hof der Este in Ferrara (1580/81). Hinzu kamen u. a. weiträumige Deutschlandreisen. Die letzte ging 1588 in Gesellschaft des Landeshauptmanns von Mähren Karl von Zierotin (Zˇerotín d.Ä.), des Schwagers Wallensteins u. wichtigen Förderers des südosteurop. Protestantismus, von Prag aus u. führte durch ost-, nord- u. westmitteldt. Städte u. Landschaften; sie diente offensichtlich dem Zusammenhalt unter den calvinist. Glaubensverwandten u. polit. Gesinnungsfreunden. Von bes. Bedeutung für L. wurde die Teilnahme an der von Kaiser Rudolf II. angeordneten Gesandtschaftsreise des mähr. Adeligen Heinrich von Liechtenstein nach Stambul (1584/85). Sie regte ihn zu näherer Beschäftigung mit osman. Geschichte an, deren Resultat v.a. die bis heute als wertvolle Quellenwerke geltenden Annales Sultanorum Othmanidarum wurden, denen in der 2. Auflage seine Pandectes Historiae Turcicae angefügt sind (Ffm. 1588. 21596; bei der dt. Fassung Neuwe Chronica Türckischer Nation [Ffm. 1590] orientierte sich L. am Aufbau der Annales, ergänzte die türk. Quellen jedoch um weitere eigene Manuskripte). Eine umfassende Darstellung des Lebens u. Wirkens L.’, die auf sich warten lässt, wäre fast gleichbedeutend »mit einer solchen der kryptocalvinistischen Bestrebungen späthu-

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manistischer ›Ketzer‹ auf deutschem, schweizerischem und mährischem Boden« (Babinger 1951) u. böte zudem einen weitreichenden Einblick in die – die bildungssoziolog. Voraussetzungen (Trunz 1931, 1968) ergänzenden – mentalitätsgeschichtlichen u. konfessionspolit. Grundlagen des dt. Späthumanismus (dazu Babinger 1949, bes. S. 121). Überdies unterstreicht schon die zeitgenöss. Rühmung der in Melchior Adams calvinist. Vitae (Heidelb. 1615) festgehaltenen »eruditio rara« L.’ die Schwierigkeit zu entscheiden, ob sie mehr auf dem Gebiet der türk. oder byzantin. Geschichtsstudien, in der Geschichte des röm. Rechts oder aber in der Übertragung wichtiger spätgriech. Autoren besteht (Babinger 1949 bzw. 1951). Denn zu den Übersetzungen Xenophons kamen hinzu: Ausgaben (von Manuskripten bes. aus der Bibliothek des Johannes Sambucus) u. Übertragungen von Schriften der kappadok. Kirchenväter Gregor von Nyssa (Basel 1567) u. Gregor von Nazianz (Opera. Basel 1571) sowie des griech. Historikers Dio Cassius, dessen Übersetzung durch Xylander sein Schüler L. verbessert herausgab (Historiae romanae Libri XLVI. Ffm. 1592), u. byzantin. Historiker, ferner des Fürstenspiegels Praecepta educationis regiae u. von sieben Orationes des Kaisers Manuel II. Palaiologos (Basel 1578; Migne PG 156 [1866], Sp. 309–384 [griech.-lat.] bzw. Sp. 385–562 [griech.-lat.]). Überragendes leistete L. auch mit der Apologia pro Zosimo in seiner lat. Übersetzung der Zosimi Historiae Novae libri VI, eines der letzten heidn. Historiker der Antike u. scharfen Kritikers Konstantins (Basel 1576); die Apologie des Zosimos trug L. mit allen seinen Werken die päpstl. Verbannung auf den Index der verbotenen Bücher 1596 u. nochmals 1758 ein (Babinger 1951). Darüber hinaus lieferte er wie mit den Annales Sultanorum mit seinen Historiae Musulmanae Turcorum (Ffm. 1591. Dt. Neuwer Musulmanischer Histori, Türckischer Nation [Ffm. 1590, 1595]) erste substantielle Beiträge zur Orientalistik, durch die ihm, auf der Grundlage gediegener Philologie, in der modernen Geschichtsschreibung das Prädikat »einer bis dahin unbekannten Unterscheidungsfähigkeit« zugesprochen und eine »Wende« in der zeitgenöss. Türkenliteratur

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zugeschrieben worden ist (Herrmann 1961, Schulze 1978, Göllner 1978). »Von bleibendem Wert« (Troje 1971) sind schließlich Adnotationes im Anhang seiner Ausgabe der Ecloga sive Synopsis (Basel 1575), mit der L. früh eine – in den Paratitlorum libri tres (mit Prolog an Marquard Freher. Ffm. 1593) u. dem Ius Graeco-Romanum (mit Vorrede M. Frehers. Postum Ffm. 1596; siehe EH I/1) fortgesetzte – rechtswiss. Aktivität entfaltete. Eingedenk seiner Editionen jurist. Texte – »fast alle editiones principes« (Fögen) – u. der Pionierleistungen auf dem Felde der byzantinist. Historiografie wurde 1981, überwiegend unter Beteiligung byzantinist. Gelehrter, die Löwenklau-Gesellschaft mit Sitz in Frankfurt/M. gegründet. Die Korrespondenz indes, die L. in der Gelehrtenrepublik der Zeit eingebettet zeigen könnte, harrt einer breiträumigen Sicherung u. Erschließung ebenso wie die zeitgenöss. Rezeption L.’ bspw. unter den zahlreichen Dichterjuristen des 17. Jh., wofür etwa Julius Wilhelm Zincgrefs lat. Kommentare seiner Emblematum ethico-politicorum Centuria (1619) ein signifikantes Beispiel sein können: 76 wörtl. Übernahmen aus den Übersetzungen des Dio Cassius, Xenophons u. Manuels II. Palaiologos sind centonisch verarbeitet (Mertens/Verweyen 1993, Bd. 2, Register s. v.). Zudem wäre zu untersuchen die rezeptionsgeschichtl. Reichweite des von L. mit eigenem Vorwort postum herausgegebenen u. seinem Mäzen Karl von Zierotin gewidmeten Kriegs Discurs (Ffm. 1593. 1594) von Lazarus von Schwendi, der dem jungen L. nicht allein den frühen Aufenthalt am Hof von Turin ermöglichte, sondern ihm darüber hinaus langjährige Förderung angedeihen ließ. Demgegenüber scheinen die im engeren Sinne literar. Hervorbringungen nur bedingt ins Gewicht zu fallen. Es handelt sich um, z.B. in den Kirchenväter-Ausgaben enthaltene, griech. u. lat. bzw. ins Lateinische übertragene Poemata u. Widmungsgedichte, aber auch um einzelne humanist. Freundschaftsgedichte in Distichenform wie etwa im Anhang des Gedichtbuches Poematum recentiorum volumen von Hieronymus Arconatus (Wien 1591, S. 237 f.). Sie wären in eine biogr. Darstellung L.’ natürlich einzubeziehen, um sei-

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nen Rang in der »Respublica litteraria« angemessen zu charakterisieren. Weitere Werke: Belisario Acquaviva d’Aragona: De principum liberis educandis liber. Basel 1578. – Ahmad ibn Sı¯ rı¯ n: De Significatis et Eventis Insomniorum. Ffm. 1577. – Antonio Bonfini: Symposion Trimeron sive De pudicitia coniugali et virginitate dialogi III. Basel 1572. – Michael Glykas: Annales. Basel 1572. – Sigismund v. Herberstein: Rerum Moscoviticarum Commentarii. Basel 1571 (mit v. L. geschriebenem ›Commentarius de Bellis Moscorum‹ u. Widmungsgedicht). – Constantinus Manasses: Annales. Basel 1573. – Manuel (I) Komnenos: Legatio ad Armenios sive Theoriani cum Catholico disputatio. Basel 1578. – Michael Marullus Tarchaniota: Byzantini poematium, De Principum Institutione. Basel 1578. Literatur: Bibliografien: Pierre Bayle: Dictionnaire historique et critique. Ed. 2, Bd. 2, Rotterdam 1702, S. 1794 f. (Art. ›Leonclavius‹). – Peter Baylens Hist. u. Crit. Wörterbuch. Übers. Johann Christoph Gottsched. Tl. 3, Lpz. 1743, S. 88 f. – Labouderie in: Biographie universelle 24 (1819), S. 355 f. – E. G. in: Nouvelle biographie générale 31 (1862), Sp. 471–473. – Catalogue général des livres imprimés de la Bibliothèque nationale 96 (1929), Sp. 864–869. – Carl Göllner: Die europ. Türkendrucke des 16. Jh. Bukarest/Baden-Baden 1968, Nr. 1828, 1876, 1867, 1868 u. ö. (Druckbeschreibungen u. -nachweise). – Catalogus Translationum et Commentariorum. Bd. 2, hg. v. Paul Oskar Kristeller. Washington D.C. 1971, S. 85–89, bes. S. 89. – VD 16. – EH I/1, 2005, S. 133–137, 140 (Drucknachweise nach M. Freher). – (Hinweise auf handschriftl. Korrespondenz) s. Karl Halm: Collectio Camerariana 20, n. 126–165. In: Catalogus Codicum Latinorum Bibliothecae Regiae Monacensis. Secundum Andreae Schmelleri Indices composuerunt Carolus Halm et Gulielmus Meyer. Bd. II, Tl. I, Mchn. 1874, S. 235 (Briefe L.’ an Joachim II. Camerarius ab 1591, teils lat., teils ital.). – Gerstinger (über L. in der Korrespondenz des Sambucus). – Weitere Titel: Melchior Adam: Ioannes Leonclavivs. In: Vitae Germanorum Philosophorum. Heidelb. 1615, S. 379–381. – Roderich v. Stintzing: Gesch. der dt. Rechtswiss. I. Abt. Mchn./Lpz. 1880, S. 239 f. – Adalbert Horawitz: J. Löwenklau. In: ADB. – Franz Babinger: Die türk. Studien in Europa bis zum Auftreten Josef v. Hammer-Purgstalls. In: Die Welt des Islams 7 (1919), H. 1/2, S. 103–129, hier S. 108. – Ders.: Herkunft u. Jugend Hans Lewenklaw’s. In: Westfäl. Ztschr. 98/99 (1949), S. 112–127. – Ders.: J. Lewenklaws Lebensende. In: Basler Ztschr. für Gesch. u. Altertumskunde 50 (1951), S. 5–26. – Ders.: Nachtr. In: Westfäl. Ztschr.

Leupold 105 (1955), S. 97. – Santo Mazzarino: Das Ende der antiken Welt. Mchn. 1961, hier S. 98–104. – Ehrenfried Herrmann: Türke u. Osmanenreich in der Vorstellung der Zeitgenossen Luthers (Diss. masch.). Freib. i. Br. 1961, S. 230–247. – Erich Trunz: Der dt. Späthumanismus um 1600 als Standeskultur (1931). In: Dt. Barockforsch. Hg. Richard Alewyn. Köln/Bln. 31968, S. 147–181. – Hans Gerstinger: Die Briefe des Johannes Sambucus (Zsamboky) 1554–84. Wien 1968, S. 102 u. Register s. v. – Hans Erich Troje: Graeca Leguntur. Die Aneignung des byzant. Rechts [...] in der Jurisprudenz des 16. Jh. Köln/Wien 1971, S. 110–114, 264–269 u. ö. – Winfried Schulze: Reich u. Türkengefahr im späten 16. Jh. Mchn. 1978, hier S. 28. – C. Göllner: Die Türkenfrage in der öffentl. Meinung Europas im 16. Jh. Bukarest/Baden-Baden 1978, S. 26 f., 154 f., 229 f. – G. Grimm in: Biogr. Lexikon zur Gesch. Südosteuropas 3 (1979), S. 27 f. – Dieter Metzler: J. L. In: Westfäl. Lebensbilder 13 (1985), S. 19–44. – Ders.: J. Löwenklau. In: NDB. – Marie-Pierre Burtin: Un apôtre de la tolérance: l’humaniste allemand J. Löwenklau dit L. In: BHR 52 (1990), S. 561–570. – D. Mertens u. Theodor Verweyen: J. L. In: Julius Wilhelm Zincgref, Emblemata ethico-politica. Hg. dies. Bd. 2, Tüb. 1993, S. 242 f. – Marie Theres Fögen: J. Löwenklau. In: Rechtshistor. Journal 13 (1994), S. 197–201. – Douglas J. Osler: Homer Dethroned. Ebd., S. 202–218. – Bernard H. Stolte: The Lion’s Paws. Observations on J. L. (1541–94) at Work. Ebd., S. 219–233. – Konstantin G. Pitsakis: L. Neo-Graecus. Ebd., S. 234–243. – Ludwig Burgmann: Editio per testamentum. Ebd., S. 455–479 (mit häufiger Nennung L.’). – Dagmar Drüll: Heidelberger Gelehrtenlexikon 1386–1651. Bln./Heidelb./New York 2002, S. 356–357. – Jaumann Hdb. – EH, I/1, S. 50, 60, 76, bes. S. 79, 123; I/2, S. 903/914, 1080, 1145. Theodor Verweyen

Leupold, Dagmar, * 23.10.1955 Niederlahnstein. – Lyrikerin, Prosa-Autorin, Übersetzerin. L., aufgewachsen in Niederlahnstein u. Mainz, studierte Germanistik, Philosophie, Theaterwissenschaft u. Klassische Philologie. Sie lehrte zeitweise an Schule u. Universität u. promovierte 1993 in Vergleichender Literaturwissenschaft. Als freie Schriftstellerin lebt sie mit ihrer Familie bei München. Für ihr Werk, das sich von Gedichten über Erzählungen, Kurzprosa u. Essay bis zum Roman spannt, erhielt sie zahlreiche Preise, so 1992

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den »aspekte«-Literaturpreis für das Romandebüt Edmond: Geschichte einer Sehnsucht (Ffm. 1992) u. 1995 den Montblanc Literaturpreis für die Erzählung Biß. L.s Gedichte, bisher in vier Bänden erschienen – Wie Treibholz (Pfaffenweiler 1988), Eccoci qua (Hbg. 1993), Die Lust der Frauen auf Seite 13 (Ffm. 1994), Byrons Feldbett (Ffm. 2001) – behandeln existenzielle u. poetologisch-ästhet. Themen, die typischerweise miteinander verschränkt werden (z.B. Lieben/Schreiben). Dabei changiert L. zwischen hochgradig selbstreflexivem, intertextuellem Schreiben u. eher schlicht anmutender Alltagsdichtung: eine Ambivalenz, die auch ihre Romane kennzeichnet. Entsprechend attestiert die – negative – Literaturkritik ihren Texten immer wieder einerseits Kopflastigkeit, Artifizialität, Konstruiertheit, andererseits Banalität, Trivialität, Klischeehaftigkeit. Seit Anfang der 1990er Jahre publiziert L. in regelmäßigen Abständen v. a. Romane: Edmond: Geschichte einer Sehnsucht, Federgewicht (Ffm. 1995), Ende der Saison (Ffm. 1999), Eden Plaza (Mchn. 2002), Nach den Kriegen. Roman eines Lebens (Mchn. 2004), Grüner Engel, blaues Land (Mchn. 2007). Ihre zentralen Themen sind menschl. Beziehungen, Begegnungen, Kommunikation u. deren Scheitern. Dabei handeln die Texte immer auch von sich selbst. Vor allem in Edmond, der Geschichte einer scheiternden Liebe zwischen einer dt. Kunsthistorikerin, der Ich-Erzählerin, u. einem amerikan. Sportlehrer, wird die Struktur linearen, handlungs- u. ereignisorientierten Erzählens durch die Reflexion des Schreibprozesses systematisch gesprengt. Die radikale Identifikation von Kunst u. Leben, Lesen u. Lieben kommt in späteren Romanen nicht mehr vor. Obgleich auch diese durch (selbst-) reflexive u. intertextuelle Texelemente geprägt sind, die zuweilen von der Kritik als zu angestrengt bildungslastig bemängelt werden, setzen sie verstärkt realist. Erzählstrategien ein. In Federgewicht u. Ende der Saison steht jeweils ein rätselhaft anziehender Mann im Zentrum eines Geflechts gestörter menschl. Beziehungen, einmal ein Behinderter, der nahe am Kitsch als eine Art blinder Seher figuriert, einmal ein dt. Wahlitaliener u. Frauenheld. In Eden Plaza erzählt eine Ich-

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Erzählerin ihrem Liebhaber die illusionslose Geschichte ihrer gescheiterten Ehe, wobei Erzählen/Schreiben u. Lieben erneut eng aufeinander bezogen sind. Auch Grüner Engel, blaues Land ist eine Geschichte von der Liebe u. ihrer Zerbrechlichkeit. Mit dem teils autobiografisch, teils dokumentarisch angelegten Roman über ihren Vater, Nach den Kriegen, wendet L. sich verstärkt historisch-gesellschaftl. Themen zu, obwohl die Problematik menschlicher Beziehungen, hier zwischen Tochter u. sich entziehendem Vater, zentral bleibt. L.s Kurzprosa u. Essayistik (Destillate. Ffm. 1996. Alphabet zu Fuß. Essays zur Literatur. Mchn. 2005) ist gekennzeichnet durch scharfen Blick u. präzise Darstellung. In dem breiten Themenspektrum werden immer wieder sprachlich-literar. Probleme diskutiert, so z.B. in einer Poetikvorlesung der Kieler Liliencron-Dozentur L.s (in: Alphabet zu Fuß. Mchn. 2005). Weitere Werke: 11.9. – 911. Bilder des neuen Jahrhunderts. Gött. 2002 (zus. mit Kerstin Hensel, Marica Bodrozˇic´). – Nachmittagstee in der Via Bocca di Leone. In: Einsam sind alle Brücken. Autoren schreiben über Ingeborg Bachmann. Hg. Reinhard Baumgart. Mchn. 2001, S. 16–23. – Textlandschaften. In: Roman oder Leben. Postmoderne in der dt. Lit. Hg. Uwe Wittstock. Lpz. 1994, S. 264–272. – Übers.en ital. Werke v. Giorgio Agamben, Daniele del Giudice, Cesare Pavese. Literatur: Nikola Roßbach: ›Wir sind aus Papier‹: Selbstreflexivität u. Intertextualität in D. L.s Romanen ›Edmond: Geschichte einer Sehnsucht‹, ›Federgewicht‹ u. ›Ende der Saison‹. In: Zwischen Trivialität u. Postmoderne. Lit. v. Frauen in den 90er Jahren. Hg. Ilse Nagelschmidt u. a. Ffm. u. a. 2002, S. 167–183. – Ralf Georg Czapla: D. L. In: KLG. – Carolina Franzen: Gefühlte Gesch. unterm Skalpell. Die Familienromane ›Nach den Kriegen‹ v. D. L. u. ›Am Beispiel meines Bruders‹ v. Uwe Timm. Mchn. 2007. Nikola Roßbach

Leutelt, Gustav, * 21.9.1860 Josefsthal bei Gablonz/Böhmen, † 17.2.1947 Seebergen bei Gotha. – Erzähler. L. wurde 1889 Nachfolger seines Vaters an der Volksschule seines Heimatorts; er unterrichtete an mehreren Orten, seit 1907 in OberRosenthal bei Reichenberg. Nach der Pensio-

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nierung (1922) lebte er 1926–1945 in Gablonz, nach der Vertreibung in Thüringen. L. gehörte zu den sudetendt. Heimatdichtern von überregionaler Bedeutung. Sein Werk zeugt von der Liebe zur Isergebirgslandschaft, aber auch von genauer Kenntnis der Bevölkerungsschichten u. ihrer Arbeitswelt (erworben v. a. während seiner Tätigkeit an einer Fortbildungsschule in Kamnitztal; ab 1902 war L. auch Mitarbeiter der Zeitschrift »Deutsche Arbeit«). Es hält die geschichtl. Position des böhmischen Sudetengrenzlands in formstrengem, zur Mythisierung der Figuren tendierendem Erzählen fest. Schon L.s Schilderungen aus dem Isergebirge (Reichenberg 1899) spiegeln, v. a. nach dem Vorbild Stifters, Menschenschicksale an der als beseelt aufgefassten Natur. Der Roman Die Königshäuser (Bln. 1906) kontrastiert Kindheitsglück in seiner Ursprungsnähe mit der Schuldverfallenheit des Erwachsenenalters. Während der Zeit des NS-Sudetengaus entstand eine Sagenerzählung (Doktor Kittel. Karlsbad-Drahowitz 1943). 1936 erhielt L., der von völk. Literaten wie Kolbenheyer geschätzt wurde, den Eichendorff-Preis der Goethe-Stiftung. Weitere Werke: Das zweite Gesicht. Bln. 1911 (E.). – Hüttenheimat. Bln. 1919 (R.). – Der Glaswald. Gablonz 1925 (R.). – Das Buch vom Walde. Reichenberg 1928. Ausgabe: Ges. Werke. 3 Bde., Karlsbad-Drahowitz 1934–36. Literatur: Robert Herzog: G. L. Reichenberg 1925. – Josef Nadler: Studien zu einem G. L.-Bild. In: Dt. Heimat 8 (1932). – Wilhelm Pleyer: G. L., der Dichter des Isergebirges. Kaufbeuren/Neugablonz 1957. – Josef Mühlberger: Denken wie der Wald rauscht. In: Ders.: Ex corde lux. Mannh. 1962, S. 1–79. – Valerie Hanus: L. In: NDB. Christian Schwarz / Red.

Leutenegger, Gertrud, * 7.12.1948 Schwyz. – Erzählerin, Lyrikerin, Dramatikerin. Nach der Ausbildung zur Kindergärtnerin hielt sich L. zu Studienzwecken in Florenz, Berlin u. Tokio auf. 1977–1979 absolvierte sie ein Regiestudium an der Zürcher Schauspielakademie. Sie erhielt u. a. den Preis der

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Jury des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs hängenden Gärten entgegensetzt, so auch in 1978 u. den Meersburger Droste-Preis 1979 Der Kontinent (Ffm. 1985), wo ein Dorf gesowie den Preis der Schweizerischen Schil- schildert wird, das durch chem. Spritzmittel zerstört wird. In Pomona (Ffm. 2004) wird aus lerstiftung 1986. Als sich L. mit ihrem Roman Vorabend der Erinnerungsperspektive einer Frau, die (Ffm.) 1975 in die Literatur einschrieb u. ihren Mann verlassen hat u. in die Stadt gegleichzeitig mit Verena Stefan (Häutungen) im zogen ist, vom Alltag in einem Tessiner Dorf dt. Sprachraum intensiv rezipiert wurde, be- berichtet. Diese Schilderung wird überlagert deutete das eine Wende hin zu einer breiten einerseits vom schreckl. Leben der Ich-ErTradition weibl. Schreibens. Bis dahin war zählerin mit ihrem Mann, der trinkt, u. anSchweizer Autorinnen der Durchbruch zu dererseits von den farbigen Kindheitserinneüberregionaler Bedeutung fast nur als »Ein- rungen der Ich-Erzählerin an ihre Mutter u. zelkämpferinnen« gelungen – Cécile Lauber, die Apfelfrau. Cécile Ines Loos, Regina Ullmann vor u. Erika Weitere Werke: Lebewohl, Gute Reise. Ein Burkart, Gertrud Wilker, Silja Walter nach dramat. Poem. Ffm. 1980. Urauff. Wuppertal 1984. dem Zweiten Weltkrieg. L.s Themen sind je- – Wie in Salomons Garten. Düsseld. 1981 (L.). – Das doch nicht feministisch. Im Mittelpunkt ihrer verlorene Monument. Ffm. 1985 (Ess.s u. Skizzen). Texte steht häufig ein weibl. Ich, das Grenz- – Acheron. Ffm. 1994. – Gleich nach dem Gotthard situationen durchläuft u. Initiationsprozesse kommt der Mailänder Dom. Gesch.n u. andere Prosa. Ffm. 2006. – Matutin. Ffm. 2008 (R.). erlebt. Vorabend fokussiert die AufbruchsLiteratur: Elizabeth Boa: G. L. A Feminist stimmung der 1960er u. 1970er Jahre in der Synthesis. In: Rejection and Emancipation. Writing Erinnerung u. den Zukunftsträumen eines in German-Speaking Switzerland. Hg. Michael jungen Mädchens am Vorabend einer De- Butler u. Malcolm Pender. New York 1991, monstration in der Zürcher Innenstadt. My- S. 202–221. – Henriette Herwig: Moderne Totenthos u. Politik, Traum u. kritisch beleuchtete klage im Kleide postmoderner Bilderflut? Zu G. L.s Gegenwart, bibl. Bilder u. Kindheitssequen- ›Meduse‹. In: DU 45 (1993), H. 1, S. 38–53. – zen aus dem Heimatdorf in der Innerschweiz Margrit V. Zinggeler: Literary Freedom and Social schließen sich in Ninive (Ffm. 1977) zu einer Constraints in the Works of Swiss Writer G. L. komplex aufgefächerten Romankonstruktion Amsterd. 1995. – Rika Felka: Das geschriebene zusammen. Die Liebesgeschichte zwischen Bild. Über G. L. Wien 1996. – Vesna Kondric HorFabrizio u. »Ich«, dem ital. »Fabriklerkind« vat: Der eigenen Utopie nachspüren. Zur Prosa der deutschsprachigen Autorinnen in der Schweiz u. dem Mädchen aus besserem Haus, wurzelt zwischen 1970 u. 1990 dargestellt am Werk G. L.s in der Kindheit u. wird in einer gemeinsamen u. Hanna Johansens. Bern u. a. 2002. – Petra Ernst: Nacht, an der Schwelle zum Erwachsenwer- G. L. In: LGL. – Riki Winter u. Martin Zingg: G. L. den, nochmals evoziert. L.s poetische, gele- In: KLG. Pia Reinacher / Rosmarie Zeller gentlich rauschhaft gesteigerte Sprache, die sich vom ersten Roman an in Symbolen, Archetypen u. Traumbildern kristallisiert, verLeuthold von Seven. – Minnesänger u. dichtet sich in der Erzählung Meduse (Ffm. Sangspruchdichter, erste Hälfte bis Mitte 1988) entscheidend. Diese Studie eines des 13. Jh. Menschwerdungsprozesses greift wie auch schon im »dramatischen Poem« Komm ins Die Manessische Handschrift (C) überliefert für Schiff (Ffm. 1983) auf die Konstellation von L. elf Strophen, von denen je zwei in HandNinive zurück. L. skizziert die endgültige schrift A dem jungen Spervogel u. Niune Trennung von Fabrizio u. »Ich«, die zgl. zum zugewiesen werden. Handschrift A schreibt Abschied von der Kindheit wird. L. ein umfangreiches Korpus mit 47 Strophen Immer wieder thematisiert L. den Gegen- zu, doch sind davon 39 in anderen Handsatz von männl. Macht u. Naturzerstörung u. schriften (v. a. B u. C) anderen Autoren (Wisdem Aufstand des Weiblichen dagegen, so in senlo, Walther von der Vogelweide, Heinrich Der Gouverneur (Ffm. 1981), wo die Ich-Er- von Rugge, Dietmar von Aist usw.) zugeordzählerin der Macht des Gouverneurs ihre net. Das in Handschrift C überlieferte Œuvre

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von Friedrich dem Knecht ist sogar vollstän- tätsbibl. Heidelberg. Wiesb. 1972, S. 128–132. – dig in das L.-Korpus von Handschrift A Burghart Wachinger: Sängerkrieg. Untersuchunübernommen worden. Diese Überlieferungs- gen zur Spruchdichtung des 13. Jh. Mchn. 1973, situation legt nahe, dass L. als fahrender S. 128–131. – Volker Mertens: L. v. S. In: VL. Sandra Linden Künstler oder adeliger Dilettant in einer Art Repertoireheft auch Strophen anderer Sänger gesammelt u. vorgetragen hat – diese These Leuthold, Heinrich, * 5.8.1827 Wetzikon wird auch durch die Spottstrophe Reinmars bei Zürich, † 1.7.1879 Zürich; Grabstätte: des Fiedlers (Lied 3) auf L. gestützt, die ihm ebd., Friedhof Rehalp. – Lyriker, Epiker. ironisch Kompetenz in einer ganzen Liste von Liedarten zuspricht, was ihm jedoch nur bei L. wuchs als begabter Sohn seit 1831 geden eigenen Verwandten Lob einbringt. Ob L. trennter Eltern auf, die bäuerl. Herkunft ein reiner Nachsänger war oder auch selbst waren. Sein Besuch der drei deutschschweizerischen Hochschulen führte nicht zum judichtete, bleibt unsicher. Die Miniatur in C zeigt L. mit dem adeligen rist. Abschluss. In Basel hörte er lieber WilStandessymbol des Falken im Gespräch mit helm Wackernagel über dt. Literatur u. der Dame, in 7 diskutiert das Ich die Not des Burckhardt über Geschichte. In Zürich lernte fahrenden Sängers, der auf Lohn für seine er die vermögende Lina Trafford-Schulthess Kunst angewiesen ist. L. stammt vielleicht kennen, mit der er längere Reisen in die frz. aus dem steiermärkischen Saven (heute: Sa- Schweiz, nach Savoyen u. Italien (Lieder von der fenau) nahe Graz, doch spricht gegen diese Riviera. Entstanden 1857) unternahm; die Lokalisierung, dass Reinmar in seiner Ver- jahrelange Liebesbeziehung (1849–1870) zog spottung L.s den Ortsnamen »Seven« auf stets das Interesse von L.s Biografen auf sich. Auf Burckhardts Rat ging L. 1857 nach »neven« reimt. München, wo er im Dichterkreis der KrokoDiejenigen Strophen, die nicht unter andile als »Alligator« Aufnahme fand u. Bederem Autornamen überliefert sind, ergeben kanntschaften mit Geibel, Heyse, Dahn, nur bedingt eine stilistische Einheit: In der Lingg, Wilbrandt, Böcklin, Kaulbach u. anMotivwahl u. der Kombination von Minnederen pflegte. 1862 gab er bei Cotta die Fünf sang u. Sangspruch steht L. in der Tradition Bücher französischer Lyrik in deutscher NachdichWalthers, Lied 2 mit Responsionsreimen u. tung zus. mit Geibel heraus u. war auch in die 16-versige Strophe in Nr. 7 zeugen von dessen Münchener Dichterbuch mit dreizehn gehobener Formkunst, das einstrophige TaLiedern vertreten. L.s Redakteurstätigkeit gelied schlägt Wolfram’sche Töne an. Wähbegann 1860 bei der »Süddeutschen Zeirend die Minnelieder nach dem frühlingstung«, 1864 wechselte er zur »Schwäbischen haften Natureingang ein leidendes Ich in der Zeitung«; obwohl für den polit. Teil zustänHoffnung auf Lohn zeigen, diskutieren die dig, arbeitete er vorwiegend als Literatur- u. Spruchstrophen das Verhältnis von Tugend Kunstkritiker. Seit 1866 wieder in München, u. Reichtum (8) sowie Veränderungen des war L. zum Inbegriff des Dichters u. KünstLiteraturbetriebs (7). In einem Spruch (8) lers geworden: eine Rolle, die er zur Geltung nennt das Ich, die mangelnde geistige Reife zu bringen wusste. Ein Liebesverhältnis mit junger Männer kritisierend, einen griech. Baronin Alexandrine von Hedemann, einer König, der nur dem Bart, jedoch nicht dem Großnichte Alexander von Humboldts, Verstand nach erwachsen ist. Wahrscheinli- führte zu einem letzten produktiven Nachcher als die Identifizierung mit dem fränk. sommer, bevor Paralyse (mit GehirnerweiKaiser von Byzanz Robert von Courtenay chung) über ihn hereinbrach. 1877 wurde er (1221–1228) ist, dass L. gar keinen konkreten in die kantonale Irrenanstalt Burghölzli bei Zeitgenossen vor Augen hatte. Zürich eingeliefert. Kurz vor seinem Tod erAusgabe: KLD, Bd. 1, S. 245–249. schien eine von L.s Freunden Gottfried Keller Literatur: Walter Blank: Die kleine Heidelber- u. Jacob Bächtold besorgte Ausgabe seiner ger Liederhs. Cod. Pal. Germ. 357 der Universi- Gedichte (Frauenfeld 1879).

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Literatur: Carl Emil Hoffmann: Das Leben des L.s bedeutendste Leistungen liegen im Bereich der Lyrik. Neben Hölderlin u. Platen Dichters H. L. Basel 1935. – Werner Günther: waren Herwegh, Heine u. v. a. Lenau seine Dichter der neueren Schweiz. Bern/Mchn. 1963, Vorbilder; er selbst ist als wichtiger Vorläufer S. 155–180. – Rätus Luck: H. L. In: Bürgerlichkeit u. Unbürgerlichkeit in der Lit. der Dt. Schweiz. Hg. Meyers anzusehen. Vom Geschmack der Zeit Werner Kohlschmidt. Bern/Mchn. 1978, S. 67–81. getragen sind die Trinklieder, die See- und – Jakob Berchtold: H. L. – der Liederdichter aus Waldlieder (u. a. Waldfrieden, Wilde Rosen) u. das Wetzikon. In: Heimatspiegel 8 (1995), S. 50–55. – beliebteste von L.s Gedichten: Der Waldsee Renate Werner: Flucht in die Gesch. Ästhet. His(»Wie bist du schön, du tiefer, blauer See«): torismus in Gedichten v. Hermann Lingg, H. L. u. immer wieder in Anthologien nachgedruckt, Conrad Ferdinand Meyer. In: Vormärz – Nachhat es L.s verhallenden Nachruhm lebendig märz. Hg. Norbert Otto Eke. Bielef. 2000, erhalten. In den Liebesliedern geht er selten S. 299–330. Peter Skrine / Red. über konventionelle Motive hinaus. Als bewusster Platen-Epigone schrieb L. ebenfalls Levezow, (Jakob Andreas) Konrad, * 3.9. Ghaselen, die Freude am virtuosen Sprach1770 Stettin, † 13.10.1835 Berlin. – Arspiel sowie seinen introvertierten Pessimischäologe; Dramatiker. mus zum Ausdruck bringen. Die Formkünstelei, die ihn in die Nähe der Parnassiens Als Sohn des Konrektors des Stettiner Gymrückt, kann aber den oft gerügten Mangel an nasiums bezog L. zunächst die theolog. FaGehalt nicht immer verdecken. Wo er als kultät in Halle, verlegte aber unter dem EinEpiker auftritt (Penthesilea. Entstanden 1868/ fluss Friedrich August Wolfs seinen Studien69. Hannibal. 1871), setzt er sich der Fallhöhe schwerpunkt auf die Altphilologie. Nach vom Monumentalen ins Banale, Lächerliche mehrjähriger Tätigkeit als Hauslehrer in aus. Pommern wurde er 1795 in Göttingen proIn den Oden u. Elegien nach antikem moviert u. lehrte 1797–1824 am FriedrichMuster gelangen L. Gebilde von hoher stilist. Wilhelm-Gymnasium in Berlin. 1801 veröfQualität. Die alkaische Ode Der Zürchersee fentlichte er eine Denkschrift für Friedrich Gilly (1872) erhebt bei bewusster Anlehnung an (Bln.), den Lehrer Schinkels. 1804 erhielt er Klopstock Anklage gegen den vorherrschen- die Professur für Mythologie u. Altertumsden Materialismus, das selbstgerechte Mit- kunde an der Akademie der Künste in Berlin telmaß u. Philistertum der Schweiz, die, u. veröffentlichte die Abhandlung Ueber die »dem Göttlichen in Kunst und Leben abge- Familie des Lykomedes, in der Königlich Preußiwendet, / Nur noch den Götzen des Tages schen Antikensammlung (Bln. 1804), die in huldigt«. Diese zeitkrit. Thematik führt in Fachkreisen große Beachtung fand. Seit 1821 der sapphischen Ode Dem Schweizervolk (1872) Mitaufseher des Königlichen Antiken-Kabizu einem großartigen Plädoyer für die »ver- netts u. der Kunstkammer, wurde L. 1828 edelnde Kunst«, in die Warnung mündend: zum Direktor des Antiquariums ernannt. »Ausgetilgt aus der Weltgeschichte / wird ein L. wurde v. a. durch seine Publikationen Volk, das kleinlichen Krämersinnes, / Bar der zur Altertumskunde bekannt. Daneben verIdeale, versinkt in Tierheit.« Gleichwohl öffentlichte er eine Reihe von vornehmlich verbirgt sich seine Liebe zur Heimat nicht antiken u. histor. Themen gewidmeten (z.B. Heimweh, die sechs Schweizer Sonette, Theaterstücken, die zumeist in Berlin aufge1853–57, oder die Ballade Die Schlacht bei führt wurden: so das Trauerspiel Iphigenia in Sempach). – Als Übersetzer frz. u. engl. Lyrik Aulis (Urauff. 1804. Ersch. Halle 1805. Neu (Lamartine, Hugo, Béranger, Byron, Moore, hg. v. Klaus Gerlach. Hann. 2008), das FestBurns) hat L. mit u. ohne Geibels Mitwirkung spiel Des Epimenides Urteil (Urauff. 1815) u. Hervorragendes geleistet. Ratibor und Wanda, für dessen Uraufführung Ausgabe: Ges. Dichtungen. Hg. Gottfried Boh- 1819 Schinkel das Bühnenbild entwarf. nenblust. 3 Bde., Frauenfeld 1914.

Weitere Werke: Leben u. Kunst der Frau Margareta Schick, Kgl. Sängerin. Bln. 1806. – Die Fischer v. Colberg. Bln. 1814 (D.). – Ueber archäolog.

383 Kritik u. Hermeneutik. Bln. 1834. – Die Baukunst, ein Monolog. Bln. 1816. – Albrecht Dürer. Lyr. Dichtung. Musik v. Felix Mendelssohn-Bartholdy. Bln. 1828. Literatur: Julius Eduard Hitzig. Gelehrtes Berlin im Jahre 1825. Bln. 1826. – NND 13, 2, S. 865–871. – Hella Reelfs: L. In: NDB. – Klaus Gerlach: Nachw. zu: Iphigenia in Aulis. Hg. ders. Hann. 2008. Sabine Lorenz / Red.

Levita, Elias, auch: Elijah Bachur (Boher) Levita, Elijah ben Ascher ha-Levi, Elijah Levi ben Ascher Aschkenasi (Sohn des Ascher, gen. der Deutsche), Beiname: Tishbi, * 13.2.1469 Ipsheim bei Neustadt/ Aisch, Mittelfranken, † 28.1.1549 Venedig. – Humanist u. jüdischer Grammatiker. Der Vater, Rabbi Ascher Levita, wahrscheinlich sein wichtigster Lehrer, zog wenige Jahre nach der Geburt seines jüngsten von neun Söhnen nach Neustadt/Aisch, wo L. seine Jugend verbrachte. Aufgrund der Ausweisung der Juden aus Neustadt ging L. schon um 1492/94 nach Italien, um 1496 kam er nach Venedig, zwischenzeitlich hielt er sich in Padua (um 1504 u. danach) u. anderen ital. Städten als Lehrer des Hebräischen auf. Seit 1509 lebte er in Rom, wo der Kardinal u. Ordensgeneral der Augustiner Egidio Antonini da Viterbo, ein berühmter Theologe, der auch Johann Reuchlin unterstützt hat, ihn u. seine Familie in seinen Haushalt aufnahm, um bei ihm Hebräischunterricht zu nehmen u. die Kabbala zu studieren. Auch der dt. Theologe Johannes Eck hat während seines Aufenthaltes in Rom 1523 kurze Zeit bei L. gelernt. Er selbst lernte Latein u. beschäftigte sich mit humanist. Studien. Daneben kopierte u. übersetzte er aramäische u. hebräische Manuskripte u. verfasste in jidd. Sprache Liebesromane in Versen nach nicht-jüd. Vorlagen (das Bovo-Buch, später Paris un Wiene). Nachdem er infolge der Eroberung u. Plünderung Roms durch das Heer Karls V. (»Sacco di Roma«, 1527) sein Hab u. Gut verloren hatte u. einige seiner Kinder konvertiert oder den Plünderungen zum Opfer gefallen waren, kehrte L. nach Venedig zurück, wo er zeitweise als Korrektor in der Offizin Daniel

Levita

Bombergs tätig war, der auch hebr. Schriften druckte, u. seinen Hebräischunterricht wieder aufnahm. Erneut waren hohe Geistliche wie der Patriarch von Aquileja unter seinen Schülern. Im Winter 1540/41 bis Herbst 1541 hielt L. sich in der Freien Reichsstadt Isny (Allgäu) als Gast des luth. Pastors u. Hebraisten Paul Fagius auf, anschließend wahrscheinlich auch kurz in Konstanz. Auch in Isny erteilte er Sprachunterricht u. war bei der Einrichtung einer hebr. Druckerei u. der Herausgabe hebräischer u. jidd. Texte behilflich, unter denen v. a. auch seine eigenen Werke waren (Das Bovo-Buch. Isny 1541. Wörterbuch talmudischer Wörter. Isny 1541. Shemot Devarim. Nomenclatura Hebraica. Isny 1542. Nachdr. London 1988). Auch Melanchthon schätzte L.s Werke. Von 1543 bis zu seinem Tod lebte L. wieder in Venedig. L., der sich in erster Linie als »Grammatiker« verstand, war eine große Autorität in den weitverzweigten Kreisen der christl. Hebraisten u. Kabbalisten seiner Zeit (Girolamo Aleandro, Guillaume Postel, Lazare de Baïf, Johann Albrecht Widmannstetter, Sebastian Münster u. a.). Das Hauptwerk Massoret hamMassoret (Venedig 1538. Dt. Übers. mit Anmerkungen v. Johann Salomo Semler. Halle 1772) ist die erste krit. Darstellung der Masora. Seine im Rabbinat umstrittene Lehre, wonach die Vokal- u. Akzentzeichen des hebräischen AT nachtalmud. Ursprungs, also erst den Masoreten des 6./7. Jh. n. Chr. (den Autoren der Masora, d. i. das gesamte Korpus des textkrit. AT-Kommentars) zuzuschreiben seien u. daher nicht vom Sinai oder von Esra stammen konnten, wurde erst im 17. Jh. durch Bibelkritiker wie Louis Cappel überholt. Ein anderes Hauptwerk L.s ist seine hebr. Grammatik in Anlehnung an das Standardwerk von Moshe Kimchi (Erläuterungen zu der Grammatik des Moshe Kimchi. Pesaro 1508). Das Bovo-Buch, ein jidd. Liebesroman in Versen, entstand nach 1507, während der ihm mit guten Gründen, aber nicht zweifelsfrei zugeschriebene, ebenfalls jidd. Versroman Paris un Wiene (»Paris u. Wien«) nach dem sehr eng verwandten Bovo-Buch entstanden sein muss, wohl zwischen 1537 u. 1550 (Erstdr. 1556 in Sabbioneta bei Mantua, vgl. die Ed. v. Timm 1996).

Levitschnigg Weitere Werke: Grammatica hebraica. Rom 1518. Hebr.-lat. v. Sebastian Münster. Basel 1518. 1525. Bearb. Isny 1542. – Capitula cantici, specierum, proprietatum et officiorum. Rom 1527. – Anmerkungen zur Grammatik des David Kimchi u. mit dieser abgedr. Venedig 1545. Ausgaben: Shemot Devarim. Nomenclatura Hebraica. Isny 1542. Nachdr. London 1988. U. d. T. Nomenclatura Hebraica: Wörterbuch. JiddischDeutsch-Latein-Hebräisch, hg. v. W. Kaltenstadler. Hbg. 2004. – Paris un Viene. Francesco dalle Donne. Verona 1594. Nachdr. hg. v. Valerio Marchetti. Einl. v. Jean Baumgarten. Sala Bolognese 1988. – Anna Maria Babbi (Hg.): Paris e Vienna. Romanzo cavalleresco. Venedig 1991 (ital. Prosafassung des 15. Jh.). – Dies. (Hg.): Paris et Vienne. Romanzo cavalleresco del XV secolo. Mailand 1992 (frz. Prosafassung). – Chone Shmeruk (Hg.): Paris un’ Wiene. Jerusalem 1995. – Paris un Wiene. Ein jidd. Stanzenroman des 16. Jh. v. (oder aus dem Umkreis v.) E. L. Eingel., in Transkription hg. u. komm. v. Erika Timm u. Gustav A. Beckmann (nach der Ausg. Verona 1594). Tüb. 1996. – E. L. Bachur’s ›Bovo-Buch‹. Translation of the Old Yiddish Edition of Isny 1541. Introduction and Notes by Jerry C. Smith. Tucson 2003. Literatur: Bibliografie: VD 16. – Weitere Titel: Johann Andreas Michael Nagel (Praes.) / Johann Paul Schwab (Resp.): Dissertatio inauguralis de Elia Levita Germano. Altdorf 1745. – Salomon Buber: Leben u. Schr.en des E. Bachur, gen. L. (hebr.). Lpz. 1856. – Ludwig Geiger: Das Studium der hebr. Sprache in Dtschld. vom Ende des 15. bis zur Mitte des 16. Jh. Breslau 1870. – J. Levi: E. L. u. seine Leistungen als Grammatiker. Breslau 1888. – Wilhelm Bacher: Die hebr. Sprachwiss. vom 10. bis zum 16. Jh. Trier 1892. – Umberto Cassuto: Gli Ebrei a Firenze nell’età del rinascimento. Florenz 1918, S. 261–394. – Jomtov Ludovico Bato: L’immigrazione degli Ebrei tedeschi in Italia dal Trecento al Cinquecento. In: Scritti in Memoria di Sally Mayer (1875–1953). Jerusalem 1956, S. 19–34. – Gérard E. Weil: Une leçon de l’humaniste hébreu E. L. à son élève Sébastien Munster. In: Revue d’Alsace 95 (1956), S. 101–146. – Ders.: E. L. Humaniste et massorète (1469–1549). Leiden 1963. – Encyclopedia Judaica. Bd. 11, Jerusalem 1971, S. 132–135. – Helmut Dinse u. Sol Liptzin: Einf. in die jidd. Lit. Stgt. 1978. – R. Gerald Hobbs: E. L. In: Contemporaries, Bd. 2, S. 328 f. – Anna Maria Babbi: A proposito del ›Paris un Viene‹ di E. Bahur L. (›Francesco dalle Donne‹. Verona 1594). In: Le Forme e la Storia 2 (1989), S. 129–137. – Friedrich Wilhelm Bautz: E. L. In: Bautz. – Erika Timm: Wie E. L. sein Bovobuch für den Druck überarbeitete.

384 Ein Kap. aus der italo-jidd. Lit. der Renaissancezeit. In: GRM 72 (1991), S. 61–81. – Helmut Birkhan (Hg.): Die Juden in ihrer mittelalterl. Umwelt. Bern/Bln. 1992. – Jean Baumgarten: Introduction à la littérature yidich ancienne. Paris 1993. – HansJürgen Bachorski: Posen der Liebe. Zur Entstehung v. Individualität aus dem Gefühl im Roman ›Paris und Vienna‹. In: Mündlichkeit – Schriftlichkeit – Weltbildwandel. Hg. Werner Röcke u. Ursula Schäfer. Tüb. 1996, S. 371–391. – Armin Schulz: Die Zeichen des Körpers u. der Liebe. ›Paris un Viene‹ in der jidd. Fassung des E. L. Hbg. 2000. – Wulf-Otto Dreeßen: Jidd. Lit. In: RLW, Bd. 2, S. 199–203. Herbert Jaumann

Levitschnigg, Heinrich von, Ritter von Glomberg, * 25.9.1810 Wien, † 24.1.1862 Wien. – Schriftsteller, Journalist u. Publizist. Als Sohn eines wohlhabenden Rechtsanwalts genoss L. umfassenden Privatunterricht, der ihn auf eine diplomat. Laufbahn vorbereiten sollte. Früh wurde seine außergewöhnliche sprachl. Begabung beim Studium oriental. Sprachen entdeckt u. gefördert, der angestrebte Platz an der Orientalischen Akademie blieb ihm jedoch verwehrt. Die daraufhin lustlos betriebenen Studien der Rechte u. der Medizin brach L. ab, um sich 1830 als Kadett im Dragoner-Regiment König Ludwig von Bayern zu verpflichten. Intellektuell unterfordert, schied er vier Jahre später bereits aus dem aktiven Militärdienst aus, um sich in Wien als freier Schriftsteller zu versuchen u. seine Studien der Sprachen wieder aufzunehmen. Er fand Anschluss an den Kreis der Wiener Vormärz-Dichter, die sich im »Silbernen Kaffeehaus« trafen. Als Lyriker, der sich von den orientalisierenden Gedichten August von Platens u. Friedrich Rückerts inspirieren ließ, wurde L. u. a. von Franz Grillparzer, Nikolaus Lenau u. Anastasius Grün gefördert. Moritz Gottlieb Saphir gewann ihn als Redakteur für die Zeitschrift »Der Humorist«, in der L. auch erste eigene Gedichte unterbrachte. Daran anknüpfend, machte er in den 1840er Jahren mit Lyrikbänden auf sich aufmerksam, die Zeitgenossen dazu veranlassten, ihn in eine Reihe mit Grün u. Lenau zu stellen. Erinnerte der Ton in seinem lyr. Erstling Gedichte (Wien 1842) noch an

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Heinrich Heine, stellte L. im Band West-Östlich Schwert. Eine Zukunftsnovelle. Wien u. Lpz. 1864. (Wien 1846) sein virtuoses Sprachtalent unter – Concini. Romant. Oper in 4 Aufzügen. Wien Beweis. Trotz des Vorwurfs, dass die formale 1865. Literatur: Goedeke Forts. – Erwin Schilder: H. Fertigkeit nicht mit gedankl. Eigenständigkeit einhergehe, wurde der Band Brennende R. v. L. Sein Leben u. Werk. Diss. Wien 1935. – Liebe. Zwei Sträuße Gedichte (Wien 1852. 31867) Gustav Sichelschmidt: Liebe, Mord u. Abenteuer. Eine Gesch. der dt. Unterhaltungslit. Bln. 1969, mehrmals aufgelegt. Aber weder mit dem S. 181 f. – Norbert Bachleitner: Der engl. u. frz. Künstlerdrama Lord Byron (Wien 1843) noch Sozialroman u. seine Rezeption in Dtschld. Amsmit dem histor. Trauerspiel Löwe und Rose terd. 1993, S. 433–436. – Wolfram Klante: Der (Wien 1847) konnte er die hohen Erwartun- Tannhäuser u. Venusberg auf der Bühne des Mugen, die er als Lyriker geweckt hatte, als siktheaters. In: Der Tannhäuser in der Kunst. Hg. Dramatiker erfüllen. Das musikalische u. an Heinrich Weigel, ders. u. Ingrid Schulze. Bucha bei die Bedürfnisse Wiens angepasste Volksstück Jena 1999, S. 103–150. Thorsten Fitzon Der Tannhäuser (Wien 1852), das aus seiner Zusammenarbeit mit Franz von Suppé her- Lewald, (Johann Karl) August, auch: Kurt vorging, bescherte L. zwar einen Publikums- Waller, Hans Kindermann, Tobias Sonnerfolg, doch konnte er später nicht mehr an abend, * 14.10.1792 Königsberg, † 10.3. diesen anschließen. Sein erzählerisches, meist 1871 München. – Redakteur, Erzähler. historische u. soziale Stoffe aufgreifendes Werk nutzt zwar zuweilen internat. Roman- Aus einer alteingesessenen Königsberger vorbilder (Die Geheimnisse von Pest. Wien 1853. Kaufmannsfamilie stammend, wuchs L. in 2 1866), ist jedoch überwiegend von unter- den Bildungstraditionen des liberalen preuß. haltsamen u. sentimentalen Effekten be- Bürgertums auf. Durch den frühen Tod des stimmt u. diente vornehmlich der Sicherung Vaters u. den Sieg Napoleons über Preußen eines kargen Lebensunterhalts. Die beiden verarmte die Familie. L. musste das Studium Romane Der Diebsfänger (Wien 1860. Nachdr. zugunsten einer kaufmänn. Lehre bei seinem Hildesh. 2010) u. Die Leiche im Koffer oder ein Onkel David, dem Vater Fanny Lewalds, abzweiter Blondin von Namur (postum Wien 1863) brechen. Mit dem preuß. Judenedikt von sind frühe Beispiele des deutschsprachigen 1812 trat die gesamte Familie zum ProtesDetektivromans, denen ein gewisser Wert für tantismus über. 1813 beendete L. seine Lehre die Geschichte der Gattung u. der Figur des u. nahm an den Befreiungskriegen teil. In Warschau trat er 1815 in Beziehung zu liteDetektivs zukommt. rar. Kreisen, in Breslau 1816 zu BühnenauWeitere Werke: Rustan. Romant. Gedicht in 4 toren u. Schauspielern; erste dramat. VersuGesängen. Stgt. 1841. – Tausend u. eine Nacht. Dramat. Märchen in 6 Abt.en (ungedr. 1842). – Ein che folgten. In Wien, dann in Brünn u. München arMärchen. Pesth 1847 (G.e). – Der steinerne Gast. beitete L. als Schauspieler u. GelegenheitsPesth 1848 (G.e). – Kossuth u. seine Bannerschaft. Silhouetten aus dem Nachmärz in Ungarn. 2 Bde., journalist; seit 1824 leitete er das Nürnberger Pesth 1850. – Große Gedichte. Wien 1852. 21867. – Theater u. war Mitredakteur des »NürnberSoldatenfibel. Wien 21852. – Der Vampyr. Drama ger Correspondenten«. Eigene Gründungen mit Gesang u. Tanz in 3 Aufzügen (ungedr. 1852/ wie die »Unterhaltungen für das Theaterpu53). – Der Montenegriner o. Christenleiden in der blikum« in München oder die »Allgemeine Türkei. Pesth 1853 (R.). – Der Zeitungsjunge. Nach Theater-Revue« in Stuttgart scheiterten bald. dem Amerikanischen. 3 Bde., Pest u. a. 1855 (R.). – Erst mit »Europa. Chronik der gebildeten Turandot. Nüsse zum Aufknacken für schöne doch Welt«, der ersten dt. Zeitschrift mit eigenem feste Zähne. Eine Slg. v. 300 neuen Räthseln, ChaFeuilleton, hatte L. 1835 durchschlagenden raden u. Homonymen. Pest u. Wien [1860]. – Wien, wie es war u. ist. Federzeichnungen. Pest u. Wien Erfolg. Die geschickte Mischung aus behagl. 1860. – Der Schachmeister. Hdb. zum Selbstun- Salonplauderei u. populärwiss. Reiseberichterricht im Schachspiele. Pest u. a. [1861]. Auch ten verbarg manche jungdt. Gesellschaftsu. d. T. Der Schachmatador. 31886. – Der Gang zum kritik, die sonst der Zensur zum Opfer geGiftbaum. 2 Bde., Wien 1862 (R.). – Leier u. fallen wäre. Hier erschienen neben gefälligen

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Harmlosigkeiten auch Erstlingsarbeiten von Dramaturgie in den theaterkrit. Schr.en A. L.s Auerbach, Lenau, Hackländer, Fanny Lewald (1833–46). Diss. Gött. 1961. – Alfred Clemens u. Richard Wagner. Mit genauem Gespür für Baumgärtner: L. In: LKJL. – Rolf Selbmann: L. In: Markterfordernisse u. Publikumsgeschmack NDB. – Deborah Hertz: The Lives, Loves, and Novels of A. and Fanny L., the Converted Cousins from publizierte L. schnell geschriebene Romane Königsberg. In: Leo Baeck Institute Yearbook 46 u. Novellen, die ihm bald Ansehen u. sichere (2001), S. 95–112. Rolf Selbmann / Red. Einkünfte verschafften. Die frühen Erzählungen standen noch unter dem Eindruck der Schauerromantik u. E. T. A. Hoffmanns. Seit Lewald, Fanny, auch: Iduna Gräfin H... einem Hamburg-Aufenthalt 1828, dem er die H..., * 24.3.1811 Königsberg, † 5.8.1889 Verbindung mit Heine verdankte, folgte er Dresden; Grabstätte: Wiesbaden, Alter dem jungdt. Gattungs- u. Stilvorbild u. frz. Friedhof. – Romanschriftstellerin u. PuErfolgsautoren wie Dumas u. Hugo. Zeitge- blizistin. schichte u. gesellschaftl. Leben fanden nun Eingang in seine Novellen (3 Bde., Hbg. Die Tochter des angesehenen Königsberger 1831–33) um den aktuellen Polen-Stoff. His- Kaufmanns David Markus (seit 1812: Lewald) torische Romane wie Gorgona (2 Tle., Hbg. u. seiner Frau Zipora, geb. Assur, vollzog 1833) ahmten Scotts Erfolgsromane auf po- nach glückl. Kindheit 1828 den vom Vater pulärem Niveau nach. In Die Memoiren eines geforderten Übertritt zum Protestantismus. Banquiers (2 Tle., Stgt. 1836) u. Theater-Roman Ihr Streben nach Bildung u. einer ihren Ta(5 Bde., Stgt. 1841), die als Zeit- u. Sittenge- lenten gemäßen Tätigkeit führte zu familiämälde angelegt waren, fand L. Anschluss an ren Spannungen; erst 1843 durfte sie nach Berlin ziehen, wo sie mit Varnhagen von den zeitgenöss. Gesellschaftsroman. Als weitere Zeitschriftengründungen, so Ense, Henriette Herz, Luise Mühlbach, 1845 »Das neue Europa«, erfolglos blieben, Heinrich Laube u. bes. Therese von Bacheracht verkehrte. Erste Romane erschienen auf wandte sich L. verstärkt dem Theater zu (seit Vermittlung ihres Vetters August Lewald an1850 wirkte er als Opernregisseur in Stuttonym bei Brockhaus in Leipzig: Clementine gart). Entscheidend für seine Abwendung (1842) behandelt die »Versorgung« der Frau vom Literaturbetrieb war die gescheiterte durch die Ehe unter Missachtung ihrer PerRevolution 1848/49. Mit der Zeitschrift son; Jenny (1843. Mit einem Nachw. hg. v. »Deutsche Chronik« (ab 1849), seinem UmUlrike Helmer. Mchn. 1996) fordert die zug nach München u. der Konversion 1852 christl. Leserschaft zur Stellungnahme in der trat L. auf die Seite des orthodoxen KatholiFrage der Judenemanzipation heraus; Eine zismus u. geriet zunehmend in VergessenLebensfrage (2 Tle., 1845) plädiert für Eheheit. scheidung u. freie Gattenwahl. L. war eine der Weitere Werke: Album aus Paris. 2 Bde., Hbg. ersten dt. Autorinnen, die als Berufsschrift1832. Mikrofiche-Ausg. Mchn. u. a. 1991. – Der stellerin mit Erfolg bestand, wenn auch, wie Paria. Nürnb. 1825 (D.). – Aquarelle aus dem Leben. sie bei dem hohen Bildungsanspruch, den sie 4 Bde., Mannh. 1836/37. – Blaue Mährchen. Stgt. an ihr Werk stellte, nur zögernd zugab, durch 1837. – Neue Aquarelle aus dem Leben. 2 Bde., Stgt. 1840. – Mörder u. Gespenster. 2 Bde., Stgt. »Brodarbeiten«. Ihre Romane u. publizist. 1840. – Die Geheimnisse des Theaters. 5 Bde., Stgt. Gelegenheitsschriften haben aktuelle The1845. – Der Insurgent. 2 Bde., Schaffh. 1865. – men, vorrangig das der Frauenemanzipation: Inigo. Schaffh. 1870. – Letzte Fahrten. Mainz 1871 z.B. Einige Gedanken über Mädchenerziehung u. Andeutungen über die Lage der weiblichen Dienst(Reisebriefe). Ausgabe: Ges. Schr.en. 12 Bde., Lpz. 1844–46. boten (Königsb. 1843), Osterbriefe für die Frauen Literatur: Karl Gutzkow: Öffentl. Charaktere. u. Für und wider die Frauen (Bln. 1863 bzw. In: Werke. Hg. H. H. Houben. Bd. 8, Lpz. 1908, 1870). Die neuere feminist. Forschung (exemplaS. 192–202. – Ulrich Cruse: A. L. u. seine zeitgeschichtl. Bedeutung. Breslau 1933 (mit Werk- u. risch Venske) hebt L.s nicht konsequent Literaturverz.). – Gerhard Reitschert: Theater u. emanzipator. Geisteshaltung hervor. Es gibt

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bei ihr einen – allerdings zeittypischen – Fanny Lewald-Stahr in ihren Briefen 1848–1889. Widerspruch zwischen dem fortschrittl. Hg. Günther Jansen. 2 Bde., Stgt. 1894). Themenzuschnitt u. der tatsächlich vom ErLiteratur: Werkverzeichnis: Goedeke Forts. – zähler gutgeheißenen nachgiebigen oder la- Weitere Titel: Marieluise Steinhauer: F. L., die dt. bilen Haltung etwa der Romanheldinnen George Sand. Diss. Bln. 1937. – Renate Möhrmann: Jenny u. Clementine gegenüber dem Ehe- Die andere Frau. Emanzipationsansätze dt. mann. Ihre Abhängigkeit als freie Autorin Schriftstellerinnen im Vorfeld der 48er Revolution. vom bürgerl. Publikumsgeschmack dürfte Stgt. 1977, S. 118–140. – Margarita Pazi: F. L. Das Echo der Revolution v. 1848 in ihren Schr.en. In: jedoch der Grund sein für das Fehlen jeder Juden im Vormärz u. in der Revolution v. 1848. Hg. echten Perspektive der Unterschichten in Die Walter Grab u. Julius H. Schoeps. Stolberg 1983, Kammerjungfer (3 Tle., Bln. 1856) oder die S. 233–271. – Regula Venske: ›Ich hätte ein Mann durchgehend bürgerlich-reformer. Sichtwei- sein müssen oder eines großen Mannes Weib!‹ se des an sich sehr offenen Angriffs auf die Widersprüche im Emanzipationsverständnis der F. mecklenburgische Leibeigenschaft im späten L. In: Frauen in der Gesch. 4. Hg. Ilse Brehmer Roman Die Familie Darner (3 Bde., Bln. 1888). Düsseld. u. a. 1983, S. 368–396. – Kenneth Bruce An ihrer fast 50 eigenständige Werke umfas- Keaton: Fontanes ›Irrungen, Wirrungen‹ u. F. L.s senden Lebensarbeit lässt sich gut der Wandel ›Wandlungen‹. Ein Beitr. zur Motivgesch. der vom des Zeitgeschmacks ablesen. Neben den Ro- Adel verführten Unschuld aus dem Volke. In: Jb. der Raabe-Gesellsch. (1984), S. 208–224. – Gabriele manen mit jungdt. Tendenz in den 1840er Schneider: F. L. Reinb. 1996. – Gudrun LosterJahren schrieb sie Romane zu politischen u. Schneider: Revolution 1848–49. St. Ingbert 1999, sozialen Themen der Zeit, parodierte in Dio- S. 237–265. – Bernd Balzer: Auf roter Erde. Nov. gena (Lpz. 1847) die Stilhaltung Ida Hahn- (1850), Diogena. R. v. Iduna Gräfin H. H. (1847), Hahns, favorisierte »Exotisches« in den Er- Jenny, R. (1843). In: Lexikon deutschsprachiger zählungen (3 Bde., Bln. 1866–68) u. den mo- Epik u. Dramatik v. Autorinnen (1730–1900). Hg. dischen Künstlerroman in Benvenuto (2 Bde., G. Loster-Schneider u. Gaby Pailer. Tüb. u. a. 2006, Bln. 1875). Großen Erfolg hatten ihre Reise- S. 261–266. – Michaela Holdenried: Meine Lejournale, so Italienisches Bilderbuch (2 Tle., Bln. bensgesch. Ebd., S. 267 f. – Margaret E. Ward: F. L. 1847), entstanden nach einer Reise, bei der sie New York u. a. 2006. – Christina Ujma: F. L.s urbanes Arkadien. Bielef. 2007. Eda Sagarra Adolf Stahr kennenlernte (den sie 1854, nach seiner Scheidung, heiratete); L. verstand es, die Darstellung persönlicher Reiseerlebnisse Lewin, Waldtraut, * 8.1.1937 Wernigerou. -bekanntschaften mit kulturgeschichtl. de. – Biografin, Kriminal- u. JugendInformationen u. Urteilen geschickt zu verbuchautorin; Operndramaturgin. binden. Die anschaul. Erinnerungen aus dem Jahr 1848 (2 Bde., Braunschw. 1850) bekunden L., Tochter einer Sängerin, studierte nach ihre demokrat. Ansichten, aber auch schon dem Abitur in Magdeburg Germanistik, Laden Ansatz zur zeittypischen Distanzierung tein u. Theaterwissenschaften in Ost- u. von der Revolution, die sie nach 1870 zu einer Westberlin. Ab 1961 war sie Musikdramadezidierten Monarchistin u. Bismarck-Ver- turgin in Halle, ab 1973 Musikdramaturgin ehrerin werden ließ. u. Opernregisseurin am Volkstheater in RoVon hohem zeit- u. gendergeschichtl. Wert stock. Seit 1977 ist sie als freie Schriftstellerin sind auch ihre (stilisierende u. z.T. fiktionale) tätig u. hat seitdem über 40 Buchtitel veröfLebensgeschichte (6 Tle., Bln. 1861–63. Teil- fentlicht (davon 12 gemeinsam mit Miriam neuausg. Ffm. 1980), die Zwölf Bilder aus dem Margraf). Leben (Bln. 1888) u. das Tagebuch Gefühltes Neben Übersetzungen der Texte von Opern und Gedachtes 1838–1888 (Hg. Ludwig Geiger. u. anderen Musikwerken (u. a. SchostakoDresden 1900). L.s Charakteristikum lässt witsch, Ravel, seit 1958 insg. 16 Händelsich einem Brief an sie vom 24.3.1850 ent- Opern) verfasste L. die Libretti für Rosa Laub nehmen: »Klug leben ist eine Pflicht gegen (1979), eine der ersten Rockopern der eheandere wie auch gegen sich selbst« (in: Groß- maligen DDR, u. Zaubersprüche (1983, beide herzog Carl Alexander von Sachsen-Weimar und vertont von Horst Krüger). Als Schriftstellerin

Lewitscharoff

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bekannt wurde sie in der ehemaligen DDR Lewitscharoff, Sibylle, * 16.4.1954 Stuttmit histor. Romanen (Die Ärztin von Lakros. gart. – Prosaautorin. Bln./DDR 1977. Federico. Bln./DDR 1984) u. L.s Romane unterscheiden sich stofflich u. Biografien (Gaius Julius Caesar. Bln./DDR 1980. Georg Friedrich Händel. Zus. mit Miriam thematisch sehr stark voneinander, sie haben Margraf. Bln./DDR 1984), v. a. aber mit ihren dennoch dreierlei gemeinsam. Erstens zeicherfolgreichen Italien-Reisebüchern (Katakom- net ihre Prosa ein außerordentlicher Sprachben und Erdbeeren. Bln./DDR 1977. Garten witz aus. Er gestattet es ihr immer wieder fremder Herren. Bln./DDR 1982. Villa im Regen. aufs Neue, eine Vielzahl von Tonlagen ebenso Bln./DDR 1984). Nach der Wende veröffent- spielerisch wie souverän miteinander zu verlichte sie erfolgreiche Titel im Kinder- u. Ju- binden. Zweitens sind ihre Bücher unaufgendbuchbereich u. beschäftigte sich dabei dringlich, aber doch unverkennbar von reliv. a. mit histor. Stoffen (z.B. in der Berliner giösen Motiven u. Anspielungen durchzogen. Familiensaga, einer Trilogie: Luise, Hinterhof Das verdankt sich nicht nur ihrem Studium Nord. Ein Haus in Berlin 1890, Paulas Katze. Ein der Religionswissenschaften bei Klaus HeinHaus in Berlin 1935 u. Mauersegler. Ein Haus in rich, sondern auch ihrem erklärten Anliegen, Berlin 1989, alle Ravensburg 1999), Biografien den Hallraum der christl. Tradition auf zeit(Goethe. Mchn. 2004. Columbus. Mchn. 2006) gemäße Weise literarisch zu nutzen. Drittens u. Nacherzählungen von Sagen (z.B. Deutsche handeln ihre Bücher stets von mehr oder Heldensagen. Bindlach 2006. Griechische Sagen. weniger exzentr. Sonderlingen: der ProtagoBindlach 2008). Als Gründungsmitgl. des nist des Romans Pong (Bln. 1998), für den L. mobilen Opernensembles I Confidenti 2002 in 1998 den Ingeborg-Bachmann-Preis erhielt, Potsdam blieb L. auch ihrer Vorliebe für das ist wahnsinnig; jener in Montgomery (Stgt., Musiktheater treu. Mit Kriminalromanen Mchn. 2003) als Sohn eines Italieners u. einer setzt sie seit den 1990er Jahren einen weite- Schwäbin ein sozialer Außenseiter; die ren Schwerpunkt in ihrem literar. Schaffen Hauptfigur Ralph Zimmermann in Consum(Quade-Krimis. Hbg. 1995/97/98. Weiberwirt- matus (Mchn. 2006) ein dem Alkohol verfalschaft. Hbg. 2004. Männersache. Hbg. 2005; lener Lehrer, der Stimmen aus dem Jenseits hört; u. die Ich-Erzählerin des Romans Aposbeide zus. mit M. Margraf). Weitere Werke: Herr Lucius u. sein schwarzer toloff (Ffm. 2009), für den L. 2009 mit dem Schwan. Bln./DDR 1973 (R.). – Die stillen Römer. Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet Bln./DDR 1979. – Der Sohn des Adlers, des Müll- wurde, präsentiert eine Abrechnung mit dem manns u. der häßlichsten Frau der Welt. Bln./DDR bulgar. Nationalcharakter im Allgemeinen u. 1981 (M.). – Kuckucksrufe u. Ohrfeigen. Bln./DDR ihrem bulgar. Vater im Besonderen, die in 1985. – Ein Kerl, Lompin genannt. Bln./DDR 1989 ihrer Unerbittlichkeit nicht so schnell Ihres(R.). – Dicke Frau auf Balkon. Aurora Lenssen er- gleichen findet. Elemente aus L.s Biografie mittelt. Tl. 1, Hbg. 1994 (R.). – Alles für Caesar. lieferten jedoch lediglich das Material zu eiRavensburg 1996 (R.). – Wolfsbande. Bde. 1–6, ner Kunst des Schimpfens u. Zeterns, die Ravensburg 2001/02 (R., zus. mit M. Margraf). – Der Fluch. Ravensburg 2001 (R.). – Die aus der immer wieder ins Groteske getrieben wird. Steppe kommen. Ravensburg 2002 (R.). – Mond Dabei zeigt sich: Selbst Zetern lässt sich geüber Marrakesch. Ravensburg 2003 (R.). – Die letzte schmeidig modulieren, Boshaftigkeit geRose des Sommers. Napoleon u. Joséphine – eine nüsslich zelebrieren, sogar eine Hasstirade, u. histor. Liebe. Bindlach 2005 (R.). – Wiedersehen in sei sie noch so unerbittlich, rhetorisch Berlin. Ravensburg 2006 (R.). – Drei Zeichen sind schmücken. Je länger, erbarmungsloser u. ein Wort. Mchn. 2007 (R.). – Drei Zeichen sind die giftiger die Erzählerin dieses Buchs stichelt, Wahrheit. Mchn. 2008 (R.). lästert u. polemisiert, desto deutlicher entGesine von Prittwitz / Sonja Schüller puppt sich der Text mit seiner skurrilen Handlung – der Rückführung der Leichname von 19 Exilbulgaren aus Stuttgart in ihr Heimatland in einem Konvoi schwarzer Limousinen – als eine zur hybriden Phantas-

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magorie gesteigerte Überzeichnung. Immer wieder verselbständigt sich dabei die Suada von der Rahmenhandlung. Wichtig ist dann einzig u. allein noch, wie rücksichtslos u. im wahrsten Sinne des Wortes treffend gesagt ist, was gesagt wird. Für ihr Werk wurde L. 2006 mit dem Kranichsteiner Literaturpreis, 2007 mit dem Preis der Literaturhäuser, 2008 mit dem Marie-Luise-Kaschnitz-Preis, 2009 mit dem Literaturpreis Leuk u. 2010 mit dem Berliner Literaturpreis ausgezeichnet. Weitere Werke: 36 Gerechte. Münster 1994. – Der höfl. Harald. Bln. 1999 (Kinderbuch). – Der Dichter als Kind. Ein Essay u. fünf szen. Objekte. Marbach 2009. Literatur: Claudia Kramatschek: L. In: LGL. – ›Rückeroberung des religiösen Terrains‹. Interview. In: Volltext. Ztg. für Lit. Nr. 1/2006, S. 21 f. – Ulrich Rüdenauer: L. In: KLG. Gunther Nickel

Lex Salica. – Frühmittelalterliche Rechtsaufzeichnungen aus dem frühen 6. bis zum Beginn des 9. Jh. Die L. S., das Stammesrecht der sal. Franken, nimmt unter den german. Kodifikationen eine hervorragende Stellung ein. Bei mehr als 80 erhaltenen lat. Handschriften (8.-16. Jh.) zeichnet sie sich durch eine komplizierte Textgeschichte aus. Nach herrschender Lehre hat man von acht Fassungen auszugehen, deren älteste mit 65 Titeln (A) z.T. auf den ersten Frankenkönig Chlodwig (482–511) zurückgeführt u. an das Ende seiner Regierungszeit datiert werden kann. Im lat. Text der L. S. finden sich häufiger als sonst in den Leges volkssprachige Bezeichnungen. Bes. hervorzuheben sind die nur aus der L. S. bekannten, sog. Malbergischen Glossen der drei ältesten Fassungen (A, C, D). Dabei handelt es sich um volkssprachige Zusätze mit stark mischsprachl. Charakter, die möglicherweise im Hinblick auf rechtsprakt. Belange dem lat. Text ohne syntakt. Verknüpfung eingefügt worden sind u. als Relikte gesprochener Sprache verstanden werden. Auf der Basis einer karolingischen, 802/803 geschaffenen, 70-Titel-Fassung (K) entstand Anfang des 9. Jh. eine – ebenfalls der mündl.

Lex Salica

Rechtssprache verbundene – ahd. Übersetzung (Fassung V), von der ein Fragment erhalten ist (Stadtbibl. Trier, Fragment Mappe X, Nr. 4). Es enthält den Schluss des Titelverzeichnisses (Titel 61–70), Kapitel 1 »Von der Ladung« u. den Anfang von Kapitel 2 »Vom Schweinediebstahl«. Paläografische Merkmale (karoling. Minuskel unter angelsächs. Einfluss) deuten auf Entstehung in einem Mainzer Skriptorium; sprachl. Kriterien (ostfränk. Dialekt) weisen nach Fulda. Die ahd. Übersetzung wie auch die Neuredaktion der lat. Fassung stehen im Zusammenhang mit den Bemühungen Karls des Großen um die Verschriftlichung des Rechts. Ausgaben: Pactus legis Salicae. Hg. Karl A. Eckhardt. Hann. 1962 (MGH Leges nat. Germ. IV, I). – L. S. Hg. ders. Hann. 1969 (MGH Leges nat. Germ. IV, 2). Übersetzungen: The laws of the Salian Franks. Translated and with an Introduction by Katherine Fischer Drew. University of Pennsylvania Press 1991. Literatur: Stefan Sonderegger: Die ahd. L. S.Übers. In: FS Wolfgang Jungandreas. Trier 1964, S. 113–122. – Bernhard Bischoff: Paläograph. Fragen dt. Denkmäler der Karolingerzeit. In: FMSt 5 (1971), S. 101–134, hier S. 106. – Hermann Nehlsen: Zur Aktualität u. Effektivität german. Rechtsaufzeichnungen. In: Recht u. Schr. im MA. Hg. Peter Classen. Sigmaringen 1977, S. 449–502. – S. Sonderegger: Ahd. L. S. In: VL. – Ruth SchmidtWiegand: Stammesrecht u. Volkssprache in karoling. Zeit. In: Aspekte der Nationenbildung im MA. Hg. Helmut Beumann u. Werner Schröder. Sigmaringen 1978, S. 171–203. – Dies.: Die Malberg. Glossen. In: German. Rest- u. Trümmersprachen. Hg. Heinrich Beck. Bln./New York 1989, S. 157–174. – Dies.: Malberg. Glossen. In: VL. – Giulio Simone: LS vs. LF. La traduzione frammentaria in antico alto tedesco della L. S. e la sua base latina. Bologna 1991. – Hans Höfinghoff: Die L. S. Recht als Quelle für die Sprach- u. Sachforsch. In: Alles was Recht war. Rechtslit. u. literar. Recht. FS R. Schmidt-Wiegand. Hg. ders. Essen 1996, S. 9–15. – Frank Siegmund: Pactus Legis Salicae § 13: Über den Frauenraub in der Merowingerzeit. In: FMSt 32 (1998), S. 101–123. – Craig Taylor: The Salic Law, French Queenship, and the Defense of Women in the Late Middle Ages. In: French Historical Studies 29 (2006), S. 543–565. – Elmar Seebold: Zur Entstehung der L. S. In: PBB 129 (2007), S. 387–402. Brigitte Janz / Red.

Lexis

Lexis, Wilhelm, * 17.7.1837 Eschweiler, † 24.8.1914 Göttingen. – Nationalökonom, Demograf u. Statistiker. Nach Studien in Jura, Mathematik u. Naturwissenschaften promovierte sich L. in Bonn über das Thema Thesen zur mathematischen Mechanik u. arbeitete vorübergehend als Lehrer an einem Bonner Gymnasium sowie im Labor von Robert Bunsen in Heidelberg (1860). Ab 1861 für einige Jahre in Paris, wandte er sich vornehmlich volkswirtschaftl. Studien zu. Nach Ende des dt.-frz. Krieges 1870/71, in welchem L. als Redakteur in Elsass-Lothringen tätig war, begann seine akadem. Laufbahn 1872 mit der Berufung zum a. o. Prof. für Volkswirtschaft in Straßburg. 1874 folgte L. einem Ruf als Professor für Geographie, Ethnografie u. Statistik nach Dorpat, wechselte 1876 nach Freiburg/Br. (Lehrstuhl für Nationalökonomie) u. setzte seine Lehrtätigkeit 1884 in Breslau u. 1887 in Göttingen fort. Dort gründete er 1895, gemeinsam mit Felix Klein, das erste Seminar für Versicherungswissenschaft in Deutschland, das er – ebenso wie das von ihm 1899 mitgegründete Staatswissenschaftliche Seminar – bis 1914 leitete. Seit 1901 war L. Mitgl. des Versicherungsbeirats beim Reichsaufsichtsamt für Privatversicherung. Als Wirtschaftswissenschaftler betonte L. insbes. den soziolog. Aspekt seiner Disziplin (Zur Theorie der Massenerscheinungen in der menschlichen Gesellschaft. Freib. i. Br. 1877) u. erörterte die mathematisch-statist. Fragen der Gesellschaft u. der Volkswirtschaft (Abhandlungen zur Theorie der Bevölkerungs- und Moralstatistik, Jena 1903). Literatur: Klaus-Peter Heiss: W. L. In: International Encyclopedia of the Social Sciences. Bd. 9, London 1968, S. 271–276. – Ingeborg EsenweinRothe: W. L.: Demograph u. Nationalökonom. Erlangen 1991. Esther von Krosigk

Leybold, Hans, * 2.4.1892 Frankfurt/M., † 8.9.1914 Itzehoe (Freitod); Grabstätte: Hamburg, Ohlsdorfer Friedhof. – Lyriker, Verfasser von Glossen u. Kritiken. L. wuchs in Hamburg auf, wo sein Vater Direktor der Gaswerke war. Nachdem er hier

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1911 das Abitur gemacht hatte, leistete er einen einjährigen Militärdienst ab, den er als Offiziersanwärter beendete. Im Herbst 1912 ging L. zum Studium der Germanistik nach München. Er freundete sich mit Hugo Ball an u. gehörte bald zu einer lose verbundenen Gruppe am Expressionismus orientierter Autoren (neben Ball v. a. Johannes R. Becher, Emmy Hennings, Richard Huelsenbeck u. Klabund). Für verschiedene Zeitschriften (»Aktion«, »März«, »Wiecker Bote«, »Zeit im Bild« u. andere) schrieb L. zunächst vorwiegend Glossen u. Rezensionen. Ende 1913 gründete er mit der »Revolution« eine eigene literar. Zeitschrift, die aber bereits nach fünf Ausgaben ihr Erscheinen wieder einstellte. 1914 begann er mit der Veröffentlichung expressionistischer Lyrik. Wie die zus. mit Ball verfassten u. unter dem Pseud. HaHu Baley publizierten Gedichte erschien sie fast ausnahmslos in Franz Pfemferts »Aktion«. Bei Kriegsausbruch 1914 rückte L. ein; nach der Rückkehr von einem Lazarettaufenthalt erschoss er sich in seiner Garnison Itzehoe. Ganz im Sinn des Vitalismus bemühte sich L. um eine Intensivierung des eigenen Lebens. Das Tempo der Großstadt, die Sexualität u. die Schriftstellerexistenz in der Münchner Boheme waren dabei von größter Bedeutung. Diese vitalist. Einstellung, die er gegen Ende seines Lebens zunehmend in Frage stellte, bestimmt die meisten seiner Gedichte ebenso wie seine Glossen. Indem er die Literatur des wilhelmin. Bürgertums bekämpfte, wollte er dieses selbst treffen. Mit seinem schmalen Werk ist L. jedoch nicht nur ein typischer »junger Dichter« des Frühexpressionismus, sondern auch ein wichtiger Vorläufer des Dadaismus. Vor allem in den gemeinsam mit Ball verfassten Gedichten sind prädadaist. Tendenzen festzustellen. Gleiches gilt für die »Revolution«, die den Einfluss anarchistischer Gedanken erkennen lässt u. deren von L. stammendes Programm mit Gegen Zuständliches überschrieben ist. Ausgaben: ›Gegen Zuständliches‹. Glossen, Gedichte, Briefe. Hg. Eckhard Faul. Hann. 1989. Literatur: Eckhard Faul: ›Aber Betrieb muß sein‹. Der frühexpressionist. Schriftsteller H. L. (1892–1914). Bonn 2003. Eckhard Faul

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Leybrand, Hanna, * 15.7.1945 Passau. – Schriftstellerin, Rezitations- u. Gesangskünstlerin.

Leyding

glückliches Paar aus dem Band Der Schwarzwaldschamane von 2006 (Heidelb.). L.s Diktion folgt keinen Konventionen. Sie verschränkt Literatur- u. Umgangssprache, Dialekt u. Hochsprache, erzählt witzig, ironisch u. gelegentlich mit einem Hang zu augenzwinkernder Frivolität. Wie ihre lyr. Texte so steuern auch ihre epischen auf eine Pointe oder überraschende Wendung zu, in der sich die zuvor aufgebaute Spannung entlädt. L. wurde 1995 in Benevent mit einem Preis (»Diploma di merito speciale«) des Internationalen Lyrikwettbewerbs u. 2001 mit dem zweiten Mannheimer Literaturpreis für Lyrik ausgezeichnet.

L. studierte nach dem Besuch des humanist. Gymnasiums Leopoldinum in Passau an der Universität Heidelberg Romanistik, Latinistik u. Philosophie u. ließ sich in Heidelberg u. Mannheim im Gesang ausbilden. Klassische Bildung u. Musikalität finden v. a. in ihrer Lyrik zusammen, die sie zunächst in Tageszeitungen, Zeitschriften u. Anthologien publizierte, ehe sie 2003 mit Schafft die Träume ab (Heidelb.) ihren ersten Gedichtband vorlegte. Die Genrebezeichnung »Gedichte nicht nur von der Liebe« verweist auf ein, wenn nicht Literatur: Hans-Peter Ecker: Rez. ›Schafft die das leitende Motiv ihres Schreibens. Jenseits Träume ab‹. In: Dt. Bücher 33 (2003), S. 211–217. – feministischer Leidensstilisierungen thema- Walter Hinck: Liebe ist Trumpf. In: FAZ, tisiert L. die Begegnung mit dem anderen in 20.2.2008. Ralf Georg Czapla einer melodischen u. bildreichen Sprache, bejaht sie Lust, Selbstfindung u. Glücksgewinn, aber auch den Wert dessen, was die Leyding, Johann Dietrich, * 5.4.1721 VerLiebe an Bleibendem stiftet, mag sie selber den/Aller, † 10.2.1781 Hamburg. – Faauch vergänglich sein. Subtile intertextuelle beldichter, Lyriker, Publizist. Bezugnahmen etwa auf die Liebeslyrik Ca- Von L.s Leben ist so gut wie nichts bekannt. tulls oder auf die Dichtungen u. Essays von Falls er studierte, hat er sein Studium verBalzac u. Stendhal verschränken sich in den mutlich nicht abgeschlossen. Um 1750 kam zunächst spontan wirkenden Texten mit au- er nach Hamburg, wo er als Privatlehrer lebte tobiogr. Reminiszenzen der Autorin, die im u. einige Jahre Vorsteher einer privaten ErProzess von Reflexion u. poet. Transformati- ziehungsanstalt gewesen sein soll. on jedoch ins Allgemeingültige verdichtet Die beiden ersten, 1757 in Altona bei David werden, ohne dabei an Tiefe zu verlieren. Iversen anonym erschienenen Lyrikbändchen Mehr noch als für ihren Erstling gilt dies für Oden und Lieder mit ihren eigenen Melodien (25 ihren zweiten Lyrikband Tage in Weiß und Blau Oden; in der Nachfolge von Hagedorns Oden (Heidelb. 2007). L.s einfühlsame Betrachtun- und Lieder, 1742) u. die Lieder und Scherzgedichte gen über Vater u. Mutter zählen zu den in Anlehnung an Gleims Versuch in ScherzhafGlanzstücken deutschsprachiger Gegen- ten Liedern (1744 f.), aus dessen Vorrede zum wartslyrik. Im Caféhaus entdeckte L. nicht zweiten Teil ausführlich zitiert wird, sind nur die Bühne für die Inszenierung von Li- wohl nur äußere Zugeständnisse an die teratur, sondern auch einen Ort für deren herrschende Rokoko-Mode. L. neigte mehr Produktion. Beobachtungen wie sie v. a. ihre zur Fabel u. zur didakt. Dichtung (Fabeln, Erzählungen u. Prosaminiaturen grundieren, Erzählungen, epigrammatische und andere kleine haben ihren Ursprung nicht selten in diesem Gedichte. 2 Tle., Hbg. 1763/64) u. veröffenthalböffentl. Raum. Die Palette anthropologi- lichte später religiöse Erbauungslyrik scher Fragestellungen wird dabei erweitert, (Christlicher Ältern Weihnachts- und Neujahrsgedas Thema »Liebe« ergänzt durch die The- schenk an gute und geliebte Kinder. o. O. 1774. Zur men »Freiheit«, »Selbständigkeit« u. »Iden- Hausandacht für Christen [...]. 6 Tle., Hbg. tität«, am eindrucksvollsten u. gelungensten 1776). wohl in der 2005 in dem Band Der ChaosforSchon 1753–1755 hatte L. zus. mit Johann scher (Heidelb.) erschienenen Erzählung Der Friedrich Löwen u. Johanne Charlotte Unzer Mann der Ärztin u. in der Erzählung Ein »Hamburgische Beyträge zu den Werken des

Leyen

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Witzes und der Sittenlehre« herausgegeben. Später versuchte er immer wieder, nicht zuletzt wohl aus finanziellen Gründen, Zeitschriften verschiedenster Art zu veröffentlichen. Erfolgreich wurde aber nur »Der Bienenstock. Eine Sittenschrift, der Religion, Vernunft und Tugend gewidmet«, der ab 1755 in Hamburg bei Johann Christian Brandt erschien u. dessen erste drei Bände 1765/66 in einer »vierten verbesserten und vermehrten Ausgabe« herauskamen. 1764 folgte »Der neue Bienenstock [...]« (3 Tle., Hbg., bis 1768). Weitere Werke: Zeitschriften: Neues gemeinnütziges Magazin für die Freunde der nützl. u. schönen Wiss.en u. Künste. Hbg. 1760 f. – Der Auswähler, oder der Kern der besten moral. Wochenschr.en neuerer Zeiten. Stücke 1–31, Bln. 1764. – Minerva u. die Grazien. Eine Wochenschr. o. O. 1774. – Hamburgische Gartenbibl., worin physikal., moral., histor., satyrische u. poet. Schr.en [...] zu finden sind. Hbg. 1775/76. Literatur: Jakob Franck: J. D. L. In: ADB. Alfred Anger / Red.

Leyen, Friedrich von der, * 19.8.1873 Bremen, † 6.6.1966 Kirchseeon (Kreis Ebersberg) bei München. – Germanist u. Volkskundler. Als Gestalt, die über die zünftige Wissenschaft hinausragte, stand L. zgl. in der von Jacob Grimm beherrschten Tradition der Germanistik des 19. Jh. Dem Studium in Marburg, Leipzig u. Berlin folgten die Promotion bei Karl Weinhold 1894 u. die Habilitation in München 1899; dort war L. Dozent (1906–1910) sowie a. o. Prof. u. leitete mit Adolf Spamer den Verein für Volkskunst u. Volkskunde. Von 1921 an war er Prof. für ältere dt. Philologie in Köln, von 1937 an leitendes Mitgl. der Deutschen Akademie in München. Nach dem Krieg lehrte er wieder in Köln u. 1947–1953 erneut in München. L.s Werk ist weder einseitig philologisch oder historisch noch bes. theoretisch akzentuiert. In den Traditionen der Spätromantik wurden seit 1902 – in einem durch Verbindung zum Eugen Diederichs Verlag verstärkten kulturpolit. Bewusstsein – ein lebendiges Poesie- u. Mythenverständnis u.

eine konkret-phänomenologisch orientierte Gelehrsamkeit fruchtbar in den Hauptwerken Die Götter und Göttersagen der Germanen (Mchn. 1909. Völlig umgearbeitet 1938), Die deutschen Heldensagen (Mchn. 1912), in der motivvergleichenden Darstellung Die Welt der Märchen (2 Bde., Düsseld. 1953/54) u. dem feinsinnig kommentierenden Das deutsche Märchen und die Brüder Grimm (Düsseld. 1964). Eine Gattungspoetik der volkstüml. Formen bietet Volkstum und Dichtung (Jena 1933). L. war ein hervorragender Stilist, der – so sehr die Forschung historisch u. methodisch darüber hinweggegangen ist – in seiner ganzheitlich auf das Leben u. die Zusammenhänge gerichteten Intention in den Hauptwerken Bleibendes geschaffen hat. Die Überzeugung von der transhistor. Bedeutung der elementaren Poesie im Leben der Völker ermöglichte L. auch die Verbindung der archaischen Welten mit der Gegenwart. Sie begründete sein kulturpolit. Engagement im Sinne der Idee der Einheit von Wissenschaft, Poesie u. Leben u. die im großen Stil betriebene erfolgreiche Herausgebertätigkeit, bes. der Märchen der Weltliteratur (über 100 Bde., Jena 1912 ff. Düsseld. 1952 ff.). Der frühen Reformschrift mit Forderung nach Lebensnähe u. öffentl. Wirksamkeit der Wissenschaft, Deutsche Universität und deutsche Zukunft (Jena 1906), folgten in der negativ erlebten Weimarer Republik mit zunehmend nationalerzieherischem Akzent allerdings zweitrangige Arbeiten zur Gegenwartsliteratur, die in ressentimenthaften Zeitdiagnosen u. deutschnationalen Einstellungen einen Spiegel der Nachkriegsepoche bilden. L.s Lebenserinnerungen Leben und Freiheit der Hochschule (Köln 1960) sind ein aufschlussreiches Dokument über sieben Jahrzehnte Zeit-, Wissenschafts- u. Universitätsgeschichte. Weitere Werke: Das Märchen in der Göttersage der Edda. Habil.-Schr. Bln. 1899. – Das Märchen. Ein Versuch. Lpz. 1911. Rev. Heidelb. 41958. – Das dt. Märchen. Lpz. 1917. 31930. – Dt. Dichtung in neuer Zeit. Jena 1922. 21927. Nachtr. 1931: ›Die Forderung des Tages‹. ›Das neue Reich‹. Übersicht über die dt. Dichtung der letzten Zeit (1925–30). Jena 1931. – Dt. Dichtung u. dt. Wesen. Köln 1934. 3 1940. – Das Heldenliederbuch Karls des Großen. Mchn. 1954. – Herausgeber: Älteste dt. Dichtungen.

Li

393 Lpz. 1909 (zus. mit Karl Wolfskehl). – Dt. Sagenbuch. 4 Bde., Mchn. 1909–20. – Dt. Stämme. Dt. Lande. 9 Bde., Lpz. 1919–29. – Nord. Volksmärchen aus Dänemark. Bd. 2, Jena 1922. Greiz 2008. – Julspuk. Nord. Volksmärchen aus Schweden. Jena 1922. Greiz 2009. – Bücher des MA. 4 Bde., Mchn. 1924/25. – Das Buch dt. Dichtung. Bde. 1–3 u. 5, Lpz. 1939–42. Neudr. Bde. 1 u. 2, Ffm. 1962–80 (zus. mit Ernst Bertram u. August Langen). – Das Buch dt. Reden u. Rufe. Lpz. 1942 (zus. mit Anton Kippenberg). Literatur: Märchen, Mythos, Dichtung. FS zum 90. Geburtstag F. v. d. L.s. Mchn. 1963, S. 491–516 (Bibliogr.). – Karl Otto Conrady: Völk.-nat. Germanistik in Köln. Eine unfestl. Erinnerung. Schernfeld 1990. – Kurt Schier: L., F. v. d. In: EM. Ulfert Ricklefs / Red.

Lhotzky, Heinrich, * 21.4.1859 Klaußnitz/ Sachsen, † 24.11.1930 Ludwigshafen/Bodensee. – Theologe u. Publizist.

Erweckungsprophetie (Gebrüder Blumhardt u. andere). Nietzsches Religionskritik vereinnahmend, dessen Sprachduktus imitierend u. unmissverständlich judenfeindlich, verkündete L. darin Das Evangelium von der Kraft (Ludwigshafen 1914). Ebenso wie seine gefühlsselig-nationalstolzen Heimatromane (u. a. Immanuel Müller. Ein Roman aus bessarabischer Steppe. Ludwigshafen 1912) erzielten sie außerordentl. Publikumswirksamkeit. Ausbruch u. Ausgang des Ersten Weltkriegs verschärften noch die nationalsozialistischen u. antisemit. Tendenzen L.s. Mit einer Flut polit. Publikationen (u. a. Lebe, kämpfe, siege! Tüb. 1927. Deutschland ohne Armut. Mchn. 1927) u. einer Autobiografie (Der Planet und ich. Ludwigshafen 1925) beschwor er im Gefolge der german. Mystagogie Guido von Lists die angebl. Identität germanischer Urweisheit, völk. Führerideologie u. christl. Messiasgläubigkeit.

Nach Abschluss seiner Gymnasialzeit wandte Literatur: Arnold Pfeiffer: Zur Diakritik der sich L. kurzzeitig dem Studium der klass. ›Blumhardtbewegung‹. In: Neue Ztschr. für SystePhilologie an der Universität Leipzig zu mat. Theologie 23 (1983), S. 74–90. – Gerhard (1878). Pietistische Erziehungseinflüsse u. die Ruhbach: L. In: NDB. – Manfred Bosch: H. L. Persönlichkeit des Theologen Franz Delitzsch Theologe u. Schriftsteller. In: Badische Biogr.n. gewannen den Pastorensohn dort aber rasch Bd. 5, Stgt. 2005, S. 182–184. – Erika Bosl: L. In: Bautz. Adrian Hummel / Red. für theolog. u. assyriolog. Studien. Diese beendete er nach Examen (1881) u. freiwilligem Militärdienst (1883/84) mit der Promotion Li, Lee, Mirok, eigentl. I Uigyeong, * 8.3. (1885). Ganz im Sinne Delitzsch’ widmete 1899 Haidju/Provinz Hwanghai-do, Kosich L. anschließend der pädagog. u. pastorea, † 20.3.1950 Ebenhausen. – Erzähler. ralen Betreuung dt. Emigranten in Bessarabien (1885 bis 1890) u. auf der Krim (1890 bis Der jüngste Sohn eines wohlhabenden Guts1901). Zurückgekehrt, entfaltete er, nach besitzers wurde zunächst nach altkorean. Aufenthalten in Schweinfurt u. München- Sitte erzogen. Europäisches Wissen begegnePasing seit 1910 in Ludwigshafen ansässig, te ihm zum ersten Mal auf der von Japanern ein enormes publizist. Engagement mit er- eingerichteten Mittelschule, die er aus gehebl. Widerhall. Dabei verstrickten radikale sundheitl. Gründen verlassen musste. Nach Erlebnisfrömmigkeit, polit. Messianismus u. dem frühen Tod seines Vaters war er mit der religiös verbrämter Sozialdarwinismus den Verwaltung der Güter beschäftigt. 1917 bepersönlich vereinsamenden Autor in immer gann er ein Studium an der Seoul Medical stärkere Affinität zu völkisch-nationalsozia- School. 1919 schloss er sich der gegen die jalistischem Gedankengut. panische Besatzungsmacht gerichteten BeL.s programmat. Schriften pädagogischen wegung »1. März« an. Vor drohender Ver(u. a. Die Seele deines Kindes. Königst. 1908; bis folgung flüchtete L. über den Yalu nach 1921 275.000 Exemplare) u. theolog. Inhalts Shanghai. 1920 reiste er nach Europa, ge(Der Weg zum Vater. Lpz. 1902 u. ö. Religion oder langte über Marseille in die Abtei MünsterReich Gottes. Lpz. 1904) verdanken sich schwarzach in Unterfranken u. absolvierte in hauptsächlich antirationalistischen Maximen Würzburg u. München (ab 1925) ein naturzeitgenöss. Lebensphilosophie u. charismat. wissenschaftliches u. philosoph. Studium,

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das er mit einer zoolog. Dissertation abschloss. 1931 machte L. die Bekanntschaft des Kunstprofessors Alfred Seyler, in dessen Haus er von 1932 bis zu seinem Tod wohnte. L. war seit den 1930er Jahren mit Kurt Huber, dem späteren Mitgl. der »Weißen Rose«, freundschaftlich verbunden. L.s erste literar. Versuche u. Veröffentlichungen in dt. Zeitschriften gehen auf das Jahr 1931 zurück. 1946 veröffentlichte er seinen ersten dt. Roman Der Yalu fließt (Mchn. 1946. Veränderte Neuaufl. St. Ottilien 1996). Andere Romane, Erzählungen u. Novellen erschienen erst nach seinem Tod. Geschult an den großen Vorbildern dt. Erzählkunst, vermittelt L. Bilder aus dem alten Korea. In der Einfachheit seiner Sprache spiegeln sich Überlieferungen seiner fernöstl. Heimat wider. Weitere Werke: Kurt Huber u. das Ausland. In: Kurt Huber zum Gedächtnis. Hg. Clara Huber. Regensb. 1947, S. 160–164. – Iyagi. Kurze korean. E.en. Hg. Kyu-Hwa Chung. St. Ottilien 1972. Veränderte Neuaufl. St. Ottilien 1996. – Von Yalu bis zur Isar. Hg. ders. Waegwan 1982. – Der andere Dialekt. Hg. ders. Seoul 1984. Literatur: Bibliografie: Kyu-Hwa Chung: Korea Kulturmagazin (1987), H. 12, S. 111–133. – Weitere Titel: Rudolf Goosmann: M. L. – Eine Dokumentation. In: Korea Kulturmagazin (1978), H. 12, S. 89–105. – Karl Stocker: Ein kultureller Mittler zwischen Fernost u. Europa. In: Dogilmunhak, Seoul (1988), H. 40, S. 408–442. – K.-H. Chung: M. L. Ein korean. Literatenschicksal in Bayern. In: Interkulturalität u. Deutschunterricht. Hg. Kurt Franz. Mchn. 1994, S. 39–46. – Martin H. Schmidt (Hg.): Franz Eckert – L. M. – Yun Isang. Botschafter fremder Kulturen. Dtschld. – Korea. Norderstedt 2008. Roland Pietsch / Red.

Libavius, Libau, Andreas, auch: Basilius de Varna, * nach 1555 Halle, † 25.7.1616 Coburg. – Schulmann, Arzt, Chemiker. L. immatrikulierte sich in Wittenberg u. studierte vom Wintersemester 1577 an in Jena Philosophie u. Geschichte. Seit 1581 bekleidete er eine Lehrstelle in Ilmenau u. wurde 1586 »Stadt- und Rathsschulen Rektor« in Coburg. 1588 promovierte er sich in Basel zum Dr. med, begann an der Universität Jena

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Geschichte u. Philosophie zu lesen u. medizinische Disputationen zu leiten. 1591 übernahm L. das Amt des Stadtphysikus in Rothenburg/Tauber u. trat 1592 zgl. die Stelle des Schulinspektors am neu gegründeten Gymnasium an. 1605 berief man ihn zum Rektor an das Coburger Gymnasium Academicum Casimirianum, wo L. trotz mancherlei Streitigkeiten mit Herzog Johann Casimir von Sachsen-Coburg verblieb. Das Gesamtwerk des frühbarocken Polyhistors L. harrt noch der Erschließung. Nach seinem Eintritt in den Schuldienst befasste sich L. mit dem Aufbau von Gymnasien, schrieb eine Schulordnung für das Gymnasium in Rothenburg sowie in Coburg zahlreiche Lehrpläne u. Prüfungsvorschriften. Hier entstand auch ein Idealplan für ein chem. Institut, bei dessen Erstellung er diätetischhygien. Gesichtspunkte u. eigene praktischchem. Erfahrungen berücksichtigte. Gegen die Ramisten erschien 1591 der Quaestionum physicarum controversarum inter Peripateticos et Rameos, tractatus (Ffm.). Dialectica (Ffm. 1593) u. Exercitiorum logicorum liber primus (Ffm. 1595) sind Kommentare zu den Werken Melanchthons. Theologische Schriften veröffentlichte der orthodoxe Lutheraner unter dem Anagramm »Basilius de Varna« gegen Jakob Gretser, der 1601 im Regensburger Religionsgepräch die Katholiken vertrat. Als erste umfänglichere naturkundl. Abhandlung verfasste L. zwei Bücher (Rerum chymicarum epistolica forma. Ffm. 1595), in denen er in fiktiver Briefform chem. Operationen u. analyt. Verfahren beschreibt. Die erste Ausgabe der Alchemia, L.’ Hauptwerk, erschien 1597 (Ffm. Neuausg. mit dt. Übers., bearb. v. Friedemann Rex. Weinheim 1964. Ffm. 21606 u. d. T. Alckymia). Die dt. Ausgabe Alchymistische Practic (Ffm. 1603) u. deren lat. Übertragung Praxis alchymiae (Ffm. 1604) erweisen sich als eigenständige, wenngleich an die Alchemia angelehnte Texte. 1606 kamen als Commentarium alchymiae (Ffm.) begleitende Texte zur Alchemia heraus. Weitere Erläuterungen finden sich in den umfangreichen Werken Syntagma selectorum (Ffm. 1615) u. Appendix necessaria (Ffm. 1615). L.’ Alchemia wurde seitens der Chemiehistoriografie stets Lehrbuchcharakter zuge-

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sprochen. Dies betonte auch L., der den chem. Wissensstoff seiner Zeit methodisch zusammenfassen und ordnen wollte, um ihn für Schüler, Studenten u. Praktiker zugänglich zu machen. Die Alchemia gliedert sich in die Encheria, die »Handgrifflehre« (Geräte- u. Feuerkunde, Scheiden u. Vereinigen der Metalle, Erhöhung der Materie) u. die Chymia, die sich dem Begriff der aristotel. Elemente, der paracels. »Tria prima« u. der Herstellung von u. a. arzneilich wirksamen Extrakten, Elixieren u. Tinkturen zuwendet. L.’ Verhältnis zu Paracelsus war zwiespältig: Zwar übernahm er einige chemiatr. Vorstellungen, lehnte aber den naturphilosophisch-mag. Bereich als orthodoxer Lutheraner strikt ab. Zudem wandte er sich als Aristoteliker dagegen, die (Al)chemie nur als eine »alchemia medica« anzusehen u. nicht als eine eigenständige Kunst (»ars«), in der auch die Transmutationslehre ihren Platz hatte. Folgerichtig bekämpfte er mit Entschiedenheit solche Ärzte, die er als »Neoparacelsisten« bezeichnete, die, wie er nachwies, mit spagyrisch hergestellten u. teils unwirksamen Panaceen betrügerischen Handel trieben. Unter diesen in der Schrift Neoparacelsica (Ffm. 1594) angegriffenen Ärzten finden sich zunächst nicht die bekannten Chemiater seiner Zeit, sondern vergleichsweise weniger bekannte Praktiker wie Johann Gramann, Georg am Wald, Lorenz Hofmann oder Henning Scheunemann. So war L. nicht alleine durch seine Lehrbücher, sondern auch durch seine Streitschriften zu Ende des 16. Jh. zu einer (al)chem. Autorität aufgestiegen, die in ganz Europa anerkannt war. Auch zum »AntimonStreit« der Pariser Medizinischen Fakultät, die antimonhaltige Arzneimittel verwarf, nahm er Stellung – allerdings gegen die Fakultät, der er jegl. Kompetenz in chemiatr. Fragen absprach. Nach dem Erscheinen der Rosenkreuzerschriften (seit 1614/15) wurde L. zu deren erbitterten Gegner u. griff die vermeintl. Urheber Oswald Croll, Johannes Hartmann u. Petrus Severinus u. a. in dem Examen Philosophiae novae, quae veteri abrogandae opponitur (Ffm. 1615) scharf an, da er in diesen hermet. Paracelsisten u. Heterodoxen die Keimzelle für den Untergang der (Al)chemie sah. Zwar stemmte sich L. mit al-

Libavius

ler Kraft gegen den Kampf der Paracelsisten für die »nova medicina« des Paracelsus, konnte deren Ausbreitung jedoch nicht verhindern. Wegweisend blieb seine Alchemia als Lehrbuch zu Theorie u. Praxis der (Al)chemie, aus der sich während der »scientific revolution« des 17. Jh. die Chemie als Naturwissenschaft entwickeln sollte. Weitere Werke: Neoparacelsica. Ffm. 1594. – Tractatus duo physici. Ffm. 1594. – Gegenber. v. der Panacea Amwaldina. Ffm. 1595. – Singularium pars prima [...] pars secunda. Ffm. 1595. – Analysis dialectica colloquii Ratisbonensis. Ffm. 1602. – Poemata epica, lyrica, et elegica. Ffm. 1602. – Gretserus triumphatus. Ffm. 1604. – Alchymia triumphans. Ffm. 1607. – Wolmeinendes Bedencken/Von der Fama, u. Confession der Brüderschaft deß Rosen Creutzes. Ffm. 1616. – Briefe: z.T. in: Johann Hornung: Cista medica. Nürnb. 1626. – Bisher unerschlossene Korrespondenz in der Universitätsbibl. Erlangen. Literatur: Ludwig Darmstädter: A. L. In: Das Buch der großen Chemiker. Hg. Günther Bugge. Bln. 1929. Neudr. Weinheim 1961. – James Riddik Partington: A History of Chemistry. 4 Bde., London 1961/62. – Robert P. Multhauf: L. u. Béguin. In: Great Chemists. Hg. Ernst Faber. New York/London 1961. – Wolf-Dieter Müller-Jahncke: A. L. im Lichte der Gesch. der Chemie. In: Jb. der Coburger Landesstiftung 1972, S. 205–230. – Allen G. Debus: Guintherius, L. and Sennert: The Chemical Compromise in Early Modern Medicine. In: Science, Medicine and Society in the Renaissance. Essays to Honor Walter Pagel. Hg. ders. Bd. 1, London 1972, S. 151–166. – Owen Hannawy: The Chemists and the Word: The Didactic Origins of Chemistry. Baltimore 1975. – Owen Hannway: Laboratory Design and the Aim of Science. A. L. Versus Tycho Brahe. In: Isis 77 (1986), S. 586–610. – Henri Plard: Une réfutation des manifestes rosicruciens: Le ›Wohlmeinendes Bedencken‹ d’A. L. (1616). In: Etudes allemandes et autrichiennes 1989, S. 299–317. – Ludwig Schnurrer: A. L. (ca. 1558–1616). In: Fränk. Lebensbilder. Bd. 15, Neustadt/Aisch 1993, S. 85–106 (Lit.). – Bettina Meitzner: Die Gerätschaft der chym. Kunst. Der Traktat ›De Sceuastica Artis‹ des A. L. v. 1606. Übers., Komm. u. Wiederabdr. Stgt. 1995. – Wilhelm Kühlmann: Der vermaledeite Prometheus. Die antiparacelsist. Lyrik des A. L. u. ihr histor. Kontext. In: Scientia Poetica 4 (2000), S. 30–61. Auch in: Kühlmann (2006), S. 376–405. – Jole Shackelford: A Philosophical Path for Paracelsian Medicine. The Ideas, Intellectual Context, and Influence of Petrus Severinus (1540/32–1602). Ko-

Lichnowsky penhagen 2004. – Flood, Poets Laureate, Bd. 3, S. 1130–1133. – Bruce T. Moran: A. L. and the Transformation of Alchemy: Separating Chemical Cultures With Polemical Fire. Sagamore Beach 2007. – Didier Kahn: Alchimie et Paracelsisme en France à la fin de la Renaissance (1567–1625). Genf 2007. – Friedemann Rex: L. In: NDB. – Wlodzimierz Hubicki: L. In: DSB. Wolf-Dieter Müller-Jahncke

Lichnowsky, Mechtilde Fürstin von, geb. Gräfin von und zu Arco-Zinneberg, * 8.3. 1879 Schloss Schönburg, Niederbayern, † 4.6.1958 London; Grabstätte: Brookwood/Surrey. – Erzählerin, Lyrikerin, Dramatikerin. Nach einer frühen, auf Drängen der Familie aufgelösten Verlobung mit dem engl. Militärattaché Ralph Harding Peto heiratete die Urururenkelin Kaiserin Maria Theresias 1904 den schles. Fürsten Karlmax Lichnowsky. Mit ihm lebte L. auf seinen Gütern in Schlesien, in Berlin u. 1912–1914, nach der Berufung des Fürsten zum dt. Botschafter, in London, wo sich unter L.s Leitung die dt. Botschaft zu einem Treffpunkt engl. Intellektueller u. Aristokraten entwickelte. Nach dem Tod des Fürsten 1928 ließ L. sich aus gesundheitl. Gründen an der Riviera nieder. Dort begegnete sie dem früheren Verlobten wieder, den sie 1937 heiratete. Den Zweiten Weltkrieg verbrachte L. unfreiwillig in Deutschland, weigerte sich als entschiedene Gegnerin des NS-Regimes jedoch, der Reichsschrifttumskammer beizutreten u. veröffentlichte zehn Jahre lang nicht. Die Nachkriegsjahre bis zu ihrem Tod verlebte sie zurückgezogen in London. L. war eine sehr vielseitige Autorin. Zu ihren bekanntesten Werken zählen so unterschiedl. Bücher wie das Tagebuch einer Ägyptenreise im Jahr 1911 (Götter, Könige u. Tiere in Ägypten. Mchn. 1912), die Satiren Der Kampf mit dem Fachmann (Wien/Lpz. 1924. Neuausg. Mchn. 1978) u. die sprachästhet. Reflexionen in Worte über Wörter (Wien 1949), in denen L. die Verflachung der Sprache kritisiert. In dem Schauspiel Gespräche in Sybaris (Wien 1946) entwickelt L. in der Bearbeitung eines antiken Stoffes, aber mit deutlich aktuellen Bezügen, ihre Theorie vom sozialen

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Sinn des Ästhetischen, von einer auch als moral. Instanz notwendigen Kultur des Schönen. In den Jahren der Weimarer Republik verfasste L. mehrere, z.T. autobiografisch gefärbte Romane (Kindheit. Bln. 1934. Neuausg. Ffm. 1984. Der Lauf der Asdur. Wien 1936), die sozialkritisch das Leben in den gehobenen Gesellschaftsschichten zur Zeit der Jahrhundertwende beleuchten. Das Krisenbewusstsein der literar. Moderne u. ihr gebrochenes Verhältnis zu Sprache u. Wirklichkeit haben in diesen Romanen keinen Niederschlag gefunden. Trotz verschiedener Neuausgaben ihrer Bücher muss L. heute als weithin Vergessene gelten. Weitere Werke: Gott betet. Lpz. 1917 (Prosagedichte). – Der Stimmer. Lpz. 1917. Neuausg. u. d. T. Das rosa Haus. Hbg. 1936 (R.). – Der Kinderfreund. Bln. 1919 (D.). – Geburt. Bln. 1921. Wien 2008 (R.). – An der Leine. Bln. 1930 (R.). – Delaïde. Bln. 1935 (R.). – Heute u. vorgestern. Wien 1958 (L., Szenen, P., mit Bibliogr.). – Karl Kraus u. M. L.: ›Verehrte Fürstin‹. Briefe u. Dokumente 1916–58. Hg. Friedrich Pfäfflin u. Eva Dambacher. Gött. 2001. Literatur: Holger Fließbach: M. L. Eine monogr. Studie. Diss. Mchn. 1973. – Golo Mann: M. L. In: NR 90 (1979), S. 554–560. – Leo A. Lensing: Eine ›Erzählung‹ M. L.s als ›Erscheinung‹ in den ›Letzten Tagen der Menschheit‹. In: Kraus-H.e (1991), H. 60, S. 5–9. – Ulrich Ott (Hg.): M. L. 1879–1958. Bearb. v. Wilhelm Hemecker. Marbach 1993 (Ausstellungskat. mit Bibliogr.). – Annette Antoine: M. L. (1879–1958). In: Wie eine Nilbraut, die man in die Wellen wirft. Hg. Britta Jürgs. Grambin 1998, S. 230–249. – Ruth Rehmann: M. L. – die schreibende Fürstin. In: Jb. der Bayer. Akademie der Schönen Künste 13 (1999), Bd. 2, S. 586–596. – Michael Guttenbrunner: Über M. L. In: Mitt.en aus dem Brenner-Archiv 22 (2003), S. 181–188. – Evelyne Polt-Heinzl: Auf ewig zur Dame verdammt. Hinweis auf M. L. In: LuK 43 (2008), H. 425/426, S. 34–42. – Anne Martina Emonts: M. L. Sprachlust u. Sprachkritik. Würzb. 2009. Rita Mielke / Red.

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Lichtenberg, Georg Christoph, * 1.7.1742 Ober-Ramstadt bei Darmstadt, † 24.2. 1799 Göttingen; Grabstätte: ebd., Bartholomäusfriedhof vor dem Weender Tor. – Experimentalphysiker, Philosoph, Satiriker. Hätten L. u. später seine Nachfahren nicht die wiss. Manuskripte u. vor allem anderen die Aufzeichnungen aus 33 Jahren, die er selber »der bösen Welt wegen« erst den Nachgeborenen vorbehalten wollte, zu weit mehr als der Hälfte vollständig u. nachgerade reliquienhaft aufbewahrt u. zahlreiche Briefe von ihm gesammelt, er wäre als einer von vielen seiner Zeitgenossen in der Literaturgeschichte eingesargt worden: als Nebenstunden-Satiriker u. populärer Publizist, Aufklärer aus der Schule des verehrten u. imitierten Lessings – zumal noch mit dem Bedeuten, dass er eigentlich gescheitert sei (weil er den von ihm immer wieder geplanten Roman nicht geschrieben hatte) u. sowohl politisch wie ästhetisch die Zeichen der Zeit nicht erkannte: als Freund des Fortschritts, aber eben dann doch abgesagter Gegner gewaltsamer Revolutionen wie in Amerika u. Frankreich, scharfer Kritiker schwärmerischer Empfindsamkeit u. folgerichtig höhnischer Belacher der Hainbündler u. der Anhänger des Sturm und Drangs. Aus der sehr alten südwestdt. Gelehrten- u. Juristenfamilie Lichtenberger stammend, war der Vater Johann Conrad (1689–1751) eine der wenigen Ausnahmen, die das geistl. Amt wählten: als Landgeistlicher von aufgeklärter, physikotheolog. Anschauung, der die Tochter eines Amtsbruders (Katharina Henriette Eckhard, 1696–1764) heiratete, seine beträchtlichen techn. Kenntnisse als Architekt nutzte, sein Sprachvermögen als geschätzter Prediger u. fruchtbarer Autor von rd. 1200–1500 Kantaten (von eher mittlerer Qualität) bewies u. später zum Metropolitan u. Superintendenten (Landesbischof) von Hessen-Darmstadt avancierte. Der Großvater allerdings war ein erweckter Pietist, einer der Vorfahren mit einiger Wahrscheinlichkeit der Astrologe u. Chiromant Johann Lichtenberger (2. Hälfte des 15. Jh.). Dieser Widerspruch aus orthodoxer Gläubig- u. abweichlerischer

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Frömmigkeit in Verbindung mit einer Neigung zu staatserhaltender Loyalität, praktischem bürgerl. Erwerbssinn u. doch dabei schöngeistigen Neigungen sollte fruchtbar werden, prägte L.s Intellekt ebenso wie sein Empfinden – er hing zeitlebens einem seltsam pathetischen, aber absolut kirchenfernen Glauben an, wandelte sich zunehmend zu einem pan-, ja fast atheistischen Spinozisten u. glaubte an Seelenwanderung. Von Geburt an schwächlich, dann seit frühesten Kindertagen wohl infolge von Rachitis bucklig, war der körperlich Zurückgebliebene (auch erwachsen kaum größer als 1,45 Meter) nicht nur für alle Aufgaben mit vorrangig körperlicher Präsenz untauglich (er litt lebenslang unter einer ständig zunehmenden Lungeninsuffizienz, die auch die akute Todesursache werden sollte, u. hielt sich für zwei Jahre jünger), sondern er musste auch eine in der Familie ungewöhnl. Laufbahn einschlagen, Professor u. Literat werden. 1745 zog die Familie in die Residenz des Duodezfürstentums Hessen-Darmstadt, wo der Vater zum 1. Stadtprediger ernannt worden war u. bald weiter Karriere machte. Dort besuchte L. 1752–1761 das »Pädagogium« mit seiner im Unterrichtsstoff den neuen Interessen des aufgeklärt-absolutist. Staates angepassten alten Lateinschultradition. Trotz der Vorsorge des früh verstorbenen Vaters war das Vermögen über die Studien der älteren Brüder bald aufgezehrt. Deswegen u. infolge des Siebenjährigen Kriegs musste der jüngste noch zwei Jahre zu Haus warten, bevor er begann, sich, mit einem landgräfl. Stipendium schlecht ausgestattet, an der ganz auf England hin orientierten Aufklärungsuniversität Göttingen auf eine Lehrtätigkeit in der Heimat vorzubereiten (am 6.5.1763 als »Mathematum et Physices Studiosus« immatrikuliert). Gießen, wohin er 1767 zum Professor für Mathematik, Physik u. Englisch befohlen wurde, verschmähte er als Student u. später dann auch als Lehrer: Er trat die ihm angebotene Stelle nie an. Die nach Ablauf des »Triennium academicum« zu Subsistenz notwendige Tätigkeit als Hofmeister englischer Studenten wurde entscheidend für seine Berufung an die Göttinger Universität: 1770 von einem seiner Zög-

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linge nach England eingeladen, lernte er in London den König kennen u. wurde zum a. o. Prof., 1775 zum Ordinarius ernannt. Bevor er noch die Lehrkanzel besteigen konnte, schickte ihn kgl. Ordre nach Hannover, Osnabrück u. Stade auf Vermessungsreise: Man wollte der Landesplanung eine genaue Karte zugrundelegen, für deren Gradnetzeinpassung die genannten drei Orte astronomisch zu bestimmen waren. Er entledigte sich dieser Fleißaufgabe mit hinlängl. Sorgfalt u. unter Anwendung der seinerzeit neuesten Methoden v. a. auch durch Prüfung der Instrumente, sodass trotz einiger Ungenauigkeiten in der Längenbestimmung, die nicht ihm allein zur Last zu legen sind, seine Messungen erst durch Gauß’ Triangulation berichtigt werden musste. Als Wissenschaftler war er zwar noch im Geiste Albrecht von Hallers geschult worden, wonach »ins Innre der Natur ... kein erschaffner Geist« (1732) dringe; doch hatte er dafür nur mehr freundl. Spott, akzeptierte derlei Denkschranken nicht. Andererseits versuchte er, ältere Theorien nur langsam u. im ständigen Experiment überprüft zu ergänzen: Sehr spät erst z.B. übernahm er Lavoisiers Oxydationstheorie, welche die alte Lehre Stahls vom Verbrennungsstoff »Phlogiston« ablöste: Er betrachtete sie wie alle Hypothesen als unbeweisbare Vorstellungshilfen u. fragte immer, ob man nicht gerade einander entgegengesetzte Denker u. ihre Theorien miteinander verknüpfen könne, z.B. Newton u. Euler, Kant u. Lesage. Er kam damit heutigen Kenntnissen u. Vorstellungen der Physik näher als alle seine Zeitgenossen. Fern den kulturellen u. polit. Zentren hat er seine kleineren Entdeckungen gemacht u. ist öfter »dicht an großen entlang gestreift«: So demonstrierte er mit elektrostat. Entladungen auf nichtleitende Körper (den nach ihm benannten »Lichtenberg-Figuren«) 1777 als Erster das Phänomen, auf dem die Xerografie beruht (er machte bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal elektr. Ladung sichtbar u. setzte für die nun zweifelsfreie Zwiegestalt, Franklins Redeweise von »positiv« u. »negativ« aufnehmend, die mathemat. Zeichen + E u. – E durch, durch dieses Mehr oder Weniger wiederum den Streit über die Frage vermit-

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telnd, ob die Elektrizität aus einer oder aus zwei Materien bestünde). Ein Dutzend wiss. Gesellschaften ehrten ihn durch Mitgliedschaft (u. a. die Göttinger, Petersburger, Londoner). Sein geringes Einkommen erlaubte ihm lange keine bürgerl. Haushaltung: 1780 nahm er ein 15-jähriges (freilich bereits konfirmiertes u. damit heiratsfähiges) Blumenmädchen, Dorothea Stechard, als Geliebte zu sich; sie starb 1782. Nicht viel älter war seine nächste Geliebte (geb. 1768), die er 1789 heiratete; sie gebar ihm zwischen 1784 u. 1797 acht Kinder. Lebenslang versuchte L., Wissenschaft zu popularisieren: Nur drei Abhandlungen von ihm zieren die »Commentationes« der Sozietät, nur knapp 50 Rezensionen hat er in den »Göttingischen Gelehrten Anzeigen« veröffentlicht. Aber von 1778 bis 1799 gab er den »Göttinger Taschen Calender« heraus, den er größtenteils auch selber schrieb: Weitverbreitet im bürgerl. Boudoir gelang es ihm mit leichter Hand, selbst kompliziertere Sachverhalte der Aufklärung u. ihrer Wissenschaften, insbes. der Physik u. Astronomie, verständlich aufzubereiten. Ausführlicher zu erörternde Gegenstände brachte er in Heinrich Christian Boies »Deutschem Museum« unter, dann 1780–1785 im von ihm selbst redigierten, zus. mit Georg Forster herausgegebenen »Göttingischen Magazin der Wissenschaften und Litteratur«, danach im »Hannoverischen Magazin«. Man darf aber nicht vergessen, dass sein Hauptberuf der eines Professors der Experimentalphysik war, die er in dieser Gestalt überhaupt erst an der Göttinger Universität etablierte: mit dem durchgehaltenen Demonstrationsexperiment, von dem er bis zu 600 in einem Semester vorführte. Die bedeutendsten Gelehrten der folgenden Generation befanden sich unter den 2000–2500 Studenten, die in den 21 Jahren zwischen 1778 u. seinem Tod diese Hauptvorlesung gehört hatten. Das Kolleg hatte er von seinem Freund u. Kommilitonen Johann Christian Polycarp Erxleben »geerbt«, dessen Anfangsgründe der Naturlehre er zunächst seinem eigenen Unterricht zugrunde legte. Viermal (1784–1794) bearbeitete er das alte Lehrbuch oft einschneidend – eine Tätigkeit, die ihm

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zgl. die Ausflucht bot, kein eigenes zu schreiben. L. plante generell mehr als er dann schließlich vollendete: Ein satirischer Roman, eine Autobiografie, Abhandlungen zum »Hydrostatischen Paradox«, zur Theorie des Regens, zu Problemen der Wahrscheinlichkeitsrechnung (darüber schon seine Antrittsvorlesung 1770), zur Wärmereflexion blieben allesamt in Entwürfen u. Fragmenten stecken. Fruchtbarer doch als im eigenständigen Schaffen war er in Widerspruch u. Kritik. So begann man ihn zu fürchten, als er unter dem Pseud. Conrad Photorin im Timorus, das ist, Vertheidigung zweyer Israeliten, die durch die Kräftigkeit der Lavaterischen Beweisgründe und der Göttingischen Mettwürste bewogen den wahren Glauben angenommen haben (Riga 1773) den Zürcher Pfarrer Johann Caspar Lavater bekriegte, weil dieser Moses Mendelssohn aufgefordert hatte, vom jüdischen zum christl. Glauben überzutreten. 1776 mischte er sich in die Diskussion über den unrechtmäßigen Büchernachdruck (das Verlagsrecht begann damals erst langsam sich modernen Prinzipien anzunähern, schützte kaum den Verleger u. überhaupt nicht das Autorrecht) mit seinen Episteln an [den Raubdrucker] Tobias Göbhard. Sie stehen (wie der Timorus) mit ihrer durchgehaltenen Ironie in der alten Tradition der Epistolae obscurorum virorum (1515): Der fingierte Absender versucht als vorgebl. Parteigänger des eigentlich Angegriffenen dessen Position mit abstrusen Argumenten zu verteidigen. 1777 vertrieb L. den Gaukler Jakob Philadelphia durch die Parodie von dessen Affiche aus Göttingen. 1777/78 griff er Lavaters Theorie einer »Physiognomik« an, wohl auch, weil sich der kleine u. bucklige L. von der lavaterischen Heilslehre ausgeschlossen wusste. 1781/82 geißelte er Johann Heinrich Vossens Rigorismus, als dieser seine Transkription des griech. Eta als »ä« durchsetzen wollte. In Voß fand er zwar keinen ebenbürtigen, aber einen unnachgiebigen Widerpart, dem er nach zwei langen Abhandlungen das letzte Wort ließ. Danach enthielt sich L. jeder öffentl. Streiterei – auch in wiss. Fragen hat er mindestens zweimal Schriften noch im Druck zurückgezogen, einmal sogar ein ganzes Buch. Jene Satiren

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haben ihn unter seinen Zeitgenossen berühmt u. gefürchtet gemacht, sie gerieten aber rasch in Vergessenheit. Im 19. Jh. dann sollte die Ausführliche Erklärung der Hogarthischen Kupferstiche (Tle. 1–11, Gött. 1794–1809, von anderen – teilweise schon in 11 – fortgesetzt bis 14, 1835) L.s bekanntestes Werk werden: Bis ca. 1890 hat dieses Werk mit einer Gesamtauflage von zus. rd. 10.000 Exemplaren eine wenigstens doppelt so große Verbreitung erlebt wie alle seine anderen zusammen. Schon im Zusammenhang mit Physiognomik hatte er sich mit Bilderfolgen befasst. Für den »Göttinger Taschen Calender« erläuterte er die damals schier unvermeidl. Monatskupfer. 1784 begann er mit der regelmäßigen Erklärung ausgewählter Bildausschnitte, zumeist der Köpfe, aus den Blättern des engl. Malers u. Grafikers William Hogarth. In groben Zügen fasste er die im Bild gebotene Handlung zusammen, um dann eingehender die kleinen Kopien auch »physiognostisch« zu erläutern u. zgl. die mannigfachen Anspielungen des Künstlers in den Bildern zu entziffern. Seit 1794 fasste L. die Kalender-Erläuterungen als Buchausgabe zusammen. Ihm, der statt eine Handlung zu entwerfen sich in der meisterl. Beschreibung von Einzelheiten verzetteln konnte, war die Vorgabe der Bilderfolge das Spalier, an dem seine satir. Einfälle sich hochranken konnten. Die Ausführliche Erklärung ist vielleicht das Surrogat für L.s jahrzehntelang geplanten gesellschaftskrit. u. literatursatir. Roman. Wirkung gezeitigt haben aber von L.s zu Lebzeiten veröffentlichten Schriften nur wenige; etwa auf einige Romantiker (E. T. A. Hoffmann, August Klingemann) die Hogarth-Erklärung oder Teile seiner aus der Vorlesung bekannten physikal. Gedanken (Ritter, Novalis, Franz von Baader, Schelling): Er wird von der Nachwelt wegen anderer Texte geschätzt als von den Zeitgenossen. Dies sind erstens die rd. 1700 überlieferten (von insg. 8000–10.000) Briefe dieses »Caesars im Briefschreiben«, wie er sich selber einmal ironisch nannte. Mit ihnen wurde er zu einem Klassiker des dt. Briefs, bemerkenswert sowohl durch das Eingehen auf den Korrespondenten als auch durch Ausdruckskraft, Wortwitz u. Formulierungsschärfe des

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Beobachteten, durch Bilderkraft u. die Fä- Die extreme Kürze der Form kam dem Antihigkeit, fremdes Wortmaterial sich anzuver- systematiker L. auch insofern entgegen, als er nicht nur über den 33-jährigen Zeitraum wandeln. Es sind zweitens u. v. a. jene erst postum dieser leider auch in ihrer Überlieferung veröffentlichten 1500 Druckseiten mit ca. fragmentarischen »Doctrine of Scattered Oc8400 Notizen aus 35 Jahren, die gern (zuerst casions« (J. P. Stern), sondern auch buchvon Laube 1839), aber nur zum kleineren Teil stäblich auf derselben Sudelbuchseite den zu Recht »Aphorismen« genannt werden: dialekt. Widerspruch denken u. ausdrücken eine Melange aus bloßen Lesefrüchten u. konnte – um mit der markanten grammat. Exzerpten (darunter bloße Witze, Anekdoten Signatur des Konjunktivs das Mögliche zum u. Kuriositäten); fremden u. (öfter) eigenen potentiell Faktischen werden u. das Experioder doch sprachlich angeeigneten witzigen ment in Gedanken entstehen zu lassen. L.s Nachlass befindet sich in der Niederu. paradoxen Formulierungen, Metaphern, Wortspielen; schließlich nachdenkl. Einfäl- sächsischen Staats- und Universitätsbibliolen u. selbstanweisenden Überlegungen, auch thek Göttingen. naturwissenschaftlich-philosoph. Fragen u. Ausgaben: Vermischte Schr.n. 1. Ausg. Bd. I-IX, Betrachtungen aus allen Bereichen des Lebens Gött. 1800–06. 2. Ausg. Bd. I-XIV, 1844–53. – u. Geistes. Merkbücher, die zunächst noch Aphorismen. Hg. Albert Leitzmann. Bd. I-V, Bln. ganz in der Tradition der »Florilegien« 1902–08. – Schr.en u. Briefe. Mchn. 1967–92 (I-IV. schulmäßiger Rhetorik standen, dann aber in I/IIK. IIIK ff.) (derzeit vollständigste Ausw.). – ihre zwanghaften Regelmäßigkeit geprägt Briefw. Hg. Ulrich Joost u. Albrecht Schöne. Bd. IV, Mchn. 1983–2004 (V in VI). – Eine hist.-krit. u. sind vom Bekenntnisbuch der pietist. Vorkomm. Gesamtausg. sämtl. Werke wird v. der fahren L.s u. dem eigenen astronom. u. ex- Göttinger Akademie der Wiss.en u. der TU Darmperimentellen Beobachtungsbuch. Er schrieb stadt gemeinsam vorbereitet, erschienen sind 3 v. 6 zunächst in kleinen selbstgenähten Heften, Bdn. des naturwiss. Nachlasses (Gött. 2005 ff.); dann in Halblederbände, die er meist von dem sollen 6 Bde. Schriften folgen. vorn beginnend arabisch paginiert mit den Literatur: Otto Deneke: L. Mchn. 1944 (nur allg. Notizen füllte, denen er von hinten Bd. 1 ersch.). – Franz H. Mautner: L. Gesch. seines gleichzeitig (römisch gezählt) die naturwiss. Geistes. Bln. 1968. – Rudolf Jung: L.-Lit. Heidelb. Eintragungen entgegenlaufen ließ. Auch 1972 (laufend fortgesetzt u. intensiv korrigiert im darin zeigt sich sein Anliegen, die schon da- L.-Jb.). – L.-Jb. Hg. Wolfgang Promies (†) u. Ulrich mals zerfallende Einheit der Wissenschaft zu Joost. Heidelb. 1989 ff. (bis 2007 Erscheinungsort restituieren, die beiden Kulturen zusam- Saarbr.). – L.-Studien. Hg. U. Joost u. Stefan Brüdermann. Gött. 1989 ff. – Albrecht Schöne: Aufmenzuhalten. Mit den Eintragungen in dieklärung aus dem Geist der Experimentalphysik. L.s sen »Sudelbüchern«, wie er sie einige Male Konjunktive. Mchn. 1982. 3., verb. Aufl. 1993. – G. bezeichnete (auch die Ausdrücke »Gedan- C. L. 1742–99. Wagnis der Aufklärung. Ausstelkenbuch«, »Hausbuch« u. »Exzerpten-Buch lungskat. mit Aufsätzen. Mchn. 1992. – Gert Sparbüchse« begegnen), mit diesen »Pfennigs Sautermeister: G. C. L. Mchn. 1993. – Wolfgang Wahrheiten« zeigt er sich als einer der Promies: L. [1964]. 5., verb. Aufl. Reinb. 1999. – schärfsten Beobachter u. als originellster Wolfram Mauser: G. C. L. Vom Eros des Denkens. Kopf seiner Zeit, als Philosoph (nicht zuletzt, Freib. i. Br. 2000. Ulrich Joost weil er auch hier die eigene »antisystematische« Art zu denken demonstriert u. lehrt, Lichtenberger, Johannes, eigentl.: J. »Wahrheit zu finden«) sowie als Meister der Grümbach, Grunbach, Grunenbach, * um Sprache u. Begründer des dt. Aphorismus. Er 1440 Grünbach/Pfalz, † 1503 Brambach steht dabei erst den Romantikern, dann uns (?). – Astrologe u. Pfarrer. Heutigen viel näher als der eigenen Tradition: Francis Bacons Wissenschaftsaphorismen Über L.s Ausbildung ist nichts bekannt. Seine in dessen Novum Organon oder den Sätzen der mutmaßlich erste Schrift über die Kometenfrz. Moralisten, mit denen man ihn nicht erscheinung vom 22.9.1468 ist nicht überlieganz zu Recht in Verbindung bringen wollte. fert. In Landshut verfasste er 1471 ein Horo-

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skop für Herzog Ludwig IX. von BayernLandshut. 1472 warnte er die Stadt Köln anlässlich einer Kometenerscheinung vor kommendem Unheil. 1473–1476 trat L. als Autor verschiedener astrolog. Gutachten u. a. für Kaiser Friedrich III. u. die Stadt Köln hervor u. nannte sich stolz kaiserl. Hofastrologe (»astrorum iudex sacri imperii«). Vermutlich aufgrund einiger zu kühner Prophezeiungen, die sich als falsch erwiesen, verlor er seine Stellung am Kaiserhof u. erhielt vor 1481 dank der Fürsprache der Pfalzgräfin Johanna die Pfarrei in Brambach übertragen. 1488 erschien in Heidelberg anlässlich der großen Konjunktion von Saturn u. Jupiter im Nov. 1484 sein astrolog. Hauptwerk, die Pronosticatio. Da sich L. nicht vor konkreten Einzelprognostiken scheute u. in einem seiner Horoskope den Tod durch Mord oder durch den Strang prophezeite, zog er den Verdacht der Kölner theolog. Fakultät u. ihres Inquisitors Jakob Sprenger auf sich, der ihm 1492 mit der Festnahme drohte. L.s Schüler, u. a. Johannes ab Indagine u. Peter Creutzer, priesen ihn als Meister der Sternkunst u. betonten die natürlichen, d.h. nicht mag. Quellen seiner prophet. Kunst. Von der überregionalen Verbreitung der mit zahlreichen, z.T. schwer deutbaren Holzschnitten ausgestatteten lat. Pronosticatio, vor 1492 auch schon in dt. Übersetzung, zeugen allein 29 Neudrucke bis 1530 im deutschsprachigen Raum u. in Italien. Bis zum 19. Jh. steigt die Anzahl der Ausgaben auf mehr als 50, die der Teildrucke in Sammelprognostiken auf über 30. L. greift hier nicht nur auf die Konjunktionenlehre der arab. Astrologie, sondern v. a. auf die mittelalterl. Kaiserprophetie u. joachimit. Vatiziniengut zurück, um im christlich-eschatolog. Rahmen den Herrschaftsanspruch der Habsburger zu begründen u. die angebl. Bedrohung durch die Türken u. Juden abzuwehren. Seine Hoffnung richtete sich auf den künftigen Kaiser Maximilian I., der für die Beseitigung der innenpolit. u. konfessionellen Zwietracht u. die Wiederherstellung der alten ständ. Ordnung sorgen werde. Die außerordentl. Wirkung des Traktats lässt sich v. a. dadurch erklären, dass L. verschiedene, z.T. auch zeitgenössische prognost. Quellen zu

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seiner politisch aktuellen Deutung verarbeitet hat. Die Pronosticatio erlangte Berühmtheit, weil sie der astrolog. Sintflutpublizistik um 1524 zur Grundlage diente u. einzelne ihrer Elemente in der antipäpstl. Propaganda der Lutheraner wiederverwendet werden konnten. Der bekannteste Nachdruck ist die Wittenberger Ausgabe in einer Übersetzung Stephan Rodts mit einer Vorrede Luthers, welche die papst- u. kirchenkrit. Partien der Prophezeiung ausdrücklich anerkannte, ansonsten aber den Aussagewert astrologischer u. anderer nicht-bibl. Prognostiken prinzipiell in Frage stellte. L.s Pronosticatio wurde zus. mit anderen spätmittelalterl. Vatizinien in Zeiten politischer bzw. konfessioneller Krisen bis ins 19. Jh. neu aufgelegt, wobei der Zeitpunkt der Erfüllung jeweils in die eigene Zukunft verschoben wurde. Literatur: Biografien: Walter Haarbeck: Der Astronom J. L. In: Pfälz. Museum 34 (1917), S. 52–54. – Lynn Thorndike: A History of Magic and Experimental Science. Bd. 4, New York 1934. 4 1966, S. 140–142, 146–150. – Dietrich Kurze: J. L. In: AKG 18 (1956), S. 328–343. – Ders.: J. L. Lübeck/Hbg. 1960 (S. 81–87 Werkverz.). – Ders.: L. In: VL. – Ders.: Popular Astrology and Prophecy in the Fifteenth and Sixteenth Centuries: J. L. In: ›Astrologi hallucinati‹. Hg. Paola Zambelli. Bln./ New York 1986, S. 177–193. – Wirkung: Aby Warburg: Heidn.-antike Weissagung in Wort u. Bild zu Luthers Zeiten (1919). In: Ders.: Ausgew. Schr.en. Hg. Dieter Wuttke. Baden-Baden 1979, S. 34–49. – Marjorie Reeves: The Influence of Prophecy in the Later Middle Ages. Oxford 1969 (Register). – Barbara Bauer: Die Rolle des Hofastrologen u. Hofmathematicus als fürstl. Berater. In: Höf. Humanismus. Hg. August Buck. Weinheim 1989, S. 93–117. – Heike Talkenberger: Sintflut. Prophetie u. Zeitgeschehen in Texten u. Holzschnitten astrolog. Flugschr.en 1488–1528. Tüb. 1989. – Jonathan Green: Bilder des fiktiven Lesers als Imaginationslenkung in L.s ›Pronosticatio‹. In: Imagination u. Deixis. Studien zur Wahrnehmung im MA. Hg. Kathryn Starkey u. Horst Wenzel. Stgt. 2007, S. 177–190. – Anneliese Schmitt: Text u. Bild in der prophet. Lit. des 15. Jh. Zu einer ›Praktik‹ J. L.s aus dem Jahre 1501. In: Von der Wirkung des Buches. Hg. Friedhilde Krause. Bln. 1990, S. 160–176. Barbara Bauer / Red.

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Lichtenstein, Alfred, * 23.8.1889 Berlin, † 25.9.1914 Vermandovillers/Somme (gefallen). – Lyriker u. Erzähler. L., Sohn eines jüd. Textilfabrikanten, studierte nach dem Besuch des Luisenstädtischen Gymnasiums (1899–1909) Jura, von 1909 bis 1913 an der Friedrich-WilhelmsUniversität in Berlin, danach an der Friedrich-Alexander-Universität in Erlangen, wo er im Jan. 1914 mit der Dissertation Die rechtswidrige öffentliche Aufführung von Bühnenwerken promoviert wurde. L. spürte früh die Brüchigkeit u. das Beben der wilhelmin. (Vorkriegs-)Zeit, das sich »friedlich nähernde«, »große Grauenhafte«, wie er es in einem späteren Gedicht nannte. Schon seine ersten, in der Schulzeit entstandenen Gedichte zeigen neben ichbezogenen Leidensbekundungen artistische, vom Kabarett beeinflusste Rollenspiele, in denen L. auf offenbar humorvolle Weise das von einem chaotischen, sinnlos gewordenen Dasein gequälte Ich maskiert u. damit eine erlösende Distanz vom Weltschmerz erreicht. Ab 1910 veröffentlichte er zahlreiche Gedichte u. einige kürzere Prosatexte in diversen avantgardist. Zeitschriften; bes. in Franz Pfemferts »Aktion« u. Herwarth Waldens »Sturm« erregte er mit seinen Dichtungen Aufsehen. Für Furore sorgte v. a. sein Gedicht Die Dämmerung, das im März 1911 im »Sturm« erschien u. – in Weiterführung des grotesken Simultanstils von Jakob van Hoddis’ kurz zuvor publiziertem Gedicht Weltende – die auseinanderfallende Wirklichkeit, die gleichzeitigen heterogenen Wahrnehmungen großstädt. Realität konsequent gestaltete. So wurde Die Dämmerung zu einem »poetischen Fanal« des Expressionismus, zu einem Muster der neuen, revolutionären Dichtkunst. Es gehört zur Chronique scandaleuse des an Aufsehenerregendem reichen Lebens seiner rebellischen Generation, dass L. aufgrund des Streits um die literar. Originalität mit »tonangebenden« Schriftstellern des Berliner Expressionismus – den führenden Mitgliedern des »Neuen Clubs« Kurt Hiller, Jakob van Hoddis, Ernst Blass – verfeindet war. In seinen Geschichten um die tragikom. Figur des kleinen buckligen Dichters Kuno Kohn, ei-

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nem Zerrspiegel des Autors, hat L. diese Konflikte verschlüsselt. Eine erste Sammlung seiner Gedichte erschien Ende 1912 als »Lyrisches Flugblatt« u. d. T. Die Dämmerung (Titelblattangabe: Bln.-Wilmersdorf 1913); größere Editionen wurden erst postum veröffentlicht. Die in L.s Texten sich immer wieder manifestierende menschl. Bedrohung, die Ahnungen einer Weltkatastrophe fanden mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs ihre bittere Entsprechung in der Realität. L., der als Einjährig-Freiwilliger im Okt. 1913 in ein Bayerisches Infanterieregiment eingetreten war, musste nach der Mobilmachung gleich einrücken. Seine in dieser Zeit entstandenen Gedichte sind eindringl. Zeugnisse der Verzweiflung über die Sinnlosigkeit des Kriegs. L. fiel nur wenige Wochen nach Kriegsbeginn an der Westfront. Obwohl sein Werk quantitativ u. motivisch begrenzt blieb, hat L., der unverkennbar literar. Anregungen aufnahm, den schwarzen Humor, die lyr. Groteske konsequent ausgeprägt; dadurch konnte er selbst künstlerisch anregend wirken, so etwa auf den Dadaismus oder auf die Kabarettlyrik der 1920er Jahre, ein Einfluss, der bis zu Peter Rühmkorf u. Hanns Dieter Hüsch reicht. Weiteres Werk: Verfasserschaft unsicher: Die Gesch.n des Onkel Krause, ein Kinderbuch. Bln. 1910. Ausgaben: Gedichte u. Gesch.n. Hg. Kurt Lubasch. 2 Bde., Mchn. 1919. – Ges. Gedichte. Krit. hg. v. Klaus Kanzog. Zürich 1962. – Ges. Prosa. Krit. hg. v. dems. Zürich 1966. – Die Dämmerung. Ausgew. Gedichte. Ausw. u. Nachw. v. Joachim Schreck. Bln./Weimar 1977. – Die Welt fällt um. Die Augen stürzen ein. Hg. Jago B. Langer. Fulda 1985. – Dichtungen. Hg. K. Kanzog u. Hartmut Vollmer. Zürich 1989. – Große Mausefalle. Groteske Gedichte. Hg. J. Schreck. Bln. 1996. Literatur: Herbert Heckmann: Marginalien zu L. In: Akzente 2 (1955), S. 408–421. – Klaus Kanzog: Die Gedichthefte A. L.s. In: JbDSG 5 (1961), S. 376–401. – Wolfgang Paulsen: A. L.s Prosa. In: JbDSG 12 (1968), S. 586–598. – Heinrich Küntzel: A. L. In: Expressionismus als Lit. Hg. Wolfgang Rothe. Bern/Mchn. 1969, S. 398–409. – W. Paulsen: A. L. Die Dämmerung. In: Gedichte der ›Menschheitsdämmerung‹. Hg. Horst Denkler. Mchn. 1971, S. 70–80. – Patrick Bridgwater: The Poet as Hero

Lichtenthaler Marienklage

403 and Clown. A Study of Heym and L. Durham 1986. – Hartmut Vollmer: A. L. – Zerrissenes Ich u. verfremdete Welt. Aachen 1988. – Nadine Fuchs: Der Student A. L. (1889–1914). Neue Erkenntnisse zur Biogr. des Expressionisten. In: ZfG N. F. 15 (2005), S. 327–336. – Michael Ansel: A. L.s ›Skizzen‹. Frühexpressionist. Rollendichtung im Kontext der Kurzprosa der Moderne. In: Kleine Prosa. Theorie u. Gesch. eines Textfeldes im Literatursystem der Moderne. Hg. Thomas Althaus, Wolfgang Bunzel u. Dirk Göttsche. Tüb. 2007, S. 139–156. Hartmut Vollmer

Lichtenstein, Hinrich, * 10.1.1780 Hamburg, † 5.9.1857 Ostsee (während einer Schiffsreise). – Zoologe, Ethnologe. Nach dem Medizinstudium (Promotion 1802) war L. zunächst Hauslehrer, 1803 begleitete er den holländ. Generalkommissar de Mist an die Ostgrenze der Kolonie in Südafrika. Ab 1805 war L. Regimentsarzt des HottentottenBataillons (1805), kehrte aber nach der Besetzung Kapstadts durch engl. Truppen (1806) nach Deutschland zurück, um sich der Bearbeitung seines gesammelten zoolog. u. ethnolog. Materials zu widmen. 1811 wurde L. die Ehrendoktorwürde der Universität Berlin verliehen, der die Ernennung zum Professor der Naturwissenschaften folgte. Nach zahlreichen Ehrenämtern wurde L. 1840 Rektor der Universität Berlin. L.s viel beachtetes u. von zeitgenöss. Geografen gerühmtes Reisewerk Reisen im südlichen Afrika [...] (2 Bde., Bln. 1811. Neudr. Stgt. 1965) ist auch heute noch eine wichtige Quelle ethnologischer u. histor. Forschung, die Einblick in die ethn. u. gesellschaftl. Verhältnisse der Kap-Region zu Beginn des 19. Jh. bietet. Literatur: Erwin Stresemann: H. L. Lebensbild des ersten Zoologen der Univ. Berlin. In: Forschen u. Wirken. FS zur 150-Jahr-Feier der Univ. Berlin. Bln. 1960. – G. H. H. Spohr: H. L. In: Dictionary of South African Biography. Bd. 3, Kapstadt 1977. O. F. Raum / Red.

Lichtenthaler Marienklage. – Anonyme Mariendichtung einer Handschrift aus der ersten Hälfte des 14. Jh. Die Sprache der einzigen Handschrift (Ende 13. Jh.) weist in den bair. Raum. Der Text

enthält keine Bühnenanweisungen; sein dramat. Charakter ist nur aus der dialogischen Gestaltung abzuleiten. Die L. M. besteht aus drei parallel gebauten Teilen: 1. drei Strophen Marias von je 18 Versen, eine Strophe des Johannes; 2./3. je zwei Strophen Marias mit je einer Antwortstrophe des Johannes. Im zweiten u. dritten Teil fehlt den Strophen der Abgesang von sechs Versen (überlieferter Umfang 144 Verse). Am Schluss folgen einige Verse aus den Wegstrophen der Marien im Osterspiel, sodass es sich vielleicht um das Fragment eines Osterspiels mit eingefügter Marienklage handelt. Die Klagesituation der L. M. ist im Unterschied zu anderen Marienklagen diejenige nach dem Tode Jesu. Maria gibt ihrem Schmerz Ausdruck: Sie, der Weinen bisher unbekannt war, muss nun weinen u. klagen, da sie ihren Sohn tot sieht. Sie ruft den Tod herbei, der ihre Not beenden soll. Sie beklagt, dass sie weiterleben muss mit ihrem Schmerz. In der dritten Strophe wendet sie sich an Johannes, der ihr helfen soll zu klagen. Johannes will Maria mit der Erlösungswirkung des Todes Jesu trösten, der schon vorausgedacht wurde, ehe Jesus geboren war. Maria erneuert ihre Klage: Sie wäre lieber an Jesu Stelle tot. Das Schwert, das ihr einst verheißen wurde, schneidet jetzt durch ihr Herz. Sie fordert das Kreuz auf, sich zu neigen u. sie an Jesu Seite zu ziehen. Johannes weist abermals auf den Heilsplan hin, demgemäß Jesus zur Erlösung der Welt sterben musste. Maria aber beklagt erneut das Unrecht, das Jesus geschehen ist. Sie fordert alle, die selber Leid erfahren haben, auf, mit ihr zu klagen, u. wird von Johannes wiederum aufgefordert, von ihrer Klage zu lassen: Wäre Jesus nicht heute getötet worden, so wären alle verdorben. Er werde Maria u. Johannes trösten u. Maria am dritten Tage krönen. Der Dialog gewinnt seinen eigenen Charakter durch das unverbundene Nebeneinander von Marias Klage über Jesu Tod u. Johannes’ Erklärung der Notwendigkeit dieses Todes als Mittel der Erlösung. Marias Klagestrophen sind noch frei von der in jüngeren Marienklagen auftretenden Einbeziehung des Publikums in das Mitleiden, die Compassio. Die Einordnung des Geschehens in

Lichtwark

den göttl. Heilsplan entspricht auch der Darstellung in den frühen Passionsspielen. Ausgabe: Franz Joseph Mone (Hg.): Schausp.e des MA 1. Karlsr. 1846, S. 31–37. Literatur: Hans Eggers: L. M. In: VL. – Rolf Bergmann: Kat. der deutschsprachigen geistl. Spiele u. Marienklagen des MA. Mchn. 1986, Nr. M 68, S. 430 f. – Felix Heinzer u. Gerhard Stamm: Die Hss. v. Lichtenthal. Mit einem Anhang: Die heute noch im Kloster Lichtenthal befindl. Hss. des 12. bis 16. Jh. Wiesb. 1987, S. 115 f. (auch online verfügbar). Rolf Bergmann / Red.

Lichtwark, Alfred, * 14.11.1852 Reitbrook bei Hamburg, † 13.1.1914 Hamburg. – Kunsthistoriker u. -pädagoge. L., der aus einer verarmten Bauernfamilie stammte u. früh seinen Vater verlor, besuchte zunächst eine Hamburger Privatschule, bevor er 1860 nach dem finanziellen Ruin der Eltern, auf die »Freischule« für Mittellose wechseln musste. Noch während der Schulzeit wurde dem 14-Jährigen die Vertretung des erkrankten Lehrers angetragen. Nach der Konfirmation u. dem bestandenen Lehrerexamen 1871 arbeitete er bis zu seiner ständigen Anstellung als Lehrer an der Jacobikirchen-Schule als Hilfspädagoge. 1880 wurde ihm nach intensiven Privatstunden u. durch die Vermittlung von Justus Brinckmann das Studium der Kunstgeschichte u. Philosophie an der Leipziger Universität ohne Reifeprüfung gestattet. Bereits nach einem Studienjahr erhielt L. eine Stelle als Assistent u. Bibliothekar am Berliner Kunstgewerbemuseum, 1885 wurde er in Leipzig mit einer Studie über den Ornamentenstich der dt. Frührenaissance (Die Klemmeuter als Ornamentalisten) promoviert u. begann seine ausgedehnte schriftstellerische Tätigkeit, indem er für die »Nationalzeitung« u. die »Gegenwart« publizierte. 1886 übernahm L. die Leitung der Hamburger Kunsthalle, die er durch den planvollen Erwerb norddt. Kunst in wenigen Jahren zu einer überregional bedeutenden Sammlung ausbaute. Bes. Verdienste hat sich L. mit seinen kunstpädagog. Publikationen erworben. In zahlreichen programmat. Schriften (u. a. Übungen in der Betrachtung von Kunstwerken.

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Hbg. 1897. Die Erziehung des Farbensinnes. Bln. 1901. Der Deutsche der Zukunft. Bln. 1905) hob L. die Rolle der ästhetischen u. künstlerischen Erziehung für die Volksbildung hervor u. betonte hier v. a. die Bedeutung des Museums als Schnittstelle zwischen Kunst u. ihrer Demokratisierung: »Die Museen, die dem ganzen Volke offenstehen, die allen zu Dienste sind und keinen Unterschied kennen, sind ein Ausdruck demokratischen Geistes« (Museen als Bildungsstätten. Mannh. 1903). Als Wegbereiter u. Exponent der Kunsterziehungsbewegung äußerte er sich zu verschiedenen Aspekten der Museumspädagogik (u. a. Zur Organisation der Hamburger Kunsthalle. Die Aufgaben der Kunsthalle. Die Kunst in der Schule. Hbg. 1887), der norddt. Kunstgeschichte (u. a. Hermann Kauffmann und die Kunst in Hamburg von 1800–1850. Mchn. 1893. Matthias Scheits als Schilderer des Hamburger Lebens. 1650 bis 1700. Hbg. 1899. Meister Francke. 1424. Hbg. 1899. Meister Bertram, tätig in Hamburg 1367–1415. Hbg. 1905), der Architektur (u. a. Palastfenster und Flügelthür. Bln. 1899. Park und Gartenstudien. Bln. 1909), der Kunstpädagogik (u. a. Wege und Ziele des Dilettantismus. Mchn. 1894. Vom Arbeitsfeld des Dilettantismus. Dresden 1897), der Regionalgeschichte (u. a. Hamburg-Niedersachsen. Städtestudien. Dresden 1897) u. der Fotografie (u. a. Die Bedeutung der Amateur-Photographie. Halle 1894). Vor allem die von L. eingenommene, umfassende kunsttheoret. Perspektive, die die Kunstgeschichte u. -theorie nicht nur mit ökonomischen, polit. u. nat. Aspekten in Verbindung bringt, sondern v. a. auch Kunst u. Lebensführung in eins denkt, ist ein bes. Zug seiner Schriften. Unter dem Schlagwort der »Erziehung des Auges« galt ihm, in einer »Symptomatik der Alltagsgegenstände«, Geschmack als Ausdruck des Zeitgeistes, der massenwirksam geschult werden sollte. Unter der Prämisse, künstlerische Bildung habe Einwirkung auf das Handeln u. Denken des Menschen, begriff er daher auch den Dilettantismus als Teil »einer sittlichen Erneuerung unseres Lebens« (Der Deutsche der Zukunft). Ähnlich wie William Morris verwies L. auf die Bedeutung handwerklicher u. kunstgewerbl. Traditionen u. wandte sich gegen die ästhet. Unverbindlichkeit des zeitgenöss.

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Eklektizismus. Seine mit der Vorliebe für die heimische Kulturlandschaft einhergehende Wertschätzung des Nationalen erwuchs im Gegensatz zu Langbehns völk. Irrationalismus aus einem durch den krit. Vergleich geschulten Traditionsbewusstsein. Weitere Werke: Makartbouquet u. Blumenstrauß. Mchn. 1894. – Studien. 2 Bde., Hbg. 1896/ 97. – Blumenkultus. Wilde Blumen. Dresden 1897. – Das Bildnis in Hamburg. 2 Bde., Hbg. 1898. – Herausgeber: Philipp Otto Runge. Pflanzenstudien mit Schere u. Papier. Hbg. 1895. Ausgaben: A. L. Eine Ausw. seiner Schr.en. Hg. Wolf Mannhardt. 2 Bde., Bln. 1917. – A. L. Erziehung des Auges. Ausgew. Schr.en. Hg. Eckhard Schaar. Ffm. 1991. – Briefe: Briefe an die Commission für die Verwaltung der Kunsthalle. 20 Bde., Hbg. 1896–1920. – Briefe an Max Liebermann. Hg. Birgit Pflugmacher. Olms 2003. – Briefe an W. Mannhardt. Hg. Carl Schellenberg. Hbg. 1952. – Briefe an Leopold Graf v. Kalckreuth. Hg. ders. Hbg. 1957. Literatur: Helmut Klausch: Beiträge A. L.s zu einer neuen Gartenkunst in seiner Zeit. Hann. 1971. – Edgar Beckers: Das Beispiel A. L. Eine Studie zum Selbstverständnis der Reformpädagogik. Köln 1976. – Werner Kayser: A. L. Hbg. 1977 (Bibliogr.). – Hans Präffcke: Der Kunstbegriff A. L.s. Hildesh. u. a. 1986. – Helmut R. Leppien (Redaktion): Kunst ins Leben. A. L.s Wirken für die Kunsthalle u. Hamburg v. 1886 bis 1914. Hbg. 1986. – Michaela Uhde-Hamer: Erziehung zum Dilettantismus. Künstlerische Frauenbildung in Hamburg zur Zeit A. L.s. Kiel 1993. – Rudolf Großkopff: A. L. Hbg. 2002. – Joist Grolle: L. erfindet Hamburg. In: Ztschr. des Vereins für Hamburgische Gesch. 88 (2002), S. 125–145. – Nobumasa Kiyonaga: A. L. Kunsterziehung als Kulturpolitik. Mchn. 2008. York-Gothart Mix / Carolina Kapraun

Lichtwer, Magnus Gottfried, * 30.1.1719 Wurzen/Sachsen, † 7.7.1783 Halberstadt. – Fabeldichter. L.s Ruhm im 18. Jh. gründete sich auf ein Werk: die 1748 in Leipzig anonym erschienenen Vier Bücher Äsopischer Fabeln, in gebundener Schreib-Art. Sie stießen jedoch erst auf Resonanz, nachdem Gottsched sie 1751 enthusiastisch in »Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit« (S. 156–163) gewürdigt hatte: »Man kann mit allem Rechte von ihnen

sagen [...], daß sie zu den schönsten zu zählen sind, die unser Deutschland aufzuweisen hat« (S. 156). 1758 wurde eine zweite, erweiterte Auflage (Bln.) notwendig, der 1762 die leicht veränderte dritte (Bln.) u. 1775 schließlich die vierte (Bln./Stralsund) folgte – alle unter L.s Namen. Doch erst die Nachdrucke der dritten Auflage durch Trattner in Wien (sieben zwischen 1767 u. 1790) sowie die von Pfeffel besorgte frz. Prosaübersetzung (Fables Nouvelles. Straßb., Paris 1763) lassen die Popularität der L.’schen Fabeln erkennen. Aufgrund der Fabeln rechnete Goethe L. unter die »besten Köpfe« des 18. Jh. (Dichtung und Wahrheit, 7. Buch). Die Wiederentdeckung der Fabel als literarisch-pädagog. Genre im 19. Jh. wirkte als Verstärker einer bis in die Gegenwart andauernden Rezeption (siehe vollst. Ausg. der Fabeln in: FamilienBibliothek der Deutschen Classiker. Bd. 30, Hildburghausen/Amsterd. 1842. Blinder Eifer schadet nur! Fabeln, Lehrgedicht. Lpz. 1969. 31983). Obgleich Gottsched L. immer wieder zur literar. Produktion aufforderte – die in »Das Neueste« veröffentlichten Lieder u. Oden sind der zweiten Auflage der Vier Bücher beigegeben – u. ihn durch die Aufnahme in die Deutsche Gesellschaft zu Königsberg (1752) u. die Gesellschaft der freyen Künste zu Leipzig (1758) in die »gelehrte Republik« einzubinden trachtete, hat L. ein Leben als literar. Außenseiter geführt. Das Vermögen seiner Familie ermöglichte ihm trotz des frühen Todes seines Vaters (1721), Stiftsrat in Wurzen u. Appellationsgerichtsrat in Dresden, eine gute Schulbildung u. das Jurastudium in Leipzig (1737–1741). Da sich seine Hoffnung auf eine Anstellung in Dresden zerschlug, setzte er 1743 seine Studien in Wittenberg fort, wo er 1744 zum Dr. jur. u. Magister der Philosophie promovierte. Nach Aufenthalten u. a. in Quedlinburg u. Halberstadt begann L. 1747 in Wittenberg Vorlesungen über die Wolff’sche Philosophie zu halten, musste aber 1749 seine Lehrtätigkeit aus Gesundheitsgründen aufgeben. In diesen Jahren verfasste er zwei jurist. Abhandlungen u. jene Fabeln, die ihn in den Augen der Kritik Hagedorn, Gellert u. Lessing ebenbürtig machten. Nach der Heirat mit der Tochter eines Wittenberger Gelehrten zog L.

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1749 nach Halberstadt u. arbeitete als Referendar bei der Landesregierung. 1752 wurde er zum Regierungsrat u. 1760 zum Konsistorialrat ernannt (1763 bestätigt u. als »Criminalrichter« eingesetzt). 1763 erschien anonym in Berlin L.s letzter Beitrag zur Literatur, die kommentarreiche Übersetzung des Dialog des Octavius von Marcus Minucius Felix, einem frühchristl. Apologeten. L. widmete sich zunehmend seiner Tätigkeit als Kriminal- u. Vormundschaftsrat u. vermied fast jeden Kontakt zu Schriftstellern u. Kritikern, einschließlich des Halberstädter Dichterkreises um Gleim. Auch denen, die ihn schätzten, galt er als »hart und schroff, wie seine Moral« (Klamer Eberhard Karl Schmidt, zit. Cramer, S. XLI). Ursache der selbstgewählten Isolation dürfte nicht allein die starke berufl. Beanspruchung gewesen sein, sondern auch die Enttäuschung über die ablehnende Aufnahme seines auf Anraten Gottscheds Friedrich II. gewidmeten Lehrgedichts Das Recht der Vernunft (Lpz. 1758, Nachdr. Wien 1773, freie frz. Bearb. Verdun 1777; positiv rezensiert von Gottsched in »Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit« 1758, S. 94–104. Neudr. Hettche 2003, S. 104–110) u. nicht zuletzt die Verbitterung (s. L. in »Staats u. Gelehrte Zeitungen des Hamburgischen unpartheischen Correspondenten«, Nr. 132, 21.8.1761) über die von Ramler anonym veranstaltete unberechtigte Ausgabe seiner Fabeln (Magnus Gottfried Lichtwers auserlesene und verbesserte Fabeln und Erzählungen. Greifsw./Lpz. 1761. Nachdr. Amsterd. 1765). Vielleicht angeregt von Mendelssohns Kritik an einer »unangenehmen Länge« u. »gemeinen Moral« (Bibliothek der schönen Wissenschaften und freyen Künste. Bd. 3, 1, Bln. 1758, S. 57–73. Neudr. Hettche 2003, S. 115–125), hatte Ramler L.s Fabeln nach Gutdünken bearbeitet. Nachdem Mendelssohn, Lessing zitierend, in den »Briefen die Neueste Litteratur betreffend« (233. Brief) die Eingriffe Ramlers mit dem Argument eines eingeschränkten Eigentumsrechts des Autors an seinem Werk gutgeheißen hatte, setzte sich L. zwar in seiner Ausgabe von 1763 heftig zur Wehr, zog sich dann aber vom Literaturbetrieb zurück.

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Für L. bedeutete Literatur – in Übereinstimmung mit dem von Gottsched an der Fabel entwickelten aufklärerischen Literaturbegriff – eine andere Form der Gelehrsamkeit, deren Zweck u. Legitimation in der vernunftgeleiteten Vervollkommnung des Menschen besteht. So bediente L. sich fast ausschließlich didaktischer Gattungen. In seinem Lehrgedicht versuchte er Wolffs Naturrechts- u. Sittenlehre zu popularisieren. Dass er damit eine ältere Aufklärung vertrat – von ihm wohl geahnt, wie seine Polemik gegen Klopstock in den Briefen an Gottsched nahelegt –, belegen zum einen die krit. Stimmen, die in der Versifizierung der philosophischen Ideen noch kein Gedicht erblicken wollten, zum anderen der Vergleich mit Gleims gleichzeitig entstandener patriot. Lyrik. Während L. allein auf die Verstandeseinsicht setzte – die Wahl von Gattung u. Thema ist ein Indiz dafür –, zeigte Gleim im publizist. Einsatz von Versen für den bedrängten Friedrich II., dass er den emotionalisierenden Charakter von Literatur erkannt hatte u., im Gegensatz zum »pazifistisch« gesinnten L., politisch zu nutzen verstand. Neben dem Lehrgedicht entsprach v. a. die Fabel als anschauende Darstellung von Wertu. Verhaltensmustern L.s didakt. Literaturverständnis. Wie bei Gleim dominiert die Tierfabel. Die Themen entsprechen denen didaktischer u. satir. Literatur der Zeit: Skrupellose Juristen, medizinische Scharlatane oder übereifrige Pädagogen werden kritisiert, Duelle wie überhaupt jede kriegerische Auseinandersetzung verworfen u. Tugenden wie Fleiß, Bescheidenheit u. Vernünftigkeit herausgestellt. Ähnlich wie Gellert nähert L. den Fabelton der Konversationssprache an u. arbeitet mit den Mitteln der spannungssteigernden Rede u. Gegenrede, der überraschenden Schlusspointe u. eines Fragen u. Einwürfe bringenden fiktiven Lesers als Prinzipien der Annahmeverführung. Ausgaben: Poet. Schr.en v. M. G. L. Wien 1793. Modernisiert 1820. – M. G. L.s Schr.en. Hg. Ernst Ludwig Magnus v. Pott. Halberst. 1828. – Teilausgabe: L. u. Gottsched. Briefw., Fabeln, Rezensionen. Hg. Walter Hettche. Bielef. 2003. Literatur: Friedrich Wilhelm Eichholz: M. G. L. [...] Leben u. Verdienste. Halberst. 1784. –

Liebesabenteuer in Konstanz

407 Friedrich Cramer: Vorrede u. Biogr. In: M. G. L.s Schr.en. a. a. O. – Georg Ellinger: Über L.s Fabeln. In: ZfdPh 17 (1885), S. 314–340. – Elias Erasmus: L. u. seine Fabeln. In: FS Fedor v. Zobeltitz. Weimar 1927. – Hans Petzsch: M. G. L. 250 Jahre. In: Sächs. Heimatbl. 15 (1969). – Hans-Wolf Jäger: Lehrdichtung. In: Hansers Sozialgesch. der Lit. Hg. Rolf Grimminger. Bd. 3, Mchn. 1980. – Peter Hasubek (Hg.): Die Fabel. Theorie, Gesch. u. Rezeption einer Gattung. Bln. 1982. – Friedrich Vollhardt: Selbstliebe u. Geselligkeit. Tüb. 2001, S. 285–291 (zu ›Recht der Vernunft‹). – Walter Hettche: Nachw. in: L. u. Gottsched. Hg. ders. Bielef. 2003, S. 165–176. – Ders.: Drei Briefe v. M. G. L. an Abraham Gotthelf Kästner: Eine Marginalie zur Literaturgesch. des 18. Jh. In: Euph. 100 (2006), S. 489–500.

Schuchischen Truppe uraufgeführt, lieferte L. einen frühen Beitrag zur Gattung des bürgerl. Trauerspiels. 1758 kam sein Lustspiel Die Insel der Pucklichten (Breslau 1758. Auch in: Theater der Deutschen. 4. Tl., Lpz. 1767) in Danzig zur Aufführung.

Ernst Weber

Ausgaben: Die Lissabonner, ein bürgerl. Trauerspiel, in einem Aufzuge [...]. Mit einem Nachw. hg. v. Thorsten Unger. Hann.-Laatzen 2005. – Zum Vergnügen. Lpz. 1755. Internet-Ed.: Dt. Lit. des 18. Jh. Online. Hg. Paul Raabe. Mchn. 2007.

Lieberkühn, Christian Gottlieb, * Potsdam, † 1761 Potsdam. – Lyriker, Dramatiker, Übersetzer.

Weitere Werke: Die Jagd, ein Lehrgedicht aus dem griechischen des Oppians. Lpz. 1755. – Des Hrn. Georg Ludwig v. Bar poet. Werke. 3 Tle., Bln. 1756 (Übers.). Internet-Ed.: Dt. Lit. des 18. Jh. Online. Hg. Paul Raabe. Mchn. 2007. – Mehrere Beiträge über das Mondlicht. In: Physikal. Belustigungen. Bln. 1756, S. 1255–1285; 1757, S. 1471–1479. – Zwei Kriegslieder [...] v. einem preuß. Officier. Bln. 1757.

Literatur: Jöcher/Adelung 3, Sp. 1788. – Meusel 8, S. 243. – Goedeke IV, 1, S. 107 f. – Gotthold Ephraim Lessings sämtl. Schr.en. Hg. Karl Lachmann. Stgt./Lpz. 1886–1924. Bd. 7, S. 19 f., 84–103. Bd. 17, S. 123, 125, 130 f. Bd. 19, S. 112 f. u. ö. – Johann Gottfried Herder: Sämtl. Werke. Hg. Bernd Suphan. Bd. 1, Bln. 1877, S. 60. – T. Unger: Zur Funktion des Erdbebens in C. G. L.s Trauerspiel ›Die Lissabonner‹. In: JbFDH 2005, S. 1–22. – Wolfgang Lukas: Anthropologie u. Theodizee. Studien zum Moraldiskurs im deutschsprachigen Drama der Aufklärung (ca. 1730 bis 1770). Gött. 2005. Dirk Kemper / Red.

Am 24.4.1752 an der theolog. Fakultät in Halle immatrikuliert, disputierte L. am 23.11.1753 unter dem Vorsitz von Sigmund Jakob Baumgarten De indole, auctoritate, numeroque conciliorum oecumenicorum (Halle). 1757–1761 stand er als Feldprediger im Regiment Prinz Heinrich in preuß. Diensten. In seinen Gedichtbänden Zum Vergnügen (o. O. 1754. Erw. 31756), Lieder, Erzählungen, Sinngedichte und Ernsthafte Stücke (Lpz. 1755) u. Arzeneyen (Bln. 1759) vereinigt L. überwiegend heiter-satirische, teils anakreont. GeLiebesabenteuer in Konstanz. – Spätdichte mit versifizierten kurzen Erzählungen mittelalterliche Kurzerzählung des 15. Jh. u. Fabeln. Während Lessing L.s scherzhafte Dichtung in seiner Rezension der Lieder für Der als grauhaariger, also als erfahrener die »Berlinische privilegierte Zeitung« trotz Mann ausgewiesene Ich-Erzähler Hanns (V. einiger Abstriche positiv beurteilte, stieß L. 10) wird bei einem Wirtshausbesuch von drei mit seinen Sittlichen Gedichten [...] (Bln. 1758) Burschen aufgefordert, sich an ihrem Geauf die scharfe Kritik Nicolais in der »Neuen spräch über die Liebe (bzw. Liebschaften) zu Bibliothek der schönen Wissenschaften« beteiligen. Nach einem allg. Räsonnement (Bd. 3, 1. Stück, S. 160–167). Dort gingen über die gegenwärtige Verdorbenheit der Lessing u. Nicolai auch mit L.s »poetischen Liebe, in der Treue keine Bedeutung mehr Übersetzungen« der antiken Bukolik (Idyllen habe, kommt Hanns auf eine kürzlich erlebte Theokrits, Moschus und Bions. Bln. 1757. Hir- Begebenheit zu sprechen: Am Ziegelgraben tengedichte des Publius Virgilius Maro. Bln. 1758) in Konstanz habe er eine hübsche Prostitusowohl hinsichtlich seiner philolog. Kompe- ierte gesehen, sie, so gut er es vermochte – tenz wie auch des poet. Anspruchs hart ins »als dann die alten buler tund« (V. 84) – geGericht (Bd. 3, 1. Stück, S. 118–129). grüßt u. ihr als Bezahlung einen Krug Wein Mit dem Stück Die Lissabonner (Breslau versprochen, woraufhin er eingelassen u. 1758), am 29.1.1757 in Breslau von der verführerisch empfangen worden sei. Doch

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nachdem er bezahlt habe u. im Begriff gewesen sei, sich zu entkleiden, sei die Schöne abgeholt worden, um die Nacht im Pfarrhof zu verbringen. Über diesen Scherz, so Hanns abschließend, habe der Teufel gut Lachen gehabt, er indes sei – um Geld u. Freude ärmer – unverrichteter Dinge wieder abgezogen, sich selbst als Narren beschimpfend. Seinen Zuhörern rät er am Ende seiner Geschichte, sich vor Ähnlichem zu hüten, weil graue Haare u. junge Frauen selten nur zusammenpassten. Er schließt das Märe mit der Bemerkung, dass die Erzählrunde sich dann auflöste, der Teufel indes weiterhin auf Buhlschaft ausgehe. Diese auf den ersten Blick eher anspruchslos erscheinende Kurzerzählung erweist sich durchaus als bemerkenswert. Nicht allein, dass die Verwendung rhetorischer Figuren u. der Ich-Erzählerrolle auf einen gewissen Gestaltungswillen hindeuten, auch inhaltlich bietet das Märe Überraschendes, denn es trumpft es am Schluss weder mit einer ausgeprägten Pointe noch mit einer Verdammung der Dirne auf: Die Prostituierte widmet sich ihrem Kunden offenbar ausgiebig in einer Art erot. »Vorspiels«, Vv. 100–106, durch das der ausfallende Beischlaf – in ihrer Perspektive – gleichsam substituiert erscheinen könnte; hinzu kommt die verschiedentlich betonte Mésalliance zwischen altem Mann u. junger Frau, die dem Mann anzulasten ist. Gegen die narrative Tradition werden die Frauen nicht als diejenigen diffamiert, welche die Liebe durch ihre Untreue verdorben hätten: »die man und gsellen pflegens auch« (V. 26). Komik u. »gender«Klischees entfalten sich also nur äußerst bedingt. Ausgabe: Hanns Fischer (Hg.): Die dt. Märendichtung des 15. Jh. Mchn. 1966, S. 384–387. Literatur: Kurt Illing: L. i. K. In: VL. – Fischer 1966 (s. o.), S. 550. Corinna Laude

Liebeskind, August Jacob, * 1758, † 12.2. 1793 Oßmannstedt. – Verfasser von Kinderliteratur, Erzähler. Als stellungsloser Kandidat der Theologie war L. zunächst Hofmeister in Weimar, u. a. bei Wieland u. seit Winter 1781/82 bei Her-

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der, dessen Sohn Gottfried er unterrichtete. 1787 wurde er durch Herders Vermittlung Ortspfarrer in Oßmannstedt u. heiratete im Herbst 1788 Wielands dritte Tochter Amalie. Wieland hoffte, von seinem Schwiegersohn bei der Herausgabe des »Teutschen Merkur« unterstützt zu werden, doch beschränkte sich dessen Mitarbeit auf wenige anonyme Artikel. Darüber hinaus beteiligte sich L. an Wielands Märchensammlung Dschinnistan (3 Bde., Winterthur 1786–89) u. an dessen Lukian-Übersetzung. Neuerdings wurde sein Märchen Lulu oder die Zauberflöte (Ffm. 1999) als Vorlage für Mozarts Zauberflöte entdeckt; die von L. als vielgestaltige Verwandlungskünstlerin eingeführte Fee ist unverkennbares Vorbild für die Königin der Nacht. Vor eine breitere Öffentlichkeit trat L. mit einer Anthologie oriental. Erzählungen, die er auf Anregung Caroline Herders v. a. aus englischen u. frz. Quellen zusammentrug, übersetzte u. ad usum Delphini bearbeitete: Palmblätter. Erlesene morgenländische Erzählungen für die Jugend (Bd. 1, Jena 1786). Herder unterstützte das Unternehmen durch eine Vorrede, in der er die moralpädagog. Zielsetzungen der Sammlung u. ihre anregende wie zügelnde Wirkung auf die kindl. Fantasie hervorhob. Erst der zweite Band (Gotha 1788) trug L.s Namen (Bde. 3 u. 4 postum, Gotha 1796 u. 1800). Die Aufnahme bei der Kritik war durchweg positiv, aber erst im 19. Jh. entwickelte sich das Werk in der Neubearbeitung Friedrich Adolf Krummachers (4 Bde., Bln. 1816–19) zu einem Klassiker der Jugendliteratur. Dies belegen nicht allein mehrere Übersetzungen, sondern auch zahlreiche neuere Auswahlausgaben (zuletzt Freib. i. Br. 1992), unter denen Hermann Hesses Edition (Lpz. 1913. Neudrucke 1957 u. 1979) hervorragt. Einige Stücke wie Die ewige Bürde finden sich bis heute in den Lesebüchern. Weitere Werke: Der Korb. Eine morgenländ. Erzählung. In: Dschinnistan. Bd. 3, S. 90–167. – Lulu oder Die Zauberflöte. Ebd., S. 292–351. Literatur: HKJL, Bd. 3, Sp. 330–338 u. 1431 f. Wolfgang Schimpf

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Liebeskind, Margareta (Meta) Sophia Dorothea, geb. Wedekind, gesch. Forkel, * 22.2.1765 Göttingen, † nach Juli 1837 (nicht und jedenfalls vor 1853!) Eichstädt (?). – Romanschriftstellerin, Übersetzerin.

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nannten sie die Gelehrten dort (Christian Gottlob Heyne, Gottfried August Bürger). Nach Flucht vor den Preußen aus der verfrühten Republik Mainz u. kurzer Haft (gemeinsam mit Caroline) war sie ab 1812 wieder für Zeitungen (bes. Cottas »Morgenblatt für gebildete Stände«) schriftstellerisch in Ansbach, Bamberg, München, Landshut u. Eichstädt tätig, den Wohnorten ihres neuen Gemahls, des preußischen, später bayr. Juristen Johann Heinrich (von) Liebeskind (1768–1847). Keine ihrer Schriften hat das Zeitalter überdauern können. Ihr weiteres Leben ist nach der 1818 geschlossenen zweiten Ehe mit noch fünfmaliger Mutterschaft nicht mehr nachzuverfolgen; das letzte Lebenszeugnis ist die Nachricht ihrer Abreise von einem Kuraufenthalt in Baden-Baden am 8. Juli 1837.

»Eine Gans unserer Stadt« nannte Lichtenberg einmal, weil er sich in ihrem literar. Erstling, dem Briefroman Maria (Lpz. 1784), kränkend abgebildet fühlte, diese am wenigsten bekannte der berüchtigten »Göttinger Universitätsmamsellen«, denen außerdem Caroline Michaelis, Dorothea Schlözer, Philippine Gatterer u. Therese Heyne angehörten. Professorentochter wie diese, genoss sie alle erdenkl. Vorteile der Erziehung durch Vater, Brüder u. »Informatoren« (Privatlehrer) – u. den Nachteil, am Ende wenig mit dieser perfekten Bildung anfangen zu dürfen. Sie wurde am 10.6.1781 an den doppelt so Weitere Werke: L.s Übersetzungen verzeichnet alten, unterbezahlten Musik-Professor Jo- vermutlich vollständig C. W. O. A. Schindel: Die dt. hann Nikolaus Forkel (1749–1818) verheira- Schriftstellerinnen des 19. Jh. Lpz. Bd. 1, 1823; tet, der heute als der erste Biograf Johann Bd. 3, 1825. – Eine Bibliografie ihrer ZeitschrifSebastian Bachs gilt. Das junge Glück reichte tenbeiträge fehlt. nur bis zur Geburt des Sohnes Karl Gottlieb Literatur: Monika Siegel: Ich hatte einen Hang (1782–1819): Sie verließ F. 1788 (Scheidung zur Schwärmerey...: das Leben der Schriftstellerin am 24.2.1794 in Abwesenheit). Bis dahin nur u. Übersetzerin Meta Forkel-L. im Spiegel ihrer aus Betätigungsdrang schreibend, übersetzte Zeit. Darmst., Diss., 2001 (Online-Ressource; sie zum Broterwerb erst in Berlin unter Jo- bringt alle bislang aufgefundenen Zeugnisse u. briefl. Quellen). – Genealogie s. DGB 1982. Bd. 17, hann Jacob Engels Aufsicht, 1789–1792 in Niedersachsen, S. 607. – Lexikon deutschsprachiMainz unter Georg Forsters Anleitung, so ger Epik u. Dramatik v. Autorinnen (1730–1900). Volnays Ruinen (Bln. 1791, mit Forsters be- Hg. Gudrun Loster-Schneider u. Gaby Pailer. Tüb./ rühmter Vorrede Über den gelehrten Zunft- Basel 2006, S. 268 f. – Marie-Luise Spieckermann: zwang) u. Tom Paines Rechte des Menschen (Bln. D. M. L. (1765–1853): Übersetzerin zwischen wiss. 1792), dann allein bis 1797 über 20 oft Lit. u. Unterhaltungsromanen engl. Autorinnen. mehrbändige Reisebeschreibungen, histo- In: Übersetzungskultur im 18. Jh. Hg. Brunhilde risch-polit. Werke u. Romane vornehmlich Wehinger. Hann. 2008, S. 141–164. Ulrich Joost aus dem Englischen (Anne Purback, Anne Radcliffe, Charlotte Smith) u. dem Französischen. Diese zumindest für Deutschland noch Liebhaber, Amalie L(o)uise (Henriette) von, auch: Amalie Louise, * 28.11.1779 sehr ungewöhnl. Emanzipiertheit brachte ihr (oder 1781) Wolfenbüttel, † 11.5.1845 kaum weniger Tadel ein als ihre BekanntBerlin. – Lyrikerin u. Dramatikerin. schaft mit Forster u. anderen Mainzer Jakobinern aus Göttingen: ihrem Bruder Georg Die Tochter eines Geheimen Justizrats war Christian Gottlieb (von) Wedekind nach dem frühen Tod beider Eltern Hofdame (1761–1831), dem Juristensohn u. Sekretär in Braunschweig, dann Erzieherin in Handes Revolutionsgenerals Custine J. G. W. nover u. Braunschweig. Später hatte sie als Böhmer (1761–1839) u. dessen Schwägerin Konventualin des Klosters Marienberg bei Caroline, der regierungsoffiziell die Heimat Helmstedt ihr Auskommen, lebte auf Reisen verboten war, wie ihr – »Schlumpe und Bac- und in Berlin. Von ihrer Beziehung zum chantin« oder »Furciferaria« (= Galgenstrick) Braunschweiger Hof zeugt ein Kasualgedicht

Liebhard

zu Ehren Karls II. Herzog von Braunschweig (Begrüßungsgedicht für Carl. Braunschw. 1823). Unter dem Pseud. Amalie Louise erschienen Poetische Versuche (Braunschw. 1823) sowie lyr. Beiträge in verschiedenen Zeitschriften. Einen Band Gedichte (Braunschw. 1824) veröffentlichte sie unter ihrem vollen Namen. L.s Lyrik orientiert sich an Mustern der Klassik u. Romantik: Neben epigrammat. Sinngedichten und Oden verfasste sie erzählende Hexametergedichte u. Romanzen. Das Einleitungsgedicht ihrer Sammlung Gedichte, die 66 Strophen umfassende Romanze Gisela, verarbeitet mit Anklängen an die »Schauerromantik« u. »Rheinromantik« einen Stoff der Volkssage. L.s Vorliebe für Stoffe aus Geschichte u. Sagenwelt zeigt sich auch in ihren zahlreichen Dramen, die jedoch alle ungedruckt blieben. Einzig das dreiaktige Drama Der Apfel von Balsora (ungedr.) wurde 1831 am Königsstädtischen Theater in Berlin uraufgeführt. Goethe erwähnt die Lektüre von Gedichten L.s in seinen Tagebüchern (WA III.9, S. 248). Außerdem ist ein Brief L.s überliefert, in dem sie bittet, Goethe möge sich für ihre beim Theater Weimar eingereichten Tragödien verwenden (vgl. WA IV.43, S. 355). Weitere Werke: Chriemhild. o. J. (Trauersp., ungedr.). – Harun al Rachid. o. J. (Trauersp. in 5 Akten, ungedr.). – Hermann u. Thusnelda. o. J. (Trauersp. in 5 Akten, ungedr.). – Maria Theresia. o. J. (Drama in 4 Akten, ungedr.). Literatur: Elisabeth Friedrichs: Die deutschsprachigen Schriftstellerinnen des 18. u. 19. Jh. Stgt. 1981, S. 184. – Susanne Kord: Ein Blick hinter die Kulissen. Stgt. 1992, S. 401. Hanna Klessinger

Liebhard, Franz, eigentl.: Róbert Reiter, auch: Johann Wanderer, * 6.6.1899 Temesvár/Rumänien, † 17.12.1989 Temesvár/Rumänien; Grabstätte: ebd., Fabrikstadt. – Lyriker, Essayist u. Erzähler. L., Sohn eines Schusters u. einer Wäscherin, studierte in Budapest u. Wien Französisch. Er arbeitete als Lyriker u. Journalist, während seines Studiums zunächst als Mitarbeiter der von Lajos Kassák herausgegebenen ungarischen Avantgarde-Zeitschrift »Ma«, ab 1925 als Redakteur bei der »Banater Deutschen

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Zeitung« u. der Arbeiterzeitung »Munkáslap«, nach 1941 in der »Südostdeutschen Tageszeitung«. 1945 wurde er in die UdSSR deportiert (bis 1949). Zuletzt war L. Dramaturg des Theaters in Temesvár. L. veröffentlichte als Robert Reiter expressionist. Gedichte in ungarischer Sprache, die den Bruch mit der ungarischen Literatur forcieren. In dt. Sprache liegt der Band Abends ankern die Augen (Klagenf./Salzb. 1989) vor. Nach der Rückkehr aus der sowjet. Gefangenschaft veröffentlichte L. v. a. Texte, die dem sozialist. Realismus verpflichtet sind. Erst mit dem Gedichtband Miniaturen (Bukarest 1972) konnte L. in prägnanten Skizzen die Vielfältigkeit seiner Lyrik seit 1929 aufzeigen. Er trat v. a. mit Essays zur Banater Literatur-, Musik- u. Theatergeschichte hervor. L. wurde kritisiert, da er sich scheinbar problemlos dem jeweils herrschenden Diskurs anglich. Aus dem ungarischen Avantgardisten »Reiter Róbert«, der der Sozialdemokratie nahe stand, wurde Robert Reiter, ein zunehmend konservativer Autor, mit Sympathien für die nationalsozialist. Ideologie. Der Autor, der dem kommunist. System Rumäniens nahe stand, hieß »Franz Liebhard«. Da mit den Namen jeweils Legenden verbunden sind, ist es auf dem gegenwärtigen Stand der Forschung mitunter schwierig, Fakten u. Erfindungen zu unterscheiden. Weitere Werke: Schwäb. Chronik. Bukarest 1952 (L.). – Der Türkenschatz. Bukarest 1958 (E.en). – Glück auf. Bukarest 1959 (L.). – Banater Mosaik. Bukarest 1976 (Ess.s). Literatur: Nikolaus Berwanger (Hg.): F. L. Temesvár 1979. – Peter Motzan: Die rumäniendt. Lyrik nach 1944. Klausenburg 1980, S. 35 u. ö. – Claudio Magris: Donau. Biogr. eines Flusses. Mchn. 1988, S. 345 f. – William Totok: Lit. u. Personenkult in Rumänien. In: Nachruf auf die rumäniendt. Lit. Hg. Wilhelm Solms. Marburg 1990, S. 93–120. – Pál Deréky: Ungarische Avantgarde-Dichtung in Wien 1920–26. Wien u. a. 1991, S. 67, 71 f. – András Balogh: Die literar. Zweisprachigkeit des Franz Liebhard (1899–1989). In: Schriftsteller zwischen (zwei) Sprachen u. Kulturen. Hg. Antal Mádl u. P. Motzan. Mchn. 1999, S. 241–251. – Eduard Schneider: Lit. in der ›Temesvarer Zeitung‹ (1918–49). Mchn. 2003, S. 47 u. ö. Waldemar Fromm

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Liebig, (Johann) Justus von (seit 1845), * 12.5.1803 Darmstadt, † 18.9.1873 München; Grabstätte: ebd., Südlicher Friedhof. – Chemiker.

Liebknecht

die Landwirtschaft. Die im 19. Jh. mangelhafte Ernährung breiter Bevölkerungsschichten versuchte er durch die Gewinnung u. Anwendung von Fleischextrakt zu verbessern. Als Akademiepräsident widmete sich L. allgemeinwiss. Themen. Auf diese Weise entstanden u. a. Abhandlungen über Die Ökonomie der menschlichen Kraft (Mchn. 1860) u. Die Entwicklung der Ideen in der Naturwissenschaft (Mchn. 1866). Ein bewegendes Zeugnis seiner Liebe zu Frankreich u. zgl. eine mahnende Stimme der Versöhnung war seine große Akademierede kurz nach dem Friedensschluss von 1871. Von literaturgeschichtl. Bedeutung ist L.s zeitweise enger Kontakt zu Platen.

Der Sohn eines Drogeriewaren- u. Farbenhändlers begann nach einer 1818 abgebrochenen Gymnasialausbildung u. einer kurzen Apothekerlehre in Heppenheim 1820 in Bonn mit dem Studium der Chemie, das er 1821 in Erlangen fortsetzte; wegen Mitgliedschaft in einer burschenschaftl. Verbindung verfolgt, musste er 1822 flüchten. Aufgrund eines Studienstipendiums für Paris konnte L. seine Arbeiten über die Zusammensetzung des Knallsilbers u. das Quecksilber fortsetzen. Die Ergebnisse waren so Weitere Werke: Anleitung zur Analyse organ. bedeutsam, dass sie 1823 von Gay-Lussac in Körper. Braunschw. 1837. – Die organ. Chemie in der frz. Akademie der Wissenschaften vorge- ihrer Anwendung auf Physiologie u. Pathologie. tragen wurden, 1824 dann auch von L. selbst, Braunschw. 1842. – Reden u. Abh.en. Hg. Georg v. u. a. im Beisein Alexander von Humboldts, Liebig u. Moritz Carrière. Lpz./Heidelb. 1874. dessen Fürsprache seine Berufung an die Neudr. Wiesb. 1965. – Biogr. Aufzeichnungen. Hg. Universität Gießen als Extraordinarius (1825 Karl Esselborn. Gießen 1926. Literatur: Moriz Carriere: L. u. Platen. In: Ordinarius) bewirkte. Hier führte L. eine Ders.: Lebensbilder. Lpz. 1873, S. 276–308. – Jacob grundlegende Reorganisation des Studiengangs Chemie durch u. errichtete unter Mü- Volhard: J. v. L. 2 Bde., Lpz. 1909. – Theodor hen sein pharmazeutisch-chemisches Lehrin- Heuss: Vom Genius der Forsch. Hbg. 1942. – Fred Drößmar: Das publizist. Wirken J. v. L.s. Diss. Bln. stitut, das als »Gießener Laboratorium« 1964. – Carlo Paolini: J. v. L. Eine Bibliogr. Heidelb. Weltruhm erlangte. Neben zahlreichen wiss. 1968. – Irene Strube: J. v. L. Lpz. 1973. 21975. – Veröffentlichungen schrieb er 1841–1844 für Peter H. Bumm: August Graf v. Platen. Paderb. u. a. die Augsburger »Allgemeine Zeitung« seine 1990, S. 286–294 u. ö. – William H. Brock: J. v. L. berühmten populärwiss. Chemischen Briefe Braunschw. 1999. – Georg Schwedt: L. u. seine (Heidelb. 1844), die der Materialist Carl Vogt Schüler. Bln. u. a. 2002. – J. L. 2 Bde., Gießen 2003 heftig angriff. L. folgte 1852 einem Ruf an die (Kat.). Roland Pietsch / Red. bayer. Akademie der Wissenschaften in München, die ihn von der prakt. Studentenausbildung befreite; 1859 wurde er ihr Prä- Liebknecht, Karl (Paul Friedrich August), * 13.8.1871 Leipzig, † 15.1.1919 Berlin sident. L.s epochale Bedeutung für die Chemie des (ermordet). – Rechtsanwalt, Parlamenta19. Jh. lag in seiner Weiterentwicklung der rier, Politiker, Verfasser sozialistischer Streitschriften. organisch-chem. Elementaranalyse, die er standardisierte, in seiner zur Radikaltheorie Das sozialdemokrat. Elternhaus mit humaausgebauten Analyse v. a. der Benzoesäure, in nist. Bildungsidealen förderte L.s Entwickder Entdeckung neuer chem. Verbindungen lung: dem Besuch des Nicolaigymnasiums in wie des Chloroforms, v. a. aber in seinen Leipzig (1881–1890) folgten ein Jurastudium Forschungen zur Agrikulturchemie (dazu in Leipzig u. Berlin (1890–1893) u. die Prosein Hauptwerk Die organische Chemie in ihrer motion 1897 zum Dr. jur. et rer. pol. an der Anwendung auf Agricultur und Physiologie. Universität in Würzburg. Sein Vater Wilhelm Braunschw. 1840). L. sprach sich für die Ver- Liebknecht (1826–1900), Journalist, entwendung von Mineraldünger aus u. schuf stammte einer Gelehrten- u. Beamtenfamilie damit für lange Zeit eine neue Grundlage für u. hatte zus. mit August Bebel 1869 in Ei-

Liebknecht

senach die Sozialdemokratische Arbeiterpartei gegründet. Die Mutter Wilhelmine Natalie geb. Reh (1835–1909) kam aus gutbürgerl. Haus in Darmstadt. L. hatte zwei Schwestern u. vier Brüder. Dem Wehrdienst als »Einjährig-Freiwilliger« folgte 1894–1899 die Referendarzeit in Arnsberg u. Paderborn. Ab 1899 führte L. mit Bruder Theodor eine Rechtsanwaltspraxis in Berlin u. wurde u. a. durch den Kaiserinselprozess 1903 u. den Königsberger Prozess 1904 bekannt. 1900 heiratete er Julia geb. Paradies (1873–1911) u. hatte mit ihr drei Kinder: Wilhelm (1901–1975), Robert (1903–1994) u. Vera (1906–1934). 1900 wurde L. Mitgl. der Sozialdemokratischen Partei u. 1901 in die Berliner Stadtverordnetenversammlung gewählt, der er bis 1913 angehörte. In Beruf u. Politik suchte L. von Anfang an, in den Fußstapfen des Vaters die prinzipielle Gegnerschaft zu Kapitalismus, Militarismus, Monarchismus u. Nationalismus mit ungestümen Temperament fortzusetzen. Sein spezielles Engagement galt der antimilitarist. Aufklärung der Jugend u. der Unterstützung selbständiger proletarischer Jugendorganisationen. 1907–1910 war L. Präsident der Sozialistischen Jugendinternationale. Wegen der Schrift Militarismus und Antimilitarismus unter besonderer Berücksichtigung der internationalen Jugendbewegung (Bln. 1907) wurde L. des Hochverrats bezichtigt u. am 12. Okt. 1907 vom Reichsgericht in Leipzig zu eineinhalb Jahren Festungshaft verurteilt. Während der Haft auf der Festung Glatz wurde L. im Juni 1908 ins preuß. Abgeordnetenhaus gewählt, in dem er bis 1916 unerschrocken politische, soziale u. kulturelle Missstände aufdeckte. Im Einsatz für eine demokrat. Republik kämpfte L. sowohl gegen das preuß. Dreiklassenwahlrecht als auch gegen den Machtmissbrauch in der Exekutive durch korrupte Beamtenbürokratie. 1910 unterstützte L. mit einer mehrwöchigen Agitationsreise durch die USA den Wahlkampf der Sozialistischen Partei. 1912 wurde er in seinem Wahlkreis Potsdam-Spandau-Osthavelland als Abgeordneter in den Deutschen Reichstag gewählt, wo er insbes. durch seine Krupp-Enthüllungen den empfindlichsten Nerv der Beherrscher des dt. Kaiserreichs traf. Wider

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alle Verleumdungen u. Hasstiraden deckte er ungeheure Machenschaften aus den Geheimkabinetten Krupp u. Siemens-Schuckert im Rüstungswettlauf der europ. Großmächte auf u. prangerte die Irreführung der Völker durch Pseudopatriotismus an. Zus. mit frz. u. engl. Antimilitaristen arbeitete L. an einem Buch über die Internationale der Rüstungsindustrie, das nur fragmentarisch erhalten geblieben ist. Nach kritischem Bekenntnis zu seinem Fehler, am 4.8.1914 unter Fraktionszwang für die erste Bewilligung von Kriegskrediten mitgestimmt zu haben, lehnte L. am 2.12.1914 als einziger Abgeordneter die Kriegskredite ab. Dieses mutige Nein, das er gegen jede Kriegskreditvorlage wiederholte, seine Dokumente über den imperialist. Charakter des Krieges, seine Auftritte im Land- u. Reichstag, sein Flugblatt Der Hauptfeind steht im eigenen Land u. sein Anfragenfeldzug gegen die verheerende Kriegsführung setzten Maßstäbe für revolutionäre parlamentarische u. außerparlamentarische Opposition. L. wurde weit über Deutschlands Grenzen hinaus zum Symbol konsequenten Antikriegskampfes. Zus. mit Rosa Luxemburg rang er um die Orientierung u. Formierung der Linken in der dt. Sozialdemokratie zur »Gruppe Internationale« u. zur Spartakusbewegung. Wegen seines Rufs »Nieder mit dem Krieg! Nieder mit der Regierung!« am 1.5.1916 auf dem Potsdamer Platz in Berlin wurde L. des »Hoch- und Landesverrats« angeklagt u. zu vier Jahren u. einem Monat Zuchthaus u. sechs Jahren Verlust der bürgerl. Ehrenrechte verurteilt. Im Zuchthaus Luckau setzte L. seine in der Festung Glatz begonnenen Studien über Die Bewegungsgesetze der gesellschaftlichen Entwicklung fort. Die fragmentarischen Ergebnisse zeugen von intensiver Suche nach neuen philosoph. Erkenntnissen. Sie enthalten Kritik an Karl Marx’ ökonom. Theorie u. historischem Materialismus, kontroverse Gedanken zu verschiedenen philosoph. Systemen sowie Erörterungen über religions-, kunst- u. literaturgeschichtl. Einflüsse im Beziehungsgeflecht zwischen Individuum u. Gesellschaft. Die russ. Revolution 1917 begrüßte L. enthusiastisch u. versuchte über Kassiber u. Flugblattentwürfe die dt. Arbeiter u. Soldaten anzuspornen, für

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die Beendigung des Krieges dem Beispiel der Reden u. Schr.en. Bd. 1, Sept. 1900 bis Febr. 1907. russ. Revolutionäre zu folgen. In seinen Mit einem Vorw. v. Wilhelm Pieck. Bln. 1958, Zuchthausnotizen äußerte sich L. kritisch Bd. 2–9, Bln. 1960–71. – Gedanken über Kunst. über den Brest-Litowsker Friedensvertrag u. Schr.en, Reden, Briefe. Hg. u. mit einer Einf. u. Komm.en vers. v. Marlen Michailowitsch Korallow. das von den Bolschewiki deklarierte Recht auf Dresden 1988. – Lebt wohl, Ihr lieben Kerlchen! nat. Unabhängigkeit u. Selbstbestimmung. L. Briefe an seine Kinder. Hg. Annelies Laschitza u. lehnte die Minderheitendiktatur ab, die fol- Elke Keller. Bln. 1992. – Thomas Schulze: K. L. Die genschwere Demokratieverluste mit sich Bewegungsgesetze der gesellschaftl. Entwicklung. bringe, u. warnte vor Halbheiten in der Fragment. Bern 1995. Machtfrage. Die russ. Revolution könne nur Literatur: Heinz Wohlgemuth: K. L. Eine durch die internat. Arbeiterklasse mit Revo- Biogr. Bln./DDR 1973. – Helmut Trotnow: K. L. lutionen in den fortgeschrittenen Ländern Eine polit. Biogr. Köln 1980. – Annelies Laschitza gerettet werden. Am 23.10.1918 aus der Haft unter Mitwirkung v. Elke Keller: K. L. Eine Biogr. entlassen, bemühte sich L. um den baldigen in Dokumenten. Bln./DDR u. Ffm. 1982. – Dies.: Beginn der revolutionären Erhebung in Ber- Die Liebknechts. K. u. Sophie – Politik u. Familie. Bln. 2007. – ›Militarismus und Antimilitarismus‹. lin. L. beteiligte sich aktiv an den Massende- Aktuelle u. histor. Dimensionen v. K. L.s Schrift monstrationen des 9. Nov. u. rief die freie anläßlich des 100. Jahrestages ihres Erscheinens. sozialistische Republik aus. Unter der Losung Hg. Klaus Kinner. Lpz. 2008. Annelies Laschitza »Alle Macht den Arbeiter- und Soldatenräten« ging es ihm um die Verteidigung der Liebknecht, Wilhelm (Philipp Martin ersten revolutionären Errungenschaften u. Christian Ludwig), * 29.3.1826 Gießen, um die Gewinnung der Massen für das Wei† 7.8.1900 Berlin; Grabstätte: ebd., Zenterführen der Revolution zur Entmachtung tralfriedhof Friedrichsfelde. – Politiker u. der für den Ersten Weltkrieg VerantwortliJournalist. chen. Sein Vertrauen in die Massen für einen konsequenten Kampf für Frieden, Demokra- Der Sohn eines hess. Regierungsbeamten tie u. Sozialismus erwies sich als Illusion. studierte ab 1843, mit wechselndem Interesse Angesichts der immer bedrohlicheren Situa- u. ohne Abschluss, Philologie, evang. Theotion durch die Konterrevolution u. der Wei- logie u. Philosophie in Gießen, Marburg u. gerung der USPD, einen Parteitag zur Bera- Berlin. Von den Lehren Saint-Simons u. der tung über die weitere Strategie u. Taktik Junghegelianer geprägt, ging er 1847 nach einzuberufen, wurde Ende 1918 die KPD Zürich u. war bis zur frz. Februarrevolution (Spartakusbund) gegründet. Gegen die neue Lehrer am Fröbel’schen Institut. Als »Soldat Partei u. deren führende Köpfe inszenierten der Revolution« am Struve-Putsch u. am baalle gegenrevolutionären Kräfte eine skru- disch-pfälz. Aufstand beteiligt, flüchtete er pellose antikommunist. Hetzjagd mit dem 1849 nach Genf, wo er die dt. Arbeitervereine Ziel, L. u. Rosa Luxemburg zu ermorden. Der zentral zu organisieren versuchte. Nach seiMeuchelmord geschah auf bestial. Weise am ner Ausweisung lebte L. 1850 bis 1862 unter 15.1.1919 durch Freikorpssoldateska der schwierigen materiellen Bedingungen in Gardekavallerieschützendivision unter Haupt- London, schrieb Beiträge für dt. u. amerikan. mann Papst mit Einverständnis von Gustav Zeitungen, arbeitete als Sprachlehrer oder Redakteur. Hier lernte er auch Marx kennen, Noske (SPD). als dessen Schüler u. Freund er sich im LeAusgaben: Briefe aus dem Felde, aus der Untersuchungshaft u. aus dem Zuchthaus. Bln.-Wil- bensabriss Karl Marx zum Gedächtnis (Nürnb. mersdorf 1919. – Polit. Aufzeichnungen aus seinem 1896), trotz häufiger ideolog. u. persönl. Nachl. Geschrieben in den Jahren 1917/18. Unter Differenzen, bezeichnet hat. 1854 heiratete er Mitarb. v. Sophie Liebknecht hg. mit einem Vorw. Ernestine Landolt († 1867), 1868 Natalie Reh: u. mit Anmerkungen vers. v. Franz Pfemfert. Bln.- Ihr zweiter Sohn Karl war Mitbegründer der Wilmersdorf 1921. – Studien über die Bewe- KPD. gungsgesetze der gesellschaftl. Entwicklung. Hg. v. Dr. Morris [Rudolf Manasse]. Mchn. 1922. – Ges.

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In Berlin, wo L. 1862 Beschäftigung in der schichte der französischen Revolution (Dresden Arbeiterbildung, als Redakteur u. »Lohn- 1888–90) u. die vier anonymen Broschüren schreiber« verschiedener Zeitungen fand, trat Trutz-Eisenstirn. Erzieherisches aus Puttkamerun er 1863 in Lassalles »Arbeiterverein« ein (2 Tle., London 1889/90) kreisen um das (Ausschluss 1865); seine wesentliche poli- Thema der Gewalt in revolutionären Aktiotisch-organisator. Tätigkeit für die dt. Arbei- nen, das die Parteitagsdiskussionen der terbewegung begann aber erst 1865 in Leip- 1890er Jahre bestimmte. zig. Mit Bebel gründete er die »Sächsische Weitere Werke: Volks-Fremdwörterbuch. Lpz. Volkspartei« (1866) u. die »Sozialdemokrati- 1874. – Kleine polit. Schr.en. Hg. Wolfgang sche Arbeiterpartei« in Eisenach (1869); in Schröder. Ffm. 1976. – Gegen Militarismus u. ErGotha betrieb er 1875, gegen Bebels Beden- oberungskrieg. Aus Schr.en u. Reden. Bln./DDR ken u. Marx’ Kritik, den Zusammenschluss 1986. Briefausgaben: Briefw. mit Karl Marx u. mit den Lassalleanern zur »Sozialistischen Arbeiterpartei«. Sein öffentl. Wirken für die- Friedrich Engels. Hg. Georg Eckert. Den Haag se Parteien, als Abgeordneter des Norddeut- 1963. – Briefw. mit dt. Sozialdemokraten. Hg. ders. u. Götz Langkau. 2 Bde., Assen 1973. Ffm./New schen Reichstags (seit 1867) u. des Reichstags York 1988. (1874 bis zum Tod) wie als Redakteur u. Literatur: Kurt Eisner: W. L. Bln. 1900. Erw. Beiträger der Parteipresse (seit 1868 in »De- 2 1906. – Gustav Mayer: W. L. Bln. 1927. – Ernst mokratisches Wochenblatt«, »Der Volks- Nobs: Aus W. L.s Jugendjahren. Zürich 1932. – staat«, »Vorwärts«, »Der Sozialdemokrat« u. Karl-Heinz Leidigkeit: W. L. u. August Bebel in der »Die neue Welt«) trug ihm staatl. Verfolgung dt. Arbeiterbewegung 1862–69. Bln./DDR 1957. – ein. Insbes. seine Ablehnung der Kriegskre- Wadim Tschubinski: W. L. Bln./DDR 1973. – dite führte 1872 zu zweijähriger Festungs- Friedrich Wilhelm Weitershaus: W. L. Gütersloh 1976. – Utz Haltern: L. u. England. Trier 1977. – haft. Äußerst wirksam verbreitete L. in öffentl. Werner Wendorff: Schule u. Bildung in der Politik Vorträgen seine Grundsatzpositionen, wie die v. W. L. Bln. 1978. – Winfried Meid: Die VolksbilAblehnung von Staat u. Parlamentarismus dungskonzeption W. L.s [...]. Diss. Marburg 1980. – Eine Gesellsch. der Freiheit, der Gleichheit, der (Über die politische Stellung der Sozial-Demokratie. Brüderlichkeit. Hg. Wolfgang Beutin. Ffm. u. a. Lpz. 1869) oder die Vergesellschaftung von 2001. – Annelies Laschitza: Die Liebknechts. K. u. Grundeigentum (Zur Grund- und Bodenfrage. Sophie – Politik u. Familie. Bln. 2007. Lpz. 1870). Seine polit. Ziele definierte er v. a. Fritz Wahrenburg / Red. in den berühmten Festreden vor Arbeitervereinen, Zu Trutz und Schutz (Lpz. 1871) u. Liebmann, Irina, * 23.7.1943 Moskau. – Wissen ist Macht – Macht ist Wissen (Lpz. 1872): Prosa-, Hörspiel- u. Dramenautorin. Die Arbeiterbewegung sei eine Kulturbewegung, deren Ideal der Bildungsgleichheit nur L. wuchs ab 1945 in Ostberlin auf. Der Vater in einem durch Freiheit u. Harmonie cha- Rudolf Herrnstadt spielte eine zentrale Rolle rakterisierten Staat zu erreichen sei. Wahre beim Aufbau der Presselandschaft der DDR, Volksbildung bedinge so die Umgestaltung wurde aber wegen seiner grundlegenden von Staat u. Gesellschaft, die Befreiung von Kritik an der Politik Walter Ulbrichts 1953 den alten Bildungsmächten Schule, Kaserne aller Ämter enthoben. Die Familie musste u. bürgerl. Presse, vorzüglich durch den nach Merseburg umziehen. Nach dem Abitur Einsatz der »geistigen Waffen« der Agitation. in Halle studierte L. in Leipzig Sinologie. Eine Folge des Sozialistengesetzes war die Danach zog sie nach Berlin, wo sie von 1967 stärkere publizist. Tätigkeit L.s. Ein Blick in die bis 1975 als Redakteurin der Zeitschrift Neue Welt (Stgt. 1887), nach einer Agitations- »Deutsche Außenpolitik« tätig war. Dem reise entstanden, registriert auch »Lichtsei- folgten die freiberufl. Arbeit für die Zeitten« der Amerikaner, ihre »Begeisterung für schrift »Wochenpost« u. die journalistischRecht, Freiheit, Fortschritt, Volkswohl«; sei- literar. Tätigkeit. Bekannt wurde L. mit der ne biogr. Skizze Robert Blum und seine Zeit literar. Reportage Berliner Mietshaus (Halle (Nürnb. 1888), die unabgeschlossene Ge- 1982) sowie mit Hörspielen wie Sie müssen

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jetzt gehen, Frau Mühsam (1982). Seither war, seine hochkomplexe Geschichte aber schreibt sie Prosa u. Dramatik. 1988 bean- nicht an sie weitergegeben hat. Das Unabgegoltene der Geschichte u. die tragte L. ein Reisevisum u. zog damit nach Westberlin um. Für ihren Prosaband Mitten daraus resultierende Verunsicherung der im Krieg (Ffm. 1989. Bln. 2006), erhielt sie den Nachgeborenen bestimmen fortan L.s Werk. Aspekte-Literaturpreis des ZDF; die darin Die Theaterstücke der 1980er Jahre (u. a. enthaltene Skizze Hast du die Nacht genutzt? Brunnenstraße) sind vom Gefühl des Zeitstillwurde 1987 mit dem Ernst-Willner-Preis stands u. des Lebens im geschlossenen Raum ausgezeichnet. Außerdem erhielt L. u. a. den beherrscht. Die Prosaskizzen in Mitten im Berliner Literaturpreis 1998 u. den Preis der Krieg sind fiktionale Selbstbeschreibungen. Thematisiert werden der Wechsel von Ost Leipziger Buchmesse 2008. L.s Werk ist von drei Konstanten geprägt: nach West sowie Zerrissenheit u. Haltlosigder stark am Lyrischen orientierten Rhyth- keit. Letztere, so zeigt der Roman In Berlin mik u. der autobiogr. Prägung ihrer Texte (Köln 1994), resultieren wesentlich aus ihrer sowie der Rolle Berlins nicht nur als Hand- vom Schweigen des Vaters verursachten Gelungsort, sondern als historisch-biogr. For- schichtslosigkeit. Der Erkenntnis dessen folgt in Die Freien Frauen (Bln. 2004) der Versuch, schungsfeld. jene Geschichte aufzusuchen u. an die eigene In Sie müssen jetzt gehen, Frau Mühsam wird Gegenwart zu binden. Dabei ist L.s autobiogr. die Stimmung in Berlin ein Jahr nach Hitlers Heldin immer Individuum u. Repräsentantin Machtergreifung eruiert. In einem letzten ihrer Generation. Wäre es schön? Es wäre schön! Gespräch, das die auf dem Weg in die Emi(Bln. 2008) unternimmt die Aufarbeitung des gration befindl. Witwe des ermordeten Erich Lebens ihres Vaters. Es ist dies jedoch kein Mühsam mit einer Kellnerin führt, treten »reines« Sachbuch, sondern mit allen literar. sukzessive die tägl. Anpassungs- u. VerdränInsignien der Autorin versehen. gungsleistungen zutage, die die Berliner dem Weitere Werke: Berliner Kindl. Bln. 1988. – zunehmenden braunen Terror gegenüber Letzten Sommer in Dtschld. Eine romant. Reise. aufbringen. Berliner Mietshaus stellt eine für Köln 1997. den Prenzlauer Berg typische alte MietskaLiteratur: Galerie der Autoren 19: I. L. Lanserne vor. Mit ihrem sozialkrit. Ansatz in der desbildstelle Bln. 1990. – Nadja Stulz-Herrnstadt: Tradition von Maxie Wanders Guten Morgen, Das Herrnstadt-Dokument. Reinb. 1990. – Hans du Schöne (1977) stehend, bieten L.s Ge- Joachim Schröder: Interviewlit. zum Leben in der sprächsbeschreibungen sowohl individuelle DDR. Zur literar., biogr. u. sozialgeschichtl. BeLebensbilder als auch die übergreifende Ge- deutung einer dokumentar. Gattung. Tüb. 2001. – schichte des Hauses mit ihren unvermeidl. Angelika Klammer: I. L. In: LGL. – Astrid Köhler: Verwerfungen. Die dabei wiederum auf- Brückenschläge. DDR-Autoren vor u. nach der Wiedervereinigung. Gött. 2007. Astrid Köhler scheinenden Verdrängungsleistungen einiger Bewohner (hinsichtlich des »Verschwindens« jüdischer Nachbarn in den späten dreißiger Liederbuch der Clara Hätzlerin ! Jahren u. der Übernahme ihres Wohnraums Hätzlerin, Klara u. Besitzes durch »arische« Familien) geben den Impuls für die weitere Auseinanderset- Liedersaalhandschrift ! Laßberg, Jozung mit dem Thema. Das ab 1982 gesam- seph von melte Material zur Geschichte des einst stark jüdisch bewohnten Scheunenviertels sperrte sich für sie jedoch der Verarbeitung zum Lienert, Meinrad, * 21.5.1865 Einsiedeln/ Kt. Schwyz, † 26.12.1933 Küsnacht bei Roman u. erschien 2002 als nachgetragener Zürich. – Mundartlyriker, Erzähler. Werkstattbericht: Stille Mitte von Berlin, Eine Recherche rund um den Hackeschen Markt (Bln.). Der Sohn des Einsiedler Landschreibers u. Die Auseinandersetzung war umso schmerz- einer Bergbauerntochter wuchs unter glückl. hafter, da L.s Vater dt. Jude u. Kommunist Umständen in Einsiedeln auf, wurde Schüler

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des berühmten Klosterkonvikts, studierte in Lausanne, München u. Zürich Jurisprudenz, um ab 1891 als Nachfolger seines Vaters Notar in Einsiedeln zu werden. Im gleichen Jahr erschien in Zürich sein erstes Prosabuch Flüehblüemli, das zum Erstaunen vieler Zeitgenossen in Einsiedler Mundart geschrieben war u. das Josef Victor Widmann dazu brachte, L. als »schweizerischen Rosegger« zu preisen. Während er sich als Erzähler später weitgehend dem Hochdeutschen zuwandte, fand L. seine Bestimmung als Dialektdichter erst, als er mit der Sammlung Jodler vom Meisterjuzer (Frauenfeld 1893) zur Poesie überging. Seine »Liedli«, wie er die volksliedhaft-einfachen, gereimten Verse bezeichnete, wuchsen in Sprache, Thematik u. Atmosphäre unmittelbar aus der ihm vertrauten bäuerlichen, von der modernen Technik u. Zivilisation noch weitgehend unberührten Landschaft des Einsiedler Tals u. der umliegenden Berggebiete. Liebe, Hochzeit, Geburt u. Tod, Hirtenleben, Alpaufzug, Kirchweih, Fastnacht, Hexenzauber, Sommer, Frühling, Herbst u. Winter – das ist der Kosmos, dem L.s Lyrik, die sich später nur noch formal, nicht inhaltlich wandelte u. perfektionierte, zeitlebens verpflichtet blieb; nur dass ab 1899, nachdem L. mit seiner Familie als Redakteur nach Zürich übergesiedelt war, noch das Heimweh hinzukam, das neben den fröhlich-unbeschwerten auch »Liedli« von dunkler, melanchol. Färbung entstehen ließ. Die repräsentative Sammlung von L.s Dialektlyrik sind die zwei Bände ’s Juzlienis Schwäbelpfyffli, die nach 1906 bzw. 1909 publizierten Vorstudien in endgültiger Fassung 1913 in Aarau herauskamen u. inzwischen auch in einer von Walter Haas u. Bernadette Kathriner betreuten wiss. Edition vorliegen (4 Bde., Zürich 1992). Welche (nicht zuletzt auch nationale) Begeisterung die inzwischen am ehesten noch volkskundlich interessanten Gedichte damals auslösten, zeigt z.B. die Reaktion Spittelers, der 1914 in den »Süddeutschen Monatsheften« schrieb: »Es ist kaum möglich, diese Lyrik zu überschätzen [...]. Das ist nun einmal die wahre Volkspoesie, [...] die Erschließung der stummen, nach Aussprache dürstenden Volksseele durch die Fürsprache einer hochbegabten dichterischen

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Persönlichkeit [...]« (Wiederabdruck in Carl Spittelers Gesammelte Werke. Bd. 7, Zürich 1947, S. 505). Nachdem L. auf diese Weise für Generationen zum Inbegriff des »Bodenständigen«, »Gesunden« u. »Echten« geworden war, suchte Dieter Fringeli, ein Vertreter der nach 1968 in Erscheinung tretenden neuen, sprachkrit. Schweizer Dialektpoesie, den Lyriker L. als Vorläufer eben dieser Bewegung zu gewinnen u. betonte in seiner Sammlung Mach keini Schprüch (1972) v. a. die dunkle, trag. Dimension von L.s Poesie. Nachdem L. schon mit dem Roman Der Pfeiferkönig. Eine Zürchergeschichte (Aarau 1909. 1919) u. mit der Erzählung Das Hochmutsnärrchen (Frauenfeld 1911) auch als Erzähler überraschend viel Anklang gefunden hatte, widmete er sich nach dem Ersten Weltkrieg, als er vorübergehend wieder in Einsiedeln lebte, praktisch nur noch der hochdt. Prosa. Neben dem histor. Roman Der König von Euland (Frauenfeld 1928) u. der Bauernerzählung Das Glöcklein auf Rain (Frauenfeld 1933) entstand in dieser Zeit der humorist. Roman Der doppelte Matthias und seine Töchter (Bln. 1929. Rev. Ausg. Zürich 1982), mit dem L. erstmals weit über die Schweiz hinaus Erfolg hatte. Es ist die Geschichte der fünf Bergbauerntöchter Judith, Hagar, Sulamith, Rebekka u. Rahel, die hoch oben auf einem einsamen Hof aus ihrem Leben u. aus ihrem Alltag mit Optimismus u. Tatkraft das Beste machen u. zuletzt, so will es die komödiant. Vorlage, trotz der Unbeholfenheit ihres Vaters Matthias Stump alle noch irgendwie unter die Haube kommen. Wie kaum in einem anderen Buch der Schweizer Literatur jener Zeit ist es L. hier gelungen, die Stereotypen des Heimat- u. Bergromans auf eine entwaffnend humorvolle, nie sentimentale Art u. Weise in einen lesbaren, leichtgewichtigen Text einzubringen, ohne dabei seiner unverwechselbaren, unverkennbar helvet. Wortwahl, Diktion u. Syntax untreu zu werden. Weitere Werke: Gesch.n aus den Schwyzerbergen. Frauenfeld 1894. – E.en aus der UrSchweiz. 2 Bde., Lpz. 1895. 2., veränderte Aufl. u. d. T. ›Der jauchzende Bergwald‹. Frauenfeld 1915. – ’s Mirli. Frauenfeld 1896 (E.). – Lieder des Waldfinken. Lpz. 1897. – Der Strahler. Zürich 1902

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417 (E.). – Das war eine goldene Zeit. Kindheitserinnerungen. Frauenfeld 1906. – ’s Heiwili. Frauenfeld 1908 (E.). – Bergdorfgesch.n. Frauenfeld 1914. – Drei altmod. Liebesgesch.n. Frauenfeld 1916. – Der Weihnachtsstern. Frauenfeld 1917 (Krippenspiel). – Zürcher Sagen. Zürich 1919. – Der Ahne. Ein Trauersp. Aarau 1921. – Auf alten Scheiben. Frauenfeld 1925 (2 E.en). – Der Schalk im Hirthemd. Frauenfeld 1927 (E.). – E.en aus der Schweizergesch. Aarau 1930. 1961. – Die Kunst zu Illendorf. Bln. 1931 (E.). – Us Härz u. Heimed. Nü Värs. Aarau 1933. – Schweizer Sagen u. Heldengesch.n. Wiesb. 2006. – Sagen u. Legenden der Schweiz. Hg. Stefan Ineichen. Zürich 2006. Literatur: Rudolf Schwab: M. L.s geschichtl. Dichtung. Diss. Bern 1940. – Martin Kraft: M. L. Nachw. zur rev. Neuausg. v. ›Der doppelte Matthias‹. Hg. Charles Linsmayer. a. a. O. – Wernerkarl Kälin: M. L. In: Schwyzer Heft 29 (1983). – Werner Günther: M. L. In: Dichter der neueren Schweiz. Hg. ders. Bd. 3, Bern 1986, S. 104–212. Charles Linsmayer

Lienhard, Friedrich, * 4.10.1865 Rothbach/Elsass, † 30.4.1929 Eisenach; Grabstätte: Rothbach/Elsass. – Lyriker, Erzähler, Dramatiker, Publizist. Der Sohn eines Volksschullehrers wurde streng lutherisch erzogen. Nach dem Besuch des Gymnasiums in Buchsweiler nahm er 1885 in Straßburg das Studium der Theologie u. Philosophie auf, wechselte zwei Jahre später nach Berlin u. kehrte 1888/89 nochmals in das Straßburger Thomasstift zurück. Dort brach L., der in Berlin mit literar. Kreisen (Wildenbruch, Bleibtreu) in Berührung gekommen war, sein Studium ab u. arbeitete als Hauslehrer in Groß-Lichterfelde. Nach Reisen (Oberbayern u. über das Elsass nach Paris) übernahm er 1893 die Redaktion der Zeitschrift »Das Zwanzigste Jahrhundert« u. schrieb seit 1896 auch im Feuilleton der »Deutschen Zeitung«. Mit Adolf Bartels gründete er 1900 die »Heimat«, programmat. Organ der Heimatkunstbewegung (Auszüge aus den Programmschriften in: Jahrhundertwende. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1890–1900. Hg. Erich Ruprecht u. Dieter Bänsch. Stgt. 1981, S. 339–349). Nach scharfen Angriffen durch den »Kunstwart« zog L. sich 1903 in den Thüringer Wald, zeitweise auch ins Elsass zurück, beteiligte

sich während dieser Zeit auch an Karl Muths »Hochland«. 1916 siedelte er nach Weimar über u. gab 1920 bis 1928 den national-konservativen »Türmer« heraus. Die Universitäten Straßburg u. Münster ernannten ihn zum Ehrendoktor, die Stadt Weimar zum Ehrenbürger. Während L.s frühe Arbeiten noch am Naturalismus partizipierten (Weltrevolution. Eine soziale Tragödie. Dresden 1889), orientierte er sich seit 1895 unter dem Einfluss Langbehns zunehmend an den Ideen der sich herausbildenden »Konservativen Revolution« u. richtete sich in scharfen Angriffen gegen Naturalismus u. Impressionismus als literar. Formen einer dekadenten, »materialistischen« Moderne. In zeittypischer Weise interpretierte L. die histor. Umbruchsituation der Gründerjahre als Kulturkrise, grenzte sich aber gegen den extremen Chauvinismus des »Alldeutschen Verbandes« wie gegen den George-Kreis ab. Unter dem Schlagwort »Los von Berlin« setzte er der zunehmenden Urbanisierung u. Industrialisierung eine regionale u. traditionsorientierte Kultur entgegen. Zwischen »Kultur und Kunst, zwischen Zeitund Volksgeist« sollten »neue Zusammenhänge auf der Grundlage eines weit und frei erfaßten nationalen Gedankens« geschaffen werden, »anknüpfend an Herder und die Brüder Grimm«. Zgl. wurde gegen die »allgemeine plebejische Massenpöbelei« ein verschwommener Begriff des dt. Idealismus aufgeboten, der synkretistisch altgermanische, griech. u. christl. Tendenzen zusammenfasste (vgl. Neue Ideale. Stgt. 1901. »Wege nach Weimar. Monatsblätter«. 6 Bde., Stgt. 1905–08). Der Rückzug auf Positionen des »Geistes«, des »inneren Menschen«, war in seiner Verbindung mit völkischen u. antimodernen Stereotypen in der Weimarer Zeit ungewöhnlich erfolgreich, hat gerade deshalb mittlerweile das Interesse einer meist ideologiekrit. Forschung gefunden, die sich freilich in Gesten der Distanzierung erschöpft. L.s durchaus routiniert geschriebener u. im Detail höchst kenntnisreicher Bestsellerroman zur Französischen Revolution im Elsass (Oberlin. Stgt. 1910; bis 1922 in der 120. Auflage!), in dem L. in der Perspektive einer

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autobiografisch gefärbten Zentralfigur die verschiedenen Bewegungen u. Zentren der älteren elsäss. Kulturgeschichte beleuchtet (Pfeffel-Kreis, E. Schneider u. die Revolutionäre, Oberlin als ideelle Leitfigur), akzentuiert seine Abwehr radikaldemokratischer Positionen u. seine reichsdt. Perspektive, in der er die frz. Usurpation des – von ihm auch in Gedichtbänden gefeierten – Elsass ablehnte; so tendenziell ebenfalls in seiner Autobiografie Jugendjahre. Erinnerungen (Stgt. 1917), später etwa auch in der Erzählung Der Raub Straßburgs (Mchn. 1925). L.s nationalist. Töne fanden ihren Widerpart u. a. in Essays von Ernst Stadler (s. u., Literaturverz.), der sich L. anfangs durchaus verbunden fühlte. Auch L.s autobiografisch gefärbter Gegenwartsroman Der Spielmann (Stgt. 1913) erreichte weit über 100 Auflagen. Doch obwohl zentrale Themen L.s attraktiv blieben, darunter das Trauma der verlorenen Heimat, mithin die »Heimholung« des »urdeutschen« Elsass in das dt. Reich (dazu auch der teils erzählerische, teils essayist. Band Westmark. Stgt. 1919, darin »Briefe eines Elsässers« vom Okt. 1918), erfuhren seine Romane nach 1933 kaum Neuauflagen. Dies vielleicht auch deshalb, weil sich der vom christl. Protestantismus geprägte Bildungsbürger L. von rassistischen u. biologist. Vorstellungen fernhielt. Dem entspricht auch die Traditionsgebundenheit seines Theaterwerkes. L.s Dramen über altdt. u. altnordische Stoffe waren als Festspiele v. a. für das Harzer Bergtheater (gegr. 1903 von L.s Freund Ernst Wachler) gedacht. Die Inszenierungen dienten hier, mit deutl. Affinitäten zu Wagners Festspielen, dem nationalen Gedächtnis u. zgl. der quasi-religiösen Weihe einer geistigen Erneuerung im Zeichen eines lebensphilosopisch adaptierten Idealismus, ohne dass sich ein bleibender Erfolg einstellte. Weitere Werke: Lieder eines Elsässers. Bln. 1888. – Die weiße Frau. Dresden 1889 (E.). – Wasgaufahrten. Straßb. 1895. – Till Eulenspiegel. 2 Bde., Straßb. 1896 (D.). – Helden. Bilder u. Gestalten. Bln. 1900. – Münchhausen. Bln. 1900 (Lustsp.). – Ahasver. Stgt. 1903 (Trag.). – Wartburg. 3 Bde., Stgt. 1903–06 (D.). – Thüringer Tgb. Stgt. 1904. – Wieland der Schmied. Stgt. 1905 (D.). – Gobineaus Amadis u. die Rassenfrage. Stgt. 1908. –

418 Odysseus. Stgt. 1911 (D.). – (Mithg.): Der elsäss. Garten. Ein Buch v. unsres Landes Art u. Kunst. Straßb. 1912. – Der Meister der Menschheit. Beiträge zur Beseelung der Gegenwart. 3 Bde., Straßb. 1919–21. – Die Marseillaise. Ffm. 1924 (E.). – Unter dem Rosenkranz. Ein Hausbuch aus dem Herzen Dtschld.s. Stgt. 1925. – Meisters Vermächtnis. Stgt. 1927 (R.). Ausgabe: Ges. Werke. 15 Bde., Straßb. 1924–26. Literatur: Ernst Stadler: F. L. (1914). In: Ders.: Dichtungen. Schr.en. Briefe. Hg. Klaus Hurlebusch u. Karl Ludwig Schneider. Mchn. 1983, S. 294–306. – Paul Bülow: F. L. Lpz. 1923. – Ernst Barthel: F. L. Die Künstlerseele aus dem dt. Elsaß. Mülhausen 1941. – Axel Hauff u. a.: Zur Genese apologet. u. reaktionärer Literaturströmungen in Dtschld. um 1900. In: Positionen der literar. Intelligenz zwischen bürgerl. Reaktion u. Imperialismus. Hg. Gert Mattenklott u. Klaus R. Scherpe. Kronberg/Ts. 1973, S. 210–305. – Adalbert Wichert: L. In: NDB. – Hildegard Chatellier: F. L. In: Hdb. zur ›Völkischen Bewegung‹ 1871–1918. Hg. Uwe Purschner u. a. Mchn. u. a. 1996, S. 114–130 (weitere Lit.). – Dies.: F. L. als ungetreuer Verwalter der Weimarer Erbes? Polit. Implikationen kultureller Verbiegungen. In: Weimar 1930. Politik u. Kultur im Vorfeld der NS-Diktatur. Hg. Lothar Ehrlich u. Jürgen John. Köln u. a. 1998, S. 169–183. – Thomas Neumann: ›... der die idealen Triebe Ihrer Vorschläge vollauf zu würdigen weiß‹. F. L. u. die Goethe-Gesellsch. Ebd., S. 185–210. – Michael Ertz: F. L. u. René Schickele. Elsäss. Literaten zwischen Dtschld. u. Frankreich. Hildesh. u. a. 1999. – H. Chatellier: Kreuz, Rosenkreuz u. Hakenkreuz. Synkretismus in der Weimarer Republik am Beispiel F. L.s. In: Intellektuellendiskurse in der Weimarer Republik. Zur polit. Kultur einer Gemengelage. Hg. Manfred Gangl u. Gérard Raulet. Ffm. u. a. 22007, S. 93–105. – Wilhelm Kühlmann: Pfeffel u. der Pfeffelkreis in der Perspektive eines reichsdt. Elsässers. Zu F. L.s Erfolgsroman ›Oberlin‹ (1910). In: Gottlieb Konrad Pfeffel – Signaturen der Spätaufklärung am Oberrhein. Hg. Achim Aurnhammer u. W. Kühlmann. Freib. i. Br. 2010, S. 257–274. Frank Raepke / Wilhelm Kühlmann

Lienhard, Hermann, * 25.2.1922 St. Veit an der Glan/Kärnten, † 10.10.1999 St. Veit an der Glan/Kärnten. – Lyriker. L. studierte in Wien Musik u. klass. Philologie, war als Organist in seinem Heimatort tätig u. leitete bis zu seiner Pensionierung die Abteilung »Hörspiel und Literatur« im Landesstudio Kärnten des ORF.

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Hatte sich L. nach seiner ersten Lyrikveröffentlichung Die Verwandlung (Klagenf. 1948) von allzu großer Traditionsbefangenheit gelöst, so blieb doch in seinen folgenden Werken der Geist der humanist. Bildung präsent. Dissonanzen, die bei dem Versuch entstehen, Moderne u. Antike zu verbinden, werden durch die Musikalität der Texte gemildert. L.s Vorliebe für die Antike u. die mediterrane Szenerie erinnert an Gottfried Benn. L., den Ernst Schönwiese als »Architekt der Töne und Klänge« bezeichnete, versuchte, seine Gedichte multimedial aufzubereiten. So sind seinem letzten Lyrikband Die Harfenschwinge (Klagenf. 1989) Illustrationen u. Notenblätter zur Textvertonung beigegeben. Weitere Werke: Das Spiegelhaus. Salzb. 1955 (L.). – Die Hochzeit des Botticelli. 1956 (Funkoper). – Der Tod kennt den Mond nicht. Mchn. 1958 (Bühnenstück). – Die Flötengarbe. Wien 1968 (L.). – Die Orgelfracht. Klagenf. 1982 (L.). Literatur: L. In: Fidibus, Nr. 1 (1987; mit Beiträgen v. Heimito v. Doderer, Gerhard Fritsch, Oskar Maurus Fontana u. Ernst Schönwiese). – Annette Steinsiek: Stirne an Stirne: zu zwei Briefen Christine Lavants an H. L. In: Mitt.en aus dem Brenner-Archiv 16 (1997), S. 58–67. Gerald Leitner / Red.

Liepman, Heinz, eigentl.: H. Liepmann, auch: Jens C. Nielsen, Jan Mangels Prigge, * 25.8.1905 Osnabrück, † 6.6.1966 Agarone/Schweiz. – Romancier, Hörspielautor, Essayist, Journalist u. Übersetzer. Der Sohn eines jüd. Kaufmanns studierte Philosophie u. Psychologie in Hamburg u. Frankfurt/M., wurde 1922 Redaktionsvolontär bei der »Frankfurter Zeitung«, 1924/25 Regie- u. Dramaturgieassistent der Städtischen Bühnen Frankfurt/M., danach Dramaturg an den Hamburger Kammerspielen. 1933 wurden seine ersten Werke von den Nationalsozialisten verbrannt, sein Name auf die erste Ausbürgerungsliste gesetzt. L., der sich als Mitgl. des SDS u. Mitbegründer des »Kollektiv Hamburger Schauspieler« an Aktivitäten des Hamburger Widerstands beteiligt hatte, floh nach seiner Verhaftung (1933) aus dem Konzentrationslager Wittmoor, emigrierte über Holland (dort erneute Verhaftung u. Verurteilung wegen »Beleidigung

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des Staatsoberhauptes eine befreundeten Staates«, Freilassung erst nach internat. Protesten), Frankreich u. England in die USA. Nach jahrelangen Gelegenheitsarbeiten trat er 1943 in die »Time«-Redaktion ein. 1947 kehrte L. nach Westdeutschland zurück, wo er als Journalist (u. a. für die »Welt«, »Kristall« u. die Zürcher »Weltwoche«) u. freier Schriftsteller arbeitete. 1961 wegen der restaurativen Tendenzen in der Bundesrepublik zweite Emigration in die Schweiz. L. war u. a. Mitgl. des Pen-Club deutschsprachiger Autoren im Ausland. In den ersten Romanen, Nächte eines alten Kindes (Wien 1929), Die Hilflosen (Ffm. 1930; 1932 International Harper Literature Prize; in 12 Sprachen übers.), Der Frieden brach aus (Wien 1930), schilderte L. das durch revolutionäre Wirren u. Kriegsfolgen verelendete u. orientierungslose Kleinbürgertum u. dessen Antisemitismus. Seine reportagehaften antinationalsozialistischen Romane Das Vaterland (Amsterd. 1934; in 14 Sprachen übers. Neuaufl. Ffm. 1981, mit einem Vorw. v. Heinrich Böll. Hildesh. 1986, mit einem Nachw. v. Hans-Albert Walter) u. ... wird mit dem Tode bestraft (Zürich 1935) verschafften dem linksliberalen Autor internat. Anerkennung. In der Nachkriegszeit wandte er sich gegen restaurative Tendenzen in der Bundesrepublik, forderte bewusste Auseinandersetzung mit der NS-Zeit u. bezog mit kritisch-satir. Romanen u. Essays Stellung zu gesellschaftl. Fehlentwicklungen. L.s wichtigste Werke nach dem Zweiten Weltkrieg waren Case History (New York 1950. Dt.: Der Ausweg. Reinb. 1961), eine Erzählung über das Problem der Drogenabhängigkeit, u. Kriegsdienstverweigerung oder Gilt noch das Grundgesetz? (Reinb. 1966), eine vehemente Verteidigung des Rechtes auf Kriegsdienstverweigerung. Weitere Werke: Columbus. Bln. 1931 (Schausp.). – Unser Schaden am Bein. Wien/Lpz. 1932 (Schausp.). – Drei Apfelbäume. Hbg. 1933 (Schausp.). – Das Leben der Millionäre. Paris 1934 (Kurzgesch.n). – Death from the Skies. London 1937 (Ber.). – Das 6. Fenster im 11. Stock. Bln. 1948 (Kurzgesch.). – Rasputin. Bln. 1956 (R.). – Die Früchte des Kaktus. 1958 (Hörsp.). – Endstation der Verantwortlichkeit. 1959 (Hörsp.). – Verbrechen in Zwielicht. Bln. 1959 (Reportagen). – Ein dt. Jude

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denkt über Dtschld. nach. Mchn. 1961. – Karlchen oder die Tücken der Tugend. Hbg. 1964 (R.). Literatur: Bibliografien: Günter Albrecht: Internat. Bibliogr. zur Gesch. der dt. Lit. v. den Anfängen bis zur Gegenwart. Tl. 4, Bd. 2, Mchn. 1984, S. 65–74. – Wilfried Weinke: H. L. (1905–66). In: Dt. Exillit. Bd. 4, S. 1091–1102. – Weitere Titel: Gisela Berglund: Dt. Opposition gegen Hitler in Presse u. Roman des Exils. Stockholm 1972, S. 186–193. – Richard Albrecht: Machtübergabe, Machtübernahme u. Machtausübung im Spiegel des ersten antifaschist. Exilromans 1933 – H. L.s Tatsachenroman ›Das Vaterland‹. In: literatur für leser 6 (1983), S. 224–233. – Klaus Müller-Salget: Zum Beispiel H. L. In: Exilforsch. Ein internat. Jb. 3 (1985), S. 286–312. – Jan Hans: ›Lieber Gott mach mich stumm, daß ich nicht nach Wittmoor kumm!‹ H. L.s Dokumentarroman aus Nazi-Hamburg. In: ›Liebe, die im Abgrund Anker wirft‹. Autoren u. literar. Feld im Hamburg des 20. Jh. Hg. Inge Stephan u. Hans-Gerd Winter. Hbg. 1989, S. 161–174. – Valda Melngailis: H. L. In: Dt. Exillit. Bd. 2, S. 509–519. – Helmut Morr: H. L. – oder kein Ende der Emigration. In: Erich Maria Remarque-Jb. 3 (1993), S. 11–26. – W. Weinke: Ein dt. Jude denkt über Dtschld. nach. Der Schriftsteller u. Journalist H. L., sein Wirken in Hamburg u. seine Auseinandersetzung mit Antisemitismus u. Philosemitismus in Dtschld. nach 1945. In: Ztschr. des Vereins für Hamburgische Gesch. 85 (1999), S. 183–206. – Thomas F. Schneider: Gilt noch das Grundgesetz? H. L.s Engagement für das Recht auf Kriegsdienstverweigerung in den 60er Jahren. In: Engagement. Debatten. Skandale. Deutschsprachige Autoren als Zeitgenossen. Hg. Joanna Jablkowska u. Malgorzata Pólrola. Lódz´ 2002, S. 377–390. – Ders.: ›Müssen wir wieder emigrieren?‹. H. L. (1905–66) u. die Emigration als Chiffre politischmoral. Handelns. In: Krieg u. Nachkrieg. Konfigurationen der deutschsprachigen Lit. (1940–65). Hg. Hania Siebenpfeiffer u. Ute Wölfel. Bln. 2004, S. 65–79. – W. Weinke: ›Ich werde später einmal Einfluß zu gewinnen suchen...‹. Der Schriftsteller u. Journalist H. L. (1905–66). In: Erich Maria Remarque-Jb. 16 (2006), S. 7–24. /

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Wolfgang Weismantel / Thomas F. Schneider

Lietz, Hermann, * 28.4.1868 Dumgenewitz/Rügen, † 12.6.1919 Haubinda/Thüringen. – Reformpädagoge, Gründer der Deutschen Landerziehungsheime. Geborgene Kindheit auf dem Land, bedrückende Gymnasialjahre in Greifswald u. Stralsund, die Freiheit des akadem. Studiums

in Halle u. Jena, pädagog. Grunderfahrungen in Wilhelm Reins Jenenser UniversitätsÜbungsschule u. an Cecil Reddies engl. New School Abbotsholme – dies sind die Ausgangserfahrungen für L.’ reformpädagog. Denken u. Wirken. Sie schlugen sich nieder in den von ihm gegründeten Landerziehungsheimen (1889 Ilsenburg/Harz, 1901 Haubinda, 1904 Schloss Bieberstein/Rhön, 1914 Landwaisenheim Veckenstedt/Harz). Fernab der kulturfeindl. Großstadt sollten neue Erziehungsideale verwirklicht werden: das Familienprinzip in der Gemeinschaftserziehung; Charakterbildung in u. durch die Gemeinschaft unter der Anleitung charismat. Führer; Ausgewogenheit von Arbeit, Spiel u. Feier, Freiheit u. Pflichten, Tätigsein u. Stille. Das Landerziehungsheim ist Haus-, Familien- u. Lebensgemeinschaft; der Lehrer u. seine Familie sind umgeben von »jungen Freunden« (den »Gralssuchern«); harmon. Charakterstärke steht im Zentrum, Unterricht im übl. Sinne ist Nebensache. Praktisches Lernen ergibt sich aus der Mitarbeit in Haus u. Garten, soziale Erfahrung entspringt der Sorge für die Jüngeren, Weltkenntnis vermitteln nicht nur Wanderungen u. Exkursionen, sondern Schulreisen bis an den Polarkreis u. nach Konstantinopel. Geistige Einkehr eröffnet die »Abendkapelle«, die Lesung, die geistige Lebens- u. Arbeitsgemeinschaft. Weitere Werke: Emlohstobba. Bln. 1897. Neuausg. Heinsberg 1997. – Dt. Land-Erziehungsheime. Lpz. 1906. – Die dt. Land-Erziehungsheime. Lpz. 1910. – Die dt. Nationalschule. Lpz. 1911. 21920. – Das dt. Volkshochschulheim. Langensalza 1919. – Von Leben u. Arbeit eines dt. Erziehers. Veckenstedt 31921 (mit Werkverz.). Ausgaben: Ausgew. pädagog. Schr.en. Paderb. 1970 (mit Bibliogr.). – Reform der Schule durch Reformschulen. Kleine Schr.en. Hg. Ralf Koerrenz. Jena 2005. Literatur: Erich Meissner: Asket. Erziehung. Weinheim 1965. – Theodor Wilhelm: Pädagogik der Gegenwart. Stgt. 51977, S. 47–50. – Elisabeth Badry: Die Gründer der Landerziehungsheime. In: Klassiker der Pädagogik. Bd. 2, Mchn. 1979, v. a. S. 153–157. – Hermann Röhrs: Die Reformpädagogik. Bd. 1, Hann. 21983, S. 116–127. – Ralf Koerrenz: H. L. Eine Biogr. Ffm. 1989. – Peter Littig: Reformpädagog. Erfahrungen der Landerzie-

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421 hungsheime v. H. L. u. ihre Bedeutung für aktuelle Schulentwicklungsprozesse. Ffm. u. a. 2004. Ulrich Herrmann / Red.

Die Lilie. – Spätmittelalterliche geistliche Allegorie des 13. Jh. aus dem niederrheinischen Raum (um Köln).

gramm – teilweise im Wir der christl. Gemeinschaft, teilweise in der direkten Anrede von Rezipienten, bevorzugt wohl Frauen. Explizit angesprochen sind diese in den in der Handschrift auf die L. folgenden, thematisch u. motivisch verwandten kleineren Dichtungen, die um 1250 im Rheinfränkischen entstanden sein dürften.

Die L. ist nur in einer mittelfränk. HandAusgabe: Die L. [...] u. a. geistl. Gedichte. Hg. schrift überliefert (Wiesb., Landesbibl., Hs. Paul Wüst. Bln. 1909. 68, um 1300). Sie folgt unterschiedlich frei Literatur: Johann B. Schoemann: Die Rede v. Abschnitten der unter den Werken Bonaven- den 15 Graden. Bln. 1930, passim. – Hans Neuturas laufenden längeren Fassung der Vitis mann: Die L. In: VL. – Ingeborg Glier: Kleine mystica sive Tractatus de passione Domine (Opera Reimpaargedichte u. verwandte Großformen. In: omnia 8. Quaracchi 1893, S. 195–216), die den Die dt. Lit. im späten MA. Hg. dies. Tl. 2, Mchn. Titel »De flore castitatis, quae est lilium« 1987, S. 18–141, hier 105 f. – Dietrich Schmidtke: Studien zur dingallegor. Erbauungslit. des Spättragen (Additamentum IV). Vom gleichen MA. Tüb. 1982, S. 80 u. 219, Anm. – Kurt Ruh: Verfasser – vielleicht einer Verfasserin, da Je- Gesch. der abendländ. Mystik. Bd. 2, Mchn. 1993, sus in brautmyst. Wendungen als »su8 zer S. 233 u. 243 f. Christian Kiening bu8 le« (44, 35) angesprochen wird – stammt auch die Rede von den 15 Graden; die erwogene Identität mit dem Autor des Rheinischen MaLiliencron, Detlev von, eigentl.: Friedrich rienlobs ist nicht zu sichern. Adolph Axel Frhr. von L., * 3.6.1844 Kiel, Der am Anfang unvollständige Text wech† 22.7.1909 Alt-Rahlstedt bei Hamburg; selt nach Blatt 26 der Handschrift von der Grabstätte: ebd. – Lyriker, Novellist, RoProsa zu einem frei gehandhabten Langzeimancier, Epiker, Dramatiker. lenvers mit überwiegend reinen Reimen. Der Text deutet die Lilie, parallel zu verbreiteten L. stammte aus einem verarmten adligen Formen der Pflanzenallegorese, in geistl. Hause, sein Vater war Beamter in dänischem Sinne: in sukzessivem Aufstieg von den Dienst (von ihm als »höherer Beamter« beWurzeln (den Gedanken des Gerechten) über zeichnet), seine Mutter die Tochter eines Stil (der gute Wille) u. Blätter (die Worte des deutsch-amerikan. Kapitäns. Er besuchte zuGerechten) zu den sechs weißen Blütenblät- nächst die Kieler »Gelehrte Schule«, in der tern (den Gründen der Minne zu Jesus) u. Dänisch Pflichtfach war, dann die Erfurter sechs gelben Staubgefäßen (den Werken der Realschule u. trat, nach der in Berlin bestanBarmherzigkeit), gipfelnd im dreieckigen denen Prüfung als »Officier-Aspirant«, in ein Stempel, der die Trinität symbolisiert. Ein- westfäl. Infanterieregiment in Mainz ein. Seit geschaltet sind Aufforderungen zum spiritu- 1865 Leutnant, wurde er 1866 verwundet. ellen Leben, zum Zurücklassen von Stolz, Nach seiner Rückkehr nach Mainz unterbrach Zorn u. Gier, zur Überwindung ird. Sünd- L. die Langeweile des Kasernenlebens u. die haftigkeit in Menschen- u. Gottesliebe, Aus- Schuldenbedrängnis durch den Umgang mit führungen zu den Vorzügen des Schweigens Kameraden, namentlich mit Ernst von u. generell Vergegenwärtigungen der Heils- Seckendorff, die Liebe zu der jungen Kathotatsachen. Im Wechselspiel zwischen Be- likin Anna Gottsleben, zwei Urlaube in Paris schreibung u. Auslegung parallelisiert der u., von Ende 1869 an, den Entwurf einiger Text die Pflanze u. den geistl. Menschen, von ihm »Novellen« genannter Prosastücke. vermittelt u. vollzieht dadurch eine Auf- 1870 wieder verwundet, ritt er dennoch 1871 wärtsbewegung hin zu Gott. Mahnend, be- als Adjutant in der Schlacht bei St. Quentin. lehrend u. unterweisend, formuliert der Ver- Darauf folgte zur Heilung einer Hautkrankfasser, in durchgängiger Metaphorik der heit ein Aufenthalt in Schlesien. Dort wurde »su8 ze« u. des Verkostens, ein geistl. Pro- ihm die Hand von Helene von Bodenhausen

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versagt; kurz danach entstand im Aug. 1871 die Novelle Verloren, deren letztes Wort »Entsagung« lautet. Von seinen Gläubigern verfolgt, nahm L. seinen Abschied, wurde aber im Dez. 1872, diesmal in ein pommersches Regiment, wieder eingestellt, bis ihm im Sept. 1875, wiederum wegen seiner Schulden, der Abschied als »Premierlieutenant« bewilligt wurde u. er sich einen Monat später nach New York einschiffte. L. fristete in Washington, Chicago, San Antonio u. schließlich in New York ein meist karges Leben u. fuhr im Febr. 1877, wie Lenau ein »Amerikamüder«, nach Deutschland zurück. Vermutlich sind einige der etwa 70 zwischen Mitte April u. Mitte Okt. 1877 im ersten seiner Gedichthefte niedergeschriebenen Gedichte oder Gedichtfragmente in Amerika entstanden; dies legt allein ihre Anzahl nahe. Die 1878 geschlossene Heirat mit Helene von Bodenhausen fand in Liebesliedern wie Glückes genug einen reichen poet. Niederschlag, scheiterte aber in Hamburg an den Geldverhältnissen u. bald an der Untreue L.s, der sich zum Antritt in die preuß. Verwaltung von 1879 an zunächst in Eckernförde (er nahm in Borby Wohnung), dann als kommissarischer Hardesvogt in Flensburg, dann im Landratsamt Plön ausbildete u. schließlich am 1.3.1882 kommissarischer Hardesvogt auf Pellworm wurde. In diesen drei Jahren beschäftigte sich L., seinem erklärten Entschluss gemäß, »Schriftsteller« zu werden, mit der Hogarth’schen Darstellung der »Schönheitslinie«, lernte die metr. Regeln, u. a. die der festen Formen (Sonett, Siziliane, Stanze, Terzine, Kanzone), sowie die rhetor. Figuren, bildete sich also gewissenhaft zum »poeta rhetor« aus u. ließ zgl. in Eckernförde die »Borbyer Sonderdrucke« sowie in Zeitungen zwei Novellen u. einige Gedichte, darunter die humorist. Balladen Die Musik kommt, Bruder Liederlich u. Der Handkuß, drucken. Auf Pellworm erhielt er bald nach seiner Ankunft den »Charakter als Hauptmann« sowie den Spitznamen »der Danzbaron« u. verliebte sich in die Tochter seiner Wirtin, Maria Jensen (vgl. Heimgang in der Frühe). Die sog. »Pellwormer Sonderdrucke« – von Okt. 1881 bis Okt. 1882 datiert – wurden von den

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Empfängern (u. a. Fontane, Groth, Heiberg u. Storm) begrüßt; eine Auswahl aus den beiden Sonderdruckreihen (insg. fast 200 Stücke, darunter sieben in Prosa), ergänzt um weitere Texte, erschien am 1.10.1883 unter dem vom Verleger gewählten Titel Adjutantenritte und andere Gedichte (Lpz.). An demselben Tag kam L. als Kirchspielvogt in Kellinghusen an; die bald darauf niedergeschriebene Novelle Greggert Meinstorff fußt jedoch noch auf Pellwormer Erlebnissen. Auguste Brandt, die L. seine »kleine Sekretärin« nannte, schrieb viele seiner Manuskripte ab, teilte nach seiner Dienstentlassung Ende 1885 sein dürftiges Leben u. pflegte ihn nach einem schweren chirurg. Eingriff (vgl. Die Operation). L., der nach seiner Rückkehr aus der Klinik 1887 Auguste, zwei Jahre nach der Scheidung von Helene von Bodenhausen, heiratete, trennte sich 1890 von seiner zweiten Frau, was ihn später zu dem Geständnis brachte, er habe sie »verstoßen« u. sie sei »der schwarze Punkt in [seinem] Leben«. Zum reichen Schaffen der Kellinghusener Jahre gehören namentlich der 1895 erschienene Band Kriegsnovellen (Lpz. u. Bln.), der bereits Ende 1889 fertig war, u. ein zweiter Gedichtband, der 1889 unter dem einfachen Titel Gedichte (Lpz.) früher verfasste Stücke, dazu einen Teil der Kellinghusener Natur- u. Liebeslyrik mit wiederholten Klagen über das kleinstädt. Leben enthielt. Die »Flucht« Anfang Febr. 1890 nach München, von ihm als »heidnische Stadt« u. »Venusberg« bezeichnet, ermöglichte die Bekanntschaft mit einigen, ihn nach Erscheinen der Adjutantenritte feiernden »Naturalisten« (u. a. Conrad, Bierbaum, Wedekind), ein Treffen mit Hugo Wolf u. häufige Besuche bei Fritz von Uhde u. den Pleinairisten. Mittellos u. der Künstlerboheme überdrüssig – trotz seines späteren Umgangs mit der Berliner Boheme, namentlich mit Peter Hille, war er eigentlich nie ein »Bohemien« –, gab L. 1890 den Haidegänger (Lpz.) heraus, ein Loblied auf die norddt. Heide, deren Einsamkeit ihm wieder nahe war, als er sich Anfang Febr. 1891 in Ottensen bei Hamburg u. bald nachher in Altona, Palmaille 5, niederließ. Der Umgang mit dem damaligen Großbürgertum blieb ihm jedoch verwehrt, u. a. aufgrund seines Gedichts Die Pest, das 1892 auf

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die Cholera in Hamburg anspielte, u. seines Verhältnisses mit der erst 1900 kurz vor der Geburt seines Sohnes geheirateten Bauerntochter Anna Micheel. Noch einmal half psychisch der Wunschtraum des Grandseigneurs: Poggfred [Froschfrieden], ein kunterbuntes Epos in zwölf Cantussen, dessen 180 erste Stanzen 1891 im Vorabdruck herauskamen, erschien 1896 (Bln.) u. erhielt 1904 eine erste »Continuatio« (Bln. u. Lpz.), 1908 eine zweite (Bln. u. Lpz.), die es zu 24 u. 29 Cantussen erweiterten. 1898 begann L. eine Reihe Vortragsreisen. 1903 erhielt er von Kaiser Wilhelm II. ein Gnadengehalt u. konnte ein Vorhaben aus der Kellinghusener Zeit wiederaufnehmen: Leben und Lüge, ein biografischer Roman, dessen Bezeichnung als autobiogr. Werk er, trotz der Benutzung seiner Kriegstagebücher, entschieden ablehnte, erschien 1908 (Bln. u. Lpz.). Zu seinem 65. Geburtstag verlieh ihm die Universität seiner Vaterstadt die Ehrendoktorwürde. Im Anschluss an eine Reise nach Mainz u. zu den Schlachtfeldern in Lothringen starb L. am 22.7.1909. 1997 wurde an der Universität Kiel eine Poetikdozentur eingerichtet, die nach dem Dichter benannt wurde. L.s Erklärung »Ich dichte Erlebtes« entspricht nur bedingt der Realität, denn er verbarg die Entwicklung seines dichterischen Schaffens hinter vielen Masken: z.B. hinter der des »Bruder Liederlich« (an seinem Lebensende »Bruder Vernünftig«), des simplician. »Springinsfeld« (im Poggfred), des Friedrich Schlegel’schen »Lebenskünstlers«, des »Spökenkiekers« u. raumfahrenden Fantastikers (Auf dem Aldebaran, Poggfred), der jedoch die Welt mit scharfem, geübtem Auge u. Ohr beobachtet, oder hinter der des Baudelaire’schen Dandys, der die Großstadt ebenso braucht wie er sie verachtet u. von seiner »vie antérieure« träumt (Auf dem Aldebaran, Leben und Lüge). Eigentlich hat L. stets, wie Schillers einsamer »Pilgrim«, an dem Gefühl gelitten, das »Dort« sei »niemals hier«, u., wie es Trakl ersah, »sich an seinen Gedichten verblutet«; von seiner Ballade Bruder Liederlich meinte er: »Der Schluß ist toternst und tragisch«. Früh mit der Schopenhauer’schen Weltvorstellung bekannt, von der Kriegswirklichkeit erschüttert, nach dem Tode seiner Mutter (Auf dem

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Kirchhofe) u. seiner Kusine Bertha Andresen (Einer Toten) ungläubig geworden, von der Macht der Vererbung überzeugt, Dostojewskis Seelenkenntnis bewundernd (»Es gibt keinen, der tiefer in die Menschenseele sah«), empörte sich L. gegen die Kritik an seiner Moral u. teilte Oscar Wildes Meinung: »Es gibt keine moralischen oder unmoralischen Bücher; es gibt nur gute und schlechte Bücher«. Seine »schlechten« Bücher hat L. selbst nicht geschont u. einmal sogar von »Schund« gesprochen. Er musste feststellen, dass sein Theater, an dem er viel gefeilt hatte, sich als nicht bühnenfähig erwies. Darin erschien die schleswig-holsteinische Geschichte, die zwei Stücken, Knut der Herr u. Die Rantzow und die Pogwisch, den Stoff geliefert hatte, wie früher in trag. Balladen. Auf den ersten Versuch als Romancier – den wohl zu sehr missachteten Roman Breide Hummelsbüttel (Lpz. 1887) – folgten Erzählungen, Novellen, Studienblätter (später Übungsblätter), Gedichte in Prosa (vgl. Farben), die zwar oft in Schleswig-Holstein spielen, an Storm u. Turgenjew erinnern, von der Vertrautheit des Dichters mit dem Plattdeutschen u. seinen Beziehungen zu Klaus Groth, Timm Kröger, Iven Kruse u. a. zeugen, deren Aufnahme von Adolf Bartels ihn aber die Frage stellen ließ: »Heimatkunst ist schön und gut, wo aber bleibt die Weltdichtung?« Obwohl er meinte, Poggfred sei das Werk, das ihn aus der Vergessenheit retten sollte, obwohl Thomas Mann die erste Ausgabe in zwölf Cantussen »dies göttliche Feuilleton von einem Epos« genannt hat, obwohl es meisterhafte Stanzen birgt, hat Dehmel recht behalten, als er vor der »epischen Breite« des Freundes »Angst« bekam. Ob die Kriegsnovellen, in denen ein Verwundeter vom Gegner mit den Worten »Sie sind mein Kamerad« angesprochen wird (Das Wärterhäuschen), noch lesenswert sind, hat Thomas Mann entschieden. Als er erfuhr, die Regierung habe 1905 dem Dichter mit der Entziehung seines Gnadengehaltes gedroht, weil das sozialdemokrat. »Hamburger Echo« begonnen hatte, die Kriegsnovellen wegen ihrer grausigen Realistik abzudrucken, erklärte er, es sei »eine Geschichte, die als Dokument für den deutschen Kulturstand zu Anfang des

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XX. Jahrhunderts aufbewahrt zu werden verdient bis in fernste Zeiten«. L. zählt zu den herausragenden dt. Lyrikern des 19. Jh.; gewürdigt worden sind etwa der verhaltene, der Vergänglichkeit bewusste Ton seiner Liebeslieder (Märztag), der gnomische Ausdruck der Angst vor der Todesstunde (Acherontisches Frösteln), die bänkelsangartige Selbstironie oder die trag. Spannung seiner Balladen (Wer weiß wo?, vgl. Rilkes Cornet), seine Strophen- u. Reimkunst u. die Handhabung der Kehrreime. Als Vorgänger des modernen Chansons, nicht zuletzt wegen bisweilen gewollter, herausforderndsalopper Ausdrücke, wird heute seine Lyrik wieder vorgelesen u. in neuen Vertonungen – neben früheren, u. a. zweien von Brahms – vorgetragen. Dem nicht zu Unrecht vorgebrachten Vorwurf der Kritiklosigkeit dieses »Neutöners« (die Bezeichnung prägte er für sich selbst) ist entgegenzuhalten, dass er in seiner Zeit früher als andere die Größe Kleists, Mörikes, Annette von Droste-Hülshoffs u. Conrad Ferdinand Meyers erkannte, zgl. auf die Bedeutung von Arno Holz, Wedekind, Karl Kraus, Hille u. Rilke hinwies u. sich für Hugo Wolf unermüdlich einsetzte. Weitere Werke: Der Trifels u. Palermo. Trauersp. in vier Akten. Lpz. 1886. – Arbeit adelt. Genrebild in zwei Akten. Lpz. 1887 [recte 1886]. – Eine Sommerschlacht. Lpz. 1887 [recte 1886] (N.n). – Die Merowinger. Trauersp. in fünf Akten. Lpz. 1888 [recte 1887]. – Unter flatternden Fahnen. Militärische u. andere Erzählungen. Lpz. 1888 [recte 1887]. – Der Mäcen. 2 Bde., Lpz. [1889] (E.en). – Krieg u. Frieden. Lpz. 1891 (N.n). – Neue Gedichte. Lpz. [1893]. – Mit dem linken Ellbogen. Bln. 1899 (R.). Ausgaben: Sämtl. Werke. 9 Bde., Bln. 1897–1902. – Sämtl. Werke. 15 Bde., Bln. 1904–08. – Nachl. 2 Bde., Bln. 1909, Bd. 1: Gute Nacht. Hinterlassene Gedichte; Bd. 2: Letzte Ernte. Hinterlassene Novellen. – Ges. Werke. Hg. Richard Dehmel. 8 Bde., Bln. 1911/12. – Poesias. Ausgew. u. übers. v. Alfred Dornheim u. José Santiago Arango. Mendoza 1945. – Roggen u. Weizen. Ausw. aus Novellen u. Gedichten. Besorgt u. eingel. v. Wilhelm Dreecken. Lahr [1949]. – Der Töpfer – Der Dichter. In: Um die Jahrhundertwende. Künstlergesch.n v. Peter Hille, D. v. L., Arthur Schnitzler u. a. Ausw. u. Nachw. v. Heinz Lüdecke. Bln. 1959, S. 96–122. – Balladen u. Lieder. Ausw. v. Herbert

424 Reinoß. Gütersloh o. J. [1961]. – Ausgew. Werke. Hg. u. eingel. v. Hans Stern. Hbg. 1964. – Flußüberwärts singt eine Nachtigall. Eine Ausw. hg. v. Manfred Häckel mit Anmerkungen v. Wulf Kirsten. Bln. 1967. – Der Dämon. Nach dem [...] kürzlich in Storms Nachl. aufgefundenen Druckexemplar. Hg. Jean Royer. In: Nordelbingen 37 (1968), S. 97–133. – Werke. Hg. Benno v. Wiese. 2 Bde., Ffm. 1977. – Gedichte. Hg. Günter Heintz. Stgt. 1981. Durchges. u. erg. Aufl. 1987 u. 1997. – Harfe im Herzen: die schönsten Gedichte v. D. v. L. Hg. Wolfgang Schwarz. Friedberg 1985. – Ausgew. Werke. Hg. Walter Hettche. Neumünster 2009. – Briefwechsel: Ausgew. Briefe. Hg. R. Dehmel. 2 Bde., Bln. 1910. – Briefe an Hermann Friedrichs aus den Jahren 1885–89. Hg. H. Friedrichs. Bln. 1910. – Neue Kunde v. L. Des Dichters Briefe [1882–94] an seinen ersten Verleger [Wilhelm Friedrich]. Hg. Heinrich Spiero. Lpz. 1912 [recte 1911] (Ausw.). – Unbegreiflich Herz. D. v. L.s Liebesbriefe an Helene v. Bodenhausen [1871–84]. Hg. ders. Stgt. u. a. 1925 (Ausw.). – Briefe in neuer Ausw. [1868–1909]. Hg. ders. Stgt. 1927. – Die Akte D. v. L. Hg. W. Kirsten. Bln. 1968 (enth. zwei Briefe an H. Heiberg u. den größten Teil der Briefe L.s an J. Grosse u. P. Heyse im Besitz der Dt. Schillerstiftung, Weimar). – Erich Unglaub: L. u. Karl Kraus. Regesten des Briefw.s 1893–95. In: Kraus-H.e 1978, S. 5–9. – D. v. L. u. Theobald Nöthig. Briefw. 1884–1909. Hg. J. Royer. 2 Bde., Herzberg 1986 (mit verschiedenen bibliogr. Verzeichnissen u. a. der vereinzelten Briefveröffentlichungen u. Publikationen L.s, die sich im Bd. 8, ›Miscellen‹, der Ges. Werke nicht finden, Bd. 2, S. 368–524). Literatur: Franz Oppenheimer: D. v. L. Eine ästhet. Studie. Bln. 1898. – Gustav Kühl: D. v. L. Bln. 1902. – Charles Andler: D. v. L. In: La Revue de Paris 16 (1909), H. 5, S. 673–700; H. 6, S. 81–104. – Hans Benzmann: D. v. L. Lpz. 1909. – Otto Julius Bierbaum: L. Mchn./Lpz. 1910. – Heinrich Spiero: D. v. L. Sein Leben u. seine Werke. Bln./Lpz. 1913. – Harry Maync: D. v. L. Bln. 1920. – Ilse Wichmann: D. v. L.s lyr. Anfänge. Bln. 1922. Nachdr. Nendeln 1967. – Arthur Burkhard: The Language of D. v. L.’s Lyrics and Ballads. In: JEGPh 30 (1931), H. 2, S. 236–254. – Elisabeth Assmann: Die Entwicklung des lyr. Stils bei D. v. L. Diss. Königsb. 1936. – Else Hordzewitz: L.s ungedr. Kriegstagebücher u. ihre Bedeutung für seine Kriegsdichtung. Würzb. 1938. – Detlev W. Schumann: D. v. L. (1844–1909). An Attempt at an Interpretation and Evaluation. In: Monatshefte 36 (1944), H. 8, S. 385–408; 37 (1945), H. 2, S. 65–87. – Hedwig Rödiger: Der Wunschtraum bei D. v. L. Diss. Wien 1949. – Heinrich Meyer: Was bleibt. Bemerkungen über Lit. u. Le-

425 ben, Schein u. Wirklichkeit. Stgt. 1966. – Heinz Schlaffer: Lyrik im Realismus. Studien über Raum u. Zeit in den Gedichten Mörikes, der Droste u. L.s. Diss. Bonn 1966, S. 96 ff. – Jean Royer: L. als Offizier, ein verfehlter Beruf ? In: Jb. Steinburg 12 (1968), S. 117–140. – Ursula Jaspersen: D. v. L. In: Dt. Dichter des 19. Jh. Ihr Leben u. Werk. Hg. Benno v. Wiese. Bln. 1969, S. 579–599. – Dietmar Ulrich: Die Verskunst der Lyrik D. v. L.s. Hbg. 1970. – J. Royer: D. v. L. In: BLSHL, Bd. 1 (1970), S. 182–185. – Ders.: Theodor Storm u. D. v. L. In: Schr.en der Theodor-Storm-Gesellsch. 20 (1971), S. 23–39. – Ders.: Klaus Groth u. D. v. L. In: Jahresgabe der Klaus-Groth-Gesellsch. 1972, S. 36–61. – Ders.: L. auf Pellworm. In: Nordelbingen 41 (1972), S. 182–212. – Uta Schaub: L. u. Heine im Urteil v. Karl Kraus. In: HeineJb 18 (1979), S. 191–201. – B. v. Wiese: D. v. L. In: Ders.: Perspektiven 2: Literar. Porträts. Bln. 1979, S. 157–178. – Heinz Stolte: D. v. L. Husum 1980. – Günter Häntzschel: Kritik an der Lyrik seiner Zeit u. Suche nach neuen Möglichkeiten. D. v. L: ›An meinen Freund, den Dichter‹. In: Gedichte u. Interpr.en. Hg. ders. Bd. 4, Stgt. 1983, S. 419–432. – J. Royer: D. v. L. in seiner Zeit. In: D. v. L. (1844–1909). Ausstellung u. Nachl. Kiel: Ber.e u. Beiträge der Schleswig-Holsteinischen Landesbibl. 1985, S. 10–27. – Ders.: D. v. L.s Lyrik u. ihre Rezeption in neuerer Zeit. Ebd., S. 28–44. – Ders.: D. v. L. ›Heimatkunst ist schön und gut, wo aber bleibt die Weltdichtung?‹ In: Literaten in der Provinz – provinzielle Lit.? Schriftsteller einer norddt. Region. Hg. Alexander Ritter. Heide 1991, S. 91–111. – Ders.: D. v. L. In: Erstausg.n dt. Dichtung. Eine Bibliogr. zur dt. Lit. 1600–1990. Hg. Gero v. Wilpert u. Adolf Gühring. Stgt. 21992, S. 994 f. – Ders.: D. v. L. Itinéraire et évolution du poète lyrique (1844–91). Bern u. a. 1993. – Ders.: D. v. L. in der Amtsstube. In: FS für Horst Gronemeyer zum 60. Geburtstag. Hg. Harald Weigl. Herzberg 1993, S. 479–497. – Ders.: D. v. L. u. Stormarn. In: Jb. Stormarn 12 (1994), S. 10–37. – Artist, Royalist, Anarchist: das abenteuerl. Leben des Baron D. Frhr. v. L. 1844–1909. Ausstellung in der Staats- u. Universitätsbibl. Hamburg, 2.6.-15.7.1994. Hg. Mathias Mainholz, Rüdiger Schütt u. Sabine Walter. Herzberg 1994 (Kat.). – Kay Dohnke: Die drei Leben des D. v. L.: die Kellinghusener Jahre. Mit einem Text v. Hermann Friedrichs. Vaale 1994. – J. Royer: D. v. L. et les peintres de son temps. In: Les songes de la raison, Mélanges offerts à Dominique Iehl. Bern u. a. 1995, S. 249–272. – Ders.: Zur Freundschaft zwischen D. v. L. u. Peter Hille. In: Hille-Blätter 1996, S. 89–142. – Barbara Burns: The Short Stories of D. v. L. Passion, Penury, Patriotism. Lewiston u. a. 1998. – J. Royer: D. v. L. über Theo-

Liliencron dor Storm. In: Stormlektüren. FS für Karl Ernst Laage zum 80. Geburtstag. Hg. Gerd Eversberg, David A. Jackson u. Eckart Pastor. Würzb. 2000, S. 301–311. – Annemarie Lutz: Ludwig Frahm u. D. v. L. Eine Dichterfreundschaft. In: Jb. des AlsterVereins 74 (2000), S. 40–51. – Horst Joachim Frank: Lit. in Schleswig-Holstein. Bd. 3, Tl. 2, Neumünster 2004, S. 322–402. – J. Royer: D. v. L. In: Kieler Lebensläufe aus sechs Jahrhunderten. Hg. Hans F. Rothert. Neumünster 2006 (mit Bibliogr. der Gedichtinterpr.en, S. 379). – D. v. L. (1844–1909). Facetten eines bewegten Dichterlebens. Ausstellung 21.6.-28.8.2009, Schleswig-Holsteinische Landesbibl. Kiel. Hg. Kornelia Küchmeister. Kiel 2009. Jean Royer

Liliencron, Rochus (Wilhelm Traugott Heinrich Ferdinand) von, * 8.12.1820 Plön, † 5.3.1912 Koblenz; Grabstätte: Berlin-Charlottenburg. – Mediävist, Musikhistoriker, verantwortlicher Redakteur der Allgemeinen Deutschen Biographie. Wie sein Neffe Detlev von Liliencron entstammte L. einem bedeutenden Adelsgeschlecht Schleswig-Holsteins. Materiell gesichert, promovierte er im Anschluss an Universalstudien bei Karl Müllenhoff in Kiel. Nach Habilitation 1848 u. Privatdozentur in Bonn kostete ihn deutschnationales Engagement in der Schleswig-Holsteinischen Frage 1852 seinen Kieler Lehrstuhl für Nordische Sprachen; eine Professur für dt. Literatur in Jena (1852–1855) vertauschte er schließlich mit den Diensten beim Herzog von SachsenMeiningen (1855–1866). Nach der Absage von Ferdinand Gregorovius betraute die histor. Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 1869 den wissenschaftlich angesehenen u. gesellschaftlich etablierten L. mit der Redaktion der Allgemeinen Deutschen Biographie (55 Bde. u. Registerbd., Lpz. 1875–1912. Neudr. Bln. 1967–71). Erst 39 Jahre später zog sich der hochdekorierte Gelehrte u. geschätzte Freund Kaiser Wilhelms II. von dieser Aufgabe zurück. L.s wiss. Reputation beruht auf seinen musikhistorischen u. mediävist. Forschungen. Unter den Editionen u. Abhandlungen zur Mediävistik ragt L.s philologisch exakter Beitrag zum Handschriftenstreit um das Nibelungenlied heraus (Über die Nibelungen-

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handschrift C. Weimar 1856. Neudr. Vaduz 1984). Methodisch völlig originär war auch die Kombination von Text u. Melodie innerhalb seiner mittelalterl. Liededitionen Die historischen Volkslieder der Deutschen vom 13. bis 16. Jahrhundert (5 Bde., Lpz. 1859–69. Neudr. Hildesh. 1966) u. Deutsches Leben im Volkslied um 1530 (Bln./Stgt. 1884. Neudr. Hildesh. 1966). Nachgewirkt haben noch L.s musikhistor. Untersuchungen der Liturgisch-musikalischen Geschichte der evangelischen Gottesdienste von 1523–1700 (Schleswig 1893. Neudr. Hildesh. 1970) u. der Chorordnung für die Sonnund Feiertage des evangelischen Kirchenjahres (Gütersloh 1900). Seine entschieden deutschnationale Gesinnung wiederum offenbaren Projekte im Auftrag oder mit Unterstützung Kaiser Wilhelms II., so das Volksliederbuch für Männerchor (Lpz. 1907), das sog. Kaiserliederbuch, u. die Denkmäler Deutscher Tonkunst. Folge 1 (Lpz. 1892 ff.). Der Sicherung nationaler Identität diente selbst die Allgemeine Deutsche Biographie. Gerade die nat. Hochstimmung nach 1871 ermöglichte eine Mitarbeit vieler renommierter Forscher u. den Abschluss dieses bedeutenden biogr. Sammelwerks mit 26.300 Beiträgen von 1850 Mitarbeitern. Trotz einzelner Verzeichnungen u. der Überlänge mancher Artikel (etwa über Heinrich von Treitschke) verhinderte L.s Einsatz die einseitige Auswahl u. tendenziöse Darstellung geschichtl. Persönlichkeiten etwa nach konfessionellen, rassischen oder polit. Gesichtspunkten. Literatur: Anton Bettelheim: Leben u. Wirken des Frhrn. R. v. L. Bln. 1917. – Hans Jürgen Rieckenberg: L. In: BLSHL 4 (1982), S. 162–165 (mit Bibliogr.). – Ders.: L. In: NDB. – Goedeke Forts. Adrian Hummel / Red.

Lilienfein, Heinrich, * 20.11.1879 Stuttgart, † 20.12.1952 Weimar. – Dramatiker, Romancier u. Literaturhistoriker. Der Sohn eines Notars u. späteren Hofrats studierte Geschichte, Philosophie u. Kunstwissenschaft. 1902 ging L. als freier Schriftsteller nach Berlin. Ersten Erfolg hatte er mit Maria Friedhammer (Heidelb. 1903), einem Seelendrama um einen Konfessionswechsel. Es folgten zahlreiche Dramen, die meist in

streng klassizistischer Form histor. Stoffe behandeln u. bis 1918 sämtlich in Berlin uraufgeführt wurden. 1915 kam L. als Landsturmmann u. Divisionsbücherwart an die Westfront. Der Antikriegsroman Die feurige Wolke (Stgt./Bln. 1919) schildert seine Fronterlebnisse. Im Drama Die Überlebenden (Stgt./ Bln. 1920) geht es um die Novemberrevolution. Die Würde des Menschen u. deren Bedrohung im Krieg ist im viel gespielten Drama Nacht in Polen 1812 (Stgt./Bln. 1929) zentrales Motiv. L.s beflissener Gebrauch von Bildungsversatzstücken u. die veraltete Dramenform führten allerdings dazu, dass seine Stücke 1945 von den Spielplänen verschwanden. Mehr Erfolg hatte L. mit seinem erzählerischen Werk, u. a. mit dem histor. Roman über Schubart, In Fesseln – frei (Stgt./Bln. 1938), der, quellenreich recherchiert, auch ein Zeugnis von L.s Beziehung zur württembergischen Heimat ablegt. Irrigerweise wurde der Roman mit dem NS-Kampfgeist in Verbindung gebracht. Im Gegenteil hat L. es hier, wie auch in den Dramen jener Zeit, verstanden, subtile Kritik an Großmacht- u. Führerideologie einzuflechten, so v. a. in den Stücken Tile Kolup, Die Tragödie eines Kaisers (Stgt./Bln. 1935) u. Die Stunde Karls des Zwölften (Bln. 1938). L.s sprachlich präzise Prosawerke schildern die Charaktere der Protagonisten nuancenreich u. genau. Weitere Werke: Menschendämmerung. Heidelb. 1902 (D.). – Modernus. Die Tragikomödie seines Lebens – aus Bruchstücken ein Bruchstück. Heidelb. 1904. – Der schwarze Kavalier. Ein dt. Spiel. Bln. 1908 (D.). – Olympias. Ein griech. Spiel. Bln. 1908 (D.). – Ideale des Teufels. Eine boshafte Kulturfahrt. Bln. 1908 (R.). – Der Tyrann. Stgt./Bln. 1913 (D.). – Die Herzogin v. Palliano. Stgt./Bln. 1914 (D.). – Im stillen Garten. Heilbr. 1915 (E. en). – Ein Spiel im Wind. Stgt./Bln. 1916 (R.). – Und die Sonne verlor ihren Schein. Heilbr. 1919 (E.en). – Der Schatz im Acker. Stgt. 1921 (E.). – Die Erlösung des Johannes Parricida. Mysterium. Stgt./Bln. 1925 (D.). – Aus Weimar u. Schwaben. Dichternovelle. Heilbr. 1925. – Die Geisterstadt. Stgt./Bln. 1929 (R.). – Wieland. Bln. 1933 (E.). – Schiller u. die dt. Schillerstiftung. Weimar 1934 (Ess.). – Lukas Cranach u. seine Zeit. Bielef. 1942 (Ess.). – Besuch aus Holland. Bln. 1943 (Kom.). – Bettina v. Arnim. Mchn. 1949 (Ess.).

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427 Literatur: Adolf Arnim Kochmann: H. L. Die Bedeutung der Künstlerpersönlichkeit. Bln. 1929. – Rudolf Germann: H. L. Seine geistige Gestalt. Stgt. 1929. – Marlene Clewing: Der Dramatiker H. L. als Vertreter der Bildungsdichtung nach 1900. Diss. Erlangen 1954. – Thomas Lilienfein: H. L. 1879–1952. Eine Veröffentlichung zur Ausstellung anläßlich seines 100. Geburtstages in der Stadtbücherei Stuttgart. Stgt. 1979. – Evelyn Hachenberg u. Gerhard Quast: H. L.: ›Modernus‹. Ein Bildungsr. als Abgrenzung v. der Dekadenz. In: Dekadenz in Dtschld. Hg. Dieter Kafitz. Ffm. 1987, S. 189–202. Oliver Riedel / Red.

(Daktylen, mit Anklängen an Heinrich von Morungen). Das eigene »singen« im Dienst der »frouwe« thematisieren I u. IV-VI. Die Forschung sah seit Burdach in Konrad den Sänger, doch ohne stichhaltige Gründe. Dass Lied III einen Italienzug vorauszusetzen scheint, wie er nur für Konrad u. den Vater belegt ist, kann nicht gegen Walther II. entscheiden. Stil u. Form aber würden (gegen Burdach, mit Worstbrock) durchaus zu einem etwas älteren Zeitgenossen Neifens passen, wie es Walther I. war. Ausgaben: KLD 1, S. 239–244.

Schenk von Limburg. – Minnesänger des 13. Jh.

Literatur: KLD 2, S. 287–291 (Lit.). – Konrad Burdach: S. v. L. In: Ders.: Reinmar der Alte u. Walther v. der Vogelweide. Halle 21928, S. 395–397. – Gerd Wunder, Max Schefold u. Herta Beutter: Die Schenken v. Limpurg u. ihr Land. Sigmaringen 1982. – Franz Josef Worstbrock: S. v. L. In: VL 5 (Lit.). – Manfred Eikelmann: Denkformen im Minnesang. Tüb. 1988. – Elmar Mittler u. Wilfried Werner (Hg.): Codex Manesse. 2., verb. Aufl. Heidelb. 1988, S. 11–13, 250–252, 566 f. (Abb.). – Eva Willms: Liebesleid u. Sangeslust. Mchn. 1990, S. 294. – Thomas Bein: Das Singen über das Singen. In: ›Aufführung‹ u. ›Schrift‹ in MA u. Früher Neuzeit. Hg. Jan-Dirk Müller. Stgt./ Weimar 1994, S. 67–92, bes. S. 76. – De Boor/Newald III,1. 5. Aufl., neu bearb. v. Johannes Janota. Mchn. 1997, S. 266. – Harald Haferland: Hohe Minne. Bln. 2000, S. 339. – Gisela Kornrumpf: S. v. L. (Limpurg), stauf. Ministerialengeschlecht. In: NDB. – Uwe Meves: Regesten dt. Minnesinger des 12. u. 13. Jh. Bln./New York 2005, S. 799–822. – Cord Meyer: Die dt. Lit. im Umkreis König Heinrichs (VII.). Studien zur Lebenswelt spätstauf. Dichter. Ffm. 2007, S. 252–275.

Unter dem Namen »Der Schenke von Limpurg« überliefert die Große Heidelberger Liederhandschrift (C) sechs Minnelieder (mit Bild u. Wappen); den Anfang des Corpus (bis II 1,4) mit Bild u. aktualisiertem Wappen bewahrt auch das sog. Troßsche Bruchstück einer Kopie von C aus dem 15. Jh. (Krakau, früher Berlin). Hugo von Trimberg nennt den »von Limburc« in seinem Minnesängerkatalog (Renner, v. 1183 ff.). Um welchen Angehörigen des angesehenen staufischen Ministerialengeschlechts es sich handelt, ist strittig. In Frage kommen sowohl Walther I. (urkundlich 1226/30–1249) wie seine Söhne Walther II. (urkundlich 1249–1283, † 1283) u. Konrad (urkundlich 1256–1273, † vor 1287). Walther I. übte das Reichsschenkenamt bei König Heinrich (VII.) aus. Dass er sich 1234/35 an dessen Empörung gegen Kaiser Friedrich II. beteiligte, wie aus 1235 u. 1237 dokumenGisela Kornrumpf tierten Schadensbegleichungen geschlossen wurde, wird neuerdings bezweifelt (Meyer). Limburger, Martin, * 29.1.1637 Nürn1244 bis 1246 ist Walther I. häufiger am Hof berg, † 7.2.1692 Kraftshof bei Nürnberg. König Konrads IV. nachgewiesen. Walther II. – Evangelischer Pfarrer u. Lyriker. u. Konrad erscheinen in der Umgebung Konrads IV. u. Konradins. L. wurde 1664 Pfarrer an der Patronatskirche Das kleine Liedœuvre variiert einfallsreich der Patrizierfamilie Kress von Kressenstein zu das bekannte Thema. Es ist jenem Strang Kraftshof. Seine Ausbildung hatte er an der jüngeren Minnesangs zuzuordnen, den v. a. Nürnberger Spitalschule, in Dilherrs AuditoGottfried von Neifen geprägt hat, lässt aber rium publicum u. 1651–1656 an der Univerzgl. eigenständige Vertrautheit mit der klass. sität Altdorf erhalten. In Altdorf erwarb L. am Tradition erkennen. Neben einfache, im 13. 29. Juni 1656 den Magistergrad u. wurde Jh. gängige Formmuster (III u. VI) treten zum Dichter gekrönt. 1662 wurde er von ausladendere, anspruchsvollere Formen; be- Sigmund von Birken als »Myrtillus II.« in den merkenswert sind IV (mit Refrain) u. II Pegnesischen Blumenorden aufgenommen.

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Literatur: Bibliografie: Jürgensen, S. 248–250. – Auf seine Initiative ging 1676 die Anlage des Irrhains bei Kraftshof als Versammlungsort Weitere Titel: Leichenpredigt. In: Stadtbibl. Nürnberg. Will. II. 924.48. – DBA. – Klaus Garber: Der der Pegnitzschäfer zurück. locus amoenus u. der locus terribilis [...]. Köln u. a. L. beteiligte sich seit 1660 mit kleineren 1974, Register. – Renate Jürgensen: Magister M. L. Beiträgen an Gelegenheitsschriften der Peg- (1637–92), Myrtillus II., der ›Blumen-Fürst‹. In: nitzschäfer. Bes. pflegte er in Zusammenar- Der Franken Rom. Nürnbergs Blütezeit in der beit mit Birken die Prosaekloge. Seine pasto- zweiten Hälfte des 17. Jh. Hg. John Roger Paas. rale Trauerschrift Kressischer Ehrentempel Wiesb. 1995, S. 342–363. – Die Dt. Akademie des (Nürnb. 1663) wurde zum repräsentativen 17. Jh. Fruchtbringende Gesellsch. Hg. Martin Muster Nürnberger Trauerdichtung. In sei- Bircher u. a. R. 2, Abt. C, Bd. 2, Tüb. 1997. – Jürnen Hochzeitsgedichten klingt als Dank für gensen, passim. – Flood, Poets Laureate, Bd. 3, die Unterstützung der »Hirten-Lust« an der S. 1136–1138 u. Register. Renate Jürgensen / Red. Pegnitz durch einige Patrizierfamilien stets die Erinnerung an das berühmte Pegnesische Limnaeus, Johannes, ursprünglich: Wirn Schäfergedicht von 1644 u. die Gründung des (= Weiher), * 5.1.1592 Jena, † 13.5.1663 Blumenordens nach (u. a. in Pegnesisches Schä- Ansbach. – Jurist u. Staatsmann. fergedicht. Nürnb. 1663). Typisch für Gemeinschaftsarbeiten der Pegnitzschäfer, an Die Familie L.’ stammte aus der dt. Schweiz, denen L. federführend beteiligt war, ist die L. studierte zunächst in Jena (Pro forma ImNeigung, Familienwappen der Adressaten matrikulation bereits 1593), wo sein Vater Georg Limnaeus Ordinarius für Mathematik allegorisch zu verarbeiten u. die Handlung war, die Rechte. Er hörte dort v. a. bei Domiim Irrhain anzusiedeln (u. a. in Herbst-Genicus Arumaeus; 1614 wechselte er nach spräch. Nürnb. 1669). Im Auftrag des BlumeAltdorf. Hier widmete er sich bes. der Zivinordens verfasste L. 1673 die Schrift zur listik bei Scipio Gentilis. Nach einem Interzweiten Heirat Birkens (Ehr-Feyer Floridans und mezzo als Erzieher u. mit dieser Aufgabe Florinden. Nürnb. 1673). Nach dessen Tod verbundenen Auslandsreisen nach Italien, übernahm er als neuer Ordenspräsident die Frankreich u. in die Niederlande nahm er Bearbeitung der gemeinsamen Trauerschrift 1620 eine Professur in Altdorf wahr. 1622 der Pegnitzschäfer (Die betrübte Pegnesis [...]. wechselte er nach Jena, wo er über Staatsrecht Nürnb. 1683. 21684. Nachdr. Hildesh. u. a. las. 1623–1630 eröffnete ihm die erneute 1993). L. bettet den Lebenslauf des Verstor- Anstellung als Erzieher wiederum die Mögbenen ein in schäferl. Unterredungen im Irr- lichkeit zu verschiedenen Reisen. Zgl. blieb hain, die einem Zyklus von 24 in Kupfer ge- ihm auch Zeit für die Arbeit an seinem neun stochenen Sinnbildern folgen, die »den Le- Bücher umfassenden staatsrechtl. Hauptwerk ben-, Kunst- und Tugend-Wandel des seelig- (Tomus primus [-tertius] iuris publici imperii roedlen Floridans« illustrieren. Den Höhe- mano-germanici [...]. Straßb. 1629–34. 31657. 2 punkt seiner Kunstfertigkeit erreichte L. Ergänzungsbde.: Tomus quartus [-quintus] iuris Mitte der 1680er Jahre in zwei großen publici imperii romano-germanici, additionum ad Trauereklogen auf den Tod von Nürnberger priores primus [-secundus]. Straßb. 1650–60. Ratsherren, in denen er nochmals die Dis- 21666–70). L. hat offenbar keine akadem. kussionen über sprachgeschichtliche u. polit. Karriere angestrebt, wohl, weil er die größere Themen – den Begriff des guten Regenten u. Freiheit des Hofdienstes schätzte. 1631 nahm die »Ordnung und den Unterscheid der er eine Stelle als »Studieninspektor« des Menschen-Stände«, die den Ideen der Markgrafen Friedrich von Brandenburg»Gleichheit der Menschen und der Bruder- Ansbach an, dessen jüngere Brüder er ein Jahr schafft« entgegenstünden – aufgreift (Leich- später nach Frankreich zu begleiten hatte. altar. Nürnb. 1686. Der zu der ewigen Lilien- Hier blieb er, bis das Kriegstheater aus SüdReinigkeit versetzte Adler. Nürnb. 1687). Eine deutschland fortgezogen war. Als sein ZögGesamtausgabe seiner Werke, die sein Sohn ling Prinz Albrecht in Ansbach zur Herrschaft plante, kam offenbar nicht zustande. gelangte, wurde L. zum Geheimen Rat u.

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Kämmerer ernannt. Bis zu seinem Tod blieb er in verantwortl. Stellung in Ansbach Berater u. Vertrauter der markgräfl. Familie. So dürfte er maßgeblich die brandenburgischansbachische Position auf dem Westfälischen Friedenskongress mitformuliert haben. Er vertrat sein Territorium auf fränk. Kreistagen u. wirkte tatkräftig am Wiederaufbau des Landes nach dem Dreißigjährigen Krieg mit. L. ist somit das Musterbeispiel eines polit. Praktikers. Zgl. gelang ihm eine theoret. Aufarbeitung seiner Erfahrungen des Dreißigjährigen Kriegs, des Zusammenbruchs der Reichsverfassung, gewonnen aus der Perspektive eines kleinen Territoriums, dessen Existenz allein durch diese Reichsverfassung gewährleistet war. Durch seine publizist. Tätigkeit wurde L. einer der »Vordenker« des Systems des Westfälischen Friedens; sein Staatsrecht nimmt eineinhalb Jahrzehnte vor Unterzeichnung der Friedensverträge die Grundstruktur der darin sanktionierten Reichsverfassung vorweg, insbes. die Mitbestimmung der Stände in Reichsangelegenheiten. Bes. wichtig wurde in diesem Zusammenhang die Sammlung u. Kommentierung des Reichsrechts. Eine der hervorragendsten Leistungen L.’ wurde so eine genaue Beschreibung der historisch gewachsenen Reichsverfassung, die zweifellos gründlichste seiner Zeit. In den Kommentaren zu den kaiserl. Wahlkapitulationen u. zur Goldenen Bulle (Capitulationes imperatorum et regum Romanogermanorum [...]. Straßb. 1651. 21658. 3 1674. In Auream Bullam Caroli quarti [...] observationes. Straßb. 1662) gab er die Texte wortgetreu wieder, kommentierte jede Aussage u. wandte so eine damals völlig neue Methode an. Vielen Juristen nachfolgender Generationen galt L. deshalb als »Orakel des deutschen Staatsrechts«. Sein System ist indessen mühsam aus seinem riesigen, amorphen Werk zu filtern. Seine wichtigste Leistung war die Ausformulierung der Lehre von der realen u. der personalen Majestät u. ihre Anwendung auf die Verfassung des Reiches, wodurch eine Erfassung des Verhältnisses zwischen Kaiser u. Ständen gelang. Im Kern beruht L.’ Theorie auf einer Kombination der Bodin’schen Souveränitätslehre mit der bes. von Johannes

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Althusius vertretenen Anschauung, dass die Souveränität beim staatlich organisierten Volk liege. Der Kaiser ist für L. – in Anlehnung an Charles Loyseau – nur eine Art erster Amtsträger des Staates, während ihm die Repräsentanten des Reiches als Inhaber der realen Majestät die Regeln seiner Amtsführung liefern. Der Kaiser ist somit der erste Lehnsmann des Reiches, u. dieses steht als Gesamtheit über ihm. L. folgert aus dieser Konstruktion ein Widerstandsrecht der Reichsstände gegenüber dem Kaiser, der wohl Haupt des Imperiums sei, das indessen von der realen Majestät gelenkt werde. Dieses Widerstandsrecht wird aktuell, wenn der Kaiser nicht mehr gemäß den Grundgesetzen des Reiches handelt. Mit seinen Editionen, Kommentaren u. seiner realist. Reichstheorie wurde L. zum Anreger u. a. Leibniz’ u. Pufendorfs. Er zählt zu jenen Publizisten, die, auf Arumaeus aufbauend, einer historisch-realist. Schule der Staatsrechtslehre gegenüber römisch-rechtl. Interpretationsansätzen zum Durchbruch verhalfen. Gewiss keiner der ganz großen Denker seiner Zeit, war er doch ein kenntnisu. ideenreicher Mann, der sich in seinem Fach auf der Höhe des Jahrhunderts befand. Weitere Werke: Disputatio de academiis. Praes.: Andreas Dinner; Def.: J. L. Nürnb. 1616. – Dissertatio nomico-politica de lege regia. Praes.: J. L.; Def.: Johann Georg Spiller v. Mitterberg. Altdorf 1617. – Dissertationum nomico-politicarum prima [-quinta] de academiis. Praes.: J. L. Altdorf 1621. – Notae in Danielis Ottonis J.U.D. dissertationem juridico-politicam de jure publico imperii romani. Straßb. 1628. Auch in: D. Otto: Dissertatio juridico-politica de jure publico imperii romani methodice conscripta [...]. Accesserunt notae a Johanne Limnaeo [...]. Wittenb. 1632 u. ö. – Dissertatio apologetica de statu imperij Romano Germanici. Onolzbach 1643. – Notitia Regni Franciae. 2 Bde., Straßb. 1655. – Was einem regierenden Fürsten des Hauses Brandenburg bey diesen Landen, sonderlich in Acht zu nehmen, damit Er seine Fürstl. Hoheit erhalten [...] möge. In: Ansbachische Monatsschr. 1 (1793), S. 427–457; 2 (1794), S. 303–326, 505–528. Literatur: Bibliografie: VD 17. – Weitere Titel: Siegfried Haenle: J. L. In: ADB. – Roderich v. Stintzing: Gesch. der dt. Rechtswiss. 2. Abt., Mchn./Lpz. 1884. Nachdr. Aalen 1978, Register. –

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Erik Wolf: Idee u. Wirklichkeit des Reiches im dt. Rechtsdenken des 16. u. 17. Jh. In: Reich u. Recht in der dt. Philosophie. Hg. Karl Larenz. Bd. 1, Stgt./ Bln. 1943, S. 33–168, bes. 104–106. – Herbert Beyer: Albrecht V., Markgraf v. BrandenburgOnolzbach 1639–67. Diss. masch. Erlangen 1950. – Alfred Wolff: Die ›Notitia Regni Franciae‹ des J. L. (1655) [...]. In: Ztschr. für bayer. Landesgesch. 23 (1960), S. 1–41. – Rudolf Hoke: Die Reichsstaatsrechtslehre des J. L. [...]. Aalen 1968. – Günther Schuhmann: Die Markgrafen v. BrandenburgAnsbach [...]. Ansbach 1980, S. 143, 145, 154. – Bernd Roeck: J. L. In: NDB. – Alois Riklin: Gemischte oder monströse Verfassung? Althusius, L. u. Pufendorf über das Römisch-dt. Reich. St. Gallen 1992. – R. Hoke: J. L. In: Staatsdenker in der Frühen Neuzeit. Hg. Michael Stolleis. Mchn. 31995, S. 100–117. – Dt. u. europ. Juristen aus neun Jh.en. [...]. Hg. Gerd Kleinheyer u. Jan Schröder. Heidelb. 4 1996, S. 245–248. – R. Hoke: Die reichsständ. Reichspublizistik u. ihre Bedeutung für den Westfäl. Frieden. In: Der Westfäl. Frieden in rechts- u. staatstheoret. Perspektive. Hg. Olav Moorman van Kappen u. a. Bln. 1998, S. 141–152. Bernd Roeck / Red.

Limpert, Richard, * 26.8.1922 Gelsenkirchen, † 16.3.1991 Essen. – Lyriker, Erzähler. Nach seiner Entlassung aus sowjet. Kriegsgefangenschaft arbeitete L. zunächst in seinem erlernten Beruf als Polsterer u. ab 1955 als Zechenmaschinist. Das Zechensterben der 1960er Jahre machte ihn zum Frührentner. Literarisch äußert er sich seit 1965 nach eigenem Verständnis als Arbeiterschriftsteller. Er war Mitbegründer des Werkkreises Literatur der Arbeitswelt u. leitete die Literarische Werkstatt an der Volkshochschule Marl. L. wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet. Im Sinne eines ungebrochenen sozialist. Realismus stellt L. die kapitalist. Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland u. deren – negative – Auswirkungen auf das Bewusstsein u. die Lebensrealität v. a. der Bergarbeiter dar. In der Prosa greift er Erfahrungen der Arbeitswelt auf u. komprimiert sie zu kurzen, reportageartigen Texten, die in anschaul. Alltagssprache der Bewusstseinsschärfung der Betroffenen dienen sollen. In der Lyrik spitzt L. diese Darstellungsme-

thode in Annäherung an Brecht zu u. tendiert zu aphorist. Formen. Weitere Werke: Menschen seh ich, die mit Eifer [...]. Hbg. 1970 (L. u. P.). – Über Erich 1933–53. Mülheim/Ruhr 1972 (Ber.). – Fragen so nebenbei. Wuppertal 1975 (L.). – Ein Tenor aus Steele hat Gold in der Kehle. Oberhausen 1978 (Kinderbuch). – Wortmeldung u. Zwischenruf. Oberhausen 1979 (L. u. P.). – Zeit-Gedichte. Mchn. 1982 (L.). – Erich Tremils Gesch. Oberhausen 1983 (biogr. R.). – Große u. kleine Tiere. Gelsenkirchen 1985 (Kinderbuch). – Durchs Megaphon geflüstert. Oberhausen 1987 (L. u. Kurzp.). Literatur: Josef Reding: Menschen im Ruhrgebiet. Wuppertal 1974. – Bernd Röttger: Dialoge. 18 Porträts [...]. Gelsenkirchen 1985. – Westf. Autorenlex. Josef Jansen / Red.

Linck, Hieronymus, * um 1506 Glatz, † nach 1565. – Dramatiker. L. lernte das Kürschnerhandwerk, war aber als Wanderprediger tätig. In Zwickau, wo er zeitweilig lebte, wurde er als Wiedertäufer angegriffen. Dagegen wehrte er sich in seiner Schön [...] comedi [...]: Wenn jemand »List gern die Schrift lebet in Demut / Denselben man verachten tut / Ein wiederteuffer muß er sein«. L. erscheint zuletzt in Wien. Sein Ende ist gänzlich ungewiss. L. schrieb mehrere Lieder u. drei Dramen: Ein schön kurtzweilig poetisch Spil von einem jungen Ritter Julianus genannt (Augsb.: Mattheus Francke 1564), nach den Gesta Romanorum, dramatisiert die Legende von dem jungen Adligen, der ohne zu wissen, was er tut, seine Eltern ermordet. Ein schön Comedi [...] von Hoffard unnd Demut behandelt nach der Bibel die späten Jahre König Davids u. die Krönung Salomos. Zus. mit dem Stück Ein neue Comedia übergab L. es Kaiser Maximilian II. als Geschenk (Hss. in der Österreichischen Nationalbibliothek). Ein neue Comedia, gänzlich eine Erfindung L.s, zeigt, wie ein Alter – der Autor selbst? – in Wien von Raphael u. Satanas beraten wird. (Moral: Wenn der Kaiser das Fluchen verbietet, werden wir die Türken besiegen.) L.s Dramen, ungeschickt in der Versform, geben nur aneinandergereihte Szenen, haben keine dramat. Struktur. Die in ihnen naiv

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artikulierte aufrecht protestant. Gesinnung macht sie dennoch interessant. Weitere Werke: Zwey schön neüwe gaystl. Lieder [...]. Augsb. 1560. – Ein schön newes Lied v. König Maximiliano [...]. o. O. 1563. Literatur: Bibliografie: VD 16. – Weitere Titel: Erwin M. Auer: H. L. Versuch einer Monogr. Diss. Wien 1931. – Wolfgang F. Michael: Das dt. Drama der Reformationszeit. Bern 1984, S. 273–275. – Adalbert Elschenbroich: H. L. In: NDB (Lit.). – Sonja Kerth: Neues vom ›vmbtrager‹. Die zeitgeschichtl. Lieder H. L.s. In: Literar. Leben in Zwickau im MA u. in der Frühen Neuzeit. Hg. Margarethe Hubrath. Göpp. 2001, S. 79–110. Wolfgang F. Michael † / Red.

Linck, Wenzeslaus, * 8.1.1483 Golditz, † 12.3.1547 Nürnberg. – Augustinermönch, Theologe, Reformator. L., Sohn eines Ratsherrn, kam 14-jährig auf die Magdeburger Lateinschule, wo er mit Luther zusammentraf. 1498 begann er in Leipzig zu studieren, 1501 oder 1502 trat er in den Augustinerorden ein. Aus dem Kloster Waldheim ging er im Wintersemster 1503 nach Wittenberg (Bacc. art. 1504, Bacc. biblicus 9.2.1509, Sententiarius 25.10.1509, Lic. theol. 1511, theolog. Doktorpromotion durch Johann von Staupitz am 15.9.1511). Den gewandten Unterhändler zog Staupitz zu kirchl. Verhandlungen heran. In Luthers Sache ließ er ihn in Augsburg 1518 die Unterredungen mit Cajetan führen. Im selben Jahr begann L. in Nürnberg seine »Sermones« (u. a. Ein hailsame lere wie das hertz oder gewissen durch die siben seligkeyt [...] auff das wort gottes gebauet wirdt [...]. Nürnb. 1519) herauszugeben. Nach dem Ausscheiden von Staupitz wurde L. als dessen Nachfolger zum Generalvikar gewählt. Mit Luther eng befreundet, stand L. treu zur Reformation. Von Friedrich dem Weisen als Pfarrer u. Superintendent nach Altenburg berufen, entfaltete er dort eine rege Reformtätigkeit u. wurde zgl. literarisch tätig. Während Nürnberg u. Straßburg ihre sozialen Ordnungen u. Luther die Leisinger Kastenordnung herausgaben, entstand L.s aufsehenerregender Traktat Von Arbeyt und Betteln (Zwickau 1523). L. forderte, dass die Armen aus dem »Gemeinen Kasten« unterhalten,

aber zgl. zur Arbeit angehalten werden sollten. Eine sozialeth. Grundlegung enthält Ein schöne christliche Sermon von dem außgang der Kinder Gottes auß des Antichrists gefengknüß (Nürnb. 1524). Ab 1525 wirkte L. wieder als Prediger in Nürnberg. In den beiden folgenden Jahrzehnten veröffentlichte er eine Reihe bibl. Auslegungen. Von großer Bedeutung bes. für die Seelsorge war sein weitreichender Briefwechsel. Darin widmet er sich u. a. der Frage, »wie sich ein Christ im Leiden tröstet«. L., der sich mit Osiander nicht vertrug, besuchte den Augsburger Reichstag 1530 nicht. Er konzentrierte sich auf die Brandenburgisch-Nürnbergische Kirchenordnung u. v.a. auf die Kinderpredigten. Gegenüber Zwinglianern u. Täufern war seine Stellung deutlich abgegrenzt. Von polit. Verhandlungen hielt er sich zurück. Nur an den Religionsgesprächen von Hagenau u. Worms (1540/ 41) nahm er teil. Seine letzte literar. Arbeit galt der Auslegung des AT. Die drei Bände seiner Annotationen (Das erst [-dritt] teyl des alten Testaments. Annotation [...]. Straßb. 1543–45) übten bei den Predigern bald große Wirkung aus. Erst Luthers Tod u. die Niederlage der Protestanten ließen L.s Feder ruhen. Weiteres Werk: Eyn christlich bedenckenn [...] v. den Testamenten der sterbenden Menschen, wie die geschehen u. voltzogen werden sollen noch götl. gesetz. Zwickau 1524. Ausgaben: Werke. Tl. 1. Hg. Wilhelm Reindell. Marburg 1894. – Ob die Geistlichen auch schuldig sind, Zins zu geben. In: Flugschr.en der Bauernkriegszeit. Hg. Adolf Laube u. a. Bln./DDR 1975, S. 149–157. – Von Arbeit u. Betteln (1523). Nachdr. Nürnb. 1979. Auch in: Flugschr.en der frühen Reformationsbewegung (1518–24). Hg. A. Laube u. a. 2 Bde., Bln./DDR 1983, Bd. 2, S. 1086–1108. – Erbauungsschr.en. Hg. Helmich van der Kolk. Amsterd. 1978. – Trostschr. an eine christl. Obrigkeit. In: Flugschr.en vom Bauernkrieg zum Täuferreich (1526–35). Hg. A. Laube u. a. 2 Bde., Bln. 1992, Bd. 1, S. 501–517. Literatur: Bibliografien: Bibliographia Linckiana. Bibliogr. der gedr. Schr.en Dr. W. L.s (1483–1547). Bearb. Jürgen Lorz. Nieuwkoop 1977. – VD 16. – Weitere Titel: Sacra superioris aevi analecta, in quibus variorum ad Venceslaum Lincum epistolae [...]. Hg. Albertus Meno Verpoortennius.

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Coburg 1708. Internet-Ed.: CAMENA (CERA). – Georg Andreas Will: Nürnbergisches GelehrtenLexicon [...]. Tl. 2, Nürnb./Altdorf 1756, S. 445–453. – Theodor Kolde: Beiträge zur Reformationsgesch. In: FS Hermann Reuther. Lpz. 1887, S. 195–263. – W. Reindell: Dr. W. L. v. Golditz [...]. Marburg 1892. – Rudolf Bendixen: W. L. In: RE 11 (1902), S. 505–513. – Otto Winkelmann: Das Fürsorgewesen der Stadt Straßburg [...]. Lpz. 1922. – J. Lorz: Das reformator. Wirken Dr. W. L.s in Nürnberg u. Altenburg. Nürnb. 1978. – Gottfried Seebaß: W. L. In: NDB. – Marinus A. van den Broek: Sprichwörtl. Redensart u. sprichwörtl. Vergleich in den Erbauungsschr.en des Nürnberger Predigers W. L. (1483–1547). In: Leuvense bijdragen 76 (1987), S. 475–499. – J. Lorz: W. L. In: Fränk. Lebensbilder. Bd. 14 (1991), S. 30–46. – Theo Bell: Der Mensch als Esel Christi. Jesu Einzug in Jerusalem nach Mt 21 als Bildrede bei Bernhard v. Clairvaux, W. L. u. Martin Luther. In: Luther 65 (1994), S. 9–21. – G. Seebaß: Die Reformation u. ihre Außenseiter. Ges. Aufsätze u. Vorträge. Hg. Irene Dingel u. a. Gött. 1997. – Robert Jütte: Arme, Bettler, Beutelschneider. Eine Sozialgesch. der Armut in der Frühen Neuzeit. Aus dem Englischen v. Rainer v. Savigny. Weimar 2000. – Bernd Moeller: W. L.s Hochzeit [...]. In: ZThK 97 (2000), S. 293–318. – Tschech. Philosophen v. Hus bis Masaryk. Ausgew., mit Einl. u. einem Nachw. vers. v. Ludger Hagedorn. Stgt. 2002. – Wolf-Friedrich Schäufele: H. L. In: Bautz. – Markus Wriedt: Die Anfänge der Theolog. Fakultät Wittenberg 1502–18. In: Die theolog. Fakultät Wittenberg 1502 bis 1602 [...]. Hg. I. Dingel u. Günther Wartenberg. Lpz. 2002, S. 11–37. – Claudia Resch: Trost im Angesicht des Todes. Frühe reformator. Anleitungen zur Seelsorge an Kranken u. Sterbenden. Tüb. 2006. – Heiko Jadatz: Religionspolitik u. Fürstenpolemik. Der Streit zwischen Herzog Georg v. Sachsen u. Martin Luther über dessen Brief an W. L. vom 14. Juni 1528. In: Christl. Glaube u. weltl. Herrschaft. Hg. Michael Beyer. Lpz. 2008, S. 59–72. Robert Stupperich † / Red.

Lind, Hera, eigentl.: Herlind Wartenberg, * 2.11.1957 Bielefeld. – Unterhaltungsschriftstellerin. L. wuchs als Tochter eines Arztes u. einer Musikpädagogin in einem religiös geprägten Elternhaus auf. Sie studierte Germanistik u. Theologie in Köln, wo sie zeitgleich eine Gesangsausbildung an der Musikhochschule absolvierte. Bevor sie 1988 ihren ersten Roman verfasste, war sie als Konzertsängerin

tätig. Zwischen 1989 u. 2009 hat sie 15 Romane veröffentlicht, die der Frauenunterhaltungsliteratur zugerechnet werden. L.s Romane wurden in mehrere Sprachen übersetzt u. haben sich in zweistelliger Millionenhöhe verkauft, bisher wurden sieben Romane verfilmt. Bis 1999 veröffentlichte L. zuerst in der Reihe Die Frau in der Gesellschaft des Fischer Taschenbuch Verlages, die ursprünglich einen ernst zu nehmenden feminist. Anspruch vertrat. In diesem Kontext wurden auch die Romane von L. zunächst rezipiert – u. kritisiert. Zum einen ist ihre Popularität im Zusammenhang mit Debatten über einen »neuen, attraktiven« Feminismus in den 1990er Jahren zu sehen, demzufolge die »Superweiber« – die von L. mit ihrem Bestseller Das Superweib (Ffm. 1994) geprägte Bezeichnung machte hierbei Karriere – Familie, berufl. Erfolg u. gutes Aussehen verbinden, ohne sich dabei von Männern abhängig zu machen. Zum anderen wurden Ls. Romane unter feminist. Blickwinkel von Beginn an kritisiert, u. a. weil darin weibl. Selbstbestätigung auf männl. Zuwendung beruht u. weil die Protagonistinnen durch Zufall, nicht durch Ehrgeiz u. Zielstrebigkeit Erfolg haben. Letzteres ist im Lichte von L.s Biografie zu sehen: Laut eigener Auskunft hat L. den Erstling Ein Mann für jede Tonart (Ffm. 1989) während einer Schwangerschaft aus Langeweile anhand von Tagebuchaufzeichnungen innerhalb weniger Wochen geschrieben. Der Roman wurde rasch zum Bestseller u. legte den Grundstein für ihre Karriere. In den meisten ihrer Romane verarbeitet L. sehr erkennbar eigene Erfahrungen. Problematisch sind ihre Werke v. a. in der eskapist. Ausblendung sozialer u. materieller Realitäten, die nach wie vor Abhängigkeitsverhältnisse von Frauen determinieren. Im Jahr 1999 setzte nach dem bis dahin gleichbleibenden Muster ihrer Romane jedoch eine Umorientierung ein: Der gemietete Mann (Ffm. 1999) u. Mord an Bord (Mchn. 2000) orientieren sich an den zu dieser Zeit erfolgreichen Frauenkrimis, in denen Frauen ungestraft ihr Lebensglück mit dem Mittel des Mordes verteidigen. Mit Mord an Bord wechselte L. zum Ullstein Verlag. Seit Der gemietete Mann u. v.a. in Hochglanzweiber (Mchn. 2001) u. Die Champa-

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gner-Diät (Mchn. 2006) propagiert L. zuneh- Lind, Jakov, eigentl.: Heinz J. Landwirth, mend ein Körperideal der Schlankheit u. * 10.2.1927 Wien, † 16.2.2007 London. – Sportlichkeit. Das Erarbeiten dieses Körper- Erzähler, Dramatiker, Hörspiel- u. Fernideals durch die Protagonistinnen, z.T. in sehautor, Schauspieler u. Maler. Folge einer Lebenskrise, wird verknüpft mit Selbstfindung sowie einem Zugewinn an L., Sohn eines Kaufmanns ostjüd. Herkunft, Souveränität u. Handlungsspielraum. Mit Die kam 1938 mit einer Flüchtlingsorganisation Champagnerdiät wechselte L. zum Diana-Ver- zu jüd. Pflegeeltern nach Holland u. besuchte in Gouda eine Gartenbauschule. Von 1943 an lag. Neben Romanen der Frauenunterhal- überlebte er mit gefälschten holländ. Papietungsliteratur hat L. Kinderbücher publiziert ren als Schiffsjunge auf einem dt. Rheinsowie einen Band mit Nacherzählungen von Lastkahn u. als Kurier eines dubiosen InstiBibelgeschichten (Voll im Leben. Geschichten tutsleiters im dt. Reichsluftfahrtministerium. zum Mutmachen. Gütersloh 2007), Fernseh- 1945 ging L. nach Palästina, wo er sich u. a. als talkshows moderiert (Hera Lind & Leute, Fotograf, Straßenarbeiter u. Flugzeugkon1995–97, Herzblatt, 1997–98) u. CDs veröf- trolleur der israelischen Luftwaffe durchfentlicht, auf denen sie in ihrer Eigenschaft schlug u. Kurzgeschichten schrieb. 1950 als ausgebildete Sängerin zu hören ist. Au- kehrte er über Frankreich u. die Niederlande ßerdem übt sie Beratungstätigkeiten aus nach Wien zurück, studierte kurze Zeit am (»Frauenpower«-Seminare, Autorenbetreu- Reinhardt-Seminar Regie u. ließ sich nach ung) einem kosmopolit. Wanderleben in Europa Weitere Werke: Frau zu sein bedarf es wenig. 1954 in London nieder. 1974/75 hatte er eine Ffm. 1992. – Die Zauberfrau. Ffm. 1995. – Der Gastprofessur für »Creative Writing« inne, doppelte Lothar. Mchn. 2002. – Karlas Umweg. legte aber selbst eine mehrjährige SchreibBln. 2005. – Fürstenroman. Bln. 2006. – Schleupause ein. L., der der Gruppe 47 nahestand, derprogramm. Mchn. 2007. – Herzgesteuert. lebte als freier Schriftsteller in London, New Mchn. 2008. – Kinderbücher: Der Tag an dem ich Papa war. Ffm. 1997. – Greta will’s wissen. Münster York u. in dem Literatendorf Deià auf Mallorca, wo er sich auch künstlerisch betätigte. 2006. Literatur: Wiltrud Oelinger: Emanzipations- Schwer krank, starb L. eine Woche nach seiziele in Unterhaltungslit.? Bestsellerromane v. nem 80. Geburtstag, ohne den ihm für 2007 Frauen u. für Frauen: eine exemplar. Diskurs- u. zugedachten Theodor-Kramer-Preis für Schemaanalyse. Münster u. a. 2000. – Katharina Schreiben im Widerstand noch entgegenDüringer: Beim nächsten Buch wird alles anders. nehmen zu können. Die neue dt. Frauen-Unterhaltungslit. Königst./Ts. In seinem international beachteten Erst2001. – Melani Schröter: Die unehrlich verlogene ling, dem Erzählband Eine Seele aus Holz Sauberfrau. H. L.s Romane 1989–99. In: Zwischen (Neuwied 1962. Neuaufl. Mchn. 1984), Trivialität u. Postmoderne. Lit. v. Frauen in den 90er Jahren. Hg. Ilse Nagelschmidt u. a. Ffm. u. a. schlägt L. schon in der Titelgeschichte sein 2002, S. 31–48. – Oliver Sill: Von Zauberfrauen u. aus der eigenen traumat. Erfahrung gespeisSuperweibern. H. L.s Roman ›Das Superweib‹ tes Generalthema an: den Terror des Fa(1994) als Erfolgsgesch. der neunziger Jahre. In: schismus u. das Überleben des Holocaust um Soziale Räume u. kulturelle Praktiken. Über den den Preis des Identitätsverlustes. In teils strateg. Gebrauch v. Medien. Hg. Georg Mein u. derb-realistischer, teils rhetorisch-bildkräftiMarkus Rieger-Ladic. Bielef. 2004, S. 257–269. ger Sprache entwirft L. Szenarien voll GrauMelani Schröter samkeit u. schwarzem Humor, in denen er schockierende Realität mit surrealen (Alp)Traumwelten verschränkt u. so das AbsurdUnglaubliche der sog. Wirklichkeit bewusst macht. Im Mittelpunkt steht der – oft körperlich oder psychisch entstellte – Mensch (»Es gibt eine Seuche, die Mensch heißt«).

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Während L. im englischsprachigen Raum seine Poesie der Übertreibung u. der Ironie mit Kafka u. Beckett verglichen wurde, blieb entgegenhält. Zu Beginn der 1970er Jahre trat L., von die dt. Kritik bis heute zwiespältig u. nahm auch die Nachfolgeromane des literar. Ein- Nolde, Chagall u. Hundertwasser inspiriert, zelgängers, Landschaft in Beton (Neuwied auch als Aquarellmaler hervor. 1963. Mchn. 1984) um einen dt. Unteroffizier Weitere Werke: Die Öse. 1964 (Filmdrehbuch). mit Gehorsamsneurose u. die groteske Alle- – Anna Laub. Neuwied 1965 (Hörsp.). – Die Heiden gorie Eine bessere Welt (Bln. 1966. Bühnenfas- (Spiel in 3 Akten. Übers. Erich Fried). Das Sterben sung u. d. T. Ergo. New York 1968), wegen der Silberfüchse (Hörsp.). Neuwied 1965. – Angst u. Hunger. Bln. 1968 (zwei Hörsp.e.). – Der Ofen. ihrer sprachlichen u. stilist. Eigenwilligkeit Übers. Wolfgang A. Teusche u. J. L. Salzb. 1973 (P.). skeptisch auf. – Thema u. Variationen. ZDF 1977 (FilmselbstIch-Suche ist das Hauptmotiv von L.s au- porträt). – Auferstehung. SFB 1985. – Perfekte tobiogr. Selbstportrait (Counting my steps. Übers. Partner. ORF 1997. Günther Danehl. Ffm. 1970. Neuaufl. Bln. Literatur: Stella P. Rosenfeld: L.: Writer at the 1983). L. erzählt von seiner Kindheit in Wien, Crossroads. In: MAL, Nr. 4 (1971), S. 42–47. – GeFlucht, Verfolgung u. Überleben nicht wie ein org Stefan Troller: Personenbeschreibung. ZDF Leidtragender oder Chronist, sondern aus der 1972 (Fernsehporträt). – Marcel Reich-Ranicki: L.s Perspektive des »fast übermütigen Schelms« Selbstporträt. In: Ders.: Über Ruhestörer. Juden in (Marcel Reich-Ranicki) mit ausgeprägtem der dt. Lit. Mchn. 1973, S. 81–86. – Begegnung mit L. In: Dt. Bücher 5 (1975), S. 81–87 (mit Bio-BiSinn für Ironie u. pointenreiche Situationen. bliogr. v. Gerd Labroisse). – Ingrid Seibert: Der Äußeres Zeichen von L.s intensiver Aus- ewige Vagant. In: M. Das Magazin 3/4 (1986). – einandersetzung mit seinem Jude-Sein, mit Pierre van Wesperen: J. L., ein umstrittener Autor. seiner geografischen u. ideolog. Identität ist In: Zeit-Schrift 2 (1987). – Andrea Hammel u. a. der Sprachwechsel. L. schreibt vom Selbstpor- (Hg.): Writing after Hitler. The Work of J. L. Cardiff trait an nicht mehr deutsch, sondern englisch. 2001. Ursula Weyrer / Günter Baumann Mit dem offiziellen Zionismus rechnet das Reisenotizbuch Israel. Rückkehr für 28 Tage (28 Days Return. A Notebook on Israel. Übers. E. Lindau, Paul, * 3.6.1839 Magdeburg, Tranger. Ffm. 1972) ab. Die Autobiografie der † 31.1.1919 Berlin; Grabstätte: Eisenach, Jahre 1950 bis 1953, Nahaufnahme (Numbers. Neuer Friedhof. – Journalist, SchriftstelÜbers. G. Danehl u. J. L. Ffm. 1973), führt das ler, Theaterautor u. -direktor. anekdot. Verfahren aus Selbstportrait noch L. gilt als Verkörperung eines hauptstädt. weiter, die rastlose Zeit bis in die 1960er Jahre Literatentyps, der sich erst nach der Reichsthematisiert L. im Fortsetzungsband Im Ge- gründung in Berlin durchsetzte u. seine genwind (Crossing – The Discovery of Two Islands. Vorbilder in Paris hatte. L. hatte in den 1991. Übers. J. Csuss u. J. L. Wien 1997). Mit 1870er Jahren in Literatur, Theater u. GeReisen zu den Enu (Travels to the Enu. Übers. sellschaft der neuen Hauptstadt gleichermaKlaus Hoffer u. J. L. Wien 1983) legte L. einen ßen Erfolge. Der Sohn eines Justizkommis– urspr. Jonathan Swift gewidmeten – satir. sars studierte ab 1857 Philosophie u. LiteraReise-Abenteuerroman vor. Die turbulente turgeschichte in Halle, Leipzig u. Berlin, Handlung wird von zahlreichen Exkursen, 1859–1862 in Paris. In zahlreichen Begegu. a. über Krieg u. Abrüstung, unterbrochen, nungen mit Literaten (z.B. Sardou, Augier, was L. bei der amerikan. Kritik das Etikett Dumas fils u. Scribe) wurde er zum Kenner »Friedensautor« (in: Aufbau, 28.5.1982) ein- der frz. Literatur u. des Pariser literar. Lebens, brachte. Im parabelhaften Briefroman über neben Übersetzungen verfasste er Kulturein jüd. Brüderpaar, Der Erfinder (The Inventor. feuilletons u. Korrespondenzberichte für dt. Übers. Jörg Trobitius. Überarb. J. L. Mchn. Blätter. Gleichzeitig sammelte er Material für 1988), ist die Welt wieder als absurdes Pan- eine Dissertation über Molière (Lpz. 1871). optikum geschildert, deren scheinbar sinn- 1862–1869 arbeitete er für verschiedene dt. hafter ideolog. u. metaphys. Konstruktion L. Blätter; als Redakteur der »Düsseldorfer

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Zeitung« (1863 bis 1865) lernte er Lassalle dung der Frau Josefine Molitor. Bln. 1907), die kennen (vgl. den verklärenden Bericht in L.s ihn als selbstbewussten Kommentator umErinnerungen); 1869 bis 1871 leitete er das strittener Prozesse ausweisen. 1895 von Herzog Georg als Leiter an das »Neue Blatt« in Leipzig. Das Spektrum seiner journalist. Arbeiten reicht vom polit. Leitar- Meininger Hoftheater berufen, kehrte L. tikel bis zur Kunst- u. Literaturkritik. Seine 1900 nach Berlin zurück als Direktor des 1872 in Berlin gegründete »Gegenwart« Berliner Theaters (bis 1903) u. des Deutschen zählte Fontane zu den wichtigsten Periodika. Theaters (1904/1905); 1909–1917 schließlich L. wurde zum einflussreichsten Theaterkriti- war er – als Repräsentant einer vergangenen ker der Gründerjahre, nicht zuletzt, weil er Epoche des Theaters – Dramaturg des Kökonsequent den Standpunkt des »Normal- niglichen Schauspielhauses. zuschauers« einnahm u. dessen Geschmack Weitere Werke: Die Brüder. Stgt. o. J. (D.). – stützte. Er trat für ein »modernes« unter- Aus Venetien. Reiseber.e. Düsseld. 1864. – Molière haltendes Theater ein, das auch »pikante« in Dtschld. Wien 1867. – Harmlose Briefe eines dt. Themen aufgreifen sollte – im Rahmen des Kleinstädters. 2 Bde., Lpz. 1870/71 (Feuilletons). – »guten Geschmacks«. 1877 schließlich grün- Literar. Rücksichtslosigkeiten. Lpz. 1871. – Maria dete er die auch belletrist. Monatsschrift Magdalena. Lpz. 1872 (D.). – Dramaturgische Bl. 2 Bde., Stgt. 1874. – Ges. Aufsätze. Bln. 1875. – »Nord und Süd«. Überflüssige Briefe an eine Freundin. Ges. FeuilL.s erstes Schauspiel Marion (Lpz. 1869) letons. Breslau 1877. – Interessante Fälle. Crimiwurde durch Laube in Leipzig uraufgeführt; nalprozesse [...]. Breslau 1888. – Der Abend. Bln. ihm folgten zahlreiche weitere. Die einfachen 1896 (D.). – Illustrierte Romane u. Novellen, 10 Konfliktkonstruktionen, die meist auf ele- Bde., Bln. 1909–12. – Nur Erinnerungen. 2 Bde., mentaren Leidenschaften u. familiären Be- Stgt./Bln. 1916. ziehungen aufbauen, sowie die schemat. LöLiteratur: Anneliese Eismann-Lichte: P. L. Pusungen (z.B. Selbstbestrafung) lassen sie als blizist u. Romancier der Gründerjahre. Diss. Vorläufer der Plots heutiger Fernsehspiele Münster 1981. – Gertraude Wilhelm: L. In: NDB. – erscheinen. L.s Stücke wollten menschl. Roland Berbig: P. L. – eine Literatenkarriere. In: Schwächen – Gründerprotzerei, moral. Heu- Literar. Leben in Berlin 1871–1933. Hg. Peter chelei usw. – kritisieren, ohne den Ge- Wruck. Bd. 1, Bln./DDR 1987, S. 88–125. – Die Rundschau-Debatte 1877. P. L.s Zeitschrift ›Nord schmack des bürgerl. Großstadtpublikums und Süd‹ u. Julius Rodenbergs ›Deutsche Rundzu verletzen. schau‹. Hg. R. Berbig. Bern. u. a. 1998. In den 1880er Jahren verlor L. an Einfluss. Joachim Linder / Red. Für die Naturalisten vertrat er das »Gesellschaftsdrama«, dem sie ihre »sozialen DraLindau, Rudolf (seit 1875: von L.), * 10.10. men« entgegenstellten. 1890 diente L.s um1829 Gardelegen/Altmark, † 14.10.1910 strittene Beziehung zu einer Schauspielerin Paris. – Erzähler. als Anlass, seine vielen Verbindungen in Theater u. Kritik öffentlich zu debattieren Der Bruder von Paul Lindau studierte in (vgl. Mehrings Der Fall Lindau. Bln. 1890). L. Berlin, Gießen, Paris u. Montpellier Philoloverließ Berlin, unternahm eine Orient-Reise gie. Nach der Promotion war L. Hauslehrer in (Aus dem Orient. Breslau 1890) u. ließ sich 1891 Frankreich, dann Privatsekretär des späteren in Dresden nieder. Seine Amerika-Reisen Ministers Barthélemy St. Hilaire u. arbeitete 1883 u. 1891 schlugen sich in der umfängl. an der »Revue des deux mondes« mit. Seit Reisebeschreibung Altes und Neues aus der 1860 Schweizer Konsul u. Vertreter einer Neuen Welt (2 Bde., Bln. 1893) nieder, in der Uhrenfabrik in Yokohama, gründete L. die aufmerksam bürgerl. (Großstadt-)Treiben »Japan Times« (dort die erste engl. Zeitung) registriert wird, weniger soziale Spannun- sowie den »Japan Punch« u. schrieb frz. gen. Von seinen Romanen (u. a. einer Berlin- Korrespondenzartikel. 1869 nach DeutschTrilogie. Bln. 1886–88) u. Novellen sind L.s land zurückgekehrt, beteiligte er sich als BeVeröffentlichungen authent. Kriminalfälle richterstatter für den »Preußischen Staatsanhervorzuheben (z.B. Karl Hau und die Ermor- zeiger« am Deutsch-Französischen Krieg.

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1878 übernahm er das Pressereferat des Auswärtigen Amts in Berlin (Ruhestand 1892). L.s ausgedehnte Reisetätigkeit (Kalifornien, Indien, China, Indochina u. Singapur) spiegelt sich in seinem literar. Werk, geschrieben aus der Perspektive des weltmännisch-skept., in die Schule der frz. Realisten u. v. a. Turgenjews gegangenen Europäers (z.B. der Erzählband Die kleine Welt. Bln. 1880). Kolonistenerlebnisse thematisieren die Novellen Der lange Holländer (Bln. 1889) u. Reisegefährten (Bln. 1894). L.s lebendig abgefasste Reisebeschreibungen enthalten wertvolle Informationen über Geschichte u. Kultur der dargestellten Länder (z.B. Aus China und Japan. Bln. 1896). Weitere Werke: Gordon Baldwin. Bln. 1878 (N.). – Gute Gesellsch. 2 Bde., Breslau 1879 (R.). – Ges. Romane u. Novellen. 6 Bde., Bln. 1892–93. – Erzählungen eines Effendi. Bln. 1896. – Liebesheiraten. Bln. 1899 (R.). – Erzählungen aus dem Osten. Bln. 1909. – Eine Nachlese. Bln. 1910 (E.en, Übers.en). Ausgaben: Die polit. u. literar. Korrespondenz R. L.s. Hg. Rainer Hillenbrand. 2 Bde., Ffm. u. a. 2007. – Ges. Schr.en in 9 Bdn. Hg. ders. Hildesh. u. a. 2007. Literatur: Heinrich Spiero: R. L. Bln. 1909. – Heinz-Alfred Pohl: Bismarcks Einflussnahme auf die Staatsform in Frankreich 1871–77. Zum Problem des Stellenwerts v. Pressepolitik im Rahmen der auswärtigen Beziehungen. Ffm. u. a. 1984. – Eberhard Naujoks: L. In: NDB. – Rainer Hillenbrand: Das erzähler. Werk R. L.s. Ffm. 2005. – Goedeke Forts. Helmut Blazek / Red.

Lindau, Wilhelm Adolf, auch: Junius Lätus, Rudolf Wald, Josef Aldoni, * 24.5. 1774 Düsseldorf, † 1.6.1849 Dresden. – Übersetzer, Redakteur u. Unterhaltungsschriftsteller.

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nach Leipzig u. besorgte dort die Redaktion des vier Bände umfassenden Conversations-Lexikons der neuesten Zeit und Literatur (Lpz. 1832–34) bei Brockhaus. Mit seiner endgültigen Rückkehr nach Dresden (1839) verabschiedete sich der polyglotte, überregional bekannte u. publikationsfreudige Autor vom literar. Leben. L.s Anfangserfolg verdankte sich hauptsächlich der begeisterten Aufnahme seines romantisierenden Unterhaltungsromans Heliodora, oder: Die Lautenschlägerin aus Griechenland (3 Bde., Meißen 1799/1800 u. ö.). Diesen Erstlingserfolg geschickt ausnutzend u. literarischen Trends (Ritter-, Spanien- oder Orientbegeisterung) gegenüber aufgeschlossen, verfertigte L. in den folgenden Jahrzehnten eine große Zahl publikumswirksamer Romane (Der Tempelherr. 2 Bde., Lpz. 1804. Der graue Ritter [...]; eine romantische Geschichte. 4 Bde., Lpz. 1814), Erzählungen (Erato; eine Sammlung kleiner Erzählungen. 3 Bde., Meißen 1802–1808. Südfrüchte; romantische Erzählungen aus Spanien. Dresden 1813) u. histor. Abrisse (Lebensbilder. 2 Tle., Dresden 1817. Gemälde aus der Geschichte von Spanien. Dresden 1824). Auch zur modischen Reiseliteratur steuerte L. eigene Schilderungen (Wanderungen und Abentheuer zwischen Dorf und Stadt. Posen 1806) u. viele Übersetzungen bei (Anastasius. Reiseabentheuer eines Griechen [...] von Th. Hope. 5 Bde., Dresden 1821–25. Leben und Sitte im Morgenlande [...] von John Carne. 4 Bde., ebd. 1826/27). Am einträglichsten waren die literar. Übersetzungen aus dem Englischen, Französischen u. Spanischen; v. a. mit der Bearbeitung vieler Romane Walter Scotts machte sich L. einen Namen (Der Astrolog. 3 Tle., Lpz. 1817 u. ö. Robin der Rothe. Bln. 1819 u. ö.). Literatur: Franz Schnorr v. Carolsfeld: L. In:

Den Vorstellungen seiner Eltern entspre- ADB. – Goedeke 6, S. 386 f. Gerda Riedl / Red. chend, studierte L. in Jena u. Göttingen Rechtswissenschaften; eine reichsrechtl. An- Linde, Otto zur ! Zur Linde, Otto schlussausbildung in Wetzlar u. Regensburg verlor durch das Ende des Alten Reichs (1806) ihren Sinn. Unbeschadet dessen wusste L. zeitlebens Erwerbstätigkeit u. Schriftstellerexistenz zu verknüpfen. Erst in Meißen, ging er 1806 nach Dresden, wo er bis 1815 Polizeiinspektor war. 1832 zog er vorübergehend

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Lindemayr, Maurus, eigentl.: Kajetan Benedikt Maximilian L., * 17.11.1723 Neukirchen/Oberösterreich, † 19.7.1783 Neukirchen/Oberösterreich. – Theologe, Homilet, Dramatiker u. Lyriker.

Lindener Literatur: Johann Maxbauer: M. L. Diss. Wien 1914. – Friedrich Mayr: Die mundartl. Klosteroperetten v. M. L. u. seinen Zeitgenossen. Diss. Wien 1930. – Richard Zajicek: Das geistl. Leben Oberösterr.s zur Zeit der Aufklärung. Diss. Wien 1933. – J. Lachinger: Der oberösterr. Mundartdichter M. L. Diss. Wien 1964. – Fritz Fuhrich: Theatergesch. Oberösterr.s im 18. Jh. Wien 1968. – Johannes Maria Daxner: Pater M. L. u. seine ›Klosteroperetten‹. Ein Vorspiel zur Operette? In: Österr. u. seine Operetten. Hg. Erik Adam. Klagenf. 1999, S. 37–50. – Andreas Brandner: Pater M. L.s Leichenpredigten auf den Schwanenstädter Pfarrer Johann Ferdinand Gessl u. den Baumgartenberger Abt Eugen Schickmayr. In: Oratio funebris. Hg. Ralf Georg Bogner u. a. Amsterd. 1999, S. 247–273.

Der Schulmeisterssohn trat nach dem Besuch des Linzer Jesuitengymnasiums in das Benediktinerstift Lambach ein u. studierte an der Salzburger Ordensuniversität. Nach der Priesterweihe 1749 war er 1754–1759 Prior des Stifts, danach Seelsorger in Neukirchen. Neben theolog. Schriften u. Übersetzungen verfasste L. nach 1765 dramat. u. lyr. Kasualdichtungen, die ihn zum Begründer der Reinhard Wittmann / Red. oberösterr. Dialektliteratur u. zu einem der wichtigsten Dramatiker der österr. Aufklärung machten. Seine in Lambach u. anderen Stiften oft u. erfolgreich aufgeführten Sing- Lindener, Michael, * um 1520/30 Leipzig, spiele u. seine hochdt. u. mundartl., teils † 7.3.1562 Friedberg bei Augsburg. – versifizierten Komödien wurden u. a. von Jo- Verfasser von Schwänken, gefälschten seph Haydn (Die reisende Ceres. Erstauff. 1780) Übersetzungen u. Plagiaten. u. Franz Xaver Süßmayr, vielleicht unter Be- 1544 immatrikulierte sich L. an der Univerteiligung Mozarts (Der ernsthafte Spaß. Er- sität Leipzig – zgl. das erste Datum der Biostauff. 1776), vertont. Sie wurzeln in der grafie – u. erhielt 1548 ein BegabtenstipenTradition des oberdt. Benediktinertheaters, dium, musste jedoch 1549 das Studium abverbinden das barocke Erbe jedoch mit auf- brechen, nachdem eine Frau ein Heiratsverklärerischen, satirisch-didakt. Zwecken, kon- sprechen gegen ihn eingeklagt hatte. Seit trastieren das Bildungsgut mytholog. Tra- 1550 verdingte er sich als Schulmeister u. vestien mit derb-bäuerl. Komik, Hochsprache Korrektor in Nürnberg u. trat dort als Hermit Dialekt. L.s Lyrik in obderennsischer ausgeber von Schriften Leonhard Culmanns Mundart steht zwischen Sebastian Sailer u. erstmals literarisch hervor. Ob sich L., wie Marcelin Sturm: Sie schildert mit sozialkrit. behauptet, in Wittenberg u. (als Lehrer) in Untertönen Leiden u. Freuden des Bauern- Ulm aufhielt, ist unsicher. Fassbar ist er ab standes. 1557 in Augsburg, wo er als Lehrer am BeWeitere Werke: Die durch die Todesfurcht nediktinerkloster St. Ulrich u. Afra arbeitete vertriebene Saufsucht [...]. Erstdr. Innsbr. 1765. In: u. die meisten seiner Schriften entstanden u. Euph. 31 (1930), S. 46–67. – Hans in der Klause. gedruckt wurden. Um 1766 verf. Ebd., S. 74–95. – Argonautenzug L.s Werk ist zum großen Teil Fälschung nach Kolchis. Erstauff. 1770. In: Maske u. Kothurn oder Plagiat. So veröffentlichte er vorgebl. 26 (1980), S. 177–196. – Kurzweiliger Hochzeit- Gebete des verstorbenen sächs. Herzogs JoVertrag [...]. Steyr 1770. – Der bey einem Arzten hann Friedrich I. (»Wittenberg« [recte Theater unentbehrl. Hannswurst. Erstauff. 1772. Augsb.] 1557); eine Chronik der Welfen (o. O. In: Maske u. Kothurn 26 (1980), S. 197–233. – Die [um 1560]) gab er als Übersetzung eines fikKomoediprob [...]. Steyr 1776. tiven lat. Chronisten Atranus Gebula aus u. Ausgaben: Dichtungen in obderenns. Mundart. drei Schriften Girolamo Savonarolas sowie Linz 1822. – Sämtl. Dichtungen in obderenns. Volksmundart. Hg. Pius Schmieder. Linz 1875. – eine Vnterweisung von der Beicht Melanchthons Lustsp.e u. Gedichte in oberösterr. Mundart. Hg. (Nürnb. [1561]) will er übersetzt haben. Doch Hans Anschober. Linz 1928. – Die Dialektlieder. alle diese Schriften sind offenkundig von L. Krit. Ausg. in 2 Bdn. Hg. Christian Neuhuber. Wien selbst verfasst worden. Zwei Erbauungsschriften sind Plagiate. Am 7.3.1562 wurde L. 2008.

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in Friedberg bei Augsburg wegen Mordes theolog. u. histor. Schr.en. In: AfLg 7 (1877/78), S. 434–484, 555. – Johannes Bolte: Neues über M. hingerichtet. Bemerkenswert sind seine Schwanksamm- L. In: Martin Montanus: Schwankbücher. Hg. ders. lungen. Während das Rastbüchlein ([Augsb.: Tüb. 1899, S. 636–643. – Karl Schottenloher: Der Schwankdichter M. L. als Schriftenfälscher. In: ZfB Hans Gegler] 1558; drei weitere Drucke) in 56 (1939), S. 335–347. – Hauke Stroszek: Pointe u. der Tradition der von Georg Wickrams Roll- poet. Dominante. Dt. Kurzprosa im 16. Jh. Ffm. wagenbüchlein begründeten Schwankbücher 1970, S. 122–139. – Hans-Jörg Uther: L. In: EM. – 28 kurze, pointierte Schwankerzählungen Flood, Poets Laureate, Bd. 3, S. 1147–1150. – Juaneinanderreiht, die dem Leser laut Wid- liane Rieche: Lit. im Melancholiediskurs des 16. Jh. mungsbrief »die Leber frischen/ vnd das ge- Volkssprachige Medizin, Astrologie, Theologie u. e blut erquicken« sollen, nähert sich Katzipori M. L.s ›Katzipori‹. Stgt. 2007. J. Klaus Kipf ([Augsb.: Hans Gegler] 1558) mit 128 deutlich längeren, meist in Ich-Perspektive erzählten Episoden der Novellensammlung an. ÜberLindenhan, Andreas Christoph, * 17.2. trifft bereits das Rastbüchlein in der Dominanz 1774 Haderslev (dt. Hadersleben), sexueller u. fäkal. Themen die zeitgenöss. † 31.12.1836 Haderslev. – Epiker, LehrSchwankautoren (wie Valentin Schumann, dichter, Lyriker, Historiker. Martin Montanus), so dominiert im Katzipori – darauf verweist das in seiner Bedeutung Nach dem Besuch der Gelehrtenschule in ungeklärte Titelwort – L.s Vorliebe für Wort- seiner nordschleswigschen, heute dänischen u. Sprachspiele, Synonymen- u. Metony- Vaterstadt studierte L. in Kiel Jura, um nach mienketten u. (teils makkaronische) Sprach- dem Examen in seiner Heimatgemeinde als mischung. Als Entstehungskontext des Anwalt tätig zu werden. 1814 wurde er dort Katzipori entwirft L. eine Gesellschaft der zum Bürgermeister u. Polizeimeister, 1825 »freyen Knaben« u. »gu8 ten Schlucker«, die, zum kgl. Justizrat ernannt. Neben Aufsätzen zur Ortskunde u. zur unbekümmert um gesellschaftl. Regeln, trinkfeste Geselligkeit mit derben Zoten frühneuzeitl. Geschichte, zur Popularphilosophie u. zur Lesedidaktik (Über die Kunst zu pflegen. Ähnlich wie die übrigen Schwanksammler lesen, 1810), die in Unterhaltungsblättern erverwendet auch L. beliebte Exempel-, Fabel- schienen sind (seit 1820 meist in Lotz’ Origiu. Novellensammlungen der Zeit (Johannes nalien aus dem Gebiete der Wahrheit, Kunst, Laune Pauli, Burkhart Waldis, Arigos Decameron- und Phantasie), verfasste L. seit ca. 1810 auch Übers.), zumeist in freier Bearbeitung. Di- poet. Werke. Wie schon in seinem ersten rekte Übernahmen aus seinen Schwank- selbständigen Werk, der wohl Voß’ Luise versammlungen finden sich in Bernhard Hert- pflichteten Hexamateridylle Adelaïde (1815), zogs Schiltwacht (um 1560), Johann Fischarts orientierte sich L. auch in seinen Dichtungen Geschichtklitterung (1575) u. Nicodemus (1822) weitgehend an älteren Stilmustern wie der antikisierenden Lyrik Klopstocks u. der Frischlins Facetiae selectiores (1600). Dominierte lange Zeit das moralische Ver- lehrhaft-philosoph. Epigrammatik Schillers. dikt über Autor u. Werk, so würdigt die Außer in seiner Novelle Die glücklichen Zufälle jüngere Forschung (seit Stroszeck) v. a. L.s (1824) blieb L. dabei dem klassizist. Vers treu: sprachspielerische Artistik, die auf Fischart so in dem in Versepisteln verfassten religiövorausweist. Auch wird erkannt, dass L. unter sen Lehrgedicht Unsterblichkeit (1823) u. auch den Schwanksammlern zu den talentiertesten in dem groß angelegten Epos Das gerettete Malta (1829), das trotz seiner starken stoffErzählern zählt. Ausgaben: M. L.: Schwankbücher. Rastbüchlein lich-strukturellen Abhängigkeit von Tassos u. Katzipori. Hg. Kyra Heidemann. 2 Bde., Bern Gerusalemme Liberata nicht die Stanze der ital. Renaissanceepik nachbildet, sondern in antiu. a. 1990. Literatur: Bibliografie: Heidemann, Ausg., 1990 romantischer Tendenz gut 10.000 Hexameter (s. o.), Bd. 2, S. 13–25. – Weitere Titel: Camillus bietet, deren epigonaler Klassizismus das Wendeler: M. L. als Übersetzer Savonarolas u. Hg. zeitgenöss. Lesepublikum kaum erreicht hat.

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439 Literatur: Goedeke 10, S. 550 f. – Wilhelm Kurz: Formen der Versepik in der Biedermeierzeit. Diss. masch. Tüb. 1955, S. 119. – Dieter Martin: Tasso u. die dt. Versepik der Goethezeit. In: Torquato Tasso in Dtschld. Hg. Achim Aurnhammer. Bln./New York 1995, S. 423–442, bes. S. 440 f. Dieter Martin

Lindenschmidt. – Volksballade mit einem historischen Thema des späten 15. Jh. Der »Lindenschmidt«, Hauptperson eines erzählenden Liedes mit einem histor. Thema, wurde von der älteren Forschung als rein histor. Lied betrachtet (Liederhort, Nr. 247); heute rücken wir den Text in die Nähe der Volksballade mit weitgehend fiktiven Personen: »Es ist nit lang, dass es geschah, dass man den Lindenschmidt reiten sah...«. Man hat das Lied auf ein histor. Ereignis in der Pfalz, 1490, bezogen, aber die Dokumentation des Textes beruht hauptsächlich auf Liedflugschriften der ersten Hälfte des 17. Jh. u. auf mündl. Überlieferung aus der Zeit um 1770/1800. Der L. wird von Kriegsknechten des Markgrafen von Baden in Frankenthal am Rhein in einem Wirtshaus gefangen. Dort schläft er, »der sich nährt auf freyer Straßen«; wie später die Wilderer im Lied betrachtet der Raubritter sein »Handwerk« als Ausdruck seiner Freiheit; die Straße ist frei u. gehört jedem. »Junker Kaspar« überwältigt den L. im Auftrag des Markgrafen. Er wird nach »Baden« gebracht u. dort hingerichtet, u. auch sein Sohn u. sein Reiterbube werden (aus im Lied nicht näher genannten Gründen) nicht verschont. Tatsächlich wurde ein Raubritter Lindenschmidt in Frankenthal am Rhein gefangen u. 1490 in der Pfalz hingerichtet. Ein mögl. Lied auf dieses Ereignis kann sich jedoch im Laufe der Überlieferung stark verändert haben; Enthistorisierung gehört zu den Stilmerkmalen der Volksballade (die hier relativ schwach ausgeprägt sind). Der Text ist ein Beispiel für den Umgang mündl. Überlieferung mit histor. »Wahrheit«. Dass das Lied insg. älter ist als die bisher nachweisbare Überlieferung, belegt die mehrfache Verwendung als Tonangabe (Me-

lodieverweis) seit dem niederländ. Hinweis von 1547 (diese Melodie ist im Liederhort, dort datiert »1540«, abgedruckt u. mit dem Text einer Basler Liedflugschrift, gedruckt bei Schröter o. J., datierbar 1610, kombiniert). Weitere Liedflugschriften kennen wir ohne Angabe des Druckorts von 1630 und 1646, ebenfalls ohne Datierung aus diesen Jahren, u. ohne Ortsangabe 1663. Ein Einzeldruck von 1646 wird bei Eschenburg (1799) abgedruckt. Gleichfalls erscheint der Text in der für diese Liedüberlieferung wichtigen Sammlung Venus-Gärtlein (1656. Hg. Frhr. v. Waldberg. Halle 1890, S. 164–166) u. schließlich in der Sammlung der Romantik Des Knaben Wunderhorn (Bd. 1, Heidelb. 1806, S. 125; dort nach einem Abdruck in der Zeitschrift »Apollo« v. 1794 u. seinerseits nach der Basler Liedflugschrift von 1610): Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder. Hg. u. komm. v. Heinz Rölleke. Bd. 1, Stgt. 1987, S. 125 (mit weiteren Hinweisen). Ein erster wiss. Abdruck findet sich in: Ludwig Uhland: Alte hoch- und niederdeutsche Volkslieder. Bd. 1–2, Stgt. 1844/45, Nr. 139 A-B. Seitdem taucht das Lied in mehreren gängigen wiss. Sammlungen auf, z.B. Strobach (1982), Nr. 8 b u. Nr. c (Es ist noch nit lang... mit Komm.; Nr. 8 c mit Melodie). Als Lied mit einem histor. Bezug (untersucht von Zink 1976) blieb der Text bekannt u. wurde frühzeitig als Modell für andere historisch-polit. Lieder verwendet. Deren Stoßrichtung ist die polit. Propaganda: »Es ist nicht lange, das[s] das geschach, dass man den Bischoff ausm Elsass sach...« (Liedflugschrift von 1610); »...dass man das Reich ausziehen sach...« (Krieg gegen die Türken); »...das[s] man Leopoldum reysen sah...« (»Newe Zeitung« auf Erzherzog Leopolds Kriegszug für Kaiser Rudolf II. aus dem Elsass in das Gülicher [Jülicher] Land, datiert 1610 u. mehrfach belegt). In diesen Fällen wird mit dem allseits bekannten Bild des Raubritters L. gespielt, um polit. Wirkung zu erzielen. Entsprechend hat Buchmann (1995) das Lied als Quelle zur Mentalitätengeschichte des MA näher untersucht. Die Burgruine Löwenstein aus dem 13. Jh. in der Pfalz wird in der regionalen Überlie-

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ferung »Schloss Lindenschmidt« genannt. Der Ort verkam zum Raubritternest u. soll die Zuflucht des L. gewesen sein. Man sagt, dass dieser die Hufe seiner Pferde in der verkehrten Richtung beschlug, um Verfolgern eine falsche Spur zu legen (von solchen Einzelheiten weiß das Lied nichts). 1771 wurde das Lied von Goethe im Elsass notiert: »Es war ein ädlicher Lindenschmidt, nährt sich auf freyer Landstraßen...«. In Gebrauchsliederbüchern taucht das Lied relativ selten auf: Kaiserliederbuch (1915) Nr. 483 (mit Melodie). In der Gegenwart jedoch hat es bei Liebhabern des sozialkrit. Liedes eine kleine Renaissance erlebt, von der Gruppe »Liederjan« (1976 u. 2002) bis zur Melodieverwendung bei Sabrina Setlur (Lindenschmidt Mix, 2007). Literatur: Louis Pinck: Volkslieder v. Goethe im Elsaß ges. [1771]. Straßb. 1932, S. 88. – Wolfgang Zink in: Jb. für Volksliedforsch. 21 (1976), S. 41–86. – Hermann Strobach: Volkslieder ges. v. Goethe [1771]. Weimar 1982, S. 56 f. – Burghart Wachinger: L. In: VL. – Bertrand Michael Buchmann: ›Daz jemant singet oder sait...‹. Das volkstüml. Lied als Quelle zur Mentalitätengesch. des MA. Ffm. 1995, S. 323–329 (Abdr. mit Melodie). – Dt. Volkslieder mit ihren Melodien: Balladen. Bd. 10, Bern 1996, S. 201 (Balladenindex F 27). – Otto Holzapfel: Das große dt. Volksballadenbuch. Düsseld. 2000. 22008, S. 218 f. (mit Kurzkomm.). – Ders.: Liedverz. Bd. 1, Hildesh. 2006, S. 493 f. (mit weiteren Hinweisen). Otto Holzapfel

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jekte L.s. Als Berufsschriftsteller nach Berlin übergesiedelt, hatte er Mühe, einen authent. u. zeitgemäßen Dramenton zu finden; große Teile seiner literar. Produktion schwanken zwischen Klassikerplagiat u. den Niederungen der Trivialität. Dennoch bewies L. mit seinem größten Bühnenerfolg Die Bluthochzeit oder die Bartholomäusnacht (Lpz. 1871) erneut beachtl. Theatertalent. Spätere Werke hingegen charakterisiert ein kontinuierl. Nachlassen der literar. Inspiration. Bereits gezeichnet von schwerer seel. Krankheit, wurde L. Reichstagsbibliothekar (1872–1875), später Mitarbeiter des preuß. Kultusministeriums. Wegen dienstl. Unregelmäßigkeiten suspendiert, sank er bald an den Rand bürgerl. Existenz, die ein Plagiatsprozess 1882 endgültig ruinierte. Seine letzten Lebensjahre verbrachte L. in der psychiatr. Anstalt Dalldorf. Weitere Werke: Dante Alighieri. Jena 1855 (D.). – Stauf u. Welf. Jena 1867 (D.). – Don Juan d’Austria. Bln. 1875 (D.). – Der Völkerfrühling. Drei histor. Novellen. Bln. 1881. – Das Rätsel der Frauenseele. Bln. 1882 (N.n). – Der Reformator. Lpz. 1883 (D.). Literatur: Adalbert v. Hanstein: A. L. Bln. 1888. – Franz Koch: A. L. als Dramatiker. Weimar 1914. – Wolfgang Sowa: L. In: NDB. – Ders.: Der Staat u. das Drama. Der Preuß. Schillerpreis 1859–1918. Ffm. 1986. Walter Weber / Red.

Lindner, Albert, * 20.1.1831 Ober-Neu- Lindner, Anton, auch: Pierre d’Aubecq, sulza/Thüringen, † 4.2.1888 Dalldorf bei * 14.12.1874 Lemberg, † 30.12.1928 Berlin. – Dramatiker, Novellist. Wandsbek bei Hamburg. – Essayist, Kritiker u. Lyriker. Als Sohn eines Salinensteigers entstammte L. ärml. Verhältnissen. Nach Philologie- u. Geschichtsstudium in Jena u. Berlin war er Hauslehrer in Pommern, dann Gymnasiallehrer in Spremberg/Niederlausitz (1862 bis 1864) u. Rudolstadt (1864 bis 1868). In seinen Nebenstunden dilettierte der theaterbegeisterte Schulmeister als Verfasser histor. Künstlerdramen. Ein beachtl. Wurf gelang L. mit dem Trauerspiel Brutus und Collatinus (Bln. 1866), dessen Erfolg (Schillerpreis 1866) ihm die Aufgabe des angestammten Berufs ermöglichte. Obwohl von namhaften Theaterdirektoren wie Devrient u. Laube gefördert, misslangen die meisten Schauspielpro-

Der Sohn eines Augenarztes studierte Jura an der Universität Wien, wandte sich aber bald der Literatur zu. L. schrieb Essays, Theater- u. Kunstkritiken für Zeitungen u. Zeitschriften u. redigierte die Kulturzeitschriften »Wiener Rundschau« u. »Bühne und Welt«. Ab 1904 lebte er als Redakteur der »Neuen Hamburger Zeitung« u. Korrespondent namhafter inu. ausländ. Blätter in Wandsbek. Zus. mit Michael Georg Conrad, in dessen »Gesellschaft« er von 1893 an seine Wiener Ketzerbriefe veröffentlichte, Ottokar Stauf von der March u. seinem Schulfreund Karl Kraus gehörte L. zu den ersten Kritikern des »Jungen Wien«.

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Seine Studie Die Barrisons (Bln. 1897) über die berühmte engl. Tanzgruppe »Five Sisters Barrison« ist ein impressionistisch-krit. Versuch über Gesamtkunstwerks-Kult u. Ästhetizismus um 1900. Eine mit Karl Kraus 1893 geplante Satiren-Anthologie kam, obwohl bis heute in Nachschlagewerken als erschienen geführt, nie zustande. Weiteres Werk: Der Ton vom Tode. Wien 1900 (L.). Literatur: Ursula Seeber-Weyrer: ›... eine geschickte Verbierbaumung des Liliencron‹. Karl Kraus’ Schulfreund A. L. In: Kraus-H.e (1990), H. 55, S. 2–4. Ursula Weyrer / Red.

Lindner, Caspar Gottlieb, * 9.1.1705 Liegnitz/Schlesien, † 8.12.1769 Hirschberg/Schlesien. – Lyriker, Opitz-Biograf.

Lindner

zweibändige Umständliche Nachricht von des [...] Martin Opitz von Boberfeld Leben, Tode und Schriften nebst einigen alten und neuen Lobgedichten (2 Tle., Hirschberg 1740/41). Sie bietet eine reichhaltig kommentierte Übersetzung von Christian Köhlers Gedächtnisrede auf Opitz u. zahllose bio-bibliografische Hinweise, die sie zu einer der wichtigsten Quellen der ungeschriebenen großen Biografie des »Vaters der deutschen Dichtung« machen. Weitere Werke: Poet. Beschreibung des [...] Hirschbergischen Hausberges. 1739. – Dt. Gedichte. Breslau 1743. Literatur: Bibliografien: Goedeke III (1887), S. 352 f. (ausführlichstes bislang vorliegendes Werk-Verz. auf der Basis der reichen Göttinger Bestände!). – Faber du Faur (1958), S. 424, Nr. 670. – Faber du Faur (1969), S. 26, Nr. 237a. – Kosch IX (1984), Sp. 1478 f. (ausführl. Schriftenverz.!). – Schmidt, Quellenlexikon, Bd. 19 (1999), S. 190. – Biografie: Herbert Gruhn: L. In: Schles. Lebensbilder 2 (1924). Neudr. Sigmaringen 1985, S. 99–103. – Weitere Titel: Hildegard Just: Der Hirschberger Dichterkreis [...]. Diss. Breslau 1934. – Alfred Rüffler: Johannes Fechner (1604–86) u. seine poet. Landeskunde v. Schlesien. In: Ztschr. des Vereins für Gesch. u. Alterthum Schlesiens 70 (1936), S. 275–303. – Manfred P. Fleischer: Späthumanismus in Schlesien. Mchn. 1984. Klaus Garber

L. gehört zu den Gelehrten u. Dichtern des 18. Jh., denen wir die Rettung der humanistischen, bürgerlich-gelehrten Produktion des 16. u. 17. Jh. zu danken haben. Nach dem Studium der Medizin in Jena u. Halle u. dem Erwerb der Doktorwürde (1729) ließ er sich 1732 als Arzt in Hirschberg nieder. Hier hatte sich ein »Collegium poeticum« konstituiert, das rege Beziehungen zu Gottsched u. der Deutschen Gesellschaft in Leipzig unterhielt. Ihm gehörten neben L. der La-Motte-ÜberLindner, Johann Gotthelf, * 11.9.1729 setzer Gottlieb Glafey, der Fabeldichter DaSchmolsin bei Stolpe/Hinterpommern, niel Stoppe u. andere an. † 29.3.1776 Königsberg. – Professor der Seinen Weg zur Dichtung hat L. in der Dichtkunst, Kirchen- u. Schulrat; DraVorrede zur Sammlung seiner Deutschen Gematiker. dichte und Übersetzungen (Breslau/Lpz. 1743) geschildert. In Schlesien besaß das humanist. Das Studium in Königsberg schloss L. 1749 Städte- u. Landschaftslob in lat. Sprache eine mit dem Magister der Philosophie ab. 1755 bes. dichte Tradition, in der u. a. David Pa- Rektor u. Inspektor der Domschule zu Riga, reus, Melchior Lauban u. v.a. Johannes Fech- wurde er 1765 zum o. Prof. der Dichtkunst in ner (1604–1686) stehen. Durch zahlreiche Königsberg ernannt. Nachdem er 1773 den Übersetzungen Fechners schulte sich L. in theolog. Doktortitel erworben hatte, avandieser Gattung. Er bekannte sich zum cierte er 1775 zum Kirchen- u. Schulrat. Gottsched’schen Stilideal des gemäßigten L. war in Königsberg wichtigstes Mitgl. der Schmucks zugunsten reich entfalteter Lehre, Deutschen Gesellschaft u. gehörte zum die er an die genaue Beobachtung der hei- engsten Kreis um Hamann, Hippel u. Kant. matl. Natur band. Seine Gedichte sind wie die Er förderte durch eigene Beiträge das Schulseines Vorbilds Martin Opitz nochmals in drama in Riga, schrieb Beiträge zu Gedichtgeistliche u. weltliche geschieden; von der sammlungen, Moralischen Wochenschriften, Gattung Gelegenheitsgedicht wird ein be- den »Rigischen Anzeigen« u. der »Gelehrten wusst zurückhaltender Gebrauch gemacht. In und politischen Zeitung« in Königsberg. Erinnerung geblieben ist L. auch durch seine Daphne, eine moralische Schrift (2 Tle., Königsb.

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1750) verfasste er weitgehend selbst (mit Hamann als Mitarbeiter). Seine Schuldramen kritisierte Thomas Abbt in den »Literaturbriefen« (14, 16); die »vollkommen sittlichen Charaktere« seien »Ungeheuer der Bühne«. Mit L.s kurzgefasstem ästhet. Lehrbuch setzte sich Herder in der »Allgemeinen deutschen Bibliothek« (1773) auseinander. Er lobte den »guten Kopf«, tadelte aber den angehäuften Wissens-Wust. Weitere Werke: Anweisung zur dt. Schreibart [...]. Königsb. 1755. – Schulhandlungen oder Redeübungen, nebst den Einladungsschr.en u. Schlußgedichten. 15 Slg.en, Riga 1755–62. – Beiträge zu Schulhandlungen. Königsb. 1762. – Dazu: Briefw. bey Gelegenheit einiger Briefe, die neueste Lit. betreffend. Thorn 1762 (darin v. Hamann: Fünf Hirtenbriefe das Schuldrama betreffend). – Lehrbuch der schönen Wiss.en, insonderheit der Prosa u. Poesie. 2 Bde., Königsb./Lpz. 1767/68. – Kurzer Inbegriff der Ästhetik, Redekunst u. Dichtkunst. 2 Bde., Königsb./Lpz. 1771/72. Literatur: Joseph Kohnen: J. G. L. Pädagoge, Literat u. Freimaurer in Königsberg u. Riga. In: Nordost-Archiv. Ztschr. für Kulturgesch. u. Landeskunde 76 (1984), S. 33–48. – Hans Graubner: Kinder im Drama. Theolog. Impulse bei Hamann, L. u. Lenz. In: JbDSG 46 (2002), S. 73–101. – Ders.: Der ›Schuldiderot‹ J. G. L. u. sein Schuldrama ›Der wiederkehrende Sohn‹. In: Königsberger Beiträge 2002, 37–64. – Ders.: Patriot. Panegyrik in Riga. Zur polit. Bedeutung der Schulactus des Rigaer Domschulrektors J. G. L. In: Diskrete Gebote (2002), S. 209–236. – James Jakob Fehr: The Sexual Metaphysics of the Soul: J. G. L.s ›Venus Metaphysique‹ Between Königsberg and Berlin. In: Königsberger Beiträge 2002, S. 17–35. Gerhard Sauder / Red.

Lindner, Johannes, auch: Hans bzw. Hans Fritz L., * 22.11.1896 Moosburg/Kärnten, † 3.12.1985 Moosburg/Kärnten. – Lyriker, Erzähler. L. war Soldat im Ersten Weltkrieg, darauf arbeitete er wie seine Eltern als Postbeamter. Seit 1924 lebte er in Kärnten u. Wien ohne festen Beruf. 1945 bis 1948 war er Kulturreferent der Kärntner Landesregierung in Klagenfurt. Zwischen 1910 u. 1919 veröffentlichte L. in Kärntner Zeitungen Gedichte u. kurze Erzählungen, gutteils in Mundart. 1920 erschien bei Egon Fleischel in Berlin

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sein einziges Buch: Gott Erde Mensch. Mit seinem hymn. Expressionismus, dem Mythos vom bäuerl. Menschen, beginnt die moderne Kärntner Lyrik. Nach Beiträgen in Kalendern, Zeitschriften, Almanachen u. Anthologien zog sich L. ganz aus dem literar. Leben zurück. Erst mit den Proben aus Welt in einer Handvoll Staub (Privatdr. 1969) u. weiteren Privatdrucken seiner Gedichte versuchte er eine Rückkehr. Der christl. Grundton seiner Dichtung ist auch in den späteren Werken geblieben; die Neigung zum Pantheismus ist der zur Tiefenpsychologie, der Mythos einer sinnbildl. Aussage gewichen. Der Blick ist über die Kärntner Heimat hinaus auf die Jahrtausende der Menschheitsgeschichte u. auf ihre Träger in Kunst u. Religion gerichtet. Ausgaben: Gedichte. Hg. v. der Josef-PerkonigGesellsch. Klagenf. 1987. – Das dichter. Werk. Krit. Ausg. Hg. Kurt Adel. Wien 1990. – Der kentaur. Knecht. Hg. Klaus Demus u. Michael Guttenbrunner. Wien 2003. Literatur: Berta Sekora: Kärntens Anteil an der Moderne. Diss. Wien 1928. – Erich Nußbaumer: Geistiges Kärnten. Klagenf. 1956, S. 484–490. – Harald Haselbach: J. L. Die Landeshauptstadt Klagenfurt. Bd. 2, Klagenf. 1970, S. 357–367. – Kurt Adel: Gruß u. Dank an J. L. Klagenf. [1977]. – Ders.: J. L. ›Die Windzauberin‹. In: Fidibus 3 (1989), S. 19–26. – Hermann Göderle: J. L. Leben u. Werk. Diplomarbeit Klagenf. 1994. Kurt Adel

Lingelsheim, Lingelshemius, (Georg) Michael, * 9.12.1557 Straßburg, † Juli/August 1636 Frankenthal/Pfalz. – Jurist u. Humanist. L. besuchte das Straßburger Gymnasium u. die Universitäten zu Heidelberg (immatrikuliert 1579), Straßburg u. Basel (Dr. iur. 25.7.1583). Zus. mit Otto von Grünrade übernahm er die Erziehung des Kurfürsten Friedrich IV. von der Pfalz u. förderte dessen Hinwendung zum reformierten Bekenntnis. Als Mitgl. des Oberrats (seit 1592) stand er im Zentrum der pfälz. Politik, gehörte somit zu den Gegnern der vom Haus Habsburg getragenen kath. Offensive. Dennoch unterstützte er nicht Friedrichs V. waghalsigen Griff nach der böhm. Krone u. blieb in Heidelberg zurück. Vor den Kriegsereignissen flüchtete er 1621 nach Straßburg, wo Matthias Berneg-

Lingg

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ger, einer seiner engsten Freunde, lebte. Während der kurzfristigen Restitution Friedrichs V. kehrte er nach Heidelberg zurück, musste jedoch bald darauf in die Festung Frankenthal ausweichen. Nach der Eroberung Frankenthals geriet er in Gefangenschaft. L. war ein politisch interessierter u. dabei hochgebildeter Späthumanist, der v. a. durch persönl. Einfluss u. tatkräftige Hilfe, auch als Mitarbeiter u. Förderer diverser Editionen wirkte. Um ihn gruppierte sich der ältere Heidelberger Dichterkreis (Melissus Schede, Petrus Denaisius u. a.), von ihm gefördert wussten sich junge Literaten wie Venator u. Zincgref. Sie standen in engem Kontakt mit L.s Sohn Friedrich († 1616), dessen lat. Jugendgedichte mit denen Zincgrefs überliefert sind (Triga Amico-Poetica. Hg. Leonhard Weidner. o. O. 1619). Opitz wurde von schles. Gönnern an Janus Gruter u. L. empfohlen u. fand bei ihm eine Stelle als Hauslehrer (1619). Von bedeutendem kulturgeschichtl. Wert ist L.s weitläufige, z.T. noch ungedruckte Korrespondenz, die nicht zuletzt Einblicke in den literarischen u. polit. Kommunikationskreis des dt. u. frz. Späthumanismus (Jacques Bongars, Jacques Auguste de Thou, Hugo Grotius) gewährt. Briefausgaben: Jacobi Bongarsii et Georgii Michaelis Lingelshemii epistolae. Straßb. 1660. Internet-Ed. in: CAMENA (CERA). – G. M. L.s Epistolae anecdotae. In: Christoph F. Ayrmann: Sylloge Anecdotorum omnis aevi. Ffm. 1746. – Briefe G. M. L.s, M. Berneggers u. ihrer Freunde. Hg. Alexander Reifferscheid. Heilbr. 1889. Literatur: Volker Press: Calvinismus u. Territorialstaat. Regierung u. Zentralbehörden der Kurpfalz 1559–1619. Stgt. 1970. – Ders.: L. In: NDB. – Dieter Mertens: Zu Heidelberger Dichtern v. Schede bis Zincgref. In: ZfdA 103 (1974), S. 200–241. – Axel E. Walter: G. M. L. In: NDBA, Lfg. 24 (1994), S. 2387 f. – Walter (2004) (grundlegend, auch zum weiteren Umkreis). Wilhelm Kühlmann

Lingg, Hermann Ritter von (seit 1890), * 22.1.1820 Lindau, † 18.6.1905 München. – Lyriker, Dramatiker, Novellist. L. entstammte einer im bayer. Schwaben ansässigen Beamtenfamilie. Ab 1831 besuchte

er das Gymnasium in Kempten u. studierte ab 1837 in München Medizin. Seit der Schulzeit, erst recht in den Studentenjahren, entstanden lyr. Versuche, die aus seitenlangen Tagebucheintragungen (kein Tag in L.s Leben ohne Niederschrift eines Gedichts) hervorgingen. Seine histor. Lyrik verstand er nicht als Flucht aus der Gegenwart, sondern als poet. Bezugnahme auf sie. Nach dem Abitur unternahm L. 1838 eine Italien-Reise; dort entstand der Plan zu der Tragödie Catilina (Mchn. 1864). Sein Traum vom Dichterberuf u. eine nicht standesgemäße Verlobung stießen auf den Widerstand des Vaters († 1841). 1846 trat L. als Unterarzt in den eintönigen Dienst der bayr. Armee ein. Als sein Bataillon zur Niederschlagung revolutionärer Aufstände im Badischen eingesetzt wurde, musste er gegen seine Überzeugungen handeln. Die Folge waren schwere Depressionen, die zwar die literar. Produktion nicht behinderten, jedoch zur Einlieferung L.s in eine Heilanstalt führten. Als geisteskrank gebrandmarkt, wurde er zwangspensioniert u. musste Entmündigungsversuche abwehren. 1854 führte die Heirat mit einer Forstaufseherstochter zu psych. Stabilisierung, hinzu kam die dichterische Anerkennung: Geibel hatte die Publikation seiner Gedichte bei Cotta veranlasst. Eine Pension sowie gelegentl. Zuwendungen von Freunden wie Liebig u. Pettenkofer u. durch die Schiller-Stiftung ermöglichten L. ein Leben bürgerl. Zuschnitts. Als bald repräsentativer dt. histor. Lyriker traf er insofern den Zeitgeschmack des sich kulturell legitimierenden neuen Kaiserreichs, als er dessen Mythos einer germanisch-dt. Herkunft rechtfertigte. Dramatische Versuche (u. a. Violante. Stgt. 1871. Die sizilianische Vesper. Stgt. 1876. Die Bregenzer Klause. Mchn. 1887) blieben dagegen ohne rechten Erfolg. Als Autor zahlloser Prologe u. Festspiele, Weihegedichte u. Jubellieder glänzte L. in den geselligen Zirkeln des Münchner Bildungsbürgertums bis hin zu den Symposien König Max’ II. Sein humoriges Gedicht Im heiligen Teich zu Singapur/Da liegt ein altes Krokodil gab der von Heyse gegründeten einflussreichen literar. Vereinigung »Krokodil« den Namen. Als sein bedeutendstes Werk betrachtete L., der auch Erzählprosa publi-

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zierte, sein 1846 begonnenes Versepos in Oktaven Völkerwanderung (Bde., Stgt. 1866–68) zur Vorgeschichte der dt. Nationalstaatsgründung. Durch die nat. Kriege – 1870 nahm er selbst noch teil – wurde L. noch einmal vom vaterländ. Pathos erfasst (Vaterländische Balladen und Gesänge. Mchn. 1869). Zahllose Ehrungen zum 70. Geburtstag bestätigten L.s internat. Wertschätzung im Umfeld des Münchner Dichterkreises, in dem er immer um den eigenen charakterist. Tonfall bemüht war. Eine späte Freundschaft mit Meyer rückte L.s lyr. Historismus mit den Geschichtsnovellen des Schweizers auf sinnfällige Weise zusammen. Der Naturalismus u. dessen Gegenströmungen konnten mit L.s Werken freilich nichts mehr anfangen. Weitere Werke: Dunkle Gewalten. Epische Dichtungen. Stgt. 1874. – Byzantin. Novellen. Mchn. 1881. – Lyrisches. Neue Gedichte. Wien/ Teschen 1885. – Furchen. Stgt. 1889 (N.n). – Schlußrhythmen u. neueste Gedichte. Stgt. 1901. Ausgaben: Dramat. Dichtungen. Gesamtausg. 2 Bde., 1897 u. 1899. – Ausgew. Gedichte. Hg. Paul Heyse. Stgt. 1905. – Gedichte in Ausw. Hg. Lissauer. Mchn. 1924. Literatur: Arnulf Sonntag: H. L. als Lyriker. Mchn. 1908. – Frieda Port: H. L. Eine Lebensgesch. Mchn. 1912. – Bernhard Zittel: H. v. L. In: Lebensbilder aus dem Bayer. Schwaben. Hg. Götz Frhr. v. Pölnitz. Bd. 2, Mchn. 1953. – Günter Häntzschel: L. In: NDB. – Renate Werner: Flucht in die Gesch. Ästhet. Historismus in Gedichten v. H. L., Heinrich Leuthold u. Conrad Ferdinand Meyer. In: Vormärz – Nachmärz. Hg. Norbert Otto Eke. Bielef. 2000, S. 299–330. – Rüdiger Görner: ›Wer nicht leidet oder litt, verdient keine Liebe‹. Über den Dichter H. v. L. In: JbDSG 50 (2006), S. 11–26. – Goedeke Forts. Rolf Selbmann / Red.

Linius, Martin ! Martin von Cochem Link, Charlotte, * 5.10.1963 Frankfurt/M. – Roman- u. Drehbuchautorin.

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ersten Publikumserfolg dar. Ihr 19 Romane umfassendes Werk erfreut sich seither großer Popularität. 2007 erhielt sie den Medienpreis »Die Goldene Feder«. L.s unterhaltsame Romane erzählen meist vom unvereinbaren Gegensatz bürgerlicher Sehnsüchte u. gesellschaftlicher oder polit. Restriktionen. Im Mittelpunkt des früheren Werks stehen erot. Beziehungen vor dem Hintergrund polit. Krisenzeiten (Dreißigjähriger Krieg: Die schöne Helena; Französische Revolution: Verbotene Wege. Mchn. 1986; Erster Weltkrieg: Sturmzeit. Mchn. 1989), wobei die polit. Konflikte sowohl Auslöser als auch metonym. Zeichen der privaten Krisen sind. Das spätere u. eher auf die Erzeugung von Spannung ausgerichtete Werk handelt häufig vom Verschwinden einer Person, deren Suche zgl. Ausgangspunkt einer Selbsterkundung u. bedrohl. Moment äußerer Gefährdung ist (z.B. Die letzte Spur. Mchn. 2008). Die Beliebtheit der nach konventionellen Mustern konstruierten Romane lässt sich an der ständigen Präsenz in Bestsellerlisten ablesen. Diese Popularität wird durch einige Romanverfilmungen gestützt: Sturmzeit (D 1999), Das Haus der Schwestern (D 2002), Der Verehrer (D 2002), Die Rosenzüchterin (D 2004), Am Ende des Schweigens (D 2006) u. Die Täuschung (D 2006). L. hat ferner zu Drehbüchern beitragen: Der Vater meines Sohnes (D 2003), Das verräterische Collier (D 2003). Weitere Werke: Wenn die Liebe nicht endet. Reinb. 1986. – Die Sterne v. Marmalon. Mchn. 1987. – Schattenspiel. Mchn. 1991. – Wilde Lupinen. Mchn. 1992. – Die Stunde der Erben. Mchn. 1994. – Die Sünde der Engel. Mchn. 1996. – Das Haus der Schwestern. Mchn. 1997. – Der Verehrer. Mchn. 1998. – Die Rosenzüchterin. Mchn. 2000. – Die Täuschung. Mchn. 2002. – Am Ende des Schweigens. Mchn. 2003. – Der fremde Gast. Mchn. 2005. – Die Insel. Eine unheiml. Gesch. Reinb. 2006. – Das Echo der Schuld. Mchn. 2006. – Das andere Kind. Mchn. 2009. Gerrit Lembke

Die zurückgezogen lebende Autorin gab ihr Studium der Rechtswissenschaften nach sieLink, Heiner, * 5.2.1960 München, † 30.5. ben Semestern zugunsten ihrer Schriftstel2002 München. – Prosa-Autor u. Journalerlaufbahn auf. Die Arbeit an ihrem Rolist. manerstling Die schöne Helena (Hbg. 1985) reicht nach eigenen Aussagen bis in ihr sieb- L. war nach seinem nicht abgeschlossenen zehntes Lebensjahr zurück u. stellt ihren Studium des Wirtschaftsingenieurwesens von

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1988 bis zu seinem Tod Geschäftsführer eines Linke, Oskar, auch: O. Klein, Taras KuÜbersetzungsbüros. Sein literar. Schaffen hat nowski, Leon Ritter, * 15.7.1854 Berlinerst nach seinem Tod 2002, nicht zuletzt Oranienburg, † 8.10.1928 Weimar. – Erdurch seine Bekanntschaft mit dem Schrift- zähler, Lyriker, Journalist. stellerkollegen Norbert Niemann, mit dem er L. schloss sein Studium der Philologie, Äs1999 das »Forum der 13« gründete, größere thetik u. Literatur mit der Promotion (1877) Aufmerksamkeit erfahren. Die hybride, sich ab, wurde Journalist in Posen, Breslau als Album präsentierende Sammlung Mein (1903–1907) u. war zuletzt Leiter der »WeiJahrtausend (Salzb./Wien/Ffm. 2002) basiert marischen Zeitung«. Zu seinem umfangreiauf einem 1999 begonnenen Internetblog des chen literar. Werk gehören v. a. lyrische u. Autors, dessen Beiträge wöchentlich online epische Versuche, oft nach antiken Stoffen, gestellt wurden. In einem ersten Teil komim Ton des wehmütigen Schönheitskults biniert der Verfasser Fotografien mit assoseines Freundes Hamerling, aber auch im Ton ziativen Betrachtungen, aus denen sich keine frivoler Heiterkeit (Milesische Märchen. Lpz. kohärente Handlung erschließen lässt. Der 1881; das Kleinepos Das Veilchen von Kephyszweite Abschnitt wird durch ein polyphones sosthal. Hbg. 1889). L. fand daneben Einlass in Gespräch gebildet, deren Beiträger Niemann, Arents frühnaturalist. Galerie Moderne DichterGeorg M. Oswald u. Helmut Krausser sind. Charaktere (1885). Mehrere seiner Werke bePolyphon ist es auch im Hinblick auf die inhandeln die Gestalt Jesu: Seine »Dichtung« tertextuellen Verweise, die im Text selbst Jesus Christus (Norden 1883) führt einen Prewiederum thematisiert werden. Der Authendiger im Traum durch die Welt des Evangetizität suggerierende Tagebuchcharakter liums u. zu erneuertem Glauben; die reine wird hierdurch ebenso ostentativ unterlaufen Lehre Christi hebt sich ab von der der Kirche. wie durch die Kürzungen u. Änderungen des Konstruiert wirkt die Fabel Die Versuchung des originalen Internettextes. Sein erfolgreichster hl. Antonius (Minden 1885). Der aktuellen Roman, Frl. Ursula (Reinb. 2003), der seine Boheme-Thematik zollte L. ebenso Tribut Bekanntheit v. a. einer elf Monate nach der (Iphi. Das Malermodell. Lpz. 1899) wie der hisErstveröffentlichung ausgestrahlten TV-Sentorisierenden Romanmode (Leukothea. 3 Bde., dung von Elke Heidenreichs »Lesen« erlangBln. 1884). te, wurde erst nach dem Unfalltod des VerWeitere Werke: Die Bienen. Ein neuer fassers publiziert. Es handelt sich um die Xenienalmanach. Minden 1887. – Triumph der Geschichte eines potentiell unzuverlässigen Liebe. Lpz. 1890 (D.; Trilogie). – Schlummre, Ich-Erzählers, dessen erot. Eskapaden ebenso Schwert, unter Myrthen. Hbg. 1894 (L.). – Die 10. wenig Erfüllung verheißen wie sein sozialer Symphonie. Lpz. 1918. – Vom Sessel des Buddha. Aufstieg im Golfclub. Im Jahr 2001 nahm L. Aphorismen. Weimar 1923. auf Vorschlag Robert Schindels mit einem Christian Schwarz / Red. Auszug aus Frl. Ursula erfolglos am IngoborgBachmann-Preis teil. Weitere Werke: Hungerleider. Bln. 1997. – (Hg.) Trash-Piloten. Texte für die 90er. Lpz. 1997. – Affen zeichnen nicht. Humoresken. Lpz. 1999. – (Hg.) eine laus im uhrgehäuse. Lpz. 2001. – Alles auf Band oder Die Elfenkinder. Ein Drama. Kom. Gedichte v. Morgenstern bis Gernhardt. Wien/Ffm. 2001 (zus. mit Arno Geiger). Literatur: Norbert Niemann: H. L. In: LGL. Gerrit Lembke

Linzer Entecrist. – Apokalyptische Dichtung um 1170, alemannisch.

Eine Pergamenthandschrift des 12./13. Jh. aus dem aufgehobenen Kloster Gleink, die in Linz aufbewahrt wird, überliefert eine anonyme Dichtung über die Ereignisse der Endzeit, die L. E. genannt wird. Sie besteht aus 68 unterschiedlich langen, 6–36 Zeilen umfassenden Strophen in Reimpaartechnik. Zu Beginn des ersten, umfangreichsten Teils (50 Strophen) unter dem lat. Titel De anticristo, Elia et Enoch begründet der Dichter sein Werk mit einem Zitat aus 2 Tim 4, 3 f.

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über die Abkehr der Menschen von der göttl. Lipiner, Siegfried, * 24.10.1856 Jaroslaw/ Wahrheit sowie mit dem Interesse vieler an Galizien, † 30.12.1911 Wien. – Dichter, der Zukunft, d.h. christlich gedacht: am Philosoph, Übersetzer u. Bibliothekar. »entecrist«. Dieser wird seinem Namen »Antichrist« entsprechend in allen Aspekten sei- L. kam im Alter von 15 Jahren nach Wien, wo nes Lebens Christus entgegengesetzt sein: ihm bereits als Primaner gestattet wurde, Der Teufel ergreift vor seiner Geburt Besitz Universitätsvorlesungen zu besuchen. Von von ihm, er wird die Menschen mit falschen 1875 bis 1878 studierte er Literatur, PhiloWundern, Reichtum u. Gewalt zur Irrlehre sophie, Geschichte u. Sozialwissenschaften in verführen, er wird die beiden gegen ihn pre- Wien u. Leipzig, u. a. bei Fechner. Als Achtdigenden Zeugen Elias u. Enoch ermorden u. zehnjähriger verfasste er seine erste Dichschließlich selbst getötet werden. Den ab- tung, Der entfesselte Prometheus. Eine Dichtung in trünnigen Menschen bleiben 40 Tage zur fünf Gesängen (Lpz. 1876), die von Friedrich Reue. Mit dieser Frist endet auch die Haupt- Nietzsche begeistert aufgenommen wurde. quelle des Autors, De ortu et tempore Antichristi Es folgte ein reger Briefwechsel, auch mit des Adso de Montier-en-Der, bzw. die ihm Malwida von Meysenbug. Richard Wagner vorliegende Bearbeitung dieses im MA weit lud daraufhin den jungen Dichter nach Bayreuth ein. L.s zweites Werk Renatus (Lpz. verbreiteten Traktats. 1878) fand weniger Anklang. In rascher Folge Im zweiten Teil, De signis XV. dierum ante diem iudicii (Str. 51–57), überträgt der Dichter verfasste er das Buch der Freude (Lpz. 1880), das die lat. Petrus-Damianus-Version der Fünf- histor. Drama Arnold von Brescia (unveröffentzehn Vorzeichen des Jüngsten Gerichts. Diese ir- licht), Der neue Don Juan (postum Stgt. 1914), dischen u. kosm. Katastrophen führen zum das Epos Echo, eine Dichtung in neun Gesängen Tod aller Menschen. Der letzte Teil, De ad- (unveröffentlicht) sowie das Libretto zu ventu Christi ad iudicium (Str. 58–68), stellt die Goldmarks Oper Merlin (Lpz. 1881). Bereits Verwandlung von Himmel u. Erde im Feuer 1878 kam es zum Bruch mit Nietzsche, u. a. sowie die Auferstehung der Toten u. das weil L. ihn zu einer Therapie bei Josef Breuer Jüngste Gericht nach der Vision des Apoka- in Wien bewegen wollte, u. auch Wagner verlor schnell das Interesse an dem frühreifen lyptikers Johannes (20, 11–21, 5) dar. Über die genannten Vorlagen hinaus zitiert Genie. 1881 wurde L. Bibliothekar des Reichrats in der theologisch versierte Dichter v. a. apokalypt. Texte des NT u. benutzt einen nicht Wien. Seinen Ruf als Übersetzer festigte er identifizierten, offensichtlich zeitgenöss. durch die Übertragung des poln. NationalApokalypsenkommentar. Als eine von vielen dichters Adam Mickiewicz ins Deutsche. L. volkssprachl. Bearbeitungen des Endzeit- konvertierte 1891 zum Christentum u. ließ stoffs hat der L. E. keine erkennbare Wirkung sich taufen. In seinem literar. Schaffen trat von nun an immer klarer die christlich-reliausgeübt. Ausgabe: Friedrich Maurer (Hg.): Die religiösen giöse Idee hervor. Bis zuletzt arbeitete er an Dichtungen des 11. u. 12. Jh. Bd. 3, Tüb. 1970, seinem unvollendet gebliebenen Hauptwerk, einer Christus-Trilogie, die in Analogie zu S. 361–427. Literatur: Hans-Peter Kursawa: Antichristsage, Wagners Ring aus vier Teilen bestehen sollte: Weltende u. Jüngstes Gericht in mittelalterl. dt. Aus dem Vorspiel Adam sowie den Dramen Dichtung. Diss. Köln 1976, passim. – Richard K. Maria Magdalena, Judas Ischarioth u. Paulus in Emmerson: Antichrist in the Middle Ages. Man- Rom. Lediglich das Vorspiel Adam wurde 1913 chester 1981. – Werner Schröder: L. E. In: VL. – Rolf von Paul Natorp postum veröffentlicht (Stgt. Bergmann u. Stefanie Stricker: Kat. der ahd. u. Nachdr. Bern 1974). altsächs. Glossenhss. Bd. 2, Bln./New York 2005, L.s letzte Jahre waren geprägt von seiner S. 844 f. (Nr. 386a). Sabine Schmolinsky / Red. Freundschaft mit Gustav Mahler. Der enzyklopädisch gebildete u. charismat. L. gewann großen Einfluss auf den Komponisten. Er schuf den Grund für Mahlers lebenslange

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Goethe-Verehrung u. brachte ihm Nietzsche nahe, dessen Wirkung weit über die Dritte Sinfonie hinausgeht. L. starb nur wenige Monate nach Mahler am 30.12.1911 in Wien. Weitere Werke: Über die Elemente einer Erneuerung religiöser Ideen in der Gegenwart. Wien 1878. – Apologie der Philister. In: Dt. Ztg., Wien, 20.2.1881. – Der ewige Friede. In: Dt. Ztg., Wien, 9.3.1881. – Die künstler. Neuerung in Goethes Faust. In: Dt. Ztg., Wien, 30.6.1881. – Bruder Rausch, eine ep. Dichtung. In: Dt. Dichterbuch aus Österr. Hg. K. E. Franzos. Lpz. 1883. – Über Gottfried Kellers Gedichte. In: Dt. Wochenschr. Nr. 3, 18.11.1883. Literatur: Johannes Volkelt: Der entfesselte Prometheus. In: Die Wage, Wochenbl. für Politik u. Lit., Nr. 38/39 (1877). – F. Fügner: S. L., ein Dichter unserer Zeit. In: Blätter für Handel, Gewerbe u. soziales Leben. Beibl. zur Magdeburger Ztg., Nr. 5, 6, 7, 1881. – Wilhelm Scherer: Der entfesselte Prometheus, Renatus. In: Kleine Schr.en. Bln. 1893. – E. Pernerstorfer: Nekrolog. In: Ztschr. des österr. Vereins für Bibliothekswesen, 3. Jg. (1912), H. 1, S. 121–125. – Paul Natorp: Dichtungen eines Vergessenen. In: Kunstwart 1912. – Ders.: S. L.s ›Adam‹. In: Christl. Welt 34 (1913). – Ders.: S. L.s Adam. In: Preuß. Jbb. 1914. – Artur Bonus: S. L. In: Kunstwart, 1. Augusth., 1914. – P. Natorp: Spieloder Lesedrama? Dt. Wille des Kunstwarts 1915. – Ders.: S. L. In: Biogr. Jb. u. dt. Nekrolog Bd. 18 (1917). – J. K. Ratislav: S. L. In: Der Merker, Wien, H. 4–6 (1917). – Richard Kralik: Gesichter u. Gestalten, S. L. Wiener Reichspost, 9.6.1929. – Hartmut v. Hartungen: Der Dichter S. L. (1856–1911). Diss. Mchn. 1932. – Hartmut Zelinsky: S. L. In: NDB. – Hans Gerald Hödl: Nietzsche in Österr. Prometheische Religion: S. L. poet. Nietzsche-Rezeption. In: Verdrängter Humanismus. Verzögerte Aufklärung. Hg. M. Benedikt, E. Kiss u. R. Knoll. Bd. 4, Klausen-Leopoldsdorf 1998, S. 379–396. Renate Müller-Buck

Lipinsky-Gottersdorf, Hans, * 5.2.1920 Leschnitz (Les´nica)/Oberschlesien, † 3.10. 1991 Köln. – Erzähler. Über Kindheit u. Jugend von L. liegen kaum Zeugnisse vor. Bis der Vater, der Jurist u. Dolmetscher Robert Lipinsky († 1960), den Familienbesitz Gottersdorf erbte, lebte die Familie im pommerschen Stolp. 1932 zog man in das oberschles. Gottersdorf. L. fügte den Ortsnamen später seinem Familiennamen bei. Von 1932 bis 1936 soll er eine In-

ternatsschule in Kreuzburg besucht haben u. begann anschließend eine landwirtschaftl. Ausbildung an verschiedenen oberschles. Gutshöfen. Am Zweiten Weltkrieg nahm er in der 81. Infanterie-Division teil, erlitt 1941 bei Kämpfen an der Ostfront eine Verwundung u. erlebte das Kriegsende in Karlsbad. Bis zum Frühjahr 1947 befand er sich in Kriegsgefangenschaft. Später wurde er aus dem Entlassungslager Segeberg an die Küste von Schleswig-Holstein geschickt, wo er einige Wochen als Ferkelschneider tätig war. Im Sommer 1947 gelangte er nach Köln, wo er in der Chemiefabrik Köln-Kalk einen Arbeitsplatz fand, den er jedoch im Herbst 1949 verlor. Im Sommer 1949 heiratete er Minne Lipinsky, die seit 1941 als Bibliothekarin in Köln arbeitete u. später einen Buchverleih betrieb. Minne, die selbst schrieb, regte L. zur schriftstellerischen Tätigkeit an. Seine erste Erzählung Ostdeutsche Weihnacht 1944 publizierte er im Dez. 1950 in der »Rheinischen Zeitung«. 1952 bis 1955 druckte die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« einige Erzählungen, später erschienen Beiträge von L. in der »Welt« u. in den »Akzenten«. In den 1950er Jahren begann auch seine Mitarbeit am Rundfunk, v. a. bei Radio Bremen. Wesentlich für das schriftstellerische u. bürgerl. Selbstverständnis von L. war die Freundschaft mit Ludwig Landsberg, Ministerialdirigent im Ministerium für Arbeit u. Soziales in NRW. Dieser war für das Problem der Eingliederung der Spätaussiedler zuständig u. erteilte im Jahr 1957 L. den Auftrag, eine Studienreise durch die Lager in Friedland u. in Berlin zu unternehmen. In der Folge beschäftigte sich L. in mehreren Aufsätzen u. Hörspielen mit den erschütternden u. prägenden Erlebnissen in den Spätaussiedlerlagern. Zgl. versuchte er, sein Wissen über Polen u. die poln. Literatur in Deutschland bekannt zu machen. 1955 erschien in Göttingen L.s erster Roman Fremde Gräser (21957. Neudr. 1958. 1959). Bereits der Titel deutet auf zwei wesentl. Themen in seinem Schaffen hin: Fremdheit u. Natur. Das elementare Schicksal von Menschen, die aus historisch getrennten Welten kommen, die Schuld auf sich laden,

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große Gefühle erleben, Verzeihen erfahren, Heimat verlassen mussten, umgeben von einer übernat. Natur u. Landschaft, eingebettet in das Gleichmaß des jahreszeitl. Ablaufs, spielte auch in seinem erfolgreichsten Roman, Die Prosna-Preußen (Gött. 1968. 2 Bde., Würzb. 1984/93), eine wesentl. Rolle. L.s »konservativer Humanismus« (Vitt) bleibt dabei immer christlich fundiert. Sein Stil zeichnet sich durch Ironie u. Distanz aus; er erzählt alles, auch wenn er nichts beschreibt, was als »Ästhetik des Schweigens« (Kunicki) treffend zusammengefasst wurde. In den 1960er Jahren etablierte sich L.s Position auf dem dt. Buchmarkt, weitere Auszeichnungen folgten (1964 Ehrengabe der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, 1966 Andreas-Gryphius-Preis), einige Erzählungen erscheinen in dt. Schulbüchern. Zu dieser Zeit entstanden auch Die ProsnaPreußen. 1. Das Dominium als geplanter erster Teil einer Trilogie, die die oberschles. Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jh. zum Thema haben sollte. Es blieb jedoch beim ersten Band; Teile des zweiten Bandes wurden zwischen 1983 u. 1986 als separate Erzählungen publiziert. Nahe liegt es, die Aufgabe des Projektes auf die »Rezeptionskatastrophe« (Kunicki) v. a. innerhalb der dt. Vertriebenenorganisationen zurückzuführen. Ein imaginiertes, positiv besetztes Preußen als »Ordnungsmythos« (Scholz) im Osten, das hier in Anlehnung an Fontane sowie an den mit L. befreundeten August Scholtis konstruiert wurde, stieß vielfach auf Ablehnung. Aber auch Anerkennung erfuhr L., was sich im 1970 verliehenen Eichendorff-Literaturpreis des Wangener Kreises u. damit der Akzeptanz vonseiten der offiziellen Vertriebenen manifestierte. Abgelehnt wurde das Buch von der linksliberalen Leserschaft; Auseinandersetzungen mit Günter Grass, Heinrich Böll u. Horst Bienek blieben nicht aus. 1969 bezog L. mit Preußen an der Prosna. Erinnerungen an die Ursachen eines Romans (In: Deutsche Studien 7, 1969, S. 298–310) noch einmal Position. Der zunehmende Konservativismus L.s zeigt sich in den folgenden Jahren in der Zusammenarbeit mit der Zeitschrift »Criticón« u. in seiner Kritik an der Westbindung

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der Bundesrepublik. Damit einhergehend überarbeitete er viele seiner Erzählungen. Aus dem Blickfeld der literar. Öffentlichkeit verschwand er allmählich. Archivalien von L. befinden sich in der Stiftung Haus Oberschlesien in Ratingen-Hösel sowie im Nachlass von Gerhart Pohl in der Staatsbibliothek zu Berlin. Weitere Werke: Wanderung im dunklen Wind. Gött. 1953. 1963. Wuppertal-Barmen 1970. Mchn. u. Bln. 1977 (E.). – Alle Stimmen der Erde. Wuppertal 1955. 1970 (E.). – Gesang des Abenteuers. Gött. 1956 (E.en).  Stern der Unglücklichen. Gött. 1958. 1965 (E.en.). – Das Wort der Brüderlichkeit. Gött. 1958 (E.en). – Ende des Spiels. Heilbr. 1959 (E.). – Wenn es Herbst wird. Gött. 1961 (R.).  Korla u. der liebe Gott. Heilbr. 1968 (E.en).  Die letzte Reise der Pamir. Mchn./Bln. 1970 (E.en).  Pferdehandel. Mchn./Bln. 1975. Ffm. 1977 (E.en). – Lachen, das nie verweht. Bielef. 1976.  Zugvögel. Mchn./Bln. 1977 (R.e).  Geruch des Frühlings und andere Erzählungen. Stgt. 1977.  Der Sprosser schlug am Pratwa-Bach. Würzb. 1984 (E.en).  Krähen im Febr. Würzb. 1989 (E.en).  Feindl. See. Gesch.n vom Rande der Welt. Würzb. 1987. Ffm. 1995.  Der Witz der Preußen. Würzb. 1997. 2001. Literatur: Arno Lubos: H. L. In: Ders.: Von Bezrucˇ bis Bienek. 8 dt., poln. u. tschech. Autoren. Darmst. 1977, S. 64–81; 116.  Renate SchumannRotscheid: Die verlorene Heimat als Utopie. Über das Werk H. L.s. In: Lit. u. Provinz. Hg. Hans-Georg Pott. Paderb. 1986, S. 113–119.  Fritz Wandel: H. L. zum Gedächtnis. In: Oberschles. Jb. 8 (1992), S. 143–156.  Hans Rudi Vitt: H. L. Nachlaßverz., Bibliogr., Materialien. Bln. 1993.  Frank Heiduk: Oberschles. Literatur-Lexikon. Biogr.-bibliogr. Hdb. Tl. 2, Bln. 1993, S. 105 f.  Joachim J. Scholz: Der Preußenmythos im Werk v. August Scholtis u. H. L. In: Oberschles. Jb. 10 (1994), S. 187–204. – Jolanta Mazurkiewicz: H. L. u. sein Prosnaland. In: Colloquia Germanica Stetinensia (1995), Nr. 4, S. 121–128.  Wojciech Kunicki: Facetten der Versöhnung. Die Bedeutung des poln. Kulturkomplexes für Leben u. Werk H. L.s. In: Convivium (1998), S. 179–208.  Felicja Ksiezyk: Auf den Spuren dt.-poln. Sprachkontakte auf der Ebene des Romans ›Die Prosna-Preußen‹ v. H. L. In: Studia niemcoznawcze 26 (2003), S. 897–910.  F. Ksiezyk: Interaktion des dt. u. poln. Sprachsystems in H. L.s Roman ›Die Prosna-Preußen‹ (1968). In: Kulturraumformung. Sprachpolit., kulturpolit., ästhet. Dimensionen. Hg. Maria Katarzyna Lasatowicz. Bln. 2004, S. 43–55.  W. Kunicki: H. L.s Erzählkunst der 50er Jahre. Beispiel ›Wanderung

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449 im dunklen Wind‹. In: Die Quarantäne. Dt. u. österr. Lit. der fünfziger Jahre zwischen Kontinuität u. Neubeginn. Hg. Edward Bialek. Wroclaw 2004, S. 123–146.  W. Kunicki: H. L. Leben u. Werk. Wroclaw u. Dresden 2006. Angela Reinthal /

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Lippet, Johann, * 12.1.1951 Wels/Oberösterreich. – Lyriker, Prosa-Autor u. Übersetzer. 1956 kehrte L.s Familie in den Banater Heimatort des Vaters, Wiseschdia, Kreis Temesch, Rumänien, zurück. L. studierte Germanistik u. Rumänistik an der Temeswarer Universität u. arbeitete anschließend als Deutschlehrer, dann als Dramaturg am Deutschen Staatstheater der Stadt. Er war Gründungsmitgl. eines schriftstellernden Freundeskreises, der Anfang der 1970er Jahre als »Aktionsgruppe Banat«, politisch engagiert, in Anlehnung an die mitteleurop. dt. Literatur auf neuen Bahnen experimentierte. L.s erstes Buch, die episch-lyr. Dichtung biographie. ein muster (Bukarest 1980), gestaltet in freirhythm. Zeilen den eigenen Werdegang, eingewoben in die leidvolle Nachkriegsgeschichte seiner Landsleute, damals ein Tabu. Der Band wurde ins Rumänische u. Ungarische übersetzt. Durch Verhaftung einiger Mitglieder wurde die »Aktionsgruppe« – eigentlich seit ihren Anfängen im Visier des Staatssicherheitsdienstes – im Herbst 1975 de facto zerschlagen. Der Gedichtband so wars im mai so ist es (Bukarest 1984) ist Beleg für verlorene Illusionen. Eine zunehmend rigide Kulturpolitik führte bei L. zur Dissidenz u. in der Folge 1987 zur Ausreise in die Bundesrepublik. 1990 erschien in Heidelberg das Protokoll eines Abschieds und einer Einreise oder Die Angst vor dem Schwinden der Einzelheiten, eine von maßloser Enttäuschung erfüllte, in der literar. Verfremdung zurückhaltende Dokumentation der desolaten Zustände in allen Lebensbereichen Rumäniens. Der Erzählband Die Falten im Gesicht (Heidelb. 1991) vergegenwärtigt die verzweifelte Sinnsuche seiner Protagonisten in einer apokalypt. Welt u. setzt dabei auch wertvolle ethnograf. Akzente. Mit der von surrealist. Passagen durchsetzten Großerzählung Der Totengräber (Heidelb. 1997)

liefert L. einen Abgesang auf das banatschwäb. Dorf. Den Roman Die Tür zur hinteren Küche (2000) ergänzt 2005 der zweite Band Das Feld räumen (beide Heidelb.). Beide gestalten authentisch u. detailreich die verstörende Realität der Jahrzehnte des real existierenden Sozialismus. 2008 erschien in Ludwigsburg der Roman Migrant auf Lebzeiten. Zwischen 1994 u. 2003 brachte L. drei Lyrikbände heraus: Abschied, Laut und Wahrnehmung (1994) u. Banater Alphabet (2001, beide Heidelb.) sowie Anrufung der Kindheit (Mchn. 2003). Es sind Erinnerungsbücher, die sich überwiegend auf eine visionäre Inventur im einstmaligen Zuhause einlassen u. dabei reichlich Gebrauch machen von der gestalterischen Freiheit moderner Lyrik. Der nächste Lyrikband Vom Hören vom Sehen vom Finden der Sprache (Mchn. 2006) ist eine Apotheose auf die Sprache als Hort der Welterkenntnis. U. d. T. Im Garten von Edenkoben (Mchn. 2009) fasst L. den lyr. Ertrag eines längeren Aufenthaltes im dortigen Künstlerhaus zusammen. Das Leben einer Akte. Chronologie einer Bespitzelung durch die Securitate (Heidelb. 2009) dokumentiert die absurden Überwachungspraktiken im totalitären Rumänien. L. veröffentlichte daneben in Zeitschriften u. Anthologien in Rumänien, Deutschland, Österreich, der Schweiz u. Frankreich. Er erhielt eine Reihe von Preisen u. Stipendien, u. a. 1980 den Debütpreis des Rumänischen Schriftstellerverbandes (Bukarest), 1989 den Deutschen Sprachpreis (gemeinsam mit Gerhardt Csejka, Helmuth Frauendorfer, Klaus Hensel, Herta Müller, Werner Söllner, William Totok u. Richard Wagner), 1997 den Preis des Landes Baden-Württemberg (an den Autor u. den Verlag Das Wunderhorn für den Prosaband Der Totengräber), 2001 ein Stipendium der Konrad-Adenauer-Stiftung u. 2003 das Literaturstipendium der Kunststiftung Baden-Württemberg. Weitere Werke: Kapana im Labyrinth. Heidelb. 2004. – Übersetzung aus dem Rumänischen: Petre Stoica: Aus der Chronik des Alten. Heidelb. 2004 (G.e). Literatur: Peter Motzan: Rez. zu ›Die Falten im Gesicht‹. In: Südostdt. Vierteljahresblätter 1992, H. 4, S. 353f. – René Kegelmann: ›An den Grenzen des Nichts dieser Sprache...‹. Zur Situation rumäni-

Lippl endt. Lit. der achtziger Jahre in der BRD. Bielef. 1995. – Daria-Maria Jurca: Der unmögl. Bruch mit dem Banat. Eine Einf. in die literar. Texte v. J. L. Diplomarbeit, Univ. Temeswar 2002. – Stefan Sienerth: Gespräch mit J. L. In: Südostdt. Vierteljahresblätter 2005, H. 3, S. 273–281. – Eleonora Pascu: J. L. In: Lexikon der Schriftsteller aus dem Banat. Timis¸oara 2005 (in rumän. Sprache). – Renate Windisch-Middendorf: Zwischen Abkunft u. Zergängnis. Zum dichter. Werk v. J. L. In: BANATICA 2002, H. 1. – Eva Marschang: Die Landschaft der Banater Ebene als Lebens- u. Schicksalsraum bei J. L. In: 50 Jahre Temeswarer Germanistik. Eine Dokumentation. Hg. Horst Fassel u. Roxana Nubert. Tüb./Timis¸oara 2008. Eva Marschang

450 Mchn. 1938 (Kom.). – Das Schloß an der Donau. Mchn. 1940 (Kom.). – Saldenreuther Weihnacht. Mchn. 1954 (R.). Literatur: Josef Magnus Wehner: Vom Glanz u. Leben dt. Bühnen. Hbg. 1944, S. 409–416. – Georg Lohmeier: A. J. L. In: Unbekanntes Bayern. Hg. Alois Fink. Bd. 6, Mchn. 1961, S. 243–259. – Renate Hausner: ›Anfaht der grimme Todesreihn, ich Herre Tod tu Tanzführer sein!‹ – Das Totentanzspiel des A. J. L. In: Den Tod tanzen? Hg. dies. u. Winfried Schwab. Anif/Salzb. 2002, S. 63–96. – Martin Ecker: Zwischen Neubeginn u. Tradition – Das Bayer. Staatsschauspiel in den 1950er Jahren. Untersuchungen zum Spielplan der Intendanten A. J. L. u. Kurt Horwitz. Diss. Mchn. 2006. Georg Patzer / Red.

Lippl, Alois Johannes, auch: Blondel vom Rosenhag, * 21.6.1903 München, † 8.10. Lirer, Thomas. – 15. Jh., anonymer Ver1957 Gräfelfing. – Romancier, Dramati- fasser einer fiktiven schwäbischen Prosachronik. ker, Regisseur, Intendant. Nach Anfängen als Autor u. Regisseur im Laienspiel der kath. Jugendbewegung führte L. schon während seines Studiums in München (Literatur-, Kunst- u. Musikgeschichte) am Salzburger Festspielhaus Regie, später auch in München unter Otto Falckenberg. Im Münchner Rundfunk war er 1932–1935 Oberspielleiter, danach freier Schriftsteller u. erfolgreicher Dramatiker mit volkstüml. Hörspielen, Lustspielen u. Schwänken, in denen er das bäuerl. Leben deftig u. humorvoll abbildete, z.B. in Der heimliche Bauer (Mchn. 1932) oder Die getreue Magd (Mchn. 1936). Seine Liebe zum Bodenständigen u. zum Bayerntum ließen L. die NS-Zeit trotz seiner katholisch begründeten Gegnerschaft unbeschadet überstehen. In der Folgezeit wurde er als allzu volkstümelnd heftig kritisiert. L.s Tätigkeit als Intendant des Bayerischen Staatsschauspiels endete deshalb 1953. In den Romanen Der unverletzliche Spiegel (Mchn. 1955) u. Der Umweg ins Glück (Freib. i. Br. 1956) setzte L. sich mit seiner bayerischen Heimat auch kritisch auseinander. Weitere Werke: Das Überlinger Münstersp. Bln. 1924 (D.). – Das Spiel v. den klugen u. törichten Jungfrauen. Bln. 1926 (D.). – Die Prinzessin auf der Erbse. Mchn. 1928 (D.). – Auferstehung. Mchn. 1931 (D.). – Die Pfingstorgel. Mchn. 1933. Gräfelfing 1990 (D.). – Der Engel mit dem Saitenspiel.

Ob der Name »Thoman Lirer«, mit dem sich der Verfasser am Ende seiner Schwäbischen Chronik selbst nennt, eine reale Person bezeichnet oder Pseudonym (»Lirer« für Lügenerzähler) ist, bleibt ungeklärt. L.s nicht verifizierbare Behauptung, im vorarlbergischen Rankweil ansässig zu sein u. im Dienst der Grafen von Werdenberg gestanden zu haben, weist auf einen regionalen Bezug zum Bodenseeraum hin. Das in der Chronik angegebene Entstehungsjahr 1133 ist sichtbar fiktional, als wahrscheinl. Entstehungszeit kann die Zeit zwischen 1462 u. 1485 angenommen werden. Die Schwäbische Chronik ist in den Jahren 1485/86 in drei Inkunabeln (Hain 10116–10118) im Ulmer Offizin Konrad Dinckmuts erschienen. Die Frühdrucke wurden vom sog. Meister des Ulmer Terenz mit 19 bzw. 23 Holzschnitten ausgestattet u. könnten von dem Ulmer Patrizier Hans Neithart ediert oder finanziert worden sein. 1499 erschien bei Kistler in Straßburg eine weitere Ausgabe ohne Illustrationen. Der Schwäbischen Chronik folgt jeweils die sog. Gmünder Kaiserchronik, ein schon Ende des 14. Jh. entstandenes Werk, das einen kurzen Abriss der Geschichte von Pippin bis Karl IV. bietet. Die Chronik beginnt mit der Herleitung der schwäb. Adelsgeschlechter von einem

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fiktiven röm. Kaiser »Kurio«, der im 2. Jh. 1987. – Gerhard Wolf: Von der Chronik zum wegen seiner Bekehrung zum Christentum Weltbuch. Bln. u. a. 2002. Gerhard Wolf von den Römern vertrieben wurde, nach Schwaben floh u. hier zum Stammvater aller Liscow, Christian Ludwig, * 26.4.1701 schwäb. Adelsgeschlechter wurde. Mit dieWittenburg/Mecklenburg, † 30.10.1760 sem Ursprungsmythos werden im Folgenden Gut Berg bei Eilenburg/Sachsen. – Satiriverschiedene Geschlechter, insbes. die Grafen ker. von Werdenberg u. Montfort, verbunden, ohne dass sich daraus eine durchgehende Geboren als Sohn eines protestantischen Geschichte Schwabens ergäbe. Historische Predigers, studierte L. in Rostock, Jena u. Ereignisse lassen sich kaum identifizieren, Halle Rechtswissenschaft u. Theologie. 1729 weil sie durch Verlagerung an fremde Orte u. fand er eine Anstellung als Hauslehrer in in andere Zeiten verfremdet wurden oder das Lübeck. In den folgenden Jahren bekleidete Erzählte nur realitätsnahe Erfindung ist. In- er verschiedene Sekretärsstellen u. wurde halte u. Motive entnimmt L. mündl. Erzäh- 1736 in diplomatischer Mission nach Paris lungen, der fiktiven Literatur (»Elisa-Novel- geschickt. Der preuß. Gesandte in Frankfurt le«, die zwei Fünftel des Gesamttextes um- nahm ihn 1740 in seine Dienste. Ein Jahr fasst), Kaiserchronik u. Buch der Märtyrer. Inso- später wurde L. Sekretär des sächs. Ministers fern stellt die Chronik einen hybriden Text Graf Brühl. 1749 wurde er wegen krit. Äudar, der sowohl das Interesse nach einem ßerungen in Haft genommen u. aus dem »Herkommen« Schwabens u. seiner Adels- Dienst entlassen. Die letzten Lebensjahre geschlechter bedient wie auch das nach Le- verbrachte er auf einem Gut, das seine Frau bensunterweisung u. unterhaltenden Erzäh- mit in die Ehe gebracht hatte. lungen von Abenteuer u. Minne. Eine einDie Satiren, die L.s literar. Hinterlassenheitlich polit. Tendenz lässt sich kaum aus- schaft darstellen, sind in den Jahren bis zum machen, die Nähe zu den Romanen der Frü- Eintritt in die diplomatische u. polit. Sphäre hen Neuzeit ist unübersehbar. Obwohl be- entstanden. Zwar wird überliefert, dass L. reits Felix Fabri L.s Umgang mit der histor. auch später noch satir. Texte geschrieben Wahrheit verurteilt hat, behielt die Chronik habe, doch hat sich von ihnen nichts erhalten. ihren festen Platz in den schwäb. AdelschroDie meisten Satiren L.s richten sich gegen niken bis in die Frühe Neuzeit. L.s Umgang bestimmte namentlich genannte Personen, mit der histor. Wahrheit repräsentiert ein deren Anmaßung u. Dummheit er mit schokonstruktivistisches mittelalterl. Geschichts- nungsloser Schärfe dem Gelächter preisgibt. verständnis, das erst mit Einsetzen der hu- Eines der ersten Opfer war der Magister manist. Quellenkritik in Verruf geriet u. auf- Heinrich Jakob Sivers, ein Vielschreiber, der gegeben wurde. schon im Alter von 22 Jahren in die Berliner Ausgaben: Faks. der Ausg. vom 12.1.1486, mit Akademie aufgenommen worden war u. sich einem Komm. v. Peter Amelung. Lpz. 2005 u. ö. – auf seine Gelehrsamkeit viel zugute tat. Als Schwäb. Chronik. Hg. Eugen Thurnher. Bregenz Sivers höchst unzulängliche u. triviale Kom1967. mentare zur Passionsgeschichte veröffentLiteratur: Rudolf Seigel: Zur Geschichts- lichte, fühlte sich L. zu einer satir. Attacke schreibung beim schwäb. Adel in der Zeit des Hu- provoziert. Er verfasste Anmerkungen zu der manismus. In: Ztschr. für Württemberg. Landes- von Sivers geschriebenen Kläglichen Geschichte gesch. 40 (1981), S. 93–118. – Rolf Köhn: Der von der jämmerlichen Zerstöhrung der Stadt JeruBauernaufstand v. 922 bzw. 992 in T. L.s ›Schwäsalem, laut Titelblatt »nach dem Geschmacke bischer Chronik‹. In: Ztschr. für Gesch. des Oberdes (S. T.) Herrn M. Heinrich Jacob Sievers« rheins 132 (1984), S. 97–108. – Eugen Thurnher: T. L. In: VL (auch: Nachträge u. Korrekturen). – Klaus eingerichtet. Sie enthielten dann allerdings Graf: Exemplar. Gesch.n. T. L.s ›Schwäbische nichts anderes als eine Anhäufung der unChronik‹ u. die ›Gmünder Kaiserchronik‹. Mchn. glaublichsten Platitüden (Ffm., Lpz. 1732). Die Auseinandersetzung mit Sivers brachte noch zwei weitere Schriften hervor, doch

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wurde sie an Umfang u. Schärfe bald von der Kontroverse mit dem Hallenser Professor Johann Ernst Philippi übertroffen. Dessen hochtrabende, aber sprachlich u. gedanklich kümmerl. Sechs Deutsche Reden (1732) nahm L. in der Rede Briontes der Jüngere [...] (o. O. 1732) aufs Korn. Als der Angegriffene sich zur Wehr setzte, entstand eine ganze Folge satirischpolem. Schriften. Deren Höhepunkt ist Eines berühmten Medici glaubwürdiger Bericht von dem Zustande, in welchem er (S. T.) Herrn Professor Philippi den 20. Junii 1734 angetroffen (Merseburg 1734). Hier knüpft L. an eine Wirtshausrauferei Philippis an u. teilt dem Publikum dessen Tod u. den kurz zuvor ausgesprochenen Widerruf aller seiner Schriften mit. Als Philippi reklamierte, er lebe noch, ließ L. eine weitere Schrift folgen, in der es hieß, allenfalls könne noch ein Gespenst in Philippis Gestalt umgehen, aber auch dieses werde bald verschwinden u. nur »einen Gestank hinter sich lassen« (Müchler 2, S. 444). L. selbst erklärte, die Hartnäckigkeit Philippis habe ihn so erbittert, dass er ihm »den Rest« habe geben wollen (a. a. O., S. 469). Schon die Zeitgenossen nahmen an der unbarmherzigen Schärfe der persönl. Angriffe Anstoß. L. verteidigte sich damit, dass seine Schriften eine moralische Aufgabe erfüllten: »Eine Satyre ist eine Arzeney, weil sie die Besserung der Thoren zum Endzweck hat« (a. a. O., S. 194). Allerdings hat L. wohl weniger die moralische Besserung seiner Opfer angestrebt als deren demonstrative Bestrafung u. die Abschreckung Dritter. In zwei seiner besten Satiren wendet sich L. nicht gegen einzelne Personen, sondern gegen allg. Missstände u. Fehlhaltungen. In einem hochiron. Plädoyer verteidigt er Die Vortrefflichkeit und Nohtwendigkeit der elenden Scribenten (o. O. 1734. Neudr. zus. mit anderen Schriften hg. v. Jürgen Manthey. Ffm. 1968). In dem frühen Text Ueber die Unnöhtigkeit der guten Werke zur Seligkeit (postum 1803) wendet sich ein eifernder protestant. Geistlicher gegen die Meinung der Pietisten, das Seelenheil werde durch moralisches Handeln gefördert. Mit Sarkasmus wird die orthodoxe Position, es komme allein auf den rechten Glauben, nicht auf die Taten an, in ihren fragwürdigen Konsequenzen bloßgestellt.

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L.s Methode, den satirisch angegriffenen Gegner zu widerlegen, ist seiner eigenen Auskunft nach die »deductio ad absurdum« (a. a. O., S. 186). Sie besteht darin, dass die attackierten Meinungen zum Schein übernommen u. zu den unsinnigsten Folgerungen fortgetrieben werden. Diese Anlage der Satire führt zu einem amüsanten Rollenspiel u. macht die Ironie zum wichtigsten Stilmittel. L.s Nachwirkung war nicht groß. Zwar lobten ihn noch Lichtenberg u. Jean Paul, aber Goethe meldete Vorbehalte an (Dichtung und Wahrheit, 7. Buch), die spätere Literaturhistoriker stark beeinflussten. In neuerer Zeit jedoch findet L. wieder größere Aufmerksamkeit. Grund dafür sind einmal die intellektuelle Schärfe u. der ins Absurde strebende Witz, mit denen er seine Gegner abfertigte. Zum anderen versteht man seine Feldzüge gegen die »elenden Scribenten« als Beitrag zur Begründung einer auf krit. Vernunftgebrauch verpflichteten Öffentlichkeit. Weitere Werke: Vitrea fracta oder Schreiben des Ritters Robert Clifton an einen gelehrten Samojeden. Ffm./Lpz. 1732. – Der sich selbst entdeckende X. Y. Z. [...]. Lpz. 1733. – Unparteyische Untersuchung der Frage: Ob die bekannte Satyre, Briontes der Jüngere [...] mit entsetzl. Religionsspöttereyen angefüllt, u. eine strafbare Schrift sey? Lpz. 1733. – Stand- oder Antrittsrede welche der (S. T.) Herr D. Johann Ernst Philippi [...] in der Gesellsch. der kleinen Geister gehalten, samt der Ihm darauf, im Namen der ganzen löbl. Gesellsch. der kleinen Geister [...] gewordenen höfl. Antwort. o. O. 1733. Ausgaben: Slg. satyr. u. ernsthafter Schr.en. Ffm., Lpz. 1739. – Schr.en. Hg. Carl Müchler. 3 Bde., Bln. 1806. Neudr. Ffm. 1972. Literatur: Berthold Litzmann: C. L. L. in seiner literar. Laufbahn. Hbg./Lpz. 1883. – Klaus Lazarowicz: Verkehrte Welt. Vorstudien zu einer Gesch. der dt. Satire. Tüb. 1963, S. 28–71. – Marija L. Tronskaja: Die dt. Prosasatire der Aufklärung. Bln./ DDR 1969, S. 17–40. – Jürgen Brummack: Vernunft u. Aggression. Über den Satiriker L. In: DVjs 49, Sonderh. (1975), S. 118–137. – Thomas P. Saine: C. L. L. In: Dt. Dichter des 18. Jh. Hg. Benno v. Wiese. Bln. 1977, S. 62–83. – Jürgen Jacobs: ›Die Laster auf ihrer lächerlichen Seite‹. Zur Satire der dt. Frühaufklärung. In: Erforsch. der dt. Aufklärung. Hg. Peter Pütz. Königst. 1980, S. 271–288. – Uwe Hentschel: C. L. L. u. die Satire in der sich

453 entwickelnden bürgerl. Öffentlichkeit des frühen 18. Jh. In: Lessing Yearbook 36 (2004/05), S. 109–133. Jürgen Jacobs

Liselotte von der Pfalz, eigentl.: Elisabeth Charlotte Herzogin von Orléans, * 17.5.1652 Heidelberg, † 8.12.1722 Saint-Cloud bei Paris; Grabstätte: St.-Denis, Kathedrale. Die Tochter des reformierten Kurfürsten Karl Ludwig von der Pfalz u. seiner Gemahlin Charlotte, geb. Prinzessin von Hessen-Kassel, wurde seit ihrem siebten Lebensjahr von ihrer Tante, der Kurfürstin Sophie von Hannover, erzogen. Nach ihrem Übertritt zur kath. Kirche wurde sie 1671 aus polit. Gründen mit »Monsieur«, dem verwitweten Herzog Philippe von Orléans (dem sie verhasst war), einem Bruder König Ludwigs XIV., verheiratet. Ihr weiteres Leben verbrachte sie überwiegend, vielfach beneidet u. angefeindet, am frz. Hof, seit 1701 als Witwe, zeitweise in freundschaftl. Verhältnis zu Ludwig XIV. Indes konnte sie dessen unter Berufung auf sie erhobenen Ansprüchen auf pfälz. Gebiet (1685) u. den bald darauf einsetzenden Verwüstungen der Pfalz nicht entgegentreten. In den etwa 4000 von ihrer Hand erhaltenen Briefen in frz. u. dt. Sprache an Fürstlichkeiten v. a. im Deutschen Reich u. in England, u. a. an Herzog Anton Ulrich von Braunschweig-Wolfenbüttel, die Herzogin von Wales (Caroline von Brandenburg-Ansbach) – daneben zählte auch Leibniz zu ihren Adressaten –, spiegelt sich in einzigartiger Weise das galante Leben der Epoche mit all seinen Licht- u. Schattenseiten. Bes. im Briefwechsel mit ihrer Tante in Hannover suchte L. Trost. Vertrauten Umgang konnte sie in Frankreich nur mit ihrem ehemaligen Erzieher u. Hofmeister Étienne Polier (1620–1711) pflegen, den sie – selbst ohne echte Religiosität – leicht ironisch für einen »rechten heylligen« hielt (an Raugräfin Amalie, 19.1.1709). In ihren Briefen (zeitweise bis zu zehn täglich) schilderte sie derb u. anschaulich, zumeist kritisch u. häufig ungerecht den Alltag bei Hof samt allen Intrigen u. dem nicht selten äußerst banalen Klatsch. Bei den jüngeren Editionen der

Liselotte von der Pfalz

Briefe handelt es sich in der Tat um die »Erschaffung eines Forschungsinstruments« (Lefevre) zur Beschreibung der ganzen Vielfalt der die polit. Grenzen überschreitenden höf. Kultur von der Erziehung u. den Lebensgewohnheiten bei Hofe einschließlich der Pflege der Gesundheit u. des Standes der Medizin. Die Hobbys der Angehörigen des Hochadels werden anschaulich beschrieben. Die Briefe dokumentieren aber auch die Pflege anspruchsvoller Münz- u. Medaillensammlungen, die Interessen an zeitgenöss. Kunst u. Literatur sowie am Theater. Die langjährige Korrespondenz der Herzogin von Orléans mit der Kurfürstin Sophie vermittelt einen Eindruck von der Anglophilie des Hannoverschen Hofes. Das Briefkorpus bietet darüber hinaus reichhaltiges Material zur Untersuchung der dt. Sprache des späten 17. u. des beginnenen 18. Jh. – ein nicht nur unter soziolinguistischen Fragestellungen bis heute weitgehend vernachlässigtes Forschungsfeld. Mit ihrem Briefwerk hinterließ L. in dt. Sprache das wohl eindrucksvollste, wenn auch nicht immer literar. Ansprüchen genügende Panorama der hochadeligen Gesellschaft im Zeitalter des Absolutismus. Sie blieb zeitlebens der Pfalz zugetan (»Frankreich hat mich nicht polirt«), wenngleich sie Deutschland nie wieder betreten hat. Ihr Humor machte L. zu einer viel bewunderten Figur. Einer ihrer Nachkommen war König Louis Philippe, der »Bürgerkönig« (1830–1848). Briefausgaben: Briefe (1676–1722). Hg. Wilhelm Ludwig Holland. 6 Bde., Stgt./Tüb. 1879–81. Neudr. Hildesh. u. a. 1988. – Briefe. Hg. Eduard Bodemann. Hann./Lpz. 1895. – Aus den Briefen der Herzogin E. C. v. O an Étienne Polier de Bottens. Hg. S. Hellmann. Tüb. 1903. – E. C.s Briefe an Karoline v. Wales u. Anton Ulrich v. BraunschweigWolfenbüttel, besorgt u. erl. v. H. F. Helmolt. Anaberg 1909 (Neudr. der Ausg. v. 1789). – Briefe. Hg. H. F. Helmolt. 2 Bde., Lpz. 31924 (Ausw.). – Briefe. Hg. Margarete Westphal. Ebenhausen 1958. – L. v. d. P. Briefe. Mchn. 1996. – Sämtl. Briefe der E. C., duchesse d’Orléans, an die Oberhofmeisterin Anna Katharina v. Harling, geb. v. Offeln, u. deren Gemahl Christian Friedrich v. Harling, Geheimrat u. Oberstallmeister, zu Hannover, erg. durch ein

Lissauer Gesamtinventar ihrer bisher bekannten Briefe an verschiedene Empfänger. Hann. 2007. Literatur: Bibliografie: Hans Ferdinand Helmolt: Krit. Verz. der Briefe der Herzogin E. C. v. O. Lpz. 1909. – Weitere Titel: Michael Strich: L. u. Ludwig XIV. Mchn. 1912. – Ders.: L. v. Kurpfalz. Bln. 1925. – Kurpfälz. Museum der Stadt Heidelberg. Kat. zur Ausstellung L. v. d. P. Heidelb. 1952. – Mechthild Knoop: Madame L. v. d. P. Stgt. 1956. – Helmuth Kiesel: Herzogin E. C. v. O. [...]. In: Dt. Dichter des 17. Jh. Hg. Harald Steinhagen u. Benno v. Wiese. Bln. 1984, S. 752–771. – Peter Fuchs: E. C. In: NDB. – Arlette Lebigre: L. v. d. P.: Eine Biogr. Dt. v. Andrea Spingler. Düsseld. 1988. – KlausJürgen Mattheier u. Paul Valentin (Hg., zus. mit Peter Schwake): Pathos, Klatsch u. Ehrlichkeit. L. v. d. P. am Hofe des Sonnenkönigs. Tüb. 1990. – Michel Lefevre: Die Sprache der L. v. d. P.: eine sprachgeschichtl. Untersuchung der dt. Briefe (1676–1714) der Herzogin v. Orléans an ihre Tante, die Kurfürstin Sophie v. Hannover. Stgt. 1996. – Ruth Florak: Tiefsinnige Deutsche, frivole Franzosen: nat. Stereotype in dt. u. frz. Lit. Stgt. u. a. 2001. Michael Behnen

Lissauer, Ernst, * 10.12.1882 Berlin, † 10.12.1937 Wien. – Lyriker, Dramatiker u. Essayist. L. stammte aus einer traditionell assimilierten jüd. Familie. Der Vater war Seidenfabrikant. L. studierte in Leipzig u. München dt. Literaturgeschichte, bevor er sich in München als freier Schriftsteller u. Kritiker niederließ. L.s erste beiden Lyrikbände (Der Acker. Wien 1907. Der Strom. Jena 1912) zeigen schon seinen antiurbanen u. antizivilisator. Konservatismus: Erde, Mensch, Gott u. Natur werden in hymnisch-archaischer Ausdrucksweise gefeiert, die Anklänge an den expressionist. Sprachgestus zeigt; agrarischen Lebensformen wird dabei religiöser Wert zugesprochen. Sein starkes Nationalgefühl brachte ihm mit seinem Gedichtband 1813. Ein Zyklus (Jena 1913) erste Popularität, die darin kulminierte, dass man aus den in Falt-Flugblattform erscheinenden Gedichten Worte in die Zeit (Gött. 1914–16) den Haßgesang gegen England herausgriff u. ihn in die offizielle Kriegspropaganda integrierte. Als Landsturmmann eingezogen u. Herausgeber der Zeitschrift »Front«, konnte sich L. zeitlebens nicht mehr

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von diesem Makel befreien, auch wenn er nach dem Krieg versuchte, in seinen Gedichten v. a. naturreligiöse Töne anzuschlagen (Die ewigen Pfingsten. Gedichte und Gesänge. Jena 1919). L.s Dramen kreisen um histor. Persönlichkeiten u. suchen nicht weniger pathetisch als die Lyrik nach dem »Überpersönlichen«. 1924 zog er nach Döbling bei Wien, da er gerade in Österreich eine noch intakte, von »Allerweltstum« verschonte »Land- und Volksgemeinschaft« (Glück in Österreich. Essay. Ffm. 1925) vorzufinden glaubte. In der Essaysammlung Von der Sendung des Dichters (in: Kritische Schriften. Bd. 1, Jena 1922) propagiert L. ein Literaturverständnis, das das »Wesen der Dichtung« auf den emphat. Nachvollzug beschränkt. L.s letzter Lyrikband Zeitenwende, 1936 in Wien auf Subskriptionsbasis erschienen, macht durch die lyr. Intensität des nunmehr heimatlosen L. betroffen. Weitere Werke: Der brennende Tag. Jena 1916 (L.). – Bach. Idyllen u. Mythen. Jena 1916 (L.). – Der inwendige Weg. Neue Gedichte. Jena 1920. – Gloria Anton Bruckners. Stgt. 1921 (L. u. Ess.). – Eckermann. Bln. 1921 (D.). – Yorck. Bln. 1921 (D.). – Die drei Gesichte. Drei Einakter (Die Anfechtung. Die Abrechnung. Casanova in Dux). Stgt. 1922. – Festl. Werktag. Stgt. 1922 (Ess.). – Flammen u. Winde. Neue Gedichte u. Gesänge. Stgt. 1923 (L.). – Krit. Schr.en. Bd. 2: Über Lyrik u. Lyriker, Jena 1923 (Ess.). – Gewalt. Stgt. 1925 (Kom.). – Das Weib des Jephta. Bln. 1928 (D.). – Die dritte Tafel. Bln. 1928 (Legenden). – Luther u. Thomas Müntzer. Bln. 1929. – Der Weg des Gewaltigen. Chemnitz 1931 (D.). – Die Steine reden. Wien 1936 (D.). Literatur: Guido K. Brand: E. L. Stgt. 1923. – Albert Soergel: Dichtung u. Dichter der Zeit. N. F.: Im Banne des Expressionismus. Lpz. 1926, S. 402–415. – Thomas Anz u. Joseph Vogl (Hg.): Die Dichter u. der Krieg. Dt. Lyrik 1914/18. Mchn. 1982. – Hermann Schlösser: E. L. oder die Liebe zum Organ. Über einen Berliner Dichter u. sein ›Glück in Österr.‹. In: Wien-Berlin. Hg. Bernhard Fetz u. ders. Wien 2001, S. 32–44. – Elisabeth Albanis: German-Jewish Cultural Identity from 1900 to the Aftermath of the First World War. A Comparative Study of Moritz Goldstein, Julius Bab and E. L. Tüb. 2002. – Rainer Brändle: Am wilden Zeitenpaß. Motive u. Themen im Werk des dt.-jüd. Dichters E. L. Mit einem Vorw. v. Guy Stern. Ffm. u. a. 2002. Oliver Riedel / Red.

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List, Friedrich, * 6.8.1789 Reutlingen, † 30.11.1846 Kufstein; Grabstätte: ebd. – Nationalökonom u. Publizist. Der Sohn einer wohlhabenden Weißgerberfamilie trat 14-jährig in den väterl. Betrieb ein, wechselte aber 1805 als Schreiber in den württembergischen Staatsdienst. 1808 bestand L. das Substitutenexamen; seine Tätigkeit führte ihn 1811 an das Oberamt nach Tübingen, wo er nebenher an der Universität Rechts- u. Kameralwissenschaften hörte. L. legte indes kein Universitätsexamen ab, sondern unterzog sich 1814 der Aktuarsprüfung. 1816 wurde er als Rechnungsrat verbeamtet. An Württembergs Umbruch zum modernen Verfassungsstaat nahm er u. a. als Mitherausgeber des »Württembergischen Archivs« regen Anteil, konzentrierte sich jedoch von Anfang an auf wirtschaftl. Fragen. Während der kurzen Ägide liberalen Einflusses auf Wilhelm I. wurde L. 1817 Professor der Staatswissenschaft an der neu gegründeten staatswirtschaftl. Fakultät der Landesuniversität Tübingen. Aber der Praktiker L. fand im Dasein des Universitätsgelehrten keine Befriedigung. Im »Volksfreund aus Schwaben« wandte er sich an die Öffentlichkeit, verfasste 1819 eine Bittschrift an den Deutschen Bund, die die Aufhebung der Zollgrenzen forderte, u. war Mitbegründer des Deutschen Handelsu. Gewerbevereins, dessen Zeitschrift er redigierte. Damit geriet L. in Opposition zur mittlerweile konservativen Stuttgarter Regierung. Er gab seine Professur auf u. begann als liberaler Abgeordneter seiner Heimatstadt eine parlamentar. Karriere, die mit einem verfassungspolit. Eklat endete. Die Zweite Kammer des Landtags schloss L. auf Druck der Regierung wegen seiner aggressiven Kritik an der Beamtenschaft aus. Er wurde zu zehn Monaten Festungshaft verurteilt, nach kurzer Flucht nach Frankreich auf dem Hohenasperg inhaftiert, u. schließlich gegen die Zusage, nach Amerika auszuwandern, vorzeitig entlassen. Dort erwarb L. 1825 eine Farm, schrieb für eine dt. Zeitung u. propagierte 1827 in seinen Outlines of American Political Economy Schutzzölle für die US-Industrie. Gewinne beim Abbau von ihm entdeckter Kohlevorkommen besserten L.s finanzi-

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elle Lage. 1830 wurde er Staatsbürger der USA, kehrte jedoch 1832, als amerikan. Konsul mit diplomatischer Immunität ausgestattet, endgültig nach Europa zurück. Seine amerikan. Erfahrungen nutzend, wurde L. nun zum rastlosen Propagandisten eines umfassenden Eisenbahnnetzes. Er sah darin das verkehrstechn. Korrelat des Zollvereins, das die Produktivität der Volkswirtschaft steigern u. den politisch so wichtigen nationalen Wirtschaftsraum schaffen würde. 1833 erschien in Leipzig seine berühmte Denkschrift Über ein sächsisches Eisenbahnsystem als Grundlage eines allgemeinen deutschen Eisenbahnsystems. 1835–1837 gab L. das »Eisenbahnjournal und National-Magazin für die Fortschritte in Handel, Gewerbe und Ackerbau« heraus. 1837 siedelte er, mittlerweile in Geldnot, nach Paris um, wo er seinen Lebensunterhalt als Korrespondent v. a. der »Allgemeinen Zeitung« bestritt u. seine ökonom. Ideen im Zusammenhang entwickelte. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland erschien L.s Hauptwerk Das Nationale System der Politischen Ökonomie (Stgt. 1841), das auf große Resonanz stieß. Von 1843 an machte er das »Zollvereinsblatt« zu seinem Forum u. propagierte seine Ideen rastlos auf Reisen nach Belgien, Österreich, Ungarn u. England. Eine schnelle polit. Umsetzung blieb jedoch aus, wie sich auch die Hoffnung auf ein Staatsamt in Bayern oder Österreich zerschlug. Erschöpft u. enttäuscht, nahm sich der unermüdliche publizist. Lobbyist der jungen dt. Industrie das Leben. L.s Beitrag zur Entwicklung der Nationalökonomie u. des Liberalismus basierte auf der Einsicht, dass die Prinzipien von Laisser-faire u. Freihandel nur bei entwicklungsgeschichtl. Gleichstand der beteiligten Gesellschaften segensreich wirken würden. Ungleichheiten im Weltwirtschaftssystem hingegen müssten letztlich auch dem Nutznießer schaden. Im Geist der Reformbürokratie, aus der er kam, forderte L. deshalb, dass der Staat Entwicklungsrückstände durch die Förderung der produktiven Kräfte der Gesellschaft, etwa durch »Erziehungszölle«, ausgleichen müsse.

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Ausgabe: Schr.en, Reden, Briefe. Hg. Erwin v. Beckerath u. a. 10 Bde., Bln. 1927–35. Neudr. Aalen 1971. Literatur: Paul Gehring: F. L. Jugend- u. Reifejahre 1789–1825. Tüb. 1964. – Walter Braeuer: F. L. In: NDB. – William O. Henderson: F. L.: der erste Visionär eines vereinten Europa. Reutl. 1989. – Herrmann Bausinger (Hg.): Beiträge zum 150. Todestag v. F. L. Reutlingen 1996. – Goedeke Forts. Günther Lottes / Red.

List, Guido von, * 5.10.1848 Wien, † 21.5. 1919 Berlin. – Literat u. Publizist.

(Walkürenweihe. Brünn 1895), Novellen (Alraunenmären. Wien 1903), Dramen (u. a. Der Wala Erweckung. Ein skaldisches Weihespiel. Wien 1895. Ostaras Einzug. Wien 1896) u. histor. Publizistik (Der Wiederaufbau von Carnuntum. Wien 1900). L.s mythografische Phantasmagorien (Das Geheimnis der Runen. Wien 1905. Die Armanenschaft des Ario-Germanen. Wien u. a. 1908) dagegen schöpfen aus dem »Erberinnern der Echtblütigen«: Wissenschaftlich rasch geächtet, propagiert L. hier mit »deutschtümelnde[m] Gallimathias« (Rudolf Much) die Dechiffrierung von Runenbotschaften german. Esoteriker (Armanen) in Landschaftsnamen, Profanarchitektur oder Domornamentik zur Befreiung aus den Fängen jüdisch beherrschter »Anarier«.

L. enstammte einer Kaufmannsfamilie u. wurde vom Vater frühzeitig zum Geschäftsnachfolger bestimmt. Nebenberuflich widmete sich der zeitlebens in Wien ansässige L. histor. u. künstlerischen Studien. Auch Literatur: Valerie Hanus: L. In: ÖBL. – NichoGründung u. Leitung der Privatbühne »Wal- las Goodrick-Clarke: The occult roots of Nazism. halla« (1868–1870), Sekretärs- u. Redak- Wellingborough 1985 (dt. 1997). – Günter Wackteurstätigkeit beim Österreichischen Alpen- witz: Das Werk G. v. L. u. Jörg Lanz’ v. Liebenfels u. verein (ab 1870) u. weite Reisen durch ganz der dt. Faschismus. In: Traditionen u. TraditionsEuropa (ab 1872) vermochte der Vater nicht suche des dt. Faschismus. Hg. Günter Hartung. Halle/S. 1987, S. 138–148 (Werke u. Lit.). – Rüdiger zu verhindern. Erst dessen Tod (1877) erSünner: Schwarze Sonne. Entfesselung u. Missmöglichte L. die Existenz als freier Schrift- brauch der Mythen in NS u. rechter Esoterik. Freib. steller. Historische Romane u. Dramen zu i. Br. 32001. Adrian Hummel / Red. Mythos u. Geschichte der german. Vorzeit erhoben ihn rasch in den Rang einer Wiener Lokalgröße; ein v. a. aus Autorinnen besteLiszt, Franz, * 22.10.1811 Raiding bei hender Literaturzirkel (u. a. Jenny DirnböckÖdenburg (Sopron), † 31.7.1886 BaySchulz) versammelte sich um den als charisreuth; Grabstätte: ebd., Stadtfriedhof. – matisch beschriebenen L. Eine vorübergeKomponist, Pianist u. Dirigent; Verfasser hende Erblindung (1903) ließ ihn die kunsttheoretischer Schriften. Schriftstellerei mit mythografischer Publizistik vertauschen: Neuerlich erfolgreich, Als Pianist schon in jungen Jahren als einer stilisierte er sich zum visionären Seher u. der führenden Musiker seiner Zeit anerkannt, adeligen Eingeweihten urgerman. Arkanwis- trat L. seit 1835 auch als Autor an die Öfsens. Eine Guido-von-List-Gesellschaft be- fentlichkeit. Wandten sich seine frühen Esmühte sich (seit 1905) ebenso um das Erbe des says De la situation des artistes (in: Gazette »Meisters« wie die 1911 gegründete Ge- musicale 2, 1835) u. die Reisebriefe Lettre d’un heimloge »Hoher Armanen Orden«. Von ihr voyageur u. Lettres d’un bachelier ès-musique (in: führen direkte Verbindungslinien zur Hitler- Revue et Gazette musicale 2, 1835; 4–8, Bewegung. 1837–41) an das frz. Publikum, so rückte seit L.s Geschichtsromane (u. a. Carnuntum. 2 1848, nachdem er sich in Weimar als HofkaBde., Bln. 1888. Pipara, die Germanin im Cäsa- pellmeister »in außerordentlichem Dienst« renpurpur. 2 Bde., Lpz. 1895) sind den Vor- niedergelassen hatte, die dt. Kultur in den bildern Scheffels, Dahns u. Freytags ver- Mittelpunkt seines Interesses. Seine Weimapflichtet. Großsprecherische Heldenattitüde, rer Schriften, die er unter Mitarbeit der pseudobarocke Diktion, antikath. Ressenti- Fürstin Carolyne Sayn-Wittgenstein in frz. ments, deutschösterr. Patriotismus u. Ger- Sprache abfasste u. großenteils von Peter manenseligkeit kennzeichnen aber auch Epos Cornelius, ferner u. a. von Hans von Bülow,

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Ausgaben: Ges. Schr.en. 6 Bde. in 7 Tln., Lpz. Richard Pohl u. Karl Ritter ins Deutsche übersetzen ließ, sind im Kontext seiner Be- 1880–83. – Sämtl. Schr.en. Hg. Detlef Altenburg. 9 strebungen zu sehen, das Erbe der Weimarer Bde., Wiesb. 1989 ff. Literatur: Peter Raabe: F. L. 2 Bde., Tutzing Klassik anzutreten u. die Stadt zu einer neuen 2 1968. – Wolfgang Dömling: F. L. u. seine Zeit. Blüte der Kunst zu führen. Sie trugen entscheidend zur Stellung Weimars als Zentrum Laaber 1985. – Detlef Altenburg: Die Schr.en v. F. L. In: FS Arno Forchert. Kassel 1986, S. 242–251. – der musikal. »Fortschrittspartei« bei, die seit Ders.: L. u. Die Weimarer Klassik. Laaber 1997. – 1859 offiziell als »Neudeutsche Schule« be- Mária Eckhardt u. Evelyn Liepsch: F. L.s Weimarer zeichnet wurde. Mit De la Fondation-Goethe à Bibl. Laaber 1999. – Kenneth Hamilton (Hg.): The Weimar (Lpz. 1851. Dt. Kassel 1855) legte L. Cambridge Companion to F. L. Cambridge 2005. – einen eigenen, Literatur, Malerei, Skulptur u. Markus Gärtner: Eduard Hanslick versus F. L. AsMusik einbeziehenden Plan zur Gründung pekte einer grundlegenden Kontroverse. Hildesh. einer Goethe-Stiftung vor, die von ihm als dt. 2005. – D. Altenburg (Hg.): F. L. u. Europa. Laaber Nationalstiftung der Kunst konzipiert war. 2008. Detlef Altenburg / Red. Die Schriften über Richard Wagners Tannhäuser u. Lohengrin, zunächst als Feuilletons, Litanei ! Heinrich dann in erweiterter Form als Buch u. d. T. Lohengrin et Tannhaüser de Richard Wagner (Lpz. Litt, Theodor, * 27.12.1880 Düsseldorf, 1851. Dt. Köln 1852) veröffentlicht, entstan† 16.7.1962 Bonn. – Pädagoge u. Philoden im Zusammenhang mit L.s viel beachtesoph. ten Aufführungen dieser Werke in Weimar u. gewannen für die Wagner-Rezeption der Zeit Der Sohn eines Gymnasialprofessors wirkte zentrale Bedeutung. Die dem Andenken des bis 1918 als Gymnasiallehrer in Bonn u. Köln. 1849 verstorbenen Freundes gewidmete Mo- Seit 1920 als Nachfolger Eduard Sprangers nografie F. Chopin (Paris, Lpz., Brüssel 1852), Ordinarius in Leipzig (Rektor 1931/32), gab die sich ganz bewusst an ein großes Publikum L. nach konservativ begründeter Kritik an der wendet, erfuhr in Nachdrucken u. Überset- NS-Kulturpolitik (Die Stellung der Geisteswiszungen schon früh internat. Verbreitung. senschaften im nationalsozialistischen Staate. Lpz. Einen Einblick in L.s differenzierte Refle- 1933) 1937 seine Ämter auf. 1945 kehrte er xion über die Gattung u. die Institution Oper auf seinen Lehrstuhl zurück, um nach zwei vermitteln die 1854 in der »Neuen Zeitschrift Jahren einen Ruf nach Bonn anzunehmen; für Musik« erschienenen Essays (Buchausg. 1952 wurde er Mitgl. des Ordens Pour le u. d. T. Dramaturgische Blätter. In: Gesammelte mérite. Schriften. Bd. 3, Lpz. 1881). In Abgrenzung Grundlegend für L.s Wissenschaftsauffaszum Absolutheitsanspruch der Wagner’schen sung, zu der er in Auseinandersetzung mit Idee des musikal. Dramas entwickelte L. in Dilthey u. dem Neukantianismus gelangte, den Aufsätzen Robert Schumann (in: Neue war der Gegensatz von Erkenntnis u. Leben, Zeitschrift für Musik 42, 1855) u. Berlioz und den er durch die »Gesamtanschauung« deuseine Harold-Symphonie (ebd. 43, 1855) seine tender Ideen zu einer »organischen Einheit« Theorie der Programmusik u. bereitete damit zu bringen suchte. Erziehungstheorie war die Publikation seiner Symphonischen Dich- nach L., dem »Oberlehrer der Pädagogik« tungen u. Symphonien vor. Sein Buch Des (Georg Kerschensteiner), keine Wissenschaft, Bohémiens et de leur musique en Hongrie (Paris sondern ein »geistiges Gesamtverhalten« zur 1859. Dt. Budapest 1861), von ihm zunächst »Übertragung ideeller Gehalte von Mensch als eine Art Nachwort zu seinen Ungarischen zu Mensch« (Das Wesen der Pädagogik. [1921]. Rhapsodien gedacht, wurde von den Zeitge- Vollst. abgedr. in: Pädagogik als Wissenschaft. nossen, v. a. in Ungarn, als Versuch einer wiss. Hg. Friedhelm Nicolin. Darmst. 1969. Abhandlung über die ungarische Volksmusik S. 268 ff.). Neben Herman Nohl, Wilhelm missverstanden u. heftig kritisiert. Flitner u. Spranger war L. der Hauptvertreter der geisteswiss. Pädagogik (Eine Neugestaltung der Pädagogik. [1918]. Wiederabgedr. in: Päd-

Littrow

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agogik und Kultur. Bad Heilbrunn 1965. Ursula Kerkhoff: Die Anthropologie T. L.s u. Viktor S. 7 ff.). Seine Rede auf der Weimarer Tagung E. Frankls. Eine vergleichende Untersuchung ihrer des Deutschen Ausschusses für Erziehung u. Werke. Diss. Düsseld. 2003. – Wolfgang K. Schulz: Unterricht 1926 markierte das Ende des Re- Untersuchungen zu Leipziger Vorlesungen v. T. L. Würzb. 2004. – Thomas Gatzemann u. Anja-Silvia formeifers der pädagog. Bewegung nach 1918 Göing (Hg.): Geisteswiss. Pädagogik, Krieg u. NS. (Möglichkeiten und Grenzen der Pädagogik. Lpz. Krit. Fragen nach der Verbindung v. Pädagogik, 2 1926. 1931). Immer wieder befasste sich L. Politik u. Militär. Ffm. u. a. 2004. – Festschriften: mit dem Verhältnis von Bildung, individuel- Geist u. Erziehung. Bonn 1955 (mit Bibliogr. ler Fachausbildung u. moderner Arbeitswelt. S. 189–244). – Erkenntnis u. Verantwortung. DüsHier fand er, gestützt auf eine spezif. An- seld. 1960 (mit Bibliogr. S. 473–483). thropologie (Mensch und Welt. Mchn. 1948. Michael Behnen / Red. Heidelb. 21961), zu Aussagen, die von der Kritischen Erziehungswissenschaft Wolfgang Klafkis u. von Verfechtern einer neuen polit. Littrow, Heinrich von, * 26.1.1820 Wien, Bildung in den 1960er Jahren aufgegriffen † 24.4.1895 Abbazia/Opatija (Kroatien). – wurden. Weitere Werke: Gesch. u. Leben. Lpz. 1918. Erw. 1925. – Erkenntnis u. Leben. Lpz. 1923. – Ethik der Neuzeit. Mchn. 1926. Neudr. 1968. – ›Führen‹ oder ›Wachsenlassen‹. Lpz. 1927. Stgt. 13 1976. – Einl. in die Philosophie. Lpz. 1933. Stgt. 2 1949. – Das Allgemeine im Aufbau der geisteswiss. Erkenntnis. Lpz. 1941. Neudr. Hbg. 1980 (mit Bibliogr.). – Naturwiss. u. Menschenbildung. Heidelb. 1952. 51968. – Das Bildungsideal der dt. Klassik u. die moderne Arbeitswelt. Bochum 1962. Darmst. 2003. – Techn. Denken u. menschl. Bildung. Heidelb. 1957. 31964. – Pädagog. Schr.en. Eine Ausw. ab 1927. Hg. Albert Reble. Bad Heilbrunn 1995. Literatur: Albert Reble: T. L. Stgt. 1950. – Rudolf Lassahn: Das Selbstverständnis der Pädagogik T. L.s. Ratingen 1968. – Ursula Bracht: Zum Problem der Menschenbildung bei T. L. Bad Heilbrunn 1973. – Wolfgang Klafki: Die Pädagogik T. L.s. Königst./Ts. 1982 (mit Werkverz.). – Friedhelm Nicolin u. a. (Hg.): T. L. Analyse zu seinem Werk. Bonn 1982. – Wolfgang K. Schulz: Untersuchungen zur Kulturtheorie T. L.s. Neue Zugänge zu seinem Werk. Weinheim 1990. – Winfried Seibert: Die Bedeutung des Nicht-Begrifflichen im konstruktivist. Paradigma u. seine L.’sche Rettung. Aachen 1993. – Peter Gutjahr-Löser (Hg.): Der Philosoph u. Pädagoge T. L. in Lpz. 1920–48. Lpz. 1993. – A. Reble: T. L. Eine einführende Überschau. Bad Heilbrunn 1995. 1996. – Herwig Heinrich Schulz-Gade: Dialekt. Denken in der Pädagogik T. L.s, dargestellt an ausgew. Beispielen. Würzb. 1996. – Wolfgang M. Schwiedrzik: Lieber will ich Steine klopfen. Der Philosoph u. Pädagoge T. L. in Lpz. (1933–47). Lpz. 1996/97. – T.-L.-Jb. Hg. T.-L.Forschungsstelle der Univ. Lpz. 1999 ff. – Holger Burckhart (Hg.): Das Bildungsideal der dt. Klassik u. die moderne Arbeitswelt. T. L. Darmst. 2003. –

Marineoffizier, Astronom; Schriftsteller u. Poet.

L. entstammte einer einst im balt. Livland ansässigen Familie (früherer Name: Lytroff), die aufgrund der Kriegswirren u. einer verheerenden Feuersbrunst zum Auswandern gezwungen war. Im westböhm. Städtchen Bischofteinitz (heute: Horsovsky-Tyn) fanden die Vertriebenen eine neue Bleibe; dort wurde L.s Vater geboren. Neuer Zufluchtsort war Wien, wo die dortige Sternwarte unter die Direktion von L.s Vater kam. Von den 13 Söhnen überlebten nur drei: Karl wurde Astronom, Franz ging zum Militär, Heinrich wurde Marineoffizier. An der Nautischen Akademie in Triest lehrte L. Astronomie. Als Hafenkapitän von Fiume/Rijeka konnte er seine Fremdsprachenkenntnisse (Italienisch, Französisch, Englisch) gut nutzen. Für die österr.-ungar. Nordpolar-Expedition, die zur Entdeckung des Franz-Joseph-Landes führte (1872–1874), half er bei der Auswahl der dalmatin. Matrosen (Expeditionsschiff Admiral Tegetthoff). Originell ist L.s anonym veröffentlichte poet. Schrift Von Wien [...] nach Triest – Eisenbahnlektüre in gemüthlichen Reimen (1863. Wien 4 1883), in der die Südbahnstrecke als große europ. Gebirgsbahn von Station zu Station beschrieben wird. Die meisten seiner anderen Schriften, darunter viele Gedichte, beziehen sich auf das Meer u. seine Landschaften. Daneben verfasste L. zahlreiche Handbücher u. Nachschlagewerke zur Seefahrt (Handbuch der Seemannschaft. Wien 1859).

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L. fand sein letztes Refugium auf der heute zum Großteil zu Kroatien gehörenden Halbinsel Istrien. Am Uferweg zwischen Rijeka/ Fiume u. Opatija/Abbazia prangt seit wenigen Jahren wieder eine Gedenktafel mit L.s Porträt. In der »Villa Rusticana«, oberhalb der Landstraße gelegen, verbrachte L. ab 1891 seine letzten Lebensjahre. Sein Grab in Rijeka/Fiume wurde 1974 aufgelassen. Der Nachlass L.s in der Wiener Bibliothek im Rathaus enthält eine große Anzahl persönlicher Briefe. Weitere Werke: Möven. Ges. Gedichte. Triest 1849. – Aus der See. Triest 31858. 41876 (G.e). – Seemänn. Gespräche. Ital., frz., engl. u. dt., zum Gebrauche für naut. Schulen u. für das prakt. Seeleben. Wien 1861. Literatur: Goedeke Forts. Erwin Schatz

Livländische Reimchronik. – Deutschordenschronik vom Ende des 13. Jh. Die 12.017 Verse umfassende, nur in Handschriften des 14. u. 15. Jh. schmal überlieferte erste große Deutschordenschronik – zgl. erste deutschsprachige Dichtung Livlands – wurde wohl kurz nach 1290 abgeschlossen. Autor war vermutlich ein aus Ostmitteldeutschland stammender Ritterbruder des Deutschen Ordens, der 1279 nach Livland kam, selbst an den wesentlichen militär. Aktionen beteiligt war u. wohl auch Kurland aus eigener Anschauung kannte. Der Geschichtsforschung gilt die L. R. für die Zeit nach 1227 – dem Jahr, mit dem die lat. Chronik Heinrichs von Lettland endet – als die wichtigste literar. Quelle, zumal urkundl. Zeugnisse für diesen Zeitraum spärlich sind. Obgleich der Autor darüber berichten will, »wie der cristentûm ist komen zû Nieflant«, geht es ihm weniger um die zunächst friedl. Mission durch den Augustinerchorherrn Bischof Meinhard († 1196), sondern fast ausschließlich um die Schwertmission, also nicht um livländ. Geschichte, sondern um Ordensgeschichte am Beispiel Livlands. Im Zentrum der Darstellung steht die militär. Rolle des Ordens beim Ausbau der Territorialherrschaft mit den Kämpfen gegen Liven, Letten, Kuren u. Litauer; unterschlagen wird die Rolle der bürgerl. Ansiedler. Dabei wird die

Livländische Reimchronik

Zeit bis zur Gründung des Schwertbrüderordens 1202 durch Bischof Albert als (knapper dargestellte) Vorgeschichte dieser Entwicklung verstanden, während sich der weitere Verlauf durch zwei Ereignisse – Inkorporierung des Schwertbrüderordens in den Deutschen Orden 1237, Niederwerfung der Kuren 1267 – gliedert. Der Sieg über die mit den Litauern verbündeten Semgaller 1290 ist zgl. Schluss- u. Höhepunkt der Chronik. Unentschieden bleibt die Frage der von der L. R. benutzten Quellen. Hermanns von Wartberge Chronik oder dessen Vorlage, Urkunden u. chronikal. Notizen des Ordens sowie mündl. Überlieferungen wurden vermutet. Sicher steht im Hintergrund des stark formelhaften Stils auch die Tradition der Heldenepik, u. möglicherweise hat Wolframs Willehalm die Stilisierung der typologisch auf das AT bezogenen Kämpfe der Ordensritter als Heidenkämpfe bestimmt. Diesem Aspekt schließt sich die Gebrauchsfunktion der Chronik an, die – wie die alttestamentl. Bibeldichtung des Ordens, etwa Hester u. Makkabäer – während der Tischlesung im Ordenskonvent zur ideolog. Begründung der als Heidenkampf verstandenen Militäraktionen der Ordensritter benutzt wurde. Ausgaben: L. R. Hg. Franz Pfeiffer. Stgt. 1844. Neudr. Amsterd. 1969. – L. R. Hg. Leo Meyer. Paderb. 1876. Neudr. 1963. – Atskan¸u hronika. Dt. u. lett. Text. Übers. v. Valdis Bisenieks, komm. v. E¯valds Mugure¯vicˇs u. a. Zina¯tne/Riga 1998. – Liivimaa vanem riimkroonika. Übers. u. komm. v. Urmas Eelmäe, wiss. Bearbeiter Enn Tarvel. Tallinn 2003. Literatur: Leo Meyer: Über die L. R. In: Balt. Monatsschr. 21 (1872), S. 353–381. – Ders.: Zur L. R. In: ZfdPh 4 (1872/73), S. 407–444, 483 f. – Leonid Arbusow: Die mittelalterl. Schriftüberlieferung als Quelle für die Frühgesch. der ostbalt. Länder. In: Balt. Lande 1 (1939), S. 167–203, 496. – Karl Helm u. Walther Ziesemer: Die Lit. des Dt. Ritterordens. Gießen 1951, S. 147–149. – Lutz Mackensen: Zur dt. Lit. Altlivlands. Würzb. 1961, S. 21–58. – Udo Arnold: L. R. In: VL. – Otto J. Zitzelsberger: The Heidelberg Version of a Textual Portion Otherwise Lost from the Livonian Rhymed Chronicle. In: American Journal of Germanic Linguistics and Literatures 3,1 (1991), S. 57–96. – Hartmut Kugler: Über die L. R. Text, Gedächtnis u. Topographie. In: Jb. der Brüder-Grimm-Gesellsch. 2

Loacker (1992), S. 85–104. – Rasma Ilga Lazda-Cazers: Die L. R. Problem u. Hintergründe der literar. Gattung. Ann Arbor 1996. Norbert H. Ott / Red.

Loacker, Norbert, * 22.7.1939 Altach/Vorarlberg. – Erzähler, Lyriker, Hörspielautor, Essayist.

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Essay Zivilisation als menschliche Leistung verfasste. Er postuliert darin Humanismus als Grundbedingung der Freiheit u. setzt sich für rational-tolerante Formen des Zusammenlebens ein: Zivilisation als Prävention der Gewalt; fortgeführt mit gesellschaftskrit. Unterton in den Essaybänden Idealismus. Versuch einer Verhaltensstörung (Solothurn 1993) u. Der Vollkommenheitswahn (Zürich 2006). L. erhielt 1984 u. 1995 die Ehrengabe für Literatur der Stadt Zürich.

Seit dem Studienabschluss 1965 in Wien (Philosophie, Geschichte u. Klassische Philologie) arbeitete L. bis 2004 in Zürich als Gymnasiallehrer. In seinen utop. Romanen u. Weitere Werke: Hörspiele: Harry Mosers Friede. Hörspielen, die Stoffe der Weltliteratur für DRS Bern/ORF/SFB 1985. – Kognak zum Frühdie Gegenwart umdeuten, untersucht er bes. stück. ORF 1985. – Come back Dracula. DRS Bern die Eigendynamik sozialer Systeme, die den 1986. – Die Baumeister. DRS Bern 1988. – Weitere Menschen zunehmend fremdbestimmen, u. Titel: (Hg.) Das hat keine Wirklichkeit. Robert die Chancen des Einzelnen, diese Strukturen Walser: Gesch.n. Zürich 1966. – Wo Zürich zur Ruhe kommt. Die Friedhöfe der Stadt Zürich. Züzu überwinden. Aipotu (Mchn. 1980), die rich 1998. – Gute Berge, böse Berge. In: Austern im Umkehrung der Utopia des Thomas Morus, Schnee u. andere Sommergesch.n. Hg. Daniela Egschildert ein Experiment: ein Leben ohne ger. Hohenems/Wien 2008, S. 135–168. – Der VorAbhängigkeiten u. materielle Not, völlige lass L.s (inkl. seiner Mss.) befindet sich im FranzGleichstellung für acht Versuchspersonen auf Michael-Felder-Archiv der Vorarlberger Landeseiner fantast. Meeresfähre. Diese optimale bibl. techn. Befriedigung aller Bedürfnisse verLiteratur: Ulrike Längle: Auf der Suche nach schafft ihnen aber auf Dauer keine Selbst- Identität. In: Vierteljahresschr. für Gesch. u. Geverwirklichung u. kein Glück: Es fehlt die genwart Vorarlbergs, 37. Jg. (1985), H. 4, Hoffnung als Triebfeder der Existenz; so S. 381–390. – Peter K. Wehrli: Das Rot der Rose. In: kommt es zu neuen Abhängigkeiten u. Un- Orte, H. 97 (1996), S. 47–49. Stephan Füssel terdrückungsmechanismen. Die Vertreibung der Dämonen (Mchn. 1984) Lob Salomons. – Geistliches Gedicht, zeigt das Florenz des 13. Jh. als totalitäres entstanden erste Hälfte des 12. Jh. im Staatswesen mit modernen Institutionen. Der rheinfränkisch-mitteldeutschen Raum. Dichter Dante u. seine »Geliebte« Beatrice suchen gemeinsam den Ausweg in die Frei- Das Gedicht (258 Verse) erzählt, wie Gott Saheit u. die verlorenen Optionen auf Verän- lomon die Wahl zwischen Reichtum u. derung, »In jedem von uns liegt ein fahrbe- Weisheit freigibt. Salomon wählt die Letztere reites Boot – man muß nur die Ketten lösen«, u. wird von Gott reichlich belohnt. Er volllässt er Beatrice sagen. Mit Boccaccio wird die endet den von seinem Vater David begonneVita Nuova Dantes als Verheißung eines nen Prachtbau des Tempels zu Jerusalem. Ein »neuen Lebens« interpretiert. Die Hoffnung Drache, den Salomon mit List überwindet, auf Abwendung epochaler Katastrophen be- gibt das Wissen von einem Tier preis, aus dem stimmt auch L.s Hörspiele, u. a. Der Baumeister eine steinschneidende Schnur zu gewinnen (1988). In Maddalenas Musik (Solothurn 1995), sei. Mit ihrer Hilfe wird der Bau auf wunzunächst als Baustopp in Babylon angekündigt, derbare Weise ohne ein eisernes Werkzeug durchläuft der amerikan. Protagonist Dave vollendet. Die Schilderung des Tempels u. Grimmer in einem 190-seitigen Monolog in seiner Ausstattung u. die der Herrlichkeit von seinem ital. Exilort Aliena (sic) einen schwie- Salomons Hofhaltung zeigen dessen Größe. rigen Prozess der Identitätsfindung. Zum Beweis für sie dient auch die Erzählung L. war 1981–1985 Herausgeber des geiste- vom Besuch der Königin von Saba, die geswiss. Teils der Enzyklopädie Der Mensch kommen ist, um sich von der Wahrheit alles (Zürich), für die er auch den programmat. Wunderbaren zu überzeugen, das von Salo-

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Lobe

mon erzählt wird. Eine kurze geistl. Ausle- S. In: FS Frederic Norman. London 1965, S. 46–59. gung deutet den Inhalt des Gedichts: Salo- – Werner Schröder: Zur Form des L. S. genannten mon bedeutet Gott; die Königin von Saba ist frühmhd. Gedichts. Marburg 1971. Wieder in: das Bild der Kirche als Gottesbraut; die Ge- Ders.: Frühe Schr.en zur ältesten dt. Lit. Stgt. 1999, S. 105–144. – Ders.: L. S. In: VL. – Peter Knotz: folgsleute Salomons sind die Bischöfe, die Erzählung, Belehrung, Überzeugung. Die Formen ihre Aufgabe in Gottesdienst u. Belehrung der Heilsverinnerlichung in frühmhd. religiöser der Gläubigen erfüllen. Am Schluss des Ge- Dichtung dargestellt an fünf kleineren Denkmälern dichts stehen der Preis von Salomons Frie- der Vorauer Hs. Wien, Phil. Diss. 1989. – Haug/ densherrschaft u. das Gebet um geistl. Teil- Vollmann 1991 (s. o.), S. 1482–1490 (Komm., Lit.). nahme an seinem Hofdienst als Vorleistung Ernst Hellgardt / Red. für die Schau des Herrn im himml. Jerusalem. Das Gedicht durchdringt seinen geistl. Lobe, Jochen, Joachim, * 14.8.1937 Ratibor Stoff in der Gestaltung von Erzählmotiven u. (Racibórz)/Oberschlesien. – Lyriker, EsHandlungsformeln ebenso wie im Gebrauch sayist, Prosaautor. eines Vorrats von Sprachformeln im Sinne L. lebte nach der Flucht aus Schlesien (1945) jener Tradition, welche in der späteren Helin Bayreuth u. Hof, studierte Germanistik, den- u. Spielmannsepik fassbar wird. Die Geschichte u. Geografie in Erlangen u. Drachensage aus talmudischer Tradition, die Frankfurt/M. u. war von 1968 bis 2000 Lehrer sich metrisch u. stilistisch vom Umgebenden am Gymnasium Christian-Ernestinum in abhebt, ist als konzeptionell integrierte In- Bayreuth. 1969–1975 leitete er das Literariterpolation eines dem Autor vorgegebenen sche Forum in Bayreuth. Seine erste literar. Gedichts anzusehen, das seiner eigenen Er- Arbeit (Textaufgaben. Hof 1970) ist geprägt zählkonzeption vollkommen entsprach. Die von sprachexperimentellen Ansätzen, u. a. nicht seltenen lat. Wendungen des Textes, die von dem Prinzip Montage. Essayistisch setzte geistl. Allegorese u. das souveräne, wenn auch er sich 1972 mit polit. Nachkriegslyrik auswohl quellenmäßig vorgegebene Verfügen einander (Spiegelungen des politischen Bewußtüber verschiedene bibl. u. talmudische Vor- seins in Gedichten des geteilten Deutschland. lagen lassen keinen Zweifel an der klerikalen Hann. 1972). Die zyklisch geordnete GeBildung u. Gesinnung des Dichters. Zus. mit dichtsammlung Augenaudienz (Reinb. 1978) der Älteren Judith u. den Drei Jünglingen im kombiniert Alltagserfahrung u. Reflexion in Feuerofen, in unmittelbarer Nachbarschaft scheinbar assoziativ-spielerischer, jedoch geüberliefert und aus der gleichen mitteldt. nau kalkulierter Bildlichkeit. Thema ist dabei Quelle stammend, stellt das Gedicht ein be- der Kontrast zwischen der retrospektiv imamerkenswertes Beispiel dafür dar, wie geistl. ginierten Heimat Oberschlesien u. seiner Dichtung des 12. Jh. sich die poet. Technik u. neuen Lebensumgebung Oberfranken. Seit Weltsicht der traditionellen volkssprachigen Beginn der 1980er Jahre versuchte L. die Dichtung mit heldenepisch-spielmänn. The- Mentalität der Landschaft im Medium der matik anverwandeln konnte. Mundart aus gesellschaftskrit. Perspektive zu Ausgaben: Albert Waag u. Werner Schröder erfassen (ham sa gsoochd / soong sa. Marburg (Hg.): Kleinere dt. Gedichte des 11. u. 12. Jh. Bd. 1, 1982) Tüb. 1972, S. 43–55 (Lit.). – Walter Haug u. Benedikt Konrad Vollmann (Hg.): Frühe dt. Lit. u. lat. Lit. in Dtschld. 800–1150. Ffm. 1991, S. 702–717 (mit nhd. Übers.). – Sovereignty and Salvation in the Vernacular, 1050–1150. Das Ezzolied, das Annolied, die Kaiserchronik, vv. 247–667, das L. S., Historia Judith. Introduction, Translations, and Notes by James A. Schultz. Kalamazoo 2000. Literatur: Helmut de Boor: Frühmhd. Sprachstil II. In: ZfdPh 52 (1927), S. 31–76. – Peter F. Ganz: On the Unity of the Middle High German L.

Weitere Werke: Verzettelung v. Denkgesteinen. Mchn. 1970 (L.). – wennsd maansd. Würzb. 1983 (L.). – Ausläufer. Marburg 1987 (L.). – Deutschlandschaften. Mchn. 1992 (L.). Christian Schwarz / Ernst Krzywon

Lobkowicz und Hassenstein

Lobkowicz und Hassenstein, Bohuslaus von, auch: Bohuslaus de Hassenstein, * etwa 1461, † 11.(?)11.1510 Presnitz/ Nordböhmen. – Humanist u. Lyriker. L. studierte 1475–1480 an der Universität Bologna u. 1481–1482 in Ferrara (Dr. decretorum 26.11.1482). 1490/91 unternahm er eine Reise in den Mittelmeerraum, die ihn bis zu den Ruinen Karthagos führte. Zweimal betätigte er sich am Hof König Wladislaus’, 1488/89 in Prag, 1502/03 in Ofen. Im Frühjahr 1493 wählte ihn das Olmützer Kapitel einstimmig zum Bischof, der Papst bestätigte die Wahl jedoch nicht. Obwohl L. – auch aus religiösen Gründen – zum damals noch kath. Deutschtum tendierte (»Ich gestehe und rühme mich, ein Deutscher zu sein«, 28.9.1507), bezeichnete er die tschech. Sprache kurz vor seinem Tod (12.1.1509) als seine Muttersprache, blieb aber den Hussiten u. böhm. Brüdern feindlich gesinnt. L. ist Böhmens bedeutendster Frühhumanist, Besitzer einer der größten Privatbibliotheken in den Ländern der böhm. Krone. Zu seinen Freunden gehörten Peter Schott in Straßburg (Besuche dort 1485 u. 1487), Konrad Celtis (der 1486/87 ein Gedicht L.’ plagiatorisch herausgab), Bernhard Adelmann von Adelmannsfelden, Martin Polich von Mellrichstadt, Hieronymus Balbus u. Augustinus Moravus. L. schrieb nur lateinisch, diese Sprache war seiner Meinung nach eines Gelehrten bes. würdig; er kritisierte einen Übersetzer seiner Gedichte ins Tschechische u. warf Konrad Wimpina die Benutzung vieler nichtantiker Eigennamen vor. Die größten Verdienste erwarb sich L. als nlat. Lyriker. Thomas Mitis edierte 1570 in Prag eine Illustris [...] Bohuslai [...] Farrago poematum u. deren Appendix poematum. Die beiden Sammlungen enthalten beachtl. Zeugnisse nlat. Dichtung. In seinen bedeutendsten Gedichten ruft L. zum Krieg gegen die Türken auf (De bello Tunis inferendo), klagt über die Zustände in Böhmen (Ad sanctum Venceslaum), besingt die warme Quelle in Karlsbad (In Thermas Caroli IV.), schildert seine Erlebnisse in Ofen (Idyllion Budae) u. preist die Erfindungen der Deutschen, darunter die

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Kunst des Buchdrucks u. die Artillerie (De [...] Germanorum inventis). L.’ philosoph. Prosaschriften (hg. v. Bohumil Ryba: Spisy Bohuslava Hasistejnského z Lobkovic 1, Spisy prosaické. Prag 1933) sind wenig originell. Als selbständige Werke können auch drei umfangreiche Briefe gelten, die eine Beschreibung der Stadt Prag (1489) sowie Ratschläge an König Wladislaus (1497) u. Peter von Rosenberg (1499) über die Staatsverwaltung enthalten. Auch die tägl. Korrespondenz mit den Freunden (191 Briefe) ist eine wichtige histor. u. kulturgeschichtl. Quelle. Ausgaben: Scripta moralia. Oratio ad Argentinenses. Memoria Alexandri de Imola. Ed. Bohumil Ryba. Lpz. 1937. – Bohuslai Hassensteinii a Lobkowicz Epistulae. Hg. Jan Martínek u. Dana Martínková. Tl. 1: Epistulae de re publica scriptae [darin S. V-XII Biogr.]; T. 2 Epistulae ad familiares. Lpz. 1980 [Bibliogr. 1969–80]. – Bohuslav Hassistejnsky´ z Lobkovic: Carmina selecta. Hg. J. Martínek. Prag 1996. – Bohuslaus Hassensteinius a Lobkowicz: Opera poetica. Hg. M. Vaculínuvá. Mchn./Lpz. 2006. Literatur: Werkverzeichnis: s. die o. g. Ausgaben, ferner: Enchiridion, Bd. 3, S. 170–203. – Weitere Titel: Ignaz Cornova: Der große Böhme Bohuslaw v. L. u. zu H. nach seinen eigenen Schr.en. Prag 1808. – Karl Beer: B. L. In: Sudetendt. Lebensbilder. Hg. Erich Gierach. Reichenberg 1934, S. 221–230. – Miroslav Flodr: Die griech. u. röm. Lit. in tschech. Bibl.en im MA u. der Renaissance. Brünn 1966. – Jan Martínek: B. Hassensteinius a Lobkowicz meliorne poeta an orator fuerit. In: Classica atque mediaevalia Jaroslao Ludvíkovsky´ octogenario oblata. Brünn 1975, S. 247–249. – Ders.: Böhm. u. fränk. Humanisten in ihren wechselseitigen Beziehungen. In: Ber. des Histor. Vereins Bamberg 118 (1982), S. 107–112. – Josef Bujnoch: Stadt- u. Landesbeschreibung der Böhm. Länder an der Wende des ausgehenden 15. bis zur Mitte des 16. Jh. In: Landesbeschreibungen Mitteleuropas vom 15. bis 17. Jh. Hg. Hans-Bernd Harder. Köln/Wien 1983, S. 13–27. – Wolfgang Neuber: Bohuslav L. Zum Problem v. Reiseperzeption u. humanist. Bildung. In: Die österr. Lit. Ihr Profil v. den Anfängen im MA bis ins 18. Jh. (1050–1750), unter Mitwirkung v. Fritz Peter Knapp (MA). Hg. Herbert Zeman. Tl. 2, Graz 1986, S. 833–844. – (Diverse Studien in den folgenden Sammelbänden:) Studien zum Humanismus in den böhm. Ländern. Hg. Hans-Bernd Harder u. Hans Rothe. Köln/Wien 1988. – Studien zum Humanismus in den Böhm. Ländern. Ergän-

463 zungsh. Hg. dies. Köln/Wien 1991. – Studien zum Humanismus in den böhm. Ländern Tl. 3: Die Bedeutung der humanist. Topographien u. Reisebeschreibungen in der Kultur der böhm. Länder bis zur Zeit Balbíns. Hg. dies. Köln/Weimar/Wien 1993. – Peter Wörster: Humanismus in Olmütz. Landesbeschreibung, Stadtlob u. Geschichtsschreibung in der ersten Hälfte des 16. Jh. Marburg 1994. – Jan-Dirk Müller: Bohuslav de Hassenstein. In: VL Dt. Hum. (hier weitere Lit.). Jan Martínek / Red.

Lobwasser, Ambrosius, * 4.4.1515 Schneeberg/Erzgebirge, † 27.11.1585 Königsberg; Grabstätte: ebd., Dom. – Verfasser geistlicher u. humanistischer Dichtungen. Der Sohn eines Inspektors im Silberbergbau gelangte 13-jährig in das Haus seines Bruders Paul, eines Professors in Leipzig. Hier besuchte er die Schule, ab 1531 die Universität (Magister 1535) u. erhielt 1538 an der Artistenfakultät eine Professur. Er lehrte Grammatik, Ethik, Rhetorik u. lat. Dichtung. 1539 wurde mit dem gesamten Leipziger Lehrkörper wohl auch L. lutherisch. 1549 ging er als Hofmeister nach Frankreich, nicht zuletzt um Rechtswissenschaften zu studieren, das akadem. Fach, das Bürgerlichen die größten Aufstiegsmöglichkeiten bot. In Löwen studierte L. bei Gabriel Mudäus, in Paris bei Petrus Ramus u. in Bourges zweieinhalb Jahre bei Franciscus Duarenus u. Hugo Donellus. Hier lernte L. das Glaubensleben der Reformierten kennen. Zurückgekehrt (etwa 1555), wurde L. Kanzler im Dienst des Burggrafen von Meißen. 1561/62 reiste er nach Bologna (dort Dr. iur. utr.). Auf Empfehlung von Joachim Camerarius berief ihn Herzog Albrecht von Preußen zum zweiten jurist. Professor an die Universität Königsberg. Dort blieb L. bei der in jenen Zeiten des Konfessionalismus ungewöhnl. Duldsamkeit unangefochten. Ab 1566 war er auch herzogl. Rat u. Beisitzer im Hofgericht; 1580 gab er das Lehramt auf. L.s literar. Wirksamkeit begann mit lat. Gelegenheitsgedichten für Universität u. Fürstenhaus. Die postum veröffentlichten, in Viersilbern verfassten Deutschen Epigrammata (Lpz. 1611) bilden die älteste dt. Epigrammsammlung. Die in Achtsilbern übersetzte

Lobwasser

Tragoedia Von der Entheuptung S. Johannis des Teuffers (o. O. u. J.) vermittelte das programmatische nlat. Drama Calumnia des schott. Dichters George Buchanan. Am wirksamsten wurden L.s geistl. Werke, deren schlichte u. klare dt. Sprache sittlichlehrhaften Zwecken volkstümlich dient, ohne dass L. den humanist. Hintergrund preisgäbe. Er übersetzte Bewerte Hymni Patrum (Lpz. 1579), geistl. Lieder von den Vätern bis zu luth. Neulateinern, ergänzt um 39 eigene Lieder. Seine Biblia, darinnen die Summarien aller Capittel (Lpz. 1584) bietet lehrhafte Zusammenfassungen. Die Übersetzung des reformierten Psalters nach der 1562 abgeschlossenen Fassung durch Clément Marot u. Théodore de Bèze entspringt der Freude an der Musikalität u. bildet – entsprechend den übernommenen Melodien – in getreuer Eindeutschung bei silbenzählender Metrik die frz. Vers- u. Strophenform (darunter Alexandriner u. Zehnsilber) mechanisch nach. Die bereits 1565 abgeschlossene Übersetzung wurde mithilfe des Franzosen Jacob Gaurier überarbeitet u. erschien erstmals 1573 in Leipzig als Der Psalter des königlichen Propheten Davids, in deutsche reymen verstendiglich und deutlich gebracht. Sie überflügelte schnell den Übersetzungsversuch Melissus Schedes, wurde oft nachgedruckt u. wirkte bis zur Unierung 1813 auf das reformierte wie luth. dt. Kirchenlieddichten ein. Noch 1828 nennt Goethe den L.’schen Psalter in den Wanderjahren. Ausgaben: Wackernagel 4, Nr. 1236–1250 (ausgew. Psalmenübers.en). – [Nachdr. des PsalterTextes in:] Das Düsseldorfer Gesangbuch v. 1612. Faks.-Nachdr. hg. vom Gesamtverband der Evang. Kirchengemeinden in Düsseldorf. Düsseld. 1983. Literatur: Laurentius Cursor: Leichenpredigt. [Königsb. 1585]. – Philipp Wackernagel: Bibliogr. des dt. Kirchenliedes. 1855 (S. 645 ff.: Abdr. der Vorrede der Psalterübers.). – Ernst Höpfner: Reformbestrebungen auf dem Gebiete der dt. Dichtung des 16. u. 17. Jh. Bln. 1866. – Erich Trunz: Die dt. Übers.en des Hugenotten-Psalters. In: Euph. 29 (1928), S. 578–617. Auch in: Ders.: Dt. Lit. zwischen Späthumanismus u. Barock. Mchn. 1995, S. 83–186. – Ders.: Studien zur Gesch. der dt. gelehrten Dichtung des 16. u. beginnenden 17. Jh. I.: A. L. Diss. Bln. 1932 (Teildr.). Auch in: Altpreuß. Forsch.en 4 (1932), S. 29–97. – Ders.: L. In: NDB. –

Loccenius DBA. – Lars Kessner: A. L. Humanist, Dichter, Lutheraner. In: Der Genfer Psalter u. seine Rezeption in Dtschld., der Schweiz u. den Niederlanden. 16.18. Jh. Hg. Eckhard Grunewald, Henning P. Jürgens u. Jan R. Luth. Tüb. 2004, S. 217–228. Jörg-Ulrich Fechner

Loccenius, Johannes, Johan, eigentl.: Johann Locken, Lochen, * 13.3.1598 Itzehoe/ Holstein, † 7.7.1677 Uppsala. – Jurist; Historiker, Späthumanist. Der Sohn eines Kaufmanns besuchte in Hamburg das Akademische Gymnasium, die »Gelehrtenschule des Johanneums«, die 1529 von dem luth. Reformator Johannes Bugenhagen gegründet worden war, u. studierte ab 1616 philolog. Fächer u. v.a. Jurisprudenz in Rostock u. Helmstedt, seit 1617 in Leiden. In Hamburg unterhielt er früh Kontakte zu Gelehrten seiner Generation wie dem später berühmten Philologen u. vatikanischen Bibliothekar Lukas Holstenius, dem Dichter u. Pastor von Wewelsfleth Heinrich Hudemann u. Heinrich Vaget (1587–1659), dem Kollegen von Joachim Jungius (1587–1657) am Gymnasium. 1624 hielt sich L. wieder in Leiden auf, wo er im Jahre darauf den Dr. jur. erwarb. Johan Bengtsson Skytte, Erzieher des späteren Königs Gustav Adolf, Diplomat u. als Universitätsreformer großen Stils immer auf der Suche nach tüchtigen jungen Gelehrten vom Kontinent, bewegte ihn darauf zur Übersiedlung nach Schweden, u. nachdem er bald durch den König Gustav Adolf II. zum Prof. der Geschichte berufen worden war, lehrte L. 1628–1642 Rhetorik, Politik u. Geschichte als Inhaber des »Skytteanischen Lehrstuhls« (Professor Skytteanus) an der Reformuniversität Uppsala. Ab 1634 amtierte er dort auch als Prof. für Römisches Recht, wurde 1648 Universitätsbibliothekar, 1651 ordentlicher Reichshistoriograf u. 1672 Präses des neu gegründeten schwed. Altertumskollegiums (»Antikvitetskollegium«). Während der Jahre 1649–1655 war L. an den laufenden Gesetzgebungsverfahren Schwedens beteiligt, 1666–1669 hatte er als Professor honorarius juris Suecani die Aufsicht über die schwed. Juristenausbildung, u. 1673 wurde er vom König geadelt.

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Neben Johan Olofson Stiernhöök (1596–1675) gilt L. als Begründer der schwed. Rechts- u. Staatswissenschaft u. beförderte maßgeblich die Rezeption römischrechtlicher Prinzipien. Sein Hauptwerk Synopsis juris ad leges Sueticas accommodata (Stockholm 1648 u. ö., in der 3. Aufl. v. 1673 u. d. T. Synopsis juris publici et privati) behandelte das Zivil-, Straf- u. Prozessrecht aus der Sicht des röm. Rechts u. umfasste auch staatsrechtl. Vorlesungen über die Entwicklungen der modernen vertragsrechtl. Staatslehre in Mitteleuropa (Althusius u. a.). Bedeutend sind auch seine Schriften zur schwed. Geschichte (Antiquitates Sveo-Gothicae. Stockholm 1647) u. zur Rechtsgeschichte, die lat. Übersetzungen mittelalterlicher schwed. Rechtsquellen, ein rechtsgeschichtl. Lexicon juris Sveo-Gothici (Stockholm 1651. 31674) sowie ein grundlegendes Werk über das Seerecht (De iure maritimo et navali libri tres. Stockholm 1650. Ffm./ Lpz. 1651). Unter den Schriften zur Politik ist von bes. Reiz eine kleine Abhandlung über die »Republik der Bienen« (Respublica apum, 1644), in der nach antiker Tradition (u. a. Livius, Vergil) der Bienenstaat als eine den Tieren von der »magistra natura«, der Natur als Lehrmeisterin, vermittelte wunderbare Ordnung gerühmt u. mit dem menschl. Vernunftstaat unter den übl. Aspekten verglichen wird. Die Bienen sind »docti et politici non ex Academia, Lyceo aut Porticu, sed ex alveari« (gelehrte Politici, die ihre Klugheit nicht aus der Universität, dem Gymnasium oder den Wandelgängen der Philosophen, sondern aus dem Bienenstock haben, Vorrede). Wie z.B. auch Melanchthon in einer 1527 von ihm präsidierten Disputation über die »nobilitas« u. die »sapienter constituta civitas«, den weise verfassten Staat der Ameisen (Encomium formicarum), bleibt L. dabei strikt auf der aristotelisch-christl. Linie: Die tierische Ordnung beruht unmittelbar auf der göttl. Natur, während die der Menschen im besten Falle auf Vernunft angewiesen ist u. sich auf die Natur allein nicht verlassen kann. Er kennt jedoch nicht die pessimistische Beleuchtung, in die der ital. Kardinal Girolamo Rorario (Hieronymus Rorarius) ein Jahrhundert zuvor den Tiervergleich getaucht hatte,

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als er in einem polit. Kontext der Renaissance u. Reformation – ganz unaristotelisch – von den wilden Tieren behauptete, sie bedienten sich der Vernunft oft besser als die Menschen (Quod animalia bruta ratione utantur melius homine, zuerst 1547, berühmt durch die Neuausg. v. Gabriel Naudé 1648). Weitere Werke: Epigrammata quaedam sacra et moralia. Uppsala 1627. – Periodus imperiorum, sive Dissertationes historico-politicae de causis incrementi et decrementi illustrium Rerumpublicarum et Monarchiarum. Wittenb. 1633. – Oratio memoriae divi Gustavi Adolphi Magni. Uppsala 1634. – Exercitationes juris, in quibus praeter aliarum gentium leges, cum jure svecano jus romanum succincte confertur. Uppsala 1639. – Dissertationum politicarum syntagma, in quo continentur De republica ordinanda libri quatuor. Sallustii epistolae duae de republica ordinanda, cum commentario. Reipublicae apum liber unus. De periodis imperiorum libri quatuor. 2., erw. Aufl. Amsterd. 1644 (Widmung für Axel Oxenstierna). Ffm. 1673. – Antiquitatum Sveo-Gothicarum [...] libri tres. Stockholm 1647. Ffm./Lpz. 41676. – Rerum Svecicarum historia. Stockholm 1654. – Herausgeber: M. Tullius Cicero: Epistola ad Q. fratrem Asiae proconsulem, de provincia recte administranda. Uppsala 1636. – Q. Curtius Rufus: De rebus gestis Alexandri Magni, historiarum quotquot supersunt libri [...] notis politicis et indice philologico illustrati. Stockholm 1638. Hbg. 1698. Ausgabe: A Shipwreck on the River Elbe, 1622 [Carmen in luctuosum damnum et interitum navis abituriensis in Haispaniam. Rostock 1622]. An Edition with Translation and Commentary of a 17th-Century Print by J. L. Holsatus. Hg. Annika Ström. In: Poems for the Occasion. Three Essays on Neo-Latin Poetry from Seventeenth-Century Sweden. Stockholm 1999, S. 165–182. Literatur: Philipp Melanchthon (Praes.), Erasmus Ebner (Def.): Encomium formicarum. Wittenb. 1527. In: CR, Bd. 11, Sp. 150–159. – Hieronymus Rorarius: Quod animalia bruta ratione utantur melius homine (1547). Hg. Gabriel Naudé. Paris 1648. Nachdr. hg. v. Jean École. Hildesh. 2005. – Samuel Clason: Studier i 1600-talets svenska statsrätt. J. L. och hans lära om rikets ›fundamentallagar‹. In: Statsvetenskaplig tidskrift 4 (1901), S. 109–128, 176–197. – Jan Erik Almquist: Svensk juridisk litteraturhistoria. Stockholm 1946, S. 111–120. – Sten Gagnér: Studien zur Ideengesch. der Gesetzgebung. Stockholm 1960. – Nils Runeby: Monarchia mixta. Maktfördelningsdebatt i Sverige under den tidigare stormaktstiden. Stockholm

Lochamer-Liederbuch 1962. – Sten Lindroth: J. L. In: BLSHL, Bd. 5, S. 152–155. – Stig Jägerskiöld: J. L. In: Svenskt Biografiskt Lexikon. Bd. 24 (1982–84), S. 77–82. – Barbro Lewin: Johan Skytte och de skytteanska professorerna. Stockholm 1985, S. 37–42. – Kjell Åke Modéer: J. L. In: Juristen. Ein biogr. Lexikon [...]. Hg. Michael Stolleis. Mchn. 1995, S. 385 f. – Ulf Göranson: L. som biblioteksman. En skiss jämte exkurs. In: Festskrift till Stig Strömholm. Hg. Å. Frändberg u. a. Bd. 1, Uppsala 1997, S. 293–321. – Ralph Tuchtenhagen: J. L. In: Bautz. Herbert Jaumann

Lochamer-Liederbuch. – Anonyme Liedersammlung des 15. Jh. Das L. ist in einer in Nürnberg zwischen 1452 u. 1460 entstandenen Sammelhandschrift überliefert. Der Codex enthält neben dem Grundbestand des Liederbuchs – 44 dt. Lieder u. ein mittelniederländ. Chanson (18) – drei lat. geistl. Kontrafakturen, das lat. Fundamentum organisandi des Nürnberger Organisten Conrad Paumann u. Intavolierungen der Lieder 2, 5, 14, 31 u. 34. Das L. ist die erste umfangreiche Liedquelle des 15. Jh. aus dem süddt. Raum. Nur Lied 30 ist ohne Melodie aufgezeichnet. Der Großteil der Lieder ist einstimmig notiert; zweistimmig sind zwei, dreistimmig sieben. Ein Lied ist ohne Text (17), ein weiteres (41) hat nur eine Textmarke (Der Summer). Mit den frühesten mehrstimmigen dt. Liedern nördlich des Alpenraums dokumentiert das L. das bunte Repertoire eines oder mehrerer Zirkel bürgerl. Kenner u. Liebhaber, wohl im Umkreis Paumanns selbst. Eine Ordnung nach Liedtypen ist nicht erkennbar. Die meisten Lieder handeln von der Liebe – mit Werbung, Preis, Sehnsucht, Abschied, Trennung, Wiederkehr u. Untreue. Schwankhaft ist Lied 45, ein »Schlager des ausgehenden Mittelalters« (Petzsch 1967) vom gehörnten Bauern, das nicht später als 1437 bereits am schott. Hof James’ I. bekannt gewesen sein soll. Sicher identifizierbar sind nur die Verfasser der Lieder 2 (Tagelied Oswalds von Wolkenstein) u. 34 (Tischsegen des Mönchs von Salzburg; einziges geistl. Lied der Sammlung). Vielleicht ist der Hauptschreiber auch Autor einiger Lieder. Für etwa die Hälfte der Lieder

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sind Parallelüberlieferungen nachweisbar (vgl. Ausgabe). Einige der Lieder erfreuten sich später noch größter Beliebtheit, so das ab 1824 häufig nachgedruckte derbe Tanzlied Ich spring an disem ringe (42) oder All mein gedencken (39), das u. a. Annette von Droste-Hülshoff, Friedrich Silcher, Johannes Brahms u. Wolfgang Fortner bearbeiteten. Ausgaben: Das L. Einf. u. Bearb. der Melodien v. Walter Salmen, Einl. u. Bearb. der Texte v. Christoph Petzsch. Wiesb. 1972 (zit.). – L. u. das ›Fundamentum organisandi‹ v. Conrad Paumann. Faksimile-Nachdr. Hg. Konrad Ameln. Kassel 1972. – Das L. in neuer Übertragung u. mit ausführl. Komm. Hg. Marc Lewon. 3 Bde., Reichelsheim 2007–09. – Tonaufnahmen: 14 Lieder u. Spielstücke aus dem L. [...]. Archiv Produktion Stereo Nr. 198 322 (1964). – Goldene Lieder des MA. MPS-Record I, II, III, Villingen (1968/69). – Das L. Dt. Volkslieder des 15. Jh. (Ensemble Dulce Melos), Audio-CD Naxos 8.557803 (2008). Literatur: Walter Salmen: Das L. Lpz. 1951. – Christoph Petzsch: Das L. Studien. Mchn. 1967 (mit Bibliogr.). – Ders.: Weiteres zum L. u. zu den Hofweisen. In: Jb. für Volksliedforsch. 17 (1972), S. 9–34. – Paul Sappler: Zur Neuausg. des L. Ebd. 18 (1973), S. 23–29. – C. Petzsch: L. In: VL (Lit.). – Johannes Kandler: Wie klingt die Liebe? Anmerkungen zur Wechselwirkung v. Musik u. Text im L. In: Dt. Liebeslyrik im 15. u. 16. Jh. Hg. Gert Hübner. Amsterd./New York 2005, S. 47–64. Claudia Händl

Locher, Jacob, Jakob, Beiname: Philomusos, * Juli 1471 Ehingen/Donau, † 4.12. 1528 Ingolstadt. – Humanist, Philologe; Dramatiker u. Lyriker. Nach dem Besuch der Schule (wohl in Ulm) studierte L. in Basel (1487), Freiburg/Br. (1488) u. Ingolstadt (1489). Hier hörte er die Vorlesungen Celtis’. Unter seinem Einfluss verstand L. die Poesie als eigenständiges Medium der Welterfahrung. Seit der Basler Zeit verehrte er auch Sebastian Brant. Dessen Narrenschiff (1494) übersetzte er ins Lateinische u. verhalf dem Werk dadurch zu europaweiter Resonanz (Stultifera navis. Basel 1497 u. ö. Augsb./Straßb. 1497. Paris/Lyon 1498. Mit engl. Übers. London 1509. 1570. Ed. in: Hartl 2001 u. Sommer 2003). Nach einer Zwischenstation in Tübingen (1492) brach L.

zu einer Studienreise nach Italien auf (1493). Die in Bologna (Kontakte mit Beroaldus d.Ä.), in Pavia u. v. a. in Padua gewonnenen Eindrücke bestimmten L.s Eintreten für die Verbreitung der wiederentdeckten Literatur der Antike in Vorlesungen, Textausgaben u. Nachschöpfungen. In Freiburg wurde L. 1495 als Lektor für Poesie angestellt (Kontakte mit Zasius; zeitgeschichtl. Drama Historia de rege Franciae. Freib. i. Br. 1495). Mit patriot. Gedichten u. Bühnenstücken (dazu Dietl 2005 mit Ed.en) wandte er sich mehrfach an den Kaiser u. die Fürsten (Panegyrici ad regem. Tragedia de Turcis et Suldano. Straßb. 1497. Auszüge in dt. Übers. in: Winfried Trillitzsch, Hg.: Der deutsche Renaissancehumanismus. Ffm. 1981, S. 236–248). Maximilian I. krönte ihn zum Dichter (1497) u. ernannte ihn zum »comes palatinus« (1502). Anfang 1498 wurde L. zum Lehrer für Poesie an die Universität Ingolstadt berufen. Hier wie auch während seiner späteren Lehrtätigkeit in Freiburg (1503–1506) überwarf sich der manchmal exzentrisch auftretende L. mit den Theologen u. mit Wimpfeling, dem Repräsentanten des konservativeren Flügels der humanist. Bewegung, L.s Kampfschrift zur Verteidigung der Dichter u. der Poesie fand weite Resonanz (Comparatio sterilis mulae ad Musam. Nürnb. 1506) u. wurde von Wimpfeling scharf beantwortet (Contra turpem libellum Philomusi defensio. Straßb. 1510). Seit 1506 wieder in Ingolstadt, entfaltete L. rege philolog. Aktivität. Sein vielgestaltiges Gesamtwerk umfasst alle Äußerungsformen des frühen Humanismus. In der Lyrik behandelte er autobiografische, religiöse, polit. u. naturphilosoph. Themen, übernahm auch als einer der ersten Deutschen die von den Italienern vorgeprägte erot. Elegie (Elegiae ad Panthiam). Gegen die zeitgenöss. Scholastik forderte L. das Studium der Kirchenväter, die er noch als Vertreter der antiken Kulturwelt ansah (Theologica emphasis. Basel 1496). Weitere Werke: Oratio de studio humanarum disciplinarum et laude poetarum. Freib. i. Br. 1496. – Rosarium Celestis Curie: et patrie triumphantis. Ingolst. 1499 u. ö. – Spectaculum de regibus et proceribus christianis. Iudicium Paridis de pomo aureo. Augsb. 1502. – Apologia [...] contra [...]

467 Georgium Zingel. Straßb. 1503. – Poemation de Lazaro mendico. Augsb. 1510. – Poematia. Augsb. 1513. – Compendium rhetorices. Augsb. 1517. Straßb. 1518. – Exhortatio heroica ad principes Germaniae. o. O. u. J. [Augsb. 1521]. – Herausgeber: Horatius. Opera. Straßb. 1498. Neuere Editionen: s. Hartl 2001 (s. u.) u. Dietl 2005 (s. u., mit Forschungsber.). – Stultifera Navis [mit Vergleichstexten]. Hg. Anton F. W. Sommer. 3 Bde., Wien 2003. – Threnodia [...] in laudem Hedvigis [...]. Mit dt. Übers. u. Komm. Hg. Alfons Beckenbauer. Landshut 1984. – Internet-Ed. etlicher Werke in: VD 16 digital. Literatur: Georg Wilhelm Zapf: J. L. gen. Philomusos. Nürnb. 1803. – Josef Hehle: Der schwäb. Humanist J. L. Philomusos. Programm Ehingen 1873/74. – Ellinger 1, S. 427–434. – Otto Herding: Probleme des frühen Humanismus in Dtschld. In: AKG 38 (1956), S. 344–389, bes. 363 f. – Joel Levèbre: Le Fols et la Folie. Paris 1968, S. 402–412 (Auszüge aus ›Comparatio mulae‹). – Günter Hess: Dt.-Lat. Narrenzunft. Mchn. 1971, passim. – Günter Heidloff: Untersuchungen zu Leben u. Werk des Humanisten J. L. Philomusos (1471–1528). Münster 1975 (grundlegendes Werkverz.; Forschungsbibliogr.). – Bernhard Coppel: J. L. u. seine in Freiburg aufgeführten Dramen. In: Acta Conventus Neo-Latini Amstelodamensis. Mchn. 1979, S. 258–272. – Peter Ukena: L. In: NDB. – Dieter Mertens: J. L. Philomusos als humanist. Lehrer an der Univ. Tübingen. In: Bausteine zur Tübinger Universitätsgesch. F. 3 (1989), S. 11–38. – B. Coppel: Liebeselegie als Dialog. Erinnerungen an den Humanisten Jakob L. Philomusus anläßlich des 500. Jahrestages seiner Immatrikulation an der Univ. Freiburg am 1. Juli 1488. In: Freiburger Universitätsblätter 104 (1989), S. 103–117. – Walter Ludwig: Horazrezeption in der Renaissance oder die Renaissance des Horaz. In: Horace VIII. Genf 1992, 305–379. Auch in: Ders.: Miscella Neolatina. Bd. 2, Hildesh. u. a. 2004, S. 1–47. – B. Coppel: Jakob L. Philomusus (1471–1528). Musenliebe als Maxime, Humanismus im dt. Südwesten. Biogr. Profile. Hg. Paul Gerhard Schmidt. Sigmaringen 1993. 22000, S. 151–178. – Christoph Schöner: Mathematik u. Astronomie an der Univ. Ingolstadt im 15. u. 16. Jh. Bln. 1994. – Dieter Mertens: Zur Sozialgesch. u. Funktion des ›poeta laureatus‹. In: Gelehrte im Reich. Zur Sozial- u. Wirkungsgesch. akadem. Eliten des 14. bis 16. Jh. Hg. Rainer C. Schwinges. Bln. 1996, S. 327–348. – W. Ludwig: Universitätslob – oder wie der Humanist Jakob L. Philomusus für die Univ. Ingolstadt warb. In: Philologus 140 (1996), S. 163–182. Auch in: Ders.: Miscella Neolatina. Bd. 1, Hildesh. u. a.

Lochner 2004, S. 378–400. – Jan-Dirk Müller in: Biogr. Lex. LMU, Bd. 1, S. 246 f. – D. Mertens: Die Univ., die Humanisten, der Hof u. der Reichstag zu Freiburg 1497/98. In: Der Kaiser in seiner Stadt. Maximilian I. u. der Reichstag zu Freiburg. Hg. Hans Schadek. Freib. i. Br. 1998, S. 315–333. – Nina Hartl: Die ›Stultifera Navis‹, Jakob L.s Übertragung v. Sebastian Brants ›Narrenschiff‹. Bd. 1.1: Untersuchung u. Komm.; Bd. 1.2: Teiled. u. Übers. Münster 2001. – Michael Rupp: ›Narrenschiff‹ u. ›Stultifera navis‹. Dt. u. lat. Moralsatire v. Sebastian Brant u. Jakob L. in Basel 1494–98. Münster 2002. – Hans Kilb: Poetae laureati: gekrönte humanist. Dichter in Schwaben. In: Schwabenspiegel. Hg. U. Gaier u. a. Bd. 2, Ulm 2003, S. 749–761. – Nikolaus Henkel: Der Zeitgenosse als Narr. Literar. Personencharakteristik in Sebastian Brants ›Narrenschiff‹ u. Jakob L.s ›Stultifera navis‹. In: Self-fashioning: Personen(selbst)darstellung. Hg. Rudolf Suntrup u. Jan R. Veenstra. Ffm. 2003, S. 53–78. – Frank Wittchow: Satis est vidisse labores, quos patior propter labentis crimina mundi. L.s Ausstand. In: Humanismus am Oberrhein. Hg. Sven Lembke u. Markus Müller. Leinfelden-Echterdingen 2004, S. 209–235. – Cora Dietl: Die Dramen J. L.s u. die frühe Humanistenbühne im süddt. Raum. Bln./New York 2005. – Flood, Poets Laureate, Bd. 3, S. 1169–1175. – Wilhelm Kühlmann u. Rüdiger Niehl: L. In: VL Dt. Hum. Wilhelm Kühlmann

Lochner, Jacob Hieronymus, * 1.3.1649 (a. St.) Nürnberg, † 26.7.1700 Bremen; Grabstätte: ebd., Dom. – Evangelischer Pfarrer; Dramatiker, Lyriker. Der Sohn des Registrators der großen Kanzlei in Nürnberg Friedrich Lochner wurde 1672 als »Amyntas II.« in den Pegnesischen Blumenorden aufgenommen, nachdem er am 30.6.1671 in Altdorf den Magistergrad erworben hatte u. durch Johannes Conrad Dürr zum Dichter gekrönt worden war (vgl. dessen Actus panegyricus impositae merentibus anno MDCLXXI. mense Junio, et mitrae magistralis, et laureae poëticae [...]. Jena 1672); in diesem Jahr hatte L. als Student ein Weihnacht-Gedicht der hoch-heiligen Christ-Geburt zu Ehren (Altdorf) veröffentlicht. Im Mai 1672 immatrikulierte er sich an der Universität Rostock, wo er im Winter 1673/74 in die philosoph. Fakultät rezipiert wurde u. über den cartes. Zweifel disputierte. Im Winter 1675/76 erhielt er dort mit Unterstützung des August Varenius die

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Professur für Poetik, 1676 veröffentlichte er Bd. 2, S. 194. – DBA. – Jürgensen, Register. – Flood, das Trauerspiel Rosimunda oder die gerochene Poets Laureate, Bd. 3, S. 1177–1180. Renate Jürgensen / Red. Rächerin (Ffm./Lpz.). 1677 wurde er vom dän. König Christian V. als Pastor an die Nikolaikirche nach Wismar berufen. 1683 verfasste Lodemann, Jürgen, * 28.3.1936 Essen. – er ein Sonett zum Tod Sigmund von Birkens Fernsehredakteur, Kritiker, Dramatiker, (in: Martin Limburger [Bearb.]: Die betrübte Romanautor, Dokumentarfilmer u. Ver2 Pegnesis [...]. Nürnb. 1684. Nachdr. Hildesh. fasser von Hörspielen u. Kinderbüchern. u. a. 1993, S. 372). 1686 schließlich wurde L. (»hactenus pastor Nicolaitanus et consisto- L. wuchs in Essen als Sohn eines Diplominrialis Wismariensis«) zum Pastor primarius genieurs auf. Das Studium der Geografie u. an die St. Petri Kirche u. zum Superinten- Germanistik schloss er mit dem Staatsexdenten nach Bremen berufen; dort amtierte amen für das Lehramt u. der Dissertation er auch als kgl. schwed. Konsistorialrat der Lortzing und seine Spiel-Opern. Deutsche BürgerHerzogtümer Bremen u. Verden. Am 23. lichkeit (Freib. i. Br.) 1961 ab. Später hat L. Sept. dieses Jahres erwarb er an der Rostocker diesen Stoff zu einer farbigen Biografie verUniversität mit einer Disputatio inauguralis arbeitet (Lortzing. Leben und Werk des dichtenden, theologica de separatismo (Präses: Justus Chris- komponierenden und singenden Publikumsliebtoph Schomer. Rostock 1686. Nachdr. 1687) lings, Familienvaters und komisch tragischen den theolog. Doktorgrad. Während des Spielopernweltmeisters aus Berlin. Gött. 2000). Er Streits mit den Bremer Reformierten tat sich arbeitete zunächst als Journalist (»Die Welt«, L. auf luth. Seite als Herausgeber der Neu- »Welt am Sonntag«), seit 1965 als Fernsehvermehrten Bremischen Kirchen-Gesänge (Bremen) redakteur beim SWF in Baden-Baden. u. einer billigen Bibelausgabe hervor; bes. 1972–1988 moderierte L. das »Literaturmawandte er sich gegen separatist. Strömungen gazin« des SWF. In zahlreichen Fernsehfilim Kreis um Christian Neubauer (vgl. dessen men befasste er sich seit 1966 vorwiegend mit Högst abgenöhtigte Apologia [...]. o. O. 1694 u. literarhistorischen (Im Steintal. 1982 [zu Responsum [...]. o. O. ca. 1694. Internet-Ed.: Oberlin]) u. kulturgeograf. Themen (Die BagVD 17). In den 1690er Jahren erschienen sechs dadbahn. 1987. Calway. 1989. Spiegelgasse Zügeistl. Lieder L.s in Heinrich Müllers Poeti- rich; Über Lenin; Dada; Büchner. 1991. Rheinschem Andachts-Klang (Nürnb. 1691). fahrt. Von Schaffhausen zum Drachenfels. 1993 Weitere Werke: Candor Germanorum hodien- u. a. m.) sowie mit Geschichte u. Kultur des um vivus, oratione [...] circulari [...] ostensus [...]. Ruhrgebiets (Die Hauptstraße. 1984. Der Mann Altdorf 1669. – Semicenturiam thesium philoso- mit dem Tanzschritt. 1987; über Hansgünther phicarum de dubitatione, ut vocant, Cartesiana [...] Heyme. Altlasten. 1989). Mehrfach lehrte er, proponent [...]. Praes.: J. H. L.; Resp.: Michael zuletzt auch als Honorarprofessor, an dt. Ludovici. Rostock 1674. – Abzugs-Predigt, in der Universitäten. Neben einer Vielzahl von LiKirchen zu St. Nicolai in Wismar [...]. Bremen teraturkritiken u. insbes. medienkrit. Essays, 1686. – Anzugs-Predigt, in der Kgl. Schwed. DomSatiren u. Polemiken (z.T. in: Im Deutschen u. Haupt-Kirchen Sanct Petri, zu Bremen [...]. Bremen 1686. – Die hochgeschäzte u. höchst-be- Urwald. Zürich 1978) hat L. literar. Werke schüzte Krone [...]. Bremen 1693 (Trauerpredigt unterschiedl. Genres vorgelegt: Theaterstücke, Hörspiele, Reise- u. Kinderliteratur, Erfür Ulrika Eleonore v. Schweden). zählungen u. Romane. Den themat. SchwerAusgabe: Fischer-Tümpel 5, S. 129 f. Literatur: Bibliografien: VD 17. – Jürgensen, punkt bildete zunächst das Ruhrgebiet, das S. 417–422. – Weitere Titel: Georg Andreas Will: für L. exemplarisch die bundesrepublikan. Nürnbergisches Gelehrten-Lexicon [...]. Tl. 2, »Leutekultur« repräsentiert. Sowohl sein Nürnb./Altdorf 1756, S. 482–485. – Krause: J. H. L. Theaterstück Ahnsberch. Volksstück über die In: ADB. – Otto Müller-Benedict u. Hartwig Am- Räuber an der Ruhr (Bochum 1980) als auch mann: Bremer Pfarrerbuch. 2 Bde., Bremen 1990, seine Kriminalromane (Anita Drögemöller und Die Ruhe an der Ruhr. Zürich 1975, auch verfilmt) sowie Essen Viehofer Platz oder Langensie-

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pens Ende (Zürich 1985. Als Tb. 1988. Erheblich rev. u. d. T. Essen Viehofer Platz oder die letzte Revolution. Gött. 1997) greifen politisch aktuelle Themen auf (NS-Vergangenheit, Korruption, Umweltverschmutzung, Leiharbeit u. Ä.) u. lehnen sich an populäre Formen an. Charakteristisch für L.s Texte ist ein (stilisiertes) Ruhrdeutsch, das durch bildhafte Plastizität u. Literarisierung von phonetisch exakter Mündlichkeit, auch durch Zwei- u. Mehrdeutigkeiten, gegen eine obrigkeitlichmediale Passivkultur (»UnteNhaltung«) krit. Volkstümlichkeit repräsentieren soll. Das Ruhrgebiet als Heimat u. exemplarische Industrieregion bildet auch den Hintergrund für L.s autobiogr. Roman Der Solljunge (Zürich 1982), der sich zgl. bes. eindringlich mit der NS-Vergangenheit auseinandersetzt. Von einer zuletzt manchmal fast atemlosen, die Erzählung zum emphat. Plädoyer transformierenden Abrechung mit der Elterngeneration, v. a. aber der Machtvergangenheit der Katholischen Kirche (»bluttriefende Herrenkirche«) ist auch der Roman Muttermord (Gött. 1998) geprägt. Gewissermaßen als dritter Teil dieser autobiografisch gefärbten Reihe erschien, im Tonfall weniger schrill, in Darstellung u. Urteil differenzierter, Der große Irrtum. Die Erinnerungen des NSDAP-Mannes Friedrich Lodemann (Bln. 2009). Zgl. liebte es L., sich immer wieder in die ferne Vergangenheit der dt. Mythologie zu vertiefen. In Siegfried (Stgt./Wien 1986) hat er den Siegfried-Stoff, historisch-geografisch konkretisierend, als Kapitalismus-, Kirchenkritik u. Kritik an »instrumenteller Vernunft«, Entsinnlichung u. Naturzerstörung, neu erzählt. Darauf griff dann zunächst ein weiterer Nibelungenroman zurück (Der Mord. Das Wahre Volksbuch der Deutschen. Ffm. 1995), schließlich das mit auktorialen Fiktionen spielende u. mit historiografischen, oft anachronist. Kommentaren durchsetzte Prosaepos Siegfried und Krimhild. Die älteste Geschichte aus der Mitte Europas im 5. Jahrhundert notiert, teils lateinisch, teils in der Volkssprache ins irische Keltisch übertragen von Kilian Hilarus von Kuilmacduagh im 19. Jahrhundert von John Schazman ins Englische. Ins Deutsche übersetzt, mit den wahrscheinlichsten Quellen verglichen und mit Erläuterungen versehen von J. L. (Stgt. 2002. Als

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Tb. Mchn. 2005). L. passt sich hier, etwas angestrengt, Macharten der »Postmoderne« an, indem er zwar weiterhin Schlaglichter seines angestammten Milieus einblendet (ein Waffenschmied von der Ruhr, dazu der Braunkohlegeruch: »Ganz Worms riecht nach üblen braunen Kohlen aus dem Land bei Köln.«), doch in den Zitatcollagen, dokumentarischen Einsprengseln u. alten Rollenspielen des linksliberalen Gesellschaftskritikers durchweg auch den gelehrten Polyhistor durchscheinen lässt – bis hin zu Horaz-Zitaten, die mit Berufungen auf den spätantiken Historiker Ammian garniert werden. Dass L. ein guter Kenner Irlands ist (zeitweise dort lebte), zeigt sich zuletzt auch in dem ca. 500 Jahre zurückblendenden histor. Roman Paradies, irisch (Tüb. 2008) über die alte Hafenstadt Galway. Dass der Bürgermeister Lynch hier einen widerstrebenden Ordensmann aus dem Fenster werfen darf u. sich (quasi paradiesisch in einer frühdemokrat. Stadt) religiöse Promiskuität mit somatisch-erotischer grundiert, ändert freilich auch hier nichts am Sieg der Gewalt. L.s ausgreifendes Gesamtwerk, in seinen diversen Facetten eher auseinanderstrebend u. in L.s wiederholten Bearbeitungen mancher seiner älteren Werke wenig übersichtlich, ist als Ganzes bislang nur ungenügend gewürdigt. Es vereinigt, ohne auf kulinarische reizvolle Mischungen des Fantastischen, Historischen u. Dokumentarischen zu verzichten, den sozialpolit. Scharfblick des Alltagschronisten mit dem politisch korrekten Bewusstsein des moralisch geläuterten Bildungsbürgers, beides meist im Dienste der aufklärenden »Vergangenheitsbewältigung«. Dies u. sein unermüdl. Einsatz für die kritische, gelegentlich auch präzeptorale Vermittlung von Literatur wurden mehrfach ausgezeichnet, darunter mit dem AlfredKerr-Preis für Literaturkritik (1977). Für das Drama Der Beistrich oder Katharina Botticelli in Gelsenkirchen-Bulmke (Ffm. 1986. Urauff. Essen 1987) erhielt er den ersten Essener-Dramatiker-Preis, für sein Gesamtwerk 1987 den Literaturpreis des Ruhrgebiets, außerdem 2002 den Fantastik-Preis der Stadt Wetzlar.

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Weitere Werke: Begegnungen mit dem Ruhrgebiet. Düsseld. 1967 (Fotos v. Otto Steinert). – Phantast. Plastikland u. rollendes Familienhaus. Amerikan. Reisetgb. Zürich 1977. U. d. T. Familienferien im Wilden Westen. Als Tb. Zürich 1978. – Gift u. Galle. Baden-Baden 1978 (Hörsp.). – Der Gemüsekrieg. Phantast. Erzählung für Kinder. Stgt. 1979. – (Hg.) Das sollten Sie lesen. Aktuelle Empfehlungen der ›Bestenliste‹ des SWF-Literaturmagazins (mit L.s Rede samt dokumentar. Anhang, S. 121–146: Der Sack Flöhe u. seine Hüter. Über einige aktuelle Versuche, Gegenwartslit. wertend zu ordnen). Ffm. 1982. – Der Jahrtausendflug. Ein Reiseber. vom Mars. Stgt. 1983. – Mit der Bagdad-Bahn durch die unbekannte Türkei. Eggingen 1990 (Filmtgb.). – Hucke Bums u. Frauke Butt. Stgt. 1990 (Kinderbuch). – Alles wird gut. Karlsr. 1991 (R.). – Meine Medien-Memoiren. Eggingen 1996. – (Hg.) Schwarzwaldgesch.n. Tüb. 2007 u. ö. – Nora u. die Gewalt- u. Liebessachen. Oberhausen 2008. Literatur: Erhard Schütz: Das Sternzeichen der einfachen Leute. Heimat als Kriminalroman? In: Lit. u. Provinz. Hg. Hans-Georg Pott. Paderb. 1986, S. 169–184. – Asta Scheib: J. L. In: LGL. – Dirk Hallenberger: Wie das Ruhrdeutsch in die Lit. kam. In: Die Entdeckung des Ruhrgebiets in der Lit. Hg. Jan-Pieter Barbian u. Hanneliese Palm. Dortm. 2009, S. 215–230. Erhard Schütz / Wilhelm Kühlmann

Fachbeiträgen u. Reden ist als Hauptwerk Gregor von Tours und seine Zeit (Lpz. 1839) zu nennen. Befreundet war L. jahrzehntelang mit Friedrich von Raumer, Tieck u. Steffens; Verhältnisse, in denen sich seine histor. u. literar. Hauptinteressen ebenso spiegeln wie in der Ko-Autorschaft mit Kollegen, bei selbständigen Publikationen sowie Artikeln u. Rezensionen in Literaturzeitschriften. Weitere Werke: Kriegsbegebenheiten aus den Jahren 1812 u. 1813 (zus. mit Friedrich August Nösselt). Breslau 1814. – Aus Napoleon Buonapartes Leben. 2 Bde., Breslau 1817/18. – Zur Beurteilung des Sallustius Crispus. Breslau 1818. – Commentatio de origine Marchiae Brandenburgicae. Breslau 1820. – Die Gymnasialbildung in ihrem Verhältnisse zur gegenwärtigen Zeit. Breslau 1821. – Ueber die Epochen der Geschichtschreibung u. ihr Verhältniß zur Poesie. In: Raumers histor. Tb. 12 (1841). – Weltgesch. in Umrissen u. Ausführungen. Lpz. 1846. – Die Entwicklung der dt. Poesie v. Klopstocks erstem Auftreten bis zu Goethe’s Tode. 3 Bde. (Bd. 3: Hg. August Koberstein), Braunschw. 1856–65. Literatur: Theodor Bernhardt u. Carl v. Noorden: Zur Würdigung J. W. L.s. Braunschw. 1864. – Franz Xaver v. Wegele: L. In: ADB. – John A. McCarthy: ›Die Doppelnatur der Geschichtsdarstellung‹. J. W. L.s Lessingbild u. die Anfänge der Germanistik. In: Lessing Yearbook 35 (2003), S. 169–187. Achim Hölter / Red.

Loebell, Johann Wilhelm, * 15.9.1786 Berlin, † 12.7.1863 Bonn. – Historiker u. Philologe. Loeben, (Ferdinand August) Otto Heinrich Graf von, auch: Isidorus Orientalis, * 18.8. Entgegen dem Wunsch der Mutter wurde L. 1786 Dresden, † 3.4.1825 Dresden. – Ernach dem Besuch des Gymnasiums zum zähler, Lyriker, Essayist. Grauen Kloster in Berlin nicht Bankkaufmann, sondern studierte in Heidelberg u. Berlin Altertumswissenschaften. Nach dem Ende der Befreiungskriege ging er nach Breslau, wo er Geschichtslehrer an der Kriegsschule wurde. Nach seiner Promotion an der dortigen Universität 1818 wechselte L. 1823 als Fachlehrer nach Berlin u. wurde 1829 als Professor der Geschichte nach Bonn berufen, wo er Welt- u. Literaturgeschichte las. L.s Leistungen beruhen auf diesem universalist. Konzept, mit dem er ab 1824 drei Auflagen von Karl Friedrich Beckers Weltgeschichte (Bln.) bearbeitete. Unter seinen teils aus protestantischer Perspektive verfassten

L. entstammte einem alten Adelsgeschlecht, der Vater war – 1790 in den Reichsgrafenstand erhoben – kursächs. Kabinettsminister. L.s literar. Anfänge standen unter dem Eindruck der Schriften von Novalis, insbes. des Heinrich von Ofterdingen, u. entfalteten sich während seines Studiums der Rechte in Heidelberg (1806/07). Dort war er das Zentrum eines kleinen Dichterkreises, des »Eleusischen Bundes«, dem auch die Brüder Eichendorff angehörten; Joseph von Eichendorff (Dichtername: »Florens«) hat Ideale u. Tätigkeit des Bundes später in Ahnung und Gegenwart (1815, 12. Kap.) karikiert. L., der danach in Wien, Berlin, der Lausitz u. zu-

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weilen als Fouqués Gast in Nennhausen lebte, Rostorf) sowie Fouqué, Schenkendorf, Wilkehrte nach kurzer Teilnahme am Krieg ge- helm von Schütz, Helmina von Chézy, Zacharias Werner u. Justinus Kerner, der den gen Napoleon nach Dresden zurück. Guido (Heidelb. 1808. Neudr. Bern 1979), 1822 von einem Schlaganfall getroffenen L. L.s literarisch wichtigstes Werk, bildet den zgl. erfolglos nach mesmerischen Theorien Versuch, Novalis’ unvollendeten Ofterdingen behandelte. noch einmal zu schreiben u. zu Ende zu Weitere Werke: Bl. aus dem Reisebüchlein eiführen, wobei er auf dessen Pläne zurück- nes andächtigen Pilgers. Mannh. 1808. – Arkadien. greifen konnte. Wie bei Novalis durchwan- Bln. 1811/12. – Dt. Worte über die Ansichten der dert in L.s Roman ein thüringisch-sächs. Held Frau v. Staël v. unserer poet. Litteratur [...]. Heidie Welt, lässt sich durch Gedichte u. Ge- delb. 1814. – Lotosblätter. Bamberg/Lpz. 1817. – schichten belehren u. erziehen, kommt in Erzählungen. 2 Bde., Dresden 1822–24. – Gedichte. Hg. Raimund Pissin. Bln. 1905. Darmst. 1968. Ritterburg u. bürgerl. Reichsstadt, erlebt Literatur: Raimund Pissin: O. H. Graf v. L. Liebe, Tod u. Auferstehung u. erfährt (Isidorus Orientalis). Bln. 1905. – Max Hecker: Der schließlich eine alle Grenzen von Raum u. Romantiker Graf L. als Goethe-Verehrer. In: GoeZeit aufhebende Verklärung. Das universal- theJb 15 (1929), S. 69–79. – Herbert Kummer: Der romant. Symbol des Karfunkels aus Novalis’ Romantiker O. H. Graf v. L. u. die Antike. Bln. Roman wird ins Politisch-Historische umge- 1929. – Gertraud Matzner: Das prosaep. Werk des deutet als prächtigster Stein der verloren ge- Grafen O. H. v. L. Diss. Wien 1953. – Stefanie Janke: gangenen Kaiserkrone u. mithin als Symbol Isidorus Orientalis. Ein Beitr. zur Wesensbestimfür die dt. Reichseinheit. Der Zeitmode ent- mung der dt. Spätromantik. Diss. Köln 1962. – Leif sprechend sind Verweise auf Mittelalterli- Ludwig Albertsen: Novalismus. In: GRM, N. F. 17 ches, Italienisches, Spanisches u. Indisches in (1967), S. 272–285. – Gerhard Schulz: Einf. In: die Handlung verflochten. L.s Absicht war die Guido. Neudr. 1979. – Ders.: Die dt. Lit. zwischen Revolution u. Restauration. Bd. 2, Mchn. 1989. – Darstellung einer Art interkonfessioneller Ludwig Stockinger: L. In: NDB. – Otto Eberhardt: religiöser Orgiastik, die aber unter konserva- Kritik an L. in Eichendorffs ›Taugenichts‹. In: Autiven Bildzwang gerät. An die Stelle Nova- rora 52 (1992), S. 101–109. – Harald Preiss: O. H. lis’scher Zukunftsvisionen tritt das Bild des Graf v. L.: Adliger u. freier Schriftsteller in der roKreises als Lebenserfüllung (»Und das Welt- mant. Bewegung. Ffm. u. a. 1995. Gerhard Schulz Ende jauchzte durch die sprühenden Funken hindurch, und die Walzer flogen um Gott.«). Loeber, Löper, Valentin, * 19.10.1620 ErL.s Werk ist in diesem Sinne Pseudoromantik furt, † 18.3.1685 Erfurt. – Arzt u. Überohne den künstlerisch-intellektuellen Rang setzer. des Vorbilds. In L.s Lyrik dominiert die Übung in romantisch-roman. Formen, bes. Nach dem Besuch des Gymnasiums in Danzig dem Sonett, u. thematisch die Suche nach der studierte L. Medizin in Königsberg, Leipzig Mission des Dichters. u. ab April 1645 in Rostock. Dort legte er im Aus L.s weiterer Tätigkeit als Lyriker u. Juni 1658 sein medizin. Examen ab, dispuErzähler ragt die Novelle Loreley. Eine Sage vom tierte am 14. Aug. unter dem Vorsitz des Rhein (in: Urania, 1821) heraus. Nach einer Dekans der medizin. Fakultät Johann Bacersten Liebesvereinigung in Loreleys subma- meister (Disputatio medica inauguralis, casum riner Kristallburg wird der Pfalzgrafensohn laborantis podagra proponens. Rostock 1658) u. Hugbert durch verständnislose Menschen in wurde am 9. Sept. desselben Jahres in Abweden Liebestod getrieben; es fehlt aber die senheit, »ob praxin medicam, quam in Hapsycholog. Dämonie der Brentano’schen delia exercebat«, wie es in der Matrikel heißt, Lore-Lay-Gestalt. zum Dr. med. promoviert. L. war zunächst Als »poetisches Taschenbuch« begründete Arzt beim schwed. Militär, dann Stadtarzt in L. die Zeitschrift »Die Hesperiden«, von der Bremen u. Verden (1661). 1684 kehrte er nach jedoch nur ein Band erschien (Lpz. 1816). Erfurt zurück. Neben medizin. Schriften (u. a. Mitarbeiter waren die Brüder Eichendorff, Anchora sanitatis, dialogice fabrificata [...]. Ffm./ Novalis’ Bruder Karl von Hardenberg (= Hbg. 1671) verfasste er die erste fast voll-

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ständige Übersetzung (Teile hatten Ancumanus 1638 bzw. 1641 u. Titz 1643/45 vorgelegt) der nlat. Epigramme des Walisers John Owen (1560–1622), die die Wirkung Martials in Deutschland übertrafen u. mit ihrem Wortwitz hohe Anforderungen an den Übersetzer stellten. Morhof urteilte in seinem Unterricht ungünstig über diese Übersetzung; sie sei »nicht sonderlich zu rühmen«, da L. »alle Epigrammata, die aus Lateinischen allusionibus kommen, ohn unterscheid verteutschet«. Weiteres Werk: Übersetzer: Gatien de Courtilz de Sandras: Lebens-Gesch. deß Herrn Marschalls v. Turenne, sampt einer Betrachtung über etl. Begebenheiten dieser Zeit. o. O. 1677. Ausgaben: Epigrammatum Oweni drey Bücher verdeutscht. Hbg. 1651. – Teutschredender Owenus [...]. Hbg. 1653. Jena 1661. 1673. Literatur: Bibliografie: VD 17. – Weitere Titel: Just Christoph Motschmann: Erfordia literata [...]. 5. Slg. Erfurt 1731, S. 728–731. – Jakob Franck: V. L. In: ADB. – Heiduk/Neumeister, 65, 202 f., 402. – Jutta Weisz: Das dt. Epigramm des 17. Jh. Stgt. 1979, S. 141 f., 147 f. – Sieglinde Adler: Literar. Formen polit. Philosophie. Das Epigramm des 17. u. 18. Jh. Würzb. 1998. Wolfgang Harms / Red.

Löhe, Johann Conrad Wilhelm, * 21.2. 1808 Fürth/Bayern, † 2.1.1872 Neuendettelsau/Mittelfranken; Grabstätte: ebd., Dorffriedhof. – Evangelischer Theologe, Pfarrer; religiöser Schriftsteller, Organisator. L. wurde als neuntes Kind von Johann Löhe u. Maria Barbara geb. Walthelm in einer begüterten u. öffentlich angesehenen Familie geboren. Die durch die Mutter – den Vater verlor L. schon 1816 – herbeigeführte frühe Begegnung mit unterschiedl. Andachtsliteratur aus dem 17./18. Jh. könnte einen Zugang zu einer bei L. dann starken Orientierung an »Alten Tröstern« angebahnt haben. Ganz unkindgemäß erscheinende Gottesdienstpraxis übte schon in der Kindheit eine Faszination auf ihn aus. Auch jüd. Leben u. jüd. Gottesdienst begegneten ihm in Fürth in eindringl. Weise u. prägten sein Verhältnis zum Judentum mit. Sein Gymnasiallehrer am Egidiengymnasium in Nürnberg, der be-

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kannte, schulpädagogisch u. literarisch tätige Ludwig Roth, förderte L. entschieden u. warnte ihn vor dem Weg in die Vereinzelung. Das in Erlangen von 1826 bis 1829 durchlaufene Studium der Theologie unterbrach L. im Sommer 1828 für ein Semester in Berlin, wo ihn (ausweislich des handschriftl. Tagebuchs) Friedrich Schleiermacher als Prediger u. Gerhard Friedrich Abraham Strauß sowie Johannes Evangelista Goßner u. Hans Ernst Baron von Kottwitz beeindruckt haben, ihm auch Hegel wohl eine Nuance mehr bedeutete als das kolportierte Votum, »nichts verstanden oder nichts zu verstehen« vermuten lässt (GW I 62–64). Prägend wurde die Erlanger Zeit; hier zunächst der bei seinem reformierten Konfessionsbewusstsein eine tiefe Frömmigkeit pflegende J. Christian G. L. Krafft. Lutherischerseits war L. von der Theologie in Erlangen vor ihrer großen Zeit als »Erlanger Theologie« (Beyschlag 1993) wenig angezogen. Viel mehr hat der von der Erweckungsbewegung geprägte, dann von der reformierten zur luth. Kirche übergetretene Professor für Mineralogie, Karl von Raumer, L. beeinflusst, durch einschlägige diakon. Unternehmungen wohl auch ein frühes Interesse für Anliegen der inneren Mission geweckt. Breite, auch literar. Interessen (Jean Paul) im Studium samt eisernem Fleiß u. strenger Zeitdisziplin (GW I 251 ff.) führten den hochbegabten Studenten zu kirchl. Prädikatsexamina – bei der Kirchenleitung jedoch theologisch bereits erste, nie mehr ausgeräumte Verdachtsmomente einer Hinneigung zum »Mystizismus« hervorrufend. Im Juli 1831 wurde L. in das Amt eines evang. Predigers ordiniert. Die demütigend lange Vikarszeit an einem Dutzend Orten – herausragend Kirchenlamitz/Fichtelgebirge u. Nürnberg – beendete die zum Aug. 1837 erfolgende Ernennung zum Pfarrer der kaum 500-Seelen-Parochie Neuendettelsau »beim Closter Heilsbronn«. Am 25.7.1837 heiratete L. seine einstige Konfirmandin Helene Andreae (1819–1843), Tochter aus Frankfurter Kaufmannshaus. Ihr früher Tod war eine bleibende Last des Witwers mit drei Kindern. Vier nachhaltig erfolglose Bewerbungen nach Erlangen, Fürth, Nürnberg u. Augsburg lie-

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ßen L. schließlich knapp 35 Jahre, bis zu seinem Tode, in Neuendettelsau amtieren. L.s theologisch-pastorale Tätigkeit ist von großer Vielfalt. Zwischen hingebungsvollem Wirken in seiner Dorfgemeinde u. kontinentüberschreitendem Agieren werden Facetten u. Themen seiner Aktivitäten deutlich: Schul-, Unterrichtswesen, innere Mission/ Diakonie, christl. Gottesdienst, Seelsorge, zeitgenöss. Judentum, Kirchenorganisation. Dabei erzwang konkretes Handeln vor Ort wirksame Debatten um höchst grundsätzl. Fragen. So förderte L. entschieden Klärungsprozesse hinsichtlich einer bekenntnismäßig einheitlich gebundenen luth. Kirche. Das Staatskirchenmodell sah er 1848 vorausblickend als wenig zukunftsfähig. Auf dem Bildungssektor vertrat er z.T. erstaunlich moderne Ansichten eines nicht nur schulzentrierten Unterrichtens; die Ausbildung junger Frauen – nur z.T. spätere Diakonissen – praktizierte dies auch. Auf liturgiewiss. wie hymnolog. Gebiet, bis hin zur Gottesdienstraum-Gestaltung, griff er in laufende Debatten ein. Großes ökumen. Interesse u. Nüchternheit legten ihm nahe, entscheidende Durchbrüche dann »vielleicht [...] das dritte Jahrtausend hoffen« zu lassen (WLStA I 57,25). Diakonisches Wirken sah er konstitutiv als von weltlich-sozialem Handeln unterschieden – weltl. »Beifall« hier als geradezu gefährlich (GW IV 183,22). All diese Problemfelder waren von L. theoretisch durchdacht, oft öffentlich zur Diskussion gestellt u. praktisch durchlebt zugleich. Gewissensbedrängende Fragen des Staatskirchentums anlässlich nicht zu verantwortender Trauungen Geschiedener gewährten keinen Ermessensspielraum, bescherten L. die Möglichkeit der Entlassung (1837) bzw. die vollzogene kurzzeitige Suspendierung vom Amt (1860) u. ließen ihn den Weg in die Separation 1848/49 ernsthaft erwägen. L.s hohe Sensibilität für innere Mission ließ ihn mit Gesinnungsgenossen Sept./Okt. 1849 – ausdrücklich als Alternative zu Johann Hinrich Wichern – die »Gesellschaft für innere Mission nach dem Sinne der lutherischen Kirche« ins Leben rufen u. damit in der nicht unkrit. Aufnahme von Vereinsbildung eine zeitgemäße Form nachhaltigen kirchl.

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Wirkens aufgreifen. Das von L. gestaltete Predigt- u. Gottesdienstgeschehen war in weiter Umgebung von exemplarischer Bedeutung u. ein nahezu singulärer Anziehungspunkt – in Postillenbänden (GW VI.2, VI.3) sich weniger zeigend als etwa in den nachgeschriebenen Abendmahlspredigten von 1866 (Ed. 1991). Der Charakter der bayer. Landeskirche als einer lutherischen verdankte sich zu einem Gutteil L.s unbeugsamem Eintreten für das von der Bibel normierte luth. Bekenntnis als auch kirchl. Organisation bestimmend (Trennung von reformierten Gemeinden). All dies, wie auch die entschieden lutherisch orientierte, aber offene LehrFragen benennende umfassende pastorale Begleitung von fränk. Auswanderern nach Nordamerika seit 1841/42 (Haus-, Schul- und Kirchenbuch. Tl. 1–3, Stgt. 1845 ff.) ist nur mithilfe von Verdächtigung unter die Chiffre, gar das Verdikt eines exklusiven »Konfessionalismus« zu stellen (Blaufuß 2003, S. 337; ders., Sammelband 2009, S. 150–175). In seinen vielfältigen Aktivitäten kamen L. eine hohe Kommunikationsfähigkeit u. schnelle Entschlusskraft zuhilfe, Letzteres durch häufiges Reisen (Sammelband 2008, S. 179) gefördert. Sein gewaltiger, v. a. innerhalb des knapp 10.000 Nummern umfassenden Neuendettelsauer Brieffundus der »Gesellschaft« dokumentierter Briefwechsel belegt ein weitgespanntes Kommunikationsnetz: Familienkorrespondenz, Briefwechsel mit (Erlanger) Professoren, hier herausragend derjenige mit Raumer, mit Theologen/Kirchenmännern (Adolf von Harleß, dann Franz Delitzsch), auch mit solchen außerhalb Bayerns (Norddeutschland), umfangreich mit Partnern in Nordamerika, eine ganze Anzahl von Korrespondenzen mit Frauen, auch adeligen Standes. Hinzu kommt der amtl. Schriftverkehr aus Pfarramt u. Diakonissenanstalt. Von einem einebnenden Harmoniestreben weit entfernt, handelt es sich dabei auch um einen Austausch mit »befreundeten Gegnern« bei zentralen Fragen des Kirchenverständnisses. L. fühlte sich durch seine nachhaltig wirkende, umfangreiche u. vielfältige publizistisch-literarische Tätigkeit auch auf wissenschaftlich vernachlässigte Felder gerufen

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(WLStA I 13,1–13). Die schwer zu überblickenden, aber in GW breit präsentierten Veröffentlichungen L.s bewegen sich auf nahezu allen Feldern der Theologie: Bibelauslegung, Predigt, Pastoraltheologie, Kirchengeschichte, Liturgie, Gemeinde, Katechetik, Judenmission, theolog. Grundsatzfragen, geistl. Amt. Aber auch weltlich erscheinende Fragen wie medizin. Grundwissen, Buch- u. Rechnungsführung, (strafender?) Umgang mit Behinderten, Landeskunde (Nordamerika) u. a. m. finden L.s höchstes Interesse für seine prakt. Arbeit. Jeweils den Leserkreis bzw. das Publikationsorgan im Blick, bediente sich L. der vielfältigsten literar. Formen. Vom religiösen Traktat bis zum umfangreichen Buch, von der Rezension bis zur Abhandlung, von der Polemik bis zur scharfen Beobachtung u. ebensolches religiöses Urteil verratenden Biografien, von VitenSammlungen/Kalendernamen (Martyrologium, 1868) bis hin zu Polemiken gegen (spät-)aufklärer. Neuerer usw. Eine Dichtung L.s hat als Abendmahlslied längere Zeit Eingang im Gesangbuch gefunden (Schäfer 1909, S. 221–223). Ein Blick in die Veröffentlichungen des Verlages der Raw’schen Buchhandlung Nürnberg (Hahn 1976/88) zeigt das weite Umfeld von L.s Veröffentlichungen, die freilich auch in den bekannten Verlagen C. H. Beck u. (mit L. auch familiär eng verbunden) S. G. Liesching, sowie kurze Zeit bei Gottfried Löhe (die beiden Letzten dann Bertelsmann) erschienen u. etwa von Justus Naumann/ Dresden-Leipzig bewusst vertrieben wurden (hier 1878 wohl auch ein Teil von L.s Bibliothek). 1847 praktizierte L. in seinem Gebetbuch Rauchopfer für Kranke und Sterbende Kleinschreibung nach Adolf Ziemann – ausdrücklich auch phonet. Rechtschreibung empfehlend. Das blieb Wunsch (GW III.2 386), aber in diesem Bereich orientierte sich L. an Rudolf von Raumer (seinem einstigen Konfirmanden), Friedrich Bauer (seinem engsten Mitarbeiter in der Missionsanstalt, Vf. einer bis 1935, von Otto Basler besorgten nhd. Grammatik, 201887, bearb. von Konrad Duden; Blaufuß 2007, S. 206) u. Jacob Grimm (1845 dessen »historische Richtung«, GW I 703; 1847 empfohlen als Lehrgrundlage für luth. Theologen in USA, GW IV 146).

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Hinsichtlich Sprachgestalt u. inhaltl. Gewicht gelegentlich gewiss übertreibend mit Goethe bzw. Leopold von Ranke verglichen, darf L. doch als ein Theologe von hoher Sprachkompetenz u. weit überdurchschnittl. theolog. Niveau gelten. Für die spätestens 1929 einsetzende wiss. L.-Forschung, heute vor der Forderung u. a. einer die frühe Biografik ersetzenden Arbeit stehend, leistet die »Gesellschaft für Innere und Äußere Mission im Sinne der lutherischen Kirche e. V.« nicht nur durch die WerkAusgabe GW 1951–1986 (ab 1991 drei Fortsetzungen) einen uneinholbaren Beitrag. Das verbindet sie nun bes. mit der 2005 in Dubuque/IA (USA) am Wartburg Theological Seminary gegründeten, ausdrücklich der L.Forschung verpflichteten »International Loehe Society«. Weite Felder der Forschung sind nur mithilfe von Sponsoren u. anderen Hilfen zu bearbeiten. L.s Nachlass u. Teile des Briefwechsels sind in vier Archiven, v. a. im L.-Archiv der »Gesellschaft« in Neuendettelsau, gesammelt (acht weitere bei Stempel-de Fallois 2001, S. 349–357). Weitere Werke: Veröffentlichungen (auch unselbständige) ausführlich in (s. u., Literatur): Schäfer 1909, S. 289–296 (sachlich, 10 Sparten). – Hebart 1939, S. 310–316 (chronologisch). – Weber 1996, 443–463 (chronologisch u. alphabetisch). – Ratke 2001, Bibliography (alphabetisch). – Stempel-de Fallois 2001, S. 358–361 (chronologisch). Ausgaben: Ges. Werke [GW]. Hg. im Auftrag der Gesellsch. für Innere u. Äußere Mission im Sinne der luth. Kirche v. Klaus Ganzert. Bd. III-VII in 10 Bdn.; erarbeitet v. K. Ganzert [III.1, III.2 (Teil III), V/1–2, VI.1, VII.1, VII.2 (Tl. II A.)] u. Curt Schadewitz [III.2 (Teil I u. II), IV, VI.2, VI.3, VII.2 (Tl. I u. II B., C.)]. Neuendettelsau 1951–66. – GW. Register. [Zu] III.1. Bearb. v. Dietrich Blaufuß. Neuendettelsau 2008. – GW. Ergänzungsreihe. Hg. v. der Gesellsch. für Innere u. Äußere Mission. Bd. 1: Abendmahlspredigten (1866). Hg. Martin Wittenberg. Neuendettelsau 1991; Bd. 2: Hermann Bezzel: L. u. seine Zeit. Einsegnungsunterricht 1908. Hg. Helmut Baier u. Rudolf Keller. Neuendettelsau/Nürnb. 2008; Bd. 3: Ders.: L.-Beiträge zum 100. Geburtstag 1908. Hg. dies. Ebd. 2011. – Studienausg. [WLStA]. Im Auftrag der Gesellsch. für Innere u. Äußere Mission hg. v. D. Blaufuß. Bd. 1: Drei Bücher v. der Kirche 1845. Hg. ders. Neuendettelsau 2006. – Vom Schmuck der hl. Orte (1857/58)

475 [...]. Komm. u. bearb. v. Beate Baberske-Krohs u. Klaus Raschzok. Lpz. 2008 (S. 135–179 weitere Texte aus 1858/67). – [GW I-II s. Briefw.]. – Textsammlungen: Schäfer 1909, S. 209–285. – A[dam] Schuster: Gedichte u. Gedanken L.s [...]. Neuendettelsau 1923. – W. L. Im Dienst der Kirche. Quellen u. Urkunden [...] ges. v. J[ustus] Götz. Neuendettelsau 1925. 21933. – L.-Worte I. Ges. v. J[ustus] Götz. Neuendettelsau 1926. – Dass. II. Neuendettelsau 1926. – Über den Umgang mit Schwermütigen u. Geisteskranken. Prakt. Winke v. W. L., Vilmar, Blumhardt (Vater). Mchn. 1928. – Die Luth. Kirche u. die Dt. Kolonisation. Aus Ber.en W. L.s zusammengestellt v. Pastor Wilhelm Fugmann in Ponta Grossa, Pranà, Brasilien. Neuendettelsau 1935. – Lob sei Dir ewig, o Jesu! Abendandachten aus dem geistl. Erbe Pfarrer W. L.s. Zusammengestellt v. A[dam] Schuster [...]. Neuendettelsau 1949. – W. L.: Ich harre dein. Sein Leben u. sein Zeugnis. Dargestellt v. Hans Kressel. Stgt. 1960. – W. L. Sein Zeugnis, sein Leben. Ein L.Brevier. Hg. Detlev Graf v. der Pahlen. Neuendettelsau 2008. – [Vgl. o. Werke 2008, Schmuck]. – Briefwechsel: Dokumentation Brieffundus 10.000 Stück Korrespondenz (nicht nur L.), darin ca. 550 Briefpartner an L. (gen. Blaufuß 2007), in L.-Archiv der ›Gesellsch.‹, Neuendettelsau. – GW I. Briefe 1815–47. Mit einer Einl. [S. 15–240] zum Gesamtwerk v. Klaus Ganzert. Neuendettelsau 1986. – GW II. Briefe 1848–71. Tagebücher aus der Jugendzeit [3.9.1825–14.6.1827 u. 1.-7.8.1835]. Ebd. 1985 (Briefe als [Teil-]Texte, Regesten); Corrigenda: Weber 1996, S. 480–484); Addenda: ebd., S. 529–545 (Ed. v. 8 Briefen 1843–1861); Nachweis v. Korrespondenz (u. a. 34 Ed.en) neben GW 1–2 ebd., S. 485–490(-494); darin: [16] Seelsorgerl. Briefe, zusammengetragen v. ([Adam] Schuster). Ebd. o. J. [1943]; wichtige Ed.en in Ztschr. für bayer. Kirchengesch. 1926, 1935, 1967, 1972, 1978, 1989 u. 2006. – [Vgl. oben Nachl.] – W. L.: Lebenslauf einer hl. Magd Gottes aus dem Pfarrerstande. Nürnb. 31867. Neuendettelsau 81928 [Korrespondenz v. L. mit seiner Braut v. a. S. 28–51 (27–53)]. Literatur: Bibliografie: fehlt; umfangreich – ca. 500 Titel – für 1945–90: Art. L. in: Schmidt, Quellenlexikon. – Ca. 90 Titel, für 1990–2008 s. Sammelbände, 2009, S. 347–350. – Sammelbände: W. L. Sakramentales Luthertum. In: Hochkirche 14 (1932), H. 1/2. – W. L. Der Mensch, das Werk. Hg. Friedrich Rupprecht. Stgt. o. J. [1949]. – W. L. Anstöße für die Zeit. Hg. Friedrich Wilhelm Kantzenbach. Neuendettelsau 1971. 21972. – Zur Erinnerung an W. L. anläßlich seines 100. Todestages 1872, 2. Jan. 1972. In: Luth. Blätter 23 (1971/72),

Löhe Nr. 105. – W. L. and His Legacy. In: Currents in Theology and Mission 31 (2006), Nr. 2. – W. L. (1808–72). Seine Bedeutung für Kirche u. Diakonie. Hg. Hermann Schoenauer. Stgt. 2008. – L. Bicentennial. In: Logia 17 (2008), Nr. 3. – W. L. Erbe u. Vision [...]. Hg. Dietrich Blaufuß. Gütersloh 2009. – Weitere Titel: (Johannes Deinzer:) W. L.s Leben. Aus seinem schriftl. Nachl. zusammengestellt. Bd. 1 (1873) Neuendettelsau 41935; Bd. 2 (1877), ebd. 1935; Bd. 3 (Gütersloh 1892), ebd. 1935. – Theodor Schäfer: W. L. Vier Vorträge [...]. Gütersloh 1909. – Paul Althaus [d.Ä.]: Forsch.en zur evang. Gebetslit. Gütersloh 1927. [Nachdr. Hildesh. 1966], S. 250–273 u. ö. (Register). – Hans Kreßel: W. L. als Prediger. Gütersloh 1929. – Siegfried Hebart: W. L.s Lehre v. der Kirche, ihrem Amt u. Regiment [...]. Neuendettelsau 1939. – Martin Wittenberg: W. L. u. die Juden. Neuendettelsau 1954. – Horst Weigelt: Erweckungsbewegung u. konfessionelles Luthertum im 19. Jh. Untersucht an Karl v. Raumer. Stgt. 1968. – Gerhard Rau: Pastoraltheologie [...]. Mchn. 1970, S. 197–316. – Kenneth Frederick Korby: The Theology of Pastoral Care in W. L. With Special Attention to the Function of the Liturgy and the Laity. Diss. St. Louis 1976. – Walter Hahn: Der Verlag der Raw’schen Buchhandlung [...] 1789–1826. In: Ztschr. für bayer. Kirchengesch. 45 (1976), S. 83–171 [2 (3) Fortsetzungen, bis 1903 reichend, jeweils mit Publikationslisten ebd., 48, 1979; 53, 1984 (57, 1988)]. – Rudolf Keller: Reformator. Wurzeln der Amtslehre v. W. L. In: Unter einem Christus sein u. streiten [...]. Erlangen 1980, S. 106–124. – Ders.: W. L. im Spiegel seiner Briefe. Zum Abschluß der Ausg. v. L.s Ges. Werken. In: Ztschr. für bayer. Kirchengesch. 56 (1987), S. 261–283. – D. Blaufuß: W. L. auf der Spur bleiben. Zur Veröffentlichung aus Briefen u. Tagebüchern W. L.s. In: HomiletischLiturg. Korrespondenzblatt NF 6 (1988/89), Nr. 24, S. 482–488. – Thomas Howard Schattauer: Announcement, Confession, and Lord’s Supper in the Pastoral-Liturgical Work of W. L. [...] at Neuendettelsau [...] 1837–72. Diss. University of Notre Dame 1990. – Wolfhart Schlichting: L. In: TRE. – Karlmann Beyschlag: Die Erlanger Theologie. Nürnb./Erlangen 1993. – Christian Weber: Missionstheologie bei W. L. Aufbruch zur Kirche der Zukunft. Gütersloh 1996. – H. Weigelt: Das Schwenckfeldische Gebetbüchlein ›Bekantnus der sünden‹ u. L.s Gebetsslg. ›Samenkörner des Gebets‹. In: Ders.: Von Schwenckfeld bis L. [...]. Neustadt/Aisch 1999, S. 201–213. – Rudolf Keller: Von der Spätaufklärung u. der Erweckungsbewegung zum Neuluthertum (bis 1870). In: Hdb. der Gesch. der evang. Kirche in Bayern. Bd. 2. Hg. Gerhard Müller u. a. St. Ottilien 2000, S. 31–68,

Löhndorff

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bes. S. 50–60. – David C. Ratke: Confession and Mission, Word and Sacrament. The Ecclesiastical Theology of W. L. St. Louis 2001. – Anne Stempelde Fallois: Das diakon. Wirken W. L.s [...] (1826–54). Stgt. 2001. – Erika Geiger: W. L. Leben – Werk – Wirkung. Neuendettelsau 2003. – D. Blaufuß: W. L. u. die ›Alten Tröster‹. Zur Wirkung barocker Erbauungslit. im 19. Jh. In: Ders.: Korrespondierender Pietismus [...]. Lpz. 2003, S. 337–357, 470. – Ders.: L.-Korrespondenz. Vorläufiges Verz. v. Briefpartnern. In: Ztschr. für bayer. Kirchengesch. 76 (2007), S. 204–214. – Ders.: Heiliger u. Ketzer. W. L. in der dt. Historiographie seit 1872. In: Kerygma u. Dogma 53 (2007), S. 252–273. – Klaus Raschzok: Der prakt. Theologe W. L. In: s. Sammelbände, 2008, S. 189–222. Dietrich Blaufuß

Löhndorff, Ernst Friedrich, auch: Peter Dandoo, * 13.3.1899 Frankfurt/M., † 16.3.1976 Waldshut/Baden. – Reiseschriftsteller, Erzähler. L. verließ mit 14 Jahren das Elternhaus u. wurde Matrose. Während des Ersten Weltkriegs war er in Mexiko interniert. Anschließend führten ihn unterschiedlichste, teils riskante Tätigkeiten bis Mitte der 1920er Jahre in verschiedene Teile der Welt. Dann ließ er sich als freier Schriftsteller in Laufenburg/Baden nieder. L. war einer der viel gelesenen Reiseschriftsteller der ersten Hälfte des 20. Jh. Seine literar. Tätigkeit, die er mit dem Bericht Bestie Ich in Mexiko (Stgt. 1927. Bremen 1952) begann, war weitgehend autobiografisch. Seine Abenteuer-Reiseromane sind wegen ihrer vielseitigen Schilderungen meist randständiger oder exot. Milieus, nicht so sehr wegen ihrer künstlerischen Gestaltung oder Sozialkritik bemerkenswert. Weitere Werke: (Ort, wenn nicht anders angegeben: Bremen): Noahs Arche. Sage v. Mensch u. Wal. Lpz. 1932 (R.). – Blumenhölle am Jacinto. 1932 (R.). – Der Indio. 1933 (R.). – Der Narr u. die Mandelblüte. 1935 (R.). – Tropensymphonie. 1936 (R.). – Seltsame Pfade auf zehn Grad Süd. 1937 (E.en). – Yangtsekiang. Ein Chinaroman. 1940. U. d. T. Gelber Strom. 1954. – Ultima Esperanza. Aufstieg u. Fall des Königs v. Feuerland. 1950. – Bestie Ich. Jugendbiogr. Neuausg. der Autobiogr. v. 1927. 1952. – Schwarzer Hanf. Roman eines Rauschgiftes. 1956. – Der Weg nach Dien Bien Phu. Roman einer Kolonie. 1957.

Literatur: Hubert Matt-Willmatt: Das Abenteuer im Leben u. Werk v. E. F. L. (1899–1976). Freib. i. Br. [1998] (Biogr.). Christian Schwarz / Red.

Löhneyß, auch: Löhneysen (Autograf), Georg Engelhard, * 27.3.1552 Seckendorf/Oberpfalz, † 1.12.1622 Remlingen bei Wolfenbüttel. – Sachbuchpublizist. L. trat zunächst in den Dienst des Kurfürsten August von Sachsen (1575–1583), dann diente er Herzog Heinrich Julius von Braunschweig-Lüneburg als Stallmeister, spätestens seit 1593 auch als Berghauptmann. In Remlingen u. Zellerfeld/Harz unterhielt L. eine Privatdruckerei. Im Zuge seiner höf. Amtstätigkeiten schuf er ein hippolog. Kompendium Della Caualleria [...] Bericht von allem was zu der Reutterei gehorig (Tle. 1/2, o. O. [Remlingen] 1609/10. Nachdr. Hildesh. 1977. Remlingen 1624. U. d. T. Hof- Kriegs- und ReitSchul erw. hg. v. Valentin Trichter. Nürnb. 1729), das außer pferdekundl. Wissen einschließlich einer »Roßartzney« (Buch 6) auch eine Verhaltenslehre für »Hofmänner« enthält, mit anonymisiertem Lehrgut François de la Noues zur Adelserziehung bekannt machte u. Einblicke in »Ritterspiele«, Turnierpraxis, Festzüge u. weitere Formen höfischer Repräsentation gewährt. Aus seinen montanist. Aufgaben im Harz erwuchs sein Bericht/ Vom Bergkwerck (Zellerfeld 1617. Stockholm/Hbg. 1690), ein großteils aus Lazarus Erckers Beschreibung: Allerfürnemisten [...] Ertzt/ vnnd Berckwercks arten (Prag 1574 u. ö.), aber auch aus einschlägigen Werken von Johannes Mathesius u. Georg Agricola gespeistes Werk. Schließlich schuf L. mit seiner umfängl. Aulico-Politica oder Hof- Staats-, und Regierkunst (Remlingen 1622. Hg. v. Johann Andreas Gerhard. Ffm. 1679) einen enzyklopäd. Fürstenspiegel, der über Erziehung u. Pflichten eines Regenten samt seiner Räte, Offiziere u. Diener informiert. L.’ Werk bietet eine weitgehend kompilator. Leistung u. behauptete ausweislich mancher Nachdrucke über ein Jahrhundert seinen Gebrauchswert. Weitere Werke: Bericht vnnd Ordnung der Gebis. Ms. KA 496, Dresden, LB (1576; gewidmet August v. Sachsen). – Von Zeumen. Cod. 10794,

477 Wien, NB (1578; gewidmet Herzog Ludwig v. Württemberg). – Dass., o. O. 1588 (gewidmet Heinrich Julius v. Braunschweig-Lüneburg; auch in: Zwey [...] bücher v. Stangen vnd mundstücken. Ffm. 1609). – Ber. über Festaufzug u. Turnier zu Ehren v. Christian IV. v. Dänemark in Hamburg 1603. Ms. H. 3, Dresden, LB (Remlingen, 27.1.1604, gewidmet Christian II. v. Sachsen). Literatur: Martin Wedemeier: Leichpredigt. Remlingen 1623. – Theodor Inama v. Sternegg: L. In: ADB. – W. Hommel: Berghauptmann Löhneysen, ein Plagiator des 17. Jh. In: Chemiker-Ztg. 36 (1912), Nr. 15, S. 137 f. – Kurt Zielenziger: Die alten dt. Kameralisten. Ein Beitr. zur Gesch. der Nationalökonomie u. zum Problem des Merkantilismus. Jena 1914, S. 455–458. – Wilhelm Prandtl: Die erste Ausg. v. G. E. L.’ Ber. vom Bergkwerck. In: Ztschr. für Bücherfreunde 39 (1935), S. 15–22. – Horst Dreitzel: Protestant. Aristotelismus u. absoluter Staat. Die ›Politica‹ des Henning Arnisaeus (ca. 1575–1636). Wiesb. 1970, S. 162–168. – Norbert Conrads: Ritterakademien der frühen Neuzeit. Bildung als Standesprivileg im 16. u. 17. Jh. Gött. 1982, S. 100–104. – Wilhelm Kühlmann: Gelehrtenrepublik u. Fürstenstaat. Entwicklung u. Kritik des dt. Späthumanismus in der Lit. des Barockzeitalters. Tüb. 1982, S. 341 f. – Jesper Düring Jørgensen: Introduktion til G. E. Löhneyssens ridebøger i Det kongelige Bibliotek. In: Fund og Forskning 34 (1995), S. 35–60. – Ders.: G. E. Löhneysen. Fra den skrevne bidbog til den trykte ridebog. Ebd. 36 (1997), S. 11–43. – Mara R. Wade: G. E. Loehneyss’ ›Della Cavalleria‹ als höf. Kunstlehre. In: Künste u. Natur in Diskursen der Frühen Neuzeit. Hg. Hartmut Laufhütte. Tl. 1, Wiesb. 2000, S. 577–589. – Jill Bepler: Practical Perspectives on the Court and Role of Princes. G. E. v. Loehneyss’ ›Aulico Politica‹ 1622–24 and Christian IV of Denmark’s ›Königlicher Wecker‹ 1620. In: Daphnis 32 (2003), S. 137–163. – M. R. Wade: Publication, Pageantry, Patronage. G. E. v. Loehneyss’ ›Della Cavalleria‹ (1609; 1624) and His Hamburg Tournament Pageant for King Christian IV of Denmark (1603). Ebd., S. 165–197. – Christoph Reske: Die Buchdrucker des 16. u. 17. Jh. im dt. Sprachgebiet. Auf der Grundlage des gleichnamigen Werkes v. Josef Benzing. Wiesb. 2007, S. 784, 1032. Joachim Telle

Löhr

Löhr, Johannes Andreas Christian, auch: J. C. F. Müller, Carl Friedrich Schmidt, Eduard Wild, Philadelphus Alethes, * 18.5.1764 Halberstadt, † 28.6.1823 Zwenkau bei Leipzig. – Pfarrer, Pädagoge. Der Vater, ein Kriegsinvalide u. Zolleinnehmer, wurde 1768 nach Wernigerode versetzt, wo L. 1776–1782 das Gymnasium besuchte. Seiner während des Theologiestudiums in Halle durch Armut zerrütteten Gesundheit trotzte er zeitlebens durch ständiges Arbeiten. Nach dreijähriger Hauslehrertätigkeit wurde er 1787 Prediger in Delitz u. 1793 in der Merseburger Vorstadt Altenburg. Seine Predigten fielen auf. 1813 wurde L. Oberpfarrer in Zwenkau. L.s im Geist der Aufklärung verfasste Bilderbücher, oft reich illustriert, setzen auf die Lernlust der Kinder, wie er überhaupt gern das Unterhaltungsbedürfnis der Leser berücksichtigt (Räthsel und Charaden für Jung und Alt. Lpz. o. J.). Neben faktischem Wissen in den Naturwissenschaften galt L.s besondere Sorge dem sittl. Gefühl, das durch empfindsame Erzählungen geweckt u. gebildet werden sollte. Daneben fasste er seine Kenntnisse aus dem Obst- u. Gemüseanbau im Pfarrgarten in volksbildenden Schriften zusammen. Viele seiner etwa 50 selbständigen Schriften wurden neu aufgelegt u. ins Französische übersetzt. Weitere Werke: Erste Vorbereitungen für Kinder. 4 Bde., Lpz. 1800 (Bd. 4: Gemeinnützige Kenntnisse). – Die Wunder der Thier- u. Pflanzenwelt [...]. Ffm. 1805. – Ludwig u. seine Gespielen, oder leichte Übungen für Verstand u. Herz [...]. Lpz. 1810. – Mancherlei Begebenheiten u. Gesch.n aus dem Leben des kleinen Andreas. Lpz. 1820. – Der vollst. Haushalt [...]. Lpz. 1821. – Erzählungen u. Gesch.n für Herz u. Gemüt der Kindheit u. Jugend. Lpz. 1822. – Die kirchl. Dinge [...]. Lpz. 1823. Literatur: F. A. Schmidt: NND (1824), S. 546–556 (mit ausführl. Bibliogr.). – Jacob Franck: L. In: ADB. – Reinhard Stach: L. In: LKJL. Ulrike Leuschner / Red.

Loen

Loen, Loën, Johann Michael von, auch: Chrisolocosmopophilopax, Sylvander von Edelleben, Christian Gottlob von Friedensheim, * 11.12.1694 Frankfurt/M., † 24.7.1776 Lingen; Grabstätte: ebd., Reformierte Kirche. – Jurist, Theologe, Staatswissenschaftler, Historiker, Essayist, Roman- u. Reiseschriftsteller, Übersetzer. L.s Vater Michael Loen stammte aus einer niederländ. Kaufmannsfamilie reformierten Bekenntnisses, die 1623 nach Deutschland ausgewandert war, seine Mutter Marie, geb. Passavant, ebenfalls reformiert, aus einer Schweizer, urspr. frz. Familie. L. besuchte die öffentl. Schule in Frankfurt/M. u. kam als 13Jähriger auf das Internat Birstein bei Gelnhausen. Er studierte Jura sowie die Schönen Wissenschaften u. Künste in Marburg (1711) u. Halle (1712–1715). Zu seinen akadem. Lehrern zählten der Naturrechtler Christian Thomasius u. der Völkerrechtler Nicolaus Hieronymus Gundling. 1715/16 war L. in Wetzlar als Jurist tätig. 1716–1724 befand er sich auf ausgedehnten Reisen durch Europa. Wichtige Stationen waren Regensburg, Augsburg, Nürnberg, Jena, Wien, Berlin, Dresden, Mannheim, Straßburg, Paris, Prag u. Breslau. In seiner Heimatstadt Frankfurt heiratete L. 1729 Katharina Sibylla Lindheimer, die Schwester von Goethes Großmutter Textor – L. wurde so Goethes Großonkel. Günstige Vermögensverhältnisse ermöglichten ihm ein unabhängiges, der Wissenschaft u. Kunst gewidmetes Leben; er erwarb u. a. das Kupferstich-Kabinett der Familie Merian. Seine Bibliothek war so umfangreich, dass er eine Bestandsaufnahme begann: Bibliotheca Loëniana selecta realis systematica (o. O. [Ffm.] 1734, nicht fortgesetzt). Mehrfach äußerte der preuß. Staat Interesse an der Person L.s, aber erst 1752 nahm dieser den Ruf Friedrichs II. auf die Stelle des Regierungspräsidenten der Grafschaften Tecklenburg u. Lingen an u. zog nach Lingen. Ein Grund für diesen späten Entschluss war die Enttäuschung über das negative Echo, das sein Buch Die einzige wahre Religion, allgemein in ihren Grundsätzen, verwirret durch die Zänkereyen

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der Schriftgelehrten, zertheilet in allerhand Seiten, vereiniget in Christo (2 Tle., Ffm./Lpz. 1750. 2 1750. 31751 u. ö. Übers. ins Französische, Lateinische, Niederländische) v. a. in Frankfurt hervorrief; Goethe hat sich im zweiten Buch von Dichtung und Wahrheit dazu geäußert. Im Siebenjährigen Krieg wurde L. von den Franzosen als Geisel nach Wesel deportiert u. lebte dort 1757–1761 in erbärml. Verhältnissen. 1765 erbat u. erhielt er vom König seinen Abschied. In den letzten Lebensjahren verlor er seine Sehkraft fast völlig; der Arzt, der ihn erfolglos operierte, war Johann Heinrich Jung-Stilling. In L.s umfangreichem u. vielseitigem Werk sind Theologie, Staatswissenschaft u. politisch-didakt. Belletristik als Schwerpunkte auszumachen. L.s religiöse Überzeugungen sind von aufklärerischer Toleranz geprägt u. von Fénelon beeinflusst. Er übersetzte einige Schriften Fénelons ins Deutsche (Geistliche Schriften. 2 Tle., Ffm. 1737–43. Gespräche der Todten. 2 Tle., Ffm. 1745. Kurze Lebensbeschreibungen und Lehrsätze der alten Weltweisen. Ffm./Lpz. 1748) u. würdigte ihn als Staatsmann in seinem Buch Das Bild eines weisen Mannes und eines Christen am Hofe in dem Leben des Erzbischofs Fenelon (Ffm. 1743). Bemerkenswert ist außerdem L.s Interesse an Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf u. seiner Herrnhuter Brüdergemeine, deren Einzelgängertum u. Missionseifer er nicht akzeptieren konnte, deren christl. Lebenspraxis er aber schätzte. Die Schrift Der vernünftige Gottesdienst nach der leichten Lehrart des Heilandes (Ffm. 1738. 31741) bezieht sich auf Zinzendorf. L.s immer wieder formuliertes Anliegen ist die Wiedervereinigung der christl. Konfessionen in einer von Dogmen u. Satzungen unbelasteten Kirche. Die Aussöhnung zwischen Lutheranern u. Reformierten ist ihm der wichtigste Schritt auf dem Weg zu diesem Ziel; darum geht es bereits in der Schrift Evangelischer Friedenstempel (Ffm. 1724), eindringlicher dann in seinem Hauptwerk Die einzige wahre Religion, das er Friedrich II. widmete. L.s staatswiss. Schriften beschäftigen sich mit den verschiedensten Einzelproblemen u. wählen unterschiedl. Textsorten für ihre

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Darstellung. Sein Entwurf einer Staatskunst (Ffm. 1747), zu dem es eine anonyme Gegenschrift u. zu dieser eine Erwiderung L.s gibt, nutzt die Form des ausführl. Traktats. Seine Freyen Gedanken zur Verbesserung der Menschlichen Gesellschaft (Ffm./Lpz. 1746/47. 2 1750. 31752) versammeln Texte, die überwiegend in der pointierten Sprache des Essays erscheinen, sie nutzen aber auch die fiktionale Erzählweise in der Nachfolge von Montesquieus Lettres Persanes (1721) – Schreiben eines Utopianers, von den Sitten und Mängeln der Europäer – u. die Form des Briefes bzw. des polit. Testaments: Lehren eines Hofmeisters an seinen jungen Prinzen, als er die Regierung antrat. L. tritt für einen aufgeklärten Absolutismus im weitesten Sinne ein. Zum personenbezogenen Bekenntnis wird diese Haltung in der Rezension des Antimachiavell (1740) Friedrichs II., Von der Staats-Kunst des Machiavels (in: Gesammelte kleine Schriften. Bd. 4, Ffm. 1752, S. 270–281). L.s für die Literaturgeschichte bedeutendster Text ist der Roman Der redliche Mann am Hofe; oder die Begebenheiten des Grafens von Rivera (Ffm. 1740. 51760 u. ö. Übers. ins Französische u. Niederländische). Der Text steht in der Tradition des durch Fénelons Télémaque (1699) begründeten, durch André Michel de Ramsay u. Jean Terrasson fortgeführten romanhaften Fürstenspiegels u. stellt das erste dt. Beispiel dieser Gattung dar. Sein Protagonist, der bürgerl. Tugenden vertritt, reist als polit. Heilsbringer von Hof zu Hof. Im Zentrum des Werks, das noch nach dem Muster des barocken heroisch-galanten Romans eine Liebesgeschichte enthält u. weitere Lebensläufe einflicht, steht die krit. Polarisierung zweier Staatswesen: In »Christianopolis« (der Name erinnert bewusst an den Gesellschaftsentwurf Andreaes von 1619) wird ein utop. Ideal gefunden, in »Alpina« jedoch muss der Reformator hart durchgreifen. Dessen Reformprogramm, die Freyen Gedancken von der Verbesserung des Staats, ist dem Text als Anhang beigegeben. L.s Roman wurde parodiert (Die redliche Frau am Hofe. Hof/Bayreuth 1760 u. Ffm. 1770; beide anonym); Wilhelm Christhelf Mylius nahm ihn auszugsweise in seine »Bibliothek der Romane« auf (Bd. 1, Bln. 1778).

Loen Weitere Werke: Höchst bedenkl. Ursachen, warum beyderseits Luth. u. Reformirte in Fried u. Einigkeit sollen zusammenhalten. Ffm. 1725. 2 1727. – Sylvanders v. Edelleben zufällige Betrachtungen v. der Glückseligkeit der Tugend. Ffm. 1726. – Herrn Sylvanders v. Edelleben Bedenken vom Separatismo u. Vereinigung der Religionen. Ffm. 1736. 21737. – Die Güldene Bulle Kaiser Carls IV. Ffm. 1741 (Übers.). – Der Kauffmanns-Adel. Ffm. 1742. – Le soldat ou le métier de la guerre. Ffm. 1743. 21752. – Neue Slg. der merkwürdigsten Reisegesch.n. 5 Tle., Ffm. 1748–52. – Kurzer Entwurff der allg. Religion zur Wiedervereinigung der Christen. Ffm. 1750. 21753. Verb. Aufl. Lingen 1754 (auch frz.) – Moral. Gedichte. Hg. Christian Nikolaus Naumann. Ffm./Lpz. 1751. – Tractat vom Adel. Ulm u. a. 1752. U. d. T.: Freye Gedanken v. Hofe, v. Adel, der Policey [...]. Ffm./Lpz. 1768. Ausgaben: Der redl. Mann am Hofe. Ffm. 21742. Nachdr. Stgt. 1966. – Dass. In: Dt. Lit. v. Luther bis Tucholsky. Bln. 2005 (CD-ROM). – Ges. kleine Schr.en. 4 Bde., Ffm. 1749–52. Nachdr. in 2 Bdn. Ffm. 1972. – Der Adel. Ulm 1752. Nachdr. Königst./Ts. 1982. – The Honest Man at Court. Übers. v. John R. Russell. Columbia 1997. – Internet-Ed. diverser Texte in: Dt. Lit. des 18. Jh. Online. Hg. Paul Raabe. Mchn. 2007. – Briefwechsel: Leonhard Euler: Correspondance / Briefw. (Opera omnia. Ser. 4). Bd. 7, hg. v. Siegfried Bodenmann u. a. Basel 2009. Literatur: Christiane Büchel: J. M. v. L. im Wandel der Zeiten. Eine kleine Forschungsgesch. In: Das achtzehnte Jh. 16 (1992), S. 13–37 (umfassendes Verz. der älteren Lit.). – Wolfgang Biesterfeld: Die Christianopolis-Episode in J. M. v. L.s Roman ›Der redliche Mann am Hofe‹ (1740). In: Ders.: Aufklärung u. Utopie [...]. Hbg. 1993, S. 108–113. – Wilhelm Voßkamp: Die Macht der Tugend. Zur Poetik des utop. Romans am Beispiel v. Schnabels ›Insel Felsenburg‹ u. v. L.s ›Der redliche Mann am Hofe‹. In: Dichtungstheorien der dt. Frühaufklärung. Hg. Theodor Verweyen. Tüb. 1995, S. 176–186. – Hans Reiss: On Peace in Europe. The Views of J. M. v. L. (1694–1776). In: Schein u. Widerschein. FS T. J. Casey. Hg. Eoin Bourke u. a. Galway 1997, S. 15–23. – Johann Erich Maier: Gnade u. Ästhetik. Von der Wiedergeburt zur Gnadenpoetik. Ffm. u. a. 1998. – Wolfram Malte Fues: Fiktionalität im Übergang. J. M. v. L.s ›Redlicher Mann am Hofe‹ u. C. H. Korns ›Tugendhafte und redliche Frau am Hofe‹. In: Simpliciana 20 (1998), S. 211–227. – Jean Delinière: Le courtisan idéal. Un portrait comparé d’après ›Il libro del cortegiano‹ de Baldassar Castiglione et ›Der redliche Mann am Hofe‹ de J. M. v. L. In: Le texte et

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l’ideé 13 (1999), S. 25–43. – C. Büchel: Der Offizier im Gesellschaftsbild der Frühaufklärung. Die Soldatenschriften des J. M. v. L. In: Aufklärung 11 (1999), S. 5–23. – Ludwig Stockinger: Liebe, Staatsreform u. Fürstenerziehung. Anmerkungen zu einer erotisch-polit. Figurenkonstellation in der dt. Lit. des 18. Jh. In: Begegnung der Zeiten. FS Helmut Richter. Hg. Regina Fasold u. a. Lpz. 1999, S. 49–60. – Friedrich Vollhardt: Selbstliebe u. Geselligkeit [...]. Tüb. 2001. – Thilo Daniel: J. M. v. L.s Auseinandersetzung mit Nikolaus Ludwig v. Zinzendorf u. der Brüdergemeine. In: Goethe u. der Pietismus. Hg. Hans-Georg Kemper u. a. Tüb. 2001, S. 25–43. Wolfgang Biesterfeld / Red.

Löns, Hermann, auch: Fritz von der Leine, Ulenspeigel, * 29.8.1866 Kulm (Chelmno)/Westpreußen, † 26.9.1914 bei Reims. – Dichter, Erzähler. /

Der als »Dichter der Lüneburger Heide« berühmt gewordene L. lebte bis zu seinem 18. Lebensjahr in Westpreußen, erst in Kulm, dann in Deutsch-Krone. In Münster, wohin sein Vater, der Lehrer Friedrich Löns, versetzt worden war, bestand L. mit Mühe das Abitur. Seine Versuche, ein Studium zu absolvieren (1887–1890) – erst Medizin, später auch Mathematik und Naturwissenschaften –, scheiterten an Alkoholexzessen u. finanziellen Problemen. L. versuchte als Journalist Fuß zu fassen u. arbeitete 1891 als Hilfsredakteur bei der »Pfälzischen Presse« in Kaiserslautern, 1892 als Redakteur bei der sozialdemokrat. »Reußischen Tribüne« in Gera. Erfolg hatte er erst in Hannover, wo er ab 1892 für den »Hannoverschen Anzeiger« schrieb. Bekannt wurde er mit satir. Lokalplaudereien unter dem Pseud. Fritz von der Leine (1902 Buchfassung: Ausgewählte Werke von Fritz von der Leine. Hann.). 1902 gründete er die »Hannoversche Allgemeine Zeitung«, die ihr Erscheinen 1904 wieder einstellte. Danach arbeitete er bis 1908 für das »Hannoversche Tageblatt«, wo er Glossen unter dem Pseud. Ulenspeigel verfasste. Von 1907 bis 1909 leitete er in Bückeburg die »Schaumburg-Lippische LandesZeitung«. Während seiner journalist. Tätigkeit suchte L. nach schriftstellerischer Anerkennung, verleugnete dabei aber seine künstlerischen

Anfänge, die sich deutlich an der modernen Literatur des ausgehenden 19. Jh. orientierten. In den Jahren 1884 bis 1890 verfasste er Gedichte im naturalist. Stil u. mit sozialrevolutionärem Anspruch (Grotemeyersche Handschrift im Stadtarchiv Münster, Bestand »Handschriften«, Nr. 129). In seinen späteren Gedichten überwiegen volksliedhafte Anklänge u. die eskapist. Darstellung einer Natur-Idylle. In seinen Erzählungen u. Romanen spiegeln sich sozialdarwinist. u. rassist. Ideen, die in einer Verherrlichung eines german. Bauerntums gipfeln. 1901 erschienen der Gedichtband Mein goldenes Buch (Hann.) u. die Erzählsammlung Mein grünes Buch (Hann.), ohne jedoch auf große Resonanz zu stoßen. Der literar. Durchbruch gelang in den Jahren 1909/10. Mit den Tiererzählungen aus dem Band Mümmelmann (Hann. 1909) u. den Bauernromanen Der letzte Hansbur (Hann. 1909), Dahinten in der Heide (Hann. 1910) u. Der Wehrwolf (1910) wurde L. bekannt. Er konnte sich vom Odium des journalist. Alles-Schreibers befreien, u. die Kritik erhob ihn in den Rang eines seriösen Schriftstellers, zumal sein Wehrwolf-Roman bei einem der bedeutendsten Verleger jener Zeit erschien, bei Eugen Diederichs in Jena. L. selbst sah sich als einer der führenden Schriftsteller der Heimatkunstbewegung. L. nutzte seinen Erfolg u. brachte 1911 gleich fünf neue Bücher auf den Markt: Kraut und Lot (Hann.), eine Sammlung von Jagderzählungen, Da draußen vor dem Tore (Hann.), in dem Naturerzählungen überwiegen, Der Zweckmäßige Meyer (Hann.) mit humorist Erzählungen, den Lyrikband Der kleine Rosengarten (Jena), dessen Gedichte später oft vertont u. in der Wandervogelbewegung gesungen wurden, u. den Roman Das zweite Gesicht (Jena 1912). In diesem autobiografisch gefärbten Künstlerroman verarbeitete L. seine Beziehung zu einer Cousine seiner zweiten Frau. Die daraus resultierende persönl. Krise, verstärkt durch L.’ Alkoholprobleme u. seine Wahnvorstellungen, führten zum Scheitern seiner Ehe. Lisa Hausmann-Löns verließ im Juli 1911 mitsamt dem behinderten Sohn Dettmer ihren Mann. L. kündigte seine Stellung beim »Hannoverschen Tageblatt« u.

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begann ein Wanderleben. Nach Aufenthalten in Österreich, der Schweiz u. den Niederlanden kehrte er 1912 nach Hannover zurück, konnte aber nicht mehr an seine Erfolge anknüpfen u. wiederholte die Muster seiner Natur- u. Jagderzählungen. 1912 erschienen Auf der Wildbahn (Hann.), 1913 Heidbilder (Hann.), eine erweiterte Neuausgabe des Braunen Buchs (1906), u. Mein buntes Buch (Hann.). Als der Erste Weltkrieg begann, meldete sich L. als Freiwilliger u. starb nach knapp vierwöchiger Dienstzeit in der Nähe von Loivre (bei Reims). Sein Kriegstagebuch, zumeist abgehackte Notizen, wurde 1988 u. d. T. Leben ist Sterben, Werden, Verderben (Hg. Karl-Heinz Janßen u. Georg Stein. Kiel) veröffentlicht. L.’ Tod im Krieg, seine Selbststilisierung als »Jägerpoet« u. die Überhöhung von Bauern- u. Germanentum in seinen Romanen ließen einen L.-Kult entstehen. In den 1920er Jahren galt L. als Pionier der Naturschutzbewegung, als Sänger der Wandervögel u. erklärter Dichter völkischer u. konservativer Kreise. Sein Wehrwolf-Roman, in dem Bauern aus dem Dreißigjährigen Krieg gegen marodierende Soldaten kämpfen, wurde zum Gegenstand polit. Propaganda. Im »Dritten Reich« gab es den Versuch einer großen Inszenierung um die Gebeine L.’, die angeblich in Frankreich aufgefunden worden waren u. dann in der Lüneburger Heide beigesetzt werden sollten. Doch Streitigkeiten innerhalb der NS-Bürokratie u. Gerüchte um die Authentizität der L.-Gebeine verhinderten eine groß angelegte Propaganda-Feier. Zwar organisierte 1935 die Wehrmacht ein Begräbnis in der Nähe von Walsrode, doch ruhen L.’ sterbl. Überreste sehr wahrscheinlich immer noch auf einem Soldatenfriedhof in Loivre. Nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte die L.Rezeption einen neuen Aufschwung, als das Kino seine Sujets entdeckte. 1951 kam Grün ist die Heide, benannt nach einem L.-Gedicht, in die Kinos u. wurde zu einem der erfolgreichsten Heimatfilme der Bundesrepublik. In den 1980er Jahren wurde L. als Vorläufer der Ökologiebewegung entdeckt, wobei aber zumeist die nationalistischen u. rassist.

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Komponenten in seinem Werk ausgeblendet wurden. Weitere Werke: Mein blaues Buch. Balladen u. Romanzen. Hann. 1909. – Was da kreucht u. fleucht. Ein Tierbuch. Bln. 1909. – Die Erhaltung unserer Tierwelt. Mchn. 1909. – Aus Wald u. Heide. Gesch.n u. Schilderungen. Hann. 1909. – Frau Döllmer. Humoristisch-satir. Plaudereien. Hann. 1916 (Pseud. Fritz v. der Leine). – Aus Forst u. Flur. Vierzig Tiernovellen. Hg. K. Soffel. Lpz. 1916. – Die Häuser v. Ohlenhof. Der Roman eines Dorfes. Hann. 1917. Gesamtausgaben: Sämtl. Werke in acht Bänden. Hg. Friedrich Castelle. Lpz. 1923/24. – Nachgelassene Schr.en. Hg. Wilhelm Deimann. 2 Bde., Lpz./ Hann. 1928 [Bd. 1.: Mein niedersächs. Skizzenbuch; Bd. 2: Naturwiss. Aufsätze u. Plaudereien]. – Werke. Gesamtausg. Hg. Wilhelm Deimann. 5 Bde., Hbg. 1960. – Ausgew. Werke. Hg. Hans A. Neunzig. 5 Bde., Mchn. 1986. Literatur: Walther Machleidt: Die Naturschilderungen bei H. L. Diss. Hbg. 1923. – Alfred Potthoff: H. L. u. das Volkslied. Hann. 1928. – Wilhelm Deimann: Der Künstler u. Kämpfer. Eine Lönsbiogr. u. Briefausg. Hann. 1935. – Jean Porée: H. L. écrivain animalier. Lille 1953. – Stanley Radcliffe: H. L. als Gesellschaftskritiker. Liverpool 1955 (Magisterarbeit). – Hedwig Gunnemann: Hss. v. H. L. In: Mitt.en. Stadt- u. Landesbibl. Dortmund, N. F. (1964), H. 6, S. 22–109. – W. Deimann: Der andere L. Eine biogr. Studie. Münster/Hameln 1965. – Uwe Kothenschulte: H. L. als Journalist. Dargestellt am Beispiel seiner Tätigkeit bei der ›Hannoverschen Allgemeinen Zeitung‹ u. bei der ›Schaumburg-Lippischen Landes-Zeitung‹. Dortm. 1968. – Martin Anger: H. L. Schicksal u. Werk aus heutiger Sicht. Braunschw. 21986. – Karl-Heinz Beckmann: H. L. Ein bedeutender westfäl. Malakologe. Wiesb. 1988. – M. Travers: The Threat of Modernity and the Literature of the Conservative Revolution in Germany: H. L.’ ›Der Wehrwolf‹. In: New German Studies 17 (1992/93), Nr. 1, S. 29–47. – Thomas Dupke: Mythos L. Heimat, Volk u. Natur im Werk v. H. L. Wiesb. 1993 (Diss. Bln. 1992). – Ders.: H. L. Mythos u. Wirklichkeit. Eine Biogr. Hildesh. 1994. – K.-H. Beckmann: H. L. – sein Werk. Prodromus zu einer umfassenden L.-Bibliogr. Eine Auswahlbibliogr. mit Komm.en. Ascheberg-Herbern 1996. – T. Dupke: Mythos L. Zur Rezeption einer Zentralfigur der Lüneburger Heide. In: Ja, grün ist die Heide ... Aspekte einer bes. Landschaft. Hg. Horst Brockhoff u. a. Ehestorf 1998, S. 245–264. – Horst Zänger: H. L. Der Heidedichter 1887 als Student in Greifswald. In: Mecklenburg Bd. 41 (1999), S. 18. – Karl Cajka: H.

Loerke L. auf der Flucht. Auf den Spuren v. ›Hermann Heimlos‹ in Österr., der Schweiz u. Holland, Ascheberg-Herbern 2004. – K.-H. Beckmann (Hg.): Autographen H. L., Lisa Löns u. Umfeld an Elfriede Schönhagen-Rotermund in der Zeit v. 1907 bis 1914. Klagenf. 2005. – Bomann Museum Celle/ Landwirtschaftsmuseum Lüneburger Heide e.V. (Hg.): Jagd in der Lüneburger Heide. Beiträge zur Jagdgesch. Begleitpublikation zur Ausstellung. Celle 2006. – Rolf Brunk: Anmerkungen zu H. L. Eine biogr. Skizze. Hermannsburg 22006. – Gerhard Zahmel: H.-L.-Gedenkstätten. Verz. des Verbandes der H.-L.-Kreise in Dtschld. u. Österr. e.V. Walsrode 2006. – K.-H. Beckmann u. Hans-Karl Schönhagen (Hg.): Briefw. Lisa Löns u. Elfriede Rotermund aus den Jahren 1922–55. Klagenf. 2008. Thomas Dupke

Loerke, Oskar, * 13.3.1884 Jungen (heute Wiag) bei Schwetz (S´wiecie)/Weichsel, † 24.2.1941 Berlin-Frohnau; Grabstätte: Friedhof Frohnau (Ehrengrab). – Lyriker, Erzähler, Essayist u. Kritiker, Lektor. Dem Bauernsohn aus protestant. Familie in Westpreußen hat sich die »Größe und Stille« der Stromlandschaft, in der er aufwuchs, tief eingeprägt. Was er dieser (mündlich nie verleugneten) Herkunft verdankte, hat er oft bedacht, gleichwohl zeitlebens danach getrachtet, die von Geografie u. Politik, Geschichte u. Religion gezogenen Grenzen zu überschreiten, u. hat als Heimat den ganzen Erdball angesehen. In Graudenz am anderen Weichselufer besuchte er das Gymnasium (Abitur 1903) u. studierte in Berlin Germanistik, Geschichte, Philosophie u. Musik (bis zum Wintersemester 1906/07, ohne Abschluss). Dort blieb er, erlebte auch »die moderne Großstadt« »als ein Stück Natur«, sah auf Fußwanderungen zum ersten Mal das Gebirge (Harz 1908, Riesengebirge 1909, Vogesen 1911), dann das Meer (Nordsee, Fischdampferfahrt 1912), auch auf kleineren Reisen alte u. moderne Kunst (Paris u. Belgien 1910). Als S. Fischer seine Erzählung Vineta annahm (Bln. 1907), riskierte L., literarisch unerprobt, die Laufbahn eines freien Schriftstellers, ohne rechten Erfolg als Erzähler. Das erste Gedichtbuch Wanderschaft (Bln. 1911), obschon noch schwankend in Ton u. Dichte u.

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mancherlei Früheres versammelnd, blieb nicht unbemerkt. Erst mit den Gedichten von 1915 (erste Veröffentlichung der Donnerstagsgesellschaft, Bln.) u. 1916 (erw. Verlagsausgabe Bln.) fand der Lyriker seine Sprache, auch Anerkennung bei Kritikern u. Rivalen. Der (geteilte) Kleistpreis zuvor schon, 1913, trug ihm ein Reisestipendium ein, erlaubte 1914 Aufenthalte in Nordafrika (Algerien, Sahara) u. Italien (Pompeji, Capri), zog nun auch Wüsten u. Vulkane in den Vorstellungsraum der Gedichte u. ließ »Morgenland« u. »Süden« darin zu wahrnehmungsgesättigten Chiffren werden. Als »ein im tiefsten unkriegerischer Mensch« verstörte ihn der Weltkrieg, war ihm »die allgemeine Wehrpflicht« überhaupt »ein Zwang und eines der größten Verbrechen« (Gedanken über den Krieg, 1914/15, gedr. 1951). Untauglich für die Front, schließlich doch zum Garnisondienst eingezogen, befreite ihn eine Reklamation: am 15.10.1917 trat er als Lektor bei S. Fischer an die Seite, dann an die Stelle des Freundes Moritz Heimann. Damals band er seine Existenz an diesen Verlag, dessen Autoren – Hauptmann, Thomas Mann, Döblin – seinen Wirkungskreis bestimmen sollten u. dessen Zeitschrift »Die neue Rundschau« sein wichtigstes Publikationsorgan war (neben dem »Berliner Börsen-Courier« in den 1920er Jahren, auch der »Weltbühne«). Als Rezensent begleitete er den expressionist. Aufbruch, auch Gottfried Benn, mit krit. Sympathie, scheute nicht den Skandal (Kleistpreis 1920 an Hans Henny Jahnn), misstraute raschen Erfolgen: in seinen Besprechungen u. Tagebüchern ein später gern befragter Zeuge u. Chronist. 1926 wurde er in die Preußische Akademie der Künste gewählt, 1928 zum Sekretär der »Sektion für Dichtkunst« bestellt, deren Jahrbuch er 1929 herausgab (darin seine Rede Formprobleme der Lyrik; u. d. T. Das alte Wagnis des Gedichtes. Bln. 1935). 1933 dieses Amts enthoben, blieb er weiterhin in der Akademie. Deren »Gleichschaltung« u. Niedergang sind in L.s Tagebüchern festgehalten, auch jene zwei ihm abgepressten u. ihn lange bedrückenden Unterschriften unter »Gelöbnisse« im Herbst 1933. Die von Hermann Kasack, dem befreundeten Nachlassverwalter,

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herausgegebene Auswahl Tagebücher 1903–1939 (Heidelb./Darmst. 1955 u. 1956. Ffm. 1986) ist für die »Jahre des Unheils« als herausragendes Dokument praktizierter, nicht nachträglich proklamierter »Innerer Emigration« aufgenommen worden. Es bezeugt die Rückzugsmanöver L.s, der die Nationalsozialisten für die »Totengräber Deutschlands« (1932) hielt, ebenso wie die Rücksicht auf alte Freunde u. auf den jüd. Verlag, für den er aus seinem Refugium, dem 1930 zus. mit der Lebensgefährtin Clara Westphal errichteten Haus in der Gartenvorstadt Frohnau, weiterarbeitete, auch unter der neuen Leitung Peter Suhrkamps. Mit diesem gemeinsam gab er zuletzt 1940 das Lesebuch Deutscher Geist noch unter dem alten Verlagsnamen heraus (2 Bde. Neue, erw. Ausg. Bln./Ffm. 1953). Dem von Krankheiten Heimgesuchten half Musik auf, am Klavier, wie früher, nun auch im Radio. Gedichte erschienen nach den Versbüchern von 1934 u. 1936 noch vereinzelt in der »Neuen Rundschau« u. als Privatdrucke von Victor Otto Stomps (Der Steinpfad, 1938 u. Kärntner Sommer, 1939); die meisten kursierten unter den Freunden als Handschriften. Kasack hat sie u. d. T. Die Abschiedshand (Bln. 1949) gesammelt: Verse, die den früheren Bilderreichtum reduzierten u. in direktere Spruchformen überführten. Das gesamte Gedichtwerk machte erst wieder Suhrkamps zweibändige Ausgabe der Gedichte und Prosa (Ffm. 1958. Einzelausg. Die Gedichte. Ffm. 1984) zugänglich, zus. mit den poetolog. Essays u. einer Auswahl der Schriften – ohne das Erzählwerk. Erzählungen u. Romane, von geringerem Gewicht, zumeist vor dem Ersten Weltkrieg entstanden, z.T. später veröffentlicht, fanden auch postum nur ein mittelbares Interesse (am Menschenbild, an frühen expressionist. Tendenzen), etwa die Novellensammlung Chimärenreiter (Mchn. 1919). Auszunehmen wäre der autobiografisch fundierte Roman Der Oger (Hbg./Bln. 1921), die Familiengeschichte eines Epileptikers, deren Grundthema die Rechtfertigung des Leidens in der Welt ist. Das Projekt eines Romans Die Fahrt in die Wüste gab L. nach einem Jahrzehnt re-

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signierend auf: Er sei »kein Erzähler«, sondern Lyriker. Dessen Anspruch, Rang u. Geltung beruht auf den über 700 Gedichten seiner (mit dem Vorspiel von 1911) sieben Gedichtbücher (alle Bln.): Pansmusik (Neuaufl. der Gedichte von 1916), 1929; Die heimliche Stadt, 1921; Der längste Tag, 1926; Atem der Erde, 1930; Der Silberdistelwald, 1934; Der Wald der Welt, 1936. Sie sind zu Zyklen geordnet, seltener auch schon als Folgen konzipiert. Die Bücher, viele Zyklen u. Gedichte haben Titel, die Bild u. Sinn emblematisch verknüpfen, variierend auf das Ganze der Welt verweisen. Befremdlich u. anziehend zgl. durch eine schrankenlose Empfänglichkeit für alle Lebensäußerungen, in Pflanze u. Tier wie im eigenen Leib, missachten die Gedichte Geschmackskonventionen, sind sorgfältig Wort für Wort gesetzt, dem »Zustrom« der Welt aber nur durch Form gewachsen, d.h. für L. durch Rhythmus. Er hält darum an den Formen geregelter Wiederkehr, an Metrum, Vers u. Strophe als einer elementaren Notwendigkeit fest u. begreift auch den Reim nicht als Schmuck, sondern als Wirklichkeit erschließendes u. verknüpfendes Organ. Zus. mit den Versen Wilhelm Lehmanns (der bis zu seinem Tode 1968 für die Gedichte des Freundes warb) haben diese durch genaue Benennung genau gesehener konkreter Phänomene, durch ungewohnte Topografien u. Simultanitätserfahrungen zur Erneuerung des Naturgedichts in Deutschland beigetragen, haben auf Günter Eich gewirkt, auf die »magische Landschaftsdichtung« seit 1930, v. a. auf die »Naturlyrik« der ersten Nachkriegsjahrzehnte. L.s Aufsätze, weit ausgreifend in Raum u. Zeit wie die Gedichte, entdecken Gegenwärtiges: im Westen (Flaubert), Süden (Leopardi), Norden (Aleksis Kivi), in Indien u. China (Laotse, Buddho, Pe-lo-thien), bei Besessenen u. Verschollenen (Quirinus Kuhlmann), Übersehenen (Robert Walser) u. längst Bekannten (Stifter); sie werben inständig für Jean Paul (Das unbekannteste Genie, 1924) u. kehren immer wieder zurück zu Goethe, zu Johann Sebastian Bach (Das unsichtbare Reich. Bln. 1935) u. Bruckner (Anton Bruckner. Ein Charakterbild. Bln. 1939), kehren ein bei be-

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freundeten Kümstlern (Emil Orlik, Emil Ru- Löscher, Valentin Ernst, * 8.1.1674 Sondolf Weiß, Renée Sintenis) u. zuletzt in der dershausen, † 12.2.1749 Dresden; Grabeigenen Werkstatt (Vom Reimen, 1935). Die stätte: ebd., Frauenkirche. – EvangeliTitel der Auswahlsammlungen waren Pro- scher Kontroverstheologe, Erbauungsgramm: Zeitgenossen aus vielen Zeiten (Bln. schriftsteller. 1925) u. Hausfreunde (Bln. 1939); die zweite L. wirkte nach seinem Studium zu Wittenbot gegen die verordnete Enge u. Privatheit berg u. einer Bildungsreise in die NiederlanHerders »Humanität«, Rückerts »Universade zunächst als Superintendent in Jüterbog lismus« auf. (1698) u. Delitzsch (1701), ging dann 1707 als Weitere Werke: Franz Pfinz. Bln. 1909 (E.). – Professor für Theologie an die Wittenberger Der Turmbau. Bln. 1910 (R.). – Das Goldbergwerk. Universität u. erhielt 1709 die Position eines Mchn./Wien/Zürich 1919 (N.). – Der Prinz u. der Tiger. Bln. 1920 (E.). – Reden u. kleinere Aufsätze. Superintendenten, ersten Pfarrers an der Hg. Hermann Kasack. Mainz 1957. – Reisetagebü- Kreuzkirche u. Mitglieds des Oberkonsistocher. Hg. Heinrich Ringleb. Heidelb./Darmst. riums zu Dresden. In dieser Stellung blieb er, 1960. – Der Bücherkarren. Besprechungen im Ber- trotz zahlreicher auswärtiger Berufungen, bis liner Börsen-Courier. Hg. H. Kasack. Heidelb./ zu seinem Tod. Darmst. 1965. – Literar. Aufsätze aus der ›Neuen Mit seiner Monatsschrift »Altes und Neues Rundschau‹. Hg. Reinhard Tgahrt. Heidelb./ Aus dem Schatz Theologischer WissenschaffDarmst. 1967. – Was sich nicht ändert. Gedanken u. ten« schuf sich L. ein lebenslang genutztes Bemerkungen zu Lit. u. Leben. Hg. R. Tgahrt. Instrument, seine theolog. Überzeugungen Marbach 1996. – Briefw. Gerhart u. Margarete zu verbreiten; sie begründete seinen Ruf als Hauptmann / O. L. Hg. Peter Sprengel. Bielef. 2006. – Nachlass: Deutsches Literaturarchiv Marbach a. N. führender Vertreter der luth. Orthodoxie. Ungeachtet zeitgenöss. ToleranzbestrebunLiteratur: Hermann Kasack: O. L. Charakterbild eines Dichters. Mainz/Wiesb. 1951. – Reinhard gen verteidigte L. seinen Standpunkt entTgahrt u. Tilman Krömer: O. L. 1884/1964. Eine schieden u. polemisch gegen die kath. Kirche Gedächtnisausstellung im Schiller-Nationalmuse- (Historie Des Römischen Huren-Regiments. Lpz. um Marbach. Stgt. 1964. – Walter Gebhard: O. L.s 1705) u. gegen die Reformierten (Außführliche Poetologie. Mchn. 1968. – Eberhard Wilhelm Historia Motuum zwischen den Evangelisch-LuSchulz: O. L. u. die Gesch. In: Ders.: Wort u. Zeit. therischen und Reformirten. Lpz. 1704–24). Neumünster 1968, S. 161–189. – Gerhard Neu- Breiten Raum in seinen Schriften nehmen die mann: O. L. In: Expressionismus als Lit. Hg. W. Auseinandersetzungen mit rationalist. TenRothe. Bern/Mchn. 1969, S. 295–308. – Heinrich denzen einerseits (Hobbes, Locke, Descartes, Nicolet: Die verlorene Zeit. Untersuchungen zur Thomasius, Wolff) u. dem Halleschen PietisStruktur der Einbildungskraft O. L.s. Zürich/Freib. mus andererseits ein. i. Br. 1969. – Marguerite Samuelson-Könneker: O. ème L.s zahlreiche weitere Schriften weisen ihn L. Le défi d’une poésie cosmique au XX siècle. Bd. 1.2, Toulouse 1982. – Gerhard Schulz: Zeitge- als humanistisch gebildeten u. umfassend dicht u. Innere Emigration. Zu O. L.s Gedichtbuch interessierten Polyhistor aus. Neben Schriften ›Der Silberdistelwald‹. In: Zeit der Moderne. zur Reform des Schul- u. Studienwesens (z.B. Bernhard Zeller zum 65. Geburtstag. Stgt. 1984, Breviarium continens Initia Eruditionis, Oder ABC S. 377–399. – R. Tgahrt (Hg.): O. L. Marbacher der Gelehrsamkeit. Delitzsch 1703) verdienen Kolloquium 1984. Mainz 1986. – W. Gebhard: die Erbauungsschriften bes. Erwähnung. Verbannung ins Innere. Überlegungen zur Typik Hier erscheint L. als erfahrener Prediger, der Inneren Emigration am Beispiel O. L.s. In: Lit. Liedautor u. Emblematiker (Die merckwürdigen des Exils u. der Emigration. Bayreuth 1986, Wercke Gottes in denen Reichen der Natur. DresS. 37–69. – R. Tgahrt (Hg.): Zeitgenosse vieler Zeiten. Zweites Marbacher L.-Kolloquium 1986. den 1724), der vielfach auf myst. Traditionen Mainz 1989. – Flugasche. Stgt. Jg. 12, Nr. 38: O. L.- (Tauler) u. liberale Vertreter des Luthertums Heft, Sommer 1991. – Christian Kohlroß: Theorie (Arndt) rekurriert. L. erweist sich so als Andes modernen Naturgedichts. O. L. – Günter Eich – hänger einer gemäßigten Reformorthodoxie. Rolf Dieter Brinkmann. Würzb. 2000. Reinhard Tgahrt

Literatur: G. Lechler: L. In: ADB. – Martin Greschat: Zwischen Tradition u. neuem Anfang. V.

485 E. L. u. der Ausgang der luth. Orthodoxie. Witten 1971. – Claus Petzoldt: Studien zu einer Biogr. V. E. L.s [...]. Diss. Lpz. 1971. – Harald Zimmermann: V. E. L., das finstere MA u. dessen Saeculum obscurum. In: Gesellsch., Kultur, Lit. Stgt. 1975, S. 259–277. – Ingetraut Ludolphy: L. In: NDB. – Herwarth v. Schade (Hg.): ›Geld ist der Hamburger ihr Gott.‹ Erdmann Neumeisters Briefe an V. E. L. Herzberg 1998. – Klaus Petzoldt: Der unterlegene Sieger. V. E. L. im absolutist. Sachsen. Lpz. 2001. – Jörg Baur: V. E. L.s ›Praenotiones theologicae‹. Die luth. Spätorthodoxie im polem. Diskurs mit den frühneuzeitl. Heterodoxien. In: Heterodoxie in der Frühen Neuzeit. Hg. Hartmut Laufhütte u. Michael Titzmann. Tüb. 2006, S. 425–475. Michael Schilling

Loest, Erich, auch: Hans Walldorf, Waldemar Naß, Bernd Diksen, * 24.2.1926 Mittweida/Sachsen. – Schriftsteller, Hörspielautor u. Journalist. L., Sohn eines Eisenwarenhändlers, war ab 1936 Mitgl. im Deutschen Jungvolk u. in seiner Jugend überzeugter Nationalsozialist. 1944 erfolgten die Einberufung zum Grenadier-Ersatzbataillon Zeithain u. die Teilnahme am Frontkrieg, zuletzt als Werwolf hinter den amerikan. Linien. Nach kurzer amerikan. Gefangenschaft arbeitete er nach 1945 in der Landwirtschaft u. der Industrie, bevor er als Redakteur zur Leipziger »Volkszeitung« ging. Begabung u. neues polit. Engagement (1947 Eintritt in die SED) förderten die Journalisten- u. Schriftstellerkarriere. Sein erster Roman, Jungen die übrigblieben (Lpz. 1950. Ffm. 1985. Zuletzt Mchn. 2006), wurde im Winter 1947/48 geschrieben. Das Buch handelt von jungen Menschen u. ihren Erfahrungen mit Krieg u. Nationalsozialismus bis in die ersten Nachkriegsjahre hinein. Bereits hier zeigt sich L.s literar. Prinzip, das er in seiner Autobiografie Durch die Erde ein Riss (Hbg. 1981. Lpz. 1990) beschreibt: Die Nähe zum eigenen Leben ist immer gegeben, es ist »so gut wie nichts erfunden«. Die Themen Krieg u. Nationalsozialismus bleiben in L.s Werk virulent u. werden wieder aufgenommen z.B. in der Erzählung Die Rückkehr des Werwolfs (Saison in Key West. Mchn. 1986) u. in dem Roman Der Abhang (Bln./DDR) von 1968. Geschrieben nach der Haft in Bautzen, ist

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dieser Roman nicht nur ein Kriegsroman, sondern zudem eine Auseinandersetzung mit dem Thema Macht u. Schuld u. den ideolog. Kehrtwenden um der Macht willen. Der gegen sein Erstlingswerk von der offiziellen Literaturkritik erhobene Vorwurf der »Standpunktlosigkeit« kostete L. seine Stelle bei der Leipziger »Volkszeitung«. Um nicht in der Produktion arbeiten zu müssen, wurde er »wider Willen« freier Schriftsteller. In den ersten Jahren versuchte L. linientreu zu schreiben, dazu gehören z.B. sein Berlin-Roman Die Westmark fällt weiter (Halle 1952) oder die Sportgeschichten (Halle 1953). Am Johannes R. Becher-Literaturinstitut in Leipzig studierte er 1955 u. 1956. Doch seine Aufrichtigkeit brachte ihn immer wieder in Konflikt mit Staat u. Partei. Für die Kritik an der offiziellen Deutung des 17. Juni 1953 kam er noch mit einer Rüge davon, für seine Beteiligung an Reformdiskussionen nach dem XX. Parteitag der KPdSU wurde er 1957 zu sieben Jahren Zuchthaus verurteilt. Der Ausschluss aus der SED folgte. Während der Haft im Zuchthaus Bautzen II galt für L. rigoroses Schreibverbot. Als »gemordete Zeit« bezeichnete er diese Jahre in seiner Autobiografie. Nach der Haftentlassung schrieb er auf Anraten des Cheflektors vom Mitteldeutschen Verlag zwischen 1965 u. 1975 unter Pseudonym Kurzgeschichten, Abenteuer- u. Kriminalromane. Im erfolgreichen Krimi Der Mörder saß im Wembley-Stadion (Halle 1967) bildet die Fußballweltmeisterschaft von 1966 die Kulisse, vor der der Kriminalfall inszeniert wird. 1970 wurde er für das DDR-Fernsehen mit Schauspielern aus dem Deutschen Theater unter der Regie von Gerhard Respondek verfilmt. L. ist ein ungemein produktiver u. vielseitiger Schriftsteller. Er entwickelte sich immer mehr zum unbestechl. Chronisten realsozialistischen Alltags. Seine Stärken sind ein ausgeprägter Blick für Details u. ein moralischer Rigorismus, der ihn gleichermaßen zur Genauigkeit wie zur überraschenden satir. Perspektive befähigt, so z.B. in der Nazi-Satire Ich war Dr. Ley (Bln./DDR 1966), geschrieben als Erinnerung eines fiktiven Doppelgängers. L.s Kurzgeschichten (Etappe Rom. Bln./DDR 1975. Pistole mit sechzehn. Hbg.

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1979) gehören zu den herausragenden zeitgenöss. Beispielen der Gattung. Der Roman Der elfte Mann (Halle 1969. Mchn. 2006) wirft einen Blick ins Innere der DDR-Gesellschaft. Geschildert wird der Konflikt eines jungen Mannes, der gleichermaßen ein genialer Fußballspieler wie Physiker ist u. durch diese Doppelbegabung zum Spielball der Sport- u. Wissenschaftsfunktionäre wird. 1979 verließ L. aus Protest gegen Zensurmaßnahmen den Schriftstellerverband der DDR. Sein letztes in der DDR veröffentlichtes Buch ist eine Hommage an den Landsmann u. literar. Leidensgenossen Karl May (Swallow, mein wackerer Mustang. Bln./DDR u. Hbg. 1980). Die Nähe zu dem von der DDR-Führung geschmähten Schriftsteller stellt L. auf doppelte Weise her. Die Idee zu diesem Buch entstand während seiner Haft. Der Roman beginnt mit einem Verhör im Gefängnis u. erinnert daran, dass May in L.s Geburtsstadt Mittweida zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt worden war, die er im Nachbarort Waldheim absaß. In diesem Verfahren zeigt sich die für L.s Schreiben relevante Verankerung in Regionalem u. Biografischem. 1981 siedelte L. in die Bundesrepublik Deutschland über. Seine Autobiografie, in der er seinen Weg vom Hitlerjungen zum sozialist. Journalisten u. schließlich zum Dissidenten wider Willen nachzeichnet u. in der neben dem Nationalsozialismus auch der Stalinismus ins Blickfeld rückt, ergänzt L. 1990 mit Der Zorn des Schafes (Künzelsau), nachdem er Einsicht in seine Stasi-Akten bekommen hatte. Zusätzlich dokumentierte L. 1991 u. d. T. Die Stasi war mein Eckermann oder: mein Leben mit der Wanze (Gött.) seine Bespitzelung durch das Ministerium für Staatssicherheit von 1978 bis 1981. Einer breiten Leserschaft bekannt wurde L. durch die unspektakulär-präzise Beschreibung eines Angestelltenlebens (Es geht seinen Gang oder Mühen in unserer Ebene. Halle u. Stgt. 1978. TVFassung 1981. Hans-Fallada-Preis, 1981) u. durch den kulturpolit. Streit um diesen Roman (dokumentiert in: Der vierte Zensor. Vom Entstehen und Sterben eines Romans in der DDR. Köln 1984. Lpz. 2003). Hervorzuheben sind außerdem eine verwirrende Groteske über dt. u. sächs. Geschichte (Völkerschlachtdenkmal.

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Hbg. 1984. TV-Fassung 1987, weitergeschrieben u. d. T. Löwenstadt. Gött. 2009), sowie Romane über die Alltagsnöte von DDRIntellektuellen (Zwiebelmuster. Hbg. 1985. TVFassung 1989). Politische Glossen u. Reisefeuilletons vervollständigen das Bild von einem Autor, für den Schreiben immer eine Form des sozialen Engagements geblieben ist. Auch nach der Wende bleibt L. der Chronist deutscher Geschichte. Er schreibt aber auch gegen die Verklärung der DDR-Geschichte an. In Katerfrühstück (Lpz. 1992) zeigt er die Schwierigkeiten des Zusammenwachsens der Deutschen am Beispiel zweier feindl. Brüder. Einer war überzeugter DDR-Bürger, der andere hat die Demütigungen des DDR-Staates auch nach seiner Flucht in den Westen nie verwunden. Auch in Heute kommt Westbesuch (Gött. 1992) wird die Unsicherheit u. Fremdheit zwischen Ost- u. Westdeutschen thematisiert. Im Mittelpunkt seines Bestsellers Nikolaikirche (Lpz. 1995), für Kino u. Fernsehen unter der Regie von Frank Beyer verfilmt, steht die Leipziger Kirche mit ihren Flucht- u. Versammlungsräumen, in denen die Montagsdemonstrationen u. die friedl. Revolution von 1989 ihren Ausgang nahmen. Der Roman Reichsgericht (Lpz. 2001. Mchn. 2004) beginnt spektakulär: Der Leipziger Historiker Stephan Hellker nimmt über das Internet Kontakt mit prominenten Opfern des Reichsgerichts, z.B. Carl von Ossietzky, auf u. wirft einen neuen Blick auf die Prozesse, die von den 1920er Jahren bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs geführt wurden. In seinem Roman Sommergewitter (Gött. 2005) beschäftigt sich L. mit dem 17. Juni 1953, dem Tag, den er für sich als Erschütterung seines polit. Weltbilds bezeichnet. L. beschreibt den Aufstand, den er selbst in Berlin miterlebt hat, aus der Perspektive der Städte Bitterfeld u. Halle u. ihrer Bürger. Der Metallarbeiter Hartmut Brücken wird eher zufällig zum Sprachführer des Streikkomitees. Er wird nach der Niederschlagung des Aufstands steckbrieflich gesucht, kann sich aber in den Westen flüchten. Für ihn wird seine schwangere Frau in Sippenhaft genommen u. abgeurteilt. Eine makabre Rolle spielt in diesem Zusammenhang Erna Dorn,

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Literatur: Heinrich Mohr: Gespräch mit E. L. die als angebl. Rädelsführerin zum Tode verurteilt u. in Dresden hingerichtet wird. In: Dtschld.-Archiv, H. 11 (1978), S. 1201 ff. – SteDorn ist eine authent. Person, die als Klein- phan Bock: Lit. Gesellsch. Nation. Stgt. 1980, kriminelle im Gefängnis saß u. am 17. Juni S. 176–186. – Andrea Sahlmen: Das Vehikel der Imagination. L.s Erzählwerk als Reflexion innerdt. befreit wurde. Die Figur bleibt auch in L.s Diskrepanzen. Ffm. 1992. – Magdalena MichalakRoman undurchsichtig, sie selbst bezeichnete Etzold: Literar. Zensur in der DDR. E. L. – ein sich als KZ-Kommandeuse. Erna Dorn er- Schriftsteller im Netz der SED-Kontrolle. In: Zeitscheint im Werk L.s nochmals in dem Thea- wende 64 (1993), S. 227–239. – Paul Konrad Kurz: terstück Die Prahlerin (in: Einmal Exil und zu- Wendezeit in der DDR. Romane v. Günter Grass, E. rück. Gött. 2008). L. charakterisiert Dorn nicht L. u. Volker Braun. Freib. i. Br. 1995. – Marie-Geals westl. Agentin u. faschist. Umstürzlerin, neviève Gerrer: Le thème de l’autorité chez un sondern als geistig beschränkte Frau, die écrivain saxon de RDA. Nancy 1996. – Hans-Jürgen Krug: Das Radiowerk v. E. L. Eine Rundfunkunter Geltungssucht leidet. bibliogr. In: Rundfunk u. Gesch. 23 (1997), 1984 wurde L. in den Vorstand des VerS. 75–86. – Gudrun Schneider-Nehls: Grenzgänger bandes deutscher Schriftsteller gewählt. In in Dtschld. Potsdam 1997. – Sabine Brandt: Vom den späten 1980er Jahren gründete er zus. Schwarzmarkt nach St. Nikolai. E. L. u. seine Romit Sohn u. Schwiegertochter den Linden- mane. Lpz. 1998 (mit Bibliogr. bis 1997). – Blé RiVerlag in Künzelsau, ab 1989 hat der Verlag chard Lorou: ›Erinnerung entsteht auf neue Weise‹. seinen Sitz in Leipzig. Von 1994 bis 1997 Wende u. Vereinigung in der dt. Romanlit. Kiel. amtierte L. als Bundesvorsitzender des Ver- 2003. – York-Gothart Mix: E. L. In: LGL. – Günter bandes deutscher Schriftsteller. Nach dem Kunert, Ralph Giordano u. a.: E. L. Eine dt. Biogr. Mauerfall wurde er vom Obersten Gerichts- Lpz. 2007. – Regine Möbius: Wortmacht u. Machtwort. Der polit. L. Lpz. 2009. – Manfred hof der DDR voll rehabilitiert. Seit 1998 lebt Behn: E. L. In: KLG. Hannes Krauss / Elke Kasper er wieder ausschließlich in Leipzig. L. ist Mitgl. der Sächsischen Akademie der Künste. 1999 erhielt er das Bundesverdienst- Loetscher, Hugo, * 22.12.1929 Zürich, kreuz, weiterhin 1984 den Marburger Lite- † 18.8.2009 Zürich. – Erzähler, Essayist. raturpreis, 2001 den Ehrendoktor der Technischen Universität Chemnitz, 2009 den L. studierte polit. Wissenschaften, Soziologie, Deutschen Nationalpreis u. die Ehrendok- Wirtschaftsgeschichte u. Literatur in Zürich torwürde der Justus-Liebig-Universität Gie- u. Paris. Von 1958 bis 1962 war er literar. Redakteur der Zeitschrift »du«, 1964–1969 ßen. Redakteur u. Mitgl. der Chefredaktion der Weitere Werke: Das Jahr der Prüfung. Halle »Weltwoche«, ab 1969 lebte er als freier 1954 (R.). – Schattenboxen. Bln./DDR 1973. Olten 1985 (R.). – Geordnete Rückzüge. Hann. 1984 Schriftsteller u. Publizist in Zürich. Seit 1965 (Reisefeuilletons). – Bruder Franz. Drei Vorlesun- reiste er regelmäßig nach Lateinamerika, bes. gen über Franz Fühmann. Paderb. 1985. – Frosch- Brasilien, seit 1978 auch in den Fernen Osten. konzert. Mchn. 1987 (R.). – Fallhöhe. Künzelsau Neben seiner literar. Tätigkeit publizierte L. 1989 (R.). – Bauchschüsse. Künzelsau 1990 (E.en). – regelmäßig journalist. Beiträge in Zeitungen Als wir in den Westen kamen. Gedanken eines li- u. setzte sich für die Fotografie ein. Er war terar. Grenzgängers. Stgt./Lpz. 1997. – Gute Ge- mehrfach als Universitätsdozent tätig. nossen. Lpz. 1999 (R.). – Träumereien eines L.s Werk ist gekennzeichnet durch eine Grenzgängers. Respektlose Bemerkungen über Vielfalt von Formen u. stilist. Registern, die Kultur u. Politik. Stgt./Lpz 2001. – Prozesskosten. von journalist. Ausdrucksweisen bis zur Ein Ber. Gött. 2007. – Wäschekorb. Gött. 2009 (R.). Poesie reichen. L. setzt sich vom Standpunkt – Hörspiele: Dienstfahrt eines Lektors. Rundfunk von einem, der nicht ganz dazu gehört, mit der DDR 1975. – Messerstecher. HR 1982. – Schles. Himmelsreich. HR, SFB, SDR 1983. – Die Stasi war dem Blick eines Ethnologen, mit der modermein Eckermann. Deutschlandfunk 1990. – Ich nen Welt auseinander. In seinem ersten Rohabe noch nie Champagner getrunken. Sachsen man Abwässer. Ein Gutachten (Zürich 1963) Radio, WDR 1991. – Theaterstück: Froschkonzert. werden eine große Stadt u. ihre Bewohner aus der verfremdenden Perspektive eines AbwasUrauff. Stadttheater Osnabrück 1987.

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serinspektors in der Form eines Gutachtens Südens für seine Verdienste um die brasilian. dargestellt. In der Figur des Immunen, dem Kultur. Helden seiner beiden Romane Der Immune Weitere Werke (Erscheinungsort, wenn nicht (Darmst./Neuwied 1975. Überarb. Neuaufl. anders angegeben, Zürich): Noah – Roman einer Zürich 1985) u. Die Papiere des Immunen (Zü- Konjunktur. 1967. – How Many Languages Does rich 1986), hat L. einen Intellektuellen ge- Man Need. Zürich/New York 1982. – Der Waschschaffen, der als eine Art Mann ohne Eigen- küchenschlüssel u. a. Helvetica. 1983. – Das H. L. Lesebuch. Hg. Georg Sütterlin. 1984. – Vom Erschaften verschiedene Lebensweisen ausprozählen erzählen. Münchner Poetikvorlesungen. biert, um das Menschenmögliche in allen Mit einer Einf. v. Wolfgang Frühwald. 1988. Erw. seinen Varianten zu erfahren. Neuausg. 1999. – Der predigende Hahn. Das liteDie Romane L.s erweisen sich immer mehr rarisch-moral. Nutztier. 1992. – Durchs Bild zur als das Spielfeld dieses Menschenmöglichen. Welt kommen. Reportagen u. Aufsätze zur FotoSie stellen die Menschen in der Schweiz u. in grafie. 2001. – Lesen statt klettern. Aufsätze zur Europa, in Lateinamerika u. in Asien dar, in literar. Schweiz. 2003. – Es war einmal die Welt. der Gegenwart u. in der Vergangenheit. Im- 2004 (G.e). – War meine Zeit meine Zeit. 2009 (Autobiogr.). mer wieder behandelt L. die Relativität aller Literatur: Rosmarie Zeller: Ein Intellektueller Standpunkte, indem er die Welt aus verals Grenzgänger. Zu H. L.s ›Immunen‹. In: Gerschiedenen Perspektiven beschrieb: aus der manica 7 (1990), S. 67–76. – Romey Sabalius: Die Sicht der Indios, die die Schweiz entdecken, Romane H. L.s im Spannungsfeld v. Fremde u. aus der Sicht der Asiaten, die zur Verblüffung Vertrautheit. New York u. a. 1995. – Jeroen Dewulf: der Europäer auch eine Antike haben, aus der H. L. u. die ›portugiesischsprachige Welt‹, WerdeSicht der Armen wie in der Erzählung Wun- gang eines literar. Mulatten. Bern u. a. 1999. – derwelt (Zürich 1979). In dieser erzählt ein Wolfgang Frühwald: H. L. In: LGL. – Anton Krättli: europ. Reisender einem toten Mädchen sein H. L. In: KLG. – In alle Richtungen gehen. Reden u. mögl. Leben im armen Nordosten Brasiliens. Aufsätze über H. L. Hg. J. Dewulf unter Mitarb. v. R. Zeller. Zürich 2005. Rosmarie Zeller In den Augen des Mandarin (Zürich 1999) wird dieser verfremdende Blick schon im Titel u. im ersten Satz »Kann man mit blauen Augen Löw, Joseph, * 1785 Eslarn/Oberpfalz, sehen« thematisiert, es ist zgl. der Blick aus † 1809 Landshut. – Lyriker; Arzt. Asien u. aus der Vergangenheit auf Europa u. 1808 veröffentlichte Arnim in seiner »Tröst die Gegenwart. Durch metaphorische Ver- Einsamkeit, Zeitschrift für Einsiedler« Geknüpfungen werden die verschiedensten Le- dichte von fünf Landshuter Studenten. Zwei bensbereiche, Weltteile u. Epochen mitein- Gedichte stammten von L.; sie zeigen Anander in Beziehung gesetzt, gegenseitig re- klänge an Novalis u. sind die formal gelativiert u. ironisiert. Lange bevor Globali- konntesten. Auch Friedrich Ast, einer seiner sierung ein Stichwort war, hat L. die Welt als akadem. Lehrer, nahm Gedichte L.s in die globale dargestellt. Ein durchgehendes The- »Zeitschrift für Wissenschaft und Kunst« auf. ma ist der Tod, der in L.s zweitem Roman Die Als Flöten- u. Gitarren-Spieler stand L. im Kranzflechterin (Zürich 1964), der vom Mittelpunkt der Landshuter JugendbeweSchicksal einer Totenkranzflechterin handelt, gung. Exemplarisch für sie war seine Disserin allen Varianten dekliniert wird, mit dem tation Über die sympathetische Wirkung der Dinge sich aber auch der Held in Herbst in der großen (Landshut 1809). Mesmers Magnetismus Orange (Zürich 1982) in der künstl. Welt Ka- wird hier überwunden u. eine »große zauliforniens auseinandersetzt. Für L.s spieleri- bervolle romantische Epoche« verkündet. Im schen Umgang mit sprachl. Mitteln u. literar. Mysterium der Gottesliebe wirken die Dinge Formen zeugt Die Fliege und die Suppe (Zürich magisch ineinander, auch im Sinne des Side1989), eine Art moralische Fabeln ohne Mo- rismus, den Ritter in München experimentell ral. belegen wollte. Grundlegend war Paracelsus; L.s Schaffen ist durch zahlreiche Preise ge- auch für L.s Preisschrift Über den Urin als diawürdigt worden, darunter auch das Kreuz des gnostisches und prognostisches Zeichen in patholo-

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gischer und physiologischer Hinsicht (Landshut 1809). L. wurde Opfer einer Typhus-Epidemie. Literatur: Philipp Funk: Von der Aufklärung zur Romantik. Mchn. 1925. – Bayer. Bibl. 4, S. 1083 f. – Sigrid v. Moisy: Von der Aufklärung zur Romantik. Regensb. 1984, S. 156 ff. (Austellungskat.). Hans Graßl / Red.

Löw, Rudolf, * 2.6.1878 Basel, † 16.12. 1948 Basel. – Romancier; Kunstmaler u. Radierer.

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des Daseins kennenlernt, zum Mörder u. Brandstifter wird, ehe er doch noch einen künstlerischen Durchbruch erzielt, vom Vater legitimiert wird u. in Basel eine kurze, allerdings im Desaster endende Glückszeit erlebt. Weitere Werke: Marie Louise Burckhardt. Zürich/Lpz./Wien 1938 (Tl. 2 v. ›Häuser über dem Rhein‹). – Achilles Kern. Zürich/Lpz./Wien 1943 (Tl. 3 v. ›Häuser über dem Rhein‹). Literatur: Christof Wamister: Ein Basler ›Doktor Faustus‹? R. L. u. sein Roman ›Dieter Basilius Deifel‹. In: NZZ, 2./3.4.1983, S. 53. Charles Linsmayer / Red.

Nach der Volksschule u. dem Gymnasium in Basel studierte L. zunächst Germanistik u. Löwen, Johann Friedrich, * 13.9.1727 Kunstgeschichte, ging 1898 nach München Clausthal, † 23.12.1771 Rostock. – Lyrian die Knirr-Schule, wo er ein Malstudium ker, Theaterreformer, Journalist. aufnahm, um sich jedoch bald in Basel u. L. entstammte einer Bergmannsfamilie. Er Paris autodidaktisch weiterzubilden. Zu- besuchte das Pädagogium zu Clausthal, benächst Impressionist, schloss er sich um 1910 reitete sich 1745–1747 am Braunschweiger dem expressiven Symbolismus Hodlers an, Collegium Carolinum auf ein Philologiestumalte u. radierte hauptsächlich Landschaften, dium vor, das er in Helmstedt begann u. in später auch Stilleben. Nach 1930 verlegte er Göttingen fortsetzte, bis er es 1749 aus Not sich mehr auf kunstgewerbl. Arbeiten u. abbrach. 1751 ging er nach Hamburg, wo er schuf Wandmalereien in Basler Privathäusern sich, von Hagedorn gefördert, als Lyriker u. im Bahnhofsgebäude. L., der sich in Wort (Zärtliche Lieder und anakreontische Scherze. Hbg. u. Bild auszudrücken wusste, trat im An- 1751; anonym) u. Theaterkritiker (der Schöschluss an einen Studienaufenthalt in der nemann’schen Truppe) versuchte u. gemeinBretagne 1910 im Zürcher Rascher Verlag mit sam mit der Unzerin u. mit Leyding die seinem Bretonischen Tagebuch erstmals als »Hamburgischen Beyträge zu den Werken Schriftsteller in Erscheinung. 1914/15 folgte, des Witzes und der Sittenlehre« (1753 bis nach einem Schwedenaufenthalt, das Tage- 1755) herausgab. Seit 1755 verfasste er auch buch vom Siljansee (in Fortsetzungen gedr. in harmlose Satiren, wie die im beliebten Genre der Zeitschrift »Schweizerland«). Erst 14 mêlé gehaltene Marquise (in: Schriften 3, Jahre später legte er nach intensiven Recher- S. 53–122), bis ihm Mendelssohn im 80. Lichen wieder ein literar. Werk vor, den drei- teraturbrief (1772) Einhalt gebot. (Zu der teiligen Künstlerroman Häuser über dem Rhein Kontroverse, ob L.s satirisches Gedicht Die (Neuaufl. Basel 1989), der autobiogr. Ele- Walpurgisnacht. Hbg./Lpz. 1756, Goethe dazu mente mit einer für die damalige Zeit er- inspiriert habe, Faust auch auf dem Blocksstaunlich offenen u. krit. Darstellung der berg agieren zu lassen, vgl. Albrecht Schöne: besseren Basler Gesellschaft verwob. Trotz Götterzeichen [...]. Mchn. 1982, S. 145 ff.) einer gewissen Hektik des Erzählens, einer Als L. 1757 die Stelle eines Privatsekretärs überbordenden Materialfülle u. einer bis- des Prinzen Ludwig von Mecklenburgweilen holprigen Syntax überzeugt der erste Schwerin erhalten hatte, konnte er endlich Teil, Dieter Basilius Deifel (Zürich/Lpz./Wien Elisabeth Schönemann, die Tochter des 1938. Neuausg. Basel 1988 ff.) noch am Prinzipals, heiraten. In Schwerin schrieb er ehesten. Es ist die Geschichte eines illegiti- u. a. zum Bänkelsang tendierende Romanzen men Sohns aus bester Basler Familie, der sich (Hbg. 1762 u. ö.) in der Nachfolge Gleims. zum Komponisten berufen fühlt, aber wäh- Ironisch, oft frivol, fanden sie günstige Aufrend seines abenteuerl. Lebens, das ihn u. a. nach Genf u. Paris führt, alle Niederungen

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nahme (Klotz im 3. Bd. der Deutschen Bibliothek; Nicolai im 325. Literaturbrief). Unterdessen hatte L. die Verbindung zum Hamburgischen Theaterleben nicht verloren. Er gehörte 1766 zur Gruppe der Initiatoren, die im Rahmen der sog. Hamburger Entreprise ein Nationaltheater gründeten. Seine Geschichte des deutschen Theaters (in: Schriften 4, S. 1–66. Neudr., mit Einl. von Heinrich Stümcke. Bln. o. J. [1905]), deren bestes histor. Material von Konrad Ekhof stammt, stimmte in ihrem programmat. Teil – Theater als nationales Anliegen; ästhet. u. sittl. Wirkung; Emanzipation des Schauspielerstandes; Gründung einer theatral. Akademie – mit Lessings theaterreformerischen Vorstellungen überein. Es ist unwahrscheinlich, dass ein anderer als L. Lessing zur Mitarbeit gewonnen hat. Den Niedergang des Unternehmens hat er aber nicht aufhalten können. Weder setzte er sich als Programmgestalter bei den Geldgebern noch als Direktor bei den Schauspielern durch. 1768 gab er die Direktion auf. Im selben Jahr ging L. als Justizangestellter mit seiner Familie nach Rostock, wo er nur noch wenig publizierte, Mangel litt u. bald starb. Weitere Werke: Der Christ bei den Gräbern. Hbg. 1753 (an.). – Satyr. Versuche. Hbg./Lpz. 1760. – Schr.en. 4 Tle., Hbg. 1765. – Herausgeber: Johann Christian Krügers [...] Schr.en. Lpz. 1763. Literatur: Ossip D. Potkoff: J. F. L. [...]. Diss. Heidelb. 1904. – Karl Waentig: J. F. L. u. sein Ansehen als Journalist u. Bühnenschriftsteller. In: Ztschr. des Vereins für Hamburg. Gesch. 54 (1968), S. 21–47. – Gerhard Muschwitz: Literar. Schatzgräberei im Harz. Mchn. 1993. – Klaus Schröter: Faust kam nur bis Halberstadt. J. F. L., Faust u. die Walpurgisnacht. In: Neue Wernigeröder Ztg., Bd. 17 (2006), S. 23. – Hans-Wolf Jäger: L. In: NDB. – Elsa Jaubert: Le théâtre de Voltaire chez J. F. L. Une réception polymorphe. In: Œuvres & critiques, Bd. 23 (2008), S. 151–162. Hans Leuschner / Red.

Loewenberg, Jakob, * 9.3.1856 Niederntudorf bei Paderborn, † 9.2.1929 Hamburg. – Erzähler, Lyriker, Dramatiker, Herausgeber. Nach Absolvierung des Lehrerseminars in Münster war L. seit 1873 Volksschullehrer,

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ging 1881 für drei Jahre studienhalber nach London u. Paris, begann 1884 ein Studium der neueren Philologien in Marburg u. Heidelberg, das er mit der Promotion abschloss, war 1886 bis 1892 Realschullehrer in Hamburg u. später Leiter einer privaten höheren Mädchenschule. Freund Gustav Falkes, war L. Mitgründer der Hamburgischen Literarischen Gesellschaft. Nach Liliencrons Vorbild wählt L.s Lyrik einfach-eindringliche, dem Stilideal der »Frische und Naivität« entsprechende sprachl. Formung (u. a. Gedichte. Norden 1889. Neue Gedichte. Hbg. 1895. Von Strand und Straße. Hbg. 1905) alltäglicher Beobachtungen u. Stimmungen, ging aber auch problemhaltige Themenfelder an (Aus jüdischer Seele. Hbg. 1901). Seine Erzählungen stellen im Norddeutschen verankerte Schicksale in mehr skizzierender als novellistischer Form dar (Stille Helden. Hbg. 1906). Wenig erfolgreich als Dramatiker, reüssierte L. als Herausgeber von »Hausbüchern«, die von pädagog. »Unterhaltungen« flankiert waren (u. a. Steht auf, ihr lieben Kinderlein. Hg. zus. mit Gustav Falke. Köln 1906. Geheime Miterzieher. Studien und Plaudereien für Eltern und Erzieher. Lpz. 1903). L. verfasste auch Kinderbücher u. widmete Frenssen (Hbg. 1903) sowie Liliencron (Hbg. 1904) kleinere Porträtstudien. Weitere Werke: Vor dem Feind. Altona 1890 (Trag.). – Bittegrün. Lpz. 1913 (Kinderbuch). – Kriegstagebuch einer Mädchenschule. Bln. 1916. – Dt. Balladen. Bielef. 1924 (Anth.). Ausgaben: J. L. Eine Ausw. aus seinen Schr.en. Hg. Ernst Löwenberg. Bln. 1937. – Aus jüd. Seele. Ausgew. Werke. Mit einem Vorw. v. Günter Kunert. Hg. Winfried Kempf. Paderb. 1995. Literatur: Ernst L. Löwenberg: J. L. Excerpts from his Diaries and Letters. In: Leo Baeck Institute Yearbook 15 (1970), S. 183–209. – E. S. Budge: Bibliography of the Writings of J. L. In: Journal of the History of Philosophy 8 (1970). – Petra Renneke: J. L. u. die ›Kunstwart‹-Debatte. In: Spuren jüd. Lebens in der westfäl. Lit. Hg. Hartmut Steinecke. Bielef. 2004, S. 65–98. – H. Steinecke: ›Nun auf die Juden!‹ Literar. Sittengemälde aus Westfalen. In: Confrontations – Accommodations. Hg. Mark H. Gelber. Tüb. 2004, S. 173–185. – Wilfried Weinke: J. L. – Jude u. Deutscher. In: Tribüne 45 (2006), S. 179–187. Christian Schwarz / Red.

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Loewenson, Erwin, auch: Golo Gangi, * 31.8.1888 Thorn, † 22.1.1963 Tel Aviv; Grabstätte: Kassel, St. Martin-Kirche. – Verfasser expressionistischer Manifeste, Dichter, Philosoph. Seine Kindheit verlebte der Sohn eines Zahnarztes in Westpreußen, seine prägende Jugend in Berlin, wohin die Familie 1894 übersiedelt war. 1907 legte L. das Abitur am Friedrich-Wilhelm-Gymnasium ab. Zu seinen Schulkameraden zählten die Frühexpressionisten Gustav Koehler, Rudolf Majut u. Erich Unger, mit Jakob van Hoddis (eigentl. Hans Davidsohn) war L. schon seit 1903 bekannt. 1907–1917 studierte L. an der Kaiser-Wilhelm-Universität in Berlin, zunächst Jura, dann v. a. Philosophie. Nach einjähriger Mitgliedschaft trat L. 1909 aus der »Freien Wissenschaftlichen Vereinigung«, einer nichtschlagenden Verbindung, gemeinsam mit Kurt Hiller aus, um mit ihm den »Neuen Club« zu gründen, die »Keimzelle des Berliner Expressionismus« (Sheppard). Einerseits orientiert am Nihilismus Nietzsche’scher Prägung, andererseits an der Formkunst Stefan Georges u. Hofmannsthals, blieb der gemeinsame ästhet. Nenner der Avantgarde klein. L., der neben expressionist. Manifesten formstrenge Gedichte, dichtungstheoret. Dramen wie Dialoge (Die Freidenker, Ernst Hardt) u. skurrile Pantomimen verfasste (Bestrafte Zweifelsucht, ungedr. MS Nachlass DLA), bestimmte die Literaturpolitik des Clubs: Unter seinem Pseud. »Golo Gangi« organisierte er »Neopathetische Cabarets« u. suchte mit einem regelrechten Kult um Georg Heym, der von 1910 bis zu seinem frühen Tod (1912) dem »Neuen Club« assoziiert war, die expressionist. Avantgarde an sich zu binden. So gab L. gemeinsam mit weiteren ClubMitgliedern u. d. T. Umbra vitae (Lpz. 1912) nachgelassene Gedichte Heyms heraus. Doch als sich das Projekt der Zeitschrift »Neopathos« zerschlagen hatte, van Hoddis erkrankte u. mit dem Club brach u. sich einige Mitglieder dem »Sturm« oder der »Aktion«, den führenden Zeitschriften des Expressionismus, anschlossen, war der »Neue Club« gescheitert.

Loewenson

L., der zwar eine Doktorarbeit verfasst (Der biologisch-geistige Voluntarismus seit Nietzsche), aber nicht eingereicht hatte, wandte sich schon vor dem Ersten Weltkrieg (Kriegsdienst als Flieger) dem Zionismus zu. Nachdem er 1922 die Pianistin Alice Jacob geheiratet hatte, wurde er Sekretär beim Deutschen Palästinahilfswerk u. Mitbegründer der »Schule der jüdischen Jugend«, an der er selbst unterrichtete. Zu seinem Lebensunterhalt trugen zwischen 1928 u. 1933 privat veranstaltete »Vortragsreihen über moderne Psychologie« bei. 1933 emigrierte L. über Paris nach Israel, wo er in Tel Aviv als Privatgelehrter bis zu seinem Tod ein kärgl. Leben fristete. L. ist die Rettung der Nachlässe von Heym u. van Hoddis zu danken. Nachdem er schon im Jahre 1922 gemeinsam mit Kurt Pinthus eine zweite Ausgabe von Heyms Dichtungen (Mchn. 1922) herausgegeben hatte, würdigte L. kurz vor seinem Tod den Dichterfreund noch einmal (Georg Heym oder Vom Geist des Schicksals. Hbg. u. Mchn. 1962). L.s literar. Nachlass (DLA Marbach) ist zum Teil ediert (Sheppard), dagegen harren seine Bibliothek u. sein philosoph. Nachlass (Leibniz-Archiv Hannover) noch der Erschließung. Weitere Werke: Der Weg zum Menschen. Philosoph. Fragmente. Aus dem Nachl. ausgew. v. Carl Frankenstein. Hildesh. 1970. – Gedr. u. ungedr. Materialien. In: Die Schr.en des Neuen Clubs 1908–14. Hg. Richard Sheppard. 2 Bde. Hildesh. 1980–83, Bd. 2, S. 279–375.  Kafka-Vortrag. ›Vor dem Gesetz‹. In: F. Kafka: ›Vor dem Gesetz‹. Hg. Manfred Voigts. Würzb. 1994, S. 165–178. Literatur: Richard Sheppard: Die Schr.en des neuen Clubs. s. o. – Hans Thamer: Berliner Frühexpressionisten: Leben u. Schr.en v. E. L. In: Bulletin des Leo-Baeck-Instituts 6 (1963), S. 245–254.  Thomas Bleitner: Ästhet u. ›Eth‹. E. L., Kurt Hiller u. die Eskalation eines literaturästhet. Konflikts – eine literarhistor. Studie, verbunden mit Überlegungen zur Vermittlungsproblematik der Literaturwiss.en. In: Literar. Trans-Rationalität. FS Gunter Martens. Hg. Wolfgang Wirth u. Jörn Wegner. Würzb. 2003, S. 165–178. Achim Aurnhammer

Löwenstein

Löwenstein, Hubertus Prinz zu, eigentl.: H. Maximilian Friedrich Leopold Ludwig Prinz zu L.-Wertheim-Freudenberg, * 14.10.1906 Schloss Schönwörth/Kufstein, † 28.11.1984 Bonn. – Publizist, Romancier.

492 Mchn. u. a. 1993, S. 694–703. – H. Prinz zu L.-W.-F. 1906–84. In: Quellen zur dt. polit. Emigration 1933–45. Hg. Heinz Boberach. Mchn. u. a. 1994, S. 179–183. – Elke Seefried: ›A Noteworthy Contribution in the Fight Against Nazism‹. H. Prinz zu L. im Exil. In: Refugees from the Third Reich in Britain. Hg. Anthony Grenville. Amsterd. u. a. 2002, S. 1–26. – Eckhart Grünewald: Das Reich u. das ›wahre Deutschland‹. Die Bedeutung Stefan Georges für H. Prinz zu L. (1906–84), den Organisator der ›Deutschen Akademie der Künste u. Wissenschaften im Exil‹. In: Geschichtsbilder im George-Kreis. Hg. Barbara Schlieben u. a. Gött. 2004, S. 379–389. – Ulrich Raulff: Kreis ohne Meister. Mchn. 2009, S. 169–184. Ilse Auer / Red.

L., Sohn eines kgl.-bayerischen Rittmeisters u. Privatgelehrten, studierte 1924–1930 Rechts- u. Staatswissenschaften (Dissertation 1931). Seit 1930 in Berlin als Journalist insbes. für die »Vossische Zeitung« u. das »Berliner Tageblatt« tätig, trat er der Zentrumspartei u. dem Reichsbanner bei. Nach Bedrohung durch die SA emigrierte L. zunächst nach Schloss Neumatzen bei Brixlegg/ Tirol, 1935 in die USA. Er war Journalist u. Löwenthal, Leo, * 3.11.1900 Frankfurt/ Korrespondent verschiedener Zeitungen, M., † 21.1.1993 Berkeley/Kalifornien. – Mitbegründer der American Guild for Ger- Soziologe u. Literaturwissenschaftler. man Cultural Freedom u. engagierte sich sehr Der Arztsohn wurde von seinem Vater in anfür die Rettung von Emigranten aus West- tireligiös-aufklärerischem Geist erzogen, europa. 1946 kehrte er als Korrespondent des studierte von 1918 an in Frankfurt/M., GieInternational News Service nach Bremen zu- ßen u. Heidelberg u. schloss sich 1920 dem rück. Kreis um Rabbi Nobel an, zu dem auch MarNeben parteipolit. Engagement (seit 1958 tin Buber, Franz Rosenzweig u. Erich Fromm als Mitgl. der CDU) veröffentlichte er publi- gehörten. L.s frühe Arbeiten (gesammelt in: zist. Arbeiten, histor. Romane u. autobiogr. Schriften. Bde. 4 u. 5, Ffm. 1987) zeugen von Schriften. Seine Romane über bedeutende utopisch-sozialist. Hoffnungen u. von einem Gestalten des alten Römischen Reichs zeugen für L. zeitlebens charakterist. Geist des Wivon großer Sachkenntnis. In seinem Werk derspruchs gegen das schlechte Bestehende. Deutsche Geschichte. Der Weg des Reiches in zwei L. gehörte zu den Mitbegründern der KritiJahrtausenden (Ffm. 1950) vertritt er eine schen Theorie. Er arbeitete seit 1926 am Frankfurter Institut für Sozialforschung u. konservative Geschichtsauffassung. Weitere Werke: The Tragedy of a Nation. übernahm nach der Emigration 1934–1941 Germany 1918–34. London 1934. – After Hitler’s in New York die Herausgabe der vom Institut Fall. Germany’s Coming Reich. London 1934 (dt. getragenen »Zeitschrift für Sozialforschung«. Amsterd. 1934). – A Catholic in Republican Spain. Als Kommunikationsspezialist arbeitete er London 1937. – The Child and the Emperor. New seit Anfang der 1940er Jahre für verschiedene York 1945. – The Lance of Longinus. New York US-Behörden im Propagandabereich, zuletzt 1946 (dt. Heidelb. 1948). – Kleine dt. Gesch. Ffm. bei der »Voice of America«. 1956 erhielt er 1953. – What was the German Resistance Move- einen Lehrstuhl für Soziologie an der Uniment. Bonn 1965. – Botschafter ohne Auftrag. Ein versität Berkeley. Lebensber. Düsseld. 1972. – Traianus. WeltherrL. ist der Literatursoziologe der Frankfurscher im Aufgang des Christentums. Mchn. 1981. – Abenteuer der Freiheit. Ein Lebensber. Ffm. 1983. ter Schule. Seine Arbeiten sind als Teil des – Alabanda oder der dt. Jüngling in Griechenland. von Max Horkheimer entwickelten interdisziplinären Materialismus zu verstehen. In Mchn. u. a. 1986 (R.). Literatur: H. Prinz zu L.-W.-F. Politiker, Pu- dem programmat. Artikel Zur gesellschaftlichen blizist, Historiker, Schriftsteller, 1906–84. In: In- Lage der Literatur (in: Zeitschrift für Sozialventar zu den Nachlässen emigrierter deutsch- forschung 1/2, 1932, S. 85–102) skizzierte L. sprachiger Wissenschaftler in Archiven u. Bibl.en das Projekt einer ideologiekrit. Literaturgeder BR Dtschld. Hg. Klaus-Dieter Lehmann. Bd. 2, schichte, die Dichtung als soziales Phänomen

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begreift u. noch die privaten Lebensäußerungen ihrer Gestalten auf den gesellschaftl. Produktionsprozess hin durchsichtig machen will. Weitere Beiträge für die Zeitschrift (Die Auffassung Dostojewskis im Vorkriegsdeutschland, H. 3, 1934, S. 343–382, u. Knut Hamsun: Zur Vorgeschichte der autoritären Ideologie, H. 1, 1937, S. 295–345) konkretisieren dieses Konzept. So bestimmte L. in seiner HamsunStudie die Naturdarstellung des Autors als »nachliberalistische Ideologie« u. als »Anbetung des kapitalistischen Herrentums«, wobei L. die Einstellung Hamsuns v. a. durch Aussagen seiner Ich-Erzähler belegte. Ideologiekritisch bestimmt sind auch L.s Arbeiten zur Massenkultur u. deren Differenz zur Kunst (gesammelt in: Schriften. Bd. 1, Ffm. 1980) sowie die der Entlarvung sozialpsycholog. Manipulationsmechanismen dienenden Studien zur Agitationsforschung u. zum Autoritarismus (Falsche Propheten. Gesammelt in: Schriften. Bd. 3, Ffm. 1982). Weitere Werke: Lit. u. Gesellsch. Neuwied 1964. – Das Bild des Menschen in der Lit. Neuwied 1966. – Erzählkunst u. Gesellsch. Neuwied 1971. – Untergang der Dämonologien. Studien über Judentum, Antisemitismus u. faschist. Geist. Lpz. 1990. – In steter Freundschaft. Briefw. L. L./Siegfried Kracauer. 1921–66. Hg. Peter-Erwin Jansen u. Christian Schmidt. Springe 2003. Literatur: Martin Jay: Dialekt. Phantasie. Ffm. 1976. – Udo Göttlich: Kritik der Medien: Reflexionsstufen kritisch-materialist. Medientheorien am Bespiel v. L. L. u. Raymond Williams. Opladen 1996. – Peter-Erwin Jansen (Hg.): Das Utopische solle Funken schlagen. Zum hundertsten Geburtstag v. L. L. Ffm. 2000. – Rolf Wiggershaus: Die Frankfurter Schule. Mchn. 62001. Matthias Jung / Stephanie Over

Löwenthal, Maximilian Frhr. von (seit 1867), auch: Leo von Walthen, * 7.4.1799 Wien, † 12.7.1872 Traunkirchen/Niederösterreich; Grabstätte: ebd. – Dramatiker, Lyriker, Erzähler. Nach dem Abschluss juridisch-polit. Studien u. einer ausgedehnten Bildungsreise durch mehrere europ. Länder 1821/22 (beschrieben in: Skizzen aus dem Tagebuche einer Reise durch Frankreich, Großbritannien und Deutschland. 2 Bde., Wien 1825) trat der aus wohlhabendem

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Haus stammende L. 1823 als unbesoldeter Konzeptspraktikant bei der Hof- u. Niederösterreichischen Kammerprokuratur in den Staatsdienst ein, wechselte 1825 zur Allgemeinen Hofkammer u. 1835 ins Postdepartement, wo er 1867 seine Laufbahn als Leiter der Abteilung Post- u. Telegraphenangelegenheiten mit dem Titel eines Generaldirektors beendete. Nach ersten dramat. Versuchen (Die Freunde nach der Mode. Urauff. Prag 1822; Lustsp. Die Caledonier. Wien 1826; Trauersp.) veröffentlichte L. 1831 den klass. u. romant. Vorbildern nachempfundenen Romanzenkranz Der Cid (Wien 1831). Auf Vermittlung seines Freundes Lenau erschien 1835 bei Cotta Dramatisches und Lyrisches. 1871 folgte als Privatdruck die umfangreiche Sammlung Gedichte. L. war Beiträger in verschiedenen Zeitschriften u. Almanachen, fand aber weder als Lyriker noch als Dramatiker größere Beachtung in seiner Zeit. Seinen Platz in der Literaturgeschichte behauptet L. weniger seiner z.T. formgewandten Dichtungen, sondern v. a. seiner komplizierten Beziehung zu Lenau wegen, den eine unerfüllte Liebe mit L.s Frau Sophie verband. Literatur: Eduard Castle: Lenau u. die Familie L. Lpz. 1906. – Ders.: Ein Wiener bei Goethe. In: Österr. Rundschau (1910), S. 384 f. (1912), S. 315. – Ernst Popp u. Kurt Lukner: 100 Jahre Generaldirektion für die Post- u. Telegraphenverwaltung. Wien 1966, S. 10–13. – ÖBL. Norbert Eke / Red.

Löwith, Karl, * 9.1.1897 München, † 24.5. 1973 Heidelberg. – Philosoph. Der Sohn eines Malers studierte nach dem Ersten Weltkrieg zunächst Biologie, dann Philosophie u. habilitierte sich bei Martin Heidegger mit der phänomenolog. Untersuchung Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen (Mchn. 1928). Zwischen 1928 u. 1934 veröffentlichte L. als Privatdozent in Marburg zahlreiche Arbeiten zur philosoph. Entwicklung im 19. Jh., bes. zu Ludwig Feuerbach, Karl Marx, Sören Kierkegaard u. Friedrich Nietzsche. Da er als Jude zur Zeit des Nationalsozialismus verfolgt wurde, emigrierte er 1934 über Italien u. Japan in die USA. In Rom schrieb er eine systemat. Interpretation von

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Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des v. Bülow. Marbach 2001. – Mein Leben in Dtschld. Gleichen (Bln. 1935). Es folgte die Monografie vor u. nach 1933. Ein Ber. Hg. Frank-Rutger Jacob Burckhardt (Luzern 1936), eine Verteidi- Hausmann. Stgt. 2007. Ausgabe: Sämtl. Schr.en. 9 Bde., Stgt. 1988. gung der durch Burckhardt repräsentierten Literatur: Hans-Georg Gadamer: K. L. In: Freiheit des Geistes. In Sendai/Japan entstand Von Hegel bis Nietzsche (Zürich/New York Ders.: Philosoph. Lehrjahre. Eine Rückschau. Ffm. 1941), das seit seiner dt. Neuausgabe Von He- 1977. – Hermann Braun (Hg.): Natur u. Gesch. K. L. gel bis Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Den- zum 70. Geburtstag. Stgt. u. a. 1967. – Wiebrecht Ries: K. L. Stgt. 1992. – Wolfgang Emmerich: ken des 19. Jahrhunderts. Marx und Kierkegaard Heilsgeschehen u. -gesch. – nach K. L. In: SuF Jg. (Zürich/Stgt. 1950) zu einem Standardwerk 46, Nr. 6 (1994), S. 894–915. – Michael Jaeger: wurde. Sein Thema ist die Umbildung u. Autobiogr. u. Gesch. Wilhelm Dilthey, Georg Verkehrung der Hegel’schen Philosophie des Misch, K. L., Gottfried Benn, Alfred Döblin. Stgt./ absoluten Geistes durch Marx u. Kierkegaard Weimar 1995. – Burkhard Liebsch: Verzeitlichte u. der revolutionäre Bruch des abendländ. Welt. Variationen über die Philosophie K. L.s. Denkens bei Nietzsche, der die Philosophie Würzb. 1995. – Richard Wolin: Heidegger’s Childer Geschichte durch das Verlangen nach dren. Hannah Arendt, K.4 L., Hans Jonas, and Herbert Marcuse. Princeton 2003. Ewigkeit ersetzte. Wiebrecht Ries / Stephanie Over Sein im amerikan. Exil geschriebenes Hauptwerk Meaning in History (Chicago 1949. Dt.: Weltgeschichte und Heilsgeschichte. Die theo- Logau, Friedrich von, auch: Salomon von logischen Voraussetzungen der Geschichtsphiloso- Golaw, * ca. 17./23.1.1605, Brockuth bei phie. Stgt. 1953) thematisiert die theolog. Nimptsch/Schlesien, † 24. oder 25.7.1655 Implikationen der Geschichtsphilosophie. L. Liegnitz. – Epigrammatiker u. Hofbeamwendet sich hier skeptisch gegen das univer- ter. salhistor. Denken u. erklärt die Unmöglichkeit einer Philosophie der Geschichte. Seit Der Sohn des früh verstorbenen Gutsbesitzers 1952 bis zu seiner Emeritierung lehrte L. in Georg von Logau († 1605) besuchte von Okt. Heidelberg. Dort veröffentlichte er die Studie 1614 bis Juni 1625 das von hoher späthumaHeidegger – Denker in dürftiger Zeit (Ffm. 1953). nist. Kultur geprägte Gymnasium der Residie Heideggers Philosophie der Existenz als denzstadt Brieg. Schon während dieser Zeit eine Ontologie ohne Sein kritisiert. Nach der wurde er von Johann Christian u. Dorothea Aufsatzsammlung Wissen, Glaube, Skepsis Sibylla von Brieg gefördert. Vom 6.7.1625 an (Gött. 1956) folgten das Alterswerk Gott, studierte L. an der Universität Altdorf (Jura?), Mensch und Welt in der Metaphysik von Descartes wo er sich zumindest noch im Dez. 1627 bis Nietzsche (Gött. 1967), eine Einführung in aufhielt. Um 1633 übernahm er das verdie theolog. Voraussetzungen der neuzeitl. schuldete Familiengut, das er schon bald Metaphysik, sowie Paul Valéry. Grundzüge sei- wegen Plünderungen durch Wallenstein’sche Truppen verlassen musste. Wegen der weitenes philosophischen Denkens (Gött. 1971). L. war einer Skepsis verpflichtet, die die ren Kriegsereignisse misslang sein Versuch, Notwendigkeit der Destruktion der neuzeit- das Zerstörte wiederherzurichten. 1644 lichen, an der christl. Theologie orientierten übernahm L. in Brieg im Hofstaat Herzog Metaphysik vertritt. Seine Berufung auf die Ludwigs IV. eine wichtige Hofratsstelle, in eine Welt alles Seienden, die Natur, weist auf der er zum Vertrauten des Fürsten wurde, die Perspektive eines an Nietzsche orientier- dem er 1654 nach der Neueinteilung der ten Weltdenkens jenseits der ontotheolog. Herzogtümer nach Liegnitz folgte. Als Marschall nahm L. hier einflussreiche Positionen Tradition. Weitere Werke: Der Mensch inmitten der wahr. Seine Ehe (1631) mit Magdalena von Gesch. Philosoph. Bilanz des 20. Jh. Hg. Bernd Gruttschreiber endete früh durch deren Tod Lutz. Stgt. 1990. – Von Rom nach Sendai. Von Japan (Sommer 1641). In zweiter Ehe (1643) heiranach Amerika. Reisetgb. 1936 u. 1941. Mit einem tete er Helena von Knobelsdorff, Tochter des Ess. v. Adolf Muschg. Hg. Klaus Stichweh u. Ulrich Brieger Hofmarschalls Balthasar von Kno-

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belsdorff. Zus. mit seinem hochgebildeten Landesherrn Herzog Georg von Brieg wurde L. im Juli 1648 in Strelitz als »Der Verkleinernde« in die Fruchtbringende Gesellschaft aufgenommen. Mit weitem Abstand vor seinem Hauptwerk erschienen 1635 sein an die jungen Herzöge von Liegnitz u. Brieg gerichteter Freudengesang (Neudr. hg. v. Ulrich Seelbach Tüb. 1992) u. 1638 L.s Zwey Hundert Teutscher Reimen-Sprüche in Breslau (Neudr. hg. v. Karl Diesch. Königsb. 1940, v. U. Seelbach Tüb. 1992). Diesen Band wie auch sein 3560 Einzeltexte umfassendes Hauptwerk Deutscher Sinn-Getichte Drey Tausend (Breslau 1654. Neudr. Hildesh./New York 1972) ließ L. unter dem Pseud. Salomon von Golaw erscheinen. Dieses Anagramm nimmt programmatisch Bezug auf den alttestamentl. Salomo, insbes. den »Prediger« u. den Verfasser der Proverbia, den L. aus seinem luth. Selbstverständnis heraus als Mahner u. Weltweisen auffasste, dessen Skeptizismus gegenüber der Nichtigkeit diesseitiger menschl. Leistungen in Verbindung mit einer festen Religiosität von ihm zum Maß für Antworten an seine Gegenwart genommen wurde. L.s Hauptwerk ist, einem Tagebuch analog, in der uns vorliegenden Abfolge entstanden, muss aber, wie bei jedem Autor seiner Zeit, in seinem Rollencharakter von den Möglichkeiten der literar. Gattung her verstanden, darf nicht als biogr. Dokument persönl. Wandlungen eingeschätzt werden. L. versteht »Reimenspruch« u. »Sinngedicht« als Bezeichnungen für das »Epigramma«, das Opitz als kurze Satire bezeichnete. Er wird dem Ideal der Kürze (brevitas) regelmäßiger als dem des Scharfsinns (argutia) gerecht, doch beherrscht er auch die pointierende Schlusswendung des von argutia geprägten Epigramms. L.s weiter Epigrammbegriff steht der zeitgenöss. Systematik Alsteds nahe, der die Einbeziehung auch von Lob-, Trauer-, Hochzeits- u. anderen anlassbezogenen Gedichten erlaubte u. das Nebeneinander von Anakreontika, Rätseln, längeren Verssatiren, Alexandriner-Elegien, Epitaphien, Gebeten u. Gnomischem neben dem Anschluss an kurze Epigramme der Martial- u. Owen-Tradition erklärbar macht. Innerhalb des Ord-

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nungsprinzips der lockeren Reihung nimmt L. auch festere, zykl. Untergliederungen vor, die vom geistl. Jahr, von Monaten u. Tageszeiten oder von den fünf Sinnen her ihre feste Abfolge erhalten. Die Inhalte der einzelnen Texte dienen in Form von Kritik, Warnung, Lob u. Beschreibung der Wiederherstellung oder Stabilisierung von Normen, die am Ideal der zum gemeinen Wohl wahrgenommenen Pflichten der einzelnen Stände orientiert sind. Von dieser Voraussetzung her vermag L. grundsätzlich jeden Stand, auch die Kirche, kritisch mit seinen Mängeln zu konfrontieren u. andererseits seinen Eigenwert normativ bewusst zu machen. Seine Vertrautheit mit dem Hofleben in Brieg u. Liegnitz, dessen Personen bekannt sind, hat L. im höf. Bereich zu einer bes. scharfen Beobachtung u. Kritik befähigt, doch lässt sich hieraus keine individuelle Hof- oder Ordo-Feindlichkeit herauslesen. Hier wie auch sonst sieht L. im Sinne Martials vom Angriff auf Personen zugunsten des Angriffs auf Laster oder überpersönl. Mängel ab. Gegenüber dem konfessionellen Streit seiner Zeit formuliert L. einprägsame iren. Positionen, die er mit dem von Lipsius geprägten Neustoizismus teilt; jenseits von Streitthematik macht er jedoch inhaltlich deutlich, dass er dem Protestantismus u. hier wiederum den Lehren u. der Lebenspraxis des Luthertums am nächsten steht. Sein wiederholt formulierter Pessimismus gegenüber der Lernfähigkeit des Menschen, den er nicht zuletzt infolge von Kriegsereignissen von den eigenen Wertvorstellungen weit entfernt bleiben sieht, sollte nicht als individuelle Reaktion auf persönl. Erleben isoliert werden: Diese Erfahrungen werden von der selbstgewählten SalomoRolle als alttestamentl. Weisheit von Anfang an in seinen von Didaxe geprägten Epigramm- u. Satirebegriff einbezogen, der L. stellenweise in die Nähe frühaufklärerischer Positionen dringen lässt. Zu seinem Konzept, über die Mannigfaltigkeit der Sinn-Getichte die Welt zu erschließen, gehören auch zitathafte Übernahmen aus dem Sammelschrifttum der Zeit (u. a. Johann Heidfeld, Christoph Lehmann, Julius Wilhelm Zincgref). L.s Wertschätzung in neuerer Zeit, die bis zu häufigen Zitaten in populären Kalender-

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blättern reicht u. sich bis in den engl. u. den russ. Sprachbereich ausweitete, wurde von Lessing mit der von ihm u. Karl Wilhelm Ramler vorgelegten Auswahl (zuerst Lpz. 1759) begründet. Weitere Werke: Sämmtl. Sinngedichte. Hg. Gustav Eitner. Tüb. 1872. Neudr. Hildesh./New York 1974. – Eine Leichenrede F. v. L.s. Hg. Angelo G. de Capua. In: Archiv 196 (1959), S. 147–152. – Sinngedichte. Hg. Ernst-Peter Wieckenberg. Stgt. 1984 (mit Komm., Bibliogr. u. Nachw.). – Reimensprüche u. andere Werke in Einzeldrucken. Hg. Ulrich Seelbach. Tüb. 1992 (darin u. a. auch das Epicedium auf den Altdorfer Mathematiker Johannes Caspar Odontius, 1626, u. ›Freudengesang‹, 1635). Literatur: Gustav Eitner: L. In: ADB. – Dünnhaupt 2. Aufl., Bd. 4, S. 2584–2588. – Kosch. – Wiltrud Brinkmann: L.s Epigramme als Gattungserscheinung. In: ZfdPh 93 (1974), S. 507–522. – Jutta Weisz: Das dt. Epigramm des 17. Jh. Stgt. 1979. – Ernst-Peter Wieckenberg: Herrscherlob u. Hofkritik bei F. v. L. In: Europ. Hofkultur im 16. u. 17. Jh. Hg. August Buck u. a. Bd. 2, Hbg. 1981, S. 67–74. – Adalbert Elschenbroich: F. v. L. In: Dt. Dichter des 17. Jh. Hg. Harald Steinhagen u. Benno v. Wiese. Bln. 1984, S. 208–226. – Peter Hess: Poetolog. Reflexionen in den Epigrammen v. F. v. L. In: Daphnis 13 (1984), S. 295–318. – Conermann FG, Bd. 3, S. 644 f. – Peter Ukena: L. In: NDB. – Ulrich Seelbach: Die Autographen F. v. L.s. In: Daphnis 19 (1990), S. 267–292. – Andreas Palme: ›Bücher haben auch jhr Glücke‹. Die Sinngedichte F. v. L.s u. ihre Rezeptionsgesch. Erlangen/Jena 1998. – Theodor Verweyen: F. v. L. In: Dt. Dichter. Hg. Gunter E. Grimm u. a. Bd. 2, Stgt. 2000, S. 163–173. – Wolfgang Harms: Offenheit als Angebot u. Aufgabe. F. v. L.s Epigramme an den Leser (zuerst 2000). In: Ders.: Kolloquialität der Lit. Hg. Michael Schilling. Stgt. 2006, S. 229–232. – Thomas Althaus u. Sabine Seelbach (Hg.): Salomo in Schlesien. Beiträge zum 400. Geburtstag F. v. L.s (1605–2005). Amsterd./New York 2006. Wolfgang Harms

Logau, Georg von, auch: Logus, * vor 1500 Schlaupitz bei Schweidnitz, † 11.4.1553 Breslau. – Humanist u. neulateinischer Dichter. Als schles. Edelmann (Silesius) studierte L., von bischöfl. Gönnern (darunter Stanislaus Thurzó) gefördert, in Krakau (1514) u. Wien (1516); 1519–1536 weilte er mehrmals in

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Italien (v. a. in Bologna u. Rom) im Kreis von Landsleuten u. ital. Humanisten (wie Pietro Bembo), in Padua erwarb er den jurist. Doktortitel. Seit 1527 Sekretär König Ferdinands I., lebte er bis zu seinem Tod als Geistlicher zumeist in Breslau. L. war ein altgläubiger Bekämpfer der Reformation (Teilnehmer am Reichstag zu Augsburg 1530), auch literar. Gegner des Erasmus (u. seines »Ciceronianus«), Freund aller humanist. Interessen von den Handschriften u. Erstdrucken (Cynegetica u. Halieutica. Venedig 1534) bis zu den Bucheinbänden, dazu ein Genie der Freundschaft (bes. zu seinem Landsmann Caspar Ursinus Velius) u. von lebhafter poet. Imagination. Seine Hendecasyllabi, elegiae et epigrammata erschienen 1529 ebenso in Wien wie 1599 postum seine Carmina (Auswahl elektronisch in: CAMENA). Neue Einblicke in seine Vita u. seine literar. Interessen bietet seine mittlerweile publizierte Korrespondenz aus den Jahren 1526–1539 (samt Gedichten) mit seinem Gönner, dem Olmützer Bischof Stanislaus Thurzó. Literatur: Gustav Bauch: Der humanist. Dichter G. v. L. Ein Beitr. zur Literaturgesch. des schles. Humanismus. In: Jahresber.e der Gesellsch. für vaterländ. Cultur 83 (1896), S. 5–33 (auch als Einzeldr.). – Ellinger 1, S. 493–496. – Michael Erbe u. Peter G. Bietenholz: L. In: Contemporaries. – Heinrich Grimm: L. In: NDB. – VD 16. – Peter Schaeffer: Humanism on Display. The Epistles Dedicatory of G. v. L. In: Sixteenth Century Journal 178 (1986), S. 215–223. – Martin Rothkegel: Der lat. Briefw. des Olmützer Bischofs Stanislaus Thurzó. Eine ostmitteleurop. Humanistenkorrespondenz des 16. Jh. Hbg. 2007, S. 210 u. ö. (Register!). Reinhard Düchting / Wilhelm Kühlmann

Lohengrin, letztes Viertel des 13. Jh. – Versroman über den Schwanenritterstoff. Der Verfasser nennt sich in einem Akrostichon der Strophen 763–765 »Nouhuwius« oder »Nouhusius«; er ist nicht identifizierbar. Inhaltliche Indizien, die Benutzung von Geschichts- u. Rechtsquellen, seine guten jurist. Kenntnisse u. seine vermutl. Verbindung zu König Rudolf von Habsburg (1273–1291) machen es wahrscheinlich, dass er in Kontakt zu einer Augsburger Kanzlei stand, die mit

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der Redaktion des Schwabenspiegels betraut war. Die Geschichte vom Schwanenritter Lohengrin, dem Sohn Parzivals, seiner Entsendung vom Gral, seines Gerichtszweikampfs mit Telramunt, dem unerwünschten Bewerber um die Hand der Herzogin Elsam von Brabant, von seiner Heirat, vom Bruch des Versprechens, niemals nach seiner Herkunft u. seinem Namen zu fragen, das Elsam ihm vor der Hochzeit hatte geben müssen, von dem Wiedererscheinen des Schwanenfahrzeugs u. seiner Rückkehr zum Gral bildet den Rahmen für eine wesentlich umfangreichere histor. u. teilweise fiktive Erzählung über die Herrschaft Heinrichs I. (919–936): Im Dienst des Königs kämpft Lohengrin gegen die Ungarn; mit ihm zieht er auf Bitten des Papstes mit Unterstützung aller dt. Fürsten u. der Könige von Frankreich u. des Arelats nach Italien, um gegen die Sarazenen zu kämpfen. Zum Lohn für den Sieg wird Heinrich, den histor. Fakten entgegen, in Rom zum Kaiser gekrönt. Mit Lohengrin kehrt er im Triumph nach Köln zurück. An der keineswegs bruchlos gelungenen Verbindung der Schwanenrittersage mit einer Episode aus der dt. Herrschergeschichte lassen sich Tendenzen der Dichtung u. zeitgeschichtl. Bezüge ablesen: Das Postulat eines Kaisertums durch Verdienst, das gleichberechtigt neben ein Kaisertum durch Weihe tritt, u. die fiktionale Harmonie zwischen dt. König u. röm. Kurie verweisen gegenbildlich auf die polit. Schwierigkeiten Rudolfs von Habsburg, der sich während seiner ganzen Regierungszeit vergeblich um die röm. Kaiserkrönung bemüht hat. Den aktuellen Verhältnissen setzt die Dichtung ein Bild imperialer Ordnung entgegen, garantiert durch einen Herrscher, dessen europ. Vormachtstellung in einem von innenpolit. Einigkeit bestimmten Reich unangefochten ist. Es wird so ein Bild von Geschichte gezeichnet, das ausdrücklich als normativ für die zeitgenöss. Verhältnisse verstanden wird. Lohengrin spielt in diesen Zusammenhängen die Rolle einer quasi mytholog. Figur. In seiner Person verbindet sich durch das Geheimnis seiner Herkunft u. das Wunder seiner Gesandtschaft göttl. Auftrag mit weltl.

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Machtfunktion, Übernatürliches mit Geschichte. Literarisch gestaltet der Verfasser die Doppelnatur Lohengrins als Gottesgesandtem u. ritterl. Helden mit den Mitteln der Allegorie: In entscheidenden Momenten der Handlung, auf dem krit. Höhepunkt der Schlacht gegen die Sarazenen wird Lohengrin zur deutl. Figuration Christi, der an der Spitze der zwölf Apostel zum Kampf gegen die Heiden u. für Imperium u. Papst antritt. Der L. ist in der dt. Literatur eines der ersten Beispiele für die untrennbare Vermischung von literar. Fiktion u. histor. Faktum, die im SpätMA die Struktur der Romane ebenso bestimmte wie die mancher volkssprachiger Chroniken u. die überdies das Geschichtsbewusstsein prägte: Viele Adelshäuser haben den Schwanenritter als histor. Ahnherrn für sich in Anspruch genommen, u. a. die Geschlechter von Bouillon, Boulogne, Brabant u. Kleve. Der L. bedient sich einer zehnversigen Strophe, die aus dem Wartburgkrieg übernommen u. in der Überlieferung des 15. Jh. »Klingsors Schwarzer Ton« genannt wird. Die Melodie ist vom 14. bis zum 17. Jh. in vier Versionen tradiert. Die Benutzung von Strophen für eine romanhafte Erzählung ist durchaus ungewöhnlich u. deutet auf den Einfluss des Jüngeren Titurel hin; möglicherweise ist sie, wie auch in jenem Werk, eine formale Konsequenz aus der Tendenz zur Mythologisierung adlig-ritterlicher Verhaltensweisen. Zu dieser Tendenz stimmt auch die verklausulierte Sprache, der Hang zum geblümten Stil. Der L. benutzt eine Vielzahl literarischer u. chronikal. Quellen. Für den reichsgeschichtl. Teil kann die Benutzung des Buchs der Könige alter ê und niuwer ê, der Sächsischen Weltchronik u. des Schwabenspiegels nachgewiesen werden. Für die Partien aus der Lohengrinsage ist eine unmittelbare Quelle nicht auszumachen: Sie stimmen weder mit den früheren dt. Versionen Wolframs von Eschenbach u. Konrads von Würzburg noch mit den zahlreichen frz. Fassungen der Geschichte von den Schwanenkindern u. des Chevalier au Cygne überein. Die Dichtung übernimmt am Anfang 28 Strophen aus dem Wartburgkrieg u. legt da-

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durch die gesamte Erzählung Wolfram von Eschenbach in den Mund. Die Überlieferung des L. bis ins Ende des 15. Jh. (die jüngste Handschrift stammt von 1461) bezeugt ein anhaltendes Interesse an der Dichtung; im Übrigen aber sind literar. Nachwirkungen u. Bearbeitungen, abgesehen vom Lorengel u. der Aufnahme in Ulrich Füetrers Buch der Abenteuer, nicht bekannt. Richard Wagner verstand seine Bearbeitung (1845) als eine Befreiung der mittelalterl. Dichtung von »Schutt und Moder«. Ausgaben: L., ein altteutsches Gedicht. Hg. Josef Görres. Heidelb. 1813. – L. Hg. Heinrich Rückert. Quedlinb./Lpz. 1858. – Thomas Cramer: L. Ed. u. Untersuchungen. Mchn. 1971. Literatur: Richard Heinrichs: Die Lohengrindichtung u. ihre Deutung. Ffm. 1905. – Robert Jaffray: The Two Knights of the Swan, Lohengrin and Helias. London/New York 1910. – August-Georg Krüger: Die Quellen der Schwanritterdichtungen. Gifhorn 1936. – Cramer 1971 (s. o.). – Claude Lecouteux: Zur Entstehung der Schwanenrittersage. In: ZfdA 107 (1978), S. 18–33. – T. Cramer: L. In: VL. – Alain Kerdelhué: L. Analyse interne et étude critique des sources. Göpp. 1986. – Herbert Kolb: Lohengrin u. die röm. Apostel. In: Archiv 223 (1986), S. 104–113. – Heinz Thomas: BrabantHennegau u. Thüringen. Zur Entschlüsselung u. zur Datierung des L. In: PBB 108 (1986), S. 40–64. – Regina Unger: Wolfram-Rezeption u. Utopie. Studien zum spätmittelalterl. bayer. L.-Epos. Göpp. 1990. – A. Kerdelhué: L. et la ›Sächsische Weltchronik‹. In: Histoire et littérature au Moyen Age. Hg. Danielle Buschinger. Göpp. 1991, S. 195–203. – Christa Bertelsmeier-Kierst u. Joachim Heinzle: Zur Datierung des L. Das Zeugnis der Koblenzer (Berliner) Fragmente Cf. In: ZfdA 122 (1993), S. 418–424. – Matthias Meyer: Intertextuality in the Later 13th Century. ›Wigamur‹, ›Gauriel‹, ›Lohengrin‹ and the Fragments of Arthurian Romances. In: The Arthur of the Germans. Hg. William H. Jackson u. Silvia A. Ranawake. Cardiff 2000, S. 98–114. Thomas Cramer / Red.

Lohenstein, Daniel Casper von, eigentl.: Daniel Casper, Caspari, Caspar, Kasper, * 25.1.1635 Nimptsch/Herzogtum Brieg, † 28.4.1683 Breslau. – Dramatiker, Romancier u. Lyriker; Jurist. L. war der älteste Sohn des kaiserl. Steuereinnehmers u. Ratsherrn von Nimptsch, Jo-

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hann Casper (Caspar), u. seiner Frau Susanne. Erst 1670 erhielten Johann Casper u. seine Familie den erbl. Adelstitel mit dem Zusatz »von Lohenstein«; man nimmt an, dass die Ehrung v. a. dem Sohn galt. 1642–1651 besuchte L. das Magdalenengymnasium zu Breslau, das ihm die traditionelle philologisch-rhetor. Ausbildung vermittelte. Schon früh trat er bei den regelmäßigen öffentl. Deklamationen hervor (actus publici declamatorii); auch sein erstes Trauerspiel Ibrahim entstand noch am Magdalenäum. Im Herbst 1651 begann L. sein Jurastudium in Leipzig, wahrscheinlich 1653 wechselte er nach Tübingen. Nach der abschließenden Disputation (De voluntate. Tüb. 1655) folgten – wohl als Hofmeister – Reisen in die Schweiz u. die Niederlande sowie nach Ungarn (die Pest verhinderte die geplante Reise nach Italien u. Frankreich). Nach der Rückkehr, vermutlich Anfang 1657, ließ sich L. in Breslau als Anwalt nieder u. heiratete am 16.10.1657. Während seiner Anwaltstätigkeit verfasste er seine bedeutendsten Trauerspiele. Die Widmungen bezeugen Verbindungen zu den bestimmenden polit. Kräften in Schlesien: der Stadt Breslau, den schles. Herzögen u. dem habsburgischen Kaiserhaus. L. begann seine öffentl. Laufbahn 1668 als Regierungsrat des Fürstentums Oels. Das Angebot, als Geheimsekretär in die Dienste Herzog Christians von Liegnitz, Brieg u. Wohlau zu treten, schlug er aus. Er übernahm stattdessen 1670 die hochdotierte Stelle eines Syndikus der Stadt Breslau; 1675 wurde er Obersyndikus u. hatte damit eine der einflussreichsten Positionen im Stadtregiment inne. Zur gleichen Zeit war Hoffmannswaldau Ratsältester bzw. Präses. Langanstehende Steuerstreitigkeiten u. die Befürchtung, dass Breslau mit einer Garnison kaiserl. Truppen belegt werden könnte, führten L. im Frühjahr 1675 zu erfolgreichen Verhandlungen nach Wien. Kaiser Leopold ernannte ihn wegen »seiner fürtrefflichen Qualitäten« zum Kaiserlichen Rat. Im gleichen Jahr starb der letzte Piastenherzog Georg Wilhelm, von L. in einer großen Lob-Schrifft (Brieg 1676), Trauerrede u. Fürstenspiegel zgl., geehrt; das Herzogtum fiel zurück an den Kaiser. Zuvor hatte der Lutheraner L.

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dem calvinist. Herzog seine Übersetzung von Graciáns El Político D. Fernando el Católico (1640. Staats-Kluger Catholischer Ferdinand. o. O. u. J. [Breslau 1672]) gewidmet, eine komplexe ästhetisierende Konstruktion eines vollkommenen kath. Politikers u. Herrschers, die in einer Apotheose des Hauses Habsburg gipfelt: Beispiel für L.s Versuch, der widerspruchsvollen schles. Realität vermittelnd gerecht zu werden, aber auch Indiz für die Orientierung seiner polit. Vorstellungen an span. Verhaltens- u. Klugheitslehren (neben Gracián spielen die polit. Embleme Saavedra Fajardos, Idea de un Príncipe Político Cristiano, 1640, eine bes. Rolle). Literarisches Hauptgeschäft der letzten, gichtgeplagten Lebensjahre L.s war der Arminius-Roman, der noch nicht vollendet war, als er »durch einen unvermuteten Schlag-Fluß« starb. Den LebensLauff Deß sel. Autoris zeichnete sein Bruder Hans Casper von Lohenstein auf (gedr. in der Sammelausg. von 1685). L.s lyr. Werk, z.T. gesammelt in den Blumen (Breslau 1680), steht im Schatten der Dramen u. des Arminius. Der Lyrikband, dem Einzeldrucke vorausgingen, ist in Hochzeits- (Rosen), Trauer- (Hyazinthen) u. geistl. Gedichte (Himmel-Schlüssel, Geistliche Gedancken, Thränen) gegliedert: Gelegenheitsgedichte (u. a. ein Epicedium auf Andreas Gryphius), Memento mori- u. Vanitas-Variationen (u. a. Umbschrifft eines Sarches), an Bibeltexte gebundene geistl. Reflexionen, Gedichte auf Ereignisse der Heilsgeschichte. Unter den Rosen stehen auch sechs Heroiden (Heldenbriefe) in der Manier Hoffmannswaldaus. Weitere Texte, mit denen L. wohl nicht öffentlich identifiziert werden wollte, brachte postum die Neukirchsche Sammlung (1695 ff.), darunter frühere Fassungen von vier Heroiden u. das große Lobgedicht auf die Liebe (Venus. 1888 Alexandriner), das – dem Thema entsprechend – alle Register des petrarkist. Schönheits- u. Liebespreises zieht. Die Anwendung des ins Manieristische gesteigerten rhetor. Stils auch auf geistl. Themen stieß lange Zeit auf wenig Verständnis. Sein erstes Trauerspiel schrieb L., neben Gryphius bedeutendster dt. Barockdramatiker, noch als Schüler (Ibrahim. Urauff. 1650 oder 1651. Lpz. 1653. Später u. d. T. Ibrahim

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Bassa). Auch als er längst Anwalt war, bildete die lebendige, 1648–1671 kontinuierlich aufrechterhaltene Schultheaterpraxis Breslaus eine wesentl. Voraussetzung seines dramat. Schaffens. Mit Ausnahme des Ibrahim Sultan (Lpz./Breslau 1673), des zweiten Türkendramas, wurden alle seine Stücke von Schülern des Elisabeth- bzw. MagdalenenGymnasiums aufgeführt: Cleopatra am 28.2.1661 (Breslau 1661. 2. Fassung 1680), Agrippina u. Epicharis abwechselnd vom 2. bis 18.5.1666 (beide Breslau 1665), Sophonisbe im Mai 1669 (ebd. 1680). Es gibt Hinweise darauf, dass die Chronologie der Aufführungen bzw. Drucke nicht mit der Reihenfolge der Entstehung übereinstimmt u. die röm. Trauerspiele Agrippina u. Epicharis schon vor der Cleopatra konzipiert, aber erst später, in überarbeiteter Form, gedruckt u. gespielt worden sind (Béhar). L.s eigener Weg als Dramatiker kündigt sich schon in seinem ersten Stück an, obwohl Ibrahim Bassa, nach einem von Zesen übersetzten Roman Madeleine de Scudérys (Ibrahim ou l’illustre Bassa. 1641. Dt. 1645). noch deutlich an Gryphius anknüpft: Die Konstellation der Personen – Tugendhelden, bösartige Intriganten, ein den Leidenschaften ausgelieferter Herrscher – u. der daraus entwickelte Konflikt zwischen Tugend u. Laster haben hier ihr Vorbild. Zgl. aber stellt der Prolog (»Asien wird in gestalt einer Frauen von den Lastern angefässelt auf den SchauPlatz gestället«) eine Verbindung von Lasterhaftigkeit u. geschichtl. Niedergang her u. deutet damit auf die welthistor. u. geschichtsteleolog. Perspektive der späteren Dramen voraus. In den afrikan. Trauerspielen Cleopatra u. insbes. Sophonisbe ist dieser Dramentyp voll ausgebildet. Gegenstand ist in beiden Fällen der Zusammenstoß der röm. Militärmacht mit untergehenden afrikan. Reichen, deren Repräsentantinnen mit allen Mitteln für den Erhalt ihrer Herrschaft kämpfen u. dabei scheitern – nicht ohne Schuld, aber durchaus mit Größe: »Ein Fürst stirbt muttig / der sein Reich nicht überlebt« (Cleopatra). Die komplexen (u. kontrovers interpretierten) Dramen sind auf ihre Weise Lehrstücke: Sie kommentieren das seit Machiavelli viel dis-

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kutierte u. auch von Lipsius wiederaufgenommene Problem, inwieweit polit. Handeln sich von den Normen der Moral u. der Religion lösen darf oder muss; sie beziehen im Zusammenhang mit der Affektenlehre des 17. Jh. polit. Klugheitslehren ein u. verweisen auf die Affektbeherrschung als Voraussetzung für erfolgreiches polit. Handeln. Letzte Instanz ist freilich das »Verhängnis«, das den unabänderlichen, in der Prophetie Daniels von den vier Weltreichen vorgezeichneten Geschichtsverlauf regiert (Dan 7–12): eine Konstruktion, die L. in einen Preis des Hauses Habsburg als Ziel der Geschichte münden lässt. Die Darstellung des Monströsen in den türk. u. röm. Trauerspielen hat gegenbildl. Funktion, ist ex negativo zu verstehen als Plädoyer für die Vernunft u. eine vernunftgeleitete, dem Gemeinwohl verpflichtete Herrschaft. Rom unter Nero – Agrippina u. Epicharis behandeln Episoden seiner Gewaltherrschaft –, das bedeutet ein entfesseltes, gleichwohl kühl kalkuliertes Theater sexueller Exzesse, ungehemmter Machtgier u. extremer Grausamkeit, in dem die Tugend – Epicharis – wie in den Märtyrerdramen von Gryphius gerade im Untergang sichtbar wird. Im Ibrahim Sultan, dem Kaiserpaar zur Hochzeit gewidmet, nimmt das für die letzte Geschichtsperiode prophezeite Erscheinen des Antichrist einen aktuellen (u. propagandistisch nutzbaren) Sinn an: Das osman. Reich des lasterhaften Sultans Ibrahim (Regierungszeit 1640–1648) steht als Reich des Antichrist Leopolds Österreich gegenüber, wo paradiesisch »Löw und Lämmer sich in vertrauter Eintracht gatten«. Damit werden hohe Maßstäbe gesetzt, die sich – so die didakt. Absicht des Fürstenlobs – der Gelobte zu eigen machen müsste. L.s letztes großes Werk, einer der umfangreichsten Romane der Zeit, erschien postum: Großmüthiger Feldherr Arminius oder Herrmann / Als Ein tapfferer Beschirmer der deutschen Freyheit [...] (2 Bde., Lpz. 1689/90). L. hatte den Roman nicht mehr vollenden können; das letzte der 18 Bücher (II, 9) stammt aus der Feder Christian Wagners, der sich vermutlich auf ein Konzept des Verstorbenen stützen konnte. Zu Wagners Beitrag gehören auch wert-

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volle Anmerckungen (Aufschlüsselung der Anagramme, genealog. Tabellen, Namensregister usw.). L. verbindet, bezeichnend für die Gattung des höfisch-histor. Romans, Liebeshandlung(en) u. heroisch-polit. Geschehen; dazu kommt als dritte wesentl. Komponente eine ausgesprochen wissenschaftlich-enzyklopäd. Tendenz. Das »Romanhafte« im traditionellen Sinn macht angesichts der zahllosen Gespräche u. Dispute, der naturwiss. u. histor. Darlegungen nur den Rahmen des riesigen Werks aus. Die Geschichte der germanisch-röm. Auseinandersetzungen u. der innergerman. Zwistigkeiten, von L. durch Exkurse u. Nebenhandlungen zu einem umfassenden weltgeschichtl. Panorama erweitert, ist durchaus gegenwartsbezogen: Arminius ist eine Art Schlüsselroman, der Personen, Ereignisse u. Probleme neuerer Zeit in verdeckter Form mit einbezieht u. so als Kommentar zur aktuellen polit. Lage u. als Warnung vor den Folgen dt. Zwietracht begriffen werden will (Hintergrund ist die polit. Situation des Reichs nach dem Dreißigjährigen Krieg mit der wechselnden Bündnispolitik der dt. Fürsten, den ungeklärten Machtverhältnissen u. den Spannungen zwischen Territorialstaaten u. Kaisertum bei gleichzeitiger Bedrohung von außen). Eine Lösung ist nicht in Sicht. Zur Laudatio des Hauses Habsburg – eingeflochten ist u. a. eine Galerie der habsburgischen Kaiser in german. Verkleidung, wobei Leopold I. als zweiter Herrmann erscheint – gehört auch die Mahnung Herrmanns: »Wer [...] seine Hersch-Sucht nach dem Befehl der gesunden Vernunfft beherschet / ist grösser / als wenn er die gantze Welt unter seiner Gewalt hätte.« Der Arminius sicherte L.s Ruhm für mehrere Jahrzehnte. Er wurde, außergewöhnlich für einen Roman, in den »Acta Eruditorum« besprochen. Thomasius widmete ihm eine ausführl. Darstellung in seinen »Monatsgesprächen« (1689) u. rühmte neben der unvergleichl. Gelehrsamkeit v. a. die das eigene Urteil herausfordernde pädagog. Methode, nämlich »daß der Herr von Lohenstein mehrentheils / nachdem er eine Sache auff beyderley Recht erwogen / nichts determiniret,

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sondern dem Leser dasselbige zuthun überläst.« 1731 kam es zu einer zweiten Auflage; vorher hatte schon Johann Christoph Männling Auszüge daraus für die Leser zusammengestellt, die »den großen Arminium zu erkauffen nicht vermögend« seien (Arminius Enucleatus. 1708. Es folgten Auszüge aus anderen Werken L.s: Lohensteinius Sententiosus. 1710). Bald verfiel L. jedoch dem Verdikt der aufklärerischen Kritik (Bodmer, Breitinger, Gottsched u. a.), die ihn als exemplarischen Vertreter von »Unnatur« u. »Schwulst« abkanzelte u. in der »ungeschickten Wahl und unmässigen Verschwendung fremder, unnützlicher, ungeheurer und unanständiger Gleichnisse« die Ursache für den »schlimme[n] Geschmack der Lohensteinischen Schreibart« erkannte (Breitinger). Gegen die allg. Ablehnung wandte sich Mendelssohn, indem er den Rang des Prosaisten L. hervorhob (in: Briefe, die Neueste Litteratur betreffend, Nr. 313, 1765). Doch an der grundsätzlich negativen Einschätzung änderte sich nichts. Sie spiegelt sich auch in der Begründung, mit der Tieck L.s erstes Stück in den zweiten Band seines Deutschen Theaters (1817) aufnahm: Er hielt den Ibrahim Bassa für L.s beste Leistung, weil hier »die Sprache natürlicher, weniger gesucht und schwülstig« sei als in den späteren Dramen. Erst im Lauf des 20. Jh. setzte sich dann, nicht zuletzt im Zusammenhang mit dem Interesse für manierist. Tendenzen in der europ. Literatur, eine andere Wertung der »Lohensteinischen Schreibart« durch. Die sich intensivierende Beschäftigung mit L.s Dramen hatte Wirkungen über die Literaturwissenschaft hinaus. Das Kölner Schauspiel führte, textlich bemüht um histor. Treue, die Epicharis auf (Premiere 8.1.1978. Regie: Hansgünther Heyme). Ein Jahr zuvor war Hubert Fichtes Hörspielfassung der Agrippina gesendet worden (NDR 3, 13.3.1977); eine darauf basierende Bühnenfassung des »Nerovaudou« erschien 1978 (Lohensteins Agrippina bearbeitet von Hubert Fichte. Köln 1978). Ausgaben: Gesamtausgabe: Sämtl. Werke. Hist.krit. Ausg. hg. v. Lothar Mundt, Wolfgang Neuber u. Thomas Rahn. Bln./New York 2005 ff. Bisher erschienen: Abt. II: Dramen, Bd. 1,1.2: Ibrahim

Lohenstein (Bassa). Cleopatra (2008); Bd. 2,1.2: Agrippina. Epicharis (2005). – Lyrik: Gedichte. Ausgew. u. hg. v. Gerd Henniger. Bln. 1961. – Charlotte Brancaforte: L.s Preisgedicht ›Venus‹. Krit. Text u. Untersuchung. Mchn. 1974. – Lyrica. Hg. u. mit einem Nachw. vers. v. Gerhard Spellerberg. Tüb. 1992. – Dramen: Türk. Trauerspiele. Röm. Trauerspiele. Afrikan. Trauerspiele. Hg. Klaus Günther Just. 3 Bde., Stgt. 1953–57. – Cleopatra. 1680. In: C. Hofmann v. Hofmannswaldau, D. C. v. L., Heinrich Anselm v. Zigler u. Kliphausen u. a. Hg. Felix Bobertag. Bln./Stgt. o. J. [um 1885]. Neudr. Tüb. 1974, S. 109–333. – Sophonisbe. In: Das schles. Kunstdrama. Hg. Willi Flemming. Lpz. 1930. Neudr. Darmst. 1965, S. 224–321. – Agrippina. In: Das Zeitalter des Barock. Hg. Albrecht Schöne. Mchn. 2 1968, S. 577–683. – Cleopatra. Text der Erstfassung v. 1661. Besorgt v. Ilse-Marie Barth. Nachw. v. W. Flemming. Stgt. 1965 u. ö. – Cleopatra. Sophonisbe. Hg. Wilhelm Voßkamp. Reinb. 1968. – Sophonisbe. Hg. Rolf Tarot. Stgt. 1970 u. ö. – Cleopatra [Zweitfassung]. Hg. Volker Meid. Stgt. 2008. – Prosa: Lob-Rede Bey des Herrn Christians v. Hoffmannswaldau Leichbegängnüße. In: Das Zeitalter des Barock. Hg. A. Schöne. Mchn. 21968, S. 950–960. – Arminius. Neudr. der Ausg. Lpz. 1689/90. Mit einer Einf. v. Elida Maria Szarota. Hildesh./New York/Bern 1973. Literatur: Bibliografien: Hans v. Müller: Bibliogr. der Schr.en D. C.s v. L., 1652–1748. In: FS Karl W. Hiersemann. Lpz. 1924, S. 184–261. – Gernot Uwe Gabel: D. C. v. L. A Bibliography. Chapel Hill, North Carolina 1973. – Pierre Béhar: Bibliographie de l’œuvre tragique de D. C. v. L. (1653–1748). In: Ders.: Silesia Tragica. Epanouissement et fin de l’école dramatique silésienne dans l’œuvre tragique de D. C. v. L. (1635–83). Bd. 2, Wiesb. 1988, S. 697–759. – Pyritz, S. 435–443. – Dünnhaupt 2. Aufl., Tl. 4, S. 2589–2606. – G. U. Gabel: D. C. v. L. (1635–83). Bibliogr. zu Leben u. Werk (bis 2000). Hürth 2005. – Weitere Titel: August Kerckhoffs: D. C. v. L.’s Trauerspiele mit bes. Berücksichtigung der ›Cleopatra‹. Beitr. zur Gesch. des Dramas im XVII. Jh. Paderb. 1877. – Leo Cholevius: Die bedeutendsten dt. Romane des 17. Jh. Lpz. 1866. Neudr. Darmst. 1965, S. 311–408. – Conrad Müller: Beiträge zum Leben u. Dichten D. C.s v. L. Breslau 1882. Neudr. Nendeln 1974. Hildesh. 1977. – Walter Benjamin: Ursprung des dt. Trauerspiels. Bln. 1928. Rev. Ausg. v. Rolf Tiedemann. Ffm. 1963. – Erik Lunding: Das schles. Kunstdrama. Kopenhagen 1940. – Wolfgang Kayser: L.s ›Sophonisbe‹ als geschichtl. Tragödie. In: GRM 29 (1941), S. 20–39. – Klaus Günther Just: Die Trauerspiele L.s. Bln. 1961. – Albrecht Schöne: Emble-

Loher matik u. Drama im Zeitalter des Barock. Mchn. 1964. 21968. – Edward Verhofstadt: D. C. v. L. Brügge 1964. – Gerald E. Gillespie: D. C. v. L.’s Historical Tragedies. Columbus, Ohio 1965. – Rolf Tarot: Zu L.s ›Sophonisbe‹. In: Euph. 59 (1965), S. 72–96. – Wilhelm Voßkamp: Untersuchungen zur Zeit- u. Geschichtsauffassung im 17. Jh. bei Gryphius u. L. Bonn 1967. – Ulrich Fülleborn: Die barocke Grundspannung Zeit – Ewigkeit in den Trauerspielen L.s. Stgt. 1969. – Dieter Kafitz: L.s ›Arminius‹. Stgt. 1970. – Gerhard Spellerberg: Verhängnis u. Gesch. Untersuchungen zu den Trauerspielen u. dem ›Arminius‹-Roman D. C.s v. L. Bad Homburg/Bln./Zürich 1970. – Elida Maria Szarota: L.s ›Arminius‹ als Zeitroman. Bern/Mchn. 1970. – Bernhard Asmuth: D. C. v. L. Stgt. 1971 (mit Angaben zur älteren Lit.). – Ders.: L. u. Tacitus. Stgt. 1971. – Gerhard Pasternack: Spiel u. Bedeutung. Untersuchungen zu den Trauerspielen D. C.s v. L. Lübeck/Hbg. 1971. – Wolfgang Bender: L.s ›Arminius‹. In: FS Günther Weydt. Bern/Mchn. 1972, S. 381–410. – Wolf Wucherpfennig: Klugheit u. Weltordnung. Das Problem des polit. Handelns in L.s ›Arminius‹. Freib. i. Br. 1973. – Karl-Heinz Mulagk: Phänomene des polit. Menschen im 17. Jh. [...] Studien zum Werk L.s unter bes. Berücksichtigung Diego Saavedra Fajardos u. Baltasar Graciáns. Bln. 1973. – Brancaforte, a. a. O. – Judith Popovich Aikin: The Mission of Rome in the Dramas of D. C. v. L. Stgt. 1976. – Joerg C. Juretzka: Zur Dramatik D. C.s v. L. ›Cleopatra‹ 1661 u. 1680. Meisenheim 1976. – E. M. Szarota: Gesch., Politik u. Gesellsch. im Drama des 17. Jh. Bern/Mchn. 1976. – Peter Schwind: Schwulst-Stil. Bonn 1977. – Alberto Martino: D. C. v. L. Gesch. seiner Rezeption. Bd. 1: 1661–1800. Tüb. 1978 (zuerst ital. Pisa 1975). – Peter Kleinschmidt u. a. (Hg.): Die Welt des D. C. v. L. Köln 1978. – Uwe K. Ketelsen: [...]. Zu L.s Gedicht über den Tod des letzten Piasten, Georg Wilhelms v. Liegnitz. In: Gedichte u. Interpr.en. Bd. 1: Renaissance u. Barock, hg. v. Volker Meid. Stgt. 1982, S. 369–378. – G. Gillespie u. G. Spellerberg (Hg.): Studien zum Werk D. C.s v. L. [...]. Amsterd. 1983. Zgl. Daphnis 12, H. 2/3 (1983). – Ilona Banet: D. C. v. L., neues Quellenmaterial zu seiner Tätigkeit als Syndikus. In: Germanica Wratislaviensia LV (1984), S. 195–204. – G. Spellerberg: D. C. v. L. In: Dt. Dichter des 17. Jh. Hg. Harald Steinhagen u. Benno v. Wiese. Bln. 1984, S. 640–689. – Thomas W. Best: On L.’s Concept of Tragedy. In: Euph. 80 (1986), S. 278–296. – Reinhart Meyer-Kalkus: Wollust u. Grausamkeit. Affektenlehre u. Affektdarstellung in L.s Dramatik am Beispiel v. ›Agrippina‹. Gött. 1986. – Pierre Béhar: Silesia Tragica. Épanouissement et fin de l’école dramatique silésienne dans l’œuvre de D. C.

502 v. L. 2 Bde., Wiesb. 1988. – Adalbert Wichert: Lit., Rhetorik u. Jurisprudenz im 17. Jh. D. C. v. L. u. sein Werk. Eine exemplar. Studie. Tüb. 1991. – Thomas Borgstedt: Reichsidee u. Liebesethik. Eine Rekonstruktion des L.schen Arminiusromans. Tüb. 1992. – Bettina Müsch: Der polit. Mensch im Welttheater des D. C. v. L. Eine Deutung seines Dramenwerks. Ffm./Bern/New York 1992. – Cornelia Plume: Heroinen in der Geschlechterordnung. Weiblichkeitsprojektionen bei D. C. v. L. u. die Querelle des Femmes. Stgt./Weimar 1996. – Jane O. Newman: The Intervention of Philology. Gender, Learning, and Power in L.’s Roman Plays. Chapel Hill/London 2000. – Stefanie Arend: Rastlose Weltgestaltung. Senecaische Kulturkritik in den Tragödien Gryphius’ u. L.s. Tüb. 2003. Volker Meid / Lothar Mundt

Loher, Dea, * 20.4.1964 Traunstein. – Dramatikerin, Hörspiel-Autorin, Erzählerin. L. verbrachte ihre Jugend als Tochter eines Försters u. einer Justizangestellten in Traunstein u. wechselte für das Studium der Germanistik u. Philosophie nach München. Nach ihrem Studienabschluss u. einem längeren Aufenthalt in Brasilien absolvierte sie in Berlin den an der Hochschule der Künste neu eingerichteten Studiengang Szenisches Schreiben, wo sie u. a. von Heiner Müller u. Yaak Karsunke ausgebildet wurde. L. lebt bis heute in Berlin. Seit ihrem erfolgreichen zweiten Stück Tätowierung (Urauff. Berlin 1992), für das sie den »Stücke«-Förderpreis des Goethe-Instituts erhielt, u. ihrer zweifachen Wahl zur Nachwuchsdramatikerin des Jahres in »Theater heute« (1993, 1994) hat sich L. als eine feste Größe der jüngeren dt. Dramatik etabliert. Eine Heimat fanden L.s Theaterstücke zunächst am Niedersächsischen Staatstheater Hannover, wo Leviathan (Urauff. 1993), Fremdes Haus (Urauff. 1995) u. Adam Geist (Urauff. 1998), das 1998 mit dem Mülheimer Dramatikerpreis ausgezeichnet wurde, zur Uraufführung kamen. Neben den Uraufführungen am Wiener Burgtheater – Klaras Verhältnisse (Urauff. 2000), Die Schere (Urauff. 2001) – u. an den Münchner Kammerspielen – Land ohne Worte (Urauff. 2007) – hat sich in den letzten Jahren das Hamburger Thalia Theater inten-

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Lohmeyer

Literatur: Bibliografie: Birgit Haas: D.-L.-Bisiv um die Erstinszenierung der Stücke von L. bemüht, darunter Der dritte Sektor (Urauff. bliogr. In: Monatshefte 99 (2007), H. 3, S. 277–279. 2001), Unschuld (Urauff. 2003), Das Leben auf – Interview: ›Ich kenne nicht besonders viele glückder Praça Roosevelt (Urauff. 2004) u. Das letzte liche Menschen‹. Ein Gespräch mit D. L. über das Leben, das Schreiben u. ihre Stücke. In: Theater Feuer (Urauff. 2008), das 2008 mit dem Mülheute 2 (1998), S. 61–65. – Weitere Titel: Sascha heimer Dramatikerpreis prämiert wurde. L.s Löschner: Verletzte Sprache. In: Deutschsprachige dramat. Arbeiten, die u. a. auch durch die Dramatik der 90er Jahre. Hg. Frank Hörnigk. Bln. Fördergabe des Schiller-Gedächtnispreises 1997, S. 71–73. – Jens Groß u. Ulrich Khuon (Hg.): des Landes Baden-Württemberg (1995), den D. L. u. das Schauspiel Hannover. Hann. 1998. – Jakob-Michael-Reinhold-Lenz-Preis der Stadt Sandra Umathum: Unglückl. Utopisten. In: Neue Jena (1997), den Else-Lasker-Schüler-Drama- deutschsprachige Dramatik. Hg. Christel Weiler u. tikerpreis (2005) u. den Bertolt-Brecht-Preis Harald Müller. Bln. 2001, S. 101–105. – Michael der Stadt Augsburg (2006) dekoriert wurden, Börgerding: Auf der Suche nach den vielen Antsind vergleichsweise häufig übersetzt u. im worten. Über D. L. u. ihre Stücke – eine persönl. Vergewisserung. In: Theater heute 10 (2003), Ausland inszeniert worden. S. 42–46. – Ingeborg Gleichauf: Was für ein Kaum ein dt. Dramatiker arbeitet so in- Schauspiel! Deutschsprachige Dramatikerinnen tensiv mit einem ausgewählten Kreis an Re- des 20. Jh. u. der Gegenwart. Bln. 2003, S. 165–180. gisseuren u. Dramaturgen zusammen wie L.: – Franziska Schößler: Augen-Blicke. Erinnerung, Andreas Kriegenburg inszenierte fast alle ihre Zeit u. Gesch. in Dramen der neunziger Jahre. Tüb. Uraufführungen; aus der engen Zusammen- 2004, S. 252–258. – Birgit Haas: Das Theater der D. arbeit mit Kriegenburg (Regie), Michael Bör- L.: Brecht u. (k)ein Ende. Bielef. 2006. – Dies. (Hg.): gerding (Dramaturgie) u. Ulrich Khuon (In- Themenheft D. L. In: Monatshefte 99 (2007), H. 3, tendanz) hat sich zudem L.s Verbindung zum S. 269–398. Carlos Spoerhase Niedersächsischen Staatstheater Hannover u. dann zum Thalia Theater in Hamburg ergeLohmeyer, (Carl Leopold Otto) Julius, ben. Die Stücke Blaubart – Hoffnung der Frauen * 6.10.1835 Neiße, † 24.5.1903 Berlin(Urauff. München 1997) u. Magazin des Glücks Charlottenburg. – Jugendschriftsteller, (Urauff. Hamburg 2001) wurden sogar als Publizist, Herausgeber. »work in progress« konzipiert u. mit Kriegenburg u. den jeweiligen Schauspielern z.T. L. war wie sein Vater Apotheker, folgte aber auch literar. Interessen u. trat v. a. auf dem während des Probenzeitraums geschrieben. L. wurde in der literaturwiss. Rezeption Gebiet der Kinder- u. Jugendliteratur hervor. immer wieder als Vertreterin eines neuen In den Jahren des Deutschen u. des Deutschpolit. Theaters eingeordnet. Wiederkehrende Französischen Kriegs verfasste er patriot. Merkmale in ihrer Dramenproduktion sind Festspiele u. Gedichte u. wurde aufgrund von Gewalt, Schuld, Leid u. Trauer geprägte ihrer Wirkung von Ernst Dohm in die ReProtagonisten, die ebenso sehnsuchtsvoll wie daktion des »Kladderadatsch« berufen. 1872 getrieben nach Erlösung, Glück oder auch gründete er das national eingestellte Jahrnur temporärer Erleichterung suchen, meis- buch »Deutsche Jugend«, das unter Mitwirtens ohne Erfolg. Die existentielle Grundie- kung bekannter Dichter u. bildender Künstrung dieser Probleme (u. a. Familiendesaster, ler während seines fast 25-jährigen Bestehens Kriegserfahrung, Terror, Entfremdung) u. die literar. u. künstlerische Richtung der Judie lyr. Sprachvirtuosität L.s weisen über das gendliteratur prägte. L., der in ZusammenPolitische im engeren Sinne deutlich hinaus. arbeit mit Künstlern wie Fedor Flinzer, Oskar In jüngerer Zeit ist sie auch mit dem Erzäh- Pletsch, Paul Thumann u. Carl Rohling über lungsband Hundskopf (Gött. 2005) in Erschei- 20 Kinderbücher herausgab, schrieb Jugenderzählungen (u. a. Junges Blut. Stgt. 1883. nung getreten. Weitere Werke: Olgas Raum (Urauff. 1992). – Bunter Strauß. Bln. 1885. Jugendwege und IrrManhattan Medea (Urauff. 1999). – Berliner Gesch. fahrten. Stgt. 1886.) u. begründete die Vater(Urauff. 2000). – War Zone (Ursendung 2002). – ländische Jugendbücherei (28 Bde., Mchn. 1899–1912). Er gab Wandtafeln für den hisQuixote in der Stadt (Urauff. 2005).

Lohner

tor. Unterricht, mit Dahn gemeinsam Anschauungsbilder zur dt. Sage u. Mythologie heraus. Literatur u. Kunst vereinigen sich auch in den Künstlerfestspielen (Bln. 1885; u. a. über Dürer u. Tizian). Als Krönung seiner populärwiss. Bemühungen (u. a. Studien-Mappen deutscher Künstler. Breslau 1888/99) kann Das goldene Buch des deutschen Volkes an der Jahrhundertwende (Lpz. 1900) gelten, ein Panorama dt. Kultur in Staat, Wissenschaft, Technik, Literatur u. Kunst in Wort u. Bild. Seine nat. Bestrebungen fasste L. 1901 in der von ihm herausgegebenen »Deutschen Monatsschrift« zusammen. Ausgabe: Ges. Dichtungen. Bln. 1904. Literatur: Eva-Maria Brockhoff: L. In: NDB. – Goedeke Forts. Günter Häntzschel / Red.

Lohner, Tobias, * 13.3.1619 Neuötting, † 1697 München. – Katholischer Theologe, Jesuit; Erbauungsschriftsteller. L. trat 1637 in Landsberg dem Jesuitenorden bei, lehrte nach der Ausbildung Philosophie in Ingolstadt u. Dillingen (1651–1657), Theologie in Ebersberg, war Prediger in Regensburg u. Rektor des Kollegs in Luzern (1664–1668); die letzten Lebensjahre verbrachte er in München. Unter L.s zahlreichen Schriften sind v. a. die in volkstüml. Ton gehaltenen Predigt- u. Erbauungsschriften zu erwähnen, die z.T. mehrere Auflagen erlebten. Für die Barockpredigt wichtig ist seine Instructissima bibliotheca manualis concionatoria (4 Bde., Dillingen 1681; Auctarium amplissimum [...]. Dillingen 1691), »eine ungemein reiche Materialiensammlung für alle Formen der geistlichen Rede« (Wetzer u. Welte, Bd. 8, S. 126). Eine Anleitung zum christl. Leben für Laien bietet die Geistliche Hauß-Bibliothec (6 Tle., Mchn. 1684–85). L. zeigt hier u. a. große Wertschätzung des Ehestands, unterstreicht die Bedeutung des Lesens u. empfiehlt – für ihn bezeichnend – Respekt vor Andersgläubigen. Während L.s Autobiografie verloren ist, hat sich die Handschrift seiner Lebensbeschreibung von Maria Ward erhalten. Weitere Werke: Manipulus controversiarum. Inter recentiores et antiquiores philosophos exortarum. Präses: T. L.; Resp.: Dionysius Widen-

504 man. Ingolst. 1654. – Homo quaestionibus philosophicis illustratus. Präses: T. L., Resp.: Johann Franz v. Triembach. Dillingen 1657. – Instructio practica de ss. missae sacrificio [...]. Dillingen 2 1670. Ingolst. 31674. Dillingen 51680 (u. d. T. Instructio practica prima [...]) u. ö. – Instructio practica secunda [-undecima] [...]. Dillingen 1675–88 u. ö. Literatur: Bibliografie: VD 17. – Weitere Titel: Heinrich Reusch: T. L. In: ADB. – Backer/Sommervogel 4. – Bernhard Duhr: Gesch. der Jesuiten in den Ländern dt. Zunge. Bd. 3, Mchn./Regensb. 1921, S. 546 ff. – Fritz Krafft: T. L. In: Biogr. Lex. LMU, Bd. 1, S. 249 f. Hans Pörnbacher / Red.

Lommer, Horst, * 19.11.1904 BerlinLichterfelde, † 17.10.1969 Lübeck. – Erzähler, Kabarett-Texter, Lustspiel- u. Fernsehspielautor. Der aus einer Arztfamilie stammende L. nahm während seines Studiums Unterricht bei Leopold Jeßner an der Berliner Staatlichen Schauspielschule. Nach verschiedenen berufl. Stationen war er 1935–1945 am Staatstheater in Berlin engagiert. Anschließend lebte er dort als freier Schriftsteller bis 1951, danach in Frankfurt/M. u. Lübeck. Während der NS-Zeit schrieb L. unpolitische, harmlos unterhaltende Lustspiele (Eintritt frei. Bln. 1936. Kleine Welt am Narrenseil. Bln. 1937. Das unterschlug Homer. Bln. 1940) u. Romane (Ein unverwüstlicher Bursche. Bln. 1938). Nach 1945 setzte sich der linksliberale Schriftsteller kompromisslos mit der nationalsozialist. Ära auseinander, wandte sich gegen militarist. Tradition, kleinbürgerl. Anpassung u. Doppelmoral. Beachtet wurden sein Schauspiel Der General (Bühnenmanuskript Bln. 1946), u. vor allem, beginnend mit der polit. Revue Höllenparade (Bln. 1946), seine satir. Texte u. Lieder. Als Autor des renommierten Düsseldorfer »Kom(m)ödchens« begleitete er kritisch u. scharfzüngig die gesellschaftl. Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland. Auch in seinen Fernsehspielen griff L. politische u. sozialkrit. Themen auf, so im Streit um die Wiederbewaffnung (Das letzte Aufgebot. 1959) oder durch die Thematisierung von Alltagsproblemen aus der Sicht des unpolit. Durchschnittsbürgers (Zur letzten Instanz. 1960. Kollege Bandelmann. 1969. Ge-

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schäft mit Plückhahn. 1971). Mit ihnen wurde er zu einem der Wegbereiter dieser populären literar. Form. Weitere Werke: Amor in der Pfalz. Bln. 1938 (Kom.). – Eine Nacht mit Isabell. Bln. 1943 (Kom.). – Die Arche Noah. Bln. 1945 (Kom.). – Das tausendjährige Reich. Bln. 1946. Neu hg. v. Gottfried Kirchner. Chemnitz 2008. – Thersites u. Helena. Bln. 1949 (D.). – Von Zeit zu Zeit. Verse u. Szenen. Bln. 1949. – Madame liebt kompliziert. Bln. 1954 (Kom.). Wolfgang Weismantel / Red.

Lonitzer, Lonicer, Lonicerus, Adam, * 10.10. 1528 Marburg, † 29.5.1586 Frankfurt/M. – Arzt u. Botaniker.

Loos

Titelauflage im Jahr 1565 (Botanicon) erlebte, erschien L.s Kreuterbuch von 1557 bis 1783 in zahlreichen dt. Ausgaben, zunächst u. d. T. Kreuterbuch, new zugericht, seit 1569 als Kreuterbuch. Künstliche Conterfeytunge [...]. Spätere Ausgaben wurden u. a. von Peter Uffenbach besorgt, so auch die Ausgabe von 1679 (Nachdr. 1934 u. 1969). L. trat auch als frauenkundl. Autor hervor: Neben einer selbständigen Bearbeitung des Werkes Der Swangeren frawen und hebammen roßgarten (Straßb. 1513) von Eucharius Rößlin d.Ä., die 1562 (Ffm.) u. d. T. Hebammenbuechlin herauskam, gab er 1573 für den Rat der Freien Reichsstadt Frankfurt/M. eine Reformation oder Ordnung für die Hebammen (Ffm.) zu Druck, die 130 Jahre lang eigene Verordnungen des Rats für die Hebammen ersetzte.

L., Sohn des Theologen u. Philosophen Johannes Lonicerus, studierte in Marburg (Baccalaureus 1540, Magister 1544), war dann Weitere Werke: Arithmetices brevis et utilis etwa ein Jahr an der Barfüßerschule in introductio. Ffm. 1551 u. ö. – Ordnung für die Frankfurt/M. tätig. Wegen Kriegsunruhen Pestilenz. Ffm. 1572 u. ö. – De purgationibus libri zunächst nach Marburg zurückgekehrt, III. Ffm. 1596. – Eigentl. Ber. v. Aderlassen in der wandte er sich später nach Friedberg, um dort Zeit der Pestilenz. Einblattdr. (Augsb. 1616). Literatur: Wilhelm Emil F. Roth: Die Botanidas Gymnasium neu zu organisieren. Ab 1550 studierte er in Marburg, seit 1551 in ker Eucharius Rösslin, Theodor Dorsten u. A. LoMainz Medizin. 1553 erhielt er die Professur nicer 1526–86. In: ZfB 19 (1902), S. 271–325. – Claus Nissen: Die botan. Buchillustration. 3 Bde., für Mathematik in Marburg (Dr. med. 1554). Stgt. 21966. – Günter Richter: Christian Egenolffs 1554 nahm er die Stelle eines Stadtarztes in Erben 1555–1667. In: AGB 7 (1965–67), Frankfurt/M. an, die zuvor Eucharius Rösslin S. 450–1130. – Fritz Grossmann: A. Lonicers d.J. innegehabt hatte. Im gleichen Jahr hei- Kräuterbuch. Zürich 1991. – Dieter Fahrig: Zum ratete L. eine Tochter des Drucker-Verlegers Kräuterbuch v. A. L. aus den Jahren 1569, 1587, Christian Egenolff. Neben seinen amtl. Auf- 1630 u. 1679 (Aspekte der Interpr.). Diss. rer. nat. gaben entfaltete er eine rege fachschriftstel- Ffm. 1992. – Larissa Leibrock-Plehn: Hexenkräuter lerische Tätigkeit. Die Mehrzahl seiner Werke oder Arznei. Die Abtreibungsmittel im 16. u. 17. Jh. gab er in der Offizin seines Schwiegervaters Stgt. 1992. – Sibylla Flügge: Hebammen u. heilzum Druck, deren Miteigentümer er 1555 kundige Frauen. Recht u. Rechtswirklichkeit im 15. u. 16. Jh. Ffm./Basel 1998. – Mechthild Haberwurde. mann: Dt. Fachtexte der frühen Neuzeit. NaturUnter den zahlreichen Veröffentlichungen kundlich-medizin. Wissensvermittlung im SpanL.s ragen die Ausgaben seines Kreuterbuchs nungsfeld v. Latein u. Volkssprache. Bln./New York nicht aufgrund wiss. Eigenständigkeit, wohl 2001. Wolf-Dieter Müller-Jahncke aber hinsichtlich ihrer weiten Verbreitung hervor. L. nutzte dabei als Vorlage das sich auf den Gart der Gesundheit (1485) u. den HorLoos, Adolf, * 10.12.1870 Brünn (Brno)/ tus sanitatis (1491) stützende Kreutterbuch EuMähren, † 23.8.1933 Kalksburg (heute zu charius Rösslins, das er überarbeitete u. neu Wien gehörend); Grabstätte: Wien, Ehordnete. Seit 1550 besorgte L. mehrere Ausrengrab auf dem Zentralfriedhof. – Argaben dieses Werks, brachte aber noch zu chitekt. Lebzeiten Rösslins unter eigenem Namen eine zweibändige lat. Neubearbeitung u. d. T. Der Sohn eines Bildhauers u. SteinmetzNaturalis historiae opus novum heraus (Ffm. meisters besuchte die Staats-Gewerbeschule 1551–55). Während diese Ausgabe nur eine in Reichenberg u. Brünn, studierte seit 1889

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an der TH Dresden Architektur u. lebte sodann nach dem Abbruch seines Studiums von 1893 bis 1896 in den USA (u. a. in New York, Philadelphia u. Chicago), wo er die Skelettbauweise u. die moderne Hochhausarchitektur kennenlernte. Nach Wien zurückgekehrt, begann L. mit seinen ersten Innenausgestaltungen (Schneidersalon Ebenstein 1897, Herrenmodengeschäft Goldman & Salatsch 1898, Café Museum 1899) in Abgrenzung zur Wiener Sezession. Gleichzeitig veröffentlichte er seit 1897 in Zeitungen u. Zeitschriften zahlreiche kulturkrit. Aufsätze u. teilweise polemische Essays, in denen er die Surrogatkultur der historist. u. ästhetizist. Strömungen des ausgehenden 19. Jh. bekämpfte u. das Prinzip der unbedingten Materialechtheit u. die Rückbesinnung auf handwerkl. Traditionen propagierte: Aufsehen erregten u. a. Die Potemkinsche Stadt (erschienen in der Zeitschrift »Ver Sacrum«) sowie eine Reihe von Artikeln zur Wiener Jubiläumsausstellung in der »Neuen Freien Presse«. In den später gesammelt erschienenen Schriften setzte sich L. brillant pointierend mit der Handwerkskunst u. der Gestaltung von Einrichtungs- u. Gebrauchsgegenständen ebenso auseinander wie mit Fragen der Bekleidung oder der Schlaf- u. Essgewohnheiten. L.’ Architekturreform erweist sich so als Teil einer umfassenden Geschmacksreform, deren provokante Modernität auf der unzeitgemäßen Forderung nach Einfachheit u. Zweckmäßigkeit in Baukunst, Wohnkultur u. Lebensführung beruhte. Um diese Zeit entwickelte L. sein Konzept eines »Raumplans«, bei dem jedem Raum eine seiner Nutzung adäquate Höhe zugewiesen wurde, wie beim Haus am Michaelerplatz (1909/10, mehrfach umgebaut, 1989/ 90 vollständig wiederhergestellt) sichtbar wird: Dieses bedeutendste Bauwerk L.’ in Eisenbetonskelettkonstruktion erregte wegen des ungewohnten Verzichts auf die traditionelle ornamentale Fassadengestaltung, die L. auch in seinem folgenreichen Vortrag Ornament und Verbrechen (1908. Wiederabgedr. in: Trotzdem. Innsbr. 1931. Neudr. Wien 1997, u. Ornament und Verbrechen. Wien 2000) angriff, einen Skandal. L. verteidigte sich (u. a. Mein Haus am Michaelerplatz, 1911, erstmals

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vollst. in: Aufbruch zur Jahrhundertwende. Parnass, Sonderh. 2, 1985, S. II-XV), wobei sich insbes. der mit L. befreundete Karl Kraus als sein Mitstreiter sah; Kraus sollte nicht zuletzt die Grabrede auf L. halten (vgl. Fackel Nr. 888, Okt. 1933). L. war außerdem eng mit Peter Altenberg befreundet; 1903 gaben beide zus. die ersten beiden Hefte der »Kunst. Monatsschrift für Kunst und alles Andere« heraus, bevor L. eine eigene Zeitschrift gründete, was die Freundschaft allerdings nicht belastete: Zus. reisten L. u. seine Lebensgefährtin Elizabeth »Bessie« Bruce mit Altenberg sowie Ludwig u. Cissy von Ficker nach Venedig, wo sie sich mit Georg Trakl trafen. Trakl widmete L. die Gedichte Sebastian im Traum u. Am Mönchsberg (1. Fassung), Betty L. zugeeignet ist das Kaspar Hauser Lied. Zu dem Künstlerkreis zählten ferner Oskar Kokoschka u. Arnold Schönberg, die von L. gefördert wurden. Als Architekt war L. vorwiegend mit Geschäftseinrichtungen u. -umbauten, Wohnungsinterieurs u. Villenbauten befasst; viele Entwürfe, darunter sämtl. Großprojekte, blieben unausgeführt. 1912–1914 u. 1919–1922 betrieb L. eine private Bauschule, 1920/21 kam L. an das Wiener Siedlungsamt, dessen Leiter er 1923 wurde. Während dieser Zeit versuchte er, die Prinzipien seines »Raumplans« auch im Massenwohnungsbau zur Anwendung zu bringen. Seit 1924 hielt er sich in Paris auf, wurde Mitgl. des »Salon d’automne« (wo er bereits 1920 ausgestellt hatte) u. war dort mit der Planung von Bürou. Hotelbauten beschäftigt. 1928 kehrte er nach Wien zurück; 1930 entstand mit der Villa Müller in Prag ein weiteres Hauptwerk L.’. Weitere Werke: Bauten: Villa Karma in Clarens bei Montreux, 1904–06. – Kärntner-Bar in Wien, 1907. – Haus Steiner in Wien, 1910. – Haus Scheu in Wien, 1912. – Haus Strasser in Wien, 1919. – Haus Rufer in Wien, 1922. – Haus Spanner in Gumpoldskirchen bei Wien, 1923. – Haus Moller in Wien, 1928. – Haus in der Werkbundsiedlung Wien, 1931. – Schriften: (Hg.) Das Andere. Ein Blatt zur Einf. abendländ. Kultur in Österr. Wien 1903. Neudr. Mailand 1981 (Ztschr.). – Ins Leere gesprochen (1897–1900). Paris u. Zürich 1921. Neudr. Wien 1997. – Sämtl. Schr.en in 2 Bdn. Bd. 1, Wien

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507 1962 (Bd. 2 nicht ersch.). – Die Potemkinsche Stadt. Verschollene Schr.en 1897–1933. Wien 1983. Literatur: Franz Glück: A. L. Paris 1931. – Heinrich Kulka: A. L. Das Werk des Architekten. Wien 1931. Neudr. 1979. 1985. 2004. – Ludwig Münz u. Gustav Künstler: Der Architekt A. L.: Darstellung seines Schaffens nach Werkgruppen. Chronolog. Werkverz. Wien/Mchn. 1964. – Michael Müller: Die Verdrängung des Ornaments. Zum Verhältnis v. Architektur u. Lebenspraxis. Ffm. 1977. – A. L. 1870–1933. Raumplan – Wohnungsbau. Bln. 1983 (Kat.). – Hildegund Amanshauser: Untersuchungen zu den Schr.en v. A. L. Wien 1985. – Kontroversen. A. L. im Spiegel der Zeitgenossen. Wien 1985. – Ornament u. Askese im Zeitgeist des Wien der Jahrhundertwende. Wien 1985. – Burkhard Rukschcio u. a.: A. L. Leben u. Werk. Salzb. 2 1987. – Christian Kühn: Das Schöne, das Wahre u. das Richtige. A. L. u. das Haus Müller in Prag. Braunschw./Wiesb. 1989. Nachdr. 2001. – A. L. Wien 1989 (Kat.). – Alfred Pfabigan: Geistesgegenwart. Ess.s zu Joseph Roth, Karl Kraus, A. L., Jura Soyfer. Wien 1991. – Werner Oechslin: Stilhülse u. Kern. Otto Wagner, A. L. u. der evolutionäre Weg zur modernen Architektur. Zürich/Bln. 1994. – Roberto Schezen: A. L. – Architektur. Salzb./Wien 1996. – Susanne Eckel: Das frühe schriftsteller. Werk des Wiener Architekten A. L. mit einem kritisch-komm. Schriften- u. Vortragsverz. Diss. Heidelb. 1996. – Giovanni Denti u. Silvia Peirone: A. L. Opera completa. Rom 1997. – Janet Stewart: Fashioning Vienna. A. L.’s Cultural Criticism. London u. a. 2000. – Anders V. Munch: Der stillose Stil: A. L. Paderb./Mchn. 2004 (Diss. Aarhus 1999). – Mirko Gemmel: Die krit. Wiener Moderne. Ethik u. Ästhetik: Karl Kraus, A. L., Ludwig Wittgenstein. Bln. 2005 (Diss. Bln. 2004). – Ákos Moravánszky (Hg.): A. L.: die Kultivierung der Architektur. Zürich 2008. Ernst Fischer / Hans Peter Buohler

Loos, Cécile Ines, * 4.2.1883 Basel, † 21.1. 1959 Basel. – Erzählerin u. Romanautorin. Die Tochter eines Organisten wuchs in Basel, bei Pflegeeltern in Burgdorf u. in einem Armenwaisenhaus in Wabern bei Bern auf. In ihrem Roman Der Tod und das Püppchen (Zürich 1939. Küsnacht 1983. Zürich 1998) schildert sie diese »unbehauste« Kindheit, die ihr ganzes Leben prägte, auf bewegende Art u. Weise. Nach der Diplomierung als Kindergärtnerin an der Neuen Mädchenschule in

Bern war L. 1902–1906 Erzieherin bei dem in Ohringen/Kt. Zürich im Exil lebenden Baron Job von Manteuffel, dessen liberale, unkonventionelle Denk- u. Lebensweise sie in der autobiogr. Erzählung Das Königreich Manteuffel (Erstdr. in: Letzte Reife. Zürich 1934. Wiederabdr. in: Verzauberte Welt. Küsnacht 1985) humorvoll darstellte. 1906–1911 lebte sie im Anschluss an einen Parisaufenthalt als Erzieherin u. Lehrerin in Irland u. England (siehe hierzu die autobiogr. Erzählung Liebhabertheater in Verzauberte Welt), ehe sie nach der unehel. Geburt ihres Sohnes Leonardo 1911 in Mailand in eine tiefe, nie mehr völlig überwundene Lebenskrise geriet. Während L. das Kind einer ital. Pflegefamilie überließ, lebte sie in Bern unter der Obhut eines Pfarrers, ließ sich psychiatrisch behandeln u. arbeitete als Serviertochter u. Verkäuferin. Ab 1921 wohnte sie in Basel, wo sie den Sohn im Waisenhaus unterbrachte u. eine Stelle als Zimmermädchen u. Serviertochter in einer Pension annahm. Nach einer kaufmänn. Zusatzausbildung wurde sie 1923 Sekretärin in einer Speditionsfirma. Noch immer befriedigte sie das Erreichte jedoch nicht, sie lebte, wie es 1931 in einem Aufsatz heißt, »am Rande des Zugrundegehens« u. musste Arbeit tun, »die noch in den Dornen ist und im Kummer und den Tod bedeutet«. Bereits um 1916 will sie ihre Not einem umfangreichen, später vernichteten Roman anvertraut haben, u. auch jetzt sah sie den einzig mögl. Ausweg in der Schriftstellerei: »Nun fing ich an zu schreiben. Und schrieb und schrieb wie ein Tiger aus dem Busch, um mich herauszuarbeiten aus meinen Erlebnissen« (Biographie. Entstanden um 1942/43. In: Verzauberte Welt, S. 185). Der Erfolg bei einem literar. Wettbewerb, in welchem 1925 ihr Märchen Schivagrudel erstprämiert wurde, gab ihr Auftrieb, u. so machte sie sich daran, die schweren Erlebnisse des Zeitraums 1911–1921 an einen polnisch-russ. Schauplatz zu verpflanzen u. nur leicht verfremdet literarisch darzustellen. Der Roman Matka Boska (polnisch für »Große Mutter«) erschien 1929 bei der Deutschen Verlagsanstalt Stuttgart u. machte die Autorin über Nacht im gesamten dt. Sprachraum bekannt. 1931 ließ sie im gleichen Verlag Die Rätsel der Turandot folgen, einen Roman, in

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dem wiederum viel Selbsterlebtes versteckt ist, der aber in der Gestalt der vom Glück begünstigten, weltberühmten Tänzerin Turandot überdeutlich auch eigene Sehnsüchte u. Wünsche personifiziert. Schon mit ihrem dritten Buch, den von östl. Weisheit erfüllten, eher meditativen als erzählerischen Leisen Leidenschaften (Zürich 1934), hatte L., die seit 1927 unter prekären sozialen Bedingungen in Basel das Leben einer freien Schriftstellerin führte, kein Glück mehr. Die Deutsche Verlagsanstalt lehnte ab u. brachte in der Folge – ob auch polit. Gründe mitspielten, ist unklar – kein Buch der Schweizerin mehr heraus. Als der Text dann im Zürcher Rascher Verlag erschien, stieß er beim Lesepublikum, das wiederum einen expressiven, abenteuerl. Frauenroman erwartet hatte, weitgehend auf Unverständnis. Die mystisch-reflexive Dimension, die L. sich im Umgang mit Rudolf Steiners Anthroposophie u. bei der Begegnung mit dem ind. Ingenieur Jitendranath Dey angeeignet hatte, wurde auch für den Roman Alexander Untum Bormann bestimmend, an dem sie 1935–1938 arbeitete u. der bei keinem Verleger Gnade fand. Eingeführt durch Alfred Fankhauser, betätigte sie sich seit Mitte der 1930er Jahre hauptsächlich als Astrologin. Erst 1938/39, nachdem sie als Übersetzerin von Monique Saint-Héliers Roman Strohreiter (Zürich 1939) zu einer neuen Art einfacher, unprätentiöser Erzählweise gefunden hatte, gelang ihr mit Der Tod und das Püppchen wieder ein vollgültiges literar. Werk. Infolge einer Verlagsliquidation kam das Buch jedoch in den ersten Wochen des Zweiten Weltkriegs nur teilweise zur Auslieferung u. fand erst 1983, anlässlich einer Neuedition, die ihm gebührende Beachtung. Die Erzählung, die das Thema der verlorenen Kindheit virtuos mit dem Todesmotiv in Beziehung setzt, steht von den Figuren u. Schauplätzen her in lockerer Beziehung zum Roman Hinter dem Mond (Zürich 1942. 1983. Ffm. 1990), mit dem L. die Reihe ihrer späten Meisterwerke fortsetzte. Susanna, die Protagonistin dieses im Jura, in Basel u. in Brasilien spielenden Romans, besitzt schon als Kind die Gabe, hinter den Erscheinungen der Alltagswelt wundersame, märchenhafte Dinge zu erblicken. Eine Gabe, die ihr hilft, ihr freudloses

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Leben als Gattin eines nach Südamerika berufenen dt. Pastors mit all seinen Demütigungen durchzustehen, ohne dass ihr Innerstes dabei Schaden nimmt. Obwohl er sprachlich u. auch von der Stimmung her an die vorigen anschließt u. ihnen in manchen, v. a. die Kindheit betreffenden Stellen nicht nachsteht, krankt der folgende Roman, die Jeanne-d’Arc-Adaption Jehanne (Zürich 1946), etwas an der allzustarken Abhängigkeit von der als Vorlage benutzten Jeanne-d’Arc-Biografie von Anatole France (1908). Auch der letzte publizierte Roman, Leute am See (Zürich 1951), vermag nur noch in einzelnen, dann allerdings köstlich-humorvollen Szenen zu überzeugen. Weit Überzeugenderes schuf die alternde Dichterin in kurzen, stimmungsvollen Feuilletons, Skizzen u. Erzählungen, die sie allen mögl. Zeitungen zur Publikation anbot u. die u. a. sichtbar machen, mit wie viel Würde u. Jovialität sie das Verkanntsein u. die demütigende materielle Lebenssituation zu ertragen verstand. Im Nachlass, den die Universitätsbibliothek Basel aufbewahrt, befinden sich noch drei bereits die Zeichen des Verfalls tragende unveröffentlichte Romane: Das Paradies oder Zauber der Höflichkeit, Der schöne Herzog u. das fragmentar. Typoskript Horizonte. Weitere Werke: Konradin. Zürich 1943 (R.). – Schlafende Prinzessinnen. St. Gallen 1950 (Auszug aus: Das Paradies oder Zauber der Höflichkeit). – Verzauberte Welt. Ein Lesebuch. Hg. Charles Linsmayer. Küsnacht 1985. Ffm./Bln. 1991 (enthält 45 Prosatexte, z.T. erstmals veröffentlicht; mit Bibliogr.). Literatur: Olga Brand: C. I. L. In: Stilles Wirken. Schweizer Dichterinnen. Zürich 1949. – Elisabeth Bartlin (eigentl. Elisabeth Meylan): C. I. L. Eine Einf. in ihre Werke. Diss. masch. Basel 1968. – Charles Linsmayer: Ich fand nirgends eine Heimat außer bei mir selbst. Leben u. Werk der Schriftstellerin C. I. L. Nachw. zur Neuausg. v. ›Hinter dem Mond‹. Zürich 1983. Ffm. 1990. – Beatrice v. Matt: Von Mädchenperspektiven. Zu C. I. L. In: Dies.: Lesarten. Zürich 1985, S. 34–39. – Heinrich Riggenbach: Russ. Themen u. russ. Lit. bei Schweizer Autoren (Alfred Fankhauser, C. I. L., Albin Zollinger). In: Bild u. Begegnung. Hg. Peter Brang u. a. Basel 1996, S. 341–358. – Tamara Evans: Vom Dagewesensein der C. I. L. Eine traurige Rezeptionsgesch. In: Neue Perspektiven zur

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509 deutschsprachigen Lit. der Schweiz. Hg. Romey Sabalius. Amsterd. 1997, S. 93–106. – Monika Man´czyk-Krygiel: ›Noch nicht Matka Boska aller Menschen‹. Zum Marienbild im R. ›Matka Boska‹ der Schweizerin C. I. L. In: Archetypen der Weiblichkeit im multikulturellen Vergleich. Hg. Miroslawa Czarnecka. Dresden 2006, S. 15–32.

wie ein Zuschauer, der alles sieht und den das alles gar nichts angeht‹: Leben u. Werk des Schweizer Schriftstellers G. L. (1892–1937). In: G. L.: ›Nur niemandem sagen, wohin man reist‹, a. a. O., S. 207–272. Charles Linsmayer

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Loosli, Carl Albert, * 5.4.1877 Schüpfen/ Kt. Bern, † 22.5.1959 Bern. – Erzähler, Looser, Guido, * 18.8.1892 Kappel/Kt. St. Lyriker, Pamphletist, Publizist. Gallen, † 15.11.1937 Stäfa/Kt. Zürich Der unehel. Sohn einer Heimarbeiterin er(Freitod). – Lyriker u. Erzähler. Charles Linsmayer / Red.

Nach dem Besuch des Gymnasiums u. der Handelsschule in Zürich studierte L. 1912–1918 in Zürich u. Berlin Geschichte, dt. Literatur u. Geografie u. arbeitete dann an verschiedenen Zürcher Schulen als Gymnasiallehrer. Wiederholt zwangen ihn ab 1922 depressive Störungen zu Klinikaufenthalten in Kreuzlingen u. Oetwil, in deren Dependance Stäfa er schließlich, als er die Behandlungen nicht mehr finanzieren konnte, Selbstmord beging. L. hatte schon als Schüler Verse geschrieben, trat aber erst 1925 im Rhein Verlag, Basel, mit dem Gedichtband Nachglanz erstmals an die Öffentlichkeit. Die wehmütige Verhaltenheit u. feinsinnige Kultiviertheit dieser Gedichte prägte auch den von einem intensiven Todesbewusstsein zeugenden, stark autobiogr. Roman Josuas Hingabe (Frauenfeld 1928). Die Würde (Frauenfeld 1934) stellt das Schicksal eines zutiefst pessimistischen, vor der Größe der Vergangenheit kapitulierenden zeitgenöss. Künstlers dar. Sein Bestes gab L. in kleineren essayist. Arbeiten – Reiseskizzen, Kunstbetrachtungen, Stimmungsbilder –, die in Zeitschriften u. Zeitungen verstreut erschienen u. die 1998 im Bd. 14 der Edition Reprinted by Huber (Huber, Frauenfeld) u. d. T. Nur nie jemandem sagen, wohin man reist gesammelt herauskamen. Als charakteristisches Beispiel kann dabei der erstmals 1927 im «Aargauer Tagblatt» gedruckte Brief aus dem Zürichsee gelten, wo sich die Magie der Landschaft in beeindruckender sprachl. Intensität mit einem von Todessehnsucht bestimmten trag. Lebensgefühl verbindet. Literatur: Charles Linsmayer: G. L. In: Literaturszene Schweiz. Zürich 1989, S. 194 f. – Ders.: ›...

lebte von frühester, in Waisenhäusern u. Verdingplätzen verbrachter Kindheit an, was es im letzten Drittel des 19. Jh. im »behäbigen Bernbiet« hieß, arm u. sozial unterprivilegiert zu sein. Er vermochte sich zwar dem Anstaltsterror durch die Flucht nach Paris zu entziehen, eignete sich autodidaktisch eine erstaunl. Bildung an, wurde Journalist u. Reporter, bald sogar Redakteur der eigenen Zeitung »Weltchronik«, aber er konnte das erlebte Unrecht nie vergessen u. entwickelte sich, nachdem er sich 1904 in Bümpliz bei Bern als freier Schriftsteller u. Publizist niedergelassen hatte, zu einem ebenso furchtlosen wie gefürchteten, brillant argumentierenden Kämpfer u. Polemiker gegen alles Unrecht im sozialen, pädagog. u. polit. Bereich. So attackierte er mit seinem Buch Anstaltsleben (1924), mit seiner Replik Ich schweige nicht! (1925) u. mit dem Band Erziehen, nicht erwürgen! (1928; alle Bern) erfolgreich die unhaltbaren Zustände in schweizerischen Jugendbewahranstalten; so polemisierte er mit der Broschüre ›Administrativjustiz‹ und schweizerische Konzentrationslager (Bern 1939) in schärfster Form gegen die Entmündigung u. Verwahrung von Outsidern; so bekämpfte er mit Titeln wie Die schlimmen Juden! (Bern 1927) oder Die Juden und wir (Zürich 1930) mit Mut u. Fantasie den aufkommenden Antisemitismus, dem er 1935 im Berner Prozess um die sog. »Protokolle der Weisen von Zion« als überparteil. Sachverständiger virtuos, aber ohne prakt. Folgen für die unterliegende dt. Prozesspartei, die Spitze brach. Auch gegenüber polit. Tendenzen, die seiner freiheitlichliberalen Auffassung vom Wesen der schweizerischen Demokratie widersprachen, erhob L. in z.T. hitzig diskutierten Streitschriften

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wie Ist die Schweiz regenerationsbedürftig? (Bern (Bern 1932. Zuletzt Zürich 1981), mit dem 1912), Schweizerische Zukunftspflichten (Bern Entstehungsjahr 1925 der früheste sozialkrit. 1915) u. in unzähligen Artikeln in der »Ber- Kriminalroman der Schweiz, wurde zu seiner Tagwacht«, im »Volksrecht« (Zürich) u. nem erfolgreichsten Buch überhaupt, u. der in der 1933–1952 erschienenen antifaschist. aus dem Nachlass erstmals publizierte Roman Es starb ein Dorf (Frauenfeld 1975) beZeitung »Die Nation« (Bern) seine Stimme. Nicht weniger engagiert gab sich L., der stätigte erneut seinen Rang als Meister der sich schon früh für Ferdinand Hodler ein- unchauvinistischen, realist. Bauerndarstelsetzte u. nach dessen Tod mit Ferdinand Hod- lung. L.s Nachlass enthält u. a. Briefwechsel mit ler. Leben, Werk und Nachlaß (4 Bde., Bern 1921–24) das für Jahrzehnte wegweisende Jakob Bührer, Jonas Fränkel u. Carl Spitteler. Werk über ihn schrieb, als Kunstkritiker, SeWeitere Werke: Die trunkenen Demiurgen. kretär der Gesellschaft schweizerischer Ma- Bern 1922 (Satire). – Sansons Gehilfe u.a. Schublaler, Bildhauer und Architekten u. Redakteur dennovellen. Bern 1927. – Die Radioseuche. Bern von deren Zeitschrift »Schweizer Kunst«. 1927. – Der Gang-hü-Schlosser. Zürich 1942 (E.). – Obwohl er dadurch die für seine Rezeption Ewige Gestalten. Zürich 1946 (N.n.). – C. A. L. – als Schriftsteller maßgebl. Kreise verstimmte, Nonkonformist u. Weltbürger. Werkausw. Hg. Rudolf Stalder. Münsingen 1972. 1980. – ›Ihr branahm L. auch in literar. Fragen kein Blatt vor ven Leute nennt euch Demokraten‹. Schr.en zur den Mund. Am meisten schadete ihm dabei Politik, Gesch., Kunst u. Kultur. Hg. Erwin Marti. sein Scherzartikel Bitzius oder Geissbühler (in: Frauenfeld 1980. Heimat und Fremde, 22.2.1913), mit dem er Ausgabe: Werke in 7 Bdn. Hg. Fredi Lerch u. Literaturkritik u. Gotthelf-Philologie lächer- Erwin Marti. Zürich 2006–09. lich machte. Vor diesem Hintergrund ist es zu Literatur: Fritz Wartenweiler: C. A. L. In: C. A. sehen, wenn L.s äußerst vielfältigem u. alle L. – Nonkonformist u. Weltbürger. Bern 1972. Sparten umfassendem Werk die gebührende 1980, S. 206–223. – Gustav Huonker: C. A. L. Beachtung weitgehend versagt blieb. Obwohl Nachw. zu: ›Die Schattmattbauern‹. Neu hg. v. L. den unteremmental. Dialekt mit den Bau- Charles Linsmayer. In: Frühling der Gegenwart. ernerzählungen Mys Dörfli u. Üse Drätti (beide Bd. 3, Zürich 1981, S. 357–373. – Erwin Marti: C. Bern 1910. Zuletzt Langnau 1987) literatur- A. L. 1877–1959. 3 Bde. [Bd. 1: Zwischen Jugendfähig gemacht hatte, zog man seinem bis- gefängnis u. Pariser Bohème (1996), Bd. 2: Eulenweilen derben Realismus den heimatverbun- spiegel in helvet. Landen 1904–14 (1999), Bd. 3/1: Im eignen Land verbannt 1914–59 (2009)]. Zürich denen, bodenständigen Simon Gfeller vor. (Biogr.). – Verbannt im eigenen Land: C. A. L. In: Als L. allerdings sah, wie die Dialektdichtung orte 25 (2002), H. 125 (themat. Heft zu. L.). – Edgar zu Folklore verkam, nahm er 1921 mit Wi’s Marsch: C. A. L. u. der Neue Schweizer Kriminalöppe geit (Bern. Neuausg. Langnau 1988) da- roman. Vom Justizroman zum Detektivroman. In: von Abstand u. verwendete die Mundart – wie Im Fadenkreuz. Hg. ders. Zürich 2007, S. 13–38. – schon in Mys Ämmitaw (Bern 1911. Frauenfeld C. A. L. In: Quarto (2009), H. 28 (themat. Heft zu 1979. Zürich 2009 u. d. T. Mys Ämmital) – L.). Charles Linsmayer / Red. hinfort nur noch für Gedichte. 1937, als engstirnige Nationalisten aus der Mundart Lorbeer, Hans, * 15.8.1901 Klein-Witteneine Schriftsprache machen wollten, polemiberg, † 7.9.1973 Piesteritz-Wittenberg. – sierte L. mit Schweizerdeutsch. Glossen zur Erzähler. schweizerischen Sprachbewegung (Basel 1938) in aller Schärfe dagegen. L., Sohn eines Dienstmädchens, wuchs bei Obwohl der hochdt. Prosaist L. sich vor- Pflegeeltern auf. Er war nach einer nicht abwiegend der Glosse oder der scharf pointier- geschlossenen Ausbildung zum Installateur ten Kurzgeschichte bediente – Sammelbände als Arbeiter im Stickstoffwerk Piesteritz bewie Bümpliz und die Welt (Bern 1906. 1972) schäftigt. 1918 wurde er Mitgl. der Freien oder Narrenspiegel (Bern 1908) zeugten schon Sozialistischen Jugend, 1921 Mitgl. der KPD, früh davon –, reüssierte er doch auch in der 1928 Mitbegründer des Bundes proletarischgrößeren epischen Form. Die Schattmattbauern revolutionärer Schriftsteller. Wegen polit.

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Widerstands (u. a. Kontakte zur Gruppe Kurt Widerstand Schreiben. H. L. nach 1933. In: Unruhe Weise) wurde er in der NS-Zeit mehrmals u. Engagement. Hg. Wolfgang Asholt u. a. Bielef. verhaftet, war arbeitslos u. verdiente sich den 2004, S. 349–367. Rita Seuß / Red. Lebensunterhalt durch Beiträge, u. a. in der »Roten Fahne«. 1945–1950 war L. BürgerLorber, Johann Christoph, * 19.4.1645 meister von Piesteritz, wo er auch weiterhin Weimar, † 16.4.1722 Weimar. – Hofadals freier Schriftsteller lebte. vokat, Dichter. Schon in der Weimarer Republik trat der Arbeiterdichter mit Laienspielen, Erzählun- L. wurde bereits im Sommer 1658 in die gen u. einem autobiografisch geprägten Ro- Matrikel der Universität Jena eingetragen man (Ein Mensch wird geprügelt. Russ. Moskau (ohne Eidesleistung, die Deposition erfolgte 1930. Dt.: Der Spinner. Halle 1959) an die Öf- am 19.6.1658), sein Studium nahm er aber fentlichkeit. Die häufig naturmetaphorischen erst am 20.10.1664 auf. Nach Reisen durch Gedichte des Bandes Die Gitterharfe (Bln./SBZ Schlesien, Böhmen u. Österreich sowie einer 1948), meist während der Haftzeit entstan- zweijährigen Tätigkeit als Kammerdiener in den, schildern in liedhaft-pathet. Strophen Nürnberg wandte sich L. nach Holland. Im Kampf, Tod u. »Wiederauferstehen«, die Dienst der Ostindischen Handelskompanie Heraufkunft einer »neuen, schönen Zeit«. Die gelangte er nach Batavia (1675) u. China Sieben ist eine gute Zahl (Halle 1953), von L. (1678). Nach seiner Rückkehr (1681) ließ er später als idealisierend u. ungenau bewertet, sich in Weimar nieder u. arbeitete zunächst zählt zu den zahllosen Betriebsromanen der an einer Ostindischen Land- und ReisebeschreiDDR, die den ungebrochenen »Helden der bung, die jedoch ungedruckt blieb (ManuArbeit« ins Zentrum rücken. Die in Halle er- skript in der Zentralbibliothek der dt. Klasschienene Romantrilogie Die Rebellen von sik, Weimar). In seinen späteren Schriften Wittenberg (3 Bde., 1956, 1959, 1963. Neuaufl. bezeichnete er sich als »Fürstl. Sächs. Wei2006), die das Sujet der Reformationszeit als mar. Hofadvocatus ordinarius«. 1688 wurde Klassenkampfthema bearbeitet, war in der L. in den Pegnesischen Blumenorden aufgenommen, nachdem er (um 1683) zum Dichter DDR L.s bekanntestes Werk. gekrönt worden war. Weitere Werke: Liebknecht, Luxemburg, LeSeinen Platz in der Literaturgeschichte nin. Sprechchor. Bln. 1927. – Die Legende vom verdankt L. v. a. seiner Fehde mit Kaspar Soldaten Daniel. Rudolstadt 1948 (E.). – Es singt ein Mensch auf allen Straßen. Weimar 1950 (L.). – Stieler. Dieser hatte u. d. T. Schattenriß der Welt Vorfrühling u.a. Liebesgesch.n. Weimar 1953. – des Spaten (Nürnb. 1684) eine kurze WeltbeDer Birkenhügel. Liebesgesch.n. Halle 1960. – Ein schreibung aus verschiedenen, z.T. veralteten Quellen zusammengestellt, auf die der weit Leben lang. Halle 1974 (E.en). Literatur: Dieter Heinemann: ›Chemieprolet‹ gereiste L. mit den Sonnenstrahlen der Wahrheit u. Dichter. Interview mit H. L. In: WB (1971), H. 12. (Ffm. 1684) reagierte. Die Auseinanderset– Ders.: H. L. In: Lit. der DDR. Hg. Hans Jürgen zung ging in eine zweite Runde (Stieler: Geerdts u. a. Bln./DDR 1987. – Ders.: H. L. Vom Sonnenschirm, den Schattenriß der Welt [...] zu aktuellen literar. Zeitdokument zum histor. Ro- verthädigen. 1684. L.: Ungehemmter Wiederschlag man. In: Zwischen polit. Vormundschaft u. künst- [...] gegen den [...] Sonnen-Schirm [...]. Weimar ler. Selbstbestimmung. Hg. Irmfried Hiebel. Bln. 1685). Später wurde er in die Kontroverse 1989, S. 88–91. – Ders.: Schreiben aus Erfahrung u. zwischen dem pietist. Schulmann Gottfried Hoffnung. Natur, Leben u. Arbeit in Gedichten v. Vockerodt u. Johann Beer um einen verGerrit Engelke u. H. L. In: Zwischen Wolken u. meintl. Missbrauch der freien Künste, speziGroßstadtrauch. Hg. Kurt Morawietz. Hann. 1992, ell der Hofmusik, hineingezogen (Verteidigung S. 117–132. – Jens-Fietje Dwars: Chemiearbeiter, Poet u. Bürgermeister. H. L. in Piesteritz. In: Ders.: der edlen Musik [...]. Weimar 1697, mit Abdr. Dichter-Häuser in Sachsen-Anhalt. Bucha bei Jena der Programmschrift Vockerodts). L.s poet. Produktion besteht im Wesentli1999, S. 330–334. – Bernd-Rainer Barth: H. L. In: Wer war wer in der DDR? Hg. Helmut Müller-En- chen aus einigen längeren Alexandrinergebergs. Bln. 2000, S. 536 f. – Rüdiger Reinecke: dichten; mit einem Permutationsgedicht,

Lorenc

dem der Vers »Welt, kehr dich, wie du wilst, mein Herz traut dir doch nicht« zugrunde liegt, beteiligte er sich an einer im 17. Jh. recht beliebten manierist. Praxis: Teütscher Proteus, durch siebenzehnhundertmahlige Veränderung eines einzigen [...] Verses [...] aufgefüret (Weimar 1700). Weitere Werke: Die ädle Jägerei [...]. Weimar 1670. – Bismillarrahhmannirrahhimi. Grammatica malaica [...]. Weimar 1688 (Übers. aus dem Holländischen). – Lob der edlen Musik. Weimar 1696. – Die aufgewachsene Zedern des [...] Herrn Niklas Christofs. [...] in poet. Betrachtung genommen. Jena 1707. – Jubileum seculare festi jubilaei evangelici [...]. Weimar 1717. – Herausgeber: Johann Beer: Bellum musicum [...]. o. O. 1701. Literatur: Bibliografien: VD 17. – Frank-Rutger Hausmann: Bibliogr. der dt. Übers.en aus dem Italienischen [...]. Bd. 1, Tüb. 1992, Nr. 0052. – Jürgensen, S. 586 f. – Weitere Titel: Reinhold Köhler: Aus L.s Gedichte ›Die edle Jägerei‹. In: Weimar. Jb. 3 (1855), S. 477–482. – Elisabeth Frenzel: In Sachen L. contra Stieler [...]. In: Euph. 78 (1984), S. 180–187. – George J. Buelow: J. C. L. In: New Grove, Bd. 15, S. 181. – Reimund B. Sdzuj: Adiaphorie u. Kunst. Tüb. 2005. – Jürgensen, S. 584–587. – Flood, Poets Laureate, Bd. 3, S. 1185–1187. Volker Meid / Red.

Lorenc, Kito,* 4.3.1938 Schleife/Lausitz. – Lyriker, Dramatiker u. Übersetzer. L., der erst als Jugendlicher die sorb. Sprache erlernte, studierte von 1956–1961 Slawistik in Leipzig, war anschließend bis 1972 wiss. Mitarbeiter am Institut für sorbische Volksforschung (heute: Sorbisches Institut) in Bautzen, bis 1979 Dramaturg am Staatlichen Ensemble für sorbische Volkskultur. Seither wirkt er als freischaffender Dichter. Das Werk des deutsch u. sorbisch schreibenden Autors lässt sich in mehrere Phasen einteilen. Der Einschnitt erfolgte 1970 mit dem durch Behördenquerelen hervorgerufenen phantasmagor. Gedicht Bericht vom großen Kampf (in: Flurbereinigung. Bln./Weimar 1973). Bereits Struga. Bilder einer Landschaft (Bautzen 1967; dt. u. sorb.), das hervorstechende Zeugnis der frühen Phase, zeigt jedoch einen schon recht originären Dichter, wie immer er sich vom Aufbruchspathos seiner Generationsgefährten oder von den »sarmatischen«

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Visionen Bobrowskis beflügeln ließ. In dieser Zeit ging es L. v. a. darum, sich seiner sorb. Herkunft u. des Ortes seiner Poesie zu versichern. Er schrieb dem Volkslied, der damals in der DDR viel diskutierten Odenform u. dem Chronikartigen verpflichtete Texte – gewidmet sorb. Geschichte, sorb. Landschaften u. Gestalten, nicht zuletzt dem »glücklichen Dreieck meiner Kindheit«, das L. 1960 mit den Ortsnamen »Trjebin-Slepo-Miloraz« (Trebendorf-Schleife-Mühlrose) topografisch fixiert hatte. »Die Struga«, ein winziges Flüßlein, »erscheint hier als Nabe der Welt«, bekannte L. nicht ohne Selbstironie. Motiviert durch Begegnungen mit moderner bildender Kunst, v. a. aber dank intensiver Beschäftigung mit dem tschech. Poetismus u. a. surrealist. Strömungen fand L. nach 1970 zu freierer, weniger realitätsgebundener Artikulation der künstlerischen Fantasie, ohne freilich des Bezugs zur slawischen, insbes. sorb. Folklore zu entraten. Damit wurde L. – der aus fast allen slaw. Sprachen ins Deutsche u. Sorbische nachdichtet – auch in poetolog. Hinsicht zur Ausnahmeerscheinung an der Grenze zwischen Sprachen u. Kulturen: »An einem schönbemalten Sonntag / Spielten die Metaphern gegen die Vergleiche / Ein Gedicht von einem Spiel.« Immer schärfer kam zusätzlich eine sprach- u. ausdruckskrit. Komponente zur Geltung: »Ich merkte, daß ich mich zunehmend rieb an der Sprache der Massenmedien und an vorherrschenden öffentlichen ›Sprachregelungen‹«. Mit dieser Haltung rückte L. unvermittelt in die Nähe der jüngsten Lyriker der DDR, während die Fäden, die ihn mit der sog. »mittleren Generation« von Braun u. Czechowski verbanden, merklich dünner wurden (Wortland. Gedichte aus 20 Jahren. Lpz. 1984). Vollends deutlich wurde die Dominanz der Sprachkritik in den Wendejahren (Gegen den großen Popanz. Bln./Weimar 1990). Unbeeinflusst von dieser Wandlung blieb L.’ Tätigkeit als Erforscher der sorb. Literatur; das Sorbische Lesebuch (Lpz. 1981), von L. herausgegeben u. übersetzt, bot den bis dahin umfassendsten u. tiefsten Blick in diese Literatur. Ergänzt wurde es durch eine weitere Anthologie sorbischer Lyrik u. d. T. Das Meer Die Insel Das Schiff (Heidelb. 2004), in /

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welcher die Lausitz, wiewohl bei L. in etymolog. Scherz eine »hinschwindende Pfützenlandschaft«, als »selten dichtes Land der Dichter« erscheint. In dem gen. dreiteiligen »genetischen Code« vermutet L. den spezif. Stellenwert sorb. Literatur, deren zweisprachige Verfasstheit das Verhältnis von sorb. u. dt. Kultur als Verhältnis von Besonderem u. Allgemeinem gleichsam abbilde. Aus der Wechselwirkung zwischen sorb. u. dt. Autorfassungen entsteht seit 1990 ein die bisherigen Schaffensphasen integrierendes dichterisches Programm, das sich u. a. in L.’ »sorbischem Stück in deutscher Sprache«, der Tragigroteske Die wendische Schiffahrt (1994; zus. mit Kim Broiler, ersch. Bautzen 2004), aber auch in Gedichtsammlungen wie die unerheblichkeit berlins (Mchn. 2002) niederschlägt. Für sein vielseitiges Schaffen wurde L. u. a. 1991 mit dem Heinrich-Mann-Preis, 2008 mit der Ehrendoktorwürde der TU Dresden u. 2009 mit dem Lessing-Preis des Freistaates Sachsen ausgezeichnet. Weitere Werke: Poesiealbum Nr. 143. Bln./ DDR 1979. – Die Rasselbande im Schlamassellande. Bln./DDR 1983 (Kinderg.e). – Zungenblätter. Aschersleben 2002. Literatur: Michael Franz: K. L. In: Lit. der DDR. Hg. Hans Jürgen Geerdts u. a. Bd. 3, Bln./ DDR 1987. – Ewout van der Knaap: K. L. u. das Paradox des heimatgebundenen Avantgardisten. In: Retrospect and Review: Aspects of the Literature of the GDR 1976–90. Hg. Robert Atkins u. Martin Kane. Amsterd. 1997, S. 226–237. – Walter Koschmal: Die bikulturelle Dramenpoetik des K. L. ›Wendische Schiffahrt‹ in dt. Gewässer. In: Bühne u. Öffentlichkeit. Drama u. Theater im Spät- u. Postsozialismus (1983–1993). Hg. Norbert Franz u. Herta Schmid. Mchn. 2002, S. 179–192. Adolf Endler / Christian Prunitsch

Lorengel. – Anonyme strophische Erzählung des 15. Jh. Die Kolmarer Handschrift, in der das Werk fragmentarisch überliefert ist, wird heute auf 1459/62 datiert, also muss die Dichtung vor diesem Datum entstanden sein. Damit sind sowohl die Datierung auf 1470 als auch die an diesem Datum orientierten Interpretationsansätze hinfällig.

Lorengel

Die Anfangspartie von 60 Strophen in »Klingsors Schwarzem Ton«, der Wartburgkrieg- u. Lohengrin-Strophe, lehnt sich z.T. wörtlich an den Lohengrin an. Ob sie jedoch unmittelbar aus dieser Dichtung stammt oder mit ihr auf eine gemeinsame Quelle zurückgeht, ist nicht definitiv geklärt. Nach der Landung des Schwanenfahrzeugs mit Lorengel (= Lohengrin) in Antorf (Antwerpen) weicht das Werk in Form einer eingeschobenen Erzählung in ganz andere Bereiche von Sage u. Legende aus: Beim Empfangsmahl für Lorengel im Haus eines reichen Antwerpener Bürgers berichtet ein Ritter, wie Köln durch das Eingreifen der elftausend Jungfrauen, Parzefals u. des Grals vor dem Hunneneinfall gerettet worden sei. Erst nach dieser interpolierten Erzählung u. nach einer unmotivierten zweiten Landung des Schwanenfahrzeugs findet Lorengels Zweikampf u. seine Hochzeit mit der Herzogin von Brabant statt. Hier bricht das Werk ab; trotz einer deutlich einen Schluss markierenden Strophe scheint es fragmentarisch überliefert zu sein. Der Sinn der heterogenen Zusammenstellung von Schwanenrittergeschichte, Elftausendjungfrauenlegende u. Gralsmotiv ist bislang unerschlossen. Verbunden werden die Teile der Erzählung allenfalls durch das Interesse an der städt. Szenerie Antwerpens u. Kölns u. der entscheidenden Rolle, die Stadtbewohner in den Auseinandersetzungen der Adligen spielen. Ausgaben: Elias Steinmeyer. In: ZfdA 15 (1872), S. 181–244. – L. Hg. Danielle Buschinger. Göpp. 1979. Literatur: Ernst Elster: Das Verhältnis des L. zum Lohengrin. In: FS Eduard Sievers. 1896, S. 252–276. – Thomas Cramer: L. In: VL (auch: Nachträge u. Korrekturen). – Heinz Thomas: Maximilian als Schwanritter. In: ZfdA 116 (1987), S. 303–316. – William H. Jackson: L. and the ›Spruch von den Tafelrundern‹. In: The Arthur of the Germans. Hg. ders. u. Silvia A. Ranawake. Cardiff 2000, S. 181–183. Thomas Cramer / Red.

Lorentz

Lorentz, Iny, auch: Eric Maron, Mara Volkers, Diana Wohlrath, Nicola Marni, Anni Lechner. – Gemeinsames Pseudonym eines Autorenehepaares, Verfasser historischer Romane. Hinter dem Pseudonym Iny Lorentz verbirgt sich das in München lebende Autorenehepaar Iny Klocke (geb. 1949) u. Elmar H. Wohlrath, dem 2003 mit Die Kastratin (Mchn.), dem ersten gemeinsam verfassten histor. Roman, der Durchbruch auf dem deutschsprachigen Buchmarkt gelang. Sie arbeiten beide in einem Münchner Versicherungsunternehmen. L.’ Romane erscheinen in kurzen zeitl. Abständen. Wie es bereits die Titel andeuten, steht im Mittelpunkt stets das Schicksal einer weibl. Hauptfigur, die sich in ihrer jeweiligen gesellschaftl. Situation bewähren muss; Zeiträume u. Schauplätze verteilen sich über verschiedene Jahrhunderte (14.-18. Jh.) u. über nahezu ganz Europa (Italien, Spanien, Russland, Süddeutschland). Dabei wird z.T. mit dem Motiv des Verkleidens gespielt: Eine junge Frau gibt sich als Mann aus, um bessere Zukunftsperspektiven zu haben, so Giulia, die in einem Chor singen möchte (in Die Kastratin), oder Lea, die das Überleben ihrer Familie sichern muss (in Die Goldhändlerin. Augsb. 2003). Bes. erfolgreich verkaufte sich die Geschichte der jungen »Wanderhure« Marie, die, von ihrem Ehemann verraten, als Prostituierte leben muss, bis ihr der gesellschaftl. Aufstieg gelingt. Die Trilogie (Die Wanderhure. Mchn. 2004, übers. in mehrere Sprachen; Die Kastellanin. Mchn. 2005; Das Vermächtnis der Wanderhure. Mchn. 2006) wurde im Herbst 2008 um einen vierten Band (Die Tochter der Wanderhure. Mchn.) ergänzt. Unter dem Pseud. Anni Lechner veröffentlicht L. auch Heimatromane. Weiteres Werk: Dezembersturm. Mchn. 2009 (R.). Christine Henschel

Lorenz, Konrad (Zacharias), * 7.11.1903 Wien, † 27.2.1989 Altenberg/Niederösterreich. – Verhaltensforscher. Der Sohn des Orthopäden Adolf Lorenz studierte von 1922 an Medizin in New York u. Wien u. von 1926 an zusätzl. Zoologie – ein

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Fach, das er durch Entdeckungen von Gesetzmäßigkeiten im Tierverhalten entscheidend bereicherte. Nach Promotionen zum Dr. med. (1928) u. Dr. phil. (1933) habilitierte sich L. 1937 in Wien u. wurde Mitherausgeber der »Zeitschrift für Tierpsychologie«. 1940 wurde er als Ordinarius für Vergleichende Psychologie nach Königsberg – auf den Lehrstuhl Kants – berufen. 1941 als Arzt an die Ostfront verpflichtet, geriet er in russ. Kriegsgefangenschaft, aus der er 1948 zurückkehrte. Für seine Studien richtete die Max-Planck-Gesellschaft 1950 eine Forschungsstelle in Buldern/Westfalen u. 1955 ein selbständiges Institut für Verhaltensphysiologie im oberbayr. Seewiesen ein, dem L. von 1961 bis zu seiner Emeritierung 1973 als Direktor vorstand. 1973 erhielt er zus. mit Karl von Frisch u. Nikolaas Tinbergen den Nobelpreis für Medizin u. Physiologie. L. ist der Begründer der vergleichenden Verhaltensforschung (Ethologie). Als 23-Jähriger entdeckte er bei der Aufzucht einer Dohle das Phänomen der Prägung, eine unwiderrufl. Bindung – im Falle der Dohle an L. selbst –, die sich in einer sensiblen Phase bald nach dem Eischlupf vollzieht u. sich in beständigem Nachlaufen äußert. Spätere Fotografien von L. inmitten einer Schar auf ihn geprägter Graugänse machten ihn zum Inbegriff des mit seinen Tieren verbundenen Verhaltensforschers. Seine anekdotenreichen Tierbücher Er redete mit dem Vieh, den Vögeln und den Fischen (Wien 1949. Mchn. 381995) u. So kam der Mensch auf den Hund (Wien 1950. Mchn. 2002) machten L. als glänzenden Stilisten wiss. Prosa weltweit bekannt. Der beredte, verführerische Stil verdeckte allerdings manche problemat. Schlussfolgerungen von L. Kontrovers diskutiert wurden seine Schriften erst, als er von der Beobachtung tierischen Verhaltens zu dessen Deutung als biolog. Wurzel menschl. Verhaltenstendenzen schritt. So behauptete er in seinem Bestseller Das sogenannte Böse (Wien 1963. Mchn. 20 1995), dass innerartl. Aggression bei Tieren wie Menschen ein angeborener Trieb sei. Im Leben der Tiere haben Aggressionen, z.B. bei der Revierverteidigung, arterhaltende Funktion; dem Menschen aber werde der Trieb gefährlich, weil seine Tötungshemmung

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nicht entsprechend der Durchschlagskraft gedanken. Ffm. 2004. – Alfons Schnase: Evolutioseiner Waffen gewachsen sei. Die moral. näre Erkenntnistheorie u. biolog. Kulturtheorie. K. Entrüstung von L.’ Kritikern, die sich nur L. unter Ideologieverdacht. Würzb. 2005. – Günungern mit Wölfen u. Hyänen auf eine Stufe ther Stark: K. L. pro u. kontra. Baden-Baden 2006. – Ders.: K. L. in der Kritik. Erkenntnistheorie als gestellt sahen, machte L. eine Verteidigung Apparatekunde. Baden-Baden 2006. – Carsten Jaleicht. Dabei war ihm eine einfache Kriteri- kobi: Dialog in Monologen – Naturwiss., Dichtung enverwechslung unterlaufen: Indem er näm- u. die ›Einheit höherer Ordnung‹. Anmerkungen lich tierisches Verhalten bereits ethisch be- zum Briefw. zwischen Carl Zuckmayer u. K. L. In: wertete – eine wölf. Tötungshemmung z.B. Carl Zuckmayer – Alexander Lernet-Holenia. Hg. sei »gut«, als ob sich der Wolf seiner arter- Gunther Nickel. Gött. 2006, S. 415–450. Angela Schrameier / Red. haltenden u. fairen Handlung bewusst sei –, übertrug L. nicht etwa Kriterien tierischen Verhaltens auf menschliches, sondern umge- Lorichius, Johannes, † Juli 1569 (?). – Lykehrt. riker u. Dramatiker. Unstrittig ist inzwischen jedoch die Berechtigung von L.’ jahrzehntelangem Enga- Der aus der Gelehrtenfamilie der Lorichii aus gement gegen die Entfremdung von der Na- Hadamar in Nassau stammende L. war um tur u. ihre Zerstörung durch den Menschen. 1540 an der Universität Marburg tätig, beWeitere Werke: Über tier. u. menschl. Verhal- gleitete im März 1541 Landgraf Philipp von ten. 2 Bde., Mchn. 1965. – Die Rückseite des Spie- Hessen zum Regensburger Reichstag (Hodoegels. Mchn. 1973. 1997. – Die acht Todsünden der poricon. Marburg 1541; u. a mit dem Bericht zivilisierten Menschheit. Mchn. 1973. 2005. – über den Raubritter Eppele von Gailingen) u. Vergleichende Verhaltensforsch. Heidelb. 1978. – scheint 1542 an der Augsburger Schule Bircks Das Wirkungsgefüge der Natur u. das Schicksal des gelehrt zu haben. 1543 siedelte er nach InMenschen. Mchn. 1978. 1990. – Das Jahr der golstadt über, lehrte an der Universität GrieGraugans. Mchn. 1979. 1998. – Der Abbau des chisch u. konvertierte wohl zum KatholizisMenschlichen. Mchn. 1983. 61995 – Hier bin ich – mus. Nach 1552 soll er sich – nach der Darwo bist du? Ethologie der Graugans. Mchn. 1988. stellung Melchior Adams – in Litauen aufge1991. – Eigentlich wollte ich Wildgans werden. Aus halten, dann in Orléans Jura studiert haben, meinem Leben. Aus dem Englischen v. Wolfgang schließlich nach abermaliger Konversion elf Schleidt. Mchn./Zürich 2003. 2006. Jahre Rat Wilhelms von Oranien gewesen u. Literatur: Bibliografie in: Otto Koenig: Verhalim Dienst Colignys im Juli 1569 gefallen sein. tensforsch. in Österr. Wien 1983, S. 505–515. – Die Dichtung L.’ fügt sich mit durchaus Weitere Titel: Max Amberg: K. L. Greven 1977. – eigenen Akzenten in die Literatur des SpätAntal Festetics: K. L. Mchn. 1983. – Wolfgang Scheidt (Hg.): Der Kreis um K. L. Bln. 1988. – humanismus ein. Sein poet. Erstling (1540), Norbert Bischof: Gescheiter als alle die Laffen. Ein die seit 1545 auf drei Bücher erweiterten Psychogramm v. K. L. Hbg. 1991. Mchn./Zürich Aenigmatum libri (Ffm. 1545), bietet in – meist 1993. – Hanna-Maria Zippelius: Die vermessene eleg. Distichen – Rätsel u. ihre Auflösung. Im Theorie. Eine krit. Auseinandersetzung mit der Stil des Ausonius verfasste L. einen Catalogus Instinkttheorie v. K. L. u. verhaltenskundl. For- iureconsultorum veterum (Basel 1545). schungspraxis. Braunschw./Wiesb. 1992. – ManFür die Terenzbühne des Schultheaters fred Wimmer (Hg.): Freud – Piaget – L. Von den schrieb L. seinen Jobus Patientiae spectaculum biolog. Grundlagen des Denkens u. Fühlens. Wien (Marburg 1543. Neuausg. v. Edward Schrö1998. – Giorgio Celli: K. L. Begründer der Etholoder. Marburg 1897): Das Hiobdrama gibt den gie. Übers.: Michael Spang. Heidelb. 2001. – BeStoff v. a. in Botenberichten. Den Anhang zu nedikt Föger u. Klaus Taschwer: Die andere Seite des Spiegels. K. L. u. der NS. Wien 2001. – Kurt einer Rhetorik bildet eine Rede L.’, wie Kotrschal (Hg.): K. L. u. seine verhaltensbiolog. Schuldenmachen zu vermeiden sei (De aero Konzepte aus heutiger Sicht. Fürth 2001. – Klaus alieno cavendo. Ffm. 1561). Taschwer u. B. Föger: K. L. Biogr. Wien 2003. Mchn. 2009. – Wolfgang Senz: K. L. u. Johann G. Fichte. Ein Vergleich im Lichte des Entwicklungs-

Weitere Werke: Ecclesiasticus liber Jesus Syrach. Ingolst. 1544. – Elegia de lupo. Ingolst. 1548. – Elegia de obscuratione Solaris luminis. Ingolst.

Loriot

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o. J. – Grammatices Latinae Commentarii. Ingolst. 1551 u. ö. – Prima Rudimenta Latinae Grammaticae [...]. Ingolst. 1552. – Oratio funebris, in obitum D. Mauricij Hutteni. Ingolst. 1553. – Orationes duae cum epitaphiis quibusdam [...]. Ingolst. 1553. – ›De pelicano‹. In: Janus Gruterus: Delitiae poetarum Germanorum [...]. Bd. 3, Ffm. 1612, S. 1254–1262. Internet-Ed.: CAMENA. Literatur: Bibliografie: F. W. E. Roth: Die Gelehrtenfamilie Lorichius aus Hadamar. In: ZfB 2 (1894), S. 368–385, hier S. 380–383, 385. – VD 16. – Weitere Titel: Melchior Adam: Vitae Germanorum Iureconsultorum et Politicorum. Heidelb. 1620, S. 186–188. – Reuss: Würzburger alte Götzenbilder (nach J. L.). In: Archiv des histor. Vereins v. Unterfranken u. Aschaffenburg 4 (1838), Bd. 3, S. 166 f. – Ellinger 2, S. 203, 208. – Hermann Wiegand: Hodoeporica. Baden-Baden 1984, S. 133–135, 505. – Wolfgang F. Michael: Das dt. Drama der Reformationszeit. Bern u. a. 1984, S. 149 f. u. ö. – Ders.: Ein Forschungsber. Das dt. Drama der Reformationszeit. Bern u. a. 1989, S. 121. – Heike Bismark: Rätselbücher. Entstehung u. Entwicklung eines frühneuzeitl. Buchtyps im deutschsprachigen Raum. Tüb. 2007, S. 149–157 u. ö. (Register!). – Flood, Poets Laureate, Bd. 3, S. 1188–1190. Hermann Wiegand

Loriot, eigentl.: Bernhard-Viktor (gen. Vicco) von Bülow, * 12.11.1923 Brandenburg/Havel. – Humorist, Cartoonist, Satiriker. L. stammt aus der weitverzweigten preuß. Familie von Bülow. Nach dem Besuch der humanist. Gymnasien in Berlin u. Stuttgart war er 1942–1945 Soldat u. nahm am Russlandfeldzug teil. Ab 1947 studierte er an der Landeskunstschule in Hamburg bei Willem Grimm u. Alfred Mahlau, Lehrer, die nachhaltig auf ihre große Schülerschaft wirkten (u. a. Horst Janssen). 1949 entstand eine Zeichnung über beengte Wohnverhältnisse, die zum ersten Mal mit seinem Pseud. L. signiert war (die frz. Bezeichnung für den Vogel Pirol, der auf dem Helm des Familienwappens sitzt). L.s erste Cartoons erschienen im »Stern«, es folgten Serien für »Quick«, die TV-Serien Cartoon, Stanwell, Wum (als Autor u. Hauptdarsteller) sowie Werbegrafik u. satir. Prosa. Mit Sketchen im Fernsehen, Reden, Lesungen nach klass. Texten u. sogar Diri-

gaten erreichte er hohe Popularität u. eine Vielzahl von Ehrungen. Mit der Inszenierung seiner Dramatischen Werke (Zürich 1981) im Stadttheater Aachen begann L. 1985 seine künstlerische Arbeit für die Bühne. Er war verantwortlich für Regie, Bühnenbild u. Kostüme bei der sehr erfolgreichen Aufführung der Oper Martha an der Staatsoper Stuttgart 1985. Es folgte der Freischütz zu den Ludwigsburger Schlossfestspielen 1988, wie ihn überhaupt immer wieder die Musikarbeit anzog u. er auf berühmten dt. Bühnen Opernaufführungen im Vorfeld, in den Pausen u. am Schluss mit bereichernden u. die Grenze zum Komischen überschreitenden Kommentierungen versah. Im gleichen Jahr entstand sein erster Spielfilm Ödipussi (Zürich 1988). In entwaffnender Weise wird darin die überzogene MutterSohn-Beziehung mit all ihren kom. Konsequenzen bis hin zur Verklemmtheit u. lebensuntüchtigen Befangenheit des Sohnes offenkundig. 1991 folgte sein zweiter, nicht minder populärer Spielfilm, Pappa ante Portas, über die Schwierigkeiten eines noch ganz aktiven Frühpensionärs, der den häusl. Betrieb an der Frau vorbei zur eigenen Arbeitsstätte umzuwandeln versucht, weil er auch dort glaubt, Verantwortung im alten Sinne übernehmen zu müssen. In beiden Fällen werden alleralltäglichste Lebensverhältnisse vorsichtig überzeichnet, die damit verbundenen Konventionen gesprengt u. ins Groteske getrieben, ohne der Realität ihre Glaubhaftigkeit zu nehmen. L. ist Beobachter einer seltsam realen Komik. Ihn interessieren Kommunikationsprobleme, die er am »Normalverbraucher« in den selbstverständlichsten Lebenssituationen untersucht. Der fulminante Humor, von dem seine Figuren getragen sind, dankt seine Spannung einerseits der choreograf. Genauigkeit u. zeichnerischen Präzision, andererseits der Treffsicherheit, mit der er den krit. Punkt aufdeckt, in dem das Verhalten des scharf Beobachteten kippt u. sich Riss u. Abgrund auftun. Denn es kommt auch u. gerade im trivialsten Dialog zu den typischen Störungen menschl. Kommunikation. Mit dem Spürsinn eines Verhaltensforschers deckt L.

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auf. Sein Humor trifft, verletzt aber nicht, weil ihn keine Schadenfreude treibt. L.s Karikatur des simplen, adrett gekleideten u. distanzierten Knollennasenmannes löst das Klischee des dt. Michel in anderer Typik ab. Er hat die Knollennase 1998 noch einmal sehr berühmten Persönlichkeiten in einer vorzüglich gemalten Portraitreihe zugemessen. Weitere Werke: L.s Großer Ratgeber. Zürich 1968. – L.s kleine Prosa. Zürich 1971. – L.s heile Welt. Zürich 1973. – L.s Großes Tgb. Zürich 1983. – Möpse u. Menschen. Zürich 1983. – L.s Ödipussi. Zürich 1988. – L. in Worten u. Bildern – Ges. Werke u. ges. Bildergesch.n. 2 Bde. in einer Kassette. Zürich 2008. Literatur: L. Ausstellungskat. Hg. WilhelmBusch-Museum, Hannover u. Dt. Museum für Karikatur u. krit. Grafik. Stgt. 1988. – L. Ach was! Vicco v. Bülow zum 85. Geburtstag. Hg. Peter P. Kubitz u. Gerlinde Waz. Ostfildern 2009. Herwig Guratzsch

Lorm, Hieronymus, eigentl.: Heinrich Landesmann, * 9.8.1821 Nikolsburg/ Mähren, † 3.12.1902 Brünn. – Erzähler, Lyriker, Theaterautor, Romancier, Essayist, Journalist.

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Feuilletonroman Ein Zögling des Jahres 1848 (3 Bde., Wien 1855. 1863 u. d. T. Gabriel Solmar) machte ihn einem größeren Publikum bekannt. 1856 heiratete er Henriette Frankl u. wohnte mit seiner Familie (drei Kinder) in Baden bei Wien. 1873 zog er nach Dresden u. lebte seit 1892 in Brünn. L.s den Tagesstimmungen erwachsene, atmosphärisch dichte Prosaskizzen, seine pointierten Anekdoten u. geistvollen Plaudereien machten ihn zum »ersten Feuilletonisten der Kaiserstadt« (Wilhelm Chézy). Seine Bühnenwerke hingegen fanden nur wenig Anklang. Wie diese sind auch seine zahlreichen Romane nur noch von zeitbedingtem Interesse. L.s eigentl. Leistung liegt auf dem Gebiet der Literaturkritik. Hier erweist er sich als aufmerksamer Beobachter literar. Entwicklungen. Seine formal u. rhythmisch eigenständige Lyrik u. die mit voranschreitendem Alter immer intensivere Hinwendung zu philosoph. Betrachtungen spiegeln einen durch Schopenhauer beeinflussten Pessimismus wider, dem L. einen »grundlosen Optimismus« (so auch ein Buchtitel: Wien 1894) entgegenstellte. Weitere Werke: Am Kamin. 2 Bde., Bln. 1857 (E.en). – Intimes Leben. Prag 1860 (Noveletten). – Gedichte. Hbg. 1870. – Die Alten u. die Jungen. Lpz. 1875 (D.). – Der Naturgenuß. Teschen 1876 (Ess.). – Nachsommer. Dresden 1897 (L.). – Bekenntnisbl. Eingel. v. Philipp Stein. Bln. 1905. Ausgabe: Ausgew. Briefe. Hg. Ernst Friedegg. Bln. 1912. Literatur: Karl Kreisler: H. L.s Schicksal u. Weg. Brünn 1922. – Julian Straub: H. L. Diss. Mchn. 1960. – Jirˇ í Vesely´ : H. L. u. Adalbert Stifter. In: Mähr. deutschsprachige Lit. Hg. Ingeborg FialaFürst. Olmütz 1999, S. 94–102. – Rainer Theobald, Jürgen Hein u. Sigurd Paul Scheichl: H. L. über Nestroy (2). In: Nestroyana 19 (1999), S. 19–25. Michael Farin / Red.

Als Sohn eines angesehenen Kaufmanns wuchs L. in Wien auf. Trotz einer im Alter von 16 Jahren aufgetretenen Taubheit u. schweren Sehstörungen (1881 erblindete L. ganz u. erfand die nach ihm benannte Fingerzeichensprache) schrieb er früh Gedichte u. Prosa. Nach ersten Veröffentlichungen im »Österreichischen Morgenblatt« publizierte L. 1844 sein Epos Abdul (in: Die Grenzboten), eine »muhamedanische Faustsage« in fünf Gesängen. Es folgten kleinere poet. Arbeiten u. krit. Studien zur österr. Literatur. Die wichtigsten davon fasste L. in dem Buch Wiens poetische Schwingen und Federn (Lpz. 1847) zusammen. Um einer Verfolgung wegen darin Lornsen, Boy Jakob, * 7.8.1922 Keitum/ geäußerter vormärzl. Gedanken zu entgehen, Sylt, † 26.7.1995 Keitum/Sylt. – Kinderverwendete er erstmals sein seither beibehalu. Jugendbuchautor. tenes Pseud. u. floh zudem vor Erscheinen des Buches nach Berlin. Dort veröffentlichte L. war als Steinbildhauer tätig, bevor er 1976 er 1848 seine Prosasammlung Gräfenberger als freier Autor zu arbeiten begann. Er ist eiAquarelle. ner der wenigen Autoren, dessen KinderliteNach Wien zurückgekehrt, trat L. 1850 in ratur geografischen Regionen zuzuordnen ist die Redaktion der »Wiener Zeitung« ein. Sein – der Westküste Schleswig-Holsteins (im Ju-

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gendkriminalroman Der Brandstifter von Tarrafel. Stgt. 1974), der Ostsee (im histor. Roman Klaus Störtebeker. Gottes Freund und aller Welt Feind. Stgt. 1980) oder der Landschaft der Elbmündung u. Elbdeiche (in der ErstleserSerie Williwitt. Würzb. 1983/84). Sein erstes Kinderbuch, Robbi, Tobbi u. das Fliewatüüt (Stgt. 1967. 141993 u. ö., zuletzt 2009), erlangte v. a. aufgrund seiner aufwendigen Verfilmung (Erstausstrahlung 1972, ARD; Regie: Armin Maiwald) große Bekanntheit. Neben Kinder- u. Jugendbüchern veröffentlichte L. auch Lyrikbände in plattdt. Mundart (Sinfunikunzeert mit Boy Lornsen. 13 heitere plattdeutsche Gedichte. Morsum/Sylt 1985. Mit uns Schoop wer dat je so.... Achtertücksche Schoopsgedichtens. Morsum/Sylt 1988. Sien Schöpfung un wat achterno keem. Hbg. 1991. Jesus vun Nazareth. Een stremel Weltgeschicht. Hbg. 1994.). Seine Kinderbücher wurden in zwölf Sprachen übersetzt. L. erhielt 1972 den Friedrich-BödeckerPreis, weitere Preise folgten. Von 1981 bis zu seinem Tod war er Mitgl. des PEN-Clubs. Weitere Werke: Abakus an Mini-Max. Stgt. 1970 (R.). – Auf Kaperfahrt mit der ›Friedlichen Jenny‹. Stgt. 1982 (R.). – Nis Puk in der Luk. Hbg. 1985 (R.). – Seenotrettungskreuzer Adolph Bermpohl. Husum 1987 (Sachbuch). – Die Möwe u. der Gartenzwerg. Stgt. 1989 (R.). Literatur: B. L. zum 65. Geburtstag. Stgt. 1987. – B. L. zum 70. Geburtstag. Stgt. 1992. – B. L. als Schriftsteller u. Bildhauer: 1922–95. Keitum/Sylt 1998. Birgit Dankert / Sonja Schüller

Loschütz, Gert, * 9.10.1949 Genthin. – Erzähler, Hörspielautor u. Dramatiker. Der Sohn des Personalleiters eines Stahlwerks übersiedelte 1957 in die Bundesrepublik Deutschland u. studierte an der FU Berlin Geschichte, Philosophie u. Soziologie. Ab 1970 lebte L. als freier Schriftsteller bei Frankfurt/M., seit 2000 wohnt er wieder in Berlin. Für seine Arbeiten erhielt L. bedeutende Auszeichnungen u. Stipendien: 1973/ 74 Villa-Massimo-Stipendium, 1985 GeorgMackensen-Literaturpreis, 1988 Ernst-Reuter-Preis, 1990 New-York-Stipendium, 2000 Ehrengabe der Deutschen Schillerstiftung, 2005 Rheingau-Literaturpreis, 2006 Phanta-

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stik-Preis der Stadt Wetzlar u. Calwer Hermann-Hesse-Stipendium. L. debütierte als Lyriker, wurde jedoch mit einer Sammlung seiner Rollenspiele (Sofern es die Verhältnisse zulassen. Ffm. 1972) als innovativer Hörspielautor bekannt. In seinen Theaterstücken u. Erzählungen gestaltet er v. a. politische u. sozialkrit. Themen. L.’ Theaterstück Chicago spielen (Ffm. 1980) illustriert, vor dem Hintergrund der Terroristenverfolgung um 1976, das Räderwerk der Staatsgewalt, vorgeführt am Beispiel der absurden Vernehmung eines willkürlich eines Attentats Verdächtigten. Die Novelle Eine wahnsinnige Liebe (Darmst./Neuwied 1984) beschreibt die patholog. Neigung eines kontaktscheuen Arzneimittelvertreters zu seinem zur Geliebten stilisierten Computer. Dieser Text kann zum einen als Technik-Satire gelesen werden, zum zweiten birgt er mit Heimatlosigkeit u. Wahnsinn zwei für L.’ Werk zentrale Themen. Lukas Hartmann, in seinem Beruf ständig unterwegs, ist der Prototyp des vereinsamten Menschen. Einzig mit seiner Mutter hält er telefonisch Kontakt. Die Sehnsucht nach einer Partnerin befriedigt er auf eine unerhörte Weise. Er staffiert seinen Computer als Frau aus und gibt ihm eine Biografie als Pianistin. In einem Landgasthof, in den er sich zurückzieht, reagieren die Menschen befremdet. Die Novelle ist im Spannungsfeld zwischen Wahnsinn u. Normalität angesiedelt. Der Roman Flucht (Ffm. 1990) schildert die Übersiedlung einer DDR-Familie in das westdt. Wildenburg. Für den Sohn Karsten bedeutet dies nicht, wie für die Eltern, eine Befreiung, sondern den Verlust einer paradiesischen Kindheit. Der im Osten verwurzelte Junge wird im Westen zum Verlierer u. Heimatlosen. Das Datum der Flucht gerät zum Menetekel für den Rest seines Lebens, so stirbt ein Jahr später an diesem Tag seine Mutter. Das Symbol seiner Vagabundenexistenz ist ein kleiner brauner Koffer, der am Tag der Flucht einen Riss durch einen Nagel erhalten hat u. seitdem den Protagonisten begleitet. Selbst nachdem Karsten ihn ins Meer geworfen hat, wird er den Koffer nicht los: Er wird ihm am folgenden Tag wiedergebracht.

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Nach dem Erscheinen seines Romans Dunkle Gesellschaft (Ffm. 2005. Tb. Mchn. 2007) bezeichnete der »Spiegel« L. als den David Lynch unter den dt. Romanautoren. In Dunkle Gesellschaft erzählt der Flussschiffer Thomas in zehn Regennächten Geschichten, die ein dunkles Geheimnis bergen. Ausgelöst wird das Unheimliche durch eine Gesellschaft von schwarzgekleideten Menschen mit weißen Gesichtern. Wie in surrealist. Bildern wird diese Furcht einflößende Gruppe in den Alltag montiert. Das Alptraumhafte wird durch die lakon. Sprache u. die betont realist. Schreibweise L.’ noch verstärkt. Der Großvater hat Thomas vor dieser Personengruppe gewarnt. Hier schlägt L. den Bogen zu seinem Roman Flucht, in dem der Großvater ebenfalls Binnenschiffer war. Auch das Thema der Ortlosigkeit kehrt wieder. Thomas war auf den großen Strömen Europas u. Nordamerikas unterwegs, jetzt hat es ihn in die norddt. Tiefebene verschlagen. Für den ehemaligen Steuermann ist das die falsche Landschaft. Die Flüsse fehlen u. wie um diesen Mangel zu kompensieren, regnet es im Roman Tag u. Nacht, was den unheiml. Erinnerungsstrom an grausame Vorkommnisse auslöst. Aus dem Hörspiel Die Bedrohung, das erstmals 1981 im WDR gesendet wurde, entstand der gleichnamige Roman (Ffm. 2006. Tb. Mchn. 2008). Dies ist für L., der gern u. oft mit unterschiedl. Medien experimentiert, kein ungewöhnl. Verfahren. Matthias Loose reist in einen Ort namens Niem, in dessen Nähe ungewöhnlich viele Selbstmorde geschehen. Bei seinen Recherchen wird der gescheiterte Journalist mit wortkargen Einheimischen konfrontiert, niemand erteilt ihm Auskunft, dem Fremden gegenüber verhält man sich abweisend. Gleichzeitig gibt es in diesem Ort bemalte Häuser für psychisch kranke Menschen. Loose, der zu Beginn des Romans als skrupulöser Wortsucher, der an allen Buchprojekten scheitert, charakterisiert wird, versucht wie besessen, die Ursache für die Todesfälle zu ermitteln. L. erläuterte in einem Interview, dass es ihm nicht um die Beschreibung von Wahnsinn gehe, sondern um bestimmte Wahrnehmungsphänomene. Er vergleicht seinen Protagonisten mit Ent-

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deckern, die oft für Irre gehalten würden, weil sie ihr Leben für eine Idee opferten. Auch in dem Erzählband Das erleuchtete Fenster (Ffm. 2007) findet sich das Gestaltungsprinzip, reale durch skurrile Begebenheiten aufzubrechen. Die Erzählungen sind realistisch in der präzisen u. detaillierten Darstellung der Welt, doch im entstehenden Gesamtbild erstaunen sie bei aller Konturschärfe durch ihre Rätselhaftigkeit. Weitere Werke: Gegenstände. Ffm. 1971 (G.e u. P.). – Diese schöne Anstrengung. Ffm. 1980 (G.e). – Das Pfennig-Mal. Die Gesch. v. Tom Courteys Ehre u. Benjamin Walz’ Schande. Darmst./Neuwied 1986 (E.). – Lassen Sie mich, bevor ich weiter muß, v. drei Frauen erzählen. Darmst./Neuwied 1990 (Gesch.n). – Unterwegs zu den Gesch.n. Ffm. 1998 (E.en). – Hörspiele: Die Familie – v. Kindern gespielt. SWF 1970. – Die Hausbewohner. SDR 1975. – Hör mal, Klaus. SWR 1976. – Ortswechsel. HR 1981. – Tom Courteys Zirkuswelt. SDR/NDR 1983. – Ballade vom Tag, der nicht vorüber ist. SDR/WDR/NDR 1987. – Der Mann im Käfig. SDR/ NDR 1994. – Die Kamera, der Traum, dann die Stimmen. NDR/WDR/SDR 1995. – Besichtigung eines Unglücks. WDR/NDR/SWR 2001. – Theaterstücke: Lokalzeit. Urauff. Schiller-Theater, Bln. 1976. – Die Verwandten (Los Parientes). Urauff. Teatro Goethe, Buenos Aires 1981. – Der Sammler des Schreckens. Urauff. Theater Die Rampe, Stgt. 1994. – Fernsehfilme: Der Tote bin ich. ARD 1979. – Wanda. ARD 1985. – Der Kampfschwimmer. ARD 1985. – Kotte u. Klara. RB 1987. Literatur: Martin Krumbholz: Bin ich’s, bin ich’s nicht? In: NZZ, 5.10.2005. – Hans Christoph Buch: Wenn der Sprachstrom über die Ufer tritt. In: Die Zeit, 22.9.2005. – Christoph Schröder: Schiffer, pass auf! In: Frankfurter Rundschau, 19.10.2005. – Ralf Berhorst: Das kalte Sonnendeck. In: SZ, 19.10.2005. – Ursula Escherig: Abenteurer der Sprache. In Börsenblatt 45 (2005), S. 28–31. – Andreas Platthaus: Wie man eine wahre Gesch. träumt. In: FAZ, 19.11.2005. – Martin Halter: Stimmensammler auf dem Waldlehrpfad. In: FAZ, 4.10.2006. – Jenny Hoch: ›Wir brauchen diesen speziellen Wahnsinn‹. Interview mit G. L. In: Spiegel online, 7.10.2006. – Christoph Schröder: Dies große Geschrei in mir. In: Frankfurter Rundschau, 18.10.2006. – Tobias Heyl: Vom Grauen ohne Feuilleton. In: SZ, 23.-26.12.2006. – Ulrich Baron: Der Blick ins fremde Leben. In: SZ, 12.10.2007. – Michael Töteberg: G. L. In: KLG. Gerhard Bolaender / Elke Kasper

Lossius

Lossius, Kaspar Friedrich, * 31.1.1753 Erfurt, † 25.3.1817 Erfurt. – Theologe, Pädagoge, Schriftsteller. L. entstammte einem luth. Pfarrhaus, dessen Atmosphäre von der orthodoxen Frömmigkeit des Vaters geprägt war. Nach dem Besuch der Barfüßergemeindeschule u. des Evangelischen Ratsgymnasiums in Erfurt studierte L. ab 1770 an der dortigen Universität Theologie, daneben auch Philosophie bei seinem Vetter Johann Christian Lossius sowie Universalgeschichte u. Theorie der schönen Wissenschaften u. Künste bei Christoph Martin Wieland. Ab 1773 setzte er das Studium in Jena fort u. fand unter dem Einfluss des rationalist. Theologen Ernst Jacob Danovius Zugang zu aufklärerischen Vorstellungen von einer »natürlichen Religion«. 1774 kehrte L. dauerhaft nach Erfurt zurück, wo er zunächst eine Anstellung als Lehrer an der Barfüßerschule erhielt u. nebenher Privatunterricht erteilte. In diese erste Phase des berufl. Wirkens fiel die Herausgabe einer Sammlung geistlicher Lieder und Gesänge (Erfurt 1777. 31791), die neben Texten anderer Autoren auch solche aus der Feder von L. enthält u. seine schon für die Schulzeit bezeugten poet. Ambitionen einem größeren Publikum bekannt machte. Über die Stationen eines Konrektors an der Predigerschule (1779) u. Diakons in der Andreasgemeinde (1781) gelangte er 1785 in das Amt des zweiten Pfarrers an der Predigerkirche u. damit in eine Lebensstellung. Aufgrund seiner literarischen u. hymnolog. Kenntnisse wurde L. bald darauf mit der Revision des evang. Erfurter Gesangbuchs betraut, das 1796 in neuer Fassung erschien (Erfurt 2 1800). Die ganz von pädagog. Zwecken bestimmte literar. Produktion L.’ setzte in den frühen 1790er Jahren ein. Aus der pastoralen Tätigkeit ist das u. d. T. Für die Katechumenen. Zum Unterricht in den vorzüglichsten Lehren der christlichen Religion (Erfurt 1794) veröffentlichte Lehrbuch erwachsen, mit dem der Autor programmatisch seine Absicht unterstrich, auch schriftstellerisch u. publizistisch als christl. Erzieher wirken zu wollen. Diesem Anliegen hat L. unterschiedliche literar. Gat-

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tungen dienstbar gemacht u. sowohl in theoret. Abhandlungen (Über das Vergnügen, welches Eltern aus der eigenen Erziehung der Kinder zu moralisch guten Menschen schöpfen können. Gotha 1804. Über die öffentliche Erziehung der Kinder aus den vornehmern und gebildeten Ständen. Erfurt 1806) als auch in dramatischen (Sittengemälde aus dem gemeinen Leben zum belehrenden Unterricht für Kinder. 3 Bde., Gotha 1796–1802) u. epischen (Moralische Erzählungen für die Jugend. Erfurt 1816) Dichtungen die pädagog. Ideen u. Erziehungsgrundsätze der Spätaufklärung entfaltet. Seine umfassende Auseinandersetzung mit den Bildungsfragen der Zeit trug ihm 1803 die Berufung in eine Kommission zur Neuordnung des Erfurter Schulwesens u. 1811 die Ernennung zum ersten Direktor der neu eröffneten höheren Töchterschule ein. L.’ wichtigste Werke erschienen im Jahrzehnt zwischen 1795 u. 1805. Dem Umfang nach an erster Stelle steht die fünfbändige Moralische Bilderbibel (Gotha 1805–12. 2 1821–29), in der L. Mythologie, antike Geschichte u. Heilsgeschichte zusammenführt u. der anspruchslos-lehrhaften Gattung der Kinderbibel damit ein neues Profil verleiht. Eine vornehmlich auf Quellen in der von ihm seit 1791 geleiteten Bibliothek des Evangelischen Ministeriums zurückgreifende u. um eine der führenden Gestalten des Humanismus zentrierte Reformationsgeschichte Erfurts legte er mit der biogr. Studie Helius Eoban Hesse und seine Zeitgenossen (Gotha 1797. 2 1817) vor. Seinen größten literar. Erfolg errang L. mit dem Roman Gumal und Lina. Eine Geschichte für Kinder (3 Tle., Gotha 1795–1800). Das »die Wahrheiten der natürlichen Religion« (2. Tl., Zwischentitel) in eine unterhaltsame Abenteuergeschichte einkleidende Werk will die jugendl. Leser zu Verhaltensweisen anleiten, die den Prinzipien einer utilitarist. Ethik u. aufgeklärt-vernünftigen Moral verpflichtet sind. Inhalt u. Erzählkonzept des Buches fanden beim Publikum solchen Anklang, dass der Verleger schon 1797, noch vor Erscheinen des zweiten Bandes (1798), eine verbesserte Auflage des ersten Teils herausbringen musste. Zwischen 1801 u. 1854 erschienen zehn Ausgaben des Romans, 1869 u. 1885

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folgten gekürzte Bearbeitungen. Für die enorme Popularität des Werkes sprechen überdies nicht nur die frühen, wiederholt aufgelegten Übersetzungen ins Holländische (Amsterd. 1801. 61856), Schwedische (Stockholm 1804. 31868) u. Französische (Paris 1809. 31838), sondern auch die Tatsache, dass Friedrich Wilhelm Lomler bereits 1810 eine Dramatisierung des Stoffes vornahm. Weitere Werke: Heilsame Erinnerungen an die Jahre 1806 bis 1808 in einigen Erbauungsreden vor der Prediger-Gemeinde in Erfurt. 2 Tle., Erfurt 1808/09. – Kurze Religionssätze u. Denksprüche zum Auswendiglernen. Gotha 1814. – Histor. Bildersaal oder Denkwürdigkeiten aus der neueren Gesch. 6 Tle., Gotha 1815–37 (ab Tl. 3 v. Christian Ferdinand Schulze allein fortgesetzt). Literatur: Hieronymus Müller: C. F. L. Gotha 1819. – Johannes Biereye: Aus dem Tagebuche v. C. F. L. In: MVGAE 29 (1908), S. 55–105. – LKJL 2. – HKJL, Sp. 801–812. – Michael Ludscheidt: Erziehung zur ›natürlichen Religion‹. Das Werk des pädagog. Schriftstellers K. F. L. In: Palmbaum 11 (2003), 1/2, S. 152–161. – Ders.: L. In: Bautz. – HKJL, Bd. 3, Sp. 1435 f. Michael Ludscheidt

Lotar, Peter, * 12.2.1910 Prag, † 12.7.1986 Ennetbaden/Kt. Aargau. – Dramatiker, Erzähler u. Essayist; Schauspieler. Nach dem Abitur in Prag studierte L. an der Schauspielschule Max Reinhardts in Berlin u. war anschließend in Berlin, Breslau u. Prag als Schauspieler tätig. 1939 emigrierte er in die Schweiz, wo er bis 1949 Spielleiter am Städtebundtheater Biel-Solothurn u. danach Chefdramaturg des Theaterverlags Reiss in Basel war. Seit 1951 lebte u. arbeitete er als freier Schriftsteller, Rundfunkmitarbeiter (u. a. Radio Free Europe) u. Gastregisseur zunächst in Unterseen/Kt. Bern u. zuletzt in Ennetbaden, wo er 1986 Opfer eines Verkehrsunfalls wurde. Bevor L. mit dem ersten Teil seiner romanhaften Lebensgeschichte, Eine Krähe war mit mir (Stgt. 1978), ein spätes erfolgreiches Debüt als Erzähler erlebte, war er vorwiegend als Herausgeber u. Übersetzer (z.B. Prager Frühling und Herbst im Zeugnis der Dichter. Bern 1969) sowie als Bearbeiter u. Autor von Theaterstücken u. Hörspielen in Erscheinung getreten. Wie sein ganzes Schaffen ist auch

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der 1985 erschienene, erzählerisch glanzvolle zweite Teil seiner Autobiografie, Das Land, das ich dir zeige (Zürich), aus bitterer Erfahrung heraus von tiefer, versöhnl. Menschlichkeit geprägt. L.s Nachlass befindet sich in der Schweizerischen Landesbibliothek, Bern. Weitere Werke: Vom Sinn des Lebens (Albert Schweitzer). Bern 1949 (Hörsp.). – Das Bild des Menschen. Gespräche einer letzten Nacht. Hbg. 1954. Hörsp. 1953. – Friedrich Schiller. Leben u. Werk. Bern 1955. Literatur: Antonín Mestan: P. L. Nationalität Prager. In: Schlesien: Arts, Science, Folklore 33 (1988), S. 171–178. – Dagmar v. Mutius: Laudatio für den Eichendorff-Lit.-Preisträger 1986, P. L. Ebd., S. 179–182. Charles Linsmayer / Red.

Lothar, Ernst, eigentl.: E. L. Müller, * 25.10.1890 Brünn, † 30.10.1974 Wien; Grabstätte: ebd., Zentralfriedhof. – Erzähler, Essayist, Regisseur. Als L. sieben Jahre alt war, übersiedelte die Familie nach Wien. Dort studierte er Germanistik u. Jura (Dr. jur.). 1914 wurde er zum Kriegsdienst eingezogen. 1917–1924 im Staatsdienst tätig, wurde L. 1925 Theater- u. Literaturkritiker bei der »Neuen Freien Presse«. 1933–1935 inszenierte er als Gastregisseur am Burgtheater, wurde dann Nachfolger Max Reinhardts am Theater in der Josefstadt. 1938 musste er als Jude emigrieren: Über die Schweiz floh er nach Paris, wo er mit Karl Farkas u. Oscar Karlweis Theater- u. Kabarettabende erarbeitete. 1939 gelang ihm die Flucht in die USA. In New York gründete er das »Austrian Theatre« u. arbeitete 1940–1945 als Professor für Theaterwissenschaften u. Vergleichende Literatur am Colorado College. 1946 ging er als amerikan. Kulturbeauftragter für Österreich nach Wien (seit 1948 wieder österr. Staatsbürgerschaft). Bis 1962 war L., Bruder des Schriftstellers Hans Müller-Einigen, Regisseur am Burgtheater u. bei den Salzburger Festspielen u. erwarb sich Verdienste um den Wiederaufbau des österr. Theaters. Bereits während des Studiums publizierte L. erste Gedichtbände (Der ruhige Hain. Mchn. 1910); er machte sich aber v. a. durch die

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Romane Der Feldherr (Lpz. 1918), Der Hellseher gibt keinen Kompromiss mit dem Unrecht‹. E. L.s (Wien 1929) u. die Trilogie Macht über alle Exilroman ›Die Zeugin. Pariser Tgb. einer WieneMenschen (Mchn. 1921–25) einen Namen. L.s rin‹. In: Fluchtziel Paris. Hg. Anne Saint Sauveurwohl bekanntester, in den USA entstandener, Henn. Bln. 2002, S. 288–297. – Ders.: Ein österr. Michael Kohlhaas. E. L.s Exilroman ›Heldenplatz‹. groß angelegter Roman Der Engel mit der PoIn: Die Alchemie des Exils. Hg. Helga Schreckensaune (Cambridge 1945. Salzb. 1947. Mchn. berger. Wien 2005, S. 67–88. – Oliver Rathkolb: E. 2003. Zuerst engl.: The Angel with the Trumpet. L. – Rückkehr in eine konstruierte Vergangenheit. New York 1944) erzählt die Geschichte des Kulturpolitik in Österr. nach 1945. In: Echo des österr. Zusammenbruchs von Mayerling bis Exils. Hg. J. Thunecke. Wuppertal 2006, zum Einzug Hitlers in Wien am Beispiel einer S. 279–295. Kristina Pfoser-Schewig / Red. Familiengeschichte; Klischeebildern von Österreich sollte hier entgegengewirkt werden. Auch seine weiteren Romane der Emi- Lotichius, Johannes Petrus, * 8.3.1598 grationszeit thematisieren die zeitgeschichtl. Nauheim, † 21.3.1669 Frankfurt/M. – Situation Österreichs (A Woman is Witness. Arzt u. späthumanistischer Schriftsteller. New York 1941. Dt.: Die Zeugin. Pariser Tage- Der Großneffe des humanist. Dichters Petrus buch einer Wienerin. Wien [1951]. Beneath An- Lotichius Secundus studierte in Marburg u. other Sun. New York 1943. Dt.: Unter anderer Basel (Dr. med. 1619). Nach ärztl. Praxis in Sonne. Roman des Südtiroler Schicksals. Wien Hanau wirkte er vornehmlich in Frankfurt/ 1961. Neuaufl. 1986). M. (hess. Hofmedicus), seit 1629 als MediWeitere Werke: Die Einsamen. Mchn. 1912 zinprofessor in Rinteln, schließlich als Feld(N.n). – Die Rast. Mchn. 1913 (L.). – Österr. Schr.en. arzt der kaiserl. Armee (1632). Graf Hermann Mchn. 1916 (Ess.s). – Ich! Mchn. 1921 (D.). – Tri- von Schaumburg-Bückeburg ernannte ihn umph des Gefühls. Wien [1925] (E.en). – Drei Tage zum Leibarzt (1634). Es folgten Berufungen u. eine Nacht. Wien (1928) (N.). – Der Kampf um an die Universität Marburg (Prof. med. 1639) das Herz. Wien 1930 (R.). – Kleine Freundin. Wien u. das akadem. Gymnasium zu Herborn 1931 (R.). – Die Menschenrechte: Bd. 1: Die Mühle (1642). Seit 1644 lebte L. überwiegend in der Gerechtigkeit [...]. Wien 1933; Bd. 2: Eine Frau Butzbach u. Frankfurt/M. als Rat u. Histowie viele [...]. Wien 1934 (R.e). – Romanze F-Dur. riograf Kaiser Ferdinands III. Wien 1935 (R.). – Nähe u. Ferne. Brünn 1937 (Ess.s). L.’ vielgestaltiges Schaffen umfasst neben – Heldenplatz. Cambridge 1945 (R.). – The Door Opens. New York 1945. Dt.: Die Tür geht auf. Wien fachmedizin. Schriften u. lyr. Werken, dar1950. Mit Einl. v. Friedrich Schreyvogl u. Bibliogr. unter umfangreichen Gelegenheitsgedichten, Wien 1963 (E.en). – Die Rückkehr. Salzb. 1949. auch beachtenswerte Reden (u. a. De asini lana. U. d. T. Return to Vienna. New York 1949 (R.). – Satyricon. Ffm. 1664). Seine gegen frauenVerwandlung durch Liebe. Wien 1951 (R.). – Das feindl. Strömungen gerichtete Gynaicologia i.e. Weihnachtsgeschenk. Wien 1954 (E.). – Die bessere de nobilitate et perfectione sexus feminei (Rinteln Welt. Wien 1955 (Ess.s). – Das Wunder des Über- 1630) wurde auch ins Deutsche übersetzt lebens. Erinnerungen u. Ergebnisse. Wien 1961. – (Ffm. 1645). Für die Literaturgeschichte des Ausgew. Werke. 6 Bde., Wien 1961–68. – Macht u. Humanismus bieten die von L. gesammelten Ohnmacht des Theaters. Wien [1968]. Viten von Dichtern u. Gelehrten wichtiges Literatur: Bibliogr. der Werke E. L.s in: Das Quellenmaterial (Bibliotheca poetica. 4 Tle., österr. Wort. Einl. v. Friedrich Schreyvogl. Bd. 133, Ffm. 1625–28. Internet-Ed.: CAMENA: Abt. Graz 1963. – Weitere Titel: Helmuth Waldner: Das Thesaurus). Als Chronist der Zeitereignisse Theater in der Josefstadt v. L. bis Steinboek (1935–47). Diss. Wien 1949. – Donald G. Daviau u. arbeitete L. eng mit den Frankfurter Verlagen Jorun B. Johns: E. L. In: Eine schwierige Heimkehr. zusammen u. schrieb den fünften Teil des Hg. Johann Holzner. Innsbr. 1991, S. 323–352. – berühmten Theatrum Europaeum (Ffm. 1647). Joseph P. Strelka: E. L. In: Germanoslavica 7 (2000), S. 87–100. – Jörg Thunecke: ›Bucina Angelica‹ oder was für ein Schmarren? E. L.s ›Der Engel mit der Posaune‹. Roman u. Film – ein Vergleich. In: Maske u. Kothurn 46 (2001), H. 1, S. 83–90. – Ders.: ›Es

Weitere Werke: Holofernes [...] heroico carmine conscripta. Ffm. 1625. – Vade mecum sive Epigrammatum novorum centuriae duae. Ffm. 1625. – Oratio super fatalibus hoc tempore Academiarum in Germania periculis. Rinteln 1631. –

523 Super poetis latinis, nov-antiquis censura. Ffm. 1645. – Rerum germanicarum [...] ab anno 1617–43 gestarum Pars I-II. Ffm. 1646–50. – J. P. L. (Hg.): T. Petronii Satyricon. Ffm. 1629. Literatur: Bibliografie: VD 17. – Weitere Titel: W. Strieder: L. In: ADB. – Adalbert Elschenbroich: Lotichius, Petrus Secundus. In: NDB. – W. Strieder: Grundlage zu einer hess. Gelehrten u. Schriftsteller Gesch. Gött. Bd. 8, S. 99–107 (Werkverz.). – August Heimpel: J. P. L., ein Hanauer Arzt u. Gelehrter im 30jährigen Krieg. In: Hanauisches Magazin 12 (1933), S. 25–30. – Willy Hänsel (Bearbeiter): Catalogus Professorum Rinteliensium. Rinteln 1971, Nr. 88. – Flood, Poeta Laureate, Bd. 3, S. 1195–1198. Wilhelm Kühlmann

Lotichius Secundus, Petrus, eigentl.: P. Lotz, * 2.11.1528 Niederzell bei Schlüchtern/Hessen, † 7.11.1560 Heidelberg; Grabstätte: ebd., Peterskirche. – Neulateinischer Dichter. L., Kind eines Bauern u. Neffe des Schlüchterner Abtes Petrus Lotichius, unterschied sich von seinem namensgleichen Onkel mit dem Zusatz »Secundus«. Diesem weit über Schlüchtern hinaus einflussreichen Onkel, dem Gründer der Klosterschule, verdankte L. die Grundlagen seiner Schulbildung u. die frühe Berührung mit dem von Wittenberg ausgehenden humanist. u. reformatorischen Denken. Von 1542 an war L. in Frankfurt Schüler von Jakob Micyllus, dem späteren Freund u. Universitätskollegen. 1544 schickte der von der Exkommunikation schwer getroffene Abt seinen Neffen mit anderen Schlüchternern zum Studium nach Marburg, wo L. im Haus des Theologen Johannes Draconites wohnte. In dasselbe Jahr fällt der Beginn der Freundschaft mit Johannes Hagen (Hagius), der 1586 eine Ausgabe mit einer umfangreichen Biografie des L. herausbrachte, desgleichen das erste Hervortreten mit gedruckten Dichtungen. Die nächsten Stationen sind Leipzig (Studium bei Joachim Camerarius) u. Wittenberg (bei Melanchthon). Auch zu diesen Lehrern erwuchs lebenslange Freundschaft u. gegenseitige Wertschätzung. Der Beginn des Studiums in Wittenberg (Immatrikulation 14.5.1546) fiel in die nach Luthers Tod aufkommenden Unruhen, die

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im Nov. den Lehrbetrieb zum Erliegen brachten u. L. für sieben Monate nach Magdeburg, in die sicherste Bastion der Lutheraner, verschlugen. Hier ließ sich L. für das Heer der Schmalkaldischen Liga anwerben u. durchlitt als Soldat die Rohheit des Lagerlebens, eine schwere Krankheit u. schwermütige Stimmungen, die von der Nachricht über den Tod des Vaters u. von der Entbehrung von Freunden u. Heimat ausgelöst waren. Eine erste Sammlung von Elegien, eine Art poet. Kriegstagebuch, bewahrt das Psychogramm des L. vom Kriegswinter an der Elbe. Im Schmalkaldischen Krieg findet L. zur Elegie als der ihm wesensgemäßen Gattung, die seinen Dichterruhm begründete. Ihre Eigenart besteht darin, dass sie, obwohl hervorgegangen aus realen Situationen von beträchtlichem histor. Interesse, nicht die polit. u. konfessionellen Probleme thematisiert, sondern mit nach innen gerichtetem Blick die sorgenvollen Gedanken des an der Situation leidenden Ich auffängt. Nach dem Krieg setzte L. 1547/48 sein Studium zunächst in Erfurt fort, kehrte aber 1548 an die Universität Wittenberg zurück (Magister artium 18.9.1548). Neben Studium u. Krieg bilden Freundschaften in großer Zahl u. die erste Liebe die herausragenden Erlebnisse der in Sachsen u. Thüringen verbrachten Jahre. In einer für dt. Neulateiner ungewöhnl. Intensität dringt das erot. Thema in die vermischten Kleinformen jener Zeit ein, die Catull zum Vorbild haben u. von L. als Carmina von den Elegien abgehoben worden sind: eine Liebe in Magdeburg, eine Liebe in Erfurt, v. a. aber die Liebe in Wittenberg zu einer Bürgerstochter, die L. Claudia nennt. Abschied von Wittenberg nahm L. Ende 1549. Er riss sich von der unglücklich zu Ende gegangenen Claudia-Liebe los. Um inneren Abstand von u. gleichzeitig äußeren Schutz vor den polit. Wirren zu gewinnen, begab sich L. nach längerem Aufenthalt in seiner Heimat, der er damals mit seinem Gedicht auf die Acis-Quelle ein Denkmal setzte, auf eine Reise nach Frankreich. Der adlige Würzburger Kanonikus Daniel von Stiebar hatte L. auf Vermittlung seines Abtonkels u. auf Empfehlung von Camerarius zum Reisebegleiter seiner drei Neffen bestimmt. Er

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blieb bis zu seinem Tod der Förderer des L. Nachweisbar sind zwei größere Ausflüge, die L. von Paris aus unternommen hat: im Sommer 1550 nach Burgund (Dôle-Gedicht) u. ein Jahr später nach Rouen u. an die Küste bei Dieppe. In Paris publizierte er 1551 das erste Bändchen seiner Gedichte, in welchem auf die laut Widmungsvorrede überarbeiteten Kriegselegien die Carmina als zweiter Buchteil folgen. Alle aufgenommenen Gedichte stammen aus der Zeit vor der Frankreich-Reise. Ihre Veröffentlichung in Frankreich dokumentiert die Opposition gegen die Politik Karls V. nach dem Schmalkaldischen Krieg. Leben u. Studium in Paris haben im dichterischen Werk des L. keine Spuren hinterlassen. Die Gedichte aus dieser Zeit haben weiterhin die Verhältnisse in Deutschland (Magdeburg-Elegie) u. den Schmerz der immer noch unvergessenen Claudia-Liebe zum Thema. Erst die Weiterreise über Lyon, Vienne, Avignon u. Nîmes nach Montpellier führt zu einem tiefgreifenden Wandel u. einer neuen Dimension des Dichtens, erkennbar daran, dass jetzt Frankreich (Sehenswürdigkeiten, mediterranes Klima, Flora, akadem. Kreis um den berühmten Universitätsmediziner Guillaume Rondelet) u. ein neues Lebensgefühl zu Themen der Dichtung werden. Am 23.11.1551 immatrikulierte sich L. an der wegen ihrer medizin. Fakultät berühmten u. der Reformation gegenüber offenen Universität Montpellier. Zentrum des neuen Dichtens wird eine neue Liebe. Die schmerzl. Rückerinnerung an Claudia trifft mit neu erwachender Liebe zu einer Französin (»Callirrhoe«) zusammen. Auch sie verkehrte im Hause Rondelets. Kurz nach der Verlobung starb sie. In einer an Rondelet gerichteten Elegie, die L. erst in Italien veröffentlicht hat, liest man die ergreifende Liebesklage. Die anderen in Frankreich entstandenen Gedichte (Elegien, eine Ekloge, Carmina), ein Reisebuch, in dem sich Leben u. Dichten zu einer Einheit verbinden, veröffentlichte L. 1553 in Lyon. In die Naturbilder der südl. Landschaft fließen die Seelenstimmungen des Dichters ein. Die Elegie rückt als Aussagemedium von der extremen Sondersituation des Kriegs in die Mitte eines erlebnisreichen Studentenlebens vor u. gewinnt innerhalb dieses Buchs

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einen Rang zurück, den sie seit Gallus u. Catull in der röm. Literatur innehatte: Sie steigert sich zu der Kunstform für die subjektiverot. Erfahrung des Dichters. Die Rückreise von Montpellier führte nach einem längeren Aufenthalt in Avignon (Okt. 1553 bis April 1554), der Heimat der Laura Petrarcas, dem sich L. in Lebensschicksal u. Stil (Petrarkismus) nahe fühlen musste, über die Schweiz nach Baden-Baden, wo er den schwerkranken Daniel von Stiebar besuchte. Stiebar versah L. mit den Mitteln für eine Italien-Reise u. damit für eine Begegnung mit dem Land seiner antiken u. nlat. Vorbilder. Im Herbst 1554 trat L. im Raum LeipzigWittenberg die Reise über Verona nach Padua an, an dessen Universität mit Andreas Vesalius der bedeutendste Anatom der Renaissance wirkte. In der Umgebung besuchte L. die Euganeischen Hügel (Grab Petrarcas) u. Venedig. 1555 floh er vor der Pest nach Bologna. In die Elegiendichtung der Bologneser Zeit hat die in den Apennin verlegte märchenhafte Liebe zu einem Hirtenmädchen Eingang gefunden, die sich dem Liebeswerben des dt. Bauernsohns durch Eintritt ins Kloster entzog. Nicht dichterisch verarbeitet worden ist hingegen die nicht minder märchenhafte Version einer Krankheit, die unter L.’ Freunden weitererzählt wurde. Danach soll ein einem anderen zugedachtes Liebeselixier versehentlich von L. eingenommen worden sein u. einen schweren Anfall bewirkt haben. Die Ernsthaftigkeit der wie auch immer gearteten Krankheit (Malaria?), die zu einem vorzeitigen Ende des Italien-Aufenthalts geführt hat, u. die Tatsache, dass im angegriffenen Gesundheitszustand des L. bis zu seinem frühen Tod eine durchgreifende Besserung nicht mehr eingetreten ist, sind unbestreitbar. Nach der Promotion zum Dr. med. am 20.5.1556 kehrte L. nach Deutschland zurück. Im April 1556 war in Bologna seine dritte Gedichtsammlung erschienen, ein poet. Kaleidoskop der Italien-Jahre, in dessen Elegienteil Liebesklage um das verstorbene Mädchen von Montpellier u. Totenklage um Stiebar um die Elegie der neuen Liebe angeordnet sind.

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1557 berief Kurfürst Ottheinrich L. an die – Ders.: Quellen u. Verz. zu Leben u. zu den WerUniversität Heidelberg. Hier lehrte er bis ken v. P. L. S. In: Unsere Heimat (Schlüchtern) 1560 Medizin u. Botanik. Die Dichtungen 20–24 (1928–32). – Ellinger 2, S. 340–395 u. ö. – dieser Jahre spiegeln die geänderte Lebens- Bernhard Coppel: Marginalien zu dichter. Berührungspunkten zwischen P. L. S. u. C. Val. Catullus. form: nach der einzigartigen ErlebnisdichIn: Proceedings of the First International Congress tung der Frankreich- u. Italien-Reise jetzt of Neo-Latin Studies. Löwen/Mchn. 1973, Gelegenheitsdichtung nach den übl. Ver- S. 159–170. – Walther Ludwig: P. L. S. and the pflichtungen (Epicedien, Epithalamien, Ek- Roman Elegists. In: Classical Influences on Eurologen). Kurz vor seinem Tod begann L. eine pean Culture A. D. 1500–1700. Hg. R. R. Bolgar. nicht mehr abgeschlossene Überarbeitung Cambridge 1974, S. 171–190. Auch in: Ders.: Litseiner bereits veröffentlichten Gedichte u. die terae Neolatinae. Mchn. 1989, S. 202–217. – SteDisposition einer Gesamtausgabe. Die pos- phen Zon: P. L. S.: Neo-Latin Poet. Bern u. a. 1983. tume Werkausgabe (Lpz. o. J. [1563]) darf als – Wilhelm Kühlmann u. Joachim Telle: Humanismus u. Medizin an der Univ. Heidelberg im 16. Jh. Ausgabe letzter Hand gelten. In: FS 600 Jahre Ruprecht-Karls-Univ. Bd. 1, HeiDie insg. 18 Ausgaben, die bis ins 19. Jh. delb. 1985, S. 255 ff. – Beiträge v. Hans-Wolfgang erschienen sind, mehrfach erweitert durch Bindrim u. a. in: Unsere Heimat (Schlüchtern) 9 neu aufgenommene Gedichte u. andere (1993), S. 88–183. – Bernhard Coppel: P. L. S. In: Werkteile, bezeugen das anhaltende Interesse Füssel, Dt. Dichter, S. 529–544. – L. u. die röm. an der Dichtkunst des L., in dem viele den Elegie. Hg. Ulrike Auhagen u. Eckart Schäfer. Tüb. größten nlat. Lyriker Deutschlands, ja »den 2001. – E. Schäfer: Zur Sannazarius-Rezeption in bedeutendsten neueren deutschen Lyriker der Renaissance-Bukolik. In: Sannazaro u. die Auvor Klopstock« (Ellinger) sahen. Auch der gust. Dichtung. Hg. ders. Tüb. 2006, bes. umfangreichsten Ausgabe, die Petrus Bur- S. 254–264. Bernhard Coppel mannus 1754 in Amsterdam herausgegeben hat, blieb Vollständigkeit versagt. Lottmann, Joachim, * vermutlich 1954 L.’ Dichtung, Lyrik nach antiken Vorbil- Hamburg. – Schriftsteller, Journalist. dern, ist in ihrer individuellen Aussage noch nicht um subjektive Originalität bemüht, In L.s Hang, die eigene Vita erkennbar zu sondern artikuliert sich mit hoher künstleri- mystifizieren, zeigt sich der iron. Gestus der scher Sensibilität in einer Diktion, deren vom Autor mitgeprägten journalistisch-liteImitationsspektrum der nach dem klass. Ka- rar. »New Wave« der 1980er Jahre, die sich u. a. gegen den »Tiefsinn« der Hochkultur non gebildete Leser überblickte. Werke: Elegiarum liber. Carminum libellus. wandte. Seine (literatur-)satirischen Romane Paris 1551. Internet-Ed.: CAMENA. – Poemata. Hg. setzen dieses Programm durch Verzicht auf J. Camerarius. Lpz. 1563 (4 Bücher Elegien, 2 Bü- eine prägnant-sinnträchtige Handlung, Hercher Carmina, 1 Buch Eklogen). – Opera omnia. vorhebung der Zufälligkeit des Geschehens u. Lpz. 1586 (mit L.’ Jugendgedichten u. seiner Vita provokante Vermischung von Fakten u. Fikdurch J. Hagius). – Poemata omnia, quotquot re- tion um. Das Debüt Mai, Juni, Juli (Köln 1987. periri potuerunt (ferner Prosaschr. über die Er- Neuaufl. 2003 mit aufschlussreichem Nachmordung des Würzburger Fürstbischofs Melchior wort) handelt von der Suche eines SchriftZobel v. Giebelstadt, Briefe v., an u. über L., stellers nach einem erzählenswerten Stoff. Biogr.n u. a.). Hg. Petrus Burmannus Secundus. 2 Die Kombination von überpointierter ZeitBde., Amsterd. 1754. kritik, pseudo-autobiografischem, unzuverAusgaben: Katherine A. O’Rourke Fraiman: P. L. lässigem Erzählen sowie ostentativ kunstloS., Elegiarum liber primus. With an Introduction, Translation, and Commentary. Ann Arbor 1978. – sem, geschwätzigem Stil weist auf die PopliBernd Henneberg: Die Hirtengedichte v. P. L. S. teratur der 1990er Jahre voraus. L. selbst Text, Übers., Interpr. Diss. Freib. i. Br. 1985. – meldete sich erst am Ende des Jahrzehnts mit Auswahl lat./dt. mit Komm. u. Lit. in: HL, dem gelungenen Berlin-Roman Deutsche EinS. 395–497 u. 1178–1239. heit (Zürich 1999) zurück u. publiziert seitLiteratur: August Heimpel: Stammbuch der dem in großem Umfang, u. a. ein InternetLotichier aus Schlüchtern. Ffm. 1902, bes. S. 24–41. Tagebuch.

Lotz Weitere Werke: Drei Frauen. In: Rawums. Texte zum Thema. Hg. Peter Glaser. Köln 1984, S. 124–139. – (Hg.) Kanaksta. Von Deutschen u. anderen Ausländern. Bln. 1999. – Die Jugend v. heute. Köln 2004 (R.). – Zombie Nation. Köln 2006 (R.). – Auf der Borderline nachts um halb eins. Mein Leben als Deutschlandreporter. Köln 2007. Literatur: Hubert Winkels: Einschnitte. Zur Lit. der 80er Jahre. Köln 1988, S. 130–141. – Heinz J. Drügh: Verhandlungen mit der Massenkultur. Die neueste Literatur(-wissenschaft) u. die soziale Realität. In: IASL 26 (2001), H. 2, S. 173–200. – Matthias Waltz: Was das Geschlechterverhältnis einmal war u. heute ist: ›Die Jugend von heute‹. In: Lit. – Psychoanalyse – Gender. FS Helga Gallas. Hg. Wolfgang Emmerich u. Eva Kammler. Bremen 2006, S. 157–173. Christoph Rauen

Lotz, Ernst Wilhelm, * 6.2.1890 Kulm/ Weichsel, † 26.9.1914 Bouconville/Nordfrankreich. – Lyriker.

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fahrungen des Expressionismus formulieren: »Wir fegen die Macht und stürzen die Alten, / Vermoderte Kronen bieten wir lachend zum Kauf, / Wir haben die Türen zu wimmernden Kasematten zerspalten / Und stoßen die Tore verruchter Gefängnisse auf.« Der Aufbruchsthematik entsprechen Struktur u. Sprache der Gedichte. Sie sind rhythmisch stark bewegt u. akzentuiert, zeichnen sich durch eigenwillige Bildkompositionen, kühne Adjektivbildungen u. eine Vorliebe für ungewöhnl. Wörter aus. Wenngleich Wolkenüberflaggt ein großer Bucherfolg war, L. von Zeitgenossen wie Kurt Hiller oder Ludwig Meidner u. nach 1945 u. a. von Werner Riegel gewürdigt wurde, ist er in Vergessenheit geraten. Ausgaben: Prosaversuche u. Feldpostbriefe. Aus dem Nachl. Hg. Hellmut Draws-Tychsen. Dießen/ Ammersee 1955. – Gedichte, Prosa, Briefe. Hg. Jürgen v. Esenwein. Mchn. 1994 (mit Bibliogr., S. 216–223).

Als Sohn eines Kadettenhauslehrers wuchs L. Literatur: Klaus L. Berghahn: E. L. Aufbruch in Wahlstatt (Liegnitz) u. Karlsruhe auf u. absolvierte 1900–1910 die Kadettenanstalten der Jugend. In: Lit. ist Utopie. Ffm. 1978. – Heinz in Plön u. Groß-Lichterfelde. Nach dem Be- Schöffler: E. W. L. In: Der jüngste Tag. Die Bücherei einer Epoche. Bd. 7, Ffm. 1981, S. 3498 ff. – such der Kriegsschule in Kassel wurde er Adalbert Wichert: L. In: NDB. – Werner Riegel: E. Leutnant im Hamburger Infanterieregiment W. L. oder der Aufbruch ins Unerfüllte. In: ... beNr. 143. Nach anderthalb Jahren Dienst als laden mit Sendung. Dichter u. armes Schwein. Hg. aktiver Offizier nahm er seinen Abschied, Peter Rühmkorf. Zürich 1988, S. 322 ff. versuchte sich zunächst als Kaufmann u. Hans J. Schütz † / Red. wandte sich dann der Literatur zu. L. lebte in Hamburg, Berlin u. zuletzt in Dresden. Er fiel als Leutnant u. Kompanieführer bei einem Lotze, (Rudolf) Hermann, * 21.5.1817 Sturmangriff an der Aisne in Nordfrankreich. Bautzen, † 1.7.1881 Berlin. – Philosoph. L. war einer der begabtesten Lyriker der expressionist. Generation. Zu Lebzeiten ver- Der Sohn eines Militärarztes wuchs in Zittau öffentlichte er einzelne Gedichte in den auf, wo er mit Moriz Haupt Freundschaft Zeitschriften »Der Sturm« u. »Neue Rund- schloss. 1834–1838 studierte L. in Leipzig schau«, 1913 bei A. R. Meyer in Berlin ein Philosophie u. Medizin bei Christian Her»Lyrisches Flugblatt« u. d. T. Und schöne mann Weiße, Gustav Theodor Fechner, Ernst Raubtierflecken... (Neudr. Mchn. 1968). 1917 Heinrich Weber u. Johann Christian Heinerschien mit einem Nachwort seiner Witwe roth. Nach der medizinischen Habilitation Henny Lotz der Band Wolkenüberflaggt als 1839 u. der philosophischen 1840 lehrte er Band 36 der Sammlung »Der jüngste Tag« im bis 1844 beide Fächer u. wurde 1842 nach Verlag Kurt Wolff. Erscheinen seiner Metaphysik (Lpz. 1841) a. o. In seiner Lyrik gestaltet L. v. a. zwei Sphä- Prof. für Philosophie. Nach Erscheinen seiner ren, in denen er Lebenserfüllung u. Aufhe- Logik (Lpz. 1843) folgte er 1844 einem Ruf bung der Isolation suchte: das erot. Erlebnis nach Göttingen als Nachfolger Johann u. die Traumreise in exot. Fernen. Sein Ge- Friedrich Herbarts, 1881 einem Ruf nach dicht Aufbruch der Jugend zählt zu jenen Berlin. Schon zu Lebzeiten bis in die USA u. Schlüsseltexten, die Grundpositionen u. -er- Russland bekannt, war L. zwischen 1870 u.

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1920 international einer der bekanntesten Philosophen Deutschlands. L.s wiss. Publikationen umfassen drei Bereiche: 1. die systemat. Philosophie (Metaphysik, Logik, Ethik), 2. Medizin, insbes. wissenschaftstheoret. Fragen der Physiologie u. Psychologie unter Ablehnung des vitalist. Begriffs der Lebenskraft, 3. die Ästhetik. Dabei stehen alle menschl. Orientierungsbemühungen für L. unter der Spannung, auf dem Gebiet der wiss. Forschung streng wiss. Methoden etablieren u. zugl. das Bedürfnis des Menschen nach Bedeutsamkeit respektieren zu müssen. Dieses personale Bedeutsamkeitsbedürfnis des Menschen hat die Philosophie rational u. reflexiv zu bedenken, während die Kunst es in ihren Werken – freilich ohne wiss. Geltungsanspruch – zu einem vorübergehenden u. nie abschließbaren Ausdruck bringt. Wissenschaft – der Natur u. der Gesellschaft – ist die stets erfahrungsbezogene u. formalisierte Erforschung des formalen Zusammenhangs von Wechselwirkungen. Die Bedeutung dessen, was Wechselwirkung ist, erfasst u. versteht der Mensch aber nur dort, wo Wirkung authentisch erlebt wird – u. das geschieht allein in der subjektiven Leidensfähigkeit oder der sog. inneren Regsamkeit. Auf diesem Boden bauen sich dann Werte u. Geltungen auf, die es erlauben, sowohl eine verbindl. Ethik als auch eine strenge formale Logik zu entwickeln. In diesem Sinne hat in der Metaphysik als Wirklichkeitsbetrachtung das Sollen einen Vorrang. Mit diesem Wert- u. Geltungsbegriff hat L. den Neukantianismus, den Neuidealismus Rudolf Euckens u. die Wertphilosophie wesentlich beeinflusst; seine Wirkung ist auch im mathemat. Formalismus Freges bemerkbar. L.s Hauptwerk, der dreibändige Mikrokosmos. Ideen zur Naturgeschichte und Geschichte der Menschheit. Versuch einer Anthropologie (Lpz. 1856–64), fasst für ein allg. interessiertes Publikum den gesamten Umkreis von L.s philosophisch-wiss. Arbeit – von Metaphysik über Medizin u. Psychologie bis zur Ästhetik u. Logik – unter eine gemeinsame, anthropolog. Perspektive. Im Sinne Kants eine Philosophie dem Weltbegriff nach, suchte sie den Umbruch in der Kultur des 19. Jh. durch eine

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weltoffene Philosophie der Nachdenklichkeit zu verarbeiten. In den postum veröffentlichten Kleinen Schriften (3 Bde., Lpz. 1885–91) finden sich, neben Rezensionen u. weiteren Aufsätzen, eine Fülle ästhetischer Beiträge, die eine Nähe zur späteren hermeneut. Philosophie andeuten. Ästhetische Texte u. Einstellungen sind für L. »Spuren« zur Auffindung einer »Phänomenologie des Gemütes«, die den Menschen auf Bedeutungen führen, welche in der strengen Wissenschaft aus method. Gründen weder zureichend thematisiert noch erforscht werden können. Die Geltung solcher Bedeutungsansprüche ist allerdings stets der philosoph. Kritik zu unterziehen. L. stellte den Naturwissenschaften noch nicht die Geisteswissenschaften, sondern allen Wissenschaften die reflexive, um Verstehen bemühte u. ethisch fundierte Philosophie gegenüber. Die literar. Qualität von L.s Werk wurde oft gerühmt, u. eben wegen dieser Qualität fanden Textteile seines Mikrokosmos Eingang in mehrere Anthologien als Muster deutscher philosoph. Prosa. Weitere Werke: Allg. Pathologie u. Therapie als mechan. Naturwiss. Lpz. 1842. – Gesch. der Ästhetik in Dtschld. Mchn. 1868. – System der Philosophie. 1. Tl.: Drei Bücher der Logik. Lpz. 1874. 2. Tl.: Drei Bücher der Metaphysik. Lpz. 1879. Ausgabe: Briefe und Dokumente. Hg. Ernst Wolfgang Orth. Würzb. 2003. Literatur: Eduard Rehnisch: Zur Biogr. H. L.s. In: R. H. L.: Grundzüge der Ästhetik. Lpz. 21888, S. 86–128 (Vorlesungsdiktate). – Richard Falkenberg: H. L. 1. Tl.: Das Leben u. die Entstehung der Schr.en nach Briefen. Stgt. 1901. – Max Wentscher: Fechner u. L. Mchn. 1925. Neudr. Nendeln/Liechtenstein 1973. – George Santayana: Paul G. Kuntz: L.’s System of Philosophy. Bloomington 1971 (mit Bibliogr.). – Ernst Wolfgang Orth: R. H. L. – Das Ganze unseres Welt- u. Selbstverständnisses. In: Grundprobleme der großen Philosophen. Philosophie der Neuzeit 4. Gött. 1986, S. 9–51. – Reinhardt Pester: H. L. Wege seines Denkens u. Forschens. Würzb. 1997. – Goedeke Forts. Ernst Wolfgang Orth / Red.

Lubinus

Lubinus, Eilhardus, eigentl.: Eilert Lübben, * 24.3.1565 Westerstede/Oldenburg, † 2.6.1621 Rostock. – Humanist, Philologe, Philosoph, Theologe, Geograf. L. studierte 1588–1594 in Leipzig, Köln, Helmstedt, Straßburg, Jena, Marburg u. Rostock. Das Studium bezahlte Graf Johann XVI. von Oldenburg. 1595 wurde L. in Rostock Dozent, 1596 Professor Poeseos. L. begann so die übl. Universitätskarriere; aus der philosoph. Fakultät wechselte er in die Theologie (Professor 1605, Dr. theol. 1606), landete schließlich bei der Geografie. Einen Ruf an den Hof in Schwerin schlug er 1609 offenbar aus; er starb als Rektor seiner Universität. Als Poetik-Professor u. Philologe veröffentlichte L. u. a. die Satiren des Persius u. Juvenals (Hanau 1619) sowie des Horaz (Rostock 1599. Ffm. 31613) mit Paraphrasen, außerdem die Phalarisbriefe (Rostock 1597). Als einer der Ersten übersetzte L. Anakreon im Versmaß ins Lateinische (Rostock 1597). Sein interessantestes Werk ist ein philosoph. Entwurf Phosphorus seu de natura mali. Tractatus hypermetaphysicus (zuerst Rostock 1595). Hier vertrat L. die neuplatonisch inspirierte These, das Böse sei nur eine Folge des Nichts. Diesen Gedanken benutzte Leibniz für die Konzeption seiner Theodizee mit. Der Phosphorus provozierte Gegenschriften aus den Reihen der sächs. Orthodoxie, v. a. den Antilubinus des Mansfelder Dekans Albert Grauer (Grawerus), auf den L. seinerseits replizierte (Rostock 1600. 21605). Die Hauptvorwürfe: L. habe sich an das Hauptwerk des calvinist. Theologen Duplessis-Mornay, De la vérité de la religion chrestienne (1581), angelehnt u. argumentiere prädestinatorisch dergestalt, dass auch das Böse von Gott vorherbestimmt sei. Tatsächlich versuchte L. alchemistische u. mathemat. Modelle der Naturphilosophie zu verbinden, nahm die epikureischen Elemente von Atomistik u. leerem Raum noch vor Gassendi auf u. schlug bereits eine Mathematisierung der Atomistik vor. Später begab sich L. nie wieder auf solches philosoph. Glatteis u. wiederrief als Theologe in der Dissertation De caussa peccati tractatio theologica (Rostock 1607) einen Teil seiner Thesen.

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L.’ Lehrbücher u. Lexika wurden in der ersten Hälfte des 17. Jh. im Schul- u. Universitätsbetrieb häufig benutzt. Sein Antiquarius sive Priscorum et minus usitatorum vocabulorum interpretatio (zuerst Amsterd. 1594) erlebte mindestens vier Auflagen; das berühmteste seiner Lehrbücher war die Clavis Linguae Graecae (Rostock 1609. Nürnb. 11 1670). In seiner theolog. Profession arbeitete L. v. a. philologisch u. exegetisch. Er las über das NT u. veröffentlichte in Dissertationen zahlreiche Kommentare, bes. zu den Apostelbriefen. Außerdem edierte er ein griech.-lat.-dt. NT (o. O. 1611), in dessen Vorrede er den Vorschlag eines Orbis Pictus machte, den dann Comenius übernahm. Mit Geografie hat sich L. erst vornehmlich gegen Ende seines Lebens beschäftigt. 1617/ 18 ließ er in Amsterdam nach langen Vorarbeiten seine monumentale Landkarte Pommerns drucken, die in vielen Atlanten verwertet u. noch 1775 neu aufgelegt wurde. Literatur: Pierre Bayle: L. In: Dictionnaire Historique et Critique (zuerst Rotterdam 1697). – Johann Carl Conrad Oelrichs: Zuverlässige histor.geograph. Nachrichten vom Hzgt. Pommern [...] insbes. eine ausführl. Gesch. u. Beschreibung der Lubinischen Land-Charte v. Pommern. Bln. 1771. – Georg August v. Halem: E. L. In: Oldenburgische Ztschr. Hg. ders. u. Gramberg. Oldenb. 1807, S. 277–294. – Hans Harms: Künstler des Kartenbildes. Biogr.n u. Portraits. Oldenb. 1962, S. 158 f. – Wilhelm Schmidt-Biggemann: E. Lubins Begriff des Nihil. In: Archiv für Begriffsgesch. 17 (1973), S. 177–205. – Wolfgang Hübener: Scientia de aliquo et nihilo. In: Denken im Schatten des Nihilismus. FS Wilhelm Weischedel. Hg. Alexander Schwan. Darmst. 1975, S. 34–54. – Roderich Schmidt: Die Pomerania als Typ territorialer Geschichtsdarstellung u. Landesbeschreibung des 16. u. beginnenden 17. Jh. In: Landesbeschreibungen Mitteleuropas vom 15.-17. Jh. Hg. Hans-Bernd Harder. Köln u. a. 1983, S. 49–78. – Stephan MeierOeser: Die Präsenz des Vergessenen. Zur Rezeption der Philosophie des Nicolaus Cusanus. Münster 1989, S. 151–155. – Thomas Leinkauf: Einheit u. Gegensatz. Der Traktat ›Phosphorus sive prima causa et natura mali‹ des E. L. als Dokument der Gegensatz-Ontologie der Spätrenaissance. In: Spätrenaissance-Philosophie [...] 1570–1650. Hg. Martin Mulsow. Tüb. 2009, S. 87–121. Wilhelm Schmidt-Biggemann / Stephan Meier-Oeser

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Lubitsch, Ernst, * 29.1.1892 Berlin, † 30.11.1947 Beverly Hills; Grabstätte: Los Angeles, Forest Lawn. – Drehbuchautor, Filmregisseur u. Schauspieler.

Lubliner

jahren realisierte L., durch eine Herzkrankheit zu längeren Pausen gezwungen, für 20th Century Fox die Komödien Heaven Can Wait (1943), Cluny Brown (1946) u. That Lady in Hermine (1947/48); letztere musste von Otto Preminger vollendet werden. L. war mit den Schauspielerinnen Irni (Helene) Kraus (1922–1930) u. Vivian Gaye (eigentlich: Sania Bezencenet; 1935–1943) verheiratet. Zur Erinnerung an den dt.-amerikan. Regisseur wird in Berlin seit 1962 der »Ernst-LubitschPreis« für bes. Leistungen auf dem Gebiet der Filmkomödie verliehen.

Der Sohn eines Schneidermeisters absolvierte nach der Schulzeit eine Lehre als Textilkaufmann, nahm privaten Schauspielunterricht u. wurde 1911 Ensemblemitglied des Deutschen Theaters in Berlin (Intendant: Max Reinhardt). 1913 begann seine Filmkarriere: zuerst als Darsteller in kom. Rollen, dann als Autor u. Regisseur. In zwei Genres, dem histor. Kostümfilm (Madame Dubarry, Anna BoWeitere Werke: Schuhpalast Pinkus. 1916. – leyn, Das Weib des Pharao) u. der erot. Komödie Die Augen der Mumie Mâ. 1918. – Carmen. 1918. – (Die Austernprinzessin, Die Puppe, Die Bergkatze), Kohlhiesels Töchter. 1920. – Sumurun. 1920. – The verhalf L. dem dt. Film nach dem Ersten Marriage Circle. 1924. – Lady Windermere’s Fan. Weltkrieg zu internat. Geltung. Für seinen 1925. – The Student Prince in Old Heidelberg. Stil waren Individualisierung von Ge- 1927. – Monte Carlo. 1930. – The Merry Widow. schichtsvorgängen durch Heldinnen (meist 1934. – The Shop Around the Corner. 1940. – That Opfer) u. Pointierung delikater Situationen Uncertain Feeling. 1941. Literatur: Robert Carringer u. Barry Sabath: E. durch Auslassungen (Ellipsen) oder indirekte Andeutungen charakteristisch. 1922 nahm L. A Guide to References and Resources. Boston o. J. der erfolgreiche Ufa-Regisseur L. ein Angebot – Herman G. Weinberg: The L. Touch. New York 1977. – Leland A. Poague: The Cinema of E. L. aus Amerika an, einen Historienfilm mit South Brunswick. London 1978. – William Paul: E. Mary Pickford zu inszenieren (Rosita). An- L.’s American Comedy. New York 1983. – Hans schließend drehte er fünf Gesellschaftsko- Helmut Prinzler u. Enno Patalas (Hg.): L. Mchn./ mödien (»sex comedies«) für die Firma War- Luzern 1984. 1987. – Herta-Elisabeth Renk: E. L.: ner Bros.; 1926 galt er als einer der Top-Re- mit Selbstzeugnissen u. Bilddokumenten. Reinb. gisseure in Hollywood. Nach seinem Wechsel 1992. – Herbert Spaich: E. L. u. seine Filme. Mchn. zu Paramount überstand L. Ende der 1920er 1992. – Frieda Grafe: Licht aus Berlin: Lang, L., Jahre auch erfolgreich den Übergang vom Murnau – u. Weiteres zum Kino der Weimarer Stumm- zum Tonfilm. Er kreierte eine ei- Republik. Bln. 2003. – Michaela Naumann: E. L.: Aspekte des Begehrens. Marburg 2008 (mit Literagenständige Musicalform, die der europ. turverz. u. Filmographie). – Filmische Quellen: Enno Operettentradition verpflichtet war, u. a. mit Patalas: L. aus Berlin. Filmporträt WDR 1992. – The Love Parade (1929) u. One Hour With You Robert Fischer: E. L. in Berlin. Von der Schönhauser (1932). Vier klass. L.-Filme der 1930er Jahre Allee nach Hollywood. Dokumentarfilm. In: E.-L.waren Dreiecksgeschichten, deren subtile Collection. Digital restaurierte Versionen mit neuIronie ihm das Attribut des »Lubitsch- en Musikeinspielungen. Mchn. 2006. Touch« einbrachten: Trouble in Paradise Hans Helmut Prinzler / Kathrin Klohs (1932), Design for Living (1933), Angel (1937) u. Bluebeard’s Eighth Wife (1938). 1935 verlor L. Lubliner, Hugo, auch: H. Bürger, * 22.4. die dt. Staatsbürgerschaft. Seine beiden be1846 Breslau, † 19.12.1911 Berlin. – rühmtesten Filme spielen in Europa: NinBühnenschriftsteller u. Erzähler. otchka (1939) beschreibt die Verführung einer überzeugten Kommunistin in Paris (Haupt- L. erlernte nach dem Umzug seiner Familie rolle: Greta Garbo), To Be Or Not To Be (1942) nach Berlin (1858) das Weberhandwerk u. handelt von Theaterschauspielern im von war in der Textilindustrie tätig. Seit 1873 Deutschen besetzten Warschau u. ist eine lebte er als freier Schriftsteller. Wie andere tragikom. Reflexion über das Verhältnis von erfolgreiche Bühnenautoren bzw. -firmen der Spiel u. Realität. In seinen letzten Lebens- Gründerzeit versorgte L. teils allein, teils in

Lublinski

Ko-Autorschaft das Publikum mit positivoberflächlicher Theaterunterhaltung, bezog dabei auch Zeitmoden wie psychologisierende, unter Ibsens Einfluss in Berlin sich verbreitende Darstellungsmuster ein. Nach Anfängen mit Schwänken ging er zum Gesellschafts- u. Sittenstück in Form des Lustspiels über (u. a. Der Frauenadvokat u. Die Modelle des Sheridan, ersch. u. d. T. Theater. Bln. 1876). L.s auf Tageserfolge gerichtete Produktionen sind geprägt vom appellativen Gestus des »Tugend erhält den gerechten Lohn« (in Geldwert). In Der kommende Tag (Bln. 1891) behandelt er die von Kaiser Wilhelm II. begonnene Schulreform: Fortbildungsschulen für Arbeiter als Vermittlung von sozialer u. kaisertreuer Lösung. L.s die polit. u. sozialen Verwerfungen der Reichshauptstadt kaum berührende Romane unter dem Obertitel Berlin im Kaiserreich: Die Gläubiger des Glücks u. Die Frau von neunzehn Jahren (Breslau 1886/87) stehen in ihrem provinziell-gemüthaften Zugriff fern dem frz. Vorbild. Weitere Werke: Dramat. Werke. 4 Bde., Bln. 1881/82. – Der Jourfix. Lpz. 1892 (Lustsp.). – Der Roman eines anständigen Mädchens. Bln. u. a. 1899. Literatur: Beate-Ursula Endriss: L. In: NDB. – Goedeke Forts. Christian Schwarz / Red.

Lublinski, Samuel, * 18.2.1868 Johannisburg (Pisz)/Ostpreußen, † 25.12.1910 Weimar. – Journalist, Dichtungstheoretiker, Religionsphilosoph, Dramatiker. Nachdem L., aus jüd. Familie stammend, das Gymnasium nach beendeter Obersekunda verlassen hatte, trat er als Lehrling in ein wiss. Antiquariat in Verona ein. 1892–1895 arbeitete er in einer Heidelberger Buchhandlung, zog dann nach Berlin, wo er zunächst als Journalist tätig war, bis er sich als freier Schriftsteller mit Religionsphilosophie u. Literaturkritik befasste. Mit seinem ersten Buch Jüdische Charaktere bei Hebbel, Grillparzer und Otto Ludwig (Bln. 1899) beabsichtigte L., die Dramen dieser Autoren »aus dem Gesichtswinkel eines jüdischen Temperaments« zu analysieren (S. 1). Auch später, nachdem er sich vom Zionismus

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abgewandt hatte, blieb er an religiösen Fragen interessiert. In seinen Werken Die Entstehung des Christentums aus der antiken Kultur u. Das werdende Dogma vom Leben Jesu (beide Jena 1910) bemüht er sich um den »Nachweis, daß von der Existenz eines historischen Jesus nicht die Rede sein kann«. In Anlehnung an Nietzsche erklärte er jegl. Transzendenz für menschl. Erfindung, wies ihr aber gleichzeitig eine entscheidende, kulturbildende Kraft zu, die er in seiner eigenen Zeit vermisste. L. war sowohl vom naturwiss. Determinismus (Charles Darwin. Eine Apologie und eine Kritik. Lpz. 1905) als auch vom Positivismus stark beeinflusst. Vor allem in seinen literarhistor. Schriften versuchte er als einer der ersten, einen literarsoziolog. Ansatz zu finden (Die Bilanz der Moderne. Bln. 1904. Tüb. 1974. Der Ausgang der Moderne. Dresden 1909. Tüb. 1976). Ebenso wie in seinen religionsphilosoph. Schriften ging es ihm v. a. darum, durch krit. Analyse eine »Kulturerneuerung« einzuleiten. Mit seinen eigenen histor. Dramen (Der Imperator. Dresden 1901. Hannibal. Dresden 1902. Elisabeth und Essex. Bln. 1903. Peter von Rußland. Mchn. 1906. Gunther und Brunhild. Bln. 1908. Kaiser und Kanzler. Lpz. 1910) glaubte er, den Weg zur Anknüpfung an Schillers Dramatik gefunden zu haben. Weitere Werke: Lit. u. Gesellsch. im 19. Jh. 4 Bde., Bln. 1899–1900. – Die Entstehung des Judentums. Eine Skizze. Bln. 1903. – Vom unbekannten Gott. Dresden 1904. – Holz u. Schlaf. Ein zweifelhaftes Kapitel Literaturgesch. Stgt. o. J. [1905]. – Die Humanität als Mysterium. Jena 1907. – Teresa u. Wolfgang. Bln. 1912. – Nachgelassene Schr.en. Hg. Ida Lublinski. Mchn. 1914. Literatur: Andreas Wöhrmann: Das Programm der Neuklassik. Die Konzeption einer modernen Tragödie bei Paul Ernst, Wilhelm v. Scholz u. S. L. Diss. Ffm. 1979. – Renate Heuer: S. L. In: NDB. – Gotthart Wunberg: Jahrhundertwende. Studien zur Lit. der Moderne. Tüb. 2001, S. 231–257. – Maurizio Pirro: Die Trauerspiele S. L.s im Kampf um eine Kultursynthese der Moderne. In: Akten des XI. Internat. Germanistenkongresses Paris. Bd. 11, Bern u. a. 2007, S. 361–365. Dagmar Schalliol / Red.

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Lucianus Montifontanus, bürgerlich: L. Marenth, * um 1630 Schruns/Vorarlberg, † 4.3.1716 Bregenz. – Kapuzinerprediger.

Lucidarius u. Gnaden-Quell. Konstanz 1674. – Ecclesia inter ecclypses indeficiens [...]. 3 Tle., Konstanz 1709–16. Literatur: Elfriede Moser-Rath: Predigtmärlein der Barockzeit. Bln. 1964, S. 93–107. – Kat. gedr. deutschsprachiger kath. Predigtslg.en. Hg. Werner Welzig. Bd. 1, Wien 1984, S. 404 f.; Bd. 2, Wien 1987, S. 699 f. (Bibliogr.). – E. Moser-Rath: Dem Kirchenvolk die Leviten gelesen [...]. Stgt. 1991, Register. Elfriede Moser-Rath † / Red.

L. trat am 19.5.1652 in den Kapuzinerorden ein u. hielt sich während der Studienjahre in Bludenz, Weil der Stadt u. Luzern auf. 1668 wurde er als erster Superior nach Oppenau/ Baden entsandt, wo er sich bei der Missionstätigkeit seines Ordens verdient gemacht haben soll; von 1677 an wirkte er als Guardian in Bregenz, Wangen u. Feldkirch. 1684 unternahm er eine Reise nach Wien, um vom Lucidarius. – Geistliche Enzyklopädie des Kaiser ein Empfehlungsschreiben an den 12. Jh. Papst betreffs der Seligsprechung des Or- Der L. gilt als das »erste Originalwerk in densbruders Fidelis von Sigmaringen zu er- deutscher Prosa« (Schröder). Ein anonymer bitten, ein Anliegen, das ihn auch in Rom Verfasser hat es wohl im letzten Drittel des vorsprechen ließ. Nach Ausübung diverser 12. Jh. nach mehreren lat. Quellen u. nicht Aufgaben, v. a. als Prediger in seiner Ordens- ohne Kenntnis der zeitgenöss. Geistlichenprovinz, erbat er sich 1704 die Enthebung dichtung aus benediktinisch-monast. Geist u. von allen Ämtern, um sich ganz seinen betont naturwissenschaftlich-rationalist. InSchriften widmen zu können. teresse für Laien konzipiert. Neben zahlreichen Publikationen zu Ehren Die Gesamtanlage des Werks mit seinen verdienter Ordensbrüder sowie Heiligenviten drei Büchern, in Dialogform verfasst, ist im brachte L. eine vierteilige lat. Predigtsamm- Groben dem Elucidarium des Honorius Aulung (Concionum moralium [...] cursus integer gustodunensis nachgebildet. Wesentlich ist [...]. Kempten u. a. 1688–91) zum Druck, die trinitar. Sicht, die in heilsgeschichtl. ferner vier Folianten dt. Kinderlehrpredigten Zeitrahmen die Welt (Kosmologie), die nach dem Katechismus des Petrus Canisius, Christenheit (Ekklesiologie) u. das jenseitige Geistliches Kinder-Spill (Konstanz 1704–12. Leben (Eschatologie) auf die drei göttl. PerAugsb. 21730). Eine Auswahl erschien noch sonen Vater, Sohn u. Hl. Geist bezieht. Mit 1908 in Buffalo. In Hinblick darauf, dass L. diesem originären Aufriss bietet der L. die seine Predigten zwar nicht nur für Kinder, erste systemat. Lehre von Gott, von der Welt wohl aber für das »gemeine Volk« konzipiert u. vom Heil des Menschen in einfacher dt. hat, wirken sie anspruchsvoll u., gemessen Prosasprache. Das erste Buch handelt über am oft recht heiteren Predigtstil seiner Gott, Himmel, Hölle, Paradies u. v.a. über die Amtsbrüder, eher trocken. Außer wenigen »Ordnung der Welt«. Zugrunde liegt das Fabeln im Text brachte L. am Ende jeder der Elementenschema, das in den geografischen, 360 Predigten ein Exemplum aus geistl. meteorolog., astronom. u. medizinisch-gyQuellen. Von L. stammt zudem eine botan. näkolog. Fragen stark nach der Imago mundi Schrift: die Newe Garten-Lust [...]. Welchem des Honorius u. insbes. nach der Philosophia beygesetzt: Ein newer Kuchen- u. Kraut-Garten mundi des Wilhelm von Conches ausgeweitet (Ulm 1698 u. ö.). Ob die ihm in älteren Bi- wird. Der Struktur u. der materialen Gebliografien zugeschriebene Neue Baum- Kü- wichtung nach hat das erste Buch den Chachen- und Blumenlust (Kostnitz 1698) tatsäch- rakter eines naturphilosoph. Traktats, ein lich aus seiner Feder stammt, ist nicht gesi- Hinweis darauf, in welchem Maße der unbekannte Verfasser dem Programm der »natürchert. Weitere Werke: Probatica sacra cisarulana [...]. lichen« Welterklärung der Schule von CharKonstanz 1674. Dt. u. d. T.: Leben u. Marter deß tres verpflichtet ist. Bemerkenswert ist, dass gottseeligen Capuciners P. Fidelis v. Sigmaringen die Mitte des 13. Jh. entstandene Göttinger under dem Titul Hl. Vor-Arlenbergischer Wunder- Handschrift des L. (SUB, 28 Cod. Ms. theol.

Lucidarius

101n Cim) die älteste in einem dt. Buch überlieferte Weltkarte enthält. Das zweite Buch gibt zuerst eine kurze Lehre von der Erlösung u. der hl. Christenheit u. widmet sich dann breit den Bedeutungen liturg. Handlungen u. Gebräuche (Sieben Tagzeiten, Messe, Kirchenjahr) in der Hauptsache nach De divinis officiis des Rupert von Deutz. Das dritte Buch bringt im engen Anschluss an die Darstellung des Elucidarium die Eschatologie mit den Themen Tod, Fegefeuer, Hölle, Weltuntergang, Jüngstes Gericht u. ewige Seligkeit. Nach den Angaben des gereimten Prologs A, über dessen Priorität Jahrzehnte lang ein heftiger Forschungsstreit tobte (vgl. Steer u. Gottschall/Steer vs. Bumke u. Bertelsmeier-Kierst), hat Herzog Heinrich der Löwe († 6.8.1196) den L. in Auftrag gegeben u. ihn von seinen Kaplänen nach lat. Vorlagen in Prosa u. nicht, wie traditionell, in Versen ausarbeiten lassen, denn »sie ensolden niht schriben wan die warheit, alz ez ze latine steit«. Außergewöhnlich ist die reiche Überlieferungs- u. Wirkungsgeschichte des L. Früh schon ging Buch 3 verloren. Starken Einkürzungen war das zweite Buch ausgesetzt. Ohne nennenswerte Änderungen wurde hingegen Buch 1 tradiert. Rd. 100 erhaltene dt. Handschriften, zahlreiche Übersetzungen u. unzählige Druck zeugen von einer unglaubl. Präsenz des Werks weit über das MA hinaus. Der erste Druck, veranstaltet im Benediktinerkloster St. Ulrich u. Afra in Augsburg, stellte nach Handschriftenvorlagen die urspr. Drei-Buch-Version wieder her. Von diesem ausgehend, erlebte der L. in der Neuzeit eine Verbreitung ohne Beispiel: 1479–1806 wurde er 82-mal aufgelegt. Jacob Cammerlander hat ihn etwa 1535 in protestant. Geiste umgearbeitet: Er strich insbes. liturg. u. theolog. Textpassagen, die reformatorischer Lehre u. Praxis widersprachen. Mehrfache Redigierungen bis 1655 folgten. Der letzte Druck von 1806, auf das Format eines Taschenbuchs geschrumpft, nennt den L. in germanisierender Absicht, aber durchaus mit dem im L.Prolog selbst genannten Terminus »erluchtere« (V. 3) übereinstimmend, einen »Erleuchter der Teutschen«. Nachweisbar sind auch Übertragungen ins Dänische, Mittel-

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niederländische, Tschechische u. Russische. Kaum erforscht ist der literar. Einfluss des L. Erste Spuren finden sich bereits im Parzival Wolframs von Eschenbach (Nellmann). Er reicht jedenfalls weit über die Zeit des Spieß’schen, von Goethe benutzten Faustbuches (Ffm. 1587) hinaus, das dem L. einen Großteil seines Naturwissens verdankt. Ausgaben: L. aus der Berliner Hs. Hg. Felix Heidlauf. Bln. 1915 (Ndr. 1970). – Dagmar Gottschall u. Georg Steer (Hg.): Der dt. L. Bd. 1: Krit. Text nach den Hss., Tüb. 1994 (dazu Rez. v. Joachim Bumke. In: PBB 117, 1995, S. 329–334). – Marlies Hamm, Der dt. L. Bd. 3: Komm., Tüb. 2002. – Nachdrucke von Inkunabeln und Frühdrucken: Apollonius v. Tyrus. Griseldis. L. Mit einem Nachw. v. Helmut Melzer u. Hans-Dieter Krender. Hildesh. 1975 (Druck v. Johannes Bämler. Augsb. 1479). – Karl Simrock (Hg.): Die dt. Volksbücher 13. Basel 1892. Neudr. Hildesh. 1974, S. 373–442 (Druck v. Johannes Schönsperger. Augsb. 1491; modernisiert). – Volksbücher v. Weltweite u. Abenteuerlust. Bearb. v. Franz Podleiszek. Bln. 1936. Neudr. 1964, S. 99–149 (Text v. Cammerlander, Straßb. ca. 1535). Literatur: Karl Schorbach: Studien über das dt. Volksbuch L. Straßb. 1894. – Felix Heidlauf: Das mhd. Volksbuch L. Diss. Bln. 1915. – Edward Schröder: Die Reimvorreden des dt. L. In: Göttinger Gelehrte Nachrichten (1917), S. 153–172. – Marlies Dittrich: Zur ältesten Überlieferung des dt. L. In: ZfdA 77 (1940), S. 218–255. – Georg Steer: L. In: VL. – Ders.: Geistl. Prosa. In: Die dt. Lit. im SpätMA. Hg. Ingeborg Glier. Tl. 2, Mchn. 1987, S. 347–350. – Ders.: Der dt. L. – ein Auftragswerk Heinrichs des Löwen? In: DVjs 59 (1990), S. 1–25; DVjs 64 (1995), S. 634–665. – Joachim Bumke: Heinrich der Löwe u. der L.-Prolog. In: DVjs 64 (1995), S. 603–633. – Marlies Hamm: Wer war Herzog Heinrich? Der L. u. die Entstehung des A-Prologes. In: ZfdA 131 (2002), S. 290–307. – Christa Bertelsmeier-Kierst: Fern v. Braunschweig u. fern v. ›herzogen heinriche‹? Zum A-Prolog des L. In: ZfdPh 122 (2003), S. 20–47. – Eberhard Nellmann: Der L. als Quelle Wolframs. In: ZfdPh 122 (2003), S. 48–72. – Helgard Ulmschneider: Von der ordenunge dirre welte. Zur ältesten Weltkarte in einem deutschsprachigen Text, der ›mappa mundi‹ im L. In: Vom vielfachen Schriftsinn im MA. FS Schmidtke. Hg. Freimut Löser u. Ralf G. Päsler. Hbg. 2005, S. 579–605. – Aktuelle Überlieferungsübersicht im Handschriftencensus: http:// admin.marburger-repertorien.de/admin/werke/233. Georg Steer / Jürgen Wolf

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Lucke

Lucka, Emil, * 11.5.1877 Wien, † 15.12. reihe des Bezirksmuseums der Josefstadt, H. 3, 1941 Wien; Grabstätte: ebd., Zentral- 1977). Herbert Ohrlinger / Red. friedhof. – Erzähler, Dramatiker, Lyriker, Essayist. Lucke, Hans, * 25.4.1927 Dresden. – Dra»Mein äußeres Leben besitzt nichts Bemer- matiker, Drehbuchautor, Verfasser von kenswertes«, bekannte der väterlicherseits Biografien u. Reisebüchern. aus einer Prager jüd. Kaufmannsfamilie stammende L. in einer autobiogr. Skizze (in: Das literarische Echo, H. 20, 1918). Nach dem abgebrochenen Studium der Kunstgeschichte u. Philosophie in Wien debütierte er 1903 mit den stilistisch der Romantik verpflichteten Dichtungen Sternennächte (Wien) u. Gaia, das Leben der Erde (Lpz.). Zwei Jahre vorher war L., der als Bankbeamter seinen Unterhalt verdiente, vom jüdischen zum protestant. Glauben konvertiert. Durch den Tristan-Roman Isolde Weißhand (Bln. 1909) wurde er einem breiten Publikum bekannt u. ständiger Mitarbeiter der »Neuen Freien Presse«. Der Roman Eine Jungfrau (Bln. 1909) dokumentiert L.s Jugendfreundschaft mit Weininger, dem er 1905 eine Verteidigungsschrift (Otto Weininger. Sein Werk und seine Persönlichkeit. Wien) gewidmet hatte. In L.s epischem (Das Brausen der Berge. Bln./Wien 1918. U. d. T. Fremdlinge. Graz 1930; Anton-Bruckner-Roman) wie essayistischem (Grenzen der Seele. Bln. 1916) Werk klingt der »Glaube an die Verbindung von deutscher Seele und den ursprünglichen Kräften der Natur« an, der ihn in die Nähe völkischen u. antisemit. Schrifttums rückte. Seinen dramat. Arbeiten (Die Verzauberten. Wien/Lpz. 1917. Die Mutter. Mchn. 1918) war kein Erfolg beschieden. Trotz der scheinbaren Nähe zu NS-Gedankengut konnte L. nach dem »Anschluss« 1938 nicht mehr publizieren. Sein umfangreiches Werk wurde nach 1945 kaum rezipiert. Weitere Werke: Tod u. Leben. Bln. 1907 (R.). – Winland. Novellen u. Legenden. Wien 1912. – Die drei Stufen der Erotik. Bln. 1913 (kulturphilosoph. Ess.). – Heiligenrast. Bln. 1919 (R.). – Dostojewski. Stgt. 1924 (Biogr.). – Inbrunst u. Düsternis. Ein Bild des alten Spaniens. Stgt. 1927 (kulturhistor. Schr.). – Der Impresario. Wien/Lpz./Zürich 1937 (R.). Literatur: Viktor Suchy: L. In: NDB. – E.-L.Gedächtnisausstellung zum 100. Geburtstag des Dichters u. Philosophen. Wien 1977 (= Schriften-

L., Sohn eines Architekten, wurde nach einem Semester Schauspielstudium 1945 als Soldat eingezogen u. kehrte 1946 aus sowjet. Kriegsgefangenschaft zurück. Danach war er als Darsteller u. Regisseur an verschiedenen DDR-Theatern tätig (Görlitz, Zittau), bis er über das Staatstheater Dresden an das Deutsche Theater in Ostberlin kam. 1973–1977 war er Regisseur am Volkstheater Rostock, seither ist er freier Schriftsteller. L. lebt u. arbeitet in Mellingen in der Nähe von Weimar. Er wurde 1958 mit dem Lessing-Preis u. 1986 mit dem Theodor-Körner-Preis der DDR ausgezeichnet. Als Autor trat L. hervor mit Fanal (Urauff. Dresden 1953), einem Schauspiel um den kommunistisch geführten Hamburger Aufstand von 1923. 1954 entstand das seinerzeit viel gespielte Kriminalstück Kaution (Urauff. Dresden 1955), dessen Handlung in den USA spielt u. mit politisch-propagandistischer Gesellschaftskritik durchsetzt ist. L. erweist sich als versierter Beherrscher traditioneller Dramaturgie, der mit dem Faschismus abrechnet (Der Keller. Urauff. Dresden 1957; Motiv des Überläufers zur Sowjetarmee), DDR-Alltag u. Kollektivbildung behandelt (Mäßigung ist aller Laster Anfang. Bln./DDR 1969), aber auch das »kulturelle Erbe« (Stadelmann. Urauff. Weimar 1983. Gedr. in: Theater der Zeit, H. 4, 1983; Komödie um Goethes Kammerdiener) mit Geist u. handwerkl. Geschick satirisch durchleuchtet. Seit den 1990er Jahren befasst sich L. in Reisebüchern u. biogr. Darstellungen intensiv mit Goethe, seinem Umfeld u. Personen seiner Zeit (Goethes Weimar. Hbg. 1991; Reisebuch, zus. mit Irina Kaminiarz. Großherzog Carl Alexander von Sachsen-Weimar. Ein deutscher Fürst zwischen Goethe und Wilhelm II. Limburg 1999; Biogr.) u. gibt Bildbände über seine thüring. Heimat heraus, die z.T. mehrfach aufgelegt wurden (Thüringen. Hbg. 1993. Neuausg. 2002. Klassisches Weimar / Classical

Luckner

Weimar. Hbg. 1993. 2., überarb. Aufl. 1997. 6 2007; jeweils zus. mit I. Kaminiarz u. Toma Babovic´). Weitere Werke: Taillenweite 68. Schwank in drei Akten. Bln./DDR 1953. – Satanische Komödie. 1962. Urauff. Volksbühne Ostberlin 1974. – Der Krankenschein. 1975 (Fernsehsp.). – Die eigene Haut. Urauff. Rostock 1976. – Das Sommerhaus. 1976 (Fernsehsp.). – Die Leute v. Züderow. 1984 (Fernsehserie). – Schmierentheater. In: Theater der Zeit, H. 12 (1985). Urauff. 1986. – Ein Toter mit den Füßen in Berlin. Erfurt 1993 (Kriminalr.). Literatur: Werner Mittenzwei (Hg.): Theater in der Zeitenwende. Bd. 2, Bln./DDR 1972, S. 113–117. – Hans-Rainer John: Drei Fragen an H. L. In: Theater der Zeit, H. 12 (1985).

534 Literatur: Heinrich-Christian Warnke: Das war Graf L. Hbg. 1967. – Carl Ruhen: The Sea Devil. The Controversial Cruise of the Nazi Emissary v. L. to Australia and New Zealand in 1938. Kenthurst 1988. – Ge´ rard A. Jaeger: Luckner ou le roman vrai d’un corsaire du XXe sie` cle. Grenoble 1995. – Norbert v. Frankenstein: ›Seeteufel‹ F. G. L. Wahrheit u. Legende. Hbg. 1997 (Biogr.). – Hans D. Schenk (Hg.): G. L. ›Seeadler‹. Das Kriegstgb. einer berühmten Kaperfahrt. Hbg. 1999. – James N. Bade: V. L.: A Reassessment. Count F. v. L. in New Zealand and the South Pacific 1917–19 and 1938. Ffm. u. a. 2004. Hartmut Dietz / Red.

Ludaemilia Elisabeth, Gräfin von Schwarzburg-Rudolstadt, * 7.4.1640 HeiGunnar Müller-Waldeck / Christine Henschel decksburg bei Rudolstadt, † 12.3.1672 Luckner, Graf Felix von, * 9.6.1881 Dres- Heidecksburg bei Rudolstadt. – Liederden, † 13.4.1966 Malmö; Grabstätte: ebd. dichterin. – Verfasser von Erlebnis- u. Reiseberich- L. wuchs mit Gräfin Aemilia Juliane zu Barby ten. in der Atmosphäre verdichteter Frömmigkeit L. floh mit 13 Jahren aus der Schule u. ging zur See; nach einem Abenteurerleben kehrte er nach Deutschland zurück, wo er 1910 das Kapitänspatent erwarb. Berühmt wurde L. im Ersten Weltkrieg; seine Kaperfahrt mit dem getarnten Hilfskreuzer »Seeadler« schildert, mit Motiven des Abenteuerromans, Seeteufel. Abenteuer aus meinem Leben (Lpz. 1921. Biberach/Riß 1958. Mchn. 2002). Während seiner Reise in die USA (1926–1928) warb L. in vielen Vorträgen um Verständnis für Deutschland u. erhielt zahlreiche Ehrungen. In seiner Autobiografie Aus siebzig Lebensjahren (Biberach/Riß 1955) tritt, wohl den Bedürfnissen der 1950er Jahre entsprechend, das Bild des Abenteurers zugunsten der Darstellung des Adeligen zurück. L. erzählt kunstlos, am mündl. Vortrag orientiert. Die zahlreichen Neuauflagen seiner Bücher dokumentieren die Kontinuität wilhelmin. Mentalität bis in die Ära Adenauer. Weitere Werke: Seeteufel erobert Amerika. Lpz. 1928. Neudr. 1937. Biberach/Riß 1955. – Ein Freibeuterleben. Dresden 1938. – Seeteufels Weltfahrt. Alte u. neue Abenteuer. Gütersloh 1951. Mchn. 2003. – Aus dem Leben des ›Seeteufels‹. Briefe u. Aufzeichnungen. F. G. v. L. Hg. Wolfgang Seilkopf. Halle/S. 2000.

des Rudolstädter Hofs auf, erfuhr eine gelehrte Bildung u. stand zeitweilig in lat. Briefwechsel mit Johann Gerhard. Der Vater starb 1646; bis zum Tod der Mutter 1670 lebten L. u. ihre Schwestern auf deren Witwensitz Schloss Friedensburg. Im Dez. 1671 ging L. ein ihrer Frömmigkeit widerstrebendes Verlöbnis mit Graf Christian Wilhelm von Schwarzburg-Sondershausen ein. Ihre 208 geistl. Lieder wurden postum von Aemilia Juliane herausgegeben u. vereinzelt in die Gesangbücher aufgenommen. Formal einfach, unter dem literar. Einfluss von Johann Scheffler u. Opitz, entspringen sie frühpietistischer Innerlichkeit u. gehören als ein Höhepunkt zum Kirchenliedschaffen des Kreises um Ahasver Fritsch. Ausgaben: Die Stimme der Freundin, das ist: Geistl. Lieder [...]. Rudolphstadt 1687. Neuausg. hg. v. Wilhelm Thilo. Stgt. 1856. – Fischer-Tümpel, Bd. 5, S. 458–480. Literatur: Bibliografie: VD 17. – Weitere Titel: Justus Söffing: Unverwelckl. Myrten-Krone [...]. Tl. 2, Rudolstadt 1672, S. 57–80 (Leichenpredigt). – Monumentum pietatis [...]. Positum a Ministerio ecclesiastico [...]. Rudolstadt 1672. Internet-Ed.: VD 17. – Wilhelm Thilo: L. E., Gräfin v. S. Bln. 1855. – Brigitte E. Zapp Archibald: L. [...] and Aemilia-Juliane [...]. Diss. University of Tennessee 1975. Jochen Bepler / Red.

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Luder, Peter, * um 1415 Kislau/Kraichgau, † 1472 Wien. – Philologe u. Mediziner. L. immatrikulierte sich im Wintersemester 1430/31 (Vermerk: »pauper«) an der Universität Heidelberg. Dem scholast. Unterrichtskanon entzog er sich bald u. machte sich spätestens 1434 auf den Weg nach Italien. An einen kurzen Rom-Aufenthalt schlossen sich lange Wanderungen durch Italien, Reisen bis nach Griechenland u. Studien in den Zentren des ital. Humanismus an. Die humanist. Kenntnisse in Grammatik, Poesie u. Rhetorik erwarb L. v. a. in Ferrara bei dem berühmten Guarino da Verona. Ein 1444 in Venedig ausgestelltes Notariatsdiplom bestätigt dies. Die in den Diensten des Dogen Francesco Foscari erprobten Kenntnisse in der lat. Wortkunst führten 1445 zur Verleihung des Ehrentitels »Scutifer« (Schildträger). Nachdem L. sich auch in der Medizin umgetan hatte, kehrte er 1456 nach Heidelberg zurück u. erhielt von Friedrich dem Siegreichen einen Ruf an die kurpfälz. Universität, um dort studia humanitatis zu lehren u. »die Reinheit der [...] lateinischen Sprache [...] wiederherzustellen«. L.s Lehrtätigkeit begann am 15.7.1456 mit einer traditionsbegründenden, programmat. Inauguralrede zur Empfehlung von Geschichtsschreibung, Rede- u. Dichtkunst (dazu Barner 1987). Vorlesungen über Valerius Maximus, die Satiren des Horaz, Senecas Tragödien, Terenz, Ars amatoria u. Remedia amoris des Ovid sowie über die Rhetorik schlossen sich an. Für die Unterstützung Friedrichs bedankte sich L. 1458 mit einer Lobrede auf ihn u. das Wittelsbacher Haus (dazu Müller 1989). Die darin enthaltene rühmende Beschreibung Heidelbergs, Auftakt einer bis in die Gegenwart führenden literar. Reihe, schloss sich dem Typus nach an bekannte ital. Beispiele des Städtelobs an. Diese Rede wurde von Matthias Widman von Kemnat (dazu Backes 1992) übersetzt u. in seine Deutsche Chronik übernommen. 1460 entstanden die beiden längsten Gedichte L.s, darunter die bekannte Elegia ad Panphilam (72 Distichen). Obwohl es L. nicht an namhaften Fürsprechern an der Universität fehlte, verließ er Heidelberg 1460 u. lehrte dann an verschiedenen Orten: im Sommer 1460 in

Luder

Ulm, ab dem Wintersemester 1460/61 in Erfurt, 1462 in Leipzig, 1464–1468 in Basel, hier erstmals als besoldeter Professor, wobei zu der Tätigkeit des humanist. Lehrers jetzt noch die eines Mediziners u. Arztes hinzukam, nachdem L. 1462–1464 sein medizinisches Studium in Padua wiederaufgenommen u. mit dem Doktorgrad (2.6.1464) abgeschlossen hatte. 1468 trat er in diplomat. Dienste für Herzog Sigismund von Tirol ein. Ab 1470 wirkte L. wieder als Lehrer, jetzt an der Universität Wien, der letzten Station eines rastlosen Lebens, das ihm die Bezeichnung »Wanderhumanist« eingebracht hat. Wichtiger als L.s Werke sind sein humanistischer Impetus u. sein erfolgreiches Wirken im Dienst der neuen Ideen. Zu seinen zahlreichen Schülern, aus deren Kreis sich mitgeschriebene Vorlesungen L.s erhalten haben, gehören so bekannte dt. Frühhumanisten wie Stephan Hoest, Matthias Widman von Kemnat, Hartmann Schedel u. Albrecht von Bonstetten. Literatur: Wilhelm Wattenbach: P. L., der erste humanist. Lehrer in Heidelberg. In: Ztschr. für die Gesch. des Oberrheins 22 (1869), S. 33–127 (mit Texted.en). – Ders.: P. L.s Lobrede auf Pfalzgraf Friedrich den Siegreichen. Ebd. 23 (1871), S. 21–38. – Ludwig Bertalot: Humanist. Vorlesungsankündigungen in Dtschld. im 15. Jh. In: Ztschr. für Gesch. der Erziehung u. des Unterrichts 5 (1915), S. 1–24. – Gerhard Ritter: Die Heidelberger Univ. Bd. 1, Heidelb. 1936, S. 457–464. – Ders.: Aus dem Kreise der Hofpoeten Pfalzgraf Friedrichs I. In: Ztschr. für die Gesch. des Oberrheins N. F. 37, H. 2 (1923), S. 109–123. – Frank Baron: The Beginnings of German Humanism: The Life and Work of the Wandering Humanist P. L. Berkeley 1966. – Helmut Reinalter: Der Wanderhumanist P. L. u. seine Beziehungen zu Hzg. Sigmund v. Tirol. In: Mitt.en des Österr. Staatsarchivs 26 (1973), S. 148–167. – Eske Bockelmann: Die Metrikvorlesung des Frühhumanisten P. L. Hg. mit Einl. u. Komm. Wiesb. 1984 (mit Werkverz.). – F. Baron: P. L. In: VL. – Rudolf Kettemann: Heidelberg im Spiegel seiner ältesten Beschreibung. Heidelb. 1986. – Frank Baron: L. In: NDB. – Wilfried Barner: ›Studia toto amplectenda pectore‹. Zu P. L.s Programmrede vom Jahre 1456. In: Respublica Guelpherybytana. FS Paul Raabe. Amsterd. 1987, S. 227–251. – JanDirk Müller: Der siegreiche Fürst im Entwurf des Gelehrten. Zu den Anfängen eines höf. Humanismus in Heidelberg. In: Höf. Humanismus. Hg.

Ludewig August Buck. Weinheim 1989, S. 17–50. – Veit Probst: Petrus Antonius de Clapis (ca. 1440–1512). Ein ital. Humanist im Dienst Friedrich des Siegreichen v. der Pfalz. Paderb. 1989. – Martina Backes: Das literar. Leben am kurpfälz. Hof zu Heidelberg im 15. Jh. Tüb. 1992. – R. Kettemann: P. L. (um 1415–72). Die Anfänge der humanist. Studien in Dtschld. In: Humanismus im dt. Südwesten. Biogr. Profile. Hg. Paul Gerhard Schmidt. Stgt. 2 2000, S. 13–34. Bernhard Coppel / Wilhelm Kühlmann

Ludewig, Ludwig, Johann Peter (von), auch: Peter von Hohenhard, Ludovicus Petrus Giovanni, Pharamundus Chlodovaeus, * 5.8.1668 (julian. Kalender) Honhardt bei Schwäbisch Hall, † 7.9.1743 Halle. – Verfasser wissenschaftlicher u. journalistischer Schriften.

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burgisch-preuß. Ansprüche auf Schlesien ernannte ihn Friedrich II. 1741 auch noch zum Kanzler des Herzogtums Magdeburg. In nicht wenige Kontroversen verwickelt, veröffentlichte L. lateinisch u. deutsch Hunderte von Schriften zu staats-, lehens-, kirchen- u. privatrechtlichen, histor., literargeschichtl., numismat., tagespolit., gelegentlich auch philosoph. u. theolog. Themen (seine Opuscula Miscella, Halle 1720, illustrieren dieses Spektrum barocker Gelehrsamkeit), vielbändige Ausgaben historischer Quellen, zahlreiche Dissertationen u. seit 1629 ständig journalist. Beiträge in den »Wöchentlichen Hallischen Anzeigen«. Verheiratet seit 1701 mit der Arzttochter Anna Margarete Kühne (6 Kinder), erwarb er eine der umfangreichsten privaten Bibliotheken u. 1725–1730 drei Rittergüter.

L.s Vater Peter Ludwig war Pfleger des Literatur: Robert Skalnik: Der Publizist u. reichstädtisch schwäb. hallischen Amtes Journalist J. P. v. L. u. seine Gelehrten Anzeigen. Honhardt, seine Mutter Elisabeth Rosina geb. Diss. Mchn. 1956. – Notker Hammerstein: Jus u. Engelhardt stammte aus akademisch gebil- Historie. Gött. 1972, S. 169–204. – Bernd Roeck: L. deten schwäb. hallischen Ratsherrenfamilien. In: NDB. – Walther Ludwig: Der zweite Hallische Nach Besuch des dortigen Gymnasium Universitätskanzler J. P. v. L. Halle 1995. – Gottfried Wilhelm Leibniz: Sämtl. Schr.en u. Briefe. Bd. (1679–1689; Hallarum Nobilis ac Liberae S. R. I. I, 18, Bln. 2005, S. 442 f., 609–614 (Korrespondenz Civitatis Encomium, 1688) u. einer Deposition L.s mit Leibniz). – Flood, Poets Laureate, Bd. 3, an der Universität Tübingen (1686) studierte S. 1208–1210. Walther Ludwig L. in Wittenberg 1689–1692 (Magister 1690, P. L. C. 1692). Er war Schüler des Eloquenzprofessors Georg Caspar Kirchmaier u. des Ludolf von Sachsen, auch: L. CartusienJuristen Samuel Stryk, der ihn 1693 an die sis u. andere, * um 1300 in Norddeutschneue Universität Halle brachte (Academia villa land, † 10.4.1378 (1377) Straßburg. – Platonis cum nova Hallensium collata. Halle Theologe. 1693). Dort wurde er 1695 Professor der Logik u. Metaphysik (1697 beurlaubt zur Be- L. war zunächst Dominikaner u. erwarb den obachtung der Friedensverhandlungen von Titel eines Magisters der Theologie, ehe er Rijswijk), 1702 I. U. L., 1703 Professor der 1340 in die Kartause von Straßburg eintrat. Geschichte, 1704 kgl. preuß. Rat (er recht- 1343–1348 war er Prior der Koblenzer Karfertigte die Krönung Friedrichs I. durch den tause u. zog sich dann als einfacher Mönch in Tractatus de Auspicio Regum), Hofhistoriograf u. die Kartause in Mainz zurück. Sein LebensArchivar für das Herzogtum Magdeburg, ende verbrachte er in Straßburg, wo er hei1705 I. U. D., zusätzlich Professor der Rechte, ligmäßig starb. Prorektor u. Assessor des hallischen CollegiDer Kartäusertradition entsprechend bietet um Iureconsultorum, 1718 kgl. preuß. Ge- die Überlieferung von L.s lat. Werk keine heimer Rat, 1719 von Kaiser Karl VI. nobili- Hinweise auf dessen Entstehung. Um seine tiert (Erläuterung der Güldenen Bulle, 1716. beiden Hauptwerke Enarratio in Psalmos (EP) u. Nachdr. Hildesh. 2005), 1722 Kanzler der Vita Jesu Christi e quatuor Evangeliis et scriptoriUniversität, 1729 jurist. Professor primarius bus orthodoxis concinnata (VC) werden kleinere u. Praeses des Collegium Iureconsultorum. aszet. Schriften, wie das von Bonaventuras Nach seinen Publikationen für die branden- Lignum vitae angeregte geistl. Stundenbuch

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Flores et fructus arboris vitae Iesu Christi, sowie vielleicht in Koblenz gehaltene Predigten zum Kirchenjahr angeordnet, die jeweils unikal überliefert sind. L.s christologisch u. aszetisch-mystisch auf das Gebet ausgerichtete Psalmenexegese ist in zahlreichen Handschriften erhalten u. wurde 1491 von Wimpfeling herausgegeben. L.s Name verbindet sich jedoch im SpätMA u. darüber hinaus mit der VC, einem umfangreichen, zur meditativen Versenkung in das Leben Jesu anleitenden Werk, das den Verlauf der Heilsgeschichte in den Berichten der vier Evangelien u. der Apostelgeschichte bis Pfingsten vergegenwärtigt u. zu ihrem Ende im Jüngsten Gericht führt. L. schreibt aus dem Geist franziskan. Christusmystik: Seine Hauptquelle sind Ps.-Bonaventuras Meditationes vitae Christi; hinzu kommen andere franziskan. Schriften wie der Stimulus amoris u. Davids von Augsburg erster Novizentraktat. Die patrist. Exegese, meist vermittelt durch die Catena aurea des Thomas von Aquin, sowie frühmittelalterliche u. zeitgenöss. theolog. Literatur sind verarbeitet. Die große, bisher nicht ganz gesichtete lat. u. volkssprachl. Überlieferung der VC u. ihrer Bearbeitungen in Handschriften u. Drucken erweist das Werk als beliebtestes aszet. Buch bis ins 16. Jh. Kurz vor 1400 kompilierte ein Kartäuser vom Niederrhein Teile der VC u. der Meditationes vitae Christi zum sog. Bonaventura-Ludolphiaanse Leven van Jezus (in einer Handschrift wird es Michael de Massa OESA zugeschrieben), das im niederländischen, niederdt. u. mitteldt. Sprachraum in verschiedenen volkssprachl. Fassungen weit verbreitet war. Die VC hatte bes. Einfluss in den benediktin. Reformbewegungen des 15. Jh. in Österreich u. Süddeutschland sowie in der Devotio moderna. Vom 16. Jh. an erlangte sie noch größere Bedeutung in Frankreich u. Spanien; Ignatius von Loyola verarbeitete sie in seinen Exerzitien. Ausgaben: ›EP‹. Hg. Kartause Montreuil-surMer. 1891. ›VC‹. Hg. A.-C. Bolard, L.-M. Rigollot u. J. Carnandet. Paris/Rom 1865. Nachdr. 2006 (spätere Aufl. weniger brauchbar). – ›Flores et fructus‹. Hg. Walter Baier. In: Mysterium der Gnade. Hg. Heribert Roßmann u. Joseph Ratzinger. Regensb.

Ludolf von Sachsen 1975, S. 321–341. – Das Vorw. zum ›Leben Jesu Christi‹. Das Erbauungsbuch des Kartäusermönchs L. v. S. In: Geist u. Leben. Ztschr. für Aszese u. Mystik 61 (1988), S. 265–284. – Das Leben Jesu Christi. Ausgew. u. eingel. v. Susanne Greiner; aus dem Lat. übertragen v. ders. u. Martha Gisi. Einsiedeln/Freiburg 1994. Literatur: Walter Baier: L. In: Dictionnaire de spiritualité 9 (1976), Sp. 1130–1138. – Ders.: Untersuchungen zu den Passionsbetrachtungen in der ›VC‹ des L. 3 Bde., Salzb. 1977. – John J. Ryan: Historical Thinking in L. of Saxony’s ›Life of Christ‹. In: The Journal of Medieval and Renaissance Studies 12 (1982), S. 67–81. – W. Baier u. Kurt Ruh: L. In: VL (auch: Nachträge u. Korrekturen). – W. Baier: L. In: NDB. – Lawrence Hundersmarck: A Study of the Spiritual Themes of the Prayers of the ›VC‹ of L. de Saxonia. In: Kartäuserregel u. Kartäuserleben. Bd. 1, Salzb. 1984, S. 89–121. – Andreas Falkner: Was las Iñigo de Loyola auf seinem Krankenlager? Zum Prooemium der ›Vita Jesu Christi‹. In: Geist u. Leben. Ztschr. für Aszese u. Mystik 61 (1988), S. 258–264. – Manfred Gerwing: L. In: LexMA. – Hans-Josef Olszewsky: L. In: Bautz. – Rogelio García Mateo: La ›Vita Christi‹ de Ludolfo de Sajonia y los misterios de Cristo en los Ejercicios ignacianos. In: Gregorianum 81 (2000), S. 287–307. – Karl-Ernst Geith: Lat. u. deutschsprachige Leben Jesu-Texte. Bilanz u. Perspektiven der Forsch. In: JOWG 12 (2000), S. 273–289. – Dennis D. Martin: Behind the Scene: The Carthusian Presence in Late Medieval Spirituality. In: Nicholas of Cusa and His Age: Intellect and Spirituality. Essays Dedicated to the Memory of F. Edward Cranz, Thomas P. McTighe and Charles Trinkaus. Hg. Thomas M. Izbicki u. Christopher M. Bellitto. Leiden 2002, S. 29–62. – Marc Vial: Zur Funktion des ›Monotessaron‹ des Johannes Gerson. In: Evangelienharmonien des MA. Hg. Christoph Burger, August den Hollander u. Ulrich Schmid. Assen 2004, S. 40–72. – L. the Carthusian: ›VC‹. Introductory Volume. Salzb. 2007. – Walter S. Melion: Introduction: Meditative Images and the Psychology of Soul. In: Image and Imagination of the Religious Self in Late Medieval and Early Modern Europe. Hg. Reindert Falkenburg, ders. u. Todd M. Richardson. Turnhout 2007, S. 1–36. – URL: http://www.handschriftencensus.de/werke/2468. Sabine Schmolinsky

Ludolf

Ludolf, Hiob, ursprünglich: H. Leutholf, thüring. Lüdolff, * 15.6.1624 Erfurt, † 8.4.1704 Frankfurt/M. – Universalgelehrter, Autor lateinisch geschriebener wissenschaftlicher Werke zu u. über Äthiopien.

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1676 zog L. nach dem Tod seiner ersten Ehefrau Emilie Maria Dimpfer nach Frankfurt/M., wo er noch zweimal verheiratet war, u. widmete sich fortan ausschließlich seinen äthiop. Studien. Dort sind auch seine epochemachenden Werke (teils schon von seinem Schüler Johann Michael Wansleben/Vansleb in London zum Druck als erste Ausgabe vorbereitet) erschienen, die bis in die Zeit von August Dillmann (1823–1894) das europ. Wissen über Äthiopien u. seine Sprachen prägten. L.s deutsch geschriebene autobiogr. Skizzen dienten Christian Juncker als Grundlage für die erste lat. L.-Biografie (1710).

Der Begründer der Äthiopistik als wiss. Disziplin kam in einer traditionsreichen Erfurter luth. Familie zur Welt. Er besuchte Schulen u. die Universität in seiner Heimatstadt (1639–1645 Studium der Rechtswissenschaft u. Medizin). Sein Hauptinteresse galt jedoch den Sprachen. Im Laufe seines Lebens lernte u. beherrschte L. die meisten europ. (sogar Russisch, Polnisch, Finnisch), klassischen Werke (Titel gekürzt): Lexikon æthiopico-la(Griechisch u. Latein) u. schließlich auch ori- tinum. London 1661. Ffm. 21699. – Grammatica ental. Sprachen (Armenisch, Persisch, semit. æthiopica. London 1661. Ffm. 21702. Nachdr. HilSprachen, darunter v. a. das Äthiopische). desh. 1986. – Historia æthiopica. Ffm. 1681. – Ad Grundsätzlich war er Autodidakt, obwohl suam historiam æthiopicam antehac editam comKontakte zu sprachkundigen Professoren mentarius. Ffm. 1691. Appendices. Ffm. 1693/94. – nachzuweisen sind, z.B. zu Bartholomäus Grammatica linguae amharicæ. Ffm. 1698. Nachdr. Elsner, der ihm die semit. Sprachen näher- Hildesh. 1986. – Psalterium Davidis. Ffm. 1701. Literatur: Jürgen Tubach: L. In: Bautz. – Ders.: brachte. Später war L. als Hauslehrer – seit H. L. u. die Anfänge der Äthiopistik in Dtschld. In: 1648 beim schwed. Gesandten Baron Schering von Rosenhahn (Rosenhane) in Paris – u. Bibliotheca nubica et æthiopica 8 (2001), S. 1–47 (mit umfangreicher Bibliogr.). – Encyclopaedia im diplomat. Dienst tätig, dabei konnte er Aethiopica. Bd. 3, Wiesb. 2007, S. 601–603. seinen Sprachschatz verbessern u. erweitern. Piotr O. Scholz Seine Studien u. Reisen führten ihn in die Niederlande (Leiden, Utrecht), nach FrankLudus de Antichristo ! Tegernseer Lureich u. Italien. In Rom lernte er in dem kath. dus de Antichristo Hospiz von San Stefano de Mori äthiop. Mönche kennen, von denen bes. Abba¯ Go¯rgo¯ryo¯s (= Gregorios bzw. Gregorius), der in Ludwig Fürst zu Anhalt-Köthen, in der Äthiopien mit Jesuiten sympathisiert hatte u. Accademia della Crusca »L’Acceso«, in der das Land verlassen musste, für die weitere Fruchtbringenden Gesellschaft (= FG) Entwicklung seiner äthiop. Studien wichtig »Der Nährende«, * 17.6.1579 Dessau, war. Gregorios kam sogar nach Erfurt (1652), † 7./17.1.1650 Köthen. – Regierender wo L. seit 1651 im Dienste des Landesherren Fürst des Hl. Römischen Reichs; Dichter, Ernst I., des Frommen, Herzogs zu Sachsen- Philologe, Übersetzer, Herausgeber, 1617 Mitstifter der FG u. seit 1629 deren ÄlGotha u. Altenburg, stand. Die Zusammentester (nach dem Tod von Caspar von arbeit mit Gregorios war für den PrivatgeTeutleben). lehrten sehr fruchtbar u. fand auch beim Herzog großes Interesse. Es war die Zeit, in Der jüngste Sohn Fürst Joachim Ernsts von der man in Europa nach antiosmanischen Anhalt u. Eleonoras, geb. Herzogin von Allianzen suchte u. dabei sogar an Äthiopien Württemberg, wurde bei Hofe in Dessau erdachte. Dafür sprechen, leider nur fragmen- zogen, nach dem Tode seines Vaters unter der tarisch erhaltene, Briefe L.s (ca. 800 sind, ne- Vormundschaft seines ältesten (Halb-)Bruben einigen Tausenden, die sein Sohn ver- ders Johann Georg I. von Anhalt-Dessau. brannte, erhalten), u. a. mit Leibniz, u. seine Seine Peregrination durch Deutschland, die kleine Schrift De bello Turcico (Ffm. 1686). Niederlande, England u. Frankreich (Mai

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1596 bis Dez. 1597) u. darauf von Anhalt über die Schweiz u. Florenz bis nach Malta (April 1598 bis 8.3.1599) beschrieb L. in einer (unvollendeten) Reimchronik. Sie berichtet nicht mehr vom späteren Leben in Florenz (1599/ 1601), wo er am 11.7.1600 in die Accademia della Crusca durch die Vermittlung ihres Sekretärs Bastiano de’ Rossi, seines Sprachlehrers, aufgenommen wurde. L. arbeitete am ersten Crusca-Wörterbuch (1612) mit, versuchte auch später noch, zur zweiten Auflage (1623) beizutragen. Er lernte den toskan. Landbau kennen, dessen Methoden er seit 1606 in Anhalt-Köthen anwandte. Überhaupt wird sein Hof als Pflegestätte ital. Sitten u. Sprache beschrieben. L. übersetzte nicht nur Wolfgang Ratkes Leitfaden Grammatica universalis ins Italienische (La Gramatica universale. Köthen 1619 u. 1620), sondern ließ auf seiner neuen Presse in Köthen auch andere ital. Werke drucken. Zum Schutz vor der röm. Inquisition veröffentlichte L. u. a. die von Tobias Adami geretteten Gedichte Tommaso Campanellas Scelta d’alcune poesie filosofiche ([Köthen] 1622) u. die philosoph. Dialoge Giovan Battista Gellis I capricci del bottaio ([Köthen] 1619) u. La Circe ([Köthen] 1619). Diese verdeutschte u. kommentierte der Fürst (z.T. mit Michael Wolf): Anmutige Gespräch Capricci del Bottaio genandt (Köthen 1619); Anmütige Gespräch/ La Circe genandt (Köthen 1620). Später sollten noch andere dt. Übertragungen folgen: Petrarcas Trionfi (Sechs Triumphi oder Siegesprachten. Köthen 1643) u. Virgilio Malvezzis biblisch-polit. Biografien (s. u.). Ungedruckt blieben L.s (verschollene) Verdeutschungen von Albertanos da Brescia De arte loquendi et tacendi, Stefano Guazzos Dialoghi piacevoli u. möglicherweise Machiavellis Libro della arte della guerra. Die Heimreise führte den Prinzen 1601/02 nach Venedig, Österreich, ins ungarische Feldlager u. über Prag wieder nach Dessau, woher er 1603/04 über Kassel erneut in die beiden Niederlande, nach England u. Frankreich zog. Am 31.10.1606 heiratete L. die reformierte Gräfin Amoena Amalia von Bentheim u. trat die Nachfolge in dem 1603 an ihn gefallenen Teilfürstentum Anhalt-Köthen an. Unter dem Einfluss von reformierten Gemahlinnen waren die Söhne des philippistisch gesinnten

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Fürsten Joachim Ernst, der das luth. Konkordienbuch nicht unterschrieben u. eine von Wittenberg unabhängige Hochschule in Zerbst gegründet hatte, in das Lager des europ. Calvinismus übergetreten – gegen den Widerstand der Lutheranerin Eleonora, die zwar in ihrem Briefwechsel theologisch mit ihren Söhnen disputierte, aber das Luthertum nur ihrer Töchter wahren konnte. 1605 beschlossen die Brüder die Einführung des Heidelberger Katechismus u. der pfälz. Agende. Wie L., der 1609 eine neue Kirchenordnung einführte, stießen seine Brüder auf den Widerstand von Adel u. Städten, von denen die Anhaltiner wegen der Verschuldung ihres Vaters abhängig blieben. L. u. Christian I. von Anhalt-Bernburg verzichteten 1611 auf den Gewissenszwang gegen luth. Pfarrer der Patronatskirchen. L.s Schulu. Kirchenordnung kursierte nur in Abschriften u. im Auszug (Form der Gebete und anderer Kirchendienste [...] des Fürstenthumbs Anhalt/ Cöthnischen Theils. Köthen 1629. 2 1643). L. veröffentlichte das Glaubens Bekentnüß/ Der Evangelischen Kirchen in Franckreich (Köthen 1639) u. den Kommentar Pietro Martire Vermiglis In libros Samuelis prophetae. In libros regum (Der Gekrönte David. Zerbst 1648), übertrug auch reformierte Erbauungsschriften, z.B. Simon Goulart: Le sage vieillard (Der weise Alte. Köthen 1643). Er arbeitete mit seiner zweiten Gemahlin Sophia Gräfin zur Lippe – die er am 12./22.9.1626 geheiratet hatte u. die ihm (nach dem Tode drei anderer Kinder) mit Wilhelm Ludwig (geb. 1638) einen Nachfolger schenkte – an der Übersetzung von Isaac Arnaulds Betrachtungen Le Mespris du monde (Die Verachtung der Welt. Köthen 1641). L. sammelte auch eigene u. fremde Lieder für den reformierten Gottesdienst u. die häusl. Andacht (Geistliche Lieder und Psalmen. 1638. Etzliche Schöne Gesänge. Köthen 1642) u. revidierte den gebräuchl. Liederschatz u. neuere Lieder in einem (verlorenen) Manuskript, aus dem Martin Milagius im Anhang zu Der Singende Jesaia (Bremen 1646) viele Stücke übernahm. Vor allem arbeitete er an einem großen Projekt deutscher bibl. Lehrdichtungen, von dem er nur Das Buch Hiob (Wittenb. 1638) veröffentlichen konnte. Andere Dichtungen auf alt-

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testamentar. Bücher liegen entweder nur in Handschriften vor (Der Psalter in Reimen; Sprüche Salomonis in gebundener rede) oder sind verschollen (1. u. 5. Buch Moses, Josephsgeschichte). Daneben übertrug L. auch polit. Biografien: Er vollendete die Denckwürdige Geschichte/ Des grossen Tamerlanis (Köthen 1639), welche Johann Joachim von Wartensleben nach Jean Du Bec-Crespins Histoire du grand Empéreur Tamerlanes verdeutscht hatte. Zus. mit Diederich von dem Werder überarbeitete er das von Wilhelm von Kalcheim gen. Lohausen 1638 übersetzte Werk Malvezzis (Il Davide perseguitato): Der Verfolgete David (Köthen 1643). Erst in der Revision erreichte das philosoph. Buch Lohausens Ziel, »so rein und gut Deütsch/ ohne einmischung frembder wörter/ als müglich« zu schreiben. L. selbst gelang in seinen eigenen Malvezzi-Übertragungen Der Romulus, und Tarquinius der Hoffertige (Zerbst 1647; ital. Il Romulo bzw. Il Tarquinio superbo) im Deutschen die Nachahmung tacitist. Prosa. L. erwies sich auch als ein kluger polit. Berater seiner Brüder u. Neffen, ließ in seinem Duodezfürstentum keine Hexen verfolgen, ergriff auch nie selbst Waffen – im Unterschied zu anderen Anhaltinern u. namentlich zu seinem Bruder Christian I., dem Leiter der antihabsburg. Politik der Kurpfalz –, wurde jedoch von König Gustav II. Adolf von Schweden 1631 mit der Statthalterschaft in den Bistümern Magdeburg u. Halberstadt betraut. Nach manchem, auch konfessionellem Streit mit Axel Oxenstierna, dem Leiter der schwed. u. protestant. Kriegführung in Deutschland, räumte er 1635 notgedrungen seine Position u. trat mit dem Fürstentum Anhalt dem Prager Frieden bei. Die am 24.8.1617, im Gedenkjahr der Reformation, in Weimar von reformierten u. luth. Hofleuten, namentlich Teutleben (Nr. 1), L. (Nr. 2) u. seinen sachsen-weimarischen Neffen, gegründete Fruchtbringende Gesellschaft (= FG) entwickelte sich im Dreißigjährigen Kriege unter der Führung des Nährenden zu einer iren. Vereinigung, die sich auch für Katholiken öffnete. Sie warb zunehmend in ihren Schriften für den polit. Frieden, nahm – auch im Bemühen um gelinde Behandlung durch durchziehende Truppen –

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viele Führer u. Offiziere verfeindeter Heere auf, z.B. Oxenstierna, Banér, Arnim, den Großen Kurfürsten, Piccolomini u. Mercy. Eigentlich ging es der nach dem Vorbild ital. Akademien, bes. der Crusca, gegründeten FG um die Gewinnung der deutschsprachigen, auch viele Ausländer umfassenden Führungsschichten für eine andere friedvolle Aufgabe: die Entwicklung u. Pflege der Volkssprache in Literatur, Wissenschaften, Verwaltung, Umgang u. Aussprache. L. überwand in der FG auch Standesschranken u. nahm neben gebildeten »erfarnen in waffen« u. Hofbeamten auch Gelehrte auf, bis zu seinem Tode insg. 527 Mitglieder. In mancher Hinsicht übernahm die Gesellschaft, allerdings in einem höf. Rahmen, Aufgaben des Volksbildungswerks, welches L. u. sein Neffe Joachim Ernst Herzog von Sachsen-Weimar nach den Ideen des Pädagogen Wolfgang Ratke von 1618 bis etwa 1623 in Köthen u. Weimar betrieben. Ratke, der die Leitung des Vorhabens schon 1619 einbüßte, hatte 1612/ 13 dem Reichstag vorgeschlagen, durch die Reform des Deutschen den Zwist zwischen den Konfessionen u. Parteien zu überwinden. Die 1618 für die Produktion von ratichian. Lehrbüchern eingerichtete Druckerei, deren Werke der Fürst anfangs auch verlegte u. vermarktete, diente fortan Akzidenzen, Personalschriften, Erbauungswerken u. zunehmend Büchern, die unter Umgehung des Markts von Mitgliedern der FG subskribiert u. unter ihnen verteilt wurden (1624–1632, 1638 ff.). Für den renaissancemäßigen Wettbewerb mit antiken u. modernen europ. Sprachen u. letztlich für die Entstehung einer dt. Nationalkultur war auch die Ausbildung einer zeittyp. »Conversazione civile« im Deutschen nötig, welche angesichts der Größe u. Verbreitung dieser Akademie v. a. die Entwicklung eines geselligen Briefstils in der Volkssprache forderte u. förderte. Grundlage dieser Bestrebungen war ein auf die Nation zielender christl. Patriotismus, wie er in den Impresen u. »Reimgesetzen« der vom Fürsten erfundenen bzw. gedichteten Gesellschaftsbücher (1622, 1624, 1628, 1629/30, 1641/44 u. 1646; 1629/30 u. 1646 illustriert v. Matthaeus Merian d.Ä.) zum Ausdruck kommt.

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1639 begann L. die Gedichte unter Beteiligung von Diederich von dem Werder von paargereimten Achtzeilern in Stanzen umzuschreiben. Nicht nur Zusammenarbeit in poet. u. übersetzerischen Unternehmungen – wie L.s u. Werders Umarbeitung von Tobias Hübners Nachdichtung der Sepmaines des Guillaume de Saluste sieur Du Bartas (Die Andere Woche. Köthen 1622. Die Erste Woche. Köthen 1631. Neufassung 1640) oder von L.s Verslehre Kurtze Anleitung Zur Deutschen Poesi (Köthen 1640) – kennzeichnet die Gesellschaftsarbeit des Nährenden. L. hat die meisten Werke von Mitgliedern philologisch durchgesehen u. nach Möglichkeit andere Fruchtbringer dazu herangezogen. Die erhaltenen Manuskripte der von Christian Gueintz entworfenen Sprachlehre (Köthen 1641) u. Rechtschreibung (Halle 1645), L.s Kritik der Legation oder Abschickung der Esell in Parnassum (1638) von Rudolf von Dieskau, die Korrektur der Metrik u. Sprache in Martin Opitz’ Psalmen Davids (1637) u. der gemeinschaftl. Versuch, Opitz’ sprachhistor. Kommentare in der Ausgabe des Annolieds (1639) zu verbessern, liefern dafür Beispiele. Dabei verfocht L. zwar eine am Gebrauch oder am Alexandriner orientierte Sprachauffassung bzw. Prosodie u. Metrik (Daktylus-Frage), setzte sich damit aber nicht gegen Fruchtbringer wie Opitz, Buchner, Harsdörffer, Schottelius oder Zesen durch. Immerhin hielt somit die späthumanist. Sprach- u. Literaturkritik Einzug in der dt. Literatur u. Korrespondenz. Weitere Werke: Kurtze Beschreibung Des erdichteten Cupidinis. In: Petrarca (1643), a. a. O. – Übersetzungen: Ps.-Bernhards Jubilus [...] De suavissimo Nomine Jesu [...] Jubel u. Lobgesang. Erhaltene Ausg. Köthen 1666. – Marie Le Gendre dame de Rivery: Le Cabinet des saines affections. Ital.: Lo studio degli affetti sani. Cotogna 1623. – Paul Geslin: La sainte chorographie. Die hl. Weltbeschreibung. Köthen 1643. Ausgaben: Klaus Conermann (Hg.): Briefe der FG u. Beilagen: Die Zeit Fürst L. v. A.-K. 1617–50. Bisher 5 Bde. Unter Mitarb. v. D. Merzbacher, A. Herz u. G. Ball. Tüb. 1992 ff. – Johann Christoff Beckmann: Accessiones Historiae Anhaltinae. Zerbst 1716 [Reimchronik]. – Gottlieb Krause (Hg.): Der FG ältester Ertzschrein. Briefe, Devisen u. anderweitige Schriftstücke. Lpz. 1855. Nachdr. Hildesh. u. a. 1973. – Auswahl daraus: Ders.: L. F.

Ludwig Fürst zu Anhalt-Köthen zu A.-Cöthen u. sein Land. 3 Bde., Köthen u. a. 1877–1879. – Martin Bircher: Matthäus Merian d.Ä. u. die FG. Der Briefw. über Entstehung u. Drucklegung des Gesellschaftsbuchs v. 1646. In: AGB 18 (1977), Sp. 667–730. Literatur: Nachlass, Bibliografie u. Fürstliche Druckerei: Klaus Conermann: Die Slg.en Fürst L.s v. A. im Köthener Schloß. Ein Nachlaßinventar. In: WBN 16 (1989), S. 73–91. – Gerhard Dünnhaupt: Die Fürstl. Druckerei zu Köthen. In: AGB 20 (1979), Sp. 895–948. – Dünnhaupt 2. Aufl., Bd, 4, S. 2607–2618. – K. Conermann: Editionsdesiderate: Die Werke der Fürsten L. u. Christian II. v. A. In: Chloe 24 (1997), S. 391–490. – Ders.: Die fürstl. Offizin zu Köthen. Druckerei, Verlagswesen u. Buchhandel. In: WBN 24 (1997), S. 121–178. – Wolfgang Adam: Bibliotheksgesch. u. Frühneuzeit-Forsch. [...] am Beispiel des Nachlassverzeichnisses v. Fürst L. v. A.-K. In: Euph. 102 (2008), S. 1–38. — Biografie u. Landesgeschichte: G. Dünnhaupt: L., F. v. A.-K. In: NDB. – Daniel Sachse: Christl. Ehrengedechtnüs Des [...] Ludwigen des Eltern/ Fürsten zu Anhalt. Köthen 1650. – Georgius Raumerus: Der Dt. Moses in Anhalt. Köthen 1650. – J. C. Beckmann: Historie des Fürstenthums Anhalt. 7 Tle., Zerbst 1710, bes. Tl. 5, S. 466–493. – G. Krause (Hg.): Urkunden, Aktenstücke u. Briefe zur Gesch. der Anhalt. Lande u. ihrer Fürsten unter dem Drucke des 30j. Krieges. 7 Tle. in 5 Bdn., Lpz. 1861–66. – Ders.: Wolfgang Ratichius oder Ratke [...] Briefe. Lpz. 1871. – Günther Hoppe: Zur anhalt. Behördengesch. im frühen 17. Jh. u. zum ›persönlichen Regiment‹ des Fürsten L. v. A.-K. In: Mitt.en des Vereins für Anhalt. Landeskunde 4 (1995), S. 113–142. – Ulla Jablonowski: Der Einfluß des Calvinismus auf den inneren Aufbau der anhaltin. Fürstentümer Anfang des 17. Jh., dargestellt am Beispiel v. Anhalt-Köthen. In: Territorialstaat u. Calvinismus. Hg. Meinrad Schaab. Stgt. 1993, S. 149–163. – K. Conermann: Fürst L. v. A.-K. Die FG. Köthen 2002. – Crusca: R. P. Ciardi u. L. T. Tomasi: Le pale della Crusca. Cultura e simbologia. Florenz 1983, S. 263 u. ö. – Fruchtbringende Gesellschaft: Conermann FG (Bd. 3 Mitgliederlexikon). – K. Conermann: Die Tugendl. Gesellsch. u. ihr Verhältnis zur FG. In: Daphnis 17 (1988), S. 513–623. – Mitgliederverz. der FG; Verz. der Gesellschaftsnamen. In: M. Bircher: Im Garten der Palme. Bln. 1992, S. 129–151 bzw. 152–163. – K. Conermann mit A. Herz u. H. Schmidt-Glintzer: Die FG. Gesellschaftsgedanke u. Akademiebewegung. In: Abh.en der Sächs. Akademie der Wiss. zu Lpz. Philolog.-histor. Kl., 76 (1999), S. 19–38. – Ders.: Die FG u. das Fürstentum Anhalt. In: Mitt.en der Vereins für Anhalt. Landeskunde 16 (2007),

Ludwig I. S. 11–39. – Ders.: Akademie, Kritik u. Geschmack. Zur Spracharbeit der FG. In: Unsere Sprache 1 (2008), S. 17–52. Klaus Conermann

Ludwig I. (Karl August), König von Bayern, * 25.8.1786 Straßburg, † 29.2.1868 Nizza; Grabstätte: München, St. Bonifaz. – Lyriker, Prosaist, Dramatiker. An Napoleon, dessen treuester dt. Verbündeter sein Vater Max I. Joseph war, richtete L. in Abscheu wie in Bewunderung (der histor. Größe) sein Selbstbild aus. Während seines 1803 begonnenen Studiums in Landshut u. Göttingen wurde L. durch bedeutende Hochschullehrer wie Sailer, Savigny, Anselm von Feuerbach u. Schlözer nachhaltig beeinflusst. Eine große Italien-Reise schloss 1804 diesen Bildungsgang ab, ihre Eindrücke wirkten als Basis seiner monarchischen Selbstdarstellung u. mäzenat. Kunstpolitik. Schon als Kronprinz hatte sich L. in die Politik eingeschaltet. Am Sturz des allmächtigen Ministers Graf Montgelas, dessen profranzösischer u. aufgeklärt-rationalist. Kurs ihm missfiel, war er 1817 beteiligt; die bayerische Verfassung von 1818 trug in manchen Zügen seine Handschrift. Als er 1825 die Thronfolge antrat, regierte er quasiabsolutistisch. Auch nach der Abdankung 1848 erhielt sich L. seinen Einfluss. Bauten u. Kunstschöpfungen, Sammlungen u. Stiftungen, die er als Mäzen, Anreger u. Mitarbeiter von den bekanntesten Künstlern ausführen ließ, haben seinen Ruhm länger bewahrt als polit. Leistungen: programmat. Rückgängigmachung der Säkularisation, Integration der neu gewonnenen Landesteile, Schaffung eines bayerischen Eigenbewusstseins, Sanierung der Staatsfinanzen. 1829 war L. mit dem ersten Gedichte-Band (Mchn.; insg. 4 Bde. bis 1847) an die Öffentlichkeit getreten. Man hat sie als dilettantisches Bedichten privater Erfahrungen abgetan oder sie in eine Reihe mit den klassizist. Formübungen u. sentimentalen Versifikationen der Epoche gestellt, zu Unrecht. L. selbst hat, etwa in den überdimensionierten Erklärungsfußnoten, darauf hingewiesen, dass ihm nicht der Erlebnisgehalt, sondern das Durchspielen der Attitüde des Dichters von

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zentralem Interesse war. Schönheitsvorstellungen einer scheinbar klass. Antike u. der dt. Klassik standen letztlich im Dienst seiner (Kunst-)Politik, wie schon Heine erkannte, der L.s schwülstigen Partizipialstil, den Schiller’schen Tonfall u. die übersteigerten herrscherl. Selbstdarstellungen parodierte. »Ungepriesen blieb’s, säßest du nicht auf dem Thron«: L. wusste um den Wert der bezeigten Referenz an den Dichterkönig. Symptomatisch auch das Verebben seiner Dichtung, die er als Kronprinz gleichsam als Ventil für verordnete Tatenlosigkeit angefangen hatte, mit dem Ende seines Königtums. Verwandt in Stilhöhe u. Anspruch war L.s einziges Prosawerk Walhalla’s Genossen (Mchn. 1842): biogr. Würdigungen bedeutender Persönlichkeiten aus Geschichte, Literatur, Musik u. Kunst, die als Büsten in seiner Walhalla (bei Donaustauf) aufgestellt waren. Auch die in jüngerer Zeit entdeckten Schauspiele Otto (1808/09), Teutschlands Errettung (1814) u. Conradin (1819/20) kreisen, ob als Geschichtstragödie oder als Zeitstück, um die Bedrohungen des idealen Monarchentums, dem sich L. zeitlebens verpflichtet sah. Goethe widmete L. seinen Briefwechsel mit Schiller. Literatur: Max Spindler: Joseph Anton Sambuga u. die Jugendentwicklung König L.s I. v. Bayern. Diss. Mchn. 1927. – Wolfgang Frühwald: Der König als Dichter. Zu Absicht u. Wirkung der Gedichte L.s des Ersten. In: DVjs 50 (1976), S. 127–157. – Michael Dirrigl: L. I., König v. Bayern 1825–48. Mchn. 1980. – W. Frühwald: Ästhet. Erziehung. Idee u. Realisation der Kunstpolitik König L.s I. v. Bayern am Beispiel der ›Walhalla‹. In: HölderlinJb 22 (1980/81), S. 295–310. – Helmut Gollwitzer: L. I. v. Bayern. Mchn. 1986. – Claus Grimm u. a. (Hg.): ›Vorwärts, vorwärts sollst du schauen...‹ Gesch., Politik u. Kunst unter L. I. 3 Bde., Mchn. 1986 (in Bd. 3: L.s ›Schauspiele‹. Hg. Johannes Erichsen). – Golo Mann: L. I. v. B. Hg. Hans-Martin Gauger. Ffm. 1999. – Eckhard Schwarz: König L. I. v. B., die Künstler u. die Dampfwagen. Interpretationsversuche an ausgew. Gedichten. Bochum 2005. – König L. I. v. B. u. Leo v. Klenze. Hg. Franziska Dunkel. Mchn. 2006. Rolf Selbmann / Red.

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Ludwig von Diesbach, * 11.11.(?)1452 Godesberg, † 10.2.1527 Bern. – Verfasser autobiografischer Aufzeichnungen, von ihm Cronick genannt. L. entstammte einer ursprünglich im Fernhandel tätigen Familie, deren Angehörige ihre Mittel seit den 1430er Jahren zunehmend in Grundbesitz u. Herrschaften innerhalb des bernischen Stadtstaates anlegten. Die von Diesbach wurden 1436 von Kaiser Sigismund nobilitiert u. gehörten bald zu den führenden neuen Geschlechtern Berns. Verschiedene Vertreter der Familie verwalteten bernische Vogteien, Niklaus (1430–1475) und Wilhelm (1442–1517), der Bruder L.s, wirkten während mehrerer Amtsperioden als Schultheißen der Stadtrepublik. Seine früheste Kindheit verbrachte L. in Godesberg, das sein Vater (verstorben noch vor der Geburt L.s) als kurkölnische PfandHerrschaft erworben hatte. Wegen des Streites um die Auslösung der Pfandschaft holte Niklaus von Diesbach 1460 seinen Cousin L. aus Godesberg nach Bern. Wie in bernischen Rats- u. Adelsfamilien üblich, erhielt L. seine Ausbildung im frz. Sprachraum: 1466 kam er als Knappe in das Haus des savoyischen Adligen Wilhelm de Luyrieux, von 1468 an wurde er am frz. Königshof als Page geschult u. anschließend als »homme d’armes de l’hôtel du roi« im unmittelbaren Umfeld des Königs in Dienst genommen. Ausführlich u. anschaulich schildert er in seinen Aufzeichnungen diese Jugendzeit am Hof Ludwigs XI., seine persönl. Kontakte zum König u. verschiedene größere polit., diplomat. u. militärische Ereignisse, deren Zeuge er war, u. a. den Feldzug in die Pikardie 1470, den Feldzug in die Bretagne 1472, die AbschlussVerhandlungen um die Ewige Richtung in Feldkirch 1474 oder die Versöhnungsszene von Amiens 1475. Bemerkenswert ist sein Bericht über den Verrat von Péronne u. die anschließende Belagerung u. Eroberung von Lüttich 1468, die er als Begleiter u. Mitgefangener Ludwigs XI. nur überlebt habe »dank gocz genad fforab [...], den dyck unn tzu mengem mall lütt hynder unns unn ffar unss ermurrt wurden«.

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Nach den Burgunderkriegen kehrte L. 1477 aus Frankreich nach Bern zurück u. heiratete hier auf Drängen seiner Familie die einer Berner Ratsfamilie entstammende Antonia von Ringoltingen. Nach langwierigen Verhandlungen mit seinem Bruder Wilhelm übernahm er von seinem Schwiegervater Thüring von Ringoltingen neben verschiedenen Einzelgütern auch Landshut, eine unter bernischer Oberhoheit stehende Grund- u. Gerichtsherrschaft im Oberaargau. Zwar betont er in seinen Aufzeichnungen, es habe ihm anfänglich widerstrebt, in den Ehestand zu treten u. sich in Bern sesshaft niederzulassen; rasch scheint er sich aber mit dem Leben eines bernischen Twingherrn angefreundet zu haben. Politische Ambitionen besaß er kaum. So wurde er Mitgl. des bernischen Großen Rates u. wirkte als Mitgl. der sog. Sechzehner an entscheidender Stelle bei der Besetzung der Ratsstellen mit; in den Kleinen Rat, die eigentl. Staatsführung, gelangte er aber nie, u. zur Verwaltung von bernischen u. eidgenöss. Vogteien musste er von seinem Bruder Wilhelm gedrängt werden (1481 Thun, 1512 Neuenburg, 1516 Aigle). Bezeichnenderweise erwähnt er in seinen Aufzeichnungen weder die Ämter in Thun u. Aigle noch seine diplomat. Missionen im Auftrag Berns zu Karl VIII. 1486, zu Maximilian 1492 u. 1494 noch sein Kommando im Schwabenkrieg oder seine Vermittlungsaufgabe im Zürcher Waldmann-Handel 1489. Einen Schwerpunkt in seiner Darstellung bildet zwar seine Amtszeit als eidgenöss. Vogt in der Grafschaft Baden von 1487–1489. Auch hier äußert er sich aber kaum über seine Amtsgeschäfte; sein Blick ist vielmehr auf die letzte Lebensphase u. den Tod seiner Gattin gerichtet. Antonia von Ringoltingen brachte am 3.9.1488 einen Sohn zur Welt, der nur einen Tag lebte; sie selber erholte sich von der Geburt nicht mehr u. starb am 11.9.1488 in Baden. Diese Ereignisse erschütterten L. so sehr, dass sie ihn im Spätjahr 1488 nicht nur veranlassten, sich seines bisherigen Lebens in einer ausführl. schriftl. Selbstdarstellung zu vergewissern; zgl. wurde die Schilderung der letzten Tage seiner Gattin auch zu einem inhaltl. u. sprachl. Schwerpunkt der autobiogr. Aufzeichnungen. Er berichtet von den letzten

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Wochen der Schwangerschaft, hält die Situation unmittelbar vor der Geburt fest, beschreibt die Merkmale ihrer anschließenden Erkrankung u. schildert die Sterbeszene als Beispiel einer musterhaft eingeübten ars moriendi: Die Sterbende weiß als Erste, dass ihr Ende naht, sie verlangt nach den SterbeSakramenten, setzt ihr Testament auf, tröstet die Angehörigen, nimmt Abschied von Ehemann u. Kindern u. »hatt mitt grosser tzuchtt urlob genomen von myr unn von allen iren ckynden unn jederman«. Auch in der Darstellung seiner eigenen Reaktion auf das Geschehene folgt der Autor zuerst diesem Stilisierungsansatz: Seine Bitte, Gott möge der Verstorbenen gnädig sein, endet in einer Paraphrase des spätmittelalterl. Hymnus Laus tibi, Christe. Unmittelbar darauf folgt aber in scharfem Kontrast die dreimalige Anrufung Marias (die ausdrücklich als »mutter aller genaden« bezeichnet wird) mit der Frage, wie es denn nun mit der göttl. Barmherzigkeit bestellt sei. Er hält nicht nur seine aufbrechenden Glaubenszweifel fest (»Den myr doch genomen ist myn ttroschd, ratt, ffrowd unn geluck, wa du mich nitt ffersychst unn ffersunsch wyder mitt dym tzartten ckynd«.), sondern erwägt auch einen Tauschhandel mit Gott, dem er eines seiner Glieder für das Leben seiner Gattin anbieten möchte. Mit der Schilderung der Überführung der Verstorbenen nach Bern, ihrer Bestattung in der Diesbach-Kapelle des Münsters u. der Rückkehr des Autors an den Amtssitz Baden schließt der erste Teil der Aufzeichnungen. Auch im zweiten Teil seiner autobiogr. Aufzeichnungen, die wohl um 1518/20 geschrieben worden sind, fasst L. rückblickend eine längere Zeitspanne seines Lebens ins Auge. Erneut bleiben zwar wesentl. Ereignisse aus seiner eigenen Biografie, insbes. sein öffentl. Wirken, weitgehend ausgespart. Seine zweite Ehe, die er 1493 mit Agatha von Bonstetten, einer Witwe aus freiherrl. Geschlecht, geschlossen hat, hebt er aber ausdrücklich hervor, ebenso seinen Ritterschlag durch Maximilian in Pavia 1496 u. die Erwerbung der Bubenbergischen Erbschaft (u. a. der Herrschaft Spiez) 1506. Den Schwerpunkt des zweiten Teiles bilden seine Überlegungen zu den ökonom. Schwierig-

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keiten seines Hauses, die sich nach 1508 immer deutlicher bemerkbar gemacht haben, zu den Streitigkeiten mit den erwachsenen Söhnen aus erster Ehe (Erbschaftsfragen) u. insbes. zur Unterstützung, die er von seiner zweiten Gattin erfahren hat. Mit ihren reichen Mitteln übernahm Agatha von Bonstetten nicht nur wesentl. Teile von L.s Schulden, sondern erwarb auch mehrere Besitzungen ihres Gatten käuflich (Sässhaus in Bern, Güter in Ligerz, Herrschaft Diessbach); die Herrschaften Landshut, Spiez u. a. mussten allerdings an Fremde abgetreten werden. Im letzten Teil seiner Aufzeichnungen dankt er seiner zweiten Gattin für diese ökonom. Rettung ausführlich: »Harumm ir all, myny leyby ckynd, so ich by der fromen, leyben ffrowen Agtten hab, lassen uch dyssy ffromy, gettruwy, erlychy ffrowen unn mutter ttod unn leybendyg all tzytt ttruwlych beffollen syn; dan wa gott sy unss nitt tzugeffugtt hett, waren wyr all arm bettler«. Zgl. versucht er sich vor seinen Nachkommen für den wirtschaftl. Niedergang mit dem Hinweis auf übernommene Schulden, sinkende Agrarpreise, ungetreue Dienstleute u. unrentable Bergwerks-Investitionen zu rechtfertigen. In seinen letzten Lebensjahren (d.h. nach 1520) fügte L. seinen Aufzeichnungen nichts mehr bei. 1527 wurde er, kurze Zeit vor dem Durchbruch der Reformation in Bern, als Letzter seines Geschlechtes in der Diesbach-Kapelle des Münsters bestattet. Formal erinnern die autobiogr. Aufzeichnungen L.s mehrfach an die zahlreich überlieferten Hausbücher aus dem oberdt. Raum. Auch L. schreibt ausdrücklich für seine Nachkommen u. will ihnen seine Erfahrungen weitergeben; im zweiten Teil gemahnen die kurzen Einzeleintragungen oft an die in Nürnberg u. anderswo erhaltenen »FamilienMerkwürdigkeiten«. Inhaltlich unterscheiden sich seine Aufzeichnungen aber deutlich von diesen Familienbüchern: Eine Darstellung der Anfänge u. des Aufstiegs der Familie lässt er weg, weil bereits eine Geschichte des Geschlechtes bestehe (verschollen), aus dem gleichen Grund verzichtet er wohl auch auf eine genaue Auflistung seiner Kinder, ihrer Ehe-Verbindungen u. Nachkommen. Umso gründlicher setzt er sich mit jenen Personen

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u. Ereignissen auseinander, denen er in seinem Leben zentrale Bedeutung zumisst. Hier findet er einen ganz eigenen Ton. Wohl hält er sich vordergründig an die tradierten Sinnangebote (Familienehre, ritterlich-adliger Stand, Vertrauen in Gottes Führung); ungewöhnlich ist aber, dass er die persönl. Verunsicherung angesichts dieser Deutungsmuster nicht nur erlebt, sondern auch schreibend festhält. Ausgaben und Übersetzungen: Das Autograf v. L.s autobiogr. Aufzeichnungen befindet sich in der Burgerbibl. Bern (Mss.h.h.LII.14). Der Text ist mehrfach abgedruckt u. übersetzt worden: anonym: Paris 1789, anonym: Bern 1832 (wieder abgedr. in: Dt. Selbstzeugnisse. Bd. 4, hg. v. Marianne Beyer-Fröhlich. Lpz. 1931, S. 26–40, u. Horst Wenzel: Die Autobiogr. des späten MA u. der frühen Neuzeit. Bd. 2, Mchn. 1980, S. 92–152), Max v. Diesbach: Genf 1901. – Urs Martin Zahnd: Die autobiogr. Aufzeichnungen L.s. Studien zur spätmittelalterl. Selbstdarstellung im oberdt. u. schweizerischen Raume. Bern 1986, S. 26–115 (moderne Ed. mit Übers.). Literatur: Helgard Ulmschneider: L. v. D. In: VL. Urs Martin Zahnd

Ludwig von Eyb d.Ä., * 20.2.1417 Sommersdorf bei Ansbach, † 29.1.1502 Zisterzienserkloster Heilsbronn bei Ansbach. – Verfasser/Sammler von Verwaltungs-, Reise- u. historiografischen Schriften. L. gehörte einer fränkisch-niederadligen Familie an, die im Unterschied zu Standesgleichen ungewöhnlich früh die hohen Kosten für eine schulische bzw. universitäre Ausbildung ihrer Söhne nicht scheute, um aussichtsreiche Karrieren in fürstl. Diensten zu fördern. Während viele von L.s Brüdern u. Söhnen in Erfurt u. Pavia studierten, gibt es zu seinem eigenen Bildungsweg keine Anhaltspunkte. Dennoch kann mit Gewissheit von einer soliden Grundausbildung sowie einem regen Interesse an Rechtsfragen u. Literatur ausgegangen werden. L. war seit 1441 verheiratet mit Magdalene Adelmann von Adelmannsfelden, mit der er sechs Kinder hatte. Von ihnen gelangten Anselm u. Ludwig der Jüngere durch ihre literar. Hinterlassenschaft sowie Gabriel als Bischof von Eichstätt zu größerer Bekanntheit. L.s

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Bruder, Albrecht von Eyb, zählt zu den bedeutendsten dt. Frühhumanisten. L. selbst stellte während seines lebenslangen Dienstes für die fränk. Zollern, insbes. für die Markgrafen Albrecht Achilles u. Friedrich d.Ä., sein herausragendes Talent in finanziellen u. rechtl. Angelegenheiten unter Beweis. Gleiches leistete L. für die eigene Familie, deren Besitz er erheblich mehrte u. in deren Stammburg Sommersdorf er ein gut geordnetes Archiv sowie eine nicht weiter bekannte Bibliothek hinterließ. Seine Hingabe als Hofmeister, Hausvogt, Feldhauptmann, Statthalter, vertrauter Rat u. Diplomat honorierte Markgraf Albrecht 1482 mit der Verleihung der Erbkämmererwürde der Burggrafschaft Nürnberg. L.s Dienstfertigkeit schlägt sich v. a. in Mein Buch (vor 1492) nieder. In dieser vermutlich für den persönl. Gebrauch bestimmten Kollektion nahm er für seine Aufgabenbereiche wichtige Texte auf: Vorschläge zur Rechnungslegung, Heeresordnungen, Handelsverträge, Totenfeiern, verschiedene Urkunden, Formulare, Gutachten u. ein Memorandum zur Wiedererrichtung des Nürnberger Landgerichts (1488/90), dem er seit 1490 als Richter vorsaß. Entsprechend L.s Tätigkeiten am markgräfl. Hof dominieren in der Überlieferung nur in Teilen publizierte Schriftsätze, Briefe, Memoranden u. Verordnungen, von denen die brandenburgische Hofordnung zu den bekannteren gehört (eine ältere Zusammenstellung des archival. Materials bei Werminghoff 1919, S. 348–356, zum edierten Material s. Thumser 2002, S. 39–55). Als erfahrener Rat in Finanzangelegenheiten hatte L. bereits in Franken die zollerische Administration tiefgreifenden Reformen unterzogen u. wurde, kurz nachdem Albrecht Achilles 1470 die Regentschaft in der Kurmark Brandenburg angetreten hatte, beauftragt, gemeinsam mit dem markgräfl. Kanzler Georg von Absberg die finanzielle u. administrative Organisation des Hofes von Albrechts ältestem Sohn Johann festzuhalten u. Verbesserungsvorschläge anzubringen. Die Hofordnung entsprach Albrechts Wunsch, durch schriftlich fixierte Regelungen den Hofleuten einen verbindl. Tätigkeitsbereich zuzuordnen sowie die Ausgaben u. Einnahmen seines

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stellvertretend regierenden Sohnes langfristig kalkulieren u. einschränken zu können. Ein Vergleich mit anderen zeitnahen Hofordnungen, wie die vom Ansbacher Hof Albrechts (ebenfalls 1470 angefertigt!) oder die vom kurpfälzischen u. pommerschen Hof, steht trotz der Bedeutung dieser Belege für die allmähl. Ausbildung eines verwaltungsmäßig regulierten Fürstenhofes noch aus. Umfangreicheren Schriften widmete L. sich erst im hohen Alter. Vermutlich wollte er die Erfahrungen seines Lebenswerkes für nachrückende Generationen u. seine eigenen neuen Tätigkeitsfelder in schriftl. Form darlegen. Durch die vom persönl. Erfahrungsschatz beherrschte Erzählperspektive werden Bezugsgrößen deutlich, über die L. sein Handeln definierte: In dem genealogisch-besitzgeschichtl. Stamm- und Ankunftsbuch des Burggraftums Nürnberg (1486/87), das L. nicht zweifelsfrei zugeordnet werden kann, u. den Denkwürdigkeiten (1500), unter denen er nach eigener Aussage ein Geschichtswerk zur Vergegenwärtigung einer nachahmungswerten Vergangenheit verstand, wird der in der Realität fehlgeschlagene Versuch, Franken einer unangefochtenen Führung der Zollern zu unterwerfen, zu einem greifbaren Idealzustand erhoben u. begründet. Die Verbindung von fränk. Ritterschaft u. ritterl. Leitvorstellungen, die Markgraf Albrecht als Landesherr zeit seines Lebens vorbildlich vor Augen geführt habe, sei die Voraussetzung für dieses Ziel. Im Gültbuch (um 1496) empfiehlt L. seinen Kindern die Mehrung von familiärem Besitz, Ansehen sowie sozialer u. verwandtschaftl. Verflechtung. Dabei hebt er seine Leistungen für die Angehörigen u. Liegenschaften der Familie bes. hervor, verzeichnet einen Katalog der Hinterlassenschaften zur besseren Handhabung nach seinem Tod, erinnert an die eigenen Vorfahren u. versucht, den persönlichen wie familiären Gewinn ritterlichen Fleißes u. Fürstendienstes den Nachfolgern nahe zu bringen. Vielleicht motiviert durch die eigene Romreise 1475, die Pilgerfahrten seiner Söhne u. die rasch aufeinanderfolgenden Todesfälle in seiner Familie (Tod der Gemahlin 1472, des Bruders Albrecht 1475, des Sohnes

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Anselm 1477) ließ L. 1480 eine bisher nicht edierte Handschrift diverser Reiseberichte zusammenstellen (Neustadt/Aisch, Kirchenbibliothek, Ms. 28); darin sind enthalten: die Pilgerberichte seiner Söhne Anselm u. Ludwig, Ludolfs von Sudheim De itinere terrae sanctae, Marco Polos Chinareise Il Milione, die Mirabilia Romae des Benedikt von St. Peter in Rom mit einer persönl. Einleitung (zit. bei Werminghoff 1919, S. 337) sowie ein Statut der adligen Gesellschaft Unser lieben Frau (Schwanenorden), der er gemeinsam mit Georg von Zedwitz seit 1485 in Franken vorstand. Die zusammengestellte Reiseliteratur legt Zeugnis einer gelebten Frömmigkeitspraxis ab u. dürfte in Verbindung mit dem Schwanenorden-Statut Ausdruck der von L. angemahnten Identifikation mit den Werten eines christlich geprägten, spätmittelalterl. Ritterideals sein. L.s Werke besitzen für die gegenwärtige Forschung teils wegen ihrer vergleichsweise frühen Abfassung, teils wegen rezeptionsgeschichtl. Zusammenhänge große Bedeutung. Die Hofordnung ist die erste für Brandenburg u. gehört zu den wenigen Texten dieser Gattung im 15. Jh. Für die Denkwürdigkeiten u. das Stamm- und Ankunftsbuch sind keine gleichwertigen Vorläufer der zollerischen Familiengeschichte überliefert (mit Ausnahme eines älteren Stamm- u. Ankunftsbuches von ca. 1412). In den Denkwürdigkeiten vereint L. Momente aus der Biografie Albrechts Achilles mit einer Analyse u. Vorschau auf den künftigen polit. Handlungsspielraum der Zollern, gerichtet an Albrechts Sohn, Friedrich d.Ä. Der Text tritt aus dem Korpus der gattungsspezifisch nur schwierig einzugrenzenden mittelalterl. Geschichtsschreibung durch L.s Entscheidung hervor, die Lebensgeschichte seines verstorbenen Herrn als Vorlage für ein polit. Memorandum mit konkreten Vorschlägen zu nutzen, in dem er selbst als ein selbstbewusster, beinahe belehrender Rat auftritt. Dieses Selbstbewusstsein gründet in L.s vertrauensvoller, unentbehrl. Stellung am markgräfl. Hof. In diesem Sinn können auch die in Mein Buch zusammengestellten Texte verstanden werden: L.s angehäuftes Wissen ließ ihn zu einer festen Instanz in finanziellen u. rechtl. Fragen werden

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– so sind u. a. seine Ausführungen zum terschaftl. Identität. Die Herren v. Eyb im 15. Jh. Nürnberger Landgericht für die spätmittel- In: Adelige u. bürgerl. Erinnerungskulturen des alterl. Rechtsgeschichte unverzichtbar. In der SpätMA u. der Frühen Neuzeit. Hg. Werner RöNeustädter Handschrift stellte L. Reisebe- sener. Gött. 2000, S. 79–96. – Matthias Thumser: Chronist u. ritterl. Bürokrat. L. v. E. d.Ä. richte zusammen, die teilweise kaum be(1417–1502) u. seine Schr.en aus dem Umkreis des kannt waren u. nur wenig rezipiert wurden. Ansbacher Markgrafenhofes. In: Adelige Welt u. Insg. kann darin das verbreitete, spätmittel- familiäre Beziehung. Hg. Heinz-Dieter Heimann. alterl. Bemühen gesehen werden, Ge- Potsdam 2000, S. 155–176. – Sven Rabeler: Niebrauchsschriftgut u. literar. Werke einem deradlige Lebensformen im späten MA. Wilwolt v. lese-, aber nicht lateinkundigen Publikum in Schaumberg (um 1450–1510) u. L. v. E. d.J. entsprechender Volkssprache zugänglich zu (1450–1521). Würzb. 2006, S. 37–64. – Volker Ohmachen. Die lateinisch- bzw. italienischspra- lenschläger: Spätmittelalterl. Hofwirtschaft im Spiegel v. Hofordnungen. Das Beispiel Kurbranchigen Reiseberichte von Benedikt, Ludolf u. denburg. In: Hofwirtschaft. Ein ökonom. Blick auf Marco Polo wurden nach aktuellen Überset- Hof u. Residenz in SpätMA u. Früher Neuzeit. Hg. zungen wiedergegeben. Mit dem Gültbuch Jan Hirschbiegel u. W. Paravicini. Kiel 2007, liegt eines der wenigen Familienbücher, die S. 9–15. – W. Paravicini (Hg.): Höfe u. Residenzen überwiegend in der städt. Überlieferung im spätmittelalterl. Reich. Hof u. Schrift. Ostfilaufzufinden sind, aus dem niederadligen dern 2007. Mario Müller Milieu vor. Es bildet eine ausgezeichnete Grundlage für sozialgeschichtl. Zugänge zu diesem ansonsten schwer fassbaren Stand. Ludwig von Eyb (der Jüngere zum HarInsg. übertreffen die eybschen Familienmit- tenstein), * 10.10.1450, † 21.5.1521. – glieder die meisten Standesgleichen durch Verfasser verschiedener biografischer u. die Vielzahl ihrer Werke aus dem 15./16. Jh., technischer Schriften für die Ritterschaft. sodass ein umfängl. Bild ihres adligen Selbstverständnisses, ihrer Bildungs- u. Kar- Als zweiter Sohn Ludwigs von Eyb d.Ä. entrierewege, ihres literar. Schöpfertums u. a. m. stammte L. v. E. einem begüterten fränk. niederadligen Geschlecht. Wie sein Vater u. gezeichnet werden kann. sein Onkel, der Humanist Albrecht von Eyb, Ausgaben: Adolph Friedrich Riedel (Hg.): Codex stand er zeit seines Lebens im Dienste verdiplomaticus Brandenburgensis. Bd. C III. Bln. schiedener dt. Territorialfürsten: zunächst 1860, S. 115–128 (Hofordnung). – Traugott Märcker: Das Stamm- u. Ankunftsbuch des Burggraf- als Hofmeister Bischofs Wilhelm von Eichthums Nürnberg. In: Märk. Forsch.en 7 (1861), stätt (1479–1486) u. des Pfalzgrafen Otto II. S. 141–182. – Matthias Thumser (Hg.): L. v. E. d.Ä. von Pfalz-Mosbach-Neumarkt (1487–1499), (1417–1502). Neustadt/A. 2002 (Denkwürdigkei- später als Vicedom der Oberpfalz im Dienste ten, Gültbuch, Mein Buch; ebd., S. 15, Verweise zu des Heidelberger Kurfürsten Philipp des den verstreut publizierten Vorlagen u. einzelnen Aufrichtigen (1500–1510), von dem er 1509 Abschriften der Reiseberichte). Schloss Hartenstein als Erblehen erhielt. Literatur: Wilhelm Vogel: L. v. E. In: ADB. – Noch vor seinem ersten Dienst hatte er 1478 Rudolf Graf Stillfried u. Siegfried Haenle: Das Buch Margarete Truchseß von Pommersfelden gevom Schwanenorden. Bln. 1881. – Max Herrmann: heiratet; aus dieser Ehe gingen drei Söhne Albrecht v. Eyb u. die Frühzeit des dt. Humanis- hervor. Zwischen 1510 u. 1512 war er als mus. Bln. 1893. – Albert Werminghoff: L. v. E. d.Ä. Hauptmann auf dem Gebirg Verwalter des (1417–1502). Halle 1919. – Günther Schuhmann: markgräfl. Oberlandes auf der Plassenburg, L. d.Ä. In: NDB. – Ferdinand Koeppel u. G. bevor er sich ab 1512 auf Burg Hartenstein Schuhmann: L. v. E. d.Ä. In: Fränk. Lebensbilder. zurückzog. 1518 kehrte er nochmals in den Hg. Gerhard Pfeiffer. Bd. 2, Würzb. 1968, S. 177–192. – Helgard Ulmschneider: L. v. E. d.Ä. Fürstendienst zurück, als Großhofmeister zu Eybburg. In: VL. – Werner Paravicini (Hg.): Eu- von Pfalzgraf Friedrich in Amberg. L. war von seinem Vater nicht wie seine rop. Reiseber.e des späten MA. Bd. 1, bearb. v. Christian Halm. Ffm. u. a. 1994, S. 174–176. – Brüder für den geistl. Stand bestimmt u. erSteffen Krieb: Schriftlichkeit, Erinnerung u. rit- hielt daher auch keine umfassende Schul- u.

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Universitätsbildung. Stattdessen begleitete er schon früh den Vater im Fürstendienst u. wurde dort seinem Stand gemäß militärisch u. diplomatisch ausgebildet. Den Abschluss dieses Lebensabschnitts markiert die Reise zum Heiligen Grab, die er gemeinsam mit mehreren anderen Rittern des Ansbacher Schwanenordens 1476 unternahm, auch um in Jerusalem zum Ritter geschlagen zu werden – eine bes. prestigeträchtige Art des Erwerbs der Ritterwürde. Diese Fahrt war Anlass für den Bericht über die Reise ins Heilige Land, sein Erstlingswerk, mit dem er die literar. Tradition seiner Familie fortsetzte. Der knappe, schemat. Bericht trägt wenig persönl. Züge u. kommt über die gängigen Standardthemen u. -motive kaum hinaus. Am Ende des Berichts findet sich eine Namensliste der Reiseteilnehmer, welche gewissermaßen das soziale Netzwerk seiner späteren Karriere abbildete. Wesentlich bedeutender ist das 1500 verfasste Kriegsbuch, ein Kompendium der Militärtechnik in Bildern mit Textkommentar, in welches L. sowohl seine Erfahrungen im Waffenkampf wie auch seine genauen Kenntnisse der zeitgenöss. Kriegsliteratur einfließen ließ. Dieses umfangreichste Kriegsbuch in dt. Sprache (298 Bll.) ist gleichzeitig eine der ältesten militärischen Bilderhandschriften in Deutschland. Es schließt sich inhaltlich an den Bellifortis Konrad Kyesers (1405) an, umfasst Fecht- u. Ringdarstellungen, Zweikämpfe mit verschiedenen Waffen, Belagerungsgeräte u. Wagenburgen, Absperrungs- u. Palisadenbau u. v. m.; den breitesten Raum nimmt ein »Geschützbuch« über 138 Seiten mit 80 Darstellungen verschiedener Büchsen u. Büchsengeräte ein. Für die Abbildungen verwendet L. Originalvorlagen vom Beginn des 15. Jh.; vermutlich war er selbst einer der beiden Zeichner. Das mit Abstand wichtigste literar. Werk L.s entstand 1507. Es handelt sich um die Geschichten und Taten Wilwolts von Schaumberg, die vielleicht interessanteste Adelsbiografie des 15. Jh. In der Vorred legt L. seinem Publikum, dem fränk. Adel, nahe, sich das Leben Wilwolts zum mustergültigen Beispiel zu nehmen u. nicht allein das Studium, sondern

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auch die Waffenübung zu beherzigen. Die Biografie umfasst die Jahre 1469 bis 1505 u. beschreibt die Zeitereignisse, dabei vornehmlich die militärischen u. diplomat. Handlungen, an denen der Feldhauptmann Herzog Albrechts von Sachsen beteiligt war. Die Lebensbeschreibung Wilwolts ist ein glanzvolles Panorama der spätmittelalterl. Adelsgesellschaft, dicht gewebt aus memoirenhaften Schilderungen, in denen die die bedeutendsten Gestalten der Epoche – die dt. Kaiser Friedrich III. u. Maximilian I., Karl der Kühne von Burgund oder der Ansbacher Markgraf Albrecht Achilles – hervortreten. Neben anschaul. Schlachtbeschreibungen, prunkvollen Turnieren u. Belagerungsszenen flicht L. auch inszenierte Minnehandlungen im Stile Ulrichs von Liechtenstein oder Exempel literarischer Gestalten (Artus) u. mhd. Dichter ein (Wolfram von Eschenbach, Thomasin von Zirklaere). Die Autorschaft L.s, der sich als »setzer diser historien« versteht, ist inzwischen gesichert, macht aber durch die hohe Anschaulichkeit der Darstellung die Mitwirkung Wilwolts wahrscheinlich. Das Buch spiegelt somit nicht nur die die enge Verflechtung der Familien Eyb u. Schaumberg wider, sondern verweist in seiner für die Zeit typischen Mischung zwischen (Auto-) Biografie u. literarisch gefärbtem Tatenbericht auf das spezif. Selbstverständnis des Verfassers u. seines Publikums. Das buech mit anzaig des turnirs (»Turnierbuch«) von 1519 ist die letzte von L.s bedeutenden Schriften. Es besteht aus einem stark fiktionalisierten Chronikteil, in welchem histor. Turniere beschrieben werden (mit 13 ganzseitigen, feinen Miniaturen von Turnierszenen), sowie einer Sammlung von Dokumenten des zeitgenöss. Turnierwesens. Es erfuhr eine breite Rezeption u. war vermutlich Quelle des berühmten Turnierbuchs von Georg Rüxner (1530). L.s buech steht auch im Zeichen einer regen Turniertätigkeit des Niederadels in Süddeutschland in der zweiten Hälfte des 15. Jh. u. ist so Ausdruck kollektiver Lebenserfahrung. In einer Zeit, in der der Nutzen des Turniers als adlige Übungsform bereits obsolet war, beschreibt es die glanzvolle Re-Aktualisierung einer ritterl. Lebensform der Vergangenheit.

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L. gehörte zur Spitzengruppe des fränk. Adels zur Zeit Maximilians I. Wie sein König versuchte er, die Traditionen des Rittertums über die Abfassung von standesbezogenen Werken auszustellen u. an nachfolgende Generationen weiterzugeben. Genealogie, kollektive adlige Lebensformen u. individuelle Schriften sind bei L. untrennbar miteinander verbunden. Neben ihrer sozial- u. kulturhistor. Bedeutung (Ethos einer hofgebundenen, regionalen Adelsgesellschaft) zeigen sie die Funktion der Literatur als Medium der Selbstrepräsentation u. der planvollen »gedechtnus«. Ausgaben: C. Geyer: Die Pilgerfahrt L.s d.J. v. E. nach dem hl. Lande (1476). In: Archiv für Gesch. u. Altertumskunde v. Oberfranken 21 (1901), S. 1–54. – Das Kriegsbuch des Ritters L. v. E. zum Hartenstein (Univ.-Bibl. Erlangen Ms. 1390). – Adalbert v. Keller: Die Gesch.n u. Taten Wilwolts v. Schaumburg. Stgt. 1859. – Heide Stamm (Hg.): Das Turnierbuch des L. v. E. (cgm 961). Ed. u. Untersuchung. Stgt. 1986. Literatur: Erich Kuphal: L. v. E. d.J. In: Archiv für die Gesch. v. Oberfranken 30 (1927), S. 6–58. – Helgard Ulmschneider: L. v. E. d.J. zum Hartenstein. In: VL. – Hans-Otto Keunecke: L. v. E. d.J. zum Hartenstein u. sein Kriegsbuch. In: Jb des Histor. Vereins für Mittelfranken 96 (1992/93), S. 21–26. – Horst Wenzel: Exemplar. Rittertum u. Individualgesch. In: Geschichtsbewußtsein in der dt. Lit. des MA. Hg. Christoph Gerhardt u. a. Tüb. 1995, S. 162–174. – Sven Rabeler: Niederadlige Lebensformen im späten MA. Wilwolt v. Schaumberg (um 1450–1510) u. L. v. E. d.J. (1450–1521). Würzb. 2006. Hans Rudolf Velten

Ludwig, Christiane Sophie, geb. Fritsche, * 1764 Ragwitz/Sachsen, † 28.2.1815 Schkeuditz/Sachsen. – Erzählerin. Nach dem Besuch der Dorfschule, in der sie – wie sie später in den Aufsätzen über höhere Geistesbildung (in: Der Genius des 19. Jahrhunderts. Hg. August Hennings. Nr. 12, 1801) schrieb – kaum lesen u. schreiben lernte, wurde L. 16-jährig mit dem Förster Ludwig in Maßlau bei Merseburg verheiratet. Isoliert in der ihr fremden Umgebung, begann sie sich durch die Lektüre geliehener Bücher, v. a. der Dialoge über die Mehrheit der Welten Fontenelles u. der von Nicolai herausgegebenen

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Allgemeinen Deutschen Bibliothek, selbst zu bilden. Durch ihre literar. Bemühungen, die der mit ihr befreundete Christian Felix Weiße unterstützte, lernte sie Nicolai, Seume u. Rochlitz kennen. L.s Werk umfasst erbaul. Erzählungen, wie die Erzählungen von guten und für gute Seelen (Lpz. 1799–1800), u. moralisierend-erzieherische Romane wie Die Familie Hohenstamm [...] (2 Bde., Thorn 1793–95) u. Die arme Familie [...] (Lpz. 1799), die in die Tradition des empfindsamen Frauenromans nach dem Vorbild Sophie La Roches einzuordnen sind. Weitere Werke: Aufsätze eines Frauenzimmers vom Lande. 2 Tle., Altenburg 1787. – Gemälde häusl. Scenen [...]. 4 Tle., Lpz. 1788–91. – Juda, oder: Der erschlagene Redliche [...]. Lpz. 1791. – Moral. Erzählungen. Ronneburg/Lpz. 1802. – Lohn der Tugend. 2 Tle., Lpz. 1805. Literatur: Carl Wilhelm Otto August Schindel: Die dt. Schriftstellerinnen des 19. Jh. Bd. 1, Lpz. 1823. – Brümmer 1. – Goedeke 5, S. 542. – Kristin Rheinwald in: Lexikon deutschsprachiger Epik u. Dramatik v. Autorinnen. Hg. Gudrun LosterSchneider u. Gaby Pailer. Tüb./Basel 2006, S. 275 f. Sabine Lorenz / Red.

Ludwig, Emil, eigentl.: E. Cohn (bis 1883), * 25.1.1881 Breslau, † 17.9.1948 Moscia (Tessin). – Biograf, Essayist, Dramatiker, Romancier; Exilpolitiker. L. war einer der erfolgreichsten Autoren der Weimarer Republik; seine Biografien wurden weltweit übersetzt u. in Größtauflagen verkauft. In den Memoiren Geschenke des Lebens (Bln. 1931) ließ L. in der Fiktion seinen Sohn rückblickend das Urteil sprechen: »Unverständlich warum seine Schriften damals so viel gelesen wurden. Offenbar von einer Mode getragen, die er selber sehr schlau inszenierte.« L. entstammte einem jüdisch-bürgerl. Elternhaus; der Vater Hermann Cohn war ein angesehener Ophthalmologe in Breslau; 1902 wechselte L. zum christl. Glauben protestantischer Konfession. Aus Protest gegen die Ermordung Walter Rathenaus trat er jedoch 1922 aus der Kirche aus. Nach einem Studium in Heidelberg, Lausanne, Berlin u. Breslau wurde L. 1904 mit einer Dissertation Die Ver-

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letzung des Berufsgeheimnisses in Breslau promoviert. L. verließ 1906 Deutschland u. lebte fortan mit seiner Ehefrau Elga Wolff hauptsächlich in der Schweiz (Moscia/Tessin), wo er 1932 das Schweizer Bürgerrecht erhielt. Gleichzeitig begann er seine literar. Tätigkeit (histor. Dramen, z.B. Napoleon. Bln. 1906. Die Borgia. Bln. 1907), deren Anfänge er in Geschenke des Lebens teils selbstironisch kommentierte. Allein Richard Dehmel, mit dem er korrespondierte u. dessen Kritik ihm wohl auch den Weg zur Biografik wies, habe ihn in den ersten Jahren unterstützt. Bereits 1911 erschien eine biogr. Analyse Bismarck (Bln.), 1913 folgte Wagner oder die Entzauberten (Bln.). Es sind Arbeiten im Vorfeld einer europ. biogr. »Mode« nach dem Weltkrieg (Strachey, Zweig, Maurois), wobei psychophys. Aspekte der biografierten Persönlichkeiten betont werden. Vorbilder für seinen biogr. Stil waren Maximilian Harden u. Georg Brandes. Möglichkeiten einer »modernen« Biografie behandelten seine Essays in Der Künstler (Bln. 1914). Einflüsse der Tiefenpsychologie Freuds bestritt L. (Der entzauberte Freud. Zürich 1946). Im Ersten Weltkrieg arbeitete L. als Berichterstatter für das »Berliner Tageblatt« u. als Chronist des Krieges (Die Fahrten der Emden und der Ayesha. Bln. 1915. Die Fahrten der Goeben und der Breslau. Bln. 1916. Der Kampf auf dem Balkan. Bln. 1916). Bereits die frühen Biografien hatten öffentlich provoziert; der Durchbruch gelang mit Goethe (Bln. 1919/20), die er als »Geschichte eines Menschen« gegen Monumentalisierungen des Klassikers stellen wollte, um »die innere Welt eines Menschenlebens aus allen Symptomen zu erneuern«. Während L. international den breitesten Erfolg mit der Biografie Napoleon (Bln. 1925) erzielte, wurden in Deutschland Wilhelm der Zweite (Bln. 1925/26), Bismarck (Bln. 1926) u. Juli 14 (Bln. 1929) zu den meistdiskutierten Büchern. Vor allem von preuß. Veteranenkreisen wurden sie heftig kritisiert. Linksliberale u. sozialdemokrat. Kritiker erkannten in Wilhelm der Zweite eher eine Entschuldigung des Kaisers durch die Betonung der phys. Seite sowie eine zu deutl. Konzentration auf die Einzelgestalt.

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Ihr Publikum fanden L.s Biografien vorwiegend in kleinbürgerl. Kreisen. L. grenzte die eigene Biografik gegen Quellengeschichte u. Roman ab als eine eigene Form, die »das Ewig-Menschliche« im privaten u. öffentl. Leben auf der Basis von Psychologie, Physiognomik u. Grafologie erkunde (Historie und Dichtung, »Die Neue Rundschau«, 40/1, 1929). Seine wachsende Popularität machte L. zum Lieblingsgegenstand einer deutschnationalen Kritik. Der Historiker Wilhelm Schüßler nutzte die Plattform der »Historischen Zeitung«, um krit. Rezensionen von L.s Biografien zu sammeln u. politisch zu instrumentalisieren (Historische Belletristik. Mchn. 1928). Die vorgeblich method. Kritik diente deutlich der Behauptung der Deutungsmacht für die jüngere Vergangenheit; eine schon nationalsozialist. Pamphletliteratur folgte dem Streit um die »illegitime« belletrist. Biografik. Auch von demokratischen u. sozialist. Kritikern wurde L. angegriffen, die ihm teils seine Bewunderung historischer Größe u. v.a. ein fehlendes Interesse an den sozialen u. ökonom. Faktoren vorwarfen. Als er in Mussolinis Gespräche mit Emil Ludwig (Bln. 1932) den ital. Diktator mit Goethe u. Bismarck verglich, wurden ihm propagandist. Absichten unterstellt. Auch das Gespräch mit Stalin (An Interview with the German Author Emil Ludwig. Moskau 1932) ist von der Bewunderung für den homo activus getragen, u. diese prägt auch das krit. Verhältnis des Republikaners u. Pazifisten zur Demokratie. L.s Bücher standen 1933 auf den Listen zur Bücherverbrennung; nach seiner Parteinahme im Prozess um den Anschlag auf NSDAPGauleiter Gustloff für den jüd. Studenten David Frankfurter (Mord in Davos. Amsterd. 1936) wurde vom Auswärtigen Amt eine Kampagne gegen L. betrieben. L. setzte sich für eine Resolution des Internationalen P.E.N.-Clubs zugunsten der dt. Exilanten ein (Rede in Buenos Aires, »Das neue Tage-Buch« 4, 1936). Seine Rede wurde in der Schweiz bemängelt, da er vorgegeben habe, als offizieller Schweizer Vertreter zu sprechen. Auch die zunehmende Kritik aus der Schweiz veranlasste ihn 1940 nach Santa

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Barbara (Kalifornien) überzusiedeln, wo er Bismarck. Bln. 1922–24 (D., Trilogie). – Remsich als Schweizer mit bedeutenden Ein- brandts Schicksal. Bln. 1923 (Biogr.) – Genie u. künften einen von manchen beneideten Le- Charakter. Bln. 1924 (biogr. Ess.s). – Kunst u. benswandel erlauben konnte. Interesse an Schicksal. Bln. 1927 (biogr. Ess.s). – Der Menschensohn. Bln. 1928 (Biogr.). – Tom u. Sylvester. Amerika zeigten schon seine Biografien LinBln. 1928 (E. in Versen). – Schliemann. Wien 1931 coln (Bln. 1930) u. Roosevelt (Amsterd. 1938). (Biogr.). – Histor. Dramen. Bln. 1931. – Dramat. Als die »New York Times« (6.7.1942) Dichtungen. Bln. 1932. – Führer Europas. Amsterd. u. d. T. Ludwig Asks For Fight on ›German People‹ 1934. – Gespräche mit Masaryk. Amsterd. 1935. – über eine Rede L.s berichtete, geriet dieser in Hindenburg. Amsterd. 1935 (Biogr.). – Cleopatra. die Kritik. Insbes. Paul Tillich u. Hannah Amsterd. 1937 (Biogr.). – Beethoven. Zürich 1945. Arendt entfachten im »Aufbau« eine Debatte; – Stalin. Zürich 1945 (Biogr.). – Das Mittelmeer. Arendt bezeichnete L. als Opportunisten, der Zürich 1946 (Kulturgesch.). – Für die Weimarer sich im Ersten Weltkrieg alldeutsch gegeben, Republik u. Europa. Hg. Franklin C. West. Ffm. 1991 (ges. Zeitungsart.). später den ital. Faschismus bewundert habe Literatur: Bibliografie: Books by E. L. Moscia u. nun der Großmacht Amerika huldige. Die 1945. – Johanna W. Roden: E. L. In: Dt. Exillit. Aufregung um L. legte sich, nachdem der Bd. 4/2, S. 1156–1169. – Weitere Titel: Eberhard Originalwortlaut der Rede bekannt wurde. Kolb: ›Die Historiker sind ernstlich böse‹. Der Tatsächlich zeigt seine umfassende Darstel- Streit um die ›Historische Belletristik‹ in Weimarlung The Germans (1941, dt. Zürich 1945), dass Dtschld. In: Liberalitas. FS Erich Angermann. Stgt. L. Hitler als Ausdruck eines latenten dt. Mi- 1992, S. 67–86. – J. W. Roden: E. L. In: Dt. Exillit. litarismus interpretierte. L.s Werke in Ame- Bd. 2/1, S. 554–569. – Sebastian Ullrich: ›Der Fesrika dokumentieren die zunehmende Distanz selndste unter den Biographen ist heute nicht der zur dt. Kultur u. propagieren den Verbleib in Historiker‹: E. L. u. seine histor. Biogr.n. In: Gesch. der neuen amerikan. Heimat (Carl Schurz. In: für Leser. Hg. Wolfgang Hardtwig u. Erhard The Torch of Freedom. Hg. E. L. u. Henry Kranz. Schütz. Stgt. 2005, S. 35–56. – Christian v. Zimmermann: Biogr. Anthropologie. Bln. 2006, New York 1943). L. wurde auch zum polit. S. 357–410. Christian von Zimmermann Berater für Deutschlandfragen der amerikan. Regierung (Repräsentantenhausrede am 24.03.1943). Nach seiner Rückkehr nach Ludwig, Otto, * 12.2.1813 Eisfeld/Werra, Moscia 1946 sah sich L. der Kritik ausgesetzt, † 25.2.1865 Dresden; Grabstätte: ebd., weil er die Schweiz 1940 verlassen hatte. Trinitätsfriedhof. – Erzähler, Dramatiker, L. war bemüht, sich mit einer intellektuel- Literaturtheoretiker. len u. polit. Elite seiner Zeit in Beziehung zu setzen. Dies zeigt eine breite Korrespondenz 1832 wurde L., Sohn des Stadtsyndikus, u. die Pflege eines ausgedehnten Freundes- Waise, ohne seine Schulbildung abgeschloskreises etwa bei privaten Festen, Lesungen, sen zu haben. Trotz früher literar. u. musikal. Theateraufführungen, wovon Privatdrucke Ambitionen lernte er zunächst bei seinem zeugen (u. a. die Mann-Parodie Tommy in Onkel, von dessen Erbe er später lebte, wiWeimar. Moscia 1939). Reisen, Interviews u. derwillig den Kaufmannsberuf. 1839 ermögVortragstätigkeit ergänzen den weltmänn. lichte ihm ein Stipendium des Meininger Habitus, den sich der international erfolg- Herzogs das Musikstudium bei Mendelssohn reiche Biograf zulegte. L.s fortgesetzte Erin- in Leipzig, das er 1840 wegen Krankheit nerungen Geschenke des Alters blieben dt. bis- aufgeben musste (zwei frühe Opern wurden lang unpubliziert (Memórias. Rio de Janeiro 1837 u. 1838 in Eisfeld aufgeführt). L.s musikal. Geschmack war konservativ. Da das 1952). »Vage der Musik« sein Bedürfnis nach »GeWeitere Werke: Ein Friedloser. Wien 1903 (dramat. Dichtung). – Manfred u. Helena. Bln. 1911 stalten« (Tgb. 1840) nicht befriedigte, ent(R.). – Richard Dehmel. Bln. 1913. – Die Reise nach schied er sich für die Literatur, wieder unAfrika. Bln. 1913 (Reiseber.). – Friedrich, Kron- terstützt durch ein herzogl. Stipendium (bis prinz v. Preußen. Bln. 1914 (D.). – Diana. Bln. 1918 1843). Die Annahme der Tragödie Der Erb(R.). – An die Laterne! Charlottenburg 1919 (Ess.). – förster (Urauff. 1850. Lpz. 1853) am Hofthea-

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ter in Dresden zog ihn 1849 endgültig dorthin. Aus der Ehe mit Emilie Winkler (1852) gingen vier Kinder hervor. Zu den wenigen persönl. Kontakten des menschenscheuen L. gehörten Auerbach, Devrient, Freytag u. Laube. Schon als junger Mann hatte er Ärmlichkeit erfahren, u. er starb fast mittellos. Kränklichkeit (ab 1860 Nervenfieber) u. Neigung zu grübelnder Einsiedelei prägten L.s Leben u. literar. Erscheinung. Zum einen blieben deshalb die meisten seiner Werke unvollendet oder zu Lebzeiten unveröffentlicht; zum anderen absorbierten in den späteren Jahren die dramat. u. epischen Studien einen immer größeren Teil seiner schöpferischen Energie u. hinderten die unvorbelastete Produktion neuer Werke, obwohl L. gerade die naiv-energ. Schaffenskraft bewunderte. Er sah das Drama als höchste dichterische Ausdrucksform an u. rang sein Leben lang um die Tragödie, war aber außer mit Der Erbförster nur mit den Erzählungen Zwischen Himmel und Erde (Ffm. 1856) u. Die Heiterethei und ihr Widerspiel (Ffm. 1857) erfolgreich. Sein Nachruhm als bedeutender Autor des (von ihm begrifflich geprägten) »poetischen Realismus«, der die Welt zgl. wahrheitsgetreu u. poetisch geformt ins Kunstwerk übertragen wollte, stützt sich auf ein Œuvre, das exemplarisch die Widersprüche veranschaulicht zwischen der für das 19. Jh. in Deutschland so typischen provinziellen Autorenexistenz u. dem Anspruch auf große Literatur, zwischen dem Verlust einer verbindl. metaphys. Weltdeutung u. dem Bedürfnis, fundamentale Weltverhältnisse zu gestalten, zwischen dem Bedürfnis, aktuelle Werke zu schaffen, u. der bürgerl. Befangenheit, die sozialen u. ökonom. Verhältnisse radikal in Frage zu stellen. L. setzte auf die ethische Souveränität u. Veränderbarkeit des Individuums. L. stand zunächst unter dem Einfluss der Prosa Tiecks, Jean Pauls u. E. T. A. Hoffmanns u. hielt zur zeitkrit. Literatur des Jungen Deutschland Distanz. Auf die polit. Ereignisse reagierte er auch 1848 nur verhalten. Seine frühen Gedichte sind epigonal. Seine frühen Erzählungen mischen, bei bewusster sprachl. Gestaltung, märchenhafte u. zeitbezogene Handlungselemente u. behandeln die Spannung zwischen Wünschen u. restrikti-

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ven Lebensumständen, moralischer Verpflichtung u. sinnenhafter Getriebenheit. In Maria (entstanden 1843. In: GS) versetzt L. das Kleist’sche Thema der unbewussten Schwängerung ins zeitgenöss. ländl. Milieu u. rückt die Gewissenslage des schuldigen jungen Mannes ins Zentrum. Die ambitiöse doppelte Symbolik des bibl. Maria-u.-Magdalena-Bezugs u. der malerischen Repräsentation dieses Motivs ist nur unvollkommen ins Erzählgewebe integriert. Ähnliche Unausgewogenheiten zeigen die meisten frühen Dramen u. Dramenentwürfe, von denen das unbeschwerte Lustspiel Hanns Frey (1843. In: GS) in Hans-Sachs-Milieu u. -Manier mehr Aufmerksamkeit verdient. Das zeitgemäße Thema des poln. Freiheitskampfes von 1830 in Die Rechte des Herzens (1845. In: GW) ertrinkt in der melodramat. Liebeshandlung. Das Fräulein von Scudery (1845–47. In: GW) kann die Stofffülle von Hoffmanns Erzählung nicht ganz in einer straffen Dramenhandlung bändigen, aber die dämonische Künstlergestalt Cardillac, die Gefahr der Kunst, zur Geldware zu werden, u. die Adelskritik sind klar umrissen. Erst mit Der Erbförster gelang L. das bürgerl. Trauerspiel, mit dem er sich dem gleichaltrigen Hebbel annähernd gewachsen zeigte. Das für die bürgerl. Gesellschaft des 19. Jh. bezeichnende aufrechte, aber engstirnige Rechtsbewusstsein zweier gestandener Freunde von unterschiedlichem u. trennendem gesellschaftl. Status, beim Förster auf Berufsstolz u. Pflichtgefühl, bei seinem Grundherrn auf der sozialen Stellung beruhend, treibt deren sich liebende Kinder in den Tod. Der falsche Schritt enthüllt einen Determinismus, der die Ereignisse bei aller Zufälligkeit unaufhaltsam erscheinen lässt. Aber es handelt sich um psychologische, nicht existentielle Schicksalhaftigkeit, sodass die Tragödie, anders als bei Hebbel, Menschen-, nicht Weltdeutung ist. Damit aber weist sie auf die naturalist. Dramatik voraus. In Die Makkabäer (Urauff. 1852. Lpz. 1854) strebte L. das große Geschichtsdrama in Versen an. Trotz des Zwiespalts in Volk u. Familie gelingt Judah die Befreiung des jüd. Volkes vom Syrerkönig Antiochus durch religiöse Überzeugungskraft. Der Sieg der Na-

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tion, im zeitgenössischen dt. Kontext ein drängendes Thema, erhält eine trag. Dimension durch die selbstzerstörerische Tendenz der Makkabäerfamilie des Priesters Mattathias, dessen heldenhafte Frau Lea an dem Kampf ihrer Kinder gegeneinander zerbricht, den sie doch geschürt hat. Das Drama berührt L.s Revolutionsfurcht. Wie im Erbförster setzt L. hier düster-wirkungsvolle, aber melodramat. Landschaftsstimmungen ein. Da dem Stück die für Schillers histor. Tragödien wesentl. Analyse der conditio humana fehlt, gerät es in die Nähe der zeitgenöss. Geschichtsexotik. Jahrzehntelang rang L. mit einigen Fragment gebliebenen Tragödienstoffen (Agnes Bernauer, Hermann der Cherusker), denen er zeitrelevante Aspekte abzugewinnen suchte (z.B. die nat. Einheit, die industriekapitalist. Veränderungen u. das Individuum in ihnen). L.s literar. Studien dienen der systemat. Erkenntnis von Drama u. Roman in ihrer geschichtl. Ausprägung u. der Praxis des eigenen Schaffens (allerdings ohne sich unmittelbar niederzuschlagen). Die ShakespeareStudien (ab etwa 1847. Lpz./Halle 1871) spielen begeistert dessen lebensvollen Realismus u. bühnentechn. Genialität gegen den abstrakten Idealismus u. die theatral. Scheinwelt des völlig abgewerteten Schiller aus. Die Romanstudien (ab etwa 1850. In: NS) suchen Orientierung am zeitgenöss. engl. Roman, v. a. Dickens’, u. klären die Wesensunterschiede von Drama u. Roman: »aller Roman« sei »im Grunde historisch, alles Drama – wenigstens Tragödie – anthropologisch. Dort sind die historischen Agentien, hier die psychologischen die Kämpfer« (Dickens und die deutsche Dorfgeschichte). Wichtig ist auch L.s Unterscheidung verschiedener »Formen der Erzählung«: eigentliches, szenisches u. psycholog. Erzählen. Von den beiden reifen Erzählwerken nähert sich Die Heiterethei eher L.s epischem, Zwischen Himmel und Erde eher seinem dramat. Grundtyp. Bedeutsam sind sie »wegen ihrer theoretischen und praktischen Vorwegnahme von Themen und Erzähltechniken des modernen psychologischen Romans« (Lillyman): so einer schon an Buddenbrooks gemahnenden Leitmotivik u. des Gebrauchs von erlebter

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Rede. In der humorist. Heiterethei finden zwei begabte, sich untergründig liebende junge Menschen aus ihrer menschl. Isolation u. nach vielen Missverständnissen ihr gemeinsames Glück u. die Integration in die dörfl. Gemeinschaft, deren kollektives Fehlverhalten kritisiert wird. Zwischen Himmel und Erde, erheblich anspruchsvoller, macht eine kleinstädt. Dachdeckerfamilie zum Paradigma individueller, sozialer u. mitmenschl. Probleme. Die Brüder Nettenmair lieben dasselbe Mädchen, das Fritz Appolonius entfremdet u. heiratet. Während der Vater sich in eine heile Welt des Selbstbetrugs zurückzieht, wird Appolonius immer quälender zum Hassobjekt des Bruders, der ihn einer Beziehung mit seiner ihm lange fremd gewordenen Frau verdächtigt u. beim zweiten Mordversuch auf dem Kirchendach selbst ums Leben kommt. Appolonius verzichtet darauf, seine Schwägerin zu heiraten; beide leben in moralischer Integrität, aber seelisch vereinsamt nebeneinander her. Alle Personen leiden an Kommunikationslosigkeit u. dem Widerspruch von Schein u. Sein. Ausgaben: Ges. Werke (= GW). Einl. v. Gustav Freytag. 5 Bde., Bln. 1870. – Nachlaßschr.en (= NS). Hg. Moritz Heydrich. 2 Bde., Lpz. 1873/74. – Ges. Schr.en (= GS). Hg. Adolf Stern u. Erich Schmidt. 6 Bde., Lpz. 1891. – Wallensteinplan. Hg. Hugo E. Eick. Greifsw. 1900. – Sämtl. Werke. Hist.-krit. Ausg. Hg. Paul Merker. 6 Bde. (geplant: 18), Mchn. 1912–22. – Briefe. Hg. Karl Vogtherr. 1. Bd. (1834–47), Weimar 1935. – Tagebücher. Hg. ders. Bd. 1, Weimar 1936. – Agnes-Bernauer-Dichtungen. Hg. Waltraud Leuschner-Meschke. 3 Bde., Bln./DDR 1961–69. – Romane u. Romanstudien. Hg. William J. Lillyman. Mchn. 1977. Literatur: Adolf Stern: O. L. Lpz. 1891. – Heinrich Kraeger: Entwürfe O. L.s zu einem Hermannsdrama. Bln. 1930. – Richard Brinkmann: Wirklichkeit u. Illusion. Tüb. 1957. 31977. – Albert Meyer: Die ästhet. Anschauungen O. L.s. Winterthur 1957. – Hans-Heinrich Reuter: O. L. als Erzähler. Diss. Jena 1957. – Fritz Martini: Dt. Lit. im bürgerl. Realismus 1848–98. Stgt. 1962. 41981. – William J. Lillyman: O. L.s ›Zwischen Himmel u. Erde‹. Den Haag 1967. – Jörg Schönert: O. L.: ›Zwischen Himmel u. Erde‹. In: Romane u. Erzählungen des bürgerl. Realismus. Hg. Horst Denkler. Stgt. 1980, S. 133–172. – Ders.: L. In: Deutsche Dichter 6. – Hermann Korte: O. L.s Realismus. In: Ders.: Ordnung & Tabu. Studien zum

Ludwig poet. Realismus. Bonn 1989, S. 11–40. – Ulfert Ricklefs: O. L.s Dramentheorie. In: Studien zur Lit. des Frührealismus. Hg. Günter Blamberger u. a. Ffm. u. a. 1991, S. 45–76. – Hans-Peter Rüsing: O. L.s Agnes-Bernauer-Fragmente. Ffm. 1994. – O. L. Das literar. u. musikal. Werk. Hg. Claudia Pilling zus. mit Jens Dirksen. Mit einer vollst. O.-L.-Bibliogr. Ffm. 1999 (unentbehrlich für die Forsch.: Darstellung aller Werkaspekte, umfassende Bibliogr. v. Diana Schilling, S. 325–500). – Armin Gebhardt: O. L. Der poet. Realist. Marburg 2002. – Goedeke Forts. Christian Grawe

Ludwig, Paula, * 5.1.1900 Altenstadt bei Feldkirch/Vorarlberg, † 27.1.1974 Darmstadt. – Lyrikerin, Prosadichterin, Malerin. L., als Tochter eines sozialdemokratischen schles. Wandertischlers u. einer oberösterr. Mutter »zufällig« im Schlösschen Amberg in Vorarlberg geboren, verbrachte eine ärml. Kindheit in Vorarlberg u. Linz. Nach dem Tod der Mutter übersiedelte sie 1914 zum Vater nach Breslau u. war als »Mädchen für alles« in einer Malschule tätig. 1917 kam ihr Sohn Friedel zur Welt. 1918–1923 lebte L. als Malermodell u. Souffleuse u. Schauspielerin an den Kammerspielen in München, fand Zugang zu Literatenkreisen, lernte George, Lasker-Schüler, Bonsels, Brecht, Klaus u. Erika Mann kennen. In Berlin schloss sie sich als freie Schriftstellerin u. Aquarellmalerin den Berliner Künstlerzirkeln an (Zuckmayer, Ringelnatz, Freundschaft mit Friedrich Koffka). Die Verbindung mit Yvan Goll (1931–1938), der großen Liebe ihres Lebens, führte zu gegenseitiger künstlerischer Inspiration. 1934 emigrierte sie, obwohl weder rassisch noch politisch verfolgt, zuerst nach Ehrwald/Tirol, 1938 über die Schweiz nach Paris u. gelangte über Bordeaux, das Fraueninternierungslager Gurs u. Portugal 1941 nach Brasilien. Im Exil lebte L. von Mal- u. Dekorationsarbeiten. Nach der Rückkehr 1953 wohnte sie u. a. in Götzis/Vorarlberg u. Ehrwald, ab 1956 mit ihrem Sohn in Wetzlar u. seit 1970 in Darmstadt. 1962 erhielt sie den Georg-Trakl-Preis, 1972 den Preis des Österreichischen Schriftstellerverbandes (Laudatio von der ihr in Freundschaft verbundenen Christine Busta).

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L. wandte sich auf Anregungen ihrer Lehrer früh dem Schreiben zu. Ihre Lyrik in vorwiegend freien Rhythmen lebt unter dem Einfluss des Expressionismus vom Klanggehalt u. der Plastizität der Sprache. Die Prosatexte kennzeichnet eine ebenfalls stark rhythmisierte u. bilderreiche Sprache. L.s Themen sind die Liebe, der Mensch, die Natur u. die Religion. Der erste Gedichtband (Die selige Spur. Mchn. 1920) erschien mit einem Vorwort ihres lebenslangen Förderers Hermann Kasack, der ihren dichterischen Rang mit LaskerSchüler gleichsetzt. In dieser schmalen Sammlung von Liebes-, Landschafts- u. Widmungsgedichten steckt L. ihren Themenkreis ab: Die Liebe der Frau, die sich ganz dem männl. Du zuwendet, ist gepaart mit unerfüllten Sehnsüchten, Einsamkeit, Hörigkeit u. Warten, Lebensgier u. Todessehnsucht. Unter dem Eindruck ihrer Liebesbeziehung zu Yvan Goll schrieb L. ihr bedeutendstes lyr. Werk, den bild- u. sprachmächtigen, streng komponierten Zyklus Dem dunklen Gott. Ein Jahresgedicht der Liebe (Dresden 1932. Neuaufl. Ebenhausen bei Mchn. 1974. 21981), der in Golls Chansons Malaises (1935) sein Pendant fand. Diese Liebesgedichte L.s sind mit Voru. Rückblenden dem Kreislauf der Jahreszeiten als Paradigma der Vergänglichkeit individuellen Erlebens eingeordnet. Nach der Flucht aus Deutschland veröffentlichte L. Traumlandschaft (Bln. 1935, Neuaufl. Lpz. 1938), einen Band mit 36 bildhaft-poetischen u. oft pointierten Kurztexten, der, erweitert um Träume aus der Zeit des Exils u. nach der Rückkehr, 1962 wiederaufgelegt wurde (Träume. Ebenhausen bei Mchn.). In der Autobiografie Buch des Lebens (Lpz. 1936) setzte L. ihrer proletarischen Kindheit in Vorarlberg u. Linz ein dichterisches Denkmal, in dem sie – mit eingestreuten Versen u. Liedern – eine Zauberwelt voller Abenteuer u. Naturverbundenheit vorführt, aber auch, soweit dies im Dritten Reich möglich war, ihren sozialist. Vater porträtiert oder die materielle Not schildert. L., die im Exil kaum Kraft zum Schreiben fand, veröffentlichte nach ihrer Rückkehr eine Auswahl von Gedichten 1920–1958 (Ebenhausen bei Mchn. 1958); in den Texten aus der Emigration dominieren

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Erschütterung u. Anklage. In ihrem literar. Ludwig, Volker, eigentl.: Eckart Hachfeld Nachlass, der ebenso wie ihr malerisches jun., * 13.6.1937 Ludwigshafen. – VerWerk im Franz-Michael-Felder-Archiv in fasser von Kabarettexten, Kinder- u. JuBregenz aufbewahrt wird, finden sich zahl- gendtheaterstücken. reiche polemische u. polit. Fragmente aus der L., Sohn des Kabarettautors Eckart Hachfeld, Nachkriegszeit, die das Bild von der weltferbegann gegen Ende der Schulzeit Texte für nen Dichterin der Liebe korrigieren. Kabarett, Rundfunk u. Fernsehen zu schreiIn den letzten Jahren stand das Werk von L. ben. Nach dem Abitur 1957 studierte er wieder mehr im Licht der Öffentlichkeit: Germanistik u. Kunstgeschichte in Berlin u. 2002 erschien die Biografie ›Ob niemand mich München. Nebenbei schrieb er Kurzgeruft‹. Das Leben der Paula Ludwig von Heide schichten u. Satiren, Chansons u. Sketche für Helwig (Ebenhausen bei Mchn. 22004), 2004 Rundfunk u. Fernsehen. Nach neun Semesveranstaltete das Vorarlberger Landesmuse- tern verließ L. die Universität ohne Abschluss um in Bregenz eine Ausstellung über ihr u. absolvierte ein einjähriges Volontariat dichterisches u. malerisches Werk, die im beim Sender RIAS Berlin. Seit 1962 lebt er als folgenden Jahr auch in München gezeigt freier Schriftsteller in Berlin. Während der wurde. ersten Jahre seiner freiberufl. Tätigkeit verWeitere Werke: Der himml. Spiegel. Bln. 1927 fasste er Texte für Funk- u. Fernsehproduk(L.). – Gedichte. Hbg. 1937 (= Das Gedicht, 1937, tionen sowie für verschiedene Kabaretts wie 13/14). die »Wühlmäuse«, das »Kom(m)ödchen« Ausgaben: P. L. Gedichte. Hg. Kristian Wachin- oder Wolfgang Neuss. 1965 gründete L. das ger u. Christiane Peter. Ebenhausen bei Mchn. 1986 »Reichskabarett Berlin«, damals eines der (Gesamtausg.). – Iwan Goll, P. L.: Ich sterbe mein engagiertesten polit. Kabaretts. Nach einigen Leben. Briefe 1931–40. Literar. Dokumente zwi- viel beachteten Programmen löste es sich schen Kunst u. Krieg. Hg. u. komm. v. Barbara 1971 auf. Glauert-Hesse im Auftrag der Fondation Goll. Bereits 1966 hatten L. u. andere Mitglieder Ffm./Bln. 1993. – P. L./ Waldemar Bonsels: Dokudes Ensembles begonnen, witzige u. lebenmente einer Freundschaft. Hg. Rose-Marie Bonsels. dige Theaterstücke für Kinder zu inszenieWiesb. 1994. ren. Von einem linken Standpunkt aus sollten Literatur: Hiltraud Zuegg: Die Entwicklung der lyr. Sprache bei P. L. Diss. Innsbr. 1972. – sie Partei für die »unterdrückte Klasse der Kristian Wachinger: P. L. Magisterarbeit masch. Kinder« ergreifen. Als eines der ersten Stücke Mchn. 1982. – Klaus Schöffling: ›... u. ihre Gluten dieser Art schrieb L. gemeinsam mit seinem einlassen in mein Herz‹. In: Börsenblatt für den dt. Bruder Rainer Hachfeld Stokkerlok und MilliBuchhandel 40 (1984), S. 118 ff. – Ulrike Längle: pilli (Ffm. 1970). Das Stück beschäftigt sich ›Ich bin eine obdachlose Dichterin‹. Über P. L. In: mit den ganz alltägl. Problemen von Kindern Österr. Dichterinnen. Hg. Elisabeth Reichart. wie Verbotsschildern u. putzsüchtigen MütSalzb. 1993, S. 113–143. – Annett Igel: P. L. Moti- tern. In der Folgezeit machten nicht zuletzt vation u. Motive einer Lyrikerin. Magisterarbeit L.s Kinder- u. Jugendtheaterstücke das Berlimasch. Lpz. 1995. – Rachel Jones: Mosaics of the ner Theater (seit 1972 GRIPS Theater für Self. Kantian Objects and Female Subjects in the Kinder) zum (auch international) erfolgWork of Claire Goll and P. L. Diss. University of reichsten bundesdt. Kindertheater. Alle seine Warwick 1997. – U. Längle: P. L. (1900–74): Die Stücke zeichnen sich durch Wortwitz u. Siandere Klage. In: Macht – Lit. – Krieg. Österr. Lit. im NS. Hg. Uwe Baur, Karin Gradwohl-Schlacher, tuationskomik aus. Kommentierende Songs Sabine Fuchs unter Mitarb. v. Helga Mitterbauer. sind dabei ein wichtiges Gestaltungsmittel. 1980 führte L. zus. mit Detlef Michel in Wien/Köln/Weimar 1998, S. 432–446. – Ausstellung ›Aus tausend Spiegeln sehe ich mich an‹. P. L. Eine linke Geschichte (Ffm. 1981) selbstironisch 1900–74, Dichterin/Malerin. Vorarlberger Landes- Stationen der Studentenbewegung vor, wobei museum Bregenz 24.7.-26.9.2004. Hg. Helmut auch Texte aus alten Programmen des Swozilek. Dornbirn 2004. Reichskabaretts einmontiert wurden. 1984 Christine Schmidjell / Ulrike Längle brachte er mit dem Kabarett »Institut Le-

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bensmut« ein Programm mit dem Titel Zu- Gressieker u. Reiner Lücker). Ein Fest bei Papadakis kunft – warum denn? heraus. Für das Musical (zus. mit Christian Sorge). Starnberg 1974 (DraLinie 1 (Bln. 1986) – ein Werk auch für Er- men). – Das hältste ja im Kopf nicht aus. Mchn. wachsene – erhielt L. 1987 den Mülheimer 1977 (D., zus. mit Detlef Michel). – Das GRIPSLiederbuch. Mchn. 1978 (zus. mit Birger HeyDramatikerpreis. Das Stück ist bis heute der mann). – Papadakis. Bln. 1982 (E., zus. mit C. Sorge größte Erfolg des GRIPS Theaters u. gilt als u. a.). – Dicke Luft. Bln. 1983 (E., zus. mit R. Lüerfolgreichstes deutschsprachiges Musical der cker; nach dem gleichnamigen GRIPS-Stück). Auch Nachkriegszeit. in: Spielplatz 1. Hg. Marion Victor. Ffm. 1988. – Insg. hat sich das GRIPS Theater seit seiner Kabarett mit K. 70 Jahre große Kleinkunst (zus. mit Gründung einer erstaunl. Vielfalt von The- Georg Zivier u. Hellmut Kotschenreuther). 3., erw. men gewidmet. Bei der Auswahl scheuten L. Aufl. Bln. 1989. – Himmel Erde Luft u. Meer. In: u. seine Mitstreiter selbst vor Stoffen nicht Spielplatz 5. Ffm. 1992. – Boss u. Bulli. In: Theater zurück, die sonst kaum für Jugendliche auf heute 1 (1996). – Café Mitte. In: Theater heute 1 die Bühne gebracht werden. Das 1989 insze- (1998). – Das GRIPS-Buch. Theatergesch.n. 2 Bde., Bln. 1994–99. – B. Heymann u. V. L.: Das Gripsnierte Ab heute heißt du Sara (Bln.) etwa ist die Liederbuch. Mit Zeichnungen v. Rainer Hachfeld. Bearbeitung des autobiogr. Berichts Ich trug Bln. 1999. den gelben Stern von Inge Deutschkron; sie Literatur: Wolfgang Kolneder u. a. (Hg.): Das schildert darin ihren Überlebenskampf im GRIPS-Theater. Gesch. u. Gesch.n, Erfahrungen u. nationalsozialistisch beherrschten Berlin u. Gespräche aus einem Kinder- u. Jugendtheater. ihre Rettung durch den Werkstattbesitzer Bln. 1979. – Karl W. Bauer: Emanzipator. KinderWeidt. Abgesehen von einem solch ambitio- theater. Mchn. 1980. – W. Kolneder u. Stefan Finierten Projekt, das sich auch gegen die Ab- scher-Fels: Das Grips-Buch. Theatergesch.n. Bln. stinenz der Nazi-Vergangenheit auf dt. Ju- 1994. – S. Fischer-Fels (Hg.): Der Schriftsteller V. L.: gendbühnen richtete, blieb das GRIPS Thea- Kabarettautor, Liedtexter, Stückeschreiber. Bln. ter stets nah am aktuellen polit. Geschehen: 1999. – Gerhard Fischer: Grips: Gesch. eines poMit der Maueröffnung u. den damit verbun- pulären Theaters (1966–2000). Mchn. 2002. – K. W. Bauer: Erinnerungskultur im Jugendtheater: Andenen Erfahrungen setzte sich L. 1990 in merkungen zu ›Ab heute heißt du Sara‹ v. V. L. u. seinem Stück Auf der Mauer auf der Lauer (Bln.) Detlef Michel nach dem autobiogr. Ber. v. Inge auseinander. Das Musical Melodys Ring wie- Deutschkron. In: Reden u. Schweigen in der derum, das er mit Birger Heymann schrieb u. deutschspr. Lit. nach 1945. Fallstudien. Dresden 2000 aufführte (Bln.), dreht sich um junge 2006, S. 345–354. Flüchtlinge in Berlin. Karl W. Bauer / Alexander Schüller Die Stücke des GRIPS Theaters wurden in über 40 Sprachen übersetzt, als SchallplatLudwigslied. – Althochdeutsches Gedicht tenfassungen herausgebracht u. als Fernsehauf den Sieg des westfränkischen Königs aufzeichnungen gesendet. Linie 1 hat ReinLudwig III. über die Normannen bei hard Hauff verfilmt. Bis heute wurden im Saucourt 881. GRIPS Theater mehr als 70 Stücke uraufgeDas L. ist unter der Überschrift Rithmus teuführt. Neben dem Mühlheimer Dramatikerpreis tonicus de piae memoriae Hluduico rege filio Hluwurde L. mit weiteren bedeutenden Aus- duici aeque regis in einer heute in Valenciennes zeichnungen bedacht, u. a. viermal mit dem aufbewahrten Handschrift aus dem 9. Jh. Brüder-Grimm-Preis des Landes Berlin (1969, aufgezeichnet. Der Codex mit Werken Gre1971, 1975, 1997), der Carl-von-Ossietzky- gors von Nazianz in lat. Übersetzung überv r Medaille (1994) u. 2008 mit dem Deutschen liefert das L. fol. 141 -143 u. zeichnet in der Theaterpreis DER FAUST für sein Lebens- Folge auch noch das altfrz. Eulalialied auf. Der Fundort in St. Amand spricht für eine Entwerk. Weitere Werke: V. L. u. a.: 3mal Kindertheater. stehung der Handschrift in Flandern. Der anonyme, wohl geistl. Verfasser dürfte Bde. 1–3, Mchn./Ffm. 1971–75. Bd. 6, ebd. 1977. – Die Gesch. v. Trummi kaputt. Reinb. 1973 (E., zus. im engen Umkreis König Ludwigs zu suchen mit Uwe Friesel). – Doof bleibt doof (zus. mit Ulrich sein. Das Lied preist Ludwig als Lebenden, ist

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also zwischen dem 1. oder 3.8.881, dem Tag der Schlacht, u. dem Tod Ludwigs am 5.8.882 entstanden. Ohne Melodieüberlieferung oder entsprechende Rezeptionsbelege kann nicht sicher entschieden werden, ob das L. für den Sprechoder Gesangvortrag bestimmt war. Die Handschrift gliedert die 59 binnengereimten Langverse in zwei- u. dreizeilige Strophen. Mehrfach wurde versucht, im Bau des Gedichts durchgehende Zahlenkomposition nachzuweisen (vgl. Groseclose/Murdoch, S. 72 ff.). Stilistisches Hauptmerkmal ist – nur selten durchbrochener – paratakt. Satzbau. Knapper Stil u. wiederholte direkte Rede bestimmen den Erzählduktus. Ein Ich-Erzähler – »Einan kuning uueiz ih« (v. 1) – berichtet, wie Gott sich des früh vaterlosen Ludwigs als Erzieher annimmt u. ihm die Königsherrschaft in Franken verleiht, die er sich mit seinem Bruder Karlmann teilt. Nun lässt Gott Heiden (»heidine man«) übers Meer kommen, um den jungen König zu prüfen u. die sündigen Franken zu mahnen. Die Sünder tun Buße, Gott erbarmt sich ihrer u. gebietet dem in der Ferne weilenden Ludwig, seinem Volk gegen die Normannen (»Northman«) zu Hilfe zu eilen. Ludwig begibt sich nach Franken u. verspricht allen Lohn, die mit ihm gegen den Feind ziehen. Keiner kämpft so mutig wie Ludwig selbst; ihm gebührt der Sieg, für den Gott zu preisen ist. Mit einem Heilswunsch für den König schließt das L. Vom Kampf Ludwigs III. von Westfranken gegen die Normannen berichten zahlreiche zeitgenöss. Annalen u. Chroniken (u. a. Annales Vedastini, Annales Blandinienses, Chronikon Sithiense, Angelsächsische Chronik). Meist wird Ludwigs Siegerrolle hervorgehoben (anders in den Annales Bertiniani Hinkmars von Reims). Die Deutung des Gedichts ist bis heute umstritten. Versuche, german. Ideengut im L. nachzuweisen, reichen bis in die neuere Zeit (Melicher); sie haben, wie Naumanns Hypothese, bei dem Lied handle es sich um den christianisierten Überrest einer verschollenen südgerman. Preisdichtung, nicht überzeugt. Bei der Diskussion der Gattungsfrage hat man auf Bezüge zum lat. histor. Lied, v. a.

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zum Lied auf Pippins Avarensieg hingewiesen (Naumann); Wehrli sieht im L. das älteste volkssprachl. Beispiel eines christlich oder doch biblisch legitimierten Heldenlieds (dagegen Müller 1980). In neuerer Zeit ist die Frage nach den histor. Bezügen u. der Funktion dieser Dichtung in den Vordergrund gerückt. Das L. bietet, ähnlich der zeitgenöss. lat. Geschichtsschreibung, theologisch begründete Interpretationsmuster für histor. Ereignisse bzw. Personen an. Typologische Entsprechungen zwischen L. u. der Heilsgeschichte sind umfassend nachgewiesen (Ehlert, Mattheier). Durch Anknüpfung an Salomo u. Beschreibung einer gelungenen Imitatio Christi im L. wird der König unangreifbar legitimiert. Solche Argumentationsmuster können im Dienst polit. Propaganda stehen; sie sprechen dafür, die Funktion des L.s aus dem histor. Kontext zu erklären. Unbestritten ist, dass das Lied Ludwigs Sieg über die Normannen preist. Die Betonung der Gottunmittelbarkeit des Herrschaftsanspruchs u. die Ausschaltung der vom Klerus beanspruchten Mittlerrolle zwischen König u. Gott hat man auf verschiedene histor. Konstellationen bezogen: In Herrschervita u. -lob sieht man Reflexe auf die Krise des westfränk. Königtums nach dem Tod Ludwigs des Stammlers 879, v. a. auf das Verhalten der Reichsaristokratie unter Führung Ganzlins (Kemper, kritisch dazu v. a. Müller) oder auf die Auseinandersetzungen Ludwigs mit Hinkmar von Reims (Ehlert, Mattheier). Daneben wird das L. als Propagandadichtung für Ludwigs Bemühungen aufgefasst, den Kampf gegen die Normannen auch nach der Schlacht bei Saucourt fortzusetzen. Ausgehend von dieser letzten Interpretation kann die Frage nach der mögl. Adressatenschicht, eng verbunden mit dem Problem des Entstehungsraums u. der Sprache des L.s, neu gestellt werden. Die Sprache des L.s ist in der Hauptsache rheinfränkisch; Abweichungen werden auf romanische, mittel- u. niederfränk. Einflüsse zurückgeführt. Ungeklärt bleibt, ob das L. als Zeugnis einer westfränk. Sprache, einer »lingua theodisca« innerhalb des roman. Sprachraums (vgl. Schützeichel

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1966/67) gesehen werden kann, solange keine Übereinstimmung über Wesen, Umkreis u. Gebrauch des »Westfränkischen« herrscht. Der Fundort der Handschrift, die gleichzeitige Überlieferung des altfrz. Eulalialieds, von gleicher Hand aufgezeichnet, v. a. aber der Inhalt des L.s sprechen für eine Entstehung im Westfrankenreich, wohl in unmittelbarer Umgebung Ludwigs. Der Dichter könnte gebürtiger Rheinfranke gewesen sein oder Deutsch in Rheinfranken gelernt haben. Das Preislied brauchte jedoch nicht unbedingt auf ein Publikum innerhalb der westfränk. Oberschicht zu zielen, von dem ungeklärt ist, wieweit es eine Dichtung in »lingua theodisca« überhaupt verstehen konnte. Vom sprachlichen u. entstehungsgeschichtl. Befund her ist die Überlegung, dass mit dem L. im Ostfrankenreich, also bei einem rheinfränk. Publikum, für eine Beteiligung an Ludwigs Kampf gegen die Normannen geworben werden sollte (Müller, Fouracre), durchaus erwägenswert. In der literar. Produktion des frühen dt. MA bleibt das L. isoliert; unmittelbare Bezüge zu anderen deutschsprachigen Dichtungen lassen sich nicht feststellen. Eine erste interpretative Rezeption noch im frühen MA könnte bereits durch die gemeinsame Aufzeichnung mit dem altfrz. Eulalialied in einem lat. Kontext gegeben sein, eine Überlieferungssituation, in der die beiden volkssprachl. Dichtungen als unterschiedliche, aber aufeinander bezogene Stationen der Heilsgeschichte verstanden werden könnten (Bauschke). Eine nachweisbare Rezeption über die handschriftl. Aufzeichnung hinaus setzte mit der Erstausgabe in Johann Schilters Epinikion (1619) nach Jean Mabillons Abschrift der zunächst verschollenen Handschrift ein. Durch die Übersetzungen Herders (1778) u. Bodmers (1780) wurde es einem breiten Publikum zugänglich. Eine intensive wiss. Beschäftigung mit dem herausragenden Zeugnis der Anfänge deutschsprachiger Endreimdichtung findet seit der Wiederentdeckung der Handschrift durch Hoffmann von Fallersleben u. dem von ihm veranlassten erneuten Druck 1837 statt.

558 Ausgaben: Elias v. Steinmeyer (Hg.): Die kleineren ahd. Sprachdenkmäler. Bln./Zürich 31971. – Walter Haug u. B. Konrad Vollmann (Hg.): Frühe dt. Lit. u. lat. Lit. in Dtschld. 800–1150. Ffm. 1991, S. 146–149 (mhd./nhd.); 1135–1140 (Komm.). – Faksimile der Hs. Valenciennes, Bibliotèque municipale 150 on-line: http://www.valenciennes.fr/ index.php?id=2293. Literatur: Heinrich Naumann: Das L. u. die verwandten lat. Gedichte. Diss. Halle 1932. – Ruth Harvey: The Provenance of the Old High German L. In: Medium AEvum 14 (1945), S. 1–20. – Theophil Melicher: Die Rechtsaltertümer im L. In: Sitzungsber.e der Österr. Akademie der Wiss.en. Philosophisch-historische Klasse Wien 91 (1954), S. 254–275. – Elisabeth Berg: Das L. u. die Schlacht bei Saucourt. In: Rhein. Vierteljahresbl. 29 (1964), S. 175–199 (mit Text nach der Hs. u. nhd. Übers. v. Rudolf Schützeichel). – Max Wehrli: Gattungsgeschichtl. Betrachtungen zum L. In: FS Walter Henzen. Bern 1965, S. 9–20. – R. Schützeichel: Das L. u. die Erforsch. des Westfränkischen. In: Rhein. Vierteljahresbl. 31 (1966/67), S. 291–306. – Holger Homann: Das L. – Dichtung im Dienste der Politik? In: FS Harold Jantz. Mchn. 1972, S. 17–28. – R. Schützeichel: Das Heil des Königs. In: FS Hans Eggers. Tüb. 1972, S. 369–391. – Erika Uromeit: Der Wortschatz des L.s im Umkreis der ahd. Lit. Mchn. 1973. – Heinrich Beck: Zur literaturgeschichtl. Stellung des ahd. L.s u. einiger verwandter Zeitgedichte. In: ZfdA 103 (1974), S. 37–51. – J. Sidney Groseclose u. Brian O. Murdoch: Die ahd. poet. Denkmäler. Stgt. 1976, S. 67–77 (Forschungsber. mit Lit.). – Robert Müller: Das L. – eine Dichtung im Dienste monarch. Propaganda für den Kampf gegen die Normannen? In: Sprache – Text – Gesch. Hg. Peter K. Stein. Göpp. 1980, S. 441–477. – Trude Ehlert: Lit. u. Wirklichkeit – Exegese u. Politik. Zur Deutung des L.s. In: Saeculum 32 (1981), S. 31–42. – Raimund Kemper: Das L. im Kontext zeitgenöss. Rechtsvorgänge. In: DVjs 56 (1982), S. 162–173. – Ders.: Das L. – eine polit. Lektion. In: Leuvense Bijdragen 72 (1983), S. 59–77. – Klaus J. Mattheier: Historisches u. Figuratives im ahd. L. In: FS Elfriede Stutz. Wien 1984, S. 270–288. – P. J. Fouracre: The Context of the OHG L. In: Medium Ævum 54 (1985), S. 87–103. – Wiebke Freytag: L. In: VL. – Bernhard Sowinski: Ein Meininger ›L.‹? In: ZfdA 111 (1986), S. 304–306. – E. A. Ebbinghaus: Zwei ahd. Miszellen. In: Studia Neophilologica 59 (1987), S. 241 f. – Robert Müller: Der histor. Hintergrund des ahd. L. In: DVjs 62 (1988), S. 221–226. – Raimund Kemper: Das L. u. die liturg. Rechtstitel des westfränk. Königstums. In: Mit regulu bithuun-

559 gane. Göpp. 1989, S. 1–17. – David N. Yeandle: The L.: King, Church and Context. Ebd. S. 18–79. – Claudia Händl: L. Alessandria 1990. – Ernst Erich Metzner: Neue Annäherungen an das L. v. 881. In: FS Helmut Brackert. Bln./New York 1997, S. 174–201. – Mathias Herweg: L., De Heinrico, Annolied. Die dt. Zeitdichtungen des frühen MA im Spiegel ihrer wiss. Rezeption u. Erforsch. Wiesb. 2002. – Jean Schneider: Les Northmanni en Francie occidentale au IXe siècle: le chant de Louis. In: Annales de Normandie 53–54 (2003), S. 291–315. – Ricarda Bauschke: Die gemeinsame Überlieferung v. L. u. ›Eulalia-Sequenz‹. In: Wolfram-Studien 19 (2006), S. 209–232. Claudia Händl

Lübke (E.). – Die Jahre. Liebesgedichte. Lpz. 1920. – Die Sonette. Hartenstein 1921. – Ultima ratio hominis. Lpz. 1921 (Trag.). – Phönix. Lpz. 1921 (R.). – Ein preuß. Offizier. Stgt. o. J. [1923]. – Wiegenlieder für Liane Maja. Lpz. 1923. – Der Flüchtling. Stgt. 1925. – Heimkehr. Stgt. 1926 (N.). – Das gefangene Gefängnis. Stgt. 1927. – Der Verwandlungskünstler. Stgt. 1928 (E.). – Nachlass: DLA. Christian Schwarz / Red.

Lübecker Totentanz ! Niederdeutscher Totentanz

Lübke, Wilhelm, * 17.1.1826 Dortmund, † 5.4.1893 Karlsruhe. – Kunsthistoriker u. Lübbe, Axel, * 18.12.1880 Littfinken/Ost- Kritiker. preußen, † 15.12.1963 Schöneiche. – Er- Fontane, den er auf frühen märk. Wandezähler, Lyriker, Übersetzer, Dramatiker. rungen begleitete, wusste L.s »glückliche, L. lebte als freier Schriftsteller an verschiedenen Orten Deutschlands. Nach Anfängen mit Gedichten (Deutsches Antlitz. Lpz. 1918) u. Novellen (Das alte Bild. Lpz. 1918) hatte L. erstmals größeren Erfolg mit dem bekenntnishaft-autobiogr. Roman Gottes Geheimnis über meiner Hütte (Stgt. 1923), in dem er die Entwicklungsgeschichte eines Künstlers mit der Beschreibung ostdt. Charaktere verband. Er stellt gesellschaftl. Vorurteile, übertriebenes Pflichtgefühl u. grüblerische Lebenseinstellung realistisch u. kritisch dar. Die folgenden erzählenden Werke sind von zunehmendem Interesse an Psychologie u. zgl. von myst. Vorstellungen u. Zügen eines heroischen Nihilismus geprägt. Sensationsträchtige Handlungen vermitteln allerdings oft den Eindruck fehlender Distanz zum Stoff u. mangelnder künstlerischer Konzeption (z.B. im Roman Der Kainsgrund. Stgt. 1926). L. war orientiert an Nietzsche, der Psychoanalyse u. der Heimatkunstbewegung u. beeinflusst von Romain Rolland, dessen Briefwechsel mit Malwida von Meysenbug (Ein Briefwechsel 1890/91. Romain Rollands Dankgesang, Erinnerungen an Malwida als Einl. Stgt. 1932) er zus. mit Berta Schleicher übersetzte. Während des Dritten Reichs veröffentlichte L. fast nichts; erst 1948 trat er mit dem Roman Erbe (Bln.) wieder hervor. Weitere Werke: Antwort kam ihm nie [...]. Lpz. 1916 (L.). – Eva ave. Lpz. 1917 (L.). – Malwine Ruth. Lpz. 1919 (R.). – Menschen u. a. Mächte. Lpz. 1920

dem Doktrinären abgewandte Natur« zu loben. Dank dieser Gabe erreichte er bald eine weit über die Fachwelt hinausgehende Leserschaft. An der Bonner Universität kam L., Sohn eines autodiaktisch gebildeten kath. Volksschullehrers, bei seinen histor., kunstgeschichtl. u. altphilolog. Studien 1845 u. a. mit Arndt, Dahlmann u. Kinkel in Berührung. 1846 setzte er seine Ausbildung in Berlin bei Lachmann, Ranke u. Waagen fort. Im Hause Franz Kuglers, dem L. eng verbunden war, lernte er Jacob Burckhardt kennen; später öffneten sich ihm auch die gesellschaftl. Kreise der Brüder Grimm. Nach abgelegtem Lehrerexamen nahm er 1848 am Friedrich-Werderschen Gymnasium eine Anstellung an. Seit 1850 war er freier Kunstschriftsteller u. gehörte dem »Rütli«-Kreis um Fontane u. Friedrich Eggers an, dessen »Deutsches Kunstblatt« er nicht nur regelmäßig mit Artikeln versorgte, sondern zeitweilig auch redaktionell betreute. 1857 erhielt er eine Stellung als Lehrer für Architekturgeschichte an der Berliner Bauakademie, verband sich mit der wohlhabenden u. wesentlich älteren Mathilde Eichler u. nahm 1861 den Ruf auf eine Professur für Kunstgeschichte am Züricher Polytechnikum an (Nachfolge Burckhardt). Seine wissenschaftliche, essayist. und krit. Arbeit unterbrach er dabei nie. 1866 wechselte er nach Stuttgart, 1885 nach Karlsruhe an das dortige Polytechnikum, wo er auch zum Generaldirektor

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der Großherzoglichen Kunstsammlungen Lüdemann, Georg Wilhelm von, auch: berufen wurde. L. unternahm ausgedehnte Ernst Scherzlieb u. Justus Ironius KosReisen innerhalb u. außerhalb Deutschlands, mopolita, * 15.5.1796 Küstrin, † 11.4. um sein kunsthistor. Wissen durch Autopsie 1863 Liegnitz. – Schriftsteller; Jurist. zu intensivieren. Nach der an Kugler angelehnten Untersu- Nach dem Studium der Rechtswissenschaft in chung Die mittelalterliche Kunst in Westfalen (2 Berlin, das er für die Teilnahme an den FreiBde., Lpz. 1853), dem »Muster einer Provin- heitskriegen 1813/14 kurzzeitig unterbrach, zialforschung« (Schnaase), verfasste L. 1855 trat L. für die Laufbahn eines gehobenen Reeine ihn weithin bekannt werden lassende gierungsbeamten in den Staatsdienst ein. Auf Geschichte der Architektur (Lpz. 61884–86 in 2 Anraten seines Arztes unternahm er seit den Bdn.) u. 1860 den eine Lücke schließenden 1820er Jahren mehrere ausgedehnte Reisen Grundriß der Kunstgeschichte (Stgt. 121899–1905 nach Italien, Griechenland u. in die Türkei, in 5 Bdn.), der die Kunstauffassung bes. in der um eine Herzschwäche zu kurieren. Seine gebildeten bürgerl. Mittel- u. Oberschicht Eindrücke u. histor. Recherchen legte er in langfristig beeinflusste. Sein flüssiger Stil u. einer Reihe von Reiseschilderungen nieder, die Fähigkeit, unüberschaubar scheinendes die unter dem wiedererkennbaren Serientitel wie Material sinnfällig zu ordnen, trugen zur Neapel, wie es ist (Dresden 1827) u. Venedig, 2 es war und wie es ist (Dresden 1828. 1834) erPopularität seiner zahlreichen Schriften, die in kurzer Zeit mehrere Auflagen u. vielfache schienen. An den Erfolg dieser Reihe suchte L. Übersetzungen erlebten, bei. Obwohl Fach- später auch mit der Erzählung Töplitz, wie es kritik nicht ausblieb, stabilisierte sich L.s Ruf ist, oder die beiden Grafen (Dresden 1829) u. der als Autorität. Ästhetischen Neuerungen eher satirischen, pseudonym publizierten (Pseud. begrenzt aufgeschlossen, aber wach gegen- Ernst Scherzlieb) Stadtbeschreibung Dresden, wie über mischte sich L. doch in viele Debatten es ist (Zwickau 1830) anzuknüpfen. Von seium Kunst, Musik, Kultur u. Literatur. Auf- nen ausgedehnten Reisen nach Italien u. sehen erregte die zus. mit Eduard Hanslick Spanien – er legte die erste Schilderung der geführte Attacke gegen Wagner (Über Richard Pyrenäen vor (Züge durch die Hochgebirge und Wagner. Bln. 1869). Von der Wiederbelebung Thäler der Pyrenäen im Jahre 1822. Bln. 1825) – der Gegenwartskunst aus den Quellen der dt. brachte er auch Stoffe für histor. Novellen u. Renaissance, frei von Klerikalismus u. ent- Romane mit (Novellen und Erzählungen. Dresfesseltem Naturalismus, versprach sich L. den 1827. Andruzzos der Livadier. Lpz. 1827), die sich jedoch zu eng am Stil der sinniereneine allseitige Förderung des nat. Lebens. Weitere Werke: Kunsthistor. Studien. Stgt. den Reiseschilderung orientierten u. denen 1869. – Gesch. der dt. Kunst [...]. Stgt. 1889. – Altes kein Erfolg beschieden war. Umgekehrt u. Neues. Studien u. Kritik. Breslau 1891. – Le- wurde den Reisebildern vorgeworfen, dass sie benserinnerungen. Bln. 1891. – Briefe an Hermann wie in Stambul oder Constantinopel, wie es ist Kestner aus den Jahren 1846–59. Karlsr. 1895. (Dresden 1827. Lpz. 21836) Sachbeschreibung Literatur: Ludwig Pietsch: W. L. In: Nord u. u. literar. Quellen vermischen. Die Distanz Süd, Okt. 1877, S. 268–280. – L. Rohling: L. In: zum Literaturbetrieb seiner Zeit wird auch in Westfäl. Lebensbilder. Hg. Robert Stupperich. dem allegorisch-satir. Roman Alfronius FataBd. 6, Münster 1957, S. 147–165. – Thomas Lersch: gel, der Freiheitsritter (Glogau 1835) deutlich, L. In: NDB. – Otto Drude: Fontane u. sein Berlin. den L. unter dem Pseud. Justus Ironius KosFfm./Lpz. 1998, S. 221–224. Roland Berbig mopolita veröffentlichte u. in dem er mit den Vormärzautoren abrechnet. Nach wechselnden Aufenthalten in Breslau, Dresden u. bei Freistadt in Schlesien wurde er 1835 zum Landrat u. Polizeidirektor in Aachen bestellt, bevor er Geheimer Oberregierungsrat in Berlin u. schließlich in Liegnitz wurde. Mehr als durch seine literar. Werke, die v. a. Stoffe

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wie das historisch-romant. Gemälde Vittoria Iturbide (Zwickau 1830) aus der Zeit des mexikan. Freiheitskriegs oder literar. Vorlagen wie die Romanze Griselda (1845) aus der Romania bearbeiten, vermittelte L. als populärer Geschichtsschreiber, Sprachlehrer u. Übersetzer zwischen den Kulturen. Teilübersetzungen der Vita Nova (in Dante Alighieris lyrische Gedichte. Lpz. 1827) u. des Decamerone (Das Decameron von Giovanni Boccaccio. Lpz. 1830) galten als vorbildlich u. zeigen sein Sprachtalent, das ihn dazu befähigte, neben seiner Tätigkeit als Regierungsrat an Gemeinschaftsübersetzungen von Vittorio Alfieris Trauerspielen (Zwickau 1824/26), Walter Scotts biogr. Werken (Zwickau 1826) sowie Werkausgaben Byrons (Zwickau 1825) u. Molières (Aachen 1838. 21841) mitzuwirken. L. ertrank im Frühjahr 1863 im Mühlgraben von Liegnitz. Weitere Werke: Der Suliontenkrieg nebst den darauf bezügl. Volksgesängen. Ein Beitr. zur Gesch. des griech. Freiheitskampfes. Lpz. 1825. – Gesch. Griechenlands u. der Türkei. Dresden 1827. – Die Foscari, ein histor.-romant. Gemälde aus dem 15ten Jh. Lpz. 1828. – Petersburg, wie es ist. Dresden 1830. – Monatsrosen. Zwölf Erzählungen u. Novellen. Glogau 1836. – Oberitalien. In: Carl Frommel’s pittoreskes Italien. Nach dessen Original-Gemälden u. Zeichnungen. Lpz. 1840. 21847/ 48, S. 1–403. Literatur: Goedeke, Bd. 10, S. 346–351. – Thorsten Fitzon: Reisen in das befremdl. Pompeji. Antiklassizist. Antikenwahrnehmung dt. Italienreisender 1750–1870. Bln./New York 2004, S. 57–60. Thorsten Fitzon

Lüders, Philipp Ernst, * 6.10.1702 Freienwillen bei Glücksburg, † 20.12.1786 Glücksburg. – Autor volksaufklärerischer Schriften. L. wuchs als Sohn eines Oberförsters in ländl. Verhältnissen auf. Privatunterricht durch einen Geistlichen bereitete ihn auf das Theologiestudium vor, das er 1721–1724 in Wittenberg u. Jena absolvierte. 1728 wurde er als zweiter Prediger nach Munkbrarup berufen, wo er 1729 eine Pastorentochter heiratete. Ab 1730 wirkte er als Hofprediger in Glücksburg, 1755 wurden ihm auch die Propsteigeschäfte übertragen.

Lüders

Ein frühes Interesse für die Landwirtschaft u. sein Selbstverständnis als Patriot ließen L. zu einem der ersten deutschsprachigen Volksaufklärer werden, der durch sein praktisch-reformerisches Engagement hohes Ansehen erlangte. Als Begründer einer ökonom. Gesellschaft u. einer Landwirtschaftsschule wurde er zum Mitgl. mehrerer gemeinnütziger Gesellschaften ernannt. Erste schriftstellerische Versuche unternahm L. unter dem Namen Pelagus in Zeitschriften. Eine erste bauernaufklärerische Schrift erschien 1760 in Flensburg als Kurzes Gespräch zwischen einem Landmanne und einem Prediger. Bis 1784 folgten mehr als 50 weitere, oft in Brief- oder Gesprächsform verfasste Schriften meist ökonomischen Inhalts, von denen viele ins Dänische übersetzt wurden. Um die bäuerl. Adressaten zu erreichen, suchte L. neue Wege des Vertriebs. Über Geistliche, Schulmeister u. gemeinnützige Gesellschaften, z.T. durch Verschenkaktionen, verteilte er seine häufig auf eigene Kosten verlegten Schriften. War es L.’ Hauptanliegen, durch ökonom. Unterricht zur bäuerl. Emanzipation beizutragen, so bemühte er sich mit der Schrift Die edle Denkungsart eines patriotisch-gesinnten Landmannes in Angeln (Flensburg 1772) auch, zur sittlich-moral. Erziehung der Landbevölkerung beizutragen. Weitere Werke: Vorläufige Nachricht v. dem Bau u. Errichtung der Acker-Academien [...]. Flensburg 1759. – Erzählungen u. Gesch. der Kgl. Dän. Acker-Academie. Flensburg 1767. – Grundriß einer zu errichtenden Acker-Schule. Flensburg 1769. – Näheres Bedenken über den Gebrauch der Erde, wenn Freyheit u. Eigenthum, wo ihm beydes fehlet, bey dem Bauerstande sollte eingeführet werden. Flensburg 1770. – Oekonom. Unterredungen. Flensburg/Lpz. 1770. – Schreiben an die Landes-Patrioten. Flensburg 1773. Literatur: Gottfried Ernst Hoffmann: P. E. L. In: Bl. für dt. Landesgesch., 89. Jg. (1952), S. 134–152. – Holger Böning u. Reinhart Siegert: Volksaufklärung. Biobibliogr. Hdb. [...]. Bd. 1, Stgt.-Bad Cannstatt 1990. Holger Böning / Red.

Lütgen

Lütgen, Kurt, * 25.11.1911 Glietzig/Pommern, † 25.7.1992 Bad Salzuflen. – Journalist, Jugendbuchautor. L. arbeitete als ausgebildeter Buchhändler u. Verlagslektor, bevor er nach vier Jahren Sanitätsdienst im Zweiten Weltkrieg ab 1945 als freier Journalist u. Jugendbuchautor tätig wurde. L.s ab 1950 publizierte Abenteuer- u. Entdeckerromane stellen einen wichtigen Beitrag zur Entstehung der bundesdt. Abenteuerliteratur für Jugendliche dar. In dem Roman um James Cook (Der große Kapitän. Braunschw. 1950), der Schilderung einer Rettung von Walfängern in Kein Winter für Wölfe (Braunschw. 1955) u. dem Sachbuch Das Rätsel der Nordwestpassage (Braunschw. 1966. Neuausg. Würzb. 2000) verband K. spannende Eroberungsgeschichten mit der Schilderung exotischer Welten u. propagierte zgl. humane Wertvorstellungen. L. erhielt 1956 u. 1967 den Deutschen Jugendbuchpreis, 1952 u. 1972 den Friedrich-Gerstäcker-Preis sowie 1983 den Großen Preis der Akademie der Kinder- und Jugendliteratur. Weitere Werke: Die Katzen v. Sansibar zählen. Braunschw. 1962 (R.). – Rebellen am Red River. Würzb. 1984 (R.). – Wächter der Wildnis. Würzb. 1985 (R.). – Hinter den Bergen das Gold. Würzb. 1986 (R.). – Meine Insel. Eine Kindheit auf dem Lande. Recklinghausen 1986 (Autobiogr.). – Rückzug nach Süden. Würzb. 1987 (R.). – AustralienSaga. Bde. 1–3, Würzb. 1988 (R.). Literatur: Malte Dahrendorf: Die Aufgabe des Menschen als Abenteuer. Gedanken zu den Büchern v. K. L. Braunschw. 1967. Birgit Dankert / Marco Schüller

Lüth, Erich, auch: Bernhard Petersen, * 1.2.1902 Hamburg, † 1.4.1989 Hamburg. – Journalist, Publizist, Biograf. Der Kaufmannssohn L. engagierte sich in der »Freideutschen Jugendbewegung« u. war neben Walter Hammer an der Gründung der Jugendzeitschrift »Junge Menschen« beteiligt. Er arbeitete als Theaterkritiker u. Sportjournalist, dann als Redakteur beim »Hamburger Anzeiger«. Auf Drängen Curt Platens schloss er sich der Deutschen Demokratischen Partei an u. war 1927–1929

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jüngster Abgeordneter der Hamburger Bürgerschaft. 1933–1945 fand L. Unterschlupf in der Nähmaschinenbranche u. schrieb Erfinderbiografien. Nach dem Krieg leitete L. über ein Jahrzehnt die Pressestelle des Hamburger Senats. Als Senatsdirektor rief L. 1950 in der Presse zum Boykott des Films Unsterbliche Geliebte von Veit Harlan auf, da Harlan als Regisseur des antisemit. Films Jud Süß diskreditiert u. nicht geeignet sei, am Wiederaufbau des dt. Films mitzuwirken. Da Harlan 1949 in einem Strafverfahren in dieser Sache rechtsgültig freigesprochen worden war, verfügte das Landgericht Hamburg auf Klage der Filmproduktionsfirma, dass L. eine Wiederholung dieses Boykottaufrufs zu unterlassen habe. L. legte dagegen Verfassungsbeschwerde ein, der das Bundesverfassungsgericht mit dem Hinweis auf das Grundrecht der freien Meinungsäußerung im Jan. 1958 stattgab. Der Spruch ging als »Lüth-Urteil« in die Rechtsgeschichte ein. 1951 unternahm er mit der Aktion »Wir bitten Israel um Frieden« einen Versuch, das Schweigen um die Judenvernichtung im Dritten Reich zu durchbrechen. L.s literar. Arbeiten wurzeln weitgehend in Hamburg. Neben der Aufarbeitung der NSZeit (Hamburger Theater 1933–1945. Hbg. 1962) bemühte sich L. um die Dokumentation des Wiederaufbaus (Neues Hamburg. 15 Bde., Hbg. 1947 ff.) u. die Lebensbeschreibung der daran beteiligten Politiker (Bürgermeister Carl Petersen. Hbg. 1971. Erich Klabunde. Hbg. 1971. Max Brauer. Hbg. 1971). Auch im Mittelpunkt seiner autobiogr. Schriften (Viele Steine lagen am Weg. Hbg. 1964. Ein Hamburger Querkopf schwimmt gegen den Strom. Hbg. 1981) steht die demokrat. Entwicklung nach 1945. Weitere Werke: Hamburgs Schicksal lag in ihrer Hand. Hbg. 1964 (Ess.). – Die Friedensbitte an Israel 1951. Hbg. 1971 (Ess.). – Der Weg der tausend Meilen. Hbg. 1978 (L.). – Johann Peter Eckermann. Hbg. 1978 (Ess.). – Hans Henny Jahnn, der Mensch u. Akademiepräsident. In: Zeitgenosse Hans Henny Jahnn. Hbg. Literaturtage. Hbg. 1985, S. 67–76. Literatur: Willy Haas: E. L. In: Profile (1957), S. 116–120 (= Jb. Freie Akademie der Künste Hamburg). – Arnold Sywottek: Die Vorgesch. der ›Friedensbitte für Israel‹. Zur Erinnerung an E. L.

563 In: Israel u. Dtschld. Hg. Angelika Eder u. Günter Gorschenek. Hbg. 2002, S. 116–127. – Thomas Henne u. Arne Riedlinger (Hg.): Das L.-Urteil aus (rechts-)histor. Sicht. Bln. 2005. – Peter Reichel u. Harald Schmid: Von der Katastrophe zum Stolperstein. Hbg. u. der NS nach 1945. Mchn. u. Hbg. 2005. – Thomas Henne: E. L. vs. Veit Harlan – Sechs Göttinger Beiträge zum L.-Urteil des Bundesverfassungsgerichts v. 1958. In: Kontinuitäten u. Zäsuren. Hg. Eva Schumann. Gött. 2008, S. 213–232. Peter König / Jürgen Egyptien

Lütkemann, Joachim, * 15.12.1608 Demmin, † 18.10.1655 Wolfenbüttel. – Lutherischer Theologe. L. studierte ab dem 2.10.1624 zunächst in Greifswald; 1628 wechselte er auf das akadem. Gymnasium Stettin u. ging 1629–1634 an die Universität Straßburg, wo Johann Conrad Dannhauer u. Johann Schmidt seine Lehrer waren. Unter dem Vorsitz Schmidts disputierte L. als Magister 1632 De sacra domini coena (Straßb.). Nach einer Italien- u. Frankreich-Reise nahm er im Nov. 1637 in Rostock erneut das Philosophiestudium auf, lehrte ab 1638 an der philosoph. Fakultät u. erhielt 1643 eine Professur für Physik u. Metaphysik. Zgl. entfaltete er, 1638 zum Diakon an der Jacobikirche berufen, eine glänzende Predigttätigkeit. Am 11.8.1646 absolvierte L. in Greifswald seine Inauguraldisputation De viribus naturae et gratiae in conversione hominis, am 27.9.1647 wurde ihm der theolog. Doktorgrad in der Nikolaikirche u. am 2.10. desselben Jahres die venia legendi in der theolog. Fakultät verliehen. Wegen einer Disputation, in der er das Menschsein Christi in der Zeit zwischen Tod u. Auferstehung bestritt (Disputationsthesen bei Grape), geriet L. 1649 in Streit mit der Rostocker Orthodoxie. Trotz der Beilegung verlangte Herzog Adolf Friedrich von Mecklenburg die Unterschrift unter zwei Reverse, die L. verweigerte, was die Suspendierung u. Ausweisung zur Folge hatte. Durch Vermittlung des Lüneburger Verlegers Stern wurde L. umgehend von Herzog August d.J. v. Braunschweig-Wolfenbüttel zum Hofprediger u. Generalsuperintendenten nach Wolfenbüttel berufen (vgl. dazu Propempticon [...]. Rostock 1649. Internet-Ed.: VD 17. Reyse-Geleits-

Lütkemann

Wunsch [...]. Rostock 1649. Internet-Ed.: VD 17). Hier leistete er bis zu seinem Tod beim kirchl. Wiederaufbau bedeutende Arbeit. Aus den Bemühungen um die Erneuerung des Katechismusunterrichts entstand L.s Corpus doctrinae catecheticae Augustum, das ist: Anleitung zur Catechismus-Lehr (Lüneb. 1656 u. ö.). Von L. stammt eine große Zahl philosophischer Dissertationen, darunter die seine christolog. Sonderlehren verteidigende De vero homine, dissertatio physico-theologica (Wolfenb. 1650). Breite Wirkung ging aus von seinen viel aufgelegten, auch ins Schwedische übersetzten Erbauungsschriften u. Predigtbänden. L.s Hauptwerk Der Vorschmack Göttlicher güte durch Gottes gnade (Wolfenb. 1653. Braunschw. 21657. 31662 u. ö.) ist ein Erbauungsbuch in der Nachfolge Arndts, das darauf dringt, Gottes Wort nicht nur zu hören, sondern »innerlich zu empfinden«. Breit ausgeführt ist die Anschauung von der »Schönheit der Seele«, mit der L. im Pietismus weitergewirkt hat. Der Vorschmack gehörte zur Lektüre der ersten pietist. Konventikel Speners. Geistliche Betrachtungen enthält die Harpffe von zehen Seyten (Wolfenb. 1658. Ffm. u. a. 1667. 1674), eine Auslegung von zehn Psalmen. Eine Epistelpostille Apostolische Auffmunterung zum lebendigen Glauben (2 Tle., Ffm./Rostock 1652 u. ö.) wurde postum »aus den hinterlassenen Concepten« durch seinen Sohn Anastasius um die Evangelische Auffmunterung zum Glauben (Hann. 1699) ergänzt. L.s Wolfenbütteler Regenten Predigt, gehalten am 14.9.1655 (Halle/S. 1663. 1667 u. ö.), ist mit ihrer Kritik an der »Staatsräson« u. der Kriegslust das eindrücklichste Dokument polit. Predigt im älteren Luthertum. Nächst der Bibel u. der luth. Orthodoxie ist L.s Religiosität in der Mystik (v. a. der mittelalterl. Brautmystik) verwurzelt. Seine Sprache entbehrt jeder barocken Zierde, ist schlicht, kräftig u. bildhaft. L.s bekannteste Schüler sind die Erbauungsschriftsteller Heinrich Müller u. Christian Scriver. Weitere Werke: Iudicii metaphysici minoris disputatio prima (-septima). Präses: J. L.; Respp.: Barthold Niemeyer u. a. Rostock 1638/39. – De viribus naturae et gratiae in conversione hominis exercitatio inauguralis [...] pro consequendo doctoreo in theologia gradu [...]. Präses: Moevius

Lütkemüller

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Lütkemüller, Samuel Christoph Abraham, * 30.11.1769 Erxleben/Altmark, † 9.9.1833 Wildberg bei Neuruppin. – Übersetzer, Romanschriftsteller, PrediAusgaben: Sonderbahre Predigten [...]. Jetzund ger.

Volschov. Resp.: J. L. Greifsw. 1646. Wittenb. 1683. – De generali et abstractiva ratione satisfaciendi pro peccatis. Disquisitio scholastica. Rostock 1647. – Lineamenta corporis physici. Rostock 1647. zum erstenmahl ingesampt außgegeben [...]. Wolfenb. 1690. – Fischer-Tümpel 4, S. 406–412. – Wider die Trunksucht [...]. Hg. Heinrich Lütkemann. Hann. 1909. Mikrofilm-Ausg. 1993. – Also sprach J. L., ein Abt des Klosters Riddagshausen: ›Bedeckt vom Staube der Jahrhunderte‹, heuer wieder ans Licht gebracht durch Wilhelm Holborn. Braunschw. 1925 (Auszug aus der ›Regenten Predigt‹).

Literatur: Bibliografie: VD 17. – Weitere Titel: Diem. Obiit. Rarae. Pietatis. Ac. Doctrinae. Theologus J. L. [...]. XV. Cal. Novembr. anni 1655 [...]. Indolescunt amici quos reliquit Rostochii. Wolfenb. 1656. Internet-Ed.: VD 17. – Lachrymae quibus [...] obitum praematurum [...] prosequuntur amici Argentoratenses [...]. Wolfenb. (auch Straßb.) 1656 (Beiträger u. a. J. Schmidt u. J. C. Dannhauer). Internet-Ed.: VD 17. – Zacharias Grape: Das evang. Rostock [...]. Rostock 1707, S. 186 f., 506–511. – Philipp Julius Rehtmeyer: Nachricht v. den Schicksalen, Schr.en u. Gaben [...] D. J. L.s, vermehret v. H. R. Märtens. Braunschw. 1740. – H. Lütkemann: J. L. Sein Leben u. Wirken. Braunschw./Lpz. 31908. – Wolfgang Sommer: Gottesfurcht und Fürstenherrschaft. Gött. 1988, S. 255–314. – Hartmut Lohmann: J. L. In: Bautz. – Gesch. Piet., Bd. 1 u. 4, Register. – Estermann/ Bürger, Bd. 1, S. 801 f.; Bd. 2, S. 957. – Luise Schorn-Schütte: Evang. Geistlichkeit in der Frühneuzeit [...]. Gütersloh 1996, Register. – W. Sommer: J. L. In: Biogr. Lexikon für Mecklenburg. Bd. 2, Rostock 1999, S. 156–161. – Ders.: Johann Arndt u. J. L. Zwei Klassiker der luth. Erbauungslit. In: Ders.: Politik, Theologie u. Frömmigkeit im Luthertum der frühen Neuzeit. Gött. 1999, S. 263–285. – Die Rektoren der Univ. Rostock 1419–2000. Hg. Angela Hartwig u. a. Rostock 2000, S. 105. – J. Wallmann: Mystik u. Kirchenkritik in der luth. Kirche des 17. Jh. Johann Arndt, J. L., Philipp Jakob Spener. In: Die Kirchenkritik der Mystiker [...]. Bd. 2: Frühe Neuzeit. Hg. Mariano Delgado u. a. Stgt. 2005, S. 343–366. Johannes Wallmann / Reimund B. Sdzuj

Der Predigersohn studierte 1790–1793 Theologie in Halle. Die übliche Studentenfußreise brachte ihn zum hochverehrten Wieland nach Weimar, der L. nach dessen Studienabschluss mit Korrektorarbeiten für den »Neuen Teutschen Merkur« u. anfangs auch für die Werkausgabe betraute. L. – Wielands »Eckermann« – genoss aufgrund seiner Loyalität das Vertrauen der Familie u. der Besucher. Er ordnete Wielands Korrespondenz u. Bibliothek u. empfing dabei Anregungen zu eigenen Arbeiten. Wieland, in angespannter finanzieller Lage, entgalt L. die vielfältigen Hilfsdienste durch Vermittlung einiger dieser Werke an Verleger. Waren L.s Übersetzungen (Ariosts Orlando der Rasende. 2 Bde., Zürich 1797/98. Legrands Erzählungen aus dem zwölften und dreizehnten Jahrhundert. 5 Tle., Halle/Lpz. 1795–98. Beide teilweise vorabgedr. im »Neuen Teutschen Merkur«) in erster Linie Arbeiten eines Privatgelehrten mit zahlreichen krit. Anmerkungen, so machte L. diese Welt des romanischen Katholizismus später zum Hintergrund des bizarren allegor. Romans Aimar und Lucine (2 Tle., Braunschw. 1802), für den Wieland auf Drängen des Verlegers Vieweg ein Vorwort schrieb. Ganz in Wielands Sinne waren zwei Parodien L.s, der kom. Roman Magister Skriblerus (Lpz. 1803), in dem er die trivialen Schauer- u. Ritterromane zgl. mit der Philosophie Fichtes aufs Korn nahm, u. die ungedruckt gebliebene Satire Wörterschau des Vetter Jacob gegen Campes sprachpurist. Feldzüge. 1803 machte eine unglückl. Liebe L.s Leben in Weimar unmöglich. Eine Berufung nach Lyon zerschlug sich, L.s Familie drängte ihn zu einer gesicherten Position. So wurde er Pfarradjunkt u. blieb es bis an sein Lebensende. Er heiratete 1805 Johanna Baldenius, die Tochter eines Vorgesetzten, gab das Schreiben auf u. lebte als poetischer Sonderling mit astronomischen u. mineralog. Ste-

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ckenpferden nicht unzufrieden in der Mark Brandenburg. Weitere Werke: Mamsell Unschuld. 2 Bde., Ffm./Lpz. 1788 (R.). – Die Revüe. Bln. 1804 (E.). – Bruchstücke aus einer Studenten-Reise. In: Der Gesellschafter 5 (1821). – Wieland’s Privatleben. Ebd. 10 (1826). Auch in: Berühmte Schriftsteller der Deutschen. Hg. Friedrich Wilhelm Gubitz. Bln. 1854, S. 153–246. Literatur: Hansjörg Schelle: S. C. A. L. in seinen Beziehungen zu C. M. Wieland. In: Jb. der JeanPaul-Gesellsch. 20 (1985), S. 127–200 (mit Brieftexten u. Bibliogr.). – Jutta Heinz (Hg.): WielandHdb. Stgt./Weimar 2008, S. 126 f. Ulrike Leuschner / Red.

Lütkens, Franz Julius, * 21.(24.?)10.1650 Dellien (Sachsen-Lauenburg), getauft am 27.10.1650 in Neuenhausen, † 12.8.1712 Kopenhagen; Grabstätte: ebd., Deutscher Friedhof, St. Petri im Krautgarten. – Lutherischer Theologe, Propst, Kirchenrat, Hofprediger, Professor; Schriftsteller. L.’ Eltern, der Müller u. ab 1658 Lüneburger Mühlenmeister Franz Lütkens (begraben 18.2.1676) u. Margaretha Wolff aus Haar (Sachsen-Lauenburg), bestimmten den Sohn nach der Genesung von einer lebensbedrohl. Erkrankung zum Theologen. Nach zehnjährigem Besuch des Lüneburger Johanneum begann L. 1668 das durch drei Stipendien ermöglichte Studium in Wittenberg, von hier nach Leipzig, Dresden u. Prag reisend. In Wittenberg wurde L. durch unerwartete Hilfe abermals aus schwerer Krankheit gerettet. Orientalistik u. (griechisch-neutestamentl.) Philologie studierte er bei August Pfeiffer (1640 bis 1698) u. Balthasar Stolberg (1640 bis 1684), bei welchen er auch wohnte. Nach einem kurzen Zwischenaufenthalt in Jena kehrte L. nach Lüneburg zurück. Erste private Stellungen u. (hebr.) Studien bei Esdras Edzard (1629–1708) in Hamburg gingen einem neunmonatigen intensiven Verkehr mit dem berühmten Exegeten, Briefpartner Philipp Jacob Speners u. Seelsorger August Hermann Franckes, Caspar Hermann Sandhagen (1639–1697), in Lüneburg vorauf, der L. durch Anleitung zum studium biblicum für »(s)eine [L.’] Zweifel und Mängel Arzney« reichte (Küster 1752, § 118). Die hier ge-

machten Erfahrungen waren für L. bestimmend bis hin zu seiner Praxis von collegia biblica für Studenten in Berlin u. Kopenhagen. Die Aussichtslosigkeit einer Anstellung in Lüneburg ließ ihn 1676 ein Schulamt in AltBrandenburg übernehmen. Dem folgte 1679 das erste Pfarramt in Magdeburg, wo er mit Christian Scriver (1629–1693) enge Verbindung hatte, ihm auch eine Traupredigt hielt. 1684 wurde L. nach Stargard an die St. Johanniskirche berufen, seit 1686 auch als kurfürstl. Rat, Konsistorial-Assessor u. VizeSuperintendent; schon 1687 indes wurde er Propst u. Konsistorialrat sowie Kirchen- u. Schulinspektor in Cölln. Von hier folgte L. 1704 einem Ruf König Friedrichs IV. von Dänemark, wie dieser mit der dän. Sprache kaum vertraut, als Hofprediger, Konsistorialrat u. Professor an der Ritterakademie in Kopenhagen. Hier starb er 1712. Verheiratet war L. in erster Ehe mit Rosina Elisabeth Praetorius (1657–1709; 13 Kinder, drei 1712 lebend), in zweiter, 1711 geschlossener mit Gertrud Struve (1672–1722). L.’ (kirchen-)amtl. Tätigkeit in Cölln fiel von 1691 bis 1704 mit derjenigen Speners (1635–1705) zusammen, der nach seiner Berufung nach Berlin an L. am 20.4.1691 schrieb (vgl. Schriften, Bd. 15/2, S. 780 ff.) u. ihm im folgenden Jahr eine Predigten-Veröffentlichung widmete. L. führte dann am 7.6.1691 Spener als Propst u. Konsistorial-Rat ein. In Fragen von Rang u. Dignität erhielt der 15 Jahre jüngere L. von Spener den Vortritt, Verwaltungsdinge u. Zuständigkeiten bei Amtshandlungen regelten beide einvernehmlich. An theolog. Potenz u. Gesprächsfähigkeit mit Adel u. Wissenschaft stand L. freilich Spener nach. Z.T. in Dissens mit Spener befand sich L. bei den aufwühlenden Unruhen um die geltende Beicht- u. Absolutionspraxis, hervorgerufen durch Johann Caspar Schade (1666–1698), dem L. schon früh nicht viel Vertrauen entgegengebracht hatte. Gemeinsam aber mit Spener u. Samuel von Pufendorf (1632–1694) empfahl L. 1694 Kurfürst Friedrich III. scharfes Vorgehen gegen katholisierende Bestrebungen in Königsberg, begleitet von einem gemeinsamen Mahnbrief L.’ u. Speners an die dortige Geistlichkeit (Spener: Schriften, Bd. 15/2,

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S. 618–623). Auch verweigerte sich L. 1703 im collegium irenicum bald den Unionsverhandlungen (wie Spener von Anfang an), vielleicht mit ein (vom dän. Gesandten nach Kopenhagen kolportierter?) Grund des Weggangs nach Dänemark. Im Festhalten an luth. Positionen u. luth. Praxis stießen Spener wie L. an Grenzen, L. z.B. in Fragen gottesdienstlicher Zeremonien, die er zwei Tage nach der zus. mit dem Prediger Christoph Friedrich Possart (1667–1738) nach luth. Ritus vollzogener Einweihung der Luisenstadtkirche in einem Brief vom 23.7.1695 an den Kurfürsten gegen dessen Verbot von »papistischen Satzungen« vom 14.7.1695 verteidigte. In Kopenhagen nahm L. Einfluss auf die DänischHallesche Mission in Tranquebar v. a. durch die über dann in Berlin durch die Geistlichen Christian Campe (1672–1752) u. Johannes Lysius (1675–1716) gelungene Gewinnung der ersten beiden Missionare Bartholomäus Ziegenbalg (1682–1719) u. Heinrich Plütschau (1676–1752), durch deren gegen Widerstände durchgesetzte Ordination u. die für sie verfasste Dienstanweisung. Über die Lage in Tranquebar ließ L. sich genau informieren (s. u. Briefwechsel, Ziegenbalg 1957, S. 71–82). L. war kein Pietist – trotz konfliktarmen Auskommens mit Spener, mindestens von 1708 bis 1711 intensiver (briefl.) Verbindung nach Halle (Francke) u. Förderung der Mission in Tranquebar. Daniel Ernst Jablonskis (1660–1741) Urteil von 1699, »ein rechter harter Orthodoxus«, darf indes nicht absehen von L.’ milder Abendmahlsauffassung, der entschieden bibl. Orientierung seiner Theologie, Predigt- u. Unterrichtspraxis u. seiner prinzipiellen Offenheit gegenüber innerevang. Unionsgedanken. In diversen Kommissionen u. in ihm abverlangten Gutachten zu verschiedenen Streitpunkten (Beichtstreit, Union, Tranquebar 1709, Terministischer Streit 1701, 1706–1708, 1728 [Noack 2001, S. 267, 283] u. Privaterbauung) wird keine radikalorthodoxe Position sichtbar. Die Charakterisierung »konservativer Pietist« (vgl. Dansk Biografisk Leksikon, s. v.) müsste auch an L.’ Predigtwerk überprüft werden. Aus den student. Privat-Konventikeln ging hervor das Collegium Biblicum [...] Die fürnehmsten Glaubens-Lehren (Kopenhagen 1715. 1717. 1726.

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1737) u. wohl auch das Collegium emphasiologicum (Lpz./Gardelegen 1728) mit ausgefalteten hermeneut. Forderungen (Unschuldige Nachrichten, 1729, S. 659 f.). Ein Edikt gegen kirchenkrit. Privaterbauungsstunden vom 2.10.1706 wiederum ist mit von L. veranlasst. L.’ literar. Werk ist nach seinem Tod vielfach gesammelt ([Leichen-/Catechismus-]Predigten, Gutachten/Sendschreiben, seelsorgerliches Schrifttum) u. aus von dem Verleger Ernst Heinrich Campe (Leipzig/Gardelegen) erworbenen Handschriften veröffentlicht worden. Mit dem Kreis von Herausgebern, Bearbeitern u. Verfassern von Vorworten war L. z.T. auch persönlich verbunden: Christoph Dietrich Chu(e)den (1676–1716; Prediger in Salzwedel, L.’ Schwiegersohn), Heinrich Lud(e)wig Goetten (1677–1737, Prediger in Magdeburg), Lorenz Gensichen (1674–1742, Armenprediger in Berlin), Johann Fecht (1636–1716, 1690 Prof. in Rostock), Christian Campe (Prediger Cölln/St. Petri, Bruder des Verlegers), Jacob Ballerstedt (Rektor der Stadtschule von Havelberg), Johann Hermann Schrader (1684–1737, bis 1728 Prediger in Oldesloe), Johann Rudolph Noltenius (1691–1754, 1734–41 Prediger in Gardelegen), Gottfried Christian Rothe (1708–1776, Prediger in Bombeck/Altmark). Viele Werke L.’ wurden in der orthodoxen Zeitschrift Valentin Ernst Löschers (1673–1749), »Unschuldige Nachrichten«, aufmerksam, umfangreich u. wohlwollend beachtet. 1729 erschienen zusammengefasst (u. in die Nähe von Speners gleichlautender, ungleich bedeutenderer Veröffentlichung 1700 gerückt) Sendschreiben/Gutachten L.’ als Theologische Bedencken, z.B. zur luth. Beichte/Absolution (auch in den 1716 herausgegebenen wichtigen Leich- und Miscellan-Predigten thematisiert u. 1727 in Große Nutzbarkeit der privat-Beicht gegen allen Verdacht papist. Missbräuche verteidigt). Den ebenfalls 1727 erschienenen Geistreichen und erbaulichen Evangeliums-Predigten haben L.’ lat. Entwürfe zugrunde gelegen; aus anderen Werken L.’ werden hier auch 300 theolog. Themen kommentiert. In dem 1733 publizierten Ausführlichen Tractat der Polygamie und Concubinat wendet L. sich gegen deren behauptete Zulässigkeit für große Potentaten, weist auf Luthers (1483–1546) Einge-

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ständnis seines ganz unvorsichtigen Rates an Philipp von Hessen hin u. lässt auch das AT nicht als Billigung der Polygamie gelten. Eine Untersuchung der großen Bibliothek L.’ (Catalogus, 1713) sowie die Erschließung u. Rekonstruktion seiner vielfältigen Beziehungen würden Umstände, Hintergründe u. Motive vieler Gelegenheitsäußerungen offenlegen können. L. hat mit seiner Nähe zum bibl. Wort u. mit seiner milden theolog. Prägung noch im 18. Jh. manches Interesse gefunden. Weitere Werke: Das zur Bekehrung u. Seeligkeit v. Gott uns verordnete Mittel, in einer Investitur-Predigt, als [...] Herr D. Philipp Jacob Spener als Probst introducirt wurde [...]. Cölln 1691. 1716. 1721. – Das Erkänntniß der Wahrheit/ zur Gottseligkeit/ nach den fürnehmsten Articuln des Apostol. Glaubensbekenntnisses gezeiget [...] in Frage u. Antwort [...]. Bln. 1703. – Christl. unmaßgebl. Gedancken, uber die Vereinigung der beyden protestirenden Kirchen. o. O. 1703 (7 weitere Ausg.n bis 1729). – 48 geistreiche u. erbaul. CatechismusPredigten. Lpz./Gardelegen 1731. – Sterbekunst in Predigten über die Evangelien [...]. Tl. 2, Magdeb. 1741. – Gründl. u. erbaul. Erklärung des Briefes des Hl. Apostels Judä [...]. Lpz./Salzwedel 1745 (1681–83 Dienstagspredigten). – Entscheidungen des Cöllnischen Konsistoriums 1541–1704 [...]. Hg. Burkhard v. Bonin. Weimar 1926, Register. – Pufendorf, Spener u. L.: Gutachten für Kurfürst Friedrich III. v. Brandenburg 1694. Hg. Reimund B. Sdzuj u. Dietrich Blaufuß. In: Marti u. Komorowski 2008 (s. u.), S. 247–263. – Briefe: Unschuldige Nachrichten 1747, S. 530–542 (L. an Kurfürst Friedrich III., o. D. [23.7.1695]). – Blaufuß 1980, S. 211, Anm. 73 (L. an Spener, 27.2.1697, 4 Drucke). – Philipp Jakob Spener: Schr.en. Bd. 15: Korrespondenz, Tl. 2, Hildesh. 1987, S. 780–782, 618–623, mit Bd. 15/1, S. 66* sub 4.5.1694 (entspr. [mit Unterschrift L.!]: Acta Borussica ecclesiastica. Bd. 1, 1730, S. 28–40: 7.5.). – Dass., ebd., Bd. 9/2 (2000), S. 1185 f. – Wilhelm Germann: Ziegenbalg u. Plütschau. Erlangen 1868, Bd. 1, S. 176–180, 183, 190–192 (8 Briefe L.’ an A. H. Francke). – Bartholomäus Ziegenbalg: Alte Briefe aus Indien. Hg. Arno Lehmann. Bln./DDR 1957, S. 71–82, 91 f., 184–189. Literatur: Bibliografien: Noack/Splett, Bd. 2, S. 269–282 (Werk-, Brief- u. Nachlassverz.). – Estermann/Bürger, Tl. 2, S. 957. – Die neuzeitl. Hss. der Nullgruppe. Ms 01–0300 [der UB Lpz.]. Beschrieben v. Detlef Döring. Bd. 1, Tl. 2, Wiesb. 2002, S. 50 (7 Briefe 1706–09 an Adam Rechen-

Lützkendorf berg). – Weitere Titel: Catalogus librorum beati [...] Lutkenii [...]. Kopenhagen 1713. – Johann Georg Walch: Histor. u. theolog. Einl. in die ReligionsStreitigkeiten der Evang.-Luth. Kirche. 5 Bde., Jena 3 1733–39. Nachdr. Stgt.-Bad Cannstatt 1972–85, Bd. 1, S. 816–820; Bd. 2, S. 910; Bd. 5, S. 90–92, 183–185. – Georg Gottfried Küster: L.’ Lebensbeschreibung (1727; gekürzt). In: Altes u. Neues Berlin. Bd. 2, Bln. 1752, S. 575–581, § 114–137. – Louis Bobé: Die dt. St. Petri Gemeinde zu Kopenhagen [...]. Kopenhagen 1925, S. 49, 403. – Walter Wendland: Studien zum kirchl. Leben in Berlin um 1700. In: Jb. für brandenburg. Kirchengesch. 21 (1926), S. 148, 151–156, 180 f. – Kurt Aland: Spener-Studien. Bln. 1943, S. 117 u. ö. – Den danske kirkes historie. Hg. Hal Koch u. Bjørn Kornerup. Bd. 5, Kopenhagen 1955. – Peter Schicketanz: Carl Hildebrand v. Cansteins Beziehungen zu Philipp Jacob Spener. Witten 1967, S. 70 f. u. ö. (Register). – D. Blaufuß: Spener-Arbeiten [...]. Bern u. a. 21980, S. 47 f., 211. – Gesch. Piet., Bd. 1 u. 2, Register. – G. W. Leibniz: Sämtl. Schr.en u. Briefe. Akademie-Ausg. Bd. I/17, Bln. 2001, S. 721. – Lothar Noack: F. J. L. In: Noack/Splett, Bd. 2, S. 260–284 (mit Lit.). – Claudia Drese: Der Berliner Beichtstuhlstreit [...]. In: PuN 31 (2005), S. 61, 75 f. – P. J. Spener: Briefw. mit August Hermann Francke. Tüb. 2006, S. 495 f. u. ö. (Register). – Hanspeter Marti u. Manfred Komorowski (Hg.): Die Univ. Königsberg in der Frühen Neuzeit. Köln u. a. 2008, Register. Dietrich Blaufuß

Lützkendorf, Felix, * 2.2.1906 Leipzig, † 19.11.1990 München. – Dramatiker, Romancier u. Drehbuchautor. Der Sohn eines Drogisten studierte Germanistik, Geschichte sowie Philosophie in Leipzig u. promovierte 1931 über Hermann Hesse. Er arbeitete in Berlin zunächst als Zeitungsredakteur u. danach als Chefdramaturg der »Volksbühne«, bevor er 1943 als Kriegsberichterstatter eingezogen wurde. Ab 1950 lebte er in München. L., der der sozialist. Jugend angehört hatte, debütierte mit dem antipoln. Stück Grenze (Urauff. Lpz. 1933), das das Schicksal einer ostdt. Gemeinde schildert. Er verstand sich als »geistiger Soldat« u. Vertreter der »neuen Männlichkeit«, die er definierte: »Knabenhaftigkeit, ewige Sehnsucht nach dem Abenteuer, Ernst, Verantwortung und eine gemessene Haltung des Herzens inmitten von

Luft

Begierden« (in: Die Bühne, 1936). Diese Vorstellungen bestimmen seine historisierenden Dramen u. seine Romane, v. a. die Konradin-Tragödie Alpenzug (Bln. 1936. Urauff. Dresden 1936) u. die stellenweise mit expressionist. Emphase verfasste Geschichte eines tödlich verunglückten Fliegeroffiziers, Märzwind (Bln. 1938). Ganz in den Dienst der NS-Propaganda stellte sich L. mit seinen Drehbüchern zu Filmen wie Wunschkonzert (1940), Stukas (1940), Über alles in der Welt (1941) u. GPU (1942). Nach dem Zweiten Weltkrieg versuchte L. in seiner dem bürgerl. Bildungsroman verpflichteten Trilogie Brüder zur Sonne (Mchn. 1955–58) den Weg der sozialist. Jugend von 1910 bis 1945 nachzuzeichnen. Sein dokumentarisches Spiel über den Kennedy-Mörder Oswald, Dallas – 22. November (Mchn. 1965. Urauff. Aachen 1965), wurde von der Kritik fast einhellig abgelehnt. Fortan verfasste L. v. a. Unterhaltungsliteratur. Weitere Werke: Opfergang. Bln. 1934 (D.). – Goldtopas. Bln. 1937 (D.). – Die Fahrt nach Abendsee. Urauff. Bln. 1963. – Ich Agnes eine freie Amerikanerin. Mchn. 1976 (R.). – Aufwiedersehen Jeannine. Ffm. 1985 (R.). Literatur: Anita Bernstetter: F. L. In: Der Bamberger Dichterkreis 1936–43. Hg. Wulf Segebrecht. Bamberg 1985, S. 187–191. Hans Sarkowicz / Red.

Luft, Friedrich (John), auch: Urbanus, Franz Flut, * 24.8.1911 Berlin, † 24.12. 1990 Berlin; Grabstätte: ebd., Waldfriedhof Dahlem. – Film- u. Theaterkritiker, Hörspiel- u. Drehbuchautor. Der Sohn eines dt. Studienrats u. einer Schottin begeisterte sich bereits früh für das Theater u. studierte nach seinem Abitur Philosophie, Anglistik, Germanistik u. Geschichte in Berlin u. Königsberg. Nach einer Hörsaalschlacht gegen NS-Studenten musste er sein Studium aufgeben u. lebte fortan als freier Schriftsteller, Feuilletonist u. Rezensent von Gelegenheitsarbeiten. Auf Vermittlung einer Cousine lernte er 1934 Werner Finck kennen, den er fortan als »freischaffender Sekretär« unterstützte u. schließlich auch als Autor. Kurz vor seiner Einberufung

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1940 heiratete L. die Malerin Heide Thilo. Während des Krieges arbeitete er, nach verschiedenen Bürotätigkeiten, seit 1942 bei der Heeresfilmstelle u. schrieb Lehrfilme u. a. über Gasmasken u. Brieftauben. Nach 1945 stand L. in der von Nikolai Bersarin gegründeten Kammer der Kunstschaffenden kurzfristig der Sektion Literatur vor. Nach Auflösung der Kammer war er Feuilletonchef u. Film- u. Theaterkritiker bei der Berliner Ausgabe der »Neuen Zeitung«; ab 1955 war er Chefkritiker der »Welt«, in derselben Funktion stieß er 1976 zur »Berliner Morgenpost«. Seit 1950 beteiligte sich L. regelmäßig mit Beiträgen an der Zeitschrift »Monat«. 1955–1962 schrieb er zudem für die »Süddeutsche Zeitung«. L. gehörte zu den geistigen Vätern des Berliner Theatertreffens, das er 1964/65 u. 1969–1974 als Mitgl. der Kritikerjury begleitete. Seit Febr. 1946 leitete L. im RIAS die wöchentl. Sendung »Stimme der Kritik«, die ihn zu einer Berliner u. auch dt.-dt. Institution auf dem Gebiet der Theaterkritik machte. Jedes Mal verabschiedete er sich dabei mit dem berühmten Hinweis auf die nächste Sendung: »Gleiche Stelle, gleiche Welle«. L.s Interesse galt nicht der theaterhistorisch u. literaturtheoretisch fundierten Kritik oder der polit. Aussage der Stücke, sondern der sinnl. Qualität des Theaterereignisses, das er mit der ihm eigenen Diktion, häufig mit Metaphern u. kulinar. Vokabular, beschrieb. Gerne verwendete er auch idiomat. Wendungen aus dem Berlinerischen. Alle seine Kritiken schrieb L. von einer zutiefst subjektiven Warte aus, wodurch sie ein hohes Maß an Authentizität erreichten. Dabei galt ihm das Theater als Unterhaltungsmedium, das, abgesehen davon, auch ein Ort der Auseinandersetzung mit gesellschaftl. Problemen sein könne. Politisch engagierte Stücke wie etwa Hochhuths Der Stellvertreter begrüßte L., doch hielt ihn das keineswegs davon ab, dessen dramaturgische, für ihn zgl. moral. Schwäche zu benennen, die er in der Figur des Papstes erkannte. Eine polit. Didaktik oder eine Vereinfachung der komplexen Wirklichkeit auf dem Theater zugunsten einer Tendenz lehnte L. entschieden ab. 1976 wurde ihm vom Berliner Senat der Professorentitel verliehen, 1978 erhielt er den

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Ricarda-Huch-Preis der Stadt Darmstadt. Seit 1992 verleiht die »Berliner Morgenpost« den Friedrich-Luft-Preis für die »beste Berliner Theateraufführung». L.s Nachlass befindet sich in der Akademie der Künste. Weitere Werke: Luftballons. Bln. 1939 (P.). – Tagebl. v. Urbanus. Bln. 1948 (P.). – Puella auf der Insel (zus. mit seiner Frau Heidi Luft). Bln. 1949 (Kinderbuch). – 10 Jahre Theater. Bln. 1955 (P.). – Vom großen, schönen Schweigen – Arbeit u. Leben des Charles Spencer Chaplin. Bln. 1957 (P.). – Stimme der Kritik. Berliner Theater 1945–61. Bln. 1961. 1981 (P.). – Luftsprünge. Heitere Skizzen u. Zeitgespräche. Bln. 1962. – Stimme der Kritik. Theaterereignisse 1965–79. Bln. 1979 (P.). – Die Stimme der Kritik. Gespräch mit Hans Christoph Knebusch in der Reihe ›Zeugen des Jahrhunderts‹. Hg. Ingo Hermann, Redaktion: Jürgen Voigt. Gött. 1991. – Blick über den Zaun. Bln. 1999 (P.). Literatur: Petra Kohse: Gleiche Stelle, gleiche Welle. F. L. u. seine Zeit. Bln. 1998. Paul Stänner / Alexander Schüller

Luitpold, Josef ! Stern, Josef Luitpold Lukács, Georg (György Szegredi von), Parteidecknamen: Blum, Keller, * 13.4. 1885 Budapest, † 4.6.1971 Budapest; Grabstätte: ebd., Kerepesi-Friedhof. – Philosoph, Literaturtheoretiker. Der Sohn eines 1891 geadelten Bankiers veröffentlichte bereits vor dem Abitur 1902 Theaterkritiken u. besuchte Henrik Ibsen in Oslo. L. studierte Jura u. Nationalökonomie (Promotion 1906), danach Philosophie, Kunstgeschichte u. Literatur (Promotion 1909). Neben Wilhelm Dilthey übte v. a. Georg Simmel starken Einfluss auf ihn aus. 1904 gehörte er zu den Gründern der Thalia-Bühne in Budapest, seit 1908 war er Mitarbeiter der Zeitschrift »Nyugat« (Westen), in der er seine ersten bedeutenden Essays u. Vorstudien zur Entwicklungsgeschichte des modernen Dramas (2 Bde., Budapest 1911. Vollst. dt. in: Werke. Bd. 15, Neuwied 1981) veröffentlichte. 1908/09 studierte er Philosophie in Berlin bei Simmel, 1910 lernte er Ernst Bloch kennen. Nach Aufenthalt in Florenz u. dem Beginn eines Briefwechsels mit Paul Ernst wohnte er 1912–1917 abwechselnd in Budapest u. Heidelberg, wo er bei Heinrich Rickert, Wilhelm

Windelband u. Emil Lask studierte u. Stefan George u. Friedrich Gundolf kennenlernte. Er war – wie Bloch – Mitgl. des Max-WeberKreises u. gleichzeitig Mitgl. des sog. Sonntagskreises (Béla Balázs, Béla Fogarasi, Karl Mannheim, Arnold Hauser) in Budapest. Nach dem Scheitern eines Habilitationsversuchs, der eine Erweiterung der Rickert’schen Wertlehre um eine Ästhetik erbringen sollte, kehrte er 1917 nach Budapest zurück. Ende 1918 trat er der KPU bei, wurde 1919 Mitgl. des Zentralkomitees u. war während der Räterepublik Béla Kuns Volkskommissar für Unterrichtswesen u. polit. Kommissar einer Roten Division. Nach dem Sturz der Räterepublik arbeitete er 1919–1929 illegal für die KPU in Budapest u. Wien. Der Schwerpunkt von L.’ theoret. Arbeit lag nun auf Problemen, die sich aus der theoret. u. politisch-prakt. Situation der kommunist. Weltbewegung ergaben (Lenin. Studien über den Zusammenhang seiner Gedanken. Wien 1924. Moses Hess und die Probleme der idealistischen Dialektik. Lpz. 1926); diese Schriften kennzeichnen L.’ berühmte Wende zum Marxismus. 1930 wurde L. aus Österreich ausgewiesen. Er lebte 1931–1933 in Berlin, wo er zu den führenden Mitgliedern des Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller gehörte, in dessen Organ »Linkskurve« er mehrere programmat. Aufsätze veröffentlichte: Vorspiel der L.’schen Normsetzung des sozialist. Realismus (Tendenz oder Parteilichkeit. Nr. 6, 1932, S. 13–21. Reportage oder Gestaltung. Nr. 7/8, 1932, S. 23–30). 1933 emigrierte L. in die UdSSR, wo er Mitarbeiter zahlreicher Zeitschriften wurde (»Internationale Literatur«, »Literaturnyi kritik«). Ausgehend von seinem Essay über den dt. Expressionismus, Größe und Verfall des Expressionismus (russ. 1933. Dt. in: Internationale Literatur 1, 1934, S. 153–173), griff L. 1938 in die Expressionismus-Debatte der dt. Exilschriftsteller ein (Es geht um den Realismus. In: Das Wort 6, 1938, S. 112–138). Weiterhin setzte er sich ausführlich mit der Entwicklungsgeschichte der Philosophie im 19. u. 20. Jh. vor dem Hintergrund der Herausbildung der faschist. Ideologie auseinander: Arbeiten, die er in der Zerstörung der Vernunft (Bln./DDR 1954) zusammenfasste.

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1944 kehrte L. nach Budapest zurück, wurde Ordinarius für Ästhetik u. Kulturphilosophie u. gehörte 1949–1956 dem ungarischen Parlament an. 1956 trat er als Minister für Volksbildung in die Regierung Imre Nagy ein; nach der Niederwerfung des ungarischen Aufstands u. dem Sturz der Regierung Nagy wurde L. nach Rumänien verbannt, konnte aber bereits 1957 nach Budapest zurückkehren. Im Zentrum seiner wiss. Arbeit stand bis zu seinem Tod die Ausarbeitung seiner Ästhetik (in: Werke. Bde. 11/12, 1963) u. einer Ontologie (in: Werke. Bde. 13/14, 1984–86). 1958 begann auch in der DDR eine öffentl. Auseinandersetzung mit dem seit seiner Wendung zum Parteikommunismus – v. a. in den nichtsozialist. Ländern – stets umstrittenen L., die wegen seines Engagements in der Regierung Nagy zunächst eine politisch geprägte, pauschale Verurteilung seines Gesamtwerks als »revisionistisch« zur Folge hatte. Erst Mitte der 1960er Jahre begann in der DDR eine sachlich-krit. Neubeschäftigung mit L.’ Werk, die sich v. a. an der Differenz zur Ästhetik Brechts orientierte. Sie konzentrierte sich allerdings nur auf das Spätwerk u. berücksichtigte das einflussreiche vormarxist. Frühwerk kaum. L. erhielt 1955 den Kossuth-Preis u. 1970 den GoethePreis der Stadt Frankfurt/M. L.’ frühe dt. Schriften, Die Seele und die Formen (Budapest 1910. Dt. Bln. 1911), Die Theorie des Romans (Bln. 1920) u. die postum veröffentlichte Heidelberger Ästhetik (in: Werke. Bd. 17, 1974), zeugen von einem umfassenden Krisenbewusstsein angesichts erfahrener Sinnlosigkeit u. Entfremdung in der bürgerl. Welt u. von der Suche nach Gemeinschaft u. einem möglichen sinnvollen Handeln. L.’ antibürgerl. Rebellion fand in einem von ihm auch später bewahrten ethischen Rigorismus ihr Zentrum. Seine Auseinandersetzung mit ästhetischen Fragestellungen – fußend auf einem brillant-essayist. Umgang mit Friedrich Schlegel, Solger u. Hegel – bewegte sich in dieser Zeit auf zwei eng miteinander verbundenen Ebenen: Einerseits ging es ihm um eine historisch-soziolog. Analyse künstlerischer – insbes. literarischer – Formen u. Prozesse. Andererseits suchte L. auf der Grundlage einer eigenständigen Verarbeitung ak-

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tueller philosoph. Strömungen (Lebensphilosophie, Neukantianismus, Neuplatonismus) Grundstrukturen einer Kunstphilosophie als Weltanschauung zu entwerfen. Dabei nahm er in seinem Stefan George-Essay von 1908 (in: Die Seele und die Formen) expressionist. Entwicklungen in der Lyrik vorweg. Neben Novalis, Dostojewskij u. Kierkegaard stand zunehmend die Weimarer Klassik im Mittelpunkt von L.’ geistiger Entwicklung. Hier sah er ein Welt- u. Menschenbild, das ihm zur weltanschaulich-philosoph. Alternative gegenüber der geistigen u. prakt. Zerrissenheit bürgerl. Lebens wurde. In der geschichtsphilosophisch orientierten Theorie des Romans, die als Reaktion auf den Ausbruch des Ersten Weltkriegs entstand, entwarf L. den theoriegeschichtlich bis heute nachwirkenden Gedanken, dass die Kunst im Verhältnis zum Leben immer ein Trotzdem sei; das Schaffen künstlerischer Formen gebe sich zu erkennen als die tiefste Bestätigung sozialer Dissonanz, was L. am Begriff der Zeit – die bedeutendste Leistung der Theorie des Romans – zeigte. Der Gedanke des Trotzdem lebt in L.’ späterer Theorie vom »großen Realismus« als ein utop. Schimmer fort u. wurde zu einem Ausgangspunkt der ästhet. Theorie Theodor W. Adornos. Außerdem finden sich hier noch zentrale Kategorien, etwa »Totalität« u. »problematisches Individuum«, die sich auch im späteren marxist. Werk erhalten werden. Das Buch Geschichte und Klassenbewußtsein (Bln. 1923) wie auch die Aufsatzsammlung Taktik und Ethik (Budapest 1919. Dt. in: Werke. Bd. 2, 1968) zeugen von der Erwartung der nun anbrechenden messian. Welt des Sozialismus, die L. mit zahlreichen anderen linken Intellektuellen der Zeit teilte. Darüber hinaus beeinflusste Geschichte und Klassenbewußtsein mit seinem im Anschluss an Marx’ HegelAuslegung gewonnenen Begriff der »Verdinglichung des Bewußtseins« als Substrat der kapitalist. Produktion wichtige philosoph. Strömungen wie die Frankfurter Schule u. die Wissenssoziologie. Mit L.’ Bestimmung entfremdeter Arbeit begann ein neuer Abschnitt in der geschichtl. Analyse der Antinomien des bürgerl. Bewusstseins. Daneben zeigt das Buch, wie L. das Humanitätsideal

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der dt. Klassik auf spezif. Weise mit dem Marxismus in Verbindung zu bringen suchte. 1928 entwarf L. für den II. Kongress der KPU die Thesen über die politische und wirtschaftliche Lage in Ungarn und über die Aufgabe der KPU (sog. Blum-Thesen. Gekürzt Budapest 1956. Dt. in: Werke. Bd. 2, 1968). Sie wurden bei ihrem Erscheinen durch die KPU u. die Komintern verurteilt. L. zog die Thesen zurück u. übte – wie einige Male in seinem Leben – Selbstkritik. Der dort im Ansatz vorhandene Versuch einer Vermittlung der bürgerlich-demokrat. Traditionen mit der geschichtl. Bewegung zum Sozialismus wurde von L. als ein Beitrag zur Herausbildung einer dem Sozialismus gemäßen Demokratiekonzeption begriffen. Die in der UdSSR entstandenen ästhetischliteraturgeschichtl. Arbeiten, deren philosophischen Gehalt L. auf eine bis dahin kaum gegebene Weise erschloss – so zu Heinrich Heine, Georg Büchner u. Thomas Mann, dem er selbst 1919 zum ersten Mal begegnet war –, orientierten sich auf Humanität u. Demokratie hin. Ausgehend von der Lenin’schen Widerspiegelungstheorie u. in Verbindung mit eigenen histor. Studien zu Balzac, Lew Tolstoj u. Walter Scott, hatte L. Anfang der 1930er Jahre seine Konzeption der poet. Widerspiegelung u. des Realismus entworfen. L.’ Realismusbegriff – von ihm zur alles übergreifenden ästhet. Norm erhoben – findet in der dt. Klassik, v. a. in Goethe, u. im Realismus des 19. Jh. seinen Bezugspunkt. Die Literatur der Moderne wertete er als dekadent u. formalistisch ab, ausgenommen jene Autoren, die den Traditionen des Realismus im Sinne L.’ folgten (Thomas Mann, Arnold Zweig). Die Kanonisierung des Realismus des 19. Jh. durch L., der das ästhetischethische Begriffspaar »Gestalten« u. »Beschreiben« zum gültigen Maßstab sozialistischer Literaturkritik machte, konnte den unterschiedl. Strömungen der Moderne (Kafka, Proust, Joyce) kaum gerecht werden, vermochte v. a. nicht zu begreifen, dass die literar. Moderne ästhet. Gebilde nicht mehr – wie das 18. u. 19. Jh. – als ethischen Gegenentwurf zu einer wie auch immer gearteten Welt konzipierte. Das hatte L. selbst als einer der Ersten in seiner Theorie des Romans erfasst, aber nach seiner marxist. Wende zu Lasten

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der Literatur als dekadenten Ästhetizismus verworfen – immerhin aber als Ausdruck einer Zeit, die Kunstproduktionen tendenziell unmöglich mache. Realismus als poet. Prinzip widerspiegle das unter der Oberfläche der Erscheinungen verborgene Wesen des geschichtl. Seins. Als dieser unterstellte Weltsinn für L. in der gesellschaftl. Wirklichkeit nicht mehr sichtbar wurde, erhielt die Kunst für ihn immer mehr die Funktion der Sinnbewahrung. Dieser Realismusbegriff verbaute L. auch den produktiven Zugang zu den künstlerisch-ästhet. Konzeptionen linker Intellektueller am Ende der 1920er u. zu Beginn der 1930er Jahre (Brecht, Walter Benjamin, Hanns Eisler). Später verhinderte u. a. L.’ überragende Stellung als Literaturkritiker in den sozialist. Ländern dort bis in die 1980er Jahre eine umfassende produktive Auseinandersetzung mit der literar. Moderne. Die gegen L.’ Ästhetik vorgebrachte Kritik, die bereits in den 1930er Jahren einsetzte (Brecht, Anna Seghers, Bloch), wies wiederholt auf die Grenzen seines Realismusbegriffs hin. Seine späte Ästhetik (Die Eigenart des Ästhetischen. Neuwied 1963), die in Adornos Ästhetischer Theorie ein Gegenmodell findet, ist gleichwohl einer der umfassendsten Versuche dieses Jahrhunderts, Kunst im histor. u. perspektivischen Sinne zu erschließen. Noch in seiner Ontologie des gesellschaftlichen Seins, seinem philosoph. Testament, kommen Literatur u. Kunst neben dem Hegel’schen Aspekt, »Gedächtnis der Menschheit« zu sein, utopische Potentiale zu: »Das Kunstwerk, wenn es wirklich eines ist, hat (...) ein permanentes, immanentes Gerichtetsein gegen die Entfremdung.« Damit schließt sich dann auch der Kreis in L.’ Lebenswerk, in dem man eine Bewegung von der Utopie zur Ontologie u. wieder zurück erkennen kann. L. selbst hat an einer Stelle seiner Autobiografie Gelebtes Denken davon gesprochen, dass bei ihm jede Sache die Fortsetzung von etwas sei: »Ich glaube, in meiner Entwicklung gibt es keine anorganischen Elemente.« Weitere Werke: Ess.s über den Realismus. Bln. 1948. – Schicksalswende. Beiträge zu einer neuen dt. Ideologie. Bln. 1948. – Karl Marx u. Friedrich

Lund

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Engels als Literaturhistoriker. Bln. 1948. – Der russ. Realismus in der Weltlit. Bln. 1949. – Thomas Mann. Bln. 1949. – Goethe u. seine Zeit. Bln./DDR 1950. – Dt. Realisten des 19. Jh. Bln./DDR 1951. – Skizze einer Gesch. der neueren dt. Lit. Bln./DDR 1953. – Beiträge zu einer Gesch. der Ästhetik. Bln./ DDR 1954. – Wider den mißverstandenen Realismus. Hbg. 1958. – Nachlass: Veröffentlichungen des L.-Archivs Budapest 1979 ff. (darin: Demokratisierung heute u. morgen. 1985). Ausgaben: Werke. Neuwied 1962 ff. (Bd. 18: Autobiogr. Schr.en. Bielef. 2005). – Teilausgaben: Schr.en zur Literatursoziologie. Neuwied 1967. – Polit. Aufsätze. 1918–29. 5 Bde., Darmst. 1975–79. – Moskauer Schr.en. Zur Literaturtheorie u. Literaturpolitik 1934–40. Darmst. 1981. – Briefe: Briefw. 1902–17. Budapest/Stgt. 1982. – Ernst Bloch u. G. L. Dokumente zum 100. Geburtstag. Budapest/Stgt. 1982. – Gespräche: Gespräche mit G. L. Ffm. 1967. – Gelebtes Denken. Eine Autobiogr. im Dialog. Ffm. 1981. Literatur: Bibliografien in: FS zum 80. Geburtstag. Neuwied 1965, S. 625–696. – Magyar filozófiai szemle (1985). – Weitere Titel: Theodor W. Adorno: Erpreßte Versöhnung (1958). In: Ders.: Ges. Schr.en. Bd. 11, Ffm. 1974. – Hans Koch (Hg.): G. L. u. der Revisionismus. Bln./Weimar 1960. – Peter Lutz: Marxismus u. Lit. In: G. L.: Schr.en zur Literatursoziologie. a. a. O. – David Kettler: Marxismus u. Kultur. Neuwied 1967. – Text + Kritik 39/40 (1973). – Jörg Kammler: Polit. Theorie v. G. L. Struktur u. histor. Praxisbezug bis 1929. Darmst. 1974. – W. Mittenzwei (Hg.): Dialog u. Kontroverse mit G. L. Lpz. 1975. – Lucien Goldmann: L. u. Heidegger. Darmst. 1975. – Agnes Heller (Hg.): Die Seele u. das Leben. Studien zum frühen L. Ffm. 1977. – Der Streit mit G. L. Hg. Hans-Jürgen Schmitt. Ffm. 1978. – Frank Benseler (Hg.): Revolutionäres Denken – G. L. Darmst. 1984. – G. L., Karl Mannheim u. der Sonntagskreis. Ffm. 1985. – Werner Jung: G. L. Stgt. 1989. – Ders.: L.-Studien. Bielef. 2001. – Jb. der Internat. G.-L.-Gesellsch. Hg. Frank Benseler u. W. Jung. 10 Bde. (ab Bd. 3, Bielef.) 2000 ff. – W. Jung: Die Zeit – das depravierende Prinzip. Kleine Apologie v. G. L.s ›Die Theorie des Romans‹. In: Ästhetik in metaphysikkrit. Zeiten. Hg. Josef Früchtl u. Maria MoogGrünewald. Hbg. 2007, S. 187–199. Jörg Heiniger / Werner Jung

Lund, Zacharias, * 5.4.1608 Nübel (dänisch: Nybøl), † 8.6.1667 Kopenhagen. – Lyriker u. Dramatiker. L. entstammte einer evang. Pastorenfamilie. Er besuchte nach den Lateinschulen in Sonderburg u. Flensburg seit 1625 das Akademische Gymnasium im Hamburg. Dort erhielt er erste Anregungen zum Dichten u. schloss Freundschaft mit Vincenz Fabricius. Im Herbst 1630 ging er zum Theologiestudium nach Wittenberg, wo August Buchner sein Lehrer auf dem Gebiet der nlat. Lyrik wurde. Im Sept. 1631 kehrte L. wegen des Einmarsches schwedischer Truppen in Wittenberg in seine Heimat zurück u. wurde Hauslehrer, zunächst bis 1634 auf einem Gut in Nordfriesland, dann in Hamburg, wo er wieder mit Fabricius Umgang hatte. Er veröffentlichte jetzt zwei Gedichtsammlungen: Poematum juvenilium libri IV (Hbg. 1634. Titelaufl. 1635) u. Allerhand artige deutsche Gedichte (Lpz. 1636). 1638 wurde L. Hofmeister eines dän. Adeligen, mit dem er 1639 die Ritterakademie Sorø bezog u. 1641–1645 auf eine Kavalierstour nach England, Frankreich, Italien u. in die Niederlande ging. L.s Hoffnungen auf eine Anstellung im Staatsdienst zerschlugen sich. Er wurde daher 1646, nur sehr ungern, Rektor der Schule in Herlufsholm auf der Insel Seeland u. 1654 Bibliothekar des Adeligen Jørgen Seefeld in Ringsted, der die größte private Büchersammlung in Dänemark besaß. 1657 konnte L. endlich in den Staatsdienst eintreten: Er wurde Sekretär der Dänischen Kanzlei in Kopenhagen, zuständig v. a. für das Dechiffrieren von Geheimkorrespondenzen. Literaturgeschichtlich bedeutend ist L. als Repräsentant jener frühen Barockdichter, die als Erste die neuen süd- u. westeurop. Vorbilder nachzuahmen begannen. Am Anfang steht ein ungedruckt gebliebenes Schäferspiel, Reu und Leid über die Liebe der Schäferin Dieromene (um 1630; nach Roland Brisset, 1591), ein noch schülerhafter, stilistisch unbeholfener Versuch in einer Gattung, mit der sich die Opitz-Schule bis dahin noch nicht auseinandergesetzt hatte. Besser gelungen sind die Deutschen Gedichte, die die neuen

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Lundorff

Formen u. Themen der Barocklyrik schon latin poem by Z. L. (1608–67). In: Erudition and geläufig durchspielen u. der Lyrik des Leip- Eloquence. The Use of Latin in the Countries of the ziger Fleming-Kreises verwandt sind. Noch Baltic Sea. Hg. Outi Merisalo u. a. Helsinki 2003, interessanter ist das ungedruckt gebliebene S. 33–49. Dieter Lohmeier / Red. bibl. Trauerspiel Zedechias (wohl 1637; nach Guilliam van Nieuwelandt, 1635), das erste voll ausgebildete barocke Trauerspiel in Lundorff, Lundorp, Michael Caspar, auch: Deutschland, auch das erste, das diese neue Raphael Sulpicius à Muncrod, * um 1580 Gattungsbezeichnung führt. L. geht hier ge- Frankfurt/M., † 24.9.1629 Frankfurt/M. – schickt mit dem Alexandriner um u. deutet Historiker u. Publizist. den alttestamentl. Stoff im Sinne einer BußNach dem Studium in Marburg (ab 1601) u. predigt. Nach seinem Weggang aus Hamburg Wittenberg (kein Eintrag in der Matrikel) kehrte L. ganz zur Tradition des Späthuma- wurde L. 1604 gleich seinem Vater Gymnasinismus zurück, in der er aufgewachsen war. allehrer in Frankfurt/M. u. bereitete geDie für ihn selbst wichtigsten – druckferti- meinsam mit Melchior Goldast eine Petronigen, aber nie veröffentlichten – Teile seines us-Ausgabe vor. Als Folge von Querelen mit Nachlasses, der größtenteils in die Königliche seinen Vorgesetzten wegen angeblich ungeBibliothek Kopenhagen gelangte, waren sein nügender Amtsführung wurde er 1607 aus eigentliches literar. Hauptwerk, eine um- dem Schuldienst entlassen u. war fortan gefangreiche Sammlung Poemata latina, u. eine zwungen, sein Leben als Schriftsteller u. Edition von Gelehrtenbriefen sowie mehrere Journalist zu fristen. Das brachte ihm den philologisch kommentierte Ausgaben lat. u. Vorwurf der Vielschreiberei ein, doch musste er sich im aufblühenden Buchhandel der griech. Texte. Weiteres Werk: Vincentii Fabricii Poemation: Messestadt um verschiedenste Aufträge beDe stupendo et admirabili casu, qui in Hollandia mühen, auch um solche, die seiner luth. tempore pestis contigit. [...] Poëtisch Gedicht [...]: Herkunft nicht entsprachen. Am originellsUbergesetzt v. Z. L. Hbg. 1636. Internet-Ed.: ten ist wohl seine Schwank- u. Anekdotendünnhaupt digital. sammlung Wißbadisch Wisenbrünlein: Das ist, Literatur: Bibliografien: Dünnhaupt 2. Aufl. Hundert schöne [...] zum theil new, zum theil aber Bd. 4, S. 2619–2623. – Alberto Martino: Die ital. auß etlichen lateinischen und teutschen Scribenten Lit. im dt. Sprachraum [...]. Amsterd. u. a. 1994, zusammen gelesene [...] Historien (2 Tle., Ffm./ S. 139. – Weitere Titel: Johannes Moller: Cimbria Darmst. 1610/11), die heute zu den Rarissima literata. Bd. 1, Kopenhagen 1744, S. 369–372 (mit in dt. Bibliotheken zählt. L. nahm Anleihen Schriftenverz.). – Erich Schmidt: Z. L. In: ADB. – aus Boccaccios Decamerone, den Colloquia des Karin Unger: Z. L. In: BLSHL, Bd. 1 (1970), S. 194 f. Erasmus, den Facetiae Bebels, bei Otho Mel– Ulrich Moerke: Die Anfänge der weltl. Barocklyander, der Cosmographia Sebastian Münsters rik in Schleswig-Holstein. Neumünster 1972 (mit u. anderen namhaften Autoren. BemerkensEd.). Rez. v. Wilhelm Friese: Dän. Barockdichtung. Forsch.en u. Ausg.n seit 1968. In: Skandinavistik 6 wert sind die Texte, die L. aus der mündl. (1976), S. 69–74. – Klaus Garber: Der locus amoe- Tradition des Rhein-Main-Gebiets übernus u. der locus terribilis [...]. Köln u. a. 1974 (Re- nahm. gister). – Heiduk/Neumeister, S. 66, 203, 407. – Zudem wirkte er, wohl zur ExistenzsicheDieter Lohmeier: Z. L. In: NDB. – Estermann/ rung, als langjähriger Herausgeber der »Acta Bürger, Tl. 2, S. 957 f. – Minna Skafte Jensen: Eine publica« (Ffm. 1611–25), einer Urkundenhumanist. Dichterfreundschaft des siebzehnten Jh. sammlung zur Zeitgeschichte, u. zeichnete In: Humanismus im Norden [...]. Hg. Thomas für umfangreiche Editionen wie CommentaHaye. Amsterd. u. a. 2000, S. 265–287. – D. Lohmeier: Im Spannungsfeld v. Theologie u. weltl. riorum Joh. Sleidani de statu religionis et rei puKarriere. Z. L. zwischen nlat. u. dt. Lit. In: Dänisch- blicae [...] continuatio (2 Tle., Ffm. 1614–19), dt. Doppelgänger. Transnat. u. bikulturelle Lit. Bellum sexennale-civile-germanicum (Ffm. 1622. zwischen Barock u. Moderne. Hg. Heinrich Dete- Erw. Ffm. 1623) u. Oesterreichischer Lorberring u. a. Gött. 2001, S. 15–25. – M. S. Jensen: A krantz (Ffm. 1625).

Lupinus Calidomius Literatur: Bibliografie: VD 17. – Weitere Titel: Franz Xaver v. Wegele: M. C. Lundorp. In: ADB. – Ernst Fischer: M. C. L., der Hg. der Acta publica [...]. Bln. 1870. – Reinhold Köhler: M. C. L.s Wissbadisch Wiesenbrünnlein. In: Ders.: Kleinere Schr.en zur neueren Literaturgesch. Hg. Johannes Bolte. Bd. 3, Weimar/Bln. 1900, S. 57–73. – Elfriede Moser-Rath: Lustige Gesellsch. Schwank u. Witz des 17. u. 18. Jh. Stgt. 1984, S. 12–14, 42 u. passim. – Klaus Bender: Die Frankfurter Meßrelationen u. M. K. L. Neue Funde aus den Jahren 1620–27. In: Wolfenbütteler Notizen zur Buchgesch. 9 (1984), S. 87–109. Elfriede Moser-Rath † / Red.

Lupinus Calidomius, Matthäus, eigentl.: Wulfahrt de Morstadt (?), † vor 1501. – Lehrer u. Dichtungstheoretiker. Wenn die Identifizierung mit Wulfahrt de Morstadt zutrifft, war L. 1479 an der Leipziger Universität immatrikuliert (Baccalaureus 1480), erreichte jedoch erst im Winter 1490/ 91 das Magisterdiplom. 1497 war er Schullehrer in Großenhain bei Leipzig. In seinem 1500/01 erschienenen Laconismos bezeichnet Martin Polich L. als einen zu früh Verstorbenen. Trotz dieser spärl. Daten kann man L. zu den wichtigsten Trägern des sich ausbreitenden dt. Humanismus zählen. Geprägt von der Leipziger Lehrtätigkeit Celtis’, führte er mit Johannes Honorius, Jacob Barinus, Martin Polich u. Ivo Wittich auch nach dem Weggang des »Erzhumanisten« die Auseinandersetzung mit den letzten Scholastikern weiter. Dass Polich ihn in seinem Nachruf als Bannerträger der Sodalitas Leucopolitana bezeichnen konnte, wird nachvollziehbar anhand des einzigen überlieferten Werks L.’, der 1500 gedruckten Quaestio de poetis a re publica minime pellendis. Die hier herausgegebene Rede hatte L. am 1.4.1497 im Rahmen einer feierl. Disputation der Leipziger Universität gehalten. Anlass waren die gegen die Humanisten gerichteten Angriffe scholast. Theologen, die jede Heranziehung der »heidnischen« antiken Schriftsteller immer noch ablehnten, weil dadurch der Primat der Religion über Philosophie u. Dichtung u. damit die christl. Kirche gefährdet werde. Im Auftrag seiner Humanistenfreunde versucht

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L., dies mit einer in drei Artikel gegliederten Rede zu entkräften. Im ersten Artikel definiert er in Anlehnung an die antike Dichtungstheorie u. die Maxime »Deus fortuna et ars humana omnia gubernant« die Verbindung von »ars poetica« u. »furor poeticus« als Voraussetzung vollkommener Dichtkunst. Dieser »furor« ist göttl. Natur u. bestätigt so das Wort Platons: »Vera poesis a deo est«. Demgemäß sind auch die »divine poete« als »vates« (Priester) anzusehen. Nachdem so die göttl. Inspiration des wahren Dichters festgelegt ist, dient der zweite Artikel dem Nachweis, dass auch die heidn. Dichter unter den verschiedensten Namen doch immer nur den einen Gott besungen haben. Aufbauend auf dieser pantheistisches Gedankengut enthaltenden These, entwirft L. eine kleine Literaturgeschichte der »veri poete«, in der hebr. »Dichter« (Moses, Hiob [!]), ägypt., griech. u. röm. Dichter neben den Kirchenvätern u. zeitgenössischen, von der Kirche akzeptierten Autoren (Petrarca, Enea Silvio) stehen. Im dritten Artikel befasst sich L. mit einem bes. schlagkräftigen Gegenargument der Scholastiker, die den von den Humanisten hochgeschätzten Platon als Kronzeugen gegen sie einsetzen: Auch dieser wollte die Dichter aus seinem Idealstaat ausschließen. Sich selbst Platons Methode bedienend, löst L. das Problem dialektisch, indem er als Gegenstand des Verdikts nur tragische u. kom. Dichtung, die es in Deutschland ohnehin kaum gebe, gelten lässt, wogegen Platon »hymnos in deos« sehr wohl akzeptiert. Mit der Heranziehung Platons haben sich die Scholastiker also selbst in eine Tradition gestellt, der die zeitlose Gültigkeit aller wahren, Gott verherrlichenden Dichtung zugrunde liegt u. der auch die humanist. Poeten verpflichtet sind. L.’ Versuch, eine Synthese von Glaube u. Weisheit, Christentum u. antiker Philosophie zu erreichen, blieb in seiner Zeit eine Ausnahme. Die Zukunft gehörte dem verbissenen Streit über das Verhältnis von Poesie u. Theologie, der sich bis zur Reformation fortsetzte.

Luserke

575 Literatur: Gustav Bauch: Gesch. des Leipziger Frühhumanismus. Lpz. 1899. Neudr. Wiesb. 1968 (Register). – Heinz O. Burger: Renaissance, Humanismus, Reformation. Bad Homburg 1969 (Register). – Franz Josef Worstbrock: L. In: VL Dt. Hum. Gerhard Wolf / Red.

Luschnat, David, * 13.9.1895 Insterburg, † 26.10.1984 Tourette-sur-Loup. – Lyriker. L., Sohn eines Pfarrers, lebte ab 1908 in Berlin u. arbeitete ab 1914 als Fabrikarbeiter. Nach einer Verwundung im Ersten Weltkrieg kehrte er 1918 nach Berlin zurück. Erste Gedichte veröffentlichte er u. a. im »Berliner Tageblatt«, der »Frankfurter Zeitung« u. der »literarischen Welt«. Die meditative, von metaphys. Bildern geprägte Lyrik der Bände Kristall der Ewigkeit (Bln. 1926) u. Die Sonette der Ewigkeit (Mchn. 1927) zeugt einerseits von L.s Beschäftigung mit oriental. Philosophie u. Dichtung u. ist andererseits stilistisch wie inhaltlich vom Expressionismus beeinflusst. Im März 1933 musste L., der seit 1918 Mitglied des »Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller« u. ab 1931 Schriftführer der oppositionellen Fraktion des Verbands war, über Amsterdam nach Paris emigrieren. Dort gehörte er 1934 zu den Mitbegründern des SDS im Exil. Sein polit. Engagement gegen den Nationalsozialismus belegen die in Schriftsteller und Krieg (Baden-Baden 1947) veröffentlichten Vorträge. Nach der Internierung 1940 lebte er während des Kriegs illegal in Südfrankreich. Für die frz. Militärregierung arbeitend, reiste er 1945 nach Deutschland. Da er hier jedoch im literar. Leben nicht Fuß fassen konnte, kehrte er nach Frankreich zurück. Seine in der Exilzeit entstandenen Romane blieben unveröffentlicht. Weitere Werke: Die Reise nach Insterburg. Lpz. 1927 (N.). – Abenteuer um Gott. Mchn. 1928 (P.). – Aufbruch der Seele. Ascona 1935 (L.). – Bleibende Zeitgestalt. Dülmen 1963 (L.). Literatur: Sabine T. Kaynis: Der SDS in Bln. u. Paris. Die Gesch. eines freiheitl. Verbandes u. seines Schriftführers D. L. Diss. Cincinnati 1973. Heiner Widdig / Red.

Luscinius, Ottomarus ! Nachtgall, Ottmar Luserke, Martin, * 3.5.1880 Berlin, † 1.6. 1968 Meldorf. – Pädagoge, Erzähler, Theatertheoretiker. L. begann früh eine Lehrerausbildung bei der Herrnhuter Brüdergemeine in Niesky. 1904–1906 studierte er in Jena Mathematik u. Philosophie, 1906 war er Mitbegründer der reformpädagog. Freien Schulgemeinde Wickersdorf, ab 1910 deren Leiter. Er nahm am Ersten Weltkrieg teil. 1925 gründete er die »Schule am Meer« auf Juist (1934 von den Nationalsozialisten aufgelöst). 1936 erhielt er den Berliner Literaturpreis für Hasko. Ein Wassergeusen-Roman (Potsdam 1936. Hbg. 1986). 1957 setze er mit Pan-Apollon-Prospero (Hbg.) die mit Shakespeare-Aufführungen als Bewegungsspiele (Stgt. 1921) begonnenen Shakespeare-Studien fort. Im Zentrum von L.s theaterreformerischen Arbeiten steht das von ihm entwickelte »Laienspiel« (Jugend- und Laienbühne. Bremen 1927. Das Laienspiel. Revolte der Zuschauer – für das Theater. Heidelb. 1930). In L.s Dichtung gehen mythenhafte Bilderwelt u. ausgeprägte Traumsymbolik eine enge Verbindung ein; er nennt im Nachwort zu Das Laienspiel u. a. Nietzsche, Freud, Jung, Adler, Klages u. Spengler als ihn prägende Autoren. Die Motive von Kameradschaft, Wagnis u. Bewährungsprobe, die Kulisse von Meer u. Küstenlandschaft, die Betonung des Nordischen u. Germanischen rücken sein Werk allerdings oft in die Nähe völk. Literatur. Weitere Werke: Warum arbeitet der Mensch? Eine sozialist. Ideologie der Arbeit. Hann. 1919. – Über die Tanzkunst. Lauenburg 1920. – Schule am Meer (Juist, Nordsee). Leitsätze. Die Gestalt einer Schule dt. Art. Bremen 1924. – Sar Ubos Weltfahrt. Potsdam 1925. – Das schnellere Schiff. Mchn. 1934. – Obadjah u. die ZK 14. Potsdam 1937. – Der Eiserne Morgen. Potsdam 1938. – Die hohe See. Potsdam 1941. – Agitur ergo sum? Versuch einer morpholog. Deutung des Ur-Zusammenhanges v. Theater u. Bewußtsein. Hbg. 1974. Literatur: Martin Kießig: M. L. Gestalt u. Werk. Diss. Lpz. Markkleeberg 1936. – Franz L.

Lustig Pelgen: Das Laiensp. u. die Spielweise M. L.s. Diss. Mchn. 1957. – Alfred Ehrentreich: M. L.s Vision des Shakespeare-Theaters. In: Bildung u. Erziehung 18 (1965), S 284–295. – Friedrich Merker: Die Bedeutung des Musischen in der Pädagogik M. L.s. In: Pädagog. Rundschau 34 (1980), S. 595–601. – Herbert Giffei: M. L. Ein Wegbereiter der modernen Erlebnispädagogik. Lüneb. 1987. Wesentlich erw. u. erg. Ausg. u. d. T. M. L. Reformpädagoge – Dichter – Theatermann. Gründer u. Leiter der ›Schule am Meer‹ auf der Nordseeinsel Juist (1925–34). Hg. Jörg Ziegenspeck. Lüneb. 1990. – Cornelia Godde: Das Laienspiel als reformpädagog. Element. Die Bedeutung M. L.s für das heutige Bildungswesen. Bonn 1990. – Ulrich Schwerdt: M. L. (1880–1968). Reformpädagogik im Spannungsfeld v. pädagog. Innovation u. kulturkrit. Ideologie. Eine biogr. Rekonstruktion. Ffm. u. a. 1993. – Horst Lipka: Der Pädagoge u. die pädagog. Provinz. M. L. u. seine Schule am Meer auf Juist. In: Pädagog. Rundschau 47 (1993), H. 1, S. 97–106. – Renate Maiwald: Schule als ›Gesamtkunstwerk‹ – die ›Elizabeth-Duncan-Schule‹ u. die ›Schule am Meer‹ (gegr. v. M. L.). In: Pädagog. Forum 8 (1995), H. 1, S. 3–11. Matthias Luserke / Red.

Lustig, Jan, auch: Jean, Hans G., Hanns G. L., * 23.12.1902 Brünn, † 24.4.1979 München. – Erzähler, Kritiker, Drehbuchautor. 1924–1933 hielt sich L. in Berlin auf. Dort arbeitete er zunächst als Feuilletonredakteur des »8-Uhr-Abendblatts«, dann als Theaterkritiker für die »Vossische Zeitung«, in der er auch Erzählungen u. Gedichte publizierte. Zus. mit Manfred George wurde er 1928 mit dem Kulturteil der Ullstein-Zeitung »Tempo« betraut. 1933 musste L. als Jude nach Frankreich emigrieren. In Paris lernte er André Gide u. später Antoine de Saint-Exupéry kennen, mit dem er gemeinsam ein Drehbuch nach dessen Roman Courrier Sud schrieb. Nach der Besetzung Frankreichs floh L. in die USA. Während seiner mehrjährigen Tätigkeit für Metro-Goldwyn-Mayer, u. a. als Drehbuchautor, wurden zahlreiche Filme wie Reunion in France (1942) oder Homecoming (1948) unter seiner Mitarbeit produziert. 1959 kehrte L. nach dem Tod seiner Frau nach Deutschland zurück u. lebte in München. In dieser Zeit schrieb er, neben einigen Kurzgeschichten,

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Übersetzungen englischer u. amerikan. Dramen. Weitere Werke: Narrheit, Liebe, Tod u. Teufel. Mchn. 1979 (E.en). – Ein Rosenkranz v. Glücksfällen. Protokoll einer Flucht. Hg. Erich A. Frey. Bonn 2001 (mit Filmografie u. Bibliogr.). Literatur: Karl-Heinz W. Boewe: J. L. In: Dt. Exillit., Bd. I, S. 780–788. Mechthild Hellmig / Red.

Lustiger, Gila, * 27.4.1963 Frankfurt/M. – Romanautorin, Übersetzerin. L. wuchs in ihrer Geburtsstadt in einem jüd. Elternhaus auf. Ihr Vater, der Textilunternehmer, Autor u. Historiker Arno Lustiger, gehört zu den Überlebenden mehrerer Konzentrationslager u. Todesmärsche. Nach dem Abitur ging L. 1981 nach Israel, wo sie von 1982 bis 1986 an der Hebräischen Universität in Jerusalem Germanistik u. Komparatistik studierte u. als Lektorin für dt. Literatur u. Kinderliteratur tätig war. 1987 zog sie nach Paris; dort arbeitete sie bis 1989 als Journalistin, anschließend als Lektorin, Übersetzerin u. Autorin. L.s erster Roman Die Bestandsaufnahme (Bln. 1995) wird zu den bedeutenden Büchern der nach der Shoah geborenen jüd. Generation gezählt. In dem in betont nüchterner Sprache abgefassten Gesellschaftsroman werden die 1930er Jahre u. die Tötungsmaschinerie des Dritten Reiches aus vielfältiger u. oft gegensätzl. Perspektive widergespiegelt, wobei die Autorin dabei nicht auf familiäre, sondern auf histor. Informationen zurückgreift. Persönliche Erinnerungsbilder spielen dagegen eine zentrale Rolle in dem autobiogr. »Familienroman« So sind wir (Bln. 2005). L. thematisiert darin in meist ironisch distanzierter Diktion die schwierige lebensgeschichtl. Situation einer in Deutschland aufgewachsenen Tochter eines »Überlebenden« u. einer durch zionist. Ideale geprägten israelischen Mutter. Der Roman stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises u. wurde als erfrischende Abkehr von »verkrampfter Memorialkultur« (Arnd Beise) gewürdigt. Insg. ist das Schreiben L.s, die sich als jüd. »Nachgeborene« versteht, jedoch keineswegs monothematisch auf jüd. Identitäten ausge-

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richtet, wie u. a. ihre Romane Aus einer schönen Welt (Bln. 1997) u. Herr Grinberg & Co. Eine Geschichte vom Glück (Bln. 2008) zeigen. Strukturell gemeinsam ist auch diesen Werken der Entwurf der jeweiligen erzählerischen Welten aus zahlreichen komplex verknüpften Einzelelementen. Weiteres Werk: Übersetzung: T. Carmi: An den Granatapfel. Gedichte. Übers. v. G. L. u. a. Mchn./ Wien 1991. Literatur: Arnd Beise: G. L.: So sind wir. Ein Familienroman. In: Peter-Weiss-Jb. für Lit., Kunst u. Politik im 20. Jh. u. 21. Jh. 15 (2006), S. 179–183. – Peter Stephan Jungk: G. L. In: LGL. – Jan T. Schlosser: Von der ›Zwischenzeit‹ zur ›Zwischenidentität‹. Zu G. L.s Roman ›So sind wir‹. In: Lit. im Unterricht 8 (2007), H. 1, S. 1–18. – Christian Wiese: G. L. In: MLdjL. Stephanie Düsterhöft

Luther, Martin, * 10.11.1483 Eisleben, † 18.2.1546 Eisleben (Drachstedt’sches Haus am Markt); Grabstätte: Wittenberg, Schlosskirche. – Theologe, Reformator. L. entstammte einer relativ begüterten bäuerl. Familie, die im Thüringischen (Möhra) sesshaft war. Der Vater, Hans Luder († 1530), der bereits in Möhra im Kupferbergbau gearbeitet hatte, wurde als Berg- u. Hüttenmann im Raume Eisenach tätig (Heirat mit Margarete Lindemann, Tochter aus »gehobenem Handwerker- oder Kaufmannsstand«, Michael Fessner), übersiedelte im Sommer 1483 nach Eisleben u. im Frühjahr 1484 nach Mansfeld; er avancierte dort zu einem der angesehensten Hüttenwerksunternehmer u. Bergbeamten der Grafschaft. Nach jüngsten Forschungen (s. Fundsache Luther. Archäologen auf den Spuren des Reformators. Hg. Harald Meller. Begleitband zur Landesausstellung im Landesmuseum für Vorgeschichte 2008/ 09. Halle/S. 2008) stammte L. somit – entgegen seinen Beteuerungen, aus ärml. Bauernu. Bergmannsfamilie zu kommen – »in Wirklichkeit aus einer recht wohlhabenden Hüttenmeisterfamilie, [...] die fest in der bürgerlichen Elite der Gesellschaft Mansfeld verankert war« (Fessner, ebd.). L. erhielt eine gute Schulausbildung: die elementaren Grundlagen in Mansfeld, die gymnasiale Ausbildung in Magdeburg

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(1497). Anschließend besuchte er drei Jahre lang die Domschule St. Georg in Eisenach (1498), wo er einen strengen Lateinunterricht genoss, der ihn später befähigte, den Anforderungen des Studiums voll zu entsprechen. Von Mai 1501 bis Jan. 1505 (Magisterexamen) besuchte L. die Artistenfakultät der Universität Erfurt u. erhielt dort eine sorgfältige Schulung in Grammatik, Logik, Rhetorik u. Philosophie. Dieser Ausbildung verdankte er sein literar. Rüstzeug; sicherlich ist er hier auch ausführlich in Quintilian eingeführt worden. Die Prinzipien von Dialektik u. Rhetorik, die L. in theoretischer u. prakt. Form während dieser Studienjahre erprobt hatte, ziehen sich wie ein roter Faden durch sein späteres Werk u. sind die Grundlagen seiner literar. Formgebungen geworden: Die »perspicuitas« des Quintilian, die Beachtung des »aptum« u. die Rücksicht auf die Adressaten sind in Verbindung mit einer ungewöhnl. Affinität für die dt. wie die lat. Sprache die Voraussetzungen seiner späteren Publikationstätigkeit gewesen. Das begonnene Studium der Rechte brach L. im Juli 1505 ab; ein persönl. Erlebnis während eines Unwetters auf dem Weg von Mansfeld nach Erfurt (bei Stotternheim), in dem seine tief verwurzelte Seelenangst vor Ziel u. Ende des menschl. Lebens hervordrang, veranlasste ihn zum Klostergelübde. (Vorgebracht worden ist aber auch die Vermutung, dass sich L. dem weltl. Leben entziehen wollte, um keine vom Vater geknüpfte ehel. Verbindung mit einer HüttenmeisterTochter eingehen zu müssen.) Zwei Wochen später (17.7.1505) trat er, noch nicht 22 Jahre alt, in das Kloster der Augustinereremiten zu Erfurt ein – eine Kongregation, die sich durch bes. intensives asket. Leben u. strenges Studium der Hl. Schrift auszeichnete. L. erwarb sich im Kloster neben umfassenden theolog. Literaturkenntnissen (u. a. Augustinus, Thomas von Aquin, Duns Scotus, Aristoteles, Nikolaus von Lyra, Petrus Lombardus, Jean Gerson, Gabriel Biel) eine stupende Bibelkenntnis. Am 3.4.1507 zum Priester geweiht, hielt er am 2.5. seine erste Messe. Die folgenden Jahre dienten der intensiven theolog. Ausbildung u. Tätigkeiten im Dienst der Kongregation. 1508 gehörte er dem Wit-

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tenberger Augustiner-Konvent an, war dann wieder in Erfurt tätig u. unternahm in Ordensangelegenheiten 1510/11 eine Reise nach Rom; ab 1511 lebte er ständig in Wittenberg u. promovierte ein Jahr später zum Doktor der Theologie. Als Nachfolger von Johann von Staupitz wurde er zum Prof. für BibelExegese bestellt. Im Aug. 1513 begann seine Vorlesungstätigkeit, zuerst mit einer Psalmenvorlesung, dann von April 1515 bis Sept. 1517 mit der schicksalhaften RömerbriefVorlesung, in der er sich mit den Praktiken seiner Kirche – insbes. soweit es Ablass u. Werklehre betraf – auseinanderzusetzen begann. Mit der am 31.10.1517 erfolgten Veröffentlichung der 95 Thesen endet dieses entscheidende Jahrzehnt zwischen Eintritt ins Kloster u. Beginn seines öffentl. Protestes. Die protestant. Ur-Bildvorstellung, dass L. seine Thesen an der Türe der Schlosskirche zu Wittenberg anschlug, hat sich trotz jahrzehntelanger konfessioneller Fachdiskussionen realiter bisher nicht bestätigen lassen. Tatsächlich richtete L. am 31.10.1517 ein sehr devotes Schreiben an Kardinal Albrecht von Brandenburg mit der Bitte, der Kardinal möge gegen die Ablasspredigten vorgehen, in denen fälschlich verkündet werde, mit dem erworbenen Ablass könne man sich von Sündenstrafen u. aller Schuld freikaufen. Als Beilage fügte L. 95 Thesen bei, die in der Korrespondenz des Kardinals nicht erhalten blieben. Eine entsprechende Information ging an den zuständigen Bischof von Brandenburg. Die Thesen erschienen gedruckt in Leipzig u. in Nürnberg (1517); ein Wittenberger Druck ist nicht bekannt. Eindrucksvoll ist, dass L. den Brief zum ersten Mal mit »Luther« unterzeichnet, was nach Moeller/ Stackmann (1981) auf Eleutherius, »der durch Gott Freigemachte«, zurückgeht. L. war in diesen Jahren der Meditation u. des Bibelstudiums zu seiner unkonventionellen Vorstellung der Gotteslehre gekommen, in der im Hinblick auf Sünde, Gnade u. die Erlösungsmöglichkeiten des Menschen der Begriff der »iustitia Dei« (der Gerechtigkeit, mit der Gott die Sünder strafe) nun nach Röm 1, 17 als der der Gerechtigkeit Gottes erschien, durch die Gott den Sünder gerecht mache, u. zwar im Geschenk des Glaubens. So

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setzte L. die Rechtfertigung allein aus dem Glauben als einen Akt der Gnade Gottes für den Menschen an. Allein der Glaube an Gottes Gnade, die sich im Erlösertod Christi offenbare, verhelfe dem Gläubigen zu seiner Rechtfertigung. Damit stand L.s Rechtfertigungslehre in scharfem Kontrast zur Werklehre der Kirche Roms. Alle weiteren Folgerungen bauen sich auf dem Zentralproblem »Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?« auf, da nach L.s Ansicht Askese u. Sakramente der traditionellen Kirchenlehre dazu nicht ausreichten. Sein Protest gegen das Ablasswesen war die Konsequenz aus diesem theolog. Ansatzpunkt. Der große Zuspruch auf die zunächst nur akademisch gewerteten 95 Thesen setzte die Lawine der Reformation in Bewegung. Versuche der Kurie, L. zum Widerruf zu bewegen, wie auf dem Augsburger Reichstag (1518) durch Cajetan oder auf der Leipziger Disputation durch Eck (Juli 1519), hatten keinen Erfolg; sie trugen nur zu dem sich zunehmend vertiefenden Graben zwischen der kath. Kirche, dem Papsttum u. der neuen reformierten evang. Ansicht bei. Die BannAndrohungsbulle Leos X. verbrannte L. öffentlich am 10.12.1520 vor dem Elstertor in Wittenberg. 1521 wurde er mit dem Kirchenbann belegt u. im April desselben Jahres vor den Reichstag in Worms zitiert, wo über ihn, da er nicht widerrief, die Reichsacht verhängt wurde. L.s Landesherr, Kurfürst Friedrich der Weise, rettete ihn u. ermöglichte es ihm, sich vom 4.5.1521 bis zum 1.3.1522 als Junker Jörg auf der Wartburg zu verstecken. Dann kehrte L. nach Wittenberg zurück u. griff in die turbulenten weiteren Reformationsvorgänge in Deutschland schriftlich u. mündlich ein. Das Jahr 1525, in dem er Katharina von Bora heiratete, ist das Schicksalsjahr für seine Lehre: L. distanzierte sich von den sog. Schwärmern u. Täufern, die sich urspr. zu seinen Gefolgsleuten zählten, der Eklat des Bauernkriegs rief Irritationen u. Missverständnisse aufseiten der Unterdrückten u. aufseiten L.s hervor, der um der Lehre willen hart theologisch argumentierte; schließlich kam es zum Bruch zwischen Erasmus u. L. in der Frage der Willensfreiheit des Menschen.

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In den beiden folgenden Jahrzehnten widmete sich L., unterstützt von seinen Gefolgsleuten Philipp Melanchthon, Johannes Bugenhagen, Justus Jonas u. anderen, dem Ausbau der Landeskirche in Kursachsen u. der Neuordnung des evang. Gottesdienstes; der Streit um die Abendmahlslehre mit Zwingli beschäftigte ihn ausführlich, ebenso die Kompromissversuche im Zusammenhang mit der Confessio Augustana (1530) u. dem Schmalkaldischen Bund. L. erschien seinerseits in diesen Jahren als der bedeutende theolog. Lehrer, der eindrucksvolle, wortgewaltige Prediger u. der große u. faszinierende Schriftsteller. L.s Wirkungen in die Zeit waren weiträumig u. tiefgehend, wie es bis dahin noch kein Autor im Abendland erreicht hatte. L. hat eine geistige Bewegung allein mit literar. Mitteln entfacht, sie weithin gelenkt u. beeinflusst, ohne sich der Gewalt oder auch nur des Vorschubs von Gewalt bedienen zu müssen. Ihm ist es in einmaliger Weise gelungen, durch »Literatur« Geschichte zu prägen, u. zwar für Jahrhunderte. Der einfache, unbekannte Mönch u. Theologieprofessor aus Wittenberg, der damals jüngsten Universitätsgründung, betrieb Religionspolitik u. zwang der Welt sein Glaubensverständnis auf – dies alles in den Jahren, in denen die Kunst der Textvervielfältigung gerade ihren ersten Höhepunkt erreichte. L. begann erst im Alter von 33 Jahren zu publizieren – bis dahin hatte er sich nur über Predigtamt u. Lehrkanzel verbreiten können. Seine Lehre war in ihm selbst bereits abgeschlossen; die Veröffentlichungen zeigen danach in ideeller Hinsicht keine weiteren grundsätzl. Entwicklungen. L. sah seine Aufgabe darin, mit literar. Mitteln seine Ideen zu propagieren. Literatur war ihm Mittel zu Belehrung u. Verbesserung, zu Aufklärung u. Korrektur, zur Orientierung über die religiösen, kirchl. u. politisch-sozialen Verhältnisse u. zu deren Umwertung. Einen Eigenwert hat er ihr kaum zugemessen. Vor dem Absolutheitsanspruch des Glaubens konnten für L. auch die Literatur u. sein Schriftstelleramt nur in den Dienst der Vervollkommnung des Glaubens treten.

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L. hat für sich immer in Abrede gestellt, für einen Poeta zu gelten. Auch dort, wo er sich dichterischer Formen bediente wie in den Liedern oder Fabeln, geschah dies allein zu dem Zweck, einen Gedanken wirkungsvoller vermitteln zu können. Literatur- oder sprachästhetische Elemente hatten für ihn keinen Eigenwert. Bezeichnend ist, dass L. keine Schreibgattung verwendet hat, die zu seiner Zeit »modern« war u. die auf das Publikum anziehend hätte wirken können. Weder hat er sich des Dialogs noch der Dramenform, weder der Exempelerzählung noch des Lehrgedichts bedient, wie es andere Schriftsteller mit großem Erfolg taten; auch Reimreden, Allegorien, Satiren usw. verwandte er nicht. L. war konsequent ein Prosaautor, der das poet. Element für seine Wirkungsabsichten nicht benötigte u. sich absichtlich konventioneller Formen bediente: des Traktats in Latein u. Deutsch, der Erörterungen, Abhandlungen von Themen, Problemen, Vorgängen bietet; des Sermons, einer schriftl. Fixierung der eigentlich mündl. Redegattung der Predigt oder Oratio – er war L.s beliebtestes Kommunikationsmittel; gelegentlich begegnet das Sendschreiben; die exeget. Schriften sind ganz vom Zweck der Belehrung u. der Aufklärung erfüllt. Außerdem schrieb er Postillen, Liturgica, Kommentare u. Disputationen. Wie sehr L. Literatur unter funktionalem Aspekt sah, bezeugen die propagandist. Vorreden, die er zu verschiedenen Büchern anderer Autoren u. insbes. zu einzelnen Teilen der Hl. Schrift verfasste. L.s literar. Erfolg beruht nicht allein auf dem neuen Ideengut, sondern in gleichem Maße auch auf dessen sprachlich-literar. Zubereitung. Das Geheimnis des Erfolgs, v. a. in der Frühzeit der Wittenberger Bewegung, liegt zu einem großen Teil in L.s Spürsinn für unkomplizierte Formgebung u. für die richtige Einschätzung der Aufnahmefähigkeit des Publikums. Die Schule Quintilians, für den er in Wittenberg eine eigene Professur eingerichtet sehen wollte, hat ihn höchst erfolgreich in seinen schriftstellerischen Bemühungen u. Verfahrensweisen geprägt.

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L. hatte für sein riesiges literar. Werk knapp 30 Lebensjahre zur Verfügung (1516–1546). In dieser Zeit publizierte er 467 Einzelschriften größeren u. kleineren Umfangs, die immer wieder neu überarbeitete Bibelübersetzung u. die Lieder. An Briefen sind mehr als 2500 erhalten, u. die Zahl der Predigten geht über 2000 hinaus. Eine wichtige Komponente für die Wirkungsintention von L.s Werk ist dessen Zweisprachigkeit; ein beachtl. Teil der Schriften ist lateinisch geschrieben. L. entsprach darin einer Selbstverständlichkeit seiner Zeit, die genau unterschied, wann sie sich der Nationalsprache, wann der Universalsprache bediente. Sprachwahl war ein bewusster Akt schriftstellerischer Entscheidung. In der Nationalsprache wandte er sich an das Volk u. den Laien im eigenen Land, in Latein an die europ. Intelligenz, an den akadem. Fachkollegen, an jene Kreise, die das geistige Niveau der Zeit bestimmten. Etwa ein Viertel seines Werks hat L. selbst lateinisch geschrieben, dazu kommen eigene Texte, die er vom Deutschen ins Lateinische oder umgekehrt übersetzt hat. Die ersten Publikationen in den Jahren 1518/19 bieten Traktate, in denen L. die Hauptgedanken seiner Lehre in Verbindung mit einer vorsichtigen Kritik an den kirchl. Verhältnissen darbot. Neben der Kritik an der Werklehre wird der Versuch gemacht, zu einer Reformierung der Papstkirche aufgrund des Evangeliums zu gelangen; zgl. treten die Grundgedanken von L.s Christologie u. seiner Ablehnung der Sakramentenlehre der alten Kirche hervor. In klarer, einfacher, einprägsamer u. wenig gelehrt argumentierender Form wurde dem Laien die Vorstellung eines neuen Glaubens, einer neuen Kirche u. ihrer Heilsmittel auseinandergesetzt. Der Erfolg in weitesten Kreisen war enorm. Das Jahr 1520 schließlich ist das Jahr der großen programmat. Reformationsschriften, die die früheren Gedanken aufnehmen, weiter ausbauen u. gelehrt dokumentieren, u. die auch Argumente der Gegner widerlegen. Diese Schriften gehören zum Bestand der Weltliteratur, denn sie haben die geistige u. religiöse Physiognomie der nachfolgenden

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Jahrhunderte bis auf den heutigen Tag wesentlich bestimmt. Im Traktat Von den guten Werken legt L. die neue Frömmigkeit dar: Die guten Werke bestehen in der Befolgung der Gebote Gottes, einem tätigen Leben, das in seinen tägl. Verrichtungen aus dem Glauben als der Quelle allen menschl. Tuns bestimmt sein soll. Die Gewissheit der Gnade Gottes u. die Lust am Guten sind hier der Kern der reformatorischen Ethik. L. selbst hielt diese Schrift für das Beste, das er bis dahin geschrieben hatte. In seiner bekanntesten Reformschrift, An den christlichen Adel deutscher Nation [...], die Karl V. u. den dt. Fürsten gewidmet ist, verbindet L. seine Kritik an der alten Kirche mit dem prakt. Zweck einer durch die weltl. Gewalt durchzuführenden Reform kirchlicher u. sozialer Missstände. Der Kaiser wird zum Kampf gegen den Papst aufgerufen, die dt. Fürsten sollen die Gravamina der kirchl. u. sozialen Missstände abstellen. Detailliert werden sie aufgelistet. Der weltl. Gewalt wird hier die Verantwortung für die Bewahrung des christl. Glaubens u. des »ordo christianus« abgefordert. L.s dritte Programmschrift, Von der Freiheit eines Christenmenschen, gehört zu dem Großartigsten, was er geschrieben hat. Nach L.s eigenen Worten enthält die Schrift »die gantz summa eyniß Christlichen leben«. Der Kern der Schrift besteht in der Lösung des scheinbaren Paradoxon: »Eyn Christen mensch ist eyn freyer herr / uber alle ding / und niemandt unterthan.« – »Eyn Christenmensch ist eyn dienstpar knecht aller ding und yderman unterthan.« L. zeigt hier, dass allein der Glaube den Menschen »frum, frey und selig« macht u. er dadurch in geistl. Hinsicht zum Herren wird; in der Sozialität aber hat dieser Christenmensch aus eben diesem Glauben u. der Liebe zu Gott heraus zu dienen u. nützlich zu sein, wo immer er seinen Platz in der Gesellschaft hat. Die Freiheit des Christenmenschen besteht darin, dass er freiwillig nach Gottes Geboten lebt u. aus dem Glauben alles ohne Absicht auf Verdienste vor Gott tut. Die neue Glaubenslehre war in diesem nachweislich in zwei Tagen entstandenen Traktat einprägsam formuliert worden.

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Schließlich setzte L. in der lat. abgefassten Schrift De captivitate Babylonica ecclesiae zum Rundumschlag gegen die Kirche Roms an. Die Schrift wandte sich an die gelehrten Kreise Europas u. versuchte, die Sakramentenlehre anzugreifen. Die Bibel kenne nur ein Sakrament, nämlich das Wort Gottes, u. drei sakramentale Zeichen (Taufe, Buße, Abendmahl). Die anderen Sakramente seien keine Gnadenmittel u. nur von der Kirche eingerichtet. Die Erregung über diese Schrift war groß, zumal aus ihr L.s weitreichende Reformabsichten auch für die Intellektuellen Europas eindeutig hervorgingen. L. hat insg. mit einer Vielzahl von bedeutsamen Abhandlungen zu den verschiedensten Fragen u. Themen der Zeit u. der Tagespolitik Stellung genommen, insbes. nach dem Wartburg-Aufenthalt. Viele seiner Empfehlungen u. Forderungen verdienen auch im Rahmen der Bildungsgeschichte Berücksichtigung u. haben das Erziehungsprogramm in protestant. Territorien nachhaltig geprägt. Einen großen publizist. Erfolg erreichte er noch mit seinen Schriften zum Bauernkrieg. Der rabiate Sermon Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern (1525) hat bis heute viel Aufsehen erregt, wird aber meist missverstanden, da als Bezugspunkt für die Kritik nicht L.s religiös fundierte Vorstellung von Obrigkeit u. Ordnung, die er durch den Bauernkrieg bedroht sah, zum Verständnis herangezogen wird. Bereits 1522 hatte er in der Treuen Vermahnung zu allen Christen energisch jedem Aufruhr eine Absage erteilt. L.s Bibelübersetzung, die im Sept. 1522 (»September-Testament«) zu erscheinen begann, nimmt in der abendländ. Geisteswelt eine Sonderstellung ein. Sie ist einer der bedeutendsten Texte der Weltliteratur. L. schuf in der dt. Bibel einen sakralen Text aus seiner persönlich veränderten Glaubenshaltung heraus, sie ist Exegese der im Wort vorgeformten göttl. Offenbarung u. manifestiert gleichzeitig den evang. Glauben im neu geschaffenen Wort Gottes. Der Anlass zu ihrer Entstehung freilich ist in ganz engem Zusammenhang mit der Reformation zu sehen. Für L. war im Gegensatz zur röm. Kirche die Hl. Schrift die höchste Autorität in Glau-

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bensfragen. Mit der Popularisierung der Hl. Schrift in der Nationalsprache gab L. dem Laien einen authent. Text an die Hand, mit dem dieser Positionen der alten Kirche kritisch überprüfen konnte u. authent. Zeugnisse zur Argumentation zur Verfügung hatte. Die Unkenntnis des Evangeliums im Volk abzubauen, gehörte zu den entschiedenen reformatorischen Bestrebungen L.s. Die Schaffung eines Offenbarungs-Textes in dt. Sprache war eines der wichtigsten Instrumente der reformatorischen Auseinandersetzung in der Frühzeit der Reformbewegung. L.s Bibelübersetzung war eine wirkungsvolle u. für ihren Einsatz genau kalkulierte Waffe im Kampf gegen die alte Kirche. Dem Laien einen unabhängigen Zugang zur Bibel zu geben, gehörte zu den Forderungen der Zeit; bereits Erasmus hat dies im Vorwort zu seiner Edition des griech. NT dargelegt; vermutlich hat L. hier seine ersten Anregungen für die Popularisierung der Hl. Schrift erhalten. Das Problem der kanonischen Bibelexegese löste L. mit dem Hinweis, dass die Hl. Schrift »sui ipsius interpres« (WA 7, S. 97) sei u. dass die Schriftauslegung jedermann frei zustünde. Aus übergeordneten propagandist. u. popularisierenden Gründen hat L. seine Übersetzung der Bibel, insbes. des NT, das ihm als das von Gott gegebene Gnadenmittel für den Menschen galt, sehr deutlich auf den Laien hin funktionalisiert. In der bewussten Aktualisierung des NT durch die Vorreden, Glossen u. die Illustrationen zur Offenbarung lässt sich eine Leserlenkung erkennen, der eine Schlüsselfunktion bei der unvorstellbar weiten Rezeption des Bibeltextes zukommen sollte. Das NT sei die Botschaft Christi für die Welt, die diese nur empfangen u. beherzigen müsse. Und L. erwartete vom Leser des NT, dass er aus dem Glauben an Christi Werk heraus zu einer aktiv betriebenen neuen Lebensgestaltung vordringen werde. So hatte L. zwar nur die persönl. Umgestaltung des Lebens aus dem Glauben im Auge, aber der brisante zeitgeschichtl. Ansatz konnte auch als Fanal für eine Revolution verstanden werden, wie sie sich dann in den Bauernaufständen manifestierte. In der Vorrede L.s zum Römerbrief finden sich die Zentralgedanken

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der protestant. Reformation einfühlsam dargestellt; sie sind ein gutes Zeugnis für die Tendenz der Reformation zur Aktualisierung der paulin. Theologie. Der Entschluss, das NT zu übersetzen, ist im vertrauten Gespräch mit den Wittenberger Freunden im Dez. 1521 gefasst worden, als L. illegal einige Tage in Wittenberg weilte. Am stärksten hatte ihn Melanchthon dazu überredet, der fortan bis zu L.s Tod mit der Bibelübersetzung aufs engste verbunden war. L. brachte für die Aufgabe der Übersetzung vorzügl. Voraussetzungen mit: nicht nur eine für damalige Verhältnisse überraschend intensive Kenntnis der lat. u. griech. Fassungen der Bibel, sondern auch ein ausgeprägtes Sensorium für die dt. Sprache u. für Formulierungen, die dem Laien in genauer Einfachheit die Offenbarungsweisheit verständlich machten. Von geschichtl. Bedeutung war überdies, dass L. seine Übersetzung auf dem griech. Text des Erasmus u. auf dessen Annotationes aufbaute. Außerdem hat er zur Korrektur der Vulgata auch die lat. Übersetzung aus der Feder des Erasmus verwendet. Das komplizierte Übersetzungsverfahren u. die lebenslang von L. vorgenommenen Korrekturen u. Verbesserungen haben die Forschung immer wieder fasziniert. Die erhaltenen Berichte einzelner Bibelkommissionssitzungen in späteren Jahren beleuchten den permanenten Prozess zur Schaffung der dt. Bibel; sie ist zu einer geschlossenen Textfassung analog der griech. u. lat. Version geworden u. hat die sakralen Vorgänge, Ereignisse u. Berichte auf den deutschsprachigen Meridian visiert u. so die Glaubensinhalte in sprachl. Formulierungen der eigenen deutschsprachigen Vorstellungswelt umgegossen. Inhalt u. Form, Aussage u. sprachl. Modifizierung erreichen eine bis dahin nie dagewesene Identität. Fortan wird L.s Bibel als eigener Text im protestant. Abendland rezipiert. Eine Fülle von Redensarten u. Wendungen aus L.s Bibelsprache ist zu sakralchristl. Norm geworden u. bereichert bis in unsere Tage die dt. Sprache. Diese Wirkung erklärt sich daraus, dass L.s Sprachformung nicht nur theologisch adäquat war, sondern dass sie auch leicht, eingängig u. anreizend

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gestaltet wurde. L. ging in der Diktion bewusst über den engeren mundartl. Geltungsbereich hinaus u. hat im Verlauf der jahrelangen Verbesserungen die regionalsprachl. Gepflogenheiten zunehmend ausgemerzt. Seine Diktion orientierte sich v. a. am »gemeinen Deutsch« des Südostens. Die erstrebte Einfachheit u. Allgemeinverständlichkeit im lexikalisch-semant. Bereich, eine gewisse Regelung der Orthografie u. die weitgehende Klarheit der syntakt. Struktur haben die Rezeption wesentlich erleichtert. L.s Arbeitsleistung als Bibelübersetzer erstaunt auch heute immer wieder: In nur elf Wochen war der Text des NT in der ersten Fassung fertig. Die Bearbeitung mit Unterstützung von Melanchthon u. anderen Wittenberger Freunden ging so zügig voran, dass im Sept. 1522 das NT gedruckt vorlag; die Auflage betrug vermutlich 3000 Exemplare. Schon im Dez. 1522 war eine Neuauflage erforderlich. Noch während der Drucklegung des September-Testaments begann L. mit der Übersetzung des AT, von dem der erste Teil, die fünf Bücher Mose, im Sommer 1523 die Presse verließ. Zur Leipziger Michaelismesse 1534 lag die erste Gesamtausgabe der Bibel L.s (die sog. »Vollbibel«) vor. L.s Bibelübersetzung ist vom Erscheinen des SeptemberTestaments bis zur Ausgabe letzter Hand einem permanenten Werdeprozess unterworfen gewesen. Im Herbst 1530 suchte L. seine Verfahrensweisen beim Übersetzen der Hl. Schriften in dem bekannten Sendbrief D. M. Luthers. Von Dolmetzschen und Fürbit der heiligenn zu begründen. Die Polemik Hieronymus Emsers u. dessen Ausgabe des NT (1527), die auf L.s Arbeit basierte, hatten ihn zu dieser Darlegung seiner Verfahrensweise genötigt. Als Gesamteindruck geht hervor, dass über die Verfahrensweisen der Übersetzung wesentlich aus reformatorisch-theologischen, nicht aus sprachl. Erwägungen entschieden wurde. Wie die Bibelübersetzung hängen auch L.s Kirchenlieder mit der reformatorischen Praxis zusammen: Die neue Form des evang. Gottesdienstes bestand auf der Einbeziehung der Gemeinde in die Liturgie, u. das erforderte neue dt. Lieder. Auch hier versuchte L., neben der Neugestaltung des Gottesdienstes,

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durch das Liedgut Gottes Wort dem Laien einprägsam zu machen. Nachdem Thomas Müntzer begonnen hatte, dt. Kirchenlieder in seine Liturgie aufzunehmen, sah sich L. genötigt, neben der deutschsprachigen Predigt nun auch die Messe deutsch zu verfassen u. Kirchenlieder in die Liturgie einzubeziehen. Aus diesem Anlass verfasste er 1523/24 (er war gerade 40 Jahre alt) 24 geistl. Lieder, etwa zwei Drittel aller L.-Lieder. Mit diesen Liedern ist er im Wesentlichen zum Begründer des protestant. Kirchenlieds geworden, das dann im 16. u. vor allem im 17. Jh. eine bevorzugte Liedgattung wurde. Die Lieder waren, nachdem sie in Einblatt-Drucken veröffentlicht worden waren, seit 1524 in den gedruckten Liederbüchern greifbar. L.s Neues Lied, das die im Juli 1523 erfolgte Hinrichtung zweier Augustinermönche durch die Inquisition in Antwerpen propagandistisch darstellt, gehört nicht zu den Kirchenliedern, sondern ist eher eine Balladendichtung. Die meisten Lieder der ersten Phase sind Übersetzungen mittelalterl. Hymnen oder nach Psalmentexten gearbeitet worden. Das berühmteste Lied, Ein feste Burg, das als die »Marseillaise des Protestantismus« gilt, ist nicht auf dem Wormser Reichstag entstanden, sondern vermutlich im Herbst 1527, u. basiert auf dem 46. Psalm (»Deus noster refugium et virtus«). Unter den nach 1524 entstandenen Liedern begegnen Weihnachtslieder (Vom Himmel hoch), Katechismuslieder u. erneut Umdichtungen mittelalterl. Hymnen. Wie weit L. auch für die musikal. Ausgestaltung der Lieder verantwortlich war, ist nur in einigen Fällen geklärt, anderes ist noch offen. Auch hier haben Untersuchungen gezeigt, dass L. für sein vom Zweck bestimmtes Liedschaffen Formen der Meistersänger, des weltl. u. geistl. Lieds u. der alten Hymnen übernommen hat. Die Tendenz aller Lieder geht dahin, die eigene Lehre auch in diesem Medium zu propagieren. Derselbe pragmat. Ansatz begegnet auch in L.s Vorliebe für die Fabel, die ihm ebenfalls ein willkommenes Mittel war, christl. Moral zu lehren. Entstanden sind die Fabeln, die Umarbeitungen der Aesop-Fassungen von Steinhöwel (1480) sind, im Jahre 1530, als

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sich L. während des Augsburger Reichstags auf der Veste Coburg aufhielt. Gedruckt wurden sie erst 1557 in der Jenaer L.-Ausgabe – sie haben also keinen unmittelbaren Einfluss auf die Fabeldichtung des 16. Jh. gehabt. Der unermessl. Erfolg von L.s Schriften in seiner Zeit beruht nicht nur auf der neuen Lehre, die er verkündete, sondern ebenso sehr auf deren sprachkünstlerischer Gestaltung. Das Studium Quintilians seit der Erfurter Studienzeit hat L. die Kunst des Argumentierens u. Schreibens eingebracht. An vielen Stellen in seinem Werk hat er sich zu dem rhetorischen Prinzip des »docere – delectare – movere« bekannt. L. hat keine Zeile nur aus der Emotion, aus dem Gemüt heraus geschrieben, sondern, wie v. a. Untersuchungen der letzten Zeit gezeigt haben, er verfügte über eine kühle rationale u. kalkulierende Schreibstrategie; sie war das Gegenteil vom Verfertigen der Gedanken während des Schreibens. L.s Sprachleistung hat wegen ihrer Klarheit in ihrer Zeit immer wieder bes. Beachtung erfahren u. ist für viele Schriftsteller des 16. Jh. vorbildlich gewesen. Festzuhalten bleibt, dass L.s Interesse an der Sprache u. am literatursprachl. Kommunikationsprozess mit seinen Adressaten theologisch u. religiös, nicht aber philologisch oder poetisch orientiert war. Wenn Äußerungen L.s in den »Tischreden« Glauben geschenkt werden darf, so lässt sich davon ausgehen, dass er sich auch die Sprachform, die für seine Publikationsvorhaben u. die von ihm beabsichtigte Breitenwirkung im dt. Sprachgebiet erforderlich war, bewusst geschaffen hat. L.s berühmte Begründung hierfür lautet: »Nullam certam linguam Germanice habeo, sed communem, ut me intelligere possint ex superiori et inferiori Germania. Ich rede nach der Sechsischen cantzley, quam imitantur omnes duces et reges Germaniae; alle reichstette, fürsten, höfe schreiben nach der Sechsischen cantzleyen unser churfürsten. Ideo est communissima lingua Germaniae« (WA, TR, Bd. 2, Nr. 2758b). Das besagt: L. schuf sich eine »lingua communis«, eine Gemeinsprache, die es in dieser seiner literar. Ausprägung noch nicht gab. Das anregende Vorbild hierzu war die Sprache der kursächs. Kanzlei, die aus innenpolit. Gründen die allg. dt. Sprache war

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u. überall verstanden wurde, denn der Kurfürst war Reichsverweser u. hatte einen entsprechenden gesamtdt. Briefwechsel zu führen. Die Schaffung dieser Sprachform war ein zweckorientierter Akt, der erst mittelbar für die Sprachvereinheitlichung einigen Effekt hatte. Der Kern von L.s Literatursprache freilich ist von diesen Äußerlichkeiten unberührt geblieben. Sein Sprachsensorium ließ ihn gegen den Kanzleistil u. auch einen Teil der deutschsprachigen Buchproduktion aufbegehren, weil deren Sprachbehandlung dem Deutschen zuwiderlief. Über die Kanzleibasis hob L. sein durch Dialektik u. Rhetorik geschultes Sprachvermögen u. seine Absicht, durch Sprache Wirkungen zu erzielen. L.s Literatursprache ist letztlich der bedeutendste Faktor seiner schriftstellerischen Leistung gewesen. Ausgaben: D. M. L.s Werke. Krit. Gesamtausg. (Weimarer Ausg. = WA): I. Abt.: Werke. 60 Bde., 1883 ff.; II. Abt.: Tischreden (= TR). 6 Bde., 1912 ff.; III. Abt.: Die Dt. Bibel (= DB). 12 Bde., 1906 ff.; IV. Abt.: Briefw. 15 Bde., 1930 ff. – L.s Werke in Ausw. Hg. Albert Leitzmann u. Otto Clemen. 8 Bde., Bln. 1950 u. ö. – D. M. L.: Die gantze Hl. Schrifft Deudsch. Wittenb. 1545. Letzte zu L.s Lebzeiten ersch. Ausg. Hg. Hans Volz. 2 Bde., Mchn. 1972. – Das NT in der dt. Übers. v. M. L. Studienausg. Hg. Hans-Gert Roloff. 2 Bde., Stgt. 1989. Literatur: Bibliografien: P. Pietsch: Bibliogr. der dt. Bibel L.s. In: WA, DB 2, 1909, S. 201–727. – Hans Volz: Hundert Jahre Wittenberger Bibeldruck. 1522–1626. Gött. 1954. – Laufende L.-Bibliogr. in: Lutherjb. 1957 ff. – H. Volz: Lutherausg.n. In: RGG 3. Aufl. Bd. 4, Sp. 520–523. – P. H. Vogel: Europ. Bibeldrucke des 15. u. 16. Jh. BadenBaden 1962. – Joseph Benzing: Lutherbibliogr. Baden-Baden 1966. – H. Volz: Nachträge u. Berichtigungen. In: WA 60, 1980, S. 333–415. – Herbert Wolf: Germanist. L.-Bibliogr. 1880–1980. Heidelb. 1985. – Ders.: Zum Stand der sprachl. L.Forsch. In: ZfdPh 106, Sonderh. (1987), S. 246–272. – Bibliogr. zu L.s NT-Übers. In: Das NT. Studienausg. Hg. Hans-Gert Roloff. Bd. 2, Stgt. 1989, S. 299–330. – Ulrich Köpf: Lutherausg.n. In: RGG 4. Aufl. Bd. 5, Sp. 600–602. – Hilfsmittel: Philipp Dietz: Wörterbuch zu Dr. M. L.s Dt. Schr.en. Bde. 1 u. 2, 1, Lpz. 1870–72. Neudr. Hildesh. 1961–73. – Karl Schottenloher: Bibliogr. zur dt. Gesch. im Zeitalter der Glaubensspaltung. 6 Bde., Lpz. 1933–40. Stgt. 21956–58. Bd. 7, Stgt. 1966. – Kurt

584 Aland: Hilfsbuch zum L.-Studium. Bln. 1957. Witten 31970. Neudr. Bielef. 1983. – Birgit Stolt: Germanist. Hilfsmittel zum L.-Studium. In: Luther 46 (1979), S. 120–135. – H. Wolf: M. L. Eine Einf. in germanist. L.-Studien. Stgt. 1980. – Albrecht Beutel (Hg.): L.-Hdb. Tüb. 2005. – Biografien: Arnold E. Berger: M. L. in kulturgeschichtl. Darstellung. 3 Tle., Bln. 1895–1921. – Julius Köstlin: M. L. Sein Leben u. seine Schr.en. 2 Bde., Bln. 51903. – Gerhard Ritter: L. Gestalt u. Tat. Gütersloh 71962 (11925). – Heinrich Boehmer: Der junge L. Lpz. 7 1955 (11939). – E. W. Zeeden: M. L. u. die Reformation. Freib. i. Br. 1950. – Roland H. Bainton: Here I Stand. New York 1950. Dt.: M. L. Gött. 6 1967. – Richard Friedenthal: L. Sein Leben u. seine Zeit. Mchn. 1967. 1974 u. ö. – Martin Brecht: M. L. 3 Bde., Stgt. 1981–87. – Bernd Lohse: M. L. Eine Einf. Mchn. 1981. – Helmuth Diwald: L. Eine Biogr. Bergisch Gladbach 1982. – Heiko A. Oberman: L. Mensch zwischen Gott u. Teufel. Bln. 1982. – M. L. u. die Reformation in Dtschld. Ausstellung zum 500. Geburtstag M. L.s. Ffm. 1983. – Text + Kritik, Sonderh. (1983). – Weitere Titel: A. Hausrath: L. als Dichter. In: Neue Heidelberger Jbb. 8 (1898), S. 58–75. – Georg Baesecke: L. als Dichter. Halle 1935. – E. Arndt: L.s dt. Sprachschaffen. Bln. 1972. – Heinz-Otto Burger: L. als Ereignis der Literaturgesch. In: Ders.: Dasein heißt eine Rolle spielen. Stgt. 1963. – H. Bornkamm: L. als Schriftsteller. In: Sitzungsber.e der Heidelberger Akademie der Wiss.en, Philosophisch-histor. Klasse, H. 1 (1965), S. 7–36. – B. Stolt: Studien zu L.s Freiheitstraktat. Stockholm 1969. – Johannes Erben: L. u. die nhd. Schriftsprache. In: Ders.: Dt. Wortgesch. Bd. 1, Bln. 3 1974, S. 509–581. – B. Stolt: Wortkampf. Ffm. 1974. – Barbara Könneker: Die dt. Lit. der Reformationszeit. Mchn. 1975. – H.-G. Roloff: Reformationslit. In: RL, Bd. 3, Bln. 21977, S. 365–403. – Gerhard Hahn: Evangelium als literar. Anweisung: Zu L.s Stellung in der Gesch. des dt. kirchl. Liedes. Mchn. 1981. – Bernd Moeller u. Karl Stackmann: Luder-Luther-Eleutherius. Erwägungn zu L.s Namen. In: Akademie der Wiss.en Göttingen, Phil.hist. Kl. Jg. 1981, H. 7, S. 167–203. – B. Moeller (Hg.): L. in der Neuzeit. Gütersloh 1983. – H.-G. Roloff: L.s literar. Leistung. In: Gott kumm mir zu hilf. M. L. in der Zeitenwende. Hg. H.-D. Loock. Bln. 1984, S. 129–154. – Helmar Junghans: Der junge L. u. die Humanisten. Gött. 1985. – H. Bartel u. a. (Hg.): M. L. Leistung u. Erbe. Bln. 1986. – Hans-Christoph Rublack (Hg.): Die luth. Konfessionalisierung in Dtschld. Gütersloh 1992. – Holger Flachmann: L. u. das Buch. Tüb. 1996. – George B. van der Lippe: The Figure of M. L. in TwentiethCentury German Literature. Lewiston 1996. – H. Wolf (Hg.): L.s Deutsch. Ffm. 1996. – Stephen E.

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585 Buckwalter u. B. Moeller: Die frühe Reformation in Dtschld. als Umbruch. Gütersloh 1998. – B. Stolt: M. L.s Rhetorik des Herzens. Tüb. 2000. – Hans Medick (Hg.): L. zwischen den Kulturen. Gött. 2004. – Wolfgang Leppin: M. L. Darmst. 2006. – Joachim Ott u. Martin Treu (Hg.): L.s Thesenanschlag – Faktum oder Fiktion. Lpz. 2008. Hans-Gert Roloff

Lutwin, Liutwin. – Verfasser einer AdamDichtung, 14. Jh.

von jenem Baum auf Adams Grab, der später auch das Holz des Kreuzes spenden wird. Die Hauptquelle der Erzählung ist die apokryphe Vita Adae et Evae, die in einer lat. Fassung des 3./4. Jh. ins MA tradiert, vielfältig variiert u. in die meisten Volkssprachen übertragen wurde. Unter den dt. Fassungen ist die Adaptation L.s die umfangreichste u. differenzierteste. Die genaue Gestalt seiner Vorlage u. damit seine Bearbeitungsleistung sind umstritten. Neuerdings werden alle wichtigen Erweiterungen, bes. die Einfügung der Kreuzholzlegende, bereits der Quelle zugeschrieben. Aus der dt. Literatur kommen Anregungen v. a. von Wolfram, Wirnt von Gravenberc u. Konrad von Heimesfurt. Daneben bleibt Raum für eigene Akzente des Dichters, bes. »säkularisierende« Ansätze in der Behandlung des geistl. Stoffs (Murdoch). So ist neu, dass Eva sich nicht aus Scham, sondern aus Zorn über die Zurücksetzung ihrer Minne von Adam trennt. Zahlreiche Kommentare begleiten das Geschehen. Rezeptionsspuren des Werks sind nicht bekannt.

L. nennt sich in den Versen 59 u. 1253 des Gedichts Adam und Eva (die Schlusszeile formuliert »Eva und Adam«). Die von Eis vorgeschlagene Identifizierung mit dem Schreiber Leutwin, bezeugt um 1300 im Umkreis des Klosters Sedletz bei Kuttenberg, ist fragwürdig. Das Werk ist in nur einer Handschrift (Wien, cod. 2980; Sprache: elsässisch) überliefert. Die 29 Illustrationen der Handschrift sind als Zyklus des Adam-Lebens eine Rarität. Die Dichtung umfasst 3939 Reimpaarverse mit gelegentl. Dreireimen an den Abschnittsenden. Sie schildert das legendarische Leben der Ureltern. Nach der Vertreibung aus dem Paradies legen sich Adam u. Eva eine Ausgaben: L.s Adam u. Eva. Hg. Konrad Hofdrast. Buße im Wasser auf. Während Eva er- mann u. Wilhelm Meyer. Tüb. 1881. – Mary-Bess neut den Versuchungen des Satans erliegt, Halford: L.s Eva u. Adam. Study – Text – Translableibt der im Jordan büßende Adam stand- tion. Göpp. 1984. Literatur: Wilhelm Meyer: Vita Adae et Evae. haft. Es folgt die Zeugung Kains. Als Adam nun das Paradies über die Minne stellt, ver- In: Abh. der Bayer. Akademie der Wiss.en, Philolässt ihn Eva voll Zorn u. wandert in den äu- soph.-philolog. Kl. 14. Mchn. 1878, S. 185–250. – ßersten Westen. Ihre verzweifelten Klagen Gerhard Eis: Beiträge zur mhd. Legende u. Mystik. Bln. 1935. Nachdr. 1967. – Arthur C. Dunstan: L.s werden von den Gestirnen zu Adam getragen. Latin Source. In: FS Hermann Georg Fiedler. OxDieser eilt der Schwangeren zu Hilfe, Engel ford 1938, S. 160–173. – Brian O. Murdoch: Das dt. assistieren bei der Geburt des Sohns. Es fol- Adambuch u. die Adamlegenden des MA. In: Dt. gen die Jugend Kains, die Geburt Abels, seine Lit. des späten MA. Hg. Wolfgang Harms u. Leslie Ermordung durch den Bruder u. die Geburt P. Johnson. Bln. 1975, S. 209–224. – Ders.: Eve’s Seths. Als Adam sein Ende nahen fühlt, Anger. In: Archiv 215 (1978), S. 256–271. – Maryschickt er Seth zum Paradies, um das »Öl der Bess Halford: Illustration and Text in L.’s ›Eva u. Barmherzigkeit« zu erbitten. Der Engel Mi- Adam‹. Göpp. 1980. – B. Murdoch: L. In: VL. Christoph Huber / Red. chael gibt Seth aber nur einen Ölzweig mit auf den Weg, der in Adams Grab gesenkt wird. Eva folgt dem Gatten nach einer großen Lutz, Josef, Joseph, Maria, * 5.5.1893 PfafKlage u. einer visionären Zukunftsschau. fenhofen/Ilm, † 30.8.1972 München; Nun begibt sich Seth auf eine zweite ParaGrabstätte: ebd., Waldfriedhof. – Erzähdiesfahrt, von der er ein zweites Holz, diesler, Dramatiker, Lyriker. mal einen Zweig mit dem Sündenfallapfel, mitbringt. Die Handlung endet mit der Der Sohn eines Bezirksschulrats studierte Sintflut u. Noes Aussendung der Taube: Der Landwirtschaft, konnte aber wegen schwerer Ölzweig, den sie zur Arche bringt, stammt Kriegsverletzungen den Beruf nicht ausüben.

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So widmete er sich seit Beginn der 1920er Lutz, Werner, * 25.10.1930 Wolfhalden/ Jahre ganz der Schriftstellerei u. lebte mit Kt. Appenzell. – Lyriker, Erzähler, bilkurzen Unterbrechungen in München. dender Künstler. L. war nach Sprache u. Stoffwahl ein bayerischer Autor, nicht aber ein bloßer Heimat- L. machte eine Ausbildung zum Grafiker, dichter. 1929 erschien sein erster bedeuten- arbeitete für einen US-amerikan. Konzern u. der Roman Der Zwischenfall (Mchn.). Es folg- lebt heute als freier Autor in Basel. »Ich stellte mit Befriedigung fest, dass ich ten Erzählsammlungen wie Käuze am Wege hügelkonform zu denken begann. Gelasse(Nürnb. 1937) oder Der unsterbliche Lenz ner, gleichmütiger, distanzierter, als genüge (Mühlacker 1940), zahlreiche Gedichte, z.T. es ein Hügel zu sein.« Dieses »hügelkonforin Mundart, Essays, überwiegend zu Themen der bayer. Kultur- u. Literaturgeschichte, u. me« Denken passt zu L. u. seinen Büchern. Er seit 1931 viele Hörspiele u. Hörfolgen für den schreibt klar u. einfach, überträgt die AnRundfunk. Ein Erfolg war die Dramatisie- schauung tägl. Lebens in sinnlich-bildhafte rung von Franz Xaver Kobells G’schicht vom Poesie. Die Passage stammt aus Hügelzeiten, Brandner Kaspar (1871) u. d. T. Der Brandner der einzigen längeren Erzählung, die er bisKaspar schaut ins Paradies (Mchn. 1934. Hörsp. her publizierte (Frauenfeld 2000). Sie handelt Radio München 1934. Film 1949), eine für L. von einem, der eine geliebte Frau verliert, bezeichnende Verbindung von Lust- u. Mys- sich in ein Haus im Gebirge zurückzieht u. terienspiel. Der Sonettzyklus Vater unser dort wieder zu sich findet. L.’ Werk umfasst v. a. Lyrik u. Prosage(Mchn. 1946) bezeugt die christl. Haltung des Dichters, die ihn auch Distanz zum Natio- dichte. Er wurde schon in den 1950er Jahren nalsozialismus nehmen ließ. 1949 schrieb L. von Rainer Brambach u. Hans Bender gefördie Neufassung der Bayernhymne (nach einem dert, veröffentlichte aber erst 1979 sein lyr. Debüt Ich brauche dieses Leben (Zürich, Ffm.). Text Michael Öchsners). Weitere Werke: Junge Welten. Mchn. 1913 (L.). Auch danach ließ er sich, obwohl von der – Die Erlösung Kains. Mchn. 1932 (D.). – Der Kritik gefeiert, mit seinen Texten Zeit, Kumpf. Mchn. 1933 (E.). – Lachender Alltag. strebte nie eine »Karriere« als Autor an, blieb Mühlacker 1942 (E.). – Stiller Tag. Tüb. 1942 (L.). – dem Literaturbetrieb fern. L.’ Gedichte spreDas himmelblaue Fenster. Mchn. 1947. – Die chen prägnant von dem, was vor Augen u. »in Nonne u. der Teufel. Mchn. 1950 (Mysteriensp.). – Griffnähe« ist, wie er einmal sagte, aber auch Vertrautes Land, vertraute Leut. Mchn. 1956 (L.). – von Wünschen u. Träumen, spielerisch, ofDer grüne Hut. Pfaffenhofen 1968. – Die schönsten fen: »Ach / was ich mir wünsche / füllt mit Gesch.n. Hg. Wolfgang Johannes Bekh. PfaffenhoLeichtigkeit / ganz Umbrien / und eine ganze fen 1974. Neuausg. 1993. – Das Beste aus seinen Schr.en. Hg. Wilhelm Ludwig. Pfaffenhofen 1981. Lombardei« (in: Schattenhangschreiten. Frauenfeld 2002). Manchmal reduziert er sie auf – Der fremde Kaiser. Pfaffenhofen 1993 (D.). Literatur: Wolfgang Johannes Bekh: Vom wenige Wörter, ähnlich japanischen Haikus, Brandner Kasper bis zum Geisterbräu, J. M. L., dem allerdings ohne deren strenge Silbenzählung. bayer. Dichter zum Gedenken. In: gehört – gelesen So ergeben im Folgenden nur vier Wörter ein 20 (1973), S. 929–936. Wieder in: Ders.: Vom Glück Gedicht, das jedoch nicht spartanisch oder der Erinnerung. Mchn. 2000, S. 97–117. – Hans hermetisch wirkt, sondern sofort einleuchtet Erdle: Keine Freude an dem ›Kaiser‹. Wie ein Dra- – u. zgl. einen Hof von Bedeutungsmöglichma v. J. M. L. durch die NS-Propaganda unter- keiten hat: »Die Steine öffnen / nachsehen« drückt wurde. In: Lit. in Bayern 7 (1992), H. 28, (in: Die Mauern sind unterwegs. Zürich 1996). S. 39–42. – Franz Rutsch: J. M. L. Stationen seines L.’ Texte brauchen keine grellen Farben u. Lebens. Pfaffenhofen 1992. lauten Töne, sind im Gegenteil reich an geHans Pörnbacher / Red. brochenen Farben, es gibt Viertel- u. Halbtöne, viele Nuancen. Überhaupt beklagt er Widersprüche nicht, sondern nimmt sie an. In seinem 2006 erschienenen Band mit »Aufzeichnungen« Bleistiftgespinste (Frauenfeld)

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heißt es: »Trotz trügerischer Augen, trotz des Sehens, das manchmal schmerzt, rufe ich mich als Botschafter der Farben aus«. Weitere Werke: Flusstage. Zürich 1992. – Nelkenduftferkel. Frauenfeld 1999. – Farbengetuschel. Frühe Gedichte. Frauenfeld 2004. – Kussnester. Mit vier Tusch-Zeichnungen v. W. L. Frauenfeld 2009 (L.). Literatur: Markus Bundi: W. L. In: LGL. Matthias Kußmann

Lutze, Arthur, * 1.6.1813 Berlin, † 11.4. 1870 Köthen. – Verfasser von Büchern zur alternativen Heilkunst, Lyriker, Dramatiker.

größeren literar. Wert. L.s Resonanz als Lyriker u. Dramatiker blieb insg. gering. Weitere Werke: Karl X. im Jahre 1832 in Schottland. Eine dramat. Szene. Neustadt-Eberswalde 1836. – Winterblüten. Erfurt 1837 (G.e). – Das Galgenmännlein. Ein dramat. Gedicht. Lpz. 1839. 21864. – Fliegende Blätter für Stadt u. Land über Homöopathie. Köthen 1858 ff. (Ztschr.). – Hzg. Heinrich u. Marie oder Der Triumph der Liebe. Köthen 1864 (Schausp.). – Samuel Hahnemanns Organon der Heilkunst. Köthen 61865. – Graf Evremont. Histor. bürgerl. Schausp. Köthen 1866. – A. L.s Selbstbiogr. Köthen 1866. – Der alte Fritz oder eine Schuld u. ihre Sühnung. Dramat. Skizze. Köthen 1867. 21870. Literatur: Karl L. Leimbach: Die dt. Dichter der Neuzeit u. Gegenwart. Bd. 6, Lpz. 1896. – Richard Haehl: Samuel Hahnemann. Sein Leben u. Schaffen. Lpz. 1922. Neudr. Dreieich 1988. – Herbert Fritsche: Samuel Hahnemann. Idee u. Wirklichkeit der Homöopathie. Gött. 71994. – Heinz Eppenich: Gesch. der dt. homöopath. Krankenhäuser. Heidelb. 1995. – Inge Streuber: Ein Macher: A. L. (1813–70). In: Homöopathie: Patienten, Heilkundige, Institutionen. Hg. Martin Dinges. Heidelb. 1996, S. 160–184. – Bernd G. Ulbrich: Dichter in Anhalt. Halle/S. 2002. – Fritz D. Schroers (Hg.): Lexikon deutschsprachiger Homöopathen. Stgt. 2006. Bernd G. Ulbrich

In begüterter Kaufmannsfamilie geboren, wuchs L. auf dem Familiengut bei Stettin auf. Nach dem frühen Tod der Eltern wurde er Postbeamter, praktizierte daneben die homöopath. Heilmethode u. Heilmagnetismus u. erlangte den Ruf eines »Wunderheilers«. Zum Tode des Homöopathen Samuel Hahnemann hielt er 1843 eine programmat. Rede, deren Druckfassung zahlreiche Auflagen erlebte u. ihn bekannt machte (Hahnemann’s Todtenfeier. Köthen 471903). Als Heilpraktiker am Waisenhaus Kleinglienicke von den preuß. Medizinalbehörden heftig angeLuxemburg, Rosa, auch: Junius, * 5.3. griffen, zog L. 1846 nach Köthen, die Haupt1871 Zamos´c´, † 15.1.1919 Berlin (ermoru. Residenzstadt des Herzogtums Anhaltdet). – Politikerin. Köthen u. ehemalige Wirkungsstätte Hahnemanns. Dort konnte er sich zu einem be- Die Tochter eines wohlhabenden jüd. Holzmerkenswerten alternativen Mediziner ent- händlers wuchs in Warschau auf u. engagierte wickeln u. 1855 die weltweit größte homöo- sich schon während ihrer Gymnasialzeit in path. Klinik gründen. Der Klinik war ein ei- der Revolutionärsozialistischen Partei des gener Buchverlag angeschlossen. L.s Lehrbuch Proletariats u. im jüd. »Bund«. Um drohender Homöpathie (Köthen 1860. 161933) u. wei- der Verhaftung zu entgehen, floh sie 1889 ins tere Fachschriften fanden große Verbreitung, Ausland, studierte in Zürich u. promovierte waren aber auch unter Homöopathen um- 1898 zum Dr. jur. Zus. mit ihrem Freund Leo stritten. L. selbst sah sich als mit einer Got- Jogiches, einem poln. Sozialisten, war sie tesgabe ausgestattete, dem Allgemeinwohl Mitbegründerin der patriotischen poln. Sozialdemokratie. Seit 1897 in Deutschland, dienende Heilerpersönlichkeit. Gottvertrauen, tätige Nächstenliebe u. pflegte sie engen Kontakt zu Karl Kautsky u. Sendungsbewusstsein durchziehen auch das Franz Mehring u. schrieb Artikel für die lyr. u. dramat. Schaffen, aus dem die Bände »Neue Zeit« u. die »Leipziger Volkszeitung«, Gedichte. Neue Ausgabe (Dessau 1855. 21859) u. nachdem sie durch eine Scheinheirat die Gedichte. Zweiter Teil (Köthen 1864) mit zarten preuß. Staatsangehörigkeit erworben hatte. Liebesgedichten u. vielfältigen Lobpreisun- L. gehörte dem linken Flügel der SPD an u. gen Gottes herausragen. Viele Gelegenheits- propagierte während der russ. Revolution gedichte u. auch die Theaterstücke sind ohne von 1905 den polit. Massenstreik (Massen-

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streik, Partei und Gewerkschaften. Hbg. 1906), konnte beim Parteikongress aber nicht durchdringen. Als Dozentin an der Parteischule in Berlin (seit 1907) verfasste sie ihr theoret. Hauptwerk Die Akkumulation des Kapitals (Bln. 1913), in dem sie die These vertrat, der Kapitalismus könne nur so lange bestehen, wie er sich in der Form des Imperialismus durch Beherrschung unterentwickelter Länder u. Märkte zu behaupten vermöge. Nach Beginn des Ersten Weltkriegs verstärkte sie gemeinsam mit Karl Liebknecht ihre Angriffe gegen den Militarismus. Von 1915 an in Schutzhaft, schrieb sie im Gefängnis Die Krise der Sozialdemokratie (Zürich 1916, Pseud. Junius), verfasste für die Gruppe Internationale das Programm u. zus. mit Liebknecht die Spartakus-Briefe. Ihr seel. Gleichgewicht versuchte sie mühsam durch einen regen Briefwechsel mit Gleichgesinnten, so mit Leo Jogiches, aufrechtzuerhalten. Am 9.11.1918 aus dem Breslauer Gefängnis entlassen, stürzte sich L. in vehemente Agitation u. Propaganda mit dem Ziel einer sozialist. Demokratie. Sie betrieb die Umwandlung des Spartakusbundes in die KPD (31.12.1918) u. strebte die Errichtung einer Räterepublik durch eine spontane Revolution an. Nach der Niederschlagung des von Liebknecht geführten Januar-Aufstands in Berlin, den sie zunächst verhindern wollte, wurde L. zus. mit Liebknecht von Freikorpssoldaten ermordet. L. war die gebildetste u. engagierteste Führerin der linkssozialist. Bewegung in Deutschland vor u. während des Ersten Weltkriegs. Ihr Kampf gegen den Revisionismus Eduard Bernsteins, gegen jeden Reformismus, gegen die Macht der herrschenden Klassen u. bes. ihre leidenschaftl. Attacken gegen den Krieg u. seine gesellschaftl. Bedingungen zeichnen sich durch eine plakative, häufig Formeln prägende Sprache aus, die reich an suggestiven Wendungen ist. L. bewunderte die 1917 von Lenin u. den Bolschewiki ins Werk gesetzte Revolution in Russland, wenngleich sie sich von Lenin in wichtigen Fragen unterschied, gegenüber der Forderung nach zentraler Lenkung der Revolution die Bedeutung der spontanen Aktion der Massen hervorhob u. v.a. die diktato-

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rische Herrschaftsform der Sowjetunion als mit dem Sozialismus nicht vereinbar ansah. Ihr berühmtes Wort »Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden« setzte eine sozialist. Wirtschaftsorganisation u. Demokratie voraus u. sollte den bürgerl. Freiheitsbegriff prinzipiell überwinden. In ihrer Persönlichkeit paarten sich dogmat. Fanatismus u. extreme Rücksichtslosigkeit mit echtem Mitgefühl für verfolgte Gleichgesinnte u. Unterdrückte u. mit einer eindrucksvollen Liebe zur Literatur. Im Gefängnis übersetzte sie das Werk des russ. Romanciers Wladimir Korolenko, Die Geschichte meines Zeitgenossen. L.s Briefe aus dem Gefängnis (Bln. 1920) offenbaren ihre reich ausgebildete Fähigkeit, intensive persönl. Beziehungen zu pflegen u. an ihnen Halt zu finden. Im Urteil der Nachwelt stehen nebeneinander unreflektierte Zustimmung u. leidenschaftl. Verehrung ihrer Person – auch von bürgerlich-liberaler Seite – u. herbe Kritik u. entschiedene Ablehnung ihres Endziels, der Diktatur des Proletariats, die L. allerdings nirgends einer genaueren, positiven Darstellung unterzog. Ausgaben: Reden. Bln. 1928. – Spartakus-Briefe. 2 Bde., Bln./DDR 1958. – Die russ. Revolution. Ffm. 1963. – Polit. Schr.en. 3 Bde., Ffm. 1966–68. – Ges. Werke. 5 Bde., Bln./DDR 1970–75. – Briefwechsel: Briefe an Karl u. Luise Kautsky. Hg. L. Kautsky. Bln. 1923. – Briefe an Leo Jogiches. Eingel. v. Feliks Tych. Ffm. 1971. – Briefe an Freunde. Köln 1976. – Ich umarme sie in großer Sehnsucht. Briefe aus dem Gefängnis 1915–18. Bln./DDR 1980. – Ges. Briefe. 6 Bde., Bln./DDR [bzw. Bln.] 1982–93. Bd. 2, 3. korrigierte u. erg. Aufl. 1999. Literatur: Bibliografie: Karl Liebknecht u. R. L. Ein Auswahlverz. der Schr.en v. u. über K. L. u. R. L. Bln./DDR 1957. – In: Peter Nettl: R. L. Oxford 1965. Dt. Köln 21968. – Weitere Titel: Paul Frölich: R. L. Ffm. 1967. – Helmut Hirsch: R. L. Reinb. 1969. – Bernhard v. Mutius: Die R.-L.-Legende. Ffm. 1978. – Max Gallo: R. L.: Eine Biogr. Zürich 1993. – RosaLux: Journal der R.-L.-Stiftung. Bln. 2007 ff. Michael Behnen

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Luzerner Spiele. – Geistliche Spiele u. Fastnachtspiele des Spätmittelalters u. der Frühen Neuzeit, Spielbelege 1453 bis 1616. Die durch Texte u. reiches Quellenmaterial außergewöhnlich breit belegte Tradition der Aufführung von geistlichen u. profanen Schauspielen auf öffentl. Plätzen der Stadt Luzern erstreckt sich von der Mitte des 15. bis zum Anfang des 17. Jh. Die Organisation der Spiele, die nach Ausweis der Ratsprotokolle von der städt. Obrigkeit genehmigt u. gefördert wurden, stand unter der gemeinsamen Trägerschaft von Geistlichkeit u. Bürgerschaft, die in der 1470 gegründeten Bruderschaft zur Dornenkrone zusammengeschlossen waren. Das zunächst paritätisch besetzte Gremium, dem auch die Auswahl der vom Rat ernannten Spielleiter (Regenten) u. die Verteilung der generell nur von männl. Darstellern gespielten Rollen oblag, gelangte zunehmend unter den Einfluss der bürgerl. Mitglieder, v. a. der mächtigen patriz. Familien. So entwickelte sich die genuin der Gottesverehrung u. der geistl. Erbauung u. Belehrung dienende Aktion zu einem massenmedialen Großereignis mit immenser Breitenwirkung, das als städt. Repräsentationsveranstaltung in Verbindung mit der Verwirklichung des religiösen Anliegens einen wesentl. Beitrag zur kulturellen Reputation der Stadt leistete u. zur selbstbewussten Manifestation des Reichtums u. der Stabilität eines funktionierenden Gemeinwesens wurde. Im zeitgeschichtl. Kontext der konfessionspolit. Auseinandersetzungen waren die Spiele zgl. in die Agitationsstrategie der Altgläubigen gegenüber den Reformatoren einbezogen u. wurden während der Gegenreformation zur öffentl. Demonstration der Legitimationsziele der kath. Restauration eingesetzt. Im Mittelpunkt der Spielaktivitäten stand die Aufführungsserie der gemäß Spieltermin u. Handlung so genannten Osterspiele, deren Beginn ab 1453 belegt ist. Während die frühesten Osterspiele auf Initiative des städt. Klerus wohl im Bereich der Peterskapelle stattfanden, wurde ab 1500 der Weinmarkt (ehemals Fischmarkt) zur zentralen Spiel-

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stätte. Dass das Spiel, dessen Urtext nicht erhalten ist, anfangs gattungstypisch auf die Dramatisierung der Osterereignisse (Grabwächterszene, Auferstehung Christi, Höllenfahrt, zweite Wächterszene, Grabbesuch der drei Marien, Apostellauf zum Grab, Erscheinung Christi vor seinen Anhängern) konzentriert war, lässt sich aus dem verwandten Donaueschinger Passionsspiel von ca. 1480 erschließen, mit dem nach jüngster Erkenntnis (Greco-Kaufmann 2009) auch der Luzerner Bühnenplan für den Platz vor der Peterskapelle überliefert ist. Im Zuge der Fortentwicklung expandierte das in den Quellen weiterhin als »Osterspiel« bezeichnete Stück durch Eingliederung der Szenen von Christi Leben, Leiden u. Sterben zunächst zu einem Passionsspiel, sodann durch Anlagerung weiterer Szenen aus dem AT u. NT zu einem heilsgeschichtl. Spektrum von der Erschaffung der Welt über den Sündenfall u. alttestamentl. Präfigurationen bis hin zu Christi Himmelfahrt u. dem Pfingstgeschehen. Schließlich war ein Textumfang von über 10.000 Versen durch etwa 200 Darsteller in mehr als 300 Rollen auf die Bühne zu bringen. Als Aufführungsturnus legte die Spielbruderschaft von 1490–1504 eine fünfjährige, danach eine allerdings nicht regelmäßig eingehaltene zehnjährige Folge fest. Die Texte der nach dem Wechsel auf den Weinmarkt zweitägig veranstalteten Aufführungen sind fragmentarisch für die Jahre 1545 (2. Tag), 1571 (1. Tag), 1583 (1. Tag, 1. Teil u. ein Ausschnitt des 1. Tages), 1597 (Teil des 2. Tages) u. 1616 (1. Tag, 2. Teil u. zwei Teile des 2. Tages) erhalten. Wenn somit auch kein vollständiger Text existiert u. keine der Aufführungen komplett im Originaltext repräsentiert ist, erlauben die in Regiebüchern aufgezeichneten Textteile doch die Herstellung eines synthet. Gesamttextes unter Einbezug der jeweiligen Änderungen u. Ergänzungen. Verfasser u. Bearbeiter der Aufführungstexte waren die ab 1538 namentlich bekannten Spielleiter, deren Theatertätigkeit offenbar an das von ihnen hauptberuflich ausgeübte Schreiberamt gebunden war. Als Regenten fungierten 1538 der Gerichtsschreiber Hans Salat, 1545 u. 1560 der Stadtschreiber

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Zacharias Bletz u. 1571 der Stadtschreiber Hans Kraft. 1583 u. 1597 ging die Leitung an den Stadtschreiber Renward Cysat über, dessen umfangreichen Aufzeichnungen vor allen anderen Quellen die detaillierte Kenntnis der Luzerner Aufführungspraxis zu verdanken ist. Anhand von Regiematerialien u. Spielzeugnissen wie Rollen- u. Spielerverzeichnissen, Notizen zu Aufbau u. Ausstattung der Bühnenorte, zu Kostümen u. Requisiten, Erörterungen inszenierungstechnischer Belange, Berichte über den Ablauf u. Kostenberechnungen lassen sich die Theaterproduktionen in allen Stadien ihrer Planung, Vorbereitung u. Durchführung nachvollziehen. Cysats Bühnenpläne für die beiden Spieltage von 1583 ermöglichen eine differenzierte Rekonstruktion der Anordnung der Handlungsorte (höff, ort, ständ) auf der Simultanbühne des Weinmarktes. Gemäß dem den theolog. Sinn visualisierenden Grundschema der polaren Gegenüberstellung der jenseitigen Spielorte des Himmels (im Osten, erhöht vor dem Haus zur Sonne) u. der Hölle (an der Westseite des Platzes) wurde den Diesseitsorten innerhalb des so erzeugten Spannungsfeldes von Gut u. Böse, Heil u. Verdammnis je nach der Gott- oder Teufelsnähe ihrer Handlungsträger ihre Position zugewiesen. Prägend für die Inszenierungen war neben den opulenten Schaueffekten auch der Anteil an musikal. Darbietung, v. a. in Form von traditionellen lat. (teils liturgischen) u. dt. Gesängen sowie instrumentalen Zwischenstücken mit handlungsgliedernder Funktion. Cysats plötzlicher Tod im Jahre 1614 verhinderte die von ihm für dieses Jahr vorbereitete Aufführung, die dann erst 1616 unter der Leitung des kurzfristig eingesprungenen Leutpriesters Martin Matzinger stattfinden konnte. Thematisch u. spieltechnisch eng verflochten mit dem Osterspielkomplex sind weitere geistl. Spiele, deren Verfasser maßgeblich an den Inszenierungen der Osterspiele beteiligt waren. Die Aufführungen dieser Dramatisierungen biblischer, apokrypher u. hagiograf. Stoffe fanden zwischen den turnusmäßigen Veranstaltungen der Osterspiele ebenfalls auf der Simultanbühne des Weinmarktes statt, an

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deren durch die Osterspiele etablierten Örtlichkeiten sich ihre szen. Einrichtung orientierte. Gemeinsam ist den Spielen die über das dramat. Geschehen vermittelte antireformatorische Tendenz. Hans Salat inszenierte 1533 zur Osterzeit vermutlich im Auftrag der Obrigkeit sein Spiel vom Verlorenen Sohn, dessen überarbeiteter u. kommentierter Text in einem Druck von 1537 erhalten ist. Das neutestamentl. Gleichnis (Lc 15,11–32) wird mit Berufung auf die bibl. Autorität des Stoffes nicht nur zu religiös-moralischer Unterweisung des Luzerner Publikums genutzt, sondern ist im Kontext des Glaubensstreites auch als Appell an die Reformierten konzipiert, nach dem Vorbild des verlorenen Sohnes ihr Fehlverhalten einzusehen u. zum alten Glauben zurückzukehren. Zacharias Bletz ist der Autor u. Spielleiter des zweiteiligen, im Jahre 1549 an zwei Tagen mit großer Zuschauerresonanz aufgeführten Spiels vom Jüngsten Gericht, das die zentralen Themen der christl. Eschatologie behandelt. Der erste Teil, das Spiel vom Entchrist, zeigt Aufstieg, Machtfülle u. Sturz des mit teufl. Hilfe Scheinwunder vollbringenden u. die Völker der Erde unterwerfenden Pseudomessias, den Bletz auch als Anführer der Reformatoren auftreten lässt. Mit dem zweiten Teil, dem Weltgerichtsspiel, wird unter Einbezug des Gleichnisses vom großen Gastmahl (Lc 14,16–24) eine gegenreformatorisch geprägte Version des Typus der spätmittelalterl. Weltgerichtsspiele geboten. Auch Renward Cysat tritt mit seinem Heiligkreuzspiel von 1575, dessen für 1577 geplante Aufführung jedoch nicht stattgefunden hat, als eigenständiger Autor hervor. Das auf Kirchengeschichtsschreibung u. Legendenstoff basierende Stück setzt das bibl. Geschehen der Osterspiele fort, indem zuerst die Vergrabung des Christuskreuzes nach Christi Tod durch die Juden, danach seine wunderbare Auffindung durch Kaiser Constantinus u. seine Mutter Helena vorgeführt wird. Der Text ist nur zur Hälfte überliefert, doch informieren Cysats Regienotizen über den Gesamtverlauf. Der von den Reformatoren verworfene Heiligenu. Reliquienkult der Altgläubigen wird mit dem Mirakelgeschehen um das heilige Kreuz demonstrativ bestätigt. Drei teils fragmenta-

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risch erhaltenen Heiligenspiele stammen von Jakob Wilhelmi, dem Hofschulmeister von St. Leodegar, der an den Osterspielinszenierungen ab 1583 in verantwortl. Funktion beteiligt war. Die Texte des 1585 u. 1599 aufgeführten, in biblisch-apokrypher Stofftradition stehenden Apostelspiels (Wirken u. Martyrium der Apostel nach Christi Tod) u. des 1596 gespielten St. Wilhelm (Tyrannenherrschaft u. Bekehrung Wilhelms von Aquitanien nach dem Legendar des Laurentius Surius) sind Bearbeitungen anonymer Spielbücher aus Beromünster. Wilhelmi selbst hat vermutlich das 1606 inszenierte Spiel von St. Leodegar, eine Dramatisierung der Vita des Luzerner Stadtpatrons, verfasst. Möglicherweise leitete er auch die Aufführung des Katharinaspiels von 1594, dessen Text nicht erhalten ist. Neben der das Luzerner Theaterleben dominierenden geistl. Spieltradition ist auch die profane Ausprägung des mittelalterl. Schauspiels in Form von Fastnachtspielen vertreten, die hier – abweichend von anderen Spielorten – auf literar. Vorlagen zurückgreifen u. für die Simultanbühne eingerichtet sind. Da zwei ihrer Verfasser, Bletz u. Cysat, zgl. als Autoren u. Inszenatoren der geistl. Spiele wirkten, verwundert es nicht, dass der gattungsimmanente Unterhaltungszweck der Fastnachtspiele der Vermittlung von Normvorstellungen christlicher Morallehre dienstbar gemacht wird, indem mit derber Situationskomik u. gewollter Drastik in Sprache u. Gebärden nach dem Verfahren der Didaxe ex negativo menschl. Fehlverhalten als Sünde dekuvriert u. angeprangert wird. Mit dem frühesten, um 1500 anonym überlieferten Repräsentanten dieser Gruppe, dem Klugen Knecht, dessen Aufführung allerdings nicht nachgewiesen ist, liegt eine Bearbeitung von Reuchlins Henno vor. 1546 leitete Zacharias Bletz die Aufführung seines Marcolfus, mit dem er einen weltliterar. Stoff rezipiert. In der Auseinandersetzung mit der wertorientierten Weisheit des Königs Salomo bleibt zuletzt die listige Zweckrationalität des Bauern Marcolfus siegreich. Als Zwischenspiele sind die Moralsatire Die missratenen Söhne nach der Declamatio Beroaldos d.Ä. und die Hanswurstszene Häntz und Cüni eingefügt. Auf ca.

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1550 zu datieren ist das wohl auch von Bletz stammende, nach dem Muster des allegor. Prozessspiels gestaltete Stück vom Narrenfresser, in dem die Narren als personifizierte Todsünden (wie Zwytracht, Nyd u. Vnküscheit) gerichtlich verurteilt u. vom Narrenfresser, einer dem Höllenrachen des geistl. Spiels nachgebildeten Figur mit Riesenmaul, verschlungen werden. Der gleichfalls Bletz zugeschriebene, in der Tradition der fastnächtl. »Quacksalberspiele« stehende Wunderdoktor wurde wohl 1565 oder 1567 aufgeführt. Renward Cysats zur Fastnacht 1593 gespieltes allegor. Stück Convivii Process (»Die Verurteilung des Gastmahls«) legt die frz. Moralität La Condamnation de Bancquet des Nicolas de la Chesnaye zugrunde. Durch die Aufnahme religiöser Elemente (z.B. Teufels- u. Engelsauftritte) stellt Cysat es in den Kontext des geistl. Dramas. Die Todsünde Gula (»Völlerei«), die in der Personifikation des Convivium ein Wirtshaus führt, richtet ihre hemmungslos prassenden Gäste, vertreten von Müßiggang u. seinen Kumpanen, zugrunde u. wird zuletzt nach ihrer Verurteilung zum Tod durch den Strang exekutiert. Ob das ohne Autornennung in Luzern erhaltene Fastnachtspiel von Astrologie und Wahrsager dort auch gespielt wurde, ist nicht geklärt. Mit der Etablierung des lat. Schultheaters am Luzerner Jesuitengymnasium, dessen Aufführungen ab dem letzten Viertel des 16. Jh. stattfanden, u. durch den Tod ihres bedeutendsten Regenten Renward Cysat verloren die volkssprachigen Bürgerspiele an Bedeutung u. wurden nach 1616 nicht mehr weitergeführt. Ausgaben: Texte: Heinz Wyss: Das Luzerner Osterspiel. 3 Bde., Bern 1967. – Hans Salat: Der verlorene Sohn. Aufgrund des Erstdruckes v. 1537 hg. v. Robert Schläpfer. In: Fünf Komödien des 16. Jh. Hg. Walter Haas u. Martin Stern. Bern 1989, S. 61–181. – Das Antichristdrama des Zacharias Bletz. In: Karl Reuschel: Die dt. Weltgerichtsspiele des MA u. der Reformationszeit. Lpz. 1906, S. 207–328. – Hansjürgen Linke: Die dt. Weltgerichtspiele des späten MA. Synopt. Gesamtausg. 2 Bde., Tüb. 2002. – Das Luzerner ›Spil deß Heiligen Crützes erfindung‹ v. Renward Cysat. In: Elke Ukena: Die dt. Mirakelspiele des SpätMA. Studien u. Texte. Bern/Ffm. 1975, S. 562–771. – Christiane Oppikofer-Dedie: St. Wilhelmspiel v. 1596, aufge-

Lyser führt in Luzern unter der Spielleitung v. Magister Jakob Wilhelmi (Ritz). Lizentiatsarbeit, Univ. Zürich 1980 (Transkription des Textfragments des 1. Tages). – Der kluge Knecht. Hg. Hans Wuhrmann. In: Fünf Komödien des 16. Jh. Hg. W. Haas u. M. Stern. Bern 1989, S. 15–60. – Die dramat. Werke des Luzerners Zacharias Bletz. Hg. Emil Steiner. Frauenfeld 1926 (›Marcolfus‹, ›Die mißratenen Söhne‹, ›Häntz u. Cüni‹). – Der Narrenfresser. Hg. Linus Spuler. Meggen 1997. – Heidy Greco-Kaufmann: ›Spiegel dess vberflusses und missbruchs‹: Renward Cysats ›Convivii Process‹. Komm. Erstausg. der Tragicocomedi v. 1593. Zürich 2001. – Quellen und Materialien: Renward Cysat: Collectanea u. denkwürdige Sachen pro Chronica Lucernensi et Helvetiae. Bearb. v. Josef Schmid. Luzern 1961–77. – M. Blakemore Evans: The Passion Play of Lucerne. An Historical and Critical Introduction. New York 1943. Nachdr. 1975. Dt. Übers. v. Paul Hagmann. Bern 1961. – Bernd Neumann: Geistl. Schauspiel im Zeugnis der Zeit. Zur Aufführung mittelalterl. religiöser Dramen im dt. Sprachgebiet. 2 Bde., Mchn. 1987. – H. Greco-Kaufmann: ›Zuo der Eere Gottes, vfferbuwung dess mentschen vnd der statt Lucern lob‹. Theater u. szen. Vorgänge in der Stadt Luzern im SpätMA u. in der Frühen Neuzeit. Bd. 2: Quellened., Zürich 2009.

592 Das abenteuerl. Leben des Luzerner Dichters Hans Salat 1498–1561. Luzern 1967. – Heinrich Biermann: Die deutschsprachigen Legendenspiele des späten MA u. der frühen Neuzeit. Köln 1977. – Werner Brettschneider: Die Parabel vom verlorenen Sohn. Das bibl. Gleichnis in der Entwicklung der europ. Lit. Bln. 1978. – Elly Vijfvinkel: Das Donaueschinger Passionsspiel im Luzerner Osterspiel. Amsterd. 1986. – H. Greco-Kaufmann: ›Von rechten lütten ist guot schimpfen‹. Der Luzerner Marcolfus u. das Schweizer Fastnachtspiel des 16. Jh. Bern u. a. 1994. – Winfried Frey: Zacharias Bletz u. die neue Zeit. Zum Luzerner Antichristspiel. In: ZRGG 47 (1995), S. 126–144. – Dieter Trauden: Gnade vor Recht? Untersuchungen zu den deutschsprachigen Weltgerichtsspielen des MA. Amsterd./Atlanta 2000. – John E. Tailby: Text, Bühnenanweisungen u. Bewegungen im Luzerner Wilhelmspiel v. 1596. In: ›Et respondeat‹. Studien zum dt. Theater des MA. Hg. Katja Scheel. Leuven 2002, S. 195–214. Elke Ukena-Best

Lyser, Johann Peter (Theodor), eigentl.: Ludewig Peter August Burmeister, auch: u. a. Luca fa presto, Hilarius Paukenschläger, * 4.10.1803 Flensburg, † 29.1. 1870 Altona. – Erzähler, Lyriker, ZeichLiteratur: Allgemeines: Heinz Wyss: Luzerner ner, Maler, Musikkritiker.

Osterspiel. In: VL. – Rolf Bergmann: Kat. der deutschsprachigen geistl. Spiele u. Marienklagen des MA. Mchn 1986. – John E. Tailby: Berührungspunkte zwischen Passionsspiel u. Heiligenspiel in Luzern am Ende des 16. Jh. In: Leuvense Bijdragen 90 (2001), S. 249–261. – Eckehard Simon: Die Anfänge des weltl. dt. Schauspiels 1370–1530. Tüb. 2003. – Johanna Thali: Text u. Bild – Spiel u. Politik. Überlegungen zum Verhältnis v. Theater u. Malerei am Beispiel Luzerns. In: Das Theater des MA u. der Frühen Neuzeit als Ort u. Medium sozialer u. symbol. Kommunikation. Hg. Christel Meyer u. a. Münster 2004, S. 171–203. – Heidy Greco-Kaufmann: Von paraliturg. Handlungen zum barocken Schauereignis: Genese u. Entwicklung des Luzerner Osterspiels. In: Theaterhistoriographie. Kontinuitäten u. Brüche in Diskurs u. Praxis. Hg. Friedemann Kreuder u. a. Tüb. 2007, S. 45–87. – Dies.: ›Zuo der Eere Gottes, vfferbuwung dess mentschen vnd der statt Lucern lob‹. Theater u. szen. Vorgänge in der Stadt Luzern im SpätMA u. in der Frühen Neuzeit. Bd. 1: Histor. Abriß, Zürich 2009. – Zu einzelnen Autoren und Stücken: Renward Brandstetter: Über Luzerner Fastnachtspiele. In: ZfdPh 17 (1885), S. 421–431. – Walter Frei: Der Luzerner Stadtschreiber Renward Cysat. 1545–1614. Luzern 1963. – Kuno Müller:

L.s Vater, der bald nach L.s Geburt die Scheidung von der Mutter erwirkte, u. Stiefvater, dessen Namen er annahm, waren beide Schauspieler. Früh an eine Wandererexistenz gewöhnt, wechselte L. häufig Wohnsitz (meist im Norddeutschen) u. Beruf, war Buchdrucker, Dekorationsmaler, Zeichenlehrer, seit den 1830er Jahren freier Schriftsteller, 1834 – obgleich 1820 ertaubt (wie Beethoven, von dem L. eines der bekanntesten Porträts schuf) – Musikkritiker u. Redakteur der Schumann’schen »Neuen Zeitschrift für Musik«, auch »Davidsbündler«. Auf die 1836 eingegangene, nicht lange währende Ehe mit der literarisch ambitionierten Hauptmannstochter Caroline Leonhardt (spätere Pierson) folgte 1840 das Schuldgefängnis, aus dem ihn Mendelssohn befreite. Der »wundervolle Kauz« (so sein Freund Heine in den Florentinischen Nächten) verelendete zusehends – Heine 1854: »daß für solche Menschen in Deutschland nichts geschieht, ist empörend« –, zuletzt auf Armenanstaltskosten dahinlebend.

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Großenteils über Zeitschriften verstreut sind L.s vielseitige literar. Aktivitäten (über 800 Publikationen, oft von minderer Qualität). Ein themat. Zentrum bildet die nachromant. Vorstellung von einer gegenseitigen Durchdringung der Künste. Maler- u. Musikerschicksale erzählen die von L. illustrierten Novellen und Freskosonette (Lpz. 1834) u. Kunstnovellen (Lpz. 1835); Clara Wieck vertonte seine Lieder eines wandernden Malers (Lpz. 1834). Die Erfahrung der Unvereinbarkeit von Ideal u. Wirklichkeit spiegelt der iron. Grundton seines autobiogr. Romans Benjamin. Aus der Mappe eines tauben Malers (Hbg.

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1830. Neuausg. 1920). L.s Musikalisches Bilder ABC [...] (Bln. 1842) wendet sich wie die meisten seiner Sagen u. Märchen (Das Buch vom Rübezahl. Lpz. 1834. Abendländische Tausend und eine Nacht. 15 Bde., Meißen 1837–39. Auch auf plattdt.: De Geschicht von de olle Frou Beerboomsch un eerem lütten Swien-Peter. Altona 1861) an Kinder. Literatur: Leopold Hirschberg: J. P. T. L. In: Zeitschrift für Bücherfreunde 10 (1906/07), S. 297–352. – Friedrich Hirth: J. P. L. Mchn. 1911. – Hans Eich: L. In: LKJL. – Goedeke Forts. Arno Matschiner / Red.

M Maar, Paul, * 13.12.1937 Schweinfurt. – Autor, Illustrator u. Übersetzer von Kinder- u. Jugendliteratur. M. verbrachte seine Kindheit bei seinen Großeltern in einem fränk. Dorf. Er besuchte das Gymnasium in Schweinfurt u. machte dort 1958 sein Abitur. Nach dem Studium an der Kunstakademie in Stuttgart u. München arbeitete M. zunächst als Kunsterzieher. Ab 1966 schrieb er Hörspiele u. Rundfunkerzählungen für Erwachsene. Seit 1977 ist er als freier Autor tätig u. lebt seit 1987 in Bamberg. Für sein Werk hat M. viele Preise u. Auszeichnungen erhalten: 1987 Großer Preis der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur, 1995 Voerder Jugendbuchpreis, 1996 Deutscher Jugendliteraturpreis, 1997 Hans-Christian-Andersen-Medaille, 1998 Bundesverdienstkreuz, 2000 E. T. A. Hoffmann-Preis der Stadt Bamberg, 2003 Deutscher Buchpreis, 2005 Bayerischer Kulturpreis. M.s erstes Kinderbuch Der tätowierte Hund (Hbg. 1968. Neuausg. 2007) zeigt bereits seine sprachspielerische Begabung, seinen Hang zur skurrilen Situationskomik u. fantast. Überhöhung alltägl. Erfahrungen. Immer wieder hat M. wie in Eine Woche voller Samstage (Hbg. 1973) kindlich-poetisches Erleben dem nüchternen Erwachsenendasein entgegengesetzt. Zum ängstlichen, angepassten Herrn Taschenbier kommt ein rothaariges, mutiges Sams, das sein Leben in Unordnung bringt. Auf verschiedene Weise möchte Taschenbier das Sams loswerden, aber es ist als sein Alter Ego untrennbar für eine Woche mit ihm verbunden. Bravourös beherrscht das Sams das Spiel mit der Sprache u. mit Sprachstereotypen, nimmt die Wörter beim Wort u. stiftet dadurch Verwirrung.

Produktiv nutzt M. die unterschiedl. Medien. Selbst vielseitig begabt, arbeitet er als Schriftsteller, malt u. zeichnet, verfasst Theaterstücke, Libretti zu Musicals u. Drehbücher. In seinen Reden u. Aufsätzen zur Kinderliteratur Vom Lesen und Schreiben (Hbg. 2007) bezeichnet M. die »Lust, Neues auszuprobieren« u. sich nicht nur literarischer, sondern auch medialer Formen zu bedienen, als den Motor seines Schreibens. Am »Sams« kann die mediale Adaption sehr gut nachverfolgt werden. Bereits 1974 wurde das Hörspiel Eine Woche voller Samstage produziert. 1997 schrieb M. in Zusammenarbeit mit Rainer Bielfeldt das gleichnamige Musical, das im selben Jahr als Hörbuch-CD (Hbg.) erschien. 1998 ließ M. gemeinsam mit Meibrit Ahrens das Sams interaktiv auf CD-Rom auftreten. M. illustrierte die Spielgeschichte u. übernahm die Sprecherrolle. 2001 erfolgte der Filmstart des ersten Sams-Films, komponiert aus Episoden der ersten drei SamsBücher (Am Samstag kam das Sams zurück. Hbg. 1980. Neue Punkte für das Sams. Hbg. 1992. Ein Sams für Martin Taschenbier. Hbg. 1996). Der zweite Film, Sams in Gefahr, folgt dem gleichnamigen Buch (Hbg. 2002). Die Drehbücher zu beiden Filmen, die mittlerweile auch auf DVD erschienen sind, verfasste M. gemeinsam mit Ulrich Limmer. U. d. T. Das Sams wird Filmstar (Hbg. 2001) wird die Entstehung des Films in Buchform dokumentiert. In »Spiel- und Spaßbüchern« wie Onkel Florians fliegender Flohmarkt (Hbg. 1977) animiert M. zu heiterer Kreativität. Bei der Lektüre der Gedichtsammlung JAguar und NEINguar (Hbg. 2007) erkennt man den Einfluss von M.s Leitbildern Eugen Gomringer, Konrad Bayer u. Ernst Jandl. Gemeinsam mit seiner Tochter Anne Maar veröffentlichte M.

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2009 in dieser Tradition ein Geschichten-, Rätsel- u. Bilderbuch mit dem Titel Mehr Affen als Giraffen (Hbg.). Es bietet beim Entdecken der Sprache oder des Lesens kurzweiligen Spaß, wenn z.B. ein längst vergessenes Rätselspiel wie der Drudel vorgestellt wird, ein einfaches Bildrätsel, das es schon im 18. Jh. z.B. bei Georg Christoph Lichtenberg gab. In Andere Kinder wohnen auch bei ihren Eltern (Hbg. 1976) erzählt M. die Geschichte von Kilian, der zuerst sehr glücklich bei seinen Großeltern lebt, dann aber von den Eltern nach Hause geholt wird. M. betonte wiederholt die autobiogr. Nähe dieses Romans. Er ist der schmerzhafte Versuch, sich eine unglückl. Jugend mit einem autoritären u. prügelnden Vater von der Seele zu schreiben. Krieg u. Gefangenschaft hatten den Vater verändert: ein Thema, das M. im Roman Kartoffelkäferzeiten (Hbg. 1990) aufnimmt. Hier wartet die 13-jährige Johanna auf die Rückkehr des Vaters aus russ. Gefangenschaft. Doch der hadert damit, dass das Leben seiner Familie auch ohne ihn weitergegangen ist. Es dauert geraume Zeit, bis der Vater die Eindrücke der Gefangenschaft verwunden hat u. in den familiären Alltag zurückfindet. Aus seiner traurigen Kindheit zieht M. die wichtigste Konsequenz für sein Schreiben. Er will Trostbücher schreiben, Bücher mit gutem Ende. Exemplarisch können hier die Bücher von Herrn Bello (Bello und das blaue Wunder. Hbg. 2005. Verfilmt 2007. Neues von Herrn Bello. Hbg. 2006. Wiedersehen mit Herrn Bello. Hbg. 2008) genannt werden. Vater u. Sohn leben ganz prosaisch in einer Kleinstadt. Der Sohn fühlt sich allein, der Vater mit Künstlerambitionen ist in seinem Apothekerberuf nicht ganz glücklich. Durch ein Fläschchen mit einer blauen Flüssigkeit hält das Fantastische Einzug in ihr Leben, bes. als Hund Bello die Flüssigkeit aufschleckt u. sich in einen »Mönsch« verwandelt, der noch nicht alle hündischen Verhaltensmuster abgelegt hat. Das Lesen selbst thematisiert Maar in seinem Roman Lippels Traum (Hbg. 1984. Verfilmt 1991 u. 2009. Tb. Mchn. 2007). Die Eltern fahren für eine Woche nach Wien u. geben Lippel in fremde Obhut. Zum Trost schenken sie ihm die Märchen aus 1001

Maar

Nacht. Als das Buch ihm von der verständnislosen Frau Jakob weggenommen wird, träumt Lippel in den darauffolgenden Nächten sein eigenes oriental. Abenteuer. In Der verborgene Schatz (Hbg. 2005) wird der Orient in der Geschichte von Muhar dem Kleinen noch einmal zum Schauplatz. Auch hier finden sich vielfältige Anspielungen auf die berühmten Erzählungen der Scheherazade. M. bezeichnet sich selbst als leidenschaftl. Leser. Deshalb gibt er in seinen eigenen Büchern zahlreiche Hinweise auf weiteren Lesestoff, z.B. heißt der Hund in Lippels Traum in Anspielung auf Wilhelm Hauffs Märchen Muck, u. Lippel selbst wohnt in der Friedrich-Rückert-Straße. Mit dem Sach- u. Erzählbuch Türme (Hbg. 1987), für das M. den Deutschen Jugendbuchpreis 1988 erhielt, wandte er sich einem neuen Genre zu. M. verfasst auch erfolgreich aufgeführte Kindertheaterstücke, z.B. das F.A.u.s.T-Projekt mit Regisseur Christian Schidlowsky u. dem renommierten Kindertheater »Die Pfütze« (Urauff. Fürth 1999), illustriert viele seiner Bücher u. übersetzt aus dem Englischen. Weitere Werke: Die Eisenbahn-Oma. Hbg. 1981 (E.). – Anne will ein Zwilling werden. Hbg. 1982 (Bildgesch.n). – Tier-ABC. Hbg. 1983 (Buchstabenbilder). – Kindertheaterstücke. Hbg. 1984. – Der Tag, an dem Tante Marga verschwand u. andere Gesch.n. Hbg. 1986. – Das kleine Känguruh auf Abenteuer. Hbg. 1989 (E.). – Die Maus, die hat Geburtstag heut. Hbg. 1997 (G.). – Große Schwester, fremder Bruder. Hbg. 2004 (E.). – Kreuz u. Rüben, Kraut u. quer. Das große Paul-Maar-Buch. Hbg. 2004. – Onkel Alwin u. das Sams. Hbg. 2009 (R.). – Theaterstücke: Kikerikiste. Urauff. Bonn 1972. – Papa wohnt jetzt in der Heinrichstraße. Urauff. Nürnb. 1993. – Lippels Traum. Urauff. Nürnb. 1995. – Herr Bello u. das blaue Wunder. Urauff. Fürth 2007. Literatur: Hans Gärtner: P. M. In: LKJL, Bd. 2, S. 415. – Hans ten Dornkaat: P. M. – Porträt eines kinderliterar. Multitalents. In: Jugendlit., H. 45 (1978), S. 28–34. – Hans-Heino Ewers: P. M., der Geschichtenerzähler. In: Oetinger Lesebuch 1987/ 88. Hbg. 1987, S. 156–162. – Reinbert Tabbert: Aus Nachkriegsjahren werden ›Kartoffelkäferzeiten‹. Ein Werkstattgespräch mit P. M. In: JuLit 21 (1995), H. 3, S. 38–56. – Manfred Jahnke: Wie das Sams überflüssig gemacht wird. Anmerkungen zu Büchern v. P. M. In: Fundevogel 120 (1996),

Maass S. 37–46. – Wilfried Bütow: ›Ich mag Verwandlungen‹. Gespräch mit P. M. In: DU 50 (1997), H. 7/ 8, S. 338–348. – Maria Lypp: Zurückhaltung als Kunst. Zu den Versen v. P. M. In: Dies.: Vom Kasper zum König. Ffm./Wien 2000, S. 165–167. – Günter Lange: Das Sams u. das fremde Kind. Laudatio auf P. M. anlässlich der Verleihung des E.-T.-A-Hoffmann-Preises der Stadt Bamberg am 9.11.2000. In: Volkacher Bote 71 (2000), S. 12–17. – G. Lange: P. M. multimedial. Das ›Sams‹ als Kinderbuch, Theaterstück, Hörsp., Musical, CD-Rom u. Film. In: Grundschule 33 (2001), H. 7/8, S. 23–28. – Ders. u. Max Schmidt: P. M. In: Kinder- u. Jugendbuchlit. Ein Lexikon. 14. Erg. Lief. Febr. 2002. – Henning Fangauf: P. M. In: LGL. – Siegfried Seuß: Seiltanz auf Papier. In: Börsenblatt 173 (2006), H. 9, S. 28–31. – G. Lange: Der Kinder- u. Jugendbuchautor P. M. Einblicke in Leben u. Werk. In: Leser treffen Autoren. Hg. Kurt Franz. Baltmannsweiler 2006, S. 58–69. – Wilfried Bütow: Humor als Schule zur Toleranz. Ein Gespräch mit P. M. In: DU 60 (2007), H. 6, S. 40–44. – Rüdiger Steinlein: ›eigentlich sind es nur Träume‹: Der Traum als Motiv u. Narrativ in märchenhaftphantast. Kinderlit. v. E. T. A. Hoffmann bis P. M. In: ZfG 18 (2008), H. 1, S. 72–86. – Malte Dahrendorf: P. M. In: KLG. Birgit Dankert / Elke Kasper

Maass, Edgar, * 4.10.1896 Hamburg, † 6.1. 1964 Paterson/New Jersey. – Erzähler, Hörspielautor, Essayist. M., Sohn eines Exportkaufmanns u. Bruder von Joachim Maass, war nach dem Abitur Soldat im Ersten Weltkrieg. Anschließend studierte er Chemie, lebte als Chemiker u. Autor in München u. Leipzig u. ab 1926 in den USA. 1934 kehrte er nach Hamburg zurück. Ab 1938 lebte er als freier Schriftsteller in den USA. In den beiden Romanen Verdun (Bln. 1936) u. Im Nebel der Zeit (Bln 1938) verarbeitete M. seine Kriegserlebnisse in unerbittlicher, realist. Darstellung. Daneben schrieb M. im Hexameter-Rhythmus eine versöhnl. Darstellung seiner Hamburger Jugend im Roman Werdelust (Bln. 1937). Es folgte der histor. Roman Das große Feuer (Hbg. 1939), der den Hamburger Großbrand von 1842 behandelt. Zunehmend näherte sich M. dem Unterhaltungsroman. Nahezu alle seine – zunächst englisch publizierten – Romane dieses Typs wurden in den USA Bestseller (Der Arzt der

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Königin. Hbg. 1950. Engl. New York 1947. Der Traum Philipps des Zweiten. Hbg. 1951. Engl. New York 1944. Kaiserliche Venus. Hbg. 1952. Engl. New York 1946. Don Pedro und der Teufel. Hbg. 1954. Engl. New York 1942. Der Fall Daubray. Reinb. 1957). M. verfasste auch Erzählungen, Hörspiele, ethnograf. Studien u. eine Lessing-Biografie (Lessing. Stgt. 1938), die vorwiegend Lessings Hamburger Zeit gewidmet ist. Weitere Werke: Novemberschlacht. Oldenb. 1935 (E.). – Der Auftrag. Oldenb. 1936 (R.). – Welt u. Paradies. Stgt. 1950. – Hörspiele: Das dt. Schicksal an der Marne. 1938. – Stromübergang. 1938. – Der Weiberfeind. 1938. Literatur: Bruce Broerman: E. M. In: Dt. Exillit., Bd. II, S. 580–598. – Robert Lawson: The Spiritual Crisis of Humanity. The Life and Works of E. M. Germany’s Bestselling Émigré Author in America During the 1940’s. Tönning u. a. 2006. Christian Schwarz / Red.

Maass, Joachim, * 11.9.1901 Hamburg, † 15.10.1972 New York. – Romancier, Erzähler, Essayist. Aufgewachsen in Hamburg als Sohn einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie, Bruder von Edgar Maass, absolvierte M. nach dem Abitur 1920 eine kaufmänn. Lehre u. hielt sich im Auftrag der väterl. Firma 1922/23 in Lissabon auf. 1924 ließ er sich als Schriftsteller in Altona nieder, lebte zunächst von Feuilletons u. a. für das »Hamburger Fremdenblatt«, Gelegenheitsprosa sowie kunstvollen Reiseberichten, bevor er in den 1930er Jahren als Romanautor Fuß fasste. Die Auflösung der bürgerlich-humanist. Lebensnorm fand bereits in M.’ Frühwerk ihre Verarbeitung in mehreren Grundthemen. Ästhetische Existenz u. gefährdete Jugendzeit stehen im Zentrum des krit. Zeitromans Bohème ohne Mimi (Bln. 1–41930) wie der künstlerbiogr. Lyrik u. Prosa. Im Wechsel von Idyllik u. Bedrohung sucht der autobiografisch geprägte Roman Die unwiederbringliche Zeit (Bln. 1935. Ffm. 1985) großbürgerl. Kindheit erinnernd festzuhalten; fortgeführt im Exilroman Das magische Jahr (engl. 1944; dt. Stockholm 1945. Ffm. 1964). Anhand eines Mordfalles entschlüsselt das Familien-

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Maaßen

epos Ein Testament (Hbg. 1939. Ffm. 1964) M.: ›Ein Testament‹. In: Schreiben im Exil. Hg. tiefenpsychologisch den Niedergang bürgerl. Alexander Stephan u. Hans Wagener. Bonn 1985, Moralität: M.’ warnende Chiffre für die de- S. 212–223. – Ders.: J. M. Wechselseitige Beeinflussung v. Exil u. Werk. In: Kulturelle Wechselstruktive Tendenz des Nationalsozialismus. beziehungen im Exil. Hg. Helmut F. Pfanner. Bonn Anfang 1939 emigrierte M. in die USA. wo 1986, S. 127–138. – Ders.: J. M. In: Dt. Exillit., Bd. er von 1940 bis 1952 dt. Literatur am Mount II, S. 599–621. – Ders.: Moralist in ›apokalypt. Holyoke College/Massachusetts lehrte u. Zeit‹. J. M.’ schwieriger Weg zum Erfolg. In: Au1945–1950 die »Neue Rundschau« mither- toren damals u. heute. Hg. Gerhard P. Knapp. ausgab. Internationalen Erfolg hatte der Amsterd. 1991, S. 731–759. – Gerhard Neumann: J. psychologisch ausgearbeitete histor. Krimi- M. Die Geheimwiss. der Lit. (1949). In: Grundlagen nalroman Der Fall Gouffé (Ffm. 1952. Mchn. der Literaturwiss. Hg. Bernhard J. Dotzler. Köln 1981), in dem M. wiederum in einer span- u. a. 1999, S. 187 ff. – Anja Sya: Lit. u. jurist. Ernenden Mordaffäre den Antagonismus von kenntnisinteresse. J. M.’ Roman ›Der Fall Gouffé‹ u. sein Verhältnis zu der histor. Vorlage. Badenmoralischer Vernunft u. triebhafter SinnBaden 2001. – Richard Albrecht: J. M. ›Der Fall lichkeit, nun in Form des Geschlechter- Gouffé‹. Ein Roman in zwei Büchern. Nach fünfzig kampfes, behandelt. 1951 kehrte M. nach Jahren. In: Liberal 45 (2003), H. 3, S. 68 ff. Hamburg zurück, reemigrierte aber schon Michael Irmscher / Red. 1954 aus Enttäuschung über die Verdrängungshaltung der Deutschen nach New York. Maaßen, Hanns, Hans, eigentl.: Otto JoNeben Essays, Erzählungen, Dramen u. ver- hannes M., * 26.12.1908 Lübeck, † 23.6. einzelten Hör- u. Fernsehspielen entstand 1983 Kleinmachnow. – Erzähler u. Puwährend M.’ zweiter Exilzeit die detaillierte blizist. literar. Biografie Kleist. Die Fackel Preussens (Wien/Mchn. 1957. Leicht rev. Fassung Der gelernte Steinbildhauer aus einer Arbeiu. d. T. Kleist. Die Geschichte seines Lebens. Bern terfamilie, KPD-Mitgl. seit 1928, schloss sich 1977. Mchn. 1980. Engl. Übers. 1983), die 1933 dem Widerstand an, bevor er 1935 nach breite Anerkennung fand. M. ist vielfach als Paris emigrierte. Dort gab M. einen internat. ein psychologisch-moralischer Romancier in Gewerkschaftspressedienst u. 1936 in Zürich der iron. Erzähltradition Thomas Manns ge- die Publikationen des »Komitees für Recht würdigt worden, heute aber weitgehend in und Freiheit« heraus. Am Spanischen Bürgerkrieg nahm er als Freiwilliger in einer Vergessenheit geraten. Internationalen Brigade u. als Redakteur von Weitere Werke: Johann Christian Günther. 1–3 Ffm. 1925 (L.). – Der Widersacher. Bln. 1932 (R.). »El Voluntario de la Libertad« teil. Nach sei– Auf den Vogelstraßen Europas. Hbg. 1935 ner Internierung durch das Franco-Regime (Reiseber.). – Stürm. Morgen. Chronik einer dt. kehrte M. 1946 in die SBZ zurück. 1953–1966 Künstlerjugend. Bremen 1937. Hbg. 1948 (Biogr.). war er Chefredakteur der Zeitschrift »Volks– Des Nachts u. am Tage. Hbg. 1948 (L.). – Die kunst« (Lpz.), 1968–1971 stellvertretender Geheimwiss. der Lit. Acht Vorlesungen zur Anre- Chefredakteur des »Sonntag«. gung einer Ästhetik des Dichterischen. Bln. 1949. In seinen literar. Arbeiten setzte M. sich Mchn./Wien 1955 (Aufs.). – Der unermüdl. Rebell. immer wieder mit seinen Eindrücken aus Leben, Taten u. Vermächtnis des Carl Schurz. Hbg. dem Spanischen Bürgerkrieg auseinander, 1949 (Biogr.). – Schwierige Jugend. Aufzeichnunder für ihn zum Schlüsselerlebnis wurde. Er gen eines Moralisten. Ffm. 1952. Klagenf. 1968 (E.). richtete dabei den Blick v. a. auf die Situation 2 – Schwarzer Nebel. Hbg. 1956. 1960 (Hörsp.). – nach dem Sieg Francos, das Weiterwirken des Ges. Werke in Einzelausg.n. Bd. 1: Zwischen Tag u. Traum. Mchn./Wien 1961 (Lesebuch); Bd. 2: Die Widerstands, so im Roman Die Messe des BarStunde der Entscheidung. Mchn./Wien 1965 (D.). – celo (Halle/S. 1956), u. den Einsatz der Jaquemars schwierige Jugend. Ffm./Hbg. 1965 (E.). »Blauen Division« an der Seite der dt. TrupLiteratur: Gitta Schaaf: J. M. Hbg. 1970 (Bi- pen im Zweiten Weltkrieg. Mit authent. Mabliogr.). – Dieter Sevin: J. M.: Exil ohne Ende. In: terial dokumentierte er in seiner Chronik Die CG 14 (1981), S. 1–25. – Ders.: Der implizite Leser Söhne des Tschapajew (Bln. 1960) den Kampf als Formelement des Exilromans am Beispiel v. J. der Internationalen Brigaden.

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Weitere Werke: Der Realismus in Shakespeares dramat. Werk. Bln. 1953 (Ess.). – Über Friedrich Engels ästhet. Auffassungen. Bln. 1955 (Ess.). – Volkspoesie im Span. Bürgerkrieg. Bln. 1956 (Aufsätze). – Die Kreuzertaufe. Bln. 1963 (E.). – Spanien, Land der unerfüllten Sehnsucht. Bln. 1965 (Reiseber.). – Herausgeber: Odio y Amor. Lyrik u. Prosa zum Span. Bürgerkrieg. Lpz. 1967. – Brigada Internacional ist unser Ehrenname. Erlebnisse ehemaliger dt. Spanienkämpfer. 2 Bde., Bln. 1974. Literatur: Birgit Schmidt: Wenn die Partei das Volk entdeckt. Ein krit. Beitr. zur Volksfrontideologie u. ihrer Lit. Münster 2002. Wolfgang Weismantel / Red.

Mach, Ernst, * 18.2.1838 Chirlitz bei Brünn, † 19.2.1916 Vaterstetten bei München. – Physiker, Physiologe u. Philosoph. Die sozialpolit. Haltung M.s, ältester Sohn eines Lehrers u. Landwirts, wurde von der liberal-antiklerikalen Gesinnung des Vaters geprägt. M. besuchte nur kurz das Gymnasium, zeigte Abneigung gegen Religion u. klass. Sprachen, lernte weiter bei seinem Vater, half nachmittags auf dem Hof u. absolvierte eine Schreinerlehre. Von 1854 an studierte er Physik u. Mathematik in Wien, promovierte 1860 u. habilitierte sich 1861 für Physik. Durch Kontakte mit Physiologen wurde sein Interesse für Sinnesphysiologie geweckt; die Verbindung von Physik, Physiologie u. Psychophysik blieb für sein Schaffen charakteristisch. 1864 als Ordinarius für Mathematik nach Graz berufen, erhielt er 1866 das Ordinariat für Physik u. wurde 1867 auf den für seine Talente geeigneten Lehrstuhl für Experimentalphysik nach Prag berufen. Als Rektor trat er 1879/80 gegen die nat. Teilung der Karlsuniversität ein, die er aber 1882 nicht verhindern konnte. 1895 wurde M. auf den für ihn errichteten Lehrstuhl für »Philosophie, insbesondere Geschichte und Theorie der induktiven Wissenschaften« in Wien berufen. Seit einem Schlaganfall 1898 schwer gelähmt, ersuchte er 1901 um Pensionierung, wurde zum Mitgl. des Herrenhauses ernannt, lehnte einen Adelstitel jedoch ab. Die letzten Jahre wurden getrübt durch Krankheit, Krieg u. M.s zunehmende Isolation unter Physikern. Postum

erschienen Die Principien der physikalischen Optik. Historisch und erkenntnispsychologisch entwickelt (Lpz. 1921). Das Vorwort zu diesem Werk, wie das zur neunten Auflage der Mechanik in ihrer Entwicklung historisch-kritisch dargestellt (1883. Lpz. 1933. Neudr. Darmst. 1988), enthält eine schroffe Ablehnung der Einstein’schen Relativitätstheorie, zu der M. früher positiv stand. Es ist allerdings angezweifelt worden, ob diese von M. selbst verfasst oder von seinem Sohn Ludwig aus antisemit. Gründen gefälscht wurde. Politisch sympathisierte M. mit der Sozialdemokratie; er war bekannt mit Victor Adler u. dessen Sohn Friedrich u. mit dem Sozialreformer Josef Popper-Lynkeus befreundet. M. förderte Volksbildung u. Schulreform, hielt populärwiss. Vorlesungen u. ließ sich zweimal vom Krankenbett ins Parlament holen, um 1901 für den Neunstundentag u. 1907 für das allg. Wahlrecht zu stimmen. M.s philosoph. Gedanken wurden unter russ. Sozialdemokraten so wirksam, dass sich Lenin gezwungen sah, ihn in Materialismus und Empiriokritizismus als bürgerlich-reaktionär zu bekämpfen. Obwohl sich M. selbst nicht als Philosophen, sondern als Physiker sah, wirkte er v. a. in der Philosophie, insbes. in der Wissenschaftstheorie u. Methodologie. Sein Denken ging von einer empiristischen antimetaphys. Überzeugung aus: »Alle Wissenschaft hat nach unserer Auffassung die Funktion, Erfahrung zu ersetzen.« Der physiolog. Basis der Erfahrung in der Empfindung widmete er experimentelle Aufmerksamkeit; aus seiner Theorie der Muskelempfindung erwuchs Christian von Ehrenfels’ Theorie der Gestaltqualitäten. Als brillanter Experimentator untersuchte M. in seiner Prager Zeit Schallphänomene, insbes. den Doppler-Effekt, u. benutzte selbstentwickelte fotograf. Methoden, um mit Überschallgeschwindigkeit fliegende Kugeln zu untersuchen. Er entdeckte kegelförmige Stoßwellen, die vom Bug u. Heck des Geschosses ausgehen, die für den inzwischen bekannten Doppelknall bei Überschallgeschwindigkeit verantwortlich sind. Das Verhältnis Strömungsgeschwindigkeit/Schallgeschwindigkeit wird »MachZahl« genannt.

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M.s »Positivismus« besteht in seinem philosoph. Hauptwerk Beiträge zur Analyse der Empfindungen (Jena 1886) in der Ablehnung aller Entitäten u. Sätze, die nicht durch die Erfahrung gegeben sind oder über deren Existenz oder Wahrheit nicht aufgrund von Erfahrung entschieden werden kann. Damit antizipierte M. – freilich ohne den Umweg über die Sprache – sowohl das Verifikationsprinzip der Wiener logischen Positivisten als auch den Falsifikationismus Karl Poppers. Zu Ehren M.s nannten die Mitglieder des Wiener Kreises ihr Organ »Verein Ernst Mach« (Wien 1929 ff.; von den Nationalsozialisten 1934 verboten). Nach M.s Theorie der Denkökonomie haben mathemat. Sätze sowie Sätze über angebliche theoret. Entitäten nur die Funktion, den Umgang mit Erfahrungen zu erleichtern (Die Geschichte und die Wurzel des Satzes der Erhaltung der Arbeit. Prag 1872). M. verwarf – im Geiste von Ockham u. Berkeley – die Vorstellungen von Substanz u. Masse u. die Atomtheorie Ludwig Boltzmanns. Die Kausalität wird durch funktionale Beziehungen zwischen messbaren Größen ersetzt. Das Leib-Seele-Problem verschwindet zugunsten eines zwischen Geist u. Körper neutralen Monismus, der William James u. Bertrand Russell beeinflusste. An M.s Mechanik würdigte Albert Einstein die Newton-Kritik, v. a. die Kritik der Vorstellung von absolutem Raum u. Zeit sowie der Newton’schen Trägheits- u. Massenbegriffe. M.s Einfluss reichte jedoch über seine Fächer weit hinaus. So zeigen die Sprachkritiken Felix Mauthners u. Wittgensteins M.’sche Spuren, während M.s Ablehnung einer seel. Substanz in der Psychologie von großer literar. Wirkung war. Denn entgegen einem weit verbreiteten Vorurteil bezog sich die Ich-Psychologie der k. u. k.-Literatur um 1900 nicht auf die damals erst entstehende Freud’sche Psychoanalyse, sondern auf Formulierungen M.s. Sein berühmtes Aperçu »das Ich ist unrettbar« war für die erotische, impressionist. Literatur des »Jungen Wien« (darunter der junge Hofmannsthal) die erkenntnistheoret. Grundlage, um für klar definierte Einzelcharaktere parallele, sich überschneidende u. divergierende Bewusstseinsströme zu setzen. Musil promo-

Mach

vierte über M., u. sein Werk ist durchweg von der Auseinandersetzung mit M.s Prinzip der Denkökonomie u. seinem Ich-Begriff geprägt. Weitere Werke: Compendium der Physik für Mediziner. Wien 1863. – Einl. in die Helmholtz’sche Musiktheorie. Graz 1866. – Optischakust. Versuche. Prag 1873. Neudr. Vaduz 1985. – Grundlinien der Lehre v. den Bewegungsempfindungen. Lpz. 1875. – Principien der Wärmelehre. Historisch-kritisch entwickelt. Lpz. 1896. – Populär-Wiss. Vorlesungen. Lpz. 1896. – Erkenntnis u. Irrtum. Skizzen zur Psychologie der Forschung. Lpz. 1905. – Kultur u. Mechanik. Stgt. 1915. Literatur: Robert Musil: Beitrag zur Beurteilung der Lehren M.s. Diss. 1908. Neudr. Reinb. 1980. – Rudolf Thiele: Zur Charakteristik v. M.s Erkenntnislehre. Halle/S. 1914. Neudr. Hildesh./ New York 1981. – John T. Blackmore: E. M. – His Life, Work, and Influence. Berkeley 1972. – Friedrich Stadler: Vom Positivismus zur ›wissenschaftlichen Weltauffassung‹. Am Beispiel der Wirkungsgesch. v. E. M. in Österr. 1895–1934. Wien 1982. – Gereon Wolters: Mach 1. Mach 2, Einstein u. die Relativitätstheorie. Eine Fälschung u. ihre Folgen. Bln. 1987. – Rudolf Haller u. a. (Hg.): E. M. Werk u. Wirkung. Wien 1988. – Ders.: E. M.: Das unrettbare Ich. In: Grundprobleme der großen Philosophen. Philosophie der Neuzeit V. Hg. Josef Speck. Gött. 1991, S. 210–244. – Jaakko Hintikka: E. M. at the Crossroads of Twentieth-Century Philosophy. In: Future Pasts: The Analytic Tradition in Twentieth-Century Philosophy. Hg. Juliet Floyd u. Sanford Shieh. New York 2001, S. 81–100. – HansJoachim Pieper: Musils Philosophie. Essayismus u. Dichtung im Spannungsfeld der Theorien Nietzsches u. M.s. Würzb. 2002. – Ders.: E. M.s ›Erkenntnis und Irrtum‹. Einf. In: E. M.: ›Erkenntnis und Irrtum‹. Skizzen zur Psychologie der Forsch. Bln. 2002, S. 9–25. – Gary Hatfield: Sense-Data and the Philosophy of Mind: Russell, James, and M. In: Principia: Revista Internacional de Epistemologia 6 (2002), H. 2, S. 203–230. – Michel Ghins: Les atomes et l’espace absolu: les raisons et la nature de l’antirealisme de M. In: Philosophia Scientiae 7 (2003), H. 2, S. 3–22. – Ralf Goeres: Sensualist. Phänomenalismus und Denkökonomie. Zur Wissenschaftskonzeption E. M.s. In: Journal for General Philosophy of Science 35 (2004), H. 1, S. 41–70. – Eric Banks: E. M.s World Elements. A Study in Natural Philosophy. In: The Western Ontario Series in Philosophy of Science, Bd. 68 (2004). Peter Simons / Hans-Joachim Pieper

Macheiner

Macheiner, Dorothea, geb. Hummelbrunner, * 21.3.1943 Linz. – Hörspielautorin, Erzählerin, Lyrikerin.

600 Wien 1996 (R.). – Stimmen. Gosau/Salzb./Wien 2006 (G.e u. Prosaminiaturen). – Sinai. Gosau/ Salzb./Wien 2009 (Ess.s). – Hörspiele: Meine Freundin u. ich. ORF 1978. – Grünes Land. ORF 1979. – Rufe in die Wüste. SFB 1980. – Die Selbstmörderin. RIAS 1982. – Unter den Türmen. ORF 1985.

M. wuchs in Steinbach/Attersee auf, studierte in Innsbruck Theologie, Philosophie u. GerUrsula Weyrer / Red. manistik u. unterrichtete 1968/69 an einem Salzburger Gymnasium. Sie ist Mitgl. der Grazer Autorenversammlung u. lebt heute als freie Schriftstellerin in Salzburg. 1978/79 er- Mackay, John Henry, auch: Sagitta, * 6.2. hielt sie das Österreichische Staatsstipendium 1864 Greenock/Schottland, † 16.5.1933 für Literatur, daneben u. a. 1990 das Förder- Berlin; Grabstätte: Stahnsdorf, Südweststipendium für Literatur der Stadt Salzburg kirchhof. – Lyriker, Erzähler. u. 2006/07 ein Stipendium der Literar-Me- Nach dem Tod des Vaters († 1866), eines chana. schott. Versicherungsmaklers, wuchs M. in Etwa 1974 begann M. mit literar. Arbeiten Deutschland auf. Das Vermögen der 1873 (u. a. in »Literatur und Kritik«) u. Buchbe- wiederverheirateten Mutter, einer Hambursprechungen für den Rundfunk. Sie verbin- ger Kaufmannstochter, erlaubte ihm den det in ihren Texten allg. gesellschaftskriti- Abbruch von Buchhändlerlehre (in Stuttgart) sche mit feminist. Aspekten. Im autobiogr. u. Studium (Philosophie, Kunst- u. LiteraRoman Puppenspiele (Ffm. 1982) problemati- turgeschichte, zuletzt in Berlin). M. untersiert sie die konfliktreichen Möglichkeiten hielt lose Kontakte zum Verein »Durch« u. weibl. Existenz – Tochter-, Frau-, Mutter- zum Friedrichshagener Kreis. Mit den NoSein, Beruf – in einer Männerwelt u. den vellenbänden Schatten (Zürich 1887) u. MoAusbruch aus einem Dasein als »Marionette« derne Stoffe (Großenhain 1888) verband er den u. »Spielzeug«. Anspruch, der naturalist. Prosaform den Seit den 1990er Jahren ist M.s Werk stark Auftakt gegeben zu haben. Aufgrund des geprägt durch ihre Beschäftigung mit frem- Sozialistengesetzes wurde sein »soziales Geden Landschaften u. Kulturen u. die Eindrü- dicht« Arma parata fero (Zürich 1887) bei Ercke von ausgedehnten Reisen v. a. im Mittel- scheinen verboten. Nähe zur Vormärzlyrik meerraum (längere Aufenthalte in Tunesien verrät auch der von revolutionärem Impetus u. auf Sardinien); hiervon zeugt z.B. der Es- getragene Band Sturm (Zürich 1888). M.s Lysayband Ravenna, Rom, Damaskus ... vom Reisen rik (1897 als Gesammelte Dichtungen im Züri(Wien 2004). Der Roman Yvonne. Eine Recherche cher Verlag seines Freundes Karl Henckell (Wien 2001) beschäftigt sich mit dem Bür- veröffentlicht) kennt außer Weltanschaugerkrieg in Algerien u. zeichnet die Lebens- ungspathos auch eleg. u. dionysisch-hymn. geschichte des kabyl. Sängers Lounès Matoub Tonlagen. Auf die Nachwelt kam sie vornach, der, 1998 von Terroristen ermordet, zu nehmlich durch Vertonungen von Richard einer Symbolfigur für den Kampf um Freiheit Strauss (als Teil der Liederzyklen op. 27 u. u. Anerkennung wurde. 32). M. wurde auch als Herausgeberin der Die 1887/88 in London zugebrachte Zeit Werke Gerold Foidls (1938–1982) bekannt resultierte in M.s Hinwendung zu einem In(Der Richtsaal. Innsbr. 1998. Standhalten. Texte dividualanarchismus Stirner’scher Prägung. aus dem Nachlass und verstreute Prosa. Innsbr. Nach der Wiederentdeckung des fast verges1999. Scheinbare Nähe. Innsbr. 2003), nachdem senen »Einzigen« im British Museum u. sie sich bereits 1984 in einem Hörspiel (Grüner Jahren intensiver Beschäftigung publizierte Vogel Sehnsucht. SFB/ORF) mit seinem Leben u. M. eine Max Stirner-Monografie u. die Ausgabe von dessen Kleinen Schriften (beide Bln. Werk beschäftigt hatte. Weitere Werke: Splitter. Baden bei Wien 1981 1898). Ablehnung bürgerlicher Zwänge u. (L.). – Das Jahr der weisen Affen. Wien 1988 (R.). – jeglicher staatl. wie revolutionärer Gewalt ist Sonnenskarabäus. Wien 1993 (R.). – Nixenfall. auch der Tenor seines halbfiktiven »Kultur-

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Macropedius

gemäldes aus dem 19. Jahrhundert« Die An- Lit. um 1900. Hg. Jaap Grave. Würzb. 2005, archisten (Zürich 1891. Neuausg. Lpz. 1992). S. 150–158. Arno Matschiner / Red. Der Roman integriert eine bedrückende Sozialreportage in programmat. Reden u. DisMacropedius, Georgius, eigentl.: Joris kussionen des Londoner Sozialisten- u. Anvan Lanckvelt, * (23.4.?) 1487 Gemert, archistenkreises (mit dem Protagonisten Au† Juli 1558 ’s-Hertogenbosch. – Verfasser ban als M.s Alter ego). Im Selbstverlag erlateinischer Schuldramen u. Lehrwerke. schien 1921 in Berlin – (mit Unterbrechungen) M.s Wohnsitz seit 1892 – als Folgeband M. erhielt seine Bildung im brabantischen Der Freiheitssucher, der die Entwicklung zum ’s-Hertogenbosch, zunächst in der Lateinschule des dortigen Domkapitels (die auch Stirnerianer beschreibt. Zur Herausbildung des Genres Sportroman Erasmus von Rotterdam besucht hatte), ab trug Der Schwimmer (Bln. 1901) bei. Weitge- 1502 im Hause der »Brüder vom gemeinsahend frei von bei M. sonst übl. rhetorischem men Leben«, einer Brüderschaft, die Teil der Ballast u. psychologisch stimmig beschreibt innerkirchl. Reformbewegung der devotio er den im Freitod endenden Identitätsverlust moderna war. Ab 1512 war er als Lehrer tätig, eines zum Berufssportler gewordenen Arbei- zunächst in ’s-Hertogenbosch u. Lüttich, von terkindes. Pseudonym u. zum Teil im Aus- 1531 bis 1557 an der Schule der Brüderschaft land ließ M. seine Verteidigungsschriften zu in Utrecht, der er auch als Rektor vorstand. Sein schriftstellerisches Schaffen ist das Pädo- u. Homophilie (u. a. Die Bücher der naErgebnis dieses Wirkens. Nicht nur die menlosen Liebe. 2 Bde., Paris 1913) erscheinen. Lehrwerke, auch die Dramen waren zunächst Das Andenken des lebenslangen Außenfür die eigene Arbeit mit den Schülern beseiters – in Holz’ Schlüsselkomödie Sozialaristokraten (1896) als pedantisch korrekter, stimmt, denn M. sah den pädagog. Wert der stotternder Bellermann karikiert, in Hesses Theaterarbeit als sehr hoch an – durchaus Nachruf (Neue Zürcher Zeitung, 28.5.1933) typisch für seine Zeit, in der das lat. Schulals »glühender Gegner der Schablone, des theater regelrecht Konjunktur hatte. So Toten, der Mechanisierung« gewürdigt – schrieb M. – angeregt durch Reuchlin – bald bewahrt die 1974 gegründete Mackay-Ge- nach Aufnahme seiner Lehrtätigkeit sein sellschaft in Freiburg/Br. (u. a. mit Neudru- erstes Stück, den Asotus (Erstdr. 1537), dem bis 1556 insg. elf weitere folgten. Die weitaus cken aller Hauptwerke). stärkste Wirkung übte der 1538 uraufgeLiteratur: Gabriele Reuter: J. H. M. Eine literar. führte Hecastus aus (Erstdr. Antwerpen 1539). Studie. In: Die Gesellsch. 7 (1891), S. 1304–1314. – In dieser Bearbeitung des Jedermann-Stoffes Thomas A. Riley: Germany’s Poet-Anarchist J. H. M. New York 1972. – Edward Mornin: Taking zeigt M. einen sündhaften Menschen, der Games Seriously. Observations on the German urplötzlich mit dem Tode konfrontiert wird Sportnovel. In: GR 51 (1976), S. 278–295. – H. Z. u. allein durch den Glauben an Gott (sola Solneman: Der Bahnbrecher J. H. M. Freib. i. Br. fide), also ohne Werke der Buße u. der 1979. – Wolf Wucherpfenning: J. H. M. Dichter, Barmherzigkeit, das Seelenheil erlangt. Wer Anarchist, Homosexueller. In: Jb. des Instituts für ausgerechnet zu Beginn der Gegenreformadt. Gesch. 12 (1983), S. 229–254. – E. Mornin: tion ein solches Stück veröffentlichte, musste Kunst u. Anarchismus: ›innere Zusammenhänge‹ sich dem Verdacht aussetzen, er propagiere in den Schr.en J. H. M.s. Freib. i. Br. 1983. – Ders.: reformatorische Lehre; die intensive RezepSome Unpublished Works by J. H. M. In: Seminar tion des Stückes gerade durch protestant. 22 (1986), S. 55–70. – Walter Fähnders: M. In: Kreise (so erschien 1549 ein dt. Hecastus von NDB. – J. M. Ritchie: Das Bild Londons in dem Hans Sachs) wird diesen Eindruck noch verRomanwerk des dt. Anarchisten J. H. M. In: RomParis-London. Hg. Conrad Wiedemann. Stgt. 1988, stärkt haben. Als Angehörigem einer (reform-) S. 635–647, 690–692. – Rainer Michael Schaper: kath. Brüderschaft scheint es M. selbst zwar Der gläserne Himmel. Ffm. 1988. – Christian Jäger: eher darum gegangen zu sein, das kath. Das Drama marktgerechter Anarchie. Zu J. H. M.: Konzept der Werkgerechtigkeit mit dem re›Die Anarchisten‹. In: Anarchismus u. Utopie in der formatorischen der Glaubensgerechtigkeit in

Mader

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Einklang zu bringen, indem er den Glauben ’s-Hertogenbosch 1536. – Andrisca. ’s-Hertogenzum opus bonum erklärte (v. 1519), doch in bosch 1538. – Bassarus. ’s-Hertogenbosch 1540. – einer Zeit, da sich die Fronten zwischen den Lazarus mendicus. Utrecht 1541. – Iosephus. AntKonfessionen zusehends verhärteten, war für werpen 1544. – Iesus scholasticus. Utrecht 1556. – Lehrwerke: Graecarum Institutionum Rudimenta. solche Mittelwege kein Platz. Als Reaktion ’s-Hertogenbosch 1530. – Fundamentum Scholasauf die Kritik von kath. Seite (u. sicherlich ticorum seu Prima Literariae Institutionis Rudiauch um eine Konfrontation mit der Inqui- menta. ’s-Hertogenbosch 1533/34. – Institutiones sition zu vermeiden) suchte M. daher in einer Grammaticae. ’s-Hertogenbosch 1538. – Syntaxeos zweiten Fassung (1550) die Bedeutung der Praecepta. ’s-Hertogenbosch 1533/34. – Simplex Werkgerechtigkeit stärker zu akzentuieren, Disserendi Ratio. ’s-Hertogenbosch 1536. – Proohne dabei die Grundkonzeption des Stückes soedia. Utrecht 1541. – Kalendarius. Utrecht 1541. aufzugeben; diese Fassung erschien im Rah- – Hymni et Sequentiae. ’s-Hertogenbosch 1552. – men der von ihm selbst besorgten Gesamt- Evangelia et Lectiones Sacrae Epistolae dictae. ausgabe seiner Dramen (Omnes Georgii Macro- ’s-Hertogenbosch 1555. Literatur: Henk Giebels u. Frans Slits: G. M. pedii Fabulae Comicae. Utrecht 1553/54), die 1487–1558. Leven en werken van een Brabantse mit dem Adamus u. der Hypomone auch zwei humanist. Tilburg 2005 (mit ausführl. Bibliogr. bis dahin noch unveröffentlichte Stücke entsowie einer CD, die u. a. Texttranskriptionen u. hielt. detaillierte Nachweise zur Editionsgesch. der einSeine Dramen versah M. mit selbst kom- zelnen Werke enthält). – Raphael Dammer u. Beponierten Chorliedern; auch schrieb er für nedikt Jeßing: Der Jedermann im 16. Jh. Die Heseine Utrechter Schule mehrere geistl. Canti- castus-Dramen v. G. M. u. Hans Sachs. Bln./New lenae, angefangen mit der Ode de extremo York 2007. Raphael Dammer Christi iudicio peccatori formidando (1539). Seine Lehrwerke zeigen zudem, dass er nicht bloß Mader, Helmut, * 13.5.1932 Oderberg/ ein auch künstlerisch versierter Theologe Oberschlesien, † 26.8.1977 Düsseldorf; war, sondern als universell gebildeter HuGrabstätte: Waiblingen, Friedhof. – Lyrimanist gelten darf, denn sie lehren nicht bloß ker, Essayist, Literaturkritiker, Übersetlat. u. griech. Sprache u. Literatur, sondern zer. auch Logik u. Rhetorik, Astronomie u. Musik, erstrecken sich also auf nahezu den gesamten Aufgewachsen in Oderberg, ging M. an verBereich der artes liberales. Zahlreiche Nach- schiedenen Orten zur Schule. 1945/46 lebte er drucke u. Übersetzungen (v. a. seine Anlei- in Österreich, ab 1947 in Waiblingen. Er tung zur Abfassung von Briefen, Epistolica. studierte zunächst Jura, später Philosophie – Antwerpen 1543, erfuhr, z.T. in einer über- zeitweise in Stuttgart bei Max Bense –, Litearbeiteten Fassung u. d. T. Methodus de con- raturwissenschaft u. Politik, Lippenstift für die scribendis epistolis, noch bis ins 17. Jh. zahl- Seele (Wiesb. 1955), sein erster Gedichtband, reiche weitere Auflagen) sorgten dafür, dass wurde noch von Gottfried Benn als Zeugnis er nicht nur als Theaterautor weithin in Eu- einer großen Begabung wahrgenommen. ropa bekannt war, auch wenn postume Wür- 1963 gründete M. zus. mit Manfred Esser u. digungen diesen Punkt herausstrichen, z.B. anderen in Stuttgart den Sozialistischen Kadie Apotheosis D. Georgii Macropedii (Antwerpen tholischen Künstlerbund. In Selbstporträt mit 1565) aus der Feder des Christoph Vladerac- Christopher Marlowe (Wiesb. 1965) versteht M. cus oder Conrad Gesners Macropedius-Por- sich denn auch als polit. Dichter, freilich in trät in Heinrich Pantaleons Prosopographia he- keiner realistischen, sondern in der hermet. roum atque illustrium virorum totius Germaniae Tradition Friedrich Hölderlins u. Thomas Stearns Eliots. 1970/71 lebte M. als Stipendiat (Basel 1565/66). Weitere Werke: (angegeben sind stets die – z.T. der Villa Massimo in Rom, 1975 zog er als nirgends mehr nachweisbaren – Erstdrucke): Thea- Verlagslektor nach Düsseldorf. terstücke: Comicarum Fabularum Georgii Macropedii duae, quarum altera Rebelles, altera Aluta inscribitur. ’s-Hertogenbosch 1535. – Petriscus.

Weitere Werke: MA. Stgt. 1964 (L.). – Apoll gegen die Erde. Stgt. 1980. – Lebenslänglich erschossen. Halbwegs Fixiertes. Stgt. 1994.

603 Literatur: Christian Enzensberger: Umgebung der Logik VII. In: Doppelinterpr.en. Hg. Hilde Domin. Ffm. 1969, S. 140–143. – Manfred Esser u. Wolfgang Kiwus (Hg.): In memoriam H. M. Stgt. 1980. – Der Dichter H. M. 1932–77. Hg. Stadt Waiblingen. Waiblingen 1994 (Faltbl. mit Bibliogr.). Wilfried Ihrig / Red.

Mähl, Albert, * 5.6.1893 Kiel, † 19.1.1970 Hamburg. – Niederdeutscher Lyriker, Erzähler. Der Kaufmannssohn M. versuchte sich nach dem Schulbesuch in Kiel in vielen Berufen, u. a. als Angestellter in der Kommunalverwaltung, als Telefonstenograf, Redaktionsgehilfe, Journalist u. Internatslehrer. Er meldete sich 1914 als Kriegsfreiwilliger, kehrte 1917 nach schwerer Verwundung aus dem Krieg zurück u. studierte anschließend Philosophie in München, Kiel u. Zürich. Das Kriegserlebnis wurde zum beherrschenden Thema der ersten Veröffentlichungen. Seit den 1920er Jahren schrieb M. meist niederdeutsch. Es entstanden v. a. Naturgedichte u. Balladen, die er zu Beginn der 1930er Jahre in den Bänden Utsaat (Kiel 1931) u. Trumm slaa an (Hbg. 1933) zusammenfasste. M. wurde von Adolf Bartels gefördert u. näherte sich in seinen in den 1930er u. 1940er Jahren publizierten Gedichten gelegentlich auch dem pseudogerman. Schicksals- u. Ahnenmythos der NS-Ideologie (Nordland. Bayreuth 1933). Nach dem Zweiten Weltkrieg verfasste er auch Hörspiele u. veröffentlichte Prosabände im Stil traditioneller niederdt. Unterhaltungsliteratur (Rögen un Swögen. Hbg. 1958), blieb aber innerhalb der niederdt. Literaturszene wenig beachtet. Weitere Werke: Grappenkram. Lübeck 1935. – Rassenseele im Spiegel der Sprache. Erfurt 1938. – Hart vull Drift. Hbg. 1940. – Niederdt. Gedichte. Hbg. 1948. – Plattdt. Dichten. Hbg. 1949. – Mag. Strom. Hbg. 1952. Ausgabe: Plattdt. Gedichte. Hg. Jürgen Meier u. Dieter Möhn. Heide 1983. Literatur: Jürgen Meier u. Dieter Möhn: Kein Einzelfall. Zum Abschluß der Hamburger Gesamtausg. v. A. M.s plattdt. Gedichten einschließlich der Balladen u. Grappen. In: Quickborn 72 (1982), S. 182–189. Jörg Schilling / Red.

Männertreue und Frauentreue

Männertreue und Frauentreue. – Anonyme rheinische Minnerede (480 V.), vor 1410 entstanden u. ungewöhnlich häufig in oberrheinischen Handschriften überliefert. In der für eine Minnerede untypischen Einleitung gelangt der Ich-Erzähler nach einem schweren Unwetter auf eine menschenverlassene Kogge mit blauem Segel, deren Deck mit blauem Samt u. mit Sinnsprüchen über die Beständigkeit ausgeschmückt ist. Als er sich erschöpft niederlegt, vernimmt er im Dämmerzustand fremde Stimmen. Er folgt ihnen auf eine Insel u. wird heimlich Zeuge eines Streitgesprächs, das sich zwischen einer Dame u. einem Ritter an der Frage entzündet, ob die Treue eines Mannes oder einer Frau vollkommener sei. Im Disput treffen die stereotypen Positionen eines Ritter- u. Minneideals aufeinander, die bes. von der Dame als unvereinbar deklariert werden: Ein Ritter handle nicht aus Liebe zu einer Frau, sondern in der Absicht männlicher Selbstbestätigung. Abenteuer u. ständige Abwesenheit seien der Grundforderung wahrer Minne nach »stæte« nicht gewachsen. Als der Ritter neben dem traditionellen miles-clericus-Konflikt eine Gegenüberstellung von Rittertum u. Handwerkern provoziert, betont die Dame, dass letztlich nur ein aufrecht liebender u. beständiger Mann ein weibl. Herz erobern könne. Die Rangfrage wird schließlich zugunsten der Frauentreue entschieden, da sich eine Dame ganz auf ihre Häuslichkeit u. daher auf das Verschließen ihrer Liebe im Herzen beschränken müsse. Als der Ritter vor den Argumenten der Dame kapituliert, wird seine drakon. Bestrafung als Statuierung eines Exempels vorführt: Er wird gefesselt, gepeinigt u. auf das blaue Schiff abgeführt. Der IchErzähler gibt der Dame uneingeschränkt recht u. stiehlt sich unbemerkt davon. Neben der iron. Pervertierung des Minneideals fallen in der Minnerede die stolzen Selbstcharakterisierungen u. die zuweilen sarkast. Kritik am höf. Ritterbild auf. Kasten erkennt in der Rolle der Dame die Verkörperung eines neuen bürgerlich-christl. Frauenideals.

Männling Ausgabe: Kurt Matthaei (Hg.): Mhd. Minnereden I. Bln 1913. Neudr. 1967, S. 74–81 (Nr. 7). Literatur: Tilo Brandis: Mhd., mittelniederdt. u. mittelniederländ. Minnereden. Mchn. 1968, S. 159 (Nr. 410). – Walter Blank: Die dt. Minneallegorie. Stgt. 1970, S. 48 f. – Ingrid Kasten: Studien zur Thematik u. Form des mhd. Streitgedichts. Hbg. 1973, S. 123–128, 130 f. – Melitta Rheinheimer: Rhein. Minnereden. Göpp. 1975, S. 76–79. – I. Kasten: M. u. F. In: VL. Martin Muschick

Männling, Johann Christoph, * 14.10. 1658 Wabnitz bei Oels, † 4.7.1723 Stargard/Pommern. – Evangelischer Pastor, Gelehrter u. Dichter.

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ihm Kirchenlieder, die der Barockpoetik zufolge eines einfachen Stils bedürfen. Einige von ihnen fanden Eingang in die Gesangbücher. Weitere Werke: Schaubühne des Todes, oder Leichen-Reden [...]. Wittenb. 1690 u. ö. – Der bußfertige Zöllner [...]. Breslau 1692. – Geistl. Sabbaths-Erquickstunden. Brieg 1694. – Besungene hl. Christ-Feste [...]. Oels 1700. – Der gerechte Abel [...]. Ffm./Lpz. 1702. – Geistl. See- u. MeerCompaß. 2 Tle., Stettin 1706. – Grab-Mahl der Ehren, das ist Leich-Reden [...]. Stettin/Lpz. 1709. – Denckwürdige Curiositäten derer [...] abergläub. Albertäten [...]. Ffm./Lpz. 1713. – Auserlesenster Curiositäten merk-würdiger Traum-Tempel [...]. Ffm./Lpz. 1714. – Deutsch-poet. Lexicon [...]. Ffm./ Lpz. 1715. Erw. u. d. T. Poet. Lexicon [...]. Ffm./ Lpz. 1719. – Der betende Kirchgänger. Stettin 1716. – Heylige Lieder, dem drey-einigen Gott zu Ehren. Ffm./Lpz. 1716. – Dapperus exoticus curiosus [...]. 2 Bde., Ffm. 1717/18. – Expediter Redner [...]. Ffm./Lpz. 1718. Nachdr. Kronberg 1974. – Curiositäten-Alphabeth [...]. 3 Tle., Breslau 1720/21. – Sichere Ruhe der Alten in Gott [...]. Frankf./O. 1720. – (Etwa ein Dutzend Werke sind verschollen.)

M. erhielt ersten Unterricht in Hochkirch bei Juliusburg, wo sein Vater Pastor war. Seit 1667 besuchte er das Elisabeth-, dann das Magdalenen-Gymnasium in Breslau. Um Polnisch zu lernen, zog er nach Thorn. 1679–1680 studierte er Theologie in Wittenberg, war dann Hauslehrer in Polen u. Oberschlesien. 1684 ging M. wieder nach Wittenberg (Magister 1686 u. Poeta laureatus 1685). Literatur: Bibliografie: Dünnhaupt 2. Aufl. 1688–1700 wirkte er als Pfarrer in Kreuzburg Bd. 4, S. 2624–2632. – Weitere Titel: Jakob Franck: J. (Kluczbork). Als die Kirche von den Katholi- C. M. In: ADB. – Paul Tworek: Leben u. Werke des ken übernommen wurde, musste er die Stadt J. C. M. Diss. Breslau 1938. – Alberto Martino: verlassen u. nahm eine Berufung als Pastor Daniel Casper v. Lohenstein. Bd. 1 (mehr nicht nach Stargard in Pommern an. Im Alter ersch.), Tüb. 1978, S. 246–251 (zuerst ital.: Pisa wurde er Mitgl. von Zesens Deutschgesinne- 1975). – Heiduk/Neumeister, S. 67, 204, 410 f. – Adalbert Wichert: J. C. M. In: NDB. – Franz Heiter Genossenschaft. duk: Oberschles. Lit.-Lexikon [...]. Tl. 2, Bln. 1993, M.s erstes größeres Werk ist die Poetik S. 121 f. – Schmidt, Quellenlexikon, Bd. 20, S. 276. Europäische Parnassus, oder kurtze und deutliche – Rudolf Drux: Vom ›Amt der rechten Poesie‹. JoAnweisung zu der deutschen Dicht-Kunst (Wit- hann Christian Günthers kasualpoet. Kampf gegen tenb. 1685 [Internet-Ed.: dünnhaupt digital]. Sohn u. Vater M. In: Kulturgesch. Schlesiens in der Erw. u. d. T. Der europaeische Helikon. Alten Frühen Neuzeit. Hg. Klaus Garber. Bd. 2, Tüb. Stettin 1704). Aufsehen erregten Arminius 2005, S. 1061–1078. – Flood, Poets Laureate, Bd. 3, enucleatus (Stargard/Lpz. 1708) u. Lohensteinius S. 1252–1254. Marian Szyrocki † / Red. sententiosus (Breslau 1710), üppige Zusammenstellungen von »Merckwürdigen SenMaercker, Märcker, Friedrich Adolf, * 8.11. tentien und sonderbaren Reden« aus dem 1804 Eltville/Nassau, † 26.7.1889 Berlin. Arminius u. anderen Werken Lohensteins. – Altphilologe, Philosoph, Lyriker, DraTeilweise wurden sie gut aufgenommen, bei matiker u. Erzähler. den Aufklärern jedoch ernteten sie wegen der »schwülstigen Schreibart« Spott. Im rheinländ. Eltville als Sohn eines KaufVorbild der Gedichte des Poetischen Blumen- manns geboren, wuchs M. in Berlin auf u. Gartens (Breslau 1717) war die Lyrik Hof- studierte dort Altphilologie u. Philosophie mannswaldaus, deren Meisterschaft M. je- bei Boeckh u. Hegel. Schon während seines doch nicht erreichte; seine Verse sind oft un- Studiums veröffentlichte M. den Briefroman geschickt u. trocken. Am besten gelangen Julius. Eine Lebensgeschichte aus der Zeit (Bln.

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Märten

1829), der inhaltlich u. formal den zeitge- G.-R. Von F. A. M. Bln. 1856. – Erinnerungen. Ges. nöss. Wertheriaden nachempfunden ist. Nach Gedichte. Bln. 1862 (= M.: Gedichte. Bd. 3). – Karl M.s Habilitation 1842 über Das Princip des Martell. Trag. in 5 Acten. Bln. 1859. – Das alte u. Bösen nach den Begriffen der Griechen (Bln. 1842) das neue Rom. Vortrag. Bln. 1865. – Schatz-Kästlein der Braut. Eine Verlobungsgabe. Bln. 1885. verlief seine universitäre Laufbahn wegen Literatur: Bibliografie: Goedeke 14, S. 666–671. polit. Veröffentlichungen im Vormärz un– Weitere Titel: Brümmer 4, S. 367. – Max Lenz: günstig: Nach längerer Arbeitslosigkeit unGesch. der Kgl. Friedrich-Wilhelm-Univ. zu Berlin. terrichtete M. zunächst als Privatdozent Bd. 2,2. Halle 1918, S. 139 f. – Kosch 10, Sp. 216. – Rhetorik u. Philosophie, erhielt aber erst Rolf Helfert: Polit. Zensur im vormärzl. Preußen – 1861 eine Titularprofessur. In die 1840er ein Fall aus der Berliner Univ. In: Ztschr. für GeJahre fällt der Großteil von M.s philosoph. schichtswiss. 44 (1996), H. 4, S. 327–335. Publikationen, u. a. zur polit. Rhetorik (Die Nicolas Detering Willensfreiheit im Staatsverbande. Bln. 1843) u. Religion (Das Wesen des Protestantismus, in Märten, Lu, eigentl.: Louise Charlotte M., vierzehn Thesen. Bln. 1845). M.s wichtigstes * 24.9.1879 Berlin, † 12.8.1970 Berlin. – dramat. Werk stellt die in Alexandrinern u. Kunsttheoretikerin; Lyrikerin, Erzähletrochäischen Tetrametern verfasste »tragi- rin, Dramatikerin. sche Trilogie« Alexandrea (bestehend aus den jeweils fünfaktigen Tragödien Philipp von M. wuchs unter materiell u. psychisch depriMacedonien, Demosthenes u. Alexander der Große, mierenden Bedingungen auf. Wegen langer alle Bln. 1857) dar. Darin warnt M., wie auch Krankheit war ihre Bildung weitgehend auin der nationalistisch-antikatholisch gesinn- todiaktisch. Sie engagierte sich seit 1902 puten Tragödie Karl der Große (Bln. 1861), vor blizistisch für Bodenreform- u. Frauenbewedem Hochmut der Titelfiguren u. propagiert gung; etwa 1903 trat sie der SPD bei. Ab 1904 das Herrscherideal eines dem Willen des lebte sie als freie Publizistin, veröffentlichte Volkes unterworfenen »Königs unter Köni- Märchen u. Gedichte, die dem Symbolismus, gen« nach dem Vorbild Friedrichs des Gro- bes. Peter Hille, verpflichtet sind (Meine Liedsprachen. Gedichte. Bln. 1906). Am Schauspiel ßen. M.s epigonale Lyrik zeugt von starkem li- Bergarbeiter (Stgt. 1909), der Darstellung eines terar. Traditionsbewusstsein. Neben zahlrei- Streiks, rühmte Franz Mehring »die feine chen Gelegenheitsgedichten schrieb M. ro- Psychologie«. Eine Sonderstellung in der mantisch-volkstüml. Kunstlieder u. Sonette zeitgenöss. Autobiografik nimmt Torso. Das (Gedichte. 2 Bde., Bln. 1858). In den 1860er Buch eines Kindes (Mchn./Lpz. 1909. Neuaufl. Jahren verfasste M. antikisierende Wid- Ffm. 1924) ein: In bewusst eingesetzter, mungsgedichte u. Epigramme auf Zeitge- sukzessiver Formauflösung stellt sie Tod u. nossen sowie eine erfolgreiche Plutarch- Krankheit, die ihre Kindheit prägten, als soNachdichtung in Hexametern (Eheliche Er- zial determiniert, zgl. aber ästhetisch übermahnungen. Eine Hochzeitsgabe (Bln. 1867. höht dar. Den Konflikt von Sexualität u. In2 1870). Obwohl bekannt mit einigen Geis- tellektualität führt sie dabei in ein poetischtesgrößen seiner Zeit – u. a. August Wilhelm programmat. Konzept von Androgynität Schlegel, Alexander von Humboldt, Jacob über, das auch für ihre weiteren literar. Arbeiten bestimmend blieb (vgl. das 1939 entGrimm u. Droysen –, geriet M. nach seinem standene Filmszenario Tänzer. In: Frauen und Tod in Vergessenheit. Film, H. 46, 1946). Ihre weitere schriftstelleWeitere Werke: Was heißt Kunst? Ein artist. rische Arbeit konzentrierte sich auf kunstVortrag. Bln. 1844. – Die Zurückberufung des theoret. Fragen. Orientiert am Ästhetizismus Prinzen v. Preußen. Rede. Bln. 1848. – Preußens Abgeordnete für Berlin u. Frankfurt. Zwei Reden. der Jahrhundertwende, erschien ihr theoret. Bln. 1848. – Titus Lucretius Carus über die Natur Hauptwerk Wesen und Veränderung der Formen der Dinge u. die Unsterblichkeit der Seele. Vortrag. (Künste) (Ffm. 1924. Erw. Neuaufl. Weimar Bln. 1851. – Daniel Webster, der amerikan. Staats- 1952). Heute als bedeutender eigenständiger mann. Vortrag. Bln. 1853. – Sonettenkranz. An S. E. Beitrag zur »materialistischen Ästhetik« ge-

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wertet, stieß das Werk damals – ebenso wie ihre weiteren Schriften, v. a. zum Film – auf wenig Verständnis. Sperrig in der Begrifflichkeit, in der Betonung von »Form« konträr zum dominierenden inhaltsästhet. »Realismus« in der KPD, der sie seit 1920 angehörte, löste es heftige Abwehr aus (u. a. bei Gertrud Alexander u. Karl August Wittfogel). Politisch isoliert, wandte sich M. verstärkt avantgardistischen Positionen, bes. dem tschech. Poetismus zu. Die Drucklegung eines Katalogs des gesamten Sozialismus aller Länder [...] wurde durch die Machtübernahme der Nationalsozialisten verhindert, ein Teildruck u. d. T. Bibliographie des wissenschaftlichen Sozialismus in der SBZ 1947 nicht ausgeliefert. M., die ohne Publikationsmöglichkeiten unter ärmlichsten Bedingungen 1933 in Deutschland geblieben war, arbeitete nach 1945 für Ostberliner Verlage (Volk u. Wissen, Akademie Verlag), wohnte aber in Westberlin. Weitere Werke: Die wirtschaftl. Lage der Künstler. Mchn. 1914. – Die Künstlerin. Eine Monogr. Mchn. 1919. Nachdr. Bielef. 2001. – Historisch-Materialistisches über Wesen u. Veränderung der Künste. Bln. 1921. – Bürgermeister Tschech u. seine Tochter. Erinnerungen an den Vormärz. Bln./ SBZ 1948. – Georg Forster. Ein Lesebuch für unsere Zeit. Weimar 1952 (Mitarb.). – Formen für den Alltag. Schr.en, Aufsätze, Vorträge. Dresden 1982. Literatur: Erhard A. Schütz: L. M. Bio-Bibliogr. In: Alternative 16, H. 98 (1973), S. 99–104. – Johanna Rosenberg: L. M.s Entwürfe einer histor.materialist. Theorie der Künste. In: WB 25, H. 10 (1979), S. 39–67. – Chryssoula Kambas: Die Werkstatt als Utopie. L. M.s literar. Arbeit u. Formästhetik seit 1900. Tüb. 1988. – Richard Sheppard: Three Unpublished Letters from Johannes R. Becher to L. M. In: Essays in Memory of Michael Parkinson and Janine Dakyns. Hg. Christopher Smith. Norwich 1996, S. 237–243. Erhard Schütz / Red.

Mästlin, Möstlin, Michael, * 30.9.1550 Göppingen, † 20.10.1631 Tübingen. – Astronomischer Fachschriftsteller. Nach dem Besuch evang. Klosterschulen in Königsbronn u. Herrenalb u. auf den Kirchendienst vorbereitenden Studien an der Universität Tübingen erlangte M. die Magis-

ter artium-Würde (1571); dann vertrat er seinen Mathematiklehrer Philipp Apian (1575) u. lebte als Pfarrer in Backnang (1576). Er tat sich mit Beobachtungen zu einer Nova 1572 sowie zu Kometen hervor, edierte Erasmus Reinholds Prutenicae Tabulae (Tüb. 1571) u. auf ihrer Basis die Ephemerides novae (Tüb. 1580), sodass Kurfürst Ludwig VI. den entschiedenen Lutheraner an die Universität Heidelberg rief (1580–1584). Ab 1584 lebte M. als Mathematikprofessor in Tübingen. Im Streit um die Kalenderreform Papst Gregors XIII. spielte M. als Wortführer der luth. Gegner eine führende Rolle, wobei er die Reform weniger aus mathematischen als aus konfessionspolit. Gründen ablehnte (Bericht Von der [...] Jarrechnung. Heidelb. 1583). Er hinterließ Schriften zur bibl. Chronologie, mehrere Disputationen u. gab Keplers Mysterium Cosmographicum (Tüb. 1596) als Verständnishilfe einen Anhang mit seiner eigenen Schrift De dimensionibus orbium et sphaerarum coelestium u. Rheticus’ Narratio prima bei. Seinen publizistisch größten Erfolg erzielte M. mit einem kompendiösen Abriss der Astronomie (Epitome astronomiae. Heidelb. 1582. Tüb. 71624), einem im universitären Unterricht um 1600 bevorzugt gebrauchten Elementarwerk. Da sich M. in pädagog. Rücksichtnahme auf die Rezeptionsfähigkeiten der Adressaten einer inhaltlich herkömml. Rede (»consuetus sermo«) befleißigte, gibt die geozentrisch geprägte Epitome nicht zu erkennen, dass ihr Urheber zu den wenigen Kopernikanern des 16. Jh. gehörte. M. verwarf ein astronom. Werk von Nikodemus Frischlin; er selbst wurde von namhaften Verfechtern der Gregorianischen Kalenderreform bekämpft (Christoph Clavius, Anton Possevinus). Seine Publikationen zur Ortsbestimmung von Himmelskörpern fanden Tycho Brahes Beifall. Nachruhm sicherte ihm hauptsächlich die Tatsache, dass bei der Entscheidung seines Schülers u. lebenslangen Briefpartners Kepler, die kopernikan. Lehre zu akzeptieren, M.s Einfluss eine wichtige Rolle gespielt hatte u. er den großen Astronomen fachlich unterstützte. Bewahrt blieben Korrespondenzen mit Andreas Dudith, Elisäus Röslin, Samuel Siderocrates, Joachim

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Magdalena Sibylle

Struppius u. weiteren Angehörigen der Bil- Magdalena Sibylle, Herzogin von Würtdungselite. temberg, * 28.4.1652 Darmstadt, † 11.8. M. figuriert in Walter Ummingers Brief- 1712 Kirchheim unter Teck; Grabstätte: roman Das Winterkönigreich (Stgt. 1994). Stuttgart, Stiftskirche. – Verfasserin von Weitere Werke: Demonstratio [...] loci stellae novae. 1572. – Observatio [...] cometae. Tüb. 1578. – Consideratio [...] cometae. Heidelb. 1581. – Judicium de opere astronomico Frischlini, 18.1.1586 (Ms.). – Alterum examen novi [...] Gregoriani Kalendarii. Tüb. 1586. – Defensio alterius sui examinis [...] adversus [...] Antonii Possevini [...] elusiones. Tüb. 1588. – Chronologicae theses et tabulae. Hg. Samuel Hafenreffer. Tüb. 1641. – Synopsis chronologiae sacrae. Hg. Johann Valentin Andreae. Lüneb. 1642. – Handschriftl. Mästliniana bewahren die LB Stuttgart, NB Wien, UB Erlangen, UB Tübingen u. HAB Wolfenbüttel. – Briefwechsel: Briefw. mit Kepler. In: Johannes Kepler: Ges. Werke. Hg. Walther v. Dyck u. Max Caspar. Bde. 13–18, Mchn. 1945–59. Literatur: Siegmund Günther: M. In: ADB. – K. Steiff: Der Tübinger Prof. der Mathematik u. Astronomie M. M. In: Staats-Anzeiger für Württemberg, Beilage Nr. 4 (1892), S. 49–64; Nr. 8, S. 126–128. – Ernst Zinner: Entstehung u. Ausbreitung der Coppernican. Lehre. Erlangen 1943. 2 1988. – Viktor Kommerell: M. In: Schwäb. Lebensbilder. Bd. 4, Stgt. 1948, S. 86–100. – C. Doris Hellman: The Comet of 1577. New York 21971, S. 137–159. – Robert S. Westman: The Comet and the Cosmos. In: Colloquia Copernicana I. Breslau/ Warschau/Krakau 1972, S. 7–30. – Richard Adrian Jarrell: The Life and Scientific Work of the Tübingen Astronomer M. M., 1550–1631. Diss. phil. Toronto 1972. – Edward Rosen: M. In: DSB. – R. A. Jarrell: M.’s Place in Astronomy. In: Physis 17 (1975), S. 5–20. – Ders.: Astronomy at the University of Tübingen. The Work of M. M. In: Wissenschaftsgesch. um Wilhelm Schickard. Hg. Friedrich Seck. Tüb. 1981, S. 9–19. – Volker Bialas: M. In: NDB. – Barbara Bauer: Nicodemus Frischlin u. die Astronomie an der Tübinger Univ. In: Nicodemus Frischlin (1547–90). Poet. u. prosaische Praxis unter den Bedingungen des konfessionellen Zeitalters. Hg. Sabine Holtz u. Dieter Mertens. Stgt.-Bad Cannstatt 1999, S. 323–364. – Zwischen Copernicus u. Kepler – M. Michael Maestlinus Mathematicus Goeppingensis 1550–1631. Hg. Gerhard Betsch u. Jürgen Hamel. Ffm. 2002. – Jaumann Hdb. – Miguel A. Granada: M. Maestlin and the New Star of 1572. In: Journal for the History of Astronomy 38 (2007), S. 99–124 (mit Textwiedergabe). Joachim Telle

Andachten u. geistlichen Liedern. Das älteste Kind von Landgraf Ludwig VI. von Hessen-Darmstadt u. Maria Elisabeth, geb. Herzogin von Schleswig-Holstein, verlor mit 13 Jahren die Mutter. Danach wohnte sie in Stockholm bei ihrer Tante mütterlicherseits, der Königin Hedwig Eleonore von Schweden, die dem Mädchen eine strenge Erziehung zukommen ließ. Ihre glückliche, im Nov. 1672 geschlossene Ehe mit Wilhelm Ludwig, Erbprinz von Württemberg, dauerte nur vier Jahre; ihr Gemahl, inzwischen regierender Herzog, starb am 23.6.1677, drei Kinder u. eine schwangere Frau zurücklassend. Die Trauer über seinen Tod spiegelt sich in Ehrenreich Weißmanns Christlicher Betrachtung der betrübten Zeit, und freuden-vollen Ewigkeit (Nürnb. 1680), deren Lieder z.T. von M. stammen dürften. Wie ihre Tante Augusta Maria von BadenDurlach wurde M. wegen ihrer Frömmigkeit berühmt. Vier beliebte u. oft nachgedruckte Andachtsbücher hat sie z.T. verfasst, z.T. gesammelt u. herausgegeben. Die Andachten sind teilweise emblematisch u. bestehen aus Bildern, Bibeltexten, gereimten Sprüchen, Prosabetrachtungen, Psalmen, Gebeten u. Kirchenliedern. Hauptthemen sind Krankheiten, Todesfälle, die Nichtigkeit dieser Welt u. die Liebe zu Christus. Ein charakterist. Motiv ist das Lob körperl. Schwäche als einer Gelegenheit zum Gebet u. zur Vorbereitung auf den Tod. Weitere Werke: Im Namen der hoch-hl. DreyEinigkeit gott-geweyhtes Andachts-Opffer [...]. Stgt. 1690. – Das mit Jesu gecreuzigte Hertz [...]. Stgt. 1691. – Abdr. zweyer Schreiben, eines an die Römis. Käys. Maj. Das andere an Ihro Chur-Fürstl. Gn. zu Mäyntz, etc. v. der verwittibten Fr. Hertzogin [...] sub dato Stuttgardt, den 4. u. 22. Octobr. 1692. abgelassen; das dem Hoch-Fürstl. Hauß Würtemberg zustehende Reichs-Panner- oder Reichs-Fähndrich-Amt, Praedicat u. Insigne betreffend. o. O. 1692. – Geistl. Krancken-Apotheck [...]. Stgt. o. J. [1703]. Internet-Ed.: dünnhaupt digital.

Magdeburger Äsop Literatur: Bibliografie: Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 4, S. 2633–2637. – Weitere Titel: Christ-Fürstl. Ehrengedächtnis [...]. Stgt. 1712 (Leichenpredigt). – Albert Knapp: Aus dem Leben der Herzogin M. S. v. W. In: Christoterpe. Ein Tb. für christl. Leser auf das Jahr 1841. Hg. ders. Tüb. o. J., S. 289–321. – M. Zobel v. Zabeltitz: M. S. v. W., geb. Landgräfin zu Hessen-Darmstadt u. ihre Andachtsschr.en. In: Euph. 32 (1921), S. 573–581. – Werner Raupp: Herzogin M. S. In: Gelebter Glaube. Hg. ders. Metzingen 1993, S. 96–100. – M. S. v. HessenDarmstadt (1652–1712). In: Das Haus Württemberg. Ein biogr. Lexikon. Hg. Sönke Lorenz u. a. Stgt. 1997, S. 162 f. – Jill Bepler: ›zu meinem und aller dehrer die sichs gebrauchen wollen Nutzen, Trost undt Frommen‹. Lektüre, Schrift u. Gebet im Leben der fürstl. Witwen in der Frühen Neuzeit. In: Witwenschaft in der Frühen Neuzeit [...]. Hg. Martina Schattkowsky. Lpz. 2003, S. 303–320. – Beate Kolb: M. S. In: Bautz. – Linda Maria Koldau: Frauen, Musik, Kultur. Ein Hdb. zum dt. Sprachgebiet der Frühen Neuzeit. Köln u. a. 2005 (Register). Jean M. Woods / Red.

Magdeburger Äsop, entstanden um 1400. – Mittelniederdeutsche Fabelsammlung.

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zurück, den er in einem Überblick über die Geschichte der »äsopischen« Fabeln in der Vorrede ausdrücklich nennt: Gerhard von Minden, der den Romulus LBG wohl 1370 in Reimpaare übertragen hatte (sog. Wolfenbütteler Äsop). Neben dieser mittelniederdt. Hauptquelle benützt der Verfasser in freier Kombination auch den Romulus LBG selbst sowie dessen Versfassung, den sog. Anonymus Neveleti. Zitate aus Freidank belegen seine Kenntnis der dt. Literatur. – Die insg. 101 Reimpaarfabeln sind in ihrem unterhaltsamen Erzählteil breit ausgestaltet u. – z.T. nach eigenen Erlebnissen – gegenüber den Vorlagen erweitert; das Epimythion erteilt meist allgemeine prakt. Lehren u. vermittelt handfeste Lebensweisheiten. Ungewöhnlich häufig werden bestimmte Adressatengruppen ermahnt. Mit seiner Kritik am Adel u. sogar an den Landesherren nimmt der M. Ä. zwar Partei für die Niedriggeborenen; über den ererbten Stand hinauszustreben, wird allerdings abgelehnt. Das Wissen um die Mängel der eigenen Zeit ist ein ebenso charakterist. Zug des Spätmittelalters wie die wirklichkeitsnahe Darstellung der unmittelbaren Umgebung.

Der Verfasser ist nur aus Anspielungen in seinem Werk bekannt: Er war ein gebildeter Literatur: Albert Leitzmann: Studien zum M. Geistlicher, dem bäuerliche u. höfische, we- Ä. In: Nd. Jb. 69/70 (1943/47 [1948]), S. 56–66. – niger städt. Lebensverhältnisse vertraut sind. Klaus Grubmüller: Meister Esopus. Mchn. 1977, In seiner Jugend diente er wohl im Gefolge S. 376, 411–416, 420–422. – Bernhard Kosak: Die des Grafen Gerhard von Hoya; dabei traf er Reimpaarfabel im SpätMA. Göpp. 1977, bes. 1351 in Dänemark mit König Waldemar IV. S. 338–414 (Register zur Überlieferung sämtl. ›äsopischer‹ Fabeln). – Klaus Speckenbach: M. Ä. zusammen (vgl. 89. Fabel). Erst in vorgeIn: VL. – Aaron E. Wright: Komm. u. Übers. Zur rücktem Alter verfasste er zu Beginn des 15. Entlatinisierung der Fabel im ausgehenden MA. In: Jh. sein Fabelwerk, vielleicht als Pfarrer oder Wolfenbütteler Beiträge 11 (1998), S. 53–72. – Gerd Mönch in der Grafschaft Hoya. Auch die Dicke: Äsop. In: VL (Nachträge u. Korrekturen), Sp. Sprache weist ins westl. Westfalen. Ihren 141–165, bes. Sp. 157–161. Anette Syndikus Namen trägt die Sammlung nach dem Aufbewahrungsort der einzigen Handschrift; sie Magdeburger Schöppenchronik. – ging im Zweiten Weltkrieg verloren (mit irStadtchronik des 14./15. Jh. in mittelniereführendem Titel hg. von Wilhelm Seelderdeutscher Prosa. mann: Gerhard von Minden. Bremen 1878). Im Rückgriff auf seine Quellen zeichnet Die M. S. ist ein Beispiel für den Übergang sich der Verfasser des M. Ä. gegenüber ande- von der Welt- zur Regional- u. Lokalchronisren deutschsprachigen Fabelautoren durch tik, vom Latein zur Volkssprache u. vom Reim besondere Selbstständigkeit aus: Während zur Prosa, der sich in der Geschichtsschreidiese sich auf die Vermittlung mlat. Fabel- bung des späten MA allmählich vollzieht. Die korpora beschränken, bezieht jener die Tra- niederdt. Stadtchroniken, die im Lauf des 14. dition erschließende Übersetzungen bereits Jh. u. a. in Köln, Braunschweig, Lübeck u. mit ein. Er greift auf einen dt. Vorgänger Magdeburg entstanden, sind ihrer Entste-

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Magenau

hung u. Wirkung nach eng mit den Institu- Konflikte werden auffällig knapp benannt. tionen der Stadt verknüpft: In Magdeburg Anekdotisches fehlt nicht. Literarhistorisch konkurrierten der erzbischöfl. Stadtherr, der interessant sind die Berichte über das Gralseit 1330 aus den Innungen gewählte Rat u. spiel Bruns von Schönebeck u. über die die Schöffen miteinander. Obgleich diese Geißler. 1373–1428 u. 1450–1468 wurde die vom Rat ausgeschlossen wurden, konnten sie M. S. fortgesetzt. Um 1500 wurde sie im in der Mutterstadt einer großen Stadtrechts- Auftrag Erzbischof Ernsts von Magdeburg hochdeutsch bearbeitet u. 1565/66 erneut ins familie ihren Einfluss wahren. Als Verfasser des Urtextes der M. S. gilt der Hochdeutsche übersetzt. Die Übertragungen vermutlich aus dem niedersächs. Kloster ins Hochdeutsche belegen einerseits die Lamspringe stammende Priester H(e)inrich überregionale Bedeutung, dokumentieren von Lammespringe, der 1350 zum Schöffen- andererseits aber v. a. das Vordringen des schreiber berufen wurde, daneben auch als Hochdeutschen in ursprünglich niederdt. Stadtschreiber des Rats tätig war. Sein Dop- Territorien. An der Überlieferungsgeschichte pelamt prädestinierte ihn zum Vermittler bei der zehn Handschriften lässt sich die offiziöse innerstädt. Konflikten; auch nach außen Geltung der M. S. bis ins 17. Jh. ablesen. Auch vertrat er die Stadt, so 1359/60 vor Karl IV.; in der sächsisch-thüring. Chronistik des 15./ 16. Jh. finden sich ihre Spuren, so u. a. in der um 1373 gab er sein Amt auf. Die M. S. schrieb Heinrich zwischen 1360 1489 in Braunschweig verfassten u. 1492 in u. 1372 »minen leven heren den schepen [...] Mainz bei Peter Schöffer gedruckten Croneto leve« (S. 1). Mit dem – wohl 1631 ver- cken der Sassen. nichteten – Schöffenbuch steht sie in einem Ausgaben: Die Chroniken der niedersächs. »funktionellen Verbund« (Keil). Er entspricht Städte, Magdeburg. Bd. 1, hg. v. Karl Janicke. Lpz. dem Begründungszusammenhang zwischen 1869. Neudr. 1962; Bd. 2, hg. v. Max Dittmar u. G. Recht u. Geschichte, wie er zwischen Sach- Hertel. Lpz. 1899. Neudr. 1967. Literatur: Johannes B. Menke: Geschichtssenspiegel u. Sächsischer Weltchronik u. zwischen Weichbildrecht u. Weichbildchronik besteht: schreibung u. Politik in dt. Städten des SpätMA. In: Hielt das Schöffenbuch die Rechtsprechung Jb. des Köln. Geschichtsvereins 34/35 (1960), bes. der Schöffen fest, so zeigte die M. S., wie u. S. 148–161. – G. Keil: M. S. In: VL (Lit.). – R. William Leckie: To vromen de stad: Orosius: Heinrich wann bestimmte Gewohnheiten Recht gev. Lammesspringe and the M. S. In: Euph. 85 worden waren. Heinrich verfährt nach dem (1991), S. 315–341. – Jürgen Wolf: Die ›Sächsische annalist. Prinzip. Dabei gliedert er ganz ei- Weltchronik‹ im Spiegel ihrer Hss. Mchn. 1997, genständig von der Geschichte Magdeburgs bes. S. 200. Hilkert Weddige / Jürgen Wolf her: Der erste Teil beginnt – ohne den heilsgeschichtl. Rahmen der Weltchroniken – mit der Gründung der Stadt durch Cäsar u. er- Magelone ! Warbeck, Veit zählt von der sagenhaften Frühgeschichte des sächs. Stammes. Der zweite Teil handelt von Magenau, Rudolf Friedrich Heinrich von der Zeit Ottos I. u. von den Anfängen des (geadelt 1844), auch: Stomachogäus, Magdeburger Erzbistums, der dritte vom Agathon, * 5.12.1767 Markgröningen, Pestjahr 1350–1372. Hier kann der Chronist † 23.4.1846 Hermaringen/Brenz; Grab»van den dingen, de ik sulven gehort und stätte: ebd. – Lyriker, Publizist. geseen hebbe« erzählen, während er für die beiden ersten Teile auf die im sächs. Raum Während seiner Studienzeit im Tübinger bekanntesten lat. u. niederdt. Chroniken u. Stift war M. freundschaftlich mit Hölderlin u. Annalen zurückgreift. So nutzt er u. a. min- Christian Ludwig Neuffer verbunden. Beiden destens zwei Versionen der weit verbreiteten ist M.s Satire Anselms und seines Freundes des Sächsischen Weltchronik. Sie verbergen sich un- Magisters poetische Reisen nach Kaklogallinien im ter den als Quellen genannten »anderen Jahre 1789 (Lpz. 1790) gewidmet. Pragmaticroneken« bzw. den »olden croniken«. Die scher gesinnt als die Freunde, bevorzugte M. Darstellung ist unpolemisch, aber manche als Dichter die poet. Kleinform u. heiter-

Mager

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weltl. Gegenstände, wie die Sammlungen Gedichte (Stgt. 1795), Wend Unmuth (Öhringen, Lpz. 1798) u. Lyrische Gedichte (Ansbach 1805) zeigen. Nachdem er frühzeitig Landpfarrer geworden war, erwarb sich M. als Publizist Verdienste um aufklärerische Reformen im württembergischen Unterrichts- u. Schulwesen. Später wandte er sich lokalhistor. u. topografischen Studien zu, sammelte regionale Volkspoesien u. schuf histor. Balladen im geistigen Horizont der schwäb. Romantik. M.s Aufzeichnungen Skizze meines Lebens (1793–1823, ungedr., Württembergische Landesbibl. Stgt.) sind eine wichtige Quelle für die Verhältnisse in den württembergischen Klosterschulen u. im Tübinger Stift zur Zeit Hölderlins. Weitere Werke: Wolf v. Blankenhorn u. Kunigunde v. Sachsenheim. Augsb. 1793 (R.). – Kleine Handbibl. für dt. Landschulmeister [...]. Stgt./Tüb. 1799–1802. – Der Güssenberg u. die Güssen. Ulm 1823. – Poet. Volkssagen u. Legenden, größtenteils aus Schwaben. Stgt. 1825. Literatur: Walter Betzendörfer: Hölderlins Studienjahre im Tübinger Stift. Heilbr. 1922. – Erhard Lenk: Mag. R. F. H. M. In: Ludwigsburger Geschichtsbl. 17 (1965), S. 118–146. – Johannes Weber: Neue Funde aus dem Umkreis des jungen Hölderlin. In: Spätaufklärung. Notizen zur neueren Forsch. 3. Bremen 1986. Johannes Weber / Red.

Mager, Hasso, * 15.5.1920 Chemnitz, † 8.1.1995 Dresden. – Erzähler, Kriminalschriftsteller, Publizist.

»Fall« werden. M. beteiligte sich 1969 mit dem Essay Krimi und crimen (2., überarb. Aufl. Halle 1979) an der in der DDR regen Diskussion um den »sozialistischen Kriminalroman«, der, so M., »das Wesen unserer kriminalistischen Praxis sichtbar machen [soll], und zwar ihre qualitativ neuen Bemühungen der vorbeugenden, aufklärenden und verhütenden Verbrechensbekämpfung«. Menschliches Scheitern hat in M.s Werken die Ursache in nicht geglückter sozialer Integration, in Gier, Egoismus u. Korruptheit. Im Roman Bartuschek ist nicht mehr da (Bln./DDR 1973. 3 1983) wird der Mord am Mitarbeiter eines wiss. Instituts zur moralischen Bewährungsprobe für die ganze Gruppe, die sich um den Staatstitel »sozialistisches Kollektiv« bewirbt. Der autobiogr. Roman Zwiespalt (Halle 1987) thematisiert die Frage nach Kollektivschuld u. individueller Verantwortung anhand des Konflikts zwischen der am Faschismus leidenden Vätergeneration u. den nachgeborenen Kindern. Nach der Wende veröffentlichte M. nicht mehr; seine zuvor oft nachgedruckten Werke erfuhren nach 1990 keine Neuauflagen mehr. Weitere Werke: Goethe in Gefangenschaft. Halle 1962 (E.). – Freitags zwischen drei u. sechs. Bln./DDR 1964. 21967 (R.). – Der Unbekannte bin ich. Bln./DDR 1972. 51986. – Personalien oder Das Glück zu zweit. Halle 1976 (R.). – Mord im Hotel. Halle 1978. 41986 (Kriminalr.). – Kolumbus in der Tatra. Slowak. Reisebilder (zus. mit Karol Kállay). Halle 1979. – Gier. Halle 1983. 71990 (Kriminalr.). – (Hg.) Literar. Streifzüge durch Sachsen. Halle 1988. Literatur: Annemarie Reinhard: Porträt eines jungen Autors. In: NDL, H. 2 (1965). – Reinhard Hillich (Hg.): Tatbestand. Ansichten zur Kriminallit. der DDR 1947–86. Bln./DDR 1989. Rita Seuß / Red.

M., gelernter Autoschlosser u. Industriekaufmann, kam als Kriegsteilnehmer in sowjet. Gefangenschaft (bis Ende 1945). Nach einem Diplom-Jurastudium arbeitete er 1951–1960 als Strafjurist in Leipzig, ab 1962 lebte er als freier Schriftsteller in Dresden. Er Der maget krone, Mitte 15. Jh. – Verslewar von 1979 bis 1984 Vorsitzender des Begende. zirks Dresden des Schriftstellerverbandes der DDR. Neben der mäßigen literar. Qualität dürfte Bei detailgenauer Topografie u. Verknüp- die bruchstückhafte Überlieferung ein Grund fung der Handlung mit entscheidenden Da- für die verhältnismäßig geringe Beachtung ten der polit. Geschichte der DDR gelangte sein, die das Werk gefunden hat: Von den M. zur Darstellung von Durchschnittsbür- urspr. etwa 8500 Versen sind aufgrund von gern, die je nach dem Ausmaß ihres sozialist. Blattverlust in der einzigen Handschrift Bewusstseins zu Tätern, Opfern oder Detek- (Mchn., Bayerische Staatsbibl., Cgm 5264) tiven in einem spannenden kriminalist. nur 4915 Verse erhalten. Entstanden ist die

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Magiera

Handschrift zwischen 1473 u. 1475, wohl auf Ursula Rautenberg: ›Ursula und die elftausend ostschwäb. Gebiet. Der Dichter stammte, dem Jungfrauen‹. In: VL. – Edith Feistner: Histor. TyDialekt der Reime nach, aus dem Alemanni- pologie der dt. Heiligenlegende des MA v. der Mitte schen. Die frühere Annahme einer Entste- des 12. Jh. bis zur Reformation. Wiesb. 1995, bes. S. 249–257. – Sibylle Jefferis: The German Collechung im 14. Jh. beruhte auf einer falschen tion of Saints’ Legends ›Der Maget Krone‹ Datierung der Handschrift. (1473–75). Contents, Commentary, and Evaluation Der Text weist aufgrund des Blattverlustes of Current Research. In: Fifteenth-Century Studies große Lücken auf: Auf die verlorene Einlei- 31 (2005), S. 106–122. Elisabeth Wunderle / Red. tung folgte ein Marienpreis, der mit einer Vision des hl. Bernhard beginnt, der u. a. erlebt, wie die Seelen im Fegefeuer Maria mit dem »Salve Regina« anrufen u. sie so um Magiera, Kurtmartin, * 24.1.1928 LiegHilfe für baldige Aufnahme in den Himmel nitz, † 29.7.1975 Minden. – Erzähler. bitten. Fortgesetzt wird der Marienpreis mit Nach mehrjähriger Tätigkeit als VerwalStellen aus dem Hohenlied u. den Sprüchen tungsangestellter wirkte M. als FeuilletonreSalomons, die auf Maria gedeutet werden; dakteur u. Schriftsteller in Essen. Mit seiner der Rest des Marienpreises ist verloren. Es umfangreichen literar. Tätigkeit wurde er zu folgt eine Darstellung des Marienlebens, de- einem der meistgelesenen christlich-kirchlich ren Anfang u. Schluss fehlen: Sie beginnt mit orientierten Schriftsteller der dt. Gegender Erzählung von den Hl. Drei Königen u. wartsliteratur. Seine zeitkrit. Romane (Ich endet mit dem Pfingstwunder; Hauptquelle heiße nicht Robertino. 1957. Im Paradies neun. ist hier eine Fassung des Evangelium Ps.-Mat- 1958. kleines mädchen hoffnung. 1961. Liddl, thaei, die auch der Kindheit Jesu Konrads von Eichhorn und andere. 1968. Alle Ffm.) sind beFüßesbrunnen zugrundeliegt. Den dritten stimmt von sachlich-nüchterner Diktion u. Teil bilden Legenden hl. Jungfrauen: Ganz gesellschaftskrit. Engagement. Meditativ-lyoder z.T. erhalten sind die Viten von Barbara, rische Texte, häufig zu Grafiken, gewinnen Dorothea, Margaretha, Ursula, Agathe, Ag- aus christl. Ethik polit. Stellungnahmen. So nes, Lucia, Caecilia, Christina, Anastasia u. enthält der Band Ich habe dein Gesicht gesehen Juliana. Die wichtigsten Quellen für diesen (Kevelaer 1975) 33 Texte (entsprechend dem Teil sind die Legenda Aurea des Jacobus a Lebensalter Jesu) mit Fotografien aus EntVoragine, die Elsässische Legenda Aurea u. Der wicklungsländern zu dem Bekenntnis: »Jesus Heiligen Leben. lebt in Ibimirim, Panama-City und andersWie schon der Titel zeigt, ist das Anliegen wo«. Weite Verbreitung fanden seine an des Gedichts ein Preis der Jungfrauschaft. Im Brechts Geschichten vom Herrn K. orientierten Mittelpunkt steht als hervorragendste Ver- Texte Herr Zett (Ffm. 1972). Daneben enttreterin Maria; ihr folgen die hl. Jungfrauen, standen Erzählungen (Tag und Nacht. 1959. die Maria in ihrem Lebenswandel nacheifer- Befragung um Mitternacht. 1966), Meditationen ten. Wie der Dichter am Schluss seines Werks (Gebete aus der Zeitung. 1968. Alle Ffm.) sowie darlegt, sollen diese Viten Anstoß für eine Reportagen, Hörbilder u. ein Fernsehspiel. Lebensführung sein, die zum ewigen Heil Weitere Werke: Bernhard Lichtenberg: Der führt. Aus seinem Hinweis, dass es sich bei Gefangene im Herrn. Bln. 1963 (Biogr.). – dann den genannten Heiligen nicht um Nonnen sagt doch, was er tun soll. Ffm. 1963. – Küsters. handelt, könnte man schließen, dass er sich Ffm. 1965. – Sein wie Joël. Ffm. 1968. – Sakrament eher an Frauen weltl. Standes wandte (anders Brot. Kevelaer 1970. Neuausg. 1991. – Nicht v. schlechten Eltern. Ffm. 1972. – Alle sind gefragt. Jefferis 2005). Ausgabe: Ignaz v. Zingerle: D. m. k. Wien 1864 (Sitzungsber.e der Akademie der Wiss.en, philolog.-histor. Klasse 47, S. 509–546). Literatur: Zingerle 1864 (s. o.), S. 489–564. – Edward Schröder: D. m. k. In: ZfdA 67 (1930), S. 48. – Hans-Friedrich Rosenfeld: D. m. k. In: VL. –

Mainz 1974. – Was der Juli nicht kocht, kann der Sept. nicht braten. Ffm. 1975. Literatur: Alois M. Kosler: K. M. Ein Dichter der christl. Existenz heute. In: Schlesien: Arts, Science, Folklore 7 (1962), S. 236–240. – Westf. Autorenlexikon. Heinrich Detering / Red.

Magni

Magni, Valerianus, Taufname: Maximilian von M.,* 11.10.1586 Mailand, † 29.7. 1661 Salzburg. – Kapuziner; Theologe, Philosoph u. Diplomat. Der Sohn des in kaiserl. Diensten stehenden ital. Finanzmannes Konstantin von Magni siedelte mit seiner Familie 1588 nach Prag über, wo er am 25.3.1602 in den franziskan. Kapuzinerorden eintrat u. den Ordensnamen Valerianus annahm. Das Noviziat verbrachte er zunächst in Prag, dann in Wien, von wo er 1605 zurückkehrte, um in dem auf dem Hradschin gelegenen Kloster das Studium aufzunehmen. 1609 wurde M. als Prediger an die Wiener St. Dorothea Kirche versetzt, 1613 als kaiserl. Hofprediger nach Linz. Er wirkte danach als Philosophielehrer im Wiener u. Prager Ordenskloster, als Vorsteher des Klosters in Linz (1619) u. wurde zwischenzeitlich u. später mit diplomat. Missionen betraut, die ihn für Verhandlungen über die Reunion der Orthodoxen mit Rom nach Warschau an den Hof des poln. Königs (1616, 1645–1648) u. nach der Zerschlagung des böhm. Aufstandes (1620) im Dienst Maximilians von Bayern u. a. zur Klärung der VeltlinFrage nach Frankreich (1622) führten. 1623 wurde M. Vorsteher des Prager Klosters, 1624 in Wien zum Provinzial der böhmisch-österr. Ordensprovinz gewählt, ein Amt, das er bis Mai 1626 ausübte. Zus. mit dem Erzbischof u. späteren Kardinal Ernst Adalbert Graf von Harrach, dessen Beichtvater er war, arbeitete M., beauftragt von der »Sacra Congregatio de Propaganda Fide« u. von dieser 1629 zum »apostolischen Missionar« ernannt, an der Rekatholisierung Böhmens, die er in einem Memorandum im Gegensatz zur harten Linie der Jesuiten, die das Recht des Kaisers betonten, als rein kirchl. Angelegenheit verstand. Allerdings konnte er sich mit seiner konzilianten Haltung nicht durchsetzen. 1628 verfasste er für Kurfürst Maximilian die sog. Kapuziner-Relationen über den General Albrecht von Wallenstein, in denen dieser als religiös indifferenter Karrierist geschildert wird, der das Reich in eine absolute Monarchie zu verwandeln suchen würde. Im selben Jahr erschien in Prag sein De acatholicorum credendi regula iudicium, eine Auseinanderset-

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zung mit dem protestant. Schriftprinzip, die eine erhebl. Zahl von Gegenschriften, u. a. von Comenius u. Dannhauer, provozierte, welche M. in den weiteren Ausgaben dieses Werkes beantwortete. 1635 wirkte er an den Verhandlungen zum Prager Frieden als theolog. Gutachter mit. 1642 erschien in Rom M.s erste, in Dialogform abgefasste philosoph. Schrift De luce mentium, et eius imagine (weitere Ausg.n: Antwerpen 1643. Wien 1645), die er wie seine weiteren Bücher hauptsächlich während Reiseunterbrechungen schrieb. Große Beachtung fanden seine nach eigenem Zeugnis durch Galileis Lehre angeregten u., wie er später behauptete, in Unkenntnis der früheren Experimente von Torricelli (1643) u. Pascal (1647) entworfenen Arbeiten über das Vakuum (vgl. z.B. Demonstratio ocularis loci sine locato. Warschau 1647 u. ö.), mit denen er die Falschheit der Grundsätze der aristotel. Physik zu beweisen suchte, ohne sich jedoch der modernen mechanist. Physik anzuschließen. Entscheidenden Anteil hatte M. an der aufsehenerregenden Konversion des calvinist. Landgrafen Ernst von Hessen-Rheinfels zum Katholizismus (am 6.1.1652), die als das Ergebnis eines öffentl. Religionsgesprächs zwischen M. u. dem Gießener luth. Theologen Peter Haberkorn auf der Burg Rheinfels (1651) inszeniert wurde. Im Rahmen dieser Disputation, an deren schriftl. Fortsetzung dann u. a. auch Georg Calixt beteiligt war, u. in deren Folge sah sich M. genötigt, offensiv die Lehre von der päpstl. Infallibilität zu verteidigen (vgl. z.B. Epistola [...] ad [...] Bonaventuram Ruthenum [...] de quaestione, utrum primatus Rom. Pontificis super universam ecclesiam probari possit ex Solo sacro textu [...]. o. O. u. J. [1653]), allerdings nicht, ohne darauf hinzuweisen, dass sie weder im geschriebenen noch im nicht geschriebenen Wort Gottes ausdrücklich zu finden, sondern nur vermittels theolog. Argumentation zu begründen sei. Der jahrzehntelange Streit, den M. mit den Jesuiten führte, bes. über Universitätsangelegenheiten u. ekklesiolog. Fragen, spitzte sich im Jahr 1660 zu, nachdem er trotz Druckverbotes seine Apologia [...] contra imposturas Jesuitarum (o. O. u. J.) veröffentlicht hatte. Auf Veranlassung des Papstes wurde M. Anfang Febr.

Magnus von Anhalt

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1661 in Wien in Haft genommen; er sollte in Rom zur Verantwortung gezogen werden, verstarb aber auf der im März angetretenen Reise in Salzburg. M.s Philosophie erwuchs der Tradition des 1528 gegründeten Kapuzinerordens entsprechend aus augustinisch-bonaventurischen Quellen. In seinem philosoph. Hauptwerk Opus philosophicum (Leitmeritz 1660) begründet er ausführlich seine Ablehnung der aristotel. Logik, Physik u. Metaphysik u. entfaltet, ausgehend von der Lehre vom göttl. geistigen Licht (»lux mentium«) u. von dessen Abbild, dem Verstand (intellectus), seine eigene, vorwiegend mit Fragen der Erkenntnis befasste »christliche Philosophie« (»Philosophia Valeriani«). Seine Werke haben zwar keine breite Rezeption erfahren, doch wurden sie von bedeutenden Philosophen wie Mersenne, Caramuel, Comenius, Malebranche, Leibniz u. Wolff gelesen u. ausgewertet. Weitere Werke: Iudicium de Acatholicorum et Catholicorum regula credendi. Wien 1641. – (Pseud.) Abtritt deß Jesuiter Ordens v. dem Geistlichen in das Weltliche [...]. o. O. 1646. – Principia et specimen philosophiae [...]. Köln 1652. 21661. – Apologia [...] revisa cum notabili augmento aliquot epistolarum contra imposturas Jesuitarum [...]. o. O. u. J. [1661]. Dt.: Apologia oder Verantwortung wieder die Aufflagen der Jesuiten. [...] Sampt einer Zugabe zweyer Briefe, so er diß Jahrs auß seiner Gefengnis abgehen lassen. o. O. 1661. Ausgaben: Karl Maria Frhr. v. Aretin: Wallenstein. Beiträge zur näheren Kenntniß seines Charakters [...]. Mchn. 1845, Urkunden, Nr. 1, 10 u. 12 (Ed. der Kapuziner-Relationen). – De luce mentium et ejus imagine. Ex sanctis patribus Augustino et Bonaventura. Ad Bartholomaeum Nigrinum [...]. Bologna 1886. – Dass. / O s´ wietle umyslów i jego obrazie. Lat.-poln. Hg. Markéta Klosová, übers. v. Tadeusz Wlodarczyk, Vorw. v. Jerzy Marian Cygan. Warschau 1994. – A censure about the rule of beleefe practised by the Protestants (Douai 1634). Nachdr. London 1971 u. Internet-Ed. in: The Digital Library of the Catholic Reformation (http:// solomon.dlcr.alexanderstreet.com//). – De humani arbitrii libertate. Hg. Jirˇ í Benesˇ u. Stanislav Sousedík. In: Acta Universitatis Carolinae 19 (1979), S. 71–88. – Demonstratio ocularis loci sine locato (1648). In: La matematica antica su CD-ROM. Bd. 38, Florenz 2006. /

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Literatur: Bibliografien: VD 17. – Cygan 1972 u. 1989 (s. u.). – Weitere Titel: Acta disputationis habi-

tae Rheinfelsae apud S. Goarem inter Valerianum Magnum [...] Missionarium Apostolicum, et [...] D. Petrum Haberkornium [...] in praesentia [...] Principis Ernesti, Hassiae Landgravii [...]. Köln 1652. Dt.: Die Acta der Disputation [...]. Köln 1652. – Leben u. Taten des P. V. M. OFM Cap. [...] Ges. v. P. Nikolaus aus Lucca [...] u. erw. v. P. Ludwig aus Salice [...]. Abgeschlossen 1664 [...]. Übers. v. P. Egino Kraus OFM Cap. Würzb. 1976 (Ed. des lat. Textes dieser Vita in Cygan 1989). – Georg Denzler: Die Propagandakongregation in Rom u. die Kirche in Dtschld. im ersten Jahrzehnt nach dem Westfäl. Frieden [...]. Paderb. 1969. – Milada Blekastad: Comenius [...]. Oslo/Prag 1969, passim. – Kreszenz Braun: Die Philosophie des V. M. [...] u. die Bonaventura-Tradition des Kapuzinerordens im 17. Jh. Koblenz-Ehrenbreitstein 1970. – Georgius Cygan: Opera Valeriani M. velut manuscripta tradita aut typis impressa. In: Collectanea Franciscana 42 (1972), S. 119–178 u. 309–352. – Stanislav Sousedík: V. M. 1586–1661. Versuch einer Erneuerung der christl. Philosophie im 17. Jh. Sankt Augustin 1982 (Verz. der älteren Lit.). – Heinz Haushofer: V. M. In: NDB. – J. Cygan: V. M. (1586–1661). ›Vita prima‹, operum recensio et bibliographia. Rom 1989. – Ders.: Theolog. Themen im Dialog v. Johann Amos Comenius u. V. M. (zuerst 1992). In: Comenius als Theologe [...]. Hg. Vladimír J. Dvorˇák u. a. Prag 1998, S. 184–203. – Walter Troxler: V. M. In: Bautz. – Ueberweg, Bd. 4/1–2, S. 381–390 u. Register. – Joachim Müller: Irenik als Kommunikationsreform. Das Colloquium Charitativum v. Thorn 1645. Gött. 2004, S. 77–148. – Vincenzo Criscuolo: Tre diplomatici cappuccini al ›Kurfürstentag‹ di Regensburg del 1636–37. In: Laurentianum 45 (2004), S. 59–107. – Howard Louthan: Mediating Confessions in Central Europe. In: The Journal of Ecclesiastical History 55 (2004), S. 681–699. – Hans-Joachim Müller: Comenius’ Modell der Urteilsfindung in seiner Kontroverse mit dem Kapuzinermönch V. M. In: Johann Amos Comenius. Vordenker eines kreativen Friedens. Hg. Erwin Schadel. Ffm. u. a. 2005, S. 189–210. – S. Sousedík: Philosophie der frühen Neuzeit in den böhm. Ländern. Stgt.-Bad Cannstatt 2009, S. 114–139 u. Register. Reimund B. Sdzuj

Magnus von Anhalt, * 1455 Zerbst (?), † 29. oder 31.10.1524 Magdeburg. – Verfasser geistlicher u. weltlicher Gedichte, Übersetzer. Schon in jungen Jahren erhielt M. eine umfassende Ausbildung; 1471 begann er in Leipzig ein Studium (insbes. Theologie u.

Mahler

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Literatur: Bibliografien: Franzjosef Pensel: Verz. Jura), 1475 übernahm er zus. mit seinem Bruder Adolf die Regierung über Anhalt- der altdt. Hss. in der Stadtbibl. Dessau (DTM 70,1). Zerbst. Die Herrschaft lag im »Übergang Bln. 1977, S. 132 f., 135–137, 146–158. – Ders.: M. [von] der personalen Landesherrschaft zum In: VL. – Weitere Titel: W. Hosäus: Dichter u. Dichterinnen aus dem Hause der Askanier. In: Mitt.en frühmodernen Territorialstaat« (Thomas des Vereins für Anhalt. Gesch. u. Altertumskunde 5 2002, S. 88) u. war geprägt von der Erhaltung (1890), S. 114–128, hier S. 114 f. – Joseph Klapper: der territorialen Integrität. 1508 gab M. die Mitteldt. Texte aus Breslauer Hss. In: ZfdPh 47 Herrschaft zugunsten der Dessauer Linie auf (1916/18), S. 83–98. – Dietrich Schmidtke: Zwei u. begab sich im Anschluss auf Wallfahrt nach Lieder aus einer Brünner Hs. Mit Hinweisen zur Rom. Bis zur Übernahme der Magdeburger frühen dt. Fastnachtsliedtradition. In: Jb. für Volksliedforsch. 26 (1981), S. 106–128, bes. Dompropstei 1515 lebte M. in Leipzig. Seit wann er dichterisch tätig war, lässt sich S. 120–123, Nr. 7–9. – Ders.: Zu einem weltl. Lied des Fürsten M. v. A. (1455–1524). In: Editionsber.e nicht genau bestimmen; als ältester Beleg gilt zur mittelalterl. dt. Lit. Hg. Anton Schwob. Göpp. ein Ablass des Brandenburger Bischofs von 1994, S. 149–156. – Michael Thomas: M. v. A., 1486, der für Lesung oder Anhörung eines Fürst u. Magdeburger Dompropst (1455–1524). In: Marienliedes gewährt wurde; dies spricht für Mitteldt. Lebensbilder. Menschen im späten MA. einige Bekanntheit M.’ als Dichter. Die Im Auftrag der Histor. Kommission für Sachsenmeisten der (erhaltenen) Gedichte dürften Anhalt hg. v. Werner Freitag. Köln/Weimar/Wien zwischen 1504 u. 1509 entstanden sein 2002, S. 89–111. Ralf G. Päsler (Schmidtke 1994, S. 150). Die geistl. Gedichte sind von Ernst u. Religiosität getragen; ihnen Mahler, Johannes, * Ende 16. Jh. Cham/Kt. wird Originalität, Gedankenreichtum, leben- Zug, † 30.5.1634 Bremgarten/Kt. Aargau. diger Rhythmus nachgesagt. Doch ist die – Katholischer Geistlicher, Dramatiker. Editionslage unzureichend, um insbes. zu Formfragen gesicherte Aussagen zu machen. M.s Bildungsgang ist unbekannt. 1620 war er Schmidtke weist hinsichtlich der von M. be- Kaplan auf der Schwarzmurerpfründe, in den 1620er Jahren Pfarrer u. Lehrer in Zug. nutzten Strophentypen auf eine von Klapper Mehrfach verwarnt, wurde er 1629 abgesetzt, veröffentlichte Strophenlehre. Die weltl. Geweil er in Predigten den Rat der Stadt angedichte, darunter u. a. Fastnachslieder, können griffen hatte. Auf Vermittlung eines Zuger nicht im strengen Sinn als GelegenheitsgePatriziers erhielt er unter der Bedingung dichte gelten, da sie nicht den humanistisch völliger Zurückhaltung eine Pfarre in Bremoder barocken »normierten Gelegenheiten garten. gelten, sondern Vorkommnisse[n] aus dem Drei Dramen sind von M. erhalten: Bruder privaten (Feier-) Leben des Autors« Klaus behandelt das Leben eines einfachen (Schmidtke 1994, S. 151). Wenn auch die Schweizer Bauern im 15. Jh., der durch relimeisten dieser Texte Traditonen des Spottgiöse Lebensführung u. Bemühungen um oder Schmähliedes aufgreifen, so scheinen sie den Frieden zum Schweizer Nationalheiligen doch weniger verspotten als vielmehr beluswird. Das Werk ist in zwei späten Abschriften tigend unterhalten zu wollen. Insg. jedoch ist überliefert (1674: Aargau. Kantonsbibl., Sidie Forschungslage unzureichend. gnatur: Zurlaubiana 549; 1704: Stiftsbibl. Ausgaben: W. Hosäus (Hg.): Geistl. Gedichte aus Einsiedeln). Das Stück über Sanct Stanislaus, dem ersten Jahrzehnt des 16. Jh. In: Mitt.en des einen poln. Thomas Becket aus dem 11. Jh., Vereins für Anhalt. Gesch. u. Altertumskunde 4 wurde 1620 in Zug aufgeführt (späte Abschr.: (1886), S. 377–397. – W. Hosäus: Nachtr. zu den Stiftsbibl. Einsiedeln). Heiliger Oswald entdem Fürsten M. v. A. zugeschriebenen geistl. Gestand, wahrscheinlich um den Zuger Rat dichten aus dem ersten Jahrzehnt des sechzehnten Jh. Ebd., S. 460–469. – Ders.: Die tawren hendele umzustimmen, kurz bevor M. die Stadt veretzlicher cristl. vorfursten vnd furstynnen. Aus dem ließ. Der Text, für die Aufführung an zwei Lateinischen v. Fürst M. zu A. In: Mitt.en des Ver- Tagen bestimmt, behandelt am ersten Tag eins für Anhalt. Gesch. u. Altertumskunde 6 (1893), Oswalds Bekehrung zum Christentum u. sein musterhaftes Leben, am zweiten Tag seinen S. 1–52.

Mahler-Werfel

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Tod, das Wunderwirken seiner Reliquien u. sein Wirken als Schutzpatron von Zug (Hs.: Stadtarchiv Zug). Ausgaben: Spiel v. St. Oswald. Hg. W. F. Michael u. a. Bern 1990. – Bruder Klausen-Spiel (um 1624). Hist.-krit. Ed. v. Christiane Oppikofer-Dedie. Aarau 1993. – Spiel v. St. Stanislaus. Hg. Hellmut Thomke u. a. Bern u. a. 2003. Literatur: Willi Burgherr: J. M., ein schweizer. Dramatiker der Gegenreformation. Bern 1925. Nachdr. Nendeln 1970. – Hellmut Thomke: Ed. schweizerischer Dramen des 16. u. 17. Jh. (Hans v. Rüte, J. M., Johann Caspar Weissenbach). In: Editionsdesiderate zur Frühen Neuzeit [...]. Hg. HansGert Roloff. Bd. 1, Amsterd. u. a. 1997, S. 67–71. – Rosemarie Zeller: J. M. In: HLS. Wolfgang F. Michael † / Red.

Mahler-Werfel, Alma (Maria), * 31.8.1879 Wien, † 11.12.1964 New York; Grabstätte: Wien, Friedhof Grinzing. Die Tochter des Landschaftsmalers Emil Schindler wuchs in einer von großbürgerl. Lebensstil u. vielfältigen künstlerischen Interessen geprägten Atmosphäre auf. Nach eigenen kompositor. Versuchen unter dem Einfluss ihres Lehrers Alexander von Zemlinsky heiratete sie 1902 Gustav Mahler, dessen künstlerisches Erbe zu wahren sie sich auf eigenwillige u. problemat. Weise seit seinem Tod 1911 zur Lebensaufgabe machte. Nach dem Ende ihrer Beziehung zu Oskar Kokoschka, der sie 1914 als Windsbraut malte, heiratete sie 1915 Walter Gropius; ihrer gemeinsamen Tochter Manon widmete Alban Berg sein Violinkonzert Dem Andenken eines Engels. 1929 heiratete sie Franz Werfel, der durch M.s Wendung zum kath. Glauben weltanschaulich beeinflusst wurde. Sie folgte 1938 ihrem gefährdeten Mann in die Emigration nach Frankreich, 1940 unter abenteuerl. Umständen in die USA. Dort blieb sie über Werfels Tod hinaus als amerikan. Staatsbürgerin bis ins hohe Alter Mittelpunkt geselliger Zirkel. Ihre Erinnerungen Mein Leben (Ffm. 1960. Ffm. 1997) sind eine von mehreren Herausgebern bearbeitete Kompilation aus Tagebüchern, Briefen, Gedichten u. nachträgl. Aufzeichnungen. Sie vermitteln das Bild einer genial veranlagten Muse, die ihr eigenes

künstlerisches Potential dem Schaffen Mahlers u. Werfels zuliebe geopfert habe. Als kulturhistor. Dokument zur Musikgeschichte des 20. Jh. u. zur Emigrationszeit sind die Memoiren von großem Interesse, ihr Quellenwert wird freilich von M.s krass subjektiven Urteilen u. ihren – von den Herausgebern teilweise unterdrückten – polit. u. rassist. Ressentiments beeinträchtigt. Weitere Werke: Gustav M. Erinnerungen u. Briefe. Amsterd. 21949. Erinnerungen. Ffm. 1991. – Friedrich Torberg: Liebste Freundin u. A. Briefw. mit A. M. nebst einigen Briefen an Franz Werfel, erg. durch zwei Aufs. F. T.s im Anhang. Mchn. u. a. 1987. 1990. – Tgb.-Suiten. 1898–1902. Hg. Antony Beaumont u. Susanne Rode-Breymann. Ffm. 1997. 2002. – Martina Steiger: ›Immer wieder werden mich thätige Geister verlocken‹. A. M.s Briefe an Alban Berg u. seine Frau. Wien 2008. Literatur: Karen Monson: A. M. Muse to Genius. From Fin-de-Siècle Vienna to Hollywood’s Heyday. Boston 1983. U. d. T. A. M.: Die unbezähmbare Muse ins Deutsche übers. v. Renate Zeschitz. Mchn. 1985. 2002. – Berndt W. Wessling: A. Gefährtin v. Gustav M., Oskar Kokoschka, Walter Gropius, Franz Werfel. Düss. 1983. Mchn. 2001. – Françoise Giroud: A. M. oder die Kunst, geliebt zu werden. Aus dem Frz. v. Ursel Schäfer. Wien 1988. Mchn. 1997. 2000. – Susanne Keegan: The Bride of the Wind. The Life and Times of A. M. London 1991. – Peter Stephan Jungk: A. Maria M.: Einfluss u. Wirkung. In: Franz Werfel im Exil. Hg. Wolfgang Nehring u. Hans Wagener. Bonn 1992, S. 21–32. – Hilde Berger: Ob es Haß ist, solche Liebe? Oskar Kokoschka u. A. M. Wien u. a. 1999. 2008. – Astrid Seele: A. M. Reinb. 2001. 32005. – Oliver Hilmes: Witwe im Wahn. Das Leben der A. M. Mchn. 2004. 2005. – Max Phillips: Ich nehme jeden, der mir gefällt. Das leidenschaftl. Leben der A. M. Ins Dt. übertragen v. Xenia Osthelder. Bergisch Gladbach 2005. – Michael Wladika: ›Ersuche ich daher, ... in keiner Weise Frau A. M. entgegenzukommen‹. A. M. im Rechtsstreit mit der Republik Österr. In: Enteignete Kunst. Hg. Verena Pawlowsky u. Harald Wendelin. Wien 2006, S. 79–103. – Sandra Marchl: A. M. in der Biographik. Die Dekonstruktion einer Legende. Graz 2009. – Melissa Müller: A. M. (1879–1964), Wien. In: Verlorene Bilder – verlorene Leben. Hg. dies. u. Monika Tatzkow. Mchn. 2009, S. 184–195. Volker Schindler / Red.

Mahlmann

Mahlmann, Siegfried August, auch: Bittermann, Julius Heiter, * 13.5.1771 Leipzig, † 16.12.1826 Leipzig. – Dramatiker, Erzähler, Lyriker, Publizist, Verleger.

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sawerk sind M.s Gedichte (Halle 1825. 51863), deren metr. Gewandtheit u. melod. Fluss immerhin Komponisten wie Hummel u. Reichardt reizten; manche Lieder (Weg mit Grillen und Sorgen, Mein Lebenslauf ist Lieb’ und Lust) haben sich bis heute erhalten.

Nach dem Tod beider Eltern – der Vater († 1780) war wohlhabender Kaufmann, die Weitere Werke: Der Hausbau. Lustsp. in KnitMutter († 1782) eine Pfarrerstochter – erhielt telversen. [Lpz.] 1801. 21806. – Albano der LauM. Privatunterricht in Borna; 1785 bezog er tenspieler. 2 Bde., Lpz. 1802 (R.). – Erzählungen u. die Fürstenschule in Grimma u. 1789 die Märchen. 2 Bde., Lpz. 1802. 21812. – Narrheit u. Universität in Leipzig. Der »elenden Wissen- Vernunft. Jedem das Seine. Ein moral. Bilderbuch schaft« der Rechte enthob ihn 1792 die durch für alte Kinder. Bln. 1802. 21819. – Die Lazaroni. 2 Christian Felix Weiße vermittelte Übernah- Bde., Lpz. 1803 (R.). – Nathan der Weise. Bln./Wien me einer Hofmeisterstelle in Riga; mit sei- 1804. – Marionettentheater [...]. Lpz. 1806. – Der 2 nem Zögling unternahm er Reisen durch Geburtstag. Lpz. 1810. 1815 (Lustsp.). – Liederbuch für die Minerva zu den 3 Palmen [...]. Lpz. Skandinavien, Russland u. Deutschland (wo 1822. – Sämmtl. Schr.en. Nebst Biogr. 8 Bde., Lpz. M. auch dessen Studium begleitete), ohne ihn 1839/40. 21859 in 3 Bdn. – Nachlass: Dresden, Lankehrte er 1798 zurück. M. versuchte sich als desbibl. Geschäftsmann; anfängl. Fehlschläge (so mit Literatur: Schnorr v. Carolsfeld: M. In: ADB. – dem Kauf der Juniusschen Buchhandlung Heinrich Fratz: Studien u. Materialien zu S. A. M.s 1802) wurden aufgefangen von erfolgreiche- Lyrik. Diss. Greifsw. 1913. – Ernst Bernhard Richren Projekten: 1805 der redaktionellen ter: S. A. M. Diss. Lpz. 1934. – Reinhart Meyer: M. Übernahme der »Zeitung für die elegante In: NDB. – Volker Helm: S. A. M. Mein Lebenslauf Welt« von seinem Schwager Karl Spazier, die ist Lieb u. Lust. In: Freimaurer in Leipzig. Hg. Otto er 1810–1816 gemeinsam mit Methusalem Werner Förster. Lpz. 1999, S. 45–54. Arno Matschiner / Red. Müller leitete, u. v. a. der Administratur 1810–1817 der »Leipziger Zeitung«, die er mit großem Geschick durch die Wechselfälle polit. Großwetterlagen zu lavieren wusste – Mai und Beaflor. – Anonymer mitteleiner frz. Einkerkerung 1813 in Erfurt un- hochdeutscher Minneroman (9638 Verse), angesehen. Mitgl. der Deutschen wie der etwa 1270–1280. Naturforschenden Gesellschaft, auch als Der Dichter schrieb im bairisch-österr. Freimaurer aktiv u. seit 1813 Meister vom Sprachraum, vielleicht in Kärnten oder der Stuhl der Loge »Minerva zu den drei Pal- Steiermark. Im weiten Rahmen des seit dem men«, bewirtschaftete M. seit 1814 ein vom spätantiken Roman geläufigen Schemas EntJournalertrag finanziertes Rittergut u. wurde stehung der Liebe – Trennung – Wiederver1821 Vorsitzender der Leipziger Oekonomi- einigung erzählt er den vielfältig verbreiteten schen Societät. Stoff der demütigen, unschuldig verfolgten Im Wesentlichen war sein literar. Werk Frau in einer Geschichte, die vom Ende des abgeschlossen, bevor das redaktionelle Ta- 12. Jh. an in Europa in zwei Typen populär zu gesgeschäft ihn an die Zeitung band. Erste werden begann. Arbeiten erschienen 1796 in Wilhelm GottDer König des röm. Reichs u. seine Frau lieb Beckers »Taschenbuch zum geselligen haben eine Tochter, Bêaflôr, die am Hof in Vergnügen«. Durchschlagenden Erfolg hatte Rom zu einem in seiner Schönheit u. seinen M., der zu Tieck nähere Bekanntschaft un- Eigenschaften vollkommenen Mädchen herterhielt, mit seiner Lustspielsatire Herodes vor anwächst. Ihre tiefe Frömmigkeit lässt sie Bethlehem oder der triumphirende Viertelsmeister. allen vom Teufel initiierten Versuchen des Ein Schau-, Trauer- und Thränenspiel (Köln, recte Vaters, sie nach dem Tod der Mutter zu verLpz. 1803), die Kotzebues Rührstück Hussiten führen, listigen Widerstand entgegensetzen, vor Naumburg (1803) genüsslich parodierte. In bis es ihr mit der Hilfe ihrer Pflegeeltern geForm u. Aussage konventionell wie sein Pro- lingt, auf das Meer zu entfliehen. Bêaflôrs

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Schiff wird nach Griechenland in das Fürstentum des Grafen Mai geführt. Hier lernt sie, was richtige »minne« ist, u. wird mit der Zustimmung des Fürstenrats Maies Frau. Während dieser seinen Onkel, den König von Kastilien, im Kampf gegen die Heiden unterstützen muss u. sich großen Ruhm erwirbt, gebiert Bêaflôr einen Sohn. Die darob an Mai gesandten Briefe tauscht die ihr feindlich gesonnene Schwiegermutter heimlich gegen verleumderische aus; ebenso verfährt sie mit Maies Antwort. Der untergeschobene Mordbefehl gegen Mutter u. Kind wird jedoch nicht ausgeführt, u. beide fliehen in Bêaflôrs Schiff. Als Mai die Wahrheit entdeckt, tötet er seine Mutter u. lebt von da an nur noch der Buße dreier Morde. Bêaflôr ist in Rom gelandet, wohin schließlich auch Mai gelangt, um sein unmäßig geführtes Büßerleben zu beenden; dort wird die Familie wieder vereint. Bêaflôrs Vater gesteht seine Schuld u. überträgt dem Schwiegersohn sein Reich. Der Autor kommentiert seine Dichtung im Gestus der Zeitklage; die in seiner Gegenwart vernachlässigten Werte »êre«, »zuht« u. »saelikheit« legt er v. a. dem Hof Maies bei, dessen Idealität sich für das Publikum mit zeitgenöss. Realität verbinden konnte: Maies Fürstentum trägt Züge des fränk. Prinzipats von Achaia auf der Peloponnes; der Hof von Andravida war als ein Zentrum vorbildl. Rittertums das Reiseziel junger frz. Adeliger im 13. Jh. Anders als im Artus- oder Gralsroman steht in M. u. B. eine Frau im Mittelpunkt der Handlung. Die ihr von Beginn an unveränderlich eigenen christl. Tugenden, ihre Demut u. die Bereitschaft, Schuld auch unverdient auf sich zu nehmen, verleihen ihr ein heiligmäßiges Ansehen; ihrer Geschichte wird die Struktur einer Legende unterlegt. Erzählelemente, Motive u. Darstellungsformen unterschiedlicher, beim Publikum beliebter Texttypen verbinden sich damit: Wie im höf. Roman, allerdings ohne normsetzende Instanz, wird die Liebe der Protagonisten einer Bewährungsprobe unterzogen, wird Ritterschaft ausgeübt, die – wie in Kreuzzugsepen – ihre höchste Erfüllung im Heidenkampf findet. Ins Spiel gebracht ist

Mai und Beaflor

daneben der angebliche mündl. Bericht eines ritterl. Auftraggebers nach einer Geschichte in einer Prosachronik – einer unbekannten frz. möglicherweise, die jedoch fingiert sein kann. Der Bezugsrahmen des Dichters ist die mhd. epische Literatur, in erster Linie Wolframs Willehalm, aber auch Hartmanns Iwein, die er in Darstellungsformen u. Stil bis zur Wörtlichkeit nachahmt. Seine literar. Verfahren ähneln denen des Pleier, dem sein Werk fälschlich zugeschrieben worden ist. M. u. B. beeinflusste das Grazer Marienleben u. war Gundacker von Judenburg gut bekannt. In der Königstochter von Frankreich erzählt Hans von Bühel denselben Stoff mit einer Fortsetzung, die im Hundertjährigen Krieg zwischen England u. Frankreich angesiedelt ist. Jakob Püterich von Reichertshausen erwähnt M. u. B. 1462 in seinem Ehrenbrief als eine anonyme Dichtung über den Grafen Mai. Ausgaben: M. u. B. [Hg. A. J. Vollmer.] Lpz. 1848. Neudr. 1974. – M. u. B. Hg., übers., komm. u. mit einer Einl. v. Albrecht Classen. Ffm. u. a. 2006. – Christian Kiening u. Katharina Mertens Fleury (Hg.): M. u. B. Minneroman des 13. Jh. Zürich 2008 (Online-Ed.). Literatur: Werner Fechter: ›M. u. B.‹. In: VL (mit der älteren Lit.). – Danielle Buschinger: Skizzen zu M. u. B. In: Die mittelalterl. Lit. in der Steiermark. Hg. Alfred Ebenbauer u. a. Bern 1988, S. 31–48. – A. Ebenbauer: Beaflor – Blanscheflur. Zu zwei literar. Frauen-Gestalten des 13. Jh. In: Slg. – Deutung – Wertung. Hg. D. Buschinger. Amiens 1988, S. 73–90. – Karin Cieslik: Auftraggeber u. Dichterpersönlichkeit in der spätmittelalterl. dt. Epik. Untersuchungen zu M. u. B. u. Hans v. Bühels ›Die Königstochter von Frankreich‹. In: Figures de l’écrivain au Moyen Âge. Hg. D. Buschinger. Göpp. 1991, S. 73–84. – Fritz Peter Knapp: La principauté française d’Achaïe dans le conte moyenhaut-allemand M. u. B. In: Histoire et littérature au Moyen Age. Hg. D. Buschinger. Göpp. 1991, S. 215–224. – Ingrid Kasten: Ehekonsens u. Liebesheirat in M. u. B. In: OGS 22 (1993), S. 1–20. – Volker Mertens: Herrschaft, Buße, Liebe. Modelle adliger Identitätsstiftung in M. u. B. In: German Narrative Literature of the Twelfth and Thirteenth Centuries. Hg. Volker Honemann u. a. Tüb. 1994, S. 391–410. – Werner Röcke: Isolation u. Vertrauen. Formen der Kommunikation u. des Weltbildwandels im ›Creszentia‹- u. M. u. B.-Roman. In:

Maic(k)ler Weltbildwandel. Selbstdeutung u. Fremderfahrung im Epochenübergang vom SpätMA zur Frühen Neuzeit. Hg. ders. u. Hans-Jürgen Bachorski. Trier 1995, S. 243–267. – Ingrid Bennewitz: Mädchen ohne Hände. Der Vater-Tochter-Inzest in der mhd. u. frühnhd. Erzähllit. In: Spannungen u. Konflikte menschl. Zusammenlebens in der dt. Lit. des MA. Hg. Kurt Gärtner u. a. Tüb. 1996, S. 157–172. – Albrecht Classen: Kontinuität u. Aufbruch. Innovative narrative Tendenzen in der spätmittelalterl. deutschsprachigen Lit. Der Fall M. u. B. In: WW 48 (1998), S. 324–344. – Christian Kiening: Genealogie-Mirakel. Erzählungen vom ›Mädchen ohne Hände‹. In: Geistliches in weltl. u. Weltliches in geistl. Lit. des MA. Hg. Christoph Huber. Tüb. 2000, S. 237–272. – Jutta Eming: Inzestneigung u. Inzestvollzug im mittelalterl. Liebes- u. Abenteuerroman (M. u. B. u. ›Apollonius von Tyrus‹). In: Histor. Inzestdiskurse. Interdisziplinäre Zugänge. Hg. dies. u. a. Königst./Ts. 2003, S. 21–45. – V. Honemann: M. u. B. – On Meaning and Importance. In: ›Vir ingenio mirandus‹. Tl. 1, hg. v. William J. Jones u. a. Göpp. 2003, S. 155–171. – Wolfgang Walliczek u. Armin Schulz: Heulende Helden. ›Sentimentalität‹ im späthöf. Roman am Beispiel v. M. u. B. In: Abweichende Lebensläufe, poet. Ordnungen. Bd. 1, hg. v. Thomas Betz u. Franziska Mayer. Mchn. 2005, S. 17–48. – A. Classen: ›Roman sentimental‹ in the Middle Ages? M. u. B. as Literary Reflection of the Medieval History of Emotions. In: OGS 35 (2006), S. 83–100. – Ders.: Rituale des Trauerns als Sinnstiftung u. eth. Transformation des eigenen Daseins im agonalen Raum der höf. u. postheroischen Welt. Zwei Fallstudien: M. u. B. u. ›Diu Klage‹. In: LiLi 36/144 (2006), S. 30–55. Sabine Schmolinsky / Red.

Maic(k)ler, Georg Konrad, * 30.10.1574 Endersbach, † 27.5.1647 Bad Cannstatt. – Protestantischer Pfarrer u. neulateinischer Dichter. Der Sohn des evang. Pfarrers von Endersbach besuchte ab 1589 die Lateinschule in Schorndorf u. anschließend die Klosterschulen in Königsbronn u. Bebenhausen, wo Ulrich Bollinger zu seinen Lehrern gehörte. Noch als Klosterschüler schrieb er mit der Historia sacra Susannae seine erste epische Dichtung in lat. Sprache u. erwarb sich die Anerkennung seiner Zeitgenossen. Während die Historia stofflich auf das apokryphe 13. Kap. des Buches Daniel zurückgeht, ist sie formal-intentional als jurid. Exemplum mit

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moralisch-didakt. Ausrichtung konzipiert. In Anlehnung an Luthers Auslegung deutet M. Daniels Rechtsauffassung als Verwirklichung »guter Policey«, wie sie sich im 16. Jh. als Staatslehre aus dem Fürstenspiegel auszudifferenzieren begann. Am Beispiel des Propheten u. seiner Revision des Prozesses gegen Susanna, den zwei lüsterne, von ihr abgewiesene Greise angestrengt u. aufgrund von Falschaussagen für sich entschieden hatten, thematisiert M. die Frage der Rechtsstaatlichkeit. Sein Bemühen, Frischlin den Rang als führender Dichter Württembergs streitig zu machen, manifestiert sich in der sowohl sprachlich u. stilistisch als auch in der Gattungstransformation fassbar werdenden Abgrenzung von dessen Susanna-Drama. Nach dem Theologiestudium am Tübinger Stift, das er 1598 mit dem Magistergrad abschloss, u. dem Vikariat in Schorndorf trat M. 1610 die Pfarrstelle in Fellbach an, die er bis zu seinem Tod 1647 versah. In Tübingen verfasste er seinen Liber de nativitate Christi et ecloga de nomine Jesu, für den er 1603 von Georg Gödelmann, Pfalzgraf u. sächs. Rat in Diensten Kaiser Rudolphs II., zum »poeta laureatus« gekrönt wurde. In Fellbach entstand mit dem Myrrhae-Poterium, das in fünf Büchern Leiden, Tod u. Auferstehung Jesu Christi behandelt, M.s bedeutendste Dichtung. Zus. mit anderen geistl. Dichtungen erschien sie 1635 in der Sammelausgabe der Poemata sacra (Tüb.). Pestepidemien führten in den Jahren 1626/27 u. 1635 zum Verlust zahlreicher Familienangehöriger. Plünderungen u. Verheerungen durch marodierende Soldaten zwangen M. im Okt. 1634 nach der Schlacht bei Nördlingen zur Flucht in die sichere Reichsstadt Esslingen, von wo er in der Adventszeit wieder nach Fellbach zurückkehrte. Die erlebten Schrecken verarbeitete er in einer Elegie über die Klagelieder des Propheten Jeremia. 1636 ging er mit der Schwester des Astronomen Johannes Kepler seine vierte Ehe ein. M. starb 1647 an einem Schlaganfall in Cannstatt, wohin er sich geflüchtet hatte, um dem Abzug der aufbrechenden Kriegsarmeen zu entgehen. Weitere Werke: Epulum illustre. Tüb. 1600. – Epulum illustre secundum. Tüb. 1603. – Panegyricus de vita et obitu Lucae Osiandri. Tüb. 1606. –

619 Arcus Jonathae, so ein Panegyricus auf den Tod des Hertzogs v. Würtemberg ist. Stgt. 1623. – Threni Davidici qui sunt Psalmi poenitentiales carmine elegiaco exhibiti. Tüb. 1628. – Liber Psalmorum et precationum. 1632. – Cithara D. Jesu Christi septichorda. Stgt. 1643. – Threni Jeremiae una cum psalmis tribus elegiaco carmine conversi. Tüb. 1646. Literatur: Bibliografie: VD 17. – Weitere Titel: Flood, Poets Laureate, Bd. 3, S. 1224–1226. – Ralf Georg Czapla: Das Bibelepos in der Frühen Neuzeit. Zur dt. Gesch. einer europ. Gattung. Tüb. 2010. Ralf Georg Czapla

Maier, Andreas, * 1.9.1967 Bad Nauheim. – Romanautor, Literaturwissenschaftler.

Maier

vorlesungen 2006), wurde M. mit Dostojewskij, Bernhard, Jelinek u. Stadler verglichen. Als Theoretiker äußerte er sich zunächst mit seiner polemischen u. kontrovers diskutierten Dissertation zu Thomas Bernhard (Die Verführung. Gött. 2004); seine Frankfurter Poetikvorlesungen, ein Rundumschlag gegen Literaturbetrieb u. Öffentlichkeit, erschienen kurz darauf u. d. T. Ich (Ffm. 2006). Zus. mit der Literaturwissenschaftlerin Christine Büchner veröffentlichte M. außerdem Bullau. Versuch über Natur (Ffm. 2006), ein »Manifest des Widerstands gegen die Zumutungen der Zivilisation« (Eberhard Rathgeb, FAZ vom 8.5.2005). Literatur: Marius Meller: A. M. In: LGL. – Jan Süselbeck: Das Missverständnis. Zu A. M.s Rezeption der Prosa Thomas Bernhards. In: ThomasBernhard-Jb. 2006, S. 191–201. – Uwe Wirth: Herr Maier wird Schriftsteller (u. Schreiber). Oder: Die ›Literaturwissenschaft‹ der Lit. In: ZfG 17 (2007), H. 1, S. 128–138. Kathrin Klohs

Die literar. Erfolge des promovierten Philologen M. setzten ein mit dem Klagenfurter Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 2000. Noch im selben Jahr erschien das euphorisch aufgenommene Debüt Wäldchestag (Ffm.), eine gänzlich im Konjunktiv gehaltene Wetterauer Provinzposse um den Tod eines SonderMaier, Martin, auch: Martin von Reutlinlings mit Reminiszenzen an Thomas Berngen. – Reimspruch- u. Liederdichter, Anhard. Erneut im dörfl. Milieu angesiedelt, fang 16. Jh. jedoch in schärfer satirischem Unterton gehalten ist der Südtiroler Heimat-, Künstler- u. Über die Biografie M.s gibt allein sein Werk Kriminalroman Klausen (Ffm. 2002. Hörbuch Auskunft. Danach stammte M. aus ReutlinMchn. 2002). Kirillow (Ffm. 2005. 2006) hin- gen, lebte zeitweise als Bürger in Esslingen u. gegen schilderte vor dem Hintergrund von dichtete mindestens zwischen 1507 u. 1511, Dostojewskijs Dämonen das theoretisierende vielleicht bis 1520. Das Gattungsprofil des studentische Milieu der Großstadt Frankfurt, Werks – zum einen Lieder, zum anderen bevor sich Sanssouci (Ffm. 2009) erneut der – Reimspruchgedichte – u. einige Textstellen, nun ostdeutschen – Provinz, den Geheim- in der M. um Entlohnung bittet, erlauben die nissen u. Intrigen rund um den Potsdamer Vermutung, er sei (zeitweise?) fahrender Schlossplatz, zuwandte. Spruchsprecher gewesen, der sich seinen LeMittelpunkt des Romanschaffens sind Ge- bensunterhalt oder ein Zubrot mit seiner lisprächs- u. Gedankenprotokolle, Diskussio- terar. Produktion verdient hat. nen u. Kontroversen, Missverständnisse u. Die Spruchgedichte behandeln – mit AusGerüchte. Inhaltlich kreist M. um Sprachkri- nahme des misogynen Spruchs vom ehelichen tik u. Gesellschaftssatire, Sinn- u. Orientie- Stand, der den »biderman« in den erforderl. rungssuche, gegenseitige Beobachtung u. Umgang mit seiner Ehefrau unterweist u. Angst vor dem Fremden – u. um Orte, die zgl. diese vor Geschwätzigkeit warnt – durchweg Stationen der eigenen Biografie bilden. For- zeitgeschichtl. Themen. Der Spruch vom Krieg mal bedient er sich bevorzugt des ironisch- in Italien (1511, 156 Verse) macht sich Maxidistanzierten Spiels mit Konjunktiv u. indi- milians I. in einem kaiserl. Mandat proparekter Rede. Mehrfach ausgezeichnet sowie gierte Aufforderung der Reichsstände zu fimit Poetikdozenturen u. Stipendien geehrt nanzieller Unterstützung zu eigen. Der (u. a. aspekte-Literaturpreis 2000, Aufenthalt Spruch über die Ermordung des Grafen Andreas von in der Villa Massimo u. Frankfurter Poetik- Sonnenberg (1511, 250 Verse) beklagt einerseits

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Die Sprüche sind jeweils in (stets nur wezwar den Toten, exkulpiert andererseits aber auch die Familie des Mörders, Graf Felix von nigen) Drucken u./oder Druckabschriften Werdenberg, u. lobt Herzog Ulrich von verbreitet. Eine literar. Nachwirkung ist nur Württemberg für sein Eingreifen in den für den Spruch von einem Kaufmann und einem Streit. Ein allgemeiner Aufruhr gegen wirt- Henker belegt: Johann Pauli gab das unerschaftl. Missstände liefert, ebenfalls 1511, hörte Geschehen nach M.s Vorlage noch einden Anlass, die Preistreiberei der Händler u. mal in Schimpf und Ernst (Kap. 258) zum Besderen Folgen zu beklagen u. den Rat der Stadt ten. Der Ritter aus der Steiermark ist in über 20 Esslingen zum Einschreiten aufzufordern Drucken bis weit ins 17. Jh. verbreitet u. auch (Spruch von der Teuerung, 146 Verse). Nur mit ins Dänische u. Jiddische übersetzt worden. dem Spruch von einem Kaufmann u. einem Als eines der bekanntesten Lieder des 16. Jh. Henker (undatiert, 344 Verse) greift M. mit wurde es öfter als Tonangabe benutzt. Die dem Bericht von einem Justizirrtum in Li- beiden anderen Meisterlieder blieben ohne nenburg an der See (Lüneburg?) über seine Nachwirkung, wenngleich eines von ihnen Region deutlich hinaus: Ein Henker ermor- immerhin den Weg in eine Liedersammlung det aus Habgier die Familie eines auf Reisen von Hans Sachs fand. Das geistl. Tagelied befindl. Kaufmanns u. verleumdet den Zu- wurde mit einem Abstand von einigen Jahren rückgekehrten als Täter; erst nach dessen zweimal im Einblattdruck aufgelegt. Hinrichtung entlarvt sich der Täter durch Ausgaben: Manches ist unediert, eine krit. Ausg. unvorsichtiges Ausstellen der Beute u. wird fehlt. Mehr als nur einen Text M.s bieten: Die selbst grausam bestraft. Die Zuweisung eines histor. Volkslieder der Deutschen vom 13. bis zum Spruchgedichts mit Herzog Ulrichs Sündenre- 16. Jh. Hg. Rochus v. Liliencron. Bd. 3, Lpz. 1867. gister (1520, 962 Verse), das gegen Herzog Neudr. Hildesh. 1966, S. 43–54 (Nr. 262), 56–60 Ulrich von Württemberg polemisiert, ist (Nr. 264). – Geschichtl. Lieder u. Sprüche Württembergs [...] ges. u. hg. v. Karl Steiff u. Gebhard nicht letztlich zu sichern. Mehring. Stgt. 1912, S. 92–95 (Nr. 25), 178–183 Die sangbare Dichtung umfasst vier Lieder, (Nr. 47). Weitere Nachweise bei Schanze (s. u.) u. im von denen M. für drei bereits bekannte RSM (s. u.). Meisterlied-Töne (Herzog-Ernst-Ton, MarLiteratur: Liliencron 1867/1966 (s. o.), ner: Langer Ton, Muskatblut: Hofton) ver- S. 41–43, 55 f. – Karl Bartsch: Mayer, M. In: ADB. – wendet u. eines eine geistl. Kontrafaktur ei- Erich Hofmann: Der Meistersinger M. M. Phil. nes bekannten weltl. Tagelieds ist. Die Praxis Diss. Greifsw. 1930. – Frieder Schanze: M., M. des Meistergesangs könnte M. in Esslingen (Martin v. Reutlingen). In: VL (auch: Nachträge u. kennengelernt haben, wo wohl eine Meister- Korrekturen). – M., M. In: RSM, Bd. 4 (1988). singer-Gesellschaft bestand. Das 35-strophige Michael Baldzuhn Erzähllied im Herzog-Ernst-Ton berichtet vom Ritter Trimunitas (auch u. d. T. Der Ritter Maier, Meier, Majerus, Mayer, Michael, aus der Steiermark), der die Behauptung, die Anagramm: Hermes Malavici, * 1568 Königin Frankreichs sei schöner als seine (1569?) Kiel (Rendsburg?), † 1622 MagFrau, selbst überprüfen will, sich in Frankdeburg. – Arztalchemiker, neulateinireich jedoch auf Liebeshändel mit der Könischer Dichter, Sachschriftsteller, Übersetgin einlässt, ertappt u. gefangengesetzt wird; zer. seine Frau eilt zu Hilfe u. ermöglich ihm die Flucht, indem sie bei einem Besuch in die Der Sohn des Seidenstickers Peter Maier Kleider ihres Mannes schlüpft u. in der Ver- wuchs vermutlich in Kiel auf, erlangte nach handlung als offenkundig unschuldig frei- Studien an der Universität Rostock (1587) in gesprochen wird. Das Märe vom Ritter Alex- Frankfurt/O. die Magister artium-Würde ander war entweder selbst Quelle oder verar- (1592) u. studierte dann in Padua (1595). Er beitet eine verlorene gemeinsame Quelle. Das wurde zum Poeta laureatus gekrönt u. an der Lied im Marner-Ton preist die Trinität; in Universität Basel mit Thesen De epilepsia (BaMuskatbluts Ton hält M. insbes. Handwerker sel 1596) zum Dr. med. promoviert. Sein zu rechtem Lebenswandel an. unstetes Wanderleben führte M. von Basel

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über Rostock (1597), Königsberg u. Danzig (1601) um 1608 nach Prag. Er trat hier 1609 in den Dienst Kaiser Rudolfs II. u. erwirkte den persönl. Adel mit Exemtion u. die Hofpfalzgrafenwürde, doch ist über seine Stellung am Prager Hof nichts Näheres bekannt. Bereits 1610 bot M. dem Fürsten August von Anhalt u. 1611 von Torgau aus dem Landgrafen Moritz von Hessen-Kassel wohl erfolglos seine Dienste an. Dann lebte er in England (1611–1616); hier zählten der Alchemiker Francis Anthony u. führende Männer am Hof Jakobs I. (William Paddy, Thomas Smith, Lancelot Andrewes) zu seinen Bekannten, während die verbreitete Ansicht, M. habe hier die Freundschaft R. Fludds genossen, schwerlich zutrifft. Zurückgekehrt nach Deutschland (1616), lebte M. zunächst in Frankfurt/M. in der Nähe von Johann Theodor de Bry u. Lucas Jennis, die während der folgenden Jahre den Druck fast aller seiner Schriften besorgten, 1620 dann in Magdeburg. Landgraf Moritz ernannte ihn 1618 zum Medicus u. Chemicus »von Haus aus«, doch blieb M.s Leben weiterhin von Gönnersuche u. Ortswechseln geprägt. Dass M. im Kreis um Kurfürst Friedrich V. eine führende Rolle spielte, ist nicht zureichend bezeugt. M. verfasste Gelegenheitsdichtungen (Eidyllion de obitu [...] Caii Ranzovii. Schleswig 1591. Musa quinquertii. Basel 1596), bereicherte mit dem Traktat De volucri arborea (Ffm. 1619. Dt. Übers. v. Georg Beatus/Seliger u. d. T. Compendium miraculorum. Ffm. 1620) u. der Septimana philosophica (Ffm. 1620) die Literatur über Wunder der Natur, feierte im Geist kulturpatriotischer Humanisten Schießpulver u. Buchdruck, luth. Theologie, paracels. Medizin u. Chemie als Beiträge der »Teutschen Nation« zur Weltkultur (Verum inventum. Dt. Übers. v. Georg Beatus/Seliger. Beide Ffm. 1619) u. gab sich in dem Silentium post clamores (dt. Übers. v. R. M. F. [G. Seliger]. Beide Ffm. 1617) u. der Themis aurea (dt. Übers. v. R. M. F. [G. Seliger]. Beide Ffm. 1618. Engl. London 1656) als ein beredter Anwalt der rosenkreuzerischen Reformbewegung zu erkennen. Hinzu traten Monografien über Gold (De circulo physico, quadrato. Oppenheim 1616) u. zur Gichttherapie (Civi-

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tas corporis humani, a tyrannide arthritica vindicata. Ffm. 1621). Nachruhm sicherten M. hauptsächlich seine Schriften zur Transmutationsalchemie, darunter eine umfangreiche Geschichte der Alchemie (Symbola aureae mensae duodecim nationum. Ffm. 1617. Neudr., eingel. v. Karl R. H. Frick. Graz 1972), eine Warnung vor den Praktiken betrügerischer Alchemiker (Examen fucorum pseudo-chymicorum. Ffm. 1617), ein Werk über alchem. Eigenarten der sieben »klassischen« Metalle (Viatorium. Oppenheim 1618. Rouen 1651) u. Übersetzungen von Werken Basilius Valentinus’, Thomas Nortons u. Cremers (Tripus aureus. Ffm. 1618. Auch in: Musaeum hermeticum. Ffm. 1677/78. Nachdr. Graz 1970. Ffm./Lpz. 1749). In aller Regel lassen sie ein Ringen um neue naturkundl. Einsichten, Nachrichten auf Experiment u. eigenständiger Erfahrung beruhender Kenntnisse oder praxisnahe Unterweisungen missen. Prägend sind vielmehr literarisch gewandte Wiedergaben von Buchwissen u. schriftstellerisch ambitionierte Realisationen humanistisch-rhetor. Präsentationsideale, sodass man die dichterisch nobilitierte Streitgesprächsform (Lusus serius. Oppenheim 1616. Dt. Ffm. 1625. Engl. London 1654), die Prozessdichtung (Jocus severus. hoc est, tribunal aequum. Ffm. 1617) oder Kantilene (Cantilenae intellectuales [...] de phoenice redivivo. Rostock 1622. Frz. Paris 1758. Neudr. Paris 1984) in die Dienste alchem. Lehrgutvermittlung gestellt findet. Fast immer gibt sich ein humanist. Allegoriker zu erkennen, der anhand Natale Contis Mythologiae libri X antiken Mythen alchem. Sachwissen abgewinnt (Arcana arcanissima hoc est hieroglyphica aegyptiorumgraeca. o. O. u. J. [London 1614]. Theosophia Aegyptiorum. Lpz., UB, Ms. 0396). In der allegorist. Alchemietradition wurzelt auch die Atalanta fugiens, hoc est, emblemata nova de secretis naturae chymica (Oppenheim 1617. 1618. Neudr. mit einem Nachw. v. Lucas Heinrich Wüthrich. Kassel/Basel 1964. Engl. Übers. v. Joscelin Godwin. Einl. v. Hildemarie Streich. Grand Rapids 1989), eines der schönsten Emblematabücher des Barock. Dass es M. hier gelang, Dichtung, Bildkunst, Musik u. Wissenschaftsprosa in ein heikles Wechselverhältnis zu setzen, dt.-lat. Epi-

Maier

gramme, Bilder (wohl gestochen von Matthaeus Merian d.Ä.), Fugen »per Canonem« zu drei Stimmen u. Traktatprosa zu einem »Gesamtkunstwerk« zu vereinen, lässt die um manche Aufbauteile reduzierte Ausgabe u. d. T. Secretioris naturae secretorum scrutinium chymicum (Ffm. 1687) u. deren dt. Übersetzung (Chymisches Cabinet. Übers. v. G. A. K. Ffm. 1708) nicht mehr erkennen. Zwar wurde M. von Isaac Newton oder Daniel Georg Morhof zu den alchem. Schriftstellern von Rang gezählt, hat man manche seiner Werke neu aufgelegt oder übersetzt. Insg. gesehen aber blieben ihm fachlich oder literarisch tiefergreifende Wirkungen auf die frühneuzeitl. Alchemie verwehrt. Ansehen genießt M. in der internat. Esoterik der Moderne. Matthias Claudius (Einige andere Kleinigkeiten, 1797) stützte sich auf M.s Atalanta. M. figuriert in Walter Ummingers Briefroman Das Winterkönigreich (Stgt. 1994); sein Werk inspirierte Hugo Claus (De Vluchtende Atalanta. Antwerpen 1977) u. Kai Meyer (Die Alchimistin. Mchn. 1998). Weitere Werke: De medicina regia et verè heroica, coelidonia. o. O. u. J. [Prag 1609] (Autobiogr.). – Tractatus posthumus sive Ulysses. Ffm. 1624. – Figurengedicht (Autograph). In: Caspar Bauhin: Album amicorum (Basel, UB). – Brief an Rudolf II. In: Fasc. Maier (Wien, Staatsarchiv). – Briefe an Landgraf Moritz u. alchem. Memoranda. In: 28 Ms. chem. 19/1, 28 Ms. chem.11/1, 28 Ms. chem. 11/2, 48 Ms. chem. 39/12 (Kassel, LB). – Figurengedichte (hsl.), Weihnachten 1611, an König Jakob I. (Edinburgh, Scottish Record Office) u. Prinz Heinrich (London, British Library). Ausgaben: The Golden Tripod. In: The Hermetic Museum. Hg. Arthur Edward Waite. London 1893, 307–357. Bd. 2, S. 1–78 (›Tripus‹ in engl. Übers.). – A Subtle Allegory. Ebd., S. 199–223 (›Symbola‹-Auszug, engl.). – Atalante fugitive. Frz. Übers. v. Étienne Perrot. Paris o. J. [1969]. 1997. – Laws of the Fraternity of the Rosie Crosse. (Themis aurea). Faks. der Ausg. London 1656, hg. v. Manly P. Hall. Los Angeles o. J. [1976]. – Atalanta Fugiens. Hg. Bruno Cerchio. Con trascrizione in notazione moderna delle 50 Fughe. Rom 1984. 2002 (mit ital. Übers.). – A subtle allegory concerning the secrets of alchemy. Edmonds 1984. – Cantilenae intellectuales de phoenice redivivo. Mit einer frz. Übers. v. Jean-Baptiste Le Mascrier. Paris 1758. Neudr. erl. v. Sylvain Matton u. Jacques Rebotier. Paris 1984. –

622 Karin Figala u. Ulrich Neumann: Ein früher Brief M. M.s (1568–1622) an Heinrich Rantzau (1526–98). Einf., lat. Originaltext u. dt. Übers. In: Archives Internationales d’Histoire des Sciences 35 (1985), S. 303–329. – The book of Lambspring, and the Golden Tripod. Hg. Derek Bryce. Lampeter 1987. – Wolfgang Beck: M. M.s ›Examen Fucorum Pseudo-Chymicorum‹. Eine Schrift wider die falschen Alchemisten. Diss. rer. nat. Mchn. 1992 (lat. Text u. dt. Übers.). – Intellectual Cantilenae in Nine Triads upon the Resurrection of the Phoenix. Übers. v. Mike Dickman, Glasgow 1997. – Die ›Cantilenae intellectuales‹ (1622), hg. u. übers. v. Erik Leibenguth (2002), s. u. – Les arcanes très secrets. Einl., Übers. u. Anmerkungen v. Stéphane Feye. Grez-Doiceau 2005. – Prchající Atalanta. Z latinského originálu Atalanta Fugiens prˇelozˇili Jakub Hlavácˇek a Ivo Pursˇ . Prag 2006. – Atalanta fugiens – Die flüchtige Atalanta (Oppenheim 1618). Hg. Michael Kuper. Schalksmühle 2006. – M. M.s Chym. Cabinet. Atalanta fugiens dt. nach der Ausg. v. 1708. Hg. Thomas Hofmeier. Bln./Basel 2007. Literatur: Bibliografie: Leibenguth 2002 (s. u.), S. 475–534. – Weitere Titel: John Ferguson: Bibliotheca chemica. Bd. 2, Glasgow 1906, S. 62–67. – James Brown Craven: Count M. M. Doctor of Philosophy and of Medicine. Alchemist, Rosicrucian, Mystic 1568–1622. Life and Writings. Kirkwall 1910. Neudr. London 1968. Berwick 2003. – Arthur Edward Waite: The Brotherhood of the Rosy Cross. London 1924. Secaucus 1973, S. 310–339. – John Read: Prelude to Chemistry. Cambridge/Mass. u. London 1936. 1966, S. 221–254. – Hans Schick: Das ältere Rosenkreuzertum. Bln. 1942, S. 246–257, 322–324. – Heleen M. E. de Jong: M. M.s Atalanta Fugiens. Leiden 1969. – Frances A. Yates: The Rosicrucian Enlightenment. London/Boston 1972. – Jacques Rebotier: L’art de musique chez M. M. In: Revue de l’histoire des religions 182 (1972), S. 29–51. – Wlodzimierz Hubicki: M. M. In: DSB. – Friedhelm Kemp: Atalanta fugiens. In: Kindler. – Jacques van Lennep: Alchimie. Brüssel 1984, S. 174–195. – Christoph Meinel: Alchemie u. Musik. In: Die Alchemie in der europ. Kultur- u. Wissenschaftsgesch. Hg. ders. Wiesb. 1986, S. 201–225, hier S. 212–217. – Sylvain Matton: Égypte chez les ›philosophes chimiques‹ de M. à Pernety. In: Les études philosophiques 2/3 (1987), S. 207–226. – Ulrich Neumann: M. In: NDB. – J. Rebotier: La musique cachée de l’Atalanta fugiens. In: Chrysopoeia 1 (1987), S. 56–76. – Stanislas Klossowski de Rola: The Golden Game. London 1988, S. 59–132, 161–166. – Santiago Sebastián: Alquimia y Emblematica. La Fuga de Atalanta de M. M. Madrid 1989 (mit Text- u. Bildproben). – Karin Figala u. U. /

623 Neumann: M. M. (1569–1622). In: Z. R. W. M. v. Martels (Hg.): Alchemy Revisited. Leiden 1990. – Hans Roger Stiehle: M. Maierus Holsatus (1569–1622). Ein Beitr. zur naturphilosoph. Medizin in seinen Schr.en u. zu seinem wiss. Qualifikationsprofil. Diss. rer. nat. Mchn. 1991 (mit ›De epilepsia‹ u. a. Textproben). – U. Neumann: Michel M. (1569–1622) ›philosophe et médecin‹. In: Alchimie et philosophie à la Renaissance. Hg. JeanClaude Margolin u. Sylvain Matton. Paris 1993, S. 307–326. – Ders.: M. In: Bautz. – K. Figala u. U. Neumann: ›Author, Cui Nomen Hermes Malavici‹. New Light on the Biobibliography of M. M. (1569–1622). In: Alchemy and Chemistry in the 16th and 17th Centuries. Hg. Piyo Rattansi u. Antonio Clericuzio. Dordrecht 1994, S. 121–147. – Paul P. Raasveld: M. M.s ›Atalanta fugiens‹ (1617) u. das Kompositionsmodell in Johannes Lippius’ ›Synopsis musicae novae‹ (1612). In: From Ciconia to Sweelinck. Donum natalicium Willem Elders. Hg. Albert Clement u. Eric Jas. Amsterd. 1994, S. 355–367. – U. Neumann: M. In: Alchemie, S. 232–235. – Erik Leibenguth: Hermet. Poesie des Frühbarock. Die ›Cantilenae intellectuales‹ M. M.s. Ed. mit Übers., Komm. u. Bio-Bibliogr. Tüb. 2002. – Hereward Tilton: The Quest for the Phoenix. Spiritual Alchemy and Rosicrucianism in the Work of Count M. M. (1569–1622). Bln. 2003. – György E. Szonyi: Occult Semiotics and Iconology. M. M.’s Alchemical Emblems. In: Mundus emblematicus. Studies in Neo-Latin Emblem Books. Hg. Karl A. E. Enekel u. Arnoud S. Q. Visser. Turnhout 2003, S. 301–323. – Jaumann Hdb. – Ivo Pursˇ u. Jaroslava Hausenblasová: Kontakty Michaela Maiera s Rudolfem II. v Praze roku 1609. In: Studia Rudolphina 5 (2005), S. 51–65. – Flood, Poets Laureate, Bd. 3, S. 1228–1233. Joachim Telle

Mailáth, Johann (Nepomuk) Graf von, * 5.10.1786 Pest, † 3.1.1855 Starnberger See; Grabstätte: Münsing, Friedhof. – Historiker, Herausgeber, Übersetzer.

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schen der deutschsprachigen u. ungarischen Literatur äußerte sich in einem umfangreichen histor. Werk (Geschichte der Magyaren. 5 Bde., Wien 1823–30. Regensb. 21852. Geschichte des Österreichischen Kaiserstaates. 5 Bde., Hbg. 1834–50) ebenso wie in sprachwiss. Arbeiten, in denen er den Anregungen Herders u. der Romantiker folgte: M.s Teiledition mittelalterl. Gedichte gehört zu den Pionierleistungen german. Philologie (Mithg. des Kaloczaer Codex. Pest 1817); in seinen Nachdichtungen zeigte er sich von Tieck beeinflusst (Auserlesene altdeutsche Gedichte. Stgt./ Tüb. 1819). Im Gegenzug zur Übersetzung ungarischer Volkspoesie u. zeitgenöss. Literatur (Magyarische Sagen und Märchen. Brünn 1825. 21837. Eötvös: Der Dorfnotär. Pest/Lpz. 1846) schuf M. als Herausgeber des Taschenbuchs »Iris« (Pest 1840–48) das bedeutendste deutschsprachige literar. Organ Ungarns mit Erstveröffentlichungen namhafter österr. Schriftsteller (Grillparzer, Stifter, Bauernfeld, Halm u. a.). Finanziell ruiniert, übersiedelte M. 1848 nach München, wo er von der Königlichen Akademie der Wissenschaften als Mitgl. aufgenommen wurde; drückende Not ließ ihn den Freitod suchen. Weitere Werke: Gedichte. Wien 1824. – Prakt. ungar. Sprachlehre für Deutsche. Pest 1832. – Mnemonik, oder Kunst, das Gedächtniß nach Regeln zu stärken. Wien 1842. Literatur: Otto Winter: Ungarn u. die dt. Philologie am Anfang des 19. Jh. In: Euph. 19 (1912), S. 269 ff. – Konrad Zwierzina: Die Caloczaer Handschr. In: FS H. M. Jellinek. Wien 1928, S. 209–232. – Evelyne Zimmermann: Das Iris-Tb. u. seine Herausgeber. Diss. Wien 1975. – Moritz Csáky: Die Präsenz der ungar. Lit. in Wien um 1800. In: Zeman 2, S. 475–489. – Ders.: Die Bedeutung der deutschsprachigen Ztschr.en Ungarns für die österr. Lit. des Vormärz. In: Zeman 3, S. 91–106. – Ders.: M. In: NDB.

Nach dem Studium der Rechte u. Staatswissenschaften schlug der Sohn eines ungariCornelia Fischer / Red. schen Ministers die Beamtenlaufbahn ein, wurde aber wegen schweren Augenleidens Maimon, Salomon, eigentl.: Shlomo bennach wenigen Jahren suspendiert, übersieJosua, * 1753 Sukowiborg bei Mir/Litaudelte nach Wien u. widmete sich histor. Foren, † 22.11.1800 Nieder-Siegersdorf/ schungen. M. zählte zur Gruppe der »HunSchlesien. – Philosoph, jüdischer Aufklägari«, zweisprachiger Vormärzdichter, die rer, Autobiograf. sich die Pflege der kulturellen Vielfalt der Habsburgermonarchie zum patriot. Anliegen In seiner von ihm selbst verfassten u. von Karl gemacht hatten; seine Mittlertätigkeit zwi- Philipp Moritz herausgegebenen Lebensge-

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schichte stellte M. sein Leben als einen Bildungsprozess dar, der von einer rückständigen jüd. Gemeinde in Litauen zur Aufklärung nach Berlin führte. Den Übergang von der traditionellen Religion zur Aufklärung bezeichnete M. als »geistliche Wiedergeburt«. Im (ebenfalls von Moritz herausgegebenen) »Magazin für Erfahrungsseelenkunde« erschienen zunächst einige Kapitel der Autobiografie, Fragmente aus Ben Josua’s Lebensgeschichte, in denen der ungenannte Erzähler in dritter Person von Ben Josua spricht; in der Buchausgabe spricht er von sich in erster Person. Die Autobiografie zeugt vom Erzähltalent ihres Autors, ist aber auch eine histor. Quelle für das Leben der Juden in Litauen u. enthält die erste Darstellung der Bewegung der »Chassidim« (Frommen) in Polen. M. erhielt eine traditionell jüd. Bildung, orientiert zunächst am Bibel-, dann am Talmud-Studium. Nach eigenen Angaben konnte er bereits im Alter von elf Jahren »einen vollkommenen Rabbiner abgeben«. In diesem Alter wurde er auch verheiratet u. mit vierzehn Jahren Vater. Obwohl von seinem Vater angehalten, ausschließlich den Talmud zu studieren, fand M., der sich selber das deutsche u. das lat. Alphabet beibrachte, Wege, einige (veraltete) wiss. Werke zu studieren, v. a. aber den Führer der Unschlüssigen des Maimonides (Moses ben-Maimon), das Hauptwerk rationalistischer jüd. Philosophie des MA. Er studierte auch Werke der Kabbala (jüdischen Mystik), die er bereits im Lichte der rationalist. Lehren des Maimonides auslegte. M. schrieb Maimonides einen »entscheidenden Einfluß« auf seine »glückliche Verwandlung« zu u. nannte sich »Maimon« nach ihm. Im Alter von ungefähr 25 Jahren (1776/77) ging M. nach Deutschland. Nach einem Jahr des Herumirrens als Wanderbettler kam M. nach Posen, wo er in Ehren als Gelehrter aufgenommen wurde u. die »glücklichste und ehrenvollste Periode« seines Lebens verbrachte. In Posen verfasste (oder beschloss) M. ein Konvolut von fünf Schriften u. d. T. Chesheq Shlomo, Salomons Begehren, das noch nicht veröffentlicht oder eingehend studiert wurde, darunter eine Ma’aseh Livnat ha-Sapir,

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Werk leuchtenden Saphirs, welche eine rationalist. Auslegung der Kabbala versucht. M. entfernte sich jedoch bereits so weit von den in dieser Gemeinde herrschenden religiösen Auffassungen, dass er sich gezwungen sah, Posen zu verlassen. Etwa im März 1780 ließ sich M. in Berlin nieder, rasierte seinen Bart u. legte »deutsche« Kleidung an; vermutlich hörte er um diese Zeit auf, die jüd. Ritualgesetze zu befolgen. In Berlin wurde M. mit der Philosophie der Neuzeit bekannt, lernte Mendelssohn kennen u. pflegte mit ihm einen sehr polemischen philosoph. Diskurs. Seiner heterodoxen Ansichten u. seines Lebenswandels wegen, verlor M. die Gunst seiner Mäzene u. musste Berlin verlassen. Unterstützt von einem wohlhabenden Juden, lernte M. 1783–1785 am Gymnasium Christianaeum in Altona. Er vertiefte dort seine Kenntnisse der Mathematik, lernte Latein, Englisch u. Französisch u. verließ die Schule mit einem ehrenvollen Zeugnis. M.s soziale Stellung blieb prekär. Als er wieder in Berlin war, versuchte er seinen Lebensunterhalt durch Aufträge im Dienste der jüd. Aufklärung zu verdienen. Gegen Vorschläge, Aufklärung mittels Werken der Geschichte u. der natürl. Theologie zu verbreiten, verfasste M. mathematische u. physikal. Lehrbücher in hebr. Sprache. In der Zeitschrift der jüd. Aufklärer »Ha-Me’assef« veröffentlichte er mindestens zwei Aufsätze u. im angeschlossenen Verlagshaus unter dem Titel Giv‘at ha-Moreh, Hügel des Führers, 1791 anonym seinen Kommentar zum ersten Teil des Führers der Unschlüssigen. M. wurde auch später von jüd. Mäzenen unterstützt, gehörte aber keiner jüd. Gemeinde mehr an u. verteidigte in einer Kritik an Mendelssohn das Recht eines Juden, aus dem »jüdischen Staat« auszutreten u. »bloß als Mitglied eines bürgerlichen Staats« nur noch dessen Gesetze zu befolgen. In einem postum veröffentlichten Dialog bezeichnete er sich jedoch als einen »Mann von jüdischer Nation«. In Berlin studierte M. Kants Kritik der Reinen Vernunft. Seinen Kommentar zu diesem Werk schickte Marcus Herz mit einem Begleitbrief an Kant. Dieser erwiderte, dass nicht allein »niemand von meinen Gegnern mich und die Hauptfrage so wohl verstanden, sondern daß

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auch nur wenige zu dergleichen tiefen Untersuchungen so viel Scharfsinn besitzen möchten, als Herr Maimon«. Dieses Manuskript wurde M.s erstes Buch, Versuch über die Transcendentalphilosophie, das 1790 erschien (Bln.). Aufsätze von M. erschienen im »Berlinischen Journal für Aufklärung« u. in der »Deutschen Monatsschrift«, dann auch im »Magazin für Erfahrungsseelenkunde«, dessen letzte beide Bände M. herausgab (zunächst mit Karl Philipp Moritz u. nach dessen Tod im Jahr 1793 alleine). M.s weitere Bücher fanden wenig Beachtung (Versuch einer neuen Logik oder Theorie des Denkens. Bln. 1794. Kritische Untersuchungen über den menschlichen Geist. Lpz. 1797). Um die Mitte der 1790er Jahre wurde M. von Graf Adolph Kalckreuth in dessen Haus, zunächst bei Berlin, später in Nieder-Siegersdorf bei Freystadt in Niederschlesien aufgenommen u. blieb dort bis zu seinem frühen Tode. M. wurde unehrenhaft auf dem Friedhof der jüd. Gemeinde in Glogau bestattet. M.s erstes Buch, Versuch über die Transzendentalphilosophie (1790), kommentierte Kants Kritik der reinen Vernunft, u. zeitlebens blieben Kants Schriften der literar. Gegenstand von M.s Kommentaren, doch war er niemals »Kantianer«. Im Versuch über die Transcendentalphilosophie charakterisiert M. seine Philosophie als rationalen Dogmatismus u. empir. Skeptizismus. Die von Kant angenommene Disjunktion zwischen Verstand u. Sinnlichkeit führte nämlich dazu, dass die Möglichkeit, Verstandeskategorien auf die Sinnlichkeit anzuwenden, erklärt u. gerechtfertigt werden musste. M. erklärte, dass Kants Vermittlungsversuche die Kluft nicht überbrücken u. daher die Möglichkeit synthetischer Urteile a priori nicht begreiflich machen könnten. Wir hätten entweder Verstandesoder Sinneserkenntnis, aber keine synthet. Erkenntnis beider: »Unsere Erkenntnis hat manches reine, und manches reelle, nur zum Unglück ist das Reine nicht reell und das Reelle nicht rein«. Diese Disjunktion zwischen Verstand u. Sinnlichkeit könne nur durch Rückgriff auf Leibniz aufgelöst werden. Nach Leibniz seien Raum u. Zeit, die Formen der Sinnlichkeit, unklar aufgefasste Verstandesformen. Die Disjunktion zwischen

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Sinnlichkeit u. Verstand wird so durch eine kontinuierl. Abstufung der Klarheit u. Deutlichkeit der Begriffe ersetzt. Für einen »unendlichen Verstand« gebe es gar keine unklaren (»sinnlichen«) Erkenntnisse. Bei M. ist aber der »unendliche Verstand« eine bloße Idee, seine Existenz nicht verbürgt u. seine klare u. deutl. Erkenntnis von Menschen prinzipiell nicht erreichbar. Real ist jedoch das Streben nach Vollkommenheit, nach Erweiterung der Erkenntnis u. nach Verwandlung von Sinneserkenntnis in Verstandeserkenntnis. »Das Reine (Formelle) ist die Idee, der man sich im Gebrauche des Reellen immer (durch Induktion) mehr nähert, die man aber nie erreichen kann«. M. führte als Kriterium für formgerechte synthet. Urteile seinen »Satz der Bestimmbarkeit« ein. Der Satz besagt, dass in jeder reellen Synthese ein Glied das Subjekt sei, das auch außerhalb dieser Synthese, u. das andere das Prädikat, das nur in dieser Synthese gedacht werden könne. Der unendl. Verstand könne das Prädikat aus dem Begriff des Subjekts ableiten. Der menschliche, endl. Verstand könne jedoch nur in der Mathematik das Prädikat entdecken, u. zwar nicht durch reines Denken, sondern synthetisch durch Konstruktion des Objekts. So sei z.B. das Urteil: »Ein Dreieck hat drei Winkel« nicht aus dem Begriff der durch drei gerade Linien begrenzte Fläche abzuleiten, weil in diesem der Begriff des Winkels nicht enthalten sei. Sobald aber das Dreieck konstruiert werde, sei auch die Anzahl seiner Winkel erkennbar. Einzigartig an M.s philosoph. System ist also, dass er beide Denkmöglichkeiten gleichzeitig u. nebeneinander entwickelte: einerseits den gewagten »rationalen Dogmatismus« des »unendlichen Verstandes«, an dem der menschl. Verstand Teil habe u. in welchem der grundsätzl. Unterschied zwischen Sinnlichkeit u. Verstand nicht existiere u. daher auch das Kant’sche »Ding an sich« ein leerer Begriff sei, andererseits den »empirischen (später: kritischen) Skeptizismus«, d.h. den Vorbehalt, dass jener Rationalismus möglicherweise bloß hypothetisch u. nicht »reell« sei.

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Ausgaben: S. M. Ges. Werke. Hg. Valerio Verra. 7 Bde., Hildesh. 1971. – S. M.: Giv’at Hammoreh. New Edition with Notes and Indexes by S. H. Bergman and N. Rotenstreich. Jerusalem (The Israel Academy of Sciences and Humanities) 1965. Literatur: Lazarus Bendavid: Ueber S. M. In: National-Ztschr. für Wiss., Kunst u. Gewerbe in den preuß. Staaten: nebst einem KorrespondenzBlatte 1 (1801), 88–104. – Friedrich Kuntze: Die Philosophie S. M.s. Heidelb. 1912. – Samuel Hugo Bergman: The Philosophy of S. M. Translated from the Hebrew by Noah J. Jacobs. Jerusalem 1967. – Samuel Atlas: From Critical to Speculative Idealism. The Philosophy of S. M. Den Haag 1964. – Achim Engstler: Untersuchungen zum Idealismus S. M.s. Stgt.-Bad Cannstatt 1990. – Jan Bransen: The Antinomy of Thought. Maimonian Skepticism and the Relation between Thoughts and Objects. Dordrecht/Boston/London 1991. – Gideon Freudenthal (Hg.): S. M. Rational Dogmatist, Empirical Skeptic. Critical Assessments. Dordrecht 2003. Gideon Freudenthal

Mainzer, Otto, auch: Peter Grund, * 26.11. 1903 Frankfurt/M., † 28.6.1995 New York. – Romanschriftsteller, Lyriker; Sexualtheoretiker.

(Paris 1939. 21940. Neuausg. Mchn. 1986). Die darin enthaltenen Texte sind überwiegend erotischen Inhalts, thematisieren aber auch die Exil-Erfahrung. Der erste Teil von M.s einzigem Roman Prometheus wurde 1939 von einem Auswahlausschuss des Amerikanischen Bundes für Freie Deutsche Kultur zur Publikation empfohlen, was jedoch folgenlos blieb. Der antike Prometheus-Mythos wird darin transformiert, um so M.s sexualpolit. Vorstellungen zu propagieren. 1985 setzte sich der Kritiker Hans Krieger für die Publikation des Romans ein, die schließlich 1989 erfolgte. Eine Nachauflage war noch im selben Jahr erforderlich. Die Kritik reagierte gespalten. Das Spektrum reichte von Verständnislosigkeit über Begeisterung wegen der späten Heimholung eines großen Exilwerks bis hin zu scharfer Ablehnung, die sich v. a. an den in Prometheus breit entfalteten eugenischen Vorstellungen entzündete. Autobiografische Aufzeichnungen u. Tagebücher M.s, der seit 1941 in den USA lebte u. dort als Grafologe arbeitete sowie erfolgreich an der Börse spekulierte, sind u. d. T. Auf die höchsten Sterne will ich zielen seit 2003 angekündigt, aber noch nicht erschienen. Seit 2000 wird der aus einer Stiftung der Witwe Ilse Wunsch-Mainzer dotierte Otto-MainzerPreis für die Wissenschaft von der Liebe vergeben.

Der Sohn eines Textilhändlers studierte die Rechte, wurde 1928 mit einer im folgenden Jahr gedruckten Arbeit über Gleichheit vor dem Gesetz, Gerechtigkeit und Recht (Bln.) promoviert u. trat als Anwalt am Kammergericht Berlin auf. 1933 wurde ihm wegen seiner jüd. HerLiteratur: Hans Krieger: Partisan der Liebe. O. kunft die Zulassung entzogen. Er emigrierte M. über ›sexuelle Zwangswirtschaft‹. In: Die Zeit, nach Paris u. verfasste dort den Traktat Die 28.5.1982. – Ders.: Warten auf Prometheus. Pläsexuelle Zwangswirtschaft. Darin wird die Ehe doyer für einen Emigranten u. sein noch nicht als rein ökonomisch motiviertes Institut ver- veröffentlichtes Werk: O. M. In: Die Zeit, worfen u. stattdessen die Promiskuität pro- 29.3.1985. – Rainer Weber: Im Wartesaal der Lit. Über O. M.s monumentalen Roman ›Prometheus‹. pagiert, was für Frauen die wirtschaftl. SelbIn: Der Spiegel, 29.5.1989. – Jürgen Egyptien: ständigkeit voraussetze. Teile des Buches ›Prometheus‹. Eine notwendige Polemik zu O. M.s gingen später wörtlich in den Roman Pro- Traktatroman. In: Juni. Magazin für Kultur u. Pometheus ein. Gemeinsamkeiten mit dem litik Jg. 4 (1990), H. 2/3, S. 172–178. – Ilse WunschDenken Wilhelm Reichs wollte M. eher als Mainzer: Zurück nach vorn. Mein Leben mit ProKonvergenz denn als Abhängigkeit verstan- metheus. Ffm./Basel 1998. – J. Egyptien: O. M. In: den wissen. Doch dürfte es der Renaissance MLdjL. Volker Hartmann des Reich’schen Œuvres seit den späten 1960er Jahren zu verdanken sein, dass auch Mair, Hans ! Buch von Troja M.s Manifest nun erstmals aufgelegt wurde (Mchn. 1981) u. sogar als Taschenbuch (ebd. 1985) erschien. Es folgte unter dem Pseudonym Peter Grund der Lyrikband Der zärtliche Vorstoß

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Maiwald, Peter, * 8.11.1946 Grötzingen/ Kreis Nördlingen, † 1.12.2008 München. – Lyriker.

Major Literatur: Manfred Bosch u. Klaus Konjetzky: Für wen schreibt der eigentlich? Mchn. 1973. – Peter Langemeyer: P. M. In: KLG. – Ferdinand Scholz: P. M. In: LGL. Michael Braun

Nach einem Studium der Theaterwissenschaften, Soziologie u. Germanistik wurde M. 1969 freier Schriftsteller. Er erhielt mehrere Major, Elias, d.Ä., eigentl.: E. Grosser, Arbeitsstipendien u. literar. Auszeichnungen. * 26.2.1588 Breslau, † 17.7.1669 Breslau. In den 1970er Jahren engagierte sich M. – Pädagoge u. neulateinischer Lyriker. mit polit. Gebrauchstexten, Szenen u. Lie- Der Sohn eines Schuhmachers nahm im dern für die soziale Protestbewegung. In den Sommersemester 1610 das Studium in LeipBalladen von Samstag auf Sonntag (Stgt. 1984), zig, am 3. Mai desselben Jahres in Wittenberg seinem späten lyr. Debüt, präsentiert er sich auf. 1615 wurde er als Praeceptor an das Elials Erbe der plebejischen Tradition der sabeth-Gymnasium in Breslau berufen, an Dichtung, als Schüler Villons u. Brechts. Mit dem er zum Professor (1617), Prorektor den lyr. Formen seiner Vorbilder, Lied, Bal- (1626) u. Rektor avancierte (1631); mit der lade, Chanson, behandelt er Glück u. Elend Schulleitung war das Amt des Inspektors der der kleinen Leute, ihre Flucht in die Asozia- (luth.) Stadtschulen verbunden. In Breslau lität, den Alkohol oder den Tod. Der Kritiker empfing er das Magisterdiplom (1621) u. die Marcel Reich-Ranicki hob damals in der Dichterkrönung (1.5.1631); entsprechende »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« M. in die Namenszusätze bei Verfasserangaben ererste Reihe der Gegenwartslyrik – ein Lob, möglichen die Abgrenzung seiner Werke von das für den Dichter kontraproduktiv war. denen seines gleichnamigen Sohnes (* 1625 Denn fortan galt M. als Schützling des Breslau, † 1706 ebd.). Der hoch angesehene Großkritikers; Freunde einer offenen Poetik Pädagoge hatte maßgebl. Anteil an der Fortbelächelten seinen Traditionalismus der entwicklung des Breslauer Schulwesens. Das Form als ästhet. Regression. Der Band volkssprachl. Schultheater am ElisabethaSpringinsfeld (Ffm. 1992) war schon von Fata- num, das M. initiiert hatte, erlebte – im lismus u. Todesahnungen verdüstert: »Vor Wetteifer mit den lat. Schauspielen der Jemeinen Augen / schwarzes Papier. / Worte wie suiten – unter seiner Ägide eine Glanzzeit u. Augen / schwärzen sich mir. // Auf meiner hatte große Breitenwirkung; mit Stücken von Bühne / blutrot die Welt. / Bitter die Miene, / Gryphius, Lohenstein u. Hallmann wurden die mich erhält«. In seinen letzten Lebens- bedeutendste Werke des dt. Barockdramas jahren versuchte M. seine poet. Leichtigkeit inszeniert. Diese 1640 einsetzende Spieltrawiederzugewinnen – im Sprachspiel des dition, die ein Pendant in den Darbietungen Kinderreims. In seinem letzten Gedichtbuch des (ebenfalls luth.) Gymnasiums zu St. Maria Die Mammutmaus sieht wie ein Mammut aus Magdalena fand, brach zwei Jahre nach M.s (Mchn. 2006) ist ein Hauptakteur das Et- Tod ab; an ihre Stelle trat der deutschspraschelbetschel, ein sehr zänkisches u. spott- chige Schulactus. Nachrichten über die Auflustiges Wesen, das seine Existenz nur seinem führungen liefern neben den Szenaren M.s lautmalerischen Namen verdankt (»Seht: Da Tagebuchnotizen, die auch Einblick in das kommt das Etschelbetschel / zieht mir frech geistige u. kulturelle Leben Breslaus bieten: eine erst punktuell ausgewertete, bedeutende ein freches Fletschel...«). Quelle zur Lokalhistorie. Zahlreiche VeröfWeitere Werke: Gesch.n vom Arbeiter B. Mchn. fentlichungen M.s erwuchsen aus der berufl. 1975. – Antwort hierzulande. Mchn. 1976. – Guter Dinge. Stgt. 1987. – Zugänge/Ausgänge. Der Baum. Tätigkeit: kleine Akzidenzschriften u. Reden, Das Haus. Der Himmel. Hg. Franz Schneider. Köln Programme für Actus scholastici oder Exer1989. – Das Gutenbergsche Völkchen. Ffm. 1990. – citia oratoria u. ä. Von formaler Gediegenheit Wortkino. Ffm. 1993. – Lebenszeichen. Ffm. 1997. u. beachtl. Gelehrsamkeit ist sein (überwie– Pauls Zauberland heißt Samarkand. Ffm. 1998. – gend) lateinisches lyr. Werk, in dem geistl. Themen vorherrschen, ergänzt durch eine 100 Gesch.n. Mchn./Wien 2004.

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umfangreiche Produktion von Gelegenheits- Major, Maier, Meyer, Georg, * 25.4.1502 dichtungen konventionellen Zuschnitts. M.s Nürnberg, † 28.11.1574 Wittenberg. – dt. Verse bleiben indessen hinter der sprachl. Theologe des Wittenberger ReformatoEleganz u. metr. Glätte des zeitgenöss. poet. renkreises. Standards zurück. M. kam 1511/12 nach Wittenberg u. wurde Weitere Werke: Militia coelestis tenui versu zunächst als kurfürstl. Sängerknabe erzogen. descripta, sive carmen de angelis heroicum. WitSchon zu jenem Zeitpunkt findet man seinen tenb. 1614. – De cometarum significatione cl. virorum Andreae Duditii commentariolus, et D. Namen in den Wittenberger Matrikeln. Sein Thomae Erasti sententia. E. M. [...] edidit, et adjecit 1521 regulär begonnenes Studium der Artes paradoxon [griech.] [...]. Breslau 1619. – Orationes schloss der sowohl von Luther als auch von tres in Gymnasio Vratislaviensi habitae. Breslau/ Melanchthon geförderte M. 1523 mit dem Lpz. 1626. – Amores, seu carmina sacra. Breslau Grad des Magisters ab u. übernahm 1529 das 1627. – Psalmus davidicus CVII. hexametro car- Amt des Schulrektors in Magdeburg, nachmine expressus. Breslau 1634. – Anagrammatum dem er im Jahr zuvor Margarete von Mochau semicenturia. Breslau 1634. – L[iber]. parodiae, ad aus Seegrehna geheiratet hatte. Ostern 1537 illud, Omnia si perdas, etc. Breslau 1636. – Dess nach Wittenberg zurückgekehrt, wirkte er als heyligen Augustini [...] v. der Herrligkeit des PaPrediger an der Schlosskirche, wurde 1542 radises [...] Lobgesang verdeutscht. Breslau 1637. – Mitgl. des Wittenberger Konsistoriums u. Liber postumus de varianda oratione. Breslau/Jena 1684. – Hymnus M. Hieronymi Vidae paci sacer. 1544 durch Luther zum Dr. theol. promoviert, damit er 1545 die Professur des Justus Carmine germanico vertit M. E. M. Breslau o. J. Ausgabe: Exercitium oratorium (1619). In: Das Jonas an der Theologischen Fakultät antreten Breslauer Schultheater im 17. u. 18. Jh. Einla- konnte. 1546 war er, an Stelle seines Lehrers dungsschr.en zu den Schulactus [...]. Hg. Konrad Melanchthon, Teil der protestant. Delegation zum Regensburger Religionsgespräch, über Gajek. Tüb. 1994, Nr. 3, S. 24–31. Literatur: Bibliografien: VD 17. – Frank-Rutger dessen Verlauf er den ersten von protestant. Hausmann: Bibliogr. der dt. Übers.en aus dem Seite erstellten Bericht publizierte. Als im Italienischen [...]. Bd. 1, Tüb. 1992, Nr. 1164. – Zuge des Schmalkaldischen Kriegs 1546 die Weitere Titel: Martin Hanke: Vratislavienses erudi- Universität Wittenberg geschlossen wurde, tionis propagatores. Lpz. 1701. – Johann Sigis- wandte sich M. nach Magdeburg, musste aber mund John: Parnassus Silesiacus. Centuria II. nach der verlorenen Schlacht bei Mühlberg Breslau 1729, S. 104–108. – Georg Christian Ge- 1547 mit Frau u. zehn Kindern fliehen. Vorbauer: Anthologicarum dissertationum liber. Lpz. läufiges Asyl fand die Familie in Nordhausen. 1733, S. 300–303. – Christian Stieff: Historia iubiNoch im Aug. desselben Jahres übernahm M. laeorum scholasticorum [...]. Breslau 1737, S. 68–79, 90–106. – Max Hippe: Aus dem Tage- das Amt des Stiftssuperintendenten in Merbuche eines Breslauer Schulmannes im 17. Jh. In: seburg an der Seite des evang. Bischofs Georg Ztschr. des Vereins für Gesch. Schlesiens 36, H. 1 von Anhalt, kehrte aber 1548 auf seine exe(1901/02), S. 159–192. – Ders.: Volkstümliches aus get. Professur an der wiedereröffneten Unieinem alten Breslauer Tagebuche. In: Mitt.en der versität Wittenberg u. in das Konsistorium Schles. Gesellsch. für Volkskunde 6, H. 12 (1904), zurück. S. 79–85 (von M.s Schreibkalendern liegen nur In den anschließenden heftigen Auseinannoch die Jahrgänge 1640–51, 1655–59, 1661, 1664, dersetzungen um das als Interim bezeichne1666/67 u. 1669 in der Universitätsbibl. Wroclaw te, nur für die Evangelischen geltende kaiserl. vor). – Gerhard Spellerberg: Das schles. BarockReligionsgesetz u. die als Alternative dazu drama u. das Breslauer Schultheater. In: Die Welt des Daniel Casper v. Lohenstein. Hg. Peter Klein- konzipierte Leipziger Landtagsvorlage stand schmidt u. a. Köln 1978, S. 58–68. – Lothar Noack: M. auf Seiten Melanchthons, Bugenhagens u. Christian Hoffmann v. Hoffmannswaldau Georgs von Anhalt. Deren Mitarbeit an dem (1616–79). Leben u. Werk. Tüb. 1999, passim. – als »Leipziger Interim« gebrandmarkten Estermann/Bürger, Tl. 2, S. 959. – Flood, Poets Dokument diskreditierte auch ihren GesinLaureate, Bd. 3, S. 1233–1237 u. Register. nungsgenossen M. in den Augen der strengen Werner Taegert / Red. Luther-Anhänger. Kurz bevor M. 1551 nach /

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Eisleben auf die Superintendentur der Graf- Auctoritas Patrum II. Neue Beiträge zur Rezeption schaft Mansfeld wechselte, löste Nikolaus von der Kirchenväter im 15. u. 16. Jh. Hg. Leif Grane, Amsdorf mit einer gegen Bugenhagen u. M. Alfred Schindler u. Markus Wriedt. Mainz 1998, gerichteten Kontroversschrift den nach M. S. 51–66. – Wolf-Friedrich Schäufele: Evang. Wüstenheilige? G. M. (1502–74) u. die ›Vitae Patrum‹. benannten »majoristischen Streit« aus. Er In: Ebernburg-H.e 40 (2006), S. 27–52 (= Blätter für beschuldigte M. nämlich, mit seiner, in der pfälz. Kirchengesch. u. religiöse Volkskunde 73, Leipziger Landtagsvorlage ähnlich formu- 2006, 289–314). – G. M. (1502–74). Ein Theologe lierten Lehre, dass gute Werke zur Seligkeit der Wittenberger Reformation. Hg. I. Dingel u. nötig seien, die ohnehin schon durch das In- Günther Wartenberg. Lpz. 2005. Irene Dingel terim gefährdete evang. Rechtfertigungslehre zu verfälschen. Dadurch dass M. den Streit Major, Johann Daniel, * 27.7. (a. St.) 1634 auf die Kanzel brachte, musste er, auch auf- Breslau, † 3.8.1693 Stockholm. – Medizigrund der Gegnerschaft unter der Mansfelder ner; Polyhistor. Geistlichkeit, 1552 sein Amt wieder verlassen. Die Kontroverse, in dem es um das rechte M., der Sohn Elias Majors, nahm am Verhältnis von Glauben u. Werken u. damit 15.4.1654 in Wittenberg das Studium der im weiteren Sinne auch um die Bewertung u. Physik u. Medizin auf, das er am 15.10.1657 Einordnung sittl. Handelns ging, führte in mit dem Magisterexamen abschloss. In Leipden Jahren 1552–1558 zu einem reichen zig setzte er seine medizin. Studien 1658 fort Streitschriftenwechsel u. wurde in Artikel IV u. begab sich dann mit Empfehlungen der luth. Konkordienformel von 1577 Christian Hofmann von Hofmannswaldaus nach Padua, wo er 1660 zum Dr. med. proschlichtend aufgegriffen. M. war 1552 wieder nach Wittenberg zu- moviert wurde. Hier trat er mit lat. Epirückgekehrt u. diente seit 1558 als ständiger grammen (Laurifolia Veneta. In: Giovanni Dekan der Theologischen Fakultät, außer- Francesco Loredano: Lettere. Tl. 2, Venedig dem viermal als Rektor der Universität. Die 1661, S. 250) zum ersten Mal an die ÖffentKontroverse um die Notwendigkeit guter lichkeit (2., komm. Aufl. u. d. T. Hadria gloWerke hat M. weit über die Grenzen seines riosa, sive spicilegia duo de laudibus Venetiarum et Wirkungsraums hinaus bekannt gemacht. Venetorum. Kiel 1666). Nach seiner Rückkehr Aber auch durch andere Publikationen hat er wirkte M. in Wittenberg u. Hamburg als Arzt, Einfluss ausgeübt. 1550 trat er mit seiner von 1665 bis zu seinem Tod als Professor für Schrift De origine et autoritate verbi Dei (Wit- theoretische, ab 1670 für prakt. Medizin an tenb.) hervor, der er einen Katalog von der neu gegründeten Universität Kiel. 1666 »Wahrheitszeugen« beigab. 1551 übernahm führte er hier die erste öffentl. anatom. Seker in der Nachfolge Georg Rörers die Her- tion durch, 1669 legte er einen Botanischen Garten an. Im eigenen Haus errichtete er das ausgabe der Wittenberger Lutherausgabe, die »Museum Cimbricum«, zu dessen Besuch er er 1559 zum Abschluss führte. Außerdem war mit der Schrift Kurtzer Vorbericht, betreffende D. er Autor der Magdeburger Schulordnung u. Johann-Daniel Majors [...] Museum Cimbricum, verfasste Schul- u. Lehrbücher (Psalterium oder insgemein so-genennte Kunst-Kammer (Plön Davidis. Magdeb. 1547). Hinzu kommen exe1688) einlud. Neben zahlreichen medizin. get. Kommentare u. Postillen sowie die NeuSchriften veröffentlichte er solche zur Botabearbeitung der Vitae Patrum. nik, Naturwissenschaft, Numismatik u. v.a. Literatur: Bibliografien: VD 16. – Ein komplettes zur Frühgeschichte Schleswig-Holsteins (z.B. Schriftenverz. findet sich in: Dingel/Wartenberg, Bevölckertes Cimbrien [...]. Plön 1692) sowie Hg., 2005, S. 271–314. – Weitere Titel: Heinz Gelegenheitsgedichte. Scheible: G. M. In: TRE. – Timothy Wengert: G. M. Literaturwissenschaftlich bedeutend ist (1502–74). Defender of Wittenberg’s Faith an Melanchthonian Exegete. In: Melanchthon in seinen M.s Wissenschaftsutopie See-Farth nach der Schülern. Hg. H. Scheible. Wiesb. 1997, Neuen Welt, ohne Schiff und Segel (Kiel 1670. 2 S. 129–155. – Irene Dingel: ›An patres et concilia Hbg. 1683), in der er aus der Sicht des Napossint errare‹. G. M.s Umgang mit den Vätern. In: turwissenschaftlers das enzyklopäd. Bild ei-

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ner vollkommenen Ordnung aller Wissen- ›Perfection des Gemüthes‹. Zur Museumswiss. des schaften entwickelt, im literar. Bild einer Kieler Universitätsprof.s J. D. M. (1634–93). In: friedl. Gelehrteninsel. M.s zweites wichtiges Macrocosmos in microcosmo [...]. Hg. Andreas Werk ist das von Beginn an zur Veröffentli- Grote. Opladen 1994, S. 603–628. – Wolfgang Rudolph Reinbacher: Leben, Arbeit u. Umwelt des chung vorgesehene Tagebuch seiner Reise Arztes J. D. M. [...]. Linsengericht 1998. – Lothar nach Skandinavien von 1693, das Fragment Noack: Christian Hoffmann v. Hoffmannswaldau geblieben ist, da der Autor unterwegs ver- (1616–79). Leben u. Werk. Tüb. 1999, Register. starb (Beschreibung dero von ihm gethanen kleinen Karin Unsicker / Red. Spatzier-Reise von Kiel aus nach Norden [...]; Hss. in der Kgl. Bibl. Kopenhagen). Hier übt M. Major, Johannes, Johann, * 2.1.1533 St. den in der See-Farth theoretisch entworfenen Joachimsthal (heute: Jáchymov, TschePolyhistorismus praktisch aus. chische Republik), † 16.3.1600 Zerbst. – M. war ein herausragender Gelehrter, mit Neulateinischer Dichter. breiter Wirkung in seiner Zeit. Die See-Farth wurde von der Utopieforschung bisher wenig Die geistig prägende Gestalt in M.s heimatl. beachtet, der Druck des Reisetagebuchs steht Bergstadt, wohin sein Vater aus Franken eingewandert war, war Johannes Mathesius, immer noch aus. den er vielleicht schon ein wenig als SchulWeitere Werke: Epistola ad virum-iuvenem praestantissimum, literatissimumque Abrahamum rektor (bis 1540), aber gewiss ab 1542 als Kittelium de patriae, Silesiae, laudibus, locutum. Prediger erlebte. 1549 ging er mit dessen Wittenb. 1661. – Memoria Sachsiana, imperiali Empfehlung an Melanchthon zum Studium naturae curiosorum societati, ac posteris com- nach Wittenberg, 1551 nach Leipzig. Schon mendata. Lpz. 1675. 21690. – Genius errans sive de 1552 publizierte er ein Bändchen mit Elegien ingeniorum in scientiis abusu dissertatio. Kiel u. Epigrammen als Dank an Mathesius u. an 1677. den Poeten Johannes Gigas, der 1540–1542 Literatur: Bibliografien: VD 17. – Philipp Mar- Schulrektor in Joachimsthal gewesen war. shall Mitchell: A Bibliography of 17th-Century Sein wichtigstes dichterisches Vorbild war German Imprints in Denmark and the Duchies of Johannes Stigel mit seiner allegorisch-reliSchleswig-Holstein. Kansas 1969. – Frank-Rutger giösen Naturlyrik. Hausmann: Bibliogr. der dt. Übers.en aus dem Im Aug. 1555 war M. in seiner Heimatstadt Italienischen [...]. Bd. 1, Tüb. 1992, Nr. 0226. – u. hatte Melanchthon ein Gedicht geschickt, Weitere Titel: Johannes Moller: Cimbria literata. wahrscheinlich das 1556 in Wittenberg geBd. 2, Kopenhagen 1744, S. 504–521 (mit umfass. druckte Idyllion de Philomela (CR 9, 235; 20, Verz. der Schr.en). – Heinz Roehrich: J. D. M. 776 f.; HL), worin nicht nur der verehrte (1634–93), der erste Prof. für theoret. Medizin an der Univ. Kiel. In: Christiana Albertina 8 (1969), Meister Phil. Mel. wie schon üblich als S. 42–46. – Ders.: J. D. M.’s erste Anatomie an der Nachtigall (Philomela) bezeichnet wird, sonUniv. Kiel vom 31.1. bis 6.2.1666. In: Anatom. dern auch seine Freunde u. Gegner mit VoAnzeiger 124 (1969), S. 375–388. – Hermann gelnamen belegt werden, ein satir. Scherz, Kümmell: J. D. M. In: BLSHL, Bd. 1 (1970), der dann 1557 in der Synodus avium depingens S. 195–198. – Karin Unsicker: Weltl. Barockprosa miseram faciem ecclesiae propter certamina quoin Schleswig-Holstein. Neumünster 1974, Register. rundam, qui de primatu contendunt, cum oppres– Georg u. Wolfgang Braungart: Misslingende sione recte meritorum (CR 20, 767–776) ausgeUtopie. Die Neuen Wiss.en auf der Suche nach baut wurde. Eine ähnl. Symbolik bieten bofürstl. Patronage. Zu J. D. M.s ›See-Farth nach der tan. Namen (Hortus Libani, 1561). Zwei weiNeuen Welt‹ (1670). In: Res Publica Litteraria [...]. tere Satiren richten sich ausdrücklich gegen Hg. Sebastian Neumeister u. a., 2 Tle., Wiesb. 1987, Flacius (Asinus Cumanus u. Asinus Nohae oppoTl. 1, S. 367–386. – Christoph Becker: J. D. M. [...]. ›Sammlungstheoretiker‹? ›Doktor der Weltweis- situs Asinis Flacianis, 1561), dem auch 1575 ein heit‹? In: Jb. des Museums für Kunst u. Gewerbe gehässiges Grabgedicht gewidmet wurde, wie Hamburg 11 (1992), S. 67–82. – Estermann/Bürger, überhaupt M. beim Beschimpfen jeglicher Tl. 1, S. 809; Tl. 2, S. 959 f. – Cornelius Steckner: Art von Gegnern nicht faul war. Ungemindert Das Museum Cimbricum v. 1688 u. die cartesian. war dabei seine Produktion geistlicher Ge-

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dichte (Paraphrasis Psalmorum Davidicorum heroicis versibus expressa. Wittenb. 1574. Carmina de rebus divinis. Wittenb. 1574. Elegiae. 2 Bde., o. O. 1584 [Internet-Ed. in: CAMENA] u. 1589). Am 27.2.1556 wurde M. in Wittenberg Magister artium. Danach ging er nach Würzburg, wo Bischof Melchior Zobel die ehemalige Universität neu beleben wollte. M.s Familie stammte aus dem würzburgischen Haßfurt; sein Großvater Johannes Fleischmann war dort bischöfl. Amtmann gewesen. Mit Zobels Leibarzt Johannes Sinapius stand Melanchthon in guter Verbindung. 1557 erwarb M. in Mainz den theolog. Doktorgrad. Am 4.3.1558 beim Reichstag in Frankfurt/M. krönte ihn Kaiser Ferdinand I., den er durch ein Gedicht ehrte, zum Poeta laureatus. Doch nach der Ermordung Zobels, der am 15.4.1558 in seinen Armen starb, verließ M. Würzburg. Im Aug. 1558 zog er von Wittenberg nach Joachimsthal, wo er am 11.12.1558 Margarete Schmiedel heiratete, von der er später geschieden wurde. Am 25.1.1575 heiratete er in Meißen Kunigunde Bapst, die Tochter des Bürgermeisters von Rochlitz. Er hatte einen Sohn u. drei Töchter. 1560 dichtete M. wie viele ein Epitaphium Philippi Melanthonis (CR 19, 56 f.), wurde in den Senat der Artistenfakultät Wittenberg aufgenommen u. hielt Vorlesungen über Lukan u. Jesus Sirach. Er publizierte Melanchthons Theognis-Vorlesung, die er 1551 gehört hatte (CR 19, 53–178). Am 8.4.1561 erlangte er die Professur für Poetik. Im Wintersemester 1562/63 war er Dekan der Fakultät. Sein Lehrauftrag umfasste nicht nur die lat. Dichter, vornehmlich Vergil u. Horaz, auch Cicero u. die Poetik des Aristoteles, sondern er schrieb auch Reden u. Gedichte zu Festtagen u. anderen feierl. Anlässen sowie zu besonderen Ereignissen, insbes. für die jährl. Gedenkfeiern auf Luther u. Melanchthon (den er zweimal vor Luther nannte, danach in der histor. Reihenfolge). Am 19.4.1561 würdigte er seinen Lehrer an dessen erstem Todestag, dann jährlich bis 1569 (Parentalia. Anniversaria nonum facta viro de ecclesia Dei viventis et humano genere optime merito D. Philippo Melanthoni). Danach trat eine sechsjährige

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Pause ein. Erst am 8.4.1575 hielt er die zehnten Parentalia. Es sollten die letzten sein. Dazwischen lag die Verfolgung der sächs. Philippisten als Kryptocalvinisten. Auch M. wurde verhaftet, aber er konnte sich behaupten. Offenbar war seine handwerklich virtuose Beherrschung der Dichtkunst, die er auch zum Ruhme seiner Fürsten einsetzte, der Regierung, wenn nicht unentbehrlich, so doch willkommen. Calvinist war er so wenig wie die anderen Philippisten. Doch war er ein streitbarer Gegner der Konkordienformel, die er nie unterschrieb. Seit 1568 hatte er gegen den in Kursachsen wirkenden Jakob Andreae polemisiert. Dieser logierte im Wittenberger Schloss, gegenüber der ehemaligen Propstei, die M. als Wohnsitz diente. Von dort aus beschimpfte er im Febr. 1579 Andreaes Sohn lautstark u. schlug Verse gegen das Konkordienwerk an, was den Hof beschäftigte. Seine Professur war damals vakant; anscheinend war er suspendiert. In demselben Jahr wurde er in Rochlitz inhaftiert, angeblich wegen falscher Münze, falschem Siegel u. Meineids. Erst 1581 kam er frei. Nach dem Regierungsantritt Christians I. von Sachsen (Febr. 1586) nutzte M. seine amtl. Rede am 30.12.1586, dem Stiftungsfest der Philosophischen Fakultät, zur Polemik gegen das Konkordienbuch u. dessen Vertreter, seine Kollegen, u. ließ am 6.1.1587 einen satir. Anschlag folgen. Er hatte nicht bedacht, wie stark das orthodoxe Luthertum in Wittenberg noch war. Die Theologen bewirkten seine Vorladung nach Dresden. Der dem Calvinismus geneigte Kurfürst ließ ihn nicht fallen u. ernannte ihn zum Rat von Haus aus. Aber seine Stellung an der Universität war geschwächt. Bei der Visitation am 22.5.1587 wird er als »ordinarius professor poetices, nicht in senatu, sondern extraordinarius« bezeichnet, aber er dichtete nach wie vor auch im Auftrag des Dekans. Damals wurde festgestellt, dass er seit zwölf Jahren nicht beim Abendmahl war. M. leistete sich nun auch noch einen Poetenkrieg mit dem kongenialen Nikodemus Frischlin. Doch nach Christians Tod (25.9.1591) wurde er als Calvinist unter Beschimpfungen des Pöbels verhaftet. Am 23.1.1592 schrieb er aus Meißen an die Universität Wittenberg u. kündigte an, am 11.

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Febr., dem Todestag Augusts, seine Parentalia auf diesen u. auf Christian zu halten. Dies wurde von der nun wieder luth. Regierung verboten. 1593 geriet er in Leipzig bei einem Gastmahl mit Samuel Huber, damals Theologieprof. in Wittenberg, in Streit. 1594 war er auf der Burg Hohnstein (Sächsische Schweiz) eingekerkert, wo er am 24. Jan. u. am 1. Aug. vernommen wurde. Ab 1.5.1595 lebte er in Zerbst im reformierten Fürstentum Anhalt. Ausgaben: Psalmi duo CXXXI. et CXXV. explicati carmine elegiaco [...]. Wittenb. 1556. InternetEd. in: Slg. Hardenberg. – Exequiae [...] viro Philippo Melanthoni, in Academia Witebergensi factae. Wittenb. 1560. Internet-Ed. ebd. – Operum Pars Prima-Tertia. Wittenb. 1563–66 u. ö. – [Hg. Janus Gruterus?]: Delitiae poetarum Germanorum. Bd. 4, Ffm. 1612. Internet-Ed. in: CAMENA. – Georg Ellinger (Hg.): Dt. Lyriker des 16. Jh. Bln. 1893, S. 116–118 [wie HL]. – HL (1997), S. 541–545, 1271–1275 (Lit.). Literatur: Bibliografien: VD 16 u. 17. – Wilhelm Hammer: Die Melanchthonforsch. im Wandel der Jahrhunderte. Ein beschreibendes Verz. 4 Bde., Gütersloh 1967–96 (s. Register Bd. 4, S. 56 f.). – Weitere Titel: Burkhard Gotthelf Struvius: Acta litteraria, Bd. 1, Fasc. 4, Jena 1706, S. 15–80. – Johann Friedrich Klotzsch u. Gottfried Immanuel Grundig: Slg. vermischter Nachrichten zur Sächs. Gesch. Bd. 5, Chemnitz 1770, S. 200–210 (Vita nach Amling) u. 266–294 (Verhöre 1594). – Bernhard Friedrich Hummel: Musarum remissio. Altdorf 1776, S. 225–254. – Heinrich Heppe: Gesch. des dt. Protestantismus in den Jahren 1555–81. Bd. 4, Marburg 1859, S. 377–387. – G[ustav] Frank: Johann M., der Wittenberger Poet. In: Ztschr. für wiss. Theologie 5 (1862), S. 117–163; auch separat Halle 1863 (hier die ältere Lit.). – G. Frank: M., Johann. In: RE, Bd. 20, Gotha 1866, S. 75–77. – A[rrey] v. Dommer: Autotypen der Reformationszeit auf der Hamburger Stadtbibl. Hbg. 1881, S. 19 f., Nr. 88 (Auflösung der Vogelnamen in der Synodus Avium). – Paul Tschackert: M. In: ADB. – Georg Loesche: Johannes Mathesius. Bd. 1, Gotha 1895. Neudr. Nieuwkoop 1971, S. 90, 197 f., 619 f., 691. – Otto Clemen: Kleine Schr.en zur Reformationsgesch. 1897–1944. Hg. Ernst Koch. Bd. 1, Lpz. 1982, S. 419 (erstmals 1901). – Ders.: Handschriftenproben aus der Reformationszeit. Zwickau 1911, Nr. 35. – Walter Friedensburg: Gesch. der Univ. Wittenberg. Halle 1917, S. 287–289, 329. – Ders.: Urkundenbuch der Univ. Wittenberg. 2 Bde., Magdeb. 1926 (Register). – Ellinger 2 (1929),

632 S. 120–126. – Hans Volz: Die Lutherpredigten des Johannes Mathesius. Lpz. 1930. Neudr. New York 1971, S. 109. – Ders.: Neue Beiträge zum Briefw. v. Melanchthon u. Mathesius. In: ARG 30 (1933), S. 47 f.; 31 (1934), S. 45 f. – Thomas Klein: Der Kampf um die zweite Reformation in Kursachsen 1586–91. Köln 1962. – Fritz Roth: Restlose Auswertungen v. Leichenpredigten u. Personalschr.en für genealog. u. kulturhistor. Zwecke. Bd. 5, Boppard 1967, R. 4479. – Wilhelm Kühlmann: Zum literar. Profil des Kryptocalvinismus in Kursachsen: Der ›Poet‹ J. M. (1533–1600). In: Dresdner H.e, Jg. 10, H. 29 (1992), S. 43–50. – Wolfgang Klose: Wittenberger Gelehrtenstammbuch. 2 Bde., Halle 1999, f. 29 (Autograf). – Heinz Kathe: Die Wittenberger Philosoph. Fakultät 1501–1817. Köln 2002, S. 130–135, 139. – Die Theolog. Fakultät Wittenberg 1502 bis 1602. Hg. Irene Dingel u. Günther Wartenberg. Lpz. 2002, S. 180. – Ulrike Ludwig: Die ehemalige Canzley u. Probstey in Wittenberg. Wittenb. 2005, S. 15 f. (mit Porträt). – Flood, Poets Laureate, Bd. 3, S. 1237–1243. Heinz Scheible

Majut, Rudolf, * 13.3.1887 Wien, † 7.2. 1981 Leicester/Großbritannien. – Literaturwissenschaftler u. Lyriker. Der Sohn eines jüd. Kaufmanns, verwandt mit Friederike Kempner u. Alfred Kerr, studierte Germanistik in Berlin u. promovierte in Greifswald. Er gehörte zum Umkreis des ersten expressionist. Autorenkreises Der Neue Club. Zwei Habilitationsversuche wurden schon vor 1933 von nationalsozialist. Kräften verhindert. Als M. seine Stelle als Studienrat in Berlin verlor, emigrierte er nach Basel, wo er protestant. Theologie studierte. Der für seine Hilfsaktionen bekannte Bischof von Chichester, George Bell, ließ M. 1939 nach England kommen, wo er zunächst Pfarrer in einem Internierungslager auf der Isle of Man, später Lektor u. schließlich Professor für dt. Literatur an der Universität von Leicester wurde. M. hat viel zur Kenntnis dt. Kultur in Großbritannien beigetragen; 1957 erhielt er deshalb das Bundesverdienstkreuz I. Klasse. M. gehörte zu den wichtigsten Wiederentdeckern Georg Büchners. Seine Dissertation Farbe und Licht im Kunstgefühl Georg Büchners (Greifsw. 1912. Nendeln 1967) ist die früheste wiss. Untersuchung zu Büchner, ihm widmete er diverse Arbeiten, u. a. den Band Stu-

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dien um Büchner. Untersuchungen zur Geschichte der problematischen Natur (Bln. 1932). Durch seine Aufsatzstudie Das literarische Biedermeier (1932) hat M. diesen Begriff in die Literaturwissenschaft eingeführt. Ab Mitte der 1950er Jahre galt M.s Interesse auch sprachgeschichtl. Problemen. Seine vielfach aktuellen Themen gewidmeten Arbeiten (Kreneks JonnyDichtung im geistesgeschichtlichen Zusammenhang des Weltschmerz und des Rousseauismus. 1928) zeugen von philologischer Akribie u. Fähigkeit zu kulturkritischer wie geistesgeschichtl. Analyse. M. hat auch fünf Lyrikbände vorgelegt: Das Jahr für Nora (Bln. 1929), Die Sonette (Bln. 1932), Klingende Seele (Bln. 1935), Der Werdekreis (Bln. 1937), Anna oder das Buch der Frauen (Leicester 1960). Sprachgewandt, melodisch u. gedankentief, bewegt sich diese Bekenntnislyrik in traditionellem Rahmen. Weitere Werke: Lebensbühne u. Marionette. Ein Beitr. zur seelengeschichtl. Entwicklung v. der Genie-Zeit bis zum Biedermeier. Bln. 1931. – Der dt. Roman vom Biedermeier bis zur Gegenwart. In: Dt. Philologie im Aufriß. Bln. 1954, S. 1357–1794. Unveränderter Neudr. 1966. – Über hippolog. Bezeichnungen: Tiernamen u. ein got. Pflanzenname. Bln. 1972. – Reimchronik 1930–50. Köln 1983. – Kleine Prosaschr.en. Köln 1983. – Gedichtslg. Köln 1984 (alle drei Kölner Privatdr.e hg. v. Käthe Majut). Ausgaben: Briefe für Käthe 1933–37. Eine Ausw. Hg. Heinz Fischer. Darmst. 1995. – Die hippolog. gebildeten Pflanzennamen im Deutschen u. Englischen. Ein Beitr. zur vergleichenden Metaphorik. Aus dem Nachl. hg. v. Regina Frisch. Stgt. 1998. Literatur: Thomas B. Schumann: Maßgebl. an der Wiederentdeckung Büchners beteiligt. Über R. M. In: Ders.: Asphaltlit. Bln. 1983, S. 142–144. Thomas B. Schumann / Red.

Makkabäer. – Versübersetzung der beiden apokryphen biblischen Bücher, etwa 1320. Die Entstehung dieser 14.410 Verse umfassenden Bearbeitung des bibl. Stoffs muss im Umkreis des Deutschen Ordens angesiedelt werden: Dafür spricht schon die Überlieferung mit anderen Deutschordensdichtungen in einer Handschrift, die früher der Deutschordensbibliothek in Mergentheim

gehörte. Auch der Stoff, der in der Dichtung der Zeit sonst kaum Beachtung fand, zeigt enge Bezüge zum Deutschen Orden: Im Prolog zu dessen Statuten werden u. a. die Makkabäer als Streiter gegen die Heiden genannt. Die Frage, ob Luder von Braunschweig der Verfasser des Werks ist, muss offengelassen werden. Die Einleitung setzt sich aus verschiedenen Teilen zusammen: Nach der Nennung des Themas u. dem Verweis auf die Übersetzung des Urtextes ins Lateinische durch Hieronymus folgt ein ausführl. Hinweis auf die Glosse des Hrabanus Maurus zu den zwei M.Büchern. Es schließen sich die Übersetzungen der Begleitschreiben Hrabanus’ an König Ludwig (vv. 45 bis 156) u. den Archidiakon Gerold (vv. 157 bis 264) an, denen er seine Glosse übersandte. Erst jetzt folgt die mit bekannten Topoi (Betonung der geringen eigenen Fähigkeiten, Bitte um Hilfe Gottes) versehene »Vorrede des Autors« (vv. 265–356). Beiden M.-Büchern ist dann jeweils die Vorrede des Hieronymus (vv. 357–386; vv. 7013–7078) vorangestellt. Der Schluss (vv. II 261–14214) erzählt in Anlehnung an die Historia scholastica des Petrus Comestor die Geschichte vom Tod Simeons bis zum Ende des Makkabäergeschlechts. Im Epilog, der mit einem Gebet an den dreieinigen Gott beginnt u. mit einem Gebet an die drei göttlichen Personen sowie einem Lobpreis Christi endet, wird die Wichtigkeit der Beschäftigung mit der Hl. Schrift betont. In Passagen, deren Grundlage der Wortlaut der M.-Bücher ist, hält sich der Autor sehr eng an die Vorlage (Latinismen). Freier gestaltet sind die Exkurse, in denen meist auf der Grundlage der Glossa ordinaria u. der Historia scholastica Erklärungen zum Text gegeben werden, im Gegensatz zum Daniel aber nur auf der Ebene des »sensus literalis/historicus«. Ausgabe: Das Buch der Maccabäer. Hg. Karl Helm. Tüb. 1904. Literatur: Helm, a. a. O., S. V-XCVI. – Karl Helm u. Walther Ziesemer: Die Lit. des Dt. Ritterordens. Gießen 1951. – Achim Masser: Bibel u. Legendenepik des dt. MA. Bln. 1976, S. 78–81. – Udo Arnold: Luder v. Braunschweig. In: VL. – Arno

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Mentzel-Reuters: Arma spiritualia. Bibliotheken, Bücher u. Bildung im Dt. Orden. Wiesb. 2003. Elisabeth Wunderle / Red.

Malkowski, Rainer, * 26.12.1939 Berlin, † 1.9.2003 Brannenburg am Inn. – Lyriker, Prosaist, Herausgeber. Bis 1972 arbeitete M. in verschiedenen Werbeagenturen, zuletzt als Geschäftsführer in Düsseldorf. Dann zog er sich als freier Autor ins Bayrische Voralpenland zurück. Seine letzten Lebensjahre waren von schweren Krankheiten überschattet. M. gehört zu den wenigen Autoren, deren Bücher von der Kritik fast durchweg begrüßt wurden. Das mag auch an der Genauigkeit eines Autors liegen, der sich v. a. auf die kleine Form des Gedichts u. der kurzen Prosa konzentrierte. So schuf er in rd. 30 Jahren ein an Umfang eher schmales, doch gewichtiges Werk. Sein erster Lyrikband Was für ein Morgen erschien 1975 in der renommierten »edition suhrkamp« (Ffm.). Da war der Autor bereits 35 Jahre alt. Sofort überzeugten seine knappen, dinghaften, im besten Sinn einfachen Gedichte, die oft von alltägl. Erfahrungen handeln. Immer wieder geht diesen manchmal melancholischen, gelegentlich iron. Texten subjektive »Wahrnehmung als Ereignis« voraus, wie er einmal schrieb. Und genau das können sie dem Leser vermitteln: Wahrnehmung als Ereignis. Ein Gedicht seines Debüts lautet: »so einfach ist das // ein Stuhl eine Blume / ein gefüllter Teller / ein geschlossener Mund / eine Hand die sehr weiß ist / ein Bild ein Baum / eine Note / dies alles will nichts und / heißt nicht / und segelt lautlos durch den Tag«. M.s erste Bücher erschienen zur Zeit der sog. »Neuen Subjektivität«, reichen mit ihrer poet. Verdichtung aber weit über die meisten dieser Texte hinaus u. zeigen eine eigene literar. Stimme. In späteren Lyrikbänden finden sich Verse, die man gleichsam als »Maximen und Reflexionen« des Autors lesen kann – nicht nur was sein Leben, sondern auch was seine Unabhängigkeit von literar. Moden betrifft: »Ein Ausdruck der Freiheit: / sich eine eigene /

Notwendigkeit schaffen« (in: Ein Tag für Impressionisten und andere Gedichte. Ffm. 1994). M. schrieb auch lakon. u. präzise Prosa: Erzählungen u. Kindheitsbilder wie den Zyklus Frühe Landschaften (Süddeutsche Zeitung, 1978/79) oder autobiogr. Notate (Fragmentarische Auskunft. Süddeutsche Zeitung, 1985). Gelegentlich äußerte er sich über Kollegen, die er schätzte, etwa Heine, Brecht, Günter Eich. Er tat dies mit wenigen Worten – nicht, weil er nichts zu sagen hatte, sondern aus Respekt. Seine Lieblingstexte der Weltliteratur gab er in mehreren Anthologien heraus. Literaturtheorie bedachte M. mit Skepsis. Seine wenigen poetolog. Schriften sind denn auch alles andere als abstrakt (Lyrik. Bemerkungen über eine exotische Gattung. Stgt. 1996). 2000 erschien der Prosaband Im Dunkeln wird man schneller betrunken (Zürich) – eine Fundgrube von Einsichten u. Beobachtungen, Porträts, lyr. Prosa u. Sentenzen. Und es gibt darin Bemerkungen, die auf M.s eigenes Werk zutreffen: »Das Einfache läßt viel beiseite. Das heißt: es muß von einer Fülle ausgehen. Das Einfache kann federleicht sein – und hat doch, wenn es glückt, das Gewicht der Welt.« Wenige Monate nach dem Tod des Autors erschien der Band Die Herkunft der Uhr (Mchn./ Wien 2004). Er enthält Gedichte u. Prosagedichte, die zuvor verstreut erschienen, sowie Unveröffentlichtes aus dem Nachlass. Diese späten Texte über Menschen u. Dinge, Reisen u. Spaziergänge, Kunst u. Musik belegen noch einmal M.s Können; sie sind hoch verdichtet u. zgl. transparent. Allerdings gibt es, nach Jahren der Krankheit, mehr traurige u. düstere Gedichte als früher. Doch findet man auch zuversichtliche, fast heitere Verse, wie in Was ich unter anderem noch schreiben will. Ein schönes Paradox: Es geht darin um ein Vorhaben, welches das Gedicht selbst schon einlöst: »Was ich unter anderem / noch schreiben will: / Einen schimmernden Vers / über einen Frauenschenkel. / Meinen Dank an einen Rock, / der wußte, / wann er sich zurückziehen muß. / Ein Spottlied / über alternde Männer, / die sich zum Narren machen. / Eine Verteidigungsrede / für jede Narrheit, / die das Leben ist.«

635 Weitere Werke: Gedichte: Einladung ins Freie. Ffm. 1977. – Vom Rätsel ein Stück. Ffm. 1980. – Zu Gast. Ffm. 1983. – Was auch immer geschieht. Ffm. 1986. – Gedichte. Eine Ausw. Ffm. 1989. – Das Meer steht auf. Ffm. 1989. – Hunger u. Durst. Ffm. 1997. – In den Fugen der Biogr. Karlsr. 2001. – Übersetzungen: Hartmann v. Aue: Der Arme Heinrich. Mchn./Wien 2003. – Herausgeber: Das InselBuch zur Mitternacht. Ffm. 1981. – Das Insel-Buch der Tröstungen. Ffm. 1984. – Heinz Piontek: Die Zeit einer Frau. Sechs Erzählungen. Stgt. 1984. – Von Tugenden u. Lastern. Ffm. 1987. – Vom Meer, v. Flüssen u. Seen. Ffm. 1990. – Autoren sehen einen Autor: Walter Helmut Fritz. Darmst. 1999. Literatur: Klaus Fischer u. Matthias Kußmann: R. M. In: KLG. – M. Kußmann: R. M. Am Schreibtisch. Bibliogr. u. ausgew. Texte. Warmbronn 2004. Matthias Kußmann

Mallachow, Lore, * 4.10.1894 Leipzig, † 27.9.1979 Leipzig. – Erzählerin. M. erhielt eine Ausbildung zur techn. Assistentin an der Henriette-Goldschmidt-Schule in Leipzig, einer Bildungseinrichtung für Frauen, an der sie nach 1945 zeitweise als Lehrerin für Literatur wirkte. Sie war Stadtverordnete in Leipzig u. erhielt 1962 den Kunstpreis der Stadt. Erste literar. Versuche unternahm M. bereits vor 1933, doch datiert ihr eigentliches literar. Schaffen erst aus der Zeit nach 1945. Sie verfasste hauptsächlich biogr. Prosa, in deren Mittelpunkt Frauen stehen. Als Mitherausgeberin u. Verfasserin war sie an der Entstehung der Enzyklopädie Die Frau (zus. mit Irene Ullmann. Lpz. 1961) beteiligt. M.s umfangreichste Prosa-Arbeit ist der Christiane Vulpius-Roman Du bist mir nah (Halle 1957). Der Erzählband Im Morgenlicht (Halle 1958) porträtiert u. a. die Neuberin, Clara Schumann, Annette von Droste-Hülshoff, Jenny Marx u. Käthe Kollwitz. Durch die Darstellung der Leistungen von Frauen in der Geschichte trat M. für die Gleichberechtigung der Frau ein. Weitere Werke: L. M., Gerda Berger u. Gertrud Meyer-Hepner (Hg.): Bettina v. Arnim. Ein Lesebuch für unsere Zeit. Weimar 1953. – Clara Zetkin. Ihr Leben in Bildern. Lpz. 1960 (Biogr.). – Der Vorhang öffnet sich. Bln./DDR 1960 (E. über Albert Lortzing). Klaus Kändler / Red.

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Malsburg, Ernst (Friedrich Georg Otto) Frhr. von der, * 23.6.1786 Hanau, † 20.9. 1824 Escheberg. – Übersetzer, Lyriker, Erzähler, Publizist. Als Sohn eines hess. Majors u. einer Amerikanerin wurde M. bei seinem Onkel, einem kurhess. Minister, erzogen u. besuchte zeitweise das Gymnasium in Kassel. Nach dem Studium in Marburg u. einer Parisreise trat er 1806 in den Justiz-, 1808 in den diplomat. Dienst Hessens, zunächst in München, 1810–1813 in Wien. 1817 wurde er Regierungsrat u. Gesandter in Dresden, wo er mit Tieck, Loeben u. Friedrich von Kalckreuth sowie dem Dresdner Liederkreis Freundschaft schloss u. zu literar. Produktion angeregt wurde. M.s Hauptleistung beruht aber nicht in seiner Lyrik, seinen Novellen, Aufsätzen u. Rezensionen, sondern in seinem frühen Studium der ital. u. bes. der span. Literatur, dessen Früchte die ab 1819 erschienenen, von Band zu Band perfektionierten Übersetzungen von Calderón-Dramen (bis 1825 6 Bde., Lpz.) u. die Adaption dreier Stücke von Lope de Vega (Stern, Zepter und Blume. Dresden 1824) waren. 1821 erbte M. das Vermögen des Onkels u. Schloss Escheberg. Weitere Werke: Gedichte. Kassel 1817. – Poetischer Nachl. [...]. Hg. Philippine v. Calenberg. Kassel 1825. – Briefe: Briefe an Ludwig Tieck. Hg. Karl v. Holtei. Bd. 2, Breslau 1864, S. 289–325. – Wilhelm Schoof: Briefw. der Brüder Grimm mit E. v. d. M. In: ZfdPh 36 (1904), S. 173–232. Literatur: Wilhelm Müller: E. v. d. M. In: NND 2 (1824) u. Nachtr. – Joseph Kürschner: M. In: ADB. – Goedeke 9 u. 11. – Paul Heidelbach: Dt. Dichter u. Künstler in Escheberg u. Beziehungen der Familie v. d. M.-Escheberg zu den Familien Tieck u. Geibel. Marburg 1913. – Wilhelm Schoof: Goethe u. E. Otto v. d. M. Weimar 1937, Viermonatsschr. der Goethe-Gesellsch. Bd. 2, S. 226–231. Achim Hölter

Malsch, Johann Caspar, * 25.12.1675 Staffort bei Karlsruhe, † 12.9.1742 Karlsruhe. – Pädagoge, Philologe u. neulateinischer Dichter. Der Sohn eines leibeigenen Bauern aus einem kleinen Ort unweit von Philippsburg in der

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baden-durlachischen Markgrafschaft fungierte nach einem durch den pfälz. Erbfolgekrieg (1689 Zerstörung Durlachs) bedingten abenteuerl. Lebenslauf nacheinander als Gymnasiallehrer in Cannstatt, Durlach u. seit 1721 am Karlsruher Athenaeum, einem Gymnasium illustre (dort Rektor seit 1735). Wegen enger Beziehungen zu den Hallenser Frühpietisten August Hermann Francke u. Johann Anastasius Freylinghausen pietistischer Neigungen verdächtigt, geriet seine Karriere entschieden ins Stocken. Einen Ruf an die Universität Gießen durfte der hoch geschätzte Philologe ebenso wenig annehmen wie an das Göttinger Gymnasium, da sein Landesherr auf seiner Eigenschaft als Leibeigener beharrte. Das literar. Profil von M. ist bestimmt einerseits durch Schulschriften wie mehrfach aufgelegte kommentierte Ausgaben der Disticha Catonis (Ffm. 1722) u. des Cornelius Nepos (Ffm. 1723), durch lat. Fabeln eigener Provenienz, die der Karlsruher Gymnasialrektor Johann Christian Sachse u. d. T. Fabulae postum 1769 in Frankfurt/M. u. Leipzig publizierte, andererseits durch zahlreiche lat. Gelegenheitsgedichte u. lat. u. dt. Prosaschriften. Wichtig für die Zeitgeschichte ist die einzige Beschreibung der Gründung Karlsruhes (1715) von einem Augenzeugen in der Sammlung Noctium vacivarum lucernae vigilatae (Karlsr. 1728/29), eine ungeachtet antikisierender Stilisierung bedeutende Quelle, die den Gründer Karlsruhes mit dem röm. Kaiser Augustus parallelisiert. Dazu kommen zahlreiche Gratulationscarmina, etwa auf die Geburt des markgräflich-bad. Prinzen Carl Magnus in lat. Sprache u. dt. Übertragung oder auf die Hochzeit von Friedrich von BadenDurlach mit Anna Charlotte Amalie von Nassau-Oranien (1727) oder auch ein Epicedium auf den Tod Markgraf Karl Wilhelms, die M. zu dem wichtigsten Vertreter eines lateinisch geprägten nachbarocken Späthumanismus im dt. Oberrhein-Gebiet machen. Eine 1702 in Frankfurt/M. erschienene Doppelsammlung von Elegien u. hexametr. Gedichten (Elegorum Juvenilium Monobiblos u. Heroicorum Juvenilium Monobiblos) bildet in autobiogr. Tönung eine wichtige Quelle zur südwestdt. Gelehrtengeschichte der Zeit, aber

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auch zu den Ereignissen des pfälz. Erbfolgekriegs. Aus dem Rahmen der höfisch-gelehrten Panegyrik fällt ein langes Säkulargedicht, das M., wohl um der lutherischen bad. Orthodoxie seine Rechtgläubigkeit zu beweisen, mit scharf antipäpstl. Tendenz zur Zweihundertjahrfeier der Reformation 1717 in horazischen Versen verfasste. Es verwickelte den Durlacher Dichter in einen erbitterten Streit mit dem katholischen Kontroverstheologen Nikolaus Weißlinger, der u. d. T. Friß Vogel oder Stirb! eine scharfe Replik publizierte, die von M. wiederum mit einer Gegenschrift, Keines von beyden, Herr Weißlinger! (o. O. [Karlsr.] 1732), beantwortet wurde. Das umfangreiche Gedicht Cecidit! Cecidit/Babylon Septicollis! Hallelujah! (»Gefallen, ja gefallen ist das siebenhüglige Babylon! Hallelujah«; Durlach 1717), bringt das päpstl. Rom mit der babylon. Hure der Apokalypse in Verbindung. Im Zusammenhang mit der Gründung Karlsruhes steht ein lat. Reisegedicht (Hodoeporicon Itineris Malschiani), in dem der Verfasser Erlebnisse auf einer Reise durch Süddeutschland reflektiert. Um Geld für die ab 1717 im Bau befindl. Stadtkirche von Karlsruhe zu beschaffen, reiste M. 1719 nach Ulm u. Augsburg. Gerade dieses in der Nachfolge des Horaz stehende Vershodoeporicon spiegelt die prekäre Situation eines im lateinisch geprägten Späthumanismus sozialisierten Gelehrten, der als ärml. Pedant missachtet zu werden droht u. sich im Bewusstsein seiner gelehrten Würde entschieden gegen diese Geringschätzung wehrt, so etwa auch in der Fabel Illiteratus Dives et Litteratus Pauper (Fab. 16 der Sammlung von 1769). Literatur: Hermann Wiegand: J. C. M., ein Durlacher u. bad. Humanist des Barock. In: Markgrafen-Gymnasium Durlach, Jahresber. 1997/98. Karlsr. 1998, S. 13–31 (mit lat. Textanhang zur Gründung Karlsruhes). – Klaus P. Oesterle: Die Lampe des Nachtarbeiters. Bemerkungen zur ältesten Stadtgesch. v. Karlsruhe. In: Bad. Heimat (2003), H. 1, S. 128–152. – H. Wiegand: Das Hodoeporicon des J. C. M. (1675–1742). Ein Spätling der nlat. Reisedichtung. In: Frühneuzeitl. Bildungsreisen im Spiegel lat. Texte. Hg. Gerlinde Huber-Rebenich u. Walther Ludwig. Weimar/Jena 2007, S. 213–228. – Wilhelm Kühlmann: Facetten der Aufklärung in Baden. Johann Peter Hebel u. die

637 Karlsruher Lat. Gesellsch. Freib. i. Br. 2009 (Register!). Hermann Wiegand

Malß, Karl (Balthasar), * 2.12.1792 Frankfurt/M., † 3.6.1848 Frankfurt/M. – Dialekt- u. Bühnenautor.

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zwei weitere Hampelmanniaden sowie viele Nachahmungen. Die pralle Dienstbotenwelt der Jungfern Köchinnen (Ffm. 1836) schließlich nimmt viel vom Naturalismus vorweg. Dramatischen Duktus haben auch die Nebenwerke. Durch auswärtige Gastspiele bis Stuttgart verbreitet, wurde M. zum Initiator des mundartl. Lokaltheaters im dt. Südwesten.

Aus achtbarer Handelsfamilie gebürtig, war M. 1809–1812 Volontär in Lyon, dann Offizier der Bürgerwehr seiner Vaterstadt im Ausgabe: Frankfurter Mundartstücke. Hg. VolWiderstand gegen Napoleon. Nach einem ker Klotz, Erwin T. Rosenthal u. Rainer Schönhaar. Praktikum bei dem hess. Staatsbaumeister Ffm. 1988. Georg Moller in Mainz absolvierte M. 1818 Literatur: Carl Gebhardt: Nachber. zum ein Architekturstudium in Gießen, verzich- Neudr. des ›Bürger-Capitain‹, S. 129–194. – Volker tete aber auf eine Stelle in preuß. Diensten. Klotz: Bürgerl. Lachtheater. Mchn. 1980. – Ders.: 1821 wurde er Verwaltungsdirektor des Mund-Art als Maul-Kunst: Frankfurter LokalposFrankfurter Theaters, das er seit 1842 mit sen v. K. M. In: Ders.: Literaturbeamter auf Lebenszeit. Darmst. 1991, S. 79–87. – Rainer Schöneinem Musik- u. einem Schauspieldirektor haar: Der ›Borjer‹ als lustige Person in den Frankauf ihr eigenes hohes Risiko leitete. Geld- u. furter Hampelmannstücken v. K. B. M. In: Die Theatersorgen erlaubten ihm nur wenige lustige Person auf der Bühne. Hg. Peter Csobádi. Werke u. schadeten zunehmend seiner Ge- Anif/Salzb. 1994, S. 601–622. – Petra Breitkreuz: sundheit. Unverheiratet u. ein hypochondr. Mundartliches rund um Stoltze – v. K. M. bis FerSonderling, lebte M. meist bei seinen Ge- dinand Happ. In: Werk u. Leben des Schriftstellers schwistern. Von Depressionen geplagt, be- Friedrich Stoltze. Ffm. 1997, S. 227–237. – Ekkehard Pluta: Komödienstoffe zu vermieten. Vom ging er vermutlich Selbstmord. Auf den Feldzügen von 1813 u. 1815 Vaudeville zur Gesellschaftssatire. Metamorphosen führte M.’ enge Tuchfühlung mit den eines frz. Sing-Spiels im dt. Theater des Vormärz. In: Theaterverhältnisse im Vormärz. Hg. Maria Frankfurter Mittel- u. Unterschichten zu dem Porrmann. Bielef. 2002, S. 175–196. Lustspiel Der alte Bürger-Capitain (Ffm. 1820. Rainer Schönhaar † / Red. Neudr. Heidelb. 1921. Ffm. 1963). 1821 uraufgeführt, gilt es dem Reflex aktueller Weltereignisse im einheim. Handwerker-AllMaltitz, (Friedrich) Apollonius Freiherr tag; Börne begrüßte es als »wahres Meistervon, * 11.6.1795 Gera, † 2.3.1870 Weimar. stück [...], als eine Statistik des Frankfurter – Diplomat, Schriftsteller. Volksgeistes« (in: Die Wage, 1821). Es gibt dafür kaum Vorboten im lokalen Dialekt, al- Wie sein jüngerer Bruder Franz Friedrich lenfalls einige Nähe zum frühen Wiener folgte M. 1812 in Karlsruhe seinem Vater in Volksstück (Bäuerle). Statt konstruierter Ab- den diplomat. Dienst (für den russ. Zaren), läufe treten Orts- u. Zeitverhältnisse in viel- den er bis 1865 ausüben sollte. Noch in stimmigen Dialekt- u. Sprachtönungen Karlsruhe veröffentlichte M. sein Erstlingshandfest hervor. Solche Zeitbezüge u. M.’ werk Poetische Versuche (Karlsr. 1817; wegen kritisch-liberale Gesamthaltung verleihen des im Titel abgekürzten Vornamens »A.« auch seinen übrigen sechs Lokalpossen Ei- häufig fälschlicherweise Gotthilf August von genwert, obgleich sie auf Berliner Vorlagen u. Maltitz zugeschrieben), eine Gedichtsammdiese meist auf Originalen aus Paris beruhen. lung, die dem Frühwerk des älteren Bruders Schon M.’ Intermezzo zum Stelldichein im Ti- noch stark ähnelt, u. versuchte sich an einigen voli (Ffm. 1832) kommt den zwanglos farbi- zunächst ungedruckt gebliebenen Tragödien, gen Volksszenen Goethes u. Büchners nahe. von denen das röm. Trauerspiel Virginia (nach Für die Landpartie nach Königstein (Ffm. 1832) der legendenhaften Episode bei Livius; 1821, erfand er den schwadronierenden Klein- gedr. Weimar 1858) später einige Anerkenhändler Hampelmann. Darauf folgten 1834 nung erfuhr. Infolge eines Duells zwischen-

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zeitlich nach Stuttgart versetzt, wo er Schaffen prägen nun bibl. Stoffe ([an.] DraFreundschaft mit Matthisson schloss, ge- matische Szenen und andere Dichtungen. Als Malangte er 1821 nach Berlin. Hier fand M. über nuscript gedruckt. Weimar 1854); in seinen Karl August von Varnhagen, den er bereits in zwei Gesängen zum Epos Der ewige Jude Karlsruhe kennengelernt hatte, Eingang in (Weimar) spiegelt sich gleichfalls sein Ungeden Salon Elise von Hohenhausens, den u. a. nügen an der Gegenwart: Das Deutschland auch Heine, Chamisso, Fouqué u. Bettine von des Dreißigjährigen Krieges fungiert als Arnim besuchten. In dieser Zeit entstand M.’ Sinnbild des zersplitterten Reiches u. M.’ im humorist. Tierroman Geständnisse eines Rappen Vorwort selbst kommentierte Mythenkormit Anmerkungen seines Kutschers (an., Bln. rektur (die schwerste Strafe des Wanderers 1826), dessen Konzeption einer fiktiven Ahasverus ist hier der erst spät überwundene Herausgabe autobiografischer Skizzen eines Zweifel an Christus) bezieht sich kritisch auf bildungsbeflissenen Kutschenpferdes offen- die säkularen Bestrebungen seiner Zeit. In den Weimarer Kreisen als öffentl. Figur sichtlich das Muster von Hoffmanns Lebensansichten des Katers Murr repetiert. Nach wei- ebenso wie als Dichter bis zuletzt hoch anteren Stationen in Wien u. Warschau ver- gesehen – noch in der Spielzeit 1857/58 brachte M. die Jahre von 1830 bis 1836 als wurde M.’ Lustspiel Des häuslichen Zwistes russ. Geschäftsträger in Rio de Janeiro. Der Jahrestag neben Lessing, Kotzebue, ShakeZyklus Von Jenseits des Meeres (in: Gedichte. speare u. Dumas am Hoftheater gegeben – Erster Band. Mchn. 1838) verarbeitet Stationen starb M. 1870 in seiner Wahlheimat. u. Eindrücke dieser Zeit, gelegentlich mit Weitere Werke: Vor dem Verstummen. Weimar sozialkrit. Engagement für die Rechte der 1858 (G.e). – Spartacus. Weimar 1861 (D.). – Quelle schwarzen Bevölkerung Brasiliens (Die Nege- u. Abgrund. Schauspiel in 5 Aufzügen. Weimar 1862. – Die Wunderkur der Hölle. Ein Nachtstück. rin; Das letzte Sclavenschiff). In der Zeit nach der Rückkehr nach Mün- Weimar 1863. Literatur: Carl Frhr. v. Beaulieu-Marconnay: chen u. der Hochzeit mit einer Gräfin BothM. In: ADB. – Angelika Pöthe: Schloß Ettersburg. mer arbeitete M. vorwiegend an einer Reihe von Lustspielen (Dramatische Einfälle. Mchn. Weimars Geselligkeit u. kulturelles Leben im 19. Jh. Weimar u. a. 1995. Philipp Gresser 1838. Zweiter Theil. Mchn. 1843). 1841 wurde er schließlich nach Weimar versetzt, wo er auch nach seinem Ausscheiden aus dem diMaltitz, (Franz) Friedrich Freiherr von, plomat. Dienst 1865 bis zu seinem Tode * 6.6.1794 Gera, † 25.4.1857 Boppard am blieb. Rhein. – Diplomat, Übersetzer, SchriftIm Weimar der sog. »Silbernen Zeit« entsteller. wickelte sich M. zu einem der wichtigsten Förderer des kulturellen Lebens, war Mitin- Als Sohn eines deutschbaltischen, in russ. itiator des Ettersburger Kreises um den jun- Dienst stehenden Diplomaten verbrachte M. gen Erbgroßherzog Carl Alexander u. redi- seine Jugend an verschiedenen Orten u. begierte bis 1848 das »Ettersburger Journal«. In gann seine eigene diplomat. Karriere 1812 in zahlreichen Gelegenheits- u. Freundschafts- Karlsruhe, wo er neben seinem Bruder gedichten auf lebende u. verstorbene Wei- Friedrich Apollonius als Attaché des Vaters in marer Künstler u. Intellektuelle pflegte u. der russ. Gesandtschaft am badischen Hof feierte M. das vergangene wie das gegenwär- wirkte. Hier entstanden auch M.’ erste poet. tige kulturelle Weimar (ges. u. a. in Drei Versuche, metrisch bisweilen unbeholfene Fähnlein Sinngedichte. Ein Fähnlein Sonette [...]. Übersetzungen zweier Dramen von Racine Bln. 1844. Noch ein Blatt in Lethe! Weimar (Athalia. Karlsr. 1816. Alzire. Karlsr. 1817) so1857). Einen weiteren Schwerpunkt von M.’ wie ein Kleinepos in trochäischen, achtversilyr. Produktion in Weimar bilden zeit- u. gen Strophen, das die romant. Vorliebe für kulturkrit. Sinngedichte, in denen sich M.’ schauerhafte Rittersujets bedient (Die Geister ästhetisch u. politisch restaurative Einstel- auf der Yburg. Rittersage. Karlsr. 1816). Die der lung immer deutlicher kundtut. M.’ dramat. badischen Markgräfin Amalia gewidmete

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Sammlung Gedichte (Karlsr. 1817) vereinigt Maltitz, Gotthilf August Frhr. von, * 9.7. freie Übersetzungen horazischer Lyrik, Gele- 1794 Königsberg, † 7.6.1837 Dresden. – genheitsgedichte u. patriot. Verse (zu den Lyriker, Erzähler u. Dramatiker. Befreiungskriegen) mit Balladen, für die wie M. unterbrach seine forstwiss. Ausbildung u. M.’ Yburg-Epos meist die stilisierte Gegend nahm 1813 als Husar an den Befreiungskrieum Baden-Baden als Schauplatz dient. Die gen teil, studierte dann ab 1820 an der heiteren Sinngedichte, eine Reihe spöttischer, Forstakademie zu Tharandt. Bald darauf gab aber harmloser Epigramme, denen einige er, gezwungen durch berufl. Misserfolg u. Lieder mit religiöser Thematik kontrastieren wegen einer satir. Schmähschrift gegen seine (darunter die umfangreichere Verserzählung Vorgesetzten, die Forstwirtschaft völlig auf u. Das Marienbild von Culm bey Carlsbad), beließ sich 1824 als freier Schriftsteller in Berlin schließen die inhaltlich heterogene, aber nieder. Außer Gedichten wie Streifzüge durch formal wenig abwechslungsreiche Sammdie Felder der Satyre und Romantik (Bln. 1825), lung. die »typische Früchte der charakterlosen, Die Diplomatenlaufbahn führte M. 1826 stilistisch verwaschenen zwanziger Jahre nach Washington u. zwei Jahre später nach sind« (Sengle), schrieb er Prosa u. v. a. TheaBerlin, wo er, schon seit seiner Jugend dem terstücke, die einigen Erfolg hatten. Geist des Katholizismus zugeneigt, 1830 Zensurschwierigkeiten anlässlich des im konvertierte. In M.’ Berliner Zeit fällt seine Königstädtischen Theater aufgeführten letzte, anonyme Publikation der PhantasiebilSchauspiels Der alte Student (Hbg. 1828) – es der, gesammelt am malerischen Ufer der Spree (Bln. nahm Partei für die Sache Polens – zwangen 1834), eine Auswahl früher Gedichte bis 1821 ihn 1828, Preußen zu verlassen. In Hamburg u. der Ergebnisse seines ab 1829 wieder eingab er 1829 bis 1831 den liberalen »Nordsetzenden lyr. Schaffens. Der religiöse, beideutschen Courier« heraus. Auch hier vernahe missionarische Ton tritt nun noch stärmochte M. mit seinen Gedichten, Schauspieker hervor, u. anders als der Titel suggeriert, len u. Satiren nicht über das Niveau des Diatmen M.’ Dichtungen kein Lokalkolorit lettanten hinauszukommen. Nach einem mehr. Selbstironische Verarbeitungen seiner Aufenthalt im Paris der Juli-Revolution, in Diplomatenexistenz – eine metr. Anweisung Karlsruhe u. Stuttgart wählte er schließlich zur Verfertigung von Geschäftsbriefen nach Dresden zu seinem Wohnsitz u. suchte die dem »Thermometer conventioneller GefühBekanntschaft von Hell u. Kind, deren pseule« u. die Antrittsnote des Bevollmächtigten verdoliterar. »Abendzeitung« ihm ein willkomschiedener kleiner Negerfürsten an den Minister der menes Publikationsorgan war. immerwährenden Verlegenheiten des Kaisers von Weitere Werke: Gelasius, oder Der graue Marocco – lockern die Phantasiebilder auf. Wanderer im 19. Jh. Lpz. 1826. – Schwur u. Rache. 1837–1853 war M. Gesandter des Zaren in Bln. 1826 (D.). – Hans Kohlhaas. Bln. 1827 (Trag.). – Den Haag, bevor er ab 1854 bis zu seinem Tod Pfefferkörner. 4 Bde., Hbg. 1831–34 (Prosa u. L.). in Boppard am Rhein lebte. Literatur: Joseph Kehrein: Die dramat. Poesie M.’ Stil ist eklektizistisch. Die Bandbreite der Deutschen. Bd. 2., Lpz. 1840, S. 258 ff. – Sengle des Tons reicht von dramat. Pathos, das an die 2, passim. – Franz Schnorr v. Carolsfeld: M. In: von M. verehrte Weimarer Klassik, insbes. ADB. – Malte Dießelhorst: Zur Verderbnis der Schiller, erinnert, über galante Ironie bis hin Pferde in Heinrich v. Kleists Novelle ›Michael zu religiöser Empfindsamkeit. Aus M.’ Kohlhaas‹ (1810) u. G. A. v. M. Drama ›Hans schmalem Œuvre war der frühen Bearbeitung Kohlhaas‹ (1828). In: ›Zur Erhaltung guter Ordvon Schillers Demetrius-Fragment (Karlsr. nung‹. FS Wolfgang Sellert. Hg. Jost Hausmann. Köln u. a. 2000, S. 455–465. 1817) die größte Wirkung beschieden. Philipp Gresser

Henk J. Koning / Red.

Mand

Mand, Andreas, * 14.12.1959 Duisburg. – Prosa-Autor.

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dann auch das Stipendiatendasein u. die erste Vaterschaft des Jungautors. Weitere Werke: Innere Unruhen. Hbg. 1984

M. entstammt einem protestant. Pfarrhaus, (R.). – Der Traum des Konditors. Bln. 1992 (R.). – wuchs auf in Krefeld u. Essen, studierte Peng. Filmerzählung. Stgt. 1994. – SchlechteKommunikation u. Ästhetik u. a. in Osna- nachtgesch. Augsb. 2004 (R.). brück. Seine literar. Anfänge liegen in der Literatur: Willi Winkler: Das schöne Gefühl. linken Literatur- u. Hausbesetzerszene; der In: Der Spiegel 34 (1990), S. 162–164. – Moritz Erstling Haut ab (Hbg. 1982) ist ein Zeugnis Baßler: Der dt. Pop-Roman. Die neuen Archivisten. heftiger Auseinandersetzung mit dem Ro- Mchn. 2002, S. 4–45. – Thomas Kraft: A. M. In: wohlt-Lektorat u. erschien schließlich in der LGL. Moritz Baßler Edition Nautilus. In den 1980er Jahren war M. Sänger, Texter u. Gitarrist der Band »Die Mandelslo, Johann Albrecht von, * 15.5. falschen Freunde« (Demos als CD: eine kleine 1616 Schönberg/Mecklenburg, † 15.5. Feile. Augsb. 2007). 1644 Paris oder Blois. – Verfasser einer Im Zentrum seines autobiografisch infor- Reisebeschreibung. mierten Werkes stehen die Grover-Romane (Grovers Erfindung. Augsb. 1990. Grover am See. M. kam 1629 als Page an den Hof Friedrichs Augsb. 1992) u. die Romane um Paul Schade III. von Schleswig-Holstein-Gottorf. An der (Das rote Schiff. Augsb. 1994. Kleinstadthelden. Gesandtschaft des Herzogs nach Russland u. Zürich 1996. Vaterkind. Salzb. u. a. 2001. Paul Persien (1633–1639), die durch Adam Oleund die Beatmaschine. Augsb. 2006). Mit dem arius’ Reise- u. Länderbeschreibung bekannt altklugen Ich-Erzähler Andreas/Grover er- geworden ist u. der auch Paul Fleming anfindet M. ein Verfahren, das komplette Archiv gehörte, war er zunächst als Kammerjunker, eines Zwölfjährigen in den frühen 1970er dann als Stallmeister beteiligt. In Isfahan Jahren erzählerisch zu erfassen, vom fami- trennte sich M. im Dez. 1637 mit Genehmiliären Dia-Abend bis zum Geha-Pelikan- gung des Herzogs von der Gesandtschaft u. Krieg in der Schule. In kurzen Abschnitten reiste nach Bombay weiter, besuchte internat. (Das Einholen, Die Frau, die bei uns putzt, Das Handelsplätze an der ind. Westküste u. kehrte, nach einem London-Aufenthalt 1640, Taschengeld) wird die regelhafte Erfahrung nach Gottorf zurück. 1641 war er zu Vereines Pubertierenden in artifizieller Naivität handlungen in Stockholm u. reiste noch im notiert. Indem der Erzähler mit seiner Welt selben Jahr mit anderen Adligen durch die kongruiert, vermeidet er eine ErwachsenenNiederlande, England u. Frankreich. 1643 perspektive. Mit seinem archivierenden Ertrat er als Rittmeister in frz. Dienste. zählen ohne Problembewältigung u. TiefenM. hinterließ seinem Freund Olearius ein struktur, das zum Katalogverfahren neigt, Tagebuch seiner Reise, dessen zweite Hälfte kann M. als Vorläufer der Popliteratur der dieser überarbeitet u. erweitert als Morgenspäten 1990er Jahre gelten. Für Grover beländische Reyse-Beschreibung (Schleswig 1658. kam er den Niederrheinischen Literaturpreis Internet-Ed.: dünnhaupt digital. Hbg./ 1992. Auch die Schade-Romane setzen das Schleswig 21668) veröffentlichte; der entProjekt einer literar. Ersterfassung bundessprechende Teil des Tagebuchs wurde 1942 republikanischer Alltagswirklichkeit fort, ediert: Journal und Observation (Kopenhagen). müssen aber das Erzählverfahren dem erM.s Buch ist der erste deutschsprachige Bewachsenen Protagonisten angleichen u. somit richt über Indien. Er war weit verbreitet, die literar. Spezifik u. Geschlossenheit des nicht zuletzt durch die Aufnahme in OleariGrover-Kosmos preisgeben. Auf Spannungsus’ Reise-Beschreibungen (Hbg. 1696. Internetbögen u. Plotting wird weiterhin ebenso Ed.: dünnhaupt digital), u. wurde auch ins verzichtet wie auf sprachl. Manierismen. GeEnglische, Französische u. Niederländische genstand ist nun die oftmals eher quälende übersetzt. Welt der WG-Diskussionen, Demos, Astas u. Bandgründungen, in den späteren Bänden

Mander

641 Weiteres Werk: Ein Schreiben [...] an M. Adamum Olearium gethan, in welchem er seine Reise auß Persien nach Ost-Indien durch den Oceanum summarischer Weise erzehlet. [An:] A. Olearius: Offt begehrte Beschreibung der newen oriental. Reise [...]. Schleswig 1647. Internet-Ed.: dünnhaupt digital. Übersetzung: Voyage en Perse et en Inde de J. A. v. M. (1637–40). Le journal original. Übers. u. hg. v. Françoise de Valence. Paris 2008 (frz.). Literatur: Bibliografie: VD 17. – Weitere Titel: Adam Olearius: Klageschrifft, uber den allzufrühzeitigen Hintritt auß dieser Welt des [...] J. A. v. M. Schleswig 1645. – Johannes Moller: Cimbria literata. Bd. 2, Kopenhagen 1744, S. 524 f. – Margarete Refslund-Klemann: Einl. zu: Journal u. Observation. a. a. O. – D. Lohmeier: J. A. v. M. In: BLSHL, Bd. 3, S. 186 f. – Karin Unsicker: Weltl. Barockprosa in Schleswig-Holstein. Neumünster 1974. – Reno Stutz: Lust auf Abenteuer u. Entdeckungen. Die morgenländ. Reise des J. A. v. M., Edler v. Schönberg. In: Mecklenburger im Ausland [...]. Hg. Martin Guntau. Bremen 2001, S. 31–37. – Ders.: J. A. v. M. In: Biogr. Lexikon für Mecklenburg. Bd. 5, Rostock 2009, S. 212–215. Dieter Lohmeier / Red.

Mander, Matthias, eigentlich: Harald Mandl, * 2.8.1933 Graz. – Erzähler, Dramatiker, Essayist. Die Erfahrungen einer schweren Kindheit – M. wuchs als Waise bei einer Tante in der südl. Steiermark auf – sowie die hauptberufl. Tätigkeit als Manager im Rechenwesen eines großen österr. Industriebetriebes prägen M.s literar. Schaffen. Nach Beiträgen in Zeitschriften (u. a. »Wort in der Zeit«), Zeitungen (u. a. »Die Presse«, »Ruhr-Wort«) u. im Rundfunk erschien 1966 sein erster Erzählband Summa Bachzelt (Recklinghausen). Für die Titelerzählung hatte M. zwei Jahre zuvor den Preis der Innsbrucker Jugendkulturwochen erhalten. Das in ihr angedeutete literar. Modell einer Lebensbilanz wird in seinem ersten Roman, Der Kasuar (Graz/Wien/Köln 1979), zur Bestandsaufnahme einer ganzen Lebenswelt ausgeweitet. Angesichts seiner tödl. Krankheit kommt der Buchhalter Rausak, die Hauptfigur, zu einem Verständnis seiner paradoxen Existenz, symbolisch verdichtet im Bild des Kasuars, eines Laufvogels (»starkes Landtier, dennoch eine Flugseele«).

Die herrschenden Verhältnisse werden von ihm als feindlich u. lebensgefährlich erlebt, nie aber pauschal verworfen; die Hoffnung auf ihre Verbesserung im Sinne einer umfassenden Humanität bleibt für ihn wie für viele andere Figuren des Romans bestehen. Im bewussten Rückgriff auf religiös fundierte Werte wie Opferbereitschaft u. Nächstenliebe unternimmt M. wiederholt den Versuch, Möglichkeiten u. Gefährdungen der Industriegesellschaft erkennbar zu machen u. zur Diskussion zu stellen. »Wie Robert Musil sieht Mander im Roman eine Realienkunde seiner Epoche« (Hopf). Er zeichnet das Panorama eines berufl. Alltags, der nur scheinbar eine geschlossene Sphäre ist, sich in Wahrheit aber als äußerst brüchig erweist u. gänzlich unerwartet Ausblicke eröffnet auf Dimensionen, die sich einem rein rationalen Zugriff entziehen: Momenthaft lassen sich in der Welt der Zahlen u. geregelten Abläufe Spuren u. Zeichen von Transzendenz erahnen, kommen unkontrollierbare Manien u. Obsessionen zum Vorschein. Bes. deutlich wird das in manchen der z.T. stark autobiografisch gefärbten Erzählungen des Bandes Das Tuch der Geiger (Graz 1980) sowie in den Romanen Wüstungen (Graz 1985) u. Der Sog (Graz 1989), die gemeinsam mit dem Kasuar die »EBCTrilogie« bilden, so benannt nach jenem fiktiven Industriekonzern, der zwar nicht ausschließlicher Schauplatz, wohl aber Ausgangs- u. Endpunkt aller drei Romane ist. Nach Vollendung dieser Trilogie wandte sich M. zunächst vom Bereich der industriellen Arbeitswelt ab u. befasste sich verstärkt mit der österr. Zeitgeschichte, was seinen ersten Niederschlag in dem Roman Cilia oder der Irrgast (Graz 1993) fand. Nach längerer Pause begann er mit der Arbeit an einer neuen, noch unabgeschlossenen Romantrilogie, deren einzelne Teile v. a. durch die Figur des Hans Zisser, eines Alter Egos des Autors, miteinander verknüpft sind. Ihr erster, Garanas oder Die Litanei (Wien 2001), »ein Schlüsselroman der Jahrtausendwende in Österreich« (Holzner), erzählt davon, wie ein traditionsreicher Wiener Industriebetrieb dem Kalkül einiger weniger skrupelloser Bankiers u. Geschäftemacher zum Opfer fällt, u. formuliert vor diesem Hintergrund eine scharfe

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Kritik am gegenwärtigen globalisierten Ka- Manderscheid, Roger, * 1.3.1933 Itzig/ pitalismus; die Binnenerzählung des zweiten Luxemburg. – Lyriker, Prosaautor Teiles, Der Brückenfall oder Das Drehherz (Wien (deutsch u. luxemburgisch). 2005), spielt in der Zeit des österr. Ständestaats u. hat einen Professor der Wiener Der Wagnerssohn zählt als Mitbegründer des Technischen Universität zum Protagonisten, »Lochness-Verlages Luxemburger Autoren» dessen Existenz vernichtet wird, nachdem er u. der »Letzebuerger Konschtgewerksacht» sich standhaft weigert, die Fehlkonstruktion (Luxemburger Kunstgewerkschaft) sowie als der Neuen Wiener Reichsbrücke, eines gro- Erzähler zu den herausragenden Literaten ßen staatl. Prestigeprojekts, wider besseres seiner Heimat. M. besuchte das JungengymWissen zu billigen. In beiden Romanen nasium Athenäum (sog. Kolléisch) in Lunimmt M. konsequent die Perspektive der xemburg (1946–1952) u. war danach kurze Opfer ein u. solidarisiert sich mit ihnen, re- Zeit als Lehrer tätig. Reserveoffizier der Arflektiert u. hinterfragt dabei aber auch un- mee (1953–1956), Eisenbahnbeamter im entwegt das Schreiben selbst als eine Mög- Verkehrsministerium (1956–1973) u. Kultuslichkeit, den Opfern Gehör u. Gerechtigkeit beamter (1977–1993). M. ist Mitgl. des zu verschaffen. In Stil u. Aufbau lässt sich P.E.N.-Zentrums Deutschland, war Präsident eine starke Nähe zur dokumentarischen Li- des Luxemburger Schriftstellerverbandes LSV teratur erkennen. Fakten spielen eine un- (bis 1997, danach Ehrenpräsident). M.s Werke zeichnet Freude an Sprach- u. gleich größere Rolle als Fiktionen, das Gros der handelnden Figuren hat reale Vorbilder; Formexperimenten aus, die in z.T. der darhistor. Texte u. Zeugnisse werden in die Ro- stellenden Kunst entlehnten Montage- u. manhandlung integriert. Ein dritter Teil Collagetechniken ihren Ausdruck findet. Die dieser Trilogie ist in Vorbereitung; von den Unfähigkeit des sich immer mehr entindiviersten beiden Teilen existieren Bühnenfas- dualisierenden Menschen zur Kommunikasungen, Der Fall der Reichsbrücke (Urauff. Wien tion schließlich thematisieren zahlreiche sprachreflexive Hörspiele wie Glaswand (in: 2008) u. Ledergeld (Urauff. Wien 2009). Für sein erzählendes Werk erhielt M. bis- Impuls 3, 1966) oder radiografie (in: Statisten. lang mehrere Literaturpreise, u. a. den Anton- Esch-Alzette 1970). M.s Hauptthemen u. -motive bündelt der Gedichtband Ikarus. Wildgans-Preis der österr. Industrie (1980). Literatur: Zsuzsa Széll: Langsame Heimkehr – Dreißig Ausflüge und ein Absturz (Luxemburg wohin? In: ABNG 14 (1982), S. 123–137. – Karl 1983), ein durch drei Hauptfiguren zusamHopf: Versuch über M.s ›Wüstungen‹. In: LuK 203/ mengehaltener satir. Liebes- u. Hassgesang 204 (1986), S. 161–164. – Michael Mitchell: The auf das ausweglose »Fließbanddasein« in der Tradition of the ›Big‹ Novel in Austria: Sebestyen, muffigen Provinzialität Luxemburgs, »der Vasovec and M. In: MAL 23 (1990), H. 3/4, S. 1–15. größten Kleinstadt Mitteleuropas«; M. ver– Herbert Maierhofer: Verstehen aus Ver-Antwor- schmilzt in diesem Poem – wie in allen foltung. Das Wirklichkeitsverständnis im Roman ›Der genden Werken in Kleinschreibung u. »foKasuar‹ v. M. M. Phil. Diss. Graz 1990. – Joseph P. netischer ortografie« – klass. Vorbilder verStrelka: Der moderne große Roman u. M. M. In: Ders.: Mitte, Maß u. Mitgefühl. Werke u. Autoren fremdend mit der Sprache von Werbung, der österr. Literaturlandschaft. Wien 1997, Sensationspresse u. Comics. Einzelne PassaS. 183–201. – Robert G. Weigel: Vom Marchfeld gen dieses auch grafisch originell gestalteten zur Welt. M. M.s universalist. Österreichbild in Textes stehen in Luxemburger Mundart, in ›Wüstungen‹. In: Ders.: Zerfall u. Aufbruch. Profile die M. auch Alfred Jarrys Ubu Roi (Den Ubbu gët der österr. Lit. im 20. Jh. Tüb. 2000, S. 201–213. kinnek. Urauff. Wiltz 1980) übersetzte u. in Herbert Maierhofer / Christian Teissl der sein Opus Magnum, eine autobiogr. Roman-Trilogie, verfasst ist, deren erster Band, Schacko Klak (Echternach 1988), 1989 unter Regie von Frank Hoffmann u. Paul Kieffer verfilmt wurde. In diesem Buch berichtet er, wie er die Kriegszeit als kleiner Junge emp-

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funden hat. Es folgten De Papagei um Käschtebam (Echternach 1991) mit Szenen aus der Nachkriegszeit sowie Feier a Flam (Echternach 1995). Sie wurden unter Mitarbeit des Autors ins Deutsche übersetzt. Die krit. Schärfe dem Land Luxemburg gegenüber weicht hier wie auch im Roman Kühe im Nebel (Nospelt 2003) mehr u. mehr Altersweisheit u. -milde, die ihren Höhepunkt in dem Entwicklungs-, Liebes- u. Künstlerroman Kasch, e genie verschwënnt an der landschaft (Nospelt 2004) erreicht. M. wurde u. a. mit folgenden Auszeichnungen geehrt: Nationaler Literaturpreis »Prix Batty Weber» (1990), Literaturpreis der »Fondation Servais« 1992 für den besten Roman 1991 (de papagei um käschtebam), Gustav-Regler-Preis der Kreisstadt Merzig für sein Gesamtwerk (2005). Ausstellungen seiner Grafik fanden u. a. in Luxemburg, EschAlzette, Kiel, Saarbrücken u. Itzig statt. Weitere Werke: Der taube Johannes. Luxemburg 1963 (E.en). – Die Dromedare. Luxemburg 1973 (R.). – Rote Nelken für Herkul Grün. Echternach 1983 (D.). – Mein Name ist Nase: Gesch.n aus drei Jahrzehnten. Echternach 1993. – Penalty. Saarländ. Rundfunk 1995 (Hörsp.). – Der Papagei auf dem Kastanienbaum (De papagei um käschtenbam, dt. Übers.). Blieskastel 1999 (R., dt.). – Schwarze Engel. Gesch.n. Sandweiler 2001 (E.en). – de ball ass keng banann. e futtball-billerbuch. Sandweiler 2006. – Der sechste Himmel. Gesch.n aus den fünfziger Jahren (Feier a Flamm, dt. Übers.). Blieskastel 2006. – Kasch. Ein Genie verschwindet in der Landschaft (Kasch, e genie verschwënnt an der landschaft, dt. Übers.). Gollenstein 2008. Literatur: Georges Hausemer: M. In: KLG. Klaus-Peter Walter

Mandeville, Jean de, † 1372 Lüttich. – Verfasser eines Reisebuchs. Am Anfang u. Ende seines Buchs über eine Reise bis in die Länder jenseits der Meere nennt sich als Ritter, Reisender u. Autor ein Jean de Mandeville, der, in St. Albans in England erzogen, am St. Michaelstag 1322 aufgebrochen sei. Seine engl. Herkunft bestätigen Lütticher historiograf. Quellen u. eine Grabinschrift in der Lütticher Kirche des Wilhelmitenordens, denen zufolge er Arzt,

Naturforscher u. Philosoph war u. sich nach seinen Reisen unter anderem Namen (Jean de Bourgogne, dit à la Barbe) bis zu seinem Tod 1372 in Lüttich aufgehalten hat. Hier wie in zwei späteren Urkunden wird ihm gehörender Besitz erwähnt. Er selbst lässt sein Reiseleben, das er nur einer Krankheit wegen aufgegeben habe, 1357 enden, aber 1356 gilt in der Mehrzahl der Textzeugen der autornächsten (Kontinentalen) Version als Jahr der Niederschrift seines Werks, dessen Urfassung verloren ist. M. wählte statt des Lateinischen das Französische, das die Sprache aller drei Ausgangsversionen ist, der Kontinentalen, der Lütticher (wohl 1356/1396), von der u. a. die lat. Vulgata-Fassung abhängt, u. der Insularen, der in England vor 1390 entstandenen »Norman French« Version. Der vorgebl. Bericht ist jedoch literar. Fiktion. Sein Verfasser spricht nicht aus eigener Reiseerfahrung, sondern aus umfassender Kenntnis der Reiseliteratur seiner Zeit. Nach Jahrhunderten einer europaweiten Rezeption als eines der beliebtesten Reisebücher begann im späten 19. Jh. die Analyse der Quellen der Voyages. Namhaft gemacht wurden unter etwa 20 Werken aus verschiedenen literar. Bereichen insbes. die Enzyklopädien Speculum Naturale u. Speculum Historiale des Vinzenz von Beauvais (1205–1264) u. das Florilegium La Flor des Estoires de la Terre d’Orient des Haiton (1307). M.s Hauptquellen sind jedoch zwei ihm zeitgenöss. Reiseberichte: für den ersten Teil seines Werks der Bericht des ehemaligen Dominikaners Wilhelm von Boldensele (1337) über eine Palästinawallfahrt u. für den zweiten Teil der Bericht des Franziskaners Odoricus de Pordenone (etwa 1330) über eine Asienreise. M.s Bericht setzt mit Beschreibungen der Wege durch Europa ein, auf denen Jerusalem, näherhin das Hl. Grab, erreicht werden kann. Im Zentrum seines Interesses stehen zunächst die Passionsreliquien, in erster Linie das Hl. Kreuz, u. hl. Stätten. Sie führen ihn nach Konstantinopel, das ihm auch Anlass für Ausführungen über das griech. Christentum bietet. Für die Weiterreise nach Jerusalem erörtert er wiederum verschiedene Routen u. teilt Wissenswertes über die dabei berührten Länder u. Herrschaften mit. Es folgen geo-

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grafisch-histor. Darlegungen über westasiat. Reiche, Arabien u. Ägypten, das ebenfalls mit Angaben über mögl. Anreisewege aus europ. Ländern verbunden wird. Von dort aus wird Jerusalem über den Sinai u. dessen hl. Stätten erreicht. Die ausführl. Schilderung der hl. Stadt sowie die Beschreibungen anderer Städte u. Gegenden im Hl. Land münden in Empfehlungen für noch andere, spezifischen Bedürfnissen entsprechende Reiserouten nach Jerusalem. Ihnen schließt M. eine detaillierte Darstellung der Lehren des Islam u. des Lebens Mohammeds an. Im zweiten Teil seines Werks blickt der Autor auf Länder u. Reiche, dabei auch Amazonien, am u. jenseits des Mittelmeers bis Indien, das ihm als östlichster Teil der Welt um deren Mittelpunkt Jerusalem gilt. Über (südostasiatische) Inseln voller Wunderwesen u. Abnormitäten gelangt er zum chines. Reich (Kathai) des Großen Khans, dessen Kultur er mehrere Kapitel widmet. Kurz beschäftigt er sich mit den nordwestlich gelegenen Ländern bis Preußen u. Russland, um dann über die südlich angrenzenden Königreiche u. insbes. die Länder des Kaiser von Indien genannten Herrschers, dessen Gleichsetzung mit dem legendären Priester Johannes M. hier übernimmt, zu berichten. Viel mehr noch als im ersten erscheinen im zweiten Teil naturkundlichgeografisches Wissen, histor. Darlegungen oder farbige Schilderungen anderer Lebensu. v.a. Glaubensformen, Riten u. Gebräuche neben Erzählungen über Wunderbares oder Monströses. M.-Handschriften zirkulierten spätestens seit 1371, dem Jahr der ältesten datierten Handschrift, in der Pariser Hocharistokratie u. in universitären Kreisen, in denen sich auch zahlreiche Übersetzer um den frz. König Charles V. bewegten. Schon im letzten Viertel des 14. Jh. begann die Übertragung des Werks in fast alle Sprachen Westeuropas. Im deutschen u. niederländ. Raum waren drei Übertragungen verbreitet, von denen die deutschsprachige, der Lütticher Version folgende des Metzer Kanonikers Otto von Diemeringen († 28.8.1398) am meisten rezipiert wurde. Sie ist in 44 Handschriften u. zwei Fragmenten sowie in sieben Druckauflagen bis 1507, zwei Drucken von 1580 u. 1584 u. in

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zahlreichen Drucken der folgenden Jahrhunderte erhalten u. wurde kurz nach 1400 ins Tschechische übersetzt. Die späteren Handschriften sind reich mit Federzeichnungen illustriert, die die Holzschnitte der Drucke beeinflusst haben. Otto, der höchstwahrscheinlich dem im Raum von Metz u. Straßburg im 14. u. 15. Jh. häufig belegten Ministerialengeschlecht der von Diemeringen angehörte, war um die Jahreswende 1367/68 in das Metzer Domkapitel eingetreten u. ist 1368–1399 urkundlich belegt. Er dürfte in Paris ein Studium bis zum Grad des Magister artium absolviert haben. Die deutschsprachige Übertragung des Michel Velser (geb. vor 1370 in Völs am Schlern (Fiè)/Südtirol (?), † wohl nach 1400) entstand 1393–1398 u. ist in zwei Redaktionen in 40 Handschriften u. einem Fragment (seinem Konzept, wohl um 1388) überliefert. Nur eine Handschrift einer stark gekürzten Fassung ist illustriert; ihr stehen die drei Augsburger Frühdrucke von Anton Sorg (1480/81) u. Johann Schönsperger (1482) nahe. Velser gehörte dem Geschlecht der Herren von Vels an u. ist 1370–1386 urkundlich bezeugt. In seiner längsten Interpolation gibt er an, in Bardassano bei Chieri Verwalter einer Burg u. Richter (zweite Redaktion: im Dienst Ludovico Bertones, eines Mitglieds einer bekannten piemontesisch-frz. Adelsfamilie) gewesen zu sein; dort habe er über eine Bibliothek verfügt u. Französisch gelernt. Die wichtigsten Änderungen Velsers bestehen in autobiogr. Einschüben, am ausführlichsten dort, wo er die Glaubwürdigkeit der Erzählung hervorheben wollte; durch das Einfügen von Orts- u. Personennamen aus seiner Region band er das Werk in die Lebenswelt seines adeligen Südtiroler Publikums ein. Eine weitere dt. Fassung liegt in einer Handschrift vor. Von einer Übersetzung ins Niederländische sind 13 Handschriften u. zwei Fragmente bekannt; die auf ihr basierenden niederdeutsch-mitteldt. Übertragungen sind in zwei Handschriften überliefert. M.s Werk zählt zu den meistgelesenen Büchern des späten Mittelalters, wie nicht nur die insg. fast 300 erhaltenen Handschriften, sondern auch zahlreiche Druckauflagen be-

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zeugen. Viele Reisebeschreibungen des 15. Jh. sind von M. beeinflusst. Zu den bekanntesten zählen das Reisebuch des Hans Schiltberger (1381–nach 1427) aus München u. das Evagatorium (1484–ca. 1495) des Ulmer Dominikaners Felix Fabri. Die Tradition einzelner M.-Drucke reicht bis ins 20. Jh. Ausgaben: Le livre des merveilles du monde. Hg. Christiane Deluz. Paris 2000. – Sir John M.s Reisebeschreibung in dt. Übers. v. Michel Velser. Hg. Eric John Morrall. Bln. 1974. – Johann v. M.: Von seltsamen Ländern u. wunderl. Völkern. Ein Reisebuch v. 1356. Hg., bearb. u. übertragen aus dem Mittelhochdeutschen v. Gerhard Grümmer. Lpz. 1986. – J. d. M.: Reisen. Nachdr. der Erstdrucke der dt. Übers.en des Michel Velser [...] u. des Otto v. Diemeringen [...]. Hg. Ernst Bremer u. Klaus Ridder. Hildesh. u. a. 1991. – URL: http://www.handschriftencensus.de/werke/1911 (Michel Velser), 851 (Otto v. Diemeringen), 1823 (niederdt.-mitteldt. Übertragungen), 844 (niederländ. Übers.), 5575 (dt.). Literatur: Ernst Bremer: J. d. M. In: VL (auch: Nachträge u. Korrekturen). – Christiane Deluz: Le livre de Jehan d. M. Une ›géographie‹ au XIVe siècle. Louvain-la-Neuve 1988. – Klaus Ridder: J. d. M.s ›Reisen‹. Studien zur Überlieferungsgesch. der dt. Übers. des Otto v. Diemeringen. Mchn. 1991. – Xenja v. Ertzdorff: Gedruckte Reiseber.e über China in Dtschld. im 15. u. 16. Jh. In: Reisen u. Reiselit. im MA u. in der Frühen Neuzeit. Hg. dies. u. Dieter Neukirch. Amsterd. 1992, S. 417–437. – K. Ridder: Werktyp, Übersetzungsintention u. Gebrauchsfunktion. J. d. M.s Reiseerzählung in dt. Übers. Ottos v. Diemeringen. Ebd., S. 357–388. – Ders.: Übers. u. Fremderfahrung. J. d. M.s literar. Inszenierung eines Weltbildes u. die Lesarten seiner Übersetzer. In: Übersetzen im MA. Cambridger Kolloquium 1994. Hg. Joachim Heinzle, L. Peter Johnson u. Gisela Vollmann-Profe. Bln. 1996, S. 231–264. – Martin Przybilski: Die Zeichen des Anderen. Die Fremdsprachenalphabete in den ›Voyages‹ des J. d. M. am Beispiel der dt. Übers. Ottos v. Diemeringen. In: Mlat. Jb. 37 (2002), S. 295–320. – Susanne Röhl: Der ›Livre de Mandeville‹ im 14. u. 15. Jh. Untersuchungen zur handschriftl. Überlieferung der kontinentalfrz. Version. Mchn. 2004. – Alexandra Nusser: Zu spätmittelalterl. Autorenbildern am Beispiel der Überlieferung v. J. d. M.s ›Reisen‹ in Europa. In: Kleidung u. Repräsentation in Antike u. MA. Hg. Ansgar Köb u. Peter Riedel. Mchn. 2005, S. 95–116. – Michael C. Seymour: Burnt Mandeville. A Latin Epitome. In: Manuscripta 49 (2005), S. 95–122. – Valérie Gon-

Mangelsdorf tero: Les gemmes marines: au carrefour du lapidaire et du bestiaire (d’après Phisice, une version du Lapidaire de J. d. M.). In: Mondes marins du Moyen Âge. Hg. Chantal Connochie-Bourgne. Aix-en-Provence 2006, S. 187–197. – Susana Morales Osorio u. Sonia Fernández Hoyos: El Mediterráneo a través de la ficción: el extraño caso de Sir John M. In: Anuario de Estudios Medievales 36 (2006), S. 335–354. – Michael J. Bennett: M.’s Travels and the Anglo-French Moment. In: Medium aevum 75 (2006), S. 273–292. – Evelyn Edson: Travelling on the Mappamundi. The World of John M. In: The Hereford World Map. Medieval World Maps and their Context. Hg. P. D. A. Harvey. London 2006, S. 389–403. – J. d. M. in Europa. Neue Perspektiven in der Reiseliteraturforsch. Hg. E. Bremer. Paderb. 2007. – Miguel Angel Ladero Quesada: Reale u. imaginäre Welten: John M. In: Legendäre Reisen im MA. Hg. Feliciano Novoa Portela u. F. Javier Villalba Ruiz de Toledo. Stgt. 2008, S. 55–76. – Marcia Kupfer: ›... lectres ... plus vrayes‹: Hebrew Script and Jewish Witness in the M. Manuscript of Charles V. In: Speculum 83 (2008), S. 58–111. Sabine Schmolinsky

Manessesche Liederhandschrift ! Heidelberger Liederhandschrift, Große Mangelsdorf, Karl Ehregott, * 16.5.1748 Dresden, † 28.8.1802 Königsberg. – Historiker, Philologe u. Pädagoge. Philologische Studien in Leipzig u. Halle beendete M. 1770 mit dem Erwerb des Magistertitels. Die Position eines Privatdozenten für antike Geschichte u. Literatur an der Universität Halle (1770–1772) opferte er zunächst pädagog. Neigungen: Informelle Kontakte mit Basedow führten 1772 zu einer Übersiedlung M.s nach Dessau, wo er mehrere bekannte Erziehungsschriften Basedows ins Lateinische übersetzte (z.B. Libri elementaris pars prima [...]. Halle 1772) u. 1774 eine Anstellung am Philanthropin erhielt. 1777 nahm er seine Tätigkeit als Privatdozent in Halle wieder auf, bevor er 1782 als o. Prof. für Rhetorik u. Geschichte (ab 1784 auch für Dichtkunst) nach Königsberg ging. Neben mehreren Arbeiten in lat. Sprache u. dem poet. Jugendwerk Hero und Leander. Ein prosaisches Gedicht (Lpz. 1769) veröffentlichte M. hauptsächlich pädagogisch ausgerichtete Monografien histor. Inhalts, die sich von der

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neuen statist. Betrachtungsweise beeinflusst zeigen (Historisch-statistisch-moralisches Lesebuch zur Unterhaltung für die erwachsene Jugend und andere. 3 Tle., Halle 1780–84). Konsequent beteiligte sich M. auch an der pädagog. Diskussion der Zeit (Versuch einer Darstellung dessen, was seit Jahrtausenden in Betreff des Erziehungswesens gesagt und gethan worden. Lpz. 1779). Selbst die Auseinandersetzung des monarchietreuen M. mit der Französischen Revolution (Über den Geist der Revolutionen. Königsb. 1790) verfolgt pädagog. Ziele. Weitere Werke: De jurejurando per gladium. Halle 1770. – Vita et memoria C. A. Klotzii. Halle 1772. – Allg. Gesch. der europ. Staaten [...]. 12 H.e, Halle 1784–94. Erw. Ausg. 1802. Literatur: Jöcher/Adelung 4. – HKJL, Bd. 3, Sp. 1439 f. Gerda Riedl / Red.

Mangold, Christoph Jakob, auch: Lynkeus (seit 1964), * 17.3.1939 Basel. – Prosaautor u. Lyriker. M. wuchs in Basel auf. Nach der Gymnasialzeit ging er Gelegenheitsarbeiten auf dem Bau, bei der Post, im Büro nach u. wirkte auch als Publizist, Werbetexter, Lektor u. Übersetzer. Seit 1975 war M. Journalist bei der »National-Zeitung« in Basel u. seit 1977 bei der »Basler Zeitung«. Als Schriftsteller trat er 1962 mit dem Kleinroman Manöver (Reinb.) in Erscheinung, in dem ein bes. Verständnis von Literatur vorausgesetzt ist: der Text als eine durchkonstruierte Flut von wiederkehrenden gleichartigen Bildern, eine Arbeit mit dem rein subversiven Aspekt von Form u. Sprache. M.s Erstling ist ein Versuch, den Problemen eines dezentrierten Subjekts, d.h. dem labilen Gemütszustand eines seine Reserveübung bei der Schweizer Armee durchlebenden Soldaten in einem assoziativ gedachten Stil zu entsprechen. Ein anderes Prosawerk, das ohne Handlung auskommt u. nach Art des selbstbezügl. »nouveau roman« über die Erkenntnis des Schreibens selbst wirkt, ist Konzert für Papagei und Schifferklavier (Zürich 1969). Der Autor stellt sich hier der Frage, wie Diskontinuität u. Aufsplitterung der Wirklichkeit literarisch festzuhalten ist. Das fragmentarisch, augenblicklich Niedergeschrie-

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bene macht sich demnach als ein Gefühl der Befreiung vom gleichförmigen Alltag geltend. Das nachfolgende Werk (Christoph Mangolds Agenda. Zürich u. a. 1970) ist eine ins Beliebige u. Amorphe ausgreifende Prosaform, in der verschiedene Textsorten, fiktive Einzelbilder, dokumentar. Einschübe, Medienberichte, Reklameschilder, Bilderfolgen aneinandergereiht sind. Fließende Konturen u. bewegl. Grenzen sind gleichbedeutend mit einem Ausgang aus dem beklemmenden Gattungsraum, sie verstehen sich zgl. als eine Einladung zum Fortschreiben. Im Roman Rückkehr aus der Antarktis (Basel 1977) schlägt M. andere Akkorde an. Sein Interesse gilt nun der Wahrheit des Gedächtnisses u. dem Blick ins Gewesene, den Windungen von Lebensgeschichten zweier Brüder: Einer ist als Polarforscher umgekommen, der andere, in einem fragl. Gerichtsverfahren einer Mordtat bezichtigt, durchlebt seine rätselumwobene Situation, die Last von Einsamkeit in einer psychiatr. Anstalt. Die beiden Erzählstränge, ineinander verflochten, lassen sich auf die Metapher der Vereisung gesellschaftl. Verhältnisse, die unüberschaubare Tragweite eines Krisenmoments zurückführen. Ein weiteres Kennzeichen von M.s literar. Entwicklung ist das Erzählwerk Zdenka (Basel 1980), in dem zwei Gesinnungs- u. Kommunikationsmodelle aufeinanderstoßen: das eines links ausgeprägten Engagements u. das eines privaten Glücks, einer individuell-intim, sinnlich profilierten Lebenszuwendung – alles am Beispiel des Beisammenseins von Jakob, einem jungen Schweizer u. Zdenka, einer jugoslaw. Krankenpflegerin. M. ist auch Autor von Gedichten, die mit ihrem Grundgestus, die gesellschaftl. Bedeutsamkeit der Literatur zu akzentuieren, im Trend der Zeit stehen; seine poet. Texte bestimmt eine den 1960er Jahren eigene Spannung zwischen ästhet. Anspruch u. tagesaktuellem Engagement. Mit instrumental-didakt. Eifer, in simpler Lexik u. knapper Form nach Art polit. Manifeste steht er der technokrat. Modernität der Schweiz u. deren Machtinstanzen ablehnend gegenüber. M. hängt in der Lyrik einem provokativen Textmodell an, u. sein Stolz auf die eigene Widerstandsposition ist in seinen Sammlungen

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Sei’s drum. Gelegenheits-Gedichte (Bern 1968), Keine Angst, wir werden bewacht (Basel 1982) ungebrochen. Der Schweizer Staatspragmatik sagt er den Kampf an (»wir werden bewacht / in der Nacht«), ruft jedoch nicht zu unverzügl. Aktionismus auf; man solle einfach tatbereit sein u. eine Verweigerungshaltung einnehmen: »nicht schießen [...] / Zeit haben, Zeit lassen / zusehen / warten«. Weitere Werke: Das Gegenteil v. allem. Gesch.n. Basel 1975. – Gras anmalen. Basel 1980 (G.e). Literatur: Jürgen Egyptien: C. M. In: KLG. – Klaus Pezold (Hg.): Schweizer Literaturgesch. Die deutschsprachige Lit. im 20. Jh. Lpz. 2007. Zygmunt Mielczarek

Manlius, Jakob ! Mennel, Jakob Mann, Erika (Julia Hedwig), * 9.11.1905 München, † 27.8.1969 Zürich. – Journalistin, Prosa- u. Kinderbuchautorin. Erstes Kind von Katia u. Thomas Mann zu sein, war der Umstand, der ihr Leben, ihre Arbeit, ihr Schreiben bestimmte. Das willensstarke Kind aus großbürgerl. Elternhaus wuchs hinein in eine Welt im Umbruch. Auf Wunsch der Eltern legte M. 1924 in München das Abitur ab. Das nachfolgende Schauspielstudium in Berlin brach sie zugunsten von Engagements an den Reinhardt-Bühnen u. am Schauspielhaus Bremen ab. In der Münchner Uraufführung von Klaus Manns Stück Anja und Esther (20.10.1925) mit Klaus Mann, Pamela Wedekind u. Gustaf Gründgens (mit dem M. 1926–1929 verheiratet war) feierte sie erste Erfolge, an die sie in Revue zu vieren (Leipzig, 21.04.1926), dem nächsten Stück ihres Bruders, jedoch nicht anknüpfen konnte. Bis 1930 festigte sie ihren Ruf als Schauspielerin in vielen Engagements, v. a. in München. Eine Weltreise mit Klaus als »The Literary Mann-Twins« machte beide v. a. in Amerika bekannt (Rundherum. Ein heiteres Reisebuch. Zus. mit Klaus Mann. Bln. 1929. Neuausg. u. d. T. Das Abenteuer einer Weltreise. Mchn. 1965). Gleichzeitig schrieb M. Glossen, Erzählungen, Gedichte u. Reportagen, die häufig in der Berliner Boulevardzeitung »Tempo« (1928–1933), aber auch in anderen

Blättern erschienen. 1931 gewann sie eine 10.000 km lange Rallye durch Europa, über die sie auch als Journalistin berichtete. Parallel dazu schrieb sie eine Reihe von Kinderbüchern, eine Tätigkeit, die sie bis Ende der 1950er Jahre fortsetzte. 1933 startete M. in München das gegen den Nationalsozialismus gerichtete Kabarett »Die Pfeffermühle« (zus. mit Klaus, Therese Giehse u. Magnus Henning), das außerordentl. Erfolg hatte. Joseph Roth schrieb nach einer Aufführung begeistert an M.: »Sie machen zehnmal mehr gegen die Barbarei als wir alle Schriftsteller zusammen.« Mitte März konnte M. mit dem Bruder nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten gerade noch in die Schweiz fliehen. Über 1000 Aufführungen in ganz Europa bis 1936 folgten, allerdings auch in der Schweiz u. in Holland schon bald unter polit. Druck. Erst im amerikan. Exil löste sich das »Pfeffermühlen«-Ensemble nach dem Misserfolg ihrer dortigen Tournee im Jan. 1937 auf. M., seit 1935 verheiratet mit dem engl. Autor Wystan Hugh Auden u. brit. Staatsbürgerin, begann nun über Jahre hinweg ausgedehnte Vortragsreisen (sog. »Lecture Tours«) durch Hunderte von amerikan. Städten, um vor Studenten, Frauenverbänden, Hilfsorganisationen über das NS-Regime in Deutschland aufzuklären, die Amerikaner aus ihrer Gleichgültigkeit aufzurütteln u. von der Notwendigkeit des Engagements gegen den Nationalsozialismus zu überzeugen. Dem gleichen Zweck dienten auch ihr polit. Lehrbuch School for Barbarians. Education under the Nazis (New York 1938), ihre Wahren Geschichten aus dem Dritten Reich: The Lights go down (New York/Toronto 1940. Dt. Ausg. Reinb. 2005, Übers. Ernst-Georg Richter) u. ihre Features für die Londoner BBC (1940–1942). Gemeinsam mit ihrem Bruder Klaus schrieb M. die Monografie Escape to Life (Boston 1939), in der sie dem amerikan. Publikum die dt. u. österr. Intellektuellen im Exil, speziell in den USA vorstellten. Das ebenfalls mit Klaus geschriebene Gegenstück The Other Germany (New York 1940, übers. Heinz Norden) versucht dagegen das positive Bild eines »anderen« Deutschland zu vermitteln, das auch nach 1933 mehrheitlich gegen den National-

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sozialismus eingestellt sei. Diese Auffassung revidieren die beiden Geschwister in den folgenden Jahren, v. a. unter dem Einfluss des britischen Diplomaten Robert Vansittart (1881–1957), eines engagierten Gegners der Appeasement-Politik. Nach dem von ihr lang ersehnten Eintritt der USA in den Weltkrieg arbeitete M. als Kriegsberichterstatterin für die US-Armee an Kriegsschauplätzen in aller Welt, bevor sie schließlich 1945/46 als einzige Frau von den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen berichtete. Seit 1948 fälschlich als Kommunistin denunziert, wurde M. bei ihren »Lecture Tours« zunehmend behindert, schließlich faktisch boykottiert. M. stand zeitweise unter Überwachung des FBI, dem sie andererseits 1940 offenbar selbst ihre Dienste angeboten hatte. M. kehrte 1952 mit den Eltern in die Schweiz zurück. Der Bundesrepublik unter der CDU-Regierung Konrad Adenauers stand sie äußerst skeptisch gegenüber. Nach Klaus Manns Tod 1949 widmete sie sich dem Werk des Bruders, war dem Vater Assistentin, überwachte die Verfilmungen seiner Werke, schrieb teilweise deren Drehbücher u. begleitete ihn auf Vortragsreisen; sie dokumentierte diese intensive Mitarbeit in Das letzte Jahr. Bericht über meinen Vater (Ffm. 1956. Neuausg. 2006). Bereits 1943 hatte sie mit einer Autobiografie u. d. T. I of All People begonnen, die jedoch Fragment blieb. Dieses erschien erst im Sammelband Blitze überm Ozean. Aufsätze, Reden, Reportagen (Hg. Irmela von der Lühe u. Uwe Naumann. Reinb. 2000), der auch erstmals eine größere Zahl von M.s publizist. Arbeiten in Buchform zugänglich machte. Vieles, wie ihre Felix Krull- u. Buddenbrooks-Drehbücher, blieb jedoch bis heute unveröffentlicht. Anderes, wie eine geplante Biografie ihres Vaters oder ein Buch über die »Pfeffermühle«, kam nie zustande. Von der Forschung wurde M. lange vernachlässigt. Das lag sicher auch daran, dass viele ihrer Bücher vergriffen waren u. lange Zeit nicht auf Deutsch vorlagen, während ihre journalist. Arbeiten nur verstreut erschienen u. erst zum kleinen Teil in Blitze überm Ozean wieder zugänglich sind. Andere Arbeiten behandelten sie wiederum nur im Kontext der Werke u. der Biografie ihres Va-

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ters u. Bruders. Erst seit den 1990er Jahren existiert ein nennenswertes Interesse, das maßgeblich durch Irmela von der Lühes Biografie Erika Mann (Ffm./New York 1993) u. die Herausgabe von M.s Briefen angestoßen wurde. Viele von M.s Texten liegen nun wieder in Buchform vor; eine Werkausgabe fehlt allerdings noch immer. Aktuelle Forschungsbeiträge konzentrieren sich meist auf biogr. Aspekte, andere nähern sich der Autorin im Kontext der Exilliteratur oder der Gender Studies. Interpretierende Studien zu einzelnen Texten bleiben bisher die Ausnahme. Weitere Werke: Das Buch v. der Riviera. Was nicht im ›Baedeker‹ steht, Bd. 14 (zus. mit Klaus Mann). Mchn. 1931. Bln. 1989. – Plagiat. Bln. 1931 (Kom.). – Jan’s Wunderhündchen. Ein Kinderstück in sieben Bildern (zus. mit Richard Hallgarten). Bln. 1931. – Stoffel fliegt übers Meer. Stgt. 1932. Reinb. 2002. – Muck, der Zauberonkel. Basel 1934. – Zehn Millionen Kinder. Die Erziehung der Jugend im Dritten Reich. Mit einem Geleitwort v. Thomas Mann. Amsterd. 1938. Mchn. 1986. Bln./ DDR 1988. – Don’t make the same mistakes. In: Zero Hour. A Summons to the Free. New York 1940, S. 13–76. – A Gang of Ten. New York 1942. Dt. Ausg.: Zehn jagen Mr. X. Bln. 1990. – Klaus Mann zum Gedächtnis. Mit einem Vorw. v. T. Mann. Amsterd. 1950. – Die Zugvögel. Sängerknaben auf abenteuerl. Fahrt. Mchn. 1959. – Briefe u. Antworten. Hg. Anna Zanco-Prestel. Bd. 1: 1922–50, Mchn. 1984; Bd. 2: 1951–69, Mchn. 1985 (mit Anhang). – Mein Vater, der Zauberer. Hg. Irmela v. der Lühe. Reinb. 1996. – Ausgerechnet Ich. Ein Lesebuch. Reinb. 2005. Literatur: Irmela v. der Lühe: Die Publizistin E. M. im amerikan. Exil. In: Exilforsch. 7 (1989), S. 65–84. – Eva Chrambach (Hg.): E. u. Klaus M., Bilder u. Dokumente. Mchn. 1990. – Helga KeiserHayne: ›Beteiligt Euch, es geht um Eure Erde‹. E. M.s polit. Kabarett ›Die Pfeffermühle‹ 1933–37. Mchn. 1990. – Hiltrud Häntzschel: ›Pazifistische Friedenshyänen‹? Die Friedensbewegung von Münchner Frauen in der Weimarer Republik u. die Familie Mann. In: JbDSG 36 (1992), S. 307–332. – Marcel Reich-Ranicki: Thomas Mann u. die Seinen. Ffm. 1993, S. 180–191. – Claudia Lenschen-Ramos: ›Aus der Fremde die Heimat beschreiben‹. E. M. u. Vicki Baum im amerikan. Exil. In: Fremdverstehen in Sprache, Lit. u. Medien. Hg. Ernest W. B. HessLüttich, Christoph Siegrist u. Stefan Bodo Würffel. Ffm. u. a. 1996, S. 209–223. – Armin Strohmeyr: Traum u. Trauma. Der androgyne Geschwister-

649 komplex im Werk Klaus Manns. Augsb. 1997. – Kimiko Murakami: E. M. – die treue Tochter Thomas Manns? In: Gender u. Mythos im literar. Diskurs. Hg. v. der Japan. Gesellsch. für Germanistik. Mchn. 1998, 123–144. – Alexander Stephan: Überwacht u. ausgebürgert. Klaus Mann u. E. M. in den Akten des Dritten Reiches. In: GLL 51 (1998). – A. Strohmeyr: Klaus u. E. M. Les enfants terribles. Bln. 2000. – Shelley Frisch: ›Alien Homeland‹. E. M. and the Adenauer Era. In: GR (2001). – Gundel Mattenklott: Eigensinn u. moral. Engagement. Über E. M.s Kinderbücher. In: ZfG N. F. 11 (2001). – Helga Schreckenberger: Die polit. Rednerin. E. M. im amerikan. Exil. In: Exil. Hg. Helmut Koopmann u. Klaus Dieter Post. Paderb. 2001, S. 189–201. – Anja Maria Dohrmann: E. M. Einblicke in ihr Leben. Diss. Univ. Freib. 2003. – Sonja Lenz: Ein Spiegel der dt. Kultur im Exil. E. u. Klaus M.s Dokumentation Escape to Life. In: Krit. Ausg. 7 (2003). – Alexandra Paffen: Die Gesch. einer Radikalisierung. E. u. Klaus M.s Überlegungen zur Zukunft Dtschld.s während der Kriegsjahre. In: Literar. u. polit. Deutschlandkonzepte 1938–49. Hg. Gunter Nickel. Gött. 2004. – Astrid LangeKirchheim: ›Gefall-Tochter‹? ›Leistungs-Tochter‹? ›Trotz-Tochter‹? Überlegungen zu E. M. In: Thomas-Mann-Jb. 17 (2004). – Ute Kröger: ›Wie ich leben soll, weiss ich noch nicht‹. E. M. zwischen ›Pfeffermühle‹ u. ›Firma Mann‹. Ein Porträt. Zürich 2005. – Viola Roggenkamp: E. M. – eine jüd. Tochter. Über Erlesenes u. Verleugnetes in der Frauengenealogie der Familie Mann-Pringsheim. Zürich/Hbg. 2005. – Linde Salber: Geniale Geschwister. Mchn./Zürich 2007, S. 245–342. – Andrea Weiss: In the Shadow of the Magic Mountain. The Klaus and E. M. Story. Chicago/London 2008. Hiltrud Häntzschel / Stefan Höppner

Mann, Golo, eigentl.: Angelus Gottfried Mann, * 27.3.1909 München, † 7.4.1994 Leverkusen; Grabstätte: Kilchberg bei Zürich. – Politikwissenschaftler u. Historiker. Der zweite Sohn Thomas Manns besuchte das Internat Schloss Salem/Bodensee, studierte 1927–1932 in München, Berlin, Paris u. Heidelberg Philosophie, Geschichte u. Latein u. promovierte bei Karl Jaspers, dabei auch bewegt von Impulsen der älteren Jugendbewegung. 1933 folgte er seinem Vater in die Emigration, lebte als Hochschuldozent bis 1937 in Frankreich, dann als Schriftsteller in der Schweiz, floh als Kriegsgefangener in

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Frankreich 1940 in die USA u. lehrte dort als Professor für Geschichte an mehreren Colleges. 1958 kehrte er in die Schweiz zurück u. ließ sich am Sterbeort seines Vaters in Kilchberg bei Zürich nieder. 1958/59 Gastprofessor in Münster, war er 1960–1964 Ordinarius für Politische Wissenschaften in Stuttgart. In dieser Zeit war er Mitherausgeber der Neufassung der Propyläen Weltgeschichte (11 Bde., Ffm. 1961–65). Von den zahlreichen Auszeichnungen M.s seien der Büchner-Preis (1968), der Goethe-Preis der Stadt Frankfurt (1985) u. die Aufnahme in den Orden Pour le mérite (1973) genannt. M.s Hauptwerk ist das 1971 veröffentlichte, aus lebenslanger Beschäftigung mit dem Gegenstand erwachsene Buch Wallenstein. Sein Leben erzählt von Golo Mann (Ffm. 1971. 82004. Verfilmt 1978), das zu den besten deutschsprachigen Biografien gehört. In traditionellem, ausgreifendem Erzählstil, den er mehrfach in Essays verteidigte, bettet es die Lebensgeschichte des Feldherrn in den breiten Strom der Ereignisse des Dreißigjährigen Kriegs ein. Die Grenzen histor. Wissenschaft überschritt M. in der Schilderung von Träumen u. Visionen Wallensteins, um mit dieser literarisch-psycholog. Methode zu plastischer Anschaulichkeit vorzudringen. Für den an der Familie Thomas Manns Interessierten sind M.s Erinnerungen und Gedanken (Bd. 1: Eine Jugend in Deutschland. Ffm. 1986. Neudr. 2000; Bd. 2: Lehrjahre in Frankreich. Ffm. 1999) auch deshalb bemerkenswert, weil sie recht schonungslos die innerfamiliären Spannungen ins Licht rücken. Der Politologe M. prägte durch seine zahlreichen Kommentare u. Stellungnahmen zur dt. Innen- u. Bildungspolitik das Bewusstsein der Öffentlichkeit. In den 1960er u. 1970er Jahren hat er hier als konservativer Kritiker der Bildungsreform, der Studentenrevolte u. deren Folgen gewirkt. Weitere Werke: Friedrich v. Gentz. Gesch. eines europ. Staatsmannes. Zürich 1947. Neudr. Ffm. 1995. – Vom Geist Amerikas. Stgt. 1954. – Dt. Gesch. im 19. u. 20. Jh. Ffm. 1958. Neudr. 1997. – Gesch. u. Gesch.n. Ffm. 1961. – Wilhelm II. Bern 1964. – Von Weimar nach Bonn. Fünfzig Jahre dt. Republik. Osnabr. 1970. – Zwölf Versuche. Ffm. 1973. – Zeiten u. Figuren. Schr.en aus vier Jahr-

Mann zehnten. Ffm. 1979. – Mitherausgeber: Neue Rundschau (1963–79). Briefe: Briefe 1932–92. Hg. Tilmann Lahme u. Kathrin Lüssi. Gött. 2006. 42007. Literatur: Hartmut v. Hentig u. a. (Hg.): Was die Wirklichkeit lehrt. G. M. zum 70. Geburtstag. Ffm. 1979. – Klaus W. Jonas u. Holger R. Strunz: G. M. Leben u. Werk, Chronik u. Bibliogr. 1929–2003. Wiesb. 2003. – Urs Bitterli: G. M. Instanz u. Außenseiter. Eine Biogr. Bln. 2004. – Tilmann Lahme: G. M. Biogr. Ffm. 2009. Michael Erbe

Mann, (Luiz) Heinrich, * 27.3.1871 Lübeck, † 12.3.1950 Santa Monica/Kalifornien; Grabstätte: Berlin, Dorotheenstädtischer Friedhof. – Romancier, Erzähler, Essayist, Dramatiker, politischer Publizist. Der älteste Sohn des patriz. Großkaufmanns u. lübischen Senators Thomas Johann Heinrich Mann (1840–1891) u. seiner aus Brasilien stammenden Frau Julia da Silva-Bruhns (1851–1923) erhielt zunächst eine den väterl. Anforderungen, das Handelsgeschäft zu übernehmen, entsprechende Erziehung (Traditionsgymnasium Katharineum in Lübeck bis zur Prima). Er opponierte jedoch früh gegen die familiären Erwartungen u. weigerte sich auch, wenigstens eine seinen Interessen entsprechende Berufsausbildung abzuschließen: Eine Buchhandelslehre in Dresden (1889) u. ein Volontariat im S. Fischer Verlag (1890) wurden jeweils abgebrochen; der sporad. Besuch der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität blieb ohne nachhaltige Wirkung. Der Tod des Vaters befreite M. 1891 schließlich von dem Druck, sich in ein bürgerl. Erwerbsleben einzufügen. Die folgenden Wanderjahre in Italien ohne dauerhaften Wohnsitz in Deutschland (die Familie wohnte nach der Liquidierung der Firma in München), wurden für seine intellektuelle Biografie von entscheidender Bedeutung. Zwischen 1893 u. 1895/98 lebte M. u. a. in Florenz, Rom u. Palestrina, später (zwischen 1900 u. 1905) wiederum in Florenz u. in Riva. Italien wurde die Wahlheimat des frühen M., die sein historisches u. literar. Weltbild prägte. Weitgehend abseits des Literaturbetriebs in Deutschland (die Heraus-

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geberschaft u. Mitarbeit an der reaktionären Kulturzeitschrift »Das Zwanzigste Jahrhundert« blieb eine Episode) entstanden ein Roman u. die ersten Erzählungen (In einer Familie, 1894; Das Wunderbare und andere Novellen, 1897; Ein Verbrechen und andere Geschichten, 1898). Die literar. Erstlinge, v. a. aber die dann entstehenden größeren Romane Im Schlaraffenland (Manuskript: Rom 1898 bis März 1900; ersch. Mchn. 1900) u. Die Göttinnnen (Manuskript: Riva u. Florenz, 1899–1902; 3 Bde., ersch. Mchn. 1903) lassen erkennen, dass M. bewusst den Anschluss an die literar. Moderne des Fin de Siècle u. einen eigenständigen Weg zwischen analyt. Tatsachenfantasie u. ästhetizist. Artistik suchte. In Im Schlaraffenland u. in Die Göttinnen gehen Satire u. Artistik aus einem einheitl. Erfahrungshorizont radikaler Wirklichkeitskritik hervor. Die wichtigsten Impulse für sein ästhet. Wollen verdankt M. der desubjektivierten Schreibweise u. dem karikaturalen Stil Gustave Flauberts, das Projekt einer Versöhnung von Kunst u. Leben durch Eros u. Schönheit der Rezeption Nietzsches. Allerdings hat M. den individualist. Ästhetizismus früh als Irrweg erkannt. Seine Lektüren u. seine sozialen Erkenntnisse führten ihn zu einer veränderten Ortsbestimmung von Kunst, die ihren Sinn aus einer gesellschaftsbezogenen, kommunikativen Praxis gewinnen soll. Das bedeutendste Dokument für diese Umorientierung ist sein Essay Eine Freundschaft von 1905. Hier reflektiert M. in autobiogr. Perspektive mittels einer polarisierenden Gegenüberstellung der Schriftstellerpersönlichkeiten Gustave Flaubert u. George Sand das ästhet. Normensystem seines Frühwerks. Mit George Sand beruft er sich auf die Literaturästhetik der frz. Sozialromantik in der Tradition des Frühsozialismus u. damit auf das sozialreformerische Konzept einer erzieherischen Funktion der Kunst im Dienst der republikan. Ideen der Französischen Revolution. Das daraus weiterentwickelte gesellschaftsbezogene Kunstprogramm blieb für M. bis in sein Spätwerk prägend. Von hier führt ein direkter Weg zu seinen Manifesten Der französische Geist (1910, später u. d. T. Voltaire – Goethe) u. Geist und Tat (1911), die eine emphat. Parteinahme der Li-

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teraten u. Intellektuellen für die Ideale der Französischen Revolution fordern. In seinem Schlüsselessay über Zola (1915; ersch. in den »Weißen Blättern« René Schickeles) entwarf M. mit dem naturalist. Romancier, dessen Romanzyklus Les Rougon-Macquart für ihn vorbildlich war, das Bild eines Intellektuellen, der sich für Freiheit, Gleichheit u. Gerechtigkeit auch dann engagiert, wenn gesellschaftl. Ächtung, Verhaftung u. Exil drohen. Zolas Parteinahme in der Dreyfus-Affäre (J’accuse, 1898) wurde für ihn zum Maßstab intellektuellen Handelns. Das in Frankreich damals aufgekommene Schlagschimpfwort »intellectuel« griff er als einen Ehrentitel auf u. sprach ihn jenen Literaten zu, die in einer Zeit öffentlicher »patriotischer Schmiere« dem Kriegschauvinismus Einhalt zu gebieten versuchten. Der Zola-Essay war eine radikale Absage an die Kriegsapologeten unter den Schriftsteller-Kollegen, unter ihnen Gerhart Hauptmann u. Thomas Mann, u. rief das intellektuelle Deutschland zur aktiven Parteinahme für eine demokratisch verfasste Gesellschaft auf. M. wurde damit zur Vorbildfigur für die literar. Linke in Deutschland, die sich seit 1911 in der expressionist. Zeitschrift »Die Aktion« artikulierte. Auf ihn beriefen sich u. a. Wilhelm Herzog, Kurt Hiller, Erich Mühsam, Ludwig Rubiner, René Schickele u. Kurt Tucholsky. Seit etwa 1905 verfolgen M.s Romane das Projekt eines modernen Zeitromans in der Form der Sozialparabel oder in der Form der zeitkrit. Satire. So zielt er in dem Roman Die kleine Stadt (Lpz. 1909) nicht auf die Darstellung problematischer Einzelindividuen, sondern auf die Erfassung der Komplexität eines kleinen ital. Gemeinwesens in seiner sinnl. Lebensfülle u. Alltagskomik. M. experimentiert hier mit einem »objektiven« Erzählverfahren szenischer Polyphonie ohne zentrierende Erzählstimme, das ein dialogisches Verhältnis von Kunst als wirklichkeitsverändernder Macht u. gelebtem Leben zum Ausdruck bringen möchte. Der Roman sollte nach dem Willen des Autors als »hohes Lied der Demokratie« u. als Gegenbild zum wilhelmin. Deutschland wirken. Mit den Romanen Professor Unrat (Mchn. 1905) u. Der Untertan (erste Notizen schon 1906/07; Ab-

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bruch eines Vorabdrucks 1914; Privatdruck 1916; veröffentlicht Lpz. 1918) hingegen gestaltet M. Bilder der inneren Zeitgeschichte des kaiserl. Deutschland. Beide Romane haben wirkungsgeschichtlich das Bild des Autors als das eines satir. Zeitkritikers festgeschrieben. Professor Unrat erzählt am Beispiel der Geschichte eines verknöcherten Gymnasiallehrers u. Kleinstadttyrannen die Dialektik von gesellschaftskonformer Tyrannei u. latentem Anarchismus, aber auch, dass hinter grotesker Deformation lebendige Menschen agieren. Der Roman wurde 1930 u. d. T. Der Blaue Engel sehr erfolgreich verfilmt (mit Marlene Dietrich u. Emil Jennings in den Hauptrollen). Der Untertan (Verfilmung 1950) stellt in der Form eines negativen »Bildungsromans« der Aufstiegsgeschichte des Deutschnationalen Diederich Heßling die gesellschaftlich-ökonomische Deklassierung der bürgerlich-liberalen Honoratiorenfamilie Buck gegenüber. Die dem Roman eingeschriebenen Daten 1848 u. 1870/1890 markieren den Veränderungsprozess des dt. Bürgertums zu einer aggressiv-autoritären Gesellschaft von »Untertanen«. Am Beispiel der Kunstfiguren des Romans inszeniert M. die »Geschichte der öffentlichen Seele unter Wilhelm II« u. stellt Mentalitäten u. soziale Mechanismen in satirisch-analyt. Absicht aus. »Kein Historiker könnte das je so eindringlich beschreiben«, so urteilte 1973 der Sozialhistoriker Hans-Ulrich Wehler. Der Roman wurde unmittelbar nach dem Ende des Ersten Weltkriegs ein großer Erfolg, aber viele zeitgenöss. Leser fühlten sich vom Stachel der Satire getroffen; in der konservativen literar. Kritik verfestigte sich der Vorwurf einseitiger Wirklichkeitsdarstellung – bis hin zum Vorwurf »undeutscher« »Spartakusliteratur«. M.s sozialkrit. Romane u. v.a. seine Intellektuellen-Essays wurden zum Anlass für die öffentl. Austragung eines Konflikts, der zwischen den Schriftsteller-Brüdern Heinrich u. Thomas Mann seit Längerem schwelte. Thomas Mann setzte in seinen Betrachtungen eines Unpolitischen (1918) zu einem Rundumschlag gegen eine polem. Kunstfigur an, die er den »Zivilisationsliteraten« nannte. Sie sollte den Bruder treffen, meinte aber zgl. auch den Typus des sozialrevolutionären Aktivisten

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expressionistischer Prägung im Umkreis der Zeitschriften »Die Aktion« u. der »Weißen Blätter«. In noch weiterem Sinne zielte die Spottfigur auf die intellektuellen Vordenker westlich geprägter Demokratieentwürfe in der Tradition der Aufklärung. Mit dem Ende des Ersten Weltkrieges u. in den ersten Jahren der Weimarer Republik konfrontierten Heinrich u. Thomas Mann in ihrer polit. Essayistik exemplarisch die »Ideen von 1789« u. die »Ideen von 1914« u. waren damit beide in unterschiedl. Weise repräsentativ für aktuelle gesellschaftl. Entwicklungen. Erst 1922 kam es zu einer Wiederannäherung. Dank seiner unermüdlichen publizist. Tätigkeit gewann der Essayist M. in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg eine hohe Reputation. Die Publikationsorte reichen von Tageszeitungen (u. a. »Berliner Tageblatt«; »Frankfurter Zeitung«; »Vossische Zeitung«) bis zu literar. Zeitschriften u. Sammelwerken u. a. in den renommierten Verlagshäusern Kurt Wolff, Gustav Kiepenheuer u. Paul Zsolnay. M. hielt Reden bei bedeutsamen Anlässen (die Gedenkrede auf den ermordeten Kurt Eisner, 1919; die Rede zum Verfassungstag in Dresden 1923 u. v. a.). Er veröffentlichte Wahlaufrufe für die demokrat. Parteien, er trat bei Literaturkongressen auf. Schon 1909 hatte der Verlag Ernst Cassirer eine vierbändige Werkausgabe veröffentlicht; 1917 folgte die zehnbändige Werkausgabe mit den Romanen u. Erzählungen (Verlag Kurt Wolff). M. wurde ein bekannter polit. Schriftsteller, er schrieb »Literatur aus der Zeit für die Lebenden«. Obwohl er eben darin genau einem Schriftstellerbild entsprach, das im Kontext von Expressionismus u. Neuer Sachlichkeit zu einem Funktionswandel der Literatur geführt hatte, wurde er nie ein Bestseller-Autor. In den Romanen der Weimarer Republik, Mutter Marie (Bln./Wien/Lpz. 1927), Eugénie oder die Bürgerzeit (Bln./Wien/ Lpz. 1928), Die große Sache (Bln. 1930) u. Ein ernstes Leben (Bln./Wien/Lpz. 1932) experimentiert M. mit populären Formen wie Kolportagetechniken, Stilsimulationen, filmischer Erzählweise u. Formen einer »Unterhaltungssatire«, doch ohne größeren Erfolg. Dies gilt auch für seinen 1925 erschienenen Roman Der Kopf (Wien), in dem M. das

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Scheitern zweier Intellektueller erzählt, die sich auf das Spiel mit der Macht einlassen. Der Text inszeniert Intellektuellendiskurse der Vorkriegszeit u. der Weimarer Republik u. lässt sich als intellektuelle Autobiografie lesen. Die Schauspiele (u. a. Brabach, 1917; Das gastliche Haus, 1923; Bibi, 1928) blieben, obwohl aufgeführt, weitgehend resonanzlose Versuche, sich ein größeres Publikum zu erschließen. Die Essays dieser Zeit (Skizzen, Notizen, Reden, Manifeste, Aufrufe) erschienen in den Sammelbänden Macht und Mensch (Mchn./ Lpz. 1919), Diktatur der Vernunft (Bln. 1923), Sieben Jahre. Chronik der Gedanken und Vorgänge (Bln./Wien/Lpz. 1929), Geist und Tat. Franzosen 1780–1930 (Bln. 1931) sowie Das öffentliche Leben (Bln. 1932). Sie begleiten u. bilanzieren mit ihren Stellungnahmen u. Diagnosen (etwa zur ökonom. Verfassung, zur Klassenjustiz, zur polit. Zensur u. a.) kritisch die Geschichte der Weimarer Republik. M. gehörte zu den ersten dt. Schriftstellern, die nach dem Ersten Weltkrieg kulturelle Kontakte zu Frankreich aufbauen konnten (u. a. 1923 Teilnahme an den »Entretiens de Pontigny«; 1925 an der frz. Sektion des PEN); 1927 hielt er Vorträge u. a. in der Sorbonne u. an der École Normale Supérieure u. schließlich vor über 5000 Zuhörern eine große Rede zum 125. Geburtstag von Victor Hugo im Trocadéro (16.12.1927). Deutschland u. Frankreich sollten, so formulierte M. in seinen »Europa« gewidmeten Essays, zum Kern eines geeinten Kontinents werden. In der Schlussphase der Weimarer Republik bekämpfte M. die Nationalsozialisten; 1932 forderte er öffentlich zur Wahlbeteiligung u. zur Opposition gegen die NSDAP auf, warnte vor der drohenden Diktatur u. unterzeichnete einen Appell des Sozialistischen Kampfbundes gegen Hitler. Zu diesem Zeitpunkt amtierte er als Präsident (seit 1931) der Sektion für Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste, hatte jedoch im weiteren Verlauf der Ereignisse keine Chance, sich gegen den im Febr. 1933 in der Akademie ausbrechenden Machtkampf zu behaupten. M. musste am 15.2.1933 als Präsident zurücktreten u. ging am 21.2.1933 ins frz. Exil. Bis 1940 lebte er in Nizza. Als natio-

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nalsozialist. Studenten am 10.5.1933 unter Mitwirkung von SA u. SS ihre Bücherverbrennung »wider den undeutschen Geist« inszenierten, gehörten zu den verbrannten Büchern auch die Schriften von M. Er wurde am 25.8.1933 ausgebürgert. Während des Exils setzte M. seinen aktiven polit. Kampf gegen die Nationalsozialisten fort. In den Jahren 1933–1939 erschienen in Exilzeitschriften (u. a. »Pariser Tageblatt«, »Die Sammlung«, »Die neue Weltbühne«, »Das Wort«) u. in der frz. Tagespresse (u. a. in »La Dépêche«, Toulouse) über 350 Artikel u. Aufrufe. M. forderte eine gemeinsame Kampffront aller antifaschist. Schriftsteller u. unterstützte die Volksfrontbestrebungen von Henri Barbusse u. Willi Münzenberg. 1935 sprach er beim Ersten Internationalen Schriftstellerkongress Zur Verteidigung der Kultur in Paris, u. er wurde 1935 Vorsitzender des Ausschusses zur Bildung einer deutschen Volksfront. M. galt im frz. Exil als die Stimme des »anderen Deutschland« u. als moralische Autorität. Schon 1933 erschien eine Essaysammlung in frz. u. in dt. Sprache (La Haine. Verlag Gallimard, Paris; Der Hass. Verlag Querido, Amsterd.). Diesen Essays u. Szenen zur Zeitgeschichte folgten 1936 Es kommt der Tag. Deutsches Lesebuch (Zürich) u. 1939 Mut (Paris). Der wichtigste Ertrag des frz. Exils allerdings war der histor. Roman über die Lebensgeschichte Heinrichs IV. von Frankreich (Die Jugend des Königs Henri Quatre. Amsterd. 1935. Die Vollendung des Königs Henri Quatre. Amsterd. 1938). Für den Roman hat M. extensive Quellenstudien (Briefe, Memoiren, Geschichtsschreibung, bildl. Darstellungen) betrieben. Aber es geht ihm nicht um die biogr. Rekonstruktion eines »Helden«-Lebens. Vielmehr erzählt der Roman mit der Figur des »guten Königs« Henri die Geschichte eines Mannes, der wie alle der »condition humaine« unterliegt u. gleichwohl der Vernunft folgt. Henri Quatre präfiguriert einen Intellektuellen, in dem sich »Geist«, »Tat« u. »Macht« verbinden. Dergestalt entwirft das literar. Modell Vergangenheit als utop. Gegenbild zur Gegenwart. Der Roman gilt zu Recht als einer der bedeutendsten histor. Romane des 20. Jh. u. die »Summe« im ästhet. Schaffen seines Autors.

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Nach der Besetzung Frankreichs durch die dt. Truppen war M.s Leben gefährdet. Am 12.9.1940 floh er auf dem »Pyrenäenweg« in den span. Grenzort Port Bou u. gelangte von dort nach Lissabon. Am 13.10.1940 landete er in New York. Bis zu seinem Tod lebte M. in Los Angeles u. Santa Monica, wenigstens in der Nähe von Freunden u. Weggefährten wie Lion Feuchtwanger, Franz Werfel u. Thomas Mann. Seine ökonom. u. private Situation war desolat, da er kaum noch über Publikationsmöglichkeiten verfügte. Eine Tätigkeit als Scriptwriter für die Firma Warner Brothers (bis Herbst 1941) blieb vorübergehend u. ohne Erfolg. In dem ersten Roman, der während des amerikan. Exils entstand, Lidice (1942 abgeschlossen; gedr. 1943 in Mexiko), arbeitet M. mit filmischen Stilmitteln (Dialogform, Szenarium) u. den Möglichkeiten der Farce u. Groteske. Parallelen zu den satir. Formen in den Anti-Nazi-Filmen Hollywoods (The Great Dictator, 1940, u. Hangmen also die, 1943) sind erkennbar. Die Szenenreihe Die traurige Geschichte von Friedrich dem Großen blieb Fragment (1959/60 aus dem Nachl. veröffentlicht, Bln./DDR). Die beiden späten Romane Empfang bei der Welt (postum 1956 ersch., Bln./DDR) u. Der Atem (1947 abgeschlossen; 1949 veröffentlicht, Verlag Querido, Amsterd.) nehmen avancierte Erzähltechniken, wie sie M. schon in den 1920er Jahren entwickelt hatte, wieder auf: Mehrdimensionalität, Auflösung von Kausalitätsstrukturen, Perspektivenwechsel u. ästhet. Realitätsentstellung. Als Kommentar zu den Zeitereignissen begann M. noch im frz. Exil ein Tagebuch, das er in den USA weiterführte u. für eine Veröffentlichung vorsah. Das Manuskript u. d. T. Zur Zeit von Winston Churchill blieb liegen (erst 2004 veröffentlicht, Ffm.), Teile wurden jedoch in sein großes Erinnerungsbuch Ein Zeitalter wird besichtigt (Erstausg.: Stockholm 1946) eingearbeitet. Der Titel deutet die Sehweise eines Subjekts an, das aus der Außenposition beobachtet u. Zeitgeschichte, Erinnerung, histor. Analyse, philosoph. Reflexion, Interpretation, Fiktion u. Nicht-Fiktion mischt. Selbstdarstellung, Moraldiskurs u. Historiografie gehen eine singuläre Narration ein, die nicht die klass.

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Merkmale der Autobiografie oder des Tagebuchs aufweist, sondern eher an die Tradition der frz. Moralistik anschließt. Nach Kriegsende erreichten M. offizielle Einladungen zur Übersiedelung nach Ostberlin (Aug. 1946), staatl. Ehrungen (u. a. Nationalpreis 1. Klasse der DDR für Kunst und Literatur, 1949) u. das Angebot, die Präsidentschaft der neu gegründeten Ostberliner Akademie der Künste zu übernehmen (Mai 1949). M. zögerte jedoch u. war trotz allen Drängens, auch durch alte Weggefährten wie Alfred Kantorowicz, nicht zu bewegen, seine Rückkehr in das Nachkriegsdeutschland zu beschleunigen. Er starb kurz vor der geplanten Überfahrt am 12.3.1950. Seine Urne wurde 1961 an die DDR übergeben u. auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof neben der Begräbnisstätte Johannes R. Bechers beigesetzt. Die DDR verwaltete seinen Teil-Nachlass (ab 1951 im Heinrich-Mann-Archiv bei der Akademie der Künste) u. sorgte für eine (allerdings unvollständige) Edition der Gesammelten Werke. In der Bundesrepublik setzten die Rezeption M.s u. eine ernst zu nehmende Forschung erst in den 1970er Jahren ein (1971 Gründung des Arbeitskreises »Heinrich Mann« in Lübeck; seit 1996 HeinrichMann-Gesellschaft, Buddenbrookhaus Lübeck). Bis heute jedoch belasten histor. Wertungen die Wirkungsgeschichte M.s, die seinen polit. Aktivitäten geschuldet sind. Auch die nicht enden wollenden Vergleiche mit dem Werk Thomas Manns, überdies gefördert durch Dokumentationen u. Filme wie Heinrich Breloers Die Manns – Ein Jahrhundertroman (2001) verstellen weiter den Blick. Eine Verortung der »art social«-Kunst M.s in einer Ästhetik der »klassischen Moderne« u. eine Neubewertung jenseits der ideolog. Grabenkämpfe des 20. Jh. stehen ebenso aus wie eine kritischen Editionsprinzipien genügende Werkausgabe, v. a. der Essays. Ausgaben: Ausgew. Werke in Einzelausg.n. Hg. im Auftrag der Deutschen Akademie der Künste zu Berlin v. Alfred Kantorowicz. 13 Bde., Bln./DDR 1951–62 (nicht vollst.). – Ges. Werke in Einzelausg.n. 18 Bde., Hbg. u. Düsseld. 1958–88 (nicht vollst.). – Ges. Werke. Hg. v. der Deutschen Akademie der Künste (DDR); ersch.: 19 Bde., Bln./DDR

654 1965 ff.; 1989 abgebrochen. – Studienausg. in Einzelbdn. Gesamthg: Peter-Paul Schneider. 24 Bde., Ffm. 1986 ff. (nicht vollst.). – Briefe: Briefe an Ludwig Ewers. 1889–1913. Hg. U. Dietzel u. R. Eggers. Bln./Weimar 1980. – Thomas Mann – H. M. Briefw. 1900–49. Hg. Hans Wysling. Ffm. 1968. – Briefw. mit Félix Bertaux. Hg. Wolfgang Klein. Ffm. 2002. – Verfilmungen: u. a. Der blaue Engel. Regie: Josef v. Sternberg, 1930. – Der Untertan. Regie: Wolfgang Staudte, 1950. – Im Schlaraffenland. Regie: Claus-Peter Witt, 1965. – Nachlass und Archiv: Literaturarchiv bei der Akademie der Künste zu Berlin: Umfangreiche (aber nicht vollst.) Überlieferung der Werkmanuskripte, Briefe u. der Bibl. H. M.s. Literatur: Bibliografien: Edith Zenker: H. M. Bibliogr. der Werke. Bln./Weimar 1967. – Brigitte Nestler: H. M. Bibliogr. Bd. 1: Das Werk, Morsum 2000; Bd. 2: Das Werk, Garding-Kirchspiel 2008. – Realien: Hugo Dittberner: H. M. Eine krit. Einf. in die Forsch. Ffm. 1974. – Renate Werner: H. M. Texte zu seiner Wirkungsgesch. in Dtschld. Tüb. 1977. – Jürgen Haupt: H. M. Stgt. 1980. – Peter Stein: H. M. Stgt./Weimar 2002. – Biografien: Volker Ebersbach: H. M. Lpz. 1978. – Willi Jasper: Der Bruder H. M. Eine Biogr. Mchn./Wien 1992. – Stefan Ringel: H. M. Ein Leben wird besichtigt. Darmst. 2000. – Manfred Flügge: H. M. Eine Biogr. Reinb. 2006. – Weitere Titel: Lea Ritter-Santini: L’italiano H. M. Bologna 1965. – André Banuls: H. M. Le poète et la politique. Paris 1966. – Hanno König: H. M. Dichter u. Moralist. Tüb. 1972. – Renate Werner: Skeptizismus, Ästhetizismus, Aktivismus. Der frühe H. M. Düsseld. 1972. – Frithjof Trapp: ›Kunst‹ als Gesellschaftsanalyse u. Gesellschaftskritik bei H. M. Bln./New York 1975. – Wolf Jöckel: H. M.s ›Henri Quatre‹ als Gegenbild zum nationalsozialist. Dtschld. Worms 1977. – Wolfgang Emmerich: H. M. ›Der Untertan‹. Mchn. 1980. – Ariane Martin: Erot. Politik. H. M.s erzählerisches Frühwerk. Würzb. 1993. – Reinhard Alter: Die bereinigte Moderne. H. M.s ›Untertan‹ u. die polit. Publizistik in der Kontinuität der dt. Gesch. zwischen Kaiserreich u. Drittem Reich. Tüb. 1995. – Ralf Siebert: H. M.: ›Im Schlaraffenland‹, ›Professor Unrat‹, ›Der Untertan‹. Studien zur Theorie des Satirischen u. zur satir. Kommunikation im 20. Jh. Siegen 1999. – Markus Joch: Bruderkämpfe. Zum Streit um den intellektuellen Habitus in den Fällen Heinrich Heine, H. M. u. Hans Magnus Enzensberger. Heidelb. 2000. – Ute Welscher: Sprechen – Spielen – Erinnern. Formen poetolog. Selbstreflexion im Spätwerk H. M.s. Bonn 2002. – Walter Delabar u. Walter Fähnders

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655 (Hg.): H. M. (1871–1950). Bln. 2005. – Michael Grisko: H. M. u. der Film. Mchn. 2008. Renate Werner

Mann, Klaus (Heinrich Thomas), * 18.11. 1906 München, † 21.5.1949 Cannes (Freitod); Grabstätte: ebd., Friedhof. – Dramatiker, Essayist, Romancier. Das elementare Bedürfnis zu schreiben, verspürte M. – zweites Kind u. ältester Sohn Katia u. Thomas Manns – bereits als 6-Jähriger; das früheste erhaltene Manuskript ist das Theaterstück Der arme Seemann, das M. vermutlich im Alter von 12 Jahren verfasste. In Deutschland war – nach den Schrecken des Ersten Weltkriegs, dem Niedergang der Monarchie u. dem wochenlangen polit. Ausnahmezustand durch Revolution u. Räterepublik – gerade die erste parlamentarische Demokratie (Weimarer Republik) ausgerufen worden. Als M. sich mit knapp 18 Jahren – ohne einen Schulabschluss absolviert zu haben – als Autor u. Theaterkritiker des »ZwölfUhr-Mittagblatts« in Berlin niederließ, schienen sich die politischen u. wirtschaftl. Verhältnisse in Deutschland weitgehend beruhigt zu haben. Trotzdem klingt bereits in M.s ersten Arbeiten eine tendenzielle Krisenstimmung an. Zunächst reflektiert er den großen gesellschaftl. Umbruch seiner Zeit aus Sicht der orientierungslosen »Nach-KriegsJugend« (Vorw. zu Der fromme Tanz. Hbg. 1925), als deren Repräsentant sich M. verstand. So lesen sich M.s erste Arbeiten wie Variationen ein u. desselben Themas: Es ist die Suche nach dem »Lebenslied« der Jugend, die sich zwar vergnügungssüchtig u. erfahrungsgierig gebärdet, die jedoch in Wahrheit ohne inneren Halt u. Richtung ist, weil ihr die verbindl. Werte u. Normen fehlen. Eine eindeutige gesellschaftskrit. Position bezieht M. nicht; Ansätze eines polit. Sendungsbewusstseins lassen sich allenfalls in seinem Essay Fragment von der Jugend (Bln. 1926) erkennen, das M. dann in seinem 1927 veröffentlichten Essay Heute und Morgen. Zur Situation des jungen geistigen Europas (Hbg.) zu präzisieren versucht, indem er erstmals eine »soziale Verpflichtung« der jungen Intellektuellen konstatiert.

Literarisch gelang es M. erst mit dem Roman Treffpunkt im Unendlichen (Hbg. 1932), dem immer wieder beschworenen Bild der verlorenen Generation eine überzeugende Form zu geben, das hier nun mit den dominierenden Themen seiner späteren Werke – Drogenkonsum u. die Qual der Abhängigkeit, Bindungsängste u. Suizidgedanken – verknüpft wird. Zunächst aber war es M.s vorrangiges Ziel, seine oft innerhalb weniger Wochen zu Papier gebrachten Werke einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Nach seinem erfolgreichen literar. Debüt mit dem Abdruck seiner Erzählungen Nachmittag im Schloss (Bln., Mai 1924) u. Vor dem Leben (Bln., Aug. 1924) in verschiedenen Zeitungen, wurde 1925 eines der erfolgreichsten Jahre in M.s gesamter Schriftstellerkarriere: Der Novellensammlung Vor dem Leben (Hbg. 1925) folgte schon einen Monat später die Veröffentlichung seines ersten Dramas Anja und Esther (Urauff. Mchn. 1925 mit Erika Mann, Gustaf Gründgens, M. u. seiner Verlobten Pamela Wedekind); gekrönt wurde die Publikumsoffensive durch den Vorabdruck seines ersten Romans Der fromme Tanz im Dez. in der Zeitschrift »Die Literarische Welt«. Trotz sprachlicher u. stilist. Mängel sorgte Der fromme Tanz für Aufsehen, da M. – wie schon in seinem Bühnenerstling Anja und Esther – freimütig das Thema Homosexualität behandelt (zu dieser Zeit war Homosexualität in der Weimarer Republik verboten u. wurde, gemäß § 175 des Reichsstrafgesetzbuchs, mit einer Gefängnisstrafe geahndet). Die meisten Kritiker erkannten M.s Bemühungen, den Bruch mit den herrschenden Konventionen zu wagen, nicht an u. attackierten ihn als jungen dekadenten Bohemien oder als mindertalentierten Vielschreiber mit ausgeprägtem Hang zur Selbststilisierung. M.s Bekenntnis zu ästhetizist. Sprachkünstlern wie Rainer Maria Rilke oder Stefan George fand v. a. bei jungen Literaten wie Bertolt Brecht oder Johannes R. Becher keine Zustimmung, die vehement für die Abkehr von der gefühlsbetonten Metaphorik der Romantik u. dem Ästhetizismus des Expressionismus eintraten. Auch der berühmte Familienname, der M. zweifellos den Weg in die Öffentlich-

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keit erleichtert hatte, erwies sich als Bürde, zumal seine Arbeiten – darunter u. a. die autobiografisch gefärbte Kindernovelle (Hbg. 1926), die Komödie Revue zu Vieren (Bln. 1926; Urauff. Leipzig 1927 mit der gleichen Besetzung wie bei Anja und Esther), der histor. Alexander-Roman (Bln. 1930) u. eine amüsant geschriebene Autobiografie Kind dieser Zeit (Bln. 1932) – immer wieder dem direkten Vergleich mit dem Werk des Vaters standhalten mussten. M. versuchte die sich zuspitzende Vater-Sohn-Problematik durch eine Betonung der Gegensätze zu entschärfen – »das Extravagante, Exzentrische, Anrüchige gegen das maßvoll Gehaltene; das irrational Trunkene gegen das von der Vernunft Gebändigte und Beherrschte« (Kind dieser Zeit). Doch trotz seiner extravaganten u. ausschweifenden Lebensweise, zu der gegen Ende der 1920er Jahre auch die Hinwendung zu Rauschmitteln gehörte, trotz seiner vielen Reisen (darunter auch eine erste Weltreise mit Schwester Erika 1927/28 als »The literary Mann-Twins«; ihre Erlebnisse haben sie im Reisebericht Rundherum, Bln. 1929, verarbeitet) u. dem Verzicht auf einen festen Wohnsitz blieb das tägl. Schreiben M.s »Lebenselixier«. In seinem Gruß an das zwölfhundertste Hotelzimmer (1931) hat M. die Schattenseiten seiner Ungebundenheit festgehalten: Heimatlosigkeit, Einsamkeit u. eine tiefe Sehnsucht nach Stabilität u. Ordnung waren ihm schon lange vor der realen Exilerfahrung vertraut. 1933 vollzog sich die entscheidende Zäsur für M.s weiteren persönl. u. literar. Entwicklungsweg: Als einer der ersten Schriftsteller zog er aus der Machtübernahme der Nationalsozialisten im März die Konsequenzen u. verließ Deutschland, um zunächst nach Paris, dann nach Amsterdam ins Exil zu gehen. Fortan verschrieb er sich dem Kampf gegen den Faschismus u. avancierte schon bald zu einem der wichtigsten Repräsentanten der exilierten dt. Schriftsteller. Vor allem seine briefl. Aufforderung vom 9.5.1933 an den bis dahin bewunderten Gottfried Benn, sich eindeutig von Hitler u. der faschist. Ideologie zu distanzieren, fand große Beachtung. Jahre später räumte Benn ein, dass M. die Situation damals »richtiger als er selbst

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beurteilt« habe (Doppelleben, 1950). Im Mai 1933 provozierte Benn jedoch durch seine polem. Antwort an die literarische Emigration (Rundfunkrede vom 19.5.1933) den Bruch mit den emigrierten Schriftstellerkollegen. Unterdessen schwor M. die Exilliteraten auf den gemeinsamen Schulterschluss im Kampf gegen die Hitler-Diktatur mit der Gründung einer Monatszeitschrift ein, der er den programmat. Titel »Die Sammlung« (Amsterd.) gab u. die er ab Sept. 1933 (bis 1935) als Herausgeber u. Redakteur betreute. In den folgenden Jahren warb M. in zahlreichen Essays, Artikeln u. Vorträgen für die Einheit der Antifaschisten u. ab Mitte der 1930er Jahre auch für die Etablierung eines Volksfrontbündnisses; hierbei stets darum bemüht, die verschiedenen ideolog. Strömungen – die sozialistischen wie die bürgerlich-konservativen Positionen – in seinem Konzept der künstlerischen Wehrhaftigkeit zu integrieren u. sich weder von der einen noch von der anderen Richtung vereinnahmen zu lassen. Den realen Bedrohungen u. Entbehrungen, die der Exilalltag für viele verbannte dt. Schriftsteller mit sich brachte, näherte sich M. v. a. literarisch an. In seinem breit angelegten Epos Der Vulkan (Amsterd. 1939) entwirft er – unter Einbeziehung konkreter zeitgeschichtl. Ereignisse u. realer Exilschauplätze – ein facettenreiches Exilpanorama, das von den menschenunwürdigen Machenschaften der faschist. Diktaturen in Europa, aber auch von den illegalen, öffentl. u. militanten Formen des antifaschist. Widerstands erzählt. Dabei reicht das Spektrum der Figuren (viele tragen Züge ihm nahe stehender Personen) von mutigen, kämpferischen, lebensstarken Persönlichkeiten bis hin zu verzagenden, drogenabhängigen, lebensmüden Charakteren. Schon drei Jahre zuvor hatte M. – im Anschluss an seinen viel beachteten Tschaikowsky-Roman (Symphonie Pathétique. Amsterd. 1935) – mit Mephisto (1936 Amsterd.) einen zeitkrit. Gesellschaftsroman verfasst; hier dominieren jedoch die Themen Karrierismus, Korrumpierbarkeit u. Mitläufertum des Künstlers mit den nationalsozialist. Machthabern in Deutschland. Dass die Idee für den Roman – u. dafür, den »Herrn Staatstheaterintendan-

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ten Gründgens« ins Zentrum der Satire zu rücken – nicht von M. selbst, sondern von seinem Schriftstellerkollegen Hermann Kesten (Brief von Kesten an M. vom 15.11.1935) stammte, wurde erst 1974 bekannt. Vielleicht hätte der Brief zur Entschärfung des MephistoSkandals in Westdeutschland beigetragen (in der ehemaligen DDR war der Roman schon seit 1956 erhältlich). So aber bestätigte 1971 das Bundesverfassungsgericht in letzter Instanz das seit 1964 bestehende u. nur für einen kurzen Zeitraum aufgehobene Publikationsverbot des Mephisto in Westdeutschland durch das Hamburger Oberlandesgericht u. den Bundesgerichtshof. Die Karlsruher Richter folgten der Argumentation des Klägers u. Adoptivsohns von Gustaf Gründgens, Peter Gorski, wonach Mephisto ein Schlüsselroman u. kein literar. Kunstwerk sei; mit diesem habe M. darauf abgezielt, aus privaten Hassu. Rachegefühlen dem öffentl. Ansehen seines ehemaligen Schwagers – Gründgens war von 1926–1929 mit Erika Mann verheiratet gewesen – bewusst zu schaden. Dennoch kam knapp zehn Jahre später in Westdeutschland eine »illegale« Taschenbuchausgabe auf den Markt, die zum Bestseller wurde u. als Vorlage für ein Theaterstück sowie für einen international erfolgreichen Film diente; auch leitete Mephisto M.s Wiederentdeckung ein. Der Vulkan war M.s letztes in Europa verfasstes Werk. Im Sept. 1938 siedelte er – nach seiner Ausbürgerung aus dem Deutschen Reich (1934) nunmehr als tschech. Staatsbürger – zus. mit seiner Familie nach Amerika über. Durch verschiedene vorangegangene Aufenthalte war er mit den USA bereits vertraut; nun versuchte M. – zunächst noch in Deutsch, dann in Englisch – den antifaschist. Kampf wie gewohnt mit Artikeln, Büchern u. einer eigenen Zeitschrift (»Decision«, New York, 1941/42) fortzuführen. Letztlich gelang es ihm jedoch nicht, an seine früheren Erfolge anzuknüpfen: Für die Veröffentlichung seiner Arbeiten fanden sich keine Verlage mehr, Vortragsangebote blieben aus; M. stand nunmehr abseits der literar. Szene. Wegen angebl. Kontakte zu Kommunisten wurde M. zeitweilig vom FBI überwacht; erst mit M.s Eintritt in die amerikan. Armee (Anfang 1943) wurde das Dos-

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sier (AZ 65–17395) über ihn geschlossen. Dass der überzeugte Pazifist sich dafür entschieden hatte, nun aktiv am militärischen Kampf gegen Hitler teilzunehmen, entsprang nicht nur seiner polit. Überzeugung, sondern auch dem Bedürfnis, sich durch die neue Aufgabe psychisch wieder zu stabilisieren. Als Angehöriger einer Spezialeinheit für psycholog. Kriegsführung nahm M. 1944/45 an der Invasion der alliierten Streitkräfte teil; zwei Tage vor Deutschlands Kapitulation sah er als Sonderberichterstatter von »The Stars and Stripes« das erste Mal seit zwölf Jahren seine Heimat – u. auch sein zerbombtes Elternhaus in München – wieder. Er, der all die Jahre unermüdlich das Bild von einem »anderen, besseren Deutschland« beschworen hatte, glaubte nun nicht mehr an eine rasche soziale u. polit. Neuorientierung seiner einstigen Heimat: »Diese beklagenswerte, schreckliche Nation wird Generationen lang physisch und moralisch verstümmelt, verkrüppelt bleiben« (Brief an Thomas Mann vom 16.5.1945). In den nächsten Jahren pendelte M. zwischen Europa u. Amerika: vereinsamt, verarmt, geschwächt vom jahrelangen Drogenkonsum u. desillusioniert, was die Umsetzung seines Ideals einer humanist. Weltordnung betraf. In seinem letzten Essay, Die Heimsuchung des europäischen Geistes, bekannte er, dass die »Schlacht der Ideologien« im Zeitalter des Kalten Kriegs nun keinen Ausweg mehr lasse: »Wir sind an einem Punkt angelangt, wo nur die dramatischste, die äußerste Geste noch irgend Aussicht hat, bemerkt zu werden [...]« (New York/Zürich 1949). Die Veröffentlichung seines letzten Essays – ebenso wie die Publikation von Der Wendepunkt (Mchn. 1952), die von ihm sorgfältig übersetzte u. überarbeitete Fassung seiner 1942 auf Englisch erschienenen Autobiografie The Turning Point, – erlebte M. nicht mehr. Am 21. Mai 1949 gab er dem lange schwelenden Todeswunsch nach u. starb an einer Überdosis Schlaftabletten. Weitere Werke: Gegenüber v. China. Kom. in 6 Bildern. Bln. 1929. – Abenteuer. Lpz. 1929 (N.n). – Geschwister. 4 Akte nach Motiven aus dem Roman ›Les enfants terribles‹ v. Jean Cocteau. Bln. 1930. – Auf der Suche nach einem Weg. Bln. 1931 (Aufsätze). – Das Buch v. der Riviera. Was nicht im ›Bae-

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deker‹ steht, Bd. XIV (zus. mit Erika M.). Mchn. 1931. – Athen. 5 Bilder (unter dem Pseud. Vincenz Hofer). Bln. 1932. – Flucht in den Norden. Amsterd. 1934. – Vergittertes Fenster. Novelle um den Tod König Ludwigs II. v. Bayern. Amsterd. 1937. – Escape to Life (zus. mit Erika M.). Boston 1939. – The Other Germany (zus. mit ders.). New York 1940. – André Gide and the Crisis of modern Thought. New York 1943. Dt. u. d. T. André Gide. Die Gesch. eines Europäers. Zürich 1948. – Distinguished Visitors [Der amerikan. Traum] Mchn. 1992 (postum ersch.). – Fluch u. Segen. Fragment einer Kantate aus dem Nachl. Schriesheim 1997 (postum ersch.). – Herausgeber: Anth. jüngster Lyrik (zus. mit Willi R. Fehse). Hbg. 1927, sowie Anth. jüngster Lyrik. N. F. (zus. mit dems.). Hbg. 1929. – Anth. jüngster Prosa (zus. mit Erich Ebermayer u. Hans Rosenkranz). Bln. 1928. – Heart of Europe. An Anthology of Creative Writing in Europe 1920–40 (zus. mit Hermann Kesten). New York 1943.

Bln. 2006. – U. Naumann: K. M. Reinb. 2006. – Magali L. Nieradka: Wendepunkte – Tournants: Beiträge zur K. M.-Tagung aus Anlass seines 100. Geburtstages. Sanary-sur-Mer 2006. – F. Kroll (Hg.) u. Klaus Täubert: K. M.-Schriftenreihe. Bd. 2: Unordnung u. früher Ruhm 1906–27. Hbg. 2006. – F. Kroll: Bd. 3: Vor der Sintflut 1927–33. Hbg. 2006. – Ders. u. K. Täubert: Bd. 4/1: Repräsentanten des Exils 1933–34. Slg. der Kräfte. Hbg. 2006. – Dies.: Bd. 4/2: Repräsentanten des Exils 1934–37. Im Zeichen der Volksfront. Hbg. 2006 – F. Kroll: Bd. 5: Trauma Amerika 1937–42. Hbg. 2006. – Ders.: Bd. 6: Der Tod in Cannes 1943–49. Hbg. 2006. – Karina v. Lindeiner: Slg. zur heiligsten Aufgabe. Polit. Künstler u. Intellektuelle in K. M.s Exilwerk. Würzb. 2007. – Susanne Utsch: Sprachwechsel im Exil. Die ›linguistische Metamorphose‹ von K. M. Wien/Köln 2007. – Bodo Plachta: Erläuterungen u. Dokumente zu K. M.: ›Mephisto‹. Ditzingen 2008.

Ausgaben: Prüfungen. Schr.en zur Lit. Mchn. 1968. – Woher wir kommen u. wohin wir müssen. Frühe u. nachgelassene Schr.en. Mchn. 1980. – Mit dem Blick nach Dtschld. Der Schriftsteller u. das polit. Engagement. Mchn. 1985. – Das innere Vaterland. Literar. Ess.s aus dem Exil. Mchn. 1986. – Der siebente Engel. Die Theaterstücke. Reinb. 1989. – Maskenscherz. Die frühen Erzählungen. Reinb. 1990. – Speed. Die Erzählungen aus dem Exil. Reinb. 1990. – Die neuen Eltern. Aufsätze, Reden, Kritiken 1924–33. Reinb. 1992. – Zahnärzte u. Künstler. Aufsätze, Reden, Kritiken 1933–36. Reinb. 1993. – Das Wunder v. Madrid. Aufsätze, Reden, Kritiken 1936–38. Reinb. 1993. – Zweimal Dtschld. Aufsätze, Reden, Kritiken 1938–42. Reinb. 1994. – Auf verlorenem Posten. Aufsätze, Reden, Kritiken 1942–49. Reinb. 1994. – Gedichte u. Chansons. Schriesheim 1999. – Tagebücher: 1931–49. Hg. Joachim Heimannsberg, Peter Laemmle u. Wilfried F. Schoeller. 6 Bde., Reinb. 1995. – Briefe: Briefe u. Antworten 1922–49. Hg. Martin Gregor-Dellin. Reinb. 1994.

Mann, (Paul) Thomas, * 6.6.1875 Lübeck, † 12.8.1955 Kilchberg bei Zürich; Grabstätte: ebd. – Romancier, Erzähler, Essayist.

Literatur: Bibliografie: Michel Grunewald: K. M. 1906–49. Eine Bibliogr. Mchn. 1984. – Fredric Kroll (Hg.): K. M. Schriftenreihe. Bd. 1: Bibliogr. Hbg. 2006. – Einzeltitel: Eberhard Spangenberg: Karriere eines Romans. ›Mephisto‹, K. M. u. Gustaf Gründgens. Reinb. 1986. – Heinz Ludwig Arnold (Hg.): K. M. Text + Kritik 93/94 (1987). – Gerhard Härle: Männerweiblichkeit. Bln. 1999. – Uwe Naumann: Ruhe gibt es nicht bis zum Schluss: K. M. 1906–49. Bilder u. Dokumente. Reinb. 2001. – Lion Feuchtwanger u. a.: K. M. zum Gedächtnis. Hbg. 2003. – Nicole Schaenzler: K. M. Eine Biogr.

Nicole Schaenzler

Da weder des Senators älterer Sohn Heinrich noch der jüngere Thomas für die Fortführung der Lübecker Handelsfirma tauglich schien, verfügte der Vater die Liquidation. Mit der verwitweten Mutter zog auch der 18Jährige nach München. Wie zuvor die Schule, brach er auch ein Volontariat in einer Versicherungsgesellschaft ab. Mit der Sicherheit einer Rente im Rücken wagte er die Schriftstellerlaufbahn u. reiste zus. mit Heinrich 1895–1897 nach Italien. Die homoerot. Gefühlsverwirrungen der Jünglingsjahre endeten auch nach der Heirat mit Katharina, gen. Katia, Pringsheim (1905) nicht. Trotz wachsender Erfolge u. unermüdl. Schreibens geriet M. in eine lang andauernde Krise. Mit dem Roman Buddenbrooks (Bln. 1901) hatte der noch nicht einmal 25-Jährige den ihm zugefallenen Weltstoff verbraucht; er musste sich die zweite, erweiterte Welt durch Erfahrung u. Bildung erwerben. Sie stand ihm dann, vom Zauberberg an, zur Verfügung. Mit dem Ersten Weltkrieg geriet der zuvor politisch Desinteressierte in die Zeitwirren. Das ohnehin seit Jahren prekäre Verhältnis zu Heinrich verschärfte sich zum literarisch ausgetragenen Bruderzwist, dem erst 1922

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mit dem Wandel M.s vom nationalkonservativen Polemiker zum Verteidiger der Weimarer Republik die Versöhnung folgte. Bis zum Untergang der Republik repräsentierten die Brüder gemeinsam dt. Literatur. 1929 erhielt M. den Nobelpreis für Literatur, ausdrücklich für Buddenbrooks. 1933 wurde die Rede zum 50. Todestag Richard Wagners zum Anlass einer Kampagne; M. kehrte nicht mehr nach Deutschland zurück. Nach anfängl. Zurückhaltung erteilte M. 1936/37 auch vor der Weltöffentlichkeit dem Hitlerregime die schneidende Absage. Die Stationen des Emigranten führten über Europa in die USA; in Kalifornien glaubte er mit dem Bau eines Hauses u. der Einbürgerung im Juni 1944 die neue Heimat gefunden zu haben, aber die Vergiftung des amerikan. Lebens durch die Umtriebe des McCarthy-Ausschusses trieb ihn schließlich nach Europa zurück. Für die Jahre ab 1933 bieten die Tagebücher Einblicke in die Innenwelt seines Alltags. Durch einen Zufall blieben auch die Journale 1918 bis 1921 erhalten. Gerade sie zeigen, wieviel verloren ging, als M. die älteren Tagebücher verbrannte. Der Novellenband Der kleine Herr Friedemann (Bln. 1898) war das eigentl. literar. Debüt M.s. Zwar waren die hier versammelten Erzählungen fast alle kurz zuvor in Zeitschriften erschienen, doch erst diese Buchveröffentlichung im S. Fischer Verlag machte aus einem viel versprechenden Talent einen jugendl. Autor. Ganz frühe poetische u. krit., auch politisch gefärbte Versuche wurden von M. ebenso wie von seinem damit befassten älteren Bruder Heinrich vergessen oder verdrängt u. erst Jahrzehnte später aufgedeckt. Die Titelnovelle von »opus I« sah M. selbst als epochemachend für seine Entwicklung an; er habe damit die »diskreten Formen und Masken« für seine Erlebnisse gefunden. Das hier erstmals behandelte Motiv der Heimsuchung wird M. lebenslang begleiten. Aber nicht nur des Themas wegen ist die Geschichte des sensitiven Außenseiters, den die unterdrückte Geschlechtlichkeit einholt u. vernichtet, Keim u. Modell, sondern auch durch die Art, Lebensstoff mittels Formen u. Rollenspiel in Kunst zu verwandeln. Die fast naturalist. Exaktheit in der Zeichnung von Personen u.

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Örtlichkeiten steht im Dienst einer symbolisierenden Handlungsführung, die sich auf eine philosophisch-psycholog. Grundidee – hier u. a. Nietzsches moralgenealog. Entlarvung der asket. Ideale – stützt u. mit Hilfe der an Wagner orientierten Leitmotivtechnik umgesetzt wird. Das Ensemble dieser Elemente bestimmt auch Buddenbrooks. Da M. ein Leben lang von allem, was in der Luft oder auf der Straße lag, nur wahrnahm, was ihn selber betraf, dies aber ganz zu seiner Sache, d.h. daraus ein Kunstwerk machte, wurde das um 1900 längst abgegriffene Thema der Dekadenz zum Gegenstand seines ersten Romans. Er setzte die dt. Entsprechung, Verfall, sogar in den Untertitel. Das Genre Familienroman gehörte im 19. Jh. bereits zur Unterhaltungsliteratur. Und in den skandinav. Romanen der Zeit, die M. unmittelbar anregten, ging es auch schon um den Niedergang von Kaufmannsfamilien. Von Wagner gar profitierte mit Nachahmungen u. Parodien seit einem Vierteljahrhundert die ganze europ. Literatur. Aber indem M. all dies aufnahm, es auf die ihm vertrauteste Welt seiner Jugend projizierte, die ureigensten Probleme auf Personen verteilte, schuf er, noch über den reifen Fontane hinauswachsend, den spezifisch dt. Gesellschaftsroman von weltliterarischem Rang. Denn nur über einen Gesellschaftsroman konnte der mit Goethes Wilhelm Meister sich abzweigende dt. Sonderweg der Bildungs- u. Entwicklungsgeschichten der stets von Weltlosigkeit bedrohten Individuen wieder in den Höhenweg des modernen Prosaepos einmünden u. so der Anschluss an die Leistungen des angelsächsischen, frz. u. russ. Realismus gefunden werden. Vier Generationen umfasst die Buddenbrooks-Saga, die als der Niedergang des Hauses erzählt wird, bei dem Familien- u. Firmenname identisch sind. Solche Identität ist nicht eine Parodie der Fürstenhäuser à la Habsburg, Hohenzollern oder Romanow, deren Stunde im selben Jahr schlagen wird, in dem der letzte Nachfahre Wilhelm Meisters, Hans Castorp, vom Zauberberg ins Todesfeld der Weltkriegsschlacht geschickt wird. Haus Buddenbrook repräsentiert als Einheit von Firma u. Familie das patriz. Bürgertum in

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seiner so noblen wie bedrohten Form. Doch verfehlt den Roman, wer den Verfall dieser Familie im Sinne marxistischer Geschichtsideologie als Paradigma der bürgerl. Klasse deutet. Denn je mehr es mit den Buddenbrooks abwärts geht, desto sicherer kommen die Hagenströms nach oben. Die direkt erzählte Geschichte beginnt 1835, man feiert den Erwerb jenes Hauses in der Lübecker Mengstraße, das M. als Vorbild gedient hat u. das heute als Heinrich-und-Thomas-MannZentrum eine touristische Wallfahrtsstätte ist. Aber die Geschichte reicht weiter zurück, denn beim Einweihungsfest 1835 sind schon drei Generationen anwesend: außer dem »regierenden« Firmenchef, der das Haus gekauft hat, u. den neun-, acht- u. siebenjährigen Kindern Thomas, Tony u. Christian feiert die ältere Generation. Damit geraten wir ins vorrevolutionäre 18. Jh., u. mit dem Mengstraßenhaus selbst, das anno 1682 von den Ratenkamps, mit denen es damals glänzend aufwärts ging, gebaut wurde, sind wir in jener Vorzeit, in der, seit Wagners Rheingold u. der demonstrativen Inbesitznahme von Walhall, der Untergang eines Hauses seinen Anfang zu nehmen hat. Buddenbrooks sind nach 40 Jahren am Ende, das letzte erschließbare Datum ist 1877. Von Nietzsche u. Paul Bourget übernimmt M. den Doppelaspekt der Dekadenz: biologische Degeneration bei fortschreitender Verfeinerung. Die Zunahme an Sensibilität wird erkauft mit dem Verlust von Instinkt, Produktivität, Härte. Die Darstellung der Verfeinerung als Lebensschicksal bedingt eine immer differenziertere u. sich immer mehr ausdehnende Erzählung. Der Prozess der Aushöhlung macht in der dritten Generation aus dem Chef des Hauses, dem Senator, einen Leistungsethiker, der dann mit Schopenhauer u. einem Zahnabszess zu Tode gebracht wird, während Christian, fast ein pervertierter Zwillingsbruder, als neurot. Leistungsverweigerer fungiert. Dieser Doppelaspekt mit seinen zahlreichen indirekten autobiogr. Signalen wird variiert in der geheimen Identität des am Opium der Musik sich verzehrenden Spätlings Hanno mit dem Dichterfreund Kai. So wird die Zwangsläufigkeit des DekadenzVerhängnisses durchbrochen. Kai entstammt

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zwar einer gänzlich verrotteten Adelsfamilie, vermag aber kraft des Geistes das Fatum zu überwinden; er wird einmal mit der Erzählung vom Verfall der Familie Buddenbrook das moderne Gegenstück zu Edgar A. Poes romant. Untergang des Hauses Usher schreiben. Die nächste Buchpublikation, Tristan (Bln. 1903), versammelt wieder sechs Novellen. Die Titelgeschichte nimmt zwar schon Motive des späteren Zauberbergs vorweg, bleibt aber in der direkten Travestie hinter der subtileren Wagner-Adaption von Buddenbrooks zurück. (Tristan ähnelt auch hierin Wälsungenblut, 1905 geschrieben, aber aus familiären Gründen zurückgezogen u. erst 1921 durch einen Privatdruck bekannt geworden.) In dieser Novellensammlung verarbeitet M. die symbolistischen u. ästhetizist. Strömungen der zeitgenöss. Literatur. So kann etwa die Tristanfigur Spinell als Karikatur des lebensfernen u. darum unproduktiven Dichters verstanden werden. Der Renaissancekult des Fin de Siècle wird in Gladius Dei parodiert. Zgl. wird mit dem Auftreten eines zeitgenöss. Savonarola im leuchtenden München-Florenz das einzige Drama M.s, Fiorenza (Bln. 1906), präludiert. Die zweite Sammlung erhält ihr Gewicht durch Tonio Kröger. Aber diese von M. selbst u. vielen seiner Leser so geliebte Erzählung ist, im Gegensatz zu Buddenbrooks, ein typisches Jugendwerk. Die im Roman bereits geleistete Objektivierung der Künstler-Bürger-Problematik wird noch einmal, u. mit allen sentimentalen Zutaten, subjektiv aufbereitet. Moderner als der Roman ist die Erzählung lediglich durch den Einbezug der Reflexion, ohne dass doch der Ausgleich zwischen den essayistischen u. den narrativen Elementen schon ganz geglückt wäre. Der zweite Roman Königliche Hoheit (Bln. 1909) erweitert M.s literar. Fertigkeiten, indem er sich u. a. Tendenzen der Unterhaltungs- u. Operettenliteratur der Zeit produktiv zu eigen macht. In seiner Verteidigung gegen die Kritik – u. a. von Hermann Hesse – entwickelt M. seine doppelte Optik u. den damit verbundenen Anspruch, als Schriftsteller sich sowohl an ein anspruchsvolles Publikum zu wenden als auch unterhalten zu wollen.

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Der Tod in Venedig (Bln./Mchn. 1912) ist ein Scheitelpunkt der nun nicht mehr naiven, sondern durchreflektierten Meisterschaft. Den Zeitgenossen mochte leicht vorkommen, diese mit ihren fünf Kapiteln der klass. Tragödie nachgebaute, an Nietzsches Antagonismus des Apollinischen u. Dionysischen orientierte Erzählung der homoerotisch aufgeladenen Verfallseuphorie, der Entwürdigung u. des Zusammenbruchs eines dem Leistungsethos verschriebenen Künstlers künde eher das Ende von M.s Dichterlaufbahn an; nicht nur der Handlung, sondern auch der Machart wegen. Drohte hier nicht der Manierismus einer bis in Hexameter übergehenden Sprache, eines Bildungsaufwands mit direkten Anleihen bei antiker Mythologie u. Literatur ins Artifizielle u. Allegorische auszuarten? Vom späteren Werk her freilich u. nach Erforschung der Genese lässt sich erkennen, dass hier sich ankündigte u. in kleinem Format bewältigt wurde, was in den folgenden Romanen erst zur Entfaltung kommen sollte. Als satir. Gegenstück zur venezian. Erzählung war Der Zauberberg (Bln. 1924) geplant u. 1913 begonnen worden. Fortgeführt u. vollendet wurde er nach 1918. Aber noch ehe das Ende des Weltkriegs abzusehen war, plante M. bereits, die Erzählung vom kleinen Tannhäuser aus Hamburg, der ins Reich von Frau Venus gerät, in den Ausbruch des Kriegs münden zu lassen. Für sieben Jahre kommt der verwaiste zukünftige Schiffsbauingenieur aus einem Hamburger Patriziergeschlecht dem Flachland u. dem tätigen Leben abhanden, obwohl er nur seinen soldatischen, aber leider tuberkulösen Vetter im Hochgebirgssanatorium besuchen wollte. Hier oben – der Zeitentrückung entspricht die vexatorische Verrückung des Raums – gerät er selbst in den Hades mit den Ärzten als Totenrichtern. Erst im Medium der Kunst konnte M. all das, was sich in den Wucherungen der Betrachtungen eines Unpolitischen (Bln. 1918), einem nationalromant. Manifest, noch als Rollenprosa verknäuelt hatte, wirklich zu einem »Werk der Kontrapunktik« vereinen, zu einem »Themengewebe, worin die Ideen die Rolle musikalischer Motive spielen« – Gestalten also, statt bloßer Eideshelfer oder

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polemisch attackierter Gegner. Selbst dann noch, wenn die Figuren Ideologien vertreten, sind sie keine Lautverstärker mehr, sondern lebendige Personen. So Settembrini, der fortschrittsgläubige Demokrat, oder Naphta, der terrorlüsterne Reaktionsrevolutionär. In der geschlossenen Gesellschaft des zaubertollen Berges wird die Vorkriegsgesellschaft im Vorschein des Untergangs erkennbar. Für Hans Castorp aber wird die Zeitverlorenheit zur Einweihung in das Geheimnis des Todes u. der Liebe. In Clawdia Chauchat, der Reinkarnation aller weibl. Verführungsmuster von der Bibel u. der antiken Mythologie an bis zu Wagner, entdeckt er an blaublühendem, also hochromant. Ort, den geliebten Knaben aus Schülertagen mit dem sprechenden Namen Hippe wieder. Indessen ist das in der Walpurgisnacht von ihm angestimmte Preislied auf die Dreieinigkeit des von Krankheit zur Wollust bereiteten Leibes, der Liebe u. des Todes nicht das Ende lang gehegter Sympathie mit dem Abgrund. Vielmehr wird als Maxime des Autors, gar sperrgedruckt, der Lebensbefehl verkündet: »Der Mensch soll um der Güte und Liebe willen dem Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken.« Insgeheim ist der wissbegierige Waisenknabe auf der Suche nach einem Vater. Als der ihm schließlich in Gestalt des Mynheer Peeperkorn begegnet, wird dem Jüngling die Probe der Güte abverlangt. Der Greis mit der myth. Doppelmaske des Dionysos u. des Gekreuzigten, als dessen Begleiterin die Geliebte der Walpurgisnacht zurückkehrt, ein anderer König von Thule auch u. weit mehr als nur die Karikatur von Gerhart Hauptmann, ist in seiner erbarmungswürdigen Größe die grandioseste Figur unter all den Totentänzern. Der Zauberberg ist M.s Versuch, seine weniger an den Franzosen als an Tolstoj u. Dostojewskij gewonnene Vorstellung des nichtsatir. Gesellschaftsromans mit der Tradition des dt. Bildungsromans zu verschmelzen. Das konnte nur als hohe Parodie gewagt werden. Das »Wilhelm Meisterchen« geht zudem in Fausts Spuren. Die zahlreichen offenen, sogar wörtl. Anspielungen auf Faust I im ersten Teil des Romans u. die kryptischen auf Faust II im zweiten Teil sind nicht Bildungsprunk, son-

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dern Stränge des Ideengewebes. Das gilt auch für die Schopenhauer-, Nietzsche- u. WagnerReminiszenzen. Der Zauberberg ist ein Zeitroman: im histor. Sinn, weil er die Spanne, in der er spielt (1907–1914), wie auch die politischen u. geistigen Umbrüche der Jahre seiner Vollendung spiegelt; im philosoph. Sinn, weil die Zeit selbst »Gegenstand« ist. Man kann diese von M. stammende Charakterisierung dahingehend noch erweitern, dass es sich hier auch um einen Bildungsroman im doppelten Sinn handelt, weil sich die Geschichte eines späten Nachfahren des Bildungslehrlings Wilhelm Meister zgl. als die Summe der abendländ. Bildung darbietet. Auch bei der Tetralogie Joseph und seine Brüder steht am Anfang der Plan einer Novelle. Beim Erscheinen des »ersten Romanes«, Die Geschichte Jaakobs (Bln. 1933), war die Dimension dieses nicht nur dem Umfang nach größten Werks von M. selbst für den Autor noch nicht überschaubar. Der »zweite Roman«, Der junge Joseph (Bln. 1934), ließ noch eine Trilogie vermuten. Mit Joseph in Ägypten (Wien 1936) wurde endlich die den Autor unbewusst leitende Vorstellung erkennbar: mit der Sprache allein ein Gegenwerk zu Wagners Ring-Tetralogie zu schaffen. Mit dem »vierten Roman«, Joseph der Ernährer (Stockholm 1943), war dieses Ziel erreicht. Auf der Höhe seines Könnens setzte M. alle formalen u. sprachl. Mittel ein, die er vom 19. Jh. übernommen u. mit Hilfe der Ironie ins 20. Jh. hinübergerettet hatte. Es wird in der Art älterer Chronik berichtet, es werden biblische u. außerbibl. Quellen zitiert, die Kommentare der Jahrtausende mit einbezogen; der konventionelle Wechsel zwischen Dialog, Beschreibung u. Erzählung wird an dramat. Höhepunkten zum Opernlibretto; mit Assonanzen u. Alliterationen wird, nicht zum Selbstzweck, experimentiert; wenn gar Stabreime auftauchen, hat solche WagnerParodie stets funktionale Bedeutung. Lautmalerei, Wortklänge, Archaismen, Neologismen, gruppenspezif. Sprechweisen, wie etwa der snobist. Jargon der dekadenten Oberschicht Ägyptens, von Bachofen entlehnte Metaphorik zur Charakterisierung greisenhafter Regression – all dies schafft, zus. mit der Polyperspektivität einer zwischen Autor,

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Erzähler, einbezogenem Leser u. kalkulierter Figurenoptik wechselnden Darstellungsstrategie, das Instrumentarium für die Inszenierung des »Festes der Erzählung«. So kann im »Tempeltheater«, statt in dem als »Tempelbude« apostrophierten Bayreuth, wieder Ereignis werden, was einmal sich selbst erzählte, indem es geschah. Es wird der Mythos beschworen, dass er sich abspiele »in genauer Gegenwart«. Darum gilt nicht der bibl. Bericht (1 Mos 37–50) als der eigentl. Urtext, sondern das durch die Genesis lapidar verkürzte Urgeschehen. Die Verbindung von Mythos u. Psychologie ist die leitende Idee. Man wird ihr nur gerecht, wenn man die beiden Grundbegriffe im Sinne M.s zumindest heuristisch akzeptiert. Die Festrede Freud und die Zukunft (Wien 1936), zum 80. Geburtstag des Forschers zwischen die Vollendung von Joseph in Ägypten geschoben, parallelisiert unverblümt Freuds Lebenswerk mit der eigenen Auffassung von Psychologie, amalgamiert Schopenhauer, Nietzsche, Freud u. C. G. Jung. Und wie schon Wagner den Mythos als das Allgemeinmenschliche erklärt hatte, sieht auch M. darin das »Immer-Menschliche«, die »Urgründe der Menschenseele«. Deshalb ist Mythos stets auch »Lebensgründung«, zeitloses Schema u. »fromme Formel, in die das Leben eingeht, indem es aus dem Unbewußten seine Züge reproduziert«. Als das Zeitlose ist der Mythos aber das Geschichtslose, wenn er nur als stete Wiederholung gelebt oder zelebriert wird; geschieht doch auf Erden nur, was sich am Himmel ereignet. Bei Alfred Jeremias, Das Alte Testament im Lichte des Alten Orients (1916), fand M., was er am nötigsten brauchte. In diesem Hauptwerk der panbabylon. Schule wurde die Astral-Religion des Zweistromlandes als Quelle des Mythen- u. Bilderschatzes des AT wie auch der antiken Kultur aufgedeckt. Der Streit, ob damit nicht das Fundament der Offenbarungsreligion zerstört würde, scherte M. nicht, ihm lag daran, jene Versöhnung von Mythos u. Vernunft zu demonstrieren, als deren Inkarnation ein Träumer, ein Künstler also auch, zum Täter u. zum Retter der Menschheit wird. Nicht Mythensynkretismus, sondern »Einheit des Menschengeistes« bot sich bei Jeremias dem

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Material suchenden Dichter, u. er fand solche Einheit in Motivketten aufbereitet, von den außerbibl. Kosmogonien u. dem bibl. Schöpfungsmythos über Paradies, Sündenfall, Sintflut, Turmbau, Abrahamserzählungen, rollende Sphäre, Tammuz-Adonis-Osiris-Schema des getöteten u. auferstandenen Gottes, Analogie der zwölf Söhne Jaakobs mit den Tierkreiszeichen, Ägypten als Unterwelt usw. Der Roman erzählt, wie sich die Abrahamssippe aus der kollektiven Gebundenheit des zeitlosen Mythos herausarbeitet u. wie aus Wiederholung fortschreitende Geschichte, »Gottesklugheit« werden kann. Aber er zeigt es nicht als Überwindung des Mythischen. Die humane Auserwähltheit verrät sich nicht durch Verleugnung des Mythos. Daher gelingt Joseph allein die volle Integration, auch die des Weiblich-Mütterlichen mit dem Vater-Männlichen, u. nicht obwohl, sondern gerade weil ihm der geistl. Erbsegen verweigert wird. Nur auf weltl. Weise sei er erhöht worden, raunt ihm der sterbende Jaakob zu, das Heil trage er nicht. Dem Dichter liegt freilich nicht so sehr am geistl. Heil als am »gesitteten Leben«. Ohne den Ernährer wäre Jaakobs Stamm so gut wie das ägypt. Volk verhungert: Zum Ernährer jedoch konnte der kindl. Narziss, der sich Auferstehung u. Erhöhung nach dem Tammuz-Adonis-Schema geträumt hatte u. später in die Hermes-Rolle geschlüpft war, nur werden kraft des Doppelsegens. Dessen bibl. Formel, im Roman hundertfach variiert, lautet in M.s kürzester Übertragung: »Denn das musterhaft Überlieferte kommt aus der Tiefe, die unten liegt, und ist, was uns bindet. Aber das Ich ist von Gott und ist des Geistes, der ist frei.« Sechzehn Jahre umfasst die Entstehungszeit der Tetralogie (Ende 1926 bis Anfang 1943). Es sind die Jahre von M.s Kampf für die bedrohte Weimarer Republik, die Jahre von Hitlers Triumphen u. schließlich dem heraufdämmernden Untergang seines vermeintlich tausendjährigen Reiches. M.s Humanismus, als Verbindung von Mythos, Psychologie u. Vernunft, als »Gottesklugheit«, durchdringt das Werk immer stärker als Gegen-Utopie zur menschenverachtenden Rassenideologie mit ihren Mythensurrogaten.

Mann

Die Josephs-Saga wird so auch zum aktuellen Zeitroman. Auch Lotte in Weimar (Stockholm 1939) war als Novelle begonnen worden, als Erholung gedacht zwischen dem dritten u. vierten Josephs-Band. Die Tagebücher verraten, dass von 1933 an zwei lange schlummernde Ideen virulent wurden u. sich ins Hauptgeschäft des bibl. Romans zu drängen versuchten: eine Goethe- u. eine Faust-»Novelle«. Dass der Goethe-Stoff vorgezogen wurde, verlängerte die Inkubationszeit des Doktor Faustus u. bot die Möglichkeit, das Leiden an Deutschland (Los Angeles 1946) noch als Nebenthema des psycholog. Spiels mit dem Mythos Goethe zu behandeln. Der Goethe der Lotte konnte vorhersagen, wohin es mit den Deutschen kommen werde, ohne dass zur Tragödie geriet, was, entsprechend der hohen Komödie von Josephs imitatio Gottes, imitatio Goethes, d.h. »Identifizierung und unio mystica mit dem Vater«, bleiben sollte. Ein sehr früher Goethe-Plan hatte die Entwürdigung des alten Dichters durch Liebesleidenschaft zum Gegenstand, jetzt wurde stattdessen der auf 1816 zu datierende Aufenthalt von »Werthers Lotte« in Weimar gewählt. M. verbindet novellist. Rahmentechnik u. traditionelles Lustspielschema. In wechselnden Konstellationen wird mit Lotte auch der Leser auf Goethe vorbereitet. Kaum hat sich der Besuch der alten Dame herumgesprochen, drängen sich die Neugierigen, der Reigen der Privilegierten lässt die Szene zwischen dem Burlesken u. dem Tragikomischen wechseln. Die Vermischung von Urbild, Abbild u. Lebensmodell, die Lotte seit dem Werther verfolgt, aber stets auch erhöht hat, bringt sie nun ganz in die Nähe der Opfer Goethes. Riemer, der rebellierende, von der ambiguosen Größe traumatisierte Famulus, wird, in Anspielung auf den myth. Urgrund der antiken Tragödie, als »tragische Maske« vorgeführt. Doch tönt durch diese Maske, wenn auch verzerrt, schon der ganze Goethe, der dann erst wirklich auf dem Höhepunkt, dem siebenten Kapitel, durch gewaltige Monologe leibhaftig wird u. trotz einer ingeniösen Montage von GoetheZitaten die M. eigenen Lebens- u. Werkthemen durchführt. Doch nicht Lotte, der Leser allein nimmt teil am Schöpfungsvorgang als

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dem geglückten Ineinander von dionysischem Rauschzustand u. apollin. Traumvision. Mit anderem Bangen als Lotte sieht er danach der »wirklichen« Begegnung beim Mittagessen entgegen, droht sie doch durch die Schmeichlerrunde der gebildeten, aber servilen Vertrauten Goethes zur satir. Enthüllung des Hof haltenden Geistesfürsten zu werden. Gerade hier gewinnt die Matrone mit der Distanz das Format, das die Figur tauglich macht für das Gegenstück zum inneren Monolog des siebenten Kapitels: das imaginäre Gespräch mit der »Erscheinung« Goethes während der einsamen Rückkehr vom Theater im Wagen Seiner Exzellenz. Die heftigsten, auch nach Jahrzehnten noch nicht ganz abgeklungenen Diskussionen hat das Hauptwerk des Alters, Doktor Faustus (Stockholm 1947), ausgelöst. Als Parabel des Verhängnisses trifft »das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde« die mit kollektiver Schuld oder Scham ringenden Deutschen bis heute. Aber auch wer das Politische an diesem Buch nur noch für eine Last der Väter hält, wird sich der Faszination durch den Protagonisten mit Nietzschezügen u. der Magie seiner Werke kaum entziehen können. Niemals zuvor sind mit solcher Überzeugungskraft musikal. Kompositionen allein durch das Wort realisiert worden. Denn um Schöpfungen, nicht um Beschreibungen handelt es sich bei der Darstellung v. a. der beiden Hauptwerke Leverkühns, der Apokalypse u. der Faust-Kantate. Schon seit M.s Selbstkommentar Die Entstehung des Doktor Faustus (Bln. 1949), v. a. aber seit der Veröffentlichung der Tagebücher liegt zudem offen, dass der Roman v. a. »Lebens- und Geheimwerk« ist, ein Schlüsselwerk also, aber nicht im Sinne jener Enthüllungsschriftstellerei, mit der verwechselt zu werden sich M. schon früh in Bilse und ich (Mchn. 1906) verwahrt hatte. Der Kern des Romans ist in einer Notiz von 1904 über den syphilit. Künstler als Dr. Faust zu erkennen. Jahrzehnte mussten sich an diesen Kern ankristallisieren, damit aus dem Nietzsche-Sujet die geheime Lebensbeichte samt Selbstabsolution werden, also eine radikale, d.h. die Wurzeln der eigenen Existenz aufdeckende u. dennoch indirekte

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Autobiografie entstehen konnte. Da diese Jahrzehnte für M. auch die identifizierende Verstrickung in den konservativen Nationalismus u. dann den moralischen Zwang zur Politik bedeuteten, wurde die Konfession zum Epochengleichnis. Nur mit Hilfe eines eigenen, alle Sprach- u. Erzählmittel resümierenden Chiffresystems konnte dies ins Kunstwerk gesetzt werden. Da für M. seit je die Musik, diese »Zweideutigkeit als System«, das Paradigma für Kunst war, in der Periode seines romant. Politik-Verständnisses gar die Musik mit dt. Wesen gleichgesetzt wurde, musste der letzte Faust konsequenterweise zum Tonsetzer werden. Zum Chiffresystem gehören die geheime Identität von Leverkühn u. Zeitblom; die in der Werkgeschichte des Komponisten verborgene Werkgeschichte von M. selbst; die von Adorno vermittelte Zwölftontechnik, hinter der aber die eigene, in Analogie zu Wagner entwickelte leitmotivische Erzählkunst steckt; die scheinauthent. Biografie als noch mögl. Form, nachdem der Roman des Endes auch das Ende des Romans ist; im Buch steht dafür die Sonatenform; mit der Zurücknahme von Beethovens Neunter Sinfonie ist Goethes allgegenwärtiger Faust gemeint. Offenkundig hingegen ist die Überlagerung der Zeitebenen: Autor u. Chronist beginnen im selben Mai 1943 zu schreiben. Diese Gegenwart schlägt immer wieder durch die mit Leverkühns Lebenszeit (1885–1941) eingegrenzte Vergangenheit, auf der wiederum die ganze Erbschaft vom späteren MA an liegt. Die fraglos problematische Verschränkung des Künstlerschicksals mit der geistigen u. polit. Geschichte der Deutschen ist Intention des Autors, sie wird aber verfehlt, wenn man die Doppeltragödie als bloße Parallele deutet. Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull (Ffm. 1954) tragen zwar den Untertitel Der Memoiren erster Teil, doch kam ein zweiter nicht zustande. M. nahm 1951 nicht nur einen bis 1905 zurückreichenden Stoff wieder auf, sondern einen alten Text, der 1910 begonnen u. bruchstückweise später schon veröffentlicht worden war. M. hatte einst den Versuch abgebrochen, weil die »parodistische Künstlichkeit des Stils schwer durchzuhalten« war. Gerade dieser Stil erleichterte aber

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nach Jahrzehnten den Anschluss, weil damit am ehesten die Verschiebung der themat. Schwerpunkte zu überspielen war. In der frühen Phase dominierten noch Künstlerproblematik, Außenseiterstolz, Einsamkeitsdünkel, Décadence-Erotik; sogar das Leistungsethos wird dem Dieb u. Blender verliehen. Aber all dies ist auch als Parodie von Goethes Dichtung und Wahrheit zu lesen u. spielt vor dem Hintergrund von Schopenhauers Welt-Illusionismus u. Nietzsches Entlarvungspsychologie. In der späten Fortsetzung wird Krull zum immoralistischen Bruder des Mythenspielers Joseph u. zum Narziss mit Hermes-Zügen. Am Ende droht der Schelmenroman wieder ins Faustische umzuschlagen. Die Fülle der lebenslang aufbewahrten u. stets vermehrten Arbeitsmaterialien verrät, wie wichtig M. dieser frivolste seiner heiteren Scherze war. Vom Zauberberg an sind die Romane von einem reichen essayist. Werk u. von erzählerischen Vor- u. Nachspielen begleitet. Hinzu kommt, mit den Jahren stetig wachsend, Die Forderung des Tages (Bln. 1930). Die Betrachtungen eines Unpolitischen, ein essayistisches Monsterwerk, sind nicht nur konservatives Rückzugsgefecht, polem. Projektion des Bruderzwistes auf die Weltgeschichte u. vorwegnehmende gedankl. Entlastung des Zauberbergs, sondern bereiten unter Qualen die geistige Klärung vor, die dann erst das »Musizieren« mit Ideen im Roman ermöglicht. Goethe und Tolstoi gehört wie die Rede Von deutscher Republik (beide 1922) zum Zauberberg. Die Erzählung Mario und der Zauberer (Bln. 1930) ist ein Nachhall der polit. Seite des Zauberbergs u. ein tastender Vorgriff auf den Doktor Faustus. Reden u. Essays, v. a. solche über Lessing, Freud, Wagner gehören zum Joseph. Die »indische Legende« Die vertauschten Köpfe (Stockholm 1940) leitet von Lotte zum letzten Josephs-Band über, an den sich sofort die Moses-Erzählung Das Gesetz (Stockholm 1944) anschließt. Mit Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung (Stockholm 1947) rettet M. seinen Eideshelfer in der Künstlerpsychologie, ohne ihn von den verhängnisvollen Folgen der Macht-Philosophie freizusprechen. Leverkühn hat aus der Gregorius-Legende der Gesta Romanorum eine

Mann

Marionetten-Oper gemacht; mit Rückgriff auf Hartmann verwandelt M. dann noch einmal die mittelalterl. Version des ÖdipusMythos ins Sprachspiel Der Erwählte (Ffm. 1951). Der Mittelalter-Roman ermöglicht M. eine weitere hohe Parodie der abendländ. Kultur. So wird die reichhaltige Tradition beschworen, in der die Moderne steht u. die es zu bewahren gilt. Die Fortsetzung des Krull wird schließlich um der letzten Erzählung willen, Die Betrogene (Ffm. 1953), noch einmal unterbrochen. Seit 2002 erscheint im S. Fischer-Verlag die Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke – Briefe – Tagebücher, herausgegeben von Heinrich Detering, Eckhard Heftrich, Hermann Kurzke, Terence James Reed, Thomas Sprecher, Hans Rudolf Vaget u. Ruprecht Wimmer, in Zusammenarbeit mit dem ThomasMann-Archiv der ETH, Zürich (GKFA). Jeder Band repräsentiert den aktuellen Forschungsstand. Die Kommentare werden durch Essays eingeleitet, die über die Textwie Rezeptionsgeschichte berichten, M.s Quellen u. die jeweilige Textlage darstellen. Der Stellenkommentar bietet einen Sachapparat sowie textkrit. Informationen. Vor allem aber werden sämtl. Texte M.s von korrumpierten Lesarten bereinigt; so wurden etwa in Lotte in Weimar gravierende Fehler korrigiert. Die GKFA bildet somit die Grundlage für die wiss. Beschäftigung mit M. Als unverzichtbar für die Thomas-MannForschung hat sich zudem das ThomasMann-Jahrbuch etabliert. Es wurde 1988 von Heftrich u. Hans Wysling in Verbindung mit der Deutschen Thomas Mann-Gesellschaft begründet; 1994 kam die Thomas-Mann-Gesellschaft Zürich hinzu. Im Jahrbuch werden auch die Tagungen der Deutschen ThomasMann-Gesellschaft dokumentiert. Es ist somit das wichtigste Organ der internat. Thomas-Mann-Forschung. Jeder Band enthält eine Bibliografie, die über die Entwicklung der Forschung verlässlich Auskunft erteilt. Ebenso bedeutend für die Forschung ist die Reihe der Thomas-Mann-Studien im Frankfurter Klostermann-Verlag, die vom ThomasMann-Archiv der ETH Zürich herausgegeben wird.

Mann Ausgaben (Erscheinungsort, wenn nicht anders angegeben, Frankfurt/M.): Stockholmer Gesamtausg. Stockholm 1938 ff. – Ges. Werke in 13 Bdn. 1974. – Aufsätze, Reden, Ess.s. Hg. Harry Matter. 3 Bde., Bln./Weimar 1983 ff. – Große komm. Frankfurter Ausg. Werke – Briefe – Tagebücher. Hg. Heinrich Detering u. a. 2002 ff. – Briefe: T. M. an Ernst Bertram 1910–55. Hg. Inge Jens. Pfullingen 1960. – Briefe 1889–1955. Hg. Erika Mann. 1961 ff. – Briefw. mit seinem Verleger Gottfried Bermann Fischer 1932–55. Hg. Peter de Mendelssohn. 1973. – Briefe an Otto Grautoff 1894–1901. Hg. P. de Mendelssohn. 1975. – Hermann Hesse – T. M. Briefw. Hg. Anni Carlsson. 21975. – Die Briefe T. M.s. Regesten u. Register. Hg. Hans Bürgin u. Hans-O. Mayer. 1976 ff. – Briefw. T. M. – Heinrich Mann 1900–49. 21984. – Briefw. mit Autoren. Hg. Hans Wysling. 1988. – T. M. u. Agnes E. Meyer: Briefw. 1937–55. Hg. Hans Rudolf Vaget. 1992. – Briefe an Richard Schaukal. Hg. Claudia Girardi. 2003. – T. M., Katia Mann u. Anna Jacobson: ein Briefw. Hg. Werner Frizen u. Friedhelm Marx. 2005. – Briefe an Jonas Lesser u. Siegfried Trebitsch. Hg. Franz Zeder. 2006. – Tagebücher: Tagebücher 1918–21, 1933–55. Hg. P. de Mendelssohn (ab 1986 I. Jens). 1977 ff. – T. M. Dichter über ihre Dichtungen 14. Hg. H. Wysling u. Marianne Fischer. Mchn. 1975 ff. Literatur: Bibliografien: Hans Bürgin: Das Werk T. M.s. Ffm. 1959. – Harry Matter: Die Lit. über T. M. 1889–1969. 2 Bde., Bln./Weimar 1972. – Klaus W. Jonas: Die T. M.-Lit. Bibliogr. der Kritik. 1896–1975. 2 Bde., Bln. 1972–79. – Georg Potempa: Beteiligung an polit. Aufrufen u. a. kollektiven Publikationen. Morsum/Sylt 1988. – Ders.: T.-M.Bibliogr. Unter Mitarbeit v. Gert Heine. Morsum/ Sylt 1992 ff. – Hilfsmittel: Herbert Lehnert: T. M.Forsch. Stgt. 1969. – H. Bürgin u. Hans-O. Mayer: T. M. Eine Chronik seines Lebens. Ffm. 21974. – Hermann Kurzke: T. M.-Forsch. 1969–76. Ffm. 1977. – Hans R. Vaget: T. M.-Komm. zu sämtl. E.en. Mchn. 1984. – H. Kurzke: Stationen der T. M.-Forsch. Würzb. 1985. – Eckhard Heftrich, Peter Paul Schneider u. Hans Wißkirchen (Hg.): Heinrich u. T. M. Ihr Leben u. Werk in Text u. Bild. Lübeck 1993. – Helmut Koopmann (Hg.): T. M.-Hdb. Stgt. 3 2001. – Ritchie Robertson (Hg.): The Cambridge Companion to T. M. Cambridge 2002. – G. Heine u. Paul Schommer: T. M.-Chronik. Ffm. 2004. – H. Lehnert (Hg.): A Companion to the Works of T. M. Rochester u. a. 2004. – Heinz J. Armbrust u. G. Heine: Wer ist wer im Leben v. T. M.? Ein Personenlexikon. Ffm. 2008. – Heinrich Detering u. a. (Hg.): T. M.: Neue Wege der Forsch. Darmst. 2008. – Periodika: T. M.-Studien. Bern/Mchn. 1967 ff. – E.

666 Heftrich u. Hans Wysling (Hg.): T. M. Jb. Ffm. 1988 ff. – Biografien: Donald A. Prater: T. M. Deutscher u. Weltbürger. Mchn. 1995. – Klaus Harpprecht: T. M. Eine Biogr. Reinb. 1995. – Peter de Mendelssohn: Der Zauberer. Das Leben des dt. Schriftstellers T. M. Ffm. 21996. – Anthony Heilbut: T. M. Eros and Literature. London 1997. – H. Kurzke: T. M. Das Leben als Kunstwerk. Mchn. 1999. – Zu einzelnen Werken: Gunilla Bergsten: T. M.s ›Doktor Faustus‹. Stockholm 1963. Tüb. 1974. – Lieselotte Voss: Die Entstehung v. T. M.s Roman ›Doktor Faustus‹. Tüb. 1975. – Hermann J. Weigand: The Magic Mountain. New York/London 1933. Neudr. 1979. – Terence J. Reed: Der Tod in Venedig. Mchn. 21983. – Borge Kristiansen: T. M.s Zauberberg u. Schopenhauers Metaphysik. Bonn 2 1986. – Ken Moulden u. Gero v. Wilpert (Hg.): Buddenbrooks-Hdb. Stgt. 1988. – H. Lehnert u. Peter Pfeiffer (Hg.): Zur Modernität v. T. M.s ›Doktor Faustus‹ (= T. M.-Jb. 2, 1989). – Christoph Jäger: Humanisierung des Mythos – Vergegenwärtigung der Tradition. Theologisch-hermeneut. Aspekte in den Josephsromanen v. T. M. Stgt. 1992. – E. Heftrich: Geträumte Taten. ›Joseph und seine Brüder‹. Über T. M. Bd. 3, Ffm. 1993. – Werner Frizen: T. M. ›Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull‹. Mchn. 1993. – Elisabeth Galvan: Zur Bachofen-Rezeption in T. M.s Josephs-Roman. Ffm. 1996. – Julia Graf: Leidenschaft u. Nüchternheit. Zeitgesch. in T. M.s Roman ›Joseph und seine Brüder‹. Bonn 1999. – Erkme Joseph: Nietzsche im Zauberberg. Ffm. 1996. – Bernd-Jürgen Fischer: Hdb. zu T. M.s Josephsromanen. Tüb. 2002. – Walter Schomers: Serenus Zeitblom u. die Ideen v. 1914. Würzb. 2002. – Wolfram Ette: Freiheit zum Ursprung. Mythos u. Mythoskritik in T. M.s Joseph-Tetralogie. Würzb. 2002. – Mona Clerico: Welt – Ich – Sprache. Philosoph. u. psycholog. Motive in T. M.s ›Joseph und seine Brüder‹. Würzb. 2004. – Reinhard Pabst: T. M. In Venedig. Ffm. 2004. – Regine Zeller: Cipolla u. die Masse. Zu T. M.s Novelle ›Mario und der Zauberer‹. St. Ingbert 2006. – Stefan Börnchen: Kryptenhall. Allegorien v. Schrift, Stimme u. Musik in T. M.s ›Doktor Faustus‹. Mchn. 2006. – Timo Ogrzal: Kairolog. Entgrenzung. ›Zauberberg‹-Lektüren unterwegs zu einer Poetologie nach Heidegger u. Derrida. Würzb. 2007. – Jürgen H. Petersen: Faustus lesen. Eine Streitschr. über T. M.s späten Roman. Würzb. 2007. – Holger Pils u. Christina Ulrich (Hg.): T. M. ›Mario und der Zauberer‹. Lübeck 2010. – Weitere Titel: H. Mayer: T. M. Bln./DDR 1950. Neuaufl. Ffm. 1980. – Jonas Lesser: T. M. in der Epoche seiner Vollendung. Mchn. 1952. – Georg Lukács: T. M. Bln./DDR 51957. – Erich Heller: T. M. Der iron. Deutsche. Ffm. 1959. – Kurt Sontheimer: T. M. u.

667 die Deutschen. Mchn. 1961. – H. Koopmann: Die Entwicklung des ›intellektualen Romans‹ bei T. M. Bonn 1962. – Peter Pütz: Kunst u. Künstlerexistenz bei Nietzsche u. T. M. Bonn 1963. – Reinhard Baumgart: Das Ironische u. die Ironie in den Werken T. M.s. Mchn. 1964. – Jürgen Scharfschwerdt: T. M. u. der dt. Bildungsroman. Stgt. 1967. – Paul Scherrer u. H. Wysling: Quellenkrit. Studien zum Werk T. M.s. Bern/Mchn. 1967. – André Banuls: T. M. u. sein Bruder Heinrich. Stgt. 1968. – Klaus Hermsdorf: T. M.s Schelme. Bln./DDR 1968. – Eberhard Hilscher: T. M. Leben u. Werk. Bln./DDR 1968. 111989. – H. Lehnert: T. M. – Fiktion, Mythos, Religion. Stgt. 1968. – Klaus Schröter (Hg.): T. M. im Urteil seiner Zeit. Hbg. 1969. – P. Pütz (Hg.): T. M. u. die Tradition. Ffm. 1971. – Manfred Dierks: Studien zu Mythos u. Psychologie bei T. M. Bern/Mchn. 1972. – Jean Finck: T. M. u. die Psychoanalyse. Paris 1973. – Paul E. Hübinger: T. M., die Univ. Bonn u. die Zeitgesch. Mchn./Wien 1974. – T. J. Reed: T. M. The Uses of Tradition. Oxford 1974. – E. Heftrich: Zauberbergmusik. Über T. M. Ffm. 1975. – H. Koopmann: T. M. Konstanten seines literar. Werks. Gött. 1975. – H. R. Vaget u. Dagmar Barnouw: T. M. Studien zu Fragen der Rezeption. Bern/Ffm. 1975. – H. Wysling (Hg.): Bild u. Text bei T. M. Bern/Mchn. 1975. – Ders.: T. M. Sieben Vorträge. Bern/Mchn. 1976. – Beatrice Bludau, E. Heftrich u. H. Koopmann (Hg.): T. M. 1875–1975. Vorträge in München, Zürich, Lübeck. Ffm. 1977. – Helmut Jendreieck: T. M. Der demokrat. Roman. Düsseld. 1977. – W. Frizen: Zaubertrank der Metaphysik. Ffm. 1980. – H. Kurzke: Auf der Suche nach der verlorenen Irrationalität. Würzb. 1980. – Käte Hamburger: T. M.s bibl. Werk. Mchn. 1981. – Hinrich Siefken: T. M.: Goethe, ›Ideal der Deutschheit‹. Mchn. 1981. – E. Heftrich: Vom Verfall zur Apokalypse. Über T. M. Bd. 2, Ffm. 1982. – H. Wysling: Narzißmus u. illusionäre Existenzform. Bern/Mchn. 1982. – Claus Sommerhage: Eros u. Poesis. Bonn 1983. – Volkmar Hansen: T. M. Stgt. 1984. – H. Kurzke: T. M. Epoche – Werk – Wirkung. Mchn. 1985. – Rolf G. Renner: Lebens-Werk. Mchn. 1985. – H. Wißkirchen: Zeitgesch. im Roman. Bern/Mchn. 1986. – H. Koopmann: Der schwierige Deutsche. Tüb. 1988. – Marcel Reich-Ranicki: T. M. u. die Seinen. Stgt. 1988. – Frank Fechner: T. M. u. die Demokratie. Wandel u. Kontinuität der demokratierelevanten Äußerungen des Schriftstellers. Bln. 1990. – H. Lehnert u. Eva Wessell: Nihilismus der Menschenfreundlichkeit. T. M.s Wandlung u. sein Ess. ›Goethe und Tolstoi‹. Ffm. 1991. – Thomas Sprecher: T. M. in Zürich. Mchn. 1992. – Michael Maar: Geister u. Kunst. Neuigkeiten aus dem Zauberberg. Mchn./Wien 1995. – Bernd Hamacher: T. M.s

Mann letzter Werkplan ›Luthers Hochzeit‹. Ed., Vorgesch. u. Kontexte. Ffm. 1996. – T. Sprecher: Davos im Zauberberg. T. M.s Roman u. sein Schauplatz. Mchn. 1996. – Michael Wieler: Dilettantismus – Wesen u. Gesch. Am Beispiel v. Heinrich u. T. M. Würzb. 1996. – Christoph Schmidt: ›Ehrfurcht und Erbarmen‹. T. M.s Nietzsche-Rezeption 1914–47. Trier 1997. – E. Heftrich, Helmuth Nürnberger, T. Sprecher u. Ruprecht Wimmer (Hg.): Theodor Fontane u. T. M. Ffm. 1998. – Hans Dieter Heimendahl: Kritik u. Verklärung. Studien zur Lebensphilosophie T. M.s in ›Betrachtungen eines Unpolitischen‹, ›Der Zauberberg‹, ›Goethe und Tolstoi‹ u. ›Joseph und seine Brüder‹. Würzb. 1998. – Edo Reents: Zu T. M.s Schopenhauer-Rezeption. Würzb. 1998. – Dierk Wolters: Zwischen Metaphysik u. Politik. T. M.s Roman ›Joseph und seine Brüder‹ in seiner Zeit. Tüb. 1998. – Martin Meyer: Tgb. u. spätes Leid. Über T. M. Mchn. 1999. – Harald Höbusch: T. M. Kunst, Kritik, Politik 1893–1913. Tüb. 2000. – Yahya Elsaghe: Die imaginäre Nation. T. M. u. das Deutsche. Mchn. 2000. – Jochen Strobel: Die Entzauberung der Nation. Die Repräsentation Dtschld.s im Werk T. M.s. Dresden 2000. – Reinhard Mehring: T. M. Künstler u. Philosoph. Mchn. 2001. – Katrin Bedenig Stein: Nur ein ›Ohrenmensch‹? T. M.s Verhältnis zu den bildenden Künsten. Bern u. a. 2001. – Michael Neumann: T. M. Romane. Bln. 2001. – Barbara Beßlich: Faszination des Verfalls. T. M. u. Oswald Spengler. Bln. 2002. – Thomas Goll: Die Deutschen u. T. M. Die Rezeption des Dichters in Abhängigkeit von der polit. Kultur Dtschld.s 1898–1955. Baden-Baden 2002. – Friedhelm Marx: ›Ich aber sage Ihnen ...‹. Christusfigurationen im Werk T. M.s. Ffm. 2002. – Eva Schmidt-Schütz: Doktor Faustus. Zwischen Tradition u. Moderne. Ffm. 2003. – Angelika Abel: T. M. im Exil. Zum zeitgeschichtl. Hintergrund der Emigration. Mchn. 2003. – Jacques Darmaun: T. M., Dtschld. u. die Juden. Tüb. 2003. – Astrid Roffmann: ›Keine freie Note mehr‹. Natur im Werk T. M.s. Würzb. 2003. – M. Dierks u. R. Wimmer (Hg.): T. M. u. das Judentum. Ffm. 2004. – Malte Herwig: Bildungsbürger auf Abwegen. Naturwiss. im Werk T. M.s. Ffm. 2004. – Julia Schöll: Joseph im Exil. Zur Identitätskonstruktion in T. M.s Exil-Tagebüchern u. -Briefen sowie im Roman ›Joseph und seine Brüder‹. Würzb. 2004. – H. Detering: ›Juden, Frauen und Litteraten‹. Zu einer Denkfigur beim jungen T. M. Ffm. 2005. – Rüdiger Görner: T. M. Der Zauber des Letzten. Düsseld./Zürich 2005. – Dirk Heißerer: Im Zaubergarten. T. M. in Bayern. Mchn. 2005. – H. Koopmann: T. M. – Heinrich Mann. Die ungleichen Brüder. Mchn. 2005. – Tim Lörke u. Christian Müller (Hg.): Vom Nutzen u. Nachteil der Theorie

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für die Lektüre. Das Werk T. M.s im Lichte neuerer Literaturtheorien. Würzb. 2006. – H. R. Vaget: Seelenzauber. T. M. u. die Musik. Ffm. 2006. – Sibylle Schulze-Berge: Heiterkeit im Exil. Ein ästhet. Prinzip bei T. M. Würzb. 2006. – Joachim Rickes: Die Romankunst des jungen T. M. Würzb. 2006. – Marc Oliver Huber: Zwischen Schlußstrich u. ›Schönem Gespräch‹. Erinnerung bei T. M. Bln. 2007. – R. Wimmer u. H. Wißkirchen (Hg.): Vom Nachruhm. Beiträge zur Lübecker Festwoche 2005 aus Anlaß des 50. Todesjahres v. T. M. Ffm. 2007. – Philipp Gut: T. M.s Idee einer dt. Kultur. Ffm. 2008. – Christoph Schwöbel: Die Religion des Zauberers. Theologisches in den großen Romanen T. M.s. Tüb. 2008. – T. Lörke u. C. Müller (Hg.): T. M.s kulturelle Zeitgenossenschaft. Würzb. 2009. – S. Börnchen u. Claudia Liebrand (Hg.): Apokrypher Avantgardismus. T. M. u. die Klass. Moderne. Mchn. 2009. – Michael Ansel, Hans-Edwin Friedrich u. Gerhard Lauer (Hg.): Die Erfindung des Schriftstellers T. M. Bln./New York 2009. Eckhard Heftrich (Bibliografie: Tim Lörke)

Mann Borgese, Elisabeth, * 24.4.1918 München, † 8.2.2002 St. Moritz/Schweiz; Grabstätte: Kilchberg bei Zürich. – Politikwissenschaftlerin u. Schriftstellerin. Die jüngste Tochter von Thomas Mann u. Katharina Pringsheim verfasste insg. zwei Dutzend Erzählungen, drei Theaterstücke u. ein Kinderbuch. Als ihre eigentl. Lebensaufgabe aber bezeichnete M. die Beschäftigung mit den Ozeanen. Spätestens ab 1968 u. insbes. während ihrer Tätigkeit als Professorin für polit. Wissenschaften an der Dalhousie Universität in Halifax, Kanada (1978–2002), konzentrierte sich ihr polit. u. wiss. Engagement auf den Erhalt der Weltmeere u. deren ökologisch verantwortungsvolle Nutzung. Beeinflusst wurde M. dabei emotional u. ästhetisch von ihrem Vater, intellektuell von ihrem Ehemann, dem ital. Politik- u. Literaturwissenschaftler Giuseppe Antonio Borgese. Zus. mit ihm u. dem Komitee für die Weltverfassung, einem an der Universität von Chicago angesiedelten internat. Gremium, das sich für den Weltföderalismus engagierte, arbeitete sie ab 1948 an einer neuen Weltordnung unter dem Leitmotiv einer internat. sozialen Gerechtigkeit. Nach dem Tod ihres Ehemanns (1952) versuchte M. mit ihrem

Engagement für die Weltmeere die Theorie einer neuen Weltordnung auch praktisch voranzutreiben. M. war das einzige weibl. Gründungsmitgl. des Club of Rome (gegr. 1968), gründete das International Ocean Institute (IOI) auf Malta (1972) u. war an der 1982 von den Vereinten Nationen (UN) verabschiedeten Seerechtskonvention beteiligt. M.s frühe Erzählungen entstanden in den 1950er Jahren u. erschienen gesammelt u. d. T. To Whom it May Concern (New York 1957. London 1960. Dt.: Zwei Stunden. Geschichten am Rande der Zeit. Hbg. 1965. Neuaufl. u. d. T. Der unsterbliche Fisch. Hürth bei Köln 1998). Der zweite u. zgl. letzte Erzählband Wie Gottlieb Hauptmann die Todesstrafe abschaffte (Hürth bei Köln 2001) erschien nur in dt. Sprache. Die Erzählungen behandeln meist im Modus der Science-Fiction die Auswirkungen eines ungezügelten technolog. Fortschritts auf die Identität des Individuums u. der Gesellschaft. Im Zentrum stehen Themen wie Individualität, Determinismus, Schicksal, Willensfreiheit sowie die Kontinuität zwischen Umwelt, Tierwelt u. Menschheit. Charakteristisch sind die Verbindung von Mythologie u. moderner Wissenschaft u. die Fokussierung auf theoret. Problemstellungen. In markantem Gegensatz zu dem dunkelmakaberen Zukunftspessimismus ihres literar. Werks steht der Optimismus ihrer theoret. Schriften, worin sie einen kompromisslosen polit. Idealismus propagiert. Nach einer über 30 Jahre währenden Auseinandersetzung mit der Geschlechterproblematik veröffentlichte sie Ascent of Woman (New York 1963. Dt.: Aufstieg der Frau. Abstieg des Mannes? Mchn. 1965). Darin formuliert M. ihre eigene Utopie, in der es keine Geschlechterunterschiede mehr gibt, da jeder Einzelne innerhalb einer post-individuellen u. kollektivist. Gesellschaftsform im Verlauf seines Lebens sowohl weiblich, männlich als auch geschlechtslos sein wird. Mit The White Snake (London 1966. In New York 1968 u. d. T. The Language Barrier. Beast and Men. Dt.: Wie man mit den Menschen spricht. Bern u. Mchn. 1971) folgte eine Studie über den Ursprung tierischer u. menschl. Kommunikation, Technologie u. Kunst. M.s literar. und theoret.

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Schriften sind thematisch insofern eng miteinander verwoben, als sie einen untrennbaren Zusammenhang von myth. Vergangenheit u. wiss. Zukunft entwerfen, in dessen Zentrum das Individuum steht. Da M. den Großteil ihres Lebens im engl. Sprachraum verbrachte (die Familie emigrierte 1938 in die USA), schrieb sie überwiegend auf Englisch, übersetzte aber viele Texte wieder zurück ins Deutsche. Das literar. Werk M.s ist sowohl von der Öffentlichkeit als auch von der literaturwiss. Forschung weitgehend unbeachtet geblieben. Erst kurz vor ihrem Tod ist sie durch Heinrich Breloers dreiteiliges Doku-Drama Die Manns – Ein Jahrhundertroman (2001) als das letzte noch lebende Kind Thomas Manns ins Bewusstsein der dt. Öffentlichkeit getreten. Bis heute sind mehrere ihrer Erzählungen u. zwei ihrer Theaterstücke unveröffentlicht. Das Stück Only The Pyre (entstanden 1959) erschien 1962 in ital. Sprache in der Bühnenzeitschrift »Il Sipario«. Der Komponist Franco Manino nutzte eine gekürzte Fassung dieses Textes als Libretto für seine Oper Soltanto il Rogo (Urauff. Agrigento/Sizilien 1987).

sikalisch sehr begabt geschildert. Wie ihre Geschwister wurde sie stark vom Geist des Elternhauses geprägt, suchte aber auch Distanz dazu. Ihre kurze Ehe mit dem ungarischen Kunsthistoriker Jenö Lányi endete 1940 mit der Überfahrt von London ins amerikan. Exil, während der die »City of Benares«, überfüllt mit Flüchtlingen, von Deutschen torpediert u. versenkt wurde u. ihr Mann ertrank. M. arbeitete anschließend als Journalistin für amerikanische u. später für dt. Zeitungen. 1952 remigrierte sie nach Europa u. lebte auf Capri u. in der Schweiz. In ihren kleinen Erzählungen Wunder der Kindheit. Bilder und Impressionen (Köln 1961), in den wie im Brennglas gebündelten Beobachtungen u. Aphorismen Tupfen im All (Köln 1963), am stärksten in den autobiogr. Aufzeichnungen Vergangenes und Gegenwärtiges. Erinnerungen (Mchn. 1956. Reinb. 2001) zeigt sich ihre eigenwillige, zuweilen auch mystifizierende Art, mit Sprache u. Denken umzugehen. In den Erinnerungen ist die liebende u. werbende Auseinandersetzung mit dem übergroßen Vater u. seiner unverkennbaren Diktion immer gegenwärtig.

Weitere Werke: Das Drama der Meere. Ffm. 1977. – Die Zukunft der Weltmeere. Ein Ber. an den Club of Rome. Wien 1985. – Mit den Meeren leben. Über den Umgang mit den Ozeanen als globale Ressource. Köln 1999. – Mein Vater der Zauberer – meine Liebe das Meer. M. in einem Gespräch mit Wolf Gaudlitz. Freib. i. Br. 2001 (Tondokument). – Mein Leben. M. im Gespräch mit Marianne Scheuerl. Hbg. 2003 (Tondokument). – The Years of My Life. The Nexus Lecture. In: Ocean Yearbook 18 (2004), S. 1–21. Literatur: Kerstin Holzer: E. M. Ein Lebensportrait. Bln. 2002. – Peter Serracino Inglott: E. M. Metaphysician by Birth. In: Ocean Yearbook 18 (2004), S. 22–74. – Julia Pörtner: Zwischen myth. Vergangenheit u. wiss. Zukunft. E. M.s literar. Werk im Kontext ihrer theoret. Arbeit. Halifax 2007 (unveröffentlichte Magisterarbeit). Julia Pörtner

Weitere Werke: Der Start. Ein Tgb. Fürstenfeldbruck 1960. – Der letzte Häftling. Eine wahre Legende in honore eines (letzten) Komponisten. Lohof bei Mchn. 1960. – Das fahrende Haus. Aus dem Leben einer Weltbürgerin. Hg. Karin Andert. Reinb. 2007 (Autobiogr.). Literatur: Fritz Naschitz: M., das Aschenbrödel. Familie M. in Retrospektive. In: Ders.: Literar. Ess.s. Gerlingen 1989, S. 305–311. – Helga KeiserHayne: ›Das Leben ist eine Selbstbefreiung‹. M. M. – Trauma u. verwegene Skizzen. Mchn. 2005. – Gertrud M. Rösch: Atonale Stimmung im Geschwisterlichen. Ein literaturpsycholog. Versuch über Erika, M. u. Elisabeth Mann. In: Autobiogr. Zeugnisse der Verfolgung. Hg. Konrad Feilchenfeldt u. a. Heidelb. 2005, S. 37–51. Hiltrud Häntzschel / Red.

Mannhardt, Wilhelm (Johann Emanuel), * 26.3.1831 Friedrichstadt/Eider, † 25.12. Mann-Lányi, Monika, * 7.6.1910 Mün- 1880 Danzig. – Volkskundler u. Mythochen, † 17.3.1992 Leverkusen. – Journa- loge. listin, Prosaschriftstellerin. M. war das vierte Kind von Katia u. Thomas Mann. Sie wird als eigenwillig, apart u. mu-

Der nach den Brüdern Grimm bedeutendste dt. Mythenforscher des 19. Jh. wuchs in Danzig als Sohn eines Mennonitenpredigers

Mannhart

auf u. erhielt wegen schwächl. Konstitution (Rückgratverkrümmung) zunächst Privatunterricht; nach dem Abitur 1851 studierte er Germanistik in Berlin, wechselte 1853 nach Tübingen, wo er 1854 über Die Anthropogonie der Germanen promovierte. Wieder in Berlin, habilitierte er sich 1857. Da sich anschließend alle Aussichten auf eine feste akadem. Karriere zerschlugen, kehrte er 1862 in sein Elternhaus nach Danzig zurück. Dort war er von 1863 bis 1873 Stadtbibliothekar. Bes. M.s Wald- und Feldkulte (2 Tle., Bln. 1875–77. Neudr. Darmst. 1966) versammeln einen immensen mythengeschichtlichen u. brauchtumskundl. Datenschatz, erstellt mit modern anmutenden Techniken (Feldforschung, Fragebögen). Seine Forschungen bilden einen wiss. Kontinent, der von Volkskunde, vergleichender Religionswissenschaft, Anthropologie und Sozialgeschichte immer wieder neu vermessen wird. Weitere Werke: German. Mythen. Bln. 1858. – Götterwelt der dt. u. nord. Völker. Bln. 1860. – Roggenwolf u. Roggenhund. Danzig 1865. – Die Korndämonen. Bln. 1868. – Gedichte. Danzig 1881. – Nachlass: Univ.-Bibl. Berlin. Literatur: Wilhelm Scherer: M. In: ADB. – James George Frazer: The Golden Bough. London 1891. – Arno Schmidt: W. M.s Lebenswerk. o. O. 1932. – Richard Beitl: W. M. u. der Atlas der dt. Volkskunde. In: Ztschr. für Volkskunde 4 (1933), S. 70–84. – Albert Eskeröd: Årets äring. Ethnologiska studier i skördens och julens tro och sed. Stockholm 1947. – Ingeborg Weber-Kellermann: Erntebrauch in der ländl. Arbeitswelt des 19. Jh. Auf Grund des Mannhardtmaterials v. 1865. Marburg 1965. – Wolfgang Emmerich: Germanist. Volkstumsideologie. Tüb. 1968. – Walter Troxler: M. In: Bautz. Ernst-Friedrich Suhr / Red.

Mannhart, Franz Xaver, * 26.10.1696 Innsbruck, † 5.12.1773 Hall in Tirol. – Jesuit, Polyhistor. M. trat 1712 das Noviziat im Jesuitenorden an, studierte 1715–1718 Philosophie in Ingolstadt, war dann u. a. in Freiburg/Br. als Lehrer tätig u. wurde nach dem Abschluss des vierjährigen Studiums der Theologie in Ingolstadt (1726) in Eichstätt zum Priester geweiht. 1727–1734 unterrichtete er an verschiedenen Ordenskollegien Rhetorik u. Phi-

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losophie. Im Sommer 1734 wurden in Innsbruck unter seinem Vorsitz drei naturphilosoph. Dissertationen, davon zwei über die Vierelementenlehre, verteidigt. Nach der Promotion in Theologie, wahrscheinlich an der Universität Dillingen, lehrte M. während 16 Jahren dieses Fach, was die Dissertationes theologicae de indole, ortu ac progressu et fontibus sacrae doctrinae propositae (Augsb./Innsbr. 1749. Wien 21750) bestätigen. 1752–1756 war M. Rektor des Jesuitenkollegs in Konstanz, dann drei Jahre Zensor für die Deutsche Assistenz an der Ordenskurie in Rom. Von 1759 an hielt er sich wieder hauptsächlich in Innsbruck auf, wo er als Kirchenpräfekt amtete u. seine Hauptwerke entstanden. In den theolog. Schriften werden dogmat. Fragen (Probabilismus, scientia media, Gnadenlehre) behandelt, das Leben des vollkommenen Christen entworfen u. der zeitgenöss. Atheismus bekämpft. Große Verbreitung erfuhr der Liber singularis de antiquitatibus christianorum (Augsburg 21767. Würzb. 1769), der auch in die dt. Sprache übersetzt wurde (Augsb. 1779). Mit seiner Bibliotheca domestica bonarum artium ac eruditionis (12 Bde., Augsb. 1762), einer Enzyklopädie des Wissens, war M. im dt. Sprachgebiet neben dem später publizierenden Ordensbruder Michael Denis der wichtigste Vertreter kath. Litterärgeschichtsschreibung des 18. Jh. Literatur: Backer/Sommervogel, Bd. 5, Sp. 490–492. – Ferdinand Strobel: Der Regularklerus. Die Gesellsch. Jesu in der Schweiz. Bern 1976, S. 276 f. – Hanspeter Marti: Interkonfessioneller Wissenstransfer in der Zeit der Spätaufklärung. Zur Aufnahme der Historia literaria in deutschsprachigen kath. Ländern. In: Historia literaria. Neuordnungen des Wissens im 17. u. 18. Jh. Hg. Frank Grunert u. Friedrich Vollhardt. Bln. 2007, S. 161–190. Hanspeter Marti

Mannheim, Karl, * 27.3.1893 Budapest, † 9.1.1947 London. – Soziologe. Einer bürgerlich-jüd. Familie entstammend, studierte M. von 1912 an in Budapest, wo er sich früh dem Sonntagskreis um Georg Lukács anschloss. Nach der Niederschlagung der Räterepublik in Ungarn 1918/19 emigrierte er nach Deutschland, habilitierte sich

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1926 in Heidelberg (Das konservative Denken. Tüb. 1927) u. wurde 1929 Professor der Soziologie u. Nationalökonomie in Frankfurt/ M. Nach der Machtergreifung entlassen, emigrierte er 1933 ein zweites Mal, diesmal nach London. M. ist zus. mit Max Scheler der Begründer der Wissenssoziologie. Vom Historismus ausgehend u. von Ernst Troeltsch beeinflusst, stellte sich für M.s Variante der Wissenssoziologie das Problem, wie die rechte Deutung der Gegenwart u. die Planung von Zukunft nach der historisierenden Relativierung jeglicher theologischen wie säkularen Weltdeutung auszusehen habe. Die historisierende Sicht teilte M. auch mit Lukács, dessen Hinwendung zum Marxismus er aber ablehnte. So formulierte er in seinem Hauptwerk Ideologie und Utopie (Bonn 1929. Erw. Ffm. 1965. 8 1995) den »totalen Ideologiebegriff« auch als Antwort auf den Ideologievorwurf von Lukács gegenüber der bürgerl. Klasse. Im Sinne des totalen Ideologiebegriffs ist jedes auf eine bestimmte Weltdeutung u. Veränderung gerichtete Denken ideologisch, da die »Seinslage« der Träger dieses Denkens selbst relativ ist. Der Pan-Ideologismus sollte den Ideologiebegriff von seiner herabsetzenden Bedeutung befreien, indem er bewusste Lüge u. Verhüllungsabsichten daraus verbannte, seinen erkenntniskrit. Sinn jedoch bewahrte. M.s Formulierung des totalen Ideologiebegriffs war für ihn aber nur ein argumentativer Durchgangspunkt. Sein theoretisches u. prakt. Ziel war das Erreichen von Synthesen. Dieser Wille zur Versöhnung der Weltanschauungen trennte ihn von Max Weber, der im Streit der Weltanschauungen einen ewigen Kampf der Götter sah. Zur Synthese befähigt glaubte M. insbes. die Intellektuellen, die – aufgrund ihrer Bildung mit dem Ganzen verbunden – einen mehrfach determinierten Horizont u. nicht nur eine dem eigenen Lebenskreis entsprechende Bildung besitzen. Deshalb war für M. die sozial freischwebende Intelligenz allein dazu befähigt, sich in die dynamisch sich bekämpfenden Kräfte einzufühlen, um die notwendige Vermittlung zu leisten. Der Intellektuelle habe deshalb die Aufgabe einer kontinuierl. Transformation der Verhältnisse im Sinne

Mannheim

bürgerlich liberaler Tradition u. fortschreitender Aufklärung u. Bildung. M. sah in der eigenen Zeit eine »Denkkrise«, weniger eine politische u. soziale Krise. So nahm er die Gefahr des Faschismus kaum wahr, indem er die Bedeutung von Theorien u. die Rolle der Intellektuellen überschätzte. Auch nach seiner Vertreibung aus Deutschland war prakt. Politik oder sozialempir. Forschung kaum Gegenstand seines Interesses. In seinen Schriften erörterte er nun das Problem der Bildung von Eliten. Da er deren fehlgeleitete Entwicklung in der Massendemokratie für den Faschismus mitverantwortlich machte, sollte eine ständischkirchl. Organisation bei der Elitenbildung wieder an Bedeutung gewinnen. Zudem beschäftigte ihn in Mensch und Gesellschaft im Zeitalter des Umbaus (Leiden 1935. Darmst. 1958) das Problem der Planung in einer Zeit, die den alten Liberalismus überwunden hat. Weiteres Werk: Diagnosis of Our Time. London 1943. Dt. Zürich 1951. Ausgaben: Wissenssoziologie. Bln. 1964 (mit Bibliogr. S. 692–710). – Strukturen des Denkens. Ffm. 1980. – Collected Works. 6 Bde., London 1997–99. – K. M.s Analyse der Moderne. M.s erste Frankfurter Vorlesung v. 1930. Ed. u. Studien. Hg. Martin Endreß u. Ilja Srubar. Opladen 2000. – Selected Correspondence (1911–46) of K. M., Scientist, Philosopher, and Sociologist. Hg. Éva Gábor. Lewiston u. a. 2003. – Schr.en zur Wirtschafts- u. Kultursoziologie. Hg. Amalia Barboza u. Klaus Lichtblau. Wiesb. 2009. Literatur: Ideologie u. Wissenssoziologie. Darmst. 1974. – Der Streit um die Wissenssoziologie. 2 Bde., Ffm. 1982. – Georg Lukács, K. M. u. der Sonntagskreis. Ffm. 1985. – David Kettler u. a.: Schattenseiten einer erfolgreichen Emigration. In: Exilforsch. Bd. 5, Mchn. 1987, S. 170–195. – Brian Longhurst: K. M. and the Contemporary Sociology of Knowledge. London 1989. – Dirk Hoeges: Kontroverse am Abgrund. Ernst Robert Curtius u. K. M. Intellektuelle u. ›freischwebende Intelligenz‹ in der Weimarer Republik. Ffm. 1994. – Wilhelm Hoffmann: K. M. zur Einf. Hbg. 1996. – Colin Loader u. D. Kettler: K. M.’s Sociology as Political Education. New Brunswick/London 2002. – Reinhard Laube: K. M. u. die Krise des Historismus. Gött. 2003. – Amalia Barboza: Kunst u. Wissen. Die Stilanalyse in der Soziologie K. M.s. Konstanz 2005. – Birgit Nübel: Relationismus u. Perspektivismus. K. M. u. Robert Musil. In: ›Alle Welt ist medial geworden‹.

Mannheimer

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Lit., Technik, Naturwiss. in der klass. Moderne. Hg. Matthias Luserke-Jaqui. Tüb. 2005, S. 141–160. – Vera Sparschuh: Von K. M. zur DDRSoziologie. Generationendynamik in der Wiss. Hbg. 2005. – Anne Kupiec: K. M. Idéologie, utopie et connaissance. Paris 2006. – Gérard Namer: K. M. Sociologue de la connaissance. Paris 2006. – Thomas Jung: Die Seinsgebundenheit des Denkens. K. M. u. die Grundlegung einer Denksoziologie. Bielef. 2007. – Balínt Balla u. a. (Hg.): K. M. Leben, Werk, Wirkung u. Bedeutung für die Osteuropaforsch. Hbg. 2007. – Wolfgang Ludwig Schneider: Verstehen u. Erklären bei K. M. In: Verstehen u. erklären. Sozial- u. kulturwiss. Perspektiven. Hg. Rainer Greshoff u. a. Paderb./Mchn. 2008, S. 143–176. – A. Barboza: K. M. Konstanz 2009. Gisela Meyn / Red.

Mannheimer, Georg, * 10.5.1887 Wien, † 24.4.1942 Konzentrationslager Dachau. – Lyriker, Dramatiker; Redakteur. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde der promovierte Jurist Parlamentsberichterstatter der Prager »Bohemia«. Bekannt machten ihn Komödien (Der Mann, der durch den Traum lief. Prag 1929), polit. Zeitstücke (Masaryk in Genf. Prag 1933) u. Übersetzungen von Petr Bezrucˇ, dessen sozialrevolutionäre Poesie ihn stark beeinflusste. Auf die Machtergreifung der Nationalsozialisten u. das Verbot der heitermelanchol. Kindergedichte Das Tagebuch eines Baby (Potsdam 1933) reagierte der national gesinnte Jude mit bekenntnishaft-tendenziöser Lyrik, die in schlichten Versen das Leid des entwurzelten u. verfolgten Judentums, aber auch die Hoffnung auf eine Heimat in Palästina formuliert (Lieder eines Juden. Prag/ Karlín 1937. Fünf Minuten vor Zwölf. Prag/ Karlín 1938); das gleiche Thema behandelt der formal interessante »Roman in Versen« Ein Jude kehrt heim (Prag/Karlín 1938). Als Redakteur der Prager »Wahrheit« führte M. seit 1933 einen mutigen Kampf gegen den Nationalsozialismus, bis er 1940 von der Gestapo verhaftet u. 1942 im Konzentrationslager Dachau ermordet wurde. Weitere Werke: Der Landstreicher auf Atlantis. Prag 1923 (D.). – Palästina. Prag 1928 (D.). – Die Ballade vom Zeitungspapier. Prag 1938 (L.). Literatur: Jürgen Serke: Böhm. Dörfer. Wien/ Hbg. 1987, S. 413–415. – Lucy Topolská: G. M. als Bezrucˇ-Übersetzer. In: Beiträge zur deutschspra-

chigen Lit. in Tschechien. Hg. dies. u. Ludvík Václavek. Olomouc 2000, S. 246–262. Dieter Sudhoff † / Red.

Mansfeld, Michael, eigentl.: Eckart Heinze, * 4.2.1922 Leszno/Polen, † 26.5.1979 Rosenheim. – Romanautor u. Dramatiker, Drehbuchautor für Film u. Fernsehen. Der Sohn eines Braunkohlenbergwerksdirektors u. späteren Professors an der TH Berlin studierte in Berlin Theaterwissenschaft u. Schauspiel. Seit 1941 war er Soldat. Nach sowjet. Kriegsgefangenschaft arbeitete er zunächst als Dolmetscher u. Regisseur, seit 1949 als Journalist. Seine Artikelserie in der »Frankfurter Rundschau« über die personelle Kontinuität zwischen dem Auswärtigen Amt des NS u. der Bundesrepublik, Ihr naht euch wieder ... (1951), führte zur Einsetzung eines Untersuchungsausschusses des Bundestags u. zur Eröffnung eines Verfahrens gegen den Polizei-Referenten Rademacher. Der Initiator der Ausstellung Ungesühnte Nazijustiz 1959 in Karlsruhe, Reinhard Strecker, nannte M. sein persönl. Vorbild. Aus einer Sendereihe des Bayerischen Rundfunks zu aktuellen Erscheinungen von »Renazifizierung« machte M. zus. mit dem späteren Intendanten Helmut Hammerschmidt das Buch Der Kurs ist falsch (Mchn. 1956), das nicht nur die »Mitschuld des alten Auswärtigen Amtes« u. »die Beteiligung hoher Wehrmachtsangehöriger« an der Ermordung der europ. Juden dokumentierte, sondern gegen »eine bestimmte Geisteshaltung« gerichtet war, »die schon viel früher da war als der Nationalsozialismus. Aus ihr ist der Nationalsozialismus gewachsen. Und diese Geisteshaltung beobachten wir nach wie vor«. In zwei – an Kurt Tucholskys Deutschland, Deutschland formal anknüpfenden – Bild-Text-Bänden mit dem Titel Denk ich an Deutschland (Mchn.) trat M., 1956 zus. mit Jürgen Neven du Mont, für »schonungslose Selbstkritik« ein, aus der Überzeugung, wie er 1959 als Alleinautor formulierte, »daß die Scham über Vergangenes, das Entsetzen über eigenes Versagen, die Menschen zu ändern vermag«. Die in den Büchern vorgeschlagene veränderte »Geisteshaltung« lässt sich als zivil bis antiautori-

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tär bezeichnen: »Wir sind nämlich nicht noch fentlich-rechtl. Medium gültige Maßstab eieinmal bereit, uns widerstandslos regieren zu ner Objektivität im Sinne von Ausgewogenlassen«, antworteten M. u. Neven, unter heit polit. Positionen ließ es über M.s DrehHinweis darauf, dass »wir beide zusammen buch für Max Hoelz. Ein deutsches Lehrstück 10 Jahre Soldat waren, 12mal verwundet (1972) zu Auseinandersetzungen kommen, in wurden und 22mal ›ausgezeichnet‹«, einem denen ihm »Sympathien für linksextreme CDU-Bundestagsabgeordneten, der dem Verhaltensweisen« als »Manipulation« vorVerleger, Kurt Desch, eine »verbrecherische« geworfen wurden. Für die »szenische DokuVeröffentlichung vorgeworfen hatte. Sie übte mentation« Das Verhör des Ernst Nieckisch (ZDF, eine doppelte Kritik an den westl. »Epigonen 14.2.1979) erhielt M. den DAG-Preis in Gold. der wilhelminischen Ära« u. den östl. »PlaWeiteres Werk: Bonn, Koblenzer Straße. Der giatoren einer erstarrten Revolution«, die Ber. des Robert v. Lenwitz. Mchn. 1967. »ein gespaltenes Volk widereinander bewaffLiteratur: Klaus Harpprecht: Dtschld. – ein nen«. Schauermärchen. In: Der Monat 8 (1955/56), H. 96, 1957 las M. bei der Gruppe 47 aus seinem S. 68–71. – Margarete Buber-Neumann u. Paul Roman Sei keinem untertan (Wien/Mchn. u. a. Rütti-Morand: Dokumentation einer Manipulati1957), der ebenso wie sein 1958 erschienenes, on. Bonn 1972. – Ronny Loewy: ›Zeugin aus der auch in der DDR aufgeführtes Drama Einer Hölle‹ u. die Wirklichkeit des Auschwitz-Prozesses. In: Die Vergangenheit in der Gegenwart: Konvon uns die Frage nach der individuellen frontationen mit den Folgen des Holocaust im dt. Schuld auch des sog. einfachen Soldaten Nachkriegsfilm. Cinematographie des Holocaust. stellt. Er unterscheidet sich v. a. durch eine Hg. vom Dt. Filminstitut. Ffm. 2001, S. 26–28. die Episoden aus dem Zweiten Weltkrieg Helmut Peitsch dominierende, quantitativ sehr stark ausgeprägte Erzählergegenwart, in der explizit Manso, Johann Caspar Friedrich, * 26.5. politisch im Sinne des »Nie wieder« kom1760 (oder 1759?) Blasienzell/Thüringen, mentiert wird, von gleichzeitigen Kriegsro† 9.6.1826 Breslau. – Philologe, Übersetmanen, mit denen er dennoch entscheidende zer, Verfasser von Lehrgedichten, PubliDeutungsmuster teilt, wie das – schon für zist u. Historiograf. Wolfgang Borcherts Draußen vor der Tür zentrale – Motiv der »zwölf Mann«, die der Ich- Ersten Unterricht erhielt M. zunächst von Erzähler u. Protagonist »sinnlos und unver- seinem Vater, einem thüring. Landrichter, antwortlich in den Tod geschickt hatte«. später von Hauslehrern. Nach kurzem Besuch Nach literar. Vorlagen schrieb M. Drehbü- des Gymnasiums in Gotha nahm er vermutcher für Filme, die unterschiedl. Aspekte lich 1777 in Jena das Studium der Theologie seines Themas in den Vordergrund stellten: auf, wechselte aber schon bald zur Philologie. das Leiden dt. Soldaten am Ende des Krieges 1783 ging er als Gymnasiallehrer zurück nach in Die Brücke (1959) u. Der Transport (1961) u. Gotha. 1790 wurde er zunächst Prorektor, das Leiden einer jugoslaw. Überlebenden der drei Jahre später Rektor des Maria-MagdaJudenvernichtung, Zeugin aus der Hölle, in der lenen-Gymnasiums in Breslau. Diese Stellung Vorbereitung des Prozesses gegen einen KZ- nutzte M. für eine grundlegende Reform des Arzt in der BRD-Gegenwart (1967). gymnasialen Unterrichts im Sinne einer moAuf der Grundlage des »Originalprotokolls dernen Allgemeinbildung. der Hauptverhandlung« schrieb M. das Als angesehener Schriftsteller u. Gelehrter Drehbuch für die »szenische Dokumentati- unterhielt M. Beziehungen zu vielen Größen on« Reichstagsbrandprozeß (1967, auch als seiner Zeit. Insbes. verband ihn eine enge Buch: Ffm. 1967), die für einen abweichen- Freundschaft mit Christian Garve, aus dessen den Typ von dokumentarischem Fernsehspiel Nachlass er einige Schriften u. Briefsammstand, der nicht auf die Illusion des unmit- lungen herausgab. telbaren Dabeiseins des Zuschauers zielte, Schriftstellerisch trat M. zunächst als nicht sondern die Rekonstruktion des histor. Er- ungeschickter Übersetzer antiker (Virgil von eignisses herausstellte. Der hierfür im öf- der Landwirthschaft. Jena 1783. König Oedipus.

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Gotha 1785) u. ital. Dichter auf (Das befreite Jerusalem. Lpz. 1791) sowie als Autor kleiner gelehrter Abhandlungen zur antiken Mythologie, die er später zu dem Band Versuche über einige Gegenstände aus der Mythologie der Griechen und Römer (Lpz. 1794) zusammenfasste. Neben wenig originellen, durchweg in der anakreont. Manier der dt. Rokokolyrik gehaltenen Liebesgedichten u. Epigrammen schrieb M. einige bedeutendere Lehrgedichte, die ihr Vorbild Wieland deutlich erkennen lassen, v. a. die an Garve gerichtete Versepistel Über die Verläumdung der Wissenschaften (Lpz. 1796), in der er die durch die Französische Revolution zugespitzte Krise der Aufklärung reflektiert u. zu überwinden sucht. Als Repräsentant einer von neueren Entwicklungen unberührt gebliebenen rationalist. Aufklärung wurde M. zu einem der Hauptwidersacher in der von Goethe u. Schiller ausgelösten Xenien-Affäre, was ihn bei der Nachwelt zu Unrecht in Verruf gebracht hat. Durch anonyme Rezensionen der »Horen« u. des »Musenalmanachs für das Jahr 1796« in der »Neuen Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freien Künste« (1795 bzw. 1796), in denen v. a. Schiller schlecht weggekommen war u. als deren Autor M. bald ausgemacht war, hatte er den Zorn der Weimaraner auf sich gezogen. Insbes. sein Lehrgedicht in drei Büchern, Die Kunst zu lieben (Bln. 1794), eine sich in Aufbau u. Duktus eng ans Original anlehnende Nachdichtung der Ovid’schen Ars amatoria, wurde in Zweizeilern wie diesem abgekanzelt: »Der Schulmeister zu Breslau: In langweiligen Versen und abgeschmackten Gedanken / Lehrt der Präzeptor uns hier, wie man gefällt und verführt.« M. setzte sich energisch gegen die Verhöhnung zur Wehr, indem er anonym die gemeinsam mit dem Verleger Johann Gottfried Dyck verfassten Gegengeschenke an die Sudelköche in Weimar und Jena von einigen dankbaren Gästen (o. O. [Lpz.] 1797) herausbrachte, eine Sammlung sprachlich gelungener Anti-Xenien, die dem beleidigenden Ton Goethes u. Schillers in nichts nachstehen (Der Hallische Ochse: »Besser stoßen, das ist gewiß, zwey Ochsen, als einer. / Somit wißt ihr, warum Göthe sich Schillern verband.«).

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Nach 1800 verlagerte sich M.s Interesse stärker auf ästhetisch-literarhistor. Themen (Übersicht der Geschichte der deutschen Poesie seit Bodmers und Breitingers kritischen Versuchen. In: Nachträge zu Sulzers allgemeiner Theorie der schönen Künste. Bd. 8, Lpz. 1808), v. a. aber auf das Gebiet der Geschichtsschreibung, wo ihm seine bedeutendsten Werke gelangen. Orientiert nicht allein an den antiken Mustern Thukydides u. Tacitus, sondern auch an Gibbon u. John Gillies, bemühte sich M. in Sparta. Ein Versuch zur Aufklärung der Geschichte und Verfassung dieses Staates (3 Bde., Lpz. 1800–1805) um eine weniger gelehrte als erzählende Historiografie, wobei ihm allerdings sein urspr. Ziel, durch die vollständige Darstellung von Staat u. Gesellschaft Spartas einer späteren Gesamtdarstellung griech. Geschichte nur vorzuarbeiten, zunehmend aus dem Blick geriet. Thematisch stringenter verfuhr er in Leben Constantins des Großen (Breslau 1817), wo die Biografie in die Schilderung der histor. Hintergründe integriert wird. Eine Art polit. Vermächtnis legte M. in seiner Geschichte des preußischen Staates vom Frieden zu Hubertusburg bis zur zweiten Pariser Abkunft (3 Bde., Ffm. 1819/20) vor, die anonym erschien, da M. Anfeindungen vonseiten der preuß. Reaktion befürchtete. Tatsächlich war seine als Verfallsgeschichte angelegte Darstellung des nachfriderizian. Preußen insgesamt, speziell aber auch seine Kritik am Regierungsstil Friedrich Wilhelms II. u. an der völkerrechtswidrigen Teilung Polens dazu angetan, ihn politisch verdächtig erscheinen zu lassen; solche Spekulationen fanden ihr Ende, als Friedrich Wilhelm III. 1822 M. den Roten Adlerorden verlieh. In seinen letzten Lebensjahren arbeitete M. wieder auf dem ruhigeren Feld antiquarischer Studien (Geschichte des ostgotischen Reiches in Italien. Breslau 1824). Weitere Werke: Vermischte Schr.en. 2 Tle., Lpz. 1801. – Vermischte Abh.en u. Aufsätze. Breslau 1821. Literatur: Konrad Lux: J. K. F. M. Der schles. Schulmann, Dichter u. Historiker. Lpz. 1908. – Alfred Rüffler: J. C. F. M. In: Schles. Lebensbilder 2. Breslau 1926. Sigmaringen 21985, S. 110–119. – Klaus F. Gille: J. K. F. M. im ›Horen’-Kampf‹. Zur Wirkungsgesch. v. Schillers Ztschr. In: Ders.:

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675 Konstellationen. Bln. 2002, S. 85–110. – Christoph Köhler: J. K. F. M. In. Gothaisches Museums-Jb. 7 (2004), S. 107–127. – Gerd Schubert: J. K. F. M. (1759–1826) – der Rezensent v. Christian Andrés ›Felsenburg‹. In: Jb. der Johann-Gottfried-Schnabel-Gesellsch. (2008), S. 237–239. Claus Altmayer / Red.

Der Mantel. – Fragmentarische Verserzählung aus der ersten Hälfte des 13. Jh.

Der Ambraser M. ist, in Abwandlung eines Wortes Michael Curschmanns, »Artusdichtung über Artusdichtung«. Er operiert mit dem Motiv der kom. Tugendprobe, wie es auch in zeitgleichen Artusromanen wie Ulrichs von Zazikhoven Lanzelet, Wirnts von Grafenberg Wigalois u. Heinrichs von dem Türlin Crône verwendet erscheint. Mit der Bloßstellung der untreuen Königin wird ein Thema angeschlagen, das auch der Wigalois andeutet u. das auszuerzählen Heinrichs Crône u. dann der Prosa-Lanzelot sich vornehmen. Der Artushof als unhintergehbarer Hort aller Tugenden ist längst prekär geworden, wie sich nicht allein an der Behandlung der Keie-Figur zeigt.

Das M.-Fragment (994 Verse) ist singulär im Ambraser Heldenbuch (um 1504–1516) überliefert, wo es ebenso nahtlos wie sinnlos in den kopflosen Erec Hartmanns von Aue (um 1185) übergeht. Der Verfasser bearbeitete, z.T. recht frei, das frz. Fablel Du mantel mautaillié. Ob er seine Vorlage erschöpfend bearbeitete oder Ausgaben: O. Warnatsch: Der M. Breslau 1883. – als Eingang einer umfassenderen Dichtung W. Schröder: Das Ambraser M.-Fragment. SB der (Lanzelet-Roman?) nutzen wollte, ist unge- Wiss. Gesellsch. an der Univ. Frankfurt/M. XXXIII/ wiss. Ersteres stellte den Text mit höf. Vers- 5. Stgt. 1995. Literatur: Bernd Kratz: Die Ambraser M.-Ererzählungen wie dem Moriz von Craun, der Heidin oder Konrads von Würzburg Schwan- zählung u. ihr Autor. In: Euph. 71 (1977), S. 1–17. ritter in eine Reihe. Aufgrund eines Zitates in – Christoph Cormeau: Heinrich v. dem Türlin. In: Heinrichs von dem Türlin Crône (v. VL. – Werner Schröder: Zur Literaturverarbeitung durch Heinrich v. dem Türlin in seinem Gawein23.502–23.505) hat man in Heinrich den Roman ›Diu Crône‹. In: ZfdA 121 (1992), Verfasser sehen u. die Abfassungszeit auf »vor S. 131–174. – Hartmut Bleumer: Die ›Crône‹ 1230« festlegen wollen, doch spricht mehr Heinrichs v. dem Türlin. Form-Erfahrung u. Konfür eine Umkehrung der Entlehnungsrich- zeption eines späten Artusromans. Tüb. 1997, tung (Schröder). S. 255–257. – W. Schröder: Der M. In: VL (NachAusgangssituation ist die in allen Romanen träge u. Korrekturen). Christoph Fasbender der Matière de Bretagne obligatorische Provokation der arthurischen Hofgesellschaft, Manuel, Niklaus, gen. Deutsch, auch: N. die anlässlich des Pfingstfestes auf Aventiure Alleman, * sehr wahrscheinlich 1484 wartet. Endlich trägt ein Knappe das Präsent Bern, † 28.4.1530 Bern. – Maler, Reisläueiner höf. Dame herbei: einen von einer Fee fer, Dichter, Staatsmann. gewirkten magischen Mantel, den nur diejenige Hofdame umzulegen vermöge, die voll- M., einer der bedeutendsten Maler u. Dichter kommen tugendhaft sei. Gawein rät dem der Eidgenossenschaft im 16. Jh., war verKönig, sich auf die Keuschheitsprobe einzu- mutlich ein Enkel des aus Chieri bei Turin lassen. Königin Ginover macht den Anfang, zugezogenen Jacobus de Alamanis u. Sohn doch der Mantel ist ihr zu kurz – wenn sie des Apothekers Emanuel Alleman. Die Mutauch nicht wie die Freundin des Truchsessen ter, Margaretha Fricker, war eine unehel. Keie mit entblößtem Hinterteil dasteht. Es Tochter des gelehrten Stadtschreibers, Chroobliegt dem präventiv von der kgl. Tafel nisten u. Mitglieds des Kleinen Rats Dr. verbannten Lästermaul Keie, die wenig Thüring Fricker. 1509 ist M. unter dem Naschmeichelhaften Ergebnisse zu kommentie- men Niclaus Alleman im Ehebrief mit der ren. Allein der tugendhaften Enite ist der Ratsherrentochter Katharina Frisching erstUmhang nur um die Breite dreier Finger zu mals erwähnt, 1510 als Mitgl. des Großen Rates u. 1513 als Maler bezeugt. Wo er seine kurz. Ausbildung erhielt, ist ungewiss. Sein Monogramm NMD, meist in Verbindung mit

Manuel

einem Dolch, dem »Schwytzerdegen«, verweist auf den Namen Deutsch als Übersetzung von Alleman. (Gelegentlich hat man das D auf den Degen beziehen wollen.) Das Werk des Malers umfasst Altartafeln, Wandgemälde, Gemälde auf Leinwand, Bildnisse, Scheibenrisse, Glasscheiben, Zeichnungen u. Holzschnitte. Als Selbstbildnis gilt heute das im Stil eines Renaissanceporträts gehaltene Bildnis eines jungen Mannes von 1520 mit der Inschrift MIN ALLTER (= Mein Lebensalter). Es stellt einen etwa 36-jährigen, jugendlich aussehenden Mann mit blonden Locken u. hellen Augen dar. Sein bedeutendstes Kunstwerk war der 1516–1519/20 entstandene, einst weitherum berühmte, etwa 100 m lange Totentanz an der Friedhofmauer des Berner Predigerklosters. Er ist nur noch in Kopien (v. a. in den Gouache-Kopien Albrecht Kauws von 1649) überliefert. Die Bildfolge zeigt zunächst den Sündenfall u. den Empfang der Gesetzestafeln durch Moses, dann Christus am Kreuz u. ein Totenkonzert; es folgen 41 mit einer Ausnahme paarweise geordnete lebensgroße Vertreter aller Stände im Gespräch mit dem Tod u. zuletzt ein mahnender Prediger. Zu den Figuren gehören 92 vierzeilige Strophen M.s; sie wurden bei späteren Restaurationen z.T. abgewandelt. Die Bilder u. Texte kündigten, wie auch Zeichnungen u. Holzschnitte aus der gleichen Zeit, Kritik an den gesellschaftl. u. kirchl. Zuständen unmittelbar vor der Reformation an. 1516 nahm M. wahrscheinlich mit den vom frz. König Franz I. angeworbenen Söldnern am oberital. Feldzug teil. Zu Beginn des Jahres 1522 war er Feldschreiber des bernischen Heeres im Dienste des Königs von Frankreich, nahm an der Eroberung von Novara teil u. erlebte die bittere Niederlage der Eidgenossen durch die kaiserl. Truppen bei Bicocca. In den 25 achtzeiligen Strophen des Bicoccaliedes entlud sich darauf sein Zorn u. Hohn auf die dt. Landsknechte. Nach 1520 schuf M. keine Gemälde mehr. Sein letztes Lebensjahrzehnt stand im Zeichen der Reformation, der Dichtung u. der Staatskunst. Dabei bemühte er sich im Gegensatz zu Zwingli, der die kriegerische Auseinandersetzung suchte, um eine Politik

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der Mäßigung. Vom Herbst 1523 bis 1528 war er bernischer Landvogt in Erlach am Bielersee. Zuvor hatte er an der Herren- u. an der Bauernfastnacht 1523 in Bern zwei reformatorische Spiele von »burgerßsönen« aufführen lassen: Vom Papst und seiner Priesterschaft (früher auch als Die Totenfresser bezeichnet) u. vom Unterschied zwischen dem Papst und Christum Jesum (auch Von Papsts und Christi Gegensatz genannt). Die seit 1524 zunächst bei Froschauer in Zürich erschienenen weit verbreiteten Drucke sind nicht vom Dichter beglaubigt, Handschriften sind nicht überliefert. Beide Spiele stellten sich ausdrücklich in den Dienst der Reformation, bekämpften die kirchl. Missbräuche der Zeit u. bekannten sich zur Lehre von der Rechtfertigung allein durch den Glauben. Das erste, weit umfangreichere mit fast 2000 freien Knittelversen, mit großartigen Massenszenen u. über 50 Sprechrollen knüpft an Pamphilus Gengenbachs Gesprächspiel Die Totenfresser an. In den Drucken ist die Reihenfolge einzelner Szenen offensichtlich gestört, eine eindeutige Rekonstruktion der richtigen Ordnung jedoch nicht möglich; auch gibt es Zusätze von fremder Hand. Der Papst Entcristelo (wie viele Figuren durch einen sprechenden Namen gekennzeichnet) erscheint als der eigentl. Antichrist u. Verräter des Christentums in der Zeit der Türkengefahr. Im Gespräch zweier Bauern zeigt sich in der Gegenüberstellung des prunkvollen, selbstherrl. Gebarens kirchlicher Würdenträger u. der materiellen u. seel. Not armer Leute das soziale Verantwortungsbewusstein des Dichters. Die Apostel Petrus u. Paulus entsetzen sich über die Entfremdung der Kirche von der Lehre Christi, u. am Schluss ruft »Doctor Lupold schüch nit« zur Reformation u. zur Wiederherstellung der wahren Lehre Jesu Christi auf. Gute Gründe sprechen dafür, in dieser Figur ein Abbild Luthers zu sehen, verrät doch das Spiel an einer Reihe von Stellen, dass sich M. unmittelbar durch Schriften des Reformators anregen ließ. Das andere Spiel stellt in der Art der Holzschnittfolge Lucas Cranachs d.Ä. (Passional Christi und Antichristi) die Aufzüge Christi u. des Papstes mit ihrem Gefolge dar, kommentiert sie durch das Gespräch zweier Bauern u. stellt dem Hochmut

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des Papstes die Schlichtheit Christi gegenüber. 1525 entstand in Erlach als äußerst drast. u. dramat. Satire auf den Ablasshandel das Fastnachtsspiel Der Ablasskrämer. Es ist in der Handschrift des Dichters mit einer Zeichnung erhalten. Erboste Bauern u. die derben Bäuerinnen Zilia Nasentutter u. Anni Saurüssel fesseln den Krämer Richardus Hinterlist, ziehen ihn an einem Seil hoch, bis er den Schwindel des Ablasshandels gesteht. Im Gegensatz zu den beiden vorangegangenen Spielen M.s erscheinen die Bauern hier nicht mehr als schlichte u. kluge Vertreter des Gemeinen Mannes, sondern wieder wie in der spätmittelalterl. Literatur als grobschlächtige Dorfbewohner. Zu M.s Dichtung im Dienste der Reformation gehört auch das Streitgespräch in Versdialogen Barbeli (1526). Ein elfjähriges Mädchen weigert sich, ins Kloster zu gehen, widerlegt die von der Mutter herbeigerufenen Geistlichen (sie tragen despektierl. Namen wie Stuolgang, Fläschensuger usw.) durch gründl. Bibelkenntnis u. will künftig als Mutter einer Familie Gottesdienst leisten. Zwei überaus wirkungsvolle, in zahlreichen Drucken verbreitete satir. Schriften entstanden im Jan. 1528 zur Zeit der Berner Disputation: der Prosadialog Krankheit der Messe u. das Testament der Messe in der Form einer letztwilligen Verfügung. M. nahm am Glaubensgespräch, das die endgültige Entscheidung für den neuen Glauben u. für die Zerstörung der Bilder brachte, als Diskussionsleiter teil. Dem Bildersturm fielen zweifellos auch Werke M.s zum Opfer. Von den Liedern, als deren Verfasser Philipp Wackernagel (Das deutsche Kirchenlied) aufgrund inhaltl. Beziehungen M. vermutete, stammt nur Ecks und Fabers Badenfahrt in Schillers Hofton mit großer Wahrscheinlichkeit von ihm (durch den Reformationschronisten Heinrich Bullinger ist ein streitbares Lied M.s aus der Zeit der Badener Disputation 1526 bezeugt). Die jüngst wiederholte Zuschreibung der übrigen entbehrt jeder Grundlage. Ob M. der Verfasser der unvollständig überlieferten Dichtung Ein seltsamer wunderschöner Traum (vermutlich 1522) u. der Klagred der armen Götzen (1528) war, bleibt ungewiss. 1530 wurde in Bern das anonyme Fastnachtsspiel Elsli Tragdenknaben

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aufgeführt. Gegen die öfters erwogene Verfasserschaft M.s sprechen inhaltl. u. stilist. Gründe, ganz abgesehen davon, dass er als führender bernischer Staatsmann (seit 1528 Venner der Zunft zu Ober-Gerwern u. Mitgl. des Kleinen Rates) in den beiden letzten Lebensjahren durch politische, diplomat. u. militärische Tätigkeit völlig in Anspruch genommen war. Weit eher dürfte Hans von Rüte in der Nachfolge M.s als Autor in Frage kommen. M.s Sohn Hans Rudolf Manuel (1525–1571) war wie der Vater Maler, Dichter, Landvogt u. Mitgl. des Großen Rates. Er arbeitete v. a. als Illustrator u. knüpfte in seinem zur Komödie erweiterten Weinspiel (Zürich 1548) an die Fastnachtsspiele des Vaters, an Gerichtsspiele u. an die Trunkenheitsliteratur der Zeit an. Ausgaben: N. M. Hg. Jakob Baechtold. Frauenfeld 1878. – Der Berner Totentanz des N. M. in den Nachbildungen v. Albrecht Kauw. Hg. Paul Zinsli. 2., erw. Aufl. Bern 1979. – N. M. Vom Papst u. seiner Priesterschaft. Hg. Hellmut Thomke. In: Dt. Spiele u. Dramen des 15. u. 16. Jh. Ffm. 1996. – N. M. Werke u. Briefe. Hg. P. Zinsli u. Thomas Hengartner. Bern 1999 (leider mit sehr zahlreichen Schreibfehlern). – Hans Rudolf Manuel: Das Weinspiel. Hg. Walter Haas. In: Fünf Komödien des 16. Jh. Bern 1989. – Vom Papst u. seiner Priesterschaft. Underscheid zwischen dem Papst u. Christum Jesum. Ablaßkrämer. In: Dt. Dramen v. Hans Sachs bis Arthur Schnitzler. Hg. Markus Finkbeiner. Ffm. 2005 (CD-ROM). Literatur: Conrad André Beerli: Le peintre poète N. M. et l’évolution sociale de son temps. Genf 1953. – Jean-Paul Tardent: N. M. als Staatsmann. Bern 1968. – N. M. Deutsch. Maler, Dichter, Staatsmann. Ausstellungskat. Kunstmuseum Bern. Bern 1979. – 450 Jahre Berner Reformation. Bern 1980/81. – Peter Pfrunder: Pfaffen, Ketzer, Totenfresser. Die Fastnachtskultur der Reformationszeit – die Berner Spiele v. N. M. Zürich 1989. – Glenn Ellis Ehrstine: Theater, Culture, and Community in Reformation Bern, 1523–55. Leiden 2002. – Wilfried Kettler: Der Berner Totentanz des N. M. Philologische, epigraph. sowie histor. Überlegungen zu einem Sprach- u. Kunstdenkmal der frühen Neuzeit. Bern 2009. Hellmut Thomke

Manz

Manz, Hans, * 16.7.1931 Wila/Kt. Zürich. – Erzähler, Lyriker, Kinder- u. Jugendbuchautor, Übersetzer. In den Jahren 1947 bis 1952 besuchte M. die Lehramtsschule in Winterthur; anschließend studierte er ein Jahr am Oberseminar Zürich. Von 1953 bis 1978 war M. als Primarlehrer in Erlenbach u. dann in Zürich tätig, wo er in einem Arbeiterquartier den Unterricht für Kinder ausländischer Arbeiter hielt. Seit 1987 lebt M. als freier Autor in Zürich u. Italien. Er übersetzte Texte von Helen Oxenburry, Philippe Fix, Maurice Sendak, Tomi Ungerer, Edward Gorey. M. schreibt für Schweizer Zeitungen, macht Kindersendungen u. Kinderfilme für das Schweizer Radio u. Fernsehen, er ist Herausgeber Schweizer Sagen (Der schwarze Wasserbutz. Frauenfeld 1976). Seine Werke erschienen in Dänemark, Japan u. den USA. Ihm wurden viele Preise verliehen, u. a. Nationale Hans-Christian-Andersen-Medaille (1977), Ehrengabe der Stadt Zürich (1980, 1994), Ehrengabe des Kantons Zürich (1988), Auszeichnung vom Internationalen Kuratorium für das Jugendbuch (1990), Schweizer Jugendbuchpreis (1991), Österreichischer Staatspreis für Kinderlyrik (1993), Lyrikpreis der Schweizer Schillerstiftung (1994). M.’ Ruf ist mit Kinder- u. Jugendbüchern verknüpft. Das Buch Lügenverse (Bern 1965) bringt fünf Versgeschichten in Form von Kinderphantasmagorien u. behandelt das Thema der Selbstbehauptung der Kinder in Konfrontation mit Erwachsenen. Bei M. definiert sich das Kind durch Liebe, in der Unendlichkeit des Augenblicks weiß es das Glück in sich selbst zu entdecken. Gleiches gilt für das Kinderbuch Konrad (Zürich 1969). Nicht zu übergehen ist in diesem Kontext Adam hinter dem Mond (Weinheim 1976), ein Text, der in kurzen Episoden das Heranwachsen eines Jugendlichen u. dessen Erfahrungen mit Liebe u. Zärtlichkeit schildert. M.’ Domäne im Bereich der Kinderliteratur sind Verwandlungsbilderbücher wie etwa Eins, zwei, drei – mach Vielerlei! (Weinheim 1972), von Wilfried Blecher illustrierte Sprachspiele, mit der deutl. Intention, das Kind zu einem kreativen, visualisierten Textbasteln zu befähigen, Zwangsformen

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aufzuheben u. mit einer Welt wohlvertrauter Wörter zu spielen; das sprachlich Unfassbare geschieht dabei für den Spielenden u. zgl. Lernenden eher beiläufig. Die Stärke von M.’ Kinderbüchern besteht in der Erkenntnis, dass Sprachspiele ein Naturell des Kindes sind, dass die Bedeutung des Wortes im Gebrauch entsteht u. im Gebrauch kritisch spezifiziert werden kann. Dieser Linie bleibt M. auch in Worte kann man drehen (Weinheim 1974) treu. Der für ihn wichtige visuelle, schon von der Konkreten Poesie herausgehobene Aspekt der Sprache wird diesmal zudem soziopsychologisch ergänzt. M.’ Hauptwerk, der Roman Grund zur Freude (Olten 1981), setzt sich formal eigenwillig mit Anonymität u. Kommunikationslosigkeit auseinander. Der fiktive Herausgeber entwendet in einem Gasthaus Aufzeichnungen von Mitgliedern einer losen Gemeinschaft, die in ritualisierten Begegnungen Alltagserlebnisse u. persönl. Probleme austauschen. Erwähnung verdient auch der Gedichtband Die Wachsamkeit des Schläfers (Frauenfeld 1994), eine Sammlung, in der sich der Autor der Frage stellt, was im lyr. Sagen verschwiegen u. was mit dem Schweigen mitgeteilt werden kann. Das Jahr 2002 bedeutet einen wichtigen Zeitpunkt in M.’ Schaffen. Mit dem Geschichtenband Nichts ist so wie es ist. 10 fatale Alltagsgeschichten (Zürich) macht sich sein Interesse am klassischen, mit Distanz gestalteten Erzählwerk geltend, u. mit der Thematik – plötzlich eintretende Wenden u. Bruchstellen im menschl. Tun u. Treiben – schreibt er sich in die beste Literaturtradition ein. Weitere Werke: Die dreißig Hüte. Zürich 1966. – Ess- u. Trinkgesch.n. Fabeln. Ravensburg 1974. – Kopfstehn macht stark oder Die Kunst zwischen den Zeilen zu lesen. Neues Sprachbuch für Kinder. Weinheim/Basel 1978. – Der Knopf. Zürich 1978. – Mitenand. Zürich 1979. – Wiesowarum. Zürich 1982. – Überall u. niene. E Reis dur d’Schwyz uf Värsfüess. Zürich 1983. – Lieber heute als morgen. Sprechen, hören, träumen, hoffen. Weinheim/Basel 1988. – An Türen klopfen. Zwölf Gesch.n für zwölf Monate. Zürich/Frauenfeld 1991. – Schöne Träume. Sieben Gesch.n für sieben Nächte. Zürich/ Frauenfeld 1992. – Vom Maulaufreißen u. Um-dieEcke-gucken. Märchen, Fabeln, Sprachspiele. Zürich/Frauenfeld 1993. – Ein Bär auf Jagd. Mchn.

679 1994. – Mit Wörtern fliegen. Neues Sprachbuch für Kinder u. Neugierige. Weinheim/Basel 1995. – Pantoffeln für den Esel. Märchen der Stille. Zürich/ Frauenfeld 1996. – Da kichert der Elefant. Zürich/ Frauenfeld 1998. – Das kleine o steht vor dem ZOO. Gesch.n für Buchstaben-Narren. Zürich 2000. Literatur: Karlhans Frank: H. M. In: LKJL. – Klaus-Dieter Schult (Hg.): Die skept. Landschaft. Deutschsprachige Lyrik aus der Schweiz seit 1900. Lpz. 1988. – Maria Lypp: H. M. In: KLG. – Renate Raecke: H. M. In: LGL. – Klaus Pezold (Hg.): Schweizer Literaturgesch. Die deutschsprachige Lit. im 20. Jh. Lpz. 2007. Zygmunt Mielczarek

Marbach, (Gotthard[t]) Oswald, auch: Silesius Minor, * 13.4.1810 Jauer/Schlesien, † 28.7.1890 Leipzig. – Lyriker, Dramatiker, Übersetzer, Herausgeber, Essayist. M. war beruflich u. publizistisch sehr vielseitig u. produktiv, blieb aber literaturhistorisch ohne Wirkung. Er studierte ab 1818 Philosophie, Mathematik u. Naturwissenschaften in Breslau u. Halle, promovierte 1831 zum Dr. phil. u. war dann Gymnasiallehrer in Liegnitz. 1833 habilitierte er sich für Philosophie in Leipzig, vertrat an der Universität die Hegel’sche Lehre u. hielt daneben auch physikal. Vorlesungen. Ergebnis war ein großes Populäres physikalisches Lexikon (5 Bde., Lpz. 1833–38). 1843 bis 1845 war M. Gymnasiallehrer in Leipzig, danach hatte er bis 1848 das Amt des Zensors für das politische, schöngeistige u. journalist. Schrifttum im Königreich Sachsen inne. 1845 wurde er zum Professor der Technologie, 1848 zum Honorarprofessor für Philosophie u. 1851 zum Hofrat ernannt. Ab 1848 arbeitete er als Chefredakteur der »Leipziger Zeitung«, 1853 gründete er die »Allgemeine Renten-, Kapital- und Lebensversicherungsbank Teutonia« u. wurde deren Direktor; 1864 gehörte er auch zu den Begründern der »Leipziger Hypothekenbank«. Daneben war M. in vielen Freimaurerlogen aktiv. Er veröffentlichte Gedichtbände, Trauerspiele, Übersetzungen u. Bearbeitungen antiker u. altdt. Dichtungen sowie Shakespeares, philosophische, literaturkrit. u. polit. Abhandlungen, ferner zahlreiche Kleinschriften. Bekannt ist heute allenfalls noch seine nachromant. Serie von

Marchi

Volksbüchern (53 Bde., Lpz. 1838–60), von denen er die ersten 34 Titel selbst bearbeitete. Weitere Werke: Gedichte. Lpz. 1835. 21838. – Lehrbuch der Gesch. der Philosophie. 2 Bde., Lpz. 1838–41. – Das Nibelungenlied. Lpz. 1840. Neuausg. Dortm. 1978 (Übers.). – Ein Weltuntergang. Lpz. 1860/61 (Dramen-Trilogie). Literatur: Franz Brümmer: M. In: ADB. – Kosch. Detlev Schöttker / Red.

Marchi, Otto, * 13.4.1942 Luzern, † 26.12. 2004 Khao Lak/Thailand. – Romanautor u. Publizist. M. studierte in Zürich Allgemeine u. Schweizer Geschichte, promovierte 1970 über den ersten Luzerner Freischarenzug 1844, arbeitete in einem Werbebüro u. als Journalist. Diese berufl. Tätigkeit schlägt sich in M.s literar. Werk nieder, in dem sich eine Entwicklung von der Erkundung der äußeren zur inneren Geschichte ablesen lässt. Die Schweizer Geschichte für Ketzer (Zürich 1971), sein auflagenstärkstes Buch, rüttelt respektlos an den Mythen über die Entstehung der Schweiz u. entlarvt Tell als »Kleiderbügel« für verschiedene »Interessenmäntelchen«. In M.s erstem Roman Rückfälle (Ffm. 1978) tastet sich der Ich-Erzähler, ein Werbefachmann, zu seinem verschütteten Ich vor, das er nur noch über psychosomat. Leiden wahrnimmt. Dieser Prozess steigert sich im Roman Sehschule (Ffm. 1983) zu einer Abkehr von der Reflexion u. einer radikalen Zuwendung zur filigranen, präzisen Beobachtung, zum »Sehen«. Indem er sich selbst als Teil der Geschichte verstehen lernt, kommt dem Historiker Anderhalden der Glaube an die histor. Objektivität abhanden. M.s dritter Roman Landolts Rezept (Ffm. 1989) variiert auf der Folie von Gottfried Kellers Novelle Der Landvogt von Greifensee gescheiterte Beziehungsgeschichten: Der Journalist Landolt, der seine polit. Ideale aus der 68er-Zeit verraten sieht, erprobt, zurückgezogen aufs Private, mit fünf Freundinnen Beziehungs- u. Kochrezepte: Essen u. Lieben als Strategien zur Neuordnung der Geschlechterbeziehung. Deren Scheitern ist Gegenstand der erzählerischen Kabinettstückchen, zu denen die frivole Beichte des tragikom. Helden an seine sechste

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Freundin Hanna gerät. Im Roman Soviel ihr wollt (Zürich 1994) führt M. seine literar. Leitmotive Geschichte, Schule u. Lebenszweifel nochmals zusammen: Ein gescheiterter Journalist recherchiert über seinen alten, verhassten Lehrer u. entdeckt in dessen Biografie eine verdrängte skandalöse Beziehungsgeschichte. M. bezieht sich dabei auf einen histor. Fall, wodurch der Roman im Spannungsfeld von histor. Wahrheit u. erzählter Fiktion einiges Aufsehen erregt. Ende 2004 wurde M. in Thailand ein tragisches Opfer des Tsunami. Literatur: Elsbeth Pulver: Vor einem Kind ›bestehen‹ wollen. In: Schweizer Monatsh.e, H. 2 (1989). – Beatrice v. Matt (Hg.): Antworten. Die Lit. der deutschsprachigen Schweiz in den achtziger Jahren. Zürich 1991. – Malcolm Pender: O. M. In: KLG. – Thomas Kraft: O. M. In: LGL. Pia Reinacher / Beat Mazenauer

Marchwitza, Hans, * 25.6.1890 Scharley bei Beuthen/Oberschlesien, † 17.1.1965 Potsdam. – Erzähler u. Romanschriftsteller. Bereits mit 14 Jahren wurde M. wie sein Vater Bergarbeiter in Oberschlesien, von 1910 an im Ruhrgebiet. Nach dem Ersten Weltkrieg schloss er sich der Arbeiterbewegung an u. wurde 1920 KPD-Mitglied. Wegen der Teilnahme an Streiks seit 1924 arbeitslos, begann M. zu schreiben, zunächst als Arbeiterkorrespondent, dann als Mitgl. des Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller. 1933 emigrierte er in die Schweiz, dann nach Frankreich. 1936 kämpfte er bei den Internationalen Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg, kehrte 1938 nach Frankreich zurück u. wurde interniert. 1941 konnte er in die USA fliehen. Ab 1946 wieder in Deutschland, engagierte er sich beim Aufbau der DDR. Aus eigenen Lebenserfahrungen gewann M. die Stoffe für seine Werke, deren Authentizität u. revolutionäre Parteilichkeit geschätzt, denen aber auch mangelnde Differenziertheit u. Unglaubwürdigkeit vorgeworfen wurde. So kritisierte Andor Gábor bereits 1932 in der »Linkskurve« (5, S. 31–36), M.s zweiter Roman Schlacht vor Kohle (Wien/Bln./Zürich 1931) erfasse die

Vielfalt der Handlungsmotive der Arbeiter nicht. Unklar bleibe, »warum die Kumpels nicht alle lodernde Klassenkämpfer sind«. Dennoch haben M.s frühe Romane, v. a. Sturm auf Essen (Wien/Bln./Zürich 1930; 1931 verboten. Mchn. 1979), historisch-dokumentar. Bedeutung. In dem autobiogr. Roman Meine Jugend (Bln./SBZ 1947), geschrieben im amerikan. Exil, erfasst M. die Vielschichtigkeit seiner Figuren, ihre Motive u. Ängste besser. Hier wie auch in frühen Erzählungen gelingen ihm eindrucksvolle Schilderungen des dumpfen Lebens der Bergarbeiter, ihrer Verstrickung in Aberglauben u. Untertanengeist. Gleiches gilt noch für Die Kumiaks (Zürich/ Wien/Prag 1934. Bln./SBZ 1947), die Geschichte eines Bergarbeiters, der allmählich in die Arbeiterbewegung des Ruhrgebiets hineinwächst. M. erweiterte diesen Roman zu einer Trilogie (Die Heimkehr der Kumiaks. Bln./DDR 1952. Die Kumiaks und ihre Kinder. Bln./DDR 1959), die den Lebensweg des Protagonisten bis zu seinem Engagement für die DDR als überzeugter Kommunist nachzeichnet. Deutlich fällt M. im letzten Band wie auch im Betriebsroman Roheisen (Bln./DDR 1955), der vom Aufbau des Eisenhüttenkombinats Ost berichtet, in seine frühe Erzählweise zurück. Freilich lässt sich nun die Schematisierung der Charaktere nicht mehr mit den Anfangsschwierigkeiten eines proletar. Schriftstellers begründen. Es folgt vielmehr aus der didakt. Absicht dieser Texte, dass M. die für die DDRLiteratur der 1950er Jahre übl. Figurenkonstellation – etwa von Otto Gotsche u. Eduard Claudius – übernimmt: ein verantwortungsbewusster Parteifunktionär, der sich im Alltäglichen aufreibt, ihm zur Seite der klassenbewusste Arbeiter, der mit den Zweiflern unter seinesgleichen ringt; beiden gegenübergestellt der Saboteur, auf dessen Konto alle Produktionsmängel gehen. In der DDR galt M. mit seinen späten Romanen als Mitbegründer einer »nationalen Literatur«. Für sein Werk erhielt er dreimal den Nationalpreis. Weitere Werke: In Frankreich. Potsdam 1949 (Reportage). – Unter uns. E.en aus älterer u. jüngerer Zeit. Potsdam 1950. – In Amerika. Bln./DDR

Marcus von Weida

681 1961 (Reportage). – Gedichte. Bln./Weimar 1965. – Poesiealbum 93. Bln./DDR u. Mchn. 1975. Literatur: Jürgen Bonk u. Arthur Scharmentke: H. M u. Otto Gotsche. 3., durchges. Neuaufl. Bln./ DDR 1962. – Marcel Reich-Ranicki: H. M. Eine peinl. Legende. (1964). In: Ders.: Ohne Rabatt. Über Lit. aus der DDR. Stgt. 1991, S. 19–23. – Ingrid Hammer: H. M. In: Lit. der DDR. Hg. Hans Jürgen Geerdts u. a. Bd. 3, Stgt. 1987. – Stephan Gruner: Im Streit um die Gesch. Kriegsdarstellung u. Entwicklungssujet in den Trilogien der frühen DDR-Lit. In: Unerwünschte Erfahrung. Kriegslit. u. Zensur in der DDR. Hg. Ursula Heukenkamp. Bln. 1990, S. 135–166. – Miroslaw Mackiewicz: Die Welt des oberschles. Arbeiters im Roman ›Meine Jugend‹ v. H. M. In: Industrie u. Lit. Beiträge zur oberschles. Regionallit. Hg. Joachim J. Scholz. Bln. 1993, S. 105–113. – Edelgard Iven: Distanz u. Nähe – H. M. In: Hoffnung u. Erinnerung. Potsdamer Lit. 1945–50. Hg. Mathias Iven. Milow 1998, S. 217–233. – Matthias Wolbold: Zwischen Ablehnung, Anpassung u. Zerrissenheit. Dt. Exilautoren in den USA; eine Typologie am Beispiel v. H. M., Hans Sahl u. Ludwig Marcuse. Hbg. 1999. Andrea Jäger

Marcu, Valeriu, auch: Gracchus, * 8.3.1899 Bukarest, † 4.12.1942 New York. – Sachbuchautor, Feuilletonist.

zidierter Antikommunist, im »Neuen TageBuch« u. in der »Sammlung«. Beachtung fand er im Exil mit seinem Buch Die Vertreibung der Juden aus Spanien (Amsterd. 1934. Mchn. 1991), in dem er bei der Schilderung des Antisemitismus in Spanien Ende des 15. Jh. Parallelen zur aktuellen Situation aufzuzeigen versuchte. Im Frühjahr 1941 musste M. in die USA flüchten, wo er 1942 vereinsamt starb. Weitere Werke: Imperialismus u. Friede. Raubkrieg u. Revolution. Bln. 1924 (Ess.). – Das große Kommando Scharnhorsts. Lpz. 1928. – Männer u. Mächte der Gegenwart. Bln. 1930 (Ess.s). – Machiavelli. Die Schule der Macht. Amsterd. 1937. Ffm. 1999 (Biogr.). – ›Ein Kopf ist mehr als vierhundert Kehlköpfe‹. Ges. Ess.s. Hg. Erhard Roy Wiehn. Ausgew. u. komm. v. Andrei Corbea-Hoisie. Konstanz 2002. Literatur: Andrei Corbea: Ein dt. Publizist rumän. Herkunft. In: Rumän.-dt. Interferenzen. Hg. Klaus Heitmann. Heidelb. 1986, S. 163–184. – Claude Foucart: Un episode de l’emigration allemande. André Gide et V. M. In: Bulletin des amis d’André Gide 20 (1992), S. 443–451. – A. Corbea: V. M. In: Dt. Exillit. III, S. 323–343. – A. CorbeaHoisie: V. M. Ein Rumäne im literar. Bln. In: Voix étrangères en langue allemande. Hg. Alfred Strasser. Lille 2006, S. 25–46. – Albrecht Götz v. Olenhusen: ›Die Jahre vor Hitler: Bei Lebzeiten‹. Eva u. V. M. In: Archiv für die Gesch. des Widerstandes u. der Arbeit 18 (2008), S. 321–330. Heiner Widdig / Red.

1915 trat M. der sozialist. Jugendbewegung bei u. veröffentlichte erste Artikel in der marxist. Zeitschrift »Jugend-Internationale« 1916 in Zürich, wo er die Bekanntschaft Lenins machte. Im März 1918 wurde M. wegen Marcus von Weida, * um 1450 Weida, Verbreitung von Antikriegspropaganda aus † 1516. – Prediger. Rumänien ausgewiesen u. war ab 1919 Delegierter der »Kommunistischen Jugendinter- Über das Leben M. v. W.s ist nur bekannt, nationale«, aus der er 1921 wegen polit. Dif- dass er Lektor u. Prediger in einem Leipziger ferenzen ausgeschlossen wurde. Ab 1926 Dominikanerkloster u. seit 1513 dort für das wandte er sich mehr u. mehr vom Kommu- Studium verantwortlich war. Seine Predigten nismus ab u. knüpfte Verbindungen zu Ver- u. exegetischen Schriften richten sich außer tretern der »konservativen Revolution« wie an andere Seelsorger v. a. an den sächs. Ernst Jünger u. Ernst Niekisch. In dieser Zeit Hochadel. Konventionell bleiben W.s Vaterveröffentlichte er zahlreiche histor. u. litera- unser-Erklärung (Lpz. 1502) u. sein (von Luturkrit. Beiträge in der »Literarischen Welt«, ther später polemisch glossierter) Text über der »Weltbühne« u. dem »Tagebuch«. Be- das Beten des Rosenkranzes mit der Festlekannt wurde M. durch in feuilletonistischem gung der Anzahl u. Reihenfolge der PaterStil gehaltene histor. Essays wie Schatten der noster u. Ave (ebd. 1515). W.s Hauptwerk, Geschichte (Bln./Hbg. 1926) u. durch Politi- Spigell des ehlichen ordens, das er 1487 als Niekerbiografien, z.B. Lenin, 30 Jahre Rußland derschrift einer Reihe thematisch zusam(Lpz. 1927. Mchn. 1970). 1933 emigrierte er mengehöriger Predigten mit einer Widmung nach Frankreich u. publizierte dort, nun de- an Friedrich den Weisen vorlegte, enthält

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theolog. u. histor. Begründungen für die Institution Ehe sowie Ausführungen über ihre geistl., soziale u. moralische Funktion. W. entwirft eine Alltagsethik der Ehe mit Blick auf Hierarchie u. Harmonie zwischen den Gatten sowie auf ihre ökonomischen u. sexuellen Beziehungen, reflektiert über Ehebruch u. -scheidung u. gibt Ratschläge für die Kindererziehung, wobei er einerseits immer wieder die Notwendigkeit von (Selbst- u. Fremd-)Disziplinierung betont, zgl. aber gut katholisch eine Fülle von Ausnahmen, Relativierungen u. Entschuldigungen anbietet. In dieser Widersprüchlichkeit markiert der Spigell den Angelpunkt zwischen der mittelalterl. Eheliteratur, die W. kennt u. auswertet, u. der Fülle protestantischer Ehetraktate des 16. Jh. mit ihrem Streben nach konsequenter Moralisierung des Alltagslebens. Ausgaben: Spigell des ehl. ordens. Hg. Anthony van der Lee. Assen 1972. – Ein nutzl. Lere [...] wye vnd was der mensch beten solle [...]. Hg. ders. Ebd. 1973. – Der Spiegel hochlobl. Bruderschafft des Rosenkrantz Marie. Hg. ders. Amsterd. 1978. Literatur: Anthony van der Lee: Beobachtungen zum Sprachgebrauch des Leipziger Volkspredigers M. v. W. Amsterd. 1980. – Ders.: M. v. W. In: VL. – Michael Dallapiazza: Minne, hûsêre u. das ehlich Leben. Ffm./Bern 1981. – Marinus A. van den Broek: Sprichwort u. Redensart in den Werken des Leipziger Volkspredigers M. v. W. In: Beiträge zur Erforsch. der Dt. Sprache 7 (1987), S. 168–181. – Hans-Jürgen Bachorski: Diskursfeld Ehe. In: Ordnung u. Lust. Hg. ders. Trier 1991, S. 511–545. – Frank Muller: Le ›Spiegel Hochlöblicher Bruderschaft des Rosenkrantz Marie‹ de M. v. W. et ses illustrations. In: Economie, politique et culture au Moyen âge. Hg. Danielle Buschinger u. Wolfgang Spiewok. Amiens 1991, S. 137–150. – Gerhard Weise: M. v. W. – ein berühmter Sohn der Stadt Weida. In: Jb. des Museums Reichenfels-Hohenleuben (2006), 51, S. 89–97. Hans-Jürgen Bachorski / Red.

Marcuse, Herbert, * 19.7.1898 Berlin, † 29.7.1979 Starnberg. – Philosoph. M. war der Sohn assimilierter jüd. Eltern. Der Vater war Textilfabrikant. Nach Notabitur u. Kriegsdienst wurde M. in den Soldatenrat von Berlin-Reinickendorf gewählt. Anschließend studierte er von 1918–1922 Literaturwissenschaft, Philosophie u. Nationalökono-

mie in Berlin u. in Freiburg/Br., wo er 1923, beeinflusst von Georg Lukács, über den Deutschen Künstlerroman (abgedr. in: Schriften. Bd. 1, Ffm. 1978) promovierte. Während er 1924–1928 wieder in Berlin war, kam er mit Sein und Zeit von Martin Heidegger in Berührung. 1928 wurde er dessen Assistent in Freiburg. Heidegger hielt allerdings die Habilitation eines Juden an der Freiburger Universität für unmöglich; M.s Studie über Hegels Ontologie und die Theorie der Geschichtlichkeit erschien trotzdem 1932 bei Klostermann. 1934 emigrierte M. über Genf nach New York, wo er am Institut für Sozialforschung arbeitete. Die Zeit dort wurde die produktivste Phase in seinem Leben. Zwischen 1942 u. 1950 war er Sektionschef im Office of Strategic Services in Washington, der US-Behörde zur Spionageabwehr, wo er sich mit Kriegsverbrechern in Deutschland befasste. 1951 wurde er wiss. Mitarbeiter an der Columbia University, dann in Harvard. 1954 erhielt er eine Professur für polit. Wissenschaften an der Brandeis University in Waltham/Massachusetts. Von 1965 an lehrte er Politologie an der Universität von Kalifornien in San Diego u. 1967 – im Jahr des Todes von Benno Ohnesorg – an der FU Berlin (Das Ende der Utopie. Vorträge und Diskussionen in Berlin 1967. Ffm. 1980). M.s Biografie weist zwei unterschiedl. Phasen auf: Beschäftigte er sich zwischen den beiden Weltkriegen zunächst mit dem als Existenzphilosophie verstandenen Denken Heideggers, dann mit der als konkreter erfahrenen Philosophie Diltheys u. Hegels, markierte die Berührung mit dem Frühwerk von Marx einen Wendepunkt. Von nun an begriff M. den Marxismus als eine utop. Anthropologie, die es gesellschaftlich durchzusetzen gelte. Im Gegensatz zum orthodoxen Staatssozialismus (Soviet Marxism. New York 1958. Dt.: Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus. Neuwied 1964) sah M. dazu aber nicht mehr das Proletariat in der Lage, wie er überhaupt annahm, dass in den überentwickelten, v. a. in den spätkapitalist. Ländern Der eindimensionale Mensch (Neuwied 1967. Zuerst engl. Boston 1964) sein Existieren nicht mehr als unmenschlich erleben könne u. deshalb zu Vorstellungen von einem bes-

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seren Anderen nicht mehr fähig sei. Für M. buch zur Einf. in sein polit. Denken. Hg. Detlev konnte die Negation des schlechten Beste- Claussen. Darmst. 1981. – Roland Roth: Rebellihenden deshalb nur noch katastrophisch ge- sche Subjektivität. Ffm. 1985. – Rolf Wiggershaus: schehen; das gesellschaftl. Substrat der tota- Die Frankfurter Schule. Mchn. 1986. – Hauke Brunkhorst u. Gertrud Koch: H. M. zur Einf. Hbg. len Revolte fand er in den Geächteten u. Au1987. – Text + Kritik 98 (1988), Sonderh. H. M. – ßenseitern der Establishments, also den Gvozden Flego u. a. (Hg.): H. M. Eros u. Emanzi»überwältigten Minderheiten« u. den Völ- pation. Marcuse-Symposion 1988 in Dubrovnik. kern der Dritten Welt, denen er ein »Natur- Gießen 1989. – Institut für Sozialforschung (Hg.): recht auf Widerstand« zuerkannte. Indem M. Kritik u. Utopie im Werk v. H. M. Ffm. 1992. – John in den Vietnam-Demonstrationen, den Cam- Abromeit u. W. Mark Cobb (Hg.): H. M. A Critical pus-Kämpfen in den USA u. im studentischen Reader. New York 2004. Aufstand in Mexico City die Herausforderung Wolfgang Trautmann / Marco Schüller u. das Ende der liberalen, das Überleben des Spätkapitalismus garantierenden RepressiMarcuse, Ludwig, auch: Heinz Raabe, ven Toleranz (in: Robert P. Wolff u. a.: Kritik * 8.2.1894 Berlin, † 2.8.1971 München. – der reinen Toleranz. Ffm. 1966. Zuerst engl. Biograf u. Essayist. Boston 1965) erblickte, wurde er zum wichtigsten Philosophen für die Studentenbewe- Der Sohn eines Hut- u. Mützenfabrikanten besuchte 1903–1913 das Friedrichwerdersche gung in den USA u. der Bundesrepublik. Im Hinblick auf die Kunst vertrat M. zu- Gymnasium, studierte 1913–1917 Philosonächst einen äußerst krit. Standpunkt. Er phie in Berlin (zeitweise auch in Freiburg i. meinte, Literatur u. Kunst bestätigten bloß Br.) u. promovierte 1917 bei Ernst Troeltsch die gesellschaftl. Zustände, statt sie zu ver- über Die Individualität als Wert und die Philosoändern. Eine versöhnlichere Sicht vertrat M. phie Friedrich Nietzsches (Bln. 1917). Im Ersten in einem seiner Hauptwerke, Eros and Civili- Weltkrieg Soldat, arbeitete M. anschließend sation (Boston 1955. Dt.: Eros und Kultur. Stgt. als freier Journalist u. Schriftsteller u. schloss 1957). Dort nämlich sah er gerade in den Äs- Freundschaften mit Joseph Roth, Feuchtthetiken des 18. Jahrhunderts (v. a. Kant u. wanger, Döblin u. Heinrich Mann; von 1925 Schiller) »Elemente einer nicht-repressiven bis 1929 war er Theaterkritiker des »FrankKultur« verwirklicht, die eines Tages – v. a. furter Generalanzeigers«. Unmittelbar nach aufgrund ihres Ursprungs im Spieltrieb – zu dem Reichstagsbrand floh M. aus Deutscheiner gesellschaftl. Umgestaltung u. Befrei- land, lebte bis 1939 in Sanary-sur-Mer, dann in New York u. Kalifornien. 1937 vom Deutung führen könnten. Weitere Werke: Hegels Ontologie u. die Theo- schen Reich ausgebürgert, wurde er 1944 rie der Geschichtlichkeit. Ffm. 1932. – Kultur u. amerikan. Staatsbürger u. lehrte 1945–1961 Gesellsch. 2 Bde., Ffm. 1965. – Ist die Idee der als Professor für dt. Literatur u. Philosophie Revolution eine Mystifikation? In: Kursbuch 9 in Los Angeles; 1962 kehrte er nach (1967). – Psychoanalyse u. Politik. Ffm. 1968. – Deutschland zurück u. ließ sich in Bad Versuch über die Befreiung. Ffm. 1969. – Die Per- Wiessee nieder. manenz der Kunst. Mchn. 1977. Bekannt wurde M. in den 1920er Jahren Ausgaben: Schr.en in 9 Bdn. Ffm. 1978–89. mit seinen beiden Biografien Revolutionär und Nachdr. Springe 2004. – Nachgelassene Schr.en. Patriot. Das Leben Ludwig Börnes (Lpz. 1929) u. Hg. Peter-Erwin Jansen. 5 Bde., Lüneb. 1999–2007. Heinrich Heine. Ein Leben zwischen gestern und Literatur: Bibliografien: Jb. Arbeiterbewegung 6 morgen (Bln. 1932. Neuausg. u. d. T. Heinrich (1979), S. 271–301. – Douglas Kellner: H. M. and Heine. Melancholiker, Streiter in Marx, Epikureer. the Crisis of Marxism. London 1984, S. 480–497. – Rothenburg ob der Tauber 1970. Zürich Weitere Titel: Hans Heinz Holz: Utopie u. Anarchismus. Köln 1968. – Jürgen Habermas (Hg.): 2005). Es folgten weitere LebensbeschreiAntworten auf M. Ffm. 1968. – Stefan Breuer: Die bungen zu Ignatius von Loyola (Amsterd. 1935), Krise der Revolutionstheorie. Negative Vergesell- Platon u. Dionys (Der Philosoph und der Diktaschaftung u. Arbeitsmetaphysik bei H. M. Ffm. tor. Bln. 1950) sowie Sigmund Freud (Hbg. 1977. – Spuren der Befreiung. H. M. Ein Arbeits- 1956. Zürich 2006), schließlich über Das

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denkwürdige Leben des Richard Wagner (Mchn. Tüb. 1998, S. 145–157. – Matthias Wolbold: Zwi1963. Zürich 1993), mit denen M. auch in schen Ablehnung, Anpassung u. Zerrissenheit. Dt. aktuelle polit. Auseinandersetzungen ein- Exilautoren in den USA. Eine Typologie am Beigriff. Nach dem Krieg machte er zunächst als spiel v. Hans Marchwitza, Hans Sahl u. L. M. Hbg. 1999. – D. Lamping: Die letzte AuseinandersetLiteraturkritiker, der sich bes. um die Verzung der Exil-Lit. L. M.s Polemik gegen Franz mittlung der Exilliteratur bemühte, u. als Werfel. In: Le monde de Franz Werfel et la morale unorthodoxer philosoph. Schriftsteller wie- des nations. Hg. Michel Reffet. Bern u. a. 2000, der auf sich aufmerksam, zumal mit seinen S. 339–354. – Karl-Heinz Hense: L. M.s Philosophie Büchern Philosophie des Glücks. Von Hiob bis des Humanismus. Würzb. 2000. – D. Lamping: Der Freud (Zürich 1949) u. Aus den Papieren eines Außenseiter u. seine ›arme Freiheit‹. Über L. M. In: bejahrten Philosophie-Studenten (Mchn. 1964), ›Hinauf und zurück, in die herzhelle Zukunft‹. Dt.letzteres eine betont subjektive, polem. Ge- jüd. Lit. im 20. Jh. Hg. Michael Braun u. a. Bonn schichte der Philosophie. Aufsehen erregte 2000, S. 267–279. Dieter Lamping / Red. auch sein kulturkrit. Werk Obszön. Geschichte einer Entrüstung (Mchn. 1962), das mit provo- Marek, Kurt W., auch: C. W. Ceram, kanten Thesen zur »Abrüstung der Entrüs- * 20.1.1915 Berlin, † 12.4.1972 Hamburg. tung« schließt. M.s wichtigste Bücher sind – Sachbuchautor. seine Autobiografie Mein zwanzigstes Jahrhundert (Mchn. 1960) u. der auch literarisch sin- Der Tischlersohn hörte nach seiner Buchguläre Autonekrolog Nachruf auf Ludwig händlerlehre Vorlesungen an der LessingMarcuse (Mchn. 1960. Zürich 1993), zwei Hochschule u. an der Universität in Berlin u. ebenso um Ehrlichkeit wie Nüchternheit be- arbeitete als Literatur- u. Filmkritiker. Von mühte Meisterwerke der Memoiren- u. Be- 1938 an Soldat, wurde er Kriegsberichterkenntnisliteratur. Bezeichnend für M.s Werk statter u. gab – noch unter seinem Familieninsg. sind der pointierte, aphoristisch zuge- namen – 1943 ein Propagandabuch über die spitzte Stil u. ein undogmatisch-skept. Phi- Flak heraus (Rote Spiegel – überall am Feind. losophieren, das immer wieder den Wert der Bln.), in dem M. aber bemüht war, sich auf Toleranz propagiert u. – in der Tradition der die Darstellung der techn. u. administrativen Aufklärung – der Selbstbestimmung u. Ver- Probleme dieser Waffengattung zu beantwortung des Individuums sowie der Kri- schränken. 1946 wurde M. Redakteur bei der Tagestik an jeglicher Ideologie mit Absolutheitszeitung »Die Welt« u. gleichzeitig (bis 1951) anspruch das Wort redet. Lektor beim wiedergegründeten Rowohlt Weitere Werke: Die Welt der Tragödie. Bln. 1923. Neuausg. Mchn. 1977. Zürich 1992. – Pessi- Verlag. 1949 erschien unter M.s Anagramm mismus. Ein Stadium der Reife. Hbg. 1953. – Ceram Götter, Gräber und Gelehrte (Neuausg. Amerikan. Philosophieren. Pragmatisten, Poly- Reinb. 2008). Es wurde das meistverkaufte theisten, Tragiker. Hbg. 1959. Neuausg. Zürich Buch in der Geschichte aller Rowohlt Verlage. 1994. – Argumente u. Rezepte. Ein Wörterbuch für Die erforderl. Investitionen für immer weiZeitgenossen. Mchn. 1967. – Briefe v. u. an L. M. tere Auflagen brachten den Verlag allerdings Zürich 1975. – Ess.s, Porträts, Polemiken. Zürich in Zahlungsschwierigkeiten, sodass die Ho1979. – Wie alt kann Aktuelles sein? Literar. Por- norarzahlungen an den Autor gestundet träts u. Kritiken. Zürich 1989. – Denken mit L. M. werden mussten. M.s »Roman der ArchäoloÜber Aufklärung u. Abstumpfung, Einsamkeit u. gie« – so der Untertitel – begründete das in Engagement, Macht u. Massenkultur, VergängDeutschland neue Genre des spannend wie lichkeit u. Vernunft. Zürich 2008. ein Krimi geschriebenen Sachbuchs. Literatur: Klaus-Uwe Fischer: L. M.s schriftsteller. Tätigkeiten im frz. Exil 1933–39. Kronberg/ Ts. 1976. – Dieter Lamping (Hg.): L. M. Werk u. Wirkung. Bonn 1987. – Markus Trabusch: The Poetics of Memory in Autobiographies of GermanJewish Exiles after 1945. L. M. and Hans Sahl. In: The Poetics of Memory. Hg. Thomas Wagenbaur.

Weitere Werke: Enge Schlucht u. schwarzer Berg. Hbg. 1955 (unter Ceram). – Provokatorische Notizen. Reinb. 1960. – Eine Archäologie des Kinos. Reinb. 1965 (unter Ceram). – Der erste Amerikaner. Reinb. 1971. Neuausg. Mchn. 1991. Reinb. 2001 (unter Ceram). Johannes Schulz / Red.

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Margaretenlegenden. – Vers- u. Prosalegenden des Mittelalters, des 12. bis 16. Jh. Die hl. Margareta von Antiochien gehörte als bes. Helferin in Kindsbettnöten zu den populärsten Heiligengestalten des MA. Sie war mit Barbara, Dorothea u. Katharina, frühchristl. Märtyrerinnen wie sie, eine der vier Hauptjungfrauen. Die weitverzweigte Überlieferungs- u. Textgeschichte der lat. Legenden liegt noch weitgehend im Dunkeln. Die Hauptzüge ihrer »passio«: Margareta ist Tochter eines heidn. Patriarchen, in die sich der Präfekt Olibrius verliebt. Da sie aber zum christl. Glauben hält, lässt er sie grausam foltern u. einsperren. In der Zelle erscheint ihr der Teufel in Gestalt eines Drachens, den sie aber mit einem Kreuzeszeichen besiegt. Nach weiteren Folterungen, bei denen Gott sie abermals schützt, lässt Olibrius sie enthaupten. Margaretas Kult war im MA weit verbreitet. Ihre Legende gehört zum Grundbestand fast aller größeren Legendare. Zwischen dem ausgehenden 12. u. dem 16. Jh. entstanden auch zahlreiche von Legendaren unabhängige dt. Versionen: mindestens 17 Vers- u. 10 Prosalegenden sind erhalten. Die künstlerisch wohl bedeutendste Fassung entstand vermutlich erst nach 1235 u. ist nur unvollständig überliefert. Die als Wallersteiner Margareta-Legende bekannte Verslegende wurde im Auftrag der Herzogin Clementia von Zähringen verfasst, die nach dem Tod ihres Mannes von ihrem Schwager u. dessen Sohn lange gefangengehalten u. erst 1235 befreit wurde. Es liegt nahe, dass die Identifikation mit Margaretas Kerkerhaft Clementia zu ihrem Auftrag veranlasste. Das Werk steht in der Tradition der höf. Erzähldichtung; der Dichter scheint sein Handwerk berufsmäßig betrieben zu haben, denn er bedankt sich für Clementias Großzügigkeit. Im Prolog setzt er sich topisch von seinen früheren weltl. Werken ab, von denen wir allerdings nichts wissen. Vom Gesamttext dürfte nur weniger als die Hälfte erhalten sein (637 Verse). Lange Zeit wurde der Text für ein Werk Wetzels von Bernau gehalten, den Rudolf von Ems in seinem Alexanderroman

Margaretenlegenden

als Freund rühmt u. dem er eine MargaretaLegende zuschreibt. Diese erst 1933 identifizierte Legende von knapp 1200 Versen ist jedoch als eher anspruchslose Reimerei zu werten. Ähnlich schmucklos sind auch die anderen Margareta-Verslegenden des 13. Jh. Alle beschränken sich auf das Nacherzählen der Passio, u. zwar vorwiegend in der Version des Ps.-Theotimus. Zwei Versfassungen betonen Margaretas Bedeutung für gebärende Frauen. Eine Version war urspr. wohl Teil des Passienbüchleins von den vier Hauptjungfrauen u. ist im mitteldt. Raum entstanden. Das Stück ist von allen M. am stärksten überliefert u. wendet sich im Prolog speziell an die Frauen, die als Folge von Evas Verfehlung beim Gebären schwer leiden müssen. In einem Kölner Druck stehen neben einer Verslegende auch Gebete, die Frauen sprechen sollen, wenn die Wehen beginnen. Einige Verslegenden bieten übrigens keine grundsätzlich neue Version, sondern stellen mehr oder weniger stark redigierte Kompilationen dar; z.B. teilt der Redaktor einer nur gedruckt überlieferten niederdt. Legende des 15. Jh. im Epilog mit, dass »Desse passie is vt velen tosamende genomen«; tatsächlich verarbeitete er mindestens drei dt. Vorlagen. Unter den Prosalegenden finden sich drei verhältnismäßig umfangreiche Übersetzungen, die z.T. mit Gebeten, Predigten u. Mirakeln ausgeschmückt sind. Eine österr. Version scheint auf eine Verslegende zurückzugehen, die allerdings nur sehr bruchstückhaft erhalten ist. Ausgaben: Vgl. Werner Williams-Krapp: ›Margareta v. Antiochien‹. In: VL. – Die mittelniederdt. M. Hg. Kurt Otto Seidel. Bln. 1994. Literatur: Friedrich Vogt: Über die M. In: PBB 1 (1874), S. 253–287. – Gerrit Gijsbertus van den Andel: Die M. in ihren mittelalterl. Versionen. Groningen 1933. – Werner Williams-Krapp: ›Margareta v. Antiochien‹. In: VL (auch: Nachträge u. Korrekturen). – Ders.: Die dt. u. niederländ. Legendare des MA. Tüb. 1986. – Sibylle Jefferins: Das ›Passienbüchlein‹. Ein Legendenbeitrag im städt. Leben um 1500. In: JOWG 7 (1990/91), S. 227–254. – Edith Feistner: Histor. Typologie der dt. Heiligenlegende des MA v. der Mitte des 12. Jh. bis zur Reformation. Wiesb. 1995. – Karen Smith: Snakemaiden Transformation Narratives in Hagiography

Marggraff and Folklore. In: Fabula 43 (2002), S. 251–263. – Eische Loose: Die Margaretenlegende in der Berner Hs. cod. 537 (mit Textabdruck). In: Perspicuitas: Internet-Periodicum für Mediaevist. Sprach-, Lit.u. Kulturwiss. (www.perspicuitas.uni-essen.de). Werner Williams-Krapp / Red.

Marggraff, Hermann, * 14.9.1809 Züllichau/Neumark, † 11.2.1864 Leipzig. – Publizist, Literarhistoriker, Dramatiker, Erzähler. M., Sohn eines Kreissteuereinnehmers, studierte in Berlin Philologie u. Philosophie, um in das Lehrfach zu gehen. Sein Verkehr mit Literaten – v. a. des Jungen Deutschland, mit denen er sich gedanklich u. stilistisch eng berührte – bewog ihn, den Beruf des Redakteurs zu ergreifen. Nach Praxis am »Berliner Konversationsblatt« war er in München Mitarbeiter beim Feuilleton der »Fliegenden Blätter«, der »Grenzboten« u. der Augsburger »Allgemeinen Zeitung«, anschließend in Heidelberg, Frankfurt u. Hamburg für lokale Zeitungen tätig. 1853 folgte er einem Ruf des Verlegers Brockhaus nach Leipzig u. übernahm die Redaktion der »Blätter für literarische Unterhaltung«. Neben seiner journalistischen u. redaktionellen Tätigkeit schrieb M. Gedichte (Zerbst 1830. Lpz. 1857; zus. mit seinem Bruder Rudolf), Dramen (Kaiser Heinrich IV. Lpz. 1837. Das Täubchen von Amsterdam. Lpz. 1839. Elfriede. Lpz. 1841) sowie humorist. Romane, von denen Fritz Beutel. Eine Münchhauseniade (Ffm. 1856) der bekannteste ist. M. legte eine essayist. Betrachtung der Gegenwartsliteratur vor (Deutschlands jüngste Kultur- und Literatur-Epoche. Lpz. 1839), verfasste Reiseliteratur, gab Anthologien heraus (Politische Gedichte aus Deutschlands Neuzeit. Lpz. 1843. Hausschatz der deutschen Humoristik. 2 Bde., Lpz. 1858–60) u. schrieb Prologe zu Dichterfeiern (Schiller, Lessing, Pestalozzi. Lpz. 1861). Literatur: Prim Berland: H. M. Paris 1943. – Ders.: H. M., bibliogr. Repertorium. Paris 1943. – Horst Denkler: Restauration u. Revolution. Mchn. 1973, passim. Günter Häntzschel / Red.

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Marginter, Peter, * 26.10.1934 Wien, † 10.2.2008 Wien. – Diplomat, Erzähler, Essayist, Jugendbuchautor, Übersetzer. M., dessen Vater, ein Bergbauingenieur, noch vor seiner Geburt in einer Kohlengrube tödlich verunglückte, studierte in Wien u. Innsbruck Jura u. Staatswissenschaften u. promovierte 1957 zum Dr. jur. u. 1964 zum Dr. rer. pol. Nach Tätigkeiten beim Verwaltungsgerichtshof, der Wiener Handelskammer u. als Geschäftsführer des Kabelevidenzbüros trat M. 1971 in den Kulturdienst des österr. Außenministeriums ein. Von 1971 bis 1975 war er Kulturattaché in Ankara, von 1975 bis 1978 in London. M. ging nach seiner Rückkehr ins Außenministerium u. wurde 1985 interimist. Kulturattaché in Moskau. 1990–1995 leitete er das Österreichische Kulturinstitut in London. Seither lebte er in Wien u. Bad Fischau. M. war zuletzt Generalsekretär des österr. P.E.N. In eine skurril verfremdete k. k. Donaumonarchie führt M.s erster u. erfolgreichster Roman Der Baron und die Fische (Mchn. 1966. Bln./DDR 1969. Bearb. Neuaufl. Stgt. 1980), der die fantast. Abenteuer des Barons von Creutz-Querheim, eines geheimnisvollen Ichthyologen, u. seines Sekretärs, eines ehemaligen österr. Staatsbeamten, schildert. M. erzählt wie Herzmanovsky-Orlando in kunstvoll gefügter Vielschichtigkeit; Raum u. Zeit aufsprengend, montiert er Utopisches ebenso ein wie Metaphysisches. M. behielt diese doppelbödige Erzählhaltung, die kleinkariertes Spießbürgertum u. lähmende Bürokratie gleichermaßen karikiert, auch in den Romanen Der tote Onkel. Krimisterium (Mchn. 1967) u. Königrufen (Mchn. 1973) bei u. übertrug den spielerischen Umgang mit Sprache u. Personal auch auf seine Erzählungen, erstmals in Leichenschmaus. Ein Menu mit zehn skurrilen Gängen (Mchn. 1969). In den 1970er Jahren erwarb er sich auch einen Ruf als Jugendbuchautor: Märchenhaft-fantastische Elemente dominieren in Wolkenreiter & Sohn (Stgt. 1977) u. in der Parabel für Kinder Die drei Botschafter (Stgt. 1980). M. übersetzte u. a. Robert Graves, Thomas Hardy, Walter de LaMare u. Ivy ComptonBurnett.

687 Weitere Werke: Der Sammlersammler. Wien 1972 (E.en). – Die göttl. Rosl. Mchn. 1972 (E.en). – Pim. Wien 1973 (Jugendbuch). – Zu den schönsten Aussichten. Mchn. 1978. Ffm. 1981 (E.). – Die drei Botschafter. Stgt. 1980 (M.). – Das Rettungslos. Stgt. 1983. Mchn. 1990 (R.). – Der Kopfstand des Antipoden. Stgt. 1985 (R.). – Besuch. Wien 1987 (N.). – Pflichtübungen. 1988 (Hörsp.). – Die Maschine. Horn 2000 (E.). – Das Röhren der Hirsche. Horn 2001 (E.). – Des Kaisers neue Maus. Horn 2002 (E.). – Ein Heiligenbild fein ausgemalt. Horn 2004 (E.). Literatur: Roger Montagnon: P. M. ou la recherche de l’individuation. In: Austriaca, Nr. 9 (1979), S. 127–141. – Joseph P. Strelka: Humorist des Absurden: Der Erzähler P. M. In: Studien zur österr. Erzähllit. der Gegenwart. Hg. Herbert Zeman. Amsterd. 1982, S. 23–36. – Charlotte Pawlowitsch-Hussein: Zur Variierung der Märchenmotive in P. M.s Roman ›Der Baron und die Fische‹. In: Kairoer germanist. Studien 4 (1989), S. 159–170. – Elke Emrich: Zur Auto-Imagotypie Österr.s. Habsburg- u. Österr.-Mythologeme in der Romanwelt v. P. M. In: Europa provincia mundi. Essays in Comparative Literature and European Studies. Hg. Joep Leerssen u. Karl Ulrich Syndram. Amsterd. 1992, S. 151–175. – Olga Dobijanka-Witczakowa: Der Fall Träubesser. Zum ›Krimisterium‹ v. P. M. In: ›Moderne‹, ›Spätmoderne‹ u. ›Postmoderne‹ in der österr. Lit. Beiträge des 12. Österr.-Poln. Germanistiksymposions Graz 1996. Hg. Dietmar Goltschnigg, Günther A. Höfler u. Bettina Rabelhofer. Wien 1998, S. 135–141. Johannes Sachslehner / Marcel Atze

Margul-Sperber, Alfred, eigentl.: A. Sperber, * 23.9.1898 Storozˇynetz/Bukowina, † 3.1.1967 Bukarest. – Lyriker, Übersetzer, Publizist. Der Sohn einer jüd. Familie wuchs in der Bukowina auf, legte 1916 das Abitur in Wien ab u. wurde in die österr. Armee eingezogen. 1919 arbeitete er an der in Czernowitz erscheinenden Zeitschrift »Der Nerv« mit. 1920–1924 reiste M. über Bukarest nach Paris u. New York u. lernte u. a. Oscar Walter Cisek, Iwan Goll u. Rose Scherzer-Ausländer kennen. Nach 1926 arbeitete er in Czernowitz, Burdujeni u. Bukarest als Journalist (Mitarbeiter des »Czernowitzer Morgenblattes«) u. Fremdsprachenkorrespondent, später als Privatlehrer. 1931/32 gab er in Storozˇynetz die Zeitung »Bukowiner Provinzbote« her-

Margul-Sperber

aus. Den Zweiten Weltkrieg überlebte M. in Bukarest dank der Hilfe einiger Freunde. Nach 1946 war er als Übersetzer, Mitarbeiter u. Herausgeber bei Zeitschriften, Verlagen u. im Rundfunk tätig. In M.s Werk zeichnen sich verschiedene Phasen ab, die auf zeitgenöss. Diskurse reagieren u. bei aller Kontinuität im Werk die Darstellungsintentionen verändern. In der frühen Lyrik orientiert sich M. am Expressionismus; Themen sind Großstadt, Ich-Entgrenzung u. der neue Mensch, der zwischen Messianismus u. Apokalypse erkundet wird. Später bekennt sich M. zur Bukowina u. deren Landschaft (Gleichnisse der Landschaft. Storozˇynetz 1934). Er bestimmt das Inkommensurable von Urbildern, die in der Natur erfahrbar werden, zum zentralen Thema u. hält an klass. Gedichtformen fest. Der Rückbezug auf die Tradition lyr. Sprechens von der Romantik (Eichendorff) bis zur Jahrhundertwende (Rilke, George) wird langsam gebrochen, als M. mit dem Antisemitismus der faschist. Militärregierung Rumäniens konfrontiert wird. Der Gedichtband Zeuge der Zeit (Bukarest 1951) ist Ergebnis einer Politisierung des Werks, M. akzeptiert die staatl. Vorgaben der sozialist. Kulturpolitik. Themen sind nun der Sozialismus u. seine Errungenschaften: Die veröffentlichten Gedichte sind subjektiv-bekenntnishaft, sozial engagiert u. schließen sich z.T. dem AgitProp an. Erst der Nachlass macht den Zwiespalt deutlich, in dem der Autor sich befunden hat. Die Stimmen zu den poetolog. Positionen M.s sind kontrovers: Sie reichen von der Ablehnung neuromant. Klischees u. der Kritik am Verrat des eigenen Talents an den sozialist. Literaturbetrieb bis hin zu euphor. Zustimmung. Der Rang M.s in der deutschsprachigen Literatur Rumäniens ist dagegen unumstritten. Mit Blick auf die westeurop. Moderne leistete M. einen bedeutenden Beitrag, den Dilettantismus provinzieller Erbauungsliteratur zu überwinden. Seine programmat. Aussagen zur Literatur u. seine Lyrik ermöglichten den nachfolgenden Autoren die gesamteurop. Entwicklung in ihrer Literatur mitzureflektieren. M. förderte zahlreiche Talente; zu den bekanntesten

Marheineke

zählen heute Paul Celan u. Rose Ausländer. Um ihn bildete sich in Bukarest ein maßgebl. Kreis von Literaten: Alfred Kittner, Moses Rosenkranz, Oskar Walter Cisek u. andere. Weitere Werke: Geheimnis u. Verzicht. Cernauti 1939 (L.). – Ausblick u. Rückschau. (wie die folgenden) Bukarest 1955 (L.). – Mit offenen Augen. 1956 (L.). – Sternstunden der Liebe. 1963 (L.). – Das verzauberte Wort. Der poet. Nachl. 1914–65. Hg. Alfred Kittner. 1969. – Geheimnis u. Verzicht. Das lyr. Werk in Ausw. Hg. ders. 1975. – Sinnloser Sang. Frühe Gedichte 1914–28. Mit einem Nachw. v. Erich Rückleben. Aachen 2002. – Ins Leere gesprochen. Ausgew. Gedichte 1914–66. Hg. u. mit Nachw. v. Peter Motzan. Aachen 2002 (Bibliogr.). Literatur: Bianca Rosenthal: A. M. In: Bulletin des Leo Baeck Instituts 68 (1984), S. 41–58. – Angelika Ionas: Individualstil u. Expressivität im Werke A. M.s. Temeswar 2000. – Stundenwechsel. Neue Perspektiven zu A. M., Rose Ausländer, Paul Celan, Immanuel Weissglas. Hg. Andrei CorbeaHoisie. Ias¸i/Konstanz 2002. – Klaus Werner: Zum ›Wunder‹ v. A. M.s Zwischenkriegslyrik. In: Ders.: Erfahrungsgesch. u. Zeugenschaft. Mchn. 2003, S. 41–55. – Ioana Rostos¸ : A. M. als Mitarbeiter am ›Czernowitzer Morgenblatt‹. Suceava 2006. – George Gut¸ u: Periphere Interkulturalitätsansätze. Zum ›Czernowitzer Provinzboten‹ (1931–32). In: Benachrichtigen u. vermitteln. Hg. Mira Miladinovic´ Zalaznik, Peter Motzan u. Stefan Sienerth. Mchn. 2007, S. 223–250. Waldemar Fromm

Marheineke, Marheinecke (bis 1823), Philipp Conrad, * 1.5.1780 Hildesheim, † 1.5. 1846 Berlin. – Theologe. Nach dem Theologiestudium in Göttingen promovierte M. 1803 u. wurde 1805 zum a. o. Prof. der Philosophie in Erlangen ernannt. 1807 erhielt er einen Ruf als a. o. Prof. für Theologie nach Heidelberg (seit 1809 Ordinarius). Hier wurde er maßgeblich durch den Heidelberger Romantiker-Kreis u. auch durch seine persönl. Freundschaft mit dem Theologen Carl Daub beeinflusst. 1811 wurde M. an die neu gegründete Universität Berlin berufen, wo er bis kurz vor seinem Tod in allen Fächern der Theologie außer den exegetischen lehrte. Entscheidend für M. war die von ihm geförderte Berufung Hegels nach Berlin (1818), zu dessen engsten Vertrauten M. bis zu dessen Tod gehörte u. dessen Vorlesungen über die

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Philosophie der Religion er im Rahmen der ersten Werke-Ausgabe (Bde. 11/12, Bln. 1833) edierte. Unter dem Einfluss Schellings u. der religionsphilosoph. Entwürfe seines Lehrers Daub war M. seit Beginn seiner akadem. Lehrtätigkeit darum bemüht, angesichts der neuzeitl. Religionskritik die Objektivität der traditionellen christlich-religiösen Gehalte vor der Vernunft zu rechtfertigen. In der spekulativ-begriffl. Denkweise Hegels erkannte er schließlich das adäquate Mittel, um den Religionsbegriff innerhalb des Rahmens einer trinitarisch konzipierten Theorie des Gottesgedankens ausarbeiten u. begründen zu können. Aufgrund seiner methodisch reflektierten spekulativen Dogmatik (Die Grundlehren der christlichen Dogmatik als Wissenschaft. Völlig neu ausgearbeitet Bln. 21827) wirkte M. als der Hauptrepräsentant der Hegel’schen Philosophie auf dem Gebiet der Theologie. Im Unterschied zu seinem Berliner Kollegen u. wiss. Kontrahenten Schleiermacher gelang es M. allerdings nicht, die spätere Theologie nachhaltig zu beeinflussen. Weitere Werke: Universal-Kirchenhistorie des Christentums. Erlangen 1806. – Das System des Katholizismus in seiner symbol. Entwicklung. 3 Bde., Heidelb. 1810–13. – Gesch. der dt. Reformation. Bln. 1816. – Theolog. Vorlesungen. 4 Bde., Bln. 1847–49. Literatur: Friedrich Zoeller: M.s ›Grundlehren der christl. Dogmatik‹ in ihrer Abhängigkeit v. Schelling. Erlangen 1909. – Elise Ihle: P. K. M. Der Einfluß der Philosophie auf sein theolog. System. Lpz. 1938. – Falk Wagner: Der Gedanke der Persönlichkeit Gottes bei P. M. In: Neue Ztschr. für systemat. Theologie 10 (1968), S. 44–88. – Klaus Krüger: Der Gottesbegriff der spekulativen Theologie. Bln. 1970. – Albrecht Titus Wolff: Spekulative Ekklesiologie: das Verständnis der Kirche in der Dogmatik v. P. Konrad M. Ffm. u. a. 1998. – Luís Henrique Dreher: Metaphors of light. P. K. M.’s Method and the Ongoing Program of Mediation Theology. Bern u. a. 1998. – Friedrich Wilhelm Graf: M. In: Bautz. – Tomásˇ Vocˇka: Das Problem des Bösen in der Hegelschen Schule. Ffm. u. a. 2003. Eva-Maria Rupprecht / Red.

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Marholm, Laura, auch: Leonard M., geb. Laura Holm, * 19.4.1854 Riga, † 10.10. 1905 München. – Publizistin, Dramatikerin, Lyrikerin. M., Tochter eines Schiffskapitäns, heiratete 1889 den schwed. Schriftsteller u. Gegner des Ibsen’schen Naturalismus, Ola Hansson. Sie trat zunächst als Lyrikerin u. Dramatikerin hervor (Frau Marianne. Mchn. 1895. Urauff. 1882), schrieb die zuerst in der »Neuen deutschen Rundschau« publizierte Porträtreihe Zur Psychologie der Frau (2 Tle., Lpz. u. a. 1903), aufsehenerregend in ihrer Verlagerung des Emanzipationsschwerpunkts vom polit. u. sozialen zum sexuellen Aspekt. Die moderne Frau finde kein rechtes Verhältnis mehr zum Mann, was zu existentieller Unzufriedenheit, ja zur Hysterie führe. Der Einfluss Nietzsches wird v. a. deutlich in ihrer Verherrlichung der Lebenskraft; M.s romantisch-mythisierendes Frauenbild ließ es aber nicht zu, die Frau als autonome Persönlichkeit zu begreifen. M. lebte mit ihrem Mann zeitweise in der Friedrichshagener Künstlerkolonie; sie trafen sich u. a. mit Strindberg im Berliner »Schwarzen Ferkel«, traten 1898 zum Katholizismus über (vgl. M.s Novellenband Der Weg nach Altötting. Bln. 1900) u. lebten seit 1899 in München. 1905 wurde M. in eine Irrenanstalt eingeliefert. Literatur: Marilyn Scott-Jones: Germany’s Ambivalent Feminist. In: Women’s Studies 7 (1980), S. 87–96. – Gisela Brinker-Gabler: Perspektiven des Übergangs. Weibl. Bewußtsein u. frühe Moderne. In: Dt. Lit. v. Frauen 2. Hg. dies. Mchn. 1988, S. 183 f., 190. – Susan Brantly: The Life and Writings of L. M. Basel 1991. – Sara Colvin: Women and German Drama. Rochester 2003, S. 75–102. Eda Sagarra

Maria Magdalena. – Deutsche Legenden in Vers u. Prosa seit dem 13. Jh. Im Hoch- u. Spätmittelalter ist Maria Magdalena eine der herausragendsten religiösen Leitfiguren. Seit dem 11. Jh. intensiviert sich in Deutschland die liturg. Verehrung, die im 13. Jh. in der Gründung des Magdalenenordens mündet. Die große Bedeutung der Heiligen spiegelt sich in einer Vielzahl kulturel-

Maria Magdalena

ler Werke wider, so auch in der breiten Überlieferung mittelalterl. Legenden im dt. Sprachraum. Eingebettet sind die Magdalenentexte häufig in Legendare, hagiograf. Sammelhandschriften oder auch längere Erzählungen. Sie weisen Parallelen zur Predigt, zum geistl. Drama oder zu anderen religiösen Textsorten auf. Gemeinsam ist ihnen nicht so sehr die literar. Erscheinungsform als vielmehr ihr hagiograf. Gehalt. Die Darstellung Maria Magdalenas entwickelt sich parallel zu den jeweils vorherrschenden historischen, kirchen- u. kulturgeschichtl. Strömungen. Spätestens seit den Magdalenenhomilien Gregors I. (Ende 6. Jh.) verschmelzen in der kirchl. Tradition des Westens verschiedene bibl. Frauenfiguren zu einer modellhaften Gesamtgestalt: Maria Magdalena ist eine von sieben Dämonen befreite Jüngerin, Zeugin von Kreuzigung, Grablegung u. Auferstehung Jesu sowie Überbringerin der Osterbotschaft, sie wird gleichgesetzt mit Maria von Bethanien u. einer Frau, die Jesu Füße mit ihren Tränen netzt u. salbt. Die Salbende ist im Lukasevangelium eine namenlose Sünderin, die wegen ihrer Liebe Vergebung findet u. die in der Exegese mit der Braut des Hohenliedes identifiziert wurde. Salbgefäß, lange Haare, Tränen, Sünde u. Umkehr werden darum typische Attribute der Heiligen. Das MA bevorzugt diese Einheitsgestalt, die Maria Magdalena als menschlich-sündiges Gegenbild zur Muttergottes erscheinen lässt, ebenso als Antitypus zu Eva, da sich an ihr Gottesliebe u. Heilsgewissheit offenbaren. Aus dem NT ergibt sich folgende Vita Maria Magdalenas: Sie stammt aus Magdala, wird von sieben Dämonen befreit, bereut im Haus des Pharisäers Simon, empfängt Jesus zus. mit ihrer Schwester Martha als Gast, erlebt Tod u. Erweckung ihres Bruders Lazarus, folgt Jesus nach bis ans Grab, sucht ihn am Ostermorgen, begegnet dem Auferstandenen im Garten u. erhält den Verkündigungsauftrag. Westliche frühmittelalterl. Texte schließen die Lücken in Maria Magdalenas Biografie, indem sie die angeblich adlige Herkunft u. hoffärtige Jugend der Heiligen sowie insbes. ihr Schicksal nach Jesu Auferstehung ausgestalten: Maria Magdalena wird zus. mit Lazarus, Martha u. weiteren Ge-

Maria Magdalena

fährten in einem steuerlosen Schiff auf dem Meer ausgesetzt. Sie geht bei Marseille an Land u. wirkt in Südfrankreich als Predigerin u. Nothelferin, bevor sie sich in eine Höhle zurückzieht (dieses Motiv ist verwandt mit dem Wüstenleben der Maria Aegyptiaca). Maria Magdalenas nackter Körper wird nur von ihren Haaren verhüllt, u. Engel führen sie zur Speisung in den Himmel. In SaintMaximin de Provence wird sie beigesetzt. Die östl. Überlieferung lokalisiert ihr Lebensende u. Grab in Ephesus. Für die hagiograf. Entwicklung entscheidend sind die Magdalenenpredigt Odos von Cluny, die ins späte 12. Jh. zu datierende Pseudo-Origenes-Homilie sowie eine früher Hrabanus Maurus zugeschriebene Vita. Durch die Integration mehrerer Mirakelerzählungen in die Versionen lat. Legendare des 13. Jh. (insbes. Legenda aurea von Jacobus a Voragine u. Vinzenz von Beauvais’ Speculum historiale) liegt die Vita voll entfaltet vor u. verbreitet sich über ganz Europa. Die dt. Magdalenenlegenden bearbeiten folgende Themen aus den verschiedenen lat. Quellen: sündiges Leben u. Bekehrung (Conversio), Leben als Jüngerin, Mission in Südfrankreich, Eremitentum, Translation der Gebeine nach Vézelay u. Wunderwirkungen. Ein großer Teil der Fassungen hat Anteil an all diesen Komponenten u. ist im Zusammenhang eines Legendars oder einer Predigtsammlung überliefert. Zu den bedeutendsten gehören die Ende des 13. Jh. in gereimter Form verfassten Passional u. Buch der Märtyrer, ab dem 14. Jh. Prosaübertragungen wie die Elsässische Legenda aurea (um 1350), die Südmittelniederländische Legenda aurea (1358), Der Heiligen Leben (um 1400) u. das Legendar des Marquard Biberli (um 1310). In diesen Textkreis gehört auch die in Chur, Staatsarchiv, cod. B 1 enthaltene alemann. Verslegende, die Maria Magdalenas Vita bis zur Translation nach Vézelay, aber ohne Mirakelerzählungen wiedergibt. Als Quelle für Der Heiligen Leben gilt die umfangreiche Nürnberger Prosafassung, die in Bamberg, Staatsbibliothek, Msc. Hist. 159 überliefert ist. Eine Übertragung der Pseudo-Origenes-Homilie ist die bair. Magdalenenklage aus dem späten 13. Jh. In 1035 Versen wird das Geschehen um Jesu Tod

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u. Maria Magdalenas Trauer geschildert. Dasselbe Motiv behandeln fünf weitere Fassungen, darunter Der Saelden Hort (alemannisch, frühes 14. Jh.) u. Heinrichs von Neustadt Von Gottes Zukunft (um 1300). Von Maria Magdalenas Weltleben u. Bekehrung berichten ausführlich ein mittelniederländischer u. drei aus dem mittel- u. niederdt. Raum stammende Prosatexte, sie übersetzen die Isidor von Sevilla zugeschriebene, wahrscheinlich aber im 14. Jh. entstandene lat. Conversio. Auf Maria Magdalenas Predigt- u. Bekehrungstätigkeit in Südfrankreich konzentriert sich der 800 Verse umfassende Text in Wolfenbüttel, cod. Guelf. 894 Helmst. Eine Vision Maria Magdalenas, die von ihrem Leben in der Höhle von Sainte-Baume erzählt, steht im Zentrum eines um 1500 entstandenen Textes, überliefert in Bamberg, Staatsbibliothek, Msc. add 21, u. Wien, Österreichische Nationalbibliothek, cod. 13671. Die Erzählung umrahmen drei Berichte mittelalterl. Pilgerreisen zu den Kultstätten der Heiligen in der Provence, welche die Wahrhaftigkeit von Maria Magdalenas Wirken vergegenwärtigen. Hier stehen weder Buße noch Liebe u. Trauer im Vordergrund, sondern das kontemplative Höhlenleben der Heiligen u. ihre Rolle als Nothelferin u. mittelalterl. Identifikationsfigur. In der Neuzeit werden abgesehen von der kath. Erbauungsliteratur kaum mehr dt. Magdalenenlegenden verfasst, eine Ausnahme findet sich bei Gotthard Ludwig Kosegarten (Legenden, 1804). Die Heilige erscheint aber in anderen Gattungen als Metapher für die reuige Sünderin schlechthin. Die Barocklyrik stellt sie als Symbol für Buße u. Vanitas dar, während sie im 18. u. 19. Jh. – abgesehen von ihrer Rolle als Nebenfigur in Passionsdarstellungen (so im Messias, 1748–73, von Friedrich Gottlieb Klopstock u. in Clemens Brentanos Lehrjahre Jesu, 1858–60) – in Prosa u. Drama eher als Folie für andere literar. Figuren Eingang findet. Ein Beispiel dafür ist Friedrich Hebbels Drama Maria Magdalene (1843), in dem der Titel der trag. Handlung in Anspielung auf die Heilige einen deutenden Rahmen setzt. Erst in der Literatur des 20. Jh. wird Maria Magdalena zur Protagonistin (z.B. Maria von Magdala, 1899, von Paul Hey-

Mariensequenz aus Muri

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se), wobei sie häufig als Jesu Vertraute dargestellt wird: Sie ist ihm wie in der gnost. Tradition eine mit Wissen u. Verstehen begabte Gefährtin, so etwa in Luise Rinsers Mirjam (1983). Literatur: Hans Hansel: Die M.-M.-Legende. Greifsw. 1937. – Victor Saxer: Le culte de Marie Madeleine en occident des origines à la fin du moyen âge. Paris 1959. – Werner Williams-Krapp: M. M. In: VL (auch: Nachträge u. Korrekturen). – Ders.: Die dt. u. niederländ. Legendare des MA. Tüb. 1986. – Susan Haskins: Mary Magdalen: Myth and Metaphor. London 1993. – Urban Küsters: M. M. u. die Legitimation der Trauer: zu den mhd. Magdalenenklagen. In: Contemplata aliis tradere. Hg. Claudia Brinker u. a. Bern u. a. 1995, S. 175–215. – Madeleine Boxler: ›Ich bin ein predigerin und appostlorin‹. Die dt. M. M.-Legenden des MA (1300–1550). Bern u. a. 1996. – Ingrid Maisch: M. M. zwischen Verachtung u. Verehrung. Freib. i. Br. 1996. – Magda Motté: Maria v. Magdala u. die anderen Frauen des N. T. In: Die Bibel in der deutschsprachigen Lit. des 20. Jh. Hg. Heinrich Schmidinger. Bd. 2, Mainz 1999, S. 454–491. – Katherine Ludwig Jansen: The Making of the Magdalen. Preaching and Popular Devotion in the Later Middle Ages. Princeton 2000. – Freimut Löser: M. M. am Grab: ›Der Saelden Hort‹, ›Von Gottes Zukunft‹ u. die ›Bairische Magdalenenklage‹ als poet. Bearbeitungen einer Pseudo-OrigenesPredigt. In: Studien zur dt. Sprache u. Lit. Hg. Václav Bok u. a. Hbg. 2004, S. 156–177. – Bram Rossano: Die dt. u. niederländ. Bearb.en der Pseudo-Origines-Magdalenenklage. In: PBB 126 (2004), H. 2, S. 233–260. – Andrea Polaschegg: Literar. Bibelwissen als Herausforderung für die Intertextualitätstheorie: zum Beispiel: M. M. In: Scientia Poetica 11 (2007), S. 209–240. Madeleine Boxler Klopfenstein

Marienlob, Rheinisches ! Rheinisches Marienlob Mariensequenz aus Muri. – Älteste vollständig erhaltene Sequenz in deutscher Sprache aus dem oberdeutsch-alemannischen Raum (nicht vor 1180). Die M. a. M. ist eine der frühesten rein reimenden mhd. Dichtungen. Sie ist in vier Fassungen überliefert (in B mit Neumen, in D mit rekonstruierbarer Melodie). Im Überlieferungskontext der Handschrift B (Engelberg/Schweiz, Stiftsbibliothek) steht die M. a.

M. im liturg. Zusammenhang mit dem Fest »Purificatio Mariae«. Die beste Überlieferung (A; Sarnen/Schweiz, Benediktinerkollegium) findet sich jedoch in einer Handschrift, die ihrem Inhalt nach wohl für eine Frau weltlichen Standes bestimmt war. Der erste Vers »Ave, vil liehtu maris stella« ruft die Melodie des lat. Vorbilds auf, der Hermann von Reichenau († 1054) zugeschriebenen Sequenz Ave praeclara maris stella. Die Überschrift in A lautet »sequentia de sancta Maria«. Rhythmisch-versifikatorisch allerdings stellt sich die dichtende Person auf Verhältnisse der dt. Sprache ein. Sie gibt die festgelegte Silbenzahl auf u. fügt Verse in der Spannbreite vom Zwei- bis zum Zehnheber (Ehrismann). Die reinen Reime sind z.T. recht kunstvoll. Thema der M. a. M. ist Maria als reine »magit« u. Mutter. Der Eingangsversikel weist Maria in dreifacher Weise allegorisch ihren bes. Rang als Licht der Christenheit zu. Die Versikel 2a u. 3a thematisieren das Jungfrau-Mutter-Paradoxon, worauf die jeweiligen Gegenversikel (2b/3b) mit Bitten an die Himmelskönigin respondieren. Die Versikel 4a-5b sind narrativ (Verkündigung, Empfängnis, Maria lactans), 6a-8b sprechen die mariolog. Grundwahrheiten u. Marias Rolle als Fürbitterin an. Versikel 9 schließt die Sequenz mit einer Bitte um Hilfe u. einem mariolog. Glaubensbekenntnis ab. Ausgaben: Friedrich Maurer (Hg.): Die religiösen Dichtungen des 11. u. 12. Jh. Bd. 1, Tüb. 1964, S. 456–461 (mit Langzeilenversion). – Albert Waag u. Werner Schröder (Hg.): Kleinere dt. Gedichte des 11. u. 12. Jh. Bd. 2, Tüb. 1972, S. 245–249. Literatur: Gustav Ehrismann: Gesch. der dt. Lit. bis zum Ausgang des MA II, 1. Mchn. 1922, S. 215 f. – Peter Kesting: Maria – frouwe. Mchn. 1965. – Gerhard M. Schäfer: Untersuchung zur deutschsprachigen Marienlyrik im 12. u. 13. Jh. Göpp. 1971. – Hennig Brinkmann: ›Ave praeclara maris stella‹ in dt. Wiedergabe. In: FS Hugo Moser. Bln. 1974, S. 8–30. – Hartmut Freytag: Die Theorie der allegor. Schriftdeutung [...]. Bern/Mchn. 1982, S. 133–141. – Konrad Kunze: M. a. M. In: VL (auch: Nachträge u. Korrekturen). – Peter Ochsenbein: Das Gebetbuch v. Muri als frühes Zeugnis privater Frömmigkeit einer Frau um 1200. In: ›Gotes und der werlde hulde‹. Lit. in MA u. Neuzeit. FS Heinz Rupp. Bern/Stgt. 1989, S. 175–199. – Rudolf Flot-

Marinic´

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zinger: Zur Melodie der sog. M. a. M. in Can. lit. 325 der Bodleian Library zu Oxford. In: ZfdA 119 (1990), S. 75–82. – Barbara Gutfleisch: Eine ostoberdt. Hs. der M. a. M. In: ZfdA 119 (1990), S. 61–75 (mit Textpublikation). – Nigel F. Palmer: Manuscripts for Reading: The Material Evidence for the Use of Manuscripts Containing Middle High German Narrative Verse. In: Orality and Literacy in the Middle Ages. Essays on a Conjunction and its Consequences in Honour of D[ennis] H[oward] Green. Turnhout 2005, S. 67–102. Joachim Knape / Charlotte Bretscher

Marinic´, Jagoda, * 20.9.1977 Waiblingen. – Prosa-Autorin, Dramatikerin u. Journalistin.

Monologen deren Unterbewusstsein zu Wort, dazu, in kommentierenden Fußnoten, »die Geschichte«. 2005 trat M. mit Therapie. Ein Spiel, das beim Heidelberger Stückemarkt gelesen wurde, als Dramatikerin in Erscheinung. Ihr zweites Stück Zalina kreist um die Frage nach kultureller Identität u. lieferte die Textgrundlage für ein Theaterprojekt, bei dem professionelle Schauspieler gemeinsam mit Bewohnern eines rumän. Dorfes auftraten. M. wurde für Zalina mit dem Exzellenzpreis für das beste Programm der Europäischen Kulturhauptstadt Hermannstadt 2007 ausgezeichnet. Neben Belletristik und Theaterstücken schreibt M. journalist. Texte, v. a. für die »Frankfurter Rundschau«. Sebastian Marx

M., Tochter kroatischer Einwanderer, studierte nach dem Abitur (1997) Germanistik, Politikwissenschaft u. Anglistik an der Universität Heidelberg. Mit ihren bislang drei Erster Markgrafenkrieg, auch: Zweiter Buchveröffentlichungen hat sie sich schrittM. oder Süddeutscher Städtekrieg, 1449/ weise den Formenkanon narrativer Prosa er50. – Historisch-politische Ereignisdichschrieben: Das 2001 erschienene Debüt Eitungen. gentlich ein Heiratsantrag. Geschichten (Ffm.) enthält 24 kürzere Texte; der umfangreichste Aus der Reihe der mannigfaltigen Städteverweist mit dem Titel Ich wünschte, er hätte nie Fürsten-Auseinandersetzungen im Süden des geredet davon, daß man nur eine lieben kann auf Deutschen Reiches ragt der Erste Markgrazentrale Themen des Bandes: Liebe, (meist fenkrieg aufgrund seiner publizist. Resonanz prekäre) zwischenmenschl. Beziehungen u. heraus. Gemeinsam mit 22 Fürsten, dazu die Suche nach der eigenen Identität, meist Grafen u. unzähligen Adligen erklärte das aus der Perspektive einer weibl. Erzählin- Haupt der Fürstenpartei, der Hohenzoller stanz dargeboten. Daneben arbeitet sich die Markgraf Albrecht III. von Brandenburg-Ansals Tochter kroat. Einwanderer zweisprachig bach, der Reichsstadt Nürnberg u. ihren Veraufgewachsene M. an den Themen Heimat u. bündeten am 29. Juni 1449 mit einem Migration ab. 2005 legte sie mit Russische Veyndsbriff den Krieg. Schon am 2.7.1449 reaBücher (Ffm.) drei längere Erzählungen vor, gierte Nürnberg mit einer Fehdeansage, der für die sie mit dem Grimmelshausen-För- sich 30 Städte anschlossen, u. bereits einen Tag derpreis ausgezeichnet wurde. später begannen die Feindseligkeiten in einem Charakteristisch für M.s Texte ist ein Zu- v. a. auf Zerstörung von Burgen u. Vernichrücktreten der äußeren Handlung zugunsten tung von Ressourcen ausgerichteten Wirtder Darstellung von Gefühls- u. Vorstel- schaftskrieg, der ganz Süddeutschland erlungswelten der Erzähler. Das gilt auch für schütterte u. am 22.6.1450 mit dem Waffenihren 2007 erschienenen ersten Roman Die stillstand von Bamberg sein Ende fand. Namenlose (Mchn.), aus dem M. ein Kapitel Neben chronikal. Berichten sind sieben u. d. T. Netzhaut im Wettbewerb um den In- Lieder u. Reimreden aus der Sicht beider geborg-Bachmann-Preis 2007 in Klagenfurt Parteien erhalten, Beispiele einer frühen vorgelesen hatte. Die Zerrissenheit der Prot- polit. Publizistik. Alle sind in großer Nähe zu agonistin stellt M. im Roman mit einer den Ereignissen entstanden u. verfolgen eine komplexen Erzählstruktur dar, indem sie agitatorische Tendenz. Drei von ihnen haben drei parallele Sprechinstanzen etabliert: Ne- Autorennamen, vier sind anonym überliefert. ben der Ich-Erzählerin kommt in nächtl. Die Partei der Fürsten ergreift der unter

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Pseud. dichtende Bauernfeind in einem dreizehnstrophigen Lied (vor Dez. 1449), das unspezif. Polemik gegen die Partei der Städte mit einem namentl. Appell an die Person des Eberhard Rüde, Dienstmann des Mainzer Erzbischofs, verbindet. Ulrich Wiest nimmt in einem 9-strophigen Lied v. a. Stellung für das als Kanonenfutter missbrauchte sprachlose Volk – die »arm gemain« – u. gibt an, sein Lied in Augsburg am 2.11.1449 zur Aufführung gebracht zu haben. Die städt. Perspektive wird eingebettet in religiöse Kritik am Klerus, namentlich die Bischöfe von Mainz, Bamberg u. Eichstätt, die den rechtschaffenen Gläubigen die Taschen leeren. Auf dieses Lied repliziert ein fürstenfreundl. Anonymus, der nach dem Initium Jvbileus ist vß verchünt in 19 Strophen gegen Ulrich Wiest, Augsburg, Nürnberg u. Ulm in maßloser Weise agitiert u. die Fürstenriege als Schutzmacht Gottes gegen die städt. Superbia stilisiert. Auch für diese publizist. Verlautbarung lässt sich wahrscheinlich machen, dass sie während des M. noch vor Abschluss der Kämpfe entstanden ist. Zwei weitere 15- bis 25-strophige Lieder (in der LindenschmidtStrophe), eines davon in zwei Fassungen, besingen die Schlacht am Pillenreuther Weiher, die den Nürnbergern einen großen militär. Erfolg einbrachte. Dementsprechend bildet dieses Ereignis vom 11.3.1450 ein geeignetes Sujet für eine vornehmlich komische Polemik gegen den berühmten kampfesstarken Markgrafen Albrecht Achilles, der hier beim »Fischzug« gegen die Nürnberger so schmählich versagte. Zwei Reimreden zum M. dokumentieren die territoriale Breite der Städte-FürstenKämpfe u. veranschaulichen die poet. Differenz der Texte. In 218 paargereimten kunstlosen Versen fokussiert der anonyme Verfasser der Ereignisdichtung In gotes nomen vach ich an den schwäb. Schauplatz des M., auf dem sich Graf Ulrich von Württemberg u. die Reichsstadt Esslingen als Hauptkontrahenten gegenüberstehen. Mit genauen Terminangaben berichtet er über einzelne Kampfhandlungen, die entsprechend der städtefeindl. Absicht alle Erfolge des Adels thematisieren u. auf das Spätjahr 1449 zu beziehen sind. Aufgrund der Prominenz seines Dichters u.

Markgrafenkrieg

der Qualität seiner Dichtung überragt die zweite Reimrede alle anderen Texte. In 484 Kreuzreimversen handelt Hans Rosenplüt einige Nürnberg betreffende Ereignisse des M. in großer Ausführlichkeit u. summarischem Erzählstil ab. Im Zentrum seiner bildreichen u. sentenzgespickten Rede stehen die Kampfhandlungen des Jahres 1450, v. a. die Schlacht von Rednitzhembach am 20.6.1450, an der er selbst mitgewirkt haben will. Er preist die Städter durch eine Fülle von wirtschaftlichen, militärischen u. organisatorischen Detailinformationen als gerecht, vorausschauend u. logistisch überlegen u. kontrastiert damit polemisch Desorganisation u. Defätismus in den Reihen des Markgrafen. Während sechs Texte unikal überliefert sind, existiert das Lied des Ulrich Wiest in zwei, Rosenplüts Reimrede in vier Handschriften, allesamt Nürnberger Provenienz. Aus fast allen Überlieferungsverbünden spricht ein lokales Interesse, manches Mal wird ein Zusammenhang mit städtischer Chronistik fassbar. Zeitnahe Niederschrift ist die Regel, eine bis ins 18. Jh. reichende Rezeption wie bei Rosenplüt (cgm 5984) die Ausnahme. Ausgaben: Rochus v. Liliencron (Hg.): Die histor. Volkslieder der Deutschen. Bd. 1, Lpz. 1865. Nachdr. Hildesh. 1966, Nr. 89–93, S. 411–437. – Cramer Bd. 1, 1977, S. 65 f.; Bd. 3, 1982, S. 477–479. – Jörn Reichel (Hg.): Hans Rosenplüt: Reimpaarsprüche u. Lieder. Tüb. 1990, S. 203–219. – Karina Kellermann: Abschied vom ›historischen Volkslied‹. Tüb. 2000, S. 126–128, S. 133–137, S. 143–147, S. 153–161, S. 165–169, S. 173–177, S. 179–182, S. 188–205 (mit nhd. Übers.). Literatur: Erich Straßner: Polit. Relevanz ›Historischer Volkslieder‹. In: Formen mittelalterl. Lit. FS Siegfried Beyschlag. Hg. Otmar Werner u. Bernd Naumann. Göpp. 1970, S. 229–246. – Ulrich Müller: Untersuchungen zur polit. Lyrik des dt. MA. Göpp. 1974, S. 236–239 u. Register. – Helmut Weinacht: Bauernfeind. In: VL. – J. Reichel: Der Spruchdichter Hans Rosenplüt. Stgt. 1985, S. 198–200. – E. Straßner: M. In: VL (auch: Nachträge u. Korrekturen). – Ingeborg Glier: Hans Rosenplüt. In: VL. – Stefan Hohmann: Friedenskonzepte. Köln/Weimar/Wien 1992, S. 381–406. – Frieder Schanze: Wiest, Ulrich. In: VL. – Sonja Kerth: ›Der landsfrid ist zerbrochen‹. Wiesb. 1997,

Marlin

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S. 12–44 u. Register. – F. Schanze: Überlieferungsformen polit. Dichtungen im 15. u. 16. Jh. In: Schriftlichkeit u. Lebenspraxis im MA. Hg. Hagen Keller. Mchn. 1999, S. 299–331. – Kellermann 2000 (s. o.), S. 105–216. – Gabriel Zeilinger: Lebensformen im Krieg. Eine Alltags- u. Erfahrungsgesch. des süddt. Städtekriegs 1449/50. Stgt. 2007. Karina Kellermann

Marlin, Josef, auch: Josi, * 27.8.1824 Mühlbach (Sebes¸ )/Siebenbürgen, † 30.5. 1849 Pressburg (Bratislava) (Tod durch Cholera); Grabstein auf dem Pressburger evangelischen Friedhof beim Ziegeltor. – Erzähler, Lyriker, Publizist, Übersetzer rumänischer Volksdichtung. M., Sohn eines Steuereinnehmers, studierte ab 1845 in Wien protestantische Theologie. Er brach das Studium ab u. arbeitete als Hauslehrer u. Redakteur. Prägend wirkten auf M., der als Hauptvertreter der deutschsprachigen Vormärzdichtung in Siebenbürgen gilt, der kulturelle Gegensatz von siebenbürg. Provinz u. Wien u. Pest als Metropolen sowie die polit. Konflikte, die in den Revolutionsereignissen von 1848/49 ihren Ausdruck fanden. M. war befreundet mit den Autoren Friedrich Wilhelm Schuster (Siebenbürgen) u. Karl Wilhelm von Martini (Banat). Als Autor mit polit. Wirkabsicht setzte sich M. für die polit. u. nationale Befreiung aller Völker ein. Wichtig hierfür ist der soziale Hintergrund des Nationalitätenkonflikts in Siebenbürgen, den M. in dem unvollendet gebliebenen, dem Bauernaufstand von 1784 gewidmeten Roman Horra. Ein Freiheitskampf in Siebenbürgen (1896 v. Carl Bleibtreu unter eigenem Namen in Jena, 1958 unverändert aus dem Nachlassmanuskript durch die Herausgeberin Astrid Connerth in Bukarest veröffentlicht) beschrieb. In der »Pester Zeitung« publizierte M. die Briefe aus Siebenbürgen. Die Augsburger »Allgemeine Zeitung« druckte seine Berichte über den ungarischen Bürgerkrieg. Literarische u. journalist. Arbeiten M.s erschienen auch in »Der Sammler« u. »Der Wanderer«. M.s Prosa ist stilistisch geprägt durch Romantik u. Junges Deutschland. Seine Übersetzungen rumänischer Volkslieder erschienen in den »Österreichi-

schen Blättern für Literatur, Kunst, Geschichte, Geografie [sic!], Statistik und Naturkunde«, der »Pester Zeitung«, den »Hamburger literarischen und kritischen Blättern« u. in der »Bukarester Deutschen Zeitung«. Seine histor. Romane Attila, Zuchtruthe Gottes, Beben der Welt (3 Bde., Pest/Lpz. 1847. Auch u. d. T. Geschichten des Ostens) u. Sulamith (2 Bde., Pest/Lpz. 1848), beeinflusst durch die Lektüre Sir Walter Scotts, sind nicht um geschichtl. Exaktheit, sondern um wirkungsvolle Inszenierung exotisch ferner Lebenswelten bemüht; die Siebenbürgischen Erzählungen (Das einsame Haus; Baba Noack, der Walache) in Jenseits der Wälder (2 Bde., Pest/Lpz. 1850) schildern mit poet. Freiheit Ereignisse, Episoden u. Gestalten regionaler Vielvölkergeschichte. Weitere Werke: Polit. Kreuzzüge im Sachsenland. Hermannstadt 1847 (ges. L.). – Dichterjugendland. Kindheit u. Jugend J. M.s. Des Dichters eigene Aufzeichnungen, aus seinem Nachl. [durch Karl Kurt Klein erst-] veröffentlicht. In: Klingsor (Kronstadt), 3. Jg. (1926), Nr. 2, S. 66–73; Nr. 3, S. 88–99; Nr. 4, S. 140–149; Nr. 5, S. 183–192 u. Nr. 6, S. 228–235. Auch als Sonderdr. erschienen, 1926. – Dämonische Zeit [Fragmente aus nachgelassenem Ms. Erstveröffentlichung durch K. K. Klein]. In: Der Weg (Hermannstadt), 1. Jg. (1926), H. 8–9 (Aug.-Sept.), S. 133–139. – Ifigenia [Aus dem Romanmanuskript. Erstveröffentlichung durch K. K. Klein]. Ebd., 2. Jg. (1927), H. 4, S. 115–126. – Sachs v. Harteneck, der Königsrichter v. Hermannstadt. Drama in fünf Aufzügen, S. 73–266. – Horra. Kriegs- u. Friedensbilder aus dem Volksleben der Rumänen oder Walachen Siebenbürgens. In: J. M.: Ausgew. Schr.en. Besorgt u. eingel. v. Astrid Connerth. Bukarest 1958, S. 269–503. – Nachlass: Familienbesitz Irmgard Schuller, Sibiu/Hermannstadt; Aktenmappe K. K. Klein, Nr. 363 mit rd. 500 Blatt Kopien u. Originalen im Archiv Direct¸ ia judet¸ eana˘ Cluj a Arhivelor Nat¸ ionale (Rumänien). Literatur: Schriftsteller-Lexikon der Siebenbürger Deutschen. Bd. 2. Hg. Joseph Trausch. Unveränderter Nachdr. der u. d. T. ›Schriftsteller-Lexikon oder biogr.-literär. Denk-Blätter der Siebenbürger Deutschen‹ 1870 in Kronstadt ersch. Ausg. Köln/Wien 1983, S. 394–396. – Karl Kurt Klein: Literaturgesch. des Deutschtums im Ausland. Lpz. 1939, S. 160 f. – Iordan Datcu: Dict¸ ionarul folcloris¸tilor. Bd. 2, Bukarest 1983, S. 142 f. – Harald Krasser: M.-Probleme. Untersuchungen zur Ent-

695 wicklung seines polit. Denkens. In: Ztschr. für Siebenbürg. Landeskunde, 16. Jg. (1993), H. 1, S. 32–59. – Horst Schuller Anger: Selbstfindung in bewegten Zeiten. Neue Beiträge zum Bild des siebenbürg. Vormärzautors J. M. (1824–49). In: Lenau-Jb. 25 (1999), S. 35–72. – Die dt. Lit. Siebenbürgens. Von den Anfängen bis 1848. 2. Halbbd.: Pietismus, Aufklärung u. Vormärz. Hg. Joachim Wittstock u. Stefan Sienerth. Mchn. 1999, S. 257–283. – H. Schuller: Wege zu den Quellen. Unbekannte Briefzeugnisse aus dem Nachl. des siebenbürg. Vormärzautors J. M. In: Minderheitenlit.en – Grenzerfahrung u. Reterritorialisierung. FS Stefan Sienerth. Hg. George Gut¸ u, Ioana Cra˘ciun u. Julia Pa˘trut¸ . Bukarest 2008, S. 131–168. Christoph Sahner / Horst Schuller

Marlitt, Eugenie, eigentl.: E. John, * 5.12. 1825 Arnstadt/Thüringen, † 22.6.1887 Arnstadt/Thüringen; Grabstätte: ebd., Alter Friedhof. – Erzählerin. Ihre Eltern, die alten Kaufmannsfamilien entstammten, gaben M. zu Fürstin Mathilde von Schwarzburg-Sondershausen in musikal. Ausbildung, die sie 1844–1846 am Wiener Konservatorium fortsetzte. 1853 musste sie wegen eines Ohrenleidens die Karriere als Opernsängerin aufgeben u. war danach Gesellschafterin, Vorleserin u. Reisebegleiterin der Fürstin. 1865 sandte M. »mit bangzagendem Herzen« an »das große, nur Auserwählten offen stehende Weltblatt ›Die Gartenlaube‹« (so die Widmung an deren Gründer Ernst Keil in: Reichsgräfin Gisela. 1870) die Novelle Die zwölf Apostel, die den Beginn der »Trotzkopf«-Mädchenliteratur markiert. 1866 erreichte sie dort den Durchbruch mit dem Roman Goldelse, auch in monetärer Hinsicht (Keil verdoppelte das Honorar u. setzte ein Jahresgehalt von 800 Talern aus), sodass, wie sie nüchtern bemerkte, »das so oft gehörte Wort vom kärglichen Brot des deutschen Schriftstellers für mich nur die Bedeutung einer von fern herüberklingenden Mythe hat« (ebd.). Nachdem in der »Gartenlaube« im Vorabdruck 1867 Das Geheimnis der alten Mamsell u. 1869 Reichsgräfin Gisela erschienen waren (mit der Buchausgabe in Keils Leipziger Verlag jeweils ein Jahr später), konnte M. ihre »Marlittsheim« genannte Villa schon 1871 beziehen. Nicht zuletzt dank

Marlitt

ihrer Popularität verdoppelte sich die Auflagenhöhe der »Gartenlaube« zwischen 1866 u. 1876. Es folgten als Buchausgaben jeweils zweibändige Romane: 1872 Das Heideprinzeßchen – der einzige mit Ich-Erzählerin, jedoch der am wenigsten mit autobiogr. Zügen ausgestattete –, 1874 Die zweite Frau, 1877 Im Hause des Kommerzienrates, 1880 Im Schillingshof, 1885 Die Frau mit den Karfunkelsteinen. Der Roman Amtmanns Magd (1881), der das beliebte Dienstbotenthema, wenngleich geschönt, behandelt, erlebte als einziger in den 1980er Jahren keine Neuauflage. M.s Gesammelte Romane und Novellen erschienen in zehn Bänden 1888–1890. Neben spannender Erzählweise nutzt M. eine Fülle zielgerechter Mittel, damit die Leserin das Werk möglichst in einem Zug verschlingt. Die Handlung ist zumeist äußerst kompliziert, mit vielen integrierten Nebenhandlungen. Es wimmelt von Intrigen, Betrug, anonymen Schreiben, Fälschungen. Gemäß dem historisierenden Zeitgeschmack spielen alte Briefschaften, Tagebücher oder plötzlich entdeckte Handschriften eine zentrale Rolle. M. favorisiert direkte Rede u. Gegenrede, wobei der Dialog den Erzählduktus z.T. ganz ersetzt. Dunkles An- u. Vordeuten trägt zur Spannung bei; das Gespräch wird oft unvermittelt abgebrochen, nicht zuletzt an den berühmten Kapitelschlüssen. Wie in einer säkularisierten Volkspredigt wird die Leserin direkt angesprochen, gemahnt, gewarnt, ermuntert. Ihr Massenpublikum damals wie heute schätzt die klischierte Schwarz-Weiß-Charakterisierung (positiv gezeichnete Figuren haben ein Gefühl für Musik, negative Figuren keines oder allenfalls techn. Fertigkeit), Aschenbrödel- u. Entführungsmotive, die bildhaften Wendungen, einfache, ausdrucksvolle Symbole, stimmungsvolle Naturschilderungen, aber auch den Bildungs- u. Humanitätsanspruch im fortschrittlich-vaterländ. Gewand: so suche etwa Reichsgräfin Gisela »die Menschenseele zu erwecken in Gemütern, die infolge angeborenen Hochmuts und falscher Erziehung völlig vergessen, daß sie einen himmlischen Schöpfer, ein Vaterland, ein Jenseits mit ihren Brüdern gemein haben [...]«.

Marnau Literatur: Michael Kienzle: Der Erfolgsroman. Zur Kritik seiner poet. Ökonomie bei Gustav Freytag u. E. M. Stgt. 1975. – Leo A. Lensing: The Caricatured Reader in ›Im alten Eisen‹. Raabe, M. and the Familienroman. In: GLL 31 (1977/78), S. 318–327. – M. Kienzle: ›Reichsgräfin Gisela‹. Zum Verhältnis zwischen Politik u. Tagtraum. In: Romane u. Erzählungen des bürgerl. Realismus. Hg. Horst Denkler. Stgt. 1980, S. 217–230. – Helmut Heißenbüttel: ›Nicht M. oder Anna Blume, sondern M. u. Anna Blume‹. In: Jb. der Dt. Akademie für Sprache u. Dichtung. Darmst. 1981/82, S. 35–44. – Hans Arens: M. – Eine krit. Würdigung. Trier 1994. – Cornelia Hobohm: Geliebt, gehaßt, erfolgreich – E. M. (1825–87). In: Beruf: Schriftstellerin. Hg. Karin Tebben. Gött. 1998, S. 244–275. – Sabine Pohl: Goldelse (1866), Reichsgräfin Gisela (1869). In: Lexikon deutschsprachiger Epik u. Dramatik v. Autorinnen (1730–1900). Hg. Gudrun Loster-Schneider u. Gaby Pailer. Tüb. u. a. 2006, S. 279–281 u. 281 f. – Erika Dingeldey: Luftzug hinter Samtportieren. Versuch über E. M. Bielef. 2007. Eda Sagarra

Marnau, Alfred, * 24.4.1918 Pressburg (Bratislava), † 15.6.1999 London. – Lyriker, Erzähler, Übersetzer. M. machte sich früh von seinem Elternhaus unabhängig. 1935 ging er nach Prag, wo er sich einem Freundeskreis tschech. Dichter um Josef Hora u. Jaroslav Seifert anschloss u. von Übersetzungen sowie von kleineren Hörspielrollen lebte. Bereits in seinem ersten Gedichtband Der Gesang der Maurer (Pressburg 1937) umkreist M. das ihn zeitlebens faszinierende Thema des Todes. Wegen M.s deutlich ausgesprochener pazifist. Gesinnung wurde das Buch von der Polizei beschlagnahmt. Nach dem Einmarsch der dt. Wehrmacht in die Tschechoslowakei kehrte M. nach Pressburg zurück. 1939 emigrierte M. mit seiner späteren Frau Senta Polányi nach England, wo er rasch Zugang zu dem Dichterzirkel der »New Romantics« (Alex Comfort, Charles Wrey Gardiner, Herbert Read) fand u. Freundschaften mit anderen Emigranten (Jesse Thoor, Oskar Kokoschka) schloss. In England u. später auch in Deutschland hat sich M. als literar. Vermittler eingesetzt. Er gab das Jahrbuch »New Road« heraus u. war Redakteur bei der angesehenen Zeitschrift »Poetry Quarterly«. In

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Deutschland wurde er v. a. mit Übersetzungen der elisabethan. Dramatiker John Webster (Die Herzogin von Malfi. Nördlingen 1986. Die weiße Teufelin. Nördlingen 1986) u. Christopher Marlowe sowie mit Nachdichtungen des ungarischen Nationaldichters Endre Ady (Der Kuß der Rosalia Mihaly. Nördlingen 1988) bekannt. Als Herausgeber bewahrte er Dichter wie Thoor (Die Sonette und Lieder. Heidelb. 1956) vor dem Vergessen, u. er machte die Briefe Kokoschkas zugänglich. In seiner symbolisch-allegor. Roman-Trilogie Die Mitwirkenden (Der steinerne Gang. Nürnb. 1948. Das Verlangen nach der Hölle. Zürich 1952. Polykarp und Zirpelin Imperator. Nördlingen 1987) verbindet sich die Erinnerung an die verlorene Mitte Europas mit der Reflexion über die verlorene abendländ. Humanität. Für den strenggläubigen Katholiken M. stellte sich die Gegenwart als groteskes, mal surrealistisches, mal existenzialist. Narrenspiel einer dem Untergang geweihten Welt dar. »Der metaphysische Blick, dem die Katastrophen des Jahrhunderts leicht zum dämonischen Höllenspektakel zu verschwimmen drohen – das verbindet Marnau, der wagemutig und aus keinem anderen Grund als seinem inneren Grausen vor dem Faschismus ins Exil ging, mit der Literatur der ›Inneren Emigration‹« (Matthias Thibaut). 1971 gehörte M. – neben Agatha Christie, Robert Graves, Graham Greene, Yehudi Menuhin u. a. – zu den Unterzeichnern eines ökumen. Manifestes, in dem brit. Intellektuelle den damaligen Papst Paul VI. um den Erhalt der Alten Messe baten. Einige seiner erst 1988 veröffentlichten frühen Gedichte wurden von Philipp Richter vertont. Dass er auch Stücke schrieb, wurde erst nach seinem Tod wahrgenommen. Weitere Werke: Die Wunden der Apostel. London 1944 (L.). – Der Tod in der Kathedrale. London 1947 (L.). – Vogelfrei. Frühe Gedichte 1935–40. Nördlingen 1988. – Eduard v. Zuckermandl. Wien 2001 (D.). Literatur: Wolfgang Groezinger: Vom Familien- zum Existenzroman. In: Hochland 45 (1952/ 53), S. 555–563. – Matthias Thibaut: Von Toten umstellt. In: Lit. Rundschau. Suppl. der Frankfurter Rundschau 282 (1988). Peter König / Günter Baumann

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Der Marner. – Lied- u. Sangspruchdichter des 13. Jh. Der M. ist urkundlich nicht bezeugt, dem Werk sind kaum Daten zur Biografie zu entnehmen. Er wird aber von anderen Dichtern erwähnt, u. zwar für einen Sangspruchdichter des frühen 13. Jh. ungewöhnlich häufig. Er verfasste je eine Preisstrophe auf Graf Hermann von Henneberg (1245–1290; vgl. Tannhäuser u. Wartburgkrieg), auf einen Probst von Maria Saal in Kärnten (Heinrich von Zwettl, ca. 1230/31?) u. auf Bischof Bruno von Olmütz (1245–1281), bei dem er wohl nach 1255 als »vagus« (Lied *12,4,3) Aufnahme fand u. dessen Biograf Heinrich von Heimburg ihn »egregius ille cantor« nennt. M. wendet sich in einer Lob- u. Mahnstrophe an den Staufer Konradin (7,5; um 1256?), er polemisiert gegen die Leute vom Rhein (3,2), gegen Reinmar von Zweter (3,3) u. wird selbst wohl schon als alter Mann von Rumelant von Sachsen u. dem Meißner angegriffen. Der Sangspruchdichter Fegfeuer greift schlichtend ein. Einer undatierten Totenklage Rumelants ist zu entnehmen, dass der M. Schwabe war u. als erblindeter Greis ermordet wurde. Eine Totenklage Hermann Damens (ca. 1287) führt ihn schon unter den Verstorbenen auf. All das belegt, dass er zu seiner Zeit bekannt u. als Dichter/Sänger berühmt war (Rumelant: »der beste diutische singer«). Zumindest zeitweilig dürfte er das Leben eines Fahrenden geführt haben, was aber keinerlei Rückschlüsse auf seine tatsächl. Lebensumstände zulässt. Seine Gedichte, in denen er theologische, mythologische (Gorgo, die Parzen, »mirabilia Romae«), literarische, natur- u. weltkundl. Kenntnisse verarbeitet, zeugen von einer guten Schulbildung. Dass er die ihm in verschiedenen Handschriften zugeschriebenen lat. Gedichte verfasst hat, wurde jüngst angezweifelt (Haustein), wohl zu Unrecht. Lateinisch sind eine Spruchstrophe (»artes«-Katalog) u. neben den beiden Preisstrophen auf geistl. Herren eine Winterklage (Vokalspiel) u., ganz auf der Linie der auch innerkirchlich geübten Polemik, ein Scheltlied auf die neuen Orden der Franziskaner u. Dominikaner (Vagantenstrophe). Der »artes«-Spruch, die Lieder u. alle ein-

Marner

strophigen Sangsprüche in sieben verschiedenen Tönen sind in der großen Heidelberger Liederhandschrift (Hs. C) enthalten u. bilden unserer Kenntnis nach ein zusammengehöriges Korpus. Unsicher bleibt dagegen die Zugehörigkeit einer ganzen Reihe weiterer Sprüche aus verschiedenen, meist erheblich jüngeren Handschriften, von denen aber drei Sprüche schon in Handschriften stehen, die vermutlich älter als C sind (Basler Rolle, Innsbruck cod. 256). Die acht Lieder (zwei Tagelieder, eine Liebeslehre, ein Zwiegespräch zwischen einem Befürworter u. einem Gegner der Liebe, vier Werbelieder) schlagen auch da, wo die Unzugänglichkeit der Dame beklagt wird, einen leichten, lockeren Ton an. Spruchton 4 bedient sich der Alment-Strophe, die einem Sangspruchdichter Stolle zugeschrieben wird u. auch von andern Sängern benutzt wird. Drei Strophen des Tons 5 überliefert auch die Jenaer Hs., und zwar im Corpus Kelins, wobei aber die Autorschaft des M. für Ton u. Texte wahrscheinlicher ist. Die Melodie zu beiden Tönen ist ebenfalls in J, zu den Tönen 1, 6 u. 7 nur in den Fassungen der Meisterliederhandschriften des 15. Jh. erhalten. Das Spruchwerk ist bei großer Themenvielfalt geprägt von der Absicht zu belehren u. zum Guten zu mahnen. Das größte Kontingent bilden weltl. Morallehren, die in unterschiedlichsten Einkleidungen (Kataloge, Exempel, »bispel«, Fabel, Rätsel, biblische oder histor. Szenen) teils als Zeitklage mit polit. Bezug, teils als Tugendpreis u. Lasterschelte auftreten. Die große Gruppe der religiösen Sprüche, von denen v. a. einige Mariensprüche sich einer raren Bildlichkeit bedienen, ist von strenger Rechtgläubigkeit in Gebet u. Didaxe. Vier Strophen behandeln natur- u. weltkundl. Themen, in der noch jungen Gattung, so weit wir sehen, ein neuer Themenbereich. Bemerkenswert sind zwei Strophen zu der eigenen Situation als Künstler (davon eine mit einem Nekrolog verbunden) u. zwei Klagen über das Publikum, das Kunst u. Künstler nicht zu schätzen weiß. Die Meistersänger zählten den M. zu den 12 alten Meistern, mit denen sie ihre Gründungssage verbanden. Drei seiner Töne wur-

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den von ihnen weiterverwendet, wobei sein Langer Ton zu den vier gekrönten Tönen zählte. Marner-Strophen wurden bis ins 16. Jh. mit neuen Strophen zu Meisterliedern verbunden, einige fingieren seine Autorschaft, u. sogar vier weitere Töne wurden ihm zugeschrieben. Ausgaben: Der M. Hg. Philipp Strauch. Straßb. 1876. Neudr. mit Nachw., Registern u. Lit. v. Helmut Brackert. Bln 1965. – Der M. Lieder u. Sangsprüche aus dem 13. Jh. u. ihr Weiterleben im Meistersang. Hg., eingel., erl. u. übers. v. Eva Willms. Bln./New York 2008. Literatur: Burghart Wachinger: Sängerkrieg. Mchn. 1973. – Horst Brunner: Die alten Meister. Mchn. 1975. – Christoph Gerhardt: Perseus krisalliner schilt. In: GRM 55 (1976), S. 91–113. – Gisela Kornrumpf: Eine Melodie zu M.s Ton XIV im clm 5539. In: ZfdA 107 (1978), S. 218–230. – Dies. u. B. Wachinger: Alment. In: Kontakte u. Perspektiven. Hg. Christoph Cormeau. Stgt. 1979, S. 356–411. – Frieder Schanze: Meisterl. Liedkunst zwischen Heinrich v. Mügeln u. Hans Sachs. 2 Bde., Mchn. 1983/84. – B. Wachinger: Anmerkungen zum M. In: ZfdA 114 (1985), S. 70–87. – Ders.: Der M. In: VL. – RSM 4, S. 263–324. – Johannes Rettelbach: Variation – Derivation – Imitation. Untersuchungen zu den Tönen der Sangspruchdichter u. Meistersinger. Tüb. 1993. – Jens Haustein: M.-Studien. Tüb. 1995. – Udo Kühne: Überlegungen zum M. Zweisprachiges Œuvre, Lateinkenntnis, ›Modernität‹. In: ZfdA 125 (1996), S. 275–296. – J. Haustein: Überlieferung u. Autorschaft beim lat. M. In: ZfdA 126 (1997), S. 193–199. – Hans-Jochen Schiewer: Der ›Club der toten Dichter‹. Beobachtungen zur Generation nach Walther. In: Walther-Studien 1. Hg. Thomas Bein. Ffm. 2002, S. 249–276. – Eva Willms: Noch einmal Anmerkungen zum M. In: ZfdA 137 (2008), S. 335–353. Eva Willms

Maron, Monika, * 3.6.1941 Berlin. – Erzählerin, Dramatikerin. M. wuchs als Stieftochter des DDR-Innenministers Karl Maron (1955–1963) auf. Nach dem Abitur arbeitete sie zunächst ein Jahr als Fräserin in einem Industriebetrieb in Dresden. Nach dem Studienabschluss in den Fächern Theaterwissenschaften u. Kunstgeschichte war sie zunächst als Regieassistentin beim Fernsehen u. als wiss. Aspirantin an einer Schauspielschule beschäftigt. Später arbeitete sie mehrere Jahre als Reporterin bei

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der Frauenzeitschrift »Für Dich« u. bei der »Wochenpost« u. ab 1976 als freie Schriftstellerin in Ostberlin. Mit dem Einmarsch von Truppen des Warschauer Pakts in Prag setzte bei M. ab 1968 ein Prozess der Desillusionierung ein, der mit der Biermann-Ausbürgerung 1976 einen vorläufigen Höhepunkt erreichte. 1978 trat M. aus der SED aus u. beendete gleichzeitig ihre zweijährige Zusammenarbeit mit der Stasi, für die sie unter dem Decknamen »Mitsu« konspirativ tätig gewesen war. M. wurde dadurch selbst zu einem »operativen Vorgang« (Akte »Wildsau«). 1988 übersiedelte sie mit einem Dreijahresvisum von Ostberlin nach Hamburg. Seit 1993 lebt u. arbeitet sie wieder in Berlin. Unter dem Honecker-Regime hatten M.s Werke keine Chance auf Veröffentlichung; ihre Schriften erschienen seit den 1980er Jahren ausschließlich in der Bundesrepublik Deutschland u. fanden dort von Anfang an große Beachtung. Im Zentrum ihrer Texte steht die Frage, unter welchen Bedingungen sich Identität herstellen lässt u. welche Rolle die Dialektik von Erinnern u. Vergessen im Prozess der Identitätsfindung spielt. Was in ihren ersten Romanen vielfach noch von dem Willen nach Wahrheit u. Konsequenz, von der Strenge der Protagonistinnen gegen sich selbst u. andere u. der daraus resultierenden Resignation u. Stagnation überdeckt wurde, entwickelte sich mehr u. mehr zu einer Anerkennung des Vergangenen, das der Erkenntnis geschuldet ist, dass Erinnern immer mehr ist als reine Reproduktion. Spätestens seit der Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Familiengeschichte erfährt M. das Erinnern als einen zutiefst schöpferischen Akt, der zgl. auch das Wesen des Vergessens in einem neuen Licht erscheinen lässt. Auch die Protagonistinnen ihrer Romane durchlaufen diese Entwicklung. Den Kampf gegen ihre eigene Vergangenheit führen sie ebenso verzweifelt wie unerbittlich, bis ihrem Zorn endlich die Einsicht in die Notwendigkeit u. den Schutz des Vergessens weicht. In M.s erstem Roman Flugasche (Ffm. 1981) hat die Protagonistin diesen Erkenntnisstand noch nicht erreicht. Ihre Abkehr von dem Glauben an die Reformierbarkeit des sozia-

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list. Systems vollzieht sie in Stufen. Der Roman legt nicht nur die Widersprüche dieses Systems offen, sondern entlarvt darüber hinaus die Fortschrittshörigkeit der DDR als rücksichtslose Ausbeutung der Natur u. des Menschen. Josefa erlebt am eigenen Leib, wie sich der sozialist. Gesellschaftsentwurf immer mehr von der Wirklichkeit entfernt. Der Zwiespalt zwischen der von ihr erlebten Realität u. dem politisch verordneten Bild, das sie mit ihrer Reportage zeichnen soll, durchzieht den gesamten Roman. Und so steht Josefas Identitätssuche im diametralen Gegensatz zu dem Handlungsspielraum, den ihre Vorgesetzten ihr einzuräumen bereit sind. Ihr Aufbegehren gerät zunehmend zur existenziellen Frage u. steigert sich zur Angst, das »Eigentliche«, die »ihr gemäße Biografie« zu verfehlen. Josefa, deren Autonomiebestrebungen sich proportional zu den ihr entgegentretenden Widerständen steigern, radikalisiert in diesem Prozess zunehmend auch die Beziehung zu ihrem Geliebten. Zeitgleich mit der berufl. Isolierung setzt der Prozess der Distanzierung in ihren persönl. Beziehungen ein. Josefa antwortet auf diese Entwicklung mit einem inneren Rückzug. M. erzählt die Geschichte konventionell u. in einem sachlich-präzisen, an journalistischem Schreiben geschulten objektiven Stil. Der Roman konstituiert sich als eine Abfolge von Rückblenden u. inneren Monologen, in denen Josefa über ihre Situation in einer lebensfeindl. Umwelt reflektiert. Mit Flugasche gelang M. ein Aufsehen erregendes Debüt. An diesen Erfolg vermochte der Erzählband Das Missverständnis (Ffm. 1982) nicht anzuknüpfen. An den Texten lässt sich eine Abkehr vom sachlich-journalist. Stil u. ein Hinwenden zu einer eigenen, an fantast. (Traum-)Komponenten orientierten Bildsprache feststellen. Alle fünf Texte kreisen um Missverständnisse u. um Missverhältnisse, um das Scheitern von zwischenmenschl. Beziehungen u. die Konsequenzen, die sich für den Einzelnen daraus ergeben. Mit ihrem zweiten Roman Die Überläuferin (Ffm. 1986) gelang M. der endgültige Durchbruch im Westen. Die nüchterne journalist. Sprache, die noch den Erstlingsroman dominierte, wird zunehmend

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durch die Beschreibung traumatisch-surrealer Bildwelten aufgebrochen. Die Überläuferin beginnt dort, wo Flugasche aufhört, in der Einsamkeit eines abgedunkelten Zimmers. Die Identitätssuche der Protagonistin, die in Flugasche bereits anklang, wird hier mit äußerster Konsequenz umgesetzt. M. zeigt, dass angesichts der politischen u. gesellschaftl. Bedingungen in der DDR die Ausbildung einer Ich-Identität nur um den Preis eines Rückzugs in die Privatsphäre möglich war. In der Verweigerungshaltung ihres Körpers erkennt Rosalind einen Reflex auf das Verdrängen ihrer wirkl. Bedürfnisse. Diese Erkenntnis zwingt sie zu handeln. Sie beschließt, sich ihrer »lebenslangen Dienstverpflichtung« zu entziehen u. ihre Arbeitsstelle zu kündigen. Erst das Abbrechen aller Brücken befreit sie von den selbst geschaffenen Barrieren u. macht den Weg frei, sich der eigenen Biografie zu stellen u. sie anzunehmen. Erinnernd begibt sie sich auf Identitätssuche u. reflektiert ihr bisher gelebtes Leben u. das Leben, das sie hätte führen können. Diese aktive Erinnerungsarbeit versteht Rosalind nicht nur als Konstituierung ihrer individuellen Biografie, sondern auch als Gegenentwurf zur deformierten Realität des Sozialismus. Während Die Überläuferin mit dem Willen zur Abkehr von der Fremdbestimmung endete, führt M.s dritter Roman Stille Zeile Sechs (Ffm. 1991) diesen Ansatz konsequent fort. Auf der Suche nach ihrer eigenen Biografie steht Rosalind nicht nur wieder auf den Beinen, sie wird auch mit einem weiteren Kapitel aus ihrer Lebensgeschichte konfrontiert. Ihre Auseinandersetzung mit dem sozialist. System konkretisiert sich in dem Konflikt mit ihrem neuen Arbeitgeber, einem Stalinisten u. ehemals hohen Funktionär. Der Konflikt zwischen Beerenbaum u. Rosalind ist zunächst ausschließlich politischer Natur, entwickelt sich aber zunehmend zu einem Generationskonflikt. Der Roman wechselt zwischen den Rückblenden der Ich-Erzählerin u. den Ereignissen am Begräbnistag Beerenbaums, dessen verkrüppelte »rechte Hand« sie bei der Abfassung seiner Biografie ersetzen soll. Der Schreibakt gerät für sie zur Vergangenheitsbewältigung. Rosalind fühlt sich jedoch

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zunehmend von Beerenbaums Wirklichkeitsauffassung abgestoßen u. kann diese auch nicht in ihr Wertesystem integrieren. Seine Selbstgefälligkeit verachtet sie, u. seine sozialist. Phrasen reizen sie nicht nur zum Widerspruch, sondern rühren auch an ein Problem, dem sie mit ihrer Verweigerungshaltung letztlich aus dem Weg gehen wollte: der Auseinandersetzung mit ihrem Vater. Der Roman liest sich durchgängig als Versuchsanordnung, bei der die Protagonistin auslotet, ob es möglich ist zu handeln, ohne dabei schuldig zu werden. M. beschreibt den Zwiespalt der Protagonistin, an der Mythenbildung der DDR-Funktionäre gegen ihre polit. Überzeugung mitzuarbeiten. Die Protagonistin vermag diesen Widerspruch nicht aufzulösen, trifft jedoch eine Entscheidung, um sich nicht noch einmal von den Mächtigen korrumpieren zu lassen. Am Ende konfrontiert Rosalind den herzkranken Beerenbaum mit den Verbrechen seiner Vergangenheit u. verschuldet damit letztlich seinen Tod. Der Titel ihres Essaybandes Nach Maßgabe meiner Begreifungskraft (Ffm. 1993) geht auf ein Kleist-Zitat zurück. M. versammelt neben einer Reihe von Kolumnen für die Zeitschrift »Du« Essays aus der Zeit vor u. nach der Wende. Bes. die Beiträge Warum bin ich selbst gegangen (1989) u. Zonophobie (1992) haben eine breite publizist. Wirkung entfaltet. In ihrem vierten Roman Animal triste (Ffm. 1996) erzählt M. in eindrucksvoller Weise die Geschichte einer namenlosen Frau, die in ihrer unglückl. Liebe zu einem verheirateten westdt. Hautflüglerforscher letztlich an der potenziellen Einlösung ihrer Glückserwartung zerbricht. M. versammelt hier noch einmal alle Themen, die ihr bisheriges Romanwerk geprägt haben. Es geht um Liebe, Erinnern, Vergessen u. um Verantwortung, die der Einzelne für sich u. andere übernehmen muss, damit Leben, damit Liebe gelingen kann. M. beschreibt hier weit mehr als eine raffiniert konstruierte, tragisch endende Dreiecksgeschichte. Aus der Zeit gefallen u. den Tod vor Augen verfällt die Protagonistin in einen vegetativen Zustand u. lässt in einem inneren Monolog ihre »späte Jugendliebe« noch einmal Revue passieren. Aus den Ver-

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satzstücken ihrer Erinnerung konstruiert sie ihre Liebe zu dem Mann mit den »hechtgrauen Augen« in stetig neuen Nuancen. M. stellt das Zusammenspiel von Erinnern u. Vergessen nicht nur als willkürlichen, sondern auch als äußerst produktiven Prozess dar. Was als eindimensionale Reflexion einer alternden Frau beginnt, erweist sich im Verlauf des Romans als veritable Auseinandersetzung mit den Unwägbarkeiten des Lebens. So bleibt die eigentl. Liebesgeschichte der Ich-Erzählerin lediglich schemenhaft – sowohl der Willkür des Erinnerns als auch der des Vergessens ausgeliefert. Das Ende des Romans ist offen; vieles spricht jedoch dafür, dass sie den Geliebten tötet, ihn aus ihrer Erinnerung löscht. Alt, gebrochen u. selbst zum »unglücklichen« Tier, einem animal triste, geworden, zieht sie sich zwischen die fleischfressenden Pflanzen zurück, um selbst gefressen zu werden. Mit Pawels Briefen (Ffm. 1999), einer dokumentarisch aufgearbeiteten Familiengeschichte, kehrt M. zu ihren journalist. Anfängen zurück. Auf eindringl. Weise spürt sie hier die Voraussetzungen für das Vergessen auf. Anhand von alten Fotografien u. einer verloren geglaubten Korrespondenz zwischen ihrem jüd. Großvater Pawel Iglarz u. ihrer Mutter Hella rekonstruiert M. sowohl ihre eigene Familiengeschichte als auch die ihrer Mutter. Die Suche nach ihrer eigenen Identität ist eng an die Person des Großvaters geknüpft. Anhand seines Schicksals versucht sie, wichtige Etappen ihrer Sozialisation innerhalb u. außerhalb der Familie zu verstehen u. in ihren Lebenskontext einzuordnen. M. erkennt, dass ihr »Anderssein« letztlich in seinem »Anderssein« gründet u. sie im Rekurs auf den Großvater die Familientradition fortführt. Im Gegensatz zu ihrer Mutter stellt sich M. der Erinnerung u. begibt sich mit ihrer Familie auf die Suche nach weiteren Lebensspuren ihres Großvaters. Dabei entwickelt sie eine Philosophie des Erinnerns, die das Vergessen als produktive u. heilende Kraft in den Prozess der Bewusstwerdung mit einschließt. Der Essayband Quer über die Gleise – Essays, Artikel, Zwischenrufe (Ffm. 2000) versammelt Texte zu sozialen, gesellschaftl. u. polit. Themen. Ein großer Teil der Texte ist

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zwischen 1993 u. 1999 in großen dt. Zeitungen erschienen. Der Titel, ein Zitat aus Johnsons Mutmaßungen über Jakob, verweist auf die ungewohnten Wege, die M. während ihrer Arbeit als Schriftstellerin zuweilen beschritten hat. Zentrales Thema des Essaybandes ist wiederum die Frage nach dem Wesen der Erinnerung. M. stellt sich dabei auch der »unbequemen« Erinnerungsarbeit u. legt die beiden Berichte für die Staatssicherheit aus dem Jahr 1976 noch einmal vor. Daneben beschäftigt sie sich mit den Themen geschlechtsspezifischer Kreativität u. Fortpflanzungsfähigkeit sowie mit dem Älterwerden, ein Thema, das sie auch in ihrem Roman Endmoränen (Ffm. 2002) noch einmal aufgreift. M. schildert die Voraussetzungen für die intellektuelle u. mentale Krise ihrer Protagonistin u. deren Versuche, dem Leben einen neuen Sinn zu geben. Der Titel des Romans ist Programm, er definiert den IstZustand der Protagonistin, verweist aber auch auf ein Entwicklungspotenzial, das es nutzbar zu machen gilt. Zu Beginn des Romans fühlt sich Johanna als Relikt einer längst vergangenen Zeit, in der eine persönliche u. berufl. Entwicklung nicht mehr möglich zu sein scheint. Sie stürzt in eine Identitätskrise, die ihr gesamtes Leben umfasst u. sie dazu zwingt, sich der Reflexion über ihr bisheriges Leben zu stellen. In der Einsamkeit der brandenburg. Endmoränenlandschaft beginnt sie, ihren biogr. Standort neu zu bestimmen u. sich kritisch mit der »öden langen Restzeit« ihres Ehe- u. Arbeitslebens auseinander zu setzen. Igor, ein arroganter Russe, leitet die Wende in ihrem Leben ein. In ihrer Frankfurter Poetik-Vorlesung Wie ich ein Buch nicht schreiben kann und es trotzdem versuche (Ffm. 2005) setzt sich M. mit dem Entstehungsprozess ihres Romans Ach Glück (Ffm. 2007) auseinander. M. vermittelt Einblicke in ihre Schreibkrisen u. Erfolgserlebnisse, analysiert selbstkritisch die Vor- u. Nachteile verschiedener Erzählperspektiven, reflektiert über ihre Funktion als Erzählerin u. erörtert den Handlungsspielraum sowie mögl. Motivationen ihrer Protagonisten. Sie bekennt sich zu einer Poetologie der »Erinnerung und der Assoziation« u. zeichnet da-

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mit auch ein sehr persönl. Bild von sich selbst. Mit Ach Glück legt M. Zeugnis von der Neuorientierung ihrer Protagonistin Johanna ab. Nachdem Johanna erkannt hat, wie notwendig es für sie ist, Gewohntes in Frage zu stellen, Korrekturen vorzunehmen u. sich selbst immer wieder neue Lebens-Räume zu eröffnen, räumt sie dem Unerwarteten wieder einen Platz in ihrem Leben ein u. macht sich noch einmal auf den Weg. M. schreibt jedoch nicht nur aus der Perspektive ihrer Protagonistin, sie lässt gleichzeitig deren Mann Achim zu Wort kommen, der ebenfalls an einem Wendepunkt in seinem Leben steht. Während er noch ziellos durch Berlin irrt, unfähig, Johannas Willen zur Veränderung zu verstehen, wagt Johanna einen Neuanfang. Sie sitzt im Flugzeug nach Mexiko u. lässt die letzten vier Monate ihres Lebens Revue passieren. »Man müsse im eigenen Leben nur dafür sorgen, dass es zu jeder Zeit Anfänge gibt, glückliche Anfänge, hatte dieser arrogante Russe gesagt«. Ein solcher Anfang war für Johanna das Auflesen eines Hundes auf der Rückreise nach Hause. Der Hund konfrontiert sie mit einem verschüttet geglaubten Anteil ihres Selbst u. sie beschließt, ihr Leben zu verändern. Der Gleichgültigkeit ihres Mannes Achim, der ihr u. der »Welt« seit Jahren trotzig den »Rücken« zuwendet, begegnet sie fortan distanziert u. mit Ironie. Ein erneutes Zusammentreffen mit Igor vermittelt ihr die Bekanntschaft mit einer russ. Aristokratin, die Johanna einlädt, sie in Mexiko zu besuchen. Während Achim, die Liebe zu seiner Frau u. zu seiner ehemaligen Geliebten analysierend, die neu gewonnene Freiheit zaghaft erprobt u. gleich wieder in die alten, Sicherheit verheißenden Denk- u. Verhaltensmuster zurückfällt, bereitet sich Johanna auf die Ankunft in ihrem neuen Leben vor. Mit dem Bericht Bitterfelder Bogen (Ffm. 2009) kehrt M. an den Schauplatz ihres Erstlingswerkes Flugasche zurück. Sie schlägt darin einen Bogen von den Anfängen der Bitterfelder Industrieregion bis zu den Anfängen der kapitalist. Erfolgsgeschichte der Firma Q-Sells. Porträts von herausragenden Persönlichkeiten, die die Entwicklung der Region vorangetrieben haben, runden den

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Bericht ab. Sachlich u. voller Mitgefühl für S. 258–277. – Hsin Chou: Von der Differenz zur die Menschen, die in dieser Region leben, Alterität. Das Verhältnis zum Anderen in der zeichnet sie die Entwicklung einer von der Fortschreibung v. Identitätssuche in den Romanen chem. Industrie dominierten Region, die ›Die Überläuferin‹ u. ›Stille Zeile Sechs‹. Freib. i. Br. 2006. – ›Doch das Paradies ist verriegelt...‹. schon zu DDR-Zeiten als Synonym für UmZum Werk v. M. M. Hg. E. Gilson. Ffm. 2006. – weltverschmutzung, marode Produktions- Katharina Grätz: Rückblicke auf Strategien des stätten u. sozialist. Misswirtschaft galt, zu verdeckten Schreibens in Romanen v. Katja Langeeinem attraktiven Wirtschaftsstandort nach. Müller u. M. M. In: Seminar 43 (2007), S. 194–205. M. wurde mit zahlreichen Preisen für ihr Klaudia Hilgers erzählerisches u. essayist. Werk geehrt, u. a. Brüder-Grimm-Preis der Stadt Hanau (1991), Marpeck, Marpeckh, Marbeck, Pilgram, * ca. Kleist-Preis (1992), Solothurner Literatur1495 Rattenberg/Tirol, † 1556 Augsburg. preis (1994), Friedrich-Hölderlin-Preis – Täufer; Verfasser von theologisch-pole(2003), Carl-Zuckmayer-Medaille (2003), mischen u. erbaulichen Schriften. Deutscher Nationalpreis (2009). Weitere Werke: Trotzdem herzl. Grüße. Ein Aus wohlhabender u. einflussreicher Familie dt.-dt. Briefw. Ffm. 1988. – Geburtsort Berlin. Ffm. stammend, wurde M. 1522 Bürgermeister von Rattenberg, im folgenden Jahr Ratsmit2003. Literatur: Eckhard Franke: M. M. In: KLG. – gl.; 1525 ernannte man ihn zum Bergrichter. Elke Gilson: ›Nur wenige kurze Augenblicke, die Er musste aber schon 1528, als er sich der sicher sind‹. Zur konstruktivistisch inspirierten Täuferbewegung anschloss, Ämter u. Heimat Darstellung des Erinnerns u. Vergessens in M. M.s aufgeben. Der religiös Verfolgte fand zeitFamiliengesch. ›Pawels Briefe‹. In: CG 33 (2000), weise Duldung, weil man ihn als kenntnisS. 275–288. – M. M. in Perspective: Dialogische reichen Ingenieur schätzte (Straßburg Einblicke in zeitgeschichtl., intertextuelle u. re1528–1532, Augsburg 1544–1556). zeptionsbezogene Aspekte ihres Werkes. Hg. E. In seinen Schriften, die, wenn gedruckt, Gilson. Amsterd. 2002. – Katharina Boll: Erinnenur anonym erschienen, polemisierte er eirung u. Reflexion. Retrospektive Lebenskonstruktionen im Prosawerk M. M.s. Würzb. 2002. – Alice nerseits gegen die »schleichenden Geister, so Bolterauer: ›Mutwillige Täterschaft‹. Gewaltpo- jetzt in verborgener Weise ausgehen«, d.h. tentiale v. Frauen in Texten v. M. M. In: Frauen u. gegen Spiritualisten wie Johannes Bünderlin, Gewalt. Interdisziplinäre Untersuchungen zu ge- Christian Entfelder, Sebastian Franck, Melschlechtsgebundener Gewalt in Theorie u. Praxis. chior Hoffman u. Caspar Schwenckfeld, die er Hg. Antje Hilbig. Würzb. 2003, S. 153–170. – Petra alle in Straßburg traf, andererseits gegen die Ernst: M. M. In: LGL. – Antje Doßmann: Die Dik- etablierten reformatorischen Kirchen. Aber tatur der Eltern. Individuation u. Autoritätskrise in auch unter den Täufern nahm er eine eigene M. M.s erzählerischem Werk. Bln. 2003. – E. GilStellung ein, begründet mit einer originellen, son: Ich sehe was, was du nicht siehst. Strategien des Weltenbaus u. intertextuelle Muster im Œuvre von myst. Elementen durchsetzten Theolov. M. M. Gent 2004. – Silvia Lesciauskaite: Identi- gie, die einen krassen Separatismus zu vertätsprobleme in der dt. u. litauischen Lit. nach der meiden suchte. Mit seinen erbaul. Schriften ›Wende‹. Am Beispiel der Romane ›Stille Zeile hielt er eine zwischen Mähren, Graubünden Sechs‹ v. M. M. u. ›Jauno zmogaus memuarai‹ v. u. dem Elsass verstreute Anhängerschaft zuRicardas Gavelis. In: Triangulum 11 (2005), sammen. 16 dieser »Episteln« sind mit anS. 92–108. – Alison Lewis: Erinnerung, Zeugen- deren Täuferbriefen von Jörg Propst Rotenschaft u. Staatssicherheit. Die Schriftstellerin M. M. felder, gen. Maler von Augsburg, in die älIn: DU 57 (2005), S. 22–33. – M. M. Begleith. zur teste täuferische Briefsammlung, das sog. Ausstellung in der Universitätsbibl. Frankfurt/ Kunstbuch (Handschrift von 1561, Bürgerbibl. Main, 11.1.-26.2.2005. Hg. Winfried Giesen. Ffm. 2005. – Christian Rausch: Repression u. Wider- Bern), aufgenommen. Von den M. zugestand. M. M. im Literatursystem der DDR. Marburg schriebenen größeren Werken ist die Ver2005. – Eva Lezzi: M. M., ›Stille Zeile Sechs‹. In: mahnung (o. O. um 1542) eine Bearbeitung Meisterwerke. Deutschsprachige Autorinnen im von Bernhard Rothmanns Bekenntnis von bei20. Jh. Hg. Claudia Benthien. Köln 2005, den Sakramenten (Münster 1533), während die

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Marperger

Verantwortung über Caspar Schwenckfelds Judici- Marperger, Paul Jacob, * 27.6.1656 um (1542 ff., hg. erst 1929) im zweiten Teil u. Nürnberg, † 27.10.1730 Dresden. – Polydie Testamenterläuterung (eine Konkordanz histor, Wirtschaftskonsulent, Nationalwidersprüchl. Bibelstellen, gedr. um 1546/ ökonom u. Kameralist. 47) ganz von M.s Glaubensbruder Leupolt M. gilt als einer der produktivsten u. meistScharnschlager stammten. gelesenen Autoren in der Vorgeschichte der Ausgaben: The Writings of P. M. Hg. Walter u. William Klaassen. Scottdale/Pennsylvania 1978. – heute so genannten Betriebswirtschaftslehre Later Writings by P. M. and His Circle. Bd. 1: The in Deutschland, in der man im frühen 18. Jh., Exposé, a Dialogue, and M.’s Response to Caspar nach ital. u. frz. Vorläufern u. Vorbildern Schwenckfeld. Übers. v. Walter Klaassen. Einl. v. J. (Giovanni Domenico Peri, Jacques Savary), Rempel. Kitchener 1999. – Briefe u. Schr.en oberdt. Fragen des »Handelsbetriebs« u. »HandelsTäufer 1527–55 [...]. Hg. Heinold Fast u. a. Gü- verkehrs« zu untersuchen u. zu systematitersloh 2007. sieren begann. Unter Titeln wie »KommerLiteratur: Jan J. Kiwiet: P. M. Kassel 1958. – zienkunde« u. »Merkantilwissenschaft«, William Klaassen: Convenant and Community. The »Privatökonomie« u. »HandlungswissenLife, Writings and Hermeneutics of P. M. Grand Rapids/Missouri 1968. – Neal Blough: Christologie schaft« waren diese Gegenstände zunächst Anabaptiste. P. M. et l’humanité du Christ. Genf auch Bestandteil größerer Arbeitsfelder wie 1984. – Stephen Blake Boyd: P. M. and the Justice of der Kameralistik u. Polizeiwissenschaft, ohne Christ. Diss. Harvard University 1984. – Ders.: aber im herkömmlichen akadem. FächerkaAnabaptism and Social Radicalism in Strasbourg, non einen Ort einzunehmen. 1528–32. P. M. on Christian Social Responsibility. Der Sohn eines ehemaligen Offiziers in In: The Mennonite Quarterly Review 63 (1989), schwed. Diensten u. späteren Viehhändlers S. 58–76. – Ders.: P. M. His Life and Social Theology. Durham 1992 (auch: Mainz 1992). – Walter wurde vom Vater bereits mit zehn Jahren, wie Klaassen: P. M. In: TRE. – John D. Rempel: The es im 17. Jh. nicht unüblich war, an der Lord’s Supper in Anabaptism. A Study in the Theologischen Fakultät der Universität AltChristology of Balthasar Hubmaier, P. M., and Dirk dorf immatrikuliert. Der junge M. selbst aber Philips. Waterloo/Ontario 1993. – Hans-Jürgen wählte dann lieber Jurisprudenz u. die ReaGoertz: Religiöse Bewegungen in der Frühen lienfächer. Dass ein zur Theologie bestimmNeuzeit. Mchn. 1993 (Register). – Stephen Boyd: P. ter u. an den Humaniora u. der Polyhistorie M. In: Bibliotheca dissidentium [...]. Bd. 17. Hg. interessierter Student auf die Realdisziplinen André Séguenny. Baden-Baden 1995, S. 33–73. – Neal Blough: P. M. In: NDBA, Lfg. 25 (1995), ausgreift, begegnet um diese Zeit häufiger, S. 2530 f. – Gottfried Seebaß: Die Reformation u. war aber selten erfolgreich. Man konnte sich ihre Außenseiter. Ges. Aufsätze u. Vorträge. Hg. auf prominente Lehrer wie Erhard Weigel in Irene Dingel u. a. Gött. 1997. – Schmidt, Quellen- Jena berufen, aber »davon Profession zu malexikon, Bd. 20, S. 98 f. – Diether Götz Lichdi: Die chen«, gelang den wenigsten. Der Vater Mennoniten in Gesch. u. Gegenwart [...]. 2., erw. schickte den lernbegierigen jungen Mann Aufl. Großburgwedel 2004, bes. S. 47–54. – N. nach Lyon, wo er bei einem Kaufmann prakt. Blough: Christ in our Midst. Incarnation, Church and Discipleship in the Theology of P. M. Ontario Erfahrungen sammeln konnte, ohne die Stu2007. – A Companion to Anabaptism and Spiri- dien ganz aufzugeben. Später hielt sich M. tualism, 1521–1700. Hg. John D. Roth u. a. Leiden auch in Genf, Wien u. Stockholm, St. Peters2007. – Walter u. William Klaassen: M. A Life on burg u. Moskau, Hamburg, Lübeck u. KoDissent and Conformity. Waterloo u. a. 2008. penhagen auf. Seine frühen kaufmänn. ErHeinold Fast / Red. fahrungen werden in Schriften wie Wohl-unterwiesener Kauffmanns-Jung (Nbg. 1715. Nachdr. Köln 1999) u. Getreuer und geschickter Handels-Diener (Nürnb./Lpz. 1715. Nachdr. Köln 1999) reflektiert. In Kiel studierte er die Rechte, als Morhof dort lehrte. Auch als Gelegenheitspoet trat er hervor u. wurde 1698

Marperger

im heimatl. Nürnberg zum Poeta laureatus gekrönt. Die sehr zahlreichen Schriften M.s, viele ungedruckt im Nachlass (ein Werkverzeichnis im Anhang zu: Erstes Hundert gelehrter Kauffleute. Dresden 1722; die wichtigsten Werke liegen heute als Reprint vor), erstrecken sich v.a. auf die Gebiete der »Manufacturen, Commerzien, Policey- und CameralSachen«, also auf die Beförderung der praktisch-ökonom. »Glückseeligkeit« (salus publica) eines Landes. Die Spannweite von M.s Lehrschriften u. consilia reichte von polizeiwiss. Themen wie dem Traktat Von den großen Laternen und nächtlichen Illuminationibus, wie solche in allen großen und kleinen Städten sollten eingeführet werden (Dresden 1722) über die Zeitungstheorie in der Anleitung zum rechten Verstand und nutzbarer Lesung allerhand so wohl gedruckter als geschriebener [...] ordentlicher und außerordentlicher Zeitungen oder Avisen wie auch der sogenannten Journalen (ca. 1720) u. die Geschichte u. Technik der Zeitmessung (Horologiographia, oder unterschiedliche Nachrichten von Sonnenzeigern, Schlaguhren, wie auch Glockenläuten. Dresden 1721. Nachdr. Mchn. 1977) bis zu wirtschaftsgeograf. Schriften wie z.B. Geographische, historische und merkatorische Beschreibung aller Länder und Provinzen, welche dem preußischen Scepter in Teutschland unterworfen sind (Bln. 1710). Geografisch-politische Darstellungen dienten wie die Nachrichtenpresse seit ihrer Frühzeit v. a. der Unterrichtung des Fernhandels. Neben der Arbeit als viel gelesener Autor war M. als Berater für verschiedene Höfe tätig. Um 1700 tendierte die landesfürstl. Politik in Deutschland zum Merkantilismus u. ging auf die Förderung von Handel u. Gewerbe auch im zunftfreien Raum aus. 1708 wurde M., der sich um diese Bestrebungen verdient gemacht hatte, Mitgl. der Berliner Akademie. 1724 erhielt er ein Hofamt in Dresden u. wurde Königlich Polnischer u. Kurfürstlich Sächsischer Hof- u. Kommerzienrat. Von den beiden Söhnen ist Bernhard Walther Marperger (1682–1746) als Theologe u. Dichter von Kirchenliedern u. Paul Jacob Marperger d.J. (1686–1755ca.) als Jurist in Altdorf hervorgetreten.

704 Weitere Werke: Allezeit fertiger Handels-Correspondent. 2 Tle., Ratzeburg 1699. Hbg. 1705. 4 1717. – Lob des Frauenzimmers u. des Ehestandes. Lübeck 1699. – (Übers. u. Forts.) Christian Matthias: Theatrum historicum theoretico-practicum. Ffm./Lpz. 1699–1701. – Probirstein der Buchhalter: Oder selbst-lehrende Buchhalter-Schule. Ratzeburg/Lübeck 1701. 1707. Nachdr. Wiesb. 1978. – Gazophylacium artis et naturae curiosorum, oder neu-eröffnetes Kauffmanns-Magazin. 3 Tle., Hbg. 1704, 1706, 1708. – Moscowitischer Kauffmann. Lübeck 1705. Nachdr. Lpz. 1976. – Beschreibung der Messen u. Jahr-Märckte. Lpz. 1710. Nachdr. Ffm. 1968. – Nothwendige u. nützl. Fragen über die Kauffmannschafft. Lpz./Flensburg 1714. Forts. 1715. Nachdr. in 3 Bdn., hg. v. Fritz Klein-Blenkers. Köln 1997 (Bd. 1: Materialien, mit Abhandlungen, Werkverz. u. Verz. der Forschungslit.). – Wohlgemeynte Vorstellung, montes pietatis, Leihu. Assistenz-Häuser anzulegen. Lpz. 1715. Nachdr. Nürnb. 1780. – Vollständiges Küch- u. Keller Dictionarium. Hbg. 1716. Nachdr. Mchn. 1978. – Beschreibung der Banquen, was u. vielerley derselben seyn. Halle/Lpz. 1717. Nachdr. Amsterd. 1963. Ffm. 1969. – Wohlgemeinter Vorschlag v. Verheyratung armer Bürgerstöchter u. Dienst-Mägde. Hbg. 1717. – Vermischte Policey- u. CommercienSachen. Dresden 1722. – Beschreibung einer nach allen requisitis wohlbestallten u. vollkommenen Republique. Dresden 1722. – Beschreibung des Tuchmacher-Handwercks. Dresden 1723. – Trifolium mercantile aureum oder dreyfaches güldenes Klee-Blat der werthen Kauffmannschafft. Dresden 1723. Nachdr. Darmst. 1990. Köln 1997. – Tractat v. Versorgung allerhand Wittwen, ohne Beschwerung des Publici. Lpz. 1723. – Tractat v. Reinigung der Gassen u. Straßen in großen volkreichen Städten. Dresden 1724. – Das wohleingerichtete Seminarium militare, oder Pflantz-Schul künfftig geschickter [...] Kriegs-Leute u. Soldaten. Dresden 1727. – Wohlmeynende Gedancken über die Versorgung der Armen. Dresden 1733. Nachdr. Lpz. 1977. – Des berühmten Polyhistors [...] P. J. M.s Auserlesene kleine Schrifften, welche allerhand histor., polit., mathemat., zur Gelehrsamkeit sowohl als zur Kauffmannschafft u. Hausshaltung dienl., überhaupt dem Publico nützl. Nachrichten u. Vorschläge in sich halten. Lpz. 1723. 1733. Literatur: Bibliografie: Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 4, S. 2638–2672. – Weitere Titel: Zedler. – Jakob Franck: P. J. M. In: ADB. – Bruno Zieger: Ein sächs. Merkantilist über Handelsschulen. Lpz. 1899. – Ders.: Der Handelsschulgedanke in Kursachsen im 18. Jh. Lpz. 1900, S. 8–26. – Georg Steinhausen: Der Kaufmann in der dt. Vergangenheit. Jena 1912.

705 – Elger Blühm u. Rolf Engelsing: Die Ztg. [...]. Bremen 1967. – Wolfgang Zorn: P. J. M. In: Hdb. der dt. Wirtschafts- u. Sozialgesch. Bd. 1, Stgt. 1971, S. 531 ff. (bes. Abschnitt h). – Helmut Graßhoff: P. J. M. Ein Popularisator Olearius’ u. Ludolfs. In: Ztschr. für Slawistik 6 (1971), S. 174–199. – Hannelore Lehmann: P. J. M. (1656–1730), ein vergessener Ökonom der dt. Frühaufklärung. Versuch einer Übersicht über sein Leben u. Wirken. In: Jb. für Wirtschaftsgesch. 1971, S. 125–157. – Jörg Jochen Berns: ›Partheylichkeit‹ u. Zeitungswesen. In: Das Argument AS 10 (1976), S. 202–233. – Peter Rupp: Barocke ›Handlungswissenschaft‹ als sozialgeschichtl. Quelle: der Poeta Caesareus Kommerzienrat M. aus Nürnberg, ein ›entsetzlicher Vielschreiber‹. Nürnb. 1979. – Ders.: Medienkonkurrenz im 17. Jh. In: Presse u. Gesch. Hg. E. Blühm. Bd. 2, Mchn. u. a. 1987, S. 185–206. – Hans Jaeger: P. J. M. In: NDB. – Edmund Sundhoff: Dreihundert Jahre Handelswiss. Köln 21991. – Fritz Klein-Blenkers: Aufsätze zur Gesch. der Betriebswirtschaftslehre. Köln 1994. – Ders.: Die Handlungswiss. bei P. J. M. u. die ›neue‹ Betriebswirtschaftslehre (ab 1898). In: Marketing-Management u. Unternehmensführung. Festschrift R. Köhler. Stgt. 2002, S. 3–33. – Flood, Poets Laureate, Bd. 3, S. 1256–1260. Herbert Jaumann

Marpurg, Friedrich Wilhelm, * 21.11. 1718 Gut Seehof in Wendemark/Altmark, † 22.5.1795 Berlin. – Musiktheoretiker. Über M.s Jugend ist nichts bekannt. Der Freund Winckelmanns u. Lessings lernte während eines Paris-Aufenthalts (1746) Voltaire, Maupertuis, d’Alembert u. Rameau kennen. 1749 ließ er sich als Autor u. Herausgeber musiktheoretischer u. -praktischer Werke in Berlin nieder. Ein Angebot an den Leipziger Verleger Breitkopf, gegen ein festes Jahresgehalt nur für ihn tätig zu sein, lehnte dieser 1757 ab. Finanzielle Not zwang M. 1763 zur Annahme einer Stellung in der kgl. preuß. Lotterie, deren Direktion er ab 1766 innehatte.

Marpurg

M., der auch komponierte (Klaviersonaten, -schulen, Lieder), war einer der maßgebl. dt. Musiktheoretiker der Aufklärung; seine krit. Auseinandersetzungen, z.B. mit Johann Philipp Kirnberger u. Georg Andreas Sorge, wurden allerdings oft von seinem aufbrausenden Temperament beeinflusst. Er vermittelte die Musiktheorie Rameaus u. die Ästhetik d’Alemberts u. Batteux’ in Deutschland. Seine in Berlin erschienene Abhandlung von der Fuge (1753/54) ist das ausführlichste Werk zur Fugenpraxis im ausgehenden Barock. Seine Schriften zur gleichschwebenden Temperierung unterstützten maßgeblich deren Durchsetzung. Durch seinen rationalist. Umgang mit musikal. Problemen wurde M. zu einem der Wegbereiter der Musikwissenschaft. Weitere Werke: Der crit. Musicus an der Spree. Bln. 1749/50. Neudr. Hildesh. 1970. – ›Vorbericht‹ zu J. S. Bachs Kunst der Fuge. Lpz. 21752. – Hist.krit. Beyträge zur Aufnahme der Musik. Bln. 1754–58. – Hdb. bey dem Generalbasse u. der Composition. Bln. 1755–58. – Systemat. Einl. in die Musikal. Setzkunst nach den Lehrsätzen des Herrn Rameau. Lpz. 1757. – Anfangsgründe der theoret. Musik. Lpz. 1757. – Anleitung zur Singcomposition. Bln. 1758. – Krit. Einl. in die Gesch. u. Lehrsätze der alten u. neuen Musik. Bln. 1759. Neudr. Laaber 1980. – Krit. Briefe über die Tonkunst. Bln. 1760–64. – Anleitung zur Musik überhaupt u. zur Singkunst [...]. Bln. 1763. – Versuch über die musikal. Temperatur [...]. Breslau 1776. – Legende einiger Musikheiligen. o. O. [Breslau] 1786. – Neue Methode, allerley Arten v. Temperaturen dem Claviere aufs Bequemste mitzutheilen. Bln. 1790. Literatur: Hans Gunter Hoke: M. In: MGG. – Howard Serwer: M. In: New Grove. – Yvonne Kuares: F. W. M. u. Halle. In: Facta Musilogica. Hg. Gilbert Stöck. Würzb. 2003, S. 209–213. – HansJoaschim Schulze: F. W. M, Johann Sebastian Bach u. die ›Gedanken über die welschen Tonkünstler‹ (1751). In: Bach-Jb. 90 (2004), S. 121–132. Erich Tremmel / Red.

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