Kausalitäts- und Täterschaftsprobleme bei der strafrechtlichen Würdigung pflichtwidriger Kollegialentscheidungen [1 ed.] 9783428487943, 9783428087945

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Kausalitäts- und Täterschaftsprobleme bei der strafrechtlichen Würdigung pflichtwidriger Kollegialentscheidungen [1 ed.]
 9783428487943, 9783428087945

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BETTINA WEISSER

Kausalitäts- und Täterschaftsprobleme bei der strafrechtlichen Würdigung pflichtwidriger Kollegialentscheidungen

Strafrechtliche Abhandlungen · Neue Folge Herausgegeben von Dr. Eberhard Schmidhäuser em. on!. Professor der Rechte an der Universität Hamburg

und Dr. Friedrich-Christian Schroeder ord. Professor der Rechte an der Universität Regensburg

in Zusammenarbeit mit den Strafrechtslehrern der deutschen Universitäten

Band 98

Kausalitäts- und Täterschaftsprobleme bei der strafrechtlichen Würdigung pflichtwidriger Kollegialentscheidungen

Von

Bettina Weißer

Duncker & Humblot · Berlin

Zur Aufnahme in die Reihe empfohlen von Professor Dr. Rudolf Rengier, Universität Konstanz

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Weisser, Bettina: Kausalitäts- und Täterschaftsprobleme bei der strafrechtlichen Würdigung pflichtwidriger Kollegialentscheidungen I von Bettina Weisser. - Berlin : Duncker und Humblot, 1996 (Strafrechtliche Abhandlungen; N.F., Bd. 98) Zugl.: Konstanz, Univ., Diss., 1995 ISBN 3-428-08794-1 NE:GT

Alle Rechte vorbehalten © 1996 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Color-Druck Dorfi GmbH, Berlin Printed in Gennany ISSN 0720-7271 ISBN 3-428-08794-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 9

Für Pete r

Vorwort Die Arbeit wurde im Wintersemester 1995/96 von der Universität Konstanz als Dissertation angenommen. Die Literatur wurde soweit möglich bis März 1996 berücksichtigt. Mein herzlicher Dank gilt meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Rudolf Rengier, der nicht nur das Thema angeregt hat, sondern die Entstehung der Arbeit stets mit Interesse, Geduld und Verständnis gefördert hat und mir immer ein engagierter Ratgeber war. Herrn Prof. Dr. Wolfgang Heinz danke ich für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens. Des weiteren bin ich den Herren Profs. Dres. Eberhard Schmidhäuser und Friedrich-Christian Schroeder zu Dank verpflichtet für die Aufnahme der Arbeit in die "Strafrechtlichen Abhandlungen". Besonderen Dank schulde ich meiner Mutter Lisbeth Umbreit, die meinen Weg immer mit so viel Anteilnahme und Fürsorge begleitet hat und mir jede nur denkbare Unterstützung zukommen ließ. Zum guten Schluß ein Dank an Patrick Weißer-Schneble, den besten aller Ehemänner. Radolfzell, im Juli 1996

Bettina Weißer

Inhaltsverzeichnis Einleitung

21

Teil 1

Die Grundsätze des Lederspray-Urteils des BGH

23

Leitsatz I Kausalzusammenhang von Produktverwendung und Gesundheitsschaden

23

Leitsatz 2 Begründung einer GarantensteIlung für den Fall der Unterlassungsstratbarkeit

A. GarantensteIlung der Geschäftsleitung

24

29

I. Argumentation des BGH

32

11. Gegenmeinung .... ..

33

III. Stellungnahme zur Argumentation des BGH und der dazu vorgetragenen Kritik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Lösungsvorschläge der Urteilskritiker I. Befürworter einer GarantensteIlung aus Ingerenz

35 38 40

a) Ersatzloser Verzicht auf das Kriterium der Pflichtwidrigkeit des Vorverhaltens? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

40

b) Verzicht auf das Pflichtwidrigkeitskriterium unter Einführung anderer einschränkender Kriterien? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

43

aa) Kriterium des gesteigert riskanten Vorverhaltens? . . . . . . . . .

44

bb) Kriterium der gesteigerten Beherrschbarkeit Iherstellerspezifisehe GarantensteIlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

52

2. Begründung einer GarantensteIlung unabhängig von der Ingerenz? . . .

57

a) Verantwortlichkeit für Gefahrenquellen innerhalb des eigenen Herrschaftsbereichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

57

b) Transformation zivilrechtlicher Verkehrspflichten ins Strafrecht? 3. Ablehnung einer GarantensteIlung?

61 63

Inhaltsverzeichnis

10

4. Ergebnis zu den diskutierten Begründungsmöglichkeiten für eine GarantensteIlung der Angeklagten

B. Endergebnis zu Leitsatz 2 . . . . . . . .

64 65

Leitsatz 3 Konkretisierung des Handlungsgebots strafrechtliche Rückrufpflicht I. Pflicht zum Rückruf als einzig erfolgversprechender Maßnahme

65 65

11. Endet die Verantwortlichkeit für Produktrisiken mit dem Verlust der räumlichen Sachherrschaft über die Ware? .....

66

III. Abwägung der widerstreitenden Interessen von Produzenten Nertriebshändlern und Verbrauchern bezüglich der Rückrufaktion . . . . . . . . . ..

67

IV. Untätigkeit der zuständigen Aufsichtsbehörden als Rechtfertigung unternehmerischer Untätigkeit?

68

V. Ergebnis zu Leitsatz 3 ..

69 Leitsatz 4

Individualisierung der einzelnen Handlungspflichten I. Grundsatz der Generalverantwortung und Allzuständigkeit der Geschäftsleitung in Krisen- und Ausnahmesituationen . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

11. Zum Umfang der Garantenpflicht und Zumutbare . . . . .

Beschränkung auf das Mögliche

70 70 74 75

III. Ergebnis zu Leitsatz 4 Leitsätze 5 und 6 Kausalitäts- und Täterschaftsfragen

75

A. Kausalitäts- und Täterschaftsfragen im Bereich der vorsätzlichen gefährlichen Körperverletzung (§§ 223, 223a StGB) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

80

I. War die Unterlassung der Rückrufaktion kausal für die Schadensereignisse? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

81

11. War das pflichtwidrige Verhalten des einzelnen Geschäftsführers kausal für die Unterlassung der Rückrufaktion?

85

1. Argumentationsgang des BGH

85

2. Reaktionen im Schrifttum ...

87

Inhaltsverzeichnis

11

a) Befürworter der Entscheidung

88

b) Gegenmeinung

88

3. Stellungnahme

89

III. Problemkreis 1: Wirkten die abstimmenden Geschäftsleitungsmitglieder mittäterschaftIich zusammen? ..... . 1. Voraussetzungen der Mittäterschaft

....

90 90

2. Tatherrschaft der abstimmenden Geschäftsführer?

92

a) Die Lehre von der funktionellen Tatherrschaft

92

b) Die Lehre von der additiven Mittäterschaft

93

c) Gegner der Lehre von der additiven Mittäterschaft

94

d) Zwischenergebnis

97

3. Tatherrschaft als zwingende Voraussetzung der Unterlassungstäterschaft? . . . . . . . . . . . . . .

97

a) Die Lehre von den Pflichtdelikten . . . . .

97

b) Kritik an der Lehre von den Pflichtdelikten

99

4. Zwischenergebnis

................

5. Entscheidung bezüglich Problemkreis 1 a) Zwischenergebnis

...........

100 100 102

b) Zu den Gegenargumenten der Urteilskritiker

103

6. Ergebnis zu Problemkreis I . . . . . . . . . . . .

105

IV. Problemkreis 2: Kausalität des (Einzel-)Abstimmungsverhaltens für die Verletzungserfolge . . . . . . . . . . . . . . . . .

105

1. Kausalurteil nach der conditio-Formel . . . . . . . . . . . . . . .

106

a) Liegt ein Fall sogenannter kumulativer Kausalität vor? . .

109

b) Handelt es sich um einen Fall der Doppelkausalität bzw. alternativer Kausalität? ...

III

c) Zwischenergebnis

112

2. Kausalurteil nach der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung

113

a) Zwischenergebnis

116

b) Sellungnahme zu den Gegenargumenten Samsons

117

c) Ergebnis nach der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung

118

3. Lehre von der hinreichenden Mindestbedingung

118

4. Ergebnis zu Problemkreis 2 . . . . . . . . . . . . .

119

V. Objektive Zurechenbarkeit des Verletzungserfolgs an die einzelnen Geschäftsführer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

119

12

Inhaltsverzeichnis I. Pflichtwidrigkeitszusammenhang ...... .

121

a) Problemstellung innerhalb des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs

122

b) Erfolgszurechnung nach der Risikoerhöhungslehre .....

124

c) Kritik an der Riskoerhöhungslehre

125

.. . . ..

d) Zwischenergebnis

127

2. Ergebnis bezüglich der objektiven Zurechenbarkeit an den einzelnen Geschäftsführer ohne Einbeziehung des Verhaltens seiner Geschäftsleitungskollegen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

127

3. Einfluß der Mittäterschaft auf die Zurechenbarkeit des Erfolgs ....

128

4. Ergebnis zur objektiven Zurechenbarkeit des Erfolgs an die Mittäter

128

VI. Ergebnis bezüglich der vorsätzlichen Unterlassungsstrafbarkeit ab der Sondersitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Sukzessive Mittäterschaft bezüglich der gefährlichen Körperverletzung

129 129

I. Argumentation des BGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

129

2. Stellungnahme

130

3. Ergebnis .....

135

B. Kausalitäts- und Täterschaftsfragen im Bereich der fahrlässigen Körperverletzung . I. Argumentation des BGH

136 136

11. Wertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

138

III. Streitstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

139

IV. Stellungnahme zur Fahrlässigkeitsstrafbarkeit ...

142

1. Kausalität des Verhaltens der Angeklagten im Zeitraum bis zur Son-

dersitzung für die eingetretenen Verletzungserfolge . . . . . . . . . . . .

142

2. Objektive Zurechenbarkeit der Verletzungserfolge an die Angeklagten im Zeitraum vor der Sondersitzung . . . . . . . . . . . . .

143

3. Gibt es die Figur fahrlässiger Mittäterschaft? . . . . . . .

143

a) Die herrschenden Meinung

144

b) Stellungnahme

146

c) Zwischenergebnis

151

d) Befürworter der Figur fahrlässiger Mittäterschaft 4. Ergebnis: die Voraussetzungen fahrlässiger Mittäterschaft V. Übertragung der gewonnenen Erkenntnisse auf den Lederspray-Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

151 156 157

Inhaltsverzeichnis

13

I. Kausaler Tatbeitrag ......

157

2. Gemeinsame Sorgfaltspflicht

157

3. Bewußtsein des gemeinsamen Handeins sowie der gemeinsamen Pflichtenstellung .

158

4. Zwischenergebnis

158

5. Zur objektiven Zurechenbarkeit im Rahmen der Fahrlässigkeitsdelikte .

158

VI. Ergebnis bezüglich der Fahrlässigkeitsdelikte im Lederspray-Sachverhalt.

159

C. Strafbarkeit aus einem Begehungsdelikt der gefährlichen/fahrlässigen

Körperverletzung (§§ 223, 223a; § 230 StGB) . . ..

.......

Resümee zur Lederspray-Entscheidung . . . . . . . . . . .

159 160

Teil 2

Kausalitäts- und Täterschaftsfragen bei der strafrechtlichen Würdigung pflichtwidriger Kollegialentscheidungen Übertragung der in Teil 1 gewonnenen Ergebnisse auf verschiedene Fall... . . . . gruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Vielfalt denkbarer Kollegialentscheidungen 11. Gebotene Eingrenzungen der zu behandelnden Thematik

162

162 162 165

I. Strafrechtlich relevantes Verhalten

165

2. Relevanter Kausalzusammenhang .

166

3. Interne Gleichberechtigung der Kollegiumsmitglieder

166

4. Unterlassungsstrafbarkeit IGarantenstellung

167 167

III. Ausgangsfall Fallgruppe 1 Einstimmig getroffene pflichtwidrige Entscheidung I. Ergebnis .

168 169

11. Übertragbarkeit der Beurteilung auf andere Fallgestaltungen

169

Fallgru ppe 2 Abstimmungsergebnis 6: 5 für pflichtwidrige Entscheidung I. Unterschiede zwischen Vorsatz- und Fahrlässigkeitsdelikt . . . . . . .

169 169

Inhalts verzeichni s

14

11. Die strafrechtliche Verantwortlichkeit der Befürworter der pflichtwidrigen Entscheidung ...

170

1. Kausaler Tatbeitrag

171

2. Täterschaftsfragen

171

3. Ergebnis . . . . . .

172

III. Die strafrechtliche Verantwortlichkeit der Gegner der pflichtwidrigen Entscheidung . . . . . .

172

I. Kausaler Tatbeitrag . . . . . . . . . .

172

2. Mitverantwortlichkeit für getroffene Entscheidungen unabhängig vom eigenen Votum? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

173

3. Mitverantwortlichkeit aufgrund mittäterschaftIicher Zurechnung?

175

4. Entfallen der Mitverantwortlichkeit bei Vorliegen anderer Kriterien?

176

5. Strafbarkeit wegen unterlassener Verhinderung der Umsetzung des Beschlusses? . . . . . . . .

178

6. Sukzessive Mittäterschaft? . . . . . . . . . . . . . .

180

7. Gänzliche Straflosigkeit der pflichtgemäß votierenden Kollegiumsmitglieder? . . . . . . . . . . . .

182

a) Strafbarkeit als Gehilfe . . . . . . . . .

182

b) Strafbarkeit nach § 138 Abs. 1 StGB

183

...........

183

IV. Ergebnis zu Fallgruppe 2

I. Zur Strafbarkeit der Kollegiumsmitglieder

183

2. Übertragbarkeit des gewonnenen Ergebnisses auf andere Fallgestaltungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

184

V. Annex: Zur strafrechtlichen Würdigung einer in geheimer Abstimmung erfolgten Mehrheitsentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

184

Abwandlung zu Fallgruppe 2 A. Zur Strafbarkeit wegen eines Verbrechensversuchs

I. Tatentsch1uß 11. Unmittelbares Ansetzen zur Tatbestandsverwirklichung

186 187 187 188

I. Versuchsbeginn beim Begehungsdelikt

188

2. Versuchsbeginn beim Unterlassungsdelikt

189

B. Zur Strafbarkeit wegen Verbrechensverabredung nach § 30 Abs. 2 StGB

190

C. Ergebnis zur Abwandlung von Fallgruppe 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

192

Inhaltsverzeichnis

15

I. Zur Stratbarkeit der Kollegiumsmitglieder . . .

192

11. Übertragbarkeit der Beurteilung auf andere Fallgestaltungen

193

Fallgruppe 3 Strafrechtliche Würdigung bei Nichtteilnahme an der Abstimmung

193

I. Kausaler Tatbeitrag

193

11. (Mit-)Täterschaft? .

197

I. Mittäterschaft des fahrlässig handelnden Kollegiumsmitglieds X (Y)?

198

2. Mittäterschaft des vorsätzlich handelnden Entscheidungsträgers X (oder Y)? .....

201

a) Mittäterschaft?

20 I

b) Mittelbare

201

T~terschaft?

c) Zwischenergebnis

202

3. Ergebnis . . . . . . . .

204

111. Annex I: Fahrlässige Mittäterschaft des fahrlässig ein nachträgliches Votum unterlassenden X mit seinem ebenfalls fahrlässig unterlassenden Kollegen Y? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

205

IV. Annex 2: Vorsätzliche Mittäterschaft mit dem zweiten vorsätzlich ein ....... nachträgliches Votum unterlassenden Kollegen?

205

V. Ergebnis zu Fallgruppe 3 . . . . . . . . .

206

I. Stratbarkeit der Kollegiumsmitglieder

206

2. Übertragbarkeit auf andere Fallkonstellationen

206

Abwandlung zu Fallgruppe 3 I. Einstimmiges Abstimmungsergebnis für pflichtwidrige Entscheidung

206 206

11. Ergebnis zur Abwandlung . . . . . . . . . . . . .

207

I. Stratbarkeit der Kollegiumsmitglieder . . . .

207

2. Übertragbarkeit auf andere Fallkonstellationen

208

Fallgruppe 4 Strafrechtliche Würdigung der Stimmenthaltung I. Grundkonstellation . . . . .

11. Ergebnis zu Fallgruppe 4

208 208 212

Inhaltsverzeichnis

16

Abwandlung zur Fallgruppe 4

212

Fallgru ppe 5 Vetorecht eines Kollegiumsmitglieds A. Zur Strafbarkeit des mit einem Vetorecht ausgestatteten Entscheidungsträgers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Strafbarkeit bei Pflichtwidrigkeit des eigenen Votums

214 215 215

1. Strafbarkeit wegen der aktiven Beteiligung im Rahmen der Entscheidungsfindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

215

2. Daneben gegebene Strafbarkeit wegen unterlassener Ausübung des Vetorechts?

215

3. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

217

11. Strafbarkeit bei pflichtgemäßem eigenen Votum?

217

I. Kausaler Tatbeitrag . . . . . . . . . . . . .

217

2. Unterlassungstäterschaft IGarantenstellung

218

III. Vorläufiges Ergebnis zu Abschnitt A ... .

219

B. Zur Strafbarkeit der mit einfachem Mitentscheidungsrecht ausgestatteten Kollegiumsmitglieder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

220

I. Strafbarkeit der Gegner der pflichtwidrigen Entscheidung

11. Strafbarkeit der Befürworter der pflichtwidrigen Entscheidung I. Auswirkungen des Vetorechts auf das Kausalurteil bezüglich des

220 220

Verhaltens der pflichtwidrig abstimmenden Kollegiumsmitglieder .

220

2. Auswirkungen der Unterlassung des A auf die objektive Zurechenbarkeit des Verletzungserfolgs an die pflichtwidrig votierenden Entscheidungsträger ....

221

3. Zwischenergebnis

223

4. Auswirkungen des Vetorechts auf den Deliktsvorsatz .

223

5. Ausschluß der Rechtswidrigkeit durch enttäuschtes Vertrauen auf pflichtgemäße Handhabung des Vetorechts? . . . . . . . . . . . . . .

226

6. Schuldausschluß durch enttäuschtes Vertrauen in die pflichtgemäße Handhabung des Vetorechts? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

226

7. Ergebnis bezüglich der Auswirkungen des Vetorechts auf die Strafbarkeit der Kollegiumsmitglieder mit einfachem Mitentscheidungs. ........... . recht . . . . . . . . . .

228

8. Ergebnis zu II

229

. . . . . . . . . .. .

Inhaltsverzeichnis

C. Auswirkungen der strafrechtlichen Würdigung des Verhaltens der Kollegiumsmitglieder mit einfachem Mitentscheidungsrecht auf die Verantwortlichkeit des mit dem Vetorecht ausgestatteten Entscheidungsträgers . . . .. I. Beteiligungsform, falls der Betroffene der unterlegenen Minderheit angehört. . . . . . . . . . . . . . .

17

229 229

1. Mittelbare Täterschaft? . . .

230

2. (Sukzessive) Mittäterschaft?

232

11. Mittäterschaft in dem Fall, daß A Mitglied der pflichtwidrig entscheidenden Mehrheit ist? .. . . . ..

233

III. Ergebnis zu Teil C .

233

D. Ergebnis zu Fallgruppe 5

234

E. Annex: Problematik des spezifischen Sonderwissens eines Entscheidungsträgers

234

Abwandlung zu Fallgruppe 5

238 238

I. Mittäterschaft? .

I. Strafbarkeit der pflichtwidrig abstimmenden Entscheidungsträger

238

2. Strafbarkeit der pflichtgemäß abstimmenden Entscheidungsträger

241

3. Ergebnis zu I . .

241

11. Beihilfe? . . . . . . .

241

III. Ergebnis zur Abwandlung .

2 Weißer

242 Resümee

243

Literaturverzeichnis

245

Abkürzungsverzeichnis AT

Allgemeiner Teil

BayObLG

Bayrisches Oberstes Landesgericht

BayVBI

Bayrische Verwaltungsblätter

BB

Betriebsberater

BGE

Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts

BGH

Bundesgerichtshof

BGHSt

Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen

BGHZ

Emntscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen

BWVP

Baden-Württembergische Verwaltungspraxis

DÖV

Die Öffentliche Verwaltung

EWiR

Entscheidungen zum Wirtschaftsrecht

FS

Festschri ft

GA

Goltdammers Archiv für Strafrecht

Gemhlt

Der Gemeindehaushalt

GmbHR

GmbH-Rundschau

h.M.

herrschende Meinung

JA

Juristische Arbeitsblätter

JBI

Juristische Blätter

JR

Juristische Rundschau

JuS

Juristische Schulung

JZ

Juristenzeitung

LG

Landgericht

LK

Leipziger Kommentar zum Strafgesetzbuch

MDR

Monatsschrift für Deutsches Recht

NJW

Neue Juristische Wochenschrift

NStZ

Neue Zeitschrift für Strafrecht

OLG

Oberlandesgericht

OGH

Österreichischer Oberster Gerichtshof

Sch / Sch / Bearbeiter

Schönke / Schröder / Bearbeiter

SchwZStR

Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht

Abkürzungsverzeichnis

19

SJZ

Schweizerische Juristenzeitung

SK

Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch

StGB

Strafgesetzbuch

StV

Strafverteidiger

wistra

Zeitschrift für Wirtschaft, Steuer, Strafrecht

WiVerw

Wirtschaft und Verwaltung (Beilage zum Gewerbearchiv)

ZGR

Zeitschrift für Untemehmens- und Gesellschaftsrecht

ZStW

Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft

ZUR

Zeitschrift für Umweltrecht

Einleitung In einer Zeit zunehmender Technisierung und Automatisierung, damit auch in ungeheurem Maße zunehmender Arbeitsteilung innerhalb des Wirtschaftslebens - sei es nun innerhalb des Produktionsprozesses von Konsumgütern, sei es aber auch innerhalb der Steuerung dieser Prozesse durch die immer mehr Mitglieder umfassenden Unternehmensleitungen -, werden die Zusammenhänge zwischen der Ausführung bestimmter Entscheidungen und den Vorgängen, die zu diesen Entscheidungen gefuhrt haben, fur den Außenstehenden immer undurchsichtiger. Als Folge hiervon wird die Gewährleistung eines effektiven Verbraucherschutzes durch eine wirksame Kontrolle dieser Prozesse - auch - durch die Strafgerichtsbarkeit immer schwieriger. Dadurch, daß die wenigsten Entscheidungen durch nur einen Entscheidungsträger getroffen werden - und damit dieser auch als Verantwortlicher eindeutig identifizierbar wäre -, wird es in zunehmendem Maße zum Problem, einerseits die Organisationsstrukturen innerhalb bestimmter Betriebe zu erhellen, andererseits festzustellen, wer innerhalb dieser Organisationsstrukturen die Verantwortung für eine konkrete Entscheidung trägt, die zum strafrechtlich sanktionierten Erfolg fuhrte. Die Undurchsichtigkeit dieser Entscheidungsprozesse hat bereits dazu verleitet, vom Phänomen einer "organisierten Unverantwortlichkeit"I innerhalb arbeitsteilig organisierter Strukturen zu sprechen. Der Trend geht dahin, daß viele der wichtigen Entscheidungen - nicht nur in Wirtschaftsunternehmen, auch innerhalb staatlicher Behörden und auch seit jeher auf kommunaler Ebene innerhalb des Gemeinderats - von Kollegialorganen getroffen werden. Hierdurch ergeben sich bei Rechtswidrigkeit dieser Entscheidungen zahlreiche Probleme: Wer genau ist verantwortlich fur die getroffene Entscheidung? Soll das Gesamtorgan in einer Art "Sippenhaftung" zur Rechenschaft gezogen werden oder nur diejenigen, die in rechtlich mißbilligter Weise abgestimmt haben2? Und wie steht es mit der Verantwortung derjenigen, die sich der Stimme enthalten haben 3 , usw. usw. Problematisch wird hier die Feststellung der Kausalität des einzelnen Abstimmungsverhaltens für die Entscheidung, sowie die Frage, ob die Abstimmenden mittäterI Die Fonnulierung stammt von Schünemann, wistra 1982,41; vgl. auch Volk, JZ 1993, 430, 433, der rur die Zukunft eine Kombination von Verbands- und Individualverantwortung vorschlägt. Vogel, GA 1990, 258, spricht von "kriminogenen Phänomenen der Verantwortungsverteilung und -abschwächung".

2

Vgl. dazu S. 172 ff.

l

Vgl. dazu Fallgruppe 4, S. 208 ff.

22

Einleitung

schaftlich handelten. Das Problem der eventuellen Mittäterschaft wird besonders drängend in Fällen einer möglichen Fahrlässigkeitsstratbarkeit. Hier wird die Frage aufgeworfen, ob es die hergebrachte Strafrechtsdogmatik erlaubt, die Entscheidungsträger im Kollegium als fahrlässige Mittäter zu qualifizieren. Diese Fragen - und einige darüber hinausgehende 4 - werden in einer neueren BGH-Entscheidung, der sogenannten Lederspray- oder Erdal-Entscheidung 5 aufgeworfen, die im Schrifttum ein starkes Echo 6 erfahren hat. Diese Entscheidung soll Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit sein. Anhand der Urteilsanalyse werden einige allgemeingültige Grundsätze für die Beurteilung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Mitgliedern in Kollegialorganen für die dort getroffenen Entscheidungen erarbeitet. Im folgenden sollen nach Bildung von Fallgruppen alle möglichen Mehrheitsverhältnisse durchgespielt werden und jeweils anhand der erarbeiteten Grundsätze die Stratbarkeit der beteiligten Entscheidungsträger ennittelt werden. Dabei werden die im ersten Teil erzielten Ergebnisse weiterentwickelt und so für die Beurteilung anderer denkbarer Konstellationen zum Maßstab gemacht. Ziel dieser Arbeit ist es, einige allgemein anwendbare Kriterien für die strafrechtliche Würdigung der Arbeit in Kollegialorganen zu entwickeln.

4

Vor allem im Bereich der Garantendogmatik, vgl. dazu S. 24 ff.

s BGHSt 37, 106 ff. 6 Vgl. allein die zahlreichen Urteilsbesprechungen und -anmerkungen: Amelung, S. 64 ff.; Beulke/Bachmann, JuS 1992, 737 ff.; Brammsen, Jura 1991, 533 ff.; ders., GA 1993, 97 ff.; Hassemer, JuS 1991, 253 ff.; Hirte, JZ 1992, 257 ff.; Kuhlen, NStZ 1990, 566 ff.; Meier, NJW 1992,3193 ff.; Puppe, JR 1992,30 ff.; Samson, StV 1991, 182 ff.

Teil I

Die Grundsätze des Lederspray-Urteils des BGH Die im ersten Teil der Arbeit erfolgende Analyse des Lederspray-Urteils orientiert sich an den Leitsätzen der Entscheidung. Da die Urteilsbesprechung als Ausgangspunkt für die Erarbeitung allgemeingültiger Grundsätze bezüglich der Verantwortlichkeit von Mitgliedern in Kollegialorganen dienen soll, werden dabei die für den konkreten Fall spezifischen Probleme ausgespart, bzw. nur verkürzt wiedergegeben.

Leitsatz 1: Kausalzusammenhang von Produktverwendung und Gesundheitsschaden .. Der Ursachenzusammenhang zwischen der Beschaffenheit eines Produkts und Gesundheitsbeeinträchtigungen seiner Verbraucher ist auch dann rechtsfehlerfrei festgestellt, wenn offenbleibt, welche Substanz den Schaden ausgelöst hat, aber andere in Betracht kommende Schadensursachen auszuschließen sind... 1 Problematisch ist im Lederspray-Sachverhalt bereits die Feststellung des Kausalzusammenhangs zwischen Produktverwendung und Körperschäden der Konsumenten. Die konkrete chemisch-biologische Wirkungsweise der gefährlichen Sprays konnte nicht zweifelsfrei erkundet werden 2• Welche Inhaltsstoffe der Sprays die Schäden verursacht hatten, und wie genau die chemischen Reaktionen vonstatten gegangen waren, ließ sich auch durch die hinzugezogenen Sachverständigen nicht eindeutig klären 3 . Damit kann die Komponente der generellen Kausalität nicht eindeutig ermittelt werden. Es fehlt hierfiir an einem unstreitigen naturwissenschaftlich anerkannten Kausalgesetz, unter das die Vorgänge im Rahmen der konkreten Kausalität subsumiert werden könnten. Der BGH löst dieses Problem, indem er darauf hinweist, daß mangels anderer ersichtlicher Schadensursachen an der Erfolgsursächlichkeit der Sprays kein Zweifel bestehe4 • BGHSt 37, 106. Vgl. BGHSt 37, 112. J Dieses Problem ergab sich bereits in der Ausgangsentscheidung der Vorinstanz LG Mainz, in: Schmidt-Salzer, Entscheidungssammlung, ry.3.22. 4 BGHSt 37, 112; im Anschluß an die Ausgangsentscheidung des LG Mainz, in: Schmidt-Salzer, Entscheidungssammlung, IV.3.22 (17 ff.). I

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Teil I: Die Grundsätze des Lederspray-Urteils des BGH

Bezüglich dieser Argumentation muß sich der BGH die Kritik gefallen lassen, an die Stelle der zwingend erforderlichen naturwissenschaftlichen Erkenntnis im Bereich der generellen Kausalität unzulässigerweise allein die richterliche Überzeugung gesetzt zu haben 5 • Obwohl die Frage, wann im Rahmen der Kausalitätsuntersuchung eine richterliche Wertung zulässig ist, und wann allein ein in Fachkreisen unumstrittenes Kausalgesetz Ausgangspunkt der Prüfung sein darf, heftig diskutiert wird6, soll sie hier nicht Gegenstand der Erörterung sein. Es handelt sich um ein für Produkthaftungsfälle typisches Kausalitätsproblem 7, das aber mit der strafrechtlichen Würdigung der Entscheidungsfindung in Kollegialorganen in keinem engeren Zusammenhang steht. Da eine Untersuchung der Kontroverse für die rechtliche Behandlung von Kollegialentscheidungen keine verwertbaren Erkenntnisse bringen würde, wird die Argumentation des BGH innerhalb des ersten Leitsatzes deshalb hier keiner Analyse unterzogen.

Leitsatz 2: Begründung einer GarantensteIlung für den Fall der Unterlassungstratbarkeit "Wer als Hersteller oder Vertriebs händler Produkte in den Verkehr bringt, die derart beschaffen sind, daß deren bestimmungsgemäße Verwendung für die Verbraucher - entgegen ihren berechtigten Erwartungen - die Gefahr des Eintritts gesundheitlicher Schäden begründet, ist zur Schadensabwendung verpflichtet (GarantensteIlung aus vorangegangenem Gefährdungsverhalten). Kommt er dieser Pflicht schuldhaft nicht nach, so haftet er 5 Zu den Kritikern zählen: Brammsen, Jura 1991,535; Hassemer, Produktverantwortung, S. 33, 42 f.; Puppe, JR 1992,30; dies., JZ 1994, 1149 f.; Rönnau, wistra 1994, 203; Samson, StV 1991, 183; Schulz, ZUR 1994, 30 f.; zweifelnd auch Beulke/Bachmann, JuS 1992, 738 f.; Hassemer bereits in JuS 1991, 254. 6 Zustimmend zur Ansicht des BGH äußern sich: Amelung, S. 66 f., 75; Erb, JuS 1994, 449 f., 453; Hilgendoif, Produzentenhaftung, S. 122 ff.; ders., GA 1995, 144 f.; Hirte, JZ 1992,257; Kuhlen, NStZ 1990,567; ders., JZ 1994, 1145; Meier, NJW 1992,3193; Roxin, AT I, § 11 AlIRn. 15, Fn.26; SK/Rudolphi, vor § 13 Rn. 15; ebenso LG Frankfurt, ZUR 1994, 33 ff. (35) im sog. Holzschutzmittel-Fall; gleicher Ansicht ist unabhängig vorn vorliegenden Fall Goll, Produkthaftungshandbuch, § 45 Rn. 24. Lackner, vor § 13 Rn. 11, möchte für solche Fälle die Kategorie "statistischer Kausalität" einführen; vgl. in diesem Zusammenhang auch TIedemann, FS Schrnitt, S. 145 f. Vgl. außerdem die grundlegenden Arbeiten zu diesem Problem von Maiwald, Kausalität, S. 108 ff., und Kaufmann zum Contergan-Fall, in: JZ 1971,569 ff. 7 In diesem Zusammenhang stehen auch die neueren Entscheidungen des LG Frankfurt, NStZ 1990, 592 f., und ZUR 1994, 33 ff., mit Anmerkung von Schulz in ZUR 1994, 26 ff., zum Kausalproblem insb. 29 ff. Vgl. auch Hassemer, Produktverantwortung, S. 34 ff., und die Entscheidung des Spanischen Obersten Gerichtshofs in NStZ 1994, 37 ff.; sowie die Beispiele bei Eidam, S. 308 ff.

Leitsatz 2: GarantensteIlung bei Unterlassungsstrafbarkeit

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für dadurch verursachte Schäden strafrechtlich unter dem Gesichtspunkt der durch Unterlassen begangenen Körperverletzung...8 Im zweiten Leitsatz beschäftigt sich der BGH mit der Begründung einer GarantensteIlung für den Fall der Unterlassungsstrafbarkeit. Als Anknüpfungspunkt für den Schuldvorwurf kommt diesbezüglich der unterlassene Rückruf von bereits im Handel befindlichen Produkten in Betracht. Voraussetzung der Unterlassungsstrafbarkeit ist eine Garantenpflicht der Angeklagten zum Rückruf der Produkte vom Markt. Der BGH untersucht zunächst das Vorliegen einer GarantensteIlung der Angeklagten im Hinblick auf die Verhinderung etwaiger Gesundheitsschädigungen bei Verbrauchern infolge des Produktkonsums.

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KlarsteIlung des Sachverhalts

Zu~ KlarsteIlung des Sachverhalts muß das tatbestandsmäßige Geschehen in zwei Abschnitte eingeteilt werden. Es kommt dabei auf den Entstehungszeitpunkt einer etwaigen Rückrufpflicht an. Hierzu ist eine kurze Erläuterung des Geschehensablaufs erforderlich: Die gefährlichen Produkte hatten sich seit mehr als zwanzig Jahren im Sortiment des Unternehmens befunden, als die ersten Meldungen über Gesundheitsschäden von Produktkonsumenten bei der Chemieabteilung des Produktionsunternehmens eingingen9 • Nach der Organisationsstruktur der Unternehmen (Produktions- und Vertriebsfirma waren zwar rechtlich selbständig, jedoch personell auf Geschäftsleitungsebene verflochten!o) war davon auszugehen, daß die dort vorhandenen Informationen bezüglich der Vorgänge bald auch den Geschäftsleitungen von Herstellerund Vertriebsfirmen vorlagen, da fur einen ständigen internen Informationsaustausch ausreichend gesorgt war!!. Das Entstehen der strafrechtlich sanktionierten Rückrufpflicht bezüglich der gefährlichen Produkte wird sowohl vom BGH als auch vom Ausgangsgericht LG Mainz auf den 27.2.1981 datiert 12 • Dieses Ergebnis wird erzielt, indem zum Zeitpunkt des Eingangs der Sc hadensmeldung eine angemessene Überlegungsfrist hinzugerechnet wird, weil die vorangegangenen zwanzig Jahre gänzlich ohne derartige Vorkommnisse abgelaufen waren. Eine Unterlassungsstrafbarkeit ist erst ab dem Ent-

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BGHSt 37, 106 f.

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LG Mainz, in: Schmidt-Salzer, Entscheidungssammlung, IY.3.22 (21 f.).

10 S. das "Organigramm" der GmbH, in: Schmidt-Salzer, Entscheidungssammlung, IY.3.22 (46).

" Vgl. Ausgangsentscheidung des LG Mainz, in: Schmidt-Salzer, Entscheidungssammlung, IV.3.22 (21 ff.). 12 Vgl. LG Mainz, in: Schmidt-Salzer, Entscheidungssammlung, IV.3.22 (35); sowie BGHSt 37, 114 f.

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Teil I: Die Grundsätze des Lederspray-Urteils des BGH

stehungszeitpunkt der Rückrufpflicht möglich. Sie bezieht sich ausschließlich auf die damals bereits im Handel befindlichen Produkte. Für Produkte, die erst danach in den Handel gelangt waren, gilt folgendes: Hier sind Herstellung und Inverkehrgabe der Produkte als strafrechtlich relevantes aktives Tun Anknüpfungspunkt für ein Begehungsdelikt der Körperverletzung. Bezüglich der erst nach Entstehen der Rückrufpflicht produzierten Artikel kommt als Folge der - noch nachzuweisenden - Erfolgsvermeidepflicht hinsichtlich Gesundheitsschädigungen von Verbrauchern nicht erst eine Pflicht zum Rückruf der Produkte vom Markt, sondern bereits die Pflicht zur Unterlassung ihrer Inverkehrgabe in Betracht. Der Verstoß gegen diese "Unterlassungspflicht" stellt sich als aktives Tun - nämlich weitere Inverkehrgabe - dar. Damit ist bezüglich der nach Entstehung der Rückrufpflicht weiterhin erfolgenden Inverkehrgabe die Strafbarkeit der Angeklagten aus einem Begehungsdelikt zu untersuchen. Die innerhalb des zweiten Leitsatzes zu erörternde Garantenstellung der Angeklagten wird also nur für Gesundheitsschäden relevant, die durch den Konsum von Produkten, die am 27.2.1981 bereits im Handel waren, verursacht wurden. Die ebenfalls möglich erscheinende Strafbarkeit der Geschäftsführer aus Begehungsdelikten bezieht sich dagegen auf Körperverletzungserfolge, die durch nach dem 27.2.1981 in Verkehr gegebene Produkte verursacht wurden. Sie wird später noch Gegenstand der Untersuchung sein!). Die Unternehmensleitung als primärer Adressat der strafrechtlichen Beurteilung?

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Bevor eine Untersuchung der etwaigen Garantenposition der Angeklagten erfolgen kann, muß deren Verantwortlichkeit für die schadensstiftende Handlung, nämlich Herstellung und Vertrieb der gefährlichen Produkte, festgestellt werden. Hierzu fUhrt der BGH aus, daß den Angeklagten als Geschäftsführern der Hersteller- und der Vertriebsfirma l4 sowohl Produktion als auch Vertrieb der fraglichen Waren als eigenhändiges positives Tun zuzurechnen seien, sofern sie sich im Rahmen des Gesellschaftszwecks befänden 15. Puppe l6 bezeichnet dies als "kühnen Schritt" des Senats. Sie hält diese Zurechnung fUr zu grob und konstatiert die Außerachtiassung zahlreicher Probleme der strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Unternehmensleitungen.

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S. 159 f.

Zu den personellen Verflechtungen der ansonsten rechtlich selbständigen Unternehmen vgl. LG Mainz, in: Schmidt-Salzer, Entscheidungssammlung, IV.3.22 (46). 15 BGHSt 37, 114. 10 JR 1992, 30. 14

Leitsatz 2: GarantensteIlung bei Unterlassungsstrafbarkeit

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Dieser Einschätzung ist aber folgendes entgegenzuhalten: Mit der Zurechnung von Produktion und Vertrieb im Rahmen des Gesellschaftszwecks an die jeweilige Geschäftsleitung der Unternehmen wird noch nichts über die Strafwürdigkeit dieses Verhaltens ausgesagt. Durch die Zurechnungsprämisse wird zunächst nur ein "Ansprechpartner" für mögliche strafrechtliche Schuldvorwürfe bezüglich der Geschäftstätigkeit des Unternehmens bestimmt. Ob dieser dann tatsächlich strafrechtlich belangt wird, wird an hand zahlreicher weiterer Priifungsschritte untersucht I 7. Statt den "groben" Ansatz zu wählen, könnte man anders so vorgehen, daß man den Weg jedes konkreten Einzelstücks aus der Gesamtproduktion zuriick verfolgt und dann zuerst denjenigen belangt, der die Ware als letzter in der Hand hatte - also beispielsweise den Fahrer des ausliefernden Lkw. Dieser kann sich dann möglicherweise auf berechtigtes Vertrauen berufen, das er in die einwandfreie Qualität der Ware gehabt habe. Auf diese Weise könnte eine Kette von Verantwortlichen gebildet werden, die sich jeweils auf das nächsthöhere Glied in der Unternehmensorganisation - unter Hinweis auf die infolge des hierarchischen Aufbaus der Unternehmen jeweils gegebene Weisungsgebundenheit - berufen könnten. Damit würde die strafrechtliche Verantwortlichkeit in vielen Einzelschritten jeweils auf die nächsthöhere Ebene transponiert. Ob sie dann endgültig bei der Geschäftsleitung landen würde, könnte sich dabei im Einzelfall als fraglich erweisen, da einerseits viele Unternehmen auf das Risiko einer strafrechtlichen Verantwortlichkeit bereits mit speziellen betrieblichen Vermeidungsstrategien reagiert haben '8 und diese Entwicklung sich auch fortsetzen wird, sollten sich die Strategien als erfolgreich entpuppen. Andererseits können sich die Geschäftsleitungsmitglieder bei nach unten delegierten Verantwortlichkeiten möglicherweise auf berechtigtes Vertrauen in die ordnungsgemäße Aufgabenerfullung unterer Ebenen berufen, und sich so einer etwaigen Haftung ebenfalls entziehen. Der BGH wählt eine unternehmensbezogene Sichtweise, denn er betrachtet zunächst die Tätigkeit des Unternehmens als Organisationseinheit und fragt dann in einem zweiten Schritt danach, wer generell die Verantwortung fur diese Geschäftstätigkeit zu tragen hat. Diese Anschauung unterscheidet sich von der eben dargestellten dadurch, daß sie gleichsam von oben nach unten blickt, also zunächst danach fragt, wem die Unternehmenstätigkeit zuzurechnen ist. Das ist in der Regel die Geschäftsfuhrung eines Großunternehmens, denn hier laufen die Entscheidungsstränge zusammen, hier werden alle wichtigen Belange erörtert und sozusagen "Ietztinstanzlich" entschieden. Eine übergeordnete Ebene, gegenüber der Weisungsgebundenheit bestehen könnte, 17

Vgl. allein die weiteren detaillierten Ausfiihrungen des BGH im Urteil, BGHSt 37,

114 ff. IR

Vgl. zu solchen Vermeidungsstrategien Ebenroth/Willburger, BB 1991, 1943 f.

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Teil I: Die Grundsätze des Lederspray-Urteils des BGH

gibt es für die Geschäftsleitung nicht. Die Gegenansicht fängt beim letzten Glied der Kette an und transponiert die Verantwortung damit gleichsam von unten nach oben. Die Frage lautet damit letztlich, welcher Blickwinkel sich als der Situation angemessen erweist. Eine von der abstrakten Verantwortungsfrage losgelöste Anschauung der Praxis könnte zur Beantwortung dieser Frage hilfreich sein: Angenommen, einer der Geschädigten wollte sich an die dafür Verantwortlichen wenden, um von diesen Ersatz zu verlangen. Dann wird er sich auf keinen Fall an denjenigen Angestellten wenden, der die Ware vor ihrer Auslieferung auf den Weg gegeben hat, sondern er wird "oben", auf der Ebene der Geschäftsleitung, anfangen, weil er automatisch davon ausgeht, daß er dort auf die für Produktion und Vertrieb der ihn schädigenden Produkte Verantwortlichen trifft I 9. Als Argument für die Lösung des BGH läßt sich also deren Lebensnähe anführen. Ebenso spricht dafür, daß mit dem Ansetzen bei der Geschäftsleitung weder über deren Strafbarkeit, noch über die Straftosigkeit der auf unteren Ebenen arbeitenden Unternehmensmitglieder eine Entscheidung getroffen ist. Es wird lediglich ein Anknüpfungspunkt für die Suche nach den strafrechtlich Verantwortlichen gesetzt20 • Brammsen21 ist demgegenüber der Meinung, daß ein Ansetzen bei der Geschäftsleitung die unternehmensintern jeweils getroffene Verantwortungsverteilung wieder rückgängig mache und so die gesellschaftlich gegebene Kompetenz- und Verantwortungsordnung negiere. Andere Autoren stellen freimütig fest, daß das Recht bei der Zurechnung nicht real gegebene Strukturen nachzeichnen wolle, sondern hierfür eigene rechtliche Standards entwickelt haben. Eine Auseinandersetzung mit diesen Standpunkten erübrigt sich hier, weil Brammsen gegenüber wiederum der oben bereits angesprochene Gesichtspunkt zu erwähnen ist, daß auch in der Realität der gesellschaftlichen Verhältnisse davon ausgegangen wird, daß die Verantwortung für die Vorgänge in einem Unternehmen vor allen anderen dessen Geschäftsleitung trägt. Das ist der Situation angemessen, denn wer sonst außer der Geschäftsleitung sollte als generell Verantwortlicher zur Rechenschaft gezogen werden? Es entspricht gerade dem Wesen einer Unternehmensleitung, daß dort sämtliche 19 Das hat Hilgendorf, Produzentenhaftung, S. 72, auch für die Strafbarkeitserwartung der Bevölkerung in Fällen strafrechtlicher Produkthaftung festgestellt. 20 Vgl. schon S. 27.

21 Jura 1991, 537. Brammsen bezieht sich hier auf den Grundsatz der Generalverantwortung der Geschäftsleitung, der später noch näher zu erörtern sein wird (S. 70 ff.), dessen Ausgangspunkt aber grundsätzlich die dargestellte unternehmensbezogene Sichtweise des BGH ist.

22 Hilgendorf, Produzentenhaftung, S. 70; Baumann / Weber, § 23 III 1 b: "Wer Zurechnungsendpunkt eines rechtlich relevanten Verhaltens ist, bestimmt das Recht selbstherrlich."

Leitsatz 2: GarantensteIlung bei Unterlassungsstrafbarkeit

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Vorgänge koordiniert und gesteuert werden. Wenn dies der Fall ist, dann sollte auch bei der Suche nach Verantwortlichen für strafrechtlich relevante Vorgänge zunächst hier angesetzt werden. Zu beachten ist hierbei, daß es bei einem Kleinbetrieb, dessen Leitung nicht in einem Kollegialorgan organisiert ist, sondern der von einem "Chef' regiert wird, unbestritten ist, daß bei strafrechtlichen Auffälligkeiten innerhalb der Geschäftstätigkeit des Betriebs am Markt zunächst allein auf diesen zugegriffen wird. Diese Frage wird bei Kleinbetrieben nicht problematisiert. Es ist nicht einzusehen, warum die Beurteilung plötzlich anders ausfallen sollte, wenn die Unternehmensspitze nicht aus einer Einzelperson besteht, sondern aus einem Geschäftsleitungskollegium. Darüber hinaus ist mit dem Ansatz des BGH über die Berücksichtigung der gesellschaftlichen Kompetenz- und Verantwortungsordnung im weiteren noch gar nichts ausgesagt. Diese spielt eine entscheidende Rolle bei der Zuordnung der konkreten aus einer GarantensteIlung resultierenden Pflichten an die Mitglieder der Geschäftsleitung. Eine Negation bestehender gesellschaftlicher Ordnungen ist damit nicht zu befürchten, diese kommen in späteren Prüfungen durchaus noch zu entscheidender Bedeutung 23 • -

Ergebnis

Nach alledem ist dem BGH darin zu folgen, daß die Unternehmensleitung primärer Adressat der strafrechtlichen Beurteilung von Produktion / Inverkehrgabe gefährlicher Produkte ise 4 •

A. GarantensteIlung der Geschäftsleitung Gegenstand der Prüfung ist zunächst ein durch Unterlassen verwirklichtes Körperverletzungsdelikt. Als erste Voraussetzung der Unterlassungsstratbarkeit ist generell das Vorliegen einer GarantensteIlung der potentiellen Täter zu untersuchen. Die Frage, ob diese GarantensteIlung durch die Übertragung zivilrechtlicher Produktbeobachtungspflichten für deren Hersteller in den Bereich des Strafrechts entstehen könnte 2s, läßt der BGH hierbei offen 26 23 Vgl. hierzu die Ausfiihrungen zum Grundsatz der Generalverantwortung und Allzuständigkeit der Geschäftsleitung auf S. 70 ff. 24 Zustimmend bezüglich der unternehmensbezogenen Sichtweise: Kuhlen, NStZ 1990, 569; ders., WiVerw 1991,246; ders., JZ 1994, 1144 f.; Kassebohm/Malorny, BB 1994, 1363. 25 So entsch.ied das Ausgangsgericht LG Mainz, in: Schmidt-Salzer, Entscheidungssammlung, ry.3.22 (insb. 28, 31, "Verkehrssicherungs-, Produktbeobachtungspflicht").

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Teil I: Die Grundsätze des Lederspray-Urteils des BGH

nicht ohne vor einer "unbesehenen Übemahme"27 dieser Pflichten in das andere Rechtsgebiet zu wamen 28 . Vielmehr stützt der BGH die GarantensteIlung auf den Gesichtspunkt der Ingerenz. Das vorangegangene Verhalten - nämlich das Inverkehrbringen der als objektiv gefahrlich zu beurteilenden Produkte - begründe für den Hersteller die Pflicht zur Verhinderung von Schädigungen der Konsumenten 29 • Die GarantensteIlung aus Ingerenz habe sich im Fall auf eine Garantenpflicht zum Rückruf der Produkte konkretisiert 30 • Nach der h.M. in der Literatur I und auch nach ständiger Rechtsprechung des BGH 32 erfordert eine GarantensteIlung aus Ingerenz die objektive Pflichtwidrigkeit des Vorverhaltens des potentiellen Garanten. Auch in der vorliegenden Entscheidung hält der BGH ausdrücklich an diesem Kriterium fest 33 • Bezogen auf den Fall bedeutet dies, daß der Senat den Nachweis erbringen muß, das Vorverhalten Inverkehrgabe der Produkte sei objektiv pflichtwidrig gewesen und damit tauglich zur Begründung einer GarantensteIlung zur Vermeidung von Gesundheitsschäden bei den Konsumenten. Als objektiv pflichtwidrig gilt ein Verhalten dabei dann, wenn es den Anforderungen, die in der gegebenen Situation im jeweiligen Verkehrskreis an einen Entscheidungsträger gestellt werden, nicht mehr entspricht. Dabei soll die Pflichtwidrigkeit im Verstoß gegen eine Norm liegen, die gerade dem Schutz des gefährdeten Rechtsguts zu dienen bestimmt ist 34 • Hierbei muß zwischen zwei möglichen Fallkonstellationen unterschieden werden: Einerseits könnten die Schäden durch Produkte hervorgerufen wor26 BGHSt 37, 115; anders Samson in StV 1991, 184, der die Argumentation des BGH entgegen ihrem eindeutigen Wortlaut als endgültige Absage an die Transformation zivilrechtlicher Verkehrspfiichten ins Strafrecht wertet. Eidam, S. 305, interpretiert die Meinung des BGH demgegenüber zu weit, wenn er erkärt, die Schadensabwendungspfiicht sei "direkt aus den zivil rechtlichen Produkthaftungsgrundsätzen abgeleitet" worden. 27 BGHSt 37, 115.

2" Insoweit übereinstimmend: Beulke / Bachmann, JuS 1992, 740; Kuh/en, NStZ 1990, 567; Tiedemann, NJW 1990, 2051 f. 29 BGHSt 37,116 f. 30 BGHSt 37,119,123. 31 Jescheck, § 59 IV 4; Küper. JZ 1981, 573 f.; LK lJescheck, § 13 Rn. 33; Roxin. NStZ 1985, 321; Schmidhäuser, AT, 12/28. 12/31; Sch/Sch/Stree, § 13 Rn. 35; Stree, FS Klug, S. 398, 400; SKI Rudo/phi, § 13 Rn. 39. Eine Einschränkung nur auf pfiichtwidriges Vorverhalten fur zu eng halten: Herzberg, JZ 1986, 988; ders., Unterlassung, S. 294 f., 299; Jakobs, 29/39; Duo, AT, § 9 III 1 b; See/mann, GA 1989,255; Timpe, S. 183; Wagner, S. 85. 32 BGHSt 34, 82; BGH NStZ 1987, 171. 3) BGHSt 37,115 f. )4 Jescheck, § 59 IV 4 a; LKlJescheck, § 13 Rn. 33; Stree, FS Klug, S. 399, 403; Wessets, Rn. 725.

Leitsatz 2: GarantensteIlung bei Unterlassungsstrafbarkeit

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den sein, die bereits vor Eingang der ersten Schadensmeldungen in den Handel gelangt waren, andererseits aber auch durch Produkte, die erst nach Kenntnis der Geschäftsleitung von ihrer Gefährlichkeit in den Handel und damit zum letztlich geschädigten Verbraucher gelangt waren. In letzterem Falle fällt der Nachweis der objektiven Ptlichtwidrigkeit des Vorverhaltens Inverkehrbringen der Produkte ungleich leichter als im ersteren: Bei Kenntnis der Geschäftsleitung von den Schadensmeldungen und damit von der - zumindest - Fragwürdigkeit (wenn nicht sogar Gefährlichkeit) der Produkte hätte eine weitere Inverkehrgabe in Anbetracht der Wahrscheinlichkeit erneuter Schadensfälle sicher nicht mehr den Verhaltensanforderungen entsprochen, die an Hersteller / Vertreibende von Produkten in der gegebenen Situation gestellt werden. Damit wäre die objektive Ptlichtwidrigkeit des Vorverhaltens in diesem Fall problemlos zu bejahen. In dem Fall aber, daß die Schäden durch Produkte ausgelöst wurden, die sich bereits vor Eingang der ersten Schadensmeldungen im Handel befanden, wäre der Nachweis der objektiven Ptlichtwidrigkeit nicht so einfach: Dann müßte nämlich die Inverkehrgabe der Produkte bereits zu dem Zeitpunkt als objektiv ptlichtwidrig gelten, in dem die Hersteller / Vertriebshändler mangels bereits eingegangener Schadensmeldungen noch gar keine Kenntnis von deren Gefährlichkeit hatten. Da im Fall nicht feststellbar ist, wann genau die schadensursächlichen Sprays in den Handel gelangten, bleibt diesbezüglich die Tatsachengrundlage unklar. Es muß also in dubio pro re0 35 von der für die Angeklagten günstigeren Fallkonstellation ausgegangen werden. Der BGH muß damit die objektive Ptlichtwidrigkeit der Inverkehrgabe gefährlicher Produkte auch für den Fall begründen, daß die Gefährlichkeit den Herstellern / Vertreibenden zum maßgeblichen Zeitpunkt noch nicht durch Rückmeldungen geschädigter Verbraucher bekannt war. Daß diese Ausgangssituation die Tatsachengrundlage der Entscheidung bilden muß, ist im Schrifttum nicht bestritten36 . Kontrovers diskutiert wird aber, wie die strafrechtliche Würdigung der hierdurch aufgeworfenen Problematik aussehen soll. Zum Thema der GarantensteIlung soll zunächst die Argumentation ihrer Befürworter - allen voran der BGH im zugrundeliegenden Urteil -, sodann die ihrer Gegner dargestellt werden.

35 Zur Anerkennung dieses Prinzips als geltendes Recht trotz fehlender ausdrücklicher gesetzlicher Normierung vgl. Löwe-Rosenberg/Gollwitzer, § 261 Rn. 103; Roxin, Strafverfahrensrecht, § 15 ClIRn. 13 ff. )6 BGHSt 37, 118 f.; statt aller Kuhlen, NStZ 1990,568; Samson, StV 1991, 184.

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Teil I: Die Grundsätze des Lederspray-Urteils des BGH

I. Argumentation des BGH Der BGH begründet die GarantensteIlung aus Ingerenz, indem er die objektive P1lichtwidrigkeit des Vorverhaltens aus dem rechtlichen Verbot folgert, Gefahren für die körperliche Unversehrtheit Dritter zu schaffen 37 . Dies hätten die Angeklagten durch die Inverkehrgabe der Produkte getan. Die nach allgemeiner Meinung 38 für die Feststellung der objektiven P1lichtwidrigkeit erforderliche Verletzung einer Rechtsnorm, die dem Schutz des gefährdeten Rechtsguts zu dienen bestimmt sein muß, meine nicht die Notwendigkeit der Verletzung einer konkreten Strafnorm, sondern es genüge der Verstoß gegen ein allgemeines Verbot der Rechtsordnung 39 - hier sei es das Verbot, die Gesundheit anderer zu gefährden40 • Dieses allgemeine Verbot folge bereits aus Art. 2 Abs. 2 Satz I GG, in dem die körperliche Unversehrtheit grundrechtlich geschützt werde 41 • Darüber hinaus sei ohnehin ein Verstoß gegen § 30 Ziff. 2 LMBG gegeben, der die Inverkehrgabe gefährdender Gegenstände / Mittel verbiete 42 • Infolgedessen liege die objektive P1lichtwidrigkeit des Vorverhaltens Inverkehrgabe vor. Besonders hebt der BGH dabei hervor, daß die objektive P1lichtwidrigkeit gerade nicht das Vorliegen eines Sorgfaltsp1lichtverstoßes 'erfordere43 , d.h. daß das Verhalten der Angeklagten nicht fahrlässig gewesen sein müsse. Der Senat kommt hier über das Problem der fehlenden Kenntnis der Angeklagten von der Gefährlichkeit ihrer Produkte dadurch hinweg, daß er das Vorverhalten allein am objektiven Verstoß gegen die oben genannten Normen festmacht. Die (Un-) Kenntnis der Angeklagten von der Gefährlichkeit des eigenen Verhaltens wird demnach als irrelevant bewertet. Erforderlich sei nicht die persönliche Vorwerfbarkeit des Vorverhaltens, sondern die objektive P1lichtwidrigkeit könne bereits aus der rechtlichen Mißbilligung des Gefährdungserfolgs - also bereits aus der rein objektiv zu beurteilenden Gefahrverursachung für die Verbraucher - gefolgert werden44 . Da die objektive P1lichtwidrigkeit keine J7

BGHSt 37, 117 - Gebot des neminem laede-.

BGHSt 34, 82; LKlJescheck, § 13 Rn. 33; Sch/Sch/Stree, § 13 Rn. 35a; SKI Rudolphi, § 13 Rn. 38 ff.; Wesseis, Rn. 725. J9 BGHSt 37, 117. J"

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Hiergegen richtet sich Brammsen, Entstehungsvoraussetzungen, S. 287 f.

BGHSt 37,117; diesbezüglich ablehnend: Brammsen, GA 1993, 101 f. 42 BGHSt 37,118. 41

4JBGHSt37,119. 44 BGHSt 37, 119. Auf ähnliche Weise hatte der BGH bereits in BGHSt 34, 82 die GarantensteIlung eines Pkw-Fahrers aus Ingerenz begründet. Kritisch hierzu äußert sich Herzberg in seiner Urteilsbesprechung, JZ 1986, 986. Ebenfalls ablehnend zum Urteil, aber auch kritisch gegenüber Herzbergs Argumentation: Ranft, JZ 1987, 864 f. Zustimmend zu diesem Urteil: Walther, S. 222 Fn. 258.

Leitsatz 2: GarantensteIlung bei Unterlassungsstrafbarkeit

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persönliche Vorwertbarkeit in Form einer subjektiven Sorgfaltspflichtwidrigkeit erfordere, komme es auf die Kenntnis von etwaigen Schadensmeldungen nicht an. Kurz geht der BGH noch auf den Gesichtspunkt des erlaubten Risikos bezüglich des Vorverhaltens ein. Da es sich bei den schadensverursachenden Sprays aber nicht nur um sogenannte "Ausreißer" gehandelt habe, habe sich das Vorverhalten auch nicht im Rahmen des erlaubten Risikos gehalten 45 und ein Ausschluß der objektiven Pflichtwidrigkeit hierdurch sei nicht gegeben 46 • -

Zwischenergebnis nach der Ansicht des BGH

Nach alledem stellt der BGH im Ergebnis die objektive Pflichtwidrigkeit des Vorverhaltens der Angeklagten fest. Die Garantenstellung wird unter dem Gesichtspunkt der Ingerenz47 begründet, wobei das vorangegangene gefährdende Tun in der Inverkehrgabe der Produkte gesehen wird48 • Die Argumentation des BGH ist im Schrifttum heftig kritisiert worden. Die Gegenargumente sollen im folgenden dargestellt und im Anschluß im Rahmen einer Stellungnahme ausgewertet werden. 11. Gegenmeinung

Auch Gegner des Urteils sehen teilweise in der objektiven Pflichtwidrigkeit des Vorverhaltens eine Voraussetzung für die Entstehung der Garantenpflicht aus Ingerenz49 • Um dieses Merkmal aber bejahen zu können, verlangen sie, daß das Vorverhalten einen objektiven Sorgfaltspflichtverstoß darstelle 50 , d.h. das Vor45

BGHSt 37,118.

4' Im Ergebnis ebenso: Beulke / Bachmann, JuS 1992, 741; auf die etwas abweichende

Begründung anhand des Kriteriums der Sozialadäquanz soll hier angesichts der übereinstimmenden Ergebnisse nicht weiter eingegangen werden. 47 Zustimmend: LK/Jescheck, § 13 Rn. 33; Kassebohm/Malorny, BB 1994, 1367; anders argumentiert Schünemann, wistra 1982, 44, der das Bestehen einer GarantensteIlung des Herstellers fiir seine bereits im Verkehr befindlichen Produkte grundsätzlich dann verneint, wenn bei Inverkehrgabe der Produkte deren Gefährlichkeit nicht erkennbar war. 4N BGHSt 37, 115. 49 Samson, StV 1991, 184; SK / Rudolphi, § 13 Rn. 39; anders Kuhlen, NStZ 1990, 568, der auf dieses Merkmal verzichten möchte. 50 Dreher, ZGR 1992, 47; Samson, StV 1991, 184; SK / Rudolphi, § I3 Rn. 39a; das wird auch vom BGH nicht abgelehnt, BGHSt 37, 116 ff.

3 Weißer

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Teil I: Die Grundsätze des Lederspray-Urteils des BGH

verhalten muß nach ihrer Meinung objektiv fahrlässig gewesen sein, um Anknüpfungspunkt einer GarantensteIlung aus Ingerenz sein zu können. Objektive Fahrlässigkeit bzw. ein objektiver Sorgfaltspflichtverstoß wiederum könnten aber nur bei objektiver Vorhersehbarkeit der Gefahrverursachung bejaht werden, die damit zur Voraussetzung einer GarantensteIlung aus Ingerenz werde 51 . Die Gefahrschaffung könne nur dann strafbewehrte Erfolgsverhinderungspflichten nach sich ziehen, wenn sie bereits ex ante - und nicht erst nach Vorliegen des Gefährdungserfolgs - rechtliche Mißbilligung erfahre52 . Hier stellt sich das bereits erwähnte53 Problem, daß in dubio pro reo von Unkenntnis der Schadensereignisse im Zeitpunkt der Inverkehrgabe der Produkte ausgegangen werden muß. Damit ist zu unterstellen, daß die Angeklagten mangels Schadensmeldungen noch keine Anzeichen für Produktfehler beobachten konnten. Infolgedessen ist die Vorhersehbarkeit des durch Inverkehrgabe herbeigeführten Gefährdungserfolgs zu diesem Zeitpunkt abzulehnen. Dann scheitert für die Kritiker des Urteils hier an der fehlenden Vorhersehbarkeit des Gefährdungserfolgs die objektive Pflichtwidrigkeit des Vorverhaltens Inverkehrgabe der Produkte54 . Da die objektive Pflichtwidrigkeit des Vorverhaltens aber von einigen als unerläßliche Voraussetzung der IngerenzGarantensteIlung angesehen wird 55 , ist eine Begründung der Garantenstellung unter Zugrundelegung dieser Ansicht nicht möglich und mit den Argumenten des BGH nicht zu vereinbaren. Die Ansicht des BGH, die objektive Pflichtwidrigkeit des Vorverhaltens ergebe sich aus der rechtlichen Mißbilligung des Gefährdungserfolgs 56 , erhält eine unmißverständliche Absage 57 • Die Herbeiführung des Gefährdungserfolgs - gleichgültig, wie groß dieser auch sei - sei bereits im Kriterium der Gefährlichkeit des Vorverhaltens enthalten 58 und könne für sich allein noch kei51 Beulke / Bachmann, JuS 1992, 739; Brammsen, GA 1993, 109, 120; Eidam, S. 132; Samson, StV 1991, 184; SKI Rudolphi,§ 13 Rn. 39b; anders Kuhlen, NStZ 1990,569. 52 So Kuhlen, NStZ 1990, 568; Neudecker, S. 102; Sch / Sch / Stree, § 13 Rn. 35; SK I Rudolphi, § 13 Rn. 39a. 53 S. 31. 54 Beulke / Bachmann, JuS 1992, 740; Brammsen, GA 1993, 109 f., 120; Samson, StV 1991, 184; SK I Rudolphi, § 13 Rn. 39b.

55 Jescheck, § 59 IV 4 a; LKlJescheck, § 13 Rn. 33; SKI Rudolphi, § 13 Rn. 38 ff.; Kohlrausch / Lange, Vorbemerkungen II 3 d. 56 BGHSt 37, 119. 57 Beulke/Bachmann, JuS 1992,739; Brammsen, GA 1993, 102, 107 ff., 120; Dreher, ZGR 1992, 47 ff.; Hilgendorf, Produzentenhaftung, S. 138 ff.; Meier, NJW 1992, 3196; Samson, StV 1991, 184; SKI Rudolphi, § 13 Rn. 39b; dagegen auch Jakobs, 29/Fn. 93a; Kuhlen, NStZ 1990, 568; Puppe, JR 1992, 30; Ransiek, ZGR 1992, 216; in diesem Sinne ablehnend äußert sich auch Herzberg in JZ 1986, 986; insoweit ohne Kritik am Urteil: Dreher / Trändle, § 13 Rn. 11. 5R Kuhlen, NStZ 1990, 568; Puppe, JR 1992, 30.

Leitsatz 2: GarantensteIlung bei Unterlassungsstrafbarkeit

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ne Ingerenz-Garantenstellung begründen59 . Denn darüber hinaus werde mit dem Kriterium der Pflichtwidrigkeit noch ein weiteres Merkmal des Vorverhaltens - nämlich das der objektiven Sorgfaltswidrigkeit - verlangt. Dieses Kriterium sei nur unter der Voraussetzung der objektiven Vorhersehbarkeit des Gefährdungserfolgs zu bejahen 60 • Da diese mangels Kenntnis von den Schadensmeldungen nicht vorliege, könne mit der Argumentation des BGH die objektive Pflichtwidrigkeit des Vorverhaltens und damit die GarantensteIlung aus Ingerenz auch nicht begründet werden 61 • Auch die Berufung auf ein allgemeines Gebot des neminem laede, sowie auf ein aus Art. 2 Abs. 2 GG ableitbares Gebot, andere nicht zu schädigen, vermag die Urteilskritiker nicht zu überzeugen. Denn - so wird kritisiert die Garantenpflichten resultierten nicht aus dem Verfassungsrecht, sondern allein aus strafrechtlich festgelegten Entstehungsgründen. Die Grundrechte seien als negative Abwehrrechte gegen den Staat gestaltet und nicht als den einzelnen Bürger im täglichen Leben verpflichtende Verhaltensmaßregeln 62 • Das neminem laede-Gebot sei auch nicht in einer ausdrücklichen gesetzlichen Verhaltensvorschrift normiert, auf die eine konkrete Strafbarkeit gegründet werden könnte 63 •

IH. Stellungnahme zur Argumentation des BGH und der dazu vorgetragenen Kritik Den Hauptangriffspunkt innerhalb der Argumentation des BGH bildet seine Begründung flir die objektive Pflichtwidrigkeit des Vorverhaltens der Angeklagten. Bisher hatte man die Pflichtwidrigkeit üblicherweise aus dem Zusammenwirken zweier Faktoren abgeleitet: Zunächst wurde festgestellt, daß ein bestimmtes Verhalten eine Gefahr für die Umwelt in einer dem Verursa;9 Freund, Erfolgsdelikt, S. 182 Fn. 82; Hilgendorf, Produzentenhaftung, S. 139 f.; Puppe, JR 1992, 30; so auch schon Ranft, JZ 1987, 865. .

60 Dreher, ZGR 1992, 47; Hilgendorf, Produzentenhaftung, S. 139 f.; Seelmann, GA 1989, 253; anders Kuhlen, NStZ 1990, 568 f. 61 Dencker, FS Wessels/Stree, S. 165; Jakobs, 29/Fn. 93a; Kuhlen, NStZ 1990,567 f., der aber die GarantensteIlung aus Ingerenz dennoch mit anderer Begründung bejaht; LK I Schünemann, § 14 Rn. 15, Fn. 59; Meier, NJW 1992,3196; Puppe, JR 1992,30; Samson, StV 1991, 184. Schünemann (wistra 1982, 44 f.) hat klargestellt, daß für den Fall einer Inverkehrgabe gesundheitsgefahrdender Produkte vor Kenntnis der Gefahrlichkeit die Ingerenz-Garantenstellung mangels objektiver Pflichtwidrigkeit des Vorverhaltens nicht vorliegen könne. Ausdrücklich gegen diese Argumentation: Wagner, S. 85 Fn. 323. Zum gleichen Ergebnis wie der BGH, jedoch mit anderer Begründung, käme hier Herzberg, JZ 1986, 989 f., der anhand des Kriteriums der sog. "Vermeideverantwortlichkeit " bereits im Zeitpunkt der Gefahrschaffung argumentiert. Kritisch hierzu: SKI Rudolphi, § 13 Rn. 40. 62 Brammsen, GA 1993, 104. 63 Brammsen, GA 1993, 104 f.

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Teil 1: Die Grundsätze des Lederspray-Urteils des BGH

cher zurechenbaren Weise erzeugt bzw. vergrößert hat. Anschließend untersuchte man in einem zweiten Schritt die rechtliche Qualität dieser Gefahrschaffung: Handelte der Gefahrverursacher pflichtgemäß oder pflichtwidrig, als er die Gefahr hervorrief? Obwohl der BGH in der Entscheidung den Eindruck erweckt, diese hintereinander geschalteten Prüfungsschritte durchzuführen, erweist sich die Prüfung letztendlich als Zirkelschluß. Zuerst wird festgestellt, daß eine Gefahr für potentielle Produktkonsumenten durch die Inverkehrgabe der fraglichen Produkte geschaffen wurde. Daraufhin wird die Pflichtwidrigkeit dieser Gefahrschaffung mit einigen Argumenten begründet. Diese sollen im folgenden auf ihre Tauglichkeit zur Feststellung der Pflichtwidrigkeit des Vorverhaltens hin untersucht werden. Zunächst führt der BGH an, daß es die Rechtsordnung grundsätzlich verbiete, Gefährdungen für die Umwelt hervorzurufen 64 . Doch dieses allgemeine Gebot der Rechtsordnung vermag für sich allein noch keinen Pflichtwidrigkeitsvorwurf zu begründen: Es ist bereits zwingend im Element der Gefahrschaffung enthalten. Jede Verursachung von Gefahren für die Umwelt widerspricht notwendig dem Verbot, Gefahren für andere zu schaffen. Da die Rechtsordnung es grundsätzlich verbietet, Gefährdungen anderer hervorzurufen, ist gar keine Gefahrschaffung möglich, die diesem Verbot nicht widersprechen würde. Hieraus wird deutlich, daß das Argument des BGH keinen weiteren Grund für die Annahme einer GarantensteIlung liefern kann als wiederum das bereits bejahte Element der Gefahrverursachung (die bereits per se einen Verstoß gegen das neminem laede-Gebot darstellt). Auch der Verstoß gegen die Vorschrift des § 7 Ziff. 2 LMBG 65 ermöglicht noch keine Aussage darüber, ob dieser Verstoß durch pflichtwidriges oder pflichtgemäßes Verhalten hervorgerufen wird. Pflichtwidrigkeit bedeutet die Nichtbeachtung derjenigen Sorgfalt, die vom "Durchschnittsmenschen" im gegebenen Verkehrskreis in der gegebenen Situation erwartet werden darf. Allein ein objektiver Verstoß gegen die Norm des § 7 Ziff. 2 LMBG stellt nur noch einmal fest, was bereits im ersten Prüfungsschritt zur Grundlage der Untersuchung geworden war: Durch Inverkehrgabe der gesundheitsschädlichen Produkte wird eine rechtlich mißbilligte Gefährdung der Umwelt geschaffen. Wie aber das Verhalten, das zu diesem Verstoß führte, rechtlich zu qualifizieren ist - und nur hierum geht es bei der Frage nach der Pflichtwidrigkeit des Vorverhaltens -, darüber kann allein die Verwirklichung des objektiven Tatbestands des § 7 Ziff. 2 LMBG keinen Aufschluß geben.

M

6;

BGHSt 37,117. BGHSt 37, 117 f.

Leitsatz 2: GarantensteIlung bei Unterlassungsstrafbarkeit

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Als weiteres Argument für das Vorliegen der Pflichtwidrigkeit erklärt der BGH, daß zu ihrer Begründung nicht die persönliche Vorwerfbarkeit der Gefahrschaffung im Sinne eines schuldhaften Verhaltens erforderlich sei, sondern daß "insoweit die rechtliche Mißbilligung des Gefährdungserfolgs genügt"66. Die Notwendigkeit eines Sorgfaltspflichtverstoßes durch die gefahrverursachende Handlung wird verneint 67 . Zuzustimmen ist dem BGH hierbei insofern, als das Vorverhalten nicht schuldhaft im Sinne eines subjektiven Sorgfaltspflichtverstoßes gewesen zu sein braucht. Hierbei handelt es sich um ein Schuldelement, das bei der auf Tatbestandsebene festzustellenden GarantensteIlung keine Rolle spielt. Wenn aber darüber hinaus ein objektiver Sorgfaltspflichtverstoß nicht erforderlich sein soll, dann genügt für die Begründung einer GarantensteIlung aus vorangegangenem gefahrdendem Tun allein die Gefahrverursachung. Daß der BGH in Wahrheit eine objektive Sorgfaltspflichtwidrigkeit nicht verlangt 68 , wird aus seinen Ausführungen ersichtlich: Wenn die Gefahrverursachung nicht sorgfalts-(pflicht-)widrig erfolgen muß, dann genügt jegliches gefahrdende Vorverhalten zur Begründung der GarantensteIlung. Das wäre die Folge davon, wenn statt des Vorliegens eines Sorgfaltspflichtverstoßes bereits die rechtliche Mißbilligung des Gefahrdungserfolgs zur Begründung der Pflichtwidrigkeit genügen sollte. Denn diese Mißbilligung des Gefahrdungserfolgs besteht unabhängig von einer speziellen rechtlichen Qualifizierung des Vorverhaltens. Die rechtliche Mißbilligung des Gefährdungserfolgs tritt ein mit dem faktischen Vorliegen dieses Gefährdungserfolgs - das ist Folge des rechtlichen Gebots des neminem laede. Sie sagt aber noch nichts darüber aus, ob das Vorverhalten (weder objektiv noch subjektiv sorgfalts-)pflichtwidrig war. Mit diesem Argument formuliert der Senat den oben bereits als solchen abgelehnten Zirkelschluß explizit aus. Der BGH wiederholt lediglich die ohnehin bereits festgestellte Tatsache, daß durch das Verhalten der Produzenten eine Gefahr für die potentiellen Konsumenten hervorgerufen wurde und daß diese Gefahr rechtlich mißbilligt ist. Da weitere Argumente für die Begründung der Pflichtwidrigkeit des Vorverhaltens nicht angeführt werden, ist die Argumentation des BGH abzulehnen. In Wahrheit kann eine Pflichtwidrigkeit des Vorverhaltens nicht nachgewiesen werden. Hierzu wäre erforderlich, daß das Verhalten der Angeklagten bereits ex ante als objektiv pflichtwidrig zu beurteilen wäre. Denn nur dann kann ein über die Voraussetzung der rechtlich mißbilligten Gefahrschaffung hinausgehendes weiteres Element des Vorverhaltens bejaht werden. Für eine 66BGHSt37,119. 67

BGHSt 37,119.

Ebenso gesehen von: Amelung, S. 73 f.; Kuhlen, GA 1994, 349; LK / Schünemann, § 14 Rn. 15, Fn. 59. 6R

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ex ante-Mißbilligung des gefahrverursachenden Verhaltens müßte aber die drohende Gefahrverursachung objektiv vorhersehbar gewesen sein, denn nur bei objektiver Vorhersehbarkeit kann ein objektiver Sorgfaltspflichtverstoß und damit ein pflichtwidriges Verhalten vorliegen. Dies war aufgrund der diesbezüglich unsicheren Tatsachengrundlage gerade nicht der Fall: Da die drohende Gefahr im Zeitpunkt der Inverkehrgabe noch nicht erkennbar war, konnte die objektive Pflichtwidrigkeit ebenfalls nicht vorliegen. Das Element der Gefahrschaffung vennag diesen Nachweis für sich allein noch nicht zu erbringen. Daß neben diesem Element aber keine der anderen Komponenten des vorangegangenen gefährdenden Tuns durch den Senat nachgewiesen werden konnte, wurde durch die dargelegte Analyse deutlich. Insofern ist den Kritikern des Urteils 69 zuzustimmen, als die Argumente des BGH für ein Vorliegen objektiver Pflichtwidrigkeit wegen des fehlenden objektiven Sorgfaltspflichtverstoßes des Vorverhaltens nicht überzeugen. Vielmehr folgert der Senat unzulässigerweise aus dem Element der objektiven Gefahrschaffung an sich die Pflichtwidrigkeit dieser Gefahrverursachung. -

Ergebnis

Mit der Argumentation des BGH ist die Begründung einer Garantenstel!ung der Angeklagten aus Ingerenz mangels Pflichtwidrigkeit des gefährdenden Tuns nicht möglich. IV. Lösungsvorschläge der Urteilskritiker So einig sich die Kritiker in ihrer Ablehnung der Argumentation des BGH zur GarantensteIlung aus Ingerenz sind, so unterschiedlich fallen ihre eigenen Vorschläge zur Beurteilung des Sachverhalts aus. Die verschiedenen Meinungen sollen im folgenden zunächst grob in Gruppen eingeteilt und dann jeweils einer speziellen Würdigung unterzogen werden. Die Ansicht, eine GarantensteIlung aus Ingerenz gebe es schon konstruktiv als Rechtsfigur nicheo, soll hierbei nicht berücksichtigt werden, da die diesbezügliche Diskussion sich zu weit von der Materie des Lederspray-Urteils entfernen würde. 09 Beulke/Bachmann, JuS 1992, 739; Brammsen, GA 1993, 197 ff., 120; Hilgendorf, Produzentenhaftung, S. 138 ff.; Meier, NJW 1992, 3196; Neudecker, S. 102; Samson, StV 1991, 184; SK/Rudolphi, § 13 Rn. 39b; Jakobs, 29/Fn. 93a; Kuhlen, NStZ 1990,568; Puppe, JR 1992,30; Ransiek, ZGR 1992,216. 70 Mit unterschiedlicher Begründung wird diese Meinung vertreten von: Brammsen, Entstehungsvoraussetzungen, S. 392, 402 f.; Lampe, ZStW 72 (1960), 105, 106; Langer, S. 504 f.; Pfleiderer, S.95, 158 f., 162. Kritisch zu Pfleiderers Ansicht: Schünemann, Grund und Grenzen, S. 89; Maurach/Gössel/Zipf, AT 2, § 46 II Rn. 62.

Leitsatz 2: GarantensteIlung bei Unterlassungsstrafbarkeit

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Abgesehen hiervon gibt es zwei mögliche Lösungswege: Man könnte eine Garantenstellung der Angeklagten bejahen. Dann wäre eine Strafbarkeit aus einem unechten Unterlassungs(Körperverletzungs-)delikt möglich. Die andere Lösungsmöglichkeit liegt in der Ablehnung einer Garantenstellung. Die Gegner71 einer Garantenstellung für den vorliegenden Fall wollen am Kriterium der Pftichtwidrigkeit als Voraussetzung der Ingerentenhaftung festhalten, diese aber mangels Vorhersehbarkeit der Gefahren ablehnen 72 • Damit scheidet für sie zunächst eine Garantenstellung aus Ingerenz aus 73 . Da sie aber auch nicht die Möglichkeit sehen, eine neue Kategorie von GarantensteIlungen zu schaffen, lehnen sie infolge des Nichtvorliegens der Voraussetzungen anderer Anknüpfungspunkte für eine Garantenstellung (gesetzliche Normierung, vertragliche Übernahme, enge Lebensgemeinschaft) diese vollständig ab 74 • Eine Unterlassungsstrafbarkeit der Angeklagten muß dann ausscheiden. Folgte man dieser Meinung, so wäre die rechtliche Würdigung des Sachverhalts bereits hier mit dem Ergebnis der Straftosigkeit der Angeklagten wegen durch Unterlassen verursachter Körperverletzungen abgeschlossen. In Betracht käme dann allenfalls die Stratbarkeitsbegründung aus § 323c StGB. Demgegenüber spricht sich die Mehrheit der Autoren im Ergebnis für eine Garantenstellung der Angeklagten aus und läßt damit eine Unterlassungsstrafbarkeit möglich erscheinen. Unter diesen Autoren sind wiederum zwei Strömungen zu unterscheiden: Von einem großen Teil des Schrifttums wird die Begründung der Garantenstellung aus Ingerenz befürwortet. Während der BGH 75 die Garantenstellung aus Ingerenz unter Beibehaltung des Pftichtwidrigkeitskriteriums bejaht, halten die Gegner76 seines Begründungsansatzes dies nur unter Verzicht auf das Pftichtwidrigkeitskriterium für möglich 77 . Dabei wird teilweise der ersatzlose Verzicht auf die Pftichtwidrigkeit befürwor71 Samson, StV 1991, 184; ähnlich Schünemann wistra 1982,44 f.; ders., Unternehmenskriminalität, S. 99. 72 So Schünemann bereits in wistra 1982, 44 f. 73 Vgl. Samson, StV 1991, 184. 74 Samson, StV 1991, 184; Schünemann stellte (in: wistra 1982,45) bereits fest, daß eine strafrechtlich sanktionierte Rückrufpflicht gesundheitsgefahrdender Produkte nicht existent sei. Ebenso Schmid, SchwZStR 105 (1988), 156 ff. (insb. 167 f.), der hierfür eine gesetzliche Normierung verlangt. Ausdrücklich gegen Schünemann: Freund, Erfolgsdelikt, S. 218 Fn. 79; ablehnend auch Ransiek, ZGR 1992,216. 75 BGHSt 37, 118 f.; zustimmend Dreher / Tröndle, § 13 Rn. 11. 76 Beulke / Bachmann, JuS 1992, 739 f.; Eidam, S. 132 f.; Kuhlen, NStZ 1990, 568; Meier, NJW 1992, 3196. 77 Eidam, S. 133; Kuhlen, NStZ 1990, 568; Meier, NJW 1992, 3196; in diesem Sinne auch: Arzt, JA 1980, 714; Baumann/Weber, § 18 II 4 c; Freund, JuS 1990, 216; Maurach / Gössel/Zipf, AT 2, § 46 11 5 a aa, Rn. 99; Rengier, JuS 1989, 807; Timpe, S. 183; Wagner, S. 85.

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teeS, von anderen 79 werden neue Begrenzungskriterien einer Ingerenten-Haftung vorgeschlagen. Dem stehen diejenigen Autoren gegenüber, die die Begründung einer strafrechtlichen GarantensteIlung entweder in Anlehnung an zivilrechtliche Produktbeobachtungspflichten SO oder unter dem Gesichtspunkt der Verantwortlichkeit für eröffnete Gefahrenquellen S! für möglich halten. Andere verquikken beide Ansätze und führen die Verantwortlichkeit für die Gefahrenquelle auf zivilrechtliche Verkehrspflichten zurück S2 . Die verschiedenen Meinungen sollen im einzelnen dargestellt und erörtert werden. 1. Befürworter einer GarantensteIlung aus Ingerenz

Die BefülWorter einer Ingerenz-Garantenstellung fordern teilweise einen ersatzlosen Verzicht auf das Ptlichtwidrigkeitskriterium, teilweise die Einführung anderer Kriterien zur Beurteilung der Ingerenz.

a) Ersatzloser Verzicht auf das Kriterium der Pflichtwidrigkeit des Vorverhaltens? -

" Theorie der reinen Gefahrschaffung .. S3

Eine sehr weite Meinung zur GarantensteIlung aus Ingerenz vertreten diejenigen, die für deren Begründung schon ein gefahrverursachendes Verhalten allein genügen lassen s4 • Für sie spielt eine rechtliche Qualifizierung des Vor7. Arzt, JA 1980,714; BaumannlWeber, § 1811 4 c; Maiwald, JuS 1981,483. 79 Beulke I Bachmann, JuS 1992, 739 f.; Freund, Erfolgsdelikt, S. 217 f.; Jakobs, 29/42; Kuhlen, NStZ 1990, 568; Meier, NJW 1992, 3196; Timpe, S. 183 f. HO Hassemer, JuS 1991, 253; Hilgendorf, Produzentenhaftung, S. 141; möglicherweise auch Puppe, JR 1992, 30, und Hirte, JZ 1992, 257. Jedenfalls wurde der zugrundeliegende Fall vom Ausgangsgericht LG Mainz unter Zugrundelegung der (zivilrechtlichen) Produktbeobachtungspfticht entschieden, vgl. LG Mainz in Schmidt-Salzer, Entscheidungssammlung, IY.3.22 (27 f.); zustimmend zu diesem Ansatz auch Kassebohm I Malorny, BB 1994, 1366 f. 81 Ransiek, ZGR 1992,215; unabhängig vom hier behandelten Sachverhalt Rengier, JuS 1989,807,809. 82 GolI, Produkthaftungshandbuch, § 45 Rn 13 ff.; Jescheck, § 59 IV 4 b; Wesseis, Rn. 723. 83 Die Bezeichnung stammt nicht von den Vertretern dieser Meinung, sondern wurde der Einfachheit halber vom Verfasser gewählt. 84 Arzt, JA 1980, 714; BaumannlWeber, § 18 11 4 c; KaufmannlHassemer, JuS 1964,

Leitsatz 2: GarantensteIlung bei Unterlassungsstrafbarkeit

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verhaltens keine Rolle. Dadurch wird für die Vertreter dieser Ansicht die Vorhersehbarkeit der Gefahrbegründung irrelevant. Entscheidend ist allein die Zurechenbarkeit der Gefahrschaffung. Begründet wird die Auffassung zunächst mit einem systematischen ArgumentS': Da auch die Entstehung der anderen Garantenstellungen (Vertrag, Gesetz, enge Lebensgemeinschaft) nicht an ein einschränkendes Merkmal der Ptlichtwidrigkeit geknüpft sei, sei es systemwidrig, einzig im Falle der Ingerenz Ptlichtwidrigkeit des Vorverhaltens zur Begründung der Garantenposition zu verlangen s6 . Es bestehe kein hinreichender Grund, bei der Ingerenz eine Ausnahme von dem Prinzip zu machen, daß die Begründung einer Garantenstellung auch an durchaus rechtmäßige Faktoren - wie beispielsweise Vertrag oder Gesetz - geknüpft sein könne. Außerdem werde der potentielle Garant durch das Kriterium der Ptlichtwidrigkeit quasi zum "Richter in eigener Sache" erhoben s7 • Dadurch, daß die Ptlichtwidrigkeit als Merkmal des objektiven Tatbestands dienen solle, müsse der Ingerent diese Ptlichtwidrigkeit auch in seinen Vorsatz aufgenommen haben, damit eine Strafbarkeit entstehen könne. Dann müsse er aber selber prüfen, ob sein Vorverhalten rechtbzw. ptlichtmäßig oder ptlichtwidrig warss . Eine derartige Prüfung sei dem Ingerenten einerseits nicht zumutbar, bereite andererseits aber auch im Rahmen der Strafverfolgung Schwierigkeiten, da der Täter sich diesbezüglich jeweils darauf berufen könne, die Ptlichtwidrigkeit seines Vorverhaltens nicht erkannt zu haben und sich somit der Bestrafung entziehen könne.

153; Maiwald, JuS 1981, 483; dagegen äußern sich Herzberg, JZ 1986, 988; Hruschka, S. 130; LK lJescheck, § 13 Rn. 31. M5 Arzt, JA 1980,714; Kau[mann/Hassemer, JuS 1964, 153. R. SO auch gesehen von Rengier. JuS 1989, 807, und Seelmann, GA 1989, 255, die aber dennoch die Gefahrverursachung allein als Voraussetzung einer GarantensteIlung nicht genügen lassen wollen, vgl. Rengier, a.a.O., sowie Seelmann, a.a.O., S. 253. M7 Welp, S. 257. RX Auf die Spitze getrieben wird dieser Ansatz bei Brammsen, Entstehungsvoraussetzungen, S. 424 ff. Er lehnt eine Existenzberechtigung der Ingerenz-Garantenstellung rundweg ab (S. 392). Stattdessen nimmt er bei Ingerenz-Konstellationen Begehungsdelikte an (S. 402 f.). Grundsätzlich verlangt er hierbei - wie bei allen Begehungsdelikten - vor Prüfung der Tatbestandsmäßigkeit einer Handlung die Prüfung der Rechtswidrigkeit. Durch diese Vorrangigkeit der Rechtmäßigkeitsprüfung muß grundsätzlich vorab eine wertende Betrachtung der Umstände in Fonn einer gegenseitigen Interessenabwägung Opfer- Täter erfolgen. Daß dies die gleichen Schwierigkeiten mit sich bringt, die Welp, S. 257, im Rahmen der Ingerenz befiirchtet, räumt er aber auch selbst ein, S. 428. Gegen Brammsen: Herzberg, JZ 1986, 988 Fn. 22; Maurach / Gössel/Zipf, AT 2, § 46 II Rn. 62.

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Teil I: Die Grundsätze des Lederspray-Urteils des BGH

Beurteilung des Falles nach dieser Ansicht

Da es sich bei der Inverkehrgabe hergestellter Konsumartikel um ein dem Produzenten sowie den Vertriebshändlern zurechenbares Verhalten handelt89 sie steuern diese Prozesse -, käme diese Meinung über das Problem der fehlenden Vorhersehbarkeit hinweg. Wenn die zurechenbare Gefahrschaffung als Anknüpfungspunkt für die Ingerenz-Garantenstellung genügen soll, ist ein Urteil über die fragliche Pftichtwidrigkeit des Verhaltens nicht erforderlich und damit kann eine Garantenstellung aus Ingerenz allein wegen des Faktors der zurechenbaren Gefahrschaffung entstehen. Die Lösung im Lederspray-Fall würde damit lauten: Die Angeklagten waren Garanten für den Nichteintritt von Körperschäden bei den Konsumenten, da sie die diesbezügliche Gefahr durch Inverkehrgabe der gefährlichen Produkte in zurechenbarer Weise verursacht haben 90.

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Stellungnahme zur Theorie der reinen GefahrschafJung

Zwar ermöglicht der ersatzlose Verzicht auf das Kriterium der Pftichtwidrigkeit unproblematisch die Begründung einer Ingerenz-Garantenstellung, weil die zurechenbare Gefahrverursachung hierfür als ausreichend erachtet wird 91 • Folge dieser Meinung ist aber, daß jedes wie auch immer geartete Verhalten zur Begründung der Ingerenz-Garantenstellung grundsätzlich geeignet wäre. Dann müßte jeder auch noch so sorgfältig und umsichtig handelnde Mensch stets seine Umwelt genauestens auf durch ihn möglicherweise verursachte Gefährdungen hin untersuchen. Denn würde er dies nicht tun, so liefe er Gefahr, wegen eines - fahrlässigen - unechten Unterlassungsdelikts belangt zu werden. Der Anwendungsbereich der Garantenstellung aus Ingerenz würde damit eine uferlose Ausdehnung erfahren, und auch bei durchaus sorgfältigem Alltagsverhalten wäre jeder unentwegt der Gefahr der Straffälligkeit ausgesetzt. Ein solcher Zustand wäre aus Sicht potentieller Opfer und auch im Zuge einer "solidarischen" Gesellschaft möglicherweise wünschenswert, doch ist er

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Vgl. zu diesem Thema bereits die Argumentation oben S. 26 ff.

Gerade weil viele Urteilskritiker - so Beulke / Bachmann, JuS 1992, 739; Brammsen, GA 1993, 107 ff., 120; Hilgendorf, Produzentenhaftung, S. 138 ff.; LK/Schünemann, § 14 Rn. 15, Fn. 59; Meier, NJW 1992,3196; Puppe, JR 1992,30; SKI Rudolphi, § 13 Rn. 39b - in der Argumentation des BGH in Wahrheit diesen Ansatz - nämlich den ersatzlosen Verzicht auf das Kriterium der Ptlichtwidrigkeit - erkennen, protestieren sie so scharf dagegen. So erteilt die ganz überwiegende Meinung dieser Ansicht eine scharfe Absage. 90

91 So vertreten von den Anhängern der Theorie der reinen Gefahrschaffung: Arzt, JA 1980,71 4 ; Baumann/Weber, § 18 II 4 c; Maiwald, JuS 1981,483.

Leitsatz 2: GarantensteIlung bei Unterlassungsstrafbarkeit

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im Interesse der Bestimmtheit strafrechtlicher Tatbestände und der Berechenbarkeit des Rechtsstaats für seine Mitglieder nicht gut praktikabel. Die zu erwartende Ausdehnung der Strafbarkeit wegen Unterlassens erweist sich als nicht hinnehmbar. Bedenken könnten sich hierbei auch aus dem verfassungsrechtlichen Gebot des Art. 103 Abs. 2 GG - Grundsatz des nulla poena sine lege - ergeben.

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Ergebnis

Damit ist die Lehre von der Begründung einer Ingerenz-Garantenstellung durch reine Gefahrverursachung mit der h.M. 92 abzulehnen.

b) Verzicht auf das Pflichtwidrigkeitskriterium unter Einführung anderer einschränkender Kriterien? Diejenigen Urteilskritiker, die zwar die Argumentation des BGH ablehnen93 , dennoch eine Begründung der GarantensteIlung mit dem Ingerenz-Gedanken befürworten, schließen sich zum Teil der schon länger diskutierten Meinung an, die sich vom Kriterium der Pftichtwidrigkeit als Instrument zur Beschränkung der Ingerentenhaftung abwendet 94 • Zwar halten sie einen ersatzlosen Verzicht auf das Kriterium der Pftichtwidrigkeit innerhalb der Ingerenz für unzulässig, da dann eine uferlose Haftungsausdehnung drohe 95 . Insofern stimmen sie auch mit den Gegnern 96 ihrer eigenen Meinung überein. Um der Gefahr der Haftungsausweitung entgegenzuwirken, schlagen sie aber 92 Jescheck, § 59 IV 4 a; Küper, JZ 1981, 573 f.; LK lJescheck, § 13 Rn. 31; Neudecker, S. 100 f.; Roxin, NStZ 1985,321; Schmidhäuser, AT, 12/28, 12/31; SchlSchlStree, § 13 Rn. 35; Stree, FS Klug, S. 398,400; SKI Rudolphi, § 13 Rn. 39. 93 Freund, Erfolgsdelikt, S. 182 Fn. 82, S. 219 Fn. 84; Kuhlen, NStZ 1990, 568; Lackner, § 13 Rn. 13; Meier, NJW 1992, 3196.

94 So bereits Arzt, JA 1980,714; BaumannlWeber, § 1811 4 c; Freund, JuS 1990,216; ders., Erfolgsdelikt, S. 219 Fn. 84; Herzberg, JZ 1986,988; ders., Unterlassung, S. 294 f., 299; Hruschka, S. 130; Jakobs, 29/39; Kuhlen, NStZ 1990, 568; Lackner, § 13 Rn. 13; Maiwald, JuS 1981, 483; Maurach I Gösse! I Zipf, AT 2, § 46 11 5 a aa Rn. 99; Meier, NJW 1992, 3196; 0110, AT, § 9 III I b; Ranft, JZ 1987, 864; Rengier, JuS 1989, 807; Seelmann, GA 1989, 255; Stratenwerth, Rn. 1007 f.; limpe, S. 183; Wagner, S. 85; Welp, S. 234, 257 f.; dagegen: SchlSchlStree § 13 Rn. 37. 95 BeulkelBachmann, JuS 1992,740; Ranft, JZ 1987, 865; so auch SchmidhäuserlAIwart, 12/29. 96 Herzberg, JR 1986, 988; Puppe, JR 1992, 30; SK I Rudolphi, § 13 Rn. 40; ders., JR 1987,162. Darüber hinaus berufen sich die Kritiker auf das Prinzip, daß wertfreie Kausalität allein - ohne den Vorwurf der Ptlichtwidrigkeit - nicht menschliche Verantwortung im Sinne einer Garantenptlicht zur Schadensabwendung begründen könne. Vgl. hierzu SKI Rudolphi, § 13 Rn. 40; Ranft, JZ 1987,864 f.; sowie BGHSt 25, 220.

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Teil I: Die Grundsätze des Lederspray-Urteils des BGH

dann statt der Pflichtwidrigkeit des Vorverhaltens andere Kriterien als Haftungsbegrenzung im Rahmen der Ingerenz vor. aa) Kriterium des gesteigert riskanten Vorverhaltens Ein Ansatz innerhalb dieser Meinung verlangt als Voraussetzung der Ingerenz-Garantenstellung ein gesteigert riskantes Vorverhalten des Ingerenten97 : Zunächst wird hierbei der Handlungsspielraum festgelegt, den jeder Mensch gemeinhin hat, d.h. es wird gefragt, wie sich der "Durchschnittsmensch" im Alltag im Rahmen der Sozialadäquanz üblicherweise verhält. Hiernach bestimmt sich die "Durchschnittsgefährdung", die für andere durch das Alltagsverhalten begründet wird. Anhand dieses vorgegebenen Maßstabs wird ermittelt, ob der potentielle Garant gewisse Pflichten im Hinblick auf eventuell eintretende Gefährdungen seiner Umwelt hat. Bewegt sich sein Verhalten im Rahmen des für jedermann sozial üblichen Handlungsspielraums, so treffen ihn keine Pflichten zur Verhinderung der Realisierung begründeter Gefahren. Sobald er aber seinen Handlungsspielraum erweitert, trägt er auch die Verantwortung hierfür im Hinblick auf Folgen seines Verhaltens für die Umwelt. Wenn nämlich durch die Erweiterung des Handlungsspielraums ein höheres Risiko für das Umfeld verursacht wird, so hat er dafür Sorge zu tragen, daß niemand hierdurch Schaden nimmt 98 • Eine Garantenpflicht zur Verhinderung der Gefahrrealisierung entsteht. Anknüpfungspunkt für die besondere PflichtensteIlung als Ingerent ist nicht zwingend ein pflichtwidriges Vorverhalten, sondern es genügt bereits ein gesteigert riskantes Vorverhalten99 • Dieses gesteigert riskante Verhalten liegt vor, wenn der oben beschriebene "Jedermann-Handlungsspielraum" ausgedehnt wird. Irrelevant ist nach dieser Ansicht, ob die Ausdehnung erlaubt ist. Entscheidend sei allein, daß der potentielle Ingerent eine besondere Verhaltens freiheit für sich in Anspruch nehme, die dazu führe, daß von seinem Verhalten ein - verglichen mit dem "Normalverhalten eines Durchschnittsmenschen" - Sonderrisiko für seine Umwelt 97 Eidam, S. 133; Freund, Erfolgsdelikt, S. 217 f.; Jakobs, 29/42; Kuhlen, NStZ 1990, 568; Meier, NJW 1992, 3196. 9R Jakobs, 29/42; Kuhlen, NStZ 1990, 568; Meier, NJW 1992, 3196; Freund, Erfolgsdelikt, S. 217 f.; so auch schon Welp, S. 257. Nach 1impe, S. 183 ff., kommt es darauf an, ob die eingetretene GeHihrdung auch ohne Mitwirkung ihres Verursachers beseitigt werden kann oder nicht. Je nachdem entsteht für diesen die Erfolgsvermeidepflicht. 99 Eidam, S. 133; Freund, Erfolgsdelikt, S. 217 f., auch Fn. 80; Jakobs, 29/42; Kuhlen, NStZ 1990, 568; Meier, NJW 1992, 3196; ebenso generell für Inanspruchnahme eines auch erlaubten - Sonderrisikos 1impe, S. 183 f. Walther, S. 222, möchte auf die Schaffung einer "nahen Gefahr" durch sorgfaltswidriges Verhalten abstellen. Diese Tendenz zeigt auch Welp, S. 257, 262 ff., insb. S. 265, der auf das Pflichtwidrigkeitskriterium verzichten möchte, die Haftung aber auf eine risikobehaftete Vorhandlung stützt, die für die Umwelt generell gefährlich ist, und deren Gefährlichkeit dem Handelnden auch bewußt ist.

Leitsatz 2: GarantensteIlung bei Unterlassungsstrafbarkeit

45

ausgehe 'oo . Sobald also die Stufe des "Alltagsverhaltens" überschritten wird und dadurch ein besonderes Risiko für die Umwelt entsteht, wird demnach für den Handelnden eine Abwendungspflicht begründet, was die eventuelle Realisierung der erlaubten Gefährdung für die Umwelt betrifft. Das bedeutet, daß ein besonders riskantes Verhalten zwar erlaubt ist, jedoch nur unter der Bedingung einer Verantwortlichkeit für die dadurch begründeten Risiken. Dem potentiellen Opfer wird damit die Pflicht zur Hinnahme der Gefährdung nur dann auferlegt, wenn gleichzeitig der Gefahrverursacher zur Verhinderung der Gefahrrealisierung verpflichtet ist lOl • Die Schutzpflicht gegenüber dem gefährdeten Opfer besteht dabei unabhängig von der rechtlichen Erlaubnis zur Begründung des Sonderrisikos,02• Dies führt insbesondere dazu, daß es der objektiven Vorhersehbarkeit der Gefahrverursachung nicht bedaIf o3 . Damit kommt diese Meinung problemlos über die diesbezügliche Schwierigkeit des Sachverhalts hinweg.

-

Jakobs' Organisationskreise

Jakobs '04 erklärt das angesprochene Modell anhand sogenannter "Organisationskreise". Unter "Organisationskreis" versteht er hierbei den persönlichen Einwirkungsbereich jedes Menschen, innerhalb dessen er Lebenssachverhalte steuert oder beeinflußt ,05 . Jeder hat innerhalb dieses Organisationskreises für sich selbst Vorsorge zu treffen gegen alle Risiken, die sich unter das allgemeine, im Zusammenleben mit anderen unvermeidbare, Lebensrisiko fassen lassen. Das sind einerseits diejenigen Gefährdungen, die durch das eigene Alltagsverhalten, andererseits aber auch diejenigen Gefährdungen, die durch das von jedermann zu erwartende Alltagsverhalten der Mitmenschen begründet werden. Grundsätzlich hat dabei niemand die Pflicht, Gefahren entgegenzuwirken, die innerhalb eines fremden Organisationskreises drohen. Sobald man aber innerhalb des eigenen Organisationskreises bestimmte Sonderrechte in Anspruch nimmt, durch die man ein - wenn auch erlaubtes 106 - Risiko für andere begründet, ist man verpflichtet, die Realisierung dieses Risikos in einem

100 101

102 103

104

lOS 106

Jakobs, 29/42; Meier, NJW 1992, 3196. Welp, S. 233; so auch Freund, Erfolgsdelikt, S. 217 f.; Meier, NJW 1992, 3196. Iimpe, S. 183. Vgl. Kuhlen, NStZ 1990,3196; Wagner, S. 85. Jakobs, 29/29 ff. Vgl. Jakobs, 7/48, 7/56. Jakobs 29/39.

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Teil I: Die Grundsätze des Lederspray-Urteils des BGH

Schadensereignis zu verhindem 107 • Befindet sich dabei die durch den potentiellen Garanten begründete Gefahr noch innerhalb seiner eigenen Einwirkungsmöglichkeiten - also innerhalb seines eigenen Organisationskreises -, so treffen ihn diesbezüglich sogenannte l08 "Sicherungspflichten" 109. Sobald aber die Gefahr dem Handelnden sozusagen "aus der Hand genommen" wird, indem sie nämlich den eigenen Organisationskreis verläßt, ändert sich seine PflichtensteIlung. Dann treffen den potentiellen Garanten sogenannte "Rettungspflichten"IIO innerhalb eines fremden Organisationskreises 111. Aus Opfersicht betrachtet bedeutet dies, daß bei einer Überschreitung der Schwelle des allgemeinen Lebensrisikos durch riskantes Verhalten Dritter der Gefahrverursacher zur "Rettung" innerhalb des eigenen Organisationskreises verpflichtet ist, sollte das Risiko sich tatsächlich realisieren ll2 . -

Übertragung der Argumentation auf den zu beurteilenden Fall

Übertragen auf den hier vorliegenden Fall strafrechtlicher Produkthaftung bedeutet dies: Das Verhalten der Produzenten! Vertriebshändler des Produkts müßte gesteigert riskant sein. Obwohl einige Vertreter dieser Meinung das Merkmal gesteigert riskanten Vorverhaltens noch für konkretisierungsbedürftig halten ll3 , so besteht doch Einigkeit darüber, daß durch die Produktion von Massenkonsumartikeln ein gewisses Sonderrisiko für die Umwelt begründet wird ll4 . Das erscheint auch einsichtig: Verglichen mit dem "unumgehbaren 107 Das gilt bei ihm gleichennaßen furBegehungs- wie auch Unterlassungsdelikte, vgl. 7/56, 29/39. Deswegen ist auch bei der Strafbarkeit aus einem Begehungsdelikt eine Garantenstellung des Täters bezüglich des Nichteintritts des Taterfolgs erforderlich, 7/58. 10' Tenninologie nach Jakobs 29/38. 109 Beispiele hierfur könnten sein: Der Betreiber einer gefahrlichen Anlage hat dafur Sorge zu tragen, daß diese Anlage ausreichend gegen umweltgefahrdende Störungen im Betriebsablauf gesichert ist. Oder: Der Baustellenleiter / Bauherr ist dafur verantwortlich, daß es spielenden Kindern nicht möglich ist, die gefahrliche Baustelle zu betreten. Vgl. auch die Beispiele bei Jakobs, 29/31. 110 Jakobs, 29/38, 29/ 44a. 111 Ein Beispiel fur den Zeitpunkt des Umschlagens in Handlungspflichten innerhalb eines fremden Organisationskreises könnte sein: Der Kunde eines Autohauses verläßt die Werkstatt nach der Reparatur mit einem nicht verkehrssicheren Pkw - dann schuldet der Werkstattinhaber die "Rettung" des Kunden. 112 Ähnlich auch Meier, NJW 1992, 3196. 113 Vgl. Kuhlen, NStZ 1990, 568 f.; wohl auch Meier, NJW 1992, 3196. S.a. Timpe, S. 184, der das Beschränkungskriterium des in Anspruch genommenen Sonderrisikos nicht fur ausreichend hält. 114 Gegen die generelle Einstufung der Produktion als gesteigert riskantes Verhalten: Dreher, ZGR 1992, 48.

Leitsatz 2: GarantensteIlung bei Unterlassungsstrafbarkeit

47

alJtäglichen Verhalten"115 eines Menschen hat das Verhalten desjenigen, der Waren produziert, die andere in großen Mengen konsumieren, einen ungleich größeren Bezug zur Außenwelt. Dieses Verhalten wirkt hinein in das Leben einer unüberschaubaren Menge anderer Menschen - der Konsumenten. Wenn hierbei dem Produzenten ein Fehler unterläuft und sein Produkt in nicht einwandfreiem Zustand ist, so ist durch diesen Fehler nicht nur er selber oder sein unmittelbares Umfeld betroffen, sondern es sind unzählige Menschen gefährdet. Nicht nur, daß sein Verhalten sich auf einen unüberschaubaren Kreis von Konsumenten auswirkt, darüber hinaus haben diese auch nicht die Möglichkeit, sich gegen Gefahren, die von Produkten ausgehen, ausreichend effektiv zu schützen 116. Denn in der Regel sind dem Konsumenten (Laien) weder die Inhaltsstoffe des gekauften Produkts, noch deren Wirkungen bekannt. Hieraus erklärt sich das Sonderrisiko, das im Verhalten eines Produzenten von Konsumartikeln - beziehungsweise des für den Produktionsprozeß Verantwortlichen - zu sehen ist. Auf gleiche Weise läßt sich das gesteigerte Risiko des Verhaltens der Vertriebshändler von Konsumartikeln begründen: Auch ihr Verhalten wirkt sich auf eine sehr große Anzahl von Menschen aus, die keinen Einfluß auf die Beschaffenheit der erworbenen Produkte haben. Die Abnehmer müssen darauf vertrauen, daß sowohl HerstelJer (durch die Produktion mit einwandfreien Materialien und in ungefährlichen Zusammensetzungen der Grundstoffe), als auch Vertreibender (beispielsweise durch ordnungsgemäße Zwischenlagerung) gesundheitlich unbedenkliche Waren in Umlauf bringen. Beide Verhaltens formen - sowohl Produktion als auch Vertrieb - stelJen die Inanspruchnahme einer besonderen Handlungsfreiheit dar: Nicht jedermann ist es erlaubt, Produkte aus eigener HerstelJung am Markt anzubieten oder als Vertriebshändler zu agieren. Vorher ist die Einholung gewisser gewerberechtlicher (Sonder-)Erlaubnisse erforderlich, und wer diese dann hat, genießt im Vergleich zu anderen auch einen größeren Handlungsspielraum. Die SchwelJe des alJgemeinen Lebensrisikos ist mit einem gesundheitsgefährdenden, für den Laien nicht erkennbaren Produktfehler auch überschritten: Es kann nicht zum alJgemeinen Lebensrisiko eines jeden Menschen gehören, daß er durch Konsumartikel Gesundheitsgefährdungen ausgesetzt wird. Das läßt sich nicht nur mit der Tatsache begründen, daß heutzutage die ganz

115

Jakobs, 29/42.

Damit liegt auch die von Jakobs, 29/42, geforderte Voraussetzung vor, daß das potentielle Opfer geeignete Schutzmaßnahmen nicht treffen konnte - eine Befreiung von der Rettungspflicht infolge unzureichender Schutzmaßnahmen durch das Opfer ist demnach nicht möglich. 116

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Teil I: Die Grundsätze des Lederspray-Urteils des BGH

überwiegende Mehrheit der Bevölkerung die fUr den täglichen Gebrauch notwendigen Artikel aus dem Warenangebot am Markt bezieht und kaum mehr "Selbstversorger" existieren. Darüber hinaus haben die Verbraucher wegen ihrer fehlenden Fachkenntnis über die jeweiligen Eigenschaften eines Produkts keine Möglichkeit, Vorsorge zu treffen gegen eventuelle Produktfehler. Es kann aber nicht sein, daß infolge dieses Informationsmangels jeder Verbraucher täglich damit rechnen muß, Schädigungen durch am Markt erhältliche Artikel als zum allgemeinen Lebensrisiko gehörend ertragen zu müssen 117. Nachdem damit feststeht, daß das (Vor-)Verhalten von Herstellern und Vertreibenden von Konsumartikeln als gesteigert riskant zu beurteilen ist, sind sie nach der Ansicht der BefUrworter des Kriteriums gesteigert riskanten Vorverhaltens potentielle Garanten dafUr, daß sich das durch ihr Verhalten begründete Sonderrisiko nicht in Schädigungen der Konsumenten realisiert ll8 . Das Kriterium des gesteigert riskanten Vorverhaltens befreit von der Notwendigkeit des Vorhersehbarkeitsnachweises 119. Das in Anspruch genommene Sonderrisiko fUhrt damit. zur. Haftung unabhängig von einer eventuell fraglichen Vorhersehbarkeit der zu erwartenden Gefährdungen 120. -

Stellungnahme zum Kriterium des gesteigert riskanten Vorverhaltens

Einerseits würde die EinfUhrung des Kriteriums gesteigert riskanten Vorverhaltens eine größere Flexibilität der Strafverfolgungsorgane mit sich bringen: Die Feststellung, es sei ein im Vergleich zum normalen "Alltagsrisiko" größeres Risiko fUr die Umwelt geschaffen worden, läßt sich ungleich leichter treffen als die, daß ein bestimmtes Verhalten ptlichtwidrig gewesen sei. Das wird auch deutlich am zugrunde liegenden Fall (vgl. S. 35 ff.). Das liegt daran, daß es sich bei dem Urteil über die Ptlichtwidrigkeit eines Verhaltens bereits um eine Einordnung in rechtliche Kategorien, eine rechtliche Qualifizierung des Verhaltens, handelt. Bei der Beurteilung der Ptlichtwidrigkeit ist ein rechtliches Unwerturteil bereits innerhalb der Prüfung einer möglichen Garantenstellung erforderlich. Wenn man dagegen ein gesteigert riskantes 117 Nach Meier, NJW 1992, 3196, handelt es sich hierbei um eine nach nonnativen Gesichtspunkten vorzunehmende Risikoverteilung zwischen Täter und Opfer. 11M Ein ähnliches Ergebnis ließe sich wohl mit Welzel, § 28, S. 216, begründen: Er befürwortet eine GarantensteIlung desjenigen, in dessen sozialem Herrschaftsbereich die Gefahr eines tatbestandsmäßigen Erfolges sich entwickelt. 119 Dagegen spricht sich Seelmann, GA 1989, 253, 255, aus, der die Vorhersehbarkeit des tatbestandlichen Erfolgs als Voraussetzung eines im Sinne der Ingerenz zurechenbaren Vorverhaltens ansieht. 120 Vgl. statt aller Kuhlen, NStZ 1990, 569; ausdrücklich dagegen: Hilgendorf, Produzentenhaftung, S. 142; Puppe, JR 1992, 30 Fn. 3.

Leitsatz 2: GarantensteIlung bei Unterlassungsstrafbarkeit

49

Verhalten zur Begründung einer Ingerenz-GarantensteIlung genügen läßt, handelt es sich hierbei um ein rein tatsächliches Kriterium. Zwar geht auch einer Einstufung eines Verhaltens als gesteigert riskant eine 'Wertung voraus, dennoch dürfte diese weit einfacher zu treffen sein als die Einordnung in die rechtliche Kategorie der Pflichtwidrigkeit, die an ganz bestimmte Subsumtionspunkte geknüpft ist und keine erweiternde Auslegung erlaubt. Der Spielraum bei dieser Wertung ist dabei im Vergleich zur Beurteilung des Vorliegens eines "Sonderrisikos" erheblich eingeengt. Wenn das Verhalten des Herstellers / Vertriebshändlers genereIl als gesteigert riskant angesehen wird, so hat er grundsätzlich die GarantensteIlung bezüglich sämtlicher Produktrisiken inne. Die betroffenen Personen wären damit in jedem Fall taugliche Täter eines unechten Unterlassungsdelikts in bezug auf nachteilige Folgen durch den Produktkonsum. Das Strafverfolgungsrisiko wäre im Bereich der Produzentenhaftung erhöht. Damit würde man dem Verbraucherschutz Vorschub leisten, denn das gesteigerte Strafverfolgungsrisiko würde höchstwahrscheinlich entsprechende Sicherungsmaßnahmen nach sich ziehen. Es wäre zu erwarten, daß in der Wirtschaft auf diese Entwicklung mit - begrüßenswerten Vorsichtsmaßnahmen zur Verhinderung von Schäden durch Produktfehler reagiert wird. Insofern hätte die Ausdehnung der Garantenhaftung anhand des Kriteriums "gesteigert riskantes Vorverhalten" durchaus positive Auswirkungen auf die Sicherheit der Verbraucher. Dennoch führt gerade die Weite des Merkmals - das ja eigentlich eine Begrenzung der Garantenhaftung bewirken soIlte - zur Fragwürdigkeit der vorgeschlagenen Lösung. Das Kriterium des gesteigert riskanten Vorverhaltens bleibt letztlich ohne genaue Kontur. Welches Verhalten als gesteigert riskant zu beurteilen sein soll, läßt sich nicht abstrakt festlegen. Es gibt keine faßbaren objektiven Maßstäbe. Erforderlich ist eine individuelle Wertung, die die Einbeziehung vielfältiger Umstände des Einzelfalles mit sich bringt. Dies mag zwar innerhalb rechtlicher Beurteilungen vielfältiger Lebenssachverhalte normal sein, dennoch sollte eine gewisse Berechenbarkeit der zu erwartenden rechtlichen Wertung bereits ex ante gegeben sein. Wenn dagegen schon im Stadium der Feststellung der Tauglichkeit eines Verhaltens zur Begründung einer GarantensteIlung ein derart ausführlicher und genauer Wertungsprozeß stehen muß, führt dies zu einem problematischen Unsicherheitsfaktor innerhalb der strafrechtlichen Untersuchung. Auch wenn im vorliegenden Fall der Nachweis des gesteigerten Risikos im Verhalten von Herstellern / Vertreibenden von Massenkonsumartikeln relativ leicht und auch zweifelsfrei gefallen war (vgl. S. 46 ff.), so kann dies noch nicht die grundsätzliche Brauchbarkeit des vorgeschlagenen Begrenzungskriteriums beweisen. Denn dieses müßte für alle Fälle einer Ingerenten-Haftung anwendbar sein. Und hier haben selbst die Vertreter dieser Meinung eingestanden, daß das Kriterium ei4 Weißer

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Teil I: Die Grundsätze des Lederspray-Urteils des BGH

ner Konkretisierung bedürfe '21 • Doch wie sollte dann diese Konkretisierung aussehen? Letztlich liefe sie wohl auf die Bildung von Fallgruppen hinaus von denen eine die der strafrechtlichen Produzentenhaftung wäre -, womit dann die Konturenlosigkeit des Merkmals gesteigert riskanten Vorverhaltens zweifelsfrei zutage treten würde. Darüber hinaus kann man bei einem Vergleich der Argumentation anhand dieses Kriteriums mit der Begründung der GarantensteIlung durch den BGH im Erdalfall eine große Ähnlichkeit der Ausführungen erkennen: Gesteigert riskantes Verhalten soll nach den Vertretern dieser Meinung dann vorliegen, wenn der potentielle Ingerent seinen Handlungsspielraum über das allgemein übliche Maß hinaus erweitert und für sich die Erlaubnis in Anspruch nimmt, damit auch die Handlungsspielräume seiner Umwelt zu beeinflussen, bzw. innerhalb fremder Freiheitsräume bestimmte Wirkungen zu schaffen 122. Liegt dies vor, so ist das damit als gesteigert riskant zu beurteilende Verhalten tauglich zur Begründung einer GarantensteIlung aus Ingerenz, wenn es zu einer über das allgemeine Lebensrisiko hinausgehenden Gefährdung für andere geführt hat. Im Grunde genommen entspricht dieser Argumentationsgang dem des BGH im Lederspray-Urteil. Eine Handlung, die zu einer Gefährdung für andere - Unbeteiligte - führt, kann nur gesteigert riskant im hier definierten Sinne sein. Die Ausdehnung des eigenen Handlungsspielraums in die Freiheitsräume der potentiellen (Gefährdungs-)Opfer hinein ist unabdingbare Voraussetzung der Gefahrschaffung. Denn ein Verhalten, das sich allein innerhalb der eigenen ·Risikosphäre bewegt, das also den eigenen Handlungsspielraum nicht so weit ausdehnt, daß in die Freiheitsräume anderer hineingewirkt wird, kann für diese auch keine Gefahren schaffen - es befindet si.ch ja allein im Freiheits-, bzw. Einflußbereich des Handelnden. Das bedeutet, daß die Inanspruchnahme eines erweiterten Handlungsspielraums bereits unabdingbare Voraussetzung der für die Ingerenz-Garantenstellung erforderlichen Gefahrschaffung ist. Daraus wird ersichtlich, daß auch die Vertreter der hier untersuchten Meinung neben dem Element der Gefahrschaffung kein weiteres Merkmal zur Begründung der Ingerenz-Garantenstellung anbieten können. Daß gesteigert riskantes Vorverhalten gegeben ist, wird bereits durch das Kriterium der Gefahrschaffung gewährleistet, denn diese ist ohne gesteigert risikobehaftetes Vorverhalten nicht denkbar: Durch ein nicht gesteigert riskantes Vorverhalten kann schon begrifflich kein gesteigertes Risiko für die Umwelt geschaffen werden. Kuhlen, NStZ 1990, 568 f.; Meier, NJW 1992, 3196. V gl. die Darstellung auf S. 44 ff.; sowie in der Literatur: Beulke / Bachmann, JuS 1992, 740; Freund, Erfolgsdelikt, S. 217 f.; Jakobs, 29/42; Kuhlen, NStZ 1990, 568 f.; Meier, NJW 1992, 3196. 121

122

Leitsatz 2: GarantensteIlung bei Unterlassungsstrafbarkeit

51

Timpe l2J schlägt als "Therapie" gegen dieses Manko vor, die GarantensteIlung davon abhängig zu machen, ob eine Gefahrbeseitigung auch ohne Hilfe des Gefahrverursachers möglich gewesen wäre oder nicht. Sollte dies der Fall gewesen sein, und Abhilfe wäre auch ohne Einflußnahme des Gefahrverursachers möglich gewesen, dann solle eine GarantensteIlung ausscheiden, anderenfalls aber solle der Gefahrverursacher als Garant dafür haften, daß die allein durch ihn abwendbare Gefahr auch abgewendet werde. Dies würde aber die Rückkehr zum reinen Erfolgsunrecht bedeuten: Tritt der durch die Gefahrschaffung zu erwartende Erfolg nicht ein, weil beispielsweise ein hinzutretender Dritter bei der Gefahrabwendung behilflich war, so wird der Gefahrverursacher dadurch von seiner Haftung automatisch befreit, denn es wurde deutlich, daß die Gefahrabwendung auch ohne ihn möglich war. Letztlich wird die Haftung des potentiellen Garanten - und damit auch der Schutz des potentiellen Opfers durch die Strafrechtsordnung - jeweils vom Zufall abhängen. Die Sanktionierung eines eigentlich strafrechtlich relevanten Untätigbleibens könnte dann dadurch abgewendet werden, daß zur Hilfeleistung nicht verpflichtete Dritte an Stelle des Erfolgsabwendungspflichtigen eingreifen. Das kann nicht richtig sein. Andererseits kann es aber auch nicht richtig sein, daß eine Garantenhaftung nur dann in Betracht kommen soll, wenn außer dem potentiellen Garanten niemand die Erfolgsabwendung gewährleisten könnte. Eine Garantenverpflichtung kann nicht dadurch ausgeschlossen sein, daß mehreren Personen die Erfolgsabwendung möglich ist. Aus diesen Gründen ist auch Timpes Vorschlag abzulehnen. -

Ergebnis

Nach alledem scheitert der hier diskutierte Ansatz aus zwei Gründen: Erstens fehlt es dem eingeführten Kriterium des gesteigert riskanten Vorverhaltens an einer hinreichend klaren Kontur. Eine Einordnung des Verhaltens von Produzent / Vertriebshändler als gesteigert riskant erscheint zwar weitgehend unproblematisch, bietet aber keine Gewähr dafür, daß der neue Ansatz in anderen Zusammenhängen nicht zu unabsehbaren Ausweitungen der Garantenhaftung führt. Zweitens bietet neben der Gefahrschaffung als Voraussetzung der Ingerenz-Garantenstellung das Kriterium des gesteigert riskanten Vorverhaltens keine weitere Möglichkeit der Begrenzung der Garantenhaftung, sondern stellt letztendlich einen der Argumentation des BGH im Lederspray-Urteil vergleichbaren Zirkelschluß dar.

123

4'

Timpe, S. 184 f.

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Teil 1: Die Grundsätze des Lederspray-Urteils des BGH

Deswegen ist eine Begründung der Garantenstellung anhand des Kriteriums des gesteigert riskanten Vorverhaltens nicht zu befürworten. bb) Kriterium der gesteigerten Beherrschbarkeitl herstellerspezifische Garantenstellung Daneben wird innerhalb des Schrifttums ein Kriterium der "gesteigerten Beherrschbarkeit" als möglicher Ersatz für das Pflichtwidrigkeitskriterium innerhalb der Ingerenz angesehen. Speziell für die Fälle strafrechtlicher Produkthaftung führen die Vertreter dieser Meinung '24 neben der dargestellten Voraussetzung des gesteigert riskanten Vorverhaltens noch ein weiteres Argument für eine Garantenstellung des Herstellers bezüglich der Produktrisiken an: Die Ingerentenhaftung wird mit der besonderen Nähe des Herstellers zum Produkt, seinen spezifischen Einwirkungsmöglichkeiten auf Produktion und Vertrieb 125 , begründet 126 • Diese besondere "Beziehung" des Herstellers zu seinem Produkt rechtfertige auch seine rechtliche Sonderverantwortlichkeit 127 • Da er den Produktionsprozeß steuere, habe er eine größere Nähe zum Produkt und dadurch komme ihm ein weit größeres Maß an "Beherrschbarkeit"'28 der mit deren Verwendung eventuell verbundenen Risiken zu 129. Diese größere Beherrschbarkeit130 durch den Hersteller unterscheide ihn vom Konsumenten und rechtfertige es daher auch, ihn als Garanten zur Verhinderung von Schäden bei den Verbrauchern strafrechtlich haftbar zu machen '31 •

124

3196. 125

3196.

Beulke / Bachmann, JuS 1992, 740; Kuhlen, NStZ 1990, 568 f.; Meier, NJW 1992, Beulke / Bachmann, JuS 1992, 740; Kuhlen, NStZ 1990, 568; Meier, NJW 1992,

126 Ähnlich ist auch RogaU, ZStW 98 (1986), 616 zu verstehen, der Garantenstellungen von Betriebsinhabern allgemein unter Berücksichtigung der Kriterien der Eigenverantwortung, der personalen Herrschaft und der Organisationsmacht bestimmen möchte. Dies wurde a.a.O. zwar unter dem Gesichtspunkt der Aufsichtspflichtverletzung i.S.d. § 130 OWiG vertreten, ist aber auf den hier dargestellten Fall übertragbar. 117 So Kuhlen, NStZ 1990,568.

Beulke / Bachmann, JuS 1992, 740. Kuhlen, NStZ 1990, 568, stellt eine" wesentlich größere Wirkungschance .. des Produktherstellers im Vergleich zu anderen Verkehrsteilnehmern fest. Beulke / Bachmann, JuS 1992, 740 sprechen auch von einern" Wissens- und Wirkungsvorsprung" des Produzenten; ähnlich GoU, Produkthaftungshandbuch, § 45 Rn. 13. 12R

129

130 Ohne den Begriff der Beherrschbarkeit einzuführen, bezeichnet Rengier, JuS 1989, 807, den Betriebsinhaber als Überwachungsgaranten aus lngerenz bezüglich der von ihm produzierten Güter, da er die Herrschaft über die Gefahrenquelle innehabe, die durch diese Produkte für die Umwelt entstehe. 131 Beulke / Bachmann, JuS 1992, 740; Kuhlen, NStZ 1990, 568.

Leitsatz 2: GarantensteIlung bei Unterlassungsstrafbarkeit

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Damit entfernt sich diese Meinung bei der Beurteilung der "Beherrschbarkeit"132, der "größeren Wirkungschance"133 von einem jeweils im Einzelfall nachzuweisenden bestimmten - gesteigert riskanten - Verhalten des potentiellen Garanten als Voraussetzung seiner PflichtensteIlung. Stattdessen leitet sie diese aus seiner rein faktischen Position ab - nämlich der besonderen Nähe, die der Hersteller zu seinem Produkt hat, dem hierdurch automatisch vorhandenen Sonderwissen und vor allem seinen spezifischen Einwirkungsmöglichkeiten auf den Produktions- / Vertriebsprozeß. Die Argumentation begründet in dieser Hinsicht weniger eine Verhaltenshaftung - wie bei der Haftung wegen eines vorangegangenen gefährdenden Tuns -, sondern eher eine Zustands haftung 134. Die Beherrschbarkeit besteht für den Produzenten allein aus seiner Stellung heraus, d.h. eine Beurteilung des konkreten Vorverhaltens wird überflüssig 135 • Eine Einordnung in die herkömmlichen Kategorien zur Begründung von GarantensteIlungen (Gesetz, freiwillige vertragliche Übernahme, Ingerenz, enge persönliche Lebensgemeinschaft 136) findet nicht statt 137. Vielmehr soll der neue Entstehungsgrund der besonderen Produktnähe speziell in den Fällen strafrechtlicher Produkthaftung hilfreich sein. Als Indiz für die geforderte "Beherrschbarkeit" der Geschehensabläufe durch den Hersteller sollen etwa auch zivilrechtliche Gefährdungshaftungen oder bestehende Versicherungspflichten dienen 138. -

Übertragung der Argumentation auf den zu beurteilenden Fall

Da das Kriterium der Beherrschbarkeit von Produktrisiken bei den für die Herstellung Verantwortlichen bereits per se gegeben ist, können die Vertreter dieser Ansicht eine GarantensteIlung hier problemlos begründen: Sie bejahen lJ2 133

Beulke / Bachmann, JuS 1992, 740. Kuhlen, NStZ 1990, 568.

134 Vgl. hierzu auch GoU, Produkthaftungshandbuch, § 45 Rn. 11; Eidam, S. 130 f. 135 Ähnlich GoU, Produkthaftungshandbuch, § 45 Rn. 15 unter Berufung auf bestehende

Produktbeobachtungspflichten. Beulke / Bachmann, JuS 1992, 740 verknüpfen die Begründungsansätze des gesteigert riskanten Vorverhaltens und der gesteigerten Beherrschbarkeit. 136 Vgl. Jakobs, 29/26; zur Systematik Kaufmann, Unterlassungsdelikte, S. 283 f.; Wessels, Rn. 715 ff. 137 Insofern übereinstimmend mit Samson, StV 1991, 184, der es ebenfalls nicht für möglich hält, eine GarantensteIlung nach herkömmlichen Begriffen des Allgemeinen Teils des Strafgesetzbuches zu begründen, daraus aber den Schluß zieht, der Gesetzgeber habe legislatorisch einzugreifen.Vgl. hierzu die noch folgende Darstellung auf S. 63 f. Gegen eine Ausweitung der klassischen Fallgruppen von GarantensteIlungen sprechen sich auch Maurach/Gössel/Zipf, AT 2, § 46 11 Rn. 67 aus. 138 Beulke / Bachmann, JuS 1992, 740; Jakobs 29/42; Meier, NJW 1992, 3196.

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Teil I: Die Grundsätze des Lederspray-Urteils des BGH

eine den Hersteller des Produkts infolge seiner besonderen Produktnähe treffende GarantensteIlung aus Ingerenz zur Verhinderung von Gesundheitsbeschädigungen der Verbraucher beim Produktkonsum 139 • Gleiches gilt für die Vertriebshändler. Auch sie stehen in einer besonders engen Beziehung zu den Produkten, da sie für deren Auslieferung an die Verbraucher sorgen. Deswegen wird für sie die GarantensteIlung aus der besonderen Beherrschbarkeit der Zusammenhänge nach dieser Ansicht ebenso unproblematisch bejaht werden wie für die Produkthersteller. Auf die Vorhersehbarkeit der anderen Risiken kommt es nach dieser Ansicht für die Begründung der GarantensteIlung aus Ingerenz nicht an l40 • Hierin liegt der wesentliche Unterschied zur Begründung der GarantensteIlung aus Ingerenz mit dem Anknüpfungspunkt pflichtwidrigen Vorverhaltens durch den BGH. Die Ansicht korrespondiert insofern mit der Argumentation bezüglich des in Anspruch genommenen Sonderrisikos für das Verhalten von Produzenten / Vertriebshändler, als beide an die gleichen Faktoren anknüpfen: Durch die Inanspruchnahme des erweiterten Handlungsspielraums und die Begründung des damit verbundenen Sonderrisikos erhält der potentielle Garant gleichzeitig auch das größere Maß an Beherrschbarkeit des Geschehensablaufs und aller durch ihn begründeten Risiken l41 • Dadurch, daß er das Risiko begründen kann - nämlich als Produzent / Vertreibender die evtl. gefährdenden Produkte auf den Markt bringen kann -, befindet er sich zwangsläufig in der erwähnten besonderen Nähe zum Risiko, die ihn dieses in besonderem Maße beherrschen läßt. Die Steuerungsmöglichkeit des Herstellers / Vertriebshändlers innerhalb des erweiterten Handlungsspielraums (Produktion, Vertrieb von Massenprodukten) ist sowohl Grund für die Annahme gesteigert riskanten Vorverhaltens wie auch der besonderen Beherrschbarkeit.

-

Stellungnahme zu den Kriterien der Beherrschbarkeit / größeren Wirkungschance / herstellerspezi{tschen GarantensteIlung

Ein siCh an der spezifischen Stellung des Herstellers / Vertriebshändlers im Hinblick auf seine Produkte orientierender Ansatz ist insofern konsequent, als die Anknüpfungspunkte vertragliche Übernahme, Gesetz, enge Lebensgemeinschaft ebenfalls nicht von einem bestimmten - dynamischen - Verhal139 Beulke/Bachmann, JuS 1992, 740; Kuhlen, NStZ 1990, 569; Meier, NJW 1992, 3196 f. 140 Kuhlen, NStZ 1990, 569; Meier, NJW 1992, 3196. Wohl ebenfalls in diesem Sinne zu verstehen: Stratenwerth, Rn. 1004, 1009. 141 Das wird deutlich beispielsweise bei der Argumentation von Freund, Erfolgsdelikt, S. 181.

Leitsatz 2: GarantensteIlung bei Unterlassungsstrafbarkeit

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ten des Garanten ausgehen, sondern von einem - statischen - Umstand, z.8. einem Vertrag o.ä. Die Ingerenz fällt aus dieser Systematik heraus, da sie an ein Verhalten anknüpft. Als Folge hiervon ist ein Urteil über das rein objektiv formulierte Kriterium gefährdenden Vorverhaltens nur durch eine normative Bewertung des Verhaltens möglich. Bevor über das Vorliegen des objektiven Merkmals Garantenstellung entschieden werden kann, muß die subjektive Wertung des Beurteilenden einfließen. Bei den übrigen Anknüpfungspunkten ist das anders. Hier sind rein objektive Faktoren Grundlage der GarantensteIlung: das Bestehen familiärer Bindungen, einer engen Lebensgemeinschaft, eines Vertrags oder die Einschlägigkeit einer Norm 142 • In diese Systematik würde auch die neue Kategorie einer Garantenstellung aus der spezifischen Stellung des Herstellers / Vertriebshändlers (gefährlicher) Konsumgüter passen. Sie ist ebenfalls rein objektiv zu fassen und an einem unabhängig vom Einzelfall bestehenden Umstand - nämlich dem einer bestimmten beruflichen Position - festzumachen. Darüber hinaus wäre es durchaus begrüßenswert, wenn diejenigen für eventuelle Schäden bei den Produktabnehmern haften würden, die auch die größten Gewinne aus dem Produktumschlag ziehen. Eine mögliche Abschiebung der Verantwortlichkeit auf weisungsgebundene unmittelbar handelnde Angestellte sollte möglichst weitgehend unterbunden werden. Mit einer unabhängig von einem bestimmten nachzuweisenden gefährlichen Verhalten bestehenden Verantwortlichkeit des / der den Produktions-/ Vertriebsprozeß Steuernden wäre ein großer Fortschritt bei der Befriedigung des hier bestehenden Sanktionsbedürfnisses zu verzeichnen. Bedenken gegen die Einführung einer herstellerspezifischen Garantensteilung ergeben sich aber unter einem anderen Gesichtspunkt: Hierdurch würde ein "Sonderrecht" für Fälle strafrechtlicher Produkthaftung geschaffen werden. Einerseits erscheint es sehr bedenklich, eine Stratbarkeitserweiterung speziell für das Gebiet der Produkthaftung zu schaffen, ohne daß diese durch eine entsprechende Regelung des Gesetzgebers legitimiert würde 143. Würde man dies tun, so wäre im Laufe der Zeit zu erwarten, daß diese Regelung dann auch auf andere - heute noch nicht als problematisch erkannte Gebiete - ausgedehnt würde. Die Gefahr einer entstehenden Rechtsunsicherheit spricht gegen die Einführung dieser neuen Garantenstellung. Andererseits ist ohnehin fraglich, ob man ein derartiges Sonderrrecht überhaupt benötigt. Falls eine Lösung der Problematik bereits innerhalb der bestehenden - anerkannten - Garantendogmatik möglich ist, sollte jedenfalls von der Schaffung einer neuen Kategorie der Garantenstellungen - auch im Hinblick auf das strafrechtliche Analogieverbot - abgesehen werden. In Betracht kommt hier142 143

Vgl. zur Systematik: Wesseis, Rn. 715 f. m.w.N. Ebenso: Schmidt-Salzer, NJW 1990, 2967.

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Teil I: Die Grundsätze des Lederspray-Urteils des BGH

bei die Begründung der Garantenstellung unter Hinweis auf die Verantwortlichkeit tUr durch den potentiellen Garanten eröffnete und beherrschte Gefahrenquellen. Ein derartiger Ansatz ist im Schrifttum allgemein anerkannt l44 • Sollte dieser Ansatz hier die Begründung einer GarantensteIlung ermöglichen, so wäre damit die Kategorie der herstellerspezifischen GarantensteIlung als "alte Weisheit im neuen Gewand" überflüssig. Eine Untersuchung des Ansatzes der Herrschaft über Gefahrenquellen wird diese Frage beantworten und soll im Anschluß erfolgen l45 •

-

Zwischenergebnis

Die Begründung der GarantensteIlung unter Hinweis auf die besondere Beherrschbarkeit der Gefahren tUr Hersteller / Vertriebshändler wählt einen durchaus nachvollziehbaren Anknüpfungspunkt tUr die besondere Pftichtenstellung. Allerdings unterliegt die dargestellte Meinung insofern Bedenken, als sie unter Berufung auf diesen neuen Ansatz eine tUr Produkthaftungsfalle spezifische GarantensteIlung schaffen möchte. Dies sollte nur dann geschehen, wenn eine Einordnung der Produkthaftungsfalle in die bestehende Garantendogmatik absolut unmöglich ist, um die Systematik der Unterlassungsstrafbarkeit möglichst konsequent und stimmig zu halten. Die Notwendigkeit der EintUhrung einer neuen Kategorie der herstellerspezifischen GarantensteIlung erscheint im Hinblick auf die bereits anerkannte aus der Herrschaft über eine Gefahrenquelle resultierende Garantenpfticht äußerst fraglich.

-

Erfordern die Fälle strafrechtlicher Produkthaftung die neuen Ansätze des gesteigert riskanten Vorverhaltens bzw. der besonderen Beherrschbarkeit zur Begründung der GarantensteIlung?

Die Begründung der Ingerenz-Garantenstellung über ein gesteigert riskantes Vorverhalten bzw. das Kriterium der besonderen Beherrschbarkeit der Vorgänge weist eine gewisse Ähnlichkeit mit seit langem anerkannten Grundsätzen der Garantendogmatik auf. Sie kann als in der Tradition der Einteilung von Garantenpftichten in einerseits Obhuts- und andererseits Sicherungsgarantenpftichten l46 stehend betrachtet werden. Ähnliche Argumente zur Begründung einer GarantensteIlung wie die angetUhrten trugen bereits die Vertreter einer Haftung des Garanten tUr die innerhalb seines Herrschafts144 GoU, Produkthaftungshandbuch, § 45 Rn. 11; Jes~heck, § 59 IV 4 b; LK lJescheck, § 13 Rn. 30, 35; Rengier, JuS 1989, 807; ders., Umweltstrafrecht, S. 40; Sch/Sch/Stree, § 13 Rn. 23; Schünemann, wistra 1982,44 f.; Wesseis, Rn. 722 ff. 14S S. 57 ff. 1046

Vgl. bereits Kaufmann, Unterlassungsdelikte, S. 283 ff.

Leitsatz 2: GarantensteIlung bei Unterlassungsstrafbarkeit

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bereichs stehenden Gefahrenquellen vor. Hierbei soll es sich um Sicherungspflichten handeln, die aus der Herrschaft über eine Gefahrenquelle resultieren. In dieser Kategorie von Garantenstellungen werden mehrere Fallgruppen unterschieden '47 : Neben der bereits ausführlich dargestellten Garantenstellung aus Ingerenz sollen Garantenstellungen aus zivilrechtlichen Verkehrssicherungspflichten, sowie Aufsichtspflichten gegenüber Dritten erwachsen '48 • Im folgenden soll überprüft werden, ob die Einführung der oben dargestellten Kriterien (S. 44 ff., 52 ff.) als Novum in der Strafrechtsdogmatik notwendig ist. Möglicherweise kann die Garantenstellung der Produzenten / Vertriebshändler unabhängig von den neuen Konstruktionen bereits anhand der hergebrachten Garantendogmatik begründet werden. Hierzu muß zunächst ein anderer Ausgangspunkt gewählt werden: Die Untersuchung der Garantenstellung soll im folgenden nicht auf den Gesichtspunkt der Ingerenz beschränkt sein, sondern auch andere Grundsätze der Garantendogmatik einbeziehen. 2. Begründung einer GarantensteIlung unabhängig von der Ingerenz?

a) Verantwortlichkeit für Gefahrenquellen innerhalb des eigenen Herrschaftsbereichs

Zu prüfen ist, ob man mit den Befürwortem einer allgemein bestehenden strafrechtlichen Verantwortlichkeit für die innerhalb des eigenen Herrschaftsbereichs befindlichen Gefahrenquellen '49 eine Garantenstellung der Produkthersteller / Vertriebshändler begründen könnte. Dieser Ansatz geht davon aus, daß jeder, in dessen Herrschaftsbereich sich ein die Allgemeinheit gefährdendes "Objekt" befindet, dafür verantwortlich ist, daß die Gefahr sich nicht in Schädigungen Dritter realisiert. Geschaffen wurde diese GarantensteIlung beispielsweise für Fälle, in denen der Garant eine gefährliche Anlage betreibt, für Fälle von Tierhalterhaftung, Haftung für Gefahren, die der Betrieb eines Kraftfahrzeugs mit sich bringt, u.ä. Insofern begründet der allgemeine Ansatz der Herrschaft über eine Gefahrenquelle eine Zustandshaftung l50 - sie ergibt sich aus der Herrschaft über eine statiJescheck, § 59 IV 2 -4; Sch I Sch I Stree, § 13 Rn. 12 ff. Jescheck, § 59 IV 4 b, c; Wesseis, Rn. 723 f. 149 DreherlTröndle, § 13 Rn. 12; Jescheck, § 59 IV 4 b; LKlJescheck, § 13 Rn. 30, 35; MaurachlGössellZipf, AT 2, § 46 11 Rn. 65, 67; OttolBrammsen, Jura 1985, 600; Schmid, SchwZStR 105 (1988), 164; SchlSchlStree, § 13 Rn. 23,43; Wesseis, Rn. 722 ff. 150 Vgl. die Fonnulierung bei .OttoIBrammsen, Jura 1985, 600: "Sachherrschaftspflich147

148

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Teil I: Die Grundsätze des Lederspray-Urteils des BGH

sche Gefahrenquelle i51 • Das Erfordernis der Vorhersehbarkeit der Gefahrschaffung wäre damit auch beim Anschluß an diese Meinung nicht zu problematisieren, da die Garantenhaftung an die bestimmte Beziehung des Garanten zur Gefahrenquelle geknüpft würde l52 • Man könnte die Argumentation mit der Herrschaft über eine Gefahrenquelle für den vorliegenden Fall - bzw. für Fälle strafrechtlicher Produkthaftung allgemein - aber möglicherweise ablehnen. Denn es könnte der Begründung einer GarantensteIlung über dieses Instrument entgegengehalten werden, daß der Hersteller mit Inverkehrgabe seines Produkts die konkrete räumliche Sachherrschaft darüber verliere und damit auch die Gefahrenquelle Produkt nicht mehr beherrsche. Gleichennaßen könnte man für die Vertriebshändler die GarantensteIlung aus der Herrschaft über die Gefahrenquelle ab dem Zeitpunkt ablehnen, in dem die Produkte an den (Einzel-)Händler abgegeben werden. So vertritt vor allem Schünemann l53 die Meinung, daß ab dem Zeitpunkt der Inverkehrgabe gefährlicher Produkte wegen des Verlustes der Sachherrschaft über die Gefahrenquelle keine strafrechtlich sanktionierte Garantenpfticht zur Verhinderung der Risikorealisierung mehr bestehe l54 • Nach dieser Ansicht kann es grundsätzlich keine strafrechtlichen Rückrufpftichten bezüglich gesundheitsgefährdender Produkte geben, da sich ein Rückruf begriffsnotwendig nur auf Produkte außerhalb der konkreten räumlichen Zugriffsmöglichkeit des Herstellers / Vertriebshändlers beziehen kann. Eine Garantenstellung müßte damit ab Inverkehrgabe mangels Herrschaft über die Gefahrenquelle abgelehnt werden. Faßt man den Begriff der Herrschaft über eine Gefahrenquelle als Gewahrsamsverhältnis l55 im Sinne einer jederzeit bestehenden körperlichen Zugriffsmöglichkeit auf das gefährliche Produkt auf, so wäre dies die logisch zwingende Folge dieser Sichtweise. Ob damit aber ein angemessenes Ergebten". Aber auch die GarantensteIlung aus Ingerenz wird als GarantensteIlung aus der Herrschaft über eine im eigenen Herrschaftsbereich stehende Gefahrenquelle angesehen (vergleiche dazu Wesseis, Rn. 725); Eidam, S. 128. Diese Haftung ist damit nicht auf eine Zustandshaftung beschränkt, sondern als "Gefahrenquelle" kann durchaus auch das eigene Verhalten verstanden werden - insofern besteht ein Fall der Verhaltenshaftung. 151 Wie auch oben b). die Vertreter einer "herstellerspezifischen" GarantensteIlung Elemente einer Zustandshaftung tUr die Begründung der GarantensteIlung angetUhrt haben, vgl. S. 53 f. 152 Eine derartige Lösung des Falles wäre nach der Ansicht von Rengier, JuS 1989, 807, der allerdings die GarantensteIlung in die Kategorie der Ingerenz einordnet, und Schmid, SchwZStR 105 (1988), 164, möglich. 153 In Unternehmenskriminalität, S. 99, und wistra 1982, 44 f.; seine Ansicht erhält eine ausdrückliche Absage durch den BGH in BGHSt 37, 119 ff. 154 So auch Schmid, SchwZStR 105 (1988), 167 f.; ähnlich GaU, Produkthaftungshandbuch, § 45 Rn. 11 f. 155 So Schünemann, wistra 1982,44.

Leitsatz 2: GarantensteIlung bei Unterlassungsstrafbarkeit

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nis bezüglich der Pflichtenstellung der Angeklagten erzielt werden könnte, ist äußerst zweifelhaft: Der Hersteller / Vertriebshändler des gefährlichen Produkts steht nach Schünemanns Ansicht nach der Inverkehrgabe den möglicherweise drohenden Schadensereignissen wie ein unbeteiligter Dritter gegenüber. Folglich kann das Unterlassen von Wam- und Rückrufaktionen nach Schünemann dann nur noch unter dem Gesichtspunkt der Verletzung der allgemeinen Hilfspflicht aus § 323c StGB strafrechtlich gewürdigt werden 156. Diese Lösung überzeugt auch vom Ergebnis her nicht. Es kann nicht geleugnet werden, daß die Hersteller / Vertriebshändler bezüglich der von ihnen in Verkehr gebrachten Produkte eine ganz andere Stellung einnehmen als jeder Außenstehende. Sie schöpfen die Gewinne aus dem Produkthandel ab, sie betreiben - gegebenenfalls - die Produktwerbung, entwickeln Marketing-Strategien und haben ein großes Interesse am Absatz der Produkte auf dem Markt. Dies zeigt, daß die Produzenten / Vertriebshändler auch nach Inverkehrgabe ihrer Produkte noch eine denkbar enge Beziehung zum Produkt haben. Aus diesem Grund wäre es nicht gerechtfertigt, ihnen - wie jedem am Geschehen völlig Unbeteiligten - nur die allgemeine Hilfspflicht aus § 323c StGB aufzuerlegen. Ihre Haftung muß sich entsprechend ihrer tatsächlichen Beziehung zum gefährlichen Produkt deutlich von der Stellung Unbeteiligter zu den Folgen des Produktkonsums unterscheiden. Es fragt sich daher, ob nicht aus anderen Umständen als dem der tatsächlichen Sachherrschaft über eine Gefahrenquelle eine Garantenstellung der Produzenten / Vertriebshändler begründet werden kann. In Betracht kommt hier eine Art gleichsam abstrakte Herrschaft über die Gefahrenquelle Produkt auch noch nach Inverkehrgabe. Von allen Beteiligten (Produzent-Einzelhändler - Konsument) haben Produzenten I Vertriebshändler die größten Einwirkungsmöglichkeiten auf alle sich im Zusammenhang mit dem Produkt stellenden Probleme. Dies begründet sich bereits durch den ihnen im Vergleich zu den gefährdeten Konsumenten zukommenden Informationsvorsprung: Der Konsument hat zwar die Möglichkeit, die Gefährdung seiner Gesundheit durch Produktrisiken dadurch abzuwenden, daß er das Produkt möglichst schnell aus seinem Umfeld entfernt. Diese Möglichkeit hat aber für ihn keinerlei Wert, solange er nicht über die bestehende Gefahrensituation unterrichtet ist. Die entsprechenden Informationen sind aber in erster Linie nicht beim Verbraucher selbst zu erwarten, sondern sie werden vor allen anderen den Produzenten I Vertriebshändlern zugänglich sein - sei es über Meldungen bereits geschädigter Konsumenten, sei es über voranschreitende Produkt~ forschung / -entwicklung beim Hersteller. Solange diese Informationen aber hauptsächlich der Zugriffsmöglichkeit der Produzenten / Vertriebshändler unterliegen, wäre es nicht sachgerecht, diesen jegliche Herrschaft über die Ge-

156

Vgl. dazu Schünemann, Unternehmenskriminalität, S. 99.

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Teil I: Die Grundsätze des Lederspray-Urteils des BGH

fahrenquelle Produkt abzusprechen. Darüber hinaus haben sie auch die größeren Kontrollmöglichkeiten, was die Erforschung der Wirkungszusammenhänge des vertriebenen Produkts betrifft. Deswegen sind Hersteller und Vertriebshändler am ehesten in der Lage, die vom Produkt ausgehende Gefährdung einzuschätzen, denn bei ihnen werden die entsprechenden Informationen gebündelt. Abgesehen davon ist von erheblicher Bedeutung, daß es in ihrer Macht steht, eine zentral gesteuerte und von allen Verbrauchern ernst zu nehmende Rückrufaktion zu starten. Diese besondere Herrschaft von Produzenten und Vertriebshändlern über die Umstände des Produktkonsums endet nicht mit dem Verlust der räumlichen Sachherrschaft über die Produkte. Auch danach stehen ihnen die besseren Informationsquellen zur Verfügung und sie haben die Möglichkeiten, diese Informationen effektiv zu verwerten. Dieser von Beulke / Bachmann 157 als "Wissens- und Wirkungsvorsprung" bezeichnete Umstand ist es, der die Herrschaft über die Gefahrenquelle Produkt auch noch nach Übergabe an die Abnehmer fortbestehen läßt 158. Damit ist eine Garantenstellung aus der Herrschaft über die Gefahrenquelle für Produzenten / Vertriebshändler auch noch nach Inverkehrgabe gegeben. -

Beurteilung des Falles an hand dieser Argumentation

Eine Haftung als Garant für die Verhinderung von Gesundheitsschäden bei den Produktkonsumenten trifft deren Hersteller / Vertriebshändler, weil sie die Herrschaft über die diesbezügliche Gefahrenquelle innehaben. Diese Herrschaft wird vermittelt durch die Steuerungsmöglichkeit des Produzenten im Hinblick auf den Produktionsprozeß sowie des Vertriebshändlers bezüglich des Absatzes am Markt. Die Garantenstellung entsteht damit unabhängig von einem bestimmten Verhalten allein aus der faktischen Stellung von Produzenten und Vertriebshändlern. Deswegen kommt es auf den problematischen Komplex der Vorhersehbarkeit der Gefährdung nicht an. -

Ergebnis nach diesem Ansatz

Aus ihrer Herrschaft über die Produktrisiken erwächst Produzenten / Vertriebshändlern nach dieser Ansicht eine Garantenstellung bezüglich der damit eröffneten Gefahrenquelle. Aus der Garantenstellung entstehen Sicherungspflichten bezüglich der Produktrisiken und Erfolgsabwendungspflichten hinsichtlich drohender Gefahrrealisierungen.

157

JuS 1992, 740.

15R

Ebenso BGHSt 37, 120; GoU, Produkthaftungshandbuch, § 45 Rn. 12 f.

Leitsatz 2: GarantensteIlung bei Unterlassungsstrafbarkeit

-

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Konsequenz für die Ansätze des gesteigert riskanten Vorverhaltens sowie der gesteigerten Beherrschbarkeit

Wenn demnach eine Lösung der Garantenproblematik auch anhand der hergebrachten Anhaltspunkte fiir die Beurteilung von Garantenpflichten möglich ist, so erübrigt sich die Diskussion über die Einfiihrung und Brauchbarkeit neuer Begrenzungskriterien innerhalb der Ingerenten-Haftung. Die diskutierten Kriterien des gesteigert riskanten Vorverhaltens sowie der herstellerspezifischen Ingerenz-Garantenstellung wegen besonderer Beherrschbarkeit der Vorgänge durch die Produzenten sind damit auch aus diesem Grund abzulehnen. Von der Einfiihrung neuer Kriterien sollte abgesehen werden, wenn hierfiir keine zwingende Notwendigkeit gegeben ist. Das ergibt sich nicht nur aus Gründen der Zweckmäßigkeit, sondern auch aus dem im Strafrecht zu beachtenden Rechtsfortbildungs- und Analogieverbot. b) Transformation zivi/rechtlicher Verkehrspflichten ins Strafrecht? Teilweise wird vertreten, die GarantensteIlung aus der Herrschaft über eine Gefahrenquelle könne in solchen Fällen anhand zivilrechtlicher Produzentenpflichten begründet werden 159. Das Ausgangsgericht LG Mainz '60 hatte in seiner Entscheidung die GarantensteIlung ausdrücklich als SicherungsgarantensteIlung auf den Gesichtspunkt zivilrechtlicher Verkehrspftichten '61 gestützt. Es fragt sich demnach, ob als Ausgangspunkt der strafrechtlich sanktionierten Rückrufpftichten zivilrechtliche Produktbeobachtungspftichten dienen könnten, die im Hinblick auf Produktion und Vertrieb von Konsumartikeln im Schadensersatzrecht bereits allgemein anerkannt sind '62 • Daß es auch im Strafrecht sanktionsbewehrte Rückrufpftichten bezüglich fehlerhafter Produkte geben muß, soll nicht angezweifelt werden. Insofern besteht sicherlich eine große Ähnlichkeit der Situation aus strafrechtlicher wie auch aus zivilrechtlicher Sicht. Dennoch erscheint es problematisch, bereits bei bestehenden zivilrechtlichen Verkehrspftichten unabhängig von der strafrechtlichen Beurteilung der Sachlage eine GarantensteIlung anzunehmen. 159 Hilgendorf, Produzentenhaftung, S. 141; Jescheck, § 59 IV 4 b; Schünemann, Grund und Grenzen, S. 283,285, 287, 314 ff.; nicht abgeneigt steht dem auch Puppe, JR 1992, 30, gegenüber; dagegen: Neudecker, S. 120. 160 In: Schmidt-Salzer, Entscheidungssammlung, Nr. IV.3.22. 161 Vgl. hierzu aus zivilrechtlicher Sicht: BGHZ 80, 186 (Apfelschorf); BGHZ 51, 91 (Hühnerpest-Fall); BGHZ \04, 323 (Sprudelflasche); zu den Produktbeobachtungspflichten BGHZ 80, 199; Esser/Weyers, § 55 V 3 a; Soergel, § 823 Rn. 145 ff. 162 Eine derartige Entwicklung wird tendenziell befürwortet von GoU, Produkthaftungshandbuch, § 45 Rn. 13 ff.; Hilgent,lorf, Produzentenhaftung, S. 141; Hirte, JZ 1992, 257; Puppe, JR 1992, 30; Jescheck, § 59 IV 4 b.

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Teil I: Die Grundsätze des Lederspray-Urteils des BGH

Wenn aber die zivilrechtliche Situation als Indiz für die Beurteilung einer strafrechtlichen PflichtensteIlung benutzt wird, so ist dies dann unbedenklich, wenn dadurch über die Voraussetzungen der allgemeinen GarantensteIlung aus der Herrschaft über die Gefahrenquelle Produkt klarer geurteilt werden kann. Man sollte aber keinesfalls so weit gehen, daß über die Garantenpflichten ausschließlich unter Hinweis auf zivilrechtliche Produzentenpflichten entschieden wird. Dann wäre ein Konflikt mit dem strafrechtlichen Analogieund Rechtsfortbildungsverbot l63 zu erwarten, das im Zivilrecht so nicht existiert. Es ist daher festzuhalten, daß bestehende zivil rechtliche Produktbeobachtungspflichten im besonderen, sowie Verkehrspflichten allgemein durchaus als Indiz für Bestehen und Umfang strafrechtlicher Garantenpflichten dienen können l64 • Andererseits darf die zivilrechtliche Sachlage nicht die alleinige Grundlage der strafrechtlichen Garantenhaftung bilden, und vor allem dürfen die zivilrechtlichen Beweiserleichterungen für die geschädigten Verbraucher nicht ins Strafrecht übertragen werden. Da es sich hierbei aber um ein rein prozeßrechtliches Problem handelt, hat dies auf die Anwendbarkeit der Sorgfaltsmaßstäbe im Zivil- und Strafrecht keinen Einfluß. § 276 BGB definiert Sorgfaltswidrigkeit als die Außerachtiassung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt. Diese Definition ist auch Ausgangspunkt für die strafrechtliche Bel;Irteilung fahrlässigen Verhaltens. Allerdings muß im Strafrecht darüber hinaus die subjektive Komponente der Sorgfaltswidrigkeit beachtet werden: subjektive Vorhersehbarkeit und Verrneidbarkeit sind zu untersuchen, wobei vor allem die Zumutbarkeit eines Vorgehens des Einzelnen im Rahmen der internen Organisationsstruktur des Unternehmens relevant wird l65 • Hierbei handelt es sich um Aspekte, die aus dem strafrechtlichen Schuldprinzip resultieren und die deswegen in diesem Rechtsgebiet unabhängig von der zivilrechtlichen Sichtweise Beachtung fordern. Insofern bestehen im Strafrecht engere Voraussetzungen für die Produktverantwortlichkeit als im Zivilrecht. Das ist deswegen angemessen, weil das Zivilrecht in erster Linie den Zweck verfolgt, Schäden nach einer gerechten Risikoverteilung auszugleichen, während im Strafrecht ein öffentlicher Strafverfolgungsanspruch erfüllt wird, der sich auf das Vorliegen individueller Schuld stützt. Wegen dieses prinzipiellen Unterschieds zwischen zivilrechtlicher und strafrechtlicher Sicht der Produktver163 Aus diesem Grund verneint Kuhlen, Fragen, S. 90 ff., trotz auch von ihm anerkannter Parallelen zwischen strafrechtlicher und zivilrechtlicher Beurteilung desSorgfaltsmaßstabes (hierzu Fragen, S. 82 ff.), jegliche Möglichkeit, zivilrechtliche Produzentenpflichten auch nur als Anhaltspunkte für die Bestimmung strafrechtlicher Sorgfaltspflichten heranzuziehen; zustimmend hierzu: Tiedemann, NJW 1990, 2052. 164 So auch Meier, NJW 1992,3195. 165 Vgl. hierzu die nachfolgenden Ausführungen zum Umfang der Garantenpflicht, S. 74 f.

Leitsatz 2: GarantensteIlung bei Unterlassungsstrafbarkeit

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antwortung verbietet sich eine Beurteilung des strafrechtlichen Schuldvorwurfs allein an hand zivilrechtlicher Sorgfaltsmaßstäbe l66 • Das bedeutet aber nicht, daß zivilrechtliche Produktbeobachtungspftichten keine Indizwirkung entfalten können für das Vorliegen strafrechtlicher Garanten- 167 bzw. Rückrufpftichten. -

Ergebnis

Aus diesen Gründen ist eine Übernahme zivilrechtlicher Verkehrspftichten ins Strafrecht neben der bestehenden strafrechtlichen Garantendogmatik, nicht aber anstelle strafrechtlicher Begründungsmöglichkeiten unbedenklich. 3. Ablehnung einer GarantensteIlung?

Samson 168 verwirft die Begründung der GarantensteIlung durch den BGH unter dem Gesichtspunkt der Ingerenz und bietet daneben auch keinen anderen Begründungsansatz. Da er aber dennoch von einer Notwendigkeit bestimmter Sorgfaltspftichten für Produzenten und Vertriebshändler gefährlicher Produkte ausgeht, fordert er diesbezüglich ein Einschreiten des Gesetzgebers, der speziell für Fälle strafrechtlicher Produkthaftung Rückrufpftichten kodifizieren solle. Eine dogmatisch vertretbare Lösung der Problematik mit den Instrumenten des Allgemeinen Teils des Strafgesetzbuches hält er gegenwärtig nicht für möglich l69 . Nach seiner Meinung hätte daher die Untersuchung der Unterlassungsstrafbarkeit bereits am Punkt der GarantensteIlung abgebrochen werden müssen. Samson ist aber entgegenzuhalten, daß es sich im Rahmen der hier vorgenommenen Untersuchung erwiesen hat, daß eine GarantensteIlung unter dem Gesichtspunkt der Herrschaft von Produzenten / Vertriebshändlern über die vom Produkt ausgehende Gefahrenquelle durchaus möglich ist 170 • Ein Einschreiten des Gesetzgebers sollte hier nicht gefordert werden, da es im Interesse einer einheitlichen Garantendogmatik wünschenswert erscheint, auch die neuen Fälle strafrechtlicher Produkthaftung in die Kategorien der hergebrachten Dogmatik einzuordnen. Aus diesem Grund ist die Ansicht Samsons abzulehnen.

"6 Ebenso: Meier, NJW 167 16& 169

170

1992,3195; Neudecker, S. 120. So auch LKlJescheck, § 13 Rn. 35. Samson, StV 1991, 184. Samson, a.a.O. Vgl. S. 60 f.

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Teil 1: Die Grundsätze des Lederspray-Urteils des BGH 4. Ergebnis zu den diskutierten Begründungsmöglichkeiten für eine GarantensteIlung der Angeklagten

Nach alledem hat von den dargelegten Meinungen zur Garantenstellung die Argumentation anhand der Herrschaft über Gefahrenquellen überzeugt l71 • Die Lösung 'des BGH zur Ingerenz-Garantenstellung konnte mangels überzeugender Begründung für das Vorliegen objektiver Pflichtwidrigkeit des Vorverhaltens nicht befürwortet werden 172. Es hat sich darüber hinaus erwiesen, daß eine Begründung der Garantenstellung durch Ingerenz unter Verzicht auf das Pflichtwidrigkeitskriterium ebenfalls nicht anzunehmen ist 173 • Auch der Ersatz des Pflichtwidrigkeitskriteriums durch neue BegTÜndungsansätze für die Ingerenz-Garantenstellung wie der des gesteigert riskanten Vorverhaltens 174 oder die Schaffung einer herstellerspezifischen Ingerenz-Garantenstellung 175 sind abzulehnen. Ein Einschreiten des Gesetzgebers mit der Normierung spezieller Garantenpflichten für Produktrisiken ist wegen der Möglichkeit, die Garantenstellung anhand der hergebrachten Garantendogmatik zu begründen, nicht zu fordem 176 •

-

Beurteilung des Falles anhand des hier vorgeschlagenen Argumentationsgangs

Nach der hier vertretenen Lösung des Falles anhand der Garantenstellung aus der Herrschaft über eine Gefahrenquelle stellt sich die Verantwortlichkeit der Angeklagten wie folgt dar: Hersteller und Vertriebshändler haben auch nach Abgabe ihrer Produkte an die Abnehmer noch die Herrschaft über die Gefahrenquelle, die die gesundheitsschädlichen Produkte für ihre Konsumenten in sich birgt. Das begründet sich aus ihrem Informationsvorsprung und ihrer Möglichkeit, die Abnehmer durch die Durchführung von Wam- und Rückrufaktionen wirksam vor eventuellen Gesundheitsgefahren zu schützen. Deswegen sind sie im Sinne einer strafrechtlichen Garantenstellung dafür verantwortlich, daß andere durch die von ihnen dem Verkehr eröffnete Gefahrenquelle keine Schäden erleiden 177. Eine Strafbarkeit der Angeklagten wegen emes Unterlassungsdelikts der Körperverletzung ist daher möglich. 171

Vgl. S. 57 ff.

172

Vgl. S. 35 ff.

l7J

174

Vgl. S. 40 ff. Vgl. S. 44 ff.

176

Vgl. S. 52 ff. Vgl. S. 63 f.

177

Vgl. S. 60 f.

175

Leitsatz 3: Strafrechtliche Rückrufpflicht

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B. Endergebnis zu Leitsatz 2 Die Angeklagten haben eine GarantensteIlung zur Verhinderung der Realisierung von Produktrisiken. Diese GarantensteIlung trifft sie wegen der aus ihren besonderen Einwirkungsmöglichkeiten auf den Produktkonsum resultierenden Herrschaft über die Gefahrenquelle Produkt.

Leitsatz 3: Konkretisierung des Handlungsgebots strafrechtliche Rückrufpflicht "Aus der GarantensteIlung des Herstellers oder Vertriebshändlers ergibt sich die Verpflichtung zum Rückrzif bereits in den Handel gelangter. gesundheitsgefährdender Produkte. .. Im nächsten Leitsatz beschäftigt sich der BGH mit der Frage, welches konkrete Handlungsgebot aus der bejahten GarantensteIlung rur den einzelnen Angeklagten resultiert 178 • I. Pflicht zum Rückruf als einzig erfolgversprechende Maßnahme Dabei kommt im Tatzeitpunkt nur eine einzige Handlung als erfolgversprechend im Sinne von gefahrverhindernd in Betracht: Bei bereits im Handel befindlichen Produkten sind neben einem Rückruf keine anderen erfolgversprechenden Maßnahmen ersichtlich. Ein als weniger einschneidende Maßnahme zunächst vorgenommener warnender Zusatz l79 auf der Gebrauchsanweisung konnte auf das Geschehen um die bereits im Handel befindlichen Produkte keinen Einfluß mehr nehmen und war daher zur Schadensabwendung nicht tauglich I80. Eine noch einschneidendere Maßnahme als der Rückruf wäre es gewesen, wenn die Hersteller ihre Waren in einer eigenen Aktion wieder "eingesammelt" hätten. Diese Maßnahme wäre aber sicher an der fehlenden Praktikabilität gescheitert und darüber hinaus hätte es wohl wegen der erfolgversprechenden, dennoch weniger einschneidenden Maßnahme des Produktrückrufs an der erforderlichen Zumutbarkeit einer derartigen Garantenverpflichtung gefehlt.

178

BGHSt 37, 119 tT.

Vgl. zum Sachverhalt LG Mainz, in: Schmidt-Salzer, Entscheidungssammlung, ry.3.22 (6 f.). 180 BGHSt 37, 121. 179

5 Weißer

66

Teil I: Die Grundsätze des Lederspray-Urteils des BGH

Damit bleibt als einzige von den Garanten einzufordernde schadensverhindernde Maßnahme die der Rückrufaktion '81 • Auf die Durchführung eines derartigen Rückrufs galt es die Garantenpflicht zu konkretisieren '82 • Der BGH nimmt bei der Konkretisierung der aus der GarantensteIlung resultierenden Handlungspflicht eine Reihe der von der Verteidigung gegen dieses Handlungsgebot vorgebrachten Argumente in seine Beurteilung auf, um sie im einzelnen zu entkräften. Diese Ausführungen sollen kurz nachvollzogen werden. 11. Endet die Verantwortlichkeit für Produktrisiken mit dem Verlust der räumlichen Sachherrschaft über die Ware?

Zunächst erteilt der BGH deIjenigen Meinung eine Absage '83 , die die Produktverantwortung von Herstellern / Vertriebshändlern als Ingerenten grundsätzlich im Moment der Inverkehrgabe enden läßt, weil diese dann keine Herrschaft mehr über die Gefahrenquelle hätten '84 • Bezüglich dieses Problemkreises sei auf die bereits erfolgte Stellungnahme '85 verwiesen, in der diese Meinung ebenfalls abgelehnt wird. -

Zwischenergebnis

Dem BGH ist insoweit zuzustimmen, als er ein Ende der Verantwortlichkeit der Hersteller / Vertriebshändler für ihre Produkte mit dem Verlust der Sachherrschaft über die Waren ablehnt. Auch nach Inverkehrgabe von gefährlichen Produkten ist eine sanktions bewehrte Garantenpflicht zur Verhinderung von Schädigungen durch den Produktkonsum möglich.

181 So bereits LG Mainz, in: Schmidt-Salzer, Entscheidungssammlung, IV.3.22 (30). Puppe, JR 1992, 31, äußert Zweifel daran, ob die Durchfuhrung einer Rückrufaktion tatsächlich die Schadensfalle verhindert hätte. Auf diese Frage 5011 später bei der Prüfung der Kausalität des Unterlassens des Rückrufs eingegangen werden, vgl. S. 81 ff. 182 Vgl. auch Beulke / Bachmann, JuS 1992, 741. 183 BGHSt 37, 119 f. 184 Brammsen, Entstehungsvoraussetzungen, S. 275; Schünemann, wistra 1982, 44 f.; Schmid, SchwZStR 105 (1988), 167 f., der aber dennoch bei Bekanntwerden von Schadensfallen durch Produktkonsum eine Schadensabwendungspflicht des "Verwaltungsrats" des verantwortlichen Unternehmens konstatiert und dabei auf die Lederspray-Entscheidung verweist, vgl. dazu ebd., S. 179. 185 S. 58 f.

Leitsatz 3: Strafrechtliche Rückrufpflicht

67

III. Abwägung der widerstreitenden Interessen von Produzenten / Vertriebshändlern und Verbrauchern bezüglich der Rückrufaktion

Der BGH prüft weiterhin im Rahmen einer Interessenabwägung zwischen potentiellen Garanten und durch die Garantenpflicht zu schützendem Personenkreis, ob die PflichtensteIlung der Produzenten / Vertriebshändler durch die Auferlegung einer Rückrufpflicht möglicherweise überspannt werde l86 . Unter Hinweis auf die Massenherstellung des fraglichen Artikels sowie die schwerwiegenden Gefahren, die den potentiellen Produktkonsumenten drohten, bejaht er die Erforderlichkeit einer sofortigen Rückrufaktion l87 • Daran könne auch die Tatsache nichts ändern, daß von den Produzenten / Vertreibenden durchgeführte Untersuchungen bezüglich der genauen toxischen Wirkungsweise ihres Produkts noch keine brauchbaren Ergebnisse erbracht hätten l88 • Die genaue Kenntnis der schadensverursachenden chemischen Reaktionen sei für das Erkennen der Gerahrlichkeit des Produkts nicht erforderlich.

Im folgenden stellt der BGH die Interessen der Produzenten / Vertriebshändler am Unterbleiben einer Rückrufaktion den Interessen der in ihrer körperlichen Integrität zu schützenden Verbraucher gegenüber und prüft so die Angemessenheit der zuvor postulierten Verhaltenspflicht. Auf seiten der Unternehmen werden die mit einer Rückrufaktion verbundenen hohen Kosten sowie der ihnen drohende Imageverlust als mögliche Gegenargumente angeführt. Der BGH verwirft sie sogleich mit der Begründung, daß die Herstellung der fraglichen Produkte nur einen kleinen Teil der unternehmensinternen Produktionspalette ausmache. Damit könne eine etwaige Gefahrdung von Arbeitsplätzen jedenfalls nicht als Argument gegen die Durchführung der Rückrufaktion dienen l89 • Infolge der besonderen Schwere der drohenden Schäden stuft der BGH die Schutzwürdigkeit der Gesundheit der Verbraucher höher als die Interessen der Garanten ein 190.

IX.

BGHSt 37, 121 f.

BGHSt 37, 121; ebenso bereits LG Mainz, in: Schmidt-Salzer, Entscheidungssammlung, IY.3.22 (30). IRX BGHSt 37, 122. IX7

IX9 Dadurch, daß der Senat dies aber ausdrücklich in seiner Bewertung festhält, wird deutlich, daß dieses Argument in anderen Fallgestaltungen durchaus Beachtung im Rahmen einer Abwägung gegen die Schutzinteressen der Verbraucher finden kann und damit die körperliche Unversehrtheit der Verbraucher nicht jeweils von vornherein als höherrangig gegenüber wirtschaftlichen Interessen einzustufen ist. 190 BGHSt 37,122; zustimmend Beulke/Bachmann, JuS 1992,741.

S'

68 -

Teil I: Die Grundsätze des Lederspray-Urteils des BGH

Wertung

Daran, daß das Interesse der Verbraucher an der Durchführung einer Rückrufaktion gegenüber wirtschaftlichen Interessen der Hersteller / Vertriebshändler vorgeht, kann kein Zweifel bestehen. Im Vergleich zu den schwerwiegenden Folgen des Produktkonsums (Lungenödeme U.ä. 191 ) können die wirtschaftlichen Folgen einer Rückrufaktion für die betroffenen Unternehmen als nicht sehr gravierend bewertet werden 192. Auch der zu befürchtende Imageverlust der Unternehmen kann nicht zugunsten der potentiellen Garanten durchschlagen, da eine nur auf einen Bruchteil der Gesamtproduktion bezogene Rückrufaktion keine ernsthafte Bedrohung für das betroffene Unternehmen darstellen kann 193 • -

Zwischenergebnis

Dem BGH ist in seiner Ansicht zu folgen, daß nach Abwägung der widerstreitenden Interessen von potentiellen Verbrauchern und den beteiligten Unternehmen die Schutzwürdigkeit der Verbraucher überwiegt. IV. Untätigkeit der zuständigen Aufsichtsbehörden als Rechtfertigung unternehmerischer Untätigkeit?

Kurz angesprochen wird der Einwand, daß auch die zuständigen Aufsichtsbehörden zum fraglichen Zeitpunkt noch nicht eingeschritten waren und zum Rückruf aufgefordert hatten 194 • Dieses Argument wird vom BGH mit der Begründung abgelehnt, daß es in erster Linie im Ptlichtenbereich der Hersteller liege, Gefährdungen der Verbraucher durch den Produktkonsum zu verhindern. Daher könne die Untätigkeit der Behörden keinen akzeptablen Einwand gegen eine Rückrufptlicht der Produzenten bilden 195 •

191 Vgl. zum Umfang der eingetretenen Gesundheitsschäden LG Mainz, in: Schmidt-Salzer, Entscheidungssammlung, IV.3.22 (17 ff.). 192 BGHSt 37, 122 f.; ebenso allgemein GoU, Produkthaftungshandbuch, § 45 Rn. 22. 193 Der Anteil der Lederspray-Produkte am Gesamtumsatz betrug ca. 6-8%, vgl. BGHSt 37, 122. 194 BGHSt 37, 122. 195

Ebenso LG Frankfurt, ZUR 1994, 33 ff. (36) im "Holzschutzmittel-Fall".

Leitsatz 3: Strafrechtliche Rückrufpflicht

-

69

Wertung

Auch insoweit ist dem BGH zuzustimmen. Folge einer anderen Beurteilung wäre nämlich, daß eine Rückrufverpflichtung der Hersteller / Vertriebshändler jeweils nur durch einen behördlichen Verwaltungsakt begründet werden könnte. Dies würde letztlich bedeuten, daß die Begründung einer strafrechtlichen GarantensteIlung abhängig wäre von dem Tatbestandsmerkmal eines öffentlich-rechtlichen Verwaltungsaktes, der dessen Adressaten zum durch die GarantensteIlung geforderten Verhalten verpflichtet. Das kann nicht richtig sein. Bei einer strafrechtlichen GarantensteIlung liegen die Entstehungsgründe originär im Bereich des Strafrechts. Sie erfordern nicht das Vorhandensein einer behördlichen Begründung in Form eines Verwaltungsakts. -

Zwischenergebnis

Der Einwand der Untätigkeit der Aufsichtsbehörden kann die bestehende Rückrufpflicht nicht in Frage stellen. Auch insofern ist der Einschätzung des BGH zu folgen l96 •

v. Ergebnis zu Leitsatz 3 Dem BGH ist in seinem im dritten Leitsatz festgestellten Ergebnis zuzustimmen, daß aus der GarantensteIlung der Produzenten / Vertriebshändler (nach Einschätzung des BGH aus Ingerenz l97 ) ein Handlungsgebot zur Durchruhrung eines Rückrufs der fragwürdigen Produkte resultiert l98 • In den folgenden Leitsätzen überträgt der BGH die bisher allgemein gehaltenen Grundsätze auf die konkret betroffenen Angeklagten, d.h. rur jeden einzelnen von ihnen werden Tathandlungen bzw. Unterlassungen unter die Straftatbestände der vorsätzlichen bzw. fahrlässigen Körperverletzung subsumiert. Dazu wird zunächst der Umfang der Garantenpflicht zum Rückruf untersucht und danach Kausalität sowie die Beteiligungsform, in der die einzelnen Tatbeiträge erfolgten.

196 Ebenso in anderem Zusammenhang entschieden von GoU, Produkthaftungshandbuch, § 46 Rn. 34 f. 197 BGHSt 37, 115. 198

Ebenso: Eidam, S. 134.

70

Teil I: Die Grundsätze des Lederspray-Urteils des BGH

Leitsatz 4: Individualisierung der einzelnen Handlungspftichten "Haben in einer GmbH mehrere Geschäftsführer gemeinsam über die Anordnung eines Rückrufs zu entscheiden, so ist jeder Geschäftsführer verpflichtet, alles ihm Mögliche und Zumutbare zu tun, um diese Entscheidung herbeizuführen. "

In den Leitsätzen 1-3 beschäftigt sich der BGH jeweils allgemein mit der Verantwortlichkeit der Hersteller oder Vertriebshändler für die Produktrisiken. Er wählt damit eine betriebsbezogene Sichtweise der Vorgänge l99 • Die Verantwortlichkeit der Angeklagten wird dabei zunächst nicht individuell nach ihrer Funktion innerhalb der Betriebe beurteilt. Vielmehr wird diese anhand der Tätigkeit der Unternehmen am Markt - nämlich Herstellung und Vertrieb - und der durch diese Tätigkeit entstehenden unternehmerischen Pflichtenstellung begründet. Als Ergebnis der Untersuchung wird im zweiten Leitsatz eine Garantenstellung von Hersteller- und Vertriebsunternehmen bejaht und dann im dritten Leitsatz eine aus dieser Position entstehende Garantenpflicht zum Rückruf gefährlicher Produkte vom Markt festgestellt 20o . Da aber eine Strafbarkeit von Unternehmen im deutschen Strafrecht nicht denkbar isfo l , müssen die für das Unternehmen in seiner Gesamtheit geltenden Grundsätze in einem weiteren Schritt auf die angeklagten Geschäftsführer übertragen werden. Im vierten Leitsatz beschäftigt sich der BGH daher mit der Frage, in welchem Umfang die allgemein die Produzenten / Vertriebshändler treffende Garantenpflicht sich auf die jeweilige Person der einzelnen Angeklagten konkretisierf°2. I. Grundsatz der Generalverantwortung und Allzuständigkeit der Geschäftsleitung in Krisen- und Ausnahmesituationen

Dabei setzt sich der Senat mit dem Einfluß der innerbetrieblichen Organisations- und Verantwortungsstrukturen auf den Umfang der Garantenpflichten auseinander. Dieses Problem stellt sich in doppelter Hinsicht: Einerseits ist zu untersuchen, wie sich eine horizontale Zuständigkeitsverteilung, nämlich die 199 Vgl. Kuhlen, WiVerw 1991, S.243 ff.: "unternehmensbezogene Sichtweise"; ders., JZ 1994, 1144 f. 200 Vgl. hierzu S. 30 f. 201 Das ist unbestritten, vgl. BeulkelBachmann, JuS 1992,741; Kuhlen, NStZ 1990,569; Schmidt-Salzer, NJW 1990,2967. 202 Zustimmend bezüglich dieser Vorgehensweise: Hilgendorf, Produzentenhaftung, S. 111; Kuhlen, WiVerw 1991, 246; sowie die Ausfiihrungen oben S. 26 ff.

Leitsatz 4: Individualisierung der einzelnen Handlungspftichten

71

Aufteilung verschiedener Geschäftsbereiche unter den Geschäftsführern, auf deren Verantwortlichkeit ausgewirkt haben könnte 203 . Daneben ist eine etwaige vertikale Verantwortungsverteilung auf der Geschäftsflihrungsebene in die Beurteilung einzubeziehen204 • Damit ist der auch im zugrundeliegenden Sachverhalt gegebene Fall gemeint, daß innerhalb der Geschäftsleitung bestimmte Organisationsstrukturen in Gestalt faktischer Über- / Unterordnungsverhältnisse bestehen 205 . Die Frage, ob das zivilrechtliche Prinzip der Außenhaftung aller Geschäftsführer unabhängig von der unternehmensinternen Aufgabenverteilung ins Strafrecht übertragen werden kann, entscheidet der Senat nicht, äußert jedoch Zweifel an einer derartigen Übertragbarkeit 206 • Eine Entscheidung hält der BGH nicht für erforderlich, weil er den sogenannten Grundsatz der Generalverantwortung und Allzuständigkeit der Geschäftsleitung in Krisen- und Ausnahmesituationen 207 hier für einschlägig erachtet. Bei dem ressortübergreifenden Problem eingetretener Gesundheitsschäden und der eventuellen Notwendigkeit einer Rückrufaktion handle es sich um eine Krisensituation, die zur Allzuständigkeit der Geschäftsleitungsmitglieder führe. Wenn in diesem Ausnahmefall jeder für das Problem der eingegangenen Schadensmeldungen zuständig sei, werde eine horizontale Ressortaufteilung auf Geschäftsführerebene gegenstandslos. Sie könne keine Auswirkungen auf die strafrechtliche Verantwortlichkeit der Geschäftsführungsmitglieder bezüglich des aus der Garantenstellung des Unternehmens resultierenden Verhaltensgebots entfalten208 . Gleiches gilt nach dem BGH für das Phänomen einer vertikalen Zuständigkeitsverteilung. Auch diese könne in der gegebenen Situation die jeweilige Verantwortlichkeit der Geschäftsführer nicht relativieren209 . Das Prinzip der Generalverantwortung und Allzuständigkeit der Geschäftsleitung in Krisen- und Ausnahmesituationen stößt im Schrifttum auf breite Zustimmung 210 und wird als "eminent wichtige Weiterentwicklung"211 bewer203

BGHSt 37, 123 f.

204

BGHSt 37, 125.

Im Fall hatte einer der Geschäftsführer eine "dominierende Stellung" - so die Formulierung in BGHSt 37, 125 - eingenommen. Seine Kollegen hatten sich dahingehend eingelassen, immer um einen Konsens mit ihm bemüht gewesen zu sein. 206 BGHSt 37, 123. 205

207 BGHSt 37, 124; so bereits entschieden vom Ausgangsgericht LG Mainz, in: SchmidtSalzer, Entscheidungssammlung, IY.3.22 (31); ebenso LG Frankfurt, Holzschutzmittel-Fall,

ZUR 1994, 33 ff. (36). 209

Zustimmend BeulkelBachmann, JuS 1992,741. BGHSt 37, 125.

210

Amelung, S. 71, 74; BeulkelBachmann, JuS 1992,791; Dreher, ZGR 1992,56 f., 61;

208

72

Teil I: Die Grundsätze des Lederspray-Urteils des BGH

tet. Brammsen 212 jedoch kritisiert, daß der BGH damit die unternehmensinterne Aufteilung der Geschäftsbereiche praktisch rückgängig mache. Darin sieht er eine Negierung der tatsächlichen gesellschaftlichen Kompetenz- und Verantwortungsordnung. Dieser Ansicht ist folgendes entgegenzusetzen: Der Grundsatz der Generalverantwortung in Krisensituationen bedeutet nichts anderes als die Übertragung der in Wirtschaftsunternehmen tatsächlich herrschenden Verhältnisse in die rechtliche Beurteilung. Denn auch rur die betroffenen Geschäftsführer sollte es klar sein, daß in einer Krisensituation die gesamte Geschäftsleitung zum Handeln in gemeinsamer Aktion berufen ist, um nämlich rur das Unternehmen in seiner Gesamtheit die situationsangemessenen Entscheidungen zu treffen. Zur Verdeutlichung sei nur ein kurzes Beispiel erwähnt: Hätte es sich bei dem Problem statt um Schadensmeldungen um einen dem Unternehmen drohenden wirtschaftlichen Engpaß gehandelt, so wäre es rur die betroffenen Geschäftsruhrer eine Selbstverständlichkeit gewesen, sich gemeinsam in geteilter Zuständigkeit damit zu beschäftigen, um eine - wiederum gemeinsam umzusetzende - Lösung zu finden. So gesehen ist die vom BGH postulierte Generalverantwortung und Allzuständigkeit in Krisensituationen keine besonders zu begründende neue Konstruktion, sondern eine in der Geschäftswelt real gegebene "Einrichtung". Eine Negierung tatsächlicher gesellschaftlicher Verhältnisse kann deswegen entgegen Brammsens Kritik nicht beobachtet werden. Was besonders begründet werden muß, ist demnach nicht die Generalverantwortung in Krisensituationen - denn diese ist ohnehin eine Tatsache -, sondern allenfalls der Umstand, daß vom BGH in den eingegangenen Schadensmeldungen eine derartige Krisen- und Ausnahmesituation gesehen wurde. Doch auch hieran kann es im Hinblick auf die sich häufenden Schadensmeldungen bei dem Unternehmen und die Schwere der durch den Produktfehler hervorgerufenen Gesundheitsbeschädigungen keine ernsthaften Zweifel geben 2IJ •

Eidam, S. 153, 165; KassebohmlMalorny, BB 1994, 1364; Kuhlen, WiVerw 1991, 246; LK/Schünemann, § 14 Rn. 52; Meier, NJW 1992,3195; Schmidt-Salzer, NJW 1988, 1941; ders., JA 1988,474; ders., Produkthaftung I, Rn. 1.146 ff.; ders., NJW 1990,2968. Hirte, JZ 1992, 258, beschränkt seine Zustimmung ausdrücklich auf die strafrechtliche Haftung und lehnt eine Übertragung der Grundsätze ins Zivilrecht ab; ebenso Schäfer, GmbHR 1993,718. 211 So Schmidt-Salzer, NJW 1990,2968. 212 Jura 1991,537. 213

Ebenso Eidam, S. 167.

Leitsatz 4: Individualisierung der einzelnen Handlungspflichten

-

73

Wertung

Damit ist dem vom BGH erzielten Ergebnis insoweit zuzustimmen, als eine innerbetriebliche Aufgabenverteilung, gleichgültig, ob es sich dabei um vertikale oder horizontale Zuständigkeitsregelungen handeln mag, in Krisenund Ausnahmesituationen von einer Generalverantwortung und Allzuständigkeit der Geschäftsleitungsmitglieder verdrängt wird, und daß darüber hinaus im zugrunde liegenden Fall eine derartige Krisensituation gegeben war J4 • Dieses Ergebnis ist auch aus kriminalpolitischen Gründen begrüßenswert: Geschäftsleitungsmitglieder können sich nicht durch Delegation bestimmter Aufgabenbereiche an andere Geschäftsfuhrer - horizontal - oder an Untergebene - vertikal - aus der Verantwortung stehlen. Tritt eine Situation ein, in der die Verletzung eines strafrechtlichen Handlungsgebots zu befürchten steht, und ist dies fur die Geschäftsleitung auch erkennbar (wie im gegebenen Fall), so können sich ihre Mitglieder ihrer Verantwortung auch in strafrechtlicher Hinsicht nicht entziehen. Mit der ausdrücklichen Anerkennung der Generalverantwortung in diesen Fällen erhöht sich das Strafverfolgungsrisiko der Geschäftsleitungsmitglieder in Ausnahmesituationen 2l5 • Denn grundsätzlich können bei Vorgängen, die unter den nonnalen, alltäglichen Geschäftsbetrieb eines derartigen Unternehmens fallen, bestimmte Aufgabenbereiche zulässigerweise delegiert werden2J6 • Solange dann keine konkreten Anhaltspunkte fur strafrechtsrelevantes Handeln vorliegen, ist es möglich, daß Vorgesetzte oder Vertreter anderer Geschäftsbereiche sich auf ein berechtigtes Vertrauen in die ordnungsgemäße Aufgabenerledigung des zuständigen Mitarbeiters berufen. Liegen dann keine Auswahl-, Anleitungs- oder Überwachungsfehler vor, so kommt durch das einschlägige Vertrauensprinzip eine strafrechtliche Verantwortlichkeit des fur andere Bereiche Zuständigen nicht in Betracht2J7 . Daß dies in Krisen- und Ausnahmesituationen, in denen typischerweise besonders wichtige Entscheidungen getroffen werden, gerade nicht möglich sein soll, ist durchaus begrüßenswert.

214 Nach Schmidt-Salzer, NJW 1990, 2968, wäre hier von einer "organisatorisch-präventiv nicht geregelten Ausahmesituation .. zu sprechen, in der die originäre Verantwortung der Geschäftsleitung für das Unternehmen trotz etwaiger AufgabendeIegation an untere Beschäftigungsebenen wieder auflebt. 215 Vgl. Marxen, EWiR 1990, 1018; Schmidt-Salzer, NJW 1990,2968. 216 Hierzu im einzelnen: Schmid, SchwZStR 105 (1988), 175 ff.; Schmidt-Salzer, NJW 1988, 1939, 1941. 217 Schmid, SchwZStR 105 (1988), 178; Schmidt-Salzer, NJW 1988, 1941.

Teil I: Die Grundsätze des Lederspray-Urteils des BGH

74

-

Zwischenergebnis

Die angeklagten Geschäftsführer waren infolge Vorliegens einer Krisensituation unabhängig von den ihnen jeweils zugeteilten Ressorts zum Handeln verpflichtet, hatten sich mit den eingegangenen Schadensmeldungen zu beschäftigen und eine strafrechtlich einwandfreie Entscheidung zu treffen. Sie waren damit Adressaten der strafrechtlich sanktionierten Garantenpflicht zum Rückruf der schädlichen Produkte aus dem Handel. 11. Zum Umfang der Garantenpflicht Beschränkung auf das Mögliche und Zumutbare

Darüber hinaus muß der Umfang des aus der GarantensteIlung resultierenden Ptlichtenkreises umschrieben werden. Denn fraglich ist, ob jeder Einzelne für die gesamte Gewährleistung der Durchführung einer Rückrufaktion einstehen muß 218 oder ob diesbezüglich die unternehmensinternen Strukturen eine Rolle spielen sollen 219 . Der BGH räumt ein, daß innerbetriebliche Strukturen Einfluß auf die Zumutbarkeit geforderter Handlungen entfalten könnten, insofern als die Angeklagten jeweils nur diejenigen Handlungen schuldeten, die sich innerhalb ihres Zuständigkeits- und Verantwortungsbereichs befänden 220 • Damit stellt der Senat klar, daß von den Garanten keineswegs verlangt wird, sich über unternehmensinterne Kompetenzverteilungen eigenmächtig hinwegzusetzen. Vielmehr beschränkt sich der Umfang der im Rahmen der Garantenptlicht geschuldeten Handlungen nur auf das, was sich im Rahmen der dem Einzelnen nach der unternehmens internen Aufgabenverteilung eingeräumten Handlungsmacht hält. Grenze der geforderten Handlungen ist demnach das innerbetrieblich Mögliche und Zumutbare 22l • -

Wertung

Eine andere Entscheidung wäre hier nur schwer vertretbar, da sie die Adressaten der Garantenpflicht in eine nicht zumutbare Konfliktsituation zwischen strafrechtlich gefordertem Verhalten (nämlich Erfüllung des Handlungsgebots) und zivilrechtlich gesetztem Kompetenzbereich (Aufgabenerfüllung nur im Rahmen der innerbetrieblichen Zuständigkeitsordnung) drängen 21"

So Amelung, S. 71 f.

219

Ausfiihrlieh zu diesem Problemkreis Neudecker, S. 139 ff.

220

BGHSt 37, 125, 126; zustimmend: Kuhlen, NStZ 1990, 569.

Zustimmend: Beulke / Bachmann, JuS 1992, 742; Eidam, S. 176; Kuhlen, NStZ 1990, 569; Meier, NJW 1992, 3195; ebenso äußern sich in anderem Zusammenhang GoU, Produkthaftungshandbuch, § 46 Rn. 24; Schmidt-Salzer, Produkthaftung I, Rn. 1.285 f. 221

Leitsätze 5 und 6: Kausalitäts- und Täterschaftsfragen

75

würde 222 • Die Berücksichtigung der unternehmens in ternen Möglichkeiten des Einzelnen bei der Bestimmung seiner Verhaltenspflicht ist als Ausfluß des strafrechtlichen Schuldprinzips erforderlich. Grenze des im Unterlassungsbereich geforderten Verhaltens muß die subjektive Zumutbarkeit sein, denn Strafgrund ist ein subjektiver Schuldvorwurf. 111. Ergebnis zu Leitsatz 4 Nach alledem ist den Ausführungen des BGH im Rahmen des vierten Leitsatzes zuzustimmen, was zu folgenden Ergebnissen führt: Die Angeklagten trifft insgesamt eine Garantenpflicht zur Gewährleistung der Durchführung einer Rückrufaktion der gefährlichen Produkte. Im Rahmen dieses allgemeinen Handlungsgebots konkretisiert sich die Pflicht für jeden einzelnen Angeklagten auf diejenigen Handlungen, zu denen er nach seiner unternehmens internen Aufgaben- und Verantwortungszuweisung ermächtigt ist. Im Fall führt dies zur konkreten Verpflichtung, nachdrücklich auf eine Geschäftsführerentscheidung dergestalt hinzuwirken, daß eine Rückrufaktion gestartet werden soll. Da dies aber von keinem der Angeklagten unternommen wurde, liegt hierin jeweils eine garantenpflichtwidrige Unterlassung223 . In den nun folgenden Leitsätzen untersucht der BGH die Kausalität der jeweiligen (Einzel-)Unterlassungen für die Schadenserfolge sowie die Art und Weise, in der die Unterlassungen zusammenwirkten und im Gesamtzusammenhang die Ursache für die Schäden bildeten. Problematisch sollte hierbei der isolierte Nachweis der Tatbestandsmäßigkeit der Einzel-Unterlassung werden.

Leitsätze 5 und 6: Kausalitäts- und Täterschaftsfragen Leitsatz 5: "Beschließen die Geschäftsführer einer GmbH einstimmig. den gebotenen Rückruf zu unterlassen. so haften sie für die Schadensfolgen der Unterlassung als Mittäter. " Leitsatz 6: "Jeder Geschäftsführer, der es trotz seiner Mitwirkungskompetenz unterläßt. seinen Beitrag zum Zustandekommen der gebotenen Rückrufentscheidung zu leisten. setzt damit eine Ursache für das Unterbleiben der Maßnahme. Dies begründet seine strafrechtliche Haftung auch dann. wenn er 222 A.A. Amelung, S. 71 f., der einen Einfluß der zivilrechtlich eingeräumten Kompetenzen auf die strafrechtlich sanktionierte Handlungsverpftichtung ablehnt. 223 BGHSt 37, 126.

76

Teil 1: Die Grundsätze des Lederspray-Urteils des BGH

mit seinem Verlangen, die Rückrufentscheidung zu treffen, am Widerstand der anderen Geschäftsführer gescheitert wäre. " -

Prüfungsgegenstand

In den Leitsätzen 5 und 6 beschäftigt sich der BGH mit Täterschafts- und Kausalitätsproblemen 224 . Hierbei wird ausschließlich eine mögliche Strafbarkeit der Angeklagten wegen unechter Unterlassungsdelikte untersucht. Der BGH 225 folgt dem Ausgangsgericht LG Mainz 226 aber in seiner Einschätzung, daß nicht nur ein Unterlassungs-, sondern auch ein Begehungsdelikt der Körperverletzung in Betracht komme. Die Differenzierung ergibt sich daraus, daß den Angeklagten einerseits ein strafbares Unterlassen des Rückrufs gesundheitsgefährdender Produkte vom Markt, andererseits das aktive Tun der weiteren Inverkehrgabe der Produkte auch nach Eingang von Schadensmeldungen vorgeworfen wird 227 • Entscheidend für den Vorwurf eines Begehungsbzw. Unterlassungsdelikts ist dabei der Zeitpunkt, in dem die jeweiligen schadensverursachenden Artikel auf den Markt kamen. Es kommt dabei darauf an, ob jeweils der Zeitpunkt der Inverkehrgabe der Produkte vor oder nach Entstehung der Rückrufpflicht lag228 • Für Produkte, bei denen das Datum der Inverkehrgabe nicht feststeht, wird zugunsten der Angeklagten jeweils ein - im Handlungsunwert in der Regel geringer einzuschätzendes229 Unterlassungsdelikt angenommen, d.h. es wird unterstellt, daß die für diese Schadensereignisse ursächlichen Pro4ukte sich bereits auf dem Markt befanden, als die Rückrufpflicht entstand. Diesbezüglich kann dann nur der Rückruf geschuldet sein und die Strafbarkeit ergibt sich aus dessen Unterlassung. Für Produkte, bei denen der Zeitpunkt der Inverkehrgabe nachweislich nach Entstehung der Garantenpflicht liegt, kommt eine Begehungsstrafbarkeit m Betracht230 • Auch in der hier anzustellenden Untersuchung soll die Strafbarkeit aus einem Unterlassungsdelikt Hauptgegenstand der Erörterungen sein, weil hier die wesentlichen rechtlichen Schwierigkeiten des Falles liegen. Es läßt sich 224

BGHSt 37, 126-132.

m BGHSt 37, 114. 216

LG Mainz, in: Schmidt-Salzer, Entscheidungssarnrnlung, IY.3.22 (38).

m Vgl. hierzu auch die Sachverhaltserläuterung oben S. 25 f. mEine genaue Zuordnung der jeweiligen Schadensfälle als Begehungs-, bzw. Unterlassungsdelikte findet sich bei Schmidt-Salzer, Entscheidungssarnrnlung, IY.3.22 (38 f.). 229

Vgl. hierzu Kaufmann / Hassemer, JuS 1964, 152; aber auch Sch / Sch / Stree, § 13

Rn. 64.

230 Vgl. Ausgangsgericht LG Mainz, in: Schmidt-Salzer, Entscheidungssammlung, IY.3.22 (38).

Leitsätze 5 und 6: Kausalitäts- und Täterschaftsfragen

77

auch ohne größere Probleme vom Ergebnis bezüglich der Unterlassungsstrafbarkeit auf das bezüglich der Begehungsstrafbarkeit schließen 231 • -

Zur Vorgehensweise - Distinktionen im Schuldvorwurf

Innerhalb der Untersuchung der Unterlassungsstrafbarkeit muß nochmals differenziert werden: In Betracht kommen hier sowohl ein Vorsatz- als auch ein Fahrlässigkeitsdelikt der Körperverletzung. Voraussetzung der Unterlassungsstrafbarkeit ist zunächst sowohl im Vorsatz- als auch im Fahrlässigkeitsbereich das Bestehen einer Garantenpfticht. Das Entstehen der strafrechtlich sanktionierten Rückrufpfticht wird auf den 14.2.1981 datiert232 • Ab diesem Zeitpunkt bestand das Handlungsgebot für das Geschäftsleitungskollegium zur Veranlassung einer Rückrufaktion. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Unterscheidung zwischen Vorsatz- und Fahrlässigkeitsstrafbarkeit ist dann der der Sondersitzung des Geschäftsleitungskollegiums am 12.5.1981: Einziger Tagesordnungspunkt dieser Sitzung war die Auseinandersetzung mit den seit Ende des Vorjahres eingegangenen Schadensmeldungen. Im Verlauf der Sitzung wurden Für und Wider einer Rückrufaktion erörtert. Das Kollegium traf in der abschließenden Abstimmung einstimmig die Entscheidung, daß wegen der drohenden wirtschaftlichen Nachteile für das / die beteiligten Unternehmen (Umsatzrückgang, Imageverlust, Kosten für die organisatorische Gewährleistung der Aktion) ein Rückruf nicht durchzuführen sei. Damit nahm das Kollegium nach Auffassung des BGH233 die zu erwartenden weiteren Schadensereignisse billigend in Kauf, da weder ein Rückruf bereits ausgelieferter gefährlicher Ware, noch ein Produktions- und Vertriebsstop rur die Zukunft angeordnet wurde. Der BGH sieht hier die Grenze zwischen Fahrlässigkeit und Eventualvorsatz bezüglich etwaiger Gesundheitsschädigungen der Verbraucher als überschritten an 234 . Deshalb prüft er für den Zeitraum ab der Sondersitzung die Strafbarkeit der Angeklagten unter dem Gesichtspunkt der vorsätzlichen Körperverletzung235 , während er für den vor der Sitzung liegenden Zeitraum von einem Fahrlässigkeitsdelikt ausgeht. Dieser Einschätzung des BGH236 ist aus folgenden Gründen zuzustimmen: Während der Sondersitzung haben die Geschäftsführer erstmals bewußt eine Entscheidung bezüglich der Reaktion auf die Schadensereignisse getroffen. 231

Vgl. hierzu unten S. 159 f.

232

LG Mainz, in: Schmidt-Salzer, Entscheidungssammlung, JY.3.22 (30).

233 BGHSt 37, 132, im Anschluß an LG Mainz, in: Schmidt-Salzer, EntscheidungssammJung, JY.3.22 (36). 234 BGHSt 37, 129 f.

m Sowohl als Begehungs- als auch als Unterlassungsdelikt, s. hierzu S. 76 f. 236 Und auch des Ausgangsgerichts LG Mainz, in: Schmidt-Salzer, Entscheidungssammlung, IY.3.22 (32 ff.).

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Teil I: Die Grundsätze des Lederspray-Urteils des BGH

Sie haben in Kenntnis der Produktrisiken ausdrücklich beschlossen, keine Gegenmaßnahmen zu ergreifen und so den (Schadens-)Ereignissen ihren Lauf zu lassen. Der Zeitpunkt der Sondersitzung bildet insofern eine Zäsur im tatbestandsmäßigen Geschehen. Die Angeklagten hatten zwar schon vorher von den Schadensmeldungen gewußt, es muß aber zu ihren Gunsten unterstellt werden, daß sie sich über die konkrete Gefährlichkeit ihres Verhaltens bis zur Sondersitzung keine Gedanken machten. Dies befiehlt der Grundsatz in dubio pro reo, denn es steht nicht fest, daß jeder der Angeklagten schon vor der Sondersitzung für sich entschieden hatte, daß das Risiko weiterer Schadensfälle in Kauf zu nehmen sei, um den Absatz zu gewährleisten. Vielmehr muß davon ausgegangen werden, daß die Angeklagten sich schlicht nicht weiter mit den Folgen ihres Untätigbleibens für die Produktkonsumenten beschäftigten. Sie hätten zwar bei Aufwendung der gehörigen Sorgfalt die von ihrem Verhalten ausgehende Gefährdung erkennen und entsprechend reagieren können. Der BGH schließt sich aber mit Recht der Auffassung des Ausgangsgerichts 237 insoweit an, als er eine ausdrückliche Entscheidung der Geschäftsführer gegen eine Rückrufaktion erst ab dem Zeitpunkt der Sondersitzung annimmt. In diesem Moment haben die Angeklagten aus rein wirtschaftlichen Motiven bewußt eine strafrechtliche Handlungspflicht verletzt. Für die Zeit vor der Sondersitzung nimmt das Ausgangsgericht trotz umfassender Kenntnis aller Angeklagten von der Gefahrenlage keinen Eventualvorsatz bezüglich eintretender Körperverletzungserfolge an, da die Motive, die hier die Untätigkeit veranlaßten, nicht zu klären waren238 • Das LG Mainz urteilt hier zurückhaltend, obwohl es vorher bereits einige die Angeklagten belastenden Umstände festgestellt hatte: Nach Darstellung des zugrundeliegenden Sachverhalts im Ausgangsurtei\239 war für einen ausreichenden gegenseitigen Informationsaustausch unter den verantwortlichen Geschäftsleitern gesorgt und daher die Kenntnis aller Angeklagten von den Schadensmeldungen unmittelbar nach deren Eingang in den Unternehmen gegeben. Die ersten Schadensmeldungen waren im November / Dezember 1980 bei den Unternehmen eingegangen. Bereits am 22.1.1981 wurde an die Außendienstmitarbeiter der bei den Vertriebsfirmen der GmbH-Produkte ein Rundschreiben versandt, in dem diese über den Stand der Dinge in Sachen Schadensmeldungen, bzw. mögliche gesundheitsschädliche Wirkungen der vertriebenen Produkte unterrichtet wurden. Die Vertreter wurden auf eventuelle Anfragen von Verbrauchern mit der Vorgabe von Argumentationsmöglichkeiten vorbereitee 40 • Darm LG Mainz, in: Schmidt-Salzer, Entscheidungssamrnlung, IV.3.22 (34). LG Mainz, in: Schmidt-Salzer, Entscheidungssamrnlung, IV.3.22 (32 f.); der BGH beanstandet diese Beurteilung nicht. 23R

239

LG Mainz, in: Schmidt-Salzer, Entscheidungssamrnlung, IV.3.22 (21 ff.).

Vgl. zum Sachverhalt LG Mainz, in: Schmidt-Salzer, Entscheidungssamrnlung, IY.3. 22 (5 ff., 23 (). 240

Leitsätze 5 und 6: Kausalitäts- und Täterschaftsfragen

79

aus wird deutlich, daß eine schnelle Reaktion auf die Schadensmeldungen sehr wohl möglich und zumindest in absatzpolitischer Hinsicht auch erfolgt war. Am 8.4.1981 war in Reaktion auf eine weitere Schadensmeldung bereits ein kurzfristiger Produktions- und Vertriebsstop (ein bis zwei Tage) veranlaßt worden 241 • Obwohl die während der Unterbrechung durchgeführten Analysen der fraglichen Produkte keine Erkenntnisse gebracht hatten, hatte man Produktion und Vertrieb danach wieder wie gewohnt fortgeführt. Diese Umstände lassen vermuten, daß den Angeklagten das Ausmaß der Gefährdung von Konsumenten durch die Produkte bereits vor der Sondersitzung bewußt gewesen sein muß. Nach Ansicht des LG Mainz scheitert die Annahme bedingten Vorsatzes aber dennoch daran, daß die Motivation für das Untätigbleiben der Angeklagten nicht ermittelt werden konnte 242 • Die Ablehnung bedingten Vorsatzes erscheint hier wegen der oben angeführten, für die Angeklagten belastenden Tatsachen als nicht zwingend. Trotzdem soll der Auffassung des LG Mainz gefolgt werden, da es sich insofern um eine Frage der Sachverhaltsennittlung handelt, die hier nicht entschieden werden kann. Für den Zeitraum nach der zum Unterlassungsbeschluß führenden Sondersitzung ist jedenfalls Eventualvorsatz der Angeklagten anzunehmen 243 • Die bewußte Entscheidung, etwaige weitere Schadensereignisse in Kauf nehmen zu wollen, fiel auf der Sondersitzung und ist aus den oben genannten Gründen Anlaß für ein Umschlagen des Fahrlässigkeitsvorwurfs in den Vorwurf einer vorsätzlich begangenen Straftat. Der auf der Sondersitzung getroffene Entschluß gegen eine Rückrufaktion wurde konsequent ausgeführt. Daß die Unternehmensleitung dennoch mit weiteren Schadensfällen rechnete, zeigt die Tatsache, daß fortlaufend Untersuchungen angestellt wurden, um neue Rezepturen für die fraglichen Produkte zu erarbeiten 244 • -

Zwischenergebnis

Es ist bezüglich der Schuldfonn zu unterscheiden. Bis zum Zeitpunkt der Sondersitzung kann den Angeklagten (nur) der Vorwurf eines Sorgfaltspflichtverstoßes gemacht werden, weil sie trotz der erkennbaren Gefährlichkeit ihrer Produkte nichts zum Schutz der Verbraucher unternommen haben. Sie haben keine bewußte Entscheidung über die Reaktion auf die Schadensmeldungen getroffen, sondern schlicht nichts getan. Ab dem' Zeitpunkt der Sondersitzung verstärkt sich der Grad der Schuld, denn hier haben die Angeklagten bewußt eine Entscheidung gegen Schutzmaßnahmen zugunsten der

243

LG Mainz, in: Schmidt-Salzer, Entscheidungssammlung, ry.3.22 (23). LG Mainz, in: Schmidt-Salzer, Entscheidungssammlung, ry.3.22 (32 f.). Ebenso: Eidam, S. 306.

244

LG Mainz, in: Schmidt-Salzer, Entscheidungssammlung, rV.3.22 (27).

241 242

80

Teil 1: Die Grundsätze des Lederspray-Urteils des BGH

Verbraucher getroffen. Eine Strafbarkeit wegen bedingt vorsätzlicher Körperverletzung kommt damit in Betracht. Die Argumentation des BGH innerhalb der Untersuchung der Unterlassungsstrafbarkeit teilt sich im weiteren Verlauf in drei Themenkomplexe: Als erstes beschäftigt sich der Senat mit der Strafbarkeit der Angeklagten wegen vorsätzlicher gefährlicher Körperverletzung (§§ 223, 223a StGB - Fall der lebensgefährdenden Behandlung). In einem zweiten Themenkomplex wird die sukzessive Mittäterschaft für diejenigen Geschäftsführer bejaht, die im Zeitpunkt der Beschlußfassung nicht anwesend waren, den Beschluß aber im nachhinein billigten und in ihrem jeweiligen Geschäftsbereich umsetzten. Im dritten Themenkomplex wird die strafrechtliche Verantwortlichkeit der Angeklagten unter dem Gesichtspunkt der fahrlässigen Körperverletzung 245 (§ 230 StGB) untersucht. Im weiteren Gang der Untersuchung soll nach der in der Entscheidung vorgegebenen Reihenfolge - zuerst Vorsatz-, dann Fahrlässigkeitsdelikt vorgegangen werden.

A. Kausalitäts- und Täterschaftsfragen im Bereich der vorsätzlichen gefährlichen Körperverletzung (§§ 223, 223a StGB) Der BGH prüft die Strafbarkeit der Geschäftsführer aus §§ 223, 223a StGB wegen vorsätzlicher Körperverletzung durch Unterlassen zum Nachteil der geschädigten Produktkonsumenten. Als Anknüpfungspunkt für den Schuldvorwurf dient das jeweilige Abstimmungsverhalten der einzelnen Geschäftsführer während der Sondersitzung, in der über die Durchführung einer Rückrufaktion (negativ) entschieden wurde. Bezüglich der - ebenfalls gegebenen - Strafbarkeit der weiterhin erfolgenden Inverkehrgabe der gefährlichen Produkte verweist der BGH lediglich auf die als rechts fehlerfrei gewerteten Ausführungen des Ausgangsgerichts LG Mainz246 • Dort wird die aufgrund des Beschlusses weitergeführte Inverkehrgabe als vorsätzliches Begehungsdelikt der gefährlichen Körperverletzung (§§ 223, 223a StGB - Fall der lebensgefährdenden Behandlung) sanktioniert. Ausdrücklich problematisiert wird vom BGH nur eine Unterlassungsstrafbarkeit der Angeklagten wegen der Entscheidung gegen einen Rückruf der gefährlichen Sprays und der darauf gründenden Unterlassung der entsprechenden Maßnahmen. Anknüpfend an den Beschluß der Geschäftsleitung 245

246

BGHSt 37, 130 ff. In: Schmidt-Salzer, Entscheidungssammlung, IY.3.22 (38).

Leitsätze 5 und 6: Kausalitäts- und Täterschaftsfragen

81

muß zunächst klargestellt werden, daß der strafrechtliche Schuldvorwurf sich nicht konkret aus diesem Beschluß ergibt, sondern daß das Hauptgewicht der Vorwerfbarkeit in der Unterlassung der schadensverhindernden Rückrufaktion liegt. Die Mehrheitsentscheidung der Geschäftsleitung bildet den Tatentschluß für diese Unterlassung. Das Zustande kommen des Tatentschlusses muß einer genauen Prüfung unterzogen werden, weil sich damit Aussagen über das Maß der Beteiligung des einzelnen Geschäftsführers an der Tat machen lassen. Daß in der Unterlassung des Rückrufs ein Verstoß gegen ein strafrechtliches Handlungsgebot liegt, hat der Senat bereits in den vorhergehenden Prüfungsabschnitten festgestellt 247 • Jetzt muß für jeden einzelnen Angeklagten das Abstimmungs verhalten in der Geschäftsführersitzung und die nachfolgende Untätigkeit als Gegenstand der Strafbarkeit wegen einer Körperverletzung durch Unterlassen untersucht werden. Voraussetzung hierfür ist, daß das jeweilige Verhalten der Angeklagten als kausaler und täterschaftlicher Beitrag zu dieser Straftat gewertet werden kann. Zunächst beschäftigt sich der BGH mit der Frage der Kausalitäe 48 . Dieses Problem wird in drei Stufen behandelt: Zunächst wird untersucht, ob ein Rückruf tatsächlich erfolgt wäre, wenn der jeweilige Geschäftsführer das strafrechtliche Handlungsgebot aus der GarantensteIlung befolgt hätte (also alles ihm Mögliche und Zumutbare zur Herbeiführung des Rückrufs unternommen hätte - vgl. hierzu oben S. 75 f.). Im nächsten Schritt der Kausalitätsuntersuchung wird geprüft, ob der Rückruf die Zwischenhändler, bei denen sich die gefährlichen Produkte im Zeitpunkt der Sondersitzung befanden, noch rechtzeitig erreicht hätte. Schließlich erfolgt im dritten Abschnitt die Prüfung der Frage, ob die Händler sich tatsächlich dem Rückruf entsprechend verhalten und die Produkte nicht an die Verbraucher weitergegeben hätten. Dieser Gedankengang soll im folgenden kurz nachvollzogen werden. I. War die Unterlassung der Rückrufaktion kausal für die Schadensereignisse? Die Frage, ob der Rückruf die Händler noch rechtzeitig erreicht hätte 249 (zweiter Schritt der Kausalitätsprüfung des BGH), ist einzelfallspezifisch und soll daher als reine Tatfrage hier nicht weiter erörtert werden. 247 Vgl. die Darstellung der Leitsätze 2-4, oben S.. 24 - 75: Begründung der Garantenposition der Angeklagten sowie der daraus resultierenden Garantenpflicht zur Gewährleistung eines Rückrufs. 248 BGHSt 37, 126 ff. 249 Sie wird vom BGH ohne weitere Ausführungen entsprechend der Ausgangsentscheidung bejaht, vgl. BGHSt 37, 127 f.; LG Mainz, in: Schmidt-Salzer, Entscheidungssammlung, ry.3.22 (32).

6 Weißer

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Teil I: Die Grundsätze des Lederspray-Urteils des BGH

Die Frage, ob die Adressaten des Rückrufs diesen befolgt hätten (dritter Schritt der Kausalitätsprüfung durch den Senat), wird vom BGH unter Hinweis auf die insoweit als rechtsfehlerfrei eingestufte Entscheidung des Ausgangsgerichts bejaht 250 . Die Tatsachengrundlage war hier weitgehend unproblematisch251 • Die fraglichen Produkte waren zum Zeitpunkt der Sondersitzung zwar bereits in den Handel gelangt, jedoch noch nicht beim Verbraucher, sie befanden sich bei den Zwischenhändlern. Dadurch wäre es einerseits für die Produzenten problemlos möglich gewesen, mit den Adressaten des Rückrufs Kontakt aufzunehmen. Andererseits war durch die Tatsache, daß die Händler den Rückruf entgegengenommen hätten, ein hohes Maß an Effektivität geWährleistet, da diesbezüglich bei einem konkreten Kreis von Zwischenhändlern Kontrollmöglichkeiten bestanden hätten, und bei einer pflichtwidrigen Inverkehrgabe der Weg des Produkts zum jeweiligen Zwischenhändler hätte zurückverfolgt werden können. Demnach ergibt sich für den Senat bezüglich der letzten beiden Schritte seiner Kausalitätsprüfung, daß die Unterlassung der Rückrufaktion als kausal für die Schadensereignisse bei den Produktkonsumenten angesehen werden kann. Denn bei durchgeführtem Rückruf wäre der schadensursächliche Produktkonsum mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verhindert worden. Puppe 252 hält dem folgendes entgegen: Ob eine Rückrufaktion die einzelnen Körperschäden verhindert hätte, hänge davon ab, wie sich die jeweiligen Zwischenhändler bei Eingang des Rückrufs verhalten hätten. Da es aber über menschliches Verhalten keine allgemeingültigen Gesetze gebe 253 , müsse dies auch bezüglich der Frage gelten, ob und unter welchen Voraussetzungen Händler Rückrufaktionen befolgten. Infolgedessen könne ein Kausalzusammenhang im strikten Sinne bezüglich dieser Frage nicht festgestellt werden. Puppe hebt hier ab auf die hergebrachte Unterscheidung zwischen genereller und konkreter Kausalität innerhalb der Prüfung eines Kausalzusammenhangs. Durch das Fehlen eines allgemeingültigen Gesetzes über menschliches Verhalten fehlt es nach ihrer Meinung an einem subsumtionsfähigen Gesetz innerhalb der Prüfungsstufe genereller Kausalität. Folge hiervon sei, daß ein Urteil über den Kausalzusammenhang ausscheide. Sie schlägt zwei Lösungsmöglichkeiten bezüglich des Kausalitätsproblems vor: Zunächst führt sie ein Vorgehen nach der Risikoerhöhungstheorie an. 250

BGH, a.a.O.; LG Mainz, a.a.O.

Kuhlen, NStZ 1990, 569; ebenso LG Mainz, in: Schmidt-Salzer, Entscheidungssammlung, IY.3.22 (32). 252 Puppe, JR 1992, 31. 253 Vgl. hierzu auch Puppe, ZStW 92 (1980), 902 und Fn. 59; dies., in: ZStW 99 (1987), 603. 251

Leitsätze 5 und 6: Kausalitäts- und Täterschaftsfragen

83

Dann wäre Kausalität zu bejahen, denn nach ihrer Ansicht wäre die Wahrscheinlichkeit der Verhinderung weiterer Schadensereignisse durch die Durchführung eines Rückrufs erhöht worden. Außerdem erörtert sie die Möglichkeit einer "praesumtio de iure", was bedeutet, daß zunächst vermutet wird, daß die Adressaten der Rückrufaktion sich pflichtgemäß verhalten hätten. Dann werden anstatt der fehlenden Kausalgesetze die rechtlichen Bestimmungen über pflichtgemäßes Verhalten eingesetzt und anhand derer wird ein Urteil über den hypothetischen Kausalverlauf gefallt. Auch hiernach wäre "Kausalität" zu bejahen, da bei rechtlich einwandfreiem dazwischentretendem menschlichen Verhalten die Rückrufaktion weitere Schadensereignisse . verhindert hätte. Puppe selber trifft keine Entscheidung der Kausalitätsfrage, sondern läßt die dargebrachten Überlegungen ohne Schlußfolgerung stehen 254 • Gegen die Argumentation Puppes läßt sich einwenden: Zunächst sollte eine strikte Trennung zwischen Fragen der erfolgversprechenden Rettungshandlung, der Kausalität der Unterlassung und der objektiven Zurechenbarkeit des Verletzungserfolgs an den Unterlassungstäter vorgenommen werden. Das bedeutet, daß entscheidend bezüglich der Kausalitätsfrage im Bereich des Unterlassungsdelikts allein die ex ante festzustellende objektive Eignung eines Rückrufs zur Erfolgsabwendung sein sollte. Diese objektive Eignung liegt aber vor, wenn der Händler die durch den Garanten gewährleistete Information beachten und damit für den Nichteintritt der Schäden sorgen kann. Tut er dies nicht, so handelt es sich hierbei um - neues - pflichtwidriges Verhalten eines Dritten. Diese Pflichtwidrigkeit steht aber in dessen Eigenverantwortung. Er kann sich wiederum selbst strafbar machen. Das möglicherweise pflichtwidrige Verhalten eines Dritten kann den Produzenten jedoch nicht von seinen strafrechtlich sanktionierten Handlungspflichten entbinden, und es kann auch nichts an der prinizipiellen Eignung eines Rückrufs zur Schadensabwendung ändern. Wollte man aber wegen der Möglichkeit, daß die Rückrufadressaten diesen nicht befolgten, den Kausalzusammenhang zwischen Unterlassung der Rückrufmaßnahmen und Schadensereignissen ablehnen, so würde dies letztlich einer Anwendung der Lehre vom Regreßverboe 55 nahekommen. Nach dieser Lehre unterbricht das freie und eigenverantwortliche Eintreten eines Dritten in den vom Täter gesetzten Kausalverlauf diesen, indem nämlich die sogenannte "causa remota", d.h. die dem Erfolg entferntere Erstbedingung Inverkehrgabe des Produkts, durch die dem Erfolg nähere "causa proxima" aufgehoben werde. Abgelehnt wird aber nicht die Kausalität, denn die vom Produzenten gesetzte Erfolgsbedingung (nämlich Inverkehrgabe der gefahrlichen Produkte) wirkt im Verhalten des in den Kausalverlauf eintretenden Verbrau-

6"

254

Puppe, JR 1992,31.

2SS

Begründet von Frank. § I III 2 a.

84

Teil 1: Die Grundsätze des Lederspray-Urteils des BGH

chers (nämlich Mißachtung des Rückrufs) fort. Vielmehr wird die Zurechenbarkeit des Erfolgs 256 - Gesundheitsschädigungen durch Produktkonsum abgelehnt, weil es für den Hersteller an der Beherrschbarkeit / Steuerbarkeit des Verhaltens des Dazwischentretenden fehlt. Er kann auf diesen nicht intensiver einwirken als durch die Übermittlung des Rückrufs. Der Verbraucher hingegen handelt eigenverantwortlich, wenn er sich in Kenntnis der Gefahr über den Rückruf hinwegsetzt. Diese Eigenverantwortlichkeit des Rückrufadressaten setzt der Mitverantwortlichkeit des Produzenten eine Grenze 257 • Weil er sein Möglichstes zur Erfolgsvermeidung getan hat, kann ihm der aufgrund der eigenverantwortlichen Selbstgefährdung der Konsumenten eingetretene Erfolg nicht (mehr) zugerechnet werden 258 • Darüber hinaus sollte beachtet werden, daß selbst in dem Fall, daß die Produkte sich bereits beim Endverbraucher befinden 259 , die Verpflichtung zum Rückruf nicht durch abzulehnende (Quasi-)Kausalität entfiele. Denn auch dann kann das zu erwartende Verhalten des Verbrauchers die ex ante festzustellende Effektivität einer Rückrufaktion nicht beseitigen. Bei dem fraglichen Verhalten der Verbraucher handelt es sich um eigenverantwortliches selbstgefährdendes Tun, das die grundsätzliche Eignung des Rückrufs zur Schadensverhinderung nicht nachträglich in Frage stellen kann 260 • Nach alledem spielt die Frage, ob die Händler die Rückrufaktion konkret befolgt hätten, keine entscheidende Rolle für die Strafbarkeit der Unterlassung des Rückrufs. Das liegt daran, daß das dazwischentretende Verhalten der Rückrufadressaten an der generell gegebenen Eignung eines Rückrufs gefährlicher Produkte zur Verhinderung von Schadensereignissen bei den Produktkonsumenten nichts ändern kann. Demnach ist unter Ablehnung der Argumentation Puppes dem BGH in seiner Auffassung zuzustimmen, daß ein Kausalzusammenhang zwischen der Unterlassung des Rückrufs und dem Eintritt der Schadensereignisse gegeben ise 61 •

256 Zur Ablehnung der Lehre vom Regreßverbot: Ebert/Kühl, Jura 1979, 567; Jakobs, 7/27; LK/Jescheck, vor § 13 Rn. 58; Maurach/Zipf, AT 1, § 18 IV Rn. 62; Meier, NJW 1992,3197; Roxin, AT I, § 11 A III Rn. 24; Sch/Sch/Lenckner, vor §§ 13 ff. Rn. 77. m Vgl. hierzu 0110, JuS 1974, 706, 710; ders., Maurach-FS, S.97; Welp, S.276 ff., insb. S. 300. m Ebenso: GaU, Produkthaftungshandbuch, § 45 Rn. 47. 259 Auf diesen Fall bezieht sich nach Ansicht Kuhlens, NStZ 1990, 569, "die vom BGH erwähnte Skepsis bezüglich der Beweisbarkeit des hypothetischen Ursachenzusammenhangs zwischen Rückruf und Schadensabwendung" hauptsächlich. 260 So auch Brammsen, GA 1993, S. 116 Fn. 84. 261 Im Ergebnis ebenso: Eidam, S. 134.

Leitsätze 5 und 6: Kausalitäts- und Täterschaftsfragen

-

85

Zwischenergebnis

Zwei der drei oben angeführten 262 Prüfungsschritte des BGH innerhalb der Kausalitätsuntersuchung können demnach relativ problemlos behandelt werden: Die Fragen, ob der Rückruf die Zwischenhändler rechtzeitig erreicht hätte und ob diese sich dann dem Aufruf zur Rücknahme der gefahrlichen Waren aus dem Sortiment entsprechend verhalten hätten, sind zu bejahen. Da auch in dem Fall, daß die Zwischenhändler den Rückruf nicht befolgt hätten, dessen objektive Eignung zur Schadensverhinderung nicht beseitigt wäre, ist es insofern für das Bestehen der strafrechtlich sanktionierten Rückrufpflicht und für die generelle Kausalität zwischen Unterlassung dieser Erfolgsabwendungsmaßnahme und Eintritt des Verletzungserfolgs unschädlich, wenn über das hypothetische Verhalten der Rückrufadressaten keine hundertprozentig sichere Aussage gemacht werden kann. Demnach ist als schwierigste Frage innerhalb der Kausalitätsuntersuchung des BGH zu prüfen, ob pflichtgemäßes Verhalten des einzelnen Geschäftsführers tatsächlich den Eintritt der Verletzungserfolge verhindert hätte. Mit anderen Worten stellt sich das Problem, ob die durch die Garantenpflicht vom einzelnen Angeklagten geforderten Handlungen - nämlich Unternehmen aller möglichen und zumutbaren Maßnahmen im Hinblick auf die Gewährleistung einer Rückrufaktion - tatsächlich erfolgversprechend gewesen wären und damit auch jeweils ein Kausalzusammenhang zwischen isoliert betrachteter pflichtwidriger Einzel-Unterlassung und Verletzungserfolg bejaht werden kann.

11. War das pflichtwidrige Verhalten des einzelnen Geschäftsführers kausal für die Unterlassung der Rückrufaktion? l. Argumentationsgang des BGH

In einem weiteren Abschnitt untersucht der BGH263 , ob die jeweilige Unterlassung pflichtgemäßen Verhaltens kausal für die Unterlassung der Rückrufaktion war, ob also pflichtgemäßes Verhalten des einzelnen Geschäftsleitungsmitglieds eine derartige Aktion gewährleistet hätte. Die Prüfung erweist sich als problematisch. Bei isolierter Betrachtung bezüglich jedes einzelnen Angeklagten wäre nämlich folgende Argumentation denkbar: Hätte Geschäftsfiihrer X sich pflichtgemäß verhalten, dann hätte er alles ihm Mögliche und Zumutbare unternommen, um eine Entscheidung für die Durchführung eines Rückrufs herbeizuführen. Dieses Maß des Möglichen und Zumutbaren

262

Vgl. oben S. 81.

263

BGHSt 37, 128 ff.

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Teil I: Die Grundsätze des Lederspray-Urteils des BGH

hätte darin bestanden, daß er nicht nur selber für eine Rückrufaktion gestimmt, sondern außerdem entsprechend auf seine Kollegen eingewirkt hätte. Alles darüber Hinausgehende aber wäre als Kompetenzüberschreitung zu werten und damit nicht von ihm zu fordern 264 . Betrachtet man diese geschuldeten Maßnahmen, so läßt sich deren Effektivität durchaus anzweifeln. Denn es wäre denkbar, daß sich die anderen Geschäftsleitungsmitglieder von X nicht hätten umstimmen lassen und gleichwohl gegen die Durchführung einer Rückrufaktion gestimmt hätten. Dann wären die Mehrheitsverhältnisse aber so ausgefallen, daß es trotz pflichtgemäßen Verhaltens des Geschäftsführers X nicht zu der geforderten Rückrufaktion gekommen wäre. Damit müßte man die Kausalität des Unterlassens für den Schadenserfolg ablehnen. In Betracht käme allenfalls - nach dem Grundsatz in dubio pro reo 265 - eine Versuchsstrafbarkeit der Angeklagten266 . Doch auch diese Lösung wäre nicht glücklich, denn dann müßte man eine überzeugende Begründung dafür finden, daß trotz Eintritt eines tatbestandlichen Erfolgs die dafür Verantwortlichen nur wegen Versuchs strafbar sein sollten. Trotz der Schwierigkeiten bejaht der BGH die Kausalität auch auf dieser Prüfungsstufe. Er beruft sich darauf, daß die Geschäftsleitungsmitglieder bezüglich der vorsätzlichen Körperverletzung Mittäter seien. Folge hiervon sei die wechselseitige Zurechenbarkeit des jeweiligen Abstimmungsverhaltens der Angeklagten. Der Senat fuhrt dazu aus, daß Mittäterschaft bei den unechten Unterlassungsdelikten dann vorliege, "wenn mehrere Garanten, die eine ihnen gemeinsam obliegende Pflicht nur gemeinsam erfüllen können, gemeinschaftlich den Entschluß fassen, dies nicht zu tun"267. Der Unterschied zur oben dargestellten 268 isolierten Prüfung für den einzelnen Angeklagten unter Einbeziehung des Grundsatzes in dubio pro reo liegt darin, daß das Verhalten der Geschäftsführer nicht jeweils für sich betrachtet wird, sondern daß zunächst ein mittäterschaftliches Zusammenwirken 2M

BGHSt 37, 126.

Denn jeder der Angeklagten könnte sich dann darauf berufen, daß sein Einwirken auf die übrigen Geschäftsleitungsmitglieder diese nicht von ihrem sorgfaltswidrigen Verhalten hätte abbringen können. 266 Ähnlich lag der Sachverhalt bei einer durch das BayObLG aufgehobenen amtsgerichtlichen Entscheidung, BayObLG, NJW 1990, 3032. Die Angeklagten hatten eine Kerze entzündet. Nachdem sie den Raum ohne Ergreifen von Sicherheitsmaßnahmen verlassen hatten, verursachte diese Kerze einen Brand. Beide Angeklagten wurden vor dem Amtsgericht freigesprochen, da jeweils. in dubio pro reo davon ausgegangen wurde, daß der andere die Kerze entzündet habe. Das BayObLG hob die Entscheidung unter Hinweis auf die beide Angeklagten treffende Garantenpflicht aus Ingerenz zur Ergreifung von Sicherungsmaßnahmen auf und erkannte auf Strafbarkeit aus fahrlässiger Brandstiftung durch Unterlassen (§§ 309, 13 StGB). 267 BGHSt 37, 129. 268 S. 85 f. 265

Leitsätze 5 und 6: Kausalitäts- und Täterschaftsfragen

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aller Geschäftsführer festgestellt wird. In einem weiteren Schritt wird die Kausalität der Unterlassenden in ihrer mittäterschaftlichen Verbundenheit für die Schadenserfolge untersucht. Wenn man hierbei das jeweilige Abstimmungsverhalten der Geschäftsleitungsmitglieder wechselseitig zurechnet, ergibt sich bezüglich des einzelnen "Geschäftsführers X" folgendes Bild: Er kann sich nicht darauf berufen, daß er bei pflichtgemäßem Verhalten am Widerstand der übrigen Kollegiumsmitglieder gescheitert wäre, denn da er mit ihnen mittäterschaftlich zusammenwirkt, wird ihm auch deren Abstimmungsverhalten wie eigenes Verhalten zugerechnet. Wenn man die Gesamtentscheidung als "Produkt" des mittäterschaftlichen Zusammenwirkens in ihrer Einheit auf ihre Kausalität für die Schadensereignisse hin untersucht, so läßt sich ohne weiteres feststellen, daß pflichtgemäßes ("Gesamt-")Verhalten des mittäterschaftlich handelnden Kollegiums LU einer pflichtgemäßen Entscheidung und damit zur Durchführung einer Rückrufaktion geführt hätte. Auf diese Weise kann nach der Argumentation des BGH die Kausalität auch des einzelnen Mitglieds des "Mittäter-Gesamtorgans" festgestellt werden.

-

Ergebnis des BGH bezüglich der Kausalitätsproblematik

Da die jeweiligen Tatbeiträge der Abstimmenden den anderen Kollegiumsmitgliedern als Mittätern angelastet werden, stellt sich nach Meinung des BGH das Kausalitätsproblem nicht. Denn daß das Zusammenwirken der Geschäftsführer während der Beschlußfassung auf der Sondersitzung zur Unterlassung der Rückrufaktion geführt hat, bedarf keiner weiteren Begründung. Daß diese Entscheidung gegen einen Rückruf wiederum die Schadensfälle verursacht hat, wurde schon in den vorhergehenden Prüfungs schritten bejaht. Der BGH kommt damit zu dem Ergebnis, daß die während der Sondersitzung anwesenden Angeklagten sich infolge Vorliegens auch der übrigen Stratbarkeitsvoraussetzungen 269 wegen mittäterschaftlich begangener vorsätzlicher gefährlicher Körperverletzung gern. §§ 223, 223a, 13, 25 Abs. 2 StGB strafbar gemacht haben. 2. Reaktionen im Schrifttum

Im folgenden sollen die Reaktionen auf diese Argumentation im Schrifttum dargestellt werden und danach eine Bewertung unter Berücksichtigung der jeweiligen Argumente erfolgen.

269

Rechtswidrigkeit und Schuld waren unproblematisch gegeben.

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Teil I: Die Grundsätze des Lederspray-Urteils des BGH

a) Befürworter der Entscheidung Die Ansicht des BGH fand im Schrifttum teilweise Zustimmung270• Als Argument hierfür wird der positive kriminalpolitische Effekt der Entscheidung angeführf 71 . Durch die Lösung des Senats werde verhindert, daß durch Bildung entscheidender Kollegialorgane bezüglich unternehmerischer Tätigkeit die strafrechtliche Verantwortlichkeit des einzelnen für die Geschäftstätigkeit des Unternehmens insgesamt ausgeschaltet werde. Die Haftung der mehrköpfigen - Geschäftsleitung eines größeren Unternehmens unterscheidet sich demnach nicht grundlegend von deIjenigen eines Einzelunternehmers. Die Tatsache, daß es anderenfalls möglich wäre, durch Überantwortung strafrechtlich relevanter Entscheidungen an Kollegialorgane eine Strafhaftung weitgehend auszuschalten, bildet ein schlagendes Argument für die Beurteilung der Sachlage durch den Senat. Fraglich bleibt aber, ob eine derartige "unternehmensbezogene Sichtweise"m anhand der hergebrachten Strafrechtsdogmatik ausreichend gerechtfertigt werden kann, oder ob sich die Lösung des BGH nicht letztendlich als "Trick"273 erweist, der zwar "zwanglos zu sachlich einleuchtenden Resultaten führt"274, dennoch aus dem Rahmen der ansonsten angewandten Prüfungsmaßstäbe fallt.

b) Gegenmeinung Dies stellen nämlich Kritiker 75 der BGH-Lösung fest und lehnen die dortigen Überlegungen - zum Teil vehemene 76 - ab. Im Vordergrund steht der Vorwurf eines methodisch falschen Vorgehens im Bereich der Kausalitätsprüfung des jeweiligen (Einzel-)Abstimmungsverhaltens für die Verletzungserfolge. Der BGH hat diesen Kausalzusammenhang unter Hinweis auf die (infolge Vorliegens von Mittäterschaft mögliche) wechselseitige Zurechnung des jeweiligen Abstimmungsverhaltens an die übrigen Kollegiumsmitglieder bejaht (vgl. hierzu die obigen Ausführungen, S. 85 ff.). Dem halten die Kritiker entgegen, daß es an der erforderlichen Tatherrschaft der einzelnen Geschäftsführer über den Geschehensablauf fehle, und daß infolgedessen bereits 270 Beulke/Bachmann, JuS 1992,742 f.; Kuhlen, NStZ 1990,570; ders., WiVerw 1991, 246; Schumann, StV 1994, 110; mit Einschränkungen: Meier, NJW 1992,3197. 271 Kuhlen, WiVerw 1991,247.

212

Kuhlen, WiVerw 1991,243 ff.

m So Puppe, JR 1992, 32. 274

So Kuhlen, WiVerw 1991,247.

Brammsen, Jura 1991, 536 f.; Dreher, ZGR 1992, 49; Hassemer, Produktverantwortung, S. 68 f.; Puppe, JR 1992,32. 276 Samson bezeichnet die Lösung (in: StV 1991, 184) als "gänzlich inakzeptabel". 275

Leitsätze 5 und 6: Kausalitäts- und Täterschaftsfragen

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deren Täterschaft äußerst fragwürdig seim. Daneben sei flir die Feststellung von Mittäterschaft das Vorliegen eines kausalen Tatbeitrags des einzelnen Mittäters flir den Geschehensablauf zunächst primäre Voraussetzung. Wenn aber von der wechselseitigen Zurechenbarkeit der Tatbeiträge auf deren Kausalität flir den Erfolg rückgeschlossen werde, sei dies ein Zirkelschluß278 • Puppe 279 geht sogar so weit, zu konstatieren, daß mit der Argumentation des BGH die Kausalität eines jeden Unbeteiligten flir einen Verletzungserfolg begründet werden könne. Zuerst werde Mittäterschaft behauptet und dann aufgrund der wechselseitigen Zurechnung der Beiträge der anderen "Mit-" Täter auf Kausalität flir den strafrechtlich relevanten Erfolg geschlossen. Auf denselben Umstand bezieht sich Samson, wenn er kritisiert, daß die Mittäterschaft allein auf den in der Sondersitzung gemeinsam getroffenen Unterlassungsbeschluß bezüglich der fraglichen Rückrufaktion gestützt werde, und daß dieser dann als Ersatz flir die Unterlassungskausalität benutzt werde280 • Hassemer 81 bezweifelt ebenfalls das Vorliegen eines gemeinsamen Tatplans sowie arbeitsteiliges Zusammenwirken der Mittäter auf der Grundlage eines derartigen Plans. 3. Stellungnahme

Das Problem des Falles liegt zunächst darin, daß die Frage der Kausalität der Geschäftsleiter für das Abstimmungsergebnis bei Anwendung der conditio sine qua non-Formel verneint werden muß282 . Das Abstimmungsverhalten des einzelnen Kollegiumsmitglieds kann hinweggedacht werden, ohne daß der Erfolg - nämlich die Entscheidung gegen einen Rückruf - entfiele. Zur Verdeutlichung: Angenommen, Geschäftsflihrer X hätte flir einen Rückruf gestimmt und seine Kollegen - erfolglos - umzustimmen versucht. Dann wäre mit drei gegen eine Stimme die Durchflihrung einer Rückrufaktion gleichwohl abgelehnt worden. Folge davon ist, daß das einzelne Votum flir die Unterlassung der Rückrufaktion nicht als conditio sine qua non des Verletzungserfolgs gelten kann. Daß die conditio-Formel in Ausnahmefallen 283 keine Hil277

Samson, StV 1991, 184.

Puppe, JR 1992,32; Röh, S. 46. 279 Puppe, JR 1992, 32. 2RO Samson, StV 1991, 184 f. In diesem Sinne äußert sich auch Amelung, S. 69 f. 281 Hassemer, Produktverantwortung, S. 68. 282 Ebenso: Amelung, S. 67; Dreher, ZGR 1992, 49; Meier, NJW 1992, 3197; Kuhlen, WiVerw 1991, 246. 283 Vgl. hierzu die Beispiele bei Baumann / Weber, § 17 11 4 a, b; Ebert / Kühl, Jura 1979,563 f.; Sch/Sch/Lenckner, vor §§ 13 fT. Rn. 82 f.: alternative, kumulative Kausalim

tät.

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Teil 1: Die Grundsätze des Lederspray-Urteils des BGH

fe ist, ist gemeinhin anerkannt284 . Fraglich ist aber, ob auch im vorliegenden Fall Kausalität trotz Versagens der conditio-Formel bejaht werden kann. In diesem Zusammenhang soll zuerst geprüft werden, ob dem BGH in seinem Schluß von der mittäterschaftlichen Zurechnung des jeweiligen Abstimmungsverhaltens auf die Kausalität jedes einzelnen Abstimmenden für die getroffene Entscheidung zu folgen ist. Dafür muß zunächst die (Mit-) Täterschaftsproblematik untersucht werden. Im folgenden wird in einem zweiten Problemkreis die Kausalität des einzelnen Angeklagten ftir den Verletzungserfolg zunächst unabhängig von der Beteiligungsform untersucht werden, bevor eine Gesamtwertung erfolgt. IH. Problemkreis 1: Wirkten die abstimmenden Geschäftsleitungsmitglieder mittäterschaftlich zusammen? 1. Voraussetzungen der Mittäterschaft

Mittäterschaft liegt nach ganz h.M. dann vor, wenn zwei oder mehr das tatbestandsmäßige Geschehen beherrschende Täter einen gemeinsamen Tatplan arbeitsteilig ausftihren285 . Der Unterschied zur sog. Nebentäterschaft liegt darin, daß Mittäter willentlich zusammenwirken, um den gewünschten Erfolg gemeinsam herbeizuführen, während Nebentäter unabhängig voneinander ohne gemeinsamen Tatplan handeln 286 • Ein gemeinsamer Entschluß der Angeklagten, dem strafrechtlich sanktionierten Handlungsgebot zur Durchftihrung einer Rückrufaktion nicht nachzukommen, liegt in der einstimmigen Entscheidung auf der Sondersitzung. Das Merkmal des gemeinsamen Tatentschlusses im Sinne der Mittäterschaft nach § 25 Abs. 2 StGB ist demnach zu bejahen, so daß vornehmlich die von den Mittätern tatherrschaftlich und arbeitsteilig vorgenommene Tatbestandsverwirklichung zu prüfen ist. Die Grundlage der nachfolgenden Untersuchung bilden zunächst zwei Voraussetzungen der Mittäterschaft im Unterlassungsbereich: Zunächst wird als gegeben betrachtet, daß es auch im Unterlassungsbereich grundsätzlich die Figur der Mittäterschaft gibt. Dies wird von einer 20. SchlSchlLenckner, vor §§ 13 ff. Rn. 74; a.A. Toepel, Kausalität, S.52 ff., insb. S. 95 f. 205 Dreher I Tröndle, § 25 Rn. 5 ff., 8 f.; Lackner, § 25 Rn. 9; MaurachlGössellZipf, AT 2, § 49 I Rn. 4; SchlSchlCramer,vor §§ 25 ff. Rn. 85, § 25 Rn. 61, 100; Wesseis, Rn. 526. 286

Maurach I Gössel I Zipf, AT 2, § 49 III Rn. 80 ff.; Wesseis, Rn. 525.

Leitsätze 5 und 6: Kausalitäts- und Täterschaftsfragen

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Mindenneinung287 mit der Begrundung, daß es im Unterlassungsbereich keinen gemeinsamen Tatentschluß im Sinne eines auf eine Handlung gerichteten Verwirklichungswillen geben könne 288 , abgelehnt. Dieser Meinung wird hier nicht gefolgt, sondern die Beurteilung erfolgt auf der Grundlage der h.M. 289 , die es als gegeben ansieht, daß auch im Unterlassungsbereich Vorsatz möglich 290 und Voraussetzung der Strafbarkeit ist. Dann ist auch die gemeinsame Fassung dieses Vorsatzes durch gleichberechtigte Täter und damit Mittäterschaft möglich. Voraussetzung ist allein, daß die als Mittäter in Frage kommenden Personen garantenpflichtig sind. Außerdem soll eine Auseinandersetzung mit der neueren Meinung, daß ein gemeinsamer Tatentschluß nicht zwingende Voraussetzung der Mittäterschaft sei 291 , nicht erfolgen. Die Diskussion erubrigt sich im gegebenen Fall bereits deshalb, weil der gemeinsame Entschluß ohnehin unproblematisch vorliegt 292 • Damit ist für die Untersuchung der Täterschaftsfonn im vorliegenden Fall nach zwei Voraussetzungen zu fragen: Erstens muß ein gemeinsamer Tatentschluß vorliegen und zweitens muß dieser Entschluß gemeinsam - arbeitsteilig - ausgeführt worden sein. Wie bereits gesehen (oben S. 90), liegt ein gemeinsamer Tatentschluß mit der Entscheidung während der Sondersitzung vor. Ein Problem könnte sich daraus ergeben, daß der Entschluß sich auf ein Unterlassen (der Rückrufaktion) bezog. Es fragt sich nämlich, ob im Unterlassungsbereich dann möglicherweise das für die Mittäterschaft charakteristische arbeitsteilige Vorgehen und die gemeinsame Tatherrschaft nicht schon per definitionem ausgeschlossen sind. Denn Unterlassen bedeutet beim unechten Unterlassungsdelikt ein schlichtes Nichtstun. Möglicherweise könnten also die Kritiker der BGH-Lösung mit ihrem Argument, die für die Mittäterschaft erforderliche Tatherrschaft liege nicht VO~93, durchdringen, wenn man diese mangels arbeitsteilig durchzuführender "Unterlassungs-Handlung"294 ablehnen müßte. 2R7

Gyünwald, GA 1959, 111 f.; KauJmann, Unterlassungsdelikte, S. 189 f.

KauJmann, Unterlassungsdelikte, S. 73, 189. 2R9 Statt aller: Dreher / Tröndle, § 13 Rn. 19; Jescheck, § 63 IV 2; LK lJescheck, § 13 Rn. 58; Sch / Sch / Cramer, vor §§ 25 fT. Rn. 100. 290 Vgl. hierzu auch Maurach / Gössel/Zipf, AT 2, § 46 III Rn. 110. 291 Vertreten von Lesch, ZStW 1993, 271 fT.; Stein, S. 326 f.; dagegen die ganz h.M.: Dreher/Trönd/e,§ 25 Rn. 8; Jescheck, § 63 11 I; Küpper, ZStW 1993, 298 fT.; Lackner, § 25 Rn. 10; LK/ Roxin, § 25 Rn. 173; Sch/Sch/Cramer, § 25 Rn. 61, 70; See/mann, JuS 1980, 572, die den gemeinsamen Tatentschluß als zwingende Komponente der Mittäterschaft versteht. 292 Vgl. oben S. 90. 293 So Samson, StV 1991, 184. 294 Die Möglichkeit der "Unter/assungshandlung" beim unechten Unterlassungsdelikt bejahen Maurach / Gössel! Zipf, AT 2, § 45 I Rn. 17 fT., 20, § 46 III Rn. 110. m

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Teil \: Die Grundsätze des Lederspray-Urteils des BGH

2. Tatherrschaft der abstimmenden Geschäftsführer?

Wegen dieses Problems soll zunächst die Frage der Tatherrschaft des einzelnen Geschäftsführers erörtert werden. Tatherrschaft wird gemeinhin definiert als das vom Vorsatz umfaßte In-den-Händen-Halten des tatbestandsmäßigen Geschehensablaufs 295 . Konkretisiert wird dieser Grundsatz in Fällen mittäterschaftlichen HandeIns durch die Lehre von der funktionellen Tatherrschaft296 .

a) Die Lehre von der funktionellen Tatherrschaft Funktionelle Tatherrschaft soll vorliegen, wenn der einzelne Mittäter durch Nichterbringen seines Tatbeitrags den Eintritt des Verletzungserfolgs verhindern kann 297 , wenn also der einzelne Mittäter ohne die Mitwirkung des anderen nicht in der Lage ist, den Verletzungserfolg herbeizuführen. Zur Verdeutlichung soll ein von den Vertretern der Lehre von der funktionellen Tatherrschaft gebildetes Beispiel dienen: Täter A hält das Opfer fest, während Täter B auf es einschlägt.

Hier führen die beiden Tatbeiträge nur zusammen den Verletzungserfolg herbei. Würde B das Opfer nicht festhalten, so könnte A nicht auf es einschlagen. Würde A nicht auf das Opfer einschlagen, so könnte der Griff des B für sich allein den Verletzungserfolg körperliche Mißhandlung nicht herbeiführen. Dies ist ein typischer Fall funktioneller Tatherrschaft: Keiner der Täter kann ohne die Mitwirkung seines Komplizen etwas ausrichten298 • Übertragen auf den zu entscheidenden Fall bedeutet dies: Zu prüfen ist, was geschehen wäre, wenn einer der Geschäftsführer für die Rückrufaktion gestimmt und darüber hinaus versucht hätte, die anderen ebenso zu beeinflussen. Vorausgesetzt, seine Überzeugungsarbeit wäre nicht erfolgreich gewesen, kommt man zu dem Schluß, daß das Nichterbringen des Einzelbeitrags den Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolgs - nämlich Gesundheitsbeschädigungen bei den nicht durch einen Rückruf gewarnten Endverbrauchern - nicht verhindert hätte. Die übrigen Geschäftsführer konnten auch ohne Mitwirkung

Statt aller Maurach/Gössel/Zipf, AT 2, § 47 IV Rn. 85; Wesseis, Rn. 518 m.w.N. BegTÜndet von Roxin, Täterschaft, S. 275 ff. Heute ist die Figur der funktionellen Tatherrschaft allgemein anerkannt: vgl. Jescheck, § 6\ V 3 b, § 63 I \ a; Lackner, § 25 Rn.lI; Maurach/Gössel/Zipf, AT 2, § 49 I Rn. 5; Rudolphi, FS Bocke1mann, S. 373 f.; Seelmann, JuS 1980, 573 f. m.w.N.; Wesseis, Rn. 518; dagegen Sch/Sch/Cramer, vor §§ 25 ff. Rn. 86. 297 Vgl. LK/ Roxin, § 25 Rn. 154; Rudolphi, FS Bocke1mann, S. 373. m Vgl. Roxin, Täterschaft, S. 277 f. 295

2%

Leitsätze 5 und 6: Kausalitäts- und Täterschaftsfragen

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eines Geschäftsführers X den Verletzungserfolg problemlos herbeiführen. Demnach wäre die sog. funktionelle Tatherrschaft zunächst abzulehnen. Ob dieser Schluß zwingend ist, soll eine Überprüfung anhand anderer im Schrifttum vertretener Täterschafts- und Tatherrschaftskonstruktionen zeigen. Möglicherweise ergibt sich unter Anwendung der Lehre von der additiven Mittäterschaft299 ein anderes Ergebnis30o •

b) Die Lehre von der additiven Mittäterschaft Auch diese Lehre soll kurz anhand eines BeispielfalIes301 dargestellt werden: Es handelt sich um ein aus 20 Schützen bestehendes Erschießungskommando. Auf Befehl schießen alle zwanzig auf das Opfer. Ein Schuß trifft tödlich, wobei sich nicht feststellen läßt, welcher der Schützen die Kugel abgegeben hat.

Auf den Beitrag von neunzehn der zwanzig Schützen kommt es ex post betrachtet für den Todeserfolg nicht an. Folglich besteht die Gefahr, daß jeder der Schützen sich zunächst nach dem Grundsatz in dubio pro reo darauf berufen kann, den tödlichen Schuß habe ein anderer - jedenfalls nicht er abgegeben. Nach Herzberg hilft hier die Lehre von der funktionellen Tatherrschaft nicht weiter, da diese gerade nicht vorliege 302 • Deswegen soll es nach seiner Figur der additiven Mittäterschaft in diesen Fällen auf die Gleichrangigkeit der Tatbeiträge ankommen: Da jeder der Schützen einen gleichwertigen Tatbeitrag geliefert habe - jeder habe nämlich einen potentiell todbringenden Schuß auf das Opfer abgegeben -, liege die von § 25 Abs. 2 StGB umschriebene Situation der Mittäterschaft vor. Von der Gleichrangigkeit der Tatbeiträge wird dabei auf die Gemeinschaftlichkeit der Tatausführung i.S.d. § 25 Abs. 2 StGB geschlossen 303 • Da § 25 Abs. 2 StGB eine Erweiterung der Strafbarkeit auch konstituieren solle, sei dieser Schluß vom Vorliegen der Normsituation auf die Mittäterschaft legitim 304 • 299 Begründet von Herzberg, Täterschaft, S. 56 ff.; befürwortet von: Franke, JZ 1982, 582; Seelmann, JuS 1980, 574. 300 Beulke / Bachmann, JuS 1992, 743 Fn. 84 lassen eine Lösung des Lederspray-Falles über diese Figur anklingen; ebenso für einen ähnlichen Fall bezüglich der Tätigkeit eines Redakteurskollektivs Franke, JZ 1982, 582. 301 Gewählt nach Herzberg, Täterschaft, S. 56; Seelmann, JuS 1980,574. 302 Herzberg, Täterschaft, S. 56 f.; ebenso Seelmann, JuS 1980, 574; a.A. Roxin, Täterschaft, S.660 f.; sowie Maurach/Gössel/Zipf, AT 2, § 49 I Rn. 9, § 49 II Rn. 37, sie bejahen Teilhabe an sog. "kollektiver Tatherrschaft". 303 Anders Maurach/Gössel/Zipf, AT 2, § 49 II Rn. 38,40.

304 Mittäterschaft bejaht in diesem Fall auch Toepel, Kausalität, S. 72 f., ohne allerdings hierzu die Figur der additiven Mittäterschaft zu benötigen.

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Teil I: Die Grundsätze des Lederspray-Urteils des BGH

Übertragen auf den zu entscheidenden Fall bedeutet dies: Nach der Lehre von der additiven Mittäterschaft ist Mittäter derjenige, der nach Versuchsbeginn einen vom gemeinsamen Tatentschluß getragenen Beitrag zur Tatbestandserfüllung leistet, der den Beiträgen der anderen Mittäter gleichrangig ist J 0 5 • Um dies zu überprüfen, muß eine Besonderheit des vorliegenden Falles beachtet werden: Die Geschäftsführerentscheidung zur Unterlassung der Rückrufaktion bildet den Tatentschluß für das zu prüfende UnterlassungsdeliktJ06 • Gleichzeitig liegt der Tatbeitrag des einzelnen Geschäftsführers zu dieser Unterlassung zunächst in seinem Votum bei der Beschlußfassung. Damit ist ein Sonderfall dergestalt gegeben, daß Tatentschluß und Tatbeitrag im zugrundeliegenden Fall "Unterlassungsbeitrag" - des einzelnen Beteiligten zum Teil in einem Akt zusammenfallenJ07 • Untersucht werden muß also, ob der jeweilige Tatbeitrag der Stimmabgabe auf der Sondersitzung den anderen Tatbeiträgen gleichwertig ist. Da keine der Stimmen ein größeres Gewicht hat als die anderen, kann von einer Gleichwertigkeit der Tatbeiträge problemlos ausgegangen werden. Darüber hinaus liegt der einzelne Tatbeitrag in der "Ausführung" des Beschlusses durch Unterlassen von Rückrufmaßnahmen durch den einzelnen Geschäftsführer. Auch diesbezüglich liegt Gleichwertigkeit der (Unterlassungs-)Beiträge vor, weil wegen des Prinzips der Gesamtgeschäftsführung keiner der Geschäftsführer weitergehende Handlungspflichten als seine Kollegen hat, mithin jede der Unterlassungen gleich schwer wiegt. Demnach könnte man nach der Lehre von der additiven Mittäterschaft gemeinschaftliche "Begehung" (soll heißen Unterlassung) im Sinne des § 25 Abs. 2 StGB durch die gleichrangigen Tatbeiträge der Mittäter bejahen. c) Gegner der Lehre von der additiven Mittäterschaft

Jedoch wird an der Lehre von der additiven Mittäterschaft scharfe Kritik geübeo8 • Hauptsächlich wird bemängelt, daß sie in Wirklichkeit keine Begründung für die Annahme von Mittäterschaft in den zweifelhaften Fällen bieteJ 09 . Sie verweise lediglich auf die Vorschrift des § 25 Abs. 2 StGB, ohne zu erläutern, aus welchem Grund diese einschlägig sein solle. Allein die Addition parallel erfolgender gleichrangiger Einzelaktionen reiche aber zur Begründung der Mittäterschaft nicht aus 3lO • Stattdessen hält Roxin J11 eine LöHerzberg, Täterschaft, S. 70. Vgl. hierzu die Ausführungen auf S. 90. 307 So für einen Fall der Entscheidungsfindung in einem Redakteurskollektiv auch entschieden von Franke, JZ 1982, 582. 30' LK/Roxin, § 25 Rn. 158 f.; Roxin, Täterschaft, S. 660 f.; Schmidhäuser, AT, 10/62; ablehnend auch Maurach/Gössel/Zipf, AT 2, § 49 I Rn. 9. 309 Roxin, Täterschaft, S. 661. 310 Roxin, Täterschaft, a.a.O. 305

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Leitsätze 5 und 6: Kausalitäts- und Täterschaftsfragen

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sung auch dieser Fälle über die Figur der funktionellen Tatherrschaft für möglich. Er erklärt, daß die Tatherrschaft nicht durch die ex post festzustellende Maßgeblichkeit des Tatbeitrags für den Erfolg begründet werde 3l2 , sondern daß es vielmehr auf die Rolle, die der einzelne Mittäter nach dem Tatplan im Ausführungsstadium leisten solle, ankomme. Entscheidend sei hierbei, ob es ex ante betrachtet möglich war, daß der jeweilige Beteiligte den ausschlaggebenden Beitrag bringen werde. Der Ansatz der Notwendigkeitstheorie, die die Unverzichtbarkeit des Tatbeitrags für den Erfolgseintritt fordert, sei nicht zu verfolgen. Stattdessen sei nach der Relevanz des EinzeIbeitrages für den Gesamtplan 313 zu fragen Jl4 • Demnach ergibt sich für die Beurteilung des Erschießungskommando-Falles folgendes: Jeder der Schützen hat - ex ante betrachtet - eine entscheidende Funktion, denn der Erfolgseintritt kann von ihm abhängen (falls seine Kugel als einzige treffen sollte). Maßgeblich ist die Relevanz des Einzelbeitrags für den Gesamtplan. Diese ist deswegen von großem Gewicht, weil es zu Beginn der Tatausführung nicht feststeht, welche Kugel treffen wird, also jeder der Einzelbeiträge der im Sinne des Tatplans ausschlaggebende werden kann. Für jeden der zwanzig Schützen wäre so Mittäterschaft wegen funktioneller Tatherrschaft nach Roxins Ansicht zu bejahen. Übertragen auf den Lederspray-Fall bedeutet dies: Zwar kann der einzelne Geschäftsführer entsprechend dem Musterfall für die funktionelle Tatherrschaft nichts ausrichten3\5, denn allein kann er die Entscheidung nicht herbeiführen. Zweifelhaft ist auch, ob er in der Lage ist, allein durch Nichterbringen seines Tatbeitrags den Verletzungserfolg abzuwenden 3l6 • Bei der Beantwortung dieser Frage ist nach Roxins Meinung nicht der Ansatz der Notwendigkeitstheorie 317 - also nicht die Feststellung der Maßgeblichkeit der gesetzten Bedingung ex post -, sondern die Frage nach der Relevanz des Tatbeitrags für den Gesamtplan entscheidend. Ausschlaggebend ist im vorliegenden Fall diejenige Stimme, die die Mehrheit für den Unterlassungsbeschluß herbeiführt. Entsprechend Roxins Ansatz ex ante betrachtet, könnte diese Stimme jede der abgegebenen werden. Der Tatplan - Unterlassen der RückrufRoxin, Täterschaft, S. 660; ders., LK, § 25 Rn. 158 f. LK/ Roxin, § 25 Rn. 159. )1) Roxin, Täterschaft, S. 661. )14 Skeptisch hierzu Maurach/Gössel/Zipf, AT 2, § 49 II Rn. 32. )15 Hierin liegt ein Unterschied zum Erschießungskommando-Fall. Dort ist gar nicht sicher, ob der einzelne Schütze nicht doch ohne die anderen etwas ausrichten könnte, denn grundsätzlich ist jeder einzelne von ihnen in der Lage, den todbringenden Schuß abzugeben. )16 Insofern liegt der Fall gleich wie der des Erschießungskommandos. )17 War der einzelne Beitrag letztlich unverzichtbar für den Erfolgseintritt? )11

)12

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Teil I: Die Grundsätze des Lederspray-Urteils des BGH

aktion entsteht durch die arbeitsteilig herbeigeführte Geschäftsführerentscheidung. Tatplanung und Tatbeitrag des einzelnen Geschäftsführers fallen diesbezüglich in einem Akt zusammen 3l8 . Hierbei hat jeder der Geschäftsführer eine wesentliche Funktion innerhalb der Fassung des gemeinsamen Entschlusses, denn alles kann von seiner Stimme abhängen. Jeder von ihnen übt seine dem Tatplan entsprechende rollenbedingte Funktion aus: Innerhalb der Entscheidungsfindung leistet er zunächst seinen Beitrag zur Herbeiführung der entscheidenden Mehrheit, sodann seinen Unterlassungs-Beitrag in Ausführung der Entscheidung. Hierin liegt die maßgebliche Relevanz des einzelnen Beitrags für den Gesamtplan: Jede der Stimmen hätte ex ante betrachtet die entscheidende Stimme für - oder gegen - die Durchführung einer Rückrufaktion sein können. Tatherrschaft des einzelnen Geschäftsleitungsmitglieds wäre demnach zu bejahen. Arbeitsteiliges Zusammenwirken liegt dann in der gemeinsamen Herbeiführung des Beschlusses, anders ausgedrückt: die Mehrheit (hier sogar einstimmig getroffene Entscheidung) setzt sich zusammen aus den einzelnen positiven Stimmabgaben rur eine Unterlassung. Insofern besteht auch hier die. "Arbeitsteiligkeit" des Vorgehens. Gleiches gilt rur die jeweiligen Unterlassungs-Beiträge in Ausruhrung der Entscheidung. Auf diese Weise ließe sich nach Roxins Ansatz das Vorliegen von Mittäterschaft begründen und die oben erwähnte Sichtweise319 hat sich als zu kurz gegriffen herausgestellt. Die Unterschiede zwischen den Auffassungen von Roxin und Herzberg erweisen sich als nicht sehr groß: Die von Roxin rur die Tatherrschaft vorausgesetzte wesentliche rollenbedingte Funktion des Mittäters im Rahmen des Gesamtplans bedingt die Gleichrangigkeit der durch den Tatbeitrag vermittelten Funktion mit der der anderen Tatbeteiligten. Wenn also die Voraussetzung der funktionellen Tatherrschaft nach Roxin vorliegt, so ist damit auch die Gleichrangigkeit der Tatbeiträge, die Herzberg rur das Vorliegen additiver Mittäterschaft verlangt, gegeben. Durch die wesentliche rollenbedingte Funktion des Mittäters wird gleichzeitig ausgeschlossen, daß dieser eine rein dienende Funktion - die Herzberg als Grund rur die Ablehnung mittäterschaftlichen Zusammenwirkens werten würde - im Rahmen der Deliktsverwirklichung errullt. Im Ergebnis werden die Ansichten von Herzberg und Roxin damit zu gleichen Wertungen - mit unterschiedlicher Begründung - führen.

318 319

Vgl. hierzu bereits oben S. 94 f. S. 92 f.

Leitsätze 5 und 6: Kausalitäts- und Täterschaftsfragen

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d) Zwischenergebnis Als Zwischenergebnis läßt sich hier feststellen, daß zur Begründung der Mittäterschaft der abstimmenden Geschäftsführer die Figur der additiven Mittäterschaft nicht zwingend notwendig ist. 3. Tatherrschaft als zwingende Voraussetzung der Unterlassungstäterschaft?

Für den Fall eines - hier vorliegenden - Unterlassungsdelikts besteht aber bezüglich des Vorliegens von Mittäterschaft eine Besonderheit. Im Schrifttum320 wird bei Unterlassungsdelikten teilweise zwar die Möglichkeit der Mittäterschaft bejaht, aber dennoch als unnötig erachtet. Grund dafür sei, daß der Unterlassungs(Mit-)täter bereits für sich allein Täter sei, und daher die gegenseitige Zurechnung der Einzelbeiträge überflüssig sei. Ausgangspunkt für diese Ansicht ist die - von Roxin begründete32I - Lehre von den Pflichtdelikten.

a) Die Lehre von den Pflichtdelikten Nach dieser Lehre unterscheiden sich die Straftatbestände in einerseits Herrschafts- und andererseits Pflichtdelikte322 • Herrschaftsdelikte sind dadurch bestimmt, daß entscheidend für die Strafbarkeit eines Verhaltens die Tatherrschaft über den erfolgsverursachenden Geschehensablauf ist. Demgegenüber werden Pflichtdelikte charakterisiert durch eine dem Tatbestand vorgelagerte außerstrafrechtliche Sonderpflicht des Täters323 • Seine Täterschaft erwächst allein aus der Verletzung dieser Pflicht unabhängig von einem irgendwie gearteten Tatbeitrag324 bzw. der Tatherrschaft325. Bei den unechten Unterlassungsdelikten liegt in dem durch die GarantensteIlung erzeugten Handlungsgebot diese Sonderpflicht im Sinne der Pflichtdelikte326 . Unechte Unterlas320 Jescheck, § 63 IV 2; Sch/Sch/Cramer, § 25 Rn. 78 f.; Stratenwerth, Rn. 1068; Welzet, § 27 V I, S. 206, § 28 V I, S. 221; LK 1Roxin, § 25 Rn. 215 erkennt es dabei als Ausnahmefall an, wenn die geforderte Handlung nur gemeinsam erbracht werden kann dieser Ausnahmefall ist im Lederspray-Sachverhalt gegeben. 311 Roxin, Täterschaft, S. 352 ff.; ders. in LK, § 25 Rn. 37 f., 206 ff. 322 Roxin, Täterschaft, S. 354 f. Ablehnend zu den Pflichtdelikten äußern sich: Langer, S.224 f.; Maurach/Gössel/Zipf, AT 2, § 47 IV Rn. 90 f., § 47 V, Rn. 114, § 49 I Rn. 11; Schmidhäuser, AT, 14/30, Fn. 24. 323 Roxin, Täterschaft, S. 354. 324 Sch/Sch/Cramer, § 25 Rn. 78 f. J2S

326

Roxin, Täterschaft, S. 355 ff.; vgl. hierzu auch Beulke I Bachmann, JuS 1992, 742. Wesseis, Rn. 514.

7 Weißer

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sungsdelikte fallen demnach immer in die Gruppe der Ptlichtdelikte 327 • Folge davon ist es, daß bei den unechten Unterlassungsdelikten allein der Verstoß gegen die Ptlicht zur Erfolgsabwendung die Täterschaft begründet J28 • Auf Tatherrschaftsfragen soll es hier nicht ankommen 329 • Das erklärt sich auch daraus, daß vertreten wird, Tatherrschaft sei beim Unterlassungsdelikt bereits begrifflich ausgeschlossen, da der Unterlassende nicht aktiv lenkend einen Geschehensablauf bestimme, sondern schlicht den Dingen ihren Lauf lasse330 . Wenn aber bereits durch den einfachen Verstoß gegen die Garantenptlicht die Täterschaft des Garanten begründet ist, so ist jeder der gemeinsam unterlassenden garantenptlichtigen (Mit-)Täter bereits ohne Hinzurechnung der Unterlassungen der anderen Garanten für sich Täter. Das etwaige Vorliegen von Mittäterschaft spielt damit in der Tat keine Rolle. Bei Anwendung der Lehre von den Ptlichtdelikten auf den vorliegenden Fall ergibt sich folgendes Bild: Jeder der abstimmenden Geschäftsführer verstößt gegen seine Erfolgsabwendungsptlicht bezüglich der Schädigungen der Konsumenten aus seiner GarantensteIlung als Hersteller /Vertriebshändle~31. Hieraus erwächst seine TätersteIlung, ohne daß es auf die Tatherrschaft über den schadensbringenden Geschehensablauf (nämlich Herbeiführung des später auch befolgten rechtswidrigen Geschäftsführerbeschlusses) ankommt. Die Tatsache, daß keine sichere Prognose dazu gemacht werden kann, ob die Geschäftsführer jeweils bei Vornahme der durch die Garantenptlicht geforderten Handlungen den Verletzungserfolg hätten abwenden können, ist dann unerheblich. Damit könnte man nach der Lehre von den Ptlichtdelikten die Täterschaft der einzelnen Geschäftsführer allein durch ihren Verstoß gegen die Garantenptlicht begründen. Alle wären bereits als Einzeltäter strafbar. Dennoch bejahen auch die Vertreter dieser Lehre die Möglichkeit der mittäterschaftlichen Begehung der Ptlichtdelikte für den Fall, daß ein gemeinsamer Verstoß gegen eine gemeinsame Pflicht einverständlich erfolge 32 • Da die Garantenptlicht bezüglich der Produktrisiken den Angeklagten in ihrer Verbundenheit als Geschäftsleitungsorgan gemeinsam obliegt333 , wäre auch Mittäterschaft der unterlassenden Geschäftsführer wegen Verletzung der gemeinsamen Handlungsptlicht denkbar. J27 Roxin, Täterschaft, S. 459; Sch / Sch / eramer, vor §§ 25 fT., Rn. 73; ablehnend: Maurach / Gössel! Zipf, AT 2, § 49 I Rn. 11. 32R Dagegen Oua, AT, § 21 III 1; Stratenwerth, Rn. 1071. 329 330 331

332

m

Roxin, Täterschaft, S. 357,462 f.; ders., LK, § 25 Rn. 162. Roxin, Täterschaft, S. 463; anders Maurach / Gössel! Zipf, AT 2, § 47 IV Rn. 91. Zum Nachweis der Erfolgsabwendungspfticht als Garanten vgl. oben S. 60, 65. LK/ Roxin, § 25 Rn. 162. Vgl. hierzu oben S. 26 fT., 65.

Leitsätze 5 und 6: Kausalitäts- und Täterschaftsfragen

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b) Kritik an der Lehre von den Pflichtdelikten Nach anderer Ansicht genügt allein der gemeinsame Pflichtverstoß nicht zur Begründung der Mittäterschaft334 • Stratenwerth335 verlangt darüber hinaus einen gemeinsamen Entschluß. Da aber - wie oben festgestelle 36 - ein gemeinsamer Tatentschluß der Abstimmenden problemlos zu bejahen ist, wäre auch nach Stratenwerths Meinung Mittäterschaft möglich. Maurach / Gössel / Zipf337 fordern auch bei den unechten Unterlassungsdelikten Tatherrschaft. Sie lehnen die Unterscheidung zwischen Pflicht- und Herrschaftsdelikten grundsätzlich ab 338 • Auch beim Unterlassungsdelikt könne allein die Gemeinsamkeit des Pflichtverstoßes noch nicht Mittäterschaft begründen. Es sei darüber hinaus Tatherrschaft erforderlich339 • Sie vertreten die Lehre von der kollektiven Tatherrschaft von Mittätern. Diese besagt, daß (kollektive) Tatherrschaft eines Mittäters dann vorliege, wenn sein Beitrag im Zusammenhang mit den anderen Beiträgen dem Verband der Mittäter die Gesamtherrschaft über den Geschehensablauf verrnittle340 • Tatherrschaft des Einzelnen bedeutet demnach Teilhabe an der gemeinsamen Herrschaft des Kollektivs. Es besteht eine gewisse Verwandtschaft zwischen der Lehre Roxins von der funktionellen Tatherrschaft und der Ansicht von Maurach / Gössel/Zipf zur kollektiven Tatherrschaft: Die "wesentliche rollenbedingte Funktion", die Roxin als Voraussetzung der Tatherrschaft der Mittäter benennt, ist es, die nach der Lehre von Maurach / Gössel/Zipf die kollektive Tatherrschaft begründet. Die rollenbedingte Funktion ergibt sich aus der im Tatplan vorgesehenen Rolle des einzelnen Mittäters. Gleichzeitig sind es die durch den Tatplan koordinierten Einzelaktionen, die in ihrem Zusammenwirken den Erfolg verursachen. Über diesen Erfolg herrschen die den Tatplan gemeinschaftlich Ausführenden kollektiv. Die Teilhabe an der kollektiven Tatherrschaft läßt sich im Lederspray-Fall ohne größere Schwierigkeiten begründen: Durch die Abgabe der zur Geschäftsleitungsentscheidung führenden Stimme hat der Einzelne teil an der Tatherrschaft des Gesamtorgans Geschäftsleitung über den schadensbringenden Kausalverlauf zwischen Unterlassung der Rückrufaktion und Gesund334 335

336 337

33R 339 340



Maurach/Gössel!Zipf, AT 2, § 49 II Rn. 11; Stratenwerth, Rn. 1071. Stratenwerth, Rn. 1071. Vgl. oben S. 90. Maurach / Gössel! Zipf, Maurach/Gössel!Zipf, Maurach/Gössel!Zipf, Maurach / Gössel! Zipf,

AT 2, § 49 II Rn. 11. AT 2, § 47 IV Rn. 90 f.; ebenso Langer, S. 224 f. AT 2, § 49 I Rn. 11. AT 2, § 49 II Rn. 26.

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heitsschädigungen. Tatherrschaft wäre also zu bejahen, da die Teilhabe an der gemeinsamen Herrschaft des Kollektivs (Geschäftsleitung) vorliegt. Weil nach Maurach / Gössel/Zipf kollektive Tatherrschaft der abstimmenden Geschäftsführer zu bejahen wäre, wären diese Mittäter des unechten Unterlassungsdelikts. 4. Zwischenergebnis

Als Zwischenergebnis bleibt an dieser Stelle festzuhalten: Nach allen hier diskutierten BegTÜndungsansätzen34I käme man im Erdal-Fall zum gleichen Ergebnis wie der BGH - Mittäterschaft der abstimmenden Geschäftsführer wäre zu bejahen. Die Ansichten sollen im folgenden in einer abschließenden Stellungnahme vor allem unter Würdigung der von den Gegnern der Mittäterschaft342 angeführten Argumente diskutiert werden. 5. Entscheidung bezüglich Problemkreis 1

Ausgangspunkt der Argumentation im Lederspray-Fall sollte die Tatsache sein, daß hier durch die Situation eines unechten Unterlassungsdelikts eine besondere Konstellation vorliegt: Neben dem gemeinschaftlichen Tatentschluß gibt es keine weiteren aktiven Beiträge, die die Täter zur Verwirklichung des Verletzungserfolgs leisten. Neben dem Tatbeitrag im Rahmen der Entscheidungsfindung hat der weitere Beitrag - nämlich die schlichte Untätigkeit in "Ausführung" des Unterlassungsbeschlusses - nur untergeordnete Bedeutung. Maßgeblicher Tatbeitrag und Tatentschluß fallen während der Entscheidungsfindung im Kollegium also in einem Akt zusammen 343 . Die Täter treffen gemeinsam die Entscheidung, gegen das bestehende Handlungsgebot zu verstoßen. Dabei mußte jedem der Abstimmenden bei Fassung des Unterlassungsbeschlusses bereits vor Abgabe seines Votums klar sein, daß seine Stimme zur alles entscheidenden werden könnte. Insofern mußte jeder davon ausgehen, daß er den Geschehensablauf in die eine oder andere Richtung lenken konnte. Demnach läßt sich nicht· argumentieren, der einzelne Geschäftsführer habe keine Herrschaft über den Geschehensablauf gehabt. Denn beim Erbringen des einzelnen Tatbeitrags stellt sich die Situation für den je341 Zur Lehre von der funktionellen Tatherrschaft vgl. die Ausführungen oben S. 92 f. Zur Lehre von der additiven Mittäterschaft vgl. die Ausführungen oben S. 93 f. - Zur Lehre von den Pflichtdelikten vgl. die Ausführungen oben S. 97 ff. - Zur Lehre von der kollektiven Tatherrschaft vgl. die Ausführungen oben S. 99 f. 342 Vgl. hierzu oben S. 88 f. 343 Vgl. hierzu oben S. 94.

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weiligen Geschäftsführer so dar, daß er im Zweifel das entscheidende "Zünglein an der Waage" sein kann. Bei der Feststellung der Täterschaft muß es auf die Sachlage im Zeitpunkt der Erbringung des Tatbeitrags ankommen. Hier ereignet sich das tatbestandliche Unrecht. Diese Sichtweise kann nicht im nachhinein dadurch modifiziert werden, daß sich die Mehrheitsverhältnisse letzten Endes - mehr oder weniger zufallig - so darstellen, daß mehr als eine Stimme die entscheidungserhebliche Differenz bildet. Es muß vielmehr für die Feststellung der Täterschaft auf die Sachlage im Zeitpunkt der Beschlußfassung ankommen. In dieser Situation aber wirken die Täter zusammen auf ein bestimmtes Ergebnis hin, das Abstimmungsergebnis. Jeder der Angeklagten trifft im Bewußtsein, gegen ein ihn verpflichtendes Handlungsgebot zu verstoßen, eine Entscheidung gegen die Durchführung der Rückrufaktion. Tatherrschaft sowie das Bewußtsein dieser Tatherrschaft bezüglich des eigenen Beitrags - Abstimmungsverhalten und Ausführung der getroffenen Entscheidung - liegen vor. Denn die Tatherrschaft des Mittäters darf hier nicht in dem Sinne mißverstanden werden, daß sie nur bei Beherrschung auch der Tatbeiträge der anderen Mittäter vorliege 344 • Die Tatherrschaft des Mittäters besteht vielmehr darin, daß sein Beitrag ihn teilhaben läßt an der Herrschaft über die Gesamttae 45 • Charakteristisch für die Mittäterschaft ist die Gleichordnung der arbeitsteilig Handelnden. Verlangt man neben der Herrschaft über den eigenen Beitrag grundsätzlich noch die Herrschaft über die Beiträge der anderen, dann erübrigt sich die durch § 25 Abs. 2 StGB normierte wechselseitige Zurechnung, denn der Beitrag anderer wird automatisch zum eigenen Beitrag, wenn man ihn (mit) beherrscht. Dann wären aber gleichzeitig viele als Mittäterschaft anerkannte Fälle nicht mehr über diese Figur lösbar: Herrscht der Schmiere stehende Mittäter eines Bankraubs über die in der Bank befindlichen Komplizen? Herrscht der abwesende Bandenchef über die strikt nach seinen Anweisungen handelnde Diebesbande im Ausführungsstadium? Diese Fragen müßten verneint und Mittäterschaft abgelehnt werden, folgte man der dargestellten Meinung. Es zeigt sich also, daß bei der Mittäterschaft die Tatherrschaft im Ausführungsstadium nicht als Steuerungsherrschaft über den Mittäter aufgefaßt werden sollte. Richtiger wäre ein Tatherrschaftsverständnis auf der Grundlage des Tatplans. Die arbeitsteilig handelnden Mittäter agieren in Ausführung eines gemeinsamen Tatplans. Die Herrschaft eines Mittäters über den Beitrag eines Komplizen wird vermittelt durch den gemeinsamen Plan, in dessen Rahmen sich die Ausführungshandlung bewege 46 • Das bedeutet nicht, daß der So verstanden wohl von Jakobs, 21 /55a. Insofern übereinstimmend mit Maurach / Gössel/Zipf, AT 2, § 49 II Rn. 26 tT. 346 Eine nicht vom gemeinsamen Tatplan umfaßte Handlung fällt nicht mehr unter die so verstandene Tatherrschalt. Die Zurechnung an die Mittäter scheitert dann am Exzeß des Mittäters, vgl. WesseIs, Rn. 531. 344

34S

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Teil I: Die Grundsätze des Lederspray-Urteils des BGH

Mittäter durch Nichterbringen seines Tatbeitrags auch diejenigen seiner Komplizen unmöglich machen oder den Eintritt des Verletzungserfolgs verhindern können muß. Bei der Mittäterschaft genügt es, wenn die Mittäter in ihrer mittäterschaftlichen Verbundenheit den Geschehensablauf beherrschen, wenn sie durch ihre gemeinsame Aktion den Verletzungserfolg bewirken. Maurach / Gössel/Zipf bezeichnen dies als "kollektive Tatherrschaft"347 der Mittäter. Die Maßgeblichkeit des Einzelbeitrags für die Gesamttat darf hierbei nicht aus einer Sichtweise ex post beurteilt werden, sondern sie muß allein an der durch den Tatplan ex ante vorgegebenen Position innerhalb der Tatbestandsverwirklichung gemessen werden 348 . Die Wesentlichkeit des einzelnen Beitrags innerhalb des Gesamtgeschehens aus der - maßgeblichen - ex anteSicht wurde bereits dargelegt 349 • Die Gesamtheit dieser Beiträge führt in ihrem Zusammenwirken zur Herrschaft des Gremiums über den schadensbringenden Geschehensablauf und damit zur mittäterschaftlichen Verbundenheit der Täter durch die Ausführung einer gemeinsamen Entscheidung. Nicht zu vergessen ist dabei, daß die objektive Komponente der gemeinsam ausgeübten Tatherrschaft durch die subjektive Komponente der gemeinsamen Tatplanung zwingend ergänzt wird. Wendet man diese Sichtweise auf den Ausgangsfall an, so ergibt sich daraus, daß die abstimmenden Geschäftsführer die Tatherrschaft über den schadensbringenden Geschehensablauf innehaben. In ihrer Gesamtheit beherrschen sie den Kausalverlauf zwischen Entschluß und Schadensereignis. Mit der Beschlußfassung entsteht gleichzeitig die Herrschaft über das (Unterlassungs-)Geschehen. An dieser Herrschaft hat jeder der Abstimmenden durch Erbringen seines Tatbeitrags - nämlich Abstimmungsverhalten sowie "Ausführung" des getroffenen Entschlusses durch Unterlassen - teil. a) Zwischenergebnis

Aus diesen Gründen ist die Tatherrschaft der Geschäftsführer während der Sondersitzung bei Leistung des eigenen Tatbeitrags zu bejahen350 . Daß sie 347

Maurach / Gössel! Zipf, AT 2, § 49 II Rn. 26 ff.

Insofern im Anschluß an Rudolphi, FS Bockelmann, S. 373 f., 383; LK/ Roxin, § 25 Rn. 154, der im hier gegebenen Fall allerdings die Mittäterschaft unabhängig von Tatherrschaft und Tatbeitrag über die Lehre von den Pflichtdelikten - vgl. hierzu oben S. 97 ff. begründen würde. 349 Vgl. hierzu ob:n S. 95 f. 3S0 Für gemeinsame Tatherrschaft der Geschäftsleitungsmitglieder auch Beulke / Bachmann, JuS 1992,743. 348

Leitsätze 5 und 6: Kausalitäts- und Täterschaftsfragen

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außerdem im weiteren Geschehensablauf die "Herrschaft" über die jeweils eigene Untätigkeit, sowie - durch Mitbestimmung des Beschlusses - die Untätigkeit der übrigen Geschäftsführer hatten, bedarf keiner weiteren Begründung.

b) Zu den Gegenargumenten der Urteilskritiker Gegen diese Argumentation kann der Einwand Samsons35I , Mittäterschaft sei mangels Tatherrschaft abzulehnen, hier nicht durchschlagen. Tatherrschaft in Form einer durch das Kollegium ausgeübten Herrschaft über den schadensbringenden Geschehensablauf ist vielmehr zu bejahen. Samson352 erklärt demgegenüber, daß zwar die Durchführung der Rückrufaktion mittäterschaftlich hätte erfolgen müssen, dies aber kein Grund dafür sei, beim Unterlassen gleichfalls Mittäterschaft anzunehmen. Fraglich ist hier, ob wirklich jeder der Geschäftsführer für sich unterließ. Dies könnte man möglicherweise für die Zeit vor der Sondersitzung annehmen, als die Geschäftsführer noch keine gemeinsame Entscheidung getroffen hatten 353 . Die Entscheidung aber, die Aktion zu unterlassen, konnten sie nur gemeinsam treffen (Gesamtgeschäftsführung innerhalb der Gesellschaft 354). Die tatsächlichen Organisationsstrukturen (nämlich Zuständigkeit eines leitenden Kollegiums für untemehmensrelevante Entscheidungen) müssen in die strafrechtliche Würdigung einbezogen werden. Anderenfalls droht eine Diskrepanz zwischen den realen wirtschaftlichen Verhältnissen und der rechtlichen Beurteilung gesellschaftlicher Vorgänge. Zwar ist Samson darin zuzustimmen, daß "das Unterlassen einer gebotenen mittäterschaftIichen Rettungsaktion die Mittäterschaft des Unterlassens nicht begründet"355, dennoch kann eine Kollegialentscheidung, die die Garanten gemeinsam treffende Pflicht zum Rückruf nicht zu erfüllen, Mittäterschaft begründen. Zwar war vom BGH in den vorangegangenen Prüfungsabschnitten die den einzelnen Geschäftsleiter treffende konkrete Garantenpflicht - nämlich normgemäßes Abstimmungsverhalten sowie Einwirken auf die übrigen Geschäftsführer - ausdrücklich festgelegt worden 356 • Das ändert aber nichts daran, daß mit diesem jeweils geschuldeten Einzelbeitrag letztendlich die Gesamtverpflichtung des Geschäftsleitungsgremiums zur Durchführung einer Rückrufaktion erfüllt werden soll. In ihrer 351

Samson, StV 1991, 184 f.

352

Samson, StV 1991, 184.

m Dazu soll später im Rahmen des Problemkreises fahrlässiger Mittäterschaft Stellung genommen werden, vgl. S. 143 ff. 354 BGHSt 37,125; mit geringfiigiger Abweichung Dreher, ZGR 1992,45 Fn. 111. 355 Samson, StV 1991, 184. 356 BGHSt 37, 125 f.

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Teil 1: Die Grundsätze des Lederspray-Urteils des BGH

Organisationseinheit als Geschäftsleitung schulden die Geschäftsfuhrer zusammen die Gewährleistung einer Rückrufaktion. Wenn sie stattdessen zusammen die Entscheidung fallen, das sie gemeinsam treffende Handlungsgebot zu mißachten, so bildet die gemeinsame Erfolgsabwendungspflicht einerseits sowie die gemeinsame Entscheidung, diese Pflicht zu mißachten andererseits, die Klammer zwischen den einzelnen "Beiträgen" (soll heißen Unterlassungen) der Angeklagten, die diese zu Mittätern macht. Der weiterhin von Puppe357 vorgebrachte Einwand, man könne über die Argumentation des BGH die Kausalität jedes Unbeteiligten für einen Verletzungserfolg via Behauptung der Mittäterschaft begründen, erscheint ebenfalls problematisch. Die Behauptung der Mittäterschaft genügt entgegen Puppes Ansicht für das Kausalurteil noch nicht, denn neben dem durch mittäterschaftliehe Zurechnung begründbaren objektiven Tatbeitrag ist das Vorliegen des gemeinsamen Tatentschlusses erforderlich. Dieses Element fehlt aber beim gänzlich Unbeteiligten. Deswegen kann der Einwand Puppes als Argument gegen die BGH-Lösung nicht durchschlagen. Nach alledem können die gegen die Mittäterschaft der Angeklagten vorgetragenen Argumente nicht überzeugen. Mittäterschaft ist demnach zu bejahen. Man sollte sich die Konsequenz einer anderen Argumentation vor Augen führen: Angenommen die Entscheidung wäre statt einstimmig mit einer Mehrheit von einer zu drei Stimmen gegen die Durchführung der Rückrufaktion ausgefallen. Dann wäre jede der drei die Mehrheit bildenden Stimmen unverziehtbare Voraussetzung für die Unterlassung der Rückrufaktion gewesen. Sollte wegen der dann unproblematisch gegebenen Tatherrschaft infolge der Unverzichtbarkeit der Einzelstimme das Ergebnis anders ausfallen? Dann müßte man für diesen Fall die Täterschaft bejahen, während sie im Ausgangsfall abzulehnen wäre. Es kann aber nicht die zufallige Stimmenverteilung am Ende der Abstimmung entscheidend sein für die Beurteilung der Strafbarkeit des Verhaltens des Einzelnen vor Feststehen des Ergebnisses. Die Tatsache, daß anderenfalls diejenige Entscheidung, die ein quantitativ höheres Maß an Pflichtwidrigkeit (nämlich eine Stimme mehr gegen die Durchführung einer Rückrufaktion) aufweist, zur Ablehnung der Mittäterschaft führen würde, während die "weniger" pflichtwidrige Entscheidung zur Strafbarkeit führen wÜrde, macht eine derartige Lösung fragwürdig. Es widerspricht nicht nur dem sog. "gesunden Menschenverstand", sondern auch der Auffassung einer objektiv verstandenen Feststellung der Tatbestandserfüllung, wenn die größere Mehrheit zum täterschaftsausschließenden Umstand werden würde. Es ist daher entgegen der Meinung der Urteilskritiker an der getroffenen Feststellung festzuhalten, daß die Geschäftsleiter als Mittäter agierten. 357

Puppe, JR 1992, 32.

Leitsätze 5 und 6: Kausalitäts- und Täterschaftsfragen

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Der Entscheidung des BGH fiir die Annahme von Mittäterschaft stehen demnach keine weiteren Bedenken entgegen. Sowohl ein gemeinsamer Tatentschluß358 als auch jeweils ein Tatbeitrag (in Form einerseits des Abstimmungsverhaltens während der Fassung des Tatentschlusses, andererseits der Befolgung des Beschlusses im Zeitraum nach der Sondersitzung359) sowie Tatherrschaft360 der Mittäter liegen vor. 6. Ergebnis zu Problemkreis 1

Die während der Sondersitzung an der Mehrheitsentscheidung teilnehmenden Geschäftsleiter wirkten mittäterschaftlich i.S.d. § 25 Abs. 2 StGB zusammen. IV. Problemkreis 2: Kausalität des (Einzel-)Abstimmungsverhaltens für die Verletzungserfolge Nachdem die Mittäterschaft der abstimmenden Geschäftsfiihrer festgestellt werden konnte, erweist sich der Schluß auf die Kausalität des einzelnen Angeklagten fiir den Verletzungserfolg als leicht: Den Mittätern werden jeweils die Beiträge ihrer Kollegen zugerechnet, und damit kann die Kausalität des gemeinsam agierenden Organs fiir die Verletzungserfolge nachgewiesen werden. Dies entspricht der Vorgehensweise des BGH361 . Doch gestehen auch die Befiirworter der BGH-Lösung den Urteilskritikern362 zu, daß es sich im Bereich der vorsätzlichen mittäterschaftlichen Körperverletzung durch Unterlassen letztlich um eine Umgehung der reinen Kausalfrage handle, wenn die Kausalität über die wechselseitige mittäterschaftliche Zurechnung festgestellt werde 363 . Aus diesem Grund soll im folgenden geprüft werden, ob die Kausalität des Einzelnen fiir den Verletzungserfolg bei Außerachtlassung der - zu bejahenden - Mittäterschaft abgelehnt werden müßte. Vorab muß hierfur klargestellt werden, daß die Entscheidung der Geschäftsfiihrer auf der Sondersitzung die Grundlage fiir die Unterlassung er-

35M

Vgl. oben S. 90.

359

Vgl. oben S. 94.

360

Vgl. oben S. 99 f.

BGHSt 37, 126 ff.; vgl. die Ausführungen oben S. 85 ff. Puppe, JR 1992,32; Samson, StV 1991, 184 f. 363 Beulke/Bachmann, JuS 1992, 743; ähnlich Kuhlen, NStZ 1990, 569 f.; ders., WiVerw 1991,246. 361

362

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Teil 1: Die Grundsätze des Lederspray-Urteils des BGH

folgsabwendender Rückrufmaßnahmen bildete364 . Demnach ist zunächst die Kausalität des EinzelAbstimmungsverhaltens für das Zustandekommen der mehrheitlichen Entscheidung auf der Sondersitzung relevant. Unter Kausalität versteht man al1gemein eine "gesetzliche, d.h. al1gemeingültige, Relation zwischen zwei zeitlich aufeinanderfolgenden Ereignissen (Ursache und Wirkung; sog. generel1e Kausalität)"365. Für den Unterlassungsbereich wird von einigen Autoren bestritten, daß es auch hier die Möglichkeit eines Kausalzusammenhangs im hergebrachten Sinne geben so11 366 . Eine Unterlassung sei schlicht ein Nichts, dieses könne aber in der realen Wirklichkeit nichts bewirken367 . Es sol1 diesbezüglich nicht bestritten werden, daß eine Unterlassung an sich nicht "aktiv" etwas bewirken kann. Dennoch sind die gängigen Instrumente zur Feststel1ung des Zusammenhangs zwischen Unterlassung und Erfolg anwendbar. Es ist danach zu fragen, ob zwischen der Unterlassung und dem Erfolgseintritt ein gesetzmäßiger Zusammenhang besteht. Dies kann auch ohne Feststel1ung eines naturwissenschaftlich beweisbaren Wirkungszusammenhangs erfolgen368 . Daß dabei die gängigen Zurechnungskategorien jedenfal1s auch im Unterlassungsbereich anwendbar sind, wird nicht bestritten. Insofern sind im Ergebnis keine Unterschiede zwischen den Meinungen zu erwarten369 . Daher soll der Streit - auch weil dies breitere Erörterungen erfordern würde - hier nicht weiter thematisiert werden.

Im folgenden sol1 die Kausalität der Einzelstimme für den Verletzungserfolg an sich anhand der vielfältigen im Schrifttum vertretenen Ansätze zur Kausalitätslehre untersucht werden. 1. Kausalurteil nach der conditio-Formel

Als Anhaltspunkt für die Feststel1ung eines Kausalzusammenhangs dient zunächst die conditio-Formel: Kausal für einen Erfolg ist eine Handlung dann, wenn sie nicht hinweggedacht werden kann, ohne daß der Erfolg entVgl. hierzu oben S. 77 f. Struensee, FS Stree/WesseIs, S. 141. 366 Jakobs, 29/15; Jescheck, § 59 III 3; Kaufmann, FS Schrnidt, S. 214; LKlJescheck, § 13 Rn. 16; Maiwald, Kausalität, S. 80 ff.; Otto, NJW 1980,417; Sch/Sch/Stree, § 13 Rn. 61; Walder, S. 121 f., 152; WesseIs, Rn. 711; a.A.: SpendeI, JZ 1973, 139; Puppe, ZStW 92 (1980), 896 ff. 367 Anders bei Maurach / Gössel/Zipf, AT 2, § 46 I Rn. 23, die eine UnterlassungsHandlung anerkennen. 368 Vgl. Baumann/Weber, § 18 II 2; Jescheck, § 59 III 3; SKI Rudolphi, vor § 13 Rn. 15; WesseIs, Rn. 711. 369 Ebenso Baumann/Weber, § 18 II 2; Stratenwerth, Rn. 1025; SKIRudolphi, vor § I Rn. 43. 364

365

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fiele 370 • Für die Unterlassungsdelikte wird die conditio-Fonnel modifiziert: Die Unterlassung einer Handlung ist dann kausal für den Verletzungserfolg, wenn das geforderte Verhalten nicht hinzugedacht werden kann, ohne daß der Erfolg entfiele371 - dies wird teilweise als "Quasi-Kausalität"m oder hypothetische Kausalität373 bezeichnet. Übertragen auf den Lederspray-Fall bedeutet das, daß bei einem Hinzudenken der von den Angeklagten jeweils geforderten Handlungen der Verletzungserfolg entfallen müßte 374 • Daß dies aber nicht der Fall ist, wurde bereits oben festgestellt: Ein Hinzudenken der Einzelhandlung - Votum für die Durchführung einer Rückrufaktion sowie Hinwirken auf ein gleiches Verhalten der übrigen Geschäftsleiter - führt nicht notwendig zum Wegfall des Verletzungserfolgs375 • Möglicherweise kann eine Lösung anhand der conditio-Fonnel aber erfolgen, wenn man den Vertretern der Lehre von der Maßgeblichkeit des Erfolgs in seiner konkreten Gestalt 376 folgt. Nach dieser Lehre ist das Verhalten des Täters für den Verletzungserfolg kausal, wenn es dessen "konkrete Gestalt" beeinflußt hat. Sein Verhalten ist dagegen nicht kausal für den Verletzungserfolg, wenn es lediglich einen "Begleitumstand"m der Tatbestandsverwirklichung hervorgerufen hat, statt auf die "konkrete Gestalt" des Erfolgs Einfluß zu nehmen. Übertragen auf den Lederspray-Fall heißt das, daß das jeweilige Unterlassen der Angeklagten die "konkrete Gestalt" des Körperverletzungserfolgs bei den geschädigten Konsumenten verursacht haben müßte. Dies müßte geschehen sein einerseits durch das Verhalten während der Sondersitzung beim Treffen der Unterlassungsentscheidung und andererseits infolge der Ausführung dieser Entscheidung durch Unterlassen von Rückrufmaßnahmen im Zeitraum nach der Sondersitzung. Für das Verhalten der Angeklagten bei der )70 Dreher/Tröndle, vor § 13 Rn. 16; Engisch, S.7 f.; Kühl, 4/9; LKlJescheck, vor § 13 Rn. 54; Roxin, AT I, § 11 A II Rn. 5; Sch/Sch/Lenckner, vor § 13 Rn. 73.

m Baumann / Weber, § 18 II 2; Jescheck, § 59 III 3; so auch BGHSt 37, 126. Sch/Sch/Stree, § 13 Rn. 61. J7l Jakobs, 7/25, 29/15 ff.; Jescheck, § 59 III 4; ders., LK, § 13 Rn. 17; Maiwald, Kausalität, S. 79; Stratenwerth, Rn. 1025. )74 Vgl. Jescheck, § 59 III 3. )75 Vgl. hierzu oben S. 89 f. m

)7(, Vertreten u.a. von Engisch, S. 11; Jakobs, 7115 f.; Küht, 4113, 4/15; Roxin, AT I, § 11 A III Rn. 17; Sch/Sch/Lenckner, vor §§ 13 ff., Rn 79; Spendet, JZ 1973, 140; Wetzet, § 9 II a, S. 43; ebenso Österreichischer OGH, JBI 1987, 191 f; kritisch hierzu: Puppe. ZStW 92 (1980), 873; dies., ZStW 99 (1987), 596 ff.; Schumann, StV 1994, 110. )77 Jakobs, 7/15 f.

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Teil I: Die Grundsätze des Lederspray-Urteils des BGH

Entscheidungsfindung heißt das, daß das Einzelabstimmungsverhalten und damit die Stimmverteilung als Ergebnis dieses Verhaltens auf die Art und Weise, Beschaffenheit, Grad, Umfang, Ort oder Zeitpunke 78 des Eintritts der Körperverletzungen Einfluß gehabt haben müßte 379 • Zwar ist es richtig, daß die Stimmabgabe den Erfolg in seiner konkreten Gestalt insofern bedingt, als nur die Stimmenmehrheit für eine Unterlassung der Warn- und Rückrufaktion die Körperverletzungserfolge letztlich verursachen konnte. Andererseits ist es für den Erfolg irrelevant, ob diese Mehrheit mit drei gegen eine Stimme oder einstimmig zustande kommt. Dieser Umstand führt zu dem Problem, daß eine Stimme allein noch keinen Einfluß auf den Erfolg in seiner konkreten Gestalt hat. Wollte man dies trotzdem vertreten, so würde dem eine Verwechslung von der die Unterlassung erst verursachenden Kollegialentscheidung mit dem Verletzungserfolg körperliche Mißhandlung / Gesundheitsverletzung zugrunde liegen. Der Erfolg, auf dessen konkrete Gestalt es ankommt, ist nicht das Abstimmungsergebnis an sich, denn Anknüpfungspunkt für den strafrechtlichen Schuldvorwurf ist nicht die getroffene Mehrheitsentscheidung selbst, sondern vielmehr die durch die Ausführung dieser Entscheidung (Unterlassung einer Rückrufaktion) verursachte Körperverletzung bei den Produktkonsumenten. Maßgeblicher Erfolg ist allein diese eingetretene Körperverletzung. Auf deren "konkrete Gestalt" (Lungenödem o.ä. Symptome380) hat es aber keinerlei Einfluß, ob der einzelne Geschäftsleiter X allein während der Sondersitzung für oder gegen die Durchführung einer Rückrufaktion stimmt. In der gleichen Weise ist auch die Maßgeblichkeit des Verhaltens des Einzelnen nach der Sondersitzung für die "konkrete Gestalt" des Verletzungserfolgs abzulehnen. Hätte einer der Geschäftsführer allein entgegen dem Unteriassungsentschluß dennoch Maßnahmen zur Gewährleistung einer Rückrufaktion getroffen, so hätte dies am Eintritt der Verletzungserfolge nichts geändert, denn nach der Aufgabenverteilung in der Geschäftsleitung war es dem einzelnen Geschäftsleiter aus eigener Machtvollkommenheit gar nicht möglich, eine Rückrufaktion herbeizuführen, weil nämlich Gesamtgeschäftsführung38 I innerhalb des Geschäftsleitungsgremiums bestand382 • Die isoliert be378

Vgl. Roxin, AT I, § II A III Rn. 17.

Angesprochen wird dieser Aspekt von Schumann, StV 1994, II 0, der die Entscheidung des OLG Stuttgart, JR 1981,339 so verstehen möchte. 380 Zu den durch den Produktkonsum verursachten Beschwerden vgl. LG Mainz, in: Schmidt-Salzer, Entscheidungssammlung, IV.3.22 (18). 381 Vgl. LG Mainz, in: Schmidt-Salzer, Entscheidungssammlung, IV.3.22 (2). 382 Daß aber Handlungen, die über den nach der Untemehmensorganisation dem Geschäftsfiihrer zugeordneten Bereich hinausgehen (beispielsweise die Erstattung einer Strafanzeige) im Rahmen des durch die GarantensteIlung vorgegebenen Handlungsgebots nicht gefordert sind, wurde bereits festgestellt, vgl. oben S. 74 f. 379

Leitsätze 5 und 6: Kausalitäts- und Täterschaftsfragen

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trachtete Einzelunterlassung im Zeitraum nach der Sondersitzung konnte aber ebensowenig Grad, Ausmaß und Beschaffenheit der eingetretenen Erfolge beeinflussen wie die einzelne Stimmabgabe auf der Sondersitzung. Demnach kann auch unter dem Aspekt der Bedingung des Erfolgs in seiner konkreten Gestalt hier kein positives Kausalurteil gefällt werden. Insofern handelt es sich bei jeweils isolierter Betrachtung um rur die Erfolgszurechnung irrelevante "Begleitumstände"383, wenn ein Geschäftsleiter "mehr" die Unterlassungsentscheidung in seinem Ressort durch Untätigkeit vollzieht. Eine Lösung des Kausalproblems allein anhand der rur die Unterlassungsdelikte modifizierten conditio-Formel ist demnach nicht möglich 384 • Daß es Ausnahmefälle gibt, in denen die conditio-Formel in der dargelegten Fassung eine sachgerechte Lösung der Kausalitätsproblematik nicht ermöglicht, ist im Schrifttum weitgehend anerkannt385 • Man hat hier Fallgruppen entwickelt, rur die die conditio-Formel erweitert wurde. Im folgenden soll untersucht werden, ob der zugrundeliegende Sachverhalt unter eine dieser Fallgruppen gefaßt und dann anhand der hierfiir modifizierten conditio-Formel gelöst werden kann.

a) Liegt ein Fall sogenannter kumulativer Kausalität vor? Möglicherweise ruhrt ein Vergleich des Erdal-Falls mit Fällen der sogenannten kumulativen Kausalität zu einer akzeptablen Lösung des Kausalproblems. Kumulative Kausalität soll vorliegen, wenn mehrere, unabhängig voneinander vorgenommene Handlungen den Erfolg erst durch ihr Zusammentreffen herbeiruhren386 • Entscheidend ist hierbei, daß die Einzelhandlung rur sich allein zur Erfolgsverursachung nicht geeignet ist387 • Als Beispielsfall dient die Konstellation, anhand derer die Figur der kumulativen Kausalität entwickelt wurde: A und B geben dem Opfer unabhängig voneinander eine bestimmte Giftmenge. Das Opfer stirbt an den Folgen der Vergiftung. Die beiden Giftmengen wären je-

3R3

Jakobs, 7/15 f.

Ebenso: Amelung, S. 67; Hilgendorf, NStZ 1994, 566; Kuhlen, WiVerw 1991, 246; ders., NStZ 1990,570; Meier, NJW 1992,3198; Puppe, JR 1992,30. 385 Baumann/Weber, § 17 11 4 b; Ebert/Kühl, Jura 1979, 568; LK/Jescheck, vor § 13 Rn. 55; Maurach/Zipf, AT I, § 18 IV Rn. 56; Sch/Sch/Lenckner, vor §§ 13 ff. Rn. 83; Walder, SchwZStR 93 (1977), 140; Welzel, § 9 11 d, S. 44 f. 3R6 Maurach/Zipf, AT I, § 18 IV Rn. 56; Sch/Sch/Lenckner, Vorbem. §§ 13 ff. Rn. 83. 387 Jakobs, 7/20; Joerden, JBI 1988, 32. 384

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Teil I: Die Grundsätze des Lederspray-Urteils des BGH

weils für sich allein nicht ausreichend gewesen, um den Todeserfolg herbeizuführen. Das Opfer starb also letztlich wegen des durch die jeweils andere Giftmenge eingetretenen Kumulationseffekts.

Kausalität ist hier bereits nach der conditio-Forrnel unproblematisch gegeben388 , denn keiner der Beiträge kann hinweggedacht werden, ohne daß der Todeserfolg entfiele. Der Beispielsfall kumulativer Kausalität bildet damit in Wahrheit keine Ausnahme zur Anwendbarkeit der conditio-Forrnel. Zweifelhaft ist nämlich nicht die bloße Feststellung der Kausalität, sondern die objektive Zurechnung des Verletzungserfolgs an die unabhängig voneinander handelnden Täte~89. Es handelt sich entgegen der insoweit mißverständlichen Begriffsbildung von der kumulativen "Kausalität" nicht um ein Kausalitäts-, sondern um ein reines Zurechnungsproblem. Da die Täter nicht durch eine gemeinsame Zielsetzung gleichsam verbunden sind, fällt die Zurechnung des Erfolgs schwer, weil nur das zufällige, unbeabsichtigte Zusammenwirken der Tatbeiträge zum Erfolg führte. Deswegen fällt die h.M. das Urteil über die Zurechnung des Verletzungserfolgs an die Täter hier, indem sie untersucht, ob der Kumulationseffekt vorhersehbar war oder gar vorhergesehen wurde 390 . Dann soll die Erfolgszurechnung zulässig sein. Auf diese Voraussetzung muß aber im Lederspray-Fall nicht weiter eingegangen werden, denn daß die übrigen Geschäftsleitungsmitglieder auch abstimmen würden, und daß als Produkt der Abstimmung ein pflichtwidriges Ergebnis entstehen könnte, das wiederum Gesundheitsschädigungen bei Verbrauchern zur Folge haben könnte, war bei der Stimmabgabe durchaus vorhersehbar. Darüber hinaus haben die Angeklagten mit ihrem Votum gegen die Durchführung einer Rückrufaktion auch erkennen lassen, daß sie mit einem derartigen Abstimmungsergebnis und dessen späterer Ausführung durch Unterlassen von Rückrufmaßnahmen durchaus einverstanden waren. Im Gegensatz zum Beispielsfall wurden aber im Lederspray-Fall die Einzelbeiträge nicht unabhängig voneinander, sondern gerade im Zusammenhang und mit dem einheitlichen Ziel einer Mehrheitsentscheidung geleistet. Damit ist dort ein sehr viel engerer Zusammenhang zwischen den Einzelbeiträgen gegeben als im Beispielsfall für die kumulative Kausalität. Der Vergleich des Lederspray-Falls mit den Fällen kumulativer Kausalität hinkt aber auch aus einem weiteren Grund. Es fehlt hierfür an einer entscheidenden Voraussetzung: Denkt man eine Stimmabgabe isoliert hinweg, so bleibt es dennoch bei dem pflichtwidrigen Abstimmungsergebnis, d.h. die Kumulation von nur drei der vorliegenden vier Stimmen gegen die Rückruf388 So die h.M. rur die Behandlung kumulativer Kausalität Haft, S. 63; Joerden, JBI 1988,32; Kühl, 4/21; Sch/Sch/Lenckner, vor §§ 13 ff. Rn. 83. 389 S. hierzu auch: Jakobs, 7/20; Maurach/Zipf, AT I, § 18 IV Rn. 56. 390 Sch / Sch / Lenckner, Vorbem. §§ 13 ff. Rn. 83.

Leitsätze 5 und 6: Kausalitäts- und Täterschaftsfragen

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aktion hätte rur die Erfolgsverursachung - Körperverletzung - bereits genügt. Es ist also nicht so, daß jeder der erbrachten Beiträge im Sinne der conditioFormel rur den Erfolgseintritt unerläßlich war. Diese beiden Umstände ruhren zurück zur oben bereits festgestellten fehlenden Brauchbarkeit der conditio-Formel im Lederspray-Fa1l 391 . Der Erdal-Fall läßt sich nach alledem nicht unter die Kategorie kumulativer Kausalität fassen 392 , weil das Einzel-Abstimmungsverhalten nicht unabdingbare Voraussetzung des Verletzungserfolgs ist. Nach der rur Fälle kumulativer Kausalität entwickelten Zurechnungsmethode ist der Fall daher nicht lösbar. b) Handelt es sich um einen Fall der Doppelkausalität bzw. alternativer Kausalität ?

Es stellt sich die Frage, ob das Kausalitätsproblem über die Figur der alternativen Kausalität gelöst werden kann. Charakteristisch rur diese ist, daß zwei oder mehrere Täter jeweils unabhängig voneinander eine rur sich hinreichende Bedingung rur den Eintritt des Verletzungserfolgs setzen 393 • Nach dessen Realisierung läßt sich nicht feststellen, welche der Ursachen letztlich zum Erfolg geruhrt hat. Als Beispielsfälle sollen etwa folgende Konstellationen dienen: A und B geben dem Opfer jeweils eine tödlich wirkende Giftmenge. Das Opfer stirbt an der ihm zugefügten Vergiftung. Oder: A und B schießen gleichzeitig auf das Opfer, beide Schüsse treffen und wären jeweils für sich ausreichend gewesen, den Todeserfolg herbeizuführen.

Für diese Fälle wurde die conditio-Formel modifiziert: "Von mehreren Bedingungen, die zwar alternativ, aber nicht kumulativ hinweggedacht werden können, ohne daß der Erfolg entfiele, ist jede rur den Erfolg ursächlich"394.

39.

S.o. S. 109.

39l Ebenso: Amelung, S. 70; Hilgendorj, NStZ 199, 563; Puppe, JR 1992, 32; Röh, S. 8; ebenso in anderem Zusammenhang Neudecker, S. 222 f. 393 Jakobs, 7/21; Joerden, JBI 1988,32 f.; Roxin, AT I, § II AlIRn. 12. 394 Baumann / Weber, § 17 II b; Puppe, ZStW 92 (1980), 877; Eber! / Kühl, Jura 1979, 568; Kühl, 4/19; Maurach/Zipf, AT I, § 18 IV, Rn. 56; Walder, SchwZStR 93 (1977), 10; Welzel, § 9 II d, S. 4 f.; zurückgehend auf Traeger, S. 7 f.; kritisch zur so modifizierten Kausalformel Roxin, AT I, § 11 A III Rn. 21 f.; Toepel, Kausalität, S. 72 ff., 96; ders., JuS 199, 1011 f. Samson, StrafR I, 22 f., möchte Fälle der Doppelkausalität anhand der einfachen conditio-Formel lösen.

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Teil \: Die Grundsätze des Lederspray-Urteils des BGH

Teilweise wird im Lederspray-Fall ein Fall der Doppelkausalitäe 95 gesehen. Die angeführte Formel ließe sich aber nur dann auf den LederspraySachverhalt übertragen, wenn es sich dort um eine den Beispielsfallen ähnliche Konstellation handeln würde. Dann müßte der Einzelbeitrag Abstimmungsverhalten jeweils für sich genommen für die Verursachung des Verletzungserfolg bereits ausreichend gewesen sein - so wie eine hinreichende Giftmenge oder ein sein Ziel treffender Schuß zur Verursachung des Todeserfolgs ohne weitere hinzutretende Kausalfaktoren geeignet ist. Das aber ist nicht gegeben: Das pflichtwidrige Verhalten nur eines einzelnen Geschäftsführers wäre zur Erfolgsverursachung nicht geeignet gewesen. Vielmehr war erforderlich, daß die Geschäftsleitung insgesamt handelte. Einer allein konnte weder die Durchführung noch die Unterlassung des Rückrufs gewährleisten. Anders ausgedrückt: Eine Stimme allein kann noch kein (pflichtwidriges) Abstimmungsergebnis als Grundlage der Unterlassung von Rückrufinaßnahmen bewirken. Ein typischer Fall alternativer Kausalität liegt damit nicht vor 96 • Zwar paßt die für die Doppelkausalität entwickelte Formel im Ergebnis gut auf den Lederspray-Sachverhalt, weil sie zum gewünschten Ergebnis führt: Das jeweilige Einzelvotum und auch die auf der Mehrheitsentscheidung gründende Unterlassung kann zwar alternativ, nicht aber kumulativ hinweggedacht werden, ohne daß das pflichtwidrige Abstimmungsergebnis und damit letztlich der Verletzungserfolg entfiele. Demnach wäre auch das jeweilige Einzelverhalten als für den Verletzungserfolg kausal zu bezeichnen. Die Anwendung der Formel für die Doppelkausalität erlaubt ein positives Kausalurteil. Trotzdem ist eine Begründung der Kausalität im Lederspray-Fall anhand dieser Formel wegen der erwähnten fehlenden Kongruenz der Sachverhalte nicht möglich. Demnach läßt sich weder eine Vergleichbarkeit mit den Fällen kumulativer noch alternativer Kausalität feststellen 397 • c) Zwischenergebnis

Als Zwischenergebnis bleibt damit festzuhalten, daß das Kausalproblem im Lederspray-Fall anhand der conditio-Formel und der dazu entwickelten Modifikationen nicht lösbar ist.

395

Meier, NJW 1992, 3198.

Ebenso: BeulkelBachmann, JuS 1992,73. Ebenso: Beulke I Bachmann, a.a.O.; so auch Neudecker, S. 223 f. in anderem Zusammenhang. 396

397

Leitsätze 5 und 6: Kausalitäts- und Täterschaftsfragen

113

2. Kausalurteil nach der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung

Wegen der Unzulänglichkeit der conditio-Fonnel in mehrerlei Hinsicht hat sich in der Rechtswissenschaft weitestgehend die auf Engisch 398 zurückgehende Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung durchgesetzt399 . Begründet wird die Unzulänglichkeit der conditio-Fonnel hauptsächlich damit, daß sie die Feststellung eines Kausalzusammenhangs bereits voraussetze, bevor sie die Erfolgsursächlichkeit einer konkreten Handlung / Unterlassung ennitteln könne4OO . Das Paradebeispiel tur den Beweis dieser These ist ein Fall strafrechtlicher Produkthaftung: Im Contergan-Fa1l401 mußte die Ursächlichkeit des Schlafmittels Contergan tur Mißbildungen von Babys, deren Mütter das Medikament während der Schwangerschaft eingenommen hatten, nachgewiesen werden. Wenn man hierbei die Einnahme des Medikaments hinwegdenkt, so kann man ein Urteil über das Ausbleiben des Erfolgs nur dann fallen, wenn man von der grundsätzlichen Eignung des Schlafmittels zur Verursachung von Mißbildungen bei Ungeborenen weiß. Es zeigt sich, daß die conditioFonnel ein Kausalurteil nur erlaubt, wenn der naturwissenschaftliche Wirkungszusammenhang bereits feststeht, d.h. sie ennittelt die Kausalität nicht, sondern setzt sie bereits voraus 402 . Wehrenberg fonnuliert als Kritik gegen die "Wegdenk-Methode" (oder "hypothetisches Eliminationsverfahren"403) der conditio-Fonnel: "Eine wegdenkbare Bedingung kann es nicht geben, weil sie ein Widerspruch in sich wäre. Was weggedacht werden kann, kann keine Bedingung sein"404. Die Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung wählt demgegenüber einen anderen Ansatz: Sie fragt nicht danach, was bei Hinwegdenken der strafrechtlich zu beurteilenden Handlung passiert wäre, sondern sie untersucht allein 39M

Engisch, S. 21 ff.

Erb, JuS 199, 52; ders., Alternativverhalten, S. 6; Jakobs, 7 112; Kühl, 4/22; LKI Jescheck, vor § 13 Rn. 56; Roxin, AT I, § 11 AlIRn. I; Sch / Sch / Lenckner, vor § 13 Rn. 75; SKI Rudolphi, vor § I Rn. 1. 400 Dreher/Tröndle, vor § 13 Rn. 16; Erb, Alternativverhaiten, S. 46, Fn. 60; Kaufmann, FS Schmidt, S. 210; Kaufmann, JZ 1971, 574; Roxin, AT I, § II AlIRn. 11; SKI Rudolphi, vor § I Rn. 40; Walder, SchwZStR 93 (1977), 124, 137 f.; zu den Schwächen der conditio-Fonnel vgl. auch Duo, NJW 1980, 417 f., 421. 401 LG Aachen, JZ 1971, 507 f.; hierzu Kaufmann, JZ 1971, 509 ff.; Schmidt-Salzer, Entscheidungssammlung, IVA.I. 402 V gl. Erb, JuS 1994, 450; ders., Aiternativverhalten, S. 35, Fn. 60 auf S. 46; Engisch, S. 16 f.; Haft, S.61; Hilgendorf, Fallsammlung, S.27; Jakobs, 7/9; Kaufmann, FS Schmidt, S. 210; LKlJescheck, vor § 13 Rn. 55; Roxin, AT I, § 11 All Rn. 11; Sch/Sch/ Lenckner, vor §§ 13 ff. Rn. 74; SK/Rudolphi, vor § 1 Rn. 40; Wehrenberg, MDR 1971, 900. 403 Sch/Sch/Lenckner, vor §§ 13 ff. Rn. 73. 404 Wehrenberg, MDR 1971, 900. 399

8 Weißer

114

Teil I: Die Grundsätze des Lederspray-Urteils des BGH

den gegebenen, d.h. real vorhandenen Wirkmechanismus 405 . Zur Beurteilung eines Kausalzusammenhangs wird dabei die Frage gestellt, "ob sich an eine Handlung zeitlich nachfolgende Veränderungen in der Außenwelt angeschlossen haben, die mit der Handlung gesetzmäßig verbunden waren und sich als tatbestandsmäßiger Erfolg darstellen"406. Im Unterlassungsbereich soll Kausalität gegeben sein, wenn das Unterlassen einer bestimmten Handlung durch eine bestimmte Person und der Erfolgseintritt in einem gesetzmäßigen Zusammenhang stehen407 . Damit kann allein die Tatsache, daß die vom unterlassenden Garanten geforderte Handlung hinzugedacht werden kann, ohne daß der Erfolg entfiele, den Kausalzusammenhang noch nicht entfallen lassen. Die Feststellung eines gesetzmäßigen Zusammenhangs zwischen Unterlassung und Erfolg kann dennoch möglich sein40B . Zu untersuchen ist an dieser Stelle, ob zwischen den Körperverletzungserfolgen und dem Verhalten des jeweiligen Angeklagten ein naturgesetzlicher Zusammenhang besteht. Am Bestehen eines derartigen Zusammenhangs zwischen der auf der Sondersitzung getroffenen Entscheidung, deren Ausführung durch Unterlassen von Rückrufmaßnahmen und dem eingetretenen Verletzungserfolg bestehen keine Zweifel. Es fragt sich aber, ob sich dies auch für den Zusammenhang zwischen dem Einzelverhalten der Angeklagten und den Verletzungserfolgen so einfach feststellen läßt. Die Beurteilung des Lederspray-Falles soll hierbei anhand von Vergleichen mit Beispielsfällen, die ähnliche Kausalitätsprobleme aufwerfen, erfolgen. Die Tatsachengrundlage in der Erdal-Entscheidung soll zunächst mit folgendem Beispielsfall verglichen werden: A gibt dem Opfer eine Menge x eines tödlich wirkenden Gifts. Dieses stirbt erwartungsgemäß. Zur Herbeiflihrung des Todeserfolgs hätte aber bereits eine Menge 1/2 x genügt.

Niemand wird hier an der Kausalität des Verhaltens des A für den Todeserfolg zweifeln, weil nicht festgestellt werden kann, welche Hälfte der Menge x erfolgsursächlich wurde. Denn letztlich war die Gesamtmenge - und damit das Gesamtverhalten des A - todesursächlich. I. Abwandlung: Die jeweilige Giftmenge 1/2 x wird von zwei unabhängigen Tätern beigebracht.

Warum sollte man den Fall nun anders beurteilen, wenn insgesamt die gleiche Menge x beigebracht wurde, diese aber abweichend vom Ausgangs405 406

407 40R

Engisch, S. 26; Walder, SchwZStR 93 (1977), 139. So Jescheck, § 28 II 4; ders., LK, vor § 13 Rn. 56; zurückgehend auf Engisch, S. 21. SKI Rudolphi, vor § 1 Rn. 43. So SKI Rudolphi, vor § I Rn. 43, auch fur den Lederspray-Sachverhalt.

Leitsätze 5 und 6: Kausalitäts- und Täterschaftsfragen

115

fall statt von einem von zwei Tätern beigebracht wird? Auf den naturgesetzlichen Zusammenhang zwischen der Giftmenge x und dem Verletzungserfolg hat die Aufspaltung in zwei Tatbeiträge keine Auswirkungen. Auch hier ist wieder das Gesamtverhalten - also die Beibringung der Menge x des tödlich wirkenden Gifts - kausal fur den Todeserfolg. In einem weiteren Schritt kann man auf die Lösung des folgenden Falles schließen. 2. Abwandlung: Statt zwei Tätern haben drei Täter gehandelt. Zu dritt haben sie dem Opfer insgesamt die Giftmenge x beigebracht. Ausreichend wäre wieder 1 /2 x gewesen. Jeder der Täter hat dem Opfer die Giftmenge 1 /3 x verabreicht.

Sollte man sich nun tatsächlich entscheiden müssen, wessen Giftmenge als nicht erfolgsursächlich ausgeschieden werden kann? Das kann nicht richtig sein, denn alle drei Mengen haben zusammen den Erfolg herbeigefuhrt. Daran kann der Umstand, daß der Erfolg überdeterminiert war, nichts ändern. Am Zusammenwirken der Einzeldosen besteht kein Zweifel. Sie bildeten in ihrer Gesamtheit die Ursache fur den Verletzungserfolg. Ein naturgesetzlicher Zusammenhang zwischen Ursache und Erfolg kann damit nicht in Frage gestellt werden. Daran ändert auch der Umstand nichts, daß die Gesamtursache fur den Erfolg nicht "gerade noch" hinreichend, sondern mehr als hinreichend war. Ist die Ursache des Erfolgseintritts "stärker" als nötig, so kann ihre Kausalität deswegen nicht in Zweifel gezogen werden. Wollte man dies anhand der Technik des Hinwegdenkens anders sehen, so müßte man vertreten, daß der überdeterminierte Erfolg im Ergebnis ohne Ursache eingetreten wäre. Dies wäre ein Widerspruch in sich409 • Auch wenn man in einem weiteren Schritt berücksichtigt, daß die Gesamtursache durch Einzelursachen bedingt wurde und sich insofern als Bündel von Kausalfaktoren darstellen läßt, so kann dies auf die Beurteilung des Kausalzusammenhangs zwischen Gesamtursache und Erfolg keinen Einfluß haben. Denn nimmt man die Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung ernst, so beurteilt man den Kausalzusammenhang nicht danach, was passiert wäre, wenn einzelne Umstände nicht vorgelegen hätten. Statt durch Hinwegdenken einen Geschehensablauf zu konstruieren, der so gar nicht erfolgt ist, wird hier der real erfolgte Geschehensablauf beurteilt. Und bei diesem realen Geschehensablauf besteht kein Zweifel an der Ursächlichkeit der Einzeldosen fur die tödliche Gesamtursache der Gift- (Gesamt-) Dosis. Damit ist auch der Zusammenhang zur Einzeldosis festgestellt: Sie entfaltete eine Wirkung innerhalb der Gesamtursache und wurde damit auch im Verletzungserfolg Tod des Opfers ursächlich. Der Kausalzusammenhang ist deswegen auch fur jede der drei Einzeldosen zu bejahen, wenn die Technik des Wegdenkens gerade nicht angewandt wird.

409

8*

Vgl. hierzu auch Engisch, S. 16.

116

Teil 1: Die Grundsätze des Lederspray-Urteils des BGH

Eine weitere Frage ist es, ob dem jeweiligen Giftmischer der Todeserfolg zuzurechnen ist, obwohl die durch ihn beigebrachte Giftmenge zu dessen Verursachung nicht ausreichend war. Diese normative Frage der Erfolgszurechnung ist streng zu trennen von der Feststellung des objektiv vorliegenden Kausalzusammenhangs 41O • Mit dem - positiven - Kausalurteil ist über die Zurechenbarkeit des Erfolgs an den Einzeltäter noch nichts ausgesagt, geschweige denn über die Strafbarkeit aus einem vollendeten Tötungsdelikt. Die Erfolgszurechnung sowie die Vorsätzlichkeit des Handeins und die Feststellung der Kausalität sind strikt voneinander zu trennen. Von den angefiihrten Beispielsfällen läßt sich nun ein Rückschluß auf den Lederspray-Sachverhalt ziehen: Drei der vier la-Stimmen (fiir eine Unterlassung) waren ausreichend zur Herbeifiihrung des schadensursächlichen Abstimmungsergebnisses411 • Auch hier war der Verletzungserfolg - die Körperverletzung auf der Grundlage der Entscheidung - überdeterminiert. Sollte dadurch die Kausalität in Frage gestellt werden, daß nicht nur eine, sondern mehr als eine hinreichende Bedingung fiir den Erfolg vorlagen? Auch hier muß diese Frage unter Hinweis auf die obige Argumentation412 verneint werden. Der Einzelbeitrag des jeweiligen Abstimmenden war ursächlich fiir das Abstimmungsergebnis als Teil der hierfiir erforderlichen Mehrheit. Die Entscheidung zog die fiir die Körperverletzungserfolge als kausal zu beurteilende Unterlassung der Rückrufaktion nach sich4l3 . Damit besteht ein naturgesetzlicher Zusammenhang zwischen dem EinzelverhaIten der Abstimmenden auf der Sondersitzung und dem Abstimmungsergebnis, das wiederum in seiner Ausfiihrung die Ursache fiir die Körperverletzungserfolge bildete. a) Zwischenergebnis

Damit ist als Zwischenergebnis festzuhalten: Die Einzelstimme des jeweiligen Geschäftsfiihrers stand in einem gesetzmäßigen Zusammenhang zum Verletzungserfolg. Sie fiihrte im Zusammenwirken mit den übrigen Stimmen zum rechtswidrigen Abstimmungsergebnis, das die qrundlage fiir den Eintritt der Körperverletzungserfolge bei den Verbrauchern bildete.

te.

410

Vgl. hierzu Roxin, AT I, § 1l A III Rn. 17, § 11 B I Rn. 43.

411

Der Fall liegt insofern gleich wie der in der 2. Abwandlung (oben S. 1l5) konstruier-

412

Siehe oben S. 115.

m Es handelt sich hierbei um den Kausalzusammenhang zwischen nicht verhindertem

Produktkonsum und Gesundheitsschäden, den der BGH im Rahmen des ersten Leitsatzes problematisiert hatte; vgl. hierzu oben S. 23 f.

Leitsätze 5 und 6: Kausalitäts- und Täterschaftsfragen

117

b) Stellungnahme zu den Gegenargumenten Samsons Wenn Samson dagegen unter Berufung auf sein "Feuerwehrbeispiel"414 die Kausalität des einzelnen Geschäftsleitungsmitglieds ablehnt, dann argumentiert er damit, daß nur eine erfolgversprechende Handlung vom einzelnen Geschäftsführer gefordert sein könne. Wenn aber das Einwirken auf die anderen Geschäftsführer wegen deren Vorsatzes, die Rückrufaktion nicht durchzuführen, aussichtslos gewesen sei, so sei auch ein Unterlassungsdelikt aus diesem Grund abzulehnen. Demgegenüber ist zu beachten, daß bei Berufung darauf, im Unterlassungsbereich seien nur erfolgversprechende Handlungen gefordert, im Zeitpunkt der Abstimmung auch klar gewesen sein müßte, daß pflichtgemäßes Verhalten des Einzelnen zur Erfolgsabwendung absolut untauglich gewesen wäre. Dann müßte es so gewesen sein, daß bei Zusammentritt des Kollegiums bereits Klarheit darüber bestanden hätte, daß alle (anderen) Geschäftsführer nicht nur gegen die Durchführung einer Rückrufaktion seien, sondern darüber hinaus auch auf keinen Fall in ihrer Meinung beeinflußt werden könnten. Das aber ist bei einem Organ, in dem jedes der Mitglieder die gleichen Rechte und Einflußmöglichkeiten hat, nicht zu unterstellen. Zwar hatte einer der Geschäftsführer faktisch eine übergeordnete Stellung, "so daß Entscheidungen gegen sein Votum praktisch ausgeschlossen erschienen,,4I5. Jedoch kann dies für die Vorentscheidung über die jeweilige Überzeugung der anderen Organmitglieder nicht ausschlaggebend sein, und es kann auch noch nichts darüber aussagen, ob vielleicht dieser Geschäftsführer in seiner - möglicherweise - ablehnenden Haltung zu einem Rückruf hätte umgestimmt werden können. Ausgehend von der Grundlage, daß innerhalb des Geschäftsleitungsgremiums Entscheidungen nach demokratischen Grundsätzen geHtllt werden, kann man den Einzelnen von seiner Verantwortung für die Entscheidungsfindung nicht dadurch entbinden, daß man ihm die Möglichkeit zur Einflußnahme hierauf aberkennt. Denn dadurch würde man das Wesen der Kollegialentscheidung unbeachtet lassen: Jeder hat Einfluß auf die dort zu treffenden Entscheidungen, indem er seine Meinung artikuliert und die Kollegen von ihrer Richtigkeit zu überzeugen versucht. Entscheidungen werden erst nach diesem Willensbildungsprozeß durch Abstimmung und Bildung von 414 StV 1991, 185 f.: Von zwei Feuerwehrleuten muß einer den Schieber eines Hydranten öffnen, der andere die Spritze mit dem Feuerwehrschlauch verbinden, um den Brand in einem Haus zu löschen. Für den Fall, daß einer der beiden Feuerwehrmänner rettungsunwillig ist, verneint Samson fiir den anderen die Gebotenheit der von ihm beizutragenden Handlung infolge deren Untauglichkeit zur Löschung des Brands ohne die gleichfalls erforderliche Handlung des Rettungsunwilligen. Diese Konstellation überträgt er dann auf die Konstellation des Geschäftsleitungsgremiums, innerhalb dessen die Mehrheit rettungsunwillig ist. m BGHSt 37, 125.

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Teil I: Die Grundsätze des Lederspray-Urteils des BGH

Mehrheiten gefällt. Steht nach der Abstimmung die Mehrheit für eine Entscheidung fest, so kann sich der Einzelne aber nicht im nachhinein unter Berufung auf die Eindeutigkeit der Mehrheitsverhältnisse aus seiner Verantwortlichkeit für die Entscheidung ziehen. Denn die Mehrheitsverhältnisse standen vor der Abstimmung noch nicht fest und hier wäre seine Einflußnahme bereits gefragt gewesen. Zu einem Zeitpunkt, in dem das Ergebnis nicht mehr beeinflußbar ist, kann er nicht mehr behaupten, diese fehlende Einflußmöglichkeit habe bereits im Vorfeld der Abstimmung pflichtgemäßes Verhalten unmöglich gemacht. Eine derartige Argumentation ist erst dann möglich, wenn der Betroffene tatsächlich eine konträre Einflußnahme versucht hat und damit am Widerstand der Kollegen gescheitert ist. Ein solcher Versuch wäre aber abzulesen an einer entsprechenden Stimmabgabe dieses Kollegiumsmitglieds. Dies ist im Lederspray-Fall nicht erfolgt, und damit kann sich auch keiner der Abstimmenden auf die eindeutigen Mehrheitsverhältnisse berufen und behaupten, keinen Einfluß und damit keine erfolgversprechende Abwendungsmöglichkeit bezüglich der Verletzungserfolge gehabt zu haben. Aus diesen Gründen kann der Argumentation Samsons nicht gefolgt werden. Sie zieht das getroffene positive Kausalurteil nicht in Zweifel. c) Ergebnis nach der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung

Nach der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung besteht ein Kausalzusammenhang zwischen dem jeweiligen Verhalten der auf der Sondersitzung anwesenden Geschäftsführer und dem Verletzungserfolg Körperverletzung bei den Produktkonsumenten. 3. Lehre von der hinreichenden Mindestbedingung

Einen anderen Ansatz wählt Puppe 416 : Sie möchte nicht nur die isoliert hinreichenden Bedingungen für den Erfolgseintritt als ursächlich werten, sondern Kausalität auch dann bejahen, wenn ein Faktor notwendiger Bestandteil einer hinreichenden Mindestbedingung des Erfolgs ist. "Als Einzelursache muß ein Verhalten ... genügen, wenn es notwendiger Bestandteil einer von möglicherweise mehreren erfüllten ... hinreichenden Erfolgsbedingungen ist"417. Dies entspreche einem "intuitiven Verständnis" von Kausalität. Auch diese Meinung bedeutet eine Abkehr von der conditio-Formel in ihrer hergebrachten Form. Entscheidend ist hierbei, daß für die Mehrfachkausalität 416 Puppe, JR 1992, 32; dies., JZ 1994, 1149; grundsätzlich dies., in: ZStW 92 (1980), 875 ff.; zustimmend: Neudecker, S. 225; kritisch hierzu: Toepel, JuS 1994, 1011 f. 417 Puppe, JR 1992,32.

Leitsätze 5 und 6: Kausalitäts- und Täterschaftsfragen

119

bereits eine nur teilweise hinreichende Erfolgsbedingung als ausreichend erachtet wird. Übertragen auf den Lederspray-Fall bedeutet dies: Hinreichende Mindestbedingung für den Erfolg der pflichtwidrigen Entscheidung und damit den Eintritt der Verletzungserfolge ist die einfache Mehrheit im Geschäftsleitungskollegium für die Unterlassung einer Rückrufaktion. Notwendiger Bestandteil dieser Mindestbedingung einfache Mehrheit ist die zur Mehrheit führende Einzelstimme. Diese Notwendigkeit besteht aber nicht nur für die eine Stimme, die die Mehrheit verursacht, denn hier ist keine Aufspaltung möglich: Jede Stimme, die Bestandteil der Mindestbedingung Mehrheit ist, ist notwendig für diese. Damit ist jede für die Unterlassung votierende Stimme notwendiger Bestandteil der Mindestbedingung für die Erfolgsherbeiführung4l8 . Nach Puppes Meinung wäre demnach die Kausalität des EinzeIvotums für den Verletzungserfolg zu bejahen. Die oben dargelegte Argumentation zur Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung419 weist keine wesentlichen Unterschiede zu Puppes Ansicht auf. Eine Auseinandersetzung mit Puppes Ansatz erübrigt sich daher. 4. Ergebnis zu Problemkreis 2

Die Kausalität des Verhaltens des einzelnen - einen Rückruf auf der Sondersitzung ablehnenden - Geschäftsführers für den Verletzungserfolg ist unter Anwendung der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung420 zu bejahen421 .

V. Objektive Zurechenbarkeit des Erfolgs an die einzelnen Geschäftsführer In einem weiteren Schritt muß die objektive Zurechenbarkeit des Erfolgs Körperverletzung an den einzelnen Geschäftsleiter untersucht werden. Zu prüfen ist, ob sich im Verletzungserfolg eine durch den Täter geschaffene Gefahr realisiert hat, die sich nicht im Rahmen des erlaubten Risikos befand; und in einem weiteren Schritt, ob die konkrete Gefahrrealisierung vom Norrnzweck des verletzten Straftatbestands erfaßt ist422 • Die vorliegende Ar418 419 420

Vgl. Puppe, JR 1992,33. Vgl. oben S. 113 ff. S. 116.

421 Im Ergebnis ebenso: Kuhlen, JZ 1994, 1146; Schmidt-Salzer, Produkthaftung I, Rn. 1.278, 1.287; kritisch hierzu Schumann, StV 1994, 109 ff. 422 DreherlTröndle, vor § 13 Rn. 17; EbertlKühl, Jura 1979,568 ff.; Kühl, 4/43; Meier, NJW 1992, 3198; Roxin, AT I, § 11 B I Rn. 41. Röh, S. 28 ff., 44 ff., ist der Ansicht,

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Teil I: Die Grundsätze des Lederspray-Urteils des BGH

beit bewegt sich auf der Grundlage der zwischenzeitlich weithin anerkannten Lehre von der objektiven Zurechnung 423 . Hierbei wird es als gegeben betrachtet, daß sich die Komponenten der objektiven Zurechenbarkeit beim Vorsatz- bzw. Fahrlässigkeitsdelikt nicht unterscheiden. Das liegt daran, daß sich sowohl im Fahrlässigkeits- als auch im Vorsatzbereich die objektiven Voraussetzungen der Strafbarkeit bezüglich der kausalen Erfolgsverursachung zunächst nicht unterscheiden: Anknüpfungspunkt für den strafrechtlichen Schuldvorwurf ist die Verwirklichung der objektiven Tatbestandsmerkmale, d.h. die kausale Erfolgsverursachung. Die Feststellung der Erfolgsverursachung richtet sich nach rein objektiven Kriterien und ist im Vorsatz- wie auch im Fahrlässigkeitsbereich gleichermaßen Voraussetzung der Strafwürdigkeit eines bestimmten VerhaItens 424 • Der einzige Unterschied zwischen Vorsatz- und Fahrlässigkeitsdelikt liegt diesbezüglich darin, daß im Fahrlässigkeitsbereich der Erfolgseintritt auf eine Sorgfaltswidrigkeit zurückzuführen ist, während es sich im Vorsatzbereich um eine gewollte Erfolgsverursachung handelt. Die Beurteilung der Erfolgsherbeiführung als zurechenbar kann sich wegen der hierbei rein objektiv anzusetzenden Maßstäbe folgerichtig im Vorsatzbereich nicht von der im Fahrlässigkeitsbereich unterscheiden. Deswegen wird dieser Arbeit insofern eine Gleichstellung von Vorsatz- und Fahrlässigkeitsdelikt im Rahmen der objektiven Zurechnung zugrunde gelegt425 • Gemeinhin werden die Merkmale der objektiven Zurechnung hauptsächlich im Rahmen der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit problematisiert426 , während beim Vorsatzdelikt teilweise Kausalitäts- und Zurechnungs fragen vermischt werden. In der vorliegenden Arbeit soll eine strikte Trennung zwischen Kausalitätsuntersuchung und Zurechnungsfragen erfolgen427 • Das Kausalurteil wurde bereits gefallt428 • Nun ist eine Untersuchung der Zurechenbarkeit des Erfolgs anhand der allgemein anerkannten Zurechnungskriterien durchzuführen. Im Lederspray-Fall war für den Verletzungserfolg die Unterlassung von Rückrufmaßnahmen durch die Geschäftsleitung ursächlich. Das pflichtwidrige Abstimmungsergebnis auf der Sondersitzung der Geschäftsleitung zum Thema Schadensmeldungen war die dieser Unterlassung zugrundeliegende Ent-

daß eine Lösung des vorliegenden Falles mit den hergebrachten Zurechnungskategorien nicht möglich sei und entwickelt eine eigene Zurechnungsmethode, ebd. S. 112 ff. 4lJ Zum Meinungsstand im Schrifttum vgl. Dreher / Trändie, vor § 13 Rn. 17 ff. 424 Vgl. Kaufmann, FS Jescheck, S. 276, rur den Problembereich hypothetischer Kausalität. 425

A.A. Kaufmann, FS Jescheck, S. 265 ff.

Vgl. Jescheck, § 28 IV 5; ders., LK, vor § 13 Rn. 68, bezüglich pflichtgemäßen AItemativverhaltens. m Vgl. hierzu auch oben S. 83. 428 S.o. S. 116, 118. 426

Leitsätze 5 und 6: Kausalitäts- und Täterschaftsfragen

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scheidung429 • Infolgedessen mußte als Voraussetzung für die objektive Zurechnung der Verletzungserfolge dieses Abstimmungsergebnis zunächst jedem der auf der Sondersitzung Anwesenden als sein Werk zurechenbar sein. Die objektive Zurechenbarkeit des Verletzungserfolgs für den einzelnen abstimmenden Geschäftsführer ist demnach dann gegeben, wenn sich im Körperverletzungserfolg bei den Konsumenten ein durch sein Votum auf der Sondersitzung gesetztes Risiko realisiert hat. Die weitere Frage, ob die Vorschriften der §§ 223, 223a StOB den Schutz vor Körperverletzungen auch bei Gefahrverursachung durch eine Kollegialentscheidung bezwecken, ist unproblematisch zu bejahen. Eine Auseinandersetzung mit den vielfältigen äußerst umstrittenen Aspekten der Zurechnungslehre430 soll hier nicht erfolgen, da dies den für die vorliegende Arbeit vorgesehenen Rahmen sprengen würde. Es sollen hier nur die für den zugrundeliegenden Sachverhalt bedeutsamen Punkte der Zurechnungslehre herausgegriffen und diskutiert werden, während die für den Fall unproblematischen Komponenten der Zurechnung keine Erörterung finden. 1. Pflichtwidrigkeitszusammenhang

Die objektive Zurechnung der Körperverletzungen bei den Konsumenten an die auf der Sondersitzung Abstimmenden könnte möglicherweise am fehlenden Rechts- oder Pflichtwidrigkeitszusammenhang scheitern. Der Rechtswidrigkeitszusammenhang zwischen tatbestandsmäßigem Verhalten und Verletzungserfolg entfällt, wenn bei rechtmäßigem Alternativverhalten des Täters der Erfolg dennoch in gleicher Weise eingetreten wäre 431 • Unter Berufung auf dieses Merkmal sollen Verhaltensweisen straflos bleiben, die den Erfolgsunwert der Herbeiführung eines Verletzungserfolgs nicht gesteigert haben432 • Teilweise 433 wird in diesem Zusammenhang nach der sog. Kausalität der Pflichtwidrigkeit gefragt. Die Frage, ob der Erfolg auch bei rechtmäßigem Alternativverhalten gleichermaßen eingetreten wäre, wird damit als Kausalitätsproblem behandelt. Dieser Auffassung soll hier nicht gefolgt werden434 • Die Ursächlichkeit eines Verhaltens ist eine reale, objektive Größe, auf die 429

V gl. oben S. 77 f.

Zum Streitstand DreherlTröndle, vor § 13 Rn. 17 ff.; SchlSchlLenckner, vor §§ 13 ff. Rn. 91 ff. 431 DreherlTröndle, vor § 13 Rn. 17c; EbertlKühl, Jura 1979,565; Jescheck, § 28 IV 5; ders., LK, vor § 13 Rn. 68; Roxin, AT I, § 11 B I Rn. 72; Umbreit, S. 19. 432 Ebert I Kühl, Jura 1979, 564 f., 571. 430

433 BGHSt 11, 1 (3 f.); 33,61 (63); MaurachlGössel/Zipf, AT 2, § 43 IV Rn. 81; Toepel, Kausalität, S. 49 ff. 434 Ebenso: Exner, FS Frank, S.583 f.; Ouo, NJW 1980,420; SKISamson, Anh. zu § 16 Rn. 26.

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Teil I: Die Grundsätze des Lederspray-Urteils des BGH

deren rechtliche Einordnung als pflichtgemäß oder pflichtwidrig keinen Einfluß hat. Nicht die Pflichtwidrigkeit eines Verhaltens ist ursächlich für den Erfolg, sondern das Verhalten an sich (- das eventuell pflichtwidrig sein kann _)435. Eine strikte Trennung zwischen Kausalitäts- und Zurechnungsproblematik ist aus Gründen der Klarheit vorzugswürdig436 . Da aber die Einordnung des Problems innerhalb der Systematik für die rechtliche Wertung keine Konsequenzen hat, soll hier eine weitere Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Auffassungen unterbleiben.

a) Problemstellung innerhalb des Pjlichtwidrigkeitszusammenhangs Für den Erdal-Fall wäre unter dem Gesichtspunkt des Rechtswidrigkeitszusammenhangs die objektive Zurechenbarkeit des Körperverletzungserfolgs an das einzelne auf der Sondersitzung anwesende Geschäftsleitungsmitglied abzulehnen, wenn der Erfolg auch bei dessen pflichtgemäßem Verhalten eingetreten wäre. Pflichtgemäß hätten sich die Angeklagten dann verhalten, wenn sie auf Durchführung einer Rückrufaktion aktiv hingewirkt hätten, indem sie auf der Sondersitzung dafür gestimmt und darüber hinaus versucht hätten, ihre Geschäftsleitungskollegen zum gleichen Verhalten zu veranlassen 437 . Darüber hinaus hätten sie im Anschluß an die Sondersitzung die den Rückruf gewährleistenden Maßnahmen einleiten müssen. Für den einzelnen Geschäftsführer ist aber nicht mit Sicherheit zu entscheiden, ob fur den Fall seines pflichtgemäßen Verhaltens der Erfolg nicht dennoch in der gleichen Weise eingetreten wäre. Dies liegt daran, daß der Gesichtspunkt des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs zunächst eine Betrachtung des Geschehensablaufs ex post erfordert. Nach Eintritt der Verletzungserfolge ist es aber nicht mehr nachweisbar, ob das Hinwirken eines einzelnen Geschäftsleitungsmitglieds auf die Durchführung einer Rückrufaktion diese tatsächlich gewährleistet und damit die Voraussetzung für die Verhinderung der Verletzungserfolge geliefert hätte. Denn - wie bereits in anderem Zusammenhang festgestellt wurde438 - eine Gegenstimme allein hätte nichts an der Mehrheit für die Unterlassung der Rückrufaktion geändert, und ob eine versuchte Beeinflussung der anderen Kollegiumsmitglieder erfolgreich gewesen wäre, läßt sich im nachhinein nicht mit Sicherheit entscheiden.

435

Vgl. Exner, FS Frank, S. 584; Puppe, ZStW 95 (1983), 290.

Vgl. hierzu bereits S. 55, 91; ebenso: Erb, Alternativverhalten, S. 32 f., 53 f.; Exner, FS Frank, S. 583 f.; Kaufmann, FS Jescheck, S. 278; Puppe, ZStW 99 (1987), 601 Fn.21; so gesehen wohl auch von Umbreil, S. 19 f. 437 Zum Handlungsgebot fur den einzelnen Angeklagten vgl. oben S. 65 ff., 75. 438 Vgl. oben S. 85 f. 436

Leitsätze 5 und 6: Kausalitäts- und Täterschaftsfragen

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Es fragt sich aber, ob die quantitative Steigerung der Mehrheit bei der Abstimmung durch die vierte - auf das Ergebnis Unterlassung der Rückrufaktion einflußlose - Stimme nicht doch eine qualitative Steigerung des Erfolgsunwerts bewirken kann. Es ist in diesem Zusammenhang zu untersuchen, ob der strafrechtlich sanktionierte Unwert der verursachten Körperverletzungserfolge dadurch gesteigert wird, daß die Erfolge durch eine einstimmige Entscheidung sozusagen in vollem Umfang von der Geschäftsleitung getragen waren. Die Frage muß dann verneint werden, wenn nicht festgestellt werden kann, daß bei pflichtgemäßem Alternativverhalten der Erfolg nicht oder nicht in dieser Form eingetreten wäre. Der Erfolgsunwert der Körperverletzung steigert sich aber nicht dadurch, daß er statt durch drei durch vier verantwortliche Geschäftsführer "abgesegnet" wurde. Die Erfolgszurechnung bezieht sich diesbezüglich nur auf den einzelnen gelieferten Beitrag zum Erfolg. Dieser Erfolg ist aber nicht das Abstimmungsergebnis an sich, sondern lediglich der durch das Votum verursachte Körperverletzungs-Erfolg bei den Konsumenten. Der einzelne Unterlassungs-Beitrag (der unter anderem im Verhalten bei Fassung des Unterlassungsbeschlusses besteht) kann aber für sich allein keinen Einfluß auf das Ausmaß des Erfolgsunwerts haben, wenn dieser auch bei pflichtgemäßem Alternativverhalten so eingetreten wäre, wie er nach pflichtwidrigem Abstimmungsverhalten jetzt vorliegt. Das ist hier aus den angeführten Gründen439 der Fall, denn der Körperverletzungserfolg wurde durch die für die Mehrheit nicht erforderliche (Mehr-)Stimme auf der Sondersitzung in keiner Weise beeinflußt. Das wäre nur der Fall, wenn die Körperverletzung an sich, beispielsweise durch Intensivierung der Krankheitssymptome, beeinflußt worden wäre. Eine Steigerung des Erfolgsunwerts kann für das jeweils isoliert betrachtete Verhalten der Geschäftsleitungsmitglieder damit nicht nachgewiesen werden. -

Zwischenergebnis

Weil sich aus dem einzelnen pflichtwidrigen Verhalten der Angeklagten allein (ohne Hinzurechnung der Beiträge der Geschäftsleitungskollegen) keine Steigerung des Erfolgsunwerts Körperverletzung ergibt, und weil vielmehr der Erfolg auch bei pflichtgemäßem Alternativverhalten in genau der gleichen Weise hätte eintreten können, muß der Pflichtwidrigkeitszusammenhang zwischen dem ("Einzel-")Verhalten der Angeklagten und den Verletzungserfolgen verneint werden. Das spricht gegen die objektive Zurechenbarkeit des tatbestandsmäßigen Erfolgs an den einzelnen Geschäftsführer.

439

Vgl. oben S. 107 ff.

124

Teil I: Die Grundsätze des Lederspray-Urteils des BGH

Eine andere Wertung wäre an dieser Stelle vertretbar, wendete man den Gedanken der Risikoerhöhungstheorie an und hielte es fiir ausreichend, wenn die Wahrscheinlichkeit des Erfolgseintritts bei rechtmäßigem Alternativverhalten geringer wäre als beim gegebenen pflichtwidrigen Verhalten 440 • b) ErJolgszurechnung nach der Risikoerhähungslehre

Das Problem des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs ließe sich ohne größere Schwierigkeiten lösen, folgte man den Anhängern der im Schrifttum teilweise vertretenen Risikoerhöhungslehre441 . Nach dieser Lehre ist ein Erfolg dem Täter dann zurechenbar, wenn er durch sein Verhalten das Risiko des Erfolgseintritts erhöht hat. Im Unterlassungsbereich ist danach zu fragen, ob der Täter es unterlassen hat, das Erfolgsrisiko zu vermindern442 • Ist dies der Fall, so hat er damit die Wahrscheinlichkeit des Erfolgseintritts erhöht und dieser ist ihm objektiv zuzurechnen: "Dem Täter wird ein Erfolg zugerechnet, wenn sein pflichtgemäßes Verhalten nicht hinzugedacht werden kann, ohne daß durch die Schaffung objektiver Rettungsmöglichkeiten die Wahrscheinlichkeit fiir die Vermeidung des Erfolgs auch nur in geringem Maße vergrößert worden wäre"443. Nach dieser Ansicht stellt sich die Prüfung der Zurechenbarkeit des Erfolgseintritts an den einzelnen Geschäftsleiter wie folgt dar: Die Voraussetzung fiir die Körperverletzungserfolge wurde im Lederspray-Fall geschaffen durch den auf der Sondersitzung getroffenen Unterlassungsbeschluß bezüglich einer Rückrufaktion, der danach von den einzelnen Geschäftsfiihrern umgesetzt wurde. Dadurch, daß der abstimmende Geschäftsfiihrer jeweils fiir die Unterlassung der Rückrufaktion votiert hat, hat er das Risiko des Zustandekommens einer mehrheitlichen Entscheidung in diesem Sinne erhöht. Denn jede Stimme fiir die Unterlassung der Rückrufaktion stellt einen Teilschritt in Richtung zum - pflichtwidrigen - Abstimmungsergebnis dar. Durch das pflichtwidrige Votum gegen die Durchfiihrung einer Rückrufaktion wurde die Grundlage des nachfolgenden Verhaltens der Geschäftsfiihrer geschaffen: Je440

Vgl. hierzu Roxin, AT I, § 11 B I Rn. 72 ff.

Brammsen, MDR 1989, 126 f.; Hardwig, S. 162 f.; Kahrs, S. 53 ff.; Maurach/GösseI/Zipf, AT 2, § 46 Rn. 23; Otto, NJW 1980,417 ff., 421; ders., FS Maurach, S. 101 f.; ders., AT, § 9 IV 2; Roxin, AT I, § 11 B I Rn. 73 ff.; ders., FS Honig, S. 137 ff.; Schaffstein, FS Honig, S. 172 f.; Stratenwerth, Rn. 1028; Wa/der, SchwZStR 93 (1977), 161 ff.; ähnlich SKI Rudolphi, vor § 13 Rn. 16. 442 Brammsen, MDR 1989, 123 ff'; Hardwig, S. 162 f.; Kahrs, S. 53 ff.; Maurach/GösseI/Zipf, AT 2, § 46 I Rn. 23; Otto, NJW 1980,423 f.; Otto/Brammsen, Jura 1985,652 f.; SchajJstein, FS Honig, S. 172 f.; Stratenwerth, Rn. 1028; ders., FS Gallas, S. 227 ff.; SK/Rudolphi,vor § 13 Rn. 16; dagegen: Jakobs, 29/20; Sch/Sch/Cramer, § 13 Rn. 61. 443 Kahrs, S. 54. 441

Leitsätze 5 und 6: Kausalitäts- und Täterschaftsfragen

125

der von ihnen unterließ Maßnahmen zur Einleitung einer Rückrufaktion. Diese Unterlassung hat die Verletzungserfolge bei den Verbrauchern verursacht444 ; das von den zuständigen Garanten nicht verminderte Risiko hat sich im Verletzungserfolg realisiert. Jeder der Angeklagten hat dabei durch Leistung seines Teilbeitrags zur Entstehung des Abstimmungsergebnisses sowie seiner nachfolgenden Unterlassung von Rettungsmaßnahmen das Risiko der Erfolgsverursachung erhöht bzw. keine Risikoverminderung bewirkt. Nach der Risikoerhöhungslehre wäre damit die Zurechenbarkeit der Verletzungserfolge an die einzelnen - auf der Sondersitzung anwesenden - Geschäftsfiihrer zu bejahen445 • Obwohl eine erschöpfende Behandlung der Risikoerhöhungslehre im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich ist, soll eine kurze Bewertung im Hinblick auf die Anwendbarkeit dieser Theorie fiir den Lederspray-Sachverhalt erfolgen.

c) Kritik an der Risikoerhöhungslehre Die h.M. 446 lehnt den Ansatz der Riskoerhöhungslehre ab. Hierfiir werden zahlreiche Argumente angeführt, am stärksten aber wiegt der Vorwurf, durch ein Anknüpfen der Zurechnung an die Risikoerhöhung würden Verletzungsdelikte in erfolgsbedingte Gefahrdungsdelikte umgedeutet447 . Dieses Argument überzeugt deshalb, weil beim Abstellen auf die bloße Risikoerhöhung für die Erfolgszurechnung schon die Schaffung eines Risikos zum Strafgrund gemacht wird. Bei den Erfolgsdelikten ist Anknüpfungspunkt für den strafrechtlichen Schuldvorwurf aber nicht bereits das Risiko der Erfolgsverursachung, sondern die Realisierung dieses Risikos im Erfolg. Wenn aber nicht mit Sicherheit gesagt werden kann, ob sich der Erfolg auch wirklich auf die dem Täter angelastete Risikoschaffung zurückfiihren läßt, so wird er nach diesem Ansatz bereits für die Gefahrdung des Rechtsguts bestraft. Der Ver444 Vgl. zum Kausalzusammenhang zwischen nicht verhinderter ProduktveIWendung und Gesundheitsschäden oben S. 23 f.

445 Vgl. BeulkelBachmann, JuS 1992, 743; vgl. auch Ouo, FS Maurach, S. 104: " ... Anmaßung eines ,unerlaubten' Risikos durch einen Rechtsgenossen eIWeitert den Handlungsspielraum anderer Rechtsgenossen ... nicht. Dies gilt auch bei gleichzeitiger Pflichtverletzung mehrerer Beteiligter, die jeweils das pflichtgemäße Verhalten auch nur eines Beteiligten sinnlos erscheinen läßt." 446 Bockelmann I Volk, § 20 III B 4 c; Fincke, S. 49 ff.; Jakobs, 7/98 ff; Kaufmann, FS leseheck, S.275 ff.; Kühl, 17/57; LK/Schroeder, § 16 Rn. 190; Schlüchter, JuS 1977, 107 f.; dies., JA 1984,676; SchlSchlStree, § 13 Rn. 61; SchlSchlCramer, § 15 Rn. 173 ff.; SKISamson, Anh. § 16 Rn. 27, 27a; Umbreit, S. 21 f. 447 Baumann I Weber, § 19 III 2; Bockelmann I Volk, § 20 III B 4 c; Ebert I Kühl, Jura 1979, 572; Fincke, S.61 f.; Jakobs, 7/99; LKI Schroeder, § 16 Rn. 190; Schlüchter, JA 1984,676; Umbreit, S. 21.

126

Teil I: Die Grundsätze des Lederspray-Urteils des BGH

letzungserfolg ist dann zwar immer noch der "Anlaß" für die Untersuchung der Strafbarkeit (so ist die Bezeichnung als erfolgsbedingtes Gefährdungsdelikt zu verstehen), nicht aber das für das Strafurteil ausschlaggebende Moment. Es gibt zwar solche Phänomene im geltenden Strafrecht, diese sind aber in spezielle Gefährdungstatbestände gefaßt (vgl. §§ 221, 227, 306, 311- 3l5c StGB, usw.), und wenn ein solcher nicht gegeben ist, ist kein Raum für eine Erfolgszurechnung unter dem Gesichtspunkt der Risikoerhöhung. Darüber hinaus erscheint es ohnehin fragwürdig, wann der Pflichtwidrigkeitszusammenhang bei Anwendung der Risikoerhöhungslehre überhaupt noch verneint werden sollte 448 . Denn wenn es tatsächlich zur Rechtsgutsverletzung gekommen ist und das Verhalten des Täters hierfur auch kausal war, dann läßt sich die Erfolgszurechnung nur in absoluten Ausnahmefällen unter Hinweis auf ein Fehlen der Risikoerhöhung durch das Täterverhalten ablehnen. Weiterhin ist mit der h.M. gegen die Risikoerhöhungslehre vorzubringen, daß sie den Grundsatz in dubio pro reo in Frage stellt449 • Das erkärt sich daraus, daß nach der Risikoerhöhungstheorie in Fällen wie dem gegebenen, bei denen nicht feststeht, ob der Erfolg auch bei pflichtgemäßem Verhalten eingetreten wäre, dieser Mangel der Nachweisbarkeit des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs letztlich zu Lasten des potentiellen Täters geht, wenn er trotz der Sachverhaltsunsicherheit zur Verantwortung gezogen werden soll. Die Risikoerhöhungslehre stellt sich damit nicht nur als Zurechnungsregel, sondern im Grunde genommen auch als Beweiserleichterung dar, denn der konkrete Nachweis des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs wird hier durch ein Urteil über die Erhöhung der Erfolgswahrscheinlichkeit ersetzt. Von den Verfechtern der Risikoerhöhungslehre wird gegen diesen Vorwurf eingewendet, daß der Grundsatz in dubio pro reo nicht verletzt sei, weil als sicher feststehen müsse, daß der Täter das Risiko des Erfolgseintritts tatsächlich erhöht habe450 • Dieser Einwand kann aber deshalb nicht überzeugen, weil es nicht als ausreichend erachtet werden kann, daß der Täter das Erfolgsrisiko erhöht hat, sondern vielmehr feststehen muß, daß er den Erfolgseintritt als Ergebnis dieser Riskoerhöhung verursacht hat. Der Täter muß nicht "nur" fur die Schaffung eines rechtlich relevanten Risikos verantwortlich sein, er muß fur den Verletzungserfolg als dessen "Produkt" verantwortlich sein. Für den Fall des Unterlassungsdelikts besteht bei Anwendung der Risikoerhöhungslehre 44R

Vgl. hierzu Kaufmann, FS Jescheck, S. 275 f.

Baumann / Weber, § 18 II 2, § 19 III 2; Herzberg, MDR 1971, 882; LK I Schroeder, § 16 Rn. 190; Schlüchter, JA 1984,676; dies., JuS 1977, 107 f.; SKISamson, Anh. § 16 Rn. 27a; Umbreit, S. 21. 450 Stratenwerth, FS Gallas, S. 236. 449

Leitsätze 5 und 6: Kausalitäts- und Täterschaftsfragen

127

die Gefahr, daß eine Erfolgszurechnung vorgenommen wird, obwohl nicht sicher ist, ob es dem Täter bei pflichtgemäßem Alternativverhalten überhaupt möglich gewesen wäre, diesen Erfolg zu verhindern451 • Wenn die Anhänger der Risikoerhöhungslehre hiergegen einwenden, daß auch die h.M. nie mit Sicherheit feststellen könne, was im hypothetischen Fall pflichtgemäßen Verhaltens geschehen wäre 452 , kann dies nicht überzeugen. Ein Urteil über die Erfolgsverursachung durch bestimmte Faktoren kann nie mit hundertprozentiger Sicherheit gefällt werden, denn dafür müßten sämtliche naturwissenschaftlichen Zusammenhänge für den Menschen bis in das letzte Detail durchschaubar sein453 • Daß ihm dies nicht vergönnt ist, braucht nicht weiter erläutert zu werden. Dennoch besteht ein größeres Maß an Genauigkeit des strafrechtlichen Unwerturteils, wenn man die Bewertung des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vornimmt, statt bereits die Erhöhung der Erfolgswahrscheinlichkeit ausreichen zu lassen. Dieser Unterschied ist für das Prinzip in dubio pro reo entscheidend. d) Zwischenergebnis Aus diesen Gründen wird die Risikoerhöhungslehre hier abgelehnt, ohne daß die widersprüchlichen Meinungen erschöpfend behandelt werden könnten. Bei der hier vorgeschlagenen Beurteilung des Sachverhalts soll diese Theorie keine Berücksichtigung finden; das Urteil über den Pflichtwidrigkeitszusammenhang wird nicht anhand dieser Lehre gefällt. 2. Ergebnis bezüglich der objektiven Zurechenbarkeit an den einzelnen Geschäftsführer ohne Einbeziehung des Verhaltens seiner Geschäftsleitungskollegen

Da der Risikoerhöhungslehre aus den angeführten Gründen 454 nicht gefolgt werden soll, kann die objektive Zurechnung nicht unter Hinweis auf die unterlassene Risikoverminderung vorgenommen werden. Es bleibt also das Problem, daß der Erfolg bei rechtmäßigem Alternativverhalten des Einzelnen möglicherweise genauso eingetreten wäre. Infolgedessen scheint der durch die auf der Sondersitzung anwesenden Geschäftsführer kausal verursachte Verletzungserfolg455 dem einzelnen Angeklagten für sich jeweils nicht zurechenbar zu sein. 451 452 453 454 455

So auch Sch/Sch/Stree, § 13 Rn. 61. Brammsen, MDR 1989, 125. Vgl. LK /Jescheck, § 13 Rn. 17. Vgl. oben S. 125 ff. Zur Kausalitätsproblematik vgl. oben S. 105 ff.

128

Teil I: Die Grundsätze des Lederspray-Urteils des BGH

3. Einfluß der Mittäterschaft auf die Zurechenbarkeit des Erfolgs

Mit diesem Ergebnis muß die Stratbarkeitsprüfung nur dann abgebrochen werden, wenn die Tatsache, daß die Geschäftsführer mittäterschaftlich unterließen 456 , für die Erfolgszurechnung ohne Belang wäre. Demgegenüber herrscht aber' Einigkeit darüber, daß charakteristisch für das Instrument der Mittäterschaft die dadurch ermöglichte wechselseitige Zurechnung des vom Tatplan umfaßten Verhaltens der Mittäter ist457 • Das Verhalten, das hier vom Tatplan umfaßt ist, ist die Unterlassung der zur Durchführung einer Rückrufaktion von den einzelnen Geschäftsleitern vorzunehmenden Handlungen. Diese Unterlassungen sind jeweils nach § 25 Abs. 2 StGB den Mittätern zurechenbar, da sie sich auf der Grundlage des auf der Sondersitzung gefaßten gemeinsamen Unterlassungs entschlusses bewegen458 . Rechnet man dem einzelnen Mittäter die Unterlassung seiner Kollegen als innerhalb des gemeinsamen Tatplans befindlich zu, so ist die oben diskutierte Komponente der objektiven Zurechnung nicht mehr problematisch. Bei rechtmäßigem Alternativverhalten der Mittäter in ihrer Gesamtheit (als "Zurechnungseinheit") wäre der Verletzungserfolg nicht eingetreten, weil dann eine Rückrufaktion durchgeführt worden wäre. Der Ptlichtwidrigkeitszusammenhang zwischen dem mittäterschaftlichen Verhalten und den Verletzungserfolgen liegt also vor. 4. Ergebnis zur objektiven Zurechenbarkeit des Erfolgs an die Mittäter

Eine Erfolgszurechnung an die mittäterschaftlich verbundenen Geschäftsführer unterliegt keinen weiteren Bedenken. Der Erfolg Körperverletzung ist jedem der auf der Sondersitzung anwesenden Mittäter als sein Werk objektiv zurechenbar459 . Nach alledem können sowohl Kausalität des einzelnen auf der Sondersitzung anwesenden Geschäftsleiters für den Verietzungserfolg sowie die objektive Zurechenbarkeit des Erfolgs an die Mittäter bejaht werden.

45R

Vgl. hierzu oben S. 90 ff., 105. Vgl. statt aller nur Kiihl, 20/100; Wesseis, Rn. 531. Vgl. hierzu auf S. 90.

459

Vgl. bereits die Ausführungen auf S. 87.

456 457

Leitsätze 5 und 6: Kausalitäts- und Täterschaftsfragen

129

VI. Ergebnis bezüglich der vorsätzlichen Unterlassungsstratbarkeit ab der Sondersitzung

Dem BGH ist insoweit zuzustimmen, als sich die auf der Sondersitzung anwesenden Geschäftsführer wegen vorsätzlicher gefährlicher Körperverletzung strafbar gemacht haben. Die Tatbestandsverwirklichung erfolgte in mittäterschaftlichem Zusammenwirken der Geschäftsführer460, wobei entgegen der im Schrifttum vorgetragenen Kritik46I jeder von ihnen einen fur den Erfolg kausalen Beitrag462 leistete und darüber hinaus jedem der Mittäter die Verletzungserfolge auch objektiv zugerechnet werden können 463 . VII. Sukzessive Mittäterschaft bezüglich der gefährlichen Körperverletzung

In einem weiteren Schritt untersucht der BGH die strafrechtliche Verantwortlichkeit der bei der Sondersitzung nicht anwesenden Geschäftsführer der bei den Vertriebsgesellschaften464 . Sie hatten den dort ge faßten Beschluß in ihren jeweiligen Geschäftsbereichen umgesetzt, ohne eine gegenteilige Auffassung zu äußern. 1. Argumentation des HGH

Der BGH zieht diese Geschäftsführer als sukzessive Mittäter der vorsätzlichen gefährlichen Körperverletzung zum Nachteil der Produktkonsumenten zur Verantwortung465 . Er begründet dies damit, daß sie den gefaßten Beschluß im nachhinein gebilligt und durch die Umsetzung in ihren jeweiligen Geschäftsbereichen "komplettiert" hätten466 . Weil zur Begründung der Mittäterschaft ein vor der Tat gemeinsam getroffener Tatentschluß nicht erforderlich und die Tat im Zeitpunkt des Hinzutretens der bei den Angeklagten mangels Schadenseintritts noch nicht vollendet gewesen sei, genüge es für die Annahme sukzessiver Mittäterschaft, daß die später Hinzutretenden den Ge-

460 461

S. 90 ff., 105. S. 88 f.

462

S. lOS ff., 119.

463

S. 119 ff., 128.

464 Auch die abstimmenden Geschäftsführer der Muttergesellschaft waren gleichzeitig Mitglieder der Geschäftsleitung der beiden Vertriebsgesellschaften; vgl. hierzu das "Organigramm" der GmbH, in: Schmidt-Salzer, Entscheidungssammlung, IY.3.22 (46). 465 BGHSt 37, 129 f. 466 BGHSt 37, 130.

9 Weißer

130

Teil I: Die Grundsätze des Lederspray-Urteils des BGH

schäftsführerbeschluß nachträglich in ihren Willen aufgenommen und rem jeweiligen Geschäftsbereich umgesetzt hätten 467 .

In

ih-

Die Betroffenen sind demnach als (sukzessive) Mittäter der vorsätzlichen gefährlichen Körperverletzungen zur Verantwortung zu ziehen468 . 2. Stellungnahme

Obwohl auch unter den Befürwortern dieser Figur469 bereits der Umfang einer zulässigen Zurechnung im Rahmen der sukzessiven Mittäterschaft umstritten ist470 , und die Existenz dieser Beteiligungsform teilweise angezweifelt wird47I , sollen diese Streitfragen hier zunächst keine Erörterung finden. Im vorliegenden Fall ist nämlich schon zweifelhaft, ob die weithin anerkannten Voraussetzungen sukzessiver Mittäterschaft vorliegen. Zunächst soll das anhand der von der h.M. aufgestellten Kriterien überprüft werden. Die Geschäftsführer der Vertriebsfirmen waren von den Vorgängen auf der Sondersitzung nachträglich in Kenntnis gesetzt worden und wußten auch, daß infolge der nach wie vor ungeklärten toxischen Wirkungsweise der vertriebenen Produkte weitere Schadensfälle zu erwarten waren 472 • Dennoch übernahmen sie die auf der Sondersitzung getroffene Entscheidung in ihren jeweiligen Geschäftsbereich, indem sie entsprechend auf weitere Schadensmeldungen von Konsumenten sowie deren Schadensersatzforderungen reagierten 473 und darüber hinaus ein eigenes Hinwirken auf die Durchführung einer Rückrufaktion innerhalb des Geschäftsleitungsgremiums unterließen. Die Motive, die sie für dieses Verhalten hatten, lassen sich nicht mehr klä-

467

Dagegen: Eidam, S. 75 f.; Puppe, JR 1992, 32.

46N

Zustimmend Kuhlen, NStZ 1990, 570.

469

Statt aller: OUo, AT, § 21 IV 2 c; LK I Roxin, § 25 Rn. 192.

Diskutiert wird hier die Frage, ob bereits vor Hinzutreten des sukzessiven Mittäters verwirklichte Erschwerungsgründe diesem zugerechnet werden können. Dafür sprechen sich aus: BGH GA 1966, 2\0; BGH bei Holtz, MDR 1982, 446; Dreher I Tröndle, § 25 Rn. 9; dagegen sind: Herzberg, Täterschaft, S. 71 f.; LK / Roxin, § 25 Rn. 195; Ouo, AT, § 21 IV 2 c bb; Rengier, NStZ 1992,591; ders., JuS 1993,463; Roxin, Täterschaft, S. 289 ff.; ders., JA 1979, 525; Rudolphi, FS Bockelmann, S.377 f.; SchlSchlCramer, § 25 Rn. 91; Seelmann, JuS 1980,573. 470

471

Ablehnend bezüglich sukzessiver Mittäterschaft: Gössel, FS Jescheck, S. 548 ff.

So die Darstellung des Sachverhalts in der Ausgangsentscheidung des LG Mainz, in: Schmidt-Salzer, Entscheidungssammlung, IY.3.22 (24 f.). 472

473 Im Urteil werden hierfür diverse Beispiele angeführt, in denen die betroffenen Geschäftsführer eine schädigende Wirkung der Produkte ausdrücklich ablehnten und unter Hinweis auf fehlende Anzeichen für eine konkrete toxische Wirkungsweise der vertriebenen Produkte den Verbrauchern gegenüber Schadensregulierungen verweigert hatten; vgl. Schmidt-Salzer, Entscheidungssammlung, IY.3.22 (25).

Leitsätze 5 und 6: Kausalitäts- und Täterschaftsfragen

131

ren. Aus der gegebenen Tatsachengrundlage läßt sich nicht erschließen, ob die später Hinzutretenden den bereits getroffenen Entschluß übernahmen, weil sie derselben Meinung waren wie ihre Kollegen - nämlich daß das Risiko des drohenden Imageverlusts und Umsatzrückgangs fiir die Firma das Unterbleiben einer derartigen Maßnahme erfordere. Es könnte auch so gewesen sein, daß sie den Beschluß übernahmen aus Angst vor innerbetrieblichen Konsequenzen, fiir den Fall, daß sie sich dagegen stellten - gewissermaßen aus "Betriebsräson". Jedenfalls fiel die Entscheidung bewußt gegen die Durchfiihrung von Rückrufmaßnahmen, und es kommt daher nur eine Vorsatzstrafbarkeit der später hinzutretenden Geschäftsfiihrer in Betracht. Hierfiir müßten aber alle Merkmale des objektiven Tatbestands des § 223 StGB, insbesondere Kausalität und objektive Zurechenbarkeit der Verletzungserfolge, jeweils auch fiir die einzelnen Geschäftsfiihrer der Vertriebsfirmen vorliegen. Zunächst stellt sich die Frage der Kausalität des Verhaltens des einzelnen Geschäftsfiihrers der Vertriebsfirmen fiir die eingetretenen Verletzungserfolge. Zu untersuchen ist hierbei, ob sie fiir die auf der Geschäftsfiihrersitzung getroffene Entscheidung einen kausalen Beitrag geleistet haben. Diese Entscheidung bildet die Grundlage des Unterlassungsdelikts und es ist demnach der Zusammenhang zwischen dem Verhalten der potentiellen sukzessiven Mittäter und der getroffenen Geschäftsftihrerentscheidung zu suchen. Hierbei ist zu beachten, daß die Geschäftsfiihrer der Vertriebsfirmen von dem gefaßten Beschluß erst erfuhren, als dieser bereits feststand. Für die auf der Sondersitzung anwesenden Geschäftsfiihrer wird die Kausalität mit dem Argument begründet, daß sie unmittelbar Einfluß nahmen auf das Abstimmungsergebnis, indem sie ihr Votum abgaben. Das aber kann fiir die erst später Hinzutretenden nicht vertreten werden. Eine aktive Einwirkung auf die Entscheidungsfindung kann den Betroffenen insofern nicht nachgewiesen werden. Man könnte diesbezüglich aber möglicherweise argumentieren, die Geschäftsfiihrer hätten durch die vom BGH angesprochene Komplettierung des Beschlusses die Kollegen in ihrem Vorhaben gewissermaßen bestärkt und insofern eben doch einen gewissen Einfluß auf die Entscheidung gegen Rückrufmaßnahmen ausgeübt. Diese Konstruktion erscheint aber schon deshalb äußerst zweifelhaft, weil die abstimmenden Kollegen von der Richtigkeit der getroffenen Entscheidung wegen des einstimmig getroffenen Ergebnisses höchstwahrscheinlich ohnehin überzeugt waren und so eine Bestärkung gar nicht brauchten. Darüber hinaus ist aber als entscheidend zu beachten, daß selbst dieses Bestärken der Kollegen in ihrer Meinung keinen Einfluß mehr auf das ohnehin bereits feststehende Abstimmungsergebnis als Tatentschluß haben konnte. Kausalität des Verhaltens der später Hinzutretenden fiir die Entscheidung gegen Rückrufmaßnahmen kann infolgedessen nicht festgestellt werden. 9*

132

Teil 1: Die Grundsätze des Lederspray-Urteils des BGH

In einem weiteren Schritt ist zu fragen, ob die auf der Sondersitzung nicht anwesenden Geschäftsführer möglicherweise danach für den unterlassenen Rückruf kausal wurden, indem sie den von den Kollegen getroffenen Entschluß in ihrem eigenen Ressort - durch Unterlassen - vollzogen. Wenn man die sog. Komplettierung so versteht, wäre ein anderes Urteil über die Kausalität eventuell möglich. Man würde dann argumentieren, daß die Betroffenen dem Tatentschluß später beigetreten seien. Da dieser Zeitpunkt vor Eintritt der weiteren Verletzungserfolge und damit vor Deliktsvollendung lag, wäre die Möglichkeit der sukzessiven Mittäterschaft dann zu bejahen474 • Bevor eine derartige Wertung getroffen werden kann, muß aber zunächst untersucht werden, welche Möglichkeit die betroffenen Entscheidungsträger überhaupt noch hatten, um einem Unterlassen des Rückrufs in ihrem Ressort entgegenzuwirken, nachdem ja der entscheidende Geschäftsführerbeschluß bereits getroffen war. Hätten die Geschäftsleiter der Vertriebsfirmen den Vollzug der Rückrufentscheidung in ihrem eigenen Ressort unterlassen sollen und stattdessen aktiv auf die Ergreifung von Rückrufmaßnahmen hinwirken sollen? Es fragt sich diesbezüglich, welche Maßnahmen hier als erfolgversprechend noch in Betracht kommen könnten. Insofern führt die Frage der Kausalität zurück zur Festlegung der Grenzen des durch die Garantenposition vorgegebenen Pflichtenkreises. Es ist zunächst zu klären, welches konkrete Verhaltens gebot den Geschäftsleiter der Vertriebsfirma jeweils als Ausfluß seiner Garantenstellung trifft. Hierbei muß der Umstand in Rechnung gestellt werden, daß die übrigen Geschäftsleitungsmitglieder ihre Entscheidung bereits getroffen hatten und sich in ihren Ressorts daran hielten. Eine weitere Einflußnahme auf die Kollegen, die diese Entscheidung einstimmig getroffen hatten, wäre mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wenig erfolgversprechend und damit im Rahmen des Handlungsgebots für die Garanten nicht gefordert gewesen. Allein die eigene Äußerung gegen den getroffenen Beschluß durch die betroffenen Geschäftsleiter hätte ebenfalls keinen Einfluß mehr auf das Abstimmungsergebnis entfalten können. Die vier Stimmen der auf der Sondersitzung anwesenden Geschäftsführer gegen Rückrufmaßnahmen hätten die der beiden später hinzutretenden Geschäftsleiter der Vertriebsfirmen ohnehin überstimmt. Die Mehrheit stand damit in dem Zeitpunkt, als die anderen Geschäftsleiter Kenntnis von den Vorgängen erlangten, bereits fest. Deswegen scheidet eine kausale Einwirkung der auf der Sondersitzung abwesenden Geschäftsleiter auf das Abstimmungsergebnis an sich jedenfalls aus475 •

474

So möchte Kuhlen, NStZ 1990, 570 den Fall lösen.

475

Ebenso: Eidam, S. 75 f.; Puppe, JR 1992,32.

Leitsätze 5 und 6: Kausalitäts- und Täterschaftsfragen

133

Es ist aber noch eine letzte Handlungsmöglichkeit des potentiellen sukzessiven Mittäters zur Verhinderung der Verletzungserfolge zu untersuchen: Der später Hinzutretende hätte sich möglicherweise über die innerbetriebliche Kompetenzverteilung hinwegsetzen und versuchen müssen, die tatsächliche Durchführung des Entschlusses im Alleingang zu vereiteln. Eine derartige Tätigkeit würde letztlich mangels anderer Möglichkeiten wegen des bestehenden Prinzips der Gesamtgeschäftsführung auf ein Einschalten der Strafverfolgungsbehörden hinauslaufen. Es ist aber fraglich, ob sich ein derartiges Vorgehen noch im Rahmen des innerbetrieblich Möglichen und Zumutbaren halten würde, das vom BGH als Grenze der vom Garanten eingeforderten Handlungen festgelegt wurde. Diese Frage muß grundsätzlich verneint werden 476 • Der Senat widerspricht sich in seiner Beurteilung der Strafbarkeit der später Hinzutretenden letztlich selbst, indem er von ihnen ein Maß an Einsatz verlangt, das er noch vorher bei Feststellung der aus der Garantenposition resultierenden Garantenpflichten nicht in den gezogenen Pflichtenkreis hatte einbeziehen wollen. Dort hatte er nämlich vertreten, daß vom einzelnen garantenpflichtigen Geschäftsleitungsmitglied nur diejenigen Handlungen gefordert werden könnten, zu denen es nach der innerbetrieblichen Kompetenz- und Zuständigkeitsordnung befugt sei 477 • Ein Vorgehen gegen einen vom Geschäftsleitungsgremium getroffenen Beschluß im Alleingang befindet sich aber sicher nicht mehr im Rahmen dieser dem Einzelnen eingeräumten Kompetenzen. Puppe 478 argumentiert, daß die Erfolgszurechnung, wie der BGH sie vornehmen möchte, nur bei Anwendung der Risikoerhöhungslehre möglich sei. Dem ist entgegenzuhalten, daß die Erfolgszurechnung erst nach Feststellung eines positiven Kausalurteils in Betracht kommt479 • Kann aber eine kausale Einwirkung der später Hinzutretenden auf die Beschlußfassung und damit die für den Erfolg ursächliche Unterlassung der geforderten Rückrufmaßnahmen nicht nachgewiesen werden, so kann hierüber auch nicht die u.u. mögliche Erfolgszurechnung nach der Risikoerhöhungslehre hinweghelfen. Die Lösung des BGH ist daher bereits unter dem Gesichtspunkt der Kausalitätsprüfung abzulehnen, so daß die Frage nach der Möglichkeit der objektiven Erfolgszurechnung nicht mehr relevant wird.

476 Gleicher Ansicht bezüglich des Einschaltens der Strafverfolgungsbehörden ist Schmid, SchwZStR 105 (1988), 159. Zu Ausnahmefällen vgl. die Ausfiihrungen im Rahmen von Fallgruppe 2, unten S. 182 f. 477 BGHSt 37, 125 f. 47R JR 1992, 32. 479

Vgl. hierzu bereits S. 119 ff.

134

Teil I: Die Grundsätze des Lederspray-Urteils des BGH

Puppe480 stellt weiterhin in Ablehnung der Lederspray-Entscheidung fest, daß neben der fraglichen Kausalität der nachträglich Hinzutretenden auch bezüglich der Zurechnung der Folgen des rechtswidrigen Entschlusses ein ganz neuer Zurechnungsmodus gefunden werden müsse, da diese anhand der hergebrachten Grundsätze nicht möglich sei. Sie erwähnt dabei eine "Zurechnung kraft Wahrnehmung gleichberechtigter rechtlicher Kompetenz und Verantwortung"481, ohne diese aber im Detail zu erläutern. Ein neuer Zurechnungsmodus sollte aber nur dann eingeführt werden, wenn dies zwingend erforderlich ist. Wenn aber, wie hier, die tatbestandlichen Voraussetzungen sukzessiver Mittäterschaft bereits wegen fehlender Kausalität der betroffenen Geschäftsführer für die Entscheidung nicht vorliegen, dann erübrigt sich dies ohnehin. Man sollte im Bereich der strafrechtlichen Produkthaftung allgemein nicht der Versuchung erliegen, zahlreiche bisher nicht anerkannte Kausalitätsund Zurechnungsprinzipien anzuwenden, um das gewünschte Ergebnis nämlich die grundsätzliche Verantwortlichkeit der Unternehmensleitung insgesamt - herbeizuführen. Vielmehr ist auch in diesem Bereich an den hergebrachten Prinzipien festzuhalten, um einer Tendenz zur unüberschaubaren Haftungsausweitung im Bereich strafrechtlicher Produkthaftung entgegenzuwirken. Schmidt-Salzer482 möchte das Urteil über die Strafbarkeit des bei der Abstimmung abwesenden Kollegiumsmitglieds davon abhängig machen, "wie nah die vom Kollegialorgan getroffene Entscheidung hinsichtlich ihrer strafrechtlich problematischen Elemente am Zuständigkeitsbereich des Betreffenden dran ist,,483. Hiernach bestimmt sich nach Schmidt-Salzers Ansicht eine etwaige Verpflichtung des Abwesenden zum Widerspruch484 . Ob bei pflichtwidrig unterlassenem Widerspruch dann eine Verantwortlichkeit als sukzessiver Mittäter oder aus einem eigenständigen Unterlassungsdelikt (wegen des unterlassenen Widerspruchs) entstehen soll, führt er nicht weiter aus. Diese Frage kann aber auch dahingestellt bleiben, da eine pauschale Beurteilung ohne Rücksicht auf die Erörterung von Kausalitätsproblemen nicht überzeugen kann. Denn selbst wenn man die Pflicht zum Widerspruch von der Zuständigkeit des Betreffenden nach der internen Geschäftsverteilung abhängig machen wollte, so wäre jeweils noch gesondert zu prüfen, ob ein derartiger Widerspruch tatsächlich als erfolgversprechende Rettungshandlung gefordert sein könnte. Und das führt wiederum zurück zu der Sachverhalts-Problematik

4RI

Puppe, JR 1992, 34; zustimmend Eidam, S. 76. Puppe, a.a.O.

4R2

Produkthaftung I, Rn. 1.275 f.

m

Produkthaftung I, Rn. 1.276.

..0

.... Produkthaftung I, Rn. 1.276; zustimmend Goll, Produkthaftungshandbuch, § 46 Rn. 23.

Leitsätze 5 und 6: Kausalitäts- und Täterschaftsfragen

135

im Lederspray-Fall: Hier konnte der später Hinzutretende durch einen eventuell von ihm zu fordernden Widerspruch (wobei die von Schmidt-Salzer konstruierte Pflicht aus der speziellen Zuständigkeit unterstellt sei) nichts mehr gegen die Entscheidung und deren Ausfuhrung tun. Dann kann er aber unter keinen Umständen hierfur zur Verantwortung gezogen werden, wenn man sich auf dem Boden der hergebrachten Kausalitäts- und Unterlassungs dogmatik bewegen möchte. Auch unter Zugrundelegung des Ansatzes von SchmidtSalzer ließe sich demnach im gegebenen Fall die sukzessive Mittäterschaft nicht begründen. Aus diesen Gründen sollte die Beurteilung der später erst den Beschluß "vollziehenden" Geschäftsfuhrer - wobei der "Vollzug" in einer bloßen Untätigkeit bestand - anders als im Urteil ausfallen. Die Annahme sukzessiver Mittäterschaft ist abzulehnen 485 . Die Betroffenen waren mangels kausalen Tatbeitrags nicht Mittäter der vorsätzlichen Körperverletzungen. In Betracht kommt hier allenfalls eine Strafbarkeit als Gehilfen486 . Als Kritik gegen diese Lösung ließe sich möglicherweise anführen, daß sich dann jeder Geschäftsleiter schwierigen Entscheidungen einfach dadurch entziehen könnte, daß er bei der Entscheidungsfindung im Kollegialorgan nicht mitwirkt. Dem ist aber entgegenzuhalten, daß dies nur dann die Verantwortlichkeit im strafrechtlichen Sinne ausschließt, wenn die Mehrheitsverhältnisse auch ohne Mitwirkung des der Entscheidungsfindung fernbleibenden Geschäftsleiters feststehen. Ist dies dagegen nicht der Fall, so ist unter Umständen nach wie vor eine Einwirkung auf die Entscheidung im Rahmen der eigenen Kompetenzen möglich und daher im Rahmen der Garantenverpflichtung auch gefordert487 • Unterläßt der Geschäftsführer dann die geforderten Maßnahmen, so ist er wiederum unter dem Gesichtspunkt der strafrechtlich relevanten Unterlassung für den Eintritt des Verletzungserfolgs zur Verantwortung zu ziehen. 3. Ergebnis

Weil die auf der Sondersitzung nicht anwesenden Geschäftsführer bei der Abstimmung nicht mitgewirkt haben und auch später das Abstimmungsergebnis wegen der Mehrheitsverhältnisse nicht mehr kippen konnten, haben sie an der Fassung des Unterlassungsentschlusses nicht aktiv - kausal - mitgewirkt. Sie haben aber auch nicht bei der "Ausführung" der Tat, also dem Vollzug m In diesem Sinne äußern sich auch Eidam, S. 176; Schmid, SchwZStR 105 (1988),

159.

486 Zur Möglichkeit einer Gehilfenstrafbarkeit in einer solchen Konstellation vgl. die Ausführungen unten S. 182 f. 487 Vgl. zu dieser Problematik die Ausführungen im Rahmen der Fallgruppe 3, S. 193 ff.

136

Teil I: Die Grundsätze des Lederspray-Urteils des BGH

der Entscheidung durch Unterlassen von Rückrufmaßnahmen einen täterschaftlichen, kausalen Tatbeitrag geleistet, weil sie auch nach der Sondersitzung keine Möglichkeit mehr hatten, durch pflichtgemäßes Verhalten die Durchführung der Rückrufaktion zu gewährleisten. Es stand ihnen damit keine erfolgversprechende Rettungsmöglichkeit offen, und sie sind deswegen nicht als sukzessive (Mit-)Täter des Unterlassungsdelikts verantwortlich.

B. Kausalitäts- und Täterschaftsfragen im Bereich der fahrlässigen Körperverletzung Eine Fahrlässigkeitsstrafbarkeit kommt in Betracht wegen des Verhaltens im Zeitraum vor der Sondersitzung der Geschäftsleitung am 12.5.1981. Vor diesem Datum muß positive Kenntnis der Angeklagten von den Schadensmeldungen in dubio pro reo ausgeschieden werden488 • Die Annahme von Eventualvorsatz kommt damit nicht in Betracht. Auch im Bereich des Fahrlässigkeitsdelikts nach § 230 StGB ist Anknüpfungspunkt für die strafrechtliche Beurteilung das Unterlassen von Rückrufmaßnahmen. Daß die unterlassenen Handlungen durch die strafrechtlich sanktionierte Garantenverpflichtung der Angeklagten von diesen gefordert waren, wurde bereits oben489 festgestellt. Dennoch ergibt sich eine Schwierigkeit: Da die Geschäftsleitungsmitglieder eine Rückrufaktion nur gemeinsam starten konnten, leistete jeder der Angeklagten nur einen Teilbeitrag zur Unterlassung dieser Handlung, indem er ein eigenes Hinwirken auf ein Tätigwerden des Gesamtorgans Geschäftsleitung unterließ. Problematisch wird demnach auch hier die Feststellung der Kausalität der einzelnen Unterlassungsbeiträge und die objektive Zurechenbarkeit des Erfolgs, denn hier scheint die gleiche Argumentation naheliegend zu sein wie im Bereich der Vorsatzstrafbarkeit (vgl. oben S. 85 f., 88 f.490).

I. Argumentation des BGH Hierzu bezieht der BGH49 \ folgendermaßen Stellung: Er geht von dem Grundsatz aus, daß bei Herbeiführung des Erfolgs durch mehrere Teilbeiträge jeder der Einzelbeiträge für den Erfolg ursächlich sei. Diesen Grundsatz überträgt er auf die vorliegende Konstellation mit dem Ergebnis, daß für den Vgl. hierzu die Darstellung der Sachverhaltsproblematik S. 30 f. Vgl. die Untersuchung der Leitsätze 2-4, oben S. 24 - 75. 490 In Kürze: Der Einzelne könnte sich darauf berufen, daß sein Eintreten allein fur eine Rückrufaktion noch nicht zu deren Durchfuhrung gefuhrt hätte, und daß aus diesem Grund die Kausalität seines Unterlassens fur die Unterlassung der Rückrufaktion abgelehnt werden müsse. 49\ BGHSt 37, 130 ff. 488 489

Leitsätze 5 und 6: Kausalitäts- und Täterschaftsfragen

137

Fall, daß eine schadensabwendende Maßnahme nur durch Zusammenwirken mehrerer zu realisieren ist, jeder einzelne, der den von ihm geforderten Teilbeitrag unterläßt, für die ("Gesamt-")Unterlassung und damit den tatbestandsmäßigen Erfolg durch sein Unterlassen ursächlich wird: "Kann die zur Schadensabwendung gebotene Maßnahme ... nur durch das Zusammenwirken mehrerer Beteiligter zustande kommen, so setzt jeder, der es trotz seiner Mitwirkungskompetenz unterläßt, seinen Beitrag dazu zu leisten, eine Ursache dafür, daß die gebotene Maßnahme unterbleibt; innerhalb dieses Rahmens haftet er für die sich daraus ergebenden tatbestandsmäßigen Folgen"492. Die Möglichkeit, sich darauf zu berufen, daß man am Widerstand der übrigen Geschäftsführer gescheitert wäre, hätte man auf Durchführung der Maßnahme gedrungen, bestehe nur dann, wenn man tatsächlich alles Mögliche und Zumutbare unternommen habe, um die richtige Entscheidung herbeizuführen. Mit dieser Argumentation kommt der Senat zu dem Ergebnis, daß jeder der unterlassenden Geschäftsführer auch für die fahrlässig herbeigeführten Körperverletzungen vor Eingang der ersten Schadensmeldungen ursächlich war. Gestützt wird diese Sichtweise mit kriminalpolitischen Argumenten. Nur eine derartige Wertung werde der "gemeinsamen und gleichstufigen Verantwortung der Geschäftsführer gerecht"493. Der BGH verweist darauf, daß anderenfalls durch die Berufung auf die in gleichem Maße pftichtwidrig unterlassenden Kollegen eine Strafbarkeit des einzelnen Kollegiumsmitglieds möglicherweise ausscheiden müsse. Die Entstehung eines (straf-)rechtsfreien Raums im Bereich der durch Kollegialorgane geführten Unternehmen soll aber verhindert werden. -

Ergebnis des BGH bezüglich der fahrlässigen Körperverletzung

Der BGH kommt zu dem Schluß, daß die Angeklagten sich im Zeitraum vor der Sondersitzung wegen fahrlässiger Körperverletzung strafbar gemacht haben. Die Kausalität der einzelnen Tatbeiträge sei zu bejahen, da die Geschäftsleitungsmitglieder die Unterlassung der Rückrufaktion jeweils durch Unterlassen der persönlich geschuldeten Handlungen verursacht hätten. Die Geschäftsführer triffi demnach auch im strafrechtlichen Bereich die in wirtschaftlicher Hinsicht bestehende gemeinsame und gleichstufige Verantwortung. Sie haften nach Ansicht des BGH für den Zeitraum vor der Sondersitzung wegen fahrlässiger Körperverletzung nach § 230 StGB.

492 BGHSt 37, 131; ebenso Sch / Sch / Cramer, § 15 Rn. 223, allgemein für Kollegialentscheidungen, sowie OLG Stuttgart, NStZ 1981, 27. 493 So BGHSt 37, 132.

138

Teil I: Die Grundsätze des Lederspray-Urteils des BGH

11. Wertung

Eine ausfuhrliehe Prüfung von Kausalitäts- und Zurechnungs fragen nimmt der BGH nicht vor. Außer dem kriminalpolitischen Gesichtspunkt fuhrt der Senat keine weiteren Argumente fur die Annahme (auch) der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit der Angeklagten an. Daß eine Ablehnung dieser Strafbarkeit "nicht rechtens" sein könne, liegt nach seiner Auffassung vielmehr "auf der Hand"494. Entgegen dieser Darstellung wirft die Fahrlässigkeitsstrafbarkeit der Angeklagten einige Probleme auf. Die objektive Erfolgszurechnung ist hier ebenso wie im Bereich des Vorsatzdelikts nicht ganz einfach vorzunehmen - angesichts des bereits erwähnten495 Aspekts des fragwürdigen Pflichtwidrigkeitszusammenhangs. Der BGH verwirft das Argument, daß rechtmäßiges Alternativverhalten eines der Angeklagten den Erfolg nicht sicher verhindert hätte, unter Hinweis auf die sog. gemeinsame und gleichstufige Verantwortung der Geschäftsfuhrer. Diese gemeinsame Verantwortlichkeit mehrerer Täter fur einen Verletzungserfolg war aber bislang auf die Figur der Mittäterschaft bezogen. Der gemeinsame Tatplan sowie die gemeinsame Ausführung dieses Plans waren die einzigen Merkmale, die als Anknüpfungspunkt fur die vom BGH angesprochene gemeinsame und gleichstufige Verantwortlichkeit dienten. Im Fahrlässigkeitsbereich wird aber die Möglichkeit der Mittäterschaft grundsätzlich nicht anerkannt496 . Damit entsteht das Problem, daß man innerhalb der Zurechnung nicht auf § 25 Abs. 2 StGB verweisen kann und eine wechselseitige Verantwortlichkeit fur die Unterlassungen auch der anderen Geschäftsleitungsmitglieder schwer erklärbar ist. Einen Lösungsvorschlag fur diesen Begründungskonflikt neben der Berufung auf die besondere Verantwortungsposition bietet der BGH nicht an. Insofern bleibt unklar, woraus der Senat die gemeinsame Verantwortlichkeit im Rahmen der Fahrlässigkeitstäterschaft ableiten möchte. Das wird auch im Schrifttum diskutiert497 , wobei insbesondere die Frage der Möglichkeit einer fahrlässigen Mittäterschaft aufgeworfen wird. Im folgenden soll der Streitstand dargelegt werden und anschließend eine Entscheidung im Hinblick auf den Lederspray-Sachverhalt erfolgen.

495

BGHSt 37, 132. S. 121 ff.

496

Vgl. OLG Schleswig, NStZ 1982, 116 f.

494

Amelung, S. 70 f.; Beulke / Bachmann, JuS 1992, 744; Hirte, JZ 1992, 258; Kuhlen, NStZ 1990,570; ders., WiVerw 1991,246; Meier, NJW 1992,3197 f. 497

Leitsätze 5 und 6: Kausalitäts- und Täterschaftsfragen

139

111. Streitstand

Die Befürworter der BGH-Lösung räumen ein, daß die Annahme der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit zwar in Durchbrechung der conditio-Formel und der bisher angewandten Kausalitätsgrundsätze erfolge 498 . Dennoch sei diese Lösung zu befürworten, da sie der Situation angemessen sei. Die Anhänger des BGH berufen sich diesbezüglich ebenfalls auf kriminalpolitische Argumente: es könne nicht richtig sein, daß bei verantwortlichen Geschäftsleitungskollegien jeder sich aus der strafrechtlichen Verantwortung allein unter Hinweis auf die ebenfalls gegebene Mitverantwortlichkeit seiner Kollegen herausreden könne 499 • Die Kritiker der BGH-Entscheidung im Fahrlässigkeitsbereich berufen sich auf die auch von den Befürwortern des Urteils eingeräumte Durchbrechung strafrechtlicher Grundsätze bezüglich der Kausalität und Zurechnung50o • Samson 501 kritisiert die Lösung des BGH bezüglich der Fahrlässigkeitsdelikte scharf und bemängelt dabei zunächst, daß der Senat von einem falschen Verständnis des Sachverhalts ausgegangen sei, das dann die fehlerhafte Entscheidung über die Strafbarkeit nach sich ziehe. Da der vorliegenden Arbeit die gleiche "Interpretation" des Sachverhalts zugrundeliegt wie dem Urteil des BGH, ist eine Auseinandersetzung mit den Argumenten Samsons erforderlich. Zunächst hält er die Wertung für höchst zweifelhaft, daß keiner der Geschäftsführer die Rückrufaktion im Alleingang hätte veranlassen können. Er begründet dies damit, daß der Grundsatz der Gesamtgeschäftsführung nicht gelten könne, wo die Mitwirkung der Mitgeschäftsführer zu einer strafrechtlich geforderten Maßnahme in krimineller Weise unterbleibe 502 • Dem ist entgegenzusetzen, daß bei einer anderen Sichtweise den Geschäftsführern grundsätzlich eine rechtliche Überprüfung des Verhaltens der Mitgeschäftsführer zugemutet würde, um sich Klarheit über das (Nicht-)Bestehen der Gesamtgeschäftsführung in der gegebenen Situation zu verschaffen. Das aber kann nicht richtig sein. Man kann vom Geschäftsführer eines Unternehmens nicht erwarten, daß er in jeder Situation eine fehlerfreie strafrechtliche Würdigung der Sachlage vornimmt, um dann zu entscheiden, ob der Grundsatz der Ge-

49" Beulke / Bachmann, JuS 1992, 744; Hirte, JZ 1992, 258; Kuhlen, NStZ 1990, 570; ders., WiVerw 1991,246; Meier, NJW 1992,3197 f. 499 Beulke/Bachmann, JuS 1992, 744; Kuhlen, NStZ 1990, 570; ders., WiVerw 1991, 247; Meier, NJW 1992,3197 f.; ebenso: Sch/Sch/Cramer, § 15 Rn. 223. 500 Amelung, S. 70 f.; Samson, StV 1991, 185 f. 501 StV 1991, 185 f. 502

Samson, StV 1991, 185; ähnlich Amelung, S. 71.

140

Teil I: Die Grundsätze des Lederspray-Urteils des SGH

samtgeschäftsftihrung ausnahmsweise außer Kraft gesetzt ist oder nicht. Denn was passiert, wenn er die Lage falsch einschätzt und in Überschreitung seiner Kompetenz eine Maßnahme vornimmt, über die eigentlich nur in Gesamtgeschäftsführung entschieden werden dürfte? Das diesbezüglich bestehende Risiko ist dem Einzelnen nicht zumutbar, er muß sich auf die bestehende Kompetenzordnung innerhalb des Unternehmens verlassen dürfen und darf nicht der Unsicherheit ausgesetzt werden, daß er sich bei unterlassener Kompetenzüberschreitung womöglich strafbar macht, daß er aber andererseits bei Fehleinschätzung der rechtlichen Lage mit personellen Konsequenzen zu rechnen hat. Eine derartige Wertung würde auch in Widerspruch stehen zu der eindeutigen Bestimmung der aus der Garantenstellung resultierenden Handlungspflicht. Der Rahmen dieser Pflicht könnte dann nicht mehr eindeutig gezogen werden. Der Umfang der vom einzelnen Geschäftsführer geschuldeten Einflußnahme auf die Vorgänge könnte jeweils wechseln, je nachdem, ob man das Verhalten der Mitgeschäftsführer als kriminell wertet oder nicht. Fällt die Wertung positiv aus, so wäre der Geschäftsftihrer nach Samsons Ansicht zur Einleitung der Strafverfolgung durch Erstattung einer Anzeige gegen das Unternehmen verpflichtet. Eine derart weitgehende Maßnahme kann dem Geschäftsftihrer grundsätzlich nur in krassen Ausnahmefällen 503 zugemutet werden, nicht aber wenn er sich nicht sicher ist darüber, ob seine Kollegen der Vornahme einer Rückrufaktion zustimmen würden oder nicht504 . In diesem Stadium bereits ein solches Vorgehen zu verlangen, würde den Pflichtenkreis des einzelnen Geschäftsleitungsmitglieds zu weit spannen. Man kann von einem einzelnen Geschäftsftihrer nicht verlangen, daß er im Alleingang über die Kriminalität des Verhaltens seiner - gleichstufig ftir das Unternehmen verantwortlichen - Mitgeschäftsftihrer befindet. Folgte man der Ansicht Samsons, so würde die Situation eintreten, die Brammsen505 bereits bei der Lösung des BGH befürchtet. Die strafrechtliche Beurteilung der Sachlage würde sich von den realen Verhältnissen entfernen: Während der einzelne Geschäftsleiter zivilrechtlich den Beschränkungen des Prinzips der Gesamtgeschäftsftihrung ausgesetzt wäre, würde er trotzdem gegen ein strafrechtlich sanktioniertes Handlungsgebot verstoßen, wenn er nicht in zivilrechtlicher Hinsicht dieses Prinzip unterlaufen und Maßnahmen im Alleingang treffen würde. Ein derartiges Auseinanderfallen von zivilrechtlicher und strafrechtlicher Situation wäre nicht wünschenswert.

Vgl. hierzu die Ausfiihrungen im Bereich der Fallgruppe 2, unten S. 182 f. Zur grundsätzlichen Verneinung einer Pflicht zur Strafanzeige vgl. Schmid, SchwZStR 105 (1988), 159. 505 Brammsen, Jura 1991, 537. 503

504

Leitsätze 5 und 6: Kausalitäts- und Täterschaftsfragen

141

Demnach bleibt es also entgegen der von Samson vorgebrachten Kritik bei der Wertung, daß das Prinzip der Gesamtgeschäftsführung auch im fraglichen Zeitraum vor der Sondersitzung im Hinblick auf eine Entscheidung über die Vornahme von Rückrufmaßnahmen in Kraft war 06 . Nach Samsons Ansicht müßte der Fall folgendermaßen beurteilt werden: Dadurch, daß die identifizierbare Mehrheit unter den Geschäftsführern den Eindruck der Uneinsichtigkeit erweckte, haften nach Samsons Meinung allein diese, nicht aber die anderen, die mit Recht resignierten. Wenn "dagegen jeder jedem anderen diesen Eindruck vermittelt, dann hat jeder durch Aktivität zunächst den jeweils anderen und sodann sich selbst rettungsunfähig gemacht"So7. Das Ergebnis dieser Bewertung würde wohl so aussehen, daß keiner der Geschäftsführer zu einer Vornahme von Maßnahmen verpflichtet gewesen wäre, da diese wegen der Untätigkeit bzw. Rettungsunwilligkeit der Geschäftsleitungskollegen nicht erfolgversprechend gewesen wären und somit auch nicht innerhalb des den Garanten treffenden Handlungsgebots liegen konnten. Diese Lösung kann aber nicht überzeugen, denn sie würde dazu führen, daß jeder der Geschäftsführer sich allein unter Hinweis auf die Untätigkeit der anderen Geschäftsleiter aus der ihn zweifellos treffenden Garantenverantwortung S08 stehlen könnte. Man kann nicht unterstellen, daß allein durch die Untätigkeit der Kollegen für den einzelnen Geschäftsführer jeweils der Eindruck entstand, daß Rettungsmaßnahmen sinnlos seien, weil sie die Verletzungserfolge nicht verhindern könnten. Auch das würde den realen Verhältnissen in der Geschäftsleitung widersprechen, in der im Rahmen der Gesamtgeschäftsführung die Maßnahmen im Zusammenwirken getroffen werden, und jeder für sich allein nichts ausrichten kann. Allein durch die Untätigkeit der Kollegen wird noch nicht die Rettungsunfähigkeit des Geschäftsführers begründet, dies geschieht erst, wenn die Kollegen sich aus der Untätigkeit hin zu einer ablehnenden Haltung gegenüber geforderten Rückrufaktionen bewegt haben. Das war aber im gegebenen Fall erst so, als das Kollegium im Rahmen der Sondersitzung die definitive Entscheidung gegen die Vornahme einer derartigen Aktion getroffen hat. Nach alledem kann die Kritik Samsons an der Sachverhaltswürdigung des BGH, die auch der vorliegenden Lösung zugrunde liegt, nicht überzeugen, so daß an den getroffenen Feststellungen festzuhalten ist.

506

507 50R

A.A. wohl auch Amelung, S. 71. Samson, StV 1991, 185. Vgl. zur Garantenpflicht oben S. 65, 69.

Teil I: Die Grundsätze des Lederspray-Urteils des BGH

142

IV. Stellungnahme zur Fahrlässigkeitsstratbarkeit Für die Beantwortung der Frage einer möglichen Fahrlässigkeitsstrafbarkeit der Angeklagten soll hier in ähnlicher Weise wie im Vorsatzbereich vorgegangen werden. Zunächst erfolgt eine Untersuchung der Kausalitätsproblematik, woran sich die Beschäftigung mit Zurechnungsproblemen anschließt. In diesem Bereich wird eine Erörterung von Täterschaftsfragen erforderlich werden, die sich insbesondere auf die eventuelle Möglichkeit fahrlässiger Mittäterschaft bezieht509 • Täter eines Fahrlässigkeitsdelikts ist allgemein, wer einen Tatbestand rechtswidrig und vorwerfbar verwirklicht, ohne die Verwirklichung zu erkennen oder zu wollen 5lO • Daß für den Zeitraum vor der Sondersitzung nur eine Fahrlässigkeitsstrafbarkeit der Angeklagten in Betracht kommt, wurde bereits oben S. 77 ff. festgestellt. Die Kausalität des Verhaltens für den Erfolg sowie die objektive Zurechenbarkeit des Verletzungserfolgs an den Täter ist im Fahrlässigkeitsbereich anhand der gleichen Grundsätze zu beurteilen wie auch im Vorsatzbereich 51' . 1. Kausalität des Verhaltens der Angeklagten im Zeitraum bis zur Sondersitzung für die eingetretenen Verletzungserfolge

Bezüglich der Kausalität des Einzel-Verhaltens der Geschäftsführer sei hier auf die Argumentation im Vorsatzbereich 512 verwiesen. Insofern sind die dort erzielten Ergebnisse auf die Beurteilung der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit übertragbar. Dies ergibt sich zwanglos aus der Tatsache, daß sich die Kriterien zur Untersuchung eines Kausalzusammenhangs im Vorsatzbereich nicht von jenen im Fahrlässigkeitsbereich unterscheiden. Denn die Schuldfonn, in der das strafwürdige Handeln erfolgt, hat keinen Einfluß auf den objektiv vorliegenden Kausalzusammenhang. Die Prüfung des Vorsatzdeliktes führte diesbezüglich zu dem Ergebnis, daß das isoliert betrachtete Unterlassen der Angeklagten in einem gesetzmäßigen Zusammenhang zu den Verletzungserfolgen steht, wodurch ein positives Kausalurteil begründet wird 5l3 . Von diesem Ergebnis geht auch die Prüfung im Fahrlässigkeitsbereich aus.

509

S. 143 ff.

510

Dreher/Tröndle, § 15 Rn. 12.

5"

Vgl. hierzu bereits S. 120.

m S. 105 ff., 119. 513 S. 113 ff., 118.

Leitsätze 5 und 6: Kausalitäts- und Täterschaftsfragen

143

Nach Feststellung eines Kausalzusammenhangs zwischen Einzel-Unterlassung und Verletzungserfolg auch im Vorfeld der Sondersitzung sind des weiteren hier wie auch im Vorsatzbereich Zurechnungsfragen zu erörtern. 2. Objektive Zurechenbarkeit der Verletzungserfolge an die Angeklagten im Zeitraum vor der Sondersitzung

Die Prüfung der objektiven Zurechenbarkeit geht im Fahrlässigkeitsbereich vom gleichen Ansatz aus wie im Vorsatzbereich 514 • Daß gerade im Fahrlässigkeitsbereich Fragen der objektiven Zurechnung zu erörtern sind, wird im Schrifttum nicht angezweifelt 5l5 . Teilweise werden bestimmte Zurechnungsfragen hauptsächlich im Fahrlässigkeitsbereich erörtert516 • Insofern befindet sich die folgende Untersuchung der Zurechenbarkeit fur das Fahrlässigkeitsdelikt im Einklang mit der herrschenden Meinung. Problematisch innerhalb der Zurechnung ist auch im Fahrlässigkeitsbereich der Pflichtwidrigkeitszusammenhang zwischen dem Unterlassen des einzelnen Angeklagten und dem tatbestandsmäßigen Erfolg - Körperverletzung - bei den Konsumenten. Auch im Fahrlässigkeitsbereich gilt die Einschätzung, daß nicht sicher zu entscheiden ist, ob bei rechtmäßigem Alternativverhalten des einzelnen Angeklagten - nämlich Hinwirken auf Rückrufmaßnahmen innerhalb des eigenen Kompetenz- und Zuständigkeitsbereichs - der Erfolg nicht dennoch in genau der gleichen Weise eingetreten wäre, wie es ohne dieses pflichtgemäße Verhalten der Fall war. Im Vorsatzbereich wurde diese Frage anhand der festgestellten mittäterschaftlichen Verknüpfung der Einzelbeiträge durch den gemeinsamen Tatentschluß gelöst und damit die objektive Zurechenbarkeit der Verletzungserfolge an die Angeklagten begründet5l7 . Es fragt sich, ob eine derartige Lösung der Zurechnungsproblematik auch im Fahrlässigkeitsbereich möglich wäre. Dies wäre dann der Fall, wenn auch hier Mittäterschaft der Angeklagten zu bejahen wäre. Die entscheidende Frage bezüglich der Zurechnung im Fahrlässigkeitsbereich ist damit diejenige nach der Möglichkeit fahrlässiger Mittäterschaft. 3. Gibt es die Figur fahrlässiger Mittäterschaft?

Bisher wurde die Möglichkeit der fahrlässigen Beteiligung an einer Straftat hauptsächlich für Fälle der Teilnahme an fremder Selbstgefahrdung oder -tö514

Vgl. hierzu bereits oben S. 120.

515 Vgl. Lackner, § 15 Rn. 41 ff.; Maurach/Gössel/Zipf, AT 2, § 43 IV Rn. 80 ff.; Sch / Sch / Cramer, § 15 Rn. 159; SK / Rudolphi, Anh. zu § 16 Rn. 23 ff. 516 So fiir das Merkmal des Pflichtwidrigkeitszusamrnenhangs Duo, AT, § 10 I 4; Sch / Sch/Cramer, § 15 Rn. 129; Sch/Sch/Lenckner, vor §§ 13 ff. Rn. 99. 517 S. 128 f.

144

Teil I; Die Grundsätze des Lederspray-Urteils des BGH

tung erörtert518 • Der Problembereich einer die potentiellen Täter nur gemeinsam treffenden Pflicht zur Verhinderung drohender Verletzungserfolge wurde dabei bislang vernachlässigt. Demgegenüber wäre es durchaus den neueren Entwicklungen entsprechend sinnvoll, die Problematik gerade anhand solcher Fälle zu diskutieren - auch mit Blick auf die Konsequenzen, die die Verneinung der fahrlässigen Mittäterschaft mit sich bringen würde. Vor allem die Fälle strafrechtlicher Produkthaftung bergen bezüglich dieser Beteiligungsform reichlich "Zündstoff'519, weil im Bereich großer Unternehmen die Verantwortung für Produktrisiken in der Regel nicht auf einer Person allein lastet, sondern in einem Geschäftsleitungskollegium gemeinschaftlich wahrgenommen wird. Die Frage nach der Existenz der fahrlässigen Mittäterschaft wird von der h.M. im Schrifttum 520 so eindeutig abgelehnt, daß sie in der Rechtsprechung521 bislang kaum erwähnt wurde 522 • Durch die Lederspray-Entscheidung des BGH wird das Problem aber wieder aktuell, denn die vom Senat vorgeschlagene Lösung der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit zeigt sich gewissermaßen ohne dogmatische Absicherung 523 • Diese wäre unschwer zu leisten, wenn auch im Fahrlässigkeitsbereich die objektive Zurechnung der Verletzungserfolge unter Hinweis auf mittäterschaftliches Unterlassen der Angeklagten erfolgen könnte.

a) Die herrschende Meinung Die h.M. 524 im Schrifttum lehnt die Figur fahrlässiger Mittäterschaft ab und führt als Hauptargument hierfür an, daß im Fahrlässigkeitsbereich die m

Vgl. die Nachweise bei Jescheck, § 54 IV 3.

Vgl. hierzu die bereits erwähnten Entscheidungen des LG Frankfurt in NStZ 1990, 592 ff., und ZUR 1994, 33 ff. 519

5~O Arzt, recht 1988, 66 ff. (72); Baumann/Weber, § 36 I 3a; Dreher/Tröndle, § 25 Rn. 5; Donatseh, SJZ 1989, 109 ff.; Günther, JuS 1988,386; Jescheck, § 61 IV, § 63 I 3 a; Herzberg, Täterschaft, S. 72 ff.; Maurach / Gössel/Zipf, AT 2, § 47 V A 2 Rn. 103 ff.; Nelldecker, S. 261; SK I Samson, § 25 Rn. 41, 54; Welzel, § 10 C 4, S. 79. LK I Roxin, § 25 Rn. 221 hält fahrlässige Mittäterschaft allenfalls bei Pflichtdelikten rur denkbar. 5~1 So auch im zugrundeliegenden Urteil, in dem diese Frage beim Fahrlässigkeitsde\ikt keinerlei Erörterung findet, vgl. BGHSt 37, 130 ff. Gleiches gilt auch rur die Ausgangsentscheidung, LG Mainz, in: Schmidt-Salzer, Entscheidungssammlung, IY.3.22 (32 ff.). 522 Eine Ausnahme hiervon stellt die Entscheidung des OLG Schleswig, NStZ 1982, 116 f., dar, in der die Möglichkeit fahrlässiger Mittäterschaft zwar kurz angesprochen, aber mit der h.M. verneint wurde.

52J

S.o. S. 138.

Arzt, recht 1988, 66 ff. (72); Baumann / Weber, § 36 I 3 a; Dreher / Tröndle, § 25 Rn. 5; Donatseh, SJZ 1989, 109 ff.; Günther, JuS 1988, 386; Herzberg, Täterschaft, S. 72 ff.; Jescheck, § 61 IV, § 63 I 3 a; Lackner, § 25 Rn. 13; Maurach/Gössel/Zipf, AT 2, § 47 V A 2, Rn. 103 ff.; SKI Samson, § 25 Rn. 41, 54; Walder, recht 1989, 56 ff.; Welzel, § 10 C 4, S. 79; skeptisch auch Sch/Sch/Cramer. §25 Rn. 101; Stratenwerth, Rn. 1153. 524

Leitsätze 5 und 6: Kausalitäts- und Täterschaftsfragen

145

Fassung eines gemeinsamen Tatentschlusses als maßgebliches Charakteristikum der Mittäterschaft nicht möglich seim. Der Täter eines Fahrlässigkeitsdelikts habe die Folgen seines Verhaltens gerade nicht gewollt, er könne also auch nicht zusammen mit einem Komplizen auf den Erfolg willentlich hinwirken. Da das Merkmal des gemeinsamen Tatplans aber für die Feststellung der Mittäterschaft unerläßlich sei, sei diese Beteiligungsform im Fahrlässigkeitsbereich bereits begrifflich ausgeschlossen. Hier gebe es nur die Möglichkeit der Nebentäterschaft526 , die aber in der strafrechtlichen Beurteilung keine Unterschiede zur Alleintäterschaft aufweise 527 • Als weiteres Argument gegen die fahrlässige Mittäterschaft wird angeführt, daß der Fahrlässigkeitstäter keine Tatherrschaft über den von ihm sorgfaltswidrig ausgelösten erfolgsursächlichen Kausalverlauf habe 528 • Ihm werde vorgeworfen, daß er durch sein sorgfaltswidriges Verhalten ungewollt einen schadensursächlichen Geschehensablauf in Gang gesetzt habe, den er dann nicht mehr zu stoppen vermochte. Wenn aber der Fahrlässigkeitstäter keine Tatherrschaft über den ausgelösten Kausalverlauf habe, so sei es auch nicht möglich, daß er im Zusammenwirken mit einem Mittäter den Geschehensablauf gemeinsam - arbeitsteilig - beherrsche. Die Tatsache, daß es keine gemeinsame Tatherrschaft geben könne, schließe damit die Möglichkeit fahrlässiger Mittäterschaft aus 529 . Darüber hinaus wird argumentiert, daß das geltende Strafgesetz die Möglichkeit fahrlässiger Mittäterschaft nicht vorsehe. Wolle man sie dennoch annehmen, so stelle dies eine unzulässige Ausdehnung der Strafgesetze dar530 • Eine Differenzierung zwischen den verschiedenen Täterschaftsformen wie für den Vorsatzbereich in § 25 StGB gebe es für Fahrlässigkeitsdelikte nicht. Daraus sei zu schließen, daß der Gesetzgeber für den Fahrlässigkeitsbereich vom Einheitstäterbegriff ausgehen wollte53I .

S2S Baumann / Weber, § 36 I 3 a; Günther, JuS 1988, 386; Jescheck, § 63 I 3 a; Lackner,§ 25 Rn. 13; SKISamson, § 25 Rn. 41, 54; ebenso: Sch/Sch/Cramer, § 25 Rn. 101. S26 Baumann / Weber, § 36 I 3 a; Donatseh, SJZ 1989, 111; Lackner, § 25 Rn. 13; Maurach/Gössel/Zipf, AT 2, § 47 V A 2, Rn. 103, 115. 527 SK / Samson, § 25 Rn. 56.

529

Donatseh, SJZ 1989, 111; Lackner, § 25 Rn. 13. Donatseh, SJZ 1989, 111.

530

Herzberg, Täterschaft, S. 73; ebenso Walder, recht 1989, 57.

S2R

Dieser besagt, daß die fahrlässige Erfolgsverursachung immer die Täterschaft im Sinne der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit begründet, ohne daß hierbei zwischen verschiedenen Täterschafts- und Teilnahmeformen zu differenzieren wäre; vgl. hierzu Günther, JuS 1988, 386 Fn. 3; Jakobs, 21/111 f.; Jescheck, § 61 IV; Stratenwerth, Rn. 1153; SKI Samson, § 25 Rn. 41. 531

10 WeiBer

146

Teil I: Die Grundsätze des Lederspray-Urteils des BGH

Weiterhin werden die erfolgsqualifizierten Delikte gegen die fahrlässige Mittäterschaft ins Feld geführt. Eine Unterscheidung der Beteiligungsform im Rahmen des Grunddelikts werde hier bedeutungslos, wenn es auch im Bereich der Erfolgsqualifikation die Möglichkeit mittäterschaftlicher Verursachung geben solle532 • b) Stellungnahme Zunächst ist den Gegnern der fahrlässigen Mittäterschaft zuzugeben, daß die Möglichkeit der Fassung eines gemeinsamen Tatentschlusses durch die Qualität des Fahriässigkeitsdelikts als nicht willentlich vorgenommener Rechtsgutsverietzung ausgeschlossen ist. Es fragt sich aber, ob dies als Argument gegen die Existenz der Figur fahrlässiger Mittäterschaft dienen kann. Letztlich wird durch diese Feststellung der herrschenden Meinung nur der grundsätzliche Unterschied zwischen Vorsatz- und Fahriässigkeitsdelikt formuliert. An diesem Unterschied soll durch die Anerkennung fahrlässiger Mittäterschaft aber auch nicht gerüttelt werden. Wenn man hiervon ausgeht, dann ist es nur folgerichtig, daß das für die vorsätzliche Mittäterschaft spezifische Kriterium des gemeinsamen Tatplans - oder Deliktsvorsatzes - im Fahrlässigkeitsbereich nicht vorliegen kann. Damit ist aber noch kein zwingender Grund rür die Ablehnung fahrlässiger Mittäterschaft gegeben 533 . Der strukturelle Unterschied zwischen Vorsatz- und Fahrlässigkeitsdelikt zwingt vielmehr dazu, daß im Fahrlässigkeitsbereich andere Voraussetzungen einer mittäterschaftlichen Begehung konstituiert werden müssen als innerhalb der Vorsatzdelikte. Entscheidendes Kriterium für die Strafbarkeit des fahrlässig handelnden Täters ist seine rechtliche Verantwortlichkeit für den Eintritt des Verletzungserfolgs. Diese Verantwortung resultiert aus der Tatsache, daß er durch sorgfaltspflichtwidriges Verhalten den schadensbringenden Kausalverlauf in Gang gesetzt hat. Dies gilt zunächst für den fahrlässigen Alleintäter. Was aber spricht dagegen, daß der schadensbringende Kausalverlauf auch durch mehrere sorgfaltspflichtwidrig handelnde Täter in Gang gesetzt werden könnte? Daß die gemeinsame Verursachung durch die Sorgfaltswidrigkeit von zwei Tätern im Fahrlässigkeitsbereich faktisch möglich ist, kann grundsätzlich nicht bestritten werden. Dennoch wird die Möglichkeit der gemeinsamen mittäterschaftlichen - Verantwortlichkeit hierfür unter Hinweis auf die fehlende gemeinsame Tatplanung bestritten. Nur wie soll es zu solch einer Tatplanung bei Erfolgsverursachung durch Sorgfaltswidrigkeit kommen? Sie ist durch das Wesen des Fahrlässigkeitsdelikts bereits begrifflich ausgeschlossen.

532

Donatseh, SJZ 1989, 111.

Insofern übereinstimmend mit: Ouo, AT, § 21 V 4 b; ders., Jura 1990, 48; Herzberg, Täterschaft, S. 73; Schumann, StV 1993, 110 f. 53J

Leitsätze 5 und 6: Kausalitäts- und Täterschaftsfragen

147

Dennoch gibt es auch im Fahrlässigkeitsbereich ein Kriterium, das die gemeinsame Verantwortung fur die Sorgfaltswidrigkeit als Mittäter - entsprechend dem Kriterium des Tatplans für den Vorsatzbereich - begründen kann. Die Gemeinschaftlichkeit der Erfolgsverursachung fuhrt im Fahrlässigkeitsbereich dann zur Mittäterschaft, wenn auch die den Fahrlässigkeitsvorwurf begründende Sorgfaltspfticht die Täter gemeinsam trifft. Dies ist das die Täter im Bereich der Fahrlässigkeitsdelikte verbindende Element534 . Die fahrlässige Mittäterschaft muß an den Kriterien der Fahrlässigkeit festgemacht werden, ohne daß hierfur auf Komponenten des Vorsatzdeliktes zurückgegriffen werden sollte. Denn daß anhand der fur Vorsatzdelikte maßgeblichen Kriterien die Täterschaft im Fahrlässigkeitsbereich nicht begründet werden kann, liegt auf der Hand 535 • Fahrlässige Mittäterschaft kommt demnach dann in Betracht, wenn die verletzte Sorgfaltspfticht die Täter gemeinsam trifft536. Würde dies aber das alleinige Kriterium für die Feststellung der Mittäterschaft im Fahrlässigkeitsbereich darstellen, so wäre die Abgrenzung der Mittäterschaft von der Nebentäterschaft hier schwierig zu treffen. Denn Nebentäterschaft kann im Fahrlässigkeitsbereich gleichermaßen nur bei einer beide Nebentäter gleichartig treffenden Sorgfaltspfticht gegeben sein. Das Vorliegen von Mittäterschaft erfordert aber gegenüber der Nebentäterschaft ein höheres Maß an Verbundenheit der Täter als allein die gemeinsame Sorgfaltspfticht. Da diese Verbundenheit erwiesenermaßen im Fahrlässigkeitsbereich gerade nicht durch einen gemeinsamen Tatentschluß vermittelt werden kann, muß diesbezüglich ein anderes Kriterium aufgestellt werden. Es ist im Bewußtsein der gemeinsamen Verantwortung innerhalb der allgemein bestehenden Sorgfaltspfticht zu sehen 537 • Die (Mit-)Täter müssen wissen, daß sie durch die sie gemeinsam treffende Sorgfaltspfticht gewissermaßen verbunden sind. Anderenfalls handeln sie völlig unabhängig voneinander bei Verletzung der Sorgfaltspfticht. In diesem Fall wäre die Annahme von Mittäterschaft nicht berechtigt. Erforderlich ist also auch im Fahrlässigkeitsbereich ein subjektives Element der Mittäterschaft, das sich allerdings im Bewußtsein der gemeinsamen Pftichtenstellung erschöpft538 • Der Fahrlässigkeitsdogmatik entsprechend wird demnach die besondere Verbundenheit der Täter durch die sie gemeinsam treffende Sorgfaltspfticht begründet, sowie in subjektiver Hinsicht durch das Bewußtsein dieser gemeinsamen Pftichtenstellung untermauert539 • 534 535 536 537 53R 539

10*

Vgl. Ouo, AT, § 21 V 4 b cc; ders., FS Maurach, S. 104; ders., FS Spende!, S. 283. Vgl. Herzberg, Täterschaft, S. 73; Ouo, Jura 1990,48. Vgl. Ouo, AT, § 21 V 4 b cc; ders., FS Maurach, S. 104; ders., FS SpendeI, S. 283. Im Anschluß an Ouo, AT, § 21 V 4 b cc. Abgesehen davon, daß den Tätern klar sein muß, daß sie gemeinsam handeln. Vgl. hierzu Ouo, AT, § 21 V 4 b cc.

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Teil I: Die Grundsätze des Lederspray-Urteils des BGH

Der Einwand, daß die Möglichkeit fahrlässiger Mittäterschaft im StGB nicht ausdrücklich normiert sei, kann demgegenüber nicht überzeugen. Der Gesetzgeber hat bei Schaffung der bis heute unveränderten Täterschaftsregelungen des Allgemeinen Teils des StGB 540 Bezug genommen auf damals relevante Fallkonstellationen. Arbeitsteilung und Umweltgefahrdung durch große Unternehmen mit Kollegialorganen auf Führungsebene waren damals nicht so häufig wie heute. Auch der Einfluß der Produktionsunternehmen auf die Befindlichkeit der gesamten Gesellschaft - sei es durch von der Produktion ausgehende Umwelteinflüsse oder durch Produktrisiken an sich - war nicht so maßgeblich wie heute. Deswegen wurde auf die Strafbarkeit fehlerhafter Verhaltensweisen in solchen Zusammenhängen bei Normierung des StGB auch kein besonderes Gewicht gelegt, das man heute aus ausdrücklichen gesetzlichen Regelungen speziell für diese Fallkonstellationen ablesen könnte. Das Fehlen konkreter Regelungen allein zwingt aber noch nicht zu der Annahme, die Figur der fahrlässigen Mittäterschaft widerspreche der im geltenden StGB aufgestellten Täterschaftssystematik. Die h.M. argumentiert demgegenüber, daß die Möglichkeit der Mittäterschaft durch das StGB ausschließlich auf die Vorsatzdelikte beschränkt sei 541 • Eine Übertragung dieser Täterschaftsform auf die Fahrlässigkeitsdelikte widerspreche damit dem Gesetz und dehne die Strafbarkeit. im Rahmen dieser Delikte unzulässig aus. In Auseinandersetzung mit diesem Vorwurf muß die Vorschrift des § 25 Abs. 2 StGB herangezogen werden. Dort ist aber allein die Rede von "gemeinschaftlicher Begehung". Daß eine gemeinschaftliche Begehung auch im Fahrlässigkeitsbereich möglich ist, wurde bereits im vorhergehenden Abschnitt unter Hinweis auf die Möglichkeit einer gemeinsamen Verletzung der die Täter gemeinsam treffenden Sorgfaltspflicht festgestellt. Aus dem Wortlaut der Norm allein läßt sich daher nichts gegen die Konstruktion der fahrlässigen Mittäterschaft ablesen. Der Gesetzgeber äußert sich schlicht nicht dazu, ob diese Täterschaftsform allein auf die Vorsatzdelikte beschränkt sein soll. Auch aus der systematischen Stellung des § 25 Abs. 2 StGB ist diesbezüglich kein Gegenargument ablesbar. Die Vorschrift folgt auf die für die Unterscheidung zwischen Vorsatz- und Fahrlässigkeitsdelikt relevante Bestimmung des § 15 StGB. Aus dieser systematischen Stellung läßt sich gerade nicht der Schluß ableiten, daß die Möglichkeit der Mittäterschaft für Fahrlässigkeitsdelikte nicht gegeben sein sollte. Möglicherweise könnte man aber in der Annahme fahrlässiger Mittäterschaft einen Verstoß gegen § 15 StGB sehen, denn dort ist normiert, daß fahrlässiges Handeln nur dann strafbar sein soll, wenn dies im Gesetz aus-

540

Im Jahre 187l.

So Günther, JuS 1988, 386 Fn. 3; Herzberg, Täterschaft, S. 73; Jescheck, § 61 IV; Stratenwerth, Rn. 1153. 541

Leitsätze 5 und 6: Kausalitäts- und Täterschaftsfragen

149

drücklich bestimmt ist. Ein Verstoß gegen diese Entscheidung des Gesetzgebers wäre gegeben, wenn durch die Konstruktion fahrlässiger Mittäterschaft ein Verhalten, das ansonsten straflos wäre, strafbar werden würde. Zweifellos ermöglicht die Annahme fahrlässiger Mittäterschaft im zugrundeliegenden Lederspray-Sachverhalt die wechselseitige Zurechnung von Pflichtverstößen unter Berufung auf § 25 Abs. 2 StGB 542 . Dennoch liegt dadurch kein Verstoß gegen § 15 StGB vor. Denn Zweck der Regelung in § 15 StGB ist es, zu verhindern, daß sorgfaltspflichtwidrig verursachte Rechtsgutsverletzungen, die im Rahmen der Fahrlässigkeit nicht ausdrücklich als Straftat aufgeführt sind, nicht strafbegründend wirken sollen. Gegen dieses Verbot der Strafbegründung wird aber hier nicht verstoßen, denn die fahrlässige Verursachung einer Körperverletzung ist in § 230 StGB ausdrücklich unter Strafe gestellt. Die Konstruktion fahrlässiger Mittäterschaft erweitert also nicht den Rahmen der auch bei nicht vorsätzlichem, sondern "nur" sorgfalts widrigem Verhalten strafbaren Rechtsgutsverletzungen. Nur wenn dies der Fall wäre (wenn beispielsweise fahrlässige Sachbeschädigung zur Straftat erhoben würde), wäre ein Verstoß gegen § 15 StGB durch den Vorwurf mittäterschaftlicher Fahrlässigkeitsstrafbarkeit gegeben. Wenn aber im Rahmen einer durch die Strafgesetze ausdrücklich der Bestrafung unterstellten Sorgfaltspflichtwidrigkeit die Täterschaftsformen, innerhalb derer die Tatbestandsverwirklichung erfolgen kann, genau wie im Vorsatzbereich nicht nur auf die Alleintäterschaft beschränkt sein sollen, so ist dadurch die gesetzgeberische Entscheidung in § 15 StGB nicht berührt. Damit kann auch der Einwand einer unzulässigen Ausdehnung der Straftatbestände kein überzeugendes Argument gegen die Annahme fahrlässiger Mittäterschaft begründen 543 • Als Argument gegen die h.M. ist demgegenüber auf deren widersprüchliche Wertungen hinzuweisen: Teilweise544 stellen Gegner der fahrlässigen Mittäterschaft fest, daß die Kriterien der Tatherrschaft und des Täterwillens für den Fall bewußter Fahrlässigkeit in die Fahrlässigkeitsdogmatik übertragbar seien. Möchte man eine derartige Übertragbarkeit von Kriterien auch in den Fahrlässigkeitsbereich bei bewußter Fahrlässigkeit zulassen, so ist nur schwer einzusehen, aus welchem Grund dies für die anderen Fälle des Fahrlässigkeitsdelikts nicht möglich sein sollte. Differenziert man hier, so führt dies innerhalb der Fahrlässigkeitsdogmatik zu einer Durchbrechung der Systematik, denn dann wird das bewußt fahrlässige Delikt derart weit an das Vorsatzdelikt angenähert, daß es sich vom bedingt vorsätzlichen Delikt immer weniger unterscheidet. Wenn man aber die Annahme von Tatherrschaft und Täter542

Vgl. S. 128.

543

Im Ergebnis ebenso: Schumann, StV 1994, 111.

544

Jescheck, § 61 IV; LK I Roxin, § 25 Rn. 217.

ISO

Teil 1: Die Grundsätze des Lederspray-Urteils des BGH

wille für dieses eine Fahrlässigkeitsdelikt zulassen möchte, so muß man für dieses auch die Möglichkeit der Mittäterschaft anerkennen. Denn dann kann das Hauptargument des fehlenden gemeinsamen Tatentschlusses im Fahrlässigkeitsbereich nicht mehr durchschlagen. Als Ergebnis dieser Wertung käme man zu dem Schluß, daß bei bewußt fahrlässigen Delikten die Möglichkeit der Mittäterschaft besteht, während dies bei den anderen Fahrlässigkeitsdelikten vehement abgelehnt wird. Man kann aber nicht argumentieren, die Figur der Mittäterschaft widerspreche der Eigenart des Fahrlässigkeitsdelikts und dann dennoch für den Fall des bewußt fahrlässigen Delikts eine Ausnahme hiervon machen und die den Vorsatzbereich bestimmenden Kriterien von Täterwille und Tatherrschaft gelten lassen 545 . Überzeugender ist es, im Fahrlässigkeitsbereich die entscheidenden Unterschiede zum Vorsatzdelikt durchgängig und konsequent beizubehalten. Das bedeutet, daß Kriterien wie Tatherrschaft und Täterwille im Fahrlässigkeitsbereich nicht kompatibel sein können, weil hier nicht die bewußt willentliche Steuerung eines Kausalverlaufs zum Erfolg hin das strafrechtliche Unwerturteil begründet. Vielmehr geht es um das sorgfaltspftichtwidrige Ingangsetzen eines schadensbringenden Kausalverlaufs, der vom Täter gerade nicht beabsichtigt und daher nicht von seinem Täterwillen - geschweige denn seiner Tatherrschaft über den Geschehensablauf - umfaßt ist. Damit erweist sich die Progressivität von Anhängern der h.M. hier als Schritt in die falsche Richtung. Durch die Anerkennung fahrlässiger Mittäterschaft soll nicht die allgemeine Fahrlässigkeitsdogmatik durch Einführung von Komponenten des Vorsatzdelikts im Fahrlässigkeitsbereich durchbrochen werden. Es soll vielmehr anhand der hier bereits vorhandenen Täterschaftskriterien die Unterscheidung zwischen Alleintäter und Mittätern vorgenommen werden. Und nur wenn dies innerhalb des für die Fahrlässigkeitsdelikte vorgegebenen Instrumentariums möglich ist, ist eine Anerkennung der fahrlässigen Mittäterschaft zu befiirworten. Denn wäre dies nicht der Fall, so wäre der Vorwurf der Überdehnung des vom Gesetz vorgegebenen Rahmens der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit durchaus berechtigt. Demnach ist die Meinung abzulehnen, die eine Übertragbarkeit der Kriterien des Vorsatzdelikts Täterwille und Tatherrschaft in den Fahrlässigkeitsbereich eingeschränkt fiir möglich hält. Wegen der strukturellen Verschiedenheit von Vorsatz- und Fahrlässigkeitsdelikt ist dies zu verneinen.

545

Ebenso: Duo, Jura 1990, 48.

Leitsätze 5 und 6: Kausalitäts- und Tätersehaftsfragen

151

c) Zwischenergebnis

Nach alledem ist festzuhalten, daß die Argumente der h.M. gegen die Annahme der Möglichkeit fahrlässiger Mittäterschaft nicht überzeugen können. Vielmehr hat es sich herausgestellt, daß die fahrlässige Mittäterschaft anhand der Kriterien des gemeinsamen Handeins unter Verstoß gegen eine gemeinschaftliche Sorgfaltspfticht im Bewußtsein dieser Umstände 546 begründet werden kann. d) Be(ürworter der Figur fahrlässiger Mittäterschaft Die Möglichkeit fahrlässiger Mittäterschaft wird auch im Schrifttum von einigen Autoren 547 gesehen. Sie führen dafür hauptsächlich die bereits dargelegten548 Argumente an. Dennoch gibt es auch innerhalb dieser Meinung verschiedene Ansätze, zu denen im einzelnen Stellung genommen werden soll. Schmidhäuser49 argumentiert, daß die Frage der Mittäterschaft nur den Unrechtstatbestand betreffe, der ohnehin unabhängig von Schuldmerkmalen wie Vorsatz und Fahrlässigkeit sei. Deswegen sei eine Ablehnung der Kongruenz von Vorsatz- und Fahrlässigkeitsdelikt im Bereich von Täterschaftsfragen nicht angebracht. Allerdings spiele im Rahmen des Einheitstäterbegriffs die Frage, ob Mittäterschaft vorliege, ohnehin keine Rolle 550 • Daß dies nicht zutrifft, wird gerade durch das Beispiel des Lederspray-Sachverhalts klar: Hier spielt es eine entscheidende Rolle, ob den Tätern die Unterlassungsbeiträge zugerechnet werden können und damit eine Bestrafung wegen fahrlässiger Mittäterschaft bei Verursachung dieser Verletzungserfolge erreicht werden kann. Gegen die h.M. wird von den Befürwortern fahrlässiger Mittäterschaft zunächst das auch im Rahmen der obigen Stellungnahme angeführte Argument55J vorgebracht, daß das Fehlen eines gemeinsamen Tatentschlusses im Fahrlässigkeitsbereich kein Grund dafür sei, die Konstruktion fahrlässiger 546

S. 146 f.

Bindokat, JZ 1979, 434 ff.; Brammsen, Jura 1991, 537; Exner, FS Frank, S. 572 f.; Frank, vor § 47 a.F. IV 2, § 47 a.F. III.; Hilgendorf, Fallsammlung, S. 29; ders., NStZ 1994, 563; Kohlrausch / Lange, § 47 a.F. III; Mezger, § 59 I le, S. 422; Dito, JuS 1974, 702 ff.; ders., FS Mauraeh, S. 104; ders., Jura 1990,47 ff.; ders., FS SpendeI, S. 271 ff.; ders., AT, § 21 V 4; Schmidhäuser/Alwart, 10/68 f.; Schmidhäuser, AT, 14/30, Fn. 14/ 17, Fn. 10; SpendeI, JuS 1974,49 ff.; nicht abgeneigt auch Schumann, StV 1994, 110 f.; unentschieden für Sonderfälle Lackner, § 25 Rn. 13. 54R S. 146 ff. 547

549 550 55.

Schmidhäuser / Alwart, 10/68. Schmidhäuser/Alwart, 10/69. S. 146.

152

Teil 1: Die Grundsätze des Lederspray-Urteils des BGH

Mittäterschaft abzulehnen s52 • Weil es sich beim gemeinsamen Tatentschluß um ein speziell auf das Vorsatzdelikt bezogenes Kriterium handle, müsse die Mittäterschaft hier an hand anderer Kriterien als bei der vorsätzlichen Begehung begründet werden. Es komme darauf an, ob die Täter bei Schaffung der erfolgsursächlichen Gefahr gemeinsam handelten s53 , und ob sie sich des gemeinschaftlichen Vorgehens im Moment der Gefahrbegründung auch bewußt gewesen seien. Sei dies der Fall, so sei fahrlässige Mittäterschaft anzunehmen S54 • Im Unterlassungsbereich sei demgegenüber danach zu fragen, ob die Unterlassenden gemeinsam für den Nichteintritt eines Verletzungserfolgs verantwortlich gewesen seien, und ob sie sich dieser gemeinsamen Verantwortung auch bewußt gewesen seien, als sie sie mißachteten555 • Dementsprechend lassen sich zwischen den Voraussetzungen der Mittäterschaft im Vorsatz- und im Fahrlässigkeitsbereich Parallelen aufzeigen: Dem arbeitsteiligen Vorgehen entspricht im Fahrlässigkeitsbereich die gemeinschaftliche Begründung der erfolgsursächlichen Gefahr. Für den Fall eines Unterlassungsdelikts ist tatsächliches Element der Mittäterschaft die gemeinsame Verantwortlichkeit für den Nichteintritt des Verletzungserfolgs556 • Dem gemeinsamen Tatentschluß im Vorsatzbereich entspricht im Fahrlässigkeitsbereich das Bewußtsein der gemeinsamen Gefahrbegründung, beim Unterlassungsdelikt das Bewußtsein der gemeinschaftlichen Verantwortung für die Erfolgsverhinderung. Bindokae 57 geht übereinstimmend mit diesem Ansatz davon aus, daß Grundlage der Mittäterschaft auch im Fahrlässigkeitsbereich eine Willensverbindung sei. Das bedeute, daß im Moment der für den Verletzungserfolg kausalen Verletzungshandlung die Mittäter willentlich gemeinsam handelten. Sei dies der Fall, so hafteten sie auch dann mittäterschaftlich für die Folgen ihres Verhaltens, wenn sie den eingetretenen Erfolg gar nicht wollten. Durch die Willenseinheit zwischen den Tätern werde die Einzeltätigkeit innerhalb dieser Einheit zum "Glied der Gesamttätigkeit" und so zum mittäterschaftlichen TatbeitragS58 •

mOtto, AT, § 21 V 4 b; ders., Jura 1990,48; Herzberg, Täterschaft, S. 73; Schumann, StV 1994, 110 f. m Exner, FS Frank, S. 573; vgl. auch BGE 113 IV 58. SS4 Frank, vor § 47 a.F. IV 2; § 47 a.F. III; Kohlrausch/Lange, § 47 a.F. III; Otto, FS Spendei, 282; Schmidhäuser / Alwart, 10/68, Fn. 34. m Exner, FS Frank, S.573; Frank, § 47 a.F. III; Kohlrausch/Lange, § 47 a.F. III; Mezger, § 59 I 1 c, S. 422; Otto, AT, § 21 V 4 b ce. SS6 Otto, FS Maurach, S. 104. m Bindokat, JZ 1979, 435 f. SS8 Bindokat, JZ 1979,436.

Leitsätze 5 und 6: Kausalitäts- und Täterschaftsfragen

153

Einer der engagiertesten Verfechter der Figur fahrlässiger Mittäterschaft ist Otto559 • Er definiert als Stratbarkeitsvoraussetzung grundsätzlich die Steuerbarkeit des schadensbringenden Geschehensablaufs für den Täter. Steuerbarkeit liege vor, wenn die Schaffung oder Erhöhung eines Verletzungsrisikos für ein bestimmtes Rechtsgut vom Täter beeinflußt werde (oder im Fall des Unterlassungsdelikts beeinflußt werden könne). Nach seiner Ansicht erfolgt daher die Bestimmung der Täterschaft durch die Differenzierung von Verantwortungsbereichen 560 • Täter ist danach, wer innerhalb seines Verantwortungsbereichs sorgfaltspflichtwidrig Gefahren für die Rechtsgüter anderer begründet hat. Lag das erfolgsursächliche Risiko in einem vom potentiellen Täter zu verantwortenden Bereich, so genüge es dabei, wenn er dieses Risiko erhöht oder im Fall des Unterlassens nicht vermindert habe. Fahrlässige Mittäterschaft ist nach Otto dann gegeben, wenn die Gefahrbegründung gemeinschaftlich innerhalb des gemeinsamen Verantwortungsbereichs erfolgt, sofern im Moment der Gefahrbegründung bei den Verantwortlichen das Bewußtsein des gemeinsamen Handeins sowie der gemeinsamen PflichtensteIlung vorgelegen hat561 • Bei Unterlassungsdelikten sei die Annahme fahrlässiger Mittäterschaft unproblematisch für Fälle, in denen Garanten, die gemeinsam für den Nichteintritt eines Erfolgs verantwortlich seien, sich einigten, die Gefahrabwendung zu unterlassen 562 • Dem Tatplan im Vorsatzbereich entspreche hier das Bewußtsein, eine gemeinsame rechtliche Verantwortung zur Vermeidung von Gefahren nicht pflichtgemäß zu erfüllen563 • Zu beachten ist bei dieser Argumentation, daß die Feststellung der fahrlässigen Mittäterschaft erheblich beeinflußt wird durch die von Otto vertretene 564 Risikoerhöhungstheorie. Beide Elemente werden miteinander verknüpft. Entscheidend ist, daß es zur Begründung der Stratbarkeit bereits ausreichen soll, wenn die fahrlässig Handelnden das Risiko des Erfolgseintritts gemeinsam erhöht haben, ohne daß ein sicheres Urteil darüber gefällt werden müßte, ob sich dieses Risiko auch im Verletzungserfolg realisiert hat. Dieser Vermischung bei der Ansätze soll hier nicht gefolgt werden. Würde man die Risikoerhöhungstheorie anwenden, so wäre die wechselseitige Zurechnung erheblich erleichtert, denn es wäre diesbezüglich nur nach der Erhöhung eines Risikos bzw. der Unterlassung der Risikoverminderung zu fragen. Daß eine derartige Vorgehensweise aber nicht zulässig ist, wurde bereits im Rahmen 559 Vgl. seine Ausführungen zu diesem Thema in: JuS 1974, 702 ff.; Jura 1990, 47 ff.; FS Spende I, S. 271 ff.; AT, § 21 V 4; FS Maurach, S. 104.

560 561 562 563 564

OltO, FS Spende! S. 279; ders., Jura 1990, 49. Ouo, AT, § 21 V 4 b aa; vgl. hierzu die Ausführungen auf S. 0122. Ouo, FS SpendeI, S. 283. Ouo, AT, § 21 V 4 b cc. Vgl. hierzu Olto, JuS 1974, 108; ders., NJW 1980,417 ff.

154

Teil I: Die Grundsätze des Lederspray-Urteils des BGH

der Ausführungen zum Pflichtwidrigkeitszusammenhang beim Vorsatzdelikt festgestellt 565 . Gleiches muß auch im Bereich der Fahrlässigkeitsdelikte gelten. Die Strafbarkeit des fahrlässigen Mittäters darf innerhalb der Zurechnung nicht anhand der Risikoerhöhungstheorie begründet werden. Insofern ist Ottos Ansatz abzulehnen. Zuzustimmen ist ihm jedoch darin, daß auch im Fahrlässigkeitsbereich eine wechselseitige Zurechnung nach § 25 Abs. 2 StGB möglich ist. Diese Zurechnung wird durch ein objektives Element der gemeinschaftlichen Zuständigkeit für ein begründetes Risiko sowie ein subjektives Element, nämlich dem des Bewußtseins dieser gemeinsamen Verantwortlichkeit, charakterisiert566 . Es ist dabei aber darauf zu achten, daß durch die Berufung auf fahrlässige Mittäterschaft nicht die allgemeinen Grenzen der Zurechenbarkeit von Verletzungserfolgen an potentielle Straftäter durchbrochen werden. In diesem Zusammenhang steht eine spektakuläre Entscheidung des Schweizerischen Bundesgerichts 567 , die hier kurz erörtert werden soll: Zwei Männer hatten gemeinsam beschlossen, zwei Steine über einen Abhang zu rollen, von wo aus diese hinunterstürzten. Der Boden, auf dem die Steine aufprallen würden, war dabei wegen hervorspringender Felsen von oben nicht vollständig einsehbar. Einer der beiden Täter rief daher hinab, um sich zu versichern, daß unten niemand stand. Als er keine Antwort erhielt, rollte jeder der beiden Männer einen Stein den Abgrund hinunter. Unten wurde ein Passant von einem der beiden Steine tödlich getroffen. Welcher Stein den Tod verursachte, ließ sich später nicht mehr feststellen. Das Schweizerische Bundesgericht verurteilte dennoch beide Männer wegen fahrlässiger Tötung. Den Kern der Entscheidungsbegründung bildet folgende Feststellung: Es sei "nicht danach zu fragen, ob der jeweilige Einzelbeitrag für den tatbestandsmäßigen Erfolg kausal geworden ist, sondern ob die Kausalität zwischen der gemeinsam vorgenommenen Gesamthandlung und dem eingetretenen Erfolg zu bejahen ist"568. Walder lehnt zwar die Begründung der Entscheidung ab 569 , kommt aber mit einer geringfügig abweichenden Argumentation zum selben Ergebnis: "Gibt es bei einem Erfolgsdelikt keine personengebundene Kausalität oder ist sie nicht nachweisbar, so ist zu prüfen, ob allenfalls eine Garantenbeziehung bestanden habe. Sie kann u.u. an die Stelle der fehlenden oder unbeweisbaren, personengebundenen natürlichen Kausaliät treten"570.

565

566 567

56R 569 570

Oben S. 125 f. Vgl. zu diesem Ansatz bereits oben S. 146 ff. BGE IV 1987,58 ff.

BGE IV 1987, 60; ablehnend zum Urteil Walder, recht 1989, 57 ff. Walder, FS Spendei, S. 369. Walder, FS Spende!, S. 370.

Leitsätze 5 und 6: Kausalitäts- und Täterschaftsfragen

155

Beiden Argumentationsgängen kann nicht gefolgt werden. Es ist einerseits nicht zulässig, durch eine Täterschaftsbehauptung einen nicht begründbaren Kausalzusammenhang zu konstruieren 571 • Durch die Feststellung einer auf einer Willens übereinstimmung beruhenden gemeinsam begangenen Sorgfaltswidrigkeit kann zwar eine mittäterschaftliche Verbundenheit zweier Täter entstehen (wobei diese vom Schweizerischen Bundesgericht mit keinem Wort erwähnt wurde und sich nur aus dem Zusammenhang der vorgenommenen Wertung erschließen läßt). Diese kann aber nicht die Begründung des Kausalzusammenhangs zwischen Einzelbeitrag und Verletzungserfolg leisten. Durch Täterschaftskonstruktionen darf nur eine wechselseitige Zurechnung einzelner Tatbeiträge erfolgen. Es muß aber als Voraussetzung dieser wechselseitigen Zurechenbarkeit die Kausalität des Einzelbeitrags bereits vor Feststellung des mittäterschaftlichen Vorgehens geklärt sein. Das fuhrt dazu, daß im Fall der rollenden Steine die Unsicherheit über den Kausalzusammenhang zwischen Einzelbeitrag und Verletzungserfolg ein Hindernis fur die Annahme der Mittäterschaft darstellt. Im Unterschied zum Lederspray-Sachverhalt wird nämlich nicht jeder Einzelbeitrag (Hinunterrollen eines Steines) im Zusammenwirken mit den anderen Einzelbeiträgen für den Verletzungserfolg kausal 572 • Hier ist sicher, daß nur einer der beiden Einzelbeiträge sich im Verletzungserfolg kausal niedergeschlagen hat. Deswegen muß in dubio pro reo die Kausalität des Einzelbeitrags fur den Verletzungserfolg jeweils abgelehnt werden, da nicht festgestellt werden kann, welcher der bei den Steine tödlich traf. Man kann aber andererseits genausowenig - wie von Walder vorgeschlagen573 - das Begehungsdelikt in ein Unterlassungsdelikt "umdeuten", um aus der die Täter gemeinsam treffenden Garantenpflicht (aus Ingerenz) zur Vornahme von Sicherungsmaßnahmen eine mittäterschaftliche Verantwortung abzuleiten, indem man als kausalen Beitrag deren Unterlassung wertet. Die Ableitung der Strafbarkeit aus der Verletzung einer bestehenden Garantenpflicht kann nur dann erfolgen, wenn auch der Anknüpfungspunkt des strafrechtlichen Schuldvorwurfs in diesem Unterlassen liegt. Im Fall der rollenden Steine knüpft das Unwerturteil aber nicht hauptsächlich an die Unterlassung von Sicherungsmaßnahmen an. Den Schwerpunkt der Vorwertbarkeit bildet vielmehr die Tatsache, daß die Täter durch das Hinabrollen der Steine eine Gefahr fur die Umwelt setzten, die sie bei pflichtgemäßem Verhalten nicht hätten setzen dürfen. Sie haften deswegen wegen aktiven Tuns. Die Begriffe von Begehungs- und Unterlassungsdelikt dürfen nicht beliebig ausgetauscht werden, um dadurch das gewünschte Ergebnis einer Strafbarkeit zu erzielen.

571

So auch Walder, recht 1989, 57.

Vgl. zur Kausalität des Einzelbeitrags fiir den Verletzungserfolg im Lederspray-Sachverhalt die Darstellung S. 105 ff., 119. m Walder, FS Spende), S. 368 ff. 572

156

Teil 1: Die Grundsätze des Lederspray-Urteils des BGH

Hierdurch würde nicht nur die Dogmatik durchbrochen, sondern es würde wie sich auch im Fall der rollenden Steine zeigt - das Prinzip in dubio pro reo letztlich in Frage gestellt. Aus diesem Grund sind die Argumentationsgänge des Schweizerischen Bundesgerichts wie auch die von Walder vorgeschlagene Lösung abzulehnen. Man darf nicht versuchen, über die Figur einer mittäterschaftlichen Verantwortung (in Verbindung mit der Konstruktion eines Unterlassungsdelikts durch eine gemeinsame Garantenpflicht) über Probleme im Rahmen der Kausalität hinwegzukommen, um zum gewünschten Ergebnis der Strafbarkeit eines Täters zu gelangen. 4. Ergebnis: die Voraussetzungen fahrlässiger Mittäterschaft

Nach alledem sind als Voraussetzungen der fahrlässigen Mittäterschaft folgende Kriterien zu nennen: Voraussetzung I: Die Täter müssen jeweils einen sorgfaltswidrigen Beitrag geleistet haben, der sich im eingetretenen Verletzungserfolg kausal niedergeschlagen hat. Dieser Kausalzusammenhang ist anhand der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung festzustellen 574 • Bezüglich der objektiven Zurechnung ist ein Heranziehen der Risikoerhöhungslehre nicht möglich 575 • Voraussetzung 2: Die Täter müssen objektiv verbunden sein durch eine sie gemeinsam treffende Sorgfaltspflicht, die sie auch im Zusammenwirken erfüllen könnten 576 • Voraussetzung 3: Die Täter müssen bei ihrem sorgfaltswidrigen Verhalten subjektiv das Bewußtsein gehabt haben, zusammen zu handeln 577 . Darüber hinaus müssen sie sich auch darüber bewußt gewesen sein, daß die Sorgfaltspflicht sie jeweils gemeinsam mit dem Mittäter trifft578 • Beim Unterlassungsdelikt heißt das, daß die Täter sich ihrer gemeinsamen Verantwortung bewußt gewesen sein müssen, und daß sie sich gleichzeitig auch der Untätigkeit des Mitverantwortlichen bewußt gewesen sein müssen. Anderenfalls stehen sie als bloße Nebentäter unabhängig nebeneinander.

574

Vgl. hierzu bereits S. 113 ff.

m

S. 154, 125 f.

m

Im Anschluß an Quo, FS Maurach, S. 104; ders., FS Spende!, S. 283. S. 147.

578

In Übereinstimmung mit Quo, AT, § 21 V 4 b cc.

576

Leitsätze 5 und 6: Kausalitäts- und Täterschaftsfragen

157

V. Übertragung der gewonnenen Erkenntnisse auf den Lederspray-Sachverhalt

Im folgenden sollen die erarbeiteten Voraussetzungen auf den zugrundeliegenden Lederspray-Sachverhalt angewandt und so die Strafbarkeit der Angeklagten wegen eines Fahrlässigkeitsdelikts geprüft werden. 1. Kausaler Tatbeitrag

Wie bereits festgestellt wurde 579 , haben alle angeklagten Geschäftsführer einen Beitrag zur Unterlassung der Rückrufaktion geleistet, der sich im Verletzungserfolg der Körperverletzung bei Konsumenten ausgewirkt hat. Ein kausaler Beitrag zur Tatbestandsverwirklichung des § 230 StGB liegt damit jeweils vor, denn die Einzelbeiträge führten in ihrer Gesamtheit den Verletzungserfolg kausal herbei. 2. Gemeinsame Sorgfaltspßicht

Die angeklagten Geschäftsführer hatten eine GarantensteIlung inne aus der Herrschaft über die Gefahrenquelle Produkt580 • Diese Herrschaft hatte keiner der verantwortlichen Geschäftsführer aus eigener Machtvollkommenheit, sondern jeder war beim Treffen einer Entscheidung von gewisser Tragweite wie es eine solche über die Veranlassung eines Rückrufs unzweifelhaft war auf die Mitwirkung seiner Kollegen angewiesen. Wenn die Geschäftsführer die einer sorgfaltsgemäßen Unternehmensführung angemessenen Entscheidungen nur im Zusammenwirken treffen konnten, so trifft sie die Sorgfaltspflicht bezüglich des umsichtigen Umgangs mit der Gefahrenquelle Produkt auch gemeinschaftlich581 . Dieser Wertung widerspricht nicht die vorgenommene Aufschlüsselung der gemeinsamen Garantenpflicht der Unternehmensleitung in konkrete Verhaltensgebote für den einzelnen Geschäftsführer 82 • Hierbei handelt es sich lediglich um die Aufspaltung der für alle Geschäftsleitungsmitglieder insgesamt gegebenen Garantenpflicht. Durch die Festlegung des für den Einzelnen gegebenen Handlungsgebots wird aber nicht die für die Unternehmensleitung schlechthin gegebene Verantwortlichkeit außer Kraft gesetzt. Die Zusammenfassung der geschuldeten Einzelbeiträge muß nämlich im Ergebnis zu einer ausreichenden Kontrolle über die Gefahrenquelle Produkt führen, so daß Umweltbeeinträchtigungen weitestgehend ausgeschlossen sind. 579

Vgl. S. 142.

5MO

Vgl. hierzu S. 65.

m Oben S. 65, 75. 5M2 V gl. hierzu S. 70 ff.

Teil I: Die Grundsätze des Lederspray-Urteils des BGH

158

Es besteht demnach eine die Geschäftsfiihrer gemeinsam treffende Sorgfaltspflicht im Umgang mit der von ihnen beherrschten Gefahrenquelle Produkt. Diese gemeinsame Sorgfaltspflicht konnten sie auch nur im Zusammenwirken erfiillen, denn wegen der bestehenden Gesamtgeschäftsfiihrung konnte eine wesentliche Entscheidung wie die über einen Rückruf - als einzig angemessener Reaktion auf die Schadensmeldungen 583 - nur im Zusammenwirken der Mitglieder des Kollegialorgans Geschäftsleitung getroffen werden 584 • 3. Bewußtsein des gemeinsamen Handeins sowie der gemeinsamen PflichtensteIlung

Die angeklagten Geschäftsfiihrer waren sich im Zeitraum der fiir das Fahrlässigkeitsdelikt relevanten Untätigkeit auch darüber bewußt, daß die Sorgfaltspflichten bezüglich der Gefahrenquelle Produkt sie in ihrer Verbundenheit als Kollegialorgan Geschäftsleitung gemeinsam trafen. Sie waren sich gleichermaßen darüber bewußt, daß die jeweils anderen Geschäftsleitungsmitglieder sich ebenso untätig im Hinblick auf die Beherrschung dieser Gefahrenquelle verhielten wie sie selbst. Das folgt bereits aus der Tatsache, daß jeder der Geschäftsfiihrer sich darüber im klaren gewesen sein muß, daß zur Veranlassung der in Betracht zu ziehenden Maßnahmen wegen der bestehenden Gesamtgeschäftsfiihrung nur das Kollegium in seiner Gesamtheit imstande war und ihm entsprechende Vorstöße eines Kollegen dadurch automatisch bekannt werden würden. 4. Zwischenergebnis

Demnach liegen nach der hier vertretenen Ansicht die Voraussetzungen der fahrlässigen Mittäterschaft vor. Die angeklagten Geschäftsfiihrer handelten bei Unterlassung der im Vorfeld der Sondersitzung bereits geforderten Maßnahmen zur Eindämmung des Produktrisikos als fahrlässige Mittäter. 5. Zur objektiven Zurechenbarkeit im Rahmen der Fahrlässigkeitsdelikte

Da die Geschäftsfiihrer als Mittäter die gebotenen Maßnahmen unterließen, sind ihnen jeweils die (Unterlassungs-)Beiträge der Geschäftsleitungskollegen nach § 25 Abs. 2 StGB objektiv zurechenbar. Demnach scheitert die objektive Zurechenbarkeit der Verletzungserfolge nicht am Kriterium des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs, da bei pflichtgemäßem Alternativverhalten der Angeklagten in ihrer mittäterschaftlichen Verbundenheit - nämlich gemein5"3

S. 65 f.

'04 Oben S. 75.

Leitsätze 5 und 6: Kausalitäts- und Täterschaftsfragen

159

same Vornahme einer Rückrufaktion - die Verletzungserfolge nicht eingetreten wären 585 • Infolgedessen liegt auch die objektive Zurechenbarkeit der Verletzungserfolge an den einzelnen angeklagten Geschäftsführer vor. Die übrigen Voraussetzungen des Delikts nach § 230 StGB, Rechtswidrigkeit und Schuld, liegen unproblematisch vor, so daß eine weitere Untersuchung nicht erforderlich ist.

VI. Ergebnis bezüglich der Fahrlässigkeitsdelikte im Lederspray-Sachverhalt Die angeklagten Geschäftsführer haben sich im Zeitraum zwischen Eingang der Schadensmeldungen und damit Entstehung der Garantenpflicht am 14.2.1981 bis zur Sondersitzung am 12.5.1981 als Mittäter einer fahrlässigen Körperverletzung durch Unterlassen zum Nachteil der geschädigten Konsumenten strafbar gemacht.

c. Stratbarkeit aus einem Begehungsdelikt der gefährlichen / fahrlässigen Körperverletzung (§§ 223, 223a; § 230 StGB) Die Ausfuhrungen zu den Leitsätzen zwei bis sechs beschäftigten sich ausschließlich mit der Strafbarkeit der Angeklagten aus den Unterlassungsdelikten einer vorsätzlichen gefährlichen sowie einer fahrlässigen Körperverletzung zum Nachteil der geschädigten Verbraucher. Abschließend soll eine strafrechtliche Würdigung der Geschehnisse unter dem Gesichtspunkt einer Begehungstäterschaft der Angeklagten erfolgen. Anknüpfungspunkt des strafrechtlichen Schuldvorwurfs sind insofern Produktion und Vertrieb der gesundheitsgefährdenden Produkte ab dem Zeitpunkt, in dem die strafrechtlich sanktionierte Rückrufpflicht entstand586 • Die Sondersitzung der Geschäftsführung am 12.5.1981 bildet auch hier eine Zäsur im Geschehen: Vor dieser Zusammenkunft muß ein Fahrlässigkeits-, danach ein Vorsatzdelikt angenommen werden 587 • Der BGH geht auf die Strafbarkeit ~85 Vgl. hierzu oben S. 119 ff. 586

Vgl. hierzu oben S. 25 f.

Vgl. hierzu die Ausfuhrungen oben S. 77 ff.; die Angeklagten hatten in der Sondersitzung die Lage erörtert und trotz der klar erkannten Gefahrenlage mit Rücksicht auf rein wirtschaftliche Erwägungen weitere Schadensfälle bei den Produktkonsumenten billigend in Kauf genommen, als sie sich gegen einen Rückruf und damit auch fur eine unverminderte Fortfuhrung der Tätigkeit am Markt entschieden. 587

160

Teil I: Die Grundsätze des Lederspray-Urteils des BGH

der Angeklagten aus den Begehungsdelikten (§§ 223, 223a StGB; § 230 StGB) nicht nochmals gesondert ein, sondern verweist diesbezüglich lediglich auf die Ausführungen des Ausgangsgerichts LG Mainz 588 , dessen Wertungen als rechtsfehlerfrei eingestuft werden 589 • Da die Stratbarkeit der angeklagten Geschäftsführer wegen positiven Tuns gegenüber der Unterlassungsstratbarkeit keine weitergehenden Probleme aufwirft, gelten insofern die Ausführungen innerhalb der erörterten Unterlassungsdelikte entsprechend: Die Angeklagten sind als Mittäter einer vorsätzlichen 590 wie fahrlässigen 59 \ Körperverletzung zum Nachteil der geschädigten Produktkonsumenten zu bestrafen. Da sich der BGH in seinem letzten Leitsatz592 mit einer rein konkurrenzrechtlichen Problematik befaßt, soll dieser Leitsatz von der Untersuchung ausgenommen werden. Er hat keinen spezifischen Bezug zur Frage der strafrechtlichen Würdigung von Kollegialentscheidungen.

Resümee zur Lederspray-Entscheidung Dem Lederspray-Urteil wird im Schrifttum593 entscheidende Bedeutung als "leading-case" für künftige Fälle strafrechtlicher Produkthaftung beigemessen. In der hier erfolgten Urteilsanalyse haben sich folgende Ergebnisse im Hinblick auf die strafrechtliche Würdigung der Verantwortlichkeit von Mitgliedern im Kollegialorgan Unternehmensleitung ergeben: Die Garantenstellung einer Unternehmensleitung für Produktrisiken kann anhand der hergebrachten Garantendogmatik begründet werden. Es bedarf hierfür nicht der Entwicklung einer neuen Kategorie von Garantenstellungen 594 , sondern die Verantwortlichkeit für Produktrisiken ergibt sich aus der Herrschaft über die Gefahrenquelle Produkt595 • Die aus der Garantenstellung resultierende Garantenpflicht zur Verhinderung von Verletzungserfolgen trifft die Mitglieder der Unternehmensleitung

SRR 5R9

LG Mainz, in: Schmidt-Salzer, Entscheidungssammlung, ry.3.22 (38 f.). BGHSt 37, 114, 133.

590

Vgl. S. 129.

591

Oben S. 159.

592 BGHSt 37, 107: "Führt die Verletzung desselben Handlungsgebots nacheinander zu mehreren Schadensfällen, so liegt insgesamt nur eine einzige Unterlassungstat vor." 593 Amelung, S. 65; Brammsen, Jura 1990, 533; Hassemer, Produktverantwortung, S. 61; Marxen, EWiR 1990, 1018; Schmidt-Salzer, NJW 1990,2967 f.; ders., BB 1992, 1870. 594 S. 61, 64.

595

Oben S. 60 f., 64.

Resümee zur Lederspray-Entscheidung

161

in ihrer Verbundenheit als Kol1egialorgan 596 • Im Rahmen dieser Gesamtverpflichtung ist jedes Kol1egiumsmitglied zur Leistung des ihm innerhalb des eigenen Kompetenzbereichs möglichen Einzelbeitrags verpflichtet597 . Kommt es wegen einer (Garanten-)Pflichtverletzung zum Eintritt eines Verletzungserfolgs, so müssen die einzelnen Organmitglieder hierfür einstehen, sofern sie einen kausalen Beitrag zur Erfolgsverursachung geleistet haben. Erfolgt eine einstimmige Kol1egialentscheidung für pflichtwidriges Verhalten und führt die Umsetzung dieser Entscheidung zum Eintritt von Verletzungserfolgen bei Produktkonsumenten, so sind die abstimmenden Organmitglieder insofern als Mittäter eines Vorsatzdeliktes zur Rechenschaft zu ziehen 59s • Eine sukzessive Mittäterschaft der an der Entscheidung nicht teilnehmenden Organmitglieder ist dann nicht gegeben, wenn diese innerhalb der ihnen eingeräumten Kompetenzen keine andere Handlungsmöglichkeit als die Unterwerfung unter die ohne ihre Mitwirkung bereits getroffene Entscheidung haben 599 • Wurden Verletzungserfolge durch sorgfaltspflichtwidriges Verhalten der Organmitglieder verursacht, so sind diese bei Wahrung der entsprechenden Voraussetzungen 6OO als fahrlässige Mittäter zur Verantwortung zu ziehen 60' • Insgesamt sol1te tUr die Zukunft versucht werden, auch neuartige Fal1konstel1ationen wie die des strafrechtlich relevanten Verhaltens der Mitglieder in Kollegialorganen anhand des hergebrachten strafrechtlichen Instrumentariums zu beurteilen602 • Ob dies möglich ist, sol1 im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit anhand abstrakter Fal1gruppen untersucht werden.

59.

Vgl. S. 75.

597

Vgl. S. 74 f.

59K

599 600 601

Vgl. S. 129. Vgl. S. 135. Vgl. S. 156. Vgl. S. 157 ff.

602 Ebenso für die Fälle strafrechtlicher Produkthaftung: Meier, NJW 1992, 3199; Schmidt-Salzer, NJW 1990,2967.

11 Weißer

Teil 2

Kausalitäts- und Täterschaftsfragen bei der strafrechtlichen Würdigung pflichtwidriger Kollegialentscheidungen Übertragung der in Teil 1 gewonnenen Ergebnisse auf verschiedene Fallgruppen Im zweiten Teil der Untersuchung sollen die innerhalb der Urteilsanalyse gewonnenen Erkenntnisse auf verschiedene Fallgruppen von Kollegialentscheidungen übertragen werden. Das wird eine Erweiterung der erarbeiteten Grundsätze erforderlich machen. I. Die Vielfalt denkbarer Kollegialentscheidungen

Innerhalb der Fallgruppen sollen Kollegialentscheidungen verschiedener Art erörtert und einer strafrechtlichen Würdigung unterzogen werden. Beispiele für in diesem Zusammenhang strafrechtlich relevant werdende Kollegialentscheidungen ergeben sich aus vielfältigen Lebenssachverhalten: Kollegialorgane an der Spitze von Untemehmensleitungen können durch ihre Entscheidungen pflichtwidriges Verhalten hervorrufen I, das im Außenverhältnis zu strafrechlich relevanten Verletzungserfolgen führt 2• Innerhalb von Behörden können mehrere Amtsträger im Rahmen eines einheitlichen Verwaltungsverfahrens Fehlentscheidungen treffen, auf deren Grundlage strafrechtlich relevante Handlungen erfolgen, beipielsweise die unrechtmäßige Genehmigungserteilung für den Betrieb einer umweltgefährdenden Anlage oder ähnliches). Hier ist dann zu entscheiden, ob das Zusammenwirken der verschiedeI Sei es durch unmittelbare "Verursachung" eines Verletzungserfolgs durch ein konkretes Verhalten der Mitglieder des Kollegialorgans selbst, sei es im Wege einer mittelbaren Verursachung von Verletzungshandlungen durch weisungsabhängige Mitarbeiter.

2 Neben dem bereits untersuchten Lederspray-Fall, BGHSt 37, 106 ff., ist hier zu nennen: LG Frankfurt, NStZ 1990, 592 f., bzw. LG Frankfurt, ZUR 1994, 33 ff. 1 Zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Amtsträgem im Umweltrecht existiert ein reichhaltiges Schrifttum, nur exemplarisch genannt seien: Knopp, DÖV 1994, 676 ff.; Mayer/Brodersen, BayVBI 1989, 257 ff.; Michalke, NJW 1994, 1693 ff.; Rengier, Umweltstrafrecht, S. 37 ff.; Rudolphi, FS Dünnebier, S. 561 ff.; ders., FS Lackner, S. 863 ff; Schmeken/Müller, S. 161 ff.; Winter, BWVP 1994, 178 ff.; vgl. auch StA beim LG Mannheim, NJW 1976, 585 ff.

Übertragung der Ergebnisse auf verschiedene Fallgruppen

163

nen Sachbearbeiter faktisch gleich zu beurteilen ist wie das der per Mehrheitsentscheid beschließenden Mitglieder eines Kollegiums4 • Gemeinderäte können pflichtwidrig entscheiden und dadurch Schädigungen der Bürger verursachen. Dies ist beispielsweise geschehen, als ein Gemeinderat entschied, zur Gewährleistung eines ästhetischen Stadtbilds Sicherungsgitter an einem Brunnen entfernen zu lassen, woraufhin ein spielendes Kind in den Brunnen fiel und ertrank5• Dieser Fall ließe sich auch am Beispiel einer die gleiche Fehlentscheidung treffenden Eigentümerversammlung eines Hauses mit zahlreichen Einheiten bilden. Weiterhin können Redakteurskollektive bei der Entscheidung über die Hereinnahme bestimmter Artikel in ihr Druckwerk pflichtwidrig abstimmen und dadurch einen die Rechtsgüter Dritter verletzenden - und damit strafwürdigen - Artikel veröffentlichen6 • Bereits aus der Vielfalt der hier nur skizzierten Anwendungsmöglichkeiten für die zu erarbeitenden Grundsätze ergibt sich die Notwendigkeit einer Eingrenzung der Untersuchung auf konkrete Einzelaspekte der strafrechtlichen Würdigung. Die allgemeingültige, abstrakte Wertung kann sich nur auf die für alle Fallgruppen gleich zu beurteilenden Strukturen einer strafrechtlichen Verantwortlichkeit der Mitglieder in Kollegialorganen beziehen. Für jeden der genannten Beispielsfälle (und ebenso für die vielen anderen, hier nicht bedachten Anwendungsfälle) ergeben sich darüber hinaus spezifische Probleme, die nur schlagwortartig erwähnt werden können. Innerhalb von Behörden ist beispielsweise zu fragen, ob möglicherweise mehrere unterlassende Amtsträger ein dem Kollegialorgan vergleichbares "Unterlassungsgremium" bezüglich der vorwerfbar nicht durch behördliches Einschreiten verhinderten Umweltbeeinträchtigungen durch Private bilden. Darüber hinaus ist der Einfluß der rechtlichen Verantwortlichkeit übergeordneter Fach- und Rechtsaufsichtsbehörden zu untersuchen. Können sich die Amtsträger innerhalb von Behörden unter Hinweis auf die - passiven - verantwortlichen Kontrollinstanzen für ihr pflichtwidriges Verhalten möglicherweise exkulpieren? Woraus erwächst die GarantensteIlung von Amtsträgern im Fall pflichtwidrigen Unterlassens im Zusammenhang mit Umweltbeeinträchtigungen7? 4 Vgl. hierzu den dem Beschluß des OLG Düsseldorf, ZfW 1993, 241 ff., zugrundeliegenden Sachverhalt. S Mit diesem Fall beschäftigt sich Dabringhausen, Gemhlt 1992, 268 ff.; zur Verantwortlichkeit der Kommunen im Bereich des Umweltstrafrechts vgl. die Arbeit von Schmeken / Müller. 6 Vgl. die auf diesem Gebiet ergangenen Entscheidungen: LG Göttingen, NJW 1979, 1558 f.; OLG Düsseldorf, NJW 1980, 71; OLG Stuttgart, JZ 1980, 774 ff.; Anm. hierzu von Battke, JR 1981,340 ff.; grundsätzlich Franke, JZ 1982,579 ff. 7 Vgl. hierzu Eidam, S. 124 ff.

\1*

164

Teil 2: Kausalitäts- und Täterschaftsfragen

Auf der Ebene der kommunalen Selbstverwaltung ist zu entscheiden, wer für pflichtwidrige Mehrheitsentscheidungen des Gemeinderats strafrechtlich verantwortlich sein so118 • Wirkt sich hier die herausgehobene Ste11ung des Bürgermeisters auf den Schuldvorwurf für die einzelnen Gemeinderatsmitglieder9 aus? Zu untersuchen wäre auch, inwieweit der Strafverfolgung auf Gemeindeebene Grenzen durch die Garantie kommunaler Selbstverwaltung nach Art. 28 Abs. 2 GG gesetzt sind. Im Bereich der strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Redakteursko11ektiven lO ergibt sich das spezifisch presserechtliche Problem, wer als im Sinne strafrechtlicher Vorschriften verantwortlicher Redakteur gelten so11, wenn faktisch Kontrollierender und im Impressum als verantwortlich aufgeführte Person verschieden sind!!. Ebenfa11s muß die Verantwortlichkeit eines Kollektivs für die Hereinnahme eines bedenklichen Artikels in ein Druckwerk besonders begründet werden, wenn im Impressum nur eine Person als Verantwortlicher aufgeführt ist, während in Wirklichkeit eine von dieser nicht zu beeinflussende Ko11egialentscheidung gefa11t wurde 12 • A11 diese Fragen - wie auch viele weitere Detailprobleme in hier nicht angeführten Spezialgebieten, auf denen Ko11egialentscheidungen zwar ergehen, die aber bis heute nicht strafrechtlich relevant wurden - können im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht beantwortet werden. Die strafrechtliche Würdigung von Ko11egialentscheidungen wird insofern beeinflußt durch das konkrete Sachgebiet, auf dem die Entscheidung ergeht. Die damit jeweils verbundenen Fachfragen müssen offengelassen werden, da sie den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen würden.

~ Zu diesem Themenkreis äußern sich: Kuhn, BayVBI 1989, 169 ff.; Nettesheim, BayVBI 1989,161 ff.; Weber, BayVB11989, 166 ff. 9 Beispiele zur Verantwortlichkeit des Bürgermeisters bei Eidam, S. 76, 126; vgl. hierzu auch BGHSt 38, 332 ff.; Nestler, GA 1994, 514 ff.; Michalke, NJW 1994, 1693 ff.; zur GarantensteIlung der Gemeinderatsmitglieder Eidam, S. 125. Zur GarantensteIlung des Bürgermeisters vgl. AG Hechingen, NJW 1976, 1222 f.; BGH, wistra 1993, 62 ff. 10 Vgl. zu diesem Thema Franke, JZ 1982,579 ff. 11 Zu den beweisrechtlichen Problemen bei der Zuweisung von Verantwortung im Bereich des Presserechts vgl. BGH, NJW 1980, 67; OLG Stuttgart, JZ 1980, 774 ff. (775); Bottke, JR 1981,342 f.; Franke. JZ 1982,580 f. 12 Vgl. hierzu OLG Düsseldorf, NJW 1980, 71 (nur Leitsatz); OLG Stuttgart, JZ 1980, 774 ff. (775).

Übertragung der Ergebnisse auf verschiedene Fallgruppen

165

11. Gebotene Eingrenzungen der zu behandelnden Thematik Wegen des durch die abstrakte Behandlung von Kollegialentscheidungen vorgegebenen eingeengten Blickwinkels sind darüber hinaus innerhalb der zu untersuchenden Materie einige Eingrenzungen vorzunehmen. Um die Allgemeingültigkeit der gefundenen Instrumente zur Beurteilung strafrechtlich relevanter Kollegialentscheidungen zu gewährleisten, müssen die folgenden Prämissen als Basis der Untersuchung festgesetzt werden. 1. Strafrechtlich relevantes Verhalten

Trotz der Maßgeblichkeit des Abstimmungsverhaltens knüpft der strafrechtliche Schuldvorwurf nicht konkret an die Stimmabgabe an, sondern er orientiert sich primär an dem auf der Entscheidung beruhenden pflichtwidrigen Verhalten der Mitglieder des Kollegiums (oder der durch sie angewiesenen, die Entscheidung umsetzenden Personen). Klarzustellen ist, daß nicht die Stimmabgabe selbst Anknüpfungspunkt des strafrechtlichen Unwerturteils ist. Die Beurteilung geht auch bei Mitgliedern von Kollegialorganen von dem konkret schadensursächlichen pflichtwidrigen Verhalten aus. Dieses Verhalten beruht zwar jeweils auf dem innerhalb der Kollegialentscheidung getroffenen (Tat-)Entschluß. Jedoch ist grundsätzlich nicht bereits der Entschluß Anlaß rur strafrechtliche Konsequenzen, sondern (erst) dessen Ausruhrung. Hierbei handelt es sich um das primär zu würdigende Verhalten, das bei Vorliegen eines Verletzungserfolgs wiederum auf seine "Ursache" - nämlich die Entschlußfassung im Kollegium - zurückgeführt wird. Wenn feststeht, daß durch das auf der Kollegialentscheidung beruhende Verhalten ein (straf-) tatbestandsmäßiger Verletzungserfolg hervorgerufen wurde, so ist im Anschluß an die Feststellung der kausalen Erfolgsverursachung dennoch die Untersuchung des Abstimmungsverhaltens des einzelnen Kollegiumsmitglieds von großer Bedeutung. Das ergibt sich aus der Tatsache, daß vom Abstimmungsverhalten darauf geschlossen werden kann, inwieweit das einzelne Mitglied den für das pflichtwidrige Verhalten ursächlichen Entschluß - und damit auch den Verletzungserfolg - (mit) verursacht hat. Darüber hinaus gibt das Abstimmungsverhalten Aufschluß darüber, ob der betreffende Entscheidungsträger den für die Verletzungshandlung (oder die Unterlassung einer Rettungshandlung) maßgeblichen Entschluß gebilligt hat - ob also das Verletzerverhalten von seinem Vorsatz umfaßt war. Es ist damit festzuhalten, daß auch bei auf Kollegialentscheidungen beruhenden Rechtsgutsverletzungen die strafrechtliche Beurteilung primär an die Ausführungshandlung des Entschlusses anknüpft und nicht bereits an die Beschlußfassung selbst.

166

Teil 2: Kausalitäts- und Täterschaftsfragen

Da aber in der hier vorgelegten Untersuchung die strafrechtliche Würdigung des Verhaltens von Mitgliedern eines Kollegiums anhand abstrakter Fallgruppen erfolgen soll, ergibt sich bezüglich der Prüfungsschwerpunkte eine zur Praxis verschiedene Sichtweise. Hier wird die kausale Verletzungshandlung (die auch in Form einer Unterlassung vorliegen kann) als gegeben vorausgesetzt. Der Schwerpunkt der Untersuchung liegt hingegen in der Würdigung der Entschlußfassung im Kollegium bezüglich des nachfolgenden Verletzerverhaltens, während das strafrechtliche Unwerturteil bezüglich des erfolgs verursachenden Verhaltens unterstellt wird und daher diesbezüglich keine Prüfung erfolgt. 2. Relevanter Kausalzusammenhang

Die Untersuchung des Kausalzusammenhangs bezieht sich nicht auf die Kausalität der in Ausführung der Kollegialentscheidung erfolgenden Verletzungshandlung für den Verletzungserfolg. Es handelt sich hierbei um den unter I. vorausgesetzten Einzelfalltatbestand, der wegen der Abstraktheit der Fallgruppen nicht jeweils speziell nachgewiesen werden kann. Im Rrhmen der Untersuchung von Kollegialentscheidungen ist der typischerweise schwierig zu beurteilende Kausalzusammenhang vielmehr deIjenige zwischen dem Verhalten des einzelnen Mitglieds des Kollegiums und dem strafrechtlichen Unrechtserfolg. Denn die spezifische Problematik bei der Würdigung von Kollegialentscheidungen liegt darin, daß nicht das Kollegium selbst als Gesamtorgan für ein pflichtwidriges Verhalten zur Verantwortung gezogen werden kann, weil das strafrechtliche Schuldprinzip eine Anknüpfung des Unwerturteils an das konkret zu ermittelnde Verhalten des einzelnen Mitglieds des Gesamtorgans gebietet. Erst wenn seine Rolle innerhalb des Kollegiums einer genauen Analyse unterzogen wurde (im Hinblick auf die Kausalität seines Verhaltens als Täter einer Rechtsgutsverletzung), ist eine Aussage über seine Strafbarkeit möglich. Die Kausalität des einzelnen Mitglieds des Kollegialorgans wird dabei vermittelt durch dessen Beitrag zur mehrheitlich getroffenen Entscheidung. Der Beitrag zur Entscheidung ist der Beitrag zum Tatentschlt;ß für das folgende pflichtwidrige Verhalten auf der Basis des Abstimmungsergebnisses. Dies ist der maßgebliche Zusammenhang, auf den sich die in der nachfolgenden Untersuchung zu treffenden Kausalurteile beziehen. 3. Interne Gleichberechtigung der Kollegiumsmitglieder

Darüber hinaus ist klarzustellen, daß sich die folgende Untersuchung nur auf Kollektiventscheidungen bezieht, bei denen jedes Mitglied des Kollegiums auf der gleichen Hierarchiestufe (beispielsweise innerhalb eines Unter-

Übertragung der Ergebnisse auf verschiedene Fallgruppen

167

nehmens) steht 13 • Das bedeutet, daß jeder der potentiellen Täter die gleichen Einflußmöglichkeiten auf die Entscheidungsfindung im Gesamtorgan hat, und daß andererseits jeder die gleiche PflichtensteIlung bezüglich der Vermeidung drohender Verletzungserfolge durch vom Kollegium gesteuerte Prozesse hat '4 . Im übrigen ist damit impliziert, daß bei der Mehrheitsentscheidung die abgegebenen Stimmen jeweils den gleichen Zählwert haben. 4. Unterlassungsstrafbarkeit / GarantensteIlung

Das auf der Kollegialentscheidung beruhende, erfolgsursächliche Verhalten kann sowohl positives Tun '5 als auch Unterlassen l6 sein. Für den Fall einer Unterlassungsstrafbarkeit wird das Bestehen einer Garantenpflicht zur Verhinderung des eingetretenen Verletzungserfolgs und der im Unterlassen liegende Verstoß gegen diese vorausgesetzt. Da die Fallgruppen abstrakt gefaßt werden, ist eine jeweilige Bestimmung des aus der Garantenpflicht resultierenden konkreten Handlungsgebots 17 nicht möglich und erfolgt daher nicht. Das bedeutet in der Konsequenz, daß die Einordnung in abstrakte Fallgruppen die Unterscheidung zwischen Begehungs- und Unterlassungsstrafbarkeit überflüssig macht. Die hier zu erzielenden Ergebnisse sollen sowohl für Fälle des Unterlassens wie auch des positiven Tuns Gültigkeit beanspruchen, sofern nicht auf Unterschiede ausdrücklich hingewiesen wird.

III. Ausgangsfall Der für jede Fallgruppe unveränderte Ausgangssachverhalt lautet: Es handelt sich um ein Kollegium aus 11 Mitgliedern. Dieses trifft in einer Mehrheitsentscheidung einen rechtswidrigen Beschluß. Die Entscheidung wird ausgeführt. Unter "AusfUhrung" ist sowohl positives Tun zu verstehen als auch die Umsetzung eines Unterlassungsbeschlusses durch bloße Untätigkeit. Das auf der Kollegialentscheidung beruhende Verhalten - entweder der Mitglieder des Kollegialorgans selbst oder der durch sie angewiesenen Personen - fUhrt zu einem strafrechtlich mißbilligten Verletzungserfolg. 13 Zur Problematik hierarchisch gemischter Kollegialentscheidungen vgl. Schmidt-Salzer, Produkthaftung I, Rn. 1.272, 1.293 ff.

14 Als einzige Ausnahme hiervon wird in Fallgruppe 5, unten S. 214 ff., erörtert werden, ob bzw. wie sich das einem der Kollegiumsmitglieder zustehende Vetorecht auf dessen Strafbarkeit sowie die seiner Kollegen auswirken könnte. 15

Wie es im Lederspray-Fall die Inverkehrgabe der gefährlichen Produkte war, S. 25 f.

16

Wie es im Lederspray-Fall die Unterlassung von Rückrufmaßnahmen war, S. 25 f.

Wie es im Lederspray-Fall die Konkretisierung des aus der GarantensteIlung resultierenden Handlungsgebots bezüglich des Hinwirkens auf die Vornahme einer Rückrufaktion war, vgl. oben S. 65 ff. 17

168

Teil 2: Kausalitäts- und Täterschaftsfragen

Zu beurteilen ist dann, wie bzw. ob sich das Verhalten des einzelnen Kollegiumsmitglieds während der Beschlußfassung auf den Eintritt des Verletzungserfolgs ausgewirkt hat, und ob das einzelne Mitglied an der Erfolgsverursachung täterschaftlich beteiligt war. Die Beantwortung dieser Fragen variiert je nach der Stimmverteilung bei Fassung des für das Verletzerverhalten maßgeblichen Entschlusses. Durch die Mehrheitsverhältnisse werden demnach die nachfolgend zu erörternden Fallgruppen jeweils charakterisiert.

Fallgruppe 1: Einstimmig getroffene pflichtwidrige Entscheidung In Anwesenheit aller Mitglieder des Kollegialorgans wird einstimmig der Beschluß ge faßt, sich pflichtwidrig zu verhalten. Durch das nachfolgende Verhalten in Ausführung des Entschlusses wird ein Verletzungserfolg hervorgerufen. Die Fallkonstellation entspricht der im Lederspray-Sachverhalt vorliegenden. Deswegen kann auf die im Rahmen der Urteilsanalyse erzielten Untersuchungsergebnisse verwiesen werden '8 : Die Mitglieder des Kollegialorgans machen sich als Mittäter eines Vorsatzdelikts strafbar, wenn sie bei der Mehrheitsentscheidung die drohenden Konsequenzen ins Kalkül gezogen und dennoch den Eintritt strafrechtlich mißbilligter Verletzungserfolge in Kauf genommen haben. Der Fall, daß bei der Mehrheitsentscheidung der strafrechtliche Schuldvorwurf an eine Sorgfaltswidrigkeit anknüpft, war im Lederspray-Urteil nicht Gegenstand der Untersuchung. Die dort diskutierte Fahrlässigkeitsstrafbarkeit ergab sich nicht aus einer Mehrheitsentscheidung, sondern aus der Untätigkeit der Geschäftsleitung im Vorfeld der Entscheidung '9 . Wenn aber die Kollegiumsmitglieder bei Fassung des Entschlusses die drohenden Folgen ihres Verhaltens nicht genügend überdacht und so sorgfaltswidrig einen bei Anwendung der erforderlichen Sorgfalt vorhersehbaren Erfolg verursacht haben, so kommt eine Fahrlässigkeitsstrafbarkeit wegen des auf der sorgfaltswidrigen Entscheidung basierenden Verhaltens in Betracht. Bezüglich dieser Fahrlässigkeitsstrafbarkeit ergeben sich keine Unterschiede zur Strafbarkeit aus dem Vorsatzdelikt. Der Schuldvorwurf knüpft lediglich statt an ein gewollt erfolgsursächliches Verhalten an eine Erfolgsverursachung durch Sorgfaltswidrigkeit an. Es ergibt sich hier (ebenso wie im Vorsatzbereich und wie auch im Erdal-Fall für den Zeitraum vor der Sondersitzung) die Strafbarkeit aus

18 19

Oben S. 129. Oben S. 136 fT.

Fallgruppe 2: Abstimmung 6: 5 fur pflichtwidrige Entscheidung

169

der Mittäterschaft der Mitglieder des Kollegialorgans bei Verwirklichung dieses Fahrlässigkeitsdelikts. Bezüglich der hier relevant werdenden Fragen der Kausalität und der fahrlässigen Mittäterschaft sei ebenfalls auf die Ausfuhrungen im ersten Teil verwiesen20 • I. Ergebnis

In der ersten Fallgruppe machen sich die Kollegiumsmitglieder wegen eines m Mittäterschaft begangenen Vorsatz- bzw. Fahrlässigkeitsdelikts strafbar.

11. Übertragbarkeit der Beurteilung auf andere Fallgestaltungen Die strafrechtliche Würdigung des Abstimmungsverhaltens der Kollegiumsmitglieder läßt sich auf alle Fälle übertragen, in denen fur die pflichtwidrige Entscheidung mehr Stimmen abgegeben werden als zur Erringung der einfachen Mehrheit erforderlich sind. Die Ausfuhrungen zu Kausalität, Zurechnung und Täterschaft im ersten Teil der Untersuchung gelten dann fur die den pflichtwidrigen Beschluß befurwortenden Entscheidungsträger. Wie in solchen Fällen die strafrechtliche Verantwortlichkeit der pflichtgemäß abstimmenden Minderheit zu beurteilen ist, wird in der folgenden Fallgruppe Gegenstand der Untersuchung sein.

Fallgruppe 2: Abstimmungsergebnis 6: 5 für pflichtwidrige Entscheidung Das Kollegium faßt mit sechs gegen funf Stimmen Mehrheit den Entschluß, der die Grundlage des nachfolgenden erfolgsursächlichen Verletzungsverhaltens bildet.

I. Unterschiede zwischen Vorsatz- und Fahrlässigkeitsdelikt Das Treffen einer bewußten Entscheidung fur das nachfolgende erfolgsursächliche Verhalten fuhrt nicht notwendig zum Vorliegen eines Vorsatzdelikts. Ein solches liegt nur vor, wenn die Abstimmenden beim Treffen ihrer Entscheidung alle Aspekte der zu beurteilenden Materie bedacht und die Folgen ihrer Entscheidung mit der "Verursachung" erfolgsursächlichen Verhaltens vorhergesehen haben, den Eintritt des Verletzungserfolgs aber dennoch 20

Oben S. 105 ff., 142, 143 ff.

170

Teil 2: Kausalitäts- und Täterschaftsfragen

- zumindest - billigend in Kauf genommen haben. Ein Fahrlässigkeitsdelikt kommt dagegen in Betracht, wenn die Entscheidungsträger bei der Abstimmung gerade nicht alle Aspekte der zu beurteilenden Materie bedacht haben und die Möglichkeit der Erfolgsverursachung nicht vorhergesehen haben oder auf ihr Ausbleiben vertraut haben (für den Fall der bewußten Fahrlässigkeit). Hierin ist ein Sorgfaltspflichtverstoß bei der Beschlußfassung zu sehen, der wiederum in der Ausführung dieser Entscheidung - durch sorgfaltswidriges Verhalten - zur Verursachung des Verletzungserfolgs und damit zum Vorliegen eines Fahrlässigkeitsdelikts führt. Die folgenden Ausführungen zur strafrechtlichen Würdigung der geschilderten Entscheidungsfindung und ihrer Folgen sollen, sofern nicht ausdrücklich Gegenteiliges vermerkt wird, gleichermaßen für Vorsatz- wie auch Fahrlässigkeitsdelikte gelten. Das ist eine Folgerung aus der im ersten Teil vertretenen Ansicht zur strukturellen Gleichbehandlung von Vorsatz- und Fahrlässigkeitsdelikt im Hinblick auf hier relevant werdende Tatbestandsmerkmale. Die Untersuchung beschäftigt sich hauptsächlich mit zwei Aspekten der Strafbarkeit von Mitgliedern eines Kollegialorgans: Zunächst wird die Kausalität des Einzelbeitrags für den Verletzungserfolg sowie dessen objektive Zurechenbarkeit untersucht. Sodann werden Täterschaftsfragen erörtert. Für beide Problembereiche wurde bereits die Anwendbarkeit weitgehend identischer Kriterien zur Beurteilung der Strafbarkeit aus Vorsatz- bzw. Fahrlässigkeitsdelikten festgestel1t 2l .

11. Die strafrechtliche Verantwortlichkeit der Befürworter der pflichtwidrigen Entscheidung Für die Überprüfung von Kausalität und Täterschaft der Kollegiumsmitglieder bezüglich des pflichtwidrigen Beschlusses muß eine Unterscheidung getroffen werden zwischen denjenigen, die zur Mehrheit gehörten (die für die pflichtwidrige Entscheidung stimmten) und denjenigen, die zur unterlegenen Minderheit gehörten und pflichtgemäßes Verhalten befürworteten. Durch ihre Entscheidung für pflichtwidriges Verhalten hat die aus sechs Kollegiumsmitgliedern bestehende Mehrheit die Basis für die Erfolgsverursachung in Umsetzung des getroffenen Beschlusses geliefert. Zu untersuchen ist für den einzelnen Entscheidungsträger das Vorliegen eines kausalen Tatbeitrags und die Beteiligungsform, in der er den etwaigen Beitrag geleistet hat. 21 Vgl. zur Anwendbarkeit der Lehre von der objektiven Zurechnung auch im Fahrlässigkeitsbereich die Ausfiihrungen oben S. 143, zur Figur der fahrlässigen Mittäterschaft die Ausfiihrungen oben S. 143 fT. Auf gebotene Einschränkungen der Gleichbehandlung wird jeweils ausdrücklich hingewiesen werden.

Fallgruppe 2: Abstimmung 6: 5 ftir pflichtwidrige Entscheidung

171

1. Kausaler Tatbeitrag

Bei der Untersuchung des Kausalzusammenhangs zwischen dem Abstimmungsverhalten der einzelnen Mitglieder der die Mehrheit bildenden Gruppe und dem Eintritt des Verletzungserfolgs führt bereits die Anwendung der conditio-Formel zwanglos zu einem Ergebnis: Keine der sechs Stimmen für das pflichtwidrige Abstimmungsergebnis kann hinweggedacht werden, ohne daß der Beschluß als Grundlage des folgenden Verletzerverhaltens entfiele. Denn hätte auch nur eine der sechs Personen nicht für pflichtwidriges Verhalten gestimmt, so wäre das Ergebnis entweder rechtmäßig ausgefallen (falls derjenige stattdessen für die andere Seite gestimmt hätte), oder es wäre eine Patt-Situation und damit ebenfalls nicht das pflichtwidrige Ergebnis entstanden (falls derjenige sich stattdessen der Stimme enthalten hätte). In jedem Fall aber ist jede der sechs Stimmen für das pflichtwidrige Ergebnis dessen zwingende Voraussetzung - eine conditio sine qua non. 2. Täterschaftsfragen

Die pflichtwidrig Abstimmenden wirkten auf der Grundlage eines gemeinsam getroffenen Entschlusses mittäterschaftlich zusammen. Die Entscheidungsfindung erfolgte im bewußten und gewollten Zusammenwirken der Befürworter einer pflichtwidrigen Entscheidung. Die spätere Ausführung erfolgt durch Verietzungshandlungen auf der Basis dieser Entscheidung. Für den Fall des Vorsatzdelikts ist Mittäterschaft unproblematisch zu bejahen. Diesbezüglich sei auf die Ausführungen zur Mittäterschaft beim Vorsatzdelikt im Rahmen des Lederspray-Falls verwiesen 22 • Für den Fall des Fahrlässigkeitsdelikts wird die Mittäterschaft mit erstens den sorgfaltswidrigen kausalen Beiträgen der Betroffenen zur Verursachung des Verletzungserfolgs 23 und zweitens der die Abstimmenden gemeinsam treffenden Sorgfaltspflicht zur Erfolgsvermeidung 24 und schließlich drittens dem Bewußtsein der Abstimmenden über das Bestehen dieser gemeinsamen Verpflichtung 25 begründet 26 •

22

Oben S. 90 ff.

23 Diese Beiträge liegen in der sorgfaltswidrigen Abstimmung sowie der Ausführung der rechtswidrigen Mehrheitsentscheidung. 24

Diese wird als bestehend vorausgesetzt; vgl. hierzu bereits oben S. 167.

Auch hierbei handelt es sich um einen anhand des konkreten Einzelfalles nachzuweisenden Umstand, der wegen der Abstraktheit der Fallgruppen als gegeben vorausgesetzt werden muß. 25

26

Zu den tatbestandlichen Voraussetzungen fahrlässiger Mittäterschaft vgl. oben S. 156.

172

Teil 2: Kausalitäts- und Täterschaftsfragen

3. Ergebnis

Die Befürworter der pflichtwidrigen Entscheidung wirkten demnach bei Erbringung ihrer kausalen Tatbeiträge mittäterschaftlich zusammen. Sie haben sich damit als Mittäter bezüglich des verursachten Verletzungserfolgs strafbar gemacht27 •

IH. Die strafrechtliche Verantwortlichkeit der Gegner der pflichtwidrigen Entscheidung Die fünf der unterlegenen Minderheit angehörenden Abstimmenden sind möglicherweise ebenfalls für den Eintritt des Verletzungserfolgs zur Verantwortung zu ziehen. Es soll hier zunächst untersucht werden, ob sie durch ihr Abstimmungsverhalten einen kausalen Beitrag zur Verursachung des Verletzungserfolgs geleistet haben. 1. Kausaler Tatbeitrag

Wendet man die conditio-Formel zur Feststellung der Kausalität des Abstimmungsverhaltens an, so fallt das Ergebnis negativ aus: Die einzelne Stimme gegen das pflichtwidrige Abstimmungsergebnis hat auf dessen Entstehen keinerlei (positive) Wirkung, sie kann problemlos hinweggedacht werden, ohne daß der pflichtwidrige Beschluß und damit letztlich der Verletzungserfolg entfallen würde. Die gegen die pflichtwidrige Entscheidung Stimmenden hätten allenfalls für ein Ausbleiben des Verletzungserfolgs kausal werden können, wenn sie die hierzu erforderliche Stimmenmehrheit für pflichtgemäßes Verhalten hätten erringen können. Da ihnen dies aber nicht gelungen ist, konnte ihr Abstimmungsverhalten weder für den Eintritt des Verletzungserfolgs (denn hierauf haben sie durch ihre gegenteilige Meinungsäußerung nicht hingewirkt), noch für dessen Ausbleiben (hierzu fehlte es ihnen an der Mehrheit) zur conditio sine qua non werden. Es fragt sich, ob unter Anwendung der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung28 ein anderes Ergebnis erzielt werden könnte. Möglicherweise könnte man anhand dieser Lehre in ähnlicher Weise argumentieren, wie es bereits im Zusammenhang mit der Lederspray-Entscheidung im Rahmen dieser Ar27 Neudecker, S. 245 ff., diskutiert die Möglichkeit einer Strafbefreiung der pflichtwidrig votierenden Kollegiumsmitglieder durch pflichtgemäßes Verhalten nach der Abstimmung, etwa durch den nachträglichen Versuch einer Verhinderung der Umsetzung des gefaßten Beschlusses.

2R

ZU deren Inhalten und Anhängern vgl. die Ausführungen oben S. 113 ff.

Fallgruppe 2: Abstimmung 6: 5 für pflichtwidrige Entscheidung

173

beit erfolgt ise 9 • In Abweichung von der "Wegdenk-Methode" der conditioFonnel 30 müßte dann danach gefragt werden, ob das Abstimmungsverhalten der Gegner einer pflichtwidrigen Entscheidung eine kausale Wirkung innerhalb der Gesamtursache entfaltet, mit anderen Worten, ob zwischen (Einzel-) Verhalten und Verletzungserfolg ein naturgesetzlicher Zusammenhang besteht. Gesamtursache für den Verletzungserfolg ist das durch die Entscheidung getragene pflichtwidrige Verletzerverhalten. Weil aber die Betroffenen der überstimmten Minderheit angehörten, konnte ihre jeweilige Stimmabgabe nicht im Abstimmungsergebnis - der Grundlage für die Erfolgsverursachung - kausal werden, denn dafür fehlt es der abgegebenen Stimme gänzlich am "Erfolgs-Wert". Wenn demnach die von den der Minderheit angehörenden Kollegiumsmitgliedern gelieferten Beiträge nicht als Bestandteil der Gesamtursache im Verletzungserfolg kausal werden konnten, dann kann ein Verursachungsbeitrag im Rahmen der Entscheidungsfindung nicht festgestellt werden. 2. Mitverantwortlichkeit für getroffene Entscheidungen unabhängig vom eigenen Votum?

Dennoch wird teilweise 31 vertreten, daß auch die gegen eine pflichtwidrige Entscheidung Stimmenden strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden können. Das hier festgestellte Fehlen eines Kausalzusammenhangs zwischen der einzelnen Gegenstimme und der Verletzungshandlung 32 wird dabei nicht geleugnet. Trotzdem kommen die Vertreter dieser Ansicht zu einer Strafbarkeit auch der pflichtgemäß Abstimmenden, indem sie ausschließlich auf den - bestehenden - Kausalzusammenhang zwischen der Kollektiventscheidung und dem Verletzungserfolg 33 abstellen. Stehe der Kausalzusammenhang zwischen Kollegialentscheidung und Erfolgsverursachung fest, so verbiete es das sog. "Wesen der Kollektiventscheidung", darüber hinaus nach einem Kausalzusammenhang zwischen dem einzelnen Abstimmungsverhalten und dem Abstimmungsergebnis zu fragen 34 . Nach dieser Meinung übernimmt jedes Mit-

29

Vgl. oben S. 113 fT., 118.

30

Zur Kritik an dieser Methode vgl. oben S. 113 f.

31 OLG Stuttgart, JZ 1980, 774 ff.; wohl auch OLG Düsseldorf, NJW 1980, 71; GoU, Produkthaftungshandbuch, § 46 Rn. 23; difterenzierend Schmidt-Salzer, Produkthaftung I, Rn. 1.273, 1.281 f.; Sch/Sch/Cramer, § 15 Rn. 223. 32 Wobei dieses unverständlicherweise unter dem Stichwort pflichtgemäßen Alternativverhaltens diskutiert wird, vgl. OLG Stuttgart, JZ 1980, 776, obwohl sich die Gegenstimmenden selbst gerade pflichtgemäß verhalten haben. 33 Dieser Kausalzusammenhang wird auch in der vorliegenden Untersuchung als bestehend vorausgesetzt, vgl. hierzu bereits oben S. 166. 34

OLG Stuttgart, JZ 1980, 776; GoU, Produkthaftungshandbuch. § 46 Rn. 23.

174

Teil 2: Kausalitäts- und Täterschaftsfragen

glied des Kollegiums bereits durch seine Mitgliedschaft die (Mit-)Verantwortung für sämtliche innerhalb des Organs getroffenen Entscheidungen. Denn jedes Kollegiumsmitglied erkläre sich von vornherein bereit, sich der jeweiligen Mehrheitsmeinung zu unterwerfen 35 . Der dadurch übernommenen Verantwortung könne es sich dann nicht durch bloßes Dagegenstimmen wieder entziehen. Man könnte diese Lösung möglicherweise deshalb befürworten, weil sie auf den ersten Blick der Situation angemessen erscheint. Die Entscheidungsmacht läuft beim Kollegialorgan zusammen, also soll bei Fehlentscheidungen auch das Organ - und damit alle Mitglieder - die Verantwortung hierfür übernehmen. Dem würde es widersprechen, wenn das einzelne Mitglied des Kollegiums sich darauf zurückziehen könnte, daß es die konkrete Entscheidung nicht mittragen wollte, obwohl es doch von Beginn an mit der Möglichkeit rechnen mußte, gegebenenfalls überstimmt zu werden. Für die Lösung sprechen auch rein praktische Erwägungen: Eine Beweisaufnahme darüber, wie sich der einzelne Entscheidungsträger bei der Beschlußfassung verhalten hat, erübrigt sich, wenn er ohnehin für alle durch das Kollegium getroffenen Entscheidungen geradestehen muß 36 . Trotz dieser unzweifelhaft gegebenen Vorteile der dargelegten Ansicht überwiegen die gegen sie sprechenden Argumente. Denn die scheinbar interessengerechte Würdigung der Aktivität in Kollegialorganen erweist sich aus der Perspektive des potentiellen Täters als nicht gerechtfertigt. Das einzelne Kollegiumsmitglied wird hier unter Umständen für eine Entscheidung strafrechtlich zur Rechenschaft gezogen, der es mit seinem Votum gerade entgegenwirken wollte. Bedenken drängen sich hier im Hinblick auf das strafrechtliche Schuldprinzip auf: Wenn die Bestrafung grundsätzlich wegen individueller Schuld erfolgen soll, dann muß gerade der sanktionierte Täter für den konkreten Erfolg verantwortlich sein. Das ist aber nicht der Fall, wenn die Strafbarkeit einer Einzelperson allein mit der Mitgliedschaft in einem Kollegium begründet wird. Die "Kollektivschuld" ist dem Strafrecht insofern fremd und kann nicht unter Hinweis auf die Mitgliedschaft in einem Organ plausibel gemacht werden. Auch die Schuld des Mittäters ist nicht Teilhabe an einer Kollektivschuld, sondern stets individuelle Schuld, die getragen wird durch den eigenen aktiven Tatbeitrag und den entsprechenden Willen des Mittäters. Das "Wesen der KOllektiventscheidung"37 kann demgegenüber 35 Dies wird von den Vertretern dieser Meinung als Argument zur Begründung der Strafbarkeit angefuhrt, OLG Stuttgart, JZ 1980, 775; GaU, Produkthaftungshandbuch, § 46 Rn. 23. 36 Besonders bei geheimer Abstimmung wäre damit die strafrechtliche Beurteilung weitgehend vereinfacht, vgl. zum Problem der geheimen Abstimmung die auf S. 184 f. folgenden Ausfuhrungen. 37 OLG Stuttgart, JZ 1980, 776.

Fallgruppe 2: Abstimmung 6: 5 für pflichtwidrige Entscheidung

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nicht darüber hinweghelfen, daß der gegen ein bestimmtes Verhalten Stimmende objektiv keinen kausalen Beitrag zur Gewährleistung dieses Verhaltens durch die entsprechende Entscheidung liefert. Zwar soll auch hier nicht bestritten werden, daß das Mitglied eines Kollegiums sich grundsätzlich der Mehrheit zu unterwerfen bereit erklärt. Doch allein dadurch kann noch kein kausaler Beitrag zur Verursachung einer konkreten Mehrheitsentscheidung konstruiert werden 38 . Vielmehr ist hierfur ein aktives Hinwirken auf die entsprechende Entscheidung erforderlich. Wollte man dies anders sehen und zur Begründung der Strafbarkeit die Unterwerfung unter die Mehrheitsmeinung fur ausreichend erachten, so würde das letztlich eine Vorverlagerung der Schuld nach dem Prinzip der "actio libera in causa" darstellen 39 • Abgesehen davon, daß es hierzu im gegebenen Fall keine Veranlassung gibt, weil der Abstimmende jeweils im Zustand der vollen Schuldfähigkeit handelt, würde man damit bereits den Eintritt in ein Kollegialorgan als strafrechtlich vorwerfbares Verhalten werten. Das aber kann nicht richtig sein. Schon wegen des gänzlichen Fehlens diesbezüglicher gesetzlicher Reglementierungen scheidet eine solche Wertung aus. Auch angesichts der allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung wäre es inakzeptabel, den Eintritt in ein Kollegium als Sorgfaltswidrigkeit zu qualifizieren, die eine strafrechtliche Haftung nach sich ziehen könnte. Anderenfalls befände sich jedes Kollegiumsmitglied allein durch seine Mitgliedschaft bereits am Rande der Kriminalität - was fur die Bildung weiterer Kollegialorgane verheerende Wirkungen nach sich ziehen würde. Als Zwischenergebnis ist damit festzuhalten, daß allein durch die Mitgliedschaft im Kollegialorgan noch keine grundsätzliche Mitverantwortlichkeit fur die dort getroffenen Entscheidungen konstituiert wird. 3. Mitverantwortlichkeit aufgrund mittäterschaftlicher Zurechnung?

Die von der hier abgelehnten Ansicht40 konstatierte grundsätzliche Mitverantwortlichkeit aller Mitglieder eines Kollegialorgans fur dessen Entscheidungen könnte möglicherweise unter dem Gesichtspunkt der mittäterschaftlichen Zurechnung untermauert werden. Für eine täterschaftliche Beteiligung wäre zunächst Tatherrschaft der Betroffenen erforderlich. Selbst wenn man diese Tatherrschaft unter Hinweis auf die Mitentscheidungskompetenz im Kollegium noch als gegeben betrachten wollte 4 ), so muß hier differenziert werden: 3&

Ebenso: Franke, JZ 1982,582; Röh, S. 46.

39

Angesprochen - und abgelehnt - wird dies von Battke, JR 1981,343.

40 OLG Stuttgart, JZ 1980, 775; OLG Düsseldorf, NJW 1980, 71; Schmidt-Salzer, Produkthaftung I, Rn. 1.273; SchlSchlCramer, § 15 Rn. 223. 41

So SK / Rudalphi, vor § 13 Rn. 16b.

176

Teil 2: Kausalitäts- und Täterschaftsfragen

Die durch die Mitentscheidungskompetenz im Kollegium vermittelte "Tat"Herrschaft kann sich bereits begrifflich zunächst nur auf die konkrete Entscheidungsfindung im Rahmen der Abstimmung beziehen. Daß diesbezüglich Tatherrschaft des Einzelnen unter Umständen bejaht werden kann, wurde bereits in Teil I für die an einer Abstimmung teilnehmenden Kollegiumsmitglieder bejaht42 . Allerdings kann die Tatherrschaft über das auf der Entscheidung beruhende Verletzungsverhalten nur durch einen kausalen Tatbeitrag hierzu vermittelt werden. Dieser liegt in der Förderung der getroffenen Entscheidung durch ein entsprechendes Votum. Und das führt zurück zu der bereits oben festgestellten Tatsache, daß die gegen das pflichtwidrige Verhalten Stimmenden mangels Tatbeitrags auch keine Tatherrschaft über die Herbeiführung des Verletzungserfolgs (in Ausführung der ihrem Willen widersprechenden Kollegialentscheidung) haben können43 . Tatherrschaft als konstitutive Voraussetzung einer mittäterschaftlichen Zurechnung kann daher für die pflichtgemäß abstimmende Minderheit nicht bejaht werden. Darüber hinaus fehlt es für die der Minderheit angehörenden Kollegiumsmitglieder auch an einer Willensübereinstimmung mit den der Mehrheit angehörenden Befürwortern des pflichtwidrigen Verhaltens. Dadurch, daß die Gegner der getroffenen Entscheidung einen abweichenden Willen äußern, machen sie unmißverständlich klar, daß sie das Verletzerverhalten verhindern wollen und sich mit der getroffenen Entscheidung nicht identifizieren. Dann kann man sie mangels gemeinsam getragenen Tatplans keinesfalls als Mittäter behandeln, um ihnen so die Verursachung des Verletzungserfolgs zuzurechnen44 • Das kann auch nicht dadurch umgangen werden, daß man einen quasi übergeordneten Willen zur Unterwerfung unter jede Art der Kollegialentscheidung konstruiert. Der Beteiligungswillle muß sich vielmehr auf die konkret erfolgsursächliche Handlung! Unterlassung beziehen - und das ist im hier vorliegenden Fall gerade nicht gegeben. Eine Mitverantwortlichkeit der pflichtgemäß votierenden Kollegiumsmitglieder für den getroffenen Beschluß kann also auch nicht im Wege mittäterschaftlicher Zurechnung festgestellt werden. 4. Entfallen der Mitverantwortlichkeit bei Vorliegen anderer Kriterien?

Auch die Vertreter der hier abgelehnten Meinung halten eine Straffreiheit der Dagegenstimmenden unter erweiterten Voraussetzungen für möglich: Vgl. oben S. 95 f., 99 f. Anders SKI Rudolphi, vor § 13 Rn. 16b, der Tatherrschaft bejaht, die Zurechnung dann aber am fehlenden gemeinsamen Tatentschluß scheitern läßt. 44 Ebenso SKI Rudolphi, vor § 13 Rn. 16b. 42 43

Fallgruppe 2: Abstimmung 6: 5 flir pflichtwidrige Entscheidung

177

Schmidt-Salzer45 möchte danach differenzieren, aus welcher Motivation heraus die Gegner einer ptlichtwidrigen Entscheidung diese abgelehnt haben. Nur wenn die Ablehnung im Gedanken an den anderenfalls drohenden Verletzungserfolg geäußert worden sei - und nicht aus beispielsweise rein wirtschaftlichen Motiven 46 - sei ausnahmsweise ein Absehen von Bestrafung möglich. Folgte man dieser Meinung, so wäre als Konsequenz daraus allein die Gesinnung des potentiellen Täters für dessen Strafbarkeit entscheidend. Abgesehen davon, daß diese Methode erhebliche Beweisprobleme mit sich bringen würde - für die Betroffenen wäre es ein leichtes, die geforderte lautere Gesinnung vorzuspiegeln -, kann sie bereits aus den oben angeführten Gründen nicht befürwortet werden. Denn selbst wenn der gegen die rechtswidrige Entscheidung Votierende dies nur aus rein wirtschaftlichen Erwägungen heraus tun sollte, so könnte man daraus dennoch keine Billigung der anderslautenden Entscheidung und auch keinen für die Verwirklichung des damit verbundenen Tatplans kausalen Tatbeitrag ableiten. Deswegen tut die Gesinnung des Täters bei der Abstimmung gegen die erfolgsursächliche Entscheidung nichts zur Sache47 • Die Motivation für das Verhalten kann an dessen grundsätzlicher Untauglichkeit zur (Mit-)Verursachung des Verletzungserfolgs nichts ändern. Maßgebliche Kriterien für die Feststellung der Täterschaft sind auch hier die Leistung eines kausalen Tatbeitrags und der Wille, die getroffene Entscheidung mit zu tragen. Da diese Voraussetzungen nicht vorliegen, scheidet die Strafbarkeit unabhängig von Schmidt-Salzers Kriterium aus. Anderenfalls müßte man sich in diesem Zusammenhang den Vorwurf einer Tendenz zum reinen Gesinnungsstrafrecht gefallen lassen. Das OLG Stuttgart48 hat - ohne sich zu entscheiden - Überlegungen angestellt, ob eine Strafbarkeit möglicherweise dann entfallen könnte, wenn der Betroffene sich hinreichend deutlich von der getroffenen Entscheidung distanziert habe 49 • Auch diesbezüglich ist auf die obigen Ausführungen zu verweisen: Selbst wenn der Dagegenstimmende sich nicht ausdrücklich von der anders lautenden Kollegialentscheidung distanzieren sollte, so liegen dennoch die Voraussetzungen der Strafbarkeit nicht vor. Es fehlen die Teilhabe an der Tatherrschaft über die Verletzungshandlung, ein kausaler Tatbeitrag und ein einverständliches Zusammenwirken auf der Grundlage einer gemeinsam getragenen Entscheidung.

45

Schmidt-Salzer, Produkthaftung I, Rn. 1.282; ebenso: Eidam, S. 176.

46

Vgl. Eidam, S. 176.

47

Gegen Schmidt-Salzer auch Schumann, StV 1994, 110.

48

OLG Stuttgart, JZ 1980, 775 f.

49

Dagegen spricht sich auch Schmidt-Salzer, Produkthaftung I, Rn. 1.285, aus.

12 Weißer

Teil 2: Kausalitäts- und Täterschaftsfragen

178

Aus diesen Gründen bleibt das gegen die pflichtwidrige Entscheidung stimmende Kollegiumsmitglied unabhängig vom Vorliegen der hier problematisierten weiteren Voraussetzungen jedenfalls straflos. 5. Stratbarkeit wegen unterlassener Verhinderung der Umsetzung des Beschlusses?

Weiterhin könnte man in Betracht ziehen, die der Minderheit angehörenden Kollegiumsmitglieder im nachhinein als Unterlassungstäter strafrechtlich haftbar zu machen. Dies wäre dann möglich, wenn man den Betroffenen die nicht erfolgte Verhinderung der Ausführung der gegen ihr Votum getroffenen Entscheidung vorwerfen könnte. Für die Begründung der Strafbarkeit aus einem (unechten) Unterlassungsdelikt wäre zunächst das Vorliegen einer GarantensteIlung der Unterlassenden erforderlich. Aus dieser GarantensteIlung müßte die konkrete Garantenpflicht zur Verhinderung der Umsetzung der rechtswidrigen Kollegialentscheidung abgeleitet werden. Das Bestehen einer Garantenstellung im Hinblick auf den eingetretenen Verletzungserfolg für die zu untersuchenden Fallgruppen wurde eingangs vorausgesetzt, da eine jeweilige dogmatische Begründung immer nur anhand des konkreten Falles, nicht aber anhand einer abstrakt ge faßten Fallgruppe möglich ist50 . Es fragt sich, ob hieraus auch die grundsätzliche Garantenpflicht zur Verhinderung der Umsetzung getroffener Kollegialentscheidungen abgeleitet werden kann. Dieses Problem betrifft den Umfang der Garantenverpflichtung. Bereits im Rahmen der Analyse der Lederspray-Entscheidung wurde als Grundsatz innerhalb der Garantenthematik erarbeitet, daß das aus einer GarantensteIlung resultierende Handlungsgebot sich stets im Rahmen des Möglichen und Zumutbaren bewegen muß 51 • Daraus wurde gefolgert, daß eine Kompetenzüberschreitung des einzelnen Garanten im Rahmen seiner Pflichtenstellung grundsätzlich nicht gefordert ist52 . Dies läßt sich unproblematisch auf alle Arten von Kollegialentscheidungen übertragen: In Kollegialorganen, innerhalb derer jedes Mitglied die gleichen Einflußmöglichkeiten, die gleiche Rechtsstellung (nach der internen Machtverteilung) besitzt, stellt es bereits begriffsnotwendig eine Kompetenzüberschreitung dar, wenn eines der gleichgeordneten Kollegiumsmitglieder versucht, einen von der Mehrheit getragenen Beschluß im nachhinein zu torpedieren. Deswegen muß schon aus dem allgemeinen Grundsatz der Garantendogmatik, daß nur das Mögliche und Zumutbare vom Handlungsgebot umfaßt ist, die Strafbarkeit als Unterlassungstäter verneint werden: Es entspricht nicht mehr dem 50

Vgl. S. 167.

51

Vgl. S. 74 f.

52

Vgl. S. 74 f.

Fallgruppe 2: Abstimmung 6: 5 für pflichtwidrige Entscheidung

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durch den Kompetenzbereich vorgegebenen zumutbaren Maß einer Garantenverpflichtung, wenn von einem Kollegiumsmitglied ein eigenmächtiges Vorgehen gegen die bei der Abstimmung überlegene Mehrheit gefordert wird. Darüber hinaus ist eine derartige Konstruktion bereits aus grundsätzlichen Erwägungen heraus abzulehnen: Durch eine GarantensteIlung des Kollegiumsmitglieds zur Verhinderung der Umsetzung rechtswidriger Entscheidungen würde der durch die Bildung des Kollegialorgans angestrebte Effekt gänzlich ins Gegenteil verkehrt. Durch Bildung von aus mehreren Entscheidungsträgern zusammengesetzten Gremien zur Entscheidung wichtiger (oder schwieriger) Fragen soll zunächst erreicht werden, daß die Verantwortung nicht nur von einer Person allein, sondern von allen im Organ vereinten Personen gemeinsam getragen wird. Das wird als zweckmäßig erachtet, weil durch die gegenseitige Kontrolle und das Zusammentragen der den einzelnen Mitgliedern jeweils zur Verfügung stehenden Informationen die Wahrscheinlichkeit von Fehlentscheidungen herabgesetzt wird. Wenn aber im Zweifelsfall das einzelne Kollegiumsmitglied dazu verpflichtet sein sollte, eine Mehrheitsentscheidung - womöglich im Alleingang - im nachhinein außer Kraft zu setzen und ihre Ausführung zu verhindern, dann würde das dazu führen, daß diese Person letztlich die Verantwortung für das Fehlverhalten anderer Kollegiumsmitglieder mit übernehmen müßte. Durch die Bildung des Kollegiums wäre die Verantwortung für die Einzelperson dann nicht einfacher zu handhaben, sondern es würde eine Zusatzverantwortung für das Fehlverhalten Dritter - der Kollegen - begründet. Demgegenüber wurde aber in den vorhergehenden Überlegungen 53 bereits dargelegt, daß auch die Mitglieder eines Kollegialorgans nur für ihre individuelle Schuld strafrechtlich haftbar gemacht werden können, daß sie aber nicht darüber hinaus die Verantwortung für das Verhalten ihrer Kollegen tragen müssen. Dem würde es widersprechen, wenn man die pflichtgemäß Votierenden über den Umweg einer strafrechtlich sanktionierten Garantenpflicht letztlich doch für von ihnen nicht getragene rechtswidrige Entscheidungen bestrafen würde 54 . Außerdem würde eine GarantensteIlung erfordern, daß das einzelne Mitglied des Kollegialorgans die von diesem evtl. ausgehende Gefährdung aktiv steuern könnte. In der Konsequenz hieße das, daß der einzelne Entscheidungsträger nicht nur die Kontrolle über sein eigenes (Abstimmungs-) Verhalten, sondern gleichzeitig auch Entscheidungsgewalt über das Kollegium an sich haben müßte. Anderenfalls wäre es ihm nicht möglich, eventuelle Garantenpflichten bezüglich der vom Organ gesteuerten Aktivitäten zu erfül53

Vgl. oben S. 173 ff.

Diese Vorgehensweise wäre der von Walder, FS Spendei, S. 368 ff., für die Beurteilung des Falles BGE IV 1987, 58 ff., vorgeschlagenen Lösung vergleichbar und wurde bereits oben S. 154 ff. abgelehnt. 54

12*

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Teil 2: Kausalitäts- und Täterschaftsfragen

len. Ein Kollegium aus gleichgeordneten Mitgliedern ist aber bereits per se dadurch charakterisiert, daß nur eine zusammenwirkende Mehrheit von Kollegiumsmitgliedern dessen Tätigkeit steuern kann. Es würde dem Wesen des Kollegialorgans widersprechen, wenn jedes der eigentlich gleichgeordneten Mitglieder bereits getroffene Entschlüsse im nachhinein kippen könnte, ohne daß hierin ein Verstoß gegen die innerhalb des Kollegiums bestehenden Regeln liegen würde. Die Konstituierung einer derartigen strafrechtlichen Verpflichtung würde der tatsächlichen Situation also gänzlich zuwiderlaufen 55 . Aus diesen Gründen scheidet eine strafrechtliche Verantwortlichkeit der pflichtgemäß Abstimmenden auch unter dem Gesichtspunkt eines unechten Unterlassungsdelikts aus. 6. Sukzessive Mittäterschaft?

Zu untersuchen ist weiterhin, ob eine täterschaftliche Beteiligung der pflichtgemäß Votierenden statt aus deren Abstimmungsverhalten aus ihrem nachfolgenden Verhalten abgeleitet werden kann. Zunächst könnte man an die Möglichkeit einer sukzessiven Mittäterschaft bezüglich des auf der Mehrheitsentscheidung beruhenden Verletzerverhaltens denken. Führt der Betreffende die Entscheidung (mit) aus - gleichgültig, ob durch aktives Tun oder durch Unterlassen -, so könnte man evtl. argumentieren, daß hierin ein die Tatherrschaft vermittelnder Tatbeitrag liege und auch der Wille zum Ausdruck komme, die von der Mehrheit beschlossene Tat (mit-)täterschaftlich auszuführen 56. Man müßte dann darlegen, daß der Betreffende zwar nicht aktiv an der Tatplanung teilgenommen habe, sich aber in einem späteren Stadium dem getroffenen Entschluß angeschlossen und dies auch durch seine Mitwirkung im Ausführungsstadium bewiesen habe. Um hierüber zu entscheiden, ist eine Auseinandersetzung mit dem bereits mehrfach zitierten "Wesen der Kollektiventscheidung"57 erforderlich. Charakteristisch für die Kollegialentscheidung ist der Umstand, daß die einmal gebildete Mehrheit über das nachfolgende Verhalten auch der Minderheit entscheidet. Die von der Mehrheit getroffene Entscheidung ist auch für die Minderheit, die anderer Meinung ist, verbindlich und von allen Mitgliedern des Kollegiums zu befolgen. Diese auch bei vorhandenen Gegenstimmen bestehende Verbindlichkeit entspricht dem Wesen der Kollegialentscheidung. Sie beinhaltet auch die 55

Anders fur Ausnahmefälle Eidam, S. 176.

Die nachfolgenden Erörterungen basieren auf der oben S. 165 vorangeschickten Prämisse, daß primärer Anknüpfungspunkt des strafrechtlichen SchuldvOIwurfs das auf der Entscheidung beruhende erfolgsursächliche Verhalten und nicht die Entscheidungsfindung an sich ist. 57 Vgl. OLG Stuttgart, JZ 1980, 776; GaU, Produkthaftungshandbuch, § 46 Rn. 23, sowie die Ausfuhrungen hierzu im Rahmen der vorliegenden Arbeit auf S. 173 ff. 56

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Verpflichtung rur ihre Gegner, in Unterwerfung unter die Mehrheit an der Umsetzung der Entscheidung - soweit erforderlich - aktiv mitzuwirken. Gegen die Bildung von Kollegialorganen mit einem derartigen Entscheidungsmodus bestehen keine grundsätzlichen gesetzlichen Reglementierungen. Das zeigt, daß das Strafrecht diese Art der Entscheidungsfindung als legal anerkennt. Daneben wurde in den vorhergehenden Ausruhrungen erarbeitet, daß bei einer pflichtwidrigen, strafrechtlich relevanten Entscheidung des Kollegiums diejenigen Mitglieder hierrur nicht zur Verantwortung gezogen werden, die gegen diese Entscheidung votiert haben. Wollte man aber die Stratbarkeit der Betroffenen über die Figur der sukzessiven Mittäterschaft begründen, so würde man hierdurch diese bei den Grundsätze wieder entwerten. Zunächst würde das Strafrecht über diesen Umweg dann doch die Mitgliedschaft in einem Kollegialorgan an sich sanktionieren: Denn wenn es gerade dem "Wesen der Kollektiventscheidung" entspricht, daß die getroffenen Beschlüsse auch rur die Gegenansicht verbindlich sind, und wenn man dies durch die allgemeine rechtliche Anerkennung von Kollegialorganen gleichsam rur strafrechtlich unbedenklich erklärt, so kann man es den Mitgliedern eines Kollegialorgans nicht andererseits als stratbarkeitsbegründend vorhalten, daß sie sich dieser "Eigenart" der Kollektiventscheidung auch anpassen. Anderenfalls würde man von den Betreffenden verlangen, daß sie sich weigern, die Mehrheitsentscheidung zu implementieren. Das aber wäre inkonsequent, wenn man grundsätzlich die Kollegialentscheidung rur zulässig hält. Würde man nämlich eine derartige "Auflehnungspflicht" konstruieren wollen, so wäre ein verbindlicher Beschluß des Kollegiums nie mit Sicherheit zu erzielen. Die Figur des entscheidenden Kollegialorgans wäre von vornherein zum Scheitern verurteilt, da jedes Mitglied unter Umständen zum Boykott getroffener Beschlüsse (straf-)rechtlich verpflichtet sein könnte. Letztlich könnte damit keine Entscheidungsbefugnis auf ein durch Mehrheitsentscheidungen agierendes Kollegialorgan übertragen werden, da jederzeit im Ausruhrungsstadium mit dem Widerstand unterlegener Kollegen gerechnet werden müßte 58 • Darüber hinaus würde es der bereits erlangten Erkenntnis59 widersprechen, wenn man einerseits die Straflosigkeit der gegen eine rechtswidrige Entscheidung Votierenden feststellt, andererseits aber auf die konsequente Unterordnung unter die bestimmende Mehrheit abstellen und dadurch dennoch zur Stratbarkeit gelangen wollte. Damit würde man den Schutz des pflichtgemäß Votierenden vor Bestrafung wieder entwerten, indem man es ihm zum Vorwurf machte, S8 Anders wäre dies, wenn innerhalb des Kollegiums Entscheidungen nur einstimmig getroffen werden könnten. Dann würde das nachträgliche AusfUhren der pflichtwidrigen Entscheidung bereits deswegen nicht im hier geschilderten Sinne relevant, weil sämtliche Kollegen ohnehin wegen ihres rechtswidrigen Abstimmungsverhaltens als (Mit-)Träger der Entscheidung und somit auch des erfolgsursächlichen Verhaltens zur Verantwortung gezogen werden könnten. S9 Oben S. 173 fT.

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Teil 2: Kausalitäts- und Täterschaftsfragen

sich so verhalten zu haben, wie das vom Mitglied eines Kollegiums grundsätzlich erwartet wird. Das aber wäre sinnwidrig und kann daher nicht richtig sem. Aus diesen Gründen ist eine Strafbarkeit der Gegner von rechtswidrigen Entscheidungen als sukzessive Mittäter der auf der Basis der Mehrheitsentscheidung erfolgenden (Straf-)Tat nicht gegeben. Die Ausführung der getroffenen Entscheidung entspricht dem für Kollegialorgane wesentlichen Prinzip, daß die Minderheit sich dem Willen der Mehrheit zu beugen hat. 7. Gänzliche Straflosigkeit der pflichtgemäß votierenden Kollegiumsmitglieder?

Die aufgestellten Grundsätze haben allerdings nicht zur Folge, daß die pflichtgemäß Abstimmenden unter allen Umständen straffrei ausgehen, wenn sie außer dem negativen Votum nichts zur Verhinderung drohender Tatbestandsverwirklichungen auf der Grundlage von Kollegialentscheidungen unternehmen. a) Strafbarkeit als Gehilfe Durch sein Verhalten nach der Beschlußfassung im Kollegium kann sich der ursprünglich pflichtgemäß abstimmende Entscheidungsträger als Gehilfe seiner Kollegen bei der Umsetzung des rechtswidrigen Beschlusses strafbar machen. Dann muß er im Ausführungsstadium bei der Verwirklichung des Tatplans aktiv Hilfe geleistet haben. Hält sich der Beitrag des Betroffenen dabei innerhalb des durch die Unterwerfung unter die Mehrheitsmeinung vorgegebenen Rahmens, so reicht dies zur Begründung einer Strafbarkeit als Gehilfe nicht aus. Vielmehr muß der potentielle Gehilfe durch sein Verhalten klar zu erkennen geben, daß er mehr tun will, als es seiner Pflicht zur Gewährleistung der Verwirklichung der Mehrheitsmeinung entspricht. Dafür reicht es nicht, wenn er sich lediglich dem Votum der Mehrheit unterwirft, sondern der Wille zur aktiven Förderung der Tat der Kollegen muß klar zum Ausdruck kommen. Es muß sich also in gewisser Weise um einen Sinneswandel handeln, wenn der Betreffende aktiv Hilfe leistet. Anderenfalls liegt im Ausführungsbeitrag nicht mehr als die Erfüllung von Pflichten als Kollegiumsmitglied. Daß allein aus der Erfüllung dieser Unterwerfungspflicht im Kollegium noch kein strafrechtlicher Schuldvorwurf abgeleitet werden kann, wurde bereits mehrfach dargelegt60 • Die Grenzziehung zwischen bloßer Pflichterfüllung als Organrnitglied und aktiver Hilfeleistung zur Tat der Kollegen muß hier jeweils nach Lage des Einzelfalles erfolgen. Die in diesem 60

Vgl. S. 173 fT.

Fallgruppe 2: Abstimmung 6: 5 für pflichtwidrige Entscheidung

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Zusammenhang zu erwartenden Beweisschwierigkeiten sind im Interesse einer den Anforderungen des strafrechtlichen Schuldprinzips entsprechenden Würdigung der Geschehnisse hinzunehmen.

b) Strafbarkeit nach § 138 Abs. 1 StGB Daneben kommt in Extremfällen, bei denen das Bevorstehen einer Straftat offensichtlich war, eine Pflicht zum nachträglichen Vorgehen gegen die Entscheidung für ein bestimmtes Verhalten unter dem Gesichtspunkt des § 138 Abs. I StGB noch vor Umsetzen der Entscheidung in Betracht. Eine Strafbarkeit aus einem echten Unterlassungsdelikt ist daher ebenfalls möglich. Diese Lösung ist der vorgeschlagenen Konstruktion eines unechten Unterlassungsdelikts wegen des unterlassenen Widerspruchs gegen die getroffene Entscheidung 61 vorzugswürdig, weil sie sich innerhalb der hergebrachten Strafrechtsdogmatik hält. Es wird kein "Sonderrecht" für die Mitglieder von Kollegialorganen geschaffen, innerhalb dessen die Garantenpflicht letztlich aus der bloßen Mitgliedschaft im Kollegium abgeleitet würde, ohne daß hierfür neben der Zweckmäßigkeit weitere Argumente aus der Systematik des Strafrechts aufgezählt werden könnten. Eine Strafbarkeit aus § 138 Abs. 1 StGB ist allerdings nur in Extremfällen möglich. Abgesehen davon, daß es sich bei der bevorstehenden Tat um eine Katalogstraftat nach § 138 Abs. 1 StGB handeln muß, kann der Tatbestand nur erfüllt sein, wenn zweifelsfrei ersichtlich war, daß ein Verhalten auf der Grundlage der Kollegialentscheidung unweigerlich zur Verletzung eines Strafgesetzes führen würde. IV. Ergebnis zu Fallgruppe 2 1. Zur Strafbarkeit der Kollegiumsmitglieder

Nach alle dem beurteilt sich die Strafbarkeit der Kollegiumsmitglieder wie folgt: Die pflichtgemäß votierenden Entscheidungsträger sind nicht (sukzessive 62 ) Mittäter63 der auf der Entscheidung basierenden Straftat, da sie weder den Entschluß hierzu aktiv mittragen64 noch Tatherrschaft über seine Ausfüh-

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63 64

Vgl. dazu die Ausfuhrungen zu Punkt 5 auf S. 178 ff. Siehe S. 180 f. Siehe S. 175 f. Siehe S. 176.

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Teil 2: Kausalitäts- und Täterschaftsfragen

rung haben65 noch einen kausalen Tatbeitrag66 für den Verletzungserfolg liefern. Sie sind auch nicht wegen eines unechten Unterlassungsdelikts zu bestrafen, da es an einer Garantenpflicht des Einzelnen zur Verhinderung rechtswidrigen Verhaltens seiner gleichgeordneten Kollegen fehlt und dieser daher nicht zum nachträglichen Einschreiten gegen einen rechtswidrigen Beschluß verpflichtet ist67 • Eine Strafbarkeit als Gehilfe bei der Straftat der Kollegen sowie in Extremfällen aus § 138 Abs. I StGB 68 ist möglich, sofern hierfür die jeweiligen Tatbestandsvoraussetzungen vorliegen. Die pflichtwidrig votierenden Kollegiumsmitglieder sind als Mittäter bezüglich des verursachten Verletzungserfolgs zu bestrafen69 • 2. Übertragbarkeit des gewonnenen Ergebnisses auf andere Fallgestaltungen

Die Beurteilung des Verhaltens der der unterliegenden Minderheit angehörenden Entscheidungsträger gilt in allen Fallkonstellationen gleichermaßen, in denen die pflichtgemäß Votierenden bei der Abstimmung unterliegen - unabhängig davon, wie hoch die Mehrheit im einzelnen ausfällt.

v. Annex: Zur strafrechtlichen Würdigung einer in geheimer Abstimmung erfolgten Mehrheitsentscheidung Als Ausgangspunkt so11 das in Fa11gruppe 2 beschriebene Abstimmungsergebnis 70 dienen. A11erdings erfolgte die Mehrheitsentscheidung im Wege einer geheimen Abstimmung, und es wird nicht bekannt, zu welcher Gruppe die Entscheidungsträger jeweils gehörten. Dann ste11t sich das Problem, wer die Verantwortung für den auf der Grundlage der rechtswidrigen Entscheidung verursachten Verletzungserfolg zu tragen hat. Denkbar sind zwei Lösungsansätze: Entweder die Verantwortung wird auf das Gesamt-Gremium übertragen, und so werden a11e Kollegiumsmitglieder - auch diejenigen, die ein pflichtgemäßes Votum abgaben - als Mittäter bezüglich des Delikts bestraft. Oder man entscheidet sich dafür, wegen der nicht aufklärbaren Tatsachengrundlage nach dem Grundsatz in dubio pro reo für jedes einzelne Kol-

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Oben S. 175 f. Oben S. 172 f. Oben S. 180 f. Vgl. S. 182 f. S.o. S. 172. Vgl. oben S. 169.

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legiumsmitglied zu unterstellen, es habe der pflichtgemäß abstimmenden Minderheit angehört. Wählt man die erstere der Entscheidungsmöglichkeiten, so führt dies zu einer Abweichung von den im Rahmen der Fallgruppe 2 erarbeiteten Grundsätzen: Für die Mitglieder im Kollegialorgan würde eine "Sippenhaftung" eingeführt, der sich die Betroffenen keinesfalls entziehen könnten, es sei denn, sie verlangten jeweils die protokollarische Aufzeichnung ihres pflichtgemäßen - Abstimmungsverhaltens. Eine derartige Lösung wird im Schrifttum teilweise vorgeschlagen 7!. Gegen diese Ansicht spricht aber, daß bei einer derartigen Vorgehensweise faktisch ein strafrechtlich sanktioniertes Verbot geheimer Abstimmungen in Kollegialorganen eingeführt würde, ohne daß hierfür eine ausdrückliche gesetzliche Regelung existieren würde. Obwohl eine solche Rechtslage zur Klärung strafrechtlicher Verantwortlichkeiten wünschenswert wäre, kann diese nicht durch eine entsprechende Handhabung der Fälle durch die Strafgerichte eingeführt werden, ohne daß hierfür eine gesetzliche Grundlage geschaffen wird. Deswegen muß auch für den Fall geheimer Abstimmung daran festgehalten werden, daß die pflichtgemäß votierenden Entscheidungsträger nicht für den herbeigeführten Verletzungserfolg zur Verantwortung zu ziehen sind. Wenn dies so ist, dann kann man für keines der Kollegiumsmitglieder in der hier vorliegenden Konstellation die Strafbarkeit begründen. Denn wenn jeweils ein pflichtwidriges Abstimmungsverhalten nicht zweifelsfrei nachweisbar ist, so muß in dubio pro reo unterstellt werden, daß der Betroffene zu den pflichtgemäß votierenden Entscheidungsträgern gehört hat. Eine Strafbarkeit wegen der Herbeiführung des Verletzungserfolgs scheidet damit im Ergebnis für sämtliche Kollegiumsmitglieder aus. Das führt zu dem unbefriedigenden Ergebnis, daß keines der Organmitglieder zu bestrafen ist 72 , während ein Verletzungserfolg zweifelsfrei durch die Tätigkeit des Kollegiums in seiner Gesamtheit herbeigeführt wurde. Diese Situation muß aber in Fortführung der aufgestellten Grundsätze hingenommen werden, möchte man nicht für die Beurteilung der Tätigkeit in Kollegialorganen eine von der hergebrachten Strafrechtsdogmatik abweichende Wertung vornehmen 73 • Zu beachten ist auch noch, daß nicht in allen Konstellationen die Straflosigkeit der in geheimer Abstimmung entscheidenden Kollegiumsmitglieder festzustellen ist: Liegt eine einstimmig gefaßte Mehrheitsentscheidung vor, so sind alle Mitglieder als Mittäter des Delikts zu bestrafen. Grundsätzlich können sich die Kollegiumsmitglieder daher bei einer 71

Pleitner / Sürder, Teil 3/8, S. 19.

Auch eine Bestrafung wegen Falschaussage vor Gericht oder wegen Strafvereitelung kann wegen des Prinzips in dubio pro reo jeweils nicht angenommen werden, denn jedes der Mitglieder könnte der pflichtgemäß votierenden Minderheit angehört haben. 73 Daß dies grundSätzlich vermieden werden sollte, wurde bereits in anderem Zusammenhang festgestellt, vgl. oben S. 61, 161. 72

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Teil 2: Kausalitäts- und Täterschaftsfragen

geheimen Abstimmung nicht auf die dadurch ausgeschlossene strafrechtliche Verantwortlichkeit verlassen, weil sie immer das Risiko einer einstimmigen pflichtwidrigen - Entscheidung und damit der Stratbarkeit auf sich nehmen müssen. -

Ergebnis

Beweisschwierigkeiten bei einer geheimen Abstimmung können nicht dadurch umgangen werden, daß dann alle Kollegiumsmitglieder in einer "Sippenhaftung" für den Eintritt des Verletzungserfolgs zur Verantwortung gezogen werden 74 • Um die damit verbundene unbefriedigende Sachlage, daß möglicherweise alle Kollegiumsmitglieder straffrei ausgehen, auszuscheiden, sollte überlegt werden, ob eine gesetzliche Regelung bezüglich des Verbots geheimer Abstimmung in Kollegialorganen eingeführt werden sollte. Dies würde jedenfalls dem allgemeinen Grundsatz entsprechen, daß auch die Mitglieder von Kollegialorganen für ihre Entscheidungen im Rahmen ihrer Tätigkeit im Kollegium (straf-)rechtlich einzustehen haben.

Abwandlung zu Fallgruppe 2 Der Vollständigkeit halber soll im Rahmen der Fallgruppe 2 der dieser Konstellation gegenteilige Fall erörtert werden. Es soll untersucht werden, wie die strafrechtliche Beurteilung aussehen würde, wenn die Mehrheitsverhältnisse umgekehrt ausgefallen wären, die Befürworter einer pflichtgemäßen Entscheidung also mit einer Stimme Mehrheit obsiegt hätten. Dann wäre wegen der pflichtgemäßen Entscheidung erfolgsursächliches Verhalten und damit der tatbestandsmäßige Erfolg verhindert worden 7s • Es fragt sich aber, ob die Gruppe der pflichtwidrig abstimmenden Minderheit sich dann wegen Versuchs des in Frage kommenden Delikts stratbar gemacht hätte. Zu beachten ist hierbei zunächst, daß die Versuchsstratbarkeit ausschließlich im Rahmen eines Vorsatzdelikts in Betracht kommt. Die nun folgenden Ausführungen bilden deswegen eine Ausnahme zu der vorausgeschickten Feststellung 76 , daß die Erörterungen sowohl für Vorsatz- wie auch für Fahrlässigkeitsdelikte Geltung beanspruchen.

So auch Neudecker, S. 245. Dies ergibt sich aus dem unterstellten Kausalzusammenhang zwischen rechtswidriger Entscheidung und Eintritt des Verletzungserfolgs; vgl. hierzu bereits S. 166. 76 Oben S. 169 f. 74

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Abwandlung zu Fallgruppe 2

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A. Zur Strafbarkeit wegen eines Verbrechensversuchs Eine Versuchsstrafbarkeit kommt nur in Betracht, wenn es sich um ein Verbrechen im Sinne der §§ 23 Abs. 1, 12 Abs. 1 StGB handelt. Liegt ein derartiges Delikt (möglicherweise) vor, so erfordert die Versuchsstrafbarkeit grundsätzlich das Vorliegen zweier Tatbestandselemente, nämlich erstens des Tatentschlusses und zweitens des unmittelbaren Ansetzens zur Tatbestandsverwirklichung 77 • I. Tatentschluß

Der individuelle Tatentschluß kann bei den pflichtwidrig Abstimmenden in der Willensäußerung durch die Stimmabgabe gesehen werden. Die potentiellen (Versuchs-)Täter haben damit den Willen kundgetan, pflichtwidriges Verhalten durch die Ausführung des von ihnen unterstützten (letztlich aber wegen der obsiegenden Mehrheit nicht zustande gekommenen) Beschlusses zu verursachen, wobei sie den Eintritt eines Verletzungserfolgs (zumindest) billigend in Kauf genommen haben. Es sind hier zwei Ebenen der Willensbildung zu unterscheiden: Zunächst entscheidet das einzelne Kollegiumsmitglied, wie es bei der Abstimmung votieren möchte. Diese Entscheidung bildet den Entschluß zur (Nicht-) Teilnahme an einem möglicherweise als Straftat zu qualifizierenden Verhalten. Dann wird im Rahmen der Mehrheitsentscheidung die Handlungsherrschaft des Kollektivs hergestellt. In dieser Mehrheitsentscheidung schlagen sich die Einzelentschlüsse der Kollegiumsmitglieder unter Umständen als (kausale) Beiträge zum nachfolgenden Geschehen nieder78 • Der individuelle Entschluß zur fraglichen Tat liegt im gegebenen Fall zwar vor, die Kollektiventscheidung als Produkt der Abstimmung kommt dennoch nicht zustande. Da im Strafrecht der individuelle Schuldvorwurf ausschlaggebend ist, muß das Merkmal des Tatentschlusses zunächst speziell für das einzelne pflichtwidrig votierende Kollegiumsmitglied bejaht werden. Der Tatentschluß im Kollegium darf im Gegensatz dazu nicht als spezifische Organhandlung aufge faßt werden, sondern die Beschlußfassung im Gremium ist als Konstituierung eines gemeinsamen Tatplans durch dessen Mitglieder zu verstehen. Im hier zu erörternden Zusammenhang kann nur die Vorstufe der Entscheidung im Kollektivorgan für die strafrechtliche Beurteilung relevant werden. Da sich die Beiträge der pflichtwidrig Votierenden in der gegebenen Fallkonstel77 Vgl. zu den Voraussetzungen der Versuchsstrafbarkeit DreherlTröndle, § 22 Rn. 9 ff.; Sch I Sch lEser, § 22 Rn. 5 ff.; Wesseis, Rn. 596 ff. 78

Vgl. hierzu oben S. 116.

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lation nicht als kausal für ein Verletzerverhalten erwiesen haben 79 , muß der mögliche Unrechtscharakter ihrer Entscheidung bezüglich des eigenen Abstimmungsverhaltens gewürdigt werden. Für diese Vorstufe läßt sich feststellen, daß jeder der pflichtwidrig Votierenden den (individuellen) Tatentschluß hatte, mit seinen Kollegen zusammen auf eine entsprechende Gesamtentscheidung hinzuwirken. Das bedeutet, daß jeder der pflichtwidrig Abstimmenden den Entschluß gefaßt hatte, für den Fall des Obsiegens der eigenen Meinung den entsprechenden Beschluß mit zu tragen und auszuführen. Damit war die Tatbegehung für jedes Mitglied der Minderheit nur noch von äußeren Faktoren - nämlich dem Abstimmungsverhalten der Kollegen - abhängig. Ein derart "bedingt" gefaßter Tatentschluß reicht für den individuellen Schuldvorwurf im Rahmen der Versuchsstrafbarkeit aus, da dieser Entschluß für den Fall des Eintritts des durch den Betreffenden nicht beeintlußbaren äußeren Umstands unbedingt ist. Das Erfordernis eines jeweils individuellen Tatentschlusses ist also zu bejahen, auch wenn eine dementsprechende Gesamtentscheidung des Kollektivs nicht zustande kam.

11. Unmittelbares Ansetzen zur Tatbestandsverwirklichung Neben dem Tatentschluß muß als objektive Voraussetzung des Verbrechensversuchs ein unmittelbares Ansetzen zur Tat vorliegen80 • Beim Merkmal des Eintritts in die aktive Tatbestandsverwirklichung muß zunächst eine grundsätzliche Unterscheidung zwischen Begehungs- und Unterlassungsdelikt getroffen werden. Während sich dieses Merkmal im Bereich der Begehungsdelikte am unmittelbaren Ansetzen zur Tatbestandsverwirklichung ablesen läßt, kommt es bei den Unterlassungsdelikten auf das Verstreichenlassen von Rettungsmöglichkeiten an 81 • In diesem Teilbereich müssen die Erörterungen deshalb speziell für den jeweiligen Deliktstyp erfolgen. 1. Versuchsbeginn beim Begehungsdelikt

Der Nachweis des unmittelbaren Ansetzens zur Tatbestandsverwirklichung erweist sich als problematisch. Das hierfür in Betracht kommende Verhalten erschöpft sich in der Meinungsäußerung bei der Mehrheitsentscheidung. Nur wenn man hierin ein unmittelbares Ansetzen zur Tatbestandsverwirklichung 79 Vgl. hierzu die Ausfiihrungen zur (fehlenden) Kausalität des Abstirnrnungsverhaltens der pflichtgemäß votierenden Gruppe im vorangehenden Fall, oben S. 172 f. 80 Sch / Sch / Eser, § 22 Rn. 36 fT. 81 Wesse/s, Rn. 708.

Abwandlung zu Fallgruppe 2

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sehen könnte, wäre eine Versuchsstrafbarkeit möglich. Stellte die Beschlußfassung im Kollegium bereits den Beginn der Verletzungshandlung dar, so wäre dies der Fall. Wie aber eingangs82 bereits klargestellt wurde, ist auch bei der Würdigung von Kollegialentscheidungen daran festzuhalten, daß die Beschlußfassung allein noch nicht die Strafbarkeit begründet. Auch innerhalb der hier behandelten Materie knüpft der strafrechtliche Schuldvorwurf nicht bereits an die Planung, sondern erst an die Ausführung des Plans an. Wenn aber - wie hier konstruiert - eine Ausführung nicht begonnen wird, weil der dafür erforderliche legitimierende Entschluß mangels Mehrheit gar nicht erst zustande kommt, dann kann auch ein unmittelbares Ansetzen zur Tatbestandsverwirklichung nicht bejaht werden. In concreto haben die Betroffenen nur den (Individual-)Willen geäußert, eine Verwirklichung zu unterstützen, falls hierfür eine Mehrheit zustande kommen sollte. Das ist charakteristisch für die Kollegialentscheidung, denn das Kollegium wird erst durch die Mitwirkung einer Mehrheit seiner Mitglieder "handlungsfähig". Ein Entscheidungsträger allein hingegen hat nicht die Macht, bestimmte Verhaltensweisen durch die Aktivität des Kollegialorgans ohne Mitwirkung seiner Kollegen herbeizuführen. Allein die Willensäußerung des einzelnen Kollegiumsmitglieds stellt daher noch nicht den Eintritt in die aktive Tatbestandsverwirklichung dar. Denn wenn noch kein verbindlicher (Kollektiv-)Entschluß für ein Verletzerverhalten gefaßt ist, so kann im Einzelbeitrag zur nicht zustande gekommenen Entscheidung auch noch kein unmittelbares Ansetzen zur Tatbestandsverwirklichung gesehen werden. Dies ist bereits begrifflich ausgeschlossen, wenn - wie es der hier vorgetragenen Ansicht entspricht83 die Erfüllung der objektiven Tatbestandsmerkmale erst in Ausführung der getroffenen Mehrheitsentscheidung auf diese folgt. Für den Fall des Begehungsdeliktes ist daher ein unmittelbares Ansetzen zur Tatbestandsverwirklichung nicht gegeben. 2. Versuchsbeginn beim Unterlassungsdelikt

Bei den (un-)echten Unterlassungsdelikten kommt es für den Versuchsbeginn darauf an, ob der potentielle Täter (eine) Rettungsmöglichkeit(en) bezüglich des gefährdeten Rechtsguts in vorwerfbarer Weise nicht wahrgenommen hat84 • Eine Auseinandersetzung mit der kontrovers diskutierten Frage, ob der Versuch bereits beim Verstreichenlassen der ersten85 oder erst der letz-

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M

85

Siehe S. 165.

Oben S. 165. Kühl, 18/,143; Welzel, § 28 IV, S. 221; Wesseis, Rn. 744 f. So Dreher/Tröndle, § 22 Rn. 22; Herzberg, MDR 1973, 93; Lönnies, NJW 1962,

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190

ten 86 Rettungsmöglichkeit beginnt, oder ob man auf den Grad der eingetretenen RechtsgutsgeHihrdung abstellen sollte87 , kann unterbleiben, weil es darauf im gegebenen Fall nicht ankommt. Denn entscheidend für den Versuchsbeginn ist zunächst, daß sich das vom Täter zu "rettende" Rechtsgut in Gefahr befindet88 • Das kann aber frühestens dann der Fall sein, wenn sich das Kollegium bereits für ein pflichtwidriges Verhalten entschieden hat. Solange demgegenüber noch gar nicht sicher ist, ob das Kollegium sich evtl. auch für pflichtgemäßes Verhalten entscheiden wird, wäre es sinnwidrig, vom Betreffenden bereits vor einer Entschlußfassung die "Rettung" eines möglicherweise gar nicht gefahrdeten Rechtsguts zu erwarten. Solche Maßnahmen müssen also frühestens ab dem Vorliegen eines rechtswidrigen Beschlusses ergriffen werden. Da es so weit aber im hier gebildeten Fall nicht kam, bestand für die potentiellen Täter auch noch keine Handlungspflicht. Aus diesem Grund fehlt es auch im Fall des Unterlassungsdelikts am objektiven Tatbestand des Verbrechensversuchs. -

Ergebnis A

Eine Strafbarkeit der pflichtwidrig votierenden Kollegiumsmitglieder wegen eines Verbrechensversuchs scheidet mangels Vorliegens des objektiven Tatbestands aus.

B. Zur Strafbarkeit wegen Verbrechensverabredung nach § 30 Abs. 2 StGB Abschließend sei auf die Bedeutung des § 30 Abs. 2 StGB in diesem Zusammenhang hingewiesen: Man könnte in Erwägung ziehen, eine Strafbarkeit der potentiellen Täter unter dem Gesichtspunkt der Verbrechensverabredung zu bejahen89 . Auch diese Möglichkeit ergibt sich nur unter der gesetzlichen Voraussetzung einer konkreten Normierung der Strafbarkeit im Rahmen des 1950 f.; Maihafer, GA 1958, 293 f.; Schräder, JuS 1962, 86 f.; ablehnend hierzu äußern sich: Kühl, 181 146; LK 1 Vogler, § 22 Rn. 110; Sch I Sch lEser, § 22 Rn. 50. 86 So Grünwald, JZ 1959, 49 (er stellt neben der letztmöglichen Eingriffsmöglichkeit noch auf die größte Erfolgschance ab); Kaufmann, Unterlassungsde1ikte, S. 213 ff.; Welzel, § 28 IV, S. 221; ablehnend hierzu äußern sich: Kühl, 18/147; LKI Vogler, § 22 Rn. 111; Sch I Sch lEser, § 22 Rn. 48. 87 So Jescheck, § 60 II 2; Kühl, 18/148 f.; LK/Jescheck, § 13 Rn. 47; SchiSchlEser, § 22 Rn. 50; Wesseis, Rn. 744 f. 88 LK /Jescheck, § 13 Rn. 47. 89

Vgl. zu diesem Problemkreis auch Neudecker, S. 247 f.

Abwandlung zu Fallgruppe 2

191

in Betracht kommenden Delikts90 • Der Schritt zur Untersuchung der Strafbarkeit aus § 30 Abs. 2 StGB scheint hier folgerichtig, weil oben die Voraussetzung des individuellen Tatentschlusses für die pflichtwidrig abstimmenden Kollegiumsmitglieder bejaht wurde 91 • Hieraus könnte man möglicherweise auf die Strafbarkeit nach § 30 Abs. 2 StGB schließen. Dem steht aber das Wesen der Kollegialentscheidung entgegen. Es muß bei der strafrechtlichen Beurteilung unterschieden werden zwischen der Sichtweise des Individuums als Kollegiumsmitglied und den Wirkungen von Aktivitäten des Kollegiums im Außenverhältnis. Zwar kann der Tatentschluß des einzelnen Kollegiumsmitglieds zur Förderung einer entsprechenden Tat bzw. zu deren Ausführung unproblematisch aus seinem Abstimmungsverhalten abgelesen werden. Andererseits kann aber bei einem Kollegialorgan eine "Verabredung" im Sinne des § 30 Abs. 2 StGB nur dann angenommen werden, wenn der Entschluß des Kollegiums, entsprechend zu handeln, bereits feststeht. Das liegt daran, daß das Kollegium nur im Zusammenwirken Einfluß auf die Umwelt nehmen kann. Wesen des Kollegialorgans ist es, daß dieses nur durch das gemeinsame Agieren tätig werden kann. Für die Verbrechensverabredung ist daher erforderlich, daß ein mehrheitlicher Beschluß für die Tatausführung vorliegt. Denn Verabredung im Sinne des § 30 Abs. 2 StGB bedeutet, daß mehrere Täter beschließen, ein Vorhaben gemeinsam auszuführen. Es bedeutet gerade nicht, daß ein einzelner beschließt, im Falle des Mitwirkens anderer zur gemeinsamen Tat bereit zu sein. Der Beschluß des Einzelnen über sein (pflichtwidriges) Abstimmungsverhalten allein würde allenfalls zur Begründung einer Strafbarkeit wegen des Versuchs der Verbrechensverabredung genügen. Dieser ist aber nicht unter Strafe gestellt92 • Nur wenn eine Mehrheitsentscheidung bereits getroffen ist, tritt im Außenverhältnis auch die Gefährdung des betroffenen Rechtsguts ein 93 • In der Konsequenz bedeutet das, daß eine Strafbarkeit der Kollegiumsmitglieder aus § 30 Abs. 2 StGB allenfalls dann in Betracht kommt, wenn die Entscheidung für das potentiell rechtsgutsverletzende Verhalten bereits gefallen ist, der Eintritt in die Ausführungsphase aber noch nicht erfolgt ist94 • Man könnte diesbezüglich aber möglicherweise die Strafbarkeit nach § 30 Abs. 2 StGB bejahen, wenn sich ein bestimmter Teil der Kollegiumsmitglieder untereinander geeinigt hätte, pflichtwidrig zu votieren. Es stellt sich damit die Frage, ob ein Fraktionsbeschluß für pflichtwidriges Abstimmungs-

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Dies bestimmt sich nach Maßgabe des § 12 Abs. 1 StGB. Vgl. S. 187 f.

Vgl. DreherlTrändle, § 30 Rn. 13. Vgl. hierzu bereits die Ausführungen im Rahmen der Versuchsstrafbarkeit, S. 188 ff. 94 Denn dann wäre die Schwelle zum Versuchsbeginn durch unmittelbares Ansetzen überschritten; vgl. S. 188 ff. 92

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verhalten der Fraktionsmitglieder fiir die Strafbarkeit nach § 30 Abs. 2 StOB ausreichend wäre. Die dieser Fraktion angehörenden Kollegiumsmitglieder hätten dann möglicherweise die Begehung eines Verbrechens im Sinne des § 30 Abs. 2 StOB verabredet. Aber auch in diesem Fall ist zu bedenken, daß es wegen des in der übergeordneten Instanz des Oesamtorgans pflichtgemäß getroffenen Beschlusses nicht zu einer "Verabredung" innerhalb des Kollegiums an sich kommt. Allein die Absichtserklärung einer Fraktion kann keine vollendete Verabredung innerhalb des allein entscheidungsberechtigten Oesamtorgans ersetzen. Dieser Umstand genügt allenfalls fiir einen Versuch der Verbrechensverabredung, dessen Sanktionierung aber wiederum an der fehlenden Strafbarkeit scheitert. Wenn sich die pflichtwidrig Votierenden mit ihrer Ansicht im Oesamtorgan nicht durchsetzen können, kommt es demnach nicht zur vollendeten Verabredung. Damit ist auch eine Strafbarkeit der pflichtwidrig votierenden Kollegiumsmitglieder nach § 30 Abs. 2 StOB nicht gegeben. -

Ergebnis B

Kommt bei der Mehrheitsentscheidung keine Mehrheit fiir ein rechtswidriges Verhalten zustande, so fehlt es an einer Verbrechensverabredung im Sinne des § 30 Abs. 2 StOB. Eine Strafbarkeit der pflichtwidrig Abstimmenden nach § 30 Abs. 2 StOB ist nicht gegeben.

C. Ergebnis zur Abwandlung von Fallgruppe 2 I. Zur Strafbarkeit der Kollegiumsmitglieder Eine Versuchsstrafbarkeit der unterlegenen pflichtwidrig abstimmenden Minderheit kommt mangels unmittelbaren Ansetzens zur Tatbestandsverwirklichung nicht in Betracht. Ebenfalls ausscheiden muß eine mögliche Strafbarkeit aus § 30 Abs. 2 StOB, da bei einem Unterliegen der pflichtwidrig abstimmenden Oruppe eine Verabredung im Sinne des § 30 Abs. 2 StOB innerhalb des Kollegiums nicht bejaht werden kann. Infolgedessen bleiben in der Abwandlung sämtliche Mitglieder des Kollegiums straflos.

Fallgruppe 3: Nichtteilnahrne an der Abstimmung

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11. Übertragbarkeit der Beurteilung auf andere Fallgestaltungen Die gewonnenen Ergebnisse sind auf alle Fallgestaltungen übertragbar, in denen die pflichtwidrig votierenden Kollegiumsmitglieder ihren pflichtgemäß votierenden Kollegen bei der Mehrheitsentscheidung unterliegen.

Fallgruppe 3: Strafrechtliche Würdigung bei Nichtteilnahme an der Abstimmung Bei der Abstimmung haben sich fünf Entscheidungsträger für pflichtwidriges Verhalten ausgesprochen, vier dagegen. Zwei Kollegiumsmitglieder (X und Y) waren bei der Abstimmung nicht anwesend, haben aber später vom Ergebnis erfahren und die Entscheidung in ihrem Geschäftsbereich umgesetzt. Was hier die Strafbarkeit der an der Abstimmung teilnehmenden Kollegiumsmitglieder betrifft, so sei auf die Ausführungen zu Fallgruppe 2 verwiesen: Die pflichtwidrig Votierenden haben sich strafbar gemacht, die pflichtgemäß Votierenden (abgesehen von Ausnahmefallen) nicht95 • Problematisch ist in dieser Fallkonstellation, ob die an der Abstimmung nicht beteiligten Mitglieder für den durch die Umsetzung des rechtswidrigen Beschlusses verursachten Verletzungserfolg zur Verantwortung gezogen werden können. Zu klären sind wiederum die Fragen des kausalen Tatbeitrags sowie der 8eteiligungsform, in der dieser etwaige Beitrag durch die Betroffenen geleistet wird.

I. Kausaler Tatbeitrag Drei Komponenten des zu beurteilenden Verhaltens könnten als Anknüpfungspunkte für einen strafrechtlichen Schuldvorwurf dienen: Zunächst kommt das Fernbleiben von der Entscheidungsfindung an sich als strafbares Verhalten in Betracht. Daneben könnte die Tatsache, daß die der Entscheidung Ferngebliebenen diese auch im nachhinein nicht angriffen, zum Schuldvorwurf führen. Schließlich könnte dies unter Hinweis auf die Umsetzung der Entscheidung im jeweiligen Zuständigkeitsbereich des Betroffenen erfolgen 96 • 9;

Vgl. S. 182 f.

Sofern die Entscheidungsträger überhaupt Ausfiihrungsbeiträge leisten. Beispielsweise üben Gemeinderatsmitglieder in der Regel außer der Teilnahme an der Willensbildung im Gesamtorgan keine weitere Funktion innerhalb der Gemeindeverwaltung aus. Die Beschlüsse werden hier durch entsprechende Weisungen des Bürgermeisters an die Verwaltungsträgerais Exekutivorgane umgesetzt. Der Vorwurf an das einzelne Gemeinderatsmitglied kann daher nur an den unterlassenen Widerspruch gegen die getroffene Entscheidung anknüpfen. 96

13 WeiBer

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Teil 2: Kausalitäts- und Täterschaftsfragen

Möglich scheint auch die Strafbarkeitsbegründung durch eine Verknüpfung mehrerer der angeführten Aspekte. Ein Kausalurteil bezüglich des Fembleibens ließe sich im gebildeten Fall anhand der conditio-Formel wie folgt begründen: Wäre auch nur eines der beiden betroffenen Kollegiumsmitglieder bei der Abstimmung anwesend gewesen und hätte pflichtgemäß votiert, so wäre keine Mehrheit für den rechtswidrigen Beschluß zustande gekommen. Die Entscheidung hätte dann mangels Mehrheitsbildung nicht die Grundlage für das Verletzerverhalten abgegeben, sondern es wäre zunächst zu einer Patt-Situation gekommen und so der Verletzungserfolg fürs erste abgewendet gewesen. Auf diese Weise könnte man das Fernbleiben von der Mehrheitsentscheidung als kausalen Beitrag - als conditio sine qua non 97 - für den Eintritt des Verletzungserfolgs qualifizieren. Problematisch ist aber, daß mit diesem Ansatz mittelbar eine strafrechtlich sanktionierte Pflicht aller Kollegiumsmitglieder zur Teilnahme an Entscheidungsprozessen im Gesamtorgan konstituiert würde. Hierdurch entstünde ein krasser Widerspruch der strafrechtlichen Beurteilung zur faktisch innerhalb der Gremien herrschenden Organisationsstruktur. Es wäre realitätsfern, wollte man das (beispielsweise krankheitsbedingte) Fernbleiben von einer Sitzung des Kollegiums dem Betreffenden als strafbares Verhalten vorwerfen, falls dort eine rechtswidrige Entscheidung gefällt wurde. Eine andere Wertung wäre nur bei einer ausdrücklich gesetzlich normierten Teilnahmepflicht der Mitglieder von Kollegialorganen an der Entscheidungsfindung in diesen Gremien möglich. Da dies aber nicht gegeben ist, scheidet eine Anknüpfung des strafrechtlichen Schuldvorwurfs allein an der Nichtteilnahme an der Sitzung aus. Diese Prämisse verbietet es aber nicht, alle drei angeführten Komponenten des Gesamtverhaltens (nämlich Fernbleiben, Unterlassen eines nachträglichen Widerspruchs sowie gegebenenfalls Vornahme von Umsetzungsakten im eigenen Zuständigkeitsbereich) als Ausgangspunkt für ein Kausalurteil zu wählen. Das bedeutet, daß das Fernbleiben von der Entscheidung im Zusammenwirken mit dem nachfolgenden Verhalten als möglicher Kausalbeitrag zu untersuchen ist. Betrachtet man das Verhalten im Gesamtzusammenhang, so zeigt sich, daß eventuell auch nach der versäumten Mehrheitsentscheidung eine Möglichkeit zur Verhinderung des Erfolgseintritts bestehen könnte: Das wäre der Fall, wenn das einzelne Kollegiumsmitglied durch ein pflichtgemäßes nachträgliches Votum die Mehrheitsverhältnisse so umgestalten könnte, daß eine Patt·Situation entsteht. In der gebildeten Konstellation wäre dies angesichts der Mehrheitsverhältnisse 5 : 4 möglich. Würden beide Betroffenen nachträglich pflichtgemäß votieren, so wäre die Mehrheit ins Gegenteil um97 Bei einer geringfiigigen Änderung der Mehrheitsverhältnisse (z.B. 7: 2) würde dieser Nachweis anhand der conditio-Fonnel nicht gelingen.

Fallgruppe 3: Nichtteilnahme an der Abstimmung

195

gekehrt und eine rechtmäßige Entscheidung das Ergebnis der Abstimmung. Damit würde der Verletzungserfolg endgültig entfallen. Man könnte demnach für jeden der bei den Abwesenden den Kausalbeitrag in der Unterlassung eines pflichtgemäßen Votums im Gesamtzeitraum zwischen Mehrheitsentscheidung und Ausführung der Entscheidung durch das Verletzerverhalten sehen. Darüber hinaus könnte man die etwaige Umsetzung der Entscheidung im eigenen Zuständigkeitsbereich als weitere Komponente des so umfassend verstandenen Kausalbeitrags hinzuziehen. Allerdings stellt sich die Frage, ob der hier angeführte Aspekt der Unterlassung eines nachträglichen pflichtgemäßen Votums so grundsätzlich als gegeben betrachtet werden kann. Denn einer derartigen Wertung wird in der Regel die interne Organisation innerhalb des Kollegiums entgegenstehen. Es ist anzunehmen, daß jeweils bestimmte Vorschriften bezüglich der Beschlußfahigkeit des Kollegiums bestehen, d.h., daß ab einer bestimmten Anzahl anwesender Mitglieder die getroffenen Entscheidungen trotz der Nichtteilnahme von verhinderten Mitgliedern verbindlich sind98 . Dann können getroffene Beschlüsse nicht mehr durch ein nachgeholtes Votum der ursprünglich Abwesenden beeinflußt werden. Solche organisatorischen Regelungen müssen in die strafrechtliche Beurteilung einbezogen werden, um ein Auseinanderfallen von realen Verhältnissen und (straf-)rechtlicher Würdigung zu vermeiden. Das bedeutet in der Konsequenz folgendes: Sofern es den an der Mehrheitsentscheidung nicht teilnehmenden Kollegiumsmitgliedern auch nachträglich noch möglich ist, ihr Votum abzugeben, kann die diesbezügliche Unterlassung in Verbindung mit der vorangegangenen unterlassenen Teilnahme an der Kollegialentscheidung, sowie gegebenenfalls der Umsetzung der Entscheidung, als kausaler (Gesamt-)Beitrag im Sinne einer conditio sine qua non 99 gewertet werden. Ist das Kollegialorgan aber so strukturiert, daß eine verbindliche Entscheidungsfindung auch bei nicht vollzähligem Erscheinen der Mitglieder möglich, ein nachträgliches Votum dagegen nicht möglich ist, so kann durch die bei der Entscheidung abwesenden Mitglieder kein kausaler Tatbeitrag mehr geleistet werden. Da eine nachträgliche Einflußnahme auf die getroffene Entscheidung dann ausscheidet, bleibt als möglicher Anknüpfungspunkt für den strafrechtlichen Schuldvorwurf nur das Fernbleiben von der Beschlußfassung. Daß dies für die Begründung eines kausalen Tatbeitrags nicht genügt, wurde bereits festgestellt lOo •

98 Vgl. hierzu beispielsweise die Regelungen zur Beschlußfähigkeit des Gemeinderats in § 37 der Gemeindeordnung von Baden-Württemberg. 99 Dies allerdings nur bei dem gegebenen Stimmenverhältnis 4: 5. Vgl. dazu die Ausführungen im Rahmen der Abwandlung zu Fallgruppe 3, S. 206 ff. !OO Vgl. S. 173 ff.

13·

196

Teil 2: Kausalitäts- und Täterschaftsfragen

Es fragt sich aber, ob in solchen Fällen eine Umsetzung des Beschlusses im eigenen Zuständigkeitsbereich den strafrechtlichen Schuldvorwurf zu begründen vermag. Doch einem solchen Ansatz steht wiederum die organinterne Struktur entgegen: Wenn dem Kollegiumsmitglied nach der internen Organisation keine Möglichkeit mehr offensteht, die Umsetzung zu verhindern, so kann strafrechtlich keine Überschreitung der innerorganisatorischen Kompetenzen gefordert sein 'o, . Das bedeutet auch, daß ein kompetenzwidriges eigenmächtiges Unterlassen einer Umsetzung getroffener Entscheidungen nicht gefordert ist. Deswegen kann allein die erfolgte Ausführung des Beschlusses nicht als strafrechtlich sanktionswürdiger täterschaftlicher Beitrag zur in Verbindung mit der Kollegialentscheidung erfolgenden Straftat gewertet werden. Hierfür fehlt es dem (nur) ausführenden Kollegiumsmitglied an der täterschaftlichen Herrschaft über diesen Beitrag. Wenn es nur die bereits verbindlich getroffene Entscheidung ausführt und ihm außer der Ausführung keine andere Möglichkeit innerhalb der Kompetenzordnung offensteht, kann darin allenfalls der Beitrag eines Gehilfen lO2 zur Haupttat gesehen werden, nicht aber ein den Beiträgen der aktiv entscheidenden Kollegiumsmitglieder gleichwertiger täterschaftlicher Beitrag ,03 • Dies entspricht den im Rahmen der Analyse der Lederspray-Entscheidung erarbeiteten Grundsätzen zur sukzessiven Mittäterschaft (vgl. oben S. 129 ff.). Das führt zu folgendem Zwischenergebnis bezüglich des kausalen Tatbeitrags der bei der Entscheidung nicht anwesenden Kollegiumsmitglieder: Besteht fiir sie keine nachträgliche Einflußmöglichkeit auf die Entscheidung, so fehlt es an einem Kausalbeitrag zur Verursachung des Verletzungserfolgs. Sofern es den ursprünglich Abwesenden auch noch nach der Beschlußfassung im Kollegium möglich ist, ihr (pflichtgemäßes) Votum abzugeben, setzt sich der kausale Beitrag zur Verursachung des Verletzungserfolgs aus mehreren Komponenten zusammen: Zunächst wird an das Fernbleiben angeknüpft, das in Verbindung mit der nachträglichen Unterlassung eines pflichtgemäßen Votums den Beitrag zum pflichtwidrigen Abstimmungsergebnis darstellt. Darüber hinaus kann die Umsetzung der getroffenen Entscheidung im eigenen Zuständigkeitsbereich eine weitere Komponente des Tatbeitrags abgeben. Die Frage, ob sich der Täter wegen eines Begehungs- oder Unterlassungsdelikts strafbar gemacht hat, muß dann jeweils nach der konkreten Sachlage im Einzelfall entschieden werden. In der Regel aber wird der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit im Unterlassungsbe101 Dies wurde im Zusammenhang mit der Analyse der Lederspray-Entscheidung erarbeitet, oben S. 74 f., und im Rahmen der Fallgruppe 2 fortgeführt, S. 180 f. 102 Die Voraussetzungen der Bestrafung als Gehilfe wurden bereits S. 182 f. dargelegt. 103 Vgl. zu den Voraussetzungen hierfür die Ausführungen auf S. 172 f.

Fallgruppe 3: Nichtteilnahme an der Abstimmung

197

reich liegen, da zunächst an das Unterlassen der pflichtgemäßen Stimmabgabe angeknüpft wird '04 . Es ist aber auch denkbar, daß der Unterlassungsbeitrag durch ein gesteigertes Maß an aktiven Ausführungshandlungen bei der tatsächlichen Umsetzung der Kollegialentscheidung gleichsam überlagert wird, so daß der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit im Begehungsbereich liegt und infolgedessen wegen aktiven Tuns zu bestrafen ist. Hierbei handelt es sich aber jeweils um spezifische Fallfragen. -

Ergebnis

Ein kausaler Tatbeitrag der an der Entscheidungsfindung nicht teilnehmenden Kollegiumsmitglieder kann nur bejaht werden, wenn diese auch nach der Beschlußfassung noch die Möglichkeit zur Abgabe ihres Votums hatten und davon pflichtwidrig keinen Gebrauch gemacht haben. Für diesen Fall ist zu untersuchen, in welcher Beteiligungsform der entsprechende Beitrag erbracht wird.

11. (Mit-)Täterschaft? Die nachfolgende Erörterung von Täterschaftsfragen bezieht sich nur auf diejenigen Fälle, in denen den ursprünglich abwesenden Kollegiumsmitgliedern eine nachträgliche Einflußnahme auf das Abstimmungsergebnis noch möglich ist. In den anderen Fällen kann ein kausaler Tatbeitrag nicht festgestellt werden und eine täterschaftliche Beteiligung an der fraglichen Straftat scheidet dann von vornherein aus 105. Die bei der Abstimmung nicht anwesenden Kollegiumsmitglieder könnten zunächst als Mittäter ihrer Kollegen zu qualifizieren sein. Hierzu muß vorausgeschickt werden, daß vorläufig unterstellt wird, daß Mittäterschaft grundsätzlich auch zwischen einerseits Begehungs- und andererseits Unterlassungstätern möglich ist '06 • Auch hierbei handelt es sich jeweils um Fragen des spezifischen Falles, die hier nicht erörtert werden sollen. Im folgenden sollen die Voraussetzungen der Mittäterschaft,07 im einzelnen geprüft werden. Dabei 104 Die GarantensteIlung rur den Fall des Unterlassungsdelikts wird hier wiederum vorausgesetzt, vgl. S. 167. 105 Allein die Mitgliedschaft im Kollegium ruhrt nach den angestellten Untersuchungen, vgl. S. 173 tT., nämlich nicht zur strafrechtlichen (Mit-)Verantwortlichkeit rur die eingetretenen Verletzungserfolge. 106 Vgl. hierzu BGH NJW 1966, 1763; Roxin, Täterschaft, S. 470 f.; Sch/Sch/Cramer, § 25 Rn. 79; LK/ Roxin, § 25 Rn. 164, 215, beschränkt dies allerdings auf den Fall des Ptlichtdeliktes. Jescheck, § 63 IV 2, hält die Annahme von Beihilfe rur den Unterlassungstäter rur besser. 107 Dreher/Tröndle, § 25 Rn. 5 tT., 8 f.; Lackner, § 25 Rn. 9; Maurach/Gössel/ZipJ,

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Teil 2: Kausalitäts- und Täterschaftsfragen

müssen vier mögliche Fallkonstellationen unterschieden werden: Das Kollegium kann entweder vorsätzlich oder fahrlässig die rechtswidrige Entscheidung getroffen haben. Gleiches gilt für die Unterlassung der späteren Einflußnahme hierauf durch die bei der Abstimmung nicht anwesenden Kollegen. Zu untersuchen ist, wie die Täterschaftsfragen für die jeweiligen SchuldformKombinationen zwischen Kollegium und den später hinzutretenden Kollegiumsmitgliedern zu beantworten sind. 1. Mittäterschaft des fahrlässig handelnden Kollegiumsmitglieds X (Y)?

Handelte der Betroffene (X oder Y) bei Unterlassung der nachträglichen Einflußnahme lo8 nicht vorsätzlich, sondern (lediglich) sorgfaltswidrig, so kommt eine Fahrlässigkeitsstratbarkeit in Betracht. War der Eintritt des Verletzungserfolgs objektiv und subjektiv vorhersehbar, so sind in der gegebenen Fallkonstellation objektive und subjektive Vermeidbarkeit l09 unproblematisch gegeben, es sei denn, es fehlt dem Betroffenen an der entsprechenden persönlichen Einsichtsmöglichkeit bezüglich der drohenden Risiken. In diesem Fall ist zu klären, ob er als fahrlässiger Mittäter der an der Abstimmung mitwirkenden Kollegen zu qualifizieren ist. Die Voraussetzungen der fahrlässigen Mittäterschaft wurden bereits im Rahmen der Analyse der Lederspray-Entscheidung erarbeitet llO und sollen hier als Grundlage der durchzuführenden Subsumtion dienen. Hierbei müssen zwei mögliche Fallkonstellationen unterschieden werden, nämlich einerseits ein Vorsatzdelikt der abstimmenden Kollegen, andererseits der Fall, daß auch ihnen eine Fahrlässigkeitstat zur Last gelegt wird. -

Kombination 1: "Fahrlässigkeits- Vorsatz-Kombination ..

Liegt Mittäterschaft des fahrlässig ein nachträgliches Votum unterlassenden Entscheidungsträgers mit seinen vorsätzlich handelnden Kollegen vor? Nach der vorgetragenen Ansicht ist Mittäterschaft denkbar zwischen mehreren vorsätzlich handelnden Tätern und auch zwischen mehreren fahrlässig AT 2, § 49 I Rn. 4; Sch / Sch / Cramer, vor §§ 25 ff. Rn. 85, § 25 Rn. 61, 100; Wesseis,

Rn. 526. 108

dung.

Und gegebenenfalls Leistung von Ausfiihrungsbeiträgen bei Umsetzung der Entschei-

109 Diese ergibt sich aus der hier gebildeten Konstellation, daß den Tätern nach der Mehrheitsentscheidung durch Nachholen des Votums noch die Möglichkeit zur Herstellung einer Patt-Situation, und damit zur Verhinderung des Verletzerverhaltens offensteht. 110 Vgl. oben S. 143 ff., 156.

Fallgruppe 3: Nichtteilnahme an der Abstimmung

199

handelnden Tätern 111. Es wird aber hier das weitere Problem aufgeworfen, ob es eine Mittäterschaft auch geben kann, wenn ein Teil der Täter vorsätzlich, die anderen fahrlässig handeln. Allgemein ist die Mittäterschaft von vorsätzlich handelnden (oder unterlassenden) Tätern dadurch gekennzeichnet, daß sie im bewußten und gewollten Zusammenwirken die Herrschaft über einen schadensbringenden Geschehensablauf gemeinsam ausüben 112. Im Gegensatz dazu wird den fahrlässigen Mittätern vorgeworfen, daß sie einen schadensursächlichen Kausalverlauf sorgfaltswidrig gemeinsam unter Verletzung einer gemeinsamen Pflicht in Gang gebracht haben und diesen nun gerade nicht mehr beherrschen I 13. Während also dem Vorsatztäter die willentliche Lenkung des Geschehensablaufs auf den Verletzungserfolg hin zum Vorwurf gemacht wird, wird dem fahrlässig handelnden Täter das Unvermögen der Beherrschung des schadensbringenden Geschehensablaufs infolge Sorgfaltswidrigkeit vorgeworfen. Das bedeutet, daß beim Vorsatztäter gerade der Umstand strafbarkeitsbegründend wirkt, dessen Fehlen zur Strafbarkeit des Fahrlässigkeitstäters führt - nämlich der Umstand der Beherrschung des Geschehensablaufs. Wegen dieser strukturellen Verschiedenheit von Vorsatz- und Fahrlässigkeitsdelikt ist eine fahrlässige mittäterschaftliche Beteiligung am vorsätzlichen Delikt anderer von vornherein ausgeschlossen. Denn für die (mit-)täterschaftliche Beteiligung wäre die Mit-Beherrschung des Geschehensablaufs in einer den Mittätern gleichgeordneten Stellung erforderlich. Da dies aber wegen der begriffsnotwendig für die vorsätzlich handelnden Täter gegebenen Willens-Überlegenheit niemals der Fall sein kann, scheidet eine Mittäterschaft des fahrlässig handelnden Entscheidungsträgers mit seinen vorsätzlich handelnden Kollegen aus l14 • Da es eine fahrlässige Teilnahme am vorsätzlichen fremden Delikt im geltenden Strafrecht nicht gibt, scheidet auch eine Teilnahme des Betroffenen an der Tat seiner vorsätzlich handelnden Kollegen aus.

-

Zwischenergebnis

Der fahrlässig ein nachträgliches Einschreiten gegen den getroffenen Beschluß unterlassende Entscheidungsträger ist wegen eines als Alleintäter begangenen Delikts 115 zu bestrafen. Ein Zusammenwirken mit seinen Kollegen

111

Vgl. oben S. 156.

112

Statt aller: Maurach / Gössel! Zipf, AT 2, § 49 I Rn. 4.

113

Vgl. oben S. 156.

114

A.A.: Exner, FS Frank, S. 595, 570 f.

115 Die Unterscheidung zwischen Begehungs- und Unterlassungsdelikt richtet sich jeweils nach dem konkreten Einzelfall.

200

Teil 2: Kausalitäts- und Täterschaftsfragen

ist wegen der grundlegenden strukturellen Verschiedenheit von Vorsatz- und Fahrlässigkeitsdelikt weder als Täter noch als Teilnehmer möglich. -

Kombination 2: "Fahrlässigkeits-Fahrlässigkeits-Kombination"

Liegt Mittäterschaft des fahrlässig ein nachträgliches Votum unterlassenden Entscheidungsträgers mit seinen fahrlässig handelnden Kollegen vor? Zur Beantwortung dieser Frage müssen wiederum die Kriterien der fahrlässigen Mittäterschaft herangezogen werden. Hierfür müßten das Kollegium und der ein nachträgliches Votum unterlassende Entscheidungsträger gemeinsam eine sie treffende Sorgfaltspflicht verletzt haben. Entscheidend ist dabei, daß die Betroffenen bei der Verletzung zusammengewirkt haben müssen. Ein Zusammenwirken des an der Abstimmung nicht teilnehmenden Entscheidungsträgers mit seinen Kollegen erscheint aber zweifelhaft. Denn sein Sorgfaltspflichtverstoß liegt nicht darin, mit den anderen gemeinsam gehandelt (oder unterlassen) zu haben, sondern vielmehr darin, ihnen nicht nachträglich entgegengewirkt zu haben. Insofern ist der Schuldvorwurf an die abstimmenden Kollegen dem des ein Votum unterlassenden Kollegen gleichsam vorgelagert. Die bei der Mehrheitsentscheidung anwesenden Mitglieder des Kollegiums haben sich mit der zu entscheidenden Frage beschäftigt und dabei in vorwerfbarer Weise zwischen mehreren Entscheidungsalternativen die rechtswidrige gewählt. Der nicht anwesende Entscheidungsträger hingegen war an dieser konkreten Sorgfaltswidrigkeit nicht beteiligt, er hat vielmehr im nachhinein nicht bemerkt, daß er durch sein Verhalten die Sorgfaltswidrigkeit der anderen geschehen läßt, ohne die ihm möglichen Maßnahmen zur Verhinderung zu treffen. Die als Sorgfaltswidrigkeit der Kollegiumsmitglieder zu qualifizierenden Verhaltensweisen stimmen also insofern nicht überein. Zwar haben beide Tätergruppen die gleiche Sorgfaltsverpflichtung bezüglich der Verhinderung des Verletzungserfolgs mißachtet, entscheidend ist aber, daß sie dies nicht im Zusammenwirken getan haben. Die einen haben eine bewußte - aber pflichtwidrige - Entscheidung getroffen, während dem dabei nicht anwesenden Kollegiumsmitglied vorgeworfen wird, daß es gerade keine Entscheidung getroffen und sich keine Gedanken über die relevante Materie gemacht hat. Deswegen kann auch das Bewußtsein des Zusammenwirkens im Zeitraum des sorgfaltswidrigen Verhaltens nicht vorliegen. -

Zwischenergebnis

Auch für den Fall, daß die an der Mehrheitsentscheidung teilnehmenden Kollegiumsmitglieder ebenfalls fahrlässig handelten, scheidet eine Mittäterschaft mit dem ein Votum unterlassenden Kollegiumsmitglied aus. Ein für

Fallgruppe 3: Nichtteilnahme an der Abstimmung

201

die fahrlässige Mittäterschaft erforderliches Zusammenwirken des Kollegiums mit dem betroffenen Entscheidungsträger kann nicht festgestellt werden und er ist aus diesem Grund als Alleintäter des fahrlässig begangenen Unterlassungsdelikts zu bestrafen 116. 2. Mittäterschaft des vorsätzlich handelnden Entscheidungsträgers X (oder Y)?

Des weiteren ist für den Fall, daß der bei der Abstimmung nicht anwesende Entscheidungsträger das nachträgliche Votum vorsätzlich unterläßt, die Beantwortung der Täterschaftsfragen nach der jeweiligen im Kollegium herrschenden Schuldform zu differenzieren. -

Kombination J: Vorsatz-Fahrlässigkeits-Kombination

Besteht Mittäterschaft zwischen dem vorsätzlich ein nachträgliches Votum unterlassenden Kollegiumsmitglied und dem insgesamt fahrlässig pflichtwidrig votierenden Kollegium? a) Mittäterschaft?

Für diese Fallgruppe gelten die unter Kombination 2 erfolgten Ausführungen entsprechend: Wegen der Strukturverschiedenheit von Vorsatz- und Fahrlässigkeitsdelikt ist Mittäterschaft zwischen dem vorsätzlich unterlassenden Entscheidungsträger und dem Kollegium nicht möglich. b) Mittelbare Täterschaft?

Es fragt sich aber, ob der nachträglich ein Votum unterlassende Entscheidungsträger möglicherweise als mittelbarer Täter bezüglich des fahrlässig eine rechtswidrige Entscheidung treffenden Kollegiums zu bestrafen ist. Zwar ist er diesen insofern überlegen, als er seinen Beitrag im Bewußtsein der zu erwartenden Entwicklung zum Erfolgseintritt hin leistet. Man könnte also möglicherweise von einer Herrschaft kraft überlegenen Willens 117 sprechen. Allerdings wäre für die Qualifikation als mittelbarer Täter erforderlich, daß 116 Die ebenfalls gegebene Strafbarkeit der an der Abstimmung teilnehmenden Kollegiumsmitglieder wird hierdurch nicht beruhrt. Sie besteht unabhängig von der Verantwortlichkeit der bei den Kollegiumsmitglieder fort.

"7 Die als charakteristisch fiir Konstellationen mittelbarer Täterschaft gewertet wird; vgl. Wesseis, Rn. 535, 538.

202

Teil 2: Kausalitäts- und Täterschaftsfragen

der Betroffene seine Kollegen kraft dieser Willensüberlegenheit in ihrem Verhalten steuert, sie als "menschliche Werkzeuge" seines eigenen Plans mißbraucht. Die Werkzeugqualität der Kollegen könnte dabei unter Hinweis auf den fehlenden Deliktsvorsatz bejaht werden, wenn der potentielle mittelbare Täter diesen Vorsatzmangel selbst herbeigeführt und so die Herrschaft über die anderen angetreten hätte. Dies ist aber in der gegebenen Konstellation gerade nicht der Fall. Die Kollegen haben die sorgfaltspflichtwidrige Entscheidung bereits getroffen, bevor der Vorsatztäter hiervon erfährt und die Möglichkeit der Einflußnahme erhält. Insofern kann von einer Steuerung der Kollegen als "menschliche Werkzeuge" keine Rede sein. Darüber hinaus scheitert die Annahme mittelbarer Täterschaft aus einem weiteren Grund: Der Betroffene ist vorrangig wegen der Verletzung der ihm selbst als Kollegiumsmitglied obliegenden Pflichten zu bestrafen. Diese erfolgt wegen eines eigenständigen Vorsatzdeliktes. Daneben haftet er aber für Pflichtverletzungen seiner Kollegen grundsätzlich nicht nochmals. Denn das würde bedeuten, daß er im Ergebnis als "doppelter" Täter bezüglich des eingetretenen Verletzungserfolgs belangt würde: einerseits weil er seine Kollegen im Hinblick auf die sorgfaltswidrige Erfolgsherbeiführung gesteuert habe, und andererseits weil er diesen - durch ihn selbst als mittelbarer Täter gesteuerten - Prozeß als unmittelbarer Täter nicht gestoppt habe. Diese Argumentation wäre ein Widerspruch in sich. Da die Kollegen für ihr - sorgfaltspflichtwidriges - Verhalten demgegenüber selbst voll verantwortlich sind und den einzelnen Entscheidungsträger keine Mitverantwortung für seine Kollegen trifft, ist eine Bestrafung des nachträglich Hinzutretenden wegen der Sorgfaltspflichtverletzung seiner Kollegen nicht möglich. Er ist daher ausschließlich wegen der unterlassenen Verhinderung des schadensbringenden Geschehensablaufs als (AIlein-)Vorsatztäter zur Verantwortung zu ziehen. Mittelbare Täterschaft scheidet daneben aus. c) Zwischenergebnis

Der vorsätzlich ein nachträgliches Votum unterlassende und auf den Verletzungserfolg hinwirkende Entscheidungsträger ist als Vorsatz(allein)täter zu bestrafen. -

Kombination 2: " Vorsatz- Vorsatz-Kombination"

Das Kollegium handelte vorsätzlich bei der Entschlußfassung. Die betroffenen Geschäftsleiter X und Y haben vorsätzlich ein nachträgliches Vorgehen gegen die pflichtwidrige Entscheidung unterlassen.

Fallgruppe 3: Nichtteilnahme an der Abstimmung

203

Zunächst stellt sich hier die Frage, ob der jeweilige kausale Beitrag des potentiellen Mittäters X (oder Y) sich auf der Grundlage eines gemeinsamen Tatplans mit den abstimmenden Kollegen befand. Der Tatplan wird grundsätzlich gefaßt mit der Entscheidungsfindung im Kollegium. An dieser Beschlußfassung haben X und Y nicht teilgenommen. Auch in der Folgezeit haben sie ihr Votum nicht mehr abgegeben. Sie haben sich also weder zustimmend noch ablehnend zu dem durch ihre Kollegen getroffenen Tatentschluß geäußert. Zu entscheiden ist demnach, ob ihr Verhalten als nachträgliche, stillschweigende Billigung des Plans gedeutet werden kann, oder ob es sich hierbei um bloße Indifferenz handelt. Um diese Frage abstrakt zu beantworten, müssen zwei mögliche Fallkonstellationen unterschieden werden: Einerseits kann der Betroffene seinen Anschluß an den Tatplan auf andere Weise als durch eine nachträgliche Stimmabgabe zum Ausdruck bringen, andererseits kann er auch schlicht untätig bleiben. Die nachträgliche Billigung des Tatplans liegt vor, wenn der Betroffene sein Votum vorsätzlich nicht nachholt, weil die Mehrheitsverhältnisse bereits in dem von ihm gewünschten Sinne ausgefallen sind, und er es deshalb für überflüssig erachtet, die ohnehin schon bestehende Mehrheit durch sein nachträgliches Votum zu vergrößern. In diesem Fall erfolgt das Verhalten des Täters unproblematisch auf der Grundlage der getroffenen Entscheidung und er nimmt den Tatplan in seinen Vorsatz auf. Darüber hinaus liegt dies vor, wenn der Täter bei Leistung seiner Ausführungsbeiträge in Umsetzung der Mehrheitsentscheidung seinen Willen zum Anschluß an den Tatplan kundtut. Es genügt dabei nicht, wenn er nur seiner Pflicht zur Unterwerfung unter die getroffene Mehrheitsentscheidung nachkommen möchte "8 , sondern es muß ihm gerade darauf ankommen, die durch seine Kollegen getroffene Entscheidung umzusetzen. Da ihm aber in der gebildeten Konstellation ein nachträgliches Unterbinden der ohne ihn getroffenen Entscheidung noch möglich ist "9 , bildet die Umsetzung des Entschlusses ein starkes Indiz für eine über die bloße Unterwerfung hinausgehende Billigung. Dennoch muß nach dem geltenden Prinzip in dubio pro reo der Nachweis im Einzelfall gelingen, daß der Täter bei Umsetzung des Beschlusses tatsächlich vorsätzlich im Hinblick auf den pflichtwidrigen Gehalt der Entscheidung gehandelt hat, und ihm insofern mehr als eine bloße SorgfaItswidrigkeit vorzuwerfen ist. In diesen Fällen der nachträglichen Billigung der Entscheidung liegt die Voraussetzung eines gemeinsamen Tatentschlusses vor. Die weitere Voraussetzung der Tatherrschaft ist für die später Hinzutretenden unproblematisch zu bejahen: Sie könnten nämlich jeweils durch schlich". Vgl. hierzu die Ausfiihrungen oben S. 180 f. 119 Denn sonst würde es an der Kausalität seines Tatbeitrags fiir den Erfolgseintritt fehlen; vgl. S. 172 ff.

204

Teil 2: Kausalitäts- und Täterschaftsfragen

tes Entgegenwirken den schadensbringenden Kausalverlauf stoppen. Das entspricht dem klassischen Fall der funktionellen Tatherrschaft l20 . Auch nach den anderen Ansätzen sind keine gegen die Tatherrschaft sprechenden Umstände gegeben l21 . Damit sind die objektiven und subjektiven Voraussetzungen der Mittäterschaft in der hier gebildeten Konstellation zu bejahen. Die Mittäterschaft liegt dann als sukzessive Mittäterschaftl22 vor, da der Betroffene bei der Fassung des Tatentschlusses während der Abstimmung nicht aktiv mitgewirkt, sondern sich im nachhinein - aber vor Vollendung der Tat - dem getroffenen Plan angeschlossen und bei Leistung seiner Ausführungsbeiträge die Tatherrschaft mit seinen Kollegen geteilt hat 123 . -

Zwischenergebnis

Bei vorsätzlichem Handeln (oder Unterlassen) der Betroffenen bezüglich des rechtswidrigen Gehalts der Entscheidung ist (sukzessive) Mittäterschaft zu bejahen. 3. Ergebnis

Handelt das ein Votum unterlassende Mitglied fahrlässig, so scheitert die Annahme fahrlässiger Mittäterschaft mit den vorsätzlich handelnden Kollegen an der Strukturverschiedenheit von Vorsatz- und Fahrlässigkeitsdelikt l24 . Handeln auch die Kollegen fahrlässig, so scheitert die Mittäterschaft dennoch am fehlenden Zusammenwirken im Rahmen des Sorgfaltspflichtverstoßes 125. Das fahrlässig unterlassende Kollegiumsmitglied macht sich demnach grundsätzlich als Alleintäter strafbar. Alleintäterschaft des nachträglich hinzutretenden Entscheidungsträgers ist entsprechend auch im umgekehrten Fall gegeben, in dem er selbst vorsätzlich, seine Kollegen aber fahrlässig handeln 126 •

120 Vgl. zu Inhalt und Anhängern dieser Lehre die Ausführungen oben S. 92 f. 121 Vgl. zur Lehre von der kollektiven Tatherrschaft und zur Lehre von den Ptlichtdelik-

ten die Ausführungen oben S. 97 ff. In Vgl. zur sukzessiven Mittäterschaft bereits die Ausführungen oben S. 180 ff. 123 Sukzessive Mittäterschaft ist hier im Gegensatz zum Lederspray-Fall (vgl. oben S. 129 ff.) möglich, da die Betroffenen die Herrschaft über den schadensbringenden Geschehensablauf mit ihren Kollegen teilen. 124 Vgl. die Ausführungen zu Kombination I auf S. 198 f. 125 Vgl. die Ausführungen zu Kombination 2 auf S. 200. 126 Vgl. die Ausführungen zu Kombination I auf S. 201 f.

Fallgruppe 3: Nichtteilnahme an der Abstimmung

205

Handelt der betroffene Entscheidungsträger bei Unterlassung des nachträglichen Votums und der Erbringung etwaiger Ausführungsbeiträge vorsätzlich, und kommt es ihm dabei nicht nur auf die Erfüllung seiner Pflicht zur Unterwerfung unter den Willen der Mehrheit an, so ist sukzessive Mittäterschaft mit dem Gesamtkollegium gegeben J27 • Die sukzessiven Mittäter sind hierbei nicht notwendig Unterlassungstäter. Es kommt zur Entscheidung dieser Frage jeweils darauf an, ob möglicherweise ein aktiver Beitrag bei der Umsetzung der Entscheidung geleistet wird, der den Unterlassungsbeitrag derart überwiegen könnte, daß insgesamt der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit in den Begehungsbereich verlagert werden könnte. IH. Annex 1: Mittäterschaft des fahrlässig ein nachträgliches Votum unterlassenden X mit seinem ebenfalls fahrlässig unterlassenden Kollegen Y? Eine fahrlässige Mittäterschaft mit dem zweiten Kollegen, der an der Abstimmung nicht teilgenommen hat, scheidet ebenfalls aus. Hierfür wäre erforderlich, daß die potentiellen Mittäter ihre Sorgfaltspflicht im Hinblick auf die Verhinderung des Erfolgseintritts nur gemeinsam erfüllen könnten 128. Da aber jeder der bei den Betroffenen auch ohne die Mitwirkung des Kollegen zur Abwendung des Erfolgsrisikos in der Lage gewesen wäre, scheitert die fahrlässige Mittäterschaft an der fehlenden Gemeinsamkeit der Sorgfaltspflichtverletzung. Jeder von ihnen begeht das Fahrlässigkeitsdelikt, ohne daß hierbei die Notwendigkeit der Mitwirkung des Kollegen bestehen würde und entsprechend ohne das Bewußtsein gemeinsamen Vorgehens bei der erfolgsverursachenden Unterlassung. Fahrlässige Mittäterschaft scheidet damit aus. X und Y sind jeweils Allein(Neben-)täter eines Fahrlässigkeitsdelikts. IV. Annex 2: Vorsätzliche Mittäterschaft mit dem zweiten vorsätzlich ein nachträgliches Votum unterlassenden Kollegen? Auch diesbezüglich wird die Annahme von Mittäterschaft in der Regel ausscheiden, da die Betroffenen jeweils die Mitwirkung des Kollegen zur vorsätzlichen Erfolgsherbeiführung nicht benötigen. Haben sich die bei den Vorsatztäter aber ausdrücklich gemeinsam auf die Unterlassung und die damit verbundene Inkaufnahme des Verletzungserfolgs verständigt, so kann eine mittäterschaftliche Verbindung vorliegen 129. Die Entscheidung dieser Frage wird jeweils im spezifischen Einzelfall unterschiedlich ausfallen. Vgl. die Ausführungen zu Kombination 2 auf S. 202 f. Zu den Voraussetzungen der fahrlässigen Mittäterschaft vgl. oben S. 156. 129 Vgl. die Ausführungen zur Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung für den Fall eines überdeterminierten Erfolges oben S. 113 ff. 127 128

206

Teil 2: Kausalitäts- und Täterschaftsfragen

v. Ergebnis zu Fallgruppe 3 1. Strafbarkeit der Kollegiumsmitglieder

a) Täterschaft der an der Mehrheitsentscheidung nicht teilnehmenden Kollegiumsmitglieder ist nur dann möglich, wenn sie auch nach der Beschlußfassung noch ihr Votum abgeben können. Anderenfalls können sie keinen fur den Erfolgseintritt kausalen Tatbeitrag mehr leisten 130 • b) Sukzessive Mittäterschaft der Betroffenen mit dem Kollegium ist möglich, wenn sie bei der Leistung ihres Tatbeitrags vorsätzlich handeln und sich dem durch die Kollegen vorsätzlich getroffenen Tatplan anschließen (wollen)\3I. c) Fahrlässigkeitstäterschaft der abwesenden Kollegiumsmitglieder liegt vor, wenn sie sich mit der durch die Entscheidung betroffenen Materie nicht beschäftigen und so sorgfaitspflichtwidrig eine Verhinderung des schadensbringenden Geschehensablaufs unterlassen. In diesem Fall sind sie Alleintäter eines Fahrlässigkeitsdelikts wegen der sorgfaltswidrig unterlassenen Verhinderung des mittäterschaftlichen Delikts ihrer Kollegen. Ob diese dabei vorsätzlich oder fahrlässig handelten, spielt keine Rolle, da eine mittäterschaftliche Verbindung in beiden Fällen ausscheidet J32 • 2. Übertragbarkeit auf andere Fallkonstellationen

Diese Einschätzung gilt gleichermaßen fur alle Fallgestaltungen, in denen es den an der Mehrheitsentscheidung nicht teilnehmenden Kollegen durch ein nachträgliches Votum noch möglich ist, die Mehrheitsverhältnisse so umzugestalten, daß eine rechtswidrige Entscheidung verhindert wird. Nur in solchen Fällen kann die unterlassene nachträgliche Einflußnahme als ein strafbarer kausaler Tatbeitrag gewertet werden.

Abwandlung zu Fallgruppe 3 I. Einstimmiges Abstimmungsergebnis für pflichtwidrige Entscheidung

Zwei der Kollegiumsmitglieder haben - wie im Ausgangsfall zu Fallgruppe 3 - an der Abstimmung nicht teilgenommen. Das Abstimmungsergebnis fallt einstimmig fur eine pflichtwidrige Entscheidung aus. 130 131 132

Vgl. S. 196 f. Vgl. die Ausfiihrungen auf S. 202 ff. Vgl. hierzu S. 199 ff.

Abwandlung zu Fallgruppe 3

207

Dies entspricht bei Untätigkeit der beiden Kollegen nach der Beschlußfassung der im Lederspray-Fall erörterten Konstellation, insofern sei daher vollumfänglich auf die dortigen Ausführungen zur sukzessiven Mittäterschaft verwiesen 133 • Die nicht anwesenden Kollegiumsmitglieder haben sich nicht als sukzessive Mittäter strafbar gemacht, weil sie keinen kausalen Beitrag bei Fassung des Tatentschlusses geleistet haben, und weil ihnen eine nachträgliche Einflußnahme auf das Abstimmungsergebnis nicht möglich war J34 • Auch für den Fall, daß - wie oben vorausgesetzt J35 - das Votum nach der Entscheidung im Kollegium noch abgegeben werden kann, kann hieraus - so oder so - kein kausaler Tatbeitrag abgeleitet werden. Da nämlich die Mehrheitsverhältnisse mit neun Stimmen für pflichtwidriges Verhalten auch durch ein nachträgliches pflichtgemäßes Votum nicht mehr geändert werden könnten, kann sich das Verhalten der bei der Abstimmung nicht Anwesenden nicht mehr kausal im Abstimmungsergebnis niederschlagen. Anders ist das zu beurteilen, wenn die Betroffenen nicht untätig bleiben, sondern sich dem Beschluß nachträglich aktiv anschließen. Man könnte dann hierin einen kausalen Beitrag zur Tat sehen. Dem steht aber entgegen, daß die Entscheidung auch schon ohne Zutun der Betroffenen feststand, auf deren Entstehung konnten sie daher nicht mehr kausal einwirken. Wenn sie den Beschluß darüber hinaus in ihrem persönlichen Zuständigkeitsbereich umgesetzt haben, so kann hieraus keine täterschaftliche Beteiligung abgeleitet werden, da es ihnen nicht möglich war, sich anders zu verhalten, weil von der grundsätzlichen Pflicht aller Kollegiumsmitglieder auszugehen ist, sich der Entscheidung der Mehrheit zu beugen. Tatherrschaft wäre daher jedenfalls abzulehnen, wenn die Betroffenen sich nur ihrer Verpflichtung gemäß an eine durch die anderen getroffene Entscheidung halten. Aus diesen Gründen bleiben sie in der Abwandlung straflos.

11. Ergebnis zur Abwandlung 1. Strafbarkeit der Kollegiumsmitglieder

In der Abwandlung haben sich die der Abstimmung fernbleibenden Kolle.giumsmitglieder nicht als Täter des Delikts strafbar gemacht. Eine Strafbarkeit kommt nur nach Maßgabe der im Rahmen von Fallgruppe 2 erfolgten Ausflihrungen zur Beihilfe sowie § 138 Abs. 1 StGB in Betracht J36 •

l3J

134 135 136

Vgl. oben S. 129 ff. In diesem Sinne ist wohl auch Eidam, S. 176, zu verstehen. S. 196 f.· Oben S. 182 f.

208

Teil 2: Kausalitäts- und Täterschaftsfragen

2. Übertragbarkeit auf andere Fallkonstellationen

Diese Beurteilung gilt gleichermaßen für alle Fallkonstellationen, in denen die an der Mehrheitsentscheidung nicht teilnehmenden Kollegiumsmitglieder durch ein nachträgliches Votum die Mehrheitsverhältnisse nicht mehr im Sinne einer dann pflichtgemäßen Entscheidung beeinflussen können. Dann scheidet jeweils eine Strafbarkeit wegen des nicht gegebenen kausalen Tatbeitrags aus. Gegen diese Lösung ließe sich einwenden, daß es einen Wertungswiderspruch darstelle, wenn es allein von den Mehrheitsverhältnissen im Gesamtorgan abhänge, ob der Betroffene für das jeweils identische Verhalten - nämlich Unterlassung einer nachträglichen Einflußnahme und gegebenenfalls Mitwirkung bei der Umsetzung - bestraft werde oder nicht. Obwohl dieser Vorwurf nicht von der Hand zu weisen ist, kann es dennoch keine zweifelsfreie Begründung dafür geben, von der Ablehnung sukzessiver Mittäterschaft bei entsprechend gestalteten Mehrheitsverhältnissen abzusehen. Die faktisch nicht gegebene Kausalität des Verhaltens für den Verletzungserfolg sowie die fehlende Tatherrschaft können nicht wegen des nach dem Gerechtigkeitsgefühl bestehenden Sanktionsbedürfnisses ignoriert und dennoch die Strafbarkeit begründet werden. Insofern müssen Widersprüchlichkeiten im Interesse einer durchgängigen Beibehaltung der strafrechtsdogmatischen Grundlagen betreffend Kausalität und Zurechnung hingenommen werden. Zu beachten ist auch, daß nicht die Bestrafung wegen der sukzessiven Mittäterschaft im Fall einer entsprechenden Stimmverteilung als ungerecht erscheint, sondern allenfalls die Straflosigkeit in den anderen Fallgestaltungen, in denen es auf die Einzelstimme nicht ankommt. Dies ist aber wegen des Grundsatzes im Zweifel für den Angeklagten zu akzeptieren.

Fallgruppe 4: Strafrechtliche Würdigung der Stimmenthaltung Im Kollegium wird mit 7: 2 Stimmen eine rechtswidrige Entscheidung getroffen, deren Ausführung den Eintritt des Verletzungserfolgs verursacht. Die Entscheidungsträger X und Y haben sich bei der maßgeblichen Abstimmung der Stimme enthalten. I. Grundkonstellation

Bezüglich der Strafbarkeit der ein Votum abgebenden Entscheidungsträger sei hier auf die vorangegangenen Ausführungen verwiesen: Die pflichtwidrig abstimmenden Kollegiumsmitglieder machen sich wegen eines mittäterschaft-

Fallgruppe 4: Stimmenthaltung

209

lich verwirklichten Delikts strafbar 137 , die pflichtgemäß votierenden Kollegen machen sich nicht strafbar 138 • Problematisch ist allein die strafrechtliche Würdigung der Stimmenthaltung: Es fragt sich, ob man (erst) dann strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden kann, wenn man den pflichtwidrigen Entschluß aktiv gestützt hat, oder ob es hierfür bereits genügt, wenn man sich der Mehrheit von vornherein durch Stimmenthaltung untergeordnet hat, ohne einen Versuch zu unternehmen, das Abstimmungsergebnis zu beeinflussen. Ein positives Kausalurteil anhand der conditio-Formel scheidet bei dem vorliegenden Mehrheitsverhältnis jedenfalls aus: Die einzelne Enthaltung kann problemlos hinweggedacht werden, ohne daß das rechtswidrige Abstimmungsergebnis entfiele. Ebenso wäre dies, wenn man - für den Fall eines Unterlassungsdelikts - das pflichtgemäße Votum hinzudächte - auch dann würde nach wie vor eine Mehrheit für die rechtswidrige Entscheidung bestehen. Möglicherweise kann aber anhand der in dieser Arbeit befürworteten 139 Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung ein anderes Ergebnis begründet werden. Dann müßte nach den bereits erarbeiteten Grundsätzen das Verhalten der sich enthaltenden Entscheidungsträger Teil der Gesamtursache für den eingetretenen Verletzungserfolg sein l40 • Diese Gesamtursache setzt sich aus den Komponenten der rechtswidrigen Mehrheitsentscheidung sowie der Umsetzung dieser Entscheidung in die Realität zusammen. Zu fragen ist demnach zunächst, ob die Enthaltung sich im Abstimmungsergebnis kausal niedergeschlagen hat. Die Ursache für die rechtswidrige Entscheidung bildet die entsprechende Stimmenmehrheit. Die Enthaltung aber ist nicht Bestandteil dieser Stimmenmehrheit. Insofern hat sie sich auch nicht im Abstimmungsergebnis kausal niedergeschlagen. Möglicherweise könnte man aber einen anderen Ansatz wählen und vertreten, daß die Unterlassung des pflichtgemäßen Votums sich im rechtswidrigen Abstimmungsergebnis kausal ausgewirkt habe. Bereits die Wertung der Stimmenthaltung als Unterlassung erscheint aber fragwürdig. Bei der Stimmenthaltung handelt es sich - anders als beim bloßen Fernbleiben von der Entscheidung - um ein aktives Gebrauchmachen vom Stimmrecht, indem nämlich das Kollegiumsmitglied zum Ausdruck bringt, sich für keine der zur Entscheidung anstehenden Alternativen aussprechen zu wollen. Auch das Recht, sich der Stimme zu enthalten, ist Teil der Mitentscheidungsbefugnis im Kollegium. Wählt das Kollegiumsmitglied die137 VgJ. hierzu die Ausflihrungen zum Lederspray-Urteil, oben S. 129, sowie im Rahmen von Fallgruppe 1, oben S. 169. 138 Zur Begründung dieses Ergebnisses und den Ausnahmen hiervon vgJ. die Ausführungen im Rahmen der Fallgruppe 2 auf S. 172 fT. \39 Vgl. hierzu die Ausflihrungen auf S. 119. 140 Vgl. zu diesem Ansatz die Ausfiihrungen auf S. 113 fT.

14 Weißer

210

Teil 2: Kausalitäts- und Täterschaftsfragen

sen Weg, so macht es von dieser ihm eingeräumten Befugnis aktiv Gebrauch und entscheidet sich dafür, keine der bei den im Kollegium herrschenden Ansichten zu unterstützen. Die damit verbundene Stellungnahme beinhaltet die Verweigerung der Unterstützung für jedwede Entscheidungsalternative. So gesehen ist die Annahme eines Schuldvorwurfs wegen des Verstoßes gegen eine Verhaltensanforderung durch aktives Tun - nämlich Ausübung des Rechts zur Enthaltung - naheliegend. In diesem Fall kann man aber nicht davon ausgehen, daß diese - positive - Ursache im Verletzungserfolg mit kausal wird, denn die in der Enthaltung liegende Meinungsäußerung stützt gerade nicht die erfolgsursächliche Entscheidung. Aber auch wenn man die Stimmenthaltung als Unterlassen (eines pflichtgemäßen Votums) werten möchte '41 , ist der Schluß auf die Kausalität dieser Unterlassung für den Verletzungserfolg schwierig. Zunächst müßte nämlich dann begründet werden, daß die Enthaltung gerade als Unterlassung eines pflichtgemäßen Votums zu sehen ist. Genausogut könnte man sie aber als Unterlassen eines pflichtwidrigen Votums interpretieren. Denn die Enthaltung steht gewissermaßen neutral zwischen den bei den Handlungsalternativen. Zwar könnte man argumentieren, der Entscheidungsträger sei jeweils zur Förderung einer pflichtgemäßen Entscheidung verpflichtet und tue er dies nicht egal ob er stattdessen pflichtwidrig votiere oder sich enthalte -, so liege hierin ein Verstoß gegen ein strafrechtliches Handlungsgebot durch Unterlassen. Genausogut könnte man aber sagen, der Entscheidungsträger sei grundsätzlich verpflichtet, keine pflichtwidrigen Beschlüsse zu unterstützen. Dann müßte man es aber so sehen, daß er durch die Enthaltung genau dies nicht getan hat. Denn die Enthaltung ist gerade nicht die - aktive - Unterstützung der pflichtwidrigen Entscheidung, sondern die Verweigerung der Unterstützung. Dieser Ansatz erweist sich als der passendere: Ausgehend vom strafrechtlichen Schuldprinzip muß für jeden der Entscheidungsträger seine Verantwortlichkeit individuell begründet werden. Geht man von diesem individuellen Ansatz aus, dann ist jedes der Mitglieder für sich selber verpflichtet, an rechtswidrigen Beschlüssen nicht mitzuwirken. Kommt es dieser Verpflichtung nach, so sind rechtswidrige Kollegialentscheidungen insgesamt ausgeschlossen. Möchte man aber eine Verantwortlichkeit für den Fall der Enthaltung dennoch begründen, so hieße das, daß man mittelbar eine Verantwortlichkeit für das pflichtwidrige Verhalten der Kollegen einführen würde. Daß die damit verbundene "Sippenhaftung" gerade nicht herrschen soll, wurde bereits begründet '42 . Wenn jeder nur für sein eigenes Verhalten verantwortlich ist und ihn grundsätzlich keine "Gefahrdungshaftung" für pflichtwidriges 141

So Franke, JZ 1992, 583.

142

Oben S. 173 tT., 183.

Fallgruppe 4: Stimmenthaltung

211

Verhalten seiner Kollegen trifft, so kann man die Enthaltung nicht als kausalen Beitrag zum pflichtwidrigen Beschluß werten, sondern muß sie als Verweigerung einer Entscheidung - und damit auch einer pflichtwidrigen Entscheidung - auffassen. Insofern ist auch in diesem Fall die Kausalität der Enthaltung für das pflichtwidrige Abstimmungsergebnis nicht nachweisbar: Allein der Verstoß gegen das Handlungsgebot durch die Verweigerung einer Stellungnahme für eine rechtmäßige Entscheidung vermag noch keine Mitverursachung des rechtswidrigen Abstimmungsergebnisses zu begründen. Das Wesen der Stimmenthaltung ist genauso die Verweigerung eines pflichtgemäßen Votums wie es auch die Verweigerung eines pflichtwidrigen Votums ist. Mit anderen Worten bedeutet das, daß allein die Enthaltung noch nicht die Verantwortung für eine von den Kollegen getroffene Entscheidung nach sich zieht. Denn genausowenig wie der Betroffene sich für die pflichtgemäße Entscheidung ausspricht, genausowenig spricht er sich für die pflichtwidrige Entscheidungsalternative aus. Es wäre deswegen nicht zulässig, sein Verhalten allein in die für ihn ungünstige Richtung - nämlich die des verweigerten pflichtgemäßen Votums - zu interpretieren. Für jeden der Entscheidungsträger muß seine Mitwirkung an der Abstimmung isoliert betrachtet werden: Möchte man das Verhalten des sich enthaltenden Entscheidungsträgers als kausal für das pflichtwidrige Abstimmungsergebnis bezeichnen, so müßte man das gleiche Verhalten bei einem insgesamt pflichtgemäßen Abstimmungsergebnis genau gegenteilig auslegen. Das kann aber bei jeweils identischem Verhalten nicht richtig sein. Das Kausalurteil für den sich Enthaltenden muß insofern unabhängig sein vom Verhalten seiner Kollegen, denn mit diesen wirkt er gerade nicht zusammen, wenn er sich für keine der zur Disposition stehenden Möglichkeiten entscheidet. Möchte man die Kausalität dennoch bejahen, so muß man diesen Aspekt zumindest im Rahmen der objektiven Zurechnung in Betracht ziehen: Allein die Stimmenthaltung macht die pflichtwidrige Mehrheitsentscheidung aus den genannten Gründen noch nicht zum "Werk" des Betroffenen l43 • Auch könnte die Täterschaft des sich der Stimme enthaltenden Entscheidungsträgers wegen der ihm mangelnden Tatherrschaft grundsätzlich nicht bejaht werden. Er hat keine Möglichkeit, den Geschehensablauf in die eine oder andere Richtung zu steuern, sondern mit der Verweigerung eines Votums gibt er diesen endgültig in die Hände seiner Kollegen, ohne hierauf weiterhin Einfluß nehmen zu können. Des weiteren wäre auch der Nachweis des entsprechenden Deliktsvorsatzes schwer zu führen.

143 Näheres hierzu folgt im Rahmen der Ausfiihrungen zur Abwandlung von Fallgruppe 4, S. 212 ff.

14*

212

Teil 2: Kausalitäts- und Täterschaftsfragen

11. Ergebnis zu Fallgruppe 4

x (Y) kann daher mangels eines die Zurechnung erlaubenden kausalen Tatbeitrags nicht für den eingetretenen Verletzungserfolg strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden. Abwandlung zu Fallgruppe 4 Zu entscheiden ist weiterhin, wie sich die Entscheidungsträger X und Y bei einer Enthaltung strafbar machen, wenn ihre Kollegen mit 4: 5 Stimmen die rechtswidrige Entscheidung getroffen haben. In diesem Fall ist das Kausalitätsproblem schwieriger: Nach der conditioFormel könnte es mit den folgenden Begründungsansätzen jeweils unterschiedlich ausfallen. Einerseits kann man einen kausalen Tatbeitrag ablehnen, indem man sich darauf beruft, daß bei Hinwegdenken der Enthaltung die Mehrheit für das rechtswidrige Ergebnis - und damit letztlich der Verletzungserfolg - nicht entfallen würde. Andererseits könnte man aber feststellen, daß bei Hinzudenken eines pflichtgemäßen Votums (zumindest) eine PattSituation und damit nicht das letztlich erfolgsursächliche Abstimmungsergebnis entstanden wäre. Der Verletzungserfolg würde dann entfallen und somit könnte ein kausaler Tatbeitrag im Sinne einer conditio sine qua non möglicherweise festgestellt werden l44 • Gegen die letztgenannte Argumentationsmöglichkeit spricht zunächst der bereits angeführte 145 Umstand, daß es naheliegender ist, die Enthaltung als aktives Tun - nämlich Gebrauchmachen vom Mitentscheidungsrecht - zu werten. Darüber hinaus aber müßte das anhand der conditio-Formel positiv gefällte Kausalurteil auch einer Überprüfung anhand der hier befürworteten Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung l46 standhalten. Dies ist aber aus den bereits in der Ausgangskonstellation angeführten Gründen nicht möglich: Die Enthaltung kann nicht als ursächlicher Bestandteil der pflichtwidrigen Entscheidung interpretiert werden. Anderenfalls würde die strafrechtliche Verantwortlichkeit des sich der Stimme enthaltenden Entscheidungsträgers jeweils ausschließlich vom Verhalten seiner Kollegen diktiert: Entscheiden sie pflichtgemäß, ist er nicht strafbar, denn dann wird die Enthaltung als Kausal144 Diese Möglichkeit wird von Franke, JZ 1992, 583, übersehen, wenn er ein Kausalurteil nach der conditio-Formel grundSätzlich ausschließt, weil durch das Hinzudenken des pflichtgemäßen Votums die bestehende Mehrheit nicht abgeändert werden könne. 145 Vgl. S. 209 f.

146 Zu den Gründen für diese Entscheidung vgl. die Ausführungen im Rahmen der Urteilsanalyse oben S. 113 ff.

Abwandlung zu Fallgruppe 4

213

beitrag zum ptlichtgemäßen Beschluß gewertet. Entscheiden sie ptlichtwidrig, so erkennt man der Enthaltung den entgegerrgesetzten "Erklärungs-Wert", nämlich die Ptlichtwidrigkeit, zu. Da das nicht richtig sein kann, muß nach der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung ein kausaler Tatbeitrag durch die Stimmenthaltung abgelehnt werden. Doch wenn man der Anwendung der conditio-Formel in diesem Fall den Vorzug geben möchte, so muß man die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Betroffenen spätestens wegen der mangelnden objektiven Zurechenbarkeit '47 des Abstimmungsergebnisses - und damit letztlich des Verletzungserfolgs ablehnen: Im eingetretenen Verletzungserfolg hat sich gerade nicht das durch eine Enthaltung gesetzte Risiko realisiert. Die Zurechenbarkeit des Verletzungserfolgs könnte nur dann bejaht werden, wenn die Enthaltung jeweils isoliert betrachtet notwendig das Risiko des eingetretenen Verletzungserfolgs in sich bergen würde. Das ist gerade nicht der Fall. Dieser spezifische Risikogehalt wird der Enthaltung allenfalls durch das ptlichtwidrige Verhalten der übrigen Entscheidungsträger beigemessen. Das aber genügt nicht, um eine Zurechnung des Erfolgs an den sich Enthaltenden als "sein Werk" zu begründen. Entscheidend in der gebildeten Konstellation ist, daß nicht der konkrete Verstoß des X (Y) den Verletzungserfolg hervorruft, sondern genaugenommen liegt sein Verstoß in der Nichtverhinderung des Verhaltens der ptlichtwidrig abstimmenden Kollegen. Wollte man dies zur Haftungsbegründung ausreichen lassen, so läge hierin ein Verstoß gegen den unter Hinweis auf das strafrechtliche Schuldprinzip aufgestellten Grundsatz, daß jedes der Kollegiumsmitglieder ausschließlich für sein persönliches (Fehl-)Verhalten, nicht aber für Ptlichtwidrigkeiten seiner Kollegen, zur Verantwortung gezogen werden kann. Der persönliche Verstoß von X (Y) gegen das Verhaltensgebot läßt für sich betrachtet noch nicht den Erfolg als dessen Werk erscheinen, denn zwischen dem unterlassenen Votum und dem Verletzungserfolg liegt die Ptlichtwidrigkeit der Kollegen, die die Entscheidung befürwortet haben. Aus diesem Grund müßte auch bei Anwendung der reinen conditioFormel für den gegebenen Fall eine Verantwortlichkeit mangels objektiver Zurechenbarkeit abgelehnt werden '48 . -

Ergebnis zur Abwandlung

Nach alledem ist auch in der hier vorliegenden Konstellation eine Strafbarkeit des sich enthaltenden Entscheidungsträgers abzulehnen. Naheliegend ist 147 Zur Anerkennung dieser Lehre und Anwendbarkeit auf den vorliegenden Fall vgl. die Ausfiihrungen auf S. 119 fT. 148 Zu den weiteren gegen eine Strafbarkeit sprechenden Aspekten vgl. die Ausfiihrungen auf S. 208 fT.

214

Teil 2: Kausalitäts- und Täterschaftsfragen

die Ablehnung der Kausalität der Enthaltung für den Verletzungserfolg nach der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung l49 • Lehnt man diesen Ansatz ab, so muß man unter Anwendung der Lehre von der objektiven Zurechnung aber dennoch eine Verantwortlichkeit des sich Enthaltenden vemeinen l50 . Eine Ausnahme zur Straflosigkeit der Betroffenen bilden die in Fallgruppe 2, S. 182 f., angeführten Konstellationen, in denen sich wegen des nachträglich unterlassenen Einschreitens gegen die durch die Kollegen getroffene Entscheidung die Strafbarkeit begründet. Diese gelten für den vorliegenden Fall entsprechend l51 •

Fallgruppe 5: Vetorecht eines Kollegiumsmitglieds Das Kollegium trifft eine pflichtwidrige Mehrheitsentscheidung. Dabei besteht die Besonderheit, daß eines der Kollegiumsmitglieder ein Vetorecht hatte, durch dessen Ausübung es den pflichtwidrigen Beschluß hätte verhindern können. Innerhalb dieser Fallgruppe ist zu entscheiden, wie sich die besondere Position eines mit Vetorecht ausgestatteten Kollegiumsmitglieds nicht nur auf seine eigene, sondern auch auf die Verantwortlichkeit der übrigen Entscheidungsträger auswirkt. Ausgangspunkt der Beurteilung sind dabei die bei den vorhergehenden Fallgruppen erzielten Untersuchungsergebnisse für die jeweiligen Mehrheitsverhältnisse. Auf deren Grundlage soll geprüft werden, ob möglicherweise die Verantwortlichkeit des einzelnen pflichtwidrig abstimmenden Kollegiumsmitglieds dadurch beeinflußt wird, daß der mit Vetorecht ausgestattete Entscheidungsträger nichts gegen den Beschluß und seine Umsetzung unternimmt. Möglicherweise könnte man in diesem Zusammenhang vertreten, der besonders einflußreiche Entscheidungsträger nehme gleichsam die Gesamtverantwortung auf sich l52 , indem er die getroffene Entscheidung seinen Machtbereich "passieren" lasse, ohne sie zu stoppen. Weiterhin könnte unter diesem Aspekt eventuell ein Unterlassungsdelikt des mit Vetorecht ausgestatteten Kollegiumsmitglieds konstruiert werden i53 • Die Untersuchung soll sich zunächst mit dessen persönlicher Verantwortlichkeit, sodann mit der seiner weniger einflußreichen Kollegen befassen.

149

ISO

Siehe S. 212 f. Vgl. S. 213.

151 Die Geltung bezieht sich nicht nur auf die sich der Stimme enthaltenden, sondern auch auf die pflichtgemäß votierenden Entscheidungsträger. 152 Vgl. hierzu S. 220 ff. IS3 Vgl. hierzu S. 217 ff.

Fallgruppe 5: Vetorecht eines Kollegiumsmitglieds

215

A. Zur Stratbarkeit des mit einem Vetorecht ausgestatteten Kollegiumsmitglieds Zunächst ist auch für den mit dem Vetorecht ausgestatteten Entscheidungsträger (dieser soll nachfolgend "A" genannt werden) zu differenzieren nach dem persönlichen Abstimmungsverhalten bei der Mehrheitsentscheidung wobei jeweils als Gesamtergebnis von einem rechtswidrigen Beschluß auszugehen ist. I. Strafbarkeit bei Pflichtwidrigkeit des eigenen Votums 1. Strafbarkeit wegen der aktiven Beteiligung im Rahmen der Entscheidungsfindung

Hat A selbst ein pflichtwidriges Votum abgegeben, so beurteilt sich seine strafrechtliche Verantwortlichkeit zunächst nach den bereits bei der Analyse des Lederspray-Urteils erarbeiteten Kriterien: Wegen seines kausalen Tatbeitrags zum rechtswidrigen Abstimmungsergebnis und seiner von einem entsprechenden Willen getragenen täterschaftlichen Beteiligung an der Tat ist er als (Mit-)Täter zur Verantwortung zu ziehen. Der Verweis auf bereits erfolgte Erörterungen soll sich zunächst nur auf die täterschaftliche Beteiligung des A beziehen. Eine Entscheidung der Frage, ob diese Beteiligung in Form der Mittäterschaft vorliegt, soll hier noch nicht getroffen werden, da auch eine Beteiligung als mittelbarer Täter in Betracht kommt J54 • Da es für die Beurteilung der Verantwortlichkeit des A letztlich nicht ausschlaggebend ist, ob ihm der Verletzungserfolg über § 25 Abs. I, 2. Fall StGB oder über § 25 Abs. 2 StGB als Täter zugerechnet wird, kann die Entscheidung hier zurückgestellt werden. Sicher ist jedenfalls, daß er wegen des Kausalbeitrags in Form des Abstimmungsverhaltens J55 als (Vorsatz- oder Fahrlässigkeits-)Täter der fraglichen Straftat zu behandeln ist. 2. Daneben gegebene Strafbarkeit wegen unterlassener Ausübung des Vetorechts?

Eine Strafbarkeit des A kommt daneben noch unter einem weiteren Gesichtspunkt in Betracht: Denkbar ist ein strafrechtlicher Schuldvorwurf an A unter dem Aspekt eines Unterlassungsdelikts, verwirklicht durch die unterlas114 Voraussetzung hierfiir wäre allerdings die "Werkzeugqualität" der mit einem einfachen Mitentscheidungsrecht ausgestatteten Kollegen. Vgl. hierzu S. 230 ff.

ISS Zur Kausalität des Votums vgl. die Ausfiihrungen im Rahmen der Urteilsanalyse auf S. 105 ff., 119.

216

Teil 2: Kausalitäts- und Täterschaftsfragen

sene Ausübung des Vetorechts bezüglich der durch das Gremium in Gang gesetzten Straftat. Unabhängig von den einzelnen Tatbestandsmerkmalen einer derartigen Verantwortlichkeit '56 scheint aber bereits die systematische Richtigkeit dieses Ansatzes fraglich. Wollte man nämlich den Betroffenen einerseits wegen seiner täterschaftlicher Beteiligung bei der Begehung der Straftat, andererseits wegen der unterlassenen Verhinderung dieser Tat bestrafen, so hieße das, ihn wegen desselben Delikts doppelt zur Verantwortung zu ziehen. Der Schuldvorwurf darf nicht an beide Aspekte des Verhaltens des A anknüpfen, sondern seine Verantwortlichkeit für den Verletzungserfolg ist als mit der Bestrafung wegen einer der bei den Komponenten "abgegolten" zu betrachten. Es fragt sich aber in diesem Zusammenhang, ob nicht wegen des im Falle des Unterlassungsdelikts tendenziell geringen Handlungsunwerts zugunsten des Betroffenen statt des pflichtwidrigen Abstimmungsverhaltens die unterlassene Ausübung des Vetorechts als Anknüpfungspunkt für den strafrechtlichen Schuldvorwurf gewählt werden sollte 157. Aber auch eine derartige Wertung wäre nicht zulässig, wenn man das Geschehen in seinem Gesamtzusammenhang betrachtet: Im Ergebnis würde man mit der Bestrafung aus dem Unterlassungsdelikt die Beteiligung am Ingangsetzen des schadensbringenden Kausalverlaufs völlig außer acht lassen, um dann allein an den unterlassenen Eingriff in das bereits laufende Geschehen anzuknüpfen. Das aber kann nicht richtig sein. Deutlich wird dies beim Vergleich mit dem Alleintäter: Der Giftmörder wird nicht bestraft, weil er es unterlassen hat, das Opfer zur Entgiftung in die Klinik zu bringen, sondern weil er ihm das tödliche Gift beigebracht hat. Gleiches muß auch für das Mitglied eines Kollegialorgans gelten: Schon die täterschaftliehe Beteiligung an der für den schadensbringenden Kausalverlauf ursächlichen Entscheidung begründet den strafrechtlichen Schuldvorwurf. Die nachträglich unterlassene Verhinderung der Geschehnisse bietet demgegenüber keinen weiteren maßgeblichen Aspekt des strafrechtlich relevanten Verhaltens, sondern ist bereits durch die Ahndung der Beteiligung an der mit dem Mehrheitsentscheid begonnenen Tat mit abgedeckt.

156 Zu diesen soll im folgenden, vgl. unten S. 217 ff., noch eingehender Stellung genommen werden. 157 Diese Frage stellt sich nur in dem Fall, in dem es sich bei dem durch das Gesamtorgan beschlossenen Verhalten um aktives Tun und nicht ebenfalls um ein Unterlassen handelt. Dann wäre die Beteiligung durch das pflichtwidrige Votum im Gesarntzusarnrnenhang ebenfalls als Unterlassungsdelikt zu werten. Die unterschiedlichen Anknüpfungspunkte würden in diesem Fall nicht zu verschiedenen Deliktstypen führen.

Fallgruppe 5: Vetorecht eines Kollegiumsmitglieds

217

3. Ergebnis

Der Betroffene macht sich in der hier gebildeten Konstellation ausschließlich wegen seiner täterschaftlichen Beteiligung an der Deliktsverwirklichung durch Abgabe des pflichtwidrigen Votums strafbar. Daneben kommt eine weitere Strafbarkeit als Unterlassungstäter wegen der unterlassenen Ausübung des Vetorechts nicht in Betracht.

11. Strafbarkeit bei pflichtgemäßem eigenen Votum Probleme ergeben sich bei der Beurteilung für den Fall, daß der Betreffende selbst pflichtgemäß votiert hat. Bislang konnte eine Strafbarkeit der pflichtgemäß votierenden Kollegiumsmitglieder nicht festgestellt werden i58 • Es fragt sich aber, ob die besondere Einflußmöglichkeit des mit einem Vetorecht ausgestatteten Kollegiumsmitglieds für dieses zu einer anderen Beurteilung führt. Die Strafbarkeit kann zwar nicht an das (pflichtgemäße) eigene Abstimmungsverhalten anknüpfen, in Betracht kommt aber ein Schuldvorwuf wegen der unterlassenen Ausübung des Vetorechts.

-

Zur Strafbarkeit wegen eines unechten Unterlassungsdelikts durch die unterlassene Ausübung des Vetorechts

Die folgende Untersuchung orientiert sich an den auch in den vorangegangenen Fallgruppen angewandten Kriterien des kausalen Tatbeitrags und der (Unterlassungs-)Täterschaft. 1. Kausaler Tatbeitrag

Als kausaler Beitrag zur Verursachung des Verletzungserfolgs kommt nicht das eigene (pflichtgemäße) Abstimmungsverhalten des A in Betracht l59 , sondern abzustellen ist allein auf die unterlassene Ausübung des ihm zustehenden Vetorechts. Diese Unterlassung könnte als Anknüpfungspunkt für einen strafrechtlichen Schuldvorwurf dienen. Voraussetzung hierfür wäre das Bestehen eines Kausalzusammenhangs zwischen Unterlassung und Verletzungserfolg. Der strafrechtlich relevante Erfolg wurde verursacht durch die Umsetzung der pflichtwidrigen Mehrheitsentscheidung '60 . Für das ZustandeIS8 Zur grundsätzlichen Straffreiheit der pflichtgemäß votierenden Entscheidungsträger auch bei einer insgesamt rechtswidrigen Mehrheitsentscheidung vgl. die Ausführungen auf S. 172 ff. 159 Zum fehlenden Kausalzusammenhang zwischen pflichtgemäßem Votum und Verletzungserfolg vgl. die Ausführungen auf S. 172 ff. 160 Insofern entspricht das der für alle Fallgruppen vorausgesetzten Sachverhaltsunterstellung, vgl. bereits S. 165 f.

218

Teil 2: Kausalitäts- und Täterschaftsfragen

kommen dieser konkreten Entscheidung hat A zwar keinen kausalen Beitrag geliefert '61 , allerdings wäre es ihm infolge des ihm zustehenden Vetorechts möglich gewesen, die Entscheidung noch vor ihrer Umsetzung außer Kraft zu setzen. Hätte er dies getan, so wäre der Verletzungserfolg mangels Ausführung des von der Mehrheit getroffenen Beschlusses nicht eingetreten '62 • Insofern ist das Bestehen eines Kausalzusammenhangs zwischen der Unterlassung des A und dem Eintritt des Verletzungserfolgs bereits nach der conditio-Formel zu bejahen: Hätte er von seinem Vetorecht Gebrauch gemacht, so wäre die Entscheidung nicht umgesetzt und der Erfolg nicht verursacht worden. Die Unterlassung der geforderten Vetoeinlegung ist auch als gesetzmäßige Bedingung des Verletzungserfolgs zu werten. 2. Unterlassungstäterschaft I GarantensteIlung

Um den A deswegen als Unterlassungstäter zur Verantwortung ziehen zu können, müßte er Garant zur Verhinderung des konkreten Verletzungserfolgs gewesen sein. Die GarantensteIlung für alle Kollegiumsmitglieder bezüglich des fraglichen Verletzungserfolgs wird in den hier behandelten Fallgruppen wegen der Abstraktheit der Beurteilung vorausgesetzt l63 • Es fragt sich aber, welchen Umfang die daraus resultierende Garantenpflicht für den Ahaben soll. In den vorangegangenen Überlegungen wurde bereits dargelegt, daß der Garant jeweils nur in dem Maße zum Einschreiten gegen Entscheidungen des Kollegiums verpflichtet ist, in dem ihm dies im Rahmen seines internen Kompetenzbereichs möglich ist '64 • Kompetenzüberschreitungen fallen grundsätzlich nicht in den Rahmen der vom strafrechtlichen Handlungsgebot begründeten PflichtensteIlung. Allerdings ist im gegebenen Fall der Handlungsspielraum des Betroffenen erweitert, da ihm durch sein Vetorecht innerhalb des Kollegiums eine Sonderstellung eingeräumt ist. Das hat zur Folge, daß es für ihn keineswegs eine Kompetenzüberschreitung darstellen würde, wenn er in Ausübung des Vetorechts die von der Mehrheit befürwortete Entscheidung außer Kraft setzen würde. In Fortführung des bezüglich des Umfangs der Garantenpflichten entwickelten Lösungsweges l65 ist für A demnach auch die Einlegung des Vetos vom Handlungsgebot als Garant umfaßt. Weil dieses sich unproblematisch innerhalb des ihm zugeordneten Kompetenzbereichs befindet, ist er bei Pflichtwidrigkeit der ergangenen Mehrheitsentscheidung Vgl. dazu die Ausführungen zu Fallgruppe 2, oben S. 172 f. Das ist eine Folgerung aus dem unterstellten Kausalzusammenhang zwischen Ausführung der Entscheidung und Eintritt des Verletzungserfolgs, vgl. S. 165. 163 Vgl. hierzu bereits S. 167. IM Oben S. 74 f., 178 ff. 165 Oben S. 74 f. 161

162

Fallgruppe 5: Vetorecht eines Kollegiumsmitglieds

219

zum Einschreiten verpflichtet. Unterläßt er also die Ausübung des Vetorechts, so ist er grundsätzlich als Unterlassungstäter zur Verantwortung zu ziehen. Zu entscheiden ist dann, ob es sich um unmittelbare, mittelbare oder Mittäterschaft handelt. Auch in dieser Fallgruppe sind insofern zwei Varianten bezüglich der Schuldform denkbar: War dem Betroffenen klar, welches Risiko er durch die Unterlassung des Vetos eingeht, und hat er dennoch den Eintritt des drohenden Verletzungserfolgs (billigend) in Kauf genommen, so macht er sich wegen eines Vorsatzdelikts strafbar. Hat er hingegen die möglichen Folgen seines Unterlassens nicht genügend bedacht und den drohenden Verletzungserfolg sorgfaltswidrig nicht erkannt, so ist er wegen eines durch Unterlassen verwirklichten Fahrlässigkeitsdelikts 166 zu bestrafen. IH. Vorläufiges Ergebnis zu Abschnitt A Der betroffene Entscheidungsträger ist unabhängig von seinem eigenen Votum jedenfalls für den Eintritt des Verletzungserfolgs als Täter verantwortlich. Hat er selbst pflichtwidrig votiert und so die getroffene, erfolgsursächliche Entscheidung aktiv unterstützt, so ist er als Täter strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen. Die Frage, ob es sich hierbei um Mittäterschaft oder um mittelbare Täterschaft handelt, wird noch zu entscheiden sein l67 • Ob ein Fall des Vorsatz- oder Fahrlässigkeitsdelikts bzw. des Begehungs- oder Unterlassungsdelikts vorliegt, beurteilt sich jeweils nach Lage des Einzelfalles. Anknüpfungspunkt für die strafrechtliche Untersuchung ist dabei einerseits das eigene AbstimmungsverhaIten, andererseits das Verhalten im Ausführungsstadium 168. Hat der Betroffene selbst pflichtgemäß votiert, so knüpft der strafrechtliche Schuldvorwurf nicht an sein Abstimmungsverhalten an. In diesem Fall ist die unterlassene Ausübung des Vetorechts maßgeblich. Hierdurch wird die Strafbarkeit als Unterlassungstäter (bezüglich der Gesamttat) begründet, unabhängig davon, ob ein Vorsatz- oder ein Fahrlässigkeitsdelikt vorliegt. Auch für diesen Teilbereich wird die Frage der Mittäterschaft bzw. mittelbaren Täterschaft zurückgestellt l69 • Es soll zunächst die Verantwortlichkeit der übrigen Kollegiumsmitglieder untersucht werden, bevor zu den hier offen gelassenen Fragen abschließend Stellung genommen wird. 166 Dies gilt nur unter der Voraussetzung, daß das fragliche Delikt auch als Fahrlässigkeitsdelikt unter Strafe gestellt ist, § 15 StGB. 167 S. 230 ff. 16M Die Abgrenzung erfolgt nach den allgemein gebräuchlichen Kriterien, vgl. hierzu Wesseis, Rn. 699 ff., und die dortigen Nachweise. 169 S. 230 ff.

220

Teil 2: Kausalitäts- und Täterschaftsfragen

B. Zur Stratbarkeit der mit einfachem Mitentscheidungsrecht ausgestatteten Kollegiumsmitglieder Auch hier ist zu differenzieren nach dem Abstimmungsverhalten des einzelnen Entscheidungsträgers. Unterstellt man, daß das Ergebnis der Mehrheitsentscheidung ein rechtswidriger Beschluß war, so ergeben sich für die Strafbarkeit der Kollegiumsmitglieder ohne Sonderstellung die folgenden Konsequenzen: I. Strafbarkeit der Gegner der pflichtwidrigen Entscheidung

Die pflichtgemäß abstimmenden Entscheidungsträger machen sich unabhängig von der Sonderstellung ihres Kollegen jedenfalls nicht als Mittäter der auf dem Tatentschluß beruhenden Tat strafbar, es sei denn, es liegt einer der oben S. 182 f. angeführten Ausnahmefalle vor. Auf ihre strafrechtliche Verantwortlichkeit hat das Vetorecht des A keinerlei Einfluß, sie ist ausschließlich nach den oben S. 172 ff. erarbeiteten Grundsätzen zu beurteilen.

11. Strafbarkeit der Befürworter der pflichtwidrigen Entscheidung Beurteilt man die Strafbarkeit der Befürworter der pflichtwidrigen Entscheidung anhand der oben S. 170 ff. erarbeiteten Grundsätze, so sind sie als Mittäter der Straftat zur Verantwortung zu ziehen. Es fragt sich aber, ob die Sonderstellung des A die Verantwortlichkeit seiner Kollegen beeinflußt. In Betracht kommt eine Verlagerung der Verantwortlichkeit auf den A, was die Entlastung seiner Kollegen und eine Konzentration des Schuldvorwurfs auf seine Person (beispielsweise als mittelbarer Täter) zur Folge haben könnte. Im folgenden muß daher jeder einzelne Aspekt der Strafbarkeit untersucht werden, um mögliche Auswirkungen des Vetorechts auf die Beurteilung zu bewerten. I. Auswirkungen des Vetorechts auf das Kausalurteil bezüglich des Verhaltens der pflichtwidrig abstimmenden Kollegiumsmitglieder

Die vorangegangenen Überlegungen haben gezeigt, daß grundsätzlich jeder der pflichtwidrig abstimmenden Entscheidungsträger durch sein Votum einen für den Verletzungserfolg ursächlichen Tatbeitrag liefert. Das wird damit begründet, daß das Einzelvotum sich in der Mehrheit für die getroffene Entscheidung kausal niederschlägt und daß die Verletzungshandlung wiederum

Fallgruppe 5: Vetorecht eines Kollegiumsmitglieds

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auf der Entscheidung beruht 170. Im Zusammenhang mit dem Vetorecht des A könnte sich aber bezüglich des Kausalurteils eine andere Einschätzung ergeben: Möglicherweise ließe sich vertreten, daß die Kausalität des Einzel-Abstimmungsverhaltens abzulehnen sei, weil das Einzel-Votum in den meisten Fällen 171 hinweggedacht werden könne, ohne daß der Erfolg entfallen müsse. Die entscheidende Erfolgsursache habe nämlich erst der A durch die Unterlassung des Vetos gesetzt. Unter Hinweis auf diesen Umstand müßte man dann eine Täterschaft der übrigen Kollegiumsmitglieder ablehnen. Es fragt sich aber, ob eine derartige Argumentation tatsächlich zulässig wäre. Zunächst soll auch hier Ausgangspunkt fiir die Kausalitätsuntersuchung die Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung sein 172 • Demnach ist zu fragen, welche Ursachen den Verletzungserfolg konkret herbeigefiihrt haben, ohne Rücksicht darauf, was bei einem Hinwegdenken bestimmter Umstände geschehen wäre. Wählt man diesen Ausgangspunkt, so zeigt sich auch hier I73 , daß zunächst das Einzelvotum einen Teil der Gesamtbedingung fiir den Verletzungserfolg - nämlich der fiir das Verletzerverhalten ursächlichen Mehrheitsentscheidung - darstellt. Auch wenn diese Entscheidung durch ein Veto des A noch außer Kraft gesetzt werden konnte, so ändert dies nichts daran, daß sie als Ursache im eingetretenen Verletzungserfolg tatsächlich wirksam wurde. Das begründet sich daraus, daß das Verletzerverhalten (sei es nun Tun oder Unterlassen) auf der Kollegialentscheidung - und nicht ausschließlich auf der bloßen Nichtausübung des Vetorechts - beruht. Die Nichtausübung des Vetorechts bildete - genau wie die Einzelstimme fiir das Gesamtergebnis der Entscheidungsfindung - lediglich einen von mehreren den Erfolg im Zusammenwirken verursachenden Kausalfaktoren. Nach der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung entspricht diese Situation der fiir ein positives Kausalurteil erforderlichen. Das - positive - Kausalurteil bezüglich des Abstimmungsverhaltens des einzelnen Kollegiumsmitglieds wird demnach durch die Nichtausübung des Vetorechts durch A nicht beeinflußt. 2. Auswirkungen der Unterlassung des A auf die objektive Zurechenbarkeit des Verletzungserfolgs an die pflichtwidrig votierenden Entscheidungsträger

Die Nichtausübung des Vetorechts durch A könnte aber im Rahmen der objektiven Zurechnung, genauer bei der Untersuchung des Rechtswidrigkeits170

Oben S. 113 fT.

Abgesehen von dem Sonderfall, daß die Mehrheit die Minderheit um nur eine Stimme übersteigt, vgl. dazu die Ausfiihrungen im Rahmen von Fallgruppe 2, oben S. 170 ff. 171

172 17)

Zu den Vorzügen dieser Lehre vgl. bereits oben S. 113 ff. Ebenso wie schon im Rahmen der Urteilsanalyse, vgl. oben S. 113 ff.

222

Teil 2: Kausalitäts- und Täterschaftsfragen

zusammenhangs, von Bedeutung sein. Zu fragen ist danach, ob der Erfolg bei pflichtgemäßem Alternativverhalten der Betroffenen nicht in der gleichen Weise eingetreten wäre 174. Man müßte dann sagen, daß es auch bei Unterlassung des pflichtwidrigen Votums durch den Einzelnen infolge der Nichtausübung des Vetorechts zur Umsetzung der rechtswidrigen Entscheidung gekommen wäre. Ähnlich wie innerhalb der Analyse des Lederspray-Urteils könnte dieser Ansatz dann verworfen werden, wenn die übrigen Kollegiumsmitglieder mit A mittäterschaftlich zusammengewirkt hätten. Da aber die Art und Weise der täterschaftlichen Beteiligung im gegenwärtigen Stadium der Untersuchung noch nicht erwiesen ist, ist eine derartige Argumentation hier (noch) nicht möglich. Dennoch läßt sich der Rechtswidrigkeitszusammenhang unabhängig von der Beteiligungsform im Verhältnis zu A bereits an dieser Stelle nachweisen: Zunächst ist abstrakt zu fragen, was geschehen wäre, wenn sich das einzelne Kollegiumsmitglied während der Entscheidungsfindung pflichtgemäß verhalten hätte, also gegen den getroffenen Beschluß votiert hätte. Die Beantwortung dieser Frage hängt ab von den konkreten Mehrheitsverhältnissen. In dem Fall, daß die Mehrheit durch eine einzige (Mehr-) Stimme begründet wird, entfällt bei pflichtgemäßem Alternativverhalten auch nur eines der Entscheidungsträger bereits der pflichtwidrige Beschluß und es erübrigt sich daher für den A, von seinem Vetorecht Gebrauch zu machen. In diesem Fall ist die objektive Zurechenbarkeit problemlos zu bejahen. Anderes könnte gelten, wenn die Mehrheit die Minderheit um mehr als nur eine Stimme überwog. In diesem Fall könnte der Betroffene argumentieren, daß auch wenn er pflichtgemäß votiert hätte, der Erfolg mangels eingelegten Vetos des A gegen den durch die Kollegen getroffenen Beschluß in der gleichen Weise eingetreten wäre. Doch auch dann wäre der Rechtswidrigkeitszusammenhang trotz dieses Einwands gegeben: Denn es ist zu beachten, daß die Abstimmungsbeiträge der Kollegiumsmitglieder wegen der zwischen ihnen grundsätzlich gegebenen Mittäterschaftl75 stets nach § 25 Abs. 2 StGB wechselseitig zugerechnet werden können 176. Wenn aber eine derartige Zurechnung innerhalb des Kollegiums erfolgt, so ist dem pflichtwidrig votierenden Kollegen jedenfalls das rechtswidrige Gesamtergebnis der Entscheidungsfindung täterschaftlich zuzurechnen. Betrachtet man dieses Gesamtergebnis nun im Zusammenhang mit dem nicht erfolgten Veto, so bleibt es dennoch bei der gegebenen Zurechenbarkeit des Erfolgs an den einzelnen pflichtwidrig votierenden Entscheidungsträger. Denn hätte er nicht zusammen mit seinen ebenfalls pflichtwidrig votierenden Kollegen in objektiv zurechenbarer 114 Zur Figur des Rechtswidrigkeitszusammenhangs vgl. bereits S. 121 ff. und die dortigen Nachweise. 115 Vgl. hierzu die Ausführungen im Rahmen der Besprechung des Lederspray-Urtei1s, oben S. 90 ff. 176 Vgl. hierzu bereits oben S. 128.

Fallgruppe 5: Vetorecht eines Kollegiumsmitglieds

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Weise das rechtswidrige Abstimmungsergebnis herbeigeführt, so wäre die Einlegung eines Vetos durch A mangels rechtswidriger Kollegialentscheidung überflüssig gewesen. Mit anderen Worten wäre bei pflichtgemäßem Alternativverhalten der durch die pflichtwidrig abstimmende Mehrheit gebildeten Zurechnungseinheit der Erfolg - unabhängig vom Verhalten des A - nicht eingetreten. Infolgedessen ist der eingetretene Verletzungserfolg den pflichtwidrig abstimmenden Gremiumsmitgliedern unabhängig von diesem denkbaren Gegenargument objektiv zuzurechnen. 3. Zwischenergebnis

Die pflichtwidrig votierenden Kollegiumsmitglieder führen den Verletzungserfolg durch die Leistung kausaler Tatbeiträge in objektiv zurechenbarer Weise herbei. Im Rahmen der obigen Ausführungen zur objektiven Zurechenbarkeit des Verletzungserfolgs an die der Mehrheit angehörenden Entscheidungsträger war Ausgangspunkt die durch deren mittäterschaftliche Verbindung begründete Zurechnungseinheit. Es fragt sich aber, ob durch die gesteigerte Einflußmöglichkeit des A möglicherweise die TätersteIlung der abstimmenden Kollegiumsmitglieder anders beurteilt werden muß als bei gänzlich gleichgeordneten Entscheidungsträgern. Grundlage der Untersuchung ist die bereits mehrfach getroffene Feststellung 177 , daß die mit (bedingtem) Vorsatz pflichtwidrig abstimmenden Entscheidungsträger bei der Herbeiführung (mit-)täterschaftlich auf den Erfolg hinwirken. Wenn aber einer von ihnen eine herausgehobene Verantwortung wahrnimmt (und dies ist bei Wahrnehmung eines Vetorechts der Fall), so fragt es sich, ob dadurch nicht die Verantwortlichkeit der übrigen Gremiumsmitglieder in dem entsprechenden Maße "zurückgeschraubt" ist. Dieses Problem muß anhand des üblichen Deliktsaufbaus innerhalb der einzelnen Prüfungsschritte jeweils speziell untersucht werden. 4. Auswirkungen des Vetorechts auf den Deliktsvorsatz

Die folgenden Erörterungen zum Deliktsvorsatz können in Abweichung von der vorausgeschickten Prämisse 178 nur im Fall eines durch das Gremium verwirklichten Vorsatzdelikts Geltung beanspruchen 179.

177

178

Vgl. S. 105, 169, 171. Vgl. oben S. 170.

179 Diese Unterscheidung bezieht sich nicht auf die Verschuldensfonn bei A (Vorsatzoder Fahrlässigkeitsdelikt), sondern nur auf das vom Kollegium initiierte Delikt.

224

-

Teil 2: Kausalitäts- und Täterschaftsfragen

Vorsatzausschluß nach § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB durch Vertrauen auf pflichtgemäße Handhabung des Vetorechts?

Zunächst ist danach zu fragen, ob durch das Vetorecht des A der Vorsatz seiner Kollegen beeinflußt wird. Denkbar wäre, daß jedes der pflichtwidrig abstimmenden Kollegiumsmitglieder sich darauf beruft, sein Votum stets im Vertrauen darauf abgegeben zu haben, daß A bei einer etwaigen rechtlichen Fragwürdigkeit der getroffenen Entscheidung diese außer Kraft setzen und so die Verwirklichung von Straftatbeständen verhindern werde. Insofern könnte der Betroffene dann möglicherweise behaupten, wegen der nicht erfolgten Ausübung des Vetorechts im Vertrauen auf die rechtliche Unbedenklichkeit der Entscheidung und damit ohne Vorsatz bezüglich der Verletzung eines Strafgesetzes gehandelt zu haben. Im Rahmen dieser Problematik muß zunächst untersucht werden, wozu das dem A zustehende Vetorecht dienen sollte. Sollte es dazu dienen, gerade die rechtliche Zulässigkeit der durch das Gremium gesteuerten Handlungsabläufe zu gewährleisten, so wäre eine derartige Argumentation nicht von vornherein ausgeschlossen. Diente das Vetorecht demgegenüber nicht speziell einer rechtlichen Zulässigkeitskontrolle, so ist eine Berufung hierauf bereits an diesem Punkt auszuschließen. Beispielsweise können sich die Entscheidungsträger B bis E nicht darauf berufen, der mit einem Vetorecht ausgestattete Mehrheitsaktionär A habe dieses nicht ausgeübt, wenn das Vetorecht ausschließlich den Zweck hatte, dem A eine Kontrollmöglichkeit bezüglich der Verwendung von zur Verfügung stehenden wirtschaftlichen Ressourcen zu gewähren. In diesem Fall steht das Vetorecht in keinerlei Zusammenhang mit dem für die strafrechtliche Würdigung entscheidenden rechtlichen Pflichtwidrigkeitsvorwurf bezüglich der von der Mehrheitsentscheidung ausgehenden Gefährdung für die Umwelt. Deswegen hat die gesteigerte Einflußmöglichkeit des A auf die strafrechtliche Verantwortlichkeit der Entscheidungsträger B bis F keinen Einfluß. Sie handeln vorsätzlich und ohne vorsatzausschließenden Irrtum. Sollte aber das Vetorecht der Rechtmäßigkeitskontrolle dienen, so kommt eine Berufung auf ein Vertrauen in die pflichtgemäße Handhabung dieses Vetorechts in Betracht. Es fragt sich dann, ob das enttäuschte Vertrauen zum Vorsatzausschluß wegen eines Irrtums im Sinne des § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB führt I 80. Voraussetzung hierfür wäre, daß sich das pflichtwidrig abstimmende Kollegiumsmitglied über ein Merkmal des objektiven Tatbestands des verwirklichten Delikts im Irrtum befand. Diese Frage kann nicht bereits mit dem Argument verneint werden, die Nichtausübung des Vetorechts sei erst nach 180 Zu den Voraussetzungen eines Tatbestandsirrtwns im Sinne des § 16 Abs. I StGB vgl. allgemein Wesseis, Rn. 244.

Fallgruppe 5: Vetorecht eines Kollegiumsmitglieds

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Abgabe des pflichtwidrigen Votums erfolgt, und ein Vorsatzausschluß sei in diesem Stadium wegen der bereits erfolgten Deliktsverwirklichung nicht mehr möglich. Denn wie bereits mehrfach festgestellt wurde, ist der Straftatbestand nicht durch das bloße pflichtwidrige Abstimmungsverhalten verwirklicht, sondern hinzukommen muß die tatsächliche Umsetzung der Mehrheitsentscheidung als weiterer Bestandteil des vom strafrechtlichen Schuldvorwurf umfaßten Verhaltens 181. Die Ausübung des Vetorechts muß vor der Umsetzung erfolgen. Das bedeutet, daß ein Irrtum bezüglich der pflichtgemäßen Ausübung des Vetorechts durchaus noch im für die strafrechtliche Würdigung maßgeblichen Zeitraum relevant werden kann. Insofern ist es also möglich, daß der etwaige Irrtum Auswirkungen auf den Deliktsvorsatz entfaltet. Voraussetzung hierfür wäre aber, daß die vorgestellte Situation Bestandteil des fraglichen Straftatbestands ist. Unterstellt man, daß der Betroffene sich vorgestellt hat, der A werde sein Vetorecht pflichtgemäß ausüben, so heißt das, daß der pflichtwidrig abstimmende Entscheidungsträger allenfalls über die rechtliche Wertung bezüglich des von ihm unterstützten schadensursächlichen Geschehensablaufs irrte. Das heißt aber nicht, daß er über den durch die getroffene Entscheidung initiierten Geschehensablauf an sich im Irrtum war. Für einen Vorsatzausschluß nach § 16 Abs. I Satz I StGB müßte der Betroffene eine falsche Vorstellung von der Art und Weise der durch die Entscheidung "auf den Weg gebrachten" tatbestandsmäßigen Verhaltensweisen gehabt haben. Diese ist aber unabhängig von ihrer rechtlichen Würdigung. Hat also der Betroffene den objektiv auf der Grundlage der gefällten Entscheidung erfolgenden Geschehensablauf richtig eingeschätzt, so liegt kein Tatbestandsirrtum im Sinne des § 16 Abs. I StGB, sondern lediglich ein Irrtum über die rechtliche Würdigung des in seiner tatsächlichen Umsetzung vorhergesehenen und gewollten Verhaltens vor. Ein derartiger Irrtum kann allenfalls das Unrechtsbewußtsein, nicht aber den Vorsatz bezüglich der ausgeführten Tat ausschließen. Nach der heute h.M. ist das Unrechtsbewußtsein kein Merkmal des Tatbestands, sondern ein Schuldmerkmal 182 • Dieser Meinung soll ohne Auseinandersetzung mit der Gegenansicht l83 gefolgt werden, da eine Diskussion hier zu weit führen würde. Durch die fehlerhafte Vorstellung des Betroffenen kann demnach allenfalls der Schuldvorwurf modifiziert werden. Damit ist festzuhalten, daß jedenfalls ein Vorsatzausschluß nach § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB mit der dargelegten Argumentation hier nicht in Betracht kommt.

181

Vgl. nur oben S. 165.

DreherlTröndle, § 17 Rn. 2; Jescheck, § 41 I; Lackner, § 15 Rn. 34; MaurachlZipf, AT 1, § 22 I Rn. 7 ff., § 37 I Rn. 1; SchlSchlCramer, § 17 Rn. I; Wesseis, Rn. 427. 183 Spendei, FS Tröndle, S. 99 ff.; differenzierend: Otto, AT, § 7 V I, 2. 182

15 Weißer

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Teil 2: Kausalitäts- und Täterschaftsfragen

5. Ausschluß der Rechtswidrigkeit durch enttäuschtes Vertrauen auf pflichtgemäße Handhabung des Vetorechts?

Des weiteren ist zu untersuchen, ob durch die unterstellte Fehlvorstellung der Kollegiumsmitglieder von der pflichtgemäßen Handhabung des Vetorechts das Rechtswidrigkeitsurteil bezüglich des Delikts beeinflußt wird. Die diesbezüglichen Ausführungen beziehen sich gleichermaßen auf Vorsatz- wie Fahrlässigkeitsdelikte. Durch die gegebene Situation, daß auf eine ordnungsgemäße Rechtmäßigkeitskontrolle durch das dafür zuständige Organmitglied vertraut wird '84 , wird jedenfalls kein Rechtfertigungsgrund begründet. Das Fehlverhalten des A kann keine Rechtfertigung für das Fehlverhalten der übrigen Kollegiumsmitglieder durch Unterstützung des schadensbringenden Geschehensablaufs bewirken. Die Betroffenen haben sich mit der zugrundegelegten Fehlvorstellung weder einen nicht existenten Rechtfertigungsgrund vorgestellt, noch befanden sie sich im Irrtum über die Grenzen eines gesetzlichen oder gewohnheitsrechtlichen Rechtfertigungsgrunds. Sie haben sich schlicht darin geirrt, daß die Rechtsordnung das von ihnen bewirkte Verhalten als rechtswidrig betrachtet. Dieser Irrtum wird in der gebildeten Konstellation dadurch geweckt, daß der für die Rechtmäßigkeitskontrolle zuständige A diese nicht ordnungsgemäß durchführt. Einen Einfluß auf das Rechtswidrigkeitsurteil kann dieser Umstand nicht entfalten. Auch hier zeigt sich, daß durch die bestehende Fehlvorstellung allenfalls das Unrechtsbewußtsein bezüglich der Straftat beeinflußt werden kann. 6. Schuldausschluß durch enttäuschtes Vertrauen in pflichtgemäße Handhabung des Vetorechts?

Vorliegen eines schuldausschließenden Irrtums nach § 17 Satz J StGB?

Demnach kommt durch den Irrtum der Kollegiumsmitglieder nur noch eine Milderung des Schuldvorwurfs in Betracht. Hier ist nochmals darauf hinzuweisen, daß eine Beeinflussung der Schuld nur dann möglich ist, wenn das Vetorecht ausdrücklich der Rechtmäßigkeitskontrolle durch A dienen sollte '8s . Anderenfalls kann das Vertrauen in die pflichtgemäße Handhabung dieses Rechts keinen Einfluß auf die rechtliche Beurteilung des Verhaltens der übrigen Organmitglieder entfalten, denn dann ist es nicht berechtigt. Diente das Vetorecht aber der Rechtmäßigkeitskontrolle und machte der BeIS4 Auch hier ist der diskutierte Ansatz nur möglich, wenn das Vetorecht gerade der Durchführung einer Rechtmäßigkeitskontrolle dienen soll; vgl. bereits oben S. 224 f. ISS Vgl. oben S. 224 f.

Fallgruppe 5: Vetorecht eines Kollegiumsmitglieds

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troffene keinen Gebrauch von diesem Recht, so können die mit einfachem Mitentscheidungsrecht ausgestatteten Kollegiumsmitglieder sich darauf berufen, auf die Rechtmäßigkeit des auf der Mehrheitsentscheidung beruhenden Verhaltens vertraut zu haben, weil dieses anderenfalls durch die Ausübung des Vetorechts verhindert worden wäre. Diese Argumentation fuhrt zu dem Schluß, daß die Kollegiumsmitglieder sich des Unrechts ihres Verhaltens nicht bewußt waren. Hierin könnte man einen schuldausschließenden Verbotsirrtum im Sinne des § 17 Satz I StGB sehen. Voraussetzung hierfür wäre, daß dieser Irrtum für die betroffenen Organmitglieder unvermeidbar war. Die Frage der Vermeidbarkeit ist abhängig von der konkreten Ausgestaltung des jeweiligen Einzelfalles, insbesondere der Erkennbarkeit der fehlerhaften Rechtmäßigkeitskontrolle durch den A. Grundsätzlich sollten hier aber besonders strenge Maßstäbe bezüglich des Vermeidbarkeitsurteils angelegt werden. Einer Entwicklung, bei der durch die Mitgliedschaft in einem Gremium die Verantwortlichkeit für das eigene Verhalten letztlich an den zuständigen "Rechtmäßigkeitskontrolleur" abgegeben werden kann, ist hier durch eine enge Auslegung der Unvermeidbarkeit entgegenzuwirken. Es muß bei dem Grundsatz bleiben, daß jeder - auch das Organmitglied - sein eigenes Verhalten stets persönlich auf die rechtliche Unbedenklichkeit hin zu prüfen hat - unabhängig davon, ob eine weitere Instanz darüber hinaus eine nochmalige Prüfung vorzunehmen hat. Anderenfalls würde man den Mitgliedern eines so organisierten Kollegiums von vornherein einen Freibrief zur Handhabung ihrer Geschäfte ohne Rücksicht auf rechtliche Regelungen erteilen. Die Tätigkeit im vom Inhaber des Vetorechts kontrollierten Kollegium würde sich in einem rechts freien Raum bewegen. Die Kontrolle durch die Rechtsordnung würde dann erst bei der nachgeordneten Instanz - dem Inhaber des Vetorechts - ansetzen und die diesem vorangestellten Initiatoren der verwirklichten Straftat außer acht lassen. Ein unvermeidbarer Verbotsirrtum nach § 17 Satz I StGB wird daher nur in den Ausnahmefällen bejaht werden können, in denen es dem Organmitglied als Laie bei Anwendung der seiner Verantwortungsposition entsprechend erforderlichen Sorgfalt nicht möglich war, das Unrecht des verursachten Verletzerverhaltens zu erkennen. Als Faustregel kann hier aufgestellt werden, daß diese Fälle denjenigen vergleichbar sein müssen, in denen der Laie Rechtsrat einholt und sich im Vertrauen auf die Richtigkeit der Auskunft pflichtwidrig verhält, ohne daß er die Fehlerhaftigkeit der Auskunft hätte erkennen können l86 • Das wäre beispielsweise der Fall, wenn der mit dem Vetorecht ausgestattete Entscheidungsträger nach der Beschlußfassung ausdrücklich versicherte, die getroffene Entscheidung halte er nach genauer Prüfung für rechtlich unbedenklich und das beschlossene Vorgehen sei rechtmäßig und wenn IR~ Vgl. hierzu BGHSt 20,363 ff. (372 f.); 21, 18 ff.; DreherlTrändle, § 17 Rn. 9. 15"

228

Teil 2: Kausalitäts- und Täterschaftsfragen

den Kollegen die Fehlerhaftigkeit dieser Aussage nicht klar sein konnte. Pointiert ausgedrückt soll das im Ergebnis dazu führen, daß es grundsätzlich unmöglich gemacht werden muß, die (straf-)rechtliche Verantwortung für das eigene Verhalten zu "delegieren", indem man einen Dritten zur persönlichen Kontrollinstanz macht. Die Nichtausübung des Vetorechts kann demnach allenfalls im Bereich des Schuldvorwurfs an die übrigen Kollegiumsmitglieder Wirkungen entfalten. Bezüglich des Unrechtsbewußtseins werden für Vorsatz- und Fahrlässigkeitsdelikt grundsätzlich keine unterschiedlichen Maßstäbe angelegt '87 • Insbesondere besteht auch im Fahrlässigkeitsbereich die Möglichkeit des Verbots irrturns nach § 17 StGB '88 • Zu fragen ist hierfür jeweils, ob der Fahrlässigkeitstäter bei Kenntnis der Tatbestandsmäßigkeit seines Verhaltens auch die Rechtswidrigkeit dieses Verhaltens hätte erkennen können oder ob er infolge eines unvermeidbaren Verbotsirrturns diese Unrechtseinsicht nicht gehabt hätte. Insofern gelten die soeben zum Vorsatzdelikt erfolgten Ausführungen entsprechend auch für die Fahrlässigkeitsdelikte. Auch im Fall des Fahrlässigkeitsdelikts ist demnach die strafrechtliche Verantwortlichkeit der Organmitglieder allenfalls bei Vorliegen der engen Voraussetzungen eines unvermeidbaren Verbotsirrturns nach § 17 Satz I StGB modifiziert. 7. Ergebnis bezüglich der Auswirkungen des Vetorechts auf die Strafbarkeit der Kollegiumsmitglieder mit einfachem Mitentscheidungsrecht

Grundsätzlich entfaltet die Nichtausübung des Vetorechts durch A keine Auswirkungen auf die strafrechtliche Verantwortlichkeit seiner Kollegen. In dem Ausnahmefall aber, daß die Einräumung des Vetorechts ausdrücklich der Rechtmäßigkeitskontrolle bezüglich der durch das Gremium gesteuerten Geschehensabläufe dienen sollte, kommt das Vorliegen eines Verbotsirrturns nach § 17 Satz I StGB in Betracht. Ein Schuldausschluß nach dieser Vorschrift ist aber auch dann nur in eng begrenzten Ausnahmefällen möglich, in denen der Irrtum über die Rechtmäßigkeit des auf der Entscheidung beruhenden Verhaltens unvermeidbar war. Die Maßstäbe, die beim Urteil über die Vermeidbarkeit angelegt werden, sind gleich zu wählen wie bei nicht in einem Kollegialorgan organisierten Personen. Dadurch soll verhindert werden, daß die Sorgfaltsanforderungen bezüglich des eigenen Verhaltens durch die Mitgliedschaft im Gremium herabgesetzt werden. Diese Grundsätze gelten gleichermaßen in Fällen des Vorsatz- wie des Fahrlässigkeitsdelikts. Dreher I Trönd/e, vor § 13 Rn. 31; LK / Schroeder, § 17 Rn. 2. Vgl. Jescheck, § 57 I 2; LK/Schroeder, § 17 Rn. 2; MaurachlGösse/lZipf, AT 2, § 44 Rn. 56; Stratenwerth, Rn. 1130. IR7

IRR

Fallgruppe 5: Vetorecht eines Kollegiumsmitglieds

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8. Ergebnis zu 11

Die Kollegiumsmitglieder mit einfachem Mitentscheidungsrecht, die die pflichtwidrige Entscheidung billigten und an ihrer Umsetzung mitwirkten, machen sich wie folgt strafbar: Diente das dem A zugebilligte Vetorecht nicht ausdrücklich der Rechtmäßigkeitskontrolle bezüglich der durch das Organ getroffenen Entscheidungen, so entfaltet seine Nichtausübung keinerlei Wirkungen für die strafrechtliche Verantwortlichkeit seiner Kollegen 189. Diente das Vetorecht einer Überprüfung der rechtlichen Unbedenklichkeit getroffener Entscheidungen, so kommt in engen Ausnahmefällen das Vorliegen eines schuldausschließenden unvermeidbaren Verbotsirrtums nach § 17 Satz 1 StGB in Betracht. Zu bejahen ist dies nur, wenn die ihre Entscheidung umsetzenden Kollegiumsmitglieder im berechtigten Vertrauen auf die pflichtgemäße Handhabung des Vetorechts handelten, als sie die Erfolgsursachen setzten und sich dabei in einem nicht vermeidbaren Irrtum über die rechtliche Würdigung ihres Verhaltens befanden 190.

C. Auswirkungen der strafrechtlichen Würdigung des Verhaltens der Kollegiumsmitglieder mit einfachem Mitentscheidungsrecht auf die Verantwortlichkeit des mit dem Vetorecht ausgestatteten Entscheidungsträgers Zu entscheiden ist schließlich die oben offen gelassene Frage '91 , in welcher Beteiligungsform sich A bezüglich des betreffenden Delikts jeweils strafbar gemacht hat. Hierbei ist nach dem Abstimmungsverhalten des A im Kollegialorgan zu differenzieren.

I. Beteiligungsform, falls A der unterlegenen Minderheit angehört Für diese Fallkonstellation wurde in den obigen Ausführungen festgestellt, daß A bei unterlassener Ausübung des Vetorechts '92 als Unterlassungstäter bezüglich des eingetretenen Verletzungserfolgs verantwortlich ist, während

189

190 191

Oben S. 224 f. Oben S. 224 f., 227 f. Oben S. 219.

192 Eine Strafbarkeit kommt nur in diesem Fall in Betracht, denn wenn er das Vetorecht ausübt, wird die pflichtwidrige Entscheidung außer Kraft gesetzt, und der Erfolgseintritt scheitert dann am Fehlen eines diesen verursachenden Beschlusses.

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Teil 2: Kausalitäts- und Täterschaftsfragen

die Befürworter der pflichtwidrigen Kollegialentscheidung als Mittäter des Delikts zu bestrafen sind. Fest steht damit jedenfalls, daß A nicht Teilnehmer ist, sondern vielmehr täterschaftlich an der Erfolgsverursachung beteiligt ist. Es fragt sich aber, ob es sich hierbei um Alleintäterschaft, um (sukzessive) Mittäterschaft oder um mittelbare Täterschaft handelt. Diese Frage hat zwar im Ergebnis für die jedenfalls gegebene Verantwortlichkeit für den Verletzungserfolg nach § 25 StGB keine (wesentliche) Bedeutung, soll aber der Vollständigkeit halber dennoch untersucht werden. 1. Mittelbare Täterschaft?

Mittelbare Täterschaft des A bezüglich der fraglichen Straftat kommt dann in Betracht, wenn er diese "durch einen anderen" - hier durch die pflichtwidrig votierende Mehrheit im Kollegialorgan - begeht, § 25 Abs. I, 2. Fall StGB. In Abweichung von der vorausgeschickten Prämisse 193 beziehen sich die folgenden Erörterungen zunächst ausschließlich auf Vorsatzdelikte. Allgemein wird die mittelbare Täterschaft dadurch charakterisiert, daß der mittelbare Täter "das Geschehen kraft seines planvoll lenkenden Willens in der Hand hat"19\ wobei er die sog. Willensherrschaft innehat, während der oder die Tatmittler die Handlungsherrschaft 195 innehaben. Voraussetzung hierfür ist zunächst, daß den pflichtwidrig abstimmenden Kollegiumsmitgliedern als Tatmittlern "Werkzeugqualität" im Hinblick auf das Verhalten des A zukommt. Das bedeutet, daß die Betroffenen den Tatbestand nicht volldeliktisch verwirklicht haben dürften. Nach den oben angestellten Untersuchungen ist dies nur in einem Ausnahmefall möglich: nämlich dann, wenn das Vetorecht einer Rechtmäßigkeitskontrolle zu dienen bestimmt war und die pflichtwidrig handelnden Kollegiumsmitglieder sich wegen der unterlassenen Ausübung des Vetorechts durch A in einem unvermeidbaren Verbotsirrtum bezüglich der begangenen Straftat befanden 196. In diesem Fall sind die Organrnitglieder mangels Schuld für den Erfolg nicht voll verantwortlich. Das Fehlen der Schuld infolge eines unvermeidbaren Verbotsirrtum ist auch grundsätzlich geeignet, die Werkzeugqualität der den Erfolg herbeiführenden Täter zu begründen, falls A diese Irrtumslage bewußt ausnutzt l97 • Es fragt sich aber, ob A in der hier vorliegenden Fallkonstellation tatsächlich eine derart überlegene Willensherrschaft über seine die pflichtwidrige Entscheidung befürwortenden 193 Oben S. 170. 194

Wessels, Rn. 535.

195 Vgl. Herzberg, Täterschaft, S. 13 ff. 196 Oben S. 224 f., 227 f., 229. 197 Herzberg, Täterschaft, S. 22 f.; Jescheck, § 62 II 5; Sch / Sch / eramer, § 25 Rn. 38; Stratenwerth, Rn. 779; Wessels, Rn. 537; ablehnend Welzel, § 15 II 2 a Cl, S. 103.

Fallgruppe 5: Vetorecht eines Kollegiumsmitglieds

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und umsetzenden Kollegen hat, daß man ihn als mittelbaren Täter zur Verantwortung ziehen könnte. Diese Frage ließe sich möglicherweise mit dem Argument bejahen, daß A den schadensbringenden Geschehensablauf durch pflichtgemäßes Eingreifen in Form eines Vetos hätte stoppen können und ihm insofern die Herrschaft über das erfolgsursächliche Geschehen zukomme. Doch kann man allein diesen Umstand tatsächlich einer Herrschaft über eine durch Dritte konkret ausgeführte Deliktsverwirklichung gleichsetzen? Beachtet werden muß hier, daß A sich schon allein wegen der unterlassenen Ausübung seines Vetorechts selbst als Unterlassungstäter strafbar macht. Insofern ist seine Beherrschung des Geschehensablaufs schon einmal in die strafrechtliche Würdigung eingeflossen. Wollte man ihn daneben nochmals wegen einer Beteiligung an der durch ihn nicht verhinderten Straftat in mittelbarer Täterschaft zur Verantwortung ziehen, so würde man sein Verhalten einerseits als Begehung einer Tat durch andere (Werkzeuge), andererseits als Nichthinderung einer durch diese Werkzeuge begangenen Tat doppelt verwerten. Entscheidend ist bei A nicht eine etwaige Willensherrschaft über fremdes Verhalten, sondern zunächst die Willens- und Handlungs- (bzw. Unterlassungs-)Herrschaft über das eigene schadens ursächliche Verhalten. Dieses besteht in der Nichtausübung des Vetorechts. Hierdurch wird gleichsam "die Bahn freigemacht" für die Erfolgsverursachung. Freilich genügt allein diese Unterlassung zur Gewährleistung des Erfolgs noch nicht. Denn die unterlassene Ausübung des Vetorechts könnte ohne die vorhergehende entsprechende Mehrheitsentscheidung keine nachteiligen Wirkungen für die Umwelt nach sich ziehen. Aber entscheidend ist, daß diese Komponente des erfolgsursächlichen Geschehensablaufs gerade nicht der Willensherrschaft des A unterliegt. Der pflichtwidrige Beschluß wird herbeigeführt durch einen von A zunächst nicht beherrschten Entscheidungsprozeß. Seine selbständige, vom Gesamtorgan unabhängige Willensherrschaft setzt erst in dem Moment ein, in dem eine Ausübung des Vetorechts möglich wird. Diese Herrschaft bezieht sich dann allein auf den Aspekt der (Nicht-) Ausübung dieses Vetorechts und damit auf die in all ihren Komponenten durch A persönlich (und nicht durch etwaige menschliche Werkzeuge) verwirklichte Unterlassungstat. Eine darüber hinausgehende Willensherrschaft konkret über die Organmitglieder kann dadurch nicht begründet werden. Diese ist allenfalls als durch die Herrschaft über das eigene Verhalten in Wahrnehmung der gesteigerten persönlichen Verantwortung notwendig mit umfaßt anzusehen. Sie bietet aber deswegen keinen Anknüpfungspunkt zur Begründung einer weiteren Strafbarkeit als mittelbarer Täter. Es fehlt dem A demnach an der planvoll lenkenden Herrschaft über das Kollegium im Sinne mittelbarer Täterschaft, wenn dieses Kollegium die Ursache der weiteren Entwicklung - nämlich die Mehrheitsentscheidung - in voller eigener Verantwortlichkeit und ohne sein (kausales) Zutun setzt.

232 -

Teil 2: Kausalitäts- und Täterschaftsfragen

Zwischenergebnis

Aus diesen Gründen wird der A durch die unterlassene Ausübung des Vetorechts nicht zum mittelbaren Täter bezüglich des herbeigeführten Verletzungserfolgs. Seine Herrschaft über den Geschehensablauf setzt ein in dem Moment, in dem ihm eine Einflußnahme durch Einlegung des Vetos möglich wäre. In diesem Zeitpunkt haben die übrigen Entscheidungsträger aber bereits den Grundstein für die Straftat gelegt und eine Herrschaft des A über das strafbare Verhalten der anderen als mittelbarer Täter kann daher nicht mehr begründet werden. Damit erübrigt sich eine Beantwortung der weiteren Frage, ob es die Figur mittelbarer Täterschaft auch im Bereich des Fahrlässigkeitsdelikts gibt '98 • 2. (Sukzessive) Mittäterschaft?

Möglich scheint es, daß A als Mittäter der durch das Kollegium beschlossenen und ausgeführten Straftat zu behandeln ist. Diese Fragestellung beurteilt sich nach den gleichen Maßstäben wie in der vorangegangenen Fallgruppe 3 (11 Mittäterschaft)'99 für den ein nachträgliches Votum unterlassenden Entscheidungsträger, dessen Unterlassung einen kausalen Beitrag zur Mehrheitsentscheidung darstellt. Bei Verschiedenheit der Schuldformen von Kollegium und Inhaber des Vetorechts ist mittäterschaftliches Handeln ausgeschlossen2OO , ebenso im Fall eines beiderseits fahrlässigen Verhaltens. Mittäterschaft besteht allein in dem Fall, in dem sowohl die Entscheidungsträger im Kollegium20' als auch A vorsätzlich handeln202 • In diesem Fall wird Mittäterschaft nicht durch die gesteigerte Einflußmöglichkeit des A ausgeschlossen, weil dadurch die Kausalität des Verhaltens der pflichtwidrig votierenden Kollegen nicht ausgeschaltet wird.

19M Die h.M. lehnt die Figur fahrlässiger mittelbarer Täterschaft ab; vgl. Jescheck, § 62 I 2; Sch/Sch/Cramer, § 25 Rn. 59 f.; SK/Samson, § 25 Rn. 41; a.A.: Exner, FS Frank, S. 570 ff.; Kohlrausch / Lange, Vorb. § 47 a.F. Anm. I B 3; differenzierend: Otto, AT, § 21

V 4

C.

199

Oben S. 197 ff.

200

Oben S. 199 f., 201.

Und auch im Kollegium nur diejenigen Entscheidungsträger, die die pflichtwidrige Entscheidung unterstützt haben, vgl. die Ausführungen im Rahmen von Fallgruppe 2, oben S. 172 ff., 183. 202 Vgl. hierzu oben S. 202 ff. 201

Fallgruppe 5: Vetorecht eines Kollegiumsmitglieds

233

11. Mittäterschaft in dem Fall, daß A Mitglied der pßichtwidrig entscheidenden Mehrheit ist? Für diesen Fall wurde bereits in den obigen Ausführungen festgestellt, daß das Vetorecht hier keinen Einfluß auf die strafrechtliche Würdigung der Vorkommnisse hat. Es bleibt bei dem bereits in Fallgruppe 2203 aufgestellten Grundsatz, daß sich die Mitglieder der die pflichtwidrige Entscheidung stützenden Mehrheit als Mittäter der auf dieser Entscheidung beruhenden Deliktsverwirklichung strafbar machen. Mittelbare Täterschaft bezüglich des Delikts scheidet aus den gleichen Gründen wie unter I I. angeführt 204 aus. Daneben kommt eine weitere Verantwortlichkeit des Aals Unterlassungs(allein-)täter bezüglich des fraglichen Delikts aus den oben angeführten Gründen nicht in Betracht205 •

111. Ergebnis zu Teil C Nach alledem bleibt in Teil C festzuhalten, daß die Strafbarkeit der Kollegiumsmitglieder mit einfachem Mitentscheidungsrecht auf die Qualifikation des A als Täter nur insofern einen Einfluß hat, als er bei eigenem pflichtwidrigem Verhalten wegen mittäterschaftlichen Zusammenwirkens mit der pflichtwidrig abstimmenden Mehrheit zur Verantwortung zu ziehen ist. Hat er bei der Abstimmung pflichtgemäß votiert, so ist für seine Strafbarkeit ausschließlich die Unterlassung des Vetos entscheidend. Er ist dann nur in dem Fall als (sukzessiver Mittäter) der pflichtwidrig abstimmenden Entscheidungsträger zu qualifizieren, wenn er bei Unterlassung des Vetos vorsätzlich bezüglich des Verletzungserfolgs gehandelt hat und das gleiche für die (pflichtwidrig) abstimmenden Kollegen gilt. Ansonsten ist er als Alleintäter bezüglich des eingetretenen Verletzungserfolgs wegen der unterlassenen Ausübung seines Vetorechts zu bestrafen. Die Kollegiumsmitglieder sind als Mittäter bezüglich des Verletzungserfolgs zu bestrafen. Im Verhältnis zu A besteht dann Nebentäterschaft, es sei denn es handelt sich um die oben genannte Vorsatz-Vorsatz-Konstellation, in der pflichtwidrig votierende Mehrheit und A mittäterschaftlich zusammenwirken.

203

204 205

Oben S. 170 ff. Oben S. 230 ff. Oben S. 215 ff.

234

Teil 2: Kausalitäts- und Täterschaftsfragen

D. Ergebnis zu Fallgruppe 5 Der mit dem Vetorecht ausgestattete Entscheidungsträger macht sich bei Pflichtwidrigkeit des eigenen Votums als Mittäter des verwirklichten Delikts strafbar. Daneben kommt eine weitere Strafbarkeit wegen der unterlassenen Ausübung des Vetorechts nicht in Betracht206 • Bei pflichtgemäßem eigenen Votum macht sich der Entscheidungsträger als sukzessiver Mittäter seiner Kollegen strafbar, sofern sowohl diese als auch er vorsätzlich bezüglich der Tatbestandsmerkmale handelten. Anderenfalls macht er sich als (vorsätzlicher oder fahrlässiger) Allein(Neben-)täter strafbar. Die strafrechtliche Verantwortlichkeit der mit einfachem Mitentscheidungsrecht ausgestatteten Kollegiumsmitglieder wird durch die Einflußmöglichkeit des A in der Regel nicht modifiziert207 • In Ausnahmefallen, in denen die Einräumung der Sonderstellung einer Rechtmäßigkeitskontrolle durch den Träger des Vetorechts dienen sollte, kann ein unvermeidbarer Verbotsirrtum nach § 17 Satz I StGB vorliegen, der zum Schuldausschluß führt 208 • Diese Ergebnisse gelten unabhängig von den jeweiligen Mehrheitsverhältnissen für Fälle unter Beteiligung eines mit Vetorecht ausgestatteten Entscheidungsträgers, in denen eine rechtswidrige Entscheidung gefallt wird.

E. Annex: Problematik des spezifischen Sonderwissens eines Entscheidungsträgers Der in Fallgruppe 5 aufgeworfenen Thematik der gesteigerten Verantwortlichkeit eines der Entscheidungsträger verwandt ist die Fragestellung, wie es sich auf die Strafbarkeit der Mitglieder des Kollegiums auswirkt, wenn einer der Entscheidungsträger spezifisches Sonderwissen bezüglich der entschiedenen Materie haeo9 • Die damit verbundenen Fragen können im Rahmen dieser Arbeit nicht abschließend geklärt werden, weil sie sehr umfangreiche Erörte-

207

Oben S. 215 ff. Oben S. 220 f.

20K

Oben S. 227 ff.

206

Z.B.: Im Gemeinderat wird über den Abschluß eines öffentlichrechtlichen Vertrags abgestimmt; eines der dabei mitwirkenden Kollegiumsmitglieder ist Fachanwalt fur Verwaltungsrecht. Oder: Im Geschäftsleitungskollegium eines Industrieunternehmens wird über die Rezepturänderung eines bestimmten Produkts entschieden; der fur Entwicklung zuständige Ressortleiter nimmt neben seinen Kollegen aus der rein kaufmännischen Abteilung teil. 209

Fallgruppe 5: Vetorecht eines Kollegiumsmitglieds

235

rungen erfordern würden 2lO • Hier sollen - ohne Anspruch auf Vollständigkeit - einige der problematischen Aspekte der strafrechtlichen Würdigung solcher Fälle aufgezeigt werden. Zunächst müßte jeweils an hand des konkreten Einzelfalls die Pflicht zur Einbringung des Sonderwissens während der Willensbildung im Kollegium konstituiert werden. Ein Urteil hierüber läßt sich abstrakt nicht fällen. Sicher ist dabei zu differenzieren nach der Struktur des Kollegialorgans. Handelt es sich beispielsweise um den Gemeinderaeil , so kann nicht von vornherein fiir jeden der Räte eine strafrechtlich sanktionierte Garantenpflicht zur Einbringung etwaigen Sonderwissens festgestellt werden. Denn das würde bedeuten, daß die Gemeinderäte innerhalb des Gremiums, in dem sie ehrenamtlich engagiert sind, diejenige Sorgfalt anzuwenden hätten und auch bei Fehlentscheidungen haftbar zu machen wären, wie wenn es sich bei der Tätigkeit um ihre besondere Profession handeln würde. Das kann aber nicht richtig sein, wenn sie im Gemeinderat die Funktion eines demokratisch legitimierten Entscheidungsträgers und nicht die eines speziell fiir die Entscheidungen ausgebildeten - mit dem entsprechenden Sonderwissen ausgestatteten - Fachmanns ausüben. Es müßten jeweils konkrete Umstände bestehen, die es rechtfertigen, bestimmten Mitgliedern im Kollegium gesteigerte Sorgfaltspflichten bezüglich einer bestimmten Materie aufzuerlegen. Dies wäre der Fall, wenn der Betroffene im Organ gerade die Funktion ausübt, dieses Sonderwissen einzubringen, wenn er also gerade wegen des Fachwissens zum Mitglied des Kollegiums gemacht wurde - beispielsweise wenn der technische Leiter eines Industriebetriebs in der Geschäftsleitung engagiert ist, um dort sein Fachwissen einzubringen. Nur dann wäre die Auferlegung der strafrechtlich sanktionierten Garantenpflicht zur Einbringung des Sonderwissens gerechtfertigt. Zu prüfen wäre dann auch die Einordnung der Garantenposition in die hergebrachte Dogmatik. Naheliegend scheint eine Begründung unter Hinweis auf eine vertragliche oder vertragsähnliche - freiwillige - Übernahme der Garantenpflicht, wenn der Betroffene gerade wegen seines Sonderwissens als Organmitglied engagiert wurde. Unterläßt der Betroffene eine ausreichende Aufklärung seiner Kollegen oder erteilt er fehlerhafte Infonnationen, so kann sich daraus nicht nur seine eigene Strafbarkeit, sondern auch die seiner Kollegen ergeben, wenn als Folge hiervon eine erfolgsursächliche Entscheidung gefällt wird. Problematisch wird dabei der Nachweis eines Kausalzusammenhangs zwischen unterlassener Aufklärung und Eintritt des Verletzungserfolgs. Es müßte jeweils feststehen, daß ohne die Pflichtverletzung des Betroffenen die Entscheidung so nicht 110 Vgl. die Ausführungen zu diesem Themenkreis von: Eidam, S. 172 ff.; Schmidt-Salzer, Produkthaftung I, Rn. 1.288 ff. 111

Vgl. zu einem solchen Fall Dabringhausen, Gemhlt 1992,269 fT.

236

Teil 2: Kausalitäts- und Täterschaftsfragen

ergangen und infolgedessen der Verletzungserfolg verhindert worden wäre. Zwar kommt hier wiederum die Argumentation an hand der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung in Betracht. Allerdings müßte auch dann nachgewiesen werden, daß die Unterlassung der Aufklärung tatsächlich eine Wirkung für die getroffene Entscheidung entfaltet hat. Gelingt dies, so wird immer noch der Nachweis des Rechtswidrigkeitszusammenhangs schwer zu führen sein. Ob er durch eine Zurechnung nach § 25 Abs. 2 StGB in der gleichen Weise wie im Lederspray-Fall 212 erleichtert wird, hängt davon ab, ob die Kollegiumsmitglieder tatsächlich als Mittäter zu behandeln sind, oder ob das Sonderwissen des Betroffenen dies wegen seines Wissensvorsprungs ausschließt. Ist der Kausalzusammenhang nachweisbar, so fragt sich weiterhin, ob der Betroffene wegen eines Begehungs- oder eines Unterlassungsdelikts zu bestrafen ist. Hierbei ist jeweils danach zu differenzieren, ob die wegen der unterlassenen Aufklärung ergangene Entscheidung zu einem Begehungs- oder zu einem Unterlassungsdelikt geführt hat und wo jeweils der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit zu sehen ist. Des weiteren muß dann untersucht werden, ob sich der Betroffene als Alleintäter strafbar gemacht hat, oder ob er mit den Kollegiumsmitgliedern mittäterschaftlich zusammenwirkt. Hierbei muß jeweils nach den oben angeführten Grundsätzen 213 zwischen den Schuldformen differenziert werden, in denen einerseits der Sachverständige und andererseits die Kollegiumsmitglieder gehandelt haben. Das Verhalten des Betroffenen kann die Strafbarkeit seiner Kollegen entscheidend beeinflussen. Dabei ist an den angeflihrten Prinzipien festzuhalten, daß zunächst jeder Entscheidungsträger für sein eigenes Verhalten geradezustehen hat und die Prüfung der rechtlichen Unbedenklichkeit zunächst eine höchstpersönliche Pflicht des einzelnen Kollegiumsmitglieds ist 2l4 • Handelt der einzelne Entscheidungsträger bei Abgabe seines Votums aber im berechtigten 215 Vertrauen auf die sachgerechte Aufklärung durch das sachverständige Kollegiumsmitglied, so kann ein für die strafrechtliche Beurteilung relevanter Irrtum gegeben sein. Zu entscheiden ist dabei, ob bereits das bloße Schweigen des Sachverständigen zur Begründung einer etwaigen Irrtumslage genügt, oder ob hierfür die konkrete (falsche) Auskunft über die Unbedenklichkeit der später gefällten (pflichtwidrigen) Entscheidung erforderlich ist. Die Art des Irrtums richtet sich dabei jeweils nach der konkreten Lage im Einzelfall. In Betracht kommen hierbei alle Formen des Irrtums - je nachdem, worauf sich die Fehlinformation bezieht und inwieweit das Vertrauen berechtigt war. Hat bei-

214

Oben S. 128. Oben S. 198 fT. Oben S. 224 fT.

215

Vgl. zu den Voraussetzungen hierfiir die obigen Ausfiihrungen oben S. 227 fT.

212 213

Fallgruppe 5: Vetorecht eines Kollegiumsmitglieds

237

spielsweise der Leiter der Entwicklungsabteilung eines Pharrnakonzems falsche Angaben zur Gesundheitsgefährdung durch einen bestimmten Zusatz gemacht und irrt sich daher der Entscheidungsträger X über drohende Vergiftungsfolgen des Medikaments, so kann hierdurch der Vorsatz nach § 16 Abs. I StGB ausgeschlossen sein und er geht - bei fehlender Sorgfaltswidrigkeit - straffrei aus. Denkbar sind weiterhin die Rechtswidrigkeit des Verhaltens betreffende Irrtümer - beispielsweise wenn das für Rechtsfragen zuständige Organmitglied fehlerhafte Auskünfte erteilt und die Kollegen im berechtigten Vertrauen hierauf eine pflichtwidrige Entscheidung treffen 2l6 • Durch diese Fragen wird auch die jeweilige Beteiligungsform der Kollegiumsmitglieder beeinflußt. Hier kommt bei vorsätzlichem Handeln des Sachverständigen das Vorliegen mittelbarer Täterschaft in Betracht, wenn die Kollegen durch die Wissens- und / oder Willensüberlegenheit als menschliche Werkzeuge für den Betroffenen eingesetzt werden. Hierbei wird die weitere Frage aufgeworfen, ob die Figur fahrlässiger mittelbarer Täterschaft existiert217 für den Fall, daß der Sachverständige sorgfaltswidrig falsche Auskünfte erteilt, die zu einem die strafrechtliche Verantwortlichkeit der Kollegen aussschließenden Irrtum führen. Ohne diese Frage entscheiden zu wollen, sollte hierbei in Betracht gezogen werden, daß der mittelbare Täter seine Werkzeuge bewußt steuert. Diese Komponente der mittelbaren Täterschaft steht in Widerspruch zum Fahrlässigkeitsschuldvorwurf, nämlich daß der Täter einen Geschehensablauf sorgfaltswidrig in Gang gesetzt hat, den er dann nicht mehr beherrscht hat, so daß es zum Eintritt des Verletzungserfolgs kommt. Des weiteren kommt in dieser Konstellation eine Verpflichtung des Sachverständigen zum nachträglichen Einschreiten gegen getroffene Entscheidungen in Betracht. Möglicherweise sind für ihn die Garantenpflichten wegen seiner besonderen Einsichtsmöglichkeit gesteigert, und es besteht insofern eine Verantwortlichkeit (auch) für pflichtwidriges Verhalten seiner Kollegen 218 • All diese Fragen sind jeweils anhand des konkreten Einzelfalles zu entscheiden und sollen hier nicht im einzelnen erörtert werden. Grundsätzlich sind aber die innerhalb der vorangegangenen Erörterungen erarbeiteten Ansätze bei entsprechender Fortentwicklung am konkreten Lebenssachverhalt auch auf derartige Fallgestaltungen anzuwenden.

216 Zu den engen Voraussetzungen eines derartigen Irrtums vgl. die obigen Ausfiihrungen S. 227 tT. 217 Vgl. hierzu Exner, FS Frank, S. 570 f.

m

In Abweichung von den auf S. 166 f. aufgestellten Grundsätzen.

238

Teil 2: Kausalitäts- und Täterschaftsfragen

Abwandlung zu Fallgruppe 5 Schließlich soll in diesem Zusammenhang noch untersucht werden, wie die Strafbarkeit der Mitglieder des Kollegiums zu beurteilen ist, wenn die im Gesamtorgan ergangene Mehrheitsentscheidung rechtmäßig war, der A aber durch Einlegung des Vetos deren Umsetzung verhinderte und so durch Umwandlung der Entscheidung die Voraussetzungen für den Eintritt des Verletzungserfolgs setzte. In diesem Fall steht die Strafbarkeit des A als Täter des auf der Grundlage der durch sein Veto abgewandelten Entscheidung verwirklichten Delikts (sei es nun vorsätzlich oder fahrlässig) außer Frage. Problematischer verhält es sich mit der eventuellen Strafbarkeit der übrigen Kollegiumsmitglieder. Sie könnten deswegen strafrechtlich verantwortlich sein, weil sie den durch A getroffenen Beschluß umgesetzt haben. Diese Umsetzung kann erfolgen in Form aktiver Beiträge zur Tatbestandsverwirklichung oder durch die Unterlassung von Gegenmaßnahmen. Die Unterscheidung zwischen Begehungs- und Unterlassungsbeitrag 219 spielt für die Untersuchung der grundsätzlichen Strafwürdigkeit des etwaigen Beitrags keine entscheidende Rolle. Sie ist in der notwendigen Abstraktheit der Ausführungen auch nicht zu treffen. Der strafrechtliche Schuldvorwurf knüpft zunächst an die Umsetzung der durch das Veto abgeänderten Entscheidung durch die Kollegiumsmitglieder an. Es fragt es sich aber, ob darüber hinaus ihr vorangegangenes Abstimmungsverhaiten insofern einen Einfluß auf ihre Strafbarkeit entfaltet, als dadurch Aussagen über den subjektiven Tatbestand getroffen werden könnten. I. Mittäterschaft?

Zunächst ist zu untersuchen, ob die Kollegiumsmitglieder als Mittäter der durch A initiierten Straftat verantwortlich sind. Hierbei muß eine Unterscheidung getroffen werden nach dem jeweiligen Abstimmungsverhalten der Entscheidungsträger im Rahmen der Mehrheitsentscheidung. 1. Stratbarkeit der pflichtwidrig abstimmenden Entscheidungsträger

Die pflichtwidrig abstimmenden Kollegiumsmitglieder könnten Mittäter der durch A initiierten Tat sein, wenn sie einen kausalen Beitrag zur Deliktsverwirklichung geliefert hätten, der sich auf der Grundlage eines gemeinsa219 Diesbezüglich wurde vorangeschickt, daß eine entsprechende GarantensteIlung zur Erfolgsverhinderung jeweils unterstellt wird; vgl. S. 167.

Abwandlung zu Fallgruppe 5

239

men Tatplans mit A bewegen müßte. Ein kausaler Beitrag kann durch die Mitwirkung bei der Umsetzung des durch das Veto initiierten Vorgehens gegeben sein. Erforderlich für eine (mit-)täterschaftliche Beteiligung wäre aber, daß der Beitrag dem Kollegiumsmitglied die Tatherrschaft vermittelt. Dagegen spricht die Tatsache, daß es dem A aus eigener Machtvollkommenheit möglich ist, die Entscheidung zu kippen. Er benötigt dafür die Mitwirkung der Kollegen nicht, diese haben keinerlei Kompetenzen zur Herbeiführung des Vetos. Insofern fehlt es an der für Mittäter erforderlichen "arbeitsteiligen", soll heißen gleichberechtigten, Stellung. Der durch die Einlegung des Vetos in Gang gesetzte Geschehensablauf wird ausschließlich durch den von A ohne Mitwirkung der Kollegen getroffenen Beschluß diktiert. Es mag zwar sein, daß diese die Ausübung des Vetorechts begrüßen, daraus allein kann aber noch nicht die mittäterschaftliche - gleichstufige - Beteiligung auf der Grundlage eines gemeinsamen Plans gefolgert werden. Vielmehr bildet die Entscheidung im Kollegium eine Zäsur im Geschehen. In diesem Moment ist das von der unterlegenen Minderheit befürwortete Vorgehen zunächst gescheitert. Dann beginnt ein neuer Abschnitt, in dem A durch sein Veto einen neuen Kausalverlauf in Gang setzt. Dieser ist zu trennen von dem durch die Mehrheitsentscheidung gerade nicht in Gang gesetzten Ablauf. Der hier geäußerte Wille zur Deliktsverwirklichung vermag keinen Einfluß mehr auf den Willen des Azur Vetoeinlegung zu entfalten. Diese erfolgt aus der eigenen Entscheidung des A heraus, von den ihm zustehenden Kompetenzen Gebrauch zu machen. Deswegen wäre es nicht zulässig, die pflichtwidrig votierenden Entscheidungsträger als Mittäter des durch den Beschluß des A verursachten schadensbringenden Geschehensablaufs zu behandeln. Hierfür fehlt es ihnen an der erforderlichen Tatherrschaft über den durch A in Gang gesetzten Kausalverlauf. Neben der Tatherrschaft der Kollegiumsmitglieder mit einfachem Mitentscheidungsrecht sind auch die subjektiven Voraussetzungen der Mittäterschaft zweifelhaft. Der subjektive Tatbestand könnte dadurch nachweisbar sein, daß die Betroffenen bei der Entscheidungsfindung im Kollegium einen entsprechenden Willen zur Deliktsverwirklichung geäußert haben. Allerdings sind sie mit dieser Willensäußerung der pflichtgemäß votierenden Mehrheit unterlegen. Man könnte aber möglicherweise argumentieren, es handle sich hier um einen einheitlichen Geschehensablauf, dessen Komponenten sich zusammensetzten aus der Beschlußfassung im Kollegium, die in unmittelbarem Zusammenhang mit dem eingelegten Veto stehe und deshalb vom Abstimmungsverhalten auf die Unterstützung der später abgeänderten Entscheidung geschlossen werden könne. Man müßte dann vertreten, daß die spätere Umsetzung der durch A getroffenen Entscheidung sich immer noch auf dem während der Abstimmung geäußerten Tatentschluß bewege.

240

Teil 2: Kausalitäts- und Täterschaftsfragen

Neben dem oben angefiihrten Umstand, daß die Kollegialentscheidung eine Zäsur im Geschehen darstellt, ist hier auf die im Rahmen der Abwandlung zu Fallgruppe 2 getroffenen Wertungen 220 zu verweisen: Dort wurde festgestellt, daß bei einer entsprechenden Willensäußerung im Kollegium durch den einzelnen Entscheidungsträger dessen individueller Tatentschluß zur Deliktsverwirklichung gegeben ist. Insofern ist auch in der hier gebildeten Fallgruppe davon auszugehen, daß ein Entschluß zur Straftat jedenfalls bei der Willensbildung im Gesamtorgan gegeben war. Für die Annahme von Mittäterschaft zwischen der unterlegenen Minderheit und dem A müßte sich dieser Tatentschluß dann gleichsam fortgesetzt haben, d.h. er müßte trotz der im Ergebnis anders ausgefallenen Mehrheitsentscheidung fortbestanden und die betroffenen Entscheidungsträger bei der Leistung der Beiträge im Ausführungsstadium geleitet haben. Fraglich ist aber, ob es zulässig wäre, aus dem damals ge faßten Entschluß im weiteren Geschehensablauf den Fortbestand dieses Entschlusses zu folgern. Denn es könnte demgegenüber auch so sein, daß die Betreffenden mit der Leistung ihrer Beiträge in Umsetzung der Entscheidung einzig das Ziel verfolgten, ihre Pflicht entsprechend der organinternen Aufgabenverteilung zu erfiillen, also sich dem durch das Veto des A getroffenen Beschluß zu unterwerfen. Das spricht gegen einen Deliktsvorsatz bezüglich des durch das Veto des A in Gang gesetzten Geschehensablaufs. Doch abgesehen von dieser Schwierigkeit wäre fiir das Vorliegen von Mittäterschaft die Gemeinsamkeit des Tatplans zu fordern. Das ist zwar unproblematisch, wenn man die Entschlußfassung im Kollegium isoliert fiir das jeweilige "Lager" betrachtee21 • Schwierig ist diese Frage aber, wenn die Gemeinsamkeit mit dem später erst aktiv werdenden A bestehen müßte. Dann müßte nämlich die pflichtwidrig votierende Minderheit mit A zusammen den Plan gehabt haben, die Mehrheitsentscheidung durch Einlegung des Vetos ins Gegenteil umzukehren. Demgegenüber kann aus der Willensäußerung bei der Abstimmung im Kollegium allein der Entschluß gefolgert werden, daß die pflichtwidrig Votierenden mit den anderen Entscheidungsträgern zusammen auf eine pflichtwidrige Kollegialentscheidung hinwirken wollten, nicht aber darüber hinaus, daß sie fiir den Fall ihres Unterliegens die Ausübung des Vetorechts durch A wollten. Genausogut könnten sie nämlich den Plan gehabt haben, sich bei einer abweichenden Mehrheitsentscheidung dem Willen der Mehrheit jedenfalls zu beugen - denn das ist gerade das Spezifikum der Willensbildung in einem Kollegialorgan. Es ginge zu weit, wollte man den Kollegiumsmitgliedern diesen Wunsch unterstellen, in jedem Fall die Durchsetzung ihrer Meinung mit allen möglichen Mitteln betreiben zu wollen. Es

~~o

Vgl. S. 186 ff.

Zum gemeinsamen Entschluß der jeweils gleich votierenden Entscheidungsträger vgl. bereits die Ausführungen auf S. 90. 221

Abwandlung zu Fallgruppe 5

241

muß also dabei bleiben, daß das Geschehen nach der Entscheidungsfindung im Kollegium unabhängig von den vorherigen Geschehnissen im Gesamtorgan zu bewerten ist. Die Stimmabgabe entfaltet keinen Einfluß auf die strafrechtliche (Mit-)Verantwortlichkeit der Kollegiumsmitglieder mit einfachem Mitentscheidungsrecht ftir den durch A in Gang gesetzten Geschehensablauf. -

Zwischenergebnis

Aus diesen Gründen sind die pflichtwidrig votierenden Entscheidungsträger nicht Mittäter der durch das Veto des A verursachten Straftat. 2. Strafbarkeit der pflichtgemäß abstimmenden Entscheidungsträger

Wenn aber nicht einmal die ursprünglich gleich wie A votierenden Kollegiumsmitglieder als dessen Mittäter zu behandeln sind, so muß dies erst recht ftir die einen gegenteiligen Willen äußernden, pflichtgemäß votierenden Entscheidungsträger gelten. Sie sind durch die Leistung etwaiger kausaler Beiträge jedenfalls nicht als Mittäter der durch A in Gang gesetzten Straftat zu qualifizieren. 3. Ergebnis zu I

Die Mitglieder des Kollegiums sind nicht Mittäter des durch A verwirklichten Delikts. 11. Beihilfe? Möglich ist aber eine strafrechtliche Verantwortlichkeit der Kollegiumsmitglieder als Gehilfen der durch A initiierten Tat. Wegen der von § 27 StGB getroffenen Wertung, daß Teilnahme nur bei Vorliegen einer vorsätzlichen Haupttat in Betracht kommt, beziehen sich die nachfolgenden Ausführungen in Abweichung von der vorausgeschickten Prämisse222 ausschließlich auf Fälle, in denen der A bei der Erfolgsherbeiftihrung durch die Ausübung des Vetorechts vorsätzlich handelt. Weiterhin ist zu unterscheiden, ob die Kollegiumsmitglieder bei Leistung des Gehilfenbeitrags vorsätzlich oder fahrlässig im Hinblick auf den eingetretenen Verletzungserfolg gehandelt haben. Haben sie fahrlässig gehandelt, so scheidet Beihilfe aus, da es die Figur der fahrlässigen Teilnahme im geltenden Strafrecht nicht gibe 23 . m Oben S. 170. Vgl. Roxin, Täterschaft, S. 552.

223

16 Weißer

242

Teil 2: Kausalitäts- und Täterschaftsfragen

In Betracht kommt also nur in Fällen vorsätzlichen Handeins des A die Strafbarkeit der Kollegiumsmitglieder als dessen ebenfalls vorsätzlich handelnde Gehilfen nach § 27 StGB. Dafür müßten sie den Wunsch gehabt haben, dem A bei der Deliktsverwirklichung Hilfe zu leisten und gleichzeitig Vollendungswille bezüglich der Haupttat gehabt haben. In Fortführung der oben S. 178 ff. entwickelten Grundsätze kann ein Anschluß an den Tatentschluß des A allein durch die Umsetzung der durch diesen vorgegebenen Entscheidung noch nicht konstatiert werden. Denn es handelt sich hierbei nicht um einen Willenswandel der Kollegiumsmitglieder, sondern lediglich um die Einhaltung der im Kollegium herrschenden Kompetenzordnung. Allein hieraus kann der erforderliche Gehilfenvorsatz nicht abgeleitet werden, da man anderenfalls von den Kollegiumsmitgliedern einen Verstoß gegen die organinterne Kompetenzordnung verlangen würde, was in Widerspruch zur zivilrechtlichen PflichtensteIlung der Betroffenen stehen würde 224 • Grundsätzlich ist auch hier das Vorliegen einer Beihilfe für die übrigen Kollegiumsmitglieder nach den bereits in Fallgruppe 2, oben S. 182 f., angeführten Voraussetzungen zu beurteilen. Liegen diese vor, so ist eine Strafbarkeit als Gehilfe möglich. Eine abstrakte Beantwortung dieser Frage ist nicht möglich. III. Ergebnis zur Abwandlung

Der mit dem Vetorecht ausgestattete Entscheidungsträger macht sich als Alleintäter bezüglich des verwirklichten Delikts strafbar. Die übrigen Kollegiumsmitglieder machen sich allenfalls wegen Beihilfe zu diesem Delikt strafbar oder in Ausnahmefällen wegen eines Delikts im Sinne des § 138 StGB. Zur Beantwortung dieser Fragen sind die bereits in Fallgruppe 2, oben S. 182 f., aufgestellten Grundsätze heranzuziehen.

ll4

Vgl. hierzu die eingehenderen Ausführungen oben S. 182 f.

Resümee Für die Beurteilung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Mitgliedern in Kollegialorganen haben sich die folgenden Grundsätze ergeben: I. Die eine rechtswidrige Entscheidung befürwortenden Kollegiumsmitglieder sind als Mittäter bzgl. des auf der Grundlage der Entscheidung verwirklichten Verletzungserfolgs zu bestrafen. 2. Die Gegner der rechtswidrigen Entscheidung sind für den Eintritt des Verletzungserfolgs auch dann nicht als Täter zur Rechenschaft zu ziehen, wenn sie in Umsetzung der Entscheidung kausale Tatbeiträge geleistet haben. Hierin ist allein die - nicht strafbare - Unterwerfung unter den Willen der Mehrheit zu sehen. Eine Überschreitung der organinternen Kompetenzordnung zur Verhinderung der Ausführung der Entscheidung ist grundsätzlich nicht gefordert. In Betracht kommt allenfalls eine Strafbarkeit als Gehilfe oder nach § 138 Abs. I StGB. 3. Unterliegen die eine pflichtwidrige Entscheidung befürwortenden Entscheidungsträger ihren pflichtgemäß votierenden Kollegen, so ist mangels Vollendung eine Strafbarkeit wegen Verbrechensverabredung nach § 30 Abs. 2 StGB nicht gegeben. 4. Haben Kollegiumsmitglieder an der Entscheidung nicht teilgenommen, so machen sie sich unter Umständen als (sukzessive) Mittäter strafbar, wenn sie das nachträgliche Votum vorsätzlich unterlassen und dies als Ursache für den Eintritt des Verletzungserfolgs zu werten ist. Handeln sie dabei fahrlässig, so sind sie AlIein(Neben-)täter. Würde ein nachträgliches Votum die Entscheidung nicht beeinflussen, so scheidet eine Strafbarkeit des Betroffenen als Täter aus. Auch hier kann er nur unter den Voraussetzungen von § 27 oder § 138 Abs. I StGB bestraft werden. 5. Die Stimmenthaltung stellt grundsätzlich keinen Kausalbeitrag für die Mehrheitsentscheidung - und damit für den Verletzungserfolg - dar. Die Betroffenen sind daher nicht als Täter des Delikts, sondern allenfalls nach §§ 27, 138 Abs. I StGB verantwortlich. 6. Ein mit einem Vetorecht ausgestattetes Kollegiumsmitglied macht sich bei pflichtwidrigem Unterlassen der Vetoausübung als (sukzessiver) vorsätzlicher Mittäter seiner ebenfalls vorsätzlich handelnden Kollegen oder als fahrlässiger Allein(Neben-)täter bzgl. des Verletzungserfolgs strafbar.

16"

244

Resümee

Unter engen Voraussetzungen kann die Nichtausübung des Vetorechts für seine Kollegen zum Vorliegen eines unvermeidbaren Verbotsirrtums nach § 17 Satz 1 StGB und damit zum Schuldausschluß führen. Ansonsten wird ihre strafrechtliche Verantwortlichkeit durch die besondere Einflußmöglichkeit des mit dem Vetorecht ausgestatteten Entscheidungsträgers nicht beeinflußt.

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